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Aisthesis

Wahrnehmung heute
oder Perspektiven
einer anderen Ästhetik
Reclam Leipzig
AISTHESIS
W A H R N E HMU N G H E U T E

Reclam

~
K U NSTWI S SENS CHAFTE N
AISTHESIS

Wahrnehmung heute
oder
Perspektiven einer
anderen A"sthetik
Essais

1990

Reclam- Verlag Leipzig


Herausgegeben von Karlheinz Barck, Peter Gente,
Heidi Paris, Stefan Richter
Mit 13 Künstlersprüchen

ISBN 3-379-00607-6

© Reclam-Verlag Leipzig 1990 (Auswahl und Anhang)


Ausgabe für den gesamten deutschsprachigen Raum und die
Länder des Rates für gegenseitige Winschaftshilfe
Quellen- und Rechtsnachweis für die Texte siehe Anhang

Reclam-Bibliothek Band 13 52
1. Auflage
Umschlaggrafik: Jochen Stankowski, Köln
Lizenz Nr. 363. 340/106/90 . LSV 8101 Vbg. 27,9
.

Printed in the German Democratic Republic


Dresdner Druck- und Verlagshaus GmbH
Gesetzt aus Garamond-Antiqua
Bestellnummer: 661 5 17 4
7,50
Statt einer Einleitung

Der maskierte Philosoph


Gespräch mit Christian Delacampagne

Wir haben es hier mit einem nicht unbekannten französischen


Schriftsteller zu tun, der mehrere Bücher veröffentlicht hat, die auch
weit über die Grenzen Frankreichs hinaus einigen Erfolg hatten.
Ein unabhängiger Denker, der mit keiner Mode oder Partei verbun­
den ist. Gleichwohl hat er es nur akzeptiert, mit uns ein Gespräch
über den Status des Intellektuellen und den Ort der Kultur und der
Philosophie zu führen, wenn eine Bedingung eingehalten wird: daß
seine Anonymität gewahrt bleibt.
Warum die Diskretion? Aus Scham, aus Berechnung oder aus
Furcht? Die Frage verdient gestellt ZU werden, selbst wenn am Ende
dieser Unterhaltung sich für die pfiffigsten Leser das Geheimnis
wahrscheinlich aufgelöst haben wird.

Gestalten Sie mir zunächst, Sie zu fragen, warum Sie sich entschie­
den haben, anonym zu bleiben?

Sie kennen sicher die Geschichte von jenen Psychologen,


die in ein Dorf im hintersten Winkel Afrikas gekommen
waren, um einen kleinen Test-Film zu zeigen. Anschlie­
ßend bitten sie die Zuschauer, die Geschichte so zu erzäh­
len, wie sie sie verstanden haben. Na ja, in dieser story mit
drei Pasonen hatte diese nur eines interessiert: das Gleiten
der Schatten und Lichter durch die Bäume. Bei uns bestim­
men die Personen die Wahrnehmung. Die Augen richten
sich mit Vorliebe auf Gestalten, die kommen und gehen,
auftauchen und verschwinden.
Warum ich Ihnen nahegelegt habe, daß wir die Anonymität
benutzen? Aus Sehnsucht nach der Zeit, in der - da ich völ­
lig unbekannt war - das, was ich sagte, einige Chance hatte,
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Gehör zu finden. Die Berührungsstelle mit dem möglichen
Leser war nicht vorgezeichnet. Die Wirkungen des Buchs
tauchten an unerwaneten Onen auf, und es zeichneten sich
Formen ab, an die ich nicht gedacht hatte. Mit dem Auto­
rennamen macht man es sich einfach. Ich schlage ein Spiel
vor: das des "jahres ohne Namen". Ein jahr lang würde
man Bücher ohne Autorennamen veröffentlichen. Die Kri­
tiker hätten mit einer rein anonymen Produktion klarzu­
kommen. Aber vielleicht - wie mir gerade einfällt - hätten
sie nichts zu sagen: alle Autoren würden das nächste jahr
abwanen, um ihre Bücher zu publizieren.

Würden Sie sagen, daß die Intellektuellen heute zu viel reden? Daß
sie uns mit ihren Diskursen bei jeder passenden und unpauenden
Gelegenheit überschütten?

Intellektueller scheint mir ein seltsames Wort zu sein. Intel­


lektuelle - ich habe noch nie welche getroffen. Ich habe
Leute getroffen, die Romane schreiben, und andere, die mit
Kranken arbeiten. Leute, die ökonomische Analysen ma­
chen, und andere, die elektronische Musik komponieren.
Ich habe Leute getroffen, die lehren, Leute, die malen, und
Leute, bei denen ich nicht so recht verstanden habe, ob sie
überhaupt etwas machen. Aber Intellektuelle, nie. Ich habe
indessen viele Leute getroffen, die über den Intellektuellen
reden. Und durch vieles Zuhören konnte ich mir ein Bild
davon machen, was dieses Lebewesen sein mag. Das ist
nicht schwer, es ist der, der schuld hat. Schuld an allem
Möglichen: zu sprechen, zu schweigen, nichts zu tun, sich
in alles einzumischen . . . Kurz, wo es um Rechtsfindung,
Abuneilen, Veruneilen und Ausschließen geht, muß der
Intellektuelle her. Ich finde nicht, daß die Intellektuellen zu
viel reden, für mich gibt's sie ja nicht. Ich finde, daß der
Diskurs über die Intellektuellen stark um sich greift und
wenig Anlaß zu Ruhe gibt.
Ich habe eine gräßliche Angewohnheit. Wenn die Leute so
daherreden, versuche ich mir vorzustellen, was das, umge­
schrieben in die Realität, ergäbe. Wenn sie irgendeinen
"kritisieren", wenn sie vor seinen Ideen "warnen", wenn sie
"veruneilen", was er schreibt, stelle ich sie mir in der idea­
len Situation vor, da sie alle Macht über ihn hätten. Die
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Wöner, die sie benutzen, lasse ich ihren Lauf zurück in ei­
nen ursprünglichen Sinn nehmen: "zerstören", "schlach­
ten", "zum Schweigen bringen", "begraben". Und ich sehe
den strahlenden Staat am Horizont, in dem der Intellektu­
elle im Gefängnis säße und natürlich aufgehängt würde,
wenn er außerdem noch Theoretiker ist. Zugegeben, wir le­
ben nicht in einem Regime, wo man die Intellektuellen zur
Reisernte schickt; aber haben Sie nicht auch schon von ei­
nem gewissen Toni Negri reden gehön? Befindet er sich
nicht im Gefängnis, insofern er ein Intellektueller ist?

WaJ hat Sie aiJo dazu gebracht, Jieh hinter der Anonymität zu ver­
Jchanzen? Daß PhiloJophen ihren Namen zu einem Markenartikel
machen oder machen laJJen?

Das stön mich überhaupt nicht. Ich habe in den Gängen


meines Gymnasiums große Männer in Gips gesehen. Und
jetzt sehe ich unten auf der ersten Seite der Zeitungen das
Foto des Denkers. Ich weiß nicht, ob sich die Ästhetik ver­
bessen hat. Die ökonomische Effizienz dagegen ganz si­
cher . . .
Sehr ergreifend ist für mich ein Brief, den Kant in einem
schon fortgeschrittenen Alter geschrieben hat: er beeile
sich, erzählt er, gegen das Alter und die schlechterwerden­
den Augen und die sich verwirrenden Gedanken ankämp­
fend, eines seiner Bücher zur Leipziger Messe fertigzustel­
len. Ich erzähle das, um zu zeigen, daß es völlig
unerheblich ist, ob Publicity oder nicht, ob Messe oder
nicht, das Buch ist etwas ganz anderes. Nie wird man mir
weismachen, daß ein Buch schlecht ist, weil sein Autor im
Fernsehen zu sehen war. Aber nie ist es aus ebendiesem
Grunde auch schon gut. Ich habe die Anonymität nicht
etwa gewählt, diesen oder jenen zu kritisieren - das tue ich
nie. Es ist ein Weg, mich direkter an den eventuellen Leser
zu wenden, an die einzige Person, die mich interessien:
"Da Du nicht weißt, wer ich bin, bist Du nicht der Versu­
chung ausgesetzt, nach den Gründen zu suchen, warum ich
sage, was Du liest; nimm Dir die Freiheit, Dir ganz einfach
zu sagen: das ist wahr, das ist falsch. Das gefällt mir, das ge­
fällt mir nicht. Punkt, Schluß."

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Aber erwartet das Publikum nicht von der Kritik, daß sie ihm ge­
naue Einschätzungen gibt über den Wert eines Werkes?

Ich weiß nicht, ob das Publikum wirklich erwartet, daß der


Kritiker über die Werke oder die Autoren sein Urteil fällt.
Die Richter gab es wohl schon, bevor noch das Publikum
hat sagen können, wozu es Lust hat. Courbet soll einen
Freund gehabt haben, der nachts aufwachte und schrie:
"Richten, ich will richten." Kaum zu glauben, wie scharf die
Leute darauf sind, zu richten. Überall und partout wird ge­
richtet. Wahrscheinlich handelt es sich hier um eines der
einfachsten Dinge, wozu die Menschheit imstande ist. Wie
Sie wissen, wird der letzte Mensch, wenn endlich eine
letzte Strahlung seinen letzten Feind zu Asche gemacht
haben wird, einen wackeligen Tisch nehmen, sich dahinter
stellen und beginnen, dem Verantwortlichen den Prozeß zu
machen.
Ich kann nicht umhin, an eine Kritik zu denken, die nicht
versuchte zu richten, sondern die einem Werk, einem
Buch, einem Satz, einer Idee zur Wirklichkeit verhilft; sie
würde Fackeln anzünden, das Gras wachsen sehen, dem
Winde zuhören und den Schaum im Fluge auffangen und
wirbeln lassen. Sie häuft nicht Urteil auf Urteil, sondern sie
sammelt möglichst viele Existenzzeichen; sie würde sie her­
beirufen, sie aus ihrem Schlaf rütteln. Mitunter würden sie
sie erfinden? Umso besser, umso besser. Die Kritik durch
Richtspruch langweilt mich; ich möchte eine Kritik mit
Funken der Fantasie. Sie wäre weder souverän noch in roter
Robe. Sie wäre geladen mit den Blitzen aller Gewitter des
Denkbaren.

Es gibt also so viel kennenzulernen, so viele intereJJante Arbeiten,


daß die Medien in einem fort von Philosophie reden sollten?

Sicher gibt es ein traditionelles Unbehagen zwischen der


"Kritik" und denen, die Bücher schreiben. Die einen fühlen
sich schlecht verstanden und die anderen glauben, daß man
sie bei der Stange halten will. Aber so ist das Spiel. Mir
scheint, daß wir uns heute in einer recht eigenartigen Situa­
tion befinden. Wir haben Institutionen des Mangels, wäh­
rend wir uns in einer Situation der Überfülle befinden. Je-
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der hat den Überschwang erlebt, der oft die Publikation
(oder Neuauflage) von - übrigens manchmal interessan­
ten - Büchern begleitet. Zumindest sind sie stets "die Sub­
version aller Codes", das "totale Nein zur zeitgenössischen
Kultur", die "radikale Infragestellung aller unserer Denkge­
wohnheiten". Ihr Autor muß ein verkannter Outsider sein.
Und dafür ist es natürlich nötig, daß die anderen in die
Nacht verwiesen werden, aus der sie niemals hätten auftau­
chen dürfen; sie waren nur der Abschaum "einer Mode, für
die man nur ein müdes Lächeln übrig haben kann", nichts
als ein Produkt der Institution etc. Typisch für Paris, sagt
man, und oberflächlich. Ich nehme darin eher die Wirkung
einer tiefen Unruhe wahr. Das Gefühl des "kein Platz", "er
oder ich", "jeder ist mal dran". Man steht in einer Schlange
wegen der extremen Enge der Räume, in denen man hören
und sich Gehör verschaffen kann.
Daher eine Art Angst, die sich an tausend Symptomen
zeigt, drolligen und weniger komischen. Daher bei denen,
die schreiben, das Gefühl ihrer Ohnmacht angesichts der
Medien, denen sie vorwerfen, die Welt der Bücher zu be­
herrschen und die, die ihnen gefallen oder mißfallen, exi­
stieren oder verschwinden zu lassen. Daher auch bei den
Kritikern das Gefühl, daß sie sich kein Gehör verschaffen
können, es sei denn, sie werden frecher oder zaubern jede
Woche ein Kaninchen aus ihrem Hut hervor. Daher auch
eine Pseudopolitisierung, die hinter der Notwendigkeit,
den "ideologischen Kampf" zu führen und "gefährliche Ge­
danken" aufzuspüren, die tiefe Angst verbirgt, nicht gele­
sen und nicht gehört zu werden. Daher auch die phantas­
matische Phobie vor der Macht: wer schreibt, übt eine
beunruhigende Macht aus, die man, wenn man ihr kein
Ende machen kann, wenigstens in ihre Schranken weisen
muß. Daher gleichermaßen die ein wenig beschwörende
Behauptung, daß gegenwärtig alles leer, öde, uninteressant
und unbedeutend sei: eine Behauptung, die offensichtlich
von jenen kommt, die, da sie selbst nichts machen, finden,
daß die anderen überflüssig sind.

Glauben Sie nicht auch, daß es unserer Zeit in der Tat an Geistern
und großen Schriftstellern fehlt, die aufder Höhe ihrer Probleme wä­
ren?
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Nein, ich glaube nicht an die alte Leier von der Dekadenz,
vom Mangel an Schriftstellern, von der Sterilität des Den­
kens, von dem verhangenen und düsteren Horizont. Ich
glaube im Gegenteil, daß es eine Überfülle gibt. Und daß
wir nicht an einer Leere leiden, sondern daran, daß es zu
wenig Mittel gibt, um all das zu denken, was geschieht. Und
dies in einer Zeit, in der es einen Überfluß an Dingen gibt,
die man wissen will: wesentliche und schreckliche, wunder­
bare, ulkige, winzig kleine und ausschlaggebende, alles
gleichzeitig. Und außerdem gibt es eine gewaltige Wißbe­
gierde, ein Bedürfnis oder einen Wunsch nach Wissen. Man
beklagt sich immer, daß die Medien die Leute manipulieren.
Etwas Menschenverachtung steckt in dieser Vorstellung.
Demgegenüber glaube ich, daß die Leute reagieren; je mehr
man sie überzeugen will, desto mehr stellen sie sich Fragen.
Der Geist ist nicht weich wie Wachs. Er ist eine reaktive
Substanz. Und der Wunsch, mehr und besser und anderes zu
wissen, wächst in dem Maße, wie man die Schädel vollstopft.

Wenn Sie das zugestehen und dem noch hinzufügen, daß


sich an der Universität und anderswo eine Masse von leu­
ten bildet, die als Drehscheibe zwischen dieser Masse von
Dingen und dieser Wißbegierde dienen können, folgern Sie
daraus schnell, daß die Arbeitslosigkeit der Studenten die
absurdeste Sache ist, die es gibt. Das Problem besteht darin,
die Informationskanäle, -brücken, -mittel, die Radio- und
Fernsehnetze, die Zeitungen zu vervielfältigen. Die Wißbe­
gierde ist ein Laster, das nach und nach vom Christentum,
von der Philosophie und sogar von einer bestimmten Wis­
sensehaftskonzeption stigmatisiert worden ist. Wißbe­
gierde, Nichtigkeit. Dennoch gefällt mir das Wort; es sugge­
riert mir etwas anderes: es evoziert die "Sorge"; es evoziert,
daß man sich um das was existiert und was existieren
könnte bemüht; ein geschärfter Sinn fürs Wirkliche, der
aber niemals vor ihm zur Ruhe kommt; eine Bereitschaft,
das was uns umgibt, fremd und einzigartig zu finden; eine
gewisse Versessenheit, uns von unseren, nicht nur farqiliä­
ren Gewohnheiten zu lösen und die gleichen Dinge anders
zu betrachten; eine Leidenschaft, das was kommt und geht
zu ergreifen; eine Ungezwungenheit hinsichtlich der tradi­
tionellen Hierarchien von wichtig und wesentlich.
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Ich träume von einem neuen Zeitalter der Wißbegierde.
Man hat die technischen Mittel dazu; das Begehren ist da;
die zu wissenden Dinge sind unendlich; es gibt die Leute,
die sich mit dieser Arbeit beschäftigen möchten. Woran lei­
det man? Am "Zuwenig": ungenügende, quasi-monopoli­
siene, kurze, enge Kanäle. Es geht nicht darum, eine pro­
tektionistische Haltung anzunehmen, um zu verhindern,
daß die "schlechte" Information durchkommt und die
"gute" erstickt. Man müßte eher die Hin- und Her-Wege
und -Möglichkeiten vermehren. Kein Merkantilismus a la
Colben auf diesem Gebiet. Was nicht heißen soll, wie man
es oft befürchtet, Uniformisierung und Nivellierung von
unten aus. Sondern im Gegenteil, Differenzierung und
Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Netze.

Ich kiinnte mir vorstellen, daß aufdieser Ebene Medien und Univer­
sität, statt weiterhin gegeneinanderwarbeiten, dahin kommen könn­
ten, komplementäre Rollen 'l.U spielen.

Sie erinnern sich sicher an das herrliche Won von Sylvain


Uvi: Lehre ist, wenn man einen Hörer hat; sobald man
zwei hat, ist es Vulgarisierung. Bücher, Universität, wissen­
schaftliche Zeitschriften sind auch Medien. Man muß sich
hüten, als Medien nur jene Informationskanäle zu bezeich­
nen, zu denen man keinen Zugang haben will oder kann.
Das Problem ist, zu wissen, wie man die Differenzen spie­
len lassen kann; zu wissen, ob man einen reservienen Be­
reich einrichten muß, einen "Naturschutzpark" für die zer­
brechliche Gattung der von den großen Raubvögeln der
Information bedrohten Wissenschaftler, während der Rest
des Raums ein riesiger Markt für wenlose Produkte wäre.
Eine solche Einteilung scheint mir der Realität nicht zu ent­
sprechen. Schlimmer noch: überhaupt nicht wünschenswen
zu sein. Damit fruchtbare Differenzierungen ihr Spiel trei­
ben, darf es keine Teilung geben.

Wagen wir ein paar konkrete Vorschläge. Wo soll man anfangen,


wenn alles schlecht läuft?

Aber nein, es läuft nicht alles schlecht. Ich glaube jeden­


falls, daß eine fruchtbare Kritik nicht mit den ständigen
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Klageliedern der Leute zu vermengen ist. Was die konkre­
ten Vorschläge angeht, so können sie nur wie Gadgets er­
scheinen, wenn man nicht zuerst einige allgemeine Prinzi­
pien zugesteht. Und vor allem dies: daß das Recht auf
Wissen nicht einem Lebensalter und bestimmten Katego­
rien von Individuen vorbehalten sein darf, sondern daß
man es ohne Stillstand und in vielfältigen Formen muß aus­
üben können.

11t dimr WimnJdurJt nkht zweideutig? WaJ Jollen die Leute denn
J(hließlich mit all dem Wimn machen, daJ Jie bekommen? WaJ kön­
nen Jie damit anfangen?

Es war eine Hauptfunktion des Unterrichts, die Bildung des


Einzelnen mit der Bestimmung seines Platzes in der Gesell­
schaft zu verbinden. Heute müßte man den Unterricht so
gestalten, daß er dem Einzelnen ermöglicht, sich nach eige­
nem Ermessen zu verändern, was aber nur unter der Bedin­
gung möglich ist, daß die Lehre eine "permanent" angebo­
tene Möglichkeit ist.

Kurz, Jind Sie für eine Gmluchajt der Kenner?

Ich sage, daß der Anschluß der Leute an die Kultur nicht
aufhören darf und so polymorph als möglich sein soll. Es
sollte nicht einerseits jene Bildung geben, die man erfährt,
und andererseits jene Information, der man ausgeliefert
ist.

WaJ wird in dimr GmllIchajt der Kenner aUJ der ewigen PhiloJo­
phie? Braucht man Jie noch, Jie und ihre Fragen ohne Antwort und
ihr Schweigen angnichtJ dn Unerkennbaren?

Die Philosophie, was ist sie, wenn nicht eine Weise, nicht
so sehr über das was wahr oder falsch ist zu reflektieren als
über unser Verhältnis zur Wahrheit. Man beklagt sich
manchmal, daß es in Frankreich keine herrschende Philoso­
phie gibt. Umso besser. Keine souveräne Philosophie, das
stimmt; aber immerhin eine Philosophie oder besser: Philo­
sophie als Aktivität. Denn Philosophie ist eine Bewegung,
mit deren Hilfe man sich nicht ohne Anstrengung und ZÖ-
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gern, nicht ohne Träume und Illusionen von dem freimacht,
was für wahr gilt, und nach anderen Spielregeln sucht. Phi­
losophie ist jene Verschiebung und Transformation der
Denkrahmen, die Modifizierung etablierter Werte und all
der Arbeit, die gemacht wird, um anders zu denken, um an­
deres zu machen und anders zu werden als man ist. Unter
diesem Gesichtspunkt waren die letzten dreißig Jahre eine
Zeit intensiver philosophischer Aktivität. Die Interferenz
zwischen der Analyse, der Forschung, der "wissenschaftli­
chen" bzw. "theoretischen" Kritik und den Veränderungen
im Verhalten, im wirklichen Verhalten der Leute, in ihrer
Art und Weise zu sein, in ihrem Verhältnis zu sich selbst
und anderen ist bemerkenswert und war stets vorhanden.
Ich sagte eben, daß die Philosophie eine Weise war, über
unsere Beziehung zur Wahrheit zu reflektieren. Das muß
vervollständigt werden; sie ist eine Weise sich folgendes zu
fragen: wenn dies das Verhältnis ist, was wir zur Wahrheit
haben, wie müssen wir uns verhalten? Ich glaube, daß ge­
genwärtig und von jeher eine bemerkenswerte und vielfäl­
tige Arbeit geleistet wird, die gleichzeitig unser Verhältnis
zur Wahrheit und unsere Verhaltensweisen verändert. Und
zwar verbinden sich dabei eine Reihe von Forschungen und
ein Ensemble von sozialen Bewegungen auf komplexe
Weise miteinander. Das ist das Leben der Philosophie
selbst.
Man versteht, daß einige über die gegenwärtige Leere jam­
mern und wünschen, daß es in der Ordnung der Ideen ein
wenig Monarchie gäbe. Aber die, die einmal in ihrem Le­
ben einen neuen Ton, eine neue Weise zu blicken, eine an­
dere Art zu tun gefunden haben, sie, so glaube ich, werden
niemals das Bedürfnis verspüren zu (be)jammern, daß die
Welt ein Irrtum und die Geschichte vollgestopft von Nicht­
Existenzen ist und daß es Zeit sei, daß die anderen ver­
stummen, um - endlich - die Glocke ihrer Verdammung
zu hören . . .

Aus dem Französischen von Peter GenIe


H A N N E S B Ö H R I N G ER
Attention im Clair-obscur: Die Avantgarde

Die Welt ist helldunkel. Manches ist klar, vieles unklar.


Was klar ist, wird bei genauerem Hinsehen unscharf, das
Dunkle auf die Dauer ein wenig deutlicher. Einiges scheint
gut, anderes schlecht zu sein. Auch hier verschwimmen die
eindeutigen Grenzen unter einer verschärften Beobach­
tung. Das Dunkle hellt sich auf, das Helle wird fleckig. Die
Wirklichkeit ist gemischt, helldunkel.
Die Erkenntnis versucht, Unterscheidungen zu treffen,
Grenzlinien zu ziehen. Sie will aufklären und findet Eintrü­
bungen, stößt auf unmerklich fließende Übergänge, Grau­
zonen, U nbestimmtheiten, Interferenzen. Die Erkenntnis
selbst gehört zum Helldunkel der Wirklichkeit, leuchtet sie
unterschiedlich aus und schattiert sie dementsprechend.
Wie kann man beobachten, was die Aufklärung im Dunklen
läßt, wenn man nicht auf die Unschärfen am Rande achtet?
Im Durcheinander von Hell und Dunkel ist man auf Beob­
achtung und Aufklärung angewiesen, auch wenn sie selbst
nicht ganz aufgeklärt sind.
Die Aufklärung für ein marschierendes Heer übernahm in
früheren Zeiten die Vorhut, die Avantgarde.! Sie muß die
Bewegungen des kaum sichtbaren Feindes aufklären und
ihm gegenüber die eigenen verdunkeln. Ihre Aufgabe be­
steht darin, das Heer zu sichern, das marschiert und darum
nicht sofort schlagfertig ist, weil es Zeit braucht, aus der
Marsch- in eine Schlachtordnung überzugehen. Die Avant­
garde sichert durch Aufklärung. Doch um aufklären zu kön­
nen, muß sie sich selbst sichern, verschleiern. Die Avant­
garde steht im Clair-obscur und versucht, das Helldunkel
umzukehren. Wie alle Aufklärungssysteme sind Avantgar­
den besonders empfindlich, anfällig und deshalb besonders
sicherungsbedürftig, denn sie müssen verläßlich sein.

Das Ereignis der französischen Revolution setzt die Avant­


garde als Metapher frei. Die schwerbeweglichen Revolu­
tionsheere, die sich von Avantgarden sichern lassen muß­
ten, sehen sich in ihrer propagandistischen Selbstdarstel­
lung weltgeschichtlich auf dem Vormarsch, um den
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Fortschritt, die Ideen von Freiheit, Gleichheit und Brüder­
lichkeit, in alle Welt zu tragen. Der Vormarsch des Fort­
schritts scheint so unwiderstehlich zu sein, daß er von einer
Avantgarde weniger gesichert, als vielmehr verkündet zu
werden braucht.

Im Anschluß an die große Revolution, aber nun als Siche­


rung des Fortschritts vor den Schrecknissen einer erneut
drohenden Revolution, werben die Saint-Simonisten auch
die Künstler als Avantgarde ihres Sozialismus an, nachdem
andere Berufsstände an dieser Funktion keinen Gefallen ge­
zeigt hatten, und schleusen damit die Avantgarde-Metapher
in die Kunsttheorie ein. "Wir sind es, die Künstler, die als
Avantgarde dienen werden", läßt der Saint-Simon-Schüler
Rodriguez einen Künstler sprechen, "wir haben Waffen al­
ler An; wenn wir neue Ideen unter den Menschen verbrei­
ten wollen, schreiben wir sie auf Marmor oder auf lein­
wand. Wir bringen sie unter das Volk durch Poesie und
Gesang. Wir greifen zur Leier oder zur Flöte, zur Ode oder
zum Lied, zur Geschichte oder zum Roman. Die dramati­
sche Szene steht uns offen ..."2 Ohne die für die Partei be­
setzte Metapher zu benutzen, schreibt der sozialistische
Realismus d�ese Theorie der Avantgarde fort.
Die Kunst als Propaganda muß eindeutig und allgemeinver­
ständlich sein, sie setzt eine intakte traditionelle Rhetorik
und Ikonographie voraus. Als Avantgarde zu dienen, heißt,
dem philosophischen Oberbefehl gehorchen zu müssen.
Gerade das aber weigert sich die moderne Kunst zu tun.
Als Avantgarde fühlt sie sich der Nachhut des philosophi­
schen Begriffs immer schon voraus. Sie versteht sich in der
Tradition der romantischen Kunsttheorie als "progressive
Universalpoesie", "unendliches Gedicht" (F. Schlegel), als
Versuch einer neuen, individuellen Mythologie, als speku­
lative Kunst in Analogie zur Magie und Alchimie. Diese
Kunstmetaphysik geht nun in der Theorie der modernen,
avantgardistischen Kunst eine Verbindung mit der Ge­
schichtsphilosophie und ihrem Fonschrittsbegriff ein: als
Chiffre des Absoluten muß die Kunst modern, d. h. neu
sein, geistesgegenwärtig für den katastrophalen Augenblick
der Weltgeschichte. Das avantgardistische Kunstwerk mate­
rialisiert "das fortgeschrittenste Bewußtsein der Widersprü-
15
che im Horizont ihrer möglichen Versöhnung" (Adorno).
In der Finsternis der Geschichte erspäht die Avantgarde ei­
nige gebrochene Strahlen messianischen Lichtes.
Die Rede vom Ende der Avantgarde signalisiert nicht nur
den Verschleiß des geschichtsphilosophischen Fortschritts­
begriffs, sondern auch den Zweifel, ob es einen Fortschritt
in den Künsten, ob es einen erkennbaren Stand des künstle­
rischen "Materials" (Adorno) gebe, hinter den man nicht
zurückfallen dürfe. Die Entwicklungen erscheinen zu ver­
schlungen, um einen klaren Frontverlauf des Fortschritts
ausmachen zu können.
Die Kunst zieht sich aus der Modernität und Weltge­
schichte in den postmodernen Salon, die Ästhetik aus der
Geschichtsphilosophie in die Systemtheorie zurück, die
verspricht, die verwirrende Komplexität zu reduzieren. Auf
diesem Rückzug scheint die Avantgarde als "historische
Avantgarde" auf dem verlorenen Posten der Moderne zu­
rückgelassen worden zu sein. Aber vielleicht ist diese Hi­
storisierung nur eine letzte List der geschichtsphilosophi­
schen Vernunft, der Avantgarde unbemerkt den Rückzug in
das Feldlager des Systems zu sichern.
Ein System ist etwas, das sich selbst aufbaut und in Gang
hält, indem es sich von dem unübersehbar vielen anderen
unterscheidet und mit der ständigen Reproduktion dieser
Differenz zur Umwelt die Elemente reproduzieren kann,
aus denen es besteht. Ein solches Gebilde, das die System­
theoretiker "autopoietisch" und "selbstreferentiell" nennen,
ist auch das soziale System Kunst: ein geschlossener Kreis.3
Kunst baut auf Kunst auf. Kunst ist Kunst, weil sie im so­
zialen System Kunst als Kunst auftaucht. Die Kunst ist au­
tonom, zirkulär und konzeptuell. Sie definiert sich selbst
durch sich selbst. Sie bestimmt selbst, was Kunst ist, durch
Ausschluß von Nichtkunst.
Die Kunst produziert nicht nur Kunstwerke, sondern mit
ihnen zugleich produziert sie auch Erwartungen, wie es mit
der Kunstproduktion weitergehen könne, reizt auf diese
Weise die Produktion von Anschlußelementen an und er­
möglicht so die ununterbrochene Reproduktion des Sy­
stems. Zu den sich mit den Kunstproduktionen wandeln­
den Erwartungen gehört als Konstante immer auch die
Erwartung von Abwechslung, Überraschung, von etwas
16
Neuern. Nur muß die Diskontinuität im Rahmen bleiben,
das Neue immer noch anschlußfähig sein mit dem Alten,
mit Stilrichtungen der Kunstgeschichte, und als Ausdruck
eines Zeitgeistes mit Gegenwärtigem.
Ständig wird in diesen Erwartungshorizont des Systems
hinein Kunst produziert und angeboten, abgetastet, sortiert
und ausgemustert, werden Produktionen getestet, ob sie
sich zu einem neuen Trend, einer Mode oder sogar viel­
leicht zu einem Stil hochschaukeln, der sich selbst durch all­
gemeine Aufmerksamkeitszuwendung verstärkt und andere
Anschlußmäglichkeiten unterdrückt.
Auf der Documenta 1982 ließ Lawrence Weiner an der Fas­
sade des Ausstellungsgebäudes den weithin lesbaren Satz
anbringen: "Viele farbige Dinge nebeneinander angeordnet,
bilden eine Reihe vieler farbiger Dinge." Der Satz reflek­
tiert die Zirkularität, die tautologische Selbstdefinition der
Kunst: Kunst ist, was die Institution, das System Kunst als
Kunst wahrnimmt. Innerhalb ihrer Bannmeile sind farbige
Dinge im Zweifelsfall Kunstwerke.
Zugleich klingt in Weiners Satz eine versteckte Kritik an
den vielen farbigen Dingen in der damaligen Ausstellung
an, der Welle der neuen Malerei, von der die Konzeptkunst
eines Weiner überspült wurde: ob nicht der Rückgriff auf
das Tafelbild und auf traditionelle Kompositionstechniken
hinter das Reflexionsniveau der peinture conceptuelle und
der conceptual art zurückfalle, die das Tafelbild längst in ih­
rem Dingcharakter erkannt, analysiert und ausprobiert hat­
ten. Doch zum Trost findet die Institution führende Künst­
ler einer aus der Mode geratenen Richtung mit frühzeitiger
Musealisierung ab. Auch das bringt Weiners Satz zum Aus­
druck. Und er zeigt an, daß die bildende Kunst das Publi­
kum immer mehr in eine Analyse und Reflexion involviert
hat, was Kunst ist, und daß in dieser Entwicklung der Blick
immer stärker vom einzelnen Kunstwerk abgelenkt wird
hin zum Ereignischarakter einer Ausstellung und über sie
hinaus zum autopoietischen und selbstreferentiellen Repro­
duktionscharakter der Institution, zu einer "soziologischen
Ästhetik" (G. Simmel).
Die Konzeptualität macht die Kunst "kommentarbedürftig"
(Gehlen) und verwickelt das Publikum ins Nachdenken,
Reden und Diskutieren. Dabei greift es unweigerlich auf
17
den Stilbegriff zurück, der ursprünglich normativ, zu einem
Epochenbegriff geworden ist. Mit ihm lassen sich die ein­
zelnen Kunstwerke diachron und synchron verorten. Mit
ihm beginnt oft erst eine Diskussion, weil man über ihn
den Weg von der Sprachlosigkeit vor dem einzelnen Kunst­
werk zum Allgemeinen findet: Ist die Postmoderne das
Ende der Moderne, ein neuer Stil oder eine vorüberge­
hende Mode? Ist die Moderne überhaupt eine Epoche? Von
wann bis wann? Wollte die Moderne nicht das Ende aller
Stilkunst sein? Will nicht auch die Postmoderne das Ende
des Stils, des Stilzwangs zur Moderne sein? Ist die Postmo­
derne eine Metamorphose oder Metastase der Moderne?
War die Moderne vielleicht immer schon postmodern?
Usw.
Das Clair-obscur der historischen Phänomene und Begriffe
macht die Kontroversen unentscheidbar. Machtbewußte
Gruppen versuchen, Begriffe zu besetzen, ihre Definitio­
nen durchzusetzen und stoßen dabei auf den Widerstand
anderer. Der Streit vergesellschaftet. Es kommt auch für das
soziale System gar nicht auf Einigung an, sondern auf Kom­
munikation. Und sie wird durch die Unschärfe der Begriffe
und Gegenstände eher intensiviert als geschwächt.
Die Kunst als soziales System baut sich auf und erhält sich
als fonwährende Kommunikation über Kunst. Die Kunst­
werke liefern den Gesprächsstoff. Ihre Ausstellungen bie­
ten eine Gelegenheit, sich zu treffen und zu unterhalten.
Der Schwerpunkt verlagert sich vom Hersteller zum Zu­
schauer, von der Produktions- zur Rezeptionsästhetik. Die
von der kommentar bedürftigen konzeptuellen Kunst pro­
vozierte Partizipation scheidet das Publikum in die Masse
derer, welche die Museen und Kunsthallen füllen, und den
kleinen Kreis derer, die im Betrieb mitreden. Die "Inklu­
sion des Publikums" (Luhmann) führt zur Exklusivität des
professionellen und kompetenten Publikums.
Entgegen den institutionskritischen Absichten der concep­
tual an hat die Beteiligung des Publikums das soziale Sy­
stem Kunst gefestigt. Der Zuschauer wurde nur stärker von
der Institution einverleibt. Die Wahrnehmung integriert
das, was sie wahrnimmt, und sie integriert in das, was sie
wahrnimmt. Der Beobachter steht drinnen, ehe er sich ver­
sieht. Seine Beobachtung wird zur Selbstbeobachtung des
18
sozialen Systems. Von der vorherrschenden Kunstproduk­
tion zu einer bestimmten Aufmerksamkeitsrichtung und
Erwartungshaltung angeregt, hält sie nach Anschlußproduk­
tionen Ausschau, stimuliert sie dadurch und verstärkt so die
kommunikative Selbstorganisation des Systems.
Indem das kundige Kunstpublikum mehr und mehr das
Funktionieren des Systems wahrnimmt, entdeckt es das Sy­
stem selbst als ein konzeptuelles Kunstwerk, seinen Perfor­
mance- und Eventcharakter, die Poesie seiner Autopoiesis,
den ästhetischen Reiz seiner Selbstbezüglichkeit und die ei­
gene Werkimmanenz. Die einzelnen Kunstwerke werden
zu austauschbaren Münzen in einem Automaten, der sich
selber komponiert. Das soziale System ist heute mit größe­
rem Recht das, was Friedrich Schlegel vom Kunstwerk
sagte: "eine ferne Nachbildung vom unendlichen Spiele der
Welt, dem sich selbst bildenden Kunstwerk". 4

System und Kommunikation sind Betrieb, Gerede und Ge­


rücht. Das Gerücht ist das im Gerede erzeugte Ereignis, das
durch das Gerede zu einem wesentlichen Element des
Betriebs wird. Das Gerede hält den Betrieb aufrecht, indem
es nach Anschlußelementen, nach neuen Ereignissen ver­
langt und sie gerüchteweise selbst produziert. Schließlich
ist das Gerede selbst eine Form des Betriebs: Betriebsam­
keit.
Das Gerede erhellt und verdunkelt. Als Rede ist es die ur­
spüngliche "Erschlossenheit" der Welt. Doch "das Erschlie­
ßen verkehrt sich zu einem Verschließen" 5. Das Gerede
dichtet den Betrieb zu einem geschlossenen System ab, das
die Komplexität auf ein Weltbild reduziert und die Beob­
achtung seiner Differenz zum Sein vergißt. 6 Im geschlosse­
nen seinsvergessenen System aber nehmen Betriebsamkeit,
Gerede, Verfahren, unverweiltes Herumfahren, Neugier
und Zerstreuung überhand. Es sind die Ausdrucksformen
der acedia, des alten Lasters der Langeweile und des Über­
drusses. ? Der Unfähigkeit des azediösen Mönches, ruhig
mit sich allein in seiner Zelle zu bleiben, entsprechen die
von Heidegger diagnostizierte Betriebsamkeit des neuzeitli­
chen Menschen in einem System, das sich verschließt und
die Welt zu seinem Bild macht, und die Langeweile, die
Luhmann sich einschleichen sieht im zirkulären, selbstrefe-
19
rentiellen System der Kunst. Die Kunst als geschlossener
Kreislauf ist eine Junggesellenmaschine.
Die Kommunikation über Kunst muß also immerfort gegen
den Überdruß an der Kunst anreden. Die Neugier, die un­
aufhörliche Erwartung nach Anschlußmöglichkeiten und
Suche nach einer neuen, jungen Kunst, ist die ständige
Furcht vor der Langeweile, die den Betrachter bei jeder
neuen Kunst alsbald wieder einholt.
Als Betrieb gehört die Kunst zur wachsenden Kultur- und
Freizeitindustrie, zu den Subsystemen, die unaufhörlich die
von dem großen geschlossenen System Gesellschaft er­
zeugte Langeweile absorbieren und wenn möglich recyclen
sollen, als Gerede steht sie in der Tradition des adelig-bür­
gerlichen Salons und des fürstlichen Hofes. Wie das Leben
am Hof ist die Kunstszene, die Kommunikation über
Kunst, "ein ernstes, melancholisches Spiel" (La Bruyere).
Wie der traurige und gelangweilte König, von dem Pascal
spricht, oder der entmachtete Adel zerstreut sich heute das
Kunstpublikum durch die Jagd, die Jagd nach dem Neuen,
nach einer neuen Kunst- und Stilrichtung, einem neuen Ge­
sprächsstoff.
Der Künstler spielt die Rolle des Wildes, der Jagdbeute.
Seine Klugheit besteht darin, sich aufspüren und entdecken
zu lassen, seinen Jägern den Spaß nicht zu verderben, es ih­
nen nicht allzu leicht zu machen - sonst wenden sie sich zu
schnell gelangweilt ab -, aber auch nicht ganz unmöglich -
sonst bleibt er unentdeckt.

Auf dieses Treiben muß der Künstler sich vorbereiten. Er


muß es sehen und daran vorbei sehen lernen, es ernst neh­
men und zugleich die unvermeidliche Rolle spielen, ohne
sie sich zu Herzen zu nehmen. Der Künstler braucht also
zumindest vorübergehend ein Asyl, einen Elfenbeinturm,
ein funktionstüchtiges Aufklärungs- und Sicherungssystem:
die Avantgarde.

Aus der Weltgeschichte ins System zurückgezogen hat sich,


scheint mir, die Avantgarde als verstecktes Subsystem von
Schutz- und Beobachtungskapseln, die sich um Künstler,
meistens um kleinere Gruppen von jüngeren Künstlern bil­
den können. Die Avantgarde im sozialen System Kunst ist
20
die immunisiene Selbstbeobachtung des Systems. Die Ein­
kapselung dient dem Schutz der inwendigen Beobachter,
die Beobachtung aber der Selbstorganisation des ganzen Sy­
stems, vor dessen Zudringlichkeit die Einkapselung si­
ehen.
Das Kunstsystem hat also zwei interne Beobachter: das Pu­
blikum und die Avantgarde, die in einem ständigen Aufklä­
rungsgefecht begriffen sind. Das publikum ist neugierig, es
sucht eine neue Kunst, die Avantgarde. Hat es sie aufgestö­
ben, so hält die Kapsel dem direkten Kontakt nicht stand.
Die Avantgarde löst sich auf. Deshalb muß sie sich unsicht­
bar machen, immunisieren, einkapseln und durch die Kap­
sel die Kommunikation filtrieren, um so den Lockrufen der
Jagdgesellschaft zu widerstehen und die Komplizenschaft
von Jäger und Beute, die Korrespondenz der Gier zu ent­
decken und entdeckt zu werden, außer Kraft zu setzen, bis
sich das Immunsystem der Kapsel im einzelnen Künstler
aufgebaut hat.

Der entscheidende Sprung einer Kapselbildung ist das Sich­


ausschließen von der Geschlossenheit des Systems, um in­
nerhalb ihrer geschlossenen Welt, aber doch abgeschieden
von ihr, die Zirkulation ihrer Kommunikation wie in einem
Faradayischen Käfig außen vorbei- und abfließen zu lassen,
damit drinnen sich aus Gerede und Betrieb Sprache und Ar­
beit, Arbeit an der Sprache, an der Artikulation wiederher­
stellen und erneuern können. Die Kapsel unterbricht und
filtrien die Kontakte nach außen und sorgt innen für Stille.
Die Binnenatmosphäre reinigt sich, das Helldunkel klän
sich auf. Erkenntnis setzt ein, die Arbeit an der Artikula­
tion, die Differenzierung der Unterscheidungen.
Erkennen, beobachten, wahrnehmen heißt in erster Linie
unterscheiden. Die Unterscheidung reduzien die unüber­
sehbare Komplexität auf das, was wichtig ist, auf die Unter­
scheidung, welche Unterscheidungen wichtig sind und wel­
che nicht. So, sagen die Systemtheoretiker, baut sich ein
System auf: es trifft eine Unterscheidung zwischen sich und
der Umwelt und erhält sich dadurch, daß es diese "System/
Umwelt-Differenz" (Luhmann) ständig reproduzien. Das
"Komplexitätsgefälle" zwischen der Umwelt und sich s�lbst
aber kompensien es durch innere Ordnung.
21
Der Begriff der Autopoiesis, des Selbstaufbaus, der Selbst­
entstehung durch Differenzierung, verrät die Herkunft der
neueren Systemtheorie aus der Biologie und über sie hinaus
aus der Naturphilosophie: Leben entsteht aus Leben, es
produzien und reproduzien sich selbst. Die lebendige Na­
tur ist schöpferisch, eins und vieles zugleich, eins in ihrer
Produktivität und vieles als Produkt. - Die herkömmliche
Philosophie einer schöpferischen Natur ist eine Einheits­
spekulation in der Tradition des Neuplatonismus. Das, was
sich durch Unterscheidung konstituien und selbständig
macht, verlien doch nicht ganz seine Identität mit dem,
woraus es letzten Endes hervorgegangen ist. In seiner Un­
terschiedenheit bleibt es irgendwie ununterschieden. So be­
zeichnet Sc helling die Natur, ihre Produkte und ihre Pro­
duktivität als Indifferenz von Identität und Differenz.8 Im
Gegensatz zu einer solchen identitätsphilosophisch orien­
tienen Natur- und Lebensphilosophie beschreibt die
neuere Systemtheorie eine Natur, die in eine Vielfalt selbst­
bezogener Gebilde zerfallen ist. Systeme haben in ihrer
Selbstbezogenheit keinen Sinn mehr für eine ursprüngliche
Identität, sie bauen sich auf der "Differenz von Identität
und Differenz"9 auf.

Die Kunst der Avantgarde besteht darin, die Mitte von Dif­
ferenz und Indifferenz zu treffen. Von ihren Aufklärungs­
satelliten aus ist mit unbewaffnetem Auge nichts mehr zu
erkennen. Die Beobachtung wird mit Hilfe von Apparaten
künstlich erzeugt. Mit ihr experimentien die Avantgarde in
Versuchsreihen: Wahrnehmungen werden auseinanderge­
nommen und probe halber wieder zusammengesetzt. Große
Entfernung wie auch extreme Annäherung, Teleskopie und
Mikroskopie relativieren den gewöhnlichen Blick, legen
den Herstellungscharakter der Wahrnehmung, das Poieti­
sche der aisthesis bloß und verflüssigen ihre Unterschei­
dungen.
Die Kunst ist eine Kunst des Unterscheidens. Eine neue
Kunst macht neue Unterschiede sichtbar, analysien und re­
lativien alte und veränden dadurch zugleich die Unter­
scheidung zwischen Kunst und Nichtkunst, den Wahrneh­
mungshorizont des sozialen Systems Kunst, ihre .. System/
U mwelt-Differenz".
22
Wenn nun die Avantgarde die Mitte von Differenz und In­
differenz trifft, dann gelingt es ihr, in der Unterscheidung
ihre Willkürlichkeit, ihren Reduktionismus und Herstel­
lungscharakter zu reflektieren und zum Ausdruck zu brin­
gen. Die Kontur ihrer Zeichnung gewinnt einen fast un­
merklichen Hof. Die Reflexion des Komplexitätsgefälles
kann den verlorenen Reichtum als Vieldeutigkeit, kalkulier­
te Unschärfe am Rande, als mitschwingende Irritation der in­
neren Ordnung indirekt wieder aufbauen. So gewinnt die Un­
terscheidung ein Ich-weiß-nicht-Was, ein presque rien10, wel­
ches das, was sie unterscheidet, nicht ausschließt. Durch Zu­
nahme an diffusem Licht, an Helldunkel, gewinnt sie an Dif­
ferenzierung. Diese differenziene Unterscheidung ist Dis­
kretion, Bescheidenheit gegenüber der Komplexität.ll
In der Bildung von Avantgarden gewinnt die Kunst die
Selbstdistanz zur differenzienen Selbstbeobachtung, zur
Beobachtung ihrer System/Umwelt-Differenz. Zwischen
der Kunst und ihrer Umwelt, d. h. zwischen Kunst und le­
ben aber muß Diskretion herrschen. Die Kunst braucht die
Differenz und die Indifferenz gegenüber dem Leben. Erst
durch Ausdifferenzierung gewinnt sie die Selbständigkeit
eines geschlossenen Kreises. In ihrer Geschlossenheit aber
benötigt sie die Transparenz der Umweltkomplexität. Im
Offenhalten der Grenzen zwischen Kunst und Leben
scheint die Lebenskraft des sozialen Systems zu liegen,
seine autopoietische Energie zur fonwährenden Selbster­
neuerung.
Die Avantgarde akkumulien in ihrer Kapsel einen Reich­
tum und Mehrwen der Anikulation. Von ihm zehn die
Kommunikation im sozialen System, bis er im Betrieb zer­
redet, die Transparenz seiner System/Umwelt-Diskretion
einbüßt. Spätestens dann muß die Anikulation erneuen
und eine neue Avantgarde aufgetrieben werden.

Die Wirklichkeit ist durch und durch gemischt, helldunkel,


die Avantgarde nicht die reine Aufklärung, das System
nicht die schiere Finsternis. Es funktioniert in der Unvoll­
kommenheit seiner Operationen. Die Avantgarden fallen
den immer empfindlicheren Sensoren des Betriebes zum
Opfer, bevor sie eine gründlich gereinigte Binnenat­
mosphäre erzeugen konnten. So verstehen sie sich zu sehr
23
als bloße Selbsthilfegruppen. Direkt funktional ausgerich­
tet, wollen sie sich im Betrieb durchsetzen. Das Immunsy­
stem Kunst wiederum hat eine geringe Toleranz gegenüber
inneren, scheinbar parasitären Einkapselungen, löst sie zu
früh auf und zwingt ihre Elemente zur Anpassung an die
Erwanungen oder scheidet sie aus. Und gelingt es einer
Avantgarde allen Widerständen zum Trotz, ein filtrienes
Binnenklima aufzubauen, genügt in diesem sensitiven Be­
reich der kleinste Defekt, die Atmosphäre hoffnungslos zu
vergiften. Doch reichen offenbar wenige funktionstüchtige
Momente, daß ein Künstler sein Leben lang daraus Kraft
schöpfen und das System sich konzeptuell erneuern
kann.
Die Avantgarde siehen durch Aufklärung, ihre System/Um­
welt-Beobachtung dient der Selbsterhaltung des Systems.
Wie aber siehen sieh die Avantgarde als kleine unterlegene
Einheit vor dem System? - Durch verschärfte Beobachtung
und größere Beweglichkeit. Beweglich und reaktionsschnell
wird die Beobachtung Aufmerksamkeit, Geistesgegenwan
und Scharfsinn.
Die Kapsel ist wie eine Klause oder ein Kloster, das sich
von der Welt abschließt, von ihrer Verschlossenheit aus­
schließt. In der Abgeschiedenheit verstärken sich die Ver­
suchungen. Den Einsiedler fallen die Dämonen an. Sie flü­
stern ihm Gedanken und Vorstellungen ein, aus denen die
Laster entstehen: Langeweile, Trübsinn, Eitelkeit, Geldgier
usw. Der Mönch muß dagegen ankämpfen. Dieser Dämo­
nenkampf wird als Avantgardegefecht gefühn, als reiner Be­
obachtungskrieg. Der unsichtbare Dämon belauen den
Mönch und greift ihn in unaufmerksamen Augenblicken
mit Versuchungsgedanken an, der Mönch beobachtet wach­
sam seine Gedanken und fastet (um nüchtern zu werden)
und betet (bittet um Hilfe). "Die Aufmerksamkeit kämpft
gegen die Sünde wie ein Aufklärer oder Vorposten. Dann
kommt das Gebet, das mit Hilfe der Aufmerksamkeit - al­
lein kann sie es nicht - die Versuchungsgedanken aus­
schließt und zunichte macht", schreibt Symeon, der neue
TheologeY

Die Kunst der wachsamen Aufmerksamkeit übernahmen


die Mönche von den Stoikern. Die hatten in ihrem Ausnah-
24
mevorbild, dem Kyniker, eine kataskopos, einen Späher ge­
sehen.13• Der stoische Späher ist aufmerksam, er beobachtet
seine Wahrnehmung, den Gebrauch, den er von seinen Ein­
drücken macht, wie sie zu festen Vorstellungen werden. Sie
bauen ein (Schein-) System auf, die Welt des einzelnen,
seine Gefühlswelt und das korrespondierende Bild, das er
sich von einer Außenwelt macht. Sich von den selbstge­
machten, den autopoietischen Vorstellungen nicht hinrei­
ßen zu lassen, sondern sie womöglich sogar neu und richtig
wiederaufbauen zu können, setzt die Fähigkeit voraus, die
eingefahrene Aufeinanderfolge, den Anschlußzwang der
Vorstellungen, durch die sich die Vorstellungswelt unauf­
hörlich verkettet und zusammenschließt, zu unterbrechen,
das System einstürzen zu lassen und in der ständigen Pro­
duktion und Reproduktion alter Vorstellungen, Bilder und
Erwartungen innezuhalten. Dieses Anhalten und Unterbre­
chen übten die alten Philosophen und Mönche in der Ver­
gegenwärtigung des Todes. Auch die Avantgarde galt in
früheren Zeiten als "verlorener Haufen"14. Feste Vorstel­
lungen, Erwartungen und Unterscheidungen zu lockern
und zu verflüssigen, schärft aber die Beobachtung zur Auf­
merksamkeit und setzt Scharfsinn, Geistesgegenwart und
Schlagfertigkeit frei: Fertigkeiten, die Avantgarden brau­
chen, um sich gegen eine feindliche Übermacht zu si­
chern.
Am Leitfaden der Aufmerksamkeit (prosoche) gerät die
Spur der Avantgarde-Metapher in einen der großen Be­
griffsstrudel der Philosophie und Theologie. Die Aufmerk­
samkeit schärft das Bewußtsein, das Gewissen, die "Selbst­
bewachung" (syneidesis, synteresis).15 Zugleich aber ist die
synteresis im Menschen der göttliche Funken (sdntilla ani­
mae), die Spitze des Geistes (ades mentis), im Innersten
der Seelenburg das gewisse Etwas (aliquid in anima), das je
ne sais quoi, die Reduktion auf die Komplexität des ganz
Einfachen, wo die Unterscheidungen von Mensch und
Gott, Schöpfer und Geschöpf flüssig und unscharf werden,
der Seelen- und Erfahrungsgrund Gottes, des Komplexen
schIech thin.16
Das Ich-weiß-nicht-Was aber braucht Obacht und Obhut.
So entgeht es dem grellen Licht der Wissenschaft und ver­
birgt (und zeigt sich) im Helldunkel der Kunst. Die wie-
25
derum muß vor dem Betrieb und Gerede geschützt werden.
Die Avantgarde zieht sich in die Kapsel zurück und sichert
ihre Zugänge durch Schleusen und Verschlüsselungen. Die
Avantgarde muß vorsichtig und klug sein. Klugheit entsteht
aus Vorsicht, prudentia aus providentia, Vor-sicht aber ist
nichts anderes als Avant-garde.
In einem geschlossenen Kreis, der die interne Kommunika­
tion in hoher Geschwindigkeit zirkulieren läßt, muß sich
die Kunst durch Klugheit sichern. Sie kann sich dabei auf
die Strukturähnlichkeit von Kunst und Klugheit besinnen,
die in aller Schärfe wiederum in der geschlossenen Gesell­
schaft am Hof gesehen wurde. Hier muß man auf die Erwar­
tungen eingehen, damit man sie durchkreuzen kann. Kunst
und Klugheit sind eine elegante Art der Täuschung, deren
Enormität von der Eleganz der Performance entschuldigt
wird. Die Kunst ist eine List, eine Kunst der Vortäuschung,
der Vorspiegelung, des Scheins.
Kunst gleich Leben heißt also nicht nur, auf die metaphysi­
schen Indifferenzen in den Differenzen zwischen Kunst
und Leben zu achten, sondern auch auf die Verwandtschaft
von Kunst und Lebensklugheit: Kunst gleich Lebens­
kunst.
Die Angleichung von Kunst und Klugheit ist bereits früh,
von den Stoikern und dann verstärkt von den Neuplatoni­
kern, dadurch angebahnt worden, daß sie die aristotelische
Unterscheidung von poiesis und praxis einebneten. Die
Klugheit (phronesis. prudentia) bezieht sich auf das Han­
deln (praxis). Das aber wurde immer mehr in Analogie zum
Technischen und Poietischen als ein Machen, eine einüb­
bare, fachmännische, auf Vervollkommnung ausgerichtete
Herstellung verstanden.I?
In exemplarischer Weise vermischen sich Handeln und
Herstellen im Krieg. In ihm stoßen mit aller Gewalt das ra­
tionale Kalkül und Konzept, die Planung, Vorbereitung, Er­
wartung, die Beherrschung des Technischen mit dem Un­
vorhergesehenen zusammen, dem Zufall, der Situation,
dem Ereignis. Je mehr das Handeln auf ein umstandsloses
technisches Herstellen reduziert wird, desto dringender be­
darf es zum Ausgleich der Geistesgegenwart für die Peri­
stase, die Friktion, den plötzlichen Augenblick. Deshalb
muß der Feldherr Genie haben, und deshalb ist der Krieg
26
eine Kunst. Und so kann Gradan die Lebenskunst, die
Kunst der Klugheit, nach dem Vorbild der Kriegskunst ver­
stehen: "Ein Krieg ist das Leben des Menschen gegen die
Bosheit des Menschen. Die Klugheit führt ihn . . . Nie tut
sie, was sie vorgibt, sondern zielt nur, um zu täuschen . . .
Eine Absicht läßt sie erblicken, um die Aufmerksamkeit des
Gegners dahin zu ziehen, kehrt ihr aber gleich den Rücken
und siegt durch das, woran keine gedacht. Jedoch kommt
ihr andererseits ein durchdringender Scharfsinn durch
seine Aufmerksamkeit zuvor ... stets versteht er das Gegen­
teil von dem, was man ihm zu verstehen gibt . . . Die erste
Absicht läßt er immer vorübergehen, wartet auf die zweite,
ja auf die dritte. Indem jetzt die Verstellung ihre Künste er­
kannt sieht, steigert sie sich noch höher und versucht,
durch die Wahrheit selbst zu täuschen . . . Aber die beob­
achtende Schlauheit ist auf ihrem Posten, strengt ihren
Scharfblick an und entdeckt die in Licht gehüllte Finsternis;
sie entziffert jenes Vorhaben, welches je aufrichtiger desto
trügerischer war . . . .'<18
Wie der Krieg oder das Leben am Hof ist auch die Kunst
ein Duell zwischen Aufklärung und Verschleierung, Beob­
achtung und Verstellung, List und Gegenlist, Chiffrierung
und Dechiffrierung, Ablenkung und Aufmerksamkeit. Der
Künstler sichert sich gegen eine allzu schnelle Brechung
seines Kodes, indem er die Überraschung, das Unerwartete,
die Invention des Augenblicks, den Witz und das Paradox
miteinschließt. Die Sicherung gehört zu seiner Kunst. Die
Kunst ist immer schon eine arte dfra. Die azediöse Neugier
muß mit einer Raffinesse angelockt werden, an der sie sich
abarbeiten und dem Vergnügen und tJ,er . Erkenntnis wei-
chen kann.
Im heutigen sozialen System der Kunst, das in immer grö­
ßerer Geschwindigkeit eine steigende Produktion von
Kunstwerken nach Neuigkeitswerten abzutasten hat, muß
es dem einzelnen Künstler darauf ankommen, den zerstreu­
ten und flüchtigen Blick des Publikums an seinen Produk­
ten einhaken zu lassen. Das Kunstwerk muß im ersten Au­
genblick für sich einnehmen und beim zweiten Hinsehen
interessant, neuartig usw., aber dennoch klassifizierbar und
verständlich erscheinen. Diese zwei ersten Musterungs­
blicke auf sich zu ziehen und ihren Erwartungen zu ent-
27
sprechen, wird immer mehr zur Grundvoraussetzung der
künstlerischen Arbeit, aber auch zu einem Deckmantel, un­
ter dem sie, auf Langzeitwirkung angelegt, ungestört statt­
finden kann. Hat das Publikum in seinem Beobachtungsdu­
ell mit dem Künstler diese Finte gemerkt, muß eine weitere
Sicherheitsschleuse eingebaut werden. Usw. Das heißt: Un­
ter dem ersten oder zweiten Anschein von Verständlichkeit
muß die Kunst immer unverständlicher, intellektueller und
konzeptualistischer werden.
In diese Richtung deutet die immer engere Verzahnung
von Kunst und Theorie, die Integration des Kommentars in
das Kunstwerk. Der Kommentar hat nicht mehr die Funk­
tion, etwas auf den ersten Blick Unverständliches zu erklä­
ren, sondern umgekehrt etwas für den ersten Blick leicht­
verständlich Präsentiertes zu konzeptualisieren und zu
komplizieren.
Die Raffinierung des Konzeptes ist aber nicht allein eine Si­
cherung, sie ist auch eine Auflösung des conceptus, der
Idee, des disegno interno.19 Je mehr die Idee zu einer klar
umrissenen Vorstellung wird, einer Vorzeichnung, die den
Erfahrungsgrund eines grundsätzlichen Nichtwissens, eines
je ne sais quoi verloren hat, desto mehr muß sich der con­
cepto zum Scharfsinn zuspitzen, der als Witz, Paradox oder
Sentenz den Ausschluß der Komplexität reflektiert und als
Anspielungs- und Beziehungsreichtum der Artikulation
wiederaufbaut.

Wie durch Überspitzung so kann auch durch Verflüssigung


der Kontur die Reduktion der Zeichnung aufgehoben wer­
den. Das Lineare des dessin löst sich ins Malerische auf.20
Im Kolorit gewinnt die genaue Unterscheidung ihre Un­
schärfe, das Clair-obscur zurück. Die Kunst, die auf die ab­
flachende conceptual an reagiene, hat beide Richtungen
zugleich verfolgt. Sie hat sich an dem Paradox versucht, ma­
lerisch und witzig zugleich zu werden. Die Kapsel ist zu
früh geöffnet worden.

Die Kunst als soziales System muß selbst bestimmen, was


sie ist. Deshalb gerät sie immer wieder in Gefahr, die Last
der Autonomie abschütteln und als Avantgarde oder auf ei­
nem anderen Posten für andere dienen zu wollen. Gegen-
28
wärtig scheint die Neigung, sich politisch zur Verfügung zu
stellen, in den Hintergrund getreten zu sein gegenüber der
Versuchung zu einer neuen entpolitisierten Hof- und Sa­
Ionkunst im Dienste neofeudaler Repräsentation. Sie drängt
die Kunst in einen prätentiösen großen Stil und den Künst­
ler in die Rolle eines Malerfürsten. Am Hof und im Salon
hat die Kunst G..:n Sicherheitsabstand der historischen
Avantgarde zum Publikum verloren. Vom Publikum einge­
holt zu sein, ist das Ende der Avantgarde. Sie muß nun mit­
ten im Betrieb Distanz gewinnen, d. h., eine Kapsel bilden,
die Aufklärungssatellit und nicht zu ortendes U-Boot zu­
gleich ist.

Nach dem Ende der historischen Avantgarde kann die


Avantgarde auf ihre Vorgeschichte zurückgreifen und das
für sich nützlich machen, was sie als Kunst immer schon be­
herrscht hat: die Wahrnehmung, die Beobachtung. Die Ob­
acht auf den welthistorischen Augenblick wird damit zur
Aufmerksamkeit für djls Eindringen von Betrieb und Ge­
rede in die eigenen Gedanken, Gefühle und Vorstellungen.
Diese nObhut seiner selbst" (Gracian: sinderesis) ist eine er­
ste Maßnahme, die Systemkommunikation für die eigene
Person unschädlich zu machen, den Zwang zu Anschluß­
produktionen aufzuheben, die Produktion anhalten zu kön­
nen (epoche) und so Bewegungsfreiheit zu gewinnen.
In diesem neu gewonnenen Spielraum kann Diskretion ent­
stehen: die Aufmerksamkeit für das je ne sais quoi, für die
fast unmerklichen Differenzen in Indifferenzen und für die
fast unmerklichen Indifferenzen in Differenzen, für das
presque rien zwischen Kunst und Leben, zwischen Acht­
samkeit und Unachtsamkeit.

Die Diskretion bewährt sich nicht nur theoretisch, sondern


auch praktisch: im Duell des Künstlers mit dem Publikum.
Beide beobachten, beide treffen Unterscheidungen. Doch
sie unterscheiden sich in dem gewissen Etwas, mit Unter­
scheidungen umzugehen. Beide produzieren, indem sie be­
obachten, und reproduzieren so das soziale System. Die Re­
zeptionsästhetik ist in beiden Fällen eine Produktionsästhe­
tik. Doch die Avantgarde hat die Freiheit gewonnen, etwas
Neues hervorbringen zu können, während ihr Gegner un-
29
ter dem ungebrochenen Zwang zur (Suche nach) Anschluß­
produktion bleibt. Beide sind neugierig, aber der eine ist zu
zerstreut, um das azediöse Element in seiner Neugier zu
beachten.
Die Unterscheidungen zwischen Avantgarde und Publikum
sind gestellt, die Wirklichkeit in Systemen ist gemischt,
überall helldunkel. Das zu erkennen, sich aus dem Clair­
obscur nicht auszunehmen, gehört ebenfalls zur Diskretion.
So spricht aus der Abgeschiedenheit der Avantgarde weni­
ger Überheblichkeit als vielmehr die Erkenntnis, Abge­
schiedenheit nötig zu haben, (aufklärungs- und sicherungs-)
bedürftig zu sein. Von Diskretion zeugt es darum auch, das
Ereignis des Erhabenen im unscheinbaren Event zu bemer­
ken und sichtbar zu machen, die große metaphysische Ab­
straktion auf den trivialen Gegenstand der pop art prallen
zu lassen und die Trockenheit des Konzeptes im Fluxus des
Humors aufzulösen. Die Bescheidenheit der Diskretion
bannt die Gefahr der Prätention, im Clair-obscur etwas Un­
bedingtes wahrnehmen, unterscheiden und beziffern zu kön­
nen. Das Ich-weiß-nicht-Was stellt sich ich-weiß-nicht-wie
als Komplexität des Ausdrucks eher beiläufig und am Rande
der Aufmerksamkeit, aber eben auch nicht ohne sie ein.
In der Ambiguität des Helldunkels zu leben, ist nicht unge­
fährlich. Die Systemtheorie beschreibt das Leben als das Ri­
siko der Reduktion, im labilen Gleichgewicht zwischen Si­
cherheit und Katastrophe. In den unablässigen Ausgleich­
bewegungen vermischt sich beides untrennbar miteinander.
Das System wird in Betrieb gehalten durch die Entsorgung
von Risiken, die es durch die Entsorgung von Risiken selbst
erzeugt hat.
In dieser allgemeinen Systemlage zeichnet sich die Kunst
dadurch aus, daß sie etwas Neues fast ohne Risiko produ­
zieren kann. Die Kunst ist das entlastete System: ein Spiel.
Die Systemtheorie wiederum ist die Kunst der lebensklug­
heit, die meint, unter der Belastung von Komplexität, Kon­
tingenz und "Riskiertheit" (Gehlen) der Existenz systema­
tisch werden zu müssen. Aber selbst die Kunst entgeht
nicht ganz dem Risiko. Gefahrlos beschleunigt sich die Pro­
duktion des Neuen. Das Publikum muß immer unreifere
Kapseln öffnen. Die Kapazität des Neuen erschöpft sich.
Langeweile schleicht sich ein.
30
Die Langeweile ist die Gefahr der risikolosen Entsorgung.
Das soziale System Kunst hat nicht bloß den Ikonoklasmus
der historischen Avantgarden und ihren Ausbruchsversuch
ins Leben überstanden, es hat ihn als festen Bestandteil der
modernen Kunst assimilien, als Kunst imprägnien und da­
durch gesichen.
Was auch der Künstler macht und sichtbar macht, ist Kunst,
künstlich hergestellt, die Wahrnehmung eine Dada-Kon­
struktion: reduktiv, tautologisch und zirkulär. In dem
Maße, wie die Kunst ins Leben drängt, wird das Leben zur
Kunst. Indem sich das System öffnet, verschließt es sich.
Die Transparenz steht im Zwielicht der Durchsichtigkeit
und des selbsterzeugten Scheins. Diese Indifferenz von
Hell und Dunkel, Aufklärung und Verschleierung ist die
größte Herausforderung für die Diskretion der Aufmerk­
samkeit.

1 Carl von Clausewitz, Vom Kriege (1832) Bonn, 1973, S. 532 ff.
Jakob Meckel, Grundriß der Taktik., Berlin 1897, S. 207f.
2 L'Aniste, Ie Savant et I'Industrie] (1825), in: (Euvm de Sainl-Si­
mon, vol. 10, Paris 1875 ( Reprintband 5, Paris 1966, S. 2 10).
=

Renato Poggioli, Toe Theory 0/ the Avant-Garde, Cambridge


(Mass.) 1968. Donald Drew Egben, The Idea of "Avant­
Garde" in An and Politics, in: The American HiItorical Review 73,
2 (1967) S. 339-366. Matei Cälinescu, "Avant-Garde": So me
Terminological Considerations, in: Yearhook 0/ comparative and
general literature 23 (1974) S. 67-78. Hannes Böhringer, Avant­
garde - Geschichten einer Metapher, in: Archiv für Begrifftge­
Jchichte 22 (1978) S. 90- 1 14.
3 Niklas Luhmann, Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion
der Kunst, in: Delfin 3 (1984) S. 51-69. Ders.: Soziale SYJleme.
Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfun am Main
1984.
4 Gespräch über Poesie, in: KritiJche Friedrich-Schlegel-AuJgabe,
Bd. 2, München/PaderbornlWien 1967, S. 324. Odo Marquard,
Gesamtkunstwerk und Identitätssystem, in: Der Hang wm Ge­
JamtkunJtwerk., Frankfun am Main 1983, S. 40-49.
5 Manin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1967, S. 169.
6 Martin Heidegger, Die Zeit des Weltbildes, in: Holzwege,
Frankfurt am Main 1963, S. 77ff.
7 Evagre le Pontique, Traite pratique ou le moine, t. 2, Paris 1971,
S. 520 ff. Jean Cassien, InJtitu#onJ cenobitiqueJ, Paris 1965,

31
S. 382ff. Karlfried Gründer, Acedia. Zum Potential eines ver­
lorenen Begriffs . . . , in: Philosophische Tradition im Dialog mit der
Gegenwart. Festschrift für Hansjörg A. Salmony, BaseVBostoni
Stuttgan 1985, S. 87-95.
8 Einleitung zu dem Entwurf eines Systems der Naturphiloso­
phie, in: Friedrich Wilhe1m Joseph Schelling: Schriften von
1 799-1801, Darmstadt 1982, S. 309.
9 Luhmann, So'Zia/e Systeme, a. a. o. S. 26.
10 Vladimir Jankelevitch, Le Je-ne-sais-quoi et /e Presquerien, 3 vol.,
Paris 1980.
11 Jean Cassien, De discretione (conlatio II), in: Jean Cassien:
ConfCrences I-VII, Paris 1955, S. 107ff. Baltasar Gracian, E/
Hiroe/E/ Discreto, Madrid 1958. Jost Trier, Der deUlJche Wortschatz
im Sinnbe'Zirk des Verstandes, Heidelberg 1973, S. 308ff.
12 Phi/olea/ia, Tomos E, Athen 1963, S. 8I.
13 Epiktet, Diatriben III 22; 23-25 u. 105.
14 Max Jähns, Geschichte der Kriegnviuenschaften, Bd. 1, München/
Leipzig 1889, S. 476 u. 719f.
15 Heinrich AppeI, Die Lehre der Scholastiker von der Synteresis, Ro­
stock 189I.
16 Josef Bernhart, Die philosophische Mystik des Mittela/ter!, Mün­
chen 1922, S. 70ff. Hans Hof, Seinti/Ia Animae. Eine Studie zu
einem Grundbegriff in Meister Eckhardts Philosophie, Lund/
Bonn 1952. Erich Köhler, Je ne sais quoi. Ein Kapitel aus der
Begriffsgeschichte des Unbegreiflichen, in: Romanistisches Jahr­
buch 6 (1953/54), S. 21f.
17 Maximilian Forschner, Die stoische Ethik, Stuttgan 1981,
S. 205 ff. Hans Jonas, Plotins Tugendlehre: Analyse und Kritik,
in: Epime/eia. Die Sorge der Philosophie um den Menschen.
H. Kuhn zum 65. Geburtstag, München 1964, S. 143-173.
18 Oraculo manual y arte de prudencia, 13 (zitiert nach: Baltasar
Gracian, Handorake/ und die Kunst der We/tk/ugheit. Deutsch von
Anhur Schopenhauer, Stuttgart 1978, S. 5 f.). Hellrnut Jansen,
Die Grundbegriffe des Ba/war Graeian, Genf/Paris 1958.
19 Erwin Panofsky, Idea, Berlin 1960, S. 47f.
20 Bernard Teyssedre, Roger de Piles et Jes dibats sur /e c% ris au siecJe
de Louis XlV., Paris 1957, S. 473 ff. Heinrich Wölfflin, Kunstge­
schichtliche Grundbegriffe, Basel/Stuttgan 1984, S. 33 ff. u.
229ff.
RÄUME - ZEITEN
VERKEHR - BEWEGUNG
M I C H E L F O U C A U LT
Andere Räume

Die große Obsession des 19. Jahrhunderts ist bekanntlich


die Geschichte gewesen: die Entwicklung und der Still­
stand, die Krise und der Kreislauf, die Akkumulation der
Vergangenheit, die Überlast der Toten, die drohende Erkal­
tung der Welt. Im Zweiten Grundsatz der Thermodynamik
hat das 19. Jahrhundert das Wesentliche seiner mythologi­
schen Ressourcen gefunden. Hingegen wäre die aktuelle
Epoche eher die Epoche des Raumes. Wir sind in der Epo­
che des Simultanen, wir sind in der Epoche der Juxtaposi­
tion, in der Epoche des Nahen und des Fernen, des Neben­
einander, des Auseinander. Wir sind, glaube ich, in einem
Moment, wo sich die Welt weniger als ein großes sich
durch die Zeit entwickelndes Leben erfährt, sondern eher
als ein Netz, das seine Punkte verknüpft und sein Gewirr
durchkreuzt. Vielleicht könnte man sagen, daß manche
ideologischen Konflikte in den heutigen Polemiken sich
zwischen den anhänglichen Nachfahren der Zeit und den
hartnäckigen Bewohnern des Raumes abspielen. Der Struk­
turalismus oder, was man unter diesem ein bißehen allge­
meinen Namen gruppiert, ist der Versuch, zwischen den
Elementen, die in der Zeit verteilt worden sein mögen, ein
Ensemble von Relationen zu etablieren, das sie als neben­
einandergestellte, einander entgegengesetzte, ineinander
enthaltene erscheinen läßt: also als eine Art Konfiguration;
dabei geht es überhaupt nicht darum, die Zeit zu leugnen;
es handelt sich um eine bestimmte Weise, das zu behan­
deln, was man die Zeit und was man die Geschichte
nennt.
Indessen muß bemerkt werden, daß der Raum der heute am
Horizont unserer Sorgen, unserer Theorie, unserer Systeme
auftaucht, keine Neuigkeit ist. Der Raum selber hat in der
abendländischen Erfahrung eine Geschichte, und es ist un­
möglich, diese schicksalhafte Kreuzung der Zeit mit dem
Raum zu verkennen. Um diese Geschichte des Raumes
ganz grob nachzuzeichnen, könnte man sagen, daß . er im
Mittelalter ein hierarchisiertes Ensemble von Orten war:
heilige Orte und profane Orte; geschützte Orte und offene,
34
Als ich ein Kind war,
sae:f,e meine Mutter zu mir:
"Wirst du Soldat, so wirst du
General werden.
Wirst du Mönch, so wirst du
Papst werden."
Icli wollte Maler werden, und
ich bin Pieasso geworden.

Pablo Pieasso
wehrlose Orte; städtische und ländliche Orte: für das wirkli­
che Leben der Menschen. Für die kosmologische Theorie
gab es die überhimmlischen Orte, die dem himmlischen
Ort entgegengesetzt waren; und der himmlische Ort setzte
sich seinerseits dem irdischen Ort entgegen. Es gab die
Orte, wo sich die Dinge befanden, weil sie anderswo ge­
waltsam entfernt worden waren, und die Orte, wo die
Dinge ihre natürliche Lagerung und Ruhe fanden. Es war
diese Hierarchie, diese Entgegensetzung, diese Durchkreu­
zung von Ortschaften, die konstituierten, was man grob den
mittelalterlichen Raum nennen könnte: Ortungsraum.

Dieser Ortungsraum hat sich mit Galilei geöffnet; denn der


wahre Skandal von Galileis Werk ist nicht so sehr die Ent­
deckung, die Wiederentdeckung, daß sich die Erde um die
Sonne dreht, sondern die Konstituierung eines unendlichen
und unendlich offenen Raumes; dergestalt, daß sich die
Ortschaft des Mittelalters gewissermaßen aufgelöst fand:
der Ort einer Sache war nur mehr ein Punkt in ihrer Bewe­
gung, so wie die Ruhe einer Sache nur mehr ihre unendlich
verlangsamte Bewegung war. Anders gesagt: seit Galilei,
seit dem 17. Jahrhundert, setzt sich die Ausdehnung an die
Stelle der Ortung.
Heutzutage setzt sich die Lagerung an die Stelle der Aus­
dehnung, die die Ortschaften ersetzt hatte. Die Lagerung
oder Plazierung wird durch die Nachbarschaftsbeziehungen
zwischen Punkten oder Elementen definiert; formal kann
man sie als Reihen, Bäume, Gitter beschreiben. Anderer­
seits kennt man die Bedeutsamkeit der Probleme der Lage­
rung in der zeitgenössischen Technik: Speicherung der In­
formation oder der Rechnungsteilresultate im Gedächtnis
einer Maschine, Zirkulation diskreter Elemente mit zufälli­
gem Ausgang (wie etwa die Autos auf einer Straße oder
auch die Töne auf einer Telefonleitung), Zuordnung von
markierten oder codierten Elementen innerhalb einer
Menge, die entweder zufällig verteilt oder univok oder plu­
rivok klassiert ist usw. Noch konkreter stellt sich das Pro­
blem der Plazierung oder der Lagerung für die Menschen
auf dem Gebiet der Demographie. Beim Problem der Men­
schenunterbringung geht es nicht bloß um die Frage, ob es
in der Welt genug Platz für den Menschen gibt - eine im-
36
merhin recht wichtige Frage, es geht auch darum zu wissen,
welche Nachbarschaftsbeziehungen, welche Stapelungen,
welche Umläufe, welche Markierungen und Klassierungen
für die Menschenelemente in bestimmten Lagen und zu be­
stimmten Zwecken gewähn werden sollen. Wir sind in ei­
ner Epoche, in der sich uns der Raum in der Form von La­
gerungsbeziehungen darbietet.

Ich glaube also, daß die heutige Unruhe grundlegend den


Raum betrifft - jedenfalls viel mehr als die Zeit. Die Zeit
erscheint wohl nur als eine der möglichen Veneilungen
zwischen den Elementen im Raum.
Trotz aller Techniken, die ihn besetzen, und dem ganzen
Wissensnetz, das ihn bestimmen oder formalisieren läßt, ist
der zeitgenössische Raum wohl noch nicht gänzlich entsa­
kralisien (im Unterschied zur Zeit, die im 19. Jahrhunden
entsakralisien worden ist). Gewiß hat es eine bestimmte
theoretische Entsakralisierung des Raumes gegeben (zu der
Galileis Werk das Signal gegeben hat), aber wir sind viel­
leicht noch nicht zu einer praktischen Entsakralisierung des
Raumes gelangt. Vielleicht ist unser Leben noch von Entge­
gensetzungen geleitet, an die man nicht rühren kann, an die
sich die Institutionen und die Praktiken noch nicht heran­
gewagt haben. Entgegensetzungen, die wir als Gegebenhei­
ten akzeptieren: z. B. zwischen dem privaten Raum und
dem öffentlichen Raum, zwischen dem Raum der Familie
und dem gesellschaftlichen Raum, zwischen dem kulturel­
len Raum und dem nützlichen Raum, zwischen dem Raum
der Freizeit und dem Raum der Arbeit. Alle diese Gegen­
sätze leben noch von einer stummen Sakralisierung. Das -
unermeßliche - Werk von Bachelard, die Beschreibungen
der Phänomenologen haben uns gelehn, daß wir nicht in ei­
nem homogenen und leeren Raum leben, sondern in einem
Raum, der mit Qualitäten aufgeladen ist, der vielleicht auch
von Phantasmen bevölken ist. Der Raum unserer ersten
Wahrnehmung, der Raum unserer Träume, der Raum unse­
rer Leidenschaften - sie enthalten in sich gleichsam innere
Qualitäten; es ist ein leichter, ätherischer, durchsichtiger
Raum, oder es ist ein dunkler, steiniger, verspemer Raum;
es ist ein Raum der Höhe, ein Raum der Gipfel, oder es ist
im Gegenteil ein Raum der Niederung, ein Raum des

37
Schlammes; es ist ein Raum, der fließt wie das Wasser; es ist
ein Raum, der fest und gefroren ist wie der Stein oder der
Kristall. Diese für die zeitgenössische Reflexion grundle­
genden Analysen betreffen vor allem den Raum des Innen.
Ich möchte nun vom Raum des Außen sprechen.

Der Raum, in dem wir leben, durch den wir aus uns heraus­
gezogen werden, in dem sich die Erosion unseres Lebens,
unserer Zeit und unserer Geschichte abspielt, dieser Raum,
der uns zernagt und auswäscht, ist selber auch ein heteroge­
ner Raum. Anders gesagt: wir leben nicht in einer Leere, in­
nerhalb derer man Individuen und Dinge einfach situieren
kann. Wir leben nicht innerhalb einer Leere, die nachträg­
lich mit bunten Farben eingefärbt wird. Wir leben inner­
halb einer Gemengelage von Beziehungen, die Plazierun­
gen definieren, die nicht aufeinander zurückzuführen und
nicht miteinander zu vereinen sind. Gewiß könnte man die
Beschreibung dieser verschiedenen Plazierungen versu­
chen, indem man das sie definierende Relationenensemble
aufsucht. So könnte man das Ensemble der Beziehungen
beschreiben, die die Verkehrsplätze definieren: die Straßen,
die Züge (ein Zug ist ein außerordentliches Beziehungs­
bündel, denn er ist etwas, was man durchquen, etwas, wo­
mit man von einem Punkt zum anderen gelangen kann, und
etwas, was selber passiert). Man könnte mit dem Bündel der
sie definierenden Relationen die provisorischen Halte­
plätze definieren - die'! Cafes, die Kinos, die Strände. Man
könnte ebenfalls mit seinem Beziehungsnetz den geschlos­
senen oder halbgeschlossenen Ruheplatz definieren, den
das Haus, das Zimmer, das Bett bilden . . . Aber was mich in­
teressien, das sind unter allen diesen Plazierungen diejeni­
gen, die die sonderbare Eigenschaft haben, sich auf alle an­
deren Plazierungen zu beziehen, aber so, daß sie die von
diesen bezeichneten oder reflektienen Verhältnisse suspen­
dieren, neutralisieren oder umkehren. Diese Räume, die
mit allen anderen in Verbindung stehen und dennoch allen
anderen Plazierungen widersprechen, gehören zwei großen
Typen an.

Es gibt zum einen die Utopien. Die Utopien sind die Pla­
zierungen ohne wirklichen On: die Plazierungen, die mit

38
dem wirklichen Raum der Gesellschaft ein Verhältnis unmit­
telbarer oder umgekehrter Analogie unterhalten. Perfektio­
nierung der Gesellschaft oder Kehrseite der Gesellschaft: j e ­
denfalls sind d i e Utopien wesentlich unwirkliche Räume.

Es gibt gleichfalls - und das wohl in jeder Kultur, in jeder


Zivilisation - wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die
Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusa­
gen Gegenplazierungen oder Widerlager, tatsächlich reali­
sierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der
Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet
sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie
tatsächlich geortet werden können. Weil diese Orte ganz
andere sind als alle Plätze, die sie reflektieren oder von de­
nen sie sprechen, nenne ich sie im Gegensatz zu den Uto­
pien die Heterotopien. Und ich glaube, daß es zwischen den
Utopien und diesen anderen Plätzen, den Heterotopien,
eine Art Misch- oder Mittelerfahrung gibt: den Spiegel. Der
Spiegel ist nämlich eine Utopie, sofern er ein Ort ohne Ort
ist. Im Spiegel sehe ich mich da, wo ich nicht bin: in einem
unwirklichen Raum, der sich virtuell hinter der Oberfläche
auftut; ich bin dort, wo ich nicht bin, eine An Schatten, der
mir meine eigene Sichtbarkeit gibt, der mich mich erblicken
läßt, wo ich abwesend bin: Utopie des Spiegels. Aber der
Spiegel ist auch eine Heterotopie, insofern er wirklich exi­
stiert und insofern er mich auf den Platz zurückschickt, den
ich wirklich einnehme; vom Spiegel aus entdecke ich mich
als abwesend auf dem Platz, wo ich bin, da ich mich dort
sehe; von diesem Blick aus, der sich auf mich richtet, und
aus der Tiefe dieses virtuellen Raumes hinter dem Glas
kehre ich zu mir zurück und beginne meine Augen wieder
auf mich zu richten und mich da wieder einzufinden, wo
ich bin. Der Spiegel funktioniert als eine Heterotopie in
dem Sinn, daß er den Platz, den ich einnehme, während ich
mich im Glas erblicke, ganz wirklich macht und mit dem
ganzen Umraum verbindet, und daß er ihn zugleich ganz
unwirklich macht, da er nur über den virtuellen Punkt dort
wahrzunehmen ist.

Was nun die eigentlichen Heterotopien anlangt: wie kann


man sie beschreiben, welchen Sinn haben sie? Man könnte

39
eine Wissenschaft annehmen - nein, lassen wir das herun­
tergekommene Wort, sagen wir: eine systematische Be­
schreibung, deren Aufgabe in einer bestimmten Gesell­
schaft das Studium, die Analyse, die Beschreibung, die
"Lektüre" (wie man j etzt gern sagt) dieser verschiedenen
Räume, dieser anderen Orte wäre: gewissermaßen eine zu­
gleich mythische und reale Bestreitung des Raumes, in dem
wir leben; diese Beschreibung könnte Heterotopologie hei­
ßen.

Erster Grundsatz. Es gibt wahrscheinlich keine einzige Kul­


tur auf der Welt, die nicht Heterotopien etabliert. Es han­
delt sich da um eine Konstante jeder menschlichen Gruppe.
Aber offensichtlich nehmen die Heterotopien sehr unter­
schiedliche Formen an und vielleicht ist nicht eine einzige
Heterotopieform zu finden, die absolut universal ist. Im­
merhin kann man sie in zwei große Typen einteilen.
In den sogenannten Urgesellschaften gibt es eine Form von
Heterotopien, die ich die Krisenheterotopien nennen
würde; d. h. es gibt privilegierte oder geheiligte oder verbo­
tene Orte, die Individuen vorbehalten sind, welche sich im
Verhältnis zur Gesellschaft und inmitten ihrer menschli­
chen Umwelt in einem Krisenzustand befinden: die Heran­
wachsenden, die menstruierenden Frauen, die Frauen im
Wochenbett, die Alten usw. In unserer Gesellschaft hören
diese Krisenheterotopien nicht auf zu verschwinden, ob­
gleich man noch Reste davon findet. So haben das Kolleg
des 19. Jahrhunderts oder der Militärdienst für die Knaben
eine solche Rolle gespielt - die ersten Äußerungen der
männlichen Sexualität sollten "anderswo" stattfinden als in
der Familie. Für die Mädchen gab es bis in die Mitte des
20. Jahrhunderts eine Tradition, die sich "Hochzeitsreise"
nannte; ein althergebrachtes Phänomen. Die Defloration
des Mädchens mußte "nirgendwo" stattfinden - da war der
Zug, das Hotel der Hochzeitsreise gerade der Ort des Nir­
gendwo: Heterotopie ohne geographische Fixierung.

Aber diese Krisenheterotopien verschwinden heute und sie


werden, glaube ich, durch Abweichungsheterotopien abge­
löst. In sie steckt man die Individuen, deren Verhalten ab­
weichend ist im Verhältnis zur Norm. Das sind die Erho-

40
lungsheime, die psychiatrischen Kliniken; das sind wohlge­
merkt auch die Gefängnisse, und man müßte auch die
Altersheime dazu zählen, die an der Grenze zwischen der
Krisenheterotopie und der Abweichungsheterotopie liegen;
denn das Alter ist eine Krise, aber auch eine Abweichung,
da in unserer Gesellschaft, wo die Freiheit die Regel ist, der
Müßiggang eine Art Abweichung ist.

Der zweite Grundsatz dieser Beschreibung der Heteroto­


pien ist, daß eine Gesellschaft im Laufe ihrer Geschichte
eine immer noch existierende Heterotopie anders funktio­
nieren lassen kann; tatsächlich hat jede Heterotopie ein
ganz bestimmtes Funktionieren innerhalb der Gesellschaft,
und dieselbe Heterotopie kann je nach der Synchronie der
Kultur, in der sie sich befindet, so oder so funktionieren.
Als Beispiel nehme ich die sonderbare Heterotopie des
Friedhofs. Der Friedhof ist sicherlich ein anderer Ort im
Verhältnis zu den gewöhnlichen kulturellen Orten; gleich­
wohl ist er ein Raum, der mit der Gesamtheit der Stätten
der Stadt oder der Gesellschaft oder des Dorfes verbunden
ist, da jedes Individuum, jede Familie auf dem Friedhof
Verwandte hat. In der abendländischen Kultur hat der
Friedhof praktisch immer existiert. Aber er hat wichtige
Mutationen erfahren. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts
war der Friedhof im Herzen der Stadt, neben der Kirche,
angesiedelt. Da gab es eine ganze Hierarchie von möglichen
Gräbern. Da war der Karner, in dem die Leichen jede Indi­
vidualität verloren; es gab einige individuelle Gräber; und
dann gab es innerhalb der Kirche die Grüfte, die wieder
von zweierlei Art waren: entweder einfach Steinplatten mit
Inschrift oder Mausoleen mit Statuen usw. Dieser Friedhof,
der im geheiligten Raum der Kirche untergebracht war, hat
in den modernen Zivilisationen eine ganz andere Richtung
eingeschlagen; ausgerechnet in der Epoche, in der die Zivi­
lisation, wie man gemeinhin sagt, "atheistisch" geworden
ist, hat die abendländische Kultur den Kult der Toten in­
stalliert. Im Grunde war es natürlich, daß man in der Zeit,
da man tatsächlich an die Auferstehung der Leiber und an
die Unsterblichkeit der Seele glaubte, den sterblichen Über­
resten keine besondere Bedeutung zumaß. Sobald man je­
doch nicht mehr ganz sicher ist, daß man eine Seele hat,

41
daß der Leib auferstehen wird, muß man vielleicht dem
sterblichen Rest viel mehr Aufmerksamkeit schenken, der
schließlich die einzige Spur unserer Existenz inmitten der
Welt und der Worte ist. Jedenfalls hat seit dem 19. Jahrhun­
dert j edermann ein Recht auf seinen kleinen Kasten für
seine kleine persönliche Verwesung; andererseits hat man
erst seit dem 19. Jahrhundert begonnen, die . Friedhöfe an
den äußeren Rand der Städte zu legen. Zusammen mit der
Individualisierung des Todes und mit der bürgerlichen An­
eignung des Friedhofs ist die Angst vor dem Tod als
"Krankheit" entstanden. Es sind die Toten, so unterstellt
man, die den Lebenden die Krankheiten bringen, und es ist
die Gegenwart, die Nähe der Toten gleich neben den Häu­
sern, gleich neben der Kirche, fast mitten auf der Straße, es
ist diese Nähe, die den Tod selber verbreitet. Das große
Thema der durch die Ansteckung der Friedhöfe verbreite­
ten Krankheit hat das Ende des 18. Jahrhunderts geprägt;
und erst im Laufe des 19. Jahrhunderts hat man begonnen,
die Verlegung der Friedhöfe in die Vorstädte vorzuneh­
men. Seither bilden die Friedhöfe nicht mehr den heiligen
und unsterblichen Bauch der Stadt, sondern die "andere
Stadt", wo jede Familie ihre schwarze Bleibe besitzt.

Dritter Grundsatz. Die Heterotopie vermag an einen einzi­


gen Ort mehrere Räume, mehrere Plazierungen zusammen­
zulegen, die an sich unvereinbar sind. So läßt das Theater
auf dem Viereck der Bühne eine ganze Reihe von einander
fremden Orten aufeinander folgen; so ist das Kino ein
merkwürdiger viereckiger Saal, in dessen Hintergrund man
einen zweidimensionalen Schirm einen dreidimensionalen
Raum sich projizieren sieht. Aber vielleicht ist die älteste
dieser Heterotopien mit widersprüchlichen Plazierungen
der Garten. Man muß nicht vergessen, daß der Garten,
diese erstaunliche Schöpfung von Jahrtausenden, im Orient
sehr tiefe und gleichsam übereinander gelagerte Bedeutun­
gen hatte. Der traditionelle Garten der Perser war ein gehei­
ligter Raum, der in seinem Rechteck vier Teile enthalten
mußte, die die vier Teile der Welt repräsentierten, und au­
ßerdem einen noch heiligeren Raum in der Mitte, der
gleichsam der Nabel der Welt war (dort befanden sich das
Becken und der Wasserstrahl); und die ganze Vegetation

42
des Gartens mußte sich in diesem Mikrokosmos verteilen.
Und die Teppiche waren ursprünglich Reproduktionen von
Gärten: der Garten ist ein Teppich, auf dem die ganze Welt
ihre symbolische Vollkommenheit erreicht, und der Tep­
pich ist so etwas wie ein im Raum mobiler Garten. Der Gar­
ten ist die kleinste Parzelle der Welt und darauf ist er die
Totalität der Welt. Der Garten ist seit dem ältesten Alter­
tum eine selige und universalisierende Heterotopie (daher
unsere zoologischen Gärten).

Vierter Grundsatz. Die Heterotopien sind häufig an Zeit­


schnitte gebunden, d. h. an etwas, was man symmetrischer­
weise Heterochronien nennen könnte. Die Heterotopie er­
reicht ihr volles Funktionieren, wenn die Menschen mit
ihrer herkömmlichen Zeit brechen. Man sieht daran, daß
der Friedhof ein eminent heterotopischer Ort ist; denn er
beginnt mit der sonderbaren Heterochronie, die für das In­
dividuum der Verlust des Lebens ist und die Quasi-Ewig­
keit, in der es nicht aufhört, sich zu zersetzen und zu verwi­
schen.

Überhaupt organisieren und arrangieren sich Heterotopie


und Heterochronie in einer Gesellschaft wie der unsrigen
auf ziemlich komplexe Weise. Es gibt einmal die Heteroto­
pien der sich endlos akkumulierenden Zeit, z. B. die Mu­
seen, die Bibliotheken. Museen und Bibliotheken sind He­
terotopien, in denen die Zeit nicht aufhört, sich auf den
Gipfel ihrer selber zu stapeln und zu drängen, während im
17. und noch bis zum Ende des 18. Jahrhunderts die Mu­
seen und die Bibliotheken Ausdruck einer individuellen
Wahl waren. Doch die Idee, alles zu akkumulieren, die
Idee, eine Art Generalarchiv zusammenzutragen, der Wille,
an einern Ort alle Zeiten, alle Epochen, alle Formen, alle
Geschmäcker einzuschließen, die Idee, einen Ort aller Zei­
ten zu installieren, der selber außer der Zeit und sicher vor
ihrem Zahn sein soll, das Projekt, solchermaßen eine fort­
währende und unbegrenzte Anhäufung der Zeit an einern
unerschütterlichen Ort zu organisieren - all das gehört un­
serer Modernität an. Das Museum und die Bibliothek sind
Heterotopien, die der abendländischen Kultur des 19. Jahr­
hunderts eigen sind. -

43
Gegenüber diesen Heterotopien, die an die Speicherung
der Zeit gebunden sind, gibt es Heterotopien, die im Ge­
genteil an das Flüchtigste, an das Vorübergehendste, an das
Prekärste der Zeit geknüpft sind: in der Weise des Festes.
Das sind nicht mehr ewigkeitliche, sondern absolut chroni­
sche Heterotopien. So die Festwiesen, diese wundersamen
leeren Plätze an Rand der Städte, die sich ein- oder zweimal
jährlich mit Baracken, Schaustellungen, heterogensten Ob­
jekten, Kämpfern, Schlangenfrauen, Wahrsagerinnen usw.
bevölkern. Jüngst noch hat man eine neue chronische Hete­
rotopie erfunden, es sind die Feriendörfer: diese polynesi­
schen Dörfer, die den Bewohnern der Städte drei kurze
Wochen einer ursprünglichen und ewigen Nacktheit bie­
ten. Sofern sich da zwei Heterotopien treffen, die des
Festes und die der Ewigkeit der sich akkumulierenden Zeit,
sind die Strohhütten von Djerba auch Verwandte der Bi­
bliotheken und der Museen; denn indem man ins polynesi­
sche Leben eintaucht, hebt man die Zeit auf; aber ebenso
findet die Zeit sich wieder, und die ganze Geschichte der
Menschheit steigt zu ihrer Quelle zurück wie in einem gro­
ßen unmittelbaren Wissen.

Fünfter Grundsatz. Die Heterotopien setzen immer ein Sy­


stem von Öffnungen und Schließungen voraus, das sie
gleichzeitig isoliert und durchdringlich macht. Im allgemei­
nen ist ein heterotopischer Platz nicht ohne weiteres zu­
gänglich. Entweder wird man zum Eintritt gezwungen, das
ist der Fall der Kaserne, der Fall des Gefängnisses, oder
man muß sich Riten und Reinigungen unterziehen. Man
kann nur mit einer gewissen Erlaubnis und mit der Vollzie­
hung gewisser Gesten eintreten. Übrigens gibt es sogar He­
terotopien, die gänzlich den Reinigungsaktivitäten gewid­
met sind - ob es sich nun um die halb religiöse, halb
hygienische Reinigung in den islamischen Hammam han­
delt oder um die anscheinend rein hygienische Reinigung
wie in den skandinavischen Saunas. Es gibt aber auch Hete­
rotopien, die ganz nach Öffnungen aussehen, jedoch zu­
meist sonderbare Ausschließungen bergen. Jeder kann
diese heterotopischen Plätze betreten, aber in Wahrheit ist
es nur eine Illusion: man glaubt einzutreten und ist damit
ausgeschlossen. Ich denke etwa an die berühmten Kam-

44
mern in den großen Pachthöfen Brasiliens oder überhaupt
Südamerikas. Die Eingangstür führte gerade nicht in die
Wohnung der Familie. Jeder Passant, jeder Reisende durfte
diese Tür öffnen, in die Kammer eintreten und darin eine
Nacht schlafen. Diese Kammern waren so, daß der An­
kömmling niemals mit der Familie zusammenkam. So ein
Gast war kein Eingeladener, sondern nur ein Vorbeigänger.
Dieser Heterotopietyp, der in unseren Zivilisationen prak­
tisch verschwunden ist, ließe sich vieHeicht in den Zim­
mern der amerikanischen Motels wied erfinden, wo man mit
seinem Wagen und mit seiner Freundin einfährt und wo
die illegale Sexualität zugleich geschützt und versteckt ist:
ausgelagert, ohne ins Freie gesetzt zu sein.

Der letzte Zug der Heterotopien besteht schließlich darin,


daß sie gegenüber dem verbleibenden Raum eine Funktion
haben. Diese entfaltet sich zwischen zwei extremen Polen.
Entweder haben sie einen Illusionsraum zu schaffen, der
den gesamten Realraum, alle Plazierungen, in die das
menschliche Leben gesperrt ist, als noch illusorischer de­
nunziert. VieHeicht ist es diese RoHe, die lange Zeit die be­
rühmten BordeHe gespielt haben, deren man sich nun be­
raubt findet. Oder man schafft einen anderen Raum, einen
anderen wirklichen Raum, der so vollkommen, so sorgfältig,
so wohlgeordnet ist wie der unsrige ungeordnet, mißraten
und wirr ist. Das wäre also nicht die Illusionsheterotopie,
sondern die Kompensationsheterotopie, und ich frage
mich, ob nicht Kolonien ein bißchen so funktioniert haben.
In einigen Fällen haben sie für die Gesamtorganisation des
Erdenraums die RoHe der Heterotopie gespielt. Ich denke
etwa an die erste KolonisationsweHe im 17. Jahrhundert, an
die puritanischen Gesellschaften, die die Engländer in
Amerika gründeten und die absolut vollkommene andere
Orte waren. Ich denke auch an die außerordentlichen Jesui­
tenkolonien, die in Südamerika gegründet worden sind:
vortreffliche, absolut geregelte Kolonien, in denen die
menschliche Vollkommenheit tatsächlich erreicht war. Die
Jesuiten haben in Paraguay Kolonien errichtet, in denen die
Existenz in jedem ihrer Punkte geregelt war. Das Dorf war
in einer strengen Ordnung um einen rechteckigen Platz an­
gelegt, an dessen Ende die Kirche stand; an einer Seite das

45
Kolleg, an der andern der Friedhof, und gegenüber der Kir­
che öffnete sich eine Straße, die eine andere im rechten
Winkel kreuzte. Die Familien hatten jeweils ihre kleine
Hütte an diesen beiden Achsen, und so fand sich das Zei­
chen Christi genau reproduziert. Die Christenheit mar­
kierte so mit ihrem Grundzeichen den Raum und die Geo­
graphie der amerikanischen Welt. Das tägliche Leben der
Individuen wurde nicht mit der Pfeife, sondern mit der
Glocke geregelt. Das Erwachen war für alle auf dieselbe
Stunde festgesetzt; die Arbeit begann für alle zur selben
Stunde; die Mahlzeiten waren um 12 und 5 Uhr; dann legte
man sich nieder, und zur Mitternacht gab es das, was man
das Ehewachen nannte, d. h. wenn die Glocke des Klosters
ertönte, erfüllte jeder seine Pflicht.

Bordelle und Kolonien sind zwei extreme Typen der Hete­


rotopie, und wenn man daran denkt, daß das Schiff ein
schaukelndes Stück Raum ist, ein Ort ohne Ort, der aus sich
selber lebt, der in sich geschlossen ist und gleichzeitig dem
Unendlichen des Meeres ausgeliefert ist und der, von Ha­
fen zu Hafen, von Ladung zu Ladung, von Bordell zu Bor­
dell, bis zu den Kolonien suchen fährt, was sie an Kostbar­
stem in ihren Gärten bergen, dann versteht man, warum das
Schiff für unsere Zivilisation vom 16. Jahrhundert bis in un­
sere Tage nicht nur das größte Instrument der wirtschaftli­
chen Entwicklung gewesen ist (nicht davon spreche ich
heute), sondern auch das größte Imaginationsarsenal. Das
Schiff, das ist die Heterotopie schlechthin. In den Zivilisa­
tionen ohne Schiff versiegen die Träume, die Spionage er­
setzt das Abenteuer und die Polizei die Freibeuter.

Aus dem Französischen von Walter Seilter


PAUL VIRILIO
Fahrzeug

Wo sind wir. wenn wir reisen? Wo liegt dies "Land der Ge­
schwindigkeit". das nie genau mit dem zusammenfällt. das
wir durchqueren? Die Frage der Bewegung wirft wieder die
des Wohnens auf. Wenn wir zum Taxifahrer sagen: "Fahren
Sie SO SCHNELL WIE MÖGLICH!". was wissen wir da
von der Geschwindigkeit des Taxis? IN GESCHWINDIG­
KEIT. das ist so ähnlich wie IN CHINA. einer anderen Ge­
gend. einem anderen Kontinent. den wir zu kennen vorge­
ben.
Das Fahrzeug. das am Straßenrand steht. ist nichts als ein
Sofa mit vier oder fünf Plätzen . . . Wenn es nun startet und
mit voller Geschwindigkeit durch die Straßen der Stadt
fährt. wenn das Möbel verschwindet und seine Öffnungen
zu leben beginnen - wo sind wir da? In der Tat ist das Au­
tomobil ein Projektor. ein Projektor. dessen Geschwindig­
keit wir mit der Schaltung regeln. Doch was bedeutet das
Schalten. diese Veränderung der Geschwindigkeit. wenn
wir Sinn und Bedeutung der Geschwindigkeit überhaupt
nicht kennen? Wir gehen von einem Bewegungszustand
zum nächsten über. ohne uns darum zu kümmern. was sie
bedeuten; wir werden mitgenommen an ein Ziel. einen Ort.
werden an den Endpunkt unserer Strecke befördert. aber
das Hier und Jetzt der Geschwindigkeit und der Beschleu­
nigung entgehen uns. obwohl sie schwersten Einfluß auf
das 'Bild der durchquerten Landschaft haben. denn zwi­
schen zwanzig und zweihundert Stundenkilometern ist die
Bildes radikal verschieden.
Deutlichkeit des vorbeihuschenden
Doch der Begriff des Bildes. so wie er eben eingeführt
wurde. bedarf der Erläuterung. Wenn wir durch ein Feld
gehen. sprechen wir von einem FELD. wenn wir aber mit
dem Auto durch die Beauce. die Landschaft südwestlich
von Paris. fahren. werden die belebten Felder KINETISCH
und keiner würde sich einfallen lassen. diese "Sequenzen"
mit ihrer geographischen Realität zu verwechseln. Etwa so
wie die filmische Beschleunigung oder Verlangsamung eine
zweite Realität. die einer anderen Zeit. aufzeigt. so führen
uns die hohen Reisegeschwindigkeiten der modernen Fahr-

47
zeuge, wie aus einer Stadt in eine andere, von einer Realität
in eine andere; in diesem Sinne ist das Automobil ein AU­
TOKOMMUTATOR, ein Selbstschalter; der Motor des Au­
tos und der des Projektors haben einen ähnlichen Effekt:
bei des sind Übertragungsmittel.
Obwohl der Fußgänger selber ein Fahrzeug ist, ein META­
BOLISCHES FAHRZEUG mit eigenem Tempo, gibt es
eine Identität und Identifikation des Körpers mit seiner Ge­
schwindigkeit; leben, LEBENDIG sein heißt Geschwindig­
keit sein. Ich kenne meine Geschwindigkeit, so wie ich den
Körper kenne, der sie produziert. Auch mein lebendiger
Körper ist ein dauerndes Umschalten, ein Geschwindig­
keitswechsel; mein Leben, meine Biographie, das alles sind
GESCHWINDIGKEITEN. Ich lebe in einer biologischen
und physiologischen Zeit, die nicht die einer Pflanze ist, ich
habe eine begrenzte Lebensdauer, nehme bestimmte Phäno­
mene wahr, besitze die Fähigkeit mich zu bewegen - all das
bildet den Körper und die Begrenzung meines Lebens.

Historisch gesehen vollzieht sich das erste Umschalten in


der Ordnung der Geschwindigkeiten mit dem Gebrauch
der beiden großen Archetypen von Beförderungsmitteln:
dem Pferd und dem Schiff. Mit ihnen ereignet sich ein au­
ßerordentlicher qualitativer Einschnitt; die Kopplung ani­
malischer Körper ( Pferd, Dromedar, Elefant, Strauß usw.)
liefert die ersten Medien der Bewegung, die ersten Fahr­
zeuge der menschlichen Gattung. Beobachten wir heute ei­
nen Reiter zu Pferde, so verstellt uns die Reitkunst den
Blick auf das Unerhörte einer solchen Verbindung zweier
metabolischer Systeme.
Man wundert sich über Götter, die auf Seeungeheuern rei­
ten, staunt über fliegende Gespanne, ABER der Zentaur
verdiente viel mehr Aufmerksamkeit. Seit jener Zeit hat
sich eine "Aristokratie der Geschwindigkeit" gebildet, ohne
die keine Tyrannei, keine Feudalherrschaft existieren
könnte. Das Pferd wurde zur WÄHRUNGSEINHEIT ["eta­
lon" - was sowohl "Hengst" als auch (etalon monetaire)
"Maß", "Währung" bedeuten kann; Anm. d. Ü.] , zum BE­
WEGLICHEN fahrbaren Geld wie das Salz, und die Gold-,
Silber- und Kupferverarbeitung kam demgegenüber nur zö­
gernd auf.

48
Dem Nachen, der auf die Meere hinausführt, gibt die Was­
serfläche, über die er rasch dahingleitet, eine eigentümliche
Macht: an diesem Nicht-Ort, auf See, gewinnt das Schiff
eine Vektor-Macht, die ebenso untrennbar mit der politi­
schen Geschichte des Abendlandes verbunden ist. Diese
bei den Archetypen haben wir zu lange und zu leichtfertig
von ihren Wirkungen her als reine TRANSPORTEURE,
reine Übermittler, beurteilt, während ihr informativer Ge­
halt weitgehend unbekannt geblieben ist. Und selbst nach­
dem die Nachricht, die Botschaft, diese Luxusware uns da­
hin gebracht hat, die Geschwindigkeit endlich als eine
Information anzusehen, ist die Analyse nicht bis zu dem
vorgedrungen, was den REITER und den SEEFAHRER
von Anfang an verbindet; zu lange haben die übertragenen
Botschaften und Weisungen die Geschwindigkeit der Über­
tragung verdeckt.

Aber es gibt auch ein Phänomen von NÄHE, das hier ins
Auge gefaßt werden muß. Die Geschwindigkeit, mit der die
Objekte über den Bildschirm des Guckfensters wandern,
hängt auch vom Grad ihrer Nähe ab; je weiter das Flugzeug
sich vom Erdboden entfernt, um so langsamer zieht die
überflogene Landschaft vorbei; die Welt wird statisch. Die
mit sehr hoher Geschwindigkeit aufsteigende Maschine er­
reicht einen Punkt, an dem aus der Entfernung alles stillzu­
stehen scheint.
Für den Blick aus dem Fenster des Automobils scheint der
Vordergrund blitzschnell zu verschwinden, während der
Hintergrund nur langsam wegrückt. In der frühesten litera­
rischen Behandlung der Geschwindigkeit! haben die Rei­
senden ein Gespür für diese Magie und vergleichen häufig
den Zug mit einer LATERNA MAGICA, gleichsam als sei
die Dynamik der Phantasmagorie, dem Wahn verschwistert
(wie ehedem das Wasser) und die Statik der Vernunft.
In der Tat beginnt ein Umsturz in der Ordnung der Wahr­
nehmung mit dem Aufkommen der Dampfkraft, wie Hugo
in "En voyage", bezeugt, wenn er schreibt: "Die Schnellig­
keit ist unerhört, die Blumen am Wege sind keine Blumen
mehr, sondern Flecken oder eher noch rote und weiße Stri­
che, KEINE PUNKTE MEHR, NUR NOCH STRICHE."
[Hervorh. P. V.]

49
Das spektakuläre Auftauchen der Linearität, der Geradlinig­
keit mit der zunehmenden Geschwindigkeit der Fahrzeuge
bekräftigt die der großen Kommunikationswege, der römi­
schen Straßen, Königsstraßen, Eisenbahnlinien, National­
straßen und bald der Schnellstraßen und Autobahnen. Der
im Vordergrund vorbeihuschende Streifen spiegelt nur die
Geradlinigkeit oder richtiger die Begradigung wieder, die
die Landschaft durch die Eisenbahnlinie erfährt. So wie der
Kondensstreifen des Flugzeugs eine Luftstraße anzeigt, die
tatsächlich nur die FLUGBAHN DES JETS ist, so sind auch
die Straße oder die Schiene Flugbahnen, ist die Infrastruk­
tur der Straßen oder Eisenbahnen ein FAHRZEUG, "stati­
sches" Fahrzeug, auf das das "dynamische" Fahrzeug ange­
wiesen ist, weil es ihm erlaubt, die mehr oder weniger
starken Unebenheiten der Erdoberfläche und die verschie­
densten Hindernisse zu "überqueren". So wie die BRÜCKE
eine STRASSE ist, die den Fluß überquert, so ist die Straße
eine Brücke, die den Wald durchquert, lind alle Straßen Brtik­
ken, Punkte, die zu Strichen geworden sind, Geraden, die endlos
weiterlaufen [la droite - die Rechte, die Gerade; Anm. d.
ü.].
Die allererste Funktion der GESCHWINDIGKEIT ist es
daher, den Sinn und die Bedeutung der Geraden und - was
weniger deutlich ist - des RECHTS und der Gerechtigkeit
festzulegen [le droit - das Recht; Anm. d. Ü.] .

Ein wenig wie bei j enem Architekten, für den die Gerade
und der rechte Winkel absolute Zeichen von Zivilisation
waren, die Geomorphologie aber das Urchaos, so hat offen­
bar die Popularisierung, das heißt die angebliche Demokra­
tisierung der hohen Geschwindigkeiten die starre Gerade
weit über alles Verschlungene gestellt, über die unheilvolle
Gestalt der sich windenden Schlange und die Kurve, die das
Tempo der Fahrt bremst und durch die Zentrifugalkraft ge­
fährlicher macht; aB das läßt ein mythisches, ein mythologi­
sches Klima auferstehen, in dem es wieder von Drachen,
Meeresschlangen und labyrinthischen Gängen wimmelt -
Gestalten einer durchquerten, durchfahrenen Welt.

Die auf der Windschutzscheibe erscheinende (illusorische)


Be1ebtheit erweitert die Natur um etwas, was ehedem den

50
Fabeltieren zukam. Die wandelbare Geographie des Landes
der Geschwindigkeit tritt im letzten Jahrhundert in die Ge­
schichte ein, um das Bestiarium dunkler Vorzeit wieder auf­
leben zu lassen. Die Ordnung des ländlichen Lebens, die
Ruhe des Landes werden über den Haufen geworfen von
der industriellen Revolution, dem Bergwerk, der Fabrik,
und werden es künftig noch mehr durch die Revolution des
Transportwesens, das heißt den exponentiellen Anstieg der
Geschwindigkeit der Massenkommunikationsmittel. Tele­
graf, Telefon, Radio und Fernsehen zeichnen sich schon im
Abteilfenster des Zuges oder im Heckfenster des Autos ab.
Was dort gegen den Horizont entschwindet, ist die erste
Realität, Raum und Gegenstand der Erfahrung, zugunsten
der der raschen Ortsveränderung, des Gespürs für die
Dinge und Stoffe, die zu Zeichen und Anweisungen wer­
den. Wie Kafka voraussah, setzt der Reiz der hohen Ge­
schwindigkeiten die Identität zugunsten der Konformität
herab: am Ende legen das Kino, die Kinetik, dem Auge eine
Uniform an. Die Einlinigkeit und Einförmigkeit begleiten
die Eroberung des neuen und letzten Kontinents, des Kon­
tinents der Geschwindigkeit.
Wie Benjamin Gastineau in "La Vie en chemin de fer" prä­
zisiert: "Vor der Erschaffung der Eisenbahn regte die Natur
sich nicht mehr . . . die Himmel selbst schienen unbeweglich.
Der Himmel ist eine
Die EiJenbahn hat alle! belebt, alle! bewegt.
lebendige Unendlichkeit geworden." [Hervorh. P. V.]
Die ganze Bewegung der modernen Physik, die 1916 zur
allgemeinen Relativitätstheorie führen wird, zeichnet sich
hier ab, aber es ist auch der unwiderrufliche Eintritt in ein
Universum reiner Gewalt, das von der atomaren Technik
entfesselt wurde. Nach der Gewalt in der Entwicklung der
Arten a la Darwin folgt jetzt die Zerstörung der Umwelt . . .
Wenn das Zugfenster eine Laterna magica ist, so läßt sie die
Schatten der Wissenschaft erscheinen. Auch das Auto ist
eine Dunkelkammer, die die Bestandteile unserer Alltags­
welt zu bewegten Partikeln, zu Parabeln werden läßt. Wenn
die PÄDAGOGIK ursprünglich die Verbindung des Sinns
und des Fußmarsches in den Gärten Akademos' war, wenn
die langsame Annäherung einen sinnvollen Zusammenhang
zwischen den Elementen der durchschrittenen Welt stif­
tete, so schieben die hohen Geschwindigkeiten die Bedeu-

51
tungen ineinander, bis sie sie schließlich ganz auflösen wie
das Licht die Farben auflöst. Doch dies Flimmern der Ge­
schwindigkeit führt zum vorübergehenden Erblinden, zum
blinden Passagier. Die Reise wird zur Strategie der Verschiebung.
zum reinen Pro-jekt, zu einem Gleiten des Gefühls, des Takts
und der Taktik, von der Erfahrung zur strategischen
Übung. So kurz sie auch sein mag, die Fahrt von einem Ziel
zum anderen, von einer Stadt zur anderen wird zum bloßen
Unwohlsein des Wartens auf die Ankunft, die Weltreise
wird zur Herzbeschwerde. Dieses Unbehagen ähnelt einer
Desorientierung, bei der der Schwindel (der Streß) die er­
sten Wirkungen einer Depersonalisierung anzeigt, an der
das Fortbewegungsmittel Schuld trägt.
Das Fahren erzeugt Übelkeit (See-, Luft-, Reisekrankheit),
so als schlüge das Zusammenschieben der Bedeutungen di­
rekt auf den Magen, so als erzeugten visuelle und orale Auf­
nahmen ein und dasselbe Phänomen von Lebensmittelver­
giftung.

Das Verschwinden der Einzelheiten der Welt im Flimmern


der Geschwindigkeit läßt die gleichen Symptome fühlbar
werden: Ohrensausen, Sichtstörungen, Bild- und Farbaus­
fälle . In hohen Dosen, das heißt bei hoher Geschwindigkeit,
führt das Autofahren an den Rand der Bewußtlosigkeit - zu
schneller Ortswechsel ist mit Vorsicht zu genießen . . .
Die schnelle Bewegung hat die Erfahrung des durchquerten
Bereichs mit Eis überzogen, die Tatsachen haben sich auf­
gelöst, wie in der Wüste haben wir keinen Anhaltspunkt
mehr außer uns selbst, die Relativität führt uns in die Irre -
der Kontinent der Geschwindigkeit wäre demnach der bru­
tale Einbruch eines Nicht-Ortes in die Geschichte, die
Fahrzeugwelt hätte so schließlich die letzte Enklave aufgelöst,
und die Industrie (die industrielle Revolution) zeigte sich
nur noch als Fabrikation von Geschwindigkeit.
Mit dieser letzten Enklave aber löste sich zugleich der Bo­
den der Erfahrung auf . . . Ablösung der Netzhaut, Bruch
der Nähe und endgü lt iger Übergang zur Vermittlung durch
das Fahrzeug - Merkmale einer Gesellschaft, die dazu
übergeht, die Mittel (der Übertragung, der Kommunika­
tion) für den Zweck, für das Ziel zu halten.
Kehrt man für einen Augenblick zurück zur industriellen

52
Revolution, so stellt man fest , daß sie logisch zu diesem Ex­
trem führt; sie beginnt mit der Perfektionierung der großen
Fahrzeug-Archetypen: dem Dampfroß und dem Dampf­
schiff, die aus der Welt einen "Streckenteppich" machen,
von den Schienensträngen bis zum Bau der großen Isthmen
und internationalen Schiffahrtskanäle im Lauf des 19. Jahr­
hunderts.
Das Kapital fließt stromauf und stromab, vom Handel in die
Industrie oder von den Konsumgüterindustrien in die Basis­
industrien, Eisenverarbeitung, Chemie, um endlich bei den
Quellen der Energie anzukommen, den Basisenergien, Öl
und Petroleum, bis schließlich mit dem Atom die reine
Kraft auftaucht: die Energie ist zugleich die absolute Waffe,
das Mittel ist zum Zweck geworden.

Bereits 1863 erklärt B. Gastineau: nDie Entfernung ist nur noch


eine ideelle Große, der Raum nur noch eine metaphysische Entität,
der jegliche Realität abhanden gekommen ist. " Die Dampfma­
schine ist eine Kriegsmaschine, sie destruiert beziehungs­
weise dekonstruiert das gesellschaftliche Kontinuum; die
Bewegung ist nicht mehr bloß die Seele des Krieges, son­
dern wird zu der des technischen Fortschritts, der sich dem
Mythos der Omnipräsenz nähert. Heine schrieb schon im
Jahre 1843: "Durch die Eisenbahn�n wird der Raum getöd­
tet, und es bleibt uns nur noch die Zeit übrig. Hätten wir
nur Geld genug, um auch letztere anständig zu tödten! In
vierthalb Stunden reist man jetzt nach Orleans, in ebenso
viel Stunden nach Rouen. Was wird das erst geben, wenn
die Linien nach Belgien und Deutschland ausgeführt und
mit den dortigen Bahnen verbunden seyn werden! Mir ist,
als kämen die Berge und Wälder aller Länder auf Paris ange­
rückt. Ich rieche schon den Duft der deutschen Linden; vor
meiner Thüre brandet die Nordsee."
Zum endgültigen Anschluß der Gleisabschnitte kommt es
anläßlich der Invasion von 1870, bei der die Truppenkon­
zentration mittels Eisenbahn eine bedeutende Rolle spielt.
Wie der Südstaaten-General McClellan in einer Aufzeich­
nung aus dem Jahre 1861 erklärte: nDie Eisenbahnen haben
durch die Möglichkeit der raschen Konzentration von Mauen, die an
anderer Stelle abgezogen worden sind, und durch die Schaffung
neuer strategischer Punkte und neuer Operationslinien

53
ein neues und wichtiges Element in den Krieg eingeführt."
Das ist mit anderen Worten dasselbe, was Renan dem Fer­
dinand de Lesseps prophezeite: "Mit ihrem Kanal haben sie
eine unabsehbare Zeit mörderischer Konflikte begründet."
Indem man mit der Transportindustrie die Fabrikation der
Geschwindigkeit erhöht und unablässig die Leitfähigkeit, die
Durchdringbarkeit der durchquerten Orte und Gegenden
verbessert, beschleunigt man auch ihre Auflösung und Zer­
streuung. Die Nutzung der Dampfkraft und des "Panzer­
dampfers" in Eisenbahn und Schiffahrt stellt nicht ein Kapi­
tel unter anderen in der Entwicklung der Industrie dar,
sondern ist ihr Wesen und eine der Voraussetzungen für
das Aufkommen der großen Kolonialreiche. Der Kult der
Basisenergie und der territoriale Relativismus liegen diesem
System zugrunde (bis hin zu den heutigen Rohstoffproble­
men der Dritten Welt) . Die Eisenbahn bildet den Ursprung
eines neuen Katasters. Jeder kennt die gewaltigen Kämpfe
um den Bau der Eisenbahn durch den amerikanischen We­
sten, in denen das Dampfroß auch Streitroß war, und die
transkontinentale Prosa, die Blaise Cendrars liebte, ist ein
Kriegsgesang, eine Militärmusik:
»Hauptbahnhof Abiegelteile der Willen, Kreuzung der Raltloligkei­
ten . . . in all den Bahnhöfen sah ich die letzten Züge abfah­
ren, niemand konnte mehr fahren, denn es wurden keine
Fahrkarten mehr ausgegeben, und die abfahrenden Solda­
ten wären gern geblieben . . . "
"All die flüchtig gesehenen Gesichter in den Bahnhöfen, all
die Wanduhren, die Uhrzeit von Paris, die Uhrzeit von Ber­
lin, die Uhrzeit von Sankt-Petersburg und die Uhrzeit aller
Bahnhöfe . . . Jeden Morgen stellt man die Uhren, der Zug
geht vor, die Sonne nach . . .
Der Schienenltrang ilt eine neue Geometrie.
Syrakus, Archimedes und die Soldaten, die ihn erschlugen,
und die Galeeren und die Schiffe und die gewaltigen Ma­
schinen, die er erfand, und all die Gemetzel . . .
Ich habe gesehen,
ich habe die lautlosen Züge gesehen, die schwarzen Züge,
die aus dem Fernen Osten zurückkamen und wie Gespen­
ster vorbeiflogen,
und wie das Rücklicht läuft noch mein Auge diesen Zügen
nach.

54
In Taiga kamen 10000 Verletzte um, weil niemand sich u m
sie kümmerte.
Ich habe die Lazarette von Krasnojarsk besichtigt, und in
Khilok sind wir einem langen Zug wahnsinniger Soldaten
begegnet . . . 2
..

Umweltverschmutzung, Bevölkerungsentwicklung, Roh­


stoffknappheit - beunruhigender als all das ist zweifellos
die konstante Zunahme hoher Geschwindigkeiten; die Be­
schleunigung ist buchstäblich DAS END-ZIEL DER
WELT! ["FIN" kann außer "ENDE" auch noch "ZIEL" be­
deuten; Anm. d. Ü.]
Der noch ungedachte, aber keineswegs undenkbare Augen­
blick, wenn man nicht mehr einige Stunden braucht, um
nach New Y ork oder Rio zu fliegen, sondern zehn Minu­
ten, in der zweiten Klasse . . .

Beunruhigend auch die Verbote, die dann das Fahren be­


treffen werden. Die Verkehrsordnung wird jeden angehen,
etwa so wie in jenen Klöstern, in denen es verboten war zu
laufen, etwa so wie in jenen Lagern, wo man nicht langsa­
mer gehen darf, als es den Wärtern gefällt. Das Ende der
Welt wird unbestritten mit jener Generation von techni­
schen Fahrzeugen kommen, die den Raum der menschli­
chen Gattung abschaffen und damit eine rigorose Verwal­
tung der Reisezeiten notwendig machen; dem Ministerium
für Raumplanung wird das für Zeitplanung folgen.
Die negativen Folgen der räumlichen Trennung sind uns be­
kannt, umso mehr als wir seit einem Jahrhundert gegen sie
ankämpfen. Wer aber stellt sich die Unzufriedenheit und
die Ungeduld vor, die uns ergreifen werden, wenn erst die
Ufer des Pazifik näher liegen werden als· die Seine für je­
mand, der am Montmartre oder Montparnasse wohnt? . . .
Wenn das Mittel (der Transport) zum End-Zweck des mög­
lichen Raumes geworden ist - was bleibt uns dann?
An dem Tag, an dem uns das Überschallflugzeug wie der
Fotoapparat erlauben wird, jede beliebige Momentaufnahme
von der Welt zu machen, werden wir zu jenem lichtemp­
findlichen Film, den ein Nichts "überbelichten" kann und
dessen Bilder durch Doppelbelichtung schleierhaft werden.
Worauf werden wir warten, wenn wir nicht mehr warten
müssen um anzukommen . . . ?

55
Schon unser gegenwärtiges schnelles Reisen ist kaum mehr
als das Warten auf die Ankunft - was wird es sein, wenn
selbst diese kurze Wartezeit entfällt? Die nächste Umge­
bung, einen kurzen Fußweg entfernt, wird uns fern erschei­
nen; die Ungeduld des Wartens werden wir auf unsere
nächste Umwelt übertragen, unser Körper, dieses metaboli­
sche Fahrzeug, wird uns bleiern vorkommen, wie der Tau­
cher werden wir das Gefühl einer überaus störenden lang­
samkeit haben, unser Körper wird unerträglich geworden
sein. Wie unter dem Wasserdruck am Meeresboden wird
für unsere eigenen Kräfte unser direktes Umland so fern
und unerreichbar scheinen wie die Kathedrale von Chartres
dem Pilger. Wenn uns der Platz am Ende der Straße, der zu
Fuß in zehn Minuten zu erreichen ist, ebenso fern vorkom­
men wird wie Peking, was bleibt dann von der Welt? Was
bleibt von uns?

Die Erdkrümmung wird uns zu uns selbst zurückführen,


um uns wiederzufinden oder um uns endgültig zu verlie­
ren. Schon erproben Reisende den "Leerlauf", die "Leerum­
kreisung" und nehmen ein Flugticket nach Roissy-en­
France . . . in Roissy-en-France. Über die Zeitzonen hatte
sich bereits Sarah Krasnoff hinweggesetzt, die bis zu ihrem
Tod in Amsterdam einen ununterbrochenen Flug von fünf
Monaten hinter sich gebracht hatte, währenddessen sie die
Maschinen der KLM praktisch nicht verlassen hatte außer
zu einigen schnellen Zwischenlandungen von Kontinent zu
Kontinent . . . Ihre Flucht in die Schwerelosigkeit, während
der sie nacheinander 160 Atlantiküberquerungen absol­
vierte, markierte eine Schwelle: die eines Entweichens ins
Vagabundentum der Beschleunigung, eines Entfliehens in
das Nicht-Gebiet der Schnelligkeit, was anders ist als ein
bloßes Sich-Entfernen.
Man schlägt sich nicht mehr in die Büsche oder sucht das
Weite, sondern entweicht an den Nicht-Ort der Geschwin­
digkeit. Der Weltbürger wird zum utopischen Bürger, der
nur noch die Transportmittel und die Transitstätten be­
wohnt. Wie die Tragfläche am Fenster während des Über­
schaUfluges, so wird bei der Landung die Piste zum Hori­
zont des Passagiers. Der Flughafen wird zur neuen Stadt,
die Transilsladl mit ihren zehn Millionen "pro Passagierjahr"

56
wird zur letzten Stadt. Flächenmäßig steht sie in nichts hin­
ter den größten Metropolen zurück (der Flughafen von Dal­
las hat die gleiche Grundfläche wie die Stadt Paris) .

Die antike Stadt war ein Durchgangsort für menschliche


und tierische Wanderungen. Am Kreuzungspunkt der Pi­
sten gebaut, nahm sie die Karawanen auf, den Einzug der
Bauern, die Ankunft der Händler und Boten. Wie das Dorf
an der Wegkreuzung, so errichtete sie sich über den meta­
bolischen Strömen der gezähmten Tiere und richtete ihre
Plätze und Viertel nach der niedrigeren Geschwindigkeit
der Tierkörper ein. Fußgänger und Reiter entwarfen ihren
Kataster und bestimmten ihren Grundriß. Aufgang und
Treppe, Stadt und Hafen, Fußweg und Landesteg bildeten
die Infrastruktur der Langsamkeit. Auf die ungeheuren Be­
tonpisten des Flughafens treffen die Tonnen des landen­
den, abbremsenden Jets. Die Bewohner dieser Durchgangs­
orte sind "Passagiere", sie besetzen verstohlen den Raum
der Luftstadt, Mieter für wenige Stunden, nicht mehr für
Jahre. Ihre flüchtige Gegenwart entspricht ihrer Irrealität
und der Geschwindigkeit ihrer Reise. Die Benutzer der
Transit-Städte sind Schemen, die ein exotisches und zu­
kunftsloses Ganzes bilden. Wie der "Flughafenkunst" haftet
ihnen eine gewisse Minderwertigkeit an. Die Flughä­
fen sind Städte, in denen der Passagier einen kurzen Au­
genblick aufsetzt, bevor er weiterspringt. Antreteplätze,
gleichsam Neuauflagen von Bahnhöfen, Schwellen einer
neuen Akrobatik, deren Auswirkungen wir noch kaum ab­
sehen.

Der "Leerlauf" des Reisenden, der fliegt um des Fliegens


willen, wiederholt in einer anderen Dimension die Benom­
menheit, die schon die ersten Fahrzeuge, die Eisenbahnen
und das Automobil vermittelten. Weniger die Reise treibt
hier zum Aufbruch als der Geschwindigkeitsrausch und
sein eigentümliches Glück. Es ist ein Abflug ohne Rück­
fahrkarte, ein reines "Abfahren" AUF/IN DIE GE­
SCHWINDIGKEIT, nicht mehr NACH AMERIKA oder
NACH EUROPA. Wie bei den Nomaden Jack Kerouacs,
für die die West- oder die Ostküste der Vereinigten Staaten
kein Ziel mehr darstellen, bei den Drop-Outs, für die Ge-

57
schwindigkeit allein zum wirklichen Lebensmilieu gewor­
den ist:
"Nun geht's los! Und er beugte sich über das Lenkrad und
drückte auf die Tube; er war wieder in seinem Element, je­
der konnte es sehen. Wir waren alle entzückt, wir alle er­
kannten, daß wir Verwirrung und Unsinn hinter uns ließen
und die einzige und edle Funktion unserer Zeit erfüllten, in
Bewegung zu sein."
Das metabolische Fahrzeug hält sich für ein technisches.
Daß sich von Asien nach Europa die Welt ändern kann, dar­
über macht sich der Passagier des "Leerlaufs" nur lustig,
denn wie für den autistischen Autofahrer ist die Beschleu­
nigung seine Bestimmung und sein Bestimmungsort gewor­
den. Der kurze Aufenthalt am Straßenrand oder an der
Tankstelle gilt nur noch elementaren Bedürfnissen, die eilig
auf der Toilette des Motels oder des Flughafens erledigt
werden. Der Erdboden, das Landegebiet werden mit ein
oder zwei Primärfunktionen identifiziert. Etwa so wie man
gestern die bürgerliche Wohnung in Zimmer teilte (Speise­
zimmer, Salon, Rauchzimmer usw.), werden heute die riesi­
gen Gebiete unbedenklich instrumentalisiert: man über­
nachtet in Honolulu, während man auf das Flugzeug nach
London wartet, man macht seine Einkäufe in New York,
bevor man nach Frisco startet . . . das geht bis zu den Städte­
namen, die man offiziell zu verändern beabsichtigt: CHI­
CAGO und PITTSBURGH werden zu "CHIPITTS" ver­
schmolzen. Natürlich wäre für die Passagiere, die Chicago­
Pittsburgh in umgekehrter Richtung fliegen, "PITTCHICA"
günstiger, BOSTON -WASHINGTON müßte nicht nur als
"BOSWASH" firmieren, sondern auch als "WASHIN­
BOST" . . .
Leserichtung und Schreibweise sind hier ebenso fragwürdig
wie die Richtung der Reise, und die Automobilisierung er­
scheint als ein von der maßlosen Überproduktion schneller
Fahrzeuge verbreiteter Autismus. Mit all seinen Konse­
quenzen aber wird sich dieser Effekt erst voll und ganz ein­
gestellt haben, wenn die Popularisierung der hohen Ge­
schwindigkeiten zu einem Massenphänomen geführt haben
wird, wenn die Praktiken der JET-SOCIETY von allen über­
nommen sein werden, wenn der "Leerlauf" um den Globus
die allwöchentliche, wenn nicht tägliche Flucht fortsetzt.
58
Wochenende und Landhaus, Schlafstadt und Arbeitsweg
werden einen über die Erde verstreuten Funktionsraum bil­
den (es reicht, dazu nur die Bedeutung der sogenannten
nNeuverteilung der Industrie" abzuschätzen), eine Aufsplit­
terung des Gelebten in kleinste Sequenzen, die im Gegen­
satz zur unbeweglichen Zeit des Landes stehen. Die Unzufrie­
denheit der Städter mit dem Rahmen ihres Lebens wird
enorm gestiegen sein, und der Zerstörung der Nähe zu an­
deren wird wahrscheinlich in dem Maße gesteigerte Aggres­
sivität folgen, wie es eine Kausalität zwischen Hyperge­
schwindigkeit und Hypergewalt gibt. Man braucht sich
dann nur die Beziehungen zwischen Autofahrern und Fuß­
gängern und ihre Verhaltensweisen bei vertauschten Rollen
. anzusehen. Die Dynamik der Geschwindigkeit wird alles
beleben, was in der Statik der Infrastruktur angelegt war:
die Gewalt der Geraden; die Ideologie, die Distanz für eine
"Tyrannei" zu halten; die Illusion zu glauben, Hyperkom­
munikabilität sei ein Zeichen von Fortschritt, ein Symbol
von Zivilisation!
Mag sein, daß die Trennung der Individuen, in der man bis­
her einen Ausdruck von Unwillen, einen Abbruch der Be­
ziehungen sah, zu einem Zeichen der Liebe wird . . . Die
positive Bedeutung der gegenseitigen Anziehung wird viel­
leicht auf die Abstoßung übergehen, sofern uns nicht gar
die extreme Langsamkeit des Gefühls, des Taktes und Kon­
taktes zwischen den Körpern, zwischen den Orten des Kör­
pers schlechthin unerträglich werden . . . Wird mit der Ge­
wöhnung an die Trance der hohen Geschwindigkeiten und
die Omnipräsenz an den verschiedenen Onen des territo­
rialen Körpers die einfache Nähe einer Berührung ihren
Reiz, ihren Wert verlieren? Wird uns die Gleichgültigkeit
gegenüber den durchquerten Landschaften, gegenüber den
exotischen Kulturen zur Passivität, zur Gleichgültigkeit ge­
genüber den Materien, den Organen und den Orten des
animalischen Körpers verleiten?
Ich bin den Gedanken nicht losgeworden, daß die Erfin­
dung des ersten Fahrzeugs, das Besteigen des animalischen
Körpers (Esel, Dromedar, Elefant, Pferd, Strauß usw.) in ei­
ner Beziehung zur menschlichen Paarung stand. Hat die
Lust am gezähmten metabolischen Fahrzeug nicht auf die
sexuellen Beziehungen zurückgewirkt? Oder sind vielmehr
59
diese letzteren der vornehmsten Eroberung des Menschen
vorangegangen? Die erste Generation schneller Fahrzeuge
ist aus einer Zucht hervorgegangen, die in mysteriöser und
enger Verbindung zur Entwicklung der menschlichen Be­
völkerung steht. Die Geschichte der Reiterei bleibt nicht
ohne Wirkung auf die der Gesellschaften. Die großen Wan­
derungen, Überfälle, Menschenraube hängen genauso mit
der Geschichte der Fahrzeug-Archetypen zusammen, wie
die Ausbeutung des Bodens, die Eroberung und die Beset­
zung der großen territorialen Körper sich kaum von denen
der kleinen animalischen Körper unterscheiden.
Das Verlangen, die Lust und der Rausch beim Durchqueren
eines Kontinents gleichen denen bei der Penetration (beim
Eindringen) . Die Beschleunigung geographischer Verbin­
dungen seit knapp zwei Jahrhunderten kann die körperli­
chen Verbindungen nicht unberührt gelassen haben.
Wir haben gesehen, wie die Pferde aus dem Stadtbild ver­
schwanden, wir sehen, wie sämtliche Tiere aus den Metro­
polen ausgesperrt werden, wie sanitäre Maßnahmen, die in
erster Linie die Haustiere betreffen, einer vorgeblichen An­
steckungsgefahr wegen oft zur Ausrottung ganzer Arten
führen . . . Wir haben auch die Wiederkehr des rein zur Un­
terhaltung dienenden Tieres im Zirkus oder im Reitsport
gesehen. Muß man sich nicht auf etwas Vergleichbares im
körperlichen Verhältnis der Sexualpartner gefaßt ma­
chen?
Die Geschwindigkeit der Begegnungen kann uns dann ver­
leiten, Zusammenkommen und Zusammenprallen zu ver­
wechseln. Der Wegfall von Präliminarien im Akt des Über­
gangs, im Eindringen und in der jähen Landung (in New
York, in Hongkong), kann nicht ohne Folgen auf die Begeg­
nung der Paare bleiben. Das fortschreitende Verschwinden
der "Höflichkeit", die selber eine gespielte Aufnahme, ei­
nen Ersatz der primitiven Gastfreundschaft darstellte, äu­
ßert sich heute in einer virilen Form von Kontakt, die man
"Offenheit" nennt, und mag letzten Endes zum gewohn­
heitsmäßigen Austausch schlechter Behandlung führen.

"Wir sind wie Autos. Wir trinken wie Autos, laufen schnell
wie Autos, haben keine Zeit mehr, ,Guten Tag' oder ,Auf Wie­
dersehen' zu sagen. Wir sind wie das Kaninchen von Alke:
60
schnell, schnell, schnell . . . wir kommen immer zu spät,
auch wenn wir zu früh kommen . . ... (Valerie, 9 Jahre).
Es gilt jetzt, die Repression der Animalität des Menschen
zu analysieren, den Gebrauch des Körpers in der Stadt zu
untersuchen. Entgegen der geläufigen Ansicht ist nämlich
die Stadt nicht der Ort ungeheurer physischer, sondern der
nervöser Aktivitä:";l1. Zum einen werden im Raum der Stadt
die Aktivitäten des Körpers zunehmend abgebremst und
durch die technischer Prothesen, Fahrstühle, Rollbänder,
Rolltreppen, Automobile ersetzt . . . Zum anderen beschleu­
nigt sich die Verknappung von Zwischenräumen im Ge­
webe der Stadt wie im Inneren der Gebäude: Schmälerung
der Bürgersteige, der Wohnungen, der Zimmerhöhe . . .
Ganz zu schweigen von sich ständig mehrenden Verboten,
die den Städter betreffen und ganz legal seine ihm noch
verbliebene Bewegungsfreiheit einfrieren. All diese Fakto­
ren tragen dazu bei, die körperliche Bewegung einzuschrän­
ken beziehungsweise abzuschaffen: sitzend, stehend oder
liegend - nur selten noch setzt der Stadtmensch in Bewe­
gung, was doch sein erstes Fortbewegungsmittel darstellt:
seine unteren Gliedmaßen. Mit zunehmender Verengung
der Dimension und der Weite der körperlichen Betätigung
wird das Individuum durch die Schnurgeraden der Stadt­
geometrie (die orthogonale Orthodoxie seiner Wohnung,
seines Hauses) linear gemacht und in den genannten Stel­
lungen festgenagelt, wobei noch zu ergänzen ist, daß die lie­
gende Stellung praktisch dem Schlaf vorbehalten ist und die
stehende relativ selten wird. Diese Sklerose des Verhaltens,
diese Bewegungen, die zu simplen Gesten der oberen
Gliedmaßen gerinnen, weisen auf die Desanimalisierung
der Verkehrsteilnehmer. Immer mehr wird die verstädterte
Menschheit zu einer sitzenden Menschheit. "Sport" soll
dieser Verkümmerung ein wenig abhelfen, und so werden
bestimmte Orte und Plätze für geregelte körperliche Übun­
gen vorgesehen. Das aber heißt willentlich die Permanenz
der Körperkultur und die Auswirkungen der alltäglichen
Körperhaltungen auf das Psychische verkennen. Weit vor
dem Stadtviertel und der Wohnung bewohnt das Indivi­
duum seinen eigenen Körper, mit ihm reiht es sich in Mas­
sen ein, die ein Gewicht haben, Räume, Überfüllen, sich
ausdehnen können usw.
61
Mobilität und Motilität des Körpers erst führen der Wahr­
nehmung jeneri Reichtum zu. der für die Ichbildung unab­
dingbar ist. Diese Dynamik der Fortbewegung zu verlangsa­
men oder gar ganz zu beseitigen. Verhalten und
Bewegungen aufs Äußerste zu fixieren. führt zu schwersten
Störungen der Person und zu Schädigungen ihrer Realitäts­
tüchtigkeit.
Der Verlust kinetischer und taktiler Eindrücke. von Ge­
ruchseindcücken. wie sie die direkte Fortbewegung noch
lieferte. läßt sich nicht durch eine vermittelte. eine Medien­
Wahrnehmung. durch das Vorbeiziehen der Bilder an der
Windschutzscheibe des Autos. auf der Kinoleinwand oder
gar dem kleinen Fernsehbildschirm ersetzen. Dieser illuso­
rische Ersatz ist gleichwohl zu einer ..Spitzenindustrie" der
Elektronik geworden.
Seitdem wird der Reisende von der Botschaft verfolgt. vom
Autoradio bis hin zum Fußgängertelefon und zum ..Audio­
Helm" für den Motorradfahrer. mit dem er Radiopro­
gramme hören kann. wobei ihm ein Ohr für die ..Außenge­
räusche" bleibt (wie bei einem toxischen Stoff lautet der
Hinweis: ..Nicht über 90 km/h benutzen!").
Die Telekommunikationsmittelindustrie bemüht sich um
die umfassende Ersetzung des Hörens und Fühlens durch
den Radiokontakt.
Seit es das Fernsehen und Fernsprechen gibt. gehören zur
Verkehrsordnung nicht nur die Fahrvorschriften. sondern
auch die Fernlenkung und Fernüberwachung. Der Passa­
gier. jener flüchtige Bewohner des Nicht-Orts der Ge­
schwindigkeit. wird von ferne verfolgt. Die Antenne auf
dem Dach oder dem Helm wird zum festen Bestandteil der
Straßenbeschilderung. Zu dem physischen und sichtbaren
Verbot der Zeichen und Sperren tritt das andere. unabwäg­
bare der Verkehrshinweise.
Dem Rattern der Zugräder. der den Musikern gewidmeten
Prosa des Transsibirienexpresses folgt die Begleitmu­
sik . . .
..Wir alle hatten unsere kleinen Streitigkeiten gehabt Das
. •

liegt hinter uns. einfach wegen der Kilometer und der Stra­
ßenbiegungen . . . und hört euch doch einmal diesen bedien­
ten Tenoristen an' - er drehte das Radio auf. daß der Wa­
gen zu zittern begann . . .
"

62
Das Einsteigen in die Dynamik. der Geschwindigkeits­
rausch reichen den Vagabunden Kerouacs schon nicht
mehr. sie müssen die Leere der Kontinentdurchquerung
auffüllen. Die Konsumtion des Raumes ist auch Konsum­
tion von Zeichen und Botschaften . . . Die Botschaft der Ge­
schwindigkeit des Automobils und die Geschwindigkeit der
Radio-Botschaft gehen ineinander über. Die Benommen­
heit des Passagiers in seinem Boliden ähnelt dem Dösen
des Opiomanen. er ist anderswo. doch leicht zu erreichen;
er glaubt frei zu sein wie der Wind, doch in Wirklichkeit ist
die Kontrolle ihm auf den Fersen. Die Sättigung der Umge­
bung macht ihn fertig, und die Überfüllung des hertzsehen
Raumes folgt der des Luftraumes.

Zwei Situationen. zwischen denen siebzehn Jahre liegen.


am selben Ort. der Berliner Autobahn. demonstrieren die
Entwicklung der Hyper-Kommunikabilität. Die erste ist
von Albert Speer in seinem Memoiren aufgezeichnet. Es ist
gegen Ende des zweiten Weltkrieges. die Verantwortlichen
des Reiches vergraben sich in ihren Bunkern. die Luftherr­
schaft der Alliierten macht jede Straßenbenutzung gefähr­
lich.
"Ich war erleichtert". schreibt Speer. "als ich in der frischen
Nachtluft am Steuer meines Autos saß . . . Mit Kempka hatte
ich schnell verabredet. daß wir uns im Fahren abwechseln
wollten. Es war unterdessen etwa halb zwei morgens gewor­
den. und wenn wir die 500 Kilometer der Autobahn bis
zum Hauptquartier des Oberbefehlshabers West bei Nau­
heim noch vor Tage und damit vor dem Auftauchen der
Tiefflieger zurücklegen wollten. war Eile notwendig.
DaJ Radio, auf den Sender für unJere Nachtjäger eingeJtellt, daJ
Quadratnetz auf den Knien Nachtjäger im Quadrat
. • . . .•meh­
rere Moskitos im Quadrat Nachtjäger im Quadrat . . :
. . . • .

verfolgten wir den genauen Stand der gegneriJchen Einflüge. Wenn


sich uns ein Verband näherte. mußten wir auf Standlicht ab­
blenden und uns langsam am Rande der Straßen entlangbe­
wegen. Sobald jedoch unser Quadrat feindfrei war, wurden die
großen Zeiss-Scheinwerfer. die zwei Nebellampen sowie
der Suchscheinwerfer voll aufgeblendet und mit heulendem
Kompressor jagten wir über die Autobahn . . . " Für die Fah­
rer des Mercedes. die aus Berlin fliehen. betreffen die Hin-
63
weise nicht mehr nur den Straßenverkehr, sondern auch
den nächtlichen Luftverkehr. Die feindliche Maschine, die
in großer Höhe Hunderte von Kilometern entfernt über die
Reichsgrenze dringt, alarmiert sie augenblicklich. Die Ge­
schwindigkeit des Autos wird zur Funktion der Geschwin­
digkeit, mit der der Nachtjäger eindringt, und der Befehls­
stand der LUFIWAFFE wirkt, vermittelt über das
Bordradio, etwa so wie ein Schalthebel, der Luft- und Bo­
denfahrzeuge zusammen- und auseinanderschaltet. Genau­
genommen befinden sich die beiden Insassen des Mercedes
gar nicht mehr auf der Autobahn, sondern besetzen die un­
sichtbare Gegend des Kriegsspiels, ähnlich dem verfolgten
Räuber, der am Radio den Polizeifunk abhört, nutzen Speer
und sein Fahrer die Kontrolle des ungeheuren Luftraums
und die Feindaufklärung.
Diese Fahrt, bei der die Ubiquität praktisch verwirklicht ist,
zeugt von den Übeln einer Fahrzeugschwemme (Inflation
von Botschaften und Überschuß von Fahrzeugen). Das so­
fortige oder nahezu sofortige Wissen hilft nicht mehr, zu
entscheiden, was wichtig ist und was nicht. Alles wird zur
Quelle von Ungewißheit. Dadurch, daß die augenblicklich
eintreffende Information Handlungen vorwegnimmt, kann
sie zwar vor einem Risiko schützen, aber sie erzeugt auch,
wie wir im zweiten Beispiel sehen werden, die Krise.
Wir befinden uns mitten im kalten Krieg, im August 1961,
zur Zeit der Berlinkrise. Zwischen Amerikanern und Rus­
sen droht es zur Konfrontation zu kommen, weil die Rus­
sen die Landwege zur ehemaligen deutschen Hauptstadt
sperren wollen. Um den eigenen Handlungsspielraum und
die Entschlossenheit der Sowjets zu testen, beschließt Präsi­
dent Kennedy, einen Militärkonvoi über die Autobahn
nach Berlin zu schicken:
"Im Morgengrauen des Sonntags gab Colonel Grover S.
Johns am amerikanischen Check-Point ALPHA in Helm­
stedt seinen 1500 Soldaten den Marschbefehl. Die Einheit
rollte auf die Grenze der sowjetischen Zone zu. In der Ba­
racke ALPHA Jaß ein Offizier an einer Telefonanlage, die gleich­
zeitig mit dem Funkgerät im Wagen von Colonel Johns und dem
Weißen HauJ in WaJhington verbunden war, wo General Clif­
ton, der Adjutant Präsident Kennedys, am Apparat war. An
diesem Wochenende war der Präsident nicht nach Hyannis
64
Port gefahren, sondern wegen des Militärkonvois nach Ber­
lin in der Hauptstadt geblieben . . . Während der gesamten
Berlin-Krise war dies für ihn der Moment höchster Span­
nung und Sorge: es war sein erster Befehl, der zu einem Zu­
sammenstoß amerikanischer und sowjetischer Truppen
hätte führen können. General Clifton teilte dem Präsiden­
ten mit, daß der Konvoi den Grenzposten passiert hatte . . .
Vom Untergeschoß des Weißen Haurer aur bleibt Clifton in rtändiger
Telefon- und Funkverbindung mit ColonelJohnr und währendderge­
ramten Fahrt durch die rowjetüche Zone erItattet er alle zwanzjg Mi­
nuten dem Präridenten Bericht. Gegen Mittag erreichte die Spitze
des Konvois den West-Berliner Kontrollpunkt Dreilinden.
Die Berliner jubelten und der Präsident atmete auf."
Der Jeep des Colonels Johns auf dem Weg nach Berlin
flieht nicht mehr die Gefahr wie der Kompressormercedes
Albert Speers, sondern sucht sie. Er testet für den Tausende
von Kilometern entfernten Präsidenten der Vereinigten
Staaten die Entschlossenheit Nikita Chruschtschows.
Aus dem Quadratnetz auf den Knien des Reichsministers
ist gut fünfzehn Jahre später das Schachbrett des "Kalten
Krieges" geworden, und dieser Konvoi samt allen, die ihm
folgen werden, gleichen den Figuren, die die Gegner ver­
schieben. Dank der augenblicklichen Übermittlung der In­
formation gehen von einem Jeep und ein paar Lastwagen
mehr Schrecken aus als von der nUnbesiegbaren Armada"
Philipp II. im 16. Jahrhundert. Die unmittelbare und gegen­
seitige Erkennung macht den geringsten Zwischenfall, die
geringste Geste entscheidend für die Zukunft der Welt. So
wie die Geschwindigkeit des technischen Fahrzeugs den
Fahr-Raum auflöst, so macht die Geschwindigkeit der Hin­
weise Schluß mit dem Unbedeutenden. Von jetzt an ist al­
les extrem, ist das ENDE der Welt fühlbar in der Situation,
die sowohl aus der Super-Durchdringbarkeit der Gelände
wie aus der Hyper-Kommunikabilität der Mittel herrührt.

Bereits die Saint-Simonisten haben verkündet, die Eisen­


bahn werde durch ihre unerhörten Möglichkeiten, rasch die
entferntesten Weltenden miteinander zu verbinden, der
Welt den Frieden bringen. Kipling formulierte das noch
großzügiger: "Verkehr ist Zivilisation!" und für Lenin war
die Revolution "Kommunismus plus Elektrizität".
65
Dieser schöne Optimismus lebt weiter in der trammedialen
Prosa Marshall McLuhans, so wie sich seit dem 19. Jahrhun­
dert die Vorstellung gehalten hat, daß die räumliche Tren­
nung ein Übel sei, das an Konflikten, Haß und Mißver­
ständnissen schuld sei . . . und auch an sozialen Ungleich­
heiten. Das in der Distanznahme liegende Unbekannte
schreckt, und nur die von den neuen Fahrzeugsystemen er­
möglichte Nähe wird mit dem Raum und der Zeit auch den
Ursprung von Leid und Elend beseitigen.
Der Tag, an dem alles kommunizierbar und damit erkenn­
bar sein wird, wird den universellen Frieden einläuten . . .
Der alte Wunsch nach Gemeinschaft wird mit dem Sieg
über die Tyrannei der Entfernung, mit dem Ende der Herr­
schaft von Ausdehnung und Distanz endlich in Erfüllung
gehen. Bis zum heutigen Tag identifizieren wir die Auflö­
Jung von Enklaven mit dem FortJchritt3, bekämpfen wir heftig
alle Isolationismen als unerträgliche Repressionen, als unge­
sunde EinJChließungen, aber wir haben nicht die leiseste Ah­
nung von Sinn und Bedeutung des alten Mythos von
Durchsicht-Durchdringung. Diese allgemeine Nähe, dieser
Globus, auf dem alles "in Reichweite" ist, dieses Konti­
nuum, in dem alles brutal ZJuammengnchoben ist und dessen
Sättigung weniger von der Überfülle an Fahrzeugen als von
der Geschwindigkeit der verschiedenen Vektoren herrührt
- all das ist uns vollkommen fremd . . . ja, fremd.

Der Unbekannte, der Fremde, das ist für uns schon nicht
mehr der, der von fern kommt, sondern der, der gleich ne­
benan wohnt. Entgegen den Weissagungen der alten Pro­
pheten des utopischen Sozialismus ist die Entwicklung der
gesellschaftlichen Kommunikation nicht charakteristisch
für die Krise des Staates (crise de I'Etat), sondern eher für
den KriJenzrutand (l'etat de crise). Die Hyperkommunikabi­
lität der Massenmedien bedeutet mit der Unmittelbarkeit
der Informationsmacht auch die unmittelbare Information
der Macht. Die Super-Durchlässigkeit der verschiedenen
(terrestrischen, atmosphärischen, hydro-sphärischen . . . )
Räume bringt mit der Macht der Konzentration auch die
Konzentration der Macht.
Seit einem Jahrhundert hat diese Kongruenz/Konvergenz
durch die Dramatisierung der banalsten Alltäglichkeit einen
66
permanenten Krisenzustand bewirkt. Seitdem geht alles per
Express, ist expressiv (und manchmal expressionistisch) .
Die extreme Konzentration hat allen, die sie zu nutzen
wußten, so ungeahnte Beherrschungsmöglichkeiten in die
Hand gegeben, daß darüber das berühmte Wort von Saint­
Just: "Wenn die Völker unterdrückt werden können, so
werden sie es auch" zu einer schlichten Banalität geworden
ist. Weitgehend verkannt aber sind nach wie vor die Wir­
kung der Fahrzeuggeschwindigkeit auf das Gebiet, das fort­
schreitende Verschwinden der Realität der Körper und der
Gelände in der Geschwindigkeit der Reise, die Auflösung
des Ortes zugunsten des Nicht-Ortes der Fahrt, zugunsten
der Abwesenheit des Passagiers.

Liest man die progressive oder positivistische Literatur, so


ist der Strom gleich Sozialismus, die Beschleunigung gleich
Kommunismus und die "Große Bewegung" gleich Fort­
schritt . . . Der Raum steht für den Ort der Freiheit und die
Durchlauf- und Transportgeschwindigkeit für eine positive
Vergesellschaftung, so daß am Ende für die Eroberer der
neuen "Neuen Welt" die Begriffe "Sozialismus" und "Ge­
schwindigkeit" gänzlich austauschbar werden (man lese nur
die Berichte über die Konflikte während der Commune
zwischen den "Cheminots", d. h. den Kommunarden, de­
nen die Lokomotive als Symbol der Einheit galt, und denen,
die in ihr das bürgerliche Eigentum sahen) .

Aufschlußreich ist auch der Selbstmord von Santos Du­


mont: bei einem Aufenthalt in Frankreich während des er­
sten Weltkrieges wird er zum ohnmächtigen Zeugen einer
der ersten Luftschlachten. Er traut buchstäblich seinen Au­
gen nicht und kehrt verzweifelt nach Brasilien zurück, wo
er sich das Leben nimmt.
Der Prophet des Fliegens kann den Absturz Ikarus' nicht
ertragen; was ihm transparente Helle schien, hat sich verdü­
stert. Zu plötzlich hat der heitere Luftfahrtpionier an der
Niederlage des Flugzeugs die des Raumes erfahren.
Das wirkliche Jet-Projekt zeigt sich weniger in der Concorde,
dem "Bindestrich zwischen den Völkern", als vielmehr in
der Flugbahn des Projektils: die Politik ist ballistisch, ist Geo­
Politik, Geo-Strategie geworden. Die alte Poliorcetik, die
67
Belagerung der Stadt-Staaten, ist von der vektoriellen Poli­
tik des Krisenzustandes verdrängt worden, die Prospektive
ersetzt die Perspektive. Künftig iJt aJleJ nah, einschließlich
der Zukunft. Mit der Verallgemeinerung der Voraussage
und der Voraussicht wird alles antizipien, projektien.

Planung ist mehr als Planierung, sie ist eine Plättung, ein
Zusammenschieben, bei dem alle in Bewegung befindli­
chen Teile gegeneinanderstoßen und zerbrechen, Hin­
weise, Botschaften, Wene . . . aber auch Körper gegen Kör­
per. In der Bilanz der Toten am Wochenende, im
ÜberschallknaJl spiegelt sich diese unmittelbare Fieberhaf­
tigkeit. Die Karambolage, die für uns sichtbar mit dem Au­
tounfall beginnt, setzt sich hörbar fon im Durchbrechen
der Schallmauer, um vielleicht eines Tages in der Detona­
tion einer kritischen Masse zu enden . . . Wozu wir wohlver­
standen keine "Maschine des Jüngsten Gerichts", keine ab­
solute Nuklearwaffe brauchen, weil die Fahrzeugerzeugung
ganz allein diese DekonJtruktion, diesen Abbau der Welt zu­
standebringt, der ehedem mit dem Archetypen Pferd und
Schiff in die Wege geleitet worden ist und sich mit der fon­
schreitenden Auflösung der Enklaven seit dem 19. Jahrhun­
den beschleunigt hat. Ein Prozeß, den man, so als handele
es sich um eine neue Welt, "die Eroberung der Geschwin­
digkeit" genannt hat, obwohl es sich bei diesem Bereich we­
niger um einen KONTINENT als um die inkontinente, die
zügellose Fahrzeugproduktion des industriellen Abendlan­
des handelt.

"Wenn es uns gelingt, auf unserem gesamten Streckennetz


auf die Sekunde pünktlich zu sein, werden wir der Mensch­
heit das wirkungsvollste Instrument zur Errichtung der
neuen Welt gegeben haben." (Audiben, Polytechnischer
Ingenieur, zuständig für die Organisation des Bahnwe­
sens.)
Unter dem Vorwand von Pünktlichkeit und Sicherheit (Ver­
meidung von Zusammenstößen auf einspurigen Strecken)
beginnt hier eine rigorose Verwaltung der Zeit. Man
kommt zu einer gesellschaftlichen Regulierung, die zuerst
die Reisenden, dann die Arbeiter und die ganze Gesell­
schaft umkrempelt. Die Raserei und die Risiken rechtferti-
68
gen eine gründliche Dressur, die sich im Wesentlichen un­
bemerkt abspielt oder noch als Zeichen von Fortschritt und
manchmal, so paradox das klingt, von Freiheit begrüßt
wird! Das monströse Emblem des Kultes der Pünktlichkeit
wird an den Fronten der Bahnhöfe oder sogar, wie bei der
Gare de Lyon in Paris, wie ein Campanile am Rande der
Bahnsteige, der "Ablegestelle der Willen", errichtet. Die
Orte der Welt werden zu Stundenzeigern der Welt und die
Standuhren in der Vorhalle zeigen mit der eigenen die Zeit
der Antipoden an. Die Kathedralen der Hin- und Rückfahrt
dienen auch einem Kult der Zeit, einer Horolatrie4•
Die Disziplin des Geistes und des Körpers, diese Erfindung
des klösterlichen Lebens, der freiwilligen Abschließung im
Schoße einer religiösen oder militärischen Ordnung, wird zu
einem Bestandteil des bürgerlichen Lebens. Dieser Über­
gang vom Säkulären zum Regulären, den bald die gesamte
abendländische Gesellschaft durchmacht, wird zur Errich­
tung einer Planung und Programmierung der gesellschaftli­
chen Zeit führen. Der Umweltplanung wird vielleicht eines
Tages eine staatliche Zeitplanung und, wer weiß, vielleicht
ein echtes Zeitministerium folgen.
Den Geschwindigkeitsregeln für Straße und Schiene wür­
den Regeln für den Fußgänger folgen . . . ein Code der nied­
rigen metabolischen Geschwindigkeiten, eine Verwaltung
der geläufigen Bewegungen . . . Seit kurzem beispielsweise
können in der Sowjetunion Fußgänger bei bestimmten Ver­
stößen gegen die Straßenverkehrsordnung mit Strafen bis
zu zehn Jahren Gefängnis belegt werden. Bislang waren nur
die Fußgänger strafbar, die einen Unfall verursacht hatten,
jetzt forden der oberste sowjetische Gerichtshof den glei­
chen Respekt vor den Verkehrsregeln von denen, die sich
zu Fuß fortbewegen, wie von denen, die sich mechanischer
Mittel bedienen.
Es erinnert ein wenig an jene Schulhöfe, in denen es den
Kindern untersagt war zu laufen, damit, wie Marcel Pagnol
erklärt, "die Enge des Pausenraums ihnen nicht unerträg­
lich schien . . . ", wenn Ivan Illich die Einrichtung einer "Ver­
kehrsjustiz" vorschlägt: "Daß keine gesellschaftliche Zeit­
rechnung existiert, heißt nicht, daß es unmöglich wäre, sie
zu erstellen . . ." 5. Für diesen Verführermönch liegt das Heil
in der Begrenzung, in der Regel. Der Rechtseifer, der sich in
69
diesem brüderlichen Miteinander verbirgt, darf uns indes
nicht übersehen lassen, daß das Recht ebenso ein Instru­
ment ist wie das Telefon oder die Elektrizität, ein Werk­
zeug, das Expenen braucht, um zu funktionieren. Tatsäch­
lich unterscheidet sich der Optimismus gegenüber der
juristischen Mediation gar nicht so sehr von dem, der seit
über einem Jahrhunden die "Fonschritte" der gesellschaftli­
chen Kommunikation/Kommunion begleitet, und das
Mönchtum Illichs trägt dazu bei, die politische Zukunft des
Kontrolleurs und des Beichtvaters, d. h. letzten Endes des
"Gewissensführers" zu sichern.
Zum Schluß will ich an die Ermahnung des alten Lappen er­
innern: "Wenn du auf deinen Schlitten über die Steppe
jagst, so wende dich oft zurück, um dir deinen Rückweg
einzuprägen." Vom Rücklauf des Nomaden zum Leerlauf
der modernen Irrfahn bringt uns das Fahrzeugsystem zum
Ausgangspunkt zurück.
Die Zukunft existien nicht mehr: Im Land, das vor uns
liegt, jenseits des Horizonts, schließt sich der Leerlauf der
Reisen. Das Anderswo beginnt hier, wir selbst werden un­
ser Unbekanntes.
Die Geschwindigkeit ist nicht mehr das Zeichen eines Fon­
schritts, einer Progression, sondern das einer Konversion;
die Revolution des Fahrzeugs ist letztlich eine ewige Wie­
derkehr. Die Illusion der Geraden ist vergangen und mit ihr
die des "Bindestriches" zwischen den Nationen und den
Völkern.
Der Flug Bleriots zu den Felsen von Dover oder der Lind­
bergs sind künftig weniger bezeichnend als das endlose
Kreisen von Clement Ader auf dem Feld von Satory . . . Ge­
stern noch sprach Apollinaire von seinem Wunsch nach
dem Kommen des großen Vergessers, jenes Christoph Co­
lumbus, der uns einen Kontinent vergessen ließe . . . sein
Wunsch ist bereits in Erfüllung gegangen.

1 Vgl. dazu Claude Pichois' Essay "Vitesse et '{ision du monde"


in: ders. Lilleralure el Frogres, Neuchätel 1973.
2 Die FroJa dn Tramsibirienexpreß, den Musikern gewidmel , Paris
. . .

1913.
3 P. Chaunu, La duree, /'eJpace el /'homme J /'epoque moderne.
70
Ich denke sowieso mit dem Knie

Joseph Beuys
4 H. Vincenot, La vie quotidienne dam ICI chemins de Jer au XIX. siede.
S Die sogenannte Energiekrise, Reinbeck bei Hamburg 1974.

AUJ dem FranzöJiJchen von U/rich RauJff

Technik und Fragmentierung


Paul Virilio im Gnpräch mit Sylvere Lotringer

In marxiJtiJcher Sicht war allein der Reichtum Motor der Ge­


Jchichte. Heute entwickelt der Motor Jeine Eigendynamik. Die Tech­
nologie überholt die Gmhichte. Doch waJ iJt daJ für eine Gewalt,
die nicht mehr guchicht/ich Janktioniert wird?

Geschwindigkeit ist eine Form von Gewalt. Das deutlichste


Beispiel dafür ist meine Faust. Zwar habe ich sie nie gewo­
gen, aber es werden etwa 400 Gramm sein. Mit dieser Faust
kann ich streicheln. Doch wenn ich sie jemandem mit ho­
her Geschwindigkeit entgegenschleudere, so kann ich ei­
nen Bluterguß hervorrufen. Man sieht, daß ausschlagge­
bend ist, wie die Masse sich im Raum veneilt. Schon
Napoleon sagte: "Stärke ist das, was Macht von Masse un­
terscheidet." Die Frage Können wir aufdie Technik verzichten?
läßt sich so nicht mehr stellen. Notgedrungen muß man in
die Frage der Technik nicht nur die produziene Substanz
einbeziehen, sondern auch das mitproduziene Akzidens,
den Unfall oder Zufall. Das Rätsel der Technik, ist auch das
Rätsel des Akzidens. Ich möchte das erklären. In der klassi­
schen aristotelischen Philosophie ist die Substanz notwen­
dig, das Akzidens relativ und zufällig. Nun kehn sich das
aber heute um. Das Akzidens wird notwendig, die Substanz
relativ und zufällig. Jede Technik produzien, provozien
und programmien ein spezifisches Akzidens, einen spezifi­
schen Unfall. Was hat man denn erfunden, als man die Ei­
senbahn erfunden hat? Einen Gegenstand, mit dem man
schnell fahren und vorwänskommen, einen Fonschritt ma­
chen konnte - das wäre eine Sichtweise a la Jules Verne,
positivistisch und evolutionistisch. Aber gleichzeitig hat
man damit die Eisenbahnkatastrophe erfunden. Mit dem
72
Schiff hat man den Schiffbruch erfunden, mit der Dampf­
maschine und mit der Lokomotive die Entgleisung. Mit der
Autobahn die Karambolage von 300 Wagen binnen fünf Mi­
nuten. Mit dem Fliegen den Absturz. Wenn man mit der
Technik weitermachen will (ich denke keineswegs an eine
Regression in die Steinzeit), so glaube ich, daß hier und
jetzt nach beidem, nach der Substanz und ihrem Akzidens
gefragt werden muß. Denn die Substanz ist zugleich das
Objekt und sein Akzidens, sein Unfall. Die negativen Sei­
ten von Technologie und Geschwindigkeit hat man ver­
schwiegen. Die Techniker sind zu Technokraten geworden
und von daher bestrebt, ihren Gegenstand zu positivieren
und zu sagen: ich verstecke ihn und zeige ihn nicht. Über
das Obszöne der Technik wäre noch viel zu sagen, man
kommt dann wieder auf die Technophilie.

Die Gewalt der Geschwindigkeit hat man vemhwiegen? Rührt da­


her vielleicht die FaIZination, die sie ausübt, und die Abneigung, die
man ihr gegenüber hegt?

Technisch ausgedrückt, ist Geschwindigkeit eine Form von


Energieübertragung, anders gesagt, sie ist ein Akzidens von
Übertragungen. Das läßt sich in zwei Worten zusammenfas­
sen: "Bewegungs-Stabilität" und "Bewegungs-Bewegung".
Stabilität: ich bewege mich nicht, ich stehe still. Bewegung:
ich setze mich in Gang. Ich beschleunige: Bewegungs-Be­
wegung. Beim Übergang von "Bewegung" zu "Bewegungs­
Bewegung" wird Energie übertragen, was man auch "Über­
tragungsakZidens" nennt. Sobald man sich mit energeti­
schen Fragen befaßt, stellt sich unmittelbar das Problem der
Gewalt. Zur Zeit gibt es in Paris eine Diskussion um das
Museum für Wissenschaft und Technik in Villette. Ich
möchte einen provozierenden Vorschlag machen und ver­
langen, daß es neben der Ausstellung von Maschinen auch
eine Ausstellung von Akzidentien, von Unfällen, gibt. Jede
Technik und jede Wissenschaft sollte den ihr spezifischen
Unfall auswählen und als Produkt zeigen - und zwar nicht
auf moralische Art, zur Vorbeugung (als Sicherheitsmaß­
nahme), nein, sondern als Produkt, das "epistemotechnisch"
zu problematisieren wäre. Am Ende des 19. Jahrhunderts
stellte man im Museum Maschinen aus; am Ende des
73
20. Jahrhunderts sollte man, denke ich, der gestalterischen
Dimension des Unfalls in einem neuen Museum den ge­
bührenden Platz einräumen. Es müßten darin (wie genau,
weiß ich noch nicht) Zugentgleisungen, Luftverschmut­
zung, der Einsturz von Gebäuden etc. gezeigt werden. Ich
glaube, daß der Unfall für die menschliche Wissenschaft das
ist, was die Sünde für die menschliche Natur war. Er stellt
ein bestimmtes Verhältnis zum Tod dar, d. h. er enthüllt
die Identität des Objekts.

Also iJt nicht aIJeJ an der GeschwindigkeitJtechnologie negativ. Wir


können von der Geschwindigkeit auch etwas über die Natur unsereJ
Kijrpers und die ArbeitJweiJe unsereJ Bewußtseins lernen. Wir kön­
nen etwas lernen von jenem Akzidens, dem Unfall, und von jener
Unterbrechung, dem (Aus-) Fall.

Genau. Das schreibe ich auch in der AJthetik des Ver­


schwindens.1 Der Hauptgedanke dieses Buches liegt in der
politischen und sozialen Funktion des Innehaltens, des
Aussetzens. Die Psychoanalyse hat zwar viel über die Un­
terbrechung herausgefunden, die der Schlaf. der Traum dar­
stellt, aber ich setze kein besonderes Vertrauen in sie. Ei­
gentlich interessieren mich alle Unterbrechungen, von der
kürzesten bis zur längsten, d. h. dem Tod. Der Tod unter­
bricht das Wissen, wie alle Unterbrechungen. Und gerade
weil das Wissen unterbrochen wird, bildet sich eine eigene
Zeit heraus. Beim Rhythmus des Alternierens zwischen be­
wußt und unbewußt handelt es sich um Piknolepsie, um
winzige Absencen, um eine piknoleptische Unterbrechung
(von griechisch piknos, häufig) . Dadurch können wir in ei­
ner Dauer existieren, die unsere ist und derer wir uns be­
wußt sind. Alle Unterbrechungen strukturieren dieses Be­
wußtsein und idealisieren es.

Genaugenommen ist dieJe Auffassung des Todes als Akzidens, als


UnfaIJ und Unterbrechung deJ Wissens noch nicht sehr alt. Sie ent­
steht dadurch, daß sich ein Wissen über den Menschen formiert. Je
stärker man den Menschen in unserer Kultur individualiJiert hat,
dnto eher hat man auch aUf feinem Tod einen großen Bruch ge­
macht, ja sogar eine unüberwindliche Unterbrechung.

74
Die Epilepsie ist der kleine Tod und die Piknolepsie der
ganz kleine. Lebendiges und Bewußtes, Hier und Jetzt gibt
es nur, weil es unendlich viele kleine Tode, kleine Unfälle,
kleine Risse gibt und, wie William Burroughs sagen würde:
kleine cut-ups der Tonspur - der Ton- und Bildspur der Er­
fahrung. Und wenn man Gesellschaft, Stadt und Politik ana­
lysieren will, so ist das, glaube ich, sehr aufschlußreich. Un­
ser Sehen ist stets eine Montage, eine Montage von
Zeitlichkeiten. Zeit wird nicht allein durch Macht, sondern
auch durch Technologien organisiert. Bei der Unterbre­
chung ist klar, daß sie sich eher zeitlich als räumlich ab­
spielt. Nicht zufällig hat das religiöse Denken alle mögli­
chen Verbote und Feste eingerichtet - den Sabbat usw. . . .
Man regulierte die Zeit und war sich darüber klar, daß man
öfters aussetzen muß, wenn man eine religiöse Politik ma­
chen will. Wieso? Weil die religiöse Politik sich im Ange­
sicht des Todes bestimmt, im Angesicht der großen Unter­
brechung, der großen "Versuchung", wie es in der Schrift
heißt ("Apokalypse"). Das ist etwas Positives, denn damit
erhält die Technik einen neuen Status. Die Technik gibt uns
deshalb auch nicht mehr; sie unterbricht uns bloß anders. Beim
Autofahren angehalten werden ist etwas anderes als zu Fuß
"angehalten" werden. Auf einen Fahrkörper steigen, heißt
auch, die Geschwindigkeit anders steigern oder verringern
zu können. Eine Unterbrechung bedeutet, die Geschwin­
digkeit zu verändern. Der Streik z. B. - ich denke dabei an
den Generalstreik - war eine wunderbare Erfindung,
wunderbarer noch als Barrikaden und Bauernaufstände,
denn er erstreckte sich auf eine gesamte Zeitdauer. Damit
wurde nicht so sehr ein Raum unterbrochen (wie mit Barri­
kaden) als vielmehr eine Dauer. Der Streik war eine Barri­
kade in der Zeit.

Kun gesagt, eine solche Aithetik der Unterbrechung, die umer heuti­
ges Bewußtsein strukturiert, ist eine Kinematik. Denn paradoxer­
weile bezieht der Film, diese Kunst des Kontinuierlichen, seine ge­
samte Energie aus der Unterbrechung.

Im Film können wir sehen, wie unser Bewußtsein funktio­


niert. Unser Bewußtsein ist ein Montageeffekt. Es gibt kein
kontinuierliches Bewußtsein, nur ein zusammengesetztes.
75
Und die Zusammensetzungen können freiwillig oder un­
freiwillig sein: ich entschließe mich z. B. zur Mittagsruhe;
oder ich gehöre einem System an, das mich verpflichtet, am
Samstag oder am Sonntag oder am Ramadan die Arbeit nie­
derzulegen. Hierbei handelt es sich um bewußte Unterbre­
chungen, die willentlich sind. Und dann gibt es auch noch
unbewußte Unterbrechungen wie den Schlaf oder die Pik­
nolepsie. Auch wenn ich es nicht will, falle ich in Schlaf. Es
ist eine Collage. Es gibt nur Collagen, nur Schnitte. Damit
wird recht gut das verdeutlicht, was Jean-Franc;ois Lyotard
das Verschwinden der großen Erzählungen2 nennt. Man
glaubt nicht mehr an die klassenlose Gesellschaft und die
soziale Gerechtigkeit. Wir befinden uns schon in der Zeit
der Mikro-Erzählungen, der Kunst des Fragments. Nicht
von ungefähr ist eines der größten in Frankreich erschiene­
nen Bücher das Buch von Mandelbrot Les Objets fractals3•
Eine Dimension braucht nicht vollständig, sie kann bruch­
stückhaft ausgedrückt werden. Natürliche Objekte (die Kü­
ste der Bretagne z. B.) werden durch eine einheitliche Di­
mension unzulässig vereinfacht. Es wird deutlich, daß man
von Einheit und Einheitlichkeit (dem Begriff der Einheit
einer Kontinuität) übergehen kann zu Begriffen von Frag­
mentierung und Unordnung. Damit kehrt sich etwas um.
Das Fragment findet seine Autonomie wieder, seine Identi­
tät als unmittelbare Gegebenheit des Bewußtseins, wie
Bergson sagen würde. Geschichte gibt es nur auf der Ebene
der großen Erzählung. Ich meinerseits glaube nur an Colla­
gen. Sie sind transhistorisch.

Du meinst, daß Staatsterrorismus und Staatsverbrechen nur Frag­


mente des allgemeinen Krieges sind, wie ihn dieses Jahrhundert er­
lebt hat?

Die große Erzählung vom totalen Krieg ist zerbrochen zu­


gunsten eines fragmentierten Kriegs, der seinen Namen
nicht nennt, eines inneren Kriegs, gleichsam in den Eingewei­
den der Gesellschaft.

Es handelt sich um eine Art Puzzle, das sich nicht mehr zusammen­
setzen läßt. Der Krieg findet überall statt, doch sind wir nicht mehr
imstande, ihn wiedenuerkennen.
76
Wenn wir einsehen, daß das historisch Reale fragmentiert
ist, so dämmert, metaphorisch ausgedruckt, schon der Mor­
gen einer weltumgreifenden Identität, eines Weltbewußt­
seins und -gewissens. Genausogut, wie mim behaupten
kann: "Gerade weil es Unterbrechungen gibt, ist die Zeit,
die ich erlebe, meine Zeit und bin ich mir dessen bewußt",
möchte ich behaupten: "Gerade weil die zwischenstaatli­
chen Konflikte unendlich fragmentiert sind, bewegt man
sich auf den reinen Staat zu", das heißt auf das allgemeine
Bewußtsein, daß wir alle gleichermaßen Erdenbürger sind
- mit allem, was dies an Furchtbarem und Monströsem vor­
aussetzt.

Parallel zur Fragmentierung der GeJchichte in eine Vielzahl von


Mikro-Erzählungen Jieht man am Horizont eine Art mythologiJcheJ
EpoJ auftauchen, daJ EpoJ deJ Atomtod!, eine globale ViJion deJ
Planeten, die Jieh auf den ZUJammenbruch unJerer ZiviliJation
gründet.

Das ist die große Unterbrechung. Auf den individuellen


Tod grundet sich das gesamte religiöse, mystische und
magische Denken. Nachdem man sich erst einmal den
Tod von Stämmen und Gruppen eingestanden hatte, stellte
man sich vor, daß auch Zivilisationen sterben können. Im
Nuklearen muß nun auch die Gattung ihren Tod erken­
nen. Der Atomtod führt auf die Frage nach Gott zurück.
Und zwar nicht nur auf individueller Ebene oder auf der
Ebene einer auserwählten Rasse, sondern auf der Ebene
der Gattung. Er interpretiert die Rolle des Menschen
neu.

Und doch trägt er dazu bei, die MenJchheit wieder ZU vereinen.

Ihre einzige Einheit ist der negative Horizont.

DaJ Ende der Zeiten oder daJ Ende der Zeit, wenn die MenJchheit
ihren letzten Auftritt hat.

Es bringt mehr, die Unterbrechung vor allem auf der chro­


nopolitischen anstatt auf der geopolitischen Ebene anzuset-
77
zen. Unterbrechungen im Raum bestanden in Schutzwällen,
Reglementierungen und Keuschheitsgürteln. Nun aber
wird eine solche körperliche Unterbrechung durch eine
zeitliche Unterbrechung ersetzt. Man schaltet sich ein in
die intime Lebensdauer eines jeden. Das sind dann die so­
genannten subliminalen Effekte, unterschwellige Wahrneh­
m ungsphänomene.

Dal iJt zugleich der Tod der Intimität. Die ganze DiJkuJJion der
letzten Jahre über ein Modell zerJplitterter und .Ichizophrener" Sub­
jektivität entJpricht letztendlich einer großen Aithetik der Collage.
Dal Ich iJt nicht kontinuierlich, londern belieht aUI einer Reihe klei­
ner Tode und Partialidentitäten, die lieh nicht oder nur um den
PreiJ von Anglt und Verdrängung wieder zUlammenkleben lal­
Jen.

Von dem Moment an jedoch, wo man sagt, das Wesentliche


sei es, den Tod zu betrachten und nach den Unterbrechun­
gen zu fragen, geht man weit darüber hinaus. Die Schi­
zophrenie scheitert an der Frage des Todes - in dem Sinne,
den der Materialismus ihm beilegt: das Verschwinden ist
das Ende, es bleibt nichts mehr. Dagegen stellt doch der
Tod - wie die Piknolepsie und der Schlaf - eine rätselhafte
Unterbrechung dar. Zu sagen, daß es nach dem Tod nichts
mehr gibt, ist irreführend. Darin liegt meiner Meinung nach
ein Idealismus. Wenn man die Unterbrechung voll anerken­
nen will, muß man darin auch den Tod einschließen. Natür­
lich sind wir nie daraus erwacht, aber aus der Piknolepsie
wacht man auch nicht auf, denn man ist sich nicht einmal
bewußt, daß es sie gibt.

Auch beim Schreiben arbeitet man mit Unterbrechungen. So Ichrieb


Niet'l.Jche AphoriJmen, die Unterbrechungen dei Denkenl damelten.
An Deinem eigenen Vorgehen iJt mir nicht 10 lehr die explikative
alJ vielmehr die luggntive Seite aufgefallen.

Ich halte nichts von Explikationen. Ich vertraue auf die Sug­
gestion und die Evidenz des Impliziten. Als Stadtplaner
und Architekt bin ich zu sehr daran gewöhnt, deutliche Sy­
steme und gut funktionierende Maschinen zu konstruieren.
Ich glaube nicht, daß es Aufgabe des Schreibens ist, das
78
gleiche zu tun. Ich mag die Literatur nicht, die so einfach
zu verstehen ist wie das kleine Einmaleins. Deshalb schätze
ich letztendlich Michel Foucault, ohne ihn zu mögen.

Wenn alles gesagt ist, bleibt nichu mehr übrig. Deine Vorgehem­
weise ist dagegen entschieden teleskopisch, sie Idßt verschiedene
Perspektiven und Blickwinkel zusammenstoßen. Sobald Du eine
Sache aufgegriffen hast, läßt Du sie auch schon wieder fallen und
springst über zur nächsten, anstall die Position vollständig aUJZllar­
beiten, die Du anfangs eingenommen hast. Es handelt sich um eine
regelrechte Politik des Schreibens, nicht um den organisierten Dis­
kurs des Krieges und noch weniger um einen Diskurs über den
Krieg, sondern um einen Diskurs im KriegJZIIstand, um ein Schrei­
ben im Ausnahmezustand.

Ich arbeite stufenartig, einige haben es bemerkt. Ich fange


mit einem Satz an, formuliere einen Gedanken, und wenn
er meiner Meinung nach anschaulich genug ist, springe ich
mittendrin zu einem anderen, ohne mich groß um die Aus­
führung zu kümmern. Ausführungen sind Episoden, wäh­
rend ich die Tendenz zu treffen suche. Tendenz bedeutet
Ebenenwechsel.

Aufdem Gebiet des theoretischen Schreibens ist dies ziemlich neu.


Ja, unbedingt. Mit der Asthetik des Verschwindem ist mir auf­
gegangen, daß Unterbrechungen, Unfälle und Dinge, die
man abbricht, wichtig und produktiv sind. Das unterscheidet
sich völlig von dem, was Gilles Deleuze in Mille Plateaux4
macht. Sein Vorgehen arbeitet mit Verkopplungen, wäh­
rend ich mit Brüchen und Absenzen umgehe. Für mich ist
sehr wichtig, daß man auch etwas abbrechen kann und sagt:
Es reicht! Damit verknüpfe ich Dinge wie den Streik. Das
Wesentliche beim Streik ist, daß man die Abwesenheit ein­
setzt.

Jede Stufe, jeder Schrill bildet einen Haltepunkt für die theoretische
Arbeit. Damit das Denken allein weitergehen kann und etwas an­
deres sich anderwo ereignet.

Damit etwas anderes geschieht und ein Raum sich auftut.


Der Anspruch, eine Frage umfassend zu beantworten, ist
79
absurd. Man kann sie nicht ausformulieren und sollte nicht
versuchen, sie rundherum abzuhandeln. Es gibt nur Per­
spektiven, die sich ablösen.

Geschwindigkeit und Politik5 ist ein schnelles Buch.

Es ist ein schnelles Buch, aber gleichsam das Schlüsselbuch.


Der Seitenumfang zählt nicht; ich schreibe nie viel. Darin
ist mein Hauptbezugspunkt nicht Clausewitz, sondern Sun
Tze. Seine Kriegskunst6 umfaßt 50 Seiten. Geschwindigkeit und
Politik ist ein kleines, aber wesentliches Buch, denn es fragt
zum erstenmal nach der Geschwindigkeit. Damit fühn es in
eine völlig neue Welt ein, die noch nie zuvor entdeckt wor­
den ist. Sucht man nach Leuten, deren Denken sich um die
Geschwindigkeit gedreht hat, so findet man nicht viele. Da
ist natürlich Paul Morand und stellenweise Kerouac, aber
das ist Literatur. Für eine politischere Sichtweise der Ge­
schwindigkeit gibt es Marinetti und die italienischen Futu­
risten; und dann Marshall McLuhan, der einen Schritt in
diese Richtung gemacht hat - das ist schon alles. Geschwin­
digkeit und Politik ist nicht so wichtig durch das, was darin
gesagt wird, als dadurch, daß es eine Frage aufwirft.

Geschwindigkeit und Politik ist ein theoretisches Akzidens, ein


Unfall oder Zufall der Theorie.

Ja, und deshalb dauen es auch nicht lange.

Von vornherein hat mich dabei gerade verführt, daß ein Buch über
die Geschwindigkeit schnell ist. Man hat uns allzuoft das Ende des
Buches in nicht enden wollenden Büchern proklamiert. Deine Arbeit
ufert nicht aus, denn sie transportiert etwas, ist Fahrzeug. So lautet
übrigens auch der Titef7 des letzten Kapitels von L'Insecurite du
territoire, an das Geschwindigkeit und Politik als theoretischer
Text anknüpft.

Die letzten Kapitel meiner Bücher sind stets wichtig, denn


letztendlich halte ich nichts von vielen Büchern. Man
könnte alles in einem riesigen Wönerbuch veröffentlichen,
in chronologischer Reihenfolge. In Fahrzeug begann ich, ge­
wisse Dinge zu ahnen, und wurde mir darüber klar, daß die
80
Frage nach dem Krieg in der Frage nach der Geschwindig­
keit gipfelt, in der Frage, wie Geschwindigkeit organisiert
und produziert wird, kurz : in der Frage nach allem, was da­
mit zusammenhängt. Also habe ich nach L'InJCcurite du terri­
toire einen Text herausgebracht, der zwar weniger ausge­
führt, dafür aber theoretisch ergiebiger ist, und das eben ist
GCJChwindigkeit und Politik. Alle meine Bücher gehören zu­
sammen. Jetzt bringe ich ein neues Buch heraus, das viele
Aspekte von GeJChwindigkeit und Politik entfaltet und er­
gänzt. Es heißt Strategie de l'au-delaB und trägt den Untertitel
"Dromoskopien". Durch die Dromoskopie kam ich zu
EJthetique de la diJparition, in der auch etwas von meinem In­
teresse für die Verschwundenen und die Formen des Ver­
schwindens spürbar wird. Das hängt alles miteinander zu­
sammen.

Welchen Jtrategüchen Ort nimmt Geschwindigkeit und Politik


in Deinem Werk ein?

Es ist ein Essai, den man als Werkzeug benutzen kann, um


sowohl frühere als auch heutige Gesellschaften zu analysie­
ren, und vielleicht sogar die Zukunft. Denn ich konnte da­
mit auch neuere Ereignisse im audio-visuellen Bereich und
in der Entwicklung von Automobil und Kino analysieren.

Du haJt Geschwindigkeit und Politik den Untertitel nEin EJJay


zur Dromologie" gegeben. Wie würdeJt Du dieJe neue WiJJenJChajt,
dieJeJ neue Verhältnü zu WiJJemchajt und Denken definieren?

Dromologie kommt von dromoJ, Lauf. Es handelt sich also


um die Logik des Laufs. Damit bin ich in jene Welt einge­
treten, in der Geschwindigkeit und nicht Reichtum zum
Maßstab geworden ist.

1 Paul Virilio, L'eJthhique de ja diIparition, Paris 1980, dt. Asthetik


dei Vemhwinden!, Berlin 1986.
2 Jean-Fran\;ois Lyotard, Apathie in der Theorie, Berlin 1978, ders.
Da! po!tmoderne Wiuen, Bremen 1982.
3 Benoit Mandelbrot, Ln objetJ fracta/J, Paris 1 975, dt. Die fraktale
Geometrie der Natur, Basel 1987.

81
4 Gilles Deleuze/Felix Guattari, Mille Plateaux, Paris 1980.
5 Paul Virilio, Geschwindigkeit und Politik. Berlin 1980.
6 Sun Tze, Die dreizehn Gebote der KriegskunsI, München 1972.
7 Dt. in: Paul Virilio, Fahren, fahren, fahren . Berlin 1978, vgl. den
. .

gleichnamigen Text in diesem Band.


8 Das Buch erschien schließlich unter dem Titel L'hori1.On nigatif,
Paris 1984, dt. Der negative Horizont, München-Wien 1989.

DeulJche Übemwng nach dem jranzö1iJchen Typo1kript von Ma­


rianne Karbe und GU1tav Rou/er
PAUL VIR I L I O
Metempsychose des Passagiers

..Wenn du keine Frau hast,


geh in den Busch,
folge einer Stute
und mach sie zu deiner Frau."
(Sprichwort der Dogon)

Der Mann ist der Passagier der Frau, nicht nur bei seiner
Geburt, sondern auch in den sexuellen Beziehungen. Von
daher das Verbot des Inzests als eines Teufelskreises oder
vielmehr einer Teufelsreise. In freier Wiedergabe eines Sat­
zes von Samuel Butler könnte man sagen, daß das Weib­
chen das Mittel ist, welches das Männchen gefunden hat,
um sich zu reproduzieren, das heißt, um auf die Welt zu
kommen. In diesem Sinne ist die Frau das erste Transport­
mittel der Gattung, ihr erstes Fahrzeug. Das zweite wäre
das Reittier, die rätselhafte Koppelung ungleicher Körper,
die zur gemeinsamen Reise oder Wanderung gepaart wer­
den. Die metabolischen Fahrzeuge, ob Last-, Reit- oder
Zugtiere, könnten somit als die exemplarischen Resultate
einer verachteten Zoophilie gelten, die mit der Verwerfung
der tierischen Roheit vergessen worden ist. In den Ursprün­
gen der Zähmung kommt die Frau noch vor dem gezüchte­
ten und gepflegten Tier. Sie ist die erste Form von Ökono­
mie, in der sich noch vor der Sklavenhaltung und vor der
Tierzucht die Bewegung abzeichnet, die zu den Hirtenge­
sellschaften, zu patriarchalischen, über die ursprünglichen
Jagdzüge hinaus auf den Krieg ausgerichteten Gesellschaf­
ten führen wird. Tatsächlich zeichnet sich der spätere Krieg
mit dem Ende der letzten blutigen Gemetzel ab. Von der
Jagd auf das Tier um des puren Überlebens willen geht man
zur Jagd auf die Frau über, später zur Jagd auf den Mann.
Aber diese Jagd ist schon kein Abschlachten, kein Töten
mehr, sondern ein Einfangen, das Einfangen eines Bestan­
des an Weibchen. Schluß ist mit der Energieverschwen­
dung, was das weibliche Geschlecht angeht, während die
Männer weiterhin getötet und verzehrt werden, praktisch
bis zur Ackerbaustufe, auf der die Sklaverei offizielle Ein-
83
richtung wird dank des Einfangens von Männem, von Ge­
fangenen.
Es ist sinnvoll, sich diese Übertragung der Gewalt anzuse­
hen, denn so wie der Krieg aus Konflikten zwischen Mit­
gliedern derselben Gattung und nicht aus Zusammenstößen
mit dem Tiervolk hervorgegangen ist, so vollzieht sich auch
seine Weiterentwicklung und -verfeinerung an Hand inter­
ner Kämpfe und nicht solcher gegen Fremde.
Das Partriarchat taucht auf mit dem Einfangen von Frauen,
installiert und perfektioniert sich dann dank der Viehzucht.
In dieser Ökonomie der Gewalt, die der Hirtenstufe ent­
spricht, geht die "belle" der "bete" voran - die Errichtung
des herrschenden Geschlechts wird von der Koexistenz ei­
ner doppelten Viehpacht gefördert. Kommen wir aber auf
die Metamorphosen des Jägers zurück, so zeigt sich die
Zähmung als Abschluß und Perfektionierung des Raubes ..
Das Blutvergießen, die sofortige Tötung stehen im Gegen­
satz zum unbegrenzten Gebrauch der Gewalt, das heißt zu
ihrer Ökonomie. Wir sehen, wie vom direkten Zusammen­
stoß, der mit einem frühzeitigen Gemetzel endete, eine
Evolution zunächst zur einfachen Kontrolle der Jäger über
bestimmte ausgewählte Arten, dann mit Hilfe des Hundes,
dem ersten "Haustier", zur Hütung halbwilder Herden und
schließlich zur Züchtung, Vermehrung und Dressur führt.
Die Zähmung des Weiberviehs kommt in diesem Prozeß
noch weit vor der des Tragetiers. Die Frau dient als last­
tier; wie die Herde geht sie auf die Felder, um unter Kon­
trolle und Überwachung des Mannes zu arbeiten. Auf den
Wanderungen, bei Zusammenstößen trägt sie das Gepäck;
lange vor dem Gebrauch des Hauseseis ist sie das einzige
"Transportmittel". So gestattet die Frau, indem sie das Tra­
gen besorgt, dem bedürftigen Jäger sich auf das homosexu­
elle Duell zu spezialisieren, das heißt ein Männerjäger, ein
Krieger zu werden.
Die erste Freiheit ist die Bewegungsfreiheit, die die Last­
Frau dem Jagd-Mann verschafft, aber diese Freiheit ist
keine "Freizeit", sondern eine Fähigkeit zur Bewegung, die
zu einer Fähigkeit zum Krieg, jenseits der primitiven Jag­
den wird. Als erste logistische Stütze trägt das gezähmte
Weibchen den Krieg, indem sie dem Jäger die Sorge um sei­
nen Unterhalt abnimmt. Genau wie der Eindringling das
84
Gebiet, in das er eingedrungen ist und das er erobert hat, so
einrichtet, daß es die Lenkbarkeit seiner Kräfte und Bewe­
gungen fördert, so wird aus der geheirateten und gefange­
nen Frau umgehend ein Transponmittel gemacht. Ihr Rük­
ken, ihre Hüften werden zum Modell der Reiseausrüstun­
gen, die gesamte Auto-Mobilität wird von dieser Infrastruk­
tur ausgehen, von diesem getätschelten und geschlagenen
Hinteneil [im französischen Texte steht "croupe", was so­
wohl "Kruppe", also Pferderücken, als auch ,,(Frauen-) Hin­
tern" bedeuten kann, Anm. d. Ü.], alle Wünsche nach Er­
oberung und Eindringen finden sich in dieser zahmen
Reisemaschine wieder. Die Last-Frau, die trächtig ist, trägt
und weitenrägt, schenkt dem Kriegs-Mann Zeit, manchmal
gute Zeit, vor allem aber befreite Zeit.
So gesehen wird die heterosexuelle Gruppe weit fruchtba­
rer sein im mörderischen Kampf als die homosexuelle, und
auch für das Aufkommen des Patriarchats wird die rein logi­
stische Dimension des schwachen Geschlechts wesentlich
sein. Noch vor der Fonpflanzung und den sexuellen Sitten
stellt sich die Verbindung der Geschlechter als eine echte
"Subsistenzweise" heraus. Solange das Nomadenturn anhält,
fällt das Überleben mit der Verfolgung der Beute, der Wei­
deplätze oder des Feindes zusammen. Die Subsistenz der
Gruppe gründet in ihren Fähigkeiten, sich der Bewegung
anzupassen, ihre "feste Burg" besteht ganz allein im "Zeit­
gewinn" gegenüber dem Wild oder dem Gegner - noch
nicht im "Hindernis" des seßhaften Ackerbauern, sondern
im Lauf und seinen Mitteln: der Last-Frau, der Stute, später
kommen Fahrgeräte. Indem sie ihm sowohl Zeit als auch ih­
ren Rücken bietet, wird die Frau "die Zukunft des Mannes"
(Aragon), sein Geschick und sein Ziel. Dank diesem ersten
Viehbestand wird der Jäger-Viehzüchter das besitzen, was
man in militärischen Begriffen eine "hohe Stoßkraft" nennt,
und das wird ihm gestatten, die Auseinandersetzungen län­
ger dauern zu lassen, und er wird nicht mehr zum augen­
blicklichen Verzehr an On und Stelle genötigt sein.
Die bis dahin durch die geringe Beweglichkeit der Gruppen
begrenzten Konflikte können also an Ausdehnung gewin­
nen, weil die Frau dem Krieger die Wurfgeschosse trägt,
weil sie seine Habe verwaltet. Mit dem Aufkommen von
Reittieren wird der Krieg noch länger dauern und sich über

85
weitere Flächen erstrecken. einfach weil Ausdauer und Ge­
schwindigkeit der Reittiere denen des metabolischen
menschlichen Fahrzeugs überlegen sind.
Nehmen wir das Beispiel der Maya: vor der Ankunft der
Spanier sind die Kriege im Yucatan stets von kurzer Dauer.
denn auf diesem Kontinent sind die Frauen noch die einzi­
gen Transportvektoren . . . Bei der Eroberung durch eine lä­
cherliche Kohorte von berittenen Eindringlingen nun
kommt es zu einem Debakel sondergleichen. das weder
durch die Metallwaffen noch durch die Mentalität der Ein­
geborenen erklärbar ist. Es ist der Zeit- und Geschwindig­
keitsvorsprung der Eroberer. der die Auslöschung einer Zi­
vilisation durch eine Handvoll Berittener möglich macht.
Die Einführung des Pferdes auf dem amerikanischen Konti­
nent ist der wahrscheinliche Grund für die Ausrottung ei­
nes Volkes und einer Kultur. die den Eroberern zwar am
sei ben Ort. aber in einer anderen Zeiteinheit entgegentra­
ten. Die Spanier besaßen jene "dromokratische" Überlegen­
heit. die stets die demographische Unterlegenheit wett­
macht.
Kurz. die Frau war der Ursprung der ersten Verlängerung
des Kampfes. der ersten .. Revolution des Transportwesens".
die dem Jäger erlaubte. sich auf die Obszönität des narzißti­
sehen und homosexuellen Duells zu spezialisieren. das un­
endlich schrecklicher ist als der Kampf mit räuberischen Be­
stien. weil es einen ständigen Wechsel sowohl von Taktiken
als auch von Strategien verlangt. Einmal gezähmt. ermög­
lichte das schwache Geschlecht die Erfindung des Feindes.
der weit mehr ist als ein Beutetier. und diese Ausdehnung
des Angriffs schreitet fort mit dem Lasttier. mit der Erfin­
dung des Reitgeschirrs, der Reiterei. dem Wagenfahren und
seinen infrastrukturellen Zwängen. die in Mesopotamien
zur Erfindung der Straße führen und anderswo später zum Ei­
senbahnnetz . . , Doch das ist eine andere Geschichte. die
der Revolution des technologischen und nicht mehr bloß
des metabolischen TransportWesens. Wir haben gesehen.
wie im 19. Jahrhundert der Mensch vom Pferd absteigt und
in die Eisenbahn einsteigt, und das zur gleichen Zeit. als er
seinen .. Abstieg". seine seltsame Abkunft von einem affen­
ähnlichen Anthropoiden entdeckt . . . Ich möchte den umge­
kehrten Weg gehen und herausfinden wie der Mensch
86
[bzw. der Mann, im Franz. bedeutet "hornrne" sowohl
"Mann" als auch "Mensch", Anm. d. Ü.] von den Armen,
vom Rücken der Frau herab- und aufs Reittier aufgestiegen
ist.

Aufbrechen heißt sich fortbegeben, vom Quai ablegen, aus


dem Hafen auslaufen, losfahren, heißt aber auch mit seiner
Ruhe brechen, auf die Gewalt der Geschwindigkeit abfahren,
jene unvermutete Gewalt, die das Fahrzeug erzeugt, jene
Schnelligkeit, die uns so jäh von den durchquerten Orten
losreißt und der wir uns im allgemeinen Verkehr hinge­
ben.
Jeder Aufbruch ist auch ein Abbruch unseres Kontaktes,
unserer direkten Erfahrung; die Bewegung, die das Fahr­
zeug vermittelt, zerreißt und foltert den Körper, dem seine
Eigenbewegung genommen wird - eine sensorische Depri­
vation des Passagiers. Mitgefahren, mitgefangen - die Ge­
walt der Fahrt läßt uns keinen anderen Ausweg als weitere
Beschleunigung und Verlust des Unmittelbaren. Durch ihre
Gewalt wird die Geschwindigkeit gleichzeitig Geschick (de­
stin) und Ziel (destination) . Wir gehen nirgends hin, wir be­
gnügen uns damit, aufzubrechen und Lebendiges abzubre­
chen, zugunsten der Leere und der Schnelligkeit.
Das Wort "steigen" zeigt das deutlich: wir steigen aufs
Pferd, steigen ins Auto - wir erheben uns, um fortgetragen
zu werden, hingerissen von der Prothese, die unsere Be­
weglichkeit erhöht.
Im Zentrum der beschleunigten Fortbewegung stehen Menschenraub
und Entführung; die der Gewalt der Geschwindigkeit ausge­
setzten Reisenden sind "Zwangsverschleppte", buchstäblich
Deportierte . . . Allerdings scheint diese moderne Auswan­
derung verkannt zu werden, gilt doch die beschleunigte
Fortbewegung als Fortschritt - seltsame Sackgasse der Ge­
schichte der Bewegung . . . Das Zu-Pferde-Steigen schien
also unabdingbar für das Abheben (die Himmelfahrt) des
Passagiers, jenes über den Boden schwebenden Reiters, Un­
terpfand seiner Schnelligkeit, nachdem er seiner eigenen
Motorik beraubt ist. Während es seinem Passagier die er­
müdende Bewegung der eigenen Glieder erspart, tritt das
Reittier durch seinen Sattel in die Nähe eines Sessels, der
sich bewegt, der mobil ist, zu einem Möbel, einem hippo-

87
mobilen Möbel, das den Körper nicht bloß im Stillstand
oder Ruhezustand trägt wie der Stuhl, sondern auch in der
Fortbewegung.
Die Erfindung du Reitens wäre gewimrmaßen eine KriegsliJt du
eigenbeweglichen Körpers: so wie wir mittels der Motilität un­
sere Glieder auf der Stelle bewegen, um die Nachteile eines
zu langen Verweilens in einer Position (Zusammenpressen
des Fleisches auf dem Sitz usw.) zu vermeiden, so ersparen
wir uns mittels des gesattelten Tiers die Unbequemlichkeit
des Fußmarsches und erhöhen listig unsere Bewegungsge­
schwindigkeit. Durch Reihen von Verschiebungen und
Verlagerungen, von den winzigsten bis zu den weitesten,
spielen wir mit den Körpern dieses Versteckspiel namens:
Unterstützung, Komfort, Halt, Wohlbefinden . . . Um weniger
von unserem animalischen Körper zu spüren, bewegen wir uns ohne
UnterIaß (Bewegungsdrang), um die Ausdehnung des territorialen
Körpers zu vergemn, reisen wir, schnell und heftig.
Diese unablässige Suche nach einem Ideal von Schwerelo­
sigkeit bildet ein Kernstück aller Herrschaftsprobleme. Die
von früheren Zeitaltern besungene Epiphanie des Pferdes
illustriert das überdeutlich: in der Heroisierung des Pferdes
ist dieses gleichzeitig Träger des Todes und Hüter des Le­
bens, doch "ist es nicht darum sein Hüter, weil es zuvor je­
ner Träger war?" wie Fernand Benoit1 fragt. Dasselbe
Thema findet sich wieder beim Träger Christi, dem heiligen
Christophorus, dem Schutzheiligen der Autofahrer. Die
Schnelligkeit des Streitrosses schützt den Reiter vor seinen
Verfolgern, aber auch vor seiner eigenen Schwäche; das
Reittier hilft seinem Pauagier über die Schwäche seiner Konstitu­
tion, erhöht diese Schwäche aber auch, was erklärt, daß das
Pferd und der VogeF gleichzeitig Anzeichen des Todes wie
Anzeichen der Macht und der Herrschaft sind: erst muß
man eins werden mit der göttlichen Schnelligkeit des Streit­
rosses, muß man seine Seele in einer unvermittelten Me­
tempsychose verlieren, um zur Herrschaft zu kommen. Wer
"aufgestiegen" ist, beherrscht die Untengebliebenen, er
überragt sie an Höhe durch seine Erhebung aufs Pferd, aber
auch und vor allem durch die motorische Stärke seines Reit­
tiers. Für seine Gegner gibt es kein Entkommen mehr, er
wird sie vor sich herjagen, sie in alle Winde zerstreuen. Die
Kriegsjunktion des Pferdes ist es, den fliehenden Feind zu zer-
88
Itreuen, um ihn aUJZJ/lölchen; der Sturmangriff der Kavallerie
zerreißt die Masse der Infanteristen wie die Sprengladung
die 1fasse der Mauern und Wälle.
Der Unterschied an Geschwindigkeit und Gewalt zwischen
denen, die zu Fuß, und denen, die zu Pferd kämpfen, dis­
qualifizien die ersteren (so wie das Last-Tier die Last-Frau
disqualifizien hatte), solange bis sämtliche metabolischen
Fahrzeuge von den neuaufkommenden technologischen
Transponmitteln disqualifizien werden.
Die Gewalt der GeJchwindigkeit iJt nichu al! AUllölchung; der
Passagier, der sein Pferd bestiegen hat und von seiner
Schnelligkeit fongetragen wird, ist nichts als ein reitender
Tod3• Erhoben und fongetragen ist der zu Pferd Gestiegene
nicht mehr wirklich sein eigener Herr, er ist voll und ganz
der Gewalt des Streitrosses ausgeliefen, und so wie "in eine
Stellung einfallen" im militärischen Sprachgebrauch bedeu­
tet, daß man sie eroben, indem man sie überrennt, so be­
deutet das "In-Galopp-Fallen" für den Reiter, den Boden
unter den Füßen zu verlieren und eine rasende Irrfahn an­
zutreten.
Die Geschwindigkeit ähnelt dem Alter, dem lauernden
Tod, der in der Krankheit umgeht. Aufs Tier oder ins Mo­
torfahrzeug zu steigen, heißt sich darauf einzustellen, im
Augenblick des Aufbruchs zu sterben, um mit der Ankunft
wiedergeboren zu werden (ein kleiner Tod . . . ) . Im Wanen
des Reisenden wird die Geschwindigkeit zu einem vorzeiti­
gen Altern. Je schleuniger die Bewegung, umso schneller
vergeht die Zeit und umso mehr verlien die Umgebung an
Bedeutung. Die Fahn wird zu einem schlechten Scherz:
"Die kürzesten Reisen sind die besten!" sagt man. Wie bei
jener letzten Reise, dem Sterben, ist der Reisende nicht
mehr von dieser Welt, und wenn die "Bewegungsfreiheit"
(habeal COrpUI) als erste aller Freiheiten erscheint, so schei­
nen mit der Befreiung der Geschwindigkeit, der GeJchwin­
digkeiujreiheit4 alle Freiheiten erreicht. Tatsächlich taucht
die Fahn wie eine Sublimierung der Jagd aus der Ge­
schichte auf. In der Geschwindigkeit verlängern sich die
Jagd, die Mobilmachung und die Vernichtung. Die dromo­
kratische Hierarchie der Geschwindigkeit, der vitme, wie­
derholt die der noblem, des Adels: vitme obligel könnte man
sagen. FahrgeseUschaft, Jagdgesellschaft - die Dromokratie
89
ist nur die heimliche Organisation einer (gesellschaftlichen
und politischen) Jagd, bei der die Geschwindigkeit der Pro­
fit der Gewalt ist, eine Gesellschaft, in der die Klassen von
Reichtum nur Klassen von Geschwindigkeit maskieren.
Eine letzte "Ökonomie der Gewalt", in der die Wanderung
der Arten über das Tragen hinaus in der "Revolution des
Transportwesens" fortlebt und das Reiten, die Metempsy­
chose der Anfänge sich sowohl durch den Mythos des Zen­
tauren5 als durch den des Autofahrers auszeichnet.
Der Fortschritt der Geschwindigkeit ist nur die Befreiung
der Gewalt. Wir haben gesehen, daß Züchtung und Dressur
Formen der Ökonomie der Gewalt sind oder, wenn man
will, Mittel, sie dauerhaft beziehungsweise grenzenlos zu
machen. Die Erhaltung der metabolischen Energie war also
kein Ziel, sondern eine Ausrichtung der Gewalt: das Mittel
zu ihrer zeitlichen Verlängerung, der technologische Motor, Re­

sultat der langen Suche nach dem perpetuum mobile, wird am


Ende diese Gewalt freisetzen. Hier drängen sich nun zwei
Fragen auf: Wie hat man das Fahrzeug im Tier erahnt? Wie
den Motor in seinem Fleisch?
Wie ist der Primate zu dem Wunsch gekommen, ein Reit­
tier zu besteigen? Welcher Reiz hat da gewirkt? Dieser
Wunsch nach einem fremden, nach einem anderen als dem
heterosexuellen Körper scheint mir in mehrfacher Hinsicht
ein ganz entscheidendes Ereignis, eine dem Feuer ver­
gleichbare Erfindung zu sein, aber eine Entdeckung, die
dem Vergessen anheimgefallen ist, das über der gesamten
Animalität liegt.
Von der Zoophobie, wie die ersten Jagdzüge sie anzeigen, die
mit dem sofortigen Verzehr des erlegten Tieres endeten,
geht man über zur Zoophi/ie, zum Abrichten des Tieres zu
Fahrzeugzwecken . . . Wie ist man dazu gekommen, die
Notwendigkeiten des Lebensunterhalts zu überschreiten?
Wie hat man jenseits der wandelnden Fleischreserve den
Motor erahnt? Diesseits der Nahrung das Fortbewegungs­
mittel?
Um welche Ökonomie, um welche Subsistenzweise handelt
es sich bei der kostspieligen Unterhaltung eines großen
Renntiers?
Die Domestizierung erscheint als quasi-funktionelles End­
ergebnis des Beutemachens: das Blutvergießen war eine
90
Verschwendung der Gewalt; die Haltung halbwilder Tiere,
vor allem aber die dann einsetzende Zucht, verwirklichen
dagegen einen ersten Typ von Ökonomie. Die Domestizie­
rung ist eine Form von lebensnotwendiger Energieerhaltung.
Mit der Dressur des Reittiers macht sie eine Veränderung
durch: die Ökonomie der Gewalt ist nicht mehr die des jä­
gers im Züchter, sondern die des gejagten Tieres: im Reit­
tier erhält man die kinetische Energie, die Geschwindigkeit
des Pferdes und nicht mehr bloß Proteine. Von einer direk­
ten, dann indirekten Subsistenzwirtschaft kommt man zu
einer ÜberlebenJWirtschajt; das Fortbewegungstier dient prak­
tisch nur zum Kampf, sein Passagier wird nur ein Parasit
sein, so daß der Körper des Renntiers nur eine erste Ge­
schwindigkeitsjabrik ist, ein Motor, jener Dampfmotor, dessen
Stärke noch heute in "Pferden" ausgedrückt wird . . .
Während also bei der jagd der Jäger die Bewegung der wil­
den Tiere durch systematisches Erlegen zu stoppen suchte,
beschränkt sich bei der Domestizierung der Züchter darauf,
sie zu erhalten; und endlich schließt (dank der Dressur) der
Reiter sich dieser Bewegung an, um sie zu lenken und zu be­
schleunigen. Zwischen dem Wunsch nach Tod und dem
Wunsch nach körperlicher Vereinigung scheint eine Metem­
psychose des Lebendigen geschehen zu sein: das ursprünglich
feindliche Paar bildet - wie in der Ehe - nur noch einen
Körper. Erotischer Wunsch eines Gespanns, das zum Auf­
bruch reizt. Von diesem Augenblick an aber wird die Fahrt
die höhere Form der jagd, die EntjeJJelung des Jenseits, eines
jenseits der physischen, territorialen und animalischen Kör­
per, Bild des Wahnsinns und der Besessenheit, die im mit­
telalterlichen Glauben zur "Höllenjagd" wird, in der das
Pferd apokalyptische Dimensionen annimmt und die vier
Reiter das Ende der Zeiten und die Auslöschung der ge­
samten Geschichte symbolisieren.
Nachdem sie durch die Geschwindigkeit der Fahrt die Ab­
schaffung der Entfernungen bezeichnet hat, weist die Ent­
fesselung des jenseits jetzt auf die Vernichtung der Zeit.
Die Geschwindigkeit des Streitrosses symbolisiert das Ent­
setzen vor dem ENDE, wobei man bemerken muß, daß
Furcht und Geschwindigkeit tatsächlich zusammenhängen:
in der Tierwelt erwächst die Schnelligkeit aus dem Schrek­
ken, der Konsequenz der Gefahr. In der Tat geht die Ver-
91
ringerung der Entfernungen durch beschleunigte Bewe­
gung auf den Selbsterhaltungstrieb zurück. Da die
Geschwindigkeit nur das Produkt der Furcht ist, ist das jähe Auf­
springen und Losstürmen eine Sache der Flucht und nicht
des Angriffs. So ist die ständige Erhöhung der Geschwin­
digkeiten nur die Wachstumskurve der Angst. In diesem
Sinne industrialisiert die "Revolution des Transportwe­
sens", die im 19. Jahrhundert die Geschwindigkeitsfabrik
ins Leben ruft, das Entsetzen: der Motor erzeugt die Angst. Die
Geschwindigkeit des Fahrens ist nur die verfeinerte Form
der Flucht - und nicht des Angriffs, wie es die faschistische
Philosophie der dreißiger Jahre wollte ("Alles Große steht
im Sturm", mit anderen Worten in der Entfesselung des
Jenseits der Körper, insbesondere des territorialen Kör­
pers . . . 6) . Pech für die "Futuristen", daß dieses Manöver im
Felde immer nur eine Flucht nach vorn ist, eine Verhütung
des Endes und nicht ein kühner Sprung nach vorn!
Ist die Entfernung der Ort, so ist sie auch der Körper. Los­
sprengen, sich auf den Feind werfen heißt zur gleichen Zeit
auch: auseinanderfließen, sich auflösen . . . Wir stoßen wie­
der auf die Fahrzeugfunktion des Streitrosses (skedasos) :
den Feind auseinandertreiben, entfernen, aber auch sich
selbst entfernen, über den gewohnten Horizont hinaus.
"Die Angst ist grausam", sagt ein nordisches Sprichwort,
"sie tötet dich nie, aber sie hindert dich zu leben." Die zur
Fahrt sublimierte Jagd untersagt den Aufenthalt . . .
Zurück zur Erfindung des Vektors. Sehr früh schon müssen
die behenden Bewegungen des Tieres den Jäger erregt,
müssen die blitzartigen Reflexe des Wildes ihn fasziniert
haben. Umgekehrt mußte der Jäger, verfolgt von einem
Raubtier oder Feind, seinerseits in der Beschleunigung sei­
ner Fluchtbemühungen eine wirkliche Verwandlung sehen.
Er erahnte, welche Kraft im Schrecken und welch furcht­
bare "Bewaffnung" seinen von der Angst verzehnfachten
Kräften innewohnen konnte. Die Fähigkeit zur schnellen
Bewegung erschien ihm als Fähigkeit zum Überleben. Vor
der Erfindung spezieller Tötungswerkzeuge war die Bewe­
gung für den kämpfenden Körper, was später einmal die
Reichweite für die Schlagkraft der Raketengeschosse sein
wird: eine Frage der kritischen Distanz, ein Problem des
Abstandes und nicht nur eines der Durchdringung.
92
Übrigens ist bezeichnend, daß die Verlängerung der Faust­
feuerwaffen aus der Entwicklung der Kavallerie resultierte.
Wenn die Werkzeuge den menschlichen Körper verlängern
und durch das Geschoß (projectile) sogar ganz erheblich
verlängern, so wird seine größte Ausdehnung durch die Er­
findung des Reittiers und des Fahrzeugs herbeigeführt. Das
Reittier wird zum ersten "Projektor" des Kriegers, seinem
ersten Waffensystem.
"Zu Beginn des zweiten Jahrtausends vor unserer Zeitrech­
nung wird aus dem damals im ägäischen Raum gebräuchli­
chen Kupferdolch der Daggert, der Langdolch, eine längere
Waffe, die sich über ganz Zentraleuropa ausbreitet. Für den
Fußsoldaten war der Daggert von hohem Wert, die Reiter
dagegen brauchten eine gewaltigere Waffe, daher wurde bei
den Reitern des späten Bronzezeitalters aus dem Daggert
das Schwert", und viel später präzisiert der General Fuller:
"Die wachsende Zahl von Reitern, die mit Lanzen und
Schwertern bewaffnet waren, führte dazu, daß der Hammer
und das Kriegsbeil des Steppenbewohners verschwanden."
Tatsächlich handelte es sich bei diesen letzteren Kategorien
eher um Werkzeuge als um Waffen. Erst die Verlängerung
macht aus dem Jagdmesser eine spezialisierte Waffe und
aus dem Spieß eine "Lanze" . . . Über eine Reihe polyvalen­
ter Prothesen gelangt man zur "Bewaffnung", die nach Sun
Tze nur ein "unheilkündendes Werkzeug" ist, eine buch­
stäblich obszöne Prothese! . . . und das, um mittels des Ab­
standes die Geschwindigkeit und Höhe des Reittieres aus­
zugleichen . . . Wir haben gesehen, wie vor der Zähmung
und Dressur des Reitpferdes die Frau dazu beigetragen
hatte, den Kampf über das Duell hinaus zu verlängern; mit
dem Pferd wird sich diese Verlängerung nicht bloß auf den
Krieg und seine Dauer ausdehnen, sondern auf seine sämt­
lichen Mittel: Bewaffnung, Nachschub, Infrastrukturen
usw.
Zeitliche und räumliche Verlängerung dienen ganz dem Schutz und
der Vmeidigung, der "zähe Krieg" der Bauern, der sich bis in
die heutige Zeit erhalten hat, zeichnet sich in diesem Über­
gang von der Frau zum Pferd, dann zum Wagen und zur
Straße ab. Der militärische Raum entwickelt sich, der Reiter
nutzt parasitenhaft das Reittier, er weicht der Fahr-Ma­
schine, das Gespann ersetzt die direkte Mensch-Tier-Kop-
93
pelung und macht den Straßenbau notwendig, das heißt die
Leere, die Verwüstung und Begradigung des Weges. Die
Straße, erstes "militärisches Glacis"7, ist nur eine lineare Ro­
dung, die der "göttlichen Schnelligkeit" des Streitwagens
dargebracht wird, die von den Fahrzeugen verbrannte Erde,
geschundene Oberfläche. Die rein instrumentale Straße
Mesopotamiens will mit dem Land, das sie durchquert,
nichts mehr zu tun haben, sie sucht die geometrische Ab­
straktion, die Einförmigkeit, Einlinigkeit. Die Gmhwindig­
keit ruft die Leere heroor, die Leere treibt zur Eile . . .
Nach dem Lasttier kommt das Zugtier, das Gespann, das
sich dehnt und reckt, über die Kurven des Weges hinaus,
dann die Gerade, die die Fahrt schon vorwegnimmt, indem
sie die Gewalt der Bewegung hervorruft, dann die Infra­
struktur, dieses "statische Fahrzeug", in der die von Angst
getriebene Schnelligkeit fortlebt. Der Stahl, der sich im
Schwert, in der Lanze nach vorn reckt, die blanke Waffe
wie die Schiene, wie die Straße, die in einer Bewegung aus
Zusammenstoß und Abstoß gegen den Horizont fliehen -
sie signalisieren dieselbe Gewalt, dasselbe Entsetzen.
In Mesopotamien gibt es einen Besitz der Erde, der an die
Techniken des "Fahrkrieges" geknüpft ist; der Herrscher
verteilt das Gebiet an eine Bewegungselite - dal Land be­
sitzt, wer Ichnell ist. Andererseits übernehmen die Wagenhal­
ter wichtige Verwaltungsaufgaben und üben eine umfas­
sende Kontrolle zugunsten der Zentralmacht aus. In Rom
dann findet man in der Pferdezüchter-Aristokratie der er­
sten Besiedler mit der römischen Reiterordnung und der
staatlichen Verleihung des "öffentlichen Pferdes" wieder
die Pferde-Münze8, und wir stellen fest, daß diese Elite der
Geschwindigkeit tatsächlich eine militärisch-ökonomische
ist. Unter den Rittern der equites romani finden sich Präfek­
ten, Tribunen, aber auch "Armeekaufleute", wie Nicolet be­
merkt: "Diese zweite Aristrokatie, die so einflußreich ist
und in den publica und bei den Gerichten eine so bedeu­
tende politische und finanzielle Rolle spielt, hat nie die
Merkmale ihrer militärischen Herkunft verloren. "9 Der "Rei­
ter-Bankier" verwaltet seine beweglichen und transporta­
blen Güter. Sein Reichtum erwächst aus den Übertragungen
und ihrer Schnelligkeit, der Kriegsgewinn resultiert aus
dem tragbaren Charakter der Werte; ohne Beuteverschie-
94
bungen wird der Krieg ökonomisch gesehen sinnlos, wo es
nichts wegzuschleppen gibt, gibt es auch nichts zu gewin­
nen.
Alles in allem stellt die Bewegungselite, von den "Jäger­
Züchtern" bis zu den "See-Piraten", samt allen Reitern und
Wagenlenkern eine verkannte und unterschätzte Ordnung
dar, ohne die keine Akkumulation möglich gewesen wäre.
Die Akkumulation der Energie und Geschwindigkeit in
den Transportvektoren (Reittieren oder Schiffen) ist unab­
dingbar für die Kapitalisierung der Güter und Reichtümer.
Die Verborgenheit dieser dromokratischen "Fahrgesell­
schaft" zeigt die strategische Dimension der Vektorpoliti­
ken im Lauf der Zeitalter an.

Im Wunsch nach einem metallischen Körper wiederholt der


in seinem automobilen Gehäuse eingeschlossene Passagier
die erste Koppelung. So als hätte mit der Revolution der
Transporte das materialistische Abendland seine Metem­
psychose geradezu in die Körper verlegt, beschleunigt die
Industrie der Bewegung die Transporte unbekümmert um
das langsame Auf und Ab der Geburten- und Sterberaten.
In unserer Art, von hier nach da, von einem zum anderen
"abzufahren", eingeschlossen in den Abstand der Ge­
schwindigkeiten, eingemauert in die Energie des Reisens,
gleichen wir weniger Kerlen oder Weibern als Bahnhö­
fen.IO
Das Territorium, Ort des Auswurfes, nicht mehr der Aus­
wahl, wird zum Saum einer unausgesetzten Küstenschiff­
fahrt: Einschiffen, Ausschiffen, UmschJagspunkt von Lasten -

unablässig setzen die technischen Rhythmen uns auseinan­


der und wieder zusammen. Der Geschwindigkeitsexzeß ist
eine Fahrschule, die Reflexe und Reaktionen in uns einübt,
so wie der Faschist Marinetti das gestern beschrieb: "Unser
Herz kennt keine Rast! Denn es nährt sich von Feuer, von
Haß und von Geschwindigkeit."

1 Fernand Benoit, L'hiroiIation iquestre, 1954.


2 Siehe z. B. das Taubenhaus und seine politischen oder ökono­
mischen Funktionen im Mittelalter.

95
3 ..Und ich sah, und siehe, ein fahles Pferd. Und der darauf saß,
des Name hieß Tod, und die Hölle folgte ihm nach." Die Of­
fenbarung des Johannes, Kap. 6,8.
4 Um das festzustellen, braucht man sich nur die Masse der Ver­
kehrsregeln und -kontrollen anzusehen.
5 Dumezil, Le probteme deI centaum, 1929.
6 Heidegger zitiert in seiner berüchtigten Rektoratsrede den
Satz Platons, um .. die Größe dieses Aufbruchs (zu) verstehen".
[Anm. d. R.]
7 Glacis hier als Vorfeld einer Befestigungsanlage. [Anm. d. R.]
8 ..halon" - was sowohl .Hengst" als auch (halon monhaire)
..Maß", ..Währung" bedeuten kann. [Anm. d. Ü.]
9 Nicolet, A propos de I'Ordre equestre, in: Problemes de la guerre
a Rome, 1969.
10 Im Original gebraucht V. hier homonyme Lautformen und
spielt mit ihrer semantischen Differenz. [Anm. d. R.]

Aus dem Französischen von Ulrich lVIulff


MÄNNLICH / WEIBLICH
HELENE CIXOUS
Geschlecht oder Kopf?

Zur sexuellen Differenz zunächst diese kleinen Bruchstücke:


eines Tages, als das absolute Paar, Zeus und Hera, eine ih­
rer episodischen und systematischen Zänkereien hat - die
heute für die Analytiker so hochinteressant geworden
sind - , rufen sie Teiresias als Schiedsrichter. Teiresias, der
blinde Seher, besaß den Vorteil eines einzigartigen Schick­
sals: er hatte sieben Jahre als Frau und sieben Jahre als
Mann gelebt.

Er hat eine doppelte Sichtweise. Eine doppelte Sichtweise,


die anders beschaffen ist als das, was man normalerweise
unter einer doppelten Sichtweise versteht: er sieht nicht
nur als Seher eine gewisse Zukunft. Er sieht auch von bei­
den Seiten aus. Er sieht von der Seite des Männlichen und
von der Seite des Weiblichen aus.

In dem Zank ging es um die Frage nach dem Genuß: "Wer,


Mann oder Frau, genießt am meisten?". Offensichtlich
konnten weder Zeus noch Hera die Frage beantworten, es
sei denn, sie gäben ihre Antwort, eine Antwort, die ungenü­
gend wäre, denn es muß gesagt werden, daß das Altertum
mit den Möglichkeiten der Identifikation bescheidener um­
ging als unsere Zeit. Deshalb hatte man Teiresias gerufen,
der Einzige, der wußte "welcher von beiden". Und Teiresias
antwortete: "Wenn der Genuß in zehn Teile geteilt werden
könnte, so würde die Frau davon neun haben." Neun. Es ist
kein Zufall, daß man Teiresias auf keiner anderen Szene wie­
der auftauchen sieht, als auf der des Ödipus. Es ist Teiresias,
der auf Befehl des Ödipus kommt, ihn daran zu erinnern,
daß die Blindheit sein Meister ist, und es ist Teiresias, der, wie
man sagt, "die Schuppen von den Augen fallen läßt" und
Ödipus eröffnet, wer er wirklich ist. Wie man sieht, artiku­
liert sich all dies immer auf dem Umweg über eine gewisse
Bezugnahme, "was ist denn das, die Frau für den Mann?".

Ich denke an eine kleine chinesische Geschichte. Jede Ein­


zelheit dieser Geschichte zählt. Ich entnehme sie einem
98
sehr ernsthaften Handbuch, dem Handbuch der Kriegs­
kunst von Sun Tze1. Es handelt sich um eine Art prakti­
schen Führer zum Gebrauch des Kriegers. Die Anekdote ist
die folgende: Der König verlangt vom General Sun Tze:
"Du, der du ein großer Feldherr bist und dich brüstest, aus
jedem beliebigen Menschen einen guten Krieger zu ma­
chen . . . nun, nimm meine Frauen (es waren ihrer einhun­
dertundachtzig!) und mach aus ihnen Soldaten." Man weiß
nicht, warum der König diesen Wunsch gehabt hat, es ist
das Einzige, was man nicht weiß . . . , das was eben gerade
"unerzählbar" oder unberechenbar in der Geschichte ist.
Nun, es war der Wunsch des Königs.

Und Sun Tze teilte die Frauen in zwei Abteilungen, die je­
weils von einer der beiden Lieblingsfrauen befehligt wurde
und erläuterte ihnen dann die Vorschriften, wie sie im
Trommelschlag ausgedrückt wurden. Das war sehr einfach:
zwei Schläge: nach rechts, drei: nach links, vier: halbe Dre­
hung oder Kehrtwendung . . . Und an statt sehr schnell zu
lernen, begannen diese Damen zu lachen, zu schwätzen,
nicht aufzupassen, und Sun Tze, der ein Meister ist, wieder­
holt die Lektionen mehrmals. Je mehr er spricht, desto
mehr krümmen sich die Frauen vor Lachen, woraufhin Sun
Tze in seinen Vorschriften nachschlägt. Und dort steht ge­
schrieben, daß, wenn die Frauen sich vor Lachen krümmen,
anstatt Soldaten zu werden, man dies als Meuterei bezeich­
net, und die Vorschriften haben vorgesehen, daß in diesem
Fall das Gesetz die Todesstrafe vorsieht. Also werden die
Frauen zum Tode verurteilt. Darüber ärgert sich nun wie­
der der König: hundertachtzig Frauen sind ganz schön viel!
Er möchte nicht, daß man ·seine Frauen umbringt. Und Sun
Tze antwortet ihm, da man ihm nunmal den Auftrag gege­
ben hat, aus der Frau einen Soldaten zu machen, so wird er
diesen Befehl ausführen: Sun Tze ist ein Vertreter der abso­
luten Ordnung. Und es gibt also eine "königlichere" Ord­
nung als der König selbst: das ist das absolute Gesetz . . . Es
gibt keine Hintertüren zur Ordnung. Also befolgt er die
Vorschriften und enthauptet mit seinem Säbel die beiden
Befehlshaberinnen. Man ersetzt sie, man beginnt erneut mit
der Ausbildung, und als wenn sie niemals etwas anderes ge­
tan hätten, als die Kriegskunst auszuüben, drehen sich die

99
Frauen nach rechts, nach links, um die Achse, schweigend
und ohne sich jemals zu irren.

Man kann sich keine perfektere Repräsentation jener gewis­


sen Beziehung zwischen zwei Ökonomien vorstellen: einer
männlichen und einer weiblichen Ökonomie, wobei die
männliche Ökonomie organisien wird in einer Ordnung,
die sich selbst verbucht, durch zwei Schläge . . . drei Schläge,
vier Schläge, mit Schlagstöcken und einer Trommel, wie es
sich gehön. Eine Ordnung die sich durch Einschärfung,
durch Erziehung errichtet: es handelt sich immer ums Er­
ziehen. Eine Erziehung, die in dem Versuch besteht, das
Weibliche in einen Soldaten zu transformieren, unter Straf­
androhung, wie sie immer in der Geschichte für die Frau
reservien war, einer Strafe, von der man sagt, daß sie eine
"Haupt"strafe sei, und die tatsächlich darin besteht, zu ent­
haupten. Eine Frau hat keine andere Wahl als enthauptet
zu werden, und überhaupt muß gesagt werden, daß die Mo­
ral der Geschichte darin besteht, daß die Frauen, wenn sie
ihren Kopf nicht durch einen Säbelhieb verlieren, 10 behalten
lie ihn nur unter der Bedingung, ihn zu verlieren, das heißt, in to­
talstem Schweigen und transformien zu Maschinen.

Es wird sich darum handeln, die weibliche Unordnung, ihr


Lachen, ihre Unfähigkeit, die Trommelschläge ernst zu neh­
men durch die Enthauptungsdrohung zu unterwerfen.
Wenn der Mann funktionien durch die Kastrationsdro­
hung, wenn die Männlichkeit in der Kultur ab etwal von der Ka­
Itration BedrohteI vorkommt, dann kann man sagen, daß der
Schlag . . . der Widerhall dieser Kastrationsdrohung bei der
Frau seinen Aufschub erfährt als Enthauptung, als Hinrich­
tung der Frau, als Verlust des Kopfes.

Man ist versucht, der Geschichte, der Kultur, die Frage


nach der Frau in solch völlig elementarer Weise zu stellen,
wie zum Beispiel: "Wo ist sie denn? Gibt es sie denn?" In
Grenzfällen fragen sich viele Frauen, ob sie existieren. Sie
haben das Gefühl, nicht zu existieren, und sie fragen sich,
ob es jemals für sie einen Platz gegeben hat. Ich spreche zu
euch von dem Platz der Frau, von dem On wo, von ihrem
Ort, wenn sie sich onet.
100
Ich habe mich in La Jeune Nee 2 einer Geschichte bedient, die
mir bezüglich des Platzes der Frau überaus aufschlußreich
erschien: die Geschichte von Dornröschen. Wenn man die
Frau sucht, kann man ziemlich sicher sein, sie immer in
derselben Position zu finden, nämlich im Bett. Sie ist im
Bett und, als anagrammatisches Spiel: sie ist im Bett (lit)
oder sie ist im "er" (il). Sie li�gt und sie schläft: sie ist "ge­
streckt". Man findet sie immer im Zusammenhang mit ei­
nem Bett: Dornröschen wird aus diesem Bett durch den
Mann herausgeholt, denn die Frauen wachen nicht von al­
lein auf, wie ihr wißt, sind dafür die Männer nötig. Sie wird
herausgeholt durch den Mann, der gekommen ist, um sie
ins Bett nebenan zu bringen, damit sie ewig liegen und ge­
bären kann wie in den Märchen.

Von Bett zu Bett, das ist also ihre Reise: ein Bett, in dem sie
höchstens träumen kann. Ihr kennt die hübschen perversen
Analysen Kierkegaard's von der "Existenz" der Frau, wie
sie die Kultur für sie vorsieht, und von der er sagt, daß er
sie als Schlafende sieht. Sie schläft und, so sagt er, wird sie
zunächst von der Liebe enräumt, woraufhin sie dann wie­
derum von der Liebe träumt. Von Traum zu Traum und im­
mer an zweiter Stelle. In gewissen Märchen trifft man sie
zwar aufrecht an, aber nicht lange. Rotkäppchen zum Bei­
spiel, das - ich nehme an, daß euch das nicht entgangen
ist - eine kleine Klitoris ist. Dieses Rotkäppchen macht im
Grunde einen Seitensprung: es ist das kleine weibliche Ge­
schlecht, das sich ein bißehen zu vergnügen versucht, und
das davonläuft mit seinem kleinen Buttenopf und seinem
kleinen Honigtopf. Interessanterweise ist es seine Mutter,
die sie ihm gibt und sie ausschickt zu einer Besorgung, die
wegen ihrer Beschränktheit völlig illusionär ist: Rotkäpp­
chen verläßt ein Haus, und das ist das Haus ihrer Mutter,
und zwar nicht, um in die große weite Welt zu gehen, son­
dern um von einem Haus zu einem anderen zu gehen und
das auf dem kürzesten Weg; also schnell von einer Mutter
zur anderen. Und die andere, das ist die Großmutter, die
man sich als "Große Mutter" vorstellen muß, denn es gibt
zwar große Männer, aber keine großen Frauen; statt dessen
große Mütter. Und die großen Mütter sind immer böse: die
böse Mutter, die immer wieder die Tochter erwischt, wenn
101
sie mal zufällig leben oder genießen möchte. Also muß man
immer wieder seinen kleinen Honigtopf und seinen kleinen
Buttertopf zur Großmutter tragen, die da steht . . . für diese
gewisse Eifersucht, der Frau, die von ihrer Tochter nicht
lassen kann.

Aber Rotkäppchen macht trotz allem einen kleinen Umweg,


und damit das, was eine Frau niemals tun darf, nämlich ih­
ren eigenen Wald durchqueren. Sie erlaubt sich das Verbo­
tene . . . wofür sie teuer bezahlen muß: sie kehrt zurück ins
Bett, in den Bauch der Großmutter. Der Wolf, das ist die
Großmutter und alle Frauen verstehen sich auf große böse
Wölfe! Wir wissen, daß auf uns immer irgendwo in einem
großen Bett ein großer böser Wolf wartet. Der große böse
Wolf repräsentiert mit seinen großen Zähnen, seinen gro­
ßen Augen und seinem Aussehen einer großen Mutter das
große theoretische Überich, das alle weiblichen Rotkäpp­
chen bedroht, die versuchen ihren Wald zu erforschen,
ohne die Erlaubnis des Analytikers. Also sieht man sie, ge­
streckt zwischen zwei Häusern, zwischen zwei Betten, im­
mer gefangen in ihrer Kette von Metaphern, wie sie die
Kultur organisieren . . . immer Mond für die männliche
Sonne [im Gegensatz zum Deutschen ist im Frz. das Wort
"Sonne" masculinum und das Wort "Mond" femininum;
Anm. d. Ü.] . Natur für die Kultur, Höhlung für die männli­
che Gewölbtheit, Materie für die Form . . . Unbeweglichkeit/
Trägheit für das Vorrücken und den Fortschritt, Erde, auf
der sich der männliche Marsch abspielt, Gefäß . . . Der
Mann ist natürlich aufrecht, aktiv, schaffend . . . , und so geht
es nun eben zu in der Geschichte.

Diese Opposition zu der Frau verteilt sich unendlich auf


alle Oppositionen, die die Kultur organisieren. Das ist die
klassische, duale, hierarchisierte Opposition. Mann/Frau
heißt auch automatisch groß/klein, überlegen/unterlegen . . .
das heißt oben oder unten, das heißt Natur/Geschichte, das
heißt VeränderungIUnbeweglichkeit. In der Tat ist alle
Theorie der Kultur, alle Theorie der Gesellschaft, sämtliche
symbolischen Systeme - also alles, was sich spricht, sich or­
ganisiert als Diskurs, Kunst, Religion, Familie, Sprache, al­
les das, was uns verhaftet ist, was uns macht - organisiert in
102
hierarchisierenden Oppositionen, die zurückgehen auf die
Opposition Mann/Frau, die nur aufrechterhalten wird
durch eine Differenz, die der kulturelle Diskurs als "natur­
gegeben" versteht, die Differenz zwischen Aktivität und
Passivität. Das funktioniert immer so, und diese Opposition
ist eine Opposition in Paaren. Es ist ein Paar, das verstan­
den wird als sich opponierend, es ist ein Paar, zwischen
dem es Spannung gibt, Kampf gibt . . . ein Paar, wo ein ge­
wisser Krieg getrieben wird, wo immer ein Tod dabei ist,
und wenn ich immer wieder die Bedeutung der Opposition
als Paar hervorhebe, so deshalb, weil alles dies eben nicht
nur nichts als Worte sind . . . oder zumindest Wort ist: alles
ist Wort, alles ist nichts als Wort. Festzustellen, daß es in
Paaren abläuft, daß es das Paar ist, was es am Funktionieren
hält, weist auch darauf hin, daß man sich mit dem Paar be­
schäftigen muß, wenn man die Kultur dekonstruieren und
transformieren möchte. Das Paar als Ort, als Kriegsschau­
platz in der Kultur, aber auch als der Ort, der einer vollstän­
digen Transformation der Relation zwischen dem Einen
und dem Anderen bedarf und sie erfordert. Es ist immer
das Paar, mit dem man sich beschäftigen muß, und also zum
Beispiel damit: "Was wäre eine völlig andersartige Paarbe­
ziehung, was wäre eine Liebe, die nicht einfach eine Hülle
wäre, nicht einfach eine Verschleierung des Kriegs?"

Ich habe gesagt, daß es Wort ist: Man muß die Kultur beim
Wort nehmen, so wie sie uns in ihr Wort nimmt, in ihre
Sprache. Ihr versteht, warum ich meine, daß eine politische
Reflexion nicht ohne eine Reflexion der Sprache stattfin­
den kann, nicht ohne eine Beschäftigung mit der Sprache.
Von Anfang an wird man in eine Sprache hineingeboren
und die Sprache spricht (zu) uns, die Sprache diktiert uns
ihr Gesetz, das ein Gesetz des Todes ist: sie diktiert uns ihr
Familienmodell, sie diktiert uns ihr Ehemodell, und sobald
man dabei ist, einen Satz zu produzieren, wenn man das
Sein zuläßt, wenn man eine Frage zum Sein zuläßt, wenn
man Ontologie zuläßt, nun, dann ist man gleich geschnappt
von einem gewissen Typus des männlichen Wunschs, der
den philosophischen Diskurs antreibt; sobald man die
Frage stellt nach "was ist das", sobald man eine Frage stellt,
sobald man eine Antwort verlangt, nun, dann ist man bereits
103
im miinnlichen Verhör gefangen. Ich sage "männliches Verhör",
ihr wißt, daß man in Frankreich sagt, der und der ist von
der Polizei "verhört" worden. Und dieses Verhör, es ge­
schieht unvermeidlich durch die Wirkung der Bedeutung:
"Was ist das? Wo ist das?". Das ist eine Wirkung vom Be­
deuten-Sollen, vom "dies soll das heißen", von der prädika­
tiven Distribution, die immer gleichzeitig die Bildung von
Sinn verlangt, und während sich der Sinn konstituiert, ge­
schieht dies nur in einer Bewegung, wo der eine Teil des
Begriffpaars, wo der eine von beiden zugunsten des ande­
ren zerstört wird.

Wenn man die Frau sucht - wie man so sagt . . . "Cherchez


la fernrne" - so weiß man immer, daß das bedeutet: sie wer­
den sie im Bett finden; die andere Frage, die in der Ge­
schichte vorkommt, eine ziemlich merkwürdige Frage, ist
die typisch männliche Frage "Was will sie?". Ihr wißt, daß
das die Freudsche Frage ist: bei der Untersuchung des
Wünschens stellt Freud irgendwo die Frage, beziehungs­
weise stellt sie nicht, läßt sie in der Schwebe, die Frage
nämlich "Was will die Frau?". Also sprechen wir nochmal
darüber, über dieses Wollen, warum/wie sich die Frage "Was
will die Frau?" stellt, wie sie gestellt wird und wie sie in der
Schwebe gelassen wird durch den philosophischen Diskurs
(der analytische Diskurs ist nur ein Gebiet innerhalb des
philosophischen Diskurses), wie sie gestellt wird beispiels­
weise durch den großen bösen Wolf und die Großmutter.

"Was ist es, was sie will?" Rotkäppchen wußte sehr wohl,
was es wollte, aber Freud tut mit seiner Frage nur so als ob:
sie ist eine rhetorische Frage. Sie so zu stellen, "Was will
die Frau?", heißt, sie als Antwort zu nehmen: ein Mann, der
eigentlich nicht mit einer Antwort rechnet, da die Antwort
heißt: "Sie will nichts" . . . "Was will sie? . . . nichts!" Nichts,
da sie ja passiv ist. Das, was der Mann machen kann, ist, die
Frage weiter auszulegen, wie "Was kann sie schon wollen,
sie, die nichts will?". Anders gesagt: "Ohne mich, was
könnte sie da schon wollen?"

Großpapa Lacan nimmt die Formel "Was will sie?" wieder


auf, wenn er sagt: "Über ihren Genuß vermag die Frau
104
Soviele Künstler, soviele Einzelausstellungen,
soviele Händler und Sammler und Kritiker,
die nichts anderes sind als Läuse an den
Hintern der Künstler!
Marcel Duchamp
nichts zu sagen." Das ist ja sehr interessant! Da kommt alles
vor: eine Frau vermag nicht, hat keine Macht . . . sie hat keine
Macht [frz. "pouvoir" heißt u. a. "können", "vermögen" und
"Macht"; Anm. d. R.] ; vom "sagen" sprechen wir gar nicht
erst: das ist es nämlich, dessen sie auf immer beraubt ist.
Kein Sagen über den Genuß = kein Genuß, kein Wollen:
Macht, Wollen, Sagen, Genießen, all das gibt es nicht für
die Frau. Und um sehr schnell daran zu erinnern, wie sich
das im Theoretischen organisiert, folgende Frage: nun, ihr
wißt, daß es bei Freud/Lacan heißt, die Frau sei "ausge­
schlossen aus dem Symbolischen", ausgeschlossen aus dem
Symbolischen, das heißt aus der Sprache, dort, wo sie Ge­
setz ist, ausgeschlossen aus dem möglichen Bezug zur Kul­
tur und zur Ordnung der Kultur. Und sie ist ausgeschlossen
aus dem Symbolischen, weil ihr der Bezug zum Phallus
fehlt, weil sie keinen Gewinn aus dem zieht, was die Männ­
lichkeit organisiert, nämlich die Kastrationsdrohung. Die
Frau profitiert nicht von der Kastrationsdrohung, die
schlicht und einfach reserviert ist für den kleinen Jungen.
Der Phallus, im Umkreis Lacans auch "transzendentaler Si­
gnifikant" genannt, transzendental eben deswegen, weil er
erster ist und die ganze Struktur der Subjektivität organi­
siert, ist es in der Psychoanalyse, der seine Wirkungen ein­
schreibt, das heißt seine Wirkungen von Kastration und
Widerstand dagegen, und ausgehend davon selbst die
Organisation der Sprache, werden im Unbewußten ausge­
drückt und folglich wäre es der Phallus, der a priori die Be­
dingung jeglicher symbolischer Funktion wäre. Das geht
sehr weit: man treibt die Konsequenz bis zum Körper: der
Körper ist sexualisiert, er erkennt sich nicht als beispiels­
weise männlich oder weiblich, bevor er nicht die Kastra­
tionsdrohung durchgemacht hat.

Was die Analyse als das die Frau bezeichnende hervorhebt,


ist, daß sie des Mangels ermangelt. Sie ermangelt des Man­
gels? Es ist ziemlich merkwürdig, dies in solch wider­
sprüchlichen Weise anzunehmen, an der Grenze des Para­
doxalen, das da meint: sie ermangelt des Mangels. Zu
sagen, daß sie des Mangels ermangelt, heißt nach allem
auch, daß sie nicht des Mangels ermangelt . . . da sie nicht
des Mangels an Mangel ermangelt. Ja aber, werden sie euch
106
sagen, "sie ermangelt nämlich de! Mangels", der Mängel . . .
der Mängel des Phallus. Sie würde also des großen Mangels
ermangeln, und ohne den Mann wäre sie also dieses unse­
xualisierte Wesen, undcfiniert und undefinierbar, das sich
nicht kennt; abseits vom Symbolischen. Aber glücklicher­
weise gibt es den Mann: den, der kommen wird . . . die Ge­
schichte vom Märchenprinzen. Und es ist der Mann, der die
Frau lehrt (denn der Mann ist immer auch der Meister), der
sie lehrt, den Mangel zu fühlen, die Abwesenheit zu füh­
len, den Tod zu fühlen. Es ist der Mann, der die Frau end­
lich "in Ordnung bringt", der sie einweist, dadurch, daß er
sie das lehrt, was sie ohne den Mann "mißverstehen"
könnte. Er wird sie das Gesetz des Vaters lehren. Etwas von
·
der Rangordnung des "ohne mich, ohne mich-den-absolu­
ten-Vater" (der Vater wird immer absoluter, je unwahr­
scheinlicher und unwissender er wird . . . ), "ohne mich: du
würdest nicht existieren, ich bin es, der dir das beibringt".
Ohne ihn würde sie in diesem Zustand des ängstigenden
und geängstigten Agglomerats verbleiben, da ohne Gren­
zen, nicht eingewiesen, nicht organisiert, nicht "heimge­
sucht" vom Phallus . . . sondern inkohärent, chaotisch und
dem Imaginären verhaftet in ihrer Unwissenheit über das
Gesetz des Signifikanten. Ohne ihn wäre sie geneigt, nicht
eingewiesen zu sein durch die Todesdrbhung, also sich
zum Beispiel für ewig zu halten . . . sich als "ohne Tod" gel­
ten zu lassen. Ohne ihn wäre sie der Sexualität beraubt.
Und man kann sagen, daß der Mann auf eine sehr aktive
Weise damit beschäftigt ist, "seine Frau" zu produzieren.
Nehmt euch zum Beispiel nochmal Die Verzückung der Lot V.
Stei,r vor, und ihr werdet den Augenblick erscheinen sehen,
wo der Mann endlich sagen kann "seine" Frau, "meine"
Frau. Das ist der Augenblick, wo er die Frau gelehrt hat,
den Tod zu fühlen. Der Mann macht also, er macht/fabri­
ziert Jeine Frau, nicht ohne selbst gefangen und davongetra­
gen zu sein von der dialektischen Bewegung, die diese Art
von Sache ins Spiel bringt. Sagen wir, daß die absolute Frau,
in der Kultur, diejenige, die wirklich am nachdrücklichsten
repräsentiert . . . am nächsten der Weiblichkeit als Beute der
Männlichkeit - in der Tat wirklich die Hysterikerin ist . . . er
macht aus ihr sein Bild!

107
Die Hysterikerin, das ist ein wunderbarer Dämon, der im­
mer im Zwiespalt, in der Hinterlist des Machens ist. Sie ist
jemand, der sich nicht macht . . . sie macht nicht sich, son­
dern sie macht das Andere. Man sagt, daß die Hysterikerin
den Vater "macht", sie macht den Vater, sie "macht" den
Meister. Macht . . . nachmachen [frz. "contre faire", "contre­
fait" - Bildnis; Anm. d. R.), nachmachen: sie macht die
Frau nach, sie macht gegen . . . sie macht das Begehren nach,
sie macht den Vater . . . sie macht es "sich", sie macht es
gleichzeitig weg. Überdies, ohne Hysterikerin keinen Vater
. . . und ohne Hysterikerin keinen Meister, keinen Analyti­
ker, keine Analyse! Sie ist diese nicht einzuordnende weibliche
Struktur, deren Fähigkeit, das Andere zu produzieren, eine
Fähigkeit ist, die ihr nicht wieder sich einbringt. Das ist
wirklich eine Quelle, das ist etwas, das das Andere unauf­
hörlich nährt und das sich gleichzeitig nicht vom Anderen
befreit . . . das sich nicht wiedererkennt, in den Bildern, die
das Andere ihr vorhalten kann oder ihr nicht vorhält. Man
hält ihr Bilder vor, die nicht an ihr haften, und sie bemüht
sich diesen Bildern zu gleichen, wie wir alle es getan haben.

Gegenüber dieser Person also, die des Mangels ermangelt,


die nicht des Mangels an Mangel ermangelt, usw. haben wir
die unendlich viel leichter zu analysierende, einzuordnende
Struktur der Männlichkeit, die jedenfalls ihre Metaphern
wie Flaggen quer durch die Geschichte zur Schau trägt. Ihr
kennt sie: es sind sehr wirksame Metaphern. Es ist sicherlich
immer Krieg, Kampf, um den es sich handelt. Wenn nicht
Kampf, dann verschiebt es sich hin zum Einsatz des Kamp­
fes, zur Strategie. Der Mann, das ist die Strategie, das Kal­
kül . . . das ist "wie gewinnen", mit den geringsten Verlusten,
mit den geringsten Ausgaben. Die männlichen Gestalten in
der Literatur sagen euch dasselbe: "ich berechne", wie macht
man's, um zu gewinnen. Nehmt Don Juan und ihr habt die
ganze männliche Ökonomie, die sich organisiert ausgehend
von: "der Frau gerade soviel geben, um sie für die Dauer des
Beischlafs zu beleben", um danach die Investition schnell
zurückzuziehen, wieder zu investieren usw., um nie jemals
gegeben zu haben, immer alles wiederbekommen zu haben
durch den größtmöglichen Gewinn an Genuß auf der Durch­
reise. Das heißt natürlich zu verzehren ohne zu bezahlen.
108
Nehmt ein anderes Modell als Don Juan, der es natürlich
auf die Spitze treibt . . . nehmt Kafka: Kafka ist einer, der
sagte, daß es einen Kampf gäbe, der ihm über alle Maßen
Angst machen würde (ihr wißt, daß er ein Mann des Kamp­
fes war, aber ein Mann des Kampfes mit dem Tod, und in
diesem Sinne wirklich der größte Mann), in bezug auf die
Frauen war es Kampf, der ihm Angst machte (der Tod
machte ihm keine Angst). Er sagte, daß der Kampf mit den
Frauen im Bett enden würde: und das sei der größte Schrek­
ken. Dieser Kampf, ich denke, daß ihr das Leben Kafkas et­
was kennt, und ihr müßt wissen, daß er in seiner totalen
Redlichkeit, in seiner absoluten Ehrlichkeit versucht hat,
diese schreckliche Angst vor der Beziehung zur Frau und
vor seinem Kampf, der nur im Bett enden konnte, zu leben,
indem er erarbeitete . . . eigentlich produzierte, eine neuro­
tische Struktur, die ganz und gar außergewöhnlich ist vor
Schönheit und Schrecklichkeit und die darin bestand, eine
lebendige und tödliche Beziehung mit einer Frau zu haben,
aus der größtmöglichen Ferne. Das heißt, die größte Nähe
und die größte Ferne zu haben. Er hat zum Beispiel seine
Zeit damit zugebracht, sich zu verloben, sich leidenschaft­
lich eine Heirat zu wünschen, vor der er sich zutiefst fürch­
tete, und dauernd den Tag der Hochzeit hinauszuschieben
durch endlose Manöver 'des Unbewußten . . . durch eine
Strategie von Bruch und Wiederholung, die ihn bis zu sei­
nem Todesbett geführt hat, seinem Todesbett, wie er es
sich gewünscht hat, einem Bett schließlich, wo er allein war
mit dem Tod. Diese Arbeit der Entfernung von der Frau,
die gleichzeitig der Ruf danach ist, teilt sich auf eklatante
Weise in seinem Tagebuch mit, noch einmal deshalb, weil
Kafka die Ehrlichkeit besaß, alles zu zeigen, alles zu sagen.
Er machte beim Schreiben kleine Kolonnen, wobei er links
Soll und rechts Haben aufführte . . . und alle die Gründe,
wegen denen ich mich unbedingt verheiraten sollte, alle die
Gründe, wegen denen ich mich unbedingt nicht verheiraten
sollte. Es ist diese Spannung, die das Spektrum des Mann­
Frau-Verhältnisses aufweist, so wie es sich normalerweise
nicht zur Schau stellt, denn das, was sich normalerweise zur
Schau stellt, ist alles Täuschung . . . alle die Worte über die
Liebe usw. Und alles dies verdeckt nichts als eine Haßbezie­
hung, die von der Todesangst genährt wird: die Frau, das ist
109
für den Mann der Tod. Das ist wirklich die Kastrationsdro­
hung in ihrer wirksamsten Form: geben müssen, das heißt,
wirklich auf dem Weg zum Tod zu sein.

Geben müssen: hier nun stößt man auf ein fundamentales


Problem, daß nämlich die Männlichkeit immer verbunden
ist - auf der Ebene des Unbewußten, was aber die ganze
Ökonomie zum Funktionieren bringt - mit einem Bezug
zur Schuld. Wenn Freud die Beziehungen von verschleier­
tem Antagonismus zwischen Kindern und Eltern dechif­
frien, zeigt er sehr genau, in welchem Maß die Familie, was
den kleinen Jungen betrifft, auf einem erschreckenden Be­
zug zur Schuld gegründet ist. Das Kind verdankt den Eltern
das Leben und sein Problem ist es, es ihnen wieder zurückzu­
geben, wobei natürlich nichts gefährlicher ist als zu schul­
den. Zu schulden heißt, die enorme Last der Großzügigkeit
des Anderen zu enragen, das heißt, bedroht zu werden von
etwas Gutem . . . und etwas Gutes ist immer etwas Schlech­
tes, wenn es von jemand anderem kommt. Wenn ihr also je­
mals etwas bekommen habt, seid ihr von diesem Augen­
blick an in der Tat ein "laufender Kredit" für den Anderen,
und wenn ihr ein Mann seid, so habt ihr nichts eiliger zu
tun, als das Geschenk zurückzuschicken, als den Kreislauf
eines Austausches zu unterbrechen, der ein schöner Aus­
tausch sein könnte . . . und zwar so, daß ihr das Kind von
niemandem seid, und daß ihr niemandem etwas schuldet.

Seht also, immer in der Schuld, in dem, was in den Religio­


nen durch Gesetze wie "Zahn um Zahn", "Gabe um Gabe",
"Auge um Auge" ausgedrückt wird, . . . das ist das System
der absoluten Äquivalenz . . . auf jeden Fall keine Ungleich­
heit, denn die Ungleichheit ist immer, männlich interpre­
tien, ein ungleiches Kräfteverhältnis und eine Bedrohung.
Also wird diese Ökonomie organisien durch den Preis: es
gibt einen Preis zu bezahlen, das Leben kostet, man muß
den Preis des Lebens bezahlen, daher rühn ein schwieriger
Bezug zu dem, was zur Ordnung der Liebe gehört, in dem
Maße, wie Liebe im Genuß auf jeden Fall beginnt, sich dem
System der Äquivalenz zu entziehen. Es ist sehr schwierig,
etwas zurückzugeben, von dem man nicht genau weiß, was
es ist. Was in bezug zwischen dem Männlichen und dem
1 10
Weiblichen auf der Ebene des Genusses so erschreckend
ist, ist, daß es vielleicht auf der einen Seite mehr gibt als auf
der anderen und daß das Symbolische die größte Mühe hat,
zu wissen, wer gewinnt und wer verliert, wer mehr gibt, in
einer solchen Art von Beziehung. Sogleich taucht die Erin­
nerung an die Schuld auf und die Furcht davor, anerkennen
zu müssen, daß man in der Schuld steht. Gleichzeitig ist der
Zusammenhang mit dem Nichtwissen ein ambivalenter Zu­
sammenhang, das heißt, das Nichtwissen ist etwas Bedrohli­
ches und gleichzeitig aber auch (und das ist nämlich die Ka­
strationsdrohung) das, was den Wunsch nach Wissen
wieder aufrüstet. Und schließlich ist die Frau, im bezug des
Mannes zum Wunsch, an der Stelle des Nichtwissens, an
der Stelle des Geheimnisses. Sie ist also nicht gut, in dieser
Hinsicht, und gleichzeitig ist sie gut, da es ja dieses Ge­
heimnis ist, das den Mann dazu bewegt, immer zu überra­
gen, immer zu dominieren, immer zu beherrschen, immer
seine Männlichkeit unter Beweis zu stellen, ausgehend von
diesem Geheimnis, das es dauernd zurückzudrängen gilt.

Also wird man die Frau als Ort des Geheimnisses angeben,
man wird sie als Geheimnis angeben, so wie man sagt "als
ständigen Wohnsitz angeben", man wird sie als Abwesen­
. heit angeben: sie ist immer diejenige, die nicht genau da ist
. . . man weiß nicht genau wo. Man gibt sie ganz und gar ty­
pischerweise an als den Ort derjenigen - um auf den Ödi­
pus zurückzukommen -, die man im Französischen allzu­
oft vergißt, weil man "sphinx" statt "sphinge" ["Sphinx" ist,
im Gegensatz zum Deutschen, im Franz. männlich, die ver­
weiblichte Form davon wäre "la sphinge"] sagt . . . man gibt
sie an als den Ort derjenigen, die man die "Singende Hün­
din" nennt. Das heißt, daß sie vor der Stadt da ist, daß sie
vor der Stadt ist - die Stadt, das ist der Mann, es ist das
männliche Gesetz, das sie organisiert - und daß sie da ist.
Wie ist sie da? Sie ist da in ihrer Unwissenheit: die Sphinx
kennt sich nicht, sie ist diejenige, die die Fragen stellt, wäh­
rend es der Mann ist, der die Antwort weiß, die, wie ihr
wißt, überdies eine Antwort ist, die seiner ganz und gar
würdig ist, nämlich: "der Mensch" [I'homme heißt im Franz.
Mann und Mensch], eine einfache Antwort . . . und die alles
sagt. Die singende Hündin, so nannte man die Sphinx: sie
111
ist eine Tierin und sie singt. Sie singt, weil die Frauen, trotz
allem . . . produzieren, sie äußern sich ein bißehen, aber sie
Jagen nicht. Immer an die Opposition von Sagen und Spre­
chen denken. In den philosophischen Texten sagt man, daß
die Waffe der Frau das Sprechen ist, weil sie spricht, spricht
sie reichlich, schwätzt sie, quillt sie über vor Lärm, vor dem
Lärm des Mundes; aber in Wirklichkeit Jagt sie nicht, hat sie
nichts zu sagen. Sie besetzt immer den Platz des Schwei­
gens oder läßt ihn höchstens widerhallen vom Singen. Und
im einen wie im anderen Fall ist es nicht zu ihren Gunsten,
da sie ja im Unwissen bleibt.

Schweigen: das Schweigen ist das Merkmal der Hysterie.


Die großen Hysterikerinnen haben die Sprache verloren, sie
sind stimmlos, sie haben manchmal mehr als die Sprache
verloren: sie werden bis zum Würgen gedrängt, nichts
kommt durch: Sie sind enthauptet, ihre Sprache ist durch­
schnitten und das, was spricht, wird nicht gehört, weil es
der Körper ist, der spricht, und weil der Mann dem Körper
nicht zuhört. Schließlich ist die Frau, die zur Hysterie ge­
trieben wird, die Frau, die nichts weiter als Verwirrung ist
und die verwirrt. Der Meister schwärmt für die Verwirrung
von dem Augenblick an, wo er sie meistern kann und wo er
über sie verfügt. Und umgekehrt ist die Hysterikerin dieje­
nige, die das vom Meister nicht verlangen kann, was er will,
daß sie will: sie will nichts, sie ist natürlich diejenige, die
nichts will. Sie will . . . sie würde gerne wollen. Sie würde
gerne wollen, aber was? Und also geht sie zur Schule: sie
fragt den Meister: "Was soll ich wollen?" und "Was wollen

I
Sie gerne, daß ich will, damit ich meinerseits es zu wollen
vermag?". Das ist dann das, was in der Analyse geschieht.
Stellen wir uns vor, daß alles das anders funktioniert, daß al­
les dies anders funktionieren könnte. Zunächst müßte man
sich einen Widerstand vorstellen gegenüber dem männli­
chen Begehren, das die Frau zur Position der Hysterikerin
oder der Abwesenden führt. Zunächst mvßte man sich vor­
stellen, daß sie mit ihrem Körper aufhört das zu unterstüt­
zen, was ich da! Reich dn Eigenen (propre)4 nenne. Das Reich
des Eigenen (propre) als allgemeine, heterosoziale Einrich­
tung, wo der Mann regiert als eigen (propre): propre kann
man als eigen zu nicht-eigen opponieren, man kann es auch
112
als sauber zu schmutzig opponieren, wie man schwarz und
weiß gegenüberstellt usw. "propre" ist etymologisch gese­
hen "proche" (nahe), es ist das, was sich nicht vom Ich
trennt. Das Nahe ist der Nächste: man soll den Nächsten
lieben wie sich selbst; man muß sich dem Anderen deran
annähern, daß man ihn lieben könnte, da man sich selbst
mehr liebt als alles andere. Das Reich des Eigenen, die Kul­
tur, funktioniert durch Aneignung, die sich anikulien, han­
delt durch die klassische Furcht des Mannes, sich enteignet
zu sehen, sich zu sehen als beraubt von . . . seiner Weigerung
beraubt zu sein, in einem Zustand der Trennung zu sein,
seiner Angst vor dem Verlust des Attributs, die als Antwon
die Geschichte in ihrer Totalität hat. Alles muß wieder ins
Männliche kommen. "Einkommen": die Ökonomie ist ge­
gründet auf etwas, das sich Einkommen nennt. Wenn ein
Mann ausgibt, so unter der Bedingung, daß es wieder rein­
kommt. Wenn ein Mann nach draußen geht, wenn er aus­
geht, um zum Anderen zu gehen, so funktionien das immer
nach dem hegelianischen Modell, wie es beschrieben wird in
der Dialektik von Herr und Knecht. Es müßte also so sein,
daß die Frau beginnt, sich zum Beispiel der Bewegung der
Wiederaneignung zu widersetzen, die die ganze Ökonomie
organisien, und, allgemein, kein Teil des männlichen Ein­
kommens mehr zu sein . . . sondern im Gegenteil ein Begeh­
ren vorzutragen, und einen Bezug zum Begehren, das nicht
mehr gefangen wäre im Kampf um Leben und Tod, das
nicht mehr eingeschlossen wäre in der Reserve und dem
männlichen Kalkül der männlichen Ökonomie, sondern das
mit diesem Kalkül brechen würde, indem "ich niemals ver­
liere, außer um mehr zu gewinnen" . . . um sich alles das,
was es an Arbeit der Negativität gibt, zu sparen und die Ar­
beit eines Positiven sich ereignen zu lassen, das sich be­
zeichnen wird als das lebende Andere, als das gerettete An­
dere, als das Andere, das nicht von der Zerstörung bedroht
wäre. Die Frauen haben etwas an sich, das dieses Überleben
oder dieses Beleben des Anderen, der Andersanigkeit in ih­
rer Unversehrtheit, organisieren könnte. Sie haben etwas an
sich, das die Differenz affirmiert, ihre Differenz, deran, daß
nichts diese Differenz z erstören könnte, sondern daß sie im
Gegenteil affirmien wäre, und zwar bis zu der Fremdheit
affirmien wäre. So sehr, daß man beim Rühren an der sexu-
1 13
ellen Differenz, beim Rühren an ihrer Aufrechterhaltung
oder an ihrem Verschwinden, gleichzeitig auch am ge­
samten Problem der Zusammenhänge von Zerstörung des
Fremden rühn, also an allen Rassismen, an allen Ausschlie­
ßungen, an allen Zusammenhängen von Ächtung und von
Genozid, wie sie die Geschichte in Gang halten. Wenn die
Frauen beginnen, die Geschichte zu transformieren, so
kann man sagen, daß alle Gesichter der Geschichte völlig
veränden sein werden. Statt vom Mann gemacht zu sein,
wird sie die Frau zu machen haben, sie zu produzieren ha­
ben. Hier müßte nun also eine persönliche Arbeit der Frau
an der Frau ins Spiel kommen, die nicht nur der Frau zu­
gute kommen würde, sondern der Gesamtheit des Mensch­
lichen schlechthin.

Sie müßte zunächst sagen, sie müßte beginnen zu sagen und


sich nicht sagen lassen, daß sie nichts zu sagen hat! Sich
nicht in der Schule einreden lassen, daß die Frauen ge­
macht sind, um zuzuhören, um zu glauben und um nichts
zu erfinden. Sie müßte es wagen zu sagen, was sie zu sagen
hat über die Gabe, über eine gewisse Möglichkeit zu geben,
die keine Gabe wäre, die nimmt, sondern eine Gabe, die gibt.
Von ihrem Genuß sagen, und Gott weiß, daß sie davon zu
sagen hat, und zwar so, daß es ihr gelingt, sowohl die weib-
\ liehe als auch die männliche Sexualität freizusetzen und
f' den Körper zu "dephallozentralisieren", den Mann von sei­
nem Phallus zu befreien, ihn zu einer erogenen Flächigkeit
zu bringen und zu einer Libido, die nicht stupide um das
Denkmal herum angeordnet wäre, sondern die erscheinen
, würde als eine bewegte, eine veneilte, also genau so fähig
zu all diesem Anderen in sich. Das ist sehr schwierig: am
Anfang muß man die Zensursysteme loswerden, wie sie auf
jedem Versuch zu sagen ruhen, der ein weiblicher Versuch
wäre. Man muß damit aufräumen und gleichzeitig erklären,
was jede Wissenschaft an Macht mit sich bringt: aufzeigen,
an welchem Punkt in der Kultur Wissen immer Komplize
der Macht ist; daß dort, wo das Wissen ist, immer auch ein
Gewinn an Macht gemacht werden kann: zeigen, daß alles
Denken bis heute immer organisiert gewesen war durch
diesen Vorteil, durch diesen Mehrwert an Macht, der dem­
jenigen zukommt, der weiß. Denkt an die Philosophen,
114
denkt an ihre Meisterposition und stellt fest, daß es kein
Wesen gibt, das sich vorwärts traut im Denken, im noch
nicht Gedachten, ohne bei dem Gedanken zu erzittern, daß
es unter der Aufsicht der Vorfahren steht, der Großväter,
der Tyrannen des Begriffs, ohne daran zu denken, daß man
immer im Rücken den berühmten Namen des Vaters hat,
der da ist, um festzustellen, ob man das, was man zu schrei­
ben hat, schreibt, ohne orthographische Fehler zu ma­
chen.

Nun, ich glaube, daß das, was die Frauen zu machen haben
werden, und das, was sie machen von dem Augenblick an,
wo sie es wagen werden zu sagen, was sie zu sagen haben,
daß das notwendigerweise eine Umarbeitung des Bezugs
zur Metasprache mit sich bringen wird. Denn ich denke,
daß wir total erdrückt sind, und zwar besonders an solchen
Orten wie Universitäten, durch die superverdrängenden
Wirkungen, wie sie von der Metasprache herrühren, d. h.
vom Kommentar des Kommentars, von der Kodifizierung,
so daß eine Frau, sobald sie den Mund aufmacht, gefragt
wird - und zwar mehr als ein Mann -, in wessen Namen
sie spricht, von welcher Theorie sie ausgeht; wer ihr Mei­
ster ist und wo sie herkommt; kurz: sie hat zu deklinie­
ren . . . ihre Identität nachzuweisen. Man muß etwas gegen
die Klam unternehmen, gegen die Klassifikation, die Klas­
senordnung . . . die Klassen. "Seine Klassen" absolvieren,
das ist seinen Militärdienst leisten. Man muß etwas gegen
den Militärdienst unternehmen und gegen alle Schulen, ge­
gen den allgemeinen männlichen Zwang zu beurteilen, zu
diagnostizieren, zurückzuführen, zu benennen . . . zu be­
nennen auf eine Weise, die weniger die Arbeit einer ver­
liebten Präzisierung wie die poetische Ernennung wäre,
sondern eher die Arbeit einer polizeilichen Zensur wie die
philosophische Benennung.

Die meisten Frauen, die schreiben, haben bis heute nicht


bedacht, daß sie als Frauen schreiben, sondern sie schrie­
ben als Schrift: in der sie erklärten, daß die sexuelle Diffe­
renz nichts zu bedeuten habe, daß es keine bestimmbare
Differenz zwischen dem Männlichen und dem Weiblichen
in der Schrift gäbe . . . Und was das bedeutet, "kein Parteier-
1 15
greifen", wenn man sagt "ich mache keine Politik", weiß
doch jeder! Das ist die beste Art zu sagen "Ich mache die
Politik des Anderen"! Und in der Schrift ist es so! Die mei­
sten Frauen machen es so: sie machen die Schrift des Ande­
ren, also des Mannes, und in ihrer Naivität legen sie sie dar
und halten sie aufrecht und machen so eigentlich eine
Schrift, die männlich ist. Man muß sehr aufpassen, wenn
man über die Weiblichkeit in der Schrift arbeiten will, daß
man sich nicht von den Namen fangen läßt: nicht alles, was
mit dem Namen einer Frau unterzeichnet ist, ist deswegen
gleich eine weibliche Schrift. Das kann sehr gut eine männ­
liche Schrift sein, und umgekehrt bedeutet die Unterschrift
eines Mannes nicht, daß die Weiblichkeit ausgeschlossen
wäre. Es ist zwar selten, aber es gibt Weiblichkeit in von
Männern gezeichneten Schriften, das kommt vor.

Welches sind nun die Texte, die sich als Texte von Frauen
zeigen und die gegenwänig als solche anerkannt sind; und
was bedeutet das, wie kann man sie lesen? Ich muß mich
dabei mit Andeutungen begnügen, da es sich um Texte
handelt, die praktisch unbekannt sind, von denen viele an­
onym, andere noch nicht publiziert sind . . . Aus meiner jah­
relangen Lektüre zeigt sich mir folgendes: auf der einen
Seite gibt es viele Texte von jungen Frauen, von denen ich
sagen würde, daß sie die "Geschichte des kleinen Mäd­
chens" machen, aber eines kleinen Mädchens, das mit einer
schlechten Kindheit abrechnet. Das sind Geschichten voll
Schmerzen, Geschichten vom Wachsen, die sich zwischen
der guten Mutter und der bösen Mutter abspielen; und die
oft vom Mord an der Mutter handeln, von der Notwendig­
keit, die Mutter zu töten . . . eine Notwendigkeit, die sich
dann unglücklicherweise wiederholt, weil die Frau, die eine
schlechte Mutter gehabt hat, notwendigerweise eine Frau
ist, deren Töchter endlos für die schlechte Mutter ihrer
Mutter bezahlen müssen.

Es gibt Texte von älteren Frauen, die ich in letzter Zeit ge­
lesen habe, die Texte über die Rückkehr der Frau zum eige­
nen Körper sind, sehr fleischlich, sehr sinnlich, Texte der
Erforschung. Texte eines wirklichen "Hungers" . . . und ei­
nes Dursts: sie baden im Wörterbuch, sie fressen Wörter,
1 16
sie sind eine Art von gewaltiger verbaler Feinschmeckerei.
Wie wenn sich in den Texten das abspielen würde, was sich
sonst in Neurosen abspielt, sei es nun Appetitlosigkeit oder
Heißhunger. Man sieht plötzlich einen gewaltigen Heiß­
hunger auf Sprache oder, im Gegenteil, einen Text von ei­
ner völlig verwirrenden Magerkeit. Und dann gibt es noch
die "Erfolgs"-Texte, die ich zwar schrecklich, aber interes­
sant finde. Ich sage "Erfolgs"-Texte, weil letztes Jahr, als
alle Welt erfahren hatte, daß es ein "Jahr der Frau" gäbe,
die Massenmedien und die Verlagshäuser in Panik geraten
sind, und alle Welt hat sich beeilt, Frauentexte herauszu­
bringen. In jedem Verlag gab es mindestens einen Frauen­
text. Und das Frappierende daran war, daß es einen Preis
für Entfremdung gab! Die Texte, die gefördert wurden, die
aufgefallen sind, waren Texte, die verrückte Frauen, zer­
störte, kranke Frauen darstellten . . . Es sind Texte aus dem
Asyl, denen es nicht an Schönheit und Kraft fehlt; das war
es, was hervorgehoben, kommentiert, unterstützt wurde
von der Presse . . . Man kann im Grunde nicht umhin, zu
denken, daß es die Welt in Ordnung bringen würde, wenn
die weibliche Schrift, an deren Existenzfähigkeit man noch
vor zwei Jahren zweifelte, wenn sie nun letzten Endes eben
das wäre? Man bekommt so ganz schnell die Frau zurück,
diesmal auf einer Tragbahre anstatt im Bett, in einem Zu­
stand der Auflösung und des Schmerzes, der Zerstücke­
lung, der sie offensichtlich kampfunfähig macht. Ich würde
sagen, daß irgendwo, sich davon abwendend, aber nicht
ohne Bezug dazu, eine große Anzahl von Texten tatsächlich
versucht, den Ort zu erlauben, zu konsolidieren, wo die
Frau sich verliert, wo der Mord an der Frau verewigt wird
und wo Krankheit ein Vorteil ist. Wo es die Ambivalenz
gibt, die darin besteht, immer einen Nutzen zu ziehen aus
der Abgezehrtheit, aus dem Verlust, aus dem Schmerz, in­
dem sie daraus eine Art von tragischem Prestige schöpft.

Meiner Meinung nach wird die Schrift, die sich vorbereitet


und die ich um mich herum aufkommen sehe, nicht nur das
sein, es wird immer auch das geben, aber es wird auch ande­
res geben. Man muß sich besonders gefaßt machen auf das,
was ich die "Affirmation der Differenz" nenne, keine Art
von Totenwache am mumifizierten Leichnam der Frau und
1 17
auch keine phantasmagorische Darstellung der Enthaup­
tung der Frau, sondern ganz und gar das Gegenteil: ein
Vorrücken, ein Abenteuer, eine Erkundung der Kräfte der
Frau: ihrer Macht, ihrer Stärke, ihrer immer gefürchteten
Gewalt und der Regionen der Weiblichkeit. Es gibt etwas,
das beginnt, sich zu schreiben und das ein weibliches Ima­
ginäres konstituieren wird . . . das heißt den On der Identifi­
kationen eines Ichs, das nicht mehr entfremdet wäre nach
dem Bild, das das Männliche vorschlägt ("gleiche der Frau,
die ich liebe, nämlich der toten Frau"), sondern das im Ge­
genteil Formen erfinden wird für die Frau, die unterwegs
ist, oder "fliegend/stehlend", wie ich es mir lieber vorstelle,
so daß die Frau, an statt sich hinzulegen, vorwäns und im
Sprung sich suchen gehen wird.

Es gilt zu arbeiten, am weiblichen Genuß und an der Pro­


duktion eines Unbewußten, das nicht mehr das klassische
Unbewußte wäre. Das Unbewußte ist immer kulturell, und
wenn es spricht, so erzählt es euch eure alten Geschichten,
es erzählt euch die alten Geschichten, die ihr immer gehön
habt, da es aus dem von der Kultur Verdrängten besteht.
Aber es wird immer wieder umgeänden durch die Rück­
kehr in die Macht einer Libido, die sich das allein nicht so
einfach gefallen läßt, und durch das Seltsame, durch das
Nicht-Kulturelle, durch eine Sprache, die eine wilde Spra­
che ist, und die sich sehr wohl Gehör verschaffen kann.
Deswegen denke ich, daß es eine politische Arbeit ist, und
nicht nur eine literarische, die entsteht, sobald es gelingt, Be­
wegungen der Schrift von Frauen herzustellen, weit entfernt
von Zensur, Lesung, Blick, männlicher Forderung, in der
Kühnheit des Umherschweifens, des Risikos, das die Frau
enragen kann, wenn sie sich im Unbekannten suchen geht.

Und so würde ich einen weiblichen textuelIen Körper be­


stimmen: ausgehend von einer weiblichen libidinösen Öko­
nomie, also ausgehend von einer Lebensweise, von Ener­
gien, von einem System der Verausgabung, wie sie nicht
zwangsläufig unter der Kuppel der Kultur versammelt sind.
Ein weiblicher textueller Körper erkennt sich wieder an der
Tatsache, daß er immer ohne Ende (f-i-n) ist: er ist ohne
Schluß, er geht nicht zu Ende, und das ist es übrigens, was
118
den weiblichen Text sehr oft schwer zu lesen macht. Weil
wir gelernt haben Bücher zu lesen, die im Grunde das Wort
"Ende" voraussetzen. Nun, ein weiblicher Text, das hört
nicht auf, das setzt sich fort, und in einem gewissen Mo­
ment schließt sich der Band, aber die Schrift geht weiter,
und für den Leser bedeutet das den Gang in den Abgrund.
Das sind Texte, die über den Beginn arbeiten und nicht
über den Ursprung: der Ursprung ist ein männlicher My­
thos, das ist: ich will immer wissen, wo ich herkomme. Die
Frage "Wo kommen die Kinder her?", das ist im Grunde die
männliche Frage, viel eher als die weibliche Frage. Der Be­
zug zum Ursprung, dargestellt durch Ödipus, ist kein Be­
zug, der das weibliche Unbewußte heimsucht. Sondern der
Anfang oder vielmehr die Anfänge, die Art anzufangen,
nicht punktuell mit dem Phallus, um mit dem Phallus zu
schließen, sondern auf allen Ebenen gleichzeitig, das ist
weibliche Einschreibung. Ein weiblicher Text beginnt auf
allen Seiten gleichzeitig, das beginnt zwanzigmal, dreißig­
mal.

Die Frage, die ein Text der Frau stellt, ist die Frage nach
der Gabe, "Was gibt sie?", "Wie gibt sie?", diese Schrift.
Und um von diesem Nicht-Ursprung und von diesen An­
fängen zu sprechen, "gibt sie die Abfahrt". Nehmen wir den
Ausdruck "die Abfahrt" in seiner metaphorischen Kraft: die
Abfahrt geben, das heißt im Allgemeinen, das Signal zur Ab­
fahrt zu geben. Ich glaube, daß es mehr ist, als das Signal zur
Abfahrt zu geben, es ist ein wirkliches Geben, Schenken der
Abfahrt, das Erlauben der Abfahrt, das Erlauben der Brü­
che, der "Ausflüge" (parties) , der Teilungen, der Trennun­
gen . . . von wo aus man brieht mit dem Auf-sieh-Zurück­
kommen, mit der Spiegelung, die die Einigung, die
Identifikation des Individuums organisiert. Wenn eine Frau
in der Nicht-Repression schreibt, läßt sie ihre Anderen her­
vortreten, ihre Menge von Nicht-Ich/s, auf eine Weise, die
den Rahmen der familiären Struktur zerstört; es defamiliari­
siert sieh beispielsweise, es kann sieh nieht mehr denken in
Begriffen der Rollenzuteilung innerhalb einer sozialen
Zelle, und das, was geschieht, ist eine unendliche Zirkula­
tion des Begehrens von einem Körper zum anderen, über
oder quer durch die sexuelle Differenz, aber ohne die Zu-
119
sammenhänge von Macht und Generation, wie sie in den
Familien organisien sind. Ich glaube, daß Generation, Al­
ter, Zeit gesprengt werden . . . Ein Text von einer Frau, der
läßt Entsagung hervonreten, eine kostenlose Entsagung:
nicht die Entsagung mit der unmittelbaren Wiederein­
nahme, sondern wirklich die Fähigkeit, das Ergreifen fallen­
zulassen und zu vernachlässigen. Also metaphorisien es
sich als Irre, als Überbordung, es metaphorisien sich als Ri­
siko des Unberechenbaren: kein Kalkül, man kann einen
weiblichen Text nicht voraussagen, er sagt sich selbst nicht
voraus, er kennt sich nicht, er ist also sehr verwirrend. Er ist
nicht antizipierbar, und ich glaube, daß sich die Weiblich­
keit schreibt in der Nicht-Antizipation: das ist wirklich der
Text des Unvorhersehbaren.

Nehmen wir nicht die Syntax, sondern das Phantasma, das


Unbewußte: und don sind alle weiblichen Texte, die ich ge­
lesen habe, sehr nahe bei der Stimme, sind sehr nahe beim
Fleisch der Sprache, viel mehr als die männlichen Texte . . .
vielleicht weil e s das Kostenlose gibt, vielleicht weil man
sich nicht stürzt auf das Sagen-Wollen, sondern weil man
zunächst auf dem Niveau des Fühlen-Wollens ist. Es gibt
Gefühl im weiblichen Text, ein Berühren, und dieses Berüh­
ren geht durchs Ohr. Weiblich schreiben heißt, das hervor­
treten zu lassen, was vom Symbolischen abgetrennt wurde,
nämlich die Stimme der Mutter, heißt, Archaischeres her­
vonreten zu lassen, Die archaischste Kraft, die einen Kör­
per affizien und die durch das Ohr eintritt und das Innerste
erreicht. Dieses Berühren des Innersten hallt immer in ei­
nem Text der Frau nach. Die Bewegung, die Bewegung die­
ses Textes ist also nicht der schnurgerade Weg . . . ich sehe
sie zwischen dem Ergießen . . . sie kann erscheinen in primi­
tiven oder primären Texten wie eine Phantasmatik des
Bluts, der Regeln etc., aber ich sehe sie eher als Erbrechen,
als "wieder von sich geben", als "wieder Schlucken". Und
ich würde sie wieder verknüpfen mit einer fundamentalen
Struktur der Beziehung zum Eigenen (propre), die der
Trauer.

Der Mann kann nicht leben, ohne seine Trauer zu tragen.


Er muß seine Trauer tragen. Das ist seine An des Wider-
120
stands gegen die Kastration, wenn sie sich auswirkt. Das
heißt, er macht sie durch und verleibt sich das verlorene
Objekt durch eine Sublimationsleistung wieder ein. "Seine
Trauer tragen", heißt, nicht verlieren. Wenn man etwas ver­
loren hat und es ein gefährlicher Verlust ist, dann weist
man zurück, daß man mit der verlorenen Sache etwas von
sich selbst verloren hat. Also ftträgt man seine Trauer", man
eilt, sich die Investition wieder einzuverleiben, die man
dem verlorenen Objekt zugeteilt hatte. Und ich glaube nun,
daß die Frau nicht ihre Trauer trägt, und das ist es auch, was
ihren Schmerz ausmacht! Wenn man seine Trauer getragen
hat, so ist das am Ende eines Jahres abgetan, man leidet
nicht mehr. Die Frau nun trägt nicht ihre Trauer. Im
Grunde löst sie die Herausforderung des Verlusts, den sie
weiterlebt, ab: sie lebt ihn, sie belebt ihn, sie ist fähig zu ei­
nem Verlust, der sich nicht ökonomisieren läßt. Sie macht
keine Ökonomie des Verlusts: sie verlien nicht nach der
Ökonomie des Verlusts. Das läßt in der Schrift einen Kör­
per entstehen, der sich ergießt, der überfließt, der sich er­
bricht im Gegensatz zum männlichen Verschlingen . . . Sie
verlien, zweifellos tödlich, wenn nicht die Grundbewegun­
gen eines weiblichen Unbewußten intervenieren würden
(die ich als die weibliche Sublimation bezeichnen würde . . . ),
nämlich die Fähigkeit, darüber hinwegzukommen, durch
eine Form des Vergessens, die nicht die Form des verges­
sen-und-beerdigt, des vergesse�-und-begraben, sondern
des vergmen-und-akzeptieren hat. Den Verlust auf sich zu
nehmen, ihn auf sich zu nehmen und ihn zu leben. Zu
sprengen. Das geht ohne Vorbehalte: sie behält nicht vor.
Sie behält nicht vor, daher die Effekte von permanentem
Wiedererscheinen, die das Nichtvorbehalten provozien.
Das ist wie eine An offenes Gedächtnis, das ohne Unterlaß
zuläßt. Und, letztlich, wird sie dieses Ohne-Vorbehalte,
diese Nicht-Einschreibung einschreiben: sie schreibt das
Nicht-Einschreiben, das Nicht-Stattfinden ein . . . Es ist
eine Grenzgängerei: sie ist niemals draußen noch drinnen,
während das Männliche nach der Ordnung des "Holen wir
das Äußere ins Innere zurück, wenn's möglich ist" wäre;
und es ist dieses "weder draußen noch innen", dieses "jen­
seits der Opposition außen/innen", das die Arbeit der Bise­
xualität ermöglicht. Irgendwo ist die weibliche Sexualität
121
immer bisexuell. Bisexuell heißt nicht, wie viele meinen,
daß sie auf der einen Seite einen Mann und auf der anderen
Seite eine Frau liebt, das will nicht heißen, daß sie zwei
Panner hat, selbst wenn es das bei Gelegenheit bedeuten
könnte. Die Bisexualität auf dem Niveau des Unbewußten
ist die Möglichkeit, sich um das Andere zu verlängern, in
Beziehung zu sein mit dem Anderen und zwar in der
Weise, daß ich ins Andere übergehe, ohne das Andere zu
zerstören, daß ich das Andere da suchen gehe, wo er/siel
es(ille) ist, ohne zu versuchen, alles wieder auf mich zu­
rückzuführen.

Schließlich hat dieses offene und verwirrende Mögliche bei


der Einschreibung als Gefähnen eine bestimmte An von
Lachen. Die Frauen haben in der Kultur viel geweint, aber
wenn die Tränen einmal versiegt sind, wird das, was man
anstatt der Tränen im Überfluß haben wird, ein Lachen
sein, der Ausbruch, das Verströmen, ein gewisser Humor,
wie man es niemals erwanet bei den Frauen und wie es
trotzdem sicherlich ihre größte Stärke ist, denn es ist der
Humor, der den Mann viel weiter weg sieht, als er sich je­
mals gesehen hat. Ein Lachen, wie es das letzte Kapitel mei­
nes Textes "La"s erschütten, La, sie, "die zuletzt lachen
wird". Und die damit beginnt über sich selbst zu lachen.

1 Vgl. Sun Tze, Die dreizehn Gebote der KriegJkumt, München 1972.
IAnm. d. R.]
2 La jeune nee, Paris 1975; Auszüge in Alternative, Nr. l08- 109,
Berlin (West) Juli/August 1976.
3 Marguerite Duras, Die Verzückung der Lol V. Stein, Frankfurt am
Main 1966.
4 "propre" kann u. a. heißen: eigen, besondere(r,s), eigentlich,
eigentümlich. IAnm. d. R.]
5 La, Paris 1976.

Aus dem Französischen von Eva Meyer


L U C E I R I G A R AY
Macht des Diskurses
Unterordnung des Weiblichen

Ein Gespräch

Warum beginnen Sie Ihr Buch .Speculum. Spiegel des anderen Ge­
schlechts" mit einer Kritik an Freud?

Strenggenommen gibt es in "Speculum" keinen Anfang und


kein Ende. Die Architektonik des Textes, der Texte bringt
jene Linearität eines Vorhabens, jene Teleologie des Dis­
kurses, in welchen es für das "Weibliche" keinen möglichen
Ort gibt, es sei denn den traditionellen des Verdrängten,
des Zensurierten, aus der Fassung. Übrigens, mit Freud "an­
fangen" und mit Platon "aufhören", daß heißt schon, die
Geschichte "umzudrehen". Im "Inneren" einer solchen Um­
kehrung aber kann die Frauenfrage sich noch nicht artiku­
lieren, so daß man sich mit ihr nicht einfach zufriedenge­
ben kann. Deshalb diese Gliederung, die bewirkt, daß in
den in der "Mitte" stehenden Texten - die wiederum mit
"Speculum" überschrieben sind - offensichtlich die Um­
kehrung keinen Platz mehr hat. Das Entscheidende dabei
ist, die Montage der Repräsentation nach ausschließlich
"männlichen" Parametern aus der Fassung zu bringen. Das
heißt, gemäß einer zwangsläufig phallokratischen Ordnung,
die es nicht umzukehren - das würde letztlich auf das Glei­
che hinauslaufen -, sondern, ausgehend von einem teil­
weise ihrem Gesetz entzogenen "Außen", zu stören und zu
untergraben gilt.

Aber, um auf Ihre Frage zurückzukommen: warum diese


Kritik an Freud?
Weil Freud, indem er eine "Theorie" der Sexualität ausar­
beitet, dasjenige sichtbar macht, was bis dahin nur funktio­
nieren konnte, sofern es implizit, verborgen und verkannt
blieb: die sexuelle Indifferenz, auf welche die Wahrheit jeder Wis­
senschaft, die Logik jedes Diskurses sich stützt. Das gibt sich in
der Weise, in der Freud die Sexualität der Frau bestimmt,
deutlich zu lesen. Tatsächlich wird diese Sexualität niemals
123
durch die Beziehung zu einem anderen als dem männlichen
Geschlecht definiert. Für Freud gibt es nicht zwei Ge­
schlechter, deren Differenzen sich im Geschlechtsakt und
allgemeiner in den imaginären und symbolischen Prozessen
artikulierten, die das gesellschaftliche und kulturelle Funk­
tionieren regulieren. Immer wird das "Weibliche" beschrie­
ben als Fehlen, als Verkümmerung, als Kehrseite des einzi­
gen Geschlechts, das den Wert monopolisiert: des
männlichen Geschlechts. Von daher der allzu berühmte
"Penisneid". Wie kann man sich bieten lassen, daß das ge­
samte sexuelle Werden der Frau beherrscht sein soll vom
Mangel, und also vom Neid, von der Eifersucht und dem
Anspruch auf das männliche Geschlecht? Soll das heißen,
daß diese sexuelle Entwicklung niemals auf das weibliche
Geschlecht selbst bezogen ist? Alle Aussagen, die die weib­
liche Sexualität beschreiben, vernachlässigen die Tatsache,
daß wohl auch dem weiblichen Geschlecht eine Spezifik zu­
kommen könnte.
Muß man noch daran erinnern? Anfangs, schreibt Freud, ist
das kleine Mädchen nichts als ein kleiner Junge: für das
Mädchen läuft die Kastration darauf hinaus zu akzeptieren,
daß es kein männliches Geschlecht hat; das Mädchen wen­
det sich von seiner Mutter ab, "haßt" sie, weil es gewahr
wird, daß jene nicht das geschätzte Geschlecht hat, das es
ihr unterstellte; diese Zurückweisung der Mutter wird be­
gleitet von der jeder Frau - das kleine Mädchen selbst ein­
geschlossen -, und aus demselben Grund; das Mädchen
wendet sich nun an seinen Vater, um zu versuchen, das zu
erlangen, was weder es, noch irgendeine Frau hat: den Phal­
lus; der Wunsch, ein Kind zu haben, bedeutet für eine Frau
den Wunsch, endlich ein Äquivalent des männlichen Ge­
schlechtes zu besitzen; die Beziehung zwischen Frauen
wird entweder durch die Rivalität um den Besitz des männ­
lichen Geschlechts oder, in der Homosexualität, durch die
Identifikation mit dem Mann bestimmt; das Interesse, das
die Frauen der Gesellschaft entgegenbringen können, wird
natürlich durch nichts anderes als den Neid diktiert, Macht­
befugnisse gleich denen zu erwerben, die das männliche
Geschlecht innehat; usw. Niemals geht es in diesen Aussa­
gen um die Frau. Das Weibliche wird als das notwendige
Komplement zum Funktionieren der männlichen Sexualität
124
definien, und öfter noch als ein Negativ, das letztere einer
phallischen Selbstrepräsentation ohne mögliches Versagen
versichen.
Nun beschreibt Freud jedoch einen tatsächlichen Zustand.
Er erfindet nicht etwa eine weibliche Sexualität, noch übri­
gens eine männliche. Er gibt Rechenschaft als Mann der
Wissenschaft. Das Problem ist, daß er nicht die historischen
Bestimmungen der Gegebenheiten befragt, die er abhan­
delt. Und daß er zum Beispiel als Norm die weibliche Sexua­
lität so akzeptien, wie sie sich ihm darbietet. Daß er die
Leiden, die Symptome, die Unbefriedigtheit der Frauen als
Funktion ihrer individuellen Geschichte interpretien, ohne
nach der Beziehung ihrer "Pathologie" zu einem bestimm­
ten Zustand der Gesellschaft und der Kultur zu fragen. Was
ganz allgemein dazu fühn, die Frauen wieder dem herr­
schenden Diskurs des "Vaters" und seinem Gesetz zu un­
terwerfen, indem ihre Ansprüche zum Schweigen gebracht
werden.

Überdies zieht das Befangensein Freuds in einem Macht­


verhältnis und einer Ideologie patriarchalischen Typs einige
interne Widersprüche in seiner Theorie nach sich. So muß
sich zum Beispiel die Frau, um dem Wunsch des Mannes
zu entsprechen, mit dessen Mutter identifizieren. Das
heißt, daß dieser Mann in gewisser Weise zum Bruder sei­
ner Kinder wird, hat er doch dasselbe Liebesobjekt. Wie
stellt sich in einer solchen Konfiguration die Frage nach der
Lösung des Ödipuskomplexes? Also auch die Frage nach
der Differenz der Geschlechter, welche, Freud zufolge, je­
ner korrelativ ist?
Ein anderes "Symptom" der Eingeschlossenheit des Freud­
sehen Diskurses in einer nicht analysienen Tradition ist die
Weise des Rekurses auf das Anatomische als einem unwi­
derlegbaren Kriterium der Wahrheit. Eine Wissenschaft
aber ist niemals abgeschlossen; sie hat auch eine Ge­
schichte. Und außerdem sind die wissenschaftlichen Gege­
benheiten vielfältiger Interpretationen fähig. Trotzdem hin­
dert das nicht daran, daß Freud die aggressive Aktivität des
Männlichen und die Passivität des Weiblichen durch anato­
misch-physiologische Zwänge, insbesondere der Fortpflan­
zung, rechtfertigt. Heute weiß man indessen, daß das Ovu-
125
lum so passiv nicht ist, wie Freud vorgibt, und daß es
sich ebensosehr, wenn nicht eher, ein Spermatozoon aus­
wählt, als daß es von jenem gewählt wird. Übertragen Sie
das in den psychischen und gesellschaftlichen Rahmen . . .
Freud behauptet auch, daß der Penis seinen Wert dadurch
erhält, Fortpflanzungsorgan zu sein. Die Genitalorgane
der Frau aber, die gleichwohl daraus nicht denselben nar­
zißtischen Gewinn ziehen, wirken dabei ebenso sehr mit
und sind für die Fortpflanzupg sogar noch unverzichtba­
rer. Darüber hinaus sind die anatomischen Referenzen
Freuds zur Rechtfertigung der Entwicklung der Sexuali­
tät fast alle an einen Einsatz zum Zwecke der Fortpflan­
zung gebunden. Wie kommt es dann, daß die sexuelle
Funktion von der Fortpflanzungsfunktion sich trennen
kann - eine von Freud offensichtlich kaum erwogene Hy­
pothese?

Aber die Notwendigkeit, sich zur Rechtfertigung einer


theoretischen Position auf das Anatomische zu stützen, be­
steht für Freud insbesondere hinsichtlich seiner Beschrei­
bung des sexuellen Werdens der Frau. »Was vermögen wir
hier?", schreibt er übrigens dazu - ein Wort Napoleons va­
riierend: "Die Anatomie ist das Schicksal." Ausgehend da­
von werden die Frauen im Namen jenes anatomischen
Schicksals unter libidinösem Gesichtspunkt von der Natur
weniger begünstigt sein, das heißt, häufig frigide, nicht ag­
gressiv, nicht sadistisch, nicht possessiv, homosexuell dem
Grad des Hermaphroditismus ihrer Ovarien gemäß, den
kulturellen Werten fremd, sofern sie nicht aufgrund irgend­
einer "gekreuzten Vererbung" an ihnen partizipieren, usw.
Kurz, sie werden des Wertes ihres Geschlechtes beraubt.
Wobei das Entscheidende ist, daß man nicht weiß, warum,
wodurch - und daß das alles auf das Konto der "Natur" ge­
schoben wird.

Geht diese Kritik an Freud so weit, die psychoanalytische Theorie


und Praxis wieder in Frage zu stellen?

Sicherlich weder, um damit zu einer vorkritischen Haltung


gegenüber der Psychoanalyse zurückzukehren, noch, um zu
behaupten, jene hätte bereits ihre Wirksamkeit erschöpft.
126
Eher handelte es sich darum, ihre noch wirkungslosen Im­
plikationen zu entfalten. Darum, daß, so sehr die Freudsche
Theorie auch dazu beiträgt, die philosophische Ordnung
des Diskurses zu erschüttern, sie ihr doch, was die Defini­
tion der Differenz der Geschlechter angeht, paradoxerweise
unterworfen bleibt. So stellt Freud, indem er den Akzent
auf das Nachträgliche, die Überdeterminierung, den Wie­
derholungszwang, den Todestrieb usw. setzt, oder indem er
in seiner Theorie oder Praxis auf den Einschlag der unbe­
wußt genannten Mechanismen in die Sprache des "Sub­
jekts" hinweist, eine gewisse Konzeption des Gegenwärti­
gen, der Präsenz in Frage. Gleichwohl definiert er, darin
selbst Gefangener einer gewissen Ökonomie des Logos, die
sexuelle Differenz gemäß dem Apriori des Gleichen; denn
um seine Beweisführung abzustützen, rekurriert er auf die
überkommenen Verfahren der Analogie, des Vergleichs,
der Symmetrie, der dichotomischen Oppositionen usw. Die
Partei für eine "Ideologie" ergreifend, die er nicht mehr in
Frage stellt, behauptet er, daß das "Männliche" das Modell
der Sexualität sei, daß jede Repräsentation des Wunsches
nicht umhin könne, an diesem sich zu eichen, diesem sich
zu unterwerfen. Indem er dies tut, enthüllt Freud die Vor­
aussetzungen des Schauplatzes der Repräsentation: die sexu­
elle Indifferenz, die sie stützt, sichert ihre Kohärenz und Ge­
schlossenheit. Indirekt also schlägt er deren Analyse vor.
Die mögliche Artikulation der Beziehung zwischen der un­
bewußten Ökonomie und der Differenz der Geschlechter
aber ist von ihm nicht realisiert worden. Eine theoretische
und praktische Schwäche, die ihrerseits den Schauplatz des
Unbewußten beschränken kann. Oder eher noch als An­
griffspunkt einer Interpretation dienen kann, um ihn zu entfal­
ten?
So könnte man sich fragen, ob nicht gewisse, dem Unbe­
wußten zugeschriebene Eigenschaften sich zum Teil auf
das weibliche Geschlecht beziehen, das zensiert wird von
der Logik des Bewußtseins. Man könnte sich fragen, ob das
Weibliche ein Unbewußtes hat, oder ob es das Unbewußte
ist. Usw. Die Ungeklärtheit dieser Fragen führt dabei dazu,
daß die Psychoanalyse einer Frau darauf hinausläuft, sie ei­
ner Gesellschaft männlichen Typs anzupassen.
Und sicher wäre es interessant zu wissen, was aus den psy-
127
choanalytischen Begriffen in einer Kultur würde, die nicht
länger das Weibliche verdrängte. Wenn die Anerkennung
einer spezifischen weiblichen Sexualität die Monopolisie­
rung des Wertes durch das einzige männliche Geschlecht,
letzten Endes durch den Vater, in Frage stellt, welchen
Sinn könnte dann in einem anderen symbolischen System
als dem Patriarchat noch der Ödipuskomplex haben?

Jene Ordnung ist aber natürlich diejenige, die heute als Ge­
setz gilt. Das zu verkennen, wäre ebenso naiv, wie es in sei­
ner Vormachtstellung zu belassen, ohne nach den Bedin­
gungen seiner Möglichkeit zu fragen. Daß zum Beispiel
Freud - oder ganz allgemein die psychoanalytische Theorie
- zum Thema, zum Objekt seines Diskurses die Sexualität
gewählt hat, führte nicht etwa zu einer Interpretation des­
sen, was darin an Gnchlechtupezijik (sexuation) dn DiJkurm
selbst, und insbesondere des seinigen, liegt. Von einer sol­
chen legt jedoch seine entschlossen "männliche" Betrach­
tungsweise der weiblichen Sexualität und darüber hinaus
seine partielle Aufmerksamkeit für die Beiträge der weibli­
chen Analytiker Zeugnis ab. Er hat, was die sexuelle Diffe­
renz angeht, keine Analyse der Voraussetzungen der Pro­
duktion des Diskurses geleistet. Mit anderen Worten: die
Fragen, die die Praxis und Theorie Freuds an den Schau­
platz der Repräsentation stellen, führen nicht bis zu derje­
nigen nach einer geschlechtsspezifischen Determination
dieses Schauplatzes. Indem er diese Artikulation verfehlt,
bleibt der Beitrag Freuds zum Teil - gerade da, wo er die
Differenz der Geschlechter betrifft - in metaphysischen
Apriori befangen.

Hat Sie da! veranlaßt zu einer erneuten interpretierenden Lektüre


der Texte, die die Gnchichte der PhiloJophie bntimmen?

Ja, denn wenn man sich nicht naiv - oder manchmal tak­
tisch - mit irgend einer Regionalität oder Marginalität be­
scheiden will, ist es natürlich der philosophische Diskurs,
den man befragen und zerrütten muß, insofern er das Gesetz
jedes anderen ausmacht, insofern er den Diskurs der Dis­
kurse konstituiert.
Es war mithin notwendig, zu ihm zurückzukehren, um das-
128
jenige zu befragen, was die Mächtigkeit seiner Systematisie­
rung, die Kraft seiner Kohäsion, die Quelle seiner Entfal­
tungen, die Allgemeinheit seines Gesetzes und seines
Wertes ausmacht. Also seine Position der Herrschaft und des
möglichen Wiederaufnehmens verschiedener Erzeugnisse
der Geschichte. Diese Dominanz des philosophischen Lo­
gos verdankt sich nun aber zu einem guten Teil seinem
Vermögen, al/es Andere in die Ökonomie des Gleichen zurückzu­
führen. Das Vorhaben teleologischen Konstruierens, dem er
sich widmet, ist immer auch ein Vorhaben der Umlenkung,
der Irreleitung, der Zurückführung des Anderen in das
Gleiche. Und - in allergrößter Allgemeinheit vielleicht -
das Vorhaben, die Differenz der Geschlechter in den selbstre­
präsentativen Systemen eines "männlichen Subjekts" auszu­
löschen. Daher die Notwendigkeit, die Figuren des philoso­
phischen Diskurses - Idee, Substanz, Subjekt, transzenden­
tale Subjektivität, absolutes Wissen - "wieder aufzubre­
chen", um ihre Anleihen auf das/bei dem Weiblichen
wieder zum Vorschein zu bringen, damit sie "zurückge­
ben", was sie dem Weiblichen schulden. Das kann mit ver­
schiedenen Mitteln, auf verschiedenen "Wegen" geschehen.
Zumindest aber bedarf es dazu mehrerer. Etwa indem man
die Bedingungen der Möglichkeit der Systematisierung selbst be­
fragt. Also dasjenige, was die Kohärenz der diskursiven
Aussage von ihren Produktionsbedingungen verbirgt, was
auch immer sie im Diskurs darüber sagen mag. So die "Ma­
terieK, von der das sprechende Subjekt sich nährt, um sich
zu produzieren und zu reproduzieren, aber auch die Szeno­
graphie, die die Repräsentation so, wie sie sich in der Philo­
sophie definiert, ermöglicht, also die Architektonik ihres
Theaters, ihre raum-zeitliche Rahmung, ihre geometrische
Ökonomie, ihre Kulissen, ihre Akteure sowie deren Stel­
lung zueinander, deren Dialoge, ja sogar deren tragische
Beziehungen, nicht zu vergessen den Spiegel, der, zumeist
versteckt, dem Logos, dem Subjekt erlaubt, sich selbst zu
verdoppeln, sich zu reflektieren. Das alles sind Eingriffe in
die Szene, die, solange sie nicht interpretiert worden sind,
ihre Kohärenz sichern. Es ist also notwendig, sie in jeder
Figur des Diskurses wieder ins Spiel zu bringen, um ihn aus
seiner Verankerung im Wert der Präsenz herauszureißen.
Für jeden Philosophen - beginnend mit denjenigen, die
129
eine Epoche der Geschichte der Philosophie bestimmt ha­
ben - muß man herausfinden, wie sich der Einschnitt der
materiellen Kontiguität, die Montage des Systems, die Spie­
gelökonomie ins Werk setzt.

Bei dieser erneuten interpretierenden Lektüre ist das Vor­


gehen immer auch ein prychoanalytischeJ. Also ein Aufmer­
ken auf die Funktionsweise des Unbewußten jeder Philoso­
phie und vielleicht der Philosophie im allgemeinen. Ein
Horchen auf ihre Prozeduren der Verdrängung und Struk­
turierung der Sprache, die ihre Repräsentationen stützt, in­
dem sie das Wahre vom Falschen und das Sinnvolle vom
Unsinnigen scheidet. Was nicht heißen soll, man müsse ir­
gendeiner Operation symbolischer, punktueller Interpreta­
tion der Aussagen von Philosophen sich ausliefern. Eine
solche würde nämlich das Mysterium des "Ursprungs" un­
angetastet lassen. Eher dagegen geht es darum, das »Funktio­
nieren der Grammatik" jeder Figur des Diskurses zu erfragen,
ihre syntaktischen Gesetze oder Zwänge, ihre imaginären
Konfigurationen, ihre metaphorischen Gespinste, und na­
türlich auch dasjenige, was sie in der Aussage nicht artiku­
liert: ihr Schweigen.

Doch die Psychoanalyse selbst, und sogar mit Hilfe der Wis­
senschaft der Sprache, kann - wie man bereits gesehen hat
- die Frage der Artikulation des weiblichen Geschlechtes
im Diskurs nicht lösen. Obgleich die Theorie Freuds, in­
folge einer allgemeinen Wiederholung des Schauplatzes -
jedenfalls, was die Beziehung zwischen den Geschlechtern
angeht -, deutlich die Funktion des Weiblichen in jenem
anzeigt. Bleibt alio noch die FunktionJ'Tlleiu dei Diskuriei zu "de­
itruieren". Was kein eben einfaches Unternehmen ist . . .
Denn wie sich Zutritt verschaffen z u einer derart kohären­
ten Systematik?

Es existiert, zunächst vielleicht, nur ein einziger "Weg",


derjenige, der historisch dem Weiblichen zugeschrieben
wird: die Mimetik. Es geht darum, diese Rolle freiwillig zu
übernehmen. Was schon heißt, eine Subordination umzu­
kehren in Affirmation, und von dieser Tatsache aus zu be­
ginnen, jene zu vereiteln. Während diese Bedingung zu-
130
rückzuweisen für das Weibliche darauf hinausläuft, den
Anspruch zu erheben, als (männliches) "Subjekt" zu spre­
chen, oder eine Beziehung zum Intelligiblen zu postulie­
ren, die die sexuelle Indifferenz aufrechterhält.
Mimesis zu spielen bedeutet also für eine Frau den Ver­
such, den Ort ihrer Ausbeutung durch den Diskurs wieder­
zufinden, ohne sich darauf einfach reduzieren zu lassen. Es
bedeutet - was die Seite des "Sensiblen", der "Materie" an­
geht -, sich wieder den "Ideen", insbesondere der Idee von
ihr, zu unterwerfen, so wie sie in/von einer "männlichen"
Logik ausgearbeitet wurden; aber, um durch einen Effekt
spielerischer Wiederholung das "erscheinen" zu lassen, was
verborgen bleiben mußte: die Verschüttung einer mögli­
chen Operation des Weiblichen in der Sprache. Es bedeutet
außerdem, die Tatsache zu "enthüllen", daß, wenn die
Frauen so gut mimen, dann deshalb, weil sie nicht einfach
in dieser Funktion aufgehen. Sie bleiben eben!o!ehr ander!'Wo.
Eine andere Beharrlichkeit der "Materie", aber auch des
"Lustempfindens".

Da! Ander!'Wo der "Materie": wenn die Frauen Mimesis spie­


len können, dann deshalb, weil sie sich darauf verstehen,
das Funktionieren wieder zu nähren. Weil sie es immer
"
schon gespeist haben? Besteht nicht der "erste Einsatz der
Mimesis darin, (aus) Natur zu re-produzieren? Ihr Form zu
verleihen, um sie sich anzueignen? Sind nicht als Hüterin­
nen der "Natur" die Frauen diejenigen, die die Quelle der
Mimesis unterhalten und sie also den Männern gewähren?
Dem Logos?
Gerade dadurch nämlich ist die Hypothese einer Umkeh­
rung - im Inneren der phallischen Ordnung - immer mög­
lich. Der Wider-Schein (re-semblance) kann des roten Blu­
tes nicht entbehren. Die Natur-Materie-Mutter muß immer
wieder und immer noch die Spekulation nähren. Doch wird
dieses Hervorquellen (re-source) ebenso als Verlust der Re­
flexion verworfen und ins Äußere dessen verwiesen, was
ihr widersteht: als Wahnsinn. Jenseits dieser Ambivalenz,
die so die nährende phallische Mutter an sich zieht, er­
übrigt diese Funktion das Lustempfinden der Frau.
Das "Anderswo" des weiblichen Lustempfindens wäre eher
dasjenige des Ortes, an dem sie die Ek-stase ins Transzen-
131
dentale trägt, als daß sie darin wiederzufinden wäre. Dasje­
nige des Ortes, an dem sie als Gewähr gegenüber einem im
"Gott" der Männer extrapolierten Narzißmus fungiert. Eine
Funktion, die sie nur sichern kann zum Preis, jeder Aus­
sicht beraubt zu sein, zum Preis ihrer zur Repräsentation
des Selbst unfähigen "Virginität". Ein Lustempfinden, das
in der Sprache, in ihrer Sprache, unartikulierbar bleiben
muß, bei Strafe, das, was das logische Funktionieren be­
gründet, in Frage zu stellen. Überhaupt ist das, was heute
den Frauen am meisten verboten ist, der Versuch, ihr Lust­
empfinden auszusprechen.
Das Anderswo des Lustempfindens der Frau wird nur wie­
dergefunden zum Preis einer erneuten Durchquerung de! Spie­
gel!, der alle Spekulation aufrechterhält. Weder, sich einfach in
einem Prozeß der Reflexion oder der Mimetik situierend,
noch in dessen Diesseits - dem für jede Sprache opaken
Empirischen -, noch in dessen Jenseits - dem selbstgenüg­
samen unendlichen Gottes der Männer -, sondern indem
alle diese Kategorien und Einschnitte zurückverwiesen
werden auf Zwänge der Selbstrepräsentation des phalli­
schen Wunsches im Diskurs. Ein spielerisches und verwir­
rendes Wiederdurchqueren, das der Frau erlaubte, den Ort
ihrer "Selbstaffektion" wiederzufinden. Wenn man will, den
ihres "Gottes". Wobei es offenkundig ist, daß die Zuflucht
zu einem solchen Gott, gesteht man nicht seine Verdopplung
ein, immer Rückführung des Weiblichen zur phallokrati­
sehen Ökonomie ist.

Setzt dieleJ erneute Durchqueren tUJ DiJkurJeJ, um einen Ort de!


" Weiblichen" wiederzufinden, eine gewim Arbeit an der Sprache
voraUJ?

In der Tat, es handelt sich nicht darum, das Funktionieren


des Diskurses zu interpretieren, indem man in dem selben
Typ von Aussage verbleibt, der auch die diskursive Kohä­
renz garantiert. Das ist übrigens das Wagnis jeden Satzes,
jedes Gesprächs über "Speculum". Und auch, ganz allge­
mein, über die Frauenfrage. Denn von der oder über die Frau
zu sprechen kann immer hinauslaufen auf oder verstanden
werden als eine Wiederaufnahme des Weiblichen ins In­
nere der Logik, die es in der Verdrängung, unter der Zen-
132
sur, genauer in der Verkennung festhält. Mit anderen Wor­
ten, es gilt nicht, eine neue Theorie auszuarbeiten, deren
Subjekt oder Objekt die Frau wäre, sondern, der theoreti­
schen Maschinerie selbst Einhalt zu gebieten, ihren An­
spruch auf Produktion einer viel zu eindeutigen Wahrheit
und eines viel zu eindeutigen Sinns zu suspendieren. Was
voraussetzt, daß die Frauen es den Männern im Wissen
nicht einfach gleichtun wollen. Daß sie nicht beanspruchen,
mit ihnen durch die Konstruktion einer Logik des Weibli­
chen zu rivalisieren, die zum Modell wieder das Onto­
Theo-Logische nähme, sondern daß sie viel eher versuchen,
diese Frage der Ökonomie des Logos zu entwinden. Daß
sie die Frage also nicht in der Form: "Was ist die Frau?"
stellen. Sondern daß sie - die Weise interpretierend-wie­
derholend, in welcher im Inneren des Diskurses das Weibli­
che sich determiniert findet: als Mangel, als Fehlen oder als
Mime und verkehrte Wiedergabe des Subjekts - kundtun,
daß dieser Logik gegenüber von seiten des Weiblichen ein
ver-rückender Exzeß möglich ist.
Ein Exzeß, der nur unter der Bedingung den gesunden
Menschenverstand überbordet, daß das Weibliche nicht auf
seinen "Stil" verzichtet. Welcher natürlich keiner im Sinne
der traditionellen Konzeption ist.
Dieser "Stil" oder diese "Schrift" der Frau legt vielmehr
Feuer an die fetischisierten Worte, die angemessenen
Terme, die wohlkonstruierten Formen. Dieser "Stil" privile­
giert nicht den Blick, sondern gibt jede Figur ihrer auch be­
rührbaren Geburt zurück. Sie berührt sich darin wieder,
ohne doch jemals dabei zu konstituieren, sich als irgend­
eine Einheit zu konstituieren. Die Gleichzeitigkeit wäre ihr
"Eigentliches" (son "propre"). Ein Eigentliches, das niemals
in der möglichen Selbst-Identität irgendeiner Form inne­
hält. Immer flüssig, ohne die schwerlich idealisierbaren
Charaktere jeder Reibungen zwischen zwei unendlich Be­
nachbarten zu vergessen, die eine Dynamik ausmachen. Ihr
"Stil" widersteht jeder fest gefügten Form, Figur, Idee, Be­
grifflichkeit und läßt sie explodieren. Was nicht bedeutet,
daß ihr Stil nichts ist, wie eine Diskursivität glauben macht,
die ihn nicht zu denken vermag. Doch kann ihr "Stil" sich
nicht als These behaupten und das Objekt einer Setzung
ausmachen.
133
Und selbst noch die Motive des "Sich-Berührens", der
"Nähe" könnten, isoliert als solche und auf Aussagen redu­
ziert, tatsächlich als Unterfangen gelten, das Weibliche dem
Diskurs anzueignen. Es bliebe zu prüfen, ob "Sich-Berüh­
ren" - dieses Berühren -, der Wunsch nach der Nähe eher
als der nach dem Eigentlichen usw., nicht eine Weise des
auf jede Zentrierung, jeden Zentrismus irreduziblen Austau­
sches implizieren, wenn die Art und Weise gegeben ist, in
welcher das "Sich-Berühren" der weiblichen Selbst-Affek­
tion als unaufhörlicher Verweis des (der) Einen auf das
(die) Andere spielt, und daß dabei die Nähe jede Adäqua­
tion, jede Aneignung zum Scheitern bringt.

Aber sicher, wenn das nichts als "Motive" wären, ohne Ar­
beit an der Sprache, dann könnte die diskursive Ökonomie
fortbestehen. Wie also versuchen, noch diese Arbeit an der
Sprache zu definieren, die dem Weiblichen Raum gäbe? Be­
merken wir, daß jeder dichotomisierende und zugleich ver­
doppelnde Einschnitt - eingeschlossen der zwischen dem
Aussagen und der Aussage - aus der Fassung gebracht wer­
den muß. Nichts, das jemals gesetzt wurde, das nicht umge­
kehrt und auch verwiesen werden muß auf das über diese
Umkehrung Hinausgehende. Anders gesagt, es existiert hier
nicht mehr Vorder- noch Rückseite des Diskurses, noch
selbst des Textes, sondern ein Übergehen der beiden vom
einen zum anderen, um auch dasjenige "verstehen" zu las­
sen, was dieser Rekto-Verso-Struktur, die den gesunden
Menschenverstand trägt, widersteht. Wenn das durchge­
führt werden muß für jeden gesetzten Sinn - Wort, Aus­
sage, Satz, aber sicher auch Phonem, Buchstaben . . . - dann
ist es billig, es in der Weise zu tun, daß die lineare Lektüre
des Textes nicht mehr möglich ist. Das heißt, die Rückwir­
kung des Endes des Wortes, der Aussage, des Satzes auf ih­
ren Anfang muß berücksichtigt werden, um die Macht ihrer
teleologischen Wirkung, hier begriffen in ihrer Nachträg­
lichkeit, zu entschärfen. Das würde auch für die Opposition
der Horizontalitäts- und Vertikalitäts-Strukturen gelten, die
in der Sprache am Werk ist.

Das, was es erlaubt, auf diese Weise vorzugehen, besteht


darin, zu jeder "Zeit" den Einsatz des Spiegels in den Diskurs
134
zu interpretieren, bzw. die (plan[ier]bare) selbstreflexive
Ökonomie des Subjekts in jenem. Eine Ökonomie, die un­
ter anderem den Einschnitt zwischen Sensiblem und Intelli­
giblem aufrechterhält, und also die Unterwerfung, Unter­
ordnung und Ausbeutung des "Weiblichen".
Jene Arbeit an der Sprache versuchte derart, jede Manipula­
tion des Diskurses zu vereiteln, die jenen zudem unangeta­
stet lassen würde. Nicht zwangsläufig in der Aussage zwar,
aber in ihren selbstlogischen Voraussetzungen. Ihre Funktion be­
stünde folglich darin, den Phallozentrismus, die Phallokratie zu
entwurzeln, um dem Männlichen seine Sprache zu überlas­
sen, und so die Möglichkeit einer anderen Sprache einzu­
räumen. Was bedeutet, daß das Männliche nicht länger "das
Ganze" wäre. Daß es nicht länger für sich allein die Eigen­
schaft(en) des Ganzen/von Allem definieren, umgarnen
und umschreiben könnte. Oder auch, daß das Recht, jeden
Wert zu definieren - einschließlich des mißbräuchlichen
Privilegs der Aneignung - ihm nicht länger zukommen
würde.

Implizieren diese Interpretation der philosophischen Ordnung und


diese Arbeit an der Sprache einen politischen Einsatz?

Jede Operation an/in der philosophischen Sprache hat, auf­


grund der - wesentlich politischen - Natur dieses Diskur­
ses selbst, Implikationen, die obwohl mittelbar, doch nicht
weniger politisch bestimmt sind.
Die erste zu stellende Frage ist also: wie können die Frauen
ihre Ausbeutung analysieren, wie ihre Forderungen ein­
schreiben in eine vom Männlichen vorgeschriebene Ord­
nung? Ist hier eine Politik der Frauen möglich? Welche
Transformation erheischt sie im politischen Funktionieren
selbst?

Wenn in dieser Beziehung die Frauenbewegungen die For­


men und die Natur des politischen Lebens, das gegenwär­
tige Spiel der Mächte und Kräfteverhältnisse in Frage stel­
len, arbeiten sie wirklich an einer Veränderung des Status
der Frau. Wenn dagegen dieselben Bewegungen eine einfa­
che Umkehrung hinsichtlich des Besitzes der Macht anvi­
sieren und derart die Struktur jener unangetastet lassen,
135
dann unterwerfen sie sich, ob sie wollen oder nicht, wieder
einer phallokratischen Ordnung. Eine Geste, die unbedingt
denunziert werden muß, und in umso schärferer Weise, als
sie eine viel subtiler maskierte Ausbeutung der Frau konsti­
tuieren kann. In der Tat spielt sie mit der Naivität: es ge­
nügte, Frau zu sein, um sich außerhalb der phallischen
Macht zu befinden.
Aber diese Fragen sind komplex, insofern es sich offen­
sichtlich für die Frauen nicht darum handelt, auf die
Gleichheit gesellschaftlicher Rechte zu verzichten. Wie
aber dann diese doppelte "Forderung" nach Gleichheit und
Differenz artikulieren?

Sicher nicht, indem man das Dilemma "Klassenkampf" oder


"Kampf der Geschlechter" akzeptiert, das von neuem dar­
auf abzielt, die Frage der Ausbeutung der Frauen auf eine
Bestimmung der Macht männlichen Typs zu reduzieren, ge­
nauer noch darauf, eine "Politik" der Frau auf ein bestimm­
tes "später" zu vertagen, indem diese ein wenig zu simpel
an den Kämpfen der Männer ausgerichtet wird.

Es scheint, daß in dieser Hinsicht die Beziehung zwischen


dem Sy!tem ökonomilcher Unterdrückung zwilchen den K/amn
und demjenigen, dm man al.r da! patriarchalilche bezeichnen kann,
sehr wenig dialektisch analysiert und von neuem auf eine
hierarchische Struktur zurückgeführt worden ist. "Der erste
Klassengegensatz, der in der Geschichte auftritt, fällt zu­
sammen mit der Entwicklung des Antagonismus von Mann
und Weib in der Einzelehe, und die erste Klassenunter­
drückung mit der des weiblichen Geschlechts durch das
männliche." (Engels) Oder auch: "Mit der Teilung der Ar­
beit, in welcher alle diese Widersprüche gegeben sind und
welche ihrerseits wieder auf der naturwüchsigen Teilung
der Arbeit in der Familie und der Trennung der Gesell­
schaft in einzelne, einander entgegengesetzte Familien be­
ruht, ist zu gleicher Zeit auch die Verteilung, und zwar die
ungleiche, sowohl quantitative wie qualitative Verteilung der
Arbeit und ihrer Produkte gegeben, also das Eigentum, das
in der Familie, wo die Frau und die Kinder die Sklaven des
Mannes sind, schon seinen Keim, seine erste Form hat. Die
freilich noch sehr rohe, latente Sklaverei in der Familie ist
136
das erste Eigentum, das übrigens hier schon vollkommen
der Definition der modernen Ökonomen entspricht, nach
der es die Verfügung über fremde Arbeitskraft ist." (MarxI
Engels) Von diesem ersten Antagonismus, dieser ersten
Unterdrückung, dieser ersten Form, diesem ersten Eigen­
tum, diesem Keim . . . kann man wohl sagen, daß sie niemals
etwas anderes als ein "zunächst" in der Geschichte bezeich­
nen, ja sogar ein Herausarbeiten der, warum nicht auch my­
thischen, "Ursprünge". Bestehen bleibt, daß diese erste Un­
terdrückung noch heute wirksam ist und das Problem
aufgibt zu wissen, wie sie sich mit der anderen verschränkt,
vorausgesetzt, daß man sie gemäß Prozessen, die seltsamer­
weise immer noch ein System mit einer idealistischen Logik
bilden, derart dichotomisieren, einander gegenüberstellen,
die eine der anderen unterordnen muß.

Denn die patriarchalische Ordnung ist doch diejenige, die


aiJ OrganiJation und MonopoliJierung du PrivateigentumJ zugun­
Jten du Familienoberhaupte1 funktioniert. Es ist sein Eigen­
tum, der Name des Vaters, der die Aneignung bestimmt,
Frau und Kinder eingeschlossen. Und das, was von der Frau
gefordert wird - die Monogamie - und von den Kindern -
der Vorrang der männlichen Unie und insbesondere der
des Erstgeborenen des Namens -, das dient doch dazu,
"die Konzentration der Reichtümer in den gleichen Hän­
den - denen eines Mannes" zu sichern, und dazu, "diese
Reichtümer durch Vererbung auf die Kinder dieses Mannes
und keines anderen zu übertragen"; was natürlich �um
nichts in der Welt die offene oder versteckte Polygamie des
Mannes verhindert". (Engels) Wie kann man in Anbetracht
dessen die Analyse der Ausbeutung der Frau von derjeni­
gen der Aneignungsweisen trennen?

Diese Frage stellt sich heute mit einer anderen Dringlich­


keit. Tatsächlich beginnen die Beziehungen Mann-Frau
weniger verborgen zu sein durch die Funktionen Vater­
Mutter. Oder genauer noch, Mann-Vater/Mutter: der
Mann nämlich ist aufgrund des Faktums seiner wirklichen
Teilnahme am öffentlichen Austausch niemals auf eine ein­
fache Funktion der Reproduktion reduziert worden. Sie
aber, die Frau, ist aufgrund ihrer Einsperrung im "Haus",
137
dem Ort des Privateigentums, nicht mehr als die Mutter ge­
wesen. Und nicht nur ihr Eintritt in den Umkreis der Pro­
duktion, sondern auch - mehr noch? - die Verallgemeine­
rung der Empfängnisverhütung und der Abtreibung,
weisen ihr diese unmögliche Rolle zu, Frau zu sein. Und
wenn man von der Empfängnisverhütung oder der Abtrei­
bung meist nur noch spricht als von der Möglichkeit, die
Geburten zu kontrollieren, ja, "in den Griff zu bekommen",
"nach Belieben" Mutter zu sein, dann hindert das nicht dar­
an, daß diese eine Möglichkeit der Veränderung deJ Jozialen Sta­
tUJ der Frau, und folglich der Weisen gesellschaftlicher Be­
ziehungen zwischen Mann und Frau, mit sich bringen.

Aber welcher Realität würde die Frau unabhängig von ihrer


Reproduktionsfunktion entsprechen? Es scheint, daß ihr
zwei mögliche, manchmal oder oft sich widersprechende
Rollen zugeschrieben werden. Die Frau wäre dem Mann
gleichgnteJ/t. Sie würde in einer mehr oder weniger nahen
Zukunft dieselben ökonomischen, gesellschaftlichen und
politischen Rechte wie die Männer genießen. Sie wäre da­
bei, ein Mann zu werden. Aber außerdem müßte die Frau
auf dem Markt des Austauschs - insbesondere oder exem­
plarisch auf dem des sexuellen - das bewahren und unter­
halten, was man die Weiblichkeit nennt. Ihr Wert als Frau
käme ihr aufgrund ihrer Mutterrolle und darüber hinaus ih­
rer "Weiblichkeit" zu. Tatsächlich ist aber diese "Weiblich­
keit" eine Rolle, ein Bild, ein Wert, der den Frauen durch
die Repräsentationssysteme der Männer auferlegt wird. In
dieser Maskerade der Weiblichkeit verliert sich die Frau,
und sie verliert sich darin, gerade weil sie Weiblichkeit
spielt. Das wird auch nicht dadurch verhindert, daß jene ihr
eine Arbeit abverlangt, deren Preis sie nicht erhält. Es sei
denn, daß ihre Lust einfach darin besteht, als Objekt der
Konsumtion oder Lüsternheit von den männlichen "Subjek­
ten" ausgewählt zu werden. Und außerdem, wie es anders
machen, ohne "außer Kurs" zu sein.
In unserer Gesellschaftsordnung werden die Frauen von
den Männern "produziert", benutzt, ausgetauscht. Ihr Sta­
tus ist der von Waren. Wie kann dieses Gebrauchs- oder
Transaktionsobjekt ein Recht auf die Rede und seine Teil­
habe an den Tauschakten beanspruchen? Die Waren gehen,
138
wie man weiß, nicht allein zum Markt, und wenn sie spre­
chen könnten . . . Die Frauen müssen also eine "Infrastruk­
tur" unserer Gesellschaft und unserer Kultur bleiben, die
als solche verkannt bleibt. Der Gebrauch, der Konsum, die
Zirkulation ihrer geschlechtsspezifischen Körper sichen die
Organisation und die Reproduktion der Gesellschaftsord­
nung, ohne daß sie an dieser jemals als "Subjekte" teilhät­
ten.

Die Frau ist also hinsichtlich des Funktionierens des -


sexuellen, aber allgemein des ökonomischen, gesellschaftli­
chen, kulturellen - Austauschs in einer Situation JpezijiJeher
AUJbeutung. Sie "geht" in ihn nur "ein" als Transaktionsob­
jekt; es sei denn, sie akzeptien es nicht, der Spezifität ihres
Geschlechtes zu entsagen. Eines Geschlechtes, dessen
"Identität" ihr obendrein gemäß Modellen, die ihr fremd
bleiben, aufgezwungen wird. Die gesellschaftliche Unterle­
genheit der Frauen verstärkt und komplizien sich aufgrund
der Tatsache, daß die Frau keinen Zugang zur Sprache hat,
außer durch Rekurs auf "männliche" Repräsentationssy­
steme, die sie ihrer Beziehung zu sich selbst und zu ande­
ren Frauen enteignen. Das "Weibliche" bestimmte sich nie­
mals anders als durch und für das Männliche. Das Gegenteil
ist nicht "wahr". Aber diese Situation spezifischer Unter­
drückung ist vielleicht dasjenige, was es heute den Frauen
erlauben kann, eine "Kritik der politischen Ökonomie" aus­
zuarbeiten, insofern sie sich hinsichtlich der Gesetze des
Austauschs, gerade weil sie in diesen als "Waren" einge­
schlossen sind, in einer Position der Äußerlichkeit befin­
den. Eine Kritik der politischen Ökonomie, die diesmal
sich nicht der Kritik des Diskurses, in welchem sie sich ver­
wirklicht, und insbesondere seiner metaphysischen Voraus­
setzungen, enthalten könnte. Und die ohne Zweifel den Ein­
Jehtag der Ökonomie deJ DiJkurm in der AnalyJe der
ProduktionJverhältniJJe anders interpretiene.

Denn was würde ohne Ausbeutung des Materie-Körpers


der Frauen aus dem symbolischen Funktionieren, das die
Gesellschaft bestimmt? Welche Veränderung würden jene
durchmachen, wenn die Frauen aus zwangsläufig aphasi­
sehen Objekten der Konsumtion oder des Austauschs auch
139
zu "sprechenden Subjekten" - und natürlich nicht nach
dem männlichen oder exakter, nach dem phallokratischen
Modell - würden?
Was für den Diskurs, der heute das Gesetz ausmacht, der
für alles, einschließlich der Differenz der Geschlechter, die
Gesetze macht, gewiß so sehr zur Frage steht, daß die Exi­
stenz eines anderen Geschlechtes, eines (einer) Anderen:
einer Frau ihm noch unvorstellbar zu sein scheint . . .

Aus dem Französischen von HansJoachim Metzger


Wo die Kultur ihre p ompösen Podien
aufschlägt, wo es Preise und Lorbeer regnet,
da sollte man schleunigst das Feld räumen:
die Aussichten, dort auf Kunst zu treffen, sind
minimal. Und sollte sie j emals dort gewesen
sein, hat sie sich eiligst in ein besseres Klima
verzogen. Sie kann nämlich die Luft der
kollektiven Zustimmung nicht vertragen.
Selbstverständlich ist die Kunst ihrem Wesen
nach verwerflich! Und überflüssig! Und
asozial, subversiv, gerährlich! Und wenn sie
das nicht ist, dann ist sie weiter nichts als
Falschgeld, leere Hülle, KartofTelsack . . .
Jean Dubuffet
J E A N - F RA N <;: O I S LYOTARD
Ein Einsatz in den Kämpfen der Frauen

Die Frage nach dem Verhältnis zwischen Männern


und Frauen wird - als Problem der Schrift - ihrer­
seits von diesem Verhältnis bedingt

Es könnte sein, daß ihr von dem Augenblick an, wo ihr zu


schreiben beginnt, gezwungen seid, ein Mann zu sein_ Viel­
leicht ist Schreiben eine männliche Tätigkeit. Selbst dann,
wenn ihr über das Weibliche schreibt, selbst dann, wenn ihr
"weiblich" schreibt. Was man "weibliches Schreiben" nennt,
ist vielleicht nur eine Spielart einer Gattung, die männlich
ist und bleibt, der Gattung "Essay". Man glaubt, die Weib­
lichkeit dieses Schreibens hinge von dem ab, was in ihr ge­
schieht. Man könnte sagen, daß ein Schreiben weiblich sei,
wenn es eher verführen als überzeugen will. Aber wahr­
scheinlich ist es typisch männlich, diese beiden Arten von
Wirksamkeit einander entgegenzusetzen.
Um diese Schlußfolgerung zu vermeiden, behauptet ihr
dann, daß es kein sicheres Kriterium gibt, um zwischen
dem Männlichen und dem Weiblichen zu unterscheiden,
weder im Schreiben noch anderswo: aber auch diese Neutra­
lisierung der Frage ist verdächtig (wie man, wenn jemand
sagt, er sei unpolitisch, er sei weder rechts noch links, so­
fort weiß, daß er rechts ist).
Hier spricht ein Philosoph über die Frage des Verhältnisses
zwischen Männern und Frauen. Er bemüht sich zu vermei­
den, was gerade an der Art und Weise, diese Frage zu stel­
len, männlich ist. Und trotzdem: seine Ausflucht und seine
listige Vorsicht bleiben wahrscheinlich männlich. Er weiß,
man müßte aufhören zu philosophieren, damit die vermeintli­
che Frage nach dem Gegensatz männlich/weiblich, und
ohne Zweifel dieser Gegensatz selbst, verschwänden; denn
dieser existiert als Gegensatz nur aufgrund der philosophi­
schen (und politischen) Methode, d. h. infolge des männli­
chen Denkens. Wir werden darauf noch zurückkommen.
Angesichts dieser Aporien ist man versucht, die Feder dem
zu reichen, was einem fragenden erwachsenen Mann am
weitesten entgegengesetzt ist einem kleinen Mädchen. Aber
-

142
man wendet ein, daß kleine Mädchen nicht schreiben, daß
sie wie die Wilden seien. Und dann sind sie, wie die Wil­
den auch, zweifellos nur eine Schöpfung ihres vermeintli­
chen GegenteilS, der ernsten Männlichkeit, die im Grunde
auch ihr Richter ist: eine Schöpfung der Eifersucht, die der
Mann gf!genüber dem empfindet, was er nicht sein darf.

Wie die Frauen angeblich den Geist empfangen haben

Der König von Wu sagt zum General Sun Tze: Ihr, der Ihr
ein großer Feldherr seid und Euch rühmt, jeden in der
Kriegskunst auszubilden, nehmt hundertachtzig meiner
Frauen und versucht Soldaten aus ihnen zu machen. Sun
Tze läßt die Frauen in zwei Reihen, die von den beiden
Lieblingsfrauen angeführt werden, antreten und lehrt sie
mit der Trommel den Befehlskodex: zwei Schläge: rechts
um; drei Schläge: links um; vier Schläge: kehrt. Anstatt zu
gehorchen, lachen und schwätzen die Frauen. Er wieder­
holt die Übung mehrere Male : die Frauen versichern, den
Kodex verstanden zu haben, aber jedesmal gibt es nur ein
großes Gelächter und allgemeines Durcheinander. Nun gut,
sagt Sun Tze, Ihr lehnt Euch auf, dafür sieht das Militärge­
setz den Tod vor: Ihr werdet also sterben. Man unterrichtet
den König, der ihm verbietet, die Frauen schlecht zu be­
handeln, besonders die Lieblingsfrauen. Sun Tze läßt ihm
antworten: Ihr habt mir den Auftrag gegeben, sie in die
Kriegskunst einzuführen, das übrige ist meine Sache. -
Und mit seinem Säbel schlägt er den beiden Führerinnen
den Kopf ab. Sie werden durch andere ersetzt, und das
Exerzieren wird wieder aufgenommen. ..Und als ob diese
Frauen ihr Leben lang nur das Kriegshandwerk betrieben
hätten, folgten sie schweigsam und fehlerlos den Befeh­
len."!
Hier haben wir also eine Teilung von männlich und weib­
lich. Erstens, Kennzeichen der Männlichkeit ist der An­
spruch, die Ordnung herrschen zu lassen; Kennzeichen der
Weiblichkeit der Zwang, darüber zu lachen. Das Frauenge­
mach plappert, die Truppen schweigen. Im Gegensatz zu
unserer Erzählung zeigt die Komödie, gleichwohl ein wich­
tiges männliches Genre, die Erfolge listiger Schwäche; sie
läßt die Männer über das Lachen der Frauen lachen; Rosina,
143
die Gefangene, macht Don Bartholdo lächerlich. Aber die­
ses Zugeständnis dauert nur einen Augenblick: kaum ist
Rosina ihrem Beschützer entkommen, da steht sie auch
schon unter dem Gesetz des Grafen Almaviva, des wahren
Herren. Wer zuletzt lacht, lacht am besten: der unbeküm­
merte Humor der Frauen wird der wissenden, sokratischen,
teleologischen Ironie der Männer unterliegen.
Zweitens, die List der (männlichen) Vernunft unterscheidet
sich von den Schlingen des (weiblichen) Gefühls; sie bedient
sich des Todes. Sun Tze tötet einige der lachenden Frauen:
das ist der Ernst. Wenn die Frauen zivilisiert und das heißt:
vermännlicht werden sollen, dann müssen sie die Angst zu
sterben erfahren und sie überwinden. Andernfalls geben sie
entweder nach und werden unterworfen (können aber
heimlich weiterlachen); oder sie lassen sich nicht unterwer­
fen: dann tötet man sie ein bißchen, und es gibt tote Solda­
ten, aus denen man Helden machen kann. Sklavinnen sind
nie sicher; wirklich zivilisierte Frauen sind Tote oder Män­
ner.
Drittens, ein sicheres Kriterium, die Geschlechter zu unter­
scheiden, ist also ihr Verhältnis zum Tod: männlich ist ein
Körper, der sterben kann, welches anatomische Geschlecht
er ;tuch immer haben mag; weiblich derjenige, der nicht
weiß, daß er verschwinden muß. Die Männer lehren die
Frauen den Tod, das Unmögliche, die Anwesenheit der Ab­
wesenheit. Die Tragödie ist ein vornehmes Genre, weil man
in ihr nicht lacht; man zeigt in ihr sogar, daß es nichts zu la­
chen gibt. Die Frau hat in ihr keinen Platz. Sun Tze defi­
niert das Ritual einer Überfahrt: das Weibliche ist auf der
Seite des Kindes, der Jugend und der Natur; der Fährmann
ist der Tod; er führt zur Sprache, zur Ordnung, zum Ge­
wahrwerden des Mangels, zur Signifikanz, zur Kultur.
Sexuelle Theorie und Praxis der Männer schließen
die Todesdrohung mit ein. Oder: Die Sexualität hat
keinen Sinn ohne einen Signifikanten

Wenn Freud fragt, was will das Weib, dann gibt er, als
Mann, zu verstehen, daß sie, da sie passiv ist, nichts will.
Und wenn er sagt, daß die Libido immer männlicher Natur
ist2 - darin einer Meinung mit jenem Besucher pornogra-
144
phischer Filme, der auf die Frage, warum sich Frauen für
solche Darstellungen nicht interessierten, antwortete: "Die
Frauen? Schon mal Frauen gesehen, die sich für Sex interes­
sierten? Frauen haben kein Geschlecht"3 -, dann versteht
Freud unter Libido etwas Triebhaftes, das man verstehen
kann, weil es etwas (sagen) will. Für Lacan ist der Signifi­
kant, der seine Wirkungen in unbewußte "Aussagen" ein­
schreibt, der Phallus, apriorische Bedingung jeglicher sym­
bolischen Funktion, wenn sie die geschlechtlichen Körper
bearbeitet. Der Körper ist nicht geschlechtlich, solange er
nicht "die Engführungen des Signifikanten" passiert hat,
was soviel heißt wie: die Drohung der Kastration oder des
Todes, das Mal des Ödipusgesetzes.
Hier scheint der Unterschied zustande zu kommen: man
nimmt an, daß der Junge diese Drohung überwindet, um
aus dem Ödipus heraus- und in die Männlichkeit einzutre­
ten, während das Mädchen, so heißt es, zur Weiblichkeit
gelangt, indem sie in den Ödipus eintritt und sich unter das
Gesetz der Kastration stellt. Ersterer wird sich trotz des Va­
ters mit dem Phallus zu identifizieren haben, letztere sich
damit begnügen müssen, ihn zu empfangen.4 Es scheint,
daß Sun Tze mit dieser ausgesprochen männlichen Version
einverstanden ist: Wenn eine Frau ein Mann werden soll,
dann muß sie dem Tod oder der Kastration, dem Gesetz
des Signifikanten entgegentreten. Andernfalls wird ihr der
Sinn des Mangels immer fehlen. Das ist der Grund, weshalb
sie sich für ewig hält und ihr die Sexualität, die Aktivität,
die die Sprache des Körpers konstituiert, vorenthalten
ist.
Nichts anderes sagt Platons Sokrates, wenn er versichert,5
daß die Liebe (Eros) nicht nur von der List, der Schläue,
dem Mittel (Poros) gezeugt wird, sondern auch vom Mangel
(Penia), daß man das, was man liebt, nicht um seiner selbst
willen liebt, sondern um es zu befruchten und in ihm sich
zu reproduzieren, um unsterblich zu werden. Auf diese
Weise ordnet er die Liebe der Wirkung des abwesenden Si­
gnifikanten unter, der Idee, dem obersten Paradigma, das
die Körper über sich hinaus bewegt. Um das zu bezeugen,
wird SokrateJ Jterben.6 Aus dieser Verteilung der symboli­
schen Funktion geht die große männliche Verbindung von
Krieg und Sex hervor (die man auch in den chinesischen
145
Traktaten der Liebeskunst findet, die zugleich Lehrbücher
der Kriegsführung sind). Die Männlichkeit konstituiert sich
um einen Prei!, den des Lebens; nur wenn er sterben kann,
kann der Körper sprechen, und jedesmal wenn er genießt,
riskiert er, wieder ein Körper ohne Gesetz, ohne Sprache
zu werden, der nur zu leben und zu lachen fähig ist. Die
liebe ist für den Mann ein Kampf, in dem seine Männlich­
keit, und das heißt: die Kultur auf dem Spiel steht.
Die Männer - zumindest im Abendland - lieben nicht die
Liebe, sondern den Sieg. Unter ihnen herrscht eine ironi­
sche Verachtung des Körpers und der Sinne, der Gerüche,
der Berührungen, der Ausscheidungen, des Geschehen-Las­
sens, der Klänge; diejenigen unter ihnen, die sich dem
überlassen, nennen sie "Künstler". Aber die Künstler sind
weiblich. Die Männer empfinden es als Niederlage, wenn
sie lieben. Sie ziehen die Prostituierten vor, deren Leiden­
schaftslosigkeit sie schützt. Die Lust einer Frau bleibt ihnen
ein Rätsel, da sie die technischen Mittel nicht gefunden ha­
ben, um sie gewiß und vorhersehbar zu "produzieren". Sie
geben der Klitoris den Vorzug, die sie als vertrauten und
zuverlässigen Agenten betrachten, der für sie auf feindli­
chem Terrain arbeitet. Das Eindringen in die Vagina ist
"dann" die Besetzung des Terrains und zugleich der Cursus,
der von der Besiegten bis zum höchsten Grad der Lust, die
der Mann aus ihr gewinnen will, durchlaufen wird.
Für die Frau hingegen ist "genießen" oder "nicht genie­
ßen", im Sinne von "den Spasmus haben oder nicht haben",
mit dessen Eintreten der Mann nach dem Vorbild seines ei­
genen Orgasmus rechnet - für sie ist das, wenn sie liebt,
keine Frage. Die Frage stellt sich nicht, die Antwort ist
gleichgültig. Es ist der Männlichkeit eigen, dies nicht wis­
sen zu wollen; dies impliziert freilich, daß die Körperteile
nicht "sprechen", sondern "funktionieren" (workj, ohne ei­
nen Sinn verwirklichen zu müssen, der ihnen ermangelte;
daß man sehr wohl genießen kann, ohne zu lieben, und lie­
ben, ohne zu genießen. Die affektiven und sexuellen Ma­
chinationen haben also nichts mit irgendeiner Erfüllung ei­
nes körperlichen Sinns (orgastische "Befriedigung") oder
eines theoretischen Sinns (das Schöne, das Wahre) zu
tunJ

146
Der männliche Imperialismus verstößt die Frauen
entweder an die Grenzen oder macht sie, wenn er sie
erzieht, den Männern gleich (homolog)
Alles steht für den männlichen Imperialismus bereit: das
leere Zentrum, wo die STIMME sich Gehör verschafft (ob die
GOTTES oder des VOLKES ist hier unwichtig, wichtig ist die
GROSSSCHREIBUNG ) , um das Zentrum herum der Kreis der
homosexuellen Krieger, die ihre Dialoge halten,8 das Weib­
liche (Frauen, Kinder, Metöken9, Sklaven), das aus dem Cor­
pus socians verstoßen wird und die Eigenschaften aufweist,
mit denen dieser Corpus nichts zu tun haben will: Wildheit,
Empfindlichkeit, Rohes und Gekochtes, Impulsivität, Hy­
sterie, Schweigen, ekstatischer Tanz, Lüge, dämonische
Schönheit, Schmuck, Geilheit und Hexerei, Schwäche. Sich
selbst begreift der männliche Corpus als aktiv, tatig, wie He­
gel, Freud, alle sagen: wir müssen jenes ferne Objekt ergrei­
fen, das menschlich zu sein scheint, es aber in Wirklichkeit
nicht ist, sondern erst menschlich werden muß. Der männli­
che Imperialismus ist kriegerisch und pädagogisch, was ein
und dasselbe ist: er glaubt, die Initiative zu haben. Die
Frauen (und alles, was weiblich ist) werden reaktiv oder pas­
siv genannt, sie wanen auf die Tat des Sinns, um erregt, be­
fruchtet, kultiviert, aufgehoben zu werden. Sie sind Verrä­
terinnen, wie der Indianer und der Araber, ihre scheinbare
Menschlichkeit ist erschlichen: derober, rauben, rubare, sie
sind die Diebinnen der Menschheit.lO
Aber vielleicht können wir Männer den Wunsch, dieses Ob­
jekt zu ergreifen, deshalb nicht unterdrücken, weil nur von
ihm die Rede ist im Diskurs der STIMME des männlichen
ZENTRUMS : sie spricht nur von den Grenzen des IMPERIUMS
(die die Frauen sind), und wir müssen ohne Unterlaß ihre
Äußerlichkeit bekämpfen. Und wenn das wahr ist, muß
man dann nicht zugeben, daß dieses Objekt unbewußt mit
dem, was wir Aktivität nennen, ausgestattet ist? Und verrät
nicht die listige Kraft, die wir ihnen zugestehen, daß unsere
Rolle insgeheim von der ihren umgedreht wird? (Hat der
abendländische Mann vielleicht nicht doch den Wunsch,
sich von der Frau sodomisieren zu lassen?) Ist nicht auch
für den Mann das am wichtigsten, was außerhalb des Thea­
ters der Männer liegt? Findet er nicht gerade dort seinen
147
"Ursprung"? Und dieser Ursprung, ist er nicht Weib? Die
Mutter, ist sie nicht das ursprünglich Weibische? Das heißt
eine bestimmte Art, das äußere Geschlecht in der Theorie
zu repräsentieren: als ungegründeter Grund, in welchem
sich der Sinn erzeugt. Das sinnlose SEIN?
In der Tat kann die Frau vom Bürger, vom Staatsmann, als
Mutter, als Mutter seiner Söhne, anerkannt und geschätzt
werden: sie ist nun einmal die unvermeidbare Vermittlung
zwischen ihm und seinen Söhnen. Der Corpus socians kann
sich nicht reproduzieren, ohne durch den Bauch der Frauen
hindurchzugehen. Die männlichen Homosexuellen schät­
zen ihn, aber nur an den Rändern des IMPERIUMS. Die Göt­
tinnen der Fruchtbarkeit sind eher orgiastisch als bürger­
lich; ihr Kult wird in Griechenland beibehalten, aber in die
Dunkelheit der Baccheia zurückgestoßen, in Rom mit dem
Christentum beseitigt, später in der Marienverehrung subli­
miert: das männliche christliche Abendland ehrt nicht die
Frauen, sondern sein eigenes Reproduktionsvermögen, das
im Schoß der Jungfrau angelegt ist und im Bauch der Mut­
ter ausgebeutet wird.
Und die Frauen, die weder Jungfrauen noch Mütter sind,
die "Mädchen"? Sie muß man erobern, besänftigen, heili­
gen, retten und uns gleichmachen. Schon das Christentum
stellt die Frage: soll man die Frauen erziehen, und wie? Der
Kapitalismus wird die Methode, die sich in dieser Fragestel­
lung abzeichnete, verallgemeinern: die Frauen nicht durch
Verbannung ausschließen, sondern durch Homologisierung.
Er trägt dazu bei, die Einschließung in den Raum der Fami­
lie zu zerstören, er integriert sogar teilweise ihre Reproduk­
tionsfunktion, wenn er indirekt, entsprechend seinen Be­
dürfnissen, auf ihre Zeugungsbereitschaft einwirkt und ihre
Produkte, die berühmten Söhne, als Waren behandelt,
ebenso wie ihre trächtigen Bäuche. Die Erziehung der
Frauen besteht also darin, ihre natürlichen weiblichen Res­
sourcen, und zwar alle Ressourcen, durch ihren Einschluß
in seine Reproduktionszyklen auszubeuten.

Mit dem Kapital verwirklicht sich angeblich das Ideal der


Männer, sich selbst zu vermehren: MADAM E LA TERRE ver­
schwindet,!1 MESSIEURS LE PERE-CAPITAL und LE FILS-TRAVAIL
glauben, sie genügen, damit sich der CorpUJ Jociandum repro-
148
duzieren kann, sozusagen ohne fremdes Zutun. Im männli­
chen Zyklus verschwinden die Frauen, sie sind als Arbeite­
rinnen in die Warenproduktion integrien, als Mütter in die
Reproduktion der Ware Arbeitskraft, unmittelbar als Waren
(Cover-girls, Prostituiene der Massenmedien, human relations­
Hostessen) oder schließlich als Managerinnen des Kapitals
(Führungspositionen).

Vor- und Nachteile der Behandlung der Geschlechts­


unterschiede in der kapitalistischen Gesellschaft

Jedenfalls können die Frauen nur unter der Bedingung, daß


ihre Unterschiedlichkeit neutralisien wird, der modernen
Gesellschaft angehören. Auch die heutige ..Erotik" impli­
zien - im Umfeld einer echten Volkskultur aus Pornos,
Frauenzeitschriften und der Pille - eine solche Homologisie­
rung. Sie wird von einem absoluten Wen beherrscht: der
permanenten sexuellen und affektiven Verfügbarkeit, die
man dann Emanzipation, Befreiung, Unabhängigkeit nennt
und als Anti-Wene Ehe und Familie entgegensetzt. Aber es
ist der gleiche Wen, den das Kapital den Männern auf­
zwingt; mit denselben Qualitäten: Freiheit, Verfügbarkeit,
Mobilität, staffien es ihre Reduktion auf Arbeitskraft aus.
Die sexuelle und affektive Freiheit der Frauen (wie der
Männer) ist ein kapitalistischer Wen, nicht nur weil sie den
Sex in eine auf dem männlichen Markt leicht verkäufliche
Ware verwandelt, sondern auch deshalb, weil, wie im Fall
der "freien" Arbeitskraft, sämtliche Unterschiede neutraÜ­
sien werden müssen, also auch die zwischen den Ge­
schlechtern und den vielen singulären Lüsten, damit sie
endlich allesamt unter das Gesetz der Austauschbarkeit ge­
stellt werden können. So erklän sich zum Beispiel der
Rückgang der Hysterie, wie die Männer die Äußerlichkeit
des Weibs zu nennen pflegen.t2

Ein Besucher von Pornofilmen formulien treffend das Ge­


setz des Kapitals: ..Was mir an den Mädchen in Pornofil­
men so gut gefällt? Sie sind genauso wie die Männer, immer
haben sie Lust zu vögeln."13 Immer Lust, mehr ..Erfahrung"
zu kommerzialisieren und zu kapitalisieren: expansive Se­
xualität, eroberungs süchtige Erotik, Tauschökonomie. In
149
diese Richtung weisen bereits einige Libertins des 18. Jahr­
hunderts: die Homologisierung der Geschlechter (das
"Sperma", das die Frauen bei de Sade ejakulieren) ermög­
licht, das Liebesverhältnis in Begriffen von Strategie und
Taktik (Laclos) oder gar in einer Theorie der Höflichkeits­
spiele (Crebillon der Jüngere) zu behandeln, kurz: als poli­
tisches Verhältnis, worin das zutiefst männliche Gesetz gilt:
lieber sterben als leiden. Leidenschaftslos leiden: von die­
sem Gesichtspunkt aus wäre das der ErfolgY
Man darf den modernen UniJexiJmuI jedoch nicht rundweg
ablehnen; er bietet Material für neue Listen. Es wird Zeit,
daß der Mythos von den Dämoninnen und Müttern, von
den Zwitterwesen, die hinter den Umel des männlichen Im­
periums verstoßen wurden, verschwindet. Sein Untergang
macht deutlich, daß die Unterschiede, die die Sexualität
konstituieren, nicht mit dem politischen Gegensatz von
COrpUI locianl und COrpUI lociandum zusammenfallen, son­
dern jeden sogenannten individuellen "eigenen Körper"
durchqueren, ob seine Anatomie nun männlich oder weib­
lich ist. Freud glaubte an das Schicksal der Anatomie; aber
das Interesse, das man heutzutage den Transvestiten, den
Invertierten und der chirurgischen Geschlechtsumwand­
lung entgegenbringt, zeigt, daß dieser Glaube zurückgeht.
Daß die männliche Lust nicht an die Zurückhaltung oder
Ausstoßung des Spermas, nicht einmal an die Erektion ge­
bunden ist; daß sogenannte weibliche "Komponenten" der
Lust sich in diesen gegen den Tod gepanzerten Körper ein­
schleichen können; daß die Aktivität nicht ihr erdrückendes
Schicksal ist; daß man die Synchronisierung der Orgasmen
nicht mehr als Ideal betrachtet und sie dafür nicht länger
die Verantwortung zu übernehmen haben; alt das, zusam­
men mit anderen Verschiebungen, gibt Anlaß zur Hoff­
nung, daß das Imperium des Signifikanten auf dem männli­
chen Körper sich auflösen und ein anderer sexueller Raum,
eine Topologie der erotischen Verkettungen, vergleichbar
der, die Freud beim Kind entdeckte und mit dem (eher
heuchlerischen) Begriff polymorphe Pervmion15 bezeichnete,
an seine Stelle treten könnte. Auch der Körper des "Weibs"
würde sich in ein Puzzle von Potentialitäten auflösen, wo­
bei keine - weder die Fruchtbarkeit, die Passivität, die
Emotionalität, noch die Eifersucht - die andere be-

150
herrschte . Die Unterschiede durchquerten die "eigenen
Körper", statt einen starren Gegensatz zwischen "männlich"
und "weiblich" zu errichten. Dies würde ermöglichen, daß
die Oberflächen, die zwei (oder mehreren) Individuen "ge­
hören"(?), sich in gewisser Weise aneinander koppeln kön­
nen (die mag man sadistisch, masochistisch, zärtlich, obla­
tiv, zwanghaft nennen oder mit ich weiß nicht welchem
Wort aus dem Lexikon der Nosographie - versucht vor al­
lem, bessere zu finden !), ohne zu beeinträchtigen, was auf
den anderen Oberflächen "derselben" Körper geschieht.

Dann ereignet sich das, was man gemeinhin Liebe nennt: es


gibt niemand mehr, keine übergeordnete, zentrale Identität
mehr, die sagen und kontrollieren könnte, was auf den ein­
zelnen "intensivierten" Oberflächen geschieht.
Es kann also nicht darum gehen, den Geschlechtsunter­
schied gegen die Homologisierungsbewegung, die vom Ka­
pital erzwungen wird, zu stützen. Dieser sogenannte "Ge­
schlechtsunterschied" ist, wie wir gesehen haben, vom
männlichen Imperialismus so wenig ausgenommen wie sein
Gegenteil. Er besagt lediglich, daß man die Menschenwesen
in zwei Klassen unterteilen kann, je nachdem, ob sie mit
oder ohne Penis ausgestattet sind, und daß nur die erste
Klasse zum CorpuJ Jocians gehört. Die Frauenbewegung
könnte versucht sein, dieser Angleichung der Frauen an die
Männer durch Radikalisierung des Unterschieds zu wider­
stehen: sie könnte die Intuition, das Pathos und die Unver­
antwortlichkeit, die man den Frauen nachsagt, einklagen
und zu Waffen in ihrem Aufstand gegen den Phallokratis­
mus machen. Man könnte sogar davon träumen, die Bedeu­
tung dieser "Schwächen" auszudehnen und daraus eine an­
timännliche Welt zu konstruieren, die nur eine weibliche
Schrift, die aus Stimmen, Schreien, Geflüster und Komplot­
ten bestünde, erforschen könnte.

Aber diese Richtung läuft Gefahr zu scheitern und das Pro­


blem in seiner traditionellen Form wiederherzustellen: der
männliche Imperialismus paßt gut zu nächtlichen Delirien,
zu Streifzügen durchs Gebirge, wilden Tänzen in Wäldern,
zum Verschlingen roher Tiere.16 Denn das Imperium
braucht eine Grenze, und all das setzt eine Grenze. Ange-

151
sichts dessen, was er Irrationalismus nennt, sieht sich der
Herr der Waffen und des Worts wieder mit einer pädagogi­
schen Aufgabe betraut: er braucht eine Grenze, die er er­
obern kann, und Wilde, die er zivilisieren kann. Befreien
wir ihn lieber von seinem Wörter- und Todespanzer, tau­
chen wir ihn in das große Patchwork der affektiven, intensi­
vierenden Elemente. Führen wir keinen frontalen Krieg ge­
gen ihn, sondern eine Art Guerilla mit Hinterhalten und
plötzlichen Überfällen, in einem anderen Raum und in ei­
ner anderen Zeit als denen, die uns der männliche Logos
seit Jahrtausenden aufzwingt. Man könnte versucht sein,
diese verdrehten Räume und paradoxalen Zej.ten einem
"weiblichen Prinzip" zuzuschreiben. Aber das hieße nur,
dem sogenannten "männlichen Prinzip", als dessen einfa­
ches Komplement es dann erschiene, noch einmal ein Zu­
geständnis zu machen. - Oder? Sagen wir das doch, aber als
eine Art Theorie-Fiktion. Und fangen wir an, mit Fiktionen
zu arbeiten und nicht mit Hypothesen oder Theorien: für
einen, der schreibt und redet, wäre das die beste Weise,
"weiblich" zu werden . , .

Ein Einsatz im Kampf der Frauen: die Zerstörung der


Metasprachen

Zum Schluß, wie angekündigt, eine Anmerkung zu diesem


Thema. Der Philosoph ist als solcher heimlich Komplize
des Phallokraten. Und zwar deshalb, weil die Philosophie
nicht irgendeine Disziplin unter anderen ist. Die Philoso­
phie ist die Suche nach einer konstituierenden Ordnung,
die der Welt, der Gesellschaft, dem Diskurs Sinn verleiht;
sie ist der Wahnsinn des Abendlands; unaufhörlich führt
sie im Namen des Wahren und des Guten im Wissen und
in der Politik ihre Forschungen durch. Wenn wir die Frage
nach gen Bezi�hungen zwischen Männern und Frauen auf­
werfen, stößt uns die Philosophie (oder deren zeitgenössi­
sche positivistische Parodien, die Soziologie, die Anthropo­
logie usw.) in Richtung einer Antwort. Aber diese Antwort
muß die KOnJlitution passieren, d. h. eine ordnungsgemäße
Ausarbeitung dieser Beziehungen und somit auch der
Terme "Mann"/"Frau", die miteinander in Beziehung tre­
ten. Diese Konstitution kann auf verschiedene Weise
152
durchgeführt werden. Allen Versionen ist jedoch gemein­
sam, und das ist der springende Punkt, daß diese Frage
(und die Möglichkeit oder Unmöglichkeit, sie zu beantwor­
ten) nur in dieser (ihrerseits unmöglichen, immer offenen)
Metasprache gestellt werden kann, die die Sprache der Phi­
losophie ist. Aber diese Metasprache ist immer schon die
Sprache der abendländischen, insbesondere der griechi­
schen Männlichkeit.
Wo hat sie sich faktisch konstituiert? In jenen Gemeinschaf­
ten freier Männer, die hellenistisch sprechen, Waffen tra­
gen, dieselben Götter verehren und dem Gesetz der Isono­
mie [Rechtsgleichheit, Gleichberechtigung, Anm. d. R.]
unterstehen; sie bildeten im Innern der griechischen Feu­
dalgesellschaft den Kern der Politeial7• Aus diesen Gruppie­
rungen sind die Frauen (wie die Kinder, die Metöken, die
Fremden, die Sklaven) von vornherein ausgeschlossen. Sie
erringen eine Vormachtstellung über die gesamte Gesell­
schaft, die es ihnen schließlich ermöglicht, die überkom­
mene Gentilverfassung, d. h. das System der Großfamilien,
von Grund auf umzuwälzen.IB Das Wort, das in dieser Mitte
ausgesprochen wird, erweist sich also als kOnJtituierend für
die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit. Und dies gilt selbst
noch für die revolutionären Parlamente der Gegenwart: die
amerikanische, die französische und die bolschewistische
Revolution. Was bedeutet dies für die Weiblichkeit (die
diesen Diskurs mitunter ignoriert)? Sie ist konstituiert oder
muß als eins der Teile des Corpus sociandum oder gar als des­
sen Symbol, als die Passivität, konstituiert werden, im Ge­
gensatz zur Gruppe der "Politischen", die die Verantwort­
lichkeit für den Corpus socians an sich reißt. Historisch kann
man nachweisen, daß die Konstitution jener Institution, die
man Politik nennt und die eine spezifisch männliche Ord­
nung ist, und die Institution des konstituierenden Diskur­
ses, der Philosophie, zusammenfallen. Vielleicht ist im
Abendland seit jenem Augenblick das Männliche nichts an­
deres als diese Beziehung zum Konstituierenden.
Man kann die Frage nach den Beziehungen zwischen Män­
nern und Frauen also nicht auf das Problem der Arbeitstei­
lung im Innern des gesellschaftlichen Körpers reduzieren.
Die Grenze, die zwischen den Geschlechtern verläuft,
trennt nicht zwei Teile ein und desselben gesellschaftlichen
153
Ganzen, sie ist nicht nur jener Rand, wo das IMPERIUM
auf die Barbarei stößt, sondern sie ist die Bruchlinie zwi­
schen einem empirisch Gegebenen, den Frauen, dem gro­
ßen X, und der transzendenten oder transzendentalen Ord­
nung, die sich ihm appliziert,19 um zu versuchen, ihm einen
Sinn zu geben. Hierin ist das stillschweigende Einverständ­
nis von politischer Phallokratie und philosophischer Meta­
sprache zu suchen: die Aktivität, die sich die Männer de
facto vorbehalten, setzt sich als Recht, den Sinn zu geben.
Die gesellschaftliche Verteilergruppe, die der Bürger, ver­
mischt sich mit dem Prinzip, welches besagt, daß es eine
verteilende Vernunft und eine Materie gibt, worauf diese
Vernunft schreibt und sich einschreibt, und Materie und
Vernunft verschieden sind.
Einer gewissen "Feministin"20 wirft man vor, den Phallus,
den symbolischen Operator der Bedeutungen, mit dem Pe­
nis, dem empirischen Mal des Geschlechtsunterschiedes zu
verwechseln; stillschweigend wird vorausgesetzt, daß die
metalinguistische Ordnung (die des Symbolischen) vom Re­
ferenzbereich, dem sie sich appliziert (der der Wirklichkei­
ten), unterschieden ist. Wenn nun aber der Frauenbewe­
gung eine ungeheure Tragweite zukommt, und insofern ist
sie durchaus mit den Kämpfen der Sklaven, der Kolonisier­
ten und anderer "Unterentwickelter" vergleichbar, dann
deshalb, weil sie den (männlichen) Glauben an die Unab­
hängigkeit der Meta-Aussagen von gewöhnlichen Aussagen
attackiert und zerstört.
Jeder Diskurs des Wissens stützt sich auf eine Entscheidung:
nämlich, daß die beiden Aussagen "die Suppe ist serviert" und
" es ist wahr, daß die Suppe serviert ist" nicht derselben Klasse

angehören und deshalb voneinander unterschieden werden


müssen. Aber diese Entscheidung selber ist nicht beweis­
bar. Mit anderen Worten: man kann das sogenannte "Lügner­
paradox"21 nicht widerlegen; und plötzlich erscheint die Ent­
scheidung, die den Diskurs des Wissens und die konstituie­
rende Ordnung konstituiert, als Faktum einer Macht und
Macht des Faktischen. Wenn die Wirklichkeit lügt, dann
folgt daraus, daß die Männer, die sich anmaßen, den Sinn zu
konstituieren und das Wahre zu sagen, selbst nur eine Min­
derheit in einem Patchwork sind, auf dem es nicht möglich ist,
eine höhere Ordnung gültig zu etablieren und festzusetzen.
154
Da die Frauen - wie Eubilides und wie die Wirklichkeit -
lügnerisch sind, entdecken sie, was die Herrschaft (der
Männer) fortwährend verschwiegen hat und die größte Re­
volution des Abendlands sein wird: daß es keinen Signifi­
kanten gibt; oder daß die Klasse aller Klassen selbst nur
eine Klasse ist; oder daß wir Abendländer unsere ganze
Raum-Zeit und unsere ganze Logik auf der Basis von Nicht­
zentralität, Nichtfinalität und Nichtwahrheit neu machen
müssen. In einer Abstimmung haben die Vereinten Natio­
nen den Zionismus als Rassismus veruneilt - zum großen
Entsetzen der Abendländer, die plötzlich in der Minderheit
waren. Eines Tages wird die UNO die Vorherrschaft, die
man dem theoretischen Diskurs einräumte, als männlichen
Sexismus veruneilen, zum Großen Entsetzen von . . . uns al­
len.

1 VgJ. Sun Tze, Die dreizehn Gebote der Kriegskrmst, hrsg. von
G. Maschke, München 1972. Sun Tze ist ein chinesischer Kon­
dottiere und Feldherr aus der Zeit der Hegemoniekriege und
soll zwischen 512 und 506 v. Chr. gewirkt haben.
2 Sigmund Freud, "Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie"
(1905), in: G. W., V, S. 120.
3 Umfrage von G. Sitbon, Le Nouvel Observateur, Paris 18. August
1975.
4 Sigmund Freud, "Einige psychische Folgen des anatomischen
Geschlechtsunterschiedes" (1925), in: G. W., XIV, S. 130.
5 Platon, Symposion, 201d-207a.
6 Platon, Apologie (Des Sokrates Veneidigung).
7 In dieser Hinsicht besteht völJige Übereinstimmung zwischen
der platonischen Theorie der Liebe und beispielsweise dem
Reich'schen Sexualitätsbegriff (Die Funktion des Orgasmus,
Frankfun am Main 1975).
8 Marcel Detienne, "En Grece archaique: geometrie, politique et
societe", in: Annales. Economies, societes, civilisations, 20/3 (Mai bis
Juni 1965).
9 Onsansässige Fremde ohne politische Rechte. [Anm. d. R.]
10 Helene Cixous, "Sonies·, in: H. Cixous/C. Clement, La jeune
nie, Paris 1975.
11 Nach einem Ausdruck von Marx (vgJ. Das Kapital, Kapitel IlI,
VII, XXV), der zum Beispiel gegen die Eliminierung von Mut­
ter Natur als Quelle des materiellen Reichtums in bestimmten
Interpretationen seiner Theorie des Arbeitswens polemisien.

155
Vgl. DaI lVzpital, Bd. 1, Kapitel I, und .Kritik des Gothaer Pro­
gramms" (Lyotard hat wohl die folgende Passage im Auge:
"Die Gebrauchswerte Rock, Leinwand usw., kurz die Waren­
körper, sind Verbindungen von zwei Elementen, Naturstoff
und Arbeit. Zieht man die Gesamtsumme aller verschiedenen
nützlichen Arbeiten ab, die in Rock, Leinwand usw. stecken,
so bleibt stets ein materielles Substrat zurück, das ohne Zutun
des Menschen von Natur vorhanden ist . . . Die Arbeit ist also
nicht die einzige Quelle der von ihr produzierten Gebrauchs­
werte, des stofflichen Reichtums. Die Arbeit ist sein Vater,
wie William Petty sagt, und die Erde seine Mutter." MEW 23,
S. 57f. Zusatz des Übersetzers).
12 Ilza Veith, Hptena, the HiItory 0/ a DiIeaJe, Chicago 1965.
13 Umfrage von G. Sitbon, a. a. O.
14 Pierre Klossowski hat auf dieses Thema im CEuvre von
de Sade hingewiesen. Vgl Sade mon prochain", Paris 1967; Le­
. •

bendeJ Geld (zus. mit P. Zucca), Bremen 1982.


15 Sigmund Freud, "Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie",
a. a. O.
16 Vgl. E. R. Dodds, The Greek and the I"ational, University of Ca­
lifornia Press 1959.
17 J.-P. Vernant, Die Enmehung tieI griechiIchen Denkeni, Frankfurt
am Main 1982. M. Ausen/P. Vidal-Naquet, EconomieI et IocieteJ
en GrBee ancienne, Paris 1972.
18 P. Uveque/P. Vidal-Naquet, CliIthene I'AthCnien, Paris 1964.
19 Zum Begriff der Applikation vgl. Deieuze/Guattari, Anti-Ödi­
PUl, die ihn benutzen, um die Beziehung zwischen gesell­
schaftlichem Feld und Familie zu bezeichnen. [Anm. d. Ü.]
20 Luce Irigaray, Speculum. Spiegel tieI anderen GeIChlechtI, Frankfurt
am Mai 1980; DaI GeJchlecht, daI nicht einI iIt, Berlin 1979.
21 Es wird Eubilides von Megara, einem Zeitgenossen Aristote­
les', zugeschrieben und lautet in Ciceros Formulierung:
"Wenn du sagst, daß du lügst, und du sagst die Wahrheit, dann
lügst du." (Cicero, Lehre der Akademie, Zweites Buch, § 95).
Eine Formulierung, die metalogischen Reduktionsversuchen
noch größeren Widerstand entgegensetzt, ist: "Ich lüge", "I am
lying".

Aus dem Französischen von Clemens-Car! Haer!e


Sexualisie rung im Umbruch
Fe/ix Guattari im Gespräch mit Christian Descamps

CHRISTIAN DESCAMPS: Du hast zusammen mit Deleuze heroorge­


hoben, daß wir, stalt in einer sexuellen Dualitti't gefangen zu sein,
vielmehr Vielheit bun Arrangemenu sind, Geschlechter. Was lti'ßt
sieh angesiehu dieser multiplen
. Organisationen über die Homose-
xualitti'ten sagen?

FELIx GUATIARI: Auf der Ebene des gesamtgesellschaftli­


chen Feldes funktionieren die Homosexualitäten, um mit
Rene Nelli zu sprechen, ein wenig wie Bewegungen, wie
Sekten, mit ihrem besonderen Zeremoniell, ihren Initia­
tionsriten, ihren Liebesmythen. Trotz des Auftretens von
Gruppierungen mehr oder weniger körperschaftlichen Cha­
rakters, wie "Arcadie"t, bleibt hier die Homosexualität wei­
terhin an Werte und Interaktionssysteme der herrschenden
Sexualität gebunden.
Ihre Abhängigkeit von der heterosexuellen Normalität of­
fenbart sich zum Beispiel in einer Geheimpolitik, einer gro­
ßen Heimlichkeit, die sich zugleich von der Repression und
von einem Schamgefühl nährt, das als solches, besonders in
der Geschäftswelt, in Schauspieler- und Literatenkreisen
usw. besetzt wird. Diesem Bereich kann sich die Psychoana­
lyse nach Herzenslust widmen, indem sie eine Normalität
zweiten Grades einführt, eine nicht mehr moralische, son­
dern "wissenschaftliche" Normalität, die gerade, indem sie
fortfährt, die Homosexualität als etwas Anormales zu betrach­
ten' den Angriffspunkt der Schuldigsprechung verschiebt.
Sie macht aus ihr eine Krankheit, einen Entwicklungsrück­
stand, eine Fixierung auf. ein prägenitales Stadium usw.
Auf einer zweiten, eher eine Minderheit betreffenden,
avantgardistischeren Ebene begegnet man jetzt einer militan­
ten Homosexualität vomTypus FHAR, MLH usw. 2 Die Homo­
sexualität ficht die heterosexuelle Macht auf deren eigenem
Terrain an. Es ist jetzt die Heterosexualität, die sich zu ver­
antworten hat: das Problem hat sich verschoben, die phallo­
kratische Macht wird tendenziell in Frage gestellt, und
zwar so, daß der feministische Protest und der homosexu­
elle Protest potentiell eine gemeinsame "Front" bilden.
157
Ich glaube, daß man sich bemühen müßte, eine dritte, mehr
molekulare Ebene freizulegen, auf der man nicht mehr in
der gleichen Weise die Kategorien, Gruppierungen und
"Spezialitäten" unterscheiden würde, sondern die scharfen
Gegensätze zwischen den Gattungen aufgeben und statt
dessen nach gleitenden Übergängen zwischen Homosexuel­
len, Transvestiten, Drogenabhängigen, Sado-Masochisten
und Prostituierten, zwischen Frauen, Männern, Kindern,
Jugendlichen, Psychotikern, Künstlern, Revolutionären, su­
chen würde, also zwischen sexuellen Minderheiten aller
Art, wenn einmal klar ist, daß man in diesem Bereich über­
haupt nur einer Minorität angehören kann. Auf dieser
Ebene - und sie ist es vor allem, die mich interessiert -
schlägt man sich mit faszinierenden Paradoxien herum; tat­
sächlich kann man zugleich sagen, daß sich alle Formen
sexueller Aktivität als grundsätzlich diesseits von personolo­
gisehen Homo-Hetero-Oppositionen liegend erweisen und
daß sie trotzdem der Homosexualität und dem, was man ein
Weiblich-Werden nennen könnte, verwandter sind. Es ist
schwierig, all das zusammenzuhalten. Trotzdem glaube ich,
daß das stimmt.
Auf dem gesellschaftlichen Plan, auf der Ebene des gesell­
schaftlichen Körpers, ist die Libido in die beiden Systeme
des Klassen- und Geschlechtswiderspruchs eingesperrt. Sie
ist gezwungen, männlich, phallokratisch, binär zu sein: sie
binarisiert sämtliche Werte - nach den Oppositionen
stark-schwach, reich-arm, nützlich-nutzlos, sauber-drek­
kig usw. Auf der Ebene des geschlechtlichen Körpers dage­
gen - egal, ob es darum geht, wie bei Schuman, zum Kind
zu werden, zum Tier, wie bei Kafka, zur Pflanze, wie bei
Novalis, oder zum Mineral, wie bei Beckett - zwingt diese
selbe Kristallisierung des gesellschaftlichen Feldes sie, sich
mehr oder weniger implizit auf ein Frau-Werden zu bezie­
hen. Das Frau-Werden ist so etwas wie eine den anderen
Prozessen des Geschlechtlich-Werdens auferlegte Vermitt­
lung. Nur deshalb toleriert und erträgt man sie. Es ist, als
sei das Paar weiblich-passiv, männlich-aktiv von der Macht
zum verbindlichen Bezugsrahmen gemacht worden, um
sich die Möglichkeit zu verschaffen, die Intensitäten des
Wunsches zu situieren, zu lokalisieren, zu territorialisieren
und zu kontrollieren. Außerhalb dieser exklusiven Bipolari-
158
tät gibt es kein Erbarmen - sondern Sturz in den Unsinn,
Rekurs auf das Gefängnis, das Asyl, die Psychoanalyse usw.
Die Deviation, die verschiedenen Randgruppen, sind selbst
daraufhin kodiert, als Sicherheitsventil zu funktionieren.
Beispielsweise werden sich bestimmte Homosexuelle be­
fleißigen, die Modellierung der Frau durch die Gesellschaft
in ihren entfremdetsten Zügen zu reproduzieren, oder auch
in ihrer Zweierbeziehung sich gemäß den Normen des op­
pressivsten FamiliaIismus zu verhalten. Ein Mann, der -
ohne sich deshalb auf den Narzißmus zu spezialisieren -
seinen eigenen Körper liebt, verfängt sich ganz allgemein
im Frau-Werden. Sobald man einen Körper liebt - gleich­
gültig welchen - ist man auf die Werte der Frau als einer
Zuflucht verwiesen. Kurz gesagt, die Frauen sind die einzi­
gen autorisierten Garantinnen der Entwicklung zum ge­
schlechtlichen Körper. Ein Mann, der sich aus dem einen
oder anderen (etwa sexuellen, schöpferischen usw.) Grund
von der allen Machtformationen inhärenten phallischen
Überbietung löst, wird durch dieses Frau-Werden hindurch
und über es hinaus gelangen. Nur unter dieser Bedingung
wird er zusätzlich zum Tier, zum Kosmos, zur Letter, zur
Farbe, zu Musik usw. werden können. Meiner Ansicht nach
ist also die Homosexualität von diesem Frau-Werden nicht
zu trennen - nicht einmal die nicht-ödipale, nicht-persono­
logische Homosexualität. Dasselbe wäre von der infantilen
Sexualität zu sagen, von der psychotischen Sexualität, von
der poetischen Sexualität - siehe in dieser Hinsicht bei­
spielsweise die Krise Ginsbergs. Mir scheint, daß auch sie
von diesem Weiblicher-Körper-Werden als dem letztmögli­
chen Zugang zu einern Geschlechtlicher-Körper-Werden
nicht zu trennen sind.

Wenn die Kategorie Frau existiert, woher dann das Privileg, das
den Frauen bei diesem Zugang zukommen würde? Hängt das ir­
gendwie mit der Beziehung zur Mutter zusammen?

Das, das ist eine Katastrophe . . . die Kategorie Frau existiert


nur in bestimmten gesellschaftlichen Feldern. Aber sobald
du "Frau" mit Mutter in Beziehung bringst, bist du schon
auf dem personologischen, politischen und mikropoliti­
schen Feld bei der Kapitalisierung der Wunschenergie
159
durch die Gesellschaft; da ist dann alles gelaufen. Wenn
ich vom Weiblicher-Körper-Werden rede, dann darf das
nicht der Kategorie Frau gleichgestellt werden, wie sie
in der Zweierbeziehung, in der Familie usw. gesehen
wird.

Stimmt es, daß die Homosexuellen mancherorts weiterhin vom


Herrn Analytiker die Normalisierung verlangen?

Neben diesem erbärmlichsten Aspekt der Nachfrage nach


Behandlung kommt es vor, daß man, was sehr viel interes­
santer ist, einem ..perversen" Verlangen begegnet: ..Amüsie­
ren Sie sich, sehen Sie zu, was Sie aus mir herausbekommen
können, kurieren Sie mich mal . . . "

Ja, aber wenn solche Typen zu dir kommen, dann sind die doch nicht
so ganz repräsentativ, ebensowenig wie umgekehrt die Prostituierten,
die zum Pfarrer gehen, um "da herauszukommen".

Manchmal ist ein Homosexueller bereit, ein Unterneh­


men der ..Versachlichung" seines ..Falles" sehr teuer zu be­
zahlen. Der Analytiker hängt am Gängelband: geht er nicht
auf den Dreh ein, geht der Homosexuelle zu einem an­
deren.

Mit welchem " Verlangen" oder "Anliegen" kommt man zu


dir?

Oft mit eben diesem Verlangen nach ..Referenz", und man


geht wieder, um nicht ganz und gar daran glauben zu müs­
sen. Sag mir, daß ich homosexuell bin, bring dich in die Po­
sition dessen, der mir sagen wird, was ich bin. Der Homo­
sexuelle hat es wie der Militante nötig, sich an einen Status,
eine Organisation, ein Ritual (Klappen usw.), eine Defini­
tion zu klammern . . .

In dem Sinn, in dem du (in "Die Couch des Armen"p schreibst, zum
Analytiker gehen, das heißt, zu jemandem gehen, der einen "guten
Ruf" hat, das heißt, in ein "gutes Ritual" einsteigen . . .

Die Homosexualität ist nicht zu trennen von einer Reprä-


160
sentation, einer gesellschaftlichen Repräsentativität (die
Schwulen galten noch vor gar nicht langer Zeit als schräge
Typen, so ähnlich wie die Drogenabhängigen, das waren
"Angeberinnen", sie bildeten so etwas wie ein besonderes
Judentum und lösten rassistische Reaktionen aus). Wenn
du diese Repräsentationen hinter dir läßt, dann gibt es
keine Homosexualität mehr. Man stößt dann auf jene dritte,
transsexuelle Ebene vor, von der ich vorhin gesprochen
habe.

Der AUJdruck homoJexue/l iJt zu homogen, er bereitet noch die I//u­


Jion einn einheitlichen, autonomen SubjektJ. Die KategoriJierungen
multiplizieren (tauJend, zehntauJend Formen), daJ bedeutet JChon,
Jie aufzuJprengen.

Genau. Und umgekehrt einer sogenannten "normalen" Per­


son zu ihrer Homosexualität Zutritt zu verschaffen, das ist
grundlegend - wenn überhaupt, dann muß es ihr um etwas
gehen, was außerhalb der Welt exklusiver Werte und fest
umrissener Objekte liegt. Alle Liebe hat eine homosexuelle
Komponente, aber auch eine schizoide, paranoische,
pflanzliche . . . und meiner Ansicht nach, soweit es um den
Körper geht, immer mit dieser Vermittlung durch ein
Weiblicher-Körper-Werden.

Du han militante Gruppen kennengelernt, in denen die Homo­


Jexualität unterdrückt wurde.

Unnötig, das päderastische, anti-homosexuelle Klima dieser


Organisationen hervorzuheben . . . Man mußte "Vive la Re­
volution"4 und die Nr. 12 von "Tout" abwarten, damit all
diese Fragen geklärt werden. Aber im Maßstab dessen, was
allerorten geschieht, beispielsweise die anti-homosexuelle
Repression (in den kapitalistischen Ländern, in Rußland,
Jugoslawien, auf Cuba oder in China), merkt man doch, daß
man noch weit vom Ziel entfernt ist! Sogar in den Protest­
bewegungen der Frauen und Homosexuellen rekonstituie­
ren sich repressive Hierarchien, psychoanalytische, theore­
tische oder Zastercliquen . . . Soweit man dabei auf der
Ebene molarer Organisation bleibt, scheint die Sache zur
Zeit verloren, vereinnahmt zu sein . . .
161
Welche Veränderungen gehen deiner Meinung nach in der Jexuellen
Pragmatik vor Jich?

Das ist schwer festzustellen, aber es sieht für mich tatsäch­


lich so aus, als ob es Veränderungen gibt, besonders bei den
ganz Jungen. Ich habe den Eindruck, daß es eine größere
Unbefangenheit gibt, eine gewisse Ablehnung klassischer
Normen, eine bestimmte Art, sich von der Ausschließlich­
keit im Verhältnis zum Objekt zu lösen. Ein Beispiel, das
mich interessiert hat: in gewissen puertoricanischen Gangs
in New York, wo die Mädchen traditionellerweise männli­
chen Führern untergeordnet waren, tauchen jetzt autono­
mere Strukturen weiblicher Organisation auf, die nicht die
gleichen Typen von Hierarchie produzieren; die Mädchen
sagen, daß sie im Unterschied zu den Jungen nicht die Not­
wendigkeit einer solchen Strukturierung verspüren. Unnö­
tig, dir zu sagen, daß sie das in einer anderen Sprache sa­
gen! Es ist möglich, daß es einen anderen Typ von
Machtorganisation gibt, der da zutage tritt, wo man es
schafft, sich von der an jene Art von phallischem Führer­
kult gebundenen Mythologie zu lösen. Unter diesem Ge­
sichtspunkt wird es interessant sein, die Entwicklung der
Prostituiertenbewegung zu verfolgen, zu sehen, ob oder ob
nicht sie dieselben Arten von Leithammelei wiederherstellen
wird, die augenblicklich die Frauenbewegung verdirbt . . .

Reich mit Jeiner Konzeption deJ genitalen OrgaJmuJ bleibt norma­


tiv - im techniJchen Sinne . . .

Man verlangt von der Frau eine quasi hysterische Identifi­


kation mit dem Lustempfinden des Mannes, eine Symme­
trie, eine Unterwerfung unter phallische Macht, unter die
Herr-Schaft "Ok, synchro, du, Mann, hast es mir wunderbar
besorgt . . In Wirklichkeit aber kommen viele Mädchen

sehr leicht zum Orgasmus, wenn sie masturbieren oder mit


einer Freundin Uebe machen, während sie es mit Typen
nur schwer oder überhaupt nie schaffen.

Die »hermhende linke" Sexualität, im großen und ganzen reichia­


niJch, bleibt zu genitaliJtiJch; Jiehe Sex-Pol.

162
Man bleibt stehen bei einer traditionellen Konzeption vom
Orgasmus, der als System von Erregung und Entladung ge­
sehen wird, und berücksichtigt nicht die Gesamtheit der Sy­
steme der Intensitäten und der Konnexion mit dem So­
zius.

Davon auszugehen, daß "das so und nicht anders zu laufen hat", ist
nur eine andere Weise, die Idee der Stadien aufrechtzuerhalten . . .
Und dein Prozeß wegen der "Recherchen"-Nummer »Encyclopedie
des Homosexualites", das war wohl wie eine Posse von Courte­
line?5

Es hat da auf seiten der Justiz so etwas wie Verlegenheit ge­


geben. Das war, glaube ich, so eine Art Ehrenhandel; mir
scheint, daß sie sich heute so ein Ding wie das nicht mehr
leisten würden . . .

Du schreibst da in den "Recherches": "Der Mai '68 hat uns gelehrt,


aufden Mauern zu lesen, und dann hat man angefangen, die Graf­
fiti in den Gefängnissen, in den Asylen zu entziffern, und heute in
den Pissoirs. Da tritt ein ganz ,neuer wissenschaftlicher Geist' zu­
tage. "6

Die klassische (oder strukturale) Methode besteht darin,


invariante Züge, redundante Elemente zu erfassen, Gat­
tungen herauszulösen; sie ist reduktiv, sie hält die Singu­
larität für kontingent. Heute dagegen glaube ich, daß man
in die Fußstapfen der Wirklichkeit treten muß. Sieh dir
zum Beispiel die Frage nach der Beziehung zwischen Eros
und Geld an. Diese ganzen Dussel, die sagen: ..Die Prostitu­
ierten, bravo, aber die Zuhälter, auf keinen Fall, wie schade,
daß die das nicht begriffen haben . . . " Was wissen die da­
von? Was begreifen die denn dabei? Ich jedenfalls glaube,
daß das sehr kompliziert ist, dieses Triangel: Prostituierte -
Lude - Geld. Jedenfalls habe ich dazu nichts zu sagen. Sie,
die Prostituierten, können uns sicherlich eine Menge Dinge
beibringen. Und auch über ihre Klienten! Phantastisch! In
diese Richtung, dahin müßte die Forschung in den .. Hu­
manwissenschaften" sich orientieren. Man müßte Gruppen
von Prostituierten finanzieren, damit sie über diese Fragen
arbeiten können. Und du weißt, ich sage das überhaupt

163
nicht zum Spaß. Ich bin davon überzeugt, daß sich auf
diese Weise die Funktion des Geldes innerhalb der Familie,
für die Kindheit, in der psychoanalytischen Kur usw. auf­
klären ließe. Also indem man sich ansieht, was da so läuft -
was heißt das, "sich jemand kaufen"? was heißt das für die
andere Seite? - würde man in diesem Bereich aus präfor­
mierten und sterilen Schemata herauskommen.

Und die SchrijtJteller, die homoJexuellen SchreibweiJen?

Alles, was irgend etwas zerschlägt, alles, was mit der eta­
blierten Ordnung bricht, hat etwas mit der Homosexualität
zu tun oder mit einem Tier-Werden, einem Frau-Werden
usw. Jede Semiotisierung im Umbruch impliziert eine Se­
xualisierung im Umbruch. Meiner Ansicht nach muß man
also nicht die Frage nach homosexuellen Schriftstellern stel­
len, sondern vielmehr nach dem suchen, was es an Homo­
sexuellem bei einem großen Schriftsteller gibt, sogar dann,
wenn er unter anderem auch noch ein Heterosexueller ist.

1 Traditionelle Schwulenorganisation. [Anm. d. Ü.]


2 Front Homosexuel d'Action Revolutionnaire (Homo­
sexuelle Front der Revolutionären Aktion), Mouvement
de Liberation de I'Homme (Bewegung für die Befreiung
des Mannes). [Anm. d. Ü.]
3 In: F. Guattari Mikropolitik tUJ WunJcheJ, Berlin 1977.
4 Vgl. Bau Ouvriere, Revolutionäre Betriebsarbeit bei Re­
nault-Flins, Berlin 1972, S. 86- 1 1 1 . [Anm. d. Ü.]
5 Anm. d. Ü.: Die im März 1973 erschienene Nummer der
Zeitschrift "Recherches": "Grande Encyclopedie des Ho­
mosexualites" wurde von der französischen Justiz verbo­
ten. Guattari wurde als dem für die Veröffentlichung ver­
antwortlichen "Directeur de publication" der Prozeß
gemacht. (Courteline ist ein Boulevard-Autor.)
6 Anm. d. Ü.: Ein Hauptwerk des Begründers der französi­
schen Epistemologie, Gaston Bachelard, trägt den Titel
Le Nouvel EJprit Scientifique.

AUJ dem FranzöJiJchen von Ham-joachim Metzger


164
MEDIEN / SIMULACREN
P A U L V I R I LI O
Der Film leitet ein neues Zeitalter
der Menschheit ein

Zur Zeit steht wieder die methodologische Vernunft zur


Diskussion, ihre Maßlosigkeit, ihre Auswüchse. Erst lang­
sam entdeckt man, "wie nichtig Theorien sind, die zuvor als
ewige Wahrheiten gelehn wurden". All das bringt die Lite­
raten wieder auf einen mystischen Materialismus oder auf
transzendentalistische Themen, wie sie vor allem in den
Vereinigten Staaten die Entstehung von neuen Lebens- und
Arbeitsformen im 19. Jahrhunden begleitet haben. Egal ob
das genaue Gegenteil der aufgegebenen Ideen venreten
oder auf längst überholte Entwürfe zurückgegriffen wird,
man venauscht nur einen Irnum gegen einen anderen. Die
Rückwendung hat nämlich den Haken, daß sie den tatsächli­
chen Stand der Technologie ignorien: einer Technologie, die
sich von sozio-ökonomischen und kulturellen Bezügen ge­
löst hat und es nunmehr darauf anlegt, zur Metapher der
Welt zu werden und sich als Revolution des Bewußtseins
aufzuspielen. Im Grunde soll damit nur der Pseudo-Zu­
stand rationalen Wachseins durch den künstlichen Zustand
paradoxen Wachseins ersetzt werden1, man bietet den Men­
sehen eine Unterstützung, die inzwischen subliminal ge­
worden ist, d. h., unterhalb der Bewußtseinsschwelle funk­
tionien.
Bernanette Soubirous erweist sich als würdige Zeitgenossin
der deutschen Idealisten oder der Verfechter der Metapoe­
sie. Sie alle können sich vorstellen, wie "im Zittern eines
Blattes, im Zirpen einer Grille, im Säuseln des Windes oder
im unbestimmbaren Duft des Waldes eine Welt von Einfäl­
len entsteht, ein prächtiger bunter Zug wirrer rhapsodi­
scher Gedanken . . . "
Hier geht es natürlich nicht darum, wieder auf irgendeine
Offenbarung aus dem hypnotischen Schlaf zurückzukom­
men. Vielmehr soll lediglich gefragt werden, ob die primiti­
ven Berichte der kleinen Seher und die elaborienen Ab­
handlungen der Transzendentalphilosophen oder der
Symbolisten nicht einen bestimmten Stil gemeinsam haben.
Denn in beiden Fällen können wir eine An para-visuelle
166
Wahrnehmung (Asthetik) der wirklichen Welt feststellen, eine
ungewöhnliche Regsamkeit der Sinne, die aufs Geratewohl
die Funktion des jeweiligen anderen Sinnesorgans überneh­
men. Daraus entsteht nach Edgar Allan Poe ein sechster
Sinn, der "die abstrakte Vorstellung der Menschen von der Zeit gei­
stig vervollkommnen würde . . " Bei Poe, dessen Einfluß auf
.

Dostojewski, Kafka und Rilke bekannt ist, gibt es nicht ein­


mal mehr Ursache und Wirkung. Die Absence geht einher
mit dem Ruin und der fortschreitenden Zerrüttung des Le­
bens im klinischen Sinne. Der Mangel schafft eine außer­
sinnliche Wahrnehmung (man denkt etwa an den Blinden,
der die Farbe einer Blume an ihrem Duft erkennt, oder an
Heinrich Heine, der tief berührt war von der tönenden Bil­
derschrift und dem farbigen Schattenspiel, die ihm Paganini
mit jedem Bogenstrich vor Augen führte. Er schildert es in
den Florentinischen Nächten, es war, schreibt er, als verwirrten
sich ihm die Sinne).
Die Parapsychologie tritt in die Fußstapfen des mystischen
Materialismus des 19. Jahrhunderts, sie wird ihrerseits abge­
löst von den aktuellen Forschungen auf dem Gebiet der
Elektronik. Man will damit die Abschottung der Sinne ge­
geneinander im allgemeinen, insbesondere die der Indivi­
duen untereinander, aufheben, und so die sensorische Wirkung
einer MasJe erzielen. Wenn sich große materialistische Staaten
wie die Sowjetunion oder die Vereinigten Staaten für derlei
Forschungen begeistern, braucht man sich also nicht zu
wundern. Denn kaum etwas würde für diese Mächte einen
so unerhörten Fortschritt darstellen wie die Möglichkeit,
die verschiedenen Sinneswahrnehmungen zusammenzu­
schließen und das Bewußtsein transparent zu machen. Eine
solche neue "Kommunion" würde sich nicht mehr nur wie
früher unseres Willens und unserer Psychologie annehmen,
sondern unseres Zeitempfindens und unserer Vorstellun­
gen von Ursache und Wirkung, ja unserer ganzen Persön­
lichkeit.

"Ihr habt keine Körper, ihr seid Körper!" rief Wilhelm


Reich aus; darauf entgegnen heute die Macht und ihre
Techniken: "Ihr habt keine Geschwindigkeit, ihr seid Ge­
schwindigkeit. "

167
Bereits in Geschwindigkeit und PoJitik2 habe ich gezeigt, wie
Abstimmung und Anpassung der vektoriellen Geschwindig­
keiten (die logistische Polizei) bei den verschiedensten mi­
litärischen und revolutionären Konflikten in Europa und
den Vereinigten Staaten den Zusammenhalt der Massen am
sichersten gewährleistet haben. Zugleich aber, wie die
Macht weniger darauf abzielte, in Gebiete einzufallen und
sie zu besetzen, als durch Allgegenwart und augenblickli­
che Präsenz des Militärs aus der Welt ein Resurne der Welt,
ein reines Geschwindigkeitsphänomen zu machen, ein Phä­
nomen, in dem sich bereits das Unumschränkte der Ge­
schwindigkeit abzeichnet.
Doch man geht zu schnell vor, und letztendlich sieht es da­
nach aus, als sollte das eigene Waffenarsenal zum inneren
Feind jeder der beiden Mächte werden. Denn gerade das
Augenblickliche der Information droht auch augenblicklich
die Krise zu schaffen, so daß nun die Abschreckung nötig
wird: die alte Kriegsmaschine verwandelt sich nach und
nach in eine Maschine totalen Friedens und völliger Befrie­
dung. Durch den Einsatz bislang unbekannter Geschwin­
digkeits-Vektoren ist das einstige Kriegsspiel, bei dem es
um die Welt ging, von einem neuen Spiel abgelöst worden,
genauso wie das Spiel von Hughes, dem technologischen
Mönch, das Spiel des Soldaten-Mönchs oder des "saint-si­
monistischen Priesters" ersetzt hat.
Vor dem ersten Weltkrieg interessierten sich der Arzt Gu­
stave Le Bon end viele seiner Zeitgenossen für die Psycho­
logie der Massen, diese neue Form der Besessenheit. Als
Deutschland in den Krieg eintrat, schrieb Le Bon: "Niemals
ist die geistige Vereinheitlichung weiter getrieben worden;
die Seele des Individuums wurde allmählich zerstört, um
aus ihr eine Massenseele zu machen." - "Man könnte mei­
nen, in Millionen Köpfen denke ein einziges Hirn", stellt
seinerseits ein Redakteur der Gazette de Lausanne fest.
Le Bon weist in seinen Arbeiten auf die verhängnisvollen
Folgen des psychologischen Konformismus hin, der sich
vor allem in der sogenannten Grundlagenforschung zeigt.
"Selbst isoliert bleibt der Deutsche in der Masse. Noch für
das spezialisierteste Fachbuch zeichnet mindestens ein
Dutzend Autoren. Wie erbärmlich, denn auch der Scharf­
sinnigste muß jedes Urteilsvermögen verlieren, sobald er
168
den Gesetzen des Masseneinflusses unterliegt. Festste­
hende Tatsachen und unumstößliche Gewißheiten kann es
für eine kollektive wissenschaftliche Beobachtung nicht
mehr geben."
Auch wir kennen diese Erstarrung, die wahre Plage des
Massenkonformismus. Doch selbst, wenn es heute modern
ist, die methodologische Vernunft zu kritisieren, gibt es
doch bisher kaum Arbeiten über die Zurückhaltung des Ge­
fühls bei Forscherteams, die diesem Einfluß unterliegen.
Die moralistische Formel: ..Wissenschaft ohne Gewissen
zerrüttet nur die Seele" wäre dann einfach zu ersetzen
durch: ..Wissenschaft läßt das Bewußtsein absterben."
Man stellt z. B. fest, daß in vergangenen Jahrhunderten die
verfügbaren Kenntnisse zwar weniger umfassend waren,
die Erkenntnisse damals paradoxelWeise aber auf Totalität
aus waren. Daraus könnte man nun folgendes schließen: je
mehr gewußt wird, desto mehr ist auch unbekannt. Oder
vielmehr: je rascher die Informationen einander jagen, de­
sto klarer wird uns auch, wie fragmentarisch und unvoll­
ständig sie sind. Ebenso könnte man darauf velWeisen, daß
die großen Erfindungen sich eher im Bewußtsein als in der
Wissenschaft ereignet haben. Es sind Phänomene ästheti­
scher Überraschung. Archimedes, Newton oder Einstein
fühlten geradezu das Relativitätsprinzip, als sie den Flug der
Möwen über dem Meer beobachteten. Ähnlich wie man es
sich in der Renaissance vorstellte, vollzog sich alles über
Sinnesempfindungen, Gesetz und Vernunft waren dabei
nur zeitliche und räumliche Größen der Imago, nur Maßein­
heiten.
So bliebe der Geist der Wissenschaft wie der Apollo der
Antike in seinem prometheischen Entwurf gefangen und
wäre damit zum bedingungslosen Verbündeten der Tech­
nik geworden: sie träumt von einer Neuerschaffung der
Menschen durch das Bild. Ebensowenig wie die Sängerin
Amanda Lear sich vom Stereoreflex ihrer vergangenen
Schönheit losreißen kann, kann sich das Abendland von ei­
ner Wissenschaft lösen, die nur den Spiegel seiner Intelli­
genz darstellt.
Der von sich selbst geblendete Mensch fabriziert sein Dou­
ble, ein intelligentes Phantom, und überläßt die Hortung
seines Wissens einem Lichtreflex. Hier befinden wir uns
169
noch auf dem Gebiet der filmischen Illusion und der auf
den Monitoren vorüberflimmernden Informationen: wir
werden informiert, aber wir empfinden nichts dabei, d. h.,
wir werden apathisch. Diese apalheia, diese wissenschaftli­
che Gleichgültigkeit läßt mit der Informiertheit des Men­
schen auch die Wüste der Welt um ihn her wachsen, denn
die Stimuli der Beobachtung werden durch sich wiederho­
lende (und bereits bekannte) Informationen gestört, sie
werden durch die Geschwindigkeit überrascht. Das gilt
nicht fürs Gedächtnis (als innerem Licht), sondern vor al­
lem für den Blick.
Schließlich wird das Lesen der Informationen nur noch
durch die Lichtgeschwindigkeit begrenzt, denn auf den Ge­
bieten von Elektronik und Informatik ist nicht mehr die
Speicherung, sondern die Anzeige der Informationen ent­
scheidend.
Dem Universum des Rationalen ergeht es ähnlich wie dem
Effekt des Realen. Offenbar kann man nicht mehr beiseite
schauen, immer wieder beiseite schauen, vom Gegenstand
auf den Zusammenhang abschweifen und so der Fixierung
der Aufmerksamkeit, der Gewöhnung, dem Ursprung der
Gewohnheiten entgehen. Die wahrgenommene Welt wird
keines Interesses mehr für würdig erachtet, da sie ständig
großartig ausgegraben und von den Grabschändern analy­
siert und bereinigt wird. Beim Durchblättern eines Fotoal­
bums, das vom letzten Jahrhundert bis in unsere Tage
reicht, sehen wir nicht nur eine Welt nach der anderen ver­
gehen, sondern wir merken vor allem, wie allmählich ein
bestimmtes Interesse erlischt, das wir ihr früher entgegen­
brachten: zunächst orientieren sich die Fotografen am an­
onymen Alltag und ergehen sich im Gewöhnlichen, bald
darauf gehen sie darüber hinaus, werden zu Touristen des
Außergewöhnlichen, der Ruinen und Ereignisse und versu­
chen sich darin, die Genrebilder zu kopieren. Sie widmen
sich den Reisen, dem Exotischen, dem Neuen aus aller
Welt. All diese Aufmerksamkeitszentren verschwinden
nacheinander. Im Jahre 1934 problematisiert Walter Benja-

min die Zielsetzung der Fotografie, die eine Baracke oder
einen Müllhaufen nicht wiedergeben kann, ohne ihn so­
gleich zu verklären: "Es ist ihr nämlich gelungen, auch noch
das Elend, indem sie es auf modisch-perfektionierte Weise
170
auffaßte, zum Gegenstand des Genusses zu machen." Die­
ses Stadium hat die Kunst der Fotografie heute längst über­
wunden, denn indifferent geworden, kann der Fotograf of­
fenbar keine neuen Gegenstände mehr finden. Schon durch
die verschiedenen Medien entstand ein Massendenken, das
die ursprünglichen Empfindungen zunichte machte und
über die Gegenwänigkeit der Leute verfügte, indem es ih­
nen einen Informationsvorrat liefene und ihr Gedächtnis
programmiene. Bekanntlich bemüht man sich auf dem Ge­
biet der Elektronik um die Entwicklung von aktiven Prothe­
sen der Intelligenz.

Der Neurochirurg Delgado, ein Pionier der elektrischen


Phänomene des Denkens, behandelt seit zwei Jahrzehnten
seine Patienten mit Implantaten, vor allem aber beruhigt er
sie damit. Andere denken daran, "die Intelligenz" des Com­
puters als innere Prothese zu benutzen: "Ein winziges Sili­
konplättchen würde dem Menschen augenblicklich die
Kenntnis einer Fremdsprache oder der Relativitätstheorie
vermitteln . . .
"

Wenn diese Theoretiker dem Menschen ein Gedächtnis


verleihen wollen, das nicht mehr sein eigenes ist, glauben
sie, ihr Vorhaben rechtfertigen zu können, indem sie wie­
der einmal den Verdopplungseffekt des alten promethei­
schen Spiegels bemühen: "Es gilt, die Schwelle zu über­
schreiten, die den homo Japiens von einer höheren Stufe
trennt . . . die Struktur jenes Hirnorgans zu verwandeln, das
sich seit . . . zigtausend Jahren kaum weiterentwickelt hat
etc."
Offenbar basien dieses Vorgehen lediglich auf der alten po­
litisch-militärischen Propaganda, von der weiter oben die
Rede war. Denn mit jener elektrischen "Versorgung" will
man letztendlich auf die Geschwindigkeit der automatisch
ablaufenden Prozesse unseres Gehirns Einfluß nehmen.
Das zeichnete sich schon mit den Elektroschocks ab, die im
Jahre 1938, mitten im Faschismus, von dem italienischen
Psychiater Hugo Cerletti entdeckt wurden. Bekanntlich
wurde diese Methode zunächst auf Schweine in den römi­
schen Schlachthöfen angewandt. Während des vom elektri­
schen Schlag ausgelösten epileptischen Komas ließ man die
Tiere völlig ausbluten. Die Psychiater brauchten nun nur
171
noch zu erklären. daß Epileptiker nie schizophren sind. um
Hundentausende von Patienten den elektrischen Stromstö­
ßen auszusetzen. deren Wirkungen nicht genau bekannt
sind . . . wenn sie nicht als Strafe oder bald als Folter einge­
setzt werden wie in Lateinamerika. wo Elektroschocks zur
gängigen Praxis der Geheimpolizei gehören.3 Man denke
auch an die Behandlungen. denen Ernest Hemingway im
Jahre 1960 unterzogen wurde: mit seinem Gedächtnis hatten sie
auch seine schriftstellerischen Fähigkeiten zerstört. Einen Monat
später sollte er sich umbringen.
Das beim paramilitärischen Verhör durch Elektroschock­
Folter erpreßte Geständnis gewinnt aber auch als soziales
oder vielmehr sozio-technisches Experiment Bedeutung:
als weiterer Schritt zur Transparenz des Bewußtseins. Mit
den technischen und medizinischen Prothesen entstehen
mehr und mehr neue Mischformen. die vor allem befriedigen
sollen. d. h ein "Bewußtsein ohne Grund und Ufer (schaf­
.•

fen). ein totales Bewußtsein. in dem die fieberhafte Unruhe


der Einzelwesen erlischt . . . " (Empedokles).
Seit etwa vier Jahrzehnten haben die Prothesen des Men­
schen mit den außergewöhnlichen Fonschritten auf den
Gebieten der Biologie. der Physik und der Elektronik
Schritt gehalten. Während dieser kurzen Periode sind wir
von gleichsam trägen anthropomorphen Apparaten zu Sy­
stemen aktiver Unterstützung gelangt; besonders auf dem Ge­
biet der Sinneswahrnehmungen ist ein unterschwelliger Kom­
fon entstanden. der eine Krise der Dimensionen und der
Vorstellungen mit sich bringt.

Mit dem Auftauchen des Motors ist eine neue Sonne aufge­
gangen. die das Sehen radikal veränden hat. Ihr Licht wird
bald auch das Leben verändern: dank eines doppelten Pro­
jektors. der Geschwindigkeit erzeugt und zugleich (kinema­
tische und kinematographische) Bilder verbreitet. Zuse­
hends beginnt alles sich zu bewegen. das Sehen löst sich
allmählich auf und bald auch die Materie und die Körper.
Das war bereits abzusehen mit den ersten Untersuchungen
über die Formen des geringsten Luftwiderstandes. die
Stromlinienformen. Bei Etienne-Jules Marey z. B. verban­
den sich die Elemente deran mit der Geschwindigkeit. daß
172
sie dem Aussehen der Apparate ihre Form verliehen; bald
sollte sich auch das gesamte Umfeld der Fortbewegung ver­
wandeln. Die Winderosion wird nun noch um die Erosion
der Geschwindigkeit gesteigert, wodurch Fahrzeug und
Landschaft solange moduliert werden, bis sich die Fahrgä­
ste daran gewöhnt haben.
Obwohl wir das Licht der Geschwindigkeit ebensowenig
verbergen können wie die Sonne mit unserer Hand verdek­
ken, wird die Transmission bewegter Bilder und die Trans­
mission bewegter Körper doch so schnell auseinandertre­
ten, daß sich bald niemand mehr über die durch die
Schnelligkeit hervorgerufenen Sehstörungen wundern wird:
die lokomotorische Täuschung wird als Wahrheit des Se­
hens gelten, genauso wie die optische Täuschung als Wahr­
heit des Lebens gilt. "Film ist 24mal Wahrheit pro Se­
kunde!" sagt der Regisseur Jean-Luc Godard. Mareys
chronofotografischer Motor erreichte nur 16mal Wahrheit
pro Sekunde.

In Die Kunst des Sehen! bemerkt Aldous Huxley: "Das Tragen


dunkler Brillen ist nicht nur allgemein üblich geworden,
sondern es wird sogar als schick empfunden . . . Dunkle Bril­
len sind nicht mehr das Stigma des Kranken, sondern
gleichzusetzen mit Jugend, Eleganz und erotischer Anzie­
hungskraft . . . So leicht eine Abhängigkeit von Tabak und
Alkohol entstehen kann, so leicht kann auch eine Abhän­
gigkeit von der Sonnen brille entstehen . . . In der westlichen
Welt tragen nun Millionen Menschen Sonnenbrillen, nicht
nur am Strand oder beim Autofahren, sondern auch in der
Dämmerung oder in den schwach beleuchteten Gängen öf­
fentlicher Gebäude ' " Warum also bekommen so viele Zeit­
genossen Beschwerden, wenn sie Licht auch von nur relativ
geringer Intensität ausgesetzt sind? Tiere kommen sehr gut
ohne Sonnenbrille aus; Naturvölker ebenso . . . " Ohne es
richtig zu merken, gibt Huxley auch den Grund dafür an:
Tiere und Naturvölker setzen sich genausowenig unnötig
der Sonne aus, wie sie sich im Auto oder Kino mit der
Sonne eines Motors konfrontieren. Für Huxley ist Licht
a priori wohltuend und natürlich, während der Träger dunk­
ler Brillen erfahrungsgemäß weiß, daß die Projektoren und
173
Verbreitungsapparate von Körpern und Bildern Waffen im
Anschlag sind. Also verbirgt er wohlweislich seine Retina,
vor allem aber den Bereich der macula mit der kleinen fovea
centraliJ, dem Bereich höchster Empfindlichkeit. Und seine
Furcht, von Bildern überflutet und vom intensiven Licht
der Projektoren und anderer Beschleunigungsvektoren mit
kinetischer Wirkung überrascht zu werden, steigen sich, so­
bald er sich an einem Ort befindet, der von Natur aus fin­
ster oder schummrig ist. Der Träger dunkler Brillen glaubt
wie Alfred jarry, daß daJ Licht aktiv und der Schatten paJJiv iJl,
daß daJ Licht nicht vom Schatten gmhieden iJl, Jondern ihn mit der
Zeit durchdringt.4
Beim Sehvorgang sind bekanntlich die Gegenstände nicht
als Wirklichkeit gegeben. Nach dem Mediziner Broad hat das,
was vom Auge unmittelbar erfaßt wird, der RohJtoff du Se­
henJ, an Jich kein SubJtrat. Auf diese Weise empfängt Huxley
beim Erwachen aus der Narkose eine Reihe visueller Ein­
drücke, die ihm bedeutungslos erscheinen, denn, so
schreibt er, "es sind nicht meine eigenen, sie sind einfach
da . . . ". Ebenso gelangt E.-J. Marey durch seine Versuche zu
der Auffassung, daß die Beschleunigung der Körper und
die Flüchtigkeit der Bewegung für das normale Auge nur
wahrnehmbar sind, wenn der Blick gesteuen wird und sich
von Erinnerungsspuren freimacht. Das Weiß der Vögel
oder Pferde, die schimmernden Bänder an der Kleidung der
Versuchspersonen bringen die Körper zum Verschwinden.
Statt dessen sieht man sich überlagernde Momentaufnah­
men von Daten, im indirekten Licht der Motoren und ande­
rer Multiplikatoren des Augenblicklichen. Auf das Gleichar­
tige folgt das Verschiedenartige, eine Ästhetik der
Forschung löst die Forschung nach einer Ästhetik ab, in der
Ästhetik des Verschwindens setzt sich das Unternehmen
des Erscheinens fon.
Die umgekehne Chronofotografie, d. h. der Film, jene unie­
ren phYJiologiJchen WahrnehmungJorganen auferlegte TäUJchung
(Alfred Fessard), oszilliert also von Anfang an zwischen der
ständigen Erzeugung von Lichteindrücken und jener reinen
Faszination, welche die bewußte Wahrnehmung des Zu­
schauers auflöst und zur natürlichen Funktionsweise des
Auges im Gegensatz steht: "Wenn der Blick sich starr auf
etwas richtet, was man ernsthaft als Einzelnes bezeichnen
174
Gilbert & George sagen:
Wir sind ungesund, mittleren Alters, zotiger
Gesinnung, exzentrisch, lüstern, depressiv,
zynisch, leer, ausgebrannt, schäbig,
hundsgemein, verträumt, ungehobelt,
unmanierlich, arrogant, intellektuell,
wehleidig, ehrlich, erfolgreich, tüchtig,
zuvorkommend, künstlerisch, religiös,
faschistisch, blutrünstig, neckisch, destruktiv,
ehrgeizig, farbenprächtig, verdammt, stur,
pervertiert und gut. Wir sind Künstler.
könnte, auf einen Farbfleck beispielsweise, so kann er kaum
länger als eine Sekunde darauf verharren, ohne daß das Sub­
jekt ernstlich Gefahr läuft, in eine hypnotische Exstase oder
einen ähnlichen pathologischen Zustand zu verfallen",
schreibt der Arzt Abraham Wolf.

Mit dem als aktive Prothese gedachten kinematischen Zeit­


raffer werden die Bewegungsvektoren - jene Fortbewe­
gungsmittel, welche die Zeit desynchronisieren und auf­
splittern - letztlich zum Maß der Welt. Wenn Marey die
Bewegung des Lebendigen auf ein paar leuchtende Zeichen
reduziert, läßt er uns in ein nie zuvor geschautes Univer­
sum eindringen, worin für uns alle Formen verschwinden,
denn sie bewohnen bereits eine ganz andere Zeit, eine Zeit
ohne Erinnerungsspuren.
Vor ein paar Jahren kam eine amerikanische Fernsehredak­
tion auf die Idee, das Programm für den Weihnachtsabend
durch die ständige Großaufnahme brennender Holzscheite
zu ersetzen. Durch die Verwandlung von Millionen Fern­
sehapparaten "in künstliche Kamine" glaubten die Pro­
grammgestalter, ihre Zuschauer ebenso zu begeistern wie
durch die Ausstrahlung irgendeines Variete-Programms. In
der Tat erzeugt das gestaltlose Universum des bewegten
Lichts eine charakteristische Benommenheit: Kaminfeuer
und Holzscheite, Freudenfeuer oder Irrlichter setzen uns
außerstande, ihren vielfältigen Gestaltwandel zu erfassen,
denn in keinem Augenblick sind beständige, feste Formen
zu sehen. Es ist schon merkwürdig: Auf dem Weg über
zahlreiche Zufälle und Anstrengungen setzt die Filmindu­
strie so eigentlich nur die Arbeit ihrer einstigen Erfinder
fort.
In den frühen Filmen der Brüder Lumiere fällt auf, wie
stark die weiße Kleidung reflektiert. Sie wurde von Frauen
und Kindern getragen, weil es Mode war und aus Furcht
vor Epidemien, also aus hygienischen Gründen. In dem Au­
genblick, wo auf den Modefotos die erst seit kurzem vom
Korsett befreiten weiblichen Mannequins vor weißem Hin­
tergrund erscheinen und so die Umrisse ihrer Körper zei­
gen, entwickelt sich im Gegenzug dazu auf der Leinwand
das geheimnisvolle System der Stars, das für die junge Un-
176
terhaltungsindustrie von entscheidender Bedeutung sein
wird. Per definitionem muß der Star leuchten: Schauspieler
beiderlei Geschlechts pudern sich übermäßig Gesicht und
Körper, brünette Frauen gelten als "weniger verführerisch",
und die Mode der gebleichten Haare und Lame-Kleider,
der spiegelnden Stoffe aus blinkenden Metallen soll aus der
Schauspielerin selbst ein Wesen machen, das keine feste
Form besitzt und so durchscheinend ist, als würde das Licht
den Körper durchdringen. Das Material des Films ist aller­
dings wirklich durchsichtig und der Star nur ein Absorp­
tionsspektrum, das dem Blick des Zuschauers dargeboten
wird: ein Phantom, das man inter-viewt, sagte Michel Simon.
Josef von Sternberg beschrieb das Gesicht der Schauspiele­
rin als von der Kamera bereiste Landschaft mit Seen, Anhöhen
und Tälern, die er als Regisseur nur noch auszuleuchten
hat. Wie bei Marey entsteht der Effekt des Realen hier
durch reflektiertes Licht, und die verschiedenen Oberflä­
chenstrukturen ergeben sich aus der unterschiedlichen
Lichtintensität. All das scheint jedoch ganz selbstverständ­
lich zu sein, denn die großen Filmemacher zu Anfang des
Jahrhunderts waren sich des Einflusses der Pioniere be­
wußt. So erzählt die Enkelin von George Melies, Madeleine
Malthete-Melies: "Als ich klein war, sah ich zu Hause viele
Leute vom Film, die Großvater um Rat baten: Rene Clair,
Marcel Carne, Cavalcanti, Abel Gance, Walt Disney . . . "
Was Abel Gance betrifft, so beruft er sich gern auf Na­
poleon: "Um die Massen zu fesseln, muß man vor allem zu
ihren Augen sprechen." Er behauptete, daß im Film der Zu­
kunft in jedem Bilde eine Sonne aufgehen wird. Eine Sonne, um
24mal Wahrheit in der Sekunde zu sehen. Gance will außer­
dem das Auge des Zuschauers mit Bildern geradezu eindecken: in
seinem 1926-1927 gedrehten Napolfon wird er die gleich­
zeitig projizierten Bilder bis zu 16 steigern, wo für ihn die
Grenze des Sehens erreicht ist. So ist es nur logisch, wenn
er im Jahre 1972 schreibt, daß der Film in weniger als einem
Vierteljahrhundert vie//eicht einen anderen Namen annehmen
wird und zu einer magischen Kunst der Alchimisten werden wird,
d h. das werden, was er hätte immer sein so//en: etwas Verzaubern­
des, das den Zuschauer in jedem Sekundenbruchteiljene unbekannte
Empfindung der A//gegenwart in einer vierten Dimension verschaf­
fen kann, wodurch Raum und Zeit aufgehoben sind . . .
177
Als sich in den dreißiger Jahren in -den Vereinigten Staaten
die Krise verschärfte, entdeckten die amerikanischen Film­
produzenten und -regisseure, daß gerade die Technik des
Films sie aus der Flaute retten und mit einer wichtigen so­
zialen und ökonomischen Mission betrauen konnte: durch
die andere Zeit des Filmprojektors verschwinden die Er­
scheinungen der aktuellen Wirklichkeit, die Allgegenwan
läßt Millionen Zuschauer ihr materielles Elend vergessen,
sie strömen in die Vorführsäle der Kinos wie in Reisezüge.
Sandrich, der zur Berühmtheit des Tänzers Fred Astaire
beitragen wird, verlangt geometrische Dekors, in denen
Schwarz und Weiß, Ucht und Schatten stark kontrastieren,
so daß der Eindruck des Plastischen und Räumlichen ver­
schwindet. Der Tänzer, selbst ganz schwarz und weiß ge­
kleidet, soll sich ständig vor einer feststehenden oder bei­
nahe feststehenden Kamera bewegen. Fred Astaires
Smoking mit glitzernden Paspeln, seine Tänze, die meist
nur Stilisierungen des Gehens oder alltäglicher Bewegun­
gen sind - all das variien letztendlich nur das Thema der
Chronofotografie Mareys.5 Manche Zuschauer konnten der
Berieselung durch das neue Medium nicht widerstehen und
verfielen bereits in den ersten Minuten der Vorführung in
erholsamen Schlaf.
Zu den von Fred Astaire faszinienen Fotografen gehöne
auch der berühmte Edward Steichen, der während des er­
sten Weltkrieges die amerikanische Luftaufklärung in
Frankreich befehligte. Mit den seit 1914 von Bord kleiner
Aufklärungsflugzeuge gemachten Aufnahmen konnte die
Technik der Chronofotografie weiterentwickelt werden.
Die kriegführenden Mächte wandten bei der Luftaufklä­
rung die industriellen Methoden der Arbeitsteilung und der
massenhaften Bildproduktion an: im Jahre 1916 gründeten
die Franzosen das militärische Filmarchiv, und Oberst Stei­
chen sollte seinerseits etwa 1 300 000 Abzüge bewahren,
die nach dem Kriege in seiner Privatsammlung landeten.
Viele dieser Aufnahmen sind übrigens unter seinem Na­
men und als sein Eigentum ausgestellt und verkauft wor­
den. Bezeichnenderweise hat das Museum of Modern An
in New York später seine Fotosammlung Steichen gewid­
met.

178
Offensichtlich entsteht mit diesen Millionen von Abzügen,
entwickelt "zur systematischen Absuchung des Terrains
nach den Spuren des Feindes und verbunden mit der Ver­
nichtung eben dieses Feindes", ein neues Zusammenspiel
von Prothesen: jene neuen Mischformen, die Motor, Auge
und Waffe miteinander verbinden. Eine solche Alchimie
der Sinne kann jetzt in ein und derselben Anamorphose
eine Unbeständigkeit zeigen, mit der jegliche Form so­
gleich zerfällt. Durch diese Collage von Instrumenten ist
Minute für Minute und Tag für Tag rekonstruierbar, wie -
durch Bombardierungen aus der Entfernung, geleitet vom
allgegenwänigen Blick der militärischen Entscheidungsträ­
ger - ein Gebäude oder ein Graben einstürzt, wie eine
Stadt oder eine Landschaft verwüstet wird. So schreibt Al­
lan Sekula in einem bemerkenswenen Text, den er Steichen
widmet: "Die Bedeutung der Luftaufnahmen, ihre Lektüre
hängt davon ab, was ihre systematische Interpretation für
die militärische Erkenntnis hergibt . . . Und doch sind we­
nige Fotografien (höchstens viel1eicht noch medizinische)
dem Anschein nach so ,zweckfrei'."
Allmählich setzte sich die Vorstellung durch, daß das Zu­
sammenspiel von Auge und Motor, das in der Kamera statt­
findet, nicht notwendig auf diesen Apparat beschränkt sein
muß: im Produktionsplan konnte nunmehr die visuel1e Pro­
these mit den Transpon-Prothesen der Körper verschmel­
zen. Moholy Nagy und verschiedene andere Bauhaus-Mit­
glieder profitienen von ihren Kriegserfahrungen: dadurch,
daß sie (etwa um 1920) auf Dächer oder Feuerleitern hoher
Gebäude klettenen, bekamen ihre Fotos etwas von Luftauf­
nahmen. Abel Gance forden seinerseits, die Kamera zu
schultern und damit Pferd, Fahrrad, Schlitten oder Schaukel
zu besteigen.
Die Überblendung war ein Stilmittel des Stummfilms: sie
wollte gewissermaßen das beim Theater a part Gesprochene
in Bilder übersetzen. Um die Gedanken und Gefühle des
Stars darzustellen, macht sie dessen Gesicht noch un­
menschlicher: in starrer Großaufnahme wird es durchzogen
von Landschaften und Schlachtfeldern, von Meer und Him­
mel, von Straßen und entfesselten Elementen . . . Letztend­
lich wiederholt sich damit nur die Optik von jemandem,
der im Auto oder Zug reist und bei einbrechender Dunkel-
179
heit in der Fensterscheibe das eigene Spiegelbild sieht, oder
das eines anderen, wie es von der pfeilschnell vorbeirasen­
den Landschaft durchzogen wird.6 Bezeichnenderweise
wird die Kamerafahrt vom Auto aus die Funktion der Über­
blendung übernehmen.
Wenn der Aufnahmeleiter nun seinem Assistenten zuruft:
"Kamera abfahren", so will er nicht so sehr die Szenerie des
Hintergrunds an sich vorübergleiten sehen, als in ihn ein­
dringen und ihn ans Licht bringen. In ähnlicher Weise wie
die Kriegsmaschine in vollem Tempo auf das Ziel zurast,
das sie zerstören soll, wird sich der Film bemühen, beim
Zuschauer, diesem Voyeur und Reisenden, ein Schwindel­
gefühl hervorzurufen und den Eindruck zu erwecken, er
würde selbst ins Bild geschleudert. Es ist nicht mehr der
Star, der glitzernd durch die Landschaft geistert, einziger
Akteur der Szenerie ist nun die Zuschauermenge selber.
Jim Collins stellt z. B. fest, daß in Fred Astaires Film Swing­
time "die erste Einstellung subjektiv ist: sie nimmt die Per­
spektive eines auf dem Rang sitzenden imaginären Zu­
schauers ein, so daß Astaire auf der Bühne und das übrige
Publikum etwas weiter unten auf der Leinwand zu sehen
sind". Es ist ein bißehen so wie bei den alten Wanderkinos,
die Gaston Bonheur beschreibt: "Die Leinwand war ein
Bettlaken, das hinten im Wagenschuppen des Herrn Bürger­
meisters aufgehängt war. Wir Schüler hockten auf dem er­
sten Rang und warteten ungeduldig darauf, daß die Cowboys
auftauchten, um unsere hüpfenden Schatten unter das stau­
bige Durcheinander von wildgewordenen Büffeln und Mu­
stangs zu mischen:'

Bevor das Kino sich bezeichnenderweise ins Autokino ver­


wandelte, sollte es sich erst noch beträchtlich vergrößern
und regelrecht zu einem dunklen Tempel werden, an des­
sen tiefblauer Decke falsche Sternbilder wie in einem Plane­
tarium glitzerten. Das Spiel der Projektoren zu den Klängen
der Hammondorgel und die raffinierten Abstufungen zwi­
schen Halbdunkel und Ultraviolett gehörten bereits zur
Vorführung dazu und stimmten die Zuschauer ein. Diese
begannen ihrerseits zu fluoreszieren und strahlten eine ge­
heimnisvolle Helligkeit aus. Das Ganze vollzog sich in ei­
ner Menge erleuchteter Sehender, in einer allgemeinen Begei-
180
sterung, einer gemeinsamen Mutation: ein Moment der
Trägheit, wo bereits alles da ist: im falschen Tag einer Ge­
schwindigkeit, die Licht freisetzt und uns in der Tat vom
Reisen "befreit" hat. Statt dessen sehnen wir uns ungedul­
dig nach einer Welt, die unaufhörlich ankommt und auf die
wir unaufhörlich wanen.
Damals sah man gern jene Zeichentrickfilme, in denen my­
thische, anmutige kleine Figuren sich wie Ausschneidebil­
der vom Papier ihres Schöpfers lösten, um in seine Woh­
nung einzudringen, seinen Arbeitstisch in Unordnung zu
bringen und schließlich selbst mit Bleistift und Papier her­
umzujonglieren. Mit dieser An von Trickaufnahme, bei der
sich gezeichnete Figuren auf einem normal gefilmten Hin­
tergrund bewegen, wurde recht gut die sichtbare Verwand­
lung des Realen erzielt, die der Zuschauer erwanete. Es
entstand eine neue Hierarchie der Dimensionen: die inten­
sive Visualisierung ersetzte die Berührung, den Kontakt
mit dem Material. Als gewöhnlichem Träumer, als Spielball
einer kollektiven Halluzination gelang es jedermann, vom
Rechteck des Papiers oder des Gemäldes zur Kinoleinwand
überzugehen, zum synoptischen Treiben der Oberflächen­
effekte. Die Übereinstimmung von Auge und Motor be­
stimmte nun sogar die Anlage des Drehbuchs; die neue
Wahrheit des Sehens verändene die Rhythmen des Lebens.
Eine einleitende Exposition von On und Handlung, die für
das Theaterstück so wichtig ist, war nicht mehr nötig: noch
bevor der Film beginnt, ahnt der Zuschauer schon, was ihn
erwanet. Je einfacher das Drehbuch, desto eher kommt er
auf seine Kosten. Im Grunde braucht er nur die vorgezeich­
neten Windungen des Plots nachzuvollziehen und mit sei­
nen Blicken den ablaufenden Sequenzen zu folgen, in de­
nen jede Logik und jeder rote Faden rein zufällig sind. Die
Spannung, dieses Innehalten, diese Handlungsverzögerung
soll beim Zuschauer künstlich die Angst davor erzeugen,
was als nächstes passieren wird; sie wiederholt letztendlich
nur das Szenario einer im Zeitraffer zurückgelegten Reise.
"Wenn ich im Wald spazierengehe", schreibt ein Zeitge­
nosse, "kann ich natürlich von einem Baum erschlagen oder
von einem Dieb überfallen werden, doch die Wahrschein­
lichkeit dafür ist ziemlich gering. Wenn ich aber in einem
Wagen sitze, der sonntags mit 100 km über die Straße nach
181
Fontainebleau rast, verbessern sich meine Chancen, daß et­
was passiert, erheblich . . . das Schicksal des Autofahrers
bleibt völlig dem Zufall überlassen . . . "

Die Geschwindigkeit macht das Sehen zum Rohstoff, mit


zunehmender Beschleunigung wird das Reisen zum
Filmen: es erzeugt nicht so sehr Bilder als vielmehr un­
glaubliche und übernatürliche neue Erinnerungsspuren. In
diesem Zusammenhang wird selbst der Tod nicht mehr als
tödlich empfunden: wie bei William Buroughs wird er zum
einfachen technischen Unfall, zur endgültigen Trennung
von Bildstreifen und Tonspur. Beispielsweise die Titanic
oder der Zeppelin: in einem solchen Riesenvehikel erscheint
dem Passagier die fatale Katastrophe als unsinnige und ir­
reale Vermutung, und während das Schiff bereits untergeht,
wird zu den Klängen des Orchesters weitergetanzt. Doch
zwischen der Illusion des Festes und dem Eintreten des
Unfalls besteht nur scheinbar eine Diskrepanz. Denn der
Flug im Zeitraffertempo oder die rasende Reise haben das
Fest unter der Hand verwandelt und den Schiffbruch zum
Ziel des Vergnügens gemacht. Hat nicht der Wunsch nach
einem Fest, für das nie der Morgen anbricht, ganze Generatio­
nen zum Kosmopolitismus der Eisenbahnen und Transat­
lantikdampfer getrieben, in die internationalen Luxushotels
und Filmtempel, noch bevor er sie hinzog auf die Flughä­
fen, noch bevor man die Reisen per Selbstbedienung im Su­
permarkt buchen konnte?

Aus dem Zug- oder Autofenster kann man eine Landschaft


an sich vorüberziehen sehen, und man kann die Kino leinwand
oder den Monitor so betrachten, als schaute man aus dem
Fenster, solange Zug und Flugzeug nicht ihrerseits Kinos
geworden sind . . . Eisenbahn, Auto, Jet, Flugzeug, Telefon,
Fernsehen . . . durch die Prothesen des Reisens verläuft un­
ser ganzes Leben im Zeitraffer, doch wir merken es gar nicht
mehr . . . nMit dem Bedürfni! nach Itändigem UmherreiJen liegt
die Bntändigkeit dn Leben! IcbJießlicb im OrtJwecbJeI Je/bIt. " 7
Wo sind wir, wenn wir reisen? In jenem Extra-Tag, den Phi·
leas Fogg, der Weltreisende aus Jules Vernes Roman, sich
zusätzlich zu den 80 Tagen seiner Umrundung errechnet
hatte, der für seine Londoner Freunde jedoch nie existiert
hat? Denn offenbar hatte Phileas Foggs rasche Reise nur
182
dieses Resultat, sämtliche von ihm benutzten Fahrzeuge
hatten ihm schließlich einen falschen Tag eingebracht. Und
der tapfere Wulff, vom boshaften Fandor gleichsam zum Sa­
telliten gemacht, der "auf einem kreisförmigen Gleis her­
umfuhr und auf eine Endstation wartete"8 - entdeckte nicht
auch er eine Megalopole, die es gar nicht gab? "Ich besuchte
Paris", ruft er aus, als man ihn schließlich aus seinem Wag­
gon zieht, "es ist eine Riesenstadt, in den fünf Stunden, die
ich seit heute morgen in diesem Zug unterwegs bin, habe
ich 127 Bahnhöfe gezählt, und wir haben mehr als 10 Flüsse
überquert . . . "
Zwischen den beiden Kriegen, zur Zeit der wirtschaftlichen
Depression, stockte der Aufschwung der Music-Halls. Film­
tempel, Luxushotels und Transatlantikdampfer leerten sich
beinahe von einem Tag auf den anderen. In den Industrie­
nationen verliert heute das Fernsehen jährlich Millionen
seiner Zuschauer. Jedesmal wird von einer vorübergehen­
den Krise gesprochen, doch wenn eine Technik untergeht,
wird sie in Wirklichkeit ersetzt durch eine andere, die man
für leistungsfähiger hält. All diese Prozesse verlaufen nicht
unabhängig voneinander: sie gehören sämtlich zu einer ein­
zigen elementaren Suche nach den Prothesen des unter­
schwellig wirkenden KomfortS.
In bezug auf den Film beispielsweise hat man seit langem
von einer Einschläferungstechnik gesprochen: der Zu­
schauer wurde verglichen mit einem Kind, das im Dunkeln
sein Einschlafritual zelebriert. Ja, man analysiert sogar noch
die Schnullerform des in der Pause verkauften Eises am
Stiel, jener schmelzenden Süßigkeit, die während der Vor­
führung langsam gelutscht wird und das Hinübergleiten in
einen anderen Wahrnehmungszustand begünstigt. Nach
dem letzten Weltkrieg, als die Lebensmittelversorgung der
Bevölkerung noch drastisch eingeschränkt war, blieben die
Londoner Kinosäle praktisch rund um die Uhr geöffnet. So
verbrachten manche Zuschauer dort fast ihren ganzen Tag
zu einem bescheidenen Preis. Nach Wunsch schuf der Film
immer wieder die Gelegenheit, das Eintreten in eine andere
Logik: man konnte vor den Erscheinungsformen des Frie­
dens fliehen, wie man vor denen des Kriegs in die Gänge
der Untergrundbahn geflüchtet war, um dort zu leben.
Übrigens geht der leidenschaftliche Kinogänger allein ins

183
Kino, er erträgt in seiner Nachbarschaft kein Geräusch und
keine Bewegung, die nichts mit der Vorführung zu tun ha­
ben. Der Preis der Plätze bemißt sich nach dem Wert des
Mobiliars und trägt allen Umständen Rechnung: die teuer­
sten Plätze sind eine Art tiefer, riesiger Pullman-Sessel,
während die wackeligen, harten Klappstühle billig abgege­
ben werden, Alfred Hitchcocks Devise: "Kino - das sind
vor allem Sessel mit Zuschauern drin", hat durchaus keinen
kommerziellen Sinn. Der Sessel des Zuschauers ähnelt dem
Rollstuhl von Jean Renoir, der an seinem Lebensabend den
Sekretär bittet: "Schieb' meinen Rollstuhl, ich fühle mich
wie eine in Zeitlupe abfahrende Kamera."
Die Filmindustrie wird in eine Krise geraten, sobald sie auf­
hört, einen falschen Tag zu erzeugen, und sich statt dessen
darum bemüht, realitätsgetreu zu sein.
Das Drehbuch wird realistisch, die Schauspieler werden ge­
wöhnlich, die Farbaufnahmen wirken echt, Cinemascope
oder Panoramakino - alles soll Aufmerksamkeit auf sich
lenken, bis zur rasenden Kamerafahrt, die den Seh-Reisen­
den fast schwindlig werden läßt, als wäre er auf der Achter­
bahn oder säße in einem Rennwagen. Zwar sind sich die
Filmproduzenten darüber klar, daß der kommerzielle Film
(jene Filme, die eher einer Filmproduktionsgesellschaft als
einem Autor zuzuschreiben sind) in Konkurrenz gerät zur
Automobilindustrie, aber sie täuschen sich über die Natur
des Erfolgs, den das Fahrzeug für den Individualverkehr
hat: das Massenauto hat nichts zu tun mit dem der PS-Dan­
dys, die ihren Motor anwerfen, um sich in einen Geschwin­
digkeitsrausch zu versetzen. Das gute Geschäft mit den
schaukelnden Kleinwagen und den übermäßig gefederten
amerikanischen Straßenkreuzern der Nachkriegszeit hätte
die Filmproduzenten aufmerken lassen können.
Die langen Zuschauerschlangen, die sich sonnabends und
sonntags an den Kassen der Filmtempel drängten, ver­
schwinden, um sich künftig an denselben Tagen vor den
Zahlschaltern der Autobahnen zu bilden. Was die Massen
einst in die Kinosessel getrieben hatte, trieb sie nun auf die
Autositze.
Für die Stadtplanung ist es in dieser Hinsicht aufschluß­
reich, wie sich die Lichtspielhäuser verändern: an die Stelle
eines riesigen dunklen Kirchenschiffes treten kleine abge-
1 84
teilte Räume, die merkwürdigerweise ans Innere von Ver­
kehrsmitteln erinnern. Ein Minimum an Durchgangsraum,
so viele Sessel wie möglich auf k1einstmöglicher Fläche: die
Zeit der monumentalen Vorführstätten scheint endgültig
vorbei zu sein. Die neue Oper ist die Boeing 747 mit einem
Projektionsraum, in dem der Reiz der Bilder die Monoto­
nie der Reise ausgleichen soll. Ein Festival der Flugreisen,
eine Entstädterung im Flug, die Mikropolen der Nomaden
ersetzen die Metropolen der Seßhaften, und die über­
flogene Welt ist so reizlos geworden, daß der unterschwel­
lige Komfort des Überschallflugzeugs sie vollkommen
im Dunkeln läßt, bis man eines Tages vielleicht das Licht
ganz löschen und die Fluggäste in Narkose versetzen
wird.
Heute geht es nicht mehr darum, ob das Kino auf einen Ort
verzichten kann, sondern darum, ob die Orte noch aufs
Kino verzichten können. Die Stadtplanung kommt ins
Schleudern, die Architektur wandelt sich ständig, die
"Bleibe" ist nunmehr die Anamorphose einer Schwelle. Ab­
gesehen von der historischen Nostalgie liegt Rom nicht
mehr in Rom und die Architektur nicht mehr in der Archi­
tektur, sondern in der Geometrie und im Zeit-Raum der
Vektoren. Die Ästhetik der Gebäude verschwindet in den
special elfects der Kommunikations- und Verkehrs maschine,
in ihren Transport- und Übertragungsapparaten. Die Kunst
verschwindet mehr und mehr im grellen Licht der Bildwer­
fer und Bildschirme. Auf die Architektur als Skulptur folgt
die Künstlichkeit der Kinematographie, im eigentlichen wie
im übertragenen Sinne: die Architektur ist nun selbst zum Film
geworden. Die gewohnte Stadt wird abgelöst von einer unge­
wöhnlichen Motorik, einem riesigen dunklen Vorführraum
zur Begeisterung der Massen, wo das Licht der (audiovisu­
ellen und automobilen) Fahrgeschwindigkeit das Sonnen­
licht ersetzt. Nicht mehr das Theater (Agora, Forum) ist
Stadtkern, sondern das Lichtspiel der Stadtbeleuchtung. Damit
sind wir nach Ur (zum Licht) zurückgekehrt, als wäre die
Wüste ohne Horizont.
In seinem Wagen nimmt der reisende Voyeur wieder das
Verhalten des notorischen Kinogängers an, ja sogar des kos­
mopolitischen Kauzes vom Anfang unseres Jahrhunderts:
"Die Männer und Frauen, die ihre Reise miteinander ver-
185
bringen, sind wie verwandelt . . . jeder Fahrgast fängt an, aus
sich herauszugehen.
Gestern kannten wir uns noch nicht, und morgen werden
wir uns für immer trennen."9 Die Schnelligkeit der Fonbe­
wegung verstärkt nur die Abwesenheit, die Absence. Sie
sollten reisen um zu vergessen, riet man früher den Neur­
asthenikern; das Reisen verringen die Versuchung zum
Selbstmord, denn es bietet Ersatz dafür: den kleinen Tod
der Abfahn. In der raschen Fonbewegung aufgehen bedeu­
tete verschwinden im Fest der Reise, für das kein Morgen
anbricht; für jeden einzelnen war es so etwas wie ein immer
wiederholter Jüngster Tag.

Die außerordentliche Wirklichkeitstreue der neueren Film­


prod uktionen vermochte also die Erwanung der Voyeur­
Reisenden nicht mehr zu stillen. Marcel L'Herbier sprach
von einer "dialektischen Einheit des Realen und des Irrea­
len", doch die Reise läßt beides unvermittelt ineinander
übergehen: das Naheliegende verlien seine Selbstverständ­
lichkeit, der Abstand vergrößen sich oder schrumpft zu­
sammen, je nachdem, das Bizarre wird banal und das Ge­
wöhnliche zum Schauspiel, zu einer Weh ohne Erinne­
rung.
Besser noch: die Bewegungstäuschung ermöglicht es dem
Voyeur der Reise, seine eigenen Phantasmen auf den Bild­
schirm der Windschutzscheibe zu projizieren. Die UFOs,
jene leuchtenden Objekte, welche für die Augenzeugen
nicht in ihr Bild der wirklichen Welt passen, wenngleich sie
angeblich von vielen gesehen worden sind - die UFOs zei­
gen bereits, wie leicht unser Gedächtnis durch technische
Effekte zu täuschen ist.

In dem amerikanischen Film Unheimliche Begegnung der dritten


Art werden beim Auftauchen der UFOs zugleich Leucht­
strahlen auf der Leinwand produzien. Auf diese Weise
wird noch einmal an den Geist und die Arbeiten Mareys an­
geknüpft. Diese Verfilmung wurde übrigens ein gewaltiger
Erfolg und fand sehr bald ihre Nachahmer. Die Tatsache,
daß heutzutage immer mehr Filme mit elektronischen Bild­
und Toneffekten arbeiten, beunruhigt die Fernsehweh,
denn für das Fernsehen ist es technisch noch nicht möglich,
186
solche neuen Wahrnehmungsformen bei den Zuschauern
hervorzurufen. Als der Futurist Marinetti und seine Mit­
streiter, auf die Macht der Bewegung versessen, sich einen
anthropozentrischen Übermenschen vorstellten (daß
Mensch und Motor bald identisch wäre), dachten sie an die
Übenragung stählerner Organe, an die sperrigen Prothesen
der damaligen Technologie, in denen die Körper ver­
schwanden. Das erinnen ein wenig an den Kriegsbeschä­
digten in einer Poe-Erzählung, der ein Puzzle künstlicher
Organe und Glieder geworden ist, eine mechanische Glie­
derpuppe, die sich selber auseinandernehmen, ja ganz und
gar verschwinden kann, wenn sie zum Stillstand kommen
will. Die Futuristen konnten sich nicht vorstellen, daß Iden­
tifikation mit einem Motor auch Identifikation mit einem
Vektor heißt, ähnlich wie Burroughs die Sprache be­
schreibt: "Sie ist ein Bestandteil des Körpers wie jeder an­
dere auch . . . Bis hin zu den differenzienen Ebenen der Be­
deutung sind die Wöner Mikroorganismen, lebende
Staubkörner, die nur durch die elektronische Revolution
verbunden und geordnet werden."
Über die tieferliegenden Ursachen der allgemeinen techno­
logischen Entwicklung hat man sich kaum Gedanken ge­
macht: etwas zu miniaturiJieren, d. h. die Größe jedes Geräts
auf nichts oder fast nichts zu reduzieren, heißt nämlich
nicht nur, dem Organismus Ersatzteile zu liefern und den
Proponionen des menschlichen Körpers anzupassen, son­
dern zugleich, in jedem Einzelnen eine parasensible Kon­
kurrenz zu schaffen, sein Dasein zu verdoppeln.
Zwar hat das amerikanische Fernsehen im Jahre 1978 fünf
bis sechs Millionen Zuschauer verloren, die ihre kleinen
Bildschirme nun nicht mehr regelmäßig anschalten; zur
gleichen Zeit hat die Automobilindustrie jedoch ausge­
zeichnet eine Energiekrise überwunden, die manche Exper­
ten für verhängnisvoll gehalten hatten. Obwohl im Unter­
schied zu öffentlichen Verkehrsmitteln Auto oder Motor­
rad geradezu fanatisch benutzt werden, fähn man damit
doch nirgendwohin: von vornherein geht es dabei gar nicht
um zurückzulegende Entfernungen, und zwangsläufig ent­
steht eine neue Situation des Reisens. Für den Voyeur ist es
offenbar ganz selbstverständlich, daß er nirgendwo hin­
fähn, ja sogar in einem ausgestorbenen Vienel oder auf ei-
187
nem verstopften Autobahnring im Kreise herumfähn. An­
halten und Parken aber wird ihm lästig, denn der
passioniene Fahrer fähn nur ungern an einen bestimmten
On oder zu einer bestimmten Person; jemanden zu besu­
chen oder mit dem Auto zu einer Veranstaltung zu fahren,
erscheint ihm als übermenschliche Anstrengung.
Obwohl er die entferntesten One erreichen kann, fühlt er
sich nur wohl in der engen Zelle seines Fahrzeugs, ange­
schnallt auf seinem Sitz. Wie der Kinozuschauer kennt er
im voraus Dekor und Drehbuch; dadurch daß die in vollem
Tempo durchrasten Landschaften einander gleichen, wird
die Identifikation des Fahrers mit dem Vektor noch geför­
den. Zwar können die meisten Autofahrer noch nicht eine
komplexe elektronische Sprache benutzen und den Trans­
pon und Verkehr von Körpern und Informationen mitein­
ander kombinieren, doch Scheinwerfer und Standlichter.
mit denen die Fahrer gern herumspielen, scheinen bereits
ein primitives Sendeniveau herzustellen, um einen Wunsch
zu äußern oder auf eine neue An Präsenz zu signalisieren.
Die immer stärkeren Lichter von Polizei- und Feuerwehr­
wagen werden nachgeahmt und man hat Spaß daran, die In­
sassen anderer Wagen mit den Scheinwerfern zu blenden.
Genauso schalten einsame Leute ständig ihr Radio ein,
nicht um eine bestimmte Sendung zu verfolgen, sondern al­
lein, um Stimmen zu hören. Die Leute gehen in Diskothe­
ken, die das Interieur der alten Kinopaläste fast perfekt
nachahmen, um sich allein auf der Tanzfläche zu bewe­
gen . . . allein inmitten der Menschenmenge, abgeschirmt
durch Verstärker von 7 000 Watt und Laserstrahlen. Das­
selbe beobachten Sozialarbeiter an alten und isolienen
Menschen: "Sie beklagen sich über ihre Einsamkeit, obwohl
sie davor zurückschrecken, Leute zu sehen oder von diesen
gesehen zu werden und persönlich Kontakt aufzunehmen.
Sie telefonieren lieber und venrauen sich kiinJllichen Ohren
an, wie sie es nennen." Die Voyeure der Reise haben die
Kinotempel verlassen, entkommen aber deshalb noch lange
nicht der Künstlichkeit der Welten, sondern setzen nur
"den Traum von Rembrandt und Walt Disney" (Ray Brad­
bury) in die Tat um.
Ein alter Mitarbeiter von Walt Disney erzählt: "Walts Phan­
tasie drehte sich wie ein auf Hochtouren laufender Mo-
1 88
tor . . . wissen Sie eigentlich, wie er auf die Idee von Disney­
Land kam? Eines Tages begleitete er seine Enkelin zu
einem Karussell mit Holzpferden. Während sie herum­
kreiste, saß er auf einer Bank und knackte Erdnüsse. Dabei
dachte er, daß es einen Ort geben mÜJJe, an dem !ich Ellern und
Kinder zu!ammen amüsieren können . Nach dieser Karussell­
. .

runde war jeder,ialls die Idee geboren; sie wurde 1955 in ei­
nem 40 km von Los Angeles entfernten Orangenhain reali­
siert: Disney-Land, der erste in Trompe-I'Oeil-Technik
entworfene Vergnügungspark."10

Selbst hier noch wurde das Zurückgreifen auf die Anfänge


zur Bedingung des Erfolgs: man erinnert sich an das gute
alte Holzpferdkarussell, wo die kleinen Reiter bunte Ringe
auf ihre Kinderlanzen aufspießen. Künstlich wird Schwin­
del erzeugt, und jeder wird vorübergehend zum Passagier
eines großen Phänakistikopsll, jenem anderen Vorläufer
des Zeichentrickfilms. Danach kam Disney-World, und dort
sollte der Schüler von Melies seine kinematische Macht
über die sichtbare Welt noch weiter ausdehnen, indem er
die ganze Stadt so organisierte wie sein Vorgänger seine
Filmtricks : "Die außerordentliche Wirkung von Disney­
Land und Disney-World erklärt sich aus Walts kinematogra­
phischem Know-how", erzählt ein anderer Mitarbeiter; "seine
einzelnen Ideen geraten nicht miteinander in Konflikt, son­
dern ergänzen sich und knüpfen aneinander an. In unseren
Königreichen fühlt sich der Fußgänger deshalb so wohl,
weil Gebäude und Verkehrsmittel fünfmal so klein sind wie
üblich. Nichts, weder die Züge noch die haargenau kopier­
ten Autos, hat den normalen Maßstab, und so entsteht . . .
der Traum." Hier fühlt sich der Spaziergänger wie Renoir
im Rollstuhl; er funktioniert wie eine Kamera, wobei die
Anamorphose durch die veränderten Größenverhältnisse
entsteht, durch eine Verzerrung der Faktoren, die Entfer­
nung und Erscheinung bestimmen.
Es ist nicht so sehr der Nihilismus der Technik, der die
Welt vernichtet, eher vernichtet der Nihilismus der Ge­
schwindigkeit die Wahrheit der Welt. So schreibt Paul de
Kock im Jahre 1842: "Die Eisenbahn ist die wahre Laterna
magica der Natur." Etwas ähnliches drückte Karl. V. aus,
wenn in seinem Reich des Uhrenanbeters "die Sonne nie
189
unterging". Für den erobernden Herrscher. der rastlos das
Universum zu erstürmen versucht. iJt ein einziger Tag wie
1 000 Jahre. so daß das eroberte Land im Lichte dieses einzi­
gen Tages zusammenschrumpft. Letztlich wird so der Ge­
genstand der Eroberung. d. h. des dromokratischen Begeh­
rens. der Lichtgeschwindigkeit angeglichen.t2

Und so wird auch der Sieger am Abend der Schlacht zum


Besiegten sagen: "Dieser Tag war nicht der Eure!"
Ein Zeuge berichtet. daß der Hof der spanischen Bourbo­
nen funktionierte "wie jene deutschen Kirchturmuhren. de­
ren Figuren jeden Tag zur gleichen Stunde erscheinen und
verschwinden". Ähnlich wie dem Heerführer der Tag der
Schlacht gebührte. so war dem Monarchen durch das Proto­
koll stets der gleiche Tagesablauf vorgeschrieben. so daß er
das Gefühl bekam. einen einzigen Tag zu erleben. Zur Zeit
der ersten Grafen von Valois mündete das Streben nach ab­
solutistischer Macht in große. periodisch einberufene Ver­
sammlungen. zu denen alle geladen waren. in Feste und
Spiele. in der Erfindung von "Tagen ohnegleichen" . . . Ge­
nauso hatten die Venezianer den Karneval. der ursprüng­
lich vom Dreikönigstag bis zum Aschermittwoch dauerte.
auf sechs Monate verlängert. Abgesehen von all den jupi­
ter- und Apollo-Mythen. ist die Erschaffung des Tages stets
mit der Macht verknüpft. denn weil das Licht Geschwindig­
keit ist. ist es auch bahnbrechend. ein Vektor. Man kann
den Niedergang der französischen Monarchie verfolgen.
wenn man in den Alleen des Parks von Versailles spazieren­
geht und vom königlichen Schloß erst bis zum Trianon.
dann bis zum kleinen Trianon und schließlich bis zum Ha­
meau der Königin geht. Man kann sich fragen. was einer
solchen Entfaltung der Gartenkunst und der Architektur
zugrunde liegen mag. aber diese Künste sind zunächst im
buchstäblichen Sinne Artefakte: künstliche Strukturen oder
Erscheinungen treffen auf natürliche Phänomene oder for­
men diese um. wodurch jede Wahrnehmung in einer opti­
schen Täuschung besteht. Als die ersten Feuerwerke statt­
finden, wird deutlich, wie wichtig die Wasserspiele in
solchen Schloßanlagen sind - zur Darstellung des mechani­
schen Vektors und seiner vielfältigen Intensitäten . . . In je­
dem Wassertropfen leuchtet eine Sonne. das Schauspiel des
190
bewegten Wasser läßt uns die Illusion wahrnehmen, mit der
wir geschlagen sind, jene "Natur, die über das Unsichtbare
die Maske des Sichtbaren legt", und die nach V. Hugo doch
nur "eine Erscheinung ist, die dadurch geläuten wird, daß
sie etwas durchscheinen läßt".
In Vaux-Ie-Vicomte wird das Wasser wie sich überlagernde
Filmsequenzen in den Raum projizien, so daß schließlich
das Bild des Schlosses für den Betrachter förmlich zu ertrin­
ken scheint. Hier ist die Mechanik eines Perpetuum mobile am
Werke; der Übergang von einer Form zur anderen wird so
fein abgestuft, bis er ganz verschwindet. Sobald die abso­
lute Macht des Monarchen verfällt, verschwinden auch die
Bewegungsspiele des Wassers: beim Weiler der Königin
wurden künstliche Teiche angelegt, hier steht das Wasser
wie in den winzigen Arsenalen der Bourbonen von Spa­
nien, die von den Zeitgenossen als Pissoirs bezeichnet wur­
den. Die letzten Monarchen leben neben ihren Schlössern
im "Gesindetrakt". Don versuchen sie, einen Realismus des
Alltags wiederzufinden, der dem Tag ohnegleichen, dem
Tag ohne Morgen des triumphierenden Königtums diame­
tral entgegengesetzt ist. Und so werden sie den Tag mit Be­
schäftigungen verbringen, die nur noch entfernt an die pro­
tokollarische Strenge erinnern und an die Realitäten einer
einsamen Macht, die sie noch immer innehaben. Sie bestäti­
gen sich als Uhrmacher, Schuster oder Schlosser, und man
wird sie bald für verrückt erklären, wenn sie wie Ludwig II.
von Bayern versuchen, die Schlösser wieder zu bevölkern
und den illusorischen Tag des Hofes noch einmal ins Leben
zu rufen.
Wir befinden uns mitten im Bilderstreit, im Streit, ob die
Körper mit Gegenständen ungewöhnlichen Glanzes ausge­
stattet werden dürfen. So z. B. die berühmte "Eisenkrone",
die Theodelinde ihrem Gatten, dem Herzog von TUrin,
anno 594 schenkte: es war ein mit Goldplättchen besetzter
Eisenring. Zeitgenossen behaupteten, er war so beschaffen,
um seinem Träger zu zeigen, daß die Macht eine Last ist,
die sich unter trügerischem Glanz verbirgt. Die Aura - das,
was blendet - geht dem Verlust des Bewußtseins voraus
und raubt dem Betrachter seinen Willen. Als Licht der gro­
ßen Leere oder Nimbus, der das Gesicht des zum Gott er­
hobenen Kaisers, später das von Christus und den Heiligen

191
umgibt, sind edelsteinbesetzte Kriegshelme, Tiaren, Dia­
deme nicht nur Insignien der Macht. Sie sind zugleich wirk­
same Prothesen eines königlichen Nirwana, das die staatli­
che Fürsorge in eine Manipulation der Untertanen durch
den Herrscher verwandelt. In Ungnade zu fallen, politi­
sches Mißgeschick zu erleiden bedeutet Verbannung: ent­
fernt werden von jenem Licht der Mitte und eintauchen in
Finsternis; oder aber Kerker: nicht nur eingeschlossen wer­
den, sondern unter die Erde kommen, des Tageslichts be­
raubt in unterirdischen Verliesen und fensterlosen Zel­
len.
Agnes Varda sagte zu ihrem Film Das Glück: "Ich habe da­
bei an die Impressionisten gedacht, denn in ihren Bildern
liegt eine Helligkeit, die einer bestimmten Definition des Glücks
entspricht . . , Wenn es ein Drama gibt, dann wird es ausgelöst
durch den Wunsch nach Glück, der bis an seine äußersten
Grenzen getrieben wird." Man könnte die Formulierung
Vardas verknappen, indem man das Wort ,Glück' durch die
Definition, die sie davon gibt, ersetzt; dadurch wird der
Satz vielleicht deutlicher: Wenn es ein Drama gibt, dann wird
D

es ausgelöst durch den Wunsch nach Helligkeit, der bis an seine äu­
ßersten Grenzen getrieben wird. "13
Mit den Prothesen des unterschwelligen Komforts wird zu­
gleich der Tag simuliert, ja sogar der Jüngste Tag - eine Meta­
morphose der Industrieprodukte, so daß die gesamte indu­
strielle Produktion kinematisch ausgerichtet ist.
Die Disney-Firma hat 17,5 Millionen Dollar für die Produk­
tion eines neuen Science-Fiction-Films ausgegeben: The
black Hole (die special effects sind von Harrison Ellenshaw,
der im Krieg der Sterne nur 13 Rückprojektionen eingesetzt
hat, während es hier 150 sind, denn man benutzt eine völlig
neue computergesteuerte Kamera) .
In Verbindung mit zahlreichen Regierungen, unterstützt
von der NATO und den Industriekonzernen mit ihren For­
schern, plant die Firma allerdings zur Zeit bereits EPCOT
(Experimental Prototype Community of Tomorrow) . Es soll
nicht mehr bloß "eine Ideenfabrik sein, sondern die Ideen
auch in die Tat umsetzen", dazu geeignet, wie es Disney
wünschte, "das Leiden der Gegenwart und den Tod . , . die
wirkliche Welt vergessen zu machen".
Wenn sich heute die verschiedenen Mächte der Wünsche
192
annehmen, so bedeutet das nicht allein, sich des Willens
vermittels verschiedener Vektoren zu bemächtigen, son­
dern daß man sich der Erwartung, jeder Art von Erwartung
annimmt. Die Ergänzung der Körper durch Prothesen und
Apparate macht es möglich. So ist z. B. die "Politik als
Show", woran sich die Franzosen erst vor kurzem so ergötzt
haben, in den Vereinigten Staaten bereits längst ein alter
Hut. Dort wählen immer weniger Leute, ist doch die einzig
wahre Mehrheit die der Motorisierten: mit dem Führerschein
erwerben sie�zugleich auch "Reaktionsvermögen", d. h. die
Gewohnheit, mit konditionierten Reflexen auf entspre­
chende Stimuli zu reagieren; ihre Aufmerksamkeit kann al­
lein noch durch die Vermehrung der Licht- oder Tonsignale
geweckt werden, nicht jedoch durch Wahlplakate mit
Schauspielern als Kandidaten. Und umgekehrt werden in
Zukunft auch politische und ökonomische Planungsfehler
als technisches Versagen ausgegeben: Nach den Amerika­
nern bekamen auch die Franzosen ihren "Schwarzen Diens­
tag", als am 19. Dezember 1978 um 8.27 Uhr die Weiterlei­
tung des elektrischen Stroms an der deutschen Grenze
nicht mehr funktionierte. "Generalprobe für eine noch düste­
rere Zukunft', haben die Verantwortlichen der französischen
Elektrizitätsgesellschaft gedroht. An einem sehr kalten Tag,
zur Zeit großer Verkehrsdichte, eine Woche vor Weihnach­
ten - das war ein günstiger Augenblick, die städtische Be­
völkerung in höchste Angst zu versetzen. Auch diesmal ent­
stand das Drama aus dem ungebrochenen Wunsch nach
Helligkeit, nach der Manipulation der Nacht. Ein Jahr zu­
vor, im Oktober 1977, hörte das Laboratorium in Houston
auf zu funktionieren (seit ein paar Jahren arbeitete es mit
Fernmeßgeräten, die bei den "Apollo-Missionen" auf den
Mond gebracht worden waren). Plötzlich fielen die Kon­
trollbildschirme aus, und seitdem bewegt sich auf dem to­
ten Stern nichts mehr. Bald können wir nur noch vergessen,
daß es bei der Verbreitung von Bildern oder Wellen einer­
seits und Gegenständen oder Körpern andererseits immer­
hin feine Unterschiede gibt, denn dann wird jede Dauer in
Intensitäten gemessen.

193
1 In der Schlafforschung werden anhand von elektrophysiologi­
schen Kriterien verschiedene Schlafstadien unterschieden.
Das Traumstadium wird auch als paradoxer Schlaf. seltener als
schneller Schlaf bezeichnet. In diesem Stadium ähnelt das
EEG (Elektroencephalogramm) zwar dem Einschlafstadium.
im Gegensatz aber hierzu ist die Weckschnelle ziemlich hoch
und der Muskeltonus herabgesetzt. Es kombinieren sich soma­
tische Tiefschlafsymptome mit einer Aktivierung psychischer
Vorgänge. Wegen dieser Diskrepanz wird der Terminus .para­
doxer Schlaf" gebraucht. Besonders kennzeichnend für Traum­
stadien ist das Auftreten unregelmäßiger. rascher Augenbewe­
gungen in allen Richtungen. daher auch die Bezeichnung
REM-Stadium (REM rapid eye movement).
=

Virilio übernimmt den Terminus paradoxer Schlaf bzw.


schneller Schlaf und konstruien in Analogie dazu den neuen
Terminus .paradoxes Wachsein'. [Anm. d. Ü.]
2 ..Die politische Staatsgewalt ist also nur sekundär .die organi­
siene Gewalt einer Klasse zur Unterdrückung einer anderen'.
viel materieller ist sie .polis. Polizei. d. h. Verwaltung der Ver­
kehrswege'." Paul Virilio. Geschwindigkeit und Politik., Berlin
1980. S. 22.
3 Alain Jauben Electrochocs" in: Macroscopies. No. 6. S. 28.
• •

4 .Seit 16 Jahren beinahe blind. lebte Huxley bis zum Jahre 1939
mit einem sehr eingeschränkten Sehvermögen. Dann ent­
deckte er die Methode der visuellen Erziehung des Arztes
W. H. Bates. mit der er bereits innerhalb weniger Monate
ohne Brille lesen konnte." (Die Kumt des Sehen!, Vorwon zur
franz. Ausgabe. Paris 1978.)
5 Der Sänger Claude Franc;:ois setzte für seine Auftritte in der
Music-Hall ganz ähnliche Techniken ein. Seit Beginn seiner
Karriere schminkte er sich stets vor demselben Vergröße­
rungsspiegel. der mit Kerzen umrahmt war: deren flackerndes
Licht antizipiene für ihn bereits die Bühnenscheinwerfer.
Hinzu kommt noch. daß er seine tieftraurigen Chansons mit
leichten und fröhlichen Musik- und Tanzeinlagen unter­
malte.
6 Vgl. Paul Virilio .Die Dromoskopie oder das Licht der Ge­
schwindigkeit" in: Konkursbuch Nr. 5. Tübingen 1980.
7 Gaston Rageot. L'homme standard, Paris 1928. Paul Morand
sollte nach mehr als zehn Jahren durch dieses Buch dazu ange­
regt werden. L'hommt presse zu schreiben.
8 P. Souvestre/M. Allain. FantOlfItIJ. Un roi priJonnier. Paris 1914.
9 Gaston Rageot. a. a. O.
10 Anikelserie von Jacqueline Canier: .Mikey au pays de mer­
veille" in: France Soir, Januar 1979.

194
11 Das Phänakistikop hat tatsächlich die Form einer (Zirkus-)
Manege: Beim Drehen läßt dieser Apparat durch die Trägheit
des Auges die Illusion einer Bewegung entstehen (aus dem
Griechischen: ,phenax, -akos' Gaukler, und ,skopein' prüfen).
12 . ,Yom', der hebräische Tag, der in der Abenddämmerung be­
.

ginnt, ist Exil des Lichts, Auszug aus Ur . . . der hebräische Tag
liegt zwischen zwei Uchtern!" (Shmuel Trigano). Der Tag des
Heerführers, der keine Dämmerung kennt, ist also dem bibli­
schen Tag diametral entgegengesetzt.
13 . Man möchte lieber einen Tag lang das volle Glück genießen,
.

als eine ganze Woche lang nur halb glücklich sein", schreibt
Marschall Richelieu. Saint-Just läßt grüßen. So sagt Flaubert,
das Wichtigste eines Werkes sei Einheit, und für ihn liegt
diese Einheit in einer vorherrschenden Tönung. So habe er
beim Schreiben von ..Madame Bovary" versucht, einen einzi­
gen Farbton wiederzugeben, einen Ton, der ans Weiße grenzt
und ebenso unbestimmbar ist wie die Farbe von Schimmelpil­
zen. Kurz, eine vorherrschende Beleuchtung, in der die Viel­
falt der Farben erlischt. Die europäische Malerei hat jedoch
immer schon leuchten, Ucht ausstrahlen wollen, während
frühere Verfahrensweisen das Ucht nur aufnehmen wollten.
Hierbei kann man wieder an Bradburys Anspielung auf "Rem­
brandt und Walt Disney" denken.

Aus dem Französischen von Marianne Karbe und Gustav Roßter


FRI E D R I C H K I TTLER
Fiktion und Simulation

Das griechisch-lateinische Wort eJectrum, von dem Elektro­


nik als technischer Inbegriff der Jetztzeit abgeleitet ist, be­
zeichnete nicht nur den Bernstein, sondern auch natürliche
oder künstliche Mischungen von Gold und Silber. Römer
hätten also keine Not gehabt, den Titel ars electronica we­
nigstens mißzuverstehen: Auf irgendeine Goldschmiedear­
beit hätte er schon gepaßt.
Aber eben damit beschwört die ars electronica ein anderes
Mißverständnis herauf: die Annahme, Schönheit aus La­
serkanonen oder Sound SampIers sei noch immer Kunst,
wie Europa sie seit griechisch-römischen Tagen kennt und
feiert. Sicher, Medienkonsumenten können den Output
von Medien weiterhin mit Kunst verwechseln, aber nur,
weil bei technischen Geräten Design und Schrauben dafür
sorgen, daß sie black boxes bleiben. Ihre Deckelhauben
sind, schon laut Beschriftung, nur vom Fachmann zu öff­
nen. Was darunter abläuft, in den Schaltkreisen selber, ist
keine Kunst, sondern ihr Ende in einer Datenverarbeitung,
die von den Menschen Abschied nimmt.
Denn wenn Kultur der Sache nach die Summe der Opera­
tionen oder Handgreiflichkeiten umfaßt, die die Codes von
Alltagssprachen einer bestimmten Tiergattung untereinan­
der und gegenüber ihrer Umwelt erlaubt haben, dann geht die
Datenverarbeitung über solche Eingrenzungen immer schon
hinaus. Sie operiert auf der Basis nicht von Sprachen, son­
dern von Algorithmen und zeitigt deshalb Effekte, die keine
Rede - auch meine nicht - zureichend beschreiben kann.
Um dennoch etwas zu sagen, versuche ich, das Neue an der
technischen Datenverarbeitung durch ihre Abgrenzung von
hergebrachten Künsten zu umschreiben. Diese Abgrenzung
ist heikel und begriffsbedürftig. Denn daß die technische
Datenverarbeitung keine Kunst ist, heißt ja nicht umge­
kehrt, daß die Künste keine Techniken gewesen wären.
Alle Verneblungstaktiken einer wohlbekannten Geisteswis­
senschaft haben nicht daran rütteln können, daß die Künste
seit ihrer griechischen Definition Techniken sind und hei­
ßen. Bei ihrer Abgrenzung zur Datenverarbeitung geht es
196
also beileibe nicht um Unterschiede, die eine sogenannte
Kreativität oder einen sogenannten Menschen über alles
Maschinenwesen erheben würden. Die Frage lautet gerade
umgekehn, welche Techniken historisch und ästhetisch an
der Stelle gestanden haben, die heute durch Elektronik be­
setzt wird.
Nach Aristoteles unterscheidet es die Kunst oder TEXVll von
bloßer Erfahrung, daß sie den AOYOC; hat, also Rede oder Be­
griff. Künste hießen mithin ein Maximum dessen, was un­
ter Bedingungen eines alltagssprachlichen Codes machbar
war. Sie entstanden nicht umsonst auf der Basis einer ersten
"Totalanalyse" von Sprache, wie das griechische Vokalalpha­
bet sie gleichermaßen für Sprachlaute und Musiktöne gelei­
stet hat. Dieses Alphabet machte die Lautdifferenzen einer
tendenziell beliebigen Sprache erstmals anschreibbar, also
speicherbar. Und weil seine Buchstaben zugleich Noten­
wene und (im Unterschied zu unseren) sogar Zahlen dar­
stellten, erlaubte es auch, die Intervalle zwischen verschie­
den langen Saiten zu benennen, denen dann seit Pythagoras
noch einmal Buchstaben auf der anderen Gleichungsseite
einen AOYOC; und das heißt Bruch zuordneten.
So ermöglichte er das Vokalalphabet. Elemente der Sprache
und Elemente der Musik, die im Griechischen überdies
durch den Versfluß gekoppelt waren, beliebig auf dem Pa­
pier zu manipulieren - allerdings um den entscheidenden
Preis, eben diese Elemente, also Laute und Tonintervalle,
jeder weiteren Analyse zu entziehen. Wie eine Kehle
klingt, barbarisch oder nicht, wie ein Gitarrenton einsetzt,
verstärkt oder nicht, steht in keinem Buch und keiner Pani­
tur. Das Papier erlaubte nur Manipulationen am Code, auch
und gerade in der Zeit. Jeder Akkord der klassischen Musik
ist schon in Voraussicht der kommenden Kadenz geschrie­
ben, deren Element er gewesen sein wird. Jedes Zeilenende
neuzeitlicher Reimlyrik ist schon darauf selektien, daß ihm
ein Reimwon gewinkt haben wird. Peter Rühmkorff im
Vollbewußtsein der Tatsache, daß die Menschen als angeb­
liche Kunstschöpfer gleichwohl kein deutsches Reimwon
haben, begann ein Gedicht zwar mit den Zeilen:

Die schönsten Verse der Menschen


- Nun finden Sie schon einen Reim! -
197
Ein neuer Name im Dichterpantheon oder Reimlexikon je­
doch erlaubte folgende Fortschreibung:
Die schönsten Verse der Menschen
- Nun finden Sie schon einen Reim! -
sind die Gottfried Bennschen . . .
So klar definiert e s Jakobsons poetische Funktion, daß sie
die vertikale Ordnung etwa eines Reimlexikons noch auf
die horizontale Ordnung der Zeit legt, die Strukturierung
eines Codes also maximiert. Damit das Ergebnis solcher
Kalküle allerdings "die schönsten Verse der Menschen" hei­
ßen kann, muß eine Fiktion in Kraft sein, die alle Ästhetik
getragen hat: Daß die Buchstaben - wiederum nach ihrer
Aristotelischen Definition - Zeichen der Laute und die
Laute Zeichen für Widerfahrnisse einer Seele sind. Dann
schlagen Manipulationen an einem Code auf die Seele von
Lesern oder Hörern durch, dann ist das Maximum ästheti­
scher Machbarkeit erreicht. Es verdient den Titel Fiktion,
wie umgekehrt das Maximum datenverarbeitender Manipu­
lation (mit Baudrillard) den Titel Simulation verdient.
Die Fiktion, ihrer Etymologie zufolge, stellt Figuren her.
Ficlio und figura sind urverwandt mit dem deutschen Wort
Teig und dem griechischen Wort für Mauer, als jener T6ixo�
offenbar noch aus formbarem Lehm bestand. Was die Fik­
tion oder Kunst mit Lehm anstellte, macht ein Goethe-Ge­
dicht von 1774 sehr klar. Goethes Prometheus faßt seine
Unabhängigkeitserklärung gegenüber allen Schöpfergöttern
in die Worte, daß er "hier sitzt" und "Menschen nach sei­
nem Bilde formt". Eine Führungsgröße, das eigene Bild des
Produzenten, sorgte also für schrittweise Beseitigung aller
Störgrößen, die der Lehm in seiner materiellen Zufälligkeit
dem Geschäft einer Menschenbildung entgegensetzte. Mit
den Händen als Stellgrößen korrigierte Prometheus Abwei­
chungen von einer Führungsgröße, die wie künftige Reime
oder Kadenzen seine Manipulation im vorhinein be­
stimmte. Weshalb nach Durchlaufen dieses Regelkreises Fi­
guren entstanden, die durch Pattern recognition als dieje­
nige ihres Produzenten selber kenntlich wurden. Goethes
Prometheus (um mit Begriffen von Jacques Lacan zu reden)
operierte im Grenzbereich zwischen Realem und Imaginä­
rem, sofern das Reale reines Rauschen ist und das Imagi-
198
näre über Prozesse der zumal optischen Gestalterkennung
herrscht.
Und doch unterstand auch Prometheus wie jede Kunst in
letzter Analyse einem Symbolischen, sofern das Symboli­
sche in Lacans methodischer Dreiteilung mit einem sprach­
lichen Code zusammenfällt. Denn daß Prometheus über­
haupt den Plan fassen konnte, Menschen nach seinem Bilde
zu formen, gehorchte aller behaupteten Selbständigkeit
zum Trotz einem Gotteswort. Die Auflehnung gegen Zeus
schuf Herrndiskurse und Befehlsketten nicht ab. Im Gegen­
teil, lange vor Goethes Prometheus sagte der Gott oder sag­
ten die Götter der Genesis: "Lasset uns Menschen machen,
ein Bild, das uns gleich sei." Nur ob dieser Befehl jemals
ausführbar war, in der Bibel oder bei Goethe, steht dahin:
Keine Gestalterkennung im Imaginären kann darüber befin­
den, ob ein symbolischer Code wirklich geworden ist oder
nicht. Fiktionen als analoges Medium verfügen über keine
Negation.
Diese Unentscheidbarkeit erlaubt dem Prometheus-Ge­
dicht, nach Klaus Weimars präziser Analyse, zwei imagi­
näre Identifikationen, die die Fiktion perfekt machen. Er­
stens inszeniert Goethes lyrisches Ich "eine Selbstverwand­
lung in Prometheus": "Hinter der Sache (der Person des
Sprechenden) wird quasi als Hintergrund ein Bild (Prome­
theus) sichtbar, mit dem sie sich dann identifiziert im My­
thoszitat." Goethe hat einige Zeilen seines fragmentarischen
Prometheus-Dramas fast wörtlich ins Gedicht übernommen
und nur das Personalpronomen der Anrede korrigiert.
Strategischer Zweck dieser ersten Identifikation aber ist
eine zweite. Der faktische Dichter wird in der Fiktion zum
Bildhauer, dessen künstlich geformte Menschen nur im
Dramenfragment, nicht jedoch im Gedicht noch der heimli­
chen Belebung durch eine Göttin bedürfen. Deshalb kann
Prometheus als Mythoszitat seines Dichters behaupten, er
forme Menschen nach seinem Bilde, wo er doch, in medien­
technischer Schlichtheit, nur freie Verse formt, die ihrer­
seits von Menschen und Menschenbildung nur reden. Alle
faktische Arbeit der Fiktion bleibt auf dieser Ebene, wo Vo­
kale und Konsonanten, Hebungen und Senkungen des Ge­
dichts lyrisch zu manipulieren sind. Aber die Herrschaft
über den Signifikanten (mit allen Korrekturmöglichkeiten,
199
die Feder und Papier bereitstellen) hat keinen automati­
schen Effekt auf Signifikate oder gar Referenten, auf Men­
schen oder Lehm. Um Menschen statt nur Verse gebildet
zu sehen, mußten jene Menschen, die Goethes Gedicht als
seine Leser adressiert, erst noch in eine Falle gehen. Sie
mußten als Untertanen der allgemeinen Alphabetisierung,
wie die Goethezeit sie ja gestartet hat, Manipulationen im
Symbolischen als sinnliche Daten halluzinieren. Bildung
hieß, vom Alphabet so gebildet oder verformt zu sein wie
der Lehm von Prometheus. "Wenn man recht" las, entfal­
tete sich laut Novalis "eine wirckliche, sichtbare Welt nach
den Worten". Wenn also z. B. der Zauberer Prosper Alba­
nus in einem Hoffmann-Märchen seine magischen Bücher
aufschlug, "erblickten die Freunde eine Menge sauber illu­
minierter Kupfertafeln, die die allerverwunderlichsten miß­
gestaltetsten Männlein mit den tollsten Fratzengesichtern
darstellten. Aber sowie Prosper eins dieser Männlein auf
dem Blatt berührte, wurde es lebendig, sprang heraus und
gaukelte und hüpfte auf dem Marmortisch gar possierlich
umher, [ . . . ] bis es Prosper bei dem Kopfe ergriff und wie­
der ins Buch legte, wo es sich alsbald glättete und ausplät­
tete zum bunten Bilde."
Soweit Hoffmann, dessen Zauberer ja nur an Kupferstichen
vorführte, was rechte Leser bei jedem gedruckten Wort er­
reichten. Ihre Alphabetisierung versperrte alle Möglichkei­
ten, Zeichenbedeutungen zu negieren, bis die Fiktion eine
wirkliche, sichtbare Welt nach den Worten entließ. Goethes
Prometheus machte aus Versen Menschen, Hoffmanns Zau­
berer aus Bildern dreidimensionale Wesen, die eben darum
ausdrücklich plättbare Graphen hießen, um auch bei der Um­
kehrabbildung keine Lücke oder Negation zu riskieren.
Bei Simulationen dagegen, diesem mehr als ästhetischen
Verfahren, ist die Negation immer schon eingebaut. Mit
dem Begriffspaar Simulation und Dissimulation hat das la­
teinische - nach der These von Johannes Lohmann - die in
allen indoeuropäischen Sprachen verfügbaren Operationen
der Affirmation und Negation drastisch erweitert. Während
Affirmieren nur bejaht, was ist, und Negieren nur verneint,
was nicht ist, heißt simulieren, was nicht ist, zu bejahen,
und dissimulieren, was ist, zu verneinen. Zum erstenmal in
der Sprachgeschichte hat ein Code es seinen Subjekten oder
200
Untertanen freigestellt, die Negation zu manipulieren und
diese Manipulation auf einen operativen Begriff zu bringen.
Um auf den technischen Stand von heute zu kommen,
mußte die Negation nur noch auswandern: von den Mün­
dern und Papieren der Leute in die Elektronik-Gatter einer
Booleschen Algebra.
Diese Emigration ging den unscheinbarsten aller Wege: Die
Null als Ziffer oder Datum, aber auch als Befehl oder Ope­
rationsbegriff mußte die Alltagssprachen verlassen. Der
Einzug arabischer Ziffern im Mittelalter machte das Datum
Null anschreibbar, aber noch keine Befehle wie Negation
oder Addition. Wer Plus meinte, schrieb seit den Griechen
wirklich Und, in ausgeschriebenen Buchstaben. Erst seit
Leibniz gibt es jenseits jeder Alltagssprache die mathemati­
schen Kreuze, Striche und Doppelpunkte. Erst seit Babba­
ges Analytical Engine, die 1830 mit Programm- und Daten­
speicher zum Vorläufer unserer Computer wurde, ist das
Nein ein Maschinenzustand, allerdings wie alle Programm­
befehle noch von den Datenzuständen unterschieden. Erst
seit George Booles Algebra von 1850 schließlich vergeht
auch dieser Unterschied. Seitdem können, sehr anders als
in Alltagssprachen, auch Sätze summiert oder multipliziert
werden - einfach durch die Verknüpfung ODER und
UND. Daß dabei alle Verknüpfungen aus Negationen
machbar sind, aber nicht umgekehrt, beweist den Vorrang
der Negation. Und daß es im weltweiten Computerjargon
nicht NICHT, nicht UND und nicht ODER heißt, sondern
NOT, AND und OR, beweist noch mehr: Nach Lohmanns
Thesen konnten Computeralgorithmen nur aus einer Spra­
che vom Typ des Englischen entstehen, dessen Flexionsar­
mut die indoeuropäische Tendenz auf Trennung zwischen
Lexikon und Grammatik, Daten und Befehlen ja maximiert
hat.
Unter Computerbedingungen wird es also machbar, maschi­
nell zu affirmieren, was nicht ist: Siegeszug der Simulation.
Das Symbolische hat aufgehört, wie im Goethe-Gedicht ein
Gotteswort zu sein, das dann im Imaginären nicht beson­
ders neuen Menschen generiert. Es ist zu einer reinen Syn­
tax aus Befehlen oder AlgOrithmen geworden, um Sachen
zu generieren, die es schlechthin nicht gegeben hat.
Vor nunmehr acht Jahren beschloß Benoit Mandelbrot. der
201
von Warschau über Paris in IBM's Amerika · verschlagene
Mathematiker, eine scheinbar ganz harmlose Formel vom
Anfang unseres mathematischen Jahrhunderts noch einmal
zu überprüfen. Die komplexe Zahl z wurde ins Quadrat ge­
setzt und mit einer komplexen Zahl c addiert, diese Summe
wieder ins Quadrat gesetzt, usw. usw. Kürzer gesagt:
Z n +l= z� + c. Eine schlichte Rekursion, die aber bei kon­
stantem Startpunkt Zo 0 und variiertem c endlose Zahlen­
=

kolonnen auswarf. Mandelbrots Frage hieß einfach, ob das


Gleichungsresultat im komplexen Einheitskreis blieb oder
aber größer als Eins wurde, fortan also nach Unendlich
strebte. Nur hätte keine Menschenrechenzeit gereicht, um
diese simple Ja-Nein-Entscheidung Punkt für Punkt zu tref­
fen, schon weil es für sie keine geschlossene, also mathema­
tisch elegante Lösung gibt. Das öde Geschäft der Rekursion
durch alle n und z übernahm vielmehr ein Vax-Computer,
den Mandelbrots Gastuniversität Harvard eben angeschafft
hatte. So verschwindet heute der sogenannte Mensch selbst
als Mathematiker, um einem Experimentieren Platz zu ma­
chen, "in dem der Digitalrechner die Rolle spielt wie das
Schiff für Magellan [oder] das Teleskop für den Astrono­
men". Denn erst die technische Visualisierung der Mandel­
brot-Menge offenbarte Strukturen im Chaos der Zahlenko­
lonnen. Mit völlig konventionell zugeordneten Farbwerten
zeigte Harvards altersschwache Tektronix-Bildröhre für je­
den berechneten Bildpunkt an, nach wievielen Iterationen
der Wert Zn den Einheitskreis verlassen würde. Das Mandel­
brot-Männchen, filigranes Lieblingskind aller Computergra­
phik, war geboren.
Aber nicht, weil Mandelbrot irgendwe1che Figuren nach ir­
gendwekhen prometheischen Selbstbildern hätte schaffen
wollen. Die Bildschirmdarstellung war nur ein Mittel, um
algebraische Fragen zu beantworten. Doch liefern eben
schon denkbar einfache Algorithmen, wenn sie über Com­
puter als Number Cruncher und Monitore als technische
Geometrien laufen, Resultate über alle Denkbarkeit hinaus.
Mandelbrotmengen sind selbstähnlich: sie enthalten Man­
delbrotmengen, die Mandelbrotmengen enthalten usw. ins
unendliche Kleine. Als hätte Prometheus Menschen ge­
formt, die Menschen formen, die Menschen formen, bis der
Begriff einer prometheischen oder poetischen Schöpfer-
202
kraft selber verschwunden wäre. Aber eben das schloß die
Fiktion zur Goethezeit mit guten Gründen aus. Wären
nämlich Mandelbrotmännchen in ihrer großen Mannigfal­
tigkeit nicht aus Computern gekommen, sondern schon zur
Goethezeit vom Himmel gefallen, hätte die damalige Wis­
senschaft - wie ein Kollege Mandelbrots spottete - vermut­
lich nichts besseres im Sinn gehabt, als ihre Figuren (wie
Blätter und Steine ja auch) nach Ähnlichkeiten der Farben
und Formen zu klassifizieren. So ohnmächtig steht das Ima­
ginäre der Gestalterkennung vor Algorithmen: es übersieht
sie schlicht.
Mandelbrot dagegen, der nichts auf der Welt fingieren
wollte, weder Blätter, Steine noch Menschen, der die Com­
puter von Harvard und IBM nur zu Rechenzwecken ein­
schaltete, hatte eben damit ein Stück Natur simulien. Etwas
nie Gesehenes öffnete die Augen. Nachträglich kam zutage,
daß die Selbstähnlichkeit von Mandelbrotmengen auch in
Wolken und Ufern, Eisblumen und Korallenriffen haust.
Wenn simulieren besagt, zu bejahen, was nicht ist, und dis­
simulieren besagt, zu verneinen, was ist, dann hat die Com­
puterdarstellung komplexer, zum Teil also imaginärer Zah­
len eine sogenannte Wirklichkeit buchstäblich dissimulien,
nämlich auf Algorithmen gebracht. Seit Mandelbrots Frakta­
len gibt es technogene Wolken und Uferlinien. Das ist
keine Kunst, aber auch von keiner Kunst zu erreichen.
Sicher, 1952 schrieb Benn ein Gedicht unter dem sofon wi­
derrufenen Titel Wirklichkeit:
Eine Wirklichkeit ist nicht vonnöten,
ja es gibt sie gar nicht, wenn ein Mann
aus dem Urmotiv der Flairs und Flöten
seine Existenz beweisen kann.
Aber dieser lyrische Existenzbeweis geht nicht auf die
Flairs und Flöten, die er gerade umgekehrt als Urmotive
voraussetzen muß, sondern nur auf einen Schreiber, dem
unsere hinterm technischen Stand einigermaßen verlorene
Gesetzgebung noch immer Urheberrechte verheißt. Das Ur­
heberrecht an Wolken und Uferlinien dagegen, wenn sie
denselben Algorithmen wie Mandelbrots Computergraphi­
ken gehorchen, käme zuletzt ihnen selber zu. Wohl darum
ist Software durch Copyrights so schwer zu schützen.
203
Rudolf Arnheims Medientheorie brachte "die anspruchs­
volle Forderung", die wir seit Erfindung der Fotografie an
"Abbildungen" stellen, auf folgende Formel: Die Abbildung
"solle nicht nur dem Gegenstand ähnlich sein, sondern die
Garantie für diese Ähnlichkeit dadurch geben, daß sie sozu­
sagen ein Erzeugnis dieses Gegenstandes selbst, d. h. von
ihm selbst mechanisch hervorgebracht sei - so wie die be­
leuchteten Gegenstände der Wirklichkeit ihr Bild mecha­
nisch auf die fotografische Schicht prägen". Damit ist zwi­
schen Medien und Künsten, die ja nie vom Gegenstand
selber mechanisch hervorgebracht sein können, zwar eine
notwendige, aber noch keine hinreichende Unterscheidung
getroffen. Denn neben der Abtastung durch eine Sensorik,
die Reales in seiner Zufalls streuung nach mechanischen,
chemischen oder anderen Größen erfaßt und elektrifiziert,
steht bei Medien noch die Verarbeitung solcher übertrage­
nen und zwischengespeicherten Daten. Spätestens seitdem
die technischen Speichermedien wie Film oder Grammo­
phon und die technischen Übertragungsmedien wie Fernse­
hen oder Rundfunk sämtlich zu Untermengen des Compu­
ters als Universaler Diskreter Maschine geworden sind,
dienen Archivierung und Transmission nur dazu, die Da­
tenverarbeitung oder -manipulation zu maximieren. Datum
heißt auch Würfel, und wie der voreinst ästhetische oder
geordnete Kosmos der Philosophen unter technischen Be­
dingungen zum großen Würfelspiel geworden ist, so kann
die Datenverarbeitung ihre Abtastwerte nach allen Spielre­
geln mathematischer Operationen noch einmal verwürfeln,
bis eine Wirklichkeit tatsächlich nicht mehr vonnöten ist.
Solche Simulationen starteten bescheiden - in den Analog­
medien der Jahrhundertwende. Georges Melies, der ehema­
lige Zauberer und Konkurrent der Lumieres, die ihr neues
Medium ja nur zur Projektion von Dokumentarfilmen ein­
setzten, drehte eines Tages eine Pariser Straßenszene. Mit­
ten in der laufenden Einstellung ging ihm das Zelluloid aus.
Melies mußte eine neue Rolle einlegen. Aber weil das Ka­
merastativ seinem Namen treu blieb und diese Manipula­
tion unerschüttert überstand, lief die Szene bei ihrer Pro­
jektion weiter, als hätte gar kein Schnitt stattgefunden.
Häuser und Straßen blieben Häuser und Straßen. Nur eben,
daß Passanten ins Nichts verschwanden und andere Passan-
204
ten aus de mselben Nichts in die Bildmitte sprangen. Melies
hatte durch Zufall oder Würfelwurf den Stoptrick erfunden.
Also konnte er den Zufall fonan gleich einplanen und im
Mai 1896 "vor den Augen der erstaunten und hingerissenen
Zuschauer L 'Escamolemenl d'une dame, das Verschwinden ei­
ner Frau aus dem Bilde" vorführen. Die Simulation war
durch Negation perfekt.
Den akustischen Medien fiel solche Time Axis Manipula­
tion oder Zeitachsenmanipulation, wie die Ingenieure sa­
gen, nicht in denselben Schoß. Kino basiene von vornher­
ein, seit den wissenschaftlichen Experimenten von Muy­
brigde und Marey, auf diskreten, äquidistanten Abtastungen
pro Sekunde, die zu Stoptricks und allen anderen Montage­
techniken nachgerade einluden. Daran hat der Übergang
von den 24 Henz des Films zu den 250 000 Bildpunkten,
die der Fernsehstrahl 25mal pro Sekunde aufbauen muß,
wenig geänden. Diskrete Größen sind problemlos zwi­
schenzuspeichern und damit schon der Zeitachsenmanipu­
lation zugänglich.
Edisons Phonographenwalze von 1877 und Berliners zehn
Jahre jüngere Grammophonschallplatte dagegen hatten ih­
ren ganzen Stolz an der Treue. mit der sie die stetigen
Schwingungen von Schallwellen ebenso stetig und analog
aufzeichneten. Wo das griechisch-europäische Vokalalpha­
bet nurmehr undifferenzierbare Einheiten kannte, löste die
Grammophonie als Visible Speech noch Ereignisse auf, de­
ren Frequenzen über jeder Wahrnehmungsschwelle liegen.
Manipulationen des Realen konnte es vorerst also nur in
diesem Frequenzbereich geben - mit eingeschleiften Fil­
tern etwa -, nicht aber im Zeitbereich. Erst das Tonband,
diese AEG-Entwicklung des zweiten Weltkriegs, besehene
seinen Tonmeistern Schnittmöglichkeiten nach dem Modell
des Films, die dann beim akustischen Cut up von William
Burroughs zu ihren strategischen Anfängen zurückfanden.
Seitdem sind Augen und Ohren gleichermaßen täuschbar.
Bild- und Soundmontagen unterlaufen ihre Wahrneh­
mungsschwellen und damit Kontrollmöglichkeiten.
Den Output solcher Techniken, wenn er nicht strategisch
ist wie bei Radar oder Hochrechnungen des nächsten Welt­
kriegs. sondern Rock-Musik oder Video-Clip, verwechseln
wir noch immer mit Kunst, einfach weil auch bei Cuttern
205
oder Tonmeistern Planung und Voraussicht mitgespielt ha­
ben. Goethe bei der Überführung seines Prometheus-Dra­
mas in die Prometheus-Hymne korrigiene Personalprono­
mina; Cutter oder Tonmeister schneiden und versetzen
Zeiteinheiten. Aber unter Medienbedingungen erfaßt sol­
che Voraussicht nicht nur die Ketten eines symbolischen
Codes. Zwischenspeicherung und Berechnung beliebig ab­
getasteter Daten machen auch das Unvorhersehbare vorher­
sehbar, das Reale im Wonsinn Lacans zum manipulierbaren
Code.
1940, als Britannien die Luftschlacht über England noch zu
fürchten hatte, funkte es eine Bitte um wissenschaftlichen
Beistand nach Washington. Woraufhin das nachmalige Pen­
tagon zwei große Mathematiker, Norben Wiener vom Mas­
sachusetts Institute of Technology und Claude Shannon
von den Bell Telephone Laboratories, mit der Entwicklung
des ersten Waffensubjekts beauftragte. Gesucht war ein
Flakgeschütz, das seine langsame Bedienungsmannschaft
überspielte und das Ziel automatisch ansteuene. Wiener
mußte nur ein paar Differentialgleichungen, die er ausge­
rechnet zur Berechnung von absolut weißem Rauschen auf­
gestellt hatte, hie und da vereinfachen, um anfliegende
deutsche Bomber mit einem technischen Orakel ihrer Flug­
bahn zu konfrontieren. Im Unterschied zu Soldaten oder
Panzern sind Flugzeuge ja nicht absolut, sondern nur rela­
tiv langsamer als die Flakgranate, die sie treffen soll. Also
dürfen die Batterien nicht auf die Gegenwan, sie müssen
auf die zukünftige Position des Bombers zielen, wie sie er­
stens von physikalischen Kontingenzen und zweitens von
taktischen Hakenschlägen des Feindes abhängt. Beide Unsi­
cherheiten überspielt Wieners Linear Prediction Code. Ver­
gangene Positionen des Feindflugzeugs werden abgetastet,
zwischengespeichen und mit vorerst willkürlich gewählten
Koeffizienten multiplizien. Durch Akkumulation dieser
Produkte entsteht sodann - rekursiv wie bei Mandelbrot­
mengen - ein neuer Schätzwert, der die nächste Zukunft
des Feindes vorhersagt. Selbstredend ist dieser Schätzwen
noch fehlerbehaftet, kann aber mit der nächsten Abtastung
im Realen verglichen werden, worauf Wieners Algorithmus
das kleinste Fehlerquadrat ermittelt und auf dessen Basis
seine Koeffizienten nachstellt. Wenn Computer mit ihrem
206
Mikrosekundentakt diese mühsame Berechnung nur zurei­
chend beschleunigen, sind Flugzeuge mit ihrer sehr endli­
chen Beschleunigung dem Orakel hilflos ausgeliefert. Order
from noise (um mit Heinz von Foerster zu reden) schießt
sie ab.
Man weiß, vor allem dank Virilio, daß und wie solche Echt­
zeitsimulationen die Waffentechnik mittlerweile revolutio­
niert haben. Sie vollenden jenen Dreischritt militärischer
Eskalation, der vom Symbolischen über das Imaginäre end­
lich zum Realen selber geführt hat (weshalb auch lehrbü­
cher der reinen Mathematik beim Kapitel "Simulation"
plötzlich auf eine Wirklichkeit und deren Gefahr zu spre­
chen kommen). Am Anfang stand selbstredend das Schach­
spiel, diese älteste Simulation des Kriegs mit abgezählten
Feldern und vorgeschriebenen Zügen, das wie die herge­
brachten Künste auch nur im Symbolischen operieren
konnte. Den Schritt zum Imaginären als einer Funktion der
Gestalterkennung taten dann Offiziere wie jener Karl Frei­
herr von Müffling, der nicht nur als Hauptmann in Goethes
Wahlverwandtschaften, sondern auch als erster Chef des Ge­
neralstabes der preußischen Armee "den Gebrauch des
Meßtischs bei der Geländeaufnahme einführte" und alle
Schachspielstrategien durch die "Gepflogenheit" ersetzte,
"auf der Karte oder am Modell, im Sandkasten, operative
Lagen als ,Kriegsspiel' durchzuspielen, um die General­
stabsoffiziere in der Erfassung strategischer und taktischer
Einzelfragen, unter Vermeidung kostspieliger Geländerei­
sen, zu schulen. Für seine Zeit war das etwas ganz
Neues."
Müfflings Sandkasten als Miniatur einer nicht codierbaren
Kontingenz bezeichnet sehr genau den Schritt von Künsten
zu Analogmedien, von Fiktionen zu Simulationen. Im Zeit­
alter napoleonischer Kriege nahm der Befehlsfluß Abschied
vom Schriftmedium. um mit der Erde selber zu rechnen
und tellurische Krieger. also Partisanen im Wortsinn Carl
Schmitts hervorzubringen. "Musst mir meine Erde / doch
lassen stehn", sagte Goethes Prometheus zwar herausfor­
dernd zum Herrn der alten Götter; aber er selber machte aus
Erde auch nur Menschen. Eine strategisch planbare Erde
dagegen, wie sie in Clausewitz' Schrift Vom Kriege und folg­
lich auch in Kleists HermannsschJacht zum Grundbegriff
207
wurde, entstand erst mit den Reproduktionstechniken des
19. Jahrhunderts, bis die Materialschlachten des ersten
Weltkriegs sie dann pulverisiert haben.
Wenn unser Jahrhundert eben solche Kontingenzen pulve­
risiert oder digitalisiert - ob nun in Wieners Unear Predic­
tion Code oder in all den abgespeicherten Radarecho-Land­
karten, die heutige Cruise Missiles automatisch auf ihre
Ziele einsteuern - , dann nicht, um wieder zur kalkulierba­
ren Kombinatorik eines Schachspiels zurückzukehren. Die
Digitalisierung ist vielmehr ein Kurzschluß, der unter Um­
gehung alles Imaginären das Reale in seiner Kontingenz
erstmals symbolischen Prozeduren auftut. Der Schnitt, bei
Film oder Tonband eine ästhetisch geplante Korrekturmög­
lichkeit von Cuttern oder Tonmeistern, entgleitet der trä­
gen Menschenhand und kommt auf Geschwindigkeiten im
Mikrosekundenbereich. Diese diskret gemachte Zeit des
Schaltwerks erlaubt dann Manipulationen am Realen, wie
sie unterm Regime hergebrachter Künste nur am Symboli­
schen möglich waren.
Shannons berühmtes Abtasttheorem, demzufolge solche au­
tomatisierten Schnitte mindestens doppelt so schnell wie
die höchste Nutzfrequenz sein müssen, setzt wie seine In­
formationstheorie im ganzen voraus, daß Nachrichtentech­
niken Kontingenz als solche zu verarbeiten haben. Zur
Übertragung wohldefinierter Algorithmen wie einer be­
stimmten Sinusschwingung oder der Zahl 1T könnte das eine
Informationssystem ja sehr viel ökonomischer in zwei ge­
trennte Systeme aufgetrennt werden.
Genau diese Auftrennbarkeit definiert jedoch hergebrachte
Zeitkünste wie Uteratur und Musik. Ein Gedicht als wohl­
geordnete Folge von Rhythmen und/oder Reimen, eine Par­
titur als wohlgeordnete Folge melodischer und harmoni­
scher Fortschreitungen sind eben darum memorierbare
Nachrichten. Zu Signalen von unvorhersehbarer Kontin­
genz macht sie (bekanntlich) erst die Aufführung. Denn
weder Texte noch Partituren können den Klang von Stim­
men oder gar Orchestern notieren. Vor solchen stochasti­
schen Elementen versagt jede Fiktion, einfach weil die ba­
sale Analyse unserer Kultur, das griechische Vokalalphabet,
auf ihrer Abstraktion beruht hat.
Bei dieser ästhetischen Fehlanzeige setzt die digitale Signal-
208
verarbeitung an. Shannon entwickelte sein Abtasttheorem
und Informationsmaß in genau del}l historischen Moment,
als Notwendigkeiten des zweiten Weltkriegs das Telefonsy­
stem, diese von Haus aus analoge Stimmenübenragung, auf
digitale Verfahren wie Frequenzmultiplex oder Pulscode­
modulation umstellten. Jeder einzelne Sprachlaut wurde
zur Zahlenkolonne. Erstes Resultat von Shannons Arbeiten
war folglich ein Vocoder zur telefonischen Verschaltung
der Kriegsherrn Roosevelt und Churchill, wie ihn die Nach­
kriegszeit dann aber allen besseren Rockgruppen zugespielt
hat. Entsprechend ist Wieners Linear Prediction Code. auch
wenn er anfangs auf die Heinkels oder Messerschmitts der
deutschen Luftwaffe zielte. heute eins der klassischen Ver­
fahren geworden, nach den Computer den Klang von Spra­
che oder Musik erstens analysieren und zweitens syntheti­
sieren können. Seitdem ist es selbst in Echtzeit kein
Problem mehr. Männerstimmen in Frauenstimmen oder
Streicher in Bläser zu verwandeln.
Von ,solchen Soundeffekten träumt die Musik. seitdem und
erst seitdem technische Medien ihr Konkurrenz machen.
Wagners Gesamtkunstwerk war ein einziger Angriff auf die
Schrift. also auf Text und Panitur zugleich. Nach seinem
Vorwurf, der die alphabetischen Fiktionen der Goethezeit
schon von einem neuen Simulationsbegriff her überrollte,
liefern Texte ihrem Publikum immer nur den Katalog einer
Bildergalerie, nicht aber die Bilder selber. Wagners Gesamt­
kunstwerk. mit anderen Wonen, füllt eine technologische '
Lücke. Deshalb ist es absolut folgerecht, was das Musik­
drama von TriJtan und /Jolde mit seinem mittelalterlichen
Vorwurf, dem Ritterroman Gottfried von Straßburg an­
stellt.
Gottfrieds Tristanroman begann mit einem langen Akrosti­
chon. das die verschlüsselten Namen von Gönner und
Schreiber nannte. Nach diesem Proömium begannen die
einzelnen Bücher des Romans jeweils mit zwei Versen, die
ihrerseits mit Einzelbuchstaben der beiden Namen Tristan
und Isolde begannen: das erste Buch also mit T und I. das
zweite mit R und S. usw. So versteckt. aber auch so präzise
unterstrich Gottfried. der nicht umsonst Magister und da­
mit Schreibkundiger hieß. die Schriftlichkeit seiner Fiktion.
Er adressiene nicht mehr (wie seine vielen Vorgänger) eine
209
Gruppe adliger Ohrenzeugen. Als erster Schriftsteller der
deutschen Vulgärsprache institutierte Gottfried mit Buch­
stabenspielen, die bloßen Ohren ja notwendig entgehen,
ein neues Publikum: die Alphabeten oder Leser.
Wagners Tristan ist der Widerruf dieses ganzen Nachrich­
tensystems. Überall lösen Klänge jene Buchstaben ab, wie
sie als Literatur von Gottfried über Gutenberg bis Goethe
geherrscht haben. Im mittelalterlichen Roman waren diesel­
ben Initialen T und I, mit denen der Schreiber Gottfried
spielte, zugleich Signale, mit denen die beiden Helden,
auch sie also Schriftkundige, ihre geheimen Liebesnächte
vereinbarten. Tristan und Isolde selber beschrifteten mit T
und I kleine Holzspäne, setzten sie auf den Bach aus und
meldeten einander auf diese Weise, wann von Marke keine
Gefahr drohte. In Wagners Musikdrama dagegen erscheint
an der genauen Stelle dieses Buchstabencodes ein Klang.
Den zweiten Akt Trislan eröffnet ein zweideutiger und
schwirrender Orchesterakkord, dessen Entschlüsselung den
Handelnden selber zum dramatischen Problem wird. Die
menschenunmögliche Klanganalyse betritt die Bühne. Bran­
gaene, Isoldes Dienerin, hört den Orchesterakkord, nur
allzu korrekt, als Jagdsignal des Königs Marke, dessen dro­
hende Nähe Liebesnächte also noch verbietet. Isolde dage­
gen wird vom "Ungestüm" ihres "Wunsches", wie Wagner
schreibt, dazu verführt, "zu vernehmen, was" sie "wähnt":
Ihr zufolge "tönt nicht Hörnerschall so hold", sondern "des
Quelles sanft rieselnde Welle rauscht so wonnig einher".
Eine erotisch-akustische Halluzination ersetzt also wohlde­
finierte Intervalle, wie Jagdhörner sie hervorbringen, durch
Klangfarbenmusik, eine Partitur durch Synthesizer-Effekte
avant la lettre. Die Musik verläßt das Symbolische von No­
ten oder Buchstaben, mögen sie C und F heißen oder T und
I, um in die Kontingenz eines rosa Rauschens überzuge­
hen. Sie wird, mit anderen Worten, analphabetisch: An­
stelle der hergebrachten musikalischen Fiktionen, wie sie
etwa in enharmonischen Verwechselungen von C-Dur und
F-Dur lägen, tritt ein schieres Nebeneinander dieser beiden
Tonarten in den Hörnern. Und das Orchester im ganzen,
immer wenn Brangaene es als Hörnerschall hört und be­
singt, klingt tatsächlich wie Hörnerschall, um immer dann,
wenn Isolde es als Quellgeräusch hört und besingt, tatsäch-
210
Ich bin für eine Kunst, die etwas anderes tut
als in einem Museum auf ihrem Arsch zu
sitzen.
Claes Oldenburg
lieh in Quellgeräusch überzugehen. Soundmodulationen
also ersetzen und überbieten harmonische Modulationen,
diese innere Grenze kompositorischer Fiktion. Wagner, mit
anderen Wonen, hätte digitale sound sampIer gut gebrau­
chen können.
Im Akustischen ist es seit Shannon und Wiener kein Pro­
blem mehr, des Quelles sanft rieselnde Welle zu simulie­
ren. Signale, die wie die musikalischen -flur Variabeln der
Zeit sind, erlauben schon den Mikroprozessoren von heute
Echtzeitanalysen und Echtzeitsynthesen, also Simulationen.
Dagegen erforden schon die Projektion des Raums auf eine
Fläche variabler Bildpunkte ein zweidimensionales Signal­
prozessing, das die Zahl der numerischen und logischen
Operationen um eine ganze Potenz steigen. Mandelbrot­
männchen mit ihren Tausenden von Pixels sind langsame
Gebunen. Pro Sekunde müssen Recheneinheiten und Gra­
phik-Display-Prozessor nicht bloß 25 Schnitte wie der
Spielfilm verarbeiten, sondern sechs bis sieben Millionen
Quantisierungen. Erst dann verschwindet der Mensch wie
am Ufer des Meert!s ein Gesicht im Sand. Erst dann wird
die Welle, die ihn auslöscht und auf Courbets Gemälde so
wenig erscheinen konnte wie auf Hokusais Holzschnitt, mit
ihrem Computeralgorithmus zusammenfallen. Die Übenre­
tung des Gebots, sich kein Bildnis zu machen, kostet Re­
chenzeit - nicht nur den Untenanen eines toten Gottes,
sondern dem Realen selber.

Quellen

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München 1979.

212
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Wiener, Norben, Cybemetics or Control and Communication in
the Animal and the Machine, Cambridge/Mass. 21963.
J E A N B A U D R I L LARD
Kool Killer
oder Der Aufstand der Zeichen

Die Stadt, das Urbane , ist zugleich ein neutralisierter, ho­


mogenisierter Zeit-Raum, ein Zeit-Raum der Indifferenz
und zunehmenden Absonderung von Stadt-Ghettos, Aus­
sonderung von Stadtvierteln, Rassen und bestimmten Al­
tersklassen: zerstückelter Raum distinktiver Zeichen. Jede
Tätigkeit, jeder Augenblick des täglichen Lebens ist durch
vielfältige Codes einem bestimmten Zeit-Raum zugeordnet.
Die Rassenghettos an der Peripherie oder im Herzen der
Städte sind nur der äußerste Ausdruck dieser Konfiguration
des Urbanen: ein immenses Zentrum der Auslese und Ein­
schließung, wo das System sich nicht nur ökomomisch und
im Raum reproduziert, sondern auch in der Tiefe, durch die
Verzweigung der Zeichen und der Codes, durch die symbo­
lische Zerstörung gesellschaftlicher Verhältnisse.
Es gibt, nach dem Bild des ökonomischen Systems selbst,
eine horizontale und eine vertikale Expansion der Stadt.
Dazu kommt aber noch eine dritte Dimension der politi­
schen Ökonomie, die Dimension der Besetzung, Vernet­
zung und Abtragung aller Sozialität durch die Zeichen. Ge­
gen diese Dimension vermögen weder Architektur noch
Urbanismus etwas, gehen sie doch selbst aus dieser Wen­
dung hervor, die die allgemeine Ökonomie des Systems ge­
nommen hat. Sie sind deren operationale Semiologie, das
politische Instrument jener Operationalisierung der Stadt
vermittels der Zeichen.
Einst war die Stadt vorrangig der Ort der Produktion und
Realisation der Ware, der Ort industrieller Konzentration
und Ausbeutung. Heute ist sie vorrangig der Ort der Exe­
kution des Zeichens als eines Urteils über Leben und
Tod.
Wir leben nicht mehr in einer von roten Gürteln aus Fabri­
ken und an der Peripherie gelegenen Arbeitersiedlungen
umgebenen Stadt. In jene Stadt schrieb sich noch, im Raum
selbst, die historische Dimension des Klassenkampfes ein,
die Negativität der Arbeitskraft, eine irreduzible gesell­
schaftliche Besonderheit. Heute ist zwar die Fabrik als Mo-
2 14
delI der Vergesellschaftung durch das Kapital nicht ver­
schwunden, aber in der allgemeinen Strategie tritt sie ihren
Platz ab an die gesamte Stadt als Raum des Codes. Die Ma­
trix des Urbanen ist nicht mehr die der Realisierung einer
Kraft (der Arbeitskraft), sondern die der Realisierung einer
Differenz (der Operation des Zeichens). Die Metallurgie ist
zur Semiurgie geworden. Wohl existiert immer noch das
Wertgesetz, aber es hat sein Terrain gewechselt. Aus dem
Wertgesetz im Sinne der Ökonomen oder im Sinne von
Marx - Gesetz der quantitativen Äquivalenzen, des allge­
meinen Äquivalents und des Mehrwerts - ist das Wertge­
setz im Sinne Saussures geworden: jeder Term eines Sy­
stems hat Wert nur durch seine Beziehung zu den anderen,
zu allen anderen Termen; kein Term hat Wert an sich, viel­
mehr geht der Wert aus der totalen Austauschbarkeit der
Elemente hervor, er ist die dem Code entsprechende varia­
ble Geometrie: strukturaler Wert. Es ist dieses linguistische
und strukturale Wertgesetz, das uns heute regiert und das
einer phantastischen Ausweitung des ökonomischen Wert­
gesetzes entspricht.
Dieses Scenario des Urbanen - in den neuen, direkt aus der
Analyse der Bedürfnisse und Zeichen/Funktionen hervor­
gegangenen Städten ist es materielle Wirklichkeit gewor­
den. Hier ist alles auf der Basis einer analytischen Defini­
tion konzipiert, projektiert und realisiert: Wohnung,
Transport, Arbeit, Freizeit, Spiel, Kultur, ebensoviele aus­
tauschbare Terme auf dem Schachbrett der Stadt, in einem
homogenen, als totales Environment definierten Raum.
Hier verbindet sich die urbane Perspektive auch wieder mit
dem Rassismus, denn es macht keinen grundsätzlichen Un­
terschied, ob die Leute aufgrund einer rassischen Defini­
tion in einem Ghetto genannten homogenen Raum zusam­
mengepfercht werden, oder ob sie aufgrund einer
funktionalen Definition ihrer Bedürfnisse in einer neuen
Stadt homogenisiert werden. In beiden Fällen handelt es
sich um dieselbe Logik, dasselbe Bestimmungsprinzip.
Die Stadt ist nicht mehr das politisch-industrielle Vieleck,
das sie im 19. Jahrhundert gewesen ist - heute ist sie ein
Vieleck aus Zeichen, Medien und Codes. Infolgedessen
liegt ihre Wahrheit nicht mehr in einem geographischen
Ort wie der Fabrik oder etwa dem traditionellen Ghetto.
215
Ihre Wahrheit, Einschließung in die Zeichen/Form, ist
überall. Sie ist das Ghetto des Fernsehens und der Wer­
bung, das Ghetto der Konsumenten/Konsumierten, der im
voraus gelesenen Leser, der codierten Decodierer sämtli­
cher Botschaften, der Zerstreuer/Zerstreuten der Freizeit
usw. Jeder Zeit/Raum des urbanen Lebens ist ein Ghetto,
und alle stehen miteinander in Verbindung. Die Vergesell­
schaftung oder vielmehr Entgesellschaftung läuft heute
über diese strukturale Ventilation quer durch die vielfälti­
gen Codes. Das Zeitalter der Produktion, der Ware und der
Arbeitskraft kam noch einer Solidarität des gesellschaftli­
chen Prozesses gleich, die bis auf die Ausbeutung sich er­
streckte - auf diese Vergesellschaftung, die teilweise durch
das Kapital selbst realisiert wird, gründet Marx seine revo­
lutionäre Perspektive. Die Zeit der Re-Produktion aber ist
die Zeit des Codes, der Streuung und der totalen Aus­
tauschbarkeit der Elemente. Die historische Solidarität des
Produktionsprozesses: die Solidarität der Fabrik, des Stadt­
viertels und der Klasse, ist verschwunden. Von nun an sind
alle voneinander getrennt und gegeneinander indifferent
im Zeichen des Fernsehens und des Autos, im Zeichen der
überall in die Medien und die Stadtpläne eingeschriebenen
Verhaltensmodelle. Alle sind ausgerichtet auf ihren jeweili­
gen Wahn einer Identifikation mit Leitmodellen und bereit­
gestellten Simulationsmodellen. Alle sind austauschbar -
wie diese Modelle selbst. Dies ist das Zeitalter der Indivi­
duen mit variabler Geometrie. Die Geometrie des Codes je­
doch, sie bleibt fix und zentralisiert. Das Monopol dieses
überall im urbanen Gewebe zerstreuten Codes ist die wirk­
liche Form des gesellschaftlichen Verhältnisses.

Denn es läßt sich voraussehen, daß die Produktion, die


Sphäre der materiellen Produktion sich dezentralisiert und
daß die historische Beziehung zwischen der Stadt und der
Warenproduktion zu Ende gehen wird. Das System kann
die produzierende Fabrikstadt, Zeit/Raum der Ware und der
gesellschaftlichen Warenverhältnisse, entbehren. Nicht ent­
behren kann sie hingegen das Urbane als Zeit/Raum des Codes
der Produktion . . . Denn die zentrale Stellung des Codes
ist heute die eigentliche Definition der Macht: das Urbane
(und nicht mehr die Stadt) als Zentralstelle des Codes.
216
Ebenso läßt sich voraussehen, daß die Produktion die Form
der Selbstverwaltung annehmen wird; das ist gewiß ihre
vollendete Form, und das System kann sich dem sehr schön
anpassen - doch vermag es das nicht in der Sphäre der Zei­
chen und des Codes. Don muß das Monopol absolut blei­
ben. Über die Fabrik kann das System einen Vergleich
schließen, nicht aber über die 0; R. T. F. (das Staatliche Ra­
dio und Fernsehen). Der Unterschied zwischen Sendern
und Empfängern, zwischen Produzenten und Konsumen­
ten von Zeichen muß total bleiben, denn in ihm liegt heute
die wirkliche Form der gesellschaftlichen Herrschaft.
Politisch wirklich von Belang ist also nur das, was heute
diese Semiokratie, diese neue Form des Wengesetzes attak­
kien.
In diesem Sinn läßt sich das jähe Hereinbrechen der Graffiti
über die Wände, Busse und U-Bahnzüge New Yorks wie
auch das Hervorbrechen wilder Wandmalereien in den
Ghettos von Chicago, von Boston, in der New-Yorker
Bronx usw. deuten.
In New York gab es im Januar 1972 nur die City Walll,
große Wände, sogar in Manhattan, die unter der Leitung ei­
nes Künstlerverbandes bemalt wurden - also so etwas wie
eine neue Form urbanen Designs in großem Ausmaß. Aber
was seither vor sich gegangen ist, hat damit nicht mehr das
Geringste zu tun.
Seit dem Frühjahr ist eine Woge von Graffiti über New
York hinweggerollt, die, von den Wänden und Zäunen der
Ghettos herkommend, sich zuletzt auch der U-Bahnen und
Busse, der Lastwagen und Aufzüge, der Flure und Monu­
mente bemächtigt hat, um sie über und über mit rudimentä­
ren oder verdrehten Graphismen zu bedecken, deren Inhalt
- und das ist ein wichtiges, in seinem Umfang neues Cha­
rakteristikum - weder politisch noch pornographisch ist: es
sind bloß Namen, oft aus Underground-Comics bezogene
Spitznamen: DUKE SPRIT SUPERKOOL KOOL-KILLER
ACE VIPERE SPIDER EDDIE KOLA uSW., gefolgt von ih­
ren Straßennummern: EDDIE 135 WOODIE 1 10 SHA­
DOW 137 uSW., oder auch von einer Zahl in römischen Zif­
fern als Index der Filiation oder Dynastie: SNAKE I
SNAKE II SNAKE III uSW., bis zu fünfzig, je nachdem, ob
der Name, die totemistische Benennung, von neuen Graffi-
217
tisten übernommen wird. All das wird mit dem Magie Mar­
ker gemacht, oder mit der Sprühdose, die Inschriften bis zu
einem Meter Höhe und mehr über die ganze Länge eines
Waggons möglich macht. Die Jugendlichen schleichen sich
des Nachts in die Bus- und U-Bahn-Depots ein, bis ins In­
nere der Wagen, und toben sich graphisch aus. Am näch­
sten Morgen durchqueren all diese Züge Manhattan in bei­
den Richtungen. Man wäscht sie ab (was schwierig ist), man
verhaftet die Graffitisten, man wirft sie ins Gefängnis, man
verbietet den Verkauf der Marker und Sprühdosen, vergeb­
lich, denn sie fabrizieren sie selbst von Hand und gehen
jede Nacht von neuem zu Werke.
Heute ist die Bewegung, zumindest in dieser außerordentli­
chen Gewalt, praktisch vorbei. Sie konnte nur kurzlebig
sein, und außerdem hat sie sich im Laufe eines Jahres ziem­
lich weit entwickelt. Die Graffiti wurden immer kunstvol­
ler, mit unglaublich barocken Graphismen und zweifellos
auf die verschiedenen operierenden Banden zurückgehen­
den Verzweigungen in Stil und Schule. Offenbar sind es
immer junge Neger oder Puertorikaner, bei denen die Be­
wegung ihren Anfang nimmt. Die Graffiti sind ein eigen­
tümlich New-Yorker Phänomen. In anderen Städten mit
starken ethnischen Minderheiten findet man zwar viele
wilde Wandmalereien, improvisierte und kollektive Werke
ethno-politischen Inhalts, aber kaum Graffiti. In Haarlem
dagegen gibt es kaum solche Wandmalereien. Eine einiger­
maßen deutliche Erklärung für diese Verteilung läßt sich
nicht finden.
Eines aber ist sicher: die einen wie die anderen sind nach
der Niederschlagung der großen urbanen Aufstände von
1966 bis 1970 entstanden. Eine wilde Offensive wie die
Aufstände, gehören sie einem anderen Typ an, mit verän­
dertem Inhalt und auf anderem Terrain. Ein neuer Typ der
Intervention in die Stadt, nicht mehr als Ort der ökonomi­
schen und politischen Macht, sondern als Zeit/Raum der
terroristischen Macht der Medien, der Zeichen und der
herrschenden Kultur.
Kommen wir zunächst, in der Perspektive jener neuen De­
finition des Wertgesetzes, auf die Inhalte der Graffiti zu­
rück. Austauschbarkeit der Elemente in einem funktionalen
Ensemble, indem jedes Element nur entsprechend dem
218
Code als variabler, struktureller Term Sinn annimmt. Unter
diesen Umständen kommt es tatsächlich einer radikalen Re­
volte gleich, zu sagen: "Ich existiere, ich bin der und der,
ich wohne in dieser oder jener Straße, ich lebe hier und
jetzt." Aus der Kombinatorik der Terme ausbrechen, nicht
um eine bestimmte Position, eine schlechterdings unmög­
lich gewordene Identität zurückzugewinnen, sondern um
die Unbestimmtheit gegen das System zu wenden, das sie
einem aufzwingt, um die Unbestimmtheit der Vernichtung
zu ver-wenden. Denn SUPERBEE SPIX COLA 139 KOOL
GUY CRAZY CROSS 136 das bedeutet nichts, ist nicht
-

einmal Eigenname, sondern symbolische Matrikel, gemacht,


um das gewöhnliche Benennungssystem aus der Fassung zu
bringen. Diese Terme haben keinerlei Originalität: sie stam­
men alle aus dem Comic-Strip, wo sie eingeschlossen waren
in Fiktion, doch brechen sie explosiv aus ihr hervor, um in
die Realität projiziert zu werden wie ein Schrei, als Ein­
wurf, als Anti-Diskurs, als Absage an jede syntaktische, poe­
tische und politische Elaboriertheit, als kleinstes, radikales,
durch keinerlei organisierten Diskurs einnehmbares Ele­
ment. Irreduzibel aufgrund ihrer Armut selbst, widerstehen
sie jeder Interpretation, jeder Konnotation, und sie denotie­
ren nichts und niemanden: weder Denotation noch Konno­
tation, derart entgehen sie dem Prinzip der Bezeichnung
und brechen als leere Signifikanten ein in die Sphäre der er­
füllten Zeichen der Stadt, die sie durch ihre bloße Präsenz
auflösen.
Namen ohne Intimität, wie das Ghetto ohne Intimität ist,
ohne Privatleben, aber von einem intensiven kollektiven
Austausch lebt. Was diese Namen in Anspruch nehmen, ist
nicht eine bürgerliche Identität, eine Persönlichkeit, son­
dern die radikale Exklusivität des Clans, der Bande, der
Gang, der Altersklasse, der Gruppe oder Ethnie, die, wie
man weiß, durch die Übertragung des Namens, durch die
absolute Treue zu diesem Namen, dieser totemistischen Be­
nennung entsteht, selbst wenn diese geradewegs aus den
Underground-Comics stammt. Diese Form symbolischer Be­
nennung wird von unserer Sozialstruktur, die jedem seinen
Eigennamen und eine private Individualität verpaßt, ver­
neint, indem sie im Namen einer abstrakten und universa­
len urbanen Sozialität jede Solidarität bricht.
219
Diese Namen dagegen, diese Stammesbezeichungen haben
eine wirkliche symbolische Ladung: sie sind gemacht, um
verschenkt, ausgetauscht, übenragen zu werden, um sich
unbegrenzt in der Anonymität gegenseitig abzulösen, in ei­
ner kollektiven Anonymität jedoch, in der diese Namen als
Ausdrücke einer Initiation vom einen auf den anderen
übergehen und sich so gut austauschen, daß sie ebensowe­
nig wie die Sprache irgend jemandes Eigentum sind.
Darin liegt die wahre Kraft eines symbolischen Rituals, und
in diesem Sinne laufen die Graffiti allen Zeichen der Me­
dien und der Werbung, die auf den Wänden unserer Städte
die Illusion derselben Beschwörung erwecken könnten, zu­
wider. Man hat hinsichtlich der Werbung von Fest gespro­
chen: ohne sie wäre die urbane Umwelt düster. In Wirklich­
keit aber ist sie nichts als kalte Animation, Simulakrum des
Appells und der Wärme, sie gibt niemandem ein Zeichen,
sie kann nicht durch eine eigenständige oder kollektive
Lektüre wiederaufgenommen werden, sie kreiert kein sym­
bolisches Netz. Mehr als die Mauem, die sie tragen, ist die
Werbung selbst eine Mauer, eine Mauer aus funktionalen
Zeichen, gemacht, um decodien zu werden, Zeichen, deren
Wirkung in der Decodierung sich erschöpft.
Alle Medienzeichen gehen aus diesem qualitätslosen Raum,
dieser Schreibfläche hervor, die sich wie eine Mauer zwi­
schen Produzenten und Konsumenten, zwischen Sendern
und Empfängern von Zeichen erhebt. Organloser Körper
der Stadt, auf dem kanalisiene Ströme sich überschneiden
- würde Deleuze sagen. Sie, die Graffiti, gehören zur Ord­
nung des Territoriums. Sie territorialisieren den decodier­
ten urbanen Raum - diese oder jene Straße, jene Wand, je­
nes Vienel wird durch sie lebendig, wird wieder zum
kollektiven Territorium. Und sie beschränken sich nicht
aufs Ghetto, sie tragen das Ghetto hinaus in sämtliche
Adern der Stadt, sie dringen ein in die weiße Stadt und
bringen an den Tag, daß sie das wahre Ghetto ist.
Mit den Graffiti bricht in einer An von Aufstand der Zei­
chen das linguistische Ghetto in die Stadt ein. In der Signal­
welt der Stadt waren die Graffiti bis jetzt immer ein Unter­
grund - ein sexueller und pornographischer Untergrund -,
die verschämte, verdrängte Inschrift der Pissoirs und Bau­
grundstücke. Lediglich die politischen, propagandistischen
220
Slogans ergriffen in offensiver Weise von den Wänden Be­
sitz - erfüllte, informative Zeichen, Botschaften, für die die
Wand noch ein Träger ist und die Sprache ein traditionelles
Medium. Sie zielen weder auf die Wand als solche noch auf
die Funktionalität der Zeichen als solcher. Ohne Zweifel
waren allein die Graffiti und Plakate des Mai 1968 in Frank­
reich eine BranduHg anderer Art, denn sie attackierten den
Träger selbst und gaben die Wände einer wilden Mobilität,
einer Plötzlichkeit der Einschreibung zurück, die ihrem Ab­
bruch gleichkam. Die Inschriften und Fresken von Nan­
terre waren wohl eine totale Ver-Wendung der Wand als
dem Signifikanten der terroristischen und funktionalen
Vernetzung des Raums, eine gegen die Medien gerichtete
Aktion. Bewiesen wird das dadurch, daß die Administration
scharfsinnig genug war, sie nicht auslöschen oder die
Wände übermalen zu lassen: das haben die politischen Mas­
senslogans und Plakate selbst besorgt. Es bedurfte gar kei­
ner Unterdrückung; die Medien selbst, die Medien der ex­
tremen Unken haben die Wände ihrer blinden Funktion
zurückgegeben. Seither ist die Protest-Mauer von Stock­
holm bekannt geworden: da hat man die Freiheit, auf einer
bestimmten Fläche zu protestieren - aber nebenan zu graf­
fitieren, das ist verboten.
Weiterhin hat es die kurzlebige Offensive zur Ver-Wen­
dung der Werbung gegeben. Ihr waren zwar schon durch
ihren Träger Beschränkungen auferlegt, aber sie bediente
sich bereits der von den Medien selbst gewiesenen Richtun­
gen: U-Bahn, Bahnhöfe, Plakate. Und es gab den Angriff
Jerry Rubins und der amerikanischen Gegenkultur auf das
Fernsehen. Das war ein Versuch der politischen Ver-Wen­
dung eines bedeutenden Klassenmediums, allerdings ledig­
lich auf der Ebene der Inhalte, und ohne das Medium selbst
zu verändern.
Mh den Graffiti von New York wurden zum erstenmal in
großem Ausmaß und in höchst offensiver Freiheit die urba­
nen Bahnungen und beweglichen Träger benutzt. Vor allem
aber wurden zum erstenmal die Medien in ihrer Form
selbst attackiert, also in ihrer Produktions- und Verteilungs­
weise. Und zwar eben deshalb, weil die Graffiti keinen In­
halt, keine Botschaft haben. Es ist diese Leere, die ihre
Kraft ausmacht. Und es ist kein Zufall, daß der totale An-
221
griff auf die Form von einem Zurückweichen der Inhalte
begleitet ist. Denn dieser Angriff geht aus von einer An re­
volutionärer Intuition - nämlich, daß die grundlegende
Ideologie nicht mehr auf der Ebene politischer Signifikate,
sondern auf der Ebene der Signifikanten funktionien -,
und daß hier das System verwundbar ist und bloßgelegt
werden muß.
Auf diese Weise erklän sich die politische Bedeutung der
Graffiti. Sie sind hervorgegangen aus der Unterdrückung
der urbanen Aufstände in den Ghettos. Unter dem Ein­
druck dieser Unterdrückung hat die Revolte sich verdop­
pelt: in eine rein marxistisch-leninistisch verhänete und
doktrinäre politische Organisation einerseits, und anderer­
seits in jenen wilden kulturellen Prozeß auf der Ebene der
Zeichen, ohne Ziel, Ideologie oder Inhalt. Manch einer
wird in der politischen Organisation die wahrhaft revolutio­
näre Praxis sehen und die Graffiti als Folklore taxieren. Das
Gegenteil ist wahr: der Fehlschlag von 1970 hat zwar eine
Regression auf traditionellen politischen Aktivismus zur
Folge gehabt, aber er hat die Revolte auch gezwungen, sich
auf dem eigentlich strategischen Terrain, dem Terrain der
totalen Manipulation von Codes und Bedeutungen, zu radi­
kalisieren. Das ist also keineswegs eine Flucht in die Zei­
chen, sondern im Gegenteil ein außerordentlicher Fon­
schritt in Theorie und Praxis - sind doch diese beiden
Formen gerade hier nicht mehr durch die Organisation ge­
trennt.
Insurrektion, Einbruch in das Urbane als On der Reproduk­
tion und des Codes - auf dieser Ebene zählt nicht mehr das
Kräfteverhältnis, denn das Spiel der Zeichen beruht nicht
auf Kraft, sondern auf Differenz; vermittels der Differenz
also muß es attackien werden. Das Geflecht der Codes, der
codienen Differenzen zerreißen durch die nicht-codierbare
absolute Differenz, auf die das System stoßen und an der es
zugrunde gehen wird. Dazu bedarf es weder organisiener
Massen noch eines klaren politischen Bewußtseins. Es ge­
nügen tausend mit Markers und Farbspriihdosen bewaff­
nete Jugendliche, um die urbane Signaletik durcheinander
zu bringen, um die Ordnung der Zeichen zu stören. Denn
die Graffiti verdecken sämtliche U-Bahn-Pläne New Yorks
- so wie die Tschechen die Straßennamen Prags veränder-
222
ten, um die Russen in die Irre zu führen: ein und dieselbe
Guerilla.
Allem Anschein zum Trotz haben die City Walls, die
Wandmalereien, nichts mit den Graffiti zu tun. Sie sind ih­
nen überdies vorausgegangen und werden sie überleben.
Die Initiative zu diesen Wandmalereien kommt von oben,
sie ist ein mit kommunalen Subventionen zu Wege gebrach­
tes Unternehmen der urbanen Innovation und Animation.
Die City Walls Incorporated ist eine Organisation, die 1969
gegründet wurde, "um das Programm und die technischen
Aspekte der Wandmalereien zu fördern". Das Budget wird
durch die Abteilung für Kulturelle Angelegenheiten der
Stadt New York und durch verschiedene Stiftungen ge­
deckt, unter anderem von der David RockefeIler Founda­
tion - "die Zuwendungen sind von der Steuer absetzbar".
Ihre Ideologie ist eine künstlerische: "Natürliche Verbin­
dung zwischen den Gebäuden und der Monumentalmale­
rei. " Ihr Ziel: "Der Bevölkerung New Yorks Kunst nahe zu
bringen." Ähnlich auch das Projekt künstlerisch gestalteter
Anschläge (bill-board-art-project) von Los Angeles: "Dieses
Projekt wurde zuwege gebracht, um künstlerische Darstel­
lungen zu fördern, die das Bill-Board-Medium im urbanen
Environment benutzten. Dank der Zusammenarbeit von
Foster und Kleiser (zwei große Werbeagenturen) wurden
auf diese Weise die für öffentliche Anschläge bestimmten
Räume zu Kunstvitrinen für die Maler von Los Angeles. Sie
kreieren ein dynamisches Medium und holen die Kunst aus
dem beschränkten Kreis von Galerien und Museen her­
aus."
Natürlich liegen diese Unternehmungen in der Obhut von
Professionals und Künstlern, die in New York in einer Ge­
nossenschaft organisiert sind. Da gibt es keinerlei Zweideu­
tigkeit: handelt es sich doch um eine Umweltpolitik - bei
der die Stadt gewinnt und die Kunst ebenso. Denn weder
explodiert die Stadt durch den Einbruch einer "sich frei ge­
bärdenden" Kunst in die Straße, noch explodiert die Kunst
"beim Kontakt mit der Stadt". Die ganze Stadt wird zur
Kunstgalerie, und die Kunst entdeckt in der Stadt ein ganz
neues Manövrierfeld. Weder die eine noch die andere hat
sich strukturell verändert, sie haben lediglich ihre Privile­
gien ausgetauscht.
223
"Der Bevölkerung New Yorks Kunst nahe bringen"! Es ge­
nügt, diese Formel mit der von SUPERKOOL zu verglei­
chen: "Es gibt Leute, denen das nicht paßt, Mann, aber ob's
ihnen gefällt oder nicht, wir haben die stärkste Kunstbewe­
gung auf die Beine gebracht, um der Stadt New York eins
überzubraten. "
Da hat man den ganzen Unterschied. Manche Wandge­
mälde sind schön, aber das hat damit überhaupt nichts zu
tun. Sie werden in die Kunstgeschichte eingehen, weil sie
es vermocht haben, nur mit Linie und Farbe auf blinden
und nackten Wänden Raum zu schaffen - die schönsten
sind immer optische Täuschungen, manche, die wieder eine
Illusion von Raum und Tiefe schaffen, andere, die, nach der
Formulierung eines der Künstler, "die Architektur durch
Imagination erweitern". Aber darin genau liegt ihre Grenze.
Sie bringen die Architektur ins Spiel, aber ohne die Spielre­
gel zu brechen. Sie bringen ein Recycling der Architektur
im Imaginären zustande, aber sie konservieren das Sakra­
ment der Architektur (des technischen Trägers der Monu­
mentalstruktur, und zwar bis in seinen sozialen Klassen­
aspekt hinein, denn die meisten City Walls dieses Typs
befinden sich im weißen und zivilisierten Teil der
Städte).
Architektur und Urbanismus, selbst wenn sie umgestaltet
sind durch Imagination, vermögen nichts zu verändern,
denn sie sind selbst Massenmedien und reproduzieren bis
in ihre kühnsten Konzeptionen hinein das gesellschaftliche
Massenverhältnis, das heißt sie lassen die Leute kollektiv
ohne Antwort. Alles, was sie ausrichten können, gehört zur
Animation, zur Partizipation, zum urbanen Recycling, zum
Design im weitesten Sinne des Wortes, das heißt zur Simu­
lation des Tauschs und der kollektiven Werte, zur Simula­
tion des Spiels und der nicht-funktionalen Räume. Das gilt
für die Abenteuerspielplätze der Kinder, die Grünräume,
die Kulturinstitute ebenso wie für die City Walls und die
Protest-Mauem, die die Grünräume des Sprechens sind.
Wir befinden uns jetzt in der zweiten Phase des urbanen
Designs. Die erste bestand in der Signalisierung und Dome­
stizierung unbesetzter und wilder Räume durch Zeichen. In
der Vernetzung der städtischen Dschungel: Baron Hauss­
mann, Erster Preis für Design. Es sind übrigens Repression
224
und Polizei, Kriege und Besatzungen durch fremde Mächte,
die diesen Prozeß der Signalisierung beträchtlich beschleu­
nigen. Dann der Autoverkehr, der die Städte in gewisser
Hinsicht in einem permanenten Kriegszustand hält und die
Straße als sozialen Raum destrukturiert (es ist kein Zufall,
daß die Autos brennen, wenn die Straße wieder zum sozia­
len Raum wird). So dient in einer ersten Phase das Design
dazu, die Stadt zu erfassen, sie abzustecken, zu markieren,
und dazu, alle freien Zonen an die Peripherie zu treiben.
Das ist die Polizei-Phase. In einer zweiten, "modernisti­
scheren" Phase jedoch besteht die Aufgabe des Designs
darin, im vorhinein jenen für immer verlorenen Freiraum
zu antizipieren und zu simulieren, den Freiraum der Kin­
der, der freien Wege, der verlorenen Zeit, des Umwegs, der
urbanen Imagination und der Revolte. Für all das wird man
Dispositive erfinden, Strukturen, die all das annehmbar ma­
chen, Zeichen/Fallen, Simulacren: noch einmal Grünräume,
Kulturinstitute, ja sogar Straßentheater und City Walls.
Die Graffiti dagegen sind kein Heilmittel für die Architek­
tur, sie besudeln sie, vergessen sie, sie laufen quer. Der
Wand-Künstler respektiert die Wand wie er den Rahmen
seiner Staffelei respektiert. Das Graffiti läuft von einem
Haus zum nächsten, von der Wand eines Wohnhauses zur
nächsten, von der Wand über das Fenster oder die Tür oder
über die Scheibe der U-Bahn, über den Bürgersteig, es
greift übereinander, kotzt sich aus, überlagert sich (die
Überlagerung kommt der Beseitigung des Trägers als Ebene
gleich, ganz so wie das Überborden seiner Beseitigung als
Rahmen äquivalent ist) - sein Graphismus ist wie die poly­
morphe Perversion von Kindern, die die Grenze der Ge­
schlechter und die Begrenzung erogener Zonen ignorieren.
Seltsamerweise machen übrigens die Graffiti die Wände
und Flächen der Stadt oder der U-Bahnzüge und Busse wie­
der zu einem Kijrper, zu einem Körper ohne Ende noch An­
fang, gänzlich erogenisiert durch die Schrift, so wie der
Körper durch die primitive Inschrift der Tätowierung ero­
genisiert werden kann. Tätowierung, das findet auf Körpern
statt, das macht in primitiven Gesellschaften zusammen mit
anderen rituellen Zeichen aus dem Körper das, was er ist:
ein Material symbolischen Tauschs - ohne Tätowierung,
wie ohne Masken, wäre der Körper nur noch das, was er
225
wirklich ist: nackt und nichtssagend. Indem sie die Wände
tätowieren, befreien SUPERSEX und SUPERKOOL sie von
der Architektur und machen sie wieder zur lebendigen, im­
mer noch sozialen Materie, zum beweglichen Körper der
Stadt vor seiner funktionalen und institutionellen Markie­
rung. Vorbei die Quadratur der Wände, wenn sie tätowiert
sind wie archaische Bildnisse. Schluß mit dem repressiven
Zeit/Raum der urbanen Transportmittel, wenn die U-Bahn­
züge wie Projektile vorbeisausen, wie eine bis zu den Au­
gen tätowierte Hydra. Die Stadt erinnert wieder an Mauern
und Clans, wie vor der Schrift, mit sehr starken, aber sinn­
leeren Emblemen - Einritzen leerer Zeichen ins Fleisch,
die nicht einmal die persönliche Identität aussagen, son­
dern die Initiation und den Eintritt in die Gruppe: "Bioky­
bernetische Self-Fullfilling-Prophecy-Weltorgie Ich", wie ei­
ner der wenigen Graffiti-Sprüche lautet, die das Ausmaß
eines Textes erreichen.
Gleichwohl ist es erstaunlich, so etwas in einer quaternären
kybernetischen Stadt losbranden zu sehen, die beherrscht
wird von den beiden Aluminium- und Glastürmen des
World Trade Center, scheinbar unverwundbaren Megazei­
chen der Allmacht des Systems. Dieser delirierenden Verti­
kalität stellen sich in New York radikal allein die Graffiti
entgegen.
Daneben gibt es hier auch die Wandfresken der Ghettos,
spontane Werke ethnischer Gruppen, die ihre eigenen
Wände bemalen. Sozial und politisch ist der Antrieb der­
selbe wie bei den Graffiti. Es handelt sich um wilde Wand­
malereien, die nicht von der urbanen Administration finan­
ziert werden. Außerdem sind alle auf politische Themen
zentriert, auf eine revolutionäre Botschaft: auf die Einheit
der Unterdrückten, den Weltfrieden, die kulturelle Förde­
rung der ethnischen Gemeinschaft, die Solidarität, selten
auf Gewalt und offenen Kampf. Kurz, im Gegensatz zu den
Graffiti haben sie einen Sinn, eine Botschaft. Und gegen­
über den City Walls, die sich an abstrakter, geometrischer
oder surrealistischer Kunst inspirieren, sind sie immer von
figurativer und idealistischer Inspiration. Hier findet sich
wieder die Differenz zwischen einer gelehrten, kultivierten
Avantgarde-Kunst, die figurative Naivität längst hinter sich
gelassen hat, und den realistischen populären Formen, die
226
einen stark ideologischen Inhalt haben, aber formal "weni­
ger avanciert" sind (obgleich die Inspiration vielfältig ist
und von Kinderzeichnungen bis zu mexikanischen Freskos
reicht, von einer gelehrten Kunst nach Art des Zöllners
Rousseau oder Ferdinand Legers bis hin zu simplen Bilder­
bogen, sentimentalen Illustrationen von Volkskämpfen) . Je­
denfalls handelt es sich um eine Gegenkultur, die nicht aus
dem Untergrund kommt, sondern reflektiert ist und über
die politische und kulturelle Bewußtwerdung der unter­
drückten Gruppe artikuliert wird.
Auch von diesen Wänden können manche schön scheinen,
andere weniger. Aber daß dieses ästhetische Kriterium
noch eine Rolle spielen kann, ist in gewisser Hinsicht ein
Zeichen von Schwäche. Damit will ich sagen, daß sie, ob­
gleich wild, kollektiv und anonym in sich doch den Arche­
typ der Signatur tragen, insofern sie sich ihrem Träger und
der pikturalen Sprache gegenüber respektvoll verhalten,
und sei es, um einen politischen Akt zur artikulieren. In
diesem Sinn können sie sehr schnell die Gewalt dekorativer
Werke annehmen, manche werden bereits unbestreitbar als
solche verstanden und schielen nach ihrem eigenen Wert.
Die meisten werden vor dieser Musealisierung durch die ra­
sche Zerstörung der Zäune und alten Mauern bewahrt,
denn hier protegiert die Gemeindeverwaltung die Kunst
nicht, und die Zugehörigkeit des Trägers zur Schwarzen
Kultur entspricht dem Ghetto. Trotzdem ist ihre Sterblich­
keit nicht dieselbe wie die der Graffiti, die systematisch der
polizeilichen Repression ausgesetzt sind (es ist sogar unter­
sagt, sie zu fotografieren). Denn die Graffiti sind offensi­
ver, radikaler - sie brechen in die weiße Stadt ein, und vor
allem stehen sie jenseits von Ideologien und Kunst. Fast ein
Paradox: während die Wände der Schwarzen und Puertori­
kaner, selbst wenn sie nicht gezeichnet sind, virtuell immer
eine Signatur tragen, einen politischen oder kulturellen Be­
zug haben, entziehen sich die Graffiti, die doch nichts als
Signatur, die Namen sind, in der Tat jedem Bezug, jedem
Ursprung. Sie allein sind wild, denn ihre Botschaft ist gleich
Null.
Man wird übrigens besser sehen, was sie bedeuten, wenn
man die beiden Typen von Vereinnahmung analysiert, de­
ren Objekte sie (jenseits polizeilicher Repression) sind:
227
1 . Man vereinnahmt sie als Kunst - Jay Jacoks: "Eine primi­
tive, millenare, kommunitäre, nicht-elitäre Form des ab­
strakten Expressionismus." Oder auch so: "Die Züge fuhren
donnernd einer nach dem anderen durch den Bahnhof wie
ebensoviele durch die Korridore der Kunstgeschichte stür­
zende und heulende Jackson Pollocks." Man spricht von
"Griffiti-Künstlern", von einer "Eruption der Pop-Art", von
Jugendlichen kreiert, die eine der wichtigsten und charakte­
ristischsten Manifestationen der siebziger Jahre bleiben
wird usw. Immer die ästhetische Reduktion, die die eigent­
liche Form unserer herrschenden Kultur ist.
2. Man interpretiert sie (und ich spreche hier nur von den
die größte Bewunderung ausdrückenden Interpretationen)
in Ausdrücken der Forderung nach Identität und persön­
licher Freiheit, des Nonkonformismus: "Unzerstörbares
Überleben des Individuums in einer unmenschlichen Um­
welt" (Mitzi-Cunliffe in der New York Times). Eine bürger­
lich-humanistische Interpretation, die von unserem Gefühl
der Frustration in der Anonymität der großen Städte aus­
geht. Noch einmal Cunliffe: "Es sagt (die Graffiti sagen) :
ICH BIN, ich existiere, ich bin wirklich, ich habe hier ge­
lebt. Das sagt: KIKI oder DUKE, oder MIKE, oder GINO
ist lebendig, es geht ihm gut und er wohnt in New York."
Sehr schön - aber "es" spricht nicht so, es ist unser existen­
zieller bürgerlicher Romantizismus, der so spricht, das ein­
zigartige und unvergleichliche Wesen, das jeder von uns ist
und das von der Stadt aufgerieben wird. Aber die jungen
Schwarzen haben keine Persönlichkeit zu verteidigen, sie
verteidigen auf Anhieb eine Gemeinschaft. Ihre Revolte ist
zugleich Auflehnung gegen bürgerliche Identität und An­
onymität. COOL COKE SUPERSTRUT SNAKE SODA
VIRGIN - man muß diese Sioux-Litanei vernehmen, diese
subversive Litanei der Anonymität, die symbolische Explo­
sion dieser Kriegsnamen im Herzen der weißen Metropole.

Aus dem Franzbsischen von Hans-Joachim Metzger


S H U H E I H O S O KA W A
Der Walkman-Effekt

Der Walkman - ein Kassettenrecorder, der über Kopfhörer


empfangen wird. Dieses Gadget, das im Frühjahr 1980 von
Sony in Japan erfunden, vertrieben und auch sehr bald ex­
portiert wurde, ist mittlerweile in der gesamten westlichen
Welt bekannt, wie unbeholfen sein englischer Name made
in Japan auch klingen mag. Mit der Verbreitung seiner Nut­
zung hat sich auch die Diskussion über die Folgen seines
Gebrauchs verstärkt. Philippe Sollers hat z. B. einen Artikel
aus dem Nouvel Obseroateur zitiert, in dem ein Interviewer
jungen Leuten im Alter von 18 bis 22 Jahren folgende Fra­
gen stellt: Sind Walkman-Hörer Menschen? Verlieren sie
den Kontakt zur Realität? Findet eine radikale Veränderung
im Verhältnis von Sehen und Hören statt? Sind Walkman­
Hörer psychotisch oder schizophren? Sind sie besorgt um
das Schicksal der Menschheit? Einer der Befragten antwor­
tete: Ihre Frage sei nicht mehr zeitgemäß. Er sei der An­
sicht, daß alle Fragen über Kommunikation und Kommuni­
kationslosigkeit Probleme der sechziger und siebziger Jahre
seien. In den achtziger Jahren hätte sich das jedoch radikal
geändert. Es seien die Jahre der Autonomie, eines Schnitt­
punkts von Singularitäten im Hinblick auf die Erschaffung
eines Diskurses. Bald, so erwiderte er, werden wir zu Hause
die verschiedensten Filme auf Video haben, alle Sorten
klassischer Musik werden auf nur einem Band gespeichert
sein. Und das macht mich glücklich.
Die Einstellung des Interviewers ist weit verbreitet: Einst
lebten die Menschen im Einklang mit der Natur, aber durch
die Industrialisierung und die Urbanisierung innerhalb der
letzten Jahrzehnte haben sie das gesunde Verhältnis zu ih­
rer Umwelt verloren. Sie werden entfremdet und verwan­
deln sich in eine "einsame Masse" (David Riesman), da sie
unter dieser Beziehungslosigkeit leiden. Für den Inter­
viewer fördert der Walkman die Abkapselung und die poli­
tische Apathie der Jugendlichen neben einer strukturellen
Kontrolle der Massen. Derartige "Kulturmoralisten" (Um­
berto Eco) neigen dazu, etwas Neues oder Ungewöhnliches
dem normativen epistemologischen System anzupassen, das
229
auf schon Bekanntem, d. h. standardisienen Faktoren beruht.
Aus diesem Grund ist es ihnen unmöglich, den sozio-kultu­
rellen Wandel, der durch etwas Neues hervorgerufen wird,
eindeutig zu erklären; oder - und das scheint weitaus be­
zeichnender - sie schrecken einfach davor zurück, sich um
Erklärung zu bemühen. Selbst die Interessierteren betrach­
ten das Neue als eine von ihrem vorgefenigten Gedanken­
raster abweichende oder unangemessene Angelegenheit.
Unser gescheiter Befragter umgeht die stereotypen Fragen
recht geschickt: die achtziger jahre sind die jahre der Auto­
nomie. Es ist kein reiner Zufall, daß der Walkman im ersten
Frühling dieses jahrzehnts in Erscheinung trat. Der Walk­
man ist weder Ursache noch Wirkung dieser Autonomie, er
ruft sie weder hervor, noch verwirklicht er sie. Er ist die Au­
tonomie, oder vielmehr die Autonomie-des-laufenden-Ich (wal­
king-self). J.-F. Lyotard sagt zurecht über die Position des
Selbst im "post-modemen" Zeitalter: "jeder ist auf sich
selbst zurückverwiesen. Und jeder weiß, daß dieses Selbst
wenig ist. Das Selbst ist wenig, aber es ist nicht isolien, es
ist in einem Gefüge von Relationen gefangen, das noch nie
so komplex und beweglich war." Der Walkman verkörpen
ein parasitäres und/oder symbolisches Selbst, das nun auto­
nom und mobil geworden ist. Demzufolge sollte er nicht als
ein Phänomen an sich oder als eines der Beispiele analysien
werden, das die neuesten Entwicklungen auf dem Gebiet
der Musik repräsentien, sondern als eine Wirkung (nicht im
kausalen Sinne) oder ein Wirkungs-Ereignis in der pragmati­
schen und semantischen Transformation des Urbanen. Über
den Walkman nachzudenken, heißt über das Urbane zu re­
flektieren: der Walkman als urbane Strategie, als urbane
Klang-/Musik-Vorrichtung.

I Musica mobilis
Ich bezeichne musica mobilis als eine Musik, deren Quelle
sich willkürlich oder unwillkürlich von einem Punkt zu ei­
nem anderen bewegt und von der körperlichen Fonbewe­
gung der Tonträger koordinien wird. Ihre kurze Geschichte
läßt sich in vier sukzessiven Stufen zusammenfassen; die
viene Stufe schließt hierbei die drei vorangegangenen nicht
aus, sondern steht mit ihnen im Zusammenhang.
230
a) Zu allererst gibt es den Klang städtischen Lebens im all­
gemeinen. In einer Stadt gibt es keine starren Grenzen zwi­
schen Musik und Lärm. Musik wird Lärm (wenn sich z. B.
Leute vom übermäßigen Lärm einer Musikbox gestört füh­
len); Lärm wird Musik (die eries 0/ London von Thomas
Weekers und Luciano Berio; Salt Peanuts von Dizzy Gile­
spie; die Stimmen der Verkäufer auf orientalischen Märkten
kann man sich ohne eine Art "lärmender Musik" oder "mu­
sikalischen Lärms" nicht vorstellen) . Von verschiedenen Be­
obachtern kann dasselbe akustische Geschehen als Musik
oder Lärm empfunden werden. Der größte Teil dieser "Mu­
sik" wird unwillentIich oder ohne Absicht hervorgebracht,
d. h. ohne eine bewußte akustische Motivation. Der Ton ist
reines Nebenprodukt einer nicht musizierenden Aktivität
(Anbieten, Verkaufen usw.). Das bedeutet jedoch nur, daß
die Beteiligten 'Zusammen leben.

b) Neben dem unfreiwilligen MUJiker gibt es in der Stadt eine


Gruppe freiwilliger Musiker: sogenannte Straßenmusikan­
ten. Sie spielen in der U-Bahn oder an der Straßenecke, um
Geld zu verdienen. Einige Leute laufen an ihnen vorbei,
andere bleiben stehen. Ebenso wie in einem Konzertsaal
(wenn auch nicht im genauen Sinne) sind die Teilnehmer
in zwei Gruppen getrennt, Musikanten und Passanten, die
zuhören. Dennoch sind sie miteinander verbunden, da
beide Gruppen innere und äußere Zeit miteinander teilen,
sich aufeinander "einstimmen". Sie teilen den laufenden
Fluß von Zeit und Bewußtsein und haben demzufolge das
Gefühl, daß die verlorengegangenen Verbindungen sozia­
len Lebens wieder hergestellt sind. Obwohl die Übermitt­
lung der Musik in einer Richtung erfolgt, verläuft die Reak­
tion und "Kommunikation" beider Gruppen in zwei
Richtungen: eine gemeinsame "einstimmende" Beziehung
wird beibehalten, obwohl sie nur vorübergehender Natur
ist. Die ästhetische oder künstlerische Qualität der vorgetra­
genen Musik ist im allgemeinen unbedeutender als das sich
einstellende flüchtige "Wir-Gefühl". Diese Leute befinden
sich in der Welt des gemeinJamen Musizieren!.

c) In der Stadt gibt es auch andere Leute, die mit der Musik
zu tun haben, die mit der Musik leben. Zwar spielen sie
231
keine Musik, sondern hören sie mit Hilfe technologischer
"Instrumente". Jemand, der auf der Straße Transistorradio
(oder Kassettenrecorder) hört, verbreitet die Musik, wäh­
rend er läuft. Passanten hören die Musik für einige Sekun­
den gezwungenermaßen mit. Manchmal überschneiden sich
die Musiken mehrerer Apparate. In diesem Fall partizipie­
ren die Menschen nicht immer an derselben inneren und
äußeren Zeit. Im Gegenteil. Gewöhnlicherweise nehmen
sie nur an der äußeren, meßbaren Zeit gemeinsam teil,
ohne einander zu durchdringen oder miteinander zu kom­
munizieren. Sie scheinen in einer Welt des Gemeinsamen­
Musik-Hören! zu leben. Eine Stereoanlage (oder Radio) in
einem Auto kann als eine Version dieses gemeinsamen Hö­
rens betrachtet werden. Ein Auto wird im Stadtleben oft als
"Zweitwohnsitz" bzw. "mobiles Heim" betrachtet. Die Si­
tuation geht jedoch darüber hinaus. Heutzutage wird ein
Haus eher als "unbewegliches Auto" oder "Dauerparkplatz"
angesehen. Eine Garage dient in diesem Sinne nicht als An­
kerplatz für das Auto, vielmehr ist es ein Ort, der das Haus
an das Verkehrsnetz heftet (wie es in den Filmen von Wim
Wenders Im Laufder Zeit und Der Stand der Dinge angedeutet
wird). Das Auto und demzufolge auch das Autoradio ist ein
Vermittler zwischen privatem und öffentlichem Leben: es
betrifft das Semi-Soziale und/oder Semi-Private, in einem
Wort, die Familie. Wird es angestellt, ist die Familie ge­
zwungen mitzuhören. Ebenso verhält es sich mit dem "Zu­
hörer auf der Straße". Aber, im Gegensatz zu ihm, hat die
Familie die Möglichkeit, den Apparat nach Belieben auszu­
schalten.

d) Zu guter Letzt gibt es den Walkman- Hörer, der sich in


einer Welt des Allein-Musik-Hören! befindet. Dieser Hörer
scheint die akustische Verbindung mit der Außenwelt, in
der er in Wirklichkeit lebt, unterbrochen zu haben, indem
er die Perfektion seines individuellen akustischen Bereichs
anstrebt, ist er ein minimaler, mobiler und intelligenter Partikel
(Robert Fripp) eines gemeinsamen Musik-Hörens. Ein wei­
terer Fortschritt, der über die Beispiele sekundären "Pro­
gresses" hinausgeht, ist unvorstellbar (das gilt auch für den
Körper-Sound, den letzten Schrei des Jahres 1983, bei dem
die musikalischen Schwingungen durch die in eine Art
232
Jacke eingebauten Lautsprecher jederzeit und überall wahr­
genommen werden können), ob es sich nun um die Erfin­
dung eines leichteren, kleineren oder qualitativ besseren
Apparates oder um einen drahtlosen Kopfhörerempfang
handelt bzw. wasserdichte (Hör + Schwimm-) oder Mehr­
zweckapparate (Walkman + Wecker + Kalender + Rechen­
maschine + Videospiel + Bio-Rhythmus-Anzeige + Belich­
tungsmesser + Miniatur-Taschenlampe + Holoscop + . . . ) .
Gewiß ist der Walkman rhJ Objekt für das private Hören,
selbst wenn die Verbreitung .. sekundärer Funktionen"
(J. Baudrillard) bis zu dem Punkt fortschreitet, an dem das
Objekt verschwindet, d. h. den Punkt erreicht, an dem die
infinitive Differenzierung es im Meer der Objekte unterge­
hen läßt, oder an dem die zunehmende Differenzierung das
Stadium eines Universums ohne Unterschiede erreicht.

II TechnologiJcher Rückschritt
Es ist interessant, daß der ..Fortschritt" vom tragbaren Ra­
dio-Kassetten-Spieler oder der Stereo-Anlage im Auto zum
Walkman aus technischer und technologischer Sicht, im Ge­
gensatz zur recht auffälligen Transformation auf der prakti­
schen Ebene, sehr gering ist. Vielmehr scheint der Wandel
auf eine Art ..Devolution" hinzudeuten, da es sich beim
Walkman um einen Kassettenspieler handelt, der weder
Aufnahmemöglichkeit noch Lautsprecher hat. Technolo­
gisch gesehen ist er ein einfacheres Objekt. 1m allgemeinen
beinhaltet die technische Entwicklung eines Objekts eine
Vervielfältigung seiner Funktionen. Wenn ein Objekt
gleichzeitig zwei Funktionen ausführen kann, steigert sich
dessen praktischer Wert für den Nutzer (selbst wenn eine
Funktion vollkommen überflüssig ist oder beide Funktio­
nen nicht gleichzeitig genutzt werden können). Dem Nor­
malverbraucher ist demnach die Entwicklung der Sekundär­
funktionen weitaus wichtiger als die Primärfunktion (wenn
überhaupt). Diese Regel betrifft jedoch nicht den Walk­
man. Er repräsentiert eher eine funktionale Reduktion, ei­
nen technologischen Rückschritt. Nach Auskunft des Sony­
Präsidenten wurde diese Vorstellung von einer Reduktion,
die ihm während eines Spaziergangs in New York City
kam, von der technischen Abteilung aufgrund ihres rück-
233
schrittlichen Charakters vehement abgelehnt. Die Inge­
nieure waren in der Tat vornehmlich mit der "tech­
neme"-Ebene. der Präsident dagegen mit der ..pra­
xeme"-Ebene des Objekts beschäftigt. Als Mann. der von
der Pieke auf Karriere gemacht hat und für seine rationali­
stische Einstellung bekannt ist. hat sich der Präsident bei
dieser Auseinandersetzung durchsetzen können. er ging als
Sieger aus diesem kommerziellen Gefecht hervor. obwohl
seine Reputation und enorme Kapitalmengen auf dem Spiel
standen. Es muß nicht betont werden. daß Sony von den
vielen nachfolgenden Konkurrenten (Toshiba. Aiwa. Phi­
lips . . . ) hart bedrängt wurde. die ihre gleichartigen Gadgets
mit ähnlichen Namen versahen ( Walky, Camtte-Boy . . . ). Ei­
nige haben zusätzlich ein Radio. ein Mikrofon oder eine
Batterie-Anzeige eingebaut: demzufolge fand ein Refunk­
tionalisierungs-Prozeß statt. Die Produkte unterscheiden
sich jedoch nur geringfügig. Die Konkurrenten führen eher
einen lokalen als einen totalen Handelskrieg. Eine alte Ge­
schichte im Wettbewerb. der sich auf das Angebot von Se­
kundärfunktionen konzentriert. Ein Vergleich mit Kuhns
Argument über die wissenschaftlichen Revolutionen drängt
sich auf (das Verhältnis von Paradigmawechsel und norma­
ler Wissenschaft) . Der Walkman konstituiert ein neues Pa­
radigma. das in pragmatischer - nicht technischer - Hin­
sicht auf seinen revolutionären Auswirkungen auf das
Musikhören in Städten beruht; mit dem Resultat, daß die
technischen Voraussetzungen als etwas ganz Normales er­
scheinen. Sony hat eine Menge pragmatischer Vorausset­
zungen geschaffen, die anschließend als etwas Selbstver­
ständliches betrachtet wurden und daraufhin als ..verfügba­
res Wissen" zirkulierten. Der Walkman ist zu einem
..verfügbaren Objekt" avanciert.

III Ein laufendes Gadget


Die oben kurz skizzierte Geschichte der musica mobilis ver­
weist auf einige Besonderheiten des Walkman:
a) Verkleinerung. Je kompakter, desto beweglicher . . . Die
Technologie möchte einem Objekt immer etwas mehr abge­
winnen: ihr Universum ist durch teleologische. aber den­
noch endlose Vergleiche gekennzeichnet. Wenn ein Gegen-
234
stand rationeller produziert werden kann, wird das im
allgemeinen als "Fortschritt" oder "Entwicklung" anerkannt.
In der Geschichte der Technologie wurde die Verkleine­
rung bis zur Besessenheit betrieben. Man stelle sich nur
den Raum vor, der von einem veralteten Radioapparat oder
Grammophon eingenommen wurde. Die Verkleinerung er­
möglicht eine anderweitige Nutzung des Raums, der von äl­
teren Apparaten eingenommen wurde, darüber hinaus kön­
nen die Apparate auch bequemer außerhalb des Hauses
benutzt werden, sie sind mobiler. Dies führt nicht nur zu
einer Strategie effizienterer Raumnutzung, sondern auch
zu einer urbanen Strategie, d. h. einer neuen Lebensart.
Zum Beispiel haben das Transistorradio und die Stereoan­
lage im Auto eine Erfahrung auf den Straßen ermöglicht,
die ehedem nur innerhalb des Hauses gemacht werden
konnte. Zweifellos hat der Walkman dazu sehr stark beige­
tragen.
b) Singutarisierung. Die Verkleinerung als räumliche und ur­
bane Doppelstrategie ist zutiefst mit einer zusätzlichen Be­
sonderheit des Walkman verbunden: der Singularisierung.
Denn er ermöglicht, daß das Hören von Musik zu einem
zufälligen Ereigni s wird. Die Musik begleitet uns wo und
wann immer wir unterwegs sind. Der Walkman konstituiert
oder produziert ein musikalisches Ereignis, das sich als ein­
malig, mobil und singulär bezeichnen läßt. Gilles Deleuze
charakterisiert diese Singularität als radikalen Unterschied
zur Individualität und Persönlichkeit. Vielmehr wäre sie als
anonym, unpersönlich, vorindividuell und nomadisch zu
bezeichnen. "Wir versuchen, ein vorindustrielles und un­
persönliches transzendentales Feld auszumachen, das nicht
den entsprechenden empirischen Feldern gleicht und den­
noch in irgendeine unbestimmte Tiefe übergeht. Dieses
Feld kann nicht das eines Bewußtseins genannt werden:
trotz Sartres Versuch kann man nicht am Bewußtsein der
Umwelt festhalten und gleichzeitig die Form der Person
und den Standpunkt der Individuation zurückweisen. Ein
Bewußtsein ist nichts ohne irgendeine Synthese der Verein­
heitlichung, jedoch gibt es keine Synthese für das Bewußt­
sein ohne die Form des Ich oder den Standpunkt des Selbst.
Weder individuell noch persönlich sind hingegen die Aus­
sendungen von Singularitäten, insofern sie auf einer unbe-
235
wußten Oberfläche entstehen und ein immanent-mobiles
Prinzip von Selbstvereinheitlichung durch nomadische Ver­
teilung aufweisen, das sich radikal von den fixen und seß­
haften Verteilungen als Bedingungen von Bewußtseinssyn­
thesen unterscheidet." (Deleuze) Offensichtlich entspricht
der Walkman dieser singulären Position des Selbst. Es ist
nicht nötig, das kausale Verhältnis zwischen dem Ursprung
des Bewußtseins und dem Ursprung des Walkman zu unter­
suchen. Festgehalten werden soll nur, daß ihre Stellungen
einander entsprechen.
c) Autonomie. Deleuze fährt fort: "Die Singularitäten er­
freuen sich eines immerfort mobilen Prozesses der Selbst­
Vereinheitlichung, der in dem Maße verschoben wird, wie
ein paradoxes Element die Serien durchläuft und mit­
schwingen läßt, indem es die entsprechenden singulären
Punkte in einem zufälligen Punkt zusammenfaßt." Autono­
mie ist nicht immer ein Synonym für Isolation, Individuali­
sierung, Trennung von der Realität; vielmehr ist sie, so pa­
radox es auch erscheint, unerläßlich für den Prozeß der
Selbft-Vereinheitlichung. Walkman-Hörer müssen nicht unbe­
dingt von ihrer Umgebung abgeschnitten sein (oder "ent­
fremdet", um einen wertlastigen Begriff zu benutzen), in­
dem sie ihre Ohren schließen. Sie sind eher mit dem
autonomen, einmaligen Augenblick, dem Realen, vereint -
jedoch nicht als Personen oder Individuen. Ein Beispiel aus
dem Film La boom 11 mit Sophie Marceau könnte das ver­
deutlichen. Auf einer Party zögert ein Junge, sich dem Mäd­
chen, das er liebt, zu nähern. Ihm gelingt es dennoch mit
ihr zu tanzen. Er nähert sich ihr ganz ruhig und setzt die
eine Muschel seines Kopfhörers an ihr Ohr, damit sie eben­
falls "seine" Musik hören kann. Sie werden von "ihrer" Mu­
sik umfangen. Das glückliche Paar tanzt nach einer anderen
Musik, nach einem anderen Rhythmus als die restlichen Gä­
ste. Ist ihr Tanz eine Flucht vor der Realität? Nein, es ist,
um mit Deleuze zu sprechen, eine incompossible Kommu­
nikation, die eine radikale positive Distanz herstellt: "Der Be­
griff positive Distanz ist topologisch und oberflächlich. Er
schließt jede Tiefe oder Höhe aus, die das Negative auf die
Identität zurückführen würden . . . Distanz ist . . . die Affir­
mation dessen, was sie von sich weist." (Deleuze) Zur Prä­
zisierung dieses Begriffs der "positiven Distanz" sollte aus
236
der Flut der Objekte der Vergleich zwischen Walkman und
Polaroid-Kamera herangezogen werden, und zwar im Hin­
blick auf die Aktionsgeschwindigkeit, die Unmittelbarkeit
des Effekts, die Einfachheit der mechanischen Konstruk­
tion, die Wahrscheinlichkeit des outputS, die minderwer­
tige Wiedergabequalität (schlechter als eine gewöhnliche
Stereo-Anlage oder Kamera), die bequeme Bedienung, die
Unbestimmtheit der Umgebung, der Anonymität des Sub­
jekts und der Zufälligkeit des Ereignisses. (In Wim Wen­
ders Alke in den Städten fotografiert ein Mann unablässig die
Dinge, die ihn anziehen. Das kleine Mädchen, das ihn be­
gleitet, reagiert unmittelbar auf die Bilder. Die Realität wird
augenblicklich durch das Bild verdoppelt; das Bild verviel­
fältigt die Realität). Der Walkman verhält sich zum auditi­
ven Bereich, wie die Polaroid zum visuellen. Ist der Walk­
man eine auditive Polaroid, so die Polaroid ein optischer
Walkman: La boom II gegen Alke in den Std"dten. Diese beiden
"kleinen" Objekte werden häufig von denjenigen als Pippi­
fax bezeichnet, die die Oberfläche meiden und nach Höhe
und Tiefe suchen. Wenn jedoch die Oberfläche der "Ort
der Bedeutung" ist, dann kann auch die Autonomie als
kennzeichnendes Charakteristikum dieser beiden Objekte
ein Spiel der Bedeutungen entfachen.
d) Kon!truktionIDekon!truktion von Bedeutungen. Walkman-Hö­
ren konzentriert die musikalische Bedeutung auf die Ober­
fläche der Musik oder verallgemeinert die Oberfläche insge­
samt: "Musikalische Bedeutung ist . . . ein Oberflächen-Effekt,
eine Wirkung der resistenten Dichte des Tönens." (Parret)
Durch den Walkman wird die Oberflächenbeschaffenheit
der Musik hervorgehoben, die durch die Singularität und
Autonomie des Walkman bedingt ist und von seiner Ver­
kleinerung ermöglicht wird. Herstellen von Bedeutung geht
in diesem Fall insoweit mit der Objektivierung einher, als
ein Objekt durch eine "Bedeutungs zuweisung und eine
Form" definiert ist (Baudrillard) . Diesbezüglich besteht je­
doch kein Interesse am Objekt an sich, sondern an dem Ob­
jekt im Gebrauch, nicht an der lexikalischen, sondern an
der praktischen Bedeutung. Eigentlich steht der Walkman
in keinem bedeutungslosen Kontext; paradoxerweise steht
er genaugenommen in keinem Kontext. Jeder Kontext
(oder kein Kontext) ist aufgrund seiner Singularität und
237
Autonomie angemessen und gerechtfertigt. Fellini hat in ei­
nem Kino einen Jungen beobachtet, der Walkman hörte
und sich dabei einen Film ansah: ein Beispiel für eine be­
sondere Funktion des und:
"UND . . . UND . . ' UND . . . Es gab schon immer einen
Kampf in der Sprache zwischen dem Verb ,sein' und der
Konjunktion ,und', zwischen eil und el. Zwis.�hen diesen
beiden Begriffen gibt es nur eine scheinbare Ubereinstim­
mung und Verbindung, weil der eine in der Sprache als
eine Konstante fungiert und die diatonische Sprachskala
formt, während der andere Begriff alles variieren läßt und
Linien einer allgemeinen Chromatik bildet . . . Mit einer
Analyse des ,und' als Konjunktion können wir uns nicht be­
gnügen; es ist vielmehr eine ganz besondere Form jeder
möglichen Konjunktion und bringt eine Logik der Sprache
ins Spiel." (Deleuze/Guattari)
Die praktische Bedeutung des Walkman besteht in der Di­
stanz, die er zwischen der Wirklichkeit und dem Realen,
der Stadt und dem Urbanen und insbesondere zwischen
den Anderen und dem Ich entstehen läßt. Er zerstört den
Kontext des bestehenden Textgefüges der Stadt und stellt
gleichzeitig jedwede zusammenhanglose Situation in einen
Kontext. Obwohl diese doppeIgesichtige Arbeit teilweise
schon in der Geschichte der muJica mobiliJ geleistet wurde,
vervollkommnet erst der Walkman den Vorgang der Dekon­
struktion von Bedeutung, der zwangsläufig mit deren Kon­
struktion verbunden ist.

IV Walkman gegen UrbaniJmuI


Bisher wurde mehr oder weniger über das Objekt gespro­
chen. Im folgenden soll der Walkman auf dem Hintergrund
des urbanen Kontextes analysiert werden. Beide Ansätze
sind nicht voneinander zu trennen und sind eigentlich auch
nicht zu unterscheiden. Vielmehr handelt es sich um unter­
schiedliche Akzentuierungen, da sich beide ergänzen.
In dieser Untersuchung soll ein stärkeres Gewicht auf den
Gebrauchswertaspekt des Urbanen gelegt werden als auf
dessen Planung oder dessen Beschreibung; d. h. nicht der
Entstehungsprozeß (die Planungsaktivitäten und die darin
enthaltenen urbanen Codes), sondern die Interpretation
238
(die Seite des Benutzers, des Bewohners) des urbanen En­
vironments steht zur Diskussion. Dieser Ansatz ermöglicht,
die Stadt als ein "Amalgam von Beziehungen und Interak­
tionen zwischen Subjekten und Objekten" (Greimas) zu be­
trachten: "Die Aufnahme der Botschaften des Raumes be­
steht nicht (oder nicht nur) in ihrer Wahrnehmung im
Sinne dessen, was man als die Stadt zu ,erleben' bezeichnet,
indem man signifikant auf alle räumlichen Stimulationen
reagien . . . In der Stadt zu leben bedeutet für den einzel­
nen, sich in einem Raum zu befinden, in dem alle Botschaf­
ten des Raums zusammentreffen, und auch auf diese Bot­
schaften zu reagieren, indem man sich mit den vielen
Programmen und Mechanismen, die einen anziehen und
sich einem aufdrängen, auseinandersetzt." (Greimas) Man
wird feststellen, daß der Akt des Laufens genau in den "Be­
ziehungen und Interaktionen zwischen Subjekten und Ob­
jekten" besteht, die Greimas erwähnt. Denn das laufende
Subjekt befindet sich durch den permanenten Wechsel sei­
nes "Standpunkts" immer in dem unvorherbestimmten Pro­
zeß der visuellen, auditiven, olfaktorischen, geschmackli­
chen, taktilen Transformation seiner integralen Erfahrung:
"Der Gesichtspunkt ist offen gegenüber einer Abweichung,
die er bejaht. Jedem Gesichtspunkt entspricht eine andere
Stadt, jeder Gesichtspunkt ist eine andere Stadt, die Städte
werden nur durch ihre Entfernung vereinigt, und hallen
nur durch ihre unterschiedlichen Häuserzeilen und Straßen
wider. Und immer eine andere Stadt in der Stadt." (De­
leuze)
Nicht nur das Subjekt, sondern auch die Umgebung ist für
die durch diesen Akt bewirkte Transformation zugänglich,
denn der Akt kann nur in Begriffen von gemeinsamen und
ineinandergreifenden Aktionen definien werden. Es ge­
nügt nicht zu sagen, daß seine Interpretation der räumli­
chen Codes der Umgebung angemessen ist oder nicht ange­
messen: es wäre sinnvoller zu sagen, daß die Bedeutung
dieser Interpretation ständig durch den Handlungsablauf
reguliert wird (Sbisa und Fabbri) . Sicherlich setzt sein Akt
einige sozio-kulturell bedingte Codes voraus, auch steht
ihm teilweise eine Summe praktischen Wissens über sein
durch Erfahrung geprägtes Verhalten zur Verfügung. Teil­
weise sind diese Codes auch implizit vorgegeben vom
239
Stadtplaner, der den Raum und den Ort, in dem er lebt, ent­
worfen hat. Als laufendes Subjekt transformiert er aber
diese Voraussetzungen, deren Kenntnis und demzufolge
sich selbst in einer dynamischen Transaktion mit der Umge­
bung; dynamisch, weil er nicht mit der Umgebung konfron­
tiert wird, sondern mehr oder weniger Teil derselben ist
(Baudrillard). Aus diesem Grund stehen sein Akt und seine
Umwelt in einer ähnlichen Beziehung wie die Struktur ei­
ner russischen Puppe: das Innere ist außen und das Äußere
innen. Diese Transaktion nimmt zu ineins mit der Selbst­
Metamorphose der transaktionalen Welt. Betrachtet man
die Stadt als Text, müssen deren Bewohner als eine "leere
Seite" erscheinen, die ausschließlich durch ihre Interpretatio­
nen des Stadt-Text-Ereignisses beschrieben wird. (Greimas)
Der Stadtplaner kann nur darauf vorbereiten, daß dieser
Text gelesen wird, obwohl er sich manchmal einbildet, er
gäbe den gesamten Text einer Stadt vor, und die Einwohner
müßten unter den von ihm vorgegebenen Regeln leben.
Stadtplaner sind in vielen Fällen ausschlieHlich mit der Pla­
nung der räumlichen Dimension ihrer Stadt beschäftigt.
Der akustische Aspekt kommt dabei meist zu kurz. Jeder
Stadtplaner achtet z. B. auf das Verhältnis zwischen Ein­
wohner und Fenster, Bäumen und Straße, Architektur und
Grünfläche usw., wobei die diversen Stadtgeräusche, denen
die Bewohner ausgesetzt sind, vernachlässigt werden. Ei­
nem Stadtplaner, der die Stadt aus der Distanz beobachtet,
ist es meist nicht möglich, diese wirklich "zu sehen" - wie
von vielen Humanisten kritisch bemerkt wird -, ge­
schweige denn zu hören. Das "Blindfeld" (Henri Lefebvres
le champ aveugle) ist ebenfalls ein stummer Fleck. Das betrifft
aber nicht nur den modernen Urbanismus, sondern auch
die traditionelle Stadtplanung - so beispielsweise die Ge­
schichte UtopiaJ und der Citta ideale. Die diesbezüglichen
Vorstellungen von Plato, Piero della Francesca, Fourier
oder Le Corbusier enthalten kaum einen Hinweis auf das
akustische Leben in ihren Stadtentwürfen bzw. über die vom
abitante ideale erzeugten oder ihn umgebenenden Geräu­
sche. Sind sie monoton oder "polyton"? Vielleicht haben die
alten "Urbanisten" nicht unter ihrem akustischen Ambiente
gelitten, vielleicht konnten sie sich auch nicht vorstellen,
daß jede Stadt ihren eigenen urbanen Klang hervorbringt.
240
Erst in den letzten Jahrzehnten haben die Urbanisten die­
ses akustische Problem berücksichtigt. Der kanadische
Komponist Murray Schafer hat die ersten bemerkenswerten
Forschungen durchgeführt, die verdientermaßen in einer
Theorie des akustischen Designs oder, wie er sich aus­
drückt, des fOlmdrcape (Klanglandschaft, Lautsphäre) er­
wähnt werden sollten.
Im Vergleich zu seiner gelungenen Rekonstruktion der
"Klanglandschaft", die sich auf historische, literarische und
ethnographische Untersuchungen stützt, geht Schafers zen­
trale Aussage zur gegenwärtigen urbanen Klanglandschaft
an der Realität vorbei. Die unabdingbare Künstlichkeit die­
ser Klanglandschaft sollte, nach Schafer, wieder in einen na­
türlicheren, "humaneren" Zustand überführt werden. Sein
von hinreißenden Neologismen untermauerter "humanisti­
scher Rahmen" beabsichtigt also nur eine ad hoc Verbesse­
rung der zur Debatte stehenden Klanglandschaft, und zwar
auf der Ebene der Wahrnehmung und der situativen Ebene.
Die zugrunde liegenden sozialen Interaktionen oder der
Prozeß der Institutionalisierung der Klanglandschaft blei­
ben unberücksichtigt. Sein Ansatz stützt sich unfreiwillig
immer noch auf die herkömmlichen Methoden eines Urba­
nisten oder Stadtplaners. "Heute, da die Zustände in den
Großstädten das Schalldurcheinander vergrößern, besteht
die Aufgabe des Akustikdesigners darin, dieses Durchein­
ander zu sortieren und die Gesellschaft in einen humanisti­
schen Rahmen zurückzuführen; eine Aufgabe, nicht weni­
ger schwierig als die des Urbanologen und Städteplaners
und gleichermaßen notwendig. Eine Neudefinition der
akustischen Gemeinschaft kann Regeln für eine Aufteilung
in Zonen erfordern; sie aber darauf zu beschränken, wie es
heute üblich ist, heißt, die Grenzen der Lautsphäre irrtüm­
lich für die Grenzen des Umfelds zu halten. Nur wenn die
Reichweite und die gegenseitige Durchdringung von Schall­
profilen erforscht sind und als wirksame Realität anerkannt
werden, wird die akustische Zoneneinteilung zu einem ver­
nünftigen Unternehmen." (Schafer) Anstatt vom Verbrau­
cher oder Bewohner auszugehen, argumentiert Schafer päd­
agogisch: seine "akustische Ökologie" beruht tatsächlich auf
einer ausgeprägten Sensitivität für die bestehende Klang­
landschaft. Sie hängt mit dem "Klang-Verlauf" zusammen -
241
der "unter besonderem Verweis auf die während des Lau­
fens gehörten Klänge" eine Aussage produziert - und setzt
voraus, daß die bestehende Klanglandschaft einer Stadt po­
tentiell als angenehm empfunden wird. Diese Vorausset­
zung ist recht fragwürdig, außer wenn man sich daran er­
götzt, die "unterschiedlichen Klänge der Registrierkassen
oder die Dauer verschiedener Telefonklingeln" oder "die
Tonhöhen der Abflußrohre in einer Straße . . . die die unter­
schiedlichen Harmonien der Neonlichter mit Liedern" um­
spielen, miteinander zu vergleichen, oder einen "Laden zu
betreten, um auf jeder Konservendose herumzutrampeln".
(Schafer) All diese Geschichten sind als didaktische Experi­
mente oder Übungen nicht unwichtig, lassen aber dennoch
die "lebendige Struktur der Praxis" vermissen (H. Le­
a�bvre). Darüber hinaus sind diese Beispiele eine Klage
über das Schwinden der Geräusche der Natur. Baudrillard
entgegnet dieser sentimentalen Ökologie wie folgt: "Über
Ökologie zu reden heißt, den Tod und die totale Abstrak­
tion der ,Natur' festzusteHen . . . Das Große Signifikat, der
Große Referent, Natur ist tot. Sie wird durch die Umwelt
ersetzt, die gleichzeitig den Tod der Natur und ihre Wie­
derherstellung als ein Simulationsmodell bezeichnet . . .
Nachdem Natur, Luft, Wasser einfache produktive Kräfte
waren, werden sie seltene Güter und zum Tauschwert. Da­
mit dringen die Menschen tiefer in den Bereich der politi­
schen Ökonomie ein."
Bei Schafer vermißt man einerseits die Reflexion über diese
Simulationsqualität, die auf der Kenntnis politischer Öko­
nomie basiert und unerläßlich ist, wenn man über die totale
Künstlichkeit unserer unabänderlichen Umwelt nachdenkt;
andererseits vermißt man ebenfalls ein Konzept von Plurali­
tät, wie es bei Michel de Certeau beschrieben wird: "Stadt­
planung bedeutet, gleichzeitig die Pluralität (auch der Wirk­
lichkeit) zu denken und diesem Pluralitätsgedanken Wirluam­
keit zu verleihen. Und das wiederum bedeutet, wissen und
artikulieren zu können." (de Certeau) Wir leben nicht, wie
Schafer implizit voraussetzt, in einer einschichtigen "sono­
feren" Realität, in der ein Umstand gleichmäßig auf die ge­
samte Realität einwirkt, sondern in einer vielschichtigen
Struktur, in der sich eine Ebene - selbst wenn sie als ein­
zelne erkennbar wäre - von der anderen abhebt. All dies
242
kann nicht auf eine eindeutige Kausalität zurückgeführt
werden, kühne Höhen(flüge) und geistige Tiefen sind un­
zulässig.
Wenn die von Schafer vorgeschlagene Art des Hörens als
"territoriales Hören" einzustufen ist, weil er meint, daß der
urbane Raum "ein Raum gewohnter und bekannter Geräu­
sche", ein "Raum der Sicherheit" (Barthes) sein soll, dann
könnte das Walkman-Hören auf der Straße als "deterritoria­
lisiertes Hören" bezeichnet werden. Das setzt voraus, daß
jede anvertraute Klanglandschaft schon durch eine einzelne
akustische Erfahrung sich verändert und durch die ständig
Walkman hörenden Passanten beeinflußt wird. Diese Akti­
vität konstituiert einen autonomen "Raum" zwischen dem
Walkman-Hörer und seiner Umgebung. Dadurch entfrem­
det sich die Hörtätigkeit vom Hörer und seiner Umgebung
- es geht also nicht darum, schon Bekanntes bestätigt zu
finden. Das Resultat ist eine Mobilität des Selbst. Demzu­
folge durchkreuzt der Walkman jeden vorherbestimmten
Entwurf des Designers. Der Walkman-Hörer erschließt sich
dadurch eine autonome pluralistisch strukturierte Wachheit
für die Realität. Er sucht keine Zuflucht in der Selbstisolie­
rung oder in einer narzißtischen Regression.
Man mag sich die Frage stellen, wie sich der Walkman in
den urbanen Klang einmischt, obwohl er keinen wesentli­
chen Beitrag zur öffentlichen Klanglandschaft liefert; wie er
in die urbane Akustik eingreift, ohne eine materielle Wir­
kung zu zeitigen. Die Antwort ist: durch die Tätigkeit dn
LaujerlJ.

V Der Akt de! Gehen! und Laufen!


Obwohl der Walkman bei den verschiedensten Tätigkeiten
benutzt werden kann, wird er, wie es der Name schon nahe­
legt, meist beim Gehen und Laufen benutzt. Das ist die ele­
mentarste, die direkteste, die körperlichste Fortbewegungs­
art des Menschen. Fast jede körperliche Tätigkeit, wie z. B.
Tanz, Theater, bestimmte Sportarten sind auf das Laufen
oder Gehen zurückzuführen (Daniel Charles). Der Walk­
man verbindet diese Tätigkeit mit der Musik. Berechtigter­
weise vergleicht Michel de Certeau die Tätigkeit des Ge­
hens mit der des Sprechens: "Der Akt des Gehens ist für
243
das urbane System das, was die Äußerung (der Sprechakt)
für die Sprache oder für formulierte Aussagen ist. Auf der
elementarsten Ebene gibt es in der Tat eine dreifache Funk­
tion der Äußerung: zum einen gibt es den Prozeß der Aneig­
nung des topographischen Systems durch den Fußgänger
(ebenso wie der Sprechende die Sprache übernimmt oder
sich aneignet); dann eine räumliche Realisierung des Ortes
(ebenso wie der Sprechakt eine lautliche Realisierung der
Sprache ist); und schließlich beinhaltet er Beziehungen zwi­
schen unterschiedlichen Positionen, das heißt pragmatische
,Übereinkünfte' in Form von Bewegungen (ebenso wie das
verbale Aussagen eine ,Anrede' ist, die den Angesprochenen
festlegt und die Übereinkünfte zwischen Mitredenden ins
Spiel bringt). Das Gehen kann somit fürs erste wie folgt de­
finiert werden: ,Es ist der Raum der Äußerung . . . Das Ge­
hen . . . macht aus der Umgebung etwas Organisch-Bewegli­
ches, eine Abfolge von phatischen topoi' " (de Certeau).
Jean-Fran�ois Augoyard denkt auch an die Poetik des Lau­
fens, weil die Tätigkeit des Laufens nicht die fortschrei­
tende Totalisierung eines zu durchquerenden Raums dar­
stellt, sondern die Artikulation einer Bewegung, die die
gelebte räumliche Erfahrung auf eine erstaunliche Art und
Weise herstellt (vgl. auch Bollnow, Norberg-Schultz, San­
sot).
Aufgrund der "stotternden" Funktion des deleuzianischen
und verwandelt der Walkman das Laufen in Poesie. Man
läuft und hört (und umgekehrt). Man erlebt Hören-und-Gehen,
oder sogar Laufen und Essen und Trinken und Spielen
und . . . und Hören (ein Junge auf roller-skates, der einen
Hamburger ißt, eine Cola trinkt und Michael Jackson über
Walkman hört . . . ). Die Freude am Walkman, die der vom
Nouvel Observateur Befragte bewußt oder unbewußt emp­
fand, erklärt sich dadurch, daß das Hören nebenbei mit ver­
schiedenen Tätigkeiten verwoben wird: Walkman-Hören
grenzt nicht aus, sondern integriert, hat nichts mit geistiger
Konzentration zu tun, sondern verwirrt, faßt nicht zusam­
men, sondern zerstreut, ist nicht zentripetal, sondern zen­
trifugal. Im Gegensatz zum subtraktiven Hören (z. B. im
klassischen Konzert) wird die Musik beim additiven Hören
mit fremden Elementen, die gewöhnlich nicht musikalisch
sind, vermischt. Im Vergleich zu anderen Arten der musica
244
Jeder möchte die Kunst verstehen.
Warwn versucht man nicht, die Ueder
eines Vogels zu verstehen?

Pablo Picasso
mobilis oder zum Tanz-Theater der Disco-Musik ist das
Walkman-Hören eng mit der Körperlichkeit des Laufens
verbunden. Während die theatralischen Angelegenheiten in
einer Disco schon vorausgeplant sind, und man sich nur in­
nerhalb eines vorprogrammierten Kreislaufs bewegen kann
(selbst wenn die körperlichen Bewegungen recht wild an­
muten), wird durch den Walkman ein aus Musik und Kör­
per komponiertes Amalgam in Szene gesetzt. Der Walk­
man-Hörer erfindet die Kunst der Koordinierung von
Körper und Musik im alltäglichen Leben, um sich mit der
Umgebung, in der er lebt, kurzzuschließen. Es ist schwer
zu sagen, ob der Körper vom Walkman oder der Walkman
vom Körper aufgeladen wird. Der Walkman funktioniert
nicht als Verlängerung des Körpers (wie bei anderen Instru­
menten der musica mobilis, sondern wie ein eingebautes Teil
oder - aufgrund seiner Intimität - wie eine eingepflanzte
Prothese. Der Walkman-Hörer spielt Musik, er lauscht dem
Lied, das sein eigener Körper ihm singt (Barthes). Wenn
man dem Rhythmus seines Körpers zuhört, wenn der Walk­
man durch die Haut eindringt, verkehrt sich die Ordnung
des Körpers, d. h. die Oberflächenspannung der Haut ver­
liert ihre Balance-Funktion, durch die die gegenseitige Durch­
dringung des Selbst mit der Welt aktiviert wird: eine mise en
fEuvre im Körper, durch den Körper, vom Körper (Tibon­
Cornillot). Durch den Walkman wird der Körper geöffnet; er
wird - allerdings insgeheim - in einen Ästhetisierungs­
Prozeß, in eine Theatralisierung des Urbanen einbezogen.

VI Walkman als heimliches Theater


Als der Walkman zum erstenmal in den Städten auftauchte,
waren die Leute meist darüber befremdet, daß sie zwar
ganz offensichtlich feststellen konnten, daß der Walkman­
Hörer irgend etwas hörte, aber nicht, was er gerade hörte.
Etwas war offensichtlich, ohne jedoch in Erscheinung zu treten,.
es war ein Geheimnis (vgl. Traverses 1984). Bis zum Auf­
tauchen des Walkman hatte man noch nicht erlebt, daß ein
Passant in einer derartig ostentativen Weise .. zugab", ein
Geheimnis zu haben. Man war sich in der Tat dessen be­
wußt, daß der Walkman-Hörer nicht nur etwas Unbekann­
tem, sondern dem Unbekannten an sich zuhörte, einem Ge-
246
neimnis in Gestalt eines mobilen Klangs: einem offenen,
öffentlichen Geheimnis.
Der Walkman-Hörer übernimmt ganz offenbar das "Verhal­
ten des Wilderers" (de Certeau). Geheimnisse entstehen
auf dem Hintergrund eines Verhältnisses von Kommunizie­
ren und Nicht-Kommunizieren. Der Geheimnisträger ist
dem Nicht-Eingeweihten gegenüber immer im Vorteil und
zwar insoweit, als der erste dem zweiten nur "gesteht", et­
was zu verheimlichen, was dem zweiten nicht bekannt ist.
Das Geheimnis lüftet sich dann, wenn der Geheimnisträger
dessen Inhalt preisgibt. Demzufolge liegt die Wirkung des
Geheimnisses nur zwischen der ersten Äußerung - die
seine Existenz offenbart - und der zweiten - die seine
Maske fallenläßt, um die Wahrheit zu verkünden. Vor sei­
ner Enthüllung ist das Geheimnis zu latent, danach zu ma­
nifest, um als solches fortzubestehen. Der Walkman-Hörer
hat damit sein erstes Bekenntnis abgelegt. Er läßt die Leute
wissen, daß er einem Geheimnis zuhört. Weder verweigert
er die Kommunikation, noch verschließt er sich vor der
Realität. Vielmehr fährt er fort, die Existenz seines Ge­
heimnisses in dieser einfachen Art und Weise auszudrük­
ken. Freiwillig demonstriert er den Leuten, daß er sich im
Besitz der Wahrheit befindet, die dennoch niemals in Erschei­
nung tritt. Ihre Bestätigung ist insoweit gewährleistet, als sie
nicht in Erscheinung tritt, d. h. solange sie ein Geheimnis
bleibt. Francois Truffaut glaubt, daß die unbegreifliche Bot­
schaft aus dem All in Spielbergs Film Begegnung der dritten
Art nur deshalb die Wahrheit vermittelt, weil sie ihm intui­
tiv als ein Geheimnis erscheint. Diese Geschichte ist aus
zwei Gründen interessant: 1. sie imitiert das empfangene
Geheimnis der Botschaft, wenn sie es ihrerseits ins All zu­
rücksendet; 2. die Botschaft ist voller Klang und fast musi­
kalisch (d-e-c-C-G). (Im Film E. T. tritt (1) ebenfalls dann
auf, wenn der Junge und E. T. in ihrer ersten näheren Be­
gegnung die Gesten des anderen imitieren, als ob beide in
Lacans psychoanalytisches Spiegelstadium zurückgefallen
wären.) Truffauts Ansicht, die Imitation als Schlüssel zum
Geheimnis zu betrachten, ist den Walkman-Hörern eben­
falls sehr vertraut. Ihre Neugier, das von den anderen in der
Öffentlichkeit gehütete Geheimnis kennenzulernen, führt
dazu, daß dieses Gadget weltweit verbreitet ist.
247
Sicherlich handelt es sich hierbei um einen Modeanikel,
aber ganz besonders um eine Mode der Geheimhaltung.
Das Überlegenheitsgefühl des Geheimnisträgers gegenüber
dem Nicht-Eingeweihten ist keineswegs als eine durch den
Erwerb eines Modeanikels erzielte flüchtige Bedürfnisbe­
friedigung einzuschätzen. Vielmehr ist diese Überlegenheit
gleichzusetzen mit dem Erwerb eines Visums für den ge­
heimen Ganen des Walkman, in dem die Leute über die
Form - und nicht den Inhalt - des Geheimnisses kommu­
nizieren. Der Walkman-Hörer kennt weder den Inhalt der
Geheimnisse anderer, noch kümmen er sich darum. Er
weiß nur, daß andere - wie er - ebenfalls Geheimnisse ha­
ben, und diese wiederum wissen, daß er selbst etwas be­
sitzt, was hinsichtlich des Inhalts, aber nicht der Form ver­
schieden ist: das Kryptische. Ich weiß, daß er weiß, daß ich
weiß, daß er weiß . . . Die Form ihrer Geheimnisse wird
ganz offen zur Schau getragen: dies ist die erste "Aus­
sage"-Ebene des Walkman-Hörens. Die zweite Ebene liegt
in der mit der körperlichen Bewegung verbundenen musi­
kalischen Ausdrucksfähigkeit, der Tätigkeit des Laufens.
Der Inhalt der dritten Ebene, der selbst dem Walkman-Hö­
rer nicht unbedingt geläufig ist, betrifft das strenge Ge­
heime des Walkman-Hörens oder vielmehr der Musik im
allgemeinen: "Das Gehöne . . . ist das Geheimnis: das, was
- mit der Realität verstrickt - nur durch einen Code ins
menschliche Bewußtsein dringt und simultan die Encodie­
rung oder Decodierung dieser Realität ermöglicht!" (Bar­
thes) Die durch den Walkman vermittelte euphorische und
dysphorische Erfahrung des Urbanen muß als Verflechtung
einer dreifach verborgenen Aussagefähigkeit gesehen wer­
den. Dies sind zwei Seiten einer Medaille, d. h. der "Ästhe­
tisierung", die auch "als Tätigkeit einer Wahrnehmung defi­
nien werden kann, die an der Erscheinung des Objekts
festhält und es als sinnlich wahrnehmbar empfindet" (Du­
frenne). Wenn das sinnlich Wahrnehmbare als positiv emp­
funden wird, bezeichnet man das Resultat als "Euphorie";
wird es als negativ empfunden, als "Dysphorie". Das Ent­
scheidende ist, daß man dasjenige als ästhetisierbar be­
zeichnet, was als sinnlich eingestuft werden kann. Dies ge­
schieht unabhängig vorn Uneil über die Schönheit des
betreffenden Objekts. Der Walkman ist insoweit ästhetisier-
248
bar, als er das Sinnliche betrifft, indem er bestimmte dyspho­
rische und euphorische Reaktionen hervorruft und jede
räumliche Bezeichnung in etwas maßgeblich anderes trans­
formiert. Die ästhetischen Aspekte sind - zumindest in die­
sem Fall - ebenfalls mit den semantischen und theatralischen
Aspekten verknüpft: mit dem ästhetischen Aspekt, weil der
Walkman das Netz urbaner Bedeutung herstellen und/oder
auflösen kann; mit den semantischen und theatralischen Aspek­
ten, weil er ein offenes und mobiles Theater durch seine
clandestinen Manöver organsieren kann, die die räumliche
Konstellation des Urbanen transformieren und gleichfalls
autonom, stillschweigend und in aller Heimlichkeit kom­
munizieren. Zusätzlich präsentiert er den Nutzer als einen
potentiellen Fremden, der eine unverständliche Passanten­
Sprache spricht (einige dysphorische Leute erinnert er an
ET, den Extra-Tangiblen, den Unberührbaren). Die Nicht­
Eingeweihten fühlen sich wie Zuschauer in einem Theater,
denn der "Dialog" auf der Bühne würde wahrscheinlich
auch ohne ihre Anwesenheit fortgesetzt werden. Ihnen
wird jedoch bald klar, daß sie in Wirklichkeit in diesen
theatralischen Vorgang miteinbezogen sind, da der Dialog
auf der Bühne der Existenz und die Reaktion der Zu­
schauer voraussetzt, wenn man das Theater als Text betrach­
tet. Für den textuellen Vorgang des Theaters sind sie un­
entbehrlich. Das trifft ebenfalls auf den Walkman zu.
Demzufolge sind durch das Erscheinen dieses neuen Gad­
gets alle Passanten zwangsläufig an diesem Walkman-Thea­
ter entweder als Schauspieler (Geheimnishüter) oder als
Zuschauer (Nicht-Eingeweihte) beteiligt: "Es gibt keine
einschneidende Differenz zwischen Aktivität und Passivi­
tät, sondern höchstens Unterschiede in der Art, wie wir uns
ins gesellschaftliche Feld einschreiben und innerhalb vorge­
gebener Bedingungen praktisch handeln."
Der Walkman-Effekt sollte an diesem praktischen Operations­
modus gemessen werden. Selbst wenn der Apparat abgeschal­
tet wird, sind die theatralischen Effekte immer noch wirk­
sam. Die Show wird bis zum Tod dieses Objekts fortgesetzt.
Wir alle leben in der spielerischen Gesellschaft (Alain Cotta),
die permanent von Langeweile bedroht und vom Spiel be­
fallen ist. Es liegt an uns, die "Rolle" in dieser "Gesellschaft
des Spektakels" zu wählen: Schauspieler oder Zuschauet.
249
Quellen

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Deutsch von Birger Ollrogge


J E A N B A U D R I LLARD
Videowelt und fraktales Subjekt

Die Transzendenz ist in Tausende von Fragmenten zerbor­


sten, die wie Bruchstücke eines Spiegels sind, in denen wir
flüchtig noch unser Spiegelbild greifen können, bevor es
vollends verschwindet. Wie in den Fragmenten eines Holo­
gramms ist in jeder einzelnen Scherbe das gesamte Univer­
sum enthalten. Ein fraktales Objekt zeichnet sich dadurch
aus, daß sämtliche Informationen, die dieses Objekt be­
zeichnen, im kleinsten Einzeldetail einbeschlossen sind. In
demselben Sinn können wir heute von einem fraktalen Sub­
jekt sprechen, das in eine Vielzahl von winzigen gleicharti­
gen Egos zerfällt, die sich auf gleichsam embryonaler Ebene
vermehren und durch fortdauernde Teilung ihre Umge­
bung besetzen. Wie das fraktale Objekt bis ins kleinste sei­
nen elementaren Teilchen entspricht, trachtet auch das frak­
tale Subjekt danach, sich selber in seinen Bruchstücken
anzugleichen. Diesseits jeder Repräsentation fällt es zurück
bis zum winzigen molekularen Bruchteil seiner selbst. Ein
eigentümlicher Narziß: es sehnt sich nicht mehr nach sei­
nem vollkommenen Idealbild, sondern nach der Formel ei­
ner endlosen genetischen Reproduktion.
Endlose Angleichung des Menschen an sich selbst, weil er
sich in seine einfachen Grundelemente auflöst: allerseits
vervielfacht, auf allen Bildschirmen vorhanden, doch immer
seiner eigenen Formel, seinem eigenen Modell treu. Daher
haben wir es mit einer anderen Dimension von Differenz
zu tun. Es handelt sich nicht mehr um die Differenz zwi­
schen einem Subjekt und einem anderen, sondern um die
endlose interne Differenzierung von ein und demselben
Subjekt. Diese ist unsere jetzige Fatalität, ein innerer Tau­
mel, eine Zersplitterung ins Identische, ins Gespenst des
Identischen. Nicht mehr durch die anderen oder von den
anderen sind wir entfremdet, sondern von unseren zahllo­
sen möglichen Clones. Das aber bedeutet, wir sind über­
haupt nicht mehr entfremdet. Heute ist das Subjekt weder
entfremdet, noch entzweit, noch zerrissen. Da die Anderen
als sexueller und sozialer Horizont praktisch verschwunden
sind, beschränkt sich der geistige Horizont d�s Subjekts auf
252
den Umgang mit seinen Bildern und Bildschirmen. Was
sollte da noch Sex und Begehren für es bedeuten? Als mini­
males Element eines umfassenden Netzwerkes wird es un­
empfänglich für die anderen und für sich selbst, und seine
Gestalt entspricht der Wüstengestalt des Raumes, die aus
der Geschwindigkeit entsteht, und der des Sozialen und des
Körperlichen, die durch Kommunikation und Information,
und der des Körpers, der durch unzählige Körperprothesen
verwüstet wird.
Das Ganze des menschlichen Wesens, seine biologische,
muskuläre, tierische Körperlichkeit ist in die mechanischen
Prothesen übergegangen. Nicht einmal mehr unser Gehirn
ist in uns verblieben, sondern flottiert in den unzähligen
Hertzsehen Wellen und Vernetzungen, die uns umgeben.
Das ist keineswegs Science-fiction, sondern bloß die Verall­
gemeinerung der Theorie McLuhans über die "Ausdehnun­
gen des Menschen". Sofern man die Elektronik und die Ky­
bernetik als Ausdehnung des Gehirns bezeichnet, ist unser
Gehirn selber gewissermaßen zum artifiziellen Auswuchs
des Körpers geworden, der also an sich selbst gar nicht mehr
zum Körper gehört. Man hat das Gehirn zum Modell hyposta­
siert, um seine Funktionen besser operationalisieren zu
können; man hat aus ihm eine Prothese innerhalb des Kör­
pers gemacht. Desgleichen die DNS-Helix: sie ist tatsäch­
lich eine Prothese im Innersten jeder einzelnen Zelle, im
Innersten des Individuums. Und so verhält es sich mit dem
ganzen Körper: wenn man sämtliche mechanischen und
energetischen Prothesen als einen Auswuchs des Körpers
begreift, wird der Körper selbst zum künstlichen Auswuchs
des Menschen und der Mensch zum künstlichen Auswuchs
seiner eigenen Prothesen.
McLuhan betrachtet dies bekanntlich sehr optimistisch als
Universalisierung des Menschen durch seine medialen Aus­
dehnungen. In der Tat aber haben sich sämtliche Körper­
teile des Menschen - das Gehirn eingeschlossen - wie ei­
genständige Satelliten auf einer Umlaufbahn exzentrisch um
ihn angeordnet, anstatt sich konzentrisch um ihn herumzu­
drehen. Aufgrund dieser Auswanderung seiner eigenen
Techniken, dieser orbitalen Verpflanzung seiner eigenen
Funktionen wird der Mensch selbst ex-orbitant und ex-zen­
trisch. Im Verhältnis zu diesen in Umlaufbahn kreisenden
253
Satelliten ist der Mensch heute selber - samt seinem Kör­
per, seinem Denken und seinem Lebensraum - ex-orbitant,
ein Satellit geworden. Er ist nirgendwo mehr heimisch, er
ist aus seinem eigenen Körper, seinen eigenen Funktionen
herausgedrängt.
Von der genetischen Reduplikation gar nicht zu sprechen,
haben wir es heute schon mit einer fraktalen Reduplikation
der Bilder und Erscheinungsweisen des Körpers zu tun.
Aus nächster Nähe betrachtet, gleichen sich alle Körper
und Gesichter. Die Großaufnahme eines Gesichts ist
ebenso obszön wie ein von nahe beobachtetes Geschlechts­
teil. Es iJt ein Geschlechtsteil. Jedes Bild, jede Form, jedes
Körperteil, das man aus der Nähe besieht, ist ein Ge­
schlechtsteil. Der Promiskuität des Details und der Vergrö­
ßerung des Zooms haftet eine sexuelle Prägung an. Die
Übertriebenheit jedes einzelnen Details zieht uns ebenso
an wie die Verästelung und serielle Vervielfältigung ein
und desselben Details. Der Pornographie mit ihrer extre­
men Promiskuität zerlegt den Körper in seine kleinsten
Teile und die Gesten in kleinste Bewegungsmomente. Und
unser Verlangen gilt gerade diesen neuen kinetischen, nu­
merischen, fraktalen, künstlichen, synthetischen Bildern,
weil sie alle weniger definiert sind. Man könnte fast sagen,
diese Bilder seien - wie pornographische Bilder - aufgrund
ihrer übertriebenen Wahrhaftigkeit und Deutlichkeit ge­
schlechtslos. Jedenfalls suchen wir in diesen Bildern nicht
mehr den imaginären Reichtum, sondern den Taumel ihrer
Oberflächlichkeit, das Künstliche ihres Details, die Intimi­
tät ihrer Technik. Nichts anderem als dieser ihrer techni­
schen Künstlichkeit gilt unser wahres Begehren, unser ech­
ter Genuß.
Ebenso verhält es sich mit dem Sex. Das Detail des Ge­
schlechtsaktes inszenieren wir wie eine biologische oder
chemische Reaktion auf einem Bildschirm, oder unter dem
Mikroskop. Wir suchen die Wunscherfüllung in der techni­
schen Verkünstlichung des Körpers und erstreben seine
Vervielfachung in Partialobjekte. Mit der vorangegangenen
sexuellen Befreiung wird der Körper zu einer bloßen Viel­
falt von Oberflächen, zum Gewimmel zahlreicher Objekte,
darin sich seine Endlichkeit, seine begehrenswerte Darstel­
lung und seine Verführungskraft verlieren. Übrig bleibt ein
254
metastatischer, ein fraktaler Körper, dem das Versprechen
der Auferstehung nicht mehr voraus steht.
Es geht heute nicht einmal mehr darum, einen Körper zu
haben, sondern an seinen Körper angeschlossen (connected)
zu sein: angeschlossen an die eigene Geschlechtlichkeit
und an die eigene Libido. An die eigenen Körperfunktio­
nen ist man angekoppelt, wie an Energiedifferentiale oder
Videomonitore. Ein Hedonismus der bloßen Konnektion,
macht aus dem Körper ein Szenario, dessen hygienische
Lobpreisung in zahllosen Fitneßcentern, Bodybuilding-, Sti­
mulations- und Simulationscentren überall gesungen wird.
Dieses Szenario bezeichnet eine kollektive, geschlechtslose
Obsession.
Dem entspricht eine weitere Obsession: die, an das eigene
Gehirn konnektiert zu sein. Was die Menschen auf den
Bildschirmen ihrer Textverarbeitungssysteme oder ihrer
Mikrocomputer erkennen oder zu erkennen glauben, ist
nichts anderes als der Prozeß ihres eigenen Gehirns. Heute
versucht man nicht mehr in der Leber oder in den Einge­
weiden noch auch im Herzen oder im Blick eines Men­
schen zu lesen, sondern schlechthin in seinem Gehirn, des­
sen Milliarden von Verbindungen und dessen Arbeitspro­
zeß man wie ein Videospiel beobachten möchte. Dieser
ganze cerebrale und elektronische Snobismus zeugt von ei­
ner überaus gekünstelten Denkweise und bezeichnet eine
verschrumpfte, auf den obersten Auswuchs des Rücken­
marks beschränkte Anthropologie. Doch nur keine Angst,
dies ist alles letztlich weniger wissenschaftlich und opera­
tional, als man gerne annimmt. Vielmehr ist es das Schalupiel
des Gehirns und seines Funktionierens, das uns fasziniert.
Wir würden gerne sehen, wie das Szenario vom Denken vor
sich geht, den Gedanken als Bild vor uns haben - und das
wiederum ist ein abergläubischer Wunsch.
So ringen Studenten und Forscher mit ihren Computern,
korrigieren, überarbeiten und verbessern unablässig und
machen dergestalt aus der Arbeit eine Art unendlicher Psy­
choanalyse, sie speichern alles, um jeden Schluß und Ent­
schluß zu umgehen; mittels fortdauerndem Feed-back und
unaufhörlicher Interaktion mit der Maschine, deren Funk­
tion mit der des eigenen Gehirns identifiziert wird, versu­
chen sie, das unausweichliche Schicksal des Todes und den
255
ebenso fatalen Moment des Schreibens aufzuschieben. Der
Computer ist ein wunderbares Instrument exoterischer Ma­
gie: jede Interaktion läuft letztlich auf ein endloses Zwie­
gespräch mit der Maschine hinaus. Sehen Sie sich die Kin­
der mit ihren Computern in der Schule an: glauben Sie, sie
seien etwa kontaktfreudiger und wirklichkeitsnäher gewor­
den? Bestenfalls hat man einen integrierten Schaltkreis
Kind-Maschine hergestellt. Und der Intellektuelle hat für
sich endlich das Äquivalent dafür gefunden, was für den
Teenager seine Stereoanlage und sein Walkman ist: die zur
Schau gestellte Entsublimierung des Denkens, die Video­
graphie seiner Begriffe!
Selbst im Nachtclub thront man in der schalldichten Bar
über der Tanzfläche wie Fluglotsen an ihren Radargeräten
über den Landebahnen, wie Aufnahmeleiter in ihren Kabi­
nen über den Radio- oder Fernsehstudios. Und der Saal
selbst erscheint als fluoreszierende Fläche, die mit ihren
Lichtorgeln, Stroboskopeffekten und über die Tänzer hu­
schenden Lichtstrahlen dieselben Effekte hat wie ein Bild­
schirm. Und jeder ist sich dmen bewußt. Keine körperliche
Dramaturgie, kein Auftritt kommt heute mehr ohne Kon­
trollbildschirm aus - nicht um sich darin zu sehen oder mit­
tels der Distanz und der Magie des Spiegels darin widerzu­
scheinen, sondern vielmehr zur sofortigen und oberflächli­
chen Refraktion. Das Video hat stets nur eine Funktion:
und zwar die, Bildschirm einer ekstatischen Refraktion zu
sein. Einer Refraktion, die nichts mehr vom Bild, von einer
Szene oder von der Kraft der Repräsentation hat, die nicht
im geringsten dazu dient, zu spielen oder sich vorzustellen,
sondern die immer nur - sei es einer Gruppe, einer Aktion,
einem Ereignis oder einem Vergnügen - dazu dienen wird,
an sich selbst angeschaltet (connected) zu sein. Ohne dieses Kurz­
schließen, ohne diesen raschen, gleichzeitigen Netzan­
schluß, der durch das Anschließen eines Gehirns, eines Ob­
jekts, eines Ereignisses oder eines Diskurses an sich selbst
entsteht, ohne dies immerwährende Video hat heute nichts
mehr einen Sinn. Das Video stadium hat das Spiegelstadium
abgelöst.

Das hat nichts mit Narzißmus zu tun, und man irrt, wenn
man den Terminus zur Beschreibung dieses Effekts miß-
256
braucht. Die Video- und Stereokultur erzeugt nämlich kein
narzißtisch Imaginäres, sondern ist ein Effekt äußerster,
verzweifelter Selbstreferenz, ein Kurzschluß, mit dem das
Gleiche ans Gleiche unvermittelt angeschlossen wird; ein
Effekt, der damit zugleich seine Intensität an der Oberflä­
che und seine Bedeutungslosigkeit in der Tiefe bezeugt.

Es ist der unserem Zeitalter eigene Spezialeffekt. Ebenso


verhält es sich mit der Ekstase der Polaroid-Aufnahme: fast
im selben Moment das Objekt und dessen Bild vor sich zu
haben; es ist, als ob sich die alte Physik oder Metaphysik
des Lichtes erfüllt hätte, derzufolge jedes Objekt Doppel
oder Abbilder von sich abwerfe, die unserem Gesichtssinn
entgegenkommen. - Ein reiner Traum. - Die optische Ma­
terialisierung eines magischen Prozesses. Das Polaroidfoto
ist wie ein vom wirklichen Objekt abgesondertes ekstati­
sches Negativ.
Grundlegend ist für diese Videokultur die Existenz eines
Bildschirms, nicht aber notgedrungen die eines Blicks. Die
Wahrnehmung eines menschlichen Blickes ist vom taktilen
Ablesen eines Bildschirms völlig verschieden. Bei letzterem
handelt es sich um ein digitales Abtasten, wobei das Auge
sich wie eine Hand an einer unendlichen, gebrochenen Li­
nie entlangtastet. Die Beziehung zu einem Gesprächspart­
ner bei der Telekommunikation ist dieselbe wie die zum
Wissen bei der Datenverarbeitung: taktil und tastend. Die
Stimme etwa bei der neuen Datenverarbeitungstechnologie
oder sogar am Telefon, ist sie eine tastende/taktile Stimme,
eine rein funktionale Stimme, gleichsam Nullpunkt der
Stimme? Recht besehen ist es überhaupt keine Stimme
mehr, so wenig es sich beim Bildschirm noch um einen
Blick handelt. Das Paradigma der sinnlichen, mentalen
Wahrnehmung hat sich vollständig gewandelt. Denn jene
Taktilität hat nicht den organischen Sinn des Berührens,
sondern bezeichnet bloß das hautnahe Aneinanderstoßen
von Auge und Bild, das Ende der ästhetischen Distanz des
Blickes. Wir nähern uns immer mehr der Oberfläche des
Bildschirms, unsere Augen sind im Bild gleichsam ver­
streut. Wir halten nicht mehr die Distanz des Zuschauers
zur Bühne, die Konventionen der Szene sind vergangen.
Und wenn wir so leicht in diese Art imaginäres Koma des
257
Bildschirms verfallen, so liegt es daran, daß der Bildschirm
eine unendliche Leere erzeugt, die auszufüllen wir bean­
sprucht sind: Proxemik der Bilder, Promiskuität der Bilder,
taktile Pornographie der Bilder. Und doch ist das Bild, das
auf dem Bildschirm erscheint, paradoxerweise immer Licht­
jahre entfernt, es ist immer ein Tele-Bild. Es befindet sich
in einer ganz eigentümlichen Entfernung, die man als für
den Körper unüberwindbar bezeichnen kann. Die Distanz
der Sprache, der Bühne, des Spiegels hingegen ist für den
Körper überbrückbar, wodurch sie menschlich ist und die
Möglichkeit eines Austauschs bestehen bleibt. Der Bild­
schirm aber ist virtuell, also unerreichbar, weswegen er nur
jene abstrakte, jene unerbittlich abstrakte Form des Austau­
sches zuläßt, welche die Kommunikation ist.
Im Bannkreis der Kommunikation sind Dinge, Menschen
und Blicke unablässig im Zustand virtuellen Kontaktes und
berühren sich doch niemals, weil dabei die Nähe oder die
Ferne eine andere ist als die des Körpers zu dem, was ihn
umgibt. Das virtuelle Bild ist zugleich zu nahe und zu fern:
zu nahe, um wahr zu sein (um die richtige Nähe des Szeni­
schen zu haben), zu fern, um falsch zu sein (um den Zau­
ber des Künstlichen zu haben). Daraus folgt, daß es weder
wahr noch falsch ist und daß es eine Dimension eröffnet,
die nicht mehr genau die des Menschen ist; eine exzentri­
sche Dimension, die der Depolarisierung des Raumes und
der Auflösung der Gestalten des Körpers.
Der Bildschirm des Computers und der mentale Bildschirm
meines eigenen Gehirns stehen in einem Möbiusschen Ver­
hältnis, sie sind verflochten wie in einer Möbiusschen
Schlaufe. Daher fallen Elektronische Datenverarbeitung
und Kommunikation in einer Art inzestuöser Windung im­
mer wieder auf sich selbst zurück; weil sie sich stetig auf ei­
ner oberflächlichen Kontiguität von Subjekt und Objekt,
von Innen und Außen (von Ereignis und Bild usw.) bewe­
gen, können sie nur eine Kreislinie beschreiben, die gleich­
sam das mathematische Zeichen für das "Unendliche" dar­
stellt.
Oder nehmen wir den vinuellen Menschen mit seinem Fo­
toapparat: weder ist er dessen Untenan, wie er Untertan ei­
ner Maschine wäre; noch auch ist er frei. Er ist ein objekti­
ver Helfer, Operateur seines Apparates, an den er durch
258
eine Einschaltung des einen in den anderen, durch eine vir­
tuelle Refraktion des einen durch den andern, ebenso ver­
wiesen ist, wie sein Apparat an ihn. Der Apparat macht nur,
was der Fotograf will; doch dieser verwirklicht wiederum
nur das, wofür die Maschine programmien ist. Der Fotograf
bringt Potentialitäten zustande und seine Funktion ist nur
scheinbar die, die Welt zu erfassen; in Wirklichkeit er­
forscht er sämtliche Möglichkeiten eines Programms,
gleichwie ein Spieler darauf abzielt, alle Möglichkeiten ei­
nes Spiels auszuschöpfen. Darin liegt im übrigen der Unter­
schied zwischen einem "subjektiven" Gebrauch des Fotos
einerseits, wo das Subjekt mit einer reflexiven und ästheti­
schen Weltanschauung vorangeht, und dem virtuellen objek­
talen Foto, der Fotografie als vinueller Maschine anderer­
seits, wo die Verantwonlichkeit der Welt gegenüber gleich
Null, das Spiel der Möglichkeiten aber unbegrenzt ist.
Nicht mehr die Möglichkeiten des Subjekts, die Welt zu er­
fassen, geben den Ausschlag, sondern die Möglichkeiten
des Objekts, welches die ganze Bereitschaft des Objektivs
ausnützt.
In dieser Perspektive ist der Fotoapparat eine Maschine, die
jeden Willen völlig verdreht, jede Intentionalität auslöscht,
außer dem puren Reflex, Fotos knipsen zu wollen. Selbst
den Blick löscht der Fotoapparat aus, denn er ersetzt ihn
durchs Objektiv, das seinerseits Helfershelfer des Objekts
und also einer Umkehrung des Sehens ist. Wenn man einen
Tag lang durch eine Stadt läuft und fotografien, sieht man
diese Stadt nicht mehr. Und diese Auslöschung des Sub­
jekts, seine Schrumpfung zur black box, die Rückentwick­
lung seines Sehens zu dem entpersönlichten Sehen des Ap­
parates, das ist magisch. Vor dem Spiegel spielt das Subjekt
sein eigenes Reales und sein eigenes Imaginäres. Im Objek­
tiv aber, auf Bildschirmen im allgemeinen und vermittels al­
ler Mediatechniken wird die Welt vinuell, das Objekt lie­
fen sich "potentiell" aus und treibt sein eigenes Spiel.
Aus diesem Grunde sind in der Fotografie alle Bilder mög­
lich. Und umgekehn gibt es keine Tat und kein Ereignis,
das sich nicht im technischen Bild aufhebt und auslöscht;
keine Handlung, die nicht danach strebt, fotografien, ge­
filmt, aufgenommen, virtuatiJiert zu werden, um in jene
Software einzufließen und unendlich reproduzierbar zu
259
werden. Der Anspruch ist, überall potentiell zu existieren
und auf allen Bildschirmen und in allen Programmen prä­
sent zu sein; dieser Zwang wird zum magischen Bedürfnis.
Und wo bleibt bei alledem die Freiheit? Sie bleibt völlig
aus. Es gibt keine Wahl des Fotografierens, keine Entschei­
dung. Jede Entscheidung ist seriell, partiell, fragmentarisch,
fraktal. Einzig die Abfolge der partiellen Entscheidungen,
die mikroskopische Serie der Sequenzen und der partialen
Objekte bestimmt den fotografischen Ablauf (wie auch den
Funktionsablauf von Computern und analogen Maschinen).
Die Struktur des fotografischen Verhaltens ist "quantisch":
ein zufälliges Ensemble punkthafter Entscheidungen. Und
kein Foto wird jemals mehr sein als eine Möglichkeit aus
dem gesamten Programm, von dem aus betrachtet alle Foto­
grafien möglich sind und sich untereinander gleichen und
ausgleichen. Das ist der Taumel der black box; und dieser
Taumel, diese Ungewißheit der black box setzt unserer
Freiheit ein Ende.
Bin ich nun Mensch, oder bin ich Maschine? Es gibt heute
keine Antwort mehr auf diese Frage: realiter und subjektiv
bin ich Mensch, virtuell und praktisch bin ich Maschine.
Dies bezeichnet einen Zustand anthropologischer Unge­
wißheit; man kann ihn - auf anderer Ebene - mit dem Zu­
stand der Transsexualität vergleichen, sowie mit der radika­
len Ungewißheit in den Mikrowissenschaften im Hinblick
auf den Status von Subjekt und Objekt. Im Verhältnis des
industriellen Arbeiters zu technischen Gegenständen und
Maschinen gibt es keinerlei Ungewißheit: der Arbeiter steht
der Maschine stets in irgendeiner Weise fremd gegenüber
und ist daher durch sie entfremdet; er wahrt den Eigenwert
der Entfremdung. Durch die virtuellen Maschinen und die
neuen Technologien jedoch bin ich keineswegs entfremdet.
Sie bilden mit mir einen integrierten Schaltkreis (dies ist
das Prinzip des Interface) . Groß- und Mikrocomputer,
Fernsehen, Video und selbst der Fotoapparat sind wie Kon­
taktlinsen, durchsichtige Prothesen, die derart in den Kör­
per integriert sind, daß sie fast schon genetisch zu ihm ge­
hören, wie etwa pace-maker (oder auch jener berühmte
"Papoula" von Philip K. Dick: ein kleines Implantat für Re­
klame, das bei Geburt in den Körper des Menschen einge­
pflanzt wird und ihm als quasi-biologisches Alarmsignal
260
dient) . Die Verbindung mit einem "intelligenten" Terminal
ist - gewollt oder nicht - von derselben Art: es entsteht
eine Struktur der Angeschlossenheit, der Einschaltung
(nicht der Entfremdung) , ein integrierter Schaltkreis. Die
Prägung als Mensch oder als Maschine ist dabei ununter­
scheidbar. Das Virtuelle im allgemeinen ist weder real noch
irreal, weder immanent noch transzendent, weder innen
noch außen; es verwischt all diese Bestimmungen.
Ob der unglaubliche Erfolg der Videokultur und der künst­
lichen Intelligenz nicht von dieser exorzistischen Funktion
herrührt, von der Tatsache, daß sich endlich das ewige Pro­
blem der Freiheit nicht einmal mehr stellt? Bin ich Objekt,
bin ich Subjekt? Bin ich frei, bin ich entfremdet? Kein Pro­
blem mehr mit den virtuellen Maschinen! Weder seid ihr
Subjekte, noch Objekte, weder frei, noch entfremdet.
Wenn die Menschen über intelligente Maschinen phanta­
sieren und sie sogar erzeugen, so deshalb, weil sie insge­
heim an ihrer eigenen Intelligenz verzweifeln oder unter
der Last einer ungeheuren und zwecklosen Intelligenz zu­
sammenbrechen: so beschwören sie diese Intelligenz in den
Maschinen herauf, um damit zu spielen und darüber lachen
zu können. Diese Intelligenz Maschinen anzuvertrauen, be­
freit uns in gewisser Weise von jeglichem Anspruch auf ein
totales Wissen, gleichwie die Macht Politikern anzuver­
trauen uns erlaubt, über die Anmaßung, Menschen zu re­
gieren, lachen zu können.
Wenn die Menschen - wider jede Einsicht- von genialen
und schöpferischen Maschinen träumen, so weil sie an ihrer
eigenen Schöpferkraft verzweifeln oder weil sie es vorzie­
hen, sich ihrer Schöpferkraft zu entledigen, um sie erst ver­
mittelt durch Maschinen auszuüben und zu genießen.
Denn was diese Maschinen bieten, ist zuvörderst das Schau­
spiel des Denkens, und im Umgang mit ihnen frönen die
Menschen lieber dem Schauspiel des Denkens als dem Den­
ken selber.
Nicht umsonst nennen wir sie virtuelle Maschinen: denn
sie halten das Denken auf immer in der Schwebe im hypo­
thetischen Anspruch auf ein totales Wissen. Der Akt des
Denkens ist dabei ins Endlose hinausgezögert. Die künfti­
gen Generationen werden die Frage nach dem Denken so­
wenig wie die nach der Freiheit stellen: sie werden, gleich-
261
sam an ihren Sitzen festgeschnallt, das Leben wie einen
Luftraum durchqueren. Ebenso werden die Menschen der
künstlichen Intelligenz, mit ihrem Computer verbunden,
ihren Gedanken-Raum durchmessen. Der virtuelle Mensch,
reglos vor seinem Computer, macht Liebe via Bildschirm
und seine Vorlesungen per Telekonferenz. Er wird zum
motorisch und wohl auch zerebral Behinderten - der Preis,
den er zahlen muß, um operational zu werden. Wie Brillen
oder Kontaktlinsen eines Tages zu integrierten Prothesen
einer Gattung werden, die den Blick verloren hat, so wird
einst - kann man befürchten - die künstliche Intelligenz
samt technischem Zubehör die Prothese einer Gattung wer­
den, der das Denken abhanden gekommen ist.
Die künstliche Intelligenz ist ohne Intelligenz, weil sie
nicht artifiziell ist. Wirklich künstlich ist der Körper in sei­
ner Leidenschaft, sind die Zeichen in der Verführung, die
Ambivalenz in den Gesten, die Ellipse in der Sprache, die
Maske im Gesicht, der Witz, der den Sinn betäubt, die
Kunst vielleicht. Jene intelligenten Maschinen jedoch sind
bloß im allerärmsten Sinne künstlich, denn sprachliche, ge­
schlechtliche, wissenschaftliche Vorgänge zerlegen sie bloß
in ihre einfachsten, digitalisierten Momente, um sie dann
nach bestimmten Modellen wieder zusammenzusetzen und
sämtliche Möglichkeiten eines Programms oder eines po­
tentiellen Objektes aufzubauen. Das Artifizielle jedoch hat
nichts mit dem Aufbau, sondern mit dem Abbau oder der
Umwertung der Realität zu tun; Kunst ist die Macht der Il­
lusion. Jene Maschinen aber sind so redlich, so schuldlos, so
einfältig, daß sie nur rechnen und operationalisieren kön­
nen, und die einzigen Spiele, die sie zulassen, sind Spiele
der Kombination und der Kommutation. Aus diesem
Grunde kann man sie auch tugendhaft nennen (sie produ­
zieren virtu! und nicht nur Virtuelles), denn sie erliegen
nicht einmal ihrem eigenen Objekt und werden auch nicht
vom Wissen verführt, hingerissen. Ihre Transparenz und
Funktionalität sowie das völlige Fehlen von Leidenschaft
und Kunst machen ihre Tugendhaftigkeit aus. Die künstli­
che Intelligenz ist eine Junggesellenmaschine.
Aus dieser Jungfräulichkeit, der völligen Unkünstlichkeit
der Maschine folgt der Junggesellencharakter des telemati­
schen Menschen. So wie er sich vor seinem Mikrocomputer
262
oder Textverarbeitungssystem das Schauspiel seines Ge­
hirns oder seiner Intelligenz gibt, so erlebt der telematische
Mensch durch das erotische Minitel das Schauspiel seiner
Phantasmen und seiner virtuellen Sexualität. In beiden Fäl­
len projiziert er seinen sexuellen Genuß oder seine Intelli­
genz aus sich raus und überträgt sie auf die zwischenge­
schaltete Maschine. Der Andere als sexueller oder kogniti­
ver Partner ist nie wirklich gemeint, als ob es ein
Durchschreiten des Bildschirms geben möchte, wie das
Durchschreiten des Spiegels. Vielmehr wird der Bildschirm
selber gezielt Moment der Interface. Die Maschine (der
interaktive Bildschirm) verwandelt den Prozeß der Kommu­
nikation, die Beziehung des einen zum anderen, in einen
Prozeß der Kommutation, d. h. in einen Prozeß der Wech­
selwirkung desselben auf dasselbe. Es ist der Trick des In­
terface, daß der Andere praktisch zum SeIben wird, daß die
Andersheit verstohlen durch die Maschine eingeschleust
wird. Als Modell der heutigen Kommunikation könnte der
Minitelaustausch gelten. Man verbindet sich zuerst erotisch
via Bildschirmtext, dann ruft man einander an, dann trifft
man sich und - dann - was tun? Nun, "man ruft mal wie­
der an", kehrt zum Bildschirm zurück, auf dem es letztlich
viel erotischer zugeht, weil zugleich esoterisch und transpa­
rent. Dies ist die reine Form der Kommunikation, die nur
die Promiskuität des Bildschirms und den elektronischen
Text als Filigran des Lebens kennt, wo wir uns in einer
neuen Höhle des Platon wiederfinden und nur noch die
Schatten der fleischlichen Lust an uns vorbeiziehen sehen.
Wozu sollte man noch miteinander reden, wenn es so ein­
fach ist, zu kommunizieren?
Einst lebten wir im Imaginären des Spiegels, der Entzweiung
und der Ichszene, der Andersheit und der Entfremdung.
Heute leben wir im Imaginären des Bildschirms, des Inter­
face und der Vervielfältigung, der Kommutation und Vernet­
zung. Alle unsere Maschinen sind Bildschirme, wir selbst
sind Bildschirme geworden und das Verhältnis der Menschen
zueinander ist das von Bildschirmen geworden. Was auf den
Bildschirmen erscheint ist nicht dazu ausersehen, tiefgründig
entziffert zu werden, sondern soll unverzüglich in einem
unmittelbaren Abreagieren, in einem unmittelbaren Kurz­
schluß der Pole der Repräsentation abgelesen werden.
263
Was aber das Funktionieren sogar der intelligentesten Ma­
schine immer vom Menschen unterscheiden wird, ist der
Rausch des Funktionierens, die Lust. Glücklicherweise liegt
es noch jenseits menschlichen Vermögens, Maschinen zu
erfinden. die Lust empfinden. Alle Anen von Prothesen
können dazu beitragen, dem Menschen Lust zu verschaf­
fen, aber er kann keine erfinden. die an seiner Stelle Lust
empfinden. Obgleich der Mensch Prothesen entwickeln
kann, die besser oder an seiner statt arbeiten, "denken"
oder sich fonbewegen können, so gibt es doch keine techni­
sche Übenragungsprothese für die Lust des Menschen, für
die Lust Mensch zu sein. Dafür müßten die Maschinen eine
Idee vom Menschen haben, sie müßten den Menschen er­
finden können, was freilich schon zu spät ist, denn sie wur­
den ja eben selber von ihm erfunden. Der Mensch kann
über das hinausgehen, was er ist, während Maschinen nie­
mals übersteigen können, was sie sind. Die intelligentesten
Maschinen sind just das, was sie sind, es sei denn vielleicht
im Falle des Unfalls oder der Funktionsschwäche, die man
sich immer als stilles Verlangen bei ihnen einbilden darf,
möchte. Sie kennen nicht diese ironische Überwirkung, die­
sen Überschuß an Funktionalität, worin gerade die Lust
oder das Leiden besteht und wodurch sich die Menschen
von ihrer Zweckbestimmung entfernen und sich ihrem
Schicksal nähern. Schlimm genug für sie, nie wird eine Ma­
schine die ihr zugedachte Operation übersteigen können,
womit sich vielleicht die tiefe Melancholie von Computern
erklän . . . Alle Maschinen sind Junggesellenmaschinen.
(Das kürzliche Auftauchen elektronischer Viren bietet al­
lerdings eine bemerkenswene Ausnahme: man könnte sa­
gen, daß sich darin eine Schadenfreude der Maschinen of­
fenban, perverse Effekte zu erzeugen oder zu steigern und
ihre Zweckmäßigkeit durch ihre eigene Operation zunichte
zu bringen. Das ist eine ironische und spannende Wen­
dung. Es könnte sein, daß sich die künstliche Intelligenz
mit dieser neuesten viralen Pathologie selbst parodien und
so eine An wirklicher Intelligenz entwickelt.)

AUJ dem FranzöJiJchen von MatthiaJ Rüb


PAUL VIRILIO
Das letzte Fahrzeug

Es wird künftig ebenso nützlich sein,


den Raum zu erlernen wie Autofahren zu lernen.
Wernher von Bra"n

In Tokio kann man ein neues Schwimmbad sehen, das mit


einem von starker Strömung durchzogenen Becken ausge­
stattet ist, worin sich die Schwimmer auf der Stelle hal­
ten . . . Eine fließende Wasserfläche hinden einen am Fon­
kommen und verlangt dem Badenden eine Bewegungskraft
ab, um sich über Wasser zu halten . . . Wie bei einem Home­
trainer oder auf einem Rollteppich, den man in der Gegen­
richtung benutzt, hat die Strömungsdynamik des japani­
schen Bassins nur die Funktion, die Wettschwimmer zum
Kampf mit dieser Energie zu bewegen, die sich ihnen im
Raum entgegenstellt. Eine Energie, die auf die Ausmaße
des olympischen Beckens abgestimmt ist, so wie die Räder
des Hometrainers die Radrennbahn ersetzen . . .
Wer hier trainien, wird so nicht zum bewegten Körper,
sondern vielmehr eine Insel, ein RIIhepol (pole d'inenie).
Wie auf einer Bühne, konzentrien sich alles an On und
Stelle, spielt sich alles im bevorzugten Augenblick eines
Aktes ab. Ein maßloser Augenblick, der die Weite und die
lange Dauer ersetzt. Es gibt keinen Golfplatz mehr, son­
dern eine "Video-Performance", keinen Parcours, sondern
einen Bahn-Simulator: der Raum weitet sich nicht mehr,
das Trägheitsmoment ersetzt die stetige Onsverände­
rung.
Eine vergleichbare Tendenz läßt sich übrigens bei Inszenie­
rungen von Ausstellungen in Museen beobachten. Zu ent­
fernt, sind umfangreichste Ausstellungskomplexe seit kur­
zem zu zeitlich verkürzten Onen geworden, die umgekehn
proponional zu ihrer allgemeinen Ausdehnung stehen:
man muß zweimal mehr Raum in der Hälfte der Zeit durch­
queren . . . Die Beschleunigung des Besuchs von Ausstellun­
gen bemißt sich nach dem Umfang der cimaises. Angesichts
von zu viel Raum und zu wenig Zeit schwimmt das Mu­
seum in ungenutzten Weiten, die von keinen Werken mehr
265
ausgefüllt werden können. Wahrscheinlich weil diese zu­
dem dazu neigen, sich auszubreiten und im Raum dieser
weiträumigen Flächen zur Schau zu stellen, die jetzt ihrer
Anziehungskraft beraubt sind, ganz so wie die großen Per­
spektiven des klassischen Zeitalters.
Gebaut zur Erinnerung an bedeutende Werke, in die sich
die aufmerksamen Besucher der Vergangenheit versenkten,
werden unsere Denkmäler jetzt überholt durch die exzes­
sive Eile des Betrachters, dieses "Amateurs", den man doch
aufhalten und mehr als einen Augenblick festhalten sollte,
der aber umso schneller flieht, je imposanter das Ausmaß
der präsentierten Werke ist.
Als Denkmal eines Augenblicks, wo das Werk eher in den
Schatten tritt als sich darstellt, sucht das zeitgenössische
Museum vergeblich diese Werke, diese Arbeiten für den
Blick zu versammeln, die gewöhnlich im Abseits bleiben, im
Atelier, auf der Staffelei, in den Laboratorien einer vertief­
ten Wahrnehmung, die niemals die des Passanten ist, dieses
"Besucherpassagiers", den die Spannung zerstreut, die ihn
amüsiert. In dieselbe Richtung des Innehaltens, der Ein­
schränkung der Zeit des Vorübergehens weist auch ein an­
deres Projekt: Es handelt sich um die Miniaturnachbildung
des Staates Israel, wo "die Besucher in voller Sicherheit und
bei einem Minimum an physischer Fortbewegung, die ge­
naue Kopie des Holocaust-Museums bewundern könnten,
ein Stück der Klagemauer und die verkleinerte Nachbil­
dung des Teberiade-Sees mit einigen Kubikmetern origina­
len Wassers". Die Leiter der bei dieser Gelegenheit zu
gründenden Stiftung würden noch die Ausstellung elektro­
nischen Materials und Ausrüstungen hinzufügen, die von
der israelischen Industrie produziert werden. Diese De­
monstration von Extra-Territorialität fände statt im Raum
von Douarnenez, auf der Tristan-Insel, die endlich von
Frankreich dem hebräischen Staat überlassen würde . . .
Selbst wenn diese Utopie nicht wirklich Gestalt annimmt,
verrät sie doch auf exemplarische Weise diese tellurische
Kontraktion, diese plötzliche "Über-Ausstellung", die heute
die Weite der Territorien, die Oberfläche der umfangreich­
sten Objekte ebenso in Mitleidenschaft zieht, wie die Natur
unserer letzten Ortsveränderungen. Eine Ortsveränderung
auf der Stelle, die wie eine Trägheit erscheint, bei der die
266
durchmesse ne Landschaft der "Bild-Einstellung" im Film
gleichkommt. Es ist auch der Beginn einer letzten Genera­
tion von Fahrzeugen, von Verkehrsmitteln, die ohneglei­
chen in der Revolution der Transponmittel sind. Als würde
sich die Eroberung des Raumes am Ende als eine Erobe­
rung allein der Bilder des Raumes herausstellen. Ist am
Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhundens das auto­
mobile Fahrzeug entstanden, das dynamische Fahrzeug auf
Schienen, Straßen, schließlich in der Luft, so scheint es
jetzt, daß sich am Ende unseres Jahrhundens mit dem be­
vorstehenden audiovisuellen Fahrzeug eine letzte Mutation
ankündigt; das statische Fahrzeug als Ersatz für unsere phy­
sischen Onsveränderungen und als Verlängerung unserer
häuslichen Trägheit. Es wäre der endgültige Triumph der
Seßhaftigkeit, einer definitiven Seßhaftigkeit diesmal.
Auf die Transparenz des Raumes und auf die Transparenz
des Horizontes unserer Reisen und unserer Fahnen würde
dann diese ktltodische Transparenz folgen, in der sich die Er­
findung des Glases vor 4000 Jahren oder des Spiegels vor
2000 Jahren und dieser "Vitrine", jenem rätselhaften Ob­
jekt, das immerhin die Geschichte der Stadtarchitektur vom
Mittelalter bis in unsere Tage einschneidend bestimmt hat,
perfekt erfüllt oder, um es genauer zu formulieren, bis hin
zu der jüngsten Realisierung dieser elektronischen Vitrine als
dem letzten Horizont unserer Trajekte, worunter der
"Flugsimulator" das bisher vollkommenste Modell dar­
stellt.
Die jüngste Entwicklung der Vergnügungsparks beweist
das zur Genüge: dieses Laboratorium der physischen Sensa­
tionen mit seinen Luftschlitten, seinen Rampen und Kam­
mern der Schwerelosigkeit, die Modell für das Training der
Piloten und Kosmonauten sind - dieses Volksfest bewegt
sich nach Aussagen der Zuständigen ebenfalls in Richtung
auf ein kollektives Erproben von nur mentalen und imagi­
nären Sensationen.
Im vergangenen Jahrhundert ist es das Theater verlorener
physiologischer Sensationen für eine arbeitende Bevölke­
rung gewesen, die von bereichernden und wechselnden
körperlichen Tätigkeiten enteignet wurde. Jetzt wird der
Vergnügungspark zum Schauplatz rein optischer Illusio­
nen, On eines verallgemeinenen Nicht-Ones der Simula-
267
tion, von fiktiven Trajekten, die jedem eine elektronische
Halluzination verschaffen können, eine Trunkenheit . . . un­
absehbarer "Verlust der Sicht", der auf den Verlust der phy­
sischen Aktivitäten folgt, wie sie das 19. Jahrhunden er­
lebte. Es ist freilich wahr, daß schon neben den
Jahrmarktberufen des Seiltanzes und der schwindelfreien
Akrobatik, "die Panoramen", "Dioramen" und andere Kine­
matographen den Weg für das "Panorama", für die "Geode",
dieses hemisphärische Kino freimachten, das sich im "Ci­
neorama-Ballon" von Grimoin-Sanson, jenen archaischen
Vorformen unserer heutigen audiovisuellen Fahrzeuge, an­
kündigte. Es waren die amerikanischen Hale's Tour!, die das
Unternehmen konturienen, denn zwischen 1898 und 1908
wurden einige dieser imaginären Fahrzeuge von den Eisen­
bahngesellschaften finanzien. Erinnern wir uns, daß diese
von einer Lokomotive oder vom Ende eines Zuges auf ei­
ner Panorama-Plattform gedrehten Filme dem Publikum
dann in Kinosälen vorgefühn wurden, die genau den Eisen­
bahnwaggons der Epoche nachgebaut waren. Einige solcher
Kurzfilme wurden übrigens von Billy Bitzer gedreht, der
später Chef-Vorführer von D. W. Griffith war.
An diesem Punkt empfiehlt es sich, zu den Quellen der Be­
wegungsillusion zurückzugehen, zu den Brüdern Lumiere,
zu "L'entree d'un train en gare de La Ciotat" von 1895, vor
allem aber zum Frühjahr 1896, wo Eugene Promio das aller­
erste travelling erfand. Hören wir seinen Bericht:
"In Italien hatte ich zum erstenmal die Idee der Panorama­
Aufnahmen. Als ich in Venedig ankam und mich im Kahn
auf dem Canale Grande vom Bahnhof zum Hotel begab, be­
trachtete ich die vor dem Kahn vorbeiziehenden Ufer und
dachte, wenn das unbewegliche Kino erlaubt, bewegte Gegenstände
zu reproduzieren, dann könnte man vielleicht eine Umkehrung vor­
nehmen und versuchen, mit Hilfe eines beweglichen Kinos unbewegte
Gegenstände zu reproduzieren. Ich machte dann eine Auf­
nahme, die ich mit der Bitte nach Lyon schickte, mir mitzu­
teilen, was Louis Lumiere von diesem Versuch hielt. Die
Antwort war zustimmend."
Um die Bedeutung des Beginns dieses "beweglichen Ki­
nos", d. h. des ersten statischen Fahrzeugs richtig zu verste­
hen, müssen wir den Lauf der Geschichte noch etwas wei­
ter zurückverfolgen. Ohne bis zu den " aerostatischen
268
Cliches" Nadars aus dem Jahre 1858, dem Ursprung der
filmischen Schwerelosigkeit, zurückzugehen, soll erwähnt
werden, daß man bis zum Jahr 1910 auf die erste "Luftauf­
nahme" von Bord eines Farman-Flugzeugs warten mußte.
Das danach übliche "Reisefahrzeug" auf Schienen, untrenn­
bar von der zeitgenössischen Entwicklung des Films, ent­
stand vier Jahre später während der Dreharbeiten zu "Cabi­
ria" durch Giovanni Pastrone. Zur Erinnerung sei auch auf
die AGIT-PROP-Züge hingewiesen, auf Dsiga Wertows
zwischen 1918 und 1925 häufige Nutzung der Eisenbahn­
geschwindigkeit, die im Frühjahr 1918 Gegenstand des
"Augenzeugen-Film-Komitees" in Moskau wurden. Erst
1923 konnte dann eine "Sektion kinematographischer Auto­
mobile" für die Berichterstattung wichtiger Ereignisse ge­
gründet werden, Vorläufer der Video-Aufnahme-Wagen
des Fernsehens. Mit dieser Fahrzeugkopplung, dieser Ver­
wirklichung einer Verbindung von automobil und audiovi­
suell verändert sich schließlich unsere Wahrnehmung der
Welt: Optik und Kinematik verschmelzen miteinander. Al­
bert Einsteins Theorie des Blick- oder Standpunkts, die
dann "Theorie der begrenzten Relativität" genannt wurde,
entstand im Jahre 1905. Etwa zehn Jahre später folgte ihr
die Theorie der allgemeinen Relativität. Bei ihrer unmittel­
baren Herausbildung spielten die Metaphern des Zuges,
der Straßenbahn und des Aufzugs eine große Rolle, Fahr­
zeuge einer physikalischen Theorie, die ihnen fast alles ver­
dankt. Denn während derselben geschichtlichen Epoche
verband sich die Revolution der Verkehrsmittel mit einer
sehr charakteristischen Veränderung der Ankunft, mit einer
fortschreitenden Negation des Zeitintervalls, mit einer be­
schleunigten Retention der Übergangszeit, die Abfahrt und
Ankunft trennt. Die Raum-Distanz machte plötzlich der al­
lein dominierenden Zeit-Distanz Platz und die weitesten
Reisen waren nur noch Zwischenspiele oder Pausen . . .
Wenn, wie ich anzudeuten versuchte, im 19. Jahrhundert
und in einem Teil des 20. Jahrhunderts der Aufstieg des au­
tomobilen Fahrzeugs in allen seinen Formen stattfand, so
ist doch die Fahrzeug-Mutation keineswegs schon beendet.
Wie bereits früher (aber viel schneller) führt sie vom entfes­
selten Nomadentum zur Trägheit und zur definitiven Seß­
haftigkeit der Gesellschaften.
269
Tatsächlich setzt sich seit den dreißiger Jahren unmerklich
das audiovisuelle Fahrzeug mit Radio, Fernsehen, Radar
und den Anfängen der elektronischen Bild- und Tonauf­
zeichnungen durch. Zuerst im Krieg und dann, trotz der
massenhaften Entwicklung des Privatfahrzeugs, im Frieden
nach dem Krieg, in diesem "nuklearen Frieden", der die Re­
volution der Information bringen wird, diese, für die Aufrecht­
erhaltung der unterschiedlichen militärischen und ökono­
mischen Abschreckungspolitik (dissuasion) unerläßliche
telematische Informatik. Seit den sechziger Jahren passien
das Wesentliche also nicht mehr auf den Verkehrswegen ei­
nes gegebenen geographischen Territoriums (daher die Un­
ordnung und die Regellosigkeit in den Tarifen der öffentli­
chen Verkehrsmittel), sondern im Äther, im elektronischen
Äther der Telekommunikation.
Von jetzt an, kommt aI/eI an, ohne daß man abzureilen braucht
[tout arrive: auch in der Bedeutung alles passien, A. d. Ü.].
Auf die begrenzte Ankunft der mobilen und dann der auto­
mobilen dynamischen Fahrzeuge folgt urplötzlich die ver­
allgemeinene Zuführung der Bilder und Töne in den stati­
schen Fahrzeugen des Audiovisuellen. Es beginnt die
polare Trägheit. Das augenblickliche Interface ersetzt die
Zeitintervalle der länger dauernden Onsveränderungen.
Auf die Zeit-Diltani. (distance/temps), die sich im 19. Jahr­
hunden auf Kosten der Raum-Entfernung durchsetzte,
folgt jetzt die Geschwindigkeits-Distanz (distance/vitesse)
der elektronischen Bildwelt: aufden Jtetigen Halt folgt daJ An­
halten-im-Bi/d

Ernst Mach zufolge wäre das Universum auf mysteriöse


Weise an jedem On und in jedem Augenblick der Welt ge­
genwänig. Das ist so, wenn jedes mobile (oder automobile)
Fahrzeug eine spezifische Vision bewegt, eine Wahrneh­
mung der Welt, die nur das künstliche Resultat seiner Be­
wegungsgeschwindigkeit inmitten des irdischen, marinen
oder atmosphärischen umgebenden Milieus ist. Umgekehn
verkörpen jede der Visionen und jedes (optische, klangli­
che) Bild der wahrgenommenen Welt ein "Fahrzeug", einen
Vektor der Kommunikation, der untrennbar von seiner
270
Übenragungsgeschwindigkeit ist. Das ist so seit der telesko­
pischen Augenblicklichkeit der Herstellung des Bildes in
der passiven Optik der Galilei'schen Glaslinsen bis zu unse­
ren modernen "Mitteln der Kommunikation". der aktiven
Optik der Video-Informatik.
Man kann das dynamische Fahrzeug. das Automobil. nicht
mehr deutlich vom statischen. dem audiovisuellen. unter­
scheiden. Die jüngste Vorherrschaft der Ankunft vor der
Abreise. vor allen Abreisen und damit allen Trajekten und
allen Bahnen. verwirklicht eine geheimnisvolle Verschwö­
rung. Es ist die Trägheit des Augenblicks. jeden Ones und
jeden Augenblicks auf der gegenwärtigen Welt. die sich
schließlich dem Prinzip der Untrennbarkeit angleicht und
das Prinzip der Mengenunbestimmtheit vollendet.
Heute erleben wir Versuche einer technologischen Vermi­
schung der beiden Fahrzeuge. So zum Beispiel in der syste­
matischen Verwendung von Video-Passagen in Aufzügen
und in Türmen von großer Höhe in Japan. In der zivilen
Luftfahn werden bei Flügen über lange Entfernungen wäh­
rend des Fluges Spielfilme gezeigt. Alle diese momentanen
Konjunktionen führen unausweichlich zur Beseitigung je­
nes Vektors (im System der Fahrzeugbewegung und -beför­
derung). der hinsichtlich der gesteigenen Geschwindigkeit
am wenigsten anpassungsfähig ist. Die heutige Flucht nach
vorn des Hochgeschwindigkeitszuges und des Überschall­
flugzeuges zeigt mit der Regellosigkeit. die sich damit im
Verkehrswesen eingestellt hat. besser als alle Voraussagen.
daß es das automobile Fahrzeug auf der Erde. zu Wasser und
in der Luft ist. das von dieser Entwicklung bedroht wird.
Die Ära der intensiven Zeit ist nicht mehr die des physi­
schen Transponmittels. Sie ist im Gegensatz zur früheren
Ära der extensiven Zeit heute ausschließlich die Zeit der
Telekommunikationsmittel, d. h. die intensive Zeit häus­
licher Trägheit und des Am-On-Seins. Die jüngste Ent­
wicklung des Autos. wie sie die Formel-I-Rennen demon­
strieren. beweist das: da man nicht ernsthaft mit den
audiovisuellen Kühnheiten konkurrieren kann. werden un­
aufhörlich die Leistungen des Rennwagens. die Wettkampf­
regeln. das Gewicht der Wagen. die Reservetanks verän­
den. manchmal bis zur Drosselung des Motors. was der
Gipfel ist! Das dynamische Fahrzeug. das für diese sportli-
271
che Entwicklung am symptomatischsten ist, wurde schließ­
lich der dragster (und der hot road), für den der Werbeslogan
zuträfe: "Wie fähn man irgendwohin oder wie man immer
schneller immer weniger weit (400, 200 Meter) fähn!"
Im Extrem fühn diese Entwicklung im intensiven Wett­
kampf vielleicht zum Zusammenfall von Ankunfts- und Ab­
fahnslinie, so daß es auf diese Weise zu einer dem Interface
bei Fernseh-Life-Sendungen analogen Kühnheit kommt.
Auch die Entwicklung des Privatautos geht in dieselbe
Richtung, denn es gibt jetzt eine An Selbstgenügsamkeit
des Autos, die es mehr und mehr zu einem Ableger des
Wohnhauses macht. Daher dieses Auswechseln und diese
Verdopplung von Accessoires, der Ausstattung, die durch
Hi-Fi-Anlagen, durch Radio-Telefone, Telex, Video-Mobile
ersetzt werden, so daß das Beförderungsmittel zur Über­
windung von Entfernungen unmerklich zu einem Trans­
ponmittel "am On" wird, zu einem Fahrzeug des Vergnü­
gens, der Musik, der Geschwindigkeit . . .
Die automobilen Fahrzeuge zu Lande, z u Wasser und in
der Luft sind von nun an weniger da zum "Besteigen" (mon­
tures) im ursprünglichen Sinne des Reitens, als vielmehr
zum "Zusammensetzen" ("montures") im Sinne des Hand­
werks der Brillenmacher und Optiker. Denn das selbstbe­
wegte Fahrzeug wird immer weniger ein Vektor der Fonbe­
wegung und immer mehr ein Mittel der Repräsentation,
Träger einer mehr oder weniger rapiden Optik für den
Raum der Umgebung. Die mehr oder weniger ferne Vision
unserer Reisen macht nach und nach der mehr oder weni­
ger rapiden Voraussicht einer Zielankunft Platz, die eine
verallgemeinene Ankunft der Bilder ist, der Information,
die nun unsere stetigen Onsveränderungen ersetzt. Daher
rühn diese geheime Korrespondenz zwischen der architek­
tonischen Statik des Wohnhauses und der vermittelten
Trägheit des audiovisuellen Fahrzeugs. Sie ist eine Folge
der intelligenten Behausung, der intelligenten und interaktiven
Stadt, des auf den Hafen, auf den Bahnhof und auf den in­
ternationalen Flughafen folgenden Tele-Hafens.
Als ein Journalist einer berühmten Schauspielerin die indis­
krete Frage nach ihrer Adresse stellte, antwonete sie: "Ich
wohne überall!" Soviel ist sicher: mit der Ä sthetik und lo­
gik des Verschwindens der Architektonik werden wir alle
272
überall wohnen. gleich diesen Tieren in den ..Video-Zoos".
die allein durch ihr Bild auf einem Schirm gegenwänig sind.
Bilder. die hier und don. gestern oder vorgestern an Onen
ohne Bedeutung aufgenommen wurden. in grenzenlosen
Vorstädten einer filmischen Entwirklichung. wo die audio­
visuelle Geschwindigkeit für die Innenarchitektur unserer
Wohnungen schließlich das ist. was die automobile Ge­
schwindigkeit schon für die Stadtarchitektur und für die
Einrichtung des ganzen Territoriums gewesen war.
Die ..Boden-Simulatoren" werden auf diese Weise die
..Flug-Simulatoren" einholen. Eingespern in unsere katodi­
fchen Vitrinen werden wir zu Tele-Akteuren eines lebendi­
gen Kinos. dessen Entwicklung sich in den jüngsten ..Ton
und Licht"-Manifestationen ankündigt und das unter dem
beständig wiederholten Vorwand veneidigt wird (von An­
dre Malraux bis zu Uotard und Jack Lang). es käme darauf
an. unser immobiles Erbe zu verteidigen.
Ein Film ZJI werden scheint also unser gemeinsames Schicksal
zu sein. Insbesondere seit der Verantwonliche für die Cine­
fcenie im Puyscdu-Fou in der Vendee. Philippe de Villiers.
in seiner neuen Funktion als Staatssekretär für Kultur und
Kommunikation sich vorgenommen hat. überall im Lande
"szenische Parcours an Orten nationalen kulturellen Erbes"
einzurichten. um unseren geschichtlichen Denkmälern. un­
seren Museen wieder Anziehungskraft zu verleihen. um auf
diese Weise den Import von Vergnügungsparks vom Typ
"Disneyland". wie er in der Nähe von Paris vorgesehen ist.
oder von ..Wonderworld" bei London entgegenzutreten.
Nach der theatralischen Szenographie des Agora. des Fo­
rum. der kirchlichen und höfischen Vorplätze. die die Ge­
schichte der Städte begleiteten. haben wir also jetzt die Ki­
nOfzenographie. die die filmische Inszenierung als sequen­
tielle Umwandlung einer Gemeinde. einer Region. einer
kulturellen Landschaft. deren aktive Bevölkerung zeitweise
einer Metamorphose unterworfen wird. indem man sie zu
Figuren einer Geschichte macht. die wiederbelebt werden
soll. Sei es der Krieg in der Vendee. der Philippe de Villiers
am Herzen liegt. oder die Jahrhunderte alten Meriten der

Stadt Lyon. um die sich Jean-Michel Jarre sorgt. Freilich ist


nicht zu vergessen. daß der Vorgänger des jetzigen Kultur­
ministers selbst schon sein Scherflein zu diesem Phänomen
273
beigetragen hatte, als er eine noch verrücktere audiovisuelle
Praxis einleitete und im Rahmen des "Salamander"-Pro­
gramms eine interaktive Videokassette finanzierte, die die
Funktion eines Führers beim Besuch der Loire-Schlösser
übernehmen sollte . . . "Bild und Ton" an den Orten, wo aus
den Besuchern der touristischen Vergangenheit Video-Besu­
cher, "Tele-Liebhaber der alten Gemäuer" werden, die in ih­
ren Diskotheken zu Hause Cheverny und Chambord zu
Mozart und Verdi stellen.

"Man träumt nicht mehr, man wird geträumt, Schweigen"


schrieb Henri Michaux in seinem Gedicht "La Ralentie"
(Die Zeitlupe). Die Inversion beginnt. Der Film läuft rück­
wärts. Das Wasser steigt in der Flasche. Wir gehen rück­
wärts und das immer schneller. Die Involution, die zur
Trägheit führt, beschleunigt sich. Sogar unser Begehren er­
starrt in einer medienvermittelten Entfernung, die immer
deutlicher wird: nach den Prostituiertenschaufenstern in
Amsterdam kamen der Striptease der fünfZiger Jahre und
peep-shows der Siebziger. Jetzt haben wir die Video-Porno­
graphie. Die Rue Saint-Denis und die Liste der Schwerver­
brechen reduziert sich auf die der neuen Bildtechnologien:
BETACAM.VHS.VIDEO 2000 usw. und am Horizont er­
scheint der erotische Roboter, die Maschine von Visio­
nen . . .
Gleiches passiert i m Bereich militärischer Herausforderun­
gen: nach dem Hometrainer für die Piloten des ersten Welt­
krieges kam der Drehsessel für ihr Training im zweiten
Weltkrieg und die Schwerelosigkeit-Zentrifuge für die
Astronauten der NASA, mit der wirklichkeitsnah die Fähig­
keit oder Unfähigkeit getestet wird, die Schwerelosigkeit
auszuhalten. Seit zehn Jahren werden für Anwärter auf die
Überschallflüge immer effizientere "Simulatoren" entwik­
kelt. Projektionskuppeln von acht Meter Durchmesser, eine
geodätische Ein-Mann-Kuppel (geode), die bald so perfekt
sein wird, daß ein stetiges Bild in einem Blickfeld von 300
Grad möglich sein wird, wobei der Helm des Piloten mit ei­
nem auf die Netzhaut abgestimmten optischen System ver­
sehen ist. Um die Wirklichkeitsnähe noch zu unterstrei-
274
ehen, erhält die Testperson eine aufblasbare Kombination,
die die Wirkungen des Gravitationsdrucks je nach Be­
schleunigung simuliert.
Das Wesentliche steht aber erst noch bevor, denn schon
wird ein dem Augenmesser nachgebildetes Simulationssy­
stem getestet, das sich endgültig von der Bildschirm-Sphäre
frei macht: die Projektion der Bilder von Luftkämpfen wird
über einen mit optischen Sensoren versehenen Helm dem
Piloten direkt auf die Augäpfel geworfen. Dadurch entsteht
das Phänomen einer der Wirkung von Rauschmitteln ver­
gleichbaren Halluzination. Mit diesem zukünftigen Trai­
ningsmaterial kündigt sich das Verschwinden jeder Szene­
rie, jeden Bildschirms an, die durch den "Sitz" ersetzt
werden, der ein Käfig-Sitz für ein Individuum ist, dessen
Wahrnehmung vorab durch die rechnerische Kraft des Infe­
renzmotors des Computers programmiert wird. Angesichts
der Innovation dieses bevorstehenden Typs statischer Fahr­
zeuge schdnt es wohl angebracht, den Begriff der Energie
und des Motors neu zu durchdenken. Da die PhYSiker im­
mer noch zwei energetische Aspekte unterscheiden, die po­
tentielle Energie und die kinetische Energie, die Bewegung er­
zeugt, die aus der Wirkung der Bewegung und ihrer mehr
oder weniger großen Schnelligkeit auf die okulare, optische
und opto-elektronische Wahrnehmung resultiert.
So betrachtet wäre die neueste Simulationsindustrie eine
Verwirklichung dieser dritten Energiequelle. Die Rechen­
kraft der Computer der letzten Generation gleicht sie ge­
wissermaßen einem letzten Typ von Motor an, dem kinema­
tischen Motor.
Wir würden Entscheidendes unterschlagen, kämen wir
nicht auf den Primat der Zeit gegenüber dem Raum zurück,
dessen heutige Erscheinungsweise der Primat der (plötzli­
chen) Ankunft gegenüber der Abfahrt ist. Wenn heute die
Zeit-Tiefe gegenüber der Raum-Tiefe den Sieg davonträgt,
so ist das die Folge einer beträchtlichen Veränderung unse­
rer alten Zeitordnungen. Hier (wie auch sonst) gehen wir in
der Banalität unseres Alltagslebens von der extensiven Zeit
der Geschichte über zur intensiven Zeit einer Augenblick­
lichkeit ohne Geschichte, die durch die Technologie des
Augenblicks ermöglicht worden ist. Die automobilen, au­
diovisuellen und informatischen Technologien verlaufen
275
alle in Richtung auf ein und dieselbe Restriktion, auf ein
und dieselbe Zusammenziehung von Dauer. Es ist eine tel­
lurische Kontraktion, die nicht nur die Weite der Territo­
rien in Frage stellt, sondern auch die Architektur der Ge­
bäude und des Wohnraums.
Wenn Zeit Geschichte ist, so ist Geschwindigkeit nur noch
ihre Halluzination. Eine perspektivische Halluzination, die
jede Weite, jede Chronologie ruiniert. Eine raum-zeitliche
Halluzination als offenkundige Folge der intensiven Aus­
beutung einer kinematischen Energie, deren Motor heute
das audiovisuelle Fahrzeug wäre, so wie früher das mobile
und automobile Fahrzeug der kinetischen Energie ent­
sprach. Damit sind die Bilder der Synthese schließlich an
die Stelle der Energien gleichen Namens getreten, die im
vergangenen Jahrhundert erfunden wurden.
Verlassen wir uns also darauf nicht mehr. Die dritte Dimen­
sion ist nicht mehr das Maß der Weite, das Relief ist nicht
mehr die Realität. Diese versteckt sich von nun an hinter
der Plattitude der Bilder, der Fernsehdarstellungen, wo­
durch es zu diesem Belagerungszustand des Gebäudes
kommt, zu dieser Leichenstarre eines interaktiven Wohn­
komplexes, eine Art Wohnzelle, die die Weite einer Heim­
statt ersetzt und deren wichtigstes Möbel der SmelJitz [le
siege, in militärischer Bedeutung auch: Belagerung, Anm.
d. U.] wäre, dieser ergonomische Sessel eines gedrosselten
Motors und (wer weiß?) da! Bett, eine Kanapee-Liege für
den versehrten Beobachter, eine Art Divan, auf dem man
geträumt wird, ohne zu träumen, eine Fensterbank, auf der
man hin und her gefahren wird ohne wirklich zu fahren . . .

Au! dem Franzö!iJchen von Karlheinz Barck


KUNST / AVANTGARDE/ LEBENSKUNST
GILLES D E LE U Z E
Spinoza und wir

"Spinoza und wir": diese Formel kann vieles meinen, unter


anderem auch "wir inmitten Spinozas". Versuch, Spinoza
von der Mitte her wahrzunehmen und zu verstehen. Im all­
gemeinen fängt man an mit dem ersten Prinzip eines Philo­
sophen. Doch zählen das dritte, vierte oder das fünfte Prin­
zip genauso. Alle Welt kennt das erste Prinzip Spinozas:
eine einzige Substanz für alle Attribute. Doch ebenso kennt
man das dritte, vierte oder fünfte Prinzip: eine einzige Na­
tur für alle Körper, eine einzige Natur für alle Individuen,
eine Natur, die selbst ein auf unendlich viele Weisen variie­
rendes Individuum ist. Das ist nicht mehr die Affirmation
einer einzigen Substanz, das ist die Aufdeckung eines ge­
meinsamen Plans der Immanenz, in dem alle Körper, alle See­
len, alle Individuen enthalten sind. Dieser Immanenz- oder
Konsistenzplan ist kein Plan im Sinn eines Entwurfs im
Geist, kein Projekt, Programm, sondern ein Plan im geome­
trischen Sinn, Schnitt, Überschneidung, Diagramm. Inmit­
ten Spinozas zu sein, heißt dann, an diesem modalen Plan
zu arbeiten, beziehungsweise, sich auf diesem Plan anzusie­
deln, was eine Lebensweise, eine Art zu leben, impliziert.
Was ist dieser Plan und wie konstruiert man ihn? Denn er
ist zugleich ganz und gar Immanenzplan und muß dennoch
konstruiert werden, um spinozistisch zu leben.

Wie definiert Spinoza einen Körper? Er definiert jeden


Körper auf zwei Arten gleichzeitig. Einerseits enthält ein
Körper, so klein er auch sei, immer unendlich viele Teil­
chen: die Verhältnisse von Ruhe und Bewegung, Schnellig­
keit und Langsamkeit zwischen den Teilchen, die einen
Körper in seiner Individualität definieren. Andererseits affi­
ziert ein Körper andere Körper oder wird von anderen Kör­
pern affiziert: diese Macht zu affizieren und affiziert zu
werden definiert ebenfalls einen Körper in seiner Indivi­
dualität. Dies sind zwei scheinbar sehr einfache Propositio­
nen: die eine ist kinetisch, die andere dynamisch. Wenn
man sich aber inmitten dieser Propositionen einrichtet,
wenn man sie lebt, wird es viel komplizierter, und man fin-
278
det sich als Spinozist wieder, bevor man verstanden hat,
warum.
In der Tat sagt uns die kinetische Proposition, daß ein Kör­
per definiert wird durch seine Verhältnisse von Bewegung
und Ruhe, von Langsamkeit und Schnelligkeit zwischen
Teilchen. Das heißt, daß er nicht durch eine Form oder
durch Funktionen definiert wird. Globale Form, spezifische
Form und der Entwicklungsverlauf einer Form hängen von
diesen Verhältnissen ab, nicht umgekehrt. Es geht darum,
das Leben, jede Individualität des Lebens, nicht als eine
Form oder Formentwicklung zu begreifen, sondern als
komplexes Verhältnis zwischen DifferentialgeschWindig­
keiten, zwischen Verlangsamung und Beschleunigung von
Teilchen. Eine Zusammensetzung von Schnelligkeit und
Langsamkeit auf einem Immanenzplan. Genauso wie es
vorkommt, daß eine musikalische Form abhängt von einem
komplexen Verhältnis zwischen Schnelligkeiten und Lang­
samkeiten von Klangpartikeln. Das ist nicht nur Sache der
Musik, sondern der Lebensweise: durch Schnelligkeit und
Langsamkeit läßt man sich zwischen die Dinge gleiten, ver­
bindet sich mit anderen Dingen: man fängt niemals an, man
macht niemals reinen Tisch, man schleicht sich ein, man
tritt mitten hinein, man paßt sich Rhythmen an oder zwingt
sich ihnen auf.
Die zweite die Körper betreffende Proposition verweist uns
auf die Macht zu affizieren oder affiziert zu werden. Ihr
werdet einen Körper (oder eine Seele) nicht durch seine
Form, noch durch seine Organe oder Funktionen definie­
ren; und ihr werdet ihn noch weniger als eine Substanz
oder ein Subjekt definieren. Jeder Leser Spinozas weiß, daß
die Körper und Seelen für Spinoza keine Substanzen, noch
Subjekte, sondern Modi sind. Gleichwohl genügt es nicht,
sich damit zu begnügen, sie theoretisch zu denken. Denn
konkret ist ein Modus im Körper wie auch im Denken ein
komplexes Schnelligkeits- und Langsamkeitsverhältnis und
'
eine Macht des Körpers oder des Denkens, zu affizieren
oder affiziert zu werden. Konkret: es ändern sich viele
Dinge, wenn ihr die Körper und Gedanken als Mächte be­
trachtet, zu affizieren und affiziert zu werden. Ihr werdet
ein Tier oder einen Menschen nicht durch seine Form,
seine Organe und Funktionen, auch nicht als Subjekt defi-
279
nieren: ihr werdet sie durch die Affekte, deren sie fähig
sind, definieren. Affekt-Fähigkeit mit maximaler und mini­
maler Schwelle ist ein geläufiger Begriff bei Spinoza.
Nehmt irgendein Tier und erstellt eine Affektenliste in ir­
gendeiner Ordnung. Die Kinder können das: der kleine
Hans macht, nach der Schilderung Freuds, eine Affektenli­
ste eines Zugpferdes, das einen Wagen durch die Stadt
zieht (tüchtig sein, Scheuklappen tragen, schnell laufen,
eine schwere Last ziehen, zusammenbrechen, gepeitscht
werden, mit den Beinen Krawall machen usw.). Zum Bei­
spiel: es gibt zwischen einem Arbeits- oder einem Zugpferd
und einem Rennpferd größere Unterschiede als zwischen
einem Ochsen und einem Arbeitspferd. Und zwar, weil das
Renn- und das Arbeitspferd nicht die gleichen Affekte,
noch die gleiche Macht haben, affiziert zu werden; das Ar­
beitspferd hat viel mehr Affekte mit dem Ochsen gemein­
sam.
Man sieht wohl, daß der Immanenzplan, der Plan der Na­
tur, der die Affekte zuteilt, Dinge, die natürlich genannt
werden, überhaupt nicht trennt von Dingen, die künstlich
genannt werden. Das Künstliche ist ganz und gar Teil der
Natur, da sich nach dem immanenten Plan der Natur alles
definiert durch die Anordnungen der Bewegungen und Af­
fekte, die sie eingeht, ob diese Anordnungen nun künstlich
oder natürlich seien. Lange nach Spinoza werden die Biolo­
gen und Naturforscher versuchen, Tierwelten zu beschrei­
ben, die durch Affekte und die Macht, zu affizieren oder af­
fiziert zu werden, definiert sind. J. von Uexküll z. B. für
den Fall der Zecke: ein Tier, das das Blut von Säugetieren
saugt. Er wird dieses Tier durch drei Affekte definieren:
der erste, lichtbedingt (auf einen Zweig klettern) ; der
zweite durch den Geruch (sich auf das Säugetier, das unter
dem Zweig vorbeigeht, fallen lassen); der dritte durch
Wärme (die Stelle, die ohne Behaarung und am wärmsten
ist, aufsuchen). Eine Welt mit nur drei Affekten für alles,
was im riesigen Walde vor sich geht. Eine optimale und
eine unterste Schwelle in der Macht, affiziert zu werden:
die gesättigte Zecke, die sterben wird, und die Zecke, die
sehr lange hungern1 kann. Derartige Studien, die die Kör­
per, Tiere oder Menschen durch die Affekte, deren sie fähig
sind, definieren, haben das begründet, was man heute Elho-
280
Unser Kopfist rund, damit das Denken die
Richtung wechseln kann.

Francis Picabia
logie nennt. Dies gilt für uns, für die Menschen, genauso wie
für die Tiere, weil niemand im voraus die Affekte kennt,
deren er fähig ist; es ist Sache langen Experimentierens,
langer Umsicht, einer spinozistischen Weisheit, die die Er­
richtung eines Immanenz- oder Konsistenzplans impliziert.
Spinozas Ethik hat nichts zu tun mit einer Moral, er be­
greift sie als Ethologie, d. h. als eine Zusammensetzung von
Schnelligkeiten und Langsamkeiten, Vermögen, zu affizie­
ren und affiziert zu werden, nach diesem Immanenzplan.
Hier nun der Grund, warum Spinoza in wahre Schreie aus­
bricht: ihr wißt nicht, wozu ihr im Guten wie im Schlechten
fähig seid, ihr wißt nicht im voraus, was ein Körper oder
eine Seele in solcher Begegnung, jener Anordnung, jener
Kombination vermag.
Die Ethologie ist zunächst Studium der Beziehungen ver­
schiedener Geschwindigkeitsverhältnisse, der Vermögen,
zu affizieren und affiziert zu werden, die jedes Ding cha­
rakterisiert. Diese Beziehungen und Vermögen haben für
jedes Ding einen eigenen Umfang, eigene Schwellen (Mini­
mum und Maximum), Veränderungen oder Transformatio­
nen. Sie selektieren in der Welt oder Natur, was dem Ding
korrespondiert, d. h. was das Ding affiziert oder von ihm af­
fiziert wird, was sich bewegt oder durch das Ding bewegt
wird. Bei einem bestimmten Tier z. B.: was ist diesem Tier
in der unendlichen Welt gleichgültig, worauf reagiert es po­
sitiv oder negativ, welches sind seine Nahrungsmittel, was
ist für es giftig, was "nimmt" es in seine Welt? Je1er Punkt
hat seine Kontrapunkte: Pflanzen und Regen, Spinne und
Fliege. Demnach ist kein Tier, kein Ding jemals zu trennen
von seinen Beziehungen zur Welt: das Innere ist nur ein se­
lektiertes Ä ußeres, das Äußere ein projiziertes Inneres;
Schnelligkeit oder Langsamkeit der Metabolismen, Wahr­
nehmungen, Aktionen und Reaktionen verketten sich, um
solch ein Individuum in der Welt zu konstituieren. An
zweiter Stelle steht die Weise, in der diese Schnelligkeits­
und Langsamkeitsverhältnisse den Umständen entspre­
chend vollzogen werden, oder diese Macht, affiziert zu wer­
den, ausgefüllt wird. Denn sie sind immer, doch auf sehr
verschiedene Weise, je nachdem, ob die gegenwärtigen Af­
fekte das Ding bedrohen (seine Vermögen vermindern, es
bremsen, auf ein Minimum reduzieren) oder es bekräftigen
282
(es beschleunigen und vermehren): Gift oder Nahrung. Mit
allen Komplikationen, da ein Gift für einen Teil des in Be­
tracht gezogenen Dings Nahrung sein kann. Schließlich stu­
dien die Ethologie die Zusammensetzungen von Verhält­
nissen oder Mächten zwischen verschiedenen Dingen. Dies
ist ein weiterer Aspekt, der sich von den vorangegangenen
unterscheidet. Zwar handelte es sich vorher nur darum, zu
wissen, wie eine betrachtete Sache andere Dinge zersetzen
kann, indem sie ihnen ein Verhältnis auflegt, das einem ih­
rer Verhältnisse konform ist, oder wie sie umgekehn ris­
kien, von anderen Sachen zersetzt zu werden. Doch nun
handelt es sich darum, zu wissen, ob Verhältnisse (und wel­
che?) sich direkt zusammensetzen können, um ein neues
Verhältnis, das weiter "ausgedehnt" ist, zu bilden, oder ob
Mächte sich direkt zusammensetzen können, um eine
Macht, ein Vermögen zu konstituieren, das "intensiver" ist.
Es handelt sich nicht mehr um Anwendungen oder um An­
eignungen, sondern um Soziabilitäten und Gemeinschaf­
ten. Wie setzen sich Individuen zusammen, um ein höheres
Individuum - bis ins Unendliche - zu bilden? Wie kann
ein Wesen ein anderes in seine Welt aufnehmen, doch so,
daß es dessen Verhältnis und die eigene Welt erhält und re­
spektien? Und welche sind in dieser Hinsicht z. B. die ver­
schiedenen Soziabilitätsanen? Was ist der Unterschied zwi­
schen der Gesellschaft der Menschen und der Gemein­
schaft der vernünftigen Wesen? . . . Es handelt sich nicht
mehr um ein Verhältnis von Punkt zu Kontrapunkt oder
von Selektion einer Welt, sondern um eine Symphonie der
Natur, um Konstituierung einer zusehends größeren und in­
tensiveren Welt. Wie und in welcher Ordnung die Vermögen,
Schnelligkeiten und Langsamkeiten zusammensetzen?
Im Plan einer musikalischen Komposition, im Plan der Na­
tur ist das intensivste und umfassendste Individuum jenes,
dessen Teile auf unendlich viele Weisen variieren. Uexküll,
einer der wichtigsten Begründer der Ethologie, ist Spino­
zist, wenn er zuerst die melodischen Linien oder Kontra­
punkt-Verhältnisse definien, die jedem Ding korrespondie­
ren, wenn er dann eine Symphonie als höhere immanente
Einheit, die Weite annimmt ("natürliche Komposition"),
beschreibt. In der gesamten Ethik kommt diese musikali­
sche Komposition vor und konstituien sie als ein und das-
283
selbe Individuum, dessen Schnelligkeits- und Langsamkeits­
verhältnisse nicht aufhören, zu variieren - sukzessiv und
simultan. Sukzessiv - wie wir bei den verschiedenen Teilen
der Ethik gesehen haben, die von wechselnden relativen
Geschwindigkeiten affizien werden, bis hin zur absoluten
Denk-Geschwindigkeit der dritten Erkenntnisgattung. Si­
multan in dem Maß, in dem die Propositionen und Scholien
nicht in der gleichen Spur verlaufen und zwei sich kreu­
zende Bewegungen zusammensetzen. Die Ethik ist dem­
nach eine Komposition, deren Teile alle von der größten
Geschwindigkeit in der weitesten Bewegung mitgerissen
werden. An einer sehr schönen Stelle erzählt Lagneau von
dieser Geschwindigkeit und Weite, die die Ethik für ihn der
Musik annähene, aufblitzende "Schnelligkeit des Denkens",
"Vermögen in unergründlicher Ausdehnung", "Macht, in ei­
nem einzigen Akt das Verhältnis einer größtmöglichen
Zahl von Gedanken wahrzunehmen".2 Kurz: wenn wir Spi­
nozisten sind, definieren wir ein Ding weder durch seine
Form, noch durch seine Organe und Funktionen, noch als
Substanz oder Subjekt. Um sich mittelalterlicher oder gar
geographischer Termini zu bedienen: wir definieren es
durch Länge (Longitudo) und Weite (Latitudo), durch Län­
gen- und Breitengrade. Ein Körper kann alles mögliche
sein, es kann ein Tier sein, ein Klangkörper, es kann eine
Seele oder eine Idee sein, es kann ein Textcorpus sein, ein
sozialer Körper, ein Kollektiv sein. Wir nennen die Länge
eines Körper die Gesamtheit der Verhältnisse von Schnel­
ligkeit und Langsamkeit, Ruhe und Bewegung zwischen
Teilchen, die ihn unter diesem Gesichtspunkt zusammen­
setzen, d. h. zwischen nicht-geformten Elementen.3 Weite nen­
nen wir die Gesamtheit der Affekte, die einen Körper in je­
dem Augenblick ausfüllen, d. h. die intensiven Zustände
einer anonymen Kraft (Existenzkraft, Macht, affizien zu wer­
den) . So legen wir die Kartographie eines Körpers fest. Die
Gesamtheit der Längen und Weiten konstituiert die Natur,
den Immanenz- und Konsistenzplan, der ständig veränder­
bar ist und von den Individuen und Kollektiven unaufhör­
lich umgearbeitet, zusammengesetzt, wiederzusammenge­
setzt wird.
Es gibt zwei sehr entgegengesetzte Konzeptionen des Wor­
tes "Plan" oder der Idee eines Plans, selbst wenn sich diese
284
zwei Konzeptionen vermischen und wir unmerklich von
der einen zur anderen übergehen. Jegliche Organisation,
die von oben herrührt und sich auf eine, selbst versteckte,
Transzendenz bezieht, nennt man theologischen Plan: Ent­
wurf im Geist eines Gottes, aber auch Evolution in den an­
genommenen Tiefen der Natur, oder auch Organisation der
Macht einer Gesellschaft. Solch ein Plan kann strukturell
oder genetisch sein und beides zugleich; er betrifft immer
die Formen und deren Entwicklungen, Subjekte und deren
Bildungen. Formentwicklung und Bildung von Subjekten:
das ist der grundlegende Charakter der ersten Plansorte. Es
ist demnach ein Bildungs- und Entwicklungsplan. Von da
an wird es immer, was man auch sagen möge, ein transzen­
denter Plan sein, der die Formen und Subjekte leitet und
der selbst verborgen bleibt, niemals gegeben ist, nur erra­
ten, induziert, aus dem, was er gibt, geschlossen werden
muß. Er verfügt tatsächlich immer über eine zusätzliche Di­
mension, er impliziert immer eine Dimension, die den Di­
mensionen dessen, was gegeben ist, hinzugefügt wird.
Im Gegensatz dazu legt ein Immanenzplan keine zusätzli­
che Dimension an: der Zusammensetzungsprozeß muß für
sich selbst entlang dem, was er gibt, und in dem, was er
gibt, erfaßt werden. Es ist ein Kompositions-, kein Organi­
sations- oder Entwicklungsplan. Vielleicht zeigen die Far­
ben den ersten Plan an, während die Musik, die Pausen und
die Töne zu diesem gehören. Es gibt keine Form mehr, son­
dern nur Geschwindigkeitsverhältnisse zwischen kleinsten
Teilchen einer ungeformten Materie. Es gibt kein Subjekt
mehr, sondern nur individuierende Affektzustände der an­
onymen Kraft. Hier behält der Plan nur Bewegungen und
Ruhe(n), dynamische Affektladungen zurück: er wird wahr­
genommen durch das, was er uns wahrnehmen läßt, und in
welchem Maß. Wir leben, denken, schreiben nicht auf glei­
che Weise nach dem einen oder anderen Plan. Goethe z. B.
oder in mancher Hinsicht sogar Hegel haben als Spinozi­
sten gelten können. Doch sie sind es nicht wirklich, weil sie
es nicht unterlassen haben, den Plan an die Organisation ei­
ner Form und an die Bildung eines Subjekts wieder anzu­
binden. Eher sind Hölderlin, Kleist und Nietzsche Spinozi­
sten, weil sie in Schnelligkeits- und Langsamkeitstermini,
erstarrten Katatonien und beschleunigten Bewegungen, un-
285
geformten Elementen und nicht-subjektivienen Affekten
denken. '
Schriftsteller, Dichter, Musiker, Filmemacher, auch Maler,
selbst Leser gelegentlich können sich als Spinozisten wie­
dererkennen - eher denn Berufs-Philosophen. Das hat mit
der praktischen Konzeption des "Plans" zu tun. Nicht, daß
man Spinozist wäre, ohne es zu wissen. Es gibt vielmehr
ein eigenaniges Privileg Spinozas, etwas, das nur durch ihn
erfolgreich gewesen zu sein scheint. Er ist ein Philosoph,
der über einen außerordentlichen konzeptionellen Apparat
verfügt, der extrem entwickelt, systematisch und gelehn ist;
dennoch kommt es an seinem höchsten Punkt zu einer un­
mittelbaren und unvorbereiteten Begegnung, so wie ein
Nicht-Philosoph oder auch jemand, der gar keine Kultur
hat, eine plötzliche Erleuchtung, einen "Blitz" empfangen
könnte. Es ist, als ob man sich als Spinozist entdeckte, man
kommt mitten in Spinoza an, wird angezogen, ins System
oder in die Komposition hineingerissen. Wenn Nietzsehe
schreibt: "Ich bin ganz erstaunt, ganz entzückt! . . . Ich
kannte Spinoza fast nicht: daß mich jetzt nach ihm ver­
langte, war eine ,Instinkthandlung' . . . "4, spricht er nicht nur
als Philosoph, vielleicht gerade nicht als Philosoph. Ein so
strenger Philosophiehistoriker wie Victor Delbos war von
diesem Zug frappiert': die Doppelrolle Spinozas, einmal als
sehr ausgearbeitetes äußeres Modell, aber genauso als ge­
heime innere Triebkraft. Die doppelte Lektüre Spinozas, ei­
nerseits systematisch, auf der Suche nach der Idee des Gan­
zen und der Einheit der Teile, andererseits aber,
gleichzeitig, die affektive Lektüre, ohne Idee des Ganzen,
in die man hineingerissen oder gestellt wird, in Bewegung
oder Ruhe versetzt, heftig bewegt oder beruhigt entspre­
chend der Geschwindigkeit dieses oder jenes Teils. Wer ist
Spinozist? Manchmal sicherlich derjenige, der "über" Spi­
noza, über Spinozas Begriffe, arbeitet, vorausgesetzt, er tut
es mit genügend Anerkennung und Bewunderung. Doch
auch der, der als Nicht-Philosoph von Spinoza einen Affekt
empfängt, ein Bündel an Mfekten, eine kinetische Bestim­
mung, einen Anstoß, und so aus Spinoza eine Begegnung
und eine Liebe macht. Es macht den einziganigen Charak­
ter Spinozas aus, daß er, Philosoph der Philosophen (im
Gegensatz selbst zu Sokrates reklamien er nur Philoso-
286
phie . . . ), den Philosophen lehn, kein Philosoph zu werden.
Die beiden, Philosoph und Nicht-Philosoph, vereinigen
sich zu einem einzigen und gleichen Wesen in Buch V, das
keineswegs das schwierigste, doch das schnellste ist, dasje­
nige mit einer unendlichen Geschwindigkeit. Welch außer­
ordentliche Komposition enthält dieses Buch V, wie findet
hier die Begegnung von Konzept und Affekt statt; und wie
diese Begegnung vorbereitet, durch himmlische und unter­
irdische Bewegungen notwendig gemacht wird, die beide
miteinander die vorhergehenden Bücher zusammenset­
zen.
Viele Kommentatoren liebten Spinoza so sehr, daß sie ihn
mit einem Windhauch vergleichen, wenn sie von ihm spra­
chen. Und in der Tat gibt es keinen anderen Vergleich als
den Wind. Aber handelt es sich um den großen ruhigen
Wind, von dem Delbos als Philosoph spricht? Oder gar um
den Wirbelwind, die Hexenjagd, von der der "Fixer" redet,
der Nicht-Philosoph par excellence, armer Jude, der die
Ethik für eine Kopeke gekauft hatte und nicht alles davon
erfaßte?6 Beides, denn die Ethik versteht zugleich das konti­
nuierliche Ganze der Propositionen, Demonstrationen und
Corollarien, wie auch die großartige Bewegung der Begriffe
und die diskontinuierliche Verkettung der Scholien, als ein
Schleudern von Affekten und Impulsionen, als eine Stoßse­
rie. Buch V ist die extrem extensive Einheit, aber nur weil
sIe der am engsten zusammengezogene intensive Punkt ist:
es gibt keinen Unterschied mehr zwischen Begriff und Le­
ben. Doch war dies zuvor schon die Zusammensetzung
oder die Verflechtung der zwei Komponenten - was Ro­
main Rolland "die weiße Sonne der Substanz" und "die
flammenden Wone Spinozas" nannte.

J. von UexküllJGeorg Kriszat. Streiftijge du"h die Umwelten von


Tieren lind MenJChen/BedellfllngJlehre, Frankfurt am Main 1986.
2 Jules Lagneau. Ge/ebm /efOnJ etjragmentJ, Paris 1964, S. 67f. Die­
ser Text Lagneaus ist einer der großen Texte über Spinoza.
Ebenso Romain Rolland. wenn er von der Denkgeschwindig­
keit und der musikalischen Ordnung bei Spinoza spricht: Empe­
dock d'Agrigente, Juivi de I'Eclair de Spinoza. 1931. In der Tat kann
man das Thema einer Denkgeschwindigkeit. die größer ist als

287
alle andere Geschwindigkeit, bei Empedokles, Demokrit und
Epikur wiederfinden.
3 Vgl., was Spinoza die .einfachsten" Körper nennt. Sie haben
weder Zahl, noch Form oder Figur, sind aber unendlich klein,
und gehen immer durch Unendlichkeiten. Nur die zusammen­
gesetzten Körper haben eine Form, zu der die einfachen Kör­
per in diesem oder jenem Verhältnis gehören.
4 Vgl. Friedrich Nietzsche, Brief an Overbeck vom 30. Juli 1881.
5 Delbos, Le probleme moral dam Ia philosophie de Spinoza ef dans /'hi­
sfOire du spinoziJme, Paris 1916. Dies ist ein viel wichtigeres Buch
als das klassische Buch desselben Verfassers, Le spinoziJme, Paris
1964.
6 Vgl. Bernard Malamud über Spinoza, in: ders. Der Fixer, Köln/
Berlin (West) 1968, S. 88f.

Aus dem Französischen von Hedwig Linden


F E L I X P H I L L I P P I N G O LD
Das Buch

Nachdem Mallarme bei der langwierigen Niederschrift sei­


ner Herodiade (1864/1867), eines szenischen Textes, der sich
"nicht aus Worten, sondern aus Absichten" zu einem versi­
fizierten Gefüge von "Sensationen" aufbauen sollte, in eine
fundamentale Schaffenskrise geraten war und dadurch un­
versehens den Zugang zu den "reinsten Gletschern der Ä s­
thetik" gefunden hatte, blieb er während Jahrzehnten - bis
zu seinem Tod - mit einem "wunderbaren Werk" befaßt,
das er, wohl in Anlehnung an die Bibel, schlicht als "DaJ
Buch" bezeichnete, dessen Realisierung jedoch nie über die
Konzeptphase hinausgelangte. Durch immer wieder neue,
keineswegs widerspruchsfreie Absichtserklärungen hat Mal­
larme "DaJ Buch" als Modell einer kosmischen Textarchitek­
tur glaubhaft zu machen versucht, wobei allerdings das
Werk, welches daraus hätte entstehen sollen, im Lauf der
Zeit vom expandierenden Projekt und den damit verbunde­
nen Theoriebildungen und Phantasmen überlagert, allmäh­
lich zur Gänze verdrängt und am Ende auf den imaginären
Status des Nichts festgelegt wurde, so daß also der vorweg­
genommene - "begehrende" - Kommentar das ungeschrie­
bene - "mangelnde" - Werk zugleich aufheben und erset­
zen konnte: der Werkkommentar wurde zu einem
Kommentarwerk, das nichts anderes als seine eigene Ab­
senz, mithin die Nichtigkeit von Werk und Kommentar
schlechthin zu bezeugen vermochte.
Die Entstehung - und das heißt hier: die Verhinderung -
des "BuchJ" hat Mallarme in zahlreichen Briefen, in poetolo­
gischen Fragmenten und Notizen, zuletzt auch in einigen
Texten, die er, kurz vor seinem Tod, unter dem Titel "Diva­
galionJ" (1897) erscheinen ließ, sorgfältig, fast pedantisch
dokumentiert, und man kann sich eigentlich nur wundern,
daß die diesbezüglichen - weit verstreuten - Materialien
erst jetzt, dank den Bemühungen Henri Meschonnicst, in
der geschlossenen Form einer Einzelpublikation zugänglich
geworden sind.
Als ein Werk ohne Anfang, ohne Ende, als einen Text, der
- organisch "Seiendes" und architektonisch "Gemachtes"
289
zugleich - durch die "totale Entfaltung des Buchstabens"
sich an der Demarkationslinie zwischen Natur und Kultur
in unaufhörlichem Werden konstituiert, letztlich als eine
restlos versprachlichte und kraft der Sprache zum Schwei­
gen - zur Existenz - gebrachte Welt hat Mallarme »Das
Buch" gedacht, worin die Geschichte zu purer (weil bloß vir­
tueller) Gegenwärtigkeit gerinnen sollte - als ein "einziges"
vielstimmiges Buch, von dem "alles andere ausgenommen"
wäre, weil alles andere schon immer dazu bestimmt gewe­
sen ist, in ihm, sich vollendend, zu enden. Denn "letztlich
ist es so, daß alles auf der Welt nur deshalb existiert, um in
ein Buch zu münden".
"Das Buch" impliziert das Verschwinden des Draußen in der
Weiße des Nichts, durch die das Werk sich selbst bestätigt
und, indem es dies tut, sich selbst auch verneint; denn die
"einzige" Wahrheit dieses "einzigen" Werks ist, ewig wäh­
rend, das Nichts, dessen Realität - wie es in Un coup de des
jamais n'abolira le hasard heißt - einzig im Ort des Worts ge­
geben ist: "RIEN/ N'AURA EU LIEU/QUE LE LIEU."
Da "Das Buch" "architektonisch und vorgeplant", "unper­
-

sönlich und lebendig", wie es (gedacht) ist - die Summe al­


ler (denkbaren) Bücher enthält und da es als das große
(oder reine) - noch ungeschriebene - Werk gleichzeitig
die Welt, mit deren Totalität es identisch ist, ausschließt (so
wie es den Zufall ausschließt, indem es ihn als Notwendig­
keit anerkennt), muß auch der Mensch, als Subjekt der Ge­
schichte und als Urheber von Geschichten, ausgeschlossen
bleiben, ja sein Verschwinden wird zur Voraussetzung da­
für, daß das Werk überhaupt entstehen und bestehen kann.
"Ich glaube", sagt Mallarme in Beantwortung einer Um­
frage, "dies alles ist in der Natur schriftlich niedergelegt,
auf eine Weise, daß nur diejenigen die Augen davor ver­
schließen, welche Interesse daran haben, nichts zu sehen:
dieses Werk ist da, alle Welt hat sich schon daran versucht,
ohne sich dessen bewußt zu sein; kein Genie und kein
Hanswurst, der nicht unwissentlich einen Zug davon aufge­
spürt hätte." Wo also ein Autor an dem einen Welt-Buch
mitschreibt, geschieht es "unwissentlich"; der Mensch hat
keinen Anteil daran, sondern iJt gleich schon, "ohne sich
dessen bewußt zu sein", Teil davon. Der Autor ist dem
Werk weder vor- noch übergeordnet, er erschafft es nicht,
290
vielmehr wird er von ihm erschaffen, er gehört ihm an in
dem Maß, wie er darin untergeht - das Äußerste, was er er­
reichen kann, ist, daß sein Name mit dem Werk identisch
wird. Das Werk bedingt den Autoritätsschwund der Urhe­
berschaft, nicht mehr der Autor, die Sprache soll das Sagen
haben, und zwar ein Sagen jenseits konventionalisierter
Wortbedeutung, ein Sagen, dessen Wahrheit darin begrün­
det ist, daß es zwar unverständlich, dennoch aber, in sich,
sinnvoll bleibt. "Der Zufall", so betont Mallarme bereits
1866 in einem Brief an Coppee, "greift einen Vers nicht an.
Wir, mehrere von uns, haben das erreicht, und ich glaube,
daß bei so vollkommen eingegrenzten Zeilen unser Blick
vor allem darauf gerichtet sein muß, daß im Gedicht die
Worte, die schon zur Genüge sie selber sind, um keinerlei
Eindruck von außen mehr in sich aufzunehmen, sich inein­
ander spiegeln, bis sie ohne jedes Eigenkolorit in Erschei­
nung treten und zu gleitenden Ü bergängen einer Skala wer­
den." Die Sprache selbst soll, so verstanden, das
"re-präsentieren, was seine Präsenz einbüßt, indem es Spra­
che wird" (H.-J. Frey).
Wo die Worte nur mehr als "sie selber" - in ihrer sinnli­
chen Qualität als Schriftzeichen, als Klangkörper - wahr­
nehmbar gemacht werden, verliert der Autor seine "diskurs­
begründende Funktion" (Foucault); die schöpferische
"Initiative" bleibt der Sprache überlassen, deren autopoeti­
sche Dynamik jegliches auktoriale Wollen neutralisiert.
"Da! Buch" die kommende Literatur - wäre demnach ein
-

autorloses anonymes Werk, das ohne persönliche Vertreter­


schaft und ohne Signatur auskommt; ein Werk, das längst
schon eingeschrieben ist in die Welt der Objekte, von der
es jedoch gleichzeitig sich abhebt, indem es sie - wie auch
sich selbst - verneint; ein Werk also, das lediglich in seiner
Abwesenheit Wirklichkeitsstatus gewinnt: es ist da! und es
iJt das, was sich durch seine eigene Negativität am Da-Sein
hindert. Folglich kann "Da! Buch" - gegenstandslose
"Pracht des Nichts" - einzig durch Reduktion, durch Elimi­
nation sich vollenden, und nicht in einer wie auch immer
gearteten Schöpfung: "Genau das beobachtete ich an mir -
ich habe mein Werk nur durch Vernichtung geschaffen, und
jede erworbene Wahrheit wurde nur über den Verlust eines
Eindrucks geboren, der, nachdem er aufgeblitzt war, sich
291
verzehrt hatte und mir, dank seiner freigesetzten Dunkel­
heiten, erlaubte, tiefer in die Empfindung des Absoluten
Dunkels einzudringen. Die Zerstörung war meine Bea­
trice."
Von diesem kreativen Prozeß der Zerstörung bleibt auch
das empirische Ich des Autors nicht ausgenommen - es
wird in einem suizidalen Akt der Selbstauflösung eliminiert
und durch das absolute Ich des Werks, als seiner eigenen
Negation, ersetzt. "Doch dieses Resultat, mein Freund, er­
füllt mich keineswegs mit Stolz, viel eher macht es mich
traurig", schreibt Mallarme an Lefebvre: "Denn all dies
wurde nicht aufgrund der normalen Entwicklung meiner
Fähigkeiten erreicht, sondern auf dem sündhaften und ha­
stigen, dem satanischen und leichten Weg der Zerstörung
meiner selbst, was nicht die Kraft, sondern eine Sensibilität
erzeugt hat, durch die ich notgedrungen an diesen Punkt
gelangt bin. Persönlich kommt mir keinerlei Verdienst zu,
und um Gewissensbisse (wegen meiner Mißachtung der
Langsamkeit der Naturgesetze) zu vermeiden, ziehe ich
mich gern in die Unpersönlichkeit zurück . . ."

Das Verschwinden des Autors und die dadurch bedingte


Absolut-Setzung des Werks erfordern nicht zuletzt auch
eine radikale Neubesinnung auf die Funktion des Lesers,
der sich ja nun, da der Autor nicht mehr auf eine bestimmte
Aussage hin befragt, das Werk nicht mehr auf eine be­
stimmbare Bedeutung festgelegt werden kann, außerhalb
des üblichen Kommunikationszusammenhangs gestellt
sieht. "Das entpersönlichte Buch", sagt Mallarme, "erhebt,
sofern man sich als Autor von ihm scheidet, auch nicht
mehr den Anspruch auf das Herantreten des Lesers". Das
referenzlose Werk kann nicht auf Wirkung angelegt sein,
vielmehr bewirkt es sich selbst - als rhythmische ("vibrato­
rische") Bewegung - in seinem stetigen Werden; es bleibt
mit dem, was es "aussagt", mit dem, was es "bedeutet", iden­
tisch, sein "verschütteter Sinn" jedoch - das, was potentiell
über den Text hinausweist - muß durch die "verzweifelte
Praxis" der Lektüre freigesetzt (nicht bestätigt, bloß ent­
deckt) werden. Folglich büßt der Leser seine Funktion als
Interpret ein, er wird zum Medium des Werks, das in ihm
und durch ihn einen Sinn gewinnt, an dem es ebensowenig
wie der Autor einen Anteil hat: Mallarmes "Buch" weist das
292
von ihm erzeugte hermeneutische Begehren ab, indem es
sich, durch seine Abwesenheit, in "schroffer Weise" als
Mangel zu erkennen gibt und gleichzeitig, hermetisch, sich
verschließt. Wer - oder was - spricht denn also aus diesem
"Buch", das nichts sagt und nichts verschweigt? Es ist (wie
Michel Foucault in Les molS el les choses ausgeführt hat) "das
Wort selbst in seiner Einsamkeit, in seiner fragilen Schwin­
gung, in seinem Nichts - folglich nicht die Bedeutung des
Worts, sondern dessen rätselhaftes und prekäres Sein".
Mehrfach hat Mallarme - in unterschiedlichen Formulie­
rungen - deutlich gemacht, daß es für ihn einen präsenti­
schen Zeitbegriff nicht gebe; daß Gegenwart als "eine Art
von Interregnum" aufzufassen sei, "in das der Dichter sich
nicht einzumischen" habe; daß er, Mallarme, niemandes -
auch nicht sein "eigener" - Zeitgenosse zu sein wünsche:
" . . . nein, es gibt keine Gegenwart - eine Gegenwart exi­
stiert nicht." Was Mallarme verneint, ist, wohlverstanden,
die - geschichtliche - Gegenwart außerhalb des Buchs; und
verneint wird diese Gegenwart, weil sie der ganz anders ge­
arteten Gegenwart des Werks vorbehalten sein soll, die sich
durch dessen Abwesenheit konstituiert. Mit dem Erschei­
nen des "Buchs" würde, nach Mallarme, eine neue, eine
nachgeschichtliche Zeit anbrechen, die - genau so wie die
neue Literatur - unabhängig wäre von der auf Linearität,
Kausalität, Progressivität festgelegten Historie, eine aper­
spektivische Zeit, "hier vorauseilend, dort rückerinnernd,
dem Künftigen und dem Vergangenen zugewandt . . . "
Geschichte soll demnach nicht mehr in der "falschen Ge­
genwärtigkeit" der Bücher abgelagert, sondern durch MDas
Buch" definitiv aufgehoben werden; die Realisierung des ei­
nen "Buchs" wird dann erst möglich sein, wenn alle Bücher
zugeschlagen sind, und erst dann wird auch die "falsche Ge­
genwärtigkeit" der geschichtlichen Existenz abgelöst wer­
den können durch eine nachgeschichtliche, in permanen­
tem Werden begriffene absolute Gegenwart.
Das Verschwinden des Autors und die Entmaterialisierung
des Werks, die Destruktion als schöpferisches Prinzip, die
Gleichsetzung von Kunst-Text und Welt-Text, der Vorrang
des Werdens gegenüber dem Wollen, die Aufwertung des
Paradoxons als Denkfigur und des Zufalls als Notwendig­
keit, die Abwehr der Hermeneutik durch einen neuen Her-
293
metismus, die Aufhebung des Subjekts und der Geschichte
- was Mallarme, in diesem Sinn, vor mehr als hundert Jah­
ren mit Bezug auf "Das Buch" postuliert hat, ist heute Allge­
meingut "postmodernen Wissens" und findet seine (jeweils
partielle) Bestätigung sowohl in den ästhetischen Theorien
der "Simulation" und der "Immaterialien" wie auch in der
"Rhizomatik", im "Dekonstruktivismus", in der "Katastro­
phentheorie" oder in der "Selbstorganisationslehre". Unter
diesem Gesichtspunkt gewinnt Mallarmes Projekt einer
nachgeschichtlichen Literatur, deren referenzlose "Vorstel­
lungen" den "wahren Kult der Moderne" begründen sollten,
neue Aktualität.

1 Stephane Mallarme, Emu Jur le Livre. choix des textes, presente


par Henri Meschonnic, Paris 1986.
M I C H E L D E C ER T E A U
Die Lektüre: Eine verkannte Tätigkeit

Innerhalb des Konsums ist die Lektüre nur ein Teilaspekt,


der allerdings grundlegend ist. In einer Gesellschaft, die
mehr und mehr geschrieben wird, die von der Fähigkeit der
Macht, ausgehend von (wissenschaftlichen, ökonomischen
und politischen) Schriftmodellen die Dinge zu verändern
und die Strukturen zu reformieren, geprägt wird und die
nach und nach in (administrative, städtische, industrielle
usw.) "Texte" verwandelt wird, kann man das Binom Pro­
duktion-Konsum oft durch sein allgemeines Äquivalent,
nämlich durch das Binom Schrift-Lektüre ersetzen . . .
Das gesellschaftliche und technische Funktionieren der ge­
genwänigen Kultur hierarchisien diese beiden Tätigkeiten.
Schreiben bedeutet, den Text zu produzieren. Lesen be­
deutet, den Text des anderen zu rezipieren, ohne in ihm
seinen eigenen Platz zu kennzeichnen, ohne ihn neu zu ge­
stalten . . .
Was man in Frage stellen muß, ist unglücklicherweise nicht
diese Arbeitsteilung (sie ist nur allzu real), sondern die
Gleichsetzung von Lektüre und Passivität. Lesen bedeutet
indes de facto, in einem vorgegebenen System herumzu­
wandern (im System des Textes, analog zur baulichen Ord­
nung einer Stadt oder eines Supermarktes) . Neuere Analy­
sen zeigen, daß "jede Lektüre ihren Gegenstand veränden",
daß (wie Borges bereits sagte) "eine Literatur sich von einer
anderen weniger durch den Text als durch die Art und
Weise, wie sie gelesen wird, unterscheidet", und daß
schließlich ein verbales oder ikonisches Zeichensystem ein
Reservoir von Formen ist, die darauf warten, vom Leser
ihre Bedeutung zu bekommen. Wenn somit "das Buch ein
Resultat (eine Konstruktion) des Lesers ist", muß man die
Vorgehensweise dieses letzteren als eine An von lectio be­
trachten, als eine dem "Leser" eigene Produktion. Dieser
nimmt weder den Platz des Autors noch einen Autorenplatz
ein. Er erfindet in den Texten etwas anderes als ihre "Inten­
tion" war. Er löst sie von ihrem (verlorenen oder neben­
sächlichen) Ursprung. Er kombinien ihre Fragmente und
schafft in dem Raum, der durch ihr Vermögen, eine unend-
295
liche Vielzahl von Bedeutungen zu ermöglichen. gebildet
wird. Un-Gewußtes. Ist diese "Lese"-Tätigkeit der Literatur­
kritik (die aufgrund der Studien über die Lektüre immer im
Vorteil ist) vorbehalten. das heißt erneut einer Art von
Geistlichen und Intellektuellen. oder kann sie sich auf den
ganzen kulturellen Konsum erstrecken?
Aus den Analysen. die die Lesetätigkeit auf ihren gewunde­
nen Pfaden verfolgen - also dieses durch die Seite Driften.
die Metarmorphosen und Anamorphosen des Textes durch
das reisende Auge. die Phantasieflüge und Meditationen
ausgehend von einigen Wörtern. das Übergreifen von Räu­
men auf die militärisch ausgerichteten Oberflächen der
Schrift und flüchtige Tänze -. geht bei einer ersten Be­
trachtung zumindest hervor. daß man die Trennung zwi­
schen Lektüre und lesbarem Text (Buch. Bild usw.) nicht
aufrechterhalten kann. Ob es sich nun um eine Zeitung
handelt oder um Proust. der Text bekommt seine Bedeu­
tung nur durch die Leser; er verändert sich mit ihnen; er
wird nach Wahrnehmungscodes gegliedert, die ihm selber
nicht geläufig sind. Nur durch sein Verhältnis zur Exterio­
rität des Lesers wird er zum Text, also durch ein Spiel von
Implikationen und Finten, durch zwei Arten von miteinan­
der kombinierten "Erwartungen": diejenige, die einen JeJba­
ren Raum (eine Buchstäblichkeit) organisiert, und diejenige,
die einen zur Verwirklichung des Werkes notwendigen Vor­
gang (eine Lektüre) organisiert . . .
"Ich lese und ich hänge meinen Träumen nach . . . Meine
Lektüre wäre somit meine impertinente Abwesenheit.
Kann die Lektüre eine Übung zur Allgegenwärtigkeit sein?"
Eine ursprüngliche, das heißt initiatorische Erfahrung: le­
sen bedeutet, woanders zu sein, dort, wo sie nicht sind, in
einer anderen Welt, es bedeutet, eine geheime Szene oder
Bühne zu erdenken; es bedeutet, schattige und nächtliche
Winkel in einer Existenz zu schaffen, die der technokrati­
schen Transparenz und jenem unerbittlichen Licht ausge­
setzt ist, das bei Genet die Hölle der gesellschaftlichen Ent­
fremdung verkörpert. Marguerite Duras schrieb: "Vielleicht
liest man immer in der Nacht . . . Die Lektüre geht aus der
Dunkelheit der Nacht hervor. Selbst wenn man bei hellem
Tageslicht liest, draußen, wird es um das Buch Nacht."
Der Leser ist ein Produzent von Gärten, in denen eine Welt
296
zusammengetragen und verkleinen wird; er ist der Robin­
son einer zu entdeckenden Insel; aber er ist auch auf sein
eigenes Karnevalstreiben abgefahren, das das Vielgestaltige
und die Differenz in das Schriftsystem einer Gesellschaft
und eines Textes einfühn. Er ist somit ein schwärmerischer
Autor. Er hat keinen festen Boden unter den Füßen und
schwankt an einem Nicht-On zwischen dem, was er erfin­
det, und dem, was ihn veränden. Mal hat er wie ein Jäger
im Wald das Geschriebene vor Augen, kommt vom Weg ab,
lacht und landet einen "Coup", oder er stellt sich als guter
Spieler ungeschickt an. Mal verlien er die fiktiven Sicher­
heiten der Realität: seine Seitensprünge schließen ihn von
den Sicherheiten aus, die das Ich im gesellschaftlichen Rah­
men festhalten. Wer liest eigentlich? Ich? Oder was von
mir?
Weit davon entfernt, Schriftsteller, also Gründer eines eige­
nen Ones oder Erbe früherer Pioniere, allerdings auf dem
Boden der Sprache, als Brunnenausschachter und Häuser­
bauer zu sein, sind die Leser Reisende; sie bewegen sich
auf dem Gelände des Anderen, wildern wie Nomaden auf
Feldern, die sie nicht beschrili!ben haben und rauben gar die
Reichtümer Ägyptens, um sie zu genießen. Die Schrift ak­
kumulien, lagen ein, widersteht der Zeit durch die Schaf­
fung eines Ones und vervielfacht ihre Produktion durch
den Expansionismus der Reproduktion. Die Lektüre ist
nicht gegen den Verschleiß durch die Zeit gewappnet (man
wird vergessen und man vergißt), sie konservien das Erwor­
bene nicht oder nur schlecht und jeder On, an dem sie vor­
beikommt, ist eine Wiederholung des verlorenen Paradie­
ses.
Sie hat tatsächlich keinen eigenen On: Banhes liest Proust
im Text von Stendhal; der Fernsehzuschauer liest den Ab­
lauf seiner Kindheit in einer Nachrichtensendung. Die
Fernsehzuschauerin, die über eine am Vorabend gesehene
Sendung sagt: "Es war völlig idiotisch, aber ich habe trotz­
dem weiter zugeschaut", von welchem On sollte sie gefan­
gengenommen sein, welcher wäre (und wäre auch wieder
nicht) der des gesehenen Bildes? Ebenso ist es beim Leser:
sein On ist nicht hier oder dort, der eine oder der andere,
sondern weder der eine noch der andere, gleichzeitig innen
und außen; er verlien beide, indem er sie vermischt, indem
297
er stilliegende Texte miteinander in Verbindung bringt, de­
ren Erwecker und Gastgeber er ist, die aber niemals zu sei­
nem Eigentum werden. Dadurch entgeht er ebenso dem
Gesetz jedes einzelnen Textes wie dem Gesetz des gesell­
schaftlichen Milieus.
Um diese Tätigkeit zu beschreiben, kann man auf mehrere
Vorbilder zurückgreifen. Sie kann als eine Form von "Baste­
lei" angesehen werden, wie sie Uvi-Strauss im "wilden
Denken" beschreibt, das heißt als eine mit "Bord mitteln"
hergestellte Konstruktion, als eine Produktion, "die nicht
auf ein bestimmtes Vorhaben gerichtet ist", und die "die
Reste früherer Konstruktionen oder Zerstörungen" wieder
zusammensetzt. Aber im Gegensatz zu den "mythologi­
schen Welten" von U:vi-Strauss gilt: wenn diese Produktion
auch Ereignisse hervorruft, so bildet sie doch kein Gan­
zes.

Au! dem Franzö!ilchen von Ronald Voullie


R O L A N D B A RT H E S
Die Rauheit der Stimme

Die Sprache ist, wie Emile Benveniste behauptet, das ein­


zige semiotische System, das in der Lage ist, ein anderes se­
miotisches System zu interpretieren (dennoch können zwei­
fellos Grenzwerke existieren, in deren Verlauf ein System
sich selbst zu interpretieren vorgibt: die "Kunst der Fuge").
Wie stellt es nun die Sprache an, wenn sie die Musik zu in­
terpretieren hat? Leider ziemlich schlecht, wie es scheint.
Überprüft man die gängige Praxis der Musikkritik (oder der
Konversationen "über" die Musik: das ist oft das gleiche),
stellt man fest, daß das Werk (oder seine Ausführung) stets
nur in die ärmste linguistische Kategorie: das Adjektiv,
übersetzt wird. Die Musik erhält mit Vorliebe sofort ein
Adjektiv. Das Adjektiv ist unvermeidlich: diese Musik ist
dieJ, jenes Spiel ist daJ. Sobald wir aus einer Kunst ein (Arti­
kel-, Konversations-) Sujet machen, müssen wir ihm zwei­
fellos ein Prädikat zuweisen; im Falle der Musik nimmt
diese Prädikation zwangsläufig die einfachste und trivialste
Form: die des Epitheton, an. Natürlich hat dieses Epithe­
ton, auf das man aus Schwäche oder Faszination immer wie­
der zurückkommt, eine ökonomische Funktion (kleines Ge­
sellschaftsspiel: über Musik sprechen, ohne jemals ein
einziges Adjektiv zu verwenden) : das Prädikat ist stets das
Bollwerk, mit dem sich das Imaginäre des Subjekts vor dem
Sichverlieren, von dem es bedroht ist, schützt: der Mensch,
der sich oder den man mit einem Adjektiv versieht, wird
einmal verletzt, ein andermal belohnt, immer jedoch konJti­
tlliert; es gibt ein Imaginäres der Musik, dessen Funktion es
ist, das Subjekt, das sie hört, zu beruhigen, zu konstituieren
(vielleicht deswegen, weil die Musik gefährlich ist - alte
platonische Idee? Da sie zur Wollust, zum Sichverlieren
verführt? Viele ethnologische und volkstümliche Beispiele
belegen dies tendenziell) und dieses Imaginäre geht durch
das Adjektiv sofort in die Sprache über. Ein historisches
Dossier müßte hier erstellt werden, da die adjektivische
Kritik (oder die prädikative Interpretation) im Verlauf der
Jahrhunderte gewisse institutionelle Aspekte angenommen
hat: das musikalische Adjektiv wird immer dann gesetzmä-
299
ßig, wenn ein Ethos der Musik postuliert wird, d. h. wenn
man ihr einen regulären (natürlichen oder magischen) Be­
deutungsmodus zuweist: bei den alten Griechen, für die die
musikalische Sprache (und nicht das zufällige Werk) in ihrer
denotativen Struktur unmittelbar adjektivisch war, da jede
Tonart mit einem codierten Ausdruck verbunden wurde
(roh, hart, stolz, männlich, feierlich, erhaben, kriegerisch,
belehrend, hochmütig, prunkvoll, klagend, sittsam, aus­
schweifend, wollüstig); und bei den Romantikern von Schu­
mann bis Debussy, die die bloßen Tempoangaben (allegro,
presto, andante) durch immer subtilere, poetische und emo­
tionale Prädikate ersetzen bzw. ergänzen - Prädikate, die in
der Landessprache gegeben werden, um die Prägung durch
den Code zu verringern und den "freien" Charakter der Prä­
dikation zu entfalten (sehr kraftig, sehr präcis, spirituel et dimet
usw.).

Sind wir zum Adjektiv verurteilt? Gibt es aus diesem Di­


lemma keinen Ausweg: das Prädizierbare oder das Unsag­
bare? Um festzustellen, ob es (verbale) Mittel gibt, über
Musik ohne Adjektive zu sprechen, müßte man die gesamte
Musikkritik einer näheren Untersuchung unterziehen, was,
wie ich glaube, noch nie gemacht wurde und die durchzu­
führen man hier gleichwohl weder die Absicht noch die
Mittel hat. Was gesagt werden kann, ist dies: nicht indem
man gegen das Adjektiv kämpft (aus diesem Adjektiv, das
einem auf der Zunge liegt, irgendeine substantivische oder
verbale Paraphrase ableitet) , hat man eine gewisse Chance,
den Musikkommentar zu reinigen und ihn von der prädika­
tiven Zwangsläufigkeit zu befreien: statt zu versuchen, die
Sprache über Musik direkt zu verändern, sollte man eher
den musikalischen Gegenstand, so wie er sich der Rede dar­
bietet, verändern: seine Wahrnehmungs- oder Erkenntnis­
ebene modifizieren: den Kontaktstreifen von Musik und
Sprache verschieben.

Diese Verschiebung würde ich gerne skizzieren, nicht hin­


sichtlich der gesamten Musik, sondern vielmehr eines Teils
der gesungenen Musik (Lied oder Melodie) : des genau ein­
gegrenzten Raums (Genre), in dem eine Sprache eine Stimme
trifft. Ich werde diesem Signifikanten sogleicp einen Namen
300
geben, auf dessen Ebene, wie ich glaube, die Versuchung
des Ethos ausgeschaltet - und somit das Adjektiv verab­
schiedet werden kann: es ist die Rauheit (le grain): die Rau­
heit der Stimme, wenn diese sich in zweifacher Stellung
befindet, zweifaches hervorbringt: Sprache und Musik.
Was ich über die "Rauheit" zu sagen versuchen werde, wird
natürlich nur die anscheinend abstrakte 'Seite, den unmögli­
ehen Bericht einer individuellen Wollust darstellen, die ich
beständig empfinde, wenn ich jemanden singen höre. Um
diese "Rauheit" von den anerkannten Werten der Vokalmu­
sik zu unterscheiden, werde ich mich einer zweifachen Op­
position bedienen: der theoretischen von Phäno-Text und
Ceno-Text Gulia Kristeva) und der paradigmatischen
zweier Sänger, wovon ich den einen besonders liebe (ob­
wohl man ihn nicht mehr hört) und den anderen sehr wenig
(obwohl man nur noch ihn hört) : Panzera und Fischer­
Dieskau (die selbstverständlich nur Chiffren sind: ich ver­
göttere weder den ersteren, noch habe ich etwas gegen den
letzteren).

Man höre einen russischen Baß (einen Kirchenbaß: denn in


der Oper ist der Baß ein Genre, wo die gesamte Stimme auf
die Seite der dramatischen Expressivität übergegangen ist:
eine Stimme mit geringer signifikanter Rauheit) : etwas ist
da, offenkundig und eigensinnig (man hört nur eJ) , was jen­
seits (oder diesseits) der Bedeutung der Worte, ihrer Form
(der Litanei), der Koloratur und selbst des Stils der Ausfüh­
rung liegt: etwas, was direkt der Körper des Sängers ist und
mit ein- und derselben Bewegung aus der Tiefe der Stimm­
höhlen, der Muskeln, der Schleimhäute, der Knorpel und
aus der Tiefe der slawischen Sprache einem zu Ohren
kommt, als wenn ein- und dieselbe Haut das innere Fleisch
des Ausführenden und die Musik, die er singt, überspan­
nen würde. Diese Stimme ist nicht persönlich: sie drückt
nichts vom Sänger, von seiner Seele aus; sie ist nicht origi­
nell (alle russischen Sänger haben im großen und ganzen
die gleiche Stimme) und sie ist doch zugleich individuell:
sie läßt uns einen Körper hören, der zwar keine juristische
Person ist, keine "Persönlichkeit" besitzt, aber trotzdem ein
getrennter Körper ist; und vor allem transportiert diese
Stimme, über das Intelligible und Expressive hinaus, direkt
301
das Symbolische: da ist, wie ein Paket vor uns hingeworfen,
der V a t e r , seine phallische Gestalt. Die "Rauheit" wäre
dies: die Materialität des Körpers, der seine Muttersprache
spricht: vielleicht der Buchstabe; fast mit Sicherheit die Si­
gnifikanz.

Hier erscheinen also im Gesang (bis diese Unterscheidung


auf die gesamte Musik ausgedehnt werden kann) die zwei
Texte, von denen Julia Kristeva gesprochen hat. Der Phäno­
Gesang (wenn man diese Übenragung akzeptieren will) um­
faßt alle Phänomene, alle Merkmale, die in den Bereich der
Struktur der gesungenen Sprache, der Gesetze des Genres,
der codienen Form der Koloratur, des Idiolekts des Kom­
ponisten, des Stils der Interpretation fallen: kurz alles, was
in der Ausführung im Dienste der Kommunikation, der Re­
präsentation, des Ausdrucks steht: das, wovon man ge­
wöhnlich spricht, was das Gewebe der kulturellen Wene
bildet (der Stoff der eingestandenen Vorlieben, der Moden,
der kritischen Diskurse), was sich direkt mit den ideologi­
schen Alibis einer Epoche verknüpft (die "Subjektivität",
die "Expressivität", die "Dramatik", die "Persönlichkeit" ei­
nes Künstlers). Der Geno-Gesang ist das Volumen der sin­
genden und sprechenden Stimme, der Raum, in dem die
Bedeutungen "aus dem Inneren der Sprache und in ihrer
Materialität selbst" hervorkeimen; es ist ein signifikantes
Spiel, das nichts mit Kommunikation, Repräsentation (der
Gefühle) und Ausdruck zu tun hat; es ist die Spitze (oder
der Grund) der Produktion, wo die Melodie wirklich die
Sprache bearbeitet - nicht das, was sie sagt, sondern die
Wollust ihrer Ton-Signifikanten, ihrer Buchstaben: wo sie
erforscht, wie die Sprache arbeitet und sich mit dieser Ar­
beit identifizien. Es ist mit einem sehr einfachen Won, das
jedoch ernst genommen werden muß: die Diktion der Spra­
che.

Unter dem Gesichtspunkt des Phäno-Gesangs ist Fischer­


Dieskau zweifellos ein musterhafter Künstler: von der (se­
mantischen und lyrischen) Struktur wird alles beachtet; und
doch verführt nichts, reißt nichts zur Wollust hin; es ist
eine überaus expressive Kunst (die Diktion ist dramatisch;
die Zäsuren, der zurückgehaltene und dann frei strömende
302
Atem setzen wie Erdbeben der Leidenschaft ein) und eben
dadurch sprengt er niemals den Rahmen der Kultur: die
Seele begleitet hier den Gesang, nicht der Körper: die
Schwierigkeit besteht hier darin, daß der Körper die musi­
kalische Diktion nicht mit einer Gefühlsbewegung, sondern
einer "Ankündigungs-Geste" ! begleitet; umso mehr, als die
ganze Musikpädagogik nicht die Kunst der "Rauheit" der
Stimme, sondern ausschließlich ihre emotionalen Ä uße­
rungsanen lehn: das ist der Mythos des Atems. Wie oft ha­
ben wir nicht Gesangslehrer verkünden gehön, daß die
ganze Gesangskunst in der Beherrschung, der guten Füh­
rung des Atems liege! Der Atem ist das pneuma, die Seele,
die anschwillt oder bricht, und jede ausschließliche Kunst
des Atems läuft Gefahr, eine insgeheim mystische Kunst zu
werden (eine .Kunst von einem verflachten Mystizismus,
der sich ganz auf der Höhe der Massenlangspielplatten be­
findet). Die Lunge, ein blödes Organ (Katzenfutter!),
schwillt an, strafft sich jedoch nicht: im Rachen, dem On,
wo das phonische Metall han und zugeschnitten wird, und
im Gesichtsausdruck zerspringt die Signifikanz und läßt
nicht die Seele, sondern die Wollust hervortreten. Bei F. D.
glaube ich immer nur die Lunge zu hören, nie die Zunge,
die Stimmritze, die Zähne, die Innenwände. die Nase. Da­
gegen lag die ganze Kunst Panzeras in den Buchstaben.
nicht im Blasebalg (einfaches technisches Merkmal: man
höne ihn nicht atmen, sondern nur den Satz zerteilen). Ein
extremes Denken regelt die Prosodie der Aussage und die
phonische Ökonomie des Französischen; (allgemein aus
der rhetorischen und kirchlichen Diktion hervorgegangene)
Voruneile wurden umgestürzt. Hinsichtlich der Konsonan­
ten, von denen man zu gern annimmt, daß sie das Gerüst
unserer Sprache bilden (die schließlich keine semitische
Sprache ist) und die man stets zu "anikulieren", zu trennen,
zu betonen vorschreibt. um die Klarheit der Bedeutung ZU be­
friedigen, empfahl dagegen Panzera in nicht wenigen Fällen.
sie zu vemhleifen, ihnen die Abnutzung einer lebenden,
funktionierenden und seit langem arbeitenden Sprache zu­
rückzugeben. aus ihnen das bloße Sprungbrett des wunder­
baren Vokals zu machen: die "Wahrheit" der Sprache war
da, nicht ihre Funktionalität (Klarheit. Expressivität. Kom­
munikation); und das Spiel der Vokale erhielt die ganze Si-
303
gnifikanz (die die Bedeutung insofern ist, als sie wollüstig
sein kann): die (in der Konjugation so notwendige) Opposi­
tion der e und e, die, ich würde fast sagen, elektronische Rein­
heit des französischsten aller Vokale, so sehr war sein Ton
gedehnt, hervorgehoben, gehalten, des ü (im Original
deutsch), das unsere Sprache nicht aus dem Lateinischen
übernommen hat; auf dieselbe Art führte P. seine r über die
Normen des Sängers hinaus - ohne diese Normen zu ver­
leugnen: sein r war zwar wie in jeder klassischen Gesangs­
kunst gerollt, dieses Rollen hatte jedoch nichts bäuerliches
oder kanadisches an sich; es war ein künstliches Rollen, der
paradoxe Zustand eines (durch die metallische Kürze der
Vibration) völlig abstrakten und (durch die offenkundige
Verwurzelung in dem sich bewegenden Rachen) zugleich
völlig materiellen Ton-Buchstabens. Diese Phonetik (bin
ich der einzige, der sie wahrnimmt? Höre ich Stimmen in
der Stimme? - Aber besteht die Wahrheit der Stimme nicht
darin, halluziniert zu werden? Ist der gesamte Raum der
Stimme nicht ein unendlicher Raum? Dies war zweifellos
der Sinn der Arbeit Saussures über die Anagramme), diese
Phonetik schöpft die Signifikanz nicht aus (sie ist uner­
schöpflich); zumindest versetzt sie den von einer ganzen
Kultur unternommenen Versuchen, das Gedicht und seine
Melodie auf ihre Expressivität zu reduzieren, einen Schlag.

Es fällt nicht schwer, diese Kultur zu datieren, historisch zu


spezifizieren: F. D. herrscht heute fast unumschränkt auf
der gesamten besungenen Langspielplatte; er hat alles auf­
genommen: wenn man Schubert, aber nicht F. D. liebt, so
ist einem Schubert heute verboten: Beispiel dieser positiven
Zensur (durch Überfluß), die die Massenkultur charakteri­
siert, ohne daß man sie ihr jemals vorwerfen würde: viel­
leicht deswegen, weil seine expressive, dramatische, gefühls­
mäßig klare, von einer Stimme ohne "Rauheit", ohne
signifikantes Gewicht getragene Kunst wohl der Nachfrage
einer Durchschnittskultur entspricht; diese Kultur, definiert
durch die Verbreitung des Hörens und das Verschwinden
der Praxis (keine Musikliebhaber mehr), verlangt durchaus
nach Kunst und Musik, vorausgesetzt, daß diese Kunst,
diese Musik eindeutig sind, daß sie ein Gefühl "übersetzen"
und ein Signifikat repräsentieren (den "Sinn" des Ge-
304
dichts) : eine Kunst, die die Wollust immun macht (indem
sie sie zu einem bekannten, codierten Gefühl reduziert)
und das Subjekt mit dem aussöhnt, was in der Musik geJagt
werden kann: das, was S c h u I e , K r i t i k und ö f f e n t -
l i c h e M e i n u n g prädikativ über sie sagen. Panzera ge­
hört nicht zu dieser Kultur (er kann nicht zu ihr gehören,
da er vor dem Aufkommen der Langspielplatte gesungen
hat; ich zweifle im übrigen, daß, falls er heute singen
würde, seine Kunst anerkannt oder auch nur wahrgenommen
würde); seine Herrschaft, die zwischen den beiden Welt­
kriegen fast unbestritten war, war die einer ausschließlich
bourgeoisen (d. h. in keiner Weise kleinbürgerlichen)
Kunst, die ihre innere, von der G e s c h i c h t e getrennte
Entwicklung - durch eine wohlbekannte Verzerrung -
zum Abschluß brachte: vielleicht konnte diese Kunst Spu­
ren von Signifikanz tragen und der Tyrannei der Bedeutung
entgehen, weil sie eben bereit! marginal, mandarinal war,
was weniger paradox ist, als es erscheint.

Die "Rauheit" der Stimme ist nicht - oder nicht nur - ihr
Timbre; die Signifikanz, die sie freilegt, kann nicht besser
definiert werden als durch die Reibung zwischen der Musik
und etwas anderem, das die Sprache (und keineswegs die
message) ist. Der Gesang muß sprechen, oder besser noch,
schreiben, denn was auf der Ebene des Geno-Gesangs her­
vorgebracht wird, ist schließlich Schrift. Dieses gesungene
Schreiben der Sprache hat meiner Meinung nach die franzö­
sische Melodie manchmal zustande zu bringen versucht.
Ich weiß durchaus, daß das deutsche Lied durch das roman­
tische Gedicht eng mit der deutschen Sprache verbunden
ist; ich weiß, daß die poetische Bildung Schumanns immens
war und daß dieser selbe Schumann von Schubert sagte, daß
dieser, wenn er länger gelebt hätte, die gesamte deutsche
Literatur vertont hätte; ich glaube dennoch, daß die histori­
sche Bedeutung des Lieds auf der Seite der Musik gesucht
werden muß (und wäre es nur aufgrund seiner volkstümli­
chen Ursprünge). Die historische Bedeutung der französi­
schen Melodie liegt dagegen in einer gewissen Kultur der
französischen Sprache. Es ist bekannt, daß die romantische
Dichtung unseres Landes eher rhetorisch als textuell ist;
was unsere Dichtung jedoch nicht ganz allein machen
305
konnte, machte die Melodie manchmal mit ihr; sie bearbei­
tete die Sprache mittels des Gedichts. Diese Arbeit (in der
Eigentümlichkeit, die ihr hier zuerkannt wird) ist nicht
sichtbar in der gängigen Masse der melodischen Produk­
tion, die den zweitrangigen Dichtern, dem Modell der
kleinbürgerlichen Romanze und den Salonsitten zu sehr
verpflichtet ist; sie ist jedoch unbestreitbar in einigen Wer­
ken: anthologisch (sagen wir: ein bißehen per Zufall) in ei­
nigen Melodien Faures und Duparcs, massiv beim späten
(prosodischen) Faure und im Vokalwerk Debussys (auch
wenn "Pelleas" oft schlecht: dramatisch, gesungen wird).
Was in diesen Werken unternommen wird, ist weit mehr als
ein musikalischer Stil, es ist (wenn man so sagen kann) eine
praktische Reflexion über die Sprache; es gibt einen fort­
schreitenden Aufstieg von der Sprache zum Gedicht, vom
Gedicht zur Melodie und von der Melodie zu ihrer Ausfüh­
rung. Für die (französische) Melodie ist also viel weniger
die Musikgeschichte als die Texttheorie zuständig. Der Si­
gnifikant muß auch hier neu verteilt werden.

Vergleichen wir zwei gesungene Tode - äußerst berühmt


alle beide, den von Boris und den von Melisande. Welches
auch immer die Absichten Mussorgskis gewesen sein mö­
gen, der Tod von Boris ist expressiv, oder, falls man dies vor­
zieht, hysterisch; er ist überladen mit affektiven und histori­
schen Inhalten, alle Darstellungen dieses Todes können nur
dramatisch sein: es ist der Triumph des Phäno-Texts, die Si­
gnifikanz erstickt unter deI? Signifikat der Seele. Melisande
stirbt dagegen nur prosodisch; zwei Extreme werden verbun­
den, verflochten: die vollkommene Intelligibilität der Deno­
tation und der reine, prosodische Zuschnitt der Aussage:
zwischen den beiden eine Leere, die die Fülle von Boris
ausmacht: das Pathos, d. h. nach Aristoteles (warum nicht?)
die Leidenschaft, so wie die Menschen über sie sprechen, sie sich
vorstellen, die übliche Vorstellung des Todes, der endoxale
Tod. Melisande stirbt lautlos; man verstehe diesen Ausdruck
im kybernetischen Sinn: nichts stört den Signifikanten und
folglich zwingt nichts zur Redundanz; es handelt sich um
die Produktion einer Musiksprache, deren Funktion es ist,
die Expressivität des Sängers zu verhindern. Wie beim rus­
sischen Baß wird das Symbolische (der Tod) unmittelbar
306
(ohne Vermittlung) vor uns hingeworfen (dies um die gän­
gige Vorstellung zurechtzurücken, nach der nur kalt und in­
tellektuell sein kann, was nicht expressiv ist; der Tod von
Melisande "bewegt"; das soll heißen, daß er etwas in der
Kette des Signifikanten in Bewegung setzt).
Die französische Melodie ist aus vielerlei Gründen ver­
schwunden (man kann sogar sagen, daß sie abstürzt) , oder
zumindest hat dieses Verschwinden vielerlei Aspekte ange­
nommen; sie ist zweifellos dem Bild ihres Ursprungs im Sa­
lon erlegen, das die lächerliche Form ihres Klassenur­
sprungs ist; die "gute" Massenmusik (Schallplatte, Radio)
hat sich nicht um sie gekümmen und entweder das patheti­
schere Orchester (Mahlers Glück) oder weniger bourgeoise
Instrumente als das Klavier (das Cembalo, die Trompete)
vorgezogen. Dieser Tod geht jedoch mit einem historisch
bedeutend weiter reichenden Phänomen einher, das wenig
mit der Musikgeschichte bzw. der des musikalischen Ge­
schmacks zu tun hat: die Franzosen geben ihre Sprache auf,
zwar nicht als normative Gesamtheit edler Wene (Klarheit,
Eleganz, Korrektheit) - oder zumindest machen wir uns
deswegen weniger Sorgen, da dies institutionelle Wene
sind -, aber als Raum der Lust, der Wollust, dem On, wo
sich die Sprache für nichts, d. h. in der Perversion, bearbeitet
(man rufe sich hier die Eigenanigkeit - die Einsamkeit -
des letzten Textes von Philippe Sollers, "Lois", in Erinne­
rung, der die prosodische und metrische Arbeit der Sprache
neu in Szene setzt).

Die "Rauheit" ist der Körper in der singenden Stimme, in


der schreibenden Hand, im ausführenden Körpeneil. Wenn
ich die "Rauheit" einer Musik wahrnehme und dieser "Rau­
heit" einen theoretischen Wen beimesse (es ist der Auf­
stieg des Texts im Werk), so kann ich mir, da ich entschlos­
sen bin, meine Beziehung zum Körper des Sängers oder
Musikers zu hören, und da diese Beziehung erotisch ist,
nur eine neue und ohne Zweifel individuelle, keineswegs
jedoch "subjektive" Wenetabelle erstellen (nicht das psy­
chologische "Subjekt" in mir hön; die Wollust, die das
"Subjekt" erhofft, stärkt es nicht - drückt es nicht aus - ,
sondern richtet e s zugrunde). Diese Bewenung wird ohne
307
Gesetz durchgeführt werden: sie wird dem Gesetz der Kul­
tur sowie dem der Antikultur entgegenarbeiten; sie wird
jenseits des Subjekts den ganzen Wert entfalten, der hinter
dem jeh liebe" oder "ich liebe nicht" verborgen ist. Die Sänger
und insbesondere die Sängerinnen werden in zwei Katego­
rien eingereiht werden, die man prostitutiv nennen könnte,
da es sich darum handelt, das zu wählen, was nicht mich
wählt: ich werde also in voller Freiheit einen wenig bekann­
ten, zweitrangigen, vergessenen und vielleicht toten Künst­
ler verehren und mich von einern anerkannten Star abwen­
den (geben wir keine Beispiele, sie hätten ohne Zweifel nur
biographischen Wert), und ich werde in allen Genres der
Vokalmusik, einschließlich der Unterhaltungsmusik, meine
Wahl treffen, wo ich auch keinerlei Mühe haben werde, die
Unterscheidung von Phäno-Gesang und Geno-Gesang wie­
der vorzufinden (manche Künstler haben eine "Rauheit",
die andere, so bekannt sie auch sein mögen, nicht haben) .
Mehr noch, außer in der Stimme ist die "Rauheit" oder ihr
Mangel auch in der Instrumentalmusik vorhanden; denn
wenn es in ihr auch keine Sprache mehr gibt, um die Signi­
fikanz in ihrer äußersten Fülle freizulegen, so gibt es doch
zumindest den Körper des Künstlers, der mir von neuem
eine Bewertung aufZWingt: ich werde eine Darbietung nicht
nach den Regeln der Interpretation, den (im übrigen recht
illusorischen) Zwängen des Stils beurteilen, die fast alle
dem Phäno-Gesang angehören (ich werde über die
"Strenge", den "Glanz", die "Wärme", die "Achtung vor
dem, was geschrieben ist", usw. nicht in Verzückung gera­
ten), sondern nach dem Bild des Körpers (der Figur), das
mir gegeben wird: ich höre mit Gewißheit - der Gewißheit
des Körpers, der Wollust -, daß das Cembalo von Wanda
Landowska aus ihrem Körperinneren kommt und nicht von
dem kleinen Fingergestricke so vieler Cembalisten (das an
einen Punkt getrieben wird, daß daraus ein anderes Instru­
ment wird); und bei der Klaviermusik weiß ich sogleich,
welcher Teil des Körpers spielt: ob es der Arm ist, der lei­
der zu oft so muskulös ist wie die Wade eines Tänzers, die
Klaue (trotz der Kreisbewegungen der Handgelenke), oder
ob es im Gegenteil der einzige erotische Teil eines Piani­
stenkörpers ist: die Kuppen der Finger, von denen man so
selten die "Rauheit" hört (muß man hier in Erinnerung ru -
308
fen, daß es heute unter dem Druck der Massenschallplatte
eine Verflachung der Technik zu geben scheint; diese Ver­
flachung ist paradox: alle Spielweisen werden in der Perfek­
tion verflacht; es gibt nurmehr Phäno-Text).

All dies wird aus Anlaß der (im weiten Sinne) "klassischen"
Musik gesagt; es versteht sich jedoch von selbst, daß die
bloße Berücksichtigung der musikalischen "Rauheit" eine
andere Musikgeschichte als die, die wir kennen, zur Folge
haben könnte (diese ist rein phäno-textuell) : wenn es uns
gelänge, eine gewisse "Ä sthetik" des musikalischen Genie­
ßens zu verfeinern, würden wir ohne Zweifel dem durch
die Moderne herbeigeführten tonalen Bruch weniger Be­
deutung beimessen.

1 wDie Lektüre mit einigen passenden Körperbewegungen zu be­


gleiten, ist daher die beste Art mich zu lesen. Gegen das nicht
gesprochene Geschriebene, gegen das nicht geschriebene Ge­
sprochene. Für die Ankündigungs-Geste!"
(Philippe Sollers, Lois, Paris 1972, S. 108)

Aus dem Französischen von Peter Geble


D A N I E L C H A RL E S
Au-deli d e l'alea
Jenseits der Aleatorik

.Das Maßlose ist nicht von Bedeutung."


Talleyrand

Der Unterschied zwischen "offener" und "unbestimmter"


Musik ist bekannt: die erstere gehorcht, wie empfänglich
auch immer für die Anregungen des Interpreten, der Wei­
sung, unwiderruflich zu sein, einer Weisung, die ihr der
Komponist vorschreibt; die zweite nimmt im Augenblick
ihres Erscheinens ungezwungen eine radikale Relativität
auf sich: sie könnte auch nicht sein, am Nichtsein bemißt
sich geradezu die Widerruflichkeit ihrer Existenz. Hier ein
Ton, don eine Stille: habe ich einmal eine Einteilung ge­
wählt, so muß ich auch mein Folgerecht daruber ausüben,
was kommt; habe ich mich von vornherein für nicht zustän­
dig erklän, so werde ich es mir selbst zuzuschreiben haben,
wenn nichts von dem eintritt, womit ich rechnete. Tatsäch­
lich erwartet man im zweiten Falle am besten nichts. Wie
schwer fällt es doch, dem Zufall ein wirklich freies Feld zu
überlassen! Ihr könnt Euer Klavier noch so fein "präparien"
haben - die exotischen Klänge, die Ihr herausschlagt, so
unerhön sie auch sein mögen, sind immer noch Klavierspiel;
der Radioapparat, dem Ihr zwischen zwei Zischlauten ein
paar festgelegte Akkorde entreißt, bestätigt nötigenfalls die
Bildung derjenigen Eurer Hörer, die als wirkliche musikttlische
sie haben wiedererkennen können. Wie könnte man das
Gedächtnis umgehen? Ist das Publikum nicht im voraus
übersättigt?
Die Lage des Komponisten aber, der danach trachtet, den
Zufall zu beherrschen bzw., wie man im Adel sagt, in Dienst
zu nehmen, ist kaum angenehmer. Und wenn sie es ist, wenn
der Zufriedenheits index der Schaffenden, was ihre Werke
betrifft, positiv ist, so eher, weil das durchschnittliche Ni­
veau ihrer Anspruche, wo nicht gesunken, so doch ziemlich
seicht ist. Ihr Verhalten unterscheidet sich kaum von dem
des Metaphysikers oder Wissenschaftlers, welcher das Sein
bzw. Fragmente des Seins nur insoweit behandelt, als diese
310
Gegenstände ihm "als solche gegeben" sind, "wobei er vom
Nichts und den Beziehungen zwischen Sein und Nichts
nicht die blasseste Ahnung hat"!. Schon durch die Gesangs­
übung des Solfeggio treibe ich das Nichtsein aus: die Töne,
von denen ich will, daß sie sich dem Raster fügen, sind die
einzigen, für die ich einstehe; genauso wird im Tonalsy­
stem, für das die nicht-festgelegten Akkorde genau genom­
men nicht vorhanden sinti jeder "nicht von mir etikettierte
Klang als falsch gelten". Dies ist die Haltung des Wirklich­
keitsmenschen, des Glücksritters, der nur auf Nummer si­
cher setzt und nur von dem etwas hören will, dessen Gedie­
genheit ihm im voraus garantiert wird. Deshalb wird
verständlich, daß für einen Komponisten, der entschlossen
ist, sich auf diese Weise abzusichern, die Stille, d. h. nach
Auffassung von lohn Cage: die Gesamtheit der uner­
wünschten Töne oder gar noch die Welt der Geräusche,
ebensowenig vorhanden ist, wie es für einen Vertreter tona­
ler Harmonie die nicht festgelegten Akkorde sind. Nicht
nur nichts von dem, was seiner Feder entströmt, sondern
auch was ihr nicht entströmt, darf seiner Wachsamkeit ent­
gehen. Noch über das absolute Gehör hinaus herrschen un­
fehlbare Hellhörigkeit und kosmische Verantwortlichkeit.
Die Ruhe, zu der man unter dieser Herrschaft gelangt, ist
unendlich kostbar.

"Und gleichwohl muß es Zufall geben. Ohne ihn keine


Überraschung. Und Überraschung ist notwendig, um Lange­
weile zu vermeiden. "2 Hierin liegt in der Tat das Kreuz des
"offenen" Musikers: er zieht aus nach dem Absoluten und
kommt mit Relativem zurück. "Es ist ein theologisches Pro­
blem, wenn man so will. Der Zufall nimmt den Platz der
Gnade ein, die gleich ihm grundlos ist, und die der Mensch
gern durch seine Verdienste erlangen wollte."3 Der Zufall,
nach Nietzsehe "ältester Gott der Welt" ist die Heilige
jungfrau, die Muse des Komponisten von heute; eine Muse,
die jedenfalls besser unter Küssen erstickt würde, sicherer
wär's. Vor das Problem der Wahl gestellt, willigt die serielle
Musik gerade deshalb ins Spiel der Aleatorik ein, weil sie
keine Wahl hat: "je weniger man (aus)wählt, desto mehr Zu­
fälliges liegt in der Bewegung der Gegenstände; je mehr
man auswählt, desto mehr Zufälliges liegt in der Subjektivi-
311
tät des Komponisten."4 Das Spiel der Aleatorik, dieser wohl­
temperiene Zufall, soll der "Reflexion ermöglichen, mit der
Spontaneität eins zu werden, anstatt sich von ihr zu IÖsen"s.
Indem man das Bequeme der Musiken von vollständiger
Unbestimmtheit und absolutem Zufall aufgibt, die sich auf
eine "orientalisch angehauchte" Philosophie berufen, wird
man wieder an den echten, den berühmten Orient anknüp­
fen, an den der Musiken Indiens, die geschmeidig und
schlangenartig sind, und doch festhalten an der Linearität,
die geläuten wird durch eine der Ewigkeit zugewandte
Weise des Phrasierens.

Das Folgende ist bekannt: als es Xenakis eines Tages ein­


fiel, daß die serielle Musik sich durchgängig improvisieren
läßt "wie Chopin", unternahm er es, biJ zum Außmlen zu ge­
hen: Dadurch daß zum Aufbau eines Werkes Verfahren ver­
wendet wurden, die der Wahrscheinlichkeitsrechnung ent­
lehnt waren, konnte nicht nur - bewirkt durch die
Komplexität der ins Spiel gebrachten statistischen Häufun­
gen und "Wolken" - das Klangklima erneuen, sondern
auch das "Aleatorische" zugunsten des StochaJtiJchen ausge­
schlossen werden. Letzteres wird dabei als etwas aufgefaßt,
das auf viel grundlegendere Weise - sozusagen aus dem In­
nern des Klangstoffes oder -materials als solchem heraus -
eine Form, eine Kontur, ein Ziel (JlochoJ), d. h. eine Struktur
auferlegt; dies jedoch, ohne deshalb das Ideal einer Beherr­
schung des Zufalls aus den Augen zu verlieren, eines Zu­
falls, der nur dem Gesetz der größten Zahl Folge leisten
kann, zugleich aber auf der Ebene punktueller und einmal
vorkommender Diskontinuitäten fonbesteht. Jenseits der
Aleatorik wurde es somit möglich, daJ RauJchen nachzuahmen,
das nach Meinung nicht nur der Semiotiker, die up do date
sind, sondern auch der Verfechter der Systemtheorie, näm­
lich der Physiker, am Rande und im Ursprung aller Kommu­
nikation liegt, um daraus ein Signal, "das" musikalische
Grundsignal zu machen. Ein kühner Versuch, der die Alea­
torik auf den Mallarme des Wiirftlwurft verwiese und so die
Musik - endlich - von der Literatur ablöste: das Spiel der
Aleatorik hat, wie ein italienischer Kritiker, Fedele
d'Amico, gesagt hatte, kaum mehr Beziehung zur Quanten­
physik als der zweiteilige Badeanzug zum Atoll gleichen
312
Namens ; die Poissonschen Formeln oder die kinetische
Gastheorie können aber sehr wohl einmal ein Klanguniver­
sum beherrschen. Die Unbestimmbarkeit schlüge nicht
mehr als Name, sondern de facto und de jure somit das
Aleatorische um Nasenlänge.

Es ist interessant, festzustellen, daß jenseits der Aleatorik


die Extreme - Cage als Anhänger rohester und wildester
Unbestimmtheit und Xenakis, der sich auf strengste Berech­
nungen stützt - anscheinend wieder zusammenkommen.
Der Autor eines jüngst erschienenen Buches über das musi­
kalische Improvisieren macht darauf aufmerksam: die For­
schung Xenakis', wissenschaftlich durch und durch, scheint
"in ihrer Arbeitsweise ( . . . ) das genaue Gegenstück zu der
von Cage zu sein; sie ist ihr dennoch seltsam ähnlich. Xena­
kis würfelt nicht, sondern berechnet Wahrscheinlichkeits­
funktionen, was beinahe aufs Gleiche hinausläuft. ( ' " )
Cage und Xenakis treffen sich don, wo man sie diametral
entgegengesetzt geglaubt hätte"6: keiner von beiden traut
dem Interpreten wirklich. Ihnen ist gemein, die Spieler der
Instrumente auf den Status eines "äußerst mechanisienen
Bedienungspersonals"7 zu reduzieren.

Ohne Denis Levaillant diesbezüglich notwendig zu folgen,


wird man zugeben, daß die Intuition von Cage und die De­
duktion bei Xenakis, welche die beiden lebendigen Pole
der Musik von heute bilden, auf Musiken hinauslaufen, bei
denen "die Information, deren Durcheinander so komplex
wie möglich gestaltet ist, so schnell wie möglich zu denjeni­
gen fließt, die ebenso schnell wie möglich darauf reagieren
müssen, ohne die geringste lineare ,Interaktion' zuzulas­
sen"8. Damit sind wir bei der Frage nach der Wahrnehmung
von Musik überhaupt.

Was bedeutet 'Zuhören tatsächlich? Die traditionellen Musi­


ken räumen hierbei der Relation einen wesentlichen Anteil
ein. Sie bilden wahrhaft verwickelte Netze: kein Ton ent­
zieht sich einer Spannung oder einer Erwartung, einer Er­
wanung oder einer Überraschung. Ständig setzen wir eine
Polarisierung voraus: das Zuhören will als aktives gelten, es
glaubt, vorauszusehen und vorauszusagen, es spekulien un-
313
ablässig über die Entwicklung einer Melodie oder einer
Harmonie - wo nicht über die Wiederholung eines rhyth­
mischen Schemas. Bei dieser teleologischen Musik wird dem
Hörer oftmals etwas Unvorhergesehenes entgegengesetzt,
das ihn seinen Irrtum nachträglich zu genießen zwingt: im
Ganzen aber hängt alles an einer Grammatik oder besser:
einer Syntax.

Im Jargon der Kommunikationstheorie läßt es sich auf ge­


lehrtere Weise nachweisen: "der Sinn von Musik entsteht",
schreibt Leonard Meyer, "wenn eine vorhergehende Situa­
tion (hervorgegangen aus einer Tonfolge) vom Zuhörer
eine Vermutung über die wahrscheinlichen Entwicklungen
der folgenden Struktur verlangt und damit die zeitliche und
tonale Natur der zu erwartenden Folge ungewiß macht"9.
Damit ein Phänomen einen Sinn gewinnt, ist es nicht nur
notwendig, "daß sein Auftauchen ungewiß gewesen ist,
sondern auch, daß es die auf Wahrscheinlichkeit beruhende
Einschätzung der Folgen zu verändern vermag, die aus der
vorhergehenden Situation sich ergeben haben. ( . . . ) In den
Vorgang, der dem Hörer ermöglicht, die wahrscheinlichen
Entwicklungen der Struktur anhand der vorhergehenden
Tonfolge vorauszuhören, kommen nun nicht nur rückwir­
kend entstandene Bewertungen hinein, welche er ableitet
aus dem, was er von der musikalischen Komposition, die er
gerade hört, bereits gehört hat, sondern auch statistische
Regelmäßigkeiten, welche die möglichen Tonfolgen bestim­
men, die er aus seiner früheren Erfahrung als Hörer anderer
ähnlicher Kompositionen abstrahiert hat."lo

Diese statistischen Regelmäßigkeiten nennt man nun Stil


Dieser wird vom Hörer notwendig als konstant vorausge­
setzt. Im Falle von Schlagern oder repetitiver Musik über­
haupt (d. h. von Musik, welche die Redundanz sucht und
dafür systematisch eine Ästhetik der Langeweile entwickelt
- dies natürlich aus der "klassischen" Perspektive der sich
nach der Allmacht des GedächtniJJeJ richtenden Ästhetiken . . . )
zeigen sich die statistischen Regelmäßigkeiten mit größter
Strenge, so daß "die Ungewißheit über die zeitliche Abfolge
der kommenden Töne sehr gering ist. Der Hörer hört also
vor allem das, war er im Laufe der Zeit zu hören gewiß war;
314
Kunst hat mit Wissenschaft nichts zu tun.
p
Kunst ist kein Ex eriment. Es gibt keinen
Fortschritt in der Kunst, ebensowenig wie es
Fortschritt in der Sexualität gibt. Um es
einfach zu sagen: Es gibt nur verschiedene
Wege, sie auf die Beine zu stellen.

Man Ray
die Geschwindigkeit, mit der ihm die Informationen Zu­
kommen, ist sehr niedrig; er sieht sich nicht veranlaßt,
seine auf Wahrscheinlichkeit beruhende Einschätzung der
vorangehenden Informationen zu verändern; er hat sehr
wenig gelernt; ein Teilstück bedeutet somit fast nichts."ll
Kaum anders verhält es sich, wenn die Regelmäßigkeiten zu
selten sind: ..die Ungewißheit über die zeitliche Abfolge der
kommenden Töne ist sehr groß." Man steht plötzlich wie­
der vor der Situation, die oben für das Paar Cage-Xenakis
beschrieben worden ist, und die praktisch auch den gutwil­
ligsten Interpreten aus der Fassung bringen kann, denn
man sieht dabei, wie der Zufall das Spiel der Aleatorik ab­
würgt: ..Die Geschwindigkeit, mit der dem Hörer Informa­
tionen zukommen, wird sehr hoch sein. Die Schneiligkeit
aber, mit der neue Informationen auf ihn zukommen, kann
sein ,Aufnahmevermögen' übersteigen; er wird diese Infor­
mationen nicht schnell genug bewenen können, um daraus
eine auf Wahrscheinlichkeit beruhende Einschätzung der
vorangehenden Informationen zu abstrahieren, besonders
dann nicht, wenn die Seltenheit der Wiederholungen ihm
nicht ermöglicht, die Gültigkeit seiner Deduktionen zu te­
sten. Auch hier bedeutet das Teilstück somit fast nichts."12

Heißt das nun, daß allein der Mittelweg nach Rom fühn -
die Römer waren bekanntlich stets Anhänger des Sprich­
wons in medio stat virtus und daß es folglich angebracht
-

wäre, sich wieder auf das Spiel der Aleatorik, auf den guten
alten Zufall von Großpapa Mallarme zu besinnen? Moment
mal! Wenn die Klangfolge auf signifikante Weise nur unter
der ausdrücklichen Bedingung strukturien wird, daß sie we­
der zu gewiß noch zu ungewiß bleibt, so schließt das viel­
leicht wenigstens die folgende Binsenwahrheit ein: .. Die sti­
listische Freiheit der Komposition soll der musikalischen
Bildung des Zuhörers entsprechen."13 Adieu Avantgarde!

Doch eine andere Argumentation ist möglich. Die Ge ­


schichte der abendländischen Musik kann als diejenige der
Selbstzerstörung des Gedächtnisses gelesen werden. Es ist
einleuchtend, daß das ..Aufheben und Speichern von zuvor
geschaffenen Bedeutungsstrukturen", so wie sie unter ande­
rem durch die Notenschrift und die Schrift überhaupt er-
316
folgt, vom Aufnehmen auf Tonträger ganz zu schweigen, zu
einer Bereicherung der musikalischen Bildung des Hörens
tendiert; parallel dazu aber sollen die "zur Verstehbarkeit
des übermittelten Sinns notwendigen ästhetischen Regeln"
sich lockern. Je vollkommener praktisch die Bildung des
Hörers wird, desto seltener steht es dem Schaffenden - bei
einem gegebenen Grad von Regelstrenge - frei, neue Be­
deutungsstrukturen zu entwickeln: die Erschöpfung der
Möglichkeiten führt zu einer fortschreitenden Lockerung
der Regulation überhaupt. Weil das Gedächtnis auf diese
Weise immer mehr "zurückbehält", verlangt es immer stär­
ker nach Neuern; ist aber eine gewisse Schwelle überschrit­
ten, so sprengt das Erneuern auch den Rahmen dieses Ge­
dächtnisses: gegenüber dem Froschgedächtnis gleicht die
Musik einem Mondkalb.

Das tierische Wiederkäuen der repetitiven Musiken wird


nur auf Grund von Vergessen vernehmbar . . .

Die Auswirkungen einer solchen Betrachtungsweise sind


beachtlich. Zunächst wird offensichtlich, daß die Fremdheit
der unbestimmten Musiken im Grunde nur die natürliche
Folge der mehr und mehr entwickelten Vertrautheit ist, die
unsere Kultur uns anhand der klassischen Meisterwerke
eingetrichtert hat. Der Komponist konnte sich von einem
Stil zum anderen nur ständig weiter aus den Zwängen be­
freien, die ihm die anfängliche Ungebildetheit seiner Zuhö­
rerschaft auferlegte; ein "Fortschritt", wenn man so will, der
sich jedenfalls radikal vom Ileady Ilale oder von der "Stagna­
tion" (was nicht Bewegungslosigkeit meint) der Musiken
der schrift- oder geschichtslosen Völker unterscheidet. Mit
der Beschleunigung der Geschichte bei der Austreibung
jeglichen Stils angelangt, bringt der Künstler Klangobjekte
hervor, die hinfort keinerlei Anlaß für irgendeine Einschät­
zung mehr bieten. Wie dem auch sei, der Zuhörer wird sie
als zufällig auffassen: warum sollte man dieser (Nicht-) Ein­
schätzung nicht zuvorkommen und sie von vornherein dem
Zufall anheimstellen? Polemiker wie Henri Pousseur und
sogar Denis Levaillant schreiben eine solche Einstellung
der Furcht zu, die der Komponist vor dem Subjektiven und
der Subjektivität empfindet;14 diese Furcht scheint uns hin-
317
gegen ganz auf seiten des Zuhörers zu liegen, der davon
überzeugt ist, man ziehe ihn auf, sobald man es ihm völlig
freistellt, nach Belieben zu interpretieren, was er hört . . .
"Die Struktur, die er in einem Teilstück wahrnimmt, inso­
weit es darin überhaupt eine gibt, hängt gänzlich von seiner
Persönlichkeit ab, ebenso wie seine Interpretation eines
Tintenflecks im Rorschach-Test von seiner Persönlichkeit
abhängt"15: es geht hierbei nicht um die individuelle Phan­
tasie dieses oder jenes Komponisten, als wären Cage und
Feldmann oder Christian Wolff eines schönen Morgens er­
wacht und hätten beschlossen, ihre Zuhörer in "Laborato­
riumshunde für experimentelle Psychologie"16 zu verwan­
deln. Es ist viel einfacher: alles, einschließlich der
Entwicklung von musikalischen Strukturen hin zu einer
Unbestimmtheit, die das Publikum zu handeln, auszuwäh­
len und schließlich Partei zu ergreifen zwingt, ist im Laufe
der Zeit in die Hände des besagten Publikums gelegt wor­
den und liegt noch heute in dessen Händen. Doch bei die­
ser neuen Art von Rorschach-Test vergißt man ja so leicht,
daß "derjenige, der den Test vorgibt, und derjenige, der dar­
auf antwortet, dieselbe Person ist"l?!

Zweifellos wälzt das Aufkommen der unbestimmten Musi­


ken einige der Hörkonventionen um, die dem Abendland
sozusagen in Fleisch und Blut übergegangen sind; man wird
hierbei versucht sein, Entsprechungen im Fernen Osten zu
suchen. Das bedeutet vergessen, daß ein des Orientalismus
so wenig verdächtiger Philosoph wie Whitehead einst auf
der Kohärenz bestanden hatte, die dem radikalen Empirismus
a la William James eignet und diese Denkrichtung durch­
dringt und aufrechterhält.18 Damit wird durchaus nicht un­
tersagt, sie auf den Buddhismusl9 und zumal auf den Taois­
mus20 zu beziehen, aber jeder vorschnellen und polemi­
schen Ausgrenzung vorgebeugt, die unter dem Vorwand
einer Anlehnung an einen Orient von Kitsch und Bazar er­
folgt . . . Wirklich zugeben, daß die Relationen nicht alles
sind und es gilt, sie auf ein Universum infra-relationaler
Terme hin zu überschreiten; daß die Verbindungen zwi­
schen den Eindrücken minder wirklich als die Eindrücke
selbst sind; daß unsere Ziele und Voraussagen stärker von
unserem Willen und unseren Vorurteilen abhängen als von
318
einer vermeintlichen natürlichen Ordnung - d. h. nämlich
die Humesche Kritik des Bandes zwischen Ursache und
Wirkung wiederbeleben. Wendet man diese Kritik auf die
Musik an, so stellt man die Vorstellung von einer "vernünf­
tigen Wahl" wieder infrage, einer Wahl, die sich stets nur
"in Kenntnis der Ursache" vollzöge: somit ist es kaum von
Bedeutung, ob das Werk einem vorgängigen Gliederungs­
willen oder aber nur einfachen "Zufallsoperationen" ent­
springt. Die Auflösung des Kausalnexu! trägt so zum Zer­
bröckeln der Form bei: die Nivellierung von Anfang und
Ende macht die Ereignisse einander gleich: diese kristalli­
sieren sich nicht mehr in zeitlichen "Objekten", sondern ha­
ben gewissermaßen ihren Prozeßcharakter auf sich zu neh­
men. Ein solcher "Transzendentalismus", wie es Meyer
nennt, fordert letzten Endes jegliche analytische Reflexion
heraus. Er beansprucht nicht, eine vermeintliche "Kommu­
nikation" mit dem Zuhörer aufs Beste zu gestalten: er stei­
gert lediglich die Einmaligkeit und Einzigartigkeit jedes Er­
eignisses, dimeit! aller imaginären Kausalität. Er bezweckt
nicht, "der Menge der Weltanschauungen" noch eine wei­
tere hinzuzufügen, sondern "die Summe der jeweils einma­
ligen sensorischen Erfahrungen seiner Hörer zu erwei­
tern"21.

Von nun an wird der Komponist nicht mehr durch die Bin­
dung des Werks an einen Stil überhaupt, zumal an einen ein­
zigen Stil, eingeschränkt. Der derzeitige Erfolg von Collagen
und Anachronismen jeglicher Art, die grenzenlose Mi­
schung von Zeiten und Orten, für welche die Musiken aller
Ebenen - wir sagen nicht mehr: aller Kaliber - nunmehr
den Tummelplatz abgeben, haben zweifellos keine andere
Rechtfertigung. Leonard Meyer hat es vorzüglich ausge­
drückt: "Die kommende Zeit (insoweit wir nicht schon
darin sind) wird eine Periode ä!thetiJcher Stauung sein, eine
Periode, die nicht durch die lineare und kumulative Ent­
wicklung eines einzigen Grundstils gekennzeichnet sein
wird, sondern durch die wechselnde und dynamische,
wenngleich nicht-evolutionäre, Koexistenz einer Vielfalt
vollkommen verschiedener Stile ( . . . ). In der Musik z. B.
wird man weiterhin alle tonalen, nicht-tonalen (,aleatori­
schen') und seriellen Techniken verwenden, alle elektroni-
319
sehen und improvisierten Mittel. ( . . . ) Es gibt keinen theo­
retischen oder praktischen Grund, der einen begabten und
geschickten zeitgenössischen Komponisten hindern
könnte, z. B. ein ausgezeichnetes Coneerto grosso nach Ba­
rockmanier zu schreiben. Doch wenn anders er nicht genial
ist und sein Werk dem Bachsehen sicherlich weit unterle­
gen bleibt, wird es doch immerhin nach Verwendungs­
zweck und Wert mit den unzähligen Werken der kleinen
Meister des Barock rivalisieren dürfen."22

Schönberg hatte es bereits mit einem Ausdruck gesagt, der


(ein wenig vergebens . . . ) viel Tinte fließen ließ: es bleibt
noch viel in C-Dur zu komponieren. Die Rückkehr seiner
letzten Partituren zur Tonalität aber verschreckte alle Ver­
fechter von Doktrinen, von Leibowitz bis zu X und Y . . . ;
ebenso wie es zum guten Ton gehörte, die stilistische Bunt­
scheckigkeit des Strawinsky der "neoklassischen" Periode
zu rügen, den Rückgriff auf einen Tangorhythmus in der
Konzertarie Der Wein von Alban Berg oder das Abreagieren
in Kadenzen des Divertimento von Bartok zu tadeln. All dies
haben wir glücklicherweise geändert: nach den amerikani­
schen Repetitiven, nach Berio, Kagel und nach Votre Faust
von Michel Butor und Henri Pousseur, nach Cardew und
dem Serateh Orehestra, nach Gavin Bryars und Frederic
Rzewski . . . kommt nun die deutsche Schule der "neuen
Einfachheit". Die Kompositionen eines Wolfgang Rihm
z. B., die entschieden als neo-romantische gelten, finden of­
fensichtlich die beste Aufnahme. Eine Einschränkung aller­
dings tritt im Bericht zutage, den ]acques Longchampt un­
längst23 von der Aufführung von La musique creuse le deI für
zwei Klaviere und Orchester auf der Biennale von Venedig
gab : "Auf diesem stürmischen Blatt hat das traditionelle Or­
chester etwas Schweres an sich, abwechselnd etwas von
Beethoven, Mahler oder Brahms. Die rasenden Tremoli der
Pianisten setzen sich dem Dröhnen und den Klangbrüchen
der drei Pauken entgegen. Langsam verschiebt sich das bro­
delnde Magma, doch Entwicklungslinien erscheinen kaum.
Es ist die herumfuchtelnde Musik eines Komponisten, der
gewiß seine eigene Signatur hat, doch der Sinn jenes kurz­
atmigen Diskurses scheint zweifelhaft, trotz der Phantasie
und Überzeugungskraft des berühmten Canino-Ballista-
320
Duos und der ausgezeichneten Ausführung durch das Fe­
nice-Orchester unter der Leitung von Stefan Soltesz." Eine
bezeichnende Einschränkung : eine solche Musik kommt
eben nirgends an, weil sie bar eines Sinns ist.

In der Tat erwartet man nicht, daß ein Komponist nichttrans­


xendentaler Prägung Bach oder Mozart, Brahms oder Mahler
schlicht und einfach "noch einmal schreibt". Er wird mit Zi­
taten oder Variationen arbeiten, aber ihm wird am Herzen
liegen, etwas Neues zu "sagen", etwas, das zu ihm gehört,
das innerhalb der Musikgeschichte und -geographie seinen
Platz markiert und sein Gebiet abgrenzt, das mit einem
Wort einen Sinn hat. Das Ricercar für sechs Stimmen aus dem
Musikalischen Opfer, das Webern orchestriert hat, "gehört" zu
Webern, wie er in seinem Briefwechsel mit Hermann Scher­
ehen schreibt. Die Symphonie classique von Prokofjew oder
das Concerto grosso von Ernst Bloch - oder auch auf anderer
Ebene die Gesamtproduktion eines Poulenc - sind Kompo­
sitionen "nach Art von . . . ", die hingegen nie ins Pastiche
abgleiten. In der Tat "wäre es von einem talentierten Kom­
ponisten ungeschickt, den Barockstil zu wählen, wenn er
ein eigenes Anliegen zu übermitteln hat. In diesem Falle
wäre er offenbar kein Transzendentalist ( . . . ) . Ist ein Kom­
ponist nun aber Transzendentalist und fühlt sich infolge­
dessen frei, einen x-beliebigen Stil der Vergangenheit oder
Gegenwart zu verwenden, so schriebe er per definitionem
kein Werk, das einen Sinn hätte. Mit anderen Worten wäre
sein Barockkonzert unter semantischem Gesichtspunkt
ebenso gehaltlos wie die Campbell-Konservenbüchse des
Pop-Künstlers. "24 Gerade im Falle Wolfgang Rihms das Feh­
len von Sinn zu beklagen, hieße - unter Ausklammerung al­
ler fachlichen Probleme: die Orchestrierung verdiente es, un­
ter anderem, genauer unter die Lupe genommen zu werden
- sein Werk anhand von Kriterien beurteilen zu wollen, die
es offenbar verwirft.

Fassen wir zusammen: nunmehr ist es möglich geworden,


in allen Richtungen zu komponieren, d. h. den Eklektizis­
mus zu verallgemeinern, den vor kurzem die Seriellen noch
so derb - doch im Namen eines vernichtenden Purismus -
rügten. So ist es keineswegs zufällig, daß der Zufall so rasch
321
Bürgerrecht in der Musik erhalten hat und dabei gleichsam
das Hilfsgerüst der Aleatorik einriß: "Je größer die erreichte
Freiheit ist, desto wichtiger wird in einem bestimmten Stil
die Rolle des Zufalls für denjenigen, der ihn wahrnimmt -
und desto weniger unterscheidet sich dieser Stil von jedem
anderen. "25 Anders ausgedrückt, unterliegt die Musikge­
schichte, wenn nicht einem Kreislauf, so zumindest einer
Krümmung, einer Selb!tbeJchränkung: ihr "Fortschritt" ist bei
weitem nicht unbestimmt. Die Sinnlo!igkeit, die aus dieser
Selbstbeschränkung herrührt, wollen wir deshalb nicht
gleich für absurd erklären: "Es gibt", schrieb Jean Grenier,
"ein Aufgeben, das nur scheinbar ein Verzicht, in Wirklich­
keit aber ein Wechsel der Fronten ist. "26

Es ist aufschlußreich zu beobachten, wie ein John Cage -


der Initiator des Transzendentalismus, wenn es einen sol­
chen gibt - in seine Werke der fünfziger Jahre das Verfah­
ren der chance operation! eingeführt hat. Weit davon entfernt,
etwa Tafeln von zufällig sich ergebenden Zahlen (random
numbm) zu benutzen, wie es jeder x-beliebige Ingenieur
oder Physiker, jeder x-beliebige Experte von industrieller
Normung oder Musik von der Stange getan hätte, entschied
sich Cage dazu, alle Gestalten eines jeden Tons, auch die
Unterteilung in Ton und Stille, zu bezeichnen durch die
Befragung uralter Orakelfiguren: derer des Buch! der Wand­
lungen, des I-ching oder I Ging. Die Anweisungen dieses
Buchs gaben im alten China dem Fragenden keinerlei An­
laß zu irgendeiner Art von Anfechtung oder "Korrektur",
denn sie sollten - via Zufall - die Ordnung der Welt und die
Harmonie derselben offenbaren. Eine solche Auffassung -
die John Cage beerbt: er nimmt deren Geist in strengster
Weise wieder auf - schreibt dem Zufall eine sehr genaue
Aufgabe zu: weitläufige Begegnungen mit dem Werden a//
deJJen zu ermöglichen, WaJ iJt.

Um dies nachzuweisen, behelfen wir uns mit der ausführli­


chen Beschreibung des I Ging, die von den Übersetzern der
Arbeit des Grafen Shuzo Kuki, Le probleme de Ja contingence,27
vorgelegt wurde. Es geht darum, "den Sinn der 64 Figuren
festzulegen, die durch Losziehung von Schafgarbenstengeln
nach festgelegten Regeln sich ergeben können. Die 64 Figu-
322
ren werden durch 64 Hexagramme symbolisien, der Summe
aller möglichen Kombinationen von jeweils 6 mit 6 in zwei
Anen von Monogrammen. Das eine stellt dabei, aus einem
durchgehenden Strich gebildet, das männliche Element
Yang dar: _; das andere, aus einem unterbrochenen
Strich gebildet, stellt das weibliche Element Yin dar: _ _.
Jedes Monogramm wird im Chinesischen yao (im Japani­
schen ko) genannt, von einem Won abstammend, das die
etymologische Bedeutung von sich kreuzen hat. ( . ) Diese
. .

Elemente verdoppeln sich zunächst durch ihre Begegnung,


verdreifachen sich dann durch eine weitere Begegnung,
und die wechselseitigen Begegnungen der so gebildeten
Trigramme ergeben schließlich die Hexagramme. Das Prin­
zip eines solchen Werdens liegt in der Anziehung der Ge­
gensätze, des Männlichen und des Weiblichen, die eine Sta­
bilität unmöglich macht (daher auch die Bezeichnung
Wandlungen für die Dynamik des Universums). Daraus folgt,
daß die vollständige Ausreifung einer Gestalt ihre Verkeh­
rung ins Gegenteil hervorruft, woher die Bezeichnung ver­
lebt für die beiden Diagramme stammt, die gänzlich aus
demselben Element, dem Männlichen oder dem Weibli­
chen, zusammengesetzt sind. Weil sie im Begriff sind, in
ihr Gegenteil umzuschlagen, sind sie ,alt' und werden ster­
ben; hingegen erhalten das mit dem Stoff des Weiblichen
durchdrungene Männliche und das mit dem Stoff des
Männlichen durchdrungene Weibliche die Bezeichnung
frühreif; sie sind ,jung' und werden ihre Bildung vollenden,
wobei sie in den Zustand des vollständig Männlichen bzw.
Weiblichen übergehen, die jeweils gänzlich aus demselben
Element zusammengesetzt sind."

Das Yang und das Yin, _ und _ _ , begegnen sich


zufällig und bilden dabei das verlebte Männliche =
und das verlebte Weibliche = =, das junge Männliche
= und das junge Weibliche = 28. Da angenommen
wird, das Werden der Phänomene verlaufe dem der Figuren
parallel, vollziehen das Yang und das Yin dergestalt Erzeu­
gungsprozesse, die dem des Androgynen bei Platon homo­
log sind, wie Shuzo Kuki festgestellt hat. Platon aber geht
nicht "bis zur theoretischen Unterscheidung zwischen der
Vereinigung des Weiblichen mit dem Männlichen und der-
323
j enigen des Männlichen mit dem Weiblichen": er vergißt,
wenn man so sagen darf, den GynäkandroJ . , Ein Gedan­
.

kensprung, der ihm verbietet, die Erzeugung in der vom


I Ging eingeschlagenen Richtung fortzusetzen, d. h. die vier
Diagramme zu acht Trigrammen zu kombinieren - Him­
mel, Erde, Feuer, Wasser, Wind, Donner, Berg und See -
und diese wiederum zu 64 Hexagrammen, die ihrerseits in­
stabil sind, d. h. bei jeder Stäbchenziehung ineinander überge­
hen können.

Die Theorie der Wandlungen ist in Wirklichkeit eine Man­


tik, eine Wahrsagekunst. "Um den Sinn eines bestimmten
Ereignisses, eines Phänomens, eines Verhaltens, eines Au­
genblicks im Leben etc. vorherzusagen, bestimmt man
durch Losziehung das Hexagramm, das das entsprechende
Geschehen symbolisiert. Diese Losziehung läßt das Hexa­
gramm Linie für Linie erscheinen. Eine zweite Ziehung
legt fest, in welches Hexagramm sich das erste voraussicht­
lich verwandeln wird. Dergestalt erscheinen in den Dia­
grammen Wandlungen, symbolische Ausdrücke der kom­
menden Entwicklungen des betrachteten Geschehens."29

Der Mantik des I Ging zufolge ist alles nur Wandlung. So


verschieden aber die Abfolge dieser Wandlungen auch sein
mögen, und so mannigfaltig im Laufe der Jahrhunderte de­
ren Auslegungen sein konnten, die die unzähligen Kom­
mentatoren vorschlugen, so führen sie doch alle, trotz der
Instabilität jeder einzelnen Verwandlung, zum unumJtößli­
ehen Gelen der Begegnung überhaupt. Deshalb sind alle Kom­
mentatoren, die der Kürze halber sich auf die beiden ersten
Trigramme stützen, sich einig über ein und damlbe Schema,
mit der das Hervorströmen alles Seienden bezeichnet wer­
den kann - ein Schema, von dem Kuki einige beredte Bei­
spiele gibt: "Ohne die Begegnung von Himmel und Erde
tauchte kein Lebewesen auf"; "weil die Theorie der Wandlun­
gen sich Himmel und Erde unterwirft, lenkt sie alle Vor­
kommnisse irdisch-himmlischer Fügung"; "die Begegnung
von Himmel und Erde erschafft den Kosmos aller Wesen in
seinem Glanz"; "die Emanationen von Himmel und Erde
bringen alle Wesen hervor, die Samenelemente des Männli­
chen und Weiblichen erzeugen alle Lebewesen"3o.
324
Kommentiert ein Werk wie die MUfic 0/ Change! für Klavier
von John Cage, das ausschließlich nach der Mantik des
I Ging kombiniert ist, nicht seinerseits - selbstverständlich
auf seine, auf keine andere reduzierbare Weise - die ver­
wandelnde Begegnung par excellence, diejenige von Himmel
und Erde? Was aber heißt "kommentieren", wenn nicht teil­
haben an ' " indem (noch einmal) daf Spiel de! . . . ge!pielt wird? Ist
die Mantik des I Ging nicht von ihrer Struktur her dazu be­
ftimmt, in der gehaltiofen Semantik einer solchen Musik wie­
der aufzukommen? Gerade insofern sich diese - nach ei­
nem Ausdruck von Chuang-tzu - als "Musik von Himmel
und Erde" ereignet, umfaßt, umhüllt und verschmilzt sie al­
le!, was augenblicklich im Begriff ift 'l.II enwehen, d. h. in jedem
Augenblick.

Das Band zwischen Musik und Welt, ein zeitliches Band


zumal, ist eine Tätigkeit, eine gewisse Lesart des Buches
der Welt, das das I Ging "ist". Weil jedoch die Wandlungen
sich im I Ging von selbst ineinanderfügen und verketten, ist
diese Lesart ebensowohl pa.f.fiv wie aktiv: sie stammt von
jenem handelnden Nichthandeln ab, das die taoistischen Den­
ker unter dem Namen wu wei beschreiben. Hiermit wird die
Theorie des "Nicht-Eingreifens" seitens des Komponisten
gerechtfertigt: die Urpartitur, auf die alle anderen Partitu­
ren verweisen, die "unbestimmt sind, was deren Ausfüh­
rung anbelangt", der Urtext (im Original deutsch), auf den
er sich bezieht, die Sage (im Original deutsch) oder Saga,
die er durch seinen Mund sich ausdrücken läßt, obwohl er
selbst stumm bleibt - das ist das I Ging.

Es wird nun unumgänglich, wie R. G. H. Siu gesehen hat,


den Begriff der Partitur zu erweitern. "Wenn eine Hexa­
grammlinie ein bestimmtes Ereignis im Leben darstellt,
kann sie einer Note in einer Melodie verglichen werden.
Die Note an sich besitzt zumindest zwei Möglichkeiten.
Isoliert man sie aus ihrem Zusammenhang, läßt sie eine
festgelegte Frequenz von soundsoviel Vibrationen pro Se­
kunde und einer bestimmten Höhe erscheinen. Ist sie aber
wieder in die Musik eingegliedert, zu der sie gehört, tritt
ein nicht minder wichtiger Gesichtspunkt zutage : im Gan­
zen des vom Orchester Dargebotenen verliert sie ihre Indi-
325
vidualität. Ihre Durchlässigkeit (pervasiveness) erhält ihren
vollen Sinn. Ihre tatsächliche Wirkung bestimmt sich durch
die Assoziation mit den anderen Noten - auch mit den
Nichtnoten - durch die Tatsache, daß sie auf diesem oder
jenem besonderen Instrument gespielt wird, durch ihre
Stellung innerhalb des rhythmischen Schemas und durch
viele andere Faktoren mehr. So ist eben das Musikleben.
Die Hexagramme des I Ging können als eine allumfassende
Serie psychischer Notationen aufgefaßt werden, welche das
ganze Spektrum menschlicher Reaktionen abdeckt."31 We­
der magisch noch mystisch, ist das I Ging wie eine Partitur
zu benutzen, die selbst im Werden ist, wie ein sconng-JYJtem,
das uns helfen kann, uns in die "unaussprechlichen Rhyth­
men des Universums" einzuschalten (to plug). Damit vertie­
fen wir die wechselseitigen Beziehungen zwischen dem,
was war, dem, was ist, und dem, was sein wird, und bringen
so die drei Zeitdimensionen in einem Bündel von Gleich­
Zeitigkeit zusammen.

Eine Musik "von Himmel und Erde", welche die Utopie der
Pantonalität durch die potentielle Aufnahme aller entstehen­
den Töne und Geräusche vollendet, die Musik, die dem Zu­
fall der verwandelnden Begegnungen des I Ging gehorcht,
ist somit zugleich - nach dem Vokabular von Christian
Wolff - eine Musik der Nulheit. Denn ebenso wie mit dem
Tarot eine "universelle Sprache von Bildern" gegeben wird,
deren jedes uns etwas über unsere Vergangenheit und un­
sere Zukunft sagt, führt auch das Aufzeichnen der Hexa­
gramme uns ins Innerste des Wandels ein: jede der Figuren,
"ob als isolierte oder in Kombination mit anderen, eröffnet
einen Ausblick auf die Zukunft"32. Eine solche Poetik be­
rührt sich mit derjenigen des zauberhaften Malers und
Denkers der chinesischen Malerei, Shi-Tao: der "einmalige
Pinselstrich", mit dem der Künstler sein Werk beginnt und
vollendet, ist der erste Strich des I Ging, das Ziehen des
Yang, die durchgehende Unie, die am Beginn aller Hexa­
gramme liegt. Die Geste des Malers erfindet eine Welt.33
Daß heute nun ein Musiker kommt und den Maler nach­
ahmt, zeigt, daß die Welt sich weiter erschafft und das Le­
ben weitersprudelt . . . Sollte es verwundern, wenn das
I Ging eine frühe Musik ist, wie es eine frühe Malerei gab?
326
Hier wie don stellen die Spiele des Zufalls keinesweg die
höchste Harmonie infrage: ganz im Gegenteil sie machen diese
aus.

Mit diesem Rückgriff auf eine tausendjährige Kosmogonie


haben wir uns offenbar weit entfernt von den allgemeinen
Erfordernissen der Moderne und den besonderen der Wissen­
schaft - der Wissenschaft, auf die gleichwohl das Thema
der "Unbestimmbarkeit" verwies, die der Musik der "Unbe­
stimmtheit" eigen war, wie metaphorisch dieser Verweis
auch immer gewesen sein mag . . .

Dennoch brachten zu der Zeit, in der Shi-Tao schrieb, näm­


lich Anfang des 18. Jahrhundens, jesuitische Missionare das
I Ging zu Leibniz; und dieser entdeckte eine seltsame, aber
sichere Verwandtschaft zwischen der linearen "natürlichen"
Ordnung in der Ableitung der Hexagramme und der binä­
ren Zahlensystematik, die er gerade entwickelt hatte. Denn
dem ersten Hexagramm kann man leicht die Abkürzung
000 000 entsprechen lassen; dem zweiten 000 001 ; dem drit­
ten 000 010; und so fon . . . Eine solche Homologie, wird
man sagen, verdient Beachtung; sie offenban allerdings
nichts weiter als die Koinzidenz zwischen einer Kombina­
torik und einem Rechenmodell, welches sich nicht umsonst
als "universell" darstellt. Trotzdem gab Marcel Granet, der
1934 den "wissenschaftlichen" Wen des ,,(scheinbar) nur
auf der Erfahrung beruhenden Wissens der Chinesen" und
die "pädagogischen Vorzüge der Vorstellung einer Wand­
lung" untersuchte, eine differenziertere Beurteilung ab:
"Man hat sich über jenen chinesischen Denker über Ge­
bühr lustig gemacht, der mitten im 19. Jahrhunden, aller­
dings aus nationalistischen Gefühlen heraus, die Behaup­
tung aufstellte, daß mit den Entdeckungen der westlichen
Wissenschaften vergleichbare Einsichten im Keime im
I-ching gegeben seien."34

Kehren wir jetzt zur Musik zurück. John Cage fiel nun ei­
nes Tages die Ähnlichkeit zwischen den hexagrammati­
schen Strukturen, die er täglich benutzte, und denen des
Codes der Molekulargenetik auf, die in den sechziger Jah­
ren von Crick entwickelt worden war. Er teilte dies Gun-
327
ther Stent mit, selbst ein Biologe von Ruf. Dieser unter­
nahm mit Hilfe von Harvey Bialy eine vergleichende
Forschung, die zur Feststellung verwirrender Entsprechun­
gen führen sollte. Das Wesentliche davon ist Folgendes,
dargeboten in einer Ausdrucksweise allerdings, deren tech­
nischer Charakter den Laien gewiß abschrecken wird, deren
Bedeutsamkeit jedoch gewürdigt werden darf: "Setzt man
das Yang (das männliche oder lichte Prinzip) den Purinba­
sen und das Yin (das weibliche oder dunkle Prinzip) den
Pyrimidinbasen gleich, und zwar dergestalt, daß das alte
Yang und das alte Yin dem Komplementärpaar von Adenin
(A) und Thymin (T) entsprechen, und das neue Yang und
das neue Yin dem Komplementärpaar von Guanin (G) und
Cytosin (C), dann stellt jedes der 64 Hexagramme ein Co­
don von Nukleotidtriplets dar. Auf diese Weise bringt die
,natürliche' Ordnung des I Ging ein Tableau des geneti­
schen Codes hervor, in dem eine Vielzahl von genetischen
Relationen der Codons erscheint, welche in der Klassifika­
tion von Crick manifest sind. "35

An diesem Punkt muß man unbedingt nachfragen. Es geht


noch an, daß das I Ging, das eine ziemlich elementare Kom­
binatorik in ein Gewebe von Orakeln hüllt, die Musiker zur
radikalen Unbestimmtheit verfühn: letztere finden darin et­
was, womit sie einerseits ihre Sorge beruhigen können, in
die einfache "Aleatorik" zurückzufallen, andererseits das,
was George Bataille ihren "Willen zum Glück" genannt
hätte. Wie soll man aber interpretieren, daß die Hexagram­
matik - auf eine Weise, die exakt genug ist, um die offi­
zielle Wissenschaft sich ihrer bemächtigen zu lassen - mit
den jüngsten Ergebnissen einer so spitzfindigen und "posi­
tiven" Wissenschaft wie der Molekularbiologie verglichen
werden kann? - Die Antwon von Gunther Stent: die wis­
senschaftliche Reaktualisierung von Verfahren wie dem des
I Ging wird durchaus erklärbar, wenn man an den geJChloJJe­
nen Charakter der Systematik der Hexagramme denkt und
daran, daß die Molekularbiologie sich ausschließlich der Be­
schreibung einer Gesamtheit von Prozessen widmet, die iieh
Jelbit bnchränken36• Die Unendlichkeit der verwandelnden
Begegnungen, die in beiden Fällen gleichermaßen vorliegt,
wird davon keineswegs becühn: die Verlaufskurve der Kon-
328
figurationen des I Ging nämlich, ihre Endlichkeit gewisser­
maßen, die der einmalige Pinselstrich symbolisiert, trifft
sich mit der Verlaufskurve der Disziplin, deren Ziel, "die
Kenntnis des Übertragungsmechanismus der Erbinforma­
tion", nach Meinung des Experten "fast erreicht ist". Mit an­
deren Worten haben wir es hierbei mit einer Wissenschaft
zu tun, die an ihre "inneren Grenzen" gestoßen ist. Dieser
Ausdruck zielt keineswegs darauf ab, wie es z. B. bei einem
Auguste Comte der Fall war, der zur Debatte stehenden
Wissenschaft Bedingungen zu stellen, sie in ein Netz von
Verboten einzuzwängen, kurz: ihren Zuständigkeitsbereich
im Namen irgendeines a priori festzulegen. Vielmehr ist da­
mit gemeint, daß man die Grenzen festhält, "die der Anhäu­
fung möglicher Interpretationen von Phänomenen der Au­
ßenwelt gesetzt sind". Heidegger behauptet einmal, daß die
Wahrheit der Geschichte oder der Chemie letztendlich we­
der dem Historiker noch dem Chemiker gehörte, weil diese
Wissenschaftler nicht das Gegebene zu untersuchen brau­
chen, das positum, auf dessen Grund sie ihre Fähigkeiten aus­
üben. Diese Behauptung klingt gewiß auch in Folgendem
durch: "Die Geographie z. B. ist begrenzt, weil ihr Gegen­
stand, die Beschreibung der Erde, deutlich abgegrenzt ist.
Wenn die Unmenge von bestehenden topographischen und
demographischen Einzelheiten in ihrer Gesamtheit nicht
beschreibbar ist, so ist gleichwohl offenbar, daß man von
diesen Einzelheiten schließlich nur eine begrenzte Menge
bedeutsamer Beziehungen abstrahieren kann."37

Wenn dem so ist, dann läßt sich etwas herauslesen und gibt
Stoff zum Nachdenken: die verblüffende Ähnlichkeit zwi­
schen dem gegenwärtigen Stand der Musik und dem gegenwärtigen
Stand der Wissenschaft. Sie ist so stark, daß man sich mit
Gunther Stent zu fragen hat, ob die Wissenschaft nicht "das
Vernehmen der Musik der Natur"38 sei. Mit dem I Ging zu­
mal als Scharnier . . .

Die Schlüsselfrage ist nicht neu: gibt es Wissenschaft nur


vom Allgemeinen? Nach der akademischen - wenn man so
will, aristotelischen - Sichtweise, die noch immer unsere
Episteme beherrscht, kann die wissenschaftliche Forschung,
seitdem sie sich vorzugsweise auf die Entdeckung von Ge-
329
setzen und Strukturen wirft, die Untersuchung der Phäno­
mene in ihrem einmaligen Vorkommen nur beiseite lassen.
"Tatsächlich hat eine Gesamtheit einmaliger Phänomene
keinen gemeinsamen Nenner, und es gibt nichts zu erklären;
dergleichen Phänomene stammen vom Zufall ab, und der
Beobachter nimmt sie als ,parasitäre Geräusche' wahr. Weil
nun aber jedes wirkliche Phänomen ein Element von einma­
ligem Charakter einschließt, enthält jede Gesamtheit wirkli­
cher Phänomene ein bestimmtes ,parasitäres Geräusch'. Das
Problem der Wahrnehmung ist folglich dem anderen formal
analog, die Bedeutung einer Tonfolge in der nicht transzen­
dentalistischen Musik zu erkennen."39 Erinnern wir demge­
genüber an Folgendes: wenn die traditionelle oder "klassi­
sche" Musik darauf aufbaut, daß die Beständigkeit eines
Signals bzw. dessen Identität mit sich selbst auf einem Hin­
tergrund parasitärer Geräusche wiedererkannt wird, so zielt
die "transzendentalistische" Musik darauf ab, sich von jegli­
cher Unterordnung unter die Ideologie der "Kommunika­
tion" zu befreien. Es zählt nun allein die einmalige Erfah­
rung des hic et nunc, diesseits aller Strukturierung und
logischen oder auch nur intellektuellen Extrapolation, was
die sukzessive Anordnung des Kommenden angeht. Daraus
folgt, daß die Unterscheidung zwischen Gestalt und Grund
oder zwischen Signal und parasitärem Geräusch allmählich
zweifelhaft wird oder sich zumindest verwischt: die Klang­
sequenzen gelten nicht durch den Anspruch ihrer Versteh­
barkeit, sondern durch das Vorspringende ihrer Gegenwär­
tigkeit; sie haben nichts mitzuteilen; sie sagen das Nichts.
Aber indem sie dies tun, sagen sie "sich" selbst als reine
Spielräume, als reine Felder von Zeitlichkeit. Man könnte
sie also in Verbindung mit einem narrativen oder rezitieren­
den Diskurstyp bringen, analog zur "Narratologie", wie sie
Jean-Franr,:ois Lyotard beschreibt; allerdings unter der Be­
dingung, daß nichts rezitiert oder erzählt wird - es sei denn
das Hereinbrechen eines reinen Zeitspielraums (im Origi­
nal deutsch), eines Zeitraumes des Spiels, dessen stumme
und brüllende Sage sie sind. Unter diesen Bedingungen
sind sie imstande, in dieser ihrer Bewegung mit bestimm­
ten Randzonen des wissenschaftlichen Wissens zusammen­
zutreffen, die nicht performativ (als Übersetzung von: wo
das wu wei herrscht . . . ) sind: mit jenen Randzonen, die
330
nach dem Vokabular Lyotards40 als instabil gelten, und im
Namen derer ein Rene Thom oder ein Benoit Mandel­
brot die Lanze für eine Epistemologie des Unregelmäßigen bre­
chen.

Denken wir an das, was uns z. B. die Geographie erbrachte:


das Bild eines "parasitären" Überflusses von Einzelheiten
und damit das Versprechen einer unbegrenzten Aufgabe,
ohne die geringste Garantie, daß eines Tages mit dem
Wuchern kleiner Ungewißheiten Schluß wäre. Wenn Man­
delbrot in seiner Arbeit über die Objets /ractalll den nicht­
meßbaren Küstenverlauf der Bretagne untersucht, trifft dann
sein Bestreben nicht mit demjenigen, nicht minder "geogra­
phischen", jenes Land bzw. Earth artist zusammen, dem es
zur gleichen Zeit darum zu tun war, einen Teil der australi­
schen Küsten in ein paar Kilometer Cellophan einzupak­
ken? Und wenn er bezüglich der Verteilungen Paretos auf
die "Unbestimmtheit des zweiten Stadiums" kommt, stellt
er sich ein parasitäres Geräusch vor, das sich keiner Signalisie
rungfügt. Bis jetzt ermöglichen nun die statistischen Vertei­
lungen, die Konvergenz der Beobachtungen gegen Grenzen
zu erweisen, welche mit Hilfe klassischer Bestimmungsana­
lysen jestgestellt werden können; die "nach der Wahrscheinlich­
keitsrechnung vorgehenden" Musiken von Xenakis entspre­
chen solchen Anforderungen. Was geschieht aber, wenn
"der Mittelwert einer Beobachtungsserie sich nur sehr lang­
sam oder überhaupt nicht gegen eine Grenze entwickelt"42?
In diesem Falle ist es unmöglich, mit Sicherheit zu bestim­
men, "ob die Struktur, die der Beobachter wahrgenommen
zu haben glaubt, eine wirkliche oder eine bloße Schöpfung
seiner Einbildungskraft ist": genauso verhält es sich mit den
Unterteilungen Paretos, bei denen nichts gewährleistet, daß
ihre Strukturen nicht Wirkung des Zufalls sind.

Tritt Xenakis' Musik der "Unbestimmbarkeit des zweiten


Stadiums" entgegen? Dies darf bezweifelt werden und
-

darin liegt der Unterschied zu Cage. Anfangs haben wir den


"Aufstieg" des Rausehens zum Signal erwähnt, was nicht nur
die Ansprüche, sondern auch die beim Xenakis von Pitho­
prakta z. B. tatsächlich erreichten Ergebnisse kennzeichnet.
Ist aber ein solcher Aufstieg nicht an sich verdächtig? Wird
331
das Signal gewordene Rauschen sich nicht automatisch Zur
Form verkehren, zur Form, die ein Rauschen nachdfft? Mit einer
Art von umgekehrtem Neoplatonismus bevorzugt man nun­
mehr den Hintergrund - aber das platonische Schema der
Imitation bzw. Kopie eines transzendenten Modells bleibt
durchaus erhalten. Der wahrhafte Einsatz wäre das Formge­
rdusch: "ins Nichts zu gehen, indem man die Existenz über­
fließen läßt", schrieb Shuzo Kuki, "das liegt im Kern der
Vorstellung vom Transzendieren der Form, keijijo, in der
Metaphysik, keiji-jogaku"43. Muß eine Musik, die "die Form
transzendiert", nicht eine "transzendentalistische" Musik
sein? Eine "metaphysische" Musik im Sinne des Gegensat­
zes zu Musiken, die sich der Wahrscheinlichkeitsrechnung
bedienen und die Musiken von Physikern bleiben.

Wie "metaphysisch" auch immer, neigt die Musik der Unbe­


stimmtheit doch gleichfalls dazu, das Experimentenprotokoll
im Sinne der Epistemologien des Unregelmäßigen und die
ExperimentaJmusik in der Auffassung von Cage miteinander
verschmelzen zu lassen. Darin kann man zweifellos eine
Schwächung des Realitätsprinzips sehen; weshalb aber
sollte die Verwendung des Sonars zur Verbesserung des
Orientierungssinns bei Blinden nicht wie in Vespers von Al­
vin Luder die Veranlassung zu einem musikalischen Werk
abgeben? Befürchtet man, daß die so überaus musikalischen
Blinden deshalb das Laufen vergäßen? Alle Zimmer, die
Chambers von Alvin Lucier44 beschreibt, bestätigen auf be­
wundernswerte Weise die Hypothese von "einer großen
formalen Ähnlichkeit zwischen der wertfreien Semantik der
transzendentalistischen Kunst und der ungewissen Episte­
mologie der Unbestimmbarkeit des zweiten Stadiums in der
Wissenschaft. In beiden Fällen ist der Beobachter mehr
oder weniger sich selbst überlassen, um seine Erfahrung
nach Gutdünken zu interpretieren."45 Weshalb könnte eine
Studie der "Geräuschböen" in einer Telefonverbindung
nicht in analoger Weise als MaiJ Art aufgefaßt werden? Und
sollte umgekehrt das Band des Running Fence von Christo
nicht verlängert werden - wenn man so sagen darf . . . -
und eine Prüfung "fractalen" Typs der Unterteilung in Li­
nien und Oberflächen veranlassen?

332
Anders ausgedrückt: wenn die Entwicklung der System­
theorie dank der Arbeiten von Heinz von Foerster dazu gefühn
hat, die Vorstellung der Erzeugung einer Ordnung durch eine
andere zu ersetzen durch diejenige der Herstellung einer
Ordnung aus Ge-Räuschen, das order/rom orderprinciple durch
ein order/rom noiJe principle zu ersetzen, dann muß das Werk
mit einer Chreode Waddingtons verglichen werden: mit ei­
ner "lebenden", mit sich selbst in Wechselbeziehung stehen­
den Gesamtheit von der An eines "offenen Systems", welche
die Geräusche der Umgebung nicht abweist, sondern sie
in die Falle zu locken und sich einzuverleiben weiß. So wird
das Kriterium der "Moderne" einer Musik, wie es John Cage
aufgestellt hat, in ihrer Fähigkeit liegen, Störungen zu inte­
grieren. Oder darin, Geräusche in die Falle zu 10cken.46

Das schließt eine fantastische Inflation des Sensorischen,


um nicht zu sagen der Sinnlichkeit, ein - eine Inflation, die
natürlich bedingt ist durch die Befreiung von allen Ansprü­
chen, performativ zu sein, in den Künsten wie in den Wis­
senschaften. Die "Postmoderne" sollte in der Verallgemei­
nerung des happenings bestehen - ohne daß etwas von den
künstlerischen Aktivitäten der Vergangenheit verloren­
ginge. Der Lehre des I Ging entsprechend würde es somit
möglich, das order /rom noiJe principle in ein noiJe /rom order
principle
umzukehren: ein "Prinzip" zu erhalten, daß jeder
Vorstellung von Prinzip den Rücken kehn. Die auf die
Ordnung folgenden Geräusche bedeuten nicht notwendig
den Tod der Kunst, noch den Tod einer Kunst, sondern die
Verzweigung der Harmonie des Ganzen in zehntausend lo­
kale Zufälle; und Zufall meint Lust. Der Titel eines kürzlich
erschienenen Buches, John Cage oder Die Musik iJt los, ver­
weist nicht auf das Ende der Musik, sondern auf ihre End­
lichkeit47: am Ende ihrer Bedeutungsmöglichkeiten ange­
kommen, eröffnet die Musik sich der Freude, dem Genuß.
Wie die Wissenschaft. So ist nichts beendet, alles ist unbe­
stimmt: alles beginnt jeden Tag neu.

1 Shuzo Kuki, Le probleme de ta contingence, Tokio 1966, S. 3. Ge­


dankt sei hier Herrn Uon Vandeermersch, der uns freundlich
auf diese Arbeit hinwies.

333
2 Jean Grenier, "Hasard et creation", in: EmziJ Jur Ia peinture con-
temporaine, Paris 1959, S. 198.
3 Jean Grenier, a. a. O. ebenda.
4 Jean Grenier, a. a. O. S. 199.
5 Jean Grenier, a. a. O. ebenda.
6 Denis Levaillant, L'improviJation mUJica/e, Paris 1981, S. 43 f.
7 Denis Levaillant, a. a. O. S. 43.
8 Ebenda.
9 Leonard B. Meyer, MUJic, the Am, and IdeaJ, Chicago 1967, S. 1 1 .
10 Gunther Stent, L'avenement de rage d'or, Paris 1973, S . 127f.
1 1 Gunther Stent, a . a. O . S . 128.
12 A. a. O. S. 128f.
13 A. a. O. S. 129.
14 Vgl. Henri Pousseur, FragmentJ thioriqunIJur Ia mUJique experi­
mentale, Brusse1 1970, S. 54; und Denis Levaillant, a. a. O. S. 44.
15 Gunther Stent, a. a. O. S. 133.
16 Wir entlehnen diesen Begriff bei Heinz-Klaus Metzger, MUJik
wozu, Frankfurt am Main 1980, S. 126.
17 Jean Grenier, a. a. O. S. 203.
18 Vgl. Alfred North Whitehead, ModeJ of Thought, zitiert nach
Leonard Meyer, a. a. O. S. 82.
19 Vgl. David J. Kalupahana, GauJa/ity: The Gentra/ PhiloJophy of
BuddhiJm, Hawai 1975.
20 Vgl. Chang Chung-Yuan, Tao: A New Way of Thinking, New
York 1975.
21 Gunther Stent, a. a. O. S. 134.
22 Leonard Meyer, a. a. O. S. 98, 172, 187.
23 Le Monde, Dienstag, 19. September 1981, S. 19.
24 Gunther Stent, a. a. O. S. 140.
25 Gunther Stent, a. a. O. S. 123.
26 Jean Grenier, a. a. O. S. 202.
27 Shuzo Kuki, a. a. O. S. 88f., Anmerkungen 32 und 34.
28 Vgl. das Ende der Anmerkung 34 in Shuzo Kukis Buch; die
Veränderungen oder Wandlungen setzten sich von unten nach
oben fort: die untere linie schreibt die Interpretation des
Symbols vor.
29 Shuzo Kuki, a. a. O. S. 90, Anmerkung 36.
30 Zitiert nach Shuzo Kuki, a. a. O. S. 90 und 93.
31 R. G. H. Siu, The Man ofmany Qua/itieJ, zitiert nach Lawrence
Halprin, Tbe RSVP GyeleJ, Greative ProceJJeJ in the Human Environ­
ment, New York 1969, S. 23.
32 Lawrence Halprin, a. a. O. ebenda.
33 Shi-Tao, PropoJ Ia peinture.
34 Marcel Granet, DaJ cbineJiJche Denken, München 1963, S. 356,
Anmerkung 73.

334
35 Gunther Stent. a. a. O. S. 77.
36 Vgl. in der Arbeit Stents die Anmerkung von Catherine Bour-
det. S. XIV; und die Seite n 109. 110. 117. 124. 142.
37 Gunther Stent. a. a. O. S. 142.
38 Ebenda S. 149.
39 Ebenda S. 150.
40 Jean-Fran�ois Lyotard. Dal pOltmoderne Wimn> Bremen 1982.
S. 101 ff.
41 Benoit Mandelbrot. Die fraktale Geometrie der Natur. Basel,
Boston 1987. S. 18 ff.
42 Gunther Stent. a. a. O. S. 153.
43 Shuzo Kuki. a. a. O. S. 3.
44 Middletown. Connecticut. 1980.
45 Gunther Stent. a. a. O. S. 157.
46 John Cage. in: C. H. Waddington (Hrsg). Biology and the HiJtory
0/ the Future, Edinburgh 1972. S. 58.
47 Daniel Charles. John Gage oder Die MUlik ill 101, Berlin (West)
1979.

Au! dem Franzö!iJchen von Marianne Karbe


D A N I E L C HARLES
John Cage

CAGE, John, amerikanischer Komponist, geboren am 15. 9.


1912 in Los Angeles. Sohn des berühmten Erfinders John
Milton Cage, nach dessen Plänen das Unterseeboot gebaut
wurde, welches gerade im Jahre 1912 an einem Freitag dem
13. mit 13 Personen an Bord den Weltrekord von 13 Stun­
den unter Wasser aufstellte. John Cage war ein brillanter
Gymnasiast. Nachdem er zuerst mit seiner Tante Phoebe,
dann mit der Komponistin Miss Fannie Charles Dillon, de­
ren Werke Transskriptionen von Vogelgesängen beinhalte­
ten, Klavier geübt hatte, plante er eine Zeitlang, sein Leben
der Interpretation von Partituren Griegs zu widmen. Er
dachte auch daran, Pastor zu werden, und schließlich sogar
an eine literarische Karriere. Nach seiner Ankunft 1930 in
Paris beginnt er dort Architektur zu studieren. Er gibt dies
auf, als sein Lehrer, Goldfinger, ihm rät, sein gesamtes Le­
ben der Architektur zu widmen. Er interessiert sich nun für
Malerei. Dann aber, nach zwei Piano-Lektionen von Lazare
Levy, die ihm den Zugang zu Bach eröffnen, und nach ei­
nem Konzert von John Kirkpatrick, das ihm die moderne
Musik eröffnet, wendet er sich der Musik zu. Seine ersten
Versuche als Komponist macht er noch 1930 während sei­
nes Aufenthaltes auf Mallorca: mit Hilfe eines eigenen ma­
thematischen Systems bemüht er sich, die Genauigkeit
Bachs zu erzielen - doch er läßt keines der so geschaffenen
Werke überleben. Zurück in den USA, findet Cage keinen
anderen Broterwerb, als Einführungen in die zeitgenössi­
sche Musik und Malerei zu geben. Um mehr über Schön­
berg zu erfahren, sucht er den Pianisten Richard Bühlig auf,
der ihn als Schüler annimmt. Er erfindet eine serielle Me­
thode von 2 mal 25 Halbtönen und hält sich streng an das
Axiom der Nicht-Wiederholung eines Tones, bevor nicht
alle Töne der gleichen Gruppe gespielt worden sind. Er legt
seine Kompositionen von 1933 ("Six Short Inventions", "So­
nata for Two Voices", "Sonata for Clarinet") Henry Cowell
vor, dessen Aufmerksamkeit sie erregen. John wird Schüler
von Cowell und Adolph Weiss in New York, und es ist
Adolph Weiss, der ihn 1934 Schönberg empfiehlt.

336
In dieser Zeit begegnet er Fischinger, der abstraktes Kino
macht und ihn mit einer Filmmusik beauftragt. John Cage
ist fasziniert von Fischinger s Idee, ein Ton sei die Seele eines
unbelebten Objektes. Die Harmonie-Lehre Schönbergs besteht
nun darin, Töne zu verbinden, und die dodekaphonische
Methode, welche die zwölf Halbtöne des temperierten Kla­
viers "untereinander" verbindet, kann wohl als Alternative
zur Tonalität dienen, aber in beiden Fällen wird die Natur
dessen, was da verbunden wird, als schon erworben be­
trachtet - es dreht sich immer nur darum, die "musikali­
schen" Töne, die zuvor sortiert, gefiltert und desinfiziert
worden sind, aneinanderzuhängen. Die Töne werden dabei
nicht gefragt, was sie vor der Kultur sind, werden nicht für
sich selbst gehört, nicht wegen ihrer Eigentümlichkeit: sie
werden nicht wegen ihrer Tonqualität gehört. Wie Van!se,
so wendet sich auch der junge Cage dem Schlagzeug zu. Er
gründet ein Orchester von Schlagzeugern und läßt seine
Werke spielen. Aber während der Varese von 1931 ("Ionisa­
tion") der traditionell rhythmischen Bestimmung des Schlag­
zeugs treu bleibt, entsprechen die Rhythmen der Komposi­
. tion für Schlagzeug des jungen Cage schon nicht mehr der
Sorge um Periodisierung der klanglichen Ergiebigkeit des
Materials. Ihm geht es vielmehr darum, jeder Klangquelle -
ob instrumental oder extra-instrumental : alles kann schließ­
lich Klangquelle werden - das Maximum dessen abzuge­
winnen, was sie irgendwie abgeben kann. Cage komponiert
nicht "für" dieses oder jenes Instrument - er geht darauf
aus, das Klangpotential, das in jedem Instrument oder Ob­
jekt latent vorhanden ist, in Bewegung zu bringen, das heißt,
eine Materie zu beleben, sie gemäß ihren eigenen Möglichkei­
ten und nicht gemäß dem, was man ihr an Beziehungen auf­
zwingt, klingen und widerklingen zu lassen. Er ist auf ein
empirisches - und als solches auch unbegrenztes - For­
schen aus, das die ererbten rhythmischen Rahmen zum Zer­
springen bringt. Um z. B. dem Wasserballett der Universität
von Los Angeles zu ermöglichen, die Musik zu hören, die
seine Bewegungen leiten soll, kommt Cage auf die Idee, die
Instrumente ins Wasser zu tauchen und erfindet somit den
water gong. Worauf es dabei ankommt, ist nicht, das glis­
sando eines untergetauchten Gongs in ein vorbestimmtes
metrisches Raster zu bringen, sondern das glissando als sol-

337
ches hören zu lassen. Das Raster wird in diesem Sinne epi­
dermisch.

Im Jahre 1937 wird Cage eine Stelle als Komponist und Be­
gleiter der Tanzklasse von Bonnie Bird an der Cornish
School von Seattle angeboten. Zugleich kann er die Experi­
mente mit seinem Schlagzeugorchester fortsetzen und aus­
bauen. Von 1937 datiert die berühmte "First Construction
(in Metall)" für Gamelang, Blechplatten, Teile von Auto­
bremsen usw. . . . ; und aus dem gleichen Jahre datiert der
prophetische Text "Credo", in welchem John Cage die
Schaffung von Studios für "experimentelle" Musik fordert,
wo ohne jede Bezugnahme auf die Harmonie "elektrische"
Methoden zur Produktion von Tönen entwickelt werden
sollen. Im Herbst 1938 wird Cage mit der Begleitmusik für
ein Ballett von Syvilla Fort, dem "Bacchanale", beauftragt.
Der Orchestergraben ist zu klein für die vom Musiker vor­
gesehene Ausbreitung des Schlagzeugorchesters. Da erin­
nert er sich an einige Experimente seines Lehrers Henry
Cowell, der Stopfeier unter die Saiten des Klaviers steckte,
und machte so das Klavier zum Schlagzeug. Er präpariert es,
indem er verschiedene Objekte zwischen die Saiten steckt,
was den Klang und die Resonanzen umwirft und die "fla­
chen" Töne des Klaviers sich auf unvorhersehbare Weise
verirren läßt: der eine Anschlag ist imstande, eine Traube
von Clusters auszulösen, jener andere leitet zu den Schlägen
eines Gamelangs über . . . Die Erfindung des präparierten
Klaviers wird sehr bald berühmt; sie reiht sich nicht nur in
die Linie einer kunstfertigen Subversion des Instrumentes
ein, sondern sie führt auch zu einer Überprüfung der ver­
schiedenen Verfahren der Notierung, da die Partitur nicht
mehr den zu erreichenden Effekt, sondern nun das Proto­
koll zu seiner Erreichung anzeigt. Der Interpret kann beim
Spielen das klangliche Ergebnis als solches nicht mehr vor­
hersehen, und der Weg zur Notierung von Aktionen ist of­
fen. Dank dessen lockern sich die traditionellen Kausal-Be­
ziehungen Komponist-Interpret-Hörer und lassen die
Machtgelüste des allmächtigen Künstlers nach: es ist dies
die erste Attacke gegen die zugleich romantische (oder
nachromantische ) und positivistische (oder scientistische
oder serielle) Ideologie der Exaktheit.

338
Im Jahre 1939 entsteht das erste Werk elektronischer Mu­
sik, das je komponiert wurde: "Imaginary Landscape nr. 1"
für zwei Plattenspieler mit veränderbarer Geschwindigkeit,
Aufnahmen von Sinus-Tönen verschiedener Frequenz,
Piano und Becken. Schon mit dieser Partitur ist die live elec­
tronic music praktisch erfunden: von Varese, der die "kalte"
Arbeit im Studio sucht, und ebenso von der überwiegenden
Mehrzahl der "konkreten" oder "elektronischen" Nach­
kriegsmusiker Europas sich absetzend, schlägt Cage vor, die
elektronischen Manipulationen heiß, im Konzert, im Mo­
ment der Ausführung zu verwirklichen. Wenn man auf sei­
nem kritischen Aspekt besteht, kann dieser Pragmatismus
des hic et nunc wie eine Herausforderung gegenüber jeder
Art von Vorfertigung erscheinen, wie eine Aufforderung,
sich doch nicht mit im Vorhinein festgelegten Musiken zu­
friedenzustellen, ja sich all dieser musikalischen "Konfek­
tion" zu entledigen. Positiv ausgedrückt besteht sein Telos
in der Forderung, den ausgeklügelsten musikalischen Akt -
denjenigen, der sich des gedanklichen und technischen In­
strumentarismus der "fortgeschrittenen" Industriegesell­
schaft bedient - in seinem effektiven, punktuellen, augen­
blicklichen Kontext wiederherzustellen. Davon zeugen die
Environnementwerke, die "ökologischen" Werke der vierzi­
ger Jahre: die "living Room Music" für Schlagzeug und das
"Speech Quartet", in dem "alle Schlaginstrumente, die man
in einem Aufenthaltsraum finden kann, wie Möbel, Bücher,
Zeitungen, Fenster, Mauern, Türen" mitwirken. Und ge­
nauso bezeugt dies die Radiosendung "the city wears a
sluch hat", die er zusammen mit dem Dichter Kenneth Pat­
chen verwirklicht. Diese Partitur umfaßt 250 Seiten voll von
Klangeffekten, welche die wirklichen Geräusche einer Stadt
nachahmen. Die Sendung, die von Chicago ausgestrahlt
wurde, wohin Cage 1941 von Moholy-Nagy gerufen wurde,
um an der dortigen School of Design über experimentelle
Musik zu lesen, wird mit solcher Begeisterung aufgenom­
men, daß Cage beschließt, nach New York zu gehen. Er
wohnt bei Max Ernst und Peggy Guggenheim und trifft
Mondrian, Andre Breton, Virgil Thompson, Marcel Du­
champ, dann findet er Asyl bei Jean Erdmann, der ihn dem
Tänzer Merce Cunningham vorstellt. 1942 komponiert Cage
seine erste Musik für Cunningham: "Credo in Us" und im

339
gleichen Jahr die elektro-akustische Elemente enthaltende
"Imaginary Landscape" Nr. 2 und Nr. 3.

D e n Impressionen von "Finnigan's Wake" folgend, kompo­


niert Cage eine bewundernswerte Huldigung für James
Joyce: die Melodie "The Wonderful Widow of Eighteen
Springs" für Stimme und geschlossenes Klavier, welche am
5. März 1942 von Janet Fairbanks in der Carnegie Recital
Hall aufgeführt wird. Ein wichtiges Stück, weil die Behand­
lung des Klaviers sich hier symmetrisch zu den "Präparatio­
nen" verhält. Diese bezogen sich auf das Innere des Klaviers
- das Spiel des Pianisten wurde nur indirekt durch die Än­
derung der "Stimmung" beeinflußt, und der Ausführende
hatte nur "normal" zu spielen (immerhin mit der Möglich­
keit eines neues Eingriffes in den Körper des Instrumentes,
um die Präparation während der Ausführung vielleicht zu
ändern). Im Falle von "The Wonderful Widow of Eighteen
Springs" nun ist das Klavier ganz einfach zu: es muß als po­
tentielle Klangoberfläche betrachtet werden, es ist in gewisser
Weise ent-innerlicht, ent-Jubjektiviert. Sicher, es bleibt das ro­
mantische Ding "Piano", doch dieses Stück von Cage kann
als Herausforderung an alle Manierismen und jedes Virtuo­
sentum betrachtet werden: schaut ihn an, diesen Pianisten,
wie er sich dreht und abmüht auf seinem Instrument, wie er
achtgibt und nuanciert, und dabei bringt er doch nur
dumpfe, nichtssagende, lächerliche Schocks hervor - die
ganze Aufmerksamkeit überträgt sich auf das Spiel der Ge­
sten, deren Lächerlichkeit in ihrer ganzen Breite deutlich
wird . . . Doch was geschieht an Positivem? An Neuem? Ab­
gesehen von jeder Polemik und Karikatur, wird das Klavier
zum erstenmal als das Objekt betrachtet, das es ist: als ein
geschlossenes, massives, kompaktes Objekt, als ein Objekt,
das keinem "Subjekt" erlaubt, "sich auszudrücken", als Ding
also, das noch nicht Objekt (Kulturobjekt, Kunstobjekt,
kurz Konsum- oder Tauschobjekt) geworden ist. Dndurch­
dringbares und undurchdrungenes Oberflächen-Ding, Haut
voll Regungen, die "von außen" berührt werden will. Die
Finger des Pianisten bringen keine Töne hervor, sie lassen
Geräusche hervorspringen: dies ist nicht nur das Ende ei­
ner Kultur, das ist die Öffnung einer Welt. Sicher, man ver­
liert dabei: das Klavier wird nicht "voll", in seiner Aura der

340
Gesamtheit seiner Verm ögen ausgenützt. Doch verlieren ist
hier auch gewinnen: die "Fülle", die man opfen, war selbst
nur halb, sie war das Ergebnis eines verfälschenden Filterns
- die "Armut", welche nun dieses Filtern ablehnt, trägt alle
Reichtümer.

Von dieser Zeit an, und als ob die an sich paradoxe Venie­
fung der Problematik der "Klangoberfläche" das geistige
Handwerkszeug eines Komponisten okzidentaler Provi­
nienz erschöpfen müßte, wendet sich Cage dem Orient zu.
Das Konzen mit Merce Cunningham vom 7. Februar 1943
im Museum of Modern An in New York, das Cage einen
wichtigen Platz in der Avantgarde verschafft, umfaßt die
Aufführung der Suite "Amores" - zwei Stücke für präpa­
rienes Klavier und zwei Stücke für Schlagzeugtrio -, in
welcher Cage "zwei immerwährende Gefühle der Tradition
Indiens, die Erotik und die Ruhe", ausdrücken möchte. Si­
cher, er sucht weiterhin in der Richtung der Klangfarben,
mit dem präparienen Klavier (1944: "Root of an Unfocus",
"Meditation", "The Perilous Night") wie mit dem Schlag­
zeug (ebenfalls 1944: die beiden Stücke mit dem Titel "She
Is Asleep" für zwölf Tom-Toms, Stimme und präparienes
Klavier), doch ab 1945, seit seiner Übersiedlung in die
Monroe Street beginnt er, private Konzene zu geben, ver­
ankern ihn seine theoretischen Interessen in Indien. Er liest
"The Dance of Shiva" von Coomaraswamy und initiien sich
mit seinem Kontrapunktschüler Gita Sarabhai in die musi­
kalische Tradition Indiens. In einer Klavier-Panitur von
großer Spannweite, die zu den "Sonatas and Interludes" für
präparienes Klavier werden wird, bemüht er sich, die "neun
immerwährenden Gefühle" der indischen Ästhetik auszu­
drücken. Vor allem wird er während zweier Jahre Hörer
von Daisetz Teitaro Suzuki an der Columbia University, der
ihm das Zen eröffnet. Die erste Komposition Cages für ein
traditionelles Orchester (1947), das Ballett in einem Akt
"The Seasons" im Auftrag der Ballett Society (LincoIn Kir­
stein) will die Ruhe (den Winter), die Erschaffung (den
Frühling), die E rhaltung (den Sommer) und die Zerstörung
(den Herbst) ausdrücken.
Mit der Wendung zum Orient änden sich auch sein Leben:
Cage reist von nun an mit Merce Cunningham, dessen Bal-

341
lett er auch zahlreiche Kompositionen widmet. Diese Wan­
derschaft gibt ihm die Möglichkeit, überall seine Werke -
und seine Ideen - bekanntzumachen. Im Sommer 1948
wird er vom Black Mountain College eingeladen, wo er ein
Satie-Festival veranstaltet und einen Vortrag hält, der sich
unter anderem mit dem verderblichen Einfluß des beetho­
venschen Beispiels auf die Entwicklung der okzidentalen
Musik beschäftigt. Dieser Vortrag wird zum Skandal . . .
Was in ihm zum Ausdruck kommt, hat viel weniger mit der
Absicht zu tun, herauszufordern, als mit der Sorge, zu einer
Synthese zu gelangen: Cage rekapituliert seine eigenen Ver­
suche und stützt sich auch auf Satie und Webern, um zu
zeigen, wie weit die "große" Musik des Okzidents seit der
Renaissance ins Schleudern geraten ist und auf welche Weise
die Musik in dem, was sie war und was sie ist, wiederherge­
stellt werden kann und muß. Nehmen wir einen Ton: er be­
sitzt Höhe, Intensität, Klang und Dauer. Eine Musik be­
steht aus Tönen und aus Stille/Schweigen. Aber was enthält
eine Stille? Nichts, außer einer Dauer. Wenn ihr in der
Richtung des Materials arbeiten wollt, dann denkt an die
Stille. Stützt euch nicht auf die Höhen - damit entwickelt
ihr nur die Harmonie, so wie es Beethoven tat. Stützt euch
auf das den Tönen und Stillen Gemeinsame: auf die Zeit,
diese im Okzident seit dem Mittelalter verlorene, erst von
Satie und Webern wiederentdeckte, im Orient jedoch nie
verlorengegangene Wahrheit . . . Hier öffnet sich der heuti­
gen Musik ein Weg: es geht dabei nicht nur darum, wie
Schönberg, die Krise der Tonalität zur Kenntnis zu nehmen
und ein serielles Netz zum Schutze gegen die Rückläufig­
keit abgeschaffter tonaler Funktionen aufzurichten - diese
Einstellung ist nur negativ, sie ist Teil der Krise, die sie zu
beschwören glaubt, sie führt nur zur Vervielfachung der
"Vorsichts maßnahmen" - Vorsichtsmaßnahmen aus Okta­
ven, Quinten, Septimen der Dominante oder des arpeg­
gios . . , Nein, der einzuschlagende Weg geht nicht über die
Töne allein oder nur ihre Beziehung zueinander, er geht
über die Töne und die Stillen, er geht durch die Zeit. Aber
die Zeit wartet ihrerseits darauf, freigelegt zu werden: we­
der linear noch zellulär, noch metrisch, noch periodisch,
darf sie nicht von den Anforderungen des Aufklingens der
Töne allein abhängen, so musikalisch, d. h. so harmonisch

342
zufriedenstelIend diese auch sein mögen. Die Zeit ist es,
die über das Leben und den Tod jedes Tones und jeder Stille
befindet, sie belebt heide zugleich, sie gehört also zum Intim­
sten des Tones wie zum Intimsten der Stille, und in dieser
Hinsicht besteht sie nicht einmal "an sich", sondern kommt
jedeJmal neu zum Vorschein. Man hat nie mit einer Inhalts­
Zeit, Aufnahme-Zeit, mit einer universellen und abstrakten
Zeit, die vor dem Ton und vor der Stille bestünde, zu tun.
Im Gegenteil, es haben jeder Ton und jede Stille konkret
und vielfach ihre eigene Zeit. Was hier aufleuchtet, das ist
ein buddhistisches Ideal, ausgesprochen von Suzuki in der
geraden Linie des Zen: Durchdringung und Nicht-Obstruk­
tion. Kein Ton darf einen anderen oder eine Stille abschir­
men oder gar verhindern. Das gleiche gilt auch für die
Stille: sie darf sich weder einer anderen Stille noch auch ei­
nem Ton widersetzen. Positiv ausgedrückt: Töne und Stil­
len können sich nun durchdringen. Die Zeit ist nichts ande­
res als gerade dieses Durchdringen, das Telos aller
Musik.

Folglich muß man sich hüten, Cage einen Totengräber oder


einen Clown zu nennen. Dieser Gräber ist besorgt darum,
zu bauen, oder besser noch, wiederaufzubauen, was andere
zerstört haben, und dieser Clown versteckt unter seinem
Zen-Humor eine beinahe buddhistische oder taoistische
Sym-pathie für alles, was ist, besonders für alle Töne und
Stillen . . . Hellersehend als die Zuhörer vom Black Moun­
tain College, verleiht ihm die National Academy of Arts and
Letters 1949 - im Jahr der Aufführung der "Sonatas and In­
terludes" durch Maro Ajemian in der Carnegie Recital Hall
- ihren Preis von 1000 Dollar dafür, daß er - unter ande­
rem mit seinem präparierten Klavier - die "Grenzen der
musikalischen Kunst verrückt hat". Ebenfalls im Jahre 1949
erhält Cage das "Guggenheim Fellowship for Creative Work
in the Field of Music", dessen Geldpreis (2400 Dollars) er
für die Europareise, die er zusammen mit Merce Cunning­
harn unternimmt, verwendet. Auf dieser Reise trifft er zum
erstenmal Boulez. Er setzt seine Satie-Forschungen fort
und schildert im ersten Satz seines "Quatour a Cordes" den
Sommer in Frankreich: "L'ete en France" . . . 1950 kehrt er
zurück nach New York. Dieses Jahr ist bedeutungsvoll für
343
die Anwendung seiner Ideen über die Zeit auf die Ausar­
beitung einer genauen kompositorischen Technik. Diese
formuliert auf neue Weise den Status des Ausdruckes in der
Musik, indem sie die Konsequenzen aus der Autonomie der
Töne und der Stillen zieht. Wenn man den Tönen und Stil­
len wirklich ihre Zeit lassen will, d. h. sie das sein lassen
will, was sie sind, dann besteht die Rolle des Komponisten
nicht mehr in der Suche eines Ausdruckes, sondern in eben
diesem ..sein-lassen" als solchem. Eine Musik ist nur inso­
weit ..expressiv", als sich eine Subjektivität (die des Musi­
kers, die des Autors oder die des Interpreten) darin proji­
ziert oder spiegelt. Nur, was man dann hört oder hören soll,
was man zu hören glaubt, obwohl man es nicht richtig hört,
ist nicht mehr der Ton oder die Stille, sondern die Subjekti­
vität. Diese Subjektivität ist nicht einmal der Mensch, sie ist
nur ein Teil des Menschen: sie ist die Konvention des okzi­
dentalen Menschen seit der Renaissance. Wenn man will,
daß die Töne Töne und nicht Menschen seien, wenn man
will, daß die Menschen Menschen und nicht Töne seien,
muß man diese ..Obstruktion" der einen durch die anderen
aufgeben. Es geht hier nicht darum, die Subjektivität im
Namen der Objektivität zu erdrosseln: die eine ist ja nur
die Rückseite der anderen. Im Gegenteil: man muß die Mu­
sik von der Spaltung zwischen Subjekt und Objekt befreien:
die Musik sich selbst zurückgeben, so daß der Mensch (in
einem endlich verwirklichten Humanismus . . . ) seinerseits
zu sich selbst kommt. Die ..Sixteen Dances" für kleines Or­
chester, komponiert für Merce Cunningham, zeugen von
diesem theoretischen Durchbruch zu dem hin, was noch
nicht ist: Cage benützt hier zum erstenmal ChartJ, Dia­
gramme, die das Inventarisieren der möglichen Variationen
einer Struktur erleichtern sollen und deren systematischer
Gebrauch zugleich von der Qual der Wahl befreit. Der
Komponist wird Kartograph. Wenn er akzeptiert, sich leiten
zu lassen, wird die Musik von seinem persönlichen Ge­
schmack befreit. Das führt zur ..Unpersönlichkeit" des
"Concerto pour piano prepare et orchestre de chambre" von
195 1 : im ersten Satz bringt der Pianist den Geschmack des
Autors zum Ausdruck, während das Orchester nur die Be­
wegungen aus den Diagrammen reflektiert. Der persönliche
Geschmack des Autors verwischt sich aber im 2. Satz, um
344
sich schließlich in der Stille zu verlieren (3. Satz). Das Sub­
jekt ist entthront.
Bald überschlagen sich die Ereignisse. Als er nach einer
Aufführung des "Opus 21" von Webern den Saal verläßt,
trifft Cage einen Komponisten, dessen Aspirationen seinen
eigenen entsprechen: Morton Feldmann. Über diesen lernt
er einen jungen Pianisten kennen: David Tudor. Die
Gruppe Cage- Feldmann-Tudor, der sich bald Christian
Wolff anschließt, widmet sich der Erarbeitung immer "un­
persönlicherer" Musiken. Eines Tages bringt Christian
Wolff die beiden Bände des "I Ging" ("Das Buch der Wand­
lungen") mit, diese berühmte Sammlung von Orakeln des
alten China. Fasziniert von der Ähnlichkeit der chinesi­
schen Orakel und der Diagrammethode beginnt Cage mit
der Kiellegung der "Music of Changes" für (nicht-präparier­
tes) Klavier. In ihr wendet er vom "I Ging" angeregte Ver­
fahren der Losentscheidung an. Neun Monate lang gibt es
immer neue vorläufige Fassungen, bis endlich die eigentli­
che Komposition erscheint. Am 2. Mai 1951 wird an der Co­
lumbia University "Imaginary Landscape Nr. 4" für zwölf
Radioapparate, 24 Ausführende und einen Dirigenten auf­
geführt - ein Werk, das den Erwartungen seines Autors ent­
sprechend nur sehr wenig Töne enthält; wieder ein Skan­
dal . . . Die Partitur für die Filmmusik zu "Works of Calder"
von Herbert Matter erhielt den ersten Preis beim Festival
von Woodstock. Im Januar 1952 wird eine zufällige Zusam­
menstellung aus einer Collage (auf Band) von 42 Jazzplatten
als Ballett unter dem Titel "Imaginary Landscape Nr. 5"
aufgeführt. Cage beginnt dann zusammen mit Earle Brown,
Louis und Bebe Barron die Materialien für ein elektro-aku­
stisches Werk zusammenzusetzen, das ein ehemaliger Schü­
ler von Black Mountain, Paul Williams, in Auftrag gegeben
hat. Das Werk trägt den Titel "Williams Mix"; seine 192-Sei­
ten-Partitur sieht Collagen auf 600 Magnetbändern vor; die
Verfahren, die das ganze regeln, sind aus dem "I Ging" abgelei­
tet. Im Sommer 1952 wird Cage erneut nach Black Mountain
eingeladen, wo er nun Robert Rauschenberg trifft. Mit ihm,
Merce Cunningham, David Tudor, M. C. Richards, Olsen und
zwei anderen Teilnehmern organisiert er das erste happening.
Im gleichen Sommer noch führt David Tudor in Woodstock
das filmt piece "für Klavier" mit dem Titel ,,4'33"" auf. -
345
Diese Entpersonalisierung des Werkes, die aus der Anwen­
dung von Zufallsverfahren kommt, und diese Rückgriffe
auf die Stille, von dem die Stummheit des Klaviers David
Tudors während der drei Sätze von ,,4'33"" zeugt, geht bei­
des im Jahre 1952 ineinander über und bewirkt einen Funk­
tionswechsel der Stille selbst: "Stille" bezeichnet von nun
an die Gesamtheit der vom Komponisten nicht gewollten
Töne. In dieser Hinsicht gibt es die Stille nicht, hat es sie
nie gegeben. Der Zufall ist dabei nur das Mittel, die Nicht­
Existenz der Stille erscheinen zu lassen, das heißt "im"
Werk und "durch das Werk hindurch" die Geräusche her­
beizurufen, die der Komponist nicht wollte, die aber nichts­
destoweniger existieren - und die er aus diesem Grunde
"sein lassen" muß. Somit ökologisiert sich das Werk voll­
ständig: seine Funktion ist, das Environment anzusammeln.
Eine solche Ansammlung kann aus mehreren Künsten,
künstlichen und nicht nur natürlichen Gestaltungen beste­
hen: daher das happening, in dessen Verlauf sich nicht not­
wendigerweise klangliche, sondern ebenso poetische, plasti­
sche und visuelle Initiativen frei übereinander und
nebeneinander setzen. Auch 4'33"" ist ein happening, weil
..

sich der Pianist als Schauspieler und nicht als Tonprodu­


zent darstellt. Theater und Musik werden also gleichbedeu­
tend: wenn das letzte Ziel der Musik darin besteht, die Un­
terschiede zwischen den Künsten zu verwischen, ohne
dabei jedoch einer dieser Künste ihre Eigenart zu nehmen,
so vollendet die Durchdringung ohne Obstruktion, zu de­
ren Werk sich das happening macht, in der punktuellen
und unwiederholbaren Repräsentation dessen, was auf der
Szene geschieht, die Vereinigung der verschiedenen Kün­
ste im Theater - eine Vereinigung, die unmöglich auf das
wagnerische Ideal des Gesamtkunstwerkes reduziert werden
kann, da sie jedesmal eine völlig neue Erfahrung der Zeit
eröffnet. Man könnte sagen, daß Cage die wagnerische Zeit
des Gedächtnisses, des Leitmotivs und der Symbolisierung -
der erzwungenen Semantisierung der musikalischen Äuße­
rung - ersetzt durch eine Zeit des Vergessens, des Abbaues
von Sinn und Symbol, eine Zeit der Rückkehr zur Undurch­
sichtigkeit der Null-Information, der Theatralisierung des
Neuen, der Ankunft des Noch-nicht, der Befreiung dessen,
das da kommen wird. Cage wendet nun diese Ent-Semanti-
346
sierung, diese Öffnung zu allem, was die Zeit ein jedes Mal
bringt, auch auf seine Arbeit an der Sprache an. Seine Vor­
träge und theoretischen Schriften kulminieren in "45' for a
Speaker", einer Collage aUS dem Oktober 1954, in der die
Themen der vorhergegangenen Texte vereinigt sind, die
aber zugleich dem pallern eines musikalischen Werkes folgt
und dafür vorgesehen ist, mehrere einander überlagerbare
Instrumentalstücke (,,31'57.9864"" und ,,34'46.776"" für prä­
pariertes Klavier; "26'1 .1499" for a String Player" und
"27'10.554" for a Percussionist") zu überlagern. Im Falle
von "45' for a Speaker" ist der Sinn Funktion der Zeit der
Strukturierung. Diese Strukturierung ist homolog der Struk­
turierung eines Instrumentalstückes und schreibt die Unter­
teilung aller Längen vor. Diese Unterteilung folgt nicht den
semantischen Anforderungen der Aussage, sondern sie ist
zufällig: es ist das Los, das den Sinn erscheinen oder ver­
schwinden läßt. Am Horizont dieser Ent-Semantisierung
steht die Befreiung der Sprache von jeder Syntax, so wie es
in "Mureau" und in den "Mesostics Re Merce Cunningham"
(1971) oder in "Empty Words" (1973-1976) geschieht.
Cage setzt die Technik der Überlagerung verschiedener
Werke, die er in den Jahren 1954-1955 begann, fort und
entwickelt sie weiter. Diese Technik entspricht der außer­
gewöhnlichen Entfaltung der Phantasie Cages gerade um
1955, vor allem was die Vermehrung der Zufallsverfahren
angeht (z. B. die Ausnützung von Unvollkommenheiten
des Papiers in den 84 Stücken der "Music for Piano"). Die
entscheidende Etappe auf diesem Weg ist die Aufführung
des "Concert for Piano and Orchestra" anläßlich des Kon­
zertes zum 25. Jahrestag der Tätigkeit Cages als Komponi­
sten am 15. Mai 1958 in der Town Hall von New York. Dies
ist das Schlüsselwerk der gesamten "unbestimmten" Pro­
duktion Cages. Es besteht aus der Überlagerung völlig ver­
schiedener Solos, einem Satz von Partien aus 84 verschiede­
nen Notierungssystemen für Klavier und einer Partie für
den Dirigenten ohne jeden Bezug auf die instrumentalen
Partien; es sieht ferner die gleichzeitige Aufführung ande­
rer Partituren vor (die "Aria" für Stimme, das "Solo for
Voice I", die "Winter Music" für ein bis zwanzig Pianisten,
die "Fontana Mix", komponiert 1958 in Mailand, eine elek­
tro-akustische Collage, welche nach den Erfordernissen ei-
347
ner strukturellen Matritze der Zeit gegliedert ist). Ebenfalls
von 1958 datiert "Variations I", das erste einer Reihe unbe­
stimmter Stücke, die mit den unterschiedlichsten Instru­
menten gespielt werden können: präpariertem oder ver­
stärktem Klavier, Radioapparaten oder elektroakustischen
Geräten, traditionellen Instrumenten, die entweder auf her­
kömmliche Art oder gegen den Strich gespielt werden
usw. . . .
Die "Cartridge Music" von 1960 ist die erste ausdrücklich
theatrale elektro-akustische Musik: sie hängt von einer Reihe
von Gesten ab, die auf der Bühne vor dem ganzen Publi­
kum vollbracht werden. Von der "Cartridge Music" an be­
ginnt der "theatrale" Gebrauch der Kontaktmikrofone und
der Übertragungsgeräusche als integraler Bestandteil des
Komponierten auf substantielle Art den Sound, die auditive
Physiognomie, von Cages Kompositionen zu verändern.
Die Zustimmung zur unbestimmten und semelfaktiven
(einmaligen) Vielheit der Geräusche, die das Prinzip der
Überlagerbarkeit verallgemeinert, stürzt schließlich den Sta­
tus des "Werkes" um: dieses ist nicht mehr geschlossen, es
hat sogar - und dies wegen seiner "Unbestimmtheit, was
die Ausführung anbelangt" - kaum etwas zu tun mit den
Halb-Cage-ismen, die hier und da im westlichen Europa un­
ter dem Namen "offenes Werk" entstanden sind; weder ge­
schlossen noch offen, bringt es voneinander völlig unabhän­
gige molekulare Klangflüsse zusammen; von daher auch die
Möglichkeit, eine Partitur von einer oder mehreren anderen
abzuleiten, Partituren aneinanderzureihen oder wieder aus­
einanderzunehmen, sie in räumlicher Konzentration oder
Dezentralisierung usw. aufzuführen . . . So folgt das "Thea­
tre Piece" von 1960 dem pattern der "Fontana Mix" - und
dennoch haben die beiden Partituren nichts gemeinsam.
Das Werk "Atlas Eclipticalis" für großes Orchester (1961),
in dem die "Unvollkommenheiten des Papiers" aus dem
Studium alter Sternkarten folgen, überlagert die "Winter
Music". Bei einer Simultan-Aufführung von "Variations H"
und "Variations III" durch Cage und Tudor 1963 in der Jud­
son Recital Hall benutzt Cage ein Kehlkopfmikrofon: die
Geräusche, die entstehen, als er den Inhalt eines Glases
Wasser schluckt, "überdecken" nach den Aussagen der Zu­
hörer "die ganze Musik". Im gleichen Jahr spielen Cage und
348
einige andere Pianisten im Pocket Theatre von New York
mehr als achtzehn Stunden lang das Klavierstück "Vexa­
tions" von Satie in seiner ursprünglichen Fassung, in wel­
cher 840 mal das gleiche Stück wiederholt wird.
Mit dieser Aufführung, die alle bisherigen zeitlichen Nor­
men mißachtet, wird Cage - via Satie - zum Vorläufer der
"schwebenden" Musiken. Dies setzt eine Abkehr von der
"strukturellen" Konzeption der Zeit voraus, die er seit sei­
nem oben erwähnten Vortrag "Plädoyer für Satie" am Black
Mountain College (1948) bis hin zu ,,4'33" " und den überla­
gerten Stücken von 1955 vertreten hatte. Im Jahre 1962
komponierte Cage ein zweites Stück Stille ("0'00":4'33"
Nr. 2"), in welchem er - schon der Titel bezieht sich auf
die Nullzeit von Christian Wolff - das Prinzip der Struktu­
rierung der Zeit aufgibt. Wer die Zeit strukturiert, rechnet
noch mit dem Gedächtnis: ,,0'00" " jedoch reduziert die
Zeitmessung auf Null, d. h. verbannt die Dimension des
Gedächtnisses und fördert das Vergessen als aktive, posi­
tive Kraft. Ein geordnetes Handeln verfolgen, so wie es in
,,0'00"" vorgeschrieben ist, verwischt die Musik nicht, son­
dern vollendet sie in der Bewegung der Theatralisierung,
die schließlich ihr eigener Zweck ist und die wir weiter
oben schon als einen Anlauf auf die Zeit hin bezeichnet ha­
ben. Dies ist Cages Antwort auf die Definition des Kompo­
nisten Robert Ashley, für den "jeder zeitliche Akt" Musik
ist - ob dieser Akt (noch) Töne hat oder nicht, damit be­
freit er auch die Zeit des Werkes aus ihrer empirischen Be­
grenzung; sobald unbegrenzte zeitliche Akte denkbar wer­
den, wird die Versklavung der okzidentalen Tradition
durch den Imperialismus des Gedächtnisses seit der Renais­
sance unter die Lupe genommen. Durch diese Freilassung
der Zeit wird das Werk über seine eigenen Grenzen hinaus­
getragen. Doch Cage schließt sich auch keiner Praxis der
"reinen" Variationen an. Von der Unterwerfung unter das
Gedächtnis befreit, befreit sich die musikalische Äußerung
in der Tat vom Subjekt in dessen Eigenschaft als Gedächt­
nis; sie kann sich wiederholen, weil Cage sich die Maxime
von Rene Char "der Akt ist jungfräulich, selbst wenn er wie­
derholt wird" zu eigen gemacht hat. Das öffnet den Zugang
zu einer Tradition, die für uns zunächst die des Orients ist,
doch tiefer noch führt uns das Gesagte zu der Musik vor
349
der Renaissance, ja noch vor der Kirche. Unter diesem
Blickwinkel führt die Demarche von Cage in gerader Linie
zu La Monte Young, Riley und der neuen Tonalität, zum
erneuerten Folk, zu allen Phänomenen, die über die "intel­
lektuellen", von der offiziellen Avantgarde vertretenen Mu­
siken hinausgehen. Wer nun Theatralisierung sagt, weist in
die Richtung einer sozialen Erweiterung, einer Kollektivie­
rung des musikalischen Erlebnisses, das bis jetzt elitär und
elitistisch war: mit den "Museum Events" (1966), dem
"Newport Mix" (1967), "Reunion" (1968), der Serie der
"Musicircuses" (1967 in Champaign-Urbana, 1970 in Min­
neapolis und in Paris), mit ,,33 1 3" (1969) und "Hpschd"
(1969) wendet sich Cage immer stärker der Massenunterhal­
tung, dem Fest zu. Seine jüngsten Aktivitäten haben aber
noch einen anderen, nicht weniger essentiellen Aspekt: auf
dem Gebiet der Neudefinition der "professionellen" musi­
kalischen Arbeit mit den Worten des "I Ging" "die Freude
und die Revolution zu bringen". Besonders verwöhnt von
Orchestermusikern, die die Aufführungen seiner Werke
buchstäblich sabotieren (besonders "Cheap Imitation" nach
Satie beim Festival von Holland 1972), hat Cage bei einigen
seiner jüngsten Partituren versucht, die Vormacht des Diri­
genten abzuschaffen (vgl. die Fassung von "Cheap Imita­
tion" "für Orchester ohne Dirigenten" von 1973; die "Mate­
rialien für eine orchestrale Aufführung mit und ohne drei
Dirigenten", woraus "Etcetera" wurde - die Musik, die im
November 1973 das Ballett "Un jour ou deux" von Merce
Cunningham an der Pariser Oper begleitete), das Spiel der
Solisten zu vervielfältigen (vgl. die "Song Books", die "Solos
for Voice 3-92", gesungen von Simone Rist und Cathy Ber­
berian 1970 in Paris und 1975 von der Schola Cantorum un­
ter Clytus Gottwald "zersungen") und sich selbst gerecht zu
werden (Aufführungen der Stücke für Stimme durch den
Komponisten selbst seit 1971).
Kann man eine Würdigung der gesamten Aktivitäten und
des gesamten Werkes eines John Cage wagen? Wir haben
auf den vorhergehenden Seiten auf die offensichtlichsten
Beiträge des Meisters von Stony Point zum Umsturz der
Ökonomie des Musikwerkes hingewiesen. Wir haben dabei
nur einige der bedeutendsten Werke erwähnt: ohne ein
Fluß zu sein, ist die Produktion Cages doch bedeutend um- .
350
Die Unsterblichkeit ist nicht
Jedermanns Sache.

Kurt Schwitters
fassender, als es nun scheinen mag (Henmar Press, die un­
ter der Ägide von Peters das Gesamtwerk betreut und ver­
öffentlicht, besitzt einen kompletten Katalog). Wir haben
die mykologischen Aktivitäten Cages, seine Zusammenar­
beit mit der Wesleyan University, mit der University of Illi­
nois, der University of Cincinnati, seine Wahl 1968 ins Na­
tional Institute of Arts and Letters, den visuellen und
graphischen Teil seines Werkes (vgl. "Not Wanting To Say
Anything About Marcel" in Zusammenarbeit mit Calvin
Sumsion, 1969 und das "Mushroom Book", 1974, zusammen
mit Lais Long und Alexander Smith) verschwiegen. Auch
haben wir nichts über die zahlreichen Artikel, Interviews,
Vorträge und Gedichte des Schriftstellers John Cage gesagt.
Die Sammlungen "Silence", "A Year from Monday" und
"M", die 1961, 1968 und 1973 bei der Wesleyan University
Press (Middletown, Connecticut) erschienen sind, sowie
die "Notations" (in Zusammenarbeit mit Alison Knowles,
Something Else Press, 1968) haben den Schreiber Cage ge­
nauso weltweit berühmt gemacht wie den Komponisten.
Die Schallplatte schließlich, die Cage recht wenig interes­
siert, hat doch auch zu seiner Berühmtheit beigetragen (er­
wähnen wir hier nur Columbia, Nonesuch, Folkways, Ever­
est, Time und schließlich die sehr guten Aufnahmen von
Cramps Records in Mailand). Nach all dem ist es leicht,
festzustellen, daß die kreative Tätigkeit Cages keinen Au­
genblick lang ruht: die 32 "Etudes Australes" für Klavier
(1976), die er Grete Sultan gewidmet hat, sind ein neues
Monument (dieses Mal auf eine "körperliche" Arbeit, die
die Technik des "klassischen" Pianos erneuert, gegründet).
Auch für Merce Cunningham hat Cage zwei neue Stücke
komponiert: ein Solo, "Child of Tree", und ein Werk für
Ensemble: "Branches". Am 26. Februar 1976 wurde an der
Universität von York in Toronto "Lecture on the Weather"
für 12 Stimmen, Magnetband und Film aufgeführt. Schließ­
lich ergänzen die aufeinanderfolgenden Ausführungen
Ende 1976 - Anfang 1977 der simultan gespielten Werke
unter dem Titel "Renga with Apartment House 1776" durch
Ozawa in Boston, Boulez in New York und Metha in Los
Angeles die Chronik. Diese Aufzählung soll nur dazu die­
nen, kein allzu schnelles Urteil zu fassen. Es ist schwierig,
ja unmöglich, al1e von John Cage signierten Versuche auf
352
einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Es ist vielmehr
John Cages Eigenart, seine Mitläufer immer wieder aus dem
Sattel zu heben : diese ergre ifen Besitz von der einen oder
anderen Entdeckung und vergessen dabei, den Meister wei­
terzubegleiten. Die Schwierigkeit liegt wohl an der Vielfalt
Cages: als Musiker des Vergessens vergißt gerade er nie,
daß die Einzigartigkeit des Vergessens seine Vielfalt ist.
Das ist es auch, was Cage selber eine "ewige Renaissance"
nennt, und was wir mit Gilles Deleuze und Jean-Fran�ois
Lyotard als Nomadentum bezeichnen können. Aus diesem
Grund zögern wir, die jüngsten Partituren Cages als "Spät­
werke" zu qualifizieren, wie es Dieter Schnebel (1976) auf
sehr deutsche Art tat - allerdings nicht ohne die vorsichtige
Einschränkung: "aber die klangliche Fülle ist von einer ex­
plosiven Gärung" (vgl. G. Raulet, "Utopie, Marxisme, selon
Ernst Bloch", Paris 1972, S. 103). Begnügen wir uns mit ei­
nem Hinweis auf Cages eigenes Vorwort zu "M", wo er be­
obachtet, daß man, sind "die Geräusche erst einmal befreit",
wieder auf herkömmliche Art komponieren kann: der No­
madismus Cages schließt wirklich nichts aus, nicht einmal
den Übertritt zur Tradition - vorausgesetzt diese wird end­
lich entmystifiziert und im Geiste der "ewigen Renaissance"
behandelt. Unbestreitbar ist das außergewöhnliche Wachsein
John Cages, das er auch heute nicht aufgegeben hat. Man
kann einer anderen Passage Schnebels, die er vor ungefähr
zehn Jahren geschrieben hat, nur zustimmen: Cages Werk
habe eine "befreiende Wirkung, als ob die Emanzipation,
die es vollendet, ansteckend wäre. Er ist der versteckte Mo­
tor der musikalischen Entwicklung der letzten Jahre". Mit
diesem Urteil sind wir völlig einverstanden, ohne jedoch,
was uns anbelangt, Cages Einfluß allein auf die Musik zu
beschränken.

Aus dem FranzosiJchen von Eberhard Kienle


R O L A N D B ARTH E S
Heute abend i m Palace

Ich gestehe, daß ich unfähig bin, mich für die Schönheit ei­
nes Raumes zu interessieren, wenn sich darin keine Men­
schen befinden (ich mag leere Museen nicht); und umge­
kehn, um zu entdecken, was an einem Gesicht, einer
Silhouette, an einer Garderobe interessant ist, um an der
Begegnung Geschmack zu finden, muß auch der On dieser
Entdeckung sein Interesse und seinen Geschmack für mich
haben. Vielleicht verführt mich deshalb das Palace. Ich fühle
mich hier wohl. Das ist modem, ganz modem? Und dabei
finde ich hier die alte Macht der wirklichen Architektur
wieder, die die sich bewegenden, tanzenden Körper ver­
schönen, die Räume und Gebäude belebt.
Heutzutage sterben die Theater leicht. Der Saal, in dem ich
das erste Mal Beckett gesehen habe, ist inzwischen eine Ga­
rage; andere Säle werden Kinos oder machen Mietshäusern
Platz. Das Palace ist ein gerettetes Theater. Zunächst, weil
es darin Aufführungen gibt; dann, weil von dem ursprüngli­
chen Theater (das es lange Zeit war) alles erhalten ist: die
Bühne, der Vorhang, der Rang, das Panerre, veränden in
ein schönes Parkett, von wo man, stehend oder auf Kissen
sitzend, die Aufführung sehen kann, die breiten Zugänge
in rotem Velour. Dieselbe Erregung: über die Treppe ge­
langt man in einen großen, von Lichtem und Schatten
durchquenen Raum und tritt plötzlich, wie ein Eingeweih­
ter, ins Heiligtum der Aufführung (sogar, und gerade dann,
wenn, wie hier, das Spektakel im ganzen Saal stattfindet).
Theater: dieses griechische Won kommt von einem Verb,
das .. sehen" bedeutet. Das Palace ist tatsächlich ein On, der
dem Sehen gewidmet ist: man verbringt seine Zeit damit,
den Saal zu betrachten; und wenn man vom Tanzen kommt,
schaut man von neuem zu. Das Palace ist wohlproponio­
nien. Das bedeutet, man bat bier keine Angst (man würde hier
gern schlafen): ein zu kleines Theater ist erstickend, ein zu
großes vereist. Man kann hier von oben nach unten wan­
deln, die Räume je nach Laune wechseln - eine Freiheit,
um die man in anderen Theatern immer betrogen wird, wo
jedem, entsprechend seinem Geldbeutel, ein Platz zugewie-
354
sen wird. Freiheit allein aber macht noch keinen angeneh­
men Ort. Gewisse Versuche haben gezeigt, daß eine kleine
weiße Maus große Angst zeigt, wenn man sie in einem lee­
ren Rund, ohne jeglichen Bezugspunkt, aussetzt. Um mich
in einem Raum wohlzufühlen, muß ich wirklich von einem
Bezugspunkt zum nächsten gehen können, muß mich so­
wohl in einer Ecke als auch auf einer Plattform aufhalten,
bzw., wie der glückliche Robinson auf seiner Insel, bequem
von einem Haus zum anderen wechseln können. Im Palace
gibt es zahlreiche intime Räume: den Salon zum Schwat­
zen, Bars zur Begrüßung, zur Erholung zwischen zwei Tän­
zen, den Balkon, von wo man über die Balustraden ein­
taucht in das riesige Spektakel aus Lichtern und Körpern.
Wo ich mich auch postiere, von überall habe ich den amü­
santen Eindruck, eine Art herrschaftliche Loge zu besetzen,
von wo aus ich das Spiel dirigiere.
Das wichtige Material der modernen Kunst, der Alltags­
kunst, ist es heutzutage nicht das Licht? In den gewöhnli­
chen Theatern ist das Licht weit weg, kommt abgeschwächt
auf die Bühne. Im Palace ist das ganze Theater Bühne; dort
beherrscht das Licht einen tiefen Raum, in dessen Innerem
es sich belebt und agiert wie ein Schauspieler: ein intelli­
genter Laser mit komplizierten und raffinierten Einfällen
produziert wie ein Vorführer abstrakter Figurinen rätsel­
hafte Spuren in blitzschnellen Verwandlungen: Kreise,
Rechtecke, Ellipsen, Schienen, Fäden, Galaxien, Verzierun­
gen. Das Bemerkenswerte ist nicht die technische Leistung
(obwohl immer noch selten in Paris), sondern das Erschei­
nen einer neuen Kunst, neu in ihrem Material (bewegliches
Licht) und in dessen Anwendung; denn es handelt sich um
eine öffentliche Kunst insofern, als sie sich inmitten des Pu­
blikums abspielt und nicht vor ihm, um eine totale Kunst
(der alte griechische und wagnerianische Traum), in der
sich Lichtpunkte, die Musiken und die Wünsche miteinan­
der verbinden. Das bedeutet, daß die "Kunst", ohne mit der
vergangenen Kultur zu brechen (die Skulptur des Raumes
durch Laser kann sehr wohl an plastische Versuche der Mo­
derne erinnern), sich jenseits der Zwänge kultureller Dres­
sur entfaltet: jene durch eine neue Art des Konsums besie­
gelte Befreiung: man betrachtet die Lichter, die Schatten,
die Dekors, aber macht zur gleichen Zeit auch anderes
355
(man tanzt, man spricht, man betrachtet sich) : die bekannte
Praxis des antiken Theaters.
Im Pa/ace bin ich nicht gezwungen zu tanzen, um mit die­
sem Ort eine lebendige Beziehung einzugehen. Einsam,
oder zumindest ein wenig abseits, kann ich "träumen". In
diesem vermenschlichten Raum kann ich plötzlich ausru­
fen: "Wie ist das alles seltsam!" Seltsam der alte Bühnenvor­
hang, auf dem ich eine Bildreklame der French-Line lese:
Le Havre-Plymouth-New York (komisch, in dieser Orts­
kette ist es Plymouth, das mich träumen macht, vieUeicht
dieser romantische Mythos der Zwischenlandung?). Seltsam
im Dunst, der für Augenblicke die Tanzfläche verhüllt, die
schemenhaften Tänzer (ein Effekt des Gegenlichts), die
sich ausnehmen wie Hampelmänner unter einem Decken­
gemälde aus roten und grünen Strahlen. Seltsam die Spie­
gelwände. Seltsam die rußschwarzen, leicht griechischen
Fresken, die an dem Bühnenhimmel entlang verlaufen wie
eine etwas altertümliche Weisheit.
Das Palace ist kein "Schuppen" wie die anderen: es vereint
an einem einzigartigen Ort Vergnügungen, die normaler­
weise verstreut sind: die des Theaters als liebevoll bewahr­
tes Gebäude, den Genuß des Sehens; das Erregende der
Modeme, die Erkundung unbekannter visueUer Eindrücke,
die von neuen Techniken ausgehen; die Freude am Tanz,
der Charme möglicher Begegnungen. Das aUes hat etwas
sehr altes, das man das Fest nennt und das etwas ganz ande­
res ist als Zerstreuung: ein ganzes Dispositiv von Empfin­
dungen, bestimmt, Leute für eine Nacht glücklich zu ma­
chen. Das Neue ist dieser Eindruck von Synthese, von
Totalität, von Komplexität: Ich bin an einem Ort, der sich
selbst genügt. Durch diesen Zusatz ist das Palace kein einfa­
ches Unternehmen, sondern ein Werk, und so können sich
diejenigen, die es entworfen haben, mit gutem Recht als
Künstler fühlen.
Hätte Proust es geliebt? Ich weiß es nicht: es gibt keine
Herzoginnen mehr. Doch beugte ich mich von oben über
das von farbigen Strahlen und tanzenden Silhouetten be­
wegte Parterre des Palace, rund um mich im Dunkel der
Sitzreihen und der offenen Logen ein Kommen und Gehen
junger Körper erratend, beschäftigt mit aUen möglichen
und unmöglichen Drehungen, schien mir, ich fände in mo-
356
dernem Gewand etwas wieder, das ich bei Proust gelesen
hatte: dieser Abend in der Oper, wo der Saal und die Or­
chesterfauteuils sich unter dem passionierten Auge des jun­
gen Erzählers zu einer Meereslandschaft formen, sanft er­
leuchtet von Lichtkegeln, vom phosphoreszierenden Au­
genschein, vom blitzenden Feuer kostbarer Steine, von den
flüchtigen Gesichtern und Gesten, die denen der Wasser­
göttinnen gleichen und in deren Mitte die Herzogin von
Guermantes thronte. Nur eine Metapher, die mir aus der
Ferne in Erinnerung kam und das PaJace mit einem letzten
Charme verschönte: dem Charme aus den Fiktionen der
Kultur.

Aus dem Französischen von Ste/an Richter


J E A N - FR A N <;: O I S L Y OTARD
Der Augenblick, Newman

Der Engel

Man müßte die Zeit, die der Maler benötigt, um ein Bild zu
malen (die Zeit der "Herstellung"), die Zeit, die erforder­
lich ist, um dieses Werk zu betrachten und zu begreifen
(die Zeit des ..Verbrauchs"), die Zeit, auf die das Werk sich
bezieht (ein Moment, eine Szene, eine Situation, eine Folge
von Ereignissen: die Zeit des diegetischen Bezuges, der im
Bild erzählten Geschichte), die Zeit, die es gebraucht hat,
um vom Augenblick seiner ..Entstehung" an zum Betrachter
zu gelangen (seine Zeit des Umlaufs), und schließlich viel­
leicht auch noch die Zeit, die es selbst isl, voneinander un­
terscheiden. Dieses, im Grunde kindliche Prinzip würde es
ermöglichen, verschiedene ..Zeitone" voneinander abzu­
grenzen. Was das Werk Newmans von der übrigen ..Avant­
garde" und vor allem vom "Abstrakten Amerikanischen Ex­
pressionismus" unterscheidet, ist nicht die Tatsache, daß es
vom Problem der Zeit beherrscht wird - diese An der Be­
sessenheit teilen viele andere Maler mit ihm -, sondern daß
Newman auf dieses Problem eine unerwanete Antwon
gibt: daß das Bild selbst die Zeit ist.
Um dieses Paradoxon zu kennzeichnen und aufzuzeigen,
ist es angebracht, den ..Zeiton" Newmans mit dem zu kon­
frontieren, der die beiden großen Werke von Duchamp be­
herrscht. Das große Glas und Elanl dnnnh beziehen sich auf
Ereignisse, die "Enthüllung" der Braut, die Entblößung des
obszönen Körpers. Sie machen nur eins: das Ereignis der
Weiblichkeit, der Skandal, der das ..andere Geschlecht" ist.
In der ..Verzögerung im Glas" hat es sich noch nicht ereig­
net, in den Büschen, hinter dem Guckloch, ist es schon ein­
getreten. Die beiden Werke sind zwei Anen, den Anachro­
nismus des Blicks hinsichtlich des Ereignisses der
Enthüllung darzustellen. Das "Thema" der Malerei ist der
Augenblick, der Blitz, der das Auge blind macht, eine Epi­
phanie. Aber nach Duchamp kann dieses Ereignis, die
..Weiblichkeit", nicht in der Zeit des Blicks der ..Männlich­
keit" berücksichtigt werden.
358
Daraus resultien, daß die Zeit, die man braucht, um diese
Werke zu "konsumieren" (zu empfinden, zu kommentie­
ren), sozusagen unendlich ist: sie ist besetzt durch die Su­
che nach der Erscheinung (Ausdruck von Duchamp) selbst,
deren Enthüllung Sakrileg und Geheiligtes zugleich ist. Die
Erscheinung, das bedeutet, daß sich etwas ereignet, das an­
ders ist. Wie kann das Andere dargestellt werden? Es müßte
identifiziert werden, was widersprüchlich ist. Duchamp or­
ganisiert den Raum der Braut gemäß dem "noch nicht" und
den Raum von Etant donnes nach dem "bereits nicht mehr".
Der Betrachter des Glases wanet auf Godot; hinter der Tür
von Etant donnes verfolgt der Voyeur die verschwundene Al­
bertine. Die beiden Werke Duchamps sind das Bindeglied
zwischen der verzweifelten Anamnese Prousts und der Pa­
rodie Becketts auf die Erwanung.
Ein Bild von Newman hat nicht das Ziel zu zeigen, daß die
Dauer über das Bewußtsein hinausgeht, sondern es will
selbst das Ereignis sein, der Augenblick, der geschieht.
Zwei Unterschiede zu Duchamp, der eine sozusagen "poe­
tischer", der andere "thematischer" Natur. Das Thema Du­
champs entsteht aus einem Genre, den Vergänglichkeiten;
das Newmans gehön zu den Verkündigungen, den Epipha­
nien. Aber der Abstand zwischen den beiden plastischen
Poetiken ist noch größer. Ein Bild Newmans ist ein Engel.
Er verkündet nichts, er ist selbst die Verkündigung. Der
plastische Einsatz der großen Werke Duchamps ist, dem
Blick (und dem Geist) einen Strich durch die Rechnung zu
machen, weil er gleichzeitig darzustellen versucht, wie die
Zeit das Bewußtsein narn. Aber Newman stellt keine un­
darstellbare Verkündigung dar, er läßt sie sich vorstellen.

Die Zeit, die man braucht, um ein Gemälde Newmans zu


"konsumieren", ist ganz anders als die, die man für die gro­
ßen Werke Duchamps braucht. Man kann nicht aufhören,
das große Glas und Etant donnes zu erzählen. Die Erzählung,
die Berichte hüllen die Braut ein, man folgert sie aus den
fremden Namen, die auf den Papierenden der Schachteln ste­
hen, das Glas macht sie anschaulich und die Kommentato­
ren stellen sie dar. Die Erzählfähigkeit hält sich zurück, sie
verschwindet fast in den Montageanleitungen für Etant don­
nes, aber sie beherrscht den Raum des obszönen Hauses, sie
359
erzählt eine Gebun. Und auch die Barockhaftigkeit der Ma­
terialien schreit geradezu danach, erzählt zu werden.
Ein Gemälde von Newman setzt den Geschichten seine pla­
stische Nacktheit entgegen. Alles ist da, Dimensionen, Far­
ben, Linien, ohne Anspielung. Das macht die Sache proble­
matisch für den Kommentator. Was soll man sagen, was
nicht schon vorgegeben ist? Die Beschreibung ist leicht,
aber platt wie eine Paraphrase. Die beste Deutung ist die
Frageform: Was soll man sagen? oder ein Ausruf: Ah! oder
Überraschung: Na sowas! So viele Ausdrücke für ein Ge­
fühl, das in der modernen ästhetischen Tradition (und im
Werk Newmans) einen Namen hat: das Erhabene. Das ist
das Gefühl bei seinen Bildern. Es gibt also fast nichts zu
"konsumieren" oder sonst irgendwas. Man konsumien nicht
das Ereignis, sondern nur seinen Sinn. Den Augenblick
fühlt man nur einen Augenblick lang.

Die Verpflichtung
Der von Newman versuchte Bruch mit dem Raum der Ve­
dute zieht auch deren "pragmatische" Grundlage in Mitlei­
denschaft. Er ist kein Maler-Fürst mehr, ein Ich, das einem
Dritten (ihn offensichtlich eingeschlossen) anbietet, seinen
Ruhm (bei Duchamp sein Elend) zu sehen, gemäß der
"Kommunikations struktur", die die klassische Moderne be­
gründet hat. Duchamp bearbeitet diese Disposition so, wie
er kann, vor allem durch seine Untersuchung über einen
multidimensionalen Raum und alle Anen von "Bindeglie­
dern". Das Werk in seiner Gesamtheit verschreibt sich dem
großen zeitlichen Bindeglied zu früh/zu spät. Es handelt
sich immer um ein "zuviel", ein Zeichen für das Elend,
während der Ruhm und die canesianische "Generosität"
das "wie es sein soU" wollen. Diese Arbeit Duchamps wird
jedoch in einer bildlichen plastischen Botschaft spürbar, die
von einem Absender, dem Maler, auf den Empfänger, das
Publikum, übenragen wird, damit das Publikum mit einem
Bezug, einer Diegese konfrontien wird, die es zwar
schlecht sehen kann, die es aber, vom Maler mit tausend Li­
sten und Paradoxien behandelt, versuchen soll zu sehen.
Das Auge forscht unter der Herrschaft von: Rate.

360
Der Raum Newmans ist nicht mehr triadisch in dem Sinn.
daß er einen Absender. einen Empfänger und einen Bezug
fordert. Die Botschaft "spricht" von nichts. sie geht von
niemandem aus. Nicht Newman sagt oder zeigt etwas durch
seine Malerei. Die Botschaft (das Bild) ist der Botschaftsträ­
ger. es .. sagt": Hier hin ich, d. h.: Ich gehöre Dir, oder: Gehöre
mir. Zwei Instanzen: ich. Du. nicht austauschbar. die nur in
der Dringlichkeit des Jetzt stattfinden. Der Bezug (das. wo­
von das Bild ..spricht"). der Absender (sein "Autor") tun
nichts dazu. nicht einmal im negativen Sinn. noch nicht ein­
mal als Anspielung auf eine unmögliche Präsenz. Die Bot­
schaft ist die Präsentation. aber von nichts. d. h. von der
Präsenz. Diese ..pragmatische" Organisation ist der Ethik
sehr viel näher als j eglicher Ästhetik oder Poetik. Es geht
Newman darum. der Farbe. der Linie und dem Rhythmus
die Kraft der Verpflichtung z u geben. in einer Beziehung
von Angesicht zu Angesicht. in der zweiten Person. deren
Modell nicht sein kann: Sieh das an, (dort) sondern: Sieh mich.
oder besser: Hör mir zu. Denn die Verpflichtung ist viel
mehr ein Modus der Zeit als des Raums. und ihr Organ ist
mehr das Ohr als das Auge. Newman treibt so die Widerle­
gung der Unterscheidung. eingefühn im Laokoon von Lessing.
auf die Spitze. eine Widerlegung. die gewiß den Hauptan­
teil der avantgardistischen Studien seit. sagen wir. Delauney
oder Malewitsch ausgemacht hat.

Der "Inhalt"
Der Inhalt der Malerei ist jedoch. strenggenommen. nicht
ausgeschaltet. In einem seiner .. Monologe". The PJasmic
Image (1943-1945). betont Newman die Bedeutung des Inhalts
für die Malerei. Ohne Inhalt werde sie. so schreibt er. orna­
mental. Man muß gerechterweise dem Surrealismus. so sehr
er auch darniederliegen mag. zugute halten. daß er durch
Aufrechterhalten der Forderung nach dem Inhalt die neue
amerikanische Generation (Rothko. Gottlieb. Gorky. Pol­
lock. Baziotes) davor bewahrt hat, der leeren Abstraktion zu
verfallen, der die europäischen Schulen seit dem Ende des
ersten Jahrzehnts erlegen sind.
Nach Thomas B. Hess war der ..Inhalt" des Newmanschen
Werkes ingesamt .. die künstlerische Schöpfung" selbst.

361
Symbol für die Schöpfung überhaupt, von der die Genesis
berichtet. Man kann das gelten lassen, so wie man ein My­
sterium oder zumindest ein Rätsel gelten läßt. Newman
schreibt in dem gleichen Monolog: "Der Inhalt der Schöp­
fung ist das Chaos." Viele seiner Bildtitel lenken die Inter­
pretation auf die (paradoxe) Vorstellung des Beginns. Das
Wort, wie ein Blitz in der Dunkelheit oder eine Linie auf
einer leeren Fläche, trennt, teilt, begründet einen Unter­
schied, macht durch diesen Unterschied, so gering er auch
sein mag, spürbar und begründet so eine Gefühlswelt. Die­
ser Beginn ist ein Widerspruch. Er findet in der Welt statt,
wie sein ursprünglicher Unterschied, der Beginn seiner Ge­
schichte. Er ist nicht von dieser Welt, weil er sie erzeugt, er
kommt aus der Vorgeschichte oder aus einer Geschichtslo­
sigkeit. Dieses Paradox ist das der Performance oder des Er­
eignisses. Das Ereignis ist der Augenblick, der unvorher­
sehbar "fällt" oder "sich ereignet", der aber, ist er erst
einmal da, Platz nimmt in dem Raster dessen, was gesche­
hen ist. Jeglicher Augenblick ist der Beginn, vorausgesetzt,
er ist mehr nach seinem quod als nach seinem quid erfaßt.
Ohne diesen Blitz gäbe es nichts, oder das Chaos. Der Blitz
ist "die ganze Zeit" da (wie der Augenblick), und er ist nie
da. Die Welt hört nicht auf zu beginnen. Die Schöpfung bei
Newman ist nicht der Akt von irgendeinem, sie ist das, was
sich (hier) mitten im Unbestimmten ereignet.

Wenn es einen "Inhalt" gibt, ist er das "Augenblickliche".


Er geschieht jetzt und hier. Das, was geschieht (quid),
kommt danach. Der Beginn ist, daß es gibt . . . (quod); die
Welt, das, was es gibt.
Der Inhalt bei Duchamp war die Ungreifbarkeit des Augen­
blicks, den er durch räumliche Kunstgriffe darzustellen ver­
suchte. Das Werk Newmans hört seit Onement 1 (1948) auf,
über eine Leinwand auf eine Geschichte auf der anderen
Seite zu verweisen, auch wenn diese Geschichte so verfei­
nert und in höchstem Maße symbolisch sein sollte, wie es
bei Duchamp die Enthüllung oder die "Erfindung" oder die
"Erscheinung" des anderen (Geschlechts) ist. Nehmen wir
die Bilder vom "Beginn" (wo Newman Newman wird), die
rasch auf Onement I folgen: Galaxy, Abraham, The Name 1 und
Onement 11 1949, joshua, The Name II und Vir Heroicus SublimiJ
362
(1950-1951) oder die Serie der fünf Untitled aus dem Jahr
1950, die mit The Wild endet und von denen jedes Werk ein
bis zwei Meter hoch und vier bis fünfzehn Zentimeter breit
ist: Wir werden sehen, daß diese Werke tatsächlich kein Er­
eignis "erzählen", daß sie sich nicht figurativ auf Szenen aus
Erzählungen beziehen, die dem Betrachter bekannt sind
oder von ihm nachvollzogen werden können. Sicher symbo­
lisieren sie Ereignisse, wie ihre Titel vermuten lassen. Und
die Unbetitelten lassen in gewissem Maß den hebraisieren­
den Kommentar von Hess zu, ebenso wie das bekannte In­
teresse Newmans für die Lektüre von Thora und Talmud.
Allerdings räumt Hess selbst ein, daß "Newman sich nie sei­
ner Malerei bedient hat, um dem Betrachter eine Botschaft
zu übermitteln", und daß "er auch nie eine Idee illustriert
oder eine Allegorie gemalt hat". Die Nicht-Bildlichkeit der
Werke, auch der symbolischen, muß dem Kommentar als
Ordnungsprinzip dienen.
Wenn man also nur die plastische Präsentation befragt, das,
was sich dem Blick bietet, ohne sich mit durch die Titel sug­
gerierten Konnotationen zu behelfen, fühlt man sich lucht
nur ferngehalten von jeglicher Interpretation, man fühlt
auch, daß das Entziffern des Bildes, seine Identifikation
durch die Linien, die Farben, den Rhythmus, das Format,
die Größe und den Werkstoff (Medium und Pigment) leich­
ter, fast augenblicklich erfolgt. Offensichtlich gibt es kein
Geheimnis in seiner Herstellung, keinen Trick, um die In­
telligenz des Blicks abzuschwächen und so die Neugier zu
wecken. Es ist nicht verführerisch, nicht doppeldeutig, es
ist klar, "direkt", freimütig, "arm".
Man muß zugeben, daß jedes dieser Gemälde, selbst wenn
es Teil einer Serie ist (und das ist auch der Fall bei den vier­
zehn Stations, die Newman zwischen 1958 und 1966 gemalt
hat), kein anderes Ziel hat, als durch sich selbst ein visuel­
les Ereignis zu sein. Die Zeit des Erzählten (das Funkeln
des Dolches, der auf Isaak gerichtet ist), die Zeit, um diese
Zeit zu erzählen (die entsprechenden Verse der Genesis),
sind nicht mehr voneinander getrennt. Sie sind eins, in dem
plastischen (linearen, chromatischen, rhythmischen) Au­
genblick verdichtet, der ' das Bild ist. Dieses erhebt sich,
Hess würde sagen: wie der Anruf Gottes, der die Hand
Abrahams aufhält, und man kann das so sagen; aber nüch-
363
terner ausgedrückt, würde man sagen: es erhebt sich, wie
sich das Ereignis erhebt. Das Bild präsentiert die Präsenta­
tion, das Sein bietet sich j etzt und hier dar. Niemand, vor
allem nicht Newman, zeigt mir das im Sinn von: es erzäh­
len, es interpretieren. Ich (der Betrachter) bin nur ein offe­
nes Ohr für den Ton, der aus der Stille zu mir kommt, das
Bild ist dieser Ton, ein Akkord. Sich erheben, ständiges
Thema bei Newman, muß verstanden werden als: die Oh­
ren spitzen, zuhören.

Das Erhabene
Das Werk Newmans gehört zur Ästhetik des Erhabenen,
die Boileau durch seine Übersetzung des Longinus einge­
führt hat und die in Europa seit dem Ende des 17. Jahrhun­
derts langsam ausgearbeitet worden ist, deren gewissenhaf­
teste Deuter Kant und Burke waren und die der deutsche
Idealismus, vor allem der Fichtes und Hegels, in das Prinzip
eingeschlossen - und damit mißachtet - hat, daß die Ge­
samtheit von Gedanken und Realität ein System bildet.
Newman hatte Burke gelesen. Er fand ihn zu "surreali­
stisch" (in seinem Monolog: The Sublime is Now) . Trotzdem
prägte Burke auf seine Weise einen wesentlichen Teil des
Newmanschen Projektes.
Das delight, dieses negative Vergnügen, das widersprüch­
lich, fast neurotisch das erhabene Gefühl kennzeichnet,
entsteht aus der Verdrängung eines drohenden Schmerzes.
Diese Bedrohung, die in bestimmten "Objekten", bestimm­
ten Situationen lauert und den Selbsterhaltungstrieb an­
greift, nennt Burke Schrecken (terror): Dunkelheit, Einsam­
keit, Stille, das Herannahen des Todes können schrecklich
sein in dem, was sie ankündigen: daß der Blick, der Andere,
die Sprache, das Leben nicht mehr da sein werden. Man
fühlt, daß es bald sein kann, daß nichts mehr stattfindet.
Das Erhabene ist, daß mitten in diesem drohenden Nahen
des Nichts doch etwas geschieht, etwas stattfindet, das an­
kündigt, daß nicht alles zu Ende ist. Ein einfaches hier, die
kleinste Begebenheit ist das, was stattfindet.
Nun schreibt Burke der poet'1, die wir Dichtung nennen
würden, diese doppelte und widersprüchliche Finalität zu,
den Schrecken zu verbreiten (wir würden sagen: zu drohen,
364
daß es keine Sprache mehr gibt) und die Herausforderung
dieser Ohnmacht des Verbs aufzuheben, indem er das Er­
eignis eines beüpiellosen Satzes erwecken oder annehmen
läßt. Die Malerei hält er für unfähig, diese erhabene Auf­
gabe auf ihrem Gebiet zu erfüllen. In der Literatur ist es
möglich, Wörter zu kombinieren und mit Sätzen zu experi­
mentieren, sie hat in sich eine unbegrenzte Macht, die der
Sprache in ihrer Vielfalt. Die Malerei aber unterliegt in den
Augen Burkes den Zwängen der figurativen Darstellung.
Mit einem einfachen Ausdruck wie "der Engel des Herrn",
schreibt er, eröffne der Dichter dem Gedanken eine Fülle
von Assoziationen; kein gemaltes Bild verfüge über einen
solchen Schatz, es könne niemals über das hinausgehen,
was das Auge erkennen könne.

Man weiß, wie sich die surrealistische Malerei bemüht hat,


dieses Unvermögen zu ändern. Sie bringt das Unendliche in
die Komposition ein. Figurative, wenn auch nicht immer er­
kennbare, aber zumindest definierte Elemente werden auf
paradoxe Weise zusammen angeordnet (nach dem Modell
der Traumarbeit). Diese "Lösung" bleibt trotzdem für den
Vorwurf Burkes hinsichtlich der Fähigkeit der Malerei, was
das Erhabene angeht, empfänglich: die . Überreste" der
"perzeptiven Realität" werden letztlich nur anders zusam­
mengestellt. Und wenn Newman Burke "zu surrealistisch"
findet, so deshalb, weil er als Maler sehr wohl sieht, daß
dieses abschätzige Urteil nur für eine Kunst Geltung hat,
die darstellen, wiedererkannt werden will.

In der Kritik der Urteilskraft skizziert Kant beinahe unfreiwil­


lig eine andere Lösung für das Problem der erhabenen Ma­
lerei. Er schreibt, man kann nicht im Raum und in der Zeit
das Unendliche der Macht oder das Absolute der Größe
darstellen, die reine Ideen sind. Aber man kann zumindest
darauf anspielen, sie "hervorrufen" durch das, was er "nega­
tive Darstellung" nennt. Für dieses Paradoxon einer Dar­
stellung, die nichts darstellt, gibt Kant als Beispiel das Ver­
bot von Bildern durch das mosaische Gesetz an. Das ist nur
ein Hinweis, aber er kündigt die abstraktionistischen und
minimalistischen Auswege an, durch die die Malerei dem fi­
gurativen Gefängnis zu entkommen versucht. -
365
Bei Newman besteht die Befreiung nicht aus dem Über­
schreiten der Grenzen, die der Barock und die Renaissance
dem figurativen Raum gesetzt haben, sondern im Abziehen
der Ereigniszeit, in der die legendäre oder historische
"Szene" stattgefunden hat, von der Präsentation des bildli­
ehen Objekts selbst. Der chromatische Werkstoff, seine Be­
ziehung zum Materiellen (der manchmal unvorbereitet ge­
lassenen Leinwand) und seine Veneilung (Größe, Format,
Proportionen), das allein muß die bewundernde Überra­
schung, das Staunen darüber, daß etwas ist, mehr als nichts,
auslösen. Das Chaos droht, aber das Leuchten des Tzim­
tzum, das Zip, zerteilt die Dunkelheit, zerlegt das Licht wie
ein Prisma in Farben und veneilt sie auf der Fläche in ei­
nem Universum. Newman hat gesagt, daß er zuerst Zeich­
ner war. Es gibt eine Helligkeit der Linie an sich.

Der Ort
"Meine Bilder sind weder mit der Manipulation des Raumes
noch mit der bildlichen Darstellung verbunden, sondern
mit einer Zeitempfindung", schreibt Newman in einem un­
vollendet gebliebenen Monolog von 1949 mit dem Titel Pro­
logue for a New Esthetic. Diese Empfindung, fühn er weiter
aus, ist nicht "Zeit in dem Sinn, in dem sie unterschwelliger
Inhalt der Malerei gewesen ist, die sehnsüchtige und drama­
tische Gefühle damit vermischt hat, so daß die Zeit immer
aus Assoziationen und Geschichte bestand". Das Manu­
skript des Prologue bricht hier ab. Aber die Zeilen, die dieser
Unterbrechung vorangehen, lassen eine etwas genauere Be­
stimmung der Zeit zu, um die es sich handelt.

Newman erzählt, daß er im August 1949 die Grabhügel (die


"mounds") der Miami-Indianer im Südwesten Ohios und
das Indianerdorf in Newark, Ohio, besucht hat. Er schreibt:
"Als ich aufrecht vor den Grabhügeln von Miamisburg
stand ( . . . ), war ich verwirrt durch den absoluten Charakter
der Empfindung, durch diese Einfachheit, die sich von
selbst verstand." In einem späteren Gespräch, das Hess wie­
dergibt, erklän er dieses Ereignis des heiligen Ones. "Man
betrachtet den Platz, und man denkt: Hier bin ich, hier . . .
und dahinten, da unten (über die Grenzen des Ones hin­
aus), da ist das Chaos, die Natur, die Ufer, die Landschaf-
366
ten ' " Aber hier versteht man den Sinn seines eigenen Da­
seins . . . Die Idee kam mir, den Betrachter präsent zu
machen, die Idee, daß ,der Mensch präsent ist'."
Hess vergleicht diese Erklärung mit dem Text, den
Newman 1963 schreibt, um den Entwurf für eine Synagoge
vorzustellen, die er mit Robert Murray für die Ausstellung
Recent Amencan SynagogueJ Architecture plant und baut. Die
Synagoge ist ein idealer Inhalt für den Architekten, er ist zu
keiner räumlichen Organisation gezwungen, außer der, wie
er am besten den Befehl wiedergeben kann: "Wisse, vor
wem Du stehst. Das ist ein Ort, Makom, an dem jeder
Mann aufgefordert werden kann, sich zu erheben und sei­
nen Text vor der Thora zu lesen ( . . . ). Ich will einen Ort,
keine Umgebung schaffen, ich lehne die Anbetung von ritu­
ellen Objekten ab ( . . . ). Hier in dieser Synagoge ist jeder
Mann in seinem ,dagout' allein, er wartet darauf, aufgerufen
zu werden, nicht um auf eine Kanzel, sondern um auf den
Hügel zu steigen, wo er unter der Spannung des Tzimtzum,
das das Licht und das Universum erschafft, sich dem voll­
ständigen Sinn seiner eigenen Persönlichkeit vor der Thora
und Seinem Namen bewußt werden kann." Der zentrale
"Hügel", auf dem die Thora gelesen wird, ist auf den Skiz­
zen und dem Plan als "mound" verzeichnet.

Diese Verdichtung des indianischen und des jüdischen


Raumes hat ihren Ursprung und ihr Ziel in dem Versuch,
die "Präsenz" einzufangen. Die Präsenz ist der Augenblick,
der das Chaos der Geschichte unterbricht und daran erin­
nert oder nur sagt: daß "etwas da ist", bevor das, was da ist,
irgendeine Bedeutung hat. Das ist eine Vorstellung, die
man mystisch nennen kann, da es sich um das Geheimnis
des Seins handelt. Aber das Sein ist nicht der Sinn. Nach
Newman gäbe das Sein, wenn es sich im Augenblick offen­
baren würde, der "Persönlichkeit" ihren "totalen Sinn". Der
Ausdruck ist doppelt unglücklich. Im Ereignis sind weder
die Bedeutung noch die Totalität noch die Person im Spiel.
Diese Instanzen kommen zum Tragen, "nachdem" etwas
stattgefunden hat, um sich dort zu situieren. Makom bedeu­
tet Ort, aber dieser "Ort" ist zugleich auch der biblische
Name Gottes. Man muß ihn verstehen wie in dem französi­
schen Ausdruck "avoir lieu", d. h. sich ereignen.
367
Die Passion

1966 stellt Newman im Guggenheim Museum die vierzehn


Stations 0/ the Cross, den Kreuzweg, aus. Er gibt ihnen als
Untertitel Lamma, Sabachtani, den Schrei der Verzweiflung,
den der gekreuzigte Jesus Gott entgegenschleudert: Warum
hat Du mich verlassen? "Diese Frage ohne Antwort",
schreibt er in der Notice, die diese Ausstellung begleitet,
"begleitet uns schon so lange Zeit - seit Jesus - seit
Adam - , es ist die Frage aller Fragen." Die hebräische Ver­
sion der Passion: die Versöhnung der Existenz (und damit
des Todes) mit der Bedeutung hat nicht stattgefunden. Der
Messias, der Sinnträger, läßt immer noch auf sich warten.
Die einzige, aber nie gehörte "Antwort" auf die Frage des
Verlassenen ist nicht: Wisse warum, sondern Sei. Newman
hat ein Bild Be genannt, 1970, im Jahr seines Todes, hat er
es unter dem Titel Be I (Zweite FaJJung) wieder aufgenom­
men. Ein anderes Gemälde, das der Händler, der es 1962 in
New York ausstellte, Resurrection betitelt hatte, wurde 1966
im Guggenheim Museum mit den Stations unter dem Titel
Be II (es war 1961 begonnen worden) ausgestellt. Im Buch
von Hess trägt die Reproduktion dieses Werkes den Titel
First Station, Be II.
Man begreift, daß es sich bei diesem Sei nicht um die Aufer­
stehung im Sinne des christlichen Mysteriums handelt, son­
dern um den Rücklauf eines Gebots aus der Stille oder der
Leere, die die Passion ewig dauern läßt, indem sie sie von
Anfang an wiederholt. Im Verzicht auf den Sinn besteht die
Deontologie des Künstlers darin, das es gibt auszudrücken,
der Ordnung des Seins zu antworten. Das Bild als Ausdruck
einer Überzeugung darf keinen Anlaß zur Entzifferung
oder noch weniger zur Interpretation bieten. Daraus resul­
tiert die Verwendung der modulierten Farben, der nicht­
modulierten Farben und später der sogenannten elementaren
Farben in Who's afraid o/Red, Yellow and Blue? (1966- 1967).
Bei diesem letzten Titel bedeutet das Fragezeichen folgen­
des: Geschieht es?, und das "afraid" muß, denke ich, als eine
Anspielung auf den Burkeschen terror verstanden werden,
der die Lust am Ereignis umhüllt, die Erleichterung dar­
über, daß es gibt.
Das Sein kündigt sich imperativisch an. Die Kunst ist kein
368
durch ein Ziel (das Vergnügen des Empfängers) gebunde­
nes Genre, noch weniger ein Spiel, dessen Regeln entdeckt
werden sollen, sie erfüllt eine ontologische, d. h. eine "chro­
nologische" Aufgabe. Sie erfüllt sie, ohne sie zu vollenden.
Man muß immer wieder den Zufall bezeugen, indem man
ihn Zufall sein läßt. In den ersten Skulpturen von 1963 bis
1966 mit den Titeln Here L Here IL Here 111 und in dem Bro­
ken Obelisk aus dem Jahr 1961 erkennt man ebenso viele
dreidimensionale Versionen des Zip, der unvermeidlich, al­
lerdings nie an der gleichen Stelle, alle Bilder gradlinig
durchschneidet. Die Vertikalität bei Newman konnotiert
nicht nur die Elation, das Herausreißen aus dem Boden des
Verzichts und des Nicht-Sinns. Sie erhebt sich nicht nur,
sie steigt herab und vernichtet. Die Spitze des umgedrehten
Obelisken berührt die Spitze der Pyramide, "wie" in der
Sixtinischen Kapelle der Finger Gottes den Adams berührt.
Das Werk erhebt sich im Augenblick, aber der Blitz des Au­
genblicks entlädt sich auf es wie ein minimaler Befehl: Sei.

Ich breche die Studie hier ab. Es bliebe noch viel zu sagen. In der
Zwischenzeit ist es an der Zeit, in Gedenken an Thomas B. Hess
meinen Dank auszusprechen für seinen Barnett Newman. Die hier
abgedruckten Informationen sind aus der französischen Überset­
zung von Marie-Therese Endes und Anne-Marie Lavagne entnom­
men, die im Katalog der Ausstellung im Grand Palais in Paris
(10. Oktober bis 1 1 . Dezember 1972) vom Kulturministerium und
dem Centre National d'An contemporain veröffentlicht wurde.
Dezember 1983

Aus dem Französischen von Theda Krohm-Linke


R O B E RT W I L S O N
,Video 50'

Video 50 unterscheidet sich wesentlich von meiner Bühnen­


arbeit. Unterschiedlich sind Maßstab und Dauer. Im Fernse­
hen geht alles viel schneller. Fernsehen unterscheidet sich
vom Theater, weil es Umgebung ist - wie ein Möbelstück
oder ein Fenster in einem Zimmer. Es ist nur ein Element
unter alldem, was uns umgibt. Wenn man ins Theater geht,
richtet sich die Aufmerksamkeit auf die Bühne. Sieht man
fern, kann man auch noch anderes tun: telefonieren, essen
oder lieben. Beim Fernsehen hat man immer eine Wahl.
Man kann den Kanal wechseln und den Ton abschalten. Vi­
deo 50 ist in Funktion dieser Wahl strukturien. Man kann es
in sehr kurze Sequenzen von 30 Sekunden teilen und die
Segmente können umgestellt und in anderer Ordnung gese­
hen werden.
Der Maßstab des Fernsehens ist einziganig. Weil zwischen
menschlichem Körper und Bildschirm keine natürliche Pro­
ponion besteht, sind die Leute beim Fernsehen oft auf ei­
nen Kopf auf den Schultern reduzien, auf ein Gesicht oder
sogar auf eine Bewegung der Augen. In der Malerei gibt es
drei Anen, den Raum zu messen: die Landschaft, das Stille­
ben und das Ponrait. Im Fernsehen entspricht das Pan­
orama der Landschaft. Man verwendet es selten für dramati­
sehe Sendungen, nur bei Sponereignissen ist es wesentlich.
Die Mitte entspricht dann dem Stilleben. Man benutzt sie
im Fernsehen für das Dekor. Bei dramatischen Sendungen
oder Nachrichten ist das Ponrait oder die Nahaufnahme am
häufigsten. Ich verwende häufig die Nahaufnahme, weil sie
am stärksten ist. Die Mitte verwende ich, um den On und
die Beziehungen zu verdeutlichen und das Panorama zur
Akzentuierung. Was den Ton betrifft, so sprechen die
Schauspieler in meinen Aufnahmen ihren Text gewöhnlich
nicht direkt. Tonaufnahme und sonore Collage werden fa­
brizien und nach der Bildrnontage hinzugefügt. Die Texte
selbst können in irgendeiner Sprache hinzugefügt werden,
so daß Video 50 überall gezeigt werden kann.
Mein Ziel bei dieser Arheitsmethode ist es, den Akzent auf
die Bedeutung jedes einzelnen Elements zu setzen. Es
370
scheint evident, wenn man sagt, das Fernsehen ist ein visu­
elles Medium. Man benutzt es oft aber nur als simple Illu­
stration von Text. In vielen meiner Werke geht das, was
man sieht und das, was man hön, nicht zusammen. Bild
und Ton sind gemacht, um für sich zu existieren. Schließt
man die Augen, müßte man noch in der Lage sein, das Pro­
gramm zu genießen, ebenso wenn man den Ton abdreht,
um nur das Bild zu haben. Was ich zu tun versuche, ist Ton
und Bild ein autonomes Leben zu geben.

Aus dem Franziisischen von Karlheinz Barck


Es gibt eine Sprache, die universell ist
Sy/vere Lotringer im Gespräch mit Bob Wi/son

Wie bist du zu dieser Art von Theater gelangt, die nicht primär auf
Sprache aufgebaut ist?

Ich habe das Theater nie gemocht. Das Erzählende oder die
Psychologie hat mich nie interessiert. Ich zog das Ballett
vor, weil es architektonisch war - ich komme von der Male­
rei und von der Architektur her. Mir gefielen Balanchine
und Merce Cunningham, weil ich mich da nicht um Hand­
lung und Bedeutung kümmern mußte. Ich konnte einfach
Muster und Strukturen betrachten - das schien genug. Ein
Tänzer ist hier, ein anderer dort, weitere vier auf dieser
Seite, acht auf der anderen, dann sechzehn . . . Ich fragte
mich, ob das Theater die gleichen Dinge tun könnte wie
der Tanz, ob es einfach ein architektonisches, ein zeitliches
und räumliches Arrangement sein könnte. Also machte
ich zuerst Stücke, die hauptsächlich optisch waren. Ich
begann meine Arbeit mit verschiedenen Bildern, die auf
eine bestimmte Weise arrangiert waren. Später fügte
ich Wörter hinzu, aber mit den Wörtern wurde keine
Geschichte erzählt. Sie wurden vielmehr architektonisch
verwendet - je nach der Länge des Wortes oder des
Satzes, nach ihrem Klang. Sie wurden wie Musik konstru­
iert.
Zum Beispiel: Wenn in Einstein on the Beach die Lucinda
spricht, kommt es auf den Klang ihrer Stimme an, auf die
Muster ihrer Stimme. In A Letter to Queen Victoria interes­
sierte mich hauptsächlich der Kontrast zwischen der
Stimme von George und der von Jim Neu, zwischen Ste­
phans Stimme und der von Scotty, zwischen Sherleys
Stimme und der von Cindy. Ich wollte diese verschiedenen
Rhythmen zusammenbringen, diese verschiedenen Sprech­
weisen, um einen Klangeffekt zu schaffen. Der Inhalt inter­
essierte mich nicht in erster Linie. Trotzdem ist er da.
Wenn man Mozart hört, fragt man sich nicht, was das be­
deutet. Man hört einfach zu. Was ich mache, betrachte ich
als eine Art "optische Musik".

372
DENISE GREEN: Dein Interesse an Architektur und auch
dein weitreichender Gebrauch optischer Requisiten paßt
nicht in den Minimal-Trend der sechziger Jahre.

Nein. Das Theater der sechziger Jahre wollte die Techniken


des 19. Jahrhundens abschaffen. Man wollte keine gemalten
Dekorationen verwenden, die den Wald oder einen Tempel
oder einen viktorianischen Salon darstellten. Das war zu alt­
hergebracht. Rauschenberg malte eine Gans und stellte sie
in die Mitte des Raums. Man konnte sie von allen Seiten se­
hen, in 360 Graden. Es gab eine Ausstellung im Whitney
Museum, Art Against Illusion, die die Krönung der Künste
am Ende der sechziger Jahre sein sollte. Ich machte damals
gerade ein Stück namens The King 0/ Spain, das eigentlich
gar nichts mit dem zu tun hatte, was die anderen machten.
Es ging dabei nämlich präzise um eine Illusion. Ich ver­
suchte tatsächlich, die Illusion, das Geheimnis zu enthül­
len. Mich faszinierte irgendwie der zweidimensionale
Raum, der dreidimensionale Raum und die Illusion, die ein
Kasten hervorruft. Mir gefiel das Formale an ihnen. The
King 0/ Spain ist ein viktorianisches Drama, in dem riesige,
neun Meter große katholische Könige durch den Salon ge­
hen. Es gibt ein komplizienes System von Flaschenzügen,
und nicht weniger als zwanzig Mann zogen diesen riesigen
Apparat über die Bühne. Das war offensichtlich ein Thea­
terkonzept des 19. Jahrhunderts. Das war alles hinter einem
Rahmen verborgen. In den Sechzigern versuchten sie, den
Rahmen zu zerstören. Ich stellte zur gleichen Zeit den Rah­
men eigentlich genau vor die Maschinerie.
Ich machte noch andere Dinge, die gegen jene Vorstellun­
gen rebellieren, aber ich habe eine Philosophie, daß es
wichtig ist, sich zu widersprechen. Auf jeden Fall bin ich
weit entfernt von Grotowski und jeder An von expressioni­
stischem oder Gefühlstheater. Ich strenge mich sogar an, je­
des wahrnehmbare Gefühl auszuschalten. Aber diese me­
chanische Darstellung ist auch keine ganz neue Idee.
Nijinski wollte seinen Tanz rein mechanisch sein lassen . . .
Wir probten Queen Victoria sehr oft, bevor wir es das erste
Mal spielten. Die Probe wurde jedes Mal auf die genau glei­
che An gemacht, bis sie total mechanisch wurde. Im Gegen­
satz dazu machten Chris Knowles und ich Improvisationen.
373
Alles, was Chris im Stück machte, war weitgehend improvi­
siert. Der größte Teil des Textes von Queen Victoria stammte
aus seinem besonderen Gebrauch der Sprache.

Sowohl Raymond Andrews wie Christopher Knowles scheinen unab­


hängig von unserer ,umgangssprachlichen' Tradition zu arbeiten.
Was machte dich für ihre Wahrnehmungsart so empfänglich?

Ich konnte mich mit ihnen identifizieren. Als ich Chris das
erste Mal sah, sagte seine Mutter: "Weißt du, seine Notiz­
bücher sehen deinen sehr ähnlich." Es gab da also eine Ge­
meinsamkeit. Was Raymond angeht - er kannte keine
Worte, als ich ihn kennenlernte. Das faszinierte mich. Ich
fragte mich, wie er dachte, wenn er nicht mit Hilfe von
Worten dachte.

DENISE GREENE: Kann man wirklich ohne Worte denken?

Offensichtlich hat dieser Junge gedacht, und er war sehr


klug. Er war dreizehn Jahre alt, und er kannte überhaupt
keine Worte. Er sah alles in Bildern, und auf die Weise
machten wir Deafman Glance. Zu jener Zeit wohnte er mit
mir zusammen, also vermittelte ich ihm den Gedanken, daß
wir zusammen ein Stück machen würden. Er machte Zeich­
nungen - von einem Tisch, einem Frosch, von verschiede­
nen Dingen -, und daraus entstand das Stück. Was inner­
halb dieser Szenerie ablief, das waren meist Gesten,
Bewegungen, Dinge, die er bemerkte. Es war sozusagen
eine Sprache.
Dann lernte ich Chris kennen. Ich hatte ein Band gehört,
das er über seine kleine Schwester gemacht hatte, wie sie
fernsah. Ich kannte ihn nicht, war aber von dem Band gefes­
selt. Dann wuchs meine Faszination durch ihn und das, was
er mit der Sprache machte. Er nahm gewö.hnliche, alltägli­
che Wörter und zerstörte sie. Sie wurden so etwas wie Mo­
leküle, änderten sich dauernd, brachen immerfort auseinan­
der, Worte mit vielen Facetten, nicht bloß eine tote
Sprache, ein auseinanderbrechender Fels. Er definierte die
verschiedenen Sprachkodes dauernd neu.
Chris baut beim Sprechen. Er sieht Bilder beim Sprechen.
Er macht optische Konstruktionen. Das Wort "das" ist ein
374
Strich, aber jedes Mal ist der Strich anders. Was er machte,
sprach mich mehr als Künstler an. Ich habe eigentlich nicht
versucht, es intellektuell zu verstehen.

Es scheint sehr logisch, sogar mathematisch geordnet zu sein, obwohl


es vielleicht vergeblich ist, zu verstehen zu versuchen, wie diese Ord­
nung eigentlich aussieht.

Ja. Chris kann seine Sprache spontan nach mathematischen,


geometrischen oder numerischen Kategorien organisieren.
Ich kann das nicht so gut wie er. Ich muß alles niederschrei­
ben, was einige Zeit dauen. Bei Chris geht es von selbst.
Ich kann nie erklären, warum etwas getan wird. Es sieht
einfach richtig aus. Es ist nicht notwendigerweise willkür­
lich, aber ich kann nicht genau sagen, warum es so zu sein
scheint. Ich glaube, es hätte wahrscheinlich seine eigene
Logik, wenn man nur die nötige Zeit aufbrächte, das her­
auszukriegen.

DENISE GREENE: Kannst du genauer erklären, welche Ge­


meinsamkeit du zwischen Raymond und Chris siehst?

Sie sind beide in hohem Maße optisch. Das getippte "C" auf
diesem Diagramm steht vielleicht für einen Namen, Chri­
stopher, aber es ist sehr optisch. Die Art, wie Raymond uns
verstand und sich uns mitteilte, war eine optische An. Er
höne die Wone nicht.
Wir hören und sehen mit inneren und äußeren audiovisuel­
len Schirmen. Wenn unsere Augen geschlossen sind - wir
schlafen, wir sind blind -, dann sehen wir vielleicht auf die­
sem inneren optischen Schirm. Aber wenn unsere Augen
offen sind, sehen wir auf diesem äußeren optischen Schirm.
Wenn wir taub sind, dann hören wir vielleicht mit einem
inneren Schirm; wenn wir die Autos hören, dann hören wir
mit unserem äußeren Schirm.

Kann ein Stück den inneren Schirm besser sichtbar machen?

In längeren Stücken wie StaUn geschah es ausnahmslos, daß


eher eine Balance entstand. Die äußeren und inneren au­
diovisuellen Schirme verbinden sich und oft reden die
375
Leute von Dingen, die in Wirklichkeit nicht auf der Bühne
geschahen, weil sie im Halbschlaf waren. Es geschah etwas
anderes, aber sie fingen an, das zu sehen, was sie sehen
wollten. Ich glaube, wir hören und sehen alle, was wir hö­
ren und sehen wollen. Tony Conrad machte in den Sechzi­
gern einen Film, der einfach aus einem Wechsel von
schwarzen und weißen Einzelbildern bestand. In einer Se­
kunde kamen 24 Einzelbilder, und das waren vielleicht ein
weißes Bild, dann ein schwarzes, dann zwei weiße usw.,
und die Leute sahen ohne Ausnahme verschiedene Dinge.
Vielleicht sehen wir immer, was wir sehen wollen. Wir hö­
ren nicht dieselben Dinge. Da machte einer einmal eine
Schleife mit dem Won "Cogitate, cogitate, cogitate", und
die Leute hörten alle möglichen Sachen, "meditate", "tra­
gedy", alles, was sie hören wollten . . .

Die Leute, die sich mit tauben oder autistischen Kindern beschäfti­
gen, scheinen sich im Grunde damit 'ZU befassen, ihnen unsere Spra­
che und Konventionen aufzuzwingen. Du hast anscheinend genau
das Gegenteil getan. Du hast angenommen, daß es etwas von ihnen
'ZU lernen gab.

Richtig. Chris ging auf eine Schule. Er machte diese Zeich­


nungen und man hat ihn daran gehinden. Sie versuchten,
sie zu korrigieren, anstatt sie zu ermutigen. Keiner beschäf­
tigte sich mit seinen Zeichnungen als Kunstwerken. Ich
sagte einfach: "Das ist sehr schön. Mach mehr davon."

Meinst du, dein Theater hilft die Unterscheidung zwischen " Wahn­
sinn" und Kunst überbrücken?

Hier ist ein Apfel (er zeichnet einen Apfel), und mitten in
diesem Apfel ist ein Würfel, ein Kristall. Der Apfel ist die
Welt, der Würfel ist eine Möglichkeit zu sehen, was in der
Welt vorgeht. Im Fall von Christopher oder sogar Raymond
war don eine Sprache. Eines Tages sagte ich sehr laut sei­
nen Namen, Raymond, und er drehte sich nicht um. Ich
sagte "Aounn", und er drehte sich um. Das war eine Überra­
schung. Er drehte sich um, und ich ahmte seine Laute nach,
die Laute eines Tauben, und da war das Erkennen dieses
Lauts. Man konnte es an seinem Gesicht ablesen. Wenn ein
376
Tauber "Eah Eeyan Eeaah" sagt, sieht man in seinem Ge­
sicht die alptraumhafte Bedrückung, daß er nicht die Spra­
che des Zuhörers sprechen kann. Sie ahmen uns nach, aber
sie werden es nie schaffen. Als ich "Aouinn" sagte, sah ich
an seinem Gesicht, daß er wußte, wovon ich wirklich
sprach. Da war ein Erkennen des Lauts. Also ist das viel­
leicht auch eine Sprache, so wie Französisch eine Sprache
ist. Und das mitten in dem Würfel. Das Sprachzentrum.
Vielleicht ist das eine Sprache, die man lernen oder verste­
hen könnte. Und das gleiche gilt für Christopher. Die An­
ordnung seiner Laute ist etwas, das man mit der Zeit lernen
kann. Da sind 2 C's, und da sind 4 C's, und da sind B C's,
und da sind 12 C's, oder was auch immer. Es ist eine Spra­
che. Es ist eine Art zu sprechen, wie Französisch oder
Deutsch. Es mag auch eine andere Sprache sein, aber sie
könnte in dem Zentrum gelernt werden.
Solange man diesen beiden Menschen sagt, daß man ihre
Sprache nicht akzeptiert, dann ist es für sie in den meisten
Fällen schwierig, unsere zu akzeptieren. Man muß sich auf
halbem Weg treffen: Okay, wir lernen eure und ihr lernt
unsere. Unter denen, die mit Tauben arbeiten, habe ich nie
einen gefunden, wirklich nicht einen einzigen, der sich so et­
was je zu eigen gemacht und ihre Sprache als eine Sprache
anerkannt hat. Sie kümmern sich nicht um ihre Sprache. Es
gibt eine Zeichensprache, aber sie benutzen Laute. Ich habe
nie gesehen, daß einer versuchte, sich einem gehörlosen
Menschen mit seinen eigenen Lauten und in seiner eigenen
Sprache mitzuteilen. Und dasselbe gilt für Christopher, für
die Arbeit an "Autismen". Seine Schule war angeblich die
beste in den Staaten, aber niemand interessierte sich dort
wirklich dafür, was die Kinder machten - sie waren dazu
da, unsere Sprache zu lernen.
Chris und Raymond haben eine Verbindung mit der Spra­
che, die darauf hinweist, daß wir auf Laute reagieren, bevor
wir die Bedeutung eines Wortes lernen. Es gibt also etwas
sehr Fundamentales an der Sprache, es gibt eine Sprache,
die universell ist, und das ist noch etwas, was wir ins Thea­
ter einbrachten. Im Idealfall kann dieses Theater überall
von allen Menschen verstanden werden. Ich habe in Paris
gerade ein Stück aufgeführt, das aus englischen Wörtern be­
steht. Die Leute reagieren hauptsächlich auf den Klang,
377
und Autisten tun das offensichtlich auch. Sie verstehen
kein Englisch, aber sie hören auf das, was in diesen Wör­
tern als Chiffre enthalten ist: Energie. Letztes Jahr nahm
Christopher alte Batterien, nahm auf. was gesprochen
wurde, und spielte die Bänder; auf diese Weise hötte er die
Gespräche "s e h r l a n g s a m . . . " Es ist sehr seltsam, was
man da hött. Da sind aB diese anderen Laute in den Wotten
drin.

Hast du jemals daran gedacht, in den USA Aufführungen mit an­


deren Sprachen zu machen, um einen ähnlichen Effekt zu bewirken
wie den, den du in Europa mit der englischen Sprache bewirkst?

Ich habe das überlegt, ja. Ich habe in Stalin etwas Ähnliches
gemacht: Haf. hap, hat - es waren 2 hats und 3 haps,
2-3-2-1-2, 1-2-3-2-1-2 (klopft auf den Tisch) - so etwa. Das
war einfach ein Lautmuster.

Bei deinem Theater können auf der Bühne gleichzeitig verschiedene


Dinge geschehen, die keine logische Verbindung miteinander haben.
Es entstehen zwar Beziehungen, aber sie müssen nicht in Worte ge­
faßt werden . . .

Genau so denken wir. Genau so sitzen wir hier und reden,


und ich schaue ein Bild an und denke, in einer Stunde muß
ich gehen, ich muß am Flugzeug sein, ich muß meine Sa­
chen packen - weißt du, all diese Dinge gehen mir durch
den Kopf, während ich gleichzeitig dieses Gespräch mit
euch führe. Letzte Woche gerade habe ich in Boston ein
Stück mit dem Titel "Dia-Log" gemacht, in dem ich genau
so mit Christopher rede. Ich finde häufig, daß man mehr
Dinge gleichzeitig ausdrücken kann, wenn man so redet.

Aus dem Amerikanischen von Guntram Weber


G I LLES D E L E U Z E
Ein Manifest weniger

1. Das Theater und seine Kritik

Zu seinem Stück "Romeo und Julia" sagt Carmelo Bene


(CB): "Dies ist ein kritischer Versuch über Shakespeare."
Aber in Wirklichkeit schreibt CB nicht über Shakespeare;
der kritische Versuch ist selbst ein Theaterstück. Wie soll
man sich die Beziehung zwischen dem Theater und seiner
Kritik, zwischen ursprünglichem und abgeleitetem Stück
vorstellen? Das Theater CB's hat eine kritische Funktion,
aber gegenüber was?
Es geht weder darum, Shakespeare zu "kritisieren", noch
um ein Theater im Theater, noch um eine Parodie, noch um
eine Neufassung des Stücks etc. CB geht anders vor, und
das ist viel neuartiger. Nehmen wir an, daß er das ursprüng­
liche Stück um eines seiner Elemente beraubt. Er zieht vom
ursprünglichen Stück etwas ab. Sein Stück über Hamlet
nennt er nicht einen Hamlet mehr, sondern "einen Hamlet
weniger", wie Laforgue. Er geht nicht per Addition vor,
sondern per Subtraktion und Amputation. Wir werden
gleich sehen, daß es eine weitere Frage ist, wie er das Ele­
ment auswählt, das zu amputieren ist. Aber zum Beispiel
amputiert er Romeo, neutralisiert Romeo im ursprüngli­
chen Stück. Nun wird das ganze Stück, da ein nicht willkür­
lich gewähltes Element jetzt darin fehlt, vielleicht umkip­
pen, sich um sich selbst drehen, sich auf eine andere Seite
legen. Wenn man Romeo amputiert, wird man Zeuge einer
erstaunlichen Entwicklung, der Entwicklung Mercuzios,
der in Shakespeares Stück nur als Möglichkeit angelegt war.
Mercuzio stirbt bei Shakespeare schnell, aber bei CB will er
nicht sterben, kann er nicht sterben, kommt er nicht dazu,
denn er wird die Grundlage des neuen Stücks bilden.

Es geht also in erster Linie um die Konstitution einer Figur


auf der Bühne selbst. Sogar die Requisiten erwarten ihr
Schicksal, d. h. die Notwendigkeit, die ihnen die Caprice der
Figur verleihen wird. Das Stück ist zunächst mit dem Auf­
bau der Figur verwoben, ihrer Einführung, ihrer Geburt, ih-
379
rem Stammeln, ihren Variationen, ihrer Entwicklung. Die­
ses kritische Theater ist ein konstituierendes Theater, die
Kritik ist eine Konstitution. Der Theatermann ist kein Au­
tor, Schauspieler oder Regisseur mehr. Er ist ein Operateur.
Unter Operation muß man die Bewegung der Subtraktion,
der Amputation verstehen, die aber schon von der anderen
Bewegung überdeckt wird, die etwas Unerwartetes entste­
hen und wuchern läßt, wie im Falle einer Prothese: die Am­
putation Romeos und die gigantische Entwicklung Mercu­
zios, das eine im anderen. Dies ist ein Theater von
chirurgischer Präzision. CB will also, wenn er oft ein ur­
sprüngliches Stück benutzt, daraus keine modische Parodie
machen und auch nicht der Literatur Literatur hinzufügen.
Er will im Gegenteil die Literatur subtrahieren, z. B. den
Text subtrahieren, einen Teil des Textes, und sehen, was
passiert. Damit die Worte aufhören, einen . Text" zu bilden . . .

Ein Experimentaltheater, das mehr Liebe zu Shakespeare


mitbringt als alle Kommentare.
Nehmen wir das Stück "S.A.D.E.... Hier, auf der Grundlage
erstarrter Rezitation Sade'scher Texte, wird das sadistische
Bild des Herrn amputiert, paralysiert, auf einen masturbato­
rischen Tick reduziert, während gleichzeitig der masochisti­
sche Diener auf der Bühne in Relation zu den Mängeln und
Schwächen des Herren sich sucht, sich entwickelt, sich ver­
wandelt, sich bewährt, sich konstituiert. Der Diener gibt
ganz und gar nicht das umgekehrte Bild des Herrn ab, und
auch nicht seine Replik oder seine widersprüchliche Identi­
tät: er konstituiert sich Stück für Stück, Teil für Teil ausge­
hend von der Neutralisierung des Herrn; er bezieht seine
Autonomie aus der Amputation des Herrn.

Kommen wir schließlich zu "Richard m", wo CB in seiner


theatralischen Konstruktion vielleicht am weitesten geht.
Hier wird das ganze königliche und fürstliche System am­
putiert, subtrahiert. Nur Richard III und die Frauen bleiben
übrig. Aber nun erscheint in einem neuen Licht, was in der
Tragödie nur virtuell existierte. Richard III ist vielleicht die
einzige Tragödie von Shakespeare, in der die Frauen von
sich aus Kriegsbeziehungen unterhalten. Und Richard III
seinerseits begehrt weniger die Macht, als daß er vielmehr
eine Kriegsmaschine wiedereinführen oder neuerfinden
380
will, auf die Gefahr hin, das scheinbare Gleichgewicht oder
den Staatsfrieden zu zerstören (was Shakespeare das Ge­
heimnis Richards, die "geheime Absicht", nennt). Indem
eB die Subtraktion von Figuren der Staatsmacht vornimmt,
gewährt er der Konstitution des Kriegers auf der Bühne
freien Lauf, mit all seinen Prothesen, seinen Entstellungen,
seinen Auswüchsen, seinen Defekten, seinen Variationen.
Der Krieger wurde in den Mythologien immer als anderen
Ursprungs betrachtet als der Staatsmann oder der König:
entstellt und gewunden, kommt er immer von außen. eB
läßt es auf der Bühne geschehen: in dem Maße, wie die
kriegerischen Frauen auf- und abtreten, besorgt um ihre
Kinder, die dauernd herumjammern, wird Richard III zu ei­
ner Mißgestalt werden, um die Kinder zu belustigen und
die Mütter zurückzuhalten. Er wird sich Prothesen aus zu­
fälligen Objekten zusammenbauen, die er einer Schublade
entnimmt. Er wird sich ein bißchen wie Dr. Hyde konstitu­
ieren, mit Farben, Geräuschen und Dingen. Er wird sich
entlang einer kontinuierlichen Variationslinie formieren,
oder vielmehr deformieren. Das Stück von eB beginnt mit
einer sehr schönen "Anmerkung über das Weibliche" (gibt
es nicht schon in Kleists "Penthesilea" eine solche Bezie­
hung des Kriegers Achilles zum Weiblichen, zur Trave­
stie?).
Die Stücke eB's sind kurz; niemand weiß besser als er, ein
Ende zu finden. Er haßt jedes Konstanz-, Ewigkeits- oder
Permanenz-Prinzip des Textes: "Das Schauspiel beginnt
und endet in dem Augenblick, in dem man es macht." Und
das Stück endet mit der Konstitution der Figur. Es hat kei­
nen anderen Gegenstand als den Prozeß dieser Konstitu­
tion und erstreckt sich nicht darüber hinaus. Es endet mit
der Geburt, während man doch gewöhnlich mit dem Tod
aufhört. Man möge daraus nicht schließen, daß diese Figu­
ren ein "Ich" hätten. Sie haben im Gegenteil überhaupt
keins. Richard III, der Diener Mercuzio werden nur in ei­
ner kontinuierlichen Serie von Metamorphosen und Varia­
tionen geboren. Die Figur bildet nur eine Einheit mit dem
Ganzen der szenischen Verkettung, Farben, Lichtern, Ge­
sten, Worten. Merkwürdigerweise sagt man über eB oft, er
sei ein großer Schauspieler - ein Kompliment, das mit Ab­
lehnung verbunden ist, dem Vorwurf des Narzißmus. eB's
381
Stolz bestünde eher darin, daß er einen Prozeß auslöst, den
er kontrolliert, Mechaniker oder Operateur (er selbst sagt:
Protagonist) eher als Schauspieler. Ein Monster oder einen
Giganten in die Welt setzen . . .
Dies ist weder Autorentheater noch Autorenkritik. Aber
wenn dieses Theater untrennbar schöpferisch und kritisch
ist, worauf bezieht sich dann die Kritik? CB kritisiert nicht
Shakespeare. Vielmehr könnte man sagen, daß, wenn ein
Engländer am Ende des 16. Jahrhunderts sich ein bestimm­
tes Bild von Italien macht, ein Italiener des 20. Jahrhunderts
ein Bild von England zurückwerfen kann, in dem sich
Shakespeare gefangen sah: die bewundernswerte, giganti­
sche Ausstattung von "Romeo und Julia" mit ihren unge­
heuren Gläsern und Flacons, und Julia, die in einem Ku­
chen einschläft, läßt Shakespeare durch Lewis Carrol
sichtbar werden, aber Lewis Carrol durch die italienische
Komödie (schon Carrol schlug ein ganzes System von Sub­
traktionen Shakespeares vor, um unerwartete Möglichkei­
ten zu entwickeln). Es geht auch nicht um eine Kritik der
Länder oder der Gesellschaften. Man fragt sich, worauf sich
die anfänglichen Subtraktionen beziehen, die CB vornimmt.
In den drei angegebenen Fällen werden die Elemente der
Macht, die Elemente, die ein Machtsystem ausmachen oder
repräsentieren, subtrahiert, amputiert oder neutralisiert:
Romeo als Repräsentant der Familienrnacht, der Herr als
Repräsentant der sexuellen Macht, die Könige und Fürsten
als Repräsentanten der Staatsrnacht. Aber die Elemente der
Macht im Theater sichern gleichzeitig die Kohärenz des be­
handelten Gegenstandes und die Kohärenz der Repräsenta­
tion auf der Bühne. Das ist gleichzeitig die Macht dessen,
was repräsentiert wird, und die Macht des Theaters selbst.
In diesem Sinne unterhält der traditionelle Schauspieler
eine antike Komplizenschaft mit den Fürsten und Königen,
und das Theater mit der Macht: so Napoleon und Talma.
Die spezifische Macht des Theaters ist untrennbar von ei­
ner Repräsentation der Macht im Theater, selbst wenn es
eine kritische Repräsentation ist.
Aber CB macht sich eine andere Vorstellung von Kritik.
Wenn er vorzieht, die Machtelemente zu amputieren, ändert
er nicht allein den theatralischen Stoff, sondern auch die
Form des Theaters, das aufhört, "Repräsentation" zu sein,
382
während gleichzeitig der Schauspieler aufhört, Schauspieler
zu sein. Er gewährt einem anderen Stoff und einer anderen
Theaterform freien Lauf, die ohne diese Subtraktion nicht
möglich gewesen wären. Man könnte einwenden, eB sei
nicht der erste, der ein Theater der Nicht-Repräsentation
macht. Man wird Artaud, Bob Wilson, Grotowski, das Liv­
ing Theatre zitieren. Aber wir glauben nicht an die Nütz­
lichkeit der Filiationen. Bündnisse sind wichtiger als Filia­
tionen. eB unterhält in sehr unterschiedlichem Grade
Bündnisse mit denen, die wir eben zitiert haben. Er gehört
zu einer Bewegung, die das heutige Theater gründlich um­
wälzt. Aber er gehört dieser Bewegung nur durch das an,
was er selbst erfindet und nicht umgekehrt. Und die Origi­
nalität seines Ansatzes, all seine Verfahren scheinen uns
vor allem von folgendem herzurühren: von der Subtraktion
der starren Machtelernente, die eine neue Potentialität des
Theaters freisetzt, eine nicht-repräsentative Kraft, die im­
mer im Ungleichgewicht sein wird.

2. Das Theater und seine Minderheiten


eB interessiert sich sehr für die Begriffe groß und klein
(hier und im folgenden frz. mineur und majeur). Er gibt ih­
nen einen gelebten Inhalt. Was ist eine "kleine Figur", was
ist ein "kleiner Autor"? eB sagt zunächst, es sei töricht, sich
für den Anfang oder das Ende einer Sache, für Ursprunge
oder Endpunkte zu interessieren. Interessant ist nie, wie ei­
ner anfängt oder aufhört. Interessant ist die Mitte und das,
was in der Mitte passiert. Nicht zufällig ergibt sich die
höchste Geschwindigkeit in der Mitte. Die Leute träumen
oft davon, bei Null anzufangen, oder neu zu beginnen, au­
ßerdem haben sie Angst vor dem Punkt, an dem sie ankom­
men werden, vorm Punkt ihres Untergangs. Sie denken in
Begriffen der Zukunft oder der Vergangenheit, aber die
Vergangenheit und sogar die Zukunft sind Geschichte. Was
zählt, ist das Werden: das Revolutionär-Werden und nicht
die Zukunft oder Vergangenheit der Revolution. "Ich
werde nirgendwo ankommen und will nirgendwo ankom­
men. Es gibt keine Ankunft. Mich interessiert nicht, wo je­
mand ankommt. Die Ankunft kann auch der Wahnsinn
sein. Was heißt das?" Gerade in der Mitte gibt es das Wer-
383
den, die Bewegung, die Geschwindigkeit, den Wirbel. Die
Mitte ist kein Durchschnitt, sondern der Exzeß. Die Dinge
wachsen durch die Mitte, das war die Idee von Virginia
Woolf. Aber Mitte will ganz und gar nicht heißen, in seiner
Zeit zu sein, auf der Höhe der Zeit zu sein, historisch zu
sein. Im Gegenteil kommunizieren durch sie die verschie­
densten Zeiten. Das ist weder das Historische noch das
Ewige, sondern das Unzeitgemäße, und genau das ist ein
kleiner Autor: ohne Zukunft und Vergangenheit, hat er nur
ein Werden und eine Mitte, durch die er mit anderen Zei­
ten und Räumen kommuniziert. Goethe erteilte Kleist harte
Lektionen, als er ihm erklärte, daß ein großer Autor auf der
Höhe seiner Zeit sein müsse. Aber Kleist war unverbesser­
lich klein. "Anti-Historizismus", sagt CB. "Wissen Sie, wel­
che Menschen in ihrem Jahrhundert gesehen werden müs­
sen, jene, die man die größten nennt, Goethe z. B. kann
man nicht außerhalb des Deutschland seiner Zeit sehen;
oder wenn er sich eben von seiner Zeit löst, so nur, um so­
gleich in die Ewigkeit einzugehen." Aber wirklich groß sind
die kleinen Autoren, die unzeitgemäßen. Der kleine Autor
schafft die wahren Meisterwerke. Der kleine Autor inter­
pretiert seine Zeit nicht. Der Mensch hat keine bestimmte
Zeit. Die Zeit hängt vom Menschen ab: Fran�ois Villon,
Kleist oder Laforgue. Könnte es nicht äußerst interessant
sein, jene Autoren, die als groß angesehen werden, als
kleine Autoren zu behandeln, um ihre Möglichkeiten des
Werdens wiederzuentdecken, Shakespeare z. B.? Es gäbe
dann gewissermaßen zwei entgegengesetzte Operationen:
einerseits wird man zur "Größe" erhoben: aus einem Den­
ken macht man eine Doktrin, aus einer Lebensweise eine
Kultur, aus einem Ereignis Geschichte. So täuscht man An­
erkennung und Bewunderung vor, aber in Wirklichkeit nor­
malisiert man. Es ist CB zufolge wie bei den Bauern Apu­
liens: man kann ihnen Theater und Kino geben oder sogar
Fernsehen. Es geht nicht darum, den alten Zeiten nachzu­
trauern, sondern sich dem zu widersetzen, wie sie behan­
delt werden, der Geschichtsschreiberei, der Transplanta­
tion, die man ihnen aufgebürdet hat, um sie zu
normalisieren. Man hat sie groß gemacht. Operation um
Operation, Chirurgie gegen Chirurgie, kann man sich auch
das Umgekehrte vorstellen: wie "depotenzieren" (frz. mino-
384
D as Schönste an Tokio ist McDonald's
das Schönste an Stockholm ist McDonald's
das Schönste an Florenz ist McDonald's
Peking und Moskau haben bis j etzt noch
nichts Schönes
Andy Warhol
rer), ein von Mathematikern angewandter Begriff, wie eine
depotenzierte Methode oder Methode der Depotenzierung
aufstellen, um Prozesse des Werdens gegen die Geschichte
freizusetzen. Leben gegen Kultur, Gedanken gegen die
Doktrin, Wohlwollen oder Ablehnung gegen das Dogma.
Wenn man sieht, was Shakespeare im traditionellen Theater
widerfährt, seine normalisierende Erhöhung, so muß eine
andere Behandlung gefordert werden, um in ihm jene ak­
tive minoritäre Kraft wiederzufinden. Die Theologen sind
groß, aber gewisse italienische Heilige sind klein, ..Heilige
durch Gnade: der heilige Joseph von Copertino, die Irren,
die heiligen Idioten, der heilige Franz von Assisi, der vor
dem Papst tanzt . . . Ich bin der Meinung, daß es schon von
dem Augenblick an Kultur gibt, wo wir beginnen, eine Idee
zu untersuchen und nicht, diese Idee zu leben. Wenn wir
die Idee sind, dann können wir den Tanz des Sankt Georg
tanzen, und wir befinden uns im Zustand der Gnade. Wir
werden gerade dann weise, wenn wir in Ungnade gefallen
sind." Wir retten uns nur, werden nur klein durch Ungnade
oder Entstellung. Das ist das Werk der Gnade selbst, wie in
der Geschichte von Lourdes: mach, daß meine Hand wieder
wird wie die andere . , . Aber Gott wählt immer die kranke
Hand. Wie aber diese Operation begreifen? Stottert Kleist
und knirscht Kleist mit den Zähnen?
Als ..groß" oder "klein" bezeichnet man auch Sprachen; man
kann in jeder Epoche große, Welt- oder Nationalsprachen,
Verkehrssprachen und kleine Volkssprachen unterschei­
den. So daß Englisch und Amerikanisch heute große Spra­
chen und Italienisch eine kleine Sprache wäre. In Gesell­
schaften, wo zwei oder mehrere Sprachen gesprochen
werden, unterscheidet man zwischen Hochsprache und nie­
derer Sprache. Aber gilt das nicht auch für einsprachige Ge­
sellschaften? Man könnte auch solche Sprachen als groß de­
finieren, die wenig internationale Bedeutung haben: das
wären (standardisierte) Sprachen mit einer hochgradig ho­
mogenen Struktur, die um Invarianten, Konstanten oder
Universalien phonologischer, syntaktischer oder semanti­
scher Natur zentriert sind. CB entwirft eine Linguistik zum
Lachen: dort erscheint das Französische als große Sprache,
obwohl es seine internationale Verbreitung verloren hat.
Weil es hochgradig homogenisiert ist und starke phonologi-
386
sche und syntaktische Konstanten aufweist. Das ist für das
Theater nicht folgenlos: "Die französischen Theater sind
Museen der Alltäglichkeit, eine sonderbare und langweilige
Verdopplung, weil man im Namen einer gesprochenen und
geschriebenen Sprache abends nochmals das sieht und hört,
was man tagsüber gehört und gesehen hat. Auf das Theater
bezogen: zwischen Marivaux und dem Pariser Bahnhofsvor­
steher besteht nicht der geringste Unterschied, abgesehen
davon, daß man am Odeon keinen Zug nehmen kann." Das
Englische stützt sich auf andere Invarianten, z. B. vor allem
auf semantische Konstanten. Es sind immer Konstanten
und Homogenitäten, die eine Sprache groß machen: "Eng­
land ist eine Königs-Geschichte, die Gielguld und Oliviers,
lebende Kopien der einstigen Kemble und Kean, die Mon­
archie des Es-war-einmal, das ist die englische Tradition."
Kurz: wie unterschiedlich sie auch immer sein mögen: die
großen Sprachen sind Sprachen der Macht. Ihnen könnte
man kleine Sprachen entgegensetzen, z. B. das Italienische
("unser Land ist jung, es hat noch keine Sprache"). Und
schon bleibt keine andere Wahl mehr. Man müßte die klei­
nen Sprachen als Sprachen mit kontinuierlicher Variabilität be­
zeichnen, in welcher Dimension auch immer: in phonologi­
scher, syntaktischer, semantischer oder auch stilistischer
Hinsicht. Eine kleine Sprache enthält nur ein Minimum
struktureller Konstanten und Homogenitäten. Sie ist den­
noch kein Brei, kein Gemenge von Mundarten, da sie ihre
Regeln in der Konstruktion eines Kontinuums findet. Die
kontinuierliche Variation bezieht sich in der Tat auf alle
lautlichen und linguistischen Bestandteile, in einer Art von
verallgemeinerter Chromatik. Insofern erweist sie sich als
Theater oder "Schauspiel". Aber gerade deshalb ist es
schwierig, Sprachen, die von Natur aus groß sind, und
kleine Sprachen einander gegenüberzustellen. Vor allem in
Frankreich protestiert man immer wieder gegen den Impe­
rialismus des Englischen oder des Amerikanischen. Aber
dieser Imperialismus hat im Gegenteil zur Folge, daß keine
Sprache so sehr von innen heraus bearbeitet wird, wie das
Englische und Amerikanische von den Minderheiten, die es
verwenden. Man sehe sich nur an, wie das Anglo-Irische bei
Synge das Englische bearbeitet und ihm eine Fluchtlinie
oder kontinuierliche Variationslinie aufZwingt: "the way . . .
"

387
Und zweifellos bearbeiten Minderheiten das Amerikani­
sche nicht in derselben Weise; man denke nur an das Black
English und die Gheuosprachen. Aber jedenfalls gibt es
keine imperiale Sprache, die nicht von jenen inhärenten
und kontinuierlichen Variationslinien ausgehöhlt und
durchzogen wären, d. h. von ihren minoritären Gebrauchs­
weisen. Also bezeichnen groß und klein weniger verschie­
dene Sprachen, als den unterschiedlichen Gebrauch dersel­
ben Sprache. Kafka, ein tschechischer Jude, der deutsch
schreibt, macht vom Deutschen einen minoritären Ge­
brauch und produziert so ein entscheidendes sprachliches
Meisterwerk. Allgemeiner: die Bearbeitung des Deutschen
durch die Minderheiten im österreichischen Großreich.
Darüber hinaus könnte man sagen, daß eine Sprache sich
mehr oder weniger für diesen minoritären Gebrauch eignet.
Die Linguisten haben oft eine recht zweifelhafte Vorstel­
lung vom Gegenstand, den sie untersuchen. Sie behaupten,
daß zwar jede Sprache gewiß ein heterogenes Gemisch ist,
aber wissenschaftlich nur untersucht werden kann, sofern
aus ihr ein homogenes und konstantes Subsystem extrahiert
wird: ein Dialekt, eine Mundart, eine Gheuosprache müß­
ten demnach denselben Bedingungen unterworfen werden
wie Standardsprachen (Chomsky). Infolgedessen werden
die Variationen, die die jeweilige Sprache affizieren, entwe­
der als äußerlich oder außerhalb des Systems stehend be­
trachtet, oder als Manifestationen einer Vermischung
zweier Systeme, die jedes für sich genommen homogen wä­
ren. Aber vielleicht setzt diese Bedingung der Konstanz
oder Homogenität bereits einen bestimmten Gebrauch der
j eweiligen Sprache voraus: einen majoritären Gebrauch, der
die Sprache als Machtverhältnis und Machtindex behandelt.
Eine kleine Anzahl von Linguisten (v. a. William Labov)
haben Variationslinien freigelegt, die in jeder Sprache vor­
kommen und sich auf sämtliche Bestandteile beziehen, und
die neuartige, immanente Regeln konstituieren. Man findet
kein homogenes System, das nicht schon von einer imma­
nenten, kontinuierlichen und geregelten Variation bearbei­
tet worden wäre: so hat also jede Sprache ihren minoritären
Gebrauch, eine erweiterte Chromatik, ihr Black English.
Die kontinuierliche Variabilität kann weder durch Zwei­
sprachigkeit noch durch die Mischung von Dialekten er-
388
klärt werden, sondern allein durch ein der Sprache zutiefst
innewohnendes schöpferisches Vermögen, insofern von ihr
ein minoritärer Gebrauch gemacht wird. Und in gewisser
Hinsicht ist dies das "Theater" der Sprache.

3. Das Theater und seine Sprache


Es geht nicht um ein Anti-Theater, ein Theater im Theater
oder um die Verneinung des Theaters. eB verabscheut alle
Formeln der Avantgarde. Es geht um ein viel präziseres
Verfahren: man beginnt damit, alle Machtelemente zu sub­
trahieren, zu streichen, in der Sprache und den Gebärden,
in der Repräsentation und im Repräsentierten. Man könnte
nicht einmal sagen, dies sei ein negatives Verfahren, inso­
fern es schon positive Prozesse impliziert und auslöst. Die
Geschichte wird also gekürzt oder amputiert, denn die Ge­
schichte ist der Zeitindex der Macht. Die Struktur wird ge­
strichen, denn sie ist der synchrone Index, das Ensemble
der Beziehungen von Invarianten. Die konstanten, stabilen
Elemente werden subtrahiert, denn sie gehören zum majo­
ritären Gebrauch. Der Text wird amputiert, denn der Text
ist gleichsam die Herrschaft der Sprache über das Sprechen
und zeugt immer noch von Invarianz oder Homogenität.
Der Dialog wird gestrichen, denn der Dialog trägt Macht­
elemente in das Sprechen hinein und läßt sie darin zirkulie­
ren: immer ist man aufgefordert, unter kodifizierten Bedin­
gungen zu sprechen (worin die Linguisten dialogische
Universalien zu entdecken vermeinen). Usw. Usw. Wie
Franeo Quadri sagt, streicht man auch noch Diktion und
Handlung: das Playback ist von vornherein eine Subtrak­
tion. Aber was bleibt dann noch übrig? Alles bleibt übrig,
aber in neuem Licht, mit neuen Tönen und neuen Gebär­
den. Ein Beispiel: wenn einer sagt: "ich schwöre", ist dies
keineswegs dasselbe, ob er es vor Gericht sagt, in einer Lie­
besszene oder als Kind. Und diese Variation affiziert nicht
allein die äußere Situation, die physische Intonation; sie af­
fiziert das Innere der Bedeutung, der Syntax und der Phä­
nomene. Man kann also eine Aussage alle Variationen
durchlaufen lassen, von denen sie in kürzester Zeit affiziert
werden kann. Die Aussage ist dann nur noch die Summe ih­
rer eigenen Variationen, wodurch sie jedem Machtapparat
389
entkommt, der sie fixieren könnte, und jede Konstanz ver­
eitelt. Man kann also das Kontinuum von ich schwiJre kon­
struieren. Nehmen wir an, Lady Anne sagt zu Richard III
"mir graut vor dir". Das ist keinesfalls dieselbe Aussage, ob
es sich um einen Kriegsschrei einer Frau handelt, den Auf­
schrei eines Kindes angesichts einer Kröte oder den Schrei
eines jungen Mädchens, der schon willfähriges, liebevolles
Mitleid verrät . . . Lady Anne muß all diese Varianten durch­
laufen, sich als Kriegerin aufführen, zu einem Kleinkind re­
gredieren, als junges Mädchen wiedergeboren werden, und
all dies auf einer kontinuierlichen Variationslinie, die so
schnell wie möglich durchlaufen wird. CB zieht unaufhör­
lich solche Linien, auf denen sich Positionen, Regressionen
und Wiedergebunen verketten. Die Sprache und das Spre­
chen variieren kontinuierlich. Daher der höchst eigentümli­
che Gebrauch des Playback bei CB; denn das Playback steu­
en die Amplitude der Variationen und regulien sie.
Merkwürdig, daß es keinen Dialog im Theater CB's gibt,
denn die gleichzeitigen oder aufeinanderfolgenden, sich
überlagernden oder übertragenden Stimmen bewegen sich
in dieser raumzeitlichen Kontinuität der Variation, eine An
Sprechgesang (im Original deutsch). Im Gesang geht es
darum, die Höhe zu halten, im Sprechgesang dagegen wird sie
unterbrochen, durch einen Abfall oder Anstieg verlassen.
Infolgedessen zählt nicht der Text, der ist ganz einfach
Rohstoff für die Variation. Man muß den Text sogar mit
nicht-textuellen und dennoch immanenten Indikatoren
überladen, die nicht nur szenischer Natur sind, und die als Ope­
ratoren fungieren würden und jedesmal die Skala der Varia­
blen ausdrücken könnten, die von der Aussage durchlaufen
werden. Genau wie in einer musikalischen Partitur. So
schreibt also CB seinerseits in einer Schreibweise, die we­
der literarisch noch theatralisch, sondern wirklich operatio­
nell und deren Wirkung auf den Leser sehr stark und unge­
wöhnlich ist. Man schaue sich diese Operatoren an, die in
Richard III viel mehr Raum einnehmen als der Text selbst.
Das ganze Theater CB's muß man sehen, aber auch lesen,
obwohl der Text im Grunde nicht das Wesentliche ist. Das
ist kein Widerspruch. Es gleicht eher dem Lesen einer Par­
titur. Die Zurückhaltung CB's Brecht gegenüber findet im
folgenden ihre Erklärung: Brecht hat einen äußerst umfang-
390
reichen "kritischen Eingriff" vorgenommen, aber dieser
Eingriff findet "auf dem Papier und nicht auf der Bühne"
statt. Der vollständige kritische Eingriff hingegen besteht
darin, 1. die stabilen Elemente zu streichen, 2. alles in kon­
tinuierliche Variation zu setzen, 3. alles in Moll (frz. mi­
neur) zu transponieren (so funktionieren die Operatoren
und entsprechen der Idee des "kleinsten" Intervalls) .
Wie soll man sich einen solchen fortwährend variierenden
Sprachgebrauch vorstellen? Man könnte es verschieden aus­
drücken: zweisprachig sein, aber in ein- und derselben Spra­
che, ein Fremder sein, aber in der eigenen Sprache stottern,
aber so, daß die Sprache selbst zu stottern beginnt und nicht
nur das Sprechen. CB fügt hinzu: zu sich selbst ins eigene
Ohr sprechen, aber auf offenem Marktplatz, in der Öffent­
lichkeit . . . Man muß versuchen, jede dieser Formeln für
sich zu nehmen, wenn man die Arbeit CB's definieren will,
und nicht auf die Abhängigkeiten achten, sondern auf seine
Bündnisse und Begegnungen mit anderen, älteren und zeit­
genössischen Bemühungen. Die Zweisprachigkeit weist uns
den Weg, aber mehr auch nicht. Denn wer zweisprachig ist,
wechselt von einer Sprache zur anderen über, wobei er die
eine majoritär, die andere minoritär gebrauchen kann. Man
kann sogar eine heterogene Mischung mehrerer Sprachen
oder Dialekte praktizieren. Aber in unserem Fall kommt es
darauf an, in ein- und derselben Sprache zweisprachig zu
sein. Die eigene Sprache muß man der Heterogenität der
Variation unterziehen. Innerhalb derselben muß ein mino­
ritärer Gebrauch von ihr gemacht und die Elemente der
Macht oder Mehrheit müssen gestrichen werden. Man kann
immer von einer äußerlichen Situation ausgehen: wie im
Falle Kafkas, der tschechischer Jude ist und deutsch
schreibt, Beckett, der Ire ist und gleichzeitig englisch und
französisch schreibt, Pasolini, der die Verschiedenheiten
der Dialekte des Italienischen verwendet. Aber Kafka zieht
im Deutschen eine Fluchtlinie oder kontinuierliche Varia­
tionslinie, Beckett bringt das Französische zum Stottern,
wie Jean-Luc Godard auf andere Weise und Gherasim Luca
wieder auf andere Weise, und Bob Wilson läßt das Engli­
sche flüstern und murmeln (denn das Flüstern zeugt nicht
von schwacher Intensität, sondern im Gegenteil von einer
Intensität unbestimmten Grades). Die Formel des Stotterns
391
ist ebenso approximativ wie die der Zweisprachigkeit. Im
Allgemeinen ist Stottern eine Sprechstörung. Aber die Spra­
che zum Stottern zu bringen ist etwas ganz anderes. Dazu
muß man die Sprache, all ihre inneren Elemente, phonolo­
gische, syntaktische und semantische der Arbeit der konti­
nuierlichen Variation unterziehen. Meiner Meinung nach
ist Gherasim Luca einer der größten Dichter Frankreichs
und aller Zeiten. Das verdankt er sicher nicht seiner rumä­
nischen Herkunft, aber er setzt diese Herkunft ein, um das
Französische in sich und mit sich zum Stottern zu bringen,
um das Stottern in die Sprache selbst und nicht nur in das
Sprechen hineinzutragen. Man lese oder höre nur das Ge­
dicht "Passionement", das auf Schallplatte gepreßt wurde
und in der Sammlung Le chant de Ja carpe (Paris 1973) er­
schienen ist. Noch nie wurde ein derart intensiver Ge­
brauch der Sprache erreicht. Ein öffentlicher Vonrag der
Gedichte Gherasim Lucas ist ein einzigartiges und hinrei­
ßendes Theaterereignis. Also in seiner eigenen Sprache
fremd sein . . . Das heißt, nicht wie ein Ire oder Rumäne
französisch sprechen, das ist weder bei Beckett noch bei
Luca der Fall, sondern in die Sprache, wenn man sie perfekt
und nüchtern spricht, diese Variationslinie einführen, die
einen zum Fremden in der eigenen Sprache macht oder aus
der fremden Sprache eine eigene oder in die eigene Sprache
eine immanente Zweisprachigkeit als eigene Fremdheit ein­
führt. Immer wieder auf die Formel Prousts zurückgreifen.
"Die schönen Bücher sind in einer Art Fremdsprache ge­
schrieben." Oder umgekehrt das Fragment von Kafka, "Der
große Schwimmer" (der überhaupt nicht schwimmen
konnte) : "Zunächst muß ich feststellen, daß ich hier nicht
in meinem Vaterland bin und trotz großer Anstrengungen
kein Wort von dem verstehe, was hier gesprochen wird."
Das also sind die freiwilligen und unfreiwilligen Begegnun­
gen CB's mit denen, die wir soeben zitiert haben, und sie
haben Gültigkeit nur durch die Art, wie CB seine eigenen
Verfahren entwirft, um seine eigene Sprache zum Stottern,
Flüstern und zur Variation zu bringen und sie in allen ih­
ren Elementen zu intensivieren. Sämtliche sprachlichen
und lautlichen Komponenten, die untrennbar Sprache und
Rede sind, werden also einer kontinuierlichen Variation un­
terzogen. Diese bleibt jedoch nicht ohne Wirkung auf die
392
anderen, nicht-sprachlichen Bestandteile, wie Handlungen,
Leidenschaften, Gebärden, Haltungen, Requisiten usw.
Denn man kann die Elemente von Sprache und Rede nicht
als ebensoviele interne Variablen behandeln, ohne sie in
Wechselwirkung zu den externen Variablen in ein- und
derselben Kontinuität, in ein- und denselben Kontinuitäts­
strom zu setzen. In ein- und derselben Bewegung tendiert
die Sprache dazu, dem Mach/system zu entkommen, von
dem sie strukturiert wird, und der Handlung im Hen-JchajtJ­
system, von dem sie organisiert wird. In einem schönen Ar­
tikel hat Corrado-Augias gezeigt, wie bei CB die "Aphasie"
der Sprache ("geflüsterte, stotternde oder verzerrte Diktion,
kaum wahrnehmbare oder völlig betäubende Klänge) und
die "Verhinderung" von Dingen und Gebärden (Kostüme,
die die Bewegung behindern, statt zu fördern, Accessoires,
die die Bewegung stören, viel zu zackige oder außerordent­
lich sanfte Gebärden) zusammentreffen. So z. B. jener Ap­
fel in "Salome", der immer wieder verschlungen und ausge­
spuckt wird, und die Kostüme, die immer wieder herunter­
fallen und ständig wieder in Ordnung gebracht werden müs­
sen; immer wieder der Gebrauchsgegenstand, der den Tisch
(der sich in den Weg stellt, statt als Standfläche zu dienen)
abräumt statt aufzudecken. Man muß die Gegenstände im­
mer eher überwinden als gebrauchen. Oder auch die ständig
verschobene Kopulation in "S.A.D.E." und vor allem der Die­
ner, der sich in der Serie seiner Verwandlungen verheddert,
sich dabei selbst im Wege steht, weil er seine Rolle als Die­
ner nicht behen-Jchen darf, und am Anfang von "Richard m",
Richard, der ständig das Gleichgewicht verliert, schwankt
und von der Kommode rutscht, an die er sich lehnt . . .

4. Das Theater und seine Gebärden


Sollte man also sagen, daß jedes doppelte Prinzip von
Aphasie und Behinderung Kräfteverhältnisse enthüllt, wo
jeder Körper ein Hindernis des anderen darstellt und jeder
Wille den der anderen behindert? Es gibt noch etwas ande­
res, mehr als ein Spiel der Gegensätze, das uns auf das Sy­
stem der Macht und Herrschaft aufmerksam macht. Durch
fortgesetzte Behinderung werden nämlich Gebärden und
Bewegungen in eine kontinuierliche Variation gesetzt, die
393
einen im Verhältnis zu den anderen und jedes für sich
selbst, genau wie Stimmen und linguistische Elemente in
jenes Milieu der Variation versetzt werden. Die Gebärde
Richards III verläßt unaufhörlich ihre eigentliche Ebene,
ihr eigentliches Niveau, durch einen Abfall oder Wieder­
aufstieg, durch ein Gleiten: die Gebärde im unaufhörlichen
positiven Ungleichgewicht. Die Kleidung, die man auszieht
und wieder anzieht, die herunterfällt und wiederaufgeho­
ben wird, ist wie eine Variation der Kleidung. Oder die Va­
riation der Blumen, die bei CB so viel Raum einnimmt. Und
tatsächlich gibt es sehr wenig Zusammenstöße und Gegen­
sätze im Theater CB's. Man könnte sich Verfahren vorstel­
len, die das Stottern produzieren würden, indem man die
Wörter in Widerstreit geraten läßt oder die Phoneme ge­
geneinander setzt, oder sogar verschiedene Dialekte kon­
frontiert. Aber das sind nicht die Mittel, die CB einsetzt.
Die Schönheit seines Stils besteht vielmehr darin, das Stot­
tern durch den Aufbau melodischer Linien zu erreichen,
die die Sprache über ein System dominanter Gegensätze
hinausführen. Dasselbe gilt für die Anmut der Gebärden auf
der Bühne. Es ist unter diesem Gesichtspunkt merkwürdig,
daß zornige Frauen und sogar Kritiker CB seine Inszenie­
rung des weiblichen Körpers vorwarfen und ihn des Sexis­
mus oder der Phallokratie bezichtigt haben. Die Objekt­
Frau in "S.A.D.E.", das nackte junge Mädchen, durchläuft
alle Metamorphosen, die ihr der sadesche Herr aufzwingt,
wobei er sie in eine Serie von Gebrauchsgegenständen ver­
wandelt: aber in Wirklichkeit durchquert sie diese Meta­
morphose, sie nimmt nie eine unwürdige Haltung ein, sie
verkettet ihre Gebärden entlang einer Variationslinie,
durch die sie der Herrschaft des Herrn entkommt und jen­
seits seines beherrschenden Einflusses anlangt, wobei sie
ihre Anmut die ganze Serie hindurch beibehält. Ein Lob der
Schauspielerin, die diese Rolle in Paris spielte. Das Theater
CB's entfaltet sich nie in Kräfte- oder Oppositionsverhältnis­
sen, auch wenn dieses Theater "hart" und "grausam" ist. Die
Kräfte- und Oppositionsverhältnisse gehören zur Darstellung
sogar nur, um subtrahiert, gestrichen und neutralisiert zu
werden. CB interessiert sich kaum für Konflikte. Sie sind ein­
fach Träger der Variation. Das Theater CB's entfaltet sich nur
in Variationsverhältnissen, die die "Herren" eliminieren. -
394
Was bei der Variation zählt, sind die Geschwindigkeitsver­
hältnisse, die Modifikationen dieser Verhältnisse, insofern
sie die Gebärden und Aussagen gemäß variabler Koeffizien­
ten entlang einer Transformationslinie auslösen. Insofern
sind Text und Gebärden CB's musikalisch: weil in ihnen
jede Form von Geschwindigkeitsmodifikationen deformiert
wird, die einen nicht zweimal dieselbe Gebärde oder das­
selbe Wort wiederholen lassen, ohne daß man dadurch ver­
schiedene Zeitcharakteristiken erhielte. Das ist die musika­
lische Formel der Kontinuität oder der Wechselfolge. Die
"Operatoren", die im Stil und in der Inszenierung CB's am
Werk sind, sind eben genau Geschwindigkeitsdikatoren,
die selbst nicht mehr zum Theater gehören, obgleich sie
dem Theater nicht äußerlich wären. Und wirklich hat CB
die Mittel gefunden, sie im "Text" seiner Stücke vollständig
auszudrücken, ohne daß sie zum Text gehören würden. Die
Physiker des Mittelalters sprachen in Bezug auf die Vertei­
lung der Geschwindigkeiten zwischen den verschiedenen
Punkten eines beweglichen Gegenstandes oder die Vertei­
lung der Intensitäten zwischen verschiedenen Punkteu ei­
nes Subjektes von difformierten Bewegungen und Eigen­
schaften. Die Unterordnung der Form unter die Geschwin­
digkeit, unter die Variation der Geschwindigkeit, die
Unterordnung des Subjekts unter die Intensität oder den
Mfekt, die intensive Variation von Affekten. scheint uns in
den Künsten zwei wesentliche Ziele zu erreichen. CB ge­
hört ganz zu jener Bewegung, die die Kritik auf die Form
und das Subjekt (im doppelten Sinne von "Thema" und
"Ich") überträgt. Lauter Affekte und kein Subjekt, lauter
Geschwindigkeiten und keine Form. Aber um es zu wieder­
holen: was zählt, sind die für CB spezifischen Mittel, dieses
Ziel zu verwirklichen: die Variationskontinuität: Wenn er die
Gnade mit der Bewegung der Ungnade (die "heiligen Irren",
die er liebt) identifiziert, so will er nur die qualifizierten For­
men der Difformität von Bewegung und Qualität unterord­
nen. Im Theater CB's gibt es eine ganze Geometrie, aber
eine Geometrie in der Art von Nicolas Oresme, eine Geome­
trie von Geschwindigkeiten und Intensitäten, von Affekten.

Die Filme CB's sind kein verfilmtes Theater. Wahrschein­


lich benutzt das Kino nicht dieselben Variationsgeschwin-
395
digkeiten wie das Theater, und schon gar nicht stehen die
beiden Variationen, der Sprache und Gebärden, im selben
Verhältnis. Besonders die Möglichkeit des Kinos, unmittel­
bar eine Art visueller Musik herzustellen, als ob es zuerst
die Augen wären, die den Ton wahrnehmen, während das
Theater Schwierigkeiten hat, sich des Vorrangs der Ohren
zu entledigen, wo sogar Handlungen zuerst gehört werden.
(Schon in der Theaterversion von "Notre Dame des Turcs"
suchte CB nach Mitteln, durch die das Theater über diesen
Vorrang der Worte hinauskäme und eine unmittelbare
Wahrnehmung der Handlung erreichen würde: "Das Publi­
kum müßte der Handlung durch Glasscheiben folgen und
würde nichts hören, außer wenn der Schauspieler geruhte,
ein kleines Fenster zu öffnen . . . ") Aber das Wichtige im
Theater wie im Kino ist jedenfalls, daß die beiden Variatio­
nen nicht parallel verlaufen müssen. Auf die eine oder an­
dere Weise müssen sie ineinandergesetzt werden. Die fortge­
setzte Variation von Gebärden und Dingen, die fortge­
setzte Variation der Sprache und der Töne können
einander unterbrechen, sich widersprechen und sich über­
schneiden. Ebenso müssen sich alle beide fortsetzen, ein­
und dasselbe Kontinuum bilden, das je nachdem filmisch, thea­
tralisch, musikalisch usw. wäre. CB's Filme würden eine be­
sondere Studie verlangen. Aber um beim Theater zu blei­
ben, wollen wir untersuchen, wie CB in "Richard III"
vorgeht, seinem jüngsten Stück, in dem er am weitesten
geht.
Der ganze Anfang von "Richard III" beruht auf zwei Varia­
tionslinien, die sich verbinden und aufeinander bezogen
sind, aber noch nicht verschmelzen. Die Gebärden Richards
gleiten unaufhörlich, wechseln unaufhörlich die Ebene, fal­
len unaufhörlich ab, um wieder aufzusteigen; und die Ge­
bärden der Dienerin verbinden sich mit den seinen, Trave­
stie im Buckingham Palast. Aber auch die Stimme der
Gräfin wechselt unaufhörlich im Tonfall, durchläuft alle Va­
riationen der Mutter, während die Stimme Richards gleich­
zeitig lallt und sich auf "Artikulationen eines Höhlenmen­
schen" reduziert. Wenn die beiden Variationen noch relativ
getrennt bleiben, wie zwei Kontinuitäten, die sich schnei­
den, so weil sich Richard noch nicht auf der Bühne konsti­
tuiert hat. In diesem Anfang muß erst noch viel gefunden
396
werden, in seinem Kopf und in den Dingen, die Elemente
seiner bevorstehenden Konstitution. Er ist noch nicht Ge­
genstand von Furcht, Liebe und Mitleid geworden. Er hat
seine "politische Wahl" noch nicht getroffen, seine Kriegs­
maschine noch nicht bestiegen. Er hat die Ungnade "seiner"
Gnade, die Difformität seiner Form noch nicht erreicht . . .
Aber so wird sich Richard in der großen Szene mit Lady
Anne vor unseren Augen konstituieren. Die sublime Szene
Shakespeares, die man manchmal der Übenreibung oder
Unwahrscheinlichkeit bezichtigt hat, wird von eB nicht pa­
rodien, sondern gemäß Geschwindigkeiten oder variablen
Entwicklungen multiplizien, die sich in einer einzigen
Kontinuität von Konstitution (keine Repräsentationsein­
heit) vereinigen werden. 1. Richard, oder eben der Schau­
spieler, der Richard spielt, beginnt zu "begreifen". Er be­
ginnt seine eigene Idee und die Mittel dieser Idee zu
begreifen. Er stöben zunächst in den Schubladen der Kom­
mode, in denen sich die Gipsmasken und Prothesen befin­
den, all die Monstrositäten des menschlichen Körpers. E r
nimmt sie heraus, läßt sie fallen, nimmt andere heraus, pro­
bien sie aus, verbirgt sie vor Anne, um sie dann triumphie­
rend mit ihnen zu schmücken. Er erlebt das Wunder, durch
das die gesunde Hand ebenso verkrampft und verdreht
wird wir die andere. Er gewinnt seinen politischen Stand­
punkt, er konstituien seine Difformitäten, seine Kriegsma­
schine. 2. Lady Anne ihrerseits geht jene seltsame Kompli­
zenschaft mit Richard ein: sie beleidigt und haßt ihn,
insofern er in seiner "Form" festsitzt, aber gerät angesichts
jeder Deformation aus der Fassung und ist schon verliebt
und willig. Es ist, als ob sich auch in ihr eine neue Figur
konstituiene, die ihre eigene Variation angesichts der Va­
riation Richards ausmißt. Sie beginnt damit, ihm bei seiner
Suche nach den Prothesen in unbestimmter Weise zu hel­
fen. Und mehr und mehr, schneller und schneller wird sie
selbst nach der Deformierung der Verliebtheit verlangen.
Sie wird eine Kriegsmaschine heiraten, statt in Abhängig­
keit und unter der Macht eines Staatsapparates zu bleiben.
Sie beginnt selbst mit einer Variation, die sich mit derjeni­
gen Richards verheiratet, wobei sie sich unaufhörlich aus­
zieht und wieder anzieht, in einem regressiv-progressiven
Rhythmus, der die Subtraktionen-Konstruktionen Richards
397
erWidert. 3. Und die stimmlichen Variationen der beiden,
Phoneme und Tonalitäten, bilden eine sich immer mehr
verengende Linie, die sich in die Gebärden einschleicht
und umkehrt. Der Zuschauer muß das Ziel, das die Stam­
meleien und Stolpereien des Anfangs verfolgen, nicht nur
verstehen, sondern auch hören und sehen: die Idee ist
sichtbar und fühlbar geworden, die Politik erotisch. Dann
gäbe es nicht mehr zwei einander überschneidende Konti­
nuitäten, sondern ein einziges Kontinuum, in dem die
Worte und Gebärden die Rolle von Variablen im Prozeß
der Transformation spielen . . . (man müßte den Ablauf des
Stücks und die großartige Konstitution des Endes analysie­
ren: wo man sehr gut sehen kann, daß es für Richard nicht
darum ging, einen Staatsapparat zu erobern, sondern
darum, eine Kriegsmaschine zu konstruieren, die untrenn­
bar sowohl politisch als auch erotisch ist).

5. Das Theater und seine Politik


Nehmen wir an, die Bewunderer CB's seien einigermaßen
damit einverstanden, wie wir die Funktionen des Theaters
zu definieren versucht haben: die Konstanten oder Inva­
rianten eliminieren, nicht nur in der Sprache und den Ge­
bärden, sondern auch in der theatralischen Repräsentation
und in dem, was auf der Bühne repräsentiert wird; also alles
eliminieren, was Macht "ausübt", die Macht dessen, was das
Theater repräsentiert (den König, die Fürsten, die Herren,
das System), aber auch die Macht des Theaters selbst (den
Text, den Dialog, den Schauspieler, den Regisseur, die
Struktur); folglich alles in fortgesetzte Variation übergehen
lassen, wie auf einer kreativen Fluchtlinie, die eine kleine
Sprache in der Sprache konstituiert, eine kleine Figur auf
der Bühne, eine kleine Transformationsgruppe, die die
herrschenden Formen und Gegenstände durchläuft. Neh­
men wir an, man sei einverstanden, was diese Punkte be­
trifft. Man muß nichtsdestoweniger zu einfachen prakti­
schen Fragen gelangen: 1. was nützt das außerhalb, denn
das ist noch Theater, nicht als Theater? 2. Und inwiefern
stellt CB die Macht des Theaters oder das Theater als Macht
wirklich in Frage? Inwiefern ist er weniger narzißtisch als
ein Schauspieler, weniger autoritär als ein Regisseur, weni-
398
ger despotisch als ein Text? Aber womöglich ist er es erst
recht, insofern er zugleich den Text, den Schauspieler und
den Regisseur verkörpert (ich bin eine Masse, "sehen Sie,
wie die Politik Masse wird, die Masse meiner Atome . . . ")?
Nichts ist gewonnen, solange man nicht zu dem gelangt,
was jemandes Genie ausmacht, seine äußerste Bescheiden­
heit, den Punkt seiner Demut. Alle stolzen Erklärungen
CB's sind nur da, um etwas sehr demütiges auszudrücken.
Und vor allem, daß das Theater, selbst das, von dem er
träumt, wenig bedeutet. Daß das Theater natürlich nicht die
Welt verändert und nicht die Revolution auslöst. CB glaubt
nicht an die Avantgarde. Er glaubt ebensowenig an ein
Volkstheater, an ein Theater für alle, an eine Kommunika­
tion zwischen Theatermann und Volk. Wenn man vom
Volkstheater spricht, neigt man immer zu einer bestimmten
Repräsentation von Konflikten, Konflikten zwischen Indivi­
duum und Gesellschaft, zwischen Leben und Geschichte,
Widersprüche und Gegensätze aller Art, von denen eine
Gesellschaft, aber auch die Individuen durchzogen sind.
Aber wirklich narzißtisch und die Angelegenheit jedes ein­
zelnen ist die Repräsentation von Konflikten, sei sie natura­
listisch, hyper-realistisch usw. Es gibt ein Volkstheater, das
dem Narzißmus des Arbeiters entspricht. Natürlich gibt es
den Versuch Brechts, mit Widersprüchen und Gegensätzen
etwas anderes zu machen, als sie zu repräsentieren; aber
Brecht selbst will nur, daß sie "begriffen" werden und daß
der Zuschauer über die Elemente einer möglichen "lö­
sung" verfügt. So kommt man nicht aus dem Bereich der
Repräsentation heraus, sondern geht lediglich vom dramati­
schen Pol der bürgerlichen Repräsentation zum epischen
Pol der Volksrepräsentation über. Brecht treibt die "Kritik"
nicht weit genug. CB will die Repräsentation der Konflikte
durch die Präsenz der Variation als ein aktiveres, aggressi­
veres Element ersetzen. Aber warum sind die Konflikte im
Allgemeinen der Repräsentation untergeordnet, warum
bleibt das Theater jedesmal repräsentativ, wenn es die Kon­
flikte, Widersprüche und Gegensätze zum Gegenstand
nimmt? Weil die Konflikte schon normalisiert, kodifiziert
und institutionalisiert sind. Es sind "Machenschaften". Sie
sind schon Repräsentationen, die umso besser auf der
Bühne repräsentiert werden können. Wenn ein Konflikt

399
noch nicht normalisiert worden ist, so weil er von anderen,
tiefer gehenden Dingen abhängt, weil er wie ein Blitz etwas
anderes ankündigt und anderswoher kommt, plötzlicher
Ausbruch einer schöpferischen, unerwarteten, subrepräsen­
tativen Variation. Die Institutionen sind die Organe der Re­
präsentation der bekannten Konflikte, u nd das Theater ist
eine Institution, das Theater ist "offiziell", auch die Avant­
garde und das Volkstheater. Durch welches Schicksal haben
die Brechtianer die Macht über einen bedeutenden Teil des
Theaters übernommen? Der Kritiker Guiseppe Bertolucci
beschrieb die Lage des Theaters in Italien (und anderswo)
zu dem Zeitpunkt, als CB seine Versuche begann: weil die
soziale Wirklichkeit entgleitet, ist "das Theater für alle ein
ideologischer Betrug und ein objektiv hemmender Faktor
geworden". Genauso verhält es sich mit dem italienischen
Kino mit seinen pseudopolitischen Ambitionen, wie Marco
Montesano sagt, "es ist ein institutionelles Kino, obwohl es
scheinbar Konflikte darstellt . . . , weil der inszenierte Kon­
flikt der Konflikt ist, den die Institution voraussieht und
kontrolliert". Es ist ein narzißtisches, historizistisches und
moralisierendes Theater und Kino. Auch Reich und Arm:
CB beschreibt sie als zum selben Macht· und Herrschaftssy­
stem gehörend, das sie auf "arme Sklaven" und "reiche Skla­
ven" verteilt, und wo der Künstler die Funktion eines intel­
lektuellen Sklaven der einen oder anderen Seite hat. Aber
wie soll man denn dieser Situation der offiziellen, institu­
tionalisierten Konfliktrepräsentation entkommen? Wie soll
man die Untergrundarbeit einer freien und präsenten Varia­
tion zur Geltung bringen, die sich zwischen die Maschen
der Sklaverei hindurchdrängt und über das Ganze hinaus­
geht?
Gewiß, es gab auch andere Richtungen: das gelebte Thea­
ter, wo die Konflikte eher erlebt als repräsentiert werden,
wie in einem P sychodrama, das ästhetische Theater, wo die
formalisierten Konflikte abstrakt, geometrisch, ornamental
werden, das mystische Theater, das dazu neigt, die Reprä­
sentation fallenzulassen, um kommunitäres asketisches le­
ben "außerhalb des Schauspiels" zu werden? Keine dieser
Richtungen paßt CB, er würde all dem noch die reine, einfa­
che Repräsentation vorziehen . . . Wie Hamlet sucht er eine
einfachere, demütigere Formel. -

400
Alles dreht sich um den majoritären Tatbestand. Denn das
Theater für alle, das Volks theater ist ein bißchen wie die
Demokratie, es beruft sich auf einen majoritären Tatbe­
stand. Nur ist dieser Tatbestand sehr zweideutig. Er setzt
selbst einen Macht- oder Herrschaftszustand voraus, und
nicht umgekehrt. Es ist klar, daß es wahrscheinlich mehr
Fliegen und Moskitos als Menschen gibt, der Mensch stellt
nichtsdestoweniger einen Maßstab dar, gemessen an dem
die Menschen notwendigerweise in der Mehrheit sind. Die
Mehrheit bezeichnet keine größere Menge, sondern zu­
nächst diesen Maßstab, im Vergleich zu dem die anderen
Mengen, wie groß sie auch sein mögen, kleiner genannt
werden. Zum Beispiel sind die Frauen und Kinder, die
Schwarzen und Indianer usw. minoritär im Verhältnis zum
Maßstab, der durch den weißen, christlichen, irgendwie
männlichen erwachsenen Menschen, den Stadtbewohner
Amerikas oder Europas unserer Tage aufgestellt wird (Ulys­
ses). Aber an diesem Punkt kehrt sich alles um. Denn wenn
die Mehrheit auf ein historisches oder strukturelles Macht­
modell oder beides gleichzeitig verweist, muß man auch sa­
gen, daß jedemzann minoritär ist, potentiell minoritär, inso­
fern er von diesem Modell abweicht. Wäre nun die
fortgesetzte Variation nicht genau das, jene Abweichung,
die unaufhörlich, durch Überschreitung oder Mangel über
den repräsentativen Boden des majoritären Maßstabs hin­
ausgeht? Wäre die fortgesetzte Variation nicht das Minori­
tär-Werden von jedermann, im Gegensatz zum majoritären
Tatbestand von Niemand? Könnte das Theater also nicht
eine hinreichend bescheidene und dennoch wirksame
Funktion finden? Jene anti-repräsentative Funktion be­
stünde darin, gleichsam eine Figur des minoritären Bewußt­
seins als Vermögen eines jeden zu zeichnen, zu konstituie­
ren. Ein anwesendes, augenblickliches Vermögen gegen­
wärtig zu machen, ist etwas ganz anderes, als einen Konflikt
zu repräsentieren. Man könnte nicht mehr sagen, daß die
Kunst Macht hat, daß sie noch zur Macht gehört, selbst
wenn sie die Macht kritisiert. Denn indem sie die Form ei­
nes minoritären Bewußtseins aufstellt, würde sie sich an
Kräfte des Werdens wenden, die zu einem anderen Bereich
gehören als die der Macht und der Maßstabs-Repräsenta­
tion. "Die Kunst ist keine Form von Macht, dies ist sie nur,

401
wenn sie aufhört, Kunst zu sein und anfängt, Demagogie zu
werden." Die Kunst ist vielen Mächten unterworfen , aber
sie ist keine Form von Macht. Es macht wenig aus, daß der
Schauspieler-Au tor-Regisseur einen Einfluß ausübt und
sich gegebenfalls auf autoritäre, sehr autoritäre Weise be­
nimmt. Es wäre die Autorität einer unaufhörlichen Varia­
tion, im Gegensatz zur Macht oder zum Despotismus der
Invarianz. Es wäre die Autorität, die Autonomie des Stotte­
rers, dessen, der das Recht zu stottern erobert hat, im Ge­
gensatz zur großen "Schönrednerei". Und ganz sicher sind
die Gefahren immer groß, daß die minoritäre Form erneut
mehrheitlich wird und einen Maßstab setzt (wenn die
Kunst wieder demagogisch wird) . Die Variation muß unauf­
hörlich selber variieren, d. h. sie muß immer neue, unerwar­
tete Wege beschrei ten.
Welches sind diese Wege unter dem Gesichtspunkt einer
Politik des Theaters? Welches ist jener minoritäre Mensch
- das Wort Mensch paßt nicht mehr, insofern es bereits die
Signatur der Mehrheit trägt. Weshalb nicht Frau oder Tra­
vestie? Aber auch sie sind bereits zu kodifiziert. Ganz deut­
lich zeichnet sich in den Deklarationen CB's eine Politik ab.
Die Grenze, d. h. die Variationslinie verläuft nicht zwi­
schen Herren und Sklaven oder Armen und Reichen, denn
zwischen beiden bildet sich ein ganzes Geflecht von Rela­
tionen und Oppositionen, die aus dem Herrn einen reichen
Knecht und aus dem Knecht einen armen Herrn machen,
und zwar innerhalb ein- und demlben majoritären SYJtemJ. Die
Grenze verläuft nicht in der Geschichte, auch nicht inner­
halb einer etablierten Struktur, oder innerhalb des "Volkes".
Alle nehmen das Volk für sich in Anspruch, im Namen der
Sprache der Mehrheit. Aber wo bleibt das Volk? "Das Volk
fehlt." In Wirklichkeit verläuft die Grenze zwischen der Ge­
schichte und dem Anti-Historistischen, d. h. konkret, "je­
nen, von denen die Geschichte nicht berichtet". Sie verläuft
zwischen der Struktur und den Fluchtlinien, die sie durch­
queren. Sie verläuft zwischen dem Volk und der Ethnie. Die
Ethnie ist das Minoritäre, die Fluchtlinie in der Struktur,
das anti-historische Element in der Geschichte. CB erlebt
seine Minorität mit den Leuten aus Apulien. Das ist sein
Süden oder seine Dritte Welt, in dem Sinne, wie jeder ei­
nen Süden oder eine Dritte Welt hat. Aber wenn er von den

402
Leuten in Apulien spricht, zu denen er gehört, da ist ihm
ganz deutlich, daß das Wort arm überhaupt nicht paßt. Wie
soll man Leute arm nennen, die es vorziehen, an Hunger zu
sterben, anstatt zu arbeiten? Wie soll man Leute Sklaven
nennen, die das Spiel von Herr und Knecht erst gar nicht
mitspielen? Wie von einem "Konflikt" reden, wo es um et­
was ganz anderes, um eine kochende Variation, eine anti­
historische Variation geht, um den verrückten Aufruhr vom
Campi Salentina, so wie CB ihn beschreibt? Statt dessen hat
man ihnen etwas Fremdes aufgepfropft, hat man sie einer
seltsamen Operation unterzogen. Man hat sie verplant, re­
präsentiert, normalisiert, historisiert, dem majoritären Tat­
bestand integriert, und dadurch, ja, hat man Arme aus ih­
nen gemacht, Sklaven, hat man sie in das Volk und die
Geschichte eingebaut und hat sie groß gemacht.
Eine letzte Gefahr noch, bevor man glaubt, alles verstanden
zu haben, was CB sagt. Er hat nicht die geringsten Ambitio­
nen, Anführer einer regionalistischen Truppe zu werden.
Er fordert im Gegenteil ein Staatstheater, er kämpft darum,
er kennt in seiner Arbeit keinerlei Kult der Armut. Man
muß politisch sehr böswillig sein, um darin einen "Wider­
spruch" oder eine Vereinnahmung zu sehen. Niemals hat
CB beansprucht, ein regionalistisches Theater zu machen;
und eine Minderheit fängt schon an, sich zu normalisieren,
wenn man sie in sich abschließt und um sie herum den
Tanz der guten alten Zeit aufführt (man macht so eine Un­
tereinheit der Mehrheit aus ihr) . Nie gehört CB mehr zu
den Apuliern, zum Süden, als wenn er ein Universal-Thea­
ter mit englischen, französischen und amerikanischen Ver­
bindungen macht. Er extrahiert aus den Apuliern eine Va­
riationslinie, Luft, Erde, Sonne, Farben, üchter und Tön,
die er selbst ganz anders variieren läßt, z. B. "Notre Dame
des Turcs", folglich ist er mehr Komplize der Apulier, als
wenn er sich zu ihrem repräsentativen Dichter machen
würde. Um zum Ende zu kommen: Minorität hat zweierlei Be­
deutungen, die zweifellos verbunden, aber sehr wohl unter­
schieden sind. Minorität bezeichnet zunächst einen Tatbe­
stand, d. h. die Lage einer Gruppe, die, wie groß auch
immer ihre Zahl sein mag, von der Mehrheit ausgeschlos­
sen ist oder auch eingeschlossen, aber als untergeordnete
Fraktion im Verhältnis zu einem Maßstab, der das Gesetz

403
bestimmt und die Mehrheit festlegt. Man könnte in diesem
Sinne sagen, daß die Frauen, die Kinder, der Süden, die
Dritte Welt usw. noch Minderheiten sind, so zahlreich sie
auch sein mögen. Aber wenn man den ersten Sinn beim
"Wort" nimmt, stellt man fest: Minorität bezeichnet dann
nicht mehr einen Tatbestand, sondern ein Werden, in das
man sich einbringt. Minoritär-Werden ist ein Ziel, und ein
Ziel, das jeden betrifft, denn jeder tritt in dieses Ziel und
dieses Werden ein, insofern jeder seine Variation um die
Einheit des despotischen Maßstabs herum konstituiert, und
auf die eine oder andere Weise dem System der Macht ent­
kommt, die aus ihm einen Teil der Mehrheit macht. In die­
sem zweiten Sinne ist klar, daß die Minderheit viel zahlrei­
cher als die Mehrheit ist. Zum Beispiel sind die Frauen im
ersten Sinne eine Minderheit, aber im zweiten Sinn gibt es
ein Frau-Werden eines jeden, ein Frau-Werden, das die
Möglichkeit eines jeden darstellt, und die Frauen müssen
nicht weniger Frau-Werden als die Männer selbst. Ein uni­
verselles Minoritär-Werden. Minoritär bezeichnet hier die
Kraft eines Werdens, während Majoritär die Macht oder
Ohnmacht eines Zustandes, einer Situation bezeichnet. Hier
können Theater und Kunst mit einer spezifischen politi­
schen Funktion auftreten. Unter der Bedingung, daß Mino­
rität nichts regionalistisches repräsentiert, aber ebensowe­
nig etwas aristokratisches, ästhetisches oder mystisches.

Das Theater wird auftauchen als das, was nicht repräsen­


tiert, sondern ein Minderheitsbewußtsein präsentiert und
konstituiert als Universell-Werden, wobei es hier und da, je
nachdem Verbindungen herstellt, den Transformationslinien
folgend, die aus dem Theater herausspringen und eine an­
dere Form annehmen, oder die sich in einem neuen Sprung
in Theater zurückverwandeln. Es geht um eine Bewußtwer­
dung, was nichts mit einem psychoanalytischen Bewußtsein
zu tun hätte, und auch nichts mit einem marxistischen oder
gar brechtianischen politischen Bewußtsein. Das Bewußt­
sein, die Bewußtwerdung, ist eine große Kraft, dient aber
weder Lösungen, noch Interpretationen. Wenn das Bewußt­
sein Lösungen und Interpretationen fallengelassen hat, ge­
winnt es erst sein Licht, seine Gebärden und seine Töne,
seine entscheidende Transformation. Henry James schreibt:

404
"Sie war soweit gekommen, zu wissen, insofern sie nichts
mehr interpretieren konnte; es gab keine Rätsel mehr, die
sie klarsehen ließen, es blieb nur ein rohes Licht." Je mehr
man diese minoritäre Bewußtseinsform erreicht, desto we­
niger fühlt man sich allein. Licht. Man ist für sich selbst al­
lein eine Masse, "die Masse meiner Atome". Und unter dem
Anspruch der erwähnten Formeln gibt es die bescheidenste
Würdigung dessen, was ein revolutionäres Theater sein
könnte, eine einfache, liebevolle Potentialität, ein Element
für ein neues Werden des Bewußtseins.

Aus dem Französischen von K. D. Schacht


M I C H E L F O U C A U LT
Der Ariadnefaden ist gerissen

Müßte ich das Buch von Deleuze Difference el repetition (Paris


1968) "nacherzählen", würde ich etwa diese Fabel erfin­
den:
Ariadne war es müde, auf Theseus' Wiederkehr aus dem La­
byrinth zu warten, auf seinen monotonen Schritt zu lauern
und sein Gesicht unter all den flüchtigen Schatten wieder­
zuerkennen. Ariadne hat sich erhängt. An der aus Identität,
Erinnerung und Wiedererkennung verliebt geflochtenen
Schnur dreht sich ihr Körper nachdenklich um sich selbst.
Der Faden ist gerissen, und Theseus kommt nicht wieder.
Er rennt und rast, taumelt und tanzt durch Gänge, Tunnel,
Keller, Höhlen, Kreuzwege, Abgründe, Blitze und Don­
ner.
Er bewegt sich nicht in der gelehrten Geometrie des wohl­
zentrierten Labyrinths - sondern treibt einen abschüssigen
Steilhang entlang. Er geht nicht der Stätte seiner Erprobung
entgegen, wo der Sieg ihm Rückkehr verspricht - sondern
fröhlich nähert er sich dem Monster ohne Identität, dem
Ungeheuer, das keiner Art angehört, das Mensch und Tier
in einem ist, das die leer ablaufende Zeit des unterweltli­
chen Richters und die geschlechtlich jähe Gewalt des Stie­
res in sich vereinigt. Und er nähert sich ihm nicht, um diese
Unform von der Erde zu tilgen, sondern um sich in ihrem
Chaos zu verlieren. Hier (und nicht in Naxos) liegt viel­
leicht der bacchische Gott auf der Lauer: Dionysos der Mas­
kierte, der Verkleidete, der endlos Wiederholte. Der be­
rühmte und so fest gedachte Faden ist zerrissen; Ariadne ist
verlassen worden, ehe man es glauben mochte. Und die
ganze Geschichte des abendländischen Denkens ist neu zu
schreiben.
Jedoch wird meine Fabel dem Buch von Deleuze nicht ge­
recht. Es ist ja nicht die soundsovielte Erzählung vom An­
fang und vom Ende der Metaphysik. Es ist das Theater, die
Bühne, die Probe einer neuen Philosophie, und auf der
nackten Fläche jeder Seite stirbt Ariadne, tanzt Theseus,
brüllt Minotaurus und bricht das Gefolge des vielgestaltigen
Gottes in Lachen aus. Es gab die Philosophie als Roman

406
(Hege!, Sanre); es gab die Philosophie als Meditation (Des­
cartes, Heidegger); nun ersteht nach Zarathustra die Philo­
sophie wieder als Theater. Nicht als Reflexion über das
Theater oder als Theater voller Bedeutungen. Sondern eine
Philosophie, die zur Bühne mit Personen und Zeichen ge­
worden ist: Aufführung eines einzigen unwiederholbaren
Ereignisses.

Das Buch von Deleuze sollte man aufschlagen wie die Tü­
ren eines Theaters, wenn das Rampenlicht aufleuchtet und
der Vorhang sich hebt. Zitierte Autoren und unzählige An­
spielungen - das sind die Personen. Sie sagen ihren Text auf
(den Text, den sie anderswo, in anderen Büchern, auf ande­
ren Szenen gesprochen haben und der sich hier anders ab­
spielt; das ist die listenreiche Technik der "Collage"). Jeder
hat seine Rolle, und häufig treten sie zu dritt auf - der Ko­
miker, der Tragiker, der Dramatiker: Peguy, Kierkegaard,
Nietzsehe; Aristoteles (ja der Komiker!), Platon, Duns Sco­
tus; Hegel (ja auch er!), Hölderlin und wiederum Nietz­
sehe.
Nie treten sie am selben Platz und mit derselben Identität
auf. Bald distanzieren sie sich als Komiker von ihrem düste­
ren Grund, bald sind sie ihm dramatisch nahe. Hier ist Pla­
ton der aufgeblasene Weise, der die gemeinen Trugbilder
verjagt, die schlechten Bilder verscheucht und den An­
schein vertilgt, welcher das eine Urbild spiegelt und anruft:
jene Idee des Guten, die selber gut ist. Aber dort ist der an­
dere Platon fast in Panik, weil er im Schatten Sokrates nicht
von höhnenden Sophisten zu unterscheiden weiß.

Was nun das Drama - das Buch selber - betrifft, so hat es


wie der Ödipus von Sophokles drei Akte. Zunächst die Hin­
terhältigkeit der Zeichen: raunendes Murmeln, krächzende
Orakel, blinde und vorlaute Seher. Die königliche Hoheit
des Subjekts (des einzigen und ewigen Ich) und der Reprä­
sentation (des Durchblicks durch klare Ideen) wird unter­
graben. Unter der monarchischen, feierlichen, berechnen­
den Stimme der abendländischen Philosophen, welche die
Einheit, die Analogie, die Ähnlichkeit, die Widerspruchslo­
sigkeit an die Herrschaft bringen wollten und die Differenz
auf die Negation reduzieren wollten (was anders als A ist,

407
ist Nicht-A, bringt man uns schon in der Schule bei) - un­
ter dieser hannäckig angespannten Stimme ist das Knistern
des Unstimmigen unüberhörbar. Lauschen wir auf die Was­
senropfen, die durch Leibnizens Marmor rieseln. Schauen
wir, wie das Knacken der Zeit das Kantische Subjekt in Ze­
brastreifen zerlegt.
Und plötzlich mitten im Buch (Deleuzens Ironie präsen­
tiert ja das göttliche Hinken der Differenz in aller akademi­
scher Form) - plötzlich die Wende. Der Schleier zerreißt:
dieser Schleier ist das Bild, das sich das Denken von sich
selber gemacht hatte und das es seine eigene Härte ertragen
ließ. Man glaubte, man sagte: das Denken ist gut und es ist
eins wie der gesunde Menschenverstand, auf dem es be­
ruht; das Denken zerstreut den Irrtum, indem es Korn für
Korn die Ernte der wahren Sätze sammelt und schließlich
zur schönen Pyramide des Wissens aufstapelt.
Sobald aber das Denken von diesem Bild befreit ist, das es
der Souveränität des Subjekts unterwirft, erscheint es oder
vielmehr wirkt es so, wie es ist: böse, paradox und unwill­
kürlich erhebt es sich an den Extremitäten der verschie­
densten Fähigkeiten; ständig muß es gegen die Faszination
der Dummheit ankämpfen; es ist von der Gewalt der Pro­
bleme unterworfen, gezwungen und eingezwängt; von hell­
scharfen wie von dunkel-tiefen Ideen durchblitzt.
Halten wir die Wandlungen fest, die Deleuze in der guten
alten Stube der Philosophie anrichtet: aus dem gesunden
Menschenverstand wird Häresie; aus der ruhigen Mitte ex­
treme Spannung und Zuspitzung; aus der Beschwörung des
Irrtums die Faszination durch die Dummheit; aus dem Kla­
ren und Deutlichen das Deutlich-Dunkel. Halten wir vor al­
lem die große Umwenung des lichtes fest: das Denken ist
nicht mehr ein offener Blick auf Formen, die in ihrer Identi­
tät hell und fest sind; das Denken ist Tat, Sprung, Tanz, äu­
ßerstes Abseits, gespannte Dunkelheit. Es ist das Ende der
Philosophie der Repräsentation. Incipit philosophia diffe­
rentiae.

Es kommt der Augenblick des Irrens. Nicht wie Ödipus,


der arme König ohne Zepter, der von innen erleuchtete
Blinde, geien ist. Sondern das Irren auf dem düsteren Fest
der gekrönten Anarchie. Jetzt vermag man die Differenz

408
und die Wiede rholung zu denken. Nicht sie sich vorzustel­
len, sondern sie herzustellen und auszuspielen. Auf dem
Gipfel seiner Intensität ist das Denken selber Differenz
und Wiederholung. Es läßt auseinanderfallen, was die Re­
präsentation zu vereinen suchte; es spielt mit der endlosen
Wiederholung, deren Ursprung zu suchen sich die Meta­
physik in den Kopf setzte. Es geht nicht mehr um die
Frage: Was unterscheidet sich wovon? Welche Arten grenzt
die Differenz ab und welche größere anfängliche Einheit
teilt sie auf? Es geht darum, die Analogie oder die Identität
als Überdeckung der Differenz und der Differenz der Diffe­
renzen zu denken; und die Wiederholung ohne Ursprung
und nicht als Wiederkehr des Selben zu denken.
Zu denken sind eher Intensitäten als Qualitäten und Quan­
titäten; eher Tiefen als Längen und Breiten; eher Individu­
ierungsbewegungen als Arten und Gattungen; und tausend
kleine Larvensubjekte, tausend kleine aufgelöste !ehe, tau­
send Passivitäten und Durcheinander, wo gestern das sou­
veräne Subjekt herrschte. Man hat sich im Abendland im­
mer geweigert, die Intensität zu denken. Zumeist hat man
sie im Meßbaren und im Spiel der Gleichheiten aufgehen
lassen. Bergson hat sie aufs Qualitative und Kontinuierliche
reduziert. Deleuze befreit sie nun mit und in einem Denken,
welches das höchste, das schärfste und intensivste sein wird.

Man täusche sich nicht. Die Intensität - mit ihren freien


Differenzen und ihren Wiederholungen - denken ist keine
geringfügige Revolution in der Philosophie. Hier wird das
Negative (als Reduktion des Differenten auf null und
nichts) zurückgewiesen; mit einem Mal werden also die
Philosophien der Identität und der Kontradiktion verwor­
fen; die Metaphysiken und die Dialektiken, Aristoteles und
Hegel; geschmälert wird das Ansehen des Wiedersehens
(das es dem Wissen gestattet, unter den verschiedenen
Wiederholungen die Identität wiederzufinden und aus der
Differenz immer wieder den gemeinsamen Kern herauszu­
schälen) ; mit einem Schlag werden die Philosophien der
Evidenz und des Bewußtseins abgewiesen; Husserl nicht
weniger als Descartes. Verworfen wird schließlich der große
Fetisch des Selben, der von Platon bis Heidegger die abend­
ländische Metaphysik in seinen Bannkreis gezogen hat.

409
Machen wir uns frei, um denken und lieben zu können, was
sich in unserem Universum seit Nietzsehe mit Donnerrol­
len ankündigt: ungebändigte Differenzen und ursprunglose
Wiederholungen, die unsern alten erloschenen Vulkan er­
schüttern; die seit Mallarme die Literatur gespren.gt haben;
die den Raum der Malerei zerklüftet und vervielfältigt ha­
ben (mit Rothkos Teilungen, Nolands Streifen, Warhols Se­
rien); die seit Webern die feste Linie der Musik endgültig
gebrochen haben; die alle Zeitenbrüche unserer Welt an­
künden. Endlich ist es möglich, die Differenzen des Heute
zu denken, das Heute als Differenz der Differenzen zu
denken.
Das Buch von Deleuze ist das wundersame Theater, in dem
die ständig neuen Differenzen, die wir sind, die wir ma­
chen, zwischen denen wir herumirren, gespielt werden. Es
ist seit langem das einzigartigste, das differenteste Buch, in
dem die Differenzen, die uns durchkreuzen und zer­
streuen, am besten wiederholt werden. Theater des Jetzt.

Aus dem Französischen von Walter Seitter


WALTER S E I TTER
Zur Ökologie der Destruktion

Wer sich die politischen Probleme ausschließlich


von der Angst stellen läßt, für den wird ihre Lö­
sung schwierig. Die Angst muß sie zwar stellen.
Aber ihre Lösung erforden an einem bestimmten
Punkt die Überwindung der Angst.
George Bataille

Wenn ich als Nicht-Architekt in einem Architekten-Sympo­


sion das Won ergreife, so tue ich es nicht nur, weil man als
Politikwissenschaftler ohnehin über alles reden kann. Eher
schon weil auch so eindeutige Nicht-Architekten wie die
Psychologen earl Gustav Jung und Sigmund Freud sich als
Architekten betätigt haben (der eine, indem er sich in lan­
gen Arbeitsstunden ein mittelalterlich verwinkeltes Turm­
refugium gemauen und gebastelt hat, der andere, indem er
für sich und seine Patienten ein strenges Arrangement aus
Polsterstuhl und üppigem Diwan aufgebaut hat). Näherhin
aber ist es Descanes, der mir hier das Won eneilt und des­
sen Discours de ja methode ich gleich aufnehmen will. In die­
sem autobiographischen Bericht über die Entstehung und
Tragweite seiner Methode bedient sich Descanes sehr häu�
Hg architektonischer Metaphern. Doch scheinen diese Ar­
chitektur-Metaphern nicht bloße - seien es unvermeidliche
oder beliebige - ..Ausdrucksmittel" für etwas ..Eigentliches"
zu sein, das sich eigentlich in reiner Selbsthelligkeit offen­
baren könnte oder sollte. In seinen Meditationen mag Des­
canes diese Selbsthelligkeit sich selbst entfalten lassen. Im
Discours jedoch erzählt er ihre Geschichte, rückt er von ihr
etwas ab, um sie als etwas Gewordenes oder Gefundenes,
ein Produktionsprogramm, ein Programm zur Produktion
nützlicher Erkenntnisse, ein Programm zur Aufrichtung der
Herrschaft der Menschen über die Natur vorzustellen. Die
Architektur-Metaphern sind gerade in ihrer Äußerlichkeit
dazu angetan, die Methode Descattes' als ein historisches
Projekt darzutun. Hier hat ein Wissenschaftler zu seiner
Wissenschaft noch die Distanz aufgebracht, daß er sie als
ein kontingentes Unternehmen sichtbar machen konnte.
Womit er gerade aufgedeckt hat, daß es sich bei seinem Pro-

411
jekt um etwas Nicht-Kontingentes, etwas ganz Souveränes
und allgemein Notwendiges handeln sollte.
Descartes erinnert an seinen Aufenthalt in Deutschland
während des Dreißigjährigen Krieges und stellt fest, "daß
Werke, die aus mehreren Stücken bestehen und von der
Hand verschiedener Meister stammen, häufig nicht so voll­
kommen sind wie Arbeiten eines einzelnen. So kann man
beobachten, daß Bauten, die ein Architekt allein unternom­
men und ausgeführt hat, für gewöhnlich schöner und har­
monischer sind als solche, die mehrere versucht haben um­
zuarbeiten, indem sie alte, zu anderen Zwecken gebaute
Mauern benutzten. Ebenso sind jene alten Städte, die - an­
fänglich nur Burgflecken - erst im Laufe der Zeit zu Groß­
städten geworden sind, verglichen mit jenen regelmäßigen
Plätzen, die ein Ingenieur nach freiem Entwurf auf einer
Ebene absteckt, für gewöhnlich ganz unproportioniert;
zwar findet man oft ihre Häuser - betrachtet man jedes für
sich - ebenso kunstvoll oder gar kunstvoller als in anderen
Städten, wenn man jedoch sieht, wie sie nebeneinanderste­
hen, hier ein großes, dort ein kleines, und wie sie die Stra­
ßen krumm oder uneben machen, so muß man sagen, daß
sie eher der Zufall verteilt hat und nicht die Absicht ver­
nünftiger Menschen. Und wenn man bedenkt, daß es doch
zu jeder Zeit Beamte mit dem Auftrag gab, die Bauten von
Privatleuten zu überwachen, um sie in den Dienst der Ver­
schönerung des Stadtbildes zu stellen, so wird man wohl
einsehen, daß es schwierig ist, etwas höchst Vollkommenes
zu schaffen, wenn man nur an fremden Werken herumar­
beitet."l Gegen das Anbauen und Umbauen, das vorlie ­
gende Bestände voraussetzt und bis zu einem gewissen
Grade bestehen läßt, setzt Descartes die Schöpfung aus ei­
nem Guß, das Produzieren von einem Kopf aus. Während
in den mittelalterlichen Städten verschiedene Generatio­
nen, Stände und Querköpfe aneinander umbauen, erdenkt
und errichtet der von Descartes erdachte Ingenieur auf ei­
ner tabula rasa sein großartiges und nützliches Bauwerk.
Wie kommt es zu dieser tabula rasa? Im Notfall durch die
vollständige Abtragung dessen, was vorher da war. Die in­
genieurhafte Produktion ist an eine bestimmte Destruktion
gebunden: an die Ausrottung mit Stumpf und Stiel, die aus
dem Zerstörten nur Trümmer, d. h. formloses Material ge-

412
winnt. Diese rad ikale Destruktion fällt jedoch insofern
kaum auf, als sie einer noch radikaleren Konstruktion dient:
lose Erde und Sand werden beiseite geschafft, damit sich
auf Fels und Ton etwas Sicheres bauen läßt.2 Von der De­
struktion, die zwar in der nachfolgenden Konstruktion völ­
lig aufgeht, aber doch ihre notwendige Vorbedingung ist,
spricht Descartes nur hinsichtlich seines eigenen Umbaues.
Hinsichtlich der Stadt oder des Gemeinwesens will er von
so destruktiver Radikalität nichts wissen. Er gehört ja nicht
zu den unruhigen Wirrköpfen, "die, ohne durch Geburt
oder Lebensstellung zur Verwaltung öffentlicher Angele­
genheiten berufen zu sein, in Gedanken fortwährend auf
diesem Gebiet reformieren. "3 Descartes beschränkt seine ra­
dikale Destruktion/Konstruktion auf sich selbst als denken­
des Wesen. Es geht ihm darum, sich selbst als souveränes
Subjekt zu produzieren, zunächst alle undurchsichtigen
Einsprengsel wie etwa die Triebe und die Lehrer der Kind­
heit4 aus sich auszumerzen und dann sich ganz auf sich, auf
die Vernunft zu stellen. Indem er seine Säuberung auf sich
selber zurücknimmt, verläßt er sich - wenn auch nur vor­
läufig, so doch fest entschlossen - auf die Institutionen und
Gebräuche seiner Umwe1t.5 Er tut nichts, was ihm den An­
schein des Revolutionärs oder Reformers eintragen könnte.
Wie ist dieser Bruch zwischen dem Verzicht auf die Gesell­
schaftsveränderung einerseits und dem Vorhaben der radi­
kalen Selbstneugründung andererseits zu verstehen? Be­
scheidet sich Descartes, weil er inkonsequent ist oder
"realistisch" oder dergleichen? Nun, seine These, daß die
beste Ordnung die von einem einzigen ausgedachte und
durchgeführte ist, führt zu unterschiedlichen Konsequen­
zen, je nachdem ob es sich um die Ordnung des Denkens
von Descartes selber handelt oder um die Ordnung des
Staates. Denn in dieser darf gerade nicht jeder seine Vor­
stellung durchsetzen wollen. Alle sollten sich einer Ord­
nung unterwerfen, die womöglich von einem Gesetzgeber
widerspruchsfrei ausgedacht sein soll. Da dieser eine nach
Lage der Dinge eben nicht Descartes ist, muß er sich der
bestehenden Ordnung unterwerfen. Die von Descartes for­
mulierte These vom Ordnungsmonopol ermächtigt ihn zum
unbeschränkten Herrn in seinem eigenen Haus - in seinem
Denken - und unterwirft ihn gleichzeitig der bestehenden

413
Ordnung als loyalen oder zumindest unauffälligen Staats-
. .
· kt konsutUlert . Souverän ·
b ürger. D as Su bJe SlCh aI s . D lese
Untenan
Spaltung ist zunächst derjenigen von privat und öffentlich
zugeordnet, doch läßt sich diese Zuordnung nicht aufrecht­
erhalten. Zum einen verlangt die private Souveränität auch
so etwas wie private Untertanen: die Wünsche, Leiden­
schaften usw. Zum andern läßt sie sich gar nicht auf Privat­
heit eingrenzen. Das souveräne Denken strebt ja nach nütz­
lichen Erkenntnissen, die nicht erst in ihrer Anwendung,
sondern schon bei ihrer Gewinnung andere Subjekte einbe­
ziehen. Hier sind nun Freiwillige, die sich aus Neugier oder
Wissensdurst als Mitarbeiter anbieten, gar nicht zu brau­
chen, die würden nämlich mit ihren Eigenheiten mehr Um­
stände machen als Nutzen bringen. Andere sind nur zu ver­
wenden, wenn ihre Motivation aufs Geldverdienen redu­
ziert ist und sie sich darum auf das Ausführen von
Aufträgen beschränken.6 In dem Augenblick, in dem es der
private Souverän mit anderen zu tun hat, müssen sich diese
umstandslos in seine Ordnung einfügen - womöglich ohne
großen Herrschaftsaufwand, sprechen doch alle Interessen
für die Sache. Descartes' Denksouveränität läuft eindeutig
auf den allgemeinen Nutzen hinaus: auf die Herrschaft
über die Natur, auf die Verlängerung des Lebens. Wer so
konstruktive, so produktive Ziele für die Allgemeinheit ver­
folgt, braucht gar nicht von Gesellschaftsveränderung zu
sprechen, was die Leute nur beunruhigen oder ihn verdäch­
tig machen würde. Dafür kann er ganz offen von der Gesel­
lungsmethode sprechen, mit der er andere für sein Projekt
einzusetzen gedenkt. Nichts daran ist aufrührerisch oder
zerstörerisch. Alles ist nützlich, sparsam und vernünftig.
Ökonomisch im modernen Sinn des Wortes. Wenn Descar­
tes von der Notwendigkeit der radikalen Umwälzung in be­
zug auf die Allgemeinheit nur andeutungsweise und vor al­
lem unter Unterschlagung ihrer negativen Seite redet,
während er bei der Selbstgründung des souveränen Den­
kens rücksichtslos von der notwendigen Ausrottungsarbeit
spricht, dann befindet er sich zum einen in der Tradition
der christlichen Seelenreinigung, zum anderen inauguriert
er die Verfemung des destruktiven Teils, die für die mo­
derne Produktivität charakteristisch werden sollte. Auf den

414
Krieg mit seinen Ehren verzi chtet er, weil hier der Nutzen
für die einen mit Schaden für die anderen verbunden ist,?
und an der holländischen Armee rühmt er, daß sie nur noch
der Sicherheit des Friedens dient .8 Die innenpolitischen
und außenpolitischen Kehrseiten dieses holländischen Frie­
dens interessieren den nicht, der in der Weltstadt die Ein­
samkeit der Wüste sucht, um seinen Gedanken und dem
Nutzen für alle nachzuhängen.

Der Ingenieur, von dem Descartes träumt, als den sich Des­
cartes träumt, steckt auf freier Fläche den Bauplatz für sein
Werk ab: tabula rasa als Voraussetzung für den allgemeinen
Nutzen. Unsere Frage geht jetzt dahin: wie verhalten sich
in der Ingenieurtätigkeit Destruktion und Konstruktion?
Und wie bzw. wo können sich Destruktion und Konstruk­
tion auch anders zueinander verhalten? Bei der Behandlung
dieser Frage stützen wir uns auf George Bataille, der die
"allgemeine Ökonomie" als die Wissenschaft entwirft, "die
den Sinn der Gegenstände in ihrem gegenseitigen Verhält­
nis, letzten Endes im Verhältnis zum Verlust des Sinns ins
Auge faßt . . . Die allgemeine Ökonomie stellt in erster Linie
klar, daß Energieüberschüsse produziert werden, die defini­
tionsgemäß nicht verwendet werden können. Der Energie­
überschuß kann nur ziellos, folglich ohne irgendeinen Sinn,
verschwendet werden. Diese nutzlose und unsinnige Ver­
schwendung ist die Souveränität."9 Mit dem letzten Satz
scheint Bataille eine Instanz zu nennen, von der aus der
Unsinn der Verschwendung doch wieder angeeignet und
eingemeindet werden kann. Eine Instanz, die noch souverä­
ner ist als der produktivitäts besessene Ingenieur - sich ihre
Souveränität aber damit erkauft, daß sie die Ordnung der
Dinge hinter sich läßt und ins Reich des Bewußtseins auf­
steigt. Wenn wir diese Himmelfahrt nicht mitmachen wol­
len, werden wir auf den Bastler zurückkommen müssen,
den Uvi-Strauss dem Ingenieur entgegensetzt und der ein
anderes Verhältnis von Konstruktion und Destruktion reali­
siert. Diese theoretische Ausrüstung mag uns dabei behif­
lieh sein, den großartigen Kon- und Dekonstruktionen der
Gegenwart auch als Dekonstrukteure zu begegnen.
Bataille geht von folgender elementaren Tatsache aus: "Der
lebende Organismus erhält, dank dem Kräftespiel der Ener-

415
gie auf der Erdoberfläche, grundsätzlich mehr Energie, als
zur Erhaltung des Lebens notwendig ist. Die überschüssige
Energie (der Reichtum) kann zum Wachstum eines Systems
(z. B. eines Organismus) verwendet werden. Wenn das Sy­
stem jedoch nicht mehr wachsen und der Energieüberschuß
nicht gänzlich vom Wachstum absorbiert werden kann,
muß er notwendig ohne Gewinn verloren gehen und ver­
schwendet werden, willentlich oder nicht, in glorioser oder
in katastrophischer Form."1o Die Fähigkeit, den Energie­
überschuß so zu kanalisieren, daß seine Verschwendung
eine gloriose ist, spricht Bataille den primitiven und antiken
Gesellschaften, auch noch der feudalen Gesellschaft des
Mittelalters zu. Gesellschaften, in denen der Bereich der
"sogenannten unproduktiven Ausgaben: Luxus, Trauerzere­
monien, Kriege, Kulte, die Errichtung von Prachtbauten,
Spiele, Theater, Künste, die perverse (d. h. von der Genita­
lität losgelöste) Sexualität"l1; in denen die "Verausgabung"
nicht irgendein Randdasein führt, sondern zu den bestim­
menden und anerkannten Existenzweisen gehört. Im Kapi­
talismus hingegen verschwenden die Bürger nur für sich,
werden die Uberschüsse in die Produktion reinvestiert, die
damit auf exponentielles Wachstum geschaltet ist. Diese
verabsolutierte Produktion bringt aber nun keineswegs die
Verschwendung zum Verschwinden. Erstens verbraucht sie
immer mehr Materialien und Energien, ist also selbst eine
wachsende Verschwendung der Ressourcen, und zweitens
erzeugt sie immer mehr Produkte, die nicht für Verschwen­
dung gemacht sind und gerade deswegen in katastrophische
Verschwendung hineintreiben. "Denn wenn wir nicht die
Kraft haben, die überschüssige Energie selbst zu zerstören,
die anderweitig nicht benutzt werden kann, so zerstört sie
uns wie ein unzähmbares Tier, und wir selbst sind das Op­
fer der unvermeidlichen Explosion. "12 Gewiß kann das
bloße Wissen um die "allgemeine Ökonomie" nicht diese
Kraft verleihen, aber vielleicht kann dieses Wissen in Ver­
bindung mit zeitgenössischen Ängsten und Erfahrungen
diese weitertreiben.
Innerhalb des Tierreiches bilden der Tod, die geschlechtli­
che Fortpflanzung und das gegenseitige Sich-Auffressen
die höchsten Formen des Luxus, denen dann die Menschen
noch weitere Stufen hinzugefügt haben: "Die menschliche

416
Aktivität vermehn durch Veränderung der Welt die le­
bende Materie um an sie angeschlossene Apparaturen, be­
stehend aus einer riesigen Menge inener Materie, die die
vorhandenen Energiequellen erheblich vergrößern. "13 Die
rasche Akkumulation der Produktivkräfte seit dem 18. Jahr­
hunden ist ein Ausfluß dieser Luxusfähigkeit, der sie aber
gleichzeitig blockien. Der im Produktionssystem gefesselte
Drang nach Verausgabung muß sich in Weltkriegen und an­
deren Gütervernichtungsaktionen Platz schaffen. Gerade
weil die Verausgabung heute das ist, was eigentlich nicht
sein darf. Sowohl in der Form des Krieges wie in der des
Luxus ist die Verausgabung geächtet. Was beide Formen
nicht hinden fonzubestehen, sie aber unheimlicher macht.
Der - etwa im Namen der Gerechtigkeit - geächtete Luxus
nimmt die Form des massenhaften Dauerkonsums an, wo
immer größere Mengen von Dingen mit immer weniger Be­
deutung verzehn werden und die bekannten Zivilisations­
unbehagen erzeugen. Die Ächtung des Krieges fühn nicht
dazu, daß keine Kriege mehr gefühn werden, sondern
dazu, daß sie nicht mehr erklän, daß sie nicht mehr kriegs­
rechtlich "gehegt", d. h. eingeschränkt werden. Man fühn
jetzt Säuberungsaktionen durch. Dazu kommt, daß das Mili­
tärische auch auf solche Aktionen verzichten kann, sofern
es die Armeen erweiten und verfeinen, d. h. sofern der or­
ganisiene Sieg den Krieg überflüssig macht. Im übrigen ver­
schmelzen die Friedens- und die Kriegsproduktion immer
enger zur Kernenergietechnik und -politik, wo im Namen
des Mangels eine gigantische Aufrüstung getrieben wird,
die auf dem militärischen Sektor bereits vielfache Tötungs­
potentiale produzien hat. Overkill als Überschuß. Die
gleichmäßige Aufrechterhaltung und angemessene Weiter­
entwicklung dieses Tötungspotentials ist zu einer Bedin­
gung des nackten Überlebens geworden, als dessen bloße
Kehrseite der Tod unsichtbarer und heimtückischer ist
denn je. Die auf Produktionssteigerung, auf lebenserhal­
tung und Warenerzeugung ausgerichtete industrielle Si­
cherheitspolitik, deren Fonschritt bisher das Ergebnis aller
erfolgreichen sogenannten Revolutionen gewesen ist, hat
alle Formen der Verschwendung geächtet, entritualisien,
entsozialisien. Und sie hat sich damit zu einer strukturellen
Monopolitik entwickelt, dergegenüber jede Monarchie ein

417
Kinderspiel im wahrsten Sinn des Wones ist. Die struktu­
relle Monopolitik, die die Sicherung unseres Lebens p rodu­
zien und uns zu deren Konsumenten erzieht, hat nicht nur
die Gewalt, sie hat auch die Verantwonung monopolisien.
Indem sie unseren Tod verdrängt hat, hat sie sich unseres
Lebens bemächtigt und deckt uns mit Dingen ein, die auch
nicht sterben können. "Die große Weltwinschaftskrise von
1929 ist bekanntlich aus der Schwierigkeit, die Produktion
abzusetzen, entstanden, und sofern sich die Entwicklung
der Humanwissenschaften, der human relations und des ge­
samten Arsenals der Konsumideologie dieser Krise ver­
dankt, konnte man sagen, daß ,der Mensch ein Gegenstand
der Wissenschaft für den Menschen erst geworden ist, als
die Automobile leichter zu produzieren als zu verkaufen
geworden sind'. Ebenso glaube ich, daß die neue Krise der
siebziger Jahre, die Umwelt- und Verschmutzungskrise,
sich dadurch auszeichnet, daß ,die Umwelt, die Natur für
den Menschen erst dann ein Gegenstand der Wissenschaft
wird, wenn die Objekte (und überhaupt die Produkte)
leichter zu erzeugen und zu verkaufen als zu zerstören ge­
worden sind'. Es genügt nicht, daß man nützliche Gegen­
stände produzien; man muß Gegenstände produzieren, die
zu sterben wissen. Man muß imstande sein, sich ihrer zu
entledigen. Die primitiven Gesellschaften wußten es wohl:
die Produktion ist ein Verbrechen, das man durch das Op­
fer wiedergutmachen muß - durch eine Destruktion, die
die Untat der Produktion kompensien und das symbolische
Gleichgewicht wiederherstellt. Die traditionelle Bauernge­
sellschaft bewahn noch etwas von diesem symbolischen
Gleichgewicht: die Gegenstände verbrauchen sich langsam
unter den Händen der Menschen und sterben mit ihnen.
Denn der Tod ist etwas, das sich teilt; wir müssen ihn mit
unseren Gegenständen wie auch mit den anderen Men­
schen teilen können. Heute stellt allein der tödliche Auto­
unfall - wenn auch in stupid verzerner Weise - dieses Op­
fergleichgewicht wieder her. Im wesentlichen verkommen
die Gegenstände irgendwie, und die Veramwonung für die­
sen Tod entgleitet uns. Es ist ein Unterschied zwischen
dem symbolischen Tod der Gegenstände und der industriel­
len Vergeudung oder einfach ihrem Konsum. Dieser läßt
die Gegenstände zu Abfällen werden, und wir wissen, was

418
für physische und materielle Verschmutzung die Folge
ist. "14
Das Verhältnis von Produktion und Destruktion. das mit
der ingenieurhaften. d. h. monopolitischen Produktion ge­
geben ist und die Groß-Destruktion zur unausweichlichen
weil ungeachteten Kehrseite der Groß-Produktion macht.
wird von Bataille als '"Verdinglichung" bezeichnet. Für den
Ingenieur gibt es nur Rohstoffe. die beliebig einzusetzen.
und Störfaktoren. die auszuschalten sind. Das Andere. auf
das er angewiesen ist. verwendet er ganz souverän rein in­
strumentell - so als wäre es nur für ihn da und sonst nichts.
Creatio ex nihilo. Doch die Dinge lassen sich das auf die
Dauer und im Ganzen nicht gefallen. Ihre Massierung und
ihre Enteignung. ihre Ent-Dinglichung schlägt auf uns zu­
ruck - auf uns. die wir uns aber von unserer Souveränitäts­
illusion nicht lösen wollen und die dann davon sprechen.
daß unsere Eigentlichkeit von der Verdinglichung bedroht
sei. Gerade die Rede von der Verdinglichung ist ein Reflex
des Ingenieurs. dem seine vermeintlich souverän erstellten
Werke auf den Kopf fallen und der sich dann auch noch
von den Ergebnissen seiner Emanzipienheit "emanzipie­
ren" will. Wer über Verdinglichung klagt und irgendeine
Souveränität des Bewußtseins. sei sie mystischer oder sonst
metapolitischer oder metatechnischer An. dagegensetzen
will. der treibt nur den Anspruch des Ingenieurs weiter.
sich aus dem Ganzen heraushalten zu können. sich als ar­
chimedischen Punkt festhalten und von da aus das Andere
abtun zu können. Ein solches entdinglichtes Selbstbewußt­
sein wäre wiederum der Illusion verfallen. das Andere zu
distanzieren und es im Griff zu haben. Auch dann und ge­
rade dann. wenn sich der Ingenieur zum Superingenieur.
zum reinen Bewußtseinsinhaber. zum reinen Selbst hin
überschreitet. wenn er alles Kontingente abstreift. erhebt er
sich zum Souverän. Der Technik des Ingenieurs heute noch
eine große und reine Alternative entgegensetzen zu wollen.
von der Technik überhaupt weg. zur Natur zurück oder
zum Selbstbewußtsein emporkommen zu wollen - schon
dieser Anspruch auf die Alternative bleibt dem Ingenieur­
Paradigma verhaftet. ja treibt es weiter und auf die Spitze.
Es geht nicht um die Überwindung der Technik. sondern
um die Erfindung anderer und vielfältigerer Techniken und

419
Gegentechniken. Es geht nicht darum, von den Dingen
wegzukommen, sondern darum, andere Verdinglichungen
zu finden - auch andere Entdinglichungen, weil ja in je­
dem Technik-Paradigma Produktion und Destruktion auf
verschiedene spezifische Weise verschränkt sind. Die for­
male Positivität des Technischen hat Bataille vielleicht et­
was voreilig auf Überschreitung, Intimität und Selbstbe­
wußtsein hin verflüchtigt - um von da aus ausgerechnet
den Marshall-Plan, also den Wiederaufbau des zerstörten,
die Ausbreitung des bestehenden Produktionssystems zu
propagieren. Demgegenüber haben Deleuze/Guattari in,
wie es scheint, schroffer Kehrtwendung den Begriff der
Produktion zum allgemeinen gemacht: "Demnach ist alles
Produktion: Produktionen von Produktionen, von Aktionen
und Erregungen, Produktionen von Aufzeichnungen, von
Distributionen und Zuweisungen, Produktionen von Kon­
sumtionen, von Wollust, Ängsten und Schmerzen."15 Wird
damit der herrschende Produktivitätswahn geradezu syste­
matisiert? Oder wird nicht gerade damit die Anti-Produk­
tion auf die Ebene geholt, auf der sie spielt, nämlich die
Ebene, auf der die verschiedenen Produktionen miteinan­
der und gegeneinander produziert werden? Das Produzie­
ren, zu dessen Imperativen die Nicht-Vollendung, zu des­
sen Elementen die Betriebsstörung und zu dessen Folgen
das Auffressen der Produkte gehört: Deleuze/Guattari be­
schreiben es in Rückgriff auf das von Uvi-Strauss konstru­
ierte Bastler-Paradigma.16
Wie Descartes greift Uvi-Strauss zur Erläuterung eines
Wissenschaftsmodells auf den Bereich des technischen Ma­
chens über und stellt den Bastler dem Ingenieur entgegen -
wie Descartes den Ingenieur dem Zufall, der die mittelalter­
lichen Straßen krumm und uneben gemacht hat. Uns geht
es hier weniger um die beiden Wissensformen, die Uvi­
Strauss miteinander vergleicht, nämlich Mythos und Wis­
senschaft, sondern um den Vergleich zwischen dem Bastler
und dem Ingenieur. Der Ingenieur bei Levi-Strauss kommt
dem von Descartes sehr nahe. Er arbeitet nach einem genau
ausgedachten Entwurf und setzt für seine Realisierung Mit­
tel ein, die er nur als Mittel für ein bestimmtes Projekt an­
sieht und beschafft. Mittel und Ziel treten hier klar ausein­
ander und jene werden diesem unbedingt untergeordnet.

420
Was mich interessiert ist Geld.

Salvadore D ali
Der Bastler hingegen macht seine Arbeiten nicht davon ab­
hängig, "ob ihm die Rohstoffe oder Werkzeuge erreichbar
sind, die je nach Projekt geplant und beschafft werden müß­
ten: die Welt seiner Mittel ist begrenzt, und die Regel sei­
nes Spiels besteht immer darin, jederzeit mit dem, was ihm
zur Hand ist, auszukommen, d. h. mit einer stets begrenz­
ten Auswahl an Werkzeugen und Materialien, die überdies
noch heterogen sind, weil ihre Zusammensetzung in kei­
nem Zusammenhang zu dem augenblicklichen Projekt
steht, wie überhaupt zu keinem besonderen Projekt, son­
dern das zufällige Ergebnis aller sich bietenden Gelegenhei­
ten ist, den Vorrat zu erneuern oder zu bereichern oder ihn
mit den Überbleibseln von früheren Konstruktionen oder
Destruktionen zu versorgen. "17 Die Arbeiten des Bastlers
sind dazu bestimmt, "eingerissen zu werden, kaum daß sie
sich gebildet haben, damit neue Welten aus ihren Fragmen­
ten entstehen"18.
Der Bastler arbeitet also mit der von Descartes verachteten
Umarbeitung, er macht Zwecke zu Mitteln oder aus Kampf­
sprachen Lustsprachen. Die vorliegenden Gegebenheiten
behalten aber immer etwas von ihrem Eigenwert und brin­
gen es in das Entstehende mit, das sie damit immer zu einer
Mischung bzw. Neumischung von Ready-Mades machen.
Der Bastler verwendet "Abfälle" und Bruchstücke, fossile
Zeugen der Geschichte des Individuums oder einer Gesell­
schaft"19.
Er arbeitet also mit Resten von Zerstörungen, die er aber
nicht ausgräbt, um sie zu konservieren, aber auch nicht zu
Gips zermahlt, um etwas ganz Neues aus einem Guß zu
machen: während "der Ingenieur in bezug auf die Zwänge,
die einen Zivilisationszustand zum Ausdruck bringen, im­
mer einen Durchgang zu öffnen versuchen wird, um sich
darüber zu stellen"20, bleibt der Bastler freiwillig oder ge­
zwungen darunter. Nie ist der Bastler unabhängig von sei­
ner Umwelt, immer bleibt er angewiesen auf eine Welt von
Vorfahren, Zeitgenossen und Mitdingen, die er nicht als
souveräne Werke nur konserviert und interpretiert - aber
auch nicht als souveräner Baumeister zum beliebigen Roh­
material seiner Schöpfung macht. Er ist der Gefangene von
Ereignissen und Erfahrungen, die er unabJäuig ordnet und neuord­
net. Und gerade darin liegt seine Freiheit, daß er sich nie
422
von einer abs oluten Selbstbestimmung programmieren läßt,
sondern sich von anderen stoßen läßt, die er wieder stößt.

Daß sich im Arbeiten des Bastlers Konstruktion und De­


struktion zueinander anders verhalten als im Werk des In­
genieurs, dürfte schon spürbar geworden sein. Die Produk­
tion ist hier zu einer Unternehmung mit Totalitätsanspruch
aufgeblasen, deren Konstruktivität so aufdringlich ist, daß
sich die Destruktion in ihrem Schatten verbergen muß.
Nein, die Destruktion ist hier ein ausdrückliches und aus ­
führliches Element in einem Ganzen, das von ihr zerlegt
und zersetzt wird und darum nie als "das Ganze" greifbar
ist. Destruktion und Konstruktion liegen zwischen einander
und begrenzen einander: vor allem begrenzen die Destruk­
tionen die Konstruktionen und führen sie auf ein wenn
auch prekäres Gleichgewicht zurück. Indem die dazwi­
schengestreuten Destruktionen das Produktionsmonopol
zersetzen, verhindern sie die sich im Schatten solcher Mo­
nopole vollziehende Akkumulation des Destruktionspoten­
tials, und gleichzeitig bieten sie den von den Monopolen
brachgeiegten Energien Betätigungsmöglichkeiten. Sand in
das Getriebe werfen, bevor es in die Luft fliegt. Wenn die
"allgemeine Ökonomie", wenn die Ökologie einer Zivilisa­
tion jeweils den Zusammenhang von Produktion und De­
struktion sichtbar macht, dann müssen wir uns auch fragen,
an welchen Stellen die herrschenden Produktions-Destruk­
tions-Verhältnisse die Möglichkeit oder die Notwendigkeit
neuer Produktionen und/oder Destruktionen zulassen.
Ihrer Logik gehorsam produziert die Energiesicherungspo­
litik den Alptraum des Unzerstörbaren: auch wenn die
Kernkraftwerke nur wenige Jahrzehnte Energie produzie­
ren, so sind sie doch auf unabsehbare Zeit Gefahrenherde
und Sicherheitszentren. Wer aber vermöchte eine Schlei­
fung dieser Ewigkeiten zustande bringen?

Ein anderer Ort der herrschenden produktiven Sicherheits­


politik sind die Haftanstalten. In ihnen sind alle nur denk­
baren Handlungsarten gegenüber dem Gefangenen auf eine
Seite konzentriert, die einschließen, heilen, erziehen, reso­
zialisieren, isolieren, ernähren, unterhalten soll. Gewiß
würden die Gefängnisse nicht funktionieren, wenn sich die

423
Gefangenen nicht behandeln, unterhalten usw. ließen. Sie
würden aber auch nicht funktionieren, wenn die Gefange­
nen das Gefängnis mit seinem Personal, mit seinen Anla­
gen, mit seinen Traditionen nicht auch benutzen, verwen­
den, umfunktionieren würden. Zu fragen wäre, unter
welchen Bedingungen sie es vielleicht dysfunktionieren las­
sen könnten. Unter welchen Bedingungen und mit welchen
Anschlüssen das Schmuggeln von Informationen, das Anle­
gen von Vorräten, das Legen von Leitungen bis zu einem
Umbauen der Gefängnisse reichen würde. Wenn die "Ra­
che des Abschaums", von der earl Amery spricht, destruk­
tiv produktiv würde, ohne sich gleich greifbar zu machen,
dann könnten die Institutionen entlastet werden. Eine ag­
gressive Entlastung könnte die Institutionen von dem
Zwang befreien, total sein zu müssen, könnte die von den
Institutionen übernommenen Leistungsansprüche einlösen,
indem sie sie auflöst. Das ausschließlich konstruktiv sein
sollende, den Behandelten sowohl ein- wie ausschließende
und infantilisierende Handlungsmonopol kann wenn über­
haupt nur in destruktiven Interventionen aufgebrochen
werden - womit die Möglichkeiten zu vielfältigen Produk­
tivitäten erst geschaffen würden. Uvi-Strauss berichtet von
der Strafjustiz nordamerikanischer Indianer, wo eine Teil­
destruktion ein geregeltes Hin und Her von Verschwen­
dungs- und Zuwendungsaktivitäten in Gang setzt. Wenn ei­
ner gegen die Gesetze des Stammes verstoßen hat, wird er
mit der Zerstörung seiner Güter bestraft. Die Polizei, die
seine Pferde und sein Zelt vernichtet hat, lädt sich aber da­
mit die Verpflichtung auf, die Wiedergutmachung des von
ihr angerichteten Schadens kollektiv zu organisieren. Der
auf diese Weise Beschenkte muß sich seinerseits wieder re­
vanchieren und darf dabei auf die Hilfe anderer und auch
der Polizei zählen. Eine solche Reihe von Geschenken und
Gegengeschenken sollte die verletzte Ordnung wiederher­
stellen - ihre tatsächliche Bedeutung dürfte die aktionisti­
sche und multiple Überlagerung und Überholung einer Un­
Tat sein. In einem solchen System der Gegenseitigkeit wird
es ohne neuerliche Übergriffe und Unordnungen nicht ab­
gehen.21 Wie sollte erst das Eingreifen in ein System des
Handlungsmonopols immer harmlos abgehen? Das gegen
eine Ingenieurswelt gerichtete Basteln ist nicht auf eine

424
.. Reformpolitik der kleinen Schritte" zu reduzieren. die zu­
meist das Produktionssystem noch produktiver und sicherer
macht. Ebensowenig handelt es sich um eine Taktik oder
um eine Vorstufe der Revolution. die die bestehende Ge­
sellschaft ..radikal" verändern soll. Die totale Zerstörung ist
nur die Vorstufe zum Wiederaufbau. Bataille hat darauf
hingewiesen. daß alle neueren Revolutionen Etappen der
industriellen Revolution gewesen sind. Ja. die Revolutionen
sind noch materialistischer als die Revolutionäre. Wenn
diejenigen. die die neue Gesellschaft im Kopf haben. ans
Steuer kommen. dann kommen eben bessere oder zumin­
dest anspruchsvollere Gesellschaftsingenieure ans Steuer.
dann wird endlich die Produktion produktiv organisiert.
Nein. wenn von einer Sprengkraft des Bastelns gesprochen
oder geträumt werden kann. dann liegt sie anderswo. Dann
ist sie nicht auf die Machtzentren fixiert. um sie zu zerstö­
ren. zu übernehmen. zu vervollkommnen. Diese Spreng­
kraft liegt dann dort. wo Kräfte funktionieren und vielleicht
umfunktioniert werden können. Wo Kommunikationska­
näle kurgeschlossen werden können. wo Besitzer flüchten.
wo Insassen besetzen. wo Arbeitslose nicht mehr auf Ar­
beitgeber warten. wo die offiziellen Monopole und ihre
Produkte dadurch angegriffen werden. daß sie anders ange­
sehen oder ignoriert oder einmal ein bißchen auseinander­
genommen werden. Ich zitiere noch einmal Baudrillard: ..Es
ist falsch. daß der Zweck des Menschen diese ökonomische
Rationalität ist. diese maximale Erfüllung positiver Glücks­
funktionen . . . sein tiefes Verlangen, sein Wunsch- und Ge­
nußverlangen geht über eine Glückszivilisation hinaus.
Dieses Verlangen mag seinen Weg über die Gewalt. über
die Überschreitung, über das Opfer nehmen - die Rationa­
lität der Formen und der Strukturen. die harmonische Hier­
archie der Funktionen genügt ihm nicht. Diese tiefe Zwei­
deutigkeit ist es. die uns zu Widerständen gegen eine
Gesellschaft bewegt. die um jeden Preis jeden glücklich ma­
chen will. Es geht nicht um eine Revolution. die nur eine
industrielle Revolution ist. ebensowenig um eine morali­
sche Revolution der Werte. sondern um eine Revolution
des Realitätsprinzips dieses rationellen. funktionellen Sy­
stems. das jeden von uns zwingt. möglichst viel aus sich
herauszuholen. Wenn noch eine Ethik möglich ist. dann ist

425
es die des Un-Wertes, der Zerstörung des Wertes, der Ent­
wendung des Wertes . . . ich spreche von . . . der Gewalt des
Kindes, wenn es seine Puppe in Stücke zerlegt, zerfetzt
oder sein mechanisches �'p ielzeug zerlegt, um zu sehen,
was drinnen ist ' " Diese Uberschreitung des Objekts kann
ein Spiel sein, sie kann auch mörderisch sein . . . "22

Und noch einmal setzen Deleuze/Guattari auf den Bastler:


nicht im Sinne einer idyllischen "Alternativpraxis", sondern
im Hinblick auf die Zersetzung der Großmaschinen: "Der
Schizo-Analytiker stellt keinen Interpreten, noch weniger
einen Regisseur dar, er ist Mechaniker, Mikromechaniker.
Im Unbewußten wird keine Ausgrabung vorgenommen,
keine Archäologie betrieben, werden keine Statuen gefun­
den, sondern nur, wie bei Beckett, Steine zum Lutschen
und weitere Maschinenelemente deterritorialisierter Men­
gen. Herauszufinden gilt es, welches die Wunschmaschinen
eines jeden sind, wie sie laufen, mit welchen Synthesen,
welchen Durchdrehungen, welchen grundlegenden Fehl­
zündungen, mit welchen Strömen, welchen Ketten, wel­
chen Ausprägungen des Werdens in jedem Fall. Nur kann
diese positive Aufgabe nicht von unumgänglichen Destruk­
tionen geschieden werden, Destruktionen molarer Einhei­
ten, Strukturen und Repräsentationen, die das Funktionie­
ren der Maschine verhindern . . . die Maschinen zum
Stehen, zum Schweigen zu bringen, Sabotage zu verüben,
zu leimen, Nägel einzuschlagen, Keile zu treiben. "23 Es geht
auch nicht um die "Stürmung" der Maschinen, was nur zur
Schaffung archäologischer Kostbarkeiten führen würde und
zum andern die Erneuerung des Maschinenparks erleich­
tern würde. Es geht um eine Steigerung und Vervielfälti­
gung der Verwendung der Maschinen: "In einem gleichfalls
heiteren Text verweist Ivan Illich darauf, daß die umfängli­
chen Maschinen kapitalistische oder despotische Produk­
tionsverhältnisse implizieren . . . Das Kollektiveigentum an
Produktionsmitteln ändert gar nichts an dieser Situation, es
erhält allenfalls eine stalinistisch-despotische Organisation.
Illich fordert demgegenüber das Recht eines jeden zur Be­
nutzung der Produktionsmittel . . . Will heißen: extensiv­
ster Gebrauch der Maschinen durch die größtmögliche An­
zahl von Menschen, die Vermehrung kleiner Maschinen

426
und die Anpassung großer Maschinen an kleine Einhei­
ten . "24
. .

Unsere Frage nach dem Verhältnis von Produktion und De­


struktion haben wir mit der Gegenüberstellung von zwei
Verhaltensmustern, dem des Ingenieurs und dem des Bast­
lers, auszubreiten versucht. Dabei ging es auch um das tä­
tige Verhalten gegenüber dem Gegebenen oder dem Ver­
gangenen. Während der Ingenieur aus der Vergangenheit
den Steinbruch für seinen souveränen Neubau zu machen
versucht, bildet das Gegebene für den Bastler ein unbestän­
diges Reservoir von Fragmenten und Elementen, die er zu
einem weiteren provisorischen Bau zusammenfügt. Der
Bastler verhält sich zum Vorgegebenen dekonstruktiv: im­
mer wieder zersetzend und umbauend. Der Ingenieur ist
radikal destruktiv und radikal konstruktiv. Da sich das Ge­
gebene doch nicht ganz abtragen läßt, macht er aus der Not
eine Tugend und erhebt Teile der Vergangenheit zu Vorbil­
dern seiner Souveränität, zu Legitimationsstützen seiner
Produktionen. Darum pflegt er auch den unterwürfigen
Kommentar, die selbstlose Rekonstruktion von angeblich
ewigen Gestalten und legt sie als Goldgrund hinter seine
moderne Produktivität. Die Unterwürfigkeit des Kommen­
tars und die Überheblichkeit der Kritik - das sind die zwei
Seiten des Ingenieurwissens von der Vergangenheit. Der
Bastler-Historiker hingegen möchte sich weder servil noch
arrogant aus dem Geschehen der Geschichte zurückziehen.
Er möchte sein Wissen und Forschen als beschränktes Ein­
greifen in die Geschichte, als Umsehen und Umzeichnen
der Ereignisse, selber als Ereignis praktizieren. Angesichts
der historisch gegebenen Ingenieursdispositive kann diese
Bastler-Historie aber keine reine Gartenlauben-Idylle sein.
"Die Moral des Wissens ist heute vielleicht: das Wirkliche
stechend, scharf, kantig, unannehmbar machen. Es irratio­
nal machen? Ja, wenn es rational machen heißt, es friedlich,
ruhig und sicher machen, es in eine große theoretische Ma­
schine zur Produktion herrschender Rationalitäten einspei­
sen. Ja, wenn es irrational machen dazu führt, daß es auf­
hört, notwendig zu sein, daß es Zugriffen, Kämpfen,
Auseinandersetzungen zugänglich wird. Begreifbar und an­
greifbar in dem Maße, wie man es ,derationalisiert' hat. "25
Dem Wissenschaftler, der sich hier einbringt, geht es nicht

427
um die Durchsetzung seiner Identität. In der Zersetzung
der herrschenden Identitätsproduktionen setzt er sich als
deren Produkt selber aufs Spiel - um vielleicht aus seinen
und andern Fragmenten wieder neue Koexistenzen, Bezie­
hungen, Intensitäten zu basteln. Nicht bloß destruktiv,
nicht rein konstruktiv, sondern unrein dekonstrukth'.

1 Rene Descanes, Discours rk la mithork - Von rkr Methork des rich­


tigen Vmzunftgebrauchs und der wiuenschaftlichen Forschung. Über­
setzt und herausgegeben von L. Gäbe, Hamburg 1960,
S. 19-21.
2 A.a.O., S. 47.
3 A. a. O., S. 25.
4 Vgl. a. a. O., S. 21.
5 So die erste Regel der "provisorischen Moral": a.a. O., S. 39.
6 Vgl. a. a. O., S. 117-119.
7 Vgl. a.a.O., S. 127.
8 Vgl. a. a. O., S. 51.
9 G. Bataille, zit. in: J. Derrida, Die Schrift und die Differenz.
Frankfurt am Main 1972, S. 409.
10 G. Bataille, Die Aufhebung rkr (Jkonomie. München 1975, S. 45.
11 A. a . 0., S . 12.
12 A. a. O., S. 48.
13 A. a. O., S. 62.
14 J. Baudrillard, Le crepuscule des signes. In: Traverm 2/1975,
S. 35.
15 G. DeieuzelF. Guattari, Anti-(Jdipus. Kapitalismus und Schi­
zophrenie. Frankfun am Main 1974, S. 10.
16 A. a. O., S. 13.
17 Cl. Uvi-Strauss, Das wilde Denken. Frankfun am Main 1968,
S. 30.
18 A. a. O., S. 34.
19 A.a. O., S. 35.
20 A. a. 0., S. 35.
21 Vgl. Cl. Uvi-Strauss, Traurige Tropen. Frankfun am Main 1978,
S. 383.
22 J. Baudrillard, a.a. O., S. 37.
23 G. Deleuze/F. Guattari, a. a. O., S. 437.
24 A.a. O., S. 5 13.
25 M. Foucault, ,.I?ie große Wut über die Tatsachen" in: Disposi­
tive der Macht. Uber Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin
(West) 1978, S. 217f.
M I C H E L F O U C A U LT
Der "Anti- Ö dipus" - eine Einführung
in eine neue Lebenskunst

In den Jahren zwischen 1945 und 1965 (ich beziehe mich


hier auf Europa) gab es eine betimmte Art und Weise, rich­
tig zu denken, einen bestimmten Stil des politischen Dis­
kurses, eine bestimmte Ethik des Intellektuellen. Man
mußte wohlvertraut sein mit Marx, man durfte seine
Träume nicht allzu weit von Freud abirren lassen. Und Zei­
chen-Systeme - den Signifikanten - hatte man mit größtem
Respekt zu behandeln. Dies waren die drei Anforderungen,
die aus der seltsamen Beschäftigung des Schreibens und
Sprechens ein Maß der Wahrheit über einen selbst machten
und die einen seine Zeit annehmbar finden ließen.

Dann kamen die fünf kurzen, leidenschaftlichen, frohlok­


kenden, rätselhaften Jahre. Vor den Toren unserer Welt lag
natürlich Vietnam, und für die existierenden Mächte kam
es zur ersten großen Niederlage. Aber hier, im Inneren un­
serer Mauern, was ging hier wirklich vor? War es ein Amal­
gam revolutionärer und antirepressiver Politik? Ein Zwei­
frontenkrieg gegen gesellschaftliche Ausbeutung und
psychische Repression? Oder eine vom Klass'enkampf mo­
dulierte Libido-Brandung? Vielleicht. Auf jeden Fall ist es
diese familiäre, dualistische Interpretation, die die Erklä­
rung der Ereignisse jener Jahre gepachtet zu haben scheint.
Der Traum, der zwischen dem Ersten Weltkrieg und dem
Faschismus die verträumtesten Teile Europas verzauberte
- das Deutschland Wilhe1m Reichs und das Frankreich der
Surrealisten -, war zurückgekehrt und setzte die Realität
selbst in Brand: Marx und Freud im selben gleißenden
Licht.

Aber war es wirklich das, was geschah? War das utopische


Programm der dreißiger Jahre wieder aufgenommen wor­
den, diesmal im Maßstab historischer Praxis? Oder vollzog
sich nicht vielmehr eine Bewegung für politische Kämpfe,
die nicht länger dem Modell entsprach, das die marxistische
Tradition verordnet hatte? Für ein Experimentieren und

429
eine Technologie des Wunsches, die nicht länger freudia­
nisch waren? Es ist wahr, die alten Fahnen wurden gehißt;
doch der Kampf hat sich verlagert und auf neue Zonen aus­
geweitet.

Der "Anti-Ödipus" zeigt zunächst, welche Strecke zurück:


gelegt worden ist. Aber er unternimmt noch weit mehr. Er
verschwendet keine Zeit mit der Beschimpfung der alten
Idole - auch wenn er eine ganze Menge Spaß an Freud hat.
Am wichtigsten ist aber, daß er uns motiviert, weiter zu ge­
hen.

Es wäre ein Fehler, den "Anti-Ödipus" als die neue theoreti­


sche Referenz zu lesen (also als die feierlich angekündigte
Theorie, die endlich alles unter Dach und Fach bringt, die
endlich totalisiert und beruhigt, als die Theorie, die wir in
unserer Zeit der Auflösung und Spezialisierung, in der es
uns an "Hoffnung" fehlt, angeblich "so dringend benöti­
gen"). Inmitten des außerordentlichen Überflusses neuer
Vorstellungen und überraschender Begriffe darf man nicht
nach einer "Philosophie" Ausschau halten: der "Anti-Öd i­
pus" ist kein aufdringlicher Hege!. Ich denke, am besten
kann der "Anti-Odipus" wie eine "Kunst" gelesen werden,
in dem Sinn, in dem man z. B. von einer "Kunst der Erotik"
spricht. Belebt durch die scheinbar abstrakten Vorstellun­
gen der Vielheiten, Ströme, Anordnungen und Konnexio­
nen, liefert die Analyse der Beziehungen des Wunsches zur
Realität und zur kapitalistischen "Maschine" Antworten auf
konkrete Fragen. Fragen, die sich weniger darum drehen,
warum dies oder jenes zu tun ist, als vielmehr darum, wie
man weiterkommt. Wie bringt man den Wunsch ins Den­
ken ein, in den Diskurs, in die Aktion? Wie kann und muß
der Wunsch seine Kräfte im politischen Bereich entfalten
und im Prozeß des Umsturzes der etablierten Ordnung in­
tensiver werden? Ars erotica, ars theoretica, ars politica.

Daher die drei Gegner, denen der "Anti-Ödipus" entgegen­


tritt. Drei Gegner, die nicht gleich stark sind, die Unter­
schiedlich gefährlich sind und die das Buch in verschiede­
ner Weise bekämpft:

430
1. Die politischen Asketen, die traurigen Militanten, die
Terroristen der Theorie, diejenigen, die die reine Ordnung
der Politik und des politischen Diskurses bewahren möch­
ten. Bürokraten der Revolution und Beamte der Wahr­
heit.

2. Die armseligen Techniker des Wunsches - Psychoanaly­


tiker und Semiologen jedes Zeichens und Symptoms - , die
die Vielheit des Wunsches unter das Joch des doppelten
Gesetzes der Struktur und des Mangels zwingen möch­
ten.

3. Der Hauptfeind, der strategische Gegner ist nicht zuletzt


der Faschismus (während der Widerstand, den der "Anti­
Ödipus" den beiden anderen gegenüber leistet, mehr von
der Art eines taktischen Engagements ist). Und nicht nur
der historische Faschismus, der Faschismus Hitlers und
Mussolinis - der fähig war, den Wunsch der Massen so
wirksam zu mobilisieren und in seinen Dienst zu stellen - ,
sondern auch der Faschismus in uns allen, in unseren Köp­
fen und in unserem alltäglichen Verhalten, der Faschismus,
der uns die Macht lieben läßt, der uns genau das begehren
läßt, was uns beherrscht und ausbeutet.

Ich würde sagen, der "Anti-Ödipus" (mögen seine Autoren


mir vergeben) ist ein ethisches Werk, das erste Ethik-Buch,
das in Frankreich seit sehr langer Zeit geschrieben worden
ist (das erklärt vielleicht, warum sein Erfolg nicht auf einen
besonderen "Leserkreis" beschränkt war: anti-ödipal zu
sein, ist ein Lebensstil geworden, eine Art und Weise zu
denken und zu leben) . Wie kann man sich davor bewahren,
Faschist zu sein, auch (und besonders dann) wenn man sich
für einen revolutionären Militanten hält? Wie können wir
unser Sprechen und unser Tun, unsere Herzen und unsere
Lüste vom Faschismus befreien? Wie können wir den in un­
serem Verhalten eingewurzelten Faschismus aufstöbern?
Die christlichen Moralisten forschten nach den tief in die
Seele eingelagerten Spuren des Fleisches. Deleuze und
Guattari verfolgen die leisesten Spuren des Faschismus im
Körper.

431
Dem heiligen Franz von Sales [ein Priester des 17. Jahrhun­
derts und Bischof von Genf, bekannt für seine Introduction a
Ia vie devote (Einführung in das demütige Leben) Anm.
d. Ü.] bescheidene Hochachtung erweisend, könnte man sa­
gen, daß der "Anti-Ödipus" eine Einführung in das nichtja­
schistische Lehen ist.

Diese Lebenskunst gegen alle schon vorhandenen oder dro­


henden Formen des Faschismus schließt eine bestimmte
Anzahl wesentlicher Prinzipien ein, die ich folgenderma­
ßen zusammenfassen würde, hätte ich aus diesem großarti­
gen Werk ein Handbuch oder einen Leitfaden des Alltagsle­
bens zu machen:
- Befreie die politische Aktion von jeder vereinheitlichen­
den und totalisierenden Paranoia!
- Entfalte Aktion, Denken und Wünsche durch Prolifera­
tion, Juxtaposition und Disjunktion - und nicht durch Un­
terteilung und pyramidische Hierarchisierung!
- Verweigere den alten Kategorien des Negativen (Gesetz,
Grenze, Kastration, Mangel, Lücke), die das westliche Den­
ken so lange als eine Form der Macht und einen Zugang
zur Realität geheiligt hat, jede Gefolgschaft! Gib dem den
Vorzug, was positiv ist und multipel, der Differenz vor der
Uniformität, den Strömen vor den Einheiten, den mobilen
Anordnungen vor den Systemen! Glaube daran, daß das
Produktive nicht seßhaft ist, sondern nomadisch!
- Denke nicht, daß man traurig sein muß, um militant sein
zu können - auch dann nicht, wenn das, wogegen man
kämpft, abscheulich ist! Es ist die Konnexion des Wunsches
mit der Realität (und nicht sein Rückzug in Repräsenta­
tionsformen), die revolutionäre Kraft hat.
- Gebrauche das Denken nicht, um eine politische Praxis
auf Wahrheit zu gründen - und ebensowenig die politische
Aktion, um eine Denklinie als bloße Spekulation zu diskre­
ditieren! Gebrauche die politische Praxis als Intensifikator
des Denkens und die Analyse als Multiplikator der Formen
und Bereiche der Intervention der politischen Aktion!
- Verlange von der Politik nicht die Wiederherstellung der
"Rechte" des Individuums, so wie die Philosophie sie defi­
niert hat! Das Individuum ist das Produkt der 'Macht. Viel
nötiger ist es, zu "ent-individualisieren", und zwar mittels

432
Multiplikation und Verschiebung, mittels diverser Kombi­
nationen. Die Gruppe darf kein organisches Band sein, das
hierarchisiene Individuen vereinigt, sondern soll ein dau­
ernder Generator der Ent-Individualisierung sein.
- Verliebe Dich nicht in die Macht!

Man könnte sogar behaupten, daß Deleuze und Guattari


sich so wenig um die Macht scheren, daß sie versucht ha­
ben, die Effekte der Macht, die mit ihrem eigenen Diskurs
verbunden sind, zu neutralisieren. Deshalb die im ganzen
Buch verstreuten Spiele und Schnurren, die seine Überset­
zung wahrlich zu einem wagemutigen Meisterstück ma­
chen. Aber das sind nicht die venrauten Fallstricke der
Rhetorik; das ist kein neuer Apparat, um den Leser zu len­
ken, ohne daß er der Manipulation gewahr wird, und ihn
schließlich gegen seinen Willen herumzukriegen. Die Fal­
len des "Anti-Ödipus" sind die des Humors: so viele Einla­
dungen, sich provozieren zu lassen, den Text hinzuwerfen
und die Tür hinter sich zuzuknallen. Oft läßt das Buch einen
glauben, alles sei Spaß und Spiel, während etwas Wesentli­
ches vorgeht, etwas von äußerstem Ernst: das Aufspüren al­
ler Anen von Faschismus, angefangen bei den enormen Fa­
schismen, die uns u mringen und zermalmen, bis hin zu den
winzigen, die die tyrannische Bitterkeit unserer alltäglichen
Leben ausmachen.

Aus dem Amerikanischen von Hans-joachim Metzger


H E I N Z V O N F O E RSTER
[ WAHRNEHMEN ]
Jt:...
VHKV1.EHWE:v1

Die Organisatoren dieses Symposions, "PhilQsophien der


neuen Technologie", im Rahmen der arJ electronica haben
mich eingeladen über Wahrnehmung zu sprechen. Schlägt
man in einem Wörterbuch die Stichworte Philosophie,
Technologie, Elektronik, arJ, nach und vergleicht dann das
mit dem, was man unter Wahrnehmung findet, wird man
sich wundern, was die Organisatoren, die Leute vom Merve
Verlag, bewegt hat mich einzuladen, um in diesem Sympo­
sion über Wahrnehmung zu sprechen.
Offenbar haben sich meine Gastgeber nicht von Lexika ver­
wirren lassen und haben die Kunst wahrzunehmen nicht
von der des Philosophierens getrennt.
Zunächst glaubt man, das Problem der Wahrnehmung sei
ein physiologisches, oder ein neurologisches, oder ein neu­
roanatomisches, oder ein psychologisches usw. Problem;
aber es sind gerade die Resultate dieser Wissenschaften, die
immer wieder zeigen, daß Wahrnehmung ein logisch-philo­
sophisches, ein sozio-kulturelles, manchmal sogar ein politi­
sches Problem ist.
Gestützt von der Idee einer "Ars Electronica" wage ich so­
gar zu sagen, daß die Frage, von welchem Standpunkt aus
man das Phänomen des Wahrnehmens wahrnehmen
möchte, eine Frage ist, die zur Metaphysik gehört und nur
in diesem Bereich entschieden werden kann.
Was meine ich, wenn ich von einer Entscheidung im meta­
physischen Bereich spreche? Ich meine damit, daß man hier
über Fragen entscheidet, die prinzipiell unentscheidbar
sind, denn es gibt unter den Fragen, Problemen, Vorschlä­
gen, Propositionen usw. solche, die entscheidbar, und sol­
che, die prinzipiell unentscheidbar sind.
Die Frage: "Ist die Zahl 137.689.392 durch 2 (restlos) teil­
bar?" gehört zu den entscheidbaren Fragen. Diese Frage ist
nicht um ein Jota schwieriger zu entscheiden, auch wenn
die zu teilende Zahl nicht nur wie hier 9 Stellen, sondern
eine Million, eine Milliarde oder eine Trillion Stellen
hätte.

434
Man kann sich andere Fragen ausdenken, die ebenso leicht
oder viel schwierige r oder außerordentlich schwierig zu
entscheiden sind, deren Entscheidbarkeit aber dadurch ge­
sichert ist, daß man die Spielregeln eines Formalismus ak­
zeptiert hat, der einem erlaubt, wie auf einem komplexen
kristallartigen Riesengerüst, längs der Verbindungen von je­
dem Gelenk jedes beliebige andere Gelenk zu erreichen.
Syntax, Arithmetik, die aristotelischen Schlußweisen usw.
sind solche Formalismen.
Mit dieser Bemerkung sieht es so aus, als hätte ich einen be­
deutsamen Landsmann ignoriert, nämlich Kurt Gödel, der
vor mehr als einem halben Jahrhundert eine fundamental
wichtige These veröffentlichte unter dem Titel: "Über for­
mal unentscheidbare Sätze der Principa Mathematica und
verwandter Systeme". Nicht nur möchte ich Gödel nicht
ignorieren, im Gegenteil, ich möchte seine Beobachtung,
daß sich sogar innerhalb des von Bertrand Russell und Al­
fred North Whitehead gezüchteten Riesenkristalls der Lo­
gik, der "Principia", Unentscheidbarkeiten eingenistet ha­
ben, dazu benützen, Ihnen eben diese vorzustellen.
Man muß aber gar nicht erst zu Gödel oder zu Russell und
Whitehead gehen, um auf prinzipiell unentscheidbare Fra­
gen aufmerksam zu werden. Zum Beispiel, die Frage "Wie
ist das Universum entstanden?" ist prinzipiell unentscheid­
bar. Das zeigt sich schon darin, daß es zu dieser Frage so
viele grundverschiedene Antworten gibt. Einige behaupten,
das Universum sei ein Schöpfungsakt gewesen; andere, es
wäre nie "entstanden", es ist ein ständig sich erneuerndes
System in ewigem dynamischem Gleichgewicht; wieder an­
dere bestehen darauf, daß das, was wir jetzt sehen, die
Überbleibsel eines " Urknalls" seien, von dem man sogar
heute noch nach 10, vielleicht 20 Milliarden Jahren ein
schwaches Rauschen (über riesige Mikrowellen-Antennen)
"hören" könne ; ganz zu schweigen von dem, was uns Eski­
mos, Arapeseh, Perser, Ibos, Chinesen, Balinesen usw. usw.
über diesen Vorfall zu erzählen haben. Mit anderen Wor­
ten: sagen Sie mir, wie das Weltall entstanden ist, und ich
sage Ihnen, wer Sie sind. Und selbst wenn es einen Zeugen
dieses Vorfalls gäbe, wie können wir feststellen, ob er die
Wahrheit spricht, sollte er sich überhaupt daran erinnern.
Ich glaube, den Unterschied zwischen entscheidbaren und

435
prinzipiell unentscheidbaren Fragen genügend verdeutlicht
zu haben, um Ihnen jetzt das für diese Gelegenheit erfun­
dene "Foerster'sche Theorem" vorzustellen:
Theorem:
"Nur die Fragen, die prinzipiell unentscheidbar sind, kön­
nen wir entscheiden." Wieso?
Ganz einfach: die entscheidbaren Fragen sind ja schon ent­
schieden, und zwar durch die Spielregeln, in denen Fragen
und die Regeln der Beantwortung, bestimmt sind. Es mag
manchmal schnell gehen, manchmal sehr lange dauern, bis
sich das "Ja" oder das "Nein" der Antwort unweigerlich -
oder, wie es so schön heißt, "mit zwingender Logik" - er­
gibt (bitte auch das Sprachliche der Metapher "sich erge­
ben" zu beachten).
Bei prinzipiell unentscheidbaren Fragen haben wir jeden
Zwang - sogar den der Logik - abgeschüttelt, und haben
mit der gewonnenen Freiheit auch die Verantwortung der
Entscheidung übernommen.
Hier die für mein Thema entscheidende, jedoch prinzipiell
unentscheidbare Frage:
Bin ich vom Universum getrennt,
(das heißt, ich sehe wie durch ein Guckloch auf das vor mir
sich entfaltende Universum)
oder
Bin ich ein Teil des Universums?
(das heißt, wenn immer ich vom Universum spreche, spre­
che ich auch von mir)
Meine metaphysische Entscheidung ist, mich für einen Teil
des Universums zu erklären.
Ich habe meine Stellungnahme deshalb so langatmig ent­
wickelt, weil, wie Sie wahrscheinlich schon geahnt haben,
sie das Gegenteil der orthodoxen ist. Es ist ganz erstaun­
lich, wie sehr sich das Weltbild, und daher auch die Vorstel­
lung über Wahrnehmung, verändert, wenn man die Guck­
kastenphilosophie des unbeteiligten Beschreibers mit der
Einsicht des mitfühlenden Beteiligten vertauscht. Ja sogar
die logische (semantische) Struktur dieser beiden Weltbil­
der sind bezüglich Fragestellung, Sprachgebrauch, und was
wir "Erklärung" nennen, fundamental verschieden.
Lassen Sie mich diese zwei Welten, die der Zweiheit und
die der Einheit, unter den zwei Stichworten "Abbildung"

436
und "Bezugnahme" nur kurz skizzieren, soweit sie sich auf
das Thema "Wahrnehmung" beziehen, denn - so behaupte
ich - man muß zuerst Wahrnehmen wahrnehmen, um
überhaupt von Wahrnehmung zu sprechen, und das ist es,
auf was ich Sie heute aufmerksam machen möchte.

Abbildung
Die orthodoxe Stellungnahme zum Wunder der Wahrneh­
mung ist zunächst Wahrnehmung als eine Art Abbildung
aufzufassen, und dann Fragestellung, Sprache und Erklä­
rungsweisen, die sich auf Funktion und Aufbau von Abbil­
dungsprozessen beziehen, auf Physiologie, Neurologie,
Psychologie und schließlich auf eine Erkenntnistheorie der
Wahrnehmung zu übertragen.
Der von der Optik entlehnte Begriff "Abbildung" setzt zwei
Bereiche voraus, den "Gegenstandsraum" und den "Bild­
raum", wobei der Abbildungsprozeß es bewerkstelligt, je­
dem Gegenstandspunkt einen Bildpunkt zuzuordnen.
Durch die Metapher, die Abbildung für Wahrnehmung
setzt, wird die Verwunderung über das ursprüngliche Phä­
nomen abgestumpft: "So wie der Gegenstandsraum auf den
Bildraum abgebildet wird, so wird die (vom Abbildungspro­
zeß unberührte) Wirklichkeit auf den Bildschirm (Netz­
haut, Hirnrinde usw.) des Bewußtseins eines erkennenden
Subjekts projiziert."
Diese Metapher erfreut sich ihrer Popularität nicht nur aus
wissenschaftlichen, sondern auch aus politischen Gründen.
Wissenschaftlich gesehen, ist sie einerseits angewandter Re­
duktionismus: ist ein Problem zu komplex, um verstanden
zu werden, reduziert man es auf einen einfacheren Fall.
Das pädagogische Problem verschwindet, wenn man z. B.
das Kind mit dem Badewasser ausschüttet. Andererseits er­
stellt diese Metapher das Rückgrat orthodoxer Wissen­
schaft: Objektivität! Hier wird verlangt, daß die Eigenschaf­
ten des Beobachters nicht in die Beschreibung seiner
Beobachtungen eingehen dürfen: Heimholtz' toeus obser­
vandi. Es wird aber hier nicht verraten, was noch übrig­
bleibt, wenn der Gebrauch der wesentlichsten Eigenschaft
des Beobachters, nämlich seine Fähigkeit zu beobachten,
nicht mehr zugelassen wird.

437
Politisch gesehen ist aber gerade die Ablösung des Beob­
achters vom Beobachteten ein beliebtes Gesellschaftsspiel,
denn Zuflucht zu Objektivität entbindet den Beobachter von
Verantwonung: er ist ja nur passiver Registrator eines Abbil­
dungsprozesses. Die Abbildungsmetapher treibt aber noch
andere seltsame Blüten, von denen ich eine anthropomorphia
inverJa und eine homuncula mYJterioJa nennen möchte.
Den eigenen Körper und eigene Fähigkeiten auf Anderes
zu projizieren, von Beinen, Armen und Gelenken bei Mö­
beln und Maschinen zu sprechen, ist durchaus verständlich,
denn so wie man sich selbst versteht, versteht man dann
auch das Andere, Anthropomorphisieren war daher vor
etwa vierzig jahren das Steckenpferd witziger Schreiber, die
die verblüffenden Fähigkeiten der in die menschliche Ge­
sellschaft plötzlich hinein-explodierenden, programmierba­
ren, unbegreiflich schnellen Rechner einem breiterem Pu­
blikum - und vielleicht sich selber - durch poetische
Verkleidung begreiflicher und zugänglicher machen woll­
ten: das "elektronische Gehirn", das "Gedächtnis der Ma­
schinen" usw. Obwohl wir weder damals eine Ahnung hat­
ten, noch heute wissen, wie das Gehirn, das Gedächtnis
funktionien, scheint die Strategie, eine Undurchsichtigkeit
durch eine andere zu "erklären", den allgemeinen Wissens­
durst - wenigstens momentan - befriedigt zu haben.
Diese Gedankenknospe kam erst zu voller Blüte - anthropo­
morphia inverJa als man das vorhin Erklärende mit Erklär­
-

tem venauschte (Anthropomorphismus in verkehner Rich­


tung) und die bekannte Organisation der Rechner und ihrer
Speicher als die ihre dichterischen Bezeichnungen erfüllen­
den Funktionen deutete.
In der Tat haben eine Zeitlang Neurophysiologen im Zell­
gewebe des Gehirns nach den sogenannten "Engramms"
gehabter Wahrnehmungen gesucht, als ob - wie auf einem
Filmstreifen - ein winziges Bildehen von Großmütterehens
Nagelfeile da gespeichen wäre. Die Suche blieb und bleibt
erfolglos. Würden unsere kognitiven Funktionen sich eines
Speichers statt eines symbolisierenden Gedächtnisses be­
dienen, könnte man sogar sich selbst nicht wiedererkennen:
wie man sich jetzt sieht, hat man sich leider (oder GOtt sei
Dank) noch nie gesehen, und wird man sich auch niemals
wiedersehen (das Bildehen jetzt kommt niemals wieder).

438
Und gäbe es tatsächlich so einen zerebralen Speicher, wer
nimmt das so Gespeicherte wahr? In den Lehrgebäuden der
Abbildtheoretiker tauchen dann kleine Männchen homun­
-

culi auf, die den Träger dieses Speichers über seinen In­
-

halt informieren. Die Gedankenblüte, homuncula mYJlerioJa


stelle ich mir durch kleine Blumenmädchen symbolisiert
vor, deren mysteriöse Fähigkeiten, Engramms wahrzuneh­
men, nun zu erforschen wären.

BezugJetzung
Johannes Müller, " . . . one oft the most olltstanding biolo­
gists of all times", wie E. Clarke und C. D. O'Malley in ih­
rem großartigen Werk The Human Brain and Spinal Cord
(University of California Press, Berkeley, 1968) schreiben,
veröffentlichte 1826 in seiner Arbeit "Zur vergleichenden
Physiologie des Gesichtssinnes des Menschen und der
Thiere" zum erstenmal das Prinzip der "Reizspezifität"
oder der "Spezifischen Sinnenenergie". Er beobachtete, daß
bei verschiedenen Weisen der Reizung einer bestimmten
Sinneszelle, sei es durch Druck, Schwingungen, Elektrizi­
tät, Strahlung usw., immer nur die gleiche, die dieser Zelle
eigene Empfindung ausgelöst wird.
Alle Rezeptoren der verschiedenen Sinne reagieren mit un­
terscheidbaren Signalen in Form von Serien kurzer elektri­
scher Impulse, mit einer von der Reizintensität abhängigen
Frequenz; daher paraphrasiert man heute das Müllersehe
Prinzip, man spricht vom "Prinzip der undifferenzierten
Codierung". Hier eine Formulierung dieses Prinzips: "Die
Erregungszustände aller Rezeptoren codieren nur die Inten­
sität, aber nicht die physikalische oder chemische Natur der
Erregungssache: Codiert wird nur ,So-und-so-viel' an dieser
Stelle meines Körpers, aber nicht ,Was'."
Ich muß es Wissenschaftshistorikern und Sozialtheoreti­
kern überlassen, uns verstehen zu helfen, wieso es weit
über hundert Jahre gedauert hat, bis man die Ungeheuer­
lichkeit zu ahnen begann, die dieses Prinzip zur Folge
hat.
Erst in der Mitte dieses Jahrhunderts fragte man sich mit
Erstaunen: wie ist denn das Erlebnis einer bunten, klingen­
den, duftenden Welt möglich, wenn die "Signale" von die-
439
ser Welt für alle Sinne ein einförmiges, ununterscheidbares
"Grau" liefern? Wer hat je dieses Problem gesehen, darüber
gedacht, gesprochen und geschrieben?
Wieder müssen wir uns fragen, wieso die Stimmen jener
nicht gehön wurden, die dieses Problem gesehen und Lö­
sungswege vorgeschlagen hatten.
Es war zuerst der Mathematiker und Physiker Henri Poin­
care, der sich gezwungen sah, die Frage nach der erlebten
Dreidimensionalität des Raumes anders zu stellen, nach­
dem sein Versuch, sie durch binokulares Sehen zu erklären,
gescheiten war. In seinen mathematischen Ansätzen hatte
er zunächst zu wenig Gleichungen, um seine Unbekannten
zu bestimmen, bis ihm die geniale Idee kam, die Beziehung
einer bewußten Änderung des Blicks mit der zugehörigen
Veränderung der Sicht in sein Gleichungssystem aufzuneh­
men.

Diese Einsicht gibt dem Problem der Wahrnehmung eine


völlig neue Perspektive: es sind die durch Bewegung her­
vorgebrachten Veränderungen des Wahrgenommenen, die
wir wahrnehmen. Wie der Biologe Humbeno Maturana
sagt: "Wir sehen mit unseren Beinen." Man braucht nur un­
serer Sprache zuhören: "wahr-nehmen", "be-greifen", "ver-lie­
hen"! Das Sensorische der Alltagsbedeutung verschmilzt mit
dem Motorischen des Wonursprungs.
Ich fürchte, wir haben für diese Schmelze kein Won, das
diese Einheit nicht zu Gunsten der einen oder der anderen
Bedeutung verzern. Vielleicht hat der Schweizer Psycho­
loge Jean Piaget in seinen Studien der Entwicklung senso­
motorischer Kompetenz vom Kleinkind bis zum jungen
Menschen diese Einheit als erster klar gesehen. Das zeigt
schon der Titel eines seiner Bücher La con.rtruction du reell
chez /'enfant: hier wird "sensomotorische Kompetenz" zu
"Konstruktion von Wirklichkeit". Mit Einführung des Be­
griffs "Konstruktion" bleibt man auf der sensomotorischen
Schleife nie stehen. Es ist doch so: wenn ich den Anderen
beobachte, dann schließe ich von dem, was er tut, auf das,
was er sieht; aber wenn ich mich selbst beobachte, dann
schließe ich von dem, was ich sehe, auf das, was der Andere
tut. Und wie ist das mit der Bedeutung der Wone? Dazu
hat Gottlob Frege in seiner Abhandlung Die Grundlagen der
440
Arithmetik bemerkt: H nach der Bedeutung der Wörter
• • •

muß man im Satzzusammenhange, nicht in ihrer Vereinze­


lung gefragt werden." Aber wie versteht man den Satz­
zusammenhang, wenn nicht durch Worte? Dieser herme­
neutische Kreis, ist er ein Teufelskreis, ein circuluJ vitioJUJ?
Wenn ich mich recht erinnere, sagt Martin Heidegger in
Sein und Zeit: . . . aber wenn wir diesen Kreis . . . so sehen,
..

und danach trachten ihn zu vermeiden, sogar wenn wir ihn


nur als eine unvermeidliche Unvollkommenheit empfinden,
dann ist die Kunst des Verstehens von Grund auf mißver­
standen."
Wie ich aber glaube, wir verstehen nicht Verstehen, es ent­
zieht sich uns, entschlüpft uns. Denn wir merken nicht das
Unglaubliche, das Rätselhafte, das Ungeheuerliche, das Er­
staunliche, das Wunderbare, das in alltäglichem Gespräch
und Reflexion vor sich geht. Erst wenn dieser Strom von
Selbstverständlichkeit gestört wird, stehen wir staunend vor
diesem Wunder.
Der Psychiater Oliver Sacks beschreibt in seinem Buch The
Man Who MiJtock HiJ Wife for a Hat ein Bruderzwillingspaar,
das seit früher Kindheit als autistisch, psychotisch und, mit
einem IQ von 60, als fast idiotisch diagnostiziert worden
war. Man hatte aber bemerkt, daß beide idiotJ JavantJ waren,
denn man konnte sie z. B. fragen: welcher Wochentag ist
der 13. November 2027? und beide gaben in einigen Sekun­
den die richtige Antwort. Auch das Osterdatum konnten sie
so voraussagen. Ihre Fähigkeit reichte 40 000 Jahre voraus
und 40 000 Jahre zurück. Sie konnten aber weder addieren,
noch subtrahieren, noch multiplizieren.
Eines Tages fand Sacks die Brüder in der Anstalt, in der sie
versorgt wurden, in einer Ecke sitzend, und es sah von wei­
tem so aus, als ob sie sich kurze, aber sehr gute Witze er­
zählten. Beide strahlten, soweit man so etwas von ihrer
schwer zu deutenden Physiognomie sagen konnte. Sacks
setzte sich zu ihnen. John nannte eine 6stellige Zahl. Mi­
chael lächelte geheimnisvoll. Dann sagte Michael eine 6stel­
lige andere Zahl, die Begeisterung bei seinem Bruder John
auslöste. Dieses Spiel ging weiter und weiter. Unbemerkt
schrieb Sacks die Zahlen auf. Als er am Abend heimkam,
folgte er dem Verdacht, der sich bei ihm eingeschlichen
hatte, und schaute in einer ganz großen Primzahlentabelle
441
die Zahlen nach, die John und Michael sich wie Tennisbälle
zugeworfen hatten. Sie waren alle Primzahlen!
Am nächsten Tag setzte er sich, heimlich mit neuen, größe­
ren Primzahlen versehen, zu den Zwillingen und warf ih­
nen einen 8stelligen Primzahl-Ball zu. Sie waren verdutzt.
Was für ein guter Spielgefährte! Es dauerte ein paar Minu­
ten, dann hatte - wie immer man den Prozeß nennen will,
der sich in ihnen abspielte - ihre Primzahlschaukraft aufge­
holt, und sie warfen einander 8, 9, 10, und 12stellige Zahlen
zu. Da konnte Oliver Sacks nicht mehr folgen. Seine Ta­
belle reichte nicht so weit. Das war vor etwa zwanzig Jah­
ren, vor der Zeit der ganz großen Computer. Aber selbst für
die großen Maschinen von heute sind 12stellige Primzahlen
ein schwer verdaulicher Bissen.
An diese Zwillinge habe ich gedacht, als ich vorhin sagte,
wir hätten weder damals noch heute eine Ahnung davon,
wie das Gehirn, wie Gedächtnis funktioniert. Ein guter Ein­
stieg in diese Problematik verspricht zunächst "Wahrneh­
mung" zu sein. Aber wie in alten Kinderreimen schickt ei­
nen jeder Ansatz zum nächst größeren: von Sensorik zu
Sensomotorik; von Sensomotorik zu Hermeneutik; von
Hermeneutik zu Psychiatrie; und jetzt von Psychiatrie zu
Sprache.
In zwei Weisen sträubt sich Sprache verstanden zu werden.
Zunächst als bezweifelbarer Zeuge, denn Sprache spricht in
Sprache über sich selbst. Dann aber Sprache als ihr eigener
Widersacher, denn ihre Erscheinung widerspricht ihrer
Funktion.
In ihrer Erscheinung ist Sprache monologisch, denotativ,
beschreibend. Sie sagt, wie es ist oder wie es war. Aber in
ihrer Funktion umgreift der Sprecher mit ihr dialogisch den
Anderen und lädt ihn ein, das Gesagte zu deuten: es ist so,
wie du's sagst. Denn, wie es war, ist für immer verschwun­
den.
Nicht über seinen Zweifel zweifelt Descartes in seiner Ein­
samkeit, er bezweifelt schließlich sich selbst: "Bin ich oder
bin ich nicht?" Zum Glück wird er sich seines Fragens be­
wußt: "Cogito ergo sum!" Ich allerdings bezweifle, daß Des­
cartes seinen Monolog allzu ernst genommen hat, denn er
veröffentlicht bald danach seine Selbstbestätigung in Dis­
cours de la methode, offenbar mit der Absicht, auch Anderen
.'
442
seine Einsicht zukommen zu lassen. Vielleicht hätte er
dann sagen sollen: "Cogito ergo sumus." - "Ich denke, da­
her sind wir!"

In der Einsamkeit unserer Selbstgespräche, in unseren Mo­


nologen, werden wir des eigenen Bewußtseins bewußt.
Aber dann wenden wir uns im Dialog zum Anderen, und es
wird unser Gewissen berührt. Das ist Das Problem des Men­
schen, und hier ist was Martin Buber darüber sagt:
"Betrachte den Menschen mit dem Menschen, und du
siehst jeweils die dynamische Zweiheit, die das Menschen­
wesen ist, zusammen; hier das Gebende und hier das Emp­
fangende, hier die angreifende und hier die abwehrende
Kraft, hier die Beschaffenheit des Nachforschens und hier
die des Erwiderns, und immer beides in einem, einander er­
gänzend im wechselseitigen Einsatz, miteinander den Men­
schen darzeigend. Jetzt kannst du dich zum Einzelnen wen­
den und du erkennst ihn als den Menschen nach seiner
Beziehungsmöglichkeit; du kannst dich zur Gesamtheit
wenden, und du erkennst sie als den Menschen nach seiner
Beziehungsfülle. Wir mögen der Antwort auf die Frage, was
der Mensch sei, näherkommen, wenn wir ihn als das Wesen
verstehen lernen, in dessen Dialogik, in dessen gegenseitig
präsentem Zu-zweien-Sein sich die Begegnung des Einen
mit dem Anderen jeweils verwirklicht und erkennt."
:>
z
:I:
:>
z
CJ
Statt eines Nachwortes

Vorbemerkung
"Veillez sans peurl"
(aus dem Wappen der Familie RecJam)

Dieser Band enthält Essais aus den Jahren 1967 bis 1988.
Das Denken vieler, zumal der französischen Autoren dieses
Bandes, ist stark geprägt durch die Ideen und Ereignisse
des Mai 1968 in Paris. In Deutschland standen die offiziö­
sen Vertreter der Kritischen Theorie als Professoren oder
Minister auf der anderen Seite der Barrikade. "Es widerfährt
ihnen, was dem triumphierenden Gedanken seit je gesche­
hen ist. Tritt er willentlich aus seinem kritischen Element
heraus als bloßes Mittel in den Dienst eines Bestehenden,
so treibt er wider Willen dazu, das Positive, das er sich er­
wählte, in ein Negatives, Zerstörerisches zu verwandeln."
(Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 6)
Aus dieser festgefahrenen Situation entstand neben ande­
ren Projekten 1970 auch der Merve Verlag Berlin, in dem
fast alle in diesem Band versammelten Texte zuerst erschie­
nen sind. Es ist indes nicht die Intention dieser Sammlung
von Texten, das Programm eines Verlagsprojekts, genannt
Merve, zu resümieren. Dazu wird bald andernorts Gelegen­
heit sein. Als Stücke einer seriellen Komposition verweisen
die Texte auf die differenzierte Wahrnehmung der Promo­
toren eines kleinen Westberliner Verlages für neue Töne,
für neue Denkweisen im Sinne eines ,undenkbaren Den­
kens' (P. Virilio), das mikrologischer Analyse und Diagnose
den Vorrang vor großen (utopischen) Prognosen gibt.
Der vorliegende Band versammelt Texte, die Wahrneh­
mung, griechisch "aisthesis", thematisieren oder problema­
tisieren. Das hat mit Ästhetik als dem System der schönen
Künste noch nichts zu tun. "Die Deutschen sind die Einzi­
gen, welche sich jetzt des Worts Ästhetik bedienen, um da-
445
durch das zu bezeichnen, was andere Kritik des Ge­
schmacks heißen. Es liegt hier eine verfehlte Hoffnung zum
Grunde, welche der vortreffliche Analyst Baumgarten faßte,
die kritische Beurteilung des Schönen unter Vernunftprin­
zipien zu bringen, und die Regeln derselben zur Wissen­
schaft zu erheben. Allein diese Bemühung ist vergeblich",
schrieb Kant 1781, in einer Anmerkung zur 1. Auflage der
"Kritik der reinen Vernunft": Nach ihm ist "es ratsam, diese
Benennung wiederum eingehen zu lassen und sie derjeni­
gen Lehre aufzubehalten, die wahre Wissenschaft ist (wo­
durch man auch der Sprache und dem Sinne der Alten nä­
her treten würde, bei denen die Einteilung der Erkenntnis
in aistheta kai noeta sehr berühmt war)".
In diesem Sinne meint die Beschäftigung mit Ästhetik
Wahrnehmung einer künstlicher werdenden Welt.
Die Texte des Bandes sind tastende Versuche der Orientie­
rung in dieser komplexer werdenden menschlichen und
technischen Welt. Sie begnügen und beruhigen sich nicht
mit der schnellen Diagnose von einer neuen Unübersicht­
lichkeit. Sie optieren für genaue Differenzierungen und für
Differenzen. Ihr Gestus ist unsystematisch. Die Herausge­
ber haben sich über die Komposition des Bandes unterein­
ander zwischen Leipzig-Ostberlin-Westberlin in einem
Briefwechsel verständigt, den sie den Leserinnen und Le­
sern nicht vorenthalten wollen. .

Berlin, den 6. 11. 88


Lieber Karlheinz,
gleich nach dem gestrigen Gespräch habe ich mich an die
Arbeit gemacht und, eineinhalb Jahre nach Erscheinen,
noch einmal den "Walkman-Effekt" von Shuhei Hosokawa
gelesen, zum vierten oder fünften Male. Dieser Text zeigt
in der Tat ganz gut, worum es uns geht.

1. Das Kleine, das Fragmentarische, den Essay (auch in sei­


nem Sinne von Experiment) . Französisch "mineur" haben
wir auf dem Rückendeckel der "Kleinen Schriften" von Gil­
les Deleuze - der Band ist 1980 erschienen und Heiner
Müller gewidmet - wie folgt übersetzt: "klein/mini/minder/
gering/niedrig/Moll/mollig/mickrig/minoritär/minderwer-
446
tig/minderjährig/unmündig/schwachsinnig/zweitrangig/Dn­
tergebener/Bergarbeiter/Pionier/Minenleger." Einiges da­
von wird man im "Walkman-Effekt" wiederfinden.

2. Pop-Philosophie. Roland Banhes hat 1970 darauf hinge­


wiesen, daß es bei Aristote1es, dem wir ja den Titel unseres
Bandes entnommen haben, zwei Techniken gibt: die der
Rhetorik und die der Poetik. "Die Rhetorik des Aristote­
les ' " entspräche, mutatis mutandis und mit Rücksicht auf
die (historischen) Verhältnisse, durchaus den Produkten
unserer sogenannten Massenkultur." Deshalb kann Michel
de Certeau eine "Rhetorik des Gehens" im Alltag und Ho­
sokawa eine "Rhetorik des Walkman" wiederfinden. Wichti­
ger ist indes in Hosokawas Essay etwas anderes: wie er via
Deleuzens "Logique du sens" (Paris 1969) den Leibniz­
sehen Begriff der Singularität aufgreift, um am Beispiel des
Mannes/der Frau mit dem Walkman Begriffe wie Indivi­
diuum, Person, Bewußtsein, Ich, Cogito zu problematisie­
ren. Für Deleuze gilt selber, was er über Spinoza sagt: "Er
ist ein Philosoph, der über einen außerordentlichen Be­
griffsapparat verfügt, der extrem entwickelt, systematisch
und gelehn ist." Pop-Philosophie wäre vielleicht der Ver­
such, von der Begrifflichkeit eines Spinoza oder Leibniz
oder Aristoteles den Funken überspringen zu lassen zur
Thematik der Rockmusik, des Punk, der Disco und des
Walkman. Wußtest Du, daß Roland Banhes ein passionier­
ter Disco-Besucher war und Dmbeno Eco es noch ist? Ich
habe Eco, den Thomas-von-Aquin-Spezialisten, in Urbino
tanzen sehen.

3. Lebenskunst. Man muß vielleicht zur "techne" der An­


tike und den "anes" des Mittelalters zurückgehen, um eine
neue Lebenskunst zu entwerfen. Das wiederum ist Thema
des Spätwerks von M. Foucault. "Ars erotica, ars theoretica,
ars politica", so lautet die Quintessenz seiner "Einführung
in ein nichtfaschistisches Leben".

4. Wahrnehmung. Der Rückgriff auf "techne" und "ans" be­


inhaltet eine Archäologie der Kunst, ein Zurückgehen hin­
ter das System der schönen Künste, das in der "Querelle des
anciens et des modernes" entstanden ist und in Hegel sei-
447
nen vollendeten Ausdruck fand. In dieser Querelle traten
schöne Künste und Technologien auseinander. Und wenn
heute in der Pop-Kultur neue Technologien und (schöne?)
Künste ein neues Mischverhältnis eingehen, kann ein sol­
cher Rückgriff vielleicht nützlich sein. Deshalb der Titel
"Aisthesis". Die meisten Autoren dieses Bandes - und das
unterscheidet sie von den gängigen deutschsprachigen Kul­
turkritikern - sind denn auch, wie es Virilio ausdrückt,
"technophil".

Verleger leben davon, daß, was und wie andere schreiben;


uns geht es um einige Aspekte des Heute.
Herzliche Grüße
Peter

Berlin, den 12. 12. 88


Liebe Heidi, lieber Peter,
in der vergangenen Woche habe ich mit Karlheinz an ei­
nem dreitägigen Postmoderne-Kolloquium teilgenommen,
und den dröhnenden Kopf will ich nutzen zu einigen unge­
ordneten Anmerkungen.

Mir ist in den Tagen die Produktivität unserer Band-Kon­


zeption für den gegenwärtigen Diskussionsverlauf aufs an­
genehmste bestätigt worden. Für uns hier besteht doch die
Aufgabe erst einmal darin, ein differenziertes Problemange­
bot vorzulegen. Sicher gelingt die Zusammenführung so
unterschiedlicher Autoren nur um den Preis radikaler Ver­
kürzungen jedes einzelnen - da sind die Verlage hier für
die Zukunft aufgefordert . . . Was aber dringlicher erscheint:
die Vorstellung (Dokumentation) und Wahrnehmung eines
Problembewußtseins, das weit über Ländergrenzen hinaus
zu einer Reihe völlig neuer Fragestellungen geführt hat.
So verstehe ich unsere Interessen eher phänomenologisch.
Um einen erweiterten Politikbegriff zu entwickeln - und
die Erfahrungen in den politischen Kämpfen um und nach
1968 legen das nahe -, versuchen die Autoren, den öffent­
lich geführten politischen Diskurs zu unterlaufen, indem
sie Struktur und Determiniertheit menschlichen Denkens
beschreiben. Da wird "Wahrnehmung" zu einer zentralen
448
Kategorie, werden bisher als unantastbar geltende Termini
- Subjekt, Humanismus, Dialektik, Fonschritt - in die
Krise gebracht, weil sie als unangemessen, korrumpiert er­
fahren werden bzw. in ihrer klassischen Gestalt zur Be­
schreibung von erlebter Welt nicht mehr ausreichen. Die
Radikalität der Ablehnung, die Geste des Verwerfens, häu­
fig sehr pauschal vorgetragen, korrespondien m. E. mit der
existentiellen Bedrohung. Die Gattung Mensch ist militä­
risch, ökonomisch und ökologisch gefährdet. Da ein histori­
sches Subjekt nicht auszumachen ist, wird auf unterschied­
lichen Gebieten für diesen Zustand historisch-kritisch
Ursachenforschung betrieben. Verbindend ist nicht mehr
ein wie auch immer geaneter Fonschrittsglaube, eine kon­
krete Utopie, sondern die Trauer, die Verzweiflung, die
Hoffnungslosigkeit, hier al1erdings radikal in Arbeit umge­
setzt. Da antwonet Michel Foucault auf die Frage: "Gefal­
len Sie sich nicht in einem gewissen Negativismus?" - "Ja,
ich finde großen Gefallen daran. Die Bourgeoisie ist ja kei­
neswegs so dumm und verschlafen, wie Baudelaire gedacht
hat. Die Bourgeoisie ist intelligent, scharfSichtig und be­
rechnend. Keine Herrschaftsform war jemals so fruchtbar
und damit so gefährlich, so tief eingewurzelt wie die ihrige.
Wenn man ihr laute Anklagen entgegenschleuden, wird sie
nicht umfallen; sie wird nicht verlöschen wie eine Kerze,
die man ausbläst. Das rechtfenigt eine gewisse Traurigkeit.
Um so mehr gilt es, in den Kampf soviel Fröhlichkeit, Hel­
ligkeit und Ausdauer wie nur möglich hineinzutragen.
Wirklich traurig wäre, sich nicht zu schlagen . . . "
Die dringliche Vermutung, daß mit kosmetischen Verände­
rungen klassisch-bürgerlicher Erklärungsmodel1e nichts
mehr zu erklären ist, provozien die unterschiedlichen Ver­
suche einer "Archäologie" gerade dieser Erklärungs- und
Wahrnehmungsmodi. Die Funktionalisierung des traditio­
nellen Vernunftdiskurses in die kapitalistische Ökonomie,
in den Effektivitätsdiskurs, der den technologischen Fon­
schritt absolut setzt (die Akkumulationszwänge des Kapi­
tals werden zunehmend mit einem Menschlichkeitsdiskurs
verdeckt), läßt an vorkapitalistische Welt- und Wahrneh­
mungsmodelle anschließen.
Die Arbeitsintensität der hier versammelten Autoren ist
Ausdruck für die Ernsthaftigkeit des Anliegens. Vielleicht
449
ist es auch ein radikales Bedürfnis nach Authentizität, das
der Verzweiflung entspricht. Dem ist mit Vorwürfen wie
modisch, irrational . . . nicht beizukommen.

Wird so die moderne Konzeptkunst zur wesentlichen Rei­


befläche, werden hier Symptome intensiver Zeitgenossen­
schaft ausgemacht, die sich den veränderten Wirklichkei­
ten, authentisch oder simuliert, stellen? Wie schon in der
Frühromantik oder auch bei Friedrich Schiller werden in ei­
ner Phase der Desillusionierung die Künste als die Praxis
erfahren, in der neue Lebensentwürfe vorgeschlagen wer­
den können, wobei es heute gerade darum geht, die Auto­
nomieästhetik zu problematisieren, den Kunstbegriff we­
sentlich weiter zu fassen, die Verbindung zwischen
Technologie und (schönen?) Künsten, wie Du schreibst,
wiederherzustellen.
Seid herzlich gegrüßt
Stefan

Berlin, im Januar 1989


Lieber Peter,
Dein Brief vom November, der die im Gespräch zwischen
Heidi, Dir, Stefan und mir entstandene Idee sogleich beim
Schopfe packte und weiter trieb, hat mich davon überzeugt,
daß eine lockere fragmentarische Korrespondenz zwischen
uns ein gangbarer Weg sein kann, um den Band und unser
Anliegen zu präsentieren.

Fragmentarisch sind alle von uns versammelten Beiträge ja


auch in ihrer tastend-testenden Annäherung an neue Phä­
nomene, die überkommene Theorien und Beschreibungska­
tegorien dementieren. Darin korrespondieren die Autoren
unseres Bandes mit ihren Texten, mit ihrer Suche nach ei­
ner neuen "Lebenskunst", wie Du es bezeichnest, auch mit
der allgemeinen Tendenz eines "neuen Denkens" in der
Kultur und den Wissenschaften (nebenbei: bevor in der So­
wjetunion "neues Denken" auf die Tagesordnung gesell­
schaftlicher Umgestaltung gesetzt wurde, war davon schon
lange in der Avantgarde der Naturwissenschaftler - vor al­
lem in den USA - die Rede). Dazu lese ich bei Mandelbrot
450
in seinem Buch übet die ..Fraktale Geometrie der Natur",
auf das Du mich hingewiesen hast und wo ausdrücklich
zwischen Mathematik, Natur, Ästhetik Korrespondenzen
aufgezeigt werden: ..Aus dem lateinischen Adjektiv fractus
habe ich Fraktal geprägt. Das entsprechende lateinische
Verb fragere bedeutet ,zerbrechen': ,unregelmäßige Bruch­
stücke erzeugen' . Es ist deshalb vernünftig - und sehr für
uns geeignet! -, daß fractus neben ,in Stücke zerbrochen'
(wie in Fraktion oder Refraktion) auch noch ,irregulär' meint.
Beide Bedeutungen sind in Fragment enthalten." (S. 16)
Aufschlußreich, daß Virilio seine Absage an ein teleologi­
sches Geschichtsverständnis mit Bezug auf die Mandelbrot­
sche Theorie erläuten und seine eigene Methode der Be­
schreibung ..Collage" nennt: ..Collagen sind transhisto­
risch!"

Was Du unter Punkt 3 und 4 skizzierst, trifft, denke ich, ins


Schwarze unseres Bandes und erläuten überdies den Titel
(das ist - nebenbei gesagt - für hiesige Verhältnisse wich­
tig, weil das Verständnis von ..Ästhetik" nicht nur ein kon­
fuses ist, sondern gänzlich von einem heruntergekomme­
nen deutschen Idealismus geprägt ist).
So denke ich, in Ergänzung Deiner Überlegungen, daß die
Einstellung (la visee) unseres Bandes auch eine Aufwer­
tung in doppelter Hinsicht nahelegt und in den Texten
auch vorfühn: in bezug auf die Sinne/Sinnlichkeit und in
bezug auf die Technik/Technologie. Das hat mich an Ru­
dolf Arnheim erinnen, der in seinem ..Anschaulichen Den­
ken" von einer Umkehrung der geschichtlichen Entwick­
lung der Ästhetik/des ästhetischen Denkens ausgegangen
war: Er stellte die historische Entwicklung auf den Kopf,
"die im 18. Jahrhunden von der aisthesis zur Ästhetik fühne,
also von der Sinneswahrnehmung im allgemeinen zur
Kunst im besonderen". Heute nun wird diese Umkehrung
durch Entwicklungen in den Medien gewissermaßen noch
einmal (vielleicht definitiv) ratifizien, erleben alle ästheti­
schen Idealismen ihre Stunde der Wahrheit.

Darum auch finde ich Deinen Hinweis auf Virilios Kenn­


zeichnung dieser avancienen Kulturkritik als "technophil"
ganz treffend: Er kritisien nicht nur eine 200jährige deut-
45 1
sche Tradition der Technophobie in aestheticis (was schon
A. W. Schlegel als eine Gefahr sah!), er erinnert gerade uns
Deutsche auch an eine andere Denktradition: so z. B. wenn
Virilio, dessen Denkstil manches mit Walter Benjamin ge­
meinsam hat, auf Heine verweist. Dies ist ein Punkt, der in
unserem Gespräch auch deswegen eine Rolle spielen sollte,
weil im Westen immer schnell der Irrationalismus-Vorwurf
bei der Hand ist und weil bei uns in den kritischen Köpfen
noch die Kulturkritik der Frankfurter Schule und die Ästhe­
tik Adornos als die beste Alternative zum alten Denken
gilt.

Zum Schluß erwähne ich, was mir seit unserem letzten Ge­
spräch im Kopf sitzt: Heidis Bemerkungen über die Diffe­
renzen im Geschichtsverständnis, im Umgang mit ge­
schichtlichen Vorgängen. Zur Zeit kann ich noch keine
einigermaßen klare Formulierung des Problems, um das es
uns gemeinsam dabei geht, anbieten. Vielleicht kommen
wir über den von Foucault neu bestimmten Begriff der "Ar­
chäologie" weiter, worauf Du ja hingewiesen hast.
Andererseits sollten wir unseren ..Abspann" auch nicht in
schlechter deutscher Manier theoretisch überfrachten und
eher auf dem Niveau einer neuen, anzustrebenden Kultur
der Beschreibung von Phänomenen bleiben. In der Diskus­
sion neulich mit Robert Wilson in der Akademie der Kün­
ste, nachdem man sich fünf Stunden lang Filme und Videos
seiner Arbeiten ansehen konnte, wurde dann sofort im Pu­
blikum ein fatales Bedürfnis nach Einordnung, nach Ver­
schachtelung in den verfügbaren Registern gewohnter und
vertrauter Denkschemata artikuliert. Das brachte den Hei­
ner auf die Palme, der mit der Bemerkung intervenierte,
man solle sich doch etwas Neuem gegenüber zunächst ein­
mal naiv verhalten und beschreiben, was man denn eigent­
lich gesehen (und erfahren) habe. Das sollte in unserem
Gespräch die Haltung sein.
Herzlich
Carlo

PS:
Um unseren Brief-Dialog fortzusetzen, erwähne ich gleich
noch ein paar Gedanken, die mir bei der Lektüre unserer
452
Texte gekommen sind. Was ist denn der Horizont, auf den
die Beschreibungen und Reflexionen der Texte auch ver­
weisen, den sie herstellen? Gewiß nicht der einer neuen
Kunst/neuer Künste, um noch einmal im Namen einer al­
ten und abgetakelten "Ästhetik" einen Sonderbereich (oder
Gebietsanspruch) der Kunst zu behaupten. Es ist eher der
experimentelle Entwurf dessen, was ihr auch "Lebens­
kunst" nennt, ein Terminus, den wir stark machen müßten,
um die Differenz zu allen Formen ästhetischer Kompensa­
tion (hier sagt man immer noch: "Kunst als Lebenshilfe" . . . )
zu unterstreichen. Insofern könnte man sagen, daß mit der
Einstellung auf Phänomene der Wahrnehmung in den Tex­
ten die Differenz (und die Gegensätzlichkeit) zwischen ei­
ner IDEALITÄT DES SINNS und einer MATERIALITÄT
DER SINNE behauptet wird. Virilio schreibt in einem sei­
ner Texte, daß die Elektronik die Aufhebung der Abschot­
tung der Sinne untereinander herauffühn. Kulturkritiker
traditionellen Typs sehen darin zumeist nur den Verlust,
was wohl auch mit ihrer Blindheit (und Bornienheit) ge­
genüber technologischen Vorgängen zu tun hat. Die "Exte­
riorisierung des individuellen Gedächtnisses" z. B. ist aber
auch eine Verstärkung der menschlichen Sinnesorgane und
ermöglicht ein anderes Bild der Kulturgeschichte, wie sehr
gut Andre Leroi-Gourhan gezeigt hat. Die medialen Ver­
stärker unserer Sinnesorgane liefern in bestimmter Hinsicht
ein präziseres Modell von der Funktion unserer Sinne.
Dazu schreibt der Westberliner Kultur- und Medienhistori­
ker Joachim Krausse von der Hochschule der Künste: "Seit
wir den Fotoapparat haben, können wir ganz bequem die
Wirkungsweise des Auges erklären, und immer wieder wird
versucht, sich der Wirkungsweise des Gehirns mit dem Mo­
dell des Computers zu nähern. Dementsprechend bezeich­
nen wir auch zutreffend unser Sensorium als Wahrneh­
mungsapparat. Wir merken gar nicht, wie unsere Umgangs­
sprache die canesianische Begründung der Anthropologie
auf der Maschine (die La Mettrie 1747 unter dem Titel
,L'Homme Machine' zu einer mechanisch-materialistischen
Anthropologie ausbaute) in Ausdrücken fortgeschrieben
wird wie z. B.: ,Sie sind aber gar nicht auf Draht, junger
Mann' oder ,jetzt hat's gefunkt' usf. Von La Mettries
Mensch als Automaten bis zu unseren Hardcore Artificial
453
Intelligents werden die Organfunktionen externalisiert, ob­
jektiviert und erneut mit dem Original verglichen. Die fest­
gestellte Differenz ist der Ausgangspunkt für die Neukon­
struktion. Was man weiß, kann man auch bauen. Und nur
soweit man etwas bauen kann, weiß man auch Bescheid.
Darin liegt die Herausforderung der künstlichen Intelligenz
an Philosophie und alle Geisteswissenschaften." Insofern
hast Du, Peter, recht, daß heute der antike Begriff der techni
wieder aktuell geworden ist.
Herzliche Grüße
Carlo

Berlin, im Januar 89
Lieber Karlheinz, lieber Stefan,
nach unseren neuerlichen deutsch-deutschen Gesprächen
unter Verlegern und Karlheinz' hilfreichem Brief möchte
ich zur Editionspraxis unseres Buchvorhabens folgendes sa­
gen:
Euer erster Vorschlag, die Auswahl, Gliederung und auch
die Zwischentitel haben mich überrascht und gefreut. Im
Vordergrund steht die Sache, nicht der Autor. Eure lei­
stung: die Strukturierung der Reihe zu einem Triptychon,
worin ich unser eigenes langjähriges Werkeln erkannte.
Also Eure Sichtweise unseres Tuns, womit ich etwas anfan­
gen konnte (Wahrnehmung heute - Perspektiven einer an­
deren Ästhetik). Ich gehe zurück in das "Anfangende" und
lese in der vorgeschlagenen Reihenfolge Korrektur. Und es
ist, als wenn ich die Texte zum ersten Mal lese aus der Per­
spektive des Lesers. Und ich staune. Je nach Betrachtungs­
weise sind die Texte ergiebig, so daß eine voreilige Histori­
sierung durch verlegerischen Dokumentationswillen wie
ein Sargnagel ein vitales Organ treffen würde: nämlich das
neugierige Auge des Lesers. Deshalb möchte ich um Zu­
rückhaltung bei den Anmerkungen des Herausgebers bit­
ten, oder wollt Ihr einen Nachhilfekurs für Versäumtes an­
bieten? "Das Bleibende im Denken ist der Weg. Und
Denkwege bergen in sich das Geheimnisvolle, daß wir sie
vorwärts und rückwärts gehen können . . . Vor - in jenes
Nächste, das wir ständig übereilen, das uns jedesmal neu
befremdet, wenn wir es erblicken." Und dieses "Fremdeln",
454
Ich suche nicht, ich finde.

Pablo Picasso
mit dem wir die Scheu der Kinder bezeichnen, läßt sich
nicht durch väterliche Erklärungen zukleistern. Als Verle­
ger haben wir die Leser dadurch für mündig erklärt, daß wir
uns der einführenden Vorwörter und erläuternden Nach­
wörter enthalten haben. Es gilt lesend neu zu denken, mit
allen Irritationen, Abgründen, Höhenflügen und Unweg­
samkeiten des Unverständnisses. Ein Informationsband
über das neue Denken würde den Leser um diese Erfah­
rung bringen. Erst muß der Funke überspringen, bevor man
einer Sache nachgeht, oder erst müssen sich einem die
Haare sträuben (und ich sehe schon in Stefans Brief die rau­
chenden Köpfe und aufgewühlten Gemüter). Außerdem
liegt die Besonderheit der Schreib- und Denkweisen der
Autoren darin, daß die Wahrheit nicht pur zu haben ist,
während zu ausführliche Informationen seitens der Heraus­
geber dies glauben machen wollten. Anknüpfend an Karl­
heinz könnte die verlegerische Kurzformel lauten:
Fragmentarisches + Collage Bricolleur
=

Der Verleger ist Bastler, nicht Ingenieur.


Herzliche Grüße
Heidi

Berlin, den 20. Februar 1989


Liebe Heidi,
an dieser Stelle vielleicht doch noch ein paar Bemerkungen
zu Deinem Brief, weil er m. E. ein wichtiges Problem auf­
wirft, an dem sich ganz gut auch die sehr unterschiedlichen
Arbeitsweisen der zwei Verlage zeigen lassen. Es ist ja
keine sonderlich naheliegende Liaison, daß sich der "altehr­
würdige" Reclam-Verlag mit seiner Universal-Bibliothek,
die einen relativen Traditionalismus, ein spezifisches Ver­
ständnis von dem, was "klassisch" geworden ist, ausstrahlt,
und Euer Zwei-Personen-Betrieb, der sich ganz ausdrück­
lich einem zeitgenössischen "neuen Denken" verschrieben
hat, zu einer Zusammenarbeit finden. Daß wir daran inter­
essiert sind, diese doch bemerkenswerte Einrichtung RUB
so flexibel wie möglich und natürlich auch so ..zeitgenös­
sisch" wie möglich zu halten, ist ein wesentlicher Grund,
mit Euch dieses Buch machen zu wollen. Als ich das Wort
"Dokumentation" benutzte, habe ich den besonderen Bei-
456
geschmack nicht reflektiert. meine aber. daß man dieses
Wort so besetzen sollte. daß es wieder Sinn macht. Wie
nämlich können Texte aus unterschiedlichen historischen
und internationalen Zusammenhängen einem Publikum so
präsentiert werden. daß sie sich auch in aktuelle Auseinan­
dersetzungen einmischen. als Texte mit ihrem jeweiligen
Material arbeiten (als Steine in der Wand. wie Müller es mal
formuliert hat). Da kann ein Text von Herder oder Fichte
produktiver sein als ein Text von Volker Braun . . . Benja­
min schreibt: "Der Historismus stellt das ewige Bild der
Vergangenheit dar; der historische Materialismus eine je­
weilige Erfahrung mit ihr. die einzig dasteht. Der Entsatz
des epischen Moments durch das konstruktive erweist sich
als Bedingung dieser Erfahrung. In ihr werden die gewalti­
gen Kräfte frei. die im .Es war einmal' des Historismus ge­
bunden liegen. Die Erfahrung mit der Geschichte ins Werk
zu setzen. die für jede Gegenwart eine ursprüngliche ist -
das ist die Aufgabe des historischen Materialismus . . . "
("Eduard Fuchs. der Sammler und der Historiker"). Gerade
deswegen aber interessiert mich das Wie der Konstruktion
oder besser - deswegen ist der Text von W. Seitter in dem
Band auch so wichtig - der "Bastelei" mehr. Da stellt sich
jeder einzelne Text auch anders dar. organisiert gegenüber
der ..Idee" einen mehr oder weniger großen Widerstand.
Das heißt. welche Möglichkeiten finde ich im konkreten
Fall. um jedem Text sein Eigenleben zu ermöglichen und
ihn doch innerhalb eines Buches einem bestimmten Her­
ausgeberinteresse anzupassen. Es gibt von N. Luhmann ei­
nen sehr schönen kleinen Text über die Organisation seines
Zettelkastens als selbständigen Gesprächspartner. Um krea­
tives wissenschaftliches Arbeiten zu ermöglichen. muß er
Zufälle ermöglichen können. ja befördern. dem Benutzer
überraschende Verbindungen. Zuordnungen anbieten.
selbstverständlich Erscheinendes auflösen. eingefahrene
Denkraster sprengen. So ähnlich würde ich im Idealfall un­
sere Bemühungen auch sehen. nämlich als Versuch. an ge­
genwärtige Fragestellungen. die weit über den im klassi­
schen Sinne ästhetischen Bereich hinausweisen. heranzuge­
hen. um erst einmal wieder Unvoreingenommenheit.
Offenheit zu ermöglichen. Daß dabei natürlich verschie­
denste Reaktionsweisen möglich sind. liegt auf der Hand:
457
Haarsträuben, Abwehr, Ratlosigkeit, Unverständnis, Ableh­
nung, Identifikation, kritische Distanz (allein Gleichgültig­
keit wäre unangenehm) . . . im Idealfall eine Auseinander­
setzung mit den Problemangeboten, die weit vom Buch
wegführen kann und soll; und damit es zu einem solchen
"arbeitenden" Buch wird, kann man doch die "Anschluß­
möglichkeiten" erweitern, über eigene Motivationen Aus­
kunft geben . . .
Ich merke schon wieder, wie es raucht.
Seid herzlich gegrüßt
Stefan

Berlin, den 22. 2. 89


Lieber Carlo,
wir sprachen über Deleuzes Text "Spinoza und wir". Ob er
aufgenommen werden soll. Für mich ist er ein Beispiel für
eine neue Lektüre Spinozas, für die Argumente von Michel
de Certeau, für die Wende zur Ethik (und nicht zur Mo­
ra!!), für eine im Denken von Althusser, Foucault, Deleuze,
Virilio u. a. gegenwärtige Präsenz von Spinoza, für eine ty­
pische deleuzianische Argumentation in ihrem konzeptue1-
len Reichtum. So weit so gut. Jetzt stellt sich ein neues,
schwierigeres Problem: welche Fassung von "Spinoza und
wir" nehmen wir auf, die frühere aus unserem Bändchen
"Kleine Schriften" (IMD 95 ) oder die aus dem Spinoza­
Buch (IMD 139)? Heidi plädiert für die letzte Fassung, will
es nicht begründen, ich ebenfalls, möchte aber zitieren, was
mir an der ersten sehr wichtig war, denn es betrifft auch die
Lektüre unseres Readers. Es ist die Idee des multiplen Bu­
ches: Die moderne Literatur hat mit Sicherheit besondere Merk­
male, aber nicht das des multiplen Buches, das zu allen Zeiten exi­
stiert hat, seit es Bücher gibt. Und die »Ethik" ist geometrisch
komponiert, Definitionen, Postulate, Axiome, Propositionen, De­
monstrationen, Korolarien und Scholien. Aber ich glaube, daß die
Scholien etwas ganz Besonderes sind: es sind keine Ergänzungen der
Theoreme und Demonstrationen, sondern eine andere Version des
Ganzen. Die Scholien verweisen aufScholien und bilden eine zweite
Version der »Ethik": die »Ethik" wäre also zweimal gleichzeitig ge­
schrieben worden, einmal in der kontinuierlichen Verkettung der
Propositionen und Demonstrationen, und einmal in der diskontinu-
458
ierlichen oder vulkanilchen Kette der Scholien. Die Ethik wäre abo
ein Buch, dal zwei völlig verJchiedene LeJegeJchwindigkeiten ent­
hielte, je nachdem, ob man der Verkettung der Propolitionen oder
der Kette der Scholien folgt. Und auch die Affekte lind in beiden
Fällen völlig verJchieden verteilt: die Scholien handhaben viel leiden­
Ichaftlichere und lichtbarere Affekte! Dal Problem, »wie die Ethik
zu leJen Jet', beJtünde abo in jenen GeJchwindigkeilJvariationen,
jenen Affektverteilungen. Ein wenig wie in einem mllJikalilchen
Werk, wo damlbe Thema VerJchiedene GeJChwindigkeiten durchlau­
fen kann, mit verJchiedenen Affikt/adungen. Die Schrift verteilt
auch Affekte, produziert unterJchiedliche GeJchwindigkeiun auf ein­
und demJeIben Plan. Vielleicht wird die PhilolophiegeJchichte heute
mit modernen Methoden erneuert, mit Computern und SyntheJizern,
10 daß el gelingt, eine tei/weile elektroniJche PhilolophiegeJchichte

wie eine elektronilche MUlik zu entwerfen. Dal Icheint mir der von
Andre Robinet abgeJteckte Weg zu lein. Ich frage ihn abo, und die
Mitglieder leiner Arbeitigruppe, ob ihre Methoden imltande wären,
die Hypothm, derzufolge die Scholien eine Art von Autonomie in
der HEthik« hätten und zugleich eine zweite Verlion bilden würden,
zu beJtätigen oder zu entkräften oder zu tranlformieren. Kann man
dazu kommen, nicht nur lexikalilche Häufigkeiten, nicht nur .ryll ­
taktilchel Vorkommen, londern auch Rhythmen und GeJchwindig­
keilen mit ihren relativen Konlinuiltiten und Dilkonlinuitäten zu
erfallen? Eine lolche Studie impliziert einen Komiltenzplan, wo alle
dieJe Parameter variieren können. Nicht nur die Philolophie ver­
weilt aufdielen Immanenzplan der GeJchwindigkeiten und Affekte,
auch die MuJik, auch die Literatur, auch dal Kino: weJ'Wegen lich
heute 10 viele Leute al! Spinozilten wiederfinden in ihren verJchiede­
nen Gebieten, noch viel lpinoziJtilcher, alJ el die Philolophen hätten
lein können, mit Hilfe jener gemeimamen Konzeption del "PIani«.
Womöglich sind auch wir Spinozisten, ohne es zu wissen.
Ist doch nicht schlecht, oder?
Herzliche Grüße
Peter

Berlin, im März 89
Lieber Stefan,
mir macht die Arbeit an dem Band Spaß, was dazu fühn,
daß immer wieder neue Abfolgen von Texten, andere Glie­
derungen, neue Autoren mir durch den Kopf schwirren.
Jetzt stelle ich verblüfft fest, daß wir Harry Szeemann nicht
459
dabei haben, der das Thema Ausstellung umformulien hat
und einer der Initiatoren des gegenwänigen Ausstellungs ­
booms ist. Ausstellung ist auch für unsere Verlagsarbeit seit
1978, seit Baudrillards "Beaubourg-Effekt", ein wichtiges
Thema.
Auch auf die Thematik "männlich/weiblich" können wir
nicht verzichten. Ein reiner Männerband - die Zeiten sind
vorbei! Ich bin dafür, die Thematik zur Homosexualität hin
zu erweitern, denn um solche Multiplikationen muß es uns
doch gehen und nicht um feministische Spielwiesen.
Gern würde ich mit Euch die von mir vorgeschlagenen Zwi­
schentitel diskutieren. Von mir aus könnten sie auch weg­
fallen, aber sie implizieren eine bestimmte Gliederung. Sie
sollen den Begriff "aisthesis" perspektivieren, indem sie
eine Differenz herstellen zwischen . . . Und eben diese Dif­
ferenzen finden sich in allen Texten wieder, nur anders ge­
wichtet. In jedem Text sind Raum und Zeit, männlich und
weiblich, Medium, Simulacren, Realitäten, Künste und
Avantgarden virulent, in allen ist Lebenskunst vielleicht ein
Thema, wird ein neues Denken vorgefühn, erprobt, ge­
zeigt, versucht . . .
"Veillez sans peur!" wäre gar kein schlechtes Motto, wenn
wir den Bedeutungshorizont weit offen halten wollen.
Warum erscheint bei Reclam nicht Foucaults "Surveiller et
punir"?
Lieber Stefan, verstehe den Brief bitte nicht falsch. Ich will
mich nicht durchsetzen, sondern durch Insistieren ein gut
durchdachtes Konzept realisieren.
Herzlich
Peter

Zwischenbilanz:
Aisthesis - Wahrnehmung - andere .Ästhetik
Titel und Auswahl des Bandes folgen einer Einstellung, die
auf eine Neubestimmung von Ästhetik in doppelter Hin­
sicht hinaus will: 1. hinsichtlich einer längst fälligen Auf­
wenung der Sinne und 2. hinsichtlich einer Berücksichti­
gung von Technik/Technologie. Damit erinnern wir an die
Aktualität von Benjamins Feststellung, daß besonders in
460
Deutschland seit dem Idealismus sich eine technikfeindli­
ehe Auffassung und Betrachtung der Kunst durchgesetzt
hat, die heute angesichts neuer Medien (spätestens) ihre
Stunde der Wahrheit (oder ihr Dilemma) erfähn. Für uns in
der DDR besteht ob der merkwürdigen (und noch wenig
aufgeklänen) Tatsache, daß trotz Marxismus sich eine wirk­
lich materialistische Sicht/Ansicht von Ästhetik nicht
durchgesetzt hat, Grund, die Erfahrungen anderer Kultu­
ren/Länder aufzuarbeiten und bekanntzumachen, in deren
Denktraditionen die ästhetische Idealisierung nicht so
mächtig gewesen ist. So. z. B. in der englisch-amerikani­
schen Tradition, aus der ja nicht von ungefähr die Arbeiten
von Marshall McLuhan kommen, oder die französische Tra­
dition, in der der Enzyklopädismus der Aufklärung mit sei­
ner Einheit von Hedonismus und Materialismus, von Tech­
nik und Kunst nie ausgestorben ist.

1. AiJtheJiJ
Im Sinne der vor-idealistischen Tradition kann "Aisthesis"
als sinnliche Wahrnehmung in der Einheit und im Zusam­
menspiel aller Sinne auch auf einen frühen Gedanken von
Marx bezogen werden: auf die Bildungsgeschichte der 5
Sinne als einer Arbeit der ganzen Weltgeschichte. Auf die­
sen Gedanken hat Carlo Ginzburg 1978 in seinem Aufsatz
über "Tizian, Ovid und die erotischen Bilder im Cinque­
cento", der das Sehen als "privilegierten erotischen Sinn" behan­
delt, unter ausdrücklichem Hinweis auf Marx und die bis
heute nicht geschriebene Geschichte der Sinne aufmerksam
gemacht.
Man kann einige Gründe für dieses Defizit nennen, das
wohl durch den Alpdruck einer Sublimierung des Ästheti­
schen mit verursacht worden ist:
1. Die Reduktion der einzelnen Sinne auf einen "Gemein­
sinn", die sich als kulturgeschichtliches Paradigma seit dem
18. Jahrhunden durchgesetzt hat. "Es ist der Verstand, der
unter dem Deckmantel des Gemeinsinns die Herrschaft
über die Sinne antritt" (Wolfgang Welsch, AistheJis, Stuttgan
1988, S. 378). Auch Kant sagt bereits von der Sinnlichkeit,
daß sie "an sich Pöbel" sei (Anthropologie), und für Hegel
fängt (das ist grundsätzlich dieselbe Perspektive) "im Skla-
461
ven die Prosa an" (Asthetik). In dieser Tradition sind also
ganz klare "Dispositive der Macht" an der Arbeit.
2. Seit Baumganen wird das Ästhetische auch immer als ein
Gegensatz zum Rationalen gedacht und entfaltet, als "nie­
dere" Form der Erkenntnis behandelt.
3. Hegels Asthetik ist die Summe dieser Entwicklung. Sie er­
hebt die Idealität des Sinns gegen die Materialität der Sinne zur
absoluten Norm. "Das Venilgtwerden gerade der sinnli­
chen Materialität" (Aithetik) wird beherrschend in der bis
heute nachwirkenden Tradition philosophischer (auf Wahr­
heit und Bedeutung fixiener) Ästhetik.

2. Wahrnehmung
Die Verlagerung des Ortes der Kunst vom Körper in den
Kopf, bzw. in einen körperlosen Kopf, ist eine unserer fa­
talsten Traditionen. An die Stelle der Sinne und ihrer Funk­
tionen traten der Sinn und die Bedeutung. Damit ist auch
die Wahrnehmung entmaterialisien, blind gemacht und dis­
kriminien worden. Das hat auch zu tun mit der Sensualis­
mus-Kritik im 18. Jahrhunden, z. B. bei Kant. Dabei ist
dann viel über Bord gegangen. Wie Karl Schlechta, der
Nietzsche-Editor, gesagt hat, wurde die Wahrnehmung
zum ausgesprochenen "Stiefkind der Philosophie", wurde
in der Folge vergessen oder verdrängt: "Unmittelbar präsen­
tien sich das Vorgegebene als eine Welt von Qualitäten, als
eine Welt von Farben, Tönen, Gerüchen, Geschmacks- und
Tast-Erfahrungen. Cum grano salis! Niemals und überhaupt
nicht ganz rein. Das menschliche Erkenntnisvermögen zer­
fällt nur in der Analyse in Teilbereiche; de facto ist es eine
komplexe, aber übergangs- und nuancenreiche Einheit."
(K. Schlechta, Die Wahrnehmung - ein Stiefkind der Philo­
sophie. In: Alexander Schwan, Denken im Schallen des Nihilis­
mus. Darmstadt 1975, S. 367.)
Der Abbau dieser Tradition begann in neuerer Zeit (nach
den Vorleistungen durch die Phänomenologie, z. B. bei
Merleau-Ponty) dann von zunächst unerwaneter Seite:
durch die Neurophysiologie und Neurobiologie und die
von ihr ausgehende evolutionäre Erkenntnistheorie.
Der Begriff des "neuen Denkens", den Gorbatschow zum
Leitfaden einer neuen Politik gemacht hat, hat hier seinen
462
eigentlichen Ursprung. (Der Zusammenhang ist gar nicht
zufällig, denn Gorbatschow, der sich mit einem Protagonist
dieses "neuen Denkens", dem Physiker und Nobelpreisträ­
ger Ilya Prigogine, persönlich unterhalten hat, übernahm
das Konzept von dieser Seite !)
Heinz von Foerster, einer der Mitbegründer oder Anreger
der evolutionären Erkenntnistheorie, hat die politische
Tragweite einer von hier ausgehenden Wahrnehmungs­
theorie u. a. auch aus ihren Konsequenzen für eine Ethik
und für eine Ästhetik (deren Begriff freilich mit der Tradi­
tion der idealistischen philosophischen Ästhetik nichts
mehr zu tun hat) abgeleitet:
HDer ethiJche Imperativ: Handle stets so, daß die Anzahl
der Wahlmöglichkeiten größer wird.
Der älthetiJche Imperativ: Willst du sehen, so lerne zu
handeln."
(Sicht und Eimicht, Braunschweig 1985, S. 41.)
Wie das zu verstehen ist, erläuten er in dem Aufsatz "Zu­
kunft der Wahrnehmung - Wahrnehmung der Zukunft"
(1972). Der revolutionäre Gedanke darin ist, daß ein auf
Veränderung gerichtetes Denken sich vorab von traditionel­
len Wahrnehmungsmustern und Wahrnehmungsweisen be­
freien muß (und zwar in jeder Hinsicht und auf jedem Ge­
biet). Da die evolutionäre Erkenntnistheorie in der DDR
(abgesehen von Spezialisten) so gut wie unbekannt ist und
da sie hinsichtlich einer Theorie der Wahrnehmung minde­
stens den Rahmen einer Vorstellung für die in diesem Band
versammelten Aufsätze abgeben kann, sei aus Foersters
programmatischem Aufsatz etwas ausführlicher zitien: "Ge­
meinplätze haben den fatalen Nachteil, daß sie durch Ab­
stumpfen unserer Sinne die Wahrheit verschleiern. Kaum
ein Mensch wird in Aufregung geraten, wenn er hön, daß
in Zeiten der Kontinuität Zukunft und Vergangenheit
gleich sind. Nur wenigen wird zum Bewußtsein kommen,
was daraus folgt: in Zeiten soziokulturellen Wandels wird
die Zukunft nicht sein wie die Vergangenheit.
Wenn wir uns aber kein klares Bild von der Zukunft ma­
chen, dann können wir auch nicht wissen, was wir tun sol­
len, da eines jedenfalls gewiß ist: Wenn wir selbst nicht
handeln, wird mit uns gehandelt werden. Wenn wir also lie­
ber Subjekte als Objekte sein wollen, dann muß unsere ge-
463
genwärtige Weitsicht, unsere Wahrnehmung also, auf die
Zukunft gerichtet sein, nicht auf die Vergangenheit . . .
E s ist kein Wunder, daß ein Bildungssystem, welches den
Prozeß der Erzeugung neuer Prozesse mit der Verteilung
von Gütern, genannt ,Wissen', verwechselt, in den dafür be­
stimmten Empfängern große Enttäuschung hervorrufen
muß, denn die Güter kommen nie an: es gibt sie nicht!
Die Konfusion, die Wissen als Substanz auffaßt, geht histo­
risch auf ein Flugblatt zurück, das im 16. Jahrhundert in
Nürnberg gedruckt wurde. Es zeigt einen sitzenden Schüler
mit einem Loch im Kopf, in dem ein Trichter steckt. Dane­
ben steht der Lehrer, der einen Kübel ,Wissen' in den
Trichter gießt: Buchstaben des Alphabets, Zahlen und ein­
fache Gleichungen. Was die Erfindung des Rades für die
ganze Menschheit gebracht hat, brachte der Nürnberger
Trichter für die Bildung: es kann nur noch schneller ab­
wärts gehen.
Gibt es ein Heilmittel? Natürlich, es gibt eines! Wir müssen
Vorträge, Bücher, Diapositive, Filme usw. nicht als Informa­
tion, sondern als Träger potentieller Informationen ansehen.
Dann wird uns nämlich klar, daß das Halten von Vorträgen,
das Schreiben von Büchern, die Vorführung von Diapositi­
ven und Filmen usw. kein Problem löst, sondern ein Pro­
blem erzeugt: nämlich zu ermitteln, in welchen Zusammen­
hängen die Dinge so wirken, daß sie in den Menschen, die
sie wahrnehmen, neue Einsichten, Gedanken und Handlun­
gen erzeugen . . .
In jedem Augenblick unseres Lebens sind wir frei, auf die
Zukunft hin zu handeln, die wir uns wünschen.
Mit anderen Worten, die Zukunft wird so sein, wie wir sie
sehen und erstreben. Dies kann nur für diejenigen ein
Schock sein, die ihr Denken von dem Prinzip leiten lassen,
daß für die Zukunft nur die Regeln gelten sollen, die in der
Vergangenheit befolgt wurden. Für diese Menschen ist die
Vorstellung einer ,Veränderung' unbegreiflich, denn Verän­
derung ist der Prozeß, der die Regeln der Vergangenheit
auslöscht." (Sicht und Einsicht, S. 3, 5, 10.)
In bestimmter Hinsicht lassen sich alle Texte unseres Ban­
des als Versuche (Essais) lesen, soziokulturelle Phänomene
unserer Gegenwart entgegen traditionellen Gewohnheiten
durch Perspektiven anderer Wahrnehmungsweisen zu ver-
464
fremden; Zusammenhänge aufzuzeigen, die sich der isolie­
renden oder totalisierenden (auf eindeutigen Sinn fixienen)
Zuweisung von Bedeutungen entziehen.
In solcher Perspektive kommen dann auch ganz ungewöhn­
liche und unübliche (wenn unter einem traditionellen
Ästhetikverständnis betrachtet) Gegenstände in den Blick.
Gegenstände, die jeder musealen Salonästhetik verschlos­
sen bleiben! Wie z. B. die von Virilio analysiene Ästhetik
der Geschwindigkeit (und des Verschwindens); oder die
Zusammenhänge zwischen Krieg und Kultur.
Solche hanen kulturgeschichtlichen Tatsachen desavouie­
ren jede ästhetische Idealisierung (oder Selbstidealisie­
rung) . Sie schärfen die meist unreflektierte Erfahrung, daß
z. B. unser Sehen auch eine Montage von Zeitlichkeiten ist,
daß Zeit auch durch Technologien organisien wird. Streik
z. B. eine "Barrikade in der Zeit" ist, wie Virilio schreibt.
Das ist ein analytischer Blick, der uns hier durch die endlo­
sen Debatten über die Wahrheit in der Kunst so gründlich
ausgetrieben wurde, daß er sogar in der verspäteten Ausein­
andersetzung mit der Kunst- und Kulturtheorie Walter
Benjamins so gut wie gar keine Rolle spielte. Daß gerade
dieser analytische Blick als Zentrum dieser Benjaminsehen
Kultunheorie übersehen wurde, während er den Franzosen
(wie eben Virilio) auffiel als das organisierende Prinzip:
"Innerhalb großer geschichtlicher Zeiträume verändert sich mit der
gesamten Daseinsweise der menschlichen Kollektive auch die Art
und Weise ihrer Sinneswahrnehmung. « ("Das Kunstwerk im
Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit")
Insofern können die Aufsätze unseres Bandes auch die
Wahrnehmung unserer eigenen Tradition durch einen an­
deren Umgang, den sie damit vorführen, verändern.

3. Andere Asthetik
"Ästhetik bei uns war immer eine erkennungsdienstliche
Behandlung von Kunst. Da ist ja schon dieses Ding mit der,
wie heißt das: Widerspiegelung. Das ist ja der eigentliche
Schwachsinn. Man muß anerkennen, daß Kunst genauso
real ist wie andere Realität. Deshalb kann man mit der
Ästhetik nichts anfangen. Auch mit ihrer Terminologie [ . . . ]
Es gibt ja den Unterschied zwischen philosophischer Ästhe-
465
tik und Ästhetik im Sinne von Poetik. Wenn man Kunst
macht, dann bewegt man sich auf etwas hin, Ästhetik aber
will feststellen. Da sind wir an der Wurzel, da beißt sich
was. Und das Feststellen wird die Krankheit der Ästhetik
bleiben, solange sie nicht konkret ist. Und konkret war sie
noch nie bei uns. Konkret heißt, daß man zwei Zeilen aus
einem Text wirklich genau untersuchen und vielleicht sogar
sagen kann, was an einem Text nicht stimmt. Sicher, es gibt
kein vollkommenes Kunstwerk, ohne Schlieren, und wenn
man den Fehler tilgt, tilgt man vielleicht etwas in anderem
Zusammenhang ganz Wichtiges. Es wäre aber nützlich,
wenn man da ein Instrumentarium hätte, um festzustellen:
Wo ist die Schliere? Der russische Formalismus z. B. war ei­
gentlich die erste konkrete Ästhetik, die erste und einzige.
Es waren die ersten Versuche, zu bestimmen, was Sprache
kann, was Sprache eigentlich ist. Da wäre eine Traditionsli­
nie. Aber letztlich wird es keine Ästhetik geben, glaube ich,
ohne Nietzsche. Und das ist eigentlich der wesentliche
Streit. Nietzsche stellt die systematische Denkbewegung in
Frage: Daß ich mich also zu jedem Gegenstand anders ver­
halten muß, ihn anders erklären muß. Es wird nie zum Sy­
stem, und System hat ja nun viele Bedeutungen inzwischen,
und das sind alles tödliche Bedeutungen. Das System von
Hegel ist eine Voraussetzung für alle Systeme, die wir bis
jetzt erlebt haben. Es gibt einen Zusammenhang zwischen
dieser An von Systemzwang und den Zwängen der Sy­
steme, die wir kennen. Denken Sie an die These von Fou­
cault: Humanismus ist die letzte Mythe, der letzte Mythos.
Humanismus, die Vorstellung, daß die Menschheit ein End­
ziel hat, einen Zweck. Jede Zwecksetzung erzwingt und er­
möglicht Kontrolle. Es gibt viele Wahrheiten, es gibt nicht
die Wahrheit. Und nur wenn Ästhetik in dieser Richtung
einen Freiraum entwickelt, hat sie eine Funktion. Aber so­
lange sie auf einen Maßstab aus ist, eine Wenskala, das
heißt nichts weiter als Amputation und Kastration und . . .
alles, was man sich denken kann. Ästhetik bei uns versucht,
Kontrollmechanismen zu finden [ . . . ] "
(Heiner Müller auf die Frage "Wozu Ästhetik?" in: ange­
bote 1, Berlin 1988, Gesprächsprotokoll.)
Was soll man hier also noch sagen? Meine Beobachtung ist:
wenn die Leute das Won ästhetisch/Ästhetik hören, schal-
466
ten sie entweder, wie Heiner, ab, oder sie kriegen einen
verzückten Schleier um die Augen und empfinden ein Prik­
kein in den "höheren" Körperregionen, das verdrängte Be­
"
dürfnisse "niederer Regionen sublimien: Also noch immer
WEIMAR und nicht NEW YORK (z. B.). Ich fände es nicht
schlecht, wenn wir abschließend dieses miserable (deut­
sche) Verständnis von ÄSTHETIK/ÄSTHETISCH einmal
gründlich/locker auf die Schippe nehmen würden.
Herzlich
Karlheinz, im April 1989

Berlin, den 22. Mai 89


Lieber Carlo,
dank für Deine Zwischenbilanz. Nach wiederholtem Lesen
der nun vorliegenden Briefe für unseren "Abspann" denke
ich, daß diese Form dem Gesamtcharakter unserer "Baste­
Iei" angemessen sein könnte. Im besten Falle nähern wir
uns dem, was Deleuze am Beispiel Spinoza entwickelt:
"Weite nennen wir die Gesamtheit der Affekte, die einen
Körper in jedem Augenblick ausfüllen, d. h. die intensiven
Zustände einer anonymen Kraft (Existenzkraft, Macht, affi­
zien zu werden)." Die Gefahr einer solchen Korrespon­
denz ist vielleicht ihre Chance. Nichts soll erklärt, einiges
aber mitgeteilt werden. Indem wir es bei unterschiedlichen
Stimmen belassen, wird auch der "Versuchscharakter" unse­
res Tuns betont, das aufnehmend, was besonders in den
Texten zur Lektüre betont wird: Offenheit, Aufmerksam­
keit, die Aufforderung an den Leser, sich nichts gefallen zu
lassen, die Stellen 'Zu finden, mit denen er e/was anfangen kann.
Dann kann so ein Büchlein vielleicht Ausgangspunkt oder
Hilfe für eigene Arbeit sein. Hinweise für die individuelle
Fonsetzung der Lektüre gibt es in Hülle und Fülle. Peter
und Heidi schreiben zum 100. Band ihres Internationalen
Merve Diskurses ("Museum der Obsessionen, von/überlzu/
mit Harald Szeemann"): "Wir halten uns nicht für den Na­
bel der Welt. Eher sind wir ein Bahnhof mit vielen ankom­
menden und abfahrenden Zügen, wo Linien und Bewegun­
gen sich kreuzen, wo es manchmal nach großer Welt riecht
und manchmal nach Penner-Wanehalle, wo aparallele Ent­
wicklungen, unterschiedliche Entwicklungstempi für einen

467
Augenblick zusammentreffen und sichtbar. lesbar. viel­
leicht auch begreifbar werden."
So ein Buch kann dann nur Angebot sein. das davon Mittei­
lung macht. was tins in den letzten Jahren - bei mir etwas
weniger - mehr oder weniger beschäftigt hat. Daß wir diese
Möglichkeit haben. ist ein Privileg und kann nur die Auf­
forderung an andere sein. sich ebenfalls mitzuteilen bzw.
vielfältige Mitteilungen möglich zu machen. Wenn es denn
etwas wie eine Botschaft in diesen Texten gibt. so vielleicht
die Bitte, sich den eigenen Gefühlen. Eindrücken zu stellen.
eigene Wahrnehmungen auch wahrzunehmen; und ein An­
gebot: die Differenziertheit der Probleme zu reflektieren. die
Erfahrungen determinieren. Darin liegt für mich auch die
Hoffnung: daß nach der Lektüre eine selbstverständliche
Weiterführung eines autoritären Wahrheitsdiskurses zu­
mindest erschwert erscheint. Nur durch das Interesse am.
das Verstehenwollen des einzelnen kann so etwas wie eine
Ethik der Gattung - die jetzt so lauthals gefordert wird -
entwickelt werden (ars erotica. ars theoretica. ars poli­
tica!).
Insofern implizieren diese Texte ja nicht nur eine unaufge­
regte Polemik gegen hiesige ästhetische Debatten. die häu­
fig stärker den Charakter von Selbstinszenierungen als von
.. Verstehen-wollen" haben. sondern auch eine Arbeitshal­
tung. die sich für mich in unserer Zusammenarbeit so er­
freulich dargestellt hat. So könnte eine konkrete Utopie des
Miteinander-Produktiv-Werdens aussehen. deren Grundbe­
dingungen ein gemeinsames Interesse an der Sache. aber
auch aneinander ist. Deshalb fällt es mir auch schwer. zu
"verarschen". weil mich diese "auratischen Kunstdebatten"
kaum noch interessieren. Was einen nichts angeht. kann
man nur schwer gelungen auf die Schippe nehmen. Ich ver­
weise auf Adolf Endler. der in seiner Prosa und in einigen
seiner Essays zeigt. wie das gehen könnte. Ob wir allerdings
ein akzeptables Alternativangebot vorlegen. muß jeder Le­
ser für sich entscheiden können. Vielleicht leisten die
Texte einen Beitrag zum ..Staunen lernen"!
Herzlich
Stefan
Zu den Autoren

ROLAND BARTHES (1915-1980), "Leser der Welt", lehne zuletz t .Se­


miologie litteraire" am College de France in Paris, veröffentlichte
Texte über Literatunheorie und Semiologie, die Tour de Frant;:e
und den Eiffelturm, Japan und die Mode, über die Liebe und die
Fotografie, Mythen und Musik. Beschäftigte sich u. a. mit Balzac,
Michelet, Racine, de Sade, Arcimboldo, Schuben und immer wie­
der Brecht, liebte romantische Musik und Discobesuche, hat selber
komponien und Klavier gespielt. Ausgewählte Publikationen: De­
gre zero de l'ecriture, 1953 (Am Nullpunkt der Literatur, 1959);
Mythologies, 1957 (Mythen des Alltags, 1964); Elements de Semio­
logie, 1964 (Elemente der Semiologie, 1979/83); Systemes de la
Mode, 1967 (Die Sprache der Mode, 1984); L'empire des signes,
1970 (Das Reich der Zeichen, 1981); Le plaisir du texte, 1973 (Die
Lust am Text, 1974); Banhes, 1975 (Über mich selbst, 1978); Frag­
ments d'un discours amoureux, 1977 (Fragmente einer Sprache der
Liebe, 1984); La chambre cIaire, 1980 (Die helle Kammer, 1985);
L'aventure semiologique, 1985 (Das semiologische Abenteuer,
1988); Was singt mir, der ich höre in meinem Körper das Lied,
1979; Cy Twombly, 1983.

JEAN BAUDRlUARD, geboren 1929 in Reims, Professor für Soziolo­


gie an der Universität Paris-Nanterre. Er übersetzte Werke von
B. Brecht und Peter Weiss, war Redakteur der Zeitschriften .Uto­
pie" und "Traverses".
Ausgewählte Werke: Le systeme des objets, 1968 (Das Ding und
das Ich. Gespräche mit der täglichen Umwelt, 1974); Pour une criti­
que de l'economie politique du signe, 1972; L'echange symbolique
et la mon, 1976 (Der symbolische Tausch und der Tod, 1982);
Oublier Foucault, 1977 (Oublier Foucault, 1978); Simulacres et si­
mulation, 1981; Les strategies fatales, 1983 (Die fatalen Strategien,
1985); La gauche divine, Chronique des annees 1977- 1984, 1985
(Die göttliche Linke, 1986), Amerique, 1986 (Amerika, 1987); L'au­
tre par lui-meme. Habilitation. 1987 (Das Andere selbst, 1987);
Cool memories 1980-1985, 1987, dt. 1989; Agonie des Realen,
1978; Kool Killer oder Der Aufstand der Zeichen, 1978; laßt euch
nicht verführen, 1983; Subjekt und Objekt: fraktal, 1986; La Trans­
parence du Mal, 1990.

HANNES BÖHRINGER, geboren 1948 in Hilden. Studium der Philoso­


phie, Geschichte und Kunstgeschichte. Seit 1986 Professor für Phi­
losophie an der Freien Universität BerIin (West).
Buchveröffentlichungen: Bernhard Groethuysen. Vom Zusammen-

469
hang seiner Schriften, 1978; Begriffsfelder . Von der Philosophie
zur Kunst, 1985; Kompensation und Common Sense. Zur Lebens­
philosophie Alfred Adlers, 1985; Kunst und Lebenskunst, 1987.

MICHEL OE CERTEAU (1925- 1986) war Historiker und Spezialist der


Mystik, Mitglied der Ecole freudienne seit ihrer Gründung, glei­
chermaßen bewanden in Philosophie, Linguistik, Ethnologie und
Soziologie, unterwegs in theoretischen Systemen und an Universi­
täten in Europa, Süd-, Mittel- und Nordamerika, Redaktionsmit­
glied der Zeitschrift .Traverses" und Berater des Centre Georges
Pompidou in Paris.
Ausgewählte Publikationen: Le Memorial de Pierre Favre, 1960; La
prise de Paro!, 1968; L'etranger ou L'union dans la Difference,
1969; L'Absent de l'histoire, 1973; La Culture au Pluriel, 1974;
L'ecriture de l'histoire, 1975; La fable mystique. XVIe-XVIle, Bd. 1
1982; Histoire et psychanalyse entre science et fiction, 1987; La
faiblesse de croire (hrsg. von Luce Giard), 1987; L'invention du
quotidien. 1, Ans de faire, 1980 (Kunst des Handelns, 1988).

DANIEL CHARLES, geboren 1935 in Dran (Algerien), lebt in Antibes.


Musiker und Philosoph. Er leitete seit 1969 den Fachbereich Musi­
kologie der Universität Paris-Vincennes und ist seit 1989 Prof. für
Philosophie in Nizza.
Veröffentlichungen: Pour les oiseaux, Entretiens avec John Cage,
1977 (Für die Vögel. John Cage im Gespräch mit Daniel Charles,
1984); Gloses sur John Cage, 1978; Le temps de la voix, 1978; John
Cage oder Die Musik ist los, 1979; Musik und Vergessen, 1984;
Poetik der Gleichzeitigkeit, 1987; Zeitspielräume, 1989.

HELENE CIxous, geboren 1937 in Dran (Algerien), lebt als Schrift­


stellerin und Professorin in Paris. Sie hat bisher mehr als 30 Bücher
veröffentlicht (literaturwissenschaftliche Studien, Romane, Thea­
terstücke, Essais) und arbeitet über .l'ecriture felllinine" (weibliche
Schrift). Sie ist Mitherausgeberin der Schriftenreihe .Feminin Fu­
tur".
Ausgewählte Werke: L'exil de Joyce ou L'an du remplacement,
1974; Prenoms de personne, 1974; Le troisieme corps, 1975; Neu­
tre, 1975; La jeune nee, 1975; Souffles, 1975; Ponrait de Dora,
1976; Panei, 1976; La venue a l'ecriture, 1977; La, 1978; Preparatifs
de nous au a dela de l'abime, 1978; Ananke, 1979; Vivre I'orange,
1979; L'Exil de James Joyce ou l'an du remplacement, 1985; Mann:
aux Mandelstams, aux Mandelas, 1988. Deutsch: Die unendliche
Zirkulation des Begehrens, 1977; Weiblichkeit in der Schrift, 1980;
Die schreckliche, aber noch unvollendete Geschichte von Noro­
dom Sihanouk, König von Kambodscha, 1988.

470
GILLES DELEuzE, geboren 1925 in Paris, emeritiener Professor für
Philosophie, lehrte an der Universität Paris-Vincennes, veröffent­
lichte seit 1953 Arbeiten über Empirismus und Subjektivität, über
Differenz und Wiederholung, die Logik des Sinns, über Nietzsehe,
Kant, Bergson, Spinoza, Proust . , . und gemeinsam mit Felix Guat­
tari das berühmt gewordene Buch nAnti-Ödipus. Kapitalismus und
Schizophrenie" .
Ausgewählte Publikationen: Eml'i risme et subjectivite, 1953; Mar­
cel Proust et les signes, 1962 (Proust und die Zeichen, 1978);
Nietzsehe et la philosophie, 1962 (Nietzsehe und die Philosophie,
1976); DiHerence et repetition, 1969; Logique du sens, 1969; Spi­
noza. Philosophie pratique, 1981 (Spinoza. Praktische Philosophie,
1988); Cinema I. L'Image-Mouvement, Cinema 11. L'Image-Temps,
1983/1985 (dt. in Vorbereitung); Foucault, 1986; Nietzsehe. Ein
Lesebuch, 1979; Kleine Schriften, 1980.
Gemeinsam mit Felix Guattari: Capitalisme et Schizophrenie,
L'Anti-Oedipe, 1972 (Anti-Ödipus, 1974); Capitalisme et Schi­
zophrenie II. Mille Plateaux, 1980, dt. in Vorbereitung; Kafka. Pour
une litterature mineure, 1975 (Kafka. Für eine kleine Literatur,
1976); Rhizom, 1976 (Rhizom, 1977); Schizoanalyse und Wunsch­
energie, 1978.

HEINZ VON FOERSTER, geboren 1911 in Wien, Physikstudium, Ar­


beit in verschiedenen Forschungslaboratorien für Plasmaphysik
und Mikrowellenelektronik, Direktor des Electron Tube Research
Laboratory in Urbana. 1957 gründete er das legendäre Biological
Computer Laboratory (BCL) der University of Illinois. Autor zahl­
reicher Veröffentlichungen, speziell zur Erkenntnistheorie.
Ausgewählte Publikationen: Das Gedächtnis. Eine quantenmecha­
nisehe Untersuchung, 1948; Notes on an Epistemology for Living
Things, 1972; Giving with a Purpose: The Cybernetics of Philan­
thropy, 1974; The Needs of Perception for the Perception of
Needs, 1975; Observing Systems, 1982; Sicht und Einsicht. Versu­
che zu einer operativen Erkenntnistheorie, 1985.

MICHEL FOUCAULT (1926-1984) war Direktor des Instituts fran�is


in Stockholm, Warschau und Hamburg, dann Professor für Philoso­
phie in Clermont und Tunis, seit 1970 Professor für Geschichte der
Denksysteme am College de France in Paris, veröffentlichte seit
1954 Arbeiten über Psychologie und Geisteskrankheit, die Ge­
schichte des Wahnsinns, der Klinik, des Gefängnisses und der Se­
xualität, über Ordnung der Diskurse . . . Er war einer der Begründer
der Gruppen "Gefängnis-Information" und "Gesundheits-Informa­
tion".
Ausgewählte Werke: Folie et deraison. Histoire de la folie a l'age

471
classique. 1961 (Wahnsinn und Gesellschaft, 1 979); Naissance de la
clinique, 1966 (Die Gebun der Klinik, 1973); Les Mots et les cho­
ses, 1966 (Die Ordnung der Dinge, 1971); L'Archeologie du savoir,
1969 (Archäologie des Wissens, 1973); L'Ordre du discours, 1971
(Die Ordnung des Diskurses, 1974); Surveiller et punir. Naissance
de la prison, 1975 (Überwachen und Strafen. Die Gebun des Ge­
fängnisses, 1976); La volonte de savoir. Histoire de la sexualite 1,
1976 (Sexualität und Wahrheit. Der Wille zum Wissen, 1977);
L'Usage des plaisirs. Histoire de la sexualite 11, 1984 (Der Ge­
brauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit 11, 1986); Le Souci de
soL Histoire de la sexualite III, 1984 (Die Sorge um sich. Sexualität
und Wahrheit III, 1986); Mikrophysik der Macht, 1976, Dispositive
der Macht, 1978; Von der Freundschaft, 1984; Vom Licht des Krie­
ges zur Gebun der Geschichte, 1986.

FELIX GUAITARI, geboren 1929. Schüler von Jacques Lacan, arbeitet


in der Klinik .De la Borde" bei Paris. Psychoanalytiker, Linguist
und Animateur.
Ausgewählte Publikationen: Psychanalyse et transversalite, 1974;
(dt. teilweise: Psychotherapie, Politik und die Aufgaben der institu­
tionellen Analyse, 1976); Mikro-Politik des Wunsches, 1977; La Re­
volution moll:culaire, 1977; L'inconscient machinique. Essais de
schizo-analyse, 1979; Canographies schizoanalytiques, 1989, Les
trois ecologies, 1989 (vgl. auch Gilles Deleuze und Felix Guat­
tari).

SHUHEI HOSOKAWA, geboren 1955 in Osaka, studiene Biologie und


Musikwissenschaft, war Stipendiat in Zagreb und Bologna, publi­
ziene Essais in japanischen, italienischen und französischen Zeit­
schriften, Redakteur der Zeitschrift .G(aia) S(cienza)", Tokio.
Veröffentlichungen auf japanisch:
Semiotik der Musik, 1981; Rhetorik des Walkman, 1981; Trans-Ita­
lia Express, 1985; Der Ball ist rund, 1987. Zusammen mit Ryuicki
Sakamoto: 11 Futurismo 2009, 1986.

FELIX PHILIPP INGOLD, geboren 1942 in Basel.


Schriftsteller, Übersetzer, Kritiker; lehn an der Eidgenössischen
Technischen Hochschule (Zürich) und an der Hochschule für Win­
schafts- und Sozialwissenschaften (St. Gallen). Wissenschaftliche
und publizistische Arbeiten zur Kultur- und Geistesgeschichte
Rußlands, zu den künstlerischen Avantgarden Osteuropas, zur
französischen und russischen Gegenwansliteratur. Übersetzer von
Ossip Mandelstarn, Marina Zwetajewa, joseph Brodsky, Gennadij
Ajgi, Francis Ponge, Edmond jabes u.a.
Ausgewählte Publikationen: Literatur und Aviatik, 1980; Leben

472
Lamberts, 1980; Dostojewski, 1981; Unzeit, 1982; Haupts Werk
Das Leben, 1984; Fremdsprache, 1984; Mit andern Worten, 1985;
Das Buch der Sprüche, 1987; Letzte Liebe, 1987; Das Buch im
Buch, 1988.

LUCE IRIGARAY, geboren in Blaton (Belgien), hat an der Universität


Leuwen im Fach Philosophie promoviert, anschließend in Paris
Studium der Psychologie, speziell Psychopathologie, Habilitation
1974. Arbeitet gegenwärtig am nationalen Forschungszentrum
(CNRS) in Paris. Als Psychoanalytikerin war sie Mitglied der Ecole
Freudienne de Paris.
Ausgewählte Publikationen: Le langage des elements, 1979; Specu­
lum, de l'autre femme, 1974 (Speculum. Spiegel des anderen Ge­
schlechts, 1980); Ce sexe que n'en est pas un, 1977 (Das Ge­
schlecht, das nicht eins ist, 1979); Et l'une ne bouge pas sans
l'autre, 1979; Amante marine. De Friedrich Nietzsche, 1980; Pas­
sions elementaire, 1982; L'oubli de l'air, 1983; Etique de la diffe­
rence sexuelle, 1984 (Ethik der sexuellen Differenz, 1989); Parler
n'est jamais neutre, 1985; Fünf Texte zur Geschlechtsdifferenz,
1989; Genealogie der Geschlechter, 1989.

FRIEDRICH KIITLER, geboren 1945 in Leipzig, Gennanist, Professor


für Neu-Germanistik an der Ruhr-Universität Bochum. Betreibt
eine t�hnologische Fundierung der Literaturwissenschaft, insbe.­
sondett"'1linsichtlich der Rückwirkungen vielfältiger Aufzeichnungs­
systeme auf kognitive Vorgänge. Mitglied des von Jacques Derrida
begründeten Pariser College International de philosophie.
Publikationen: Urszenen, 1977 (zus. mit H. Turk. Eine Kritik des
Idealismus der deutschen Geistesgeschichte); Austreibung des Gei­
stes aus den Geisteswissenschaften, 1980 (Hrsg.); Grammophon
Film Typewriter, 1986; Aufschreibesysteme 180011900, 1987; Alan
Turing. Intelligence Service. Schriften, 1987 (hrsg. zusammen mit
Bernhard Dotzler).

JEAN-FRAN<;:OIS LYOTARD, geboren 1924 in Versailles, war Professor


für Philosophie u. a. in Conslantine, an der Sorbonne, in Nanterre
und an der Universität Paris-Vincennes. Zeitweiliger Direktor des
.College International de Philosophie", gehörte zur Gruppe "Socia­
lisme ou barbarie" und war Mitarbeiter der Zeitschrift .Voix ouv­
riere".
Ausgewählte Publikationen: Discours, figure, 1971; Derive ä partir
de Marx et Freud, 1973; Economie libidinale, 1974 (Ökonomie des
Wunsches, 1984) ; Les Transfonnateurs Duchamp, 1977 (Die
TRANSformatoren DUCHAMP, 1986); La condition postmoderne,
1979 (Das postmoderne Wissen, 1982); Le Differend, 1983 (Der

473
Widerstreit, 1987); Toumbeau de I'intellectuel et autres papiers,
1984 (Grabmal des Intellektuellen, 1985); L'enthousiasme. La criti­
que cantienne de l'histoire, 1986 (Der Enthusiasmus, Kants Kritik
der Geschichte, 1989); Heidegger et .. les juifs", 1988 (Heidegger
und .. die Juden", 1989); Das Patchwork der Minderheiten, 1977; In­
tensitäten, 1978; Apathie in der Theorie, 1979; Essais zu einer affir­
mativen Ästhetik, 1982; Immaterialität und Postmoderne, 1985;
Philosophie und Malerei im Zeitalter ihres Experimentierens,
1986; Über Daniei Buren, 1987.

WALTER SEITTER, geboren 1941 in St. Johann in Engstetten, stu­


dierte Philosophie, Kunstgeschichte und Politologie in Salzburg,
München und Paris. Übersetzer u. a. von Michel Foucault, Heraus­
geber von ..Tumult. Zeitschrift für Verkehrswissenschaft", lebt als
Analytiker in Wien.
Publikationen: Der große Durchblick. Unternehmensanalysen,
1983; Jacques Lacan und, 1984; Menschenfassungen. Studien zur
Erkenntnispolitik Wissenschaft, 1985; Das politische Wissen im
Nibelungenlied, 1988; Versprechen, versagen, 1990.

PAUL VIRILIO, geboren 1932 in Paris, Architekt und Urbanist, Theo­


retiker der Geschwindigkeit, Begründer einer Wissenschaft, die er
Dromologie nennt und in der sich Technikgeschichte, Kriegsstrate­
gie, Urbanistik, Ästhetik, Physik und Metaphysik überlagern. Spek­
takulär wurde 1976 seine Ausstellung .Bunker-Archeologie" im Pa­
riser Centre Georges Pompidou. Er ist Leiter der Ecole Speciale
d'Architecture in Paris, war Redaktionsmitglied von .Traverses·
und Mitarbeiter von ..Liberation".
Ausgewählte Publikationen: Vitesse et politique, 1977 (Geschwin­
digkeit und Politik, 1980); Defense populaire et luttes ecologiques,
1978; Esthetique de disparition, 1980 (Ästhetik des Verschwin­
dens, 1986); L'horizon negatif. Essai de dromoscopie, 1984 (Der
negative Horizont, Bewegung - Geschwindigkeit - Beschleuni­
gung, 1989); Logistique de la perception, 1984 (Krieg und Kino.
Logistik der Wahrnehmung, 1986); L'espace critique, Essai, 1984;
La machine de vision, 1988, Die Sehmaschine, 1989; Fahren, fah­
ren, fahren, 1978; Der reine Krieg. Gespräche mit Sylvere Lotrin­
ger, 1984; Das öffentliche Bild, 1987.

ROBERT WILSON, geboren 1944 in Texas, lebt in New York. Wurde


hauptsächlich als Theaterautor und Regisseur bekannt. Er ent­
kommt allen Klassifizierungsversuchen durch eine reiche Produk­
tion von Gemälden, Skulpturen, Filmen, Schriften und individuel­
len Performances. Die Ausdrucksstärke seiner Arbeit bezieht sich
auf die marginalen Quellen der Sprachen, die er ebenso in der All-

474
tagswelt wie in der Welt der bildenden Kunst findet. Seit CIVIL
warS intensive Zusammenarbeit mit Heiner Müller.
Ausgewählte Inszenierungen: The Ufe and Time of Sigmund
Freud. 1969; Deafman Glance. 1970; The Ufe and Times ofJoseph
Stalin. 1973; Einstein on the Beach (Oper mit Philipp Glass) 1976;
Death. Destruction & Detroit I. 1979; Edison. 1979; Medea. 1981;
Die goldenen Fenster. 1982; CIVlL warS. 1983/84; Death. Destruc­
tion & Detroit 11. 1987; The Forest. 1988; Orlando. 1989.
Quellenverzeichnis

Der maskierte Philosoph, zuerst erschienen unter dem Titel "Le


philosophe masque" in: Le Monde, 6. 4. 1980. Dt. in: "Solo", Eine
Zeitschrift, Berlin 1981, hier abgedruckt nach Von der Freundschaft·
Michel Foucault im Gespräch, Berlin 1985.
Hannes Böhringer, Attention im Clair-obscure: Die Avantgarde,
zuerst erschienen in: d. i., Begrifftfelder. Von der PhiloJophie zur KUnJt,
Berlin 1985.
Michel Foucault, Andere Räume, Typoskript eines Vonrages am
Cercle d'Etudes Architecturales, Paris, 14. März 1967. Dt. in: Idee
Prozeß ErgebniJ, Berlin 1987. © Senator für Bau- und Wohnungswe­
sen. Berlin (West) 1984.
Paul Virilio, Fahrzeug. zuerst erschienen unter dem Titel "Vehicu­
laire" in: NomadeJ et Vagabonds, Cause commune 2/1975. Paris
1975. Dt. in: d. i., Fahren, fahren, fahren . . . , Berlin 1978. © P.
Virilio.
Technik der Fragmentierung, zuerst erschienen als 4. Gespräch in:
Paul Virilio - Sylvere Lotringer, Pure War, New York 1983. Dt. in:
d. i., Der reine Krieg, Berlin 1984. © 1983 Semiotext(e) and Paul Vi­
rilio.
Paul Virilio, Metempsychose des Passagiers, zuerst erschienen un­
ter dem Titel "Metempsychose du passager" in: TraverJeJ,
Nr. 8/1977. Dt. in: d. i., Fahren, fahren, fahren . . . , Berlin 1978. ©
P. Virilio.
Helene Cixous, Geschlecht oder Kopf?, zuerst erschienen unter
dem Titel "Le sexe ou la tete", in: LeJ CahierJ du GRIF Nr. 13, Okto­
ber 1976. Dt. in: d. i., Die unendliche Zirkulation deJ BegehrenJ, Berlin
1977. © HeJene Cixous.
Luce Irigaray, Macht des Diskurses/Unterordnung des Weiblichen,
zuerst erschienen in: d. i., Ce Jexe qui n'en paJ un, Paris 1977. Dt. in:
d. i., DaJ GeJchlecht, da! nicht ein! iJt, Berlin 1979. © Les Editions de
Minuit.
Jean-Fran�ois Lyotard, Ein Einsatz in den Kämpfen der Frauen, zu­
erst erschienen italienisch in: Annuario 1975 Eventi del 1 976, LA
-

Biennale di Vinezia, Archivo Storico delle ani contemporanee (Über­


setzung nach franz. Manuskript). Dt. in: d. i., DaJ Patchwork der
Minderheiten, Berlin 1977. © J. F. Lyotard.
Sexualisierung im Umbruch, zuerst erschienen unter dem Titel
"Une sexualisation en rupture" in: LA Quinzaine lilteraire Nr. 215,
Paris August 1975. Dt. in: Felix Guattari, Mikropolitik deJ WUn!cheJ,
Berlin 1977.
Paul Virilio, Der Film leitet ein neues Zeitalter der Menschheit ein,
zuerst erschienen in: d. i., EJthitique de Ia diJparition als Kapitel 2,

476
Paris 1980. Dt. in: d. i., Ästhetik. deJ VerJchwindmr, Berlin 1986. ©
Editions Balland.
Friedrich Kitder, Fiktion und Simulation, gehalten als Vonrag auE
dem Symposion "Philosophien der neuen Technologie", Linz, Sep­
tember 1988; als Publikation, Berlin 1989.
Jean Baudrillard, Kool Killer oder Der Aufstand der Zeichen, zu­
erst erschienen unter dem Titel "Kool Killer ou l'insurrection par
les signes" in: Interjmncel Nr. 3/1975. Dt. in: d. i., Kool KiJJer oder
Der Aufstand der Zeichen, BerIin 1978. © J. Baudrillard.
Shuhei Hosokawa, Der Walkman-Effekt, zuerst erschienen unter
dem Titel "The Walkman-Elfect" in: Popular mUJic Nr. 4/1984. Dt.
als Publikation Berlin 1987 (redaktionell überarbeitete Überset­
zung). © S. Hosokawa.
Jean Baudrillard, Videowelt und fraktales Subjekt, gehalten als Vor­
trag auf dem Symposion "Philosophien der neuen Technologie",
s. o.
Paul Virilio, Das letzte Fahrzeug, zuerst erschienen unter dem Ti­
tel "Le demier vehicule" in: La viJJe inquiite, Le temps de la refle­
xion VIII/1987, Editions Gallimard, Paris 1987. © P. Virilio © Re­
clam-VerIag Leipzig für die deutsche Fassung.
Gilles Deleuze, Spinoza und wir, zuerst auszugsweise erschienen
in: R8vue de IJIntheJe, Paris Januar 1978, dann in: d. i., Spinoza - Philo­
Jophie pratique, Paris 1981. Dt. in: d. i., Spinoza. Praktische PhiloJophie,
BerIin 1988. © Les Editions de Minuit.
Felix Philipp Ingold, Das Buch, zuerst erschienen als Rezension
zu: Stephane MaIlarme, Ecrits sur le livre, Paris 1986, in: Neue Zür­
cher Zeitung, 5./6. 9. 1987, hier abgedruckt nach d. i., DaJ Buch im
Buch, Berlin 1988.
Michel de Ceneau, Die Lektüre: Eine verkannte Tätigkeit, zuerst
erschienen in: d. i., L'invention du quotidien 1, Am defaire, Paris 1980.
Dt. in: d. i., Kunst deJ Handelns, Berlin 1988. Der Text folgt der
leicht verändenen Fassung aus STOPART. Ein Magazin, Berlin
und Zürich 1987. © Union Generale d'Editions.
Roland Banhes, Die Rauheit der Stimme, zuerst erschienen unter
dem Titel "Le grain de la voix· in: MUJique en jeu Nr. 9/1972., Dt. in:
d. i., Was Jingt mir, der ich höre in meinem Körper daJ Lied, Berlin
1979.
Daniel Charles, Jenseits der Aleatorik, zuerst erschienen unter dem
Titel "Au-delä de I'alea" in; Traverm Nr. 24/Paris 1982. Dt. in: d. i.,
MUJik. und Vergmen, BerIin 1984. © D. Charles.
Daniel CharIes, John Cage, zuerst erschienen in: d. i., GloJeJ JurJohn
Cage, Paris 1978. Dt. in: d. i., John Gage oder die MuJik. ist IoJ, Berlin
1979. © Union General d'Editions.
Roland Banhes, Abends im Palace, zuerst erschienen unter dem Ti­
tel "Au Palace ce soir" in: Vogue-Hommel Nr. 10/1978, dann in: d. i.,

477
Inddents, Paris 1987. Deutsche Erstveröffentlichung. © Editions du
Seuil. © Reclam-Verlag Leipzig für die deutsche Fassung.
Jean Frano;:ois Lyotard, Der Augenblick, Newman, zuerst erschie­
nen unter dem Titel "L'instant, Newman" im Ausstellungskatalog
des Palais des Beaux Arts, Brüssel 1984. Dt. in: M. Baudson (Hrsg.),
Zeit. Die vierte Dimension in der Kunst, Weinheim 1985; hier abge­
druckt nach: J.-F. Lyotard, Philosophie und Malerei im Zeitalter ihm
Experimentierens, Berlin 1986. © J.-F. Lyotard.
Roben Wilson, Über "Video 50", erschienen in: Communication Vi­
deo Nr. 48, Paris 1988. Deutsche Erstveröffentlichung. © R. Wil­
son. © Reclam-Verlag Leipzig für die deutsche Fassung.
Es gibt eine Sprache, die universell ist. Ein Gespräch, zuerst er­
schienen unter dem Titel "Interview" in: Semiotext(e) Nr. 2, New
York 1978. Dt. in: Sylvere Lotringer, New Yorker Gespräche, Berlin
1983. © Semiotext(e) und Roben Wilson.
Gilles Deleuze, Ein Manifest weniger, zuerst erschienen unter dem
Titel "Un manifesto di meno" in: Carmelo BenelGilles Deleuze,
Sovrapposizioni, Milano 1978. Dt. in: d. i., Kleine Schriften, Berlin
1980. © Giangiacomo Feltrinelli Editore S. A.
Michel Foucault, Der Ariadnefaden ist gerissen, zuerst erschienen
unter dem Titel "Ariane s'est pendue" in: Le Nouvel Observateur
Nr. 229/Paris 1969. Dt. in: Gilles Deleuze/Michel Foucault, Der Fa­
den ist geriuen, Berlin 1977.
Michel Foucault, Der "Anti-Ödipus" - Eine Einführung in eine
neue Lebenskunst, zuerst erschienen als Vorwon zur amerikani­
schen Ausgabe des "Anti-Ödipus" von Gilles Deleuze und Felix
Guattari, New York 1977. Dt. in: Michel Foucault, Dispositive der
Macht, Berlin 1978.
Walter Seitter, Zur Ökologie der Destruktion, zuerst erschienen in:
Metropolis, Berlin 1979, hier abgedruckt nach: d. i., Der große Durch­
blick, Berlin 1983.
Heinz von Foerster, Wahrnehmen wahrnehmen, gehalten als Vor­
trag auf dem Symposion "Philosophien der neuen Technologie",
s. o.

© Wo nicht anders angegeben, liegen die deutschsprachigen


Rechte beim Merve Verlag Berlin (West).
Die Künstlenprüche stellte uns freundlicherweise der Gebrüder Kö­
nig Postkanenverlag in Köln für dieses Projekt zur Verfügung. Die
Serie 44 "Sprüche von Künstlern" und 3 Sprüche von Picasso stam­
men aus der Serie 140 "Picasso im 2. Weltkrieg".
Inhalt

Statt einer Einleitung . . . . . . . . . 5


'

Der maskiene Philosoph. Gespräch mit Christian


Delacampagne . . . . . . . . . . . . . . . .
, 5
Hannes Böhringer, Attention im Clair-obscur:
Die Avantgarde . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
RÄUME - Z EITEN / V E R K E H R - B EWE G U N G
Michel Foucault, Andere Räume . . . . . . . . . . . . . . 34
Paul Virilio, Fahrzeug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47
Technik und Fragmentierung, Paul Virilio im Gespräch
mit Sylvere Lotringer . . . . . . . . . . . . 71
Paul Virilio, Metempsychose des Passagiers . . . . . . . 83
MÄN N L I C H / WE I B L I C H
Helene Cixous, Geschlecht oder Kopf? . . . . . . . . . . 98
Luce Irigaray, Macht des Diskurses / Unterordnung des
Weiblichen. Ein Gespräch . . . . . . . . . . . . . . 123
Jean-Fran�ois Lyotard, Ein Einsatz in den Kämpfen
der Frauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1( .. 142
Sexualisierung im Umbruch, Felix Guattari im Gespräch'
mit Christian Descamps . . . . . . . . . . . . . . . 157
MEDIEN / SIMULACREN
Paul Virilio, Der Film leitet ein neues Zeitalter der
Menschheit ein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166
Friedrich Kittler, Fiktion und Simulation . . . . . . . 196
Jean Baudrillard, Kool Killer oder Der Aufstand der Zeichen 2 14
Shuhei Hosokawa, Der Walkman-Effekt . . . . . 229
Jean Baudrillard, Videowelt und fraktales Subjekt . . . . 252
Paul Virilio, Das letzte Fahrzeug . . . . . . . . . . . . . 265
K U N S T / A V A NT G A R D E / LE B E N S KU N S T
Gilles Deleuze, Spinoza und wir . . . . . . . . . . . . . . 278
Felix Phillipp Ingold, Das Buch . . . . . . . . . . . . . . 289
Michel de Certeau, Die Lektüre: eine verkannte Tätigkeit . 295
Roland Banhes, Die Rauheit der Stimme . . . . . . . . . 299
Daniel Charles, Au-deU de I'alea. Jenseits der Aleatorik . 310
Daniel Charles, John Cage . . . . . . . . . . . . . 336
Roland Banhes, Heute abend im Palace . . . . . . 354
Jean-Fran�ois Lyotard, Der Augenblick, Newman 358
Roben Wilson"Video 50' . . . . . . . . . . . . . 370
Es gibt eine Sprache, die universell ist. Sylvere Lotringer
im Gespräch mit Bob Wilson . . . . . . . . . . . . . . . 372

479
Gilles Deleuze, Ein Manifest weniger . . . . . . 379
Michel Foucault, Der Ariadnefaden ist gerissen 406
Walter Seitter, Zur Ökologie der Destruktion . 411
Michel Foucault, Der "Anti-Ödipus" - Eine Einführung
in eine neue Lebenskunst . . . . . . . . . .
. 429
Heinz von Foerster, Wahrnehmen wahrnehmen . . . . . . 434

ANHANG
Statt eines Nachwortes 445
Zu den Autoren . . 469
Quellenverzeichnis 476

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