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Wahrnehmung heute
oder Perspektiven
einer anderen Ästhetik
Reclam Leipzig
AISTHESIS
W A H R N E HMU N G H E U T E
Reclam
~
K U NSTWI S SENS CHAFTE N
AISTHESIS
Wahrnehmung heute
oder
Perspektiven einer
anderen A"sthetik
Essais
1990
ISBN 3-379-00607-6
Reclam-Bibliothek Band 13 52
1. Auflage
Umschlaggrafik: Jochen Stankowski, Köln
Lizenz Nr. 363. 340/106/90 . LSV 8101 Vbg. 27,9
.
Gestalten Sie mir zunächst, Sie zu fragen, warum Sie sich entschie
den haben, anonym zu bleiben?
Würden Sie sagen, daß die Intellektuellen heute zu viel reden? Daß
sie uns mit ihren Diskursen bei jeder passenden und unpauenden
Gelegenheit überschütten?
WaJ hat Sie aiJo dazu gebracht, Jieh hinter der Anonymität zu ver
Jchanzen? Daß PhiloJophen ihren Namen zu einem Markenartikel
machen oder machen laJJen?
7
Aber erwartet das Publikum nicht von der Kritik, daß sie ihm ge
naue Einschätzungen gibt über den Wert eines Werkes?
Glauben Sie nicht auch, daß es unserer Zeit in der Tat an Geistern
und großen Schriftstellern fehlt, die aufder Höhe ihrer Probleme wä
ren?
9
Nein, ich glaube nicht an die alte Leier von der Dekadenz,
vom Mangel an Schriftstellern, von der Sterilität des Den
kens, von dem verhangenen und düsteren Horizont. Ich
glaube im Gegenteil, daß es eine Überfülle gibt. Und daß
wir nicht an einer Leere leiden, sondern daran, daß es zu
wenig Mittel gibt, um all das zu denken, was geschieht. Und
dies in einer Zeit, in der es einen Überfluß an Dingen gibt,
die man wissen will: wesentliche und schreckliche, wunder
bare, ulkige, winzig kleine und ausschlaggebende, alles
gleichzeitig. Und außerdem gibt es eine gewaltige Wißbe
gierde, ein Bedürfnis oder einen Wunsch nach Wissen. Man
beklagt sich immer, daß die Medien die Leute manipulieren.
Etwas Menschenverachtung steckt in dieser Vorstellung.
Demgegenüber glaube ich, daß die Leute reagieren; je mehr
man sie überzeugen will, desto mehr stellen sie sich Fragen.
Der Geist ist nicht weich wie Wachs. Er ist eine reaktive
Substanz. Und der Wunsch, mehr und besser und anderes zu
wissen, wächst in dem Maße, wie man die Schädel vollstopft.
Ich kiinnte mir vorstellen, daß aufdieser Ebene Medien und Univer
sität, statt weiterhin gegeneinanderwarbeiten, dahin kommen könn
ten, komplementäre Rollen 'l.U spielen.
11t dimr WimnJdurJt nkht zweideutig? WaJ Jollen die Leute denn
J(hließlich mit all dem Wimn machen, daJ Jie bekommen? WaJ kön
nen Jie damit anfangen?
Ich sage, daß der Anschluß der Leute an die Kultur nicht
aufhören darf und so polymorph als möglich sein soll. Es
sollte nicht einerseits jene Bildung geben, die man erfährt,
und andererseits jene Information, der man ausgeliefert
ist.
WaJ wird in dimr GmllIchajt der Kenner aUJ der ewigen PhiloJo
phie? Braucht man Jie noch, Jie und ihre Fragen ohne Antwort und
ihr Schweigen angnichtJ dn Unerkennbaren?
Die Philosophie, was ist sie, wenn nicht eine Weise, nicht
so sehr über das was wahr oder falsch ist zu reflektieren als
über unser Verhältnis zur Wahrheit. Man beklagt sich
manchmal, daß es in Frankreich keine herrschende Philoso
phie gibt. Umso besser. Keine souveräne Philosophie, das
stimmt; aber immerhin eine Philosophie oder besser: Philo
sophie als Aktivität. Denn Philosophie ist eine Bewegung,
mit deren Hilfe man sich nicht ohne Anstrengung und ZÖ-
12
gern, nicht ohne Träume und Illusionen von dem freimacht,
was für wahr gilt, und nach anderen Spielregeln sucht. Phi
losophie ist jene Verschiebung und Transformation der
Denkrahmen, die Modifizierung etablierter Werte und all
der Arbeit, die gemacht wird, um anders zu denken, um an
deres zu machen und anders zu werden als man ist. Unter
diesem Gesichtspunkt waren die letzten dreißig Jahre eine
Zeit intensiver philosophischer Aktivität. Die Interferenz
zwischen der Analyse, der Forschung, der "wissenschaftli
chen" bzw. "theoretischen" Kritik und den Veränderungen
im Verhalten, im wirklichen Verhalten der Leute, in ihrer
Art und Weise zu sein, in ihrem Verhältnis zu sich selbst
und anderen ist bemerkenswert und war stets vorhanden.
Ich sagte eben, daß die Philosophie eine Weise war, über
unsere Beziehung zur Wahrheit zu reflektieren. Das muß
vervollständigt werden; sie ist eine Weise sich folgendes zu
fragen: wenn dies das Verhältnis ist, was wir zur Wahrheit
haben, wie müssen wir uns verhalten? Ich glaube, daß ge
genwärtig und von jeher eine bemerkenswerte und vielfäl
tige Arbeit geleistet wird, die gleichzeitig unser Verhältnis
zur Wahrheit und unsere Verhaltensweisen verändert. Und
zwar verbinden sich dabei eine Reihe von Forschungen und
ein Ensemble von sozialen Bewegungen auf komplexe
Weise miteinander. Das ist das Leben der Philosophie
selbst.
Man versteht, daß einige über die gegenwärtige Leere jam
mern und wünschen, daß es in der Ordnung der Ideen ein
wenig Monarchie gäbe. Aber die, die einmal in ihrem Le
ben einen neuen Ton, eine neue Weise zu blicken, eine an
dere Art zu tun gefunden haben, sie, so glaube ich, werden
niemals das Bedürfnis verspüren zu (be)jammern, daß die
Welt ein Irrtum und die Geschichte vollgestopft von Nicht
Existenzen ist und daß es Zeit sei, daß die anderen ver
stummen, um - endlich - die Glocke ihrer Verdammung
zu hören . . .
Die Kunst der Avantgarde besteht darin, die Mitte von Dif
ferenz und Indifferenz zu treffen. Von ihren Aufklärungs
satelliten aus ist mit unbewaffnetem Auge nichts mehr zu
erkennen. Die Beobachtung wird mit Hilfe von Apparaten
künstlich erzeugt. Mit ihr experimentien die Avantgarde in
Versuchsreihen: Wahrnehmungen werden auseinanderge
nommen und probe halber wieder zusammengesetzt. Große
Entfernung wie auch extreme Annäherung, Teleskopie und
Mikroskopie relativieren den gewöhnlichen Blick, legen
den Herstellungscharakter der Wahrnehmung, das Poieti
sche der aisthesis bloß und verflüssigen ihre Unterschei
dungen.
Die Kunst ist eine Kunst des Unterscheidens. Eine neue
Kunst macht neue Unterschiede sichtbar, analysien und re
lativien alte und veränden dadurch zugleich die Unter
scheidung zwischen Kunst und Nichtkunst, den Wahrneh
mungshorizont des sozialen Systems Kunst, ihre .. System/
U mwelt-Differenz".
22
Wenn nun die Avantgarde die Mitte von Differenz und In
differenz trifft, dann gelingt es ihr, in der Unterscheidung
ihre Willkürlichkeit, ihren Reduktionismus und Herstel
lungscharakter zu reflektieren und zum Ausdruck zu brin
gen. Die Kontur ihrer Zeichnung gewinnt einen fast un
merklichen Hof. Die Reflexion des Komplexitätsgefälles
kann den verlorenen Reichtum als Vieldeutigkeit, kalkulier
te Unschärfe am Rande, als mitschwingende Irritation der in
neren Ordnung indirekt wieder aufbauen. So gewinnt die Un
terscheidung ein Ich-weiß-nicht-Was, ein presque rien10, wel
ches das, was sie unterscheidet, nicht ausschließt. Durch Zu
nahme an diffusem Licht, an Helldunkel, gewinnt sie an Dif
ferenzierung. Diese differenziene Unterscheidung ist Dis
kretion, Bescheidenheit gegenüber der Komplexität.ll
In der Bildung von Avantgarden gewinnt die Kunst die
Selbstdistanz zur differenzienen Selbstbeobachtung, zur
Beobachtung ihrer System/Umwelt-Differenz. Zwischen
der Kunst und ihrer Umwelt, d. h. zwischen Kunst und le
ben aber muß Diskretion herrschen. Die Kunst braucht die
Differenz und die Indifferenz gegenüber dem Leben. Erst
durch Ausdifferenzierung gewinnt sie die Selbständigkeit
eines geschlossenen Kreises. In ihrer Geschlossenheit aber
benötigt sie die Transparenz der Umweltkomplexität. Im
Offenhalten der Grenzen zwischen Kunst und Leben
scheint die Lebenskraft des sozialen Systems zu liegen,
seine autopoietische Energie zur fonwährenden Selbster
neuerung.
Die Avantgarde akkumulien in ihrer Kapsel einen Reich
tum und Mehrwen der Anikulation. Von ihm zehn die
Kommunikation im sozialen System, bis er im Betrieb zer
redet, die Transparenz seiner System/Umwelt-Diskretion
einbüßt. Spätestens dann muß die Anikulation erneuen
und eine neue Avantgarde aufgetrieben werden.
1 Carl von Clausewitz, Vom Kriege (1832) Bonn, 1973, S. 532 ff.
Jakob Meckel, Grundriß der Taktik., Berlin 1897, S. 207f.
2 L'Aniste, Ie Savant et I'Industrie] (1825), in: (Euvm de Sainl-Si
mon, vol. 10, Paris 1875 ( Reprintband 5, Paris 1966, S. 2 10).
=
31
S. 382ff. Karlfried Gründer, Acedia. Zum Potential eines ver
lorenen Begriffs . . . , in: Philosophische Tradition im Dialog mit der
Gegenwart. Festschrift für Hansjörg A. Salmony, BaseVBostoni
Stuttgan 1985, S. 87-95.
8 Einleitung zu dem Entwurf eines Systems der Naturphiloso
phie, in: Friedrich Wilhe1m Joseph Schelling: Schriften von
1 799-1801, Darmstadt 1982, S. 309.
9 Luhmann, So'Zia/e Systeme, a. a. o. S. 26.
10 Vladimir Jankelevitch, Le Je-ne-sais-quoi et /e Presquerien, 3 vol.,
Paris 1980.
11 Jean Cassien, De discretione (conlatio II), in: Jean Cassien:
ConfCrences I-VII, Paris 1955, S. 107ff. Baltasar Gracian, E/
Hiroe/E/ Discreto, Madrid 1958. Jost Trier, Der deUlJche Wortschatz
im Sinnbe'Zirk des Verstandes, Heidelberg 1973, S. 308ff.
12 Phi/olea/ia, Tomos E, Athen 1963, S. 8I.
13 Epiktet, Diatriben III 22; 23-25 u. 105.
14 Max Jähns, Geschichte der Kriegnviuenschaften, Bd. 1, München/
Leipzig 1889, S. 476 u. 719f.
15 Heinrich AppeI, Die Lehre der Scholastiker von der Synteresis, Ro
stock 189I.
16 Josef Bernhart, Die philosophische Mystik des Mittela/ter!, Mün
chen 1922, S. 70ff. Hans Hof, Seinti/Ia Animae. Eine Studie zu
einem Grundbegriff in Meister Eckhardts Philosophie, Lund/
Bonn 1952. Erich Köhler, Je ne sais quoi. Ein Kapitel aus der
Begriffsgeschichte des Unbegreiflichen, in: Romanistisches Jahr
buch 6 (1953/54), S. 21f.
17 Maximilian Forschner, Die stoische Ethik, Stuttgan 1981,
S. 205 ff. Hans Jonas, Plotins Tugendlehre: Analyse und Kritik,
in: Epime/eia. Die Sorge der Philosophie um den Menschen.
H. Kuhn zum 65. Geburtstag, München 1964, S. 143-173.
18 Oraculo manual y arte de prudencia, 13 (zitiert nach: Baltasar
Gracian, Handorake/ und die Kunst der We/tk/ugheit. Deutsch von
Anhur Schopenhauer, Stuttgart 1978, S. 5 f.). Hellrnut Jansen,
Die Grundbegriffe des Ba/war Graeian, Genf/Paris 1958.
19 Erwin Panofsky, Idea, Berlin 1960, S. 47f.
20 Bernard Teyssedre, Roger de Piles et Jes dibats sur /e c% ris au siecJe
de Louis XlV., Paris 1957, S. 473 ff. Heinrich Wölfflin, Kunstge
schichtliche Grundbegriffe, Basel/Stuttgan 1984, S. 33 ff. u.
229ff.
RÄUME - ZEITEN
VERKEHR - BEWEGUNG
M I C H E L F O U C A U LT
Andere Räume
Pablo Pieasso
wehrlose Orte; städtische und ländliche Orte: für das wirkli
che Leben der Menschen. Für die kosmologische Theorie
gab es die überhimmlischen Orte, die dem himmlischen
Ort entgegengesetzt waren; und der himmlische Ort setzte
sich seinerseits dem irdischen Ort entgegen. Es gab die
Orte, wo sich die Dinge befanden, weil sie anderswo ge
waltsam entfernt worden waren, und die Orte, wo die
Dinge ihre natürliche Lagerung und Ruhe fanden. Es war
diese Hierarchie, diese Entgegensetzung, diese Durchkreu
zung von Ortschaften, die konstituierten, was man grob den
mittelalterlichen Raum nennen könnte: Ortungsraum.
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Schlammes; es ist ein Raum, der fließt wie das Wasser; es ist
ein Raum, der fest und gefroren ist wie der Stein oder der
Kristall. Diese für die zeitgenössische Reflexion grundle
genden Analysen betreffen vor allem den Raum des Innen.
Ich möchte nun vom Raum des Außen sprechen.
Der Raum, in dem wir leben, durch den wir aus uns heraus
gezogen werden, in dem sich die Erosion unseres Lebens,
unserer Zeit und unserer Geschichte abspielt, dieser Raum,
der uns zernagt und auswäscht, ist selber auch ein heteroge
ner Raum. Anders gesagt: wir leben nicht in einer Leere, in
nerhalb derer man Individuen und Dinge einfach situieren
kann. Wir leben nicht innerhalb einer Leere, die nachträg
lich mit bunten Farben eingefärbt wird. Wir leben inner
halb einer Gemengelage von Beziehungen, die Plazierun
gen definieren, die nicht aufeinander zurückzuführen und
nicht miteinander zu vereinen sind. Gewiß könnte man die
Beschreibung dieser verschiedenen Plazierungen versu
chen, indem man das sie definierende Relationenensemble
aufsucht. So könnte man das Ensemble der Beziehungen
beschreiben, die die Verkehrsplätze definieren: die Straßen,
die Züge (ein Zug ist ein außerordentliches Beziehungs
bündel, denn er ist etwas, was man durchquen, etwas, wo
mit man von einem Punkt zum anderen gelangen kann, und
etwas, was selber passiert). Man könnte mit dem Bündel der
sie definierenden Relationen die provisorischen Halte
plätze definieren - die'! Cafes, die Kinos, die Strände. Man
könnte ebenfalls mit seinem Beziehungsnetz den geschlos
senen oder halbgeschlossenen Ruheplatz definieren, den
das Haus, das Zimmer, das Bett bilden . . . Aber was mich in
teressien, das sind unter allen diesen Plazierungen diejeni
gen, die die sonderbare Eigenschaft haben, sich auf alle an
deren Plazierungen zu beziehen, aber so, daß sie die von
diesen bezeichneten oder reflektienen Verhältnisse suspen
dieren, neutralisieren oder umkehren. Diese Räume, die
mit allen anderen in Verbindung stehen und dennoch allen
anderen Plazierungen widersprechen, gehören zwei großen
Typen an.
Es gibt zum einen die Utopien. Die Utopien sind die Pla
zierungen ohne wirklichen On: die Plazierungen, die mit
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dem wirklichen Raum der Gesellschaft ein Verhältnis unmit
telbarer oder umgekehrter Analogie unterhalten. Perfektio
nierung der Gesellschaft oder Kehrseite der Gesellschaft: j e
denfalls sind d i e Utopien wesentlich unwirkliche Räume.
39
eine Wissenschaft annehmen - nein, lassen wir das herun
tergekommene Wort, sagen wir: eine systematische Be
schreibung, deren Aufgabe in einer bestimmten Gesell
schaft das Studium, die Analyse, die Beschreibung, die
"Lektüre" (wie man j etzt gern sagt) dieser verschiedenen
Räume, dieser anderen Orte wäre: gewissermaßen eine zu
gleich mythische und reale Bestreitung des Raumes, in dem
wir leben; diese Beschreibung könnte Heterotopologie hei
ßen.
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lungsheime, die psychiatrischen Kliniken; das sind wohlge
merkt auch die Gefängnisse, und man müßte auch die
Altersheime dazu zählen, die an der Grenze zwischen der
Krisenheterotopie und der Abweichungsheterotopie liegen;
denn das Alter ist eine Krise, aber auch eine Abweichung,
da in unserer Gesellschaft, wo die Freiheit die Regel ist, der
Müßiggang eine Art Abweichung ist.
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daß der Leib auferstehen wird, muß man vielleicht dem
sterblichen Rest viel mehr Aufmerksamkeit schenken, der
schließlich die einzige Spur unserer Existenz inmitten der
Welt und der Worte ist. Jedenfalls hat seit dem 19. Jahrhun
dert j edermann ein Recht auf seinen kleinen Kasten für
seine kleine persönliche Verwesung; andererseits hat man
erst seit dem 19. Jahrhundert begonnen, die . Friedhöfe an
den äußeren Rand der Städte zu legen. Zusammen mit der
Individualisierung des Todes und mit der bürgerlichen An
eignung des Friedhofs ist die Angst vor dem Tod als
"Krankheit" entstanden. Es sind die Toten, so unterstellt
man, die den Lebenden die Krankheiten bringen, und es ist
die Gegenwart, die Nähe der Toten gleich neben den Häu
sern, gleich neben der Kirche, fast mitten auf der Straße, es
ist diese Nähe, die den Tod selber verbreitet. Das große
Thema der durch die Ansteckung der Friedhöfe verbreite
ten Krankheit hat das Ende des 18. Jahrhunderts geprägt;
und erst im Laufe des 19. Jahrhunderts hat man begonnen,
die Verlegung der Friedhöfe in die Vorstädte vorzuneh
men. Seither bilden die Friedhöfe nicht mehr den heiligen
und unsterblichen Bauch der Stadt, sondern die "andere
Stadt", wo jede Familie ihre schwarze Bleibe besitzt.
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des Gartens mußte sich in diesem Mikrokosmos verteilen.
Und die Teppiche waren ursprünglich Reproduktionen von
Gärten: der Garten ist ein Teppich, auf dem die ganze Welt
ihre symbolische Vollkommenheit erreicht, und der Tep
pich ist so etwas wie ein im Raum mobiler Garten. Der Gar
ten ist die kleinste Parzelle der Welt und darauf ist er die
Totalität der Welt. Der Garten ist seit dem ältesten Alter
tum eine selige und universalisierende Heterotopie (daher
unsere zoologischen Gärten).
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Gegenüber diesen Heterotopien, die an die Speicherung
der Zeit gebunden sind, gibt es Heterotopien, die im Ge
genteil an das Flüchtigste, an das Vorübergehendste, an das
Prekärste der Zeit geknüpft sind: in der Weise des Festes.
Das sind nicht mehr ewigkeitliche, sondern absolut chroni
sche Heterotopien. So die Festwiesen, diese wundersamen
leeren Plätze an Rand der Städte, die sich ein- oder zweimal
jährlich mit Baracken, Schaustellungen, heterogensten Ob
jekten, Kämpfern, Schlangenfrauen, Wahrsagerinnen usw.
bevölkern. Jüngst noch hat man eine neue chronische Hete
rotopie erfunden, es sind die Feriendörfer: diese polynesi
schen Dörfer, die den Bewohnern der Städte drei kurze
Wochen einer ursprünglichen und ewigen Nacktheit bie
ten. Sofern sich da zwei Heterotopien treffen, die des
Festes und die der Ewigkeit der sich akkumulierenden Zeit,
sind die Strohhütten von Djerba auch Verwandte der Bi
bliotheken und der Museen; denn indem man ins polynesi
sche Leben eintaucht, hebt man die Zeit auf; aber ebenso
findet die Zeit sich wieder, und die ganze Geschichte der
Menschheit steigt zu ihrer Quelle zurück wie in einem gro
ßen unmittelbaren Wissen.
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mern in den großen Pachthöfen Brasiliens oder überhaupt
Südamerikas. Die Eingangstür führte gerade nicht in die
Wohnung der Familie. Jeder Passant, jeder Reisende durfte
diese Tür öffnen, in die Kammer eintreten und darin eine
Nacht schlafen. Diese Kammern waren so, daß der An
kömmling niemals mit der Familie zusammenkam. So ein
Gast war kein Eingeladener, sondern nur ein Vorbeigänger.
Dieser Heterotopietyp, der in unseren Zivilisationen prak
tisch verschwunden ist, ließe sich vieHeicht in den Zim
mern der amerikanischen Motels wied erfinden, wo man mit
seinem Wagen und mit seiner Freundin einfährt und wo
die illegale Sexualität zugleich geschützt und versteckt ist:
ausgelagert, ohne ins Freie gesetzt zu sein.
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Kolleg, an der andern der Friedhof, und gegenüber der Kir
che öffnete sich eine Straße, die eine andere im rechten
Winkel kreuzte. Die Familien hatten jeweils ihre kleine
Hütte an diesen beiden Achsen, und so fand sich das Zei
chen Christi genau reproduziert. Die Christenheit mar
kierte so mit ihrem Grundzeichen den Raum und die Geo
graphie der amerikanischen Welt. Das tägliche Leben der
Individuen wurde nicht mit der Pfeife, sondern mit der
Glocke geregelt. Das Erwachen war für alle auf dieselbe
Stunde festgesetzt; die Arbeit begann für alle zur selben
Stunde; die Mahlzeiten waren um 12 und 5 Uhr; dann legte
man sich nieder, und zur Mitternacht gab es das, was man
das Ehewachen nannte, d. h. wenn die Glocke des Klosters
ertönte, erfüllte jeder seine Pflicht.
Wo sind wir. wenn wir reisen? Wo liegt dies "Land der Ge
schwindigkeit". das nie genau mit dem zusammenfällt. das
wir durchqueren? Die Frage der Bewegung wirft wieder die
des Wohnens auf. Wenn wir zum Taxifahrer sagen: "Fahren
Sie SO SCHNELL WIE MÖGLICH!". was wissen wir da
von der Geschwindigkeit des Taxis? IN GESCHWINDIG
KEIT. das ist so ähnlich wie IN CHINA. einer anderen Ge
gend. einem anderen Kontinent. den wir zu kennen vorge
ben.
Das Fahrzeug. das am Straßenrand steht. ist nichts als ein
Sofa mit vier oder fünf Plätzen . . . Wenn es nun startet und
mit voller Geschwindigkeit durch die Straßen der Stadt
fährt. wenn das Möbel verschwindet und seine Öffnungen
zu leben beginnen - wo sind wir da? In der Tat ist das Au
tomobil ein Projektor. ein Projektor. dessen Geschwindig
keit wir mit der Schaltung regeln. Doch was bedeutet das
Schalten. diese Veränderung der Geschwindigkeit. wenn
wir Sinn und Bedeutung der Geschwindigkeit überhaupt
nicht kennen? Wir gehen von einem Bewegungszustand
zum nächsten über. ohne uns darum zu kümmern. was sie
bedeuten; wir werden mitgenommen an ein Ziel. einen Ort.
werden an den Endpunkt unserer Strecke befördert. aber
das Hier und Jetzt der Geschwindigkeit und der Beschleu
nigung entgehen uns. obwohl sie schwersten Einfluß auf
das 'Bild der durchquerten Landschaft haben. denn zwi
schen zwanzig und zweihundert Stundenkilometern ist die
Bildes radikal verschieden.
Deutlichkeit des vorbeihuschenden
Doch der Begriff des Bildes. so wie er eben eingeführt
wurde. bedarf der Erläuterung. Wenn wir durch ein Feld
gehen. sprechen wir von einem FELD. wenn wir aber mit
dem Auto durch die Beauce. die Landschaft südwestlich
von Paris. fahren. werden die belebten Felder KINETISCH
und keiner würde sich einfallen lassen. diese "Sequenzen"
mit ihrer geographischen Realität zu verwechseln. Etwa so
wie die filmische Beschleunigung oder Verlangsamung eine
zweite Realität. die einer anderen Zeit. aufzeigt. so führen
uns die hohen Reisegeschwindigkeiten der modernen Fahr-
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zeuge, wie aus einer Stadt in eine andere, von einer Realität
in eine andere; in diesem Sinne ist das Automobil ein AU
TOKOMMUTATOR, ein Selbstschalter; der Motor des Au
tos und der des Projektors haben einen ähnlichen Effekt:
bei des sind Übertragungsmittel.
Obwohl der Fußgänger selber ein Fahrzeug ist, ein META
BOLISCHES FAHRZEUG mit eigenem Tempo, gibt es
eine Identität und Identifikation des Körpers mit seiner Ge
schwindigkeit; leben, LEBENDIG sein heißt Geschwindig
keit sein. Ich kenne meine Geschwindigkeit, so wie ich den
Körper kenne, der sie produziert. Auch mein lebendiger
Körper ist ein dauerndes Umschalten, ein Geschwindig
keitswechsel; mein Leben, meine Biographie, das alles sind
GESCHWINDIGKEITEN. Ich lebe in einer biologischen
und physiologischen Zeit, die nicht die einer Pflanze ist, ich
habe eine begrenzte Lebensdauer, nehme bestimmte Phäno
mene wahr, besitze die Fähigkeit mich zu bewegen - all das
bildet den Körper und die Begrenzung meines Lebens.
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Dem Nachen, der auf die Meere hinausführt, gibt die Was
serfläche, über die er rasch dahingleitet, eine eigentümliche
Macht: an diesem Nicht-Ort, auf See, gewinnt das Schiff
eine Vektor-Macht, die ebenso untrennbar mit der politi
schen Geschichte des Abendlandes verbunden ist. Diese
bei den Archetypen haben wir zu lange und zu leichtfertig
von ihren Wirkungen her als reine TRANSPORTEURE,
reine Übermittler, beurteilt, während ihr informativer Ge
halt weitgehend unbekannt geblieben ist. Und selbst nach
dem die Nachricht, die Botschaft, diese Luxusware uns da
hin gebracht hat, die Geschwindigkeit endlich als eine
Information anzusehen, ist die Analyse nicht bis zu dem
vorgedrungen, was den REITER und den SEEFAHRER
von Anfang an verbindet; zu lange haben die übertragenen
Botschaften und Weisungen die Geschwindigkeit der Über
tragung verdeckt.
Aber es gibt auch ein Phänomen von NÄHE, das hier ins
Auge gefaßt werden muß. Die Geschwindigkeit, mit der die
Objekte über den Bildschirm des Guckfensters wandern,
hängt auch vom Grad ihrer Nähe ab; je weiter das Flugzeug
sich vom Erdboden entfernt, um so langsamer zieht die
überflogene Landschaft vorbei; die Welt wird statisch. Die
mit sehr hoher Geschwindigkeit aufsteigende Maschine er
reicht einen Punkt, an dem aus der Entfernung alles stillzu
stehen scheint.
Für den Blick aus dem Fenster des Automobils scheint der
Vordergrund blitzschnell zu verschwinden, während der
Hintergrund nur langsam wegrückt. In der frühesten litera
rischen Behandlung der Geschwindigkeit! haben die Rei
senden ein Gespür für diese Magie und vergleichen häufig
den Zug mit einer LATERNA MAGICA, gleichsam als sei
die Dynamik der Phantasmagorie, dem Wahn verschwistert
(wie ehedem das Wasser) und die Statik der Vernunft.
In der Tat beginnt ein Umsturz in der Ordnung der Wahr
nehmung mit dem Aufkommen der Dampfkraft, wie Hugo
in "En voyage", bezeugt, wenn er schreibt: "Die Schnellig
keit ist unerhört, die Blumen am Wege sind keine Blumen
mehr, sondern Flecken oder eher noch rote und weiße Stri
che, KEINE PUNKTE MEHR, NUR NOCH STRICHE."
[Hervorh. P. V.]
49
Das spektakuläre Auftauchen der Linearität, der Geradlinig
keit mit der zunehmenden Geschwindigkeit der Fahrzeuge
bekräftigt die der großen Kommunikationswege, der römi
schen Straßen, Königsstraßen, Eisenbahnlinien, National
straßen und bald der Schnellstraßen und Autobahnen. Der
im Vordergrund vorbeihuschende Streifen spiegelt nur die
Geradlinigkeit oder richtiger die Begradigung wieder, die
die Landschaft durch die Eisenbahnlinie erfährt. So wie der
Kondensstreifen des Flugzeugs eine Luftstraße anzeigt, die
tatsächlich nur die FLUGBAHN DES JETS ist, so sind auch
die Straße oder die Schiene Flugbahnen, ist die Infrastruk
tur der Straßen oder Eisenbahnen ein FAHRZEUG, "stati
sches" Fahrzeug, auf das das "dynamische" Fahrzeug ange
wiesen ist, weil es ihm erlaubt, die mehr oder weniger
starken Unebenheiten der Erdoberfläche und die verschie
densten Hindernisse zu "überqueren". So wie die BRÜCKE
eine STRASSE ist, die den Fluß überquert, so ist die Straße
eine Brücke, die den Wald durchquert, lind alle Straßen Brtik
ken, Punkte, die zu Strichen geworden sind, Geraden, die endlos
weiterlaufen [la droite - die Rechte, die Gerade; Anm. d.
ü.].
Die allererste Funktion der GESCHWINDIGKEIT ist es
daher, den Sinn und die Bedeutung der Geraden und - was
weniger deutlich ist - des RECHTS und der Gerechtigkeit
festzulegen [le droit - das Recht; Anm. d. Ü.] .
Ein wenig wie bei j enem Architekten, für den die Gerade
und der rechte Winkel absolute Zeichen von Zivilisation
waren, die Geomorphologie aber das Urchaos, so hat offen
bar die Popularisierung, das heißt die angebliche Demokra
tisierung der hohen Geschwindigkeiten die starre Gerade
weit über alles Verschlungene gestellt, über die unheilvolle
Gestalt der sich windenden Schlange und die Kurve, die das
Tempo der Fahrt bremst und durch die Zentrifugalkraft ge
fährlicher macht; aB das läßt ein mythisches, ein mythologi
sches Klima auferstehen, in dem es wieder von Drachen,
Meeresschlangen und labyrinthischen Gängen wimmelt -
Gestalten einer durchquerten, durchfahrenen Welt.
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Fabeltieren zukam. Die wandelbare Geographie des Landes
der Geschwindigkeit tritt im letzten Jahrhundert in die Ge
schichte ein, um das Bestiarium dunkler Vorzeit wieder auf
leben zu lassen. Die Ordnung des ländlichen Lebens, die
Ruhe des Landes werden über den Haufen geworfen von
der industriellen Revolution, dem Bergwerk, der Fabrik,
und werden es künftig noch mehr durch die Revolution des
Transportwesens, das heißt den exponentiellen Anstieg der
Geschwindigkeit der Massenkommunikationsmittel. Tele
graf, Telefon, Radio und Fernsehen zeichnen sich schon im
Abteilfenster des Zuges oder im Heckfenster des Autos ab.
Was dort gegen den Horizont entschwindet, ist die erste
Realität, Raum und Gegenstand der Erfahrung, zugunsten
der der raschen Ortsveränderung, des Gespürs für die
Dinge und Stoffe, die zu Zeichen und Anweisungen wer
den. Wie Kafka voraussah, setzt der Reiz der hohen Ge
schwindigkeiten die Identität zugunsten der Konformität
herab: am Ende legen das Kino, die Kinetik, dem Auge eine
Uniform an. Die Einlinigkeit und Einförmigkeit begleiten
die Eroberung des neuen und letzten Kontinents, des Kon
tinents der Geschwindigkeit.
Wie Benjamin Gastineau in "La Vie en chemin de fer" prä
zisiert: "Vor der Erschaffung der Eisenbahn regte die Natur
sich nicht mehr . . . die Himmel selbst schienen unbeweglich.
Der Himmel ist eine
Die EiJenbahn hat alle! belebt, alle! bewegt.
lebendige Unendlichkeit geworden." [Hervorh. P. V.]
Die ganze Bewegung der modernen Physik, die 1916 zur
allgemeinen Relativitätstheorie führen wird, zeichnet sich
hier ab, aber es ist auch der unwiderrufliche Eintritt in ein
Universum reiner Gewalt, das von der atomaren Technik
entfesselt wurde. Nach der Gewalt in der Entwicklung der
Arten a la Darwin folgt jetzt die Zerstörung der Umwelt . . .
Wenn das Zugfenster eine Laterna magica ist, so läßt sie die
Schatten der Wissenschaft erscheinen. Auch das Auto ist
eine Dunkelkammer, die die Bestandteile unserer Alltags
welt zu bewegten Partikeln, zu Parabeln werden läßt. Wenn
die PÄDAGOGIK ursprünglich die Verbindung des Sinns
und des Fußmarsches in den Gärten Akademos' war, wenn
die langsame Annäherung einen sinnvollen Zusammenhang
zwischen den Elementen der durchschrittenen Welt stif
tete, so schieben die hohen Geschwindigkeiten die Bedeu-
51
tungen ineinander, bis sie sie schließlich ganz auflösen wie
das Licht die Farben auflöst. Doch dies Flimmern der Ge
schwindigkeit führt zum vorübergehenden Erblinden, zum
blinden Passagier. Die Reise wird zur Strategie der Verschiebung.
zum reinen Pro-jekt, zu einem Gleiten des Gefühls, des Takts
und der Taktik, von der Erfahrung zur strategischen
Übung. So kurz sie auch sein mag, die Fahrt von einem Ziel
zum anderen, von einer Stadt zur anderen wird zum bloßen
Unwohlsein des Wartens auf die Ankunft, die Weltreise
wird zur Herzbeschwerde. Dieses Unbehagen ähnelt einer
Desorientierung, bei der der Schwindel (der Streß) die er
sten Wirkungen einer Depersonalisierung anzeigt, an der
das Fortbewegungsmittel Schuld trägt.
Das Fahren erzeugt Übelkeit (See-, Luft-, Reisekrankheit),
so als schlüge das Zusammenschieben der Bedeutungen di
rekt auf den Magen, so als erzeugten visuelle und orale Auf
nahmen ein und dasselbe Phänomen von Lebensmittelver
giftung.
52
Revolution, so stellt man fest , daß sie logisch zu diesem Ex
trem führt; sie beginnt mit der Perfektionierung der großen
Fahrzeug-Archetypen: dem Dampfroß und dem Dampf
schiff, die aus der Welt einen "Streckenteppich" machen,
von den Schienensträngen bis zum Bau der großen Isthmen
und internationalen Schiffahrtskanäle im Lauf des 19. Jahr
hunderts.
Das Kapital fließt stromauf und stromab, vom Handel in die
Industrie oder von den Konsumgüterindustrien in die Basis
industrien, Eisenverarbeitung, Chemie, um endlich bei den
Quellen der Energie anzukommen, den Basisenergien, Öl
und Petroleum, bis schließlich mit dem Atom die reine
Kraft auftaucht: die Energie ist zugleich die absolute Waffe,
das Mittel ist zum Zweck geworden.
53
ein neues und wichtiges Element in den Krieg eingeführt."
Das ist mit anderen Worten dasselbe, was Renan dem Fer
dinand de Lesseps prophezeite: "Mit ihrem Kanal haben sie
eine unabsehbare Zeit mörderischer Konflikte begründet."
Indem man mit der Transportindustrie die Fabrikation der
Geschwindigkeit erhöht und unablässig die Leitfähigkeit, die
Durchdringbarkeit der durchquerten Orte und Gegenden
verbessert, beschleunigt man auch ihre Auflösung und Zer
streuung. Die Nutzung der Dampfkraft und des "Panzer
dampfers" in Eisenbahn und Schiffahrt stellt nicht ein Kapi
tel unter anderen in der Entwicklung der Industrie dar,
sondern ist ihr Wesen und eine der Voraussetzungen für
das Aufkommen der großen Kolonialreiche. Der Kult der
Basisenergie und der territoriale Relativismus liegen diesem
System zugrunde (bis hin zu den heutigen Rohstoffproble
men der Dritten Welt) . Die Eisenbahn bildet den Ursprung
eines neuen Katasters. Jeder kennt die gewaltigen Kämpfe
um den Bau der Eisenbahn durch den amerikanischen We
sten, in denen das Dampfroß auch Streitroß war, und die
transkontinentale Prosa, die Blaise Cendrars liebte, ist ein
Kriegsgesang, eine Militärmusik:
»Hauptbahnhof Abiegelteile der Willen, Kreuzung der Raltloligkei
ten . . . in all den Bahnhöfen sah ich die letzten Züge abfah
ren, niemand konnte mehr fahren, denn es wurden keine
Fahrkarten mehr ausgegeben, und die abfahrenden Solda
ten wären gern geblieben . . . "
"All die flüchtig gesehenen Gesichter in den Bahnhöfen, all
die Wanduhren, die Uhrzeit von Paris, die Uhrzeit von Ber
lin, die Uhrzeit von Sankt-Petersburg und die Uhrzeit aller
Bahnhöfe . . . Jeden Morgen stellt man die Uhren, der Zug
geht vor, die Sonne nach . . .
Der Schienenltrang ilt eine neue Geometrie.
Syrakus, Archimedes und die Soldaten, die ihn erschlugen,
und die Galeeren und die Schiffe und die gewaltigen Ma
schinen, die er erfand, und all die Gemetzel . . .
Ich habe gesehen,
ich habe die lautlosen Züge gesehen, die schwarzen Züge,
die aus dem Fernen Osten zurückkamen und wie Gespen
ster vorbeiflogen,
und wie das Rücklicht läuft noch mein Auge diesen Zügen
nach.
54
In Taiga kamen 10000 Verletzte um, weil niemand sich u m
sie kümmerte.
Ich habe die Lazarette von Krasnojarsk besichtigt, und in
Khilok sind wir einem langen Zug wahnsinniger Soldaten
begegnet . . . 2
..
55
Schon unser gegenwärtiges schnelles Reisen ist kaum mehr
als das Warten auf die Ankunft - was wird es sein, wenn
selbst diese kurze Wartezeit entfällt? Die nächste Umge
bung, einen kurzen Fußweg entfernt, wird uns fern erschei
nen; die Ungeduld des Wartens werden wir auf unsere
nächste Umwelt übertragen, unser Körper, dieses metaboli
sche Fahrzeug, wird uns bleiern vorkommen, wie der Tau
cher werden wir das Gefühl einer überaus störenden lang
samkeit haben, unser Körper wird unerträglich geworden
sein. Wie unter dem Wasserdruck am Meeresboden wird
für unsere eigenen Kräfte unser direktes Umland so fern
und unerreichbar scheinen wie die Kathedrale von Chartres
dem Pilger. Wenn uns der Platz am Ende der Straße, der zu
Fuß in zehn Minuten zu erreichen ist, ebenso fern vorkom
men wird wie Peking, was bleibt dann von der Welt? Was
bleibt von uns?
56
wird zur letzten Stadt. Flächenmäßig steht sie in nichts hin
ter den größten Metropolen zurück (der Flughafen von Dal
las hat die gleiche Grundfläche wie die Stadt Paris) .
57
schwindigkeit allein zum wirklichen Lebensmilieu gewor
den ist:
"Nun geht's los! Und er beugte sich über das Lenkrad und
drückte auf die Tube; er war wieder in seinem Element, je
der konnte es sehen. Wir waren alle entzückt, wir alle er
kannten, daß wir Verwirrung und Unsinn hinter uns ließen
und die einzige und edle Funktion unserer Zeit erfüllten, in
Bewegung zu sein."
Das metabolische Fahrzeug hält sich für ein technisches.
Daß sich von Asien nach Europa die Welt ändern kann, dar
über macht sich der Passagier des "Leerlaufs" nur lustig,
denn wie für den autistischen Autofahrer ist die Beschleu
nigung seine Bestimmung und sein Bestimmungsort gewor
den. Der kurze Aufenthalt am Straßenrand oder an der
Tankstelle gilt nur noch elementaren Bedürfnissen, die eilig
auf der Toilette des Motels oder des Flughafens erledigt
werden. Der Erdboden, das Landegebiet werden mit ein
oder zwei Primärfunktionen identifiziert. Etwa so wie man
gestern die bürgerliche Wohnung in Zimmer teilte (Speise
zimmer, Salon, Rauchzimmer usw.), werden heute die riesi
gen Gebiete unbedenklich instrumentalisiert: man über
nachtet in Honolulu, während man auf das Flugzeug nach
London wartet, man macht seine Einkäufe in New York,
bevor man nach Frisco startet . . . das geht bis zu den Städte
namen, die man offiziell zu verändern beabsichtigt: CHI
CAGO und PITTSBURGH werden zu "CHIPITTS" ver
schmolzen. Natürlich wäre für die Passagiere, die Chicago
Pittsburgh in umgekehrter Richtung fliegen, "PITTCHICA"
günstiger, BOSTON -WASHINGTON müßte nicht nur als
"BOSWASH" firmieren, sondern auch als "WASHIN
BOST" . . .
Leserichtung und Schreibweise sind hier ebenso fragwürdig
wie die Richtung der Reise, und die Automobilisierung er
scheint als ein von der maßlosen Überproduktion schneller
Fahrzeuge verbreiteter Autismus. Mit all seinen Konse
quenzen aber wird sich dieser Effekt erst voll und ganz ein
gestellt haben, wenn die Popularisierung der hohen Ge
schwindigkeiten zu einem Massenphänomen geführt haben
wird, wenn die Praktiken der JET-SOCIETY von allen über
nommen sein werden, wenn der "Leerlauf" um den Globus
die allwöchentliche, wenn nicht tägliche Flucht fortsetzt.
58
Wochenende und Landhaus, Schlafstadt und Arbeitsweg
werden einen über die Erde verstreuten Funktionsraum bil
den (es reicht, dazu nur die Bedeutung der sogenannten
nNeuverteilung der Industrie" abzuschätzen), eine Aufsplit
terung des Gelebten in kleinste Sequenzen, die im Gegen
satz zur unbeweglichen Zeit des Landes stehen. Die Unzufrie
denheit der Städter mit dem Rahmen ihres Lebens wird
enorm gestiegen sein, und der Zerstörung der Nähe zu an
deren wird wahrscheinlich in dem Maße gesteigerte Aggres
sivität folgen, wie es eine Kausalität zwischen Hyperge
schwindigkeit und Hypergewalt gibt. Man braucht sich
dann nur die Beziehungen zwischen Autofahrern und Fuß
gängern und ihre Verhaltensweisen bei vertauschten Rollen
. anzusehen. Die Dynamik der Geschwindigkeit wird alles
beleben, was in der Statik der Infrastruktur angelegt war:
die Gewalt der Geraden; die Ideologie, die Distanz für eine
"Tyrannei" zu halten; die Illusion zu glauben, Hyperkom
munikabilität sei ein Zeichen von Fortschritt, ein Symbol
von Zivilisation!
Mag sein, daß die Trennung der Individuen, in der man bis
her einen Ausdruck von Unwillen, einen Abbruch der Be
ziehungen sah, zu einem Zeichen der Liebe wird . . . Die
positive Bedeutung der gegenseitigen Anziehung wird viel
leicht auf die Abstoßung übergehen, sofern uns nicht gar
die extreme Langsamkeit des Gefühls, des Taktes und Kon
taktes zwischen den Körpern, zwischen den Orten des Kör
pers schlechthin unerträglich werden . . . Wird mit der Ge
wöhnung an die Trance der hohen Geschwindigkeiten und
die Omnipräsenz an den verschiedenen Onen des territo
rialen Körpers die einfache Nähe einer Berührung ihren
Reiz, ihren Wert verlieren? Wird uns die Gleichgültigkeit
gegenüber den durchquerten Landschaften, gegenüber den
exotischen Kulturen zur Passivität, zur Gleichgültigkeit ge
genüber den Materien, den Organen und den Orten des
animalischen Körpers verleiten?
Ich bin den Gedanken nicht losgeworden, daß die Erfin
dung des ersten Fahrzeugs, das Besteigen des animalischen
Körpers (Esel, Dromedar, Elefant, Pferd, Strauß usw.) in ei
ner Beziehung zur menschlichen Paarung stand. Hat die
Lust am gezähmten metabolischen Fahrzeug nicht auf die
sexuellen Beziehungen zurückgewirkt? Oder sind vielmehr
59
diese letzteren der vornehmsten Eroberung des Menschen
vorangegangen? Die erste Generation schneller Fahrzeuge
ist aus einer Zucht hervorgegangen, die in mysteriöser und
enger Verbindung zur Entwicklung der menschlichen Be
völkerung steht. Die Geschichte der Reiterei bleibt nicht
ohne Wirkung auf die der Gesellschaften. Die großen Wan
derungen, Überfälle, Menschenraube hängen genauso mit
der Geschichte der Fahrzeug-Archetypen zusammen, wie
die Ausbeutung des Bodens, die Eroberung und die Beset
zung der großen territorialen Körper sich kaum von denen
der kleinen animalischen Körper unterscheiden.
Das Verlangen, die Lust und der Rausch beim Durchqueren
eines Kontinents gleichen denen bei der Penetration (beim
Eindringen) . Die Beschleunigung geographischer Verbin
dungen seit knapp zwei Jahrhunderten kann die körperli
chen Verbindungen nicht unberührt gelassen haben.
Wir haben gesehen, wie die Pferde aus dem Stadtbild ver
schwanden, wir sehen, wie sämtliche Tiere aus den Metro
polen ausgesperrt werden, wie sanitäre Maßnahmen, die in
erster Linie die Haustiere betreffen, einer vorgeblichen An
steckungsgefahr wegen oft zur Ausrottung ganzer Arten
führen . . . Wir haben auch die Wiederkehr des rein zur Un
terhaltung dienenden Tieres im Zirkus oder im Reitsport
gesehen. Muß man sich nicht auf etwas Vergleichbares im
körperlichen Verhältnis der Sexualpartner gefaßt ma
chen?
Die Geschwindigkeit der Begegnungen kann uns dann ver
leiten, Zusammenkommen und Zusammenprallen zu ver
wechseln. Der Wegfall von Präliminarien im Akt des Über
gangs, im Eindringen und in der jähen Landung (in New
York, in Hongkong), kann nicht ohne Folgen auf die Begeg
nung der Paare bleiben. Das fortschreitende Verschwinden
der "Höflichkeit", die selber eine gespielte Aufnahme, ei
nen Ersatz der primitiven Gastfreundschaft darstellte, äu
ßert sich heute in einer virilen Form von Kontakt, die man
"Offenheit" nennt, und mag letzten Endes zum gewohn
heitsmäßigen Austausch schlechter Behandlung führen.
"Wir sind wie Autos. Wir trinken wie Autos, laufen schnell
wie Autos, haben keine Zeit mehr, ,Guten Tag' oder ,Auf Wie
dersehen' zu sagen. Wir sind wie das Kaninchen von Alke:
60
schnell, schnell, schnell . . . wir kommen immer zu spät,
auch wenn wir zu früh kommen . . ... (Valerie, 9 Jahre).
Es gilt jetzt, die Repression der Animalität des Menschen
zu analysieren, den Gebrauch des Körpers in der Stadt zu
untersuchen. Entgegen der geläufigen Ansicht ist nämlich
die Stadt nicht der Ort ungeheurer physischer, sondern der
nervöser Aktivitä:";l1. Zum einen werden im Raum der Stadt
die Aktivitäten des Körpers zunehmend abgebremst und
durch die technischer Prothesen, Fahrstühle, Rollbänder,
Rolltreppen, Automobile ersetzt . . . Zum anderen beschleu
nigt sich die Verknappung von Zwischenräumen im Ge
webe der Stadt wie im Inneren der Gebäude: Schmälerung
der Bürgersteige, der Wohnungen, der Zimmerhöhe . . .
Ganz zu schweigen von sich ständig mehrenden Verboten,
die den Städter betreffen und ganz legal seine ihm noch
verbliebene Bewegungsfreiheit einfrieren. All diese Fakto
ren tragen dazu bei, die körperliche Bewegung einzuschrän
ken beziehungsweise abzuschaffen: sitzend, stehend oder
liegend - nur selten noch setzt der Stadtmensch in Bewe
gung, was doch sein erstes Fortbewegungsmittel darstellt:
seine unteren Gliedmaßen. Mit zunehmender Verengung
der Dimension und der Weite der körperlichen Betätigung
wird das Individuum durch die Schnurgeraden der Stadt
geometrie (die orthogonale Orthodoxie seiner Wohnung,
seines Hauses) linear gemacht und in den genannten Stel
lungen festgenagelt, wobei noch zu ergänzen ist, daß die lie
gende Stellung praktisch dem Schlaf vorbehalten ist und die
stehende relativ selten wird. Diese Sklerose des Verhaltens,
diese Bewegungen, die zu simplen Gesten der oberen
Gliedmaßen gerinnen, weisen auf die Desanimalisierung
der Verkehrsteilnehmer. Immer mehr wird die verstädterte
Menschheit zu einer sitzenden Menschheit. "Sport" soll
dieser Verkümmerung ein wenig abhelfen, und so werden
bestimmte Orte und Plätze für geregelte körperliche Übun
gen vorgesehen. Das aber heißt willentlich die Permanenz
der Körperkultur und die Auswirkungen der alltäglichen
Körperhaltungen auf das Psychische verkennen. Weit vor
dem Stadtviertel und der Wohnung bewohnt das Indivi
duum seinen eigenen Körper, mit ihm reiht es sich in Mas
sen ein, die ein Gewicht haben, Räume, Überfüllen, sich
ausdehnen können usw.
61
Mobilität und Motilität des Körpers erst führen der Wahr
nehmung jeneri Reichtum zu. der für die Ichbildung unab
dingbar ist. Diese Dynamik der Fortbewegung zu verlangsa
men oder gar ganz zu beseitigen. Verhalten und
Bewegungen aufs Äußerste zu fixieren. führt zu schwersten
Störungen der Person und zu Schädigungen ihrer Realitäts
tüchtigkeit.
Der Verlust kinetischer und taktiler Eindrücke. von Ge
ruchseindcücken. wie sie die direkte Fortbewegung noch
lieferte. läßt sich nicht durch eine vermittelte. eine Medien
Wahrnehmung. durch das Vorbeiziehen der Bilder an der
Windschutzscheibe des Autos. auf der Kinoleinwand oder
gar dem kleinen Fernsehbildschirm ersetzen. Dieser illuso
rische Ersatz ist gleichwohl zu einer ..Spitzenindustrie" der
Elektronik geworden.
Seitdem wird der Reisende von der Botschaft verfolgt. vom
Autoradio bis hin zum Fußgängertelefon und zum ..Audio
Helm" für den Motorradfahrer. mit dem er Radiopro
gramme hören kann. wobei ihm ein Ohr für die ..Außenge
räusche" bleibt (wie bei einem toxischen Stoff lautet der
Hinweis: ..Nicht über 90 km/h benutzen!").
Die Telekommunikationsmittelindustrie bemüht sich um
die umfassende Ersetzung des Hörens und Fühlens durch
den Radiokontakt.
Seit es das Fernsehen und Fernsprechen gibt. gehören zur
Verkehrsordnung nicht nur die Fahrvorschriften. sondern
auch die Fernlenkung und Fernüberwachung. Der Passa
gier. jener flüchtige Bewohner des Nicht-Orts der Ge
schwindigkeit. wird von ferne verfolgt. Die Antenne auf
dem Dach oder dem Helm wird zum festen Bestandteil der
Straßenbeschilderung. Zu dem physischen und sichtbaren
Verbot der Zeichen und Sperren tritt das andere. unabwäg
bare der Verkehrshinweise.
Dem Rattern der Zugräder. der den Musikern gewidmeten
Prosa des Transsibirienexpresses folgt die Begleitmu
sik . . .
..Wir alle hatten unsere kleinen Streitigkeiten gehabt Das
. •
liegt hinter uns. einfach wegen der Kilometer und der Stra
ßenbiegungen . . . und hört euch doch einmal diesen bedien
ten Tenoristen an' - er drehte das Radio auf. daß der Wa
gen zu zittern begann . . .
"
62
Das Einsteigen in die Dynamik. der Geschwindigkeits
rausch reichen den Vagabunden Kerouacs schon nicht
mehr. sie müssen die Leere der Kontinentdurchquerung
auffüllen. Die Konsumtion des Raumes ist auch Konsum
tion von Zeichen und Botschaften . . . Die Botschaft der Ge
schwindigkeit des Automobils und die Geschwindigkeit der
Radio-Botschaft gehen ineinander über. Die Benommen
heit des Passagiers in seinem Boliden ähnelt dem Dösen
des Opiomanen. er ist anderswo. doch leicht zu erreichen;
er glaubt frei zu sein wie der Wind, doch in Wirklichkeit ist
die Kontrolle ihm auf den Fersen. Die Sättigung der Umge
bung macht ihn fertig, und die Überfüllung des hertzsehen
Raumes folgt der des Luftraumes.
Der Unbekannte, der Fremde, das ist für uns schon nicht
mehr der, der von fern kommt, sondern der, der gleich ne
benan wohnt. Entgegen den Weissagungen der alten Pro
pheten des utopischen Sozialismus ist die Entwicklung der
gesellschaftlichen Kommunikation nicht charakteristisch
für die Krise des Staates (crise de I'Etat), sondern eher für
den KriJenzrutand (l'etat de crise). Die Hyperkommunikabi
lität der Massenmedien bedeutet mit der Unmittelbarkeit
der Informationsmacht auch die unmittelbare Information
der Macht. Die Super-Durchlässigkeit der verschiedenen
(terrestrischen, atmosphärischen, hydro-sphärischen . . . )
Räume bringt mit der Macht der Konzentration auch die
Konzentration der Macht.
Seit einem Jahrhundert hat diese Kongruenz/Konvergenz
durch die Dramatisierung der banalsten Alltäglichkeit einen
66
permanenten Krisenzustand bewirkt. Seitdem geht alles per
Express, ist expressiv (und manchmal expressionistisch) .
Die extreme Konzentration hat allen, die sie zu nutzen
wußten, so ungeahnte Beherrschungsmöglichkeiten in die
Hand gegeben, daß darüber das berühmte Wort von Saint
Just: "Wenn die Völker unterdrückt werden können, so
werden sie es auch" zu einer schlichten Banalität geworden
ist. Weitgehend verkannt aber sind nach wie vor die Wir
kung der Fahrzeuggeschwindigkeit auf das Gebiet, das fort
schreitende Verschwinden der Realität der Körper und der
Gelände in der Geschwindigkeit der Reise, die Auflösung
des Ortes zugunsten des Nicht-Ortes der Fahrt, zugunsten
der Abwesenheit des Passagiers.
Planung ist mehr als Planierung, sie ist eine Plättung, ein
Zusammenschieben, bei dem alle in Bewegung befindli
chen Teile gegeneinanderstoßen und zerbrechen, Hin
weise, Botschaften, Wene . . . aber auch Körper gegen Kör
per. In der Bilanz der Toten am Wochenende, im
ÜberschallknaJl spiegelt sich diese unmittelbare Fieberhaf
tigkeit. Die Karambolage, die für uns sichtbar mit dem Au
tounfall beginnt, setzt sich hörbar fon im Durchbrechen
der Schallmauer, um vielleicht eines Tages in der Detona
tion einer kritischen Masse zu enden . . . Wozu wir wohlver
standen keine "Maschine des Jüngsten Gerichts", keine ab
solute Nuklearwaffe brauchen, weil die Fahrzeugerzeugung
ganz allein diese DekonJtruktion, diesen Abbau der Welt zu
standebringt, der ehedem mit dem Archetypen Pferd und
Schiff in die Wege geleitet worden ist und sich mit der fon
schreitenden Auflösung der Enklaven seit dem 19. Jahrhun
den beschleunigt hat. Ein Prozeß, den man, so als handele
es sich um eine neue Welt, "die Eroberung der Geschwin
digkeit" genannt hat, obwohl es sich bei diesem Bereich we
niger um einen KONTINENT als um die inkontinente, die
zügellose Fahrzeugproduktion des industriellen Abendlan
des handelt.
1913.
3 P. Chaunu, La duree, /'eJpace el /'homme J /'epoque moderne.
70
Ich denke sowieso mit dem Knie
Joseph Beuys
4 H. Vincenot, La vie quotidienne dam ICI chemins de Jer au XIX. siede.
S Die sogenannte Energiekrise, Reinbeck bei Hamburg 1974.
74
Die Epilepsie ist der kleine Tod und die Piknolepsie der
ganz kleine. Lebendiges und Bewußtes, Hier und Jetzt gibt
es nur, weil es unendlich viele kleine Tode, kleine Unfälle,
kleine Risse gibt und, wie William Burroughs sagen würde:
kleine cut-ups der Tonspur - der Ton- und Bildspur der Er
fahrung. Und wenn man Gesellschaft, Stadt und Politik ana
lysieren will, so ist das, glaube ich, sehr aufschlußreich. Un
ser Sehen ist stets eine Montage, eine Montage von
Zeitlichkeiten. Zeit wird nicht allein durch Macht, sondern
auch durch Technologien organisiert. Bei der Unterbre
chung ist klar, daß sie sich eher zeitlich als räumlich ab
spielt. Nicht zufällig hat das religiöse Denken alle mögli
chen Verbote und Feste eingerichtet - den Sabbat usw. . . .
Man regulierte die Zeit und war sich darüber klar, daß man
öfters aussetzen muß, wenn man eine religiöse Politik ma
chen will. Wieso? Weil die religiöse Politik sich im Ange
sicht des Todes bestimmt, im Angesicht der großen Unter
brechung, der großen "Versuchung", wie es in der Schrift
heißt ("Apokalypse"). Das ist etwas Positives, denn damit
erhält die Technik einen neuen Status. Die Technik gibt uns
deshalb auch nicht mehr; sie unterbricht uns bloß anders. Beim
Autofahren angehalten werden ist etwas anderes als zu Fuß
"angehalten" werden. Auf einen Fahrkörper steigen, heißt
auch, die Geschwindigkeit anders steigern oder verringern
zu können. Eine Unterbrechung bedeutet, die Geschwin
digkeit zu verändern. Der Streik z. B. - ich denke dabei an
den Generalstreik - war eine wunderbare Erfindung,
wunderbarer noch als Barrikaden und Bauernaufstände,
denn er erstreckte sich auf eine gesamte Zeitdauer. Damit
wurde nicht so sehr ein Raum unterbrochen (wie mit Barri
kaden) als vielmehr eine Dauer. Der Streik war eine Barri
kade in der Zeit.
Kun gesagt, eine solche Aithetik der Unterbrechung, die umer heuti
ges Bewußtsein strukturiert, ist eine Kinematik. Denn paradoxer
weile bezieht der Film, diese Kunst des Kontinuierlichen, seine ge
samte Energie aus der Unterbrechung.
Es handelt sich um eine Art Puzzle, das sich nicht mehr zusammen
setzen läßt. Der Krieg findet überall statt, doch sind wir nicht mehr
imstande, ihn wiedenuerkennen.
76
Wenn wir einsehen, daß das historisch Reale fragmentiert
ist, so dämmert, metaphorisch ausgedruckt, schon der Mor
gen einer weltumgreifenden Identität, eines Weltbewußt
seins und -gewissens. Genausogut, wie mim behaupten
kann: "Gerade weil es Unterbrechungen gibt, ist die Zeit,
die ich erlebe, meine Zeit und bin ich mir dessen bewußt",
möchte ich behaupten: "Gerade weil die zwischenstaatli
chen Konflikte unendlich fragmentiert sind, bewegt man
sich auf den reinen Staat zu", das heißt auf das allgemeine
Bewußtsein, daß wir alle gleichermaßen Erdenbürger sind
- mit allem, was dies an Furchtbarem und Monströsem vor
aussetzt.
DaJ Ende der Zeiten oder daJ Ende der Zeit, wenn die MenJchheit
ihren letzten Auftritt hat.
Dal iJt zugleich der Tod der Intimität. Die ganze DiJkuJJion der
letzten Jahre über ein Modell zerJplitterter und .Ichizophrener" Sub
jektivität entJpricht letztendlich einer großen Aithetik der Collage.
Dal Ich iJt nicht kontinuierlich, londern belieht aUI einer Reihe klei
ner Tode und Partialidentitäten, die lieh nicht oder nur um den
PreiJ von Anglt und Verdrängung wieder zUlammenkleben lal
Jen.
Ich halte nichts von Explikationen. Ich vertraue auf die Sug
gestion und die Evidenz des Impliziten. Als Stadtplaner
und Architekt bin ich zu sehr daran gewöhnt, deutliche Sy
steme und gut funktionierende Maschinen zu konstruieren.
Ich glaube nicht, daß es Aufgabe des Schreibens ist, das
78
gleiche zu tun. Ich mag die Literatur nicht, die so einfach
zu verstehen ist wie das kleine Einmaleins. Deshalb schätze
ich letztendlich Michel Foucault, ohne ihn zu mögen.
Wenn alles gesagt ist, bleibt nichu mehr übrig. Deine Vorgehem
weise ist dagegen entschieden teleskopisch, sie Idßt verschiedene
Perspektiven und Blickwinkel zusammenstoßen. Sobald Du eine
Sache aufgegriffen hast, läßt Du sie auch schon wieder fallen und
springst über zur nächsten, anstall die Position vollständig aUJZllar
beiten, die Du anfangs eingenommen hast. Es handelt sich um eine
regelrechte Politik des Schreibens, nicht um den organisierten Dis
kurs des Krieges und noch weniger um einen Diskurs über den
Krieg, sondern um einen Diskurs im KriegJZIIstand, um ein Schrei
ben im Ausnahmezustand.
Jede Stufe, jeder Schrill bildet einen Haltepunkt für die theoretische
Arbeit. Damit das Denken allein weitergehen kann und etwas an
deres sich anderwo ereignet.
Von vornherein hat mich dabei gerade verführt, daß ein Buch über
die Geschwindigkeit schnell ist. Man hat uns allzuoft das Ende des
Buches in nicht enden wollenden Büchern proklamiert. Deine Arbeit
ufert nicht aus, denn sie transportiert etwas, ist Fahrzeug. So lautet
übrigens auch der Titef7 des letzten Kapitels von L'Insecurite du
territoire, an das Geschwindigkeit und Politik als theoretischer
Text anknüpft.
81
4 Gilles Deleuze/Felix Guattari, Mille Plateaux, Paris 1980.
5 Paul Virilio, Geschwindigkeit und Politik. Berlin 1980.
6 Sun Tze, Die dreizehn Gebote der KriegskunsI, München 1972.
7 Dt. in: Paul Virilio, Fahren, fahren, fahren . Berlin 1978, vgl. den
. .
Der Mann ist der Passagier der Frau, nicht nur bei seiner
Geburt, sondern auch in den sexuellen Beziehungen. Von
daher das Verbot des Inzests als eines Teufelskreises oder
vielmehr einer Teufelsreise. In freier Wiedergabe eines Sat
zes von Samuel Butler könnte man sagen, daß das Weib
chen das Mittel ist, welches das Männchen gefunden hat,
um sich zu reproduzieren, das heißt, um auf die Welt zu
kommen. In diesem Sinne ist die Frau das erste Transport
mittel der Gattung, ihr erstes Fahrzeug. Das zweite wäre
das Reittier, die rätselhafte Koppelung ungleicher Körper,
die zur gemeinsamen Reise oder Wanderung gepaart wer
den. Die metabolischen Fahrzeuge, ob Last-, Reit- oder
Zugtiere, könnten somit als die exemplarischen Resultate
einer verachteten Zoophilie gelten, die mit der Verwerfung
der tierischen Roheit vergessen worden ist. In den Ursprün
gen der Zähmung kommt die Frau noch vor dem gezüchte
ten und gepflegten Tier. Sie ist die erste Form von Ökono
mie, in der sich noch vor der Sklavenhaltung und vor der
Tierzucht die Bewegung abzeichnet, die zu den Hirtenge
sellschaften, zu patriarchalischen, über die ursprünglichen
Jagdzüge hinaus auf den Krieg ausgerichteten Gesellschaf
ten führen wird. Tatsächlich zeichnet sich der spätere Krieg
mit dem Ende der letzten blutigen Gemetzel ab. Von der
Jagd auf das Tier um des puren Überlebens willen geht man
zur Jagd auf die Frau über, später zur Jagd auf den Mann.
Aber diese Jagd ist schon kein Abschlachten, kein Töten
mehr, sondern ein Einfangen, das Einfangen eines Bestan
des an Weibchen. Schluß ist mit der Energieverschwen
dung, was das weibliche Geschlecht angeht, während die
Männer weiterhin getötet und verzehrt werden, praktisch
bis zur Ackerbaustufe, auf der die Sklaverei offizielle Ein-
83
richtung wird dank des Einfangens von Männem, von Ge
fangenen.
Es ist sinnvoll, sich diese Übertragung der Gewalt anzuse
hen, denn so wie der Krieg aus Konflikten zwischen Mit
gliedern derselben Gattung und nicht aus Zusammenstößen
mit dem Tiervolk hervorgegangen ist, so vollzieht sich auch
seine Weiterentwicklung und -verfeinerung an Hand inter
ner Kämpfe und nicht solcher gegen Fremde.
Das Partriarchat taucht auf mit dem Einfangen von Frauen,
installiert und perfektioniert sich dann dank der Viehzucht.
In dieser Ökonomie der Gewalt, die der Hirtenstufe ent
spricht, geht die "belle" der "bete" voran - die Errichtung
des herrschenden Geschlechts wird von der Koexistenz ei
ner doppelten Viehpacht gefördert. Kommen wir aber auf
die Metamorphosen des Jägers zurück, so zeigt sich die
Zähmung als Abschluß und Perfektionierung des Raubes ..
Das Blutvergießen, die sofortige Tötung stehen im Gegen
satz zum unbegrenzten Gebrauch der Gewalt, das heißt zu
ihrer Ökonomie. Wir sehen, wie vom direkten Zusammen
stoß, der mit einem frühzeitigen Gemetzel endete, eine
Evolution zunächst zur einfachen Kontrolle der Jäger über
bestimmte ausgewählte Arten, dann mit Hilfe des Hundes,
dem ersten "Haustier", zur Hütung halbwilder Herden und
schließlich zur Züchtung, Vermehrung und Dressur führt.
Die Zähmung des Weiberviehs kommt in diesem Prozeß
noch weit vor der des Tragetiers. Die Frau dient als last
tier; wie die Herde geht sie auf die Felder, um unter Kon
trolle und Überwachung des Mannes zu arbeiten. Auf den
Wanderungen, bei Zusammenstößen trägt sie das Gepäck;
lange vor dem Gebrauch des Hauseseis ist sie das einzige
"Transportmittel". So gestattet die Frau, indem sie das Tra
gen besorgt, dem bedürftigen Jäger sich auf das homosexu
elle Duell zu spezialisieren, das heißt ein Männerjäger, ein
Krieger zu werden.
Die erste Freiheit ist die Bewegungsfreiheit, die die Last
Frau dem Jagd-Mann verschafft, aber diese Freiheit ist
keine "Freizeit", sondern eine Fähigkeit zur Bewegung, die
zu einer Fähigkeit zum Krieg, jenseits der primitiven Jag
den wird. Als erste logistische Stütze trägt das gezähmte
Weibchen den Krieg, indem sie dem Jäger die Sorge um sei
nen Unterhalt abnimmt. Genau wie der Eindringling das
84
Gebiet, in das er eingedrungen ist und das er erobert hat, so
einrichtet, daß es die Lenkbarkeit seiner Kräfte und Bewe
gungen fördert, so wird aus der geheirateten und gefange
nen Frau umgehend ein Transponmittel gemacht. Ihr Rük
ken, ihre Hüften werden zum Modell der Reiseausrüstun
gen, die gesamte Auto-Mobilität wird von dieser Infrastruk
tur ausgehen, von diesem getätschelten und geschlagenen
Hinteneil [im französischen Texte steht "croupe", was so
wohl "Kruppe", also Pferderücken, als auch ,,(Frauen-) Hin
tern" bedeuten kann, Anm. d. Ü.], alle Wünsche nach Er
oberung und Eindringen finden sich in dieser zahmen
Reisemaschine wieder. Die Last-Frau, die trächtig ist, trägt
und weitenrägt, schenkt dem Kriegs-Mann Zeit, manchmal
gute Zeit, vor allem aber befreite Zeit.
So gesehen wird die heterosexuelle Gruppe weit fruchtba
rer sein im mörderischen Kampf als die homosexuelle, und
auch für das Aufkommen des Patriarchats wird die rein logi
stische Dimension des schwachen Geschlechts wesentlich
sein. Noch vor der Fonpflanzung und den sexuellen Sitten
stellt sich die Verbindung der Geschlechter als eine echte
"Subsistenzweise" heraus. Solange das Nomadenturn anhält,
fällt das Überleben mit der Verfolgung der Beute, der Wei
deplätze oder des Feindes zusammen. Die Subsistenz der
Gruppe gründet in ihren Fähigkeiten, sich der Bewegung
anzupassen, ihre "feste Burg" besteht ganz allein im "Zeit
gewinn" gegenüber dem Wild oder dem Gegner - noch
nicht im "Hindernis" des seßhaften Ackerbauern, sondern
im Lauf und seinen Mitteln: der Last-Frau, der Stute, später
kommen Fahrgeräte. Indem sie ihm sowohl Zeit als auch ih
ren Rücken bietet, wird die Frau "die Zukunft des Mannes"
(Aragon), sein Geschick und sein Ziel. Dank diesem ersten
Viehbestand wird der Jäger-Viehzüchter das besitzen, was
man in militärischen Begriffen eine "hohe Stoßkraft" nennt,
und das wird ihm gestatten, die Auseinandersetzungen län
ger dauern zu lassen, und er wird nicht mehr zum augen
blicklichen Verzehr an On und Stelle genötigt sein.
Die bis dahin durch die geringe Beweglichkeit der Gruppen
begrenzten Konflikte können also an Ausdehnung gewin
nen, weil die Frau dem Krieger die Wurfgeschosse trägt,
weil sie seine Habe verwaltet. Mit dem Aufkommen von
Reittieren wird der Krieg noch länger dauern und sich über
85
weitere Flächen erstrecken. einfach weil Ausdauer und Ge
schwindigkeit der Reittiere denen des metabolischen
menschlichen Fahrzeugs überlegen sind.
Nehmen wir das Beispiel der Maya: vor der Ankunft der
Spanier sind die Kriege im Yucatan stets von kurzer Dauer.
denn auf diesem Kontinent sind die Frauen noch die einzi
gen Transportvektoren . . . Bei der Eroberung durch eine lä
cherliche Kohorte von berittenen Eindringlingen nun
kommt es zu einem Debakel sondergleichen. das weder
durch die Metallwaffen noch durch die Mentalität der Ein
geborenen erklärbar ist. Es ist der Zeit- und Geschwindig
keitsvorsprung der Eroberer. der die Auslöschung einer Zi
vilisation durch eine Handvoll Berittener möglich macht.
Die Einführung des Pferdes auf dem amerikanischen Konti
nent ist der wahrscheinliche Grund für die Ausrottung ei
nes Volkes und einer Kultur. die den Eroberern zwar am
sei ben Ort. aber in einer anderen Zeiteinheit entgegentra
ten. Die Spanier besaßen jene "dromokratische" Überlegen
heit. die stets die demographische Unterlegenheit wett
macht.
Kurz. die Frau war der Ursprung der ersten Verlängerung
des Kampfes. der ersten .. Revolution des Transportwesens".
die dem Jäger erlaubte. sich auf die Obszönität des narzißti
sehen und homosexuellen Duells zu spezialisieren. das un
endlich schrecklicher ist als der Kampf mit räuberischen Be
stien. weil es einen ständigen Wechsel sowohl von Taktiken
als auch von Strategien verlangt. Einmal gezähmt. ermög
lichte das schwache Geschlecht die Erfindung des Feindes.
der weit mehr ist als ein Beutetier. und diese Ausdehnung
des Angriffs schreitet fort mit dem Lasttier. mit der Erfin
dung des Reitgeschirrs, der Reiterei. dem Wagenfahren und
seinen infrastrukturellen Zwängen. die in Mesopotamien
zur Erfindung der Straße führen und anderswo später zum Ei
senbahnnetz . . , Doch das ist eine andere Geschichte. die
der Revolution des technologischen und nicht mehr bloß
des metabolischen TransportWesens. Wir haben gesehen.
wie im 19. Jahrhundert der Mensch vom Pferd absteigt und
in die Eisenbahn einsteigt, und das zur gleichen Zeit. als er
seinen .. Abstieg". seine seltsame Abkunft von einem affen
ähnlichen Anthropoiden entdeckt . . . Ich möchte den umge
kehrten Weg gehen und herausfinden wie der Mensch
86
[bzw. der Mann, im Franz. bedeutet "hornrne" sowohl
"Mann" als auch "Mensch", Anm. d. Ü.] von den Armen,
vom Rücken der Frau herab- und aufs Reittier aufgestiegen
ist.
87
mobilen Möbel, das den Körper nicht bloß im Stillstand
oder Ruhezustand trägt wie der Stuhl, sondern auch in der
Fortbewegung.
Die Erfindung du Reitens wäre gewimrmaßen eine KriegsliJt du
eigenbeweglichen Körpers: so wie wir mittels der Motilität un
sere Glieder auf der Stelle bewegen, um die Nachteile eines
zu langen Verweilens in einer Position (Zusammenpressen
des Fleisches auf dem Sitz usw.) zu vermeiden, so ersparen
wir uns mittels des gesattelten Tiers die Unbequemlichkeit
des Fußmarsches und erhöhen listig unsere Bewegungsge
schwindigkeit. Durch Reihen von Verschiebungen und
Verlagerungen, von den winzigsten bis zu den weitesten,
spielen wir mit den Körpern dieses Versteckspiel namens:
Unterstützung, Komfort, Halt, Wohlbefinden . . . Um weniger
von unserem animalischen Körper zu spüren, bewegen wir uns ohne
UnterIaß (Bewegungsdrang), um die Ausdehnung des territorialen
Körpers zu vergemn, reisen wir, schnell und heftig.
Diese unablässige Suche nach einem Ideal von Schwerelo
sigkeit bildet ein Kernstück aller Herrschaftsprobleme. Die
von früheren Zeitaltern besungene Epiphanie des Pferdes
illustriert das überdeutlich: in der Heroisierung des Pferdes
ist dieses gleichzeitig Träger des Todes und Hüter des Le
bens, doch "ist es nicht darum sein Hüter, weil es zuvor je
ner Träger war?" wie Fernand Benoit1 fragt. Dasselbe
Thema findet sich wieder beim Träger Christi, dem heiligen
Christophorus, dem Schutzheiligen der Autofahrer. Die
Schnelligkeit des Streitrosses schützt den Reiter vor seinen
Verfolgern, aber auch vor seiner eigenen Schwäche; das
Reittier hilft seinem Pauagier über die Schwäche seiner Konstitu
tion, erhöht diese Schwäche aber auch, was erklärt, daß das
Pferd und der VogeF gleichzeitig Anzeichen des Todes wie
Anzeichen der Macht und der Herrschaft sind: erst muß
man eins werden mit der göttlichen Schnelligkeit des Streit
rosses, muß man seine Seele in einer unvermittelten Me
tempsychose verlieren, um zur Herrschaft zu kommen. Wer
"aufgestiegen" ist, beherrscht die Untengebliebenen, er
überragt sie an Höhe durch seine Erhebung aufs Pferd, aber
auch und vor allem durch die motorische Stärke seines Reit
tiers. Für seine Gegner gibt es kein Entkommen mehr, er
wird sie vor sich herjagen, sie in alle Winde zerstreuen. Die
Kriegsjunktion des Pferdes ist es, den fliehenden Feind zu zer-
88
Itreuen, um ihn aUJZJ/lölchen; der Sturmangriff der Kavallerie
zerreißt die Masse der Infanteristen wie die Sprengladung
die 1fasse der Mauern und Wälle.
Der Unterschied an Geschwindigkeit und Gewalt zwischen
denen, die zu Fuß, und denen, die zu Pferd kämpfen, dis
qualifizien die ersteren (so wie das Last-Tier die Last-Frau
disqualifizien hatte), solange bis sämtliche metabolischen
Fahrzeuge von den neuaufkommenden technologischen
Transponmitteln disqualifizien werden.
Die Gewalt der GeJchwindigkeit iJt nichu al! AUllölchung; der
Passagier, der sein Pferd bestiegen hat und von seiner
Schnelligkeit fongetragen wird, ist nichts als ein reitender
Tod3• Erhoben und fongetragen ist der zu Pferd Gestiegene
nicht mehr wirklich sein eigener Herr, er ist voll und ganz
der Gewalt des Streitrosses ausgeliefen, und so wie "in eine
Stellung einfallen" im militärischen Sprachgebrauch bedeu
tet, daß man sie eroben, indem man sie überrennt, so be
deutet das "In-Galopp-Fallen" für den Reiter, den Boden
unter den Füßen zu verlieren und eine rasende Irrfahn an
zutreten.
Die Geschwindigkeit ähnelt dem Alter, dem lauernden
Tod, der in der Krankheit umgeht. Aufs Tier oder ins Mo
torfahrzeug zu steigen, heißt sich darauf einzustellen, im
Augenblick des Aufbruchs zu sterben, um mit der Ankunft
wiedergeboren zu werden (ein kleiner Tod . . . ) . Im Wanen
des Reisenden wird die Geschwindigkeit zu einem vorzeiti
gen Altern. Je schleuniger die Bewegung, umso schneller
vergeht die Zeit und umso mehr verlien die Umgebung an
Bedeutung. Die Fahn wird zu einem schlechten Scherz:
"Die kürzesten Reisen sind die besten!" sagt man. Wie bei
jener letzten Reise, dem Sterben, ist der Reisende nicht
mehr von dieser Welt, und wenn die "Bewegungsfreiheit"
(habeal COrpUI) als erste aller Freiheiten erscheint, so schei
nen mit der Befreiung der Geschwindigkeit, der GeJchwin
digkeiujreiheit4 alle Freiheiten erreicht. Tatsächlich taucht
die Fahn wie eine Sublimierung der Jagd aus der Ge
schichte auf. In der Geschwindigkeit verlängern sich die
Jagd, die Mobilmachung und die Vernichtung. Die dromo
kratische Hierarchie der Geschwindigkeit, der vitme, wie
derholt die der noblem, des Adels: vitme obligel könnte man
sagen. FahrgeseUschaft, Jagdgesellschaft - die Dromokratie
89
ist nur die heimliche Organisation einer (gesellschaftlichen
und politischen) Jagd, bei der die Geschwindigkeit der Pro
fit der Gewalt ist, eine Gesellschaft, in der die Klassen von
Reichtum nur Klassen von Geschwindigkeit maskieren.
Eine letzte "Ökonomie der Gewalt", in der die Wanderung
der Arten über das Tragen hinaus in der "Revolution des
Transportwesens" fortlebt und das Reiten, die Metempsy
chose der Anfänge sich sowohl durch den Mythos des Zen
tauren5 als durch den des Autofahrers auszeichnet.
Der Fortschritt der Geschwindigkeit ist nur die Befreiung
der Gewalt. Wir haben gesehen, daß Züchtung und Dressur
Formen der Ökonomie der Gewalt sind oder, wenn man
will, Mittel, sie dauerhaft beziehungsweise grenzenlos zu
machen. Die Erhaltung der metabolischen Energie war also
kein Ziel, sondern eine Ausrichtung der Gewalt: das Mittel
zu ihrer zeitlichen Verlängerung, der technologische Motor, Re
95
3 ..Und ich sah, und siehe, ein fahles Pferd. Und der darauf saß,
des Name hieß Tod, und die Hölle folgte ihm nach." Die Of
fenbarung des Johannes, Kap. 6,8.
4 Um das festzustellen, braucht man sich nur die Masse der Ver
kehrsregeln und -kontrollen anzusehen.
5 Dumezil, Le probteme deI centaum, 1929.
6 Heidegger zitiert in seiner berüchtigten Rektoratsrede den
Satz Platons, um .. die Größe dieses Aufbruchs (zu) verstehen".
[Anm. d. R.]
7 Glacis hier als Vorfeld einer Befestigungsanlage. [Anm. d. R.]
8 ..halon" - was sowohl .Hengst" als auch (halon monhaire)
..Maß", ..Währung" bedeuten kann. [Anm. d. Ü.]
9 Nicolet, A propos de I'Ordre equestre, in: Problemes de la guerre
a Rome, 1969.
10 Im Original gebraucht V. hier homonyme Lautformen und
spielt mit ihrer semantischen Differenz. [Anm. d. R.]
Und Sun Tze teilte die Frauen in zwei Abteilungen, die je
weils von einer der beiden Lieblingsfrauen befehligt wurde
und erläuterte ihnen dann die Vorschriften, wie sie im
Trommelschlag ausgedrückt wurden. Das war sehr einfach:
zwei Schläge: nach rechts, drei: nach links, vier: halbe Dre
hung oder Kehrtwendung . . . Und an statt sehr schnell zu
lernen, begannen diese Damen zu lachen, zu schwätzen,
nicht aufzupassen, und Sun Tze, der ein Meister ist, wieder
holt die Lektionen mehrmals. Je mehr er spricht, desto
mehr krümmen sich die Frauen vor Lachen, woraufhin Sun
Tze in seinen Vorschriften nachschlägt. Und dort steht ge
schrieben, daß, wenn die Frauen sich vor Lachen krümmen,
anstatt Soldaten zu werden, man dies als Meuterei bezeich
net, und die Vorschriften haben vorgesehen, daß in diesem
Fall das Gesetz die Todesstrafe vorsieht. Also werden die
Frauen zum Tode verurteilt. Darüber ärgert sich nun wie
der der König: hundertachtzig Frauen sind ganz schön viel!
Er möchte nicht, daß man ·seine Frauen umbringt. Und Sun
Tze antwortet ihm, da man ihm nunmal den Auftrag gege
ben hat, aus der Frau einen Soldaten zu machen, so wird er
diesen Befehl ausführen: Sun Tze ist ein Vertreter der abso
luten Ordnung. Und es gibt also eine "königlichere" Ord
nung als der König selbst: das ist das absolute Gesetz . . . Es
gibt keine Hintertüren zur Ordnung. Also befolgt er die
Vorschriften und enthauptet mit seinem Säbel die beiden
Befehlshaberinnen. Man ersetzt sie, man beginnt erneut mit
der Ausbildung, und als wenn sie niemals etwas anderes ge
tan hätten, als die Kriegskunst auszuüben, drehen sich die
99
Frauen nach rechts, nach links, um die Achse, schweigend
und ohne sich jemals zu irren.
Von Bett zu Bett, das ist also ihre Reise: ein Bett, in dem sie
höchstens träumen kann. Ihr kennt die hübschen perversen
Analysen Kierkegaard's von der "Existenz" der Frau, wie
sie die Kultur für sie vorsieht, und von der er sagt, daß er
sie als Schlafende sieht. Sie schläft und, so sagt er, wird sie
zunächst von der Liebe enräumt, woraufhin sie dann wie
derum von der Liebe träumt. Von Traum zu Traum und im
mer an zweiter Stelle. In gewissen Märchen trifft man sie
zwar aufrecht an, aber nicht lange. Rotkäppchen zum Bei
spiel, das - ich nehme an, daß euch das nicht entgangen
ist - eine kleine Klitoris ist. Dieses Rotkäppchen macht im
Grunde einen Seitensprung: es ist das kleine weibliche Ge
schlecht, das sich ein bißehen zu vergnügen versucht, und
das davonläuft mit seinem kleinen Buttenopf und seinem
kleinen Honigtopf. Interessanterweise ist es seine Mutter,
die sie ihm gibt und sie ausschickt zu einer Besorgung, die
wegen ihrer Beschränktheit völlig illusionär ist: Rotkäpp
chen verläßt ein Haus, und das ist das Haus ihrer Mutter,
und zwar nicht, um in die große weite Welt zu gehen, son
dern um von einem Haus zu einem anderen zu gehen und
das auf dem kürzesten Weg; also schnell von einer Mutter
zur anderen. Und die andere, das ist die Großmutter, die
man sich als "Große Mutter" vorstellen muß, denn es gibt
zwar große Männer, aber keine großen Frauen; statt dessen
große Mütter. Und die großen Mütter sind immer böse: die
böse Mutter, die immer wieder die Tochter erwischt, wenn
101
sie mal zufällig leben oder genießen möchte. Also muß man
immer wieder seinen kleinen Honigtopf und seinen kleinen
Buttertopf zur Großmutter tragen, die da steht . . . für diese
gewisse Eifersucht, der Frau, die von ihrer Tochter nicht
lassen kann.
Ich habe gesagt, daß es Wort ist: Man muß die Kultur beim
Wort nehmen, so wie sie uns in ihr Wort nimmt, in ihre
Sprache. Ihr versteht, warum ich meine, daß eine politische
Reflexion nicht ohne eine Reflexion der Sprache stattfin
den kann, nicht ohne eine Beschäftigung mit der Sprache.
Von Anfang an wird man in eine Sprache hineingeboren
und die Sprache spricht (zu) uns, die Sprache diktiert uns
ihr Gesetz, das ein Gesetz des Todes ist: sie diktiert uns ihr
Familienmodell, sie diktiert uns ihr Ehemodell, und sobald
man dabei ist, einen Satz zu produzieren, wenn man das
Sein zuläßt, wenn man eine Frage zum Sein zuläßt, wenn
man Ontologie zuläßt, nun, dann ist man gleich geschnappt
von einem gewissen Typus des männlichen Wunschs, der
den philosophischen Diskurs antreibt; sobald man die
Frage stellt nach "was ist das", sobald man eine Frage stellt,
sobald man eine Antwort verlangt, nun, dann ist man bereits
103
im miinnlichen Verhör gefangen. Ich sage "männliches Verhör",
ihr wißt, daß man in Frankreich sagt, der und der ist von
der Polizei "verhört" worden. Und dieses Verhör, es ge
schieht unvermeidlich durch die Wirkung der Bedeutung:
"Was ist das? Wo ist das?". Das ist eine Wirkung vom Be
deuten-Sollen, vom "dies soll das heißen", von der prädika
tiven Distribution, die immer gleichzeitig die Bildung von
Sinn verlangt, und während sich der Sinn konstituiert, ge
schieht dies nur in einer Bewegung, wo der eine Teil des
Begriffpaars, wo der eine von beiden zugunsten des ande
ren zerstört wird.
"Was ist es, was sie will?" Rotkäppchen wußte sehr wohl,
was es wollte, aber Freud tut mit seiner Frage nur so als ob:
sie ist eine rhetorische Frage. Sie so zu stellen, "Was will
die Frau?", heißt, sie als Antwort zu nehmen: ein Mann, der
eigentlich nicht mit einer Antwort rechnet, da die Antwort
heißt: "Sie will nichts" . . . "Was will sie? . . . nichts!" Nichts,
da sie ja passiv ist. Das, was der Mann machen kann, ist, die
Frage weiter auszulegen, wie "Was kann sie schon wollen,
sie, die nichts will?". Anders gesagt: "Ohne mich, was
könnte sie da schon wollen?"
107
Die Hysterikerin, das ist ein wunderbarer Dämon, der im
mer im Zwiespalt, in der Hinterlist des Machens ist. Sie ist
jemand, der sich nicht macht . . . sie macht nicht sich, son
dern sie macht das Andere. Man sagt, daß die Hysterikerin
den Vater "macht", sie macht den Vater, sie "macht" den
Meister. Macht . . . nachmachen [frz. "contre faire", "contre
fait" - Bildnis; Anm. d. R.), nachmachen: sie macht die
Frau nach, sie macht gegen . . . sie macht das Begehren nach,
sie macht den Vater . . . sie macht es "sich", sie macht es
gleichzeitig weg. Überdies, ohne Hysterikerin keinen Vater
. . . und ohne Hysterikerin keinen Meister, keinen Analyti
ker, keine Analyse! Sie ist diese nicht einzuordnende weibliche
Struktur, deren Fähigkeit, das Andere zu produzieren, eine
Fähigkeit ist, die ihr nicht wieder sich einbringt. Das ist
wirklich eine Quelle, das ist etwas, das das Andere unauf
hörlich nährt und das sich gleichzeitig nicht vom Anderen
befreit . . . das sich nicht wiedererkennt, in den Bildern, die
das Andere ihr vorhalten kann oder ihr nicht vorhält. Man
hält ihr Bilder vor, die nicht an ihr haften, und sie bemüht
sich diesen Bildern zu gleichen, wie wir alle es getan haben.
Also wird man die Frau als Ort des Geheimnisses angeben,
man wird sie als Geheimnis angeben, so wie man sagt "als
ständigen Wohnsitz angeben", man wird sie als Abwesen
. heit angeben: sie ist immer diejenige, die nicht genau da ist
. . . man weiß nicht genau wo. Man gibt sie ganz und gar ty
pischerweise an als den Ort derjenigen - um auf den Ödi
pus zurückzukommen -, die man im Französischen allzu
oft vergißt, weil man "sphinx" statt "sphinge" ["Sphinx" ist,
im Gegensatz zum Deutschen, im Franz. männlich, die ver
weiblichte Form davon wäre "la sphinge"] sagt . . . man gibt
sie an als den Ort derjenigen, die man die "Singende Hün
din" nennt. Das heißt, daß sie vor der Stadt da ist, daß sie
vor der Stadt ist - die Stadt, das ist der Mann, es ist das
männliche Gesetz, das sie organisiert - und daß sie da ist.
Wie ist sie da? Sie ist da in ihrer Unwissenheit: die Sphinx
kennt sich nicht, sie ist diejenige, die die Fragen stellt, wäh
rend es der Mann ist, der die Antwort weiß, die, wie ihr
wißt, überdies eine Antwort ist, die seiner ganz und gar
würdig ist, nämlich: "der Mensch" [I'homme heißt im Franz.
Mann und Mensch], eine einfache Antwort . . . und die alles
sagt. Die singende Hündin, so nannte man die Sphinx: sie
111
ist eine Tierin und sie singt. Sie singt, weil die Frauen, trotz
allem . . . produzieren, sie äußern sich ein bißehen, aber sie
Jagen nicht. Immer an die Opposition von Sagen und Spre
chen denken. In den philosophischen Texten sagt man, daß
die Waffe der Frau das Sprechen ist, weil sie spricht, spricht
sie reichlich, schwätzt sie, quillt sie über vor Lärm, vor dem
Lärm des Mundes; aber in Wirklichkeit Jagt sie nicht, hat sie
nichts zu sagen. Sie besetzt immer den Platz des Schwei
gens oder läßt ihn höchstens widerhallen vom Singen. Und
im einen wie im anderen Fall ist es nicht zu ihren Gunsten,
da sie ja im Unwissen bleibt.
I
Sie gerne, daß ich will, damit ich meinerseits es zu wollen
vermag?". Das ist dann das, was in der Analyse geschieht.
Stellen wir uns vor, daß alles das anders funktioniert, daß al
les dies anders funktionieren könnte. Zunächst müßte man
sich einen Widerstand vorstellen gegenüber dem männli
chen Begehren, das die Frau zur Position der Hysterikerin
oder der Abwesenden führt. Zunächst mvßte man sich vor
stellen, daß sie mit ihrem Körper aufhört das zu unterstüt
zen, was ich da! Reich dn Eigenen (propre)4 nenne. Das Reich
des Eigenen (propre) als allgemeine, heterosoziale Einrich
tung, wo der Mann regiert als eigen (propre): propre kann
man als eigen zu nicht-eigen opponieren, man kann es auch
112
als sauber zu schmutzig opponieren, wie man schwarz und
weiß gegenüberstellt usw. "propre" ist etymologisch gese
hen "proche" (nahe), es ist das, was sich nicht vom Ich
trennt. Das Nahe ist der Nächste: man soll den Nächsten
lieben wie sich selbst; man muß sich dem Anderen deran
annähern, daß man ihn lieben könnte, da man sich selbst
mehr liebt als alles andere. Das Reich des Eigenen, die Kul
tur, funktioniert durch Aneignung, die sich anikulien, han
delt durch die klassische Furcht des Mannes, sich enteignet
zu sehen, sich zu sehen als beraubt von . . . seiner Weigerung
beraubt zu sein, in einem Zustand der Trennung zu sein,
seiner Angst vor dem Verlust des Attributs, die als Antwon
die Geschichte in ihrer Totalität hat. Alles muß wieder ins
Männliche kommen. "Einkommen": die Ökonomie ist ge
gründet auf etwas, das sich Einkommen nennt. Wenn ein
Mann ausgibt, so unter der Bedingung, daß es wieder rein
kommt. Wenn ein Mann nach draußen geht, wenn er aus
geht, um zum Anderen zu gehen, so funktionien das immer
nach dem hegelianischen Modell, wie es beschrieben wird in
der Dialektik von Herr und Knecht. Es müßte also so sein,
daß die Frau beginnt, sich zum Beispiel der Bewegung der
Wiederaneignung zu widersetzen, die die ganze Ökonomie
organisien, und, allgemein, kein Teil des männlichen Ein
kommens mehr zu sein . . . sondern im Gegenteil ein Begeh
ren vorzutragen, und einen Bezug zum Begehren, das nicht
mehr gefangen wäre im Kampf um Leben und Tod, das
nicht mehr eingeschlossen wäre in der Reserve und dem
männlichen Kalkül der männlichen Ökonomie, sondern das
mit diesem Kalkül brechen würde, indem "ich niemals ver
liere, außer um mehr zu gewinnen" . . . um sich alles das,
was es an Arbeit der Negativität gibt, zu sparen und die Ar
beit eines Positiven sich ereignen zu lassen, das sich be
zeichnen wird als das lebende Andere, als das gerettete An
dere, als das Andere, das nicht von der Zerstörung bedroht
wäre. Die Frauen haben etwas an sich, das dieses Überleben
oder dieses Beleben des Anderen, der Andersanigkeit in ih
rer Unversehrtheit, organisieren könnte. Sie haben etwas an
sich, das die Differenz affirmiert, ihre Differenz, deran, daß
nichts diese Differenz z erstören könnte, sondern daß sie im
Gegenteil affirmien wäre, und zwar bis zu der Fremdheit
affirmien wäre. So sehr, daß man beim Rühren an der sexu-
1 13
ellen Differenz, beim Rühren an ihrer Aufrechterhaltung
oder an ihrem Verschwinden, gleichzeitig auch am ge
samten Problem der Zusammenhänge von Zerstörung des
Fremden rühn, also an allen Rassismen, an allen Ausschlie
ßungen, an allen Zusammenhängen von Ächtung und von
Genozid, wie sie die Geschichte in Gang halten. Wenn die
Frauen beginnen, die Geschichte zu transformieren, so
kann man sagen, daß alle Gesichter der Geschichte völlig
veränden sein werden. Statt vom Mann gemacht zu sein,
wird sie die Frau zu machen haben, sie zu produzieren ha
ben. Hier müßte nun also eine persönliche Arbeit der Frau
an der Frau ins Spiel kommen, die nicht nur der Frau zu
gute kommen würde, sondern der Gesamtheit des Mensch
lichen schlechthin.
Nun, ich glaube, daß das, was die Frauen zu machen haben
werden, und das, was sie machen von dem Augenblick an,
wo sie es wagen werden zu sagen, was sie zu sagen haben,
daß das notwendigerweise eine Umarbeitung des Bezugs
zur Metasprache mit sich bringen wird. Denn ich denke,
daß wir total erdrückt sind, und zwar besonders an solchen
Orten wie Universitäten, durch die superverdrängenden
Wirkungen, wie sie von der Metasprache herrühren, d. h.
vom Kommentar des Kommentars, von der Kodifizierung,
so daß eine Frau, sobald sie den Mund aufmacht, gefragt
wird - und zwar mehr als ein Mann -, in wessen Namen
sie spricht, von welcher Theorie sie ausgeht; wer ihr Mei
ster ist und wo sie herkommt; kurz: sie hat zu deklinie
ren . . . ihre Identität nachzuweisen. Man muß etwas gegen
die Klam unternehmen, gegen die Klassifikation, die Klas
senordnung . . . die Klassen. "Seine Klassen" absolvieren,
das ist seinen Militärdienst leisten. Man muß etwas gegen
den Militärdienst unternehmen und gegen alle Schulen, ge
gen den allgemeinen männlichen Zwang zu beurteilen, zu
diagnostizieren, zurückzuführen, zu benennen . . . zu be
nennen auf eine Weise, die weniger die Arbeit einer ver
liebten Präzisierung wie die poetische Ernennung wäre,
sondern eher die Arbeit einer polizeilichen Zensur wie die
philosophische Benennung.
Welches sind nun die Texte, die sich als Texte von Frauen
zeigen und die gegenwänig als solche anerkannt sind; und
was bedeutet das, wie kann man sie lesen? Ich muß mich
dabei mit Andeutungen begnügen, da es sich um Texte
handelt, die praktisch unbekannt sind, von denen viele an
onym, andere noch nicht publiziert sind . . . Aus meiner jah
relangen Lektüre zeigt sich mir folgendes: auf der einen
Seite gibt es viele Texte von jungen Frauen, von denen ich
sagen würde, daß sie die "Geschichte des kleinen Mäd
chens" machen, aber eines kleinen Mädchens, das mit einer
schlechten Kindheit abrechnet. Das sind Geschichten voll
Schmerzen, Geschichten vom Wachsen, die sich zwischen
der guten Mutter und der bösen Mutter abspielen; und die
oft vom Mord an der Mutter handeln, von der Notwendig
keit, die Mutter zu töten . . . eine Notwendigkeit, die sich
dann unglücklicherweise wiederholt, weil die Frau, die eine
schlechte Mutter gehabt hat, notwendigerweise eine Frau
ist, deren Töchter endlos für die schlechte Mutter ihrer
Mutter bezahlen müssen.
Es gibt Texte von älteren Frauen, die ich in letzter Zeit ge
lesen habe, die Texte über die Rückkehr der Frau zum eige
nen Körper sind, sehr fleischlich, sehr sinnlich, Texte der
Erforschung. Texte eines wirklichen "Hungers" . . . und ei
nes Dursts: sie baden im Wörterbuch, sie fressen Wörter,
1 16
sie sind eine Art von gewaltiger verbaler Feinschmeckerei.
Wie wenn sich in den Texten das abspielen würde, was sich
sonst in Neurosen abspielt, sei es nun Appetitlosigkeit oder
Heißhunger. Man sieht plötzlich einen gewaltigen Heiß
hunger auf Sprache oder, im Gegenteil, einen Text von ei
ner völlig verwirrenden Magerkeit. Und dann gibt es noch
die "Erfolgs"-Texte, die ich zwar schrecklich, aber interes
sant finde. Ich sage "Erfolgs"-Texte, weil letztes Jahr, als
alle Welt erfahren hatte, daß es ein "Jahr der Frau" gäbe,
die Massenmedien und die Verlagshäuser in Panik geraten
sind, und alle Welt hat sich beeilt, Frauentexte herauszu
bringen. In jedem Verlag gab es mindestens einen Frauen
text. Und das Frappierende daran war, daß es einen Preis
für Entfremdung gab! Die Texte, die gefördert wurden, die
aufgefallen sind, waren Texte, die verrückte Frauen, zer
störte, kranke Frauen darstellten . . . Es sind Texte aus dem
Asyl, denen es nicht an Schönheit und Kraft fehlt; das war
es, was hervorgehoben, kommentiert, unterstützt wurde
von der Presse . . . Man kann im Grunde nicht umhin, zu
denken, daß es die Welt in Ordnung bringen würde, wenn
die weibliche Schrift, an deren Existenzfähigkeit man noch
vor zwei Jahren zweifelte, wenn sie nun letzten Endes eben
das wäre? Man bekommt so ganz schnell die Frau zurück,
diesmal auf einer Tragbahre anstatt im Bett, in einem Zu
stand der Auflösung und des Schmerzes, der Zerstücke
lung, der sie offensichtlich kampfunfähig macht. Ich würde
sagen, daß irgendwo, sich davon abwendend, aber nicht
ohne Bezug dazu, eine große Anzahl von Texten tatsächlich
versucht, den Ort zu erlauben, zu konsolidieren, wo die
Frau sich verliert, wo der Mord an der Frau verewigt wird
und wo Krankheit ein Vorteil ist. Wo es die Ambivalenz
gibt, die darin besteht, immer einen Nutzen zu ziehen aus
der Abgezehrtheit, aus dem Verlust, aus dem Schmerz, in
dem sie daraus eine Art von tragischem Prestige schöpft.
Die Frage, die ein Text der Frau stellt, ist die Frage nach
der Gabe, "Was gibt sie?", "Wie gibt sie?", diese Schrift.
Und um von diesem Nicht-Ursprung und von diesen An
fängen zu sprechen, "gibt sie die Abfahrt". Nehmen wir den
Ausdruck "die Abfahrt" in seiner metaphorischen Kraft: die
Abfahrt geben, das heißt im Allgemeinen, das Signal zur Ab
fahrt zu geben. Ich glaube, daß es mehr ist, als das Signal zur
Abfahrt zu geben, es ist ein wirkliches Geben, Schenken der
Abfahrt, das Erlauben der Abfahrt, das Erlauben der Brü
che, der "Ausflüge" (parties) , der Teilungen, der Trennun
gen . . . von wo aus man brieht mit dem Auf-sieh-Zurück
kommen, mit der Spiegelung, die die Einigung, die
Identifikation des Individuums organisiert. Wenn eine Frau
in der Nicht-Repression schreibt, läßt sie ihre Anderen her
vortreten, ihre Menge von Nicht-Ich/s, auf eine Weise, die
den Rahmen der familiären Struktur zerstört; es defamiliari
siert sieh beispielsweise, es kann sieh nieht mehr denken in
Begriffen der Rollenzuteilung innerhalb einer sozialen
Zelle, und das, was geschieht, ist eine unendliche Zirkula
tion des Begehrens von einem Körper zum anderen, über
oder quer durch die sexuelle Differenz, aber ohne die Zu-
119
sammenhänge von Macht und Generation, wie sie in den
Familien organisien sind. Ich glaube, daß Generation, Al
ter, Zeit gesprengt werden . . . Ein Text von einer Frau, der
läßt Entsagung hervonreten, eine kostenlose Entsagung:
nicht die Entsagung mit der unmittelbaren Wiederein
nahme, sondern wirklich die Fähigkeit, das Ergreifen fallen
zulassen und zu vernachlässigen. Also metaphorisien es
sich als Irre, als Überbordung, es metaphorisien sich als Ri
siko des Unberechenbaren: kein Kalkül, man kann einen
weiblichen Text nicht voraussagen, er sagt sich selbst nicht
voraus, er kennt sich nicht, er ist also sehr verwirrend. Er ist
nicht antizipierbar, und ich glaube, daß sich die Weiblich
keit schreibt in der Nicht-Antizipation: das ist wirklich der
Text des Unvorhersehbaren.
1 Vgl. Sun Tze, Die dreizehn Gebote der KriegJkumt, München 1972.
IAnm. d. R.]
2 La jeune nee, Paris 1975; Auszüge in Alternative, Nr. l08- 109,
Berlin (West) Juli/August 1976.
3 Marguerite Duras, Die Verzückung der Lol V. Stein, Frankfurt am
Main 1966.
4 "propre" kann u. a. heißen: eigen, besondere(r,s), eigentlich,
eigentümlich. IAnm. d. R.]
5 La, Paris 1976.
Ein Gespräch
Warum beginnen Sie Ihr Buch .Speculum. Spiegel des anderen Ge
schlechts" mit einer Kritik an Freud?
Jene Ordnung ist aber natürlich diejenige, die heute als Ge
setz gilt. Das zu verkennen, wäre ebenso naiv, wie es in sei
ner Vormachtstellung zu belassen, ohne nach den Bedin
gungen seiner Möglichkeit zu fragen. Daß zum Beispiel
Freud - oder ganz allgemein die psychoanalytische Theorie
- zum Thema, zum Objekt seines Diskurses die Sexualität
gewählt hat, führte nicht etwa zu einer Interpretation des
sen, was darin an Gnchlechtupezijik (sexuation) dn DiJkurm
selbst, und insbesondere des seinigen, liegt. Von einer sol
chen legt jedoch seine entschlossen "männliche" Betrach
tungsweise der weiblichen Sexualität und darüber hinaus
seine partielle Aufmerksamkeit für die Beiträge der weibli
chen Analytiker Zeugnis ab. Er hat, was die sexuelle Diffe
renz angeht, keine Analyse der Voraussetzungen der Pro
duktion des Diskurses geleistet. Mit anderen Worten: die
Fragen, die die Praxis und Theorie Freuds an den Schau
platz der Repräsentation stellen, führen nicht bis zu derje
nigen nach einer geschlechtsspezifischen Determination
dieses Schauplatzes. Indem er diese Artikulation verfehlt,
bleibt der Beitrag Freuds zum Teil - gerade da, wo er die
Differenz der Geschlechter betrifft - in metaphysischen
Apriori befangen.
Ja, denn wenn man sich nicht naiv - oder manchmal tak
tisch - mit irgend einer Regionalität oder Marginalität be
scheiden will, ist es natürlich der philosophische Diskurs,
den man befragen und zerrütten muß, insofern er das Gesetz
jedes anderen ausmacht, insofern er den Diskurs der Dis
kurse konstituiert.
Es war mithin notwendig, zu ihm zurückzukehren, um das-
128
jenige zu befragen, was die Mächtigkeit seiner Systematisie
rung, die Kraft seiner Kohäsion, die Quelle seiner Entfal
tungen, die Allgemeinheit seines Gesetzes und seines
Wertes ausmacht. Also seine Position der Herrschaft und des
möglichen Wiederaufnehmens verschiedener Erzeugnisse
der Geschichte. Diese Dominanz des philosophischen Lo
gos verdankt sich nun aber zu einem guten Teil seinem
Vermögen, al/es Andere in die Ökonomie des Gleichen zurückzu
führen. Das Vorhaben teleologischen Konstruierens, dem er
sich widmet, ist immer auch ein Vorhaben der Umlenkung,
der Irreleitung, der Zurückführung des Anderen in das
Gleiche. Und - in allergrößter Allgemeinheit vielleicht -
das Vorhaben, die Differenz der Geschlechter in den selbstre
präsentativen Systemen eines "männlichen Subjekts" auszu
löschen. Daher die Notwendigkeit, die Figuren des philoso
phischen Diskurses - Idee, Substanz, Subjekt, transzenden
tale Subjektivität, absolutes Wissen - "wieder aufzubre
chen", um ihre Anleihen auf das/bei dem Weiblichen
wieder zum Vorschein zu bringen, damit sie "zurückge
ben", was sie dem Weiblichen schulden. Das kann mit ver
schiedenen Mitteln, auf verschiedenen "Wegen" geschehen.
Zumindest aber bedarf es dazu mehrerer. Etwa indem man
die Bedingungen der Möglichkeit der Systematisierung selbst be
fragt. Also dasjenige, was die Kohärenz der diskursiven
Aussage von ihren Produktionsbedingungen verbirgt, was
auch immer sie im Diskurs darüber sagen mag. So die "Ma
terieK, von der das sprechende Subjekt sich nährt, um sich
zu produzieren und zu reproduzieren, aber auch die Szeno
graphie, die die Repräsentation so, wie sie sich in der Philo
sophie definiert, ermöglicht, also die Architektonik ihres
Theaters, ihre raum-zeitliche Rahmung, ihre geometrische
Ökonomie, ihre Kulissen, ihre Akteure sowie deren Stel
lung zueinander, deren Dialoge, ja sogar deren tragische
Beziehungen, nicht zu vergessen den Spiegel, der, zumeist
versteckt, dem Logos, dem Subjekt erlaubt, sich selbst zu
verdoppeln, sich zu reflektieren. Das alles sind Eingriffe in
die Szene, die, solange sie nicht interpretiert worden sind,
ihre Kohärenz sichern. Es ist also notwendig, sie in jeder
Figur des Diskurses wieder ins Spiel zu bringen, um ihn aus
seiner Verankerung im Wert der Präsenz herauszureißen.
Für jeden Philosophen - beginnend mit denjenigen, die
129
eine Epoche der Geschichte der Philosophie bestimmt ha
ben - muß man herausfinden, wie sich der Einschnitt der
materiellen Kontiguität, die Montage des Systems, die Spie
gelökonomie ins Werk setzt.
Doch die Psychoanalyse selbst, und sogar mit Hilfe der Wis
senschaft der Sprache, kann - wie man bereits gesehen hat
- die Frage der Artikulation des weiblichen Geschlechtes
im Diskurs nicht lösen. Obgleich die Theorie Freuds, in
folge einer allgemeinen Wiederholung des Schauplatzes -
jedenfalls, was die Beziehung zwischen den Geschlechtern
angeht -, deutlich die Funktion des Weiblichen in jenem
anzeigt. Bleibt alio noch die FunktionJ'Tlleiu dei Diskuriei zu "de
itruieren". Was kein eben einfaches Unternehmen ist . . .
Denn wie sich Zutritt verschaffen z u einer derart kohären
ten Systematik?
Aber sicher, wenn das nichts als "Motive" wären, ohne Ar
beit an der Sprache, dann könnte die diskursive Ökonomie
fortbestehen. Wie also versuchen, noch diese Arbeit an der
Sprache zu definieren, die dem Weiblichen Raum gäbe? Be
merken wir, daß jeder dichotomisierende und zugleich ver
doppelnde Einschnitt - eingeschlossen der zwischen dem
Aussagen und der Aussage - aus der Fassung gebracht wer
den muß. Nichts, das jemals gesetzt wurde, das nicht umge
kehrt und auch verwiesen werden muß auf das über diese
Umkehrung Hinausgehende. Anders gesagt, es existiert hier
nicht mehr Vorder- noch Rückseite des Diskurses, noch
selbst des Textes, sondern ein Übergehen der beiden vom
einen zum anderen, um auch dasjenige "verstehen" zu las
sen, was dieser Rekto-Verso-Struktur, die den gesunden
Menschenverstand trägt, widersteht. Wenn das durchge
führt werden muß für jeden gesetzten Sinn - Wort, Aus
sage, Satz, aber sicher auch Phonem, Buchstaben . . . - dann
ist es billig, es in der Weise zu tun, daß die lineare Lektüre
des Textes nicht mehr möglich ist. Das heißt, die Rückwir
kung des Endes des Wortes, der Aussage, des Satzes auf ih
ren Anfang muß berücksichtigt werden, um die Macht ihrer
teleologischen Wirkung, hier begriffen in ihrer Nachträg
lichkeit, zu entschärfen. Das würde auch für die Opposition
der Horizontalitäts- und Vertikalitäts-Strukturen gelten, die
in der Sprache am Werk ist.
142
man wendet ein, daß kleine Mädchen nicht schreiben, daß
sie wie die Wilden seien. Und dann sind sie, wie die Wil
den auch, zweifellos nur eine Schöpfung ihres vermeintli
chen GegenteilS, der ernsten Männlichkeit, die im Grunde
auch ihr Richter ist: eine Schöpfung der Eifersucht, die der
Mann gf!genüber dem empfindet, was er nicht sein darf.
Der König von Wu sagt zum General Sun Tze: Ihr, der Ihr
ein großer Feldherr seid und Euch rühmt, jeden in der
Kriegskunst auszubilden, nehmt hundertachtzig meiner
Frauen und versucht Soldaten aus ihnen zu machen. Sun
Tze läßt die Frauen in zwei Reihen, die von den beiden
Lieblingsfrauen angeführt werden, antreten und lehrt sie
mit der Trommel den Befehlskodex: zwei Schläge: rechts
um; drei Schläge: links um; vier Schläge: kehrt. Anstatt zu
gehorchen, lachen und schwätzen die Frauen. Er wieder
holt die Übung mehrere Male : die Frauen versichern, den
Kodex verstanden zu haben, aber jedesmal gibt es nur ein
großes Gelächter und allgemeines Durcheinander. Nun gut,
sagt Sun Tze, Ihr lehnt Euch auf, dafür sieht das Militärge
setz den Tod vor: Ihr werdet also sterben. Man unterrichtet
den König, der ihm verbietet, die Frauen schlecht zu be
handeln, besonders die Lieblingsfrauen. Sun Tze läßt ihm
antworten: Ihr habt mir den Auftrag gegeben, sie in die
Kriegskunst einzuführen, das übrige ist meine Sache. -
Und mit seinem Säbel schlägt er den beiden Führerinnen
den Kopf ab. Sie werden durch andere ersetzt, und das
Exerzieren wird wieder aufgenommen. ..Und als ob diese
Frauen ihr Leben lang nur das Kriegshandwerk betrieben
hätten, folgten sie schweigsam und fehlerlos den Befeh
len."!
Hier haben wir also eine Teilung von männlich und weib
lich. Erstens, Kennzeichen der Männlichkeit ist der An
spruch, die Ordnung herrschen zu lassen; Kennzeichen der
Weiblichkeit der Zwang, darüber zu lachen. Das Frauenge
mach plappert, die Truppen schweigen. Im Gegensatz zu
unserer Erzählung zeigt die Komödie, gleichwohl ein wich
tiges männliches Genre, die Erfolge listiger Schwäche; sie
läßt die Männer über das Lachen der Frauen lachen; Rosina,
143
die Gefangene, macht Don Bartholdo lächerlich. Aber die
ses Zugeständnis dauert nur einen Augenblick: kaum ist
Rosina ihrem Beschützer entkommen, da steht sie auch
schon unter dem Gesetz des Grafen Almaviva, des wahren
Herren. Wer zuletzt lacht, lacht am besten: der unbeküm
merte Humor der Frauen wird der wissenden, sokratischen,
teleologischen Ironie der Männer unterliegen.
Zweitens, die List der (männlichen) Vernunft unterscheidet
sich von den Schlingen des (weiblichen) Gefühls; sie bedient
sich des Todes. Sun Tze tötet einige der lachenden Frauen:
das ist der Ernst. Wenn die Frauen zivilisiert und das heißt:
vermännlicht werden sollen, dann müssen sie die Angst zu
sterben erfahren und sie überwinden. Andernfalls geben sie
entweder nach und werden unterworfen (können aber
heimlich weiterlachen); oder sie lassen sich nicht unterwer
fen: dann tötet man sie ein bißchen, und es gibt tote Solda
ten, aus denen man Helden machen kann. Sklavinnen sind
nie sicher; wirklich zivilisierte Frauen sind Tote oder Män
ner.
Drittens, ein sicheres Kriterium, die Geschlechter zu unter
scheiden, ist also ihr Verhältnis zum Tod: männlich ist ein
Körper, der sterben kann, welches anatomische Geschlecht
er ;tuch immer haben mag; weiblich derjenige, der nicht
weiß, daß er verschwinden muß. Die Männer lehren die
Frauen den Tod, das Unmögliche, die Anwesenheit der Ab
wesenheit. Die Tragödie ist ein vornehmes Genre, weil man
in ihr nicht lacht; man zeigt in ihr sogar, daß es nichts zu la
chen gibt. Die Frau hat in ihr keinen Platz. Sun Tze defi
niert das Ritual einer Überfahrt: das Weibliche ist auf der
Seite des Kindes, der Jugend und der Natur; der Fährmann
ist der Tod; er führt zur Sprache, zur Ordnung, zum Ge
wahrwerden des Mangels, zur Signifikanz, zur Kultur.
Sexuelle Theorie und Praxis der Männer schließen
die Todesdrohung mit ein. Oder: Die Sexualität hat
keinen Sinn ohne einen Signifikanten
Wenn Freud fragt, was will das Weib, dann gibt er, als
Mann, zu verstehen, daß sie, da sie passiv ist, nichts will.
Und wenn er sagt, daß die Libido immer männlicher Natur
ist2 - darin einer Meinung mit jenem Besucher pornogra-
144
phischer Filme, der auf die Frage, warum sich Frauen für
solche Darstellungen nicht interessierten, antwortete: "Die
Frauen? Schon mal Frauen gesehen, die sich für Sex interes
sierten? Frauen haben kein Geschlecht"3 -, dann versteht
Freud unter Libido etwas Triebhaftes, das man verstehen
kann, weil es etwas (sagen) will. Für Lacan ist der Signifi
kant, der seine Wirkungen in unbewußte "Aussagen" ein
schreibt, der Phallus, apriorische Bedingung jeglicher sym
bolischen Funktion, wenn sie die geschlechtlichen Körper
bearbeitet. Der Körper ist nicht geschlechtlich, solange er
nicht "die Engführungen des Signifikanten" passiert hat,
was soviel heißt wie: die Drohung der Kastration oder des
Todes, das Mal des Ödipusgesetzes.
Hier scheint der Unterschied zustande zu kommen: man
nimmt an, daß der Junge diese Drohung überwindet, um
aus dem Ödipus heraus- und in die Männlichkeit einzutre
ten, während das Mädchen, so heißt es, zur Weiblichkeit
gelangt, indem sie in den Ödipus eintritt und sich unter das
Gesetz der Kastration stellt. Ersterer wird sich trotz des Va
ters mit dem Phallus zu identifizieren haben, letztere sich
damit begnügen müssen, ihn zu empfangen.4 Es scheint,
daß Sun Tze mit dieser ausgesprochen männlichen Version
einverstanden ist: Wenn eine Frau ein Mann werden soll,
dann muß sie dem Tod oder der Kastration, dem Gesetz
des Signifikanten entgegentreten. Andernfalls wird ihr der
Sinn des Mangels immer fehlen. Das ist der Grund, weshalb
sie sich für ewig hält und ihr die Sexualität, die Aktivität,
die die Sprache des Körpers konstituiert, vorenthalten
ist.
Nichts anderes sagt Platons Sokrates, wenn er versichert,5
daß die Liebe (Eros) nicht nur von der List, der Schläue,
dem Mittel (Poros) gezeugt wird, sondern auch vom Mangel
(Penia), daß man das, was man liebt, nicht um seiner selbst
willen liebt, sondern um es zu befruchten und in ihm sich
zu reproduzieren, um unsterblich zu werden. Auf diese
Weise ordnet er die Liebe der Wirkung des abwesenden Si
gnifikanten unter, der Idee, dem obersten Paradigma, das
die Körper über sich hinaus bewegt. Um das zu bezeugen,
wird SokrateJ Jterben.6 Aus dieser Verteilung der symboli
schen Funktion geht die große männliche Verbindung von
Krieg und Sex hervor (die man auch in den chinesischen
145
Traktaten der Liebeskunst findet, die zugleich Lehrbücher
der Kriegsführung sind). Die Männlichkeit konstituiert sich
um einen Prei!, den des Lebens; nur wenn er sterben kann,
kann der Körper sprechen, und jedesmal wenn er genießt,
riskiert er, wieder ein Körper ohne Gesetz, ohne Sprache
zu werden, der nur zu leben und zu lachen fähig ist. Die
liebe ist für den Mann ein Kampf, in dem seine Männlich
keit, und das heißt: die Kultur auf dem Spiel steht.
Die Männer - zumindest im Abendland - lieben nicht die
Liebe, sondern den Sieg. Unter ihnen herrscht eine ironi
sche Verachtung des Körpers und der Sinne, der Gerüche,
der Berührungen, der Ausscheidungen, des Geschehen-Las
sens, der Klänge; diejenigen unter ihnen, die sich dem
überlassen, nennen sie "Künstler". Aber die Künstler sind
weiblich. Die Männer empfinden es als Niederlage, wenn
sie lieben. Sie ziehen die Prostituierten vor, deren Leiden
schaftslosigkeit sie schützt. Die Lust einer Frau bleibt ihnen
ein Rätsel, da sie die technischen Mittel nicht gefunden ha
ben, um sie gewiß und vorhersehbar zu "produzieren". Sie
geben der Klitoris den Vorzug, die sie als vertrauten und
zuverlässigen Agenten betrachten, der für sie auf feindli
chem Terrain arbeitet. Das Eindringen in die Vagina ist
"dann" die Besetzung des Terrains und zugleich der Cursus,
der von der Besiegten bis zum höchsten Grad der Lust, die
der Mann aus ihr gewinnen will, durchlaufen wird.
Für die Frau hingegen ist "genießen" oder "nicht genie
ßen", im Sinne von "den Spasmus haben oder nicht haben",
mit dessen Eintreten der Mann nach dem Vorbild seines ei
genen Orgasmus rechnet - für sie ist das, wenn sie liebt,
keine Frage. Die Frage stellt sich nicht, die Antwort ist
gleichgültig. Es ist der Männlichkeit eigen, dies nicht wis
sen zu wollen; dies impliziert freilich, daß die Körperteile
nicht "sprechen", sondern "funktionieren" (workj, ohne ei
nen Sinn verwirklichen zu müssen, der ihnen ermangelte;
daß man sehr wohl genießen kann, ohne zu lieben, und lie
ben, ohne zu genießen. Die affektiven und sexuellen Ma
chinationen haben also nichts mit irgendeiner Erfüllung ei
nes körperlichen Sinns (orgastische "Befriedigung") oder
eines theoretischen Sinns (das Schöne, das Wahre) zu
tunJ
146
Der männliche Imperialismus verstößt die Frauen
entweder an die Grenzen oder macht sie, wenn er sie
erzieht, den Männern gleich (homolog)
Alles steht für den männlichen Imperialismus bereit: das
leere Zentrum, wo die STIMME sich Gehör verschafft (ob die
GOTTES oder des VOLKES ist hier unwichtig, wichtig ist die
GROSSSCHREIBUNG ) , um das Zentrum herum der Kreis der
homosexuellen Krieger, die ihre Dialoge halten,8 das Weib
liche (Frauen, Kinder, Metöken9, Sklaven), das aus dem Cor
pus socians verstoßen wird und die Eigenschaften aufweist,
mit denen dieser Corpus nichts zu tun haben will: Wildheit,
Empfindlichkeit, Rohes und Gekochtes, Impulsivität, Hy
sterie, Schweigen, ekstatischer Tanz, Lüge, dämonische
Schönheit, Schmuck, Geilheit und Hexerei, Schwäche. Sich
selbst begreift der männliche Corpus als aktiv, tatig, wie He
gel, Freud, alle sagen: wir müssen jenes ferne Objekt ergrei
fen, das menschlich zu sein scheint, es aber in Wirklichkeit
nicht ist, sondern erst menschlich werden muß. Der männli
che Imperialismus ist kriegerisch und pädagogisch, was ein
und dasselbe ist: er glaubt, die Initiative zu haben. Die
Frauen (und alles, was weiblich ist) werden reaktiv oder pas
siv genannt, sie wanen auf die Tat des Sinns, um erregt, be
fruchtet, kultiviert, aufgehoben zu werden. Sie sind Verrä
terinnen, wie der Indianer und der Araber, ihre scheinbare
Menschlichkeit ist erschlichen: derober, rauben, rubare, sie
sind die Diebinnen der Menschheit.lO
Aber vielleicht können wir Männer den Wunsch, dieses Ob
jekt zu ergreifen, deshalb nicht unterdrücken, weil nur von
ihm die Rede ist im Diskurs der STIMME des männlichen
ZENTRUMS : sie spricht nur von den Grenzen des IMPERIUMS
(die die Frauen sind), und wir müssen ohne Unterlaß ihre
Äußerlichkeit bekämpfen. Und wenn das wahr ist, muß
man dann nicht zugeben, daß dieses Objekt unbewußt mit
dem, was wir Aktivität nennen, ausgestattet ist? Und verrät
nicht die listige Kraft, die wir ihnen zugestehen, daß unsere
Rolle insgeheim von der ihren umgedreht wird? (Hat der
abendländische Mann vielleicht nicht doch den Wunsch,
sich von der Frau sodomisieren zu lassen?) Ist nicht auch
für den Mann das am wichtigsten, was außerhalb des Thea
ters der Männer liegt? Findet er nicht gerade dort seinen
147
"Ursprung"? Und dieser Ursprung, ist er nicht Weib? Die
Mutter, ist sie nicht das ursprünglich Weibische? Das heißt
eine bestimmte Art, das äußere Geschlecht in der Theorie
zu repräsentieren: als ungegründeter Grund, in welchem
sich der Sinn erzeugt. Das sinnlose SEIN?
In der Tat kann die Frau vom Bürger, vom Staatsmann, als
Mutter, als Mutter seiner Söhne, anerkannt und geschätzt
werden: sie ist nun einmal die unvermeidbare Vermittlung
zwischen ihm und seinen Söhnen. Der Corpus socians kann
sich nicht reproduzieren, ohne durch den Bauch der Frauen
hindurchzugehen. Die männlichen Homosexuellen schät
zen ihn, aber nur an den Rändern des IMPERIUMS. Die Göt
tinnen der Fruchtbarkeit sind eher orgiastisch als bürger
lich; ihr Kult wird in Griechenland beibehalten, aber in die
Dunkelheit der Baccheia zurückgestoßen, in Rom mit dem
Christentum beseitigt, später in der Marienverehrung subli
miert: das männliche christliche Abendland ehrt nicht die
Frauen, sondern sein eigenes Reproduktionsvermögen, das
im Schoß der Jungfrau angelegt ist und im Bauch der Mut
ter ausgebeutet wird.
Und die Frauen, die weder Jungfrauen noch Mütter sind,
die "Mädchen"? Sie muß man erobern, besänftigen, heili
gen, retten und uns gleichmachen. Schon das Christentum
stellt die Frage: soll man die Frauen erziehen, und wie? Der
Kapitalismus wird die Methode, die sich in dieser Fragestel
lung abzeichnete, verallgemeinern: die Frauen nicht durch
Verbannung ausschließen, sondern durch Homologisierung.
Er trägt dazu bei, die Einschließung in den Raum der Fami
lie zu zerstören, er integriert sogar teilweise ihre Reproduk
tionsfunktion, wenn er indirekt, entsprechend seinen Be
dürfnissen, auf ihre Zeugungsbereitschaft einwirkt und ihre
Produkte, die berühmten Söhne, als Waren behandelt,
ebenso wie ihre trächtigen Bäuche. Die Erziehung der
Frauen besteht also darin, ihre natürlichen weiblichen Res
sourcen, und zwar alle Ressourcen, durch ihren Einschluß
in seine Reproduktionszyklen auszubeuten.
150
herrschte . Die Unterschiede durchquerten die "eigenen
Körper", statt einen starren Gegensatz zwischen "männlich"
und "weiblich" zu errichten. Dies würde ermöglichen, daß
die Oberflächen, die zwei (oder mehreren) Individuen "ge
hören"(?), sich in gewisser Weise aneinander koppeln kön
nen (die mag man sadistisch, masochistisch, zärtlich, obla
tiv, zwanghaft nennen oder mit ich weiß nicht welchem
Wort aus dem Lexikon der Nosographie - versucht vor al
lem, bessere zu finden !), ohne zu beeinträchtigen, was auf
den anderen Oberflächen "derselben" Körper geschieht.
151
sichts dessen, was er Irrationalismus nennt, sieht sich der
Herr der Waffen und des Worts wieder mit einer pädagogi
schen Aufgabe betraut: er braucht eine Grenze, die er er
obern kann, und Wilde, die er zivilisieren kann. Befreien
wir ihn lieber von seinem Wörter- und Todespanzer, tau
chen wir ihn in das große Patchwork der affektiven, intensi
vierenden Elemente. Führen wir keinen frontalen Krieg ge
gen ihn, sondern eine Art Guerilla mit Hinterhalten und
plötzlichen Überfällen, in einem anderen Raum und in ei
ner anderen Zeit als denen, die uns der männliche Logos
seit Jahrtausenden aufzwingt. Man könnte versucht sein,
diese verdrehten Räume und paradoxalen Zej.ten einem
"weiblichen Prinzip" zuzuschreiben. Aber das hieße nur,
dem sogenannten "männlichen Prinzip", als dessen einfa
ches Komplement es dann erschiene, noch einmal ein Zu
geständnis zu machen. - Oder? Sagen wir das doch, aber als
eine Art Theorie-Fiktion. Und fangen wir an, mit Fiktionen
zu arbeiten und nicht mit Hypothesen oder Theorien: für
einen, der schreibt und redet, wäre das die beste Weise,
"weiblich" zu werden . , .
1 VgJ. Sun Tze, Die dreizehn Gebote der Kriegskrmst, hrsg. von
G. Maschke, München 1972. Sun Tze ist ein chinesischer Kon
dottiere und Feldherr aus der Zeit der Hegemoniekriege und
soll zwischen 512 und 506 v. Chr. gewirkt haben.
2 Sigmund Freud, "Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie"
(1905), in: G. W., V, S. 120.
3 Umfrage von G. Sitbon, Le Nouvel Observateur, Paris 18. August
1975.
4 Sigmund Freud, "Einige psychische Folgen des anatomischen
Geschlechtsunterschiedes" (1925), in: G. W., XIV, S. 130.
5 Platon, Symposion, 201d-207a.
6 Platon, Apologie (Des Sokrates Veneidigung).
7 In dieser Hinsicht besteht völJige Übereinstimmung zwischen
der platonischen Theorie der Liebe und beispielsweise dem
Reich'schen Sexualitätsbegriff (Die Funktion des Orgasmus,
Frankfun am Main 1975).
8 Marcel Detienne, "En Grece archaique: geometrie, politique et
societe", in: Annales. Economies, societes, civilisations, 20/3 (Mai bis
Juni 1965).
9 Onsansässige Fremde ohne politische Rechte. [Anm. d. R.]
10 Helene Cixous, "Sonies·, in: H. Cixous/C. Clement, La jeune
nie, Paris 1975.
11 Nach einem Ausdruck von Marx (vgJ. Das Kapital, Kapitel IlI,
VII, XXV), der zum Beispiel gegen die Eliminierung von Mut
ter Natur als Quelle des materiellen Reichtums in bestimmten
Interpretationen seiner Theorie des Arbeitswens polemisien.
155
Vgl. DaI lVzpital, Bd. 1, Kapitel I, und .Kritik des Gothaer Pro
gramms" (Lyotard hat wohl die folgende Passage im Auge:
"Die Gebrauchswerte Rock, Leinwand usw., kurz die Waren
körper, sind Verbindungen von zwei Elementen, Naturstoff
und Arbeit. Zieht man die Gesamtsumme aller verschiedenen
nützlichen Arbeiten ab, die in Rock, Leinwand usw. stecken,
so bleibt stets ein materielles Substrat zurück, das ohne Zutun
des Menschen von Natur vorhanden ist . . . Die Arbeit ist also
nicht die einzige Quelle der von ihr produzierten Gebrauchs
werte, des stofflichen Reichtums. Die Arbeit ist sein Vater,
wie William Petty sagt, und die Erde seine Mutter." MEW 23,
S. 57f. Zusatz des Übersetzers).
12 Ilza Veith, Hptena, the HiItory 0/ a DiIeaJe, Chicago 1965.
13 Umfrage von G. Sitbon, a. a. O.
14 Pierre Klossowski hat auf dieses Thema im CEuvre von
de Sade hingewiesen. Vgl Sade mon prochain", Paris 1967; Le
. •
Wenn die Kategorie Frau existiert, woher dann das Privileg, das
den Frauen bei diesem Zugang zukommen würde? Hängt das ir
gendwie mit der Beziehung zur Mutter zusammen?
Ja, aber wenn solche Typen zu dir kommen, dann sind die doch nicht
so ganz repräsentativ, ebensowenig wie umgekehrt die Prostituierten,
die zum Pfarrer gehen, um "da herauszukommen".
In dem Sinn, in dem du (in "Die Couch des Armen"p schreibst, zum
Analytiker gehen, das heißt, zu jemandem gehen, der einen "guten
Ruf" hat, das heißt, in ein "gutes Ritual" einsteigen . . .
162
Man bleibt stehen bei einer traditionellen Konzeption vom
Orgasmus, der als System von Erregung und Entladung ge
sehen wird, und berücksichtigt nicht die Gesamtheit der Sy
steme der Intensitäten und der Konnexion mit dem So
zius.
Davon auszugehen, daß "das so und nicht anders zu laufen hat", ist
nur eine andere Weise, die Idee der Stadien aufrechtzuerhalten . . .
Und dein Prozeß wegen der "Recherchen"-Nummer »Encyclopedie
des Homosexualites", das war wohl wie eine Posse von Courte
line?5
163
nicht zum Spaß. Ich bin davon überzeugt, daß sich auf
diese Weise die Funktion des Geldes innerhalb der Familie,
für die Kindheit, in der psychoanalytischen Kur usw. auf
klären ließe. Also indem man sich ansieht, was da so läuft -
was heißt das, "sich jemand kaufen"? was heißt das für die
andere Seite? - würde man in diesem Bereich aus präfor
mierten und sterilen Schemata herauskommen.
Alles, was irgend etwas zerschlägt, alles, was mit der eta
blierten Ordnung bricht, hat etwas mit der Homosexualität
zu tun oder mit einem Tier-Werden, einem Frau-Werden
usw. Jede Semiotisierung im Umbruch impliziert eine Se
xualisierung im Umbruch. Meiner Ansicht nach muß man
also nicht die Frage nach homosexuellen Schriftstellern stel
len, sondern vielmehr nach dem suchen, was es an Homo
sexuellem bei einem großen Schriftsteller gibt, sogar dann,
wenn er unter anderem auch noch ein Heterosexueller ist.
167
Bereits in Geschwindigkeit und PoJitik2 habe ich gezeigt, wie
Abstimmung und Anpassung der vektoriellen Geschwindig
keiten (die logistische Polizei) bei den verschiedensten mi
litärischen und revolutionären Konflikten in Europa und
den Vereinigten Staaten den Zusammenhalt der Massen am
sichersten gewährleistet haben. Zugleich aber, wie die
Macht weniger darauf abzielte, in Gebiete einzufallen und
sie zu besetzen, als durch Allgegenwart und augenblickli
che Präsenz des Militärs aus der Welt ein Resurne der Welt,
ein reines Geschwindigkeitsphänomen zu machen, ein Phä
nomen, in dem sich bereits das Unumschränkte der Ge
schwindigkeit abzeichnet.
Doch man geht zu schnell vor, und letztendlich sieht es da
nach aus, als sollte das eigene Waffenarsenal zum inneren
Feind jeder der beiden Mächte werden. Denn gerade das
Augenblickliche der Information droht auch augenblicklich
die Krise zu schaffen, so daß nun die Abschreckung nötig
wird: die alte Kriegsmaschine verwandelt sich nach und
nach in eine Maschine totalen Friedens und völliger Befrie
dung. Durch den Einsatz bislang unbekannter Geschwin
digkeits-Vektoren ist das einstige Kriegsspiel, bei dem es
um die Welt ging, von einem neuen Spiel abgelöst worden,
genauso wie das Spiel von Hughes, dem technologischen
Mönch, das Spiel des Soldaten-Mönchs oder des "saint-si
monistischen Priesters" ersetzt hat.
Vor dem ersten Weltkrieg interessierten sich der Arzt Gu
stave Le Bon end viele seiner Zeitgenossen für die Psycho
logie der Massen, diese neue Form der Besessenheit. Als
Deutschland in den Krieg eintrat, schrieb Le Bon: "Niemals
ist die geistige Vereinheitlichung weiter getrieben worden;
die Seele des Individuums wurde allmählich zerstört, um
aus ihr eine Massenseele zu machen." - "Man könnte mei
nen, in Millionen Köpfen denke ein einziges Hirn", stellt
seinerseits ein Redakteur der Gazette de Lausanne fest.
Le Bon weist in seinen Arbeiten auf die verhängnisvollen
Folgen des psychologischen Konformismus hin, der sich
vor allem in der sogenannten Grundlagenforschung zeigt.
"Selbst isoliert bleibt der Deutsche in der Masse. Noch für
das spezialisierteste Fachbuch zeichnet mindestens ein
Dutzend Autoren. Wie erbärmlich, denn auch der Scharf
sinnigste muß jedes Urteilsvermögen verlieren, sobald er
168
den Gesetzen des Masseneinflusses unterliegt. Festste
hende Tatsachen und unumstößliche Gewißheiten kann es
für eine kollektive wissenschaftliche Beobachtung nicht
mehr geben."
Auch wir kennen diese Erstarrung, die wahre Plage des
Massenkonformismus. Doch selbst, wenn es heute modern
ist, die methodologische Vernunft zu kritisieren, gibt es
doch bisher kaum Arbeiten über die Zurückhaltung des Ge
fühls bei Forscherteams, die diesem Einfluß unterliegen.
Die moralistische Formel: ..Wissenschaft ohne Gewissen
zerrüttet nur die Seele" wäre dann einfach zu ersetzen
durch: ..Wissenschaft läßt das Bewußtsein absterben."
Man stellt z. B. fest, daß in vergangenen Jahrhunderten die
verfügbaren Kenntnisse zwar weniger umfassend waren,
die Erkenntnisse damals paradoxelWeise aber auf Totalität
aus waren. Daraus könnte man nun folgendes schließen: je
mehr gewußt wird, desto mehr ist auch unbekannt. Oder
vielmehr: je rascher die Informationen einander jagen, de
sto klarer wird uns auch, wie fragmentarisch und unvoll
ständig sie sind. Ebenso könnte man darauf velWeisen, daß
die großen Erfindungen sich eher im Bewußtsein als in der
Wissenschaft ereignet haben. Es sind Phänomene ästheti
scher Überraschung. Archimedes, Newton oder Einstein
fühlten geradezu das Relativitätsprinzip, als sie den Flug der
Möwen über dem Meer beobachteten. Ähnlich wie man es
sich in der Renaissance vorstellte, vollzog sich alles über
Sinnesempfindungen, Gesetz und Vernunft waren dabei
nur zeitliche und räumliche Größen der Imago, nur Maßein
heiten.
So bliebe der Geist der Wissenschaft wie der Apollo der
Antike in seinem prometheischen Entwurf gefangen und
wäre damit zum bedingungslosen Verbündeten der Tech
nik geworden: sie träumt von einer Neuerschaffung der
Menschen durch das Bild. Ebensowenig wie die Sängerin
Amanda Lear sich vom Stereoreflex ihrer vergangenen
Schönheit losreißen kann, kann sich das Abendland von ei
ner Wissenschaft lösen, die nur den Spiegel seiner Intelli
genz darstellt.
Der von sich selbst geblendete Mensch fabriziert sein Dou
ble, ein intelligentes Phantom, und überläßt die Hortung
seines Wissens einem Lichtreflex. Hier befinden wir uns
169
noch auf dem Gebiet der filmischen Illusion und der auf
den Monitoren vorüberflimmernden Informationen: wir
werden informiert, aber wir empfinden nichts dabei, d. h.,
wir werden apathisch. Diese apalheia, diese wissenschaftli
che Gleichgültigkeit läßt mit der Informiertheit des Men
schen auch die Wüste der Welt um ihn her wachsen, denn
die Stimuli der Beobachtung werden durch sich wiederho
lende (und bereits bekannte) Informationen gestört, sie
werden durch die Geschwindigkeit überrascht. Das gilt
nicht fürs Gedächtnis (als innerem Licht), sondern vor al
lem für den Blick.
Schließlich wird das Lesen der Informationen nur noch
durch die Lichtgeschwindigkeit begrenzt, denn auf den Ge
bieten von Elektronik und Informatik ist nicht mehr die
Speicherung, sondern die Anzeige der Informationen ent
scheidend.
Dem Universum des Rationalen ergeht es ähnlich wie dem
Effekt des Realen. Offenbar kann man nicht mehr beiseite
schauen, immer wieder beiseite schauen, vom Gegenstand
auf den Zusammenhang abschweifen und so der Fixierung
der Aufmerksamkeit, der Gewöhnung, dem Ursprung der
Gewohnheiten entgehen. Die wahrgenommene Welt wird
keines Interesses mehr für würdig erachtet, da sie ständig
großartig ausgegraben und von den Grabschändern analy
siert und bereinigt wird. Beim Durchblättern eines Fotoal
bums, das vom letzten Jahrhundert bis in unsere Tage
reicht, sehen wir nicht nur eine Welt nach der anderen ver
gehen, sondern wir merken vor allem, wie allmählich ein
bestimmtes Interesse erlischt, das wir ihr früher entgegen
brachten: zunächst orientieren sich die Fotografen am an
onymen Alltag und ergehen sich im Gewöhnlichen, bald
darauf gehen sie darüber hinaus, werden zu Touristen des
Außergewöhnlichen, der Ruinen und Ereignisse und versu
chen sich darin, die Genrebilder zu kopieren. Sie widmen
sich den Reisen, dem Exotischen, dem Neuen aus aller
Welt. All diese Aufmerksamkeitszentren verschwinden
nacheinander. Im Jahre 1934 problematisiert Walter Benja-
•
min die Zielsetzung der Fotografie, die eine Baracke oder
einen Müllhaufen nicht wiedergeben kann, ohne ihn so
gleich zu verklären: "Es ist ihr nämlich gelungen, auch noch
das Elend, indem sie es auf modisch-perfektionierte Weise
170
auffaßte, zum Gegenstand des Genusses zu machen." Die
ses Stadium hat die Kunst der Fotografie heute längst über
wunden, denn indifferent geworden, kann der Fotograf of
fenbar keine neuen Gegenstände mehr finden. Schon durch
die verschiedenen Medien entstand ein Massendenken, das
die ursprünglichen Empfindungen zunichte machte und
über die Gegenwänigkeit der Leute verfügte, indem es ih
nen einen Informationsvorrat liefene und ihr Gedächtnis
programmiene. Bekanntlich bemüht man sich auf dem Ge
biet der Elektronik um die Entwicklung von aktiven Prothe
sen der Intelligenz.
Mit dem Auftauchen des Motors ist eine neue Sonne aufge
gangen. die das Sehen radikal veränden hat. Ihr Licht wird
bald auch das Leben verändern: dank eines doppelten Pro
jektors. der Geschwindigkeit erzeugt und zugleich (kinema
tische und kinematographische) Bilder verbreitet. Zuse
hends beginnt alles sich zu bewegen. das Sehen löst sich
allmählich auf und bald auch die Materie und die Körper.
Das war bereits abzusehen mit den ersten Untersuchungen
über die Formen des geringsten Luftwiderstandes. die
Stromlinienformen. Bei Etienne-Jules Marey z. B. verban
den sich die Elemente deran mit der Geschwindigkeit. daß
172
sie dem Aussehen der Apparate ihre Form verliehen; bald
sollte sich auch das gesamte Umfeld der Fortbewegung ver
wandeln. Die Winderosion wird nun noch um die Erosion
der Geschwindigkeit gesteigert, wodurch Fahrzeug und
Landschaft solange moduliert werden, bis sich die Fahrgä
ste daran gewöhnt haben.
Obwohl wir das Licht der Geschwindigkeit ebensowenig
verbergen können wie die Sonne mit unserer Hand verdek
ken, wird die Transmission bewegter Bilder und die Trans
mission bewegter Körper doch so schnell auseinandertre
ten, daß sich bald niemand mehr über die durch die
Schnelligkeit hervorgerufenen Sehstörungen wundern wird:
die lokomotorische Täuschung wird als Wahrheit des Se
hens gelten, genauso wie die optische Täuschung als Wahr
heit des Lebens gilt. "Film ist 24mal Wahrheit pro Se
kunde!" sagt der Regisseur Jean-Luc Godard. Mareys
chronofotografischer Motor erreichte nur 16mal Wahrheit
pro Sekunde.
178
Offensichtlich entsteht mit diesen Millionen von Abzügen,
entwickelt "zur systematischen Absuchung des Terrains
nach den Spuren des Feindes und verbunden mit der Ver
nichtung eben dieses Feindes", ein neues Zusammenspiel
von Prothesen: jene neuen Mischformen, die Motor, Auge
und Waffe miteinander verbinden. Eine solche Alchimie
der Sinne kann jetzt in ein und derselben Anamorphose
eine Unbeständigkeit zeigen, mit der jegliche Form so
gleich zerfällt. Durch diese Collage von Instrumenten ist
Minute für Minute und Tag für Tag rekonstruierbar, wie -
durch Bombardierungen aus der Entfernung, geleitet vom
allgegenwänigen Blick der militärischen Entscheidungsträ
ger - ein Gebäude oder ein Graben einstürzt, wie eine
Stadt oder eine Landschaft verwüstet wird. So schreibt Al
lan Sekula in einem bemerkenswenen Text, den er Steichen
widmet: "Die Bedeutung der Luftaufnahmen, ihre Lektüre
hängt davon ab, was ihre systematische Interpretation für
die militärische Erkenntnis hergibt . . . Und doch sind we
nige Fotografien (höchstens viel1eicht noch medizinische)
dem Anschein nach so ,zweckfrei'."
Allmählich setzte sich die Vorstellung durch, daß das Zu
sammenspiel von Auge und Motor, das in der Kamera statt
findet, nicht notwendig auf diesen Apparat beschränkt sein
muß: im Produktionsplan konnte nunmehr die visuel1e Pro
these mit den Transpon-Prothesen der Körper verschmel
zen. Moholy Nagy und verschiedene andere Bauhaus-Mit
glieder profitienen von ihren Kriegserfahrungen: dadurch,
daß sie (etwa um 1920) auf Dächer oder Feuerleitern hoher
Gebäude klettenen, bekamen ihre Fotos etwas von Luftauf
nahmen. Abel Gance forden seinerseits, die Kamera zu
schultern und damit Pferd, Fahrrad, Schlitten oder Schaukel
zu besteigen.
Die Überblendung war ein Stilmittel des Stummfilms: sie
wollte gewissermaßen das beim Theater a part Gesprochene
in Bilder übersetzen. Um die Gedanken und Gefühle des
Stars darzustellen, macht sie dessen Gesicht noch un
menschlicher: in starrer Großaufnahme wird es durchzogen
von Landschaften und Schlachtfeldern, von Meer und Him
mel, von Straßen und entfesselten Elementen . . . Letztend
lich wiederholt sich damit nur die Optik von jemandem,
der im Auto oder Zug reist und bei einbrechender Dunkel-
179
heit in der Fensterscheibe das eigene Spiegelbild sieht, oder
das eines anderen, wie es von der pfeilschnell vorbeirasen
den Landschaft durchzogen wird.6 Bezeichnenderweise
wird die Kamerafahrt vom Auto aus die Funktion der Über
blendung übernehmen.
Wenn der Aufnahmeleiter nun seinem Assistenten zuruft:
"Kamera abfahren", so will er nicht so sehr die Szenerie des
Hintergrunds an sich vorübergleiten sehen, als in ihn ein
dringen und ihn ans Licht bringen. In ähnlicher Weise wie
die Kriegsmaschine in vollem Tempo auf das Ziel zurast,
das sie zerstören soll, wird sich der Film bemühen, beim
Zuschauer, diesem Voyeur und Reisenden, ein Schwindel
gefühl hervorzurufen und den Eindruck zu erwecken, er
würde selbst ins Bild geschleudert. Es ist nicht mehr der
Star, der glitzernd durch die Landschaft geistert, einziger
Akteur der Szenerie ist nun die Zuschauermenge selber.
Jim Collins stellt z. B. fest, daß in Fred Astaires Film Swing
time "die erste Einstellung subjektiv ist: sie nimmt die Per
spektive eines auf dem Rang sitzenden imaginären Zu
schauers ein, so daß Astaire auf der Bühne und das übrige
Publikum etwas weiter unten auf der Leinwand zu sehen
sind". Es ist ein bißehen so wie bei den alten Wanderkinos,
die Gaston Bonheur beschreibt: "Die Leinwand war ein
Bettlaken, das hinten im Wagenschuppen des Herrn Bürger
meisters aufgehängt war. Wir Schüler hockten auf dem er
sten Rang und warteten ungeduldig darauf, daß die Cowboys
auftauchten, um unsere hüpfenden Schatten unter das stau
bige Durcheinander von wildgewordenen Büffeln und Mu
stangs zu mischen:'
183
Kino, er erträgt in seiner Nachbarschaft kein Geräusch und
keine Bewegung, die nichts mit der Vorführung zu tun ha
ben. Der Preis der Plätze bemißt sich nach dem Wert des
Mobiliars und trägt allen Umständen Rechnung: die teuer
sten Plätze sind eine Art tiefer, riesiger Pullman-Sessel,
während die wackeligen, harten Klappstühle billig abgege
ben werden, Alfred Hitchcocks Devise: "Kino - das sind
vor allem Sessel mit Zuschauern drin", hat durchaus keinen
kommerziellen Sinn. Der Sessel des Zuschauers ähnelt dem
Rollstuhl von Jean Renoir, der an seinem Lebensabend den
Sekretär bittet: "Schieb' meinen Rollstuhl, ich fühle mich
wie eine in Zeitlupe abfahrende Kamera."
Die Filmindustrie wird in eine Krise geraten, sobald sie auf
hört, einen falschen Tag zu erzeugen, und sich statt dessen
darum bemüht, realitätsgetreu zu sein.
Das Drehbuch wird realistisch, die Schauspieler werden ge
wöhnlich, die Farbaufnahmen wirken echt, Cinemascope
oder Panoramakino - alles soll Aufmerksamkeit auf sich
lenken, bis zur rasenden Kamerafahrt, die den Seh-Reisen
den fast schwindlig werden läßt, als wäre er auf der Achter
bahn oder säße in einem Rennwagen. Zwar sind sich die
Filmproduzenten darüber klar, daß der kommerzielle Film
(jene Filme, die eher einer Filmproduktionsgesellschaft als
einem Autor zuzuschreiben sind) in Konkurrenz gerät zur
Automobilindustrie, aber sie täuschen sich über die Natur
des Erfolgs, den das Fahrzeug für den Individualverkehr
hat: das Massenauto hat nichts zu tun mit dem der PS-Dan
dys, die ihren Motor anwerfen, um sich in einen Geschwin
digkeitsrausch zu versetzen. Das gute Geschäft mit den
schaukelnden Kleinwagen und den übermäßig gefederten
amerikanischen Straßenkreuzern der Nachkriegszeit hätte
die Filmproduzenten aufmerken lassen können.
Die langen Zuschauerschlangen, die sich sonnabends und
sonntags an den Kassen der Filmtempel drängten, ver
schwinden, um sich künftig an denselben Tagen vor den
Zahlschaltern der Autobahnen zu bilden. Was die Massen
einst in die Kinosessel getrieben hatte, trieb sie nun auf die
Autositze.
Für die Stadtplanung ist es in dieser Hinsicht aufschluß
reich, wie sich die Lichtspielhäuser verändern: an die Stelle
eines riesigen dunklen Kirchenschiffes treten kleine abge-
1 84
teilte Räume, die merkwürdigerweise ans Innere von Ver
kehrsmitteln erinnern. Ein Minimum an Durchgangsraum,
so viele Sessel wie möglich auf k1einstmöglicher Fläche: die
Zeit der monumentalen Vorführstätten scheint endgültig
vorbei zu sein. Die neue Oper ist die Boeing 747 mit einem
Projektionsraum, in dem der Reiz der Bilder die Monoto
nie der Reise ausgleichen soll. Ein Festival der Flugreisen,
eine Entstädterung im Flug, die Mikropolen der Nomaden
ersetzen die Metropolen der Seßhaften, und die über
flogene Welt ist so reizlos geworden, daß der unterschwel
lige Komfort des Überschallflugzeugs sie vollkommen
im Dunkeln läßt, bis man eines Tages vielleicht das Licht
ganz löschen und die Fluggäste in Narkose versetzen
wird.
Heute geht es nicht mehr darum, ob das Kino auf einen Ort
verzichten kann, sondern darum, ob die Orte noch aufs
Kino verzichten können. Die Stadtplanung kommt ins
Schleudern, die Architektur wandelt sich ständig, die
"Bleibe" ist nunmehr die Anamorphose einer Schwelle. Ab
gesehen von der historischen Nostalgie liegt Rom nicht
mehr in Rom und die Architektur nicht mehr in der Archi
tektur, sondern in der Geometrie und im Zeit-Raum der
Vektoren. Die Ästhetik der Gebäude verschwindet in den
special elfects der Kommunikations- und Verkehrs maschine,
in ihren Transport- und Übertragungsapparaten. Die Kunst
verschwindet mehr und mehr im grellen Licht der Bildwer
fer und Bildschirme. Auf die Architektur als Skulptur folgt
die Künstlichkeit der Kinematographie, im eigentlichen wie
im übertragenen Sinne: die Architektur ist nun selbst zum Film
geworden. Die gewohnte Stadt wird abgelöst von einer unge
wöhnlichen Motorik, einem riesigen dunklen Vorführraum
zur Begeisterung der Massen, wo das Licht der (audiovisu
ellen und automobilen) Fahrgeschwindigkeit das Sonnen
licht ersetzt. Nicht mehr das Theater (Agora, Forum) ist
Stadtkern, sondern das Lichtspiel der Stadtbeleuchtung. Damit
sind wir nach Ur (zum Licht) zurückgekehrt, als wäre die
Wüste ohne Horizont.
In seinem Wagen nimmt der reisende Voyeur wieder das
Verhalten des notorischen Kinogängers an, ja sogar des kos
mopolitischen Kauzes vom Anfang unseres Jahrhunderts:
"Die Männer und Frauen, die ihre Reise miteinander ver-
185
bringen, sind wie verwandelt . . . jeder Fahrgast fängt an, aus
sich herauszugehen.
Gestern kannten wir uns noch nicht, und morgen werden
wir uns für immer trennen."9 Die Schnelligkeit der Fonbe
wegung verstärkt nur die Abwesenheit, die Absence. Sie
sollten reisen um zu vergessen, riet man früher den Neur
asthenikern; das Reisen verringen die Versuchung zum
Selbstmord, denn es bietet Ersatz dafür: den kleinen Tod
der Abfahn. In der raschen Fonbewegung aufgehen bedeu
tete verschwinden im Fest der Reise, für das kein Morgen
anbricht; für jeden einzelnen war es so etwas wie ein immer
wiederholter Jüngster Tag.
runde war jeder,ialls die Idee geboren; sie wurde 1955 in ei
nem 40 km von Los Angeles entfernten Orangenhain reali
siert: Disney-Land, der erste in Trompe-I'Oeil-Technik
entworfene Vergnügungspark."10
191
umgibt, sind edelsteinbesetzte Kriegshelme, Tiaren, Dia
deme nicht nur Insignien der Macht. Sie sind zugleich wirk
same Prothesen eines königlichen Nirwana, das die staatli
che Fürsorge in eine Manipulation der Untertanen durch
den Herrscher verwandelt. In Ungnade zu fallen, politi
sches Mißgeschick zu erleiden bedeutet Verbannung: ent
fernt werden von jenem Licht der Mitte und eintauchen in
Finsternis; oder aber Kerker: nicht nur eingeschlossen wer
den, sondern unter die Erde kommen, des Tageslichts be
raubt in unterirdischen Verliesen und fensterlosen Zel
len.
Agnes Varda sagte zu ihrem Film Das Glück: "Ich habe da
bei an die Impressionisten gedacht, denn in ihren Bildern
liegt eine Helligkeit, die einer bestimmten Definition des Glücks
entspricht . . , Wenn es ein Drama gibt, dann wird es ausgelöst
durch den Wunsch nach Glück, der bis an seine äußersten
Grenzen getrieben wird." Man könnte die Formulierung
Vardas verknappen, indem man das Wort ,Glück' durch die
Definition, die sie davon gibt, ersetzt; dadurch wird der
Satz vielleicht deutlicher: Wenn es ein Drama gibt, dann wird
D
es ausgelöst durch den Wunsch nach Helligkeit, der bis an seine äu
ßersten Grenzen getrieben wird. "13
Mit den Prothesen des unterschwelligen Komforts wird zu
gleich der Tag simuliert, ja sogar der Jüngste Tag - eine Meta
morphose der Industrieprodukte, so daß die gesamte indu
strielle Produktion kinematisch ausgerichtet ist.
Die Disney-Firma hat 17,5 Millionen Dollar für die Produk
tion eines neuen Science-Fiction-Films ausgegeben: The
black Hole (die special effects sind von Harrison Ellenshaw,
der im Krieg der Sterne nur 13 Rückprojektionen eingesetzt
hat, während es hier 150 sind, denn man benutzt eine völlig
neue computergesteuerte Kamera) .
In Verbindung mit zahlreichen Regierungen, unterstützt
von der NATO und den Industriekonzernen mit ihren For
schern, plant die Firma allerdings zur Zeit bereits EPCOT
(Experimental Prototype Community of Tomorrow) . Es soll
nicht mehr bloß "eine Ideenfabrik sein, sondern die Ideen
auch in die Tat umsetzen", dazu geeignet, wie es Disney
wünschte, "das Leiden der Gegenwart und den Tod . , . die
wirkliche Welt vergessen zu machen".
Wenn sich heute die verschiedenen Mächte der Wünsche
192
annehmen, so bedeutet das nicht allein, sich des Willens
vermittels verschiedener Vektoren zu bemächtigen, son
dern daß man sich der Erwartung, jeder Art von Erwartung
annimmt. Die Ergänzung der Körper durch Prothesen und
Apparate macht es möglich. So ist z. B. die "Politik als
Show", woran sich die Franzosen erst vor kurzem so ergötzt
haben, in den Vereinigten Staaten bereits längst ein alter
Hut. Dort wählen immer weniger Leute, ist doch die einzig
wahre Mehrheit die der Motorisierten: mit dem Führerschein
erwerben sie�zugleich auch "Reaktionsvermögen", d. h. die
Gewohnheit, mit konditionierten Reflexen auf entspre
chende Stimuli zu reagieren; ihre Aufmerksamkeit kann al
lein noch durch die Vermehrung der Licht- oder Tonsignale
geweckt werden, nicht jedoch durch Wahlplakate mit
Schauspielern als Kandidaten. Und umgekehrt werden in
Zukunft auch politische und ökonomische Planungsfehler
als technisches Versagen ausgegeben: Nach den Amerika
nern bekamen auch die Franzosen ihren "Schwarzen Diens
tag", als am 19. Dezember 1978 um 8.27 Uhr die Weiterlei
tung des elektrischen Stroms an der deutschen Grenze
nicht mehr funktionierte. "Generalprobe für eine noch düste
rere Zukunft', haben die Verantwortlichen der französischen
Elektrizitätsgesellschaft gedroht. An einem sehr kalten Tag,
zur Zeit großer Verkehrsdichte, eine Woche vor Weihnach
ten - das war ein günstiger Augenblick, die städtische Be
völkerung in höchste Angst zu versetzen. Auch diesmal ent
stand das Drama aus dem ungebrochenen Wunsch nach
Helligkeit, nach der Manipulation der Nacht. Ein Jahr zu
vor, im Oktober 1977, hörte das Laboratorium in Houston
auf zu funktionieren (seit ein paar Jahren arbeitete es mit
Fernmeßgeräten, die bei den "Apollo-Missionen" auf den
Mond gebracht worden waren). Plötzlich fielen die Kon
trollbildschirme aus, und seitdem bewegt sich auf dem to
ten Stern nichts mehr. Bald können wir nur noch vergessen,
daß es bei der Verbreitung von Bildern oder Wellen einer
seits und Gegenständen oder Körpern andererseits immer
hin feine Unterschiede gibt, denn dann wird jede Dauer in
Intensitäten gemessen.
193
1 In der Schlafforschung werden anhand von elektrophysiologi
schen Kriterien verschiedene Schlafstadien unterschieden.
Das Traumstadium wird auch als paradoxer Schlaf. seltener als
schneller Schlaf bezeichnet. In diesem Stadium ähnelt das
EEG (Elektroencephalogramm) zwar dem Einschlafstadium.
im Gegensatz aber hierzu ist die Weckschnelle ziemlich hoch
und der Muskeltonus herabgesetzt. Es kombinieren sich soma
tische Tiefschlafsymptome mit einer Aktivierung psychischer
Vorgänge. Wegen dieser Diskrepanz wird der Terminus .para
doxer Schlaf" gebraucht. Besonders kennzeichnend für Traum
stadien ist das Auftreten unregelmäßiger. rascher Augenbewe
gungen in allen Richtungen. daher auch die Bezeichnung
REM-Stadium (REM rapid eye movement).
=
4 .Seit 16 Jahren beinahe blind. lebte Huxley bis zum Jahre 1939
mit einem sehr eingeschränkten Sehvermögen. Dann ent
deckte er die Methode der visuellen Erziehung des Arztes
W. H. Bates. mit der er bereits innerhalb weniger Monate
ohne Brille lesen konnte." (Die Kumt des Sehen!, Vorwon zur
franz. Ausgabe. Paris 1978.)
5 Der Sänger Claude Franc;:ois setzte für seine Auftritte in der
Music-Hall ganz ähnliche Techniken ein. Seit Beginn seiner
Karriere schminkte er sich stets vor demselben Vergröße
rungsspiegel. der mit Kerzen umrahmt war: deren flackerndes
Licht antizipiene für ihn bereits die Bühnenscheinwerfer.
Hinzu kommt noch. daß er seine tieftraurigen Chansons mit
leichten und fröhlichen Musik- und Tanzeinlagen unter
malte.
6 Vgl. Paul Virilio .Die Dromoskopie oder das Licht der Ge
schwindigkeit" in: Konkursbuch Nr. 5. Tübingen 1980.
7 Gaston Rageot. L'homme standard, Paris 1928. Paul Morand
sollte nach mehr als zehn Jahren durch dieses Buch dazu ange
regt werden. L'hommt presse zu schreiben.
8 P. Souvestre/M. Allain. FantOlfItIJ. Un roi priJonnier. Paris 1914.
9 Gaston Rageot. a. a. O.
10 Anikelserie von Jacqueline Canier: .Mikey au pays de mer
veille" in: France Soir, Januar 1979.
194
11 Das Phänakistikop hat tatsächlich die Form einer (Zirkus-)
Manege: Beim Drehen läßt dieser Apparat durch die Trägheit
des Auges die Illusion einer Bewegung entstehen (aus dem
Griechischen: ,phenax, -akos' Gaukler, und ,skopein' prüfen).
12 . ,Yom', der hebräische Tag, der in der Abenddämmerung be
.
ginnt, ist Exil des Lichts, Auszug aus Ur . . . der hebräische Tag
liegt zwischen zwei Uchtern!" (Shmuel Trigano). Der Tag des
Heerführers, der keine Dämmerung kennt, ist also dem bibli
schen Tag diametral entgegengesetzt.
13 . Man möchte lieber einen Tag lang das volle Glück genießen,
.
als eine ganze Woche lang nur halb glücklich sein", schreibt
Marschall Richelieu. Saint-Just läßt grüßen. So sagt Flaubert,
das Wichtigste eines Werkes sei Einheit, und für ihn liegt
diese Einheit in einer vorherrschenden Tönung. So habe er
beim Schreiben von ..Madame Bovary" versucht, einen einzi
gen Farbton wiederzugeben, einen Ton, der ans Weiße grenzt
und ebenso unbestimmbar ist wie die Farbe von Schimmelpil
zen. Kurz, eine vorherrschende Beleuchtung, in der die Viel
falt der Farben erlischt. Die europäische Malerei hat jedoch
immer schon leuchten, Ucht ausstrahlen wollen, während
frühere Verfahrensweisen das Ucht nur aufnehmen wollten.
Hierbei kann man wieder an Bradburys Anspielung auf "Rem
brandt und Walt Disney" denken.
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J E A N B A U D R I L LARD
Kool Killer
oder Der Aufstand der Zeichen
I Musica mobilis
Ich bezeichne musica mobilis als eine Musik, deren Quelle
sich willkürlich oder unwillkürlich von einem Punkt zu ei
nem anderen bewegt und von der körperlichen Fonbewe
gung der Tonträger koordinien wird. Ihre kurze Geschichte
läßt sich in vier sukzessiven Stufen zusammenfassen; die
viene Stufe schließt hierbei die drei vorangegangenen nicht
aus, sondern steht mit ihnen im Zusammenhang.
230
a) Zu allererst gibt es den Klang städtischen Lebens im all
gemeinen. In einer Stadt gibt es keine starren Grenzen zwi
schen Musik und Lärm. Musik wird Lärm (wenn sich z. B.
Leute vom übermäßigen Lärm einer Musikbox gestört füh
len); Lärm wird Musik (die eries 0/ London von Thomas
Weekers und Luciano Berio; Salt Peanuts von Dizzy Gile
spie; die Stimmen der Verkäufer auf orientalischen Märkten
kann man sich ohne eine Art "lärmender Musik" oder "mu
sikalischen Lärms" nicht vorstellen) . Von verschiedenen Be
obachtern kann dasselbe akustische Geschehen als Musik
oder Lärm empfunden werden. Der größte Teil dieser "Mu
sik" wird unwillentIich oder ohne Absicht hervorgebracht,
d. h. ohne eine bewußte akustische Motivation. Der Ton ist
reines Nebenprodukt einer nicht musizierenden Aktivität
(Anbieten, Verkaufen usw.). Das bedeutet jedoch nur, daß
die Beteiligten 'Zusammen leben.
c) In der Stadt gibt es auch andere Leute, die mit der Musik
zu tun haben, die mit der Musik leben. Zwar spielen sie
231
keine Musik, sondern hören sie mit Hilfe technologischer
"Instrumente". Jemand, der auf der Straße Transistorradio
(oder Kassettenrecorder) hört, verbreitet die Musik, wäh
rend er läuft. Passanten hören die Musik für einige Sekun
den gezwungenermaßen mit. Manchmal überschneiden sich
die Musiken mehrerer Apparate. In diesem Fall partizipie
ren die Menschen nicht immer an derselben inneren und
äußeren Zeit. Im Gegenteil. Gewöhnlicherweise nehmen
sie nur an der äußeren, meßbaren Zeit gemeinsam teil,
ohne einander zu durchdringen oder miteinander zu kom
munizieren. Sie scheinen in einer Welt des Gemeinsamen
Musik-Hören! zu leben. Eine Stereoanlage (oder Radio) in
einem Auto kann als eine Version dieses gemeinsamen Hö
rens betrachtet werden. Ein Auto wird im Stadtleben oft als
"Zweitwohnsitz" bzw. "mobiles Heim" betrachtet. Die Si
tuation geht jedoch darüber hinaus. Heutzutage wird ein
Haus eher als "unbewegliches Auto" oder "Dauerparkplatz"
angesehen. Eine Garage dient in diesem Sinne nicht als An
kerplatz für das Auto, vielmehr ist es ein Ort, der das Haus
an das Verkehrsnetz heftet (wie es in den Filmen von Wim
Wenders Im Laufder Zeit und Der Stand der Dinge angedeutet
wird). Das Auto und demzufolge auch das Autoradio ist ein
Vermittler zwischen privatem und öffentlichem Leben: es
betrifft das Semi-Soziale und/oder Semi-Private, in einem
Wort, die Familie. Wird es angestellt, ist die Familie ge
zwungen mitzuhören. Ebenso verhält es sich mit dem "Zu
hörer auf der Straße". Aber, im Gegensatz zu ihm, hat die
Familie die Möglichkeit, den Apparat nach Belieben auszu
schalten.
II TechnologiJcher Rückschritt
Es ist interessant, daß der ..Fortschritt" vom tragbaren Ra
dio-Kassetten-Spieler oder der Stereo-Anlage im Auto zum
Walkman aus technischer und technologischer Sicht, im Ge
gensatz zur recht auffälligen Transformation auf der prakti
schen Ebene, sehr gering ist. Vielmehr scheint der Wandel
auf eine Art ..Devolution" hinzudeuten, da es sich beim
Walkman um einen Kassettenspieler handelt, der weder
Aufnahmemöglichkeit noch Lautsprecher hat. Technolo
gisch gesehen ist er ein einfacheres Objekt. 1m allgemeinen
beinhaltet die technische Entwicklung eines Objekts eine
Vervielfältigung seiner Funktionen. Wenn ein Objekt
gleichzeitig zwei Funktionen ausführen kann, steigert sich
dessen praktischer Wert für den Nutzer (selbst wenn eine
Funktion vollkommen überflüssig ist oder beide Funktio
nen nicht gleichzeitig genutzt werden können). Dem Nor
malverbraucher ist demnach die Entwicklung der Sekundär
funktionen weitaus wichtiger als die Primärfunktion (wenn
überhaupt). Diese Regel betrifft jedoch nicht den Walk
man. Er repräsentiert eher eine funktionale Reduktion, ei
nen technologischen Rückschritt. Nach Auskunft des Sony
Präsidenten wurde diese Vorstellung von einer Reduktion,
die ihm während eines Spaziergangs in New York City
kam, von der technischen Abteilung aufgrund ihres rück-
233
schrittlichen Charakters vehement abgelehnt. Die Inge
nieure waren in der Tat vornehmlich mit der "tech
neme"-Ebene. der Präsident dagegen mit der ..pra
xeme"-Ebene des Objekts beschäftigt. Als Mann. der von
der Pieke auf Karriere gemacht hat und für seine rationali
stische Einstellung bekannt ist. hat sich der Präsident bei
dieser Auseinandersetzung durchsetzen können. er ging als
Sieger aus diesem kommerziellen Gefecht hervor. obwohl
seine Reputation und enorme Kapitalmengen auf dem Spiel
standen. Es muß nicht betont werden. daß Sony von den
vielen nachfolgenden Konkurrenten (Toshiba. Aiwa. Phi
lips . . . ) hart bedrängt wurde. die ihre gleichartigen Gadgets
mit ähnlichen Namen versahen ( Walky, Camtte-Boy . . . ). Ei
nige haben zusätzlich ein Radio. ein Mikrofon oder eine
Batterie-Anzeige eingebaut: demzufolge fand ein Refunk
tionalisierungs-Prozeß statt. Die Produkte unterscheiden
sich jedoch nur geringfügig. Die Konkurrenten führen eher
einen lokalen als einen totalen Handelskrieg. Eine alte Ge
schichte im Wettbewerb. der sich auf das Angebot von Se
kundärfunktionen konzentriert. Ein Vergleich mit Kuhns
Argument über die wissenschaftlichen Revolutionen drängt
sich auf (das Verhältnis von Paradigmawechsel und norma
ler Wissenschaft) . Der Walkman konstituiert ein neues Pa
radigma. das in pragmatischer - nicht technischer - Hin
sicht auf seinen revolutionären Auswirkungen auf das
Musikhören in Städten beruht; mit dem Resultat, daß die
technischen Voraussetzungen als etwas ganz Normales er
scheinen. Sony hat eine Menge pragmatischer Vorausset
zungen geschaffen, die anschließend als etwas Selbstver
ständliches betrachtet wurden und daraufhin als ..verfügba
res Wissen" zirkulierten. Der Walkman ist zu einem
..verfügbaren Objekt" avanciert.
Pablo Picasso
mobilis oder zum Tanz-Theater der Disco-Musik ist das
Walkman-Hören eng mit der Körperlichkeit des Laufens
verbunden. Während die theatralischen Angelegenheiten in
einer Disco schon vorausgeplant sind, und man sich nur in
nerhalb eines vorprogrammierten Kreislaufs bewegen kann
(selbst wenn die körperlichen Bewegungen recht wild an
muten), wird durch den Walkman ein aus Musik und Kör
per komponiertes Amalgam in Szene gesetzt. Der Walk
man-Hörer erfindet die Kunst der Koordinierung von
Körper und Musik im alltäglichen Leben, um sich mit der
Umgebung, in der er lebt, kurzzuschließen. Es ist schwer
zu sagen, ob der Körper vom Walkman oder der Walkman
vom Körper aufgeladen wird. Der Walkman funktioniert
nicht als Verlängerung des Körpers (wie bei anderen Instru
menten der musica mobilis, sondern wie ein eingebautes Teil
oder - aufgrund seiner Intimität - wie eine eingepflanzte
Prothese. Der Walkman-Hörer spielt Musik, er lauscht dem
Lied, das sein eigener Körper ihm singt (Barthes). Wenn
man dem Rhythmus seines Körpers zuhört, wenn der Walk
man durch die Haut eindringt, verkehrt sich die Ordnung
des Körpers, d. h. die Oberflächenspannung der Haut ver
liert ihre Balance-Funktion, durch die die gegenseitige Durch
dringung des Selbst mit der Welt aktiviert wird: eine mise en
fEuvre im Körper, durch den Körper, vom Körper (Tibon
Cornillot). Durch den Walkman wird der Körper geöffnet; er
wird - allerdings insgeheim - in einen Ästhetisierungs
Prozeß, in eine Theatralisierung des Urbanen einbezogen.
250
Sollers, P. 1981. "Seul contre tOUS . . ! Entretien avec Philippe Sol
.
Das hat nichts mit Narzißmus zu tun, und man irrt, wenn
man den Terminus zur Beschreibung dieses Effekts miß-
256
braucht. Die Video- und Stereokultur erzeugt nämlich kein
narzißtisch Imaginäres, sondern ist ein Effekt äußerster,
verzweifelter Selbstreferenz, ein Kurzschluß, mit dem das
Gleiche ans Gleiche unvermittelt angeschlossen wird; ein
Effekt, der damit zugleich seine Intensität an der Oberflä
che und seine Bedeutungslosigkeit in der Tiefe bezeugt.
Francis Picabia
logie nennt. Dies gilt für uns, für die Menschen, genauso wie
für die Tiere, weil niemand im voraus die Affekte kennt,
deren er fähig ist; es ist Sache langen Experimentierens,
langer Umsicht, einer spinozistischen Weisheit, die die Er
richtung eines Immanenz- oder Konsistenzplans impliziert.
Spinozas Ethik hat nichts zu tun mit einer Moral, er be
greift sie als Ethologie, d. h. als eine Zusammensetzung von
Schnelligkeiten und Langsamkeiten, Vermögen, zu affizie
ren und affiziert zu werden, nach diesem Immanenzplan.
Hier nun der Grund, warum Spinoza in wahre Schreie aus
bricht: ihr wißt nicht, wozu ihr im Guten wie im Schlechten
fähig seid, ihr wißt nicht im voraus, was ein Körper oder
eine Seele in solcher Begegnung, jener Anordnung, jener
Kombination vermag.
Die Ethologie ist zunächst Studium der Beziehungen ver
schiedener Geschwindigkeitsverhältnisse, der Vermögen,
zu affizieren und affiziert zu werden, die jedes Ding cha
rakterisiert. Diese Beziehungen und Vermögen haben für
jedes Ding einen eigenen Umfang, eigene Schwellen (Mini
mum und Maximum), Veränderungen oder Transformatio
nen. Sie selektieren in der Welt oder Natur, was dem Ding
korrespondiert, d. h. was das Ding affiziert oder von ihm af
fiziert wird, was sich bewegt oder durch das Ding bewegt
wird. Bei einem bestimmten Tier z. B.: was ist diesem Tier
in der unendlichen Welt gleichgültig, worauf reagiert es po
sitiv oder negativ, welches sind seine Nahrungsmittel, was
ist für es giftig, was "nimmt" es in seine Welt? Je1er Punkt
hat seine Kontrapunkte: Pflanzen und Regen, Spinne und
Fliege. Demnach ist kein Tier, kein Ding jemals zu trennen
von seinen Beziehungen zur Welt: das Innere ist nur ein se
lektiertes Ä ußeres, das Äußere ein projiziertes Inneres;
Schnelligkeit oder Langsamkeit der Metabolismen, Wahr
nehmungen, Aktionen und Reaktionen verketten sich, um
solch ein Individuum in der Welt zu konstituieren. An
zweiter Stelle steht die Weise, in der diese Schnelligkeits
und Langsamkeitsverhältnisse den Umständen entspre
chend vollzogen werden, oder diese Macht, affiziert zu wer
den, ausgefüllt wird. Denn sie sind immer, doch auf sehr
verschiedene Weise, je nachdem, ob die gegenwärtigen Af
fekte das Ding bedrohen (seine Vermögen vermindern, es
bremsen, auf ein Minimum reduzieren) oder es bekräftigen
282
(es beschleunigen und vermehren): Gift oder Nahrung. Mit
allen Komplikationen, da ein Gift für einen Teil des in Be
tracht gezogenen Dings Nahrung sein kann. Schließlich stu
dien die Ethologie die Zusammensetzungen von Verhält
nissen oder Mächten zwischen verschiedenen Dingen. Dies
ist ein weiterer Aspekt, der sich von den vorangegangenen
unterscheidet. Zwar handelte es sich vorher nur darum, zu
wissen, wie eine betrachtete Sache andere Dinge zersetzen
kann, indem sie ihnen ein Verhältnis auflegt, das einem ih
rer Verhältnisse konform ist, oder wie sie umgekehn ris
kien, von anderen Sachen zersetzt zu werden. Doch nun
handelt es sich darum, zu wissen, ob Verhältnisse (und wel
che?) sich direkt zusammensetzen können, um ein neues
Verhältnis, das weiter "ausgedehnt" ist, zu bilden, oder ob
Mächte sich direkt zusammensetzen können, um eine
Macht, ein Vermögen zu konstituieren, das "intensiver" ist.
Es handelt sich nicht mehr um Anwendungen oder um An
eignungen, sondern um Soziabilitäten und Gemeinschaf
ten. Wie setzen sich Individuen zusammen, um ein höheres
Individuum - bis ins Unendliche - zu bilden? Wie kann
ein Wesen ein anderes in seine Welt aufnehmen, doch so,
daß es dessen Verhältnis und die eigene Welt erhält und re
spektien? Und welche sind in dieser Hinsicht z. B. die ver
schiedenen Soziabilitätsanen? Was ist der Unterschied zwi
schen der Gesellschaft der Menschen und der Gemein
schaft der vernünftigen Wesen? . . . Es handelt sich nicht
mehr um ein Verhältnis von Punkt zu Kontrapunkt oder
von Selektion einer Welt, sondern um eine Symphonie der
Natur, um Konstituierung einer zusehends größeren und in
tensiveren Welt. Wie und in welcher Ordnung die Vermögen,
Schnelligkeiten und Langsamkeiten zusammensetzen?
Im Plan einer musikalischen Komposition, im Plan der Na
tur ist das intensivste und umfassendste Individuum jenes,
dessen Teile auf unendlich viele Weisen variieren. Uexküll,
einer der wichtigsten Begründer der Ethologie, ist Spino
zist, wenn er zuerst die melodischen Linien oder Kontra
punkt-Verhältnisse definien, die jedem Ding korrespondie
ren, wenn er dann eine Symphonie als höhere immanente
Einheit, die Weite annimmt ("natürliche Komposition"),
beschreibt. In der gesamten Ethik kommt diese musikali
sche Komposition vor und konstituien sie als ein und das-
283
selbe Individuum, dessen Schnelligkeits- und Langsamkeits
verhältnisse nicht aufhören, zu variieren - sukzessiv und
simultan. Sukzessiv - wie wir bei den verschiedenen Teilen
der Ethik gesehen haben, die von wechselnden relativen
Geschwindigkeiten affizien werden, bis hin zur absoluten
Denk-Geschwindigkeit der dritten Erkenntnisgattung. Si
multan in dem Maß, in dem die Propositionen und Scholien
nicht in der gleichen Spur verlaufen und zwei sich kreu
zende Bewegungen zusammensetzen. Die Ethik ist dem
nach eine Komposition, deren Teile alle von der größten
Geschwindigkeit in der weitesten Bewegung mitgerissen
werden. An einer sehr schönen Stelle erzählt Lagneau von
dieser Geschwindigkeit und Weite, die die Ethik für ihn der
Musik annähene, aufblitzende "Schnelligkeit des Denkens",
"Vermögen in unergründlicher Ausdehnung", "Macht, in ei
nem einzigen Akt das Verhältnis einer größtmöglichen
Zahl von Gedanken wahrzunehmen".2 Kurz: wenn wir Spi
nozisten sind, definieren wir ein Ding weder durch seine
Form, noch durch seine Organe und Funktionen, noch als
Substanz oder Subjekt. Um sich mittelalterlicher oder gar
geographischer Termini zu bedienen: wir definieren es
durch Länge (Longitudo) und Weite (Latitudo), durch Län
gen- und Breitengrade. Ein Körper kann alles mögliche
sein, es kann ein Tier sein, ein Klangkörper, es kann eine
Seele oder eine Idee sein, es kann ein Textcorpus sein, ein
sozialer Körper, ein Kollektiv sein. Wir nennen die Länge
eines Körper die Gesamtheit der Verhältnisse von Schnel
ligkeit und Langsamkeit, Ruhe und Bewegung zwischen
Teilchen, die ihn unter diesem Gesichtspunkt zusammen
setzen, d. h. zwischen nicht-geformten Elementen.3 Weite nen
nen wir die Gesamtheit der Affekte, die einen Körper in je
dem Augenblick ausfüllen, d. h. die intensiven Zustände
einer anonymen Kraft (Existenzkraft, Macht, affizien zu wer
den) . So legen wir die Kartographie eines Körpers fest. Die
Gesamtheit der Längen und Weiten konstituiert die Natur,
den Immanenz- und Konsistenzplan, der ständig veränder
bar ist und von den Individuen und Kollektiven unaufhör
lich umgearbeitet, zusammengesetzt, wiederzusammenge
setzt wird.
Es gibt zwei sehr entgegengesetzte Konzeptionen des Wor
tes "Plan" oder der Idee eines Plans, selbst wenn sich diese
284
zwei Konzeptionen vermischen und wir unmerklich von
der einen zur anderen übergehen. Jegliche Organisation,
die von oben herrührt und sich auf eine, selbst versteckte,
Transzendenz bezieht, nennt man theologischen Plan: Ent
wurf im Geist eines Gottes, aber auch Evolution in den an
genommenen Tiefen der Natur, oder auch Organisation der
Macht einer Gesellschaft. Solch ein Plan kann strukturell
oder genetisch sein und beides zugleich; er betrifft immer
die Formen und deren Entwicklungen, Subjekte und deren
Bildungen. Formentwicklung und Bildung von Subjekten:
das ist der grundlegende Charakter der ersten Plansorte. Es
ist demnach ein Bildungs- und Entwicklungsplan. Von da
an wird es immer, was man auch sagen möge, ein transzen
denter Plan sein, der die Formen und Subjekte leitet und
der selbst verborgen bleibt, niemals gegeben ist, nur erra
ten, induziert, aus dem, was er gibt, geschlossen werden
muß. Er verfügt tatsächlich immer über eine zusätzliche Di
mension, er impliziert immer eine Dimension, die den Di
mensionen dessen, was gegeben ist, hinzugefügt wird.
Im Gegensatz dazu legt ein Immanenzplan keine zusätzli
che Dimension an: der Zusammensetzungsprozeß muß für
sich selbst entlang dem, was er gibt, und in dem, was er
gibt, erfaßt werden. Es ist ein Kompositions-, kein Organi
sations- oder Entwicklungsplan. Vielleicht zeigen die Far
ben den ersten Plan an, während die Musik, die Pausen und
die Töne zu diesem gehören. Es gibt keine Form mehr, son
dern nur Geschwindigkeitsverhältnisse zwischen kleinsten
Teilchen einer ungeformten Materie. Es gibt kein Subjekt
mehr, sondern nur individuierende Affektzustände der an
onymen Kraft. Hier behält der Plan nur Bewegungen und
Ruhe(n), dynamische Affektladungen zurück: er wird wahr
genommen durch das, was er uns wahrnehmen läßt, und in
welchem Maß. Wir leben, denken, schreiben nicht auf glei
che Weise nach dem einen oder anderen Plan. Goethe z. B.
oder in mancher Hinsicht sogar Hegel haben als Spinozi
sten gelten können. Doch sie sind es nicht wirklich, weil sie
es nicht unterlassen haben, den Plan an die Organisation ei
ner Form und an die Bildung eines Subjekts wieder anzu
binden. Eher sind Hölderlin, Kleist und Nietzsche Spinozi
sten, weil sie in Schnelligkeits- und Langsamkeitstermini,
erstarrten Katatonien und beschleunigten Bewegungen, un-
285
geformten Elementen und nicht-subjektivienen Affekten
denken. '
Schriftsteller, Dichter, Musiker, Filmemacher, auch Maler,
selbst Leser gelegentlich können sich als Spinozisten wie
dererkennen - eher denn Berufs-Philosophen. Das hat mit
der praktischen Konzeption des "Plans" zu tun. Nicht, daß
man Spinozist wäre, ohne es zu wissen. Es gibt vielmehr
ein eigenaniges Privileg Spinozas, etwas, das nur durch ihn
erfolgreich gewesen zu sein scheint. Er ist ein Philosoph,
der über einen außerordentlichen konzeptionellen Apparat
verfügt, der extrem entwickelt, systematisch und gelehn ist;
dennoch kommt es an seinem höchsten Punkt zu einer un
mittelbaren und unvorbereiteten Begegnung, so wie ein
Nicht-Philosoph oder auch jemand, der gar keine Kultur
hat, eine plötzliche Erleuchtung, einen "Blitz" empfangen
könnte. Es ist, als ob man sich als Spinozist entdeckte, man
kommt mitten in Spinoza an, wird angezogen, ins System
oder in die Komposition hineingerissen. Wenn Nietzsehe
schreibt: "Ich bin ganz erstaunt, ganz entzückt! . . . Ich
kannte Spinoza fast nicht: daß mich jetzt nach ihm ver
langte, war eine ,Instinkthandlung' . . . "4, spricht er nicht nur
als Philosoph, vielleicht gerade nicht als Philosoph. Ein so
strenger Philosophiehistoriker wie Victor Delbos war von
diesem Zug frappiert': die Doppelrolle Spinozas, einmal als
sehr ausgearbeitetes äußeres Modell, aber genauso als ge
heime innere Triebkraft. Die doppelte Lektüre Spinozas, ei
nerseits systematisch, auf der Suche nach der Idee des Gan
zen und der Einheit der Teile, andererseits aber,
gleichzeitig, die affektive Lektüre, ohne Idee des Ganzen,
in die man hineingerissen oder gestellt wird, in Bewegung
oder Ruhe versetzt, heftig bewegt oder beruhigt entspre
chend der Geschwindigkeit dieses oder jenes Teils. Wer ist
Spinozist? Manchmal sicherlich derjenige, der "über" Spi
noza, über Spinozas Begriffe, arbeitet, vorausgesetzt, er tut
es mit genügend Anerkennung und Bewunderung. Doch
auch der, der als Nicht-Philosoph von Spinoza einen Affekt
empfängt, ein Bündel an Mfekten, eine kinetische Bestim
mung, einen Anstoß, und so aus Spinoza eine Begegnung
und eine Liebe macht. Es macht den einziganigen Charak
ter Spinozas aus, daß er, Philosoph der Philosophen (im
Gegensatz selbst zu Sokrates reklamien er nur Philoso-
286
phie . . . ), den Philosophen lehn, kein Philosoph zu werden.
Die beiden, Philosoph und Nicht-Philosoph, vereinigen
sich zu einem einzigen und gleichen Wesen in Buch V, das
keineswegs das schwierigste, doch das schnellste ist, dasje
nige mit einer unendlichen Geschwindigkeit. Welch außer
ordentliche Komposition enthält dieses Buch V, wie findet
hier die Begegnung von Konzept und Affekt statt; und wie
diese Begegnung vorbereitet, durch himmlische und unter
irdische Bewegungen notwendig gemacht wird, die beide
miteinander die vorhergehenden Bücher zusammenset
zen.
Viele Kommentatoren liebten Spinoza so sehr, daß sie ihn
mit einem Windhauch vergleichen, wenn sie von ihm spra
chen. Und in der Tat gibt es keinen anderen Vergleich als
den Wind. Aber handelt es sich um den großen ruhigen
Wind, von dem Delbos als Philosoph spricht? Oder gar um
den Wirbelwind, die Hexenjagd, von der der "Fixer" redet,
der Nicht-Philosoph par excellence, armer Jude, der die
Ethik für eine Kopeke gekauft hatte und nicht alles davon
erfaßte?6 Beides, denn die Ethik versteht zugleich das konti
nuierliche Ganze der Propositionen, Demonstrationen und
Corollarien, wie auch die großartige Bewegung der Begriffe
und die diskontinuierliche Verkettung der Scholien, als ein
Schleudern von Affekten und Impulsionen, als eine Stoßse
rie. Buch V ist die extrem extensive Einheit, aber nur weil
sIe der am engsten zusammengezogene intensive Punkt ist:
es gibt keinen Unterschied mehr zwischen Begriff und Le
ben. Doch war dies zuvor schon die Zusammensetzung
oder die Verflechtung der zwei Komponenten - was Ro
main Rolland "die weiße Sonne der Substanz" und "die
flammenden Wone Spinozas" nannte.
287
alle andere Geschwindigkeit, bei Empedokles, Demokrit und
Epikur wiederfinden.
3 Vgl., was Spinoza die .einfachsten" Körper nennt. Sie haben
weder Zahl, noch Form oder Figur, sind aber unendlich klein,
und gehen immer durch Unendlichkeiten. Nur die zusammen
gesetzten Körper haben eine Form, zu der die einfachen Kör
per in diesem oder jenem Verhältnis gehören.
4 Vgl. Friedrich Nietzsche, Brief an Overbeck vom 30. Juli 1881.
5 Delbos, Le probleme moral dam Ia philosophie de Spinoza ef dans /'hi
sfOire du spinoziJme, Paris 1916. Dies ist ein viel wichtigeres Buch
als das klassische Buch desselben Verfassers, Le spinoziJme, Paris
1964.
6 Vgl. Bernard Malamud über Spinoza, in: ders. Der Fixer, Köln/
Berlin (West) 1968, S. 88f.
Die "Rauheit" der Stimme ist nicht - oder nicht nur - ihr
Timbre; die Signifikanz, die sie freilegt, kann nicht besser
definiert werden als durch die Reibung zwischen der Musik
und etwas anderem, das die Sprache (und keineswegs die
message) ist. Der Gesang muß sprechen, oder besser noch,
schreiben, denn was auf der Ebene des Geno-Gesangs her
vorgebracht wird, ist schließlich Schrift. Dieses gesungene
Schreiben der Sprache hat meiner Meinung nach die franzö
sische Melodie manchmal zustande zu bringen versucht.
Ich weiß durchaus, daß das deutsche Lied durch das roman
tische Gedicht eng mit der deutschen Sprache verbunden
ist; ich weiß, daß die poetische Bildung Schumanns immens
war und daß dieser selbe Schumann von Schubert sagte, daß
dieser, wenn er länger gelebt hätte, die gesamte deutsche
Literatur vertont hätte; ich glaube dennoch, daß die histori
sche Bedeutung des Lieds auf der Seite der Musik gesucht
werden muß (und wäre es nur aufgrund seiner volkstümli
chen Ursprünge). Die historische Bedeutung der französi
schen Melodie liegt dagegen in einer gewissen Kultur der
französischen Sprache. Es ist bekannt, daß die romantische
Dichtung unseres Landes eher rhetorisch als textuell ist;
was unsere Dichtung jedoch nicht ganz allein machen
305
konnte, machte die Melodie manchmal mit ihr; sie bearbei
tete die Sprache mittels des Gedichts. Diese Arbeit (in der
Eigentümlichkeit, die ihr hier zuerkannt wird) ist nicht
sichtbar in der gängigen Masse der melodischen Produk
tion, die den zweitrangigen Dichtern, dem Modell der
kleinbürgerlichen Romanze und den Salonsitten zu sehr
verpflichtet ist; sie ist jedoch unbestreitbar in einigen Wer
ken: anthologisch (sagen wir: ein bißehen per Zufall) in ei
nigen Melodien Faures und Duparcs, massiv beim späten
(prosodischen) Faure und im Vokalwerk Debussys (auch
wenn "Pelleas" oft schlecht: dramatisch, gesungen wird).
Was in diesen Werken unternommen wird, ist weit mehr als
ein musikalischer Stil, es ist (wenn man so sagen kann) eine
praktische Reflexion über die Sprache; es gibt einen fort
schreitenden Aufstieg von der Sprache zum Gedicht, vom
Gedicht zur Melodie und von der Melodie zu ihrer Ausfüh
rung. Für die (französische) Melodie ist also viel weniger
die Musikgeschichte als die Texttheorie zuständig. Der Si
gnifikant muß auch hier neu verteilt werden.
All dies wird aus Anlaß der (im weiten Sinne) "klassischen"
Musik gesagt; es versteht sich jedoch von selbst, daß die
bloße Berücksichtigung der musikalischen "Rauheit" eine
andere Musikgeschichte als die, die wir kennen, zur Folge
haben könnte (diese ist rein phäno-textuell) : wenn es uns
gelänge, eine gewisse "Ä sthetik" des musikalischen Genie
ßens zu verfeinern, würden wir ohne Zweifel dem durch
die Moderne herbeigeführten tonalen Bruch weniger Be
deutung beimessen.
Man Ray
die Geschwindigkeit, mit der ihm die Informationen Zu
kommen, ist sehr niedrig; er sieht sich nicht veranlaßt,
seine auf Wahrscheinlichkeit beruhende Einschätzung der
vorangehenden Informationen zu verändern; er hat sehr
wenig gelernt; ein Teilstück bedeutet somit fast nichts."ll
Kaum anders verhält es sich, wenn die Regelmäßigkeiten zu
selten sind: ..die Ungewißheit über die zeitliche Abfolge der
kommenden Töne ist sehr groß." Man steht plötzlich wie
der vor der Situation, die oben für das Paar Cage-Xenakis
beschrieben worden ist, und die praktisch auch den gutwil
ligsten Interpreten aus der Fassung bringen kann, denn
man sieht dabei, wie der Zufall das Spiel der Aleatorik ab
würgt: ..Die Geschwindigkeit, mit der dem Hörer Informa
tionen zukommen, wird sehr hoch sein. Die Schneiligkeit
aber, mit der neue Informationen auf ihn zukommen, kann
sein ,Aufnahmevermögen' übersteigen; er wird diese Infor
mationen nicht schnell genug bewenen können, um daraus
eine auf Wahrscheinlichkeit beruhende Einschätzung der
vorangehenden Informationen zu abstrahieren, besonders
dann nicht, wenn die Seltenheit der Wiederholungen ihm
nicht ermöglicht, die Gültigkeit seiner Deduktionen zu te
sten. Auch hier bedeutet das Teilstück somit fast nichts."12
Heißt das nun, daß allein der Mittelweg nach Rom fühn -
die Römer waren bekanntlich stets Anhänger des Sprich
wons in medio stat virtus und daß es folglich angebracht
-
wäre, sich wieder auf das Spiel der Aleatorik, auf den guten
alten Zufall von Großpapa Mallarme zu besinnen? Moment
mal! Wenn die Klangfolge auf signifikante Weise nur unter
der ausdrücklichen Bedingung strukturien wird, daß sie we
der zu gewiß noch zu ungewiß bleibt, so schließt das viel
leicht wenigstens die folgende Binsenwahrheit ein: .. Die sti
listische Freiheit der Komposition soll der musikalischen
Bildung des Zuhörers entsprechen."13 Adieu Avantgarde!
Von nun an wird der Komponist nicht mehr durch die Bin
dung des Werks an einen Stil überhaupt, zumal an einen ein
zigen Stil, eingeschränkt. Der derzeitige Erfolg von Collagen
und Anachronismen jeglicher Art, die grenzenlose Mi
schung von Zeiten und Orten, für welche die Musiken aller
Ebenen - wir sagen nicht mehr: aller Kaliber - nunmehr
den Tummelplatz abgeben, haben zweifellos keine andere
Rechtfertigung. Leonard Meyer hat es vorzüglich ausge
drückt: "Die kommende Zeit (insoweit wir nicht schon
darin sind) wird eine Periode ä!thetiJcher Stauung sein, eine
Periode, die nicht durch die lineare und kumulative Ent
wicklung eines einzigen Grundstils gekennzeichnet sein
wird, sondern durch die wechselnde und dynamische,
wenngleich nicht-evolutionäre, Koexistenz einer Vielfalt
vollkommen verschiedener Stile ( . . . ). In der Musik z. B.
wird man weiterhin alle tonalen, nicht-tonalen (,aleatori
schen') und seriellen Techniken verwenden, alle elektroni-
319
sehen und improvisierten Mittel. ( . . . ) Es gibt keinen theo
retischen oder praktischen Grund, der einen begabten und
geschickten zeitgenössischen Komponisten hindern
könnte, z. B. ein ausgezeichnetes Coneerto grosso nach Ba
rockmanier zu schreiben. Doch wenn anders er nicht genial
ist und sein Werk dem Bachsehen sicherlich weit unterle
gen bleibt, wird es doch immerhin nach Verwendungs
zweck und Wert mit den unzähligen Werken der kleinen
Meister des Barock rivalisieren dürfen."22
Eine Musik "von Himmel und Erde", welche die Utopie der
Pantonalität durch die potentielle Aufnahme aller entstehen
den Töne und Geräusche vollendet, die Musik, die dem Zu
fall der verwandelnden Begegnungen des I Ging gehorcht,
ist somit zugleich - nach dem Vokabular von Christian
Wolff - eine Musik der Nulheit. Denn ebenso wie mit dem
Tarot eine "universelle Sprache von Bildern" gegeben wird,
deren jedes uns etwas über unsere Vergangenheit und un
sere Zukunft sagt, führt auch das Aufzeichnen der Hexa
gramme uns ins Innerste des Wandels ein: jede der Figuren,
"ob als isolierte oder in Kombination mit anderen, eröffnet
einen Ausblick auf die Zukunft"32. Eine solche Poetik be
rührt sich mit derjenigen des zauberhaften Malers und
Denkers der chinesischen Malerei, Shi-Tao: der "einmalige
Pinselstrich", mit dem der Künstler sein Werk beginnt und
vollendet, ist der erste Strich des I Ging, das Ziehen des
Yang, die durchgehende Unie, die am Beginn aller Hexa
gramme liegt. Die Geste des Malers erfindet eine Welt.33
Daß heute nun ein Musiker kommt und den Maler nach
ahmt, zeigt, daß die Welt sich weiter erschafft und das Le
ben weitersprudelt . . . Sollte es verwundern, wenn das
I Ging eine frühe Musik ist, wie es eine frühe Malerei gab?
326
Hier wie don stellen die Spiele des Zufalls keinesweg die
höchste Harmonie infrage: ganz im Gegenteil sie machen diese
aus.
Kehren wir jetzt zur Musik zurück. John Cage fiel nun ei
nes Tages die Ähnlichkeit zwischen den hexagrammati
schen Strukturen, die er täglich benutzte, und denen des
Codes der Molekulargenetik auf, die in den sechziger Jah
ren von Crick entwickelt worden war. Er teilte dies Gun-
327
ther Stent mit, selbst ein Biologe von Ruf. Dieser unter
nahm mit Hilfe von Harvey Bialy eine vergleichende
Forschung, die zur Feststellung verwirrender Entsprechun
gen führen sollte. Das Wesentliche davon ist Folgendes,
dargeboten in einer Ausdrucksweise allerdings, deren tech
nischer Charakter den Laien gewiß abschrecken wird, deren
Bedeutsamkeit jedoch gewürdigt werden darf: "Setzt man
das Yang (das männliche oder lichte Prinzip) den Purinba
sen und das Yin (das weibliche oder dunkle Prinzip) den
Pyrimidinbasen gleich, und zwar dergestalt, daß das alte
Yang und das alte Yin dem Komplementärpaar von Adenin
(A) und Thymin (T) entsprechen, und das neue Yang und
das neue Yin dem Komplementärpaar von Guanin (G) und
Cytosin (C), dann stellt jedes der 64 Hexagramme ein Co
don von Nukleotidtriplets dar. Auf diese Weise bringt die
,natürliche' Ordnung des I Ging ein Tableau des geneti
schen Codes hervor, in dem eine Vielzahl von genetischen
Relationen der Codons erscheint, welche in der Klassifika
tion von Crick manifest sind. "35
Wenn dem so ist, dann läßt sich etwas herauslesen und gibt
Stoff zum Nachdenken: die verblüffende Ähnlichkeit zwi
schen dem gegenwärtigen Stand der Musik und dem gegenwärtigen
Stand der Wissenschaft. Sie ist so stark, daß man sich mit
Gunther Stent zu fragen hat, ob die Wissenschaft nicht "das
Vernehmen der Musik der Natur"38 sei. Mit dem I Ging zu
mal als Scharnier . . .
332
Anders ausgedrückt: wenn die Entwicklung der System
theorie dank der Arbeiten von Heinz von Foerster dazu gefühn
hat, die Vorstellung der Erzeugung einer Ordnung durch eine
andere zu ersetzen durch diejenige der Herstellung einer
Ordnung aus Ge-Räuschen, das order/rom orderprinciple durch
ein order/rom noiJe principle zu ersetzen, dann muß das Werk
mit einer Chreode Waddingtons verglichen werden: mit ei
ner "lebenden", mit sich selbst in Wechselbeziehung stehen
den Gesamtheit von der An eines "offenen Systems", welche
die Geräusche der Umgebung nicht abweist, sondern sie
in die Falle zu locken und sich einzuverleiben weiß. So wird
das Kriterium der "Moderne" einer Musik, wie es John Cage
aufgestellt hat, in ihrer Fähigkeit liegen, Störungen zu inte
grieren. Oder darin, Geräusche in die Falle zu 10cken.46
333
2 Jean Grenier, "Hasard et creation", in: EmziJ Jur Ia peinture con-
temporaine, Paris 1959, S. 198.
3 Jean Grenier, a. a. O. ebenda.
4 Jean Grenier, a. a. O. S. 199.
5 Jean Grenier, a. a. O. ebenda.
6 Denis Levaillant, L'improviJation mUJica/e, Paris 1981, S. 43 f.
7 Denis Levaillant, a. a. O. S. 43.
8 Ebenda.
9 Leonard B. Meyer, MUJic, the Am, and IdeaJ, Chicago 1967, S. 1 1 .
10 Gunther Stent, L'avenement de rage d'or, Paris 1973, S . 127f.
1 1 Gunther Stent, a . a. O . S . 128.
12 A. a. O. S. 128f.
13 A. a. O. S. 129.
14 Vgl. Henri Pousseur, FragmentJ thioriqunIJur Ia mUJique experi
mentale, Brusse1 1970, S. 54; und Denis Levaillant, a. a. O. S. 44.
15 Gunther Stent, a. a. O. S. 133.
16 Wir entlehnen diesen Begriff bei Heinz-Klaus Metzger, MUJik
wozu, Frankfurt am Main 1980, S. 126.
17 Jean Grenier, a. a. O. S. 203.
18 Vgl. Alfred North Whitehead, ModeJ of Thought, zitiert nach
Leonard Meyer, a. a. O. S. 82.
19 Vgl. David J. Kalupahana, GauJa/ity: The Gentra/ PhiloJophy of
BuddhiJm, Hawai 1975.
20 Vgl. Chang Chung-Yuan, Tao: A New Way of Thinking, New
York 1975.
21 Gunther Stent, a. a. O. S. 134.
22 Leonard Meyer, a. a. O. S. 98, 172, 187.
23 Le Monde, Dienstag, 19. September 1981, S. 19.
24 Gunther Stent, a. a. O. S. 140.
25 Gunther Stent, a. a. O. S. 123.
26 Jean Grenier, a. a. O. S. 202.
27 Shuzo Kuki, a. a. O. S. 88f., Anmerkungen 32 und 34.
28 Vgl. das Ende der Anmerkung 34 in Shuzo Kukis Buch; die
Veränderungen oder Wandlungen setzten sich von unten nach
oben fort: die untere linie schreibt die Interpretation des
Symbols vor.
29 Shuzo Kuki, a. a. O. S. 90, Anmerkung 36.
30 Zitiert nach Shuzo Kuki, a. a. O. S. 90 und 93.
31 R. G. H. Siu, The Man ofmany Qua/itieJ, zitiert nach Lawrence
Halprin, Tbe RSVP GyeleJ, Greative ProceJJeJ in the Human Environ
ment, New York 1969, S. 23.
32 Lawrence Halprin, a. a. O. ebenda.
33 Shi-Tao, PropoJ Ia peinture.
34 Marcel Granet, DaJ cbineJiJche Denken, München 1963, S. 356,
Anmerkung 73.
334
35 Gunther Stent. a. a. O. S. 77.
36 Vgl. in der Arbeit Stents die Anmerkung von Catherine Bour-
det. S. XIV; und die Seite n 109. 110. 117. 124. 142.
37 Gunther Stent. a. a. O. S. 142.
38 Ebenda S. 149.
39 Ebenda S. 150.
40 Jean-Fran�ois Lyotard. Dal pOltmoderne Wimn> Bremen 1982.
S. 101 ff.
41 Benoit Mandelbrot. Die fraktale Geometrie der Natur. Basel,
Boston 1987. S. 18 ff.
42 Gunther Stent. a. a. O. S. 153.
43 Shuzo Kuki. a. a. O. S. 3.
44 Middletown. Connecticut. 1980.
45 Gunther Stent. a. a. O. S. 157.
46 John Cage. in: C. H. Waddington (Hrsg). Biology and the HiJtory
0/ the Future, Edinburgh 1972. S. 58.
47 Daniel Charles. John Gage oder Die MUlik ill 101, Berlin (West)
1979.
336
In dieser Zeit begegnet er Fischinger, der abstraktes Kino
macht und ihn mit einer Filmmusik beauftragt. John Cage
ist fasziniert von Fischinger s Idee, ein Ton sei die Seele eines
unbelebten Objektes. Die Harmonie-Lehre Schönbergs besteht
nun darin, Töne zu verbinden, und die dodekaphonische
Methode, welche die zwölf Halbtöne des temperierten Kla
viers "untereinander" verbindet, kann wohl als Alternative
zur Tonalität dienen, aber in beiden Fällen wird die Natur
dessen, was da verbunden wird, als schon erworben be
trachtet - es dreht sich immer nur darum, die "musikali
schen" Töne, die zuvor sortiert, gefiltert und desinfiziert
worden sind, aneinanderzuhängen. Die Töne werden dabei
nicht gefragt, was sie vor der Kultur sind, werden nicht für
sich selbst gehört, nicht wegen ihrer Eigentümlichkeit: sie
werden nicht wegen ihrer Tonqualität gehört. Wie Van!se,
so wendet sich auch der junge Cage dem Schlagzeug zu. Er
gründet ein Orchester von Schlagzeugern und läßt seine
Werke spielen. Aber während der Varese von 1931 ("Ionisa
tion") der traditionell rhythmischen Bestimmung des Schlag
zeugs treu bleibt, entsprechen die Rhythmen der Komposi
. tion für Schlagzeug des jungen Cage schon nicht mehr der
Sorge um Periodisierung der klanglichen Ergiebigkeit des
Materials. Ihm geht es vielmehr darum, jeder Klangquelle -
ob instrumental oder extra-instrumental : alles kann schließ
lich Klangquelle werden - das Maximum dessen abzuge
winnen, was sie irgendwie abgeben kann. Cage komponiert
nicht "für" dieses oder jenes Instrument - er geht darauf
aus, das Klangpotential, das in jedem Instrument oder Ob
jekt latent vorhanden ist, in Bewegung zu bringen, das heißt,
eine Materie zu beleben, sie gemäß ihren eigenen Möglichkei
ten und nicht gemäß dem, was man ihr an Beziehungen auf
zwingt, klingen und widerklingen zu lassen. Er ist auf ein
empirisches - und als solches auch unbegrenztes - For
schen aus, das die ererbten rhythmischen Rahmen zum Zer
springen bringt. Um z. B. dem Wasserballett der Universität
von Los Angeles zu ermöglichen, die Musik zu hören, die
seine Bewegungen leiten soll, kommt Cage auf die Idee, die
Instrumente ins Wasser zu tauchen und erfindet somit den
water gong. Worauf es dabei ankommt, ist nicht, das glis
sando eines untergetauchten Gongs in ein vorbestimmtes
metrisches Raster zu bringen, sondern das glissando als sol-
337
ches hören zu lassen. Das Raster wird in diesem Sinne epi
dermisch.
Im Jahre 1937 wird Cage eine Stelle als Komponist und Be
gleiter der Tanzklasse von Bonnie Bird an der Cornish
School von Seattle angeboten. Zugleich kann er die Experi
mente mit seinem Schlagzeugorchester fortsetzen und aus
bauen. Von 1937 datiert die berühmte "First Construction
(in Metall)" für Gamelang, Blechplatten, Teile von Auto
bremsen usw. . . . ; und aus dem gleichen Jahre datiert der
prophetische Text "Credo", in welchem John Cage die
Schaffung von Studios für "experimentelle" Musik fordert,
wo ohne jede Bezugnahme auf die Harmonie "elektrische"
Methoden zur Produktion von Tönen entwickelt werden
sollen. Im Herbst 1938 wird Cage mit der Begleitmusik für
ein Ballett von Syvilla Fort, dem "Bacchanale", beauftragt.
Der Orchestergraben ist zu klein für die vom Musiker vor
gesehene Ausbreitung des Schlagzeugorchesters. Da erin
nert er sich an einige Experimente seines Lehrers Henry
Cowell, der Stopfeier unter die Saiten des Klaviers steckte,
und machte so das Klavier zum Schlagzeug. Er präpariert es,
indem er verschiedene Objekte zwischen die Saiten steckt,
was den Klang und die Resonanzen umwirft und die "fla
chen" Töne des Klaviers sich auf unvorhersehbare Weise
verirren läßt: der eine Anschlag ist imstande, eine Traube
von Clusters auszulösen, jener andere leitet zu den Schlägen
eines Gamelangs über . . . Die Erfindung des präparierten
Klaviers wird sehr bald berühmt; sie reiht sich nicht nur in
die Linie einer kunstfertigen Subversion des Instrumentes
ein, sondern sie führt auch zu einer Überprüfung der ver
schiedenen Verfahren der Notierung, da die Partitur nicht
mehr den zu erreichenden Effekt, sondern nun das Proto
koll zu seiner Erreichung anzeigt. Der Interpret kann beim
Spielen das klangliche Ergebnis als solches nicht mehr vor
hersehen, und der Weg zur Notierung von Aktionen ist of
fen. Dank dessen lockern sich die traditionellen Kausal-Be
ziehungen Komponist-Interpret-Hörer und lassen die
Machtgelüste des allmächtigen Künstlers nach: es ist dies
die erste Attacke gegen die zugleich romantische (oder
nachromantische ) und positivistische (oder scientistische
oder serielle) Ideologie der Exaktheit.
338
Im Jahre 1939 entsteht das erste Werk elektronischer Mu
sik, das je komponiert wurde: "Imaginary Landscape nr. 1"
für zwei Plattenspieler mit veränderbarer Geschwindigkeit,
Aufnahmen von Sinus-Tönen verschiedener Frequenz,
Piano und Becken. Schon mit dieser Partitur ist die live elec
tronic music praktisch erfunden: von Varese, der die "kalte"
Arbeit im Studio sucht, und ebenso von der überwiegenden
Mehrzahl der "konkreten" oder "elektronischen" Nach
kriegsmusiker Europas sich absetzend, schlägt Cage vor, die
elektronischen Manipulationen heiß, im Konzert, im Mo
ment der Ausführung zu verwirklichen. Wenn man auf sei
nem kritischen Aspekt besteht, kann dieser Pragmatismus
des hic et nunc wie eine Herausforderung gegenüber jeder
Art von Vorfertigung erscheinen, wie eine Aufforderung,
sich doch nicht mit im Vorhinein festgelegten Musiken zu
friedenzustellen, ja sich all dieser musikalischen "Konfek
tion" zu entledigen. Positiv ausgedrückt besteht sein Telos
in der Forderung, den ausgeklügelsten musikalischen Akt -
denjenigen, der sich des gedanklichen und technischen In
strumentarismus der "fortgeschrittenen" Industriegesell
schaft bedient - in seinem effektiven, punktuellen, augen
blicklichen Kontext wiederherzustellen. Davon zeugen die
Environnementwerke, die "ökologischen" Werke der vierzi
ger Jahre: die "living Room Music" für Schlagzeug und das
"Speech Quartet", in dem "alle Schlaginstrumente, die man
in einem Aufenthaltsraum finden kann, wie Möbel, Bücher,
Zeitungen, Fenster, Mauern, Türen" mitwirken. Und ge
nauso bezeugt dies die Radiosendung "the city wears a
sluch hat", die er zusammen mit dem Dichter Kenneth Pat
chen verwirklicht. Diese Partitur umfaßt 250 Seiten voll von
Klangeffekten, welche die wirklichen Geräusche einer Stadt
nachahmen. Die Sendung, die von Chicago ausgestrahlt
wurde, wohin Cage 1941 von Moholy-Nagy gerufen wurde,
um an der dortigen School of Design über experimentelle
Musik zu lesen, wird mit solcher Begeisterung aufgenom
men, daß Cage beschließt, nach New York zu gehen. Er
wohnt bei Max Ernst und Peggy Guggenheim und trifft
Mondrian, Andre Breton, Virgil Thompson, Marcel Du
champ, dann findet er Asyl bei Jean Erdmann, der ihn dem
Tänzer Merce Cunningham vorstellt. 1942 komponiert Cage
seine erste Musik für Cunningham: "Credo in Us" und im
339
gleichen Jahr die elektro-akustische Elemente enthaltende
"Imaginary Landscape" Nr. 2 und Nr. 3.
340
Gesamtheit seiner Verm ögen ausgenützt. Doch verlieren ist
hier auch gewinnen: die "Fülle", die man opfen, war selbst
nur halb, sie war das Ergebnis eines verfälschenden Filterns
- die "Armut", welche nun dieses Filtern ablehnt, trägt alle
Reichtümer.
Von dieser Zeit an, und als ob die an sich paradoxe Venie
fung der Problematik der "Klangoberfläche" das geistige
Handwerkszeug eines Komponisten okzidentaler Provi
nienz erschöpfen müßte, wendet sich Cage dem Orient zu.
Das Konzen mit Merce Cunningham vom 7. Februar 1943
im Museum of Modern An in New York, das Cage einen
wichtigen Platz in der Avantgarde verschafft, umfaßt die
Aufführung der Suite "Amores" - zwei Stücke für präpa
rienes Klavier und zwei Stücke für Schlagzeugtrio -, in
welcher Cage "zwei immerwährende Gefühle der Tradition
Indiens, die Erotik und die Ruhe", ausdrücken möchte. Si
cher, er sucht weiterhin in der Richtung der Klangfarben,
mit dem präparienen Klavier (1944: "Root of an Unfocus",
"Meditation", "The Perilous Night") wie mit dem Schlag
zeug (ebenfalls 1944: die beiden Stücke mit dem Titel "She
Is Asleep" für zwölf Tom-Toms, Stimme und präparienes
Klavier), doch ab 1945, seit seiner Übersiedlung in die
Monroe Street beginnt er, private Konzene zu geben, ver
ankern ihn seine theoretischen Interessen in Indien. Er liest
"The Dance of Shiva" von Coomaraswamy und initiien sich
mit seinem Kontrapunktschüler Gita Sarabhai in die musi
kalische Tradition Indiens. In einer Klavier-Panitur von
großer Spannweite, die zu den "Sonatas and Interludes" für
präparienes Klavier werden wird, bemüht er sich, die "neun
immerwährenden Gefühle" der indischen Ästhetik auszu
drücken. Vor allem wird er während zweier Jahre Hörer
von Daisetz Teitaro Suzuki an der Columbia University, der
ihm das Zen eröffnet. Die erste Komposition Cages für ein
traditionelles Orchester (1947), das Ballett in einem Akt
"The Seasons" im Auftrag der Ballett Society (LincoIn Kir
stein) will die Ruhe (den Winter), die Erschaffung (den
Frühling), die E rhaltung (den Sommer) und die Zerstörung
(den Herbst) ausdrücken.
Mit der Wendung zum Orient änden sich auch sein Leben:
Cage reist von nun an mit Merce Cunningham, dessen Bal-
341
lett er auch zahlreiche Kompositionen widmet. Diese Wan
derschaft gibt ihm die Möglichkeit, überall seine Werke -
und seine Ideen - bekanntzumachen. Im Sommer 1948
wird er vom Black Mountain College eingeladen, wo er ein
Satie-Festival veranstaltet und einen Vortrag hält, der sich
unter anderem mit dem verderblichen Einfluß des beetho
venschen Beispiels auf die Entwicklung der okzidentalen
Musik beschäftigt. Dieser Vortrag wird zum Skandal . . .
Was in ihm zum Ausdruck kommt, hat viel weniger mit der
Absicht zu tun, herauszufordern, als mit der Sorge, zu einer
Synthese zu gelangen: Cage rekapituliert seine eigenen Ver
suche und stützt sich auch auf Satie und Webern, um zu
zeigen, wie weit die "große" Musik des Okzidents seit der
Renaissance ins Schleudern geraten ist und auf welche Weise
die Musik in dem, was sie war und was sie ist, wiederherge
stellt werden kann und muß. Nehmen wir einen Ton: er be
sitzt Höhe, Intensität, Klang und Dauer. Eine Musik be
steht aus Tönen und aus Stille/Schweigen. Aber was enthält
eine Stille? Nichts, außer einer Dauer. Wenn ihr in der
Richtung des Materials arbeiten wollt, dann denkt an die
Stille. Stützt euch nicht auf die Höhen - damit entwickelt
ihr nur die Harmonie, so wie es Beethoven tat. Stützt euch
auf das den Tönen und Stillen Gemeinsame: auf die Zeit,
diese im Okzident seit dem Mittelalter verlorene, erst von
Satie und Webern wiederentdeckte, im Orient jedoch nie
verlorengegangene Wahrheit . . . Hier öffnet sich der heuti
gen Musik ein Weg: es geht dabei nicht nur darum, wie
Schönberg, die Krise der Tonalität zur Kenntnis zu nehmen
und ein serielles Netz zum Schutze gegen die Rückläufig
keit abgeschaffter tonaler Funktionen aufzurichten - diese
Einstellung ist nur negativ, sie ist Teil der Krise, die sie zu
beschwören glaubt, sie führt nur zur Vervielfachung der
"Vorsichts maßnahmen" - Vorsichtsmaßnahmen aus Okta
ven, Quinten, Septimen der Dominante oder des arpeg
gios . . , Nein, der einzuschlagende Weg geht nicht über die
Töne allein oder nur ihre Beziehung zueinander, er geht
über die Töne und die Stillen, er geht durch die Zeit. Aber
die Zeit wartet ihrerseits darauf, freigelegt zu werden: we
der linear noch zellulär, noch metrisch, noch periodisch,
darf sie nicht von den Anforderungen des Aufklingens der
Töne allein abhängen, so musikalisch, d. h. so harmonisch
342
zufriedenstelIend diese auch sein mögen. Die Zeit ist es,
die über das Leben und den Tod jedes Tones und jeder Stille
befindet, sie belebt heide zugleich, sie gehört also zum Intim
sten des Tones wie zum Intimsten der Stille, und in dieser
Hinsicht besteht sie nicht einmal "an sich", sondern kommt
jedeJmal neu zum Vorschein. Man hat nie mit einer Inhalts
Zeit, Aufnahme-Zeit, mit einer universellen und abstrakten
Zeit, die vor dem Ton und vor der Stille bestünde, zu tun.
Im Gegenteil, es haben jeder Ton und jede Stille konkret
und vielfach ihre eigene Zeit. Was hier aufleuchtet, das ist
ein buddhistisches Ideal, ausgesprochen von Suzuki in der
geraden Linie des Zen: Durchdringung und Nicht-Obstruk
tion. Kein Ton darf einen anderen oder eine Stille abschir
men oder gar verhindern. Das gleiche gilt auch für die
Stille: sie darf sich weder einer anderen Stille noch auch ei
nem Ton widersetzen. Positiv ausgedrückt: Töne und Stil
len können sich nun durchdringen. Die Zeit ist nichts ande
res als gerade dieses Durchdringen, das Telos aller
Musik.
Kurt Schwitters
fassender, als es nun scheinen mag (Henmar Press, die un
ter der Ägide von Peters das Gesamtwerk betreut und ver
öffentlicht, besitzt einen kompletten Katalog). Wir haben
die mykologischen Aktivitäten Cages, seine Zusammenar
beit mit der Wesleyan University, mit der University of Illi
nois, der University of Cincinnati, seine Wahl 1968 ins Na
tional Institute of Arts and Letters, den visuellen und
graphischen Teil seines Werkes (vgl. "Not Wanting To Say
Anything About Marcel" in Zusammenarbeit mit Calvin
Sumsion, 1969 und das "Mushroom Book", 1974, zusammen
mit Lais Long und Alexander Smith) verschwiegen. Auch
haben wir nichts über die zahlreichen Artikel, Interviews,
Vorträge und Gedichte des Schriftstellers John Cage gesagt.
Die Sammlungen "Silence", "A Year from Monday" und
"M", die 1961, 1968 und 1973 bei der Wesleyan University
Press (Middletown, Connecticut) erschienen sind, sowie
die "Notations" (in Zusammenarbeit mit Alison Knowles,
Something Else Press, 1968) haben den Schreiber Cage ge
nauso weltweit berühmt gemacht wie den Komponisten.
Die Schallplatte schließlich, die Cage recht wenig interes
siert, hat doch auch zu seiner Berühmtheit beigetragen (er
wähnen wir hier nur Columbia, Nonesuch, Folkways, Ever
est, Time und schließlich die sehr guten Aufnahmen von
Cramps Records in Mailand). Nach all dem ist es leicht,
festzustellen, daß die kreative Tätigkeit Cages keinen Au
genblick lang ruht: die 32 "Etudes Australes" für Klavier
(1976), die er Grete Sultan gewidmet hat, sind ein neues
Monument (dieses Mal auf eine "körperliche" Arbeit, die
die Technik des "klassischen" Pianos erneuert, gegründet).
Auch für Merce Cunningham hat Cage zwei neue Stücke
komponiert: ein Solo, "Child of Tree", und ein Werk für
Ensemble: "Branches". Am 26. Februar 1976 wurde an der
Universität von York in Toronto "Lecture on the Weather"
für 12 Stimmen, Magnetband und Film aufgeführt. Schließ
lich ergänzen die aufeinanderfolgenden Ausführungen
Ende 1976 - Anfang 1977 der simultan gespielten Werke
unter dem Titel "Renga with Apartment House 1776" durch
Ozawa in Boston, Boulez in New York und Metha in Los
Angeles die Chronik. Diese Aufzählung soll nur dazu die
nen, kein allzu schnelles Urteil zu fassen. Es ist schwierig,
ja unmöglich, al1e von John Cage signierten Versuche auf
352
einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Es ist vielmehr
John Cages Eigenart, seine Mitläufer immer wieder aus dem
Sattel zu heben : diese ergre ifen Besitz von der einen oder
anderen Entdeckung und vergessen dabei, den Meister wei
terzubegleiten. Die Schwierigkeit liegt wohl an der Vielfalt
Cages: als Musiker des Vergessens vergißt gerade er nie,
daß die Einzigartigkeit des Vergessens seine Vielfalt ist.
Das ist es auch, was Cage selber eine "ewige Renaissance"
nennt, und was wir mit Gilles Deleuze und Jean-Fran�ois
Lyotard als Nomadentum bezeichnen können. Aus diesem
Grund zögern wir, die jüngsten Partituren Cages als "Spät
werke" zu qualifizieren, wie es Dieter Schnebel (1976) auf
sehr deutsche Art tat - allerdings nicht ohne die vorsichtige
Einschränkung: "aber die klangliche Fülle ist von einer ex
plosiven Gärung" (vgl. G. Raulet, "Utopie, Marxisme, selon
Ernst Bloch", Paris 1972, S. 103). Begnügen wir uns mit ei
nem Hinweis auf Cages eigenes Vorwort zu "M", wo er be
obachtet, daß man, sind "die Geräusche erst einmal befreit",
wieder auf herkömmliche Art komponieren kann: der No
madismus Cages schließt wirklich nichts aus, nicht einmal
den Übertritt zur Tradition - vorausgesetzt diese wird end
lich entmystifiziert und im Geiste der "ewigen Renaissance"
behandelt. Unbestreitbar ist das außergewöhnliche Wachsein
John Cages, das er auch heute nicht aufgegeben hat. Man
kann einer anderen Passage Schnebels, die er vor ungefähr
zehn Jahren geschrieben hat, nur zustimmen: Cages Werk
habe eine "befreiende Wirkung, als ob die Emanzipation,
die es vollendet, ansteckend wäre. Er ist der versteckte Mo
tor der musikalischen Entwicklung der letzten Jahre". Mit
diesem Urteil sind wir völlig einverstanden, ohne jedoch,
was uns anbelangt, Cages Einfluß allein auf die Musik zu
beschränken.
Ich gestehe, daß ich unfähig bin, mich für die Schönheit ei
nes Raumes zu interessieren, wenn sich darin keine Men
schen befinden (ich mag leere Museen nicht); und umge
kehn, um zu entdecken, was an einem Gesicht, einer
Silhouette, an einer Garderobe interessant ist, um an der
Begegnung Geschmack zu finden, muß auch der On dieser
Entdeckung sein Interesse und seinen Geschmack für mich
haben. Vielleicht verführt mich deshalb das Palace. Ich fühle
mich hier wohl. Das ist modem, ganz modem? Und dabei
finde ich hier die alte Macht der wirklichen Architektur
wieder, die die sich bewegenden, tanzenden Körper ver
schönen, die Räume und Gebäude belebt.
Heutzutage sterben die Theater leicht. Der Saal, in dem ich
das erste Mal Beckett gesehen habe, ist inzwischen eine Ga
rage; andere Säle werden Kinos oder machen Mietshäusern
Platz. Das Palace ist ein gerettetes Theater. Zunächst, weil
es darin Aufführungen gibt; dann, weil von dem ursprüngli
chen Theater (das es lange Zeit war) alles erhalten ist: die
Bühne, der Vorhang, der Rang, das Panerre, veränden in
ein schönes Parkett, von wo man, stehend oder auf Kissen
sitzend, die Aufführung sehen kann, die breiten Zugänge
in rotem Velour. Dieselbe Erregung: über die Treppe ge
langt man in einen großen, von Lichtem und Schatten
durchquenen Raum und tritt plötzlich, wie ein Eingeweih
ter, ins Heiligtum der Aufführung (sogar, und gerade dann,
wenn, wie hier, das Spektakel im ganzen Saal stattfindet).
Theater: dieses griechische Won kommt von einem Verb,
das .. sehen" bedeutet. Das Palace ist tatsächlich ein On, der
dem Sehen gewidmet ist: man verbringt seine Zeit damit,
den Saal zu betrachten; und wenn man vom Tanzen kommt,
schaut man von neuem zu. Das Palace ist wohlproponio
nien. Das bedeutet, man bat bier keine Angst (man würde hier
gern schlafen): ein zu kleines Theater ist erstickend, ein zu
großes vereist. Man kann hier von oben nach unten wan
deln, die Räume je nach Laune wechseln - eine Freiheit,
um die man in anderen Theatern immer betrogen wird, wo
jedem, entsprechend seinem Geldbeutel, ein Platz zugewie-
354
sen wird. Freiheit allein aber macht noch keinen angeneh
men Ort. Gewisse Versuche haben gezeigt, daß eine kleine
weiße Maus große Angst zeigt, wenn man sie in einem lee
ren Rund, ohne jeglichen Bezugspunkt, aussetzt. Um mich
in einem Raum wohlzufühlen, muß ich wirklich von einem
Bezugspunkt zum nächsten gehen können, muß mich so
wohl in einer Ecke als auch auf einer Plattform aufhalten,
bzw., wie der glückliche Robinson auf seiner Insel, bequem
von einem Haus zum anderen wechseln können. Im Palace
gibt es zahlreiche intime Räume: den Salon zum Schwat
zen, Bars zur Begrüßung, zur Erholung zwischen zwei Tän
zen, den Balkon, von wo man über die Balustraden ein
taucht in das riesige Spektakel aus Lichtern und Körpern.
Wo ich mich auch postiere, von überall habe ich den amü
santen Eindruck, eine Art herrschaftliche Loge zu besetzen,
von wo aus ich das Spiel dirigiere.
Das wichtige Material der modernen Kunst, der Alltags
kunst, ist es heutzutage nicht das Licht? In den gewöhnli
chen Theatern ist das Licht weit weg, kommt abgeschwächt
auf die Bühne. Im Palace ist das ganze Theater Bühne; dort
beherrscht das Licht einen tiefen Raum, in dessen Innerem
es sich belebt und agiert wie ein Schauspieler: ein intelli
genter Laser mit komplizierten und raffinierten Einfällen
produziert wie ein Vorführer abstrakter Figurinen rätsel
hafte Spuren in blitzschnellen Verwandlungen: Kreise,
Rechtecke, Ellipsen, Schienen, Fäden, Galaxien, Verzierun
gen. Das Bemerkenswerte ist nicht die technische Leistung
(obwohl immer noch selten in Paris), sondern das Erschei
nen einer neuen Kunst, neu in ihrem Material (bewegliches
Licht) und in dessen Anwendung; denn es handelt sich um
eine öffentliche Kunst insofern, als sie sich inmitten des Pu
blikums abspielt und nicht vor ihm, um eine totale Kunst
(der alte griechische und wagnerianische Traum), in der
sich Lichtpunkte, die Musiken und die Wünsche miteinan
der verbinden. Das bedeutet, daß die "Kunst", ohne mit der
vergangenen Kultur zu brechen (die Skulptur des Raumes
durch Laser kann sehr wohl an plastische Versuche der Mo
derne erinnern), sich jenseits der Zwänge kultureller Dres
sur entfaltet: jene durch eine neue Art des Konsums besie
gelte Befreiung: man betrachtet die Lichter, die Schatten,
die Dekors, aber macht zur gleichen Zeit auch anderes
355
(man tanzt, man spricht, man betrachtet sich) : die bekannte
Praxis des antiken Theaters.
Im Pa/ace bin ich nicht gezwungen zu tanzen, um mit die
sem Ort eine lebendige Beziehung einzugehen. Einsam,
oder zumindest ein wenig abseits, kann ich "träumen". In
diesem vermenschlichten Raum kann ich plötzlich ausru
fen: "Wie ist das alles seltsam!" Seltsam der alte Bühnenvor
hang, auf dem ich eine Bildreklame der French-Line lese:
Le Havre-Plymouth-New York (komisch, in dieser Orts
kette ist es Plymouth, das mich träumen macht, vieUeicht
dieser romantische Mythos der Zwischenlandung?). Seltsam
im Dunst, der für Augenblicke die Tanzfläche verhüllt, die
schemenhaften Tänzer (ein Effekt des Gegenlichts), die
sich ausnehmen wie Hampelmänner unter einem Decken
gemälde aus roten und grünen Strahlen. Seltsam die Spie
gelwände. Seltsam die rußschwarzen, leicht griechischen
Fresken, die an dem Bühnenhimmel entlang verlaufen wie
eine etwas altertümliche Weisheit.
Das Palace ist kein "Schuppen" wie die anderen: es vereint
an einem einzigartigen Ort Vergnügungen, die normaler
weise verstreut sind: die des Theaters als liebevoll bewahr
tes Gebäude, den Genuß des Sehens; das Erregende der
Modeme, die Erkundung unbekannter visueUer Eindrücke,
die von neuen Techniken ausgehen; die Freude am Tanz,
der Charme möglicher Begegnungen. Das aUes hat etwas
sehr altes, das man das Fest nennt und das etwas ganz ande
res ist als Zerstreuung: ein ganzes Dispositiv von Empfin
dungen, bestimmt, Leute für eine Nacht glücklich zu ma
chen. Das Neue ist dieser Eindruck von Synthese, von
Totalität, von Komplexität: Ich bin an einem Ort, der sich
selbst genügt. Durch diesen Zusatz ist das Palace kein einfa
ches Unternehmen, sondern ein Werk, und so können sich
diejenigen, die es entworfen haben, mit gutem Recht als
Künstler fühlen.
Hätte Proust es geliebt? Ich weiß es nicht: es gibt keine
Herzoginnen mehr. Doch beugte ich mich von oben über
das von farbigen Strahlen und tanzenden Silhouetten be
wegte Parterre des Palace, rund um mich im Dunkel der
Sitzreihen und der offenen Logen ein Kommen und Gehen
junger Körper erratend, beschäftigt mit aUen möglichen
und unmöglichen Drehungen, schien mir, ich fände in mo-
356
dernem Gewand etwas wieder, das ich bei Proust gelesen
hatte: dieser Abend in der Oper, wo der Saal und die Or
chesterfauteuils sich unter dem passionierten Auge des jun
gen Erzählers zu einer Meereslandschaft formen, sanft er
leuchtet von Lichtkegeln, vom phosphoreszierenden Au
genschein, vom blitzenden Feuer kostbarer Steine, von den
flüchtigen Gesichtern und Gesten, die denen der Wasser
göttinnen gleichen und in deren Mitte die Herzogin von
Guermantes thronte. Nur eine Metapher, die mir aus der
Ferne in Erinnerung kam und das PaJace mit einem letzten
Charme verschönte: dem Charme aus den Fiktionen der
Kultur.
Der Engel
Man müßte die Zeit, die der Maler benötigt, um ein Bild zu
malen (die Zeit der "Herstellung"), die Zeit, die erforder
lich ist, um dieses Werk zu betrachten und zu begreifen
(die Zeit des ..Verbrauchs"), die Zeit, auf die das Werk sich
bezieht (ein Moment, eine Szene, eine Situation, eine Folge
von Ereignissen: die Zeit des diegetischen Bezuges, der im
Bild erzählten Geschichte), die Zeit, die es gebraucht hat,
um vom Augenblick seiner ..Entstehung" an zum Betrachter
zu gelangen (seine Zeit des Umlaufs), und schließlich viel
leicht auch noch die Zeit, die es selbst isl, voneinander un
terscheiden. Dieses, im Grunde kindliche Prinzip würde es
ermöglichen, verschiedene ..Zeitone" voneinander abzu
grenzen. Was das Werk Newmans von der übrigen ..Avant
garde" und vor allem vom "Abstrakten Amerikanischen Ex
pressionismus" unterscheidet, ist nicht die Tatsache, daß es
vom Problem der Zeit beherrscht wird - diese An der Be
sessenheit teilen viele andere Maler mit ihm -, sondern daß
Newman auf dieses Problem eine unerwanete Antwon
gibt: daß das Bild selbst die Zeit ist.
Um dieses Paradoxon zu kennzeichnen und aufzuzeigen,
ist es angebracht, den ..Zeiton" Newmans mit dem zu kon
frontieren, der die beiden großen Werke von Duchamp be
herrscht. Das große Glas und Elanl dnnnh beziehen sich auf
Ereignisse, die "Enthüllung" der Braut, die Entblößung des
obszönen Körpers. Sie machen nur eins: das Ereignis der
Weiblichkeit, der Skandal, der das ..andere Geschlecht" ist.
In der ..Verzögerung im Glas" hat es sich noch nicht ereig
net, in den Büschen, hinter dem Guckloch, ist es schon ein
getreten. Die beiden Werke sind zwei Anen, den Anachro
nismus des Blicks hinsichtlich des Ereignisses der
Enthüllung darzustellen. Das "Thema" der Malerei ist der
Augenblick, der Blitz, der das Auge blind macht, eine Epi
phanie. Aber nach Duchamp kann dieses Ereignis, die
..Weiblichkeit", nicht in der Zeit des Blicks der ..Männlich
keit" berücksichtigt werden.
358
Daraus resultien, daß die Zeit, die man braucht, um diese
Werke zu "konsumieren" (zu empfinden, zu kommentie
ren), sozusagen unendlich ist: sie ist besetzt durch die Su
che nach der Erscheinung (Ausdruck von Duchamp) selbst,
deren Enthüllung Sakrileg und Geheiligtes zugleich ist. Die
Erscheinung, das bedeutet, daß sich etwas ereignet, das an
ders ist. Wie kann das Andere dargestellt werden? Es müßte
identifiziert werden, was widersprüchlich ist. Duchamp or
ganisiert den Raum der Braut gemäß dem "noch nicht" und
den Raum von Etant donnes nach dem "bereits nicht mehr".
Der Betrachter des Glases wanet auf Godot; hinter der Tür
von Etant donnes verfolgt der Voyeur die verschwundene Al
bertine. Die beiden Werke Duchamps sind das Bindeglied
zwischen der verzweifelten Anamnese Prousts und der Pa
rodie Becketts auf die Erwanung.
Ein Bild von Newman hat nicht das Ziel zu zeigen, daß die
Dauer über das Bewußtsein hinausgeht, sondern es will
selbst das Ereignis sein, der Augenblick, der geschieht.
Zwei Unterschiede zu Duchamp, der eine sozusagen "poe
tischer", der andere "thematischer" Natur. Das Thema Du
champs entsteht aus einem Genre, den Vergänglichkeiten;
das Newmans gehön zu den Verkündigungen, den Epipha
nien. Aber der Abstand zwischen den beiden plastischen
Poetiken ist noch größer. Ein Bild Newmans ist ein Engel.
Er verkündet nichts, er ist selbst die Verkündigung. Der
plastische Einsatz der großen Werke Duchamps ist, dem
Blick (und dem Geist) einen Strich durch die Rechnung zu
machen, weil er gleichzeitig darzustellen versucht, wie die
Zeit das Bewußtsein narn. Aber Newman stellt keine un
darstellbare Verkündigung dar, er läßt sie sich vorstellen.
Die Verpflichtung
Der von Newman versuchte Bruch mit dem Raum der Ve
dute zieht auch deren "pragmatische" Grundlage in Mitlei
denschaft. Er ist kein Maler-Fürst mehr, ein Ich, das einem
Dritten (ihn offensichtlich eingeschlossen) anbietet, seinen
Ruhm (bei Duchamp sein Elend) zu sehen, gemäß der
"Kommunikations struktur", die die klassische Moderne be
gründet hat. Duchamp bearbeitet diese Disposition so, wie
er kann, vor allem durch seine Untersuchung über einen
multidimensionalen Raum und alle Anen von "Bindeglie
dern". Das Werk in seiner Gesamtheit verschreibt sich dem
großen zeitlichen Bindeglied zu früh/zu spät. Es handelt
sich immer um ein "zuviel", ein Zeichen für das Elend,
während der Ruhm und die canesianische "Generosität"
das "wie es sein soU" wollen. Diese Arbeit Duchamps wird
jedoch in einer bildlichen plastischen Botschaft spürbar, die
von einem Absender, dem Maler, auf den Empfänger, das
Publikum, übenragen wird, damit das Publikum mit einem
Bezug, einer Diegese konfrontien wird, die es zwar
schlecht sehen kann, die es aber, vom Maler mit tausend Li
sten und Paradoxien behandelt, versuchen soll zu sehen.
Das Auge forscht unter der Herrschaft von: Rate.
360
Der Raum Newmans ist nicht mehr triadisch in dem Sinn.
daß er einen Absender. einen Empfänger und einen Bezug
fordert. Die Botschaft "spricht" von nichts. sie geht von
niemandem aus. Nicht Newman sagt oder zeigt etwas durch
seine Malerei. Die Botschaft (das Bild) ist der Botschaftsträ
ger. es .. sagt": Hier hin ich, d. h.: Ich gehöre Dir, oder: Gehöre
mir. Zwei Instanzen: ich. Du. nicht austauschbar. die nur in
der Dringlichkeit des Jetzt stattfinden. Der Bezug (das. wo
von das Bild ..spricht"). der Absender (sein "Autor") tun
nichts dazu. nicht einmal im negativen Sinn. noch nicht ein
mal als Anspielung auf eine unmögliche Präsenz. Die Bot
schaft ist die Präsentation. aber von nichts. d. h. von der
Präsenz. Diese ..pragmatische" Organisation ist der Ethik
sehr viel näher als j eglicher Ästhetik oder Poetik. Es geht
Newman darum. der Farbe. der Linie und dem Rhythmus
die Kraft der Verpflichtung z u geben. in einer Beziehung
von Angesicht zu Angesicht. in der zweiten Person. deren
Modell nicht sein kann: Sieh das an, (dort) sondern: Sieh mich.
oder besser: Hör mir zu. Denn die Verpflichtung ist viel
mehr ein Modus der Zeit als des Raums. und ihr Organ ist
mehr das Ohr als das Auge. Newman treibt so die Widerle
gung der Unterscheidung. eingefühn im Laokoon von Lessing.
auf die Spitze. eine Widerlegung. die gewiß den Hauptan
teil der avantgardistischen Studien seit. sagen wir. Delauney
oder Malewitsch ausgemacht hat.
Der "Inhalt"
Der Inhalt der Malerei ist jedoch. strenggenommen. nicht
ausgeschaltet. In einem seiner .. Monologe". The PJasmic
Image (1943-1945). betont Newman die Bedeutung des Inhalts
für die Malerei. Ohne Inhalt werde sie. so schreibt er. orna
mental. Man muß gerechterweise dem Surrealismus. so sehr
er auch darniederliegen mag. zugute halten. daß er durch
Aufrechterhalten der Forderung nach dem Inhalt die neue
amerikanische Generation (Rothko. Gottlieb. Gorky. Pol
lock. Baziotes) davor bewahrt hat, der leeren Abstraktion zu
verfallen, der die europäischen Schulen seit dem Ende des
ersten Jahrzehnts erlegen sind.
Nach Thomas B. Hess war der ..Inhalt" des Newmanschen
Werkes ingesamt .. die künstlerische Schöpfung" selbst.
361
Symbol für die Schöpfung überhaupt, von der die Genesis
berichtet. Man kann das gelten lassen, so wie man ein My
sterium oder zumindest ein Rätsel gelten läßt. Newman
schreibt in dem gleichen Monolog: "Der Inhalt der Schöp
fung ist das Chaos." Viele seiner Bildtitel lenken die Inter
pretation auf die (paradoxe) Vorstellung des Beginns. Das
Wort, wie ein Blitz in der Dunkelheit oder eine Linie auf
einer leeren Fläche, trennt, teilt, begründet einen Unter
schied, macht durch diesen Unterschied, so gering er auch
sein mag, spürbar und begründet so eine Gefühlswelt. Die
ser Beginn ist ein Widerspruch. Er findet in der Welt statt,
wie sein ursprünglicher Unterschied, der Beginn seiner Ge
schichte. Er ist nicht von dieser Welt, weil er sie erzeugt, er
kommt aus der Vorgeschichte oder aus einer Geschichtslo
sigkeit. Dieses Paradox ist das der Performance oder des Er
eignisses. Das Ereignis ist der Augenblick, der unvorher
sehbar "fällt" oder "sich ereignet", der aber, ist er erst
einmal da, Platz nimmt in dem Raster dessen, was gesche
hen ist. Jeglicher Augenblick ist der Beginn, vorausgesetzt,
er ist mehr nach seinem quod als nach seinem quid erfaßt.
Ohne diesen Blitz gäbe es nichts, oder das Chaos. Der Blitz
ist "die ganze Zeit" da (wie der Augenblick), und er ist nie
da. Die Welt hört nicht auf zu beginnen. Die Schöpfung bei
Newman ist nicht der Akt von irgendeinem, sie ist das, was
sich (hier) mitten im Unbestimmten ereignet.
Das Erhabene
Das Werk Newmans gehört zur Ästhetik des Erhabenen,
die Boileau durch seine Übersetzung des Longinus einge
führt hat und die in Europa seit dem Ende des 17. Jahrhun
derts langsam ausgearbeitet worden ist, deren gewissenhaf
teste Deuter Kant und Burke waren und die der deutsche
Idealismus, vor allem der Fichtes und Hegels, in das Prinzip
eingeschlossen - und damit mißachtet - hat, daß die Ge
samtheit von Gedanken und Realität ein System bildet.
Newman hatte Burke gelesen. Er fand ihn zu "surreali
stisch" (in seinem Monolog: The Sublime is Now) . Trotzdem
prägte Burke auf seine Weise einen wesentlichen Teil des
Newmanschen Projektes.
Das delight, dieses negative Vergnügen, das widersprüch
lich, fast neurotisch das erhabene Gefühl kennzeichnet,
entsteht aus der Verdrängung eines drohenden Schmerzes.
Diese Bedrohung, die in bestimmten "Objekten", bestimm
ten Situationen lauert und den Selbsterhaltungstrieb an
greift, nennt Burke Schrecken (terror): Dunkelheit, Einsam
keit, Stille, das Herannahen des Todes können schrecklich
sein in dem, was sie ankündigen: daß der Blick, der Andere,
die Sprache, das Leben nicht mehr da sein werden. Man
fühlt, daß es bald sein kann, daß nichts mehr stattfindet.
Das Erhabene ist, daß mitten in diesem drohenden Nahen
des Nichts doch etwas geschieht, etwas stattfindet, das an
kündigt, daß nicht alles zu Ende ist. Ein einfaches hier, die
kleinste Begebenheit ist das, was stattfindet.
Nun schreibt Burke der poet'1, die wir Dichtung nennen
würden, diese doppelte und widersprüchliche Finalität zu,
den Schrecken zu verbreiten (wir würden sagen: zu drohen,
364
daß es keine Sprache mehr gibt) und die Herausforderung
dieser Ohnmacht des Verbs aufzuheben, indem er das Er
eignis eines beüpiellosen Satzes erwecken oder annehmen
läßt. Die Malerei hält er für unfähig, diese erhabene Auf
gabe auf ihrem Gebiet zu erfüllen. In der Literatur ist es
möglich, Wörter zu kombinieren und mit Sätzen zu experi
mentieren, sie hat in sich eine unbegrenzte Macht, die der
Sprache in ihrer Vielfalt. Die Malerei aber unterliegt in den
Augen Burkes den Zwängen der figurativen Darstellung.
Mit einem einfachen Ausdruck wie "der Engel des Herrn",
schreibt er, eröffne der Dichter dem Gedanken eine Fülle
von Assoziationen; kein gemaltes Bild verfüge über einen
solchen Schatz, es könne niemals über das hinausgehen,
was das Auge erkennen könne.
Der Ort
"Meine Bilder sind weder mit der Manipulation des Raumes
noch mit der bildlichen Darstellung verbunden, sondern
mit einer Zeitempfindung", schreibt Newman in einem un
vollendet gebliebenen Monolog von 1949 mit dem Titel Pro
logue for a New Esthetic. Diese Empfindung, fühn er weiter
aus, ist nicht "Zeit in dem Sinn, in dem sie unterschwelliger
Inhalt der Malerei gewesen ist, die sehnsüchtige und drama
tische Gefühle damit vermischt hat, so daß die Zeit immer
aus Assoziationen und Geschichte bestand". Das Manu
skript des Prologue bricht hier ab. Aber die Zeilen, die dieser
Unterbrechung vorangehen, lassen eine etwas genauere Be
stimmung der Zeit zu, um die es sich handelt.
Ich breche die Studie hier ab. Es bliebe noch viel zu sagen. In der
Zwischenzeit ist es an der Zeit, in Gedenken an Thomas B. Hess
meinen Dank auszusprechen für seinen Barnett Newman. Die hier
abgedruckten Informationen sind aus der französischen Überset
zung von Marie-Therese Endes und Anne-Marie Lavagne entnom
men, die im Katalog der Ausstellung im Grand Palais in Paris
(10. Oktober bis 1 1 . Dezember 1972) vom Kulturministerium und
dem Centre National d'An contemporain veröffentlicht wurde.
Dezember 1983
Wie bist du zu dieser Art von Theater gelangt, die nicht primär auf
Sprache aufgebaut ist?
Ich habe das Theater nie gemocht. Das Erzählende oder die
Psychologie hat mich nie interessiert. Ich zog das Ballett
vor, weil es architektonisch war - ich komme von der Male
rei und von der Architektur her. Mir gefielen Balanchine
und Merce Cunningham, weil ich mich da nicht um Hand
lung und Bedeutung kümmern mußte. Ich konnte einfach
Muster und Strukturen betrachten - das schien genug. Ein
Tänzer ist hier, ein anderer dort, weitere vier auf dieser
Seite, acht auf der anderen, dann sechzehn . . . Ich fragte
mich, ob das Theater die gleichen Dinge tun könnte wie
der Tanz, ob es einfach ein architektonisches, ein zeitliches
und räumliches Arrangement sein könnte. Also machte
ich zuerst Stücke, die hauptsächlich optisch waren. Ich
begann meine Arbeit mit verschiedenen Bildern, die auf
eine bestimmte Weise arrangiert waren. Später fügte
ich Wörter hinzu, aber mit den Wörtern wurde keine
Geschichte erzählt. Sie wurden vielmehr architektonisch
verwendet - je nach der Länge des Wortes oder des
Satzes, nach ihrem Klang. Sie wurden wie Musik konstru
iert.
Zum Beispiel: Wenn in Einstein on the Beach die Lucinda
spricht, kommt es auf den Klang ihrer Stimme an, auf die
Muster ihrer Stimme. In A Letter to Queen Victoria interes
sierte mich hauptsächlich der Kontrast zwischen der
Stimme von George und der von Jim Neu, zwischen Ste
phans Stimme und der von Scotty, zwischen Sherleys
Stimme und der von Cindy. Ich wollte diese verschiedenen
Rhythmen zusammenbringen, diese verschiedenen Sprech
weisen, um einen Klangeffekt zu schaffen. Der Inhalt inter
essierte mich nicht in erster Linie. Trotzdem ist er da.
Wenn man Mozart hört, fragt man sich nicht, was das be
deutet. Man hört einfach zu. Was ich mache, betrachte ich
als eine Art "optische Musik".
372
DENISE GREEN: Dein Interesse an Architektur und auch
dein weitreichender Gebrauch optischer Requisiten paßt
nicht in den Minimal-Trend der sechziger Jahre.
Ich konnte mich mit ihnen identifizieren. Als ich Chris das
erste Mal sah, sagte seine Mutter: "Weißt du, seine Notiz
bücher sehen deinen sehr ähnlich." Es gab da also eine Ge
meinsamkeit. Was Raymond angeht - er kannte keine
Worte, als ich ihn kennenlernte. Das faszinierte mich. Ich
fragte mich, wie er dachte, wenn er nicht mit Hilfe von
Worten dachte.
Sie sind beide in hohem Maße optisch. Das getippte "C" auf
diesem Diagramm steht vielleicht für einen Namen, Chri
stopher, aber es ist sehr optisch. Die Art, wie Raymond uns
verstand und sich uns mitteilte, war eine optische An. Er
höne die Wone nicht.
Wir hören und sehen mit inneren und äußeren audiovisuel
len Schirmen. Wenn unsere Augen geschlossen sind - wir
schlafen, wir sind blind -, dann sehen wir vielleicht auf die
sem inneren optischen Schirm. Aber wenn unsere Augen
offen sind, sehen wir auf diesem äußeren optischen Schirm.
Wenn wir taub sind, dann hören wir vielleicht mit einem
inneren Schirm; wenn wir die Autos hören, dann hören wir
mit unserem äußeren Schirm.
Die Leute, die sich mit tauben oder autistischen Kindern beschäfti
gen, scheinen sich im Grunde damit 'ZU befassen, ihnen unsere Spra
che und Konventionen aufzuzwingen. Du hast anscheinend genau
das Gegenteil getan. Du hast angenommen, daß es etwas von ihnen
'ZU lernen gab.
Meinst du, dein Theater hilft die Unterscheidung zwischen " Wahn
sinn" und Kunst überbrücken?
Hier ist ein Apfel (er zeichnet einen Apfel), und mitten in
diesem Apfel ist ein Würfel, ein Kristall. Der Apfel ist die
Welt, der Würfel ist eine Möglichkeit zu sehen, was in der
Welt vorgeht. Im Fall von Christopher oder sogar Raymond
war don eine Sprache. Eines Tages sagte ich sehr laut sei
nen Namen, Raymond, und er drehte sich nicht um. Ich
sagte "Aounn", und er drehte sich um. Das war eine Überra
schung. Er drehte sich um, und ich ahmte seine Laute nach,
die Laute eines Tauben, und da war das Erkennen dieses
Lauts. Man konnte es an seinem Gesicht ablesen. Wenn ein
376
Tauber "Eah Eeyan Eeaah" sagt, sieht man in seinem Ge
sicht die alptraumhafte Bedrückung, daß er nicht die Spra
che des Zuhörers sprechen kann. Sie ahmen uns nach, aber
sie werden es nie schaffen. Als ich "Aouinn" sagte, sah ich
an seinem Gesicht, daß er wußte, wovon ich wirklich
sprach. Da war ein Erkennen des Lauts. Also ist das viel
leicht auch eine Sprache, so wie Französisch eine Sprache
ist. Und das mitten in dem Würfel. Das Sprachzentrum.
Vielleicht ist das eine Sprache, die man lernen oder verste
hen könnte. Und das gleiche gilt für Christopher. Die An
ordnung seiner Laute ist etwas, das man mit der Zeit lernen
kann. Da sind 2 C's, und da sind 4 C's, und da sind B C's,
und da sind 12 C's, oder was auch immer. Es ist eine Spra
che. Es ist eine Art zu sprechen, wie Französisch oder
Deutsch. Es mag auch eine andere Sprache sein, aber sie
könnte in dem Zentrum gelernt werden.
Solange man diesen beiden Menschen sagt, daß man ihre
Sprache nicht akzeptiert, dann ist es für sie in den meisten
Fällen schwierig, unsere zu akzeptieren. Man muß sich auf
halbem Weg treffen: Okay, wir lernen eure und ihr lernt
unsere. Unter denen, die mit Tauben arbeiten, habe ich nie
einen gefunden, wirklich nicht einen einzigen, der sich so et
was je zu eigen gemacht und ihre Sprache als eine Sprache
anerkannt hat. Sie kümmern sich nicht um ihre Sprache. Es
gibt eine Zeichensprache, aber sie benutzen Laute. Ich habe
nie gesehen, daß einer versuchte, sich einem gehörlosen
Menschen mit seinen eigenen Lauten und in seiner eigenen
Sprache mitzuteilen. Und dasselbe gilt für Christopher, für
die Arbeit an "Autismen". Seine Schule war angeblich die
beste in den Staaten, aber niemand interessierte sich dort
wirklich dafür, was die Kinder machten - sie waren dazu
da, unsere Sprache zu lernen.
Chris und Raymond haben eine Verbindung mit der Spra
che, die darauf hinweist, daß wir auf Laute reagieren, bevor
wir die Bedeutung eines Wortes lernen. Es gibt also etwas
sehr Fundamentales an der Sprache, es gibt eine Sprache,
die universell ist, und das ist noch etwas, was wir ins Thea
ter einbrachten. Im Idealfall kann dieses Theater überall
von allen Menschen verstanden werden. Ich habe in Paris
gerade ein Stück aufgeführt, das aus englischen Wörtern be
steht. Die Leute reagieren hauptsächlich auf den Klang,
377
und Autisten tun das offensichtlich auch. Sie verstehen
kein Englisch, aber sie hören auf das, was in diesen Wör
tern als Chiffre enthalten ist: Energie. Letztes Jahr nahm
Christopher alte Batterien, nahm auf. was gesprochen
wurde, und spielte die Bänder; auf diese Weise hötte er die
Gespräche "s e h r l a n g s a m . . . " Es ist sehr seltsam, was
man da hött. Da sind aB diese anderen Laute in den Wotten
drin.
Ich habe das überlegt, ja. Ich habe in Stalin etwas Ähnliches
gemacht: Haf. hap, hat - es waren 2 hats und 3 haps,
2-3-2-1-2, 1-2-3-2-1-2 (klopft auf den Tisch) - so etwa. Das
war einfach ein Lautmuster.
387
Und zweifellos bearbeiten Minderheiten das Amerikani
sche nicht in derselben Weise; man denke nur an das Black
English und die Gheuosprachen. Aber jedenfalls gibt es
keine imperiale Sprache, die nicht von jenen inhärenten
und kontinuierlichen Variationslinien ausgehöhlt und
durchzogen wären, d. h. von ihren minoritären Gebrauchs
weisen. Also bezeichnen groß und klein weniger verschie
dene Sprachen, als den unterschiedlichen Gebrauch dersel
ben Sprache. Kafka, ein tschechischer Jude, der deutsch
schreibt, macht vom Deutschen einen minoritären Ge
brauch und produziert so ein entscheidendes sprachliches
Meisterwerk. Allgemeiner: die Bearbeitung des Deutschen
durch die Minderheiten im österreichischen Großreich.
Darüber hinaus könnte man sagen, daß eine Sprache sich
mehr oder weniger für diesen minoritären Gebrauch eignet.
Die Linguisten haben oft eine recht zweifelhafte Vorstel
lung vom Gegenstand, den sie untersuchen. Sie behaupten,
daß zwar jede Sprache gewiß ein heterogenes Gemisch ist,
aber wissenschaftlich nur untersucht werden kann, sofern
aus ihr ein homogenes und konstantes Subsystem extrahiert
wird: ein Dialekt, eine Mundart, eine Gheuosprache müß
ten demnach denselben Bedingungen unterworfen werden
wie Standardsprachen (Chomsky). Infolgedessen werden
die Variationen, die die jeweilige Sprache affizieren, entwe
der als äußerlich oder außerhalb des Systems stehend be
trachtet, oder als Manifestationen einer Vermischung
zweier Systeme, die jedes für sich genommen homogen wä
ren. Aber vielleicht setzt diese Bedingung der Konstanz
oder Homogenität bereits einen bestimmten Gebrauch der
j eweiligen Sprache voraus: einen majoritären Gebrauch, der
die Sprache als Machtverhältnis und Machtindex behandelt.
Eine kleine Anzahl von Linguisten (v. a. William Labov)
haben Variationslinien freigelegt, die in jeder Sprache vor
kommen und sich auf sämtliche Bestandteile beziehen, und
die neuartige, immanente Regeln konstituieren. Man findet
kein homogenes System, das nicht schon von einer imma
nenten, kontinuierlichen und geregelten Variation bearbei
tet worden wäre: so hat also jede Sprache ihren minoritären
Gebrauch, eine erweiterte Chromatik, ihr Black English.
Die kontinuierliche Variabilität kann weder durch Zwei
sprachigkeit noch durch die Mischung von Dialekten er-
388
klärt werden, sondern allein durch ein der Sprache zutiefst
innewohnendes schöpferisches Vermögen, insofern von ihr
ein minoritärer Gebrauch gemacht wird. Und in gewisser
Hinsicht ist dies das "Theater" der Sprache.
399
noch nicht normalisiert worden ist, so weil er von anderen,
tiefer gehenden Dingen abhängt, weil er wie ein Blitz etwas
anderes ankündigt und anderswoher kommt, plötzlicher
Ausbruch einer schöpferischen, unerwarteten, subrepräsen
tativen Variation. Die Institutionen sind die Organe der Re
präsentation der bekannten Konflikte, u nd das Theater ist
eine Institution, das Theater ist "offiziell", auch die Avant
garde und das Volkstheater. Durch welches Schicksal haben
die Brechtianer die Macht über einen bedeutenden Teil des
Theaters übernommen? Der Kritiker Guiseppe Bertolucci
beschrieb die Lage des Theaters in Italien (und anderswo)
zu dem Zeitpunkt, als CB seine Versuche begann: weil die
soziale Wirklichkeit entgleitet, ist "das Theater für alle ein
ideologischer Betrug und ein objektiv hemmender Faktor
geworden". Genauso verhält es sich mit dem italienischen
Kino mit seinen pseudopolitischen Ambitionen, wie Marco
Montesano sagt, "es ist ein institutionelles Kino, obwohl es
scheinbar Konflikte darstellt . . . , weil der inszenierte Kon
flikt der Konflikt ist, den die Institution voraussieht und
kontrolliert". Es ist ein narzißtisches, historizistisches und
moralisierendes Theater und Kino. Auch Reich und Arm:
CB beschreibt sie als zum selben Macht· und Herrschaftssy
stem gehörend, das sie auf "arme Sklaven" und "reiche Skla
ven" verteilt, und wo der Künstler die Funktion eines intel
lektuellen Sklaven der einen oder anderen Seite hat. Aber
wie soll man denn dieser Situation der offiziellen, institu
tionalisierten Konfliktrepräsentation entkommen? Wie soll
man die Untergrundarbeit einer freien und präsenten Varia
tion zur Geltung bringen, die sich zwischen die Maschen
der Sklaverei hindurchdrängt und über das Ganze hinaus
geht?
Gewiß, es gab auch andere Richtungen: das gelebte Thea
ter, wo die Konflikte eher erlebt als repräsentiert werden,
wie in einem P sychodrama, das ästhetische Theater, wo die
formalisierten Konflikte abstrakt, geometrisch, ornamental
werden, das mystische Theater, das dazu neigt, die Reprä
sentation fallenzulassen, um kommunitäres asketisches le
ben "außerhalb des Schauspiels" zu werden? Keine dieser
Richtungen paßt CB, er würde all dem noch die reine, einfa
che Repräsentation vorziehen . . . Wie Hamlet sucht er eine
einfachere, demütigere Formel. -
400
Alles dreht sich um den majoritären Tatbestand. Denn das
Theater für alle, das Volks theater ist ein bißchen wie die
Demokratie, es beruft sich auf einen majoritären Tatbe
stand. Nur ist dieser Tatbestand sehr zweideutig. Er setzt
selbst einen Macht- oder Herrschaftszustand voraus, und
nicht umgekehrt. Es ist klar, daß es wahrscheinlich mehr
Fliegen und Moskitos als Menschen gibt, der Mensch stellt
nichtsdestoweniger einen Maßstab dar, gemessen an dem
die Menschen notwendigerweise in der Mehrheit sind. Die
Mehrheit bezeichnet keine größere Menge, sondern zu
nächst diesen Maßstab, im Vergleich zu dem die anderen
Mengen, wie groß sie auch sein mögen, kleiner genannt
werden. Zum Beispiel sind die Frauen und Kinder, die
Schwarzen und Indianer usw. minoritär im Verhältnis zum
Maßstab, der durch den weißen, christlichen, irgendwie
männlichen erwachsenen Menschen, den Stadtbewohner
Amerikas oder Europas unserer Tage aufgestellt wird (Ulys
ses). Aber an diesem Punkt kehrt sich alles um. Denn wenn
die Mehrheit auf ein historisches oder strukturelles Macht
modell oder beides gleichzeitig verweist, muß man auch sa
gen, daß jedemzann minoritär ist, potentiell minoritär, inso
fern er von diesem Modell abweicht. Wäre nun die
fortgesetzte Variation nicht genau das, jene Abweichung,
die unaufhörlich, durch Überschreitung oder Mangel über
den repräsentativen Boden des majoritären Maßstabs hin
ausgeht? Wäre die fortgesetzte Variation nicht das Minori
tär-Werden von jedermann, im Gegensatz zum majoritären
Tatbestand von Niemand? Könnte das Theater also nicht
eine hinreichend bescheidene und dennoch wirksame
Funktion finden? Jene anti-repräsentative Funktion be
stünde darin, gleichsam eine Figur des minoritären Bewußt
seins als Vermögen eines jeden zu zeichnen, zu konstituie
ren. Ein anwesendes, augenblickliches Vermögen gegen
wärtig zu machen, ist etwas ganz anderes, als einen Konflikt
zu repräsentieren. Man könnte nicht mehr sagen, daß die
Kunst Macht hat, daß sie noch zur Macht gehört, selbst
wenn sie die Macht kritisiert. Denn indem sie die Form ei
nes minoritären Bewußtseins aufstellt, würde sie sich an
Kräfte des Werdens wenden, die zu einem anderen Bereich
gehören als die der Macht und der Maßstabs-Repräsenta
tion. "Die Kunst ist keine Form von Macht, dies ist sie nur,
401
wenn sie aufhört, Kunst zu sein und anfängt, Demagogie zu
werden." Die Kunst ist vielen Mächten unterworfen , aber
sie ist keine Form von Macht. Es macht wenig aus, daß der
Schauspieler-Au tor-Regisseur einen Einfluß ausübt und
sich gegebenfalls auf autoritäre, sehr autoritäre Weise be
nimmt. Es wäre die Autorität einer unaufhörlichen Varia
tion, im Gegensatz zur Macht oder zum Despotismus der
Invarianz. Es wäre die Autorität, die Autonomie des Stotte
rers, dessen, der das Recht zu stottern erobert hat, im Ge
gensatz zur großen "Schönrednerei". Und ganz sicher sind
die Gefahren immer groß, daß die minoritäre Form erneut
mehrheitlich wird und einen Maßstab setzt (wenn die
Kunst wieder demagogisch wird) . Die Variation muß unauf
hörlich selber variieren, d. h. sie muß immer neue, unerwar
tete Wege beschrei ten.
Welches sind diese Wege unter dem Gesichtspunkt einer
Politik des Theaters? Welches ist jener minoritäre Mensch
- das Wort Mensch paßt nicht mehr, insofern es bereits die
Signatur der Mehrheit trägt. Weshalb nicht Frau oder Tra
vestie? Aber auch sie sind bereits zu kodifiziert. Ganz deut
lich zeichnet sich in den Deklarationen CB's eine Politik ab.
Die Grenze, d. h. die Variationslinie verläuft nicht zwi
schen Herren und Sklaven oder Armen und Reichen, denn
zwischen beiden bildet sich ein ganzes Geflecht von Rela
tionen und Oppositionen, die aus dem Herrn einen reichen
Knecht und aus dem Knecht einen armen Herrn machen,
und zwar innerhalb ein- und demlben majoritären SYJtemJ. Die
Grenze verläuft nicht in der Geschichte, auch nicht inner
halb einer etablierten Struktur, oder innerhalb des "Volkes".
Alle nehmen das Volk für sich in Anspruch, im Namen der
Sprache der Mehrheit. Aber wo bleibt das Volk? "Das Volk
fehlt." In Wirklichkeit verläuft die Grenze zwischen der Ge
schichte und dem Anti-Historistischen, d. h. konkret, "je
nen, von denen die Geschichte nicht berichtet". Sie verläuft
zwischen der Struktur und den Fluchtlinien, die sie durch
queren. Sie verläuft zwischen dem Volk und der Ethnie. Die
Ethnie ist das Minoritäre, die Fluchtlinie in der Struktur,
das anti-historische Element in der Geschichte. CB erlebt
seine Minorität mit den Leuten aus Apulien. Das ist sein
Süden oder seine Dritte Welt, in dem Sinne, wie jeder ei
nen Süden oder eine Dritte Welt hat. Aber wenn er von den
402
Leuten in Apulien spricht, zu denen er gehört, da ist ihm
ganz deutlich, daß das Wort arm überhaupt nicht paßt. Wie
soll man Leute arm nennen, die es vorziehen, an Hunger zu
sterben, anstatt zu arbeiten? Wie soll man Leute Sklaven
nennen, die das Spiel von Herr und Knecht erst gar nicht
mitspielen? Wie von einem "Konflikt" reden, wo es um et
was ganz anderes, um eine kochende Variation, eine anti
historische Variation geht, um den verrückten Aufruhr vom
Campi Salentina, so wie CB ihn beschreibt? Statt dessen hat
man ihnen etwas Fremdes aufgepfropft, hat man sie einer
seltsamen Operation unterzogen. Man hat sie verplant, re
präsentiert, normalisiert, historisiert, dem majoritären Tat
bestand integriert, und dadurch, ja, hat man Arme aus ih
nen gemacht, Sklaven, hat man sie in das Volk und die
Geschichte eingebaut und hat sie groß gemacht.
Eine letzte Gefahr noch, bevor man glaubt, alles verstanden
zu haben, was CB sagt. Er hat nicht die geringsten Ambitio
nen, Anführer einer regionalistischen Truppe zu werden.
Er fordert im Gegenteil ein Staatstheater, er kämpft darum,
er kennt in seiner Arbeit keinerlei Kult der Armut. Man
muß politisch sehr böswillig sein, um darin einen "Wider
spruch" oder eine Vereinnahmung zu sehen. Niemals hat
CB beansprucht, ein regionalistisches Theater zu machen;
und eine Minderheit fängt schon an, sich zu normalisieren,
wenn man sie in sich abschließt und um sie herum den
Tanz der guten alten Zeit aufführt (man macht so eine Un
tereinheit der Mehrheit aus ihr) . Nie gehört CB mehr zu
den Apuliern, zum Süden, als wenn er ein Universal-Thea
ter mit englischen, französischen und amerikanischen Ver
bindungen macht. Er extrahiert aus den Apuliern eine Va
riationslinie, Luft, Erde, Sonne, Farben, üchter und Tön,
die er selbst ganz anders variieren läßt, z. B. "Notre Dame
des Turcs", folglich ist er mehr Komplize der Apulier, als
wenn er sich zu ihrem repräsentativen Dichter machen
würde. Um zum Ende zu kommen: Minorität hat zweierlei Be
deutungen, die zweifellos verbunden, aber sehr wohl unter
schieden sind. Minorität bezeichnet zunächst einen Tatbe
stand, d. h. die Lage einer Gruppe, die, wie groß auch
immer ihre Zahl sein mag, von der Mehrheit ausgeschlos
sen ist oder auch eingeschlossen, aber als untergeordnete
Fraktion im Verhältnis zu einem Maßstab, der das Gesetz
403
bestimmt und die Mehrheit festlegt. Man könnte in diesem
Sinne sagen, daß die Frauen, die Kinder, der Süden, die
Dritte Welt usw. noch Minderheiten sind, so zahlreich sie
auch sein mögen. Aber wenn man den ersten Sinn beim
"Wort" nimmt, stellt man fest: Minorität bezeichnet dann
nicht mehr einen Tatbestand, sondern ein Werden, in das
man sich einbringt. Minoritär-Werden ist ein Ziel, und ein
Ziel, das jeden betrifft, denn jeder tritt in dieses Ziel und
dieses Werden ein, insofern jeder seine Variation um die
Einheit des despotischen Maßstabs herum konstituiert, und
auf die eine oder andere Weise dem System der Macht ent
kommt, die aus ihm einen Teil der Mehrheit macht. In die
sem zweiten Sinne ist klar, daß die Minderheit viel zahlrei
cher als die Mehrheit ist. Zum Beispiel sind die Frauen im
ersten Sinne eine Minderheit, aber im zweiten Sinn gibt es
ein Frau-Werden eines jeden, ein Frau-Werden, das die
Möglichkeit eines jeden darstellt, und die Frauen müssen
nicht weniger Frau-Werden als die Männer selbst. Ein uni
verselles Minoritär-Werden. Minoritär bezeichnet hier die
Kraft eines Werdens, während Majoritär die Macht oder
Ohnmacht eines Zustandes, einer Situation bezeichnet. Hier
können Theater und Kunst mit einer spezifischen politi
schen Funktion auftreten. Unter der Bedingung, daß Mino
rität nichts regionalistisches repräsentiert, aber ebensowe
nig etwas aristokratisches, ästhetisches oder mystisches.
404
"Sie war soweit gekommen, zu wissen, insofern sie nichts
mehr interpretieren konnte; es gab keine Rätsel mehr, die
sie klarsehen ließen, es blieb nur ein rohes Licht." Je mehr
man diese minoritäre Bewußtseinsform erreicht, desto we
niger fühlt man sich allein. Licht. Man ist für sich selbst al
lein eine Masse, "die Masse meiner Atome". Und unter dem
Anspruch der erwähnten Formeln gibt es die bescheidenste
Würdigung dessen, was ein revolutionäres Theater sein
könnte, eine einfache, liebevolle Potentialität, ein Element
für ein neues Werden des Bewußtseins.
406
(Hege!, Sanre); es gab die Philosophie als Meditation (Des
cartes, Heidegger); nun ersteht nach Zarathustra die Philo
sophie wieder als Theater. Nicht als Reflexion über das
Theater oder als Theater voller Bedeutungen. Sondern eine
Philosophie, die zur Bühne mit Personen und Zeichen ge
worden ist: Aufführung eines einzigen unwiederholbaren
Ereignisses.
Das Buch von Deleuze sollte man aufschlagen wie die Tü
ren eines Theaters, wenn das Rampenlicht aufleuchtet und
der Vorhang sich hebt. Zitierte Autoren und unzählige An
spielungen - das sind die Personen. Sie sagen ihren Text auf
(den Text, den sie anderswo, in anderen Büchern, auf ande
ren Szenen gesprochen haben und der sich hier anders ab
spielt; das ist die listenreiche Technik der "Collage"). Jeder
hat seine Rolle, und häufig treten sie zu dritt auf - der Ko
miker, der Tragiker, der Dramatiker: Peguy, Kierkegaard,
Nietzsehe; Aristoteles (ja der Komiker!), Platon, Duns Sco
tus; Hegel (ja auch er!), Hölderlin und wiederum Nietz
sehe.
Nie treten sie am selben Platz und mit derselben Identität
auf. Bald distanzieren sie sich als Komiker von ihrem düste
ren Grund, bald sind sie ihm dramatisch nahe. Hier ist Pla
ton der aufgeblasene Weise, der die gemeinen Trugbilder
verjagt, die schlechten Bilder verscheucht und den An
schein vertilgt, welcher das eine Urbild spiegelt und anruft:
jene Idee des Guten, die selber gut ist. Aber dort ist der an
dere Platon fast in Panik, weil er im Schatten Sokrates nicht
von höhnenden Sophisten zu unterscheiden weiß.
407
ist Nicht-A, bringt man uns schon in der Schule bei) - un
ter dieser hannäckig angespannten Stimme ist das Knistern
des Unstimmigen unüberhörbar. Lauschen wir auf die Was
senropfen, die durch Leibnizens Marmor rieseln. Schauen
wir, wie das Knacken der Zeit das Kantische Subjekt in Ze
brastreifen zerlegt.
Und plötzlich mitten im Buch (Deleuzens Ironie präsen
tiert ja das göttliche Hinken der Differenz in aller akademi
scher Form) - plötzlich die Wende. Der Schleier zerreißt:
dieser Schleier ist das Bild, das sich das Denken von sich
selber gemacht hatte und das es seine eigene Härte ertragen
ließ. Man glaubte, man sagte: das Denken ist gut und es ist
eins wie der gesunde Menschenverstand, auf dem es be
ruht; das Denken zerstreut den Irrtum, indem es Korn für
Korn die Ernte der wahren Sätze sammelt und schließlich
zur schönen Pyramide des Wissens aufstapelt.
Sobald aber das Denken von diesem Bild befreit ist, das es
der Souveränität des Subjekts unterwirft, erscheint es oder
vielmehr wirkt es so, wie es ist: böse, paradox und unwill
kürlich erhebt es sich an den Extremitäten der verschie
densten Fähigkeiten; ständig muß es gegen die Faszination
der Dummheit ankämpfen; es ist von der Gewalt der Pro
bleme unterworfen, gezwungen und eingezwängt; von hell
scharfen wie von dunkel-tiefen Ideen durchblitzt.
Halten wir die Wandlungen fest, die Deleuze in der guten
alten Stube der Philosophie anrichtet: aus dem gesunden
Menschenverstand wird Häresie; aus der ruhigen Mitte ex
treme Spannung und Zuspitzung; aus der Beschwörung des
Irrtums die Faszination durch die Dummheit; aus dem Kla
ren und Deutlichen das Deutlich-Dunkel. Halten wir vor al
lem die große Umwenung des lichtes fest: das Denken ist
nicht mehr ein offener Blick auf Formen, die in ihrer Identi
tät hell und fest sind; das Denken ist Tat, Sprung, Tanz, äu
ßerstes Abseits, gespannte Dunkelheit. Es ist das Ende der
Philosophie der Repräsentation. Incipit philosophia diffe
rentiae.
408
und die Wiede rholung zu denken. Nicht sie sich vorzustel
len, sondern sie herzustellen und auszuspielen. Auf dem
Gipfel seiner Intensität ist das Denken selber Differenz
und Wiederholung. Es läßt auseinanderfallen, was die Re
präsentation zu vereinen suchte; es spielt mit der endlosen
Wiederholung, deren Ursprung zu suchen sich die Meta
physik in den Kopf setzte. Es geht nicht mehr um die
Frage: Was unterscheidet sich wovon? Welche Arten grenzt
die Differenz ab und welche größere anfängliche Einheit
teilt sie auf? Es geht darum, die Analogie oder die Identität
als Überdeckung der Differenz und der Differenz der Diffe
renzen zu denken; und die Wiederholung ohne Ursprung
und nicht als Wiederkehr des Selben zu denken.
Zu denken sind eher Intensitäten als Qualitäten und Quan
titäten; eher Tiefen als Längen und Breiten; eher Individu
ierungsbewegungen als Arten und Gattungen; und tausend
kleine Larvensubjekte, tausend kleine aufgelöste !ehe, tau
send Passivitäten und Durcheinander, wo gestern das sou
veräne Subjekt herrschte. Man hat sich im Abendland im
mer geweigert, die Intensität zu denken. Zumeist hat man
sie im Meßbaren und im Spiel der Gleichheiten aufgehen
lassen. Bergson hat sie aufs Qualitative und Kontinuierliche
reduziert. Deleuze befreit sie nun mit und in einem Denken,
welches das höchste, das schärfste und intensivste sein wird.
409
Machen wir uns frei, um denken und lieben zu können, was
sich in unserem Universum seit Nietzsehe mit Donnerrol
len ankündigt: ungebändigte Differenzen und ursprunglose
Wiederholungen, die unsern alten erloschenen Vulkan er
schüttern; die seit Mallarme die Literatur gespren.gt haben;
die den Raum der Malerei zerklüftet und vervielfältigt ha
ben (mit Rothkos Teilungen, Nolands Streifen, Warhols Se
rien); die seit Webern die feste Linie der Musik endgültig
gebrochen haben; die alle Zeitenbrüche unserer Welt an
künden. Endlich ist es möglich, die Differenzen des Heute
zu denken, das Heute als Differenz der Differenzen zu
denken.
Das Buch von Deleuze ist das wundersame Theater, in dem
die ständig neuen Differenzen, die wir sind, die wir ma
chen, zwischen denen wir herumirren, gespielt werden. Es
ist seit langem das einzigartigste, das differenteste Buch, in
dem die Differenzen, die uns durchkreuzen und zer
streuen, am besten wiederholt werden. Theater des Jetzt.
411
jekt um etwas Nicht-Kontingentes, etwas ganz Souveränes
und allgemein Notwendiges handeln sollte.
Descartes erinnert an seinen Aufenthalt in Deutschland
während des Dreißigjährigen Krieges und stellt fest, "daß
Werke, die aus mehreren Stücken bestehen und von der
Hand verschiedener Meister stammen, häufig nicht so voll
kommen sind wie Arbeiten eines einzelnen. So kann man
beobachten, daß Bauten, die ein Architekt allein unternom
men und ausgeführt hat, für gewöhnlich schöner und har
monischer sind als solche, die mehrere versucht haben um
zuarbeiten, indem sie alte, zu anderen Zwecken gebaute
Mauern benutzten. Ebenso sind jene alten Städte, die - an
fänglich nur Burgflecken - erst im Laufe der Zeit zu Groß
städten geworden sind, verglichen mit jenen regelmäßigen
Plätzen, die ein Ingenieur nach freiem Entwurf auf einer
Ebene absteckt, für gewöhnlich ganz unproportioniert;
zwar findet man oft ihre Häuser - betrachtet man jedes für
sich - ebenso kunstvoll oder gar kunstvoller als in anderen
Städten, wenn man jedoch sieht, wie sie nebeneinanderste
hen, hier ein großes, dort ein kleines, und wie sie die Stra
ßen krumm oder uneben machen, so muß man sagen, daß
sie eher der Zufall verteilt hat und nicht die Absicht ver
nünftiger Menschen. Und wenn man bedenkt, daß es doch
zu jeder Zeit Beamte mit dem Auftrag gab, die Bauten von
Privatleuten zu überwachen, um sie in den Dienst der Ver
schönerung des Stadtbildes zu stellen, so wird man wohl
einsehen, daß es schwierig ist, etwas höchst Vollkommenes
zu schaffen, wenn man nur an fremden Werken herumar
beitet."l Gegen das Anbauen und Umbauen, das vorlie
gende Bestände voraussetzt und bis zu einem gewissen
Grade bestehen läßt, setzt Descartes die Schöpfung aus ei
nem Guß, das Produzieren von einem Kopf aus. Während
in den mittelalterlichen Städten verschiedene Generatio
nen, Stände und Querköpfe aneinander umbauen, erdenkt
und errichtet der von Descartes erdachte Ingenieur auf ei
ner tabula rasa sein großartiges und nützliches Bauwerk.
Wie kommt es zu dieser tabula rasa? Im Notfall durch die
vollständige Abtragung dessen, was vorher da war. Die in
genieurhafte Produktion ist an eine bestimmte Destruktion
gebunden: an die Ausrottung mit Stumpf und Stiel, die aus
dem Zerstörten nur Trümmer, d. h. formloses Material ge-
412
winnt. Diese rad ikale Destruktion fällt jedoch insofern
kaum auf, als sie einer noch radikaleren Konstruktion dient:
lose Erde und Sand werden beiseite geschafft, damit sich
auf Fels und Ton etwas Sicheres bauen läßt.2 Von der De
struktion, die zwar in der nachfolgenden Konstruktion völ
lig aufgeht, aber doch ihre notwendige Vorbedingung ist,
spricht Descartes nur hinsichtlich seines eigenen Umbaues.
Hinsichtlich der Stadt oder des Gemeinwesens will er von
so destruktiver Radikalität nichts wissen. Er gehört ja nicht
zu den unruhigen Wirrköpfen, "die, ohne durch Geburt
oder Lebensstellung zur Verwaltung öffentlicher Angele
genheiten berufen zu sein, in Gedanken fortwährend auf
diesem Gebiet reformieren. "3 Descartes beschränkt seine ra
dikale Destruktion/Konstruktion auf sich selbst als denken
des Wesen. Es geht ihm darum, sich selbst als souveränes
Subjekt zu produzieren, zunächst alle undurchsichtigen
Einsprengsel wie etwa die Triebe und die Lehrer der Kind
heit4 aus sich auszumerzen und dann sich ganz auf sich, auf
die Vernunft zu stellen. Indem er seine Säuberung auf sich
selber zurücknimmt, verläßt er sich - wenn auch nur vor
läufig, so doch fest entschlossen - auf die Institutionen und
Gebräuche seiner Umwe1t.5 Er tut nichts, was ihm den An
schein des Revolutionärs oder Reformers eintragen könnte.
Wie ist dieser Bruch zwischen dem Verzicht auf die Gesell
schaftsveränderung einerseits und dem Vorhaben der radi
kalen Selbstneugründung andererseits zu verstehen? Be
scheidet sich Descartes, weil er inkonsequent ist oder
"realistisch" oder dergleichen? Nun, seine These, daß die
beste Ordnung die von einem einzigen ausgedachte und
durchgeführte ist, führt zu unterschiedlichen Konsequen
zen, je nachdem ob es sich um die Ordnung des Denkens
von Descartes selber handelt oder um die Ordnung des
Staates. Denn in dieser darf gerade nicht jeder seine Vor
stellung durchsetzen wollen. Alle sollten sich einer Ord
nung unterwerfen, die womöglich von einem Gesetzgeber
widerspruchsfrei ausgedacht sein soll. Da dieser eine nach
Lage der Dinge eben nicht Descartes ist, muß er sich der
bestehenden Ordnung unterwerfen. Die von Descartes for
mulierte These vom Ordnungsmonopol ermächtigt ihn zum
unbeschränkten Herrn in seinem eigenen Haus - in seinem
Denken - und unterwirft ihn gleichzeitig der bestehenden
413
Ordnung als loyalen oder zumindest unauffälligen Staats-
. .
· kt konsutUlert . Souverän ·
b ürger. D as Su bJe SlCh aI s . D lese
Untenan
Spaltung ist zunächst derjenigen von privat und öffentlich
zugeordnet, doch läßt sich diese Zuordnung nicht aufrecht
erhalten. Zum einen verlangt die private Souveränität auch
so etwas wie private Untertanen: die Wünsche, Leiden
schaften usw. Zum andern läßt sie sich gar nicht auf Privat
heit eingrenzen. Das souveräne Denken strebt ja nach nütz
lichen Erkenntnissen, die nicht erst in ihrer Anwendung,
sondern schon bei ihrer Gewinnung andere Subjekte einbe
ziehen. Hier sind nun Freiwillige, die sich aus Neugier oder
Wissensdurst als Mitarbeiter anbieten, gar nicht zu brau
chen, die würden nämlich mit ihren Eigenheiten mehr Um
stände machen als Nutzen bringen. Andere sind nur zu ver
wenden, wenn ihre Motivation aufs Geldverdienen redu
ziert ist und sie sich darum auf das Ausführen von
Aufträgen beschränken.6 In dem Augenblick, in dem es der
private Souverän mit anderen zu tun hat, müssen sich diese
umstandslos in seine Ordnung einfügen - womöglich ohne
großen Herrschaftsaufwand, sprechen doch alle Interessen
für die Sache. Descartes' Denksouveränität läuft eindeutig
auf den allgemeinen Nutzen hinaus: auf die Herrschaft
über die Natur, auf die Verlängerung des Lebens. Wer so
konstruktive, so produktive Ziele für die Allgemeinheit ver
folgt, braucht gar nicht von Gesellschaftsveränderung zu
sprechen, was die Leute nur beunruhigen oder ihn verdäch
tig machen würde. Dafür kann er ganz offen von der Gesel
lungsmethode sprechen, mit der er andere für sein Projekt
einzusetzen gedenkt. Nichts daran ist aufrührerisch oder
zerstörerisch. Alles ist nützlich, sparsam und vernünftig.
Ökonomisch im modernen Sinn des Wortes. Wenn Descar
tes von der Notwendigkeit der radikalen Umwälzung in be
zug auf die Allgemeinheit nur andeutungsweise und vor al
lem unter Unterschlagung ihrer negativen Seite redet,
während er bei der Selbstgründung des souveränen Den
kens rücksichtslos von der notwendigen Ausrottungsarbeit
spricht, dann befindet er sich zum einen in der Tradition
der christlichen Seelenreinigung, zum anderen inauguriert
er die Verfemung des destruktiven Teils, die für die mo
derne Produktivität charakteristisch werden sollte. Auf den
414
Krieg mit seinen Ehren verzi chtet er, weil hier der Nutzen
für die einen mit Schaden für die anderen verbunden ist,?
und an der holländischen Armee rühmt er, daß sie nur noch
der Sicherheit des Friedens dient .8 Die innenpolitischen
und außenpolitischen Kehrseiten dieses holländischen Frie
dens interessieren den nicht, der in der Weltstadt die Ein
samkeit der Wüste sucht, um seinen Gedanken und dem
Nutzen für alle nachzuhängen.
Der Ingenieur, von dem Descartes träumt, als den sich Des
cartes träumt, steckt auf freier Fläche den Bauplatz für sein
Werk ab: tabula rasa als Voraussetzung für den allgemeinen
Nutzen. Unsere Frage geht jetzt dahin: wie verhalten sich
in der Ingenieurtätigkeit Destruktion und Konstruktion?
Und wie bzw. wo können sich Destruktion und Konstruk
tion auch anders zueinander verhalten? Bei der Behandlung
dieser Frage stützen wir uns auf George Bataille, der die
"allgemeine Ökonomie" als die Wissenschaft entwirft, "die
den Sinn der Gegenstände in ihrem gegenseitigen Verhält
nis, letzten Endes im Verhältnis zum Verlust des Sinns ins
Auge faßt . . . Die allgemeine Ökonomie stellt in erster Linie
klar, daß Energieüberschüsse produziert werden, die defini
tionsgemäß nicht verwendet werden können. Der Energie
überschuß kann nur ziellos, folglich ohne irgendeinen Sinn,
verschwendet werden. Diese nutzlose und unsinnige Ver
schwendung ist die Souveränität."9 Mit dem letzten Satz
scheint Bataille eine Instanz zu nennen, von der aus der
Unsinn der Verschwendung doch wieder angeeignet und
eingemeindet werden kann. Eine Instanz, die noch souverä
ner ist als der produktivitäts besessene Ingenieur - sich ihre
Souveränität aber damit erkauft, daß sie die Ordnung der
Dinge hinter sich läßt und ins Reich des Bewußtseins auf
steigt. Wenn wir diese Himmelfahrt nicht mitmachen wol
len, werden wir auf den Bastler zurückkommen müssen,
den Uvi-Strauss dem Ingenieur entgegensetzt und der ein
anderes Verhältnis von Konstruktion und Destruktion reali
siert. Diese theoretische Ausrüstung mag uns dabei behif
lieh sein, den großartigen Kon- und Dekonstruktionen der
Gegenwart auch als Dekonstrukteure zu begegnen.
Bataille geht von folgender elementaren Tatsache aus: "Der
lebende Organismus erhält, dank dem Kräftespiel der Ener-
415
gie auf der Erdoberfläche, grundsätzlich mehr Energie, als
zur Erhaltung des Lebens notwendig ist. Die überschüssige
Energie (der Reichtum) kann zum Wachstum eines Systems
(z. B. eines Organismus) verwendet werden. Wenn das Sy
stem jedoch nicht mehr wachsen und der Energieüberschuß
nicht gänzlich vom Wachstum absorbiert werden kann,
muß er notwendig ohne Gewinn verloren gehen und ver
schwendet werden, willentlich oder nicht, in glorioser oder
in katastrophischer Form."1o Die Fähigkeit, den Energie
überschuß so zu kanalisieren, daß seine Verschwendung
eine gloriose ist, spricht Bataille den primitiven und antiken
Gesellschaften, auch noch der feudalen Gesellschaft des
Mittelalters zu. Gesellschaften, in denen der Bereich der
"sogenannten unproduktiven Ausgaben: Luxus, Trauerzere
monien, Kriege, Kulte, die Errichtung von Prachtbauten,
Spiele, Theater, Künste, die perverse (d. h. von der Genita
lität losgelöste) Sexualität"l1; in denen die "Verausgabung"
nicht irgendein Randdasein führt, sondern zu den bestim
menden und anerkannten Existenzweisen gehört. Im Kapi
talismus hingegen verschwenden die Bürger nur für sich,
werden die Uberschüsse in die Produktion reinvestiert, die
damit auf exponentielles Wachstum geschaltet ist. Diese
verabsolutierte Produktion bringt aber nun keineswegs die
Verschwendung zum Verschwinden. Erstens verbraucht sie
immer mehr Materialien und Energien, ist also selbst eine
wachsende Verschwendung der Ressourcen, und zweitens
erzeugt sie immer mehr Produkte, die nicht für Verschwen
dung gemacht sind und gerade deswegen in katastrophische
Verschwendung hineintreiben. "Denn wenn wir nicht die
Kraft haben, die überschüssige Energie selbst zu zerstören,
die anderweitig nicht benutzt werden kann, so zerstört sie
uns wie ein unzähmbares Tier, und wir selbst sind das Op
fer der unvermeidlichen Explosion. "12 Gewiß kann das
bloße Wissen um die "allgemeine Ökonomie" nicht diese
Kraft verleihen, aber vielleicht kann dieses Wissen in Ver
bindung mit zeitgenössischen Ängsten und Erfahrungen
diese weitertreiben.
Innerhalb des Tierreiches bilden der Tod, die geschlechtli
che Fortpflanzung und das gegenseitige Sich-Auffressen
die höchsten Formen des Luxus, denen dann die Menschen
noch weitere Stufen hinzugefügt haben: "Die menschliche
416
Aktivität vermehn durch Veränderung der Welt die le
bende Materie um an sie angeschlossene Apparaturen, be
stehend aus einer riesigen Menge inener Materie, die die
vorhandenen Energiequellen erheblich vergrößern. "13 Die
rasche Akkumulation der Produktivkräfte seit dem 18. Jahr
hunden ist ein Ausfluß dieser Luxusfähigkeit, der sie aber
gleichzeitig blockien. Der im Produktionssystem gefesselte
Drang nach Verausgabung muß sich in Weltkriegen und an
deren Gütervernichtungsaktionen Platz schaffen. Gerade
weil die Verausgabung heute das ist, was eigentlich nicht
sein darf. Sowohl in der Form des Krieges wie in der des
Luxus ist die Verausgabung geächtet. Was beide Formen
nicht hinden fonzubestehen, sie aber unheimlicher macht.
Der - etwa im Namen der Gerechtigkeit - geächtete Luxus
nimmt die Form des massenhaften Dauerkonsums an, wo
immer größere Mengen von Dingen mit immer weniger Be
deutung verzehn werden und die bekannten Zivilisations
unbehagen erzeugen. Die Ächtung des Krieges fühn nicht
dazu, daß keine Kriege mehr gefühn werden, sondern
dazu, daß sie nicht mehr erklän, daß sie nicht mehr kriegs
rechtlich "gehegt", d. h. eingeschränkt werden. Man fühn
jetzt Säuberungsaktionen durch. Dazu kommt, daß das Mili
tärische auch auf solche Aktionen verzichten kann, sofern
es die Armeen erweiten und verfeinen, d. h. sofern der or
ganisiene Sieg den Krieg überflüssig macht. Im übrigen ver
schmelzen die Friedens- und die Kriegsproduktion immer
enger zur Kernenergietechnik und -politik, wo im Namen
des Mangels eine gigantische Aufrüstung getrieben wird,
die auf dem militärischen Sektor bereits vielfache Tötungs
potentiale produzien hat. Overkill als Überschuß. Die
gleichmäßige Aufrechterhaltung und angemessene Weiter
entwicklung dieses Tötungspotentials ist zu einer Bedin
gung des nackten Überlebens geworden, als dessen bloße
Kehrseite der Tod unsichtbarer und heimtückischer ist
denn je. Die auf Produktionssteigerung, auf lebenserhal
tung und Warenerzeugung ausgerichtete industrielle Si
cherheitspolitik, deren Fonschritt bisher das Ergebnis aller
erfolgreichen sogenannten Revolutionen gewesen ist, hat
alle Formen der Verschwendung geächtet, entritualisien,
entsozialisien. Und sie hat sich damit zu einer strukturellen
Monopolitik entwickelt, dergegenüber jede Monarchie ein
417
Kinderspiel im wahrsten Sinn des Wones ist. Die struktu
relle Monopolitik, die die Sicherung unseres Lebens p rodu
zien und uns zu deren Konsumenten erzieht, hat nicht nur
die Gewalt, sie hat auch die Verantwonung monopolisien.
Indem sie unseren Tod verdrängt hat, hat sie sich unseres
Lebens bemächtigt und deckt uns mit Dingen ein, die auch
nicht sterben können. "Die große Weltwinschaftskrise von
1929 ist bekanntlich aus der Schwierigkeit, die Produktion
abzusetzen, entstanden, und sofern sich die Entwicklung
der Humanwissenschaften, der human relations und des ge
samten Arsenals der Konsumideologie dieser Krise ver
dankt, konnte man sagen, daß ,der Mensch ein Gegenstand
der Wissenschaft für den Menschen erst geworden ist, als
die Automobile leichter zu produzieren als zu verkaufen
geworden sind'. Ebenso glaube ich, daß die neue Krise der
siebziger Jahre, die Umwelt- und Verschmutzungskrise,
sich dadurch auszeichnet, daß ,die Umwelt, die Natur für
den Menschen erst dann ein Gegenstand der Wissenschaft
wird, wenn die Objekte (und überhaupt die Produkte)
leichter zu erzeugen und zu verkaufen als zu zerstören ge
worden sind'. Es genügt nicht, daß man nützliche Gegen
stände produzien; man muß Gegenstände produzieren, die
zu sterben wissen. Man muß imstande sein, sich ihrer zu
entledigen. Die primitiven Gesellschaften wußten es wohl:
die Produktion ist ein Verbrechen, das man durch das Op
fer wiedergutmachen muß - durch eine Destruktion, die
die Untat der Produktion kompensien und das symbolische
Gleichgewicht wiederherstellt. Die traditionelle Bauernge
sellschaft bewahn noch etwas von diesem symbolischen
Gleichgewicht: die Gegenstände verbrauchen sich langsam
unter den Händen der Menschen und sterben mit ihnen.
Denn der Tod ist etwas, das sich teilt; wir müssen ihn mit
unseren Gegenständen wie auch mit den anderen Men
schen teilen können. Heute stellt allein der tödliche Auto
unfall - wenn auch in stupid verzerner Weise - dieses Op
fergleichgewicht wieder her. Im wesentlichen verkommen
die Gegenstände irgendwie, und die Veramwonung für die
sen Tod entgleitet uns. Es ist ein Unterschied zwischen
dem symbolischen Tod der Gegenstände und der industriel
len Vergeudung oder einfach ihrem Konsum. Dieser läßt
die Gegenstände zu Abfällen werden, und wir wissen, was
418
für physische und materielle Verschmutzung die Folge
ist. "14
Das Verhältnis von Produktion und Destruktion. das mit
der ingenieurhaften. d. h. monopolitischen Produktion ge
geben ist und die Groß-Destruktion zur unausweichlichen
weil ungeachteten Kehrseite der Groß-Produktion macht.
wird von Bataille als '"Verdinglichung" bezeichnet. Für den
Ingenieur gibt es nur Rohstoffe. die beliebig einzusetzen.
und Störfaktoren. die auszuschalten sind. Das Andere. auf
das er angewiesen ist. verwendet er ganz souverän rein in
strumentell - so als wäre es nur für ihn da und sonst nichts.
Creatio ex nihilo. Doch die Dinge lassen sich das auf die
Dauer und im Ganzen nicht gefallen. Ihre Massierung und
ihre Enteignung. ihre Ent-Dinglichung schlägt auf uns zu
ruck - auf uns. die wir uns aber von unserer Souveränitäts
illusion nicht lösen wollen und die dann davon sprechen.
daß unsere Eigentlichkeit von der Verdinglichung bedroht
sei. Gerade die Rede von der Verdinglichung ist ein Reflex
des Ingenieurs. dem seine vermeintlich souverän erstellten
Werke auf den Kopf fallen und der sich dann auch noch
von den Ergebnissen seiner Emanzipienheit "emanzipie
ren" will. Wer über Verdinglichung klagt und irgendeine
Souveränität des Bewußtseins. sei sie mystischer oder sonst
metapolitischer oder metatechnischer An. dagegensetzen
will. der treibt nur den Anspruch des Ingenieurs weiter.
sich aus dem Ganzen heraushalten zu können. sich als ar
chimedischen Punkt festhalten und von da aus das Andere
abtun zu können. Ein solches entdinglichtes Selbstbewußt
sein wäre wiederum der Illusion verfallen. das Andere zu
distanzieren und es im Griff zu haben. Auch dann und ge
rade dann. wenn sich der Ingenieur zum Superingenieur.
zum reinen Bewußtseinsinhaber. zum reinen Selbst hin
überschreitet. wenn er alles Kontingente abstreift. erhebt er
sich zum Souverän. Der Technik des Ingenieurs heute noch
eine große und reine Alternative entgegensetzen zu wollen.
von der Technik überhaupt weg. zur Natur zurück oder
zum Selbstbewußtsein emporkommen zu wollen - schon
dieser Anspruch auf die Alternative bleibt dem Ingenieur
Paradigma verhaftet. ja treibt es weiter und auf die Spitze.
Es geht nicht um die Überwindung der Technik. sondern
um die Erfindung anderer und vielfältigerer Techniken und
419
Gegentechniken. Es geht nicht darum, von den Dingen
wegzukommen, sondern darum, andere Verdinglichungen
zu finden - auch andere Entdinglichungen, weil ja in je
dem Technik-Paradigma Produktion und Destruktion auf
verschiedene spezifische Weise verschränkt sind. Die for
male Positivität des Technischen hat Bataille vielleicht et
was voreilig auf Überschreitung, Intimität und Selbstbe
wußtsein hin verflüchtigt - um von da aus ausgerechnet
den Marshall-Plan, also den Wiederaufbau des zerstörten,
die Ausbreitung des bestehenden Produktionssystems zu
propagieren. Demgegenüber haben Deleuze/Guattari in,
wie es scheint, schroffer Kehrtwendung den Begriff der
Produktion zum allgemeinen gemacht: "Demnach ist alles
Produktion: Produktionen von Produktionen, von Aktionen
und Erregungen, Produktionen von Aufzeichnungen, von
Distributionen und Zuweisungen, Produktionen von Kon
sumtionen, von Wollust, Ängsten und Schmerzen."15 Wird
damit der herrschende Produktivitätswahn geradezu syste
matisiert? Oder wird nicht gerade damit die Anti-Produk
tion auf die Ebene geholt, auf der sie spielt, nämlich die
Ebene, auf der die verschiedenen Produktionen miteinan
der und gegeneinander produziert werden? Das Produzie
ren, zu dessen Imperativen die Nicht-Vollendung, zu des
sen Elementen die Betriebsstörung und zu dessen Folgen
das Auffressen der Produkte gehört: Deleuze/Guattari be
schreiben es in Rückgriff auf das von Uvi-Strauss konstru
ierte Bastler-Paradigma.16
Wie Descartes greift Uvi-Strauss zur Erläuterung eines
Wissenschaftsmodells auf den Bereich des technischen Ma
chens über und stellt den Bastler dem Ingenieur entgegen -
wie Descartes den Ingenieur dem Zufall, der die mittelalter
lichen Straßen krumm und uneben gemacht hat. Uns geht
es hier weniger um die beiden Wissensformen, die Uvi
Strauss miteinander vergleicht, nämlich Mythos und Wis
senschaft, sondern um den Vergleich zwischen dem Bastler
und dem Ingenieur. Der Ingenieur bei Levi-Strauss kommt
dem von Descartes sehr nahe. Er arbeitet nach einem genau
ausgedachten Entwurf und setzt für seine Realisierung Mit
tel ein, die er nur als Mittel für ein bestimmtes Projekt an
sieht und beschafft. Mittel und Ziel treten hier klar ausein
ander und jene werden diesem unbedingt untergeordnet.
420
Was mich interessiert ist Geld.
Salvadore D ali
Der Bastler hingegen macht seine Arbeiten nicht davon ab
hängig, "ob ihm die Rohstoffe oder Werkzeuge erreichbar
sind, die je nach Projekt geplant und beschafft werden müß
ten: die Welt seiner Mittel ist begrenzt, und die Regel sei
nes Spiels besteht immer darin, jederzeit mit dem, was ihm
zur Hand ist, auszukommen, d. h. mit einer stets begrenz
ten Auswahl an Werkzeugen und Materialien, die überdies
noch heterogen sind, weil ihre Zusammensetzung in kei
nem Zusammenhang zu dem augenblicklichen Projekt
steht, wie überhaupt zu keinem besonderen Projekt, son
dern das zufällige Ergebnis aller sich bietenden Gelegenhei
ten ist, den Vorrat zu erneuern oder zu bereichern oder ihn
mit den Überbleibseln von früheren Konstruktionen oder
Destruktionen zu versorgen. "17 Die Arbeiten des Bastlers
sind dazu bestimmt, "eingerissen zu werden, kaum daß sie
sich gebildet haben, damit neue Welten aus ihren Fragmen
ten entstehen"18.
Der Bastler arbeitet also mit der von Descartes verachteten
Umarbeitung, er macht Zwecke zu Mitteln oder aus Kampf
sprachen Lustsprachen. Die vorliegenden Gegebenheiten
behalten aber immer etwas von ihrem Eigenwert und brin
gen es in das Entstehende mit, das sie damit immer zu einer
Mischung bzw. Neumischung von Ready-Mades machen.
Der Bastler verwendet "Abfälle" und Bruchstücke, fossile
Zeugen der Geschichte des Individuums oder einer Gesell
schaft"19.
Er arbeitet also mit Resten von Zerstörungen, die er aber
nicht ausgräbt, um sie zu konservieren, aber auch nicht zu
Gips zermahlt, um etwas ganz Neues aus einem Guß zu
machen: während "der Ingenieur in bezug auf die Zwänge,
die einen Zivilisationszustand zum Ausdruck bringen, im
mer einen Durchgang zu öffnen versuchen wird, um sich
darüber zu stellen"20, bleibt der Bastler freiwillig oder ge
zwungen darunter. Nie ist der Bastler unabhängig von sei
ner Umwelt, immer bleibt er angewiesen auf eine Welt von
Vorfahren, Zeitgenossen und Mitdingen, die er nicht als
souveräne Werke nur konserviert und interpretiert - aber
auch nicht als souveräner Baumeister zum beliebigen Roh
material seiner Schöpfung macht. Er ist der Gefangene von
Ereignissen und Erfahrungen, die er unabJäuig ordnet und neuord
net. Und gerade darin liegt seine Freiheit, daß er sich nie
422
von einer abs oluten Selbstbestimmung programmieren läßt,
sondern sich von anderen stoßen läßt, die er wieder stößt.
423
Gefangenen nicht behandeln, unterhalten usw. ließen. Sie
würden aber auch nicht funktionieren, wenn die Gefange
nen das Gefängnis mit seinem Personal, mit seinen Anla
gen, mit seinen Traditionen nicht auch benutzen, verwen
den, umfunktionieren würden. Zu fragen wäre, unter
welchen Bedingungen sie es vielleicht dysfunktionieren las
sen könnten. Unter welchen Bedingungen und mit welchen
Anschlüssen das Schmuggeln von Informationen, das Anle
gen von Vorräten, das Legen von Leitungen bis zu einem
Umbauen der Gefängnisse reichen würde. Wenn die "Ra
che des Abschaums", von der earl Amery spricht, destruk
tiv produktiv würde, ohne sich gleich greifbar zu machen,
dann könnten die Institutionen entlastet werden. Eine ag
gressive Entlastung könnte die Institutionen von dem
Zwang befreien, total sein zu müssen, könnte die von den
Institutionen übernommenen Leistungsansprüche einlösen,
indem sie sie auflöst. Das ausschließlich konstruktiv sein
sollende, den Behandelten sowohl ein- wie ausschließende
und infantilisierende Handlungsmonopol kann wenn über
haupt nur in destruktiven Interventionen aufgebrochen
werden - womit die Möglichkeiten zu vielfältigen Produk
tivitäten erst geschaffen würden. Uvi-Strauss berichtet von
der Strafjustiz nordamerikanischer Indianer, wo eine Teil
destruktion ein geregeltes Hin und Her von Verschwen
dungs- und Zuwendungsaktivitäten in Gang setzt. Wenn ei
ner gegen die Gesetze des Stammes verstoßen hat, wird er
mit der Zerstörung seiner Güter bestraft. Die Polizei, die
seine Pferde und sein Zelt vernichtet hat, lädt sich aber da
mit die Verpflichtung auf, die Wiedergutmachung des von
ihr angerichteten Schadens kollektiv zu organisieren. Der
auf diese Weise Beschenkte muß sich seinerseits wieder re
vanchieren und darf dabei auf die Hilfe anderer und auch
der Polizei zählen. Eine solche Reihe von Geschenken und
Gegengeschenken sollte die verletzte Ordnung wiederher
stellen - ihre tatsächliche Bedeutung dürfte die aktionisti
sche und multiple Überlagerung und Überholung einer Un
Tat sein. In einem solchen System der Gegenseitigkeit wird
es ohne neuerliche Übergriffe und Unordnungen nicht ab
gehen.21 Wie sollte erst das Eingreifen in ein System des
Handlungsmonopols immer harmlos abgehen? Das gegen
eine Ingenieurswelt gerichtete Basteln ist nicht auf eine
424
.. Reformpolitik der kleinen Schritte" zu reduzieren. die zu
meist das Produktionssystem noch produktiver und sicherer
macht. Ebensowenig handelt es sich um eine Taktik oder
um eine Vorstufe der Revolution. die die bestehende Ge
sellschaft ..radikal" verändern soll. Die totale Zerstörung ist
nur die Vorstufe zum Wiederaufbau. Bataille hat darauf
hingewiesen. daß alle neueren Revolutionen Etappen der
industriellen Revolution gewesen sind. Ja. die Revolutionen
sind noch materialistischer als die Revolutionäre. Wenn
diejenigen. die die neue Gesellschaft im Kopf haben. ans
Steuer kommen. dann kommen eben bessere oder zumin
dest anspruchsvollere Gesellschaftsingenieure ans Steuer.
dann wird endlich die Produktion produktiv organisiert.
Nein. wenn von einer Sprengkraft des Bastelns gesprochen
oder geträumt werden kann. dann liegt sie anderswo. Dann
ist sie nicht auf die Machtzentren fixiert. um sie zu zerstö
ren. zu übernehmen. zu vervollkommnen. Diese Spreng
kraft liegt dann dort. wo Kräfte funktionieren und vielleicht
umfunktioniert werden können. Wo Kommunikationska
näle kurgeschlossen werden können. wo Besitzer flüchten.
wo Insassen besetzen. wo Arbeitslose nicht mehr auf Ar
beitgeber warten. wo die offiziellen Monopole und ihre
Produkte dadurch angegriffen werden. daß sie anders ange
sehen oder ignoriert oder einmal ein bißchen auseinander
genommen werden. Ich zitiere noch einmal Baudrillard: ..Es
ist falsch. daß der Zweck des Menschen diese ökonomische
Rationalität ist. diese maximale Erfüllung positiver Glücks
funktionen . . . sein tiefes Verlangen, sein Wunsch- und Ge
nußverlangen geht über eine Glückszivilisation hinaus.
Dieses Verlangen mag seinen Weg über die Gewalt. über
die Überschreitung, über das Opfer nehmen - die Rationa
lität der Formen und der Strukturen. die harmonische Hier
archie der Funktionen genügt ihm nicht. Diese tiefe Zwei
deutigkeit ist es. die uns zu Widerständen gegen eine
Gesellschaft bewegt. die um jeden Preis jeden glücklich ma
chen will. Es geht nicht um eine Revolution. die nur eine
industrielle Revolution ist. ebensowenig um eine morali
sche Revolution der Werte. sondern um eine Revolution
des Realitätsprinzips dieses rationellen. funktionellen Sy
stems. das jeden von uns zwingt. möglichst viel aus sich
herauszuholen. Wenn noch eine Ethik möglich ist. dann ist
425
es die des Un-Wertes, der Zerstörung des Wertes, der Ent
wendung des Wertes . . . ich spreche von . . . der Gewalt des
Kindes, wenn es seine Puppe in Stücke zerlegt, zerfetzt
oder sein mechanisches �'p ielzeug zerlegt, um zu sehen,
was drinnen ist ' " Diese Uberschreitung des Objekts kann
ein Spiel sein, sie kann auch mörderisch sein . . . "22
426
und die Anpassung großer Maschinen an kleine Einhei
ten . "24
. .
427
um die Durchsetzung seiner Identität. In der Zersetzung
der herrschenden Identitätsproduktionen setzt er sich als
deren Produkt selber aufs Spiel - um vielleicht aus seinen
und andern Fragmenten wieder neue Koexistenzen, Bezie
hungen, Intensitäten zu basteln. Nicht bloß destruktiv,
nicht rein konstruktiv, sondern unrein dekonstrukth'.
429
eine Technologie des Wunsches, die nicht länger freudia
nisch waren? Es ist wahr, die alten Fahnen wurden gehißt;
doch der Kampf hat sich verlagert und auf neue Zonen aus
geweitet.
430
1. Die politischen Asketen, die traurigen Militanten, die
Terroristen der Theorie, diejenigen, die die reine Ordnung
der Politik und des politischen Diskurses bewahren möch
ten. Bürokraten der Revolution und Beamte der Wahr
heit.
431
Dem heiligen Franz von Sales [ein Priester des 17. Jahrhun
derts und Bischof von Genf, bekannt für seine Introduction a
Ia vie devote (Einführung in das demütige Leben) Anm.
d. Ü.] bescheidene Hochachtung erweisend, könnte man sa
gen, daß der "Anti-Ödipus" eine Einführung in das nichtja
schistische Lehen ist.
432
Multiplikation und Verschiebung, mittels diverser Kombi
nationen. Die Gruppe darf kein organisches Band sein, das
hierarchisiene Individuen vereinigt, sondern soll ein dau
ernder Generator der Ent-Individualisierung sein.
- Verliebe Dich nicht in die Macht!
434
Man kann sich andere Fragen ausdenken, die ebenso leicht
oder viel schwierige r oder außerordentlich schwierig zu
entscheiden sind, deren Entscheidbarkeit aber dadurch ge
sichert ist, daß man die Spielregeln eines Formalismus ak
zeptiert hat, der einem erlaubt, wie auf einem komplexen
kristallartigen Riesengerüst, längs der Verbindungen von je
dem Gelenk jedes beliebige andere Gelenk zu erreichen.
Syntax, Arithmetik, die aristotelischen Schlußweisen usw.
sind solche Formalismen.
Mit dieser Bemerkung sieht es so aus, als hätte ich einen be
deutsamen Landsmann ignoriert, nämlich Kurt Gödel, der
vor mehr als einem halben Jahrhundert eine fundamental
wichtige These veröffentlichte unter dem Titel: "Über for
mal unentscheidbare Sätze der Principa Mathematica und
verwandter Systeme". Nicht nur möchte ich Gödel nicht
ignorieren, im Gegenteil, ich möchte seine Beobachtung,
daß sich sogar innerhalb des von Bertrand Russell und Al
fred North Whitehead gezüchteten Riesenkristalls der Lo
gik, der "Principia", Unentscheidbarkeiten eingenistet ha
ben, dazu benützen, Ihnen eben diese vorzustellen.
Man muß aber gar nicht erst zu Gödel oder zu Russell und
Whitehead gehen, um auf prinzipiell unentscheidbare Fra
gen aufmerksam zu werden. Zum Beispiel, die Frage "Wie
ist das Universum entstanden?" ist prinzipiell unentscheid
bar. Das zeigt sich schon darin, daß es zu dieser Frage so
viele grundverschiedene Antworten gibt. Einige behaupten,
das Universum sei ein Schöpfungsakt gewesen; andere, es
wäre nie "entstanden", es ist ein ständig sich erneuerndes
System in ewigem dynamischem Gleichgewicht; wieder an
dere bestehen darauf, daß das, was wir jetzt sehen, die
Überbleibsel eines " Urknalls" seien, von dem man sogar
heute noch nach 10, vielleicht 20 Milliarden Jahren ein
schwaches Rauschen (über riesige Mikrowellen-Antennen)
"hören" könne ; ganz zu schweigen von dem, was uns Eski
mos, Arapeseh, Perser, Ibos, Chinesen, Balinesen usw. usw.
über diesen Vorfall zu erzählen haben. Mit anderen Wor
ten: sagen Sie mir, wie das Weltall entstanden ist, und ich
sage Ihnen, wer Sie sind. Und selbst wenn es einen Zeugen
dieses Vorfalls gäbe, wie können wir feststellen, ob er die
Wahrheit spricht, sollte er sich überhaupt daran erinnern.
Ich glaube, den Unterschied zwischen entscheidbaren und
435
prinzipiell unentscheidbaren Fragen genügend verdeutlicht
zu haben, um Ihnen jetzt das für diese Gelegenheit erfun
dene "Foerster'sche Theorem" vorzustellen:
Theorem:
"Nur die Fragen, die prinzipiell unentscheidbar sind, kön
nen wir entscheiden." Wieso?
Ganz einfach: die entscheidbaren Fragen sind ja schon ent
schieden, und zwar durch die Spielregeln, in denen Fragen
und die Regeln der Beantwortung, bestimmt sind. Es mag
manchmal schnell gehen, manchmal sehr lange dauern, bis
sich das "Ja" oder das "Nein" der Antwort unweigerlich -
oder, wie es so schön heißt, "mit zwingender Logik" - er
gibt (bitte auch das Sprachliche der Metapher "sich erge
ben" zu beachten).
Bei prinzipiell unentscheidbaren Fragen haben wir jeden
Zwang - sogar den der Logik - abgeschüttelt, und haben
mit der gewonnenen Freiheit auch die Verantwortung der
Entscheidung übernommen.
Hier die für mein Thema entscheidende, jedoch prinzipiell
unentscheidbare Frage:
Bin ich vom Universum getrennt,
(das heißt, ich sehe wie durch ein Guckloch auf das vor mir
sich entfaltende Universum)
oder
Bin ich ein Teil des Universums?
(das heißt, wenn immer ich vom Universum spreche, spre
che ich auch von mir)
Meine metaphysische Entscheidung ist, mich für einen Teil
des Universums zu erklären.
Ich habe meine Stellungnahme deshalb so langatmig ent
wickelt, weil, wie Sie wahrscheinlich schon geahnt haben,
sie das Gegenteil der orthodoxen ist. Es ist ganz erstaun
lich, wie sehr sich das Weltbild, und daher auch die Vorstel
lung über Wahrnehmung, verändert, wenn man die Guck
kastenphilosophie des unbeteiligten Beschreibers mit der
Einsicht des mitfühlenden Beteiligten vertauscht. Ja sogar
die logische (semantische) Struktur dieser beiden Weltbil
der sind bezüglich Fragestellung, Sprachgebrauch, und was
wir "Erklärung" nennen, fundamental verschieden.
Lassen Sie mich diese zwei Welten, die der Zweiheit und
die der Einheit, unter den zwei Stichworten "Abbildung"
436
und "Bezugnahme" nur kurz skizzieren, soweit sie sich auf
das Thema "Wahrnehmung" beziehen, denn - so behaupte
ich - man muß zuerst Wahrnehmen wahrnehmen, um
überhaupt von Wahrnehmung zu sprechen, und das ist es,
auf was ich Sie heute aufmerksam machen möchte.
Abbildung
Die orthodoxe Stellungnahme zum Wunder der Wahrneh
mung ist zunächst Wahrnehmung als eine Art Abbildung
aufzufassen, und dann Fragestellung, Sprache und Erklä
rungsweisen, die sich auf Funktion und Aufbau von Abbil
dungsprozessen beziehen, auf Physiologie, Neurologie,
Psychologie und schließlich auf eine Erkenntnistheorie der
Wahrnehmung zu übertragen.
Der von der Optik entlehnte Begriff "Abbildung" setzt zwei
Bereiche voraus, den "Gegenstandsraum" und den "Bild
raum", wobei der Abbildungsprozeß es bewerkstelligt, je
dem Gegenstandspunkt einen Bildpunkt zuzuordnen.
Durch die Metapher, die Abbildung für Wahrnehmung
setzt, wird die Verwunderung über das ursprüngliche Phä
nomen abgestumpft: "So wie der Gegenstandsraum auf den
Bildraum abgebildet wird, so wird die (vom Abbildungspro
zeß unberührte) Wirklichkeit auf den Bildschirm (Netz
haut, Hirnrinde usw.) des Bewußtseins eines erkennenden
Subjekts projiziert."
Diese Metapher erfreut sich ihrer Popularität nicht nur aus
wissenschaftlichen, sondern auch aus politischen Gründen.
Wissenschaftlich gesehen, ist sie einerseits angewandter Re
duktionismus: ist ein Problem zu komplex, um verstanden
zu werden, reduziert man es auf einen einfacheren Fall.
Das pädagogische Problem verschwindet, wenn man z. B.
das Kind mit dem Badewasser ausschüttet. Andererseits er
stellt diese Metapher das Rückgrat orthodoxer Wissen
schaft: Objektivität! Hier wird verlangt, daß die Eigenschaf
ten des Beobachters nicht in die Beschreibung seiner
Beobachtungen eingehen dürfen: Heimholtz' toeus obser
vandi. Es wird aber hier nicht verraten, was noch übrig
bleibt, wenn der Gebrauch der wesentlichsten Eigenschaft
des Beobachters, nämlich seine Fähigkeit zu beobachten,
nicht mehr zugelassen wird.
437
Politisch gesehen ist aber gerade die Ablösung des Beob
achters vom Beobachteten ein beliebtes Gesellschaftsspiel,
denn Zuflucht zu Objektivität entbindet den Beobachter von
Verantwonung: er ist ja nur passiver Registrator eines Abbil
dungsprozesses. Die Abbildungsmetapher treibt aber noch
andere seltsame Blüten, von denen ich eine anthropomorphia
inverJa und eine homuncula mYJterioJa nennen möchte.
Den eigenen Körper und eigene Fähigkeiten auf Anderes
zu projizieren, von Beinen, Armen und Gelenken bei Mö
beln und Maschinen zu sprechen, ist durchaus verständlich,
denn so wie man sich selbst versteht, versteht man dann
auch das Andere, Anthropomorphisieren war daher vor
etwa vierzig jahren das Steckenpferd witziger Schreiber, die
die verblüffenden Fähigkeiten der in die menschliche Ge
sellschaft plötzlich hinein-explodierenden, programmierba
ren, unbegreiflich schnellen Rechner einem breiterem Pu
blikum - und vielleicht sich selber - durch poetische
Verkleidung begreiflicher und zugänglicher machen woll
ten: das "elektronische Gehirn", das "Gedächtnis der Ma
schinen" usw. Obwohl wir weder damals eine Ahnung hat
ten, noch heute wissen, wie das Gehirn, das Gedächtnis
funktionien, scheint die Strategie, eine Undurchsichtigkeit
durch eine andere zu "erklären", den allgemeinen Wissens
durst - wenigstens momentan - befriedigt zu haben.
Diese Gedankenknospe kam erst zu voller Blüte - anthropo
morphia inverJa als man das vorhin Erklärende mit Erklär
-
438
Und gäbe es tatsächlich so einen zerebralen Speicher, wer
nimmt das so Gespeicherte wahr? In den Lehrgebäuden der
Abbildtheoretiker tauchen dann kleine Männchen homun
-
culi auf, die den Träger dieses Speichers über seinen In
-
BezugJetzung
Johannes Müller, " . . . one oft the most olltstanding biolo
gists of all times", wie E. Clarke und C. D. O'Malley in ih
rem großartigen Werk The Human Brain and Spinal Cord
(University of California Press, Berkeley, 1968) schreiben,
veröffentlichte 1826 in seiner Arbeit "Zur vergleichenden
Physiologie des Gesichtssinnes des Menschen und der
Thiere" zum erstenmal das Prinzip der "Reizspezifität"
oder der "Spezifischen Sinnenenergie". Er beobachtete, daß
bei verschiedenen Weisen der Reizung einer bestimmten
Sinneszelle, sei es durch Druck, Schwingungen, Elektrizi
tät, Strahlung usw., immer nur die gleiche, die dieser Zelle
eigene Empfindung ausgelöst wird.
Alle Rezeptoren der verschiedenen Sinne reagieren mit un
terscheidbaren Signalen in Form von Serien kurzer elektri
scher Impulse, mit einer von der Reizintensität abhängigen
Frequenz; daher paraphrasiert man heute das Müllersehe
Prinzip, man spricht vom "Prinzip der undifferenzierten
Codierung". Hier eine Formulierung dieses Prinzips: "Die
Erregungszustände aller Rezeptoren codieren nur die Inten
sität, aber nicht die physikalische oder chemische Natur der
Erregungssache: Codiert wird nur ,So-und-so-viel' an dieser
Stelle meines Körpers, aber nicht ,Was'."
Ich muß es Wissenschaftshistorikern und Sozialtheoreti
kern überlassen, uns verstehen zu helfen, wieso es weit
über hundert Jahre gedauert hat, bis man die Ungeheuer
lichkeit zu ahnen begann, die dieses Prinzip zur Folge
hat.
Erst in der Mitte dieses Jahrhunderts fragte man sich mit
Erstaunen: wie ist denn das Erlebnis einer bunten, klingen
den, duftenden Welt möglich, wenn die "Signale" von die-
439
ser Welt für alle Sinne ein einförmiges, ununterscheidbares
"Grau" liefern? Wer hat je dieses Problem gesehen, darüber
gedacht, gesprochen und geschrieben?
Wieder müssen wir uns fragen, wieso die Stimmen jener
nicht gehön wurden, die dieses Problem gesehen und Lö
sungswege vorgeschlagen hatten.
Es war zuerst der Mathematiker und Physiker Henri Poin
care, der sich gezwungen sah, die Frage nach der erlebten
Dreidimensionalität des Raumes anders zu stellen, nach
dem sein Versuch, sie durch binokulares Sehen zu erklären,
gescheiten war. In seinen mathematischen Ansätzen hatte
er zunächst zu wenig Gleichungen, um seine Unbekannten
zu bestimmen, bis ihm die geniale Idee kam, die Beziehung
einer bewußten Änderung des Blicks mit der zugehörigen
Veränderung der Sicht in sein Gleichungssystem aufzuneh
men.
Vorbemerkung
"Veillez sans peurl"
(aus dem Wappen der Familie RecJam)
Dieser Band enthält Essais aus den Jahren 1967 bis 1988.
Das Denken vieler, zumal der französischen Autoren dieses
Bandes, ist stark geprägt durch die Ideen und Ereignisse
des Mai 1968 in Paris. In Deutschland standen die offiziö
sen Vertreter der Kritischen Theorie als Professoren oder
Minister auf der anderen Seite der Barrikade. "Es widerfährt
ihnen, was dem triumphierenden Gedanken seit je gesche
hen ist. Tritt er willentlich aus seinem kritischen Element
heraus als bloßes Mittel in den Dienst eines Bestehenden,
so treibt er wider Willen dazu, das Positive, das er sich er
wählte, in ein Negatives, Zerstörerisches zu verwandeln."
(Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 6)
Aus dieser festgefahrenen Situation entstand neben ande
ren Projekten 1970 auch der Merve Verlag Berlin, in dem
fast alle in diesem Band versammelten Texte zuerst erschie
nen sind. Es ist indes nicht die Intention dieser Sammlung
von Texten, das Programm eines Verlagsprojekts, genannt
Merve, zu resümieren. Dazu wird bald andernorts Gelegen
heit sein. Als Stücke einer seriellen Komposition verweisen
die Texte auf die differenzierte Wahrnehmung der Promo
toren eines kleinen Westberliner Verlages für neue Töne,
für neue Denkweisen im Sinne eines ,undenkbaren Den
kens' (P. Virilio), das mikrologischer Analyse und Diagnose
den Vorrang vor großen (utopischen) Prognosen gibt.
Der vorliegende Band versammelt Texte, die Wahrneh
mung, griechisch "aisthesis", thematisieren oder problema
tisieren. Das hat mit Ästhetik als dem System der schönen
Künste noch nichts zu tun. "Die Deutschen sind die Einzi
gen, welche sich jetzt des Worts Ästhetik bedienen, um da-
445
durch das zu bezeichnen, was andere Kritik des Ge
schmacks heißen. Es liegt hier eine verfehlte Hoffnung zum
Grunde, welche der vortreffliche Analyst Baumgarten faßte,
die kritische Beurteilung des Schönen unter Vernunftprin
zipien zu bringen, und die Regeln derselben zur Wissen
schaft zu erheben. Allein diese Bemühung ist vergeblich",
schrieb Kant 1781, in einer Anmerkung zur 1. Auflage der
"Kritik der reinen Vernunft": Nach ihm ist "es ratsam, diese
Benennung wiederum eingehen zu lassen und sie derjeni
gen Lehre aufzubehalten, die wahre Wissenschaft ist (wo
durch man auch der Sprache und dem Sinne der Alten nä
her treten würde, bei denen die Einteilung der Erkenntnis
in aistheta kai noeta sehr berühmt war)".
In diesem Sinne meint die Beschäftigung mit Ästhetik
Wahrnehmung einer künstlicher werdenden Welt.
Die Texte des Bandes sind tastende Versuche der Orientie
rung in dieser komplexer werdenden menschlichen und
technischen Welt. Sie begnügen und beruhigen sich nicht
mit der schnellen Diagnose von einer neuen Unübersicht
lichkeit. Sie optieren für genaue Differenzierungen und für
Differenzen. Ihr Gestus ist unsystematisch. Die Herausge
ber haben sich über die Komposition des Bandes unterein
ander zwischen Leipzig-Ostberlin-Westberlin in einem
Briefwechsel verständigt, den sie den Leserinnen und Le
sern nicht vorenthalten wollen. .
Zum Schluß erwähne ich, was mir seit unserem letzten Ge
spräch im Kopf sitzt: Heidis Bemerkungen über die Diffe
renzen im Geschichtsverständnis, im Umgang mit ge
schichtlichen Vorgängen. Zur Zeit kann ich noch keine
einigermaßen klare Formulierung des Problems, um das es
uns gemeinsam dabei geht, anbieten. Vielleicht kommen
wir über den von Foucault neu bestimmten Begriff der "Ar
chäologie" weiter, worauf Du ja hingewiesen hast.
Andererseits sollten wir unseren ..Abspann" auch nicht in
schlechter deutscher Manier theoretisch überfrachten und
eher auf dem Niveau einer neuen, anzustrebenden Kultur
der Beschreibung von Phänomenen bleiben. In der Diskus
sion neulich mit Robert Wilson in der Akademie der Kün
ste, nachdem man sich fünf Stunden lang Filme und Videos
seiner Arbeiten ansehen konnte, wurde dann sofort im Pu
blikum ein fatales Bedürfnis nach Einordnung, nach Ver
schachtelung in den verfügbaren Registern gewohnter und
vertrauter Denkschemata artikuliert. Das brachte den Hei
ner auf die Palme, der mit der Bemerkung intervenierte,
man solle sich doch etwas Neuem gegenüber zunächst ein
mal naiv verhalten und beschreiben, was man denn eigent
lich gesehen (und erfahren) habe. Das sollte in unserem
Gespräch die Haltung sein.
Herzlich
Carlo
PS:
Um unseren Brief-Dialog fortzusetzen, erwähne ich gleich
noch ein paar Gedanken, die mir bei der Lektüre unserer
452
Texte gekommen sind. Was ist denn der Horizont, auf den
die Beschreibungen und Reflexionen der Texte auch ver
weisen, den sie herstellen? Gewiß nicht der einer neuen
Kunst/neuer Künste, um noch einmal im Namen einer al
ten und abgetakelten "Ästhetik" einen Sonderbereich (oder
Gebietsanspruch) der Kunst zu behaupten. Es ist eher der
experimentelle Entwurf dessen, was ihr auch "Lebens
kunst" nennt, ein Terminus, den wir stark machen müßten,
um die Differenz zu allen Formen ästhetischer Kompensa
tion (hier sagt man immer noch: "Kunst als Lebenshilfe" . . . )
zu unterstreichen. Insofern könnte man sagen, daß mit der
Einstellung auf Phänomene der Wahrnehmung in den Tex
ten die Differenz (und die Gegensätzlichkeit) zwischen ei
ner IDEALITÄT DES SINNS und einer MATERIALITÄT
DER SINNE behauptet wird. Virilio schreibt in einem sei
ner Texte, daß die Elektronik die Aufhebung der Abschot
tung der Sinne untereinander herauffühn. Kulturkritiker
traditionellen Typs sehen darin zumeist nur den Verlust,
was wohl auch mit ihrer Blindheit (und Bornienheit) ge
genüber technologischen Vorgängen zu tun hat. Die "Exte
riorisierung des individuellen Gedächtnisses" z. B. ist aber
auch eine Verstärkung der menschlichen Sinnesorgane und
ermöglicht ein anderes Bild der Kulturgeschichte, wie sehr
gut Andre Leroi-Gourhan gezeigt hat. Die medialen Ver
stärker unserer Sinnesorgane liefern in bestimmter Hinsicht
ein präziseres Modell von der Funktion unserer Sinne.
Dazu schreibt der Westberliner Kultur- und Medienhistori
ker Joachim Krausse von der Hochschule der Künste: "Seit
wir den Fotoapparat haben, können wir ganz bequem die
Wirkungsweise des Auges erklären, und immer wieder wird
versucht, sich der Wirkungsweise des Gehirns mit dem Mo
dell des Computers zu nähern. Dementsprechend bezeich
nen wir auch zutreffend unser Sensorium als Wahrneh
mungsapparat. Wir merken gar nicht, wie unsere Umgangs
sprache die canesianische Begründung der Anthropologie
auf der Maschine (die La Mettrie 1747 unter dem Titel
,L'Homme Machine' zu einer mechanisch-materialistischen
Anthropologie ausbaute) in Ausdrücken fortgeschrieben
wird wie z. B.: ,Sie sind aber gar nicht auf Draht, junger
Mann' oder ,jetzt hat's gefunkt' usf. Von La Mettries
Mensch als Automaten bis zu unseren Hardcore Artificial
453
Intelligents werden die Organfunktionen externalisiert, ob
jektiviert und erneut mit dem Original verglichen. Die fest
gestellte Differenz ist der Ausgangspunkt für die Neukon
struktion. Was man weiß, kann man auch bauen. Und nur
soweit man etwas bauen kann, weiß man auch Bescheid.
Darin liegt die Herausforderung der künstlichen Intelligenz
an Philosophie und alle Geisteswissenschaften." Insofern
hast Du, Peter, recht, daß heute der antike Begriff der techni
wieder aktuell geworden ist.
Herzliche Grüße
Carlo
Berlin, im Januar 89
Lieber Karlheinz, lieber Stefan,
nach unseren neuerlichen deutsch-deutschen Gesprächen
unter Verlegern und Karlheinz' hilfreichem Brief möchte
ich zur Editionspraxis unseres Buchvorhabens folgendes sa
gen:
Euer erster Vorschlag, die Auswahl, Gliederung und auch
die Zwischentitel haben mich überrascht und gefreut. Im
Vordergrund steht die Sache, nicht der Autor. Eure lei
stung: die Strukturierung der Reihe zu einem Triptychon,
worin ich unser eigenes langjähriges Werkeln erkannte.
Also Eure Sichtweise unseres Tuns, womit ich etwas anfan
gen konnte (Wahrnehmung heute - Perspektiven einer an
deren Ästhetik). Ich gehe zurück in das "Anfangende" und
lese in der vorgeschlagenen Reihenfolge Korrektur. Und es
ist, als wenn ich die Texte zum ersten Mal lese aus der Per
spektive des Lesers. Und ich staune. Je nach Betrachtungs
weise sind die Texte ergiebig, so daß eine voreilige Histori
sierung durch verlegerischen Dokumentationswillen wie
ein Sargnagel ein vitales Organ treffen würde: nämlich das
neugierige Auge des Lesers. Deshalb möchte ich um Zu
rückhaltung bei den Anmerkungen des Herausgebers bit
ten, oder wollt Ihr einen Nachhilfekurs für Versäumtes an
bieten? "Das Bleibende im Denken ist der Weg. Und
Denkwege bergen in sich das Geheimnisvolle, daß wir sie
vorwärts und rückwärts gehen können . . . Vor - in jenes
Nächste, das wir ständig übereilen, das uns jedesmal neu
befremdet, wenn wir es erblicken." Und dieses "Fremdeln",
454
Ich suche nicht, ich finde.
Pablo Picasso
mit dem wir die Scheu der Kinder bezeichnen, läßt sich
nicht durch väterliche Erklärungen zukleistern. Als Verle
ger haben wir die Leser dadurch für mündig erklärt, daß wir
uns der einführenden Vorwörter und erläuternden Nach
wörter enthalten haben. Es gilt lesend neu zu denken, mit
allen Irritationen, Abgründen, Höhenflügen und Unweg
samkeiten des Unverständnisses. Ein Informationsband
über das neue Denken würde den Leser um diese Erfah
rung bringen. Erst muß der Funke überspringen, bevor man
einer Sache nachgeht, oder erst müssen sich einem die
Haare sträuben (und ich sehe schon in Stefans Brief die rau
chenden Köpfe und aufgewühlten Gemüter). Außerdem
liegt die Besonderheit der Schreib- und Denkweisen der
Autoren darin, daß die Wahrheit nicht pur zu haben ist,
während zu ausführliche Informationen seitens der Heraus
geber dies glauben machen wollten. Anknüpfend an Karl
heinz könnte die verlegerische Kurzformel lauten:
Fragmentarisches + Collage Bricolleur
=
wie eine elektronilche MUlik zu entwerfen. Dal Icheint mir der von
Andre Robinet abgeJteckte Weg zu lein. Ich frage ihn abo, und die
Mitglieder leiner Arbeitigruppe, ob ihre Methoden imltande wären,
die Hypothm, derzufolge die Scholien eine Art von Autonomie in
der HEthik« hätten und zugleich eine zweite Verlion bilden würden,
zu beJtätigen oder zu entkräften oder zu tranlformieren. Kann man
dazu kommen, nicht nur lexikalilche Häufigkeiten, nicht nur .ryll
taktilchel Vorkommen, londern auch Rhythmen und GeJchwindig
keilen mit ihren relativen Konlinuiltiten und Dilkonlinuitäten zu
erfallen? Eine lolche Studie impliziert einen Komiltenzplan, wo alle
dieJe Parameter variieren können. Nicht nur die Philolophie ver
weilt aufdielen Immanenzplan der GeJchwindigkeiten und Affekte,
auch die MuJik, auch die Literatur, auch dal Kino: weJ'Wegen lich
heute 10 viele Leute al! Spinozilten wiederfinden in ihren verJchiede
nen Gebieten, noch viel lpinoziJtilcher, alJ el die Philolophen hätten
lein können, mit Hilfe jener gemeimamen Konzeption del "PIani«.
Womöglich sind auch wir Spinozisten, ohne es zu wissen.
Ist doch nicht schlecht, oder?
Herzliche Grüße
Peter
Berlin, im März 89
Lieber Stefan,
mir macht die Arbeit an dem Band Spaß, was dazu fühn,
daß immer wieder neue Abfolgen von Texten, andere Glie
derungen, neue Autoren mir durch den Kopf schwirren.
Jetzt stelle ich verblüfft fest, daß wir Harry Szeemann nicht
459
dabei haben, der das Thema Ausstellung umformulien hat
und einer der Initiatoren des gegenwänigen Ausstellungs
booms ist. Ausstellung ist auch für unsere Verlagsarbeit seit
1978, seit Baudrillards "Beaubourg-Effekt", ein wichtiges
Thema.
Auch auf die Thematik "männlich/weiblich" können wir
nicht verzichten. Ein reiner Männerband - die Zeiten sind
vorbei! Ich bin dafür, die Thematik zur Homosexualität hin
zu erweitern, denn um solche Multiplikationen muß es uns
doch gehen und nicht um feministische Spielwiesen.
Gern würde ich mit Euch die von mir vorgeschlagenen Zwi
schentitel diskutieren. Von mir aus könnten sie auch weg
fallen, aber sie implizieren eine bestimmte Gliederung. Sie
sollen den Begriff "aisthesis" perspektivieren, indem sie
eine Differenz herstellen zwischen . . . Und eben diese Dif
ferenzen finden sich in allen Texten wieder, nur anders ge
wichtet. In jedem Text sind Raum und Zeit, männlich und
weiblich, Medium, Simulacren, Realitäten, Künste und
Avantgarden virulent, in allen ist Lebenskunst vielleicht ein
Thema, wird ein neues Denken vorgefühn, erprobt, ge
zeigt, versucht . . .
"Veillez sans peur!" wäre gar kein schlechtes Motto, wenn
wir den Bedeutungshorizont weit offen halten wollen.
Warum erscheint bei Reclam nicht Foucaults "Surveiller et
punir"?
Lieber Stefan, verstehe den Brief bitte nicht falsch. Ich will
mich nicht durchsetzen, sondern durch Insistieren ein gut
durchdachtes Konzept realisieren.
Herzlich
Peter
Zwischenbilanz:
Aisthesis - Wahrnehmung - andere .Ästhetik
Titel und Auswahl des Bandes folgen einer Einstellung, die
auf eine Neubestimmung von Ästhetik in doppelter Hin
sicht hinaus will: 1. hinsichtlich einer längst fälligen Auf
wenung der Sinne und 2. hinsichtlich einer Berücksichti
gung von Technik/Technologie. Damit erinnern wir an die
Aktualität von Benjamins Feststellung, daß besonders in
460
Deutschland seit dem Idealismus sich eine technikfeindli
ehe Auffassung und Betrachtung der Kunst durchgesetzt
hat, die heute angesichts neuer Medien (spätestens) ihre
Stunde der Wahrheit (oder ihr Dilemma) erfähn. Für uns in
der DDR besteht ob der merkwürdigen (und noch wenig
aufgeklänen) Tatsache, daß trotz Marxismus sich eine wirk
lich materialistische Sicht/Ansicht von Ästhetik nicht
durchgesetzt hat, Grund, die Erfahrungen anderer Kultu
ren/Länder aufzuarbeiten und bekanntzumachen, in deren
Denktraditionen die ästhetische Idealisierung nicht so
mächtig gewesen ist. So. z. B. in der englisch-amerikani
schen Tradition, aus der ja nicht von ungefähr die Arbeiten
von Marshall McLuhan kommen, oder die französische Tra
dition, in der der Enzyklopädismus der Aufklärung mit sei
ner Einheit von Hedonismus und Materialismus, von Tech
nik und Kunst nie ausgestorben ist.
1. AiJtheJiJ
Im Sinne der vor-idealistischen Tradition kann "Aisthesis"
als sinnliche Wahrnehmung in der Einheit und im Zusam
menspiel aller Sinne auch auf einen frühen Gedanken von
Marx bezogen werden: auf die Bildungsgeschichte der 5
Sinne als einer Arbeit der ganzen Weltgeschichte. Auf die
sen Gedanken hat Carlo Ginzburg 1978 in seinem Aufsatz
über "Tizian, Ovid und die erotischen Bilder im Cinque
cento", der das Sehen als "privilegierten erotischen Sinn" behan
delt, unter ausdrücklichem Hinweis auf Marx und die bis
heute nicht geschriebene Geschichte der Sinne aufmerksam
gemacht.
Man kann einige Gründe für dieses Defizit nennen, das
wohl durch den Alpdruck einer Sublimierung des Ästheti
schen mit verursacht worden ist:
1. Die Reduktion der einzelnen Sinne auf einen "Gemein
sinn", die sich als kulturgeschichtliches Paradigma seit dem
18. Jahrhunden durchgesetzt hat. "Es ist der Verstand, der
unter dem Deckmantel des Gemeinsinns die Herrschaft
über die Sinne antritt" (Wolfgang Welsch, AistheJis, Stuttgan
1988, S. 378). Auch Kant sagt bereits von der Sinnlichkeit,
daß sie "an sich Pöbel" sei (Anthropologie), und für Hegel
fängt (das ist grundsätzlich dieselbe Perspektive) "im Skla-
461
ven die Prosa an" (Asthetik). In dieser Tradition sind also
ganz klare "Dispositive der Macht" an der Arbeit.
2. Seit Baumganen wird das Ästhetische auch immer als ein
Gegensatz zum Rationalen gedacht und entfaltet, als "nie
dere" Form der Erkenntnis behandelt.
3. Hegels Asthetik ist die Summe dieser Entwicklung. Sie er
hebt die Idealität des Sinns gegen die Materialität der Sinne zur
absoluten Norm. "Das Venilgtwerden gerade der sinnli
chen Materialität" (Aithetik) wird beherrschend in der bis
heute nachwirkenden Tradition philosophischer (auf Wahr
heit und Bedeutung fixiener) Ästhetik.
2. Wahrnehmung
Die Verlagerung des Ortes der Kunst vom Körper in den
Kopf, bzw. in einen körperlosen Kopf, ist eine unserer fa
talsten Traditionen. An die Stelle der Sinne und ihrer Funk
tionen traten der Sinn und die Bedeutung. Damit ist auch
die Wahrnehmung entmaterialisien, blind gemacht und dis
kriminien worden. Das hat auch zu tun mit der Sensualis
mus-Kritik im 18. Jahrhunden, z. B. bei Kant. Dabei ist
dann viel über Bord gegangen. Wie Karl Schlechta, der
Nietzsche-Editor, gesagt hat, wurde die Wahrnehmung
zum ausgesprochenen "Stiefkind der Philosophie", wurde
in der Folge vergessen oder verdrängt: "Unmittelbar präsen
tien sich das Vorgegebene als eine Welt von Qualitäten, als
eine Welt von Farben, Tönen, Gerüchen, Geschmacks- und
Tast-Erfahrungen. Cum grano salis! Niemals und überhaupt
nicht ganz rein. Das menschliche Erkenntnisvermögen zer
fällt nur in der Analyse in Teilbereiche; de facto ist es eine
komplexe, aber übergangs- und nuancenreiche Einheit."
(K. Schlechta, Die Wahrnehmung - ein Stiefkind der Philo
sophie. In: Alexander Schwan, Denken im Schallen des Nihilis
mus. Darmstadt 1975, S. 367.)
Der Abbau dieser Tradition begann in neuerer Zeit (nach
den Vorleistungen durch die Phänomenologie, z. B. bei
Merleau-Ponty) dann von zunächst unerwaneter Seite:
durch die Neurophysiologie und Neurobiologie und die
von ihr ausgehende evolutionäre Erkenntnistheorie.
Der Begriff des "neuen Denkens", den Gorbatschow zum
Leitfaden einer neuen Politik gemacht hat, hat hier seinen
462
eigentlichen Ursprung. (Der Zusammenhang ist gar nicht
zufällig, denn Gorbatschow, der sich mit einem Protagonist
dieses "neuen Denkens", dem Physiker und Nobelpreisträ
ger Ilya Prigogine, persönlich unterhalten hat, übernahm
das Konzept von dieser Seite !)
Heinz von Foerster, einer der Mitbegründer oder Anreger
der evolutionären Erkenntnistheorie, hat die politische
Tragweite einer von hier ausgehenden Wahrnehmungs
theorie u. a. auch aus ihren Konsequenzen für eine Ethik
und für eine Ästhetik (deren Begriff freilich mit der Tradi
tion der idealistischen philosophischen Ästhetik nichts
mehr zu tun hat) abgeleitet:
HDer ethiJche Imperativ: Handle stets so, daß die Anzahl
der Wahlmöglichkeiten größer wird.
Der älthetiJche Imperativ: Willst du sehen, so lerne zu
handeln."
(Sicht und Eimicht, Braunschweig 1985, S. 41.)
Wie das zu verstehen ist, erläuten er in dem Aufsatz "Zu
kunft der Wahrnehmung - Wahrnehmung der Zukunft"
(1972). Der revolutionäre Gedanke darin ist, daß ein auf
Veränderung gerichtetes Denken sich vorab von traditionel
len Wahrnehmungsmustern und Wahrnehmungsweisen be
freien muß (und zwar in jeder Hinsicht und auf jedem Ge
biet). Da die evolutionäre Erkenntnistheorie in der DDR
(abgesehen von Spezialisten) so gut wie unbekannt ist und
da sie hinsichtlich einer Theorie der Wahrnehmung minde
stens den Rahmen einer Vorstellung für die in diesem Band
versammelten Aufsätze abgeben kann, sei aus Foersters
programmatischem Aufsatz etwas ausführlicher zitien: "Ge
meinplätze haben den fatalen Nachteil, daß sie durch Ab
stumpfen unserer Sinne die Wahrheit verschleiern. Kaum
ein Mensch wird in Aufregung geraten, wenn er hön, daß
in Zeiten der Kontinuität Zukunft und Vergangenheit
gleich sind. Nur wenigen wird zum Bewußtsein kommen,
was daraus folgt: in Zeiten soziokulturellen Wandels wird
die Zukunft nicht sein wie die Vergangenheit.
Wenn wir uns aber kein klares Bild von der Zukunft ma
chen, dann können wir auch nicht wissen, was wir tun sol
len, da eines jedenfalls gewiß ist: Wenn wir selbst nicht
handeln, wird mit uns gehandelt werden. Wenn wir also lie
ber Subjekte als Objekte sein wollen, dann muß unsere ge-
463
genwärtige Weitsicht, unsere Wahrnehmung also, auf die
Zukunft gerichtet sein, nicht auf die Vergangenheit . . .
E s ist kein Wunder, daß ein Bildungssystem, welches den
Prozeß der Erzeugung neuer Prozesse mit der Verteilung
von Gütern, genannt ,Wissen', verwechselt, in den dafür be
stimmten Empfängern große Enttäuschung hervorrufen
muß, denn die Güter kommen nie an: es gibt sie nicht!
Die Konfusion, die Wissen als Substanz auffaßt, geht histo
risch auf ein Flugblatt zurück, das im 16. Jahrhundert in
Nürnberg gedruckt wurde. Es zeigt einen sitzenden Schüler
mit einem Loch im Kopf, in dem ein Trichter steckt. Dane
ben steht der Lehrer, der einen Kübel ,Wissen' in den
Trichter gießt: Buchstaben des Alphabets, Zahlen und ein
fache Gleichungen. Was die Erfindung des Rades für die
ganze Menschheit gebracht hat, brachte der Nürnberger
Trichter für die Bildung: es kann nur noch schneller ab
wärts gehen.
Gibt es ein Heilmittel? Natürlich, es gibt eines! Wir müssen
Vorträge, Bücher, Diapositive, Filme usw. nicht als Informa
tion, sondern als Träger potentieller Informationen ansehen.
Dann wird uns nämlich klar, daß das Halten von Vorträgen,
das Schreiben von Büchern, die Vorführung von Diapositi
ven und Filmen usw. kein Problem löst, sondern ein Pro
blem erzeugt: nämlich zu ermitteln, in welchen Zusammen
hängen die Dinge so wirken, daß sie in den Menschen, die
sie wahrnehmen, neue Einsichten, Gedanken und Handlun
gen erzeugen . . .
In jedem Augenblick unseres Lebens sind wir frei, auf die
Zukunft hin zu handeln, die wir uns wünschen.
Mit anderen Worten, die Zukunft wird so sein, wie wir sie
sehen und erstreben. Dies kann nur für diejenigen ein
Schock sein, die ihr Denken von dem Prinzip leiten lassen,
daß für die Zukunft nur die Regeln gelten sollen, die in der
Vergangenheit befolgt wurden. Für diese Menschen ist die
Vorstellung einer ,Veränderung' unbegreiflich, denn Verän
derung ist der Prozeß, der die Regeln der Vergangenheit
auslöscht." (Sicht und Einsicht, S. 3, 5, 10.)
In bestimmter Hinsicht lassen sich alle Texte unseres Ban
des als Versuche (Essais) lesen, soziokulturelle Phänomene
unserer Gegenwart entgegen traditionellen Gewohnheiten
durch Perspektiven anderer Wahrnehmungsweisen zu ver-
464
fremden; Zusammenhänge aufzuzeigen, die sich der isolie
renden oder totalisierenden (auf eindeutigen Sinn fixienen)
Zuweisung von Bedeutungen entziehen.
In solcher Perspektive kommen dann auch ganz ungewöhn
liche und unübliche (wenn unter einem traditionellen
Ästhetikverständnis betrachtet) Gegenstände in den Blick.
Gegenstände, die jeder musealen Salonästhetik verschlos
sen bleiben! Wie z. B. die von Virilio analysiene Ästhetik
der Geschwindigkeit (und des Verschwindens); oder die
Zusammenhänge zwischen Krieg und Kultur.
Solche hanen kulturgeschichtlichen Tatsachen desavouie
ren jede ästhetische Idealisierung (oder Selbstidealisie
rung) . Sie schärfen die meist unreflektierte Erfahrung, daß
z. B. unser Sehen auch eine Montage von Zeitlichkeiten ist,
daß Zeit auch durch Technologien organisien wird. Streik
z. B. eine "Barrikade in der Zeit" ist, wie Virilio schreibt.
Das ist ein analytischer Blick, der uns hier durch die endlo
sen Debatten über die Wahrheit in der Kunst so gründlich
ausgetrieben wurde, daß er sogar in der verspäteten Ausein
andersetzung mit der Kunst- und Kulturtheorie Walter
Benjamins so gut wie gar keine Rolle spielte. Daß gerade
dieser analytische Blick als Zentrum dieser Benjaminsehen
Kultunheorie übersehen wurde, während er den Franzosen
(wie eben Virilio) auffiel als das organisierende Prinzip:
"Innerhalb großer geschichtlicher Zeiträume verändert sich mit der
gesamten Daseinsweise der menschlichen Kollektive auch die Art
und Weise ihrer Sinneswahrnehmung. « ("Das Kunstwerk im
Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit")
Insofern können die Aufsätze unseres Bandes auch die
Wahrnehmung unserer eigenen Tradition durch einen an
deren Umgang, den sie damit vorführen, verändern.
3. Andere Asthetik
"Ästhetik bei uns war immer eine erkennungsdienstliche
Behandlung von Kunst. Da ist ja schon dieses Ding mit der,
wie heißt das: Widerspiegelung. Das ist ja der eigentliche
Schwachsinn. Man muß anerkennen, daß Kunst genauso
real ist wie andere Realität. Deshalb kann man mit der
Ästhetik nichts anfangen. Auch mit ihrer Terminologie [ . . . ]
Es gibt ja den Unterschied zwischen philosophischer Ästhe-
465
tik und Ästhetik im Sinne von Poetik. Wenn man Kunst
macht, dann bewegt man sich auf etwas hin, Ästhetik aber
will feststellen. Da sind wir an der Wurzel, da beißt sich
was. Und das Feststellen wird die Krankheit der Ästhetik
bleiben, solange sie nicht konkret ist. Und konkret war sie
noch nie bei uns. Konkret heißt, daß man zwei Zeilen aus
einem Text wirklich genau untersuchen und vielleicht sogar
sagen kann, was an einem Text nicht stimmt. Sicher, es gibt
kein vollkommenes Kunstwerk, ohne Schlieren, und wenn
man den Fehler tilgt, tilgt man vielleicht etwas in anderem
Zusammenhang ganz Wichtiges. Es wäre aber nützlich,
wenn man da ein Instrumentarium hätte, um festzustellen:
Wo ist die Schliere? Der russische Formalismus z. B. war ei
gentlich die erste konkrete Ästhetik, die erste und einzige.
Es waren die ersten Versuche, zu bestimmen, was Sprache
kann, was Sprache eigentlich ist. Da wäre eine Traditionsli
nie. Aber letztlich wird es keine Ästhetik geben, glaube ich,
ohne Nietzsche. Und das ist eigentlich der wesentliche
Streit. Nietzsche stellt die systematische Denkbewegung in
Frage: Daß ich mich also zu jedem Gegenstand anders ver
halten muß, ihn anders erklären muß. Es wird nie zum Sy
stem, und System hat ja nun viele Bedeutungen inzwischen,
und das sind alles tödliche Bedeutungen. Das System von
Hegel ist eine Voraussetzung für alle Systeme, die wir bis
jetzt erlebt haben. Es gibt einen Zusammenhang zwischen
dieser An von Systemzwang und den Zwängen der Sy
steme, die wir kennen. Denken Sie an die These von Fou
cault: Humanismus ist die letzte Mythe, der letzte Mythos.
Humanismus, die Vorstellung, daß die Menschheit ein End
ziel hat, einen Zweck. Jede Zwecksetzung erzwingt und er
möglicht Kontrolle. Es gibt viele Wahrheiten, es gibt nicht
die Wahrheit. Und nur wenn Ästhetik in dieser Richtung
einen Freiraum entwickelt, hat sie eine Funktion. Aber so
lange sie auf einen Maßstab aus ist, eine Wenskala, das
heißt nichts weiter als Amputation und Kastration und . . .
alles, was man sich denken kann. Ästhetik bei uns versucht,
Kontrollmechanismen zu finden [ . . . ] "
(Heiner Müller auf die Frage "Wozu Ästhetik?" in: ange
bote 1, Berlin 1988, Gesprächsprotokoll.)
Was soll man hier also noch sagen? Meine Beobachtung ist:
wenn die Leute das Won ästhetisch/Ästhetik hören, schal-
466
ten sie entweder, wie Heiner, ab, oder sie kriegen einen
verzückten Schleier um die Augen und empfinden ein Prik
kein in den "höheren" Körperregionen, das verdrängte Be
"
dürfnisse "niederer Regionen sublimien: Also noch immer
WEIMAR und nicht NEW YORK (z. B.). Ich fände es nicht
schlecht, wenn wir abschließend dieses miserable (deut
sche) Verständnis von ÄSTHETIK/ÄSTHETISCH einmal
gründlich/locker auf die Schippe nehmen würden.
Herzlich
Karlheinz, im April 1989
467
Augenblick zusammentreffen und sichtbar. lesbar. viel
leicht auch begreifbar werden."
So ein Buch kann dann nur Angebot sein. das davon Mittei
lung macht. was tins in den letzten Jahren - bei mir etwas
weniger - mehr oder weniger beschäftigt hat. Daß wir diese
Möglichkeit haben. ist ein Privileg und kann nur die Auf
forderung an andere sein. sich ebenfalls mitzuteilen bzw.
vielfältige Mitteilungen möglich zu machen. Wenn es denn
etwas wie eine Botschaft in diesen Texten gibt. so vielleicht
die Bitte, sich den eigenen Gefühlen. Eindrücken zu stellen.
eigene Wahrnehmungen auch wahrzunehmen; und ein An
gebot: die Differenziertheit der Probleme zu reflektieren. die
Erfahrungen determinieren. Darin liegt für mich auch die
Hoffnung: daß nach der Lektüre eine selbstverständliche
Weiterführung eines autoritären Wahrheitsdiskurses zu
mindest erschwert erscheint. Nur durch das Interesse am.
das Verstehenwollen des einzelnen kann so etwas wie eine
Ethik der Gattung - die jetzt so lauthals gefordert wird -
entwickelt werden (ars erotica. ars theoretica. ars poli
tica!).
Insofern implizieren diese Texte ja nicht nur eine unaufge
regte Polemik gegen hiesige ästhetische Debatten. die häu
fig stärker den Charakter von Selbstinszenierungen als von
.. Verstehen-wollen" haben. sondern auch eine Arbeitshal
tung. die sich für mich in unserer Zusammenarbeit so er
freulich dargestellt hat. So könnte eine konkrete Utopie des
Miteinander-Produktiv-Werdens aussehen. deren Grundbe
dingungen ein gemeinsames Interesse an der Sache. aber
auch aneinander ist. Deshalb fällt es mir auch schwer. zu
"verarschen". weil mich diese "auratischen Kunstdebatten"
kaum noch interessieren. Was einen nichts angeht. kann
man nur schwer gelungen auf die Schippe nehmen. Ich ver
weise auf Adolf Endler. der in seiner Prosa und in einigen
seiner Essays zeigt. wie das gehen könnte. Ob wir allerdings
ein akzeptables Alternativangebot vorlegen. muß jeder Le
ser für sich entscheiden können. Vielleicht leisten die
Texte einen Beitrag zum ..Staunen lernen"!
Herzlich
Stefan
Zu den Autoren
469
hang seiner Schriften, 1978; Begriffsfelder . Von der Philosophie
zur Kunst, 1985; Kompensation und Common Sense. Zur Lebens
philosophie Alfred Adlers, 1985; Kunst und Lebenskunst, 1987.
470
GILLES DELEuzE, geboren 1925 in Paris, emeritiener Professor für
Philosophie, lehrte an der Universität Paris-Vincennes, veröffent
lichte seit 1953 Arbeiten über Empirismus und Subjektivität, über
Differenz und Wiederholung, die Logik des Sinns, über Nietzsehe,
Kant, Bergson, Spinoza, Proust . , . und gemeinsam mit Felix Guat
tari das berühmt gewordene Buch nAnti-Ödipus. Kapitalismus und
Schizophrenie" .
Ausgewählte Publikationen: Eml'i risme et subjectivite, 1953; Mar
cel Proust et les signes, 1962 (Proust und die Zeichen, 1978);
Nietzsehe et la philosophie, 1962 (Nietzsehe und die Philosophie,
1976); DiHerence et repetition, 1969; Logique du sens, 1969; Spi
noza. Philosophie pratique, 1981 (Spinoza. Praktische Philosophie,
1988); Cinema I. L'Image-Mouvement, Cinema 11. L'Image-Temps,
1983/1985 (dt. in Vorbereitung); Foucault, 1986; Nietzsehe. Ein
Lesebuch, 1979; Kleine Schriften, 1980.
Gemeinsam mit Felix Guattari: Capitalisme et Schizophrenie,
L'Anti-Oedipe, 1972 (Anti-Ödipus, 1974); Capitalisme et Schi
zophrenie II. Mille Plateaux, 1980, dt. in Vorbereitung; Kafka. Pour
une litterature mineure, 1975 (Kafka. Für eine kleine Literatur,
1976); Rhizom, 1976 (Rhizom, 1977); Schizoanalyse und Wunsch
energie, 1978.
471
classique. 1961 (Wahnsinn und Gesellschaft, 1 979); Naissance de la
clinique, 1966 (Die Gebun der Klinik, 1973); Les Mots et les cho
ses, 1966 (Die Ordnung der Dinge, 1971); L'Archeologie du savoir,
1969 (Archäologie des Wissens, 1973); L'Ordre du discours, 1971
(Die Ordnung des Diskurses, 1974); Surveiller et punir. Naissance
de la prison, 1975 (Überwachen und Strafen. Die Gebun des Ge
fängnisses, 1976); La volonte de savoir. Histoire de la sexualite 1,
1976 (Sexualität und Wahrheit. Der Wille zum Wissen, 1977);
L'Usage des plaisirs. Histoire de la sexualite 11, 1984 (Der Ge
brauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit 11, 1986); Le Souci de
soL Histoire de la sexualite III, 1984 (Die Sorge um sich. Sexualität
und Wahrheit III, 1986); Mikrophysik der Macht, 1976, Dispositive
der Macht, 1978; Von der Freundschaft, 1984; Vom Licht des Krie
ges zur Gebun der Geschichte, 1986.
472
Lamberts, 1980; Dostojewski, 1981; Unzeit, 1982; Haupts Werk
Das Leben, 1984; Fremdsprache, 1984; Mit andern Worten, 1985;
Das Buch der Sprüche, 1987; Letzte Liebe, 1987; Das Buch im
Buch, 1988.
473
Widerstreit, 1987); Toumbeau de I'intellectuel et autres papiers,
1984 (Grabmal des Intellektuellen, 1985); L'enthousiasme. La criti
que cantienne de l'histoire, 1986 (Der Enthusiasmus, Kants Kritik
der Geschichte, 1989); Heidegger et .. les juifs", 1988 (Heidegger
und .. die Juden", 1989); Das Patchwork der Minderheiten, 1977; In
tensitäten, 1978; Apathie in der Theorie, 1979; Essais zu einer affir
mativen Ästhetik, 1982; Immaterialität und Postmoderne, 1985;
Philosophie und Malerei im Zeitalter ihres Experimentierens,
1986; Über Daniei Buren, 1987.
474
tagswelt wie in der Welt der bildenden Kunst findet. Seit CIVIL
warS intensive Zusammenarbeit mit Heiner Müller.
Ausgewählte Inszenierungen: The Ufe and Time of Sigmund
Freud. 1969; Deafman Glance. 1970; The Ufe and Times ofJoseph
Stalin. 1973; Einstein on the Beach (Oper mit Philipp Glass) 1976;
Death. Destruction & Detroit I. 1979; Edison. 1979; Medea. 1981;
Die goldenen Fenster. 1982; CIVlL warS. 1983/84; Death. Destruc
tion & Detroit 11. 1987; The Forest. 1988; Orlando. 1989.
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Walter Seitter, Zur Ökologie der Destruktion . 411
Michel Foucault, Der "Anti-Ödipus" - Eine Einführung
in eine neue Lebenskunst . . . . . . . . . .
. 429
Heinz von Foerster, Wahrnehmen wahrnehmen . . . . . . 434
ANHANG
Statt eines Nachwortes 445
Zu den Autoren . . 469
Quellenverzeichnis 476