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Philologie
Band 11
Handbuch
Literatur & Philosophie
Herausgegeben von
Andrea Allerkamp und Sarah Schmidt
ISBN 978-3-11-048117-4
e-ISBN (PDF) 978-3-11-048482-3
e-ISBN (EPUB) 978-3-11-048418-2
ISSN 2197-1692
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II.7 Literatur und gesellschaftliche Praxis
Einleitung
Patrick Eiden-Offe
Die Frage nach dem Verhältnis von Literatur und gesellschaftlicher Praxis sieht
sich von Anfang an mit dem Problem konfrontiert, dass Literatur selbst als eine
gesellschaftliche Praxis verstanden werden kann, das Verhältnis also auch ein
Selbstverhältnis ist. Somit ist Literatur gesellschaftliche Praxis, reflektiert diese
aber auch. Die Frage nach dem Wie dieser Reflektion ist einerseits Gegenstand
einer 2000-jährigen Diskussion um die mimesis: Nach Aristoteles ist Literatur
Nachahmung und Darstellung von handelnden Menschen, zu denen wiederum
auch die Dichterinnen und Dichter gehören. Die Tragödien brachten eine gesell-
schaftliche Praxis zur Darstellung, waren jedoch selbst auch eminent wichtiger
Teil der gesellschaftlich-politischen Praxis der Polis und wurden in der politi-
schen Debatte auch als solche problematisiert (→ III.8 Pirro). Daran knüpfen
noch die Diskussionen um Realismus und engagierte Kunst im 20. Jahrhundert
an. Andererseits aber grenzt sich Literatur gerade durch die mimetische Refle-
xion auch von der gesellschaftlichen Praxis ab und konstituiert einen eigenstän-
digen Bereich, der seit mindestens 200 Jahren unter dem Stichwort der Auto-
nomie verhandelt wird: Gerade weil sie Praxis nachahmt, sollen der Literatur
Distanz- und Reflexionspotentiale offenstehen, die der nachgeahmten Praxis
selbst verschlossen bleiben. Umgekehrt aber bleibt der Literatur durch diesen
Selbstabschluss die Möglichkeit unmittelbarer gesellschaftlich-politischer
Wirkung versagt.
Die Problemkonstellationen, die dem Verhältnis von Literatur und gesell-
schaftlicher Praxis entspringen, führen nicht zuletzt auch dazu, dass der dis-
ziplinäre Ort fraglich wird, an dem diese Probleme überhaupt thematisiert und
verhandelt werden können: Zum einen fühlt sich neben der Literatur selbst die
Literaturtheorie zuständig, die institutionell zumeist der Literaturwissenschaft
zugeschlagen wird. Zum anderen reklamiert auch die Soziologie ihre Zuständig-
keit – die ja diejenige Wissenschaft ist, der es per definitionem um Gesellschaft
und gesellschaftliche Praxis zu tun ist. Die Literatursoziologie gehört fach- und
institutionsgeschichtlich zu den ersten Bereichen, die sich in der noch jungen
Wissenschaft ausdifferenziert haben (Magerski und Karpenstein-Eßbach 2019).
Oder ist es am Ende vielleicht die Philosophie, die gewissermaßen von außen an
das Verhältnis von Literatur und gesellschaftlicher Praxis herantritt, um es von
einer dritten Position aus zu reflektieren?
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II.7 Einleitung 249
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Literatur als Spiegel der Gesellschaft?
Marxistische Positionen der Literaturtheorie
Patrick Eiden-Offe
Marxistische Positionen der Literaturtheorie sehen sich, so könnte man einen iro-
nischen Selbstkommentar Terry Eagletons verallgemeinern, immer in der Situa-
tion, „einerseits zu sehr und andererseits zu wenig“ marxistisch zu argumentie-
ren: Auf der einen Seite steht die Gefahr, „in eine Art ‚linken Funktionalismus‘
zu geraten, der die innere Komplexität des Ästhetischen unvermittelt auf eine
Reihe ideologischer Funktionen reduziert“. Auf der anderen Seite aber würde eine
„zufriedenstellende“ – und das heißt eine nichtreduktionistische – „historisch-
materialistische Präsentation“ des Verhältnisses von Literatur und Gesellschaft
einen solchen Aufwand an Rekonstruktion bestimmender Faktoren erzeugen,
dass man diesen immer nur auf einen noch zu schreibenden „eigenen Band“
verschieben kann (Eagleton 1994, 4–5). Damit aber bleibt marxistische Literatur-
theorie – vielleicht notwendig – immer hinter dem zurück, was sie zugleich doch
fordert.
Jede reflektierte marxistische Literaturtheorie der letzten 150 Jahre musste
die Gefahr jenes deterministischen Reduktionismus abwehren, wonach Literatur
und Kunst als bloß mechanisch und instrumentell erzeugte Reflexe der politisch-
ökonomischen Realität anzusehen sind. Allerdings darf sie die Idee einer solchen
„Determination in letzter Instanz“ – wie Louis Althusser und seine Mitarbeiter
dies in Anlehnung an Engels formuliert haben (Althusser et al. 2015, 466; MEW,
20, 25) – auch nicht ganz aufgeben. Ein wenig zugespitzt ließe sich sagen, dass
der dogmatische Reichtum marxistischer Literaturtheorie in der Varianz der kon-
zeptionellen Kompromissbildungen begründet liegt, mit denen jeweils das Deter-
minismusproblem gehandhabt, aber eben nie gelöst wird.
Karl Marx und Friedrich Engels haben sich in ihren Werken, aber auch in der
privaten Korrespondenz immer wieder und durchaus ausführlich zu Fragen von
Kunst und Literatur geäußert, es gibt aber keine systematische Auseinanderset-
zung. Für Marx und Engels war eine solche auch nicht gefragt; im Gegensatz zum
späteren Marxismus, für den sie zu ‚Klassikernʻ avancierten, haben Marx und
Engels nie den Anspruch erhoben, eine alle Lebensbereiche umfassende integrale
‚Weltanschauungʻ zu formulieren. Erst für die Marxist/innen und Sozialist/innen
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Holzʼ Aufruf zu einem „exakte[n] Gebrauch der Spiegelmetapher“ (Holz 2015, 31),
durch den das „Mechanische[ ] der Spiegelung“ (33) aufgelöst werden soll, kann
dazu anhalten, erst einmal die Komplexität der Metapher (→ II.3 Hetzel) auszulo-
ten: Denn die Bewusstseinsformen sollen ja eine gesellschaftliche Praxis spie-
geln, deren integraler Bestandteil sie zugleich sind. Die künstlerischen Formen
spiegeln sich selbst im Kontext einer Totalität, von der sich der Spiegel nie ganz
abspalten und die er sich nie ganz gegenüberstellen kann.
In der Geschichte der marxistischen Literaturtheorie gibt es zwei Strömungen,
die den Spiegel als komplexe Metapher ernst nehmen und in zwei Paradigmen
ausformulieren, die sich bestimmten nationalen Traditionen zurechnen lassen:
eine italienische, die zu einer historisch verstandenen ‚Philosophie der Praxisʻ
führt, für die Literatur Bestandteil einer übergreifend verstandenen Kultur ist,
und eine deutsche (bzw. österreichisch-ungarische), die systematisch orientiert
ist und im Begriff der Form das zentrale Spiegelungselement zwischen Literatur
und gesellschaftlicher Praxis erblickt.
Schon bald nach Marxʼ Tod und noch in enger Auseinandersetzung mit
Engels macht sich Antonio Labriola in den 1890er Jahren an die Ausarbeitung
einer materialistischen Geschichtsphilosophie, die auch Phänomene der Kultur
zu integrieren verspricht (Pozzoli 2018). Nicht von ungefähr hat die materialisti-
sche Geschichtsauffassung sich für Labriola an der Destruktion des Konzepts der
Autorschaft zu bewähren (Labriola 2018, 175). Auch bei der Zielformulierung einer
sozialistischen ‚Gesellschaft der Zukunft‘ spielt ein neues, freieres Verhältnis zur
Literatur eine entscheidende Rolle: Labriola redet keinem Produktivismus das
Wort, sondern zielt in seinen Zukunftsaussichten auf ein verwirklichtes „Recht
auf Faulheit“. Im „Reich der Freiheit“ wird allenthalben produktiver Müßiggang
herrschen, der sich wiederum literarischen Ausdruck verschaffen wird: Es wird
256 Patrick Eiden-Offe
„unendlich viele Diderots geben“, die alle ihren je eigen Jacques le Fataliste
werden schreiben können (173).
Das Programm einer ‚prosaischenʻ Sozialgeschichte der Kunst und Literatur,
die die Ideologie der großen ‚Autoren der Geschichteʻ auflöst, schreibt sich in der
italienischen Tradition fort bis zu Antonio Gramscis Konzept von Kultur. Gramsci
begreift Kultur dabei als dynamischen Komplex, der eine Vereinheitlichungs-
leistung erbringt – so wie von einer National- oder auch Weltkultur gesprochen
wird –, der aber zugleich auch immer Austragungsort von historischen (politi-
schen, ökonomischen, sozialen) Kämpfen um Hegemonie bleibt (Lauggas 2012,
12–14). Jede gegebene, einheitlich erscheinende Kultur ist immer nur das vorüber-
gehende Ergebnis eines Kampfes um kulturelle Hegemonie; jede Kultur ist damit
wandel- und umkehrbar. Die Kämpfe um kulturelle Hegemonie sind für Gramsci
Manifestationsformen des Klassenkampfs, ihr Ausgang ist ausdrücklich nicht
deterministisch gedacht. Gramsci wendet sich somit scharf gegen jeden „Öko-
nomismus“ (Gramsci 1991, 8: 1829–1832).
Mit Gramscis Konzept der Kultur ist nicht nur Hochkultur angesprochen,
sondern explizit auch populäre Kultur und Unterhaltungsliteratur (1829–1832).
Hier knüpfen später die britischen Cultural Studies, namentlich Raymond Wil-
liams und Stuart Hall, an, wenn sie schon die Zuweisung der Label high und
low als Ausdruck kultureller Kämpfe und als Klassenmarkierungen dechiffrie-
ren (Lauggas 2013, 109–175; Backhouse 2017, 56–61). Im deutschen Sprachraum
können die Forschungen Leo Löwenthals zur Massenkultur und zur historischen
Entwicklung ‚kultureller Standardsʻ seit den 1930er Jahren als Parallelaktion zu
Gramscis Arbeiten gelesen werden (Löwenthal 1990, 26–77, 89–187); eine wechsel-
seitige Wahrnehmung hat es – wohl auch bedingt durch die Zeitläufte: Gramsci
saß im faschistischen Italien im Gefängnis, Löwenthal musste in die USA emigrie-
ren – nicht gegeben.
Mit seinen kritischen, aber durchaus sympathetischen Lektüren massenkul-
tureller Erzeugnisse steht Löwenthal im Umfeld der Frankfurter Schule ziemlich
allein – auch wenn die geheime Liebe Adornos zur Populärkultur vielleicht stärker
hervorgehoben werden muss (Groß 2020). Die Kritische Theorie, insbesondere die
Adornos (→ II.4 Kramer), steht in der anderen Theorietradition, für die Kunst und
Literatur nur insofern als Spiegelungen von gesellschaftlicher Praxis betrachtet
werden können, als sie am gleichen gesellschaftlichen Formkomplex teilhaben.
Literarische Werke durchlaufen, wie alle gesellschaftlichen Produkte, einen For-
mungsprozess, der – in letzter Instanz – an der Warenform orientiert bleibt. In
ihrer Form liegt daher der „Doppelcharakter der Kunst als autonom und als fait
social“ (Adorno 1970, 16, 340) begründet. Warenförmig präformiert, opponieren
die Werke doch jener Austauschbarkeit, die mit der Warenform unterstellt wird.
Die Kunstwerke arbeiten in der Warenform gegen ihre Warenförmigkeit, sie leisten
II.7 Literatur als Spiegel der Gesellschaft? 257
in und mit ihrer Form Widerstand gegen ihre gesellschaftliche Formvorlage. Noch
in der „Mimesis ans Verhärtete und Verdinglichte“ (39) bleibt diese unverrechen-
bar mit den gesellschaftlichen Zuständen, denen sie ähnelt.
Adornos Ansatz, der in der gesellschaftlichen Formbestimmung noch den
mimetischen Impuls, der im Gespiegelten noch den Akt der Spiegelung selbst
als widerständigen zu retten versucht, hat seinen Ursprung in der frühen Litera-
tursoziologie Georg Lukácsʼ. Schon in der Einleitung seines ersten Buches, der
Entwicklungsgeschichte des modernen Dramas von 1909, steht ein Satz, der eine
ganze Theorietradition begründen wird, die über Adorno und Peter Szondi bis
zu Peter Bürger reicht und in Frederic Jamesons Marxism and Form (Jameson
1974) reflexiv werden wird. Der Satz lautet: „Das wirklich Soziale aber in der
Literatur ist: ihre Form“ (Lukács 1981, 10). Mit diesem Satz wendet Lukács sich
gegen die führenden sozialdemokratischen und sozialistischen (Kunst-)Theo-
retiker seiner Zeit, gegen Franz Mehring und Georgij Plechanov etwa, die „in
den künstlerischen Schöpfungen“ bloß „die Inhalte […] untersuch[en] und
zwischen ihnen und bestimmten wirtschaftlichen Verhältnissen eine gerade
Linie“ gezogen haben (Lukács 1981, 10). Dadurch aber würde die zentrale Ver-
mittlung durch die Form unterschlagen, die als gesellschaftlich und künstlerisch
zugleich aufgefasst werden müsse. Im frühen Buch noch stark vom neukantia-
nisch geprägten Formbegriff beeinflusst, wie er ihn von Heinrich Rickert, Max
Weber und Georg Simmel (→ II.1 Hobuss) bezogen hat, kann Lukács erst durch
die im Ersten Weltkrieg vollzogene ‚Konversion‘ zum Marxismus seinen frühen
Leitsatz substantiieren. Die Marx’sche Analyse der „Wertform“ (MEW, 23, 49–98)
aus dem ersten Kapitel des Kapitals gibt Lukács einen Schlüssel an die Hand, mit
dem er eine Theorie gesellschaftlicher ‚Gegenständlichkeitsformen‘ überhaupt
formulieren kann: Die Wert- und Warenform bestimmt demnach grundsätzlich
die Formen, in denen sich Subjektivität und Objektivität im Kapitalismus kon-
stituieren können (Lukács 2013). Gesellschaft erscheint in dieser Perspektive als
Formzusammenhang, ihre Kritik als Bergung des „Formproblems“ (Engster 2014,
161; Eiden-Offe 2015).
Die formbewusste und formkritische Reflexionsleistung der Kunst und beson-
ders der Literatur bringt Lukács schließlich auf den Begriff des Realismus. Realis-
mus ist für Lukács kein Epochen- oder Stil-, sondern ein ästhetischer Verfahrens-
begriff (Gindner 2017, 31–33; Plass 2018, 239–243), der bezüglich der möglichen
konkreten Ausformungen noch offenbleibt. Lukács selbst hat jedoch – in durch-
aus gesuchter begrifflicher Nähe zur Doktrin des ‚Sozialistischen Realismusʻ –
seinen eigenen Verfahrensbegriff immer wieder auch stilkritisch ausgemünzt
und sich vehement gegen „formalistische“, „unrealistische“ Formen von Literatur
ausgesprochen: etwa in der berüchtigten „Expressionismusdebatte“ (Lukács 1971,
109–149; Schmitt 1978, Imbrigotta 2018). Umgekehrt hat Adorno auf derselben
258 Patrick Eiden-Offe
Literatur
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