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Häresie am dialektischen Materialismus

Staatskapitalismus und Dialektik der Aufklärung


Jonas Balzer

***

In einem Entwurf Adornos für das bei der Wiederveröffentlichung der Dialektik der Aufklärung
im Jahr 1969 dem Text vorangestellte Vorwort Zur Neuausgabe findet sich folgende Passage:

„Während das Buch [scil. Dialektik der Aufklärung] seine Abkunft von der materialistischen
Dialektik nicht verschleiert, hatte es von deren Orthodoxie bereits sich losgesagt. Unter Verzicht
auf ausgeführte ökonomische Analysen, die vielfach gefordert wären, wurde der Begriff der
Herrschaft verwandt, ketzerisch gegen die Polemik im Anti-Dühring von Engels. Die
Abweichung vom rein ökonomischen Denken indessen hat ihren ökonomischen Grund. Das
Objekt der Marxischen politischen Ökonomie war der Liberalismus als Wirklichkeit und
Ideologie. Mit seinem Fortgang zu einer Wirtschaft, die zwar den Pseudomarkt übrigläßt, sonst
indessen von den über die Produktion verfugenden Mächten abhängt, die auch Zirkulation und
Distribution bestimmen, verlieren die liberalen Marktgesetze ihren Sinn; damit der
ökonomistische Begriff der Ökonomie.“1

Adorno macht hier in wenigen Zeilen einige entscheidende Bemerkungen zum immer wieder
diskutierten Verhältnis der von ihm und Max Horkheimer verfassten Dialektik der Aufklärung
und dem Marxismus. Nur kurz sei eingangs daran erinnert, dass die vorherrschende und von
den sogenannten Vertretern der zweiten oder dritten Generation der ‚Frankfurter Schule‘
propagierte Meinung dahingeht, in der Dialektik der Aufklärung das finale Produkt eines
stufenweise sich vollziehenden Abkehrprozesses von Marx und dem Marxismus zu sehen.2
Dass man sich von dessen „Orthodoxie“ „losgesagt“ hatte, spricht Adorno selbst unumwunden
aus. Zugleich aber reiht er das Buch in den Stammbaum des Marxismus ein – seine Abkunft
von der materialistischen Dialektik „verschleiere es nicht“. Umso mehr gilt es also zu fragen,
was mit der marxistischen Orthodoxie gemeint ist, von der sich Adorno und Horkheimer
losgesagt hatten und inwiefern sie dennoch dem Marxismus die familiäre Treue hielten.
Was mit Orthodoxie gemeint ist, findet sich ebenfalls in der zitierten Passage angedeutet: In
Dialektik der Aufklärung wird Herrschaft kritisiert ohne deren Begriff in „ökonomischen
Analysen“ zu fundieren – zumindest wurde im veröffentlichten Text des Buchs auf die
„Ausführung“ dieser Analysen verzichtet. Auf die interessante Doppelsinnigkeit des hier
verwendeten Wortes „ausgeführt“ – einerseits könnte es ‚durchgeführt‘, anderseits aber auch

1
Theodor W. Adorno (1969): Aus einem Entwurf »Zur Neuausgabe« der Dialektik der Aufklärung, in:
Rolf Tiedemann (Hg.): Frankfurter Adorno Blätter VIII, München (2003): edition text + kritik, S. 7-8,
hier S. 7.
2
Vgl. bspw. Helmut Dubiel (1976) und auf diesen sich berufend bspw. Habermas (1985): 143, Honneth
[1983]: 26-27 Fn. 5, 47 Fn. 9.
–1–
‚erläutert‘ bedeuten – werde ich gleich noch näher eingehen (vgl. Abschn. 1. u. 2.). Zunächst
ist allerdings zu klären, inwiefern dieser Verzicht einen Verstoß gegen die Orthodoxie darstellt.
Adorno benennt selbst Engels Anti-Dühring als Schrift, gegen die sich die Autoren der Dialektik
der Aufklärung ketzerisch verhielten. Zur Orthodoxie gezählt werden muss der von Engels
unter der partiellen Mitwirkung von Marx verfasste Text nicht allein, weil er der Feder der
Begründer des dialektischen Materialismus entstammt. Der Anti-Dühring ist schlicht eine der
meistgelesenen Schriften des Marxismus.3 Die Bedeutung des Textes zeigt sich etwa in der
Formulierung Lenins, der ihn in Drei Quellen und drei Bestandteile des Marxismus neben der
ebenfalls von Engels verfassten Schrift Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen
deutschen Philosophie und dem Kommunistischen Manifest zu den „Handbüchern jedes
klassenbewussten Arbeiters“ zählt.4 In diesen Schriften sei „am klarsten und ausführlichsten“
die marxistische „Anschauungen“ beschrieben.5
Warum aber genau stellt der Verzicht auf die Ausführung ökonomischer Analysen Ketzerei
gegen den orthodoxen dialektischen Materialismus dar? Wo weichen Adorno und Horkheimer
von den im Anti-Dühring formulierten Positionen ab? Zunächst liegt es nahe, als Antwort auf
diese Fragen auf die Einleitung des Textes zu verweisen. Dort wird von Engels als Anforderung
an eine materialistische Theorie der Geschichte formuliert:

„daß also die jedesmalige ökonomische Struktur der Gesellschaft die reale Grundlage bildet, aus
der der gesamte Überbau der rechtlichen und politischen Einrichtungen, sowie der religiösen,
philosophischen und sonstigen Vorstellungsweise eines jeden geschichtlichen Zeitabschnitts in
der letzten Instanz zu erklären sind.“6

Der Verzicht auf die ‚Ausführung‘ der ökonomischen Analysen vergeht sich gegen dieses
Gebot eines „historischen Materialismus“ – welches im Übrigen auch Lenin in Drei Quellen
noch vor der „Lehre vom Mehrwert“ und der „Lehre vom Klassenkampf“ als ersten zentralen
Bestandteil des Marxismus benennt.7 Aus der Nähe besehen könnte Adornos und Horkheimers

3
MEGA I/27: Einleitung ???
4
Vgl. Lenin (1913), Drei Quellen und drei Bestandteile des Marxismus, in: ders. Werke, Bd.19, S. 3-9.
5
Vgl. Ebd.
6
Engels (1878), Herrn Eugen Dühring, MEGA I/27: 236 (meine Hervorhebung). Selbstverständlich
handelt es sich dabei um eine Variation der Marx’schen Formulierung aus der Vorrede von Zur Kritik
der politischen Ökonomie, in welcher dieser das berühmt-berüchtigte ‚Basis-Überbau-Schema‘
formuliert.
7
„Der historische Materialismus von Marx war eine gewaltige Errungenschaft des wissenschaftlichen
Denkens. Das Chaos und die Willkür, die bis dahin in den Anschauungen über Geschichte und Politik
geherrscht hatten, wurden von einer erstaunlich einheitlichen und harmonischen wissenschaftlichen
Theorie abgelöst, die zeigt, wie sich aus einer Form des gesellschaftlichen Lebens, als Folge des
Wachsens der Produktivkräfte, eine andere, höhere Form entwickelt […]. Genauso wie die Erkenntnis
des Menschen die von ihm unabhängig existierende Natur […] widerspiegelt, so spiegelt die
gesellschaftliche Erkenntnis des Menschen […] die ökonomische Struktur der Gesellschaft wider. Die
politischen Einrichtungen sind ein Überbau auf der ökonomischen Basis.“ – Lenin Drei Quellen.
–2–
Ketzerei allerdings tiefer und weniger tief zugleich sein. Tiefer könnte sie sein, weil sie auf die
Ausführung ökonomischer Analyse als letzte Instanz der Erklärung gerade in Bezug auf den
Begriff der Herrschaft verzichten. Dem Begriff der Herrschaft, respektive dem Begriff der
Gewalt, schenkt Engels in seiner Polemik gegen Eugen Dührings philosophisches System
besondere Aufmerksamkeit.8 Dühring behandelt Gewalt und Herrschaft als irreduzible
Phänomene, als „politische That“ und „die Gestaltung der politischen Beziehungen“ als „das
geschichtlich Fundamentale“.9 Dagegen betont Engels energisch die ökonomischen
Bedingungen jeder politischen Herrschaft.10 Wie sich die von Adorno und Horkheimer in der
Dialektik der Aufklärung formulierte Position zu dieser Opposition verhält, ist abschließend
genauer zu erörtern (vgl. Abschn. 3). Zunächst werde ich aber darauf eingehen, wieso die von
Adorno und Horkheimer betriebene Ketzerei weniger tief greifen könnte als es zunächst den
Anschein haben mag. Eingeholt wird damit die angekündigte Auseinandersetzung mit der
Doppelsinnigkeit des Wortes „ausgeführt“.

1. Nicht ausgeführte ökonomische Analysen


Ohne jede Frage wurde in Dialektik der Aufklärung auf die Ausführung der ökonomischen
Analysen verzichtet: Im veröffentlichten Text von Dialektik der Aufklärung finden sich keine
im engeren Sinne wirtschaftsgeschichtlichen oder ökonomietheoretischen Materialien,
Abschnitte, Fragmente oder – wenn man gegen den Sinn der intendierten Form des Textes
sprechen möchte – ‚Kapitel‘. Dass sich unter den philosophischen Fragmenten in Dialektik der
Aufklärung nichts zur Ökonomie findet, war aber keineswegs immer so geplant. Noch am 10.
März 1942 und damit nur drei Monate bevor Horkheimer und Adorno im Juni 1942 mit dem
Abfassen des Buches begannen, schrieb Horkheimer emphatisch an Felix Weil: Das Buch „muß
mit historischem und ökonomischem Material bis zum Platzen gefüllt sein.“11 Mehr noch, Felix
Weil und Friedrich Pollock sollten selbst die historisch-ökonomischen Teile des Buches als
Autoren beisteuern. Ganz in diesem Sinne heißt es im eben zitierten Brief: „Eigentlich müßten
Fritz [scil. Friedrich Pollock] und Du [scil. Felix Weil] schon Ende nächsten Monats hier sein
und an die Ausführung der ökonomischen und politischen Teile gehen und wir dürfen uns dann
die nächsten Monate Tag und Nacht um nichts anderes kümmern.“12 Wieso es nicht zur

8
Vgl. MEGA I/27: ???
9
Eugen Dühring nach Engels, Herrn Eugen Dühring, MEGA I/27: 350f.
10
Engels, Herrn Eugen Dühring, MEGA I/27: ???
11
Max Horkheimer an Felix Weil am 10. März 1942 (HGS 17: 275).
12
Horkheimer an Felix Weil am 10. März 1942 (HGS 17: 274).
–3–
geplanten Mitarbeit von Weil und Pollock kam, ist eine Geschichte persönlicher und
finanzieller Gründe, die hier nicht hingehört.13 Festzuhalten ist hingegen, dass sich Horkheimer
und Adorno trotz des Ausfalls von Weil und Pollock daran machten, auch „ökonomische und
politische Teile“ für das Buch zu schreiben. Adorno berichtet am 15. September 1942 in einem
Brief an Horkheimer euphorisch vom Abschluss des Textes Reflexionen zur Klassentheorie,
der Thesenhaft geschrieben sei, sodass er sich später problemlos an verschiedenen Stellen, in
das gemeinsam zu verfassende Buch einbauen lasse.14 Horkheimer antwortet am 17. September
begeistert:

„I can hardly await the day when we sit down to go ahead with A4 [gemeint ist ein nicht
überlieferter Gliederungspunkt der Dialektik der Aufklärung]. After that, we should do some
work in connection with the economic projects (sociology of rackets).“15

Im Oktober 1942 macht sich Horkheimer dann selbst daran, den Text zur Sociology of Class
Relations zu schreiben.16 Dass ihn die Arbeit an dieser Klassentheorie respektive der „sociology
of rackets“ auch noch über ein Jahr nach Beginn der Arbeiten an der Dialektik der Aufklärung
beschäftigte, ist beispielsweise einem Brief vom 19. November 1943 an Pollock zu
entnehmen.17 Nichtsdestotrotz werden diese „ökonomische und politische Teile“ von
Horkheimer und Adorno nicht in den Text der Dialektik der Aufklärung aufgenommen. Der
profane Grund dafür wird in der Vorrede zur ersten mimeographierten, in einer kleinen Auflage
von etwa 300 Exemplaren erfolgten Veröffentlichung der Dialektik der Aufklärung im Jahr
1944 von ihnen selbst benannt.18 Dort heißt es:

„Als vor zwei Jahren die Arbeit begonnen wurde, deren erste Proben wir Friedrich Pollock
widmen, hatten wir gehofft, das Ganze zu seinem fünfzigsten Geburtstag abgeschlossen vorlegen
zu können. Je mehr wir aber in die Aufgabe eindrangen, desto deutlicher wurden wir des
Mißverhältnisses zwischen ihr und unseren Kräften gewahr.“19

13
Vgl. Albrecht (2004).
14
Vgl. Theodor W. Adorno an Max Horkheimer Brief vom 15.09.1942 (HGS 17: 328); siehe auch
Theodor W. Adorno (1942), Reflexionen zur Klassentheorie, in AGS 8: 373-391.
15
Max Horkheimer an Theodor W. Adorno Brief vom 17.09.1942 (HGS 17: 331) (meine
Hervorhebung).
16
Vgl. Max Horkheimer an Leo Löwenthal Brief vom 14.10.1942 (HGS 17: 349) (im Original: Englisch,
übersetzt von den Herausgebern).
17
Max Horkheimer an Friedrich Pollock Brief vom 19.11.1943 (HGS 17: 469-506).
18
Die vom Gunzelin Schmid Noerr in seinem Nachwort zur Dialektik der Aufklärung in den
Gesammelten Werken von Max Horkheimer vertretene falsche Auffassung, die Dialektik der
Aufklärung sei in hektographierter Form in einer Auflage von 500 Stück erfolgt (vgl. HGS 5: 423ff.),
ist entsprechend zu korrigieren (dazu James Schmidt (2017), The Making and the Marketing of the
Philosophische Fragmente Part I and II).
19
Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung [1944], HGS 5: 16.
–4–
Horkheimer und Adorno konnten das Projekt schlicht und ergreifend bis zum geplanten
Zeitpunkt der Veröffentlichung nicht zum Abschluss bringen. Das was sie 1944
veröffentlichten waren nur „erste Proben ihrer Arbeit“. Am Ende der Vorrede von 1944 wird
entsprechend eine Fortsetzung des Buches angekündigt und namentlich auf die oben genannten
und andere unveröffentlicht gebliebenen Teile des Buches verwiesen.20 Von dieser Fortsetzung
des Buches, dem zweiten Teil, spricht Horkheimer auch privat gegenüber Löwenthal. In einem
Brief vom 14. Juni 1944 schreibt er: „it is a fine thing that you like the book and I hope that the
second part will still be much better.“21 Die Absicht zur Fortsetzung bestand mehrere Jahre fort,
wie etwa die im Horkheimer-Nachlass überlieferte Diskussionsprotokolle aus dem Jahr 1946
deutlich machen, in denen es um eben diese Fortsetzung geht – ihnen wurde in den gesammelten
Schriften Horkheimers der sprechende Titel Rettung der Aufklärung. Diskussion über eine
geplante Schrift zur Dialektik gegeben.22 Zur Fortsetzung des Buches kam es jedoch nicht.
Vielmehr erschien die Dialektik der Aufklärung 1947 ohne große Ergänzungen erneut und die
Hinweise auf die Unvollständigkeit des Buches sowie auf die geplante Fortsetzung wurden aus
der Vorrede gestrichen. Einzig die letzte These der ›Elemente des Antisemitismus‹ wurde dem
Buch noch hinzugefügt.23 Die Antwort auf die Frage, warum es zu dieser Fortsetzung nicht
kam, die „ökonomischen Teile“ unveröffentlicht und damit unausgeführt blieben, ist in der
Rezeptionsgeschichte der Dialektik der Aufklärung nicht unumstritten. Die einen sehen den
Grund in der von Horkheimer und Adorno vermeintlich vollzogenen Abkehrbewegung von
Marx und dem Marxismus.24 Andere schieben es auf eine sich langsam breitmachende
Divergenz zwischen den von den Autoren vertretenen Positionen.25 Sicher ist, dass die Arbeit
im Umfeld des Institutes nach Kriegsende von anderen Dingen und vor allem praktischen
Fragen dominiert wurde. Viel Zeit und Mühe floss in das endlich finanzierte, große empirische
Forschungsprojekt über Antisemitismus.26 Ebenso war die Frage nach der Beteiligung am
Wiederaufbau und der re-education Deutschlands sowie die Frage nach der Rückkehr des
Institutes nach Deutschlands dringlicher.27 Als negativ gewendete Variation auf den vorletzten
Satz der Vorrede von 1944 ließe sich die damalige Situation vielleicht folgendermaßen
charakterisieren: „[D]as Glück, ohne den bösen Druck unmittelbarer Zwecke an solchen Fragen

20
Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung [1944], HGS 5: 23.
21
Horkheimer an Löwenthal am 14. Juni 1944 (MHA: VI.79, 56) (Meine Hervorhebung).
22
Vgl. Max Horkheimer/Theodor W. Adorno [1946]: Rettung der Aufklärung. Diskussion über eine
geplante Schrift zur Dialektik, in HGS 12: 593-605.
23
Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung [1947], HGS 5: 24.
24
Vgl. van Reijen/Bransen (1987), in HGS 5: ???.
25
Vgl. Schmid Noerr, Gunzelin (1987) in HGS 5: 447ff.
26
Vgl. Wiggershaus (1986): 424-478.
27
Vgl. ebd.; dazu auch Demirovic (1999): ???.
–5–
arbeiten zu können“ dauerte leider nicht „weiterhin fort“, sodass die Hoffnung der Autoren „das
Ganze in nicht allzuferner Zeit zu vollenden“ enttäuscht wurde.28

Das hat zur Folge, dass die Nachwelt mit einem Text der Dialektik der Aufklärung konfrontiert
ist, der wie Adorno im eingangs gegeben Zitat schreibt, auf „ausgeführte ökonomische
Analysen“ verzichtet. Der Verzicht auf Ausführungen zu ökonomischen Fragen und mehr noch
die Bereinigung des Textes von marxistischem Vokabular, die neben der Streichung der
Ankündigung einer Fortsetzung in der Ausgabe von 1947 vorgenommen wurde, bestärkte viele
in ihrem Glauben, mit Dialektik der Aufklärung das Endprodukt des von Horkheimer und
Adorno vollzogenen Abkehrprozesses von Marx und dem Marxismus in Händen zu halten.29
Dass die historischen Quellen zum Entstehens- und Editionsprozess des Buches als Motiv für
die Bereinigung des Textes nicht die Abkehr vom Marxismus, sondern politische Vorsicht als
Grund nahelegen, habe ich an anderer Stelle gezeigt.30 Hier interessiert mich die Frage, was
damit gemeint ist, wenn Adorno im eingangs gegebenen Zitat die Herkunft der Dialektik der
Aufklärung vom Marxismus dennoch betont. Dafür lohnt ein Blick in eben jene im Vorfeld und
während des Abfassens von Dialektik der Aufklärung durchgeführten ökonomischen Analysen.

2. Ausgeführte ökonomische Analysen

Implizit spricht Adorno im eingangs gegebenen Zitat ebenfalls die Aufforderung dazu aus, sich
mit den ökonomischen Analysen zu befassen, welche die Dialektik der Aufklärung in Form und
Inhalt motivierten, wenn er schreibt, dass „die Abweichung vom rein ökonomischen Denken
[…] ihren ökonomischen Grund [hat].“31 Einfach gesagt, wenn es einen „ökonomischen Grund“
gibt, der die Abweichung motiviert, dann gibt es auch Analysen, in denen dieser ökonomische
Grund artikuliert wurde. Damit gilt ferner, dass, wer die Abweichung von der Orthodoxie
materialistischer Dialektik verstehen will, welche die Dialektik der Aufklärung darstellt, eben
diese ökonomischen Analysen konsultieren muss, durch welche die Abweichung motiviert war.
Den Kerngehalte dieser Analysen spricht Adorno selbst im gegebenen Zitat noch an: Der
„Liberalismus“, den Marx als „Wirklichkeit und Ideologie“ untersucht und kritisiert hat, habe
sich „zu einer Wirtschaft“ entwickelt, „die zwar den Pseudomarkt übrigläßt, sonst indessen von

28
Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung [1944], HGS 5: 23.
29
Vgl. van Reijen/Bransen (1987); Gangl (1987), ders. (1998).
30
Balzer, Jonas (2020): Von Verschwiegenem zum Platzen gefüllt. Entstehungsgeschichten der Dialektik
der Aufklärung, Masterarbeit am Institut für Soziologiean der Goethe-Universität Frankfurt am Main.
Siehe auch ders. Kein Verschwinden sondern Verschweigen, im Erscheinen.
31
Adorno (1969): Aus einem Entwurf, S. 7 (meine Hervorhebung).
–6–
den über die Produktion verfügenden Mächten abhängt, die auch Zirkulation und Distribution
bestimmen“.32 Damit verlören „die liberalen Marktgesetze ihren Sinn“ und so auch eine
materialistische Dialektik die meint unverändert an ihnen ansetzen zu können.33 In sehr groben
Zügen ist damit die am Institut für Sozialforschung in den 30er Jahren unter der Leitung von
Pollock entwickelte und in Bezug auf den Nationalsozialismus kontrovers diskutierte These
von der globalen Entwicklung hin zum Staatskapitalismus umrissen. Ruft man sich in
Erinnerung, dass ursprünglich Pollock und Weil die „ökonomischen Teile“ der Dialektik der
Aufklärung selbst schreiben sollten, dann kann es kaum überraschen, dass Pollocks These vom
Staatskapitalismus in Adornos Rückschau auf das Buch widerhallt. In der Rede vom
„Pseudomarkt“ lässt sich sogar ein wörtliches Zitat aus Pollocks 1941 erschienenen Text State
Capitalism: It’s Possibilities and Limitations erkennen, in dem das Entstehen eines
„Pseudomarktes“ gleich zu Beginn des Textes im Kontext einer anfänglichen Begriffsdefinition
als eines der neuen wirtschaftlichen Steuerungsmittel des staatskapitalistischen Staates benannt
wird.34 Die Stellen aus der Dialektik der Aufklärung an denen in diesem Sinne über die
Depotenzierung der „objektiven Marktgesetze“35 und die „im Abbau begriffene
Zirkulationssphäre“36 gesprochen wird, sind hinlänglich bekannt. Doch wie genau ist es um
Horkheimers und Adornos Anschluss an Pollocks Staatskapitalismus Theorem bestellt? Meine
Antwort auf diese Frage beginnt mit der Rekapitulation eines verbreiteten Missverständnisses
über dieses Verhältnis.
Den Zusammenhang zwischen Staatskapitalismus-These und Dialektik der Aufklärung zu
betonen ist kein Novum. Schon in der Einleitung des Herausgebers zu einer von Helmut Dubiel
unter dem Titel Stadien des Kapitalismus im Jahr 1975 vorgenommen Zusammenstellung von
Schriften Pollocks, äußert jener die Vermutung, dass es der Dialektik der Aufklärung „nicht
äußerlich“ sei „[d]aß Horkheimer und Adorno das Buch […] ihrem Freund Friedrich Pollock
widmeten.“37 Vielmehr habe die These vom Staatskapitalismus ihnen als ökonomie-
theoretische Basis gedient, um in der Dialektik der Aufklärung eine von Marx distanzierte
pessimistische Geschichtsphilosophie einer sich „durchsetzenden instrumentell-
technologischen Vernunft“ zu formulieren.38 Am deutlichsten bringt Hauke Brunkhorst dieses
vermeintliche Verhältnis auf den Punkt, wenn er davon spricht,

32
Vgl. Ebd.
33
Vgl. Ebd.
34
Vgl. Dubiel/Söllner (1985), S. 82.
35
Horkheiemr/Adorno, Dialektik der Aufklärung, HGS 5: 61.
36
Horkheiemr/Adorno, Dialektik der Aufklärung, HGS. 5: 156.
37
Dubiel (1975): 18.
38
Ebd.
–7–
„daß die Formel vom ‚Staatskapitalismus‘ das ‚missing link ist, das die entwicklungslogisch
konsequente Transformation eines interdisziplinären Marxistischen Forschungsprogramms in die
negative Geschichtsphilosophie der ‚Dialektik der Aufklärung‘ genetisch erklärt.“39

Am besten lässt sich verstehen, wieso es sich bei dieser Verhältnisbestimmung von
Staatskapitalismus Theorem und Dialektik der Aufklärung um ein Missverständnis handelt,
wenn man sich zunächst die Genese dieses Missverständnisses klar macht. Es hat seinen
Ursprung im gängigen Narrativ über die sogenannten Staatskapitalismus-Debatte, die in
Reaktion auf Pollocks Theorem am Institut geführt worden ist.

2.1 Das geläufige Narrativ über die Staatskapitalismus-Debatte

Die früheste Erörterung der Debatte findet sich in Martin Jays 1973 veröffentlichtem Buch The
Dialectical Imagination: A History of the Frankfurt School and the Institute of Social Research,
1923-1950, welches zum Zeitpunkt seiner Veröffentlichung die erste umfassende,
historiografische Arbeit zur Geschichte des Instituts für Sozialforschung und der in dessen
Umfeld entwickelten Kritischen Theorien darstellte.40 Es ist anzumerken, dass Jay sich in seiner
Arbeit nur auf ein sehr beschränktes Quellenmaterial stützen konnte. Im Grunde standen ihm
lediglich die Veröffentlichungen des Instituts und einige wenige privat überlassene Dokumente
zur Verfügung – immerhin, er hatte den Vorteil noch mit einigen Protagonisten seiner
Geschichte Gespräche führen zu können. In seiner Erörterung der Diskussion um Pollocks
Theorem des Staatskapitalismus verlässt er sich aber ausschließlich auf seine Interpretation der,
im zeitlichen Zusammenhang mit Pollocks Text veröffentlichten, Texte aus dem Umfeld des
Instituts. In diesen ist zunächst die Opposition zwischen Pollock und Neumann klar erkennbar:
Pollock, der 1941 sowohl den bereits erwähnten Text zum Begriff des Staatskapitalismus sowie
ferner eine Anwendung des Begriffs auf den Nationalsozialismus – Is Nationalsocialism A New
Order41 – veröffentlicht, auf der einen, Neumann, der 1942 in seinem Buch zur politischen und
ökonomischen Ordnung des Nationalsozialismus – Behemoth. The structure and practice of
national socialism – erklärt, der Begriff Staatskapitalismus sei eine „contradictio in adjecto”42,
auf der anderen Seite. Um die Konturen dieser Opposition schärfer zu stellen, will ich die
Kernthesen von Pollock und Neumanns Kritik kurz umreißen.

39
Brunkhorst 644
40
Vgl. im Folgenden in Bezug auf Jay (1976): 175ff., 185ff. u. 192ff.
41
Pollock (1941b).
42
Vgl. Neumann (1942).
–8–
Zentral für Pollocks Begriff des Staatskapitalismus ist die „Grundannahme“ „daß der
Freihandel und das freie Unternehmen des 19. Jahrhunderts aussterben.“43 Verschiedenen
soziale und wirtschaftliche Entwicklungen in Europa und den USA werden von Pollock als
Elemente eines Übergangsprozesses gedeutet, in dem liberaler Privatkapitalismus sich in
Staatskapitalismus wandelt.44 Diesen Übergangsprozess sieht Pollock in den
Monopolisierungstendenzen des liberalen Kapitalismus selbst angelegt.45 Gegenüber dem
Monopolkapitalismus des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts stelle der Staatskapitalismus
eine neue Ordnung dar.46 Mit Staatkapitalismus ist allerdings nicht gemeint, dass der Staat nun
notwendigerweise einziger Besitzer von Kapital wird – auch wenn das eine mögliche Form des
Staatskapitalismus sei.47 Staatskapitalismus meint bei Pollock vielmehr eine soziale
Konfiguration, in der Produktion und Verteilung nicht länger über einen freien Markt
koordiniert wird, sondern Handel, Unternehmung und Arbeit in einem so hohen Maß durch
ungleiche Konkurrenz verzerrt sind48, dass massiven Eingriffen durch Regierungen nötig
werden,49 weshalb von der Freiheit der Märkte nicht mehr gesprochen werden kann.50 Der Staat
überschreite damit eine Grenze die seinen Kompetenzen in Friedenszeiten vor dem ersten
Weltkrieg gesetzt gewesen sei.51 In einer Kombination von alten und neuen (wirtschafts-)
politischen Steuerungsmitteln werde die Produktion reguliert und Konsumtion koordiniert.52
Die staatlichen Eingriffe in die Wirtschaft folgten einem politisch definierten Ziel, das bis hin
zu einem Generalplan ausformuliert sein könne.53 Legitimiert werde diese staatliche Steuerung
durch die erfolgreiche Vollbeschäftigung aller Ressourcen – die Vollbeschäftigung von Kapital
und Arbeit54 – welche zuvor im monopolisierten Markt nicht mehr möglich war.55 Durch die
staatlichen Eingriffe werde der Staatskapitalismus von zyklischen Krisen und dem mit diesen
verknüpften Elend bereinigt, weshalb Pollock der Überzeugung ist, dass dem Bestand des
Staatskapitalismus keine Grenzen durch ökonomischen Gesetzmäßigkeiten mehr gesetzt sind.56
Vorstellbar wäre, so Pollock weiter, der Staatskapitalismus in einer totalitären und einer

43
Vgl. Pollock (1941a): 81.
44
Vgl. Pollock (1941a): 81.
45
Vgl. Pollock (1941a): 83.
46
Vgl. Pollock (1941b): 111.
47
Vgl. Pollock (1941a): 82.
48
Vgl. Pollock (1941a): 83.
49
Vgl. Pollock (1941a): 84.
50
Vgl. Pollock (1941a): 82.
51
Vgl. Ebd.
52
Vgl. Ebd.
53
Vgl. Pollock (1941a): 85ff.
54
Vgl. Pollock (1941a): 82.
55
Vgl. Pollock (1941a): 83.
56
Vgl. Pollock (1941a): 96ff.
–9–
demokratischen Form. In der demokratischen Form bestehe noch eine parlamentarische
Kontrolle der staatlichen Steuerung.57 In der totalitären Variante formiere sich eine neue
herrschende Klasse, die sich aus unterschiedlichen sozialen Elementen, den oberen Rängen in
Industrie und Gesellschaft, hohen Beamten und hohen Militärs, sowie den führenden
Funktionären der je siegreichen Partien rekrutiere.58 Nicht richtig deutlich wird, wie groß die
innere Einigkeit diese neue herrschende Gruppe Pollocks Auffassung nach ist. Im
Nationalsozialismus erblick Pollock eine Gesellschaftsformation, die seinem Begriff des
Staatskapitalismus in autoritärer Form zwar nicht entspricht, aber ihr so nahekommt, dass er es
für angemessen hält, in Bezug auf den Nationalsozialismus nicht länger von
Monopolkapitalismus, sondern von Staatskapitalismus zu sprechen.59
Neumann nimmt am Staatskapitalismus-Theorem in mehrerlei Hinsicht Anstoß. Er hat sowohl
theoretische als auch empirische Vorbehalte. Die theoretischen Vorbehalte beziehen sich auf
die Sinnhaftigkeit der Rede von einem Kapitalismus ohne funktionierenden
Marktmechanismus. Einen Staatskapitalismus hält er für eine contradictio in adjecto und
mokiert – Rudolf Hilferdings Kritik des Begriffs zitierend –, dass „[w]enn der Staat einmal zum
einzigen Eigentümer der Produktionsmittel wurde, […] eine kapitalistische Ökonomie nicht
mehr funktionieren [kann.]“60 „Ein solcher Staat ist deshalb nicht mehr kapitalistisch“, so
Neumann.61 Diese Kritik trifft Pollock zwar nicht unmittelbar – insofern Pollocks Rede vom
Staatskapitalismus nicht auf den Staat als einzigen Eigentümer der Produktionsmittel abzielt.
Sie macht allerdings die Fronten klar. Ferner – und das betrifft Pollock schon eher – wirft
Neumann der Theorie des Staatskapitalismus vor, dass sie nicht erklären könnte, wie sich
Staatskapitalismus aus einem monopolisierten Stadium des Kapitalismus entwickle, genauer,
welche Momente im Monopolkapitalismus auf diese Entwicklung zutreiben würden.62
Schließlich – und das ist ein denkbar schlechter Einwand – hält Neumann den Begriff des
Staatskapitalismus für einen unmöglichen Begriff, weil er seine Auffassung nach nicht möglich
sein darf. Die Möglichkeit eines Staatskapitalismus zu erwägen, sei eine „zutiefst
pessimistische Ansicht“, die von ihm „nicht geteilt [wird].“63 Pessimistisch sei die Ansicht, weil
den Staatskapitalismus keine ökonomischen Gesetzmäßigkeiten mehr zu Fall brächten, sondern

57
Vgl. Pollock (1941a): 83.
58
Vgl. Pollock (1941a): 102ff.
59
Vgl. Pollock (1941b): 121.
60
Hilferding nach Neumann (1942): 132.
61
Vgl. Neumann (1942): 132.
62
Ebd.
63
Neumann (1942): 136.
– 10 –
nur noch „eine Reihe von Zufällen diese Systeme zerstören könnte[n].“64 Weiterhin
argumentativ schief wechselt Neumann dann das Register und gibt – zum Beweis, dass auch
nicht ist, was nicht sein darf – eine Einführung in seine eigenen empirisch Untersuchung der
Ökonomie des Nationalsozialismus. Neumann „glaubt, daß die Widersprüche des Kapitalismus
in Deutschland auf einem höheren und deshalb auch gefährlicheren Niveau wirksam sind, auch
wenn diese Widersprüche durch einen bürokratischen Apparat und durch die Ideologie der
Volksgemeinschaft verdeckt werden.“65

Für das Verständnis des Missverständnisses über das Verhältnis des – von Neumann
pessimistisch genannten – Staatskapitalismus-Theorem und der – von im Grunde allen
pessimistisch genannten – Dialektik der Aufklärung wichtig, ist, dass Jay in Dialectical
Imagination den Versuch unternimmt, andere Mitarbeiter des Instituts einer der beiden
Positionen – Neumann oder Pollock – zu zuordnen. Dabei ergibt sich das folgende Bild: Klar
bei Pollock zu verorten seien Horkheimer – auf Grund seiner Texte Autoritärer Staat
(1940/1942) und Vernunft und Selbsterhaltung (1942) in dem er den Begriff selbst mehrmals
gebraucht – und auch Adorno und Löwenthal – wobei Jay für diese Vermutung keine näheren
Gründe anführt. Womit die erste Verbindungslinie zwischen Staatskapitalismus-Theorem und
den Autoren der Dialektik der Aufklärung gezogen wäre. Marcuse verortet Jay, aufgrund von
Formulierungen in Reason and Revolution (1941) näher bei Neumann. Ähnliches gilt bezüglich
A. R. L. Gurland und Otto Kirchheimer, welch beide Texten veröffentlichten, die neben
Pollocks Texten in den letzten beiden Ausgaben der institutseigenen Zeitschrift für
Sozialforschung (zu diesem Zeitpunkt bereits dem Titel Studies in Philosophy and Social
Science tragend) erschienen. Gurland bewege sich in seinem Text Technological Trends and
Economic Structure under National Socialism (1941) sehr nahe an Neumann. Kirchheimer
nehme in The Leagal Order of National Socialism (1941) und Changes in the Structure of
Political Compromise (1941) eine etwas mehr zur Mitte hin orientierte Position ein.66
Jay stütz sich bei dieser Einschätzung, wie gesagt, in Ermangelung anderer Quellen, nur auf
seine Interpretation der veröffentlichten Texte. An dieser Quellenlage ändert sich im Jahrzehnt
nach der Veröffentlichung von Jays Dialectical Imagination zunächst nicht viel, sodass sich die
Schilderung dieser Debatte zu einem Narrativ der vermeintlichen Ein- und Übernahme von
Pollocks Position durch Horkheimer und Adorno und der daraus resultierenden Wende in der
Theoriegeschichte der Kritischen Theorie verdichten konnte. Besonders aktiv mitgewirkt an

64
Neumann (1942): 134.
65
Neumann (1942): 136.
66
Jay (1976): 175ff.
– 11 –
dieser Verdichtung hat Helmut Dubiel. Dubiel teilt Jays Interpretation der Frontstellungen in
der Debatte bereits in seinem Vorwort zur Veröffentlichung der Texte Pollocks aus dem Jahr
1975. Dort spricht er auch die oben zitiert Vermutung über den Zusammenhang des
Staatskapitalismus Theorems und der Dialektik der Aufklärung aus, verzichtet aber auf weitere
Erörterungen.67 In seiner eigenen wissenssoziologischen Studie zur Theorieentwicklung der
Kritischen Theorie – Wissenschaftsorganisation und politische Erfahrung. Studien zur
Kritischen Theorie (1978) – versucht er die Vermutung dann auch interpretatorisch zu
untermauern.68 Allerdings greift Dubiel dabei weiterhin auf nur begrenztes Quellenmaterial
zurück und verlässt sich ebenfalls weitestgehend auf die Interpretation veröffentlichter Texte.
Für ihn ergibt sich dabei das folgende Bild: Die Gruppe um Neumann hätte weiterhin eine
marxistische „Kontinuitätsthese [vertretenen], der zufolge das faschistische System […] die
dem hochmonopolistischen Kapitalismus adäquate politische Organisationsform sei.“69
Horkheimer und Adorno hingegen hätten „auf der Basis von Pollocks Theorie des
Staatskapitalismus die These [vertreten], daß ein voll entwickeltes faschistisches System […]
das von den Marxisten behaupteten Primat der Ökonomie über die Politik tendenziell
abgeschafft [sei].“70 Auf Dubiels Schilderung verlässt sich auch Hauke Brukhorst bei seiner
Interpretation des Staatskapitalismus-Theorem als ‚missing link‘ zum Verständnis der Dialektik
der Aufklärung (1983).71 Brunkhorst sind die Texte der Debatte zudem auch nur durch den von
Dubiel und Alfons Söllner herausgegebenen und gemeinsam eingeleitet Sammelband
Wirtschaft, Recht und Staat im Nationalsozialismus. Analysen des Instituts für Sozialforschung
1939-1942 (1981) zugänglich, in dem viele der Texte seit langem überhaupt mal wieder und in
vielen Fällen das erste Mal auf Deutsch veröffentlicht wurden.72 In ihrer Einleitung zum
Sammelband wiederholen Dubiel und Söllner das inzwischen eingeschliffene Narrativ über die
Herausbildung der Neumann- und der Pollock-Gruppe.73 Einzig Marcuse verorten sie nun auf
Grund des von ihnen im Sammelband veröffentlichten Textes – Some Social Implications of
Modern Technology (1941) – in einer vermittelnden Position.74

67
Vgl. Dubiel (1975): 17ff.
68
Dubiel (1978): 95ff. (?)
69
Dubiel (1978): 97.
70
Dubiel (1978): 95.
71
Brunkhorst (1983): 642ff.
72
Dubiel/Söllner (1985).
73
Vgl. Dubiel/ Söllner (1985): 16ff.
74
Dubiel/Söllner (1985): 23. – Marcuses stammt allerdings aus einem ganz anderen theoretischen
Kontext (vgl. Wiggershaus (1986): ???).
– 12 –
Mehr noch als in Dubiels wissenssoziologischer Studie ist die Schilderung der Debatte in der
Einleitung von Dubiel und Söllner geprägt von einem gegenüber Pollocks Beiträgen kritischen
Unterton. Besonders bemängelt wird bei Pollock ein Fehlen von empirischem Material, betont
wird ferner, dass das empirische Material über die nationalsozialistische Gesellschaft, welches
die anderen Beiträge der Debatte liefern, Pollocks These widerlegen würde.75 Pollock wird von
Dubiel und Söllner so verstanden, dass die Staatskapitalismus These „Geschlossenheit und
innerer Widerspruchslosigkeit der nationalsozialistischen Gesellschaft“ suggeriere.76 Von einer
solchen Geschlossenheit könne allerdings vor dem Hintergrund des empirischen Materials der
Neumann-Gruppe nicht die Rede sein. Es handele sich bei der nationalsozialistischen
Herrschaft vielmehr um „eine neue ‚day-to-day‘ Kompromissbildung“.77 Unter Verweis auf
Neumann wird auch die idealtypische Methode Pollocks kritisiert.78 Pollock systematisiere
„Trends […], die er besonders im Nationalsozialismus, aber auch in den USA erkennen zu
können glaubt.“79 Trends, deren Existenz Dubiel und Söllner offenkundig in Zweifel ziehen,
was sie unmissverständlich in der überspannten Distanzierung im vorangegangene Zitat und
dem bereits erwähnten Bezug auf Neumanns empirisches Material zum Ausdruck bringen. Sie
porträtieren die Opposition zwischen Pollock und Neumann als einen Streit um das
„methodologische Primat ökonomischer Kategorien“ und damit um den
„gesamtgesellschaftlichen Erklärungsanspruch der Marxschen politischen Ökonomie“.80
Neumann erscheint dabei zunächst als „traditionell und orthodox“, Pollock „repräsentiert einen
Typus von politischer Ökonomie, den man heute gerne ‚linksbürgerlich‘ nennt“.81 Für alle
denen die Texte der Staatskapitalismus-Debatte durch den Sammelband von Söllner und Dubiel
zugänglich werden, ergibt sich damit unvermeidlich das folgende Bild: Horkheimer und
Adorno stünden in der Staatskapitalismus-Debatte, die sich im Kern um den
„Erklärungsanspruch der Marxschen politischen Ökonomie“ drehe, auf der Seite des ‚Nicht-
Marxisten‘ Pollock – und auf Basis von dessen empirisch unhaltbaren und in den Worten
Neumanns „pessimistische[n]“ Theorie des Staatskapitalismus, gründe ihre pessimistische
Geschichtsphilosophie der Dialektik der Aufklärung. Das verändert die Perspektive auf die
Dialektik der Aufklärung. Wird das Staatskapitalismus Theorem, der vermeintliche ‚missing
link‘ zum Verständnis der pessimistischen Geschichtsphilosophie in der Dialektik der

75
Dubiel/Söllner (1985): 19ff.
76
Dubiel/Söllner (1985): 17.
77
Dubiel/Söllner (1985): 22.
78
Dubiel/Söllner (1985): 17f.
79
Dubiel/Söllner (1985): 14.
80
Dubiel/Söllner (1985): 17.
81
Dubiel (1975): 12.
– 13 –
Aufklärung in Zweifel gezogen, berührt das den Gültigkeitsanspruch des Buchs. Unter der Hand
wird die Position der Pollock-Gruppe als – empirisch diskreditierte –Positionen disqualifiziert.

2.2 Horkheimer und Adorno in der Staatskapitalismus-Debatte

Inwiefern handelt es sich nun aber bei disem Narrativ um ein Missverständnis der
Staatskapitalismus-Debatte und inwiefern hilft die Genesis dieses Narratives bei dessen
Aufklärung? Missverständnisse in der Darstellung von Dubiel und Söllner gibt es viele. Auf
Grundlage des bereits gesagten ließe sich etwa einwenden, dass Pollocks idealtypische
Konstruktion des Begriffs des Staatskapitalismus keineswegs eindeutig eine innere
Geschlossenheit der herrschenden Klasse voraussetzt, geschweige denn die Gesellschaft als frei
von inneren Widersprüchen vorstellt. Der Gegensatz zwischen Herrschenden und Beherrschten
im autoritären Staatskapitalismus ist bei Pollock zentral.82 Auch geht Pollock selbst dort, wo er
vom Nationalsozialismus als einem Staatskapitalismus spricht, nicht davon aus, dass jener dem
idealtypischen Begriff des Staatskapitalismus entspricht. Der empirische Beweis, dass der
Nationalsozialismus kein monolithischer Block war, tangiert Pollocks Theorem also eher
peripher. Darüber hinaus lassen sich bei Neumann Stellen finden, an denen dieser selbst davon
spricht, dass die herrschende Klasse im Nationalsozialismus Tendenzen aufweise, sich „into
one single bloc disposing oft he means of production ant the means of violcance“ zu
verwandeln.83 Dubiel und Söllner zitieren selbst eine andere Stelle, an der eine weitere
Konvergenz zwischen Neumann und Pollock zum Ausdruck kommt: Wenn Neumann davon
spreche, dass im „Nationalsozialismus wie auch [in] jede[r] Form spätkapitalistischer
Gesellschaft“84 „[d]ie Verfügungsgewalt über den Staatsapparat […] der Angelpunkt [ist], um
den sich alles andere dreht.“85, dann mache er damit deutlich „daß die marxistische Annahme
vom methodologischen Primat der Ökonomie der These vom Primat der Politik nicht nur nicht
widerspricht, sondern sie vielmehr erst entwicklungslogisch formulierbar macht.“86 Worin sich
diese „entwicklungslogische Formulierung“ nun von der Rede Pollocks unterscheidet, der den
Staatskapitalismus den „Nachfolger“ des Privatkapitalismus nennt, ist einigermaßen
schleierhaft. Es wundert daher kaum, dass Rolf Wiggershaus in seiner 1986 erstmals
veröffentlichten, sehr umfangreichen und detaillierten Studie Die Frankfurter Schule:

82
Vgl. Pollock (1941): ??? .
83
Neumann nach Wiggershaus (1995!): 289.
84
Dubiel/Söllner (1985): 18.
85
Neumann nach Dubiel/Söllner (1985): 18.
86
Dubiel/Söllner (1985): 18.
– 14 –
Geschichte. Theoretische Entwicklung. Politische Bedeutung, das Urteil fällt, der Streit
zwischen Neumann und Pollock sei – aus der Nähe besehen – häufig nicht mehr als ein Streit
um Worte. 87
Wiggershaus Studie macht aber auch noch auf ein für die Frage nach dem Verhältnis von
Pollocks Staatskapitalismus-Theorem zur Dialektik der Aufklärung viel entscheidenderes
Missverständnis aufmerksam. Im Unterschied zu den Untersuchungen von Jay, Dubiel und
Söllner basiert Wiggershaus Darstellung erstmals auf umfangreichem Archivmaterial, von dem
manches inzwischen veröffentlicht ist. Aus diesen privaten Briefen, Aufzeichnungen und
Entwürfen geht ein ganz anderes Bild von Horkheimers und Adornos Position in der Debatte
hervor, denn Horkheimer und Adorno verhalten sich Pollocks Text gegenüber ganz und gar
nicht unkritisch.
In einem Brief vom 30. Mai 1941 meldet Horkheimer nach Durchsicht eines ersten
stichwortartigen Entwurfs von Pollocks Artikel Bedenken an einer möglicherweise
missverständlichen Wirkung des Textes an. Der Text könnte den Eindruck erwecken, man hege
Sympathien für den Staatskapitalismus – insbesondre für seine totalitäre Form.88 In einem Brief
vom 08. Juni 1941 an Horkheimer formulierte dann auch Adorno, nach Durchsicht von Pollocks
inzwischen geschriebenen Manuskripts, Bedenken. Er schreibt: „Ich kann meine Ansicht über
diesen Aufsatz am besteh dahin zusammenfassen, daß er eine Umkehrung von Kafka darstellt.
Kafka hat die Hierarchie der Büros als Hölle dargestellt. Hier verwandelt sich die Hölle in eine
Hierarchie von Büros.“89 Den Hauptmangel des Textes sieht Adorno darin, dass er die
„undialektische Annahme“ nahelege, „in einer antagonistischen Gesellschaft [könne] eine nicht
antagonistische Ökonomie möglich sei[n].“90 In der bestehenden Form könne der Aufsatz
jedenfalls nicht veröffentlicht werden und Adorno schlägt vor, Horkheimer solle den Text
gemeinsam mit Pollock überarbeiten.91 Adorno empfiehlt dabei, Motive aus Horkheimers
eigenem Aufsatz über Staatskapitalismus zu Grunde zu legen92 – gemeint ist ein von
Horkheimer in Frühjahr 1940 geschriebener Entwurf des, unter der Mithilfe Adornos
überarbeiteten und 1942 veröffentlichten, Aufsatzes Autoritärer Staat, der 1940 noch den Titel
Staatskapitalismus trug.93 Am 1. Juli 1941 macht Horkheimer Pollock dann nach eigener
Durchsicht des Manuskriptes entsprechende Korrekturvorschläge. Es gelte nach wie vor das

87
Wiggershaus „quibbles about words“ 288
88
Max Horkheimer an Friedrich Pollock Brief vom 30.05.1941 (HGS 17: 46ff.).
89
Adorno an Horkheimer Brief vom 08. Juni 1941 (HGS 17: 54)
90
Ebd.
91
Adorno an Horkheimer Brief vom 08. Juni 1941 (HGS 17: 55)
92
Ebd.
93
MHA: IX.13 1ff.
– 15 –
„Mißverständnis[] allzu großer Sympathie mit dem Staatskapitalismus“ zu vermeiden und die
„Verflochtenheit und Zweideutigkeit der Phänomene mehr“ herauszuarbeiten.94 Etwa zur
gleichen Zeit bekräftigt Adorno seine Bedenken gegenüber Pollocks Text noch einmal. In
einem Brief vom 2. Juli 1941 schreibt er an Horkheimer:

„Sachlich halte ich für das zentrale Problem der Arbeit die Frage, ob die herausgearbeitete
Tendenz einer krisenlos von oben gelenkter Ökonomie wirklich die objektive Tendenz der
Realität ausdrückt, oder die ideale Reinheit dieser Konstruktion durch den antagonistischen
Zustand der Gegenwart auch für die Zukunft im Prinzip ausgeschlossen ist.“95

Adorno formuliert damit vorsichtige Vorbehalte gegenüber der Methode Pollocks, die in eine
ähnliche Richtung wie die Vorbehalte Neumanns gehen. Neumann ist in seine Kritik allerdings
viel definitiver. Nicht nur im Behemoth, auch schon privat in einem Brief an Horkheimer vom
23. Juli 1941 mokiert er Pollocks Verwendung der idealtypischen Methodik zur Konstruktion
der Eventualität einer staatkapitalistischen Zukunft als völlig unzulässig und trägt ferner auch
bereits einige seiner empirischen Zweifel vor.96 Wie als würde er den oben zitierten
Kommentatoren der Staatskapitalismus-Debatte – denen dieses private Material, wie gesagt,
unbekannt war – das Wort aus dem Mund nehmen, kann Neumann in Pollocks Position nur
noch „den Abschied an den Marxismus“97 erkennen. Diese Vorwürfe weist Horkheimer in
seiner Antwort an Neumann vom 2. August 1941 vehement zurück.98 Pollocks idealtypische
Konstruktion sei eine legitimer Versuch Tendenzen der Gegenwart auszuloten und räume mit
der einfachen Hoffnung auf objektive Zusammenbruchstendenzen auf.99 Darin sieht auch
Adorno die Stärken des Textes, wie er im oben bereits zitierten Brief vom 2. Juli an Horkheimer
ausführt: „[R]ichtig ist an der Konzeption ihr Pessimismus, d.h. die Auffassung, daß die
Chancen der Perpetuierung der Herrschaft in ihrer unmittelbaren politischen Form größer sind
als die herauszukommen.“100 Ganz in diesem Sinne leitet Horkheimer Pollocks Artikel dann
später auch im Vorwort zur entsprechenden Ausgabe der Zeitschrift für Sozialforschung ein:

„The opening article of this issue draws a picture of an authoritarian society that might embrace
the earth, or one that is at least autarchic. […] The article attempts to destroy the wishful idea

94
HGS 17: 91.
95
HGS 17: 96.
96
HGS 17: 103 ff.
97
HGS 17: 107.
98
Horkheimer schreibt: „Ich kann Ihnen und uns nur wünschen, daß sich auch diejenigen unserer
Bekannten, die Sie heute am wenigstens des Abschieds anklagen, den Pollock ‚eindeutig‘ vollzogen
haben soll, nicht eindeutiger ‚von einem Extrem zum anderen Extrem drehen‘, als es Pollock in seinem
bisherigen Leben getan hat und in der Zukunft auch tun wird.“ (HGS 17: 119).
99
HGS 17: 116.
100
HGS 17: 96.
– 16 –
fascism must eventually disintegrate through disharmonies of supply and demand, budget
deficiencies, or unemployment.“101

Mit diesen und weiteren Ausführungen zu Pollocks Text im Vorwort Horkheimers ist Neumann
äußerst unzufrieden, weil Horkheimer „Pollocks Aufsatz in einer Weise [reinterpretiere], daß
der Aufsatz völlig harmlos wird“.102 Adorno hingegen gefällt das Vorwort „ausgezeichnet“, es
löse „die taktische Aufgabe […], das Mißverständnis auszuschließen, als erkenne der Aufsatz
von Fritz in der Tat die Möglichkeit eines nicht-antagonistischen Staatskapitalismus an, ohne
[…] dem offiziellen marxistischen Optimismus die leiseste Konzession [zu machen]“.103 Es ist
diese „entzaubernden Funktion“ 104, welche sich Horkheimer schon nach der ersten Lektüre des
Textes versprach, die Neumann reizt. Dass der „Staatskapitalismus über die [ökonomischen]
Schwierigkeiten der privaten Phase hinausführen“105 könnte, ist eine Eventualität die Neumann
nicht erwägen möchte.106 Horkheimer und Adorno erblicken in der Erwägung dieser
pessimistischen Option – insbesondere auch eines demokratischen Staatskapitalismus –
kritisches Potential und gehen davon aus, dass „von dem Neumannschen […] Artikel über die
Möglichkeiten eines demokratischen Staatskapitalismus [nichts] zu erwarten sein wird.“107
Diese Differenz zu Neumann macht auch Horkheimer in einem Brief nach dem Erscheinen von
Behemoth ganz klar:

„If there exists any real theoretical difference between us, it pertains to the optimism which you
show not only with regard to the question of better administration but also to some of the deeper
lying issues of society itself, such as the inherent and insoluble antagonisms of state
capitalism“.108

Horkheimer und Adorno gehen jedoch nicht davon aus, dass ein Staatskapitalismus einfach
widerspruchsfrei, vielmehr geht es ihnen darum, die Möglichkeit zu erwägen, dass der
Staatskapitalismus die Sprengkraft seiner Widersprüche abzufedern. Dafür dient ihnen Pollocks
idealtypische Konstruktion, eines ökonomisch widerspruchsfreien Staatskapitalismus als
„Gedankenexperiment“.109 In Bezug auf die gesellschaftliche Wirklichkeit sei die Rede von
Widerspruchsfreiheit unangebracht. In diesem Sinne schreibt etwa Adorno an Horkheimer:

101
Horkheimer (1941): 198-199 (meine Hervorhebung).
102
HGS 17: 110.
103
HGS 17: 132.
104
HGS 17: 91.
105
HGS 17: 90.
106
Vgl. dazu auch Wiggershaus (1986): ???
107
HGS 17: 54.
108
Horkheimer an Neumann 02. Juni 1942 – nach Wiggershaus 290.
109
Vgl. Max Horkheimer (1942) in: Diskussion. Über die Möglichkeit, HGS 19: 27.
– 17 –
„[W]as sich perpetuiert, scheint mir nicht sowohl ein relativ stabiler und in gewissem Sinn sogar
rationaler Zustand als [auch] eine unablässige Folge von Katastrophen, Chaos und Grauen für
eine unabsehbar lange Periode und damit doch auch freilich wieder die Chance des Ausbruchs“.110

Damit konvergieren Horkheimer und Adorno auf den ersten Blick auch wieder mit der
Positionen Neumanns, der – wie bereits zitiert – „glaubt, dass die Widersprüche des
Kapitalismus in Deutschland auf einem höheren und deshalb gefährlicheren Niveau wirksam
sind“.111 Die Konvergenz einschränkend, muss man hier wohl allerdings hinzufügen, dass die
zwischen ihren Positionen ent- und unterscheidende Frage lautet, was mit „höherem und
deshalb gefährlicheren Niveau“ gemeint ist. Meint man damit – und die Ausführungen
Neumann legen das nahe –, dass es schlicht die gleichen Widersprüche sind, die sich im
Nationalsozialismus in gesteigert Form durchsetzen und aufgrund ihrer Steigerung auch
gefährlicher – insbesondere für den Fortbestand des Systems selbst – sind. Dann würden
Horkheimer und Adorno dem sicherlich nicht zustimmen, denn das wäre nichts anderes als
jener Optimismus, den sie gerade durch das Gedankenexperiment Pollocks ausräumen wollen.
Meint man jedoch mit dem höheren Niveau, dass die Widersprüche in einer verwandelten Form
fortexistieren und von ihnen insbesondere eine vernichtende Gefahr für all diejenigen ausgehet,
die nicht an gesellschaftlicher Herrschaft partizipieren, dann kommt man eventuell der im
letzten, eingerückten Zitat Adornos formulierten Position nahe. Mit Neumann sind sie dann
dennoch darin einig, dass der Nationalsozialismus nur an der Oberfläche als geeinte
Gesellschaft erscheint. Vor diesem Hintergrund muss es nicht verwundern, wenn Adorno
Jahrzehnte später in einer Vorlesung zur Einleitung in die Soziologie seinen Hörer:innen
Neumanns Behemoth als „die angemessenste gesellschaftlich-ökonomische Darstellung des
Faschismus“ empfiehlt und erläutert, dass Neumann zeige, wie durchzogen von rivalisierenden
Gruppen die nationalsozialistische Herrschaft und Gesellschaft sei.112 Der Zusammenhang von
deren Gegensätzen mit den alten Widersprüchen des Kapitalismus liegt aber nicht mehr
unmittelbar auf der Hand. Er muss erst dechiffriert werden.

2.3 Staatskapitalismus und Reflexionen zur Klassentheorie

Nachdem ich nun aufgezeigt, dass es sich um ein Missverständnis handelt, Horkheimers und
Adornos Position mit Pollocks Staatskapitalismus-Theorem zu identifizieren und geschildert
habe, dass das Staatskapitalismus-Theorem als ideologiekritisches Instrument gegen den

110
HGS 17: 96.
111
Neumann (1942): 136.
112
Adorno (1968): Zur Einleitung in die Soziologie, 79.
– 18 –
Optimismus orthodoxer Marxisten gebraucht wurde, zugleich aber der sich aus dem Theorem
ergebende, falsche Eindruck einer Einheitlichkeit des Staatskapitalismus problematisiert
worden ist, gehe ich nun darauf ein, inwiefern Horkheimer und Adorno im Kontext ihrer
eigenen Vorarbeiten für die Dialektik der Aufklärung an den Überlegungen Pollocks
weiterarbeiteten. Sie sind dabei vor allem – auch das kann vor dem Hintergrund des gesagten
nicht überraschen – am Begriff der Herrschaft im Staatskapitalismus interessiert.
Fragen, die diesbezüglich zu klären sind und um die auch die ökonomischen Teile der Dialektik
der Aufklärung zentriert sein sollten, formuliert Horkheimer in einem Brief an Pollock vom 27.
April 1942 – also kurz bevor er mit Adorno die Arbeit am finalen Text der Dialektik der
Aufklärung aufnahm. Horkheimer schreibt:

„[D]ie ökonomischen und gesellschaftlichen Probleme, die wir in unserem Buch behandeln
müssen, betreffen […] überwiegend das Klassenverhältnis. […] Welche strukturellen
Veränderungen haben sich während der letzten Jahrzehnte in den wohlhabenden Schichten, bei
den Arbeitern und bei den Erwerbslosen vollzogen? Kann man noch sinnvoll vom ›Proletariat‹
sprechen, wie es in den klassischen Theorien eine Rolle spielte?“113

Darüber hinaus kündigt Horkheimer im selben Brief an, Pollock ein Memorandum zukommen
zulassen, in dem neben diesen noch weitere Fragen formuliert sind, zu denen Pollock und
andere Mitarbeiter des Institutes Untersuchungen betreiben und Materialien bereitstellen
sollten.114 In diesem Memorandum, das den sprechenden Titel Memorandum über die Teile des
Los Angeles Arbeitsprogramms, die von den Philosophen nicht durchgeführt werden können
trägt, sind dann unteranderem die folgenden Fragen aufgeführt:

„Was ist aus dem Proletariat in der monopolistisch-faschistischen Phase geworden? Lässt es sich
heut noch im Sinne des Kapitals definieren? Welche Einwirkung hat die Monopolisierung auf die
Differenzierung innerhalb des Proletariats ausgeübt? Inwiefern bedeuten Veränderungen der
Differenzierung Veränderungen im Klassenbewusstsein sowie in der Struktur und Rolle der
Partei? Was ist aus der Kapitalistenklasse geworden? Inwiefern ist heute die Kapitalistenklasse
national und international geeinigt? […] Welche Veränderungen hat das kapitalistische
Klassenbewusstsein durchgemacht, und wie stehen die Kapitalisten zu den herrschenden
Ideologien z.B. Individualismus und Kollektivismus? […] Führt die technische Differenzierung
zu einer größeren Angleichung oder Divergenz der verschiedenen Arbeiten? […] Wie ist die
Stellung wichtiger Gewerkschaftsführer zur marxistischen und nichtmarxistischen Theorie? […]
Gibt es irgendwelche ernstzunehmende Weiterbildung der Marxischen Ökonomik?“115

113
Horkheimer an Pollock am 21. April 1942 (HGS 17: 285) (im Original Englisch, übersetzt von den
Herausgebern).
114
Die Herausgeber des Briefwechsels verwechseln das von Horkheimer angekündigte Memorandum
mit dessen Text Sociology of Class Relations (vgl. HGS 17: 285 Anm. 1). Gemeint ist vermutlich das
bislang unveröffentlichte Memorandum über die Teile des Los Angeles Arbeitsprogramms, die von den
Philosophen nicht durchgeführt werden können (vgl. MHA VI.33 1r-4). Dazu auch Dirk Braunstein
(2011): Adornos Kritik der politischen Ökonomie, 160ff.
115
MHA: VI.33 1r-4.
– 19 –
Diese Fragen unterstreichen noch einmal, dass die Tragweite der sozioökonomischen
Transformationen, welche sich in den ersten 40 Jahren des 20. Jahrhunderts ereigneten und die
Pollock im Begriff des Staatskapitalismus zu fassen versucht, für die zwei – bzw. zu diesem
Zeitpunkt geplanter maßen noch vier Autoren – der Dialektik der Aufklärung insbesondere in
ihren klassentheoretischen Auswirkungen noch nicht abschließend beurteilt waren. Der
Zusammenhang zwischen den im Memorandum gestellten Fragen und den von Horkheimer und
Adorno in den folgenden Jahren geschriebenen, für die Dialektik der Aufklärung bestimmten
Texten – zuvorderst Reflexionen zur Klassentheorie und Sociology of Class Relations – liegt
auf der Hand. Aber in welchem Verhältnis stehen diese Texte einerseits zum Theorem des
Staatskapitalismus und andererseits zum Rest der Dialektik der Aufklärung?

{…}

3. Staatskapitalismus und Dialektik der Aufklärung: Häretischer Marxismus?

Vor dem Hintergrund des Gesagten ist abschließend zur Ausgangsfrage zurückzukehren. In
welchem Verhältnis steht die in der Dialektik der Aufklärung formulierte Position zur
marxistischen Orthodoxie? Ist die Dialektik der Aufklärung ein ketzerisches Buch?

{…}

– 20 –
Literatur {Unvollständig!}

AGS – Theodor W Adorno: Gesammelte Schriften (Hg. v. Rolf Tiedemann), Frankfurt/Main [1970ff.]:
Suhrkamp.
- Bd. 8 Soziologische Schriften I.
HGS – Max Horkheimer: Gesammelte Schriften (Hg. v. Alfred Schmidt u. Gunzelin Schmid Noerr),
Frankfurt/Main [1985 ff.]: Fischer.
- Bd. 5 ›Dialektik der Aufklärung‹ und Schriften 1940-1950.
- Bd. 12 Nachgelassene Schriften 1931-1949.
- Bd. 17 Briefwechsel 1941-1948.
MHA – ›Nachlass Max Horkheimer‹ im Archivzentrum der Universitätsbibliothek Frankfurt/Main.

Albrecht, Clemens (2004): Die Dialektik des Scheiterns. Aufklärung mit Horkheimer und Adorno, in
Zeithistorische Forschung (2004) Heft 2, S. 318-323.
Braunstein, Dirk (2011): Adornos Kritik der politischen Ökonomie, Bielefeld: Transcript Verlag.
Demirovic, Alex (1999): Der nonkonformistische Intellektuelle. Zur Entwicklung der Kritischen Theorie zur
Frankfurter Schule, Frankfurt/Main: Suhrkamp.
Dubiel, Helmut (1975): Einleitung des Herausgebers, in ders. (Hg.) Friedrich Pollock: Stadien des
Kapitalismus, München: C.H. Beck (pp. 7-19).
Dubiel, Helmut (1978): Wissenschaftsorganisation und politische Erfahrung. Studien zur Kritischen Theorie,
Frankfurt/Main: Suhrkamp.
Dubeil, Helmut/Söllner, Alfons (1984): Die Nationalsozialismusforschung des Instituts für Sozialforschung –
ihre wissenschaftsgeschichtliche Stellung und ihre gegenwärtige Bedeutung, in dies. (Hg.): Wirtschaft, Recht
und Staat im Nationalsozialismus. Analysen des Instituts für Sozialforschung 1939-1942,
Frankfurter/Main: Suhrkamp (S. 7-32).
Gangl, Manfred (1987): Politische Ökonomie und Kritische Theorie: Ein Beitrag zur theoretischen
Entwicklung der Frankfurter Schule, Frankfurt/Main: Campus.
Habermas, Jürgen (1985): Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt/Main:
Suhrkamp.
Honneth, Axel [1983]: Kritik der Macht, Frankfurt/Main (1989): Suhrkamp.
Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W. [1944/1947/1969]: Dialektik der Aufklärung, in HGS 5.
Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W. [1946]: Rettung der Aufklärung. Diskussion über eine geplante
Schrift zur Dialektik, in HGS 12: 593-605.
Horkheimer, Max et al. [1942]: [Diskussionen aus einem Seminar über die Theorie der Bedürfnisse], in HGS
12: 559-586 und HGS 19: 12-27.
Jay, Martin (1973): Dialektische Phantasie. Die Geschichte der Frankfurter Schule und des Instituts für
Sozialforschung 1923-1950, Frankfurt/Main (1976): Suhrkamp.
Neumann, Franz [1942]: Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus, in Auszügen
veröffentlicht in Helmut Dubiel/Alfons Söllner (Hg.): Wirtschaft, Recht und Staat im
Nationalsozialismus. Analysen des Instituts für Sozialforschung 1939-1942, Frankfurter/Main (1984):
Suhrkamp (S. 129-233).
Pollock, Friedrich [1941a]: Staatskapitalismus, in Helmut Dubiel/Alfons Söllner (Hg.): Wirtschaft, Recht
und Staat im Nationalsozialismus. Analysen des Instituts für Sozialforschung 1939-1942,
Frankfurter/Main: Suhrkamp (S. 81-110).
Pollock, Friedrich [1941b]:
Schmid Noerr, Gunzelin (1987): Die Stellung der ›Dialektik der Aufklärung‹ in der Entwicklung der
Kritischen Theorie. Bemerkungen zu Autorschaft, Entstehung einigen theoretischen Implikationen und
späterer Einschätzung durch die Autoren, in HGS 5: 423-452.
van Reijen, Willem/Bransen, Jan (1987): Das Verschwinden der Klassengeschichte in der ›Dialektik der
Aufklärung‹. Ein Kommentar zu den Textvarianten der Buchausgabe von 1947 gegenüber der
Erstveröffentlichung von 1944, in HSG 5: 453-457.
Wiggershaus, Rolf (1986): Frankfurter Schule. Geschichte, Theoretische Entwicklung, Politische Bedeutung,
München: Carl Hanser.

– 21 –

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