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suchen, welche „dramaturgischen Funktionen“ oder wodurch Gewalt denn nun im Drama legiti-
und „Rezeptionsfunktionen“ Gewalt im Theater er- miert sei. Bloch kehrt aber in der Zusammenfas-
füllt (47). Angesichts eines Ethik-Booms mit der sung hervor, dass in Theatertexten der Jahrtau-
Institutionalisierung von Ethikkommissionen und sendwende „der Blick auf die Legitimierungen von
-räten und des ‚moral turn‘ in den Literaturwissen- Gewalttaten“ in der Gesellschaft gelenkt werde
schaften scheinen mir ihre pauschalen Thesen zum (333). Sie knüpft an die bereits in der Einleitung
Wertverlust und der Kraftlosigkeit normativer Dis- geschilderte „Tendenz zur Versprachlichung der
kurse phänomenologisch zumindest strittig. Gewalt“ (14) an: An die Stelle konkreter Gewalt-
Im Rahmen des ersten Teils Grundlagen (13–82) handlungen auf der Bühne tritt das Sprechen über
werden ganz elementar und größtenteils ohne di- Gewalt (vgl. Kap. 1). Durch diese Vermeidung der
rekten Bezug zum Drama die Themen Gewalt und Unmittelbarkeit sinnlicher Gewalterfahrung wird
Gewaltformen (Kap. 3) und das Verhältnis von Distanz geschaffen und zu einer reflektierten Re-
Sprache und Gewalt (Kap. 4) erörtert. Darauf fol- zeption angeleitet (vgl. 333). Obwohl Bloch selbst
gen die mit Analyse überschriebenen Teile II und an dieser Stelle die Brücke zu den Legitimations-
III zu Neil LaBute: Bash-Stücke der letzten Tage fragen in Kapitel 2.1 nicht schlägt, ist die Gewalt-
(85–206) und Elfriede Jelinek: Babel (209–329). darstellung bzw. -thematisierung in diesen Fällen
Analyse III zu Jelinek, deren Theaterästhetik als kaum ein Selbstzweck und dient keineswegs dem
„Theater der Grausamkeit“ (209) gilt, widmet sich reinen Lustgewinn und der Unterhaltung oder gar
der Textorganisation (Kap. III, 2), den Redeper- als Modell zur Nachahmung. Sie kann also auch
spektiven und Täter-Opfer-Perspektiven (3–5), der nicht aus diesen Gründen als moralisch bedenklich
medialen Gewalt (6), der mythologischen Gewalt eingestuft werden. Mit Blick auf die Gesamtaus-
(7) und abschließend einigen theoretischen Ansät- sage der zwei von Bloch analysierten Theaterstü-
zen (8). In Jelineks Babel wird Gewalt nicht sinn- cke erfüllen die Gewaltthematisierungen aus mei-
lich anschaulich gemacht, sondern sprachlich the- ner Sicht sogar eine genuin „moralische“ Funktion:
matisiert und reflektiert (vgl. 210): Mit Verfahren Sie wenden sich dagegen, dass in unserer kapitalis-
zur Verfremdung wie Satire und Groteske wird die tischen Mediengesellschaft ohne Solidarität und
Art des Sprechens über Gewalt v. a. in der Kriegs- Mitgefühl körperliche Gewalt nicht mehr als zu
berichterstattung der Medien kritisiert. Von Folter rechtfertigende Gewalt wahrgenommen, sondern
und Moral im Irakkrieg wird ohne Mitgefühl für die als Unterhaltung konsumiert wird (vgl. 334). Da
Opfer und ohne moralische Bewertung in sachli- die Texte nicht nur feststellen, dass Moral und Mit-
chem Ton berichtet, wobei man primär auf Unter- menschlichkeit in der entsolidarisierten Spaß- und
haltung abzielt (vgl. 273 ff.). Auch die zahlreichen Konsumgesellschaft verloren gegangen sind (vgl.
mythologischen Bezüge im Stück legitimieren die 338), sondern die Rezipienten zu einer (selbst)kriti-
Gewalt nicht, weil die Mythen mit ihrer angeb- schen Stellungnahme zu dieser gesellschaftlichen
lichen Sinnstiftungsfunktion vielmehr selbst als Entwicklung aufrufen, ist meines Erachtens die
gewaltvolle Vorgänge entlarvt werden (vgl. Thematisierung der Gewalt in diesem Kontext mo-
295 ff.). ralisch legitimiert.
In der Schlussbetrachtung IV (333–338) erhält Dagmar Fenner (Basel)
der Leser zwar keine direkte Antwort darauf, wie DagmarFenner@unibas.ch

Eugen Fink, Epilegomena zu Immanuel Kants „Kritik der reinen Vernunft“. Ein phänomenologischer
Kommentar (1962–1971), hg. v. Guy van Kerckhoven, (= Eugen Fink Gesamtausgabe, Abt. III,
Bd. 13.1–3), Freiburg/München: Alber 2011, 2050 S., ISBN 978-3-495-46302-4.1

2011 ist im Zusammenhang der Gesamtausgabe gebers, Guy van Kerckhoven, ragt der Band 13
der Werke Eugen Finks, die seit 2006 von Stephan „wie eine mächtige Festung“ aus der dritten Abtei-
Grätzel, Cathrin Nielsen und Hans Rainer Sepp un- lung von Finks Gesamtausgabe heraus, welche die
ter Mitwirkung von Annette Hilt und Franz-Anton Texte und Studien von Fink enthält, die der phi-
Schwarz beim Verlag Karl Alber herausgegeben losophischen Ideengeschichte gewidmet sind und
wird, unter dem Titel Epilegomena zu Immanuel thematisch von den Grundfragen der antiken Phi-
Kants „Kritik der reinen Vernunft“ der Band 13 er- losophie (einer Vorlesung des Wintersemesters
schienen. 1947/48) bis zu Nietzsches Philosophie (1960) rei-
Nach einer passenden Metapher des Heraus- chen. Die Großartigkeit dieser „Festung“ erweist

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sich bereits unter einem rein quantitativen Aspekt: der Transzendentalen Dialektik nähert. Finks Semi-
In drei Teilbände aufgegliedert umfasst der Band nar bleibt bis zum Schluss auf diesem Niveau der
insgesamt über zweitausend Seiten. Erläuterung der Kritik, wobei das Zentrum seiner
Der Text der Epilegomena erscheint einzigartig Herangehensweise das zweite Hauptstück der
jedoch nicht allein seines Umfanges wegen (ohne Transzendentalen Dialektik („Die Antinomie der
Zweifel lässt er sich den größten und bedeutends- reinen Vernunft“) bildet, das für Fink den systema-
ten Kommentaren der Kritik der reinen Vernunft an tischen Kern der ganzen Kritik darstellt. Im Jahre
die Seite stellen, insbesondere dem Kommentar 1971 zog er sich aus gesundheitlichen Gründen
von Heinz Heimsoeth über die Transzendentale von der philosophischen Lehrtätigkeit zurück.
Dialektik, der von Fink selbst erwähnt wird), son- Damit hängt zusammen, dass wir nur über die Dis-
dern auch, weil er unmittelbar der Lehrpraxis und positionen Finks zum XV. Seminar im Winter-
Stimme eines Philosophen entstammt, der Schüler semester 1970/71 verfügen, das die kritische Auf-
und Mitarbeiter von Husserl und gleichzeitig ein lösung der kosmologischen Dialektik behandeln
Gesprächspartner Heideggers war. Die Epilegome- und so die Erörterung der Antinomie der reinen
na wendeten sich an Zuhörer, die eher Studierende Vernunft fortführen sollte. Diese letzte Disposition
als Forscher waren, und lassen es doch in der Deu- und die vorigen handschriftlichen Seminarvor-
tung von Kants Werk in nichts an der erforderli- bereitungen Finks wurden von Guy van Kerck-
chen Strenge und kritischen Präzision missen. hoven transkribiert und sind am Ende des Bandes
Der Erfolg dieser Ausgabe ist sowohl der sach- 13.3 abgedruckt (Epileg., 1805–2021).
verständigen Leistung des Herausgebers als Ver- Fink war sich von Anfang an darüber im Klaren,
dienst anzurechnen als auch der Arbeit von Fried- dass die Ausführung seines Plans, ein Seminar zur
rich-Wilhelm von Herrmann, der von 1961 bis ganzen Kritik der reinen Vernunft abzuhalten, „ei-
1970 wissenschaftlicher Assistent Eugen Finks an ne Reihe von Semestern“ benötigen würde (so in
der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg war und der Seminarvorbereitung des Wintersemesters
das vierzehn Semester umfassende Seminar zur 1962/63: Epileg., 1810; vgl. jedoch auch die spätere
ersten Kritik von Kant protokollierte. Der Titel der Notiz: „Auch zwanzig Semester würden nicht ge-
Ausgabe: Epilegomena zu Kants „Kritik der reinen nügen, um die gedankliche Substanz der Kritik der
Vernunft“ – der die Bedeutung sowohl von Ergän- reinen Vernunft zu vergegenwärtigen“, Epileg.,
zungen als auch von nachdenklichen Betrachtun- 723). Die konkrete Ausführung und Gliederung
gen über Kants Werk impliziert – geht auf eine No- des Kant-Seminars in verschiedene Semester zogen
tiz von Fink selbst zurück. aber keine Unterbrechung des roten Fadens der Be-
Die Epilegomena bestehen in der Mitschrift eines handlung nach sich: Jede Übung – so betont Fink –
groß angelegten Kant-Seminars, das Fink kontinu- „setzt die des vorhergehenden Semesters fort, je-
ierlich vom Wintersemester 1962/63 bis zum Win- doch nicht voraus“ (Epileg., 133), da sie jedes Mal
tersemester 1969/70 (mit einer einzigen Unterbre- mit einer zusammenfassenden Wiederholung der
chung im Sommersemester 1969) in der Bibliothek vollzogenen Schritte auf dem Niveau des letzten
des Seminars für Philosophie und Erziehungswis- behandelten Problems beginnt. Dieses Verfahren
senschaften der Universität Freiburg abhielt. (In trug dazu bei, dem ganzen Seminar einen einheit-
seinem Vorwort erinnert sich Fr.-W. v. Herrmann lichen Charakter zu verleihen.
mit großer Genauigkeit an die Umstände, unter de- In den letzten Jahren seines Lebens hatte Fink
nen sich dieses Seminar im letzten Jahrzehnt der die Veröffentlichung seines Kant-Seminars ins Au-
Lehrtätigkeit von Fink entwickelte, vgl. „Vorwort“, ge gefasst und Kontakte mit dem Verlag Kloster-
13–19.) Über vierzehn Lehrveranstaltungen hat mann geknüpft, um die unter Studierenden und
Fink demnach der Aufgabe einer phänomenologi- Forschern sehr verbreitete Erwartung einer He-
schen Interpretation der ganzen Kritik der reinen rausgabe dieses Werks zu erfüllen. Auch Hermann
Vernunft gewidmet, im Zuge derer er die verschie- Leo van Breda, der Gründer und Leiter des Husserl-
denen Abteilungen des kantischen Textes, von der Archivs in Leuven, hatte sich in seiner „Laudatio
Transzendentalen Ästhetik bis zur Erörterung der für Ludwig Landgrebe und Eugen Fink“ (gehalten
vier kosmologischen Antinomien in der Transzen- am 2. April 1971 an der Katholieke Universiteit te
dentalen Dialektik, schrittweise erläutert. Wie Guy Leuven) gewünscht, dass „in absehbarer Zeit […]
van Kerckhoven in seinem Nachwort bemerkt, sah der monumental ausgebaute Kommentar zu Kants
Finks Deutung „keine Zäsur, kein[en] Zwischenruf“ Kritik der reinen Vernunft“, den „der Phänomeno-
(„Nachwort“, 2023) vor; dagegen wird sie tief ge- loge und Metaphysiker Eugen Fink“ („de[r] größte
hender und ausführlicher, je mehr sie fortschreitet deutsche Metaphysiker der Generation nach Martin
und sich dem Thema der kosmologischen Ideen in Heidegger“) „für seine Freiburger Seminare aus-

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gearbeitet hat“, erscheinen könnte.2 Nach Finks Um darauf zu antworten, ist eine allgemeine Be-
Tod (1975) wurde das in vierzehn maschinen- trachtung erforderlich: Finks Abwendung von der
geschriebenen Bänden geordnete Material der Se- transzendentalen Phänomenologie Husserls und
minar-Protokolle im „Eugen-Fink-Archiv“ in Frei- seine Abkehr von der Leistung einer „gigantische[n]
burg aufbewahrt; es gelang erst im Jahre 2002, Vivisektion des Bewußtseins“6 hinderten ihn, auch
während einer internationalen Tagung in Gar- nachdem er einen selbstständigen Denkansatz ge-
gnano del Garda (Italien), zu der auch Guy van genüber der in den 1930er Jahren mit Husserl ge-
Kerckhoven und Friedrich-Wilhelm von Herrmann teilten Perspektive erreicht hatte, niemals daran,
beitrugen3, wieder in den Mittelpunkt einer öffent- von den Mitteln der intentionalen Analyse Ge-
lichen Debatte. brauch zu machen. Das wird eben durch dieses Se-
Guy van Kerckhoven, Schüler von Leo van Bre- minar über die Kantische Kritik der Vernunft mani-
da, war viele Jahre im Husserl-Archiv in Leuven fest: In seiner Auslegung des Textes bedient sich
beschäftigt; er hat u. a. die Texte Finks aus den Jah- Fink mehrmals phänomenologischer Exemplifika-
ren 1930–1932, die zum Plan einer Umarbeitung tionen und Analysen; er stützt sich auf eine beinahe
der Cartesianischen Meditationen Husserls und der unendliche Fülle von phänomenologischen Auf-
Verfassung einer neuen Sechsten Meditation ge- weisungen und Beschreibungen, um doch stets die
hörten, in den „Husserliana Dokumenten“ heraus- Kantischen Probleme und Lösungen zu „variieren“.
gegeben. Er hat dem Denken Finks darüber hinaus So macht Fink schon zu Beginn des Seminars gegen
zahlreiche Aufsätze gewidmet und ein eingehendes den Autor der Vernunftkritik geltend, er habe „den
Buch über die Bedeutung und den „Einsatz“ der Versuch einer phänomenologischen Aufweisung“
Idee einer letzten Meditation in der Phänomenolo- der behaupteten „apriorischen Strukturen“ nicht
gie zur Zeit der Mitarbeit von Fink bei Husserl pu- gemacht (Epileg., 31); Kant – so Fink – habe „die
bliziert.4 Aufgrund seiner Neigung, die phänome- Differenz zwischen dem Anschauungsakt, also
nologischen Ursprünge von Finks Denken zu dem Anschauen, und dem eigentlich Angeschau-
sondieren, konnte v. Kerckhoven in seinem Nach- ten, d. h. zwischen dem intentionalen Vollzug und
wort die theoretischen Motivationen, die dem dem intentionalen Gegenstand“ übersehen (Epileg.,
Kant-Seminar zugrunde liegen, präzise rekonstru- 37). Auf einem noch elementareren Niveau habe
ieren, sowie die „Umwege“ nachzeichnen, durch Kant das Mannigfaltige der Empfindung als Materie
die Fink, der bereits in früheren Vorlesungen wie- des Gegenstandes in der Erscheinung bloß voraus-
derholt eine philosophische Erörterung über Kant gesetzt, und sei von diesem Mannigfaltigen unmit-
als den „eigentliche[n] Entdecker des Weltpro- telbar zu den apriorischen Anschauungsformen, in
blems“5 entwickelt hatte, in den sechziger Jahren denen die sinnlichen Daten geordnet werden, über-
zuletzt zu dem Plan einer phänomenologischen In- gegangen, ohne die reichen Differenzierungen und
terpretation der ganzen Kritik der reinen Vernunft Verwicklungen innerhalb der Empfindungsfelder
kam. zu beschreiben (vgl. Epileg., 42).
Wir wissen, dass „ein Riß“ im philosophischen Auf ähnliche Weise nimmt Fink in seiner Aus-
Lebenslauf von Fink „die in der ‚phänomenologi- legung der Kantischen Erörterung der rationalen
sche[n] Werkstatt‘ Husserls verbrachten Jahre […] Seelenlehre eine durch und durch phänomenologi-
von der Nachkriegszeit“ abschneidet („Nachwort“, sche Dimension von egologischen Problemen wie-
2024). Man kann daher fragen, warum sich Fink – der auf, um die Gedankengänge zu prüfen, mit de-
nachdem er seit Langem (mindestens seit der An- nen Kant die Unmöglichkeit einer Objektivierung
trittsvorlesung aus dem Jahre 1946) von der Phäno- des „Ich-denke“ als funktionaler Voraussetzung
menologie des reinen Bewusstseins Abschied ge- für alle Gegenstände beweisen möchte. Fink hebt
nommen hatte – in den sechziger Jahren wieder die begriffliche Zweideutigkeit hervor, infolge de-
dazu entschloss, sein Seminar über die Kritik der ren z. B. das „Ich-denke“ in der Argumentation
reinen Vernunft als eine phänomenologische Inter- Kants einmal als unmittelbare Vollzugsaussage,
pretation derselben, und zwar als eine „kritisch- einmal als Reflexionsaussage über eine Handlung
phänomenologische Interpretation der Kantischen des Denkens gilt – somit einmal als ein individuel-
Probleme“ darzustellen (wie es in der Vorbemer- les und faktisches Ich, und einmal als die allgemei-
kung zum Plan einer Edition der Epilegomena heißt, ne Struktur der Zentrierung aller Vorstellungen in
Epileg., 21). Mit anderen Worten: Warum will Fink einem Ichpol (vgl. Epileg., 1439 f.). Die Kantische
Kants Kritik einer „durchgehenden phänomenolo- Exposition des transzendentalen Paralogismus, als
gischen Auslegung“ (Epileg., 1003) unterziehen? Übergang vom Ich-denke auf ein denkendes See-
Welches ist der Sinn dieses wiederkehrenden Hin- lending, gibt Fink Anlass, die phänomenologische
weises im Kant-Seminar auf die Phänomenologie? Frage nach der Differenz und Einheit zwischen

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dem reflektierenden und dem reflexiv erfassten Ich Aber darüber hinaus gilt es hier, die Bedeutung
näher zu bestimmen – so wie dieser Unterschied zu klären, die Fink einer phänomenologischen In-
auf den verschiedenen Stufen der Reflexion selbst terpretation eines Textes bzw. einer Philosophie
iteriert werden kann. In den schillernden Zweideu- grundsätzlich zuschrieb. Wie bekannt, wurde der
tigkeiten von Kants Fragestellung nach dem Ich- Ausdruck „phänomenologische Interpretation“
Problem entdeckt Fink das, was „ein Desiderat der von dem jungen Martin Heidegger geprägt, der in
ganzen Kritik der reinen Vernunft“ bleibt: eine Re- seinen Vorlesungen der 1920er Jahre (und spora-
flexion über die Bedingungen der Möglichkeit der disch auch später) diesen Ausdruck systematisch
Kritik selbst. Nach Fink wird „die reflexive Selbst- verwendete, um eine radikale Weise der Annähe-
erfassung, in welcher die Kritik der reinen Vernunft rung an die Philosophien entscheidender Denker
geschieht, in der sie ihre transzendentale Selbst- der Geschichte der Metaphysik, zunächst Aristote-
analyse vollzieht, […] ihrerseits nicht mehr in les und Kant, zu bezeichnen. Abgesehen von den
ihrem Anschauungs- und Gegebenheitscharakter inneren hermeneutischen Implikationen seines
enthüllt“, und „die Struktur der Selbsterkenntnis Denkens können wir sagen, dass nach Heidegger
der Vernunft, jene Struktur der Vernunft, die ihr eine phänomenologische Interpretation darin be-
eigenes Denken und das zugehörige Anschauungs- steht, in der Auslegung des Denkens und des Textes
vermögen untersucht, bleibt im Dunklen“ (Epileg., eines bestimmten Philosophen das Prinzip geltend
1449). Wie eine bloße Andeutung kehrt im Kant- zu machen, sich nach „den Sachen selbst“ zu rich-
Seminar der sechziger Jahre Finks ursprüngliches ten. Die „Sachen“ sind nach ihm sowohl die we-
phänomenologisches Motiv wieder: das Motiv sentlichen Phänomene als auch die Probleme, auf
einer letzten Reflexion, einer „Reflexion der Refle- die sich die Auslegung jeweils bezieht. Auch Fink
xion“, die dreißig Jahre zuvor in dem Entwurf einer bringt den Gedanken zum Ausdruck, dass sich eine
VI. Cartesianischen Meditation als „Idee einer philosophische Interpretation von der inneren Be-
transzendentalen Methodenlehre“ eine große Rolle wegung der Frage, aus der sie hervorgeht, leiten
gespielt hatte. lassen soll. Das heißt, sie verfährt im Gegensatz zu
Dazu muss man hinzufügen, dass das ganze einer Herangehensweise, die sich lediglich „doxo-
Kant-Seminar Finks voll ist von phänomenologi- graphisch“ auf einen Autor oder Text einstellt und
schen Einblicken bzw. Betrachtungen; darüber hi- den letzteren zu einer „‚schwarz auf weiß‘ vorhan-
naus enthält es originelle „phänomenologische Er- dene[n] Lehre“ erstarren lässt – zu einem „entseel-
findungen“, die den eigentümlicheren Feldern der te[n] Leichnam“, aus dem der „Geist“ (das „Pro-
Finkschen Forschung zugehören. In den phänome- blem“) entflohen ist.7
nologischen Veränderungen bzw. „Variationen“, Mehrmals unterstreicht Fink (üblicherweise zu
die Fink in seiner Auslegung des Kantischen Textes Beginn der verschiedenen Lehrveranstaltungen
einführt, treten die typischen Motive einer Phäno- seines Kant-Seminars), dass er kein „immanentes
menologie hervor, die der Erfahrung der Gegen- Textverständnis“ (Epileg., 1984), keine „Hermeneu-
stände die Feld- und Horizontstrukturen, die ding- tik eines der großen Werke der philosophischen Li-
lichen „Umstände“ und die „unerscheinenden“ teratur“, keine „philosophiegeschichtliche Exege-
Phänomene voranstellt; es treten nämlich diejeni- se“ anvisiert, sondern dass er beabsichtigt, „die
gen Phänomene in den Vordergrund, die den „Rän- Kritik der reinen Vernunft im Denkblick auf die in
dern“ der phänomenologischen Erfahrung, den ihr enthaltenen Phänomene und Probleme zu lesen
Grenzzonen zwischen Gegebenheit und Ungege- und die Sache zu fassen, die Kant vor Augen steht“
benheit, zwischen Nähe und Distanz zugehören. (Epileg., 603; vgl. 724). Fink geht es also darum,
Solche Betrachtungen zielen darauf ab, Kants „im Nachdenken der Kantischen Gedankengänge
Theorie von Raum und Zeit – den „kosmologischen eine phänomenologisch-spekulative Denkweise zu
Subjektivismus“ der Kritik – zu überwinden, und probieren“ (Epileg., 1421). Fragen wir ein weiteres
die Alternative von „Subjektivem“ und „Objekti- Mal, warum Fink in seinem Seminar der sechziger
vem“, so wie jeden anderen binnenweltlichen Ge- Jahre gerade in Bezug auf eine Interpretation Kants
gensatz, auf seinen Ursprung im Zeit-Raum der von einer „spekulativen Phänomenologie“ spricht.
Welt, als Boden jedes Erscheinens, zurückzuführen. Wir wissen, dass Fink in der Zeit seiner Fassung
In seiner Lesart der Kritik bedient sich Fink einer einer VI. Cartesianischen Meditation vorhatte, der
„operativen“, d. h. zumeist impliziten Phänomeno- Phänomenologie das spekulative Denken zu eröff-
logie, die ihren Ursprung in seinen phänomenolo- nen. Eine Erweiterung der konstitutiven Forschung
gischen Anfängen in der „Werkstatt“ Husserls hat, der Phänomenologie verlangte nach ihm die An-
und die er in seinem kosmologischen Denken er- wendung einer „konstruktiven“ Methode, die im-
neut ins Spiel bringt. stande sei, nach „prinzipiell un-gegebenen Ganz-

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heitsstrukturen“ und nach dem „Grundproblem des Unangemessenheit der Projektion binnenwelt-
Verhältnisses des ‚Gegebenen‘ zum ‚Ungegebenen‘“ licher Bestimmungen der Erkenntnis des Seienden
zu fragen8. Aber noch mehr: der ganze Entwurf auf die Welt –, als in dem „kosmologischen Subjek-
einer „Phänomenologie der Phänomenologie“, der tivismus“, in den die kritische Lösung des Konflikts
als Entwurf einer Selbstbesinnung der Phänome- der Antinomien mündet. Kants Kritik bildet den
nologie im Mittelpunkt der VI. Meditation stand, höchsten Gipfel der philosophischen Frage nach
wurde durch eine Reihe von Struktur-Analogien der Welt in der Tradition der Metaphysik und daher
der Phänomenologie zur „architektonischen“ Glie- den Ort des Übergangs zu einer „kosmologische[n]
derung der Kritik Kants, und zunächst zur Unter- Überholung und Überprüfung der metaphysischen
scheidung zwischen einer Transzendentalen Ele- Grundbegriffe“11.
mentarlehre und einer Transzendentalen All das kann wesentlich einer Reihe von Vor-
Methodenlehre, aufgebaut. Insbesondere entwarf lesungen Finks aus der Nachkriegszeit entnommen
Fink, neben einer phänomenologisch-transzen- werden – von der Einleitung in die Philosophie
dentalen Ästhetik und Analytik als „regressiver (1946) an, über Vom Wesen der menschlichen Frei-
Phänomenologie“, eine transzendentale Dialektik heit (1947) und Welt und Endlichkeit (1949), bis
als „konstruktive Phänomenologie“, die „die trans- Alles und Nichts (1958, veröffentlicht 1959). Das
zendentalen Fragen nach ‚Anfang‘ und ‚Ende‘ der Ziel des Seminars der 1960er Jahre war es, die „In-
egologischen sowie der intersubjektiven Weltkon- terpretationsthese“ zu überprüfen, die bis dahin
stitution“ stellt.9 nur als „Hypothese fungierte“ (Epileg., 2005). Diese
Finks Interesse für Kants Kritik hat daher tiefe Prüfung erforderte eine vollständige und systema-
Wurzeln und Motivationen in seinen früheren tische Lesung der Kritik der reinen Vernunft, und
Überlegungen; es stammt aus der Idee selbst einer zwar über den Weg „von unten“, den Weg durch
spekulativen („konstruktiven“) Phänomenologie, die Ästhetik und die Analytik der Begriffe, statt in
die sich hauptsächlich auf das Problem eines „Un- den Mittelpunkt der transzendentalen Dialektik di-
gegebenen“ richtet, das paradox „das immer gege- rekt einzudringen. Daraus entsteht freilich der Ein-
bene Ungegebene“ (so Fink in einer Skizze von et- druck einer gewissen Unvollständigkeit des Kant-
wa 1934) ist, und zwar auf das Problem der Welt, Seminars: Nicht nur, weil das letzte Ziel dieses
das ursprünglicher ist als das Problem des Verhält- Versuchs – „mit Kant und durch ihn hindurch zum
nisses von Subjekt und Objekt, an das die intentio- Weltproblem durchzustoßen“ (Epileg., 1677) – auf-
nale Analyse von Husserls Phänomenologie ge- grund der Unterbrechung des Seminars eben zur
bunden war. Fink stößt auf Kants Denken mehr Hälfte der Behandlung der Antinomie der reinen
aus der Perspektive einer kosmologischen Revolu- Vernunft nicht völlig erreicht wird, sondern haupt-
tion in der Frage nach dem Sein des Seienden, als sächlich deshalb, weil die Neigung Finks zu einer
aus der Perspektive einer ursprünglich reflektieren- phänomenologischen Analyse der einzelnen The-
den Fragestellung (wie Husserl) oder selbst einer men von Kants Kritik den gesamten Plan und das
ontologischen Wendung des Problems der Meta- Erfordernis einer interpretativen Synthese über-
physik (wie Heidegger). wiegt.
Kant hat gezeigt, so Fink, dass jedes Seiende, so- In ihrem Vorgang ist die phänomenologische In-
fern es Erscheinung ist, zum Horizont der Welt, als terpretation, die Fink in seinem Kant-Seminar ent-
Raum-Zeit des Erscheinens, gehört. Jenseits der ra- wickelt, ein Versuch, die verborgenen Vorausset-
dikalen Subjektivierung, infolge deren Raum und zungen, die intellektuellen Schemata und die
Zeit Formen der Anschauung des Subjekts sind Begriffsmedien zum Ausdruck zu bringen, die in
und die Welt zur Idee der Vernunft wird, besteht der Kritik operativ wirken, ohne thematisch zu
der tiefe Sinn der kopernikanischen Wendung werden, d. h. ohne zu einer gegenständlichen Fi-
Kants in einer Wendung vom Binnenweltlichen xierung zu kommen. Im Zusammenhang mit seiner
überhaupt zur Welt. Es handelt sich darum, die Idee einer phänomenologischen Begriffsbildung,
Transzendentale Dialektik der Kritik der reinen die zwischen „thematischen“ und „operativen Be-
Vernunft erneut zu lesen, um darin die Grund- griffen“ unterscheidet12, will Fink die „medialen“
erwerbung Kants zu entdecken: die Erwerbung der Begriffe und Denkbahnen ausdrücklich machen,
kosmologischen Differenz, infolge deren „die Welt die von Kant verwendet werden, die aber implizit
kein Seiendes, kein Ding ist“10. Die unvergängliche bleiben und den „Schatten“ seiner Philosophie bil-
Bedeutung der Forschung Kants besteht nach Fink den. Nach dieser eigentümlichen Weise Finks, die
eher in der „negativen“ Behandlung des Weltpro- phänomenologische Methode zu einer Analyse
blems, die Kant in dem Kapitel über die kosmologi- von impliziten und unthematischen Denkmodellen
schen Antinomien durchführt – in dem Beweis der zu erweitern, kann das Kant-Seminar als ein um-

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fangreicher „immanenter Kommentar“ („Vorwort“, ternazionale di studio. Gargnano del Garda, 16–18
18) zum Text der Kritik der reinen Vernunft gelesen ottobre 2002“, in: Magazzino di filosofia 11, 121–
werden – als ein phänomenologischer Kommentar, 37.
dessen Fülle an einzelnen Ansichten und interpre- 4 Vgl. G. v. Kerckhoven (2003), Mundanisierung

tativen Entschlüssen es dem Leser gestattet, eine und Individuation bei Edmund Husserl und Eugen
ganz neue Fahrt durch den Text hindurch zu ma- Fink. Die sechste Cartesianische Meditation und ihr
chen, eine Fahrt, die im Vergleich zu anderen Deu- „Einsatz“, Würzburg.
tungen des 20. Jahrhunderts ebenso tief wie neu- 5 Fink (1985), Einleitung in die Philosophie, hg. v.

artig ist. Das ist heute möglich nicht zuletzt durch F.-A. Schwarz, Würzburg, 112.
6
die genauen Hinweise der Exposition Finks auf die Fink (1976), Nähe und Distanz. Phänomenologi-
Textstellen der Kritik, die der Herausgeber, Guy sche Vorträge und Aufsätze, hg. v. F.-A. Schwarz,
van Kerckhoven, sorgfältig expliziert hat. Freiburg/München, 219.
7 Fink (1976), 52, 59.

Anmerkungen 8
Fink (1988), VI. Cartesianische Meditation.
1 Im Folgenden zitiert mit der Abkürzung Epileg.; Teil 1. Die Idee einer transzendentalen Methoden-
„Nachwort“ verweist auf das Nachwort des Heraus- lehre, hg. v. H. Ebeling/J. Holl/G. v. Kerckhoven;
gebers (G. v. Kerckhoven), Bd. 13.3, 2023–2050, Teil 2. Ergänzungsband, hg. v. G. v. Kerckhoven,
„Vorwort“ auf das Vorwort von F.-W. v. Herrmann, in: „Husserliana-Dokumente“, Bd. II (1–2), Dord-
Bd. 13.1, 13–19. recht/Boston/London, Bd. 1, 71.
2 H. L. v. Breda (1972), „Laudatio für Ludwig Land- 9 Fink (1988), Bd. 1, 12.

grebe und Eugen Fink“, in: W. Biemel (Hg.), Phäno- 10 Fink (1985), 81.
11
menologie heute. Festschrift für Ludwig Landgrebe, Fink (1990), Welt und Endlichkeit, hg. v. F.-A.
Den Haag, 1–13, 11. Schwarz, Würzburg, 190.
3 Vgl. G. v. Kerckhoven/F.-W. v. Herrmann (2003): 12 Vgl. Fink (1976), 180–204.

„Sull’edizione dei Seminari Kantiani di Eugen Riccardo Lazzari (Mailand)


Fink“, in: R. Lazzari/A. Marini (Hgg.), Letture di riccardo.federicolazzari@gmail.com
Kant e Seminari Kantiani di Fink, „Seminario in-

Eckhart Förster, Die 25 Jahre Philosophie. Eine systematische Rekonstruktion, Frankfurt: Kloster-
mann 2011, 400 S., ISBN 978-3-465-03710-1.

„Es gibt also ein unbegrenztes, aber auch unzu- muss er aber in Erkennen und Handeln davon aus-
gängliches Feld für unser gesamtes Erkenntnisver- gehen, dass es gleichwohl existiert. Diese eigen-
mögen, nämlich das Feld des Übersinnlichen […][,] tümliche Form, die Existenz des Übersinnlichen
ein Feld, welches wir zwar zum Behuf des theoreti- als Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis be-
schen sowohl als praktischen Gebrauchs der Ver- haupten zu müssen, ohne einen direkten Zugang
nunft mit Ideen besetzen müssen, denen wir aber zu haben, prägt und stimuliert vom deutschen
in Beziehung auf die Gesetze aus dem Freiheits- Idealismus an bis heute in unterschiedlichsten For-
begriffe, keine andere als praktische Realität ver- men das philosophische, aber auch das kulturelle
schaffen können, wodurch unser theoretisches Denken.
Erkenntnis nicht im mindesten zu dem Übersinn- Bei Schelling findet sich eine klassische Formu-
lichen erweitert wird“ (KdU B XIX). – In diesen lierung des Widerspruchs in einem Brief an Hegel
Worten aus der „Kritik der Urteilskraft“ hat Imma- vom 6. Januar 1795: „Die Philosophie ist noch
nuel Kant das Ergebnis seines Ringens in den drei nicht am Ende. Kant hat die Resultate gegeben:
Kritiken zusammengefasst. Seit der ersten Auflage die Prämissen fehlen noch. Und wer kann Resultate
der „Kritik der reinen Vernunft“ ging es ihm um die verstehen ohne Prämissen?“ Sie verwendet Förster
Frage, ob und wie Metaphysik als Wissenschaft in seinem Buch Die 25 Jahre Philosophie, um seine
möglich ist, d. h. um die Frage nach der Möglich- Überlegungen in zwei jeweils sieben Kapitel um-
keit einer Erkenntnis des Übersinnlichen. In der zi- fassende Teile zu gliedern. Unter der Überschrift
tierten Passage aus der Einleitung der dritten Kritik „Kant hat die Resultate gegeben …“ widmen sich
ist nun das Ergebnis formuliert: Auf der einen Seite die ersten sieben Kapitel der Entwicklung von
ist es für den Menschen unmöglich, das Feld des Kants Grundfrage. Unter der Überschrift „… die
Übersinnlichen zu erkennen, auf der anderen Seite Prämissen fehlen noch“ wird die Behandlung der-

Phil. Jahrbuch 120. Jahrgang / I (2013)

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