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Brecht, Bertolt: Der

Dreigroschenprozeß
Ein soziologisches Experiment

Anya Feddersen

Sprache deutsch senschaftlicher Traktate an, bis hin zur Präsenta-


tion eines graphischen Schemas. Doch ist seine
Hauptgattung Epik / Prosa Argumentation oft sprunghaft, satirisch und sen-
tenziös; und er erklärt ausdrücklich, dass ein un-
Untergattung Essay / Traktat parteiischer Standpunkt weder grundsätzlich
möglich sei noch wünschenswert, wenn es um
1931 entstanden und 1932 in Heft 3 der Versuche ein Erkennen der Realität geht, das diese hand-
veröffentlicht, beschreibt diese über weite Stre- habbar machen soll.
cken polemische Abhandlung die „Umfunktionie- Der umfangreichste Teil des in vier Kapitel
rung“ eines privatrechtlichen Gerichtsprozesses gegliederten Textes besteht aus
zur exemplarischen Demonstration der Wider- 14 durchnummerierten Abschnitten, in denen aus-
sprüche zwischen bürgerlicher Ideologie und Pra- giebig Zitate angeführt werden – vorgeblich wei-
xis unter kapitalistischen Produktionsbedingun- testgehend Reaktionen der Presse auf den Ge-
gen. Brecht hatte 1930 erfolglos gegen die Nero- richtsprozess, doch nicht alle in den
Film AG geklagt, die ihm als Autor zwar vertrag- angegebenen Quellen nachweisbar. Diese Zitate
lich ein Mitbestimmungsrecht bei der Verfilmung wie auch Stellen aus dem Gerichtsurteil wertet
der Dreigroschenoper eingeräumt, ihn jedoch Brecht als musterhafte Belege dafür aus, wie hart-
bald wegen mangelnder Kooperation von der Mit- näckig ideologisch an bestimmten idealistischen
arbeit ausgeschlossen hatte. Schon kurz nach Kla- Vorstellungen festgehalten wird – wie denen vom
geeinreichung hatte Brecht die Öffentlichkeit mit- Menschen als autonomem Subjekt, vom Autor als
tels einer über seine Anwälte publizierten freiem Schöpfer und von einer nicht durch Markt-
Zeitungsannonce auf seinen Fall aufmerksam ge- gesetze bestimmten Gerechtigkeit –, obwohl die
macht und ihn zum Zensurfall stilisiert. Praxis derartige Konzepte längst überholt habe:
Formal knüpft Brecht an die Tradition um Ob- Das Kunstwerk ist eine Ware, die verkauft werden
jektivität und logische Stringenz bemühter wis- muss, und sie wird keineswegs von einem Einzel-
nen hergestellt. Besonders in der Filmindustrie ist
offenkundig, dass der Künstler unter kapitalisti-
schen Bedingungen nicht über die technischen
Ursprünglich veröffentlicht unter © J.B. Metzler’sche Produktionsmittel verfügt, wodurch er ebenso
Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag Opfer von Ausbeutung wird wie die Masse der
GmbH Kinobesucher, welche entfremdete Arbeit leistet
A. Feddersen (*) und dann, unproduktiv, zur reinen Regeneration
der Arbeitskraft Unterhaltungsfilme konsumiert.
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 1
H. L. Arnold (Hrsg.), Kindlers Literatur Lexikon (KLL),
https://doi.org/10.1007/978-3-476-05728-0_6068-1
2 A. Feddersen

Im Unterschied zum Gerichtsprozess selbst Bibliographie


und auch zum Dreigroschenoper-Film, der trotz
Brechts Einwänden sehr erfolgreich war, fand die Literatur
Abhandlung zum Zeitpunkt ihrer Veröffent-
lichung wenig Resonanz. Vor allem unter dem S. Giles: Marxist Aesthetics and Cultural Modernity in
‚Der Dreigroschenprozeß‘, in: B. B., Hg. S. G./R. Li-
Schlagwort Medienästhetik wurden später einige
vingstone, 1998, 49–61.
Textpassagen berühmt und häufig in Zusammen- R. Simon: Medienwechsel der Theatralität? Zu B.s Drei-
hang mit ähnlich erscheinenden Äußerungen groschenprojekt (Oper, Roman, Film, Prozeß), in:
W. ▶ Benjamins zitiert. Außerdem ist darauf hin- Theatralität und die Krisen der Repräsentation,
Hg. E. Fischer-Lichte, 2001, 251–280.
gewiesen worden, dass Brecht bereits über zehn
B. Lindner: Der Dreigroschenprozeß, in: B.-Handbuch,
Jahre vor der Veröffentlichung von Hg. J. Knopf, Bd. 4, 2003, 134–155.
M. ▶ Horkheimers und T. W. ▶ Adornos Dialek-
tik der Aufklärung u. a. die Probleme thematisiert
hat, die dort im Kapitel Kulturindustrie
beschrieben sind.

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