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Iustum Kabarett

und damit weniger intensiv sozial vernetzt. Für die im S.R. Quartz: The Right and the Good: Distributive Justice and
Rahmen alternativer Konfliktlösung entstehende res Neural Encoding of Equity and Efficiency, in: Science 320
privata tritt der gesellschaftliche Kontext hinter die in- (2008) 1092–1095. – 45 vgl. u. a. M.J. Lerner, D.T. Miller: Just
World Research and the Attribution Process: Looking back
dividuellen Konfliktbeziehung zurück. Die weitgehende and ahead, in: Psychological Bulletin 85 (1977) 1030–1051. –
Unabhängigkeit von der Makrogerechtigkeit kann ent- 46 J. Knape: Art. ‹Persuasion›, in: HWRh, Bd. 6 (2003) 1ff. –
sprechend frei genutzt werden. So kann der zweifache 47 vgl. ders.: Was ist Rhetorik? (2000) 81ff. – 48 Baron, Byr-
Reduktionismus rechtsförmiger Lösungen vermieden ne [18] 502; K. Leung, W.G. Stephan: Perceptions of Injustice in
und durch die Einbeziehung konfliktperipherer Um- Intercultural Relations, in: Applied & Preventive Psychology 7
stände die Zahl möglicher (gerechter) Lösungen ver- (1998) 195ff. – 49 Baron, Byrne [18] 502. – 50 Leung, Ste-
mehrt werden. phan [48] 195f. – 51 B. Rüthers: Rechtstheorie (2005) 406ff. –
3. Politische Beredsamkeit. Auch außerhalb der juri- 52 Kopperschmidt [3] 1072. – 53 vgl. Knape [46] passim. –
54 Arist. EN V, 14. – 55 Radbruch [8]. – 56 vgl. Baur, Wolf [15]. –
stischen Beredsamkeit spielt I. eine bedeutsame Rolle. 57 vgl. Th. Vesting: Rechtstheorie (2007) passim; insbes. 57ff.
So ist auch im Bereich der politischen Rede Gerechtig-
keit als Thema und Fundort für persuasive Argumen-
tation von Bedeutung. Dabei läßt sich eine zunehmende Literaturhinweise:
Aufgliederung in unterschiedliche Gerechtigkeitssub- J. Stroux: Summum ius summa iniuria. Ein Kap. aus der Gesch.
typen erkennen: Die klassische ‹juristische› Gerechtig- der interpretatio iuris (Leipzig 1926); ND in ders.: Röm. Rechts-
wiss. und Rhet. (Potsdam 1949) 7–66. – K.F. Röhl: Die Gerech-
keit wird ergänzt durch neue Konstrukte wie die soziale, tigkeitstheorie des Aristoteles aus der Sicht sozialpsychologi-
politische Gerechtigkeit oder die Generationengerech- scher Gerechtigkeitsforschung (1992). – J. Sanders, L. Hamil-
tigkeit. Diese neuen Gerechtigkeitstypen können alle- ton: Justice Research in Law (New York u. a. 2001).
samt rhetorisch verhandelt oder persuasiv gebraucht
werden. Dabei ist kaum ein politisches Thema denkbar, A. Baur
das nicht zumindest reflexhaft Fragen der Gerechtigkeit
mitverhandelt. Um im Bereich politischer Beredsamkeit ^ Beweislast ^ Gerichtsrede ^ Honestum ^ Juristische Rhe-
rhetorisch erfolgreich agieren zu können, sind die sozial torik ^ Rhetorische Rechtstheorie ^ Statuslehre ^ Topik ^
geltenden Gerechtigkeitsnormen (gleichsam die ‹allge- Utile
meine Topik des Gerechten›), die rhetorisch verwendet
oder verändert werden sollen, zu antizipieren und stra-
tegisch einzusetzen.

Anmerkungen:
K
1 Arist. Top. I, 1, 18. – 2 so etwa der moderne Dekonstruktivis-
mus: vgl. J. Derrida: Gesetzeskraft. Der «mystische Grund der
Autorität» (1991). – 3 J. Kopperschmidt: Art. ‹Philosophie›,
Kabarett (engl. cabaret bzw. satirical revue; frz., ital. ca-
B.VIII.5: Anthropologie, in: HWRh, Bd. 6 (2003) 1067–1073. – baret)
4 so schon Quint. X, 1, 35; vgl. auch Quint. I, pr. 16; II, 21, 12. – A. Def. – B. Bereiche und Disziplinen: I. Rhetorik. – II. Lite-
5 J. Jost: Topos und Metapher (2007) 187. – 6 Quint. III, 6, 84; rarische Aspekte. – III. Theater, Musik. – C. Historische Aspek-
IV, 3, 11; VI, 5, 5; VII, 1, 63; XII, 2, 19; Arist. EN V, 14. – te.
7 Quint. VII, 4, 6. – 8 Arist. Rhet. I, 13, 1373b; vgl. für die mo-
derne Rechtstheorie: H. Kelsen: Reine Rechtslehre (1934); G.
A. Def. Von den vier bis zum 15. Jh. überlieferten Be-
Radbruch: Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht deutungen von ‹cabaret› (Kellereingang, Holzschläger
(1946). – 9 Cic. Top. 90. – 10 E. Zundel: Clavis Quintilianea zum Waschen der Wäsche, Vordach, Schenke) wird im
(1989) 54. – 11 Ch. Perelmann: Über die Gerechtigkeit (1967) 17. Jh. aus der Bedeutung ‹Schenke› gleichsam als Met-
83f. – 12 Arist. EN V, 14. – 13 O. Höffe: Gerechtigkeit (2007) 58. onym ‹Gasthaus› herausgelöst sowie – als neue Variante
– 14 Cic. Top. 95f. – 15 A. Baur, S. Wolf: Art. ‹Beweislast›, in: – ‹Servierplateau›, d. h. eine runde Platte mit kreisför-
HWRh, Bd. 10 (2011) Sp. 129–136. – 16 Quint. VII, 4, 5. – 17 im mig angeordneten Schüsseln. Im 19. Jh. geht diese Spe-
Ergebnis ebenso: J. Knape: Allg. Rhet. (2000) 40; Quint. III, 4, zifizierung noch weiter: Ausgehend von ‹Servierpla-
16. – 18 R. A. Baron, D. Byrne: Social Psychology (Boston,
Mass. 102003) 502ff. – 19 Arist. EN V, 3. – 20 Arist. Rhet. III, 1,
teau› bezeichnet Cabaret auch die Orte, in denen diese
5, 1358b; Cic. Top. 91f. – 21 Quint. III, 4, 16; vgl. auch Arist. Speisen serviert wurden: ‹literarische Kneipe› und
Rhet I, 9, 4, 1366a. – 22 Cic. Inv. I, 68f. – 23 Quint. III, 6, 10. – ‹Kleinkunstbühne› sind als gleichzeitige Bedeutungen
24 Cic. Top. 84; 90; vgl. auch Cic. Inv. I, 12; De or. I, 86. – 25 Cic. nachweisbar. Erst 1894 taucht das Wort als ‹K.› im Deut-
Inv. I, 12. – 26 Arist. EN V, 14. – 27 ebd. – 28 Arist. Rhet. I, 13, schen auf, aber der nicht-deutsche Begriff ‹Cabaret›
1373b. – 29 Cic. Top. 95. – 30 Quint. V, 10, 13. – 31 Th. Viehweg: wird programmatisch bis in die 20er Jahre weiter ver-
Topik und Recht (1974) 96. – 32 K. v. Schlieffen: Art. ‹Rhe- wendet.
torische Rechtstheorie›, in: HWRh, Bd. 7 (2005) 316. – Mit J. Henningsens Monographie zum K. (1967)
33 Menander, passim. – 34 vgl. M. Luther: Vorlesungen über
den Römerbrief (1515/16) passim. – 35 A. Kaufmann: Rechts-
liegt ein erster fachlich-theoretischer Zugriff auf dieses
philosophie (1997) 23f. – 36 Augustinus, De civitate Dei IV, 4; Genre vor, der als zentrales Definitionsmerkmal das
vgl. auch Th. v. Aquin, Summa theologica I, II, 95, 2. – 37 H.K. Spiel mit dem «erworbenen Wissenszusammenhang
Kohlenberger: Art. ‹Gerechtigkeit›, in: HWPh, Bd. 3 (1974) des Publikums» [1] ansieht. Von seiner Entstehungsge-
334. – 38 Kant: Metaphysik der Sitten, A 200. – 39 vgl. F. v. schichte her ist das K. sowohl dem Drama wie auch der
Liszt: Der Zweckgedanke im Strafrecht, in Zs. für die gesamte satirischen Publizistik zuzuordnen, denn es teilt mit dem
Strafrechtswiss. 3 (1883) 1ff.; P.J.A. v. Feuerbach: Revision der einen Bereich die Dramaturgie, die Szene als theatrali-
Grundsätze und Grundbegriffe des positiven peinlichen Rechts sche Einheit sowie Dialog und Monolog als Darbie-
(1799/1800). – 40 vgl. Urteil des deutschen Bundesgerichtshofs,
abgedruckt in Neue Juristische Wochenschrift 2007, 389ff. –
tungsformen, mit dem anderen den ständigen Bezug auf
41 K. Seelmann: Rechtsphilosophie (32004) 62. – 42 Perel- die Tagesaktualität. Im Gegensatz zum Drama inte-
man [11] 83f. – 43 anstelle vieler: A.G. Sanfey u. a.: The Neural griert das K. Elemente der Musik (Lied, Couplet, Chan-
Basis of Economic Decision-Making in the Ultimatum Game, son) und lebt von der (auch für die satirische Publizistik)
in: Science 300 (2003) 1755–1758. – 44 anstelle vieler: M. Hsu, zentralen Aktualität und Halbfiktionalität, die Wissen

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und Erfahrung beim Publikum voraussetzt und durch K. Tucholsky [6], selbst Hausautor für Berliner K. und
Anspielungen provoziert, um so die Ziele der Satire, Revuen, ausdrücklich hervorhebt: «Diese Refrains, die
Parodie und Travestie – die häufigsten Aussageabsich- er zum Schluss gar nicht mehr vortrug, er bewegte nur
ten der vorgetragenen Texte – zu erreichen. Eine eher noch die Lippen und ließ das Publikum die Pointe er-
gattungsbezogene Definition stammt von B. Vogel raten – er verstand sein Handwerk» (‹Otto Reutter›,
(1993): K. ist GW 10, 32–37). Die Wirkung von Dialekt und sarkasti-
1. eine simultan rezipierte Gattung der darstellenden scher Reduktion lobt Tucholsky insbesondere an W.
Kunst, Mehrings Chansons (erschienen 1920 in dem Band
2. organisiert als eine Abfolge von Nummern, ‹Das politische Cabaret›), in denen literarische Zitate,
3. zeitkritisch oder auch komisch, alltags- und vulgärsprachliche Wendungen und tagesak-
4. eine Darstellungsform, die aus Conférencen und tuelle Schlagworte zusammenmontiert sind, wie in dem
mindestens zwei szenischen Modi besteht. ‹Lied des Auswanderers› mit seiner Strophe: «Teure
Zudem faßt Vogel das K. als Fiktionskulisse auf: Sze- Heimat, Jott befohl’n. / Doch bei dir is nischt zu holen. /
nische Fiktionalität und deren publikumsbezogene Un- Denn du bist / Ausjemist / Bis uffs Hemd! / Und ’ck find’
terbrechung/Durchbrechung ist ein Rezeptionsspezifi- mir wo ’ne Zille. / Jondle los. / Pacht mir drüben ’ne De-
kum des K., das sich als Wechsel zwischen Fiktionsauf- stille, / In Los Angelos.» (zit. nach: ‹Das neue Lied›, GW
bau und Fiktionsabbau manifestiert. Die «permanente 2, 448).
Fiktionsdurchbrechung» [2] geschieht durch die Confé- Vom Inhalt her verwandt, von der Kommunikations-
rence, die einzelne Nummern bzw. Szenen verbindet, situation her wesentlich verschieden vom K. ist das po-
wie auch durch die Mitwirkenden selbst, die nur zu den litische Lied. Die Komponisten und Sänger, die sich
szenischen Einlagen kostümiert sind, ansonsten aber ne- selbst bevorzugt Liedermacher nennen, tragen nach
ben dem Rollen-Ich des vorzutragenden Textes stets als 1968 die Impulse der Studentenbewegung in die Bevöl-
mimende Person präsent bleiben. In dieser «reduzierten kerung, tun dies aber vorzugsweise in Konzerten und
Fiktionalität» [3] verwirklicht das K. ein Element des politischen Veranstaltungen, nicht in der Conférence-
epischen Theaters. Indem das K. die für das naturalisti- Situation des K. Die Texte von F.J. Degenhardt, H.
sche Illusionstheater so wichtige vierte Wand beseitigt, Wader, K. Wecker, K. Degenhardt sowie W. Bier-
den Kontakt mit dem Publikum sucht und sich neuen mann und B. Wegner schaffen eine neue Tradition des
Formen – etwa Einakter, Pantomime und Schattenspiel Protestliedes, das künstlerisch und thematisch den po-
– zuwendet, arbeitet es der Bühnenreform und der thea- litischen Couplets des K. verwandt ist.
tralischen Avantgarde vor. [4] Monologische Präsenta- Die politische Wirkung kabarettistischer Kritik und
tionen überwiegen in den Kunstformen des K. wie Satire kann immer angezweifelt werden, am nachdrück-
Chanson, szenischer Monolog und Conférence. Treten lichsten aber seit der Übernahme etablierter Kabarett-
Dialoge auf, dann oft als «abgeleitete Dialogik» in Par- formate und Künstler durch das Fernsehen. Allerdings
odien, Kontrafakturen oder Anspielungen. [5] Dem K. sichert dieses sog. Medienkabarett (z.B. das TV-Format
läßt sich eine Position zwischen Kunst und reiner Un- ‹Scheibenwischer›) zahlreichen Einzelkabarettisten erst
terhaltung (delectare-Prinzip) zuschreiben, wobei das ihre Wirkung und ermöglicht ihnen das Überleben.
docere (Aufklärung) und movere (Affektmodellierung) Das Fernsehen öffnet sich dem K. zunächst nur zö-
im Hinblick auf Engagement, Thematik und Kritik gernd, zumal Kabarettsendungen im Radio zwischen
ebenfalls aufscheinen (K. als Agitation). Unterschieden 1953 und 1959 beliebter und bekannter sind. Wenn Auf-
werden können die beiden basalen Typen des litera- tritte übertragen werden, dann in Ausschnitten und als
risch-künstlerischen (Komik) und des politisch-kriti- einzelne Szenen, weil dies angeblich dem Charakter der
schen K. (Zeitkritik), die jeweils einer rhetorischen, li- Kleinkunst des K. mit seinem Prinzip der «bunten Mi-
terarischen und theaterwissenschaftlichen Analyse un- schung» mehr entgegenkomme. [7] In der Zwischenzeit
terzogen werden können. erweist sich durch den Erfolg der Programme wie
B. Bereiche und Disziplinen. I. Rhetorik. Allusio ‹Scheibenwischer› (1980–2003 im ZDF) oder ‹Fast wia
und Parodie, die nur mit dem Vorwissen des Publikums im richtigen Leben› (ab 1981 im Bayerischen Rundfunk)
funktionieren, zeigen sich besonders in K.-Nummern, und ‹Jonas› (ab 1986 in der ARD), daß sich Fernsehen
die auf Prätexte rekurrieren. Ein Beispiel in der Grün- und Bühnenprogramm gegenseitig in der Resonanz un-
dungsphase des deutschen K. liefert M. Reinhard in sei- terstützen. Eine neue Form stellt die Late-Night-Come-
nem K. ‹Schall und Rauch› (eröffnet am 23. Januar 1901) dy dar, wie sie der Schauspieler H. Schmidt in seiner
mit seiner Parodie auf Hauptmanns ‹Die Weber›, die gleichnamigen Show (SAT1, ARD) nach dem ameri-
von zwei Zuschauern, Serenissimus und seinem Hof- kanischen Vorbild von J. Leno vorführt; die Conférence
marschall Kindermann, von einer Loge aus kommen- verbindet dieses Format zweifellos mit dem K.
tiert wird. Mit diesem fiktionalen und ins Spiel integrier- II. Literarische Aspekte. Querverbindungen zwischen
ten Wechsel zwischen Bühne und Publikum führt er ei- K. und Literatur liegen schon durch die beteiligten
nen Schlag gegen den Hofgeschmack und das epigonale Künstler nahe. Als E. von Wolzogen (1855–1934) unter
Kunstmäzenatentum Wilhelms II., dessen Überzeugun- dem Namen ‹Buntes Theater (Ueberbrettl)› am 18. Ja-
gen in den Dialogen der beiden Figuren widerhallen. nuar 1901 das erste K. im wilhelminischen Deutschland
Diese Aufführungssituation setzt einen engen Rapport eröffnet, ist es der daran als Autor beteiligte O.J. Bier-
zwischen der Bühne, die um die Serenissimus-Loge er- baum, der in seinem Roman ‹Stilpe› (1897) die Euphorie
weitert ist, und dem Publikum voraus. um das K. – und auch ihr Scheitern – schon beschrieben
Zahlreiche Kunstmittel wie omissio bzw. praeteritio hatte. Neben den Chansons, Dialogen und kurzen Sze-
bzw. Versprecher und Improvisationen und das ganze nen werden zahlreiche zeitgenössische Stücke parodiert
Feld der Konnotation sind eingeübte rhetorische Stra- (u. a. von H. Sudermann, M. Maeterlinck, G. Haupt-
tegien, die im K. der Publikumswirkung und mitunter mann). Einen Versuch, gegen die opulenten Revuen, die
der Umgehung von Zensur dienen. Ein Beispiel liefert sich nach 1903 anstelle der literarischen und politischen
O. Reutter als Humorist, dessen Kunst der Weglassung K. durchsetzen, an die Tradition der Jahrhundertwende

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anzuknüpfen, stellt das ‹Neopathetische Cabaret› dar; werfen die beiden ein weiteres Stück, das die Inflation
dies signalisiert schon der Name. In verschiedenen Lo- und das Scheunenviertel-Pogrom des Jahres 1923 auf-
kalen trifft sich, angeregt von K. Hiller, ein Literatur- greift und in Anlehnung an Shakespeare ‹Der Kauf-
zirkel um J. van Hoddis, E. Blass, A. Lichtenstein und mann von Berlin› heißt.
G. Heym. Signatur ist die Verbindung des Intellektuel- Musik kann Texte wirkungsvoll steigern und damit
len mit dem Ulk, die Durchsetzung einer neuen Avant- der Popularisierung ihrer Botschaft vorarbeiten; sie ist
garde, wie sie sich auch in den Zeitschriften ‹Der Sturm› im Kontext des K. jedoch zugleich ein Ausweichfeld. So
oder ‹Die Aktion› formuliert. Diese Renaissance des li- kann das ‹K. der Komiker› (am 1.12.1924 in Berlin von
terarischen Cabarets beendet 1912 der Tod von G. den Wiener Künstlern K. Robitschek und P. Morgan ge-
Heym. gründet) durch planvolle Harmlosigkeit im Nationalso-
Das ‹Cabaret Voltaire› (eröffnet in Zürich am 5. Fe- zialismus bis zum 31. August 1944 als Spielstätte beste-
bruar 1916) schlägt zum einen die Brücke zwischen der hen. Dort werden auch kabarettistische Kurzoperetten
Kabarettkunst vor und nach dem Ersten Weltkrieg; gespielt, etwa ‹Die schöne Galathee› in Hollaenders Be-
zum anderen erarbeiten die dort beteiligten Künstler arbeitung; zu Gastauftritten kommen so unterschiedli-
die Formen der eigentlich dadaistischen Antikunst, die che Persönlichkeiten wie Y. Guilbert und L. Karlstadt
die Sprache rhythmisch zerlegt und damit ihre seman- mit K. Valentin.
tisch-kommunikative Funktion aufhebt zugunsten ono- C. Historische Aspekte. I. Zwei Phasen in der Ge-
matopoetischer Gebilde (u. a. H. Balls Lautgedicht schichte des K. verdienen besondere Erinnerung, da sie
‹gadji beri bimba›), in denen nur die Klangqualität der mit der Politik und Geschichte eng verknüpft sind. Dies
Laute und die menschliche Stimme bedeutsam sind. Die ist zum einen das jüdische K. im Nationalsozialismus
enge Verbindung zur politischen Lyrik läßt sich seit der und das Exilkabaratt und zum anderen das K. der DDR.
Gründung der ersten K. im Kaiserreich belegen [8] und – Nach 1933 entstehen unter dem Dach des Jüdischen
setzt sich in den 20er Jahren fort. Für K. Tucholskys Kulturbundes zahlreiche Kleinkunstbühnen. Neben der
Lyrik ist inzwischen detailliert nachgewiesen, welchen vordergründig-praktischen Aufgabe, ein Auffangbek-
Anteil die Lieder für die damaligen Berliner K. (und ken für die aus ihren Engagements vertriebenen Künst-
z. T. für bestimmte Diseusen) an seinem Oeuvre ha- ler zu sein, sollen die Aufführungen gleichermaßen eine
ben. [9] E. Kästner macht Kleinkunst zu einem Ort Selbstpositionierung jüdischer Kunst leisten wie auch
volksnaher, politischer Aussage durch Texte, die meist Ablenkung von der Gegenwart und Widerstand und
Rollengedichte und Parodien bzw. Kontrafakturen Selbstbewahrung durch Lachen vermitteln. Die Auf-
sind. Er schreibt sie für das ‹K. der Komiker›, in dessen führungen werden von einem NS-Sonderbeauftragten
Hauszeitschrift ‹Die Frechheit› (mit den Titelblättern überwacht und vorweg durch die Vorzensur der einzu-
von W. Trier) sie gleichzeitig veröffentlicht werden. Das reichenden Texte kontrolliert. Im Januar 1940 wird die
K. der Exilzeit ist politisch-kritisch orientiert und be- Conférence wegen der darin spontan und versteckt for-
dient sich dazu der ganzen Tradition politischer Dich- mulierten Kritik verboten; ein ähnliches «Ansage-Ver-
tung seit der Klassik. K. Mann liefert in seinem Roman bot» gilt auch für alle anderen K. [11] Die mitwirkenden
‹Der Vulkan› ein realitätsgetreues Bild der Aufführun- Künstler stellen eine starke Kontinuität zum bisherigen
gen des K. ‹Die Pfeffermühle›, indem er ausführlich in K. her, denn zu den Stars zählen etwa W. Rosen, W.
der Figur der Marion von Kammer die Spieltätigkeit Prager, der Conférencier und Stimmen-Imitator M.
seiner Schwester und ihrer Truppe beschreibt. Sie brin- Ehrlich, die Diseusen D. Gerson, C. Spira und R. Va-
gen sowohl E. Manns eigene Texte (z.B. ‹Der Prinz von letti. Zu den erschütternden Stationen dieses Teils
Lügenland›, ‹Die Hexe›), die sich auch auf Märchenfi- deutscher K.-Geschichte gehört die ‹Bühne Lager We-
guren bzw. -situationen beziehen (‹Hans im Glück›, sterbork›, die der Kommandant des Durchgangslagers
‹Die kleine Seejungfrau›), als auch auf die Lyrik der Westerbork an der deutsch-holländischen Grenze, in
deutschen Klassik, der Romantik und des Vormärz, die dem rund 100.000 Juden zusammengetrieben waren, zu
auf die aktuellen Verhältnisse verweist (z.B. Texte von installieren anordnete. Dort spielen u. a. F. Tachauer,
H. Heine oder G. Kellers ‹Die öffentlichen Verleum- Rosen, Ehrlich und Spira die ehemals erfolgreichen
der›). In Berlin wird die Botschaft verstanden, heißt es Nummern für Bewacher und Gefangene gleichermaßen.
doch in einem Schreiben an das dortige Auswärtige Zwei deutschsprachige K. bilden das Aktionsforum
Amt vom 25. Mai 1935, daß das ‹Lügenland›-Lied «eine für exilierte Künstler und bieten ein entsprechend poli-
Beschimpfung auch des offiziellen Deutschland» [10] tisiertes Programm. E. Mann eröffnet ihr K. ‹Die Pfef-
darstelle. fermühle› am 1. Januar 1933 mit Th. Giehse, P. Eysold,
III. Theater, Musik. Nach 1903 werden die Interakti- dem Tanzpaar C. Eckstein und E. Denby sowie dem
onsformen des K. mit ihrer Mischung aus Spiel, Tanz Pianisten M. Henning. Nach der Flucht nach Zürich
und Musik zunächst einmal durch Revuen bzw. Aus- spielt das Ensemble dort ab dem 1. Oktober 1933 und
stattungspossen wie ‹Die Herren von Maxim› (von J. geht auf Tournee durch die Schweiz sowie in den Jahren
Freund zu der Musik von V. Hollaender) fortgesetzt. An 1935 bis 1936 auch in den Niederlanden, in Belgien, Lu-
den Vorbildern der zahlreichen K. und ihrer Erfolge bil- xemburg und in der Tschechoslowakei.
det Brecht wichtige Elemente seiner Dramatik der 20er Nach dem Vorbild der ‹Pfeffermühle› eröffnet W.
Jahre bis zur ‹Dreigroschenoper› aus. So kehrt die ka- Lesch am 1. Mai 1934 in der Schweiz das ‹Cabaret Cor-
barettistische Form der direkten Publikumsansprache nichon›, das stellvertretend für die zum Schweigen ge-
wieder, sei es als Songs oder als Szenenfolge, die der Ka- brachten K.-Künstler in Deutschland und Österreich an-
barettrevue nahekommt (z.B. ‹Furcht und Elend des tifaschistische Nummern bringt und damit mehrfach
Dritten Reiches›). Gleichzeitig entwerfen Mehring und Proteste der deutschen und italienischen Diplomaten
E. Toller ein Nummernstück aus Songs und Chören, provoziert.
das unter der Regie von E. Piscator aus proletarischer Am Ende der 30er Jahre durchdringen sich Schau-
Perspektive die Gründung der Weimarer Republik bis spielbühne und K. in ihren Formen und sind durch
zu den Jahren 1926/27 spiegelt. Auf den Erfolg hin ent- zahlreiche Künstler-Persönlichkeiten verbunden. Th.

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Giehse etwa repräsentiert diese Kontinuität vom re- Ventil einer offenen, direkten Meinung (zumindest nach
publikanischen Theater über das K. des Exils bis zur außen) ausüben können, die in den anderen Massen-
Neubegründung des Theaters nach 1945. Wie sie tragen medien gerade vermieden wird. Kritik und kritische In-
auch Autoren wie E. Kästner oder Mitwirkende wie T. tellektuelle sammeln sich im K., wo sie erkennbar sind
Hesterberg, E. Busch, W. Finck oder die Tänzerin und und besser gelenkt werden können. P. Ensikat, der ne-
Kabarettistin G. Valeska Formen und Themen des K., ben W. Schaller bedeutendste Textautor, spricht in sei-
besonders seine Ästhetik des politischen Couplets über nen Erinnerungen von «Entschuldigungsnummern»;
den Nationalsozialismus hinaus in das Nachkriegs- diese sind besonders kritisch gegenüber dem Westen
deutschland weiter. und sollen vorbauen, wenn Kritik an der DDR geübt
Die schon vor 1945 tätigen Kabarettisten betreiben wird. [12] Das Ende der DDR im Jahre 1989 beendet die
die Neugründung dieser Kunst. W. Finck tut dies zu- finanzielle Alimentation der K. und entzieht dem K. das
nächst in der ‹Katakombe› und nach deren Schließung Publikum, da jetzt andere Kanäle für Kritik offen ste-
(am 10. Mai 1935) im ‹K. der Komiker› (Kadeko), bis hen. Ein wechselseitiges Einvernehmen zwischen Esta-
Goebbels seine Conférencen explizit verbietet. Er grün- blishment und K., wie es in der DDR zu beobachten war,
det ein K. unter dem Namen ‹Mausefalle› sowohl in existiert weiterhin, weil Verspottung auch ein Weg in die
Stuttgart (1948) wie in Hamburg (1951), während sein Aufmerksamkeit des Publikums ist. [13] So eröffnet das
Kollege vom Kadeko, G. Neumann, in West-Berlin das Ritual des Verspottens die Starkbier-Saison in Mün-
Rundfunkkabarett ‹Die Insulaner› (1948) ins Leben chen, wenn auf dem Nockherberg eine scharfzüngige
ruft, das bis 1958 und dann erneut von 1963 bis 1968 be- Rede auf die aktuelle bayerische Politik in Gegenwart
steht. In Leipzig eröffnen J. Werzlau und F. May am der meisten angesprochenen Politiker gehalten wird.
17. November 1945 ‹Die Rampe›und spielen zahlreiche
Texte von B. Brecht, E. Weinert sowie Einakter von C. Anmerkungen:
Goetz, H. Spoerl und A. Tschechow. Dieses K. stellt sein 1 J. Henningsen: Theorie des K. (1967) 9. – 2 B. Vogel: Fiktions-
Programm 1950 ein. kulisse. Poetik und Gesch. des K. (1993) bes. 14–28. – 3 ebd.
61–77, 67. – 4 auf diesen Aspekt weisen bes. hin W. Schmitz: Elf
Die Strategien zur Überwindung der Zensur beglei- Scharfrichter (1988) 280–282 und P. Sprengel: Schall und Rauch
ten das K. von seiner Gründung bis zum Ende der DDR. (1991) 11. – 5 H.-P. Bayerdörfer: Unscheinbare Bühne – Uner-
Die drei wichtigsten DDR-Kabaretts werden nach Sta- hörte Stimme, in: S. Bauschinger (Hg.): Die freche Muse (2000)
lins Tod gegründet: 1953 ‹Die Distel› in Ost-Berlin so- 91. – 6 Das Gros der Beiträge Tucholskys zum K. fällt in die Zeit
wie die ‹Leipziger Pfeffermühle› (1954) und in Dresden von 1919 bis 1924, als häufig Tucholskys Texte gesungen wur-
die ‹Herkuleskeule›, ebenso in Leipzig die ‹academixer› den und er sogar für zwei Revuen R. Nelsons (‹Bitte, zahlen!›,
(1966). 1989 existieren elf professionelle K., u. a. das (für Oktober 1921; ‹Wir steh’n verkehrt›, Oktober 1922) die kom-
ganz Deutschland einmalige) Armee-K. ‹Kneifzange›, pletten Texte lieferte; zitiert werden seine Artikel nach K. Tu-
cholsky: GW in 10 Bdn., hg. v. M. Gerold-Tucholsky, F.J. Rad-
in dem Soldaten der Nationalen Volksarmee für ihres- datz (1975). – 7 E. Reinhard: Warum heißt K. heute Comedy?
gleichen spielen. Metamorphosen in der dt. Fernsehunterhaltung (2006) 64f. –
Vorbild für das DDR-K. sind die Agitprop-Gruppen 8 Autoren wie F. Wedekind und L. Thoma schrieben sowohl für
der 20er Jahre. Sie halten sich an die kommunistischen die satirische Zeitschrift ‹Simplicissimus› wie für das in Mün-
Anliegen und werden damit Vorbild für die Themen der chen ansässige K. ‹Die elf Scharfrichter›, das 1903 unter dem
DDR-K., in denen weiterhin Kapitalismus als kriegs- Druck fortgesetzter Zensureingriffe in das Programm seine
treiberische Staatsform und die BRD als Zufluchtsort Aufführungen beendet; vgl. G.M. Rösch: Satirische Publizistik,
verkappter Nazis dem Sozialismus und dem Friedens- Cabaret und Ueberbrettl zur Zeit der Jahrhundertwende, in:
Naturalismus, Fin de siècle, Expressionismus (1890–1918), hg.
streben der eigenen Regierung gegenübergestellt wer- v. Y.-G. Mix (2000) 272–286. – 9 vgl. dazu die ausführlichen, z. T.
den. Damit geraten die K.-Autoren in die paradoxe Si- mit Bildern und Notenbeispielen versehenen Kommentare in
tuation, die Grundlagen des Sozialismus propagieren zu K. Tucholsky: Gesamtausg. hg. v. A. Bonitz et al. Bd. 3 (1999), 4
müssen (Ideal) und nur dessen aktuelle Verwirklichung (1996), 5 (1999), 6 (2000). – 10 zit. I. von der Lühe: Erika Mann.
angreifen zu dürfen (Realität), d. h. die grundsätzliche Eine Biogr. (1997) 122. – 11 zu den Details der jüdischen Klein-
Konstellation von Satire zu wiederholen. kunstbühnen vgl. V. Kühn: ‹Zores haben wir genug...› Geläch-
Die studentischen Proteste um 1968 erzwingen eine ter am Abgrund, in: Geschlossene Vorstellung. Der Jüdische
erneute Politisierung (die eine kleine Welle von Neu- Kulturbund in Deutschland 1933–1941, hg. v. der Akad. der
Künste Berlin (1992) 95–112, 101. – 12 P. Ensikat: Ab jetzt geb’
gründungen provoziert, u. a. das ‹Rationaltheater›, Mün- ich nichts mehr zu (1993) 271. – 13 vgl. H. Kratzer et al.: Die
chen 1965, das ‹Reichskabarett›, West-Berlin 1965, und Reifeprüfung, in: Süddt. Ztg., Nr. 164, 20.7.2010.
der ‹Floh de Cologne› in Köln 1966), lassen aber – ange-
sichts eigener künstlerischer Protest-Formen – das K. G.M. Rösch
auch als überholt erscheinen.
II. Das Verhältnis zwischen Politik und K. und damit ^ Anspielung ^ Delectare ^ Invektive ^ Ironie ^ Komik ^
die Formen und das Ausmaß der Zensur können sehr Kritik ^ Lachen, das Lächerliche ^ Meinung, Meinungsfrei-
unterschiedlich ausfallen. Unter deutlichem Zensur- heit ^ Parodie ^ Pointe ^ Polemik ^ Publikum ^ Satire ^
druck steht das K. vor 1914 und wieder nach 1933. Die K. Travestie ^ Witz
der DDR sind einer dreifachen Zensur unterworfen, die
zunächst in einer Vorzensur (Stadtverwaltung und ört-
liche SED-Verwaltung) dem Exposé des geplanten Pro- Kabbala (hebr. hlbq; engl. kabbala(h); frz. cab(b)ale;
gramms zustimmen muß; dann erst können Lieder und ital. cab(b)ala)
Texte ausgearbeitet werden, die ebenfalls eine Geneh- A. Def. – B. Historische Entwicklung. – C. Bereiche und Dis-
ziplinen: I. Systematische Differenzierung. – II. Sprachtheorie
migung benötigen. Die dritte und letzte Freigabe erhält der K. – III. Ars cabbalistica als Rhetorik und Poetik.
ein Programm nach der Generalprobe. Paradox ver-
schränken sich Kontrolle und gegenseitiger Nutzen der A. Definitorische Aspekte. ‹K.› ist seit ca. 1200 die Be-
K., die zugleich finanziell von der Regierung alimentiert zeichnung für die jüdische Mystik. Der Begriff bedeutet
werden und so in gelenkter Weise ihre Funktion als wörtlich ‹Empfang› bzw. allgemeiner ‹Überlieferung›,

437 438
Kabbala Kabbala

‹Tradition›. Gemeint ist der Empfang einer esoterischen


Überlieferung der Schriftauslegung. Der Gegenstand
dieser Überlieferung ist weniger die religionsgesetzlich-
rabbinische Theologie, wie sie in Talmud und Halacha
ausformuliert wurde, sondern ein esoterisches Wissen
über die Geheimnisse der Schrift (aramäisch rasin de
oraita; hebr. sitre tora), d. h. über verborgene Bedeu-
tungsschichten der Tora. Dem entspricht, daß die Lite-
ratur der K. zu einem beträchtlichen Teil in der Gattung
Midrasch ist, d. h. Auslegung biblischer Literatur, bei-
spielhaft im Tora-Kommentar des frühen spanischen
Kabbalisten Nachmanides sowie im einflußreichsten
Buch der K., dem Sefer ha-Sohar (‹Buch des Glanzes›).
B. Historische Entwicklung. Die K. umfaßt ein um-
fangreiches und heterogenes literarisches Textkorpus
vom Mittelalter bis ins 19. Jh. mit Ausläufern bis in die
Gegenwart. Auf der Basis unterschiedlicher Traditio-
nen wie a) der spätantiken Merkava-Mystik, deren Ge-
genstand (nach Ezechiel I) der meditative Aufstieg
durch die himmlischen Hallen bis zum göttlichen Thron
ist, b) der deutschen Frömmigkeitsbewegung im Rhein-
land im 12. Jh., dem sogenannten aschkenasischen Chas-
sidismus (etwa Jehuda ha-Chassid und Eleazar von
Worms), sowie c) der rabbinischen Literatur (vor allem
Midrasch), ist die K. im engeren Sinn im 12./13. Jh. in
Südfrankreich und Nordspanien entstanden und hat im
Sohar mit seiner theosophischen Lehre der zehn Sefi-
roth (vgl. Abb. 1: Kabbalistischer Lebensbaum) eine er-
ste paradigmatische Ausformulierung erhalten. Als
konkurrierendes Modell formulierte der spanische Kab-
balist Abraham Abulafia (ca. 1240–1292) eine «eksta-
tische» oder «prophetische Kabbala» [1], mit der er der
Lehre der Sefiroth eine K. der Namen entgegenstellte,
in deren Zentrum linguistische Techniken zur Medita-
tion des Gottesnamens stehen. Nach der Vertreibung
Abb. 1: Sefiroth (Kabbalistischer Lebensbaum) aus: Athanasius
der Juden aus Spanien entstand im 16. Jh. in Safed in Kircher: Oedipus Aegypticus, T. 2,1 (Rom 1653) fol. 289,
Palästina ein neues Zentrum der K. (mit Moses Cor- Titel: Iconismus totius Cabalae
dovero, Isaak Luria, Chajim Vital). Letztere beiden
begründeten die sogenannte lurianische K., die im 17. Jh.
auch in Italien sowie in Amsterdam mit neuplatonischen christliche Theologumena suchte, spielte die K. in der
Theoremen verbunden wurde (bei Israel Saruq und Frühen Neuzeit auch eine wichtige Rolle in den her-
Abraham Cohen Herrera) und später die Basis auch metischen und neuplatonischen Naturwissenschaften
des Chassidismus bot, wie ihn Israel Ben Eliezer (der der Frühen Neuzeit wie Magie, Alchemie, Astrologie
Ba’al Schem Tov, ca. 1700 bis ca. 1760) im 18. Jh. be- und Medizin (etwa bei A. von Nettesheim, G. Bruno,
gründete. Eine besondere Bedeutung kommt nicht zu- Paracelsus, J. Böhme, H. Khunrath und R. Fludd).
letzt auch der wissenschaftlichen Erforschung der K. zu, Mit der K. ließ sich in diesem Kontext ein Naturver-
die unter kritischen Vorzeichen in der Wissenschaft des ständnis begründen, das den Kosmos als zeichenhaft
Judentums im 19. Jh. einsetzte und vor allem mit Ger- und zugleich als von Gott durchdrungen und belebt
shom Scholem, in jüngerer Zeit auch mit Moshe Idel im dachte. Im Gegenzug dazu wurde die Sprachtheorie der
20. Jh. ihre bislang einflußreichsten Vertreter hatte, de- K. aber auch als ein rationales, mathematisches und uni-
ren Wirkung auch über die Wissenschaft hinaus in Kunst versalwissenschaftliches Muster interpretiert (so in der
und Literatur reicht. Tradition des Lullismus bis hin zu Kircher und Leib-
Die K. blieb nicht auf das Judentum begrenzt. Schon niz). [2] Während die K. daraufhin in der Religionskritik
im spanischen 13. Jh. kam es zu Kontakten zwischen jü- der Aufklärung weitgehend unter das Verdikt des Aber-
dischen Kabbalisten und christlichen Gelehrten wie glaubens fiel, wurde sie innerhalb der Freimaurerei um
etwa Raimundus Lullus. Doch erst im 15. Jh. wurde die 1800 rationalisiert und anschließend in der Romantik zu
K. im christlichen Europa zum Paradigma einer prisca einem aufklärungskritischen, u. a. auch poetologischen
theologia, einer uranfänglichen Theologie zwischen den Paradigma wieder positiv gewendet (etwa bei F. Schle-
Religionen, dies zunächst bei Humanisten wie Giovanni gel, Novalis, F.W.J. Schelling und F.J. Molitor). Im
Pico della Mirandola in Italien, J. Reuchlin in 19. und frühen 20. Jh., auch im Gegenzug zur Ausdiffe-
Deutschland und G. Postel in Frankreich. Doch auch renzierung der modernen Wissenschaften und zum Po-
über den Humanismus hinaus wurde die K. rezipiert, sitivismus, wurde die K. im Kontext des modernen Ok-
insbesondere auch durch Jesuiten (schon von Postel, da- kultismus zunehmend zu einer esoterischen Disziplin
nach im 17. Jh. u. a. von A. Kircher und C. Knittel) so- (von Eliphas Levi über MacGregor Mathers bis Dion
wie von Lutheranern (wie Knorr von Rosenroth) und Fortune), in welcher Form sie auch in die moderne
Pietisten (F. Chr. Oettinger). Neben dieser theologisch phantastische Literatur Eingang fand (z.B. G. Mey-
begründeten christlichen K., die in der K. verborgene rink).

439 440
Kabbala Kabbala

C. Bereiche und Disziplinen: I. Systematische Diffe-


renzierung. Die K. läßt sich zum einen in ihrem esoteri-
schen Traditionsgehalt, zum anderen als Form von Tra-
dierbarkeit bzw. Technik der Überlieferung verstehen.
Auf der inhaltlichen Seite umfaßt sie eine Vielzahl my-
stischer, theosophischer und esoterischer Lehren na-
mentlich über Gott, die Schöpfung und den Menschen.
Seit der Merkava-Mystik wird eine Zweiteilung in Ge-
schichte bzw. Wissen von der göttlichen Welt (ma’asseh
merkavah) auf der einen und Geschichte und Wissen
von der geschaffenen Welt (ma’asseh bereschit) auf der
anderen Seite vorgenommen. In der im Sohar entwik-
kelten und weithin wirksamen Lehre der ‹Zehn Sefi-
roth› ist die K. symbolische Theologie und Theosophie
(K. der Sefiroth). In der Lehre der Gottesnamen, wie sie
Abulafia ins Zentrum stellte, ist sie Mystik mit medi-
tativen Techniken und ekstatischen Tendenzen (K. der
Namen). In magischen Texten wie dem Sefer ha-Razim
erweist sie sich als magische Praxis, als praktische K.
(kabbala ma’assit). In der lurianischen K. des 16. Jh. wie-
derum und ihrer Lehre der ‹Kontraktion Gottes› (zim-
zum), des ‹Bruchs der Gefäße› (schevirath ha-kelim)
und der ‹Wiederherstellung der Weltordnung› (tikkun
ha-olam) ist sie Geschichtstheologie mit eschatolo-
gischer Tendenz, die in der messianischen Bewegung Abb. 2: Gematria (Mystisches Alphabet), aus:
Tony Bührer: Kabbala. Jüdische Zahlenmystik
des Sabbatianismus im 17. Jh. auch umgesetzt wurde. In (Freienbach/Schweiz, 21999) S.8
der Lehre der ‹Seelenwanderung› (gilgul ha-nescha-
moth) wiederum, die ebenfalls in der lurianischen K.
eine zentrale Rolle spielt, ist sie mystische Psychologie.
Auf der anderen Seite läßt sich die K. in ihren for- das Tetragrammaton) und drittens die Schrift bzw. die
malen Überlieferungsmustern verstehen, die als theo- Tora. Solche Sprachreflexion ist Thema zentraler Texte
retische Vorstellungen und praktische Verfahren wie schon der frühmittelalterlichen jüdischen Mystik, na-
ihre Lehren zu übermitteln seien. Nach einem oralen mentlich des Alephbet de Rabbi Akiba (Alphabet des
Modell wird die K. als Teil einer esoterischen mündli- Rabbi Akiba) und des Sefer Jezirah. Im Alphabet des
chen Tradition (tora sche-bealpeh) verstanden, die zu- Rabbi Akiba werden die 22 Buchstaben des hebräischen
sätzlich zur exoterischen schriftlichen Überlieferung Alphabets in ihrer äußeren Gestalt und zugleich als sym-
(tora sche-bichtav) an Moses übergeben und seither bolische Formen gedeutet. (vgl. Abb. 2: Gematrie). Kon-
von Lehrern zu Schülern als K. entsprechend überlie- kret treten sie dort einzeln vor den Schöpfer mit der Bit-
fert wurde (so bei Nachmanides). Daneben kennt die te, jeweils mit ihnen die Weltschöpfung zu beginnen,
K. aber auch schrift- und textbezogene Vorstellungen wobei der Buchstabe ‹Beth› ausgewählt wird, mit dem
von Tradition, indem einzelne Bücher als Träger pri- die Tora anhebt (im Wort bereschit, am Anfang). Die
mordialen esoterischen Wissens geradezu mythisiert hebräischen Buchstaben erweisen sich dabei als vor-
und sanktifiziert wurden (etwa das sogenannte ‹Buch kreatürliche, metaphysische und symbolische Muster
Adams› in der magischen jüdischen Literatur oder das einer göttlichen Sprache, gemäß der die Schöpfung er-
‹Buch Sohar› in der lurianischen K.). folgte.
II. Sprachtheorie der K. Sowohl in den theologischen, Während im Alphabet des Rabbi Akiba die Buchsta-
kosmologischen und anthropologischen Lehren als auch ben einzeln und in ihrer physischen Gestalt beschrieben
in der medialen Bestimmung als Überlieferung erhält werden, versteht das Sefer Jezirah die Buchstaben zu-
die Sprache in der K. einen zentralen Stellenwert. dem auch in ihrer kombinatorischen Verknüpfung, in-
Sprachtheoretische (bzw. sprachmystische und sprach- dem es diese zwar ebenfalls als metaphysische Formen
magische) Überlegungen sind daher wesentliche As- annimmt, sie jedoch auch in ihren wechselseitigen Be-
pekte der K. Anders als bei der hebräischen Grammatik ziehungen beschreibt. Die Syntax des Sefer Jezirah ver-
(hebr. Dikduk) bzw. deren Vertretern (von Saadja bindet die Buchstaben zur größeren symbolischen Ein-
Gaon über Abraham Ibn Esra, Josef und David Kim- heit der hebräischen Sprache. Auf der Basis einer Ana-
chi bis hin zu Elijahu Levita und Samuel David Luz- logie von res und verba wird diese sodann ontologisch
zato) geht es der K. jedoch nicht um eine systematische, zurückgebunden, indem sie nicht nur die Totalität der
formale oder funktionale Beschreibung der hebräischen Sprache, sondern auch der Welt umfaßt. Die Kombina-
Sprache. Vielmehr sind die sprachtheoretischen Lehren tionsmöglichkeiten der Sprache enthalten zugleich die
der K. – selbst da, wo es um Form und Funktion der he- Verknüpfungen der Dinge. Ja der Schöpfungsakt erfolgt
bräischen Sprache geht wie etwa im Sefer Jezirah (‹Buch förmlich durch Kombination (hebr. ziruf) der 22 he-
der Schöpfung›) – stets spekulativ und metaphysisch an- bräischen Buchstaben: «22 Buchstaben; er zeichnete sie
gelegt und zielen auf die theosophische, mystische, teil- ein, er haute sie aus, er wog sie, er wechselte sie, und er
weise auch magische Dimension der hebräischen Spra- kombinierte sie, und er formte mit ihnen die Seele der
che. Systematisch läßt sich dies an den bevorzugten ganzen Schöpfung und alles, was zukünftig geschaffen
Gegenständen kabbalistischer Sprachreflexion zeigen. werden wird.» [3] Dies impliziert nicht zuletzt auch eine
Dazu zählen erstens die 22 Buchstaben des hebräischen sprachmagische Vorstellung von Schöpfung, auf die spä-
Alphabets, zweitens die Gottesnamen (insbesondere tere kabbalistische und magische Texte zurückgriffen,

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Kabbala Kabbala

beispielsweise auch in der Vorstellung über die Herstel- den Einsatz kabbalistischer Sprachtheorie unterschei-
lung eines Golem. den: a) Theologie und Mystik, b) Magie und Alchemie;
Eine entscheidende Bedeutung hat die Sprache nicht c) Philosophie und Wissenschaftstheorie; d) Rhetorik
zufällig in jenen Texten der K., die sich auf das Sefer Je- und Poetik.
zirah beziehen. Das gilt insbesondere für die ekstatische Auf theologischer Ebene wurden – scheinbar para-
K. Abulafias [4] sowie die frühe Schrift seines Schülers dox – vermittels spezifisch kabbalistischer Sprachtech-
Josef Gikatilla ‹Ginnat Egoz› (Garten der Nuß, 1274). niken wie Temurah, Gematria und Notarikon christliche
Abulafia formulierte seine dezidiert linguistische K. ge- Theologumena aus jüdischen Texten konstruiert. Zu-
gen den theosophischen Symbolismus der K. der Sefi- gleich wurde das Hebräische als Heilige Sprache, Engels-
roth des Sohar. Dem ‹Weg der 10 Sefiroth› stellte er den sprache oder lingua adamitica behauptet, etwa in C. Du-
‹Weg der 22 Buchstaben› entgegen, indem er die Buch- rets ‹Thresor de l’histoire des langues de cest univers›
stabenkombinatorik auch auf den Gottesnamen appli- (1613), bei J. Böhme oder in F.M. van Helmonts ‹Kurt-
zierte und – neben der Gematria (Zahlenwert der Buch- zer Entwurff des Eigentlichen Natur-Alphabets der hei-
staben) und dem Notarikon (Abkürzungstechnik) – zum ligen Sprache›(1667). Ein magischer Sprachbegriff wie-
zentralen Verfahren seiner linguistischen Meditation er- derum wird seit Reuchlins ‹De verbo mirifico› (1494),
hob. Der Text der Tora wird dabei in seine Elemente, dem «wundertätigen Wort», und Agrippas von Nettes-
die Buchstaben, zergliedert und darauf durch die gram- heim ‹Occulta philosophia› (1533) wesentlich mit der K.
matologischen Verfahren der Kombination zu Namen begründet. Wie in jüdisch-magischen Texten, die eben-
reorganisiert. So wird der Text der Tora untergründig falls rezipiert wurden – etwa das Sefer Raziel, das als ‹Li-
als ein Gewebe aus göttlichen Namen lesbar gemacht ber razielis› bereits im 13. Jh übersetzt wurde –, stiftet
und auf dem Weg der Wissenschaft der Kombination hier die K. esoterisches Wissen über die Herstellung von
(Chochmath ha-Ziruf) wird sichtbar gemacht, «daß die magisch wirksamen Namen. Im paracelsischen Paradig-
gesamte Tora aus göttlichen Namen besteht» (Ozar ma von Alchemie und Medizin wiederum ließ sich die
‘Eden Ganuz) [5]. Damit zielt die ekstatische K. auf die Signaturenlehre, gemäß der die Dinge der Welt lesbare
Übersetzung des Textes der Tora in eine neue vollkom- Zeichen sind, mit der K. begründen (z.B. O. Croll:
mene Sprache. Ihre Grammatik ist die Kombinatorik, ‹Von den innerlichen Signaturen oder Zeichen aller
ihre Elemente sind göttliche Namen, die nach Gikatilla Dinge›, 1629).
ihrerseits wiederum als Beinamen aus dem Tetragram- Von diesen magischen und alchemistischen Sprach-
maton (dem vierbuchstabigen Gottesnamen Yhwh) ab- begriffen wiederum unterscheidet sich der Einsatz der
geleitet sind: «Wisse, daß alle heiligen Namen der Tora kabbalistischen Technik der Buchstabenkombination in
im vierbuchstabigen Namen enthalten sind, in Yhwh. topischen und universalsprachlichen Wissensmodellen
[...] Und jeder einzelne dieser Namen und Beinamen hat in der Tradition des Lullismus teilweise grundlegend.
eigene Beinamen, die wiederum unzählige Beinamen Vor allem dieser führt zum Anwendungsgebiet der Poe-
haben, und so ist es mit jedem Wort der Tora, bis man tik und Rhetorik. Eine Ausgangslage dafür ist der Trak-
erkennt, daß die ganze Tora aus Beinamen gewoben ist tat ‹De auditu kabbalistico› (1518) gefolgt von einer
und die Beinamen aus Namen gewoben sind und alle Reihe von Texten und Kommentaren zu Lulls ars magna
heiligen Namen an den Namen Yhwh gebunden sind sciendi, von A. von Nettesheim und G. Bruno bis hin zu
und alle stellen sich ihm nach. Die ganze Tora ist also A. Kircher, C. Knittel und G.W. Leibniz, der auf der
gewoben aus dem Namen Yhwh.» [6] Suche nach einer mathematisch operationalisierbaren
Während Abulafia und Gikatilla jede sprachmagi- und enzyklopädisch universalisierbaren Zeichentheorie
sche Konsequenz aus der Kombinatorik zurückwiesen, (characteristica universalis) an das lullistisch-kabbalisti-
wurde diese in jenen Texten, die auch unter den Begriff sche Paradigma der ars combinatoria anschloß. Die kab-
der ‹Praktischen K.› (kabbala ma’assit) gefaßt werden balistische Buchstabenkombination galt hier als Modell
können, ins Zentrum gestellt. Grundlegend ist die The- einer universalsprachlich und zugleich universalwissen-
se, daß das Wissen über die Grammatik der Dinge zu- schaftlich angelegten Methodik.
gleich deren Manipulation ermöglicht. Die magische jü- Auf der Basis dieser lullistischen Topik wurde die K.
dische Literatur geht von der Wirksamkeit der hebräi- in der Frühen Neuzeit auch zu einem neuen Paradigma
schen Namen aus, insbesondere der Namen der Engel der Poetik und Rhetorik. Auf halbem Weg von der lul-
und des Gottesnamens, des wirksamsten Wortes über- listischen Universalwissenschaft zur Rhetorik ist die
haupt, so etwa das Sefer ha-Razim oder Harba de-Moshe auch aus der K. abgeleitete ars notoria (Notenkunst),
(Schwert des Moses, eine Metapher für den mächtigen wie sie insbesondere der selbsternannte ‹Professeur aux
Gottesnamen). Das gilt noch für den Chassidismus eines sciences Divines & Celestes› J. Belot entwickelte. Aus
Israel ben Eliezer, dessen Beiname Baal-Schem Tov der lullistischen Topik machte er eine enzyklopädische
wörtlich deshalb Meister des guten Namens bedeutet, und zugleich sprachmagische Technik, eine Kunst ge-
weil er mit den Gottesnamen zu wirken versteht. nauer der Findung von Gegenständen (inventio), der en-
III. Ars cabbalistica als Rhetorik und Poetik. In der zyklopädischen Systematisierung und Abkürzung des
christlichen K. der Frühen Neuzeit ist der linguistische Wissens (dispositio) sowie auch eine Technik der Me-
Aspekt nicht weniger zentral als in der jüdischen. Dabei morierung (memoria) – Verfahren, die er als «Geheim-
wird er allerdings in den Kontext europäischer Wissen- nisse der Cabale» anpries und auch auf Lull zurückführ-
schaften bzw. Wissensmodelle transferiert. Was Pico te: «Raymond Lulle homme & consommé en toutes sci-
della Mirandola in seinen ‹Conclusiones› (1486) als ences & arts, pour ayder à la Memoire Naturelle inuenta
scientia cabalistica bezeichnete, kurz darauf J. Reuchlin cet art, pour abreger toutes les sciences.» Lulls ars ver-
und J. Pistorius als ars cabbalistica, wurde in der frühen stand Belot in ‹L’oevvre des oevvres ov la plvs parfaict
Neuzeit zu einem Modell unterschiedlicher theologi- des sciences steganographiques, Paulines, Armadelles &
scher, philosophischer und wissenschaftlicher Projekte, Lullistes. Par lesquelles facilement se comprend [...] tou-
bei denen stets sprachtheoretische Aspekte im Blick ste- tes les sciences› (1623) nicht nur als eine esoterische
hen. Konkret lassen sich wesentlich vier Kontexte für Wissenschaftslehre, sondern ausdrücklich auch als eine

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Kabbala Kabbala

neue Rhetorik: «La Rhetorique donc que ie desire icy verbesserten Teutschen Oratorie› (1725), wo «dieses
traitter & enseigner, n’est autre chose qu’vn art & sci- Cabbalistische Spielwerk», die «Paragrammatik» und
ence d’acquerir proprement a discourir purement & ele- «Anagrammatik», als «falsche Quelle der Erfindung»
gamment, disputer & ratiociner doctement de toutes sci- und als unangemessen für eine rationalistische Rede-
ences & arts, auec parfaite cognaisance d’iceux, ainsi kunst der Aufklärung im Zeichen der «Klugheit» [11]
que premierement nous l’a tracé Remond Lulle.» (Die verstanden wird.
Rhetorik, welche ich hier zu behandeln und unterrichten Neue Ansätze zu einer kabbalistischen Begründung
wünsche, ist nichts anderes als eine Kunst und Wissen- von Rhetorik und Poetik ergeben sich dann konsequen-
schaft, sich richtig anzueignen, wie man rein & elegant terweise erst aus einer Kritik der Aufklärung heraus um
spricht, disputiert & gelehrt spricht über alle Wissen- 1800 etwa bei J.G. Hamann, Novalis und F. Schlegel.
schaften und Künste mit deren vollständiger Kenntnis, In dem jüngsten Versuch eines Einsatzes der K. für Rhe-
so wie es uns zuerst Raymond Lull lehrte.) [7] Als Rhe- torik und Poetik, der im Kontext des Poststrukturalis-
torik versteht Belot demnach eine Reihe von esoterisch- mus anzusiedeln ist, greift H. Bloom (‹Kabbalah and
kabbalistischen Sprachtechniken wie die Kombinatorik, Criticism›, 1975) nochmals die Möglichkeiten auf, die
die es ermögliche, ‹das Wissen zu mehren sowie die die Sprachtheorie der K. bietet, wenn er K. überhaupt
Sprach-, Wissenschafts- und Kunstkenntnisse zu perfek- als «eine ungewöhnliche Summe von rhetorischer und
tionieren› («accroistre le scauior & donner la perfection figurativer Sprache», ja sogar schlicht als eine «Theorie
de la cognoissance des langues, sciences & arts») [8]. der Rhetorik» versteht [12].
Eine besondere Aufmerksamkeit erhielten die kab-
balistischen Sprachtechniken in der rhetorisch geleiteten Anmerkungen:
Poetik der Frühen Neuzeit insbesondere im Kontext des 1 vgl. A.B. Kilcher: Die Sprachtheorie der K. als ästhetisches
Manierismus und – in Deutschland – bei den Pegnitz- Paradigma. Die Konstitution einer ästhetischen K. seit der Frü-
hen Neuzeit (1998) 32ff. sowie: Moshe Idel: Kabbalah. New Per-
schäfern (G.-Ph. Harsdörffer, J. Klay, S. von Birken). spectives (New Haven 1988) XII. – 2 zu Lullismus und A. Kir-
Die Funktion, die den kombinatorischen Sprachtechni- cher vgl. die Theorie der Para-Rhet., in: G.R. Hocke: Die Welt
ken der K. dabei zugesprochen werden konnte, zeigt sich als Labyrinth. Manierismus in der europäischen Kunst und Lit.,
etwa an D. Schwendters und G.Ph. Harsdörffers ‹Phi- hg. von C. Grützmacher (1991). – 3 Sefer Jezirah, hg. u. übers.
losophisch-mathematischen Erquickstunden› (1636–53). von L. Goldschmidt (1894, ND 1969) II, 1 u. 2. – 4 vgl. [1]. –
Dort wird das kombinatorische Verfahren des «Fünffa- 5 Abulafia: Ozar eden ganuz, fol. 172 a, abgedruckt bei: Moshe
chen Denckrings der Teutschen Sprache», der die Kon- Idel: Language, Torah, and Hermeneutics in Abraham Abulafia
struktion einer Totalität der Sprache technisch ermögli- (New York 1988) 102. – 6 Gikatilla: Scha’are Orah (Jerusalem
1985) fol. 2a. – 7 Les oeuvres de M. Iean Belot [...] contenant la
chen soll, aus dem «Letterwechsel» der K. abgeleitet: chiromence, Physionomie, l’Art de Memoyre de Raymond Lul-
«Die Erfindung des Letterwechsels ist bey den Ebreern le, Traicté des Diuinations, Augures & Songes; les Sciences Sté-
im Gebrauch gewesen/ und nicht der geringste Theil ih- ganographiques, Paulines, Arnadelles & Lullistes [...] (Rouen
rer Cabala.» Der Letterwechsel operationalisiert die 1640) 3 (Übers. Verf.). – 8 ebd. 42 (Übers.Verf.). – 9 G.Ph. Hars-
kabbalistische Buchstabenkombination jedoch nicht nur dörffer: Frauenzimmer Gesprächsspiele, 8. Bde. (1641–1649),
für linguistische, sondern auch für rhetorische und poe- ND hg. von I. Bötticher (1968–1969) IV, S. 183. – 10 G. Ludewig:
tologische Zwecke, als Verfahren gleich auf mehreren Teutsche Poesie dieser Zeit vor die in Gymnasiis und Schulen
Ebenen der Rhetorik: der inventio (als Findekunst), des studirende Jugend, an nothigen Reguln ietzt berühmter Poeten,
zulänglichen Exempeln der Gedichte ieder Gattung und allen
ornatus (als Gesprächsspiel und Reimgenerator) und der dem was zur Invention, Disposition und Elocution eines teut-
memoria. Harsdörffer lobt den Letterwechsel folgerich- schen Carminis heutiger Art erfordert wird [...] (1703) 266ff. –
tig als ein vielseitiges rhetorisch-poetologisches Verfah- 11 Hallbauer Orat. 270, 283–285. – 12 H. Bloom: K., Poesie und
ren: «Es schärfet solcher das Urtheil/ veranlast zu schö- Kritik (2002) 12f.
nen Gedanken/ vermehret allerhand Erfindungen/ brin-
get sondere Lieblichkeit und Nachdruck in den Reimen/ Literaturhinweise:
und fliessen oftmals seine Erinnerungen aus so versetz- G. Scholem: Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen
ten Buchstaben». [9] Wie vielseitig die K. in diesem (1957; ND 1980). – ders.: Zur K. und ihrer Symbolik (1973).–
ders.: Der Name Gottes und die Sprachtheorie der K., in: ders.:
Funktionsspektrum zwischen rhetorischen und poeto- Judaica (1970) Bd. 2. – M. Idel: K.: New Perspectives (New Ha-
logischen Verfahren in der Frühen Neuzeit eingesetzt ven, Conn. 1988). – A.B. Kilcher: Kombinatorik als meditations-
werden konnte, zeigt sich noch bei späthumanistischen und mnemotechnisches Verfahren in der K. und im Lullismus,
Kompendien wie D.G. Morhofs ‹Polyhistor litterarius› in: G. Kurz (Hg.): Meditation und Erinnerung (2000). – ders.:
oder in B. Hederichs ‹Anleitung zu den fürnehmsten Ars memorativa und Ars cabalistica, in: Seelenmaschinen.
Philologischen Wissenschaften: nach der Grammatica, Funktionen und Leistungsgrenzen der Mnemotechniken, hg. v.
Rhetorica und Poetica› (1713). Die Funktion der K. für J.J. Berns u. a. (2000) 199–248. – ders.: Scientia cabalistica as
Grammatik, Rhetorik und Poetik systematisiert u. a. J. Scientia universalis, in: Kabbalah 5 (2000) 129–154. – G. Scho-
lem: Ursprung und Anfänge der K. (22001). – W. Schmidt-Big-
Hennings ‹Cabbalologia i. e. Brevis Institutio De Cab- gemann (Hg.): Christliche K. (2003). – A. Kilcher: Kabbalisti-
bala, cum Veterum Rabbinorum judaica tum Poetarum sche Nachrichtentheorie, in: A. Simonis, L. Simonis (Hg.): My-
Paragrammatica, Artis Cabbalistico-Poeticae› (1683), then in Kunst und Lit. (2004). – E. Grözinger: Von der ma. K.
indem er aus der K. paragrammatica (gemeint sind die zum Hasidismus (2005). – G. Necker: Einf. in die lurianische K.
Verfahren von Gematria, Notarikon und Temurah) eine (2008). – K.S. Davidowicz: Die K. (Wien 2009). – E. Müller: Der
Vielzahl von rhetorischen und poetologischen Sprach- Sohar. Das Hl. Buch der K. (2010). – V. Borsò (Hg.): Benjamin-
spielen ableitete (darauf bezieht sich G. Ludewig in sei- Agamben: Politik, Messianismus, K. (2010).
ner ‹Teutschen Poesie› [10]). A.B. Kilcher
In der Rhetorik des 18. Jh. wird diese kabbalistische
Poetik und Rhetorik zwar noch ausgeführt, bleibt also ^ Anagramm ^ Akrostichon ^ Geheimsprache ^ Figuren-
Teil rhetorischer Systematik, jedoch unter kritischer gedicht ^ Jüdische Rhetorik ^ Kombinatorik ^ Lullismus ^
Perspektive wie in J.A. Fabricius’ ‹Philosophischer Mystik ^ Obscuritas ^ Pararhetorik ^ Schriftauslegung ^
Oratorie› (1724) oder F.A. Hallbauers ‹Anweisung zur Symbol, Symbolismus

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Klatsch Klatsch

Klatsch (engl. gossip; frz. ragot, potins, commérages; Abhandlung ‹Über den Umgang mit Menschen› als
ital. pettegolezzi, chiacchiere) schändliches Tun verurteilt. [6] Allerdings beobachtet
A. Def. – B. I. Bereiche und Disziplinen. – II. Gattungsmerk- Chr. Thomasius bereits 1710 eine Diskrepanz zwischen
male und kommunikative Praktiken. – III. Funktionen von K. – der öffentlichen Ächtung und der kollektiven Ausübung
IV. Historische Aspekte. von K.: «Von Abwesenden redet [der kluge Mann]
A. Def. Der Begriff ‹K.› benennt eine spezifische münd- nichts anderes als Gutes; wiewohl diese Regel auch
liche Gattung der Alltagskommunikation, in deren Zen- von vermeintlichen Weisen selten in acht genommen
trum der Austausch von Neuigkeiten und moralischen wird.» [7]
Urteilen über gemeinsam bekannte, aber nicht anwesen- Eine spezifische Bestimmung erfährt K. in diesen
de Dritte steht. Thematisch fokussiert der K. auf die per- Texten nicht, vielmehr wird K. bis heute oft sinngleich
sönlichen Ansichten, Handlungen und Eigenarten von verwendet mit Begriffen wie Tratsch, Palaver, Ge-
Freunden, Kollegen, Nachbarn und Verwandten. Er schwätz, Gerüchte verbreiten, Lästern, Indiskretion, Ver-
entsteht typischerweise in bestimmten Sprechsituatio- rat, üble Nachrede, herabsetzendes und gehässiges Ge-
nen der direkten oder medial vermittelten Interaktion rede, Verleumdung, Verruf, Rufmord, Mobbing und an-
(im Gespräch über den Gartenzaun, bei zufälligen Be- deren ethisch negativ konnotierten Sprachhandlungen.
gegnungen, in Wartesituationen, beim small talk, auf ei- Zwar ist diesen Aktivitäten gemeinsam, daß sie wie K.
ner Party, als Kaffeeklatsch, am Telefon). Charakteri- öffentlich gering geschätzt oder geächtet werden. In den
stisch für die Kommunikation im K. sind bestimmte sti- Zuschreibungen Klatschweib, Waschweib, Klatschbase,
listische und rhetorische Merkmale, in denen das hohe Lästermaul, Schwätzer oder Böse Zunge sind diese Ab-
Maß an affektivem Engagement der Beteiligten, aber wertungen personalisiert und in Begriffen wie Klatsch-
auch das Wissen um die Verwerflichkeit des eigenen sucht, Schwatzhaftigkeit, Redesucht oder Geschwätzig-
Tuns zum Ausdruck kommen. keit (loquacitas, garrulitas) gar pathologisiert. Doch
K. ist eine ubiquitäre Kommunikationsform, die sich dieses iudicium hat heterogene Bezüge, es gründet sich
in schriftlosen Stammeskulturen ebenso findet wie in einmal auf die Trivialität und Folgenlosigkeit des Ge-
modernen, durch Medien geprägten Gesellschaften. sprächs (Palaver), dann auf die Zuschreibung von Il-
Obgleich K. in allen Gesellschaften als ungebührliche loyalität (Verrat) und des weiteren auf die erwartete
Rede öffentlich geächtet wird, zählt er zu den beliebte- Schädigung eines Dritten (Rufmord). Wenn K. in der
sten Formen der alltäglichen Kommunikation über- Rhetorikforschung überhaupt einmal zum Gegenstand
haupt. Für die kommunikative Gattung K. ist somit eine der Forschung wird, so bestimmt diese normative Per-
innere Widersprüchlichkeit konstitutiv. spektive bis in die Gegenwart hinein die Betrachtung.
Etymologisch läßt sich ‹K.› zurückführen auf klatz Mit verwandten Gattungen wie Geschwätz, Prahlerei
(mhd.) als onomatopoetische Interjektion zur Bezeich- oder Zynismus wird er zur Gruppe der «Fehlformen
nung eines schallenden, klatschenden Schlags, wie er bei rhetorisch-stilistischen Handelns» [8] zusammengefaßt.
einer Ohrfeige oder beim Aneinanderschlagen der Obwohl der Völkerpsychologe M. Lazarus bereits
Handflächen – beim Beifall-Klatschen – entsteht. Ins- 1879 die empirische Analyse von trivialen Alltagsge-
besondere aber gibt K. den Klangeindruck wieder, der sprächen programmatisch gefordert hatte [9], war K.
durch den Aufprall von Feuchtem erzeugt wird (klatsch- in den Ende des 19. Jh. aufkommenden Sozialwissen-
naß, Abklatsch). [1] In der zusätzlichen Bedeutung ‹Ge- schaften lange Zeit kein Thema wissenschaftlicher Be-
schwätz, üble Nachrede, gehässiger Tratsch› taucht ‹K.› obachtung. Es waren zunächst Anthropologen, die bei
zum ersten Mal im 17. Jh. auf. Die aus dieser Zeit stam- ihren Feldforschungen in schriftlosen Kulturen das gro-
mende Redewendung «Wasch und Klatsch» [2] sowie ße Interesse der indigenen Bevölkerung an K. beobach-
Bezeichnungen wie Gewäsch oder Wischiwaschi ver- teten, so P. Radin 1927 («Naturvölker halten in der Tat
weisen darauf, daß im Begriff K. die Mundtätigkeit der am hartnäckigsten und fortdauerndsten am Klatsch
waschenden Frauen und die Handtätigkeit des Wa- fest.» [10]) K. ist in diesen Kulturen nicht zuletzt deshalb
schens konfundiert sind. [3] Beim gemeinsamen Wa- von großer Bedeutung, weil er dort eng verbunden ist
schen und Reden der Waschfrauen wird aus dem mit der Angst vor Magie und dem primitiven Glauben
Schmutzfleck ein Schandfleck (vgl. den Ausdruck «Klat- an die reale Wirkung von Worten und Flüchen. [11] In
schen wie ein Waschweib»). [4] der Soziologie entstanden die ersten Arbeiten über K. in
B. I. Bereiche und Disziplinen. Fragen des Umgangs den 1920er Jahren. [12] Vorher bereits hatte G. Simmel
der Menschen miteinander werden seit der Antike in mit seinen Untersuchungen zur Geselligkeit, zum Ge-
ethischen Abhandlungen zum Gespräch und zu den heimnis und zur Dynamik sozialer Beziehungen die Per-
kommunikativen virtutes et vitia, in den klassischen Tu- spektive einer Mikrosoziologie begründet [13] und da-
gendlehren und Charakterkunden, in den bürgerlichen mit der soziologischen Analyse von gesellschaftlichen
Höflichkeitstraktaten und Anstandsbüchern sowie in und sprachlichen Interaktionsformen den Weg gewie-
pädagogischen Verhaltenslehren diskutiert. Zwar be- sen. Allerdings ist eine Interaktionssoziologie, in deren
faßt sich keiner dieser Texte spezifisch mit K., doch fin- Rahmen dann auch K. zum Gegenstand von Forschung
den sich zahlreiche kurze, zumeist passagere Bemerkun- wurde, erst in der 1960er Jahren mit E. Goffman,
gen zu K. und zu verwandten Themen wie Geschwätzig- der Ethnographie des Sprechens (D. Hymes) und der
keit, üble Nachrede, Verleumdung und Gerücht. Konversationsanalyse entstanden. [14] Aus diesen For-
In all diesen Texten ist nur wenig über K. zu erfahren, schungsrichtungen, die sich eng mit Pragma- und Dis-
einhellig steht die starke Mißbilligung und Ablehnung kurslinguistik berühren und zu denen auch die später
von K. im Mittelpunkt. Aristoteles postuliert, daß der entstandene soziologische Gattungsanalyse zu zählen
hochgesinnte Mann nicht gern von den Menschen ist [15], stammt der größte Teil der vorliegenden Unter-
spricht, «weder von sich noch von einem anderen erzählt suchungen zu K.
er Geschichten» [5]. In der gleichen normativen Weise Dazu kommen Studien aus anderen Disziplinen: Ar-
wird K. in den ‹Charakterskizzen› von Theophrast, im beiten aus der Psychologie thematisieren K. zum einen
‹Galeatus› von Giovanni della Casa oder in Knigges als verdeckte Aggression [16], zum andern als Mittel des

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Klatsch Klatsch

fortwährenden Vergleichs der Menschen untereinan- dem Klatschopfer birgt K. nicht unerhebliche Risiken
der [17]. In der Management- und Organisationsfor- für die Beteiligten. Der Gefahr, als klatschhaft zu gelten
schung befassen sich mehrere Autoren vor allem mit und ihren guten Ruf zu verlieren, begegnen sie, indem
dem manipulativen Aspekt von K. (etwa beim Mob- sie bestimmte Vorsichtsmaßnahmen ergreifen, wodurch
bing), mit der Funktion von K. für informelle Netzwerke die kommunikative Realisierung von K. im Alltag einige
in Organisationen sowie mit K. als Medium der indirek- charakteristische Merkmale erhält. Dazu zählt etwa,
ten Beeinflussung und Fraktionsbildung. [18] In der Li- daß der Übergang zum K. in einem laufenden Gespräch
teraturwissenschaft wird diskutiert, inwiefern K. als vor- nicht plötzlich erfolgt, sondern über eine «Prä-Sequenz»
literarische Form der literarischen Erzählung betrachtet eingeleitet wird [23], bei der die Beteiligten zunächst so-
werden kann und wie K. von Romanautoren als Medium gar ihr Desinteresse an K. demonstrieren. [24] Über
für Gesellschaftskritik oder zur indirekten Charakteri- mehrere Redezüge hinweg stellen die Gesprächspartner
sierung von Handlungsfiguren eingesetzt wird. [19] zunächst sicher, daß der jeweils andere im Folgenden
Schließlich wird seit einigen Jahren in der Evolutions- bereit ist, über einen abwesenden gemeinsamen Be-
psychologie, zuerst formuliert von R. Dunbar, die These kannten auf klatschhafte Weise Neuigkeiten auszutau-
vertreten, daß K. in erster Linie dem sozialen Pflegever- schen. Erst nachdem diese intersubjektive, zumeist in-
halten (grooming) dient und das menschliche Äquiva- direkt verlaufende Absicherung erfolgt ist, setzt die
lent für das körperliche Pflegeverhalten von Primaten Klatschkommunikation ein.
ist. [20] Neuigkeiten sind das Mittel, das K. am Laufen hält,
II. Gattungsmerkmale und kommunikative Praktiken. sie werden im K. zumeist in Form von Erzählungen
Als linguistisches, soziologisches und rhetorisches genus übermittelt. Da die Erzählungen von Personen handeln,
ist K. durch eine Reihe von kommunikativen Regeln die den Klatschteilnehmern bekannt sind, dienen sie da-
(praecepta) gekennzeichnet, die eine spezifische ars – zu, das Wissen über diese Mitbürger auf den neuesten
die Kommunikationskompetenz des homo garrulus – Stand zu bringen und so das Gruppengedächtnis zu ak-
ausmachen und die zusammen den K. von ähnlichen tualisieren. Grundlage der Erzählungen sind oft keine
kommunikativen Formen unterscheiden. [21] Diese Re- direkten Beobachtungen, sondern Informationen aus
geln betreffen die soziale Beteiligungskonstellation, die zweiter Hand oder einzelne, für sich unbedeutende Er-
im K. zur Sprache kommenden Themen sowie die kom- eignisse. Das hat zur Folge, daß das Extrapolieren unbe-
munikativen Handlungen der Klatschakteure. kannter Verbindungen, das Spekulieren über verdeckte
(a) K. ist eine gruppenbezogene Kommunikations- Bedeutungen und allgemein der Modus des Konjunkti-
form, d. h. die Personen, um die es im K. geht, müssen vischen wesentliche Bestandteile der Klatschkommuni-
den an der Klatschkommunikation Beteiligten bekannt kation sind. Einzelne Details werden im Erzählen einer
sein. Erst wenn Neuigkeiten und Erzählungen einen ge- Geschichte in eine zusammenhängende Folge von Er-
meinsamen Bekannten betreffen, erhalten sie für die eignissen und damit in eine narrative Ordnung gebracht,
Gesprächspartner eine persönliche Signifikanz und da- wobei jedoch immer nur eine mögliche Geschichte ent-
mit einen besonderen Reiz. Dem K. liegt somit eine steht.
triadische Struktur zugrunde, wobei Klatschproduzent, Neben dem Format der Narration finden sich im K.
Klatschrezipient und das Klatschopfer in einem wech- gehäuft auch verschiedene Techniken der dramatischen
selseitigen Bekanntschaftsverhältnis stehen. Geklatscht Re-Inszenierung. Typisch für K. ist etwa die Ein- oder
werden kann nur über Abwesende. (b) Thema im K. Ausleitung der Wiedergabe einer Äußerung durch ein
sind Handlungen und Ereignisse, die diesen gemeinsa- verbum dicendi. Dadurch kann diese Äußerung als ein
men Bekannten zugerechnet werden können. Dieses Zitat, als ein Stück fremder oder eigener Rede markiert
Merkmal unterscheidet K. vom Gerücht, das als unbe- werden, das in einer anderen Situation, zu einer anderen
wiesenes Gerede auch ganz andere Sachverhalte – die Zeit produziert wurde. [25] Darüber hinaus wird eine
Insolvenz einer Firma, den bevorstehenden Weltunter- zitierte Rede oft intonatorisch und parasprachlich z.B.
gang – zum Gegenstand haben kann. (c) Im K. geht es durch Änderung der Lautstärke oder Geschwindigkeit
um die persönlichen Angelegenheiten anderer, er lebt deutlich abgesetzt, sie wird gewissermaßen in situ nach-
von der Spannung zwischen dem, was eine Person öf- gespielt. Diese direkte Redewiedergabe bietet den am
fentlich kundtut, und dem, was sie als ihre Privatsache K. Beteiligten nicht nur die Möglichkeit der dramati-
abzuschirmen sucht. lnsofern enthält K. immer einen schen und dramatisch gesteigerten Re-Inszenierung, sie
Akt der Indiskretion. (d) Das beherrschende Thema im eröffnet ihnen auch besondere Freiräume. Zum einen
K. sind Fehltritte, Mißgeschicke, Regelverletzungen, können bei der imitatio auctorum die emotional-affek-
Dummheiten, Ungeschicklichkeiten und Unehrlichkei- tiven Elemente der fremden Rede eher als bei der indi-
ten des nicht-anwesenden Dritten, also Themen, die rekten Redewiedergabe zur Darstellung gebracht wer-
dessen positive Selbstdarstellung unterlaufen. (e) Das den. [26] Zum andern kann eine zitierte Äußerung durch
Fehlverhalten des Klatschopfers wird rekonstruiert, begleitende intonatorische oder mimisch-gestische Ak-
kommentiert und alltagspsychologisch interpretiert, es tivitäten mit einer zweiten Stimme überlagert (Bachtin)
löst aber auch Empörung aus und wird auf der Grund- und dadurch mit einem Kommentar versehen wer-
lage von als gültig unterstellten ethischen Verhaltens- den. [27] Schließlich gestattet die direkte Redewieder-
regeln moralisch verurteilt. (f) Da das Klatschopfer gabe die Verwendung von Obszönitäten, erotischen
beim K. abwesend ist, erfährt es nicht oder nur indirekt Vokabeln und anderen maledicta, da der Sprecher die
durch Hintertragen des K. von dem Geschehen. Mittels zitierte Person für die gewählten Ausdrücke verant-
dieser Information kann das Klatschopfer dann die wortlich machen kann. [28]
Klatschakteure konfrontieren und zur Rede stellen, was Narration und Re-Inszenierung sind die beiden pri-
eher selten geschieht, doch bei Jugendlichen durchaus mären Darstellungsmuster, in denen sich die für K. cha-
üblich ist. [22] rakteristische Tendenz realisiert, das Unschickliche und
Aufgrund seiner gesellschaftlichen Ächtung, seiner Pikante, das Befremdliche und Absonderliche im Ver-
indiskreten Neugier und seiner Illoyalität gegenüber halten des Klatschopfers zum Hauptthema zu machen.

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Klatsch Klatsch

Geprägt wird die Sprechsituation dabei von einem ho- oder gar verleumderisch zu gelten. Um dieser Gefahr
hen Maß an Affektivität. Im Vordergrund steht hier die der Reputationsschädigung zu begegnen, setzen die Ak-
Ko-Indignation aller Klatschteilnehmer über den Ma- teure neben den bereits beschriebenen Vorsichtsmaß-
lefikanten und dessen ungebührliches Tun. [29] Doch nahmen eine Reihe von Authentisierungstechniken und
die moralische Erregung geht zumeist einher mit Über- Evidenzpraktiken ein, die sie als interesselose, unschul-
raschung und Erstaunen über das Fehlverhalten des un- dige Beobachter und wahrheitsgetreue Berichterstatter
tadeligen Mitbürgers, mit Neugier und Begeisterung für erscheinen lassen. Dazu zählt etwa das Zitatformat, das
weitere ‘pikante Details’ (novum), mit Lust am Skan- ja mit dem Anspruch der wahrheitsgetreuen Wiederga-
dalisieren und Sich-Empören, mit malevolentia und der be einer fremde Rede verbunden ist. Oft wird zur Au-
tiefen Befriedigung, den Charakter eines Mitbürgers torisierung einer bestimmten Erzählversion auch auf
durchschaut oder bei der Einschätzung seines Charak- weitere Zeugen verwiesen. [32] Und es wird während
ters Recht behalten zu haben. Das lustvolle Auskosten der Narration die besondere epistemische Technik des
und die iteratio der unerhörten Neuigkeiten können da- «Ich tat gerade X, als Y»-Formats eingesetzt, das immer
bei so dominant werden, daß sich das Gespräch in einer dort zur Anwendung kommt, wo ein Sprecher die Be-
Skandalisierungsspirale bewegt und weit von dem ur- zweiflung seiner Darstellung antizipiert. [33]
sprünglichen Anlaß des Gesprächs entfernt. Ein letztes gattungsspezifisches Merkmal verweist
Aufs engste verbunden mit der affektiven Färbung ist noch einmal auf die besondere Beziehungstriade, die
ein weiteres rhetorisches Merkmal des K., die gehäufte dem K. zugrunde liegt. Überraschenderweise wird die
Verwendung hyperbolischer Formen. In der narrativen Verurteilung des abwesenden Klatschopfers, die im Ge-
oder dramatischen Rekonstruktion werden die Ereig- stus der Entrüstung und in der sozialen Typisierung
nisse ausgeschmückt (exornare), wird die Verfehlung noch hart und degradierend ausfällt, häufig an anderer
karikaturhaft übertrieben, und die Verurteilung auch Stelle im Gespräch abgemildert, wenn nicht grundsätz-
kleinster Vergehen fällt besonders drastisch aus. Hyper- lich revidiert. Der Sinn dieser Relativierung ergibt sich
bolische Formen erfüllen im K. mehrfache Funktionen. aus der Überlegung, daß derjenige, der heute das
Zum einen kann eine Übertreibung dazu dienen, Denk- Klatschobjekt ist, morgen der Klatschpartner sein kann
vorgänge oder Gefühle, für die ein Sprecher keine an- und deshalb bei aller moralischen Mißbilligung aus
dere adäquate Mitteilungsmöglichkeit findet, zum Aus- Gründen der Loyalität und der eigenen Glaubwürdig-
druck zu bringen, etwa wenn ein Kind den Hund, der keit des Sprechers immer auch geschützt werden muß.
ihm Schrecken eingejagt hat, sehr viel größer schildert, III. Funktionen von K. In der ethnologischen und so-
als er ‘in Wirklichkeit’ war. [30] So betrachtet, können ziologischen Literatur werden vor allem drei Funktio-
Übertreibungen im K. den überstarken Affekt der Ent- nen von K. beschrieben:
rüstung signalisieren, der die Handlungen der Akteure (a) K. dient der Übermittlung von Information und
bestimmt. Rhetorisch relevant ist zum andern auch, daß Neuigkeiten und erfüllt in dieser Eigenschaft insbeson-
durch die Übertreibung die eigentlich triviale materia dere auch eine Unterhaltungsfunktion. Durch kluges In-
des K. unterhaltender, überraschender, erschreckender formationsmanagement [34] und Zurückhalten von re-
oder pikanter wird und dadurch diese Inhalte besser im levanten Klatschneuigkeiten kann man sein eigenes An-
Gedächtnis haften (memoria) als sachliche und nüchter- sehen in der Gruppe steigern und erheblichen Einfluß
ne Informationen. Schließlich ist noch auf die legitima- auf den Lauf eines Geschehens ausüben. [35] Von An-
torische Funktion von Übertreibungen im K. zu verwei- thropologen wird das Neuigkeitsmedium K. in schrift-
sen. Wer klatscht, greift in die Privatsphäre eines Freun- losen Stammeskulturen zuweilen als Äquivalent für Zei-
des, Kollegen oder Nachbarn ein. Dieser Übergriff läßt tungen und Fernsehen betrachtet. Allerdings ist K. auch
sich durch Übertreibung und Skandalisierung indirekt in modernen Gesellschaften weit verbreitet und ganze
legitimieren. Denn je größer der Skandal, desto mittei- Mediensparten leben in der Hauptsache von der Über-
lungswürdiger das Ereignis und desto berechtigter die mittlung von K. (vgl. Klatschblätter, Klatschspalte). [36]
moralische Entrüstung. Erst die hyperbolische Skan- (b) Im K. geht es um Regelverletzungen und Fehltritte,
dalisierung macht also aus einer privaten Handlung eine Ungeschicklichkeiten und Sünden von Mitmenschen.
öffentlich relevante Verfehlung und legitimiert auf diese Bei ihren Kommentierungen und Bewertungen bezie-
Weise die im K. begangene Indiskretion. hen sich die Klatschakteure auf Werte und Regeln, die
Ein weiteres Strukturmerkmal von K. besteht darin, ihnen als Bestandteile einer moralischen Ordnung gel-
daß in ihm das Verhalten des Klatschopfers, so eigen- ten. Das Verhalten des abwesenden Klatschopfers wird
willig und skurril es für sich sein mag, verallgemeinert in moralischen Kategorien beurteilt, seine moralische
und mit einer sozialen Typisierung dieser Person ver- Identität wird in Typisierungen gegossen, die geeignet
knüpft wird. Im K. wird das partikulare Verhalten einer sind, seine Reputation und sein Ansehen innerhalb sei-
Person nicht auf besondere Handlungsumstände zu- nes sozialen Milieus in hohem Maß zu beeinträchtigen.
rückgeführt, als einmalige Verfehlung isoliert und zu ei- K. ist damit ein Fall von moralischer Kommunikation, in
nem Fauxpas bagatellisiert, sondern als Defizit in die ihm geht es um die Ehre, verstanden im Sinn Schopen-
Person verlegt und mit dem Vokabular der Alltagscha- hauers als «Dasein in der Meinung anderer». Die Angst
rakterologie [31] als Manifestation eines Charaktermu- vor K. und davor, sich lächerlich zu machen und ins Ge-
sters identifiziert. Die schonungslose Rekonstruktion rede zu kommen, ist ein verhaltenssteuerndes Sankti-
verwerflicher Details unterläuft das von einer Person ge- onsmittel, das insbesondere in traditionalen Gesell-
pflegte Bild ihrer selbst, sie dekomponiert die von ihr schaften hoch wirksam ist. [37] Die Rechtsethnologie
präsentierte soziale Identität und rekomponiert sie in hat sich unter diesem Gesichtspunkt mehrfach mit K.
neuer Gestalt durch eine abstrahierende soziale Typisie- befaßt; T.V. Smith (1937) betrachtet Brauch, K. und
rung. Recht als drei Stadien der sozialen Kontrolle. [38] (c)
Weil im K. spekuliert, extrapoliert, übertrieben, ty- Die dritte Funktion von K. ist verbunden mit dem Na-
pisiert und generalisiert wird, birgt er für diejenigen, die men des Rechts- und Sozialanthropologen M. Gluck-
sich an ihm beteiligen, die Gefahr, als unglaubwürdig man und dessen berühmtem Aufsatz ‹Gossip and Scan-

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Klatsch Klatsch

dal›. [39] Auch Gluckman geht in diesem 1963 erschie- ral, mit der Folge, daß, wer immer heute moralische
nen Text, der Auslöser für eine Reihe weiterer Arbeiten Kommunikation betreibt, das nicht mehr unter Bezug
zum Thema K. war [40], von der normenstabilisierenden auf ein von allen Mitgliedern der Gesellschaft geteiltes
Funktion von K. aus, bezieht diese jedoch in erster Linie System von Normen und Werten tun kann. [43] Wer sich
auf die normative Einheit von sozialen Gruppen, ins- heute ungeschützt über Andere moralisch empört, ver-
besondere von klar abgegrenzten und exklusiven Grup- absolutiert seine moralischen Standards und läuft damit
pen wie Eliten, Professionen oder Minoritäten. K., so Gefahr, selbst zum Ziel von moralischer Kommunika-
Gluckman, fördert den Gruppenzusammenhalt, indem tion zu werden. [44] Das hat Auswirkungen auf K., der
er die Einhaltung der gültigen Gruppennormen belohnt, im Zeitalter pluralisierter Lebensstile und Moralan-
Abweichler oder Verräter negativ sanktioniert und Ein- schauungen seinen Charakter als Mittel der sozialen
dringlinge ausschließt. [41] Damit knüpft K. immer wie- Kontrolle weitgehend eingebüßt hat. Die Angst, ins Ge-
der aufs Neue das soziale Netz, er fördert den sozialen rede zu kommen oder sich lächerlich zu machen, hat viel
Zusammenhalt der Gruppenmitglieder und sorgt so für von ihrer verhaltenssteuernden Kraft verloren. [45]
eine Stärkung der sozialen Gruppe. E. Bott, auf die sich Zwar verschwindet K. nicht, doch wird er durch Hu-
Gluckman bezieht, hat diese Funktion von K. auf die morisierung, Entertainisierung und Psychologisierung
Formel gebracht: «No gossip, no companionship». [42] zunehmend entschärft und erfüllt zunehmend eine an-
Keine dieser Funktionshypothesen liefert für sich dere Funktion: Weil ein moralischer Kanon fehlt, dient
eine hinreichende Erklärung für das schillernd-wider- er den Akteuren dazu, sich mit ihren Interaktionspart-
sprüchliche Wesen von K.: Zwar ist K. auf Neuigkeiten nern an konkreten Fällen über die in ihrer jeweiligen
aus, doch werden auch die früheren Verfehlungen des Gruppe gültigen moralischen Regeln zu verständi-
Klatschopfers aus dem kollektiven Gedächtnis geholt gen. [46]
und erneut ausgebreitet. Zwar zielt K. als Mechanismus Was sich in modernen Gesellschaften auch geändert
der sozialen Kontrolle auf normenkonformes Verhal- hat, ist die stereotype Verknüpfung von K. und weibli-
ten, doch wer sich am K. beteiligt, verhält sich damit chem Geschlecht. K. galt traditionell als weibliche Kom-
selbst gerade nicht normenkonform. K. kann zwar den munikationsform, als bösartiges weibliches Gerede,
Zusammenhalt einer Gruppe stärken, doch ebenso kann während das Gespräch unter Männern über Dritte als
er Zwietracht säen, Differenzen verstärken und damit gutmütiges und harmloses Getratsche bagatellisiert
letztlich zum Zerfall einer Gruppe beitragen. Diese wurde. [47] Zwar wurde in der feministischen Linguistik
Funktionswidersprüche finden ihre Entsprechung auf dieses Vorurteil von einigen Autorinnen – positiv ge-
der Ebene der Erscheinungsweise: K. wird öffentlich ge- wendet – übernommen und K. als Sprache der Intimität
ächtet und zugleich lustvoll privat praktiziert; authenti- und Solidarität unter Frauen idealisiert. [48] Doch eth-
sche Darstellungen verwandeln sich im K. unversehens nologische, psychologische und linguistische Arbeiten
in Übertreibungen; Empörung über Fehlverhalten paart lassen keinen Zweifel daran, daß Männer sich ebenfalls
sich mit Mitleid, Mißbilligung mit Verständnis; scham- an Klatschgesprächen beteiligen und Unterschiede zwi-
haftes Sich-Zieren und Kokettieren wechseln ab mit schen den Geschlechtern nur im Hinblick auf Klatsch-
schamloser Direktheit. K. gleicht einem moralischen themen und Sprachstil bestehen. [49] Daß Frauen den-
Balanceakt, einer Grenzüberschreitung, die im nächsten noch als das klatschhafte Geschlecht galten, ist zum
Schritt wieder annulliert wird. einen Resultat der männlichen Diskriminierung weibli-
Im Hintergrund dieser Widersprüchlichkeit von K. chen Kommunikationsverhaltens. Zum andern ist diese
steht die paradoxe Loyalitätsstruktur von Freundschafts- Zuschreibung zurückzuführen auf die traditionelle Ar-
und Kollegialitätsbeziehungen. Der Anspruch des einen beitsteilung, aufgrund derer Frauen primär im privat-
Freundes auf Verschwiegenheit und Vertrauen steht familiären Lebensbereich tätig waren, wo sie sehr viel
nämlich in einem systematischen Konflikt mit dem An- eher zu Informationen und Neuigkeiten über das Leben
spruch der anderen Freunde, ins Vertrauen gezogen zu der Mitbürger auf der «Hinterbühne» (Goffman) ka-
werden. In dieser Situation hat sich die kommunikative men als Männer. [50] In dem Maß, in dem sich die tra-
Gattung K. herausgebildet. Die Weitergabe von Wissen ditionelle geschlechtsspezifische Arbeitsteilung auflöst,
über die Privatangelegenheiten eines Dritten ist ein Akt wird auch das Stereotyp von den klatschhaften Frauen
der Indiskretion. Doch wer sein Wissen gezielt nur an verschwinden.
gemeinsame Freunde und Bekannte – und das unter Eine letzte Änderung von K. in der heutigen Gesell-
dem Siegel der Verschwiegenheit – weitererzählt, ver- schaft hängt zusammen mit dem Aufkommen der mo-
hält sich rücksichtsvoll, eben diskret. K. ist deshalb zu dernen Massenmedien. Mit den Klatschspalten in den
verstehen als die institutionelle Lösung eines struktu- Zeitungen, der Regenbogenpresse, den VIP-Magazinen
rellen Widerspruchs, er ist die Sozialform der diskreten des Fernsehens oder auch den Chat-Gruppen [51] im In-
Indiskretion. ternet haben sich Formen der Klatschkommunikation
IV. Historische Aspekte. K. ist auch in modernen Ge- entwickelt, die sich von den Klatschgesprächen unter
sellschaften weit verbreitet. Allerdings haben verschie- Freunden und Kollegen wesentlich unterscheiden. Von
dene Entwicklungen dafür gesorgt, daß sich Erschei- Bedeutung ist hier zum einen, daß die Schriftgestalt der
nung und Funktion von K. an manchen Punkten grund- Klatschreportagen das fortwährende Spiel mit Andeu-
legend geändert haben. tungen und Insinuationen ermöglicht [52] und die Bilder
Moderne Gesellschaften sind funktional differenzier- der Paparazzi ganz neue indiskrete Einblicke zulassen.
te Gesellschaften, deren Teilsysteme – Recht, Medizin, Zum andern gründet sich K. in den Massenmedien zu-
Erziehung, Politik etc. – sich weitgehend von Moral ab- meist nicht mehr auf ein wechselseitiges, triadisches Be-
gekoppelt haben. Eine verbindliche kollektive Moral, kanntschaftsverhältnis aller Beteiligten, sondern, da es
die den Menschen ihre Plätze anweist, gibt es nicht hier in erster Linie um Prominentenklatsch geht, um
mehr, der moderne Staat selbst propagiert keine spe- eine einseitige Bekanntheit. Eine Konsequenz dieser
zifische Weltanschauung. Es kommt – parallel zum nicht-reziproken Konstellation ist, daß K. hier nicht in
Schicksal der Religion – zu einer Privatisierung der Mo- der gleichen Weise ausbalanciert ist wie der private K.

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Klatsch Klatsch

So wird zwar auf die gleiche rhetorisch übertriebene eingesetzt. Langjährige Klatschkolumnisten erlangen
Weise Skandalisierung betrieben, das Gegengift jedoch dann mit ihrer Tätigkeit nicht selten selbst einen Pro-
– ein Zeichen von Verständnis und Rücksichtnahme für minentenstatus – und können ihrerseits zum Gegen-
das Klatschopfer – bleibt aus. Moralisch getarnte Ran- stand von medialem K. werden.
küne und Gehässigkeit können sich ungebremst aus-
breiten und aus K. kann leicht ein justiziabler Sachver-
Anmerkungen:
halt (üble Nachrede, Verleumdung, Beleidigung o. ä.) 1 Kluge: Etym. Wtb. der dt. Sprache (242002) 493. – 2 vgl.
entstehen. [53] Grimm, Bd. 11, Sp. 1010ff. – 3 H. Küpper: Wtb. der dt. Um-
Eine besondere Bedeutung kommt im Kontext des gangssprache (1997) 294. – 4 vgl. B. Althans: Der K., die Frauen
medialen K. der Figur des Klatschkolumnisten zu. Spä- und das Sprechen bei der Arbeit (2000). – 5 Arist. EN 1124b20–
testens in den 1920er Jahren haben mit dem Aufkom- 1125a20. – 6 Theophrast: Charakterskizzen, in: C. Schmölders
men der großen Filmproduktionsfirmen einzelne Jour- (Hg.): Die Kunst des Gesprächs. Texte zur Gesch. der europäi-
nalisten damit begonnen, sich auf die Sammlung und schen Konversationstheorie (1979) 90; G. della Casa: Vom täg-
Verbreitung von Neuigkeiten aus dem Leben der Pro- lichen Gespräch, ebd. 124; A. v. Knigge: Über den Umgang mit
Menschen (1966) 28. – 7 Chr. Thomasius: Von der Klugheit, sich
minenten und Reichen zu spezialisieren. Zwar waren in täglicher Konversation wohl aufzuführen, in: Schmölders [6]
diese Journalisten keine Angestellten der Filmindustrie, 184. – 8 H. Ortner: Fehlformen rhet.-stilistischen Handelns, in:
doch sie waren und sind bis heute Teil des Starsystems, U. Fix, A. Gardt, J. Knape (Hg.): Rhet. und Stilistik. Ein int. Hb.
über dessen Personal sie in eigens dafür eingerichteten hist. und systematischer Forschung, 2. Halbbd. (2009) 1367–
Sparten in Zeitungen und Zeitschriften, im Hörfunk und 1381. – 9 M. Lazarus: Über Gespräche, in: ders.: Ideale Fragen.
Fernsehen berichten. Einerseits tragen diese Klatsch- Reden und Vorträge (1879) 233–265. – 10 P. Radin: Primitive
kolumnisten, indem sie Neuigkeiten über das Leben von Man as Philosopher (New York 21957) 77 (Übers. Red.). –
Schauspielern oder Musikern ausbreiten, wesentlich zur 11 E.M. Albert: Culture Patterning of Speech Behavior in Bu-
rundi, in: J.J. Gumperz, D. Hymes (Hg.): Directions in Sociolin-
Bekanntheit und zum Celebrity-Status der Prominenten guistics: The Ethnography of Communication (New York 1972)
bei und agieren somit ganz in deren Dienst; oft genug 87f. – 12 F.E. Lumley: Means of Social Control (New York 1925)
werden die Klatschreporter von den Prominenten selbst 211–236. – 13 G. Simmel: Soziol. Unters. über die Formen der
mit vermeintlichen Klatschgeschichten versorgt. [54] Vergesellschaftung (1908). – 14 E. Goffmann: The Presentation
Andererseits darf der Klatschkolumnist nicht zum Hof- of Self in Everyday Life (Garden City 1959); D. Hymes: Intro-
berichterstatter werden, er muß auch die Interessen der duction – Toward Ethnographies of Communication, in: J.J.
Leser bedienen, indem er (vermeintliche) Indiskretio- Gumperz, D. Hymes (Hg.): The Ethnography of Communica-
nen über das Privatleben der Prominenten ausplaudert tion, in: American Anthropologist (Special Issue) 66:6 (1964)
1–34; zur Konversationsanalyse vgl. H. Sacks: On the Analyza-
und die so unnahbar scheinenden Stars durch die Ver- bility of Stories by Children, in: Gumperz, Hymes (Hg.) [11]
öffentlichung ihrer Fehltritte und Entgleisungen dem 329–345; E.A. Schegloff: Sequencing in Conversational Ope-
Leser näher bringt, auf Normalmaß zurückschneidet nings, in: American Anthropologist 70 (1968) 1075–1095. –
oder dem Leser Gelegenheit für Häme und Schaden- 15 Th. Luckmann: Grundformen der ges. Vermittlung des Wis-
freude bietet. sens: Kommunikative Gattungen, in: F. Neidhardt, M.R. Lep-
Klatschkolumnisten müssen demnach eine paradoxe sius, J. Weiss (Hg.): Kultur und Ges. Sonderheft 27 der Kölner
Leistung vollbringen: Sie stehen vor der Aufgabe, sich Zs. für Soziol. und Sozialpsychol. (1986) 191–211. – 16 R.B. Stir-
glaubhaft als «Insider» und zugleich als «Outsider» zu ling: Some Psychological Mechanisms Operative in Gossip, in:
Social Forces 34 (1956) 262–267; A. Balikci: Bad Friends, in:
präsentieren. [55] Diese Dopperolle macht die Texte Human Organization 27 (1968)191–199. – 17 G.H. Mead: Mind,
von Klatschkolumnisten aus einer rhetorischen Per- Self and Society (Chicago 1932) 205f; J.M. Suls: Gossip as Social
spektive interessant. Sie dürfen nicht zu deutlich, vor Comparison, in: J. of Communication 1,27 (1977) 164–168. –
allem nicht juristisch angreifbar sein, müssen aber auch 18 N. Luhmann: Funktionen und Folgen formaler Organisatio-
das Neuigkeitsbedürfnis der Leser stillen und dürfen nen (31976) 324–331; M. Noon, R. Delbridge: News from Behind
deshalb nicht inhaltsleer und vage bleiben. Klatschko- my Hand: Gossip in Organizations, in: Organization Studies 14
lumnen sind dort drastisch und grob, wo sich der Ver- (1993) 23–36; G. Michelson, S. Mouly: Rumor and Gossip in
fasser durch Fotos und andere Evidenzpraktiken auf si- Organizations: A Conceptual Study, in: Management Decision
38 (2000) 339–346; N.B. Kurland, L.H. Pelled: Passing the
cherem Boden wähnt, und sie arbeiten dort mit Anspie- Word: Toward a Model of Gossip and Power in the Workplace,
lungen, Andeutungen, Wortspielen, Extrapolationen in: Academy of Management Review 25 (2000) 428–438. – 19 C.
und konjunktivischen Formulierungen, wo der Verfas- Finch, P. Bowen: The Tittle-Tattle of Highbury: Gossip and the
ser nicht deutlicher werden kann (oder aus Rücksicht Free Indirect Style in ‹Emma›, in: Representations 31 (1990)
auf den Prominenten nicht deutlicher werden will). 1–18; E.W.B. Hess-Lüttich: ‘Evil tongues’ – The Rhetoric of
Kennzeichnend für Klatschkolumnen ist darüber hinaus Discreet Indiscretion in Fontane’s ‹L’Adultera›, in: Language
ihre emotionale Einfärbung entweder durch Entrüstung and Literature 11 (2002) 217–230. – 20 R. Dunbar: Grooming,
(über einen Fehltritt) oder durch Anteilnahme (an ei- Gossip and the Evolution of Language (New York 1996); ders.:
Gossip in Evolutionary Perspective, in: Review of General Psy-
nem Schicksalsschlag). In beiden Fällen ist der affektive chology 8 (2004) 100–110. – 21 J. Bergmann: K. – Zur Sozialform
Bezug textlich konstruiert und dient nicht nur dazu, den der diskreten Indiskretion (1987). – 22 M.H. Goodwin: «He-
Leser oder Zuhörer emotional zu aktivieren, sondern said-she-said»: Formal Cultural Procedures for the Construc-
auch dazu, den eigenen Akt der Indiskretion hinter ei- tion of a Gossip Dispute Activity, in: American Ethnologist 7
nem scheinbar honorigen Motiv zu verstecken. (1980) 674–695. – 23 E.A. Schegloff: Sequence Organization in
Klatschkolumnisten sind Grenzgänger, die die Fähig- Interaction: A Primer in Conversation Analysis I (Cambridge
keit besitzen, in ihrem sozialen Verhalten wie in ihren 2007) Kap. 4: Pre-Expansion; D. Eder, J.L. Enke: The Structure
Texten einen diplomatischen Balanceakt zu bewerkstel- of Gossip. Opportunities and Constraints on Collective Expres-
sion among Adolescents, in: American Sociological Review 56
ligen. Ansatzweise beherrschen zwar auch Klatschak- (1991) 502ff. – 24 E.B. Almirol: Chasing the Elusive Butterfly:
teure im Alltag diese Kunst, doch mit der Institution des Gossip and the Pursuit of Reputation, in: Ethnicity 8 (1981) 300.
Klatschkolumnisten und dem Aufkommen von Gesell- – 25 D. Tannen: Talking Voices: Repetition, Dialogue, and Ima-
schaftsreportern, Paparazzi etc. hat die Verberuflichung gery in Conversational Discourse (New York 1989). – 26 V.N.
von K. und die Entwicklung eines eigenen Klatschcodes Vološinov: Marxismus und Sprachphilos. (1975) 194. – 27 vgl.

455 456
Klatsch Kommunikative Kompetenz

M.M. Bachtin: Die Ästhetik des Wortes (1979); S. Günthner: ly-Newman: Mock Intimacy – Strategies of Engagement in Is-
Stilisierungsverfahren in der Redewiedergabe. Die ‹Überlage- raeli Gossip Columns, in: Discourse Studies 6 (2004) 471–488. –
rung von Stimmen› als Mittel der moralischen Verurteilung in 53 D.J. Solove: The Future of Reputation – Gossip, Rumor, and
Vorwurfsrekonstruktionen, in: B. Sandig, M. Selting (Hg.): Privacy on the Internet (New Haven 2007). – 54 H. Treiber:
Sprech- und Gesprächsstile (1997) 94–122. – 28 E. Goffman: Obertanen. Gesellschaftsklatsch – ein Zugang zur geschlosse-
Frame Analysis: An Essay on the Organization of Experience nen Ges. der Prestige-Oberschicht, in: J. für Sozialforsch. 26
(New York 1974) 539. – 29 G. Christmann, S. Günthner: Ent- (1986) 140–159. – 55 J. Levin, A. Arluke: Gossip – The Inside
rüstung: Moral mit Affekt, in: J. Bergmann, T. Luckmann (Hg.): Scoop (New York/London 1987).
Kommunikative Konstruktion von Moral, Bd. 1: Struktur und
Dynamik der Formen moralischer Kommunikation (1999) 242– Literaturhinweise:
273. – 30 Ch. von Reichenau: Die Übertreibung, in: Reine und D. Handelman: Gossip in Encounters: The Transmission of In-
angewandte Soziol., FS F. Tönnies (1936) 202–217. – 31 A. Mit- formation in a Bounded Social Setting, in: Man 8 (1973) 210–
scherlich: Kurze Apologie des K., in: ders.: Auf dem Weg zur 227. – R.L. Rosnow, G.A. Fine: Rumor and Gossip – The Social
vaterlosen Ges. Ideen zur Sozialpsychol. (1963) 327–329. – Psychology of Hearsay (1976). – S. Yerkovich: Gossiping as a
32 zur Einführung von Zeugen als Autorisierungsstrategie vgl. Way of Speaking, in: J. of Communication 27 (1977) 192–196. –
D.E. Smith: K ist geisteskrank. Die Anatomie eines Tatsachen- J.P. Sabini, M. Silver: Moral Reproach and Moral Action, in: J.
berichts, in: E. Weingarten, F. Sack, J. Schenkein (Hg.): Eth- for the Theory of Social Behaviour 8 (1978) 103–123. – S. Bok:
nomethodologie. Beitr. zu einer Soziol. des Alltagshandelns Secrets: On the Ethics of Concealment and Revelation (New
(1976) 368–415. – 33 J. Bergmann: Alarmiertes Verstehen: York 1983). – D. Brenneis: Grog and Gossip in Bhatgaon: Style
Kommunikation in Feuerwehrnotrufen, in: T. Jung, S. Müller- and Substance in Fiji Indian Conversation, in: American Eth-
Doohm (Hg.): Wirklichkeit im Deutungsprozeß. Verstehen und nologist 11 (1984) 487–506. – G.A. Fine: Rumours and Gossi-
Methoden in den Kultur- und Sozialwiss. (1993) 310ff.; R. ping, in: T.A. van Dijk (Hg.): Handbook of Discourse Analysis,
Wooffitt: Conversation Analysis and Discourse Analysis: A Vol. III (London 1985) 223–237. – E. Lauf: Gerücht und K. Die
Comparative and Critical Introduction (London 2005) 105f. – Diffusion der abgerissenen Hand (1990). – R.F. Goodman, A.
34 R. Paine: What is Gossip About? An Alternate Hypothesis, Ben-Ze’ev (Hg.): Good Gossip (1994). – K. Thiele-Dohrmann:
in: Man 2 (1967) 278–285. – 35 N. Besnier: Information Withhol- Der Charme des Indiskreten. Eine kleine Gesch. des K. (1995). –
ding as a Manipulative and Collusive Strategy in Nukulaelae M. Menzel: K., Gerücht und Wirklichkeit bei Nathaniel Haw-
Gossip, in: Language in Society 18 (1989) 315–341. – 36 P.M. thorne (1996). – M. Wengerzink: K. als Kommunikationsphä-
Spacks: Gossip (New York 1985). – 37 vgl. F.E. Lumley: Means nomen in Lit. und Presse. Ein Vergleich von Fontanes Gesell-
of Social Control (New York 1925) 211–236; A. Arno: Fijian schaftsromanen und der dt. Unterhaltungspresse (1997). – Re-
Gossip as Adjudication: A Communication Model of Informal view of General Psychology: Special Issue of Gossip 8:2 (2004).
Social Control, in: J. of Anthropological Research 36 (1980)
343–360. – 38 T.V. Smith: Custom, Gossip, Legislation, in: Social J. Bergmann
Forces 16 (1937) 24–34. – 39 M. Gluckman: Gossip and Scandal,
in: Current Anthropology 4 (1963) 307–316. – 40 vgl. A.L. Ep- ^ Dialog ^ Geschwätzigkeit ^ Geselligkeit ^ Gespräch ^
stein: Gossip, Norms and Social Network, in: J.C. Mitchell Gesprächsrhetorik ^ Höflichkeit ^ Konversation ^ Massen-
(Hg.): Social Networks in Urban Situations (Manchester 1969) kommunikation ^ Skandal ^ Sprechakttheorie ^ Tadelrede
117–127; vgl. auch S.E. Merry: Rethinking Gossip and Scandal, ^ Talkshow
in: D. Black (Hg.): Toward a General Theory of Social Control,
Vol. I (Orlando, Fl. 1984) 271–302. – 41 N. Elias, J.L. Scotson:
Observations on Gossip, in: ders.: The Established and the
Outsiders: A Sociological Enquiry into Community Problems Kommunikative Kompetenz (engl. communicative
(London 1965) 89–105. – 42 E. Bott: Family and Social Net-
works: Roles, Norms, and External Relationships in Ordinary
competence; frz. compétence communicative; ital. com-
Urban Families (London 1957) 67. – 43 T. Luckmann (Hg.): petenza communicativa)
Moral im Alltag: Sinnvermittlung und moralische Kommuni- A. Definitorische Aspekte. – I. Begriffsbildung. – II. Kompe-
kation in intermediären Institutionen (1998). – 44 zahlreiche tenz als Modell-Bestandteil. – III. Sprachgebrauch als Manife-
Beispiele in: Bergmann, Luckmann (Hg.) [29] 2 Bde. – 45 J. station von Kompetenz. – B. Bereiche und Disziplinen. – I.
Bergmann: Der Fauxpas, in: B. Boothe, W. Marx (Hg.): Panne – Kommunikationswissenschaft. – II. Konversationsanalyse. –
Irrtum – Missgeschick: Die Psychopathologie des Alltagslebens III. Soziolinguistik. – IV. Sprachvermittlung. – V. Handlungs-
in interdisziplinärer Perspektive (Bern 2003) 53–71; A. Kieser- theorie. – C. Typen von Kompetenz. – I. Kulturelle Kompetenz.
ling: Kommunikation unter Anwesenden. Stud. über Interak- – II. Interkulturelle Kompetenz. – III. Mediale Kompetenz.
tionssysteme (1999) Kap. 10. – 46 J.B. Haviland: Gossip, Repu-
tation, and Knowledge in Zinacantan (Chicago 1977) Kap. 8 A. Definitorische Aspekte. I. Begriffsbildung. 1. Kompe-
(‹Rules in Gossip›) sowie J. Sabini, M. Silver: A Plea for Gossip, tenzbegriff. Zu den Schlüsselbegriffen, die die Diskurse
in: dies.: Moralities of Everyday Life (Oxford 1982) 100ff. – des Alltags, der beruflich-fachlichen Welt sowie der Wis-
47 A. Rysman: How the «Gossip» Became a Woman, in: J. of senschaften mit ihren Experten und Spezialisten in der
Communication 27 (1977) 176–180. – 48 vgl. D. Jones: Gossip: Moderne des 20. und 21. Jh. bestimmen, gehört ‹Kom-
Notes on Women’s Oral Culture, in: Women’s Studies In. petenz› (und gerade auch deren Negation, nämlich die
Quart. 3 (1980) 193–198; J. Coates: Gossip Revisited: An Ana- ‹Inkompetenz› als Kritik- und Gefahrbegriff). Über die
lysis of All-Female Discourse, in: J. Coates, D. Cameron (Hg.):
Women in Their Speech Communities: New Perspectives on
Etymologie wird der begriffliche Kern deutlich: lat. com-
Language and Gender (London 1989) 94–122. – 49 vgl. J. Levin, petentia (Zusammentreffen, Stimmen), aus competĕre
A. Arluke: An Exploratory Analysis of Sex Differences in Gos- (zusammentreffen, stimmen, gemeinsam erstreben, aus-
sip, in: Sex Roles 12 (1985) 281–286; S. Johnson, F. Finlay: Do reichen, seiner mächtig sein; competens (zuständig, pas-
Men Gossip? An Analysis of Football Talk on Television, in: S. send, geeignet), zu petĕre (hingreifen, zielen nach, er-
Johnson, U.H. Meinhof (Hg.): Language and Masculinity (Mal- streben). In den modernen Sprachen hat sich, als Inter-
den, MA. 1997) 130–144; A.-C. Evaldsson: Boys’ Gossip Tel- nationalismus, die zentrale Bedeutung Zuständigkeit,
ling. Staging Identities and Indexing (Unacceptable) Masculine Befugnis, Urteilsfähigkeit, Befähigung herausgebildet.
Behavior, in: Text 22 (2002) 199–225. – 50 J.F. Riegelhaupt: Sa-
loio Women: An Analysis of Informal and Formal Political and
Dabei dürfte als semantisches Grundmerkmal gelten,
Economic Roles of Portuguese Peasant Women, in: Anthro- daß der Aspekt der ‹Bewegung auf ein Ziel hin› bestim-
pological Quart. 40 (1967) 125. – 51 C.L. Harrington: Where Did mend wirkt. Somit ist ‹Kompetenz› stets zu verstehen als
You Hear That? Technology and the Social Organization of Leistung, als Erarbeitetes, somit als Fertigkeit, nicht als
Gossip, in: Sociological Quart. 36 (1995) 607–628. – 52 E. Sche- eine angeborene Fähigkeit (dies wäre die ‹Intelligenz›).

457 458
Kommunikative Kompetenz Kommunikative Kompetenz

Kompetenz erwirbt der Mensch als handelnder, als in


der Welt wirkendes Gemeinschaftswesen. Deshalb ver-
weist der Begriff auf kulturanthropologische Grundla-
gen gelingenden Menschseins. Dazu gehören das Ange-
eignete (Kenntnisse, Wissen, Fertigkeiten) und, daraus
abzuleiten, die jeweilige Zuständigkeit und Verantwor-
tung. Damit ist auch eine soziale Stellung markiert. Um
diese zu erreichen, zu festigen und zu optimieren, bedarf
es verhaltensbezogener und kommunikativer, darin ein-
geschlossen natürlich: sprachlicher Fertigkeiten, die von
der Gemeinschaft akzeptiert und als Qualitätsausweis
respektiert werden. Kompetenz ist folglich (1) Ergebnis
eigener Anstrengungen, (2) individuelle Demonstration
von erlernten und einsetzbaren Fertigkeiten, (3) einge-
bunden in die Kenntnisse und die Möglichkeiten der le-
benspraktischen Umgebung, und (4) ein Anspruch des
Individuums an die Gemeinschaft, dies auf angemessene
Weise zu honorieren (Status-Anerkennung, Ehrung,
Prestige, Bezahlung, Gedenken usw.). Die Situierung im
Individuum (petĕre), aber die Geltung im sozialen Raum
(cum-) – das macht den medialen (vermittelnden) Cha-
rakter des Kompetenz-Begriffs aus. Er ist gebunden an Abb. 2
die Kopf- und Handleistung des einzelnen Menschen
und kann ohne die Mittel der Vermittlung nicht auskom-
men, nämlich Sprache, Situationen, Wirkwelt (Kultur): Merkmale wie arbiträr, konstant, referentiell u. a., die
Man kann also unterscheiden: hier flankierend dazugehören, sind Qualitäten der Zei-
chen und werden als langue- und parole-Phänomene von
der Semiotik untersucht: nämlich als Struktur und Funk-
tion von Zeichen, als Zeichenarsenal oder Zeichenein-
satz. [5]
Das Modell einer dichotomen Gemeinschaft zwi-
schen einem zugrundeliegenden Bestand und der daraus
sich bedienenden Realisierung hat schon Vorläufer, so
bei Aristoteles die Unterscheidung nach eÍrgon, érgon
(Werk, Arbeit, Tat, Tatsache) und eÆneÂrgeia, enérgeia
(Wirken, Wirksamkeit, Tätigkeit, Betätigung), die W.
von Humboldt (1767–1835) wieder aufnimmt. Auch
type und token bei dem Semiotiker Ch.S. Peirce (1839–
1914), Sprachgebilde gegenüber Sprechakt bei K. Büh-
ler [6], oder Kompetenz (competence) versus Perfor-
manz (performance) bei N. Chomsky [7] versuchen, die
zwei «Seinsweisen» begrifflich zu fassen: das geregelte,
geordnete, strukturierte Vorhandensein im Gehirn ei-
nerseits, das über die Informationstheorie auch mit Sy-
stem oder, anglophonisiert, als Code/Kode bezeichnet
Abb. 1 wird, und das, was man hören und lesen kann als Aus-
wahl aus den Möglichkeiten, die im Gehirn zur Verfü-
2. Dichotomie Langue – Parole. ‹Kompetenz› umfaßt gung stehen, was auch, in der Informationstheorie,
‹Vermögen› und ‹Durchführung› im gelehrten Alltags- Nachricht (message), in der Tradition der Textlinguistik
verständnis: in der schulischen Erziehung, im betriebli- und Diskursanalyse [8], Diskurs genannt wird (bei allen
chen Management, in Institutionen, in Bewertungssi- Feindifferenzierungen im einzelnen [9]).
tuationen des Lebens. In die Wissenschaften hat mit Dabei handelt es sich nicht um getrennte Größen,
dem europäischen Strukturalismus, genauer durch den vielmehr ist eine von der anderen abhängig: Parole ohne
Genfer Sprachwissenschaftler F. de Saussure (1857– langue ist nicht möglich, langue ohne parole ebenfalls
1913) [1], die semiotische Unterscheidung nach einer- nicht. Was zuerst vorhanden war, ist ungeklärt. Es ist
seits der (abstrakten) Systemordnung und Regel- wohl ein Prozeß der Entwicklung von Sprache anzuneh-
struktur von Zeichen und andererseits der (konkreten) men, der konsequent aus einer Vielzahl von Genesen
Realisierung von Zeichen Eingang gefunden. Für die zur Perfektionierung des Menschen besteht: Die Bio-
Sprache (frz. langage, menschliche Redefähigkeit) als genese (vor ca. 4 Milliarden bis 1,7 Milliarden Jahren),
eine verbale Mitteilungsfertigkeit des Menschen (es gibt die Soziogenese (vor ca. 500 Mill. Jahren), die Semioge-
auch eine nonverbale, die Körperkommunikation [2]) nese (vor ca. 2 Mill. Jahren), die Glottogenese, also die
entspricht dies der Differenzierung nach langue (Spra- Entstehung von Sprache, vor ca. 50.000 Jahren, danach
che, Sprachsystem) und parole (Sprechen, Sprachver- die Eikonogenese (Ikon, also Bilder) vor ca. 30.000 Jah-
wendung, Gebrauch). ren, die Graphogenese (Sumer-Kultur, ca. 4000 v. Chr.),
Diese Zweiteilung (Dichotomie) birgt folgende die Typographogenese mit Gutenberg ca. 1450 n. Chr.,
Merkmale, die im einzelnen zu lebhaften wissenschaft- die Mediogenese um 1940 und 1960 mit Radio und Fern-
lichen Diskussionen geführt haben [3]: sehen wie dann auch die digitale Revolution mit Com-

459 460
Kommunikative Kompetenz Kommunikative Kompetenz

putertechnik und Internet im letzten Drittel des 20. Jh. Nähe zu bringen ist mit der ganz anders gelagerten Uni-
Die Glottogenese als Leistung der Biologie (Anatomie) versalienforschung [14]); sie sollte die allgemeinen Prin-
und Kognition (Gehirnentwicklung) des prähistori- zipien von Sprache und Spracherwerb formulieren,
schen Menschen hat man sich wohl eher als ein Zusam- denn Chomsky ging davon aus, daß die Sprachen der
menspiel von nonverbalen Regungen mit kommunika- Menschen nach gemeinsamen grammatischen Prinzipi-
tivem Zeichenwert vorzustellen, begleitet von Laut- en funktionieren (dem steht der ‹Linguistische Relati-
äußerungen, mit allmählicher Habitualisierung dieser vismus› in der Hypothese von E. Sapir und B.L. Whorf
Gemeinschaft nonverbaler und verbaler Zeichen, bis gegenüber); Chomsky sieht dies darin begründet, daß
dann die verbalen Zeichen sich von den situationsspe- diese Prinzipien dem Menschen als Spezies angeboren
zifischen Bindungen haben lösen können, also auch sind. Evident ist dabei, daß ein Sprecher mit einer end-
ohne Körperunterstützung kommunikativ funktionier- lichen Anzahl von Regeln eine unendliche Anzahl von
ten, so daß über konstante Verwendung und gleichblei- Äußerungen bilden kann und fähig ist, noch nie vorhan-
bendes Verstehen eine Bedeutung als soziale Konven- dene Sätze oder Texte zu verstehen. Die Leistung sieht
tion aufgebaut und durch Wiederverwendungen bestä- er als einen Teil des genetischen Programms an, dessen
tigt und gefestigt wurde [10]: der Kreislauf setzt sich von der Mensch sich allerdings, wie unserer kognitiven und
der parole über die langue-Entwicklung in die parole zu- allgemein biologischen Anlagen ebenfalls, nicht bewußt
rück in Gang: so baut sich eine gemeinschaftlich bei al- ist. Gerade diese universale Kapazität, die der kommu-
len Teilhabern der Sprachgemeinschaft mehr oder we- nizierende Mensch als seine Kompetenz mit Sprache of-
niger gleich vorhandene langue als System auf, die dann fenbart, will Chomsky aufdecken. Insofern geht er kon-
wieder für die Sprachverwendung als notwendige Vor- sequent von einem idealen Sprecher bzw. Hörer aus, der
aussetzung in mündlichen, aber auch in schriftlichen keinen Störungen ausgesetzt ist, sich nicht ablenken
Kommunikationssituationen dient. So verläuft dann läßt, keinen Beeinträchtigungen unterliegt und folglich
auch, gemäß der biogenetischen Hypothese, die E. korrekte Äußerungen im Sinne einer Kompetenz for-
Haeckel 1866 aufstellte, nämlich daß die Ontogenese mulieren kann.
die Phylogenese rekapituliert, der Spracherwerb der 2. Kontextlosigkeit im logischen System. Das Entho-
Kinder von der parole zum Aufbau einer immer kom- bensein von konkreten Kommunikationssituationen, in
plexer werdenden langue, die ihrerseits eine sich entfal- denen eben nicht ideale, sondern abgebrochene oder
tende parole im konkreten Leben ermöglicht. unvollständige Äußerungen «weiterverstanden» wer-
II. Kompetenz als Modell-Bestandteil. 1. Das gene- den können, in denen sich Lügen, Anspielungen, Vag-
rative Modell: Syntax. De Saussure favorisierte 1916 für heiten, manipulative Strategien verbergen, in denen,
die wissenschaftliche Erfassung den Bereich der langue: statt monotone Neutralität und Monolog, vielmehr Em-
Linguistik, aber auch die (ihr übergeordnete) Semiotik, pathie und Dialogizität konstitutiv sind (Sprache ist in
seien hier zuständig mit der prinzipiellen Aufgabe, die erster Linie dialogisch: es gilt die «kommunikative Dya-
Strukturen und deren Zusammenhalt (Interrelationen) de» [15]), in denen auch die Situation selbst das Ver-
als System zu beschreiben; die parole mit ihren unsy- ständnis mitfördert, in denen außerdem das Vorwissen
stematischen und oft nicht regelkonformen Erscheinun- des Einzelnen wie auch der Partner zu ihrem Redein-
gen sei nicht das geeignete Analysefeld, und bis heute halt, natürlich auch Vorgängertexte und mögliche Nach-
wird parole oft noch fälschlicherweise mit ‹nachlässig folge- oder Anschlußtexte eine Rolle für die Art des
gesprochener Sprache› gleichgesetzt. [11] In der wissen- Kommunizierens spielen, wo also sprachlicher Kotext
schaftlichen Zuwendung ist zunächst dem System stär- und situativer Kontext die Art des Sprechens und die
kere Aufmerksamkeit zuteil geworden, wobei die an- Möglichkeiten des Verstehens mitbestimmen, lassen das
gloamerikanische Terminologie mit competence, im Modell steril und entrückt von den natürlichen Abläu-
Deutschen als Kompetenz, sich durchgesetzt hat. fen erscheinen, zumal es zunächst auf der Schriftlichkeit
Eine zentrale Rolle spielt dabei der amerikanische einer Sprache gründete und sich – kritisierbar als gene-
Linguist N. Chomsky (geb. 1928); sein Wirkungsort, das rell «sprachuntypische», unkommunikative Basis – le-
‹Massachusetts Institute of Technology› (Cambridge, diglich auf «Sätze», gar auf «Sätzchen» (meist artifiziel-
MA) war der geeignete Ort, eine Interdisziplinarität len, nicht authentischen aus einem empirischen Kor-
zwischen Linguistik, Kognitionswissenschaften und In- pus), zur Verifizierung der Hypothesen und Theorie
formatik anzustreben und in dieser Verbindung den bis stützte (z.B. Einfachsätze und isolierte Beispiele wie
dahin rigiden amerikanischen Strukturalismus (Beha- The dog ate the bone oder John hit the ball). Bekannt ist
viorismus) zugunsten kognitionswissenschaftlicher An- die angebliche Ambivalenz – syntaktische Ambiguität –
sätze auf- und abzulösen. Mit der Neufassung als Kom- von Flying planes can be dangerous [16] – als ob jemals
petenz sollte die Starrheit des langue-Begriffs in ein dy- eine solche Aussage in der Welt so einsam, so kontextlos
namisches Verständnis gewandelt werden. Dies wird in hingeworfen würde: ‹Das Fliegen von Flugzeugen ...›
dem Beschreibungs- bzw. Analysemodell deutlich, das vs. ‹Fliegende Flugzeuge ...›; da gibt es Kontexte, moti-
er ab den 50er Jahren konzipierte [12] und das aufgrund vierende Situationen für eine solche Aussage, Argu-
seiner methodischen Verfahren ‹Generative Gramma- mentationen, Textsortenkonventionen (didaktisch, juri-
tik› oder ‹Transformationsgrammatik› (oder auch ‹Ge- stisch, technisch o. a.), die in funktionierender Sprache
nerative Transformationsgrammatik›) genannt wird. sofort Desambiguierungsmöglichkeiten anbieten. Die
Grundlegend ist dazu die Unterscheidung einer (kon- Kompetenz also auf Regelapparate zu reduzieren, nach
kreten, materialisierten) Oberflächen- und einer (ab- denen ein Sprecher korrekte Sätze bildet, blendet wich-
strakten) Tiefenstruktur der Sprache (surface structure tige Mitkonstituenten von Kommunikativität, also von
und deep structure), also wieder eine Trennung in ein Sprachproduktion und von Verstehenkönnen, aus.
Regelsystem und eine Realisierungsform. Wenngleich Der Gegenbegriff zur ‹Kompetenz›, nämlich ‹Perfor-
sich die Analysen und Aussagen praktisch immer auf manz›, vergleichbar mit parole, ist für die Generativi-
das Englische beziehen, strebt Chomsky eine Universal- sten nicht von primärem Belang; sie dient lediglich als
grammatik an [13] (die nicht gleichzusetzen oder in die Verifizierung der logischen Schritte zur Beschreibung

461 462
Kommunikative Kompetenz Kommunikative Kompetenz

der Strukturen, Relationen und Prozesse, die die Kom- den sie zuerst bei den Inhalten, bei der Semantik, ansie-
petenz ausmachen und zu Erkenntnissen über kognitive delt. «Die “Sprechfähigkeit” des Menschen ist ein spe-
Fakten und Funktionen führen. So war es eine durchaus zifischer Teil der “Kognition”. Sie ist eine humanspe-
ernstzunehmende Frage, ob die syntaktische Kette Co- zifische mentale Fähigkeit, die konstitutiv für viele un-
lorless green ideas sleep furiously [17] als (1) gramma- serer allgemeinen kognitiven Fähigkeiten ist. In diesem
tisch wohlgeformte (correct) Äußerung unter inhaltlich- Sinn ist Kognition der allgemeinere Begriff und inklu-
semantischen Aspekten eher ein Unsinnsatz (nonsense diert “Sprache”». [25] Dabei wird die Suche nach se-
string) ist (was Chomsky als Diskrepanz zeigen will und mantischen Merkmalen und ihrer Verarbeitung zu In-
damit beweist, daß neben der ‹Grammatikalität› als formation methodologisch mit einem Problem konfron-
Kompetenz-Produkt auch eine in der rezeptiven Kom- tiert, das auch ein Kritikpunkt Chomskys innerhalb der
petenz ruhende ‹Akzeptabilität› für Information vor- Phase seiner Auseinandersetzungen mit Lakoff ist, näm-
handen sein muß); oder als (2) Beweis kreativer Füllung lich daß die semantischen Zuweisungen (bei Lakoff: die
strukturaler Funktionsstellen (also Subjekt, Prädikat, semantischen Generierungen) nicht nach sprachsyste-
Objekt) gewertet werden könnte (schöpferisch-poeti- matischen Phänomenen einerseits (ein langue-Argu-
sche Fertigkeit, ungewöhnliche und gänzlich neue For- ment) und dem Wissen aus dem praktischen Umgang
mulierungen zu erstellen, was die Gültigkeit der An- mit Sprache, dem enzyklopädischen oder Sprachhand-
nahme von den endlichen Mitteln für unendliche Mög- lungswissen andererseits (ein parole-Argument) unter-
lichkeiten beweisen würde, aber schon aus der langen scheiden.
Tradition der Poetik längst bekannt ist und auch in der Hier aus dem letzteren Argument ergeben sich die
antiken Rhetorik als kreative Potenz des lizenzierten Brückenschläge zur Sprechakttheorie bzw. Pragmatik,
Verstoßes (vitium), natürlich unter bestimmten Kon- die allerdings in den generativen Modellen noch nicht
stellationen [18], genutzt wurde); oder aber (3) eine me- vollzogen, geschweige denn integriert werden. Sie wer-
taphorisch verstehbare Aussage kundtut – worüber den erst später, ab den 70er Jahren, breitere Wirkung
letztlich die Kompetenz entscheidet, und zwar im Zu- zeigen [26] und dann auch die dominante Geltung dieser
sammenspiel beider sprachlicher Bereiche (Form und Modelle (bis in die linguistische Ausbildung der euro-
Inhalt). päischen Universitäten in den 70er Jahren) ablösen, was
3. Semantik im Modell. Sprache ist eben nicht allein die generative Grammatik rasch zu einer Angelegenheit
funktionierende Syntax; Kompetenz ist nicht nur die von wenigen logisch, mathematisch und computertech-
Fertigkeit, Regeln des Produzierens und der Rezeption nisch orientierten Spezialisten werden läßt. Damit öff-
zu beherrschen. Und so gesellte sich etwa 15 Jahre spä- net sich der Weg zu Pragmatik, Kommunikation, Gesell-
ter, ca. 1965, eine Semantik-Komponente hinzu, aller- schaft und (seit Mitte der 90er Jahre des letzten Jahr-
dings nur lexikalisch bezogen: die Interpretative Seman- hunderts) Kultur, was grundsätzliche Auswirkungen auf
tik, die von dem Linguisten J. Katz (1932–2001) und den Kompetenz-Begriff mit sich bringt.
dem Kognitionswissenschaftler J. Fodor (geb. 1935) in 4. Kognition als Gemeinschaftsleistung der Kompe-
den USA entwickelt wurde, nicht zuletzt, um die Schwä- tenz. Die Auseinandersetzungen um die Anteile und
chen des Syntaxmodells von Chomsky [19] abzufan- Funktionen von Syntax und Semantik in generativen
gen. [20] Chomsky komplettierte die Standardtheorie Grammatikmodellen, bei denen um den Aufbau und die
seiner Generativen Grammatik 1965 mit einer Inter- Strukturen der Kompetenz von Sprechern und um deren
pretativen Semantik [21], was eine lebhafte Debatte aus- angemessene analytische Beschreibung argumentativ
löste. gerungen wurde, brachten etliche Varianten der Gram-
Es entwickelte sich eine insgesamt fruchtbare Kon- matikkonzeption und dabei je verschiedene Entwick-
troverse, die sog. Linguistics Wars [22], die in den 60er lungsstadien mit sich. Insbesondere die Integration von
Jahren des 20. Jh. von Chomskys Schüler G. Lakoff Syntax und Semantik und der Bezug auf kognitive Mo-
(geb. 1941), in Zusammenarbeit mit anderen Linguisten, dule (sog. ‹Erweiterte Standardtheorie› seit 1967, mit
ausging. [23] Diskutiert wurde das Fehlen der Semantik- Geltung bis etwa in die 80er Jahre) ließ keinen Zweifel
Komponente, vorgeschlagen wurde eine Generative Se- daran, daß Kompetenz stets eine Gemeinschaft von Re-
mantik. Es ging Lakoff in einer Wendung gegen Choms- lationen (Syntax) und Bezeichnungswissen (Semantik)
kys neue Semantik-Komponente insbesondere darum, ist, die es erst in ihren gegenseitigen Abhängigkeiten er-
die Tiefenstrukturen, die die Kompetenz des Sprechers lauben, so über die Welt zu kommunizieren, daß das
und des Rezipienten ausmachen, nicht mehr (allein) als sprachliche Ergebnis den Intentionen, sich mitzuteilen
syntaktisches Regelsystem zu beschreiben, sondern viel- und sich in der Welt lebenspraktisch zu orientieren, ent-
mehr als semantische Repräsentation, ähnlich der Prä- spricht (abstrakte Inhalte finden modellbedingt noch
dikatenlogik, die mit ‹Prädikat-Argument›-Strukturen keine Beschreibungsmöglichkeit). Dennoch muß betont
arbeitet (vgl. G. Frege, 1848–1925). Die Semantik ist in werden, daß Chomsky und seine Mitstreiter sich primär
dieser Lakoffschen Konzeption der Syntax vorgeordnet, für die Strukturen und Funktionen des menschlichen
die sprachliche Kompetenz tiefenstrukturell also se- Gehirns interessierten, die sie über die Analyse des
mantisch bestimmt mit einem spezifischen Regelappa- Sprachsystems mit einem logischen Modell, der genera-
rat (semantischen Merkmalen und Selektionsregeln so- tiven Grammatik, aufzudecken suchen. Die Sprachana-
wie weiteren Prozeduren). lyse und ihre Disziplin, die Linguistik, dienen hier letzt-
Diese nutzt dann die Prototypensemantik (E. Rosch lich den Erkenntniszielen der Kognitiven Psychologie.
u. a. [24]) aus den 70er Jahren als die grundständige se- Der Kompetenz-Begriff umgreift somit Aspekte von
mantische Kompetenz, daß der Mensch typologisiert Sprache, Denken und Erkennen. So hat Chomsky selbst
und seine Abstraktionen mit Merkmaldifferenzierun- in späterer Zeit seine wissenschaftstheoretischen Wur-
gen unterscheidet (‹Vogel: fliegt, Schnabel, Federn›), für zeln in der rationalistischen Philosophie und der Logik
einen eigenen Ansatz zur Erfassung des wichtigsten Be- von R. Descartes (1596–1650) gesehen [27], indem aus
stands der Kompetenz, nämlich: des Anteils von Ko- einem System expliziter Regeln auf das implizite Wissen
gnition bei der Sprachproduktion und Sprachrezeption, von Sprache geschlossen und so eine logisch begründete

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Kommunikative Kompetenz Kommunikative Kompetenz

Theorie über das Denken des Menschen gebildet wer- Austins Schüler J. Searle (geb. 1932) hat mit seinem
den kann. 1969 publizierten Buch ‹Speech Acts› [36] der paro-
Da das Sprachsystem im Gehirn analog zu den Funk- le, der Performanz, zum Durchbruch verholfen. Die
tionsweisen von Computern untersucht wird, richten Sprechakttheorie thematisiert also das breite Spektrum
sich die Erklärungsmodelle dann auch an mathemati- an Möglichkeiten des Realisierens und des Verstehens,
schen Verfahren aus und bemühen sich so um Eindeu- die durch eine Sprechentscheidung der Kompetenz,
tigkeit, um eine Beschreibungsobjektivität, die von nämlich durch eine Äußerung, in Gang gebracht wer-
Störungsfaktoren und Unzulänglichkeiten abstrahiert. den. Es ist kalt hier kann als beschreibende Information
Auch bezieht sich die Grammatik lediglich auf die über einen Umstand (Sachverhalt), als Vorwurf, als
Schriftlichkeit und auf die Wohlgeformtheit, also die Aufmunterung, das Fenster zu schließen oder die Hei-
grammatische Richtigkeit. Sprachlich mit der Norm zung anzustellen, usw. intendiert und entsprechend
nicht konforme Vorkommen sind Anlaß, die Gramma- (oder auch nicht entsprechend: Möglichkeit des Miß-
tik und ihre mathematischen Methoden zu überdenken verständnisses) aufgefaßt werden. Eine solche und prin-
und gegebenenfalls sogar zu verändern. Allerdings zipiell jede Äußerung unterliegt drei Dimensionen
lassen sich Metaphern, Anakoluthe, Anspielungen, sprachlichen Handelns, die Austin beschreibt und die
Allegorien, Ironie usw., also poetisch und rhetorisch Searle generalisiert und damit eine Sprachhandlungs-
anspruchsvolle und wirkungsbezogene Sprachverwen- kompetenz erarbeitet, der jeder Sprecher im Kommu-
dung, auf solche Weise nicht fassen: sie sind nicht ma- nizieren folgt [37]: Er unterscheidet:
thematisierbar und über lexikalische Semantik, also re- (1) Den lokutionären Akt (die Lokution, locution) als
lativ kontextlos, auch nicht vom Computer verwertbar Äußerung über etwas (vgl. lat. loqui, sprechen), (2) den
(das ist die gleiche Crux bei der maschinellen Überset- illokutionären Akt (die Illokution, illocution) als Voll-
zung, da Uneigentlichkeiten eine kontextuelle Kompe- zug eines Sprechaktes (Sprechhandlung), wie Drohen,
tenz verlangen, um angemessen gebraucht und vor al- Bitten, Warnen, Empfehlen, sich Beschweren, Loben
lem verstanden zu werden. [28]) usw.; mit ihm nimmt der Sprecher zu seinem Partner
Der kognitionsbezogene Ansatz der Generativen eine Beziehung auf, stiftet eine Handlungsrelation, in
Grammatik hat inzwischen gegenüber empirischen Er- der der Partner bereits eine Rolle innehat, nämlich die
kenntnissen aus der Spracherwerbsforschung und der der Aktion durch Reaktion – was man seit der Antike
Psycholinguistik deutlich an Erklärungswert verlo- (spätestens mit Platon) Dialog (diaÂlogow, diálogos –
ren [29], da immer klarer die Umfeldbedingungen des diaÂ, diá: durch, hin, vermittelst) nennt, und (3) schließ-
Spracherwerbs als prägende Faktoren offenbar werden: lich den perlokutionären Akt (die Perlokution, perlo-
Sprache ist demnach kein eigenständiges Modul, viel- cution), in dem die Lokution und die Illokution etwas
mehr interagiert es mit anderen gleichberechtigten Be- bewirken bzw. zur Tat werden lassen: es entsteht eine
standteilen der Kognition wie Wahrnehmung, Gedächt- faktische oder mentale Aktion bzw. Reaktion (Zustim-
nis, situativer Bewertung (taktisch) oder soziokulturel- mung, Reue, Zorn, Nachdenklichkeit des Partners). Of-
lem Urteilsvermögen (strategisch). fenkundig zeigt sich dies in den sog. performativen
Daher ist der Kompetenz-Begriff aus seiner Isolation Sprechakten, bei denen Sprache (‹hiermit ...›) und Han-
auf Sprache hin herausgelöst und gewinnt Komponenten deln notwendig parallellaufen und jeder Teil konstitutiv
der Lebenspraxis hinzu, was ab den 1960er Jahren zu für das Gelingen des Ganzen, der Sprachhandlung, ist
prinzipiellen terminologisch-konzeptuellen Ergänzun- (z.B. Heiratsformel, Taufakt, Schwören, Siegerkrö-
gen (Text, Handeln, Situation, Pragmatik, Gesell- nung, Ordensverleihung, Aufnahme in eine Gemein-
schaft), zu neuen Schwerpunkten (Text, Dialog, Medi- schaft, Ausstoßen aus einer Gruppe).
um/Medialität, Kommunikationssituation/Raum, Um- Auf der Illokution liegt, auch von Searle so gewichtet,
feld/Kontext, kommunikativer Körper, Kultur) sowie das Hauptinteresse der Sprechakttheorie, indem sie
zu einer Interdisziplinarität führt, bei der die Linguistik über die Sprachverwendung das Verstehen untersucht,
ihr seit Jahrhunderten geltendes Format von den das Sprache als Handeln erkennt und demnach zu
Lauten zu den Wörtern und deren Verbindung zu Handlungen führt. Dieser Zusammenhang ist im Kopf
Sätzen (wo die Schulgrammatik aufhört) ab den 60er des kompetenten Sprechers wie Rezipienten kodiert,
Jahren enorm erweitert (Text und Textsorten als Kom- und so zielt die Sprechakttheorie via Sprachverwen-
petenz-Begriffe verschiedener Disziplinen [30], Fach- dung, die wesentlich breiter als nur verbal, eben hand-
kommunikation [31], Bildsemiotik [32], Kultur, Trans- lungsorientiert (interaktional) begriffen wird, auf das
lation [33], Interkulturalität, Globalität [34]). Sprachsystem, zu dem nicht nur die verbalen Elemente
III. Sprachgebrauch als Manifestation von Kompe- (Laute, Wörter, Kombinationsstrukturen: Grammatik)
tenz. 1. Sprechakttheorie. Der sog. ‹Kognitiven Wen- gehören, sondern auch das konstitutive Wissen um
de› (cognitive revolution) der 60er Jahre des 20. Jh. als Handlungen und deren Strukturen.
Ablösung des Behaviorismus (B.F. Skinner, 1904–1990) 2. Pragmatische Aspekte. Mit dem griechischen praÄg-
gelang es noch nicht, das Funktionieren von Sprache ma, prágma (Handlung, Tat, Sache, verwandt mit praÄ-
zwischen Partnern in ihrer gemeinsamen Kommunika- jiw, práxis) zielt dieser Ansatz auf ‹Pragmatik› (Sprach-
tionssituation ganzheitlich zu sehen. Dazu bedurfte es pragmatik, Pragmalinguistik). Der Erkenntnisgewinn
in den USA des Schlüsselereignisses der 1955 stattfin- ist dabei so grundlegend, daß er für alle weiteren Mo-
denden Vorlesungsreihe des englischen Oxford-Philo- delle und Vorschläge, Sprache zu analysieren, paradig-
sophen J.L. Austin (1911–1960) an der Harvard-Uni- matische Auswirkungen hat, die sinnvollerweise nicht
versität (Cambridge, Mass.) mit dem Titel ‹How to do mehr hintergehbar sind. Eine Trennung zwischen einer
things with words›. [35] Postum 1962 publiziert (mit 10 reinen langue und einer alleinigen parole läßt sich seit-
Jahren Abstand dann erst auf Deutsch: ‹Zur Theorie der dem nicht mehr vorstellen.
Sprechakte›), gilt dieser Text als Beginn der sog. Sprech- Dennoch gibt es danach in der Wissenschaftsge-
akttheorie, auch Sprachhandlungstheorie (speech act schichte von Linguistik, Sprachphilosophie, Semiotik
theory) genannt. und Medienwissenschaft (sowie, nicht zu vergessen: von

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Kommunikative Kompetenz Kommunikative Kompetenz

Soziologie und Kulturwissenschaft) durchaus Schwer- (als aktuelles Wirkungspotential) nach Maßgabe der
punktsetzungen auf die Verwendungsaspekte von Spra- pragmatischen Umstände getroffen und eingeübt, um
che: also auf Sprache-in-Situationen, Sprache-in-Funk- eine ebensolche situationenbezogene Wirkungskompe-
tion, Sprache-und-Handeln, Sprache in Texten [38] oder tenz bei den einzelnen Kursteilnehmern aufzubauen
Kommunikation im Fach. und diese solchermaßen in ihrem Verbalhandeln zu ver-
So hat die Mündlichkeitsforschung [39] oder Ge- bessern und effizienter werden zu lassen. Daß der Brük-
sprochene-Sprache-Forschung [40] den Blick auf die kenschlag zwischen den systematischen Kategorien der
bestimmenden Faktoren der mündlichen Kommunika- antiken Rhetorik und den Performanzkategorien der
tion gelegt und dabei spezifische Phänomene des Ein- Sprechakttheorien vollzogen werden kann, läßt sich mit
satzes bzw. Gebrauchs von Sprache erkannt (Anakolu- einer eindrucksvollen Liste evidenter Vergleichbarkei-
the, Neuansätze, Selbstkorrekturen, Hedges/Hecken- ten belegen. [52] Deshalb wirkt die folgende Aussage
ausdrücke, Abtönung/Modalpartikeln, phatische For- eines Philosophen in seiner ‹Philosophiegeschichte›
eln, Meta-Reden, Parallelreden, Ringen um Angemes- ignorant und unhistorisch, wenn er ohne Blick auf die
senheit, Wortfindungsschwierigkeiten, Wechseln im Rhetorik zur pragmatisch orientierten Beschäftigung
Register, ja sogar pathologische Aspekte wie Stottern mit Sprache behauptet: «Eigentlich ist es ein Skandal.
oder Aphasie und schließlich die Nonverbalität bzw. Und zwar ein beschämender Skandal für alle diejenigen,
Körpersprache [41]). welche sich in den letzten 2500 Jahren in irgendeiner
Und natürlich darf man deren Anfänge nicht über- Weise mit Sprachen beschäftigten, daß sie nicht schon
sehen: daß nämlich die antike Rhetorik als Kommuni- längst vor J.L. Austin dessen Entdeckung machten, de-
kationswissenschaft und Sprachpragmatik par excellen- ren Essenz man in einem knappen Satz ausdrücken
ce selbstverständlich die bedeutsamen Kriterien des kann: Mit Hilfe von sprachlichen Äußerungen können
Sprachgebrauchs benennt: die Mündlichkeit der öffent- wir die verschiedensten Arten von Handlungen vollzie-
lichen Rede (pronuntiatio; Quint. XI) [42], die Dialogi- hen.» [53]
zität [43], die Situationsbindung (‹Redesituation›), die Aus der Tradition der griechischen und lateinischen
Partnergebundenheit, die sprachlichen Verwendungs- Grammatik heraus ist ‹Sprache als System› allerdings
möglichkeiten bis hin zur Wirkungsmächtigkeit auf das bis in die 60er Jahre des 20. Jh. hinein nicht über den
Publikum (aptum), die differenzierten theatralischen Komplexitätsgrad ‹Satz› hinausgelangt; und dieser ist ja
Wirkungsmöglichkeiten des rednerisch eingesetzten eine Setzung (vgl. Satzung, Gesetz) der Grammatiker,
Körpers (Haltung, Kinesik) und seiner kommunikativen also künstlich in der Meta-Betrachtung von Sprache ein-
Teile Gesicht (Mimik), Hände und Arme (Gestik) (ac- geführt, nicht ihr entnommen: Sprache kennt keine Sät-
tio; Quint. XI) [44], die Stimme und ihre vom Redeinhalt ze, sie kennt im Sprechen – der primären Kulturtechnik –
und vom Publikum abhängigen Modulationen [45], die gliedernde Intonations- und Sinneinheiten, und erst mit
Kleidung [46], die Statussymbole, überhaupt die sozio- der Verschriftung als zweiter Kulturtechnik, die mit
kulturellen Rahmenbedingungen (die der berühmte Sprechen nichts oder nur wenig zu tun hat, wird der Satz
Fragenkatalog der Topik zu strukturieren half – der sich ein Gebilde «zwischen zwei Punkten». Die Einheiten
dann als sog. Lasswell-Formel in der journalistischen aber, in denen Sprechen sich als komplexe Leistung tat-
Ethik des 20. Jh. als ‘neu’ wiederfand [47]). sächlich vollzieht, werden in der Rhetorik und Dialektik
Aber diese Mündlichkeitskomponenten der antiken behandelt, dort dann auch angemessen in ihren lexika-
wie der modernen Analysen sind stets mit dem Ziel be- lischen (in verbis singulis) und textuellen (in verbis con-
schrieben, strukturiert und wirkungsbezogen evaluiert iunctis) Vorkommen [54] und natürlich auch in ihren
zu werden und als eigenwertige Phänomene zu gelten, Funktionen (Wirkungen). Und hier bietet die Rhetorik
nicht als parole-Defekte oder sogar als Verstöße gegen ein Maß, das vorausschaut ins 20. Jh., von dem aus ihr
die Norm(en) der schriftlichen Sprache, die in allen Kul- dann eine so falsche philosophische Beurteilung wie die
turen auch die Grammatik beherbergt (und das besagt: gerade zitierte zuteil wird; vielmehr gilt: «die früheste,
beherrscht). [48] Die Konversationsanalyse, die Dialog- differenzierteste und vielleicht interessanteste Hand-
forschung, die Diskurswissenschaft [49] verfolgen hier lungstheorie» verdanken wir der Antike, beginnend,
mit eigener Methodologie und eigenständigen Instru- «wie so oft, bei Aristoteles. Aristoteles entwickelt die
mentarien ihren Weg von den empirischen parole-Phä- Handlungstheorie in seiner Ethik, seiner Rhetorik und
nomenen hin zum Ziel einer Mündlichkeits-Kompetenz. seiner Poetik» [55].
Diese war, kulturgeschichtlich gesehen, ein ausdrückli- Die kritisierte oben zitierte Aussage belegt allerdings
ches gesellschaftliches Ziel der bürgerlichen und adligen den fulminanten Stellenwert, mit dem nunmehr, ab den
Klasse in Frankreich und England (Salonkultur des 60er Jahren, die parole/Performanz die bis dahin domi-
18. Jh., honnête homme/ femme, gentleman) und war in nante Geltung der Kompetenz ergänzt, ja abgelöst hatte
einer Vielzahl einschlägiger Traktate, Anleitungen, und damit neue, nämlich pragmatische Dimensionen
Lehrbücher usw. Lehrgegenstand für den Aufbau rhe- der Sprachforschung erschloß.
torisch, stilistisch, thematisch, körperlich und sozial ge- 3. Rhetorische Zuordnung. Das Vergessen oder Nicht-
eigneter Sprach- und Handlungskompetenzen. [50] beachten der antiken Rhetorik verwundert um so mehr,
Die Lehre aus den systematischen Erkenntnissen der als sie in eine Zeit fallen, nämlich in die 60er Jahre, ab
Rhetorik beweist dies nicht zuletzt damit, daß es heut- deren Mitte sich die Forschung und das breite Interesse
zutage eine Angewandte Rhetorik gibt [51] und diese sich von Disziplinen verstärkt auf die antike Rhetorik rich-
in Kommunikationsberatung, in Trainings öffentlich- ten. So erscheint in dieser Zeit das berühmte ‹Handbuch
keitswirksamen Verhaltens und Redens, in Beratung der literarischen Rhetorik› von H. Lausberg (1960), sei-
und kritischer Evaluation von Reden und Rednerhal- ne ‹Elemente der literarischen Rhetorik› folgen kurz
tung, in praktischer Hilfe beim Verfassen mündlicher darauf (1963).
Texte (Reden) usw. mit besten Angeboten und bei ho- Insbesondere die Status-Lehre (staÂsiw, stásis) [56],
hem Bedarf und gutbezahlter Nachfrage bewährt. Aus die Lausberg aus dem Vergessen geholt und systema-
der Kompetenz (als Angebotsarsenal) wird die Auswahl tisch zugänglich gemacht hat [57], bietet in nuce bereits

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Kommunikative Kompetenz Kommunikative Kompetenz

eine Handlungstheorie: Es geht bei der Status-Lehre Konstruktion idealer Sprachen (G. Frege, N. Chomsky)
«um die gerichtliche Relevanz einer strafbaren Hand- beschäftigte und dafür den Weg der methodischen Zer-
lung (factum), die ein Täter (auctor) begangen oder legung wählte (z.B. Begriffe in ihre Merkmale, Sätze in
nicht begangen hat. Je nachdem ob der Angeklagte» ihre Bausteine, Ganzheiten in ihre Teile), um die grund-
leugnet, zugibt, auch nur teilweise, oder das Verfahren legenden Bestandteile sprachlicher Kompetenz, wie sie
anzweifelt – je nach einer dieser vier status oder sich im Denken und in grammatischen Strukturen zeigt,
«Kampflagen» [58] «ergibt sich eine verschiedene Streit- aufzudecken (sog. «Philosophie der idealen Spra-
lage (status) für den nun beginnenden Strafprozeß (ac- che» [69]), eine eigenständige Richtung aus, die umge-
tio), der sich der Ankläger (actor) anpassen muß» [59]. kehrt vorzugehen versuchte: von den Äußerungen im
Auch aus der argumentatio-Lehre [60] läßt sich mit Alltag hin zu der Beschreibung des Gebrauchs und des-
den argumenta, d. h. den Beweisen, die mit Hilfe der rhe- sen Bedingungen. L. Wittgenstein (1889–1951) hat die
torischen Kunst gefunden bzw. durch Reflexion aus dem Philosophie und die Sprachanalyse als notwendige Ge-
Prozeßgegenstand abgeleitet werden (genus artificiale meinschaft bestimmt («Alle Philosophie ist Sprachkri-
probationum, in der frz. Rhetorik: preuves artificielles), tik» [70]) und dafür – im ‹Tractatus› [71] – zunächst die
ein handlungstheoretisch komplexes Vorgehen ablei- logisch-atomistischen Methoden der Zerlegung ge-
ten: Die loci oder griech. toÂpoi, tópoi sind als inhaltliche wählt, um das System der Sprache aufzudecken. Der
argumenta «Suchformeln und in ihrer Gesamtheit ein späte Wittgenstein – mit den ‹Philosophischen Unter-
Gedanken-Reservoir, aus dem die passenden Gedanken suchungen› [72] – wendet sich dagegen dem Gebrauch,
ausgewählt werden können» [61]. Die Topik verwendet der Sprachverwendung im Alltag, zu und begründet da-
dazu im Umfang leicht schwankende Suchformeln von mit die «Philosophie der normalen Sprache» (ordinary
(meist) sieben Fragen [62], deren Gemeinschaftlichkeit language philosophy), um zu den diesen Äußerungen
die Welt segmentiert (insbesondere nach den beiden zugrunde liegenden sprachlichen Strukturen, zur Kom-
Großbereichen persona und – mit den differenzierenden petenz, zu gelangen:
restlichen – res) [63], in der (vermutlich, wie auch immer, Der performative Zusammenhang, der Sprachge-
möglicherweise rechtsrelevant) gehandelt worden ist, brauch, ist, eingebettet in die Lebensformen, die Grund-
wovon die Konsequenzen nun eingekreist, gewichtet lage, die Aufschluß über systemische Strukturen und
und mit einem Urteil bewertet werden sollen. Die per- Funktionen liefern kann; Wittgenstein bezeichnet diese
formative Welt – das Handeln, das Situationsreden – Konstellationen als ‹Sprachspiel›. [73] Ein wichtiger Be-
wird also durch eine strukturierte Kategorisierung (Er- griff in diesem Zusammenhang ist die Ordnung stiftende
fragung dieser Welt) als Kompetenz der Weltbegegnung ‹Familienähnlichkeit›, wie sie zwar im Sprachgebrauch
verengt, und sei es in dem lebenspraktischen Segment auftaucht, aber bekanntermaßen gerade in der Seman-
des juristisch relevanten Umgangs miteinander. Aber tik ein zentrales Prinzip des Gedächtnisses und der pa-
auch in der sprachlich-poetischen Welt der Literatur radigmatischen Bereitstellung von lexikalischen Einhei-
spielt, wohl vermittelt durch E.R. Curtius (1886– ten aus dem Sprachsystem ist: nämlich als Wort- oder
1956) [64], der Begriff des ‹Topos› eine ordnende Rolle, Begriffsfeld, als Assoziation (Similaritäts- und Konti-
die sogar europäisch-literarische Traditionen als über- guitätsrelationen) oder als Kollokation. Wittgenstein
nationalsprachliche Kompetenz begründet hat; von be- verweist direkt auf die Ebene der Lexeme, d. h. auf die
sonderer Geltung in der konkreten Rede ist hier der lo- bekannte Gebrauchsdefinition der Bedeutung als die of-
cus communis (koinoÂw toÂpow, koinós tópos, Gemein- fensichtlich pragmatischste Form semantischer Zuord-
platz). [65] nung und somit Zeichenkonstitution: «Die Bedeutung
Fragenkataloge als strukturierte Kompetenz, das eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.» [74]
vielfältige Handeln des Menschen in der Welt zu syste- Deutlicher und radikaler ist der Weg von der Verwen-
matisieren und überschaubar, regelbar in den Begriff dung zur systematischen Position, von der parole/
(im wahrsten Sinne) zu bekommen, sind in Antike und Performanz zur langue/Kompetenz, nicht mehr zu for-
Moderne ein offenbar beliebtes Hilfsmittel. Zentral ist mulieren. Das Primat des sprachlichen und situativen
der von den Stoikern, hier von Hermagoras von Tem- Kontextes im Austausch zwischen den Partnern und
nos (2. Jh. v. Chr.), überlieferte Fragenkatalog, der Per- im Funktionieren der Kommunikation, also des Zusam-
son und Sachlage unter inhaltlichen und pragmatischen menseins (lat. cum), wird hier zum wesentlichen Krite-
Gesichtspunkten ausleuchtet und handlungsrelevante rium. Es verwundert deshalb nicht, daß zuerst die All-
Schlüsse aus den Antworten nahelegt: quis, quid, ubi, tagssprache im Blick steht, die auch als Verstehensfolie
quibus auxiliis, cur, quomodo, quando? [66] Er hat eine für die Wissenschaftssprache dient – was in der Fach-
lange geistesgeschichtliche Tradition – bis in die Moder- kommunikationsforschung es nahegelegt hat, die dort
ne: Als pragmatische W-Kette wurde sie 1948 von dem alteingesessene, in der Linguistik begründete Dicho-
Chikagoer Politologen H.D. Lasswell formuliert – tomie zwischen einer Gemeinsprache hier und den vie-
ohne Rückbezug auf die rhetorische Tradition. Diese len Fach- und Wissenschaftssprachen dort aufzulösen
Formel [67] wird angesehen als Ausweis journalistischer in eine skalierte, textbasierte Konzeption mit unter-
Kompetenz, sogar mit dem Anspruch auf Universalität, schiedlichen Fachsprachlichkeits- und Fachlichkeits-
weil als erschöpfend betrachtete Auslotung der Ver- graden. [75]
schiedenheiten des Handelns, so daß sie als komplexer B. Bereiche und Disziplinen. I. Kommunikations-
Verhaltenskodex von den Vertretern der amerikani- wissenschaft. Die philosophisch, linguistisch und semio-
schen New Rhetoric [68] über die Medienwissenschaften tisch motivierte Forschung der 60er Jahre postulierte
als Leitlinie ethisch-moralisch unanfechtbarer journali- eine wissenschaftliche Gemeinsamkeit von System und
stischer Recherchepraxis bekannt wurde: «Who Says Verwendung, langue und parole, Kompetenz und Per-
What In Which Channel To Whom With What Effect?» formanz, in die auch die Kommunikationswissenschaft
4. Pragmatische Philosophie. Auch philosophisch glie- mit einbezogen wurde. Dabei erreichte das Diktum von
derte sich aus der sog. Analytischen Philosophie des Be- P. Watzlawick (1921–2007) eine gewisse Berühmtheit,
ginns des 20. Jh., die sich mit formaler Logik und der die heutzutage allerdings selbstverständlichen Wert hat:

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Kommunikative Kompetenz Kommunikative Kompetenz

«Man kann nicht nicht kommunizieren.» [76] Damit Hausväter oder junge Mädchen, Tugendlehren, Trak-
wird Sprache eingepaßt in komplexe Formen des Ge- tate zu den verschiedenen Charakteren oder Konver-
brauchs und der Gebrauch zwingend an die systemati- sationsanleitungen an.
sche Potenz von Sprache gebunden. Allerdings ist es Die Griceschen Interaktionspostulate beziehen sich
vernünftig, nicht nur die verbale (er nennt sie: digitale) auf (1) die Informativität (als Beachten der textuell-
Kommunikation, sondern auch die nonverbale (die sog. informativen und semiotischen Quantität), (2) die Auf-
analoge) mit einzubeziehen und dann ganzheitlicher richtigkeit/Wahrheit / Wahrhaftigkeit (sincerity als ethi-
und folglich dem tatsächlichen Spracheinsatz-in-Situa- sche, als Handlungs-Qualität und als Qualität des Ge-
tion angemessener zu formulieren: «Es ist unmöglich, sprächsinhalts [der ja auch Gegenstand forensischer
nonverbale Zeichen (in mündlichen Kommunikations- Auseinandersetzung werden könnte]), (3) die Sachbe-
situationen) zu ignorieren und sie nicht zu interpretieren zogenheit (als thematische Relevanz und als strategi-
(d. h. also: sich nicht davon beeinflussen und zu einer sche Anweisung, beim Thema zu bleiben) und (4) die
Reaktion anregen zu lassen)». [77] Mit dieser Erweite- Verständlichkeit (als Modalität oder textuelle Qualität
rung wird auf Performanzseite nicht nur der bislang gegen Unklarheit, Mehrdeutigkeit, Weitschweifigkeit
starkberücksichtigteProduzent(Autor,Sprecher/Schrei- und Ungeordnetheit): Das Kommunikat soll sich also
ber, Sender), sondern auch der im Kommunikationsge- ‹informativ, wahr, wichtig, klar› präsentieren. Grice
brauch für das Gelingen notwendige und den Dialog in sieht diese Qualitäten als Grundlagen gelingender Kom-
seinem ‹dia-› ja überhaupt erst konstituierende Rezipi- munikation, nicht als Handlungsanweisungen (obwohl
ent (Partner, Hörer/Leser, Empfänger) mit einbezogen, der Begriff ‹Maximen› und die Imperative ihrer For-
und zwar als die eigentliche Instanz, die das Gelingen mulierungen das nahelegen): Sie sind Kompetenzgrund-
oder Mißlingen von Kommunikation auf der Verwen- lagen für Kooperation und Kommunikation, die die
dungsebene bewertet und diese Beurteilung ja dann Partner sich gegenseitig (wohlwollend) unterstellen und
auch verbal und nonverbal zum Ausdruck bringt. Na- die gegebenenfalls auch mißlingen können. Grice hat
türlich sei auch bei diesem Aspekt daran erinnert, wie dazu mit einer ausgebauten Theorie der ‹Implikatu-
stark die antike Rhetorik in ihrer öffentlichen Kunst ren› [81] die mentalen und sprachlichen Schlußfolgerun-
(eben mit ‹Publikum›) auf die Reaktion der Hörenden gen und strategischen Verstehensverläufe eigens unter-
achten ließ, um gleichsam permanent und simultan die sucht. Der enge Bezug von sprachlicher Verwendung,
Wirkungspotenz der eigenen Rede zu evaluieren und interaktiven Verstehensweisen und sprachlichen Reak-
gegebenenfalls zu korrigieren bzw. anzupassen. tionen, sowie das Wissen um die prinzipielle Koopera-
II. Konversationsanalyse. Hierzu hat der englische tionsbereitschaft bzw. das Voraussetzen einer solchen
Sprachphilosoph P. Grice (1913–1988) Grundsätze der zeigen recht instruktiv auf, wie pragmatische Vorge-
Interaktion – nämlich Konversationsmaximen (conver- hensweise die Dynamik und die Beeinflussungen zwi-
sational postulates) – formuliert [78], deren Beachtung schen systemischem Sprach- und Handlungswissen ei-
über das Funktionsziel von Kommunikation, nämlich nerseits und der Verwendung von dessen Bestandteilen
deren Gelingen, entscheidet. Sie beziehen sich auf andererseits als ‹kommunikative Kompetenz› ganzheit-
die Kooperation zwischen kommunizierenden Partnern lich beschreiben kann. So geraten auch die Faktoren des
und erstrecken sich auf sprachliche, textuelle, soziale, Mißlingens in den Blick: Fehlende Übereinstimmungen
ethisch-moralische, psychische Qualitäten und auf ex- in den Kodes (z.B. in den Regiolekten, also dialektspe-
plizite Anforderungen an die Bewußtheit ihres Einsat- zifische Probleme; in den Technolekten, so die Fach-
zes: «Mache deinen Gesprächsbeitrag jeweils so, wie es mann-Laie-Kommunikation; oder zwischen Fremdspra-
von dem akzeptierten Zweck oder der akzeptierten chen); fehlende soziale Kenntnisse und interaktionales
Richtung des Gesprächs (talk exchange), an dem du teil- Wissen bei unterschiedlichen sozialen Schichten und
nimmst, gerade verlangt wird.» [79] Bildungsniveaus sowie Sozialisationen; situative Pro-
Hier wäre neben der Kantianischen Diktion des bleme bei einem oder beiden Partnern (Alkohol, Lie-
kategorischen Imperativs der Ethik auf die Tradition beskummer, Freude, Apathie, Desinteresse, usw.).
aus der Rhetorik über Begriffe wie aptum, perspicuitas/ III. Soziolinguistik. Zu Fragen und Problemen von
obscuritas [80], in situ, in actu hinzuweisen, um die sol- Konversation und Interaktion hat die in den 60er Jahren
chen Selbstverständlichkeiten gelingender Kommuni- entstehende Soziolinguistik Erkenntnisse beigetragen,
kation immer wieder zugeschriebene Besonderheit ei- die durch Beobachtung der sprachlichen Verwendungs-
nes pragmatischen Ansatzes zu relativieren. Immerhin weisen Einblicke in den Aufbau- und Verwertungszu-
erweist sich die älteste Disziplin des Abendlandes als stand des zugrundeliegenden Systems eröffneten und
eine hochmoderne, die im 20. und 21. Jh. ihren Bestand dabei den Begriff ‹Code› einbrachten. Gerade die De-
hält: So unterscheidet auch die Rhetorik zwischen der fizite, Mängel, Normverstöße, Unvermögen interessier-
(1) Kompetenz zum Thema (res, materia), wie sie durch ten hier und ermöglichten Rückschlüsse auf die Zuge-
Bildung und Vermögen (eruditio, facultas) gegeben ist, hörigkeit zu einer sozialen Schicht, auf den Ausbau von
(2) der Kompetenz in der Sprache, sowohl deren Bau- Bildung und Wissen, auf das eigene Rollenverständnis,
steinen (verba) wie deren ganzheitlichem Vorkommen auf die jeweilige Weltsicht und deren Struktur und Ho-
(oratio), was durch Tugend-Anforderungen (virtutes) an rizonte, auf die intellektuellen Leistungen bei Kohä-
die sprachliche Identität (latinitas) und die Verständ- renz, Differenzierungsfähigkeit, Strukturiertheit, Kom-
lichkeit (perspicuitas) gewährleistet ist, sodann (3) der plexität und Vernetzung im Denken. Schablonenhaft
Kompetenz in der sozialen Beziehung, nämlich zwi- gab es zwei Hauptkategorien: elaboriert oder restringiert
schen Redner und Publikum (auditorium), was sich im mit jeweiligem Kriterienkatalog, der zu diesen Zuwei-
Anspruch an die Wahrheit (veritas), die Aufrichtigkeit sungen führt. Die Interpretation der Kompetenz auf-
und Unverdorbenheit (sinceritas) manifestiert. In der grund der erbrachten sprachlichen und nichtsprachli-
Kulturgeschichte insbesondere von Mittelalter, Renais- chen sowie sachbezogenen Leistungen folgte zunächst
sance, Barock und Aufklärungszeit knüpfen hier die Be- der ‹Defizienzhypothese› (von dem englischen Lingui-
nimmbücher, Fürstenspiegel, Verhaltensmodelle für sten B. Bernstein, 1924–2000), die aber in den 70er Jah-

471 472
Kommunikative Kompetenz Kommunikative Kompetenz

ren zu einer ‹Differenzhypothese› mäßigend verändert


wurde (von dem US-Linguisten W. Labov, geb. 1927).
Die ursprüngliche Schwerpunktsetzung auf die Män-
gel und Nichtleistungen der Kompetenz hat es mit sich
gebracht, daß sich die Forschungsinteressen inzwischen
stärker in die einzelnen Fachdisziplinen verlagert haben
(so in die Dialektologie, die Textpragmatik, die Ver-
ständlichkeitsanalyse oder das Technische Schreiben/
Technical Writing sowie in die Fachkommunikations-
forschung, die Translationswissenschaft, die Sprachkon-
taktforschung oder die Migrantenforschung), wo in den
jeweiligen Rahmen wertungsfreier und deskriptiver ge-
forscht werden kann, als in gattungsbezogenen Zugrif-
fen. Daraus lassen sich durchaus auch didaktische, op-
timierend ambitionierte Vorschläge zum Auf- und Aus-
bau von kommunikativer Kompetenz ableiten.
IV. Sprachvermittlung. Auch das Lehren von Sprache
selbst hat sich aus der blutleeren Form der Schulgram-
matik mit Phonetik, Lexik und Grammatik (Morpholo-
gie und Syntax) und der Selbstdefinition als ‹Aufbau
von Kompetenz in der Fremdsprache› (was besagte, daß
man z.B. auf Französisch konjugieren, aber kaum eine
Abb. 3
fließende Äußerung für ein Gespräch mit der Bäckers-
frau in Paris hervorbringen konnte) freigemacht und
sich deutlich auf die Performanz verlegt. Dabei wird
auch die Situation als Verstehenshilfe mit einbezogen, digmen von Handlung und System verknüpfenden Ge-
das Mitvollziehen von Verstehen selbst in fehlerhaften sellschaftskonzept und zu einem theoretischen Ansatz,
Äußerungen wird als dialogische Kooperation mitbe- der die Paradoxien der Moderne mit Hilfe einer Unter-
rücksichtigt, und so formuliert seit Mitte der 70er Jahre ordnung der kommunikativ strukturierten Lebenswelt
ein neu entstehender ‹kommunikativer Unterricht› mit unter die imperativen verselbständigten, formal orga-
seinen Veränderungen in den Vermittlungskonzepten, nisierten Handlungssysteme erklärt.» [88]
in den Sozialformen und in den Arbeits- und Übungs- C. Typen von Kompetenz. I. Kulturelle Kompetenz.
formen als Ziel den Aufbau einer «Kommunikativen Mit den sich erweiternden Formaten der Philosophie
Kompetenz» [82]. und Linguistik von der lingualen zur kommunikativen
V. Handlungstheorie. Die Sprengkraft des Ansatzes Kompetenz in die Natürlichkeit des Sprachvorkom-
einer sog. «emanzipatorischen Didaktik» für die Bil- mens bzw. in Kommunikationssituationen hinein wur-
dungstheorie zeigt sich in Deutschland im Widerhall der den ab den 80er Jahren auch diejenigen Rahmenbedin-
Sozialphilosophie (J. Habermas, geb. 1929) [83] und der gungen beachtet, die mehr oder weniger unbewußt das
Pragmatik, die die pragmatisch-funktionalen Aspekte kommunikative Verhalten bestimmter überschaubarer
des Fremdsprachenlernens betonten (‹wozu dient Spra- Gruppen beeinflussen: nämlich die kulturellen (Abb. 3).
che in den einzelnen Kommunikationssituationen und Schon Watzlawick u. a. [89] hatten, auf amerikanische
wie wird sie jeweils darin differenziert eingesetzt, um Anthropologen wie M. Mead zurückgreifend, auf die
etwas zu erreichen?›). Insbesondere Habermas’ Haupt- kulturelle Bestimmtheit von Verhaltensweisen und de-
werk ‹Theorie des kommunikativen Handelns› (1981) ren konfliktäres Potential im Zusammenprall von Kul-
knüpft an das Konzept einer Universalpragmatik an, die turen mit einem instruktiven Beispiel (amerikanische
das Sprach- und Handlungswissen umfaßt und «die Auf- und englische Soldaten und ihre Beziehung zu Frauen)
gabe [hat], universale Bedingungen möglicher Verstän- hingewiesen.
digung zu identifizieren und nachzukonstruieren» [84]. Die kulturelle Kompetenz erlernen die Mitglieder ei-
Das Handeln läßt sich nach vier Kategorien aufteilen, ner Gemeinschaft durch das soziale Leben, durch die In-
wobei zwischen dem (1) teleologischen (in der Welt der teraktion und deren ständiger Anpassung an geltende
Sachverhalte), dem (2) normenregulierten (wozu die so- Werte, Ansprüche, Erwartungen, Voraussetzungen und
ziale Komponente tritt), dem (3) dramaturgischen (was Beurteilungsmaßstäbe (Mentalpragmatik; Abb. 3). Ins-
die Selbstinszenierung des Einzelnen in der Gemein- besondere der homo sociologicus (‹der Mensch als Ge-
schaft betrifft) und (4) dem kommunikativen Handeln meinschaftswesen›) und der homo faber (‹der Mensch
zu unterscheiden ist: Ort dieses Handelns ist die «Inter- als Wirkwesen›) liefern hierzu (über eine definitio per
aktion von mindestens zwei sprach- und handlungsfä- proprietates) prinzipielle Bestimmungsgrößen [90], de-
higen Subjekten», die «eine Verständigung über die ren Gemeinschaftlichkeit geeignet ist, die Kultur als gel-
Handlungssituation» anstreben, «um ihre Handlungs- tende, wirkende und funktionale Rahmenkonstellation
pläne und damit ihre Handlungen einvernehmlich zu außenbewerteten Verhaltens zu erfassen.
koordinieren» [85]. Dies sind die Illokutionen. [86] De- Kulturelle Kompetenz ist somit ein Identitätsausweis,
ren Allgemeingültigkeit soll die ‹Theorie des kommu- der permanent ausgestrahlt wird: «Ich gehöre dazu –
nikativen Handelns› aufarbeiten, indem Habermas et- und deshalb bin ich per definitionem erst einmal als Mit-
liche soziologische Ansätze aufeinander bezieht [87]: glied zu akzeptieren». Der fundamentale Ausweis des
«Der Grundbegriff des kommunikativen Handelns er- Dazugehörens ist dabei natürlich die Sprache, also, wie-
schließt den Zugang zu drei Themenkomplexen, die der als Basis, die linguale Kompetenz (‹Kommunikati-
miteinander verschränkt sind: zum Begriff der kommu- on› ist etymologisch gesehen: miteinander in denselben
nikativen Rationalität, zu einem zweistufigen, die Para- Mauern sein, communis esse).

473 474
Kommunikative Kompetenz Kommunikative Kompetenz

Für die Rhetorik spielt die kulturelle Kompetenz in- len [101]. Dies gilt insbesondere auch für eine fachlich
sofern keine bestimmende Rolle, als für die Antike so- brisante internationale Kommunikation wie in den Be-
wieso nur die Eigenkultur als Maßstab galt (eëllhnikoÂw, reichen Wirtschaft / Handel, Management; ebenso in der
hellēnikós, Latinitas) und das Fremde, ob Sprache oder Diplomatie, deren Kodizes geradezu davon abhängen,
Verhalten, als baÂrbarow, bárbaros, d. h. als stammelnd, genaue kulturenvergleichende Kenntnisse zu besitzen
unverständlich sprechend, fremdsprachig, ausländisch, und diese dann auch trainieren zu können, um optimales
ungriechisch galt (s. Abb. 1 mit klarer Zuordnung der Gelingen der fremdkulturellen Begegnungen zwischen
Rhetorik). Hier hat eher die Disziplin Deutsch als (Spitzen-)Politikern zu gewährleisten. Solches Reisen in
Fremdsprache (seit Mitte der 70er Jahre, etabliert durch fremde Länder reflektieren profane Problemlöser wie
H. Weinrich an der Universität München, 1978, inzwi- (einige) Reiseführer mit interkulturell orientierten Ka-
schen an über 20 deutschen Universitäten) den Blick er- piteln zu Fragen wie «Vorsicht Fettnäpfchen!», «Was ist
weitert (u. a. auf die sog. Migrantenliteratur [multi-/in- anders?», «KulturSchock» oder «Handlungskompetenz
terkulturelle Literatur], die sehr stark, als poetisches im Ausland». Dabei spielt die Körperkommunikation,
Meta-, die Kompetenzen – die lingualen, kommunikati- die Semiotik der körperlichen Höflichkeit, der Gesten,
ven, kulturellen und die interkulturellen – themati- der Gesprächsführung, des Beschenkens u. ä., deren Be-
siert [91] und neben der Befindlichkeit als ‹Kultur in der schreibung und kulturspezifische Dekodierung, eine
Fremdkultur› inzwischen auch eine eigene literarisch- wichtige Rolle. [102]
sprachliche Kultur begründet hat). Dies gilt auch für die III. Mediale Kompetenz. Alle Kompetenzen eint der
Fachkommunikationsforschung, die die Sachgebiete als souveräne, ausgebaute Umgang mit den jeweiligen Mit-
kulturspezifische Interaktionsräume und als vernetzte teln des Kommunizierens: Sprache, Situation mit Part-
Handlungsbereiche ansieht, in denen spezifische Kom- ner und Vorwissen, Kultur und Kulturengemeinschaft
munikation abläuft. [92] (Abb. 3). In der heutigen Zeit, etwa seit den 90er Jahren
II. Interkulturelle Kompetenz. Eine noch komplexere des 20. Jh., bestimmt die mediale Kompetenz bei Com-
Sichtweise (Abb. 3) entsteht im Zuge der Globalisierung putern und Telekommunikationsmedien immer stärker,
(wirtschaftliche Zusammenarbeit, internationaler Han- nämlich divergent, die Kommunikation und die Prakti-
del, Forschungskooperation, Telekommunikation, welt- ken zwischen den Generationen («digitale Kompe-
umspannende Probleme wie Umwelt, Klima, Verbre- tenz»). So sind SMS oder Chat-Rooms Formen der so-
chensbekämpfung, Pandemien, Verkehr, Raumfahrt) zialen Interaktion auf Kommunikationsforen im Inter-
und der Reaktion der Geistes- und Sozialwissenschaften net typische Aktionsplätze der Jugend (weniger, weil
darauf: Die Interkulturalität kam insbesondere über allgemeingebräuchlich, die EMails). Für die Abwägung,
die internationale Fach- und Wissenschaftskommuni- was und wieviel man von sich preisgibt (z.B. auf Face-
kation ins Spiel und fand pragmatische Berücksichtigung book), wird inzwischen eine kommunikative Reife ver-
in eigenständigen Professuren [93] und Publikationen langt, eine Internet- oder Medienkompetenz, die abzu-
zum Thema ‹Interkulturelle Wirtschaftskommunikati- wägen und Konsequenzen zu bedenken versteht, von
on› [94]). Dort werden kulturabhängige Arbeitsweisen, Datenschutz gehört hat und Mechanismen kennt, eine
Präsentationserwartungen, Strukturen von Gruppenar- gefahrvolle Offenlegung persönlicher Daten und somit
beit, Führungserwartungen, Textsortenkonventionen Preisgabe der Identität an die inspizierende Öffentlich-
oder Gesprächsorganisationen untersucht und lehrend keit, bis hin zu krimineller Verwendung, zu vermeiden.
bewußt gemacht. Ziele sind die Erforschung sowie, da- Neben solchen applikativen Kompetenzen (Anwen-
nach, die Lehre zum Aufbau einer Interkulturalitätskom- dung) haben sich auch jugendsprachliche Kompeten-
petenz; sie gilt, eingebunden in diese «Schnittstellendis- zen bei den Notationskonventionen, Akzeptanzen im
ziplin» (J. Bolten), in der vernetzten Welt als Schlüssel- Schriftbild und Toleranzen gegenüber der Orthogra-
kompetenz der Moderne. [95] Diese bezieht sich auf das phie, vielmehr noch Innovationen und Kreationen zur
Bewußtmachen, das Lernen und didaktische Vermitteln darstellerischen Ökonomisierung (Kürze, nicht zuletzt
(«Didaktik der Kultureme» [96]) von Fakten und Kate- wegen SMS), auch semiotische Überlappungen von Bild
gorien zu den eigenen wie fremden Kulturspezifika (Un- und Zeichen, ein spezifischer Umgang mit stilbestim-
terschiede wie auch Gemeinsamkeiten) und wird auch, menden Emoticons [103], d. h. eine eigene Kommuni-
als Lehrziel, ‹Kognitive Kompetenz› (über kulturelle kationspragmatik [104] herauskristallisiert. Wer dazu-
Identität und Alterität) genannt. Sie soll dazu dienen, gehören will, muß darüber Bescheid wissen.
Vorurteile [97] abzubauen bzw. zu verhindern und das Zu einer anwendbaren medialen Kompetenz gehört
kulturelle ‹Verstehen› über ‹Verständigung› zu einem auch das Wissen um sprachliche Regeln und soziale Ver-
‹Verständnis füreinander› auszubauen [98], in dem Un- haltensmuster: die Netiquette (‹Netz-Etikette›), und im
terschiede nicht zu Konflikten führen («Interkulturelle Chat die Chatiquette, als Internet-Benimmregeln oder
Hermeneutik»). Solche Verhaltenstrainings zum Auf- -Etikette (Kommunikette) bemühen sich hierzu, die not-
bau von Kernkompetenz (neben dem rhetorischen Wis- wendigen Kompetenzen in die Performanz der EMails,
sen also Kommunikation und Präsentation) für erfolg- SMS oder Chats einzubringen und (mit Sanktionen)
reiche Interaktion werden angeboten unter dem nicht durchzusetzen. [105] Aber auch Handhabung, Verwen-
unbegründeten Etikett Angewandte Rhetorik, was na- dungsmöglichkeiten, Vernetzungen, Einsatzrisikos oder
türlich an die Pragmatik und somit an die Ursprünge rhe- Gebrauchsbedingungen im und für das Ausland, also die
torischen Lebens in der Antike anknüpft. [99] breite Pragmatik moderner weltumspannender Tech-
Besonders wichtig ist dies für die Translationswissen- nikverwendung zur (Tele-)Kommunikation gehören da-
schaft, hier insbesondere bei den prinzipiell interkultu- zu. Diesen Bereich globalisierter Kommunikation be-
rellen Dolmetschsituationen [100], für die eine ausgebil- setzen die Jugend als «user» («digitale Kompetenz»)
dete interkulturelle Kompetenz der Übersetzer notwen- und die innovative Technologie als konsumanreizender
dig ist. Gerade der Beruf des Dolmetschers erfordert Anbieter, und so erhält auch der Begriff der ‹Kompe-
ein differenziertes Spektrum aufeinander aufbauender tenz› einen dynamischen Schwung in die soziokulturelle
Kompetenzen von der lingualen bis zur interkulturel- Zukunft der Kommunikationstechnologie, der zu Zei-

475 476
Kommunikative Kompetenz Kommunikative Kompetenz

ten Chomskys, vor einem halben Jahrhundert also, auch Kalverkämper, K.-D. Baumann (Hg.): Fachliche Textsorten.
in seinen kollateralen Dimensionen (Ethik, Recht, Ge- Komponenten – Relationen – Strategien (1996); L. Danneberg,
sellschaft, Technik, Gesundheit, Umwelt, Folgenab- J. Niederhauser (Hg.): Darstellungsformen der Wiss. im Kon-
trast. Aspekte der Methodik, Theorie und Empirie (1998). –
schätzung, Wirtschaft) noch undenkbar war. 32 H. Kalverkämper: Das fachliche Bild. Zeichenprozesse in der
Darstellung wiss. Ergebnisse; in: H. Schröder (Hg.): Fachtext-
Anmerkungen: pragmatik (1993) 215–238; K. Schwarzfischer: Transdisziplinä-
1 F. de Saussure: Cours de linguistique générale. Publié par Ch. res Design: Design als Intervention und System-Therapie
Bally et A. Sechehaye (Lausanne/Paris 1916). – 2 vgl. H. Kal- (2010); Th. Friedrich, G. Schweppenhäuser: Bildsemiotik:
verkämper: Art. ‹Körpersprache›, in: HWRh 4 (1998) 1339– Grundlagen und exemplarische Analysen visueller Kommuni-
1371. – 3 J. Albrecht: Europäischer Strukturalismus. Ein for- kation (Basel 2010); G. Joost, A. Scheuermann: Design als Rhet.
schungsgesch. Überblick (32007) 24–36 und weiter zu anderen Grundlagen, Positionen, Fallstudien (Basel 2008). – 33 L. Schip-
Dichotomien bis 54; vgl. auch Th. M. Scheerer: Ferdinand de pel (Hg.): ‹Translationskultur› – Ein innovatives und produkti-
Saussure (1980). – 4 als Oberbegriff; s. Albrecht [3] 29. – 5 vgl. ves Konzept (2008); H. Kalverkämper: Das wissenschaftstheo-
dazu H. Kalverkämper: Art. ‹Semiotik›, in: HWRh 8 (2007) 731– retische Paradigma der Translationswiss. und ihr ges. Kontext,
826, hier 759/760. – 6 K. Bühler: Sprachtheorie (1934, 21965). – in: ders., L. Schippel (Hg.): Translation zwischen Text und Welt –
7 N. Chomsky: Aspects of the Theory of Syntax (Cambridge, Translationswiss. als hist. Disziplin zwischen Moderne und Zu-
MA 1965). – 8 K. Brinker et al. (Hg.): Text- und Gesprächslin- kunft (2009) 65–114. – 34 vgl. H. Kalverkämper: «Kampf der
guistik/Linguistics of Text and Conversation. Ein int. Hb. zeit- Kulturen» als Konkurrenz der Sprachkulturen – Anglophonie
genössischer Forschung, 2 Bde. (2000–2001). – 9 vgl. als Über- im globalen Spannungsfeld von Protest, Prestige und Gleichgül-
blick J. Spitzmüller, I.H. Warnke: Diskurslinguistik. Eine Einf. tigkeit, in: trans-kom 1 (2008) Heft 2, 123–163 (URL:
in Theorien und Methoden der transtextuellen Sprachanalyse http://www.trans-kom.eu). – 35 J.L. Austin: How to Do Things
(2011). – 10 H. Kalverkämper: Textgrammatik der Körperspra- with Words. The William James Lectures Delivered at Harvard
che – eine Perspektive, in: E.-M. Willkop, M. Thurmair (Hg.): University in 1955, postum hg. v. J.O. Urmson u. M. Sbisa (Ox-
Am Anfang war der Text – 10 Jahre ‹Textgrammatik der deut- ford 1962, 2., verb. Aufl. Cambridge, MA 1975); dt. Übers.: Zur
schen Sprache› (2003) 259–284. – 11 Albrecht [3] 29. – 12 N. Theorie der Sprechakte, dt. Bearb. v. E. v. Savigny (1972). – 36 J.
Chomsky: Syntactic Structures (Den Haag) 1957; ders. [7]. – Searle: Speech Acts: An Essay in the Philosophy of Language
13 ders. mit seinen Werken ‹Rules and Representation› (London 1969); dt. Übers.: Sprechakte. Ein sprachphilos. Essay
(New York 1980), ‹Lectures on Government and Binding› (1971). – 37 vgl. Ph. Stoellger: Art. ‹Sprechakttheorie›, in:
(Dordrecht 1981), ‹The Minimalist Program› (Cambridge, MA HWRh 8 (2007) 1239–1246. – 38 H. Weinrich: Sprache in Texten
1995). – 14 vgl. zur Orientierung M. Haspelmath, E. König, W. (1976). – 39 H. Geißner: Art. ‹Mündlichkeit›, in: HWRh 5 (2001)
Oesterreicher, W. Raible (Hg.): Language Typology and Lan- 1501–1526. – 40 P. Koch, W. Oesterreicher: Gesprochene Spra-
guage Universals. An International Handbook, 2 Bde. (2001). – che in der Romania: Französisch, Italienisch, Spanisch (1990; 2.
15 H. Weinrich: Textgrammatik der dt. Sprache (1993) 18. – aktual. u. erw. Aufl. 2011); man beachte auch die Publikationen
16 Chomsky [12]. – 17 ebd. 15. – 18 Lausberg Hb. §§ 1234–1235. – der Reihe ‹ScriptOralia› aus dem Freiburger Sonderforschungs-
19 Chomsky [12]. – 20 J. Katz, J. Fodor: The Structure of a Se- bereich 321 ‹Übergänge und Spannungsfelder zwischen Münd-
mantic Theory, in: Language 39 (1963) 170–210; dt. Übers.: Die lichkeit und Schriftlichkeit› (1985–1996). – 41 H. Kalverkämper:
Struktur einer semantischen Theorie, in: H. Steger (Hg.): Vor- Art. ‹Körpersprache›, in: HWRh 4 (1998) 1339–1371; ders.: Art.
schläge für eine strukturelle Grammatik des Deutschen (1970) ‹Nonverbale Kommunikation›, in: HWRh 6 (2003) 307–37;
202–268; J. Katz: Semantic Theory (New York 1972). – ders.: Der kommunikative Körper in Dolmetschprozessen, in: L.
21 Chomsky [7]. – 22 vgl. R.A. Harris: The Linguistics Wars Schippel (Hg.): ‹Translationskultur› – Ein innovatives und pro-
(Oxford 1995). – 23 G. Lakoff: Linguistics and Natural Logic, in: duktives Konzept (2008) 71–165. – 42 F. Rebmann: Art. ‹Pro-
Synthese 22 (1970) 151–21–271; auch in: D. Davidson, G. Har- nuntiatio›, in: HWRh 7 (2005) 212–247; Kalverkämper [41]
man (Eds.): Semantics of Natural Language (Dordrecht 1972) HWRh 4 (1998). – 43 vgl. E.W.B. Hess-Lüttich: Art. ‹Dialog›, in:
545–665; dt. Übers.: Linguistik und natürliche Logik (1971). – HWRh 2 (1994) 606–621. – 44 D. Barnett: Art. ‹Gestik›, in:
24 G. Kleiber: Prototypensemantik. Eine Einf. (1993); M. Man- HWRh 3 (1996) 972–989; H. Kalverkämper: Art. ‹Mimik›, in:
gasser-Wahl: Prototypentheorie in der Linguistik. Anwen- HWRh 5 (2002) 1327–1360; R. Baber: Art. ‹Proxemik›, in:
dungsbeispiele, Methodenreflexion, Perspektiven (2000). – HWRh 7 (2005) 382–390. – 45 s. R. Campe, M. Wilczek: Art.
25 M. Schwarz: Einf. in die kognitive Linguistik (1992) 36. – ‹Stimme, Stimmkunde›, in: HWRh 9 (2009) 83–99. – 46 K. Stein-
26 vgl. H. Kalverkämper: Orientierung zur Textlinguistik (1981). ke: Art. ‹Kleidung›, in: HWRh 4 (1998) 1104–1106. – 47 G. Ka-
– 27 N. Chomsky: Cartesian Linguistics: A Chapter in the His- livoda, H. Geißner: Art. ‹Lasswell-Formel›, in: HWRh 5 (2001)
tory of Rationalist Thought (New York 1966); dt. Übers.: Car- 31–38. – 48 vgl. W. Raible: Medien-Kulturgesch. Mediatisierung
tesianische Linguistik. Ein Kap. in der Gesch. des Rationalismus als Grundlage unserer kulturellen Entwicklung (2006). – 49 vgl.
(1971). – 28 vgl. M. Ramlow: Die maschinelle Simulierbarkeit Brinker et al. [8]. – 50 Chr. Strosetzki: (1978): Konversation – ein
des Humanübersetzens. Evaluation von Mensch-Maschine-In- Kapitel ges. und lit. Pragmatik im Frankreich des 17. Jh. (1978);
teraktion und der Translatqualität der Technik (2009). – 29 G. H. Kalverkämper: Art. ‹Stillehre/Stilistik: Romanischer Sprach-
Rickheit, S. Weiss, H.-J. Eikmeyer: Kognitive Linguistik. Theo- raum›, in: HWRh 9 (2009) 29–52; O. Roth: Art. ‹Honnête hom-
rie, Modelle, Methoden (2010); Schwarz [25]. – 30 G. Antos, H. me›, in: HWRh 3 (1996) 1555–1561. – 51 A. Kirchner: Art. ‹Rhe-
Tietz (Hg.): Die Zukunft der Textlinguistik. Traditionen, Trans- torik, angewandte›, in: HWRh 8 (2007) 1–15. – 52 Stoellger [37]
formationen, Trends (1997); U. Fix, K. Adamzik, G. Antos, M. 1240f. – 53 W. Stegmüller: Hauptströmungen der Gegenwarts-
Klemm (Hg.): Brauchen wir einen neuen Textbegriff? Antwor- philos, Bd. 2 (1975) 64f. – 54 Lausberg Hb. §§ 463–687 –
ten auf eine Preisfrage (2002). – 31 H. Kalverkämper: Textuelle 55 H. Weinrich: Um einen linguistischen Handlungsbegriff, in:
Fachsprachen-Linguistik als Aufgabe, in: H. Kreuzer, B. Schlie- ders. [38] 21– 44, hier 23. – 56 vgl. M. Hoppmann: Art. ‹Status-
ben-Lange (Hg.): Fachsprache und Fachliteratur, in: LiLi 13, H. lehre›, in: HWRh 8 (2007) 1327–1358 – 57 Lausberg Hb. §§ 79–
51/52 (1983) 124–166; ders.: Vom Terminus zum Text, in: M. 138; Weinrich [38] 24, Anm. 7; s. auch M. Fuhrmann: Die lingui-
Sprissler (Hg.): Standpunkte der Fachsprachenforschung (1987) stische Pragmatik und die rhet. Status-Lehre, in: H. Weinrich
39–78; L. Hoffmann: Vom Fachwort zum Fachtext. Beitr. zur (Hg.): Positionen der Negativität (1975) 437–439. – 58 Lausberg
Angewandten Linguistik (1988); K.-D. Baumann: Integrative Hb. § 82 (die Metapher entspricht der Etymologie von stásis/sta-
Fachtextlinguistik (1992); H. Kalverkämper: Die kulturanthro- tus [ebd. § 80]); s. auch Quint. III, 10, 5. – 59 Weinrich [55] 23f. –
pol. Dimension von ‹Fachlichkeit› im Handeln und Sprechen, in: 60 W.F. Veit: Art. ‹Argumentatio›, in HWRh 1 (1992) 904–914;
J. Albrecht, R. Baum (Hg.): Fachsprache und Terminologie in E. Eggs: Art. ‹Argumentation›, in: ebd. 914–991. – 61 Lausberg
Gesch. und Gegenwart (1992) 31–58; H. Schröder (Hg.): Fach- Hb. § 373. – 62 Quint. V, 10; vgl. auch Ueding/Steinbrink(52011),
textpragmatik (1993); K.-D. Baumann: Ein komplexes Heran- Systemat. Teil: B.II.2.; Lausberg Hb. §§ 376–399. – 63 Quint. V,
gehen an das Phänomen der Fachlichkeit von Texten, in: Th. 8,4. – 64 Curtius (111993) Kap. 5: ‹Topik›. – 65 H.G. Coenen: Art.
Bungarten (Hg.): Fachsprachentheorie, Bd. 1 (1993) 395–429; H. ‹Locus communis›, in: HWRh 5 (2001) 398–411. – 66 W. Jens:

477 478
Kommunikative Kompetenz Kompilation

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sophicus; Tagebücher 1914–1916; ders.: Philos. Unters., hg. an Hochschulen: Grundlagen, Konzepte, Methoden (2010). –
von G.E.M. Anscombe, R. Rhees (1960; Neuaufl. 1963); zit. 96 H. Kalverkämper: Kultureme erkennen, lehren und lernen –
Tractatus § 4.0031. – 71 ders.: Tractatus logico-philosophicus. Eine kontrastive und interdisziplinäre Herausforderung an die
Dt./Engl. (London 1922). – 72 postum 1953 ersch.; s. [70]. – 73 G. Forschung und Vermittlungspraxis, in: Fremdsprachen Lehren
Kalivoda, Ph. Stoellger: Art. ‹Sprachspiel›, in: HWRh 8 (2007) und Lernen 24 (1995) 138–181; ders.: Die Wiederentdeckung des
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o
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Hoffmann: Art. ‹Fachsprachen und Gemeinsprache›, in: ders., petenz? Theorien, Methoden und Praxis in der Hochschulaus-
H. Kalverkämper, H.E. Wiegand (Hg.): Fachsprachen/Lan- bildung (2010). – 97 J. Klein, Th. Zinsmaier: Art. ‹Vorurteil›, in:
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schung und Terminologiewiss., Bd. 1 (1998) 157–168. – 76 P. interkulturellen Zeichenprozessen, in: U. Dietrich, M. Winkler
Watzlawick, J.H. Beavin, D.D. Jackson: Pragmatics of Human (Hg.): Okzidentbilder: Konstruktionen und Wahrnehmungen
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and Paradoxes (New York 1967); dt. Übers.: Menschliche Kom- der interkulturellen Begegnung, in: M. Anghelescu, L. Schippel
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in: P. Cole, J.L. Morgan (Eds.): Syntax and Semantics, III: geber-, Lehr- und Trainingsangebot als kleine Auswahl hier nur:
Speech acts (New York/San Francisco/London 1975) 41–58; dt. A. Nünning, M. Zierold: Kommunikationskompetenzen. Er-
Übers.: in: G. Meggle (Hg.): Handlung, Kommunikation, Be- folgreich kommunizieren in Studium und Berufsleben (2008); G.
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Walde et al.: Art. ‹Obscuritas›, in: HWRh 6 (2003) 358–383; B. Studium und Beruf (2007); J. Bolten: Interkulturelle Kompetenz
Asmuth: Art. ‹Perspicuitas›, ebd. 814–874. – 81 Grice [78]. – (2007); A. Erll, M. Gymnich: Interkulturelle Kompetenzen –
82 H.-E. Piepho: K. als übergeordnetes Lernziel im Englischun- Erfolgreich kommunizieren zwischen den Kulturen (2011); D.
terricht (1974); W. Pauels: Kommunikative Fremdsprachendi- Kumbier, F. Schulz von Thun (Hg.): Interkulturelle Kommuni-
daktik. Kritik und Perspektiven (1983). – 83 J. Habermas: Vor- kation: Methoden, Modelle, Beispiele (2006, 42010); G. Maletz-
bereitende Bemerkungen zu einer Theorie der K., in: ders., N. ke: Interkulturelle Kommunikation. Zur Interaktion zwischen
Luhmann: Theorie der Ges. oder Sozialtechnologie – Was leistet Menschen verschiedener Kulturen (1996). – 100 Kalverkäm-
die Systemforschung? (1974) 101–141; ders.: Theorie des kom- per [41] (2008). – 101 Aufstellung bei H. Kalverkämper: Trans-
munikativen Handelns. Bd. 1: Handlungsrationalität und ges. lation – Anforderungen an eine Inter-Kunst, in: L. Rega, M.
Rationalisierung (1981); Bd. 2: Zur Kritik der funktionalisti- Magris (Hg.): Übersetzen in der Fachkommunikation/Comuni-
schen Vernunft (1988). – 84 ders.: Was heißt Universalprag- cazione specialistica e traduzione (2004) 21–73, hier 65–67. –
matik? [1976], in: ders.: Vorstud. und Ergänzungen zur Theorie 102 s. z.B. G. Kalmbach: KulturSchock Frankreich (1990); D.
des kommunikativen Handelns (1984) 353–440, zit. 353. – Rowland: Japan-Knigge für Manager (1994); H. Rückle: Kör-
85 ders.: Theorie des kommunikativen Handelns, zit. Bd. 1, 128. – persprache für Manager (1998); R.D. Lewis: Hb. Int. Kompe-
86 ebd. 396. – 87 ebd. 198–200. – 88 ebd. – 89 Watzlawick u. a. [76] tenz. Mehr Erfolg durch den richtigen Umgang mit Geschäfts-
dt. Übers. 20. – 90 H. Kalverkämper: ‹Kultur› und ‹Kulturalität›: partnern weltweit (2000). – 103 s. dazu Hinweise bei Kal-
Orientierungsbegriffe für die Translationskultur, in: N. Grbić, verkämper [50] 46–48. – 104 T. Spelz: Kommunikation in den
G. Hebenstreit, G. Vorderobermeier, M. Wolf (Hg.): Transla- neuen Medien – Französische und brasilianische Webchats
tionskultur revisited, FS E. Prunč (2010) 33–57. – 91 I. Acker- (2009); E. Strätz: Sprachverwendung in der Chat-Kommunika-
mann (Hg.): Als Fremder in Deutschland. Berichte, Erzählun- tion. Eine diachrone Untersuchung französischsprachiger Log-
gen, Gedichte von Ausländern (1982, 21983); dies. (Hg.): Türken files aus dem Internet Relay Chat (2010); J. Sandner: Medium
dt. Sprache. Berichte, Erzählungen, Gedichte (1984); dies. und Gender. Geschlechtsspezifische Höflichkeit in frz. SMS
(Hg.): In zwei Sprachen leben. Berichte, Erzählungen, Gedichte (2011); vgl. auch J. Schmid: Internet-Rhet. Chancen und Wider-
von Ausländern (1993); H. Friedrich (Hg.): Chamissos Enkel. stände des Orators auf der digitalen Agora (2007); dazu Rez. von
Lit. von Ausländern in Deutschland (1986); I. Ackermann, H. H. Kalverkämper, in: Rhetorik 30 (2011). – 105 2010 veröffent-
Weinrich (Hg.): Eine nicht nur dt. Lit. Zur Standortbestimmung licht von R. Wälde als Höflichkeits-Richtlinien unter http://
der ›Ausländerlit.‹ (1986); R. King, J. Connell, P. White (eds.): www.knigge-rat.de/themen.html.
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lichkeit im Französischen. Ein Beitr. der Wortfeld-Forschung
zur Methodologie der Fachsprachen-Linguistik, in: Sprachwiss. ^ Code ^ Dialog ^ Diskurs ^ Gespräch ^ Handlungstheorie
5 (1980) 415–496; ders.: Der Begriff der ‹Fachlichkeit› im mo- ^ Hochsprache ^ Interkulturelle Kommunikation ^ Kom-
dernen Italienischen. Lexikalische Organisation und textuelle munikationstheorie ^ Konversation ^ Kulturanthropologie ^
Integration, in: Quaderni di Semantica (Bologna) 11 (1990) 79– Performanz, Performativität ^ Sprachgebrauch ^ Sprachrich-
115; ders.: Die kulturanthropol. Dimension von ‹Fachlichkeit› tigkeit ^ Sprachspiel ^ Sprachtheorie ^ Sprachwissenschaft
im Handeln und Sprechen, in: J. Albrecht, R. Baum (Hg.): Fach- ^ Sprechakttheorie ^ Wortschatz
sprache und Terminologie in Gesch. und Gegenwart (1992) 31–
58; ders.: Art. ‹Fach und Fachwissen›, in: L. Hoffmann, H. Kal-
verkämper, H.E. Wiegand (Hg.): Fachsprachen/Languages for
Special Purposes. Ein int. Hb. zur Fachsprachenforschung und Kompilation (lat. compilatio; engl., frz. compilation; ital.
Terminologiewiss. Bd. 1 (1998) 1–24. – 93 Aufstellung z.B. in compilazione)
H.-J. Lüsebrink: Interkulturelle Kommunikation. Interaktion, A. Def. – B. Geschichte. I. Antike. – II. Mittelalter. – III. Re-
Fremdwahrnehmung, Kulturtransfer (22008) 5. – 94 B.-D. Mül- naissance und 17. Jh. – IV. 18. und 19. Jh. – V. 20. Jh.
ler (Hg.): Interkulturelle Wirtschaftskommunikation (1991); J.
Bolten: Art. ‹Fachsprachliche Phänomene in der Interkulturel- A. Def. Die K. ist eine durch Exzerpieren, Zitieren und
len Wirtschaftskommunikation›, in: Hoffmann, Kalverkämper, Zusammenführen mehrerer Quellen erstellte Sammlung
Wiegand (Hg.) [92] 849–855. – 95 J. Bolten: Einf. in die interkul- von Texten oder Textausschnitten. Der Begriff – ent-

479 480
Kompilation Kompilation

lehnt von lat. compilatio (von compilare: plündern, tums ist aus der ältesten griechischen Literatur bekannt –
ausbeuten, zusammenraffen) – dient sowohl als Ober- Hippias von Elis (5. Jh. v. Chr.) etwa verfaßt ein ‹Lese-
begriff wie als Gattungsbezeichnung für eine Vielfalt von buch wissenswerter Dinge› mit Auszügen aus Werken
historischen, naturgeschichtlichen, theologisch-heilsge- griechischer Dichter und Philosophen. Wert und Not-
schichtlichen und juristischen Sammelwerken, die vor wendigkeit der K. werden jedoch erst in der Spätantike
allem von der Antike bis zur Frühen Neuzeit weite Ver- zum Gegenstand theoretischer Überlegungen. So hebt
breitung fanden. Vornehmlich als Stoff- und Material- Valerius Maximus in der Vorrede zu seinen ‹Facta et
sammlung mit enzyklopädischer Ausrichtung konzi- dicta memorabilia› (erste Hälfte des 1. Jh. n. Chr.) den
piert, folgt die K. insbesondere im Mittelalter oft einem rhetorischen Nutzen seiner K. hervor: Er habe «eine
komplexen, jedoch nicht streng wissenschaftssyste- Reihe denkwürdiger Thaten und Äußerungen von Rö-
matischen Gliederungs- und Querverweissystem. Als mern und Ausländern» zusammengestellt, um dem Be-
Orientierung dienten etwa die bereits in der Antike aus- dürfnis des Redners entgegenzukommen, «Beispiele an
gearbeiteten loci communes, aber auch vorherrschende der Hand zu haben, ohne lange umher suchen zu müs-
Weltbilder der Zeit wie etwa das Sechstagewerk der sen». [4] Das Werk ist der Gattung der Exempelsamm-
Schöpfung. Darin unterscheidet sie sich – bei fließenden lungen zuzurechnen. Die Themen sind nicht systema-
Übergängen – von benachbarten Formen der Text- tisch gegliedert und reichen von Gesetzes- und Rechts-
sammlung wie etwa der enger literarisch ausgerichteten fragen über allgemeine Stoffe (wie etwa Vaterland,
‹Anthologie›, der vornehmlich didaktischen Zwecken eheliche Liebe) bis hin zu historischen und moralisch-
dienenden ‹Chrestomathie› oder dem häufig Redewen- ethischen Beispielen als Fundstätten für Personenlob
dungen sammelnden und alphabetisch geordneten ‹Flo- und -tadel. Bis in die humanistische Zeit ist es eine der
rilegium›. Als Titel von Werken wird der Begriff com- Hauptquellen historischer und moralischer Exempla
pilatio etwa ab dem 13. Jh. verwendet; die eingedeutschte aus dem Altertum. [5] Von ähnlich großer Bedeutung
Form ‹Compilation› läßt sich etwa ab dem 19. Jh. nach- für das mittelalterliche und frühneuzeitliche Wissen
weisen. [1] Heute werden auch Zusammenstellungen über die Antike ist die in zwanzig Bücher gegliederte
von Musiktiteln als K. bezeichnet. Kompilation ‹Noctes Atticae› des Aulus Gellius
Dienten die K. in der Antike vor allem der Bewah- (2. Jh. n. Chr.), die sich aus einem reichen Zitatenfundus
rung und Verfügbarhaltung der vorhandenen Quellen, – unter anderem Cato, Cicero, Varro – speist und der
so sind die K. des Mittelalters und der Frühen Neuzeit Gattung der Buntschriftstellerei zuzurechnen ist. Das
häufig vom Bestreben motiviert, das gesamte überlie- Werk enthält Anekdoten berühmter Männer, Beschrei-
ferte und in verschiedenen Quellen verstreute Wissen zu bungen von Bräuchen und Einrichtungen, aber auch
einem bestimmten Themenbereich in einem einzigen Vergleiche zwischen griechischer und römischer Lite-
Buch abzubilden (Spiegel). Ebenso wird die K. zu didak- ratur; es richtet sich als Bildungskompendium an einen
tischen Zwecken eingesetzt: Neben dem Bestreben, die breiten Adressatenkreis und nicht spezifisch an den
überlieferten Werke zu sammeln und zu bewahren, sa- Redner. Den Zeitgenossen die Fülle der antiken Ge-
hen es insbesondere die geistlichen Kompilatoren als lehrsamkeit vor Augen zu führen, ist auch das Ziel der
ihre Aufgabe an, das vorhandene Schrifttum adressaten- aus sieben Büchern bestehenden ‹Saturnalia› des Ma-
gerecht zusammenzustellen und zu ergänzen. [2] crobius (5. Jh. n. Chr.), bei denen im Stil der antiken
In der Zusammenstellung vorhandenen Materials Symposienliteratur ein fiktives Gastmahl als struktur-
zum Zweck der Belehrung und Anweisung liegt auch die gebender Rahmen dient, um die vorhandenen Quellen
eigentliche rhetorische Funktion der K. begründet: Als zweckmäßig auszuschöpfen. Neben diesen, auf die Be-
Stoffsammlung kann sie im traditionellen rhetorischen wahrung und Vermittlung des historischen, philoso-
System der inventio zugeordnet werden. Sie dient der phischen, philologischen und juristischen Wissens abzie-
Findung von Beweisgründen (loci), als Fundstelle von lenden K. entstehen in der Spätantike auch naturge-
Stoffen (Topik) sowie ferner als Zitatfundus für die schichtliche K. Besonders hervorzuheben ist die 37 Bü-
Ausschmückung der Rede (ornatus). Das insbesondere cher umfassende ‹Naturalis historia› des Plinius d. Ä.
für die K. der frühen Neuzeit charakteristische Ord- (etwa 79 n. Chr.) als systematische Enzyklopädie, die das
nungsgerüst von historischen oder theologischen loci aus einer umfassenden Fachschriftenrezeption gezoge-
communes wurde als Mittel zur geordneten Sammlung ne Wissen nach einem einheitlichen naturphilosophi-
der Materialien und somit als Hilfe bei der Verfertigung schen Konzept gliedert und dabei Kulturhistorisches der
einer Rede, z.B. einer Predigt, verwendet. [3] Natur unterordnet. Die ‹Naturalis historia› diente selbst
Gleichwohl kann die K. auch als abgeschlossenes als Fundus für zahlreiche medizin- und naturgeschicht-
Werk rhetorisch untersucht werden. Kennzeichnend für liche K. des Mittelalters. [6]
das Verfahren der K. ist der rhetorisch-dialektische II. Mittelalter. Im Mittelalter avanciert die K. zum
Dreischritt des Findens, Beurteilens und Verarbeitens zentralen Konzept weltlicher und geistlicher Bildung;
von Stoffen. Von Interesse im Rahmen einer rhetori- das Kompilieren gilt als anerkanntes Mittel der Text-
schen Untersuchung ist daher vor allem die Frage nach verfertigung und erstreckt sich auf sämtliche Stoffbe-
dem kommunikativen Ziel, das mit der Anfertigung ei- reiche. [7] Weite Verbreitung finden neben den univer-
ner K. verfolgt wird. Im Besonderen berührt sind auch salgeschichtlichen, enzyklopädisch ausgerichteten K.
Probleme der Rangordnung und Wertung, der Textver- auch solche zu spezifischen Stoffbereichen wie Recht
änderung durch Kürzung oder Ergänzung, der Zusam- und Theologie sowie K. in Form von Weltchroniken
menstellung und Anordnung (ordinatio partium) des wie etwa diejenige Heinrichs von München (14. Jh.
kompilierten Materials sowie die Frage nach der Rolle n. Chr.), in der große Teile der ‹Christherre-Chronik›
des Kompilators (compilator), der im Mittelalter explizit (ca. 13. Jh. n. Chr.) mit anderen Chroniken verknüpft
vom Schreiber (scriptor), Autor (auctor) und vom Kom- werden. Die ‹Etymologiae› (um 600 n. Chr.) des Isidor
mentator (commentator) abgegrenzt wird. von Sevilla vermitteln nicht nur das Wissen der Spät-
B. Geschichte. I. Antike. Die Praxis des Kompilie- antike, sondern auch das Verfahren der K. an das Mittel-
rens zur Bewahrung kanonisierungswürdigen Schrift- alter; das Werk blieb über Jahrhunderte eines der am

481 482
Kompilation Kompilation

weitesten verbreiteten Bildungskompendien. Die 20 der Einfluß von ordinatio und compilatio als Konzepten
Bücher umfassen die artes liberales, Medizin, Recht, der Stoffverarbeitung und -strukturierung. So inszeniert
geistliches Wissen, Sprachen, Naturkunde und Technik. sich etwa der Verfasser im Prolog zu den ‹Canterbury
Das hervorstechendste Merkmal des Werks ist jedoch Tales› als Kompilator, der den in seinem Werk versam-
die Erschließung des Wissens auf der Grundlage der melten Erzählungen nichts hinzugefügt habe. [14]
Etymologie (jeder Sacherklärung wird eine Worterklä- III. Renaissance und 17. Jh. Die Praxis des Kompilie-
rung beigefügt) und grammatischer Kategorien, so daß rens bleibt auch im Kontext von Humanismus und Re-
die Grammatik in der isidiorianischen K. als «globale formation ein zentrales Mittel der Wissensaneignung,
Methode des Zugangs zu jeder Art von Kenntnissen» -systematisierung und -vermittlung. Sie kommt in unter-
bezeichnet werden kann. [8] schiedlichen Buchtypen wie etwa den Collectanea, dem
Gattungstechnisch lassen sich die K. des Mittelalters Florilegium, der Polyanthea sowie ab dem 16. Jh. in Loci
vornehmlich der Enzyklopädie und der Spiegelliteratur communes-Sammlungen und Commonplace-Büchern
zuordnen, was in einigen der bekanntesten K. dieser zur Anwendung. Im Zuge der humanistischen Propagie-
Zeit – etwa dem ‹Speculum virginum› (um 1140 n. Chr., rung der Auseinandersetzung mit der Antike finden
anonym), dem ‹Speculum maius› (um 1256 n. Chr.) des Sammlungen, die dem Leser oder Redner das literari-
Vinzenz von Beauvais oder dem ‹Sachsenspiegel› (zw. sche und kulturelle Wissen der Antike in kompakter
1220 und 1235 n. Chr.) des Eike von Repgow – bereits Weise zur Verfügung stellen, weite Verbreitung. Die-
aus dem Titel hervorgeht. Aus dem Anspruch, die Wirk- sem Kontext zuzurechnen sind die ‹Adagiorum Collec-
lichkeit in einem Buch adäquat abzubilden und dem Le- tanea› (um 1500) des Erasmus, die größte zeitgenössi-
ser damit die Quintessenz des gesamten, in einer Fülle sche Sammlung antiker Sentenzen, aber auch die
von Einzelwerken verstreuten Wissens darzubieten, er- Mythenkompilation ‹Mythologiae› (1551) des Natale
gibt sich das Problem der Anordnung (ordinatio) des Conti, die auch außerhalb Italiens weite Verbreitung
Stoffes. Vinzenz nennt in der Rechtfertigung (‹Apologia findet und u. a. F. Bacon beeinflußt. [15] Ebenfalls von
actoris›) seiner Enzyklopädie ‹Speculum maius› die Interesse für den Humanismus ist das Sammeln von Ge-
Heilige Schrift als Vorbild für die Abfolge des Stoffes: schichtswissen, das in Universalkompilationen von Hi-
Zuerst soll vom Schöpfer, dann von den Geschöpfen, storien kulminiert. In ganz Europa verbreitet ist etwa
weiter vom Fall und der Erlösung des Menschen und die in der Tradition der mittelalterlichen Chroniken ste-
schließlich von den historischen Geschehnissen gemäß hende, nach dem Schema der Weltalter ordnende ‹Welt-
dem Lauf der Geschichte die Rede sein. [9] Der dritte chronik› (1493) des Hartmann Schedel, in der histori-
Teil der Enzyklopädie, das ‹Speculum naturale›, ist nach sche K., Geographie und Topographie verschmelzen.
dem Sechstagewerk der Schöpfung gegliedert. Neue Adressatenkreise und im Wandel begriffene
Neben der Erörterung der Frage nach der ordinatio pädagogische Ansprüche bedingen im Reformations-
und nach Sinn und Nutzen der K. begreift Vinzenz seine zeitalter zudem neue systematische Konzeptionen der
K. auch als Nachschlagewerk zur Erleichterung der Pre- K. Die Methode, die exzerpierten Stoffe nach loci, ins-
digtvorbereitung und führt außerdem die selbst leidvoll besondere nach einem Ordnungsgerüst von loci com-
erfahrene Zeitknappheit (temporis brevitas) und Schwä- munes zu ordnen, erhält in der humanistisch-reforma-
che des menschlichen Gedächtnisses (memoriae labili- torischen Bildungslehre eine zentrale Bedeutung. So de-
tas) als Motivation für seine Kompiliertätigkeit an [10]. – finiert Ph. Melanchthon das Ordnungsprinzip seiner
Im Mittelalter findet außerdem eine rege theoretische erstmals 1521 erschienenen ‹Loci communes theologici›,
Auseinandersetzung mit der Rolle des Kompilators der ersten protestantischen Dogmatik, in expliziter Ab-
statt. Bonaventura definiert ihn im Prolog zum ‹Sen- grenzung von der Methode der Scholastiker. Anstelle
tenzenkommentar› als denjenigen, der – im Unterschied von Disputationen und Kommentaren wolle er dem Le-
zum auctor – nichts Eigenes schreibt und – im Unter- ser nur eine Reihe von allgemeinen Gesichtspunkten
schied zum commentator – keine Erklärungen hinzufügt, und Leitsätzen – eben die sog. loci communes – zur sy-
jedoch im Gegensatz zum scriptor die Freiheit habe, das stematischen Untersuchung der Heiligen Schrift an die
Material neu zu arrangieren (mutando). [11] Auch Vin- Hand geben. Melanchthons Rhetorisierung der loci zur
zenz zeigt in der Rechtfertigung seines ‹Speculum mai- Darstellung der Summe christlicher Lehre entfalteten
us› ein besonderes Bewußtsein von seiner Rolle als im theologischen Studienbetrieb des Reformationszeit-
Kompilator: Er habe den Quellen praktisch nichts hin- alters und darüber hinaus eine breite Wirkung. [16] Ge-
zugefügt («Nam ex meo pauca, vel quasi nulla addidi»), ordnet werden K. im 16. Jh. aber auch alphabetisch, nach
sondern sie nur in eine sinnvolle Ordnung gebracht. [12] Autoren oder nach Themen und in einer Vielzahl von
Die Betonung liegt auf dem praktischen Nutzen der entweder universal angelegten Werken oder Spezial-
Sammlung, die ihren ideellen Wert zwar durch die ver- kompendien, die sich auf die Sammlung von Materialen
wendeten Quellen, ihren Gebrauchswert als Handbuch, aus einer Disziplin (z.B. Theologica, Ethica) oder auf
Nachschlagewerk und Zitatenquelle aber erst durch die einen bestimmten Autor (Cicero, Seneca) beschrän-
zweckmäßige Anordnung des Materials erhält. ken. [17]
Als systematische Erschließung von Wissen hat die Als Mittel der Strukturierung der expandierenden
K. auch Einfluß auf die Entwicklung neuer Formen der Text- und Wissensmasse findet die Praxis des Kompilie-
Textgestaltung. Die ab dem 12. Jh. eingeführten Me- rens dann im barocken Gelehrtentum breite Anwen-
thoden der Textstrukturierung – etwa durch Buch- dung. Bekannte und weit verbreitete Beispiele sind J.
und Kapiteleinteilungen, Inhaltsangaben, Überschrif- Langes Kompendium ‹Loci communes sive florilegium›
ten und alphabetische Indices – stehen im Zeichen einer (1598), J. Gruters ‹Florilegium ethico-politicum› (1610–
leichteren Leserorientierung und stärken somit den spe- 12), D.G. Morhofs ‹Polyhistor› (1688) und P. Bayles
zifischen Charakter der K. als Handbuch und Nach- ‹Dictionnaire historique et critique› (1697).
schlagewerk. [13] Darüber hinaus zeigt sich auch in Wer- IV. 18. und 19. Jh. Mit der Kritik am Polyhistorismus,
ken der frühneuzeitlichen Literatur – wie etwa Bocca- wie sie unter anderem von C.F. Gellert und Lessing
cios ‹Decamerone› oder Chaucers ‹Canterbury Tales› – geäußert wird, und einer neu entstehenden Wissen-

483 484
Kompilation Konjektur

schaftskultur, die das Entdecken neuer Erkenntnisse Repertorium (2004) 196. – 16 vgl. H. Filser: Dogma, Dogmen,
über das Bereitstellen gesicherter Stoffe stellt, verliert Dogmatik (2001) 157–158. – 17 vgl. G. Heß: Enzyklop. und Flo-
die K. ihre Rolle als zentrales Konzept der Wissenssy- rilegien im 16. und 17. Jh., in: Th. Stammen, W.E.J. Weber
(Hg.): Wissenssicherung, Wissensordnung und Wissensverar-
stematisierung. Sie wird zunehmend pejorativ als Inbe- beitung. Das europäische Modell der Enzyklop. (2004) 47–68,
griff gedanklicher Unselbständigkeit und mangelnder hier 42. – 18 Art. ‹Compilation›, in: J.L.G. Höpfner (Hg.): Dt.
Originalität, zuweilen sogar als «gelehrter Diebstahl» Encyclop. oder Allgemeines Real-Wtb. aller Künste und Wiss.,
beurteilt. [18] Dessen ungeachtet sind K. jedoch auch im Bd. 6 (1782) 178. – 19 ebd.
18. und 19. Jh. fester Bestandteil der philologisch-wis-
senschaftlichen Praxis. Als Methode kommt das Kom- Literaturhinweise:
pilieren insbesondere in der Textgattung der ‹Historia N.H. Ott: K. und Zitat in Weltchronik und Kathedralikono-
literaria›, aber auch in gelehrten Zeitschriften, Wochen- graphie, in: C. Gerhardt, N.F. Palmer, B. Wachinger: Ge-
schichtsbewußtsein in der dt. Lit. des MA (1985) 119–135. – M.
zeitungen und Lexika zur Anwendung. Es wird jedoch Gier: Compilation and the Production of Knowledge in the
nicht mehr als kunstvolle Methode der Textverferti- Early German Enlightenment, in: H.E. Bödecker, P.H. Reill, J.
gung, sondern vielmehr als praktische Notwendigkeit Schlumbohm (Hg.): Wiss. als kulturelle Praxis, 1750–1900
erachtet. Ganz gleich, wie sinnvoll geordnet und nütz- (1999) 69–104.
lich eine K. ist, sie sei «niemals ein Werk des Genies», S. Fekadu
resümieren die Verfasser der ‹Deutschen Encylopädie›
(1782). [19] ^ Analekten ^ Anthologie ^ Blütenlese ^ Epitome ^ Ex-
V. 20. Jh. Textkompilationen in Form von Anthologi- empelsammlungen ^ Exzerpt ^ Fachprosa ^ Florilegium ^
en, Lesebüchern, Zeitschriften (wie etwa ‹Reader’s Di- Historia literaria ^ Kollektaneen ^ Poikilographie ^ Zitat
gest›) finden sich im 20. Jh. in schier unüberschaubarer
Anzahl und Verbreitung; sie sind ein wichtiges Mittel
der Leserlenkung und Kanonbildung. Der Begriff be-
zeichnet nun außerdem die Zusammenstellung musika- Konjektur (griech. stoxasmoÂw, stochasmós, eiÆkasiÂa, ei-
lischer Werke auf einem elektronischen Speichermedi- kası́a; lat. coniectura, praesumptio, suspicio; dt. Ver-
um. Das Kompilieren dient im 20. Jh. jedoch nicht allein mutung, Mutmaßung; engl. conjecture, presumption;
der Bewahrung, sondern häufig auch der Erschließung frz. conjecture, présomption; ital. congettura, presunzio-
von Literatur und Wissen (etwa durch die Veröffentli- ne)
chung von unpubliziertem Textmaterial) oder der Kon- A. Begriff und disziplinäre Kontexte. – B. Begriff und Fachge-
schichte. – I. Rhetorik. – II. Recht. – III. Philosophie. – 1. Anti-
stitution von neuen literarischen Bewegungen. So be- ke. – 2. Mittelalter. – 3. Neuzeit. – IV. Philologie. – V. Lexiko-
einflussen Kompilationswerke wie K. Pinthus’ Lyri- graphie.
kanthologie ‹Menschheitsdämmerung› (1920) oder – im
angloamerikanischen Kontext – die Anthologie ‹Some A. Begriff und disziplinäre Kontexte. Der Begriff ‹K.›
Imagist Poets› (1915–1917) eine ganze Poetengenerati- (Vermutung) wird seit der Antike für eine spezifische
on. Modalität des Fürwahrhaltens, Urteilens und Schließens
Trotz der Betonung des Originalitätsgedankens im verwendet, eine «Art bevorzugender Anerkennung» [1],
18. und 19. Jh. erfahren Techniken der Textverfertigung der ein mittlerer Grad von Zuversicht [2] und Zustim-
wie etwa Collage, Montage und Cut-Up-Technik, die der mung entspricht, welcher zwar einerseits deutlich unter
K. verwandt sind, in Literatur und Ästhetik der Avant- dem der Gewißheit, andererseits aber deutlich über dem
garde und Postmoderne erneut eine Aufwertung. Kom- des Zweifelns oder des bloßen Ratens liegt. Die K. ge-
pilationsverfahren charakterisieren etwa E. Pounds hört zu einer Familie von Urteilsmodalitäten (Annah-
modernistisches lyrisches Epos ‹Cantos›, in dem eigene me, Hypothese, Präsumtion, u. a.), deren Gemeinsam-
Verse mit einer unüberschaubaren Anzahl von Textpar- keiten und Unterschiede trotz vereinzelter Ansätze [3]
tikeln aus der gesamten Weltliteratur montiert werden, noch nicht gründlich untersucht sind. Im weitesten Sinne
aber auch die Lyrik des Dadaismus und der Beat-Poe- ist eine Vermutung eine «wahrscheinliche Meynung» [4]
ten, bei der aus dem Zerschneiden und Neuarrangieren bzw. «ein wahrscheinlicher Schluß» [5].
von gedrucktem Material neue Texte entstehen. Dem Vermutungs- und Wahrscheinlichkeitscharak-
ter aller oder zumindest vieler menschlichen Erkennt-
Anmerkungen: nisversuche konnte in pessimistischer, aber auch in op-
1 H. Kallweit: Art. ‹K.›, in: RDL3, Bd. 2 (2000) 317–321, 318. – timistischer Einstellung begegnet werden. Manche Den-
2 C. Fasbender: Art. ‹K.›, in: D. Burdorf, C. Fasbender, B. Mo- ker hielten ihn für ein unabänderliches Merkmal der
ennighoff (Hg.): Metzler Lex. Lit. (32007) 394. – 3 Kallweit [1] condicio humana: Vollkommenes Wissen besitzen allein
319. – 4 Valerius Maximus: Sammlung merkwürdiger Reden die Götter; die Menschen müssen sich mit dem schwa-
und Thaten, übers. v. D.F. Hoffmann (1828) 10. – 5 F. Brunhölzl: chen Licht der Vermutung begnügen. In dieser pessi-
Art. ‹Valerius Maximus›, in: LMA, Bd. 8, Sp. 1390f. – 6 ders.:
Art. ‹Plinius Secundus; Gaius›, in: LMA, Bd. 7, Sp. 21–22. –
mistischen Sicht markiert die K. eine unüberbrückbare
7 vgl. Kallweit [1] 319. – 8 J. Fontaine: Art. ‹Isidorus Hispalen- Kluft. Einem optimistischeren Bild zufolge, das sich ge-
sis›, in: LMA Bd. 5, Sp. 677–678. – 9 vgl. A.-D. v. d. Brincken: rade auch bei Rhetorikern findet, bildet die Vermutung
Geschichtsbetrachtung bei Vinzenz von Beauvais. Die Apolo- einen Weg, der unter der Leitung der Vernunft zur
gia Actoris zum Speculum Maius, in: Dt. Archiv zu Erforschung Wahrheit führt. [6] Auch die besten wissenschaftlichen
des MA 34 (1978) 410–499, hier 420. – 10 ebd. 417–418. – 11 vgl. Annahmen gelten heute vielfach als revidierbare Ver-
M.B. Parkes: The Influence of the Concepts of Ordinatio and mutungen, deren Abfolge sich gleichwohl der Wahrheit
Compilatio on the Development of the Book, in: J.J.G. Alexan- anzunähern vermag.
der, M.T. Gibson: Medieval Learning and Literature (Oxford
1976) 115–141, hier 127–128. – 12 zit. nach A. Minnis: Late-
Der Begriff ‹K.› findet sich früh in der philosophi-
Medieval Discussions of compilatio and the Rôle of the com- schen Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, in der Me-
pilator, in: BGDSL 101 (1979) 385–421, hier 387. – 13 Parkes [11] dizintheorie, im Recht und in der Rhetorik. Später ge-
133. – 14 ebd. 130–131. – 15 vgl. H. Jaumann: Art. ‹Natale Conti›, winnt er spezielle Bedeutungen in anderen Disziplinen,
in: Hb. Gelehrtenkultur der Frühen Neuzeit, Bd. 1: Bio-bibl. z.B. in der Mathematik, wo er Sätze bezeichnet, die bis-

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lang weder bewiesen noch widerlegt werden konnten kert. Von dem Normalfall einer praesumptio iuris,
(z.B. ‹Goldbachsche Vermutung›) oder in der Philolo- bei welcher der Gegenbeweis zugelassen ist, wie durch
gie, dort im Bereich der Textkritik. eine Widerleglichkeitsklausel zum Ausdruck gebracht
B. Begriff und Fachgeschichte. I. Rhetorik. Die rhe- wird [21], muß die praesumptio iuris et de iure als not-
torischen Termini stochasmós und coniectura haben ih- wendige Vermutung unterschieden werden, bei der kein
ren systematischen Ort zunächst in der Statuslehre. [7] Gegenbeweis zugelassen ist. [22] (Der Philosoph A.
Dort gehört der stochasmós (status coniecturalis; con- Trendelenburg hielt die den Gegenbeweis ausschlie-
stitutio coniecturalis) zu den vier klassischen stáseis. Es ßende praesumptio iuris et de iure für eine «logische
handelt sich um die Frage nach der Wahrheit, den Streit- Missbildung», die Gefahr laufe, «mit der Wahrheit und
punkt der Faktizität (quaestio facti), der sich ergibt, der Gerechtigkeit in Widerspruch zu gerathen» [23];
wenn der Angeklagte die Tat abstreitet. Strittig ist zu- denn: «Der Begriff einer unbestreitbaren Vermuthung
meist nicht die Tat an sich, sondern der Täter; in man- widerspricht sich selbst.» [24])
chen Fällen kann jedoch auch beides Gegenstand der Die juristische Beweislehre wurde von den Glossa-
Frage sein. Der Tatbestand muß jetzt «durch einen toren des ‹Codex Iustinianus› um die probatio semiplena
Schluß aus sichtbaren Zeichen vermutungsweise gewon- ergänzt und schließlich von den Postglossatoren Gan-
nen werden» [8]. dinus, Bartolus und Baldus zu ihrer seitdem gültigen
Schon früh wurde der Streitpunkt der Faktizität von Gestalt vervollständigt. [25] In der Renaissance trugen
anderen Streitpunkten unterschieden. [9] In der vollent- A. Alciatus, J. Mascardus (Guiseppe Mascardi) und J.
wickelten Statuslehre des Hermagoras von Temnos ist Menochius (Jacopo Menochio) umfangreiche Beispiel-
die Faktizitätsfrage die erste der sog. «logischen» oder sammlungen zusammen. [26] Gleichwohl unterschied
«rationalen» Fragen [10]; seitdem nimmt sie in den anti- man lange nicht konsequent zwischen Konjekturen und
ken Statussystemen in der Regel den ersten Platz Präsumtionen. [27] Die von den Juristen erarbeiteten
ein [11]. Hier ist der status coniecturalis noch bis in die Differenzierungen wurden später von G.W. Leibniz, R.
Neuzeit hinein terminologisch von Bedeutung. Whately, Ch.S. Peirce u. a. aufgegriffen, präzisiert und
Zur Etymologie bemerkt Quintilian, ‹coniectura› für die allgemeine Erkenntnistheorie und Methodologie
sei von ‹coniectus› (Hinschleudern) abgeleitet, was zu fruchtbar gemacht.
verstehen sei als eine «Art von Lenkung des Verstandes III. Philosophie. Der bekannteste Vertreter eines kon-
auf die Wahrheit hin» [12]; aus diesem Grunde hätten sequent konjekturalen Denkens im 20. Jh., der Wissen-
auch die Ausleger von Träumen und Vorzeichen coniec- schaftsphilosoph K.R. Popper, beruft sich mit Vorliebe
tores geheißen. (Tatsächlich war das Wortfeld coniectu- auf ein Fragment des vorsokratischen Philosophen Xe-
ra im klassischen Latein besonders im Bereich der man- nophanes von Kolophon: «Sichere Wahrheit erkannte
tischen Künste [13] und der Vorhersagen über die Zu- kein Mensch und wird keiner erkennen/über die Götter
kunft [14] gebräuchlich.) und alle die Dinge, von denen ich spreche./Selbst wenn
Weit über die Statuslehre hinaus haben rhetorische es einem einst glückt; die vollkommenste Wahrheit zu
Begriffsbildungen und Lehrstücke zur Entwicklung ei- künden,/wissen kann er sie nie: Es ist alles durchwebt
nes umfassenden Wahrscheinlichkeitsdenkens [15] und von Vermutung.» [28]
einer «Konjekturalphilosophie» [16] beigetragen. Die- 1. Antike: Stochastische Künste. Bei einer differenzier-
ses konjekturale Denken hat vielfältig anwendbare qua- teren wissenschaftstheoretischen Betrachtung läßt man
litative Wahrscheinlichkeitsbegriffe hervorgebracht, die sich in der Antike von zwei Fragen leiten: (1) Welche
der mathematischen Wahrscheinlichkeitstheorie vor- menschlichen Tätigkeiten und Dispositionen können zu
ausgingen und bis heute parallel zu dieser fortentwickelt Künsten bzw. Wissenschaften entwickelt werden? (2)
werden. [17] Welche Art und welcher Grad von Genauigkeit (aÆkriÂ-
II. Recht: Konjekturen und Präsumtionen. In der Tra- beia, akrı́beia) sind in den verschiedenen Künsten und
dition des römischen Rechts entwickelte sich eine juri- Wissenschaften möglich? Jede Kunst soll zumindest ei-
stische Beweislehre, in der zwischen mehreren Beweis- nen Schutz gegen den Zufall bieten; dazu fordert man von
stufen oder -graden differenziert wird. Insbesondere un- ihr Genauigkeit, die durch Zählen, Messen und Wie-
terscheidet man zwischen (a) der Vermutung im Sinne gen [29] garantieren soll, daß das angestrebte Ziel mög-
des Indizienbeweises eines unklaren Tatbestandes (con- lichst sicher erreicht wird.
iectio; coniectura), etwa einer indiziengestützten Ver- Während manche Künste ihr Ziel absolut sicher tref-
mutung über den Willen eines Erblassers [18], und (b) fen (z.B. die Arithmetik), können sich andere auf ihren
der Präsumtion (praesumtio; praesumptio) im Sinne ei- Zielpunkt (skopoÂw, skopós) nur mehr oder weniger ge-
ner prozeßrechtlichen Annahme, die als wahr gilt, wenn nau einwerfen oder einschießen, z.B. weil das Ziel sich
und solange nicht das Gegenteil erwiesen ist [19]. So bewegt oder anderweitig verändert oder nicht deutlich
wird etwa vermutet (creditur; praesumitur), daß ein von sichtbar ist. In der klassischen griechischen Philosophie
einer verheirateten Frau geborenes Kind ein eheliches und Medizintheorie wurde die Frage aufgeworfen, ob
und damit legitimes Kind ist. Von besonderer Bedeu- aus Geschicklichkeiten im Vermuten (wie z.B., wenn je-
tung für alle fortgeschrittenen Rechtssysteme sind die mand im Heilen, im Reden oder auch im sittlichen Han-
allgemeine Bonitätsvermutung (praesumtio bonitatis; deln geübt und erfahren ist) Künste und Wissenschaften
praesumtio boni viri) und ihre wichtigste Konkretisie- im strengen Sinne werden können. Allgemeiner ging es
rung: die Unschuldsvermutung (praesumtio innocentiae) darum, ob – und wenn ja, wie – es möglich ist, daß aus
im Strafverfahrensrecht, der zufolge bis zum gesetzli- Vermutung Erkenntnis wird. In der Anwendung auf
chen Nachweis seiner Schuld vermutet wird, daß der Künste wie die Heilkunst und die Redekunst finden sich
wegen einer strafbaren Handlung Angeklagte unschul- das Verb stoxaÂzesuai, stocházesthai (wörtlich: auf et-
dig ist. [20] was zielen) und seine Ableitungen in Platons Dialogen,
Während die Anwendung einer praesumptio hominis in dem zum ‹Corpus Hippocraticum› gerechneten Trak-
(bzw. facti) im Ermessen des Richters liegt, ist eine tat ‹De vetera medicina› (‹Von der alten Medizin›) [30]
Rechtsvermutung (praesumptio iuris) im Gesetz veran- und in Aristoteles’ ‹Nikomachische Ethik›. [31] Seit der

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Spätantike werden Künste, die ihr Ziel nicht immer, (etwa in Coniectura de ultimis diebus), gab er ihm in sei-
sondern nur in den meisten Fällen erreichen, ausdrück- nem Hauptwerk ‹De coniecturis› vor dem Hintergrund
lich als ‹stochastische› Künste (stoxastikaiÁ teÂxnai, sto- seiner metaphysischen Lehre von Einheit und Anders-
chastikaı́ téchnai; artes coniecturales) bezeichnet. [32] heit eine terminologische Bedeutung [47]: Er definierte
Die Geschicklichkeit im Vermuten (eyÆstoxiÂa, eu- coniectura als «positiva assertio, in alteritate veritatem,
stochı́a; coniectatio, sagacitas) ist eine Treffsicherheit uti est, participans» [48], d. h. wörtlich: als ein bejahen-
(solertia), die sich im intuitiven Erfassen von Ähnlich- des Urteil, das in Andersheit an der Wahrheit, so wie sie
keiten und Unterschieden oder auch im Auffinden des ist, teilhat. Da die letzte Genauigkeit (praecisio) der
syllogistischen Mittelbegriffs zeigen kann. [33] Das Na- Wahrheit unerreichbar (inattingibilis) bleibe [49], sei
turtalent zum Vermuten heißt Scharfsinn (aÆgxiÂnoia, jede positive menschliche Behauptung über das Wahre
anchı́noia; argutia). [34] eine Mutmaßung («omnem humanam veri positivam as-
Bei Platon wird das Vermuten mit dem Wissen und sertionem esse coniecturam» [50]). Dieser konjektura-
Erkennen kontrastiert. [35] Im ‹Philebos› und in der len Erkenntnisweise entspreche eine neue allgemeine
‹Politeia› ordnet er die verschiedenen Künste nach ihrer Wissenschaft und Methodologie – eine ars coniecturalis
Teilhabe an der Meßkunst: (1) Künste mit geringem bzw. generalis coniecturandi ars –, die große und bisher
Anteil an Zahl, Maß und Genauigkeit (z.B. Musik, Me- verborgene Dinge ans Licht bringen werde, aber noch
dizin, Landbau, Steuermannskunst, Feldherrnkunst) neu und daher weiter zu erforschen sei. [51] Die für die
und (2) Künste mit höherem Anteil an Zahl, Maß und scholastische Methode zentrale quaestio sei hingegen
Genauigkeit (z.B. Baukunst sowie die Maß-, Zahl- und schon deshalb nicht geeignet, die Wahrheit zu finden, da
Rechenkünste, soweit sie auf sinnliche Gegenstände an- sie unterstelle, von zwei einander widersprechenden
gewandt werden). Darüber stehen (3) die reine Mathe- Antworten könne nur eine wahr sein. Während Cusanus
matik intelligibler Größen und schließlich (4) die Dia- in ‹De docta ignorantia› die Defizienz und Begrenztheit
lektik. [36] der menschlichen Erkenntnis akzentuierte, betonte er in
In den auf Vermutung angewiesenen Künsten geht es ‹De coniecturis›, daß jeder menschliche Geist sich auf
darum, wie das Vermuten so methodisiert werden kann, seine individuelle perspektivengebundene Weise der
daß es zu einer lehrbaren Vermutungskunst erhoben Wahrheit annähern und seine Erkenntnisse vermehren
wird. Als Werkzeuge bieten sich aus der aristotelischen kann. Der menschliche Geist (mens), das erhabene
Schlußlehre die nicht-deduktiven Argumentationsfor- Abbild Gottes, bildet sich mithilfe von Begriffen und
men an: die Induktion, das Exempel bzw. der Analogie- Mutmaßungen seine konjekturale Welt (coniecturalis
schluß [37] sowie Schlüsse aus dem, was in der Regel mundus), wie der göttliche Geist die wirkliche Welt
stattfindet, und Schlüsse aus Zeichen. [38] Die Zeichen- schafft. [52] Der Akzent liegt jetzt auf der Rangerhö-
schlußlehre wurde in hellenistischer Zeit von Epikure- hung des Menschen und seiner Hervorbringungen; der
ern und Stoikern ausgebaut und mit den Skeptikern Möglichkeit einer Annäherung an die Wahrheit ent-
kontrovers diskutiert. [39] spricht die Idee der unendlichen Perfektibilität des
2. Mittelalter: Göttliches Wissen und menschliches Mut- Menschen.
maßen. Der mittelalterliche Wortgebrauch schließt zu- 3. Neuzeit: Urteilslehren, Erkenntnistheorie, Methodo-
nächst an antike Verwendungen an. So teilt Bonaven- logie. In den Urteilslehren der neuzeitlichen Logiken
tura die Erkenntnis durch eigene Betrachtung (cognitio und Erkenntnistheorien wird es üblich, zwischen unter-
per propriam considerationem), die der Erkenntnis schiedlichen Graden des Fürwahrhaltens zu unterschei-
durch Unterweisung (cognitio per instructionem alteri- den. So nennt etwa J. Locke die Vermutung unter den
us) gegenübergestellt wird, ein in: (a) «rei praesentis et «degrees of Assent» (Graden der Zustimmung) «from
per certitudinem» (von einer anwesenden Sache und im full Assurance and Confidence, quite down to Conjec-
Modus der Gewißheit) und (b) «rei ut absentis, et per ture, Doubt and Distrust» (von voller Überzeugung und
quandam coniecturationem» (von einer abwesenden Zuversicht bis hinunter zu Vermutung, Zweifel und
Sache und im Modus einer Vermutung). [40] Eine co- Mißtrauen). [53]
gnitio coniecturae liegt beispielsweise bei einem Schluß G.W. Leibniz rügt zurecht, daß die Begriffe coniec-
von gegenwärtigen Zeichen auf zukünftige Ereignisse tura und praesumtio selbst in der Philosophie oft nicht
vor. [41] Die Defizienz der K. ist dadurch gekennzeich- auseinandergehalten werden, und empfiehlt, auf die in
net, daß ihr Irrtum und Zweifelhaftigkeit («error et du- der juristischen Beweislehre herausgearbeiteten Diffe-
bietas») beigemischt ist. [42] renzierungen zurückzugreifen. [54] Vermuten im Sinne
Auch Thomas von Aquin kontrastiert die unvoll- von conjicere ist «ex probationibus insufficientibus recte
kommene Vermutungserkenntnis (coniecturalis cogni- inferre» (aus unzureichenden Beweisgründen richtig er-
tio) mit der sicheren Erkenntnis (certa cognitio): «qui- schließen) [55], was der Beweisstufe der Indizien ent-
cumque cognoscit effectum contingentem in causa sua spricht. Von solchem Konjizieren ist das Präsumieren zu
tantum, non habet de eo nisi conjecturalem cognitio- unterscheiden, wie Leibniz in seiner Auseinanderset-
nem» (wer immer eine kontingente Wirkung bloß in ih- zung mit Locke hervorhebt. Letzterer hatte angemerkt,
rer Ursache erkennt, der hat von ihr nur eine vermu- daß uns Menschen nur wenige Dinge im hellen Tages-
tungsweise Erkenntnis.) [43] Die eustochı́a des Aristo- licht des sicheren Wissens erstrahlen; für den größeren
teles umschreibt Thomas als «bona coniecturatio» [44] Teil unserer Angelegenheiten gewähre uns Gott nur das
und verteidigt sie als einen Teil der Klugheit (pruden- Dämmerlicht der Wahrscheinlichkeit. In diesem Be-
tia). [45] Unter Berufung auf Nemesios spricht Thomas reich regiere nicht Wissen, sondern «JUDGMENT,
auch von «artes coniecturales» («ut puta medicinalis, which is the putting Ideas together, or separating them
negotiativa, et hujusmodi»). [46] from one another in the Mind, when their certain
Für den Übergang vom Mittelalter in die Neuzeit ist Agreement or Disagreement is not perceived, but
der neuartige Gebrauch von coniectura im Werk des presumed to be so; which is, as the Word imports, ta-
Nikolaus von Kues von Bedeutung. Während Cusanus ken to be so before it certainly appears» (das Urteilen,
das Wort durchaus auch im geläufigen Sinne gebrauchte das in dem Zusammensetzen oder Trennen von Vor-

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stellungen im Geist besteht, wenn ihre sichere Überein- onstheorie [67], der allgemeinen Hermeneutik und der
stimmung oder Nichtübereinstimmung nicht wahrge- Theorie der Rationalität [68] fruchtbar gemacht wor-
nommen, sondern präsumiert wird, d. h. – wie es das den.
Wort beinhaltet – angenommen wird, bevor sie mit Ge- Während coniectura in der Cusanischen Philosophie
wißheit erscheint) [56]. Leibniz kritisiert die Wendun- die menschliche Erkenntnissituation als ganze um-
gen «presumed to be so» und «taken to be so before it schreiben soll, wendet man sich jetzt in vielen theore-
certainly appears» und drängt auf eine genauere Ter- tisch und praktisch bedeutsamen Lebensbereichen ein-
minologie: «Quant à la presomtion, qui est un terme des zelnen Vermutungen und ihren Abstufungen zu. Im
Jurisconsultes, le bon usage chez eux le distingue de la Zuge der Entwicklung mathematischer Wahrscheinlich-
conjecture. C’est quelque chose de plus, et qui doit pas- keitstheorien treten zu den qualitativen und kompara-
ser pour verité provisionellement, jusqu’à ce qu’il y ait tiven Verwendungen der Wahrscheinlichkeitsbegriffe
preuve du contraire, au lieu qu’un indice, une conjecture quantitative (numerische) Anwendungen hinzu. Wäh-
doit estre pesée souvent contre une autre conjecture. [...] rend L. Pacioli, G. Cardano, N. Tartaglia, B. Pascal,
Presumer n’est donc pas dans ce sens prendre avant la P. Fermat und C. Huygens sich auf die Behandlung des
preuve, ce qui n’est point permis, mais prendre par avan- Erwartungswertes (valor expectationis) des Gewinnes in
ce mais avec fondement, en attendant une preuve con- Glücksspielen konzentrieren [69], betonen J. Bernoulli
traire.» (Was die Präsumtion angeht – ein Fachterminus und Leibniz die universelle Bedeutung einer Wissen-
der Juristen –, so unterscheidet der gute Wortgebrauch schaft der Vermutung. Bernoullis Arbeiten zur Wahr-
bei ihnen sie von der Konjektur. Es handelt sich dabei scheinlichkeitsrechnung erschienen programmgemäß
um etwas mehr, etwas, das vorläufig als Wahrheit durch- als ‹Ars conjectandi›, deren bedeutsamster Teil Nutzen
gehen kann, bis es einen Beweis des Gegenteils gibt, und Anwendung dieser Kunst «in civilibus, moralibus &
wohingegen ein Indiz, eine Konjektur oft gegen eine an- oeconomicis» behandelt. [70] Die ‹Ars conjectandi sive
dere Konjektur abgewogen werden muß.) [57] Zur Er- Stochastice› wird definiert als «ars metiendi quam fieri
läuterung gibt Leibniz ein Beispiel: So wird von jeman- potest exactissime probabilitates rerum» (Kunst, die
dem, der gesteht, von einem anderen Geld geliehen zu Wahrscheinlichkeiten der Dinge so exakt wie möglich
haben, präsumiert, daß er es bezahlen muß, es sei denn, zu messen). [71] Das Vermuten einer Sache wird dabei
er weist nach, daß er es schon getan hat oder daß die als Messen seiner Wahrscheinlichkeit dem Wissen ge-
Schuld aus irgendeinem anderen Grund aufgehoben ist. genübergestellt, das nur bei den wenigen unbezweifel-
Abschließend macht Leibniz gegen Locke geltend: baren Dingen statthabe. [72]
«Präsumieren ist also in diesem Sinne nicht vor dem Be- In den Urteilslehren des 19. und 20. Jh. bemüht man
weis annehmen – was gar nicht erlaubt ist –, sondern im sich darum, genauer als etwa Locke zwischen den ver-
vorhinein – aber mit Grund – annehmen, wobei man ei- schiedenartigen Einstellungen und den unterschiedli-
nen Gegenbeweis abwartet.» [58] chen Graden der Zuversicht zu differenzieren, die mit
Aus den Definitionen von praesumtio, die sich in der Annahmen verbunden sein können. B. Bolzano zufol-
römischen Rechtstradition [59] finden, hat Leibniz den ge gibt es drei hauptsächliche «Abstufungen in unserer
begrifflichen Kern herausgeschält: «Praesumtio est, Zuversicht»: Die Stufe des Vermutens steht dabei so-
quod pro vero habetur donec contrarium probetur.» wohl unter der «höchsten Zuversicht» als auch unter der
(Eine Präsumtion ist etwas, das für wahr gehalten wird, «sittlichen Zuversicht», die erreicht wird, «wenn wir es
bis das Gegenteil bewiesen wird.) [60] Leibniz eröffnet für etwas Thörichtes und sogar Unerlaubtes halten, die
damit auch formal die Möglichkeit, den Terminus als Möglichkeit des Gegentheils noch besorgen und dafür
allgemeinen – nicht auf Rechtsfragen eingeschränkten – Anstalten treffen zu wollen.» [73] Wenngleich viele
erkenntnistheoretischen und methodologischen Begriff Zeitgenossen A. Meinong in seiner Diagnose beipflich-
zu verwenden. Wie die juristische Präsumtion zwischen ten, «dass die Erkenntnistheorie an den Vermutungen
den vollständigen und den unvollständigen Beweisen Vernachlässigungssünden gutzumachen hat» [74], stößt
angesiedelt ist, so nimmt die logisch-erkenntnistheore- seine Lehre von den «Annahmen» zunächst auf Kri-
tische Präsumtion eine Mittelstellung zwischen den de- tik. [75] Auf Ablehnung stößt insbesondere der von Mei-
monstrativen Erkenntnissen und den bloß probablen nong geprägte Begriff einer «Vermutungsevidenz» [76].
Mutmaßungen ein. Sie gilt als vorbehaltliche Wahrheit; Meinongs Lehrer F. Brentano merkt dazu in seinen ei-
wenn und solange das Gegenteil nicht bewiesen ist, gilt genen Untersuchungen zur Evidenz an: «In jüngster
die Präsumtion als Anhaltspunkt, an dem sich das wei- Zeit [...] hörten wir sogar (und allen Ernstes) [...] die
tere theoretische oder praktische Raisonnieren orien- Meinung äußern, daß es evidente Vermutungen gebe,
tiert. I. Kant prägt später für vernünftige vorbehaltli- die trotz ihrer Evidenz recht wohl falsch sein könnten.
che Annahmen den Begriff des vorläufigen Urteils Es ist unnötig zu sagen, daß ich dies für widersinnig hal-
(iudicium praevium). [61] Im 19. Jh. hat R. Whately die te; wohl aber mag ich das Bedauern aussprechen, daß
von Leibniz begonnene logisch-erkenntnistheoretische Vorlesungen aus der Zeit, da ich noch Überzeugungs-
Verwendung des Präsumtionsbegriffs fortgesetzt. [62] grade für Urteilsintensitäten hielt, zu solchen Verirrun-
Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung ist es nur gen den Anlaß gegeben zu haben scheinen.» [77] E.
konsequent, wenn in J. Baldwins ‹Dictionary of Phi- Husserl unterscheidet in seiner Urteilstheorie von der
losophy and Psychology› neben dem Stichwort ‹Pre- «Zweifelsstellungnahme» die Stellungnahme des «Ver-
sumption (in law)› [63] bereits ein eigener Artikel zur mutens oder Für-wahrscheinlich-haltens, die dann ein-
logisch-erkenntnistheoretischen Bedeutung von ‹Pre- treten wird, wenn sich eine der anmutlichen Möglich-
sumption› vorgesehen ist; der Verfasser ist C.S. Peirce, keiten das Übergewicht erhält, wenn mehr für sie
der den Präsumtionsbegriff auch in seinem umfangrei- spricht». [78] Vermuten in diesem Sinne ist eine «Art
chen Werk oft verwendet. [64] Im Anschluß an Whately bevorzugender Anerkennung»: «In der Vermutung als
und Peirce ist der Begriff der Präsumtion in neuerer Ichstellungnahme, die von den passiven, affektiven An-
Zeit in der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie [65], mutungen unterschieden werden muß, stellen wir uns
in der Religionsphilosophie [66], in der Argumentati- auf eine Seite, entscheiden uns in gewisser Weise für sie,

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Konjektur Konjektur

aber so, daß wir die andere Seite auch gelten lassen, ob- deorum II, 12; Plinius: Naturalis historia XI, 55. – 14 z.B. Cicero,
zwar mit geringerem Gewichte.» [79] Ad familiares VI, 4, 1; Polybios: Historiae I,84,6; VI,3,1–2. – 15 J.
Angesichts der revolutionären Umbrüche in der Wis- Franklin: The Science of Conjecture. Evidence and Probability
before Pascal (Baltimore 2001) Kapitel 5. – 16 H. Blumenberg:
senschaftsgeschichte wird seit dem 19. Jh. die Konjektu- Anthropol. Annäherung an die Aktualität der Rhet., in:
ralität aller wissenschaftlicher Aussagen immer wieder ders.: Wirklichkeiten, in denen wir leben (1981) 104–136; K.
betont, wobei die exakten Wissenschaften inzwischen Helmer: De coniecturis – Über Mutmaßungen, in: ders.:
ausdrücklich eingeschlossen werden. [80] In neuerer Ars rhetorica. Beitr. zur Kunst der Argumentation (2006) 51–
Zeit hat K.R. Popper seine gesamte Wissenschaftstheo- 62. – 17 Franklin [15] passim. – 18 Digesten XXVIII,1,21,1;
rie nachdrücklich unter das Motto «Vermutungen und XXXVI,2,12,6. – 19 ebd. 22,3. – 20 dazu: R.-J. Köster: Die
Widerlegungen» gestellt: «The method of science is the Rechtsvermutung der Unschuld (1979); C.-F. Stuckenberg: Un-
method of bold conjectures and ingenious and severe ters. zur Unschuldsvermutung (1998) 11–45. – 21 «Statur prae-
sumptioni, donec contra probetur.» (Glosse Praesumptioni a.
attempts to refute them.» (Die Methode der Wissen- A. zu Digesten IV,2,23 pr. g. E.). – 22 Azo (Jurist und Glossa-
schaft ist die Methode kühner Vermutungen und findi- tor), Lectura super codicem 4 tit. 19 (Kommentar zum Codex
ger und strenger Versuche, sie zu widerlegen.) [81] Pop- Iustinianus) (Turin 1966) 283; Placentinus, Summa codicis 4 tit.
per geht es dabei vor allem darum, eine Methode von 19 (Turin 1962) 150. – 23 A. Trendelenburg: Über die praesum-
Versuch und Irrtumseliminierung an die Stelle des sei- tiones iuris et de iure. Ein Beitr. zur Logik des Rechts, in: ders.:
ner Ansicht nach unbrauchbaren induktivistischen Mo- Kleine Schr. (1871) 91–111, hier: 111. – 24 ebd. 107. –
dells von Hypothese und induktiver Bestätigung zu set- 25 Franklin [15] 28–33. – 26 A. Alciatus: Tractatus de praesump-
zen. tionibus (Lyon 1551); J. Mascardus: Conclusiones probationum
omnium (Venedig 1584–88); J. Menochius: De praesumptioni-
IV. Philologie. In der Textkritik ist es üblich, die K. bus, coniecturis, signis, et indiciis commentaria (Köln 1595; o. O.
von der Emendation und der Crux zu unterscheiden: 1670). – 27 I. Maclean: Interpretation and Meaning in the
«Erweist sich die Überlieferung als verdorben, so muß Renaissance. The Case of Law (Cambridge 1992) 102. –
versucht werden, sie durch divinatio zu heilen. Dieser 28 Xenophanes, Fr. B 34 (Diels I, 137), übersetzt von K.R. Pop-
Versuch führt entweder zu einer evidenten Emendation per: Auf der Suche nach einer besseren Welt. Vorträge und
oder zu mehreren etwa gleichmäßig befriedigenden Aufsätze aus dreißig Jahren (1984, 112002) 220. – 29 F. Heini-
Konjekturen oder zu der Erkenntnis, daß eine Heilung mann: Maß – Gewicht – Zahl, in: Museum Helveticum 32 (1975)
durch Divination nicht zu erhoffen ist (crux).» [82] 183–196. – 30 H. Herter: Die Treffkunst des Arztes in hippo-
kratischer und platonischer Sicht, in: Sudhoffs Archiv 47 (1963)
V. Lexikographie. K. findet schon in den ersten phi- 247–290, auch in: ders.: Kleine Schr. (1975) 175–211; H.G. In-
losophischen Wörterbüchern Berücksichtigung. R. Go- genkamp: Das stoxaÂsasuai des Arztes (VM, 9), in: Actes du
clenius erklärt: «Coniectamus ea, quorum rationes cer- IVe Colloque Int. Hippocratique (Genf 1983) 257–262. –
tas ignoramus.» (Wir vermuten diejenigen Sachverhalte, 31 Arist. EN VI, 13; dazu: H.G. Ingenkamp: Das Fundament
deren sichere Gründe wir nicht kennen.) [83] Bei J. Mi- stochastischen Verhaltens nach Aristoteles, EN VI, 13, in: Rhei-
craelius wird die coniectura als ein Mittleres zwischen nisches Museum 123 (1980) 41–50. – 32 Philodemus, Rhet. I,26
Wissen (scientia) und Nichtwissen (ignorantia) angesie- u. ö.; vgl. Sextus Empiricus, Adversus mathematicos I, 72; 2, 13;
delt; als solches ist sie ein «habitus intellectualis imper- Cicero, De Divinatione I, 24f.; De or. I, 91; Quint. II, 17, 22; vgl.
Philodemus: On Methods of Inference, hg. v. Ph.H. u. E.A. de
fectus» (eine unvollkommene Verstandeshaltung). [84] Lacy (Neapel 1978) 131–136; U. Hirsch: Art. ‹Stochastik›, in:
Auf den Artikel conjectura folgen bei Micraelius Ein- HWPh, Bd. 10 (1998) Sp. 186–189; Reisinger [6] Sp. 734. –
träge zum «Conjecturalis status» in der Rhetorik und zu 33 Arist. EN VI, 10, 1142b2f.; vgl. Thomas von Aquin: Summa
den «Conjecturales [...] artes», zu denen auch die Re- theologica II-II, q. 49, art. 4; R. Goclenius: Lexicon Philosophi-
dekunst (oratoria) gezählt wird. [85] In den deutsch- cum (Frankfurt a. M. 1613) 441: «Bona coniectura Graece eu-
sprachigen Nachschlagewerken dienen ‹Vermutung› stochia [...]». – 34 Platon, Charmides 160a1; Phaidros 239a4;
und ‹Mutmaßung› als Äquivalente für coniectura [86]; Epinomis 967c4; Aristoteles, Analytica Posteriora I, 34, 89b10;
die K. sei «eine wahrscheinliche Meynung, so aus gewis- vgl. ders., EN VI, 10, 1142b6; vgl. Reisinger [6] Sp. 733. –
35 Platon, Menon 98b; Gorgias 464c. – 36 Platon, Philebos 55e–
sen Umständen entstehet und herrühret» [87]. Wie Leib- 56a; Politeia 522c, 527c, 533b ff.; dazu H.J. Krämer: Arete bei
niz beklagt, hat das Wörterbuch der französischen Aka- Platon und Aristoteles (1959) 220–232. – 37 Theophrast, Cha-
demie den Unterschied zwischen Konjekturen und Prä- raktere, griech.-dt., übers. von D. Klose (1970) I, 381, 191; vgl.
sumtionen noch nicht herausgearbeitet [88]; die Klage H. Schwarz: Art. ‹Analogie I.2›, in: HWPh, Bd. 1 (1971) Sp. 216–
besteht bis heute zurecht: der Unterschied wird, obwohl 218. – 38 Aristoteles, Analytica priora II, 23f. 27.; ders.: Rhet. I,
grundlegend, zu wenig beachtet. 2, 1357b10–21. – 39 Philodemus (ed. de Lacy) [32]; Sextus Em-
piricus [32] VIII, 270; G. Weltring: Das Sēmeı́on in der aristo-
Anmerkungen: telischen, stoischen, epikureischen und skeptischen Philos.,
1 E. Husserl: Erfahrung und Urteil, hg. v. L. Landgrebe (1948) Diss. Bonn (1910). – 40 Bonaventura: Commentaria in Quatuor
§ 76, S. 367. – 2 vgl. B. Bolzano: Wissenschaftslehre (1837) Libros sententiarum IV, d. 50, p. 2, a. 1, q. 2 c. – 41 ebd. III, d. 33,
§§ 293, 317–319. – 3 vgl. A. Meinong: Über Annahmen (1902, dub. 2. – 42 ebd. IV, d. 50, p. 2, a. 1, q. 2 c. – 43 Thomas von
2
1910); H. Vaihinger: Die Philos. des Als Ob (1911) bes. 256f.; R. Aquin: Summa theologica I, 14, 13c (Übers. Verf.); vgl. I-II, 112
Hall: Assuming: One Set of Positing Words, in: Philosophical a. 5. – 44 ders.: Sententia libri Ethicorum VI, 8, 41ff.; Summa
Review 67 (1958) 52–75; ders.: Presuming, in: Philosophical theologica II-II, 49, 4c, ad 2. – 45 ders.: Summa theologica II-II,
Quart. 11 (1961) 10–21; N. Rescher: Presumption and the Prac- 49, 4. – 46 ebd. I-II, 14,4; vgl. Nemesius: De natura hominis 34. –
tices of Tentative Cognition (Cambridge 2006). – 4 Zedler, Bd. 6 47 K. Flasch: Nikolaus von Kues – Gesch. einer Entwicklung
(1733) Sp. 976 (s. v. Conjectura). – 5 ders., Bd. 22 (1739) Sp. 1583 (1998) 147. – 48 Nikolaus von Kues: De coniecturis I, 11, n. 57;
(s. v. Muthmassung, Conjectura). – 6 Quint. III, 6, 30; Sulp. Vict. vgl. J. Koch: Die Ars coniecturalis des Nikolaus von Kues
325: «Coniectura appellata, quia coniciendo et argumentando (1956); zum Begriff der K.: R. Haubst: Die Thomas- und Pro-
ad veritatem necesse est pervenire»; vgl. K. Reisinger: Art. klos-Exzerpte des «Nikolaus Trevirensis», in: Codicillus Straß-
‹Vermutung. I. Antike›, in: HWPh, Bd. 11 (2001) Sp. 734. – 7 M. burg 84, in: Mitteilungen und Forschungsbeitr. der Cusanus-
Hoppmann: Art. ‹Statuslehre›, in: HWRh, Bd. 8 (2007) Sp. Ges. 1 (1961) 17–51, hier: 46 Anm. 68; H. Schnarr: Modi essendi.
1327–1358. – 8 Martin 30. – 9 ebd. 30–32; Hoppmann [7] Sp. Interpretationen zu den Schr. De docta ignorantia, De coniec-
1330–1332. – 10 ebd. Sp. 1333–1335. – 11 Auctor ad Herennium turis und De venatione sapientiae von Nikolaus von Kues
1, 18–2, 46; Cic. De inv. I, 10–19; ders.: Topica 35; Quint. III, 6; (1973) 48f. – 49 Nikolaus von Kues: De docta ignorantia I n. 8,
VII, 2 u. passim. – 12 Quint. III, 6, 30. – 13 z.B. Cicero, De natura 10, 89; II n. 90; vgl. ders.: De coniecturis, Prologus n. 2. – 50 ebd.,

493 494
Konjektur Koreanische Rhetorik

Prol.; vgl. I, 11, n. 57. – 51 ebd. II, Prol.; I, Prol.; vgl. G. v. Bredow: Frage ^ Induktion, Deduktion ^ Plausibilität ^ Probatio ^
Art. ‹Ars coniecturalis›, in: HWPh, Bd. 1 (1971) 522f. – Refutatio ^ Res-verba-Problem ^ Statuslehre ^ These, Hy-
52 Nikolaus von Kues: De coniecturis I, 1, n. 5; vgl. Flasch [47] pothese ^ Topik ^ Wahrscheinlichkeit, Wahrheit
148. – 53 J. Locke: Essay Concerning Human Understanding
(London 1690) IV, xv, 2, hg. P.H. Nidditch (1975) 655 (Übers.
Verf.). – 54 vgl. G.W. Leibniz: Ad Stateram juris de gradibus Koreanische Rhetorik
probationum et probabilitatum, in: Opuscules et fragments in-
A. Begriffe und Definitionen: I. Koreanische Begriffe für ‹Spra-
édits, hg. L. Couturat (Paris 1903, ND 1965) 210–214; ders.: Es-
che›, ‹Rede›, ‹Denken›. – II. Koreanische Entsprechungen für
sais de théodicée, Dis. Prél. 33 (1710). Die philos. Schr., hg. v.
‹Rhetorik› im Sinne einer Kunst oder Theorie des Sprechens. –
C.I. Gerhardt 6 (1885, ND 1965) 69; ders.: Brief an Th. Burnett,
B. Der gegenwärtige Stand der Rhetorik in Korea: I. Theorie
a. O. 3 (1887, ND 1965) bes. 193f., ders.: Nouveaux essais sur
und Ausbildung. – II. Koreanische und westliche Rhetorik: Ge-
l’entendement humain IV, 14, § 4 [1703–05] (1765). – 55 Leibniz,
meinsamkeiten und Unterschiede. – III. Institutionen und Lehr-
Opuscules [54] 496; vgl. 211, 215, 226, 420 (Übers. Verf.). –
pläne der rhetorischen Ausbildung. – IV. Rhetorische Praxis:
56 Locke [53] IV, xiv, 4, 653. – 57 Leibniz: Nouveaux Essais [54]
Stellung und Funktion der öffentlichen Rede in Politik, Gesell-
IV, xiv, 4, hg. Leibniz-Forschungsstelle der Universität Münster
schaft, Religion und Kultur. – C. Historische Entwicklung: I.
(1962) 457 (Übers. Verf.). – 58 ebd. IV, xiv, 4 (Übers. Verf.); vgl.
Rhetorische Theorie und Bildung: 1. Vormoderne. – 2. Moder-
ders.: Essais de théodicée [54] Disc. Prél., No. 33, 6, 69. – 59 vgl.
ne: a. Die Zeit der Öffnung (ca. 1876–1910). – b. Die Zeit der
z.B. Wesenbeck: In pandectas iuris civilis et Codicis Iustiniani
Befreiung (1945–1950). – II. Bedeutende Redner und Reden.
libros commentarii XXII, Tit. 3, Ziff. 14; R.J. Pothier: Pandectae
Justinianeae (Paris 1818–1823), 24 Bde., XXII, 282 sowie VIII, A. Begriffe und Definitionen. I. Koreanische Begrif-
287 u. XXIV, 241; Codex Iuris Canonicii (Vatikan 1917), Can. fe für ‹Sprache›, ‹Rede›, ‹Denken›. Das Koreanische be-
1825 § 1, (Ausg. 1983) Can. 1584. – 60 G.W. Leibniz: Definitio-
num Juris Specimen [1676?], in: Akad.-Ausg. VI/3 (1980) 631
sitzt zwei Reihen von Ausdrücken für ‹Sprechen› und
(Übers. Verf.); vgl. Chr. Wolff: Jus Naturae II (Halle 1742) ‹Denken›: einerseits die eigentlich koreanischen Begrif-
§§ 244–247, III (Halle 1743) §§ 1018, 1032. – 61 vgl. K. Reisinger: fe (mal, [gesprochene] Sprache, parole), 이야기 (iyagi,
Art. ‹Urteil, vorläufiges›, in: HWPh, Bd. 11 (2001) Sp. 473–479. – Rede), 생각 (saengak, Gedanke), andererseits die aus
62 R. Whately: Elements of Rhetoric (1828, 71846; ND Carbon- dem klassischen Chinesisch stammenden Begriffe 언어
dale, Ill. 1963) 112. – 63 J.M. Baldwin: Dictionary of Philosophy 言語 (eoneo, [gesprochene] Sprache, parole), 담화談話
and Psychology (Bristol 1902) Bd. 2, 337. – 64 s. C.S. Peirce: Col- (damhwa, Rede), 사고思考 (sago, Gedanke). Denn der
lected Papers 2, hg. Ch. Hartshorne u. P. Weiss (Cambridge, koreanische Wortschatz speist sich aus zwei Quellen:
Mass. 1932) 2.791 u. 2.774–2.776. – 65 N. Rescher: Methodolo-
gical Pragmatism. A Systems-Theoretic Approach to the Theo-
den Wörtern aus dem Bestand des autochthon Korea-
ry of Knowledge (Oxford 1977); ders. [3]; J.P. Day: Presump- nischen und den aus dem klassischen Chinesisch stam-
tions, in: Akten des XIV. Internat. Kongresses für Philos., Bd. 5 menden Wörtern; letztere können sowohl in 한글 (han-
(Wien 1970) 137–143; ders.: The Uniformity of Nature, in: Ame- geul, koreanisches Alphabet) als auch in 漢字 (hanja,
rican Philosophical Quart. 12 (1975) 1–16. – 66 A. Flew: The Pre- klassische chinesische Schriftzeichen) geschrieben wer-
sumption of Atheism [1972], in: ders.: God, Freedom, and Im- den. Zur Vervollständigung der Liste sind noch die au-
mortality (New York 1984); vgl. W. Schröder: Art. ‹Verteilung tochthon koreanischen Verben (im Infinitiv) 말하다
der Beweislast›, in: HWPh, Bd. 11 (2001) Sp. 955–958. – 67 C.L. (malhada, sprechen), 이야기하다 (iyagihada, sagen),
Hamblin: Fallacies (London 1970); N. Rescher: Dialectics. A
Controversy-Oriented Approach to the Theory of Knowledge
생각하다 (saengakhada, denken) und die Verbalsub-
(Albany 1977). – 68 E. Ullmann-Margalit: On Presumtion, in: stantive 말하기 (malhagi, Sprechen), 이야기하기 (iy-
The Journal of Philosophy 80 (1983) 143–163; O.R. Scholz: Ver- agihagi, Unterhaltung), 생각하기 (saengakhagi, Den-
stehen und Rationalität (1999; 22001) 43–51, 147–163. – 69 vgl. I. ken) hinzuzufügen.
Schneider (Hg.): Die Entwicklung der Wahrscheinlichkeitsleh- II. Koreanische Entsprechungen für ‹Rhetorik› im Sin-
re von den Anfängen bis 1933. Einf. und Texte (1988). – 70 J. ne einer Kunst oder Theorie des Sprechens. Im Korea-
Bernoulli: Ars conjectandi (Basel 1713) 210; in: Werke, hg. Na- nischen bezeichnet das Wort 수사 (修辭, susa) die Praxis
turforsch. Ges. Basel 3 (1975) 239. – 71 ebd., c. 2, a. O. 213; in: oder Fähigkeit, gepflegt zu sprechen oder gut und me-
Werke 3, 241 (Übers. Verf.). – 72 ebd., c. 2, a. O. 213; in: Werke
3, 241. – 73 B. Bolzano: Wissenschaftslehre (1837) § 319. – 74 A.
thodisch zu schreiben. Allein auf die mündliche Praxis
Meinong: Zur erkenntnistheoretischen Würdigung des Ge- beziehen sich die Synonyme 말재주 maljaeju, 말솜씨
dächtnisses, in: Vjschr. Wiss. Philos. (1886) 28. – 75 ders. [3]. – malsomssi, 말주변 maljubeon, 말재간 maljaegan, 입담
76 ders. [74] 30ff.; ders.: Über Möglichkeit und Wahrscheinlich- ipdam, 입심 ipsim, 언변 (言辯, eonbyeon), 화술 (話術,
keit (1915) 439f., 666ff. u. ö.; ders. [3] 90, 182 u. ö. – 77 F. Bren- hwasul), 구변 (口辯, gubeon), 변설 (辯舌, byeonseol)
tano: Wahrheit und Evidenz, hg. v. O. Kraus (1930) 68f.; vgl. u. a., während der schriftliche Aspekt der Rhetorik von
ebd. 40ff.; ders.: Versuch über die Erkenntnis, hg. v. A. Kastil Synonymenwie글재주geuljaeju,글솜씨geulsomssi,글재
(1925) 209 Anm. 45. – 78 E. Husserl: Erfahrung und Urteil § 76, 간 geuljaegan, 문재 (文才, munjae) u. a. ausgedrückt
hg. v. L. Landgrebe (1948) 367. – 79 ebd. – 80 vgl. G. König: Art.
‹Konjekturalsätze›, in: HWPh, Bd. 4 (1976) Sp. 960–966. –
wird. Die koreanische Transkription des englischen
81 K.R. Popper: Objective Knowledge. An Evolutionary Ap- Wortes rhetoric: 레토릭 retorik wird gelegentlich ver-
proach (Oxford 1972) 81 (Übers. Verf.); vgl. ders.: Conjectures wendet, um in einem mündlichen Kontext das Wort 수사
and Refutations. The Growth of Scientific Knowledge (London (修辭, susa) zu ersetzen. Die pejorative Konnotation,
1969) VII. – 82 P. Mass: Textkritik (1960) 10; vgl. A. Bohnen- die in den westlichen Äquivalenten erscheint, findet sich
kamp-Renken et al. (Hg.): K. und Krux (2010). – 83 Gocleni- in 레토릭 retorik ebenso wie in 수사 (修辭, susa). Das
us [33] 441 (Übers. Verf.). – 84 J. Micraelius: Lexicon philoso- Wort 수사법 (修辭法, susabeop) bedeutet die Kunst
phicum (1662) 317f. – 85 ebd. 318. – 86 J.G. Walch: Philos. Lex. oder Theorie des Sprechens und Schreibens, während
(1726; 41775) 1850; Zedler, Bd. 6 (1733) Sp. 976. – 87 ebd. Sp.
976. – 88 Leibniz, Essais de Théodicée [54]; mit Bezug auf: Dic-
der wissenschaftlichen Disziplin, die diese Kunst oder
tionnaire de l’académie française (21695, ND Genf 1968) 1, 139 Theorie lehrt und erforscht, im Koreanischen das Wort
s. v. conjecture; 2, 195 s. v. présomption. 수사학 (修辭學, susahak) entspricht, manchmal in Kon-
kurrenz mit der transkribierten Form des westlichen
O.R. Scholz Terminus, d. h. 레토릭 retorik.
Im allgemeinen wird das westliche Wort ‹Rhetorik›
^ Argumentation ^ Beweis, Beweismittel ^ Conclusio ^ mit 수사 (修辭, susa) oder mit 수사학 (修辭學, susahak)
Confirmatio ^ Dialektik ^ Episteme ^ Evidentia, Evidenz ^ übersetzt. [1] Zwar ist das Wort susa (修辭), das die

495 496
Koreanische Rhetorik Koreanische Rhetorik

Ausarbeitung der Rede bedeutet, eng mit dem Wort ip- vor allem in der Ethik. [8] Die Diskurse über das susa (修
ki-seong (立其誠) verbunden, welches den richtigen 辭) im alten China lassen sich daher wohl kaum auf die
Ausdruck des Gedankens bezeichnet, doch wurde im Rhetorik übertragen. Der Ausdruck, der der rhêtorikê
antiken Orient nie eine mit ip-ki-seong (立其誠) verbun- am nächsten kommt, wäre vielmehr 문언설 (文言說,
dene Wissenschaft von susa (修辭) ausgebildet und sy- muneonseol). In den klassisch-chinesischen Schriften
stematisiert, weil erstere nie als Gegenstand der Wissen- des halben Jahrtausends vor der Epoche der Öffnung
schaft, sondern als Teil der lebensweltlichen Alltags- lassen sich drei Verwendungskontexte des Wortes susa
praxis der Gelehrten betrachtet wurde. [2] Susa (修辭) (修辭) unterscheiden: im ersten bezieht sich susa (修辭)
ist ein dem Japanischen entliehenes sino-koreanisches auf den menschlichen Charakter (ethos) und die mora-
Wort, das auf die Passage susa-ipkiseong (修辭立其誠, lische Bildung; im zweiten bezieht es sich auf Form
Ausarbeitung der Rede im Hinblick auf den richtigen und Inhalt und ihre Beziehung zu den Gedanken und
Ausdruck des Gedankens) im ‹Wenyanzhuan› (文言傳), Emotionen; im dritten schließlch bezieht es sich auf die
einem Kommentar zum ‹Yi-jing› (周易) aus dem alten soziale Funktion der Rhetorik, insbesondere auf das
China (mindestens 1000 v. Chr.), zurückgehen soll. Das Verfassen von diplomatischen Dokumenten. [9] In der
Wort susa (修辭) reflektiert also einerseits den Einfluß ersten Klasse hat die asiatische Tradition des susaipki-
der japanischen Rhetorik, die in den Jahrzehnten seit seong (修辭立其誠) großes Gewicht, und die Ausübung
der Epoche der Öffnung (um 1876–1910) die koreani- des susa (修辭) wird in der Gesellschaft hoch geschätzt.
sche Rhetorik mitgeprägt hat, andererseits das Problem In der zweiten Klasse ist susa (修辭) fast synonym mit
der Rezeption und Transformation der chinesischen cheolsa (綴辭), welches darin besteht, den vorgelegten
Rhetorik, deren Einfluß wegen des Leihgebrauchs des Gegenstand oder Inhalt mit dem angemessenen Aus-
klassischen Chinesisch während mehr als zweitausend druck zu behandeln. In der dritten Klasse reicht die Be-
Jahren sehr stark war. Das Wort 수사 (修辭, susa) wurde deutung von susa (修辭) auf Chi-Won Choi (857–?) aus
wahrscheinlich während der Epoche der Öffnung aus dem Reich Silla zurück, der das Wort josa (措辭) an-
dem Japanischen entlehnt: das Wort shûji (修辭) kommt stelle von susa (修辭) verwendete.
im Japanischen bereits in ‹Shuji oyobi Kabun› (修辭及 B. Der gegenwärtige Stand der Rhetorik in Korea.
華文, Rhetorik und gute Formulierung, 1879) von Ki- I. Theorie und Ausbildung. Die Rhetorik als wissen-
guchi Dairoku vor. [3] Das ‹Siljieungyongjakmun-be- schaftliche Disziplin hat in Korea noch keine lange Ge-
op› (實地應用作文法, Handbuch der Schreibpraxis, schichte. 2003 wurde eine hanguksusahakhoe (한국
1909) von Jae-Hak Choe, das eng verbunden ist mit 수사학회, Koreanische Gesellschaft für rhetorische For-
‹Shin-bijigaku› (新美辭學, 1902) von Shimamura Ho- schung) gegründet, um die Bemühungen verschiedener
getsu aus der Meiji-Ära (1868–1904), gilt als erstes Wissenschaften zu interdisziplinären rhetorischen For-
koreanisches Rhetorikwerk, aber es findet sich dort schungen zusammenzuführen. Sie besitzt eine Website
weder das Wort 수사 (修辭, susa) noch das Wort 수사학 (www.rhetorica.org) und zählt zur Zeit online 280 Mit-
(修辭學, susahak). [4] Letzterer Begriff wird 1907 von K. glieder, doch die aktiven, beitragzahlenden Mitglieder
You verwendet, der summarisch die akademischen beschränken sich auf etwa fünfzig Personen aus Gei-
Disziplinen des europäischen Mittelalters erklärt, dar- steswissenschaften, Linguistik, Philosophie, Theologie,
unter die Rhetorik. [5] Die Wörter 수사 (修辭, susa) Soziologie u. a. Die Gesellschaft publiziert seit 2004 eine
und/oder 수사학 (修辭學, susahak) werden auch ver- halbjährlich erscheinende Zeitschrift ‹Susahak› (수사학,
wendet in ‹Cheongnyeonmungo› (淸年文庫, Lektüre Zeitschrift für rhetorische Forschung) mit vorwiegend
für die Jugend, 1916), no 11 (Silyongsusabeop, 實用 koreanischsprachigen Beiträgen. Seit 2005 bemüht sich
修辭法 praktische Rhetorik) und in ‹Siljieungyong die Gesellschaft für rhetorische Forschung, die verschie-
Jakmundaebang› (實地應用作文大方, Grundlagen der denen Stränge der Rhetorikforschung darzustellen, in-
Schreibpraxis, 1921). [6] Wenn vor den 1920er Jahren dem sie ihre nationalen Tagungen nacheinander der ko-
das Wort 수사 (修辭, susa) auch keine eigenständige reanischen, der westlichen und der asiatischen Tradition
Disziplin bezeichnete, so war es doch nicht ganz unbe- widmete. Diese synthetischen Bemühungen führten
kannt. [7] Die Rhetorik als akademische Disziplin wurde schließlich im November 2006 zu einer internationalen
jedoch erst in zwei sehr wichtigen Werken der moder- Tagung unter dem Thema ‹Vergleichende Rhetorik:
nen koreanischen Rhetorik entwickelt: im ‹Munjang- Asien und der Westen›. Neben diesen regulären Akti-
ganghwa› (文章講話, Lehrgang der Stilistik, 1940) von vitäten gründete die Koreanische Gesellschaft für rhe-
Tae-Jun Yi und im ‹Munjangronsingang› (文章論 torische Forschung im September 2006 zusammen mit
新講, Neuer Lehrgang der Stilistik, 1950) von Ki-Rim dem Institut für rhetorische Forschung an der Univer-
Kim, in denen sich klar ein rhetorisches Bewußtsein er- sität Korea eine daehaneuryokeomyunikeysyeonhakhoe
kennen läßt. Dies galt jedoch noch nicht für die breite (대한의료커뮤니케이션학회, Koreanische Gesellschaft
Öffentlichkeit, für die die Rhetorik noch etwas wie blo- für Kommunikation im Gesundheitswesen). An dieser
ßen Schmuck bedeutete. Zwar wird das Wort 수사 (修辭, neuen Gesellschaft von Gesundheitsfachleuten und
susa) in den Ländern Nordostasiens als Äquivalent des Forschern der Medizin und Pflegewissenschaft beteili-
Wortes ‹Rhetorik› betrachtet, aber es ist nicht nur die gen sich die koreanischen Rhetoriker intensiv, um ihr
Übersetzung von ‹Rhetorik›, sondern hat auch seine ei- eine auf die asiatische und westliche Rhetorik gegrün-
gene Geschichte und seine eigenen Kontexte. Es ist da- dete theoretische Basis zu geben. Das Organ dieser
her wichtig, die Bedeutungen dieses Wortes vor der Gesellschaft, die seit 2006 halbjährlich erscheinende
Epoche der Öffnung zu beobachten. Um diese vorter- Zeitschrift euiryokeomyunikeysyon (의료커뮤니케이션,
minologischen Bedeutungen zu verstehen, muß man die Kommunikation im Gesundheitswesen) soll interdiszi-
chinesischen Interpretationen der Passage susaipki- plinäre Forschungen über die Probleme der Kommuni-
seong (修辭立其誠) betrachten. Das susa (修辭) ist eine kation im Gesundheitswesen anregen und fördern.
«in einem ethischen Kontext vorgestellte Tugend»; es Das Institut für rhetorische Forschung wurde 2005 an
wurde im vormodernen China weder im Rahmen von der Universität Korea in Seoul gegründet. Es betreibt
rhêtorikê noch von misahak (美辭學) diskutiert, sondern eingehende Forschungen zu rhetorischen Praktiken in

497 498
Koreanische Rhetorik Koreanische Rhetorik

Korea. Seine Interessengebiete sind medizinische Kom- for Democratic Living› (1957) erschien bereits vor sei-
munikation, Wirtschaftsrhetorik, Rhetorik und Politik, ner Veröffentlichung in den USA in Korea und wurde
Rhetorik und Humanwissenschaften. Gemeinsam mit auf Initiative des dortigen Erziehungsministeriums so-
der Koreanischen Gesellschaft für rhetorische For- gleich ins Koreanische übersetzt. Oliver betont die Not-
schung bereitet es auch die Publikation eines koreani- wendigkeit, die Kultur eines Landes oder einer Nation
schen Wörterbuchs der Rhetorik vor, das Termini so- zu berücksichtigen, um seine rhetorische Tradition wirk-
wohl der westlichen Rhetorik als auch der asiatischen lich zu verstehen. Ost und West sind für ihn nicht das-
Tradition enthalten wird und 2011 erscheinen soll. selbe: die im Westen seit Aristoteles entwickelten rhe-
II. Koreanische und westliche Rhetorik: Gemeinsam- torischen Regeln sind nicht universell, sondern lediglich
keiten und Unterschiede. Die Koreaner befinden sich in Ausdruck der westlichen Zivilisation und anwendbar
einem Dilemma zwischen der Notwendigkeit, ihre rhe- einzig im normativen und kulturellen Kontext des We-
torischen Praktiken aus westlicher Perspektive zu er- stens. Seiner Ansicht nach konnten alle Versuche west-
klären, und dem Wunsch, ihre rhetorische Tradition in licher Forscher, die Bedeutung einer orientalischen Kul-
ihren eigenen Kontexten und mit ihrer eigenen Begriff- tur und ihrer Rhetorik zu erfassen, nur scheitern, sofern
lichkeit zu verstehen. Denn gegenwärtig fehlt ihnen ei- sie die Dinge von ihrem eigenen Standpunkt sehen woll-
nerseits noch das theoretische und terminologische ten. Sie müßten vielmehr auf die den orientalischen Kul-
Rüstzeug, um ihre eigenen Orientierungen zu konzep- turen eigentümlichen Werte gegründet sein. So entstand
tualisieren, andererseits ist bei ihnen das Studium der Olivers Werk ‹Communication and Culture in Ancient
westlichen Rhetorik noch nicht genügend avanciert, um India and China› (1971), das ihm den Ruhm eines Pio-
Forschungen in vergleichender Rhetorik anzugehen. niers der vergleichenden Rhetorik verschaffte. In dem
Zudem müßten zum Verständnis der rhetorischen Tra- Glauben, daß die Kommunikationsweisen in Ost und
dition in Korea drei Phasen von fremden Einflüssen in West verschieden seien und daß diese Unterschiede von
Betracht gezogen werden: zunächst der chinesische Ein- westlichen Forschern nie systematisch verzeichnet wor-
fluß während der klassischen Epoche, dann der japani- den seien, benennt er zur Demonstration dieses Unter-
sche in der kolonialen Zeit (1910–1945) und schließlich schieds sechs Phänomene, die ihm zufolge in der östli-
der Einfluß des Westens seit der Befreiung von der ja- chen Zivilisation fehlen: (1) Gerichtsreden, (2) Wahl-
panischen Kolonialherrschaft. Doch es ist nicht immer kampagnen, (3) politische Parteien, (4) Predigten, (5)
leicht, den Anteil der einzelnen Einflüsse und ihre Ver- Vorlesungen, (6) Debattierversammlungen. [14] Wegen
zweigungen bei der Bildung der heutigen rhetorischen dieser fehlenden Phänomene ist bei der Untersuchung
Praktiken in Korea festzumachen. der orientalischen Rhetorik größere Vorsicht geboten.
Beim Vergleich zwischen der asiatischen (einschließ- R. Oliver stellt sich in seiner Untersuchung über die rhe-
lich der koreanischen) und der westlichen Rhetorik wer- torischen Traditionen in Asien daher folgende Fragen:
den zwei Standpunkte vertreten. [10] Einerseits zieht (1) Wie wurden die Probleme der Kommunikation in
Tae-Jun Yi, der erste moderne koreanische Rhetoriker, einer asiatischen Gesellschaft aufgefaßt? (2) Welche
eine Parallele zwischen der Entwicklung der asiatischen Bedeutung mißt man den Kommunikationshindernis-
und der westlichen Rhetorik: «Ursprünglich waren das sen zu? (3) Mit welchen Mitteln und in welchen Kontex-
asiatische susa (수사) und die westliche retorik (레토릭) ten wurden diese Probleme betrachtet? (4) Welche
keine Schreib-, sondern Sprechkünste, denn die Sprache Kommunikationssysteme wurden entworfen? (5) Wel-
entstand vor der Schrift und die Sprechkunst ging der ches waren die bevorzugten Theorien und Praktiken?
Schreibkunst voraus. Als die Erfindung des Buchdrucks (6) Wie wurde die Kommunikation jenseits der Grenzen
die massenhafte Verbreitung der Schrift förderte, trat der Sprache institutionalisiert? [15] Um eine Antwort
die gesprochene Sprache die Macht, die menschliche auf diese selbstgestellten Fragen zu finden, versucht er
Zivilisation zu lenken, an die Schrift ab, da diese in zu erklären, warum die Rhetorik im Orient sich nicht
Raum und Zeit persistent ist. Infolgedessen sehen sich wie im Westen zu einer eigenständigen, von Ethik und
die susahak (수사학) in der Moderne gleichsam schick- Politik distinkten Disziplin entwickelt hat. Ihm zufolge
salhaft verwandelt in eine Schreibkunst.» [11] Die mei- wurden diese drei Bereiche im Orient für zu wichtig ge-
sten koreanischen Forscher scheinen jedoch der Hypo- halten, um sie in irgendeiner Form voneinander zu tren-
these anzuhängen, daß die rhetorischen Konzeptionen nen; die Ideen der Einheit und der Harmonie standen in
der westlichen und der östlichen Rhetoriktradition nicht der asiatischen Philosophie und Religion in so hohem
dieselben sind und daß es nicht das Ziel der asiatischen Ansehen, daß sich diese drei Disziplinen in den Litera-
Rhetorik war, zu überzeugen oder gut zu sprechen, son- turen, Traditionen, Sitten usw. leicht zusammenfanden.
dern gemeinsam einen Konsens herzustellen, wenn auch Da die Rhetorik in Asien alle Arten von Denken und
zugegeben wird, daß die rhetorischen Praktiken in Ko- Literatur durchdrang, versuchten die westlichen For-
rea gegenwärtig auf die Überzeugung und auf den Aus- scher vergeblich, ‹die Rhetorik des Orients› zu finden;
druck hin orientiert sind. [12] Für sie gleicht die Situati- sie werden sich damit begnügen müssen, sich ihr empi-
on der Rhetorik in Korea und in ganz Asien sehr der risch und deskriptiv zu nähern, ohne dabei ihren wesent-
Situation, wie sie R. Oliver beschreibt: «Der Osten hat lich umfassenden Charakter zu vergessen. Mit seinem
sich gewandelt und wandelt sich noch immer rasch. Sei- immanenten Ansatz hat Oliver neun zentrale Charak-
ne gegenwärtige Praxis ist es, sich mit dem Westen auf teristika der Rhetorik in Asien erschlossen: (1) Man
unserem Boden und mit unseren Methoden zu messen – strebt vor allem nach Harmonie, nicht nach der Verbes-
denn nur so kann er hoffen, seinen Anteil am wissen- serung des individuellen Befindens; (2) auf Originalität
schaftlichen, technologischen und politischen Fort- des Stils und der Methode wird kein Wert gelegt; (3) der
schritt zu gewinnen.» [13] R. Oliver, Professor an der Akzent liegt mehr auf der sozialen Integration als auf
Pennsylvania State University und ein prominenter dem Wohlbefinden der Einzelnen; (4) der freie Aus-
Rhetorik- und Kommunikationsforscher, widmete viele druck von Meinungen und Gefühlen ist sehr wichtig; (5)
Arbeiten den Rhetoriktraditionen in Asien. Eines sei- Sprecher und Zuhörer tragen eine gemeinsame Verant-
ner Werke über politische Rhetorik, ‹Effective Speech wortung; (6) Autorität und Analogie sind die Haupt-

499 500
Koreanische Rhetorik Koreanische Rhetorik

quellen der Argumentation; (7) man wird mehr nach Universitäten wie anderswo die Bedeutung der sprach-
dem, was man sagt, als nach dem, was man tut, beurteilt; lichen (mündlichen oder schriftlichen) Kommunikation
(8) das Schweigen besitzt einen großen Wert; (9) die so stark wie nie zuvor betont, und es erschienen massen-
Meinungsbildung fällt in den Verantwortungsbereich haft Bücher über das Schreiben. Im Unterricht der Pri-
der Älteren oder von Autoritätspersonen. [16] Zusam- mar- und Sekundarstufe hat man die Wichtigkeit des
mengefaßt stellt sich die Rhetorik in Asien für Oliver Aufsatzes erkannt, und auch auf den Universitäten wer-
wie folgt dar: Der Osten unterscheidet sich vom Westen den Schreibkurse und Seminare angeboten, die die
stark und in vielerlei Hinsicht; denn es handelt sich um Kommunikationsfähigkeit der Studierenden entwickeln
zwei verschiedene Zivilisationen mit verschiedenen Zie- sollen. Die stark gewachsene Bedeutung der Kommu-
len, verschiedenen Werten und verschiedenen Ideen nikation im Bildungssystem ist vor allem Folge des
darüber, was Rhetorik ist und wie sie studiert werden Übergangs der Kommunikationsstruktur unserer zeit-
soll. Es ist daher schwierig, die Rhetoriken zweier so genössischen Gesellschaften von der Unilateralität, bei
verschiedener Kulturen miteinander zu vergleichen. der es nur um die Übertragung von Informationen ging,
Wenn es möglich ist, die beiden rhetorischen Traditio- zu einer bilateralen, wechselseitigen Kommunikation.
nen und den Stellenwert der Rhetorik in ihnen zu ver- Mit anderen Worten, wenn es früher genügte zuzuhö-
gleichen, werden wir ihren Nutzen in den jeweiligen ren, zu lesen und die gelieferten Informationen zu ver-
Gesellschaften des Ostens und des Westens begreifen stehen, so muß man heute selbst Informationen über-
können. Der Beitrag R. Olivers als eines Pioniers der tragen und mitteilen und daher fähig sein, gut zu
vergleichenden Rhetorik ist schätzenswert wegen seines sprechen und zu schreiben. Daß man die Kommunika-
immanenten Ansatzes und seiner intellektuellen Red- tionsfähigkeit, vor allem die schriftliche, für die wichtig-
lichkeit. Dennoch verspüren wir einige Zweifel an der ste hält, ist ein Kennzeichen dieser Periode. Es ist also
Leistungsfähigkeit seines immanenten Ansatzes für un- wichtig geworden, neues Wissen produzieren zu können
sere Forschungen und Fragestellungen. Zunächst, wie durch Analyse und Synthese verschiedener Kenntnisse –
kann man im Zeitalter des global village kulturelle Kon- und nicht mehr, wie in der Vergangenheit, möglichst viel
flikte zwischen Ost und West erklären und lösen? Eben- Wissen anzuhäufen – und zu kommunizieren, um mit
so stellt sich die Frage, wie man methodisch von einer der Gemeinschaft dieses neue Wissen zu teilen. Das Be-
immanenten Wahrnehmung des anderen zu einem ge- dürfnis sich mitzuteilen, das einen beträchtlichen Teil
genseitigen Verständnis gelangen kann. Schließlich der koreanischen Gesellschaft beherrscht, der Versuch
müssen sich die asiatischen Rhetoriker fragen, ob sie der zu kommunizieren und sich in geschriebener oder ge-
Empfehlung R. Olivers folgen und alle Versuche aufge- sprochener Sprache auszudrücken läßt es als völlig be-
ben sollen, ihre eigenen kulturellen Traditionen zu er- rechtigt erscheinen, unsere Zeit «die Epoche der neuen
forschen, um darin das Rhetorische im westlichen Sinne Rhetorik» [17] zu nennen. Von einer ‹neuen› Rhetorik
aufzudecken und es den Westlern in deren eigener Spra- kann man sprechen, weil wir die Konzeption der tradi-
che zu erklären. tionellen Rhetorik – d. h. die Rhetorik als Technik des
III. Institutionen und Lehrpläne der rhetorischen Aus- Schreibens und der Ausdrucksbildung – als obsolet hin-
bildung. Seit Mitte der 1990er Jahre ist das akademische ter uns gelassen haben und in eine neue Dimension ein-
Interesse für die westliche Rhetorik gewachsen. Es wur- getreten sind, die das ganze System der Kommunikation
den einige Werke über die westliche Rhetorik ins Ko- umfaßt. Man kann unter verschiedenen Gesichtspunk-
reanische übersetzt oder auf Koreanisch verfaßt. Die ten die konkreten Ursachen aufzeigen, die unsere Zeit
Gründung der ‹Gesellschaft für rhetorische Forschung› in die Epoche der neuen Rhetorik geführt haben, aber
2003 und des ‹Instituts für rhetorische Forschung› an der die Hauptursache liegt in dem, was Habermas be-
Universität Korea 2005 kündigten eine neue Epoche der schreibt, der die schriftliche Kommunikation als den
Rhetorik in Korea an. Das breite Interesse für die west- Willen der Gemeinschaft zur Herstellung und Konsoli-
liche Rhetorik ist nicht einfach auf ein neues akademi- dierung einer «öffentlichen Sphäre» betrachtet. Anders
sches Erfordernis zurückzuführen, sondern scheint mit gesagt, die Schreibkompetenz ermöglicht die Pflege ei-
der historischen Situation verbunden, die die koreani- ner vernunftorientierten Zivilgesellschaft und einer
sche Gesellschaft transformierte. Gegenwärtig gibt es in differenzierten öffentlichen Sprache. In der auf wechsel-
Korea noch kein Departement für Rhetorik oder für seitiger Kommunikation basierenden Wissensgesell-
speech communication, aber Seminare über Rhetorik als schaft ist es die Hauptaufgabe der Bildung, aus den Stu-
allgemeines Kulturphänomen haben in mehreren pri- dierenden die besten Gedanken in der überzeugendsten
vaten Universitäten großen Erfolg. Meist für Studenten Form herauszuholen und in den Individuen die Fähig-
im ersten Jahr bestimmt, lauten ihre Titel ‹Einführung in keit zu entwickeln und zu festigen, im Medium der
die Rhetorik›, ‹Westliches Denken und Rhetorik›, ‹Per- Schrift Vorstellungen, Annahmen und Urteile zu äu-
suasion und Rhetorik›, ‹Argumentation und Rhetorik›, ßern. Es wurde also in der koreanischen Gesellschaft
‹Rhetorik verstehen› usw. eine Kommunikationsstruktur geschaffen, die eine auf
IV. Rhetorische Praxis: Stellung und Funktion der öf- Rationalität gegründete öffentliche Sphäre konstituiert
fentlichen Rede in Politik, Gesellschaft, Religion und und die es erlaubt, Konflikte vernünftig zu lösen.
Kultur. Seit Ende der 1990er Jahre bis in die Gegenwart C. Historische Entwicklung. I. Rhetorische Theorie
hat die koreanische Gesellschaft durchgreifende Verän- und Bildung. 1. Vormoderne. «Im alten Korea waren
derungen erfahren. Die politische Kultur ist vom Au- Versuche, eine Kunst des Schreibens in Prosa zu eta-
toritarismus zu einer Demokratie übergegangen, in der blieren, äußerst selten. Dennoch gab es bei uns kaum ein
der freie Gedankenaustausch im Vordergrund steht und altes Werk, das nicht von einem rhetorischen Bewußt-
die Bereitschaft zum Dialog zwischen Individuen und sein durchdrungen war.» [18] Wenn die Rhetorik eine
zwischen Gruppen wächst. Hierzu kommt der neue Pro- Kunst oder Technik der Überzeugung ist, wie sie ge-
zeß der Globalisierung. Alle diese Veränderungen der wöhnlich definiert wird, dann ist sie nicht ausschließli-
koreanischen Gesellschaft hatten Auswirkungen auf die cher Besitz irgendeiner bestimmten Gesellschaft: in je-
Rhetorik. So wurde im Verlauf dieser Periode an den der Gesellschaft wird kommuniziert und jede Kommu-

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Koreanische Rhetorik Koreanische Rhetorik

nikation ist rhetorisch, sofern sie eine Technik anwen- glich. Es ist ein klassisches Beispiel einer rhetorischen
det, um die Meinungen, Handlungen und Emotionen Anweisung zum wirksamen Schreiben und zur Anord-
der Zuhörer zu beeinflussen. Diejenigen, die die Rhe- nung der Teile und Einheiten (pyeonjang-jagu, 篇章字
torik aus einer komparativen oder interkulturellen Per- 句), die Teil der jeongbeop sind. Einige Forscher sehen
spektive betrachten, werden von diesem Aspekt ange- in den Arbeiten Ji-Won Parks einen Anstoß für die Be-
zogen und versuchen, die verschiedenen rhetorischen wegung des Munche-banjeong (文體反正, Wiederher-
Traditionen miteinander zu vergleichen, Konstanten in stellung des literarischen Stils), die König Jeongjo (正祖,
den Rhetoriken zu beobachten und sogar eine allgemei- 1724–1776) in der Epoche des Reichs von Joseon (朝鮮,
ne Rhetorik zu begründen, die auf alle Gesellschaften 1392–1910) ins Leben rief mit der Absicht, das Schrei-
anwendbar ist. Dabei befindet sich die westliche Rhe- ben und den Stil seiner Untertanen, der unter dem Ein-
torik wegen ihres hohen Systemanspruchs jedesmal im fluß des chinesischen Zeitstils (kurz, leicht und oft sati-
Zentrum des Vergleichs. In dieser Hinsicht dient jede risch) «verseucht» worden sei, zu reinigen und zum alten
Untersuchung über die Rhetorik einer Gesellschaft als ‹orthodoxen› Stil zurückzuführen – offenbar ohne gro-
Basis für eine «allgemeine Theorie der Rhetorik» [19]. ßen Erfolg. Das Munche-banjeong war eine besondere,
Diejenigen, die die Wichtigkeit dieser Aufgabe begrei- wohl einzigartige Bewegung. Neben diesen Diskussio-
fen, können ihr Verständnis der allgemeinen Rhetorik nen über den Stil finden sich Argumentationen und Po-
erweitern und sich von ihren ethnozentrischen Vorur- lemiken mit rhetorischen Inhalten oder starken rheto-
teilen freimachen. Eine rhetorische Tradition bildet sich rischen Implikationen in zahlreichen literarischen, phi-
in einem kulturellen Bereich entweder natürlich oder losophischen und religiösen Texten, die in klassischem
durch Rezeption und Transformation der überlegenen Chinesisch und manchmal in Briefform verfaßt sind,
Tradition eines anderen kulturellen Bereichs. Dies gilt z.B. das berühmte sadanchiljeongnonjaeng (四端七情論
auch für die koreanische Rhetorik, sofern die Rhetorik 爭), eine Debatte über den Konfuzianismus in Form ei-
wesentlich «eine Form geistiger und emotionaler Ener- nes Briefwechsels zwischen Hwang Yi (1501–1570) und
gie» [20] ist. Leider fehlt es aber oft an Belegen, um die Dae-Seung Ki (1527–1572). Zu nennen wären u. a. auch
historischen Aspekte der Rhetorik in Korea beschrei- die antibuddhistische Polemik gegen Ende des Reichs
ben zu können, mit Ausnahme vereinzelter Dokumente von Koryo (Ende 14. Jh.) oder die Polemik über die Le-
über gewisse Aspekte der privaten Beredsamkeit. Aus gitimität der Palastrevolution des Königs Injo (仁祖反正,
diesem Grund kann unsere Untersuchung über die Ur- 1623). Es zeigt sich in Korea eine lebhafte Debatten-
sprünge der koreanischen Rhetorik erst mit der Epoche und Diskussionskultur, die auf das hwabaek (和白) des
des Reichs von Silla einsetzen, aus welcher es einige 6. Jh. zurückzureichen scheint, die Adelsversammlung in
schriftliche Zeugnisse gibt. Unsere Darstellung konzen- der Epoche des Reichs von Silla, die ihre Beschlüsse nur
triert sich auf die Praxis und die Konzeption der Rhe- einstimmig faßte.
torik in dieser Epoche, wie sie sich in den historischen 2. Moderne. Es gibt keine systematische Untersu-
und literarischen Texten spiegelt, in denen die Rhetorik chung über die Umstände und über die Zeit, in der die
kein zentrales Thema ist. Es sollen nun einige Moment- westliche Rhetorik nach Korea gelangte, noch über die
aufnahmen oder Elemente aus dem historischen Rah- Entwicklung nach ihrer Rezeption. [22] Bislang existie-
men der alten koreanischen Rhetorik vorgestellt wer- ren nur einige Einzelstudien, die die Rezeption der west-
den. [21] Zunächst ist kurz die Rhetorik hwajaeng (和諍) lichen Rhetorik nur partiell und ganz unsystematisch
von Wonhyo (617–686) zu erwähnen, einem buddhisti- behandeln. Folgende Fragen blieben bisher ganz unbe-
schen Mönch aus der Zeit des Reichs von Silla (57 v. Chr. handelt: Wann begann die moderne koreanische Rhe-
– 935 n. Chr.), der auch ein hervorragender Rhetoriker torik? Welche Phasen durchlief sie bis zu ihrem aktuel-
war, ohne es zu wissen. Der Hauptzweck des hwajaeng, len Entwicklungsstand, unabhängig von der Rezeption
dessen Methode auf dem Prinzip des ilsim (一心, ein ein- der westlichen Rhetorik? Untersuchungen über die mo-
ziges Herz) beruht, ist es, alle Konflikte und Gegensätze derne koreanische Rhetorik sehen sich mit folgenden
aufeinandertreffen zu lassen und sie zugleich (會通, hoe- beiden Schwierigkeiten konfrontiert: Erstens gibt es kei-
tong) zu überwinden, was mehr als eine bloße Versöh- nen Forscherkonsens über die Basisdokumente, die zur
nung bedeutet. Ursprünglicher Gegenstand der Rheto- Bildung der modernen koreanischen Rhetorik beige-
rik des hwajaeng waren die buddhistischen Theorien sei- tragen haben. Während einige Fachleute die Rhetorik
ner Zeit einschließlich der chinesischen, doch ließe sich als in Syntax oder Stilistik bestehend betrachten und
diese zunächst religiöse und philosophische Theorie des folglich der Ansicht sind, daß die moderne Rhetorik sich
hwajaeng sehr gut auch auf andere Bereiche übertragen. in der Theoriebildung über den modernen Stil verkör-
Außerdem finden sich in den klassischen koreanischen pere, richten andere ihr Interesse auf die Herausbildung
Stilistiken zahlreiche Diskussionen über die rhetori- der öffentlichen Sphäre. Setzt man indessen den Beginn
schen Methoden des Schreibens. Während die westli- der koreanischen Moderne bei der sog. Zeit der Öffnung
chen Theorien des Schreibens sich vor allem um die For- (des Landes) Ende des 19. Jh. an, so kann man anneh-
mulierung und Kategorisierung der Methoden des men, daß die moderne Rhetorik in dieser Periode ihren
Schreibens bemühten, zielten die klassischen koreani- Anfang genommen hat, in der die ganze koreanische
schen auf den Erwerb von hwalbeop (活法, geistigen Gesellschaft einen rapiden Wandel erlebte. Das Pro-
Prinzipien) auf der Basis von jeongbeop (定法), so etwas blem besteht darin, die Beziehungen zwischen der mo-
wie den rhetorischen Formen des Schreibens. Um gut zu dernen und der traditionellen koreanischen Rhetorik zu
schreiben, mußte man in gewisser Weise ‹erleuchtet› erkennen. Denn während die traditionelle Rhetorik
sein, und das Schreiben sollte gewissermaßen eine Folge sehr stark von der chinesischen Rhetorik beeinflußt war,
von ‹Erleuchtungen› sein. Unter den klassischen Theo- steht die moderne Rhetorik für die Herausbildung einer
rien ist die bekannteste Schreibrhetorik zweifellos das auf ihre Weise eigenständigen Rhetorik: sie löst sich von
sodan-jeokchi-in (騷壇赤幟引, Vorwort zur ‹Roten Fah- der chinesischen Rhetorik, indem sie anstelle der klas-
ne der literarischen Welt›) von Ji-Won Park (1737– sischen chinesischen Schrift hanja das koreanische han-
1805), der das Schreiben mit der Feldherrnkunst ver- geul als offizielles Schriftsystem einführt und sich dem

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Koreanische Rhetorik Koreanische Rhetorik

Einfluß der westlichen Rhetorik öffnet. Hat sich die ko- tionswandel der geschriebenen Sprache erklären. Zu
reanische Syntax und Stilistik in der Moderne sehr leb- dieser Zeit waren die Aufgaben der geschriebenen Spra-
haft entwickelt, so war zugleich der Einfluß der westli- che so sehr gewachsen, daß sich das dichotomische Sy-
chen Rhetorik so stark wie nie zuvor. Es handelt sich stem von geschriebener und gesprochener Sprache nicht
dabei nicht um Rhetorik im reduzierten Sinn, d. h. um mehr aufrechterhalten ließ. Nicht nur stieg die Zahl der
Figurenlehre, sondern im Sinne einer Theorie der Per- amtlichen Dokumente und der Privatbriefe beträchtlich
suasion und Kommunikation. Man kann so zwei große an, sondern es vervielfachte sich auch die Publikation
Perioden in der westlich beeinflußten Entwicklung der von Amtsblättern, Tageszeitungen, Zeitschriften, Ma-
modernen koreanischen Rhetorik unterscheiden: die gazinen und nicht zuletzt von Schulbüchern; da sich zu-
Zeit der Öffnung (etwa 1876–1910) und die Zeit der Be- dem auch die sozialen Aktivitäten in Form von Bil-
freiung (1945–1950). dungsvereinen gut entwickelten, wurde eine Reform der
a. Die Zeit der Öffnung (etwa 1876–1910). Die Zeit der geschriebenen Sprache unumgänglich. Öffentliche Dis-
Öffnung wird üblicherweise als Übergangszeit bezeich- kussionen und Vorträge, die die Kenntnisse des Westens
net. In keiner anderen Epoche hat Korea so rapide an ein breites Publikum vermittelten, spielten dabei eine
Wandlungen erfahren sowohl auf der politischen, öko- sehr wichtige Rolle. In den Reden (演說, yeonseol) und
nomischen und sozialen wie auf der kulturellen Ebene. Diskussionen (討論, toron) dieser Epoche waren Öff-
Dennoch waren die kulturellen Veränderungen in der nung zur westlichen Zivilisation und Aufklärung des
Zeit der Öffnung nicht sichtbar hervorgerufen durch Volkes die Devisen und erhielten absolute Priorität. Die
eine Häufung von inneren Ereignissen, sondern sie wa- Protagonisten dieser Epoche interessierten sich beson-
ren im großen und ganzen die Frucht der Konfrontation ders für die Macht des Wortes, für den richtigen Aus-
mit einer ausländischen Kultur. Bezüglich der koreani- druck und die richtige Argumentation vor dem Volk,
schen Rhetorik kann man die Auswirkungen dieser und das ‹Yeonseolbeopbang› (演說法方, Anleitung zur
Wandlungen auf zwei verschiedene Weisen interpretie- Rede, 1907) von Guk-Seon Ahn, die erste Abhandlung
ren: Zunächst stand in der Zeit der Öffnung die Frage dieser Art, hatte einen solchen Erfolg, daß es bereits ein
der Sprache im Mittelpunkt, und dies aus folgendem Jahr nach der Erstveröffentlichung in dritter Auflage
Grund: Bis zum Ende des 19. Jh. befand sich Korea in erschien. Die koreanische Rhetorik dieser Epoche läßt
einer paradoxen sprachlichen Situation, da man für die sich durch folgende vier Aspekte kennzeichnen: die
mündliche Kommunikation das Koreanische und für die Ausbreitung der Rhetorik des gesprochenen Worts, die
schriftliche das klassische Chinesisch benützte. Dieser Herausbildung der Rhetorik zu einer modernen Diszi-
Bilingualismus wirkte sehr störend und wurde als ‹Di- plin, die Betonung der Aufklärung und der Affekte und
chotomie zwischen gesprochener und geschriebener schließlich die Einführung und Rezeption der westli-
Sprache› bezeichnet. Das Hauptziel der Bewegung für chen Rhetorik über die Vermittlung Japans. [23] Ent-
die koreanische Nationalsprache unter der japanischen sprechend der politisch-kulturellen Situation wurde
Besatzung bis nach der Befreiung war es, diese Dicho- mehr Wert gelegt auf das ethos und vor allem auf das
tomie zugunsten einer ‹Einheit von gesprochener und pathos als auf den logos, d. h. es findet sich in dieser Epo-
geschriebener Sprache› zu überwinden. Dieser radikale che ebenfalls eine Konzeption der Rhetorik als Technik
Wandel in der sprachlichen Situation reflektiert sich in der Textausschmückung oder als einfache Theorie von
der Frage des Stils. Selten hat sich in der Geschichte Ko- Stilfiguren wie Metapher und Metonymie. Der ‹Mun-
reas der Stil so rapide gewandelt wie in dieser Zeit. Die jangganghwa› (文章講話, Lehrgang der Stilistik) von
Texte, die zu Beginn der Zeit der Öffnung der ‹Dicho- Tae-Jun Yi, der repräsentativste Text der modernen ko-
tomie von gesprochener und geschriebener Sprache› un- reanischen Rhetorik, ist ein Produkt dieser engen Rhe-
terworfen waren, erreichten so am Ende dieser Periode torikkonzeption. Das Werk entstand aus einer Reihe
das Ziel der ‹Einheit von gesprochener und geschrie- von Artikeln, die 1939 in der Zeitschrift ‹Munjang› er-
bener Sprache›. Zudem wurden mit dem Erscheinen schienen waren und 1940 zu einer Monographie erwei-
verschiedener Zeitschriften, angefangen vom ‹Dongnip- tert und umgearbeitet wurden. ‹Munjangganghwa› ist
sinmun› (독립신문, Zeitschrift für Unabhängigkeit), mit also die erste Stillehre des modernen Koreanisch. Ver-
dem Aufkommen der sinsoseol (신소설, Neue Romane) faßt von einem berühmten Literaten, übte es großen
und diverser Schulbücher zur Verbreitung der neuen Einfluß nicht nur auf zeitgenössische und spätere
Kenntnisse einige Versuche mit einer gemischten Schriftsteller, sondern auch auf einen Großteil der spä-
Schrift (aus chinesischen Schriftzeichen und hangeul- teren Aufsatz- und Stillehren aus. Noch heute ist es das
Alphabet) oder mit dem Schreiben in koreanischer Um- populärste Handbuch dieser Art in Korea. Dennoch
gangssprache unternommen, um das Joch der klassi- wurde dieses Werk von den Literaturhistorikern nicht
schen chinesischen Schriftsprache abzuschütteln. Im angemessen gewürdigt und als ästhetisierend und for-
Zuge dieser Bemühungen entstanden viele Grammati- malistisch kritisiert. [24]
ken zur Erklärung der Beispiele oder Bildungsregeln für b. Die Zeit der Befreiung (1945–1950). Die Zeit der
Sätze in gemischter oder koreanischer Schrift. Während Befreiung umfaßt die kurze Spanne vom Ende der ja-
die traditionellen Grammatiken von der chinesischen panischen Herrschaft bis zur Teilung Koreas. Da in ihr
Rhetorik und Syntax geprägt waren, wandte man sich in die Vereinheitlichung des hangeul verbunden war mit
den neuen Grammatiken nun der westlichen Rhetorik dem Unternehmen des Aufbaus einer Nation, fanden
zu, um sie auf den neuen Schriftstil anzuwenden. Ana- die Lesebücher und Sprachlehren eine weite Verbrei-
lysiert man Inhalt und Aufbau des ‹Siljieungyongjak- tung. Zugleich mit dem Aufstieg des Koreanischen zum
munbeop› (實地應用作文法, Handbuch der Schreib- Rang einer Nationalsprache und der Neuorganisation
praxis, 1909) von Jae-Hak Choe, so zeigt sich, daß die des Schulunterrichts um die koreanische Sprache er-
Schriftstruktur sowie die Prinzipien und Techniken des schienen verschiedene Grammatiken. Eine führende
Schreibens den Regeln der gegenwärtigen Schreibrhe- Rolle bei der Rezeption der westlichen Rhetorik in die-
torik sehr nahekommen. Sodann läßt sich das intensive ser Zeit spielte Ki-Rim Kim, Autor des ‹Munjangronsin-
Nachdenken über die Frage der Sprache aus dem Funk- gang› (文章論新講, Neuer Lehrgang der Stilistik, 1950).

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Koreanische Rhetorik Koreanische Rhetorik

Neben dem ‹Munjangganghwa› von Tae-Jun Yi ist es ein das rhetorische Talent Syngman Rhees sogar in einem
Grundlagenwerk der modernen koreanischen Rhetorik. Aufsatz im ‹Quarterly Journal of Speech›. [26] In seiner
Ist letzteres mehr eine aus persönlicher Erfahrung Biographie porträtiert er ihn wie folgt: «Er ist ein Urbild
schöpfende Ausdrucksrhetorik, so ist ersteres eine auf des neuen Menschen, der in unserem Jahrhundert in
rationale Kommunikation ausgerichtete Rhetorik mit Erscheinung tritt: eine Verbindung der Kulturen des
dem Hauptziel einer klaren und unmißverständlichen Ostens und des Westens. Einer seiner größten Vorzüge
Kommunikation in Wort und Schrift. Hervorgegangen und vielleicht der Hauptgrund für seinen erfolgreichen
aus Reflexionen über die verworrene politische Lage Führungsstil besteht darin, daß er seine hervorragende
unmittelbar nach der Befreiung von der japanischen Be- Bildung in der alten Kultur des Orients erfolgreich mit
satzung 1945, betont diese Kommunikationsrhetorik die seiner gründlichen Kenntnis der amerikanischen und
Wichtigkeit der richtigen Interpretation. An mehreren europäischen Geschichte und Philosophie verband. In
Stellen in seinem Werk bemerkt der Autor, daß die frü- einer Zeit, als die beiden Hemisphären in einem gemein-
heren Rhetoriken zu großes Gewicht auf die Probleme samen Schicksal zusammentrafen, stand er in der Mitte
des Sprechens und Schreibens gelegt und folglich die und erkannte mühelos das Wesentliche in beiden. Ein
Probleme des Hörens und Verstehens vernachlässigt Schlüssel zum Wesen dieses Mannes ist seine souveräne
hätten. Ebenso wie in der Sprachlehre des Jae-Hak Ausdrucksfähigkeit im Koreanischen ebenso wie im
Choe ist hier der über Japan vermittelte Einfluß der Englischen, aber mit verschiedenen Stilen und Akzen-
westlichen Rhetorik erkennbar, auch werden die lingui- ten in beiden Sprachen. Er versteht es ebenso zu seinem
stischen und rhetorischen Theorien des Westens weithin eigenen Volk zu sprechen wie zu unserem, und er wähnt
berücksichtigt. Im Literaturverzeichnis findet sich Ari- nicht, daß diese beiden Publika bereits eines geworden
stoteles’ Rhetorik ebenso wie Saussures ‹Cours de lin- sind. Der Verbindung, die er verkörpert, beginnen sich
guistique générale›, aber auch anthropologische Texte die Völker des Orients und des Okzidents gerade erst zu
von L. Lévy-Bruhl und ein Werk von Carnap. Der nähern. Deshalb vor allem müssen wir ihm zuhören und
meisterwähnte und -zitierte Autor bei Ki-Rim Kim ist versuchen, seine Art zu sprechen zu verstehen.» [27] Sei-
jedoch I.A. Richards. Indessen begnügt sich der Autor ne intellektuelle Bildung begann Syngman Rhee mit
nicht mit Richards’ linguistischen und rhetorischen dem privaten Studium des klassischen Konfuzianismus.
Theorien als solchen. Das Hauptmotiv seiner Sprachleh- Er verzichtete zunächst auf eine Karriere als höherer
re ist vielmehr ein politisches: er sieht die Zeit für ge- Beamter und trat in die von amerikanischen Methodi-
kommen, dem soeben vom japanischen Kolonialismus sten gegründete Baejae-Schule ein, wo er Englisch lern-
befreiten Land seine Sprache zurückzugeben und sein te, eine westliche Bildung erhielt und zum Protestantis-
gebrochenes Nationalbewußtsein neu aufzubauen. Die mus konvertierte. Dort kam er auch mit dem ‹Club für
Befreiungsphase war zugleich eine Periode ideologi- die Unabhängigkeit› in Kontakt. Ursprünglich war dies
scher Auseinandersetzungen zwischen politischen La- ein Diskussionszirkel, der sich mit dem westlichen par-
gern und sozialen Gruppen, die sich auf je verschiedene lamentarischen System beschäftigte und Rhetoriktrai-
Konzepte beriefen. Angesichts dieser chaotischen Zu- ning betrieb, sich aber bald zu einem Sammelpunkt für
stände der Befreiungsphase bemüht sich Ki-Rim Kim die jungen Führer der Unabhängigkeitsbewegung ent-
einerseits um «den Aufbau eines Nationalstaats und die wickelte. Rhee, der radikalste Reformer in diesem Club
Etablierung der koreanischen Sprache» und spürt an- und ein energischer Redner, übernahm darin bald eine
dererseits die Notwendigkeit, eine Rhetorik des ange- Führungsrolle. Bei einer Demonstration vor dem Kö-
messem Verstehens und Interpretierens zu begründen, nigspalast wurde er 1897 festgenommen und verbrachte
um diese chaotische Lage zu überwinden. Im ‹Neuen sieben Jahre in Haft. Dank der Intervention der ameri-
Lehrgang der Stilistik› findet sich diese doppelte Not- kanischen Missionare wurde er freigelassen und reiste
wendigkeit verdichtet. Was Ki-Rim Kim brauchte, war auf Einladung der amerikanischen methodistischen Kir-
nicht eine auf Stiltheorie reduzierte Rhetorik, noch eine che in die USA, um sein Studium fortzusetzen. Inner-
Rhetorik, die sich auf eine bloße ‹Schminkkunst› be- halb von sechs Jahren erwarb er das Lizentiat an der
schränkt und sich begnügt mit dem Verzieren und Aus- George-Washington-University, den Magistertitel an
schmücken, sondern eine Rhetorik, die Wort und Schrift Harvard und das Doktorat an der Princeton University.
auf die Ebene der Vermittlung und Kommunikation Währenddessen wurde er ständig dazu eingeladen, bei
stellt. [25] Versammlungen des YMCA oder bei lokalen Vereinen
II. Bedeutende Redner und Reden. Syngman Rhee Vorträge über Korea zu halten. In seiner Biographie fin-
(1875–1965) war erster Präsident der Republik Korea den sich Zeugnisse für seine rednerischen Erfolge wie
(1948–1952) und blieb es bis in seine dritte Amtszeit, die etwa Empfehlungsschreiben der Präsidenten von Prin-
er infolge von Studentenprotesten und Rücktrittsfor- ceton. Das amerikanische Publikum scheint er aber
derungen wegen einer ökonomischen und politischen mehr durch seine von der Hafterfahrung geprägte Per-
Krise nicht zu Ende führen konnte. Als Präsident war er sönlichkeit und sein Eintreten für die Unabhängigkeit
berühmt für seine Eloquenz gegenüber dem koreani- Koreas als durch seine Eloquenz beeindruckt zu haben.
schen Volk und seinen nationalen und internationalen Nach über dreißigjährigem Aufenthalt in den USA
Partnern. Unsere Darstellung seiner Rhetorik stützt sich kehrte er 1945 nach Korea zurück und wurde 1948 mit 73
hauptsächlich auf die Zeugnisse seines politischen Be- Jahren zum ersten Präsidenten der Republik Korea ge-
raters R. Oliver. Während des Zweiten Weltkriegs, als wählt. Er regierte 12 Jahre lang bis zu seiner Absetzung
er seinen Militärdienst in Washington im Office of Civil 1960. Während seiner Präsidentschaft häuften sich seine
Defense ableistete, traf Oliver 1942 den koreanischen rednerischen Auftritte in Form von direkten Kontakten
politischen Flüchtling Dr. Syngman Rhee. Etwa 18 Jah- mit dem koreanischen Volk, von Pressekonferenzen
re war er als dessen politischer Berater tätig, verfaßte und Interviews über nationale und internationale Ange-
seine Biographie (‹Syngman Rhee: The Man behind the legenheiten. Für das koreanische Volk war er ‹Seine Ex-
Myth›, 1954) und diente ihm als Ghostwriter für seine zellenz›, die geruhte, sich unter das Volk zu begeben und
öffentlichen und internationalen Reden. Er würdigte mit ihm zu sprechen. Dies wurde als unerhört empfun-

507 508
Koreanische Rhetorik Koreanische Rhetorik

den, denn während der absoluten Monarchie wurde Die Zeit der Regierung Roh kann also als rhetorisch be-
‹Seine Majestät› vom Volk weder gesehen noch gehört. deutsame Präsidentschaft gekennzeichnet werden. [29]
Zudem hatte Rhee fast alles, um beim koreanischen
Volk als ‹Vater der Nation› verehrt zu werden: der Nim- Anmerkungen:
bus eines Helden der Unabhängigkeit, das Renommee 1 H. Kim: Rhêtorikê serait-il susahak (修辭學)?, in: Cheolhakg-
eines Doktors der Politik und auch sein Alter sicherten wahyeonsil (Philosophy and Reality) 61 (2004) 153–168. –
2 W.-H. Kim: On the Characteristics of the View of Susa (修辭)
ihm den Beifall bei seinen öffentlichen Reden. Als ein in Classical China, in: Dongamunhwa (East-Asian Culture) 43
‹Weiser› brauchte er für seine Politik nicht zu argumen- (2005) 121–140; S.-H. Lee: L’origine et l’évolution du mot susa,
tieren; es genügte, seine Position durch unverifizierbare in: Jungkukmunhak (J. of Chinese Literature) 43 (2005) 37–51. –
Gemeinplätze zu vermitteln. Andererseits wußte er bei 3 Y.-H. Yi: Rapport de recherche: tendances des recherches
seinen Auftritten in den Medien seine Gesprächspart- rhétoriques au Japon, communication présentée au Colloque
ner rücksichtsvoll zu behandeln und sich dank seiner permanent mensuel de la Société coréenne d’études rhéto-
profunden, Ost und West umfassenden sprachlichen riques, Université nationale de Séoul, Séoul (Corée du Sud), 14
und kulturellen Kenntnisse dem Publikum anzupassen. avril, 2004. – 4 S.-G. Jon: La tradition rhétorique en Corée, in:
Susahak (Revue d’études rhétoriques) 2 (2005) 145–195. –
Infolgedessen wurde sein Kommunikationstalent selbst 5 Keun You: 大韓自强會月報 (Rapport mensuel de l’Associa-
von seinem schärfsten Kritiker anerkannt: «Noch in sei- tion de l’autonomie de la Corée) no 7, 25 janvier 1907. – 6 W.-B.
nen letzten Jahren vermochte er sein Publikum allein Chung: The Contextual Meanings of the susa in the History of
durch die Kraft seiner Persönlichkeit und durch die Korean Rhetoric, in: Minjokmunhwayeonku (Korean Cultural
Aura eines Lebens für die Unabhängigkeit Koreas zu Studies) 45 (2006) 109–132. – 7 S.-H. Lee: L’origine et l’évolu-
beherrschen.» [28] tion du mot susa, in: Jungkukmunhak (J. of Chinese Literature)
Von den späteren Präsidenten der Repulik Korea 43 (2005) 36. – 8 W.-H. Kim: On the Characteristics of the View
fand keiner mehr eine besondere Beachtung wegen sei- of susa (修辭) in Classical China, in: Dongamunhwa (East-
Asian Culture) 43 (2005) 127. – 9 Chung [6] 112. – 10 Y.-H. Yi: A
ner rhetorischen Fähigkeit. Einer von Syngman Rhees la recherche de la rhétorique coréenne: Munjangganghwa et la
Nachfolgern, Doo-Hwan Jon, der 1980 durch einen Mi- modernité. Communication présentée au XVe Congrès de la
litärputsch an die Macht gelangte, wollte meiner Mei- Société internationale d’histoire de la rhétorique (ISHR), Uni-
nung nach seine rhetorische Inkompetenz hinter seinen versité de Southern California, Los Angeles, 13–16 juillet 2005. –
zahlreichen dreisten Aktionen verbergen; die sprachli- 11 Y.-H. Yi: Munjangganghwa de Tae-Jun Yi et la rhétorique,
che Unbeholfenheit des Präsidenten Youn-Sam Kim, in: Susahak (Revue d’études rhétoriques) 3 (2005) 291–310. –
der eine neue Ära demokratischer Präsidentschaft er- 12 Yi [10]. – 13 R. Oliver: Leadership in 20th Century Asia; the
öffnete, wurde sogar als Tugend gepriesen; Präsident Rhetorical Principles and Practice of the Leaders of China, Ko-
rea, and India from Sun Yat-sen to Jawaharlal Nehru (Center
Dae-Jung Kim, der sich als Oppositionsführer durch sei- for Continuing Liberal Education, Pennsylvania State Univer-
ne Millionen begeisternde und mobilisierende Bered- sity 1966) 23. – 14 Y.-H. Yi: Robert Oliver et son point de vue sur
samkeit bekannt gemacht hatte, bot während seiner les traditions rhétoriques en Asie, communication présentée au
Amtszeit keine rhetorisch glanzvollen Auftritte mehr, Conseil de la Société internationale pour l’histoire de la rhéto-
sondern hielt sich eng an die schriftlichen Vorlagen sei- rique, Université McGill, Montréal (Canada), 24–27 juillet
ner Berater. Nach dem Antritt der Regierung Moo- 2008. – 15 ebd. – 16 ebd. – 17 S.-C. Park: A Study on the Recep-
Hyun Roh wurde die die Bedeutung der Rhetorik für tion of Western Rhetoric in Modern Korean Rhetoric: Ki-Rim
seine Präsidentschaft in Korea nicht wahrgenommen, so Kim and I.A. Richards, in: Bikyomunhak (Comparative Litera-
ture) 41 (2007) 5–33. – 18 Y.-H. Yi: Munjangganghwa de Tae-
daß der rhetorische Stil des Präsidenten Roh weder von Jun Yi et la rhétorique, in: Susahak (Revue d’études rhéto-
den Medien noch vom politischen Establishment beach- riques) 3 (2005) 291–310. – 19 G.A. Kennedy: Comparative
tet wurde. Dieser wurde 2002 zum Präsidenten gewählt, Rhetoric. An Historical and Cross-Cultural Introduction (New
entgegen allen Wahlprognosen, da er noch innerhalb York/Oxford 1998) 1. – 20 ebd. 3. – 21 S.-G. Jon: Une cartho-
der Partei der Linken, die sich in der Nationalversamm- graphie de la rhétorique coréenne. Communication présentée
lung in der Minderheit befand, einer Minderheit ange- au XVIe Congrès de la Société internationale d’histoire de la
hörte, und sein Gegner, der Kandidat der Rechten, vom rhétorique (ISHR), Strasbourg (France), 24–29 juillet 2007. –
Establishment und von den führenden Presseorganen 22 vgl. S.-C. Park: A Study on the Reception of Western Rhe-
toric in Modern Korean Rhetoric: Ki-Rim Kim and I.A. Ri-
massiv unterstützt wurde. Die koreanischen Politologen chards, in: Bikyomunhak (Comparative Literature) 41 (2007)
erklärten den Wahlsieg Rohs durch sein kommunikati- 5–33. – 23 W.B. Chung: A Study on the Rhetoric in the Modern
ves Gespür und durch seine geschickte Nutzung des In- Period of Enlightenment: Speech and Discussion, in: Gojeon-
ternet zur Mobilisierung seiner Anhänger. Als Präsident munhakyeonku (Studien zur klassischen Lit.) 30 (2006) 409–446,
zog er es vor, direkt mit dem Volk zu sprechen in Form hier 409–410. – 24 Y.-H. Yi: Munjangganghwa de Tae-Jun Yi et
von nationalen Fernsehansprachen, «Dialogen mit dem la rhétorique, in: Susahak (Revue d’études rhétoriques) 3
Volk» oder Diskussionsbeiträgen im Internet, während (2005) 291–310. – 25 Park [17]. – 26 R. Oliver: Syngman Rhee: A
er sich beharrlich weigerte, der dominierenden rechten Case Study in Transnational Oratory, in: Quart, J. of Speech
48,2 (1962) 115–127. – 27 R. Oliver: Syngman Rhee: The Man
Presse Interviews zu geben. Seine bewußt populäre und behind the Myth (New York 1954) viii. – 28 R.C. Allen: Korea’s
populistische Sprache und seine provokanten Redebei- Syngman Rhee: An Unauthorized Portrait (Rutland, Vt. 1960)
träge zu nationalen und internationalen Themen trugen 235. – 29 Y.-H. Yi: Syngman Rhee et la naissance de l’éloquence
ihm vom Beginn seiner Amtszeit an viele Schwierigkei- présidentielle en Corée, communication présentée au XVIe
ten ein. Von der Nationalversammlung der Verletzung Congrès de la Société internationale d’histoire de la rhétorique
der Neutralitätspflicht bei Gesetzeskampagnen ange- (ISHR), Strasbourg, 24–29 juillet 2007.
klagt, wurde er 2004 für zwei Monate von seinem Amt
suspendiert, bis ihn das Urteil des Verfassungsgerichts- Literaturhinweise:
R. Oliver: Communication and Culture in India and China (Sy-
hofs von der Anklage freisprach. Zusätzlich zu seinem racuse 1971).– W.-B. Chung: An Aspect of the History of Ko-
gerichtlichen Sieg errang er bei den Parlamentswahlen rean Rhetoric in 18th Century, in: Susahak (수사학, Revue
im selben Jahr die Mehrheit, eine «Wahlstrafe des ko- d’études rhétoriques) 1 (2004) 164–179 (koreanisch). – Y.-H. Yi:
reanischen Volkes für den Versuch der Opposition, sei- Rapport de recherche: tendances des recherches rhétoriques au
nen demokratisch gewählten Präsidenten abzusetzen». Japon. Communication présentée au Colloque permanent men-

509 510
Krisenrhetorik Krisenrhetorik

suel de la Société coréenne d’études rhétoriques, Université na- Ergebnis einer kriegerisch-militärischen, athletischen
tionale de Séoul, Séoul 14 avril, 2004 (koreanisch). – H. Kim: oder juristischen Auseinandersetzung. Letzteren Ge-
Réflexion sur la tradition de la rhétorique dans l’antiquité oc- danken findet man z.B. noch heute in der englischen Re-
cidentale et Proposition pour comprendre la tradition coréenne
de la Science de Susa (修辭), in Susahak (수사학,) 3 (2005) 119–
dewendung «to bring things to a crisis».
136 (koreanisch). – T. Yang, Taezong: Eine Inventio-Analyse Hippokrates überträgt den Auswahl- und Entschei-
der Kriegsproklamation als Beitrag zur interkulturellen Rhe- dungsgedanken vom forensischen Prozeß auf den
torik – anhand der Proklamation an So Hwang von Chi-Won menschlichen Körper: «Die Krise tritt in Krankheiten
Choi, in: Dokileomunhak (독일어문학, Deutsche Sprach- und immer dann auf, wenn die Krankheiten an Intensität zu-
Literaturwissenschaft) 31 (2005) 265–287 (koreanisch). – Y.-H. nehmen oder abklingen oder in eine andere Krankheit
Yi: Robert Oliver et les traditions rhétoriques en Asie. Com- übergehen oder überhaupt ein Ende haben.» [4] Krise
munication présentée au Colloque int. ‘Rhétorique comparée: meint hier also den Kulminationspunkt einer sich zu-
Asie et l’Occident’, Université Korea, Séoul, 10–12 novembre
2006. – T. Yang, Taezong: Nonsijungmijiyakeon von Gyu-Bo
spitzenden Entscheidungsphase, deren Ausgang ambi-
Lee aus der Sicht der interkulturellen Rhetorik, in: Susahak valent ist, «jene knapp bemessene Wende, in der die
(수사학, Revue d’études rhétoriques) 6 (2007) 99–120 (korea- Entscheidung fällt über Tod und Leben, über Sieg oder
nisch). – S.-G. Jon: La rhétorique du ‘dakkeum’: un aspect sail- Niederlage.» [5] Die für die Wendung einer Krankheit
lant de la rhétorique coréenne, in: Rhetorica 26 (2008) 57–70. – entscheidenden Tage werden im ‹Corpus Hippocrati-
S.-G. Jon: Rhétoriques particulaires et rhétoriques ondulatoi- cum› kriÂsimow, krı́simos genannt. [6] ‹Krise› und ‹kriti-
res, in: New Chapters in the History of Rhetoric, ed. L. Pernot sche Tage› gelten seitdem als etablierte Konzepte der
(Leiden 2009) 17–30. – Jon, Sung-Gi: Towards a Rhetoric of Medizin; in der klinischen Psychologie und Psychiatrie
Communication, with Special Reference to the History of Ko-
rean Rhetoric, in: Rhetorica 28 (2010) 313–329.
münden in der Folge die ‹kritischen Tage› in die Auf-
fassung, daß Krisen nicht durch Plötzlichkeit und Kürze
Yeong-Houn Yi/Th.Z. gekennzeichnet sein müssen, sondern auch eine Phase
von ausgedehnter Dauer darstellen können. [7]
^ Rhetorik, außereuropäische Der Geschichtsschreiber Thukydides, Zeitgenosse
des Hippokrates, schreibt das klinische Konzept fort.
Daneben nutzt er den Begriff auch analog, um histori-
sche und soziale Prozesse zu beschreiben und zu erklä-
Krisenrhetorik (auch rhetorische Krisensituation; engl. ren. [8] In der Folge taucht der Begriff der ‹Krise› bei
crisis rhetoric, crisis communication, rhetorical crisis si- den Geschichtsschreibern Roms, des Mittelalters und
tuation) der Renaissance jedoch nicht wieder auf; vielmehr
A.I. Def. und Etymologie der ‹Krise›. – II. Def. der ‹rhetori- scheint er lange Zeit nach Thukydides eine verborgene
schen Krisensituation›: 1. Res dubia. – 2. Bedrohte Werte. – 3. fachsprachliche Existenz geführt zu haben. Wiederein-
Agonalität. – 4. Rezeptionsmuster. – B. Topos ‹Krise› aus hi- geführt durch Galen (129–199 n. Chr.) überwiegt die
storischer Perspektive. – C. Verortung im rhetorischen System. medizinische Definition, die den Römern überliefert
– I. Iudiciale Rede: 1. Kommunikationswissenschaft und US- wurde. [9] Zu der latinisierten Form crisis tritt nun syn-
amerikanische Forschung zu ‹Organizational Crisis Response›.
– 2. Psychologie. – 3. Soziologie. – 4. Wirtschaftswissenschaft. –
onym der Begriff iudicium hinzu – crisis bleibt allerdings
II. Deliberative Rede. – III. Laudative Rede. für lange Zeit vor allem auf den Körper und hier speziell
auf dessen Krankheit bezogen.
A. I. Definition und Etymologie der ‹Krise›. Der Be- In England bereits im 17. Jh., in Kontinentaleuropa
griff der ‹Krise› stammt aus dem Griechischen und ist ab- spätestens im 18. Jh. und in Deutschland erst nach der
geleitet von kriÂnv/ kriÂnein, krı́nō/ krı́nein, was mit ‹schei- Französischen Revolution [10] wird die antike meta-
den›, ‹auswählen›, ‹beurteilen›, ‹entscheiden› übersetzt phorische Auffassung vom ‘Gemeinwesen als Körper’
werden kann, sowie kriÂnomai, krı́nomai, ‹sich messen›, reaktiviert, die es ermöglicht, den krisis-Gedanken auch
‹streiten›, ‹kämpfen›. Entsprechend bedeutet griech. auf gesellschaftliche, politische oder wirtschaftliche
kriÂsiw, krı́sis zunächst ‹Scheidung›, ‹(Wett-)Streit›, auch Vorgänge zu übertragen, bei denen – wie bei einem kri-
‹Entscheidung›, die einen Konflikt beendet, sowie ‹Ur- sengeschüttelten, fieberhaften Leib – ein Wendepunkt
teil› und ‹Beurteilung›. Ursprünglich wird ‹krı́sis› vor- der Veränderung zum Besseren oder Schlechteren er-
nehmlich als forensischer Prozeß, als Rechtsfindung und reicht ist. Das eingedeutschte Wort ‹Crisis› kennt zu-
öffentliches Richten verstanden, in dem zunächst gestrit- nächst alle griechischen Bedeutungen. Während der
ten und gekämpft wird (krı́nomai), bevor geschieden, Bedeutungsstrang der ‹Beurteilung› im 18. Jh. von dem
ausgewählt, geurteilt und damit der Konflikt entschieden Begriff ‹Kritik› übernommen wird, weitet sich der Be-
wird (krı́nō/ krı́nein). Dieses öffentliche Richten hat ei- deutungshorizont von ‹Krise› nun auch im Deutschen
nen ordnungsstiftenden, politischen und gemeinschafts- von der Medizin auf Politik und Gesellschaft aus. [11]
erhaltenden Sinn. [1] Aristoteles charakterisiert daher Der Ausdruck steht insbesondere für eine Phase, in der
den Vollbürger nicht zuletzt anhand seiner Teilhabe am die Entscheidung über den Verlauf einer Angelegenheit
Richten (kriÂsiw, krı́sis) und Regieren (aÆrxhÂ, archē´). [2] ansteht, aber noch nicht gefallen ist. Eine ‹kritische Pha-
In den Epen Homers und Hesiods, den Hymnen Pin- se› beschreibt bis heute einen Zustand unaufgelöster
dars, den Tragödien des Aischylos, Sophokles und Eu- Spannung, der Latenz und Schwebe, eine entschei-
ripides, aber auch in der Geschichtsschreibung Hero- dungsträchtige Situation, die unumkehrbar auf eine Un-
dots sowie den philosophischen Schriften der Vorso- terscheidung, Ausscheidung und Entscheidung zuläuft.
kratiker und Platons [3] kann als semantischer Nukleus In diesem Sinne wird auch im Neuen Testament das
des Begriffs ‹krı́sis› ein ‘Scheiden’ identifiziert werden, Wort ‹krisis› für das angekündigte, aber noch ausstehen-
das sich in drei Definitionsstränge differenzieren läßt: (1) de Jüngste Gericht verwendet, wobei Zeitpunkt, Ort
ein ‹Unterscheiden› als kritische Urteilskraft und analy- und Inhalt ungewiß, die Rechenschaftspflicht und das
tisches Deuten; (2) ein ‹Ausscheiden› als Abtrennen und ‘Daß’ des Urteils selbst jedoch gewiß sind. [12]
Teilen, als Auswahlprozeß, der das Höherwertige vom Die etymologische Rückführung zeigt, daß die be-
Minderwertigen scheidet und (3) ein ‹Entscheiden› als nannten Definitionsstränge in verschiedenen Funktio-

511 512
Krisenrhetorik Krisenrhetorik

nen wirken: erstens in der ganz ursprünglichen histo- ten für eine direkte Beeinflussung der Entwicklung
risch-urteilenden bzw. richtenden Funktion: der Bürger mehr bieten, sind zumindest noch alternative Formen
wird im Aristotelischen Sinne erst zum Bürger durch sei- der Reaktion und Bewertung denkbar. K. entspringt
ne ‹krı́sis›, sein öffentliches Richten; die Perspektive ist diesem Denken in alternativen Handlungsmöglichkei-
dabei auf die Vergangenheit gerichtet; die zweite Funk- ten.
tion ist eine medizinisch-diagnostische: Fokus ist der Die rhetorische Krisensituation ist gravierender als
Körper und die Wendung seiner Krankheit, die sich me- eine Störung, manifester als ein Risiko [15] und poten-
taphorisch auch auf gesellschaftliche, politische oder tieller als eine Katastrophe. K. beinhaltet notwendiger-
wirtschaftliche Phänomene übertragen läßt; in diesem weise das Reden über Risiken, aber umgekehrt ist das
Kontext ist der Terminus auf den Ist-Zustand, die Ge- Reden über Risiken nicht auf Krisensituationen be-
genwart, bezogen; und drittens zeigt die Etymologie eine schränkt. Risikodiskurse sind eine Form, Krisen ge-
theologisch-beschwörende Funktion auf: das angekün- danklich und kommunikativ zu antizipieren. Risiko-
digte, aber noch ausstehende Jüngste Gericht, mit Be- rhetorik ist demnach K. unter der Prämisse des Hypo-
zug zur Zukunft. thetischen. Das Ungewißheitsmoment, das auch in einer
II. Definition der rhetorischen Krisensituation. Die manifesten Krise konstitutiv ist, ist für eine Risikosi-
rhetorische Krisensituation ist eine öffentliche, häufig tuation in gesteigertem Maße von Bedeutung. Der Be-
medial vermittelte und gestaltbare Umbruchssituation, griff des ‹Risikos› dient von seinem Ursprung her dazu,
die sowohl einen längeren Prozeß als auch einen Wen- die verschiedenen denkbaren Handlungsoptionen zu
demoment meint, von dem aus durch Akzeptanz-, Ver- charakterisieren, indem er ihnen mögliche Folgen und
trauens- und Legitimations-, kurz: Zustimmungsmangel die Wahrscheinlichkeit deren Eintretens zuordnet. Die
in nicht wahrheitsfähigen Sachfragen ein unhinterfrag- klassische probabilistische Definition, wie sie etwa im
tes ‘Weiter so’ für eine Gemeinschaft keine Option Versicherungsgeschäft zur Anwendung kommt, be-
mehr darstellt. Aus einer res certa wird so eine res dubia, trachtet Risiken als das Produkt aus der Wertigkeit ei-
die ein kritisches ‘Unterscheiden’, ‘Ausscheiden’ und nes Ereignisses, also z.B. der Höhe eines Schadens, und
‘Entscheiden’ nötig macht, um zu bestimmen, welche seiner Eintretenswahrscheinlichkeit. [16]
Reaktion auf diesen Bruch des bisherigen Handlungs- 2. Bedrohte Werte. «In jedem Fall heißt von Krise
musters folgen sollte. Die rhetorische Krisensituation sprechen, eine entscheidende Frage zu stellen, nämlich
konstituiert sich zudem durch einen inhärenten Wider- die, “was gerecht oder ungerecht, heilsbringend oder
streit, das Aufeinandertreffen agonaler Kräfte. Diese verderbend, gesundheitsstiftend oder tödlich sein wür-
Kräfte ringen um die letztgültige Entscheidung in die de”.» [17] Vergleicht man diese Dichotomien von Ko-
eine oder andere Richtung mittels allgemeinverständli- selleck mit denen der Aristotelischen Redegenera –
cher Rede und Gegenrede vor einer maßgeblichen, öf- Aristoteles unterscheidet gerecht vs. ungerecht (genos
fentlichen Urteilsinstanz. Dabei agieren sie unter Evi- dikanikon/ genus iudiciale), ehrenhaft vs. unehren-
denzmangel und Handlungszwang. Da hier zugleich aus haft (genos epideiktikon/ genus demonstrativum) sowie
kollektiver und subjektiver Sicht existenzielle Werte zur nützlich vs. schädlich (genos symbouleutikon/ genus de-
Disposition stehen, die irreversibel geschädigt werden liberativum) [18] –, so ist das gemeinsame Terrain von
könnten, kennzeichnet die Redner eine deutliche Über- Krise und Rhetorik evident: Die rhetorische Krisensi-
zeugungsabsicht. Die rhetorische Krisensituation ist be- tuation ist dadurch charakterisiert, daß gemeinschaftli-
endet, wenn ein neuer Zustimmungs- und Homöosta- che Grundwerte wie z.B. Gerechtigkeit oder ethische
sezustand erreicht ist, in dem im Sinne einer res certa alle Normen und/oder höchstpersönliche, inkommensurable
Beteiligten wieder sicher sind, was sie (bezogen auf Ver- Werte wie z.B. die Gesundheit als bedroht wahrgenom-
gangenheit, Gegenwart und Zukunft) erwarten können. men werden.
1. Res dubia. Das ‘Ungewisse’ ist das Reich der Rhe- Bei der K. sind diese Werte als «Kristallisationspunk-
torik, wie Aristoteles sie definiert, denn «über das, was te des Selbstverständnisses einer jeweiligen Handlungs-
nicht anders sein, werden oder sich verhalten kann, be- gemeinschaft» [19] jedoch so existenziell, daß ihre In-
ratschlagt niemand [...], das bringt ja nichts mehr fragestellung die (soziale, politische, finanzielle, ge-
ein». [13] Eine Krise ist per definitionem eine Situation, sundheitliche, etc.) Funktionsfähigkeit und damit den
deren Ausgang ungewiß ist, mehr noch: deren verschie- Fortbestand der Handlungsgemeinschaft bzw. des In-
dene mögliche Ausgänge irreversibel sind und drama- dividuums auf dem gewohnten Niveau gefährdet. Auch
tisch in Kontrast zueinander stehen. Das erzeugt Hand- in dieser Hinsicht bezeichnet K. eine aufs Äußerste zu-
lungsdruck, der es unmöglich macht, abzuwarten, bis In- gespitzte rhetorische Situation. Die Rede von einer
formationsdefizite beseitigt sind und sich die weitere ‘ernsten Krise’ ist daher unsinnig: Eine Krise ohne
Entwicklung abzeichnet. Dieses Zusammentreffen von Ernst ist keine.
Evidenzmangel und Handlungszwang entspricht wie- 3. Agonalität. Ausgehend von der Aristotelischen
derum den Voraussetzungen der rhetorischen Situation, Überlegung, daß «[i]m ambivalenten, unsicheren, kon-
wie sie Blumenberg kennzeichnet. [14] Eine Krise ist tingenten Problembereich der menschlichen boyÂleysiw,
demnach eine aufs Äußerste zugespitzte, durch ihre be- des praktischen Intellekts und des menschlichen Han-
sondere Dramatik herausgehobene rhetorische Situati- delns, [...] sich alles so oder anders verhalten» [20] kann,
on. Unter derartigen Umständen kommt die Leistung ist es sachlogisch, daß heterogene, gegenläufige inhalt-
der Rhetorik besonders zur Geltung, welche darin be- liche Interessen und Wertprioritäten auftreten, deren
steht, auch unter Ungewißheitsbedingungen kollektive Regelung ein homogenes, allseits akzeptiertes formales
Handlungsfähigkeit herzustellen. Verfahren notwendig macht. Charakteristisch für die
Eine Krise als rhetorische Situation zu begreifen be- rhetorische Situation ist also zunächst die im doppelten
deutet folglich auch, verbliebene Handlungsspielräume Wortsinne ‘geteilte’ Agonalität, die gerade im Wider-
– selbst wenn sie klein sein mögen – bewußt wahrzuneh- spruch ihre Einheit findet: «An agreement to disagree
men. Krisensituationen sind in sehr unterschiedlichem must occur in every rhetorical situation, since, as Quin-
Maße steuerbar; doch selbst wo sich keine Möglichkei- tilian put it, ‘every question is based on assertion by one

513 514
Krisenrhetorik Krisenrhetorik

party and denial by another’» [21] (Eine Einigkeit dar- lich zu realisieren, ist für das Bedrohungsempfinden in
über, daß Uneinigkeit herrscht, ist die Grundbedingung der Regel sehr viel weniger ausschlaggebend als die an-
jeder rhetorischen Situation, denn, wie Quintilian be- tizipierte Schrecklichkeit des Ereignisses, was ein Grund
merkt, ‘jede Streitfrage basiert auf der Behauptung ei- für das Auseinanderklaffen von Gefährlichkeitsein-
ner Partei und dem Widerspruch einer anderen’), wobei schätzungen von Experten einerseits und Laien ande-
die Position des Gegenübers auch durch Ignoranz und rerseits ist (z.B. bei der Beurteilung großtechnischer
Schweigen gekennzeichnet sein kann. [22] Gefahrenquellen). [26] Insgesamt besteht eine Neigung
Erinnert man, daß kriÂsiw ursprünglich als öffentli- zur eindeutigen Kategorisierung von möglichen Bedro-
ches Richten verstanden wurde, in dem (kriÂnomai) sich hungen als entweder ganz vernachlässigbar oder aber
gemessen, gestritten, gekämpft wird, bevor (kriÂnv/ ernstzunehmend gefährlich. [27]
kriÂneiÈn) geschieden, ausgewählt und geurteilt wird, so Drittens ist für die Wahrnehmung und Beurteilung
beschreibt der Terminus krisis bereits in seiner Grund- einer Krisensituation unter den Betroffenen und in der
form selbst den zentralen rhetorischen Vorgang, der allgemeinen Öffentlichkeit wichtig, wo die Ursache
iudicial wie deliberativ das proprium der rhetorischen liegt, aus welchem Grund ein Risiko bzw. in der Folge
Situation ausmacht: «Das ‘Für und Wider’ wohnte also eine Krisensituation entstanden ist. So macht es einen
dem Wort ursprünglich inne [...]. Die alte Kraft des Be- Unterschied, ob eine Organisation oder Person ‘un-
griffs, unüberholbare, harte und nicht austauschbare schuldig’ in eine Krise geraten ist oder diese selbst zu
Alternativen zu setzen» [23] – Koselleck bezieht sich verantworten hat. Ob von den Betroffenen gewollt oder
hier wohlgemerkt auf den Krisenterminus, nicht auf die nicht, werden im Kontext von rhetorischen Krisensi-
Rhetorik – findet in der rhetorischen Situation ihre Er- tuationen in jedem Falle durch interessierte Dritte At-
füllung. tributionen, d. h. Ursachen- und Verantwortungszu-
4. Rezeptionsmuster. Das Reden über Krisen und Ri- schreibungen vorgenommen.
siken hat grundsätzlich sowohl im privaten wie im öf- Sehr häufig ist in der Literatur daher die Untertei-
fentlichen Leben seinen Ort, jedoch soll der öffentlichen lung zwischen «endogenen» und «exogenen» Krisen-
Sphäre hier das Hauptaugenmerk gewidmet sein: zum herden [28] zu finden: Als endogen wird eine Krise dann
einen wegen der Definitionsmacht, die die (Medien-) bezeichnet, wenn die Verursachung intern im Einfluß-
Öffentlichkeit darüber besitzt, was überhaupt als Krise bereich des Betroffenen liegt, z.B. bei ethischen Ver-
oder Risiko gelten kann; zum anderen wegen des beson- fehlungen, Gesetzesverstößen, Störfällen, Sabotage,
deren Momentums, das sich aus den interagierenden in- Management- oder Produktfehlern. Krisen dieser Art
dividuellen, gesellschaftlichen und massenmedialen In- gelten als ‘hausgemacht’ und werden gemeinhin hin-
formationsverarbeitungsmustern in Krisen- und Risi- sichtlich der Verantwortungsattribution kritischer be-
kosituationen entwickeln kann. wertet als exogene Krisen, bei denen die Ursache der
Die psychologische und soziologische Forschung hat Krise weniger beeinflußbar als eine Art ‘höhere Ge-
die Wahrnehmungsmuster herausgearbeitet, die dar- walt’ von außen kommt, wie z.B. bei Erpressungen, ge-
über entscheiden, welche realen oder möglichen Ereig- zielten Rufschädigungen, gesetzlichen Reglementierun-
nisse und Entwicklungen überhaupt das Potential besit- gen, Naturgewalten oder Anschlägen.
zen, als Krise bzw. Risiko eingeschätzt zu werden. In der Informationsgesellschaft wird die Mehrzahl
In der individuellen Wahrnehmung von Risiken und der Krisensituationen nicht unmittelbar erfahren, son-
Krisen spielen bestimmte Attribute des fraglichen Phä- dern medial vermittelt. Die Folge sind eine räumliche
nomens eine entscheidende Rolle. [24] Sehr wichtig ist und zeitliche Entgrenzung des Krisenerlebens, aber
erstens die wahrgenommene (potentielle) Schrecklich- auch eine Einflußnahme des Mediums auf die Informa-
keit, also die Frage, wie katastrophal die möglichen oder tion durch die Selektion der Inhalte und ihre Darstel-
tatsächlichen Ausmaße des Ereignisses eingeschätzt lung.
werden, wie viele Opfer beklagt werden (könnten) und Überblickt man den für diese Frage einschlägigen
wie hoch die Schäden anzusetzen sind. Ein zweiter ent- Forschungsdiskurs, so lassen sich auf einem Kontinuum
scheidender Faktor für die Wahrnehmung von Risiken zwischen zwei Extrempolen verschiedene Rollen aus-
und Krisen sind Handlungs- und Kontrollmöglichkei- machen, die Medien einnehmen könnten. Sie reichen
ten. Situationen, auf die man sich vorbereitet fühlt oder von der – durch den Nachrichtenwert-Ansatz [29] aller-
die zumindest Raum für individuelle Reaktionsmöglich- dings widerlegten – neutralen Rolle der Medien als nicht
keiten auf Bedrohungen bieten, werden als weniger gra- filternde Übermittler am einen Ende des Kontinuums,
vierend empfunden als solche, die unversehens eintref- über eine aktive, bestehende öffentliche Meinungen
fen, die nicht gut abschätzbar sind und denen man hilflos verstärkende Multiplikator- und Akzeleratorfunktion,
ausgeliefert ist. Deshalb werden freiwillig eingegangene bis zum anderen Ende des Kontinuums, an dem Medien
Risiken für weniger gefährlich gehalten als fremdverur- eine Urheber-Rolle oder eine eigenständige Akteurs-
sachte und altbekannte Gefahrenquellen weniger ge- funktion zugeschrieben wird. In der Urheber-Rolle ‘kre-
fürchtet als neue. Fehlen individuelle Steuerungsmög- ieren’ Medien erst die rhetorische Krisensituation, über
lichkeiten, hängt die Einschätzung der Gefährlichkeit die sie dann berichten.
stark vom Vertrauen in die als tatsächlich steuerungs- Die in der Nachrichtenwerttheorie zusammengefaß-
mächtig empfundenen (z.B. staatlichen) Instanzen ten Kriterien für die Selektion von Informationen durch
ab. [25] Im Kontext dieser Wahrnehmungsmuster stellt die Massenmedien deuten darauf hin, daß Krisen- und
sich die für Krisen- und Risikosituationen konstitutive Risikothemen generell mit sehr hoher Wahrscheinlich-
Ungewißheit über den weiteren Verlauf als etwas Zwie- keit ein mediales Echo erzeugen. [30] Welche Aspekte
spältiges dar: Einerseits gründet sich auf die Offenheit dabei akzentuiert und welche maskiert werden, folgt
der Situation die Hoffnung auf einen positiven Ausgang, ähnlichen Mustern wie das oben beschriebene indivi-
andererseits erzeugt die fehlende Absehbarkeit der Ent- duelle Gefahrenempfinden: Die Aufmerksamkeit rich-
wicklung per se Angst. Daß bestimmte Befürchtungen tet sich eher auf Einzelereignisse mit hohen Schäden
nur eine geringe Wahrscheinlichkeit haben, sich tatsäch- und vielen Todesopfern (z.B. Flugzeugabstürze) anstatt

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Krisenrhetorik Krisenrhetorik

auf konstant präsente Gefahrenquellen mit großer sta- mit einer gewissen Inkubationszeit entwickelnden Kri-
tistischer Relevanz (z.B. PKW-Verkehr, Tabakkon- sen sowie (3) periodisch wiederkehrenden, wellenför-
sum), und neue Bedrohungen werden mit einer höheren migen Krisenverläufen. [36]
Wahrscheinlichkeit thematisiert als bekannte. [31] Un- Die Interaktion der medial-rhetorischen Bearbei-
gewißheitsmomente werden entweder in der Darstel- tungsmuster von Krisen- und Risikothemen mit denen
lung eliminiert, so daß tentative Aussagen definitiv er- der individuellen Wahrnehmung von Gefahren und
scheinen und wahrscheinliche Entwicklungen sicher, Bedrohungen kann beachtliche Verstärkungseffekte er-
oder aber umgekehrt amplifiziert, indem z.B. gegensätz- zielen, die auch auf andere Bereiche als die von der Kri-
liche Expertenmeinungen einander gegenübergestellt sensituation originär betroffenen ausstrahlen. Die Re-
werden ohne einen Hinweis darauf, wie gut sie die Mei- aktion der (Medien-)Rezipienten auf Krisen- und Risi-
nung des Faches insgesamt widerspiegeln. [32] konachrichten führt unter Umständen zu Folgen zweiter
Typischerweise nimmt die massenmediale Aufmerk- Ordnung, etwa wenn durch die neue Information be-
samkeit für Krisen und Risiken einen kurvenförmig an- stimmte Kaufentscheidungen beeinflußt werden, sei es
und wieder absteigenden Verlauf. Luhmann entwickelt für Immobilien unter dem Eindruck einer Finanzkrise
hierzu ein auch für rhetorische Krisensituationen sinn- oder für bestimmte Nahrungsmittel unter dem Eindruck
volles Lebenszyklus-Modell öffentlicher Anliegen. Er einer Umweltkatastrophe oder eines Lebensmittelskan-
identifiziert vier Phasen, in denen jeweils bestimmte dals. Durch diese ‹soziale Amplifikation› von Krisen
Fragen zu lösen sind und sich Handlungschancen für und Risiken [37] können Situationen eintreten, in denen
diejenigen ergeben, die das Thema auf seinem Weg vom Schäden zweiter Ordnung jene erster Ordnung bei wei-
Ereignis zur Nachricht «bewegen, es fördern, bremsen, tem übersteigen. Insbesondere können sich infolge die-
blockieren oder auf bestimmte Bahnen leiten möch- ser Antizipationseffekte Risikosituationen zu manife-
ten». [33] sten Krisen entwickeln, ohne daß sich die originäre Be-
In der ersten, sogenannten latenten Phase ist das Pro- drohung dafür realisieren müßte.
blem lediglich Experten und direkt Betroffenen be- B. Topos ‹Krise› aus historischer Perspektive. Krisen-
kannt; es könnte auch wieder verschwinden, ohne brei- wahrnehmungen funktionieren als Topos, wenn das ei-
tere Aufmerksamkeit zu erlangen. Oft fehlt noch das gene Petitum zur logisch notwendigen Schlußfolgerung
Stichwort, unter dem das Thema eine rhetorisch wir- aus einer Krisensituation erklärt wird, wobei die mit
kungsmächtige Karriere starten könnte. In dieser Phase dem Krisenphänomen in der allgemeinen Wahrneh-
ist die Erkennung des möglichen Problems zentral. Die mung assoziierten Wissensbestände und Wertvorstel-
Durchbruchsphase ist dadurch charakterisiert, daß das lungen die Eckpfeiler dieses argumentativen Brücken-
Thema den Kreis der direkt damit befaßten Personen schlags bilden. Wie Arbeiten zur historischen Semantik
verläßt und für die rhetorischen Akteure aus Politik und des Krisenbegriffs wie jene von Koselleck [38] und
Medien erreichbar wird. Interessengruppen formieren Steil [39] zeigen, wurden und werden Krisen seit der
sich; Experten versuchen, das Problem zu bestimmen dem heutigen Charakter entsprechenden Ausformung
und zu erklären. In dieser Phase ist die Problemdefini- des Begriffs im 18. Jh. als argumentative Ressource für
tion zentral. Wird das Thema von anderen Medien eine große Bandbreite verschiedener und durchaus auch
durch die Konformitätstendenzen des Nachrichtenjour- gegenläufiger Aussageabsichten verwendet, was die für
nalismus und die Selbstreferentialität des Mediensy- einen Topos einschlägige Polyvalenz des Konstrukts un-
stems aufgegriffen, erreicht es folglich eine noch höhere terstreicht. Diese Vieldeutigkeit schlägt in Eindeutig-
Popularisierung («Hype»), dann schließt sich eine Phase keit um, sobald sich der Redner festlegt, wie er zu den
an, in der das Thema zum Bestandteil der öffentlichen Determinanten der Krisensituation steht: der bedrohten
Meinung wird, Diskussionen darüber zur Selbstver- Welt des status quo ante mitsamt ihren Werten sowie der
ständlichkeit werden, die Selektionsschwelle für artver- Umbruchssituation selbst.
wandte Themen deutlich gesenkt wird, womit das The- Fundamental unterschiedlich in ihrer Bewertung des
ma aber auch den Höhepunkt seiner Karriere erreicht vorkrisenhaften Zustands und respektive auch der Zu-
hat. [34] Öffentliche Ziel- und Lösungsfindung kenn- kunftshoffnungen ist etwa im ausgehenden 18. Jh. die
zeichnet diese Phase. Die Präzisierung des (strittigen) Anwendung des Krisenbegriffs auf das zugrunde gehen-
Problems nimmt – ebenso wie die Zahl der sich beteili- de Ancien Régime: Während Traditionalisten wie E.
genden Akteure – mit jeder Phase zu, bis zuletzt die Ab- Burke die Zerstörung der althergebrachten Gesell-
wendung vom Thema bzw. die Entscheidungsreife folgt. schaftsordnung durch die Französische Revolution be-
Das Problem verliert seine Anziehungskraft, insbeson- trauern und die Krise als Chaos und Entgleisung be-
dere wenn das zur Rede stehende Problem bzw. Ver- trachten [40], ist sie für die Gegenseite die unvermeidli-
halten überprüft und traktiert, ggf. sanktioniert wird; che Folge nicht mehr zu überbrückender Gegensätze,
wenn überhaupt, dann sind lediglich Vollzugsschwierig- die letztlich eine Entscheidung herbeiführen muß zwi-
keiten in dieser Phase noch von Bedeutung. Es ist davon schen der überkommenen Welt von gestern und der pro-
auszugehen, daß ein bestimmter Themenkomplex nach gressiven, besseren von morgen – nicht von ungefähr
dem Durchlaufen dieses Aufmerksamkeitszyklus’ nicht nennt T. Paine seine Propagandazeitschrift für den
zum Ausgangsniveau zurückkehrt, sondern eine abge- Amerikanischen Bürgerkrieg ‹The Crisis›. [41] Die Kau-
senkte Aufmerksamkeitsschwelle hinterläßt, die dazu salität, die zwischen dem Krisenphänomen und der in
führt, daß ähnliche Ereignisse schneller in das Blickfeld die Krise geratenen Ordnung etabliert wird, fällt dabei
der Medien gelangen. [35] unweigerlich ein Urteil über letztere, denn ein System,
Verschiedene Typen der medialen Aufmerksamkeit das aus sich selbst heraus systematisch Krisen gebiert,
für Krisen und Risiken unterscheiden sich der For- kann schließlich nicht gut sein. Dieselbe Verwendung
schungsliteratur zufolge vor allem danach, wie (plötz- des Topos ist der Grund dafür, daß Wirtschaftskrisen
lich) die Intensität der Berichterstattung ansteigt: Un- einen wichtigen Bezugspunkt für die marxistische Ka-
terschieden wird zwischen (1) im Kurvenverlauf steil an- pitalismuskritik darstellen. [42] Eine wichtige Funktion
steigenden, eruptiven Krisen, (2) sich schleichend und der Krise als Topos ist demnach, dem Kritiker recht zu

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Krisenrhetorik Krisenrhetorik

geben; wobei sich die alten begrifflichen Bedeutungs- seits zu anderen, schlimmeren weil endogen verursach-
stränge der faktenbezogenen Krankheitsdiagnose einer- ten Krisenzuständen und Verfallserscheinungen. Schon
seits und des moralischen Richtens andererseits an der die Antike kennt die Idee, daß das Leben in Wohlstand
Stelle treffen, wo beide Einschätzungen durch den Ver- und Frieden korrumpierende Wirkung hat, wie etwa die
lauf der Entwicklung aus der Sicht des Redners ihre Be- Schriften Sallusts nahelegen. Eine Übersteigerung
stätigung finden. So findet die vormoderne Vorstellung, dieser Vorstellung findet sich bei Nietzsche, dem zu-
daß Krisenerlebnisse als Strafen Gottes sein Gericht folge die fortschreitende Lähmung des behäbigen bür-
vorwegnehmen [43], ihre Fortsetzung in der säkularen gerlichen Daseins ab einem gewissen Punkt in einen
Eschatologie einer Geschichtsphilosophie, die die Krise weltgeschichtlichen Entscheidungskampf umschlagen
zum moralischen Gericht über Tugend und Untugend muß, in dem es um Katastrophe oder Wiedergeburt geht
erhebt [44], das notwendigerweise zum Sieg des Guten und in dem nie dagewesene Kriege eine bislang unge-
führen muß. A. Steil kennzeichnet deshalb das Reden kannte Intensität des Lebens verwirklichen. [49] Diese
von der Krise auch als einen Prozeß der «Transforma- Reizstimulation durch die Krise wird enthusiastisch be-
tion von Angst in Hoffnung» [45] und damit als Erbe der jaht.
chiliastischen Tradition. Zielpunkt der progressiven wie Allen Spielarten des Argumentierens mit der Krise
konservativen Argumentation ist in der Regel ein Ap- ist gemein, daß sie dramatisierenden Charakter haben:
pell, der das der Krisensituation innewohnende aktivie- Es geht immer um das große Ganze, um Alles oder
rende Moment zu nutzen versucht, sei es als Aufruf zur Nichts, um den absoluten Ausnahmezustand. Das hat
Reue und Wiederherstellung des status quo ante oder Implikationen für den Redner, seine Zuhörer und sein
als Aufruf zur Revolution. Sujet: Wer von der Krise spricht, hat definitionsgemäß
Allerdings verweist gerade auch das marxistische Ar- etwas Wichtiges erkannt und etwas Wichtiges zu sagen,
gumentieren mit der Krise auf eine grundlegende Am- der Topos wirkt also positiv auf das ethos zurück. Auf
bivalenz: Zwar birgt aus dieser Sicht jede Krise die die Gemeinschaft von Redner und Zuhörer wirkt die
Hoffnung auf eine Revolution, andererseits wird Wirt- Rede von der Krise einigend: «Es zeigt sich, daß im Ho-
schaftskrisen aber auch ein stabilisierender Effekt be- rizont der ‘Krise’ stets ein ‘Wir’-Bewußtsein zu begrün-
scheinigt, da sie die «Epidemie der Überproduktion», den versucht, eine Gruppe aufgerufen wird, die weiß,
wie es in metaphorischer Anlehnung an den medizini- was die Stunde geschlagen hat. Und es ist immer auch
schen Ursprung des Krisenbegriffs im Kommunisti- dieselbe Stunde, in der sich die Subjekte des Krisenbe-
schen Manifest heißt [46], durch Kapitalvernichtung be- wußtseins zusammenfinden sollen – dieselbe Minute so-
enden und so dazu beitragen, daß das kapitalistische gar, nämlich ‘fünf vor zwölf’.» [50] Aus dieser Konstel-
System weiter bestehen kann – bis zur nächsten Krise. lation ergibt sich denn auch der appellative Charakter
Diese gedankliche Linie führt mit nur geringen Ab- des Redens von der Krise, der zur eindeutigen Positio-
wandlungen zu einer ganz anderen möglichen Deutung nierung zwingt. Die Entscheidung, die fällig, aber noch
von Krisen: Sie sind dann nicht mehr transitorische nicht gefallen ist und die die Krisensituation kennzeich-
Phasen eines linearen Prozesses, an dessen Ende die net, verlangt der Redner seinen Zuhörern ab, sobald der
Utopie steht, sondern zyklisch auftretende Vorgänge die Krise als solche benennt: Es gibt nur ein Richtig oder
der Selbstregulierung von Systemen wie etwa Depres- Falsch, wir oder die, Gut oder Böse. So vielfältig die
sionen in Schumpeters «Konjunkturzyklen». [47] Rhe- Verwendungsmöglichkeiten des Krisentopos auch sein
torisch gesehen eröffnet diese Betrachtungsweise ein mögen, ein Denken jenseits von Dualismen befördern
weiteres Feld möglicher Argumentationsrichtungen in sie nicht.
allen möglichen Bereichen von K., nicht nur auf wirt- C. Verortung im rhetorischen System. Während es
schaftlichem Gebiet. Klassische Formen der Ausgestal- leichtfällt, situationsinvariante Charakteristika von Kri-
tung können etwa auf das Vanitas-Motiv rekurrieren sen zu erkennen, die sie als besonders zugespitzte rhe-
und einen Kontrast zwischen der Vergänglichkeit alles torische Situationen kennzeichnen, ist eine Zuordnung
Menschengemachten einerseits und überzeitlichen Grö- von K. zu einer der drei aristotelischen Redegattungen
ßen wie Gott oder der Natur andererseits aufbauen. So nicht möglich. Denn wie bereits etymologisch hergelei-
verbindet Rousseau in ‹Emile› die Prophezeiung der tet, vereint der Begriff der Krise einen Vergangenheits-,
großen Umwälzung mit seiner Überzeugung von den Gegenwarts- und Zukunftsbezug, der in den drei rhe-
‹richtigen›, weil zeitlosen Werten: «Wir nähern uns ei- torischen Redegenera seine natürliche Entsprechung
ner Krise und dem Jahrhundert der Revolutionen. Wer findet.
kann sich für das, was aus euch wird, verbürgen? [...] Doch nicht nur etymologisch, sondern auch chrono-
Unvergänglich ist nur die Natur, und sie bringt weder logisch werden zu jeweils unterschiedlichen Zeitpunk-
Fürsten noch Richter oder große Herren hervor.» [48] ten der Krisenentwicklung alle drei Redegenera der K.
Über die Amplifikation des Unvergänglichen hinaus durchlaufen: Meist zu Beginn der rhetorischen Verar-
bietet die zyklische Variante des Krisentopos den wei- beitung der Krisensituation wird zunächst vergangen-
teren logischen Vorteil, daß K. sich unter diesen Prä- heitsbezogen Rückschau gehalten, nach der Ursache
missen nicht auf Krisenzeiten beschränken muß, wohnt und damit nach den Verantwortlichen oder Schuldigen
doch jedem Aufschwung schon der Abstieg notwendi- gefragt. Während bzw. nach Klärung dieser iudicialen
gerweise inne. Fragen drängen einzelne Akteure häufig darauf, unter
Biologistische Vorstellungen vom Werden und Ver- die unveränderliche Vergangenheit einen Schlußstrich
gehen, vom Blühen und Welken stehen dieser Denkfi- zu ziehen und betonen, daß es Zeit sei, «nach vorne zu
gur gedanklich nahe. In diesen Zusammenhängen wird schauen» und sich der deliberativen Frage zu stellen,
es möglich, Krisen nicht nur als notwendiges Übel zu was angesichts dieser Lage nun in Zukunft zu tun sei.
begreifen, sondern auch als wertvolle Phasen der Rei- Während dies in Rede und Gegenrede abgewogen und
nigung, Revitalisierung, der natürlichen Auslese und beratschlagt wird, beschwören die Redner – häufig auf
Sammlung. Eine Fortdauer des krisenfreien Zustands ist dem Kulminationspunkt der Krise – im Modus des genus
insofern gar nicht wünschenswert, führt sie doch ihrer- demonstrativum diejenigen existentiellen Werte, die

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Krisenrhetorik Krisenrhetorik

Grundlage der gemeinsam getragenen Reaktion auf die quaestio): bei der (1) Faktizität ist die Streitfrage, ob
Krise sein sollen (und die häufig durch das Krisenge- eine krisenursächliche Tat wie z.B. Staatsverschwörung
schehen just in Frage gestellt und erschüttert worden vorliege (an sit), bei der (2) Definition, was genau vor-
sind). Die Lob- und Tadelrede, insbesondere wenn sie liege (quid sit), bei der (3) Rechtfertigung, ob das kri-
personenbezogen ist, kann zudem ein Indikator dafür senauslösende Geschehen in der Abwägung gerechtfer-
sein, daß die Krisensituation als überwunden gilt, weil tigt oder entschuldbar sei/ wie es beschaffen sei (an iure/
ein neuer kollektiver Zustimmungs- und Homöostase- quale sit), und auf der (4) formalen Ebene liegt die
zustand erreicht ist, für dessen Zustandekommen die Streitfrage in der bezweifelten Rechtmäßigkeit des An-
Gemeinschaft sich selbst bzw. einzelne ihrer Akteure klagevorgangs (an induci in iudicium debeat). [53]
preist. Die Status-Lehre ist in der intellectio/ noēsis angesie-
I. Iudiciale Rede. In der iudicialen Ausprägung von K. delt und somit schon durch ihre Platzzuweisung inner-
sind die moralische bzw. rechtliche Beurteilung des Ver- halb der Systematik der antiken Rhetorik als ein Ana-
haltens in einer Krise und die Zuweisung von Schuld lyseinstrument erkannt. Die Erkenntnis und Feststel-
und Verantwortung für eine Krise und ihre Folgen zen- lung des Status nimmt eine herausgehobene, wenn nicht
trale Fragen. Voraussetzung für diese Fragen ist, daß die sogar die wichtigste Stelle innerhalb der noēsis ein. [54]
krisenhaften Züge der Situation von niemandem in Fra- Die einzelnen quaestiones bzw. das Frageschema der
ge gestellt werden. Trotz des Mangels an manifesten Status-Lehre können wie eine Schablone über einen
Schwierigkeiten können auch Risikodiskurse iudiciale iudicialen Krisenfall gelegt werden, so daß die fragwür-
Züge annehmen; in diesem Fall bezieht sich das Richten digen Punkte, die be- oder entkräftet werden müssen,
in der Regel auf den Vorwurf, jemanden oder etwas un- erkennbar hervortreten.
gerechtfertigterweise einer Gefahr auszusetzen oder Es ist mit der Status-Lehre jedoch nicht nur möglich,
ausgesetzt zu haben. Auch müssen sich die Vorwürfe die dem Krisendiskurs jeweils zugrundeliegende Streit-
nicht notwendigerweise nur auf Taten beziehen; auf- frage analytisch zu diagnostizieren, sondern es ist im-
grund des Zusammenhangs zwischen Wissen und Ver- mer auch denkbar, die aus der Status-Diagnose gewon-
antwortung können sich Reden auch um die Frage dre- nenen Erkenntnisse umzusetzen, d. h. die Status-Lehre
hen, wer wann welche Details des Gefahrenpotentials insbesondere als strategisches Steuerungsinstrument
oder Krisengeschehens gekannt hat und sich ggf. dem auch praktisch-produktionsorientiert anzuwenden. In
Vorwurf der Unterlassung notwendiger Schritte ausset- dieser Eigenschaft wiederum spiegelt die Status-Lehre
zen muß. Die Auseinandersetzung tritt also in der Regel in nuce die Rhetoriktheorie insgesamt: Entsprechend
im Gewand der Wahrheitsfindung auf. [51] der alten rhetorischen komplementären Dualität von
Iudicial geprägte Krisen- und Risikodiskurse haben noēsis und poiēsis [55] kann anhand desselben Instru-
per definitionem besonders hochgeschätzte Güter oder mentariums eben nicht nur der gegebene Krisendiskurs
Werte zum Inhalt und stellen gleichzeitig das ethos des analysiert, sondern auch die zu gestaltende K. produ-
Redners in den Mittelpunkt. Sie sind deshalb Gelegen- ziert werden.
heiten, Deutungsmacht und sozialen Einfluß zu gewin- Die Status-Lehre als Strategieinstrument in der rhe-
nen [52], was unabhängig von inhaltlichen Betroffenhei- torischen Krisensituation anzuwenden heißt, fundiert
ten eine Motivation sein kann, sich anklagend oder ver- abzuwägen, auf welcher Statusebene man als Verteidi-
teidigend zu positionieren. gender in den iudicialen Krisendiskurs einsteigt. Dazu
K. im iudicialen Sinne läßt sich am besten anhand der ist es hilfreich, sich die logische Hierarchie der Status-
in der antiken Rhetorik kanonisch gewordenen Status- Systematik zu vergegenwärtigen. Die status sind präsup-
Lehre klassifizieren. Wenn ein Ankläger einer anderen positional geordnet, d. h. die Wahl der zweiten Status-
Person eine dem allgemeinen Rechts- und Moralemp- ebene (status definitionis) setzt das Eingeständnis der
finden zuwider laufende, (scheinbar) krisenursächliche quaestio des ersten Status voraus, die Wahl der dritten
Tat vorwirft (z.B. «X ist der Staatsverschwörung schul- Ebene (status qualitatis) das Eingeständnis der quaestio-
dig»), so gerät der Beschuldigte unter Rechtfertigungs- nes der ersten und zweiten. Diese Rangliste «is seen as
druck und hat nach der Status-Lehre verschiedene Mög- the order of a retreat from stronger to weaker argu-
lichkeiten zu widersprechen, wenn er die krisenursäch- ments» [56] (ist als Rückzugsreihenfolge von stärkeren
liche Tat nicht sofort einräumen will. Er kann (1) die zu schwächeren Argumenten zu sehen). Lausberg be-
Existenz einer Staatsverschwörung verneinen und somit schreibt sie daher – ganz im Sinne der ursprünglichen
die Faktizität des Vorwurfs bestreiten oder (2) Gescheh- Bedeutung von ‹stasis› – als abgestufte «Rückzugs-
nisse bestätigen, aber verneinen, daß diese unter den Kampfstellungen der Verteidigung». [57] Diese vier im-
Terminus Staatsverschwörung subsumierbar seien und mer schwächer werdenden Verteidigungslinien führen
somit die Frage nach der korrekten Definition der vor- zu immer weitreichenderen Zugeständnissen und weni-
geworfenen Tat in den Raum stellen oder (3) die geg- ger wünschenswerten Resultaten. Hier beginnt der Ab-
nerische Faktizität und Definition bejahen, aber das ei- wägungsprozeß der «redestrategischen Vorüberlegun-
gene Handeln dennoch als gerechtfertigt oder ent- gen» (consilium) für die Gestaltung der iudicialen K.
schuldbar darstellen, z.B. durch Notwehr oder Zwang. Nach Quintilian handelt es sich hierbei um «die erste
Schließlich kann der Beschuldigte (4) auf einer verfah- und wichtigste» kritische Entscheidung in Verhand-
rensbezogenen Meta-Ebene jederzeit die Berechtigung lungsreden: «denn zu bestimmen, was man sagen, was
des Anschuldigenden als anklagende Instanz in Frage verschweigen, was man hinausschieben muß, ist Sache
stellen und so die inhaltliche Auseinandersetzung ver- der Überlegung (consilium): ob es besser ist, zu leugnen
weigern. oder zu rechtfertigen, wo man ein Prooemium verwen-
Aus der Standpunktdifferenz zwischen Ankläger den soll und welcher Art [...].» [58] Die K. eines Vertei-
(«Er ist der Staatsverschwörung schuldig») und Be- digenden steht damit vor einem komplexen Dilemma:
schuldigtem («Nein, ich bin nicht der Staatsverschwö- Auf der einen Seite will der Redner angesichts potenti-
rung schuldig»), entsteht der Status mit seiner status- eller Konsequenzen möglichst wenig Eingeständnisse
spezifischen Streitfrage (bei den römischen Rhetoren machen, d. h. mit seiner Verteidigung in der Hierarchie

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Krisenrhetorik Krisenrhetorik

der Status-Ebenen möglichst hoch einsteigen. Auf der Umso erstaunlicher ist es, daß nicht nur die Kom-
anderen Seite gilt es, die daraus resultierende Fallhöhe munikationswissenschaft, sondern vor allem auch die
niedrig zu halten, d. h. das Risiko für einen Glaubwür- (anglo-amerikanische) Rhetorikforschung die Status-
digkeitsverlust durch nachgewiesen unwahre Behaup- Lehre als deklaratives Beschreibungs-, analytisches Er-
tungen minimal zu gestalten. Ziel des Abwägungspro- klärungs- und strategisches Vorhersageinstrument für
zesses ist es daher, die Position zu wählen, von der man die K. nicht rezipiert. An ihre Stelle treten ‘neue’, we-
am sichersten ist, daß sie im gesamten Krisendiskurs niger trennscharfe und erschöpfende Begrifflichkeiten
nicht mehr geräumt werden muß. Die Auswahl der und Typologien, prominent geworden vor allem unter
Hierarchieebene entscheidet sich demnach an der Re- dem Stichwort der ‹Image Restoration Theory› von Be-
gel: ‘Zugeständnisse so groß wie nötig‘, ‘Risiko für Po- noit [64] und dem Ansatz der ‹Situational Crisis Com-
sitions- und Glaubwürdigkeitsverlust so gering wie mög- munication Theory› von Coombs. [65] Der letzte Ansatz
lich’ – nicht umgekehrt. Denn nichts erzeugt einen trägt jedoch empirisch Früchte. So konnte experimentell
schwereren und nachhaltigeren Verlust an Glaubwür- bestätigt werden, daß bei endogenen Krisenursachen,
digkeit als ein unfreiwilliger Rückzug durch öffentlich bei denen die Kontrollmöglichkeiten für die natürliche
erzwungene Eingeständnisse. Das gilt umso mehr, wenn oder juristische Person hoch sind, defensive Krisenre-
dieser Rückzug durch die Status-Hierarchie der zuneh- aktionsmuster wie Entschuldigungen oder ggf. Rück-
menden Zugeständnisse von oben nach unten ‘scheib- tritte zu größerer Akzeptanz unter den Rezipienten füh-
chenweise’ erfolgt: Je mehr Statusebenen durch die ‹Sa- ren als z.B. Leugnen. Statt der erwähnten ‹Salami-Tak-
lamitaktik› des sukzessiven Eingestehens unfreiwillig tik› ist es in solchen Fällen also ratsam, von vornherein
geräumt werden müssen, desto höher und nachhaltiger nichts zu beschönigen, sondern (alles) einzuräumen.
ist für den Beschuldigten der Gesichts- und Glaubwür- Auch wenn die Verluste dadurch hoch sein mögen, so
digkeitsverlust. Der kann – gerade beim maximalen wird dennoch häufig genau dadurch Glaubwürdigkeit
Durchlaufen aller Status-Hierarchien – schließlich als und Respekt gewonnen, wie das Medienecho auf den
Krise zweiter Ordnung zu höheren sozialen, finanziel- Rücktritt der Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kir-
len, politischen usw. Kosten führen als die ursprünglich che Deutschlands, Käßmann, im Jahr 2010 exemplarisch
zur Rede stehende Tat. Das consilium zu unterstützen belegt. «Aufstieg einer Sünderin» titelte z.B. Der Spie-
und zu helfen, rhetorisches Versagen zu vermeiden, ist gel. [66] Sind die eigenen Kontrollmöglichkeiten über
eine Leistungsfähigkeit der Status-Lehre als systemati- die Krisenursache jedoch gering, wie z.B. bei Naturge-
sches Analyse- und strategisches Steuerungsinstrument. walten oder Erpressungen, empfiehlt Coombs auf dem
Dieses Problem ist dabei nicht auf natürliche Personen Hintergrund seiner Forschung den sich verteidigenden
beschränkt. Vor allem Unternehmen als juristische Per- Akteuren ein deutlich offensiveres Vorgehen.
sonen sehen sich in Krisensituationen zunehmend mit 2. Psychologie. Der bekannteste unter den Ansätzen
einem Rechtfertigungs- und Legitimationsdruck ihrer zum Verteidigungsverhalten offen (und öffentlich) an-
Umwelt konfrontiert. In der modernen Medien- und In- geschuldigter Personen in der Psychologie ist die Theo-
formationsgesellschaft werden viele Handlungen, die rie der Eindruckslenkung (‹Impression Management
früher von Unternehmen stillschweigend vorgenom- Theory›) [67], deren Grundannahme ist, daß Menschen
men wurden, im Angesicht einer sensiblen organisati- bemüht sind, die Eindrücke, die sie auf andere machen,
onsinternen und -externen Öffentlichkeit begründungs- zu steuern: Wird der gewünschte Eindruck, der zumeist
pflichtig. Profit- wie Non-Profit-Organisationen sind so- positiv sein soll, durch situative Umstände oder eigenes
mit genötigt, auf öffentliche Vorwürfe zu reagieren. Verhalten von den Interaktionspartnern in Frage ge-
Im Folgenden werden daher mit internationaler stellt, entsteht die subjektiv empfundene Notwendigkeit,
Perspektive Konzeptionen und Forschungsergebnisse durch zielgerichtete (sprachliche) Handlungen gegen-
zur iudicialen K. sowohl einschlägiger individual- als über den Interaktionspartnern das primär gewünschte
auch organisationsbezogener Referenzwissenschaften Bild von der eigenen Person wiederherzustellen. Letz-
dargelegt, auch wenn jene K. in diesen Disziplinen häu- teres Bestreben wird im Gegensatz zum Aufbau von
fig terminologisch anders gefaßt wird. Die iudicialen As- Selbstbildern (assertive Selbstdarstellung) als defensive
pekte der Krise – im Gegensatz zu ihren deliberativen Selbstdarstellung bezeichnet. [68] Schütz hat es auf
oder epideiktischen – machen dabei den weitaus größ- dem Hintergrund dieser ‹Self-presentation Theory› un-
ten Teil der Forschungsliteratur aus. ternommen, empirisch belegte «Taktiken defensiver
1. Kommunikationswissenschaft und US-amerikani- Selbstdarstellung» [69] zu hierarchisieren. Ihre Ergeb-
sche Forschung zu ‹Organizational Crisis Response›. In nisse, verdichtet in «Stufen defensiver Selbstdarstel-
der deutschsprachigen Forschungsliteratur befaßt sich lung», stimmen auf frappierende Weise mit den einzel-
vor allem die Kommunikationswissenschaft unter dem nen Hierarchieebenen der Status-Systematik überein,
Schlagwort der ‹Krisenkommunikation› oder ‹Krisen- obwohl zwischen beiden Ansätzen nicht nur mindestens
PR› mit dem skizzierten Phänomenkreis [59] und nutzt 2100 Jahre liegen, sondern auch völlig unterschiedliche
dabei in jüngster Zeit auch verstärkt sozialwissenschaft- Theoriehintergründe.
liche Forschungsmethoden. [60] In der US-amerikani- Der Psychologe P. Schönbach entwickelt in der Fol-
schen Rhetorikforschung der jüngeren Vergangen- ge zunächst in explorativen Untersuchungen genauere
heit gelten Untersuchungen zur «Organizational Crisis Taxonomien von Verfehlungen, Vorwürfen und Re-
Response» [Krisen-Reaktion von Organisationen] [61] chenschaften, die sowohl situationale Gegebenheiten
bzw. zur «Corporate Apologia» [Unternehmens-Apo- als auch dispositionale Merkmale des Anklagenden und
logie] [62] als einer der wichtigsten Forschungsbereiche seines Opponenten berücksichtigen. Er identifiziert ein
überhaupt: «a great deal of rhetoric-based research in häufig wiederkehrendes Interaktionsmuster, das für ei-
recent years has focused on organizational crisis» [ein nen Sequenzcharakter von so genannten ‹Rechen-
großer Anteil rhetorikbasierter Forschung der letzten schaftsepisoden› (account episodes) spricht [70], die mit
Jahre konzentriert sich auf Krisen von Organisatio- ihrer Rede-Gegenrede-Grundstruktur sehr stark an die
nen]. [63] Systematik der Status-Lehre erinnern. Aber nicht nur

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Krisenrhetorik Krisenrhetorik

innerhalb der sozialwissenschaftlichen Forschung findet Wissens kommt in diesem Zusammenhang eine zentrale
das Phänomen Aufmerksamkeit, auch Sprachwissen- argumentative Bedeutung zu. Sobald eine Aussage
schaftler widmen sich ab den 1970er Jahren verstärkt nur unter Vorbehalt getroffen wird – und eine solche
der «Vorwurf-Rechtfertigungs-Interaktion». [71] dubitatio in adiecto ist gerade für Wissenschaftleräuße-
3. Soziologie. In der Soziologie beschäftigen sich M.B rungen in Krisen- oder Risikosituationen durchaus ty-
Scott und S.M. Lyman in den 1960er Jahren als erste pisch [78] –, öffnen sich unter Berufung auf die verblei-
prominent mit dem Thema und gehen davon aus, daß bende Ungewißheit Spielräume für gegenläufige Argu-
immer dann, wenn die eigene Handlungsweise als strit- mentation.
tig oder unpassend erfahren wird, sprachliche Entgeg- Im Zweifel kann ähnlich dem status translationis die
nungen in Form von sogenannten ‹accounts› vorge- Frage aufkommen, welche Instanz überhaupt in der
bracht werden: Rechtfertigungen oder Entschuldigun- Lage ist, über diese Sachverhalte fachlich zu urteilen.
gen. [72] Diese können u. a. die Form von ‘Leugnung Spätestens bei diesem Aspekt wird die Bedeutung von
eines Schadens’, von ‘Unfällen’ annehmen, oder vor- wissenschaftlichen Experten für deliberative Krisen-
handene Schuld wird auf ‘Sündenböcke’, auf die ‘Schuld und Risikodiskurse offensichtlich. Allerdings kann
des Geschädigten’ oder die ‘Verurteilung des Verurtei- die der Krisensituation ohnehin innewohnende Unge-
lenden’ abgewälzt. [73] wißheit auch trotz der Berufung auf Experten unauf-
4. Wirtschaftswissenschaft. Hauptsächlich beschäftigt gelöst bleiben und sogar noch gesteigert werden, wenn
sich die Forschungsliteratur dieser Disziplin naturge- diese widersprüchliche Aussagen machen, wie es et-
mäß mit Unternehmenskrisen im volks- oder betriebs- wa U. Beck in seiner Analyse ‹Risikogesellschaft›
wirtschaftlichen Sinne (Liquiditätsprobleme, Insolvenz- als «Vertrauenskrise durch Wissenschaftsüberfluß» be-
gefahren etc.). In geringerem Umfang werden jedoch schreibt. [79] Beck weist auch darauf hin, daß diese Art
auch iudiciale Krisen von Unternehmen mit Reputati- von Konflikt unter anderem deshalb so schwer lösbar
onsfolgen, d. h. Vertrauens- und Akzeptanzkrisen ange- ist, weil die Differenzen zwischen Experten nicht unbe-
sprochen, in denen sich Unternehmen in und vor der dingt im Bereich des Faktenwissens liegen, sondern zu-
Öffentlichkeit rechtfertigen müssen. [74] Dabei konzen- weilen auch in der Bewertung dieser Fakten, was aber
triert sich die wissenschaftliche Forschung unabhängig meist nicht explizit bewußt ist und deshalb auch nicht
von der Krisenart vor allem auf die latente Phase der diskutiert werden kann. Beck verweist mit dieser Beob-
Krise (Prävention und Früherkennung) [75] und präsen- achtung auf die Tatsache, daß Sachwissen über das frag-
tiert Modelle zum ‹Scanning› und ‹Monitoring› von ‹Is- liche Phänomen in deliberativen Argumentationen
sues› [76], ohne Bewußtsein dafür, sich auf altem (kri- zwar eine wesentliche Prämisse, aber nicht hinreichend
sen-)rhetorischen Terrain zu bewegen: ‹Issue› ist nicht für eine umfassende rhetorische Behandlung der Fra-
zufällig die englische Übersetzung von stasis/ status. Für gestellung ist. Denn deren Aufgabe ist ja das Zu- oder
die Phase der akuten Krisenreaktion dominiert in die- Abraten zu einer bestimmten Vorgehensweise, welches
sem Feld derzeit die Praktikerliteratur, die eher mit an- nicht ohne Rückgriff auf Einschätzungen und Wertun-
ekdotischen Qualitäten als mit systematisch-theoreti- gen geschehen kann [80], und diese rekurrieren wieder-
scher Fundierung der möglichen Verteidigungsreaktio- um auf eines der Kernelemente der rhetorischen Kri-
nen aufwartet. sensituation, nämlich die Wertvorstellungen, die das
II. Deliberative Rede. Eine deliberative Behandlung bedrohte Gut betreffen. Für argumentative Bezugs-
von Krisen- oder Risikothemen ist im Gegensatz zur punkte dieser Art kann die Wissenschaft keinen Exper-
iudicialen zukunftsorientiert und konzentriert sich auf tenstatus beanspruchen; wissenschaftliche Experten be-
die Frage, was angesichts einer drohenden oder mani- wegen sich deshalb in Krisen- und Risikodiskursen not-
festen Gefahr unternommen werden soll. Ihr logischer wendigerweise zu Teilen auf fremdem Terrain. Dazu
Ansatzpunkt ist eine inhaltliche Durchdringung der trägt auch die Tatsache bei, daß deliberative Diskurse
dem Krisen- bzw. Risikophänomen zugrundeliegenden zu iudicialen werden können, etwa wenn sich aus der
kausalen Zusammenhänge und das Wissen des Publi- Suche nach Krisenursachen Fragen der Schuld und
kums hierüber. Aufgrund dieser besonderen Bedeutung Verantwortung ergeben und Expertenaussagen zur ar-
des Wissens als argumentative Ressource für delibera- gumentativen Ressource für die Invektiven oder Apo-
tive Krisen- und Risikorhetorik können sich Konflikte logien Dritter werden. Das Ergebnis ist eine potentiell
an der Frage entzünden, welche Aussagen zur Krise zwiespältige Rolle wissenschaftlichen Fachwissens in
oder zum Risiko denn nun sachlich zutreffend seien. Sol- Risiko- und Krisensituationen, da es einerseits ange-
che Auseinandersetzungen ähneln wissenschaftlichen sichts eines akuten Bedarfs an Problemlösungen unver-
Diskursen, und entsprechend können sich auch die von zichtbar ist, aber gleichzeitig alleine für eine Problem-
A. Gross für die wissenschaftliche Kommunikation be- lösung nicht ausreicht und durch seine Instrumentalisie-
schriebenen ‹Streitstände› (staseis) manifestieren. [77] rung im Dienste iudicialer rhetorischer Zielsetzungen
Ähnlich wie die iudiciale Ausprägung läßt sich also auch möglicherweise die Grundlage seiner Glaubwürdig-
deliberative K. anhand von Staseis einordnen. Aller- keit und damit seiner rhetorischen Wirksamkeit ein-
dings geht es nicht darum, wer was warum und mit wel- büßt. [81]
chem Recht getan hat, sondern um die kausalen Zusam- III. Laudative Rede. Auch eine epideiktische Variante
menhänge der Dinge. Dies beginnt bei der für den status von K. kann identifiziert werden, und kanonische Reden
coniecturalis maßgeblichen Frage an sit – gibt es die wie die ‹Gefallenenrede› des Perikles oder Lincolns
möglicherweise als Krise oder Risiko zu betrachtende ‹Gettysburg Address› passen in dieses Muster. Selbst
Anormalität überhaupt? – und verläuft über Definiti- wenn hier der Zuhörer im Unterschied zu den beiden
onsfragen (z.B., ob es sich um eine Finanz- oder eine anderen von Aristoteles definierten Redegattungen
Wirtschaftskrise handelt) bis hin zu solchen des status nicht die Aufgabe hat, eine Entscheidung zu fällen, ist
qualitatis, wobei die Bewertung und Einordnung des epideiktische K. wie jede Rede im Angesicht von Krisen
Phänomens verhandelt wird (z.B. als wie gravierend und Risiken von Agonalität geprägt. Allerdings wird
eine Krise gelten muß). Aussagen zur Gewißheit des diese Agonalität externalisiert; es handelt sich um einen

525 526
Krisenrhetorik Krisenrhetorik

Konflikt zwischen der eigenen Gruppe und einem äu- die Übertr. des Begriffs durch Thukydides bei R. Starn: Hist.
ßeren Feind. Epideiktische Rede ist gegenwartsbezo- Aspekte des Krisenbegiffs, in: M. Jänicke (Hg.): Polit. System-
gen, und der Moment, in dem sich der Redner sieht krisen (1973) 52–69, hier 53. – 9 Starn [8] 54. – 10 R. Koselleck:
Kritik u. Krise. Eine Stud. zur Pathogenese der bürgerl. Welt
(oder inszeniert), ist im Idealfall der Kulminationspunkt ([1959]; 102006) 224, hier Anm. 124. – 11 ders. u. a. [1] Sp. 1235–
der krisis. In dieser Konstellation erfüllt die Rede eine 1245, bes. Sp. 1236f. – 12 vgl. z.B. Mt 12, 36; 25, 31ff; Joh 5, 24, in:
wichtige Funktion: Sie sorgt in einer von Ungewißheit NT, dt. Übers. M. Luther (1950). – 13 Arist. Rhet. I, 2, 12
geprägten, unübersichtlichen Situation für Orientierung (1357a). – 14 H. Blumenberg: Anthropol. Annäherung an die
und stellt klar, wer auf der (moralisch) richtigen und wer Aktualität der Rhet., in: ders.: Wirklichkeiten, in denen wir le-
auf der falschen Seite steht. Diese Wertung kann durch ben (1981) 117. – 15 R.L. Heath, E.L. Toth, D. Waymer: Acti-
eine historische Einordnung des Geschehens noch zu- vism, Issues, Crisis, and Risk. Rhetorical Heavy Lifting, in: dies.
sätzlich bekräftigt werden. Die Rede sorgt so für eine (Hg.): Rhetorical and Critical Approaches to Public Relations
II (New York/London 2009) 233–236, hier 233. – 16 W. Bonß:
Bewältigung der Situation durch Sinngebung. [82] Zen- Vom Risiko. Unsicherheit u. Ungewissheit in der Moderne
traler topischer Bezugspunkt sind damit wiederum (1995) 31f. – 17 R. Koselleck: Art. ‹Krise›, in: O. Brunner (Hg.):
Wertvorstellungen; sie sind das Unterscheidungsmerk- Gesch. Grundbegriffe. Hist. Lex. zur polit.-soz. Sprache in
mal zwischen der eigenen lobenswerten und der feind- Dtld., Bd. 3 (1982) 617–650, hier 619, hier in einem Zitat von E.
lichen, tadelnswerten Seite. Durch die Berufung auf ei- Lobsien: Renaissance-Krisen, in: Grundwald, Pfister [3] 95–113,
nigende Werte zielt die epideiktische K. auf die soziale hier 96. – 18 Arist. Rhet. 1358b. – 19 P. Ptassek: Rhet. Rationa-
Kohäsion, die für ein Meistern der Situation unabding- lität: Stationen einer Verdrängungsgesch. von der Antike bis
bar ist. Auch Durkheim weist der Tadelrede implizit zur Neuzeit (1993) 76. – 20 E. Papadimitriou: Ethische u. psy-
chol. Grundlagen der Aristotelischen Rhet. (1979) 84. – 21 S.
diese Funktion zu, wenn er die öffentliche Brandmar- Crowley, D. Hawhee: Ancient Rhetorics for Contemporary
kung abweichenden Verhaltens als Mittel zur kollekti- Students (Boston u. a. 21999) 44. – 22 Y. Liu: Aristotle and the
ven Stabilisierung von Normen beschreibt; häufig genau Stasis Theory: A Reexamination, in: RSQ 21 (1991) 53–59, hier
jener Normen, deren Verletzung die Krise ausgelöst 57 (Übers. Verf.). – 23 Koselleck [17] 618, 649. – 24 P. Slovic:
hat. [83] Entsprechend fordert die Lob- bzw. Tadelrede Perception of Risk, in: Science 236 (1987) 280–285. – 25 R.E.
typischerweise auch nicht zu einem Kurswechsel auf, Löfstedt: Risk Management in Post-Trust Societies (Hound-
sondern zum Durchhalten und zu moralischer Stand- mills 2005). – 26 L. Sjöberg: Risk Perception. Experts and the
haftigkeit. Public, in: European Psychologist 3/1 (1998) 1–12. – 27 P. Slovic:
Informing and Educating the Public about Risk, in: ders.: The
Im Gewand dieser wertkonservativen Grundausrich- Perception of Risk (London 2000) 182–198. – 28 so zuerst F.
tung kann die epideiktische K. aber auch eine Anpas- Fleege-Althoff: Die notleidende Unternehmung (1930) 84; vgl.
sung etablierter Wertvorstellungen an die aktuelle Si- z.B. für kommunikationswiss. Lit. P.M. Wiedemann: Krisen-
tuation leisten: Redegegenstand ist eben nicht nur der, management & Krisenkommunikation. Arbeiten zur Risiko-
die oder das zu Lobende bzw. zu Tadelnde, sondern im- Kommunikation 41 (1994) 18f., sowie für wirtschaftswiss. Lit. U.
plizit auch die Wandel und Überprüfung unterliegenden Krystek: Unternehmungskrisen. Beschreibung, Vermeidung u.
Werte und Normen, anhand derer gelobt bzw. getadelt Bewältigung überlebenskrit. Prozesse in Unternehmungen
wird. Deren Gültigkeit wird erst durch die Anwendung (1987) 34ff. – 29 W. Schulz: Die Konstruktion von Realität in
den Nachrichtenmedien (21990). – 30 ebd. 32–34. – 31 E. Singer,
vor einem sie indirekt mitbeurteilenden Publikum eta- P.M. Endreny: Reporting on Risk. How the Mass Media Portray
bliert oder verändert, verworfen oder bestätigend per- Accidents, Diseases, Disasters, and Other Hazards (New York
petuiert. In diesem Sinne kann die epideiktische K. auch 1993). – 32 S.H. Stocking: How Journalists Deal With Scientific
eine unterstützende oder vorbereitende Funktion für Uncertainty, in: S.M. Friedman, S. Dunwoody, C.L. Rogers
iudiciale oder deliberative Redeabsichten ausüben. (Hg.): Communicating Uncertainty. Media Coverage of New
Insgesamt verweisen die gattungsgemäß verschiede- and Controversial Science (Mahwah 1999) 23–41. – 33 N. Luh-
nen Arten von K. zurück auf die unterschiedlichen Be- mann: Öffentliche Meinung, in: Polit. Vierteljahresschrift 11
deutungsstränge, die dem Krisenbegriff aufgrund seiner (1970) 2–28, hier 14. – 34 P. Vasterman: Media Hype. Self-re-
inforcing News Waves, Journalistic Standards and the Con-
historischen Genese innewohnen: Eine Situation als struction of Social Problems, in: European J. of Communication
Krise wahrzunehmen, impliziert eine ‘Diagnose des 20 (2005) 508–530. – 35 vgl. N. Baumgärtner: Risiko- u. Krisen-
Krankheitsstands’ des fraglichen Subjekts, und sie nötigt kommunikation. Rahmenbedingungen, Herausforderungen u.
zu Ent- und damit Unterscheidungen – zwischen richti- Erfolgsfaktoren, dargest. am Bsp. der chemischen Industrie
gen und falschen gemeinsamen Maßnahmen wie zwi- (2005). – 36 J. Schulz: Management von Risiko- und Krisenkom-
schen richtigem und falschem persönlichen Verhalten, munikation. Zur Bestandserhaltung u. Anschlußfähigkeit von
retrospektiv-iudicial wie epideiktisch-gegenwartsbezo- Kommunikationssystemen (2001) 20. – 37 R.E. Kasperson u. a.:
gen. The Social Amplification of Risk. A Conceptual Framework, in:
Slovic (Hg.) [27] 232–245. – 38 Koselleck [17]. – 39 A. Steil: Kri-
sensemantik. Wissenssoziol. Unters. zu einem Topos moderner
Anmerkungen: Zeiterfahrung (1993). – 40 E. Burke: Betrachtungen über die
1 vgl. R. Koselleck, N. Tsouyopoulos, U. Schönpflug: Art. ‹Kri- Französische Revolution (1987) 46. – 41 Koselleck [10] (71992)
se›, in: HWPh, Bd. 4 (1976) Sp. 1235–1245, hier Sp. 1235. – 152. – 42 Steil [39] 169. – 43 ebd. 244. – 44 Koselleck [41]. –
2 Arist. Pol., übers. v. E. Rolfes (41990) 1275a. – 3 vgl. Koselleck 45 Steil [39] 80. – 46 K. Marx, F. Engels: Manifest der Kommu-
u. a. [1] u. bes. R. Schlesier: Entscheidungskrisen: Krisis u. Kul- nist. Partei, in: dies.: Werke, Bd. 4 (1959) 467. – 47 J.A. Schum-
tur in der griech. Antike, in: H. Grundwald, M. Pfister (Hg.): peter: Konjunkturzyklen. Eine theoretische, hist. u. statistische
Krisis! Krisenszenarien, Diagnosen u. Diskursstrategien (2007) Analyse des kapitalistischen Prozesses (2010). – 48 J.-J. Rous-
7–20. – 4 Hippokrates: Affections, hg. und ins Englische übers. seau: Emil oder Über die Erziehung (1971) 192. – 49 F. Nietz-
von P. Potter (Cambridge/ London 1988) VIII (dt. Übers. sche: Ecce Homo. Wie man wird, was man ist, in: Werke (KSA)
Verf.). – 5 Koselleck u. a. [1] Sp. 1235; in diesem Sinne auch Thu- 6. Abt., Bd. 3 (Berlin/ New York 1969) 598f. – 50 Steil [39] 10. –
kydides: Der Peloponnesische Krieg, hg. u. übers. v. G.P. Land- 51 H.M. Kepplinger: Die Kunst der Skandalierung u. die Illusi-
mann (2002) I, 23. – 6 vgl. z.B. Hippokrates: Epidemics, hg. u. ins on der Wahrheit (2001). – 52 O. Renn: The Social Arena Con-
Englische übers. von W.H.S. Jones (Cambridge/ London 1995) cept of Risk Debates, in: S. Krimsky, D. Golding (Hg.): Social
I, XX oder Hippokrates: Prognostic, hg. u. ins Englische übers. Theories of Risk (Westport 1992) 179–196. – 53 O.A.L. Dieter,
von J.P. Goold (Cambridge/London 1992) XXIV. – 7 vgl. Ko- W.C. Kurth: The De rhetorica of Aurelius Augustine, in:
selleck u. a. [1] Sp. 1242. – 8 Thukydides [5] II, 49–52; Belege für Speech Monographs 35 (1968) 90–108, hier 100; Aurelius Au-

527 528
Krisenrhetorik Kritik

gustinus: De rhetorica, in: Rhet. Lat. Min. 137–151, hier 142. – (2007). – R.L. Heath, H.D. O’Hair (Hg.): Handbook of Risk and
54 Martin 28. – 55 Aristoteles: Metaphysik, hg. v. M. Frede u. G. Crisis Communication (New York 2008). – W.T. Coombs (Hg.):
Patzig, Bd. 1 (1988) 1032b15; O.A.L. Dieter: Stasis, in: Speech The Handbook of Crisis Communication (Chichester 2010). –
Monographs 17 (1950) 345–369, hier 353. – 56 A.C. Braet: The A. Goeze: Krisen-Rhet.: Zur Leistungsfähigkeit der antiken
Classical Doctrine of status and the Rhetorical Theory of Ar- Rhet. für die heutige Krisenkommunikation natürlicher u. ju-
gumentation, in: PaR 20 (1987) 79–93, hier 83 (Übers. Verf.); ristischer Personen (in Vorb.).
vgl. dazu auch H.-G. Coenen: Art. ‹Hierarchie›, in: HWRh, Bd. A. Goeze, K. Strobel
3 (1996) Sp. 1400–1406, hier Sp. 1402. – 57 Lausberg Hb. § 91,
S. 67; vgl. auch Quint. III, 6, 83 u. H. Hohmann: Art. ‹Jurist. ^ Agonistik ^ Entscheidung ^ Iudicium ^ Kritik ^ Situati-
Rhet.›, in: HWRh, Bd. 4 (1998) Sp. 779–832, hier Sp. 783. – on, rhetorische ^ Statuslehre ^ Urteil ^ Widerruf, Dementi
58 Quint. VI, 5, 5. – 59 Baumgärtner [35]; T. Köhler: Krisen-PR
im Internet. Nutzungsmöglichkeiten, Einflußfaktoren u. Pro-
blemfelder (2006); T. Nolting, A. Thießen (Hg.): Krisenmana-
gement in der Medienges. Potenziale u. Perspektiven der Kri-
senkommunikation (2008). – 60 A. Schwarz: Krisen-PR aus Kritik (griech. kritikh [teÂxnh], kritikē´ [téchnē]; lat. [ars]
Sicht der Stakeholder (2010). – 61 W.T. Coombs: Ongoing Crisis critica; engl. criticism; frz. critique; ital. critica)
Communication. Planning, Managing, and Responding (Thou- A. Def. – B. Geschichte: I. Antike. – II. Frühe Neuzeit. – III.
sand Oaks 22006) (Übers. Verf.). – 62 K.M. Hearit: Corporate 17.–20. Jh.
Apologia: When an Organization Speaks in Defense of Itself, in: I. Def. Das dem Wort ‹K.› zugrundeliegende griechi-
R.L. Heath (Hg.): Handbook of Public Relations (Thousand sche Verb kriÂnein, krı́nein bezeichnet allgemeinsprach-
Oaks/ London/ Neu Delhi 2004) 501–511 (Übers. Verf.). – lich zunächst die praktische oder kognitive Tätigkeit des
63 R.J. Meisenbach, J.J. McMillan: Blurring the Boundaries:
Historical Developments and Future Directions in Organizatio-
Trennens, Scheidens und Unterscheidens, darüber hin-
nal Rhetoric, in: C.S. Beck (Hg.): Communication Yearbook 30 aus aber auch die Sprechhandlungen ‹Entscheiden›,
(Mahwah 2006) 99–141, hier 114 (Übers. Verf.). – 64 W.L. Be- ‹Urteilen›, ‹Auswählen›. [1] Eine fachsprachliche Be-
noit: Accounts, Excuses, and Apologies: A Theory of Image deutung erhalten krı́nein und seine Ableitungen (kriÂsiw,
Restoration Strategies (Albany 1995). – 65 W.T. Coombs: Pro- krı́sis – ‹Entscheidung›, ‹Urteil›; krithÂw, kritē´s – ‹Ent-
tecting Organization Reputations During a Crisis: The Deve- scheidungsträger›, ‹Richter›; das Verbaladjektiv kriti-
lopment and Application of Situational Crisis Communication koÂw, kritikós – ‹das Unter- bzw. Entscheiden betref-
Theory, in: Corporate Reputation Review 10 (2007) 163–176. – fend›) zuerst in Recht [2] und Politik. Diese Bedeutun-
66 Der Spiegel, H. 9 (2010). – 67 B.R. Schlenker: Impression Ma-
nagement: The Self Concept, Social Identity, and Interpersonal
gen von K. bleiben über die gesamte geschichtliche
Relations (Monterey 1980). – 68 A. Schütz: Assertive, Offensi- Entwicklung des Begriffs erhalten.
ve, Protective, and Defensive Styles of Self-Presentation, in: Der folgende Artikel stellt die großen Linien der
Journal of Psychol. 132 (1998) 611–628. – 69 dies.: Leugnen, Sach- und Begriffsgeschichte dar, die mit Hilfe der
Umdeuten, Verantwortung ablehnen und andere defensive Querverweise am Schluß ergänzt und vertieft werden
Taktiken in polit. Skandalen, in: Polit. Psychol. Aktuell 9 (1990) können.
35–54; dies.: Mehr oder weniger zugeben. Stufen defensiver B. Geschichte. I. Antike. Zur Kunst (teÂxnh, téchnē)
Selbstdarstellung, in: H.-U. Kohr, M. Martini (Hg.): Bewußtsein und Wissenschaft (eÆpisthÂmh, epistē´mē) erhoben wird
– Macht – Identität. Europ. Beitr. zur Polit. Psychol. (1991) 131–
141. – 70 P. Schönbach: A Category System for Account Pha-
die K. zuerst in der philosophischen Erkenntnistheorie.
ses, in: European J. of Social Psychol. 10 (1980) 195–200; P. In Platons ‹Politikos› ist die kritikhÁ teÂxnh, kritikē´ téch-
Schönbach: Eine Taxonomie für Rechenschaftsphasen (1986); nē von den beiden Teilen der erkennenden Wissen-
ders.: Account Episodes. The Management or Escalation of schaft (eÆpisthÂmh gnvstikhÂ, epistē´mē gnōstikē´), dem
Conflict (Cambridge 1990). – 71 H. Frankenberg: Vorwerfen u. «anordnenden» (eÆpitaktikoÁn meÂrow, epitaktikón méros)
Rechtfertigen als verbale Teilstrategien der innerfamilialen In- und dem «urteilenden» (kritikoÁn meÂrow, kritikón mé-
teraktion (1976); vgl. auch J. Rehbein: Entschuldigungen u. ros), der ‹theoretische› Teil, in dem man sich wie ein Zu-
Rechtfertigungen. Zur Sequenzierung von kommunikativen schauer (ueathÂw, theatē´s) verhält. [3] Auch in der ari-
Handlungen, in: D. Wunderlich (Hg.): Ling. Pragmatik (1972)
288–317. – 72 M.B. Scott, S.M. Lyman: Accounts, in: American
stotelischen Ethik und Erkenntnistheorie ist die ‹K.›
Sociological Review 33 (1968) 46–62; L. Montada, S. Kirchhoff: bzw. das kritikón eine kognitive Fähigkeit, die jedoch im
Bewältigung von Ungerechtigkeiten durch praktische Erklä- Unterschied zur Klugheit (froÂnhsiw, phrónēsis) keinen
rungen (1999). – 73 M.B. Scott, S.M. Lyman: Praktische Erklä- unmittelbaren Bezug zum Handeln besitzt. [4]
rungen, in: M. Auwärter, E. Kirsch, M. Schröter (Hg.): Seminar Einen wesentlichen Praxisbezug erhält die Wortfa-
– Kommunikation, Interaktion, Identität (1976) 73–114. – 74 A. milie um krı́nein hingegen – nun im Sinne von ‹Ent-
Töpfer: Plötzliche Unternehmenskrisen. Gefahr oder Chan- scheiden› – in der politischen Theorie sowie in der Rhe-
ce? (1999). – 75 T. Dyllick: Management der Umweltbeziehun- torik, die sich aus der Reflexion des deliberativen und
gen. Öffentliche Auseinandersetzungen als Herausforderung
(1992). – 76 F. Liebl: Strategische Frühaufklärung. Trends, Is-
judizialen Sprechhandelns in der Polisdemokratie ent-
sues, Stakeholders (1996). – 77 A.G. Gross: The Rhetoric of Sci- wickelt. Als Bürger definiert Aristoteles in der ‹Politik›
ence (Cambridge, Mass. 1990) 7f. – 78 K. Bauer: Risikorhetorik. denjenigen, der die Vollmacht hat, an der beratenden
BSE in Interviews der überregionalen dt. Qualitätspresse (Diss. oder richterlichen Gewalt (aÆrxhÁ kritikhÂ, archē´ kritikē´)
Tübingen 2008). – 79 U. Beck: Risikoges. Auf dem Weg in eine zu partizipieren [5]; in seiner ‹Rhetorik› ist der Adressat
andere Moderne (22003) 275. – 80 J. Klein: Art. ‹Polit. Rede›, in: der politischen Rede, d. h. der Teilnehmer an der Volks-
HWRh, Bd. 6 (2003) 1465–1520. – 81 P. Weingart: Die Stunde versammlung, «Entscheidender» (krithÂw, kritē´s oder
der Wahrheit? Zum Verhältnis der Wiss. zu Politik, Wirtschaft kriÂnvn, krı́nōn) über das Zukünftige, der Adressat der
u. Medien in der Wissensges. (2001) 248. – 82 B.J. Dow: The
Function of Epideictic and Deliberative Strategies in Presiden-
Gerichtsrede, d. h. der Richter (dikasthÂw, dikastē´s),
tial Crisis Rhetoric, in: WJS 53 (1989) 294–310. – 83 E. Durk- «Entscheidender» über das Vergangene [6]. Die Ent-
heim: Regeln der soziol. Methode (1961). scheidung ist also die raison d’être der Rhetorik (eÏneka
kriÂsevÂw eÆstin hë rëhtorikh [7]). Ebenso ist in Aristoteles’
Literaturhinweise: rhetorischer Gattungslehre aber auch bereits die litera-
D.P. Millar, R.L. Heath (Hg.): Responding to Crisis: A Rhe- rische Dimension der K. angelegt, denn der passive «Zu-
torical Approach to Crisis Communication (Mahwah 2004). – schauer» (uevroÂw, theōrós) der epideiktischen Rede,
O. Renn u. a.: Risiko. Über den ges. Umgang mit Unsicherheit der wegen der besonders starken schriftlichen Rezepti-

529 530
Kritik Kritik

on dieses Genres oft auch ein Leser ist, fällt zwar keine zeit, die sich spiegelbildlich als Rhetorisierung der Li-
pragmatischen Entscheidungen über den Redegegen- teratur oder als Literarisierung der Redekunst dar-
stand, ist aber «Entscheidender» (krı́nōn) über die tech- stellt. [16] Rede-K. und Literatur-K. fallen hier also na-
nische Kompetenz (dyÂnaimw, dýnamis) des Redners hezu zusammen. Disziplinen- und begriffsgeschichtlich
bzw. den künstlerischen Wert der Rede. [8] In diesem läßt sich allerdings keine Kontinuität zwischen den hel-
rhetorisch-politischen Kontext ist jedoch noch nicht ter- lenistischen ‹grammatischen› und den rhetorischen Kri-
minologisch von ‹K.› im Sinne einer speziellen, profes- tikern der frühen Kaiserzeit feststellen, zumal sich letz-
sionalisierten Kunst oder Fähigkeit die Rede. tere weder selbst als ‹Kritiker› noch ihre Tätigkeit als K.
Das Wort ‹Kritiker› (kritikoÂw, kritikós) tritt gegen bezeichneten. [17] Diese neue K. bezieht ihre Impulse
Ende des 4. Jh. v. Chr. im Kontext der hellenistischen nicht aus der Textwissenschaft, sondern aus dem ver-
Literaturwissenschaft als Berufsbezeichnung auf und stärkten, sich aus dem operativen Ganzen der Rhetorik
wird später meist durch ‹Grammatiker› (grammatikoÂw, herauslösenden und verselbständigenden Interesse an
grammatikós) oder ‹Philologe› (filoÂlogow, philólogos) stilistischen Geschmacksfragen, wie es sich vor allem in
ersetzt. [9] In der Antike wird Aristoteles, der neben sei- der Attizismus-Asianismus-Debatte äußerte. Typisch
ner ‹Poetik› auch Schriften ‹Über die Dichter› und für diese neue, elocutionär-klassizistische Rhetorik ist
‹Schwierige Fragen bei Homer› verfaßte, als Begründer die enge Verknüpfung von Präzeptistik und K. Ihre
auch dieser philologischen K. genannt. [10] Die Tätig- wichtigsten Exponenten sind Dionysios von Halikar-
keit des Kritikers setzt eine ausgeprägte Schriftkultur nassos und Ps. -Longinos.
voraus und findet ihre idealen Bedingungen im Umkreis Dionysios’ (ca. 54 v. Chr. – ca. 8 n. Chr.) Schrift ‹Über
der großen Palastbibliotheken von Alexandreia, Perga- die alten Redner› (u. a. Lysias, Isokratēs, Isaios, Demo-
mon und Pella. Die K. des grammatikós ist zunächst sthenes) untersucht die stilistischen und kompositori-
ganz handfest als Textkritik zu verstehen. Er sichtet die schen Qualitäten der Redner als Modelle rhetorischer
Überlieferung der Dichter (Prosawerke und Reden wer- imitatio und führt gemäß seinen klassizistischen Normen
den erst später zum Gegenstand der Philologie), ordnet Beispiele für Nachahmenswertes und zu Vermeidendes
sie in Gattungen, scheidet durch einen kritischen Ver- vor. In ‹Über Nachahmung› dehnt er seine K. auf die
gleich von Werken und Textvarianten das Unechte vom Dichtung und die Philosophie, in ‹Über Thukydides› auf
Echten und das Falsche vom Richtigen und stellt so die Geschichtsschreibung aus. «Dionysius comes closer
mehr oder weniger amtliche Werkverzeichnisse und to modern ideas of a literary critic than any earlier wri-
Texteditionen her. [11] Schließlich entscheidet er aber ter. He excels in close observation and the analysis of
auch durch sein literarisches Werturteil (krı́sis; iudi- stylistic effects. His critical vocabulary, largely meta-
cium) über die Aufnahme von Autoren unter die eta- phorical, is extensive and much of it unparalleled before
blierten Vertreter ihrer Gattung (oië eÆgkriueÂntew, hoi en- him.» [18]
krithéntes – ‹die Hineingewählten›) und trägt so zur li- Auch die anonyme Schrift ‹Über das Erhabene› (‹Ps.-
terarischen Kanonbildung bei. [12] Longinos›, 1. Jh. n. Chr.) ist an den Redner adressiert. Sie
Der Stoiker Krates von Mallos (1. H. des 2. Jh. versteht sich selbst als praktische Anleitung zur Vervoll-
v. Chr.) [13] greift wieder auf den älteren Terminus kri- kommnung der elocutio und nimmt ihre Begrifflichkeit –
tikós zurück, um sich und seine pergamenische Philolo- einschließlich der titelgebenden Kategorie des Erhabe-
genschule kulturpolitisch von den alexandrinischen nen (toÁ yÏcow, to hýpsos) – ganz aus der rhetorischen Tra-
‹Grammatikern› abzuheben, denen er vorhält, eine auf dition. Doch wie Dionysios bezieht sie neben der rheto-
die Ausdrucksebene beschränkte Forschung (Metrik, rischen auch die philosophische und historiographische
Aussprache, Morphologie) zu betreiben. Der Kritiker Prosa, wichtige Dichtungsgattungen und sogar die Gene-
hingegen müsse die Wissenschaft vom lógos (logikhÁ eÆpi- sis [19] in ihre Untersuchung ein und versucht Ursrpung
sthÂmh, logikē´ epistē´mē) – damit sind wohl die später un- und Wirkung des Erhabenen psychologisch und anthro-
ter den Begriffen artes sermocinales und trivium zusam- pologisch zu erfassen, so daß der rhetorische Praxisbezug
mengefaßten Disziplinen Grammatik, Dialektik und – wiederum wie bei Dionysios, doch unter anderen nor-
Rhetorik gemeint – in ihrem ganzen Umfang beherr- mativen Vorzeichen – hinter der ästhetischen Erörte-
schen. Er verhalte sich daher zum Grammatiker wie der rung, der harschen K. an der hellenistischen Literatur
Architekt zu seinem Gehilfen. [14] Eine wichtige Auf- und der Konsekration der vorhellenistischen Klassik zu-
gabe dieser ‹höheren› Grammatik des kritikoÂs ist die rückzutreten scheint. [20]
Erklärung der durch den historischen Abstand dunkel Konsequenter rhetorisch-didaktisch ausgerichtet ist
gewordenen Wörter und Inhalte insbesondere in den hingegen der kritische, nach Gattungen geordnete Ab-
ältesten Texten, den homerischen Epen. Um unver- riß der griechisch-römischen Literaturgeschichte, den
ständlich Gewordenes verständlich zu machen, um mo- Quintilian in Buch X, Kapitel 1 seiner ‹Institutio ora-
ralisch Anstößiges zu rechtfertigen und um insgesamt toria› vorlegt. Die Autoren werden im Hinblick auf ihre
den Epen einen pädagogischen und didaktischen Wert Eignung als Ressourcen der copia verborum für das Stil-
zu verleihen, bedienen sich vor allem die Stoiker der al- bildungstraining des Redners durchmustert. Doch auch
legorischen Auslegung, die die homerischen Epen zu bei der Rezeption unbestritten vorbildlicher Autoren
philosophischen und kosmologischen Lehrgedichten appelliert Quintilian an das persönliche iudicium des Le-
umdeutet. [15] sers, das unverzichtbar ist für deren angemessene Nach-
Nach dem Abschluß der Textkonstitution und der ahmung. [21] Zur Schulung der eigenständigen Kritik-
Etablierung eines Klassikerkanons verlagert sich der fähigkeit ist die einsame Lektüre besser geeignet als das
Arbeitsschwerpunkt der K. in der römischen Zeit von kollektive Hören («in lectione certius iudicium» [22]), da
der ‹grammatischen› Texterläuterung auf die rhetori- sie nicht der emotionalisierenden Wirkung des Vortrags
sche K. zunächst der griechischen, später der lateini- und dem Meinungsdruck des Publikums ausgesetzt ist
schen Autoren. Dieser Paradigmenwechsel der K. voll- und über die Freiheit zum Innehalten, zur genauen Be-
zieht sich im Zusammenhang mit der weitgehenden trachtung, zur Wiederholung und sorgfältigen Einprä-
Verschmelzung von Poetik und Rhetorik in der Kaiser- gung verfügt («lectio libera est» [23]).

531 532
Kritik Kritik

Von zentraler Bedeutung für die Genese des neuzeit- 6 Arist. Rhet. I, 3 (1358b 2–5). – 7 ebd. II, 1 (1377b 20f.); vgl.
lichen philosophischen K.-Begriffs ist die Konzeption Wagner [4] 667f. – 8 Arist. Rhet. I,3 (1358b 5f.); vgl. ebd. II, 18
des auswählenden Urteils (iudicium) als einer Tätigkeit, (1391b 15f.); Lausberg Hb. § 239. – 9 vgl. A. Gudeman: Art.
‹KritikoÂw›, in: RE Bd. 11 (1922) 1912–1915. – 10 Dion Chryso-
die die dialektische und rhetorische Argumentfindung stomos, Or. 53,1; S. Sobotta, N. Wilson: Art. ‹Philologie›B.3, in:
(inventio) selegierend und korrigierend begleitet oder DNP Bd. 9 (2000) 837–838. – 11 vgl. R. Pfeiffer: Gesch. der klass.
ergänzt. Dem Begriffspaar inventio/iudicium wird dabei Philologie. Von den Anfängen bis zum Ende des Hellenismus
ein innerer Antagonismus zugeschrieben und im Streit (1970) 137; E. Pöhlmann: Einf. in die Überlieferungsgesch. und
der Disziplinen auf das Verhältnis von Rhetorik und in die Textkritik der antiken Lit., Bd. 1: Altertum (1994) 26–45. –
Philosophie übertragen. Der locus classicus hierfür sind 12 vgl. Pfeiffer [11] 251f. – 13 vgl. M. Broggiato: Art. ‹Krates [5]›,
die (nach dem Vorwort) ersten Sätze von Ciceros ‹To- in: DNP Bd. 6 (1999) 812–814. – 14 Sextus Empiricus, Adversus
pica›: «Jede sorgfältige Methode des Erörterns (disse- mathematicos I, 79 u. 248f.; vgl. D.A. Russell: Criticism in An-
tiquity (Berkeley/Los Angeles 1981) 7. – 15 vgl. Pfeiffer [11] 291–
rendi) umfaßt zwei Teile, den des Auffindens (inveni- 295. – 16 vgl. Fuhrmann Dicht. 185. – 17 vgl. H. Jaumann: Critica.
endi) und den des Urteilens (iudicandi). Aristoteles war, Unters. zur Gesch. der Literaturkritik zwischen Quintilian und
wie ich jedenfalls glaube, auf beiden Gebieten der größ- Thomasius (Leiden/New York/Köln 1995) 64. – 18 Russell [14]
te Experte. Die Stoiker jedoch haben sich allein auf den 53. – 19 Ps.-Long. Subl. 9, 9. – 20 vgl. Fuhrmann Dicht. 196–202. –
zweiten Teil verlegt: denn die Methoden des Urteilens 21 Quint. X, 1, 8; X, 2, 14–18. – 22 ebd. X, 1, 17. – 23 ebd. X, 1, 19;
haben sie in der Wissenschaft, die sie Dialektik nennen, zum Kritikbegriff Quintilians vgl. Jaumann [17] 53–63. – 24 Cic.
genau erforscht, aber die Kunst des Auffindens (inve- Top. 6f. (Übers. Verf.). – 25 Quint. V, 14, 28. – 26 ebd. III, 3, 5f.
niendi artem), die sogenannte Topik, welche für die Pra- (Übers. Verf.). – 27 ebd. VI, 5, 1. – 28 ebd. VI, 5, 3. – 29 von Bor-
mann [3] 1255.
xis wichtiger wäre und in der natürlichen Reihenfolge
sicherlich zuerst käme, haben sie komplett vernachläs- Literaturhinweise:
sigt. Ich aber werde, weil beide Künste den größten Nut- J.W.H. Atkins: Literary Criticism in Antiquity. A Sketch of Its
zen bieten und ich beide, wenn ich einmal Zeit habe, Development, 2 Bde. (London 1952). – M.A.R. Habib: A His-
weiterzuverfolgen plane, bei der beginnen, die die erste tory of Literary Criticism and Theory (Malden, MA/Oxford
3
ist.» [24] Cicero baut hier einen polemischen Gegensatz 2009).
zwischen der praxisnahen, schöpferischen Topik des Th. Zinsmaier
Redners und der weltfremden, pedantischen Logik der
Stoiker auf, den G. Vico später in seiner Streitschrift ge-
gen die Methode des Cartesianismus («ars critica»), ‹De II. Frühe Neuzeit 1. K. als Sichtung und Beurteilung
nostri temporis studiorum ratione› (1709), aufgreifen des Geschaffenen sowie als Verwerfung des Mißglück-
wird. Quintilian, der die via iudicandi auch unter dem ten oder Unzureichenden bezieht sich in der Rhetorik
Begriff ‹K.› kennt [25], lehnt es ab, das iudicium als ei- zunächst auf Inhalt und Form einer Rede. Als praktische
genständigen Arbeitsschritt nach der inventio in das Sy- Redekritik gehörte sie seit der Antike zum rhetorischen
stem der rhetorischen Produktionsstadien (rhetorices Erziehungswesen, denn hier prüften die Lehrer, ob die
partes, officia oratoris) aufzunehmen – in offenem Wi- Schüler das Thema nach den Erfordernissen des deco-
derspruch gegen seinen Meister Cicero: «Ich glaube so- rum bearbeitet, die rhetorischen Regeln zur Gestaltung
gar, daß, wer nicht geurteilt hat, noch gar nicht gefunden des Texts befolgt und die beabsichtigte Wirkung erzielt
hat; man sagt ja auch nicht, jemand habe etwas Wider- hatten. Diese Praxis bleibt auch im humanistischen Un-
sinniges, Banales oder Dummes gefunden, sondern er terricht erhalten, konzentriert sich jetzt aber auf die äs-
habe es nicht vermieden. [...] wie ich es sehe, ist das Ur- thetische Form. Vorausgegangen war die K. der Hu-
teilen (iudicium) den ersten drei Arbeitsschritten so manisten am mittelalterlichen Latein, das sie als barba-
sehr untergemischt (denn ohne dieses gäbe es weder risch und verderbt ansahen und dem sie ihren eigenen,
eine Anordnung noch eine Ausformulierung), daß ich am Vorbild der klassischen römischen Autoren ge-
glauben möchte, sogar der Vortrag schöpfe sehr vieles schulten Stil entgegenstellten. Die humanistische Rede
aus ihm.» [26] Für Quintilian gibt es keine Technik (ars) hat vor allem epideiktischen Charakter; sie bemüht sich
des Urteilens, es läßt sich für ihn so wenig lehren wie der um Eleganz und den rhetorischen Schmuck, den auch
feine Geschmack oder die gute Nase. [27] Es unter- die Poesie gebraucht. [1] Protagonist der humanisti-
scheidet sich insofern nicht wesentlich von der strategi- schen Bewegung ist Petrarca, der einen ausgeprägten
schen Klugheit (consilium, prudentia), «nur daß jenes Sinn für die Schönheit der antiken Texte entwickelt und
auf Dinge angewendet wird, die bereits zutage liegen, sich in seinen eigenen Werken an ihnen orientiert. Zu-
diese auf verborgene Dinge und solche, die noch gar gleich studiert er intensiv die überlieferten Schriften und
nicht gefunden oder noch zweifelhaft sind» [28]. wird so als Stilist und Gelehrter selbst Vorbild der nach-
Die methodische Unterscheidung von Topik und K. folgenden Humanistengeneration.
hat sich jedoch «in der ciceronisch-boethianischen Tra- Medium der schriftstellerischen Arbeit und des Stu-
dition der Dialektik durchgesetzt und damit zu dem be- diums ist für Petrarca der antike Text. Sein Geschichts-
kannten Methodenproblem des späten Mittelalters ge- werk ‹De viris illustribus› und sein Epos ‹Africa› ent-
führt, auf das dann die Methodologie der Humanisten stehen auf der Grundlage der historischen Schriften des
wie der Rationalisten antwortete» [29]. Livius. [2] Doch begnügt er sich nicht mit der Auswahl,
Übersetzung und Ergänzung des von Livius gebotenen
Anmerkungen: Stoffs, sondern versucht seinerseits, die Verderbtheiten
1 vgl. LSJ 996 s. v. ‹kriÂnv›. – 2 Bei den attischen Rednern kann des überlieferten Textes zu korrigieren. Seine textkriti-
krı́nein sowohl ‹anklagen› als auch ‹verurteilen› heißen; vgl. LSJ sche Arbeit beschränkt sich daher nicht bloß auf Erläu-
ebd. III. 2–3. – 3 Platon, Politikos 260b 3–4; c 1–3; 292b 9f.; vgl. C.
von Bormann: Art. ‹K.›, in: HWPh Bd. 4 (1976) 1249–1262, hier
terungen und Erklärungen in den Randnotizen. Da er
1250; Lausberg Hb. § 10, 3b). – 4 vgl. Arist. EN VI, 11 (1143a); zwei Handschriften kollationieren kann, vermerkt er die
De anima 424a 5f.; 432a 16; Anal. post. 99b 34f.; von Bor- Varianten und verbessert sogar eine Reihe von Stellen.
mann [3] 1250–1251; J. Wagner: Art. ‹Iudicium›, in: HWRh Bd. Ein Jahrhundert später gelangt Petrarcas Handschrift in
4 (1998) 662–692, hier 666f. – 5 Arist. Pol. III, 1 (1275b 18–20). – die Hände L. Vallas, der wie auch andere Philologen

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Kritik Kritik

dessen kritische Arbeit an den Texten lateinischer Au- nur die Formen und Inhalte seiner eigenen Werke ver-
toren fortsetzt und in seinen ‹Emendationes Livianae› stehen, denn darin spiegelt sich sein Wesen. Die Werke
veröffentlicht. [3] der Kultur vereinigen als einzige beide Bedingungen der
Neben der lateinischen gehört ebenfalls die griechi- Erkenntnis in sich, und zwar ein begrifflich-allgemeines
sche Literatur zum Erbe der Antike. Da Petrarca kein und ein individuelles bzw. historisches Sein. Vico kon-
Griechisch beherrscht hat und griechische Texte nur in zentriert sich in seiner Kulturphilosophie primär auf
lateinischer Übersetzung lesen konnte, übernahmen an- Mythos, Sprache, Religion, Recht und Dichtung als Pro-
dere Humanisten die Aufgabe textkritischer Aufarbei- dukte menschlicher Kulturtätigkeit, wie er in seinem
tung griechischer Autoren und die Edition ihrer Werke. Werk ‹Scienza nuova› (zuerst 1725) darlegt. Kritisch
Einer der bedeutendsten unter ihnen ist H. Wolf, ein bezieht sich Vico auch auf die Einseitigkeit des ratio-
Schüler Melanchthons und zeitweilig der Bibliothekar nalistischen Erkenntnisverfahrens der cartesianischen
J.J. Fuggers. [4] Er gibt die Texte der griechischen Red- Schule. Nach seiner Ansicht muß es mit der topisch-
ner heraus und übersetzt sie zugleich. Seine Ausgabe inventorischen Methode, die aus der Rhetorik stammt,
von Isokrates erscheint 1548, die von Demosthenes verbunden werden. In seiner Rede ‹De nostri temporis
1549. Die endgültige Demosthenes-Edition publiziert er studiorum ratione› (gehalten 1708) stellt er beide Er-
1572 in sechs Bänden mit Scholien und Anmerkungen; kenntniswege einander gegenüber und erörtert ihren
sie bleibt zwei Jahrhunderte lang maßgebend. Wolf hat Wert für die Bildung. Er beklagt, daß die Studien zu sei-
sich außerdem mit byzantinischen Autoren beschäftigt ner Zeit allein den rationalistischen Wissenschaften
und z.B. die Texte von Johannes Zonaras und Niketas folgten und so mit der Erkenntniskritik begännen, die
Choniates herausgebracht. [5] Topik aber, die erst zur Auffindung des ganzen Spek-
2. Nicht nur der Zustand der aus der Antike überliefer- trums der Beweisgründe führe, ablehnten. Die Erkennt-
ten Texte, auch der Lehrplan, nach dem der humanisti- niskritik wolle, «um ihre erste Wahrheit nicht nur vom
sche Unterricht gestaltet werden soll, wird im 16. Jh. Falschen, sondern auch vom bloßen Verdacht des Fal-
zum Gegenstand der K. Kernbereich der Erziehung schen freizuhalten, alle sekundäre Wahrheit sowie alles
sind zwar weiterhin die studia humanitatis (Grammatik, Wahrscheinliche genauso wie das Falsche aus dem Den-
Rhetorik, Poesie, Moralphilosophie, Geschichte) dazu ken entfernt wissen [...].» [12] Damit ist Descartes ge-
kommen aber auch die alten Sprachen, Mathematik, die meint, der Rhetorik und Topik aus seiner Methodenleh-
naturwissenschaftlichen Fächer, Musik und Leibes- re ausgeschlossen hatte. Vico will das kritische Denken
übungen. Das Ganze erscheint in den Lehrplänen aber jedoch nicht aus den Studien entfernen, schlägt aber
oft ohne rechte Ordnung und wird planlos im Unter- eine sinnvolle Verbindung von Kritik und Topik vor,
richt von den Lehrern behandelt. [6] In dieser Situation denn «die Kritik ist die Kunst der wahren, die Topik
entsteht in vielen europäischen Ländern das Bedürfnis aber die der reichhaltigen Rede.» [13] Die Topik macht
nach einer Reform des Bildungswesens, das den Wild- den Geist schöpferisch [14], sie speist sich aus dem
wuchs von Tradition und Herkommen durch vernünf- Wahrscheinlichen, aus dem wiederum der sensus com-
tige Erörterung und rationale Ordnung ersetzt. [7] P. munis, der natürliche Allgemeinsinn, «die Norm aller
Ramus, der bedeutendste Kritiker und Reformer des praktischen Klugheit und damit auch der Beredsam-
damaligen französischen Schulwesens, entwirft bei- keit» erwächst. [15]
spielsweise folgenden Lehrplan für das Gymnasium: 3 4. Der rhetorische Humanismus wird im frühen 18. Jh. so
Jahre Latein und Griechisch, in der 4 Klasse Rhetorik, aufgrund seines Geschichts- und Sprachdenkens noch
dann in der 5. Dialektik und Ethik, in der 6. Mathema- einmal zum kritischen Widerpart des Rationalismus,
tik, Optik und Musik, in der 7. schließlich Physik. Das was damals jedoch noch ohne Folgen für das philoso-
Ganze soll lebenspraktisch und wirklichkeitsnah, mehr phische Bewußtsein bleibt und Konsequenzen erst mit
durch Übung als durch das Erlernen von Regeln ange- der Wiederentdeckung Vicos im 20. Jh. zeitigt. Statt
eignet werden. Ramus befürwortet außerdem den Ge- dessen setzt sich die Tendenz zur Abkehr vom Ideal des
brauch der Muttersprache Französisch neben dem La- selbstgenügsamen, der Vergangenheit zugewandten
teinischen in der Schule. [8] Insbesondere der Rhetorik- Gelehrtentums, die schon die K. am humanistischen
unterricht wird von Ramus neu konzipiert, denn er Lehrplan bestimmt hatte, fort. J.B. Schupp etwa kriti-
trennt inventio und dispositio ab und schlägt sie der Dia- siert in seiner satirischen Rede ‹Ineptus orator› (1638)
lektik zu. Die Redekunst wird auf die elocutio (insbe- rhetorische Übertreibungen wie ausladende Metapho-
sondere den ornatus) sowie Restbestände der pronun- rik, gespreizten Ausdruck oder Sachferne in der The-
tatio beschränkt; die memoria fällt ganz weg. [9] «Sy- menbehandlung und resümiert: «In Schulen sind wir die
stematische Ordnung, Methode, Faßlichkeit, Kohärenz allerberühmtesten Redner/kommen wir aber aufs Rath-
und Verfügbarkeit des Wissens sind die Leitnormen Hauß/oder in die Kirche/so verursachen wir entweder
dieser [...] eine methodische Einheitlichkeit aller Kün- ein Gelächter oder ein Mitleiden.» [16] Vor allem die
ste und Wissenschaften anstrebenden Strömung.» [10] sog. ‹politische Bewegung› macht im Barockzeitalter
3. Im 17. und 18. Jh. wird diese Strömung zur Basis des Front gegen die Praxisferne der humanistischen Rhe-
philosophischen Rationalismus, dessen an den Natur- torik. Ihr Leitbild ist der kluge Hof- und Weltmann, der
wissenschaften orientiertes Methodenideal schließlich ‹Politicus›, der die Redekunst für sein Fortkommen ein-
die Formen der Erkenntnis und des Wissens bestimmt. setzt, um eine Beamtenstelle oder eine Position bei Hofe
Exponent dieser Bewegung ist R. Descartes. Gegen die zu erhalten. Castiglione, Machiavelli und Gracián
Einseitigkeit seiner Philosophie wendet sich kritisch stehen bei der Entwicklung des Hofmannskonzepts seit
G.B. Vico, der, noch vom rhetorischen Humanismus der dem 16. Jh. Pate. [17] Es verbreitet sich damals rasch in
Tradition geprägt, an die Stelle von Naturerkenntnis Europa und findet auch in Deutschland Anhänger. Vor
und mathematisch-naturwissenschaftlicher Methodik allem Chr. Weise greift es auf und leitet seinen sozialen
die Erkenntnis der Kultur und ihrer Verfahrensweisen Nutzen vor allem aus dem Kontrast zum Gelehrtentum
setzt. [11] Die Natur als Werk Gottes ist nach Vico allein ab. Für ihn ist es «ein großer Unterscheid», wie er in sei-
für Gott selbst erkennbar. Der Mensch dagegen kann nem ‹Politischen Redner› ausführt, «ob einer will Eloq-

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Kritik Kritik

ventiae Professor werden/oder ob er nur im Politischen stimmt, die Ambivalenz des gesellschaftlichen Zusam-
Leben einen geschickten Redner bedeuten will.» [18] menlebens zwischen Realität und Sinnestäuschung zu
Weise erläutert den Unterschied so: «Die Gelehrsam- durchschauen. Dieses kritische Moment der Erkenntnis
keit hat ihr Absehen nur darauff, wie sich ein Thema fehlt noch bei Castiglione. [25] Gracián hat seine Auf-
wol erkennen, wol eintheilen, und wol vortragen läs- fassung von der sozialen Rolle des Menschen vor allem
set./Doch die Klugheit ist freylich mit andern Regeln in den Schriften ‹El Criticón› (1651–1657) und ‹Oraculo
fertig, wie man sich bei specialen Fällen, nach der Sache, manual› (1647) dargelegt. Mit der Gracián-Rezeption in
nach der Zeit, nach dem Ort und vornehmlich nach der Europa verbreitet sich auch der Geschmacksbegriff.
Person richten soll.» [19] Der ‹Politicus› sollte also bei Wichtig bleibt die doppelte Schichtung des Terminus.
seiner Rede in erster Linie die Anforderungen der Si- Sein kognitives Element bezieht sich auf die Zuordnung
tuation und den Charakter sowie die Stellung der an- von res und verba, wogegen sein emotionales Element
wesenden Personen beachten. Daher genügt auch die den Adressatenbezug steuert. [26] In der deutschen
schriftliche Fixierung der Rede nicht, sondern Aus- Rhetorik verbindet sich der Geschmacksbegriff später
sprache und Gestik sind ebenfalls sehr wichtig. [20] Wei- mit der Klugheitslehre. Der Zuhörer muß gewonnen
se geht in seinen Anweisungen ganz von der pragmati- werden, indem man seinen Geschmack trifft. Das zeigt
schen Wirkungsaufgabe der Rhetorik aus, obwohl seine sich etwa in Weises Auffassung vom rednerischen iudi-
Theorie durchaus auch Elemente der humanistischen cium als der Fähigkeit, sich bei den Menschen angenehm
Tradition bewahrt. zu machen. [27] Doch im Barockzeitalter gibt es noch
In der Frühaufklärung gerät der Opportunismus, den keine ausgearbeitete Theorie des Geschmacks; syste-
das ‹Politicus›- Leitbild befürwortet, seinerseits in die K. matisch ist er selbst nicht bei Gracián definiert. Zur
Besonders spürbar ist dieser Umschwung im Redner- Grundlage einer kritischen Ästhetik wird der Begriff
konzept des Chr. Thomasius. In seinen frühen Schriften erst während der Aufklärungszeit. [28]
tritt das Ideal des lebenszugewandten, praktisch orien-
tierten Kaufmannes neben das des Hofmanns. Später Anmerkungen:
rückt dann das Leitbild des weisen und doch geschäfts- 1 vgl. F. Paulsen: Gesch. des gelehrten Unterrichts, Bd. 1 (31919,
tüchtigen Mannes in den Vordergrund. [21] Zur Front- ND 1960) 53ff.,60ff. – 2 R. Pfeiffer: Die klass. Philol. von Pe-
trarca bis Mommsen (1982) 22. – 3 ebd. 23, 55f. – 4 ebd. 175f. –
stellung gegen gelehrtes rhetorisches Figurengedrechsel 5 ebd. 176; vgl. auch zu Wolf: Graecogermania. Griechischstud.
kommt die Forderung, keine übermäßige Affektivität in der dt. Humanisten. Ausstellungskatalog der Herzog-August-
der Rede zu zeigen, sondern natürlich zu bleiben. Auch Bibliothek Wolfenbüttel 22.4. – 9.7.1989; 182, 185ff. – 6 J. Dolch:
die moralischen Grenzen beim Gebrauch der persuasi- Lehrplan des Abendlandes (21965) 232f. z.B. zu Frankreich. –
ven Mittel zieht Thomasius enger als Weise, wenn er die 7 ebd. 228. – 8 ebd. 233. – 9 M. Hinz: Art. ‹Ramismus›, in: HWPh,
‹politische› Klugheit beschränkt und die kluge, legitime Bd.7 (2005) Sp.567, vgl. 571ff. – 10 ebd. Sp.567. – 11 vgl. hierzu
Verstellung, die der Redner bei der Verfolgung seiner und zum Folgenden: F.-H. Robling: Art. ‹Kulturphilos.›, in:
Ziele gebrauchen sollte, von der arglistigen unterschei- HWRh 10, Sp. 545–564. – 12 G.B. Vico: De nostri temporis stu-
diorum ratione. Vom Wesen und Weg der geistigen Bildung.
det, die nur verwerfliche Ziele kennt. [22] Diese Haltung Lat.-dt. hg. und übers. von W.F. Otto (1984) 27. – 13 ebd. –
soll Konflikte vermeiden und Friedfertigkeit sichern, 14 vgl. G.B. Vico: Prinzipien einer neuen Wiss. über die gemein-
eine Devise, die im Zusammenhang mit der Entstehung same Natur der Völker, übers. und hg. von V. Hösle und Chr.
des bürgerlichen Moralismus steht. Jermann, Teilbd. 2 (1990) 251. – 15 ders. [12] 27. – 16 J.B.
5. Eine Darstellung von rhetorisch motivierter K. in Schupp: Ineptus orator, dt.: Der Ungeschickte Redner [...], in:
der frühen Neuzeit wäre unvollständig, würde sie neben B. Kindermann: Der Deutsche Redner (Wittenberg 31665), zit.
den philologischen und didaktischen, topisch-inventori- Barner 162f. – 17 vgl. hier und zum Folgenden F.-H. Robling:
schen und pragmatischen Aspekten nicht auch die äs- Art. ‹Redner, Rednerideal›, in: HWRh, Bd. 7 (2005) Sp. 979ff. –
18 Weise 1, Vorrede an den Leser. – 19 ders.: Oratorische Fra-
thetische Komponente behandeln. Eine Vorstufe äs- gen anstatt einer wohlgemeinten Nachlese [...] (Leipzig 1706)
thetischer K. stellt ja die schon erwähnte Redekritik dar, 3/4, §4. – 20 vgl. Robling [17] Sp.982. – 21 ebd. Sp.989. – 22 vgl. zu
wie sie als implizites Element des humanistischen Thomasius K.H. Göttert: Kommunikationsideale (1988) 95ff. –
Sprach- und Literaturunterrichts sowie des rhetorischen 23 vgl. hier und zum Folgenden: M. Fick: Art. ‹Geschmack› in:
Übungsbetriebs (z.B. anläßlich des Vortrags von De- HWRh, Bd. 3 (1996) Sp. 877. – 24 ebd. 878. – 25 ebd. 879. –
klamationen) praktiziert wurde. Explizit zeigt sich die 26 ebd. 880. – 27 vgl. H.J. Gabler: Geschmack und Ges. (1982)
ästhetische K. dann in den aufkommenden Diskussio- 160. – 28 Fick [23] Sp. 882ff.
nen dieser Zeit über Inhalt und Aufgabe des Ge- Redaktion
schmacks als eines kognitiv-sinnlichen Urteils (iudi-
cium). Dieses wird zunächst bezogen auf die Rolle von
decorum und aptum. Ramus gesteht dem decorum eine III. 17. –20. Jh. 1. Vorgeschichte. In der Geschichte
zentrale, die gesamte menschliche Lebenswelt bestim- des K.-Begriffs dominieren zwei Tendenzen, deren
mende Rolle zu. Er ordnet es deshalb der Dialektik und Wurzeln in der Antike gelegt, in Renaissance und Hu-
nicht der Rhetorik zu. [23] Auch Melanchthon betont manismus aufgegriffen und im 17. und 18. Jh. weiterge-
das intellektuelle Moment des iudicium. Erasmus erör- führt wurden: die metaphysikkritische Tendenz der
tert seine Funktion für die Entscheidung in Stilfragen, Rhetorik, die den Menschen als gesellschaftliches und
wenn es um die Wahl der richtigen Stilmuster geht. Ein politisches Lebewesen in den Mittelpunkt stellt und die
neuer Gesichtspunkt taucht dann in der Hofliteratur Rede als das wichtigste Instrument zur Verwirklichung
auf. Castiglione bestimmt das iudicium als entschei- seiner Ziele begreift. Aus dieser Überzeugung entwik-
dende Instanz für die Beurteilung der richtigen Haltung keln sich Sprach-K., Rede-K. und Literatur-K. als wich-
des Hofmanns gegenüber dem Fürsten. [24] tigste Instanzen dieses kritischen Selbstbewußtseins,
Im Barockzeitalter setzt sich ‹Geschmack› als eigener ergänzt durch die historische Perspektive, die in der rhe-
Terminus durch und fungiert nicht mehr nur als Ver- torischen Theorie und in der Praxis der Geschichts-
gleichsbegriff für iudicium. Prägend ist hier vor allem B. schreibung verankert ist. Die zweite Tendenz ergibt sich
Gracián, der den Geschmack als das Vermögen be- aus der Verpflichtung der Rhetorik auf die Handlungs-

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Kritik Kritik

situation in der Polis. Deren Situationsabhängigkeit ver- läßt sich niemals vollständig an ihren Resultaten, son-
wies die Rhetorik auf die praktische Vernunft (iudicium; dern nur an ihrer Funktion ermessen.» [3] Der Ge-
Kants ‹Urteilskraft›), also auf die Fähigkeit, die prak- brauch, die Funktion der aufklärerischen Vernunft ist
tisch vorliegenden Probleme zu erkennen, zu prüfen und prinzipiell kritisch, und das je nach Denkrichtung mehr
zu deuten. Auf diesem Wege konnte die Rationalität rationalistisch-deduktiv oder empiristisch-induktiv.
von Entscheidungen erwiesen werden und der Urteils- Das rhetorische K.-Verständnis macht da keine Aus-
kraft (als logos/ratio) die kritische Funktion zukommen, nahme. K. ist mehr das Stichwort rhetorischer Praxis als
Vorstellungen, Lösungen und Modelle auf ihre Ver- rhetorischer Theoriebildung. Was auch damit zusam-
nünftigkeit hin zu beurteilen. Seit dem 17. Jh. gewinnt menhängt, daß sie als Verfahren schon seit der Antike
diese rationalistische Tendenz philosophisch an Bedeu- theoretisch begründet wurde, insofern die Rhetorik die
tung. Descartes und Leibniz bereiten der kritischen Kriterien des rechten Gebrauchs rednerischer Technik
Wende den Weg, Kant vollendet sie. Für die Rhetorik lehrte und das dazu nötige Unterscheidungsvermögen
ist diese Ausgangslage zweideutig. Sie verstärkt die (von (iudicium) in der Rednerausbildung geübt und vervoll-
P. Ramus begonnene) Ablösung der Dialektik von der kommnet wurde. Rhetorische K. versteht das Jahrhun-
Rhetorik und deren Beschränkung auf Stil und Vortrag. dert der K. von Leibniz bis Voltaire, von Gottsched
Auf der anderen Seite entwickelt sich unter solchem bis Lessing und von Bayle bis A. Smith als den kriti-
Konkurrenzdruck eine aufklärerische Rhetorik, die ih- schen Gebrauch rhetorischer Rationalität und rhetori-
rerseits Rationalität und Vernunft-K. in den Mittel- scher téchnē, ohne daß dieser Bezug besonders betont
punkt stellt und somit an die fortgeschrittenen Tenden- wird. Den Ausgang bildet wie in der Rhetorik-Geschich-
zen der Epoche anzuschließen vermag. Ergänzt wird der te die Sprach- und Text-K., die in der historischen und
rationalistische Einfluß auf das Verständnis und die Pra- philologischen K. des Humanismus einen hohen Grad
xis rhetorischer K. durch eine weitere Neuausrichtung an Methodenbewußtsein und Differenziertheit erreicht
des Denkens, für die Name und Werk F. Bacons stehen. hatte. Mit der Bibel-K. beginnt es. Richard Simon ist
Obwohl er vor allem mit seinem ‹Novum Organum Sci- einer der ersten, der in seiner ‹Histoire Critique du Vie-
entiarum› (1620) auch an der Depotenzierung der Rhe- ux Testament› (1678) textkritisches Verfahren auf das
torik beteiligt ist und ihr nur noch eine didaktische Rolle Alte Testament anwendet, J. Astruc folgt ihm mit der
im Wissenschaftsgeschehen zubilligen will, hat er zu- folgenreichen Unterscheidung zweier verschiedener
gleich mit der Anwendung rhetorischer Kategorien auf Autoren im Pentateuch, des Jahwisten und des Elohi-
die Naturerkenntnis und auf die Vorurteils-K., die ihr sten (nach ihrem unterschiedlichen Gebrauch des Got-
vorangehen muß, einer modernen Wissenschaftsrheto- tesnamens) [4]. Mehr und mehr wird damit die Autorität
rik den Weg geebnet. Insbesondere die Idolen-Lehre der Kirche infrage gestellt, deren universaler Herr-
hat das rhetorische K.-Verständnis seit dem 17. und schaftsanspruch bis dahin Gesellschaft und Politik, Wis-
18. Jh. beeinflußt, obgleich das rhetorische Urteilen sel- senschaft und Kultur geprägt hat. Noch K. Marx wird
ber Bacons K. verfällt. Es stützt sich nämlich auf die die Religions-K. als grundlegend für K. überhaupt an-
Trugbilder (idola), die im Lauf der Geschichte den Spie- sehen und als erste Aufgabe der Philosophie nennen.
gel des menschlichen Verstandes getrübt haben und «Der Kampf gegen die Religion ist also mittelbar der
eine richtige Erkenntnis verhindern. Es sind Vor-Urtei- Kampf gegen jene Welt, deren geistiges Aroma die Re-
le, vorgefaßte Meinungen, die 1. auf der individuellen ligion ist.» [5]
Befangenheit des menschlichen Verstandes (idola spe- Die generelle Ausdehnung der kritischen Methode
cus) beruhen; 2. auf der gattungsmäßigen Beschränkt- ist bereits Kennzeichen von P. Bayles ‹Dictionnaire hi-
heit der sinnlichen Wahrnehmung, der Hemmung durch storique et critique› (1695), dessen Prinzip darin besteht,
Stimmungen und Emotionen (idola tribus); 3. auf den daß keine Überlieferung ungeprüft hingenommen wer-
Voreingenommenheiten der öffentlichen Meinung, der den könne, der religiöse Aberglauben in die Irre führe
Untauglichkeit der Sprache für die wissenschaftliche und Unglauben überhaupt erst zur K. fähig mache.
Erkenntnis (idola fori); 4. auf Tradition, auf philoso- «Bayle war überzeugt, daß man auf dem Gebiet der Hi-
phischer und literarischer Überlieferung (idola thea- storie, wenn man in seiner kritisch-vergleichenden Me-
tri). [1] Ersichtlich treten hier in neuer, wegweisender, thode nur systematisch genug vorgehe, zu einem höhe-
zuletzt im Begriff der Ideologie-K. sich manifestieren- ren Gewißheitsgrad der Erkenntnis kommen könne, als
der Weise die kritischen Positionen der sophistischen in der Mathematik.» [6] Bayle legt mit dieser Überzeu-
Aufklärung (besonders Protagoras) wieder auf. gung auch den Grund für eine Tendenz aufklärerischer
2. «Zeitalter der Kritik». Kant hat in der Vorrede zur K., die den Cartesianischen Rationalismus ergänzt oder
‹Kritik der reinen Vernunft› (1781) das 18. Jahrhundert sogar ablöst, und die historisch-kritisch verfährt. G.B.
als «das eigentliche Zeitalter der Kritik» ausgerufen, Vico ist in der frühen Aufklärung mit seiner ‹Scienza
«der sich alles unterwerfen muß.» [2] Der Begriff K., nuova› (1725) wegweisend, auch wenn sein Erfolg erst
der sich erst spät, im 16. und 17. Jh. in der europäischen spät einsetzt. Voltaire, Herder, Schiller, Hegel wer-
philosophischen Diskussion etabliert, bezeichnet, wie den seine Gedanken aufgreifen. «Sein praktisches Me-
schon aus Kants Worten hervorgeht, ein intellektuelles, thodenideal ist das einer ‘metaphysisch’ geführten und
und zwar richtendes, urteilendes Verfahren. Rhetorisch wissenschaftlich ‘kritischen’ Kunst, denn einzig eine sol-
gesprochen greift das im genus iudiciale systematisierte che vermag den Beweis zu führen, warum das Struktur-
forensische Urteilen auf alle Redegattungen aus. Auf- gesetz der geschichtlichen Welt “von den Modifikatio-
klärung bezeichnet, so hat es E. Cassirer unterschieden, nen unseres eigenen Geistes zu finden sein muß.”» [7]
eine «Denkart», keinen «Denkinhalt» und d. h. daß die Auch Vicos K. ist zuerst Sprach-K., insofern er die
aufklärerische Vernunft nicht aus «einem festen Gehalt «phantastische Sprache» [8] der Mythen und Legenden
von Erkenntniswissen, von Prinzipien, von Wahrheiten als die Sprechweise in den Anfängen der Menschheit
(bestehe) als vielmehr als eine Energie, als eine Kraft, kritisch auf ihren Wahrheitsinhalt hin prüft.
die nur in ihrer Ausübung und Auswirkung völlig be- Die Herkunft der K. aus Sprach- und Textanalyse be-
griffen werden kann. Was sie ist und was sie vermag, das gründet Vorrang und Ansehen der Literatur-K. Hier

539 540
Kritik Kritik

macht sich auch die positive Seite der seit Ramus de- reits die Frühromantik (Novalis, F. Schlegel) macht
ponziierten und damit auf die elocutio verwiesenen Rhe- damit einen Anfang in der begeisterten Feier der Fran-
torik bemerkbar: sie hat zu besonders differenzierten zösischen Revolution und einem radikalen Demokratie-
Regelwerken geführt, in denen neben den Performanz- verständnis unter Einschluß der Volkssouveränität. [11]
stadien der Redeproduktion (pronuntiatio und actio) 3. Politisierung und Entpolitisierung der K. im 19. Jh.
besondere und uns oft spitzfindig vorkommende Auf- Das 19. Jahrhundert führt die Tendenzen des 18. Jh. fort,
merksamkeit auf den Stil der Rede (und der Literatur) radikalisiert sie teilweise und verändert ihre Rangfolge.
gelegt wird. Geschmack, Urteilsvermögen, Räsonne- Immer noch ist die Literatur-K. eine wichtige Instituti-
ment, Witz (esprit, wit) sind vor allem Bezeichnungen on, aber das vor allem deswegen, weil sie als besonders
des vom Critikus oder Kunstrichter geübten Verfahrens. wirksamer Teil eines allgemeinen politischen Bewußt-
Dessen wichtigste, der rationalistischen Literatur-K. seins gelten kann. Die französische K. betont den so-
verpflichtete Repräsentanten sind in Frankreich F. de zialen Charakter der Literatur, fordert die Parteinahme
Malherbe (1555–1628) mit seiner Betonung von Klar- in den sozialen Zuständen der Zeit, die Beeinflussung
heit und rationaler Ordnung und besonders N. Boileau, der Literatur durch die Gesellschaft, das «kollektive In-
der in seiner einflußreichen ‹Art poetique› (1674) die dividuum» [12], wie es Ampere genannt hat.
Vernunftwahrheit zum kritischen Maßstab der Dich- Die Enttäuschung über das Scheitern der Julirevolu-
tung erklärt. Sein Einfluß auf J. Chr. Gottsched, den tion hat in ganz Europa schwerwiegende Folgen, in
Schüler der Leibniz-Wolffschen Philosophie und wich- Saint-Beuves Ausrichtung der K. auf die inkommen-
tigsten rationalistischen Literaturkritiker und Kultur- surable Individualität der Dichter und die historistische
reformer in Deutschland, ist unübersehbar, trotz dessen Rekonstruktion ihrer Entwicklung, wie sie in Sprache,
kritischer Einstellung zum übermächtigen französischen Stil oder Prosodie sich ablesen läßt, wird sie besonders
Einfluß. Der «richtig urtheilende Verstand» [9] ist das gut sichtbar. Die Verhältnisse in Deutschland liegen an-
für Rhetorik, Literatur und Kunst zuständige Erkennt- ders. Die Befreiungskriege laden den K.-Begriff natio-
nisvermögen. In dem zusammenfassenden ‹Versuch ei- nalistisch auf, E.M. Arndt dehnt seinen Haß gegen Na-
ner critischen Dichtkunst› (1751) beherrscht die rheto- poleon auf das ganze französische Volk aus, F.L. Jahn
rische Regelpoetik sowohl den Kriterien-Gebrauch wie (der «Turnvater») nutzt seinen Einfluß bei den Bur-
die praktischen Anleitungen für die literarische Produk- schenschaften, um seine deutschtümelnden, antifranzö-
tion. sischen Ressentiments unter der jungen Generation zu
In England ist der Einfluß des rationalistischen K.- verbreiten. Allein, die Schriftsteller und kritischen In-
Begriffs geringer. Wenn A. Pope (1688–1744) im ‹Essay tellektuellen gehen einen anderen Weg, sie nehmen
on Criticism› (1711) die regelmäßige Ordnung des Gan- Partei gegen den feudalen Staat und die kleinstaatliche
zen als Hauptkriterium in der Literatur- und Kunst-K. Zerrissenheit Deutschlands, ihre Literatur-K. ist (gera-
hervorhebt, so steht dahinter ein umfassender Harmo- de auch unter dem Druck der Zensur) Zeit-K. Diese,
niegedanke, der nicht nur von Regelmäßigkeit, sondern auf geschichtlichen Fortschritt, auf Einheit und Freiheit
auch von Kühnheit zeugt. Womit übrigens bereits eine setzende K. äußert sich auf allen Gebieten, in der Li-
wichtige Einfallstelle für die sinnlichen und emotionalen teratur (‹Ästhetische Feldzüge› nennt L. Wienbarg sei-
Qualitäten eines Werkes als neue Urteilskriterien mar- ne in Form von Vorlesungen gegossenen Kritischen Es-
kiert ist: Denn jene «Kühnheit» [10] rekurriert auf die says), in der Philosophie (bei den Junghegelianern, also
emotionalen Wirkungsintentionen, insbesondere das bei A. Ruge, B. Bauer, D.F. Strauss, aber auch bei L.
Pathos, das die leitende Kategorie in einer für das 18. Jh. Feuerbach und F. Th. Vischer), in der Tagespublizistik
schulmachenden rhetorischen Schrift bildet: die pseud- der Vormärz-Autoren. Der Schlagruf vom «Jungen
onym überlieferte Schrift ‹Peri hypsūs› (Über die Höhe, Deutschland», vom «Jungen Italien» oder gar vom
Über das Erhabene) aus dem 1. Jh. n. Chr. Die englische «Jungen Europa» (G. Mazzini) signalisiert die revolu-
Moralphilosophie (F. Hutcheson und Shaftesbury) tut tionäre Aufbruchstimmung, die Kontinentaleuropa vor
ein übriges, diese Tendenz zu verstärken, indem sie die 1848 erfüllt. Mit ihr vergleichbar die demokratische Ar-
rhetorische Affektenlehre beerbt und einen sensualisti- beiterbewegung der Chartisten in England, die 1849
schen, auch empiristischen Zug in die K. bringt, der auf scheitert.
Lessing und die folgenden Kritikergenerationen in Für den Begriff der K. wichtig ist an diesen Umbrü-
Deutschland großen Einfluß ausüben wird. chen und Krisen, daß er in einem wesentlichen Sinne zur
In Frankreich spielt diese Rolle J.-B. Dubos (1670– Gesellschafts-K. wird, auf gleiche Weise gültig im Ver-
1742), der gar das individuelle Empfindungsurteil zur hältnis zur Kunst und Literatur wie zur Religion, zur Po-
Basis der K. macht und Motive aufgreift, die seit Ende litik, zur Wissenschaft. Ihr Ziel aber ist praktisch, visiert
des 17. Jh. in der ‹Querelle des anciens et des modernes› die Änderung der kritisierten Verhältnisse an, ob in H.
vorformuliert sind. Der Einfluß Rousseaus, seiner Heines ‹Geschichte der Religion und Philosophie in
Hochschätzung individueller Erfahrung, der Spontani- Deutschland› (1834), in F. Engels Buch ‹Die Lage der
tät und Leidenschaft, der sentimentalen Tugend und ou- arbeitenden Klasse in England› (1845) oder in Marx’
trierter Subjektivität wird in Deutschland eine junge ‹Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie› (1843/44):
Generation von Kritikern und Schriftstellern prägen, «Krieg den deutschen Zuständen! Allerdings! Sie ste-
die nicht mehr nur wie Wieland oder Lessing auf die hen unter dem Niveau der Geschichte, sie sind unter aller
Verstand und Emotionen ausbalancierenden Kritiker Kritik, aber sie bleiben ein Gegenstand der Kritik [...]
aus dem Kreise der ‹Encyclopédie›, auf D’Alembert Mit ihnen im Kampf ist die Kritik keine Leidenschaft
oder Diderot, setzen. Im Zuge der Französischen Re- des Kopfes, sie ist der Kopf der Leidenschaft. Sie ist kein
volution verstärkt sich gegen Ende des Jahrhunderts das anatomisches Messer, sie ist eine Waffe.» [13]
politische Potenzial des K.-Begriffs und der kritischen Auch eine zweite Bedeutungserweiterung des Be-
Methoden, das schon in der Religions- und Kirchen-K. griffs K. ist K. Marx und F. Engels zu verdanken: K. als
bemerkbar war. Im 19. Jh. wird es alle Bereiche des kri- Ideologie-K. Ideologie wird von Marx als verdrehte,
tischen Denkens und Schreibens durchdringen, doch be- gänzlich abstrakte, illusionäre Auffassung der Men-

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Kritik Kritik

schen über die wirklichen Verhältnisse ihres Lebens de- de, auflösende Element der K. wird damit im dialekti-
finiert, und die K. hat die Aufgabe, die Produktion die- schen Gegenzug gleichzeitig ihr schaffendes Prinzip.
ser Vorstellungen und Ideen auf den «wirklichen Le- 4. Universalisierung und Marginalisierung der K. im
bensprozeß» [14] zurückzubeziehen und das darin zum 20. Jh. Schon im 19. Jh. begann die kritische Denkart und
Ausdruck kommende falsche Bewußtsein zu korrigie- ihre Methode in sämtliche Lebensbereiche, Philosophi-
ren. «Wenn in der ganzen Ideologie die Menschen und en und Künste zu diffundieren, auch wenn der K. in
ihre Verhältnisse wie in einer camera obscura auf den Konzepten wie der Kunstautonomie, der Kultur der In-
Kopf gestellt erscheinen, so geht dies Phänomen eben- nerlichkeit oder im politischen Nationalismus immer
sosehr aus ihrem historischen Lebensprozeß hervor, wie wieder Gegenkräfte erwuchsen, die in den totalitären
die Umdrehung der Gegenstände auf der Netzhaut aus Staatsverfassungen und Ideologien des 20. Jh. sogar
ihrem unmittelbar physischen.» [15] vollständig zur Herrschaft gelangen sollten. In den west-
Begriff und Methode der Ideologie-K. ist der wichtig- lichen Demokratien und ab der zweiten Hälfte des Jahr-
ste Beitrag des 19. Jh. zu einem modernen Begriff der K. hunderts auch europaweit gewinnt der K.-Begriff gera-
und wird im 20. Jh. seine ganze Tragweite entfalten. Das dezu inflationäre Verbreitung. Er dominiert die Philo-
europaweite Scheitern der bürgerlichen revolutionären sophie, ob ihrer existenzialistischen (Sartres ‹Critique
Bewegungen und die Restauration feudaler Strukturen de la raison dialectique›, 1960), utopischen (E. Bloch,
verändern auch den Begriff der K. in einem eher rück- H. Marcuse), sprachkritischen (Wittgenstein) oder
wärts gewandten Sinne, wobei sich zwei Haupttenden- neomarxistischen (‹Kritische Theorie› Th.W. Adornos
zen unterscheiden lassen: die positivistische Verwissen- und M. Horkheimers) Ausprägung nach.
schaftlichung von K., die durch A. Comte und seine Eine allgemeine Kultur-K. überflügelt zeitweise
Schule praktiziert wird und gesetzmäßige Entwicklun- andere Denkrichtungen (W. Dilthey: ‹Die Typen der
gen in Gesellschaft und Geschichte ausmacht. Seine K. Weltanschauung und ihre Ausbildung in den meta-
am mangelhaften gesellschaftlichen Fortschritt beruft physischen Systemen›, 1911; G. Simmel: ‹Lebensan-
sich auf die noch unentwickelte positive Sozialwissen- schauung›, 1918; O. Spengler: ‹Der Untergang des
schaft. Im positivistischen Sinne wird auch Literatur-K. Abendlandes›, 1918/22), ihre Attraktivität beruht auf
vor allem immanente Text-K. als Stil-K. Auf der ande- der umfassenden Perspektive der K. des historischen
ren Seite formiert sich als Verfallsprodukt der idealisti- Fortschritts und der zeitgenössischen Lebensverhältnis-
schen Philosophie und des Historismus eine biogra- se, sie schreiben Modelle fort, die das 18. Jh. (Rous-
phisch-psychologische K. Deren Aufgabe ist es, die «in- seau, Schiller) geliefert hat. Rhetorisches Verständnis
dividuellen Unterschiede innerhalb der gleichförmigen von K. ist darin in der Regel apokryph, oft auch unbe-
Menschennatur» [16] herauszufinden, und zwar durch wußt wirksam, oder wird, wie im ‹New Criticism› einem
eine Art kunstmäßig-nachvollziehenden Verstehens, ja Wissenschaftsverständnis geopfert, das sich an den Na-
Einfühlens. K. wird Charakter-K., wie sich an Momm- turwissenschaften orientiert. Durchgreifend ändert sich
sens Cicero-Bild ablesen läßt. [17] Eine andere Spielart das erst nach der Wiederentdeckung der Rhetorik seit
dieses K.-Begriffs wird zu einem wichtigen Modell der den 1920er Jahren in den USA. Ihr kritisches Potential
Kultur-K., die z.B. für M. Arnold zur Diagnose der wird genutzt in der Propagandaforschung (K. Burke:
Krankheit der modernen Gesellschaft führt. [18] ‹Die Rhetorik in Hitlers ‘Mein Kampf’›, 1939), wäh-
Das ist ein Vorspiel zu Nietzsches bis heute einfluß- rend die eher manipulativen Möglichkeiten in der Wer-
reichem K.-Verständnis, das freilich sämtliche Traditi- be-Theorie und -Praxis ausgereizt werden. Insgesamt
onsstränge seit der Antike, und damit auch die genuin muß man freilich feststellen, daß sich die meisten Mo-
rhetorischen, aufnimmt. Er nutzt die Kategorien der Ari- delle der Rhetorik-Rezeption im 20. Jh. zum rhetori-
stotelischen Rhetorik für eine «Kritik der unreinen Ver- schen K.-Begriff indifferent oder ablehnend verhalten,
nunft» [19], knüpft an die aufklärerische Religions-K. am das gilt für die verhaltenspsychologische Aufnahme wie
«Pfaffenbetrug» an (seine Schrift ‹Menschliches, Allzu- für die argumentationstheoretische und semiotische
menschliches› widmet er Voltaire); die «kurzsichtigste Erbschaft (Eco, Barthes), in besonderem Maße aber
und verderblichste Denkweise, die Moral-Denkwei- für die Medien- und Internet-Rhetorik. Das gesamte
se» [20] bekämpft er mit den psychologisch verfeinerten Feld der praktischen oder angewandten Rhetorik, die
Methoden der Vorurteils-K.; Sprach-, Ideologie- und hi- in Schule, Hochschule und Weiterbildung betrieben
storische K. verbindet er auf eigenwillige Weise zum ge- wird, zeichnet sich durch Affirmation aus und ist auf die
nealogischen Prinzip der K. Alle bisherige K. über- Optimierung bestehender Anlagen, Institutionen und
schreitend bemängelt er an ihr, daß sie nicht radikal sei, Kommunikationsverhältnisse ausgerichtet, ist «Pflege
die Phänomene nicht an der Wurzel fasse: Religions-K. der Rhetorik unter Mißachtung des Objekts» [24]. Rhe-
gehe immer noch vom Maßstab einer wahren Religion, torik als eine kritische Theorie, die seit ihrer Durch-
Moral-K. von dem einer wahren Moral aus, nun gelte es, leuchtung und Aufhebung des Mythos, seit ihrer Ent-
Religion und Moral als solche zu kritisieren. «Die kriti- deckung der Perspektivität menschlicher Erkenntnis
sche Instanz gibt der Wille zur Macht ab, der Gesichts- und seit dem methodischen Einsatz des Zweifels das
punkt der Kritik ist der des Willens zur Macht.» [21] In Widersprechen und den dialektischen Gegensatz zu In-
diesem Gedanken des Perspektivismus, «daß es weder strumenten der erkennenden und handelnden Subjekte
Faktum noch moralisches Phänomen gibt, sondern ein- gemacht hat, besitzt prinzipielle Bedeutung: in der Ge-
zig und allein die moralische Interpretation von Phäno- sellschafts-K. der Frankfurter Schule (Horkheimer,
menen» [22], liegt wohl die weitreichendste Erbschaft Adorno, Habermas), in der neomarxistischen Ideolo-
der Rhetorik in Nietzsches Philosophie. Sie ist verbun- gie- und Entfremdungs-K. (L. Kofler, H. Lefèbvre, O.
den mit einer Wende im Begriff der K., die einerseits Negt), in der hermeneutischen Reflexion des naiven
Werte kritisch auf ihre Herkunft befragt, dann aber aus Objektivismus und falscher Hypostasierungen in Spra-
dem so gewonnenen «Pathos der Distanz heraus» den che und Kommunikation (H.G. Gadamer, R. Bubner),
kritischen Philosophen ermächtigt, «Werte zu schaffen, in der Wissenschafts-K. (Th.S. Kuhn, P. Feyerabend),
Namen der Werte auszuprägen» [23]. Das zertrümmern- in manchen pragmatistischen Konzepten wie demjeni-

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Kulturphilosophie Kulturphilosophie

gen R. Rortys. Die Situation ist unübersichtlich, und K. leisten. Um das zu verdeutlichen, sei zunächst der Kul-
entgeht nicht dem postmodernen Spiel mit beliebigen turbegriff erläutert.
Haltungen («anything goes»). In der Literatur- und ‹Kultur› ist heute ein unter vielfachen Aspekten und
Kunst-K. jenseits des üblichen Rezensionswesens ver- verschiedenen disziplinären Ansätzen definierter Be-
liert K. allerdings ihre wichtigste Funktion, Werturteil griff. [2] Typisch für die moderne Kulturwissenschaft
zu sein. Die Arbeit des Kritikers besteht dann darin, ist der sog. ‹erweiterte Kulturbegriff›, der unter ‹Kul-
eine von unzähligen Lektüren zur Sprache zu bringen, tur› etwa die Gesamtheit der ‹Lebenswelt› des Men-
so daß (mit R. Barthes’ Worten) «Kritik und Werk, in- schen (Bolten) oder ein «universelles, für eine Gesell-
dem sie ihre Stimme vereinen, immerzu sagen: ich bin schaft [...] typisches Orientierungssystem» (Thomas)
Literatur.» [25] versteht. [3] Dieser Kulturbegriff arbeitet deskriptiv und
grenzt sich ab vom ‹engen› und normativen Kulturbe-
Anmerkungen: griff [4] der Hochkultur, der die bildungsbürgerliche
1 vgl. F. Bacon: Neues Organon, lat.-dt., 2 Bde, hg. u. mit e. Einl. Tradition in Europa seit dem 18. Jh. prägt. Die Rhetorik
v. W. Krohn (1990). – 2 I. Kant: Kritik der reinen Vernunft in ihrer klassischen Gestalt als Theorie und Praxis der
(31990) 7. – 3 E. Cassirer: Philos. der Aufklärung (31973) 16. – 4 J.
Astruc: Conjectures sur les mémoires originaux dont il paroit
Erziehung des idealen Redners gehört zu dieser hoch-
que Moyse s’est servi pour composer le livre de la Génèse. Avec kulturellen Tradition seit Antike und Humanismus, seit-
des remarques qui appuient ou qui éclaircissent ces conjectures dem sie als die andere wichtige Bildungsmacht neben
(Brüssel 1753). – 5 K. Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechts- der Philosophie das Erziehungswesen in Europa domi-
philos. Stud.-Ausg.I (2004) 17, Hervorhebung vom Autor. – 6 J. nierte. [5] Doch mit dem Verlust dieser beherrschenden
v. Stackelberg: Die frz. Frühaufklärung, in: K. v. See: Neues Hb. Stellung gegen Ende des 18. Jh. verliert sich auch ihr eli-
der Literaturwiss., Bd. 13 (1980) 43. – 7 St. Otto: G. Vico. Grund- tärer Anspruch. Die alte Schulrhetorik wird während
züge seiner Philos. (1989) 103, Hervorhebung vom Autor. – des 19. und 20. Jh. in ein neues System der Wissenschaf-
8 G.B. Vico: Prinzipien einer neuen Wiss. über die gemeinsame
Natur der Völker, Bd. 2. Übers. v. V. Hösle und Chr. Jermann
ten integriert, das ihre Theoreme teils übernimmt, teils
(1990) 189. – 9 J.Chr. Gottsched: Versuch einer critischen Dicht- unter anderen disziplinären Vorzeichen reformuliert,
kunst. Nachdruck der 4. Aufl. 1751 (1977) 123. – 10 vgl. A. Pope: wobei sie vor allem als kommunikative Handlungstheo-
Essay on Criticism (London 1711) V. 235ff. – 11 F. Schlegel: rie mit soziologischer und psychologischer Orientierung
Versuch über den Republikanismus (1796). – 12 zit. R. Wellek: neue Attraktivität gewinnt. [6] Doch trotz dieses Bedeu-
Gesch. der Literaturkritik in 4 Bdn., Bd. 2 (1977) 9. – 13 K. Marx: tungswandels und Stellungswechsels ist die Rhetorik
Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilos. Stud.-Ausg. I (2004) eine normative Wissenschaft geblieben, welche den Er-
19, Hervorhebung vom Autor. – 14 ders.: Die Frühschr., hg. v. S. folg einer Rede an die Beachtung bestimmter Regeln
Landshut (1955) 349. – 15 ebd. – 16 W. Dilthey: Die geistige
Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens. Erste Hälfte –
bindet. [7] Die Norm der Regelbeachtung zieht zwei
Abhandlungen zur Grundlegung der Geisteswissenschaften, in: weitere Normen nach sich: Bildung als Voraussetzung,
Ges. Schr., Bd. 5 (81990) 236. – 17 vgl. Th. Mommsen: Röm. denn die Regeln müssen erlernt und möglichst gut be-
Gesch., Bd. 4 und 5 (62001). – 18 vgl. Th. Wolpers: Der Realis- herrscht werden, und Vergesellschaftung als Ziel, denn
mus in der engl. Lit., in: K. v. See [6] Bd. 17 (1980) 179. – 19 J. auch der Gebrauch der Rhetorik beruht auf Normen,
Kopperschmidt: Nietzsches Entdeckung der Rhet. Rhet. im z.B. denen der Moral, des Rechts oder des Geschmacks;
Dienste der Kritik der unreinen Vernunft, in: ders. (Hg.): Nietz- er (der Gebrauch) dient dem Zusammenhalt der Gesell-
sche oder «Die Sprache ist Rhetorik» (1994) 52. – 20 F. Nietz- schaft bzw. der Zivilisierung des Menschen. Diese Nor-
sche: Werke in drei Bänden, hg. v. K. Schlechta, Bd. 3 (1958)
721. – 21 G. Deleuze: Nietzsche und die Philos. (1976) 103. –
men hat schon die antike Rhetorik (insbesondere Iso-
22 ebd. 99. – 23 F. Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, in: krates, Cicero) formuliert. Sie wurden im Humanismus
ders.: Werke. Krit. Gesamtausg., hg. v. G. Colli und M. Monti- aufgegriffen und gelten in verschiedenen rhetorischen
nari, 6. Abt. 2. Bd. (1968) 273. – 24 Th. W. Adorno: Negative Kontexten bis in die Gegenwart.
Dialektik (1966) 65. – 25 R. Barthes: Kritik und Wahrheit (1967) Besonders deutlich wird der normative Charakter der
83, Hervorhebung vom Autor. Rhetorik an der Entgegensetzung von Kultur und Na-
G. Ueding tur, die der ‹erweiterte› Kulturbegriff heute nicht mehr
gelten lassen will. [8] Die Bildung des Redners zur Be-
^ Geschmack ^ Iudicium ^ Klugheit ^ Krisenrhetorik ^ herrschung der Rede in mündlicher und schriftlicher
Literaturkritik ^ Philologie ^ Philosophie ^ Redekritik ^
Schulrhetorik ^ Studium
Form ergibt sich nach Auffassung der rhetorischen Tra-
dition durch theoretische und praktische Entfaltung sei-
ner natürlichen Anlagen; die Zivilisierung des Men-
schen entsteht durch die persuasive Macht der Rede, die
Kulturphilosophie ihn aus der naturgegebenen Vereinzelung heraus zum
A. Def. – B. Geschichte. – I. Antike. – II. Frühe Neuzeit. – III.
Gemeinschaftsleben führt, wobei insbesondere die so-
18., 19. Jh. – IV. Gegenwart. zialen, politischen und kulturellen Institutionen ihre
Entstehung der Rede verdanken. [9] Nun mag man an-
A. Def. Wenn Kultur nach einer Bestimmung von R. gesichts der Forschungen der modernen Soziobiologie
Kroner aus «Handlungen und Leistungen» besteht, zur Kulturgenese [10] den Erklärungswert der rhetori-
«deren allein der Mensch fähig ist» [1], dann ist K. die schen Kulturentstehungslehre bezweifeln. Unbestreit-
Theorie der Möglichkeit von Kultur, dessen, was diese bar bleibt aber die Bedeutung der Rede für die Entste-
in ihrer Grundlegung bestimmt. Will man die Rolle der hung und Reproduktion der sozialen Institutionen in
Rhetorik für die moderne K. bestimmen, muß man sich welcher historischen Form auch immer. Fest steht eben-
klar machen, daß die K. eine der jüngsten philosophi- falls, daß die rhetorische Ausbildung bei einer körper-
schen Disziplinen ist, die Rhetorik mit ihren kulturphi- lichen und geistigen Beschaffenheit des Individuums an-
losophischen Elementen dagegen schon seit der Antike zusetzen hat, die verändert werden muß. Sicher, jeder
existiert. Sie wurde zwar von der modernen K. kaum vorzivilisatorische ‹Naturzustand› des Menschen reprä-
wahrgenommen, kann heute als spezielle K. aber den- sentiert strenggenommen schon einen ‹Kulturzustand›,
noch einen wichtigen Beitrag zu einer allgemeinen K. denn ohne diesen existiert der Mensch per definitionem

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Kulturphilosophie Kulturphilosophie

nicht. [11] Aber es gibt doch Grade von Kultivierung, kels; vgl. auch die ergänzenden Darlegungen des mit anderer
auf denen die Rhetorik kritisch beharrt, eine Erkennt- Akzentuierung von mir verfaßten Art. ‹Rhet.›, in: R. Koners-
nis, der der sog. ‹erweiterte› Kulturbegriff ausweicht im mann (Hg.): Hb. K. (2012).
Bestreben, keine Äußerung von Kultur auszugrenzen
oder zu diskriminieren. Auch der Produktions- und Re-
produktionsaspekt von Kultur gerät mit dem Verlust B. Geschichte. I. Antike. Die rhetorische K. des Al-
des Naturbegriffs aus dem Blick. Denn jeder Kultivie- tertums setzt bei den Griechen ein. Diese verstehen un-
rungsakt setzt einen neuen Anfang, nicht nur, indem er ter ‹Kultur›noch nicht im modernen Sinne die Gesamt-
einen vorgegeben Stoff umformt, sondern auch, indem heit der Leistungen und Handlungen der Menschen [1],
er einen alten Zustand beendet und aufgrund der jeweils sondern bestimmen sie jeweils aspekthaft unter ver-
vererbten und immer wieder veränderten Traditionen schiedenen Blickwinkeln. ‹Kultur› kann also etwa
historische Zäsuren schafft, die das Leben des Men- ‹Technik› (teÂxnai, téchnai) bedeuten, d. h. die Gesamt-
schen als Individuum wie auch als Gattungswesen be- heit der ‹Künste› zur Herstellung von Gegenständen,
stimmen und überhaupt in kulturspezifischen Unter- dann die ‹Sitten›, ‹Gesetze›, ‹Normen›(noÂmoi, nómoi)
scheidungen identifizierbar machen. einer staatlichen Gemeinschaft, auch die ‹Lebensform›
Normativität, produktive Aneignung bzw. Umfor- eines Volkes (biÂow, bı́os) und schließlich das System der
mung des Vorgegebenen, eine bestimmte Anthropolo- ‹Erziehung› bzw. ‹Bildung› (paideiÂa, paideı́a). [2]
gie und Geschichtlichkeit gehören auch zu den Grund- Der rhetorische Kulturbegriff läßt sich am besten von
elementen einer rhetorischen K. Sie sollte als praktische der Bildung herleiten, wie sie die Sophistik als Prozeß
Philosophie [12] konzipiert werden. Praktische Philoso- und Resultat konzipierte. Vor allem Protagoras hat
phie reflektiert die Grundlagen und Prinzipien des Wis- dazu in seiner Pädagogik die Grundlagen formuliert, in-
sens über die Existenz des Menschen und seine Lebens- dem er die Erziehung als Ergebnis aus Naturanlage
führung [13], was auch die Reflexion über die Bedeut- (fyÂsiw, phýsis), Technik (teÂxnh, téchnē, eigentlich Kön-
samkeit und den Sinn umfaßt, den er seinen kulturellen nen, Kunst) und Übung (meleÂth, melétē) bestimmt. [3]
Handlungen gibt. Die Rhetorik gehört zum Vollzug die- Die rhetorische Technik gehört für ihn wie überhaupt
ser praktischen Existenz, da ihre Maximen für die kom- alle Künste zu den Grundlagen der Kultur. Denn nur
munikative Einwirkung der Menschen aufeinander uni- mithilfe der Künste kann der Mensch die naturgegebe-
versellen Status haben, d. h. für alle Formen praktischen nen Mängel beim Kampf ums Überleben kompensieren,
Lebens wie auch für die Künste und Wissenschaften gel- die er im Vergleich zu den Tieren aufweist. [4]
ten. [14] Elemente praktischer Philosophie der Rhetorik Für Isokrates, den Schüler der Sophistik, sind die
sind ihre Berufung auf Klugheit bzw. Urteilskraft, der es Reden eines jeden Menschen Indiz für dessen Bildung,
um die Reflexion der Ziele und Mittel des Handelns denn danach unterscheiden sich Wissende von Unwis-
geht [15], ihre Erkenntnistheorie, die sich für die Hand- senden, wie er im ‹Panegyrikos›, der Lobrede auf seine
lungsausübung mit der Wahrscheinlichkeit anstelle der Vaterstadt Athen, ausführt. [5] Aus dem Bildungsbe-
Wahrheit begnügt [16], sowie eine Theorie praktischer griff entwickelt Isokrates sein Kulturverständnis und
Subjektivität des Redehandelns, die nach der Bestim- auch seine K. Ansatz dazu sind die Bildungsunterschie-
mung des Aristoteles das möglicherweise Glaubener- de zwischen den Menschen und deren Folgen für die ge-
weckende an den Gegenständen erkennt und danach die genseitigen Beziehungen der griechischen Städte sowie
Wirkungsstrategie der Rede entwirft. [17] Weitere Be- für die Abgrenzung gegenüber den Barbaren. Zentral
stimmungen rhetorischer K. werden sich im folgenden für den Kulturbegriff des ‹Panegyrikos›-Autors sind die
Geschichtsteil dieses Artikels zeigen. [18] beispielhaften Leistungen Athens und deren Verdienste
um die zivilisatorische Entwicklung aller anderen Städ-
te. Als erste Polis erließ nach seiner Ansicht Athen Ge-
Anmerkungen: setze und auch eine Verfassung. Die Stadt beweist allen
1 R. Kroner: Die Selbstverwirklichung des Geistes. Prolego- große Gastfreundschaft, bietet außerdem die meisten
mena zur K. (1928) 1. – 2 vgl. etwa A. Reckwitz: Die Kontin- Sehenswürdigkeiten und «veranstaltet Wettkämpfe [...],
genzperspektive der ‹Kultur›. Kulturbegriffe, Kulturtheorien
und das kulturwiss. Forschungsprogramm, in: F. Jaeger, J. Rü-
bei denen es nicht nur um Schnelligkeit und Körperkraft
sen (Hg.): Hb. der Kulturwiss. Bd. 3 (2004) 1–20. – 3 vgl. J. Bol- geht, sondern auch um Redefähigkeit, denkerische Fä-
ten: Einf. in die interkulturelle Wirtschaftskommunikation higkeiten und alle anderen Künste». [6] «Unsere Polis
(2007), Kap. Kultur, 44 ; A. Thomas: Kulturvergleichende Psy- hat nun auf dem Gebiet intellektueller und rhetorischer
chol. (1993) 380. – 4 Bolten ebd. 42ff.; vgl. auch G. Bollenbeck: Fähigkeiten alle anderen Menschen soweit zurückgelas-
Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines dt. Deutungsmu- sen, daß die Schüler Athens Lehrer der anderen gewor-
sters (1994). – 5 vgl. M. Fuhrmann: Der europäische Bildungs- den sind [...]», heißt es resümierend im ‹Panegyrikos› [7],
kanon (22004). – 6 vgl. dazu O. Kramer: Art. ‹Rhetorikfor- wobei der elitäre und propagandistische Ton dieser
schung›, in: HWRh, Bd. 8 (2007) Sp. 161ff. – 7 vgl. R. Lachmann:
Rhet. und Kulturmodell, in: J. Kopperschmidt (Hg.): Rhet. Bd.
Rede sich aus Isokrates’ Bestreben erklärt, seine Vater-
1: Rhet. als Texttheorie (1990) 264. – 8 Bolten [3] 45. – 9 vgl. stadt und die anderen Griechenstädte zu einem neuen
F.-H. Robling: Redner und Rhet. (2007) 78ff. – 10 vgl. etwa M. Kriegszug gegen die Perser unter Führung Athens zu
Tomasello: Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation bewegen. «Kultur» ist für ihn also all das, was seine Va-
(2009). – 11 R. Müller: Die Entdeckung der Kultur (2003)14; vgl. terstadt an beispielhaften Errungenschaften in ihrer Ge-
auch Chr. Hubig: «Natur» und «Kultur» als Reflexionsbegriffe, schichte hervorgebracht hat und an dem die Redekunst
in: Zs. für K. 1 (2011), 97–119. – 12 vgl. M. Steinmann: K. als beteiligt war, denn, wie er in der von ihm auch verfaßten
praktische Philos., in: Philos. Rundschau Bd. 51 (2004) 53–74. – ‹Rede des Nikokles› sagt, «bei fast allen unseren Erfin-
13 O. Höffe: Ethik als praktische Philos. – Die Begründung
durch Aristoteles, in: ders.: Ethik und Politik (1979) 40ff. –
dungen und Einrichtungen hat uns unsere Fähigkeit zu
14 F.-H. Robling: Was ist rhet. Anthropologie?, in: Rhetorik sprechen geholfen.» [8] Diese Fähigkeit zum Sprechen,
Bd. 23 (2004) 8ff. – 15 Robling [9] 229ff. – 16 ebd. 51–53. – genauer zur Rede (loÂgow, lógos), zeichnet aber nicht nur
17 Arist. Rhet. 1355b 26, vgl. Robling [9] 55ff. – 18 Zum Konzept den einzelnen Menschen und eine einzelne Stadt aus,
einer heute zeitgemäßen rhet. K. s. unten Sp. 561f. dieses Arti- sondern ist überhaupt der Vorzug der Menschen gegen-

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Kulturphilosophie Kulturphilosophie

über den Tieren. «[...] weil wir von Natur aus die Gabe den Redner nicht gerecht. Ethik, Ästhetik und Pädago-
besitzen, einander überreden und uns unsere jeweiligen gik der Rede sind die bestimmenden Komponenten die-
Wünsche mitteilen zu können», erklärt Isokrates im ser isokrateischen philosophı́a, propagiert von ihm zu-
‹Nikokles›, «haben wir uns nicht nur davon entfernt, ein gleich in musterhaften lógoi, die seine eigene Theorie
Leben wie die Tiere zu führen, sondern wir haben uns vortragen, formvollendet präsentieren und als Anleitun-
zusammengetan, Poleis gegründet, uns Gesetze gege- gen für die künftige Praxis der Schüler dienen. ‹Rheto-
ben, die Künste erfunden [...].» [9] Diese genetische Spe- rische Kultur› erscheint bei Isokrates daher nicht nur als
kulation bietet die Basis für eine wichtige Differenzie- Reflexions-, sondern auch als Handlungsbegriff [13],
rung im rhetorischen Kulturbegriff. Der gegenseitige denn der Autor formvollendeter Reden wie des ‹Pan-
Gebrauch der Rede zivilisiert den Menschen als Gat- egyrikos› erörtert theoretisch die Elemente rhetorischer
tungswesen, wogegen die rhetorische Ausbildung zum Kultur und praktiziert Kultur zugleich in der Gestaltung
wirkungsvollen Gebrauch der Rede den Menschen als seiner Texte. Dieser gewissermaßen ‹autopoietische› äs-
Einzelwesen erzieht. Da die rhetorische Kultivierung thetische Aspekt rhetorischer Kultur zeigt sich ebenfalls
unter beiden Aspekten auch als Auseinandersetzung bei vielen Autoren rhetorischer Schriften der Folgezeit.
mit der Natur erscheint: beim Individuum als Verede- Eine ausgearbeitete philosophische Kulturtheorie
lung der ‹rohen› Naturanlage, beim Gattungswesen als nach Art des Isokrates findet sich sonst in Griechenland
Überwindung des Zustands der natürlichen ‹Wildheit›, nicht. Rhetorisch interessante Ansätze dazu gibt es al-
verweist der rhetorische Kulturbegriff auf ein besonde- lerdings bei Aristoteles. Er liefert die kulturanthro-
res Menschenbild und damit eine implizite Anthropo- pologische Begründung für die isokrateische These von
logie: der Mensch ist Natur- und Kulturwesen zugleich, der Kulturentstehung durch den Redegebrauch, wenn
eine Auffassung, die für das gerade auf die Emotionen er in der ‹Politik› den Menschen in Abgrenzung zum
zielende Konzept der Persuasion besonders wichtig Tier als zvÄì on loÂgon eÍxon, zō´on lógon échon bezeichnet,
ist. [10] als Wesen, das Sprache bzw. Rede hat. [14] Außerdem
Diese Bildungstheorie, die Ausdruck der rhetori- setzt nach Aristoteles die Philosophie als theoretische
schen Kulturauffassung ist, hat Isokrates als ‹Philoso- Wissenschaft eine schon durch praktische Wissenschaft
phie› bezeichnet. Der Begriff war zu seiner Zeit noch und Kunst erschlossene Welt voraus. Denn «[...] als so
nicht auf einen streng an der Wahrheit ausgerichteten, ziemlich alles zur Annehmlichkeit und [höheren] Le-
überwiegend theoretisch und systematisch geprägten bensführung Nötige vorhanden war, begann man diese
Wissenstypus festgelegt, wie ihn die platonisch-aristo- Art der Einsicht zu suchen», bemerkt er zu den Umstän-
telische Tradition schuf und wie er später die Geistes- den, unter denen die Philosophie bei den Vorsokrati-
geschichte beherrschte. FilosofiÂa, philosophı́a konnte kern entstand. [15] Kulturelle Entwicklung führt zur
damals noch jede Art von Wissen oder Bildung bedeu- Ausdifferenzierung von Lebensbereichen. Darauf be-
ten. Isokrates verstand darunter ein aus der Lebenser- zieht sich die philosophische Lebensformenlehre, die
fahrung stammendes praktisches Wissen, eine Anlei- von der antiken Ethik entworfen wurde und die ver-
tung zu erfolgreichem Handeln und zur Bewältigung der sucht, das Handeln der Philosophen von dem der Red-
öffentlichen Aufgaben, die sich dem Redner in der Polis ner bzw. der öffentlich Tätigen und dem der ihr Leben
stellten. Da der Mensch sein Handeln nicht auf unfehl- bloß Genießenden abzugrenzen. [16] Platon hat alle Exi-
bare Erkenntnisse gründen könne, müsse er sich nach stenzformen, die nicht der Philosophie gewidmet waren,
den existierenden Meinungen und nach dem Wahr- abgewertet; Aristoteles jedoch gesteht jeder Lebensart
scheinlichen richten, das leichter zugänglich sei als das ein relatives Recht zu, wenn er auch die philosophische
Wahre, und auch den jeweils am besten geeigneten Zeit- am höchsten schätzt. [17] Damit begreift er die Lebens-
punkt (kairoÂw, kairós) beachten, damit er möglichst oft formen der entwickelten Polisgemeinschaft, zu denen
Erfolg habe. Ziel sei der eigene Vorteil des Handelnden die rhetorische als die öffentliche gehört, als kulturellen
aus der Überzeugung heraus, daß Nutzen und sittlicher Zusammenhang.
Wert sich im Grunde nicht widersprächen, sondern bei- Auch Cicero, der größte Redner Roms, geht bei sei-
de das Gute verwirklichen könnten. [11] nen kulturphilosophischen Überlegungen wie Isokrates
Obwohl die isokrateische philosophı́a vor allem si- von kulturgenetischen Spekulationen aus. In seiner Ju-
tuationsbezogene, praktische Handlungsanweisung sein gendschrift ‹De inventione› transformiert er sie in die
will, weist sie doch Merkmale auf, die auch prinzipieller Erzählung vom Wirken eines einzelnen «offenbar be-
Natur sind. Dazu gehört die enge Bindung der Sprache deutenden» und «weisen» Mannes, der die Fähigkeiten
an die Vernunft und die ethische Ausrichtung der Rede. der anfangs noch zerstreut in der Wildnis lebenden
«Mit unserer Sprache (lógos) [...]», heißt es im ‹Niko- Menschen erkannte, diese zu einer Gemeinschaft verei-
kles›, «weisen wir die Schlechten zurecht und rühmen nigte und zu nützlichen Tätigkeiten anleitete, wobei er
die Guten. Mit Hilfe der Sprache erziehen wir die Un- ihre Widerstände durch «Vernunftgründe» sowie ge-
vernünftigen und zeigen den Verständigen unsere An- schicktes Reden überwand und sie zu «sanften und zu-
erkennung. Denn reden zu können, wie es nötig ist, dies gänglichen Wesen» formte. [18] Cicero gründet seine
betrachten wir als größtes Zeichen für Vernunft, und ein Erzählung auf eine später für ihn leitende Prämisse: das
aufrichtiges, gesetzestreues Wort ist Abbild einer guten politisch, sozial und kulturell entscheidende Handeln
und vertrauenswürdigen Seele.» [12] Philosophie ist also des großen Redners, und übernimmt dazu das schon von
für Isokrates ein handlungspraktisches rhetorisches Isokrates bekannte Motiv der notwendigen Verbindung
Wissen, das sich nicht in den technischen Regeln eines von Vernunft und Rede, wobei er besonderen Wert auf
Lehrbuchs niederlegen läßt, wie die Sophisten meinen, die Möglichkeit der Rede legt, den Einsatz von physi-
oder methodisch vermitteln läßt, wie die Philosophen scher Gewalt zu verhindern.
denken. Denn der technische wie der streng methodi- Cicero greift wie Isokrates auch den Bildungsgedan-
sche Wissenstypus werden beide nach seiner Auffassung ken auf. Im Zentrum steht für ihn allerdings die Erzie-
dem ständigen Wandel der Lebensverhältnisse und den hung des einzelnen Redners zur Meisterschaft im Vor-
daraus immer neu sich stellenden Anforderungen an trag. Sein Dialog ‹De oratore› bestimmt ihn als denje-

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Kulturphilosophie Kulturphilosophie

nigen, «der über jedes Thema, das in Worten zu entwik- selbst geboren, wie Cicero in seiner Schrift ‹De officiis›
keln ist, sachkundig, wohlgegliedert, wirkungsvoll, aus (Über die Pflichten) erklärt, sondern zu einem Teil für
dem Gedächtnis und mit angemessener Würde des Vor- die Vaterstadt, zu einem anderen für die Freunde und
trags reden kann.» [19] Vergleicht man diesen mit dem insgesamt zum Nutzen der Menschheit. [29]
gewöhnlichen Redner, dem soliden Techniker der Re- Ciceros auf die Integration von Ethik, Ästhetik und
dekunst und Kenner der gerichtlichen und politischen Pädagogik und sogar der Politik bedachte und die Ver-
Verhältnisse auf dem Forum, wird der orator perfectus wirklichung von individueller und gesellschaftlicher
zum selben Thema doch stilistisch gewandter, dialek- humanitas postulierende Bildungstheorie kann insge-
tisch versierter und emotional eindringlicher sprechen samt als eine K. verstanden werden, da sie auf die Ge-
können als jener. [20] Den «Gipfel des Ruhms» erreicht staltung der durch den Menschen geschaffenen politi-
der summus orator allerdings nicht, «ohne sämtliche be- schen und sozialen Welt zielt. Ihr Medium ist die ver-
deutenden Gebiete und Disziplinen zu beherrschen; nunftgemäße Beherrschung der Rede. Sie ist also eine
denn aus dem Wissen um die Sache muß die Rede in rhetorische K. avant la lettre, die als eigenständiger
Glanz und Fülle des Ausdrucks erwachsen.» [21] Der Zweig der Philosophie in Rom zu seiner Zeit noch nicht
Umfang der Kenntnisse, die der ideale Redner erwer- wahrgenommen wurde. Der Kanon der philosophischen
ben muß, geht über die normale Allgemeinbildung, wie Wissenschaften umfaßte damals aufgrund der auf die
sie die artes liberales, also Grammatik, Rhetorik und Stoa und Platon zurückgehenden Systematisierung nur
Dialektik, Arithmetik, Musik, Geometrie und Astro- Ethik, Physik und Logik bzw. Dialektik. [30] Ciceros
nomie repräsentieren, weit hinaus und umfaßt zusätzlich Kulturphilosophie ist zugleich eine praktische Philoso-
Philosophie, Geschichte und Recht. Der Philosophie phie, da sie im persuasiven Sprachgebrauch die Basis des
kommt dabei eine besondere Bedeutung zu, denn nach Handelns sieht, ihre Prinzipien in rhetorischem Geist
Ciceros Überzeugung gehören eloquentia und sapientia formuliert, von daher Erfahrungen zu philosophisch re-
zusammen: die Beredsamkeit benötigt zu ihrer Führung levantem Wissen verarbeitet und der praktischen Ur-
die philosophische Weisheit, damit sie nicht zur verderb- teilskraft zur Verfügung stellt. [31]
lichen Macht im Staat werde, und die Weisheit ihrerseits Seneca setzt, was die Redekunst betrifft, andere kul-
bleibt ohne Beredsamkeit wirkungslos. [22] Zur Inte- turphilosophische Akzente als Cicero. Die stoische Kul-
gration all dieser Wissensgebiete bis zu ihrer Beherr- turentstehungslehre deutet – verglichen mit der rheto-
schung für die Zwecke der Redekunst ist harte Arbeit rischen – die Menschheitsentwicklung in entgegenge-
nötig, die in intensivem Studieren und Üben be- setzter Richtung, wie Seneca in einem seiner ‹Briefe an
steht. [23] Das Bild der Vollkommenheit des Wissens, Lucilius›berichtet. Am Anfang lebten die Menschen
das Cicero hier entwirft, bestimmt sich ausschließlich an noch in einem glücklichen Zeitalter und genossen ge-
den praktischen Erfordernissen der Wirkung, die der meinsam die von der Natur verliehenen Gaben, bis Hab-
Redner erzielen will, nicht an den theoretischen Kennt- sucht und Luxus aufkamen und sie entzweiten. [32] An-
nissen des Spezialisten, der sein Fachgebiet erst nach ders als die Rhetoriker versteht er die Kulturentwick-
langen Studien überschaut, weshalb neben der Weisheit lung also nicht als Fortschreiten der Menschen zu einem
vor allem die Klugheit für ihn wichtig ist. [24] Ciceros besseren Leben, sondern als sittlichen Verfall. [33] In
Bildungsideal präsentiert sich so als ein eklektisches dieser Situation vermag nur die Vernunft bzw. die Len-
Konstrukt, in dem nur die Elemente zusammengetragen kung durch die Philosophie zu wahrer Tugend, d. h. See-
werden, die den Zwecken der Redekunst am meisten lenruhe und Friedfertigkeit, Genügsamkeit und Unab-
nützen. [25] hängigkeit von materiellen Gütern zu führen. [34] Se-
Der Prozeß der Wissensauswahl und -aneignung hat neca parallelisiert nun Handlungs- und Redeweise, denn
aber keine bloß utilitaristische Funktion, sondern ver- nach seiner Ansicht redet der Mensch wie er lebt [35]:
bindet mit der Konzentration auf das Nützliche einen «[W]enn sie [die Rede] ringsum geschoren, geschminkt
höchst anspruchsvollen Sinn, da Cicero die allseitige Bil- und aufgeputzt ist, zeigt sie, daß auch die Seele nicht un-
dung auch als etwas ethisch Gelungenes, als «menschli- verdorben ist und etwas Gebrochenes an sich hat.» [36]
che Bildung», eben als humanitas, versteht. [26] Sie wird Wo die Menschen an einer unnatürlichen Redeweise
für ihn zur wichtigsten Bedingung der Kultur. Der voll- Gefallen finden, läßt sich also auf einen Sittenverfall
kommene Redner ist zwar das Leitbild für die Erzie- schließen. [37] «[E]in Vortrag, der Wahrheit erstrebt»,
hung des Individuums, aber sein Handeln in den sozia- heißt es dagegen in einem der Lucilius-Briefe «muß un-
len und politischen Institutionen des Gemeinwesens gekünstelt, einfach sein! Die gewöhnliche Volksredne-
wird auch zum Mittel der Zivilisierung der Menschen- rei kennt kein Wahrheitsstreben. Erregen will sie die
gattung als ganzer. Weitsicht und Entschlossenheit des Masse, urteilslose Hörer ungestüm mitreißen.» [38] Af-
Redners wirkten in Ciceros Augen schon in grauer Vor- fektivität in der Redeweise ist also abzulehnen, und zwar
zeit lenkend und besänftigend auf die Menschen ein, sowohl wegen der falschen Wirkung auf die Zuhörer als
und sie müssen sich auch täglich bei jedem seiner Auf- auch auf den Redner selbst. Sie verrät nur, daß er seine
tritte neu bewähren. «Er versteht das Volk in seiner Gefühle nicht beherrschen kann bzw. der die Allnatur
Trägheit mitzureißen und seine Zügellosigkeit zu mä- lenkenden und dem menschlichen Leben als Richt-
ßigen. Seine Befähigung bringt Schurken das Verderben schnur dienenden Vernunft nicht mehr zu folgen ver-
und Unschuldigen die Rettung.» [27] An dieser Stelle mag, was die schlimmste Verfehlung in den Augen der
tritt die moralphilosophische Grundierung von Ciceros Stoiker darstellt. [39] «Verraten soll [die Redeweise,
Entwurf deutlich hervor. Der vollkommene Redner FHR] große, doch gemäßigte Kraft: sie sei ein ruhiger
sollte ein Bild der Rechtschaffenheit bieten, da er sich in Strom, kein rasender Wildbach», rät Seneca seinem
seinem Handeln für das Gemeinwesen, in dem er lebt, Schüler. [40] Er räumt zwar ein: «Ich möchte bei Gott so
verantwortlich zeigen muß, und die Redekunst als civilis wichtige Dinge nicht nüchtern und trocken behandelt
scientia (Wissenschaft von den bürgerlichen Angelegen- sehen; die Philosophie verzichtet nicht auf geistvolle Be-
heiten) zum wohlgeordneten Staat (bene constituta ci- handlung.» Doch allzuviel Mühe für die Wortwahl ist
vitas) gehört. [28] Denn der Mensch ist nicht nur für sich nicht nötig, denn: «Unser oberster Grundsatz laute: re-

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Kulturphilosophie Kulturphilosophie

den, was man denkt, und denken, was man redet – Wort sche Moralphilosophie bleibt ebenfalls ein Kernelement
und Leben muß im Einklang stehen!» [41] Sophistische der humanistischen Kulturtheorie, orientiert besonders
Spielereien mit dem Doppelsinn von Bedeutungen sind am von Quintilian überlieferten römischen Ideal des vir
daher abzulehnen. Sie verwirren nur die Tugendbegriffe bonus dicendi peritus, des «Ehrenmanns, der reden
und lenken von der Beschäftigung mit den wahren Le- kann», dem zugleich die Züge Ciceros selbst als des sum-
bensproblemen ab. [42] Die Rede sollte daher ein mus orator einbeschrieben werden. Die aus der Rheto-
«Schmuck der Seele» sein (oratio cultus animi), wie es rik stammenden antiken Überlegungen zur Praxisrele-
sich für einen rechtschaffenen und ehrlichen Mann ge- vanz des Denkens werden in der ethischen Reflexion
ziemt. [43] Rhetorische Bildung und Kultur sind jetzt des Humanismus wieder aufgegriffen, und zwar in der
nicht mehr primär Ausdruck eines aktiven, dem Staat Debatte über die Lebensformen, wo man sich fragt, ob
und seinen Anforderungen zugewandten Lebens wie für nicht ein der tätigen Zuwendung zur politischen und so-
Cicero, sondern sie sind für Seneca zu Attributen einer zialen Wirklichkeit gewidmetes Leben (vita activa) dem
moralphilosophisch grundierten, auf persönliche und in- betrachtenden und der Philosophie geweihten Leben
nere Sittlichkeit gerichteten Haltung geworden. Seneca (vita contemplativa) vorzuziehen sei. [48]
verwirft allerdings die Notwendigkeit politischen Han- Petrarca versteht die Kultivierung des Individuums
delns und damit die Rhetorik insgesamt keineswegs. [44] als Frucht der humanistischen Studien und als Synthese
Er reagiert in seiner Kritik nur kulturphilosophisch und von Moralität, Bildung und Ästhetik. Hilfestellung lei-
moralisch auf den Funktionswandel der Redekunst im sten dabei gut ciceronianisch die Leitbilder des Philo-
römischen Kaiserreich. Denn mit dem Freiheitsverlust sophen und des Redners. «Die Pflege des menschlichen
des Individuums nach dem Ende der Republik hatte die Geistes erfordert den Philosophen, die Bildung der
Rhetorik ihre gestaltende Rolle in der Politik sowie im Sprache aber ist eigentliche Aufgabe des Redners»,
Gerichtswesen verloren und war vielfach in einem Kult heißt es in einem seiner Briefe. [49] Die «Pflege des
virtuoser Ausgestaltung der Rede erstarrt, wie Dekla- Geistes» ordnet Leben und Taten eines Menschen zur
mationswesen und Zweite Sophistik belegen. Sittlichkeit, die «Bildung der Sprache» ermöglicht ihm
Augustinus hat kein Interesse mehr an der K. und den richtigen, angemessenen Gebrauch von Wörtern
ihren rhetorischen Elementen. Im Verlauf seiner Be- und Sätzen. Die Verbindung von beidem zeigt die päd-
kehrung zum Christentum wendet er sich zuerst vom li- agogische Richtung an, in der die Kultivierung des In-
terarisch-ästhetischen Ideal der Rhetorik ab und der dividuums verlaufen soll. Petrarcas Gewährsmänner da-
neuplatonischen Philosophie zu, um dann im Rahmen bei sind die antiken Autoren, vor allem Cicero und Ver-
seiner theologischen Studien die tradierte Bildungskon- gil, Seneca und Augustinus, denn an deren Werken soll
zeption der artes liberales einschließlich der Rhetorik in man sich orientieren. Er sieht nur diejenige Philosophie
den Dienst der Bibeldeutung und Bibelverkündigung zu als die wahre an, die sich mit der Lebensführung und den
stellen, wie seine Schrift ‹De doctrina christiana› Sitten beschäftigt. «Nach Ansicht der Philosophen ist ja
zeigt. [45] Die rhetorischen und philosophischen Kultur- das Bestreben, gut zu sein, Ziel des Willens, der Gegen-
entstehungslehren werden in der Folgezeit von der stand des Verstandes aber die Wahrheit», heißt es in ‹De
christlichen Schöpfungslehre beerbt. [46] Das Wirken sui ipsius et multorum ignorantia›(1371 veröff.). «Besser
Gottes ist es jetzt, auf das alle Kultur zurückgeht. Adam, aber ist es, Gutes zu wollen, als das Wahre zu erken-
der von ihm geschaffene erste Mensch, ist nach Ausweis nen.» [50] Man soll also durch Praktizierung des Guten
der Bibel auch der erste Kulturträger, der die Dinge selbst tugendhaft werden, anstatt sich um Erkenntnis zu
beim Namen nennt, und seine Nachkommen bebauen bemühen und bloß einen Zuwachs an Wissen zu erlan-
den Acker und gründen die Städte. Die Kulturentste- gen. Wirksam wird diese Maxime wiederum mithilfe der
hungslehre von Ciceros ‹De inventione› bleibt zwar im Rede, denn nur sie vermag den Lernenden auch zum
Mittelalter bekannt, aber das Nachdenken über Kultur Guten zu führen. Zum Beweis zitiert Petrarca Cicero:
bewegt sich in eine neue Richtung. Humanitas ist nicht «Nicht allein Wissen ist eine Kunst, sondern Kunst be-
mehr Ausdruck der Selbstwerdung des Menschen durch steht auch darin, das Wissen zu vermitteln.» [51] Petrar-
Bildung, wie noch in der klassischen Antike, sondern ca hat versucht, dieses auf der rhetorischen Bildungs-
dieser Begriff wird bei den christlichen Schriftstellern theorie beruhende moralphilosophische Ideal in seinen
der Spätantike zur Bezeichnung für die sterbliche Men- Werken umzusetzen, so etwa in dem Buch über Leben
schennatur umgedeutet und entwickelt sich zugleich und Taten berühmter Römer. Seine Schrift ‹De viris il-
zum Gegenbegriff für divinitas (Göttlichkeit). [47] Kul- lustribus› will nicht in erster Linie den Ablauf histori-
tur ist nun nicht mehr mit Philosophie, sondern mit scher Ereignisse präsentieren, sondern vorbildliches
Religion assoziiert. In der kulturellen Polarität von Handeln in der Vergangenheit zum Muster politischen
menschlichem und göttlichem Sein denkt dann auch das Verhaltens in der Gegenwart machen. [52] Im Hinter-
Mittelalter. grund von Petrarcas pädagogischen Überlegungen steht
II. Frühe Neuzeit. In den folgenden Jahrhunderten hat also ein pragmatisch-anthropozentrischer Kulturbegriff,
die Rhetorik nach dem Muster der Antike auch die K. der die philosophische Synthese von Moralität, Bildung
des europäischen Humanismus von der Renaissance bis und Ästhetik erst ermöglicht.
zur Aufklärung geprägt. Denken und Werke des Alter- Kulturphilosophische Elemente, die auf die antike
tums werden zum Leitbild dieser Epoche, wobei man Rhetorik und ihr in die studia humanitatis eingegange-
jetzt heidnisches mit christlichem Gedankengut ver- nes Ideal der Allgemeinbildung zurückgehen, finden
band. Die Hinwendung des Humanismus zur Antike be- sich auch im christlichen Humanismus bei Ph. Me-
gründet zugleich seinen Sinn für die Kulturgeschichte, lanchthon. Er erinnert in seiner Rede ‹Encomium elo-
denn ein Bewußtsein seiner eigenen Identität und Indi- quentiae› (1523) daran, daß humanitas ursprünglich die
vidualität gewinnt er erst durch die Abgrenzung vom Bezeichnung für «Künste des Redens» (dicendi artes)
Mittelalter, und dieses erscheint ihm als eine Zeit des war. Die «alten Lateiner» seien der Ansicht gewesen,
Kulturverfalls, den es durch die Nachahmung der alten «daß durch das Studium dieser Fächer nicht nur die
Griechen und Römer zu überwinden gilt. Die rhetori- Sprache verfeinert, sondern auch geistige Ungeschlacht-

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Kulturphilosophie Kulturphilosophie

heit und Barbarei korrigiert werde. Denn ebenso wie pik und rhetorischer Findungskunst, der Inventorik,
sehr viele durch Bildung ihr bäurisches Naturell able- nicht nur einen zentralen Bestandteil des Studiums,
gen, so werden auch die Geister zivilisiert und ge- sondern auch eine der Quellen für die Methodik seiner
zähmt.» [53] Melanchthon spielt hier auf die kulturge- ‹Scienza nuova›. Denn beide erschließen das historische
netische Spekulation Ciceros in ‹De inventione› an. In Material, das die Philologie in den geschichtlichen
seinem Vorwort zu dessen Pflichtenlehre betont er wie Zeugnissen bereitstellt, mithilfe von Imagination und
Petrarca die rhetorische Grundierung der Moralphilo- Phantasie, wie es auch der Redner bei der Aufbereitung
sophie und fordert, man solle die «Begriffsbestimmun- des Stoffs seiner Rede macht, und verbinden es dann in
gen der Tugenden» so formulieren, «daß man das Ge- methodischem Vorgehen und orientiert an rationalen
sagte mit dem gesunden Menschenverstand begreifen Prinzipien, die Vico zu Beginn seines Werkes aufzählt,
und in sein Alltagsleben umsetzen kann.» [54] Gleich- zur kulturgeschichtlichen bzw. kulturphilosophischen
zeitig muß die ethische Bildung aber zur Botschaft des Darstellung. [63] Die rhetorischen Tropen Metapher,
Evangeliums passen, denn die Philosophie gibt nur die Metonymie, Synekdoche und Ironie sind in der ‹Scienza
Vorschriften zum weltlichen Leben weiter, die Bibel nuova› außerdem selbst Teil kulturgenetischer Speku-
aber lehrt die Furcht vor Gott und das Vertrauen zu lation, und zwar als historisch aufeinander folgende
ihm. [55] Ausdrucksformen der ‹poetischen Logik›, wobei Vico
G.B. Vicos K. ist ebenfalls noch vom rhetorischen besonders die konstitutive Rolle der Metapher für die
Humanismus geprägt, obwohl er nicht mehr die moral- Entstehung des Mythos unterstreicht. [64] Die poeti-
philosophisch-praktische Bildung des Individuums for- schen Elemente der Rhetorik fungieren jetzt nicht mehr
dert, sondern schon eine theoretische Erklärung der bloß als Medium der Kultivierung wie bei Isokrates und
Kultur und ihrer Entstehung nach Art des philosophi- Cicero, sondern werden selbst geschichtlich betrachtet
schen Rationalismus liefert. Die menschliche Selbster- und eingereiht in die Ursprünge der menschlichen
kenntnis anstelle der Naturerkenntnis ist für ihn nach Sprachfähigkeit überhaupt.
humanistischer Tradition das eigentliche Ziel unseres III. 18., 19. Jahrhundert. «Eine Sprache erlanget Auf-
Wissens. [56] Die Natur als Werk Gottes ist nach Vico klärung durch die Wissenschaften und erlangt Kultur
nur für den göttlichen Verstand erkennbar, der Mensch durch gesellschaftlichen Umgang, Poesie und Bered-
aber kann allein die Struktur und Beschaffenheit seiner samkeit. Durch jene wird sie geschickter zu theoreti-
eigenen Werke durchschauen, denn darin spiegelt sich schem, durch diese zu praktischem Gebrauche.» Diese
sein Wesen. Die Werke der Kultur sind die einzigen, die Sätze M. Mendelssohns [65] illustrieren, daß im 18. Jh.
in sich die beiden Bedingungen der Erkenntnis vereini- das Verhältnis von Rhetorik und Kultur nicht mehr nur
gen, und zwar ein begrifflich-allgemeines und ein indi- bildungstheoretisch [66], sondern auch mit Bezug auf die
viduelles bzw. historisches Sein. Daher blickt Vico im Sprache erörtert wird. Der Kontext von Aufklärung und
Werk ‹Principi di scienza nuova› (zuerst 1725), das seine Wissenschaft bereitet zugleich den Boden für eine kri-
Kulturphilosophie enthält, primär auf Mythos, Sprache, tisch gewendete K., deren Exponent im 18. Jh. vor allem
Religion, Recht und Dichtung, denn das sind die Ob- J.J. Rousseau ist. Im ‹Essai sur l’origine des langues›
jekte, die der menschlichen Erkenntnis wahrhaft ent- (veröff. 1781) variiert er sein philosophisches Grund-
sprechen. Dieses Forschungsprogramm bezieht sich mit thema: Ursprung und Verfall der menschlichen Kultur.
der zusätzlichen Integration von Grammatik, Rhetorik, Im Zustand der Natürlichkeit und Gemeinschaft lebt
Poesie und Geschichte [57] zugleich noch auf die ent- danach der Mensch noch glücklich und als mit sich iden-
sprechenden Teile der alten studia humanitatis. [58] tisches Wesen. Erst die Zivilisation mit dem Aufkom-
Die neue kulturphilosophische Logik aber, die dahin- men von Besitzdenken und Herrschaft entfremdet ihn
tersteht, verbindet das rationalistische Erkenntnisver- von sich selbst und den anderen. An die Stelle von Auf-
fahren der cartesiansichen Schule mit dem topisch-in- richtigkeit und Tugend treten Lüge und Schein. Dieser
ventorischen Verfahren, das aus der Rhetorik stammt. spekulative Entwurf eines rückwärtsgewandten Ideal-
Vicos Rede ‹De nostri temporis studiorum ratione› (ge- zustands dient Rousseau als kritischer Maßstab zur Er-
halten 1708) kontrastiert diese beiden Erkenntniswege klärung der Sprachgenese und zur Aburteilung der Rhe-
in ihrer Eigenart. Er beklagt, daß die Studien zu seiner torik. Nach seiner Ansicht entstehen die menschlichen
Zeit nur mehr den rationalistischen Wissenschaften Gemeinschaften und die Sprachen in den warmen Län-
folgten und so mit der Erkenntniskritik begännen, die dern. Vor allem die natürliche Lebensfreude und das
Topik aber, die erst zur Auffindung des ganzen Spek- Bestreben, sich gegenseitig seine Gefühle mitzuteilen,
trums der Beweisgründe führe, vernachlässigten. Die formen die Möglichkeiten des Ausdrucks. «Die ersten
Erkenntniskritik wolle, «um ihre erste Wahrheit nicht Sprachen, Töchter des Vergnügens und nicht des Be-
nur vom Falschen, sondern auch vom bloßen Verdacht dürfnisses [d. h. materieller Not, FHR]», schreibt Rous-
des Falschen frei zu halten, alle sekundäre Wahrheit so- seau, «trugen lange Zeit die Zeichen ihrer Herkunft. Ihr
wie alles Wahrscheinliche genauso wie das Falsche aus verführerischer Tonfall verschwand erst gemeinsam mit
dem Denken entfernt wissen [...].» [59] Damit ist natür- den Gefühlen, die ihn inspiriert hatten, nämlich als neue
lich auf Descartes gezielt, der Rhetorik und Topik aus Bedürfnisse sich bei den Menschen zu Wort meldeten
seiner Methodenlehre ausgeschlossen hatte. Vico will und jedermann zwangen, nur an sich selbst zu denken
nun das kritische Denken nicht aus den Studien verban- und seine Empfindungen für sich zu behalten.» [67] Da-
nen, plädiert aber für eine sinnvolle Verbindung von mit ist der Umschwung vom ursprünglichen Gemein-
Kritik und Topik, denn «die Kritik ist die Kunst der schaftsleben zum Zustand der mit sich entzweiten Ge-
wahren, die Topik aber die der reichhaltigen Re- sellschaft von Rousseaus Gegenwart eingeleitet, der
de.» [60] Die Topik macht den Geist schöpferisch [61], auch die Rhetorik affiziert: «Die gängigen Sprachen sind
sie speist sich aus dem Wahrscheinlichen, aus dem wie- für uns ebenso unbrauchbar geworden wie die Rede-
derum der sensus communis, der natürliche Allgemein- kunst.» [68] Denn nicht mehr die Rhetorik oder die na-
sinn, «die Norm aller praktischen Klugheit und damit türliche Mitteilungskraft der Sprache hält die Menschen
auch der Beredsamkeit» erwächst. [62] Vico sieht in To- zusammen, sondern nur noch die staatliche Gewalt.

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Kulturphilosophie Kulturphilosophie

Rousseau hat seine Kulturkritik im ‹Discours sur l’iné- Rhetorisch-kulturphilosophische Elemente enthält
galité› (1755) früher schon auch auf die Rhetorik als sol- auch F. Schlegels Entwurf einer romantischen Univer-
che ausgeweitet. Hier wird sie ihm zum Ausdruck des salpoesie. Hatte Schlegel in den frühen literaturhistori-
moralischen Niedergangs und der Verstellung der Men- schen Schriften die Geisteswelt der Griechen als die un-
schen, die nur noch egoistisch ihren eigenen Interessen teilbare klassische Bildungsepoche dargestellt, so will er
nachgehen. [69] mit dem Konzept der Universalpoesie ein umfassendes
Anders als im Werk Rousseaus spielt die Rhetorik bei System der modernen Kultur begründen, in dem alle
J.G. Herder kulturphilosophisch gesehen eine positive künstlerischen und philosophischen Errungenschaften
Rolle. Kultur ist für ihn nicht Ausdruck des Verfalls, son- der Neuzeit bis hinein in Politik, Mythologie und Reli-
dern gerade die Bedingung für die Entwicklung des Men- gion zusammengefaßt werden. Basis dieses Entwurfs ist
schen vom natürlichen Ursprung zur Humanität. Die die ‹produktive Einbildungskraft› oder auch ‹poetische
‹Ideen zur Geschichte der Philosophie der Menschheit› Vernunft› (Behler [79]), die diese Errungenschaften
(1791) verstehen die menschliche Kulturentwicklung in schöpferisch miteinander in Beziehung setzt. Die Rhe-
Analogie zum Werdegang des Redners als Nachahmung torik verliert dabei ihre herausragende Rolle als kultur-
und Einübung der Lebensweise, die in der geschichtli- begründende Macht und wird zu einem von vielen Kul-
chen Situation vorgegeben ist. [70] Wie in der antiken turfaktoren, die insgesamt von der Universalpoesie in-
rhetorischen Kulturtheorie unterscheidet der Mensch spiriert werden. Dieser geht es darum, wie das bekannte
sich durch Vernunft und Rede vom Tier, denn «[n]ur Athenäumsfragment 116 formuliert, «[...] alle getrennte
durch die Rede wird die schlummernde Vernunft er- Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen, und die
weckt [...].» [71] «Von der Sprache also fängt seine Ver- Poesie mit der Philosophie und Rhetorik in Berührung
nunft und Kultur an», heißt es weiter in den ‹Ideen›, zu setzen.» [80] Schlegel will mit seinem Programm die
«denn nur durch sie beherrschet er auch sich selbst und Grenzen zwischen den Disziplinen überwinden und die
wird des Nachsinnens und Wählens, dazu er durch seine Rhetorik im neuen Universalkonzept des Poetischen
Organisation nur fähig war, mächtig.» [72] Selbstbeherr- aufgehen lassen. Zugleich wendet er sich kritisch gegen
schung, Nachdenken und Wählen, d. h. Entscheiden wer- die die Aufklärung bestimmende Tradition der Regel-
den hier als Elemente der menschlichen Kultur hervor- poetik und favorisiert eine Mischung der literarischen
gehoben. Sie finden sich auch in den moralphilosophi- Stile, die noch vom rhetorischen Klassizismus abgelehnt
schen Schriften des Humanismus, was dessen tiefen worden war. [81] Wie die Rhetorik als Ganze dem neuen
Einfluß auf Herders Humanitätsidee trotz aller neuen System einverleibt und dabei verändert wird, ergeht es
anthropologischen und historischen Elemente seiner K. in Schlegels Entwurf auch einem ihrer wichtigsten Stil-
unterstreicht. [73] mittel: der Ironie. Übte sie rhetorisch gesehen eine in-
F. Schillers K. ist eingebettet in seine Überlegungen direkt polemische Wirkung durch die tropisch oder fi-
zur ästhetischen Erziehung des Menschen und von daher gural geformte Aussage einzelner Stellen der Rede, so
mit der Rhetorik verbunden. Hintergrund ist der von gestaltet die dichterische Ironie durchgängig den gesam-
Mendelssohn bereits genannte Gegensatz zwischen der ten Text als «Stimmung, welche alles übersieht und sich
sich auf das theoretische Wissen beziehenden Aufklä- über alles Bedingte unendlich erhebt [...].» [82] Damit
rung und der praktischen Kultur aus gesellschaftlichem wird die Philosophie zur «eigentlichen Heimat der Iro-
Umgang, aus Poesie und Beredsamkeit. [74] Schiller ist nie [...]» [83]; und die kulturelle Basis der tradierten
davon überzeugt, daß die Aufklärung als rein theoreti- Rhetorik, in der die Ironie als unterhaltsames und kri-
sches Projekt gescheitert ist, wie die Greuel der Franzö- tisches Mittel der Rede fungierte, ist einmal mehr ver-
sischen Revolution samt Terror und Despotie belegen. lassen. Auch die Philosophie stellt sich bei Schlegel jetzt
Doch er will deshalb nicht auf die Aufklärung verzichten, anders dar als noch im Humanismus, denn sie ist keine
sondern ihre Ideen retten und setzt auf die «praktische praktische K. mehr, sondern spekulatives Ferment der
Kultur», die sich in der ästhetischen Bildung vollendet. Universalpoesie in der zunächst abstrahierenden Set-
Schiller greift dabei auf die Rhetorik zurück, die lehrt, zung des Konkreten und seiner anschließenden Auflö-
daß neben Begriffen und logischer Beweisführung auch sung in unendlicher Reflexion. [84] Sie erhält damit die
sinnliche Anschauung und Emotionen zum Handeln Merkmale einer theoretischen K., die Schlegel später
treiben. [75] Also «muß der Weg zu der theoretischen durch eine Philosophie der Geschichte sowie der Reli-
Kultur durch die praktische eröffnet werden [...]», gilt es, gion ergänzt. ‹Kultur› meint hier und im 19. Jh. meist
«das Werk der Abstraktion [...] in einen Stoff für die ‹Geisteskultur› und steht im Gegensatz zur ‹Zivilisati-
Phantasie zu verwandeln, Begriffe in Bilder umzusetzen, on›, die die technisch regulierte alltägliche Lebenswelt
Schlüsse in Gefühle aufzulösen», wie es an einer berühm- umfaßt. [85]
ten Stelle der Briefe an den Prinzen von Augustenburg F. Nietzsche weist in seiner K. der Rhetorik eine
heißt. [76] Die Rhetorik gehört damit ebenfalls zu Schil- wichtige Rolle zu. Er geht bei seinem Kulturverständnis
lers Konzeption des Kunstschönen als des «Mittleren» vom ästhetischen Schaffensdrang des Individuums und
aus Stoff und Form, aus Leben und Gestalt. Denn er ver- dessen Willen aus, der Welt und dem Leben einen trag-
steht es aus ästhetisch-darstellerischen und rhetorisch- fähigen Sinn zu geben. [86] Die Kunst ist für ihn der Aus-
wirkungsorientierten Überlegungen heraus als begriff- druck dieses Drangs. In Anlehnung an den griechischen
lich-sinnliche Synthese, «in der Aktivität und Passivität, Mythos bestimmt Nietzsche sie im Tragödienbuch vom
Tun und Empfangen ineinander aufgelöst sind.» (Cassi- Doppelcharakter des menschlichen Kunsttriebes her als
rer) [77] Das utopische, auf die Harmonie des einzelnen apollinisch und dionysisch. Das Apollinische umfaßt die
mit der Gesellschaft bedachte Menschenbild der Briefe Welt des Traums, der bildenden Kunst und der Gestalt,
über die ästhetische Erziehung verweist darüberhinaus der schönen Illusion, der Form und der Individualität,
auf Merkmale des humanistischen Rednerideals, die wogegen das Dionysische die Welt des Rausches, des
Schiller kritisch der Entfremdung zwischen Staat und In- Grausens, die Musik und überhaupt die das Individuum
dividuum in der bürgerlichen Gesellschaft entgegen- entgrenzende Erfahrung hervorbringt. In der Realität
hält. [78] der Kunst durchdringen und vermischen sich diese

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Kulturphilosophie Kulturphilosophie

Welten gegenseitig, wobei das Apollinische die äußere Verbindungslinien zu ihr. Ein Beispiel ist das Werk
Erscheinung, das Dionysische die innere Motivation re- E. Cassirers, des wichtigsten Kulturphilosophen des
präsentiert. [87] Vom Wirkungsaspekt her entspricht 20. Jh. Cassirer sieht in der Symbolprägung, in der ein
das Apollinische dem rhetorischen hËuos, ē´thos, also der geistiger Gehalt mit einem sinnlichen Zeichen verbun-
Selbstdarstellung des rednerischen Charakters bzw. den wird, den grundlegenden kulturstiftenden Akt des
dem sanften Affekt, das Dionysische dagegen dem rhe- Menschen. Kultur wird dadurch zu einem Ensemble von
torischen paÂuow, páthos, also der leidenschaftlichen symbolischen Formen wie Mythos, Sprache, Kunst,
Gefühlserregung des Zuhörers. Einen Hinweis auf Religion und Wissenschaft, die dem Menschen die Ge-
diese Identifikation gibt Nietzsche in seiner Rhetorik- staltung der natürlichen Umwelt nach seinen Zwecken
vorlesung mit der Bemerkung zum ē´thos, «der charak- erlauben. [96] Cassirer geht von einer Kritik der neukan-
teristische Stil» sei der «eigentliche Kunstbereich» des tianischen Kulturtheorie aus, bezieht aber auch die Tra-
Redners; hier übe er «eine freie plastische Kraft, die dition des klassischen Humanismus mit ein. Die rheto-
Sprache ist für ihn ein bereites Material». [88] Der Be- rische K. hat ihn nicht speziell interessiert, obwohl ei-
griff der ‹plastischen Kraft› verbindet dabei das rheto- nige der von ihm untersuchten Autoren wie etwa Vico
rische mit dem philosophisch-ästhetischen Darstel- und Schiller auch rhetorisches Gedankengut aufgenom-
lungsprinzip der Kunst. [89] men haben. [97] Cassirer hat außerdem den Begriff der
Da die Kunst und nicht mehr die Vernunft die Vor- ‹radikalen› Metapher, die als Ursprung des kulturschöp-
aussetzung zur Aufwertung des Daseins und zur ästhe- ferischen Aktes der Symbolprägung bzw. der symboli-
tischen Rechtfertigung der Welt ist, steht sie für Nietz- schen Form gilt [98], zwar in Abgrenzung zur Rhetorik
sche im Zentrum der menschlichen Kulturschöpfung gewonnen, doch die rhetorische Herkunft dieses Be-
überhaupt. Deren letztes Anliegen ist die Steigerung des griffs läßt sich nicht ganz verleugnen. [99] Auch sein
individuellen Lebens, womit der Kulturbegriff seiner- Verständnis des Kulturstils [100] und seine Überlegun-
seits an den Lebensbegriff heranrückt, der im 19. Jh. un- gen zur Technik der modernen politischen Mythen zei-
ter dem Einfluß der romantischen Naturphilosophie zu gen rhetorischen Einfluß. [101] Symboltheoretisch be-
einem der Substitute für Kultur wird – neben dem des einflußt von Cassirer ist K. Burke [102], dessen Werk
historischen Wissens (Historismus). [90] Steigerung des eine Synthese von Literaturkritik, Gesellschaftsanalyse
Lebens: das ist ethisch gesehen ein Strebensziel, dem als und Anthropologie darstellt und von daher durchaus
entgegengesetztes Pendant ein Sollensziel, und zwar die kulturphilosophisch ambitioniert ist, ohne doch eine di-
Beachtung moralischer Normen, entspricht. Nietzsche rekte K. zu sein. Die Rhetorik spielt darin eine zentrale
hat nun im Namen der Lebenssteigerung die christliche Rolle, denn sie ist für ihn das wichtigste Medium, das die
Moralität des Verzichts aufgrund von Nächstenliebe und Menschen in der Gesellschaft interaktiv werden läßt
Asketik abgelehnt und vor allem im künstlerischen und zusammenführt. [103]
Schaffen den entscheidenden Impuls der Lebensbeja- Anders als Cassirer knüpft E. Grassi in seiner K. wie-
hung, des ‹Willens zur Macht› gesehen. [91] «Spitze der der direkt an die Rhetorik an, indem er Gedanken des
Entwicklung: der große Stil», heißt es dazu in einem der Renaissancehumanismus aufgreift und kritisch gegen
Nachlaßfragmente. [92] Kulminationspunkt des Kön- den modernen Rationalismus ins Feld führt. Dem intel-
nens ist also eine aus der Rhetorik stammende Fertigkeit lektualistischen und rein formalen, abstrakten Denken
des Künstlers: die Beherrschung der Form im vollende- der Gegenwart kontrastiert er das auf Metaphorik und
ten Stil. Es überrascht daher nicht, daß für Nietzsche «die Topik, Anschaulichkeit und Emotionalität setzende
wahre Kultur [...] Einheit des Stiles voraussetzt». [93] Denken der Rhetorik. [104] Kronzeugen sind ihm vor
Sein Kulturbegriff ist elitär: er basiert auf dem schöpfe- allem die Bildungstheorie und K. Vicos, der der ratio-
rischen Können des großen Individuums, dem gegen- nalistischen Methodik von Descartes den Ansatz an Ge-
über etwa die bloße Bildungsphilisterei sich als Mittel- meinsinn und Imagination als Erkenntnisquellen ent-
maß und Kulturverfall entlarvt. Auch die Rhetorik hat gegenhält. [105] Grassis Verdienst ist es sicherlich, der
Teil am kulturellen Niedergang, wenn sie zum Aus- zeitgenössischen K. erneut die Bedeutung der humani-
drucksmittel für schwülstigen Stil und falsches Pathos stischen Tradition vor Augen geführt zu haben. Seine
wird, wie Nietzsche an R. Wagners Werk zeigt. [94] kulturphilosophische Position ist durch einen enzyklo-
IV. Gegenwart. Die moderne K. ist eine der jüngsten pädischen verfahrenden Eklektizismus charakterisiert,
Disziplinen im heutigen System der philosophischen der durchaus zur Rhetorik paßt. [106] Es ist ihm jedoch
Wissenschaften. Sie entstand um die Wende vom 19. zum nicht gelungen, wie Cassirer ein systematisch-kohären-
20. Jh. und empfing entscheidende Impulse vom Neukan- tes Prinzip zur philosophischen Analyse der menschli-
tianismus (vor allem Rickert) und von der Lebensphi- chen Kultur zu entwickeln.
losophie (Simmel). Vorläufer waren die Geisteswissen- R. Konersmann bezieht sich in seiner Definition der
schaften (Dilthey), die schon im 19. Jh. als Antipoden K. nur auf einen Teilaspekt der Rhetorik, und zwar die
der Naturwissenschaften galten, und die Kulturtheorien elocutio, wenn er von der «Kultur als Metapher» spricht.
von Neuhumanismus und klassischem Humanismus. Die «Das Charakteristische der Kultur ist nicht als Gegebe-
moderne K. hat sich wohl aus Unkenntnis und aus einem nes, nicht als Tatsache oder „Faktenaußenwelt“ beliebig
ganz anderen Problemhorizont heraus nicht mehr um die verfügbar», heißt es in seinem Aufsatz in dem von ihm
rhetorische Bildungstheorie gekümmert. Sie entstand herausgegebenen Sammelband zur K. «Ebensowenig
aus einem Krisenbewußtseins [95], das sich angesichts läßt sich, was wir Kultur nennen, planmäßig erzeugen
der Erfolge von Natur- und Gesellschaftswissenschaften oder willkürlich steuern.» Darin gleicht sie den Meta-
nach der Rolle fragte, die die Philosophie heute noch phern, «,Übertragungen’ im Raum der Sprache, die
spielen könnte, und verwies in ihrer Antwort auf die durch Regel- und Grenzverletzungen Bedeutungen frei-
grundlegende Bedeutung der Kultur für Selbstverständ- setzen. [...] Eine Konvention wird verletzt, um einer wei-
nis und Handlungsweise des Menschen. teren und neuen die Bahn zu ebnen. Genau diesem Mu-
Wenn die moderne K. auch nicht mehr nach der Rhe- ster der Vereinigung von Kontinuität und Innovation
torik fragt, gibt es trotzdem immer noch unübersehbare folgt auch die Kultur.» [107] Bezeichnend ist hier der

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Kulturphilosophie Kulturphilosophie

Stellenwert, den die Rhetorik in dieser modernen Ver- rische Kulturanthropologie der Rhetorik, wenn es um
sion der K. einnimmt. Konersmann knüpft nicht mehr die konstitutive Rolle der Metapher für die Entwick-
an die alte Redekunst als Bildungstheorie an, denn diese lung der Sprache geht. Vico gründete seine ‹poetische
Option hat sich mit dem Niedergang des rhetorischen Logik› auf die These, die Metaphern repräsentierten
Klassizismus im 18. und 19. Jh. überlebt, sondern an die zusammen mit Metonymien und Synekdochen die frü-
rhetorische Sprachtheorie, die deutliche Spuren in der hesten Ausdrucksformen der Sprache. Diese wäre am
Linguistik und Sprachphilosophie des 20. Jh. hinterlas- Anfang der Menschheitsentwicklung noch vom mythi-
sen hat. [108] schen Denken, nicht von der Rationalität bestimmt so-
Dennoch kann man auch von der tradierten rhetori- wie sinnlicher Natur gewesen und habe noch keine be-
schen Kulturtheorie her Aspekte einer neuen, zeitge- griffliche Abstraktion gekannt. Vicos Auffassung bildet
mäßen K. gewinnen. Von Cassirer ist dabei die These zu eine interessante Parallele zu Cassirers These von der
übernehmen, daß das Wesen des Menschen nicht primär ursprünglich sprachbildenden Kraft der ‹radikalen› Me-
von seinen biologischen Merkmalen her zu bestimmen tapher, die dieser ebenfalls aus der Analyse des Mythos
ist, wie es die Anthropologie des 19. und teilweise auch als primärer menschlicher Ausdrucksform herleitet. Vi-
des 20. Jh. wollte, sondern daß der Mensch vor allem von cos und Cassirers Befunde zeigen, daß die rhetorische
seinen kulturellen Äußerungen her definierbar ist. [109] K. jedenfalls einen historischen Beitrag zur Ermittlung
Der Schulrhetorik war diese Überlegung vertraut, denn anthropologischer Universalien der Sprache leisten
ihre Pädagogik belegt, daß der Mensch als Individuum kann.
wie als Gattungswesen seine eigene, aber auch die ihn Gemeinsam ist dem Denken Cassirers wie auch dem
umgebende Natur bearbeiten, sozusagen kulturell ver- rhetorischen Denken am Ende das Bewußtsein von der
edeln muß, damit sie human und menschenwürdig wird. Wichtigkeit der Form für die Kulturschöpfung. Die mo-
Ausdruck und Voraussetzung dieser Humanisierung ist derne Philosophie kann nach Cassirer keine Ontologie
für die Rhetorik der wirkungsorientierte Sprachge- im traditionellen Sinne mehr enthalten, die das absolute
brauch, für Cassirer der Akt der Symbolprägung. Die Sein der Dinge und ihrer Qualitäten beschreibt, sondern
Akzentverschiebung zwischen beiden Positionen er- sie beschränkt die Ontologie auf den Bereich der Phä-
klärt sich daher, daß die Rhetorik eine praktische Theo- nomene, die uns durch die verschiedenen Arten des em-
rie der Kulturgenese vorgelegt, Cassirer aber eine theo- pirischen Wissens und damit in symbolischer Form ge-
retische Erklärung der Kulturgenese vor Augen hat. geben sind. [112] Das Netz der selbstgeschaffenen
Wenn er vom Menschen als animal symbolicum spricht, Symbolik hat sich für den Menschen zwischen ihn und
will er die Einseitigkeit der philosophischen Tradition die umgebenden Gegenstände geschoben. Die Dinge
überwinden, die ihn nur als animal rationale verstand. «sind» nicht mehr einfach, sondern sie erscheinen uns
Cassirer bestimmt ihn statt dessen als Wesen aus Geist vermittelt durch den schöpferischen Akt des symbolbil-
und Körper, das erst in dieser Einheit «die Formen der denden Subjekts; darin besteht nach Cassirer der Prozeß
Kultur in ihrer Fülle und Mannigfaltigkeit» hervor- der menschlichen Kultur. Auch die Rhetorik geht von
bringt. [110] Anders als die Philosophie hat die klassi- der Erscheinung der Dinge aus, und zwar von ihrer per-
sche Schulrhetorik den Menschen immer als denkendes spektivischen Formung in der wirkungsorientiert moti-
und fühlendes Wesen verstanden, sowohl den Zuhörer, vierten Beleuchtung durch den Redner. Aristoteles sagt,
der neben der intellektuellen vor allem der emotionalen daß die Rhetorik die Fähigkeit sei, das möglicherweise
Ansprache zugänglich ist, wie auch den Redner, der Glauben Erweckende an einer Sache zu erkennen. [113]
zwar mit rationalem Kalkül seine Ziele verfolgt, sich Der Verteidiger in einem Gerichtsverfahren wird sich
aber zu diesem Zweck auch in die Gefühle seines Pu- also bemühen, alle die Fakten des Falles zusammenzu-
blikums hineinversetzen muß. Zugleich hat sie in der ci- tragen, die seinen Mandanten entlasten, und sie so in sei-
ceronischen Version auf der Leitung des Redens durch ner Rede zu deuten und zu präsentieren, daß er beim
die Vernunft bestanden, eine Position, der sich die nach- Richter einen Freispruch erlangt. Ein ganzer Zweig der
klassische Rhetorik des 19. und 20. Jh. nicht mehr ver- Rhetorik, die sog. ‹Statuslehre›, bietet für den Vertei-
pflichtet fühlte. Diese erhob unter dem Einfluß der diger, aber auch für den Ankläger Methoden an, wie
schopenhauerschen Willensmetaphysik, die den Körper man die ‹Streitstände› eines Prozesses (lat. status) je
statt den Geist zum bestimmenden anthropologischen nach Parteiinteresse modelliert, um zum Ziel zu kom-
Faktor erklärte, den Willen zur obersten Instanz in der men, also zum Freispruch oder auch zur Verurteilung.
Leitung der Rede, wie sich an den redepädagogischen Doch nicht nur die Inventorik der Statuslehre belegt,
Theorien, aber auch der unheilvollen rhetorischen Pra- daß die rhetorische Form die Perspektive auf die Sach-
xis etwa der politischen Agitation des 20. Jh. zeigt. [111] lage in einer Rede bestimmt. Auch die rhetorische Re-
Die Schulrhetorik dagegen verfolgte mit ihrem Appell flexion etwa über das res-verba-Verhältnis, d. h. über die
an die Vernunft eine regulative Idee zur ethischen Frage, welche Worte der Redner zur vorteilhaften Prä-
Orientierung des Redens. An dieser Funktion der Ver- sentation seines Themas wählt, ob er einfach und nüch-
nunft muß auch eine moderne rhetorische K. festhalten, tern bleiben, ob er unterhalten und erfreuen oder ob er
damit die Verantwortlichkeit des Redners für sein Han- leidenschaftlich aufregen will, unterstreicht diese Tat-
deln kenntlich bleibt. sache. «Dinge an sich» kennt die Rhetorik also in ihren
Eine Anthropologie der Rhetorik muß also immer kulturellen Praktiken genausowenig wie Cassirer, son-
als Kulturanthropologie konzipiert werden. Auch die dern nur «Dinge für uns» ganz nach dem aristotelischen
geschichtliche Analyse eines Kulturphänomens gehört Diktum, daß «das Überzeugende für jemand Bestimm-
dazu, denn die Menschen müssen in jeder Generation tes überzeugend ist [...].» [114] Wenn es für die cassirer-
neu die zum Leben nötige Bildung erwerben und ihre sche K. dabei um die theoretische Erhellung des Kulti-
Institutionen reproduzieren. In der Rhetorik spiegelt vierungsaktes geht und den Aufweis des internen Zu-
sich das im Verhältnis von Kontinuität und historischer sammenhangs aller Kulturtätigkeiten des Menschen, so
Abwandlung der Systematik in jeder geschichtlichen sollte es für die rhetorische K. um eine Reflexion der
Epoche. Ein spekulatives Moment kommt in die histo- praktischen und auch der kritischen Konsequenzen aus

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Kulturphilosophie Kulturphilosophie

der Formung der Kulturgüter gehen, wie es etwa Nietz- dazu J. Starobinski: Rousseau. Eine Welt von Widerständen
sche gezeigt hat. (1988) 450ff. – 68 Rousseau ebd. 157. – 69 vgl. dazu U. Geitner:
Die Sprache der Verstellung (1992) Kap. VI, 209ff. – 70 J.G.
Anmerkungen: Herder: Ideen zur Philos. der Gesch. der Menschheit, in:
1 zur modernen Def. von Kultur vgl. R. Kroner: Die Selbstver- Sämmtliche Werke hg. v. B. Suphan, Bd. 13 (1887) 345, 347. –
wirklichung des Geistes. Prolegomena zur K. (1928). – 2 R. Mül- 71 ebd. 138. – 72 ebd. 141. – 73 vgl. B. Hambsch: «... ganz andere
ler: Die Entdeckung der Kultur (2003) 15, 17. – 3 Protagoras, Beredsamkeit». Transformationen antiker und moderner Rhet.
Frg. 3 Diels-Kranz, VS Bd. 2, 264; vgl. dazu F.-H. Robling: Red- bei J.G. Herder (2007) 132ff. – 74 zu Mendelssohn vgl. hier
ner und Rhet. (2007) 85. – 4 Platon, Protagoras 320d – 322d. – Anm. 58, zum Folgenden s. D. Borchmeyer: Aufklärung und
5 Isokrates, Panegyrikos 49. – 6 ebd. 39, 41, 45 übers. v. Chr. Ley- praktische Kultur. Schillers Idee der ästhetischen Erziehung, in:
Hutton in: Isokrates, Sämtl. Werke Bd. 1 (1993). – 7 ebd. 51. – H. Brackert, F. Wefelmeyer (Hg.): Naturplan und Verfallskri-
8 ders., Rede des Nikokles oder Rede an die Zyprioten 6, übers. tik. Zu Begriff und Gesch. der Kultur (1984) 122. – 75 Borch-
v. Chr. Ley-Hutton [6]. – 9 ebd. – 10 vgl. dazu F.-H. Robling: Was meyer ebd. 122–125. – 76 F. Schiller: Über die ästhetische Erzie-
ist rhet. Anthropologie?, in: Rhetorik, Bd. 23 (2004) 1–10. – hung des Menschen, hg. von W. Henckmann (1967) 32, 52 (Brie-
11 Fuhrmann Rhet. 25. – 12 Isokrates [5] 7. – 13 R. Koselleck in: fe an den Augustenburger). – 77 E. Cassirer: Die Methodik des
Geisteswiss. heute. Eine Denkschr. von W. Frühwald u. a. Idealismus in Schillers philos. Schr., in: ders.: Idee und Gestalt.
(1991) 138. – 14 Arist. Pol. 1253a 9f. – 15 Aristoteles, Metaphysik GW Bd. 9, hg. v. B. Recki (2001) 334f. (Zitat 335). – 78 vgl. dazu
982 b 22f. übers. v. H. Bonitz, in: Aristoteles, Metaphysik, G. Ueding: Schillers Rhet. (1971) 25–33. – 79 E. Behler: F. Schle-
griech.-dt. Bd. 1 (31989). Ergänzung im Zitat vom Übersetzer. – gels Theorie der Universalpoesie, in: Jb. der dt. Schillerges. Bd.
16 vgl. F.-H. Robling: Redner und Rhet. (2007) 202ff. – 17 vgl. 1 (1957) 234, 237. – 80 Krit. F. Schlegel-Ausg. Bd. 2, hg. v. H.
Platon, Theaitetos 172 d–173 e, Arist. EN 1095 b 14–1096 a 5. – Eichner (1967) 182. – 81 vgl. H. Schanze: Romantik und Rhet.,
18 Cicero, De inventione. Über die Auffindung des Stoffs. De in: ders. (Hg.): Rhetorik. Betr. zu ihrer Gesch. in Deutschland
optimo genere oratorum. Über die beste Gattung von Rednern. vom 19. – 20. Jh. (1974) 129ff. – 82 F. Schlegel: Frg. 42, in [80] 152;
Lat.-dt. übers. v. Th. Nüßlein (1998) I, 2. – 19 Cic. De. or. I, 64. – vgl. dazu E. Behler: Art. ‹Ironie›, in: HWRh, Bd. 4 (1998) Sp.
20 ebd. I, 66. 128 – 21 ebd. I, 20f. – 22 ebd. III, 59. 72. – 23 ebd. I, 609f. – 83 Schlegel ebd. – 84 Behler [79] 218ff., 222ff. – 85 vgl. G.
134. 148ff. – 24 ebd. III, 55. – 25 vgl. Robling [16] 112f. – 26 ebd. Bollenbeck: Bildung und Kultur (1994) 268ff. – 86 vgl. V. Ger-
115, vgl. I, 71. – 27 Cic. De. or. II, 35. – 28 vgl. Cic. Inv. I, 5 sowie hardt: F. Nietzsche (21995) 76f. – 87 F. Nietzsche: Die Geburt der
Brutus 45. – 29 Cicero, De officiis I, 22 – 30 vgl. De. or. I, 68 sowie Tragödie aus dem Geiste der Musik, in: Krit. Studienausg.
Ph. Hadot: Die Einteilung der Philos. in der Antike, in: HWPh, (KSA) hg. von G. Colli und M. Montinari, Bd. 1 (21988) 25f.; vgl.
Bd. 7 (1989) Sp. 601. – 31 dazu S. Peetz: Kann Rhet. Philos. dazu E. Behler: Art. ‹Apollinisch/Dionysisch›, in: HWRh, Bd. 1
sein?, in: R. Enskat (Hg.): Erfahrung und Urteilskraft (2000) (1992) Sp. 803f. – 88 ders.: Darstellung der antiken Rhet., in:
55–70. – 32 Seneca, Ep. 90, 36. – 33 vgl. A. Dihle: Fortschritt und Werke. Krit. Gesamtausg., begründet von G. Colli und M. Mon-
goldene Urzeit, in J. Assmann, T. Hölscher (Hg.): Kultur und tinari, 2. Abt., 4. Bd. (1995) 432. – 89 vgl. F.-H. Robling: Plasti-
Gedächtnis (1988) 153ff. – 34 Seneca, Ep. 92, 2ff. – 35 ebd. 114, 2. sche Kraft. Versuch über rhet. Subjektivität bei Nietzsche, in:
– 36 ebd. 115, 2; Übers. Verf. – 37 ebd. 114, 11. – 38 ebd. 40, 4, Nietzsche-Stud. Bd. 25 (1996) 95. – 90 vgl. Th. Jung: Gesch. der
übers. hier wie unten von E. Glaser-Gerhard in: L. Annaeus Se- modernen Kulturtheorie (1999) 44ff., 49ff. – 91 vgl. H. Krämer:
neca, Br. an Lucilius, Gesamtausg. Bd. 1 (1965). – 39 vgl. Ken- Plädoyer für eine Rehabilitierung der Individualethik (1983)
nedy Gr. 293. – 40 Seneca, Ep. 40, 8. – 41 ebd. 75, 3. – 42 ebd. 45, 47ff. – 92 F. Nietzsche in KSA 13, 294. – 93 ebd. 165. – 94 vgl.
5; 113, 3.5. – 43 d. h. für den stoischen Weisen, vgl. Ep. 115, 2ff. – dazu J. Goth: Nietzsche und die Rhet. (1990) 57ff. – 95 vgl. dazu
44 vgl. H. Berthold: Nachwort zu: Seneca. Von der Seelenruhe. die von R. Konersmann herausgegebene Textsammlung zur K.
Schr. und Br. (1984) 404. – 45 H.J. Marrou: Augustinus und das (21998). – 96 vgl. dazu E. Cassirer, Versuch über den Menschen
Ende der antiken Bildung (1982) 3. Teil. – 46 vgl. Augustinus, (dt. 1996). – 97 vgl. dazu F.-H. Robling: Redekunst und K. bei E.
De civitate Dei II, 28 als Muster. – 47 F. Renaud: Art. Cassirer, in: B. Recki (Hg.): Kunst als symbolische Form – E.
‹Humanitas›, in: HWRh, Bd. 4 (1998) Sp. 84. – 48 dazu Rob- Cassirers ästhetische Theorie (2012). – 98 B. Recki: Der prak-
ling [16] 209f. – 49 F. Petrarca: Brief an T. Caloria (1.5.1338), in: tische Sinn der Metapher. Eine systematische Überlegung mit
St. Otto (Hg.): Renaissance und frühe Neuzeit. Bd. 3 von R. Blick auf E. Cassirer, in: F.J. Wetz, H. Timm (Hg.): Die Kunst
Bubner (Hg.): Gesch. der Philos. in Text und Darstellung (1986) des Überlebens. Nachdenken über H. Blumenberg (1999) 142–
100. – 50 F. Petrarca, De sui ipsius et multorum ignorantia. Über 163. – 99 vgl. F.-H. Robling: Rhet. als pragmatisches Element
seine und vieler anderer Unwissenheit. Lat.-dt. übers. v. K. Ku- der symbolischen Form, in: U. Büttner u. a. (Hg.): Potentiale der
busch, eingel. v. A. Buck (1993) 109. – 51 ebd. 93. Zitat: Cicero, symbolischen Formen (2011). – 100 vgl. G. Mattenklott: Rhet.
De legibus II, 19, 47. – 52 vgl. dazu E. Kessler: Petrarca und die als ‹Kulturstil› bei E. Cassirer, in: R. Lachmann, R. Nicolosi, S.
Gesch. (1978) 20, 28–32, 40. – 53 Ph. Melanchthon: Lob der Be- Strätling (Hg.): Rhet. als kulturelle Praxis (2008) 31–43. –
redsamkeit, übers. von L. Mundt, in: M. Beyer u. a. (Hg.): Me- 101 Robling [99]. – 102 vgl. K. Burke: Language as Symbolic Ac-
lanchthon dt., Bd. 1 (1997) 73. – 54 Ph. Melanchthon: Vorrede zu tion (Berkely, Los Angeles, London 1966) 23. – 103 vgl. dazu O.
Ciceros Buch ‹Über die Pflicht› (1534), in: G.R. Schmidt (Hg. u. Kramer: Art. ‹New Rhetoric›, in: HWRh, Bd. 6 (2003) Sp. 265ff.
Übers.): Ph. Melanchthon: Glaube und Bildung (1989) 139. – 104 E. Grassi: Kunst und Mythos (1957); ders.: Macht des Bil-
55 ebd. 141. – 56 vgl. E. Cassirer: Zur Logik der Kulturwiss. Fünf des: Ohnmacht der rationalen Sprache (1970); ders.: Die Macht
Stud., in: ders.: GW Bd. 24, hg. von B. Recki (2007) 365f. – 57 vgl. der Phantasie (1979). – 105 ders.: Vico and Humanism. Essay on
St. Otto: G. Vico (1989) 15–22. – 58 vgl. F. Neumann: Art. ‹Stu- Vico, Heidegger and Rhetoric (1990). – 106 vgl. Robling [16] zu
dium›, in: HWRh, Bd. 9 (2009) Sp. 227. – 59 G.B. Vico: De nostri Cicero 112–15. – 107 R. Konersmann: Kultur als Metapher, in:
temporis studiorum ratione. Vom Wesen und Weg der geistigen ders. [99] 327–329. – 108 vgl. G. Gabriel: Art. ‹Philos.: Sprach-
Bildung. Lat.-dt. hg. und übers. von W.F. Otto (1984) 27. – philos., Logik›, in: HWRh, Bd. 6 (2003) Sp. 1046–1055. – 109 M.
60 ebd. 31. – 61 vgl. G.B. Vico: Prinzipien einer neuen Wiss. über Ferrari: E. Cassirer: Stationen einer philos. Biogr. (2003) 315ff. –
die gemeinsame Natur der Völker, übers. und hg. von V. Hösle 110 E. Cassirer: Versuch über den Menschen (1996) 51. –
und Chr. Jermann, Teilbd. 2 (1990) 251. – 62 ders. [59] 27. – 111 F.-H. Robling: Art. ‹Redner, Rednerideal: 19. Jh. bis Ge-
63 vgl. Hösle [61] Einl. CVIIIff. Philos. und Philol., CLXXIIff: genwart›, in: HWRh, Bd. 7 (2005) Sp. 1023. – 112 G. Hartung:
Mythos und poetische Weisheit. – 64 Vico [61] 2. Buch, 2. Ab- Anthropol. Grundlegung der K. – Zur Entstehungsgesch. von
schnitt, Kap. 2,6. – 65 M. Mendelssohn: Über die Frage: Was E. Cassirers ‹Essay on Man›, in: Kulturwiss. Stud. 6 (2001) 4. –
heißt aufklären? (1784), in: E. Bahr (Hg.): Was ist Aufklärung? 113 Arist. Rhet. 1355 b 26. – 114 ebd. 1356 b 26, übers. v. Chr.
Thesen und Def. (1974) 4. – 66 etwa im 1. Hauptstück von Gott- Rapp: Arist. Rhet., 1. Halbbd. (2002).
scheds ‹Ausführlicher Redekunst›, wo es um die Definition der F.-H. Robling
Beredsamkeit geht. – 67 J.J. Rousseau: Essay über den Ur-
sprung der Sprachen, worin auch über Melodie und musikali- ^ Ars ^ Humanismus ^ Interkulturelle Kommunikation ^
sche Nachahmung gesprochen wird, in: ders.: Musik und Spra- Kultur ^ Kulturanthropologie ^ Kunst ^ Philosophie ^ Red-
che. Ausg. Schr., übers. von D. und P. Gülke (1984) 133f., vgl. ner, Rednerideal ^ Rhetorische Anthropologie

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