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hat 3. ihren Platz im Rhetorikunterricht und ist 4. eine


der Realisierungsweisen der exercitatio (Übung). Der
L Ursprung der L. ist im höheren Unterricht in Griechen-
land und im Hellenismus zu sehen. Sie wird als Element
der enkýklios paideı́a (lat. encyclios disciplina), des Zy-
Lectio (griech. aÆnaÂgnvsiw, anágnōsis; dt. Lesen, Lektü- klus der allgemeinbildenden Fächer, wichtiger Bestand-
re, Lesung; engl. reading; frz. lecture; ital. lettura) teil der grammatisch-rhetorischen Erziehung bei den
A. Die L. ist eine vorwiegend lehrende, lernende, üben- Römern. Hier umfaßt das Spektrum der überlieferten
de und routinisierbare sowie erbauende und betende Lehrgegenstände im wesentlichen einen Kanon von Un-
Form des Lesens und Hörens von zumeist literarischen terrichtsfächern, den septem artes liberales (Sieben Freie
und religiösen Texten. Inhalt und Form sind im wesent- Künste). Der sprach- und literaturwissenschaftliche Teil
lichen von drei historischen Feldern sprachlicher Erzie- des Kanons (Trivium: Grammatik, Rhetorik, Dialektik
hung und Bildung geprägt: 1. von der antiken gramma- = artes sermocinales) ist der Ort für die L. [10] Die Gram-
tisch-rhetorischen Erziehung, 2. von dem Bildungspro- matik gilt dabei als Grundlagenfach für den Erwerb der
gramm der mittelalterlichen Kloster- und Domschulen anderen Bildungsinhalte. Sie umfaßt zwei Lehrbereiche:
sowie 3. von der mönchischen disputatio. Der vorliegen- Sprachlehre (recte loquendi scientia, ratio loquendi) und
de Artikel befaßt sich überwiegend mit den beiden erst- Literaturlehre (poetarum enarratio, enarratio auctorum,
genannten Feldern. Der Praxis der L., insbesondere der Dichtererklärung). [11] Schwerpunkte innerhalb der
Praxis ihres Unterrichts, vermag er sich nur anzunähern. vier Bereiche, in denen die L. ihren Platz findet, sind die
Weit mehr als auf sie hat sich das Interesse der For- Literaturlehre und die exercitatio. Mittelpunkt des Li-
schung auf die Bildungsvorstellungen bedeutender Ge- teraturunterrichts ist die Erklärung (enarratio) von Ab-
lehrter gerichtet. [1] schnitten aus den Werken ausgewählter Dichter. Dem
Nach Form und Bedeutung handelt es sich bei dem Unterricht liegt über Generationen hinweg ein Basis-
Wort ‹L.› um das lat. Substantiv lectio (Gen. lectionis f.), konzept mit vier Phasen zugrunde: lectio (sprachrichti-
das – entsprechend seinem zugrunde liegenden Verb le- ges Lesen mit lauter Stimme), emendatio (Korrektur),
gere (vgl. griech. leÂgv, légō) [2] – in der Grundbedeu- enarratio (wortbezogene und inhaltliche Erläuterung),
tung ‹Zusammenlesen›, ‹Sammeln› auftritt. Ferner ist iudicium (abschließendes Urteil). Die erste Phase, die
‹L.› die allgemeine Bezeichnung für die geistigen Akti- L., verlangt den sprachlich korrekten Vortrag (emen-
vitäten des Lesens und Vorlesens sowie der (fortlaufen- data lectio) von Textstellen mustergültiger Autoren
den) Lektüre. Zu L. in letzterer Bedeutung kommt die (auctores, exempla) – an erster Stelle Homer und Ver-
von ‹Lektüre› als Lesestoff hinzu. L. wird außerdem im gil.
Sinne von ‹Wort›, ‹Text› gebraucht, der Plural lectiones Nach Quintilian «läßt sich die Kenntnis, zu wissen, wo
im Sinne von ‹Kommentar›. [3] Auch in der Spätantike der Knabe den Atem anzuhalten, wo er den Vers abzu-
und im Mittelalter gehört ‹L.› weiterhin zum Wortschatz setzen hat, wo ein Gedankengang zu Ende geht, wo er
der lat. Sprache, wobei neue Bedeutungen vor allem im anhebt, wann die Stimme zu heben oder zu senken ist,
Bereich der Kirche festzustellen sind. So lassen sich für wie sich jeweils der Ton zu schmiegen hat, was langsa-
das Mittellateinische anführen: die ‹Heilige Schrift›, mer, was schneller, was erregter, was sanfter vorzutra-
‹Lesung›, ‹Vorlesung an einer Universität›, ‹Lesung aus gen ist, nur am Werk selbst in der Praxis vermitteln.»
der Bibel beim Gottesdienst›, sowie ‹Unterricht› und Durch die Lektüre der großen Dichter lernt der Schüler
‹Lehre›. [4] Die drei letzteren Bedeutungen erscheinen was sprachlich richtig, was sittlich gut und nützlich ist
sinngemäß auch in Wörterbüchern und Lexika des oder was als geschmackvoll und schön gelten kann. Die
Deutschen, allerdings nur für das Lehnwort ‹Lektion› gemeinsame L. beim Grammatiker schult im Erkennen
bzw. ‹Lection› [5], für welches zudem die Bedeutungen des Versmaßes, in der Bestimmung von Wörtern und
‹Unterrichtspensum› sowie ‹Belehrung›, ‹Zurechtwei- Redeteilen, sie benennt unlateinische Ausdrücke und
sung› vorkommen. [6] Des weiteren sind zwei Unter- grammatische Fehler, erklärt selten gebrauchte Wörter
scheidungen erwähnenswert: zum einen im kirchlich- und kennzeichnet Figuren und Tropen. Eine knappe
liturgischen Bereich die zwischen der fortlaufenden und gewissenhafte historische Sacherklärung kann die
Lesung biblischer Bücher in Auswahl, genannt ‹Bahnle- L. abrunden. Zu den Exerzitien der L. gehören jedoch
sung› (lectio currens oder semicontinua), und der streng nicht nur die Texte von Dichtern und Historiographen,
fortlaufenden Lesung (lectio continua) [7], zum anderen sondern auch die Lektüre von Prozeßreden und die Lek-
im Bereich der Textkritik die zwischen ‹lectio difficilior› türe der Philosophen, wobei deren scharfsinniger Be-
(schwierigere Lesart) und ‹lectio facilior› (leichtere Les- weisführung, ihren Fragen und Wechselreden besonde-
art). Zugrunde liegt das Problem der Auswahl der be- re Bedeutung zukommt. [12] Schwierigkeiten bei der L.
sten Lesart, wobei von der Annahme auszugehen ist, resultieren aus der Schreibkonvention der scriptio con-
daß bei mehreren überlieferten Lesarten der selteneren tinua und bestehen darin, daß der vorzutragende Text
oder schwerer verständlichen ein größerer Anspruch zuvor lesbar und verstehbar gemacht werden muß. Der
auf Authentizität zukommt als der leichter verständli- Lehrer selbst trägt entscheidend zum Verstehensprozeß
chen Variante (‹lectio facilior›). [8] des Textes bei: Er liest ihn als erster vor – ein methodi-
B. I. Antike, Rom. Die L. ist konstitutiver Bestandteil scher Schritt, den Quintilian praelectio («erklärendes
der grammatisch-rhetorischen Erziehung des höheren Vorlesen») nennt. [13] Der zweite Schwerpunkt, die ex-
Unterrichts. Im Rahmen der ‹Ausbildung des Redners› ercitatio (Übung) hat zum Ziel, das zuvor erworbene
(‹Institutio oratoria›), wie sie Quintilian (ca. 35–100 Wissen in ein routiniertes, jederzeit abrufbares Können
n. Chr.) beispielhaft vorstellt, findet sie in 4 Bereichen zu überführen (firma facilitas). Dies setzt einen umfang-
statt, und zwar in der Fremdsprache, dem Griechi- reichen Wortschatz und eine Menge von Wissensinhal-
schen. [9] Sie gehört 1. zum literarischen Gebiet des ten (copia rerum ac verborum) als stets verfügbare Re-
Grammatikunterrichts, ist 2. eine der Übungen, die das serve voraus. [14] Beide erwirbt man durch das kom-
Programm der Progymnasmata unterstützend begleiten, plementäre Paar Lesen (legere, lectio) und Zuhören

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(audire), zu dem das Schreiben (scribere) und Reden


(dicere) hinzutritt. [15] Die L. soll sich mit den besten
Autoren beschäftigen, und zwar in mehrmaliger Wie-
derholung. Die Anwendung des Unterrichtsprinzips der
Nachahmung von Vorbildern (exempla, imitatio), für
das Quintilian ein weites Übungsfeld in Form eines li-
teraturgeschichtlichen Überblicks anbietet, ist keines-
wegs als ein bloßes ‹Nachmachen› gedacht, sondern als
ein selbsttätiges Schulen individueller Fähigkeit am
Vorbildlichen. [16] Die intensive L. vorbildlicher Auto-
ren ist von vielfachem Nutzen im Hinblick auf die Ver-
fertigung und Wirkung der Rede sowie auf die Allge-
meinbildung, sie bringt Genuß und Entspannung. Sie ist
zudem von hohem ethisch-moralischem Wert. [17]

Literaturhinweise:
G.A. Kennedy: Quintilian (New York 1969); ders.: Classical
Rhetoric and its Christian and Secular Tradition from Ancient
to Modern Times (Chapel Hill 1980) 3–119. – A.N. Cizek: Imi-
tatio et tractatio (1994).

II. Spätantike, Mittelalter. In der Spätantike und im


Mittelalter ist die Geschichte der Rhetorik geprägt durch
das Zusammentreffen der überlieferten antiken Kultur
mit dem Christentum. Träger von Unterricht und Erzie-
hung wird der Klerus. Aurelius Augustinus (354–430
n. Chr.) unternimmt es in seiner Schrift ‹De doctrina
Christiana› (‹Von der christlichen Lehre›), die überlie-
ferten Wissensbestände der Antike für die christliche
Lehre fruchtbar zu machen. [18] Zugleich setzt Augu-
stinus die tradierte literarische Ausrichtung rhetorischer
Erziehung und Bildung fort: Er hebt die Bedeutung der
Übung (exercitatio), insbesondere durch L. (Lektüre)
und imitatio (Nachahmung), nachdrücklich hervor und
weist dieser größeren Raum zu als der Regelkenntnis.
Rhetorisches Wissen soll von jungen Männern in einem
passenden Alter und in angemessener Zeit erworben
werden. «Denn wenn der Geist scharf und lebhaft ist, so
fällt die Beredsamkeit eher solchen zu, welche gleich
praktisch die Schriften beredter Männer lesen und ihre
Reden hören, als jenen, welche die Vorschriften der Be- Benozzo Gozzoli: Tolle, lege (Nimm und lies), Augustinus, die
redsamkeit bloß theoretisch befolgen.» Dazu dienen – Briefe des Paulus lesend, Fresko in der Kirche Sant’Agostino
(San Gimigniano, 15. Jh.)
neben dem von der kirchlichen Autorität festgelegten
Kanon – auch eine Reihe anderer Schriften, «durch de-
ren Lektüre ein fähiger Mann, selbst wenn er nur auf den
sachlichen Inhalt achtet, dabei gleichwohl ganz unab- (Lektüre) auch leise betrieben wird. [21] An erster Stelle
sichtlich auch von der Beredsamkeit berührt wird.» Er- der L., der sich zumeist die meditatio anschließt – «ein
gebnis der Lektüre sind insofern nicht nur Einsichten in akustisches Lesen [...], das zugleich eine Gedächtnis-
die christliche Lehre, sondern auch in die christliche Be- und Denktätigkeit ist» [22] – steht der «Wurzelgrund»
redsamkeit. Beides ist in der Hl. Schrift enthalten. Dabei des christlichen Mönchtums: die Hl. Schrift. [23] Ihrer
vermittelt und übt die L. Kenntnisse in den officia ora- Aneignung dient die L. in Form des Vorlesens und Hö-
toris, in der Dreistillehre und im Redeschmuck, d. h. in rens oder des Für-sich-Lesens sowie als erste Stufe im
den tropischen und figürlichen Elementen des Bibeltex- Prozeß des Auswendiglernens. Neben der Bibel sind
tes, in seinen Redeteilen und in seinem Perioden- Gegenstand der L. auch Schriften «der heiligen katho-
bau. [19] lischen Väter», Werke des Cassian und die Regel des
Eine bestimmende Stellung nimmt die L. auch in der Basileios. Diskussionen über die L. oder gar die weitere
im 6. Jh. erschienenen ‹Benedicti regula› (‹Benedikts- Beschäftigung mit der heidnischen Literatur sieht die
regel›, im Folgenden BR) ein, verfaßt von Benedikt von BR nicht vor. [24] Auch kann man «[...] Studien im Sinne
Nursia (um 480-ca. 555). Diese Lebensordnung für die der Überlieferung der Wissenschaften [...] aus der lectio
Mönche des Klosters Monte Cassino ist nach der Hl. Benedikts» – so M. Manitius – «unmöglich herauslesen.»
Schrift das am häufigsten überlieferte Werk der alt- Die L. wird im Selbststudium vertieft – als sakrale Hand-
christlichen Literatur. Konstitutiver Teil der bis in Ein- lung mit asketischem Charakter. [25] Nach der Sicht
zelheiten geregelten Tagesordnung ist die L. (Le- Manitius’ (1911) zeigt die von Benedikt verkörperte
sung). [20] Sie findet sowohl in einem öffentlichen Rah- Richtung der Kirche die tiefe Kluft zwischen asketisch
men in Form der Lesung (mit lauter Stimme) zu drei und weltlich gesinnten Christen. Hingegen sind für Le-
Anlässen (Gebetsgottesdienst, bei Tisch, vor der Kom- clercq (1963) die angeführten Auffälligkeiten der BR
plet) statt als auch in der Privatsphäre, in der die L. Äußerungsformen monastischen Lebens (vita contem-

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plativa), das sich allein in der Gottsuche erfüllt. [26] Als befinden sich, kurz und knapp dargestellt, auch die eta-
Repräsentanten weltlich gesinnter Christen dürften blierten Disziplinen des Trivium (I, 2, 28–30) und des
Boëthius (um 486–524/26) und Cassiodor (etwa 487– Quadrivium (I, 2, 6–15). In ihnen, den Sieben Freien
583) gelten. Cassiodor ist es, der die wissenschaftlichen Künsten, sieht Hugo «die Grundlage aller Bildung». [38]
Studien, gemeint sind die artes, in die Klöster einführt, Auffällig ist die untergeordnete Stellung der Gramma-
überhaupt wissenschaftliches Leben in den Benedikti- tik, insbesondere aber die von Rhetorik und Dialek-
nerorden bringt. [27] Boëthius und Cassiodor wie auch tik. [39] Die disputatio im 12. Jh., neben der L. zweites
Isidor von Sevilla (um 570–636) und in späterer Zeit Hauptstück scholastischen Unterrichts, ist als Schul-
Alkuin (730–804) sowie Hrabanus Maurus (784–856) übung noch nicht vorgesehen. [40] Stattdessen tritt ein
haben das Bestreben, zwischen antiker Bildung und Begriff aus der monastischen Theologie, die meditatio,
christlicher Lehre zu vermitteln. [28] Die christliche «wohlüberlegtes und anhaltendes Nachdenken» [41], an
Ausrichtung des antiken Artes-Lehrplanes wird ge- die Seite der L. Diese sowie die meditatio «sind es vor
währleistet durch den literarischen Kanon. Seine exem- allem, durch die jeder Wissen erlangt». Dabei weist
pla sind zunächst die Hl. Schriften. Die grundlegenden Hugo der L. die erste Stelle zu. [42] Die L. wird, entspre-
Lehrbücher jedoch für den Grammatikunterricht des chend ihrer Funktion als Grundlage des Wissenser-
ganzen Mittelalters gehen auf die heidnischen Autoren werbs, herausgehobenes Objekt unterschiedlicher Re-
Donat (4. Jh. n. Chr.) und Priscian (6. Jh. n. Chr.) zu- flexionen und erhält in passendem Kontext die zusätz-
rück. Priscians ‹Institutiones grammaticae› bieten zu- liche Bedeutung ‹Studieren›. Entsprechendes gilt für
dem Musterbeispiele von klassischen Autoren. [29] Die den ‹lector› (Leser, Studierender). [43] Leitende Maxi-
Aufnahme heidnischer Autoren in den Unterricht wird men im Umgang mit der L. sind für Hugo: zu wissen,
bald selbstverständlich. Der von Konrad von Hirsau was, in welcher Weise und in welcher Reihenfolge zu le-
(etwa 1070–1150) verfaßte ‹Dialogus super auctores› sen ist, sowie die Einhaltung von Ordnung und Methode
enthält 21 Autoren, beginnend mit Donat und Cato, en- (ordo, modus). Letzteres gilt auch bei einer so an-
dend mit Statius und Vergil. In der Klosterschule des spruchsvollen Aufgabe wie der Auslegung (expositio)
Mittelalters findet sich die L. als wesentlicher Bestand- von Schriften. Einzuhalten ist hier die Reihenfolge lit-
teil der Dichtererklärung wieder. Ihr Stellenwert im tera (Wiedergabe der bloßen grammatikalischen An-
Rahmen der Ausbildung von Geistlichen wird zudem ordnung der Wörter), sensus (Wiedergabe des dem
hoch eingeschätzt – so von Hrabanus Maurus, der sei- Wortlaut unmittelbar zugrunde liegenden Sinns) und
nem Vorbild Augustinus folgt. [30] Gemäß antiker Tra- sententia (Bedeutung im Sinne eines tiefgründigeren
dition steht die L. auch in der Klosterschule des Mittel- Verständnisses). [44] L. und meditatio können sich vor-
alters im Dienste ethisch-moralischer Erziehung. [31] teilhaft auf die Entfaltung der Begabung und des Scharf-
Darüber hinaus wird sie zur grundlegenden Unterrichts- sinns auswirken. Gemäß rhetorischer Tradition geht
form. Das Studium der auctores mit normsetzendem Hugo von drei Voraussetzungen für ein erfolgreiches
Charakter (auctoritas) beschreitet teilweise neue Wege. Studium aus: ingenium (Auffassungsgabe oder Talent),
Zusätzliche schriftliche Ergänzungen, wie die aus der L. exercitium (Übung) und disciplina (bei Hugo: morali-
hervorgegangen Glossen, Erklärungen unverständlicher sches Verhalten). [45] Für die L. im Unterricht liegen im
Ausdrücke, füllen die Zwischenräume und Ränder der ‹Didascalicon› bereits Unterscheidungen vor: Es gibt
Seiten. Kommentare, schriftliche Zusatztexte, die vor die L. des Lehrenden (docentis), des Lernenden (discen-
allem zweifelhafte Stellen klären sollen, fördern die tis) sowie des Für-sich-Lesenden (per se inspicientis).
Texterschließung. [32] Zugleich verändern und differen- Mit ersterer ist auf das erklärende Vorlesen des Lehrers
zieren sich die Unterrichtsformen weiter. Die Entwick- verwiesen, vergleichbar mit der praelectio bei Quintili-
lung hier vorwegnehmend, sind unterschiedliche Wege an. Letztere kennzeichnet das Lesen als Privatlektüre –
der L. zu erwähnen. Sie erweitert sich zur reportatio. Sie sicherlich ein Indiz für das Auftreten des stillen Lesens,
geht aber auch über in die quaestio und die disputatio, welches aber explizit auch in der Benediktsregel ange-
die der Scholastik wesentlich eigene Methode in Schule führt ist. [46] Das ‹Didascalicon› mit dem schlichten Un-
und Hochschule, deren Kern in einem Streitgespräch tertitel ‹De studio legendi› ist nach I. Illich «das erste
nach festgelegtem Schema besteht. ‹L.› wird außerdem Buch, das über die Kunst des Lesens geschrieben wur-
zur Bezeichnung für die Vorlesung. Die quaestio wie- de». [47] Über ihre traditionelle Rolle im Studium und
derum führt zur quaestio disputata, zur quaestiuncula beim Studieren hinausgehend, stellt die L. auch die 1.
und zur summa, der kurzen systematischen Zusammen- Stufe in einem religiös-spirituellen Akt dar: der lectio
fassung einer Wissenschaft. [33] Hinzuweisen ist schließ- divina. [48] Sie ist so auch Bestandteil monastischer Bil-
lich darauf, daß der Unterricht in lateinischer Sprache dung. Deren Ziel, die Vereinigung mit Gott, ist ebenfalls
stattfindet. Er beginnt, wie in der römischen Antike, mit Ziel der lectio divina. Um dieses zu erreichen, muß der
dem Grammatikunterricht. [34] Mensch auf vier Stufen emporschreiten. [49] Es sind dies
Eine neue Sicht auf die L. eröffnet Hugo von St. Vik- «das Studium oder die Belehrung, die Meditation, das
tor (ca. 1097–1141) in seiner Schrift ‹Didascalicon› mit Gebet und das Handeln». Als 5. Stufe kann die Kontem-
dem Untertitel ‹De studio legendi› (‹Über das Studium plation (contemplatio) folgen. Die lectio divina stellt im
des Lesens›). [35] «Mehr eine Hodegetik als eine Enzy- ‹Didascalicon› nur ein Thema neben verschiedenen an-
klopädie» [36], steht das um 1127 verfaßte Werk in der deren dar. Einziger Gegenstand hingegen ist sie in dem
langen Tradition christlicher Wissenskompendien, die Traktat mit dem Titel ‹Die Leiter der Mönche zu Gott.
auch von lehrplangeschichtlicher Bedeutung sind. [37] Oder: Abhandlung über das Gebet›, entstanden vor
Die im ‹Didascalicon› vorgelegten Reflexionen auf Le- 1150. Der Verfasser, Guigo der Kartäuser, bietet eine
sen und Lektüre (legere, L.) sind Bestandteil sowohl des systematische Darstellung der lectio divina in 13 Kapi-
1. Teils der Schrift (Buch 3–5), der sich an den Studenten teln. Er beschreibt die Eigenschaften der vier Stufen so-
säkularer Wissenschaften richtet, als auch des 2. Teils wie ihre Wirkung auf diejenigen, die sich der lectio di-
(Buch 4–6), der sich mit sakraler Schriftdeutung be- vina hingeben. Diese vier Stufen werden bereits bei
schäftigt. In dem im 1. Teil entfalteten Wissenssystem Smaragd von Saint-Mihiel (gest. um 830) erwähnt. Mit

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den im ‹Didascalicon› vorgestellten stimmen sie weit- Verständnis zu erarbeiten man als bedeutsame Aufgabe
gehend überein. [50] Für Guigo ist die kontemplativ aus- erachtet. [54] Ein solches Verständnis von der Lektüre
gerichtete lectio divina eine Leiter der Mönche zu Gott klassischer Autoren führt auch zu dem Anspruch, die
und er benennt die Stufen folgendermaßen: Bibel in den Originalsprachen zu studieren. Noch einen
1. lectio (konzentrierte Lektüre eines Bibeltextes) Schritt weiter geht Anfang des 16. Jh. in Deutschland
2. meditatio (Auswahl einer bestimmten Stelle des ge- Martin Luther (1483–1546). Er will den gelehrten Un-
lesenen Textes und seine meditative Aneignung) terricht auf den drei ‹Kreuzsprachen› Latein, Griechisch
3. oratio (Gebet als Antwort auf die im Text enthal- und Hebräisch aufbauen. [55] Doch befürwortet Luther
tene göttliche Anrede) den Sprachenunterricht nicht wegen seines humanisti-
4. contemplatio (kontemplative Annäherung an und schen Wertes, sondern um der Bibel willen. Das Evan-
Gemeinschaft mit Gott, unio mystica). gelium sei ohne diese Sprachen nicht zu erhalten. In sei-
Die Bedeutung der vier Stufen veranschaulicht die ner Flugschrift ‹An den christlichen Adel deutscher Na-
schon von Quintilian zur Charakterisierung der L. tion› (1520) fordert er: «Vor allen Dingen sollte in den
(Lektüre) verwendete Metapher des Speisens, die zu- hohen und niederen Schulen die vornehmste und allge-
gleich die sinnlich-körperliche Seite der lectio divina be- meinste Lektion die Heilige Schrift sein und den jungen
tont: «Die Lesung (lectio) führt gleichsam die feste Spei- Knaben das Evangelium.» [56] In der Frage der Bibel-
se zum Mund, die Meditation zerkleinert und zerkaut exegese verteidigt Luther den reformatorischen Grund-
sie, das Gebet schmeckt sie und die Kontemplation er- satz, daß die Hl. Schrift allein als Prinzip von Glaube und
langt die Freude des Genusses.» [51] Kirche hinreichend und von eindeutiger Klarheit ist
Der Traktat Guigos, ein Ausweis monastischer Bil- (‹sola scriptura-Prinzip›). [57] Zur Zeit des Pietismus er-
dung, und das ‹Didascalicon› Hugos von St. Viktor, das fährt die L. im Bibelunterricht der Schule unter dem
sowohl monastische als auch scholastische Elemente Einfluß A.H. Franckes (1663–1717) eine bemerkens-
enthält, sind etwa im 2. Viertel des 12. Jh. entstanden – werte Akzentuierung – sowohl durch die Verstärkung
ebenso wie ein Werk rein scholastischer Bildung, das des Elements der Erbauung als auch durch die Intensi-
nichts weniger als den Lehrplan des Mittelalters reprä- vierung der Katechese (dreigleisiger biblischer Unter-
sentiert: das ‹Heptateuchon› des Thierry von Char- richt mit schultäglicher lectio continua). [58] Nach Jahr-
tres. Das erste enzyklopädische Handbuch der Sieben hunderten eines Schattendaseins geht im 20. Jh. von
Freien Künste (um 1141) bietet die vollständigen Texte katholischer Seite durch das 2. Vatikanische Konzil
der Autoren, welche die einzelnen Wissenschaften be- (1962–1965) eine Erneuerung des L.-Gedankens aus,
handeln – beginnend im Trivium mit Donat und Priscian und zwar im Sinne einer Rückbesinnung auf die Bibel
über Ciceros ‹De inventione› und Martianus Capellas und ihre Lektüre. Diese Tendenz wird von Benedikt
‹De nuptiis Philologiae et Mercurii›, der für das ganze XVI. in einer Ansprache im Jahre 2005 unterstrichen.
Mittelalter maßgebenden Darstellung der artes, bis Von Bedeutung ist, daß der Papst in dieser Rede die
hin zu den ‹Topica› Ciceros sowie allen Teilen des Tradition der lectio divina in Erinnerung ruft, in der
‹Organons› von Aristoteles. Auffällig ist das große Überzeugung, daß diese Praxis der Kirche bei entspre-
Übergewicht des Triviums (434 Blätter) gegenüber den chender Förderung «einen neuen geistigen Frühling»
naturwissenschaftlichen Fächern (161 Blätter). [52] Un- bringen werde. [59]
geachtet der Bedeutung des ‹Heptateuchon› tritt der
Lehrplan der artes liberales im Lauf der Jahrhunderte Anmerkungen:
mehr und mehr in den Hintergrund. So sind die artes im 1 R. Köhn: Schulbildung und Trivium im lat. Hochma. und ihr
16. Jh. nicht mehr der Lehrplan, sondern ein «Sammel- möglicher praktischer Nutzen, in: J. Fried (Hg.): Schulen und
name für allerhand Fächer». [53] Studium im sozialen Wandel des hohen und späten MA (1986). –
2 vgl. A. Walde: Lat. Etym. Wtb., Bd. 1 (41965) 780. – 3 K.E. Ge-
Literaturhinweise: orges: Ausführliches Lat.-Dt. Handwtb., Bd. 2 (81913/18; ND
F.A. Specht: Gesch. des Unterrichtswesens in Deutschland 1992) 600f. – 4 J.F. Niermeyer, C. van de Kieft: Mediae lati-
(1885; ND 1982). – J. Koch: Artes liberales (1959). – P. Vossen: nitatis lexicon minus – Mittellat. Wtb., A-L (Leiden 22002)
Der Libellus Scolasticus des Walther von Speyer (1962). – G. 772f. – 5 Grimm, Bd. 12, Sp. 488; Schulz, Bd. 2, 17f; F. Kluge:
Glauche: Schullektüre im MA (Diss. 1970). – G.A. Kennedy: Etym. Wtb. der dt. Sprache (221989) 675f; H. Paul: Dt.
Classical Rhetoric and its Christian and Secular Tradition from Wtb. (91992) 526; vgl. auch: Zedler, Bd. 16, Sp. 1316–1326;
Ancient to Modern Times (Chapel Hill 1980) 120–246. – H.I. Duden. Das große Wtb. der dt. Sprache in 10 Bdn., Bd. 6
Marrou: Augustinus und das Ende der antiken Bildung (1981). – (31999) 2407; DWDS. Das digitale Wtb. der dt. Sprache des
A.N. Cizek: Imitatio et tractatio (1994). – M. Parkes: Klösterli- 20. Jh. 2003 (http.//www.dwds.de); Duden. Das Fremdwtb.,
che Lektürepraktiken im Hochmittelalter, in: R. Chartrier, G. Bd. 5 (2007) 594. – 6 s. Duden. Das große Wtb. [5]; Duden. Das
Cavallo: Die Welt des Lesens (1999) 135–153. – J. Hamesse: Das Fremdwtb. [5]. – 7 H.B. Meyer: Art. ‹Bahnlesung›, in: LThK3,
scholastische Modell der Lektüre, ebd. 155–180. Bd. 1 (1993) 1356f. – 8 Art. ‹Textkritik›, in: dtv-Lex. der Antike.
Philos., Lit., Wiss., Bd. 4 (1970) 259–261, hier: 260. – 9 Quint. I, 1,
12–14. – 10 U. Lindgren: Art. ‹Artes liberales›, in: HWRh, Bd. 1
(1992) 1080–1109, hier: 1080–1084; G. Rechenauer: Art. ‹En-
III. Humanismus – 20. Jh. Als Verkehrung von Me- kyklios paideia›, ebd., Bd. 2 (1994) 1160–1185. – 11 Quint. I, 4, 2
thoden und Zielen – vor allem: Aneignung von Techni- und I, 9, 1 (ratio loquendi et enarratio auctorum); Lausberg Hb.
ken zur Auslegung von Texten statt Bildung des Men- §§ 16–31 (Grammatik); 23–30 (poetarum enarratio); s. G. Kali-
schen – erfährt der scholastische Unterricht massive voda: Art. ‹Grammatikunterricht›, in: HWRh, Bd. 3 (1996) Sp.
Kritik. Zugleich bringen sich neue Vorstellungen von 1112–1174, hier: 1112–1135. – 12 Quint. I, 8, 1–21 (lectio); I, 4, 3
Bildung und Unterricht zur Geltung. Ausgehend von (emendata lectio); I, 6, 1–2; I, 6, 11 (auctoritas); II, 2, 8; X, 1, 2; X,
1, 15; XII, 2, 29–31 (exempla); I, 8, 5 (Homer, Vergil); vgl. Laus-
Wissenschaftlern, Poeten und Lehrern vorwiegend der berg Hb. § 26 (auctores), §§ 1141–1142 (lectio); X, 1, 22 (Reden);
oberitalienischen Städte kommt es bereits im frühen X, 1, 35 (Philosophen). – 13 Quint. I, 8, 1; I, 8, 8; I, 8, 13; II, 5, 4; J.
14. Jh. zu Forderungen wie der nach einer neuen Form Marquardt: Das Privatleben der Römer, 1. T. (21886; ND 1990)
unverstellter, direkter Begegnung mit der Antike, vor 105–108; H.I. Marrou: Gesch. der Erziehung im klass. Altertum
allem mit den Werken ihrer Dichter, deren historisches (1957) 316–22, 513–516; M.F. Quintilianus, Institutionis orato-

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Lectio Liebesrede, Liebesbrief

riae liber I. Ed. with Introd. and Commentary by F.H. Colson stralium. Sive tractatus de modo orandi. Die Leiter der Mönche
(1973) 103–105; s. ebd. 104 («suspendere spiritum [...]»): Hin- zu Gott, übers. und eingel. von D. Tibi (2008) 27–53; Guigo II:
weis auf Quint. XI, 3, 35–38; St.F. Bonner: Education in ancient The Ladder of Monks, translated with an Introd. by E. Colledge
Rome (London 1977) 212–249 (praelectio 225f, 228). – 14 Quint. (Kalamazoo, Michigan – Spencer, Massachusetts 1979); Sma-
X; X,1,1; copia rerum ac verborum: X, 1, 5; Ueding/Steinbrink ragd of Saint-Mihiel, in: Tusculum-Lex., hg. von W. Buchwald et
304f.; M. Kraus: Art. ‹Exercitatio›, in: HWRh, Bd. 3 (1996) 71– al. (31982) 734. – 51 Quint. X, 1, 19; Scala [50] 31. – 52 Inhalt des
123, hier: 71–84. – 15 Quint. X, 1, 16–19. – 16 Quint. X, 1, 20; vgl. ‹Heptateuchon›: M.A. Clerval: Les écoles de Chartres au moy-
Cic. De or. I, 158; III, 39; literaturgesch. Skizze: Quint. X, 1, en – âge (Paris 1895; ND Frankfurt a. M. 1965) 220–240; Prolog
20–131; imitatio: X, 2,1–28; s. N. Kaminski, D. De Rentiis: Art. in: E. Jeauneau: «Lectio philosophorum» (Amsterdam 1973)
‹Imitatio›, in: HWRh, Bd. 4 (1998) 235–303; hier: 235–245, 291– 87–91; s. Manitius [24] Bd. 3, 200f.; Garin [28] 10f. – 53 Dolch [18]
294; Cic. De or. II, 89–93; Quint. X, 2, 4–10; s. H. Bukowski: Der 217f. – 54 Garin [28] 7–15; Ueding/Steinbrink 74ff.; M. Fuhr-
Schulaufsatz und die rhet. Sprachschulung. Rhet. Methoden mann: Latein und Europa (2001) 29ff. – 55 M. Luther: An den
und Aufgaben in der Institutio oratoria Quintilians und der christlichen Adel deutscher Nation, in: Päd. und Reformation,
Theorie des dt. Schulaufsatzes (Diss. Kiel 1956) 46–55. – 17 Cic. eingel. ausgewählt und erl. von F. Hofmann (1983) 66f.; ders.:
De or. III, 39; Quint. I, 8, 11–12; X, 1, 27. – 18 M. Grabmann: Die An die Ratsherren aller Städte deutschen Landes [...] ebd. 77–
Gesch. der scholastischen Methode, Bd. 1 (1909; ND 1988) 125– 80, 86; F. Paulsen: Gesch. des gelehrten Unterrichts, Bd. 1
143, hier: 127; Curtius 50; J. Dolch: Lehrplan des Abendlandes (31919, ND 1960) 203ff; vgl. auch Garin II [28] 13–15; Dolch [18]
(31971) 75–77. – 19 Aug. Doctr. IV, 3, 4; IV, 3, 5; IV, 5, 8; Murphy 194–198; Fuhrmann [54] 48–50. – 56 Luther: Adel [55] 69. –
RM 57–64; vgl. Ueding/Steinbrink 46–52. – 20 Die Benedikts- 57 W.A. Bienert et al.: Art. ‹Exegese. V. Kirchengesch.›, in:
regel. Lat. – dt. Mit der Übers. der Salzburger Äbtekonferenz RGG4, Bd. 2 (1999) Sp. 1786–1791, hier: 1788f. – 58 M. Ottmers:
hg. von P.U. Faust (2009) im Folgenden mit BR abgekürzt; lec- Art. ‹Erbauungsliteratur›, in: HWRh, Bd. 2 (1994) 1347–1356;
tio divina: BR 48,1; s. J. Sandstede: Art. ‹Lesung›, in: HWRh, P.C. Bloth: Art. ‹Schriftlesung›, in: TRE, Bd. 30 (1999) 520–558,
Bd. 5 (2001) 184–193. – 21 Gebetsgottesdienste: BR 8–18; Mahl- hier: 539; R. Smend: Art. ‹Exegese›, in: RDL3, Bd. 1 (2007) 531–
zeiten: BR 38, 42; Komplet: 43, privat: BR 48. – 22 J. Leclercq: 534. – 59 M. Bieber: Geistliche Schriftlesung. Die Bibel als das
Wiss. und Gottverlangen (1963) 26; G. Butzer: Art. ‹Meditati- Ereignis des Heiligen, in: Una Sancta 58 (2003) 276–287; An-
on›, in: HWRh, Bd. 5 (2001) 1016–1023; M. Puzicha: Kommen- sprache Papst Benedikts XVI. am 16.9.2005 an die Teilnehmer
tar zur Benediktusregel (2002) 406f. – 23 «Wurzelgrund»: s. des Kongresses «Die Heilige Schr. im Leben der Kirche»
BR [20] 191f. – 24 vgl. BR 42, 73; s. M. Manitius: Gesch. der lat. (www.deiverbum2005.org/Paper/BenedictXVI d.pdf); s. Scala
Lit. des MA, Bd. 1 (1911; ND 1974) 91. – 25 vgl. Norden II, 663– claustralium [50] 10–13.
665; vgl. Manitius [24] 91; s. auch R. Limmer: Bildungszustände
und Bildungsideen des 13. Jh. (1970) 106–109; vgl. D. Illmer: Literaturhinweis:
Erziehung und Wissensvermittlung im frühen MA (1979), bes. J. Arndt, J. Schnorr: Sechs B. vom wahren Christentum ...
35–66; s. auch B. Steidle: Beitr. zum alten Mönchstum und zur (1930). – D.G. Kramer (Hg.): A.H. Franckes päd. Schr. (21885,
Benediktusregel (1986) 206–215. – 26 Manitius [24] 91; Le- ND 1966). – G. Sauder: Erbauungslit., in: Hansers Sozialgesch.
clercq [21] 20, 28 passim. – 27 Norden II, 663–665; Manitius [24] der dt. Lit., Bd. 3, 1. Teilb. (1980) 251–266. – E. Friedmann: Die
91. – 28 vgl. Curtius 444–446 (Cassiodor), 447–452 (Isidor); E. Bibel beten. L. divina heute (1995). – M. Bickenbach: Von der
Garin: Gesch. und Dokumente der abendländischen Päd. I Möglichkeit einer ‹inneren› Gesch. des Lesens (1999).
(1964) 7, 9f., 12. – 29 s. Curtius 440. – 30 Hrabanus Maurus: Die
Bildung des Geistlichen, in: E. Schoelen: Päd. Gedankengut des L. Bahmer
christl. MA (1956) 40f.; Curtius 59–62. – 31 Curtius 436. – 32 s. J.
Leclercq [22] 137–140; s. E. Garin [28] 21–24; G. Schrimpf: Art. ^ Artes Liberales ^ Disputation ^ Enkyklios paideia ^ Er-
‹Philos.›, Abschnitt V.B., in: HWPh, Bd. 7 (1989) 805, 806; E. bauungsliteratur ^ Exercitatio ^ Grammatikunterricht ^
Rohmer: Art. ‹Glosse›, in: HWRh, Bd. 3 (1996) 1009–1014; s. U. Heilige Sprachen ^ Kanon ^ Leser ^ Lesung ^ Literaturun-
Püschel: Art. ‹Kommentar›, in: HWRh, Bd. 4 (1998) 1179–1187. terricht ^ Mystik ^ Progymnasmata, Gymnasmata ^ Schola-
– 33 Grabmann [18] Bd. 2, 16–27; s. J. Leclercq [22] 174, 228f; s. stik ^ Schriftauslegung ^ Trivium ^ Vorlesung
H. Marti: Art. ‹Disputation›, in: HWRh, Bd. 2 (1994) 866–880,
hier 873–875; s. G. Kalivoda: Art. ‹Quaesitum›, in: HWRh, Bd. 7
(2005) 501–503. – 34 s. Köhn [1] 224 und 224, Anm. 53; Kalivo-
da [11] 1135–1145, hier: 1137. – 35 The Didascalicon of Hugh of Liebesrede (lat. oratio amatoria; engl. love talk, dis-
St. Victor. A Medieval Guide to the Arts. Translated from the course of love; frz. discours d’amour)
Latin with an Introd. and Notes by J. Taylor (New York 1991); Liebesbrief (lat. epistula amatoria; engl. love letter; frz.
Hugo von Sankt Viktor: Didascalicon. De studio legendi. lettre d’amour; ital. lettera d’amore)
Stud.buch. Übers. und eingel. von Th. Offergeld, (lat.-dt.) 1997; A.I. Def. – II. Rhetorische Aspekte. – B. Geschichte: I. Antike. –
s. auch: Manitius [24] Bd. 3, 112–115; Grabmann [18] Bd. 2, 229– II. Mittelalter. – III. Renaissance bis Barock. – IV. Aufklärung,
249. – 36 O. Willmann: Didaktik als Bildungslehre nach ihren Empfindsamkeit. – V. Romantik bis Gegenwart.
Beziehungen zur Sozialforschung und zur Gesch. der Bildung
(41909) 183; s. M. Kern: Art. ‹Hodegetik›, in: HWRh, Bd. 3 A. I. Def. Die Liebesrede ist ein Phänomen mündli-
(1996) Sp. 1450–1454. – 37 vgl. Dolch [18] 75–77 (Augustinus); cher und schriftlicher Kommunikation. Ihre schriftliche
78–80 (Cassiodor); 81f. (Isidor von Sevilla); 103f. (Hrabanus Fixierung findet sich in sehr unterschiedlichen Funk-
Maurus); 99–101 (Alkuin); 136–138 (Hugo v. St. Viktor). – tionszusammenhängen: in Lebenszeugnissen wie Lie-
38 Didascalicon [35] I, 3, 4. – 39 vgl. ebd. 55 (Aufbauskizze der
Wiss.); s. M. Fuhrmann: Das systematische Lehrb. (1960); vgl. L.
besbriefen und persönlichen Aufzeichnungen, in der
Bahmer: Art. ‹Didaktik›, in: HWRh 2 (1994) 739f. (Aufbau- Ratgeberliteratur (Anstandsbücher, Briefsteller) und in
skizze der ‹Institutio oratoria› Quintilians). – 40 Didascali- vielfachen literarischen Gestaltungen. Rhetorisch läßt
con [35] I, 3, 9–11, vgl. aber Joh. v. Sal. I, 2, 4; s. Grabmann [18] sich die Liebesrede als intime Spielart der epideikti-
17–19. – 41 Didascalicon [35] I, 3, 10. – 42 ebd. Praefatio. – schen und deliberatorischen Beredsamkeit verstehen.
43 Studium/Studieren z.B. ebd. II, 5, 5 (S. 334, Z. 9 «uni lectio- Während im epideiktischen Aspekt stärker der Selbst-
ni»), II, 5, 7; II, 5, 8; Studierender/Student z.B. I, 3, 4; I, 3, 11 bezug des Redners bzw. Schreibers präsent ist, tritt das
(S. 248, Z. 19 «Unde rogo te, o lector, [...]»); II, 5, 8. – 44 ebd. genus deliberativum in dialogischen und okkasionellen
Praefatio; I, 3,7–8. – 45 ebd. I, 3, 6; I, 3, 7; s. ebd. 240f, Anm. 51;
vgl. Martin 7. – 46 Didascalicon [35] I, 3, 7; vgl. Grabmann [18]
Rede- und Schreibsituationen in den Vordergrund.
Bd. 2, 13–15, BR 48; zum Lesen als körperlich-akustische Tätig- Die Redefunktion ist zu bestimmen in der Dialektik
keit s. I. Illich: Im Weinberg des Textes (1991) 57–60. – zwischen unterschiedlichen Wirkungs- und Ausdrucks-
47 Illich [46] 13. – 48 Didascalicon [35] II, 5, 6 («divinam lectio- intentionen. Diese lassen sich nicht klar voneinander ab-
nem»); vgl. ebd. II, 5, 5. – 49 ebd. I, 3, 10; II, 5, 9. – 50 Scala clau- grenzen, sind situativ bedingt und von äußeren und in-

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Liebesrede, Liebesbrief Liebesrede, Liebesbrief

neren Dispositionen der Liebenden abhängig. Sie kön- Die Rhetorik der Liebesrede ist seit der Antike mit
nen u. a. zielen auf die Persuasion des geliebten Men- den geschichtlich sich entfaltenden Idealen der Liebe
schen im Kontext von Verführung, Liebes- und Braut- eng verknüpft, die in zahlreichen religiösen, philoso-
werbung, Verklärung, Liebeszweifeln, Eifersucht und phischen und literarischen Leittexten tradiert sind: dem
Liebesverrat, auf die Klärung von Mißverständnissen, ‹Hohen Lied›, den Liebesreden in Platons ‹Phaidros›
die Offenlegung von verborgenen Wünschen, die Er- und ‹Symposion›, den Liebesgedichten der Sappho, den
klärung und/oder Intensivierung der Gefühle bzw. kom- Liebeslehren in Ovids ‹Ars amatoria›, der Liebeskor-
plementär dazu auch auf eine Affekteindämmung bis respondenz zwischen Abaelard und Héloïse, dem
hin zur Provokation eines Erkaltens der Gefühle. Auch Liebessystem des Minnesangs und des Petrarkismus
in intentionalen Selbstdarstellungen und strategisch raf- etc. Musterhaft, wenn auch eher in einer Wendung ge-
finierten Zuschreibungen an den Anderen durchdrin- gen rhetorische Muster, wurden vor allem eine Reihe
gen Wirkungs- und Ausdrucksintention einander. von Liebesromanen, etwa Rousseaus Briefroman ‹Ju-
Liebesrede und Liebesbrief sind zwar der Gattung lie ou la nouvelle Héloı̈se›, Goethes ‹Werther›, Flau-
nach verschieden, stimmen aber rhetorisch gesehen dar- berts ‹Madame Bovary› und Tolstois ‹Anna Kareni-
in überein, daß der Brief ebenso als geschriebene Rede na›.
aufgefaßt werden kann. Der Liebesbrief ist aber auch B. Geschichte. I. Antike. Der Liebesbrief als kultur-
insofern mehr als eine geschriebene Rede, als für ihn geschichtliches Zeugnis läßt sich weder in der griechi-
Kriterien konstitutiv werden, die über die Bedingungen schen noch römischen Antike fassen. Seit dem Hellenis-
der mündlichen Anrede und Gegenrede weit hinausrei- mus gibt es theoretische Abhandlungen, welche die Re-
chen. So z.B. räumliche Trennungen und zeitliche Ver- geln der Rhetorik für den Brief adaptieren und dabei
schiebungen, Schreibvermögen und Beglaubigung der amtliche Briefe vom Privatbrief absondern, den sie als
Liebesrede im Medium der Schrift, Imaginationen, In- Freundschafts- und Familienbrief bestimmen. So kann
szenierungen und Verstellungen, Verflechtungen der Pseudo-Demetrius den Brief das «Abbild der eigenen
Liebesrede mit anderen Diskursen (moralischen, reli- Seele» [5] und Cicero ihn ein «schriftliches Gespräch
giösen, philosophischen, ökonomischen, ästhetischen, unter Abwesenden» [6] nennen, Definitionen, die bei
literarischen, medizinischen, politischen etc.). Daraus Seneca, Quintilian und Philostrat wiederkehren. Diese
ergeben sich auch für die Rhetorik des Liebesbriefes epistolaren Empfehlungen, oft mit Musterbriefen ver-
veränderte Voraussetzungen und Möglichkeiten gegen- sehen, enthalten keine spezifischen Anweisungen für
über der mündlichen Liebesrede: höhere Anforderun- das Verfassen von Liebesbriefen. [7] Wohl aber blenden
gen an die elocutio, eine Öffnung des Gesprächsraums griechische wie römische Dichter literarische Liebes-
für Fiktion und Illusion, die Möglichkeit zur Simulation briefe (auch ‹fingierte› genannt) in ihre Romane ein.
und Inszenierung von Interlokutionen («[...] loben Sie Liebesbriefe in Prosa finden sich bei Petronius (‹Cena
mich nicht, mein lieber, ich bin froh, ich bin glücklich Trimalchionis›), und dann in den späthellenistischen
daß unsre Herzen sich kennen.» C. Flachsland an J.G. Liebesromanen (Chariton: ‹Chaireas und Kallirhoe›
Herder, 25. 8. 1770) [1] und Xenophon von Ephesos: ‹Ephesiaka›). [8]
II. Rhetorische Aspekte. Die Spannung zwischen For- Bereits in der ‹Ars amatoria› empfiehlt Ovid, Briefe
mung und Natürlichkeit bestimmt im Sinne einer ars- als Instrumente erotischer Werbung einzusetzen. Seine
natura-Dialektik die historische Entwicklung der Lie- ‹Epistolae Heroidum› erheben Liebesbriefe zum litera-
besrede im Liebesbrief und in der Literatur. In episto- rischen Genus; sie enthalten die fingierten Briefe von 15
laren und literarischen Zeugnissen der Antike, des mythischen Heroinen – u. a. Penelope, Medea, Dido – an
Mittelalters, der Renaissance und des Barock bleibt die ihre Männer und Geliebten. Die Briefe durchmessen ein
Verknüpfung von decorum und honestum ein rhetori- nuanciertes Spektrum des Ausdrucks von Liebe: feste
sches Grundprinzip, das die in den Anstands- und Kom- Treue, verzweifeltes Flehen, flammende Eifersucht und
plimentierbüchern sowie den Briefstellern vorgegebe- mehr. Anschließend folgen die Briefe, deren Echtheit
nen Regeln bestimmt. [2] Obgleich sie sich aus ihren rhe- bestritten wird, von drei mythischen Paaren, wobei je-
torischen Wurzeln nie ganz befreit, tritt die Liebesrede weils der Mann den ersten, die Frau den erwidernden
in der Literatur und im Liebesbrief seit dem 18. Jh. mit Brief schreibt. Formal sind es Versepisteln, die umfas-
dem Anspruch der Spontaneität, Intimität und Unmit- send und bis in die Aufklärung nachwirken. [9] Philo-
telbarkeit auf (ein Anspruch, der sich seinerseits wie- strats Sammlung enthält 73 Briefe, 58 davon Liebes-
derum zu rhetorischen Formeln der dissimulatio verfe- briefe; unklar ist, ob darunter auch authentische sind.
stigt). Auch die radikal intimen Erscheinungsformen Die 50 Briefe des spätantiken Schriftstellers Aristai-
der Liebesrede lassen sich jedoch mit Strategien der Re- netos sind eine Sammlung erotischer Motive, keine Lie-
flexion, Öffentlichmachung, Formung und Fixierung besbriefe im engeren Sinne.
verbinden. Dabei werden sprachliche und außersprach- Die Liebesreden der Antike nehmen ihren Anfang in
liche Mitteilungsmodelle konstitutiv, z.B. solche der elo- der Liebeslyrik. Dabei setzt Sappho mit ihren Hymnen,
quentia corporis («Oftmals hab’ ich auch schon in ihren Hochzeits- und Liebesliedern die Maßstäbe (ehemals 9
Armen gedichtet/Und des Hexameters Maß leise mit Bücher). Für die Entstehung der Liebesrede sind wich-
fingernder Hand/Ihr auf den Rücken gezählt.» Goethe: tig jene Gedichte, die eine(n) Geliebte(n) direkt, oft na-
‹Römische Elegien›, V, 1795) [3] und der Übertragung mentlich, ansprechen. Ihre Liebesklagen und Hymnen
in eine Zeichensprache der Natur, was als eine Figur des antizipieren – im Unterschied zur Liebesrede – das spä-
celare artem und zugleich der amplificatio begriffen wer- tere Reden über die Liebe. [10]
den kann («Ich schnitt’ es gern in alle Rinden ein,/Ich In der klassischen Zeit kommt das Epigramm als la-
grüb’ es gern in jeden Kieselstein,/Ich möcht es sä’n auf konische, verdichtete Ausdrucksform auf; es beginnt
jedes frische Beet/Mit Kressesamen, der es schnell ver- eine konstante Produktion von Liebesepigrammen. Be-
räth,/Auf jeden weißen Zettel möcht’ ich’s schreiben:/ rühmt ist jenes von Platon: «Zu den Sternen blickst Du,
Dein ist mein Herz, und soll es ewig bleiben.» Wilhelm mein Stern, wäre ich doch/der Himmel, damit ich Dich
Müller: ‹Ungeduld›, 1821) [4]. sähe mit vielen Augen» [11].

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Liebesrede, Liebesbrief Liebesrede, Liebesbrief

Für die nachantike Rezeption ist die römische Elegie private Brief, sondern der Kanzlei- und Geschäfts-
(Properz, Tibull, Ovid) und die in ihr gepflegte Lie- brief, und dies ändert sich auch nicht mit den modi
besrede von größter Bedeutung, obwohl sie sich in ent- epistolandi der Humanisten. In beide Typen der
schiedenen Gegensatz zu den antiken Konventionen Brieflehre, die artes dictaminis sowie die modi epistolan-
stellt. Sie macht die Liebe zum Sklavendienst an der di, können aber Anleitungen zur Abfassung von Lie-
Geliebten. Damit greifen die Elegiker das römische besbriefen eingehen. [20] Eine Ausnahme in der Tra-
Eheideal an, aber auch das politische Ideal des freien, dition der Briefsteller repräsentiert am Beginn des
selbstbestimmten männlichen Bürgers. Diese aggressive 13. Jh. die ‹Rota Veneris› des Magister Boncompa-
Umwertung bringt die Liebeselegie freilich schnell an gno [21], der erste Liebesbriefsteller in ovidischer Tra-
ihr Ende. Ovid, der diese Form zur Vollendung treibt, dition. Die für den lateinischen Brief entwickelten Re-
erprobt in den ‹Amores› eine Poesie in Ich-Form, wobei geln bleiben für den volkssprachigen maßgeblich, so
der Dichter sich mit Namen nennt, um ein Gespräch un- daß auch der deutschsprachige Privatbrief stark for-
ter Abwesenden zu simulieren, eine Briefsituation zu malisiert ist. Brieflehren und Musterbriefsammlungen
schaffen als Möglichkeit, die ferne Geliebte im Geiste in deutscher Sprache finden sich erst seit dem 15./16. Jh.
nah zu sich zu holen. Die scheinbar assoziative Reihung (die früheste bei Friedrich von Nürnberg: ‹Ars epi-
der Gedanken erweckt den Eindruck eines autobiogra- stolandi›, um 1450).
phischen Textes. [12] Die ersten Belege für literarische Liebesbriefe in der
Eine andere Gattung ist die philosophische Liebes- Volkssprache sind in Versepen inserierte Briefe. [22]
rede. Sie beginnt in Platons Dialogen und erreicht dort Einen Höhepunkt von Liebesbrief und Liebesrede mar-
eine gedankliche und poetische Höhe, die nur schwer- kiert bereits der erste höfische Roman in Deutschland,
lich einzuholen ist: im ‹Phaidros›, wo sich die Liebe als der ‹Eneasroman› Heinrichs von Veldeke (um 1180).
Wiedererinnerung an die transzendente Schönheit er- Nachdem der anonyme afrz. ‹Roman d’Eneas› (um
weist, dann im ‹Symposion›, wo jeder Teilnehmer die 1160) Liebesrede und -brief in knappen Versen einge-
Liebe anders darstellt: als Allheilmittel, als Verlangen führt hat, gestaltet der deutsche Dichter seine Vorlage
nach der anderen, verlorenen Hälfte des eigenen Selbst, amplifizierend aus. Veldeke exponiert die Liebe im
als Sehnsucht nach Vervollkommnung und gottgleicher Minnegespräch zwischen Mutter und Tochter als Thema
Unsterblichkeit. Diese philosophischen Liebesreden («sô saget mir denne waz minne is» 262,6), schildert sie
üben eine starke Wirkung in der spätantiken, der mit- in ovidischer Tradition als Krankheit der Lavinia («si
telalterlichen und neuzeitlichen Theologie, Mystik, Phi- switzete unde bebete,/ unsanfte sie lebete,/sie wart
losophie und Poesie aus. [13] Ebenfalls diskursiv, aber bleich unde rôt» 268,3–5) und umkreist sie in deren Min-
didaktisch-praktisch statt philosophisch-theoretisch, in nemonolog (268,12–279,8). Auf narrativer Ebene wird
elegischen Distichen anstelle von Prosa handelt Ovid im die Entstehung der Liebe aus dem Anblick des Gelieb-
Lehrgedicht ‹Ars amatoria› über das Wesen der Liebe. ten entwickelt, in einen Blickwechsel mit Ansteckung
In drei Büchern entwirft er einen Lehrgang der Erotik, überführt, ein Vorgang, den erst das unerhörte Liebes-
der die Liebesregeln sowohl systematisiert als auch par- geständnis Lavinias in einem Brief anstößt. Wie Amor
odiert und seine Schüler vor allem in den nachgebore- mit dem Pfeil Lavinia ins Herz schießt, so läßt sie den in
nen Dichtern der Spätantike und des Mittelalters der verschlossenen Kemenate verfaßten volkssprachi-
fand. [14] gen Minnebrief per Pfeil ins feindliche Lager schießen.
II. Mittelalter. Vom 11. Jh. an nimmt die Produktion la- Freude und Schmerz, Nähe und Distanz, Heimlichkeit
teinischer Liebesbriefe und versifizierter Episteln zu, ab und Gefahr, Intellektualität und Körperlichkeit der Lie-
Mitte des 12. Jh. finden sich zudem provenzalische und be und Medienkompetenz – alles ist in diesem ersten
altfranzösische Liebesbriefe. [15] Ob diese in Latein und höfischen Roman deutscher Sprache schon vorhanden.
der Volkssprache überlieferten Briefe als authentisch Der Lavinia-Brief ist ein Paradigma für die Paradoxie
angesehen werden können, ist in der Forschung um- des Liebesbriefs: Reißt er durch Werbung, Klage oder
stritten. [16] Die methodisch-hermeneutischen Impli- Bekenntnis Kommunikationsschranken ein, schafft er
kationen zeigt der Forschungsstreit um die Echtheit der durch die mediatisierte Kommunikation mittels Schrift
Korrespondenz zwischen Abaelard und Heloise. [17] zugleich Distanz.
Eine strikt überlieferungsgeschichtliche Argumentation Wenn in den folgenden Jahrzehnten Romane ent-
führt in die Aporie, denn jeder genuin private Brief – stehen, die ebenfalls Liebesbriefe enthalten (Wolframs
und der intime Liebesbrief insbesondere – schließt die von Eschenbach ‹Parzival›, Wirnts von Gravenberg
Veröffentlichung zumindest intentional aus. Demge- ‹Wigalois›, Rudolfs von Ems ‹Willehalm von Orlens›),
genüber geht die jüngere Forschung diskursanalytisch etablieren sie eine Tradition, ohne jedoch die neue Ge-
vor, orientiert an den causae amoris [18], ein Verfahren, fühlskultur und Herzenssprache weiterzutreiben. Wie
das sich für den immer schon rhetorisch geformten Lie- ein poetologisches Manifest des rhetorisierten Liebes-
besbrief des Mittelalters als zielführend erweist. briefs liest sich der Brief Irkanes an den Titelhelden im
Die seit dem ausgehenden 11. Jh. existierenden artes ‹Reinfrid von Braunschweig›, der mit einer Reflexion
dictaminis in Oberitalien (Alberich von Monte Cassino, der Gattung Liebesbrief einsetzt und auf Ovids ‹Hero-
Ende 11. Jh.), Frankreich (Brunetto Latini: ‹Livre dou ides› Bezug nimmt. Für diese Romane gilt: intime Infor-
tresor›, 1262/68) und Deutschland (Baldwin: ‹Liber dic- mationen werden dem Medium nicht anvertraut, son-
taminum›, um 1160; Ludolf von Hildesheim: ‹Summa dern über vertraute Boten vermittelt. Dies entspricht
dictaminum›, um 1250) [19] entfalten zunächst die dem historischen Korrespondenzwesen der Zeit im me-
Brieflehre nach den spätantiken Vorgaben zur Rede dienhistorischen Übergang von Mündlichkeit zu Schrift-
und versammeln in einem Appendix Musterbriefe. Die lichkeit. [23] Johanns von Würzburg ‹Wilhelm von
artes dictaminis lehren eine fünfteilige Disposition (sa- Österreich› (1314) mit seinen 14 Liebesbriefen könnte
lutatio, captatio benevolentiae, narratio, petitio, conclu- man an den Anfang des deutschen Briefromans setzen,
sio) und geben Hinweise zum Stil. Im Zentrum dieser denn hier wird die Korrespondenz als Gespräch zwi-
pragmatischen Textsorte steht nun allerdings nicht der schen Liebenden inszeniert und die Liebeserfahrung des

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Liebesrede, Liebesbrief Liebesrede, Liebesbrief

Paares mit großer sprachlicher Virtuosität als anthro- III. Renaissance, Humanismus, Reformation, Barock.
pologische Erfahrung gefeiert. Das Muster des Liebes- Das den Liebesbrief betreffende Kapitel in der Briefleh-
briefs sowie seine Parodie bietet der hybride ‹Ring› re des Erasmus ‹De conscribendis epistolis› (1522) wird
Heinrich Wittenwilers (um 1400). Der Text entlarvt grundlegend für die Liebesbriefkultur der nachfolgen-
Formstrenge und mangelnde Situativität des Liebes- den Jahrhunderte bis ins bürgerliche Zeitalter hinein.
briefs in komischer Pointierung: Die ungebildeten Prot- Noch der Artikel «Liebesbrief» in Zedlers ‹Universal-
agonisten formulieren jede/r für sich einen knappen Lie- Lexicon› (1732–54) nimmt in seiner Unterteilung zwi-
besbrief (Bertschis beginnt: «Got grüess dich, lindentol- schen zulässigen werbenden und verwerflichen «Buh-
de!/ Lieb, ich pin dir holde./ Du bist mein morgensterne;/ len-Briefen» auf Erasmus Bezug. [25] Dieser erkennt
Pei dir so schlieff ich gerne» (1860–63), der aus der in- auch bereits die Widerspenstigkeit des Liebesbriefs ge-
haltlichen Überfüllung der exakt eingehaltenen Form genüber rhetorischen Regeln und betont die Kontextab-
seine Komik bezieht und den der jeweils folgende Mu- hängigkeit der Liebesrede. Die rhetorische Tradition
sterbrief eines Meisters der Rhetorik (Schreiber bzw. bleibt dabei insofern maßgeblich, als das Erreichen ei-
Arzt) konterkariert. nes bestimmten Zwecks die epistoläre Strategie be-
Die Liebesrede in den diversen Spielarten als mono- stimmt. («Bald wird man wehklagen, bald wieder
logische Klage, Anrede an die/den Geliebte(n), Ge- schmeicheln, gleich darauf in Verzweiflung sinken, dann
spräch zwischen Liebenden und Reflexion über die Lie- wieder geschickt ein Eigenlob anbringen und Verspre-
be hat seit dem Ende des 12. Jh. ihren zentralen Platz im chungen machen.») [26] Inwieweit die Briefpraxis der
Minnesang. Sie kann zur selben Zeit in den diskursiven Zeit sich diesen rhetorischen Prinzipien gefügt hat, muß
Partien des höfischen Romans ihren Platz finden freilich aufgrund der geringen Anzahl überlieferter Lie-
(‹Eneasroman›, ‹Tristan›, ‹Parzival›, ‹Flore und Blan- besreden und Liebesbriefe weitgehend im Dunkeln blei-
cheflor› etc.), eine Tradition, die sich bis in die Prosa- ben. Während z.B. in P. Aretinos berühmtem Liebes-
romane am Ende des Mittelalters fortschreibt. brief an A. Zaffetta vom 15.12.1537 eine kunstvoll iro-
Daneben entwickelt sich im 14./15. Jh. mit der Min- nisierende Anwendung rhetorischer Regeln zu finden
nerede eine Subgattung der lehrhaften Reimrede, die ist, scheint in den Briefwechseln Luthers mit Katharina
theoretisch das Thema Minne erörtert und den Lieben- von Bora und des jüngeren Ph. Melanchthon mit M.
den Anweisungen für die Praxis gibt. [24] Konstitutiv ist Kuffner die individuelle Alltags- und Situationsbezo-
die Vorstellung von der höfischen Liebe als einer lehr- genheit der Liebesrede dem sprachlichen Ausdruck viel
und lernbaren Qualität, die, aus der antiken Tradition Freiheit gegenüber dem rhetorischen Prinzip einer
gewonnen, im Mittelalter auf die Minne übertragen Orientierung an Mustern zu verschaffen. [27] Musterlie-
wird. Ovids ‹Ars amatoria› wird dementsprechend um- besbriefe sind in den deutschsprachigen Briefstellern
gewidmet zur exklusiven Liebeskunst des Adels, die dieser Zeit noch kaum zu finden. [28]
dem Mann den Part des Minnedieners, der Frau den Das barocke Ordnungsdenken unterstellt die Liebes-
Part der Minnedame zuweist, wie es bereits Ende 12. Jh. rede und den Liebesbrief konsequent dem Primat der
Andreas Capellanus in ‹De amore› in Dialogen und Rhetorik, wie es sich zum Beispiel im europäischen Lie-
Traktaten entwickelt hat. Im Minnedienst kommt es bessystem des Petrarkismus darstellt. Die an Ovids ‹He-
darauf an, beide Rollen mit den ihnen eingeschriebenen roides› anknüpfenden ‹Heldenbriefe› Hoffmannswal-
Obligationen zu erfüllen. Die Gattung Minnerede, meist daus, eine spektakuläre Sammlung erfundener Liebes-
anonym überliefert, ist mit ca. 500 Texten sehr erfolg- briefe, erregen mit ihrem an G. Marino anknüpfenden
reich. Aus der Vielzahl der didaktischen Kleinformen Concettismus indes bereits die Kritik von zeitgenössi-
ragen einige wenige Minnelehren in Romanform her- schen Rhetorikern wie Morhof (1682) und Wernicke
aus, von denen der afrz. ‹Roman de la Rose› von Guil- (1697) an den «metaphorae frigidae» [29] und an den
laume de Lorris und Jean de Meung (um 1230/80), der «uneigentlichen Redens-Arten». [30]
eine jahrhundertelange Literaturdebatte auslöste, der In der Zeit des Übergangs vom Barock zur Frühauf-
berühmteste ist. In Allegorie (‹Minneburg›), Briefwech- klärung beherrscht die Kunst des galanten Briefschrei-
sel (Johann von Konstanz: ‹Minnelehre›), Streitge- bens auch die Liebesbriefkultur. Die Briefsteller von A.
spräch (Ulrich von Liechtenstein: ‹Frauenbuch›) oder Bohse und Chr.F. Hunold werden für die deutsche
unterweisendem Monolog (Stricker: ‹Frauenehre›) Brieflehre maßgeblich. [31] In Hinblick auf die Auflö-
werden Regeln der Liebe bzw. Qualitäten der Lieben- sung tradierter rhetorischer Dispositionsschemata ge-
den verhandelt, erzählende Partien in exemplarischer winnt der Liebesbrief dabei eine Vorreiterrolle. Im Ka-
Funktion oder allegorischer Machart treten zurück. Die pitel «Von Denen Verliebten Schreiben» des Briefstel-
Ich-Rede ist der gebräuchlichste Erzählmodus, der dem lers von F.H. Schade z.B. wird zum einen eine «artige
Dichter den schnellen Wechsel von narrativen und dis- Manier» gefordert, die «allerhand angenehme Einfälle
kursiven Partien erlaubt; z.B. geht das minnende Ich al- ans Tages-Licht» bringen soll, zum anderen soll der Stil
lein in Gedanken, im Liebeskummer oder im Traum «natürlich, jedoch aber nicht niedrig» und vor allem der
spazierend dahin, verirrt sich und steht einer schönen Schluß des Briefes «nicht einstudiret» scheinen. [32]
Frau (Frau Ehre, Frau Minne, Frau Venus) oder Amor Letzteres weist auf die Frühaufklärung voraus, die den
gegenüber. Topische Orte und Bilder der Minnereden Begriff des Natürlichen weniger gegen die Rhetorik
sind Garten, Brunnen, Burg, Jagd, Kampf, Turnier, Ge- selbst als gegen den «verderbten italienischen Ge-
richt. Der locus amoenus und seine Bedrohung oder Stö- schmack» ins Feld führt, der mit Marino, Hoffmanns-
rung durch Minnefeinde spielt in den narrativen Partien waldau und Lohenstein assoziiert wird. Andererseits
eine zentrale Rolle, in den diskursiven Partien räson- werden Hoffmannswaldaus ‹Heldenbriefe› noch von B.
niert das Ich monologisch oder mit einem Gesprächs- Neukirch in die sogenannte ‹Neukirchsche Sammlung
partner mahnend, klagend, anklagend über Probleme galanter Briefe und Gedichte› von 1695 aufgenommen
von Minne und Gesellschaft, zuweilen auch konkret und bilden auch später noch eine Art Negativ-Folie, ge-
über Ursachen, Ziele, materielle und formale Umstände gen die sich der natürliche Stil der Liebesrede in Briefen
der Liebe. profilieren läßt. [33]

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Liebesrede, Liebesbrief Liebesrede, Liebesbrief

IV. Aufklärung, Empfindsamkeit. Deutlich zeigt sich dung von Hyperbeln und Cedatformeln Nachdruck ver-
die neue Ausrichtung an der Natürlichkeit in der liehen.
Brieflehre Gellerts (‹Briefe, nebst einer praktischen V. Romantik bis Gegenwart. Die romantische Liebes-
Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen›, rede ist dem ihr zugeschriebenen Selbstverständnis zu-
1751) die für die Liebesbriefkultur wie für den amou- folge durch einen antirhetorischen Gestus geprägt, wie
rösen und empfindsamen Briefroman den neuen Ton er sich z.B. in der leidenschaftlichen, regel- und ord-
vorgibt. Gellert führt als abschreckendes Beispiel die nungssprengenden, sozialunverträglichen Werther-Lie-
Künstlichkeit der von E. Francisci publizierten umfang- be zu erkennen gibt, von der europaweit Impulse für
reichen Sammlung ‹Die Neu-Auffgerichtete Liebes- Liebesentwürfe in der Literatur und im Leben ausge-
Cammer, darinn allerhand höflich verliebte Send- hen. Im Unterschied zur antirhetorischen Rhetorik der
Schreiben an das löbliche und anmuthige Frauenzim- Empfindsamkeit zieht die Tatsache, daß romantisches
mer, auch andre Personen, abgefaßt und beantwortet Sprechen die Beredsamkeit unauflöslich mit Enthusi-
sind› (1662) an. [34] Demgegenüber lautet Gellerts neu- asmus, Reflexion und Ironie verknüpft, weitreichende
es Axiom: «Der Hauptbegriff von dem Natürlichen ist, Konsequenzen im rhetorischen Bezugssystem nach sich.
daß sich die Vorstellung genau zur Sache, und die Worte So zum Beispiel in F. Schlegels Skandalroman ‹Lucin-
genau zu den Vorstellungen schicken müssen». [35] de›, wo es im Kapitel ‹Julius an Lucinde› heißt: «Für
Die Liebesrede des empfindsamen Zeitalters weist mich und für diese Schrift, für meine Liebe zu ihr und für
sowohl im Briefroman als auch in der Liebesbriefkultur ihre Bildung in sich ist aber kein Zweck zweckmäßiger,
Merkmale dieses Natürlichkeitspostulats auf. Schon in als der, daß ich gleich Anfangs das was wir Ordnung nen-
S. Richardsons ‹Pamela› (1740) führt freilich die Ver- nen vernichte, weit von ihr entferne und mir das Recht
schriftlichung des Gefühls auch zu Aporien, die im einer reizenden Verwirrung deutlich zueigne und durch
Dienste der Authentizitätsfiktion durch rhetorische die Tat behaupte.» [40] Damit wird eine neue Form der
Mittel wie exclamatio und Anakoluth auf der einen, ex- Rhetorik statuiert, die im romantischen Konzept der
pressive Interpunktion und typographische amplificatio progressiven Universalpoesie gründet. Ein Vierteljahr-
auf der anderen Seite überbrückt werden. [36] Auch die hundert später akzentuiert Heine jene ‹Verwirrung› als
so benannte «Sprache des Herzens» im Briefwechsel Liebesrhetorik der Schmerzlust, die zwischen Schein
von Klopstock und M. Moller, deren zärtliche Em- und Sein nicht mehr zu unterscheiden weiß: «Habe mich
phase («Wissen Sie wohl daß ich oft so närrisch bin u mit Liebesreden/Festgelogen an Dein Herz,/Und, ver-
Ihre Briefe küsse.» Klopstock an M. Moller, 29. 10. strickt in eignen Fäden,/Wird zum Ernste mir mein
1751) [37] die Zeitgenossen und die folgende Generati- Scherz» [41]. Für die paradoxe Ausgangssituation der
on zum Vorbild ihrer eigenen Liebessprache küren, wird modernen Liebesrede wird diese Figur einer in den Wi-
nicht nur topisch aufgerufen und zelebriert. Die Lieben- derstreit von Aufrichtigkeit und Verstellung verstrick-
den selbst erkennen und kritisieren sie bereits als in- ten Rhetorik ebenso wegweisend wie die Proklamatio-
szenierte Emotionalität: «Ich will lieber glauben, daß Sie nen des Weltverdrusses bei Lord Byron.
mehr mit Ueberlegung, als mit Herz geschrieben haben. Auch der romantische Liebesbrief ist mit den univer-
Ich habe so viel Behutsamkeit nicht Klopstock. Ich lö- salpoetischen Voraussetzungen der literarischen Lie-
sche keine Wörter, die mir zu gut vorkommen, aus, u besrede eng verknüpft. Er weist bei seinen exponierten
setze andre an ihre Stelle.» (M. Moller an Klopstock Vertretern eine Tendenz zur lebens- und praxisfernen
27.01.1752) [38] Steigerung subjektiver Befindlichkeiten auf. Ein solcher
Daß die empfindsame Liebesrede sich weniger weit extremer Subjektivismus findet sich z.B. in Briefen
von der Rhetorik entfernt hat als sie vorgibt, wird be- Brentanos und Kleists. Trotzdem wird man K.H. Boh-
sonders daran deutlich, daß sich ihre Ausdrucksformen rers These von einer dominierenden ästhetischen Sub-
mühelos in den Dienst einer Täuschung und Verstellung jektivität im romantischen Brief für Liebesbriefe nicht
nehmen lassen. Diese Inanspruchnahme einer Rhetorik generalisieren können. [42] Namentlich herausragende
des Nicht-Rhetorischen zum Zwecke der Lüge und Ver- Frauen der Romantik (C. von Günderrode, B. von Ar-
führung hat Choderlos de Laclos in den ‹Les Liaisons nim, C. Schlegel/Schelling, R. Varnhagen) pflegen in
dangereuses› (1782) virtuos ausgestaltet. [39] ihren Briefen eine variable Liebessprache, die subjekti-
Vornehmlich die deutschen Briefsteller zu Beginn ve Reflexionsfiguren und soziale Bezüge gleichermaßen
des 18. Jh. treten einem solchen ‹Mißbrauch› der Lie- zu integrieren und sprachlich unterschiedlich abzubil-
besrede noch durch eine Fokussierung der Ehe als den weiß.
Zweck des nicht-galanten Liebesbriefs entgegen. Die Auf der Ebene der im Laufe des 19. Jh. für die Lie-
bereits bei Gellert erkennbare Skepsis gegenüber der besbriefkultur wieder relevanter werdenden und mit
Orientierung an epistolaren Mustern führt indes um konjunkturabhängigen Unterbrechungen bis in die Ge-
1800 dazu, daß der Liebesbrief als die freieste und zu- genwart hinein populären Briefsteller findet keine ent-
gleich moralisch prekärste Form intimer Kommunika- sprechend umstürzende Entwicklung in der Liebesrede
tion in maßgebliche Briefsteller nicht mehr aufgenom- statt. Rammler schreibt 1834 über Liebesbriefe noch
men wird (so z.B. in dem ‹Allgemeinen deutschen Brief- ganz im Gellertschen Sinne: «Wie bei allen Briefen, die
steller› von K.Ph. Moritz, 1793) – was zu seinem fast eine Empfindung ausdrücken, so insbesondere auch bei
inflationären Aufschwung in Realität und Literatur ei- diesen ist die Hauptregel die: man lasse das Herz darin
nen markanten Gegensatz bildet. In dieser Zeit wird das reden, enthalte sich also alles Affectirten, d. h. Unnatür-
Wunschbild der Authentizität und Unmittelbarkeit mit lichen, Uebertriebenen. Die Lebendigkeit des Gefühls
einem gesteigerten Idealismus verbunden, dem die Lie- wird sich von selbst in lebendiger Sprache ausdrücken
besrede in Briefen wie in der Literatur folgt. Ihre wach- [...] Männer [...] müssen in einem so sehr als möglich ge-
sende Poetisierung führt dabei zu einer Rückorientie- mäßigten Tone schreiben [...] Die Antworten der Frau-
rung an rhetorischen Mustern. So wird bei Jean Paul enzimmer müssen ganz besonders in zartem Tone abge-
und anderen (z.B. auch bei W. von Humboldt und Höl- faßt sein» [43] Unabhängig davon zeigt sich in der Lie-
derlin) der Idee des ‹hohen Paares› durch die Verwen- besbriefkultur des 19. Jh. eine epistolare Projektionslust,

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Liebesrede, Liebesbrief Liebesrede, Liebesbrief

in deren Zeichen das tradierte rhetorische und gedank- hg. von M. Schnyder (2008) 23–47. Vgl. auch die anderen Bei-
liche Repertoire der Liebesrede nicht nur neu kom- träge dieses Bandes. – 18 R. Schnell: Causa amoris (1985). –
biniert, sondern auch individuell erweitert und gestaltet 19 H.M. Schaller: ‹Ars dictaminis, ars dictandi›, in: LMA, Bd. 1,
Sp. 1034–1039. – 20 F. Fürbeth: Zum lit. Status der Liebesbr. in
wird – so schon zu Beginn des Jahrhunderts bei den humanistischen ‹Modi epistolandi›, in: Jb. der Oswald von
Keats [44] oder in der Folge etwa bei so unterschied- Wolkenstein Ges. 11 (1999) 49–64. – 21 Magister Boncampagno:
lichen Persönlichkeiten wie Stifter, Bismarck, Sa- Rota Veneris. Ein Liebesbriefsteller des 13. Jh. hg. von F. Ba-
cher-Masoch und E. Haeckel. [45] Einen wesentlichen ethgen (1927). – 22 Chr. Wand-Wittkowski: Br. im MA (2000),
Anteil an dieser Gestaltung hat freilich auch hier die Verzeichnis zu den Briefeinlagen: 333–353. – 23 R. Köhn: Di-
Wechselwirkung zwischen Literatur und Leben. Die mensionen und Funktionen des Öffentlichen und Privaten in
Liebesreden und Liebesbriefe der großen epischen der ma. Korrespondenz, in: Das Öffentliche und Private in der
Dichtungen des 19. Jh. (von Puschkin über Stendhal Vormoderne, hg. von G. Melville, P. von Moos (1998) 309–357. –
24 L. Lieb: Art. ‹Minnerede›, in: RDL3, 601–604. – 25 vgl. Zed-
und Flaubert bis Tolstoi) prägen die Kultur der Liebe ler: ‹Art.: Liebes-Br.›, Bd. 17, Sp. 994f. – 26 Erasmus Conscr. Ep.
und ihre Sprache und Rhetorik entscheidend mit («Lie- ‹De amatoria epistola›, in: Ausg. Schr. Bd. 8, hg. von W. Welzig
ben nach Texten» [46]). (1980) 243. – 27 vgl. P. Aretino: Lettere I/I, in: Edizione nazio-
Im 20. und 21. Jh. wird die Verknüpfung zwischen nale delle opere de P. Aretino. Vol. 4, hg. von P. Procaccioli
Subjekt und Liebesrede zunehmend brüchiger und mit (Rom 1997) 401–402; M. Luther: Br., in: M. Luther. Ausg. Schr.
ihr die Verläßlichkeit der rhetorischen Dispositionen Bd. 6, hg. von K. Bornkamm und G. Ebeling (1995); Ph. Me-
und Formeln. Das Versprechen von Nähe bezieht sich lanchton: Corpus Refomatorum, Bd. 5, hg. von K.G. Brett-
oft allein auf ein durch Wort und Schrift verbürgtes Ich, schneider (1838) 286–289. – 28 vgl. C. Furger: Briefsteller. Das
Medium ‹Br.› im 17. und frühen 18. Jh. (2010) 41. – 29 D.G. Mor-
nicht aber verbindlich auf die sich äußernde Person. hof: Unterricht von der teutschen Sprache und Poesie/deren
Dies hat jedoch für die Liebesrede weder in der Litera- Ursprung/Fortgang und Lehrsätzen (Kiel 1682). – 30 Chr. Wer-
tur noch im Liebesbrief die Konsequenz ihres Ver- nicke: Epigramme, hg. von R. Pechel (Berlin 1909). – 31 vgl.
schwindens nach sich gezogen. Auch nach dem oft pro- R.M.G. Nickisch: «Die Allerneueste Art Höflich und Galant zu
gnostizierten Ende des Briefzeitalters finden sich in ei- Schreiben». Dt. Briefsteller um 1700: Von Chr. Weise zu Ben-
ner Flut nicht abreißender Liebesbriefwechsel immer jamin Neukirch, in: K.J. Mattheier und P. Valentin (Hg.): Pa-
wieder auch solche Korrespondenzen, die gerade das thos, Klatsch und Ehrlichkeit. Lieselotte von der Pfalz am Hofe
performative Dilemma der Liebesrede in Wort und des Sonnenkönigs (1990) 117–138. – 32 F.H. Schade (Salander):
Briefsteller nebst Wörter- und Titularbuch (1714). – 33 vgl. H.A.
Schrift für eine neu verstandene Intimität fruchtbar ma- Glaser: Liebesbr. hochgestellter Persönlichkeiten – erfunden
chen. So zum Beispiel in den Briefwechseln Kafkas mit von Hoffmannswaldau unter Anlehnung an Ovid und Drayton,
F. Bauer und M. Jesenská und in denjenigen I. Bach- in: ders.: Annäherungsversuche. Zur Gesch. und Ästhetik des
manns mit H.W. Henze und P. Celan. [47] Erotischen in der Lit. (1993) 112–134. – 34 vgl. Chr. F. Gellert:
Im Unterschied zu solchen hochreflektierten und Gesamm. Schr. Bd. IV, hg. von b. Witte (1989) 148. – 35 ebd. 120.
komplexen Formen der Liebesrede bedienen sich die in – 36 vgl. F. Meier: Die Verschriftlichung des Gefühls im engl.
den neuen elektronischen Medien angebotenen Hilfen Briefroman des 18. Jh., in: R. Stauf, A. Simonis, J. Paulus (Hg.):
zur Verfertigung von Liebesbotschaften bislang doch Der Liebesbr. Schriftkultur und Medienwechsel vom 18. Jh. bis
zur Gegenwart (2008) 273–291. – 37 F.G. Klopstock: Brief an M.
eher einfacher und konventioneller Muster, wenn auch Moller, 29.10.1751, in: «Es sind wunderliche Dinger, meine
durch neue Möglichkeiten und Effekte der Animation Briefe», M. Klopstocks Briefwechsel 1751–1758, hg. von F. und
bereichert. [48] Die «Dialektik der Medien zugleich zu T. Tiemann (1980) 84. – 38 vgl. T. Reinlein: Der Br. als Medium
verbinden und zu trennen» [49] scheint grundsätzliche der Empfindsamkeit. Erschriebene Identitäten und Inszenie-
Verständigungsprobleme im Liebesdiskurs nicht gemil- rungspotentiale (2003) 202–231. – 39 vgl. U. Vedder: Geschickte
dert zu haben [50]. Es bleibt abzuwarten, wie die Rhe- Liebe. Zur Mediengesch. des Liebesdiskurses im Briefroman
torik der Liebessprache hierauf reagieren wird. ‹Les Liaisons dangereuses› und in der Gegenwartslit. (2002). –
40 F. Schlegel: Lucinde, Kapitel ‹Julius an Lucinde›, in: Krit. F.-
Schlegel-Ausg. Bd. 5, hg. von H. Eichner (1962) 9. – 41 H. Heine:
Anmerkungen: ‹Buch der Lieder›, ‹Die Heimkehr› Nr. LVII, in: H. Heine:
1 C. Flachsland: Brief an J.G. Herder, 25.8.1770, in: Herders Hist.-krit. Gesamtausg. der Werke (DHA). Bd. I/1, hg. von M.
Briefwechsel mit C. Flachsland. Bd. 1, hg. von H. Schauer (1926) Windfuhr (1975) 269. – 42 K.H. Bohrer: Der romantische Br.
6. – 2 M. Beetz: Frühmoderne Höflichkeit (1990) 285. – 3 J.W. Die Entstehung ästhetischer Subjektivität (1987). – 43 O. Fr.
Goethe: Röm. Elegien, V (1795), in: WA I/1 (1987) 239. – 4 W. Rammler’s Universal-Briefsteller oder Musterbuch zur Abfas-
Müller: Ungeduld (1821), in: Sieben und siebzig Gedichte aus sung aller in den allgemeinen und freundschaftlichen Lebens-
den hinterlassenen Papieren eines reisenden Waldhornisten verhältnissen, sowie im Geschäftsleben vorkommenden Br.,
(1821) 20–21. – 5 Demetrius: Peri hermeneias 223. – 6 Cicero: Documente und Aufsätze (1834, 281853) 301. – 44 vgl. L.S. Rich-
Philippica in M. Antonium II,4,7. – 7 K. Thraede: Grundzüge ter: Rhethorical Constants in the Love Letters of J. Keats to F.
griech.-römischer Brieftopik (1970); M. Trapp: Introduction, in: Brawne (Washington 1982). – 45 vgl. R. Lach: Der maskierte
Greek and Latin Letters (Cambridge 2003) 1–47. – 8 P.A. Ro- Eros. Rituale der Literaturliebe in Liebesbriefwechseln des rea-
senmeyer: Ancient Epistolary Fictions (Cambridge 2001). – listischen Zeitalters (2009). – 46 E. Leisi: Paar und Sprache. Lin-
9 L.S. Kauffman: Discourses of Desire (Ithaca/London 1988) guistische Aspekte der Zweierbeziehung (1978) – 47 vgl. F. Fell-
29–61. – 10 M. Treu: Sappho, in: RE, Suppl. 11, Sp. 1222–1240. – ner: (Nicht-)Eingehängtsein – F. Kafkas Zeichnung seiner Ver-
11 Anthologia Graeca VII, 669. – 12 G. Krüger: Einsicht und bindung zu F. Bauer, in: Stauf, Simonis, Paulus [36] 353–378.; R.
Leidenschaft. Das Wesen des platonischen Denkens (61992). – Stauf: «Erklär mir, Liebe». Kunst des Liebens und Liebesspra-
13 N. Holzberg: Die röm. Liebeselegie (1990); P. Veyne: L’élé- che im Briefwechsel I. Bachmanns mit H.W. Henze, in ebd. 401–
gie érotique romaine (Paris 1983). – 14 N. Holzberg: Ovid. Dich- 423. – 48 A. Simonis: Liebesbr.-Kommunikation in der Gegen-
ter und Werk (1997). – 15 F.J. Schmale u. a.: Art. ‹Brief, Brieflit., wart zwischen alt und neu: Schrifttradition, SMS, MMS und In-
Briefsammlungen›, in: LMA, Bd. 2, Sp. 648–682. – 16 D. Schal- ternet, in: Stauf, Simonis, Paulus [36] 425–448. – 49 V. Flusser:
ler: Probleme der Überlieferung und Verfasserschaft lat. Lie- Kommunikologie. Schr. 4, hg. von St. Bollmann und E. Flusser
besbr. des hohen MA. In: MlatJb 3 (1966) 25–36; E. Ruhe: De (1996) 306. – 50 H. Wölfle: Liebeskommunikation in E-Mails,
amasio ad amasiam (1975). – 17 P. von Moos: Mittelalterfor- in: Kommunikationsform E-Mail, hg. von A. Ziegler, Chr.
schung und Ideologiekritik. Der Gelehrtenstreit um Héloise Dürrscheid (2002) 187–215.
(1974); ders.: Vom Nutzen der Philol. für den Umgang mit an-
onymen Liebesbr., in: Schrift und Liebe in der Kultur des MA, K. Kellermann, J. Paulus, R. Stauf

583 584
Lückentext Lückentext

^ Ars ^ Ars dictandi, dictaminis ^ Brief ^ Briefsteller ^ Epi- auch bei entsprechender Aufbereitung die selbständige
deiktische Beredsamkeit ^ Gesprächsrhetorik ^ Komplimen- Erarbeitung eines Themas durch die Schüler. Klippert
tierkunst ^ Lobrede ^ Rede ^ Vertretbarkeitsgrade setzt solche Blätter vor allem beim eigenverantwortli-
chen Arbeiten und zur Selbstmotivation ein. [4] Für Ein-
zel- bzw. Stillarbeit [5], Partnerarbeit und Gruppenar-
Lückentext (engl. close text; frz. texte à trous) beit sind jeweils unterschiedliche Blätter vorzubereiten.
A. I. Def. – II. Verwendung. – III. Rhetorisch-didaktische Funk- Sowohl in der Erarbeitungsphase als auch beim festigen-
tion. – B. Geschichtliches.
den Üben und Vertiefen der Lehrinhalte und der inten-
A. I. Definition. Mit dem Begriff ‹L.› bezeichnet man dierten Kompetenzen eignet sich der L. zur themati-
in der schulischen Didaktik und der Erwachsenenbil- schen oder leistungsbezogenen Individualisierung des
dung eine besondere Form des Arbeits- oder Aufgaben- Unterrichts. Dazu muß die Lehrkraft den L. so differen-
blatts (engl. working paper oder spreadsheet, frz. feuille ziert gestalten, daß er im Schwierigkeitsgrad sowohl
de calcul), das als ergänzendes Lernmittel [1] kopiert, dem Anforderungsniveau einzelner Schüler als auch
gedruckt oder in elektronischer Form im Unterricht ein- dem homogener bzw. heterogener Schülergruppen an-
gesetzt wird. Der L., der auch im angelsächsischen und gemessen ist.
französischen Sprachraum verwendet wird, unterschei- Ein L. wird selten ‹von langer Hand› geplant, sondern
det sich vom aufgabenfreien Material- oder Textblatt entsteht eher ‹spontan›, etwa im Rahmen der reflektie-
durch leere Felder (‹Lücken›) für schriftliche Antwor- renden Rückschau auf eine Lernphase oder Unter-
ten. Ein L. ist thematisch begrenzt; er bezieht sich auf richtsstunde, wenn der Unterrichtende zu der Einschät-
einen überschaubaren Teilaspekt des aktuell behandel- zung gelangt, daß bestimmte Lerngegenstände noch in-
ten Unterrichtsthemas. Aus praktischen (kopiertechni- tensiver geübt werden müssen. Ein L. kann auch bei der
schen) Gründen hat ein solches Blatt meist nur den Um- Zusammenfassung einer Unterrichtseinheit, der sog. Er-
fang einer Din-A4-Seite. Üblicher Aufbau: In der abge- gebnissicherung, von Nutzen sein. Dazu muß er so kon-
setzten Kopfzeile findet man ein Stichwort zum Thema, struiert sein, daß die Schüler in die Lücken das vorher
die Klasse, in der es eingesetzt wird, sowie (selten) einen erworbene, grundlegende Wissen eintragen können.
Hinweis zur Einordnung. [2] Darunter stehen Stichwor- Ein solches Blatt eignet sich auch als Grundlage für das
te, Sätze oder längere Texte, Skizzen, Schaubilder, Lernen auf Prüfungen.
Zeichnungen oder andere graphische Elemente, die Besonders beliebt ist der L. bei der Lernkontrolle [6],
durch unterschiedlich große Leerstellen (Linien, Käst- der Überprüfung des Lernerfolgs durch Klassenarbei-
chen, Sprechblasen u. a.) unterbrochen sind. Diese Lük- ten oder Wiederholungsarbeiten (Tests). Hier ermög-
ken bieten Raum für Äußerungen zu bekannten oder zu licht er sowohl eindeutige Kurzantworten (in Form des
erschließenden Inhalten. Dazu muß die Lehrkraft den Ankreuzens einer zutreffenden Aussage oder der Ein-
Lernstoff sprachlich so umformen, daß er in das Schema tragung eines bestimmten Fachbegriffs) als auch kom-
von Frage und Antwort paßt. Es kann entweder explizit plexere Ausführungen, wenn die Lücken (Leerzeilen)
gefragt werden oder implizit, so daß sich die Aufgaben- zu ganzen Sätzen oder kurzen Texten auffordern.
stellung aus dem Kontext der Lücke ergibt. Bei letzte- Neben den vom Lehrer selbst erstellten L. gibt es ge-
rem müssen die Schüler zuerst die verborgene Aufgabe heftete Sammlungen solcher Blätter in Form von Ar-
erfassen, sie für sich als Frage formulieren, dann eine beitsheften, die von Verlagen herausgegeben werden.
sowohl inhaltlich als auch formal (also i. d. R. sprachlich) Erst in der Entwicklung begriffen ist der L. im Rahmen
adäquate Antwort finden und – üblicherweise von Hand des elektronischen Lernens. Er wird von den Lernenden
oder am PC durch Eintippen – in die entsprechende am Bildschirm ausgefüllt, evtl. per drag and drop. Die
Lücke eintragen. Die Eintragung kann (in philologi- Überprüfung der Antworten erfolgt bei gut program-
schen Fächern) aus einem Wort, einer Wortgruppe, ei- mierter Software sofort und automatisch. Eine schlichte
nem Satz, einem kurzen oder längeren Text bestehen. Form dieser Art von elektronischem L. stellen Rätsel
Manchmal werden Zahlen als Lösung verlangt (z.B. in dar (z.B. Sudokus), die auf Eintragungen mit einer Er-
Mathematik oder Geschichte) oder graphische Zeichen folgs- oder Mißerfolgsmeldung reagieren. Ähnlich funk-
(z.B. in Geografie oder Biologie). Form und Größe der tionieren die modernen, interaktiven Lernprogramme.
leeren Felder steuern die Art der Eintragung und ihren In einfachen Versionen werden Rechtschreib- oder
Umfang, es sei denn, eine entsprechende Formulierung Grammatikkenntnisse, Vokabeln oder Sprachmuster
ermuntert den Schüler zu freien oder längeren Antwor- überprüft, in komplexeren auch die sprachlichen, lite-
ten. Von einem L. wird (wie von allen Lernmitteln) aus rarischen und historischen Kompetenzen. [7] Da sie au-
didaktischen und motivationalen Gründen Klarheit, ßerhalb des Unterrichts verwendet werden, ist eine so-
Verständlichkeit, Übersichtlichkeit und ein Mindest- fortige Rückmeldung geboten, evtl. mit zusätzlichen
maß an ästhetischer Form erwartet. Hinweisen bei fehlerhaftem Ausfüllen. Für Kinder und
II. Verwendung. Arbeitsblatt und L. gehören nach ver- Jugendliche können solche Programme wegen der far-
breiteter Ansicht zu den am häufigsten eingesetzten bigen Animationen besonders attraktiv sein. Den Leh-
Lernmitteln [3]. Der L. kann in allen Phasen des Unter- rern steht Software zur Erstellung von L. im Internet zur
richts eingesetzt werden. Oft dient er als Einstieg in eine Verfügung.
Stunde, mit dem auf die zu behandelnde Thematik hin- III. Rhetorisch-didaktische Funktion. Im Zentrum ei-
geführt wird, etwa in Form eines zu einem Kommentar nes auch die Rhetorik einbeziehenden Unterrichts soll-
anregenden Bildimpulses (Beispiel: Ausfüllen einer lee- te das pädagogische Ziel stehen, mithilfe des didakti-
ren Sprechblase in einem Comic). Sodann findet er bei schen Einsatzes von L. die Sprachkompetenz der Schü-
der Einführung eines neuen Themas Verwendung. Er ler zu fördern. Analog zur Rolle, die Grammatik und
kann z.B. einen Lehrervortag entlasten. Dann muß das Rhetorik als einander ergänzende Disziplinen in der
Text- oder Datenmaterial durch Fragestellungen und Tradition schon immer gespielt haben, kann der L. auf
Aufgaben ergänzt werden und so die Schüler zum Mit- grammatischer Ebene zunächst den Sinn der Schüler für
denken und Mitarbeiten anregen. Der L. ermöglicht die richtige oder falsche Sprachverwendung schärfen.

585 586
Lückentext Lückentext

Auf semantischer und damit rhetorisch wichtiger Ebene Textes heraus (Leerzeilen)./B19 Fasse die Hauptgedan-
ermöglichen die offengebliebenen Lücken bei sprach- ken des Textes zusammen (Leerzeilen).
lich und literarisch anspruchsvollen Texten den Schü- B Geschichtliches. Die erste Verwendung des Begriffs
lern, ihren Wortschatz zu erweitern, indem das Einset- ‹L.› in der Fachliteratur läßt sich nicht datieren. Obwohl
zen verwandter oder synonymer Wörter abgefragt wird. im Unterricht schon seit längerer Zeit eingesetzt, taucht
Wortschatzübungen betreffen mit der Schulung des der Terminus erst in den 1980er und 1990er Jahren in
Stilgefühls und damit der stilistischen Ausdrucksmög- didaktischen Werken und dort eher am Rande auf. Of-
lichkeiten einen Kernbereich der rhetorischen Ausbil- fenbar war er kein wichtiger Gegenstand der Pädagogik.
dung. Die Folgen können sich didaktisch gesehen nicht In H. Meyers Standardwerk über Unterrichtsmethoden
nur in der aktiven Sprachbeherrschung zeigen, sondern fehlt das Stichwort ‹L.›; zum Arbeitsblatt, das auch den
auch die Sensibilität bei der Interpretation von litera- L. impliziert, wird auf immerhin sechs Seiten Wesentli-
rischen Texten steigern. Wie die Lücke im Übungstext ches dargelegt. [14] Meyer stellt fest, daß es solche Blät-
eine Spannung von Gesagtem und Ungesagtem entste- ter schon zu den Zeiten der Dorfschule als liebevoll ge-
hen läßt und die Schüler zur Reaktion animiert, spornt staltete Unikate gegeben habe, ob als L. oder nicht, ist
die Leerstelle im Wortlaut des literarischen Texten ihre unbekannt. Aufgabenblätter und damit auch der L. spie-
Einbildungskraft bei der Lektüre an und motiviert sie, len eine wichtige Rolle in der Reformpädagogik (Mont-
das in einer Aposiopese nicht Gesagte oder in einer El- essori, Freinet), weil sie eine stärkere Aktivierung der
lipse Ausgelassene zu ergänzen und für die Deutung des Schüler ermöglichen. [15] Ihren Siegeszug im Unterricht
Gesamttextes fruchtbar zu machen. Natürlich muß der haben solche Blätter erst antreten können, als sich die
Erwerb interpretatorischer Fähigkeiten dieser Art be- technischen Möglichkeiten der Vervielfältigung verbes-
gleitet werden von der Vermittlung der aus der Rheto- serten und das Schulbuch und die Tafel ihre hervorge-
rik stammenden Stilfiguren. hobene Rolle zu verlieren begannen. Noch bis in die
IV. Beispiele. Bei den einfachsten Aufgaben wird die 1970er Jahre konnte man Mehrfertigungen nur sehr um-
Eintragung einer Zahl, eines Wortbestandteils oder gan- ständlich als ‹Durchschläge› mittels Pauspapieren er-
zen Wortes erwartet. B1 Karl der Große wurde im Jahr stellen. Sie wurden von Hand oder mit der Schreibma-
( ) zum Kaiser gekrönt./B2 Meine Schwester ärgert schine geschrieben. Einen Fortschritt brachte zu Beginn
sich ( ) ihre Freundin./B3 Man sieht ( ) Wald vor des letzten Viertels des 20. Jahrhunderts der Umdruk-
lauter Bäum( ) nicht./B4 Wer ( )ärgert, also är- ker, dessen Matrizen ebenfalls von Hand und zuneh-
ger( ) ist, ärgert sich über ein Ärger( )./B5 «Ver- mend auch mit der Maschine ausgefüllt wurden. Erst als
laß dich nicht zu sehr aufs ( ) und Gelesene, in der 1980er Jahren der Kopierautomat und wenig spä-
denn das bleibt meist nicht allzu lange im ( ) hän- ter der Computer in den Schulen Einzug halten, steigt
gen.»/B6 Klippert verlangt eine positive Umwandlung die Bedeutung von Arbeitsblatt und L. Die Papiere ent-
einer negativen Äußerung: «Ich kann das nicht – h stehen nun am PC. Der Text kann gespeichert und damit
pro d ein m l». [8]/B7 Der Neckar einfacher an die jeweilige Unterrichtssituation angepaßt
fließt in den ( )./B8 Der Walfisch ist kein Fisch, werden. Der L. war und wird sicher auch in der näheren
sondern gehört zur Gruppe der ( )./B9 Der er- Zukunft ein unverzichtbares, die anderen Medien
ste Kanzler der Bundesrepublik Deutschland hieß (Wandtafel, Tageslichtprojektor, Schulbuch, Schreib-
( ); Heuss war der Name des ersten heft, Ordner, um nur einige traditionelle zu nennen)
( )./B10 Schillers Drama ‹Die Räuber› ‹ergänzendes› Lernmittel sein.
wird der Epoche des ( ) zugeordnet; sein
‹Wallenstein› dagegen gehört zu den Dramen der Anmerkungen:
( ) Phase./Eine Erweiterung dieser Aufgaben- 1 zur Einordnung vgl. D. Hintz u. a.: Neues schulpäd. Wtb.
form besteht darin, Wortgruppen oder ganze Sätze zu (21995) 229; H. Glöckel: Vom Unterricht (1990) 38, spricht von
«Unterrichtsmittel»; dort auch Lit. zu diesem Stichwort; K.-R.
verlangen, mit der Variante, daß der Lernende eine Bausch, H. Christ, H.-J. Krumm (Hg.): Hb. Fremdsprachenun-
Auswahl aus z. T. falschen Vorgaben treffen soll: B11 terricht (52007) 258, verwenden den Ausdruck «Selbstlernma-
Was kennzeichnet die literarische Epoche, in der Schil- terialien». – 2 weitere praktische Hinweise vgl. u. a. in S. Rege-
lers «Räuber» entstanden sind? (Im Sturm und Drang lein: So läuft Ihr Unterricht (1997) 29f. – 3 H. Schaub, K.G. Zen-
...)/B12 Nenne drei wichtige Merkmale impressionisti- ke: Wtb. Päd. (2007) 35. – 4 H. Klippert: Methoden-Training.
scher Maler: (3 Leerzeilen, mehrere Alternativen)./B13 Übungsbausteine für den Unterricht. (132002) 81; dazu auch
Lies den Text ... fülle die Tabelle stichwortartig aus: ders.: Eigenverantwortliches Arbeiten und Lernen (2001) 44. –
wer? (Spalte), wann? (Spalte) usw. [9]/Ähnlich kon- 5 So verweisen Schaub, Zenke [3] 35 auf den Einsatz im Rahmen
der Wochenplanarbeit. – 6 vgl. I. Martial, J. Bennack: Einf. in
struiert ist dieses Beispiel aus der angelsächsischen Di- schulpraktische Stud. Vorbereitung auf Schule und Unterricht
daktik: B14 Es ist der passende Ausdruck zu finden: (41997) 154. – 7 vgl. z.B. deutsch.werk 1, Lernsoftware für das 5.
Work on the human brain has (expressed/directed/in- Schuljahr, Klett-Verlag. – 8 Lösung: Ich probiere das einfach
dicated/guided) how different parts are centres of acti- mal. Beide Beispiele aus Klippert, Methoden-Training [4] 76
vity for different skills, feelings, perceptions and so und 82. – 9 Klippert ebd. [4] 113. – 10 aus: Certificate in Ad-
on. [10] Manchmal soll einfach übersetzt werden: B15 vanced English. Handbook for Teachers for Examinations from
«On prend le bus?» ( ) [11]/Nicht immer geht es um December 2008. University of Cambridge. ESOL Examinations
bloße ‹Richtigkeit›, sondern um das Nachdenken über (2008) 51. – 11 W. Butzkamm: Lust zum Lehren, Lust zum Ler-
nen (2004) 181. – 12 H. Frommer: Verzögertes Lesen, in: DU 2
mögliche Lösungen wie bei diesem L. zu einem Gedicht (1981) 10–27. – 13 Butzkamm [11] 361. – 14 auch bei Schaub,
von Brecht: B16 «Auf einer regnerischen Landstraße/ Zenke [3] fehlt das Stichwort ‹L›. Das Arbeitsblatt wird auf 37
Sahen wir einen (durchnässten/bedauernswerten/ärm- Zeilen erläutert. – 15 H. Meyer: Unterrichtsmethoden, Bd. 2:
lich gekleideten/zerlumpten) Menschen bei Nachtan- Praxisband (1987) 309.
bruch.» [12] Im Fremdsprachenunterricht beliebt ist der R. Häcker
Schreibimpuls: B17 «I have since realised that (...) [13]/
Offener, komplexer und auch im Umfang variabler sind ^ Beispiel ^ Deutschunterricht ^ Didaktik ^ Interpretation
solche Aufgaben: B18 Schreibe die Kernbegriffe des ^ Phantasie ^ Stillehre, Stilistik ^ Wortschatz

587 588
Lüge Lüge

Lüge (griech. ceyÂdow, pseúdos; lat. mendacium; engl. und zu einem bestimmten Handeln zu veranlassen. [5]
lie; frz. mensonge; ital. bugia, menzogna; span. mentira) Im Vordergrund steht mithin die appellative, auf den
A.I. Def. – II. Bereiche und Disziplinen: 1. Rhetorik. – 2. Lite- Hörer ausgerichtete Sprachfunktion, während die als
raturtheorie, Poetik. – 3. Ethik, Moralphilosophie. – 4. Sprach- Widerspruch zwischen Meinung und Äußerung defi-
philosophie, Linguistik, Semiotik. – 5. Soziologie. – 6. Psycho- nierte L. es eher mit der expressiven Funktion der Spra-
logie. – B. Geschichte: I. Antike. – II. Mittelalter. – III. Renais- che zu tun hat, das heißt mit dem Verhältnis einer
sance. – IV. Barock, Klassik. – V. Aufklärung. – VI. Idealismus.
– VII. Moderne.
sprachlichen Äußerung zum jeweiligen Sprecher. In sy-
stematischer Hinsicht dürfte die L. daher eigentlich
A.I. Def. In den beiden Büchern ‹De mendacio› und kaum eine herausragende Rolle in der Rhetorik spielen.
‹Contra mendacium› hat Aurelius Augustinus die bis- Historisch rührt die Beschäftigung mit der L. allerdings
her wirkmächtigste Definition der L. vorgelegt. Er de- daher, daß die Redekunst immer wieder – wie zum Bei-
finiert L. als «eine unwahre, mit der Absicht zu täuschen spiel bei Platons’ Kritik an den Sophisten [6] – unter ei-
gemachte Aussage» [1], wobei er mit «unwahr» eine für nen generellen Lügen- bzw. Manipulationsverdacht ge-
unwahr gehaltene Äußerung meint. Denn «nicht jeder, raten ist. Überdies ergeben sich in verschiedenen rhe-
der die Unwahrheit sagt, lügt ja, wenn er glaubt oder torischen Teildisziplinen Berührungspunkte zwischen
meint, es sei wahr, was er sagt» [2]. Die wichtigste Er- Lügentheorie und Rhetorik. Dies gilt etwa für die ver-
rungenschaft dieser Definition liegt darin, daß sie nicht schiedenen officia. Wenn der inventio die Aufgabe zu-
mehr auf der Wahrheit, sondern auf der persönlichen fällt, Tatsachen zu ersinnen, die den verhandelten «Fall
Meinung basiert. Denn während der griechische Begriff glaubwürdig machen sollten» [7], geht es in der Tat we-
des pseúdos noch relativ undifferenziert ist, erlaubt es niger um Wahrheit, sondern eher um Wahrscheinlich-
die lateinische Sprache zwischen error (Irrtum) und keit. Auch die narratio bietet Stoff für L., denn der Red-
mendacium (L.) zu unterscheiden. Damit ist der Weg ner (re-)konstruiert die Ereignisse lediglich so, wie sie
frei für eine subjektive Definition der L., bzw. für die sich möglicherweise abgespielt haben könnten. Der L.
Unterscheidung von Wahrheit und Wahrhaftigkeit. Wie schuldig macht er sich allerdings nur dann, wenn er
Kant später festhalten wird, ist die Wahrheit einer Aus- selbst nicht von seiner eigenen Rekonstruktion über-
sage nicht unserem Willen unterworfen, denn wir kön- zeugt ist, sondern sie nur aus Opportunitätsgründen vor-
nen uns irren. Einfluß hat unser Wille lediglich auf den trägt (s. u.). [8] Aber gerade im Bereich der narratio gibt
angemessenen Ausdruck dessen, was wir für wahr hal- die Rhetorik auch Empfehlungen, wie ein Redner be-
ten. Daher ist auch nicht Wahrheit, sondern Wahrhaf- sonders wirkungsvoll lügen kann: Die erfundene Ge-
tigkeit der Gegenbegriff zur L. [3] Eine Schwäche der schichte muß kurz (brevis), klar (aperta) und wahr-
Augustinischen Definition liegt jedoch in der Festle- scheinlich sein (probabilis), wenn sie vom Publikum
gung der L. auf die Täuschungsabsicht. Neuere sprach- geglaubt werden soll. [9] Auch in der argumentatio kön-
philosophische Ansätze haben versucht, die damit ge- nen L. durch lügenhafte Prämissen oder irreführende
gebene Einschränkung der Zwecke der L. aufzuheben Schlußformen eine Rolle spielen. Diese Fälle rhetori-
und den Begriff der L. stärker von ihrer moralischen scher L. sind jedoch von den nicht zur L. gehörenden
Bewertung zu trennen. Als L. wird in der neueren For- Kenntnismängeln, Irrtümern und Fehlschlüssen zu un-
schung ein verdeckter Widerspruch zwischen Meinung terscheiden, da der Redner hier selbst an die von ihm
und Äußerung bezeichnet, der weiterführenden, gleich- geäußerte Meinung glaubt. In der elocutio hat die L.
falls verdeckten Zwecken dient. [4] Die vorliegende Lü- gleichfalls ihren Platz. Quintilian geht insbesondere
gendefinition enthält drei Elemente, die eine klare Un- auf die Hyperbel ein, von der er sagt, daß sie zwar lüge,
terscheidung der L. von anderen Phänomenen erlaubt: dies aber ohne betrügen zu wollen. [10] Was für die Hy-
1. Die L. besteht in einem Widerspruch zwischen innerer perbel gilt, kann im Prinzip für alle Figuren und Tropen
Überzeugung und Äußerung (= Unterschied zu anderen geltend gemacht werden. Zwar trifft auf sie die Bedin-
sprachlichen Äußerungen). 2. Dieser Widerspruch ist gung des Widerspruchs zwischen Meinung und Äuße-
verdeckt (= Unterschied etwa zu Ironie und Fiktion). 3. rung zu, aber dieser Widerspruch tritt dank des Kodes
Der verdeckte Widerspruch hat weiterführende, jedoch der elocutio selbst offen zutage. In der Tat führen auch
gleichfalls verdeckt bleibende Funktionen (= Unter- alle anderen Formen des ornatus Lügensignale mit sich,
schied zur augustinischen Reduktion auf die Täu- so daß sie von vornherein nicht unter Lügenverdacht
schung). Mit der oben angeführten Definition läßt sich geraten. Ähnliches gilt für fictio, simulatio und dissimu-
auch zeigen, warum bestimmte Äußerungen keine L. latio. Von den officia leistet noch die memoria einen
sind, obwohl sie von den eigentlichen Überzeugungen wichtigen Beitrag für das Gelingen einer L. Zum einen
des Sprechers abweichen. Bei Höflichkeitslügen etwa ist muß der Lügner über ein ausgezeichnetes Gedächtnis
der Widerspruch zwischen Meinung und Äußerung verfügen, um sich all der kontrafaktischen Aussagen zu
nicht verdeckt. Vielmehr gehört Höflichkeit zum Kode erinnern, durch die er versucht hat, seine L. in Einklang
der sozial verbindlichen Verhaltensweisen, den bereits mit der Wirklichkeit zu bringen. Ein gutes Gedächtnis
die L. als solche offenlegt und dadurch aufhebt. erlaubt ihm darüber hinaus, seine Rede völlig frei vor-
II. Bereiche und Disziplinen. 1. Rhetorik. Aus dem zutragen und dadurch gleichfalls präsenter und somit
gleichen Grund erscheint auch die Beschäftigung der glaubwürdiger zu erscheinen. Das Auftreten von L. in
Rhetorik mit der L. nicht zwingend, denn auch hier zeigt ganz unterschiedlichen Bereichen der Rhetorik ist von
der rhetorische Kode den Widerspruch zwischen der der grundsätzlichen Frage zu unterscheiden, ob es spe-
Meinung des Redners und seiner Äußerung explizit an. zifisch rhetorische Formen der L. gibt. Rhetorik als
Ironie etwa hebt die L. durch Ironiesignale auf. Über- Kunst der Überredung, die nach dem Prinzip des ars est
dies beschäftigt sich die Rhetorik nicht mit der Wahrheit artem celare ihre eigenen Kunstgriffe verdeckt und da-
von Aussagen (veritas), sondern mit deren Wahrschein- durch in der Lage ist, den Rezipienten zu manipulieren,
lichkeit (verisimile) im Rahmen effizienter Kommuni- kann eine besondere Form des Lügens darstellen, etwa
kation, das heißt mit den Möglichkeiten, den Rezipien- dann, wenn es dem Redner gelingt, seine Kunstgriffe so
ten kognitiv zu überzeugen, ihn emotional zu bewegen geschickt zu kaschieren, daß damit auch der Gegensatz

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Lüge Lüge

zwischen Meinung und Äußerung verdeckt wird. Unter L. – wie etwa bei Platon – noch durch bestimmte
die spezifisch rhetorische Beschäftigung mit der L. fallen Zwecke legitimiert schien, verurteilte Augustinus die L.
nicht nur diese Versuche, L. durch rhetorische Mittel schlechthin als Sünde; dies obwohl er eine differenzierte
besonders gut zu kaschieren, sondern auch deren Ent- Kasuistik verschiedener, mehr oder weniger schwerwie-
tarnung durch die rhetorische Analyse. So können etwa gender Fälle von L. entwirft. [18] In der katholischen
Umschreibungen, Doppeldeutigkeiten, hyperbolische Moraltheologie gilt diese Auffassung von der L. als Sün-
und emphatische Beteuerungen der Glaubwürdigkeit de bis heute relativ ungebrochen. [19]
ein Indiz für das Vorliegen einer L. sein. Solche Indizien Die radikale moralische Verurteilung der L. liegt da-
sind jedoch nicht eindeutig, da sie auch als Reaktion auf bei in einer sprachphilosophischen Auffassung begrün-
einen beim Rezipienten vorliegenden Lügenverdacht det, die von der Voraussetzung ausgeht, daß die Funk-
auftreten können. Daher sind alle Versuche, ein be- tion der Sprache darin bestehe, die Wahrheit zu sagen
stimmtes Arsenal rhetorischer Verfahren als sichere In- und daß Wahrhaftigkeit darüber hinaus eine unverzicht-
dizien für L. zu betrachten, generell problematisch. bare Grundlage menschlichen Zusammenlebens sei. Bei
2. Literaturtheorie, Poetik. Ähnliche Vorbehalte wie Augustinus heißt es: «Die Sprache ist doch sicherlich ge-
für die Rhetorik gelten im Prinzip auch für die Literatur schaffen, nicht damit die Menschen sich durch sie gegen-
und ihre Wissenschaft. Zwar hat sie es mit erfundenen seitig täuschen, sondern damit man durch sie seine Ge-
und dennoch als wahr dargestellten Dingen zu tun, doch danken dem anderen zur Kenntnis bringt. Die Sprache
signalisieren bereits Werktitel wie M. Walsers ‹Lügen- zur Täuschung zu benutzen, nicht zu dem Zwecke, zu
geschichten›, Gattungskonventionen wie z.B. die für das dem sie geschaffen ist, ist folglich Sünde.» [20] Die in der
Märchen typischen Verstöße gegen die Wahrscheinlich- L. enthaltene Täuschung ist vor allem verantwortlich für
keit oder bestimmte, nur in der Fiktion mögliche Aus- die Auffassung, daß sie das normale Funktionieren der
sageformen wie etwa die «erlebte Rede», daß Literatur Sprache zerstöre. Aus dieser Perspektive erscheint die
«lügt». «Eine literarische L., die von einem Lügensignal L. als Mißbrauch von Sprache oder als Pervertierung der
begleitet ist, erfüllt daher nicht mehr den Tatbestand der natürlichen Zeichenfunktionen. Gegen diese traditio-
L. im außerliterarischen Sinne». [11] Es ist der Kode der nelle Verurteilung der L. haben neuere ethische Ansät-
literarischen Produktion und Rezeption, der die L. si- ze eine differenzierte moralische Bewertung entwickelt.
gnalisiert und damit aufhebt. Geschah die Aufdeckung Denn mit der L. können in der Tat sehr viel mehr sprach-
der Diskrepanz zwischen Meinung und Äußerung in der liche Handlungen verbunden sein als täuschen, betrügen
Antike und auch später häufig noch durch explizite Ver- oder hintergehen. Man kann mit L. Selbstvertrauen ge-
weise im Titel wie etwa bei Lukians ‹Lügenfreun- ben, motivieren, anspornen oder Menschenleben retten.
den› [12], so konnten spätere Epochen auf solche Ex- Die Absicht zu täuschen ist in diesen Fällen nicht der
plizitheit völlig verzichten, da Lügensignale bereits vom übergeordnete Zweck der L. Die mit der Täuschungsab-
literarischen Kode gesendet wurden. Wenn etwa Cer- sicht argumentierende kategorische Verurteilung der L.
vantes’ ‹Don Quijote› den Lügenvorwurf erwähnt – der verwechselt allerdings den zur Definition der L. gehö-
Erzähler ist Araber, und Araber, so ironisiert der erste renden untergeordneten Zweck der Verdeckung des
Verfasser, neigen ja bekanntlich zur L. [13] –, dann ge- Gegensatzes zwischen Meinung und Äußerung mit den
schieht dies aus einer selbstbewußten literarischen Po- zahlreichen übergeordneten Zwecken, denen die L. die-
sition heraus und dient eher spielerischen Zwecken. Ge- nen kann. Da L. aber zahlreichen Zielen dienen können,
nauer betrachtet handelt eigentlich der ganze ‹Don Qui- ergibt sich ihre moralische Beurteilung für neuere An-
jote› davon, was passiert, wenn jemand die kodierten sätze nicht bereits aus dem Vorliegen der L. selbst, son-
Lügensignale von Literatur permanent übersieht. [14] dern aus der Bewertung der Zwecke, die mit ihr verfolgt
Wenn sich die Literaturwissenschaft aber dennoch mit werden. [21] Aus dieser Perspektive erscheint dann aber
der L. beschäftigt, so tut sie dies aus verschiedenen auch Wahrhaftigkeit nicht mehr als unbedingter Wert
Gründen: 1. Literatur war schon sehr früh mit dem Vor- an sich, denn auch die kategorische Wahrhaftigkeits-
wurf der L. konfrontiert. So wollte Platon die Dichter pflicht kann Freibriefe ausstellen zur Verletzung der
bekanntlich mit der Begründung, sie lögen, aus dem Privatsphäre oder des Selbstwertgefühls, zur Denun-
Staat ausschließen. [15] 2. Die Literaturwissenschaft un- ziation oder gar zur Beihilfe zum Mord, wie z.B. in dem
tersucht L., Lügner und Betrüger als literarischen Ge- von Augustinus und Kant diskutierten Beispiel der nach
genstand, etwa im Schelmenroman, im Libertinagero- dem Aufenthalt eines potentiellen Opfers fragenden
man oder im Theater. 3. Sie untersucht die L. in spe- Häscher. Wahrhaftigkeit ist dieser Auffassung nach per
zifischer Weise etwa dann, wenn literarische Werke mit se genauso wenig moralisch einwandfrei wie die L. im-
besonderen literarischen Mitteln lügen. 4. Darüber hin- mer ethisch bedenklich ist. In beiden Fällen hängt die
aus kann eine literarische L. in ästhetischer Hinsicht Bewertung von den verfolgten Zielen ab.
dann vorliegen, wenn die literarische Sprache «verlo- 4. Sprachphilosophie, Linguistik, Semiotik. Einen ent-
gen», falsch oder inauthentisch erscheint, etwa weil epi- scheidenden Beitrag zu der oben skizzierten differen-
gonale, fremde oder unpassende Darstellungsformen zierteren Bewertung der L. haben Linguistik und
verwendet werden. [16] Über Wahrhaftigkeit und L. in Sprachphilosophie geleistet. Die sprachwissenschaftli-
der Kunst entscheidet letztlich also die Frage, ob das che Definition der L. ist dabei völlig wertfrei: «Die Lin-
Kunstwerk in sich stimmig und authentisch ist. [17] guistik sieht [...] eine L. als gegeben an, wenn hinter dem
3. Ethik, Moralphilosophie. In Moralphilosophie und (gesagten) Lügensatz ein (ungesagter) Wahrheitssatz
Ethik stehen sich zwei grundlegende Auffassungen ge- steht, der von jenem kontradiktorisch, d. h. um das As-
genüber, von denen die eine L. kategorisch verurteilt, sertionsmorphen ja/nein abweicht.» [22] Von der Semio-
während die andere die Bewertung der L. von den mit tik wurde dieser Lügenbegriff auch auf nicht-sprachli-
ihr verfolgten Zwecken abhängig macht. Lange Zeit che Zeichen und damit auch auf die Täuschung ausge-
wurde die ethische Diskussion der L. von der auf Au- dehnt. U. Eco hat die Semiotik sogar provokativ als
gustinus zurückgehenden kategorischen Verurteilung Wissenschaft definiert, die all das untersucht, was der
geprägt. Während in der griechischen Philosophie die Mensch zum Lügen braucht. [23] Bereits ein Blick auf

591 592
Lüge Lüge

das semiotische Kommunikationsmodell von R. Ja- tegie des Verbergens und den entsprechenden Techni-
kobson macht die Erweiterung des Gegenstandbereichs ken der Täuschung kommen. [32] Billigt Goffman der L.
deutlich. Denn neben der referentiellen, auf die Wirk- in seiner Rahmenanalyse eine soziale Funktion auf der
lichkeit bezogenen, und der expressiven, auf den Spre- Mikroebene sozialer Interaktion zwischen Individuen
cher bezogenen Sprachfunktion wird auch die auf den zu, so analysieren andere Ansätze die Funktion der L.
Rezipienten ausgerichtete appellative Funktion in das auf der gesellschaftlichen Meso- und Makroebene. Da-
Modell integriert. Sprache kann dazu dienen, Aufmerk- bei entsteht ein komplexes Bild der sozialen Funktionen
samkeit zu erzielen, zu überzeugen, zu überreden, zu von Wahrhaftigkeit und L. Auf der einen Seite hat die
verführen oder aber Kontakt aufzunehmen. Mit dem Ausdifferenzierung in unterschiedliche, hochkomplexe
Gebot der Wahrhaftigkeit im engeren Sinne haben diese Bereiche die Abhängigkeit der Mitglieder einer Gesell-
Gebrauchsweisen weniger zu tun. [24] Vor allem der schaft von Spezialisten für bestimmte Aufgaben zur Fol-
Forschungszweig der Pragmatik hat die Analyse der un- ge, daß alle Mitglieder der Gesellschaft auf die Bildung
terschiedlichen Gebrauchsformen sprachlicher Äuße- von Vertrauen angewiesen sind. Vertrauen und Wahr-
rungen in das Zentrum der Sprachtheorie gerückt und haftigkeit dienen somit als Mittel zur Kompensation ge-
damit für eine Neubetrachtung der L. gesorgt. Die Ar- sellschaftlicher Komplexität und des damit einherge-
beiten von L. Wittgenstein (1953), J.L. Austin (1955) henden Autonomieverlustes. [33] Auf der anderen Seite
und J.R. Searle (1969) haben wesentlich dazu beitra- müssen Individuen in verschiedenen gesellschaftlichen
gen, die reduktionistische Deutung der Sprache als reine Bereichen jedoch ganz unterschiedliche Rollen ausfül-
Aussageform zu korrigieren und das Spektrum der len und, dadurch bedingt, möglicherweise mehrere, mit-
Sprachfunktionen zu erweitern. Bereits Wittgenstein einander inkompatible Positionen vertreten. Ein Politi-
hatte die Grundlage für eine sprachphilosophische Neu- ker kann sich als Regierungsmitglied gezwungen sehen,
bewertung der L. gelegt: «Das Lügen ist ein Sprachspiel, Auffassungen zu vertreten, die er etwa als Parteimit-
das gelernt sein will, wie jedes andere.» [25] In seiner glied nicht teilt und die auch von seinen rollenspezifi-
Nachfolge hat Austin deutlich gemacht, daß die Aussage schen Auffassungen als Ehemann, Familienvater oder
nur einer unter vielen möglichen sprachlichen Akten ist, Steuerzahler abweichen können. In diesem Kontext
zu denen genauso Versprechen, Befehlen oder Lügen trägt die L. nun insofern zu einer Stabilisierung gesell-
gehören. Austin kritisiert in seinen Harvard-Vorlesun- schaftlicher Strukturen bei, als sie es erlaubt, die
gen die «descriptive» oder «constative fallacy» [26] und zwischen den einzelnen Rollen und Funktionen auftre-
hält fest, daß nicht alle Sätze dazu benützt werden, Aus- tenden Widersprüche und Diskrepanzen zu überdek-
sagen zu machen [27]. Damit entfällt auch die Beurtei- ken. [34] Die Durchdringung einer Gesellschaft oder ei-
lung sprachlicher Äußerungen nach der Leitdifferenz nes sozialen Feldes mit der L. kann so weit gehen, daß
‹wahr/falsch›. Vielmehr werden mit Worten Handlun- sich eine «objektive Verlogenheit» (W. Benjamin) ein-
gen vollzogen, wie etwa warnen, auffordern, befehlen stellt, von der alle Mitglieder, ganz unabhängig von ih-
oder versprechen. Konsequenterweise müßte die L. aus ren jeweiligen Absichten, betroffen sind. [35]
der Perspektive sprachlichen Handelns eigentlich als 6. Psychologie. Verhaltensforscher haben gezeigt, daß
normale sprachliche Handlung erscheinen. Dennoch ist Täuschungen und L. keineswegs nur beim Menschen
die L. für Austin ein «verunglückter» [28] Sprechakt, vorkommen. [36] Mit den menschlichen Formen der L.
weil der Sprecher eine Tatsache behauptet, obwohl er und ihren Motiven beschäftigt sich vor allem die Sozi-
diese selbst nicht glaubt. Auch bei Searle verstößt die L. alpsychologie. Ergebnisse empirischer Untersuchungen
gegen die für das Gelingen sprachlicher Handlungen zu zeigen, daß Menschen im Schnitt ein bis zweimal am Tag
befolgende Regel der Aufrichtigkeit. [29] Die Sprech- lügen, in 75 Prozent der Fälle aus egoistischen Motiven,
akttheorie scheint mithin weit entfernt zu sein von Witt- lediglich 25% der L. geschehen aus altruistischen Grün-
gensteins wertneutraler Beschreibung. [30] Allerdings den, hier allerdings mit einer signifikanten geschlechter-
eröffnet sie mit ihrem Fokus auf das sprachliche Han- spezifischen Differenz, denn Frauen lügen anderen zu-
deln dennoch theoretisch die Möglichkeit einer Tren- liebe weit häufiger als Männer. [37] Untersucht werden
nung der Analyse der L. von ihrer moralischen Beurtei- auch die psychologischen und emotionalen Folgen der
lung, da sie die Vielzahl der Zwecke und Folgen sprach- L. für den Lügner, die meist mit emotionalem Stress
licher Äußerungen in den Blick bekommt. verbunden sind, auch hier allerdings mit auffälligen
5. Soziologie. Die Soziologie untersucht die Funktion geschlechterspezifischen Unterschieden. Die Entwick-
der L. in der modernen, in verschiedene, relativ auto- lungspsychologie beschäftigt sich mit den altersmäßigen
nome Bereiche oder Felder gegliederten Gesellschaft, in Voraussetzungen der L. Hier zeigen Untersuchungen,
der Wahrhaftigkeit und L. ganz unterschiedliche Funk- daß Kinder bereits im Alter von drei Jahren in der Lage
tionen haben können. In der sozialen Interaktion etwa sind zu lügen, indem sie bestimmte Verhaltensweisen
erzwingt die Rücksichtnahme auf den Anderen be- unterdrücken (Dissimulation), daß sie aber erst mit
stimmte Verhaltensformen, die auf die Verdeckung der neun Jahren Verhaltensweisen, Einstellungen oder
eigenen Meinungen und Empfindungen hinauslaufen. Emotionen simulieren können. Die angewandte Psy-
Während Äußerungen der Höflichkeit allerdings dank chologie beschäftigt sich auch mit den verschiedenen
ihrer offenkundigen Zugehörigkeit zu einem bestimm- Möglichkeiten, L. und Lügner zu erkennen. Dabei ist die
ten Kode und der entsprechenden Lügensignale nicht Aufgabe für den Beobachter besonders schwierig, denn
zur L. zu rechnen sind, ist der Sachverhalt bei anderen er muß Anzeichen für etwas entdecken, auf dessen Ver-
Verhaltensformen nicht so eindeutig. Dies gilt etwa für deckung die gesamten Anstrengungen des Lügners hin-
die von E.M. Goffman untersuchten Formen sozialer auslaufen und für das es im Falle einer erfolgreichen L.
Interaktion und Rituale, bei denen Individuen eine be- keinerlei Signale gibt. In den meisten Fällen geht es dar-
stimmte Selbstdarstellung von sich erzeugen, die von ih- um, die L. anhand non-verbaler Anzeichen zu erkennen.
rer Selbstwahrnehmung oder Selbsteinschätzung stark Da die L. mit einem Stress auslösenden inneren Wider-
abweichen kann. [31] Insbesondere beim Vorliegen per- spruch verknüpft ist, beruhen die meisten Methoden auf
sönlicher Stigmata kann es zu einer ausgeprägten Stra- der Messung unwillkürlicher physischer Reaktionen.

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Lüge Lüge

Lügendetektoren messen Atemfrequenz, Herzschlag le. [48] Aber gerade aufgrund solcher L. über die Götter
und den Hautwiderstand, um Lügner zu überfüh- hat Platon die Dichter aus dem Staat ausgeschlos-
ren [38], andere Ansätze fokussieren die Aufmerksam- sen. [49] Er kritisiert die Dichter vor allem deshalb, weil
keit auf den Ton der Stimme und die Bewegungen von sie behaupten, daß Götter die Menschen durch die An-
Armen und Beinen [39]. Problematisch an allen Versu- nahme fremder Gestalten täuschen oder lügen. [50]
chen, L. anhand äußerer Anzeichen zu erkennen, ist die Denn «völlig bar der L. ist also alles Gottentstammte
Tatsache, daß damit lediglich Indizien für eine emotio- und Göttliche. [...] Durchaus einfach also und wahr in
nale Anspannung gesammelt werden, die jedoch ganz Tat und Wort ist der Gott und ändert sich weder selbst,
andere Ursachen haben kann. Bei einem Verhör mit ei- noch täuscht er andere weder durch Erscheinungen
nem Lügendetektor kann zum Beispiel bereits das Miß- noch durch Worte noch durch Sendung von Zeichen sei
trauen gegen die verhörte Person und die Angst vor es an Wachende oder an Träumende.» [51] Dennoch bil-
Strafe die vom Detektor gemessene Nervosität auslö- ligt Platon den Menschen in besonderen Situationen ein
sen. Recht auf L. zu. In Fällen, in denen der Staat angegriffen
B. Geschichte. I. Antike. In historischer Hinsicht wird, darf die L. als faÂrmakon, phármakon (nützliches
zeigt die Auseinandersetzung mit der L. ein breites Heilmittel) eingesetzt werden: «Etwa den Feinden ge-
Spektrum. Prägend für die abendländische Kulturge- genüber, oder wenn die, die wir als unsere Freunde be-
schichte war die Verurteilung der L. durch den Dekalog. zeichnen, im Wahnsinn oder aus Torheit etwas Schlech-
«Du sollst nicht lügen!» heißt die wohl bekannteste tes tun wollen – kann sie denn gleichsam als Abwehr-
Kurzfassung des 8. Gebotes, die auf eine lange jüdisch- mittel nützlich sein?» [52] «Den Regenten der Stadt
christliche Tradition der Lügenverdammung zurück- steht also, wenn überhaupt jemandem, das Lügen zu,
geht. Eine ganze Reihe von Bibelstellen stimmt mit die- und zwar, sei es der Feinde oder der eigenen Bürger we-
ser radikalen Verurteilung überein: «Ihr sollt nicht steh- gen, im Interesse der Stadt; alle übrigen dürfen damit
len, nicht täuschen und einander nicht betrügen» [40], nichts zu tun haben.» [53] Die Herrschenden besitzen
heißt es im 3. Buch Mose. «[...] So sollten wir durch zwei mithin ein Recht auf L., sie müssen es sogar anwenden,
unwiderrufliche Taten, bei denen Gott unmöglich täu- dem normalen Bürger hingegen ist es verwehrt: «Wahr-
schen konnte, einen kräftigen Ansporn haben [...]» [41], scheinlich werden unsere Regenten ausgiebigen Ge-
während für den Menschen festgehalten wird, daß die L. brauch von Unwahrheit und Täuschung machen müs-
zu seinem Wesen gehört: «Sie lügen einander an, einer sen, zum Wohle der Regierten. Sagen wir doch, daß alles
den anderen, mit falscher Zunge und zwiespältigem dergleichen nützlich ist, wenn man es auf diese Art, eben
Herzen reden sie.» [42] Allerdings wartet die Bibel auch als Heilmittel gebraucht.» [54] Die «wahrhaftige L.» ist
mit einigen Überraschungen auf, denn es finden sich so- davon zu unterscheiden, denn sie äußert sich nicht in den
gar Rechtfertigungen der L. Ein bekanntes Beispiel ist Handlungen, sondern befindet sich tief in der Seele und
das der Hebammen, die, weil sie Gott fürchten, den Pha- kommt dem Irrtum oder der Unwissenheit gleich. [55]
rao belügen, statt dessen Anordnung zu befolgen, alle Und es ist vor allem diese L., welche die Menschen mei-
jüdischen männlichen Neugeborenen zu töten. [43] Mit den. [56] Nur wer die Wahrheit in sich trägt und nicht die
Skepsis gegenüber einer kategorischen Verurteilung der «wahrhaftige» L., der kann die L. wohl dosiert und zu
L. erfüllt aber auch ein Blick auf die genaue Formulie- bestimmten Zwecken einsetzen. [57] Auch Aristoteles
rung des 8. Gebots, denn es heißt dort keineswegs «Du verurteilt die L. Allerdings geschieht dies bei ihm gleich-
sollst nicht lügen», sondern vielmehr: «Du sollst nicht falls nicht kategorisch, sondern utilitaristisch. L. werden
falsch gegen deinen Nächsten aussagen!» [44] Hier wer- vor allem hinsichtlich des Schadens, den sie bewirken
den nicht alle L. untersagt, sondern nur solche, die dem können, negativ bewertet. Lügner haben kaum Freun-
Nächsten Schaden zufügen. Die Bibel nimmt mithin de [58], sie zerstören die Basis des gesellschaftlichen Zu-
eine durchaus vieldeutige Position zur L. ein, denn ne- sammenlebens zum Beispiel, wenn beim Handel betro-
ben Passagen kategorischer Verurteilung finden sich gen wird [59], und sie sind auch in pädagogischer Hin-
solche, die die Bewertung einer L. deutlich von deren sicht problematisch, weil die Götter durch die L. der
Zweck abhängig machen. Ein Blick auf andere Epochen Dichter sogar als Lügner dargestellt werden [60]. Ari-
und Kulturen zeigt darüber hinaus, daß die Verurteilung stoteles behandelt die L. nicht im Sinne einer pauschalen
der L. auch dort keinesfalls immer kategorisch ausfällt. Verurteilung, sondern jeweils differenziert nach den
So legitimiert z.B. Platon die L. des Staatsmannes Wirkungen, die aus ihr entstehen. Sie wird daher auch
(s. u.). Die bedeutendste Apologie der L. findet sich al- unter den Tugenden bzw. Untugenden der Menschen im
lerdings erwartungsgemäß in der Dichtung. [45] In der Umgang miteinander abgehandelt. Hier geht es Aristo-
‹Ilias› lügt selbst der mit allen Tugenden ausgestattete teles vor allem um die angemessene Darstellung der ei-
Achilles. [46] Und auch die Moral von der Geschichte genen Persönlichkeit, die sowohl vom Prahler verfehlt
liefert ein regelrechtes Plädoyer für List und L., denn die wird, der sich besser darstellt als er eigentlich ist, als
Griechen besiegen die Trojaner nicht im Kampf, son- auch vom Ironiker, der seine eigenen Tugenden gerin-
dern lediglich dank der von Odysseus ersonnenen List ger darstellt als sie sind. [61] Das Prinzip der Aufrichtig-
des trojanischen Pferdes. In der ‹Odyssee› avanciert keit wird mithin nicht kategorisch vertreten. Darüber
schließlich sogar ein notorischer Lügner zum zentralen hinaus unterscheidet Aristoteles den echten Lügner, der
Helden. Zwar erscheinen einige von Odysseus’ L. als le- um der L. selbst willen lügt, vom Lügner, der lediglich
gitim, weil sie dazu dienen, sein eigenes oder das Leben lügt, um bestimmte Zwecke zu verfolgen. Der zweiten
seiner Gefährten zu schützen, doch belügt er auch – und Form der L., der Zwecklüge, billigt Aristoteles – wie
diesmal ganz ohne Not – Eumaios, Laertes, seinen Va- auch schon Platon – eine gewisse Berechtigung zu. Im
ter, und Penelope, seine Gattin. [47] Hohes Lob erfährt Prinzip teilt auch Quintilian in seiner ‹Institutio Ora-
die L. schließlich gar aus göttlichem Mund: Keine Ge- toria› diese utilitaristische Einstellung. Er betrachtet die
ringere nämlich als Athene rühmt den Helden für seine L. unter der Voraussetzung als legitim – hierin erweist er
sogar im Freundes- und Vaterland geübte Kunst der sich als Schüler Platons –, daß der Redner den Unter-
Verstellung, welche der Held mit der Göttin selbst tei- schied zwischen Wahrheit und L. genau kennt und sich

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Lüge Lüge

nicht selbst in seinem Lügengewebe verfängt. [62] Die lers und Ironikers, die ja verschiedene Zeichensysteme
Rechtfertigung des Einsatzes der L. leitet Quintilian da- umfaßt, mit der Augustinischen Theorie der L. zu ver-
bei aus grundsätzlichen Überlegungen zum rhetorischen knüpfen. Darüber hinaus präzisiert Thomas den augu-
Prinzip des verisimile ab. [63] Darüber hinaus rechtfer- stinischen Begriff der Falschheit, indem er zwischen der
tige sich die L. durch das decorum. Wenn der Redner es materiellen, formalen und effektiven Falschheit unter-
nur mit aus Philosophen bestehenden Richtern und Zu- scheidet. Allein in der formalen Falschheit, in der locu-
hörern zu tun hätte, bedürfte es keiner zusätzlichen tio contra mentem, das heißt die Absicht etwas für falsch
Kunstgriffe, doch dies sei nicht der Fall und daher sei der Gehaltenes zu äußern, liegt das Definitionsmerkmal der
Rückgriff auf die L. zur Beeinflussung für eine gute Sa- L. begründet, unabhängig davon, ob in objektiver Hin-
che legitim. [64] Der Zusammenhang zwischen Hyper- sicht etwas Falsches gesagt wurde (= materielle Falsch-
bolik und L. ist nach Quintilian wirkungsästhetischer heit). Die Absicht zu täuschen ist bei Thomas von Aquin
Natur. Die Hyperbel entferne sich zwar von der Wahr- ein zur L. hinzutretendes Moment, das die L. ab-
heit, aber sie übertreibe nur, was wir ohnehin nicht glau- schließt. [74] An der Bewertung der L. ändert sich
ben. Deshalb sei sie auch nicht auf Täuschung angelegt, dadurch allerdings nichts. Sie ist ein Übel an sich, das
sondern eher auf Unterhaltung. Die Wahrheit allein auch nicht durch gute Zwecke gerechtfertigt werden
stelle hingegen niemanden zufrieden. Deshalb müsse sie kann. [75] Denn das Wesen der L. liegt bereits im fal-
durch Übertreibungen bereichert werden, dadurch wer- schen Zeichengebrauch begründet. [76] In dieser kate-
de die Sprache wirkungsvoller eingesetzt. [65] Cicero gorischen Verurteilung ist die katholische Morallehre
beschäftigt sich vor allem in ‹De inventione› und in ‹De Thomas von Aquin im großen und ganzen jahrhunder-
oratore› explizit mit der L. Dabei ist die L. auf ganz un- telang gefolgt.
terschiedlichen Ebenen angesiedelt. In ‹De inventione› III. Renaissance. Der Wandel von einem theo- zu ei-
geht es um falsche Begriffsbestimmungen bei der Stoff- nem anthropozentrischen Weltbild zu Beginn der Neu-
sammlung, die sich dadurch ergeben, daß in ihnen L. zeit bringt eine Verschiebung der Prioritäten und Per-
enthalten sind: «Falsch sind die [Begriffsbestimmun- spektiven mit sich. Während das Mittelalter die L. mo-
gen], in denen offensichtlich eine L. steckt.» [66] L. kön- ralisch verurteilt, räumt die Renaissance in Rückgriff
nen daneben natürlich auch in der narratio vorkommen, auf die Antike dem Herrscher das Recht, ja manchmal
wo der Redner seine Argumente durch selbst erfundene sogar die Pflicht zur L. ein, sofern diese dem Staatswohl
Geschichten stützen kann. [67] Während L. hier ganz dient. Machiavelli betrachtet es zwar als löbliche
bestimmte, untergeordnete Funktionen im Rahmen der Eigenschaft, wenn Fürsten ihr Wort halten und aufrich-
inventio und narratio haben, findet sich jedoch in ‹De tig sind, doch «gleichwohl zeigt die Erfahrung, daß die-
oratore› eine Stelle, an welcher der L. eine fundamen- jenigen Fürsten Großes vollbracht haben, die auf ihr ge-
tale Rolle für die Redekunst zugeschrieben wird. Die gebenes Wort wenig Wert gelegt und sich darauf ver-
Beredsamkeit, so führt Antonius im Dialog aus, basiere standen haben, mit List die Menschen zu hinterge-
auf Unwissenheit, denn «des Redners gesamtes Tun [...] hen» [77]. Damit wird eine radikale Kehrtwende voll-
gründet auf Vorurteilen, nicht auf Wissen» [68]. Der zogen. Nicht das Gute oder Schlechte an und für sich
Redner vor Gericht sei häufig gezwungen, Meinungen sind das Ziel der Überlegungen, sondern die Zwecke,
zu vertreten, die entweder unbegründet sind, weil er die mit dem Guten und Schlechten verfolgt werden kön-
nicht über das nötige Wissen verfüge oder die seiner ei- nen. Im Zuge dieser funktionalen und pragmatischen
genen Auffassung zuwiderlaufen. In beiden Fällen be- Umwertung der Werte verändert sich auch die Einstel-
wegt er sich in der Nähe der L. [69] Obwohl Antonius die lung zur L.: Für den Fürsten, dessen oberste Funktion
Beredsamkeit in die Nähe der L. rückt, verbindet er da- für den Staat im Machterhalt liegt, dienen das Gute und
mit doch keine grundsätzliche Verurteilung, sondern die Vermeidung des Schlechten vor allem diesem
scheint ihr eine gewisse Berechtigung im Rahmen des Zweck. Daher darf ein Fürst sein Wort brechen, um den
finis und utile zuzubilligen. Die für die Antike charak- Staat zu schützen. Allerdings muß er klug genug sein,
teristische zweck- und wirkungsorientierte Beurteilung den eigenen Wortbruch zu verschleiern. Er muß die
der L. ändert sich grundlegend mit Augustinus, der die Schläue des Fuchses besitzen, aber diese Schläue gleich-
L. kategorisch verurteilt, indem er sie aus einer subjek- zeitig verdecken können, er muß selbst nicht unbedingt
tivistischen Perspektive (Gesinnung, Absicht) deutet: gute Eigenschaften besitzen, aber er muß sie simulieren
«Nach seiner inneren Gesinnung, nicht nach der Wahr- können. [78] Im Zuge der höfischen Repräsentations-
heit oder Unwahrheit des Sachverhalts selbst muß man kultur billigt auch Castiglione dem Höfling das Recht
ja beurteilen, ob einer lügt oder nicht lügt.» [70] Die Zu- zu, sich zu verstellen und andere zu täuschen, denn die
ständigkeit für die L. wird damit von der Erkenntnis- Wahrheit würde, da sie nur Zustimmung hervorrufen
theorie auf die Ethik übertragen, wobei die Intentiona- könne, die Unterhaltung, die auf Widerspruch baue, le-
lität des Lügens prinzipiell negativiert wird. [71] Augu- diglich matt werden lassen. [79] Erst recht hatten die hö-
stinus’ Kasuistik verschiedener Lügenarten – von der fischen Kulturen der Repräsentation in Frankreich, Spa-
Scherzlüge über die Notlüge bis zur L. mit dem Ziel der nien und Italien ein Gespür dafür, daß Täuschung und L.
Rettung eines Menschenlebens – bleibt daher ohne Fol- bei Hofe eine schiere (Über-) Lebensnotwendigkeit
gen für die grundsätzliche Verurteilung der L., die selbst darstellen. So vertritt Torquato Accetto in seinem
dann Sünde ist, wenn sie hilft, ein Menschenleben zu ret- Buch mit dem sprechenden Titel ‹Von der ehrenwerten
ten. [72] Verhehlung› zwar die Auffassung, man dürfe nie von
II. Mittelalter. Thomas von Aquin dehnt den Begriff der Wahrheit abweichen [80], doch räumt er anderer-
der L. in einer für die Rhetorik bedeutsamen Art und seits die Unvermeidlichkeit der dissimulatio, also der
Weise aus, indem er ihn nicht mehr allein auf sprachli- Verdeckung der Wahrheit, ein. Auch ein ehrenwerter
che, sondern auch auf außersprachliche Zeichen be- Mensch müsse sie beherrschen, damit er vor möglichem
zieht: «Unter Sprache ist jedes Zeichen zu verste- Schaden geschützt sei. Denn die Dissimulation unter-
hen.» [73] Diese Ausweitung ist notwendig, um die bei scheide sich von der L. dadurch, daß sie niemand An-
Aristoteles angesprochene Selbstdarstellung des Prah- derem schade, sondern nur dazu diene, selbst keinen

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Schaden zu erleiden. [81] In Erasmus’ von Rotterdam verfolgt werden, und vom rechtlichen Rahmen, inner-
‹Colloquia› wird die Neubewertung der L. besonders halb dessen sie vorgebracht wird. Damit einher geht
deutlich. Pseudocheus verteidigt dort nicht nur die L., auch eine semantische Verschiebung. Der Widerspruch
sondern faßt die Beredsamkeit zu einem guten Teil als bzw. die Differenz zwischen Rede und Geist wird etwa
Kunst besonders geschickt zu lügen auf. [82] Die Moral bei F. Chr. Baumeister als bloße Unwahrheit (falsilo-
des Dialogs läßt keinen Zweifel am Sieg des Pseudo- quium) bezeichnet, das Wort L. wird für eine Unwahr-
cheus über seinen an der Wahrhaftigkeit festhaltenden heit reserviert, mit der einem Menschen Schaden zu-
Gesprächspartner. Eine solche Veränderung spiegelt gefügt wird. [87] Chr. Wolff bekräftigt dies. [88] Er ver-
sich natürlich auch in der Literatur wider, etwa in Boc- bietet zwar die L., nicht aber die Unwahrheit, wenn da-
caccios ‹Decamerone›, einem Buch, das voll ist mit Ge- durch ein Mensch gerettet werden kann. [89] Auch Gro-
schichten von Lügnern und Betrügern, die allerdings zu- tius’ Definition der L. ist charakteristisch für den Dis-
meist sowohl ihrer Bestrafung in der Geschichte als auch kurs der Aufklärung, denn er koppelt sie explizit an das
der Verurteilung durch die verschiedenen Erzähler ent- freie Urteil des Einzelnen. Eine L. im engeren Sinne
gehen. liegt dann vor, wenn eine Unwahrheit in Widerspruch
IV. Barock, Klassik. In der französischen Klassik wird zum Recht auf freies Urteil desjenigen tritt, demge-
die in der Renaissance initiierte Neubewertung der L. genüber sie geäußert wird. Ohne dieses als impliziter
unter Rückgriff auf gesellschaftliche Konventionen fort- Vertrag zwischen den Kommunikationsteilnehmern ge-
geführt. Die Traktate über die Hofkultur, wie zum Bei- dachte Recht wäre die gesamte Kommunikation sinn-
spiel Eustache de Refuges ‹Traité de la cour› (1617), los. [90] Allerdings gibt es Situationen, in denen eine L.
oder die Schriften der Moralisten sind sich einig darin, dieses Recht nicht verletzt, wie etwa im Kriegsfall. Die
daß L., hier verstanden als umfassende Zeichenpraxis, Auffassung, daß eine L. im strengen Sinne erst dann vor-
bei Hofe notwendig sind: LaBruyère stellt unmißver- liege, wenn das Recht eines anderen auf freies Urteilen
ständlich klar, daß der Höfling seine Gefühle beherr- oder auf Wahrheit verletzt werde, findet sich auch bei
schen muß, um seine Empfindungen und Meinungen anderen Autoren der Aufklärung wie etwa Pufendorf.
dissimulieren zu können. [83] Nicht nur die Dissimula- Konsequenterweise kann man von einer L. nur dann
tion der Wahrheit, auch die Simulation des Falschen ge- sprechen, wenn der Kommunikationspartner ein Recht
hört zu den notwendigen Grundfähigkeiten des Höf- darauf habe, die Wahrheit zu erfahren. [91] Gegen die-
lings. Um bei Dissimulation und Simulation erfolgreich sen, den Diskurs der Aufklärung durchziehenden Ge-
sein zu können, muß der Höfling alle Zeichensysteme danken hat ausgerechnet Kant in einer Antwort auf B.
perfekt beherrschen. Dazu ist es nötig, rhetorisch be- Constant Einspruch erhoben. Für Kant gilt die Wahr-
stens geschult zu sein, und zwar nicht nur in sprachlicher, heitspflicht nicht nur denjenigen gegenüber, die ein An-
sondern auch in mimischer und gestischer Hinsicht. Die- recht auf sie haben, sondern sie ist «unbedingte Pflicht,
se Aufwertung ist allerdings doppeldeutig, denn sie geht die in allen Verhältnissen gilt» [92]. «Wahrhaftigkeit in
mit dem Generalverdacht einer umfassenden allgemei- Aussagen, die man nicht umgehen kann, ist formale
nen Täuschung der Gesellschaft Hand in Hand, Gesell- Pflicht des Menschen gegen Jeden, es mag ihm oder ei-
schaft und Tugenden geraten in toto unter Generalver- nem Andern daraus auch noch so großer Nachteil er-
dacht. Gleich zu Anfang der ‹Maximen› von LaRoche- wachsen; [...] denn [die Lüge] schadet jederzeit einem
foucauld heißt es: «Unsere Tugenden sind meist nur anderen, wenngleich nicht einem andern Menschen,
verkappte Laster.» [84] Eine ähnliche Auffassung ver- doch der Menschheit überhaupt, indem sie die Rechts-
treten auch die Moralisten des spanischen Barock, wie quelle unbrauchbar macht». [93] Aus diesem Grundsatz
zum Beispiel B. Gracián: «In allem geht stets die L. vor- ergibt sich die Konsequenz, daß auch in dem seit Au-
an, die Dummköpfe hinter sich ziehend am Seil ihrer gustinus diskutierten Fall des von seinen Häschern ver-
unheilbaren Gemeinheit: die Wahrheit aber kommt folgten Opfers keine L. geäußert werden darf, sogar
immer zuletzt, langsam heranhinkend am Arm der nicht, um dieses zu schützen. Weil Kant die Erörterung
Zeit.» [85] Dieser generelle Lügenverdacht wird gestützt allein auf dem Gebiet der Ethik führt, bedarf es bei der
durch eine zwischen Himmel und Erde ausgespannte L. nicht der Einschränkung, daß sie Anderen schaden
Ontologie, nach welcher das gesamte Diesseits schein- müsse, denn der Schaden besteht bereits in der L. selbst.
und lügenhaft ist, wie etwa die Theaterstücke P. Cal- In den Vorlesungen über Moralphilosophie räumt Kant
deróns, z.B. das ‹Große Welttheater›, bezeugen. [86] den Menschen allerdings das Recht ein, eigene Schwä-
Auch in der französischen Klassik finden sich Werke, chen zu verschweigen und zu verdecken, also das Recht
welche in der allgemein verbreiteten Verpflichtung zur auf Dissimulation: «Die Neigung sich zurück zu halten
Täuschung eine Gefahr für die Gesellschaft sehen. Mo- und zu verbergen, beruht darauf, daß die Vorsicht ge-
lières ‹Tartuffe› demonstriert die Bedrohung, die von wollt hat, der Mensch soll nicht ganz offen seyn, weil er
der Heuchelei in einer Gesellschaft ausgeht, die Simu- voll Gebrechen ist». [94] Kant argumentiert damit, daß
lation und Dissimulation zur Verhaltensregel erhoben eine völlig offene Kommunikation nur dann möglich ist,
hat. Allerdings wird auch das absolute Gebot der Wahr- wenn die Menschen perfekt wären. Da dies aber nicht
haftigkeit, etwa im ‹Misanthrope›, einer Kritik unter- der Fall ist, ist es besser, wenn man nicht wie durch ein
zogen. Fenster in die Seele der Menschen sehen könne.
V. Aufklärung. Wenn Aufklärung bedeutet, daß alle VI. Idealismus. Der Vergleich mit Fichtes Sittenlehre
Geltungsansprüche, Normen und Dogmen auf den Prüf- macht den radikalen Wandel deutlich, den Idealismus
stand der Vernunft gestellt werden, dann gilt dies auch und Romantik im Verhältnis zur Aufklärung vollziehen.
für die L. bzw. deren Verbot durch die katholische Mo- In Fichtes Sittenlehre heißt es: «Der Sittliche legt not-
raltheologie. Es ist daher nicht überraschend, daß die wendig [...] immer sein ganzes inneres Wesen offen dar:
kategorische Verurteilung der L. hier relativiert wird: [...] der Sittliche lügt niemals [...].» [95] Die Formulie-
Im Licht der Vernunft erscheint die L. nicht mehr als rung suggeriert, daß der sittliche Mensch sein inneres
Todsünde, vielmehr wird ihre Beurteilung mehr und Wesen auch dann offenbart, wenn es nicht jenen Grad
mehr abhängig gemacht von den Zwecken, die mit ihr an Perfektion erreicht hat, den Kant ohnehin für uner-

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reichbar hält. Dahinter verbirgt sich die Auffassung schlechts auf ‹Baum› und ‹Pflanze› zeigt. Die Entste-
von der Wahrhaftigkeit der Kommunikation als abso- hung allgemeiner Begriffe aus konkreten, individuellen
luter Wert. Damit nimmt die Romantik eine Position und voneinander verschiedenen Wahrnehmungen ver-
ein, die sich radikal von der rhetorischen, auf Wirkung dankt sich hingegen einer unsachgemäßen Abstraktion:
berechneten Auffassung absetzt. Entscheidend ist der «Das Übersehen des Individuellen und Wirklichen gibt
direkte und unverfälschte, durch keinerlei gesellschaft- uns den Begriff.» [100] Diese Überlegungen münden in
liche Rücksichtnahme beeinträchtigte, authentische eine mit den Mitteln der Rhetorik analysierte, radikale
Ausdruck der eigenen Meinungen und Empfindungen. Auflösung von Erkenntnis und Sprache in Tropen und
Von dieser idealistisch-romantischen Betonung der Figuren: «Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer
Wahrhaftigkeit ist es nur noch ein kleiner Schritt zu von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen,
Nietzsches radikaler Umkehr des Verhältnisses von kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die,
Wahrhaftigkeit und L. poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, ge-
VII. Moderne. F. Nietzsche unterzieht die bisher zu- schmückt wurden und die nach langem Gebrauch einem
meist geteilten Grundlagen der Lügenkritik einer radi- Volke fest, kanonisch und verbindlich dünken: die
kalen Prüfung, die sowohl sprachtheoretisch als auch Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen
rhetorisch begründet ist und letztlich in eine Ablösung hat, daß sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und
der Erkenntnistheorie und Sprachphilosophie durch sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild
Rhetorik mündet und somit der Rhetorik eine zentrale verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Mün-
Stelle in der Philosophie einräumt. [96] Die vereinzelte, zen, in Betracht kommen. [...] wahrhaft zu sein, das heißt
intentionale L. verschwindet auf diese Weise vor dem die usuellen Metaphern zu brauchen, also moralisch aus-
Horizont einer generellen anthropologisch, epistemo- gedrückt: von der Verpflichtung, nach einer festen Kon-
logisch und sprachtheoretisch bedingten L. Am Anfang vention zu lügen, herdenweise, in einem für alle verbind-
dieses Prozesses veranschlagt Nietzsche eine große, me- lichen Stile zu lügen.» [101] Damit ist eine Umwertung
taphysische L., eine Selbsttäuschung des Menschen über der Werte vollzogen. Rhetorisch motiviert ist diese Auf-
sich und sein Erkenntnisvermögen. Denn der Intellekt lösung gleich mehrfach, denn Erkenntnis und Sprache
ist nicht auf die Erkenntnis der Wahrheit ausgerichtet, sind nicht nur deshalb Rhetorik, weil beide die Welt
seine Funktion liegt vielmehr darin, dem schwächsten mittels Metaphern und Metonymien konstruieren, son-
aller Wesen das Überleben zu ermöglichen. Der Intel- dern auch, weil sie Einfluß auf die Welt ausüben, sie be-
lekt ist ein bloßes Werkzeug, «ein Mittel zur Erhaltung herrschen und manipulieren. Die Folge davon ist eine
des Individuums» [97]. Darüber hinaus hat der Intellekt Umkehrung der Verhältnisse zwischen Wahrheit bzw.
jedoch eine weitere, viel grundlegendere Funktion: Wahrhaftigkeit und L., denn was als Wahrhaftigkeit ge-
Denn er erlaubt es dem Menschen, sich über seine ei- schätzt wird, erscheint nunmehr als tiefere L. Wer hin-
gene Bedeutungslosigkeit zu täuschen, indem er ihm gegen von der allgemeinen Verpflichtung abweicht, aus
vorgaukelt, daß das Dasein einen Wert habe und daß Gründen der Konventionalität zu lügen, der erschließt
ihm selbst in dieser Welt eine zentrale Bedeutung zu- sich die Möglichkeit, authentisch zu sein. Die Sprache
komme. Er «täuscht sich also über den Wert des Daseins insgesamt hat sich in eine kollektive gesellschaftliche L.
dadurch, daß er über das Erkennen selbst die schmei- verwandelt, die den Menschen daran hindert, wahrhaf-
chelhafteste Wertschätzung in sich trägt» [98]. Nur dank tig zu sein. Nietzsche ist damit der Wegbereiter einer ra-
einer perspektivischen Illusion rückt er selbst in das dikalen Sprachkritik, die später in R. Barthes These
Zentrum der Welt. Die Entstehung der Wahrheit leitet vom faschistischen Charakter der Sprache gipfelt. [102]
Nietzsche dann in einem zweiten Schritt aus dem Be- Auch weitere moderne Angriffe auf die Wahrhaftigkeit
dürfnis des Menschen nach sozialem Frieden ab. Dabei werden von Nietzsche vorbereitet. Während seine
legt er auch hier die rhetorische Grundstruktur der Sprachkritik die linguistische Auffassung widerlegt, daß
Wahrheit offen, denn als Wahrheiten fungieren nicht uns immer adäquate Zeichen zum Ausdruck unserer
etwa Übereinstimmungen von Erkenntnis und Realität, Auffassungen zur Verfügung stehen, hebt die episte-
sondern jene Topoi und Gemeinplätze, auf die sich die mologische Kritik die zweite Prämisse der Wahrhaftig-
Menschen geeinigt haben. Nietzsches Sprachkritik ent- keitsethik auf, d. h. die anthropologische These, daß wir
wickelt sich dann ganz analog zur Kritik an der Erkennt- die Wahrheit oder das, was wir dafür halten, auch tat-
nis. Während er in der Epistemologie die Korrespon- sächlich ausdrücken wollen. Für Nietzsche verdankt sich
denztheorie verabschiedet, nach welcher Erkenntnis in der Wille zur Wahrheit nicht menschlichem Erkenntnis-
einer Übereinstimmung von Dingen und dem Verstand drang, sondern dem Willen zur Macht, der darauf aus-
besteht (adaequatio rei et intellectus), leugnet er in der gerichtet ist, sich die Wirklichkeit so zurechtzulegen,
Sprachtheorie den Gedanken der Übereinstimmung daß sie unseren Vorstellungen entspricht. Die Welt ist
von Sache und Wort bzw. Begriff. Aus der Arbitrarität bei Nietzsche grausam, falsch, ohne Sinn. Vor diesem
und Konventionalität der Sprache (vgl. F. de Saussure) Hintergrund ist die L. überlebensnotwendig. Aus
leitet er deren prinzipiell pragmatische Funktion ab: Der diesem Grund muß der Mensch zum Lügner werden:
Mensch «bezeichnet nur die Relationen der Dinge zu Religion, Metaphysik, Wissenschaft, Moral, all diese
den Menschen und nimmt zu deren Ausdrucke die menschlichen Errungenschaften sind Ausgeburten sei-
kühnsten Metaphern zu Hilfe» [99]. Wie der Bezug zwi- nes Willens zur L., zur Flucht vor der Wahrheit. Sie er-
schen Dingen und Erkenntnis, so ist auch die Beziehung lauben es ihm, sich die Welt so zu erschaffen, daß ihm
zwischen Dingen und Worten für Nietzsche nach rhe- ein Leben in ihr als lebenswert erscheint. Sie befähigen
torischem Muster konstruiert. Denn die Genese der ihn, das Leben zu beherrschen. L. ist die Macht. [103]
Worte verdankt sich einer gleich doppelten Metapher, Damit vollzieht sich zusätzlich eine lebensphilosophisch
von einem Nervenreiz zu einem Bild, und dann von dem motivierte radikale Umkehrung des Verhältnisses von
Bild zum Wort. Darüber hinaus entsteht die Sprache aus Wahrheit und L., die auf die Neuschöpfung der Welt
Anthropomorphismen, wie Nietzsche an der willkürli- nach den subjektiven Intentionen des Menschen zielt.
chen Projektion des männlichen und weiblichen Ge- Allerdings gibt es für Nietzsche einen wesentlichen Un-

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terschied zwischen metaphysischen und ästhetischen L. E. Holenstein,T. Schelbert (Hg.): R. Jakobson: Poetik: Ausg.
Beide sind schöpferisch, allein die ästhetischen L. sind Aufsätze 1921–1971 (1960) 83–121, hier 94ff. – 25 L. Wittgen-
jedoch gerechtfertigt. Denn während für alle anderen stein: Philos. Unters. (1975) 141. – 26 J.L. Austin: How to Do
Things With Words (Oxford/London 1975) 3. – 27 ebd. 1. –
Formen der L. gilt, daß sie verdeckt auftreten, tritt die 28 ebd. 51. – 29 J.R. Searle: Speech Acts: An Essay in the Philos.
ästhetische L. offen zutage. «Kunst behandelt den of Language (London 1969); dt. Übers.: J.R. Searle: Sprechakte.
Schein als Schein, will also gerade nicht täuschen, ist Ein sprachphilos. Essay(31988) 95ff. – 30 S. Dietz: Der Wert der
wahr». [104] Wie der Metaphysiker, so bildet auch der L.: Über das Verhältnis von Sprache und Moral (2002) 53–62. –
Künstler die Welt nicht nach, sondern stellt ihr eine ei- 31 E.M. Goffmann: The Presentation of Self in Everyday Life
gene Schöpfung an die Seite, doch im Unterschied zu (New York 1959). – 32 . ders.: Stigma. Notes on the Manage-
ersterem deckt er die Konstruiertheit seiner Gebilde auf ment of Spoiled Identity (Englewood Cliffs 1963). – 33 N. Luh-
und macht damit den Schein als Schein sichtbar. Mit der man: Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer
Komplexität (42000). – 34 vgl. R. Hettlage (Hg.): Verleugnen,
Aufdeckung des Unbewußten und im Gefolge der au- Vertuschen, Verdrehen. Leben in der Lügenges. (2003). – 35 W.
gustinischen Subjektivierung des Lügenbegriffs formu- Benjamin: Notizen über ‹Objektive Verlogenheit› I, in: R. Tie-
liert Nietzsche eine weitere Kritik an der wahrhaftig- demann, H. Schweppenhäuser (Hg.): W. Benjamin, Gesamm.
keitsorientierten Moralphilosophie, die dann in der Schr., Bd. VI (1985) 60–64. – 36 V. Sommer: Lob der L. Täu-
Psychoanalyse ihre volle Ausprägung findet. Wahrhaf- schung und Selbstbetrug bei Tier und Mensch (1992). – 37 C.
tigkeit setzt die Einheit des Bewußtseins voraus. Wenn Biland: Psychol. du menteur (Paris 2004) 25ff. – 38 P. Ekman:
diese jedoch in verschiedene Instanzen gespalten ist, Telling Lies (New York 1992). – 39 Biland [37] 208. – 40 Die Bi-
dann wird es schwierig, eine bestimmte Meinung als bel. AT und NT. Einheitsübers. (2008) Lev 19,11; 114. – 41 ebd.
Hebr 6, 18; 1356. – 42 ebd. Ps 12,3; 672. – 43 ebd. Ex 1, 15–20; 55. –
Maßstab für die L. ausfindig zu machen. 44 ebd. Ex 20, 16; 72. – 45 M. Bettetini: Eine kleine Gesch. der L.
Genau diese Aufspaltung der Einheit des Subjektes (2003) 65–70. – 46 ebd. 67f. – 47 M. Lavagetto: La cicatrice de
ist allerdings eine der Errungenschaften der Psycho- Montaigne: le mensonge dans la littérature (Paris 1997) 20–23. –
analyse. Zwar nimmt Freud für sich selbst und auch die 48 Homer: Odyssee, übertr. von J.H. Voss (1980) 156f., vv. 290–
Psychoanalyse unbedingte Wahrhaftigkeit in Anspruch, 299. – 49 Platon [15] 377e; 165; 378 c, 167. – 50 ebd. 381e–382a;
er ist sogar der Meinung, daß er – seit er sich mit Psy- 179. – 51 ebd. 382e; 183. – 52 ebd. 382c; 181ff. – 53 ebd. 389b, 197.
choanalyse beschäftige – nicht mehr richtig lügen kön- – 54 ebd. 459c-d; 407. – 55 ebd. 382b; 181. – 56 ebd. 382c; 181. –
ne. [105] Die Grundidee ist allerdings, daß die Psycho- 57 ebd. 383a; 183. – 58 Platon, Gesetze/Nomoi, Buch IV-VII,
Übers. und Kommentar von K. Schöpsdau, in: Reihe Platon
analyse das Unterbewußte ins Bewußtsein hebe, in den Werke, Übers. und Kommentar, Bd. IX, 2 (2003) 730 c. –
Griff bekomme und dadurch eine Einheit im Subjekt 59 Platon: Werke in 8 Bdn. Griech. und dt., Bd. VIII, 2. T.: No-
erzeuge, die vorher nicht (unbedingt) existiert habe. Ge- moi/Gesetze, Buch VII-XII (42005) 916d–917e; 361, 363, 365. –
rade weil das Subjekt in Bewußtsein, Unterbewußtsein 60 vgl. ebd. 382d–383c; 182ff. – 61 Arist. EN IV; 1127b,10–32;
und später in Über-Ich, Ich und Es aufgespalten ist, ent- 114f. – 62 Quint. II,17–21; XII, 1, 33–36. – 63 ebd. II,17,39; 261. –
stehen Fehlleistungen und Symptome, welche seine in- 64 ebd. II,17, 28/29; 257ff. – 65 ebd. VIII,6, 67, 74; 247; 249. –
nere Widersprüchlichkeit anzeigen. Andererseits ent- 66 Cic. [7] 138f. – 67 Cic. [8] II, 59.241; 247. – 68 ebd. II, 7.30, 143. –
zieht die Aufspaltung des Subjekts in unterschiedliche 69 ebd. – 70 Augustinus [1] 3. – 71 ebd. 7. – 72 ebd. 15. –
73 Thomas von Aquin: Summa theologica, Editio altera romana
Instanzen der Wahrhaftigkeit die Grundlage. Nur dann, (Rom 1938) II,2, Quaestio 110, Art. 1; 769. – 74 ebd. Art. 4; 769. –
wenn dem Ich die dominante und der wahren Identität 75 ebd. Art. 4; 774. – 76 ebd. Art. 3; 772. – 77 N. Machiavelli: Il
entsprechende Position eingeräumt wird, bietet sich ein Principe/Der Fürst. Ital.-dt., übers. und hg. von Ph. Rippel
Maßstab für etwaige L. Die kategorische Verurteilung (2004) 135. – 78 ebd. 71ff. – 79 B. Castiglione: Der Hofmann
der L. verliert damit ihre Basis. (1996) 26. – 80 T. Accetto: Von der ehrenwerten Verhehlung
(1995) 22. – 81 ebd. 24 – 82 Erasmus von Rotterdam: Vertraute
Anmerkungen: Gespräche (Colloquia familiaria), übertr. und eingel. von H.
1 Augustinus: Die L. (395) und Gegen die L. (420), übertr. und Schiel (1947) 54. – 83 J. LaBruyère: Les Caractères ou les moe-
eingel. von P. Keseling, (1953) 7. – 2 ebd. 2. – 3 I. Kant: Über ein urs de ce siècle (Paris 1973) 183. – 84 F. de LaRochefoucauld:
vermeintliches Recht aus Menschenliebe zu lügen, in: ders.: Ge- Maximes (Paris 1999) 7. – 85 B. Gracián: Handorakel und Kunst
samm. Werke in 10 Bdn., hg. von W. Weischedel, Bd. 7 (1981) der Weltklugheit. Übers. von A. Schopenhauer (1980) Apho-
637–643, hier 637f. – 4 S. Dietz: Die Kunst des Lügens: Eine rismus 146; 73. – 86 P. Calderón de la Barca: Das große Welt-
sprachliche Fähigkeit und ihr moralischer Wert (2003) 25. – theater, übers. von Joseph v. Eichendorff (1955). – 87 F.Chr.
5 vgl. dazu den Art. ‹Rhet.›, in: HWRh 7 (2005) Sp. 1423–1740. – Baumeister: Elementa philosophiae recentioris (1781) 479ff. –
6 G. Figal: Sokrates (32006) 55ff. – 7 Cic. Inv. I,9, p. 25. – 8 Cic. De 88 Chr. Wolff: Vernünftige Gedanken von der Menschen Thun
or., hg. und übers. von Th. Nüßlein (2007) II, 80. – 9 Cic. [7] 20, und Lassen (21752) 686. – 89 ebd. 689. – 90 H. Grotius: De iure
28, 61. – 10 Quint.: VIII,6, 67, 74; 247; 249. – 11 H. Weinrich: belli ac pacis libri tres (Paris 1625) 1,751 § XI. – 91 S. Pufendorf:
Linguistik der L. (1974) 69. – 12 Lukian: Die Lügenfreunde De iure Naturae et Gentium (1759) 447; lib. IV, c. I, § VIII. –
oder: Der Ungläubige, eingel., übers. und mit interpret. Essays 92 Kant [3] 641. – 93 ebd. 638. – 94 I. Kant: Vorles. über Moral-
versehen von M. Ebner et al. (2001). – 13 M. de Cervantes: Don philos., in: Gesamm. Schr., Akademieausg., Bd. 27/1, Abt.4,
Quijote, übers. v. L. Braunfels (1981) 79. – 14 J. Mecke: L. und Vorles., Bd. 4, 2. Hälfte, Teilbd. 2 (1979) 444. – 95 J.G. Fichte:
Lit. – Perspektivenwechsel und Wechselperspektive, in: J. Mül- Zur Rechts- und Sittenlehre I, in: I.H. Fichte (Hg.): Fichtes
ler, H.-G. Nissing (Hg.): Die L. – Ein Alltagsphänomen aus wiss. Werke, Bd. 3 (1971) 98. – 96 J. Goth: Nietzsche und die
Sicht (2007) 57–86, hier 69. – 15 Platon, Der Staat/Politeia, Rhet. (1970); J. Kopperschmidt, H. Schanze (Hg.): Nietzsche
Griech.-dt., übers. von R. Rufener, Einf., Erl., Inhaltsübersicht oder ‹Die Sprache ist Rhet.› (1994); M. Stingelin: «Unsere gan-
und Lit. hinweise von Th.A. Szlezák, II. B. (2000) 377d; 607b. – ze Philos. ist Berichtigung des Sprachgebrauchs». Friedrich
16 Mecke [14] 74ff. – 17 M. Vargas Llosa: La verdad de las men- Nietzsches Lichtenberg-Rezeption im Spannungsfeld zwischen
tiras, in: La verdad de las mentiras: Ensayos sobre la literatura Sprachkritik (Rhet.) und hist. Kritik (Genealogie) (1996). –
(Barcelona 1990) 5–20, hier 10. – 18 Augustinus [1] 30f. – 97 F. Nietzsche: Über Wahrheit und L. im außermoralischen
19 Kath. Erwachsenen-Katechismus, II. Bd.: Leben aus dem Sinn, in: K. Schlechta (Hg.): Werke in 3 Bdn. Bd. 3 (1973) 310. –
Glauben, hg. von der Dt. Bischofskonferenz, 2. T., Kap. 8 (1995) 98 ebd. 310. – 99 ebd. 312. – 100 ebd. 313. – 101 ebd. 314. – 102 R.
431–466. – 20 Augustinus [1] XXVIII. – 21 W. Shibles: Lügen Barthes: Leçon/Lektion, Frz. und Dt., Antrittsvorles. im Col-
und lügen lassen; übers. von B. Maier (2000) 16. – 22 Wein- lège de France (1980) 19. – 103 F. Nietzsche: Nachgelassene
rich [11] 40. – 23 U. Eco: Semiotik: Entwurf einer Theorie der Frg., Bd. 2, in: Werke: Krit. Gesamtausg., begr. von G. Colli und
Zeichen (1991) 26. – 24 R. Jakobson: Linguistik und Poetik, in: M. Montinari, weitergef. von W. Müller-Lauter (1970) 435f. –

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Macht Macht

104 ders.: Nachlaß 1869–1874, in: Krit. Studienausg., hg. von G. eines bestimmten M.-Typus bemerkbar. Sichtbar und in
Colli, M. Montinari, Bd. 7 (21999) 632f. – 105 S. Freud: Zur Psy- dieser Gestalt wirkungsvoll wird diese Weichenstellung
chopathologie des Alltagslebens (Wien 51917) 184. mit der prominenten Definition M. Webers. Dieser be-
J. Mecke
trachtet M. als «jede Chance, innerhalb einer sozialen
Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstre-
Beweis, Beweismittel ^ Camouflage ^ Dissimulatio ^ Ethik ben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance be-
^ Ethos ^ Fiktion ^ Hyperbel ^ Ironie ^ Manipulation ^ ruht». Dieser M.-Begriff erweist sich jedoch als «sozio-
Narratio ^ Psychagogie ^ Schein ^ Simulatio ^ Sprechakt- logisch amorph» [2]. Er wird deshalb durch das engere
theorie ^ Tugendlehre ^ Vir bonus ^ Wahrhaftigkeit ^ Konzept der Herrschaft ersetzt. Dies ist die Erschei-
Wahrscheinlichkeit, Wahrheit ^ Zeugnis nungsform institutioneller M., die sich in der Struktur
von Befehl und Gehorsam manifestiert. Im Anschluß an
Weber hat die soziologische Forschung dieses Konzept
im Sinne der Operationalisierbarkeit ausdifferenziert
und modifiziert. Die Konzentration auf das Phänomen
M der Herrschaft wird dabei jedoch nicht in Frage gestellt.
R. Dahl formuliert auf dieser Basis den «decision-
making approach» [3], der es erlaubt, Handlungssitua-
Macht (griech. aÆrxhÂ, archē´, dyÂnamiw, dýnamis; lat. po- tionen im Kontext von sozialen Institutionen zu analy-
tentia, potestas; engl. power; frz. pouvoir, puissance; ital. sieren. M. ist hier im Sinne von Stärke interpretiert, die
potenza, potere) Handelnde oder eine Gruppe von Handelnden zu ihren
A. Def.: I. Wissenschaftliche Begriffsprägung. – II. Rhetorische Gunsten einsetzen können.
Dimension. – B. Geschichtliche Aspekte: I. Antike. – II. Spät- Die weitere Begriffsentwicklung zielt darauf, die sub-
antike und Mittelalter. – III. Renaissance und Neuzeit. – IV. stantialistische Lesart abzulösen durch ein relationales
Aufklärung bis zur Gegenwart.
Verständnis von M. Diese ist kein individueller Besitz,
A. Def. Der Begriff ‹M.›verweist auf ein breites Spek- sondern eine Funktion sozialer Beziehungen insbeson-
trum sozialer und politischer Konstellationen, das von dere in den Kategorien von Autorität, Freundschaft,
personaler Autorität über mehr oder weniger subtile Überzeugung, Täuschung und Zwang. [4] In dieser rela-
Formen des Einflusses und der Kontrolle, informelle tionalen Deutung erweitert sich das Spektrum der M.,
und elaborierte Herrschaftsverhältnisse bis zur Andro- indem die Kontextbedingungen der konkreten Ent-
hung von Gewalt reicht. Der Begriff umfaßt so unter- scheidungen berücksichtigt werden. M. dokumentiert
schiedliche Phänomene wie geistige und ideelle M. in sich nicht nur in direkter Entscheidung, sondern auch in
den unterschiedlichsten Sphären der Kultur, rollenspe- der Fähigkeit, Entscheidungen zu verhindern bzw. im
zifische M. in vielgestaltigen sozialen Ausprägungen pri- Sinne des sogenannten agenda setting darauf Einfluß
vater und öffentlicher Beziehungen, institutionelle M. in zu nehmen, welche Angelegenheit zur Entscheidung
politischen Organisationen und strukturelle M. in den kommt. [5] Ferner setzen Entscheidungssituationen
Systemen der Ökonomie, der Technik und der Massen- konkrete Interessenkonflikte und Sanktionsmöglichkei-
medien. ten voraus, die auch von allen Beteiligten als solche
Träger der M. sind Einzelne sowohl als Gruppen, wahrgenommen und verstanden werden müssen. Da-
aber auch Institutionen und Körperschaften. Ebenso nach lassen sich M.-Beziehungen klassifizieren als For-
vielfältig sind die Quellen der M. Sie können in physi- men des Einflusses, die auf Drohungen gegründet sind,
scher, technischer oder ökonomischer Überlegenheit zu Formen des Zwangs, in denen Sanktionen vollzogen
finden sein, aber auch in geistigen Fähigkeiten, fachli- werden, Einflußnahmen ohne Drohungen, Autoritäts-
cher Kompetenz oder persönlichem Charisma; M. kann beziehungen und manipulative Beziehungen. Etzioni
auf Tradition zurückgehen oder auf explizite Legitima- erschließt dieses Spektrum durch die Dreiteilung von co-
tion. ercive power, utilitarian power und persuasive power. [6]
I. Wissenschaftliche Begriffsprägung. In der Vielfalt Indes spiegelt diese analytische Unterscheidung keine
der Machtphänomene scheint sich kein gemeinsamer realen Phänomene wider. In konkreten Konstellationen
Nenner abzuzeichnen. Die Diffusität des Begriffs ist der überlagern sich vielmehr diese Aspekte der M.
Anlaß für zahlreiche Definitionsversuche, die einzelne Mit der Konzentration auf das Zwangsmoment der
Bedeutungsaspekte herausstellen und damit andere M. ist jedoch nur ein spezieller Aspekt der M. erschlos-
Facetten des Begriffs ausblenden. In der Sozialpsycho- sen. Während die sozialpsychologische Begrifflichkeit
logie wird seit Mitte des 20. Jh. bis in die Gegenwart M. dazu tendiert, Unterschiede zwischen M.-Typen zu ni-
unter der Kategorie des Einflusses konzeptualisiert. Sie vellieren, schließt die Begrifflichkeit der Soziologie in
bietet einen flexiblen Rahmen, um die unterschiedlich- der Tradition Webers viele Formen der M. aus dem wis-
sten sozialen Beziehungen in den Blick zu nehmen. Alle senschaftlichen Themenkreis aus. Ihr Konzept ist ge-
Differenzierungsbemühungen münden dabei in das Mo- prägt von der Vorstellung, M. beschränke die subjektive
dell einer manipulativen Bezugnahme auf andere im Handlungsfreiheit. Deshalb tritt ineins mit dem M.-
Sinne einer Ursache-Wirkungs-Beziehung. [1] Macht- Begriff die Frage nach der Begrenzung und Kontrolle
strukturen lassen sich jedoch nur partiell als kausale Re- der M. auf. Die gängigen Begründungen laufen darauf
lationen rekonstruieren. Die Universalität der Katego- hinaus, daß M. als notwendiges Übel zu begreifen ist.
rie des Einflusses führt zu einer methodischen Reduk- Diese Auffassung verdankt sich einer Verbindung der
tion, die gerade markante Erscheinungsformen der M. auf die Antike zurückgehenden Kritik tyrannischer
wie Institutionen und strukturelle M. systematisch aus- Herrschaft mit der neuzeitlichen Vorstellung einer vor-
blendet oder in verzerrender Perspektive darstellt. politischen Freiheit der Subjekte, die sich vertraglich auf
Diese Begrenzung sucht der soziologisch-politikwis- wechselseitige Einschränkungen verpflichten. In dieser
senschaftliche Diskurs zu vermeiden. Doch auch hier Konstellation erscheint M. grundsätzlich rechtferti-
macht sich eine begriffliche Vorentscheidung zugunsten gungsbedürftig. Daraus speisen sich alle Versuche, M.-

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