Sie sind auf Seite 1von 106

Strohkranzrede Strukturalismus

Mit der Erweiterung der Bedeutung des Strohkran- Adelung: Gramm.-krit. Wtb. der hochdt. Mundart, Bd. 4 (1780)
zes geht die Entstehung der S. einher. Sie taucht im frü- 454f. – 6 K. Hätzlerin: Ausg. von C. Haltaus (1849) 187–191, Nr.
hen 18. Jh. in Rhetoriktheorien und anderen schriftliche II, 29. – 7 A. Jegel: Altnürnberger Hochzeitsbrauch und Ehe-
recht, besonders bis zum Ausgang des 16. Jh., in: Mitt. des Ver-
Quellen auf. Erste Hinweise auf die S. finden sich bei eins für Gesch. in Nürnberg 44 (1953) 238–274, hier 254. –
J.Chr. Gottsched 1725 [11] und bei Chr.F. Henrici 8 Grimm Bd. 20, Sp. 1668ff. – 9 Zedler [1]. – 10 J.P. Kaltenbäch
1727. [12] Die spätesten uns bekannten Nachweise datie- (Hg.): Die Pan- und Bergtaidingbücher in Österreich unter der
ren in das späte 18. Jh. Ob vor und nach diesem Zeit- Ens, Bd. 1, Wien (1846) 55, 39. – 11 J.Chr. Gottsched: Die ver-
raum S. gehalten wurden und wie weit diese auch im nünftigen Tadlerinnen (1725) Bd. 1, 239. – 12 Chr.F. Henrici:
18. Jh. tatsächlich verbreitet waren, muß aufgrund man- Ernst-, scherzhafte und satyrische Gedichte (41748) Bd. 3, 446. –
gelnder Quellen im Unklaren bleiben. 13 Gottsched Redek. 619f. – 14 ebd., 620. – 15 Gellert [3] 225–
Der Charakter der S. als Scherzrede wird in den Vor- 228. – 16 Jean Paul: Die unsichtbare Loge, Zweites Extrablatt,
in: Jean Pauls sämtliche Werke, hist.-krit. Ausg., hg. v. der
schriften Gottscheds [13] für die S. expliziert. Gottsched Preuß. Akad. der Wiss. in Verbindung mit der Akad. der wiss.
kritisiert, daß viele S. die Regeln der Ehrbarkeit verlet- Erforschung des Deutschtums (Dt. Akad.) und der Jean-Paul-
zen und macht Vorschläge, «wie man scherzend reden Ges. (1927–1936) Erste Abt., 2. Bd., hg. v. E. Berend (1927)
könne, ohne ein unehrbares Wort zu sagen.» [14] Man 62–67. – 17 Gereimte S. am 29. Aug. 1787 gehalten von einem
brauche sich nur einen falschen Satz auszuwählen und ungedungenen Gratulanten Stolprian Gradeweg, d. Z. Oberäl-
diesen mit erfundenen Scheingründen zu behaupten. testen der Junggesellen Gilde, in: Magazin der sächsischen
Um dies erfolgreich zu tun, solle man entweder den Gesch. (1784–1791) 750–753. – 18 Gottsched Redek. 615.
Hauptsatz nicht begründen, oder die Begründung so P. Kalning
einrichten, daß der Zuhörer in Verwirrung gerate. Je
schwächer die Beweisgründe seien, um so mehr müsse ^ Anwerbungsrede ^ Chrie ^ Dankrede ^ Epideiktische Be-
der Redner darauf pochen, sie für unüberwindlich aus- redsamkeit ^ Epithalamium ^ Festrede ^ Gelegenheitsrede
zugeben. Er könne große Redensarten verwenden, ^ Hochzeitsrede ^ Lobrede ^ Scherzrede
wenn er von kleinen Dingen spricht, und kleine, wenn er
von großen redet. Alles dies müsse er mit einem solchen
Gesichtsausdruck und einer solchen Stimme vortragen, Strukturalismus (engl. structuralism; frz. structuralisme;
wie man sie bei ernsthaften Sachverhalten üblicherweise ital. strutturalismo)
verwendet. Ein Strohkranzredner habe das Recht, die A.I. Definition. – II. Wort- und Begriffsgeschichte. – B.I. Me-
Kunstgriffe der falschen Beredsamkeit anzuwenden und thodologie. – II. Vorläufer. 1. Antike Rhetorik als strukturbil-
unsinnige Dinge zu behaupten. Er müsse beklagen, wor- dende Textwissenschaft. – 2. Rezeption klassischer Rhetorik im
über sich andere freuen, und sich über das freuen, was ‹S.›. – III. Historische Entwicklung: Schulen und Zentren. 1.
Genf. – 2. Moskau, Petersburg, Tartu. – 3. Prag. – 4. Kopenha-
normalerweise traurig macht, tadeln, was andere loben gen. – 5. Paris. – 6. London. – 7. New York. – 8. Lüttich. – IV.
und hoffen, was andere fürchten und zu allem intelligent Strukturale Ansätze außerhalb der Rhetorik, Sprach-, Literatur-
erfundene Scheinbegründungen fügen. und Textwissenschaften. – V. Post- oder Neostrukturalismus.
Ähnlich geht Chr.F. Gellert [15] in seiner paradig-
matischen S. vor. So soll der Redner zum Beispiel ein- A. I. Def. ‹S.› bezeichnet wissenschaftshistorisch und
gangs die Braut bitten, durch ihr Verhalten den Sinn der begriffssystematisch eine Richtung bzw. ein Paradigma
Rede deutlich werden zu lassen und sich während der der (vornehmlich europäischen und nordamerikani-
Rede recht untröstlich zu verhalten. Im Hauptteil der schen) Kultur-, Text- und Humanwissenschaften im
Rede beklagt er den unschätzbaren Verlust des Kranzes, 20. Jh., die deren Gegenstand epistemologisch oberhalb
den die Braut erfahren hat. Er vergleicht den Verlust mit der Grenzen von Einzeldisziplinen als Komplex von
anderen Dingen, die man wiedererlangen kann, wie etwa ‹Strukturen› modelliert. Dessen innere systematische
die Schönheit, ein Vergleich, dessen Witz gerade darin Ordnung gilt es analytisch zu rekonstruieren und
besteht, daß die Schönheit auch nicht oder schwer wieder methodisch mit intersubjektiv nachvollziehbaren Ver-
zu erlangen ist. Die Größe des Schadens schildert der fahren zu explizieren, um Wesen und Wirkung des
Redner als von weltgeschichtlichem Ausmaß. Am Schluß Analysandums verstehen und erklären zu können.
der Rede steht der Trost und die Übergabe der Haube. Der Begriff verbindet demnach erkenntnistheoretische,
Abgewandelte Formen der S. finden sich später bei Jean wissenschaftshistorische, objekttheoretische und me-
Paul [16] – er läßt den Bräutigam selber reden – oder in thodologische Aspekte. Sein Gebrauch sowohl in
der Rede des Vorsitzenden einer Junggesellengilde na- disziplinspezifischen (philosophischen, pädagogischen,
mens Gradeweg, die an den Bräutigam adressiert ist. [17] psychologischen, psychoanalytischen, soziologischen,
Bis zum Ende des 18. Jh. finden wir die S. verschie- ethnologischen, ästhetischen, mathematischen, biologi-
dentlich in rhetorischen Lehrbüchern und in der ver- schen, linguistischen und literaturwissenschaftlichen)
schriftlichten Praxis. Gottsched gibt an, daß S. nur bei als auch in trans- und interdisziplinären Kontexten hat
adeligen und vornehmen Hochzeiten ihren Platz hat- die Konturen seiner semantischen Intension ver-
ten. [18] Wegen des für die angesprochene Braut oft schwimmen und die Ränder seiner semantischen Ex-
peinlichen Charakters raten die meisten Lehrbücher al- tension unscharf werden lassen. Aber in seinem all-
lerdings vom Vortrag einer S. ab. Im 19. und 20. Jh. sind gemeineren Verständnis bezieht er sich auf eine
S. nicht mehr nachweisbar. wissenschaftliche Denkweise, die Tatbestände sowohl
in ihrem inneren Gefüge als auch in ihrer Einbettung in
Anmerkungen: Gesamtzusammenhänge zu erklären sucht.
1 Gottsched Redek. 619f.; Zedler, Bd. 40, Sp. 1021. – 2 M. Haase: Bei allen Versuchen einer genaueren Begriffsbestim-
Art. ‹Hochzeitsbräuche und -ritual›, in: DNP, Bd. 5, Sp. 649; mung muß bewußt bleiben, daß die Vielzahl struktura-
Volkmann 356. – 3 Chr.F. Gellert: Poetologische und Morali-
sche Abhandlungen. Autobiographisches. Hg. von W. Jung, J.F.
listischer Strömungen in einer Pluralität von Disziplinen
Reynolds und B. Witte (1994) 225. – 4 Burkhard von Hohenfels, sich kaum einer allgemein verbindlichen Definition sub-
Lied VII, in: F.H. von der Hagen: Minnesinger, Dt. Liederdich- sumieren läßt. Ihre Repräsentanten grenzen sich denn
ter des 12., 13. und 14. Jh., Bd. 1 (1838, ND 1963) 204 b. – 5 J.Chr. auch nicht selten nachdrücklich voneinander ab. [1]

193 194
Strukturalismus Strukturalismus

II. Wort- und Begriffsgeschichte. ‹S.› wird abgeleitet licher Kommunikation fordern. [12] Zu den Forderun-
von dem bereits in der Antike gebräuchlichen Wort gen gehört in kritischer Wendung gegen den Historis-
structura: als ursprünglich bautechnischer (Zusammen- mus und Atomismus der Junggrammatiker u. a. die ex-
fügung von Teilen) bzw. architekturmetaphorischer Be- akte Formulierung wissenschaftlicher Begriffe im Rah-
griff (Vitruv [2]: verfugtes Mauerwerk) der Statik men einer Theorie und theoretischer Aussagen in der
(Gebäudekonstruktion) findet er zur Bezeichnung eines Form prüfbarer Hypothesen sowie die genaue Definiti-
gegliederten Ganzen bzw. der Organisation eines ma- on und sinnvolle Begrenzung des Untersuchungsfeldes
teriellen (später auch immateriellen) Objekts alsbald mit dem Ziel, die methodologische Kluft zwischen Natur-
Eingang in Disziplinen wie Medizin, Naturkunde und und Geisteswissenschaften zu überwinden und die
Rhetorik. Cicero [3] betrachtet die Struktur der syntak- Sprachwissenschaft als eigenständige Disziplin zu eta-
tischen Periode (verborum quasi structura, kunstgerech- blieren. [13]
te Strukturierung der Wortfolge: Isokrateische Kunst- Am 31.10.1929 publiziert Jakobson einen tschechisch
prosa), Ovid [4] spricht von der Fügung seiner Gedichte geschriebenen Zeitungsartikel, in dem er zur Benen-
(structura mei carminis), und als structura urbis tritt der nung seines linguistisch-literaturwissenschaftlichen An-
Terminus im Rahmen des Städtelobs auf. Quintilian [5] satzes den deutschen Begriff ‹S.› vorschlägt. [14] Den
spricht von der Aufschichtung von Steinen als Modell neuen Begriff macht sich der Prager Linguistenkreis auf
des Satzbaus (Metrum, Wortfügung), und die patristi- seiner Sitzung 1935 zu eigen. [15] Nach dem 2. Weltkrieg
sche Bibelexegese greift auf die Verwendung des Struk- findet er schnell internationale Verbreitung; seine deut-
turbegriffs in Architektur und Rhetorik zurück (Augu- sche Entsprechung wird etwa Mitte des 20. Jh. in den
stinus, Gregor d. Gr.). Weitere strukturale Momente deutschen wissenschaftlichen Sprachgebrauch über-
kommen in (dort auszuweisenden) rhetorischen Begrif- nommen, zunächst in der Sprachwissenschaft. In den
fen wie dispositio, ordo, compositio, periodus, quadri- 1960er Jahren setzt er sich als Schulbenennung dann in
partita ratio, partes orationis, schē´mata léxeōs/figurae weiteren Disziplinen wie Ethnologie bzw. Anthropolo-
zum Ausdruck. gie, Psychologie oder Literaturtheorie durch. [16]
In der ‹Ars rhetorica› des Fortunatianus wird der B. I. Methodologie. Zu den methodologischen Basis-
rhetorische Begriff compositio mit structura gleichge- annahmen des ‹S.› gehört die analytische Untersuchung
setzt (quid est compositio? quam structuram vocamus) von Objekten als Mengen von Elementen und Relatio-
und in seinen Merkmalen und Qualitäten bespro- nen. Strukturalistische Grundoperationen sind dem-
chen. [6] So gelte es beim Kontakt von Lauten etwa die nach Segmentieren (Aufspaltung des Systems in seine
structura aspera oder hiulca zu vermeiden. [7] Im theo- Elemente), Vergleich der Konstituenten (Relationen
logischen Bereich wird der Begriff im Mittelalter in der zwischen den Elementen), Klassifikation und Relatio-
Rede von der Welterbauung durch einen göttlichen nierung der Klassen. Das Verfahren läßt sich zudem
constructor analogisch gebraucht. durch Basisbegriffspaare kennzeichnen wie ‹Syntag-
Im 17. Jh. beginnt das ins Deutsche entlehnte Lexem ma/Paradigma›, ‹Synchronie/Diachronie›, ‹Kompetenz/
zunächst in den Naturwissenschaften eine Rolle als Performanz›, ‹Regel/Gebrauch›. Die nach dem distink-
theoretischer Terminus zu spielen (z.B. in der Rede von tiven Prinzip des Kontrastes analytisch ermittelten Sy-
geologischen Strukturen [8]). Dann wird er ausgeweitet stemelemente, ihre Distribution in spezifischen Kotex-
zur Bezeichnung für die Anordnung bzw. den Aufbau ten und ihre Interrelationen bzw. Interdependenzen
von komplexen Dingen sowie für den menschlichen werden als synchronische Strukturen einer jeweiligen
Wahrnehmungs- und Erkenntnisapparat (Comenius, Gestalt oder eines Zeichenkomplexes beschrieben. Da-
Leibniz, Wolff, Shaftesbury, Lambert). Mit Lamberts bei gilt das methodische Procedere disziplinunabhängig
Semiotik setzen sich Herder, Jean Paul und Novalis in- für Erkenntnisgegenstände, die unbeschadet ihrer prin-
tensiv auseinander. [9] Strukturierendes Vorgehen wird zipiellen Kontextualität als autonome Einheiten defi-
nun als Grundoperation des menschlichen Geistes bei niert und aus ihren Umweltbeziehungen analytisch iso-
der Erfassung von Sprache und Welt angesehen. Damit liert werden. Die Definition der Einheiten und ihrer
werden in der Rezeptions- und Begriffsgeschichte frei- Elemente ist relativ zu Erkenntnisinteresse, Beobach-
lich sehr unterschiedliche Konzepte verbunden: unter- tungsperspektive und Beschreibungsebene. Ziel ist die
schieden werden z.B. ein organischer Strukturbegriff Rekonstruktion der regelgeleiteten Ordnung, die der
bei Kant, ein ästhetischer bei Hegel, ein geisteswissen- Vorstellung des Beobachters vom System zugrunde-
schaftlicher bei Dilthey oder ein ontologischer bei N. liegt. Regel und System werden dabei als dem Indivi-
Hartmann. Als theoretische und methodische Grund- duum vorgegeben gedacht. Auch das Individuum selbst
kategorie wird der Begriff im 19. und 20. Jh. von kann als Element in Systemen betrachtet werden; das-
verschiedenen Einzeldisziplinen aufgenommen. W. v. selbe gilt für Produkte der Kunst oder der Technik, der
Humboldt bezieht ihn auf die Sprache, K. Marx auf die Evolution oder der Theoriebildung (Systemtheorie).
Ökonomie, er gewinnt außerdem zunehmend Bedeu- Wie sehr die Methodologie des ‹S.› dabei von Verfah-
tung in der Wissenschaftstheorie, in der Chemie, Bio- ren der (strukturalen) Linguistik her konzipiert ist, illu-
logie und Mathematik (Bourbaki-Gruppe; Katastro- striert Fages’ Aufstellung der «sieben Regeln» struktu-
phentheorie [10]). ralistischer Untersuchungen [17]: Regeln der Immanenz
Der Vielfalt der Strukturbegriffe [11] entsprechen im (Isolation des Objekts aus dem Zeit-/Umweltkontinuum
20. Jh. die unterschiedlichen Auffassungen dessen, was und Fokus auf die Strukturen des Systems), Pertinenz
unter ‹S.› verstanden wird. Als eigentliche Geburtsstun- (Fokus auf die distinktiven Merkmale mit differentieller
de des ‹S.› wird meist der ‹1. Internationale Linguisten- Funktion), Kommutation (Ermittlung systemrelevanter
kongress› 1928 in Den Haag genannt, auf dem die Prager Oppositionen durch in Kommutationstests gewonnene
Sprachforscher R. Jakobson, N.S. Trubetzkoy und S.I. Minimalpaare), Kompatibilität (syntagmatische und pa-
Karcevskij in der 22. ihrer Thesen die konsequente An- radigmatische Kombinationsbedingungen bzw. -restrik-
wendung von Methoden und Prinzipien des Genfer An- tionen von Elementen), Integration (Einordnung der ele-
satzes von F. de Saussure auf die Untersuchung sprach- mentaren Strukturen in die Gesamtordnung des Sy-

195 196
Strukturalismus Strukturalismus

stems), Diachronie (Beobachtung des Systemwandels Diese Kritik wird, wie zu zeigen sein wird, etlichen
durch Folgen synchroner Systemschnitte), Funktion (Er- Strömungen und Schulen des ‹S.› nicht immer gerecht.
mittlung der Funktionen von Strukturen im System und Richtig ist jedoch, daß der ‹S.› als wissenschaftliche Pro-
in dessen Gebrauch). zedur primär methodologisch definiert ist und nicht
Mit solchen und ähnlichen Verfahrenspostulaten [18] durch gegenstands- oder disziplinspezifische Problem-
grenzt sich der ‹S.› mit anfangs teilweise radikalem Ge- stellungen. Im Zentrum der folgenden Darstellung steht
stus von anderen Strömungen ab. Gleichwohl stellt er jedoch der ‹S.› in den Textwissenschaften, vor allem in
eine Reaktion dar auf die vorherrschende junggramma- Linguistik und Literaturwissenschaft; der Blick richtet
tische Schule der Sprachforschung und bleibt eingebet- sich also auf das Begriffspaar Sprache und Struktur, wie
tet in deren Tradition: von der Antike bis zur Renais- es in alltagspraktischen, ästhetischen und rhetorisch-
sance wird diese, grob gesagt, philologisch betrieben mit persuasiven Kontexten manifest wird. Damit ist zugleich
der Beschreibung von Grammatik(en) und Interpreta- die Brücke zur Rhetorik geschlagen, wenn sie als struk-
tion von Text(en); danach tritt die Etymologie, die turbildende bzw. sprachstrukturproduzierende Textwis-
Sprachgeschichte und die Vergleichende Grammatik in senschaft (téchnē) verstanden wird, die neben den text-
den Vordergrund; im 18. Jh. gilt das Interesse der immanenten Strukturelementen (Figuren und Tropen)
Sprachnormierung und den Regeln korrekten Sprach- in ihrem angemessenen internen Verhältnis zueinander
gebrauchs; W. v. Humboldt zielt auf das Verhältnis von (inneres aptum) auch die pragmatischen Bedingungen
Sprache und Welt (bzw. Kultur) und versteht die Ver- der Rede (Redner und Publikum, Ort und Zeit, actio,
schiedenheit des Sprachbaus als Ausdruck unterschied- Statuslehre, Suchformeln etc.) und deren angemessene
licher Weltsichten; das 19. Jh. ist die große Zeit der hi- Berücksichtigung (äußeres aptum) thematisiert.
storisch-vergleichenden Grammatiken und etymologi- II. Vorläufer. 1. Antike Rhetorik als strukturbilden-
schen Wörterbücher (F. Bopp, R.K. Rask, J. Grimm); im de Textwissenschaft. Deshalb muß die Frage nach den
letzten Viertel des 19. Jh. konzentriert sich die junggram- Vorläufern des ‹S.› bereits mit der Suche nach Spuren
matische Schule (K. Verner, K. Brugmann, H. Osthoff, strukturalen Denkens in der Antike ansetzen. Denn un-
A. Leskien) auf die Form und sucht aus der Geschichte beschadet des gelegentlich sorgsam gepflegten Mythos
des Lautwandels exakte Lautgesetze abzuleiten. [19] vom radikalen Bruch mit allem Vorherigen und völligen
Dagegen greift der ‹S.› im Grunde Fragestellungen Neubeginn ist die Liste der Vorläufer strukturalisti-
des 18. Jh. in neuer Weise wieder auf und setzt – gegen schen Denkens lang. Die antiken Lehrbücher der Rhe-
den Positivismus mit seinem Vertrauen in die unbe- torik weisen bei aller Unterschiedlichkeit ein signifikan-
grenzte Anwendbarkeit der Methode, gegen den Ato- tes gemeinsames Merkmal auf: «Sie gehen nämlich al-
mismus mit seiner Isolation des individuellen Einzel- lesamt systematisch vor, d. h. die einzelnen Vorschriften
phänomens von seiner Systemgebundenheit, gegen den sind dort nur über ein Fächerwerk von einander unter-
Substantivismus mit seiner Verabsolutierung stofflicher geordneten Schemata zugänglich.» [21] Diese Schemata
Seins-Einheiten unter Vernachlässigung von deren werden zusammenfassend (in den meisten Rheto-
Seinsweise und Funktionen, gegen den Evolutionismus riklehrbüchern in ähnlicher Form) vor allem nach den
mit seiner Betonung der natürlichen Entwicklung der folgenden Prinzipien geordnet: (i) officia oratoris (also
Einheiten und Erklärung des Seins aus historischen Ge- die fünf Schritte zur Herstellung der Rede: inventio, dis-
setzmäßigkeiten, gegen den Naturalismus mit seiner Be- positio, elocutio, memoria, actio/pronuntiatio oder Stoff-
trachtung von Fakten als Naturgegenständen mit ent- sammlung, Gliederung, Formgebung, Einprägung, Vor-
sprechenden methodologischen Konsequenzen – seine trag), (ii) genera causarum (die drei Redegattungen
eigenen Prinzipien des Relationismus mit der Beachtung genus iudiciale, genus deliberativum, genus demonstrati-
des Verhältnisses der Teile zum Ganzen und der Fakten vum oder Gerichtsrede, politische Rede, Festrede),
zueinander, des Funktionalismus mit seiner Definition (iii) partes orationis (die fünf Redeteile exordium, nar-
der Einheiten hinsichtlich ihrer Funktion, des Essentia- ratio, partito/divisio, argumentatio, peroratio/conclusio
lismus mit seiner Betonung des Wesens von Fakten, des oder Einleitung, Sachverhaltsdarstellung, Gliederung/
Antinaturalismus mit seiner Ablehnung der Betrach- Ankündigung der Beweise, Beweisführung, Schlußfol-
tung aller Fakten als Naturgegenstände. [20] gerung), (iv) status/constitutiones (Rechtsfragen consti-
Insgesamt fordert der ‹S.› explizierbare, rationale, in- tutio coniecturalis, constitutio definitiva, constitutio gene-
tersubjektiv diskutierbare Theoriebildungen und Me- ralis, constitutio translativa oder vier juristische Fragen
thodologien und entwickelt dafür entsprechende defi- nach der begangenen Tat, der Definition des Tatbestan-
nitorisch kohärente Begriffssysteme oder Terminologi- des, der Beurteilung der Tat sowie der Klärung der Zu-
en. Nicht immer zutreffend kritisiert wurde der ‹S.› vor ständigkeit des Gerichts), (v) virtutes dicendi (vier Stil-
allem (1) wegen seiner Tendenz zur Vernachlässigung qualitäten Latinitas/puritas, perspicuitas, ornatus, aptum
individueller Phänomene zugunsten des primären Inter- oder Sprachrichtigkeit, Klarheit, Redeschmuck, Ange-
esses an Regelapparaten (mit vom Gebrauchskontext messenheit), (vi) genera dicendi (drei Stilarten genus
abstrahierten exempla), (2) wegen seiner behaupteten subtile, genus medium, genus grande oder schlichter Stil,
Ahistorizität und Asemantizität und (3) wegen seiner mittlerer Stil, erhabener Stil).
vermeintlichen Ausblendung des Subjekts als Produ- Zentrale Kriterien gelingender Rede oder stilisti-
zent und Rezipient von Zeichen bzw. Texten. Das habe scher Qualität werden wiederum systematisch entfaltet:
zur Folge, daß pragmatische, kontextuelle, individuelle, (1) Normen der Latinitas (also der lexikalischen und
intentionale Bedingungen, unter denen strukturierte syntaktischen Sprachrichtigkeit) sind ratio, vetustas,
Zeichenfolgen produziert und kommuniziert werden, auctoritas, consuetudo oder Vernunftgründe, Alter, Au-
methodologisch und epistemologisch keine Rolle spiel- toritäten, Üblichkeit des Sprachgebrauchs. Verstöße ge-
ten. Vielmehr ziele die strukturale Analyse von Zei- gen diese Normen werden unterteilt in Barbarismen
chenkomplexen (wie Literatur, Architektur, Kunst oder (Abweichungen in Flexion und Aussprache) und So-
Sozialsysteme) ausschließlich auf die Ermittlung von Sy- loezismen (Pleonasmen, Vertauschung der korrekten
stemelementen und deren Relationen untereinander. Wortfolge etc.). (2) Stilistische Klarheit (perspicuitas)

197 198
Strukturalismus Strukturalismus

bezieht sich auf Wörter oder Sätze bzw. Kotexte: Kri- einer Norm (status finitionis), nach der Stärke konkur-
terien sind Proprietät, Eindeutigkeit, Üblichkeit; klare rierender Normen (status qualitatis) und der Rechtmä-
Syntax; zu vermeiden sind Ambiguitäten, Metaphern, ßigkeit einer Norm (status translationis). Vom Redege-
Archaismen, Neologismen, syntaktische Ausklamme- genstand hängt auch die sprachliche Umsetzung ab (res/
rungen (Trennungen syntaktisch zusammengehörender verba) und damit die Wahl der passenden Strukturele-
Wörter), zu lange Parenthesen. (3) Dem Redeschmuck mente (genus dicendi). Die Gedanken in sinnvoller An-
(ornatus) dient ein Inventar sprachlicher Mittel, die dem ordnung und die ihnen angemessenen Worte müssen im
Anliegen des Redners angemessenen Ausdruck verlei- Bau der Gesamtrede absolut und relativ korrekt veror-
hen, es veranschaulichen, ihm zur besseren Wirkung tet werden (inventio/dispositio/elocutio). Bei ihrer Prä-
verhelfen, «denn Hörer, die gern zuhören, passen auch sentation müssen Artikulation, Intonation, Gesten und
besser auf und sind leichter bereit zu glauben». [22] Gebärden den einzelnen Redephasen im Strukturauf-
Das Schmuck-Inventar gliedert sich wiederum in le- bau der Rede entsprechen (pronuntiatio/actio). Das äu-
xikalische und syntaktische Mittel: Wörter und Wortver- ßere aptum regelt das Verhältnis von Bauelementen der
bindungen. Die Substitution von Wörtern erfolgt aus Rede und ihrer pragmatischen Dimension im Hinblick
phonostilistischen oder semantischen Gründen (Klang; auf Kriterien wie Ort und Zeit (locus, tempus), Redner
Tropen, Neologismen, Archaismen). Bei Wortverbin- und Hörer (orator, auditorium), Thema und Kontext,
dungen werden compositio und figurae unterschieden: die ihrerseits wiederum struktural und funktional ge-
Wort- und Sinnfiguren. Unter compositio wird die Struk- gliedert werden können: privat/öffentlich; fremd/ver-
tur der Laut- und Wortfolge verstanden, die der Unter- traut; Eile/Muße; Krieg/Frieden; groß/klein; dispers/
haltung oder der Erregung von Gefühlen dient. [23] Bei konkret; Volk/Senat; Funktionen der genera dicendi: be-
der nicht gebundenen Rede werden drei Formen der lehren und beweisen (docere/probare) im genus subtile,
Verbindung unterschieden: Abschnitte (incisa, Kom- gewinnen und erfreuen (conciliare/delectare) im genus
mata), Glieder (membra, Kola) und Periode (periodus). medium, umstimmen und ergreifen oder bewegen (flec-
«Ferner sind für jede Wortfügung drei allgemeine Ge- tere/movere) im genus grande.
sichtspunkte unentbehrlich: Anordnung, Verbindung Der klassifikatorisch-systematische Ansatz der Rhe-
und Zähl-Rhythmus». [24] Die Kategorie der Anord- torik als einer srukturbildenden/sprachstrukturprodu-
nung (ordo) betrifft z.B. Asyndeta, in denen das Schwä- zierenden Textwissenschaft findet ihre konsequenteste
chere dem Stärkeren vorangehen soll, damit die Rede Ausprägung wohl in Quintilians ‹Institutio oratoria›, in
nicht an Kraft verliert. Die Kategorie der Verbindung deren achtem und neuntem Buch er die Figurentheorie
(iunctura) bezieht sich z.B. auf das Gebot der Hiatver- entwickelt, die vor allem Tropen und Figuren unter-
meidung, die Vermeidung der Folge von mehreren ein- scheidet: «Ein Tropus ist die kunstvolle Vertauschung
silbigen Wörtern oder von bestimmten Konsonanten am der eigentlichen Bedeutung eines Wortes oder Aus-
Wortende und darauf folgenden Wortanfang. Bei der druckes mit einer anderen» [28], eine Figur dagegen
Kategorie des Rhythmus (numerus) unterscheidet Quin- «kann mit Worten in ihrer eigentlichen Bedeutung zu-
tilian daktylische, paeonische und iambische Rhyth- stande kommen» [29], wobei zwischen beiden Arten oft
men. Das Prinzip der compositio beruhe, resümiert «nur eine recht schmale Trennungslinie» [30] liege. Zu
Quintilian [25], im wesentlichen auf Prozeduren der Hin- den Tropen zählt er vor allem Metapher, Metonymie,
zufügung, der Auslassung und der Umstellung bzw. Ver- Antonomasie, Metalepse, Synekdoche, Katachrese,
tauschung von Wörtern (adiectio, detractio, transmutatio, Onomatopöie, Allegorie, Hyperbel, Periphrase, Epi-
immutatio). An diesen Klassifikationsversuch der qua- theton und Hyperbaton (Ironie könne die Form des
dripartita ratio [26] erinnern noch heute die Strukturprin- Tropus wie die der Figur haben). Figuren, verstanden als
zipien der modernen normativen Stilistik ebenso wie die das, «was eine Veränderung der einfachen, spontanen
formalen Operationen der frühen Generativen Gram- Ausdrucksweise im Sinne des Poetischen oder Rheto-
matik oder die Ansätze zu einer strukturalen Systematik rischen darstellt» [31], unterteilt er in Wort- und Gedan-
rhetorischer Verfahren in der Rhétorique générale der kenfiguren (figurae verborum/figurae sententiarum),
Lütticher groupe m sowie in der ‹Systematischen Rheto- deren erste weiter in grammatische und rhetorische dif-
rik› des Anglisten H.F. Plett mit ihren linguistischen ferenziert werden können. Grammatische Figuren be-
Operationen der Addition, Subtraktion, Permutation treffen die Regeln der Grammatik (z.B. Vertauschung
und Substitution auf den graphemischen, phonemischen, des Genus eines Substantivs oder passiver Gebrauch ei-
morphemischen, syntaktischen, semantischen und tex- nes aktiven Verbs); rhetorische Figuren entstehen durch
tologischen Ebenen (s. u. III.8). [27] Wortstellungsvarianten und durch die o. g. formalen
(iv) Das vierte und übergeordnete Kriterium ist die Operationen der adiectio oder der detractio (z.B. Ana-
angemessene Relation zwischen Elementen und Teil- pher oder geminatio durch Addition, Ellipse oder Asyn-
strukturen innerhalb von Texten (inneres aptum) und deton durch Deletion). Die Änderungskategorien im-
deren angemessene Relation zu den äußeren Bedingun- mutatio und transmutatio werden als Teil der quadripar-
gen der Rede (äußeres aptum). Das innere aptum be- tita ratio im Grammatik-Kapitel vor allem im Hinblick
trifft vor allem das Verhältnis von inventio und intellec- auf Barbarismus und Soloezismus behandelt (s. o.), wo-
tio, also die mit Hilfe von (problem- oder personbezo- bei deren Nähe zu den rhetorischen Figuren ausdrück-
genen) Suchformeln ermittelten Fundstätten (topoi, loci lich vermerkt wird. Gedankenfiguren dienen entweder
communes) der Redegegenstände (res) und deren For- der Intensivierung der Beweisführung z.B. durch Tech-
mulierung (verba) sowie deren gedanklich vernünftige niken der rhetorischen Frage (interrogatio) und der An-
Entfaltung. Die Redegegenstände lassen sich nach den tizipation gegnerischer Einwände (anticipatio) oder zur
zu ihrer Behandlung relevanten Fragen nach der Kon- Steigerung der emotionalen Wirksamkeit z.B. durch In-
kretheit, der Korrektheit und der Begründungsart (sta- terjektion (exclamatio) oder wirkungsvolles Verstum-
tus) gliedern. Der Status definiert den Ausgangspunkt men (reticentia).
der Darstellung mit den vier Fragen nach der Feststel- 2. Rezeption klassischer Rhetorik im ‹S.›. Dieser hier
lung einer Norm (status coniecturae), der Interpretation nur summarisch skizzierte Grundbestand rhetorischer

199 200
Strukturalismus Strukturalismus

Instrumentarien in der Figurentheorie wird im frühen über Sprache bis heute. Denn wer unter ‹Struktur› jede
‹S.› vorausgesetzt und daher kaum aus eigenem Recht Art von regelhafter Gestaltung versteht, für den beginnt
thematisiert. Er dient gleichsam unbefragt als methodi- die Betrachtung der Sprache mit der Suche nach Regel-
sches Arsenal angewandter Textwissenschaft «dem haftigkeit. [37] ‹Struktur› als Gefüge von Elementen,
Nachweis ästhetischer Machart und der Aufdeckung das mehr ist als deren Summe (Totalität), und als Ge-
literarischer ‹Verfahren›.» [32] Im Russischen Formalis- füge von Elementen, die gegenseitig voneinander ab-
mus wird er dem Modell literarischer Abweichung hängen (Interdependenz), ist eine Eigenschaft, die (wie
(priëm) inkorporiert; im Prager Funktionalismus wird er gezeigt) durchaus schon den antiken Rhetoriksystemen
nach leitenden Kriterien neu sortiert (Oppositions- innewohnt: die Elemente des Systems erhalten ihren
figuren vs. Äquivalenzfiguren); F. de Saussures vierte Wert durch die Teilhabe an ebendiesem System und ste-
Dichotomie (paradigmatisch/syntagmatisch) und R. Ja- hen gesamthaft im Dienste des (persuasiven) Rede-
kobsons Achsenmodell gehen auf die antike Unter- zwecks; im Netz der Interdependenzen zwischen Sy-
scheidung zwischen Similaritäts- und Kontiguitätsbezie- stemelementen ziehen z.B. Verstöße gegen das Postulat
hungen zurück (s. u. III.1–3). [33] des inneren aptum unmittelbar Verletzungen des äuße-
Auch in Frankreich und Belgien wird die antike Fi- ren aptum nach sich, insofern sie die Wirkung auf das
gurenlehre zunächst mühelos in strukturalistische An- Auditorium beeinträchtigen. Die klassische Rhetorik
sätze integriert, aber alsbald zum Gegenstand kritischer beschreibt sowohl Relationen zwischen den Elementen
Auseinandersetzung und Fortentwicklung. R. Barthes der Teilsysteme – z.B. die Beziehungen zwischen den
interpretiert in seiner Zeichentheorie die klassische verschiedenen officia oratoris oder den partes orationis
Rhetorik als Konnotationsmodell der Sprache und ver- oder zwischen ornatus und perspicuitas usw. – als auch
sucht eine strukturale Rekonstruktion der Figuren; G. Relationen zwischen den Teilsystemen, wie sie sich z.B.
Genette bietet in seinem bezeichnenderweise ‹Figures› im aptum-Prinzip verdichten. Auch die anderen genann-
betitelten opus magnum eine systematische Fortent- ten Grundbegriffe wie dispositio, compositio, figurae,
wicklung der Rhetorik auf strukturalistischer Basis; quadripartita ratio, periodus usw. dienen der Herstel-
A.L. Greimas knüpft in seiner ‹Strukturalen Semantik› lung bzw. Beschreibung sprachlicher Strukturen. Rhe-
zunächst an Versuche an, Elemente der Rhetorik auf torik als strukturbildendes System, das sich sowohl
Texte zu übertragen; T. Todorov unterscheidet in sei- mit den prosodischen, phonotaktischen, lexikalischen,
nem ‹Essai de classification› zwischen regelverletzenden syntaktischen, semantischen, textologischen, pragmati-
und regelverstärkenden Operationen, die wiederum schen Strukturen wirksamer Rede befaßt als auch mit
nach linguistischen Ebenen (syntaxe, sémantique) bzw. den logischen Strukturen einer persuasiven Argumen-
nach Relationen (son/sens; signe/référent) gruppiert sind tationstechnik, deckt als Technik zur Textproduktion
und so entweder anomalies oder figures bilden; J. Du- zugleich die Regeln auf, nach denen sie funktioniert,
bois nimmt in seiner schon erwähnten Rhétorique géné- und beschreibt mit der Analyse des Codes zugleich die
rale seinen Ausgang von der Figur als einer Kategorie Bedingungen von dessen Wirksamkeit im Gebrauch von
der Deviation von einer postulierten Nullstufe (degré Zeichen zum Zwecke der Verständigung über (ggfs.
zéro) der Sprache, die als stilneutraler Maßstab diene strittige) Sachverhalte.
für die Bestimmung von Abweichungen auf der Aus- In diesem Sinne weit genug gefaßt, ließen sich Grund-
drucksseite bis zur Wortebene (Metaplasmen) bzw. prinzipien der Rhetorik als strukturbildender Textwis-
Satzebene (Metataxen) und auf der Inhaltsseite wieder- senschaft z.B. ebensogut in der Cicero-Rezeption des la-
um bis zur Wortebene (Metaphern etc.) bzw. Satzebene teinischen Mittelalters, in der ars praedicandi des 13. Jh.
(Metalogismen), ein Modell, das wiederum H.F. Plett (Predigtkunst), in den scholastischen Epistemologien, in
in seiner Figurensystematik kritisch fortzuentwickeln den frühneuzeitlichen Traktaten zur elocutio oder zur
strebt, in der er die in der Antike übliche Dreiteilung in Gattungstheorie, in den ‹Elementa rhetorices› des Ph.
Tropen, Wort- und Gedankenfiguren weitgehend auf- Melanchthon, in den rhetorikkritischen Strukturmu-
löst und damit das gesamte in B.II.1 resümierte Arsenal stern der Barockpoetik und der Rolle der evidentia
Quintilians neu zu ordnen vermag (s. u. III. 5 u. 8). [34]. (enargeia, hypotyposis, descriptio) z.B. bei Beer oder
Um den Preis freilich, daß er dabei einerseits die bei Grimmelshausen, in den Lehrbüchern und Enzyklopä-
Quintilian systematisch berücksichtigte Dimension der dien des Rationalismus bis hin zu den philosophischen
Pragmatik vernachlässigt (s. o.) und andererseits das Texten der ‹Vorläufer› des ‹S.› im hier gemeinten prä-
Prinzip der Deviation überdehnt, das nicht alle sprach- ziseren Sinne aufweisen, zu denen Albrecht [38] z.B.
ästhetischen Phänomene hinreichend erklären kann, zu- mit guten Gründen neben wichtigen Vertretern einer
mal solche, die nicht generell «auf Abweichung, sondern philosophisch-psychologischen Tradition wie B. Bol-
auf der außersprachlich motivierten Auswahl von Ge- zano (1781–1848), F. Brentano (1838–1917), A. Marty
staltungsmöglichkeiten beruhen, die die Sprachen be- (1847–1914) und E. Husserl (1859–1938), mit Neben-
reithalten.» [35] Diese finden erst in der (ebenfalls schon linien wie der Berliner Schule und der Gestaltpsycho-
bei Quintilian) angelegten Selektionstheorie angemes- logie der Würzburger Schule, vor allem W. v. Humboldt
sene Beachtung, wie sie z.B. im Zentrum der struktu- (1767–1835) zählt, dessen Rolle für die Entfaltung der
ralistischen Ansätze des Britischen Kontextualismus neueren Sprachwissenschaft kaum überschätzt werden
(Leech, Halliday u. v. a.) steht (s. u. III.6). [36] kann. [39]
Mit diesem exemplarisch konzentrierten Abriß struk- Zu den Vorläufern im engeren Sinne rechnet er ne-
turorientierter Überlegungen in der antiken Rhetorik ben vielen anderen die Begründer der sog. Kazaner
und deren Rezeption im ‹S.› des 20. Jh. ist die Tradition (bzw. Petersburger) Schule J. Baudouin de Courtenay
strukturalen Denkens natürlich keineswegs erschöp- (1845–1929) und M. Kruszewski (1851–1887), die der
fend beschrieben. Wollte man den eingangs bewußt eng britischen Phonetiker- und Phonologenschule H. Sweet
und präzise definierten Begriff ‹S.› ins nahezu Beliebige und D. Jones sowie die der Moskauer Schule F.F. For-
ausweiten, könnte man eine solche Tradition in fast un- tunatov und V. Poržezinskij. [40] Als wichtige Vor-
gebrochener Linie ausziehen vom ersten Nachdenken denker gelten darüber hinaus der Sprachforscher G. von

201 202
Strukturalismus Strukturalismus

der Gabelentz (1840–1893), dessen Buch über ‹Die Struktureigenschaften ästhetischer Sprachverwendung
Sprachwissenschaft› [41] den Genfer Linguisten F. de herauszuarbeiten (Jakobson, Jakubinskij, Reformats-
Saussure maßgeblich beeinflußt haben soll [42], auf den kij, Vinokur) und die strukturellen Ursachen der äs-
sich wiederum die Begründer der Prager Schule in ihrem thetischen Wirkung von (literarischen oder filmischen)
Manifest berufen (s. o.), sowie der Philosoph E. Cassi- Kunstwerken zu ergründen (Ėjchenbaum, Šklovskij,
rer (1874–1945) und der Psychologe K. Bühler (1879– Tomaševskij, Tynjanov). Unter dem Einfluß des Futu-
1963), die der Entfaltung der strukturalen Zeichentheo- rismus in der Literatur sowie des Konstruktivismus und
rie mit den Weg bereitet haben. Kubismus in der Malerei richtet sich das Interesse auf
Eine solche Ausweitung würde indes der Intention die Literarizität generierenden Verfahren (Šklovskij:
dieser Darstellung leichtfertig zuwiderlaufen. [43] Statt- priëm) zur Verfremdung (ostranenie) der Formen prak-
dessen folgt die weitere Nachzeichnung der historischen tischer oder diskursiver Rede. Die dadurch hervorge-
Entwicklung des ‹S.› im 20. Jh. in knapper Skizze dem rufene ‘Erschwerung’ der Zeichenform ziele auf die In-
Prinzip der Schulenbildung, die sich im Rahmen des tensivierung, Verdichtung, Entautomatisierung ihrer
strukturalistischen Paradigmas unterscheiden lassen, Wahrnehmung. Aus der Dynamik normsetzender Ty-
wobei die Städtenamen, unter denen die meisten dieser pisierung und normverletzender Individualität gewinne
Schulen metonymisch figurieren, natürlich nicht mit den der Sprachgebrauch zugleich seine Kraft zur expressi-
Wirkungsstätten aller ihrer Mitglieder identisch sind. ven Innovation (vgl. Veselovskijs Evolutionsmodell
III. Historische Entwicklung: Schulen und Zentren. des Sprachwandels).
1. Genf. Im S. verbinden sich von Anfang an rhetori- Am Beispiel der Dichtung von Chlebnikov beschreibt
sche, linguistische und literaturwissenschaftliche Ansät- der Linguist L. Jakubinskij die Aufbrechung üblicher
ze: im Sinne des von Jakobson geprägten Begriffs läßt Kontiguitäts-Assoziationen von Laut und Bedeutung
sich der S. einerseits aus der synchronen Sprachtheorie durch Assoziation nach dem Prinzip der Similarität.
Saussures (1857–1913) ableiten, andererseits aus der Li- Daraus gewinnt Jakobson (nach einigen Zwischenstu-
teraturwissenschaft des Russischen Formalismus (s. u.). fen) später seine kanonisch gewordene Formulierung
Saussure versteht Linguistik (an antike Traditionen an- der These von der in poetischer Sprache sich ereignen-
knüpfend und gegen den kontemporären Sprachhisto- den Projektion des Prinzips der Äquivalenz von der
rismus abgrenzend) als Teil einer allgemeinen Zeichen- Achse der Paradigmatik auf die Achse der Syntagma-
theorie (sémiologie). Der Rückgriff auf sein relationales tik. [45] Mit ihren paradigmatischen und syntagmati-
Zeichenmodell und die darin verankerte (von Aristo- schen Strukturanalysen ästhetischer Texte unterschied-
teles abgeleitete) Idee der Arbitrarität des Zeichens (die licher semiotischer Modalität legen S. Bernštejn, B.M.
konventionelle Relation zwischen signifiant und signi- Ėjchenbaum, J.N. Tynjanov, V. Irmunskij, A. Fedorov,
fié) erlaubt es, dessen Bedeutung nicht aus dem Bezug B. Tomaševskij, V. Propp, M.M. Bachtin, P.G. Boga-
auf die außersprachliche Wirklichkeit (aus der Refe- tyrev u. a. in hier nicht im Detail nachzuzeichnender
renz) heraus zu verstehen, sondern allein aus seiner Po- Weise den Grundstein für spätere theoretische Konzep-
sition im Beziehungsgefüge der Struktur. Sprache te der Text-, Film- und Theatersemiotik, der Narratolo-
(langue) ist ein Zeichensystem, nach dessen Regeln Äu- gie und Intertextualität [46], bevor die marxistisch-leni-
ßerungen (parole) hervorgebracht werden. Der Struktur nistische Doktrin diese intellektuellen Impulse erstickt.
(z.B. eines Textes) gilt daher das Hauptaugenmerk, Erst in den 60er Jahren des 20. Jh. knüpfen Sprach-,
nicht außersystemischen Bedingungen (z.B. Kontexten Text- und Kulturwissenschaftler in Moskau und Tartu
der Textproduktion) oder historischen Entwicklungen an diese Tradition wieder an. Mit dem ersten ‹Sympo-
(Synchronie vor Diachronie). Die vierte der berühmten sium zur strukturellen Erforschung von Zeichensyste-
Dichotomien Saussures betrifft die syntagmatischen men› 1962 in Moskau beginnt eine neue Phase struktu-
und paradigmatischen Relationen der Linearität und ralistischer Forschung. In seiner Einführung zu den Ak-
der Äquivalenz in der Struktur der Sprache. Die Unter- ten der Tagung (ed. 1962) knüpft V.V. Ivanov mit dem
scheidung dieser Relationen der horizontalen und ver- an Saussure (Zeichenmodell) und Hjelmslev (Ebe-
tikalen Dimension hat Jakobson mit nachhaltiger Wir- nenmodell) orientierten Programm an die Tradition des
kung als Achse der Kombination und Achse der Selek- Russischen Formalismus der 20er Jahre an. In Tartu be-
tion wieder aufgegriffen. ginnt J.M. Lotman (1922–1993) zur gleichen Zeit mit
Saussures Schüler Ch. Bally und A. Sechehaye kon- seinen ‹Arbeiten über Zeichensysteme› (‹Trudy po zna-
zentrieren sich neben kontrastiven Arbeiten vor allem kovym sistemam›) und ab 1964 mit den Sommerschulen
auf die systematische Rekonstruktion des Ansatzes und über sekundäre modellierende Systeme, die als sprach-
stellen aus den Vorlesungsmitschriften den ‹Cours de analoge mit den Methoden der strukturalen Linguistik
linguistique générale› (CLG, 1916) zusammen, der die untersucht werden. [47] In den 70er Jahren weitet sich
Saussure-Rezeption nachhaltig prägt und eine bis heute das Interesse von Vertretern der Moskauer und Tartuer
anhaltende Debatte auslöst. Auch die weiteren Mitglie- Schule (u. a. V.A. u. B.A. Uspenskij, O.G. Revzina u.
der der Schule wie R. Godel, E. Engler oder B.J. Frei I.I. Revzin) programmatisch auf Texte gleich welcher
orientieren sich weitgehend an den Prinzipien und Di- semiotischen Struktur und Modalität aus und richtet
chotomien des CLG, dessen Grundlinien heute jede sich auf die Konzeptualisierung einer allgemeinen Kul-
Einführung ins Fach nachzeichnet, der aber nach wie vor tursemiotik zur Analyse der historisch und dialogisch
auch für wissenschaftlichen Gesprächsstoff sorgt und bedingten Strukturen gesellschaftlicher Sinngenerie-
durch neue Funde aus dem Nachlaß ergänzt wird. [44] rung in menschlichen Semiosphären. [48] Mit dem am-
2. Moskau, Petersburg, Tartu. Die im ‹Moskauer lin- bitionierten Versuch einer nicht-reduktionistischen Ge-
guistischen Kreis› (1914–1924) bzw. in der Petrograder genstandskonstitution verliert das Konzept freilich auch
‹Gesellschaft zum Studium der poetischen Sprache› an begrifflicher Trennschärfe. [49]
(Opojaz, seit 1916) kooperierenden Sprach- und Lite- 3. Prag. Noch vor dem Erscheinen des CLG fordert
raturwissenschaftler suchen durch die Anwendung lin- der tschechische Anglist V. Mathesius in einem Aufsatz
guistischer Beschreibungsverfahren auf poetische Texte von 1911 die Einbeziehung synchronischer und funk-

203 204
Strukturalismus Strukturalismus

tionaler Aspekte in das Studium der Sprache. Nach dem «Kunst als semiologisches Faktum» [56] definiert. Er be-
Vorbild des Moskauer Linguistenkreises (und in kriti- schreibt sie im Rahmen seines Ansatzes zur Unter-
scher Reaktion auf dessen Poetologie der Werkimma- suchung der Struktur entautomatisierender Fokalisie-
nenz) regt er die Bildung eines Prager Linguistenkreises rungen einer Botschaft (aktualizace) in ästhetischen
an. Der ‹Cercle Linguistique de Prague› (CLP) wird Texten gleich welcher semiotischen Modalität, deren
1926 gegründet und tritt im Rahmen des 1. Internatio- Bedeutungskonstitution auf gesellschaftlicher Zuschrei-
nalen Slavistenkongresses 1929 in Prag mit seinen The- bung beruhe. Der semiotischen Fundierung wissen-
sen an die Öffentlichkeit. In ihnen sind die wesentlichen schaftlicher Untersuchung ästhetischer Texte haben
Konzepte des Funktionalismus, der kritischen Saussure- beide den Boden bereitet. Beide trugen wesentlich zu
Rezeption, der strukturalen Phonologie, funktionalen der Auffassung bei, daß unterschiedliche Künste in ei-
Dialektologie, der textuellen Thema-/Rhema-Struktu- ner strukturellen Wechselbeziehung stehen, und for-
ren und der linguistischen Poetik enthalten. Besonders mulierten so die Grundlage für moderne semiotische
die russischen Mitglieder N.S. Trubetzkoy (1890–1938) Studien, die die Künste miteinander und mit anderen
und Jakobson (1896–1982) gelten (neben dem Saussure- kulturellen Phänomenen in Beziehung setzen. Behaup-
Schüler S. Karcevskij) als die eigentlichen Taufpaten tet wird, daß eine Analogie besteht zwischen der struk-
des Prager S. Aber rasch zieht er neben Sprachforschern turellen Interrelation verschiedener Künste und der
wie B. Trnka, J. Vachek, B. Havránek auch Literatur- Verbindung zwischen den Literaturen unterschiedlicher
und Kulturwissenschaftler wie J. Veltruský, F. Vo- Sprachen und Kulturen. [57] Angekündigt sind damit
dička und vor allem J. Mukařovský an. Ihre ‹Travaux bedeutsame semiotische Forschungen zu den Relatio-
du Cercle Linguistique de Prague› erscheinen bis 1939 nen in der einzelnen Kunst und zwischen den verschie-
und werden ab 1966 als ‹Travaux Linguistiques de denen Künsten. [58]
Prague› fortgesetzt. Sie vereinigen wichtige Arbeiten zu 4. Kopenhagen. Nur zwei Jahre nachdem der Prager
einem weiten thematischen Spektrum, das von der Pho- ‹Cercle› mit seinen Thesen an die Öffentlichkeit tritt,
nologie über Sprachtypologie (V. Skalička), Text-, So- begründen 1931 L.T. Hjelmslev (1899–1965) und E.V.
zio- und Technolinguistik bis zur Stilistik und Literatur- Brøndal (1887–1942) zusammen mit weiteren jungen
theorie reicht. Kollegen den ‹Cercle Linguistique de Copenhague›, der
Der struktural-funktionale Ansatz der Prager ist em- ab 1934 ein eigenes Bulletin herausgibt, aus dem ab 1944
pirisch orientiert, ihre Beobachtungen richten sich auf die ‹Travaux du Cercle Linguistique de Copenhague›
die Sprache als Mittel der Kommunikation in ihrem so- hervorgehen. Beeinflußt von Saussure und inspiriert
ziohistorischen Kontext und in ihren ästhetischen Ver- durch die Kooperation mit dem Phonetiker (und Jones-
wendungszusammenhängen. [50] Insofern schlägt die Schüler) H.-J. Uldall (1907–1957) sucht Hjelmslev die
Schule eine Brücke zwischen dem orthodoxen S. Genfer Struktur der Sprache als System interner Relationen zu
Prägung und dem Moskauer Formalismus mit seinem beschreiben. Gemeinsam mit Uldall skizziert er Prinzi-
normativen Interesse an der Literatursprache (literatur- pien einer strikt strukturalen Phonologie, die (in Ab-
nyj yazik). Neben der strukturalen Phonologie Trubetz- grenzung zu der von Trubetzkoy) ‹Phonematik› genannt
koys, deren Konzepte und Methoden auch für sprach- wird. Gemeinsam planen sie ein zweibändiges Werk zur
historische Fragestellungen fruchtbar gemacht werden, Begründung einer radikal strukturalistischen Sprach-
hat vor allem die funktionale Stilistik (Havránek, theorie im Sinne einer allgemeinen Zeichentheorie un-
Hausenblas, Doležel, Jelínek u. a.) große Wirkung ter dem Titel ‹Glossematik›. Uldall publiziert seinen
entfaltet. Teil (unter dem Titel ‹Outline of Glossematics I: Gene-
Internationale Verbreitung auch im Westen findet ral Theory›) erst 1957 als Band 10 der ‹Travaux› [59], der
der Ansatz im Zeichen eines dynamisierten Struktur- zweite Band erscheint nie.
begriffs vor allem durch die zahllosen Arbeiten von Ja- Hjelmslev arbeitet unterdessen an seiner Fassung ei-
kobson (zumal nach seiner Übersiedlung in die USA ner glossematischen Sprachtheorie, die 1943 unter dem
1941), die ein weites Spektrum sprach- und liter- Titel ‹Omkring sprogteoriens grundlæggelse› erscheint.
aturwissenschaftlicher Fragestellungen umfassen. [51] Darin fordert er, Sprache empirisch als Struktur sui ge-
Seine programmatischen Aufsätze über ‹Linguistics and neris zu beschreiben und nicht als Konglomerat außer-
Poetics› (1960) [52] mit der Erweiterung des Bühler- sprachlicher Faktoren zu betrachten. [60] Der Ansatz ist
schen Organon-Modells oder über ‹Poetry of Grammar neben Saussure vor allem den Prinzipien des Logischen
and Grammar of Poetry› (1961) [53] oder die gemeinsam Positivismus des Wiener Kreises um R. Carnap ver-
mit dem Anthropologen C. Lévi-Strauss verfaßte Ana- pflichtet und sucht eine immanente Algebra der Sprache
lyse von Baudelaires ‹Les Chats› (1962) [54] finden ein zu formulieren. [61] Dazu wird das System der Sprache
großes Echo und gelten als klassische Leitstudien für als eines rationalen Gebildes so lange in Klassen zerlegt,
jene fruchtbare Verknüpfung von Sprach- und Litera- die ihrerseits Klassen von Klassen sind, bis Zeichen als
turwissenschaft. Diese charakterisiert auch die Ansätze Elemente von Klassen erreicht sind, deren kleinste Ein-
von Havránek, Horálek, Doležel, Skalička, Jelı́nek oder heit die Glosseme als nicht weiter reduzierbare Invari-
Červenka, weshalb die Prager Schule oft als genuin lin- anten sind. [62]
guistisch-literarische Schule bezeichnet wird, die zudem Die Prinzipien beanspruchen universale Geltung für
den Horizont zur Text- und Kulturwissenschaft geöffnet Sprache schlechthin, wobei Hjelmslev unterscheidet
habe. [55] zwischen formalen Universalien, die allen Sprachen not-
Mit seiner systematischen Peirce-Rezeption gewinnt wendig eigen sind, und substantiellen Universalien, aus
Jakobsons Ansatz zudem eine komplexere semiotische denen Einzelsprachen unterschiedlich auswählen. [63]
Grundlage für die nicht-reduktionistische Ausweitung Bezogen auf die vier Zeichenebenen Ausdrucksform
des Objektbereichs auf weitere ästhetische Ausdrucks- und -substanz bzw. Inhaltsform und -substanz ist z.B.
formen wie Film, Bildende Kunst, Musik, Architektur, das phonetische Material Substanz des Ausdrucks und
Theater, wie sie in der Prager Schule vor allem J. Mu- gehört zur Ebene der formalen Universalien. Das pho-
kařovský bereits seit den 1930er Jahren fordert, wenn er nologische Material einer Sprache ist Form des Aus-

205 206
Strukturalismus Strukturalismus

drucks und damit substantiell. Substanz des Inhalts ist Angewandte Semiotik ist auch das weitgespannte
die Widerspiegelung von Sachverhalten der Außenwelt Arbeitsfeld des Textwissenschaftlers R. Barthes (1915–
und damit der Ebene der formalen Universalien zuge- 1980) in seiner mittleren, strukturalistischen Phase der
hörig. Die Form des Inhalts ist die Ordnung des Mate- 60er Jahre, in der nach frühen Versuchen einer struk-
rials durch eine Sprache und damit substantiell. Nur die turalen Rekonstruktion der klassischen Rhetorik in
Form sei Gegenstand der Linguistik, also Phonologie schneller Folge seine Arbeiten zur Semiotik des Films,
und Morphologie bzw. Grammatik und deren Inter- der Photographie, der Werbung und der Mode erschie-
relation, die Substanz gehöre als Phonetik in die Physik nen. Dabei wendet er das Instrumentarium der Rhetorik
bzw. als Semantik in die Psychologie. Das Ziel sei die und später vor allem Methoden strukturaler Linguistik
Aufstellung eines algebraischen Kalküls, das alle Kom- (Distributionsanalyse, Kommutationstests usw.; s. o.
binationsmöglichkeiten einer Sprache zu prognostizie- B.I.) auf nichtsprachliche oder polycodierte Texte an
ren erlaube. [64] mit dem Ziel einer Taxonomie der Elemente ihrer
Das glossematische Schema ist trotz seines hohen for- genrespezifischen Codes (des Films, der Mode usw.).
malen Anspruchs und seiner Widerständigkeit gegen Diese Codes unterscheidet er (in Analogie zu Saussures
Anwendungsversuche etwa in der Literaturanalyse [65] langue/parole-Dichotomie) von ihren Aktualisierungen
nicht ohne Einfluß geblieben, besonders in Unter- in konkreten Textexemplaren, die nicht nur die deno-
suchungen zur Inhaltsform in der sog. ‹Pleremik› von J. tativen Inhalte des Codes, sondern auch die konnotati-
Holt, in S. Lambs ‹Stratificational grammar› und in der ven der mitgemeinten ‹Mythen des Alltags› [72] trans-
‹Sémantique structurale› von A.J. Greimas. [66] portieren, durch die die Zeichensysteme der (filmi-
5. Paris. Wie bei den anderen hier erwähnten Schulen schen, modischen etc.) Codes zu rhetorischen Systemen
muß die Bezeichnung ‹Pariser Schule› als pars pro toto werden. Da Barthes den Anstrengungen seiner ‘wissen-
angesichts der Vielfalt der Ansätze in einem Fächer von schaftlichen Phase’ spätestens mit ‹S/Z› [73] mit zuneh-
Disziplinen an verschiedenen Orten Frankreichs und mender Skepsis begegnet, wird unter post-strukturali-
der anhaltenden Rezeption und Fortentwicklung des stischem Aspekt auf ihn zurückzukommen sein (s. u. V).
Paradigmas vor allem in den romanophonen Ländern Für die strukturale Textwissenschaft nicht minder be-
Europas und Lateinamerikas stets gegenwärtig bleiben. deutsam sind die Ansätze in der Pariser Literaturwissen-
Sie geht zurück auf die Gesamtdarstellung von J.-C. Co- schaft aus dieser Zeit, die auch im deutschsprachigen
quet [67], in der die von Greimas (1917–1992) in Paris Raum rezipiert werden, vor allem die von C. Bremond,
begründete ‹Groupe de recherches sémiolinguistiques› T. Todorov und G. Genette, und zwar insbesondere im
als ‹L’école de Paris› figuriert. Ihr Organ sind die ‹Actes Hinblick auf Fragen der Narrativik, Genretheorie, Fi-
sémiotiques› bzw. (ab 1989) die ‹Nouveaux Actes Sé- gurenklassifikation und Intertextualität. Bremonds Mo-
miotiques›. dell der Erzähltextanalyse entstand ursprünglich in der
Der im russischen Tula geborene Franzose litauischer Auseinandersetzung u. a. mit Ansätzen des Russischen
Abstammung entwickelt unter dem Einfluß der Phäno- Formalismus, dort besonders mit der strukturalen Mär-
menologie Merleau-Pontys, der Strukturalen Anthro- chentextanalyse V. Propps (s. o. III.2). Wie diesem geht
pologie Lévi-Strauss’ und der Narratologie Propps sei- es Bremond um die Freilegung der elementaren Hand-
ne einflußreiche Strukturale Semantik. [68] Ihre lingui- lungseinheiten des Textes (fonctions bzw. processus nar-
stischen Grundlagen basieren vor allem auf Saussures ratifs), aber er erweitert Propps Schema durch syste-
Konzept von der Differenzqualität und dem oppositio- matische Alternativentests, durch eine Trias von Funk-
nellen Wert der Struktur, auf dem dependenzgramma- tionen und die Priorität von Handlungsrollen. Damit
tischen Modell L. Tesnières und eben auf Hjelmslevs sucht er die dem Text zugrunde liegende Struktur des
Glossematik. [69] Beim Versuch der Übertragung struk- Handlungssubstrats zu ermitteln. [74] Methodisch noch
turaler Verfahren auf die Ebene des Textes (discours) stärker linguistisch instrumentiert ist das Erzähltext-
geht es ihm u. a. um die Ermittlung von Minimalkom- modell von T. Todorov. Unter Anwendung strukturaler
ponenten der Bedeutung (Seme als Einheiten der In- Verfahren strebt er an, aus der Freilegung des Hand-
haltssubstanz i. S. v. Hjelmslev) und ihren Relationen. lungssubstrats das Inventar von Kategorien einer uni-
Diese elementaren Einheiten lassen sich (vereinfacht versellen Erzählgrammatik zu entwickeln. Er beläßt es
gesagt) zu logischen Quadraten doppelt binärer Oppo- nicht bei theoretischen Erwägungen. In der Anwendung
sitionstrukturen anordnen, die als semantische Tiefen- auf die Novellen des ‹Decamerone› paraphrasiert er den
struktur der Bedeutung (signification) von Texten zu- Handlungsaufbau in Resümees, verdichtet die so ge-
grundliegen. Die Bedeutung ergibt sich also aus den Re- wonnenen Paraphrasen zu primären und sekundären
lationen zwischen den Elementen (différences), nicht Propositionen (Verb, Name, Adjektiv; Komparativ,
aus deren Summe. Sie bilden Strukturen rekurrenter Modus, Transformation), die dann unter syntaktischen
Semkonstellationen aus, die die semantische Kohärenz und semantischen Aspekten beschrieben werden. So er-
des Textes konstituieren: Isotopien als durch gemeinsa- scheint die Erzählung (récit) als Struktur von sie kon-
me kontextuelle Seme verkettete Textsegmente. In se- stituierenden Sequenzen (séquences), die ihrerseits aus
mantisch polyvalenten Texten können sich mehrere Iso- der Verknüpfung von propositions (gebildet aus sujet
topie-Ebenen überlagern. [70] und prédicat) entstehen. [75]
Die frühen Ansätze der Pariser Schule werden später Mit der Übersetzung seines programmatischen Es-
ausgebaut zu einer narrativen Diskursgrammatik, die says über ‹Structuralisme et critique littéraire› wird Ge-
auch Aspekten der Modalität, Emotionalität und Per- nette schnell zu einem der Protagonisten in der Debatte
spektivierung systematisch Rechnung trägt und (anders über das Verhältnis von S. und Literaturwissenschaft in
als die Glossematik) in vielen Feldern der Sprach- und Deutschland, die zu Beginn der 70er Jahre des 20. Jh. vor
Literaturwissenschaften, der Rechts- und Sozialwissen- allem mit H. Blumensaths gleichnamigem Sammelband
schaften, der Psychologie, Ethnologie und Mythenfor- und J. Ihwes Textsammlung zur Verbindung von Lite-
schung, Kunst-, Musik- und Architektursemiotik An- raturwissenschaft und Linguistik einsetzt. [76] In der
wendung gefunden hat. [71] Folgezeit verfaßt er zahlreiche Studien zu Fragen der

207 208
Strukturalismus Strukturalismus

strukturalen Textanalyse, zur Systematik der rhetori- Bezüge auf das Programm der Glossematik einerseits
schen Figurenlehre, zur Rolle des Autors und zur Er- und das der Prager Schule (bes. Jakobsons) andererseits
zähltexttheorie (mit der weithin rezipierten Prägung des bleiben zwar implizit, aber doch klar erkennbar.
Begriffs der Diegese zur Bestimmung der Kriterien für In konsequenter Orientierung an der Auffassung von
die Definition der Erzählerposition oder Fokalisierung Sprache als Organisationsform sozialer Erfahrung ent-
in narrativen Texten sowie der grundlegenden Unter- wickelt M.A.K. Halliday seine systemic grammar zu
scheidung von discours und histoire, die in etwa der zwi- einer social semiotic [80] fort, die ‹S.› und Funktionalis-
schen fabula und sujet schon bei den russischen Forma- mus sowie Sprachsystem und Sozialsystem miteinander
listen entspricht, die er dann aber erweitert zu der Trias verbindet. Soziale Realität (Kultur) wird dabei als ein
von histoire, récit und narration), und zahllose weitere u. a. durch Sprache konstituiertes Zeichenkonstrukt auf-
Arbeiten, die er u. a. in den bislang fünf Bänden seines gefaßt, sprachliche Praxis als Text mit ideationalen, in-
Hauptwerks ‹Figures› versammelt. Stärker rezipiert als terpersonalen und strukturalen Funktionen. Der Zu-
seine Taxonomisierungsanstrengungen im Bereich der sammenhang zwischen diesen intrinsischen Zeichen-
strukturalen Figurenlehre mit ihren sechs Hauptgrup- funktionen und den extrinsischen Zeichenfunktionen
pen (tropes, figures de diction, figures de construction, der situativen Handlungsdimensionen wird dabei über
figures de style, figures de pensée, figures d’élocution), die die Rhetorik des Registers hergestellt: «Der soziale Kon-
er mit dem Ziel eines «classement d’ordre logique» in text einer Sprache ist strukturiert als ein Feld signifikan-
zahllose Unterklassen weiter differenziert, wurden je- ter sozialer Handlungen, als Verhältnis sozialer Rollen
doch später seine gattungstypologischen Überlegungen und Modus einer symbolischen Organisation. Zusam-
zu Textsorten oder -klassen. Da deren Abgrenzung von- mengenommen konstituieren diese Aspekte die Situ-
einander nicht immer kohärent gelingt, faßt er sie eher ierung bzw. den situativen Kontext von Texten.» [81]
als Aspekte einer allgemein konzipierten Textualität Redegegenstand (field of discourse), Interaktionsbezie-
auf, die er (z.B. in der Einleitung zu ‹Palimpsestes›) als hung (tenor oder style of discourse) und Zeichenmoda-
Feld der transtextualité wiederum vielfältig parzelliert in lität der Textstruktur (mode of discourse) definieren das
solche der architextualité (z.B. types de dicours, modes situativ angemessen (aptum) gebrauchte Register des
d’énonciation, genres littéraires), intertextualité (z.B. ci- Kommunikats. [82]
tation, plagiat, allusion), metatextualité (z.B. commen- Die Londoner Schule ist anders als der tschechische
taire, critique), paratextualité (z.B. titre, préface, notes, und französische ‹S.› vornehmlich auf verschiedene
illustration, brouillon), hypertextualité (z.B. parodie, tra- Zweige der Sprachforschung beschränkt geblieben, hat
vestissement, pastiche, also nicht zu verwechseln mit dem dort aber eine nachhaltige Fruchtbarkeit entfaltet in der
Konzept der Hypertextualität in der angelsächsischen Indogermanistik (W.S. Allen), Sprachtypologie (C.E.
Text- u. Medienkulturwissenschaft). [77] Bazell), Sprachgeschichte und Geschichte der Sprach-
6. London. Als Begründer der ‹London School of wissenschaft (R.H. Robins), Phonetik (D. Abercrom-
Linguistics› [78] gilt der Phonetiker (und Daniel Jones- bie), Sprachtheorie, Grammatik und Semantik (A.A.
Schüler) J.R. Firth (1890–1960). Auf dem von Ph. We- Hill, F.R. Palmer, J. Lyons), Lexikographie und Cor-
gener, B. Malinowski und A. Gardiner bereiteten Bo- puslinguistik (J. Sinclair, R. Quirk), Soziolinguistik (M.
den entwirft er das Programm der sociological lingui- Gregory), Stilistik und Rhetorik (G. Leech), Überset-
stics, die vor allem zwei Aufgaben zu lösen habe: «[...] zungstheorie (J.C. Catford), Sprachdidaktik (A. McIn-
erstens das schwierige Problem der Beschreibung und tosh, P. Strevens) usw. und ist auch heute noch lebendig
Klassifizierung typischer Sprechsituationen im Rahmen z.B. in der Anwendung des Konzepts der Social Semio-
kultureller Kontexte und zweitens die Beschreibung tics auf neue Anwendungsfelder [83], in der Verbindung
und Klassifizierung von Sprachfunktionstypen in sol- von Sprach- und Literaturwissenschaft im Rahmen der
chen situativen Kontexten.» [79] Der Primat des in eine sehr aktiven Poetics and Linguistics Association (M.
Hierarchie von Kontexten eingebetteten Textes als Short, K. Wales) oder in den Ansätzen der Kritischen
Realisat sozialen Handelns und interaktional ausgehan- Diskursanalyse (N. Fairclough), die sich u. a. auch dem
delter Bedeutung (meaning) trug dem Ansatz auch das öffentlichen Sprachgebrauch in Medien und Werbung
Etikett des ‹Kontextualismus› ein. Meaning wird dabei und dem Verhältnis von Sprache und Macht widmet.
als ein relationales Konstrukt aufgefaßt, dessen Inhalt Damit schlägt diese zwar in jüngster Zeit wieder eine
sich aus seiner Funktion in einer Vorkommensmatrix Brücke zu französischen Ansätzen kritischer Diskurs-
ergibt, die durch strukturale Analyse ihrer Elemente auf forschung (z.B. P. Bourdieu), aber die Londoner Schule
allen linguistischen Ebenen zu ermitteln ist. insgesamt wird aufgrund ihrer eher von der Ethnologie
Ein Text wird also realisiert, indem aus einem Poten- (Malinowski) als von der Philologie beeinflußten Wur-
tial sozialen Handelns intentionales Meinen gefiltert zeln und ihrer pragmatisch-antimentalistischen Prämis-
wird, das mittels lexiko-grammatischer Encodierung lin- sen meist immer noch als ein Bindeglied gesehen zwi-
guistische Form erhält, die in der Bindung an physische schen dem europäischen und dem amerikanischen S.
Zeichenträger die materiale Substanz der Äußerung (in 7. New York. Auf der Flucht vor dem Nationalsozia-
Laut oder Schrift) gewinnt. Ein Text wird umgekehrt lismus treffen sich etliche der europäischen Struktura-
konstituiert, indem sich signifikante Kombinationen listen (unter ihnen Jakobson) im New Yorker Exil. Man
aus dem System von Laut- oder Schriftzeichen zu grö- hat daher im Hinblick auf die New Yorker Universitä-
ßeren funktionalen Einheiten fügen, die ihrerseits lexi- ten geradezu von einer ‹Zweigstelle der Prager Schule›
ko-grammatische bzw. morpho-syntaktische Strukturen gesprochen. [84] Ihr bevorzugtes Organ wird ab 1943
bilden; dieses Geflecht syntagmatischer Relationen die Zeitschrift ‹Word› des Linguistic Circle of New
zwischen Strukturelementen und paradigmatischer Re- York. Allerdings bleibt ihr Einfluß auf die tonangeben-
lationen zwischen Systemelementen repräsentiert das den nordamerikanischen Kollegen wie L. Bloomfield,
semantische Potential als sprachliches Komplement so- E. Sapir, Ch.F. Hockett, Z.S. Harris, A.A. Hill oder
zialen Verhaltens dialogisch Handelnder in situativ, hi- Ch. C. Fries begrenzt. Die antipositivistische Reaktion
storisch und soziokulturell gestaffelten Kontexten. Die des europäischen S. wird in den USA nicht nachvoll-

209 210
Strukturalismus Strukturalismus

zogen. Der Zusammenhang zwischen Sprachsystem Prädikat, Objekt, welche die abstrakte Tiefenstruktur
und Sprachgebrauch, zwischen sozialem und individu- eines Satzes bilden, die seine Bedeutung determiniert
ellem Aspekt der Sprache bleibt zunächst weitgehend und als Strukturbaum darstellbar ist. Die Transforma-
außer Betracht. Aus der strukturalistischen Methodo- tionsregeln ordnen die Elemente der Tiefenstruktur
logie werden nur bestimmte Prinzipien wie Klassifika- entsprechend ihren Funktionen und ihrem hierarchi-
tion, Distributionalismus oder Corpusbasierung über- schen Verhältnis an, tilgen identische Elemente, fügen
nommen und in Textmengenbeschreibungen erprobt. Flexionsmarkierungen hinzu und führen so die Konsti-
Bloomfield und seine Anhänger (Bloomfield-Schule) tuenten der abstrakten Tiefenstruktur über in einen
konzentrieren sich auf die Ermittlung von immediate wohlgeformten Satz und damit in die konkrete Ober-
constituents und entwickeln daraus eine Methode der flächenstruktur.» [89] Die Wahl der Wörter folgt eben-
Konstituentenanalyse, die Abhängigkeitsverhältnisse falls Regeln, die die Freiheit der Wahl einschränken und
zwischen Elementen untersucht und für die spätere etwa festlegen, ob ein Wort als Verb oder Nomen, als
Entwicklung der Dependenzgrammatik (Tesnière) be- Verb mit oder ohne Objekt, als personales oder nicht-
deutsam wird. [85] personales Nomen zum Einsatz kommt, oder wiederum
Eines der Motive für die Radikalisierung des Distri- genauer: «Jedes Element unterliegt also entsprechend
butionalismus auf behaviouristischer Grundlage war die seiner durch das Lexikon gegebenen klassifikatorischen
Untauglichkeit traditioneller Grammatiken für die Be- Matrix strikten Kategorisierungs-, Subkategorisierungs-
schreibung unbekannter Indianersprachen. Sie sollten und Selektionsbeschränkungen, die seine Operabilität
unter Absehung von allen mentalen, kognitiven, psy- in Formations- und Transformationsprozessen deter-
chischen oder semantischen Aspekten zunächst nur in minieren.» [90] Aus dem Grad der Abweichung von der
ihrem unmittelbar beobachtbaren materiellen Bestand durch das Regelwerk definierten Norm meinte man
erfaßt werden. Die Menge protokollierter Äußerungen dann auf den Grad der rhetorisch-stilistischen bzw. äs-
einer Sprache gilt dabei als Corpus, dessen Elemente thetischen Wirkung schließen zu dürfen.
identifiziert und nach ihren distributionellen Relationen Das Abweichungsmodell Chomskys ergänzt 1971
klassifiziert werden. N. Chomsky kritisiert an dem Ver- (der seinerzeit in Konstanz lehrende Anglist) G. Wie-
fahren, daß daraus allenfalls Listengrammatiken her- nold, indem er den ‹ersetzenden Formulierungsver-
vorgehen könnten, die Inventarlisten für Corpora aufzu- fahren› die ‹komplettierenden› hinzugesellt, die an Ja-
stellen erlaubten, nicht aber das Material für die Gram- kobsons Verfahren der Selektion (auf der paradigmati-
matik einer Sprache zu liefern geeignet seien. schen Achse) und der Kombination (auf der syntagma-
In seinen ‹Syntactic Structures› [86] entwickelt Chom- tischen Achse) gemahnen. Wienold glaubt zu dieser Zeit
sky daher die immediale constituents-Analyse zu einer noch ganz im Sinne Chomskys den Sprachgebrauch
Phasenstrukturgrammatik fort, die das Regelwerk be- durch einen Algorithmus beschreiben zu können, «der
schreibt, das eine unendliche Menge möglicher Sätze zu allen möglichen wohlgeformten Äußerungen eine se-
generieren erlaubt bzw. die Zuordnung der Oberflä- mantische Interpretation über eine Strukturbeschrei-
chenstrukturen faktischer Sätze zu den abstrakten Tie- bung zuordnet» [91]. Grammatizität und Poetizität wer-
fenstrukturen des syntaktischen Regelsystems, das zu- den als umgekehrt proportional verstanden: je weiter
gleich die Selektionsrestriktionen der Satzelemente in ein Text von seiner ‹Normalform› entfernt sei, desto
seinen Strukturbeschreibungen (in Form von Baumdia- ‹poetischer› wirke er. Die zeitgenössische Stiltheorie
grammen) ausweist. Der in seinen Ursprüngen struktu- konnte das nicht befriedigen: Poetizität sei keine Sub-
rale Ansatz hat in Europa ein überwältigendes Echo kategorie der Grammatik, Grammatikalität komme als
ausgelöst, freilich nicht mehr so sehr unter den Struk- Kategorie einer stilistischen Theoriebildung nicht in-
turalisten, die seiner Abkehr vom Prinzip der Einzel- frage. [92]
sprachlichkeit (grammatica universalis) und Idealisie- In konsequenter Abgrenzung von der in den USA be-
rung des Modells vom kompetenten Sprecher nicht viel herrschenden ‹Reduktionsform› des S. (Jakobson) ent-
abzugewinnen vermochten. [87] Diese Distanz hat sich wickelt demgegenüber K.L. Pike [93] sein Textmodell
mit der Entwicklung späterer Versionen der Generati- der Tagmemik, das der Firth-Schule viel verdankt, aber
ven Grammatik (Government and Binding) eher noch anders als die ‹Generative Transformationsgrammatik›
vergrößert. [88] Chomskys in Europa kaum rezipiert wird. Das Modell
Dennoch gab es eine Zeit lang (vor allem in der An- beruht im wesentlichen auf sechs Prinzipien: (i) auf der
glistik und Linguistik, kaum in der Germanistik) Ver- (von Hjelmslev hergeleiteten) Unterscheidung emischer
suche zur Entwicklung von Rhetoriken auf generativer Einheiten für solche des Systems und etischer Einheiten
Grundlage. Schon der frühe Chomsky hatte eine Hier- für solche des Prozesses; (ii) auf der Definition des Tex-
archie von Abweichungen vom grammatisch ‹Wohlge- tes (nicht des Satzes) als oberster Analyseeinheit; (iii)
formten› angenommen (degrees of grammaticalness), in auf dem Begriff des durch Form und Funktion bestimm-
der sich der Grad der jeweiligen Abweichung nach dem ten Tagmems und analoger Struktureinheiten; (iv) auf
Typ der jeweils verletzten Regel richtet. Auf dieser einer grammatischen Hierarchie von Elementen (vgl.
Grundlage wurden Kataloge von Beispielsätzen aus li- Hallidays Straten-Modell); (v) auf dem Konzept der
terarischen Texten zusammengestellt, deren ästhetische (den Paradigma-Begriff erweiternden) Matrix bzw. des
Wirkung man aus ihrer Grammatikalitätsstufe zu er- logischen Feldes und (vi) auf der (den antisemantischen
klären suchte. Die ‹Generative Rhetorik› wandte dann Rigorismus der Bloomfield-Schule überwindenden)
das Verfahren auf das dritte der officia oratoris an, die Verbindung der grammatischen mit einer referentiellen
elocutio, und suchte das Regelwerk zu beschreiben, nach Hierarchie. Das nach oben offene Ebenen-Modell er-
dem sich die Wörter in die Hierarchie des Satzes fügen laubt zudem die Überschreitung der Sprachgrenze (ut-
(Formationsregeln) und der Gedanke in Worte gefaßt tereme) zum nicht-sprachlichen Handeln (behavioreme),
wird (Transformationsregeln). Genauer: «Die Formati- insofern rangniedrigere Einheiten stets kommunikativ
onsregeln erzeugen eine Hierarchie syntaktischer Ka- relevante Funktionen in ranghöheren übernehmen, wo-
tegorien und Relationen wie Nomen, Verb, Subjekt, mit «wir unausweichlich auf die Relevanz der Kultur

211 212
Strukturalismus Strukturalismus

[und] des nicht-verbalen Verhaltens als desjenigen Kon- noch nicht enthaltener rhetorischer Phänomene. Au-
textes verwiesen [sind], in dem große linguistische Ein- ßerdem zielt das Modell nicht nur auf eine systematische
heiten ihre Funktion haben». [94] Neufassung der elocutio, sondern aufgrund seiner kon-
8. Lüttich (Liège, Luik). Den von allen Schulen des S. sequenten Orientierung an der strukturalen Methodo-
vielleicht engsten Bezug zur klassischen Rhetorik hat – logie auch auf eine Anwendung der rhētorikē´ téchnē in
neben der strukturalen Figurenlehre in der Narratologie der Analyse nichtsprachlicher und polycodierter Texte
etwa Genettes – die als groupe m (das Initial steht für me- als Beitrag zu einer rhétorique de l’image. [99]
taforaÂ, metaphorá) figurierende Lütticher Schule um J. IV. Strukturale Ansätze außerhalb der Rhetorik,
Dubois (und F. Edeline, J.-M. Klinkenberg, Ph. Min- Sprach-, Literatur- u. Textwissenschaften. Die wissen-
guet, F. Pire, H. Trinon) am interdisziplinären Centre schaftshistorische Gliederung nach Schulen des S. darf
d’Études Poétiques der Universität Lüttich. In ihrer nicht den Blick dafür verstellen, daß es natürlich auch in
‹Rhétorique générale› [95] knüpft sie an die quadripar- den hier nicht eigens erwähnten Ländern zahlreiche
tita ratio der Quintilianschen Stilklassen an und sucht dem Paradigma verpflichtete Sprachwissenschaftler ge-
deren elementare Operationen der adiectio, detractio, geben hat, auf deren Beiträge und Resonanz in Norwe-
transmutatio und immutatio für eine linguistische Syste- gen (A. Sommerfelt, J. Vogt), Schweden (B. Malm-
matisierung des Inventars rhetorischer Figuren und Tro- berg, G. Hammarström), Polen (J. Kuryłowicz), Itali-
pen nutzbar zu machen. Der mutatio Quintilians (oder en (L. Heilmann, G. Lepschy), Spanien (E. Alarcos
dem, was grob gesprochen in Moskau ostranenie bzw. Llorach, M. Sánchez Ruipérez), Portugal (J. Hercu-
priëm, in Prag aktualizace, in London foregrounding, in lano de Carvalho) und in den Niederlanden (A.
Paris écart heißt) entspricht dabei in etwa das, was die Reichling, A.W. de Groot, später J. Ihwe, I. Ibsch) in
Lütticher metabolē´ nennen: eine spezifische Auswahl diesem Rahmen freilich ebensowenig angemessen ein-
aus dem Zeichenrepertoire, die eine Veränderung des gegangen werden kann wie auf die zahlreichen ein-
Erwarteten, eine Verfremdung, Erneuerung, Hervor- schlägig engagierten und ebenso namhaften wie unter-
hebung, Unterscheidung vom Gewohnten bedeutet und schiedlichen Forscher in Deutschland. [100]
die Aufmerksamkeit des Rezipienten auf den Code Erst recht nicht können die zahlreichen vom S. in-
lenkt. Meist hat man das vereinfachend als Abweichung spirierten Ansätze in Disziplinen außerhalb der Sprach-
von der Norm beschrieben [96], als sprachliche Devianz und Literaturwissenschaften hier ihre angemessene
(écart linguistique) von einer stilistischen ‹Ruhelage› Würdigung finden. Dabei hat er nicht nur dort, sondern
oder Nullstufe (degré zéro), was aber wohl zu kurz u. a. auch in der Ethnologie und Anthropologie, in der
greift. [97] Philosophie und Psychologie, in Kunst-, Musik-, Sozial-
In zeichentheoretisch ähnlicher Perspektive wie in und Medienwissenschaften nachhaltige Wirkung entfal-
dem Straten-Modell der Londoner Schule werden die tet. Zur Grundlage der Kulturwissenschaften wird nach
Metabolien nach den Ebenen (niveaux) sortiert, die sie dem Vorbild von Saussure (und der Subsumtion der
semiotisch realisieren (nicht konstituieren). Die Figuren Linguistik unter die Semiologie) die Semiotik konzi-
der adiectio, detractio, transmutatio und die Tropen der piert. Vor allem die Zeichentheorie des amerikanischen
immutatio kehren wieder in den substantiellen Opera- Philosophen Ch.S. Peirce (1839–1914) gilt heute als dis-
tionen der adjonction und suppression (und deren Kom- ziplinübergreifender Bezugspol für die Entwicklung ei-
bination) einerseits und in den relationalen Operatio- nes kulturwissenschaftlichen Textbegriffs und die Ana-
nen der permutation andererseits. Sie gliedern sich (in lyse von entsprechend komplex definierten Texten
vager Orientierung am Hjelmslevschen Zeichenmodell) gleich welcher Struktur und semiotischen Modalität.
in die formbezogenen Metaplasmen und die sinnbezo- Aus der Zusammenarbeit zwischen dem Linguisten
genen Metasememe der Wortebene sowie in die form- Jakobson und dem Ethnologen C. Lévi-Strauss (*1908)
bezogenen Metataxen und sinnbezogenen Metalogismen während ihrer gemeinsamen New Yorker Zeit erwächst
der Satzebene. Der Bereich der Metaplasmen umfaßt das Hauptwerk der ‹Strukturalen Anthropologie›. [101]
dabei sowohl morphologische Figuren (Metamorphe) Aus der Phonologie Trubetzkoys gewinnt Lévi-Strauss
als auch graphostilistische und phonostilistische Verän- seine methodischen Prinzipien zur Untersuchung von
derungen (Metagraphen und Metaphone), die auf allen Homologien zwischen Sprache und Kultur, insbeson-
Ebenen durch die Operationen der Addition, Detrakti- dere im Hinblick auf Riten und Religionen, Totems und
on, Immutation und Transmutation hervorgerufen wer- Tabus, Mythen und Heiratsregeln. [102] Sein Interesse
den. Dasselbe gilt für die Metataxen, die (im Sinne der zielt auf Strukturen sozialer Gemeinschaften und die
Londoner Terminologie) als syntaktische Verfahren Regeln menschlichen Zusammenlebens. Das weitet den
kolligativer Kombinationsveränderungen zu interpre- Blick für kommunikationstheoretische Perspektiven,
tieren sind, und für die Metasememe, die die semanti- die sich früh auch schon auf ästhetische Phänomene aus-
sche Ebene insbesondere im Hinblick auf signifikante richten. So hat die erwähnte strukturale Interpretation
kollokative Selektionsentscheidungen betreffen. Die von Baudelaires ‹Les Chats› eine intensive Debatte in
Metalogismen transformieren die logische Struktur be- der Literaturwissenschaft ausgelöst. [103]
stimmter Sequenzen und entsprechen am ehesten der Da alle Schulen des S. der Literaturwissenschaft zuge-
Tradition der rhetorischen Gedankenfiguren. wandt sind und die Wirkung von poetischen Texten aus
Bei aller Kritik an seinen deviationsästhetischen Prä- den sprachlichen Strukturen zu erklären streben, aus
missen und zeichensyntaktischen Reduktionismen [98] denen sie gemacht sind [104], kann es hier sein Bewen-
erlaubt das strukturale Modell der bzw. des groupe m mit den haben mit dem Hinweis auf die Wirkung der Struk-
seinem elaborierten kategorialen Begriffsnetz die sy- turalen Anthropologie, auf die Fortentwicklung der
stematische Zuordnung rhetorischer Figuren und Tro- französischen Narratologie (Brémond, Barthes, To-
pen zu linguistisch definierten Klassen und deckt zu- dorov, Genette) und strukturalen Rezeptionsästhetik
gleich Systemlücken auf, die als Suchkategorien figurie- (Riffaterre).
ren können zur Definition und Positionierung neuer und In der Psychologie versucht der Genfer Psychologe
in den klassischen Kompilationen (wie bei Lausberg) J. Piaget (1896–1980) den Strukturalismus schon früh

213 214
Strukturalismus Strukturalismus

für sein Fach fruchtbar zu machen. [105] Daneben ist es V. Post- oder Neostrukturalismus. Insofern der Post-
vor allem das Werk des Pariser Psychoanalytikers J. strukturalismus Saussures Modell von der Sprache als
Lacan (1901–1981), dessen frühe Ansätze stark von Kombination differentieller Relationen radikalisiert,
der Strukturalen Anthropologie und Linguistik (Lévi- wird er auch als Neostrukturalismus bezeichnet [112],
Strauss, Saussure, Jakobson) beeinflußt werden. Die der die Analyse von Texten durch die der diskursiven
Freudschen Kategorien werden zeichentheoretisch kon- Praxis zu ersetzen sucht. Den in sich höchst unterschied-
zipiert: das Unbewußte sei «wie eine Sprache struktu- lichen Strömungen des Post- bzw. Neostrukturalismus
riert» [106], Aufgabe des Psychologen sei die Konstruk- mit seinen Perspektiven der zeichentheoretisch begrün-
tion des Vergessenen und die (synchrone) Analyse der deten Diskursanalyse (Derrida, Barthes), der institutio-
Sprache des Unbewußten als Rede des Anderen. Kom- nen- und wissensgeschichtlich interessierten Diskurs-
munikation erscheint hier (ähnlich wie später in system- analyse (Foucault), der linguistisch instrumentierten
theoretischen Ansätzen) als autopoietischer Prozeß. Psychoanalyse (Lacan, z. T. Kristeva [113]) gemeinsam
Freilich führt der Zweifel an der Einheit des Subjekts ist «eine kritische Negation des universalgrammatischen
(Theorie des Imaginären) und die Auffassung von des- Repräsentationsmodells der Sprache, der semantischen
sen Fremdbestimmtheit durch Sprache (Theorie des Identität von Sprachzeichen, der Präsenz des Sinns, der
Symbolischen) schließlich zur Metapher von der Spra- Autonomie eines seiner selbst bewußten Subjekts,
che als einem Gefängnis und zur Auflösung der Saus- schließlich der rational begründeten Durchsichtigkeit
sureschen Dichotomien wie der Jakobsonschen Funk- des Seins und der Wissenschaft als Produktion objekti-
tionen und damit zum Poststrukturalismus. [107] ven Wissens». [114] Der Grundvoraussetzung intersub-
Während in der Politologie vor allem L. Althusser jektiv-wissenschaftlicher Theoriebildung ist damit die
(1918–1990) mit seiner strukturalistischen Interpre- Basis weitgehend entzogen, was insbesondere in Teilen
tation des Marxismus hervorgetreten ist, die das so- der Literaturwissenschaft zeitweise zustimmend als Le-
ziale Subjekt durch die Totalität des Systems und Ge- gitimation eines jeden argumentativen Rechtfertigungs-
schichte durch eine strukturale Kausalität determiniert drucks enthobenen Erzählens der Unmöglichkeit ihres
sieht [108], gilt in der Soziologie nach wie vor M. Fou- Tuns aufgegriffen wurde: «The allegory of reading nar-
cault (1926–1984) als der prominenteste Strukturalist, rates the impossibility of reading (Die Allegorie des Le-
aber zugleich auch Post- und Neostrukturalist. [109] sens erzählt von der Unmöglichkeit des Lesens).» [115]
Strukturalistisch an seiner Konzeption der historischen P. de Man (1919–1983) behauptet mit diesem sehr
Diskursanalyse ist das Analyseverfahren der Ermittlung populär gewordenen Diktum eine strukturelle Aporie,
von semiotischen Werten aus Systemoppositionen, post- in der Sprache als performative und als konstative Rede
strukturalistisch dagegen die Auffassung von der durch bzw. Verstehen auf der figuralen Ebene der Tropen und
ihre Artikulation erst konstituierten diskursiven Praxis. der thematischen Ebene der Proposition einander ent-
In der Philosophie nimmt vor allem J. Derrida gegenstünden. Die semantische Lektüre werde durch
(1930–2004) eine bedeutende Stellung zwischen S. und die rhetorische Lektüre mit der Unmöglichkeit konfron-
Poststrukturalismus ein. Seine zeichentheoretischen tiert, die Sinntotalität des Textes zu erfassen, was für den
Überlegungen nehmen zwar ihren Ausgang noch von dekonstruktiven Diskurs konstitutiv sei: «[...] die De-
Saussure, zielen dann aber auf die Dekonstruktion des konstruktion stellt den Trugschluß der Referenz auf
Textes, dessen Zeichen immer nur auf andere Zeichen notwendig referentielle Weise fest.» [116] Der Ansatz
verweise und damit letztlich keine Bedeutung habe, da grenzt sich sowohl gegen die Rhetorik im traditionellen
jedes Signifikat im System der Differenzen wieder zum Sinne ab als auch gegen eine «Texttheorie, die den Text
Signifikanten werde. Damit sei zugleich die Möglichkeit lediglich als Verweisungsspiel der Signifikanten be-
der Interpretation von Texten aufgehoben in einem schreibt» [117]. Vielmehr gelte es, die Rhetorik zu ei-
Verfahren der Dekonstruktion ad infinitum, das nichts ner ‹epistemologischen Disziplin› zu erheben, in der die
anderes sei als die unendlichen Transformationen von ‹Blindheit› der referentiellen Lektüre durch die ‹Ein-
Texten. Textanalyse als Analyse von Textstrukturen sicht› der rhetorischen Lektüre ‹defiguriert› wer-
wird damit als unmöglich behauptet (vgl. aber die Ga- de. [118] Erst im Dementi seiner Bedeutung erweise ein
damer-Gedenkrede [110]). Text sich als ‹literarisch›, der «implicitly or explicitly sig-
In der Medienwissenschaft skizziert J. Baudrillard nifies its own rhetorical mode and its own misunder-
(1929–2007) seinen kultursoziologisch-medientheoreti- standing as the correlative of its [...] ‹rhetoricity›». [119]
schen Ansatz ebenfalls zunächst auf dem Boden des Das Verfahren ist in mehreren Hinsichten methodo-
Saussureschen S., der dann freilich zu einer fundamen- logisch und (sprach-) theoretisch anfechtbar. Es ist
talisierenden Medienkritik ausgeweitet wird, in der Zei- keine auf Texte generell anwendbare Methode; sie fällt
chen sich selbst kopieren und Medien Wirklichkeit hinter den Erkenntnisstand auch der zeitgenössischen
nicht repräsentieren, sondern generieren. Die Realität Hermeneutik zurück; sie konfundiert Semantik und Re-
gerät dabei letztlich aus dem Blick, was viele seiner ferenz, obwohl spätestens seit Mukařovskýs Anlayse des
deutschen und (latein)amerikanischen Anhänger be- ästhetischen Zeichens als Gemeinplatz gilt, daß litera-
sonders fasziniert zu haben scheint. – Der ‹S.› wird im rische Texte nicht direkt referentialisierbar sind (s. o.
letzten Viertel des 20. Jh. durch den Poststrukturalismus III.2). [120] Interpretamente sind ihrer intersubjektiven
abgelöst oder verdrängt, ohne daß zuvor dessen (zei- Plausibilitätsprüfung entzogen, insofern sie stets De-
chen-)theoretisches und transdisziplinär-methodisches konstruktionen der eigenen Lektüre sind. Die Auffas-
Potential wirklich ausgeschöpft worden wäre: «Die sung von Sprache als Substanz sich widersprechender
Richtung wurde nicht aus wissenschaftsinternen Grün- Mittel rhetorischer und logischer Darstellung ist sprach-
den durch Besseres ersetzt, sondern zugunsten neuer theoretisch unsinnig. «De Mans Art der Problemlösung
Orientierungen vernachlässigt; viele ihrer Ansätze blie- des Verstehens abstrahiert von jeder Möglichkeit kom-
ben unerledigt liegen, an andere wird – etwa im Bereich munikativer Funktion der Sprache und nivelliert ohne
der Theorie narrativer Strukturen – vielfach wieder an- ausreichende sprachwissenschaftliche oder philosophi-
geknüpft.» [111] sche Begründung die Differenz zwischen wissenschaft-

215 216
Strukturalismus Strukturalismus

lichem und poetischem Text.» [121] Schärfer formuliert: 3 Cic. Brut. 33. – 4 Ovid: Ep. ex Ponto IV, 13, 4. – 5 Quint. IX, 4,
Der durchschlagende Erfolg des Ansatzes in bestimm- 45. – 6 Fortun. Rhet. 3, 10ff. – 7 ebd. 3, 11; Lausberg Hb. §§ 966–
ten Teilen der von (durch J. Derrida in Yale vermittel- 973, 475ff. – 8 vgl. D. Genske, E.W.B. Hess-Lüttich: Zeit-Zei-
chen in der Geologie, in: E.W.B. Hess-Lüttich, B. Schlieben-
ten) Sprachkonzeptionen des französischen Poststruk- Lange (Hg.): Signs & Time. Zeit und Zeichen (1998) 133–151. –
turalismus (Lacan, Kristeva, Lyotard, Foucault, De- 9 G.L. Schiewer: Cognitio symbolica – Lamberts semiotische
leuze) inspirierten nordamerikanischen Literary Theory Wiss. und ihre Diskussion bei Herder, Jean Paul und Novalis
ist offenbar einer dort verbreiteten Sehnsucht nach (1996); E.W.B. Hess-Lüttich, G.L. Schiewer: Lamberts Semio-
Selbstaufhebung der Literaturwissenschaft als Wissen- tik. Gedächtnis, Erkenntnis, Kommunikation, in: Hess-Lüttich,
schaft geschuldet. Schlieben-Lange [8] 208–227. – 10 vgl. R. Thom: Structural Sta-
Während die nachprüfbaren Prozeduren des S. für bility and Morphogenesis (London 1975); ders.: Modèles ma-
die kritikfähige Verständigung über ästhetische Texte thématiques de la morphogenèse (Paris 1980). – 11 vgl. Ch.F.
Hockett: Eine Bemerkung über ‹Struktur›, in: E. Bense, P. Ei-
fruchtbar gemacht werden konnten, immunisiert sich senberg, H. Haberland (Hg.): Beschreibungsmethoden des
der Poststrukturalismus nicht nur in seiner Pariser Aus- amerikanischen S. (1976) 299–302. – 12 E. Coseriu: Einf. in die
prägung als intellektuelle Mode, sondern auch in seiner strukturelle Linguistik (1969) 8f.; G. Lepschy: Die strukturale
amerikanischen Variante des sog. Yale deconstructio- Sprachwiss. (1969) 14. – 13 G. Schiwy: Der frz. S. (1969, ND
nism (H. Bloom, G.H. Hartmann, J.H. Miller, P. de 1984) 43f.; C. Heeschen: Grundfragen der Linguistik (1972) 80. –
Man) durch einen regressus ad infinitum seiner Aussa- 14 E. Holenstein: Roman Jakobsons phänomenologischer S.
gen ins Beliebige und durch die terminologische Ent- (1975) 11; vgl. G. Plumpe, F. Mühlhölzer: Art. ‹S.›, in: HWPh,
grenzung seiner Begrifflichkeit ins nicht mehr Deskrip- Bd. 10 (1998) 342–350. – 15 J.M. Broekman: S. (1971) 32f. – 16 M.
Titzmann: Art. ‹S.›, in: RDL3, Bd. 3 (2003) 537. – 17 J.-B. Fages:
tive. Dabei gründet er meist auf einer unzureichenden Comprendre le structuralisme (Toulouse 1968/1974), dt.: Den S.
Saussure-Rezeption: dessen klar definierter Sprachkon- verstehen (1974) 45ff. – 18 vgl. W. Nöth: Hb. der Semiotik
zeption als Grundlage einer semiologischen Verstehens- (22000) 46. – 19 M. Bierwisch: S., in: Kursbuch 5 (1966) 80f. –
theorie [122] setzt z.B. Derrida sein subjektloses Spiel 20 vgl. Coseriu [12] 27ff.; J. Albrecht: Europäischer S. (22000)
der Differenzen (différance) entgegen, das im unendli- 14ff. – 21 M. Fuhrmann: Die antike Rhet. (1984) 75; zum folgen-
chen Fluktuieren der Bedeutungen eine Anarchie des den Überblick s. ausführlich Ueding/Steinbrink (42005) 209ff. –
Sinns generiert, über den intersubjektiv praktisches 22 Quint. VIII, 3, 5. – 23 ebd. IX, 4, 13. – 24 ebd. IX, 4, 22. –
(d. h. kommunikativ funktionales) Einvernehmen her- 25 ebd. IX, 4, 146. – 26 ebd. I, 5, 38. – 27 J. Dubois et al.: Rhéto-
rique générale (1970); dt. Allg. Rhet. (1974); H.F. Plett: Syste-
zustellen schlechterdings nicht mehr möglich ist. «Die matische Rhet. (2000). – 28 Quint. VIII, 6, 1. – 29 ebd. IX, 1, 7. –
Vieldeutigkeit seiner Begriffe [...] führt zu unauflösba- 30 ebd. IX, 1, 3. – 31 ebd. IX, 1, 13. – 32 U. Meyer: Art. ‹Rhet.,
ren Widersprüchen zwischen der Behauptung einer Kri- Literaturtheorie u. Topik›, in: HWRh 7 (2005) 1477. – 33 Al-
tik der Metaphysik und der neuen Metaphysik seiner brecht [20] 51. – 34 R. Barthes: L’ancienne rhétorique: aide-
eigenen Begriffsallegoresen, die in traditionell wissen- mémoire, in: Recherches rhétoriques = Communications 16
schaftlicher Terminologie nicht eindeutig und präzise zu (1970) 172–237; dt. Die alte Rhet., in: ders.: Das semiologische
bestimmen sind.» [123] Abenteuer (1988) 15–101; G. Genette: Figures I–V (Turin 1966–
Dasselbe gilt im Prinzip für M. Foucaults Ansatz 2002); A.J. Greimas: Sémantique structurale (Paris 1966); T.
Todorov: Essai de classification, in: ders.: Littérature et signifi-
zur Rekonstruktion historischer Denk- und Wahrneh- cation (Paris 1967); Dubois et al. [27]; Plett [27]. – 35 J. Knape:
mungsweisen als einer Archäologie des Wissens [124] Art. ‹Figurenlehre›, in: HWRh 3 (1996) 296. – 36 G.N. Leech:
oder für J. Kristevas Sémanalyse [125], die mit der struk- Linguistics and the Figures of Rhetoric, in: R. Fowler (Hg.): Es-
turalen Sem-Analyse zwar den Namen gemein hat, aber says on Style and Language (London 1966); M.A.K. Halliday:
in starker Ausweitung des Bachtinschen Begriffes von Text as Semantic Choice in Social Contexts, in: T.A. v. Dijk, J.
‹Dialogizität› eher auf die unbegrenzte Pluralität der Petöfi (Hg.): Grammars and Descriptions (1977) 176–225; zur
Wechselbezüge zwischen Texten und kulturellen Codes Kritik am Deviationsansatz vgl. E.W.B. Hess-Lüttich: Zeichen
einer Epoche zielt. [126] Der Code-Begriff, «aus dem und Schichten in Drama und Theater (1985) 186ff. – 37 M. Op-
pitz: Notwendige Beziehungen. Abriß einer strukturalen An-
präzisen Rahmen einer Disziplin extrapoliert [...], wird thropol. (1975) 19. – 38 Albrecht [20] 17ff.; vgl. A. Solbach: Evi-
schnell zu einer Losung, einem Schibboleth und bezeich- dentia und Erzähltheorie. Die Rhet. anschaulichen Erzählens in
net schließlich nicht nur für eine Clique eine kulturelle der Frühmoderne und ihre antiken Quellen (1994). – 39 vgl. J.
Atmosphäre, eine Ära. [...] Vielleicht war es nur eine Trabant: Traditionen Humboldts (1990). – 40 Albrecht [20] 20ff.
kurze ‹rationalistische› Saison, denn sobald wie möglich – 41 G. von der Gabelentz: Die Sprachwiss. Ihre Aufgaben, Me-
ersetzte der Poststrukturalismus Codes durch Triebe, thoden und bisherigen Ergebnisse (11891, 31984). – 42 E. Cose-
désirs, Pulsionen, Driften» [127]. Code und Text werden riu: Tradición y novedad en la ciencia del lenguaje (Madrid
zu postmodernen Äquivalenten von Kultur und Welt; 1977) 200–250; dagegen: E.F.K. Koerner: Animadversions on
Some Recent Claims Regarding the Relationship between G.
Die Welt als Text [128] wird, unabhängig von Disziplinen von der Gabelentz and F. de Saussure, in: Studi saussuriani per
und Methoden, die ursprünglich rhetorisch-ideologie- R. Godel (Bologna 1974) 165–180; ders.: Ferdinand de Saussure
kritische Dekonstruktion des Textes zur Weltanschau- and the Question of the Sources of his Linguistic Theory, in: R.
ung. Damit wird der Textbegriff am Ende freilich wissen- Liver, I. Werlen, P. Wunderli (Hg.): Sprachtheorie und Theorie
schaftlich nicht mehr brauchbar, Textwissenschaft wird der Sprachwiss. (1990) 153–166. – 43 Dazu bietet das HWRh au-
zur Lust am Text. [129] Zugegeben: «Lust verkürzt den ßerdem genügend Hinweise an anderer Stelle, vor allem im hist.
Weg» (Shakespeare), verstellt ihn aber manchmal auch, Teil des zentralen Eintrags ‹Rhetorik› im Bd. 7, 1423–1740. –
wenn die eigene Intuition gewußt, erklärt und mitgeteilt 44 vgl. z.B. Chr. Stetter: Schr. und Sprache (1997); L. Jäger
(Hg.): Ferdinand de Saussure. Wiss. von der Sprache (2003); J.
werden können soll: «Das Resultat hatte ich schon. Jetzt Fehr (Hg.): Ferdinand de Saussure. Linguistik und Semiologie
mußte ich nur noch die Wege entdecken, auf denen ich zu (2003). – 45 R. Jakobson: Linguistics and Poetics, in: ders.: Se-
ihm gelangt war» (C.F. Gauss). Beim Verstehen und lected Writings, vol. 3: Poetry of Grammar and Grammar of Po-
Verfertigen von Texten kann die Rhetorik sie weisen. etry, ed. S. Rudy (Den Haag/Paris/New York 1981) 27. – 46 R.
Grübel: Der Russische Formalismus, in: R. Posner et al. (Hg.):
Anmerkungen: Semiotik/Semiotics (Hb. zur Sprach- u. Kommunikationswiss. =
1 vgl. L. Fietz: S. (31998) 16ff.; G. Helbig: Gesch. der neueren HSK 13), vol. 2 (1998) 2233–2248. – 47 vgl. J.M. Lotman: Die
Sprachwiss. (21973) 64. – 2 Vitruv, De architectura I, 5, 21. – Struktur lit. Texte (41993); ders.: Die Struktur des künstleri-

217 218
Strukturalismus Strukturalismus

schen Textes (1973). – 48 vgl. ders.: Universe of Mind. A Semio- vgl. ders.: Theorie und Praxis einer Generativen Rhet.: Zu Götz
tic Theory of Culture (London 1990). – 49 vgl. K. Eimermacher Wienolds Formulierungstheorie, in: Anglia 97 (1997) 439–451. –
(Hg.): Semiotica Sovietica. Sowjetische Arbeiten der Moskauer 91 G. Wienold: Formulierungstheorie, Poetik, Strukturelle Li-
und Tartuer Schule, 2 Bde. (1986); M. Fleischer: Die sowjetische teraturgeschichte am Beispiel der altengl. Dicht. (1971) 54. –
Semiotik. Theoretische Grundlagen der Moskauer und Tartuer 92 W. Sanders: Linguistische Stiltheorie (1973) 66f. – 93 K.L.
Schule (1989); ders.: Die Schule von Moskau und Tartu, in: HSK Pike: Language in Relation to a Unified Theory of the Structure
13 [46] 2289–2300; P. Grzybek: Stud. zum Zeichenbegriff der of Human Behavior (Den Haag/Paris 1967). – 94 ebd. 288; vgl.
sowjetischen Semiotik (1989). – 50 vgl. Helbig [1] 48f.; G.C. Lep- Gülich, Raible [74] 97–115. – 95 Dubois et al. [27]. – 96 H.F. Plett:
schy: Mutamenti di prospettiva nella linguistica (Bologna 1981) Textwiss. und Textanalyse. Semiotik, Linguistik, Rhet. (1975). –
73–84. – 51 vgl. Holenstein [14]; ders.: Linguistik, Semiotik, Her- 97 Hess-Lüttich [36] 187ff. – 98 ebd. 186–196. – 99 F. Edeline,
meneutik (1976); S. Rudy, L. Waugh: Jakobson and Structura- J.-M. Klinkenberg, Ph. Minguet: Traité du signe visuel – Pour
lism, in: HSK 13 [46] 2256–2271. – 52 Jakobson [45] 18–51. – une rhétorique de l’image (Paris 1992). – 100 zu Baumgärtner,
53 ders.: Poèzija grammatiki i grammatika poèzii, in: ders.: Lan- Bierwisch, Coseriu, Hartmann, Ihwe, Lausberg, Motsch, Steger,
guage in Literature, ed. K. Pomorska, S. Rudy (Cambridge, Weinrich, Ungeheuer u. a. vgl. Albrecht [20] 91ff. – 101 C. Lévi-
Mass. 1987) 121–144. – 54 ders., C. Lévi-Strauss: ‹Les Chats› de Strauss: Anthropol. structurale (Paris 1958), dt. Strukturale An-
Charles Baudelaire, in: L’Homme. Revue française d’anthro- thropol. (1967). – 102 ders.: Traurige Tropen (1960); ders.: La
pologie II.2 (1962) 5–21. – 55 P.L. Garvin (Hg.): A Prague pensée sauvage (Paris 1962), dt. Das wilde Denken (1968);
School Reader on Esthetics, Literary Structure, and Style (Wa- ders.: Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft (1981). –
shington 1964) 10; vgl. Hess-Lüttich [36] 151–166. – 56 J. Mu- 103 Blumensath [76]. – 104 vgl. Fietz [1]. – 105 J. Piaget: Der S.
kařovský: L’art comme fait sémiologique, Actes du 8e Congrès (1973, 21980). – 106 J. Lacan: Le Séminaire de Jacques Lacan XI:
international de philosophie (Paris 1936) 1065–1072. – 57 ders.: Les quatre concepts fondamentaux de la psychoanalyse (Paris
Mezi poezii a výtvarnictvı́m, in: Slovo a slovesnost 7/3 (1941). – 1964), dt. Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse (1978) 23. –
58 Th. G. Winner: Prague Functionalism, in: HSK 13 [46] 2253; 107 vgl. R. Westermann: Strukturalistische Theorienkonzeption
vgl. E.W.B. Hess-Lüttich, D. Rellstab: Zeichen/Semiotik der und empirische Forschung in der Psychol. (1987). – 108 vgl. A.
Künste, in: K. Barck et al. (Hg.): Ästhet. Grundbegriffe, Bd. 7 Schaff: S. und Marxismus (1974). – 109 M. Frank: Was ist Neo-
(2005) 247–282. – 59 H.J. Uldall: Outline of Glossematics I, Ge- strukturalismus? (1983, 62001). – 110 J. Derrida, H.G. Gadamer:
neral Theory (Kopenhagen 1957). – 60 vgl. Lepschy [12] 52f. – Der ununterbrochene Dialog, hg. von M. Gessmann (2004). –
61 vgl. J.D. Johansen: Hjelmslev and Glossematics, in: HSK 111 Titzmann [16] 538; zu zahlreichen Belegen vgl. ders.: Semio-
13 [46] 2272. – 62 vgl. W. Motsch: Zur Kritik des sprachwiss. S. tische Aspekte der Literaturwiss.: Literatursemiotik, in: R. Pos-
(1974) 82f. – 63 vgl. Bierwisch [19] 93f. – 64 vgl. C. Heeschen: ner et al. (Hg.) Semiotik/Semiotics, vol. 3 (= HSK 13.3) 3028–
Grundfragen der Linguistik (1972) 69f.; Helbig [1] 60f. – 65 vgl. 3103. – 112 Frank [109]. – 113 vgl. J. Fohrmann, H. Müller (Hg.):
J. Trabant: Zur Semiologie des lit. Kunstwerks (1970). – 66 vgl. Diskurstheorien und Literaturwiss. (1988) 14ff. – 114 P. Ruster-
Johansen [61] 2272–2289; Nöth [18] 78–87. – 67 J.-C. Coquet: Sé- holz: Poststrukturalistische Semiotik, in: HSK 13.2 [46] 2330. –
miotique: L’école de Paris (Paris 1982). – 68 Greimas [34], dt. 115 P. de Man: Allegories of Reading: Figural Language in
1971: Strukturale Semantik. – 69 vgl. Nöth [18] 112. – 70 vgl. Rousseau, Nietzsche, Rilke, and Proust (New Haven 1979) 77,
Hess-Lüttich [36] 239–251. – 71 vgl. H.-M. Bak: Grundprobleme dt. Allegorien des Lesens (1988). – 116 ebd. (dt. Ausgabe) 170. –
der strukturalen Textsemantik (1994); H. Parret: Greimas and 117 C. Pross, G. Wildgruber: Dekonstruktion, in: H.L. Arnold,
his School, in: HSK 13 [46] 2300–2311; Nöth [18] 112–119; T. H. Detering (Hg.): Grundzüge der Literaturwiss. (1996) 429. –
Kim: Vom Aktantenmodell zur Semiotik der Leidenschaften. 118 P. de Man: Blindness and Insight. Essays on the Rhetoric of
Eine Stud. zur narrativen Semiotik von A.J. Greimas (2002). – Contemporary Criticism (Minneapolis 1971, 21985). – 119 ebd.
72 R. Barthes: Mythologies (Paris 1957), dt. Mythen des Alltags 136f. – 120 P. Rusterholz: Zum Verhältnis von Hermeneutik
(1985). – 73 ders.: S/Z (Paris 1970), dt. S/Z (1976). – 74 C. Bre- und neueren antihermeneutischen Strömungen, in: Arnold, De-
mond: Logique du récit (Paris 1973); zu Darstellung, Anwen- tering (Hg.) [117] 169. – 121 ebd. – 122 vgl. L. Jäger: Der saus-
dung und Kritik des Ansatzes vgl. E. Gülich, W. Raible: Lin- suresche Begriff des Aposème als Grundbegriff einer herme-
guistische Textmodelle (1977) 202–218. – 75 T. Todorov: Gram- neutischen Semiologie, in: ders., C. Stetter (Hg.): Zeichen und
maire du Décaméron (The Hague 1969); ders.: Poétique Verstehen (1986) 7–34. – 123 Rusterholz [114] 2332; vgl. K.W.
(Qu’est-ce que le structuralisme? vol. 2) (Paris 1973); vgl. Gü- Hempfer: Poststrukturale Theorie und narrative Praxis (1976)
lich, Raible [74] 219–250. – 76 G. Genette: Figures I (Paris 1966) 13ff. – 124 M. Foucault: L’archéologie du savoir (Paris 1969), dt.
145–170; ders.: S. und Literaturwiss., in: H. Blumensath (Hg.): S. Archäologie des Wissens (1974). – 125 J. Kristeva: ShmeivtikhÁ.
in der Literaturwiss. (1972) 73–88; J. Ihwe (Hg.): Literaturwiss. Recherches pour une sémanalyse (Paris 1969). – 126 vgl. R.
und Linguistik, 3 Bde. (1971) bzw. 2 Bde. (1972/1973). – 77 vgl. Lachmann (Hg.): Dialogizität (1982). – 127 U. Eco: Semiotik
Genette [34]; ders.: Mimologiques (Paris 1976); ders.: Indroduc- und Philos. der Sprache (1985) 245 u. 248. – 128 D. Garz (Hg.):
tion à l’architexte (Paris 1979); ders.: Palimpsestes. La littéra- Die Welt als Text (1994). – 129 R. Barthes: Le plaisir du texte
ture au second degré (Paris 1982); ders.: Fiction et diction (Paris (Paris 1973), dt. Die Lust am Text (1982).
1991); E.W.B. Hess-Lüttich: Text, Intertext, Hypertext. Zur
Texttheorie der Hypertextualität, in: J. Klein, U. Fix (Hg.): Literaturhinweise:
Textbeziehungen. Linguistische und literaturwiss. Beitr. zur In- G. Lieberg: Der Begriff ‹structura› in der lat. Lit., in: Hermes 84
tertextualität (1997) 125–148; ders:. Towards a Narratology of (1956) 455–477. – H. Kreuzer, R. Gunzenhäuser (Hg.): Mathe-
Holistic Texts: the Textual Theory of Hypertext, in: S. Inkinen matik und Dicht. (41971). – R. Boudon: S. Methode und Kritik
(Hg.): Mediapolis. Aspects of Texts, Hypertexts and Multime- (1973). – G. Deleuze: Woran erkennt man den S.? (Paris 1973,
dial Communication (1999) 3–20. – 78 T.D. Langendoen: The 1992). – U. Eco: La struttura assente (Mailand 1968, 51988). – H.
London School of Linguistics (Cambridge, Mass. 1968); J. Mo- von Einem: Der Strukturbegriff in der Geisteswiss. (1973). – J.
naghan: The Neo-Firthian Trad. and its Contribution to Gene- Culler: Structuralist Poetics (London 1975). – M. Titzmann:
ral Linguistics (1979); F. Lux: Text, Situation, Textsorte (1981). – Strukturale Textanalyse (1977). – K. Chvatı́k: Tschechoslowa-
79 J.R. Firth: The Technique of Semantics, in: ders.: Papers in kischer S. (1981). – F. Wahl, O. Ducrot: Einf. in den S. (1973,
2
Linguistics 1934–1951 (1935, 1957) 7–33 (Übers. Red.). – 1981). – H. Vater: S. und Transformationsgrammatik (1982). –
80 M.A.K. Halliday: Language as Social Semiotic (London K. Füssel: Zeichen und Strukturen (1983). – R. Barthes: Einf. in
1978). – 81 ders. [36] 201; vgl. Hess-Lüttich [36] 166–186. – 82 vgl. die strukturale Analyse von Erzählungen (1987). – Rhetorik, Jb.
E.W.B. Hess-Lüttich: Das sprachliche Register, in: DS 4 (1974) 9: Rhet. und S. (1990). – P. Bouissac (Hg.): Encyclopedia of Se-
269–286. – 83 R. Hodge, G. Kress: Social Semiotics (Cambridge miotics (Oxford/New York 1998). – F. Dosse: Gesch. des S.,
1988). – 84 vgl. Helbig [1] 72f. – 85 vgl. Lepschy [12] 66f. – 86 N. Bd. 1/2 (21998).
Chomsky: Syntactic Structures (Den Haag 1957), dt.: Struktu- E.W.B. Hess-Lüttich
ren der Syntax (1973). – 87 vgl. H. Weydt: Noam Chomskys
Werk (1976). – 88 Albrecht [20] 103. – 89 K. Ostheeren: Art. ^ Änderungskategorien ^ Compositio ^ Dekonstruktion ^
‹Generative Rhet.›, in: HWRh, Bd. 3 (1996) 730f. – 90 ebd. 731; Figurenlehre ^ Formalismus ^ Generative Rhetorik ^ Gram-

219 220
Studium Studium

matik ^ Groupe m ^ Intertextualität ^ Literaturwissenschaft lenwert eingeräumt. Die ersten, die ausdrücklich als
^ Parataxe/Hypotaxe ^ Paratext ^ Postmoderne ^ Rheto- Lehrer auftreten und dabei der Rhetorik große Bedeu-
rizität ^ Semiotik ^ Sprachtheorie ^ Sprachwissenschaft ^ tung beimessen, sind die Sophisten. Sie erheben den
Systemtheorie ^ Text
Anspruch, in jedem Interessierten jene Tauglichkeit
(aÆrethÂ, aretē´) ausbilden zu können, die bis dahin als na-
Studium (griech. meleÂth, melétē, meleÂthma, melétēma, türliche Eigenschaft nur des Adels angesehen wur-
eÆpimeÂleia, epiméleia; lat. studium; engl. study; frz. étude; de. [18] Die von den verschiedenen Sophisten für diese
ital. studio, studi) Ausbildung vorgesehenen Studienpläne umfassen in je-
A. Def. – B.I. Antike. – II. Spätantike, Mittelalter. – III. Renais- weils unterschiedlicher Gewichtung außer sprachlicher
sance. – IV. Barock, Aufklärung. – V. 19. Jh. bis Gegenwart. Unterweisung auch die Dichterauslegung [19], Arith-
A. Def. Der aus dem Lateinischen stammende Begriff metik, Geometrie, Musik und Astronomie [20]. Allen
‹S.› bezeichnet im Deutschen die lernende oder for- Sophisten gemeinsam ist die zentrale Stellung, die sie
schende Beschäftigung mit wissenschaftlichen oder der Redekunst bei der Ausbildung ihrer Schüler zu-
künstlerischen Gegenständen und Inhalten. In der rö- schreiben. Ihrer Auffassung nach verspricht die Rede
mischen Antike steht studium zunächst allgemein für die Erfolg in allen Lebenslagen. [21]
Zuneigung zu einer Person [1] oder Sache [2] sowie für Der bekannteste Kritiker der Sophisten ist Pla-
eine gegebenenfalls dadurch hervorgerufene Parteilich- ton. [22] Er wendet sich dabei zum einen gegen das von
keit [3]. Die Bedeutung des Begriffs umfaßt aber auch ihnen propagierte Studienziel und überhaupt die Vor-
schon die Neigung, sich geistig und mit dem Ziel eines stellung von der Erwerbbarkeit oder den Erwerb der are-
Erkenntnisgewinns oder eines Erwerbs von künstleri- tē´, und zum anderen gegen den ihrer Lehre zugrundelie-
schen Fertigkeiten eingehender mit etwas zu befassen. genden Wahrheitsbegriff. Den Sophisten geht es in sei-
Entsprechend definiert Cicero: «Die Neigung (studium) nen Augen nicht um objektive Wahrheit, sondern um
aber ist die beständige und nachdrücklich auf irgendei- subjektive Interessen, die sie in ihren Reden mit rheto-
nen Gegenstand gerichtete, mit großer Lust verbundene rischem Glanz kaschieren. Und dies ist mit der aretē´ nicht
Beschäftigung des Geistes zum Beispiel mit Philosophie, zu vereinbaren. Als Philosoph ist es Platon wie seinem
Dichtkunst, Geometrie, Literatur.» [4] In diesem Zu- Lehrer Sokrates darum zu tun, die Menschen zur Er-
sammenhang steht studium nicht mehr nur für eine lei- kenntnis der Wahrheit über die Erscheinungen in der
denschaftliche [5], sondern auch mit hohem Anspruch Welt und über den Menschen zu führen. [23] In seiner
an das wissenschaftliche oder künstlerische Tun voll- großen Wertschätzung für das Gesprochene und in sei-
zogene Beschäftigung mit einem Gegenstand: das Stu- nem Mißtrauen gegenüber Geschriebenem [24] hat Pla-
dieren [6]. Im übertragenen Sinne bezeichnet das plu- ton seine erzieherischen Absichten und auch das Studi-
ralische studia sodann die Ergebnisse der Studien im Be- enprogramm seiner Schule (der ‹Akademie›) nie schrift-
reich der Literatur. [7] Und in der Spätantike findet stu- lich niedergelegt [25]. Was die Redekunst anbelangt,
dium als Bezeichnung des Ortes Verwendung, an dem weiß der große Stilist [26] Platon um die Bedeutung von
die Studientätigkeit vollzogen wird. [8] Die Bandbreite persönlicher Übung und S. (melétē) [27]. Für das Her-
der Bedeutungen von studium findet sich auch in den beiführen philosophischer Erkenntnisse baut er jedoch
auf lateinische Wurzeln zurückgehenden Bezeichnun- weniger auf das S. des einzelnen als auf das Wechselge-
gen für ‹Studieren›, ‹Studium› und ‹Studienort› im Ita- spräch zwischen Lehrer und Schüler, wie er es in seinen
lienischen [9] und Englischen [10] sowie im Französi- Dialogen abgebildet hat. Auch Aristoteles geht es wie
schen [11]. Die entsprechenden Wörter treten bereits im seinem Lehrer Platon um die Erkenntnis der Erschei-
späten Mittelalter und damit sprachhistorisch früh auf. nungen in der Welt und ihre Vermittlung. Anders als Pla-
Das Griechische hat in diesem Bereich keine Spuren ton, der sich mit dem ewigen, unveränderlichen und voll-
hinterlassen. In der griechischen Antike wird die Studi- kommenen Sein befaßt hat, konzentriert sich Aristoteles
entätigkeit gewöhnlich mit meleÂth, melétē bezeichnet, auf das systematische Erfassen der erfahrbaren natürli-
das zunächst für ‹Sorge›, ‹Fürsorge›, ‹Pflege› steht, mit chen und kultivierten Welt. In diesem Zusammenhang
dem aber auch allgemein das sorgfältige Betreiben einer behandelt er auch die Rhetorik, die er als formale Kunst
Sache oder das Üben benannt wird. [12] Melétē, meleÂth- außerhalb seines Systems der auf Erkenntnis zielenden
ma, melétēma [13] oder auch eÆpimeÂleia, epiméleia, das reinen Wissenschaft (eÆpisthÂmh, epistē´mē) ansiedelt. [28]
genauer für ‹Übung› steht [14], kann im pädagogischen Zu S. und Studienmethoden äußert er sich nicht, setzt
Bereich auf jegliche dem Wissens- und Kenntniserwerb aber das persönliche S. der Welt und der Texte als selbst-
dienende Beschäftigung mit Gegenständen und Inhal- verständlich voraus. Seine zahlreichen Schriften dienten
ten angewandt werden. Somit lassen sich die Begriffe nicht zuletzt dem studierenden Nachvollziehen der von
auch im Zusammenhang mit dem S. der Rhetorik nach- ihm zusammengestellten Erkenntnisse.
weisen. [15] Eine vermittelnde Position zwischen Sophisten und
B. I. Antike. Damit man sich mit wissenschaftlichen Philosophen nimmt Isokrates ein. Der Schüler des So-
oder künstlerischen Gegenständen und Inhalten zum phisten Gorgias gründet 393 v. Chr. in Athen eine äu-
eigenen Nutzen angemessen und sorgfältig befaßt und ßerst erfolgreiche Redeschule [29] und findet mit seinem
somit ein erfolgreiches S. betreibt, bedarf es einer fach- Wirken auch bei Platon Anerkennung [30]. Er wendet
kundigen Anleitung. Wie schon die ersten einschlägigen sich gegen die von vielen Sophisten vertretene Auffas-
Dokumente der griechischen Antike bezeugen, erfolgt sung, die Redegabe könne jedem Interessierten rasch
diese Unterweisung durch lehrende Personen. [16] Sie und mit Erfolgsgarantie weitergegeben werden. [31] Er
definieren die Studienziele und zeigen den Weg auf, weist als erster darauf hin, daß die natürliche Anlage des
wie diese erreicht werden können. Übung und S. werden Menschen hinsichtlich des Studiengegenstands Berück-
dabei als notwendige Ergänzungen zur fachlichen Un- sichtigung finden muß. [32] Sie wird idealiter so geför-
terweisung durch den Lehrer benannt. [17] Je nach den dert, daß die Beschäftigung mit dem Gegenstand vom
zugrundegelegten Bildungskonzeptionen wird der Rhe- Schüler zunehmend selbständiger vollzogen werden
torik in den Studienprogrammen unterschiedlicher Stel- kann, und zwar mittels Übung und S. (melétē). [33] In

221 222
Studium Studium

seiner Schrift PeriÁ aÆntidoÂsevw (Perı́ antidóseōs, Vom Der menschlich-gelehrte Redner stellt für Cicero
Vermögenstausch) macht er deutlich, daß er Persönlich- ein Ideal dar, das nicht nur durch Lehrer herangebildet
keiten heranbilden möchte, die ihr eigenes Haus richtig wird, sondern durch eigenständiges fortwährendes S.
bestellen und am Leben des Gemeinwesens aktiv teil- zu erarbeiten ist. [51] Die dabei zu berücksichtigen-
haben. [34] Die dazu notwendige Verständigkeit oder den Künste und Wissensgebiete, jene «artes, quae
Wohlberatenheit (eyÆboyliÂa, eubūlı́a) kann nach seiner ad humanitatem pertinent» (Künste, die das Wesen
Auffassung durch die Rede geweckt werden, die auf die- menschlicher Bildung ausmachen) und die von ihm als
se Weise Mittel der Bildung ist. [35] Für ihn ist «der Weg «studia humanitatis ac litterarum» (Studiengegenstände
zum richtigen Wort derselbe wie jener zu richtigem Wä- für menschliche und literarische Bildung) [52] bezeich-
gen und Handeln». [36] Für das vom Lehrer vermittelte net werden, hat er im ersten Buch seiner Schrift ‹De ora-
wie sodann vom Schüler im persönlichen S. vollzogene tore› vorgestellt [53].
Heranbilden zum verständigen, sinnvollen Reden sieht Quintilian schließt sich in der umfangreichsten
Isokrates ein umfangreiches Studienprogramm vor. Es Lehrschrift der Antike zur Rhetorik, der ‹Institutio ora-
umfaßt über die Redeschulung hinaus die Beschäftigung toria›, Cicero an. Selbstverständlich sind für ihn Philo-
mit einem Fächerkanon, der an sophistischen Modellen sophie und Redekunst ihrem Wesen nach verbun-
ausgerichtet ist. [37] den. [54] Sein idealer Redner ist ein «vir bonus dicendi
Die Studienprogramme der Sophisten mit ihrer Be- peritus» (rechtschaffener Mann, der des Redens kundig
tonung der Rhetorik werden im 4. Jh. v. Chr. immer wei- ist) [55], ein «Mann, der den Namen des Weisen recht
ter ausgearbeitet. Sie erfahren aber von jüngeren phi- eigentlich verdient: nicht nur in seiner Lebensführung
losophischen Schulen zunehmend Kritik und Ableh- vollkommen [...], sondern vollkommen auch durch sein
nung, die sich u. a. gegen ihren zentralen Gegenstand, Wissen und die Gabe, für alles das rechte Wort zu fin-
die Redekunst, richten. Antisthenes etwa, der Begrün- den.» [56] Folglich entwirft Quintilian in seinem Werk
der der kynischen Schule, soll die Meinung vertreten ha- einen umfassenden Studiengang, der von der «Wiege
ben, es bedürfe zum Erlangen der Glückseligkeit als des Redners» [57] seinen Ausgang nimmt und diesen bis
dem höchsten Ziel des Menschen nur der ethischen Stär- zur höchsten Kunstfertigkeit führen will [58]. Er geht
ke eines Sokrates, aber nicht vieler gelehrter Worte. [38] dabei ganz im Sinne des Isokrates von der individuellen
Aristipp wiederum, der in Kyrene eine Schule gründet, Begabung von Kindern aus und entwirft einen Studien-
verachtet die mathematischen Fächer. [39] Führende plan, der die Beschäftigung mit den freien Künsten (ar-
Stoiker, denen es (wie den Kynikern) besonders um die tes liberales) im Sinne der ‹enkýklios paideı́a› um-
aretē´ zu tun ist, messen gegenüber der für sie zentralen faßt. [59] Dabei hebt er gleich zu Beginn ausdrücklich
Ethik den Fachstudien wenig Bedeutung bei; so etwa die Bedeutung von persönlichem S. hervor: Selbst die
der Schulbegründer Zenon und sein Schüler Ariston größte natürliche Begabung ist für ihn «ohne einen er-
von Chios. [40] Und Sextus Empiricus ist der Auffas- fahrenen Lehrer, zähes Studium, ununterbrochene
sung, daß mit Epikur und Pyrrhon (dem Vater der gründliche Übung im Schreiben, Lesen und Reden»
Skeptiker) die Kritik besonders an den mathematischen nichts nütze. [60]
Fächern begonnen habe. [41] Die Ablehnung des später II. Spätantike, Mittelalter. Wie Quintilians ‹Institutio
als eÆgkyÂkliow paideiÂa, enkýklios paideı́a firmieren- oratoria› mit zahlreichen «Überlegungen zur Lehrme-
den [42] Kanons von Fächern, die der Allgemeinbildung thode» [61] durchsetzt ist und somit primär an Lehrer
dienen sollten, erfolgt jedoch weder generell, noch gerichtet erscheint, so schreiben auch die Kirchenväter
kommt es innerhalb einzelner Philosophenschulen zu (wie etwa Clemens von Alexandrien [62] und Augu-
konformen Ansichten [43]. stinus [63]) ihre Werke zur Unterweisung in der christ-
Studienprogramme, die vom Fächerkanon der ‹en- lichen Lehre und über zu Studierendes aus der Perspek-
kýklios paideı́a› bestimmt sind, finden seit der ersten tive von (und für) Dozenten. Die seit Boethius, Cassio-
Hälfte des zweiten Jh. v. Chr. in Rom Verbreitung. Ver- dor und Isidor von Sevilla als die ‹sieben freien Kün-
mittler sind jene Griechen, die nach den römischen Er- ste› (septem artes liberales) [64] bezeichneten Fächer zur
oberungszügen im Osten als Sklaven nach Rom kom- sprachlichen und mathematischen Ausbildung dienen
men und die Kinder ihrer Herren unterrichten. Weit ihnen zur Vorbereitung auf die Lektüre der Bibel und
größere Wirkung als das so vermittelte Fachwissen ent- der kanonisierten Werke christlicher Autoren. Es sind
faltet dabei die von der Stoa geprägte Auffassung vom dies Grammatik, Rhetorik und Dialektik (aufgrund der
Menschen und von der Menschlichkeit. Namentlich Ci- drei Fächer auch Trivium, also ‹Dreiweg›), sowie Arith-
cero hat sich mit der humanitas befaßt und sie zum zen- metik, Geometrie, Astronomie und Musik (auch:
tralen Thema seiner Bildungslehre gemacht. [44] Er Quadrivium). Das Erbe der Antike, das dann im Mittel-
knüpft dabei an die Kontroverse zwischen Platon, Ari- alter zunächst nur den Geistlichen und Mönchen gebo-
stoteles und den Sophisten an und orientiert sich an Iso- ten wird, unterliegt aufgrund der besagten Ausrichtung
krates. Wie dieser lehnt Cicero die Trennung von Phi- der Studien starker Einschränkung. Ein Wandel setzt
losophie und Rhetorik ab. [45] Für ihn sind Denken, Re- erst mit Karl d. Gr. ein, der sich um eine Ausweitung
den und Handeln eins. [46] Das menschliche Ideal sieht der Studiengegenstände und den Ausbau des Schulwe-
er im gebildeten Redner (doctus orator). [47] Für Cicero sens bemüht: 789 plädiert er in einer ‹Admonitio gene-
gibt es nur eine einzige, unteilbare Unterweisung (doc- ralis› für Schulen, die nicht nur Weltgeistlichen und
trina), die gleichermaßen zu Beredsamkeit und Gelehr- Mönchen zugänglich sind [65] und hebt dies 13 Jahre
samkeit führt. [48] Unabhängig voneinander sind sie für später noch einmal in einem ‹Capitulare› hervor [66].
ihn nicht denkbar. Diese Verbundenheit stellt sich schon Zudem verweist er in seinem Brief ‹De literis colendis›
über das enge Verhältnis zwischen ornatus und res her, auf die Bedeutung von guter sprachlicher Ausdrucks-
also über rednerischen Schmuck und Sachkenntnis. fähigkeit. [67] In diesem Sinne wird auch Karls Vertrau-
Eine schöne Rede ohne Gehalt ist für ihn leerer ter Alkuin tätig. [68] Alkuins Schüler Hrabanus Mau-
Schall. [49] Da der Redner die Menschen bewegen will, rus bemüht sich (wie später auch z.B. Lupus von Fer-
muß er alles kennen, was zum Menschsein gehört. [50] rière) um eine Systematisierung der Fächer der septem

223 224
Studium Studium

artes und ihre Harmonisierung mit den christlichen Leh- niert das mehr oder minder geschlossene Internats-,
ren. [69] Den Nutzen der artes sehen sie wie die christ- Konvikts- oder Kolleg-System wie es (nach Pariser Vor-
lichen Autoren der Spätantike in ihrem Beitrag zum bild) in Frankreich (collèges), England (colleges) und
besseren Verständnis der Heiligen Schrift. [70] Prinzi- Spanien (collegios mayores) bestimmend ist. Die Stu-
piell zeigt sich auch bei den Autoren des Mittelalters denten leben hier mit ihren Lehrern in einem Gebäude
eine Konzentration auf das Lehrer-Schüler Verhältnis, zusammen, werden dort von ihnen im S. angeleitet und
wobei die Lehrgegenstände gewöhnlich durch gemein- (zunächst nur in Ergänzung zu den Lehrveranstaltungen
sames Lesen eines Texts und anschließendes Kommen- in der Universität) unterrichtet. In Italien, Deutschland,
tieren durch den Lehrer weitergegeben werden. Den ge- Nord- und Osteuropa dominiert dagegen der am Bolo-
lesenen Autoren kommt dabei absolute Autorität zu. gneser Modell orientierte ‹modus Bononiensis›. [83] Die
Wie schon zuvor wird auch im Mittelalter das persönli- Studenten wohnen dabei meist in Privatunterkünften.
che S. der Schüler in Ergänzung zum Unterricht (beson- Allenfalls Seminare und Konvikte bilden hier als Stipen-
ders was die Ausbildung sprachlicher Fertigkeiten an- dienanstalten z.B. für Theologen ein Pendant zum Kol-
belangt) vorausgesetzt. Auch wenn die Studien im Mit- legienwesen des ‹modus Parisiensis›.
telalter ganz auf die Beschäftigung mit den christlich- Jenseits dieser nationalen Varianten in den Univer-
kanonisierten Texten ausgerichtet sind, kommt es in den sitätsstrukturen gleicht sich das S. in ganz Europa im for-
Schulen zu unterschiedlichen Wertschätzungen einzel- malen Aufbau wie auch in der inhaltlichen Ausrichtung.
ner Fächer und damit zu Spezialisierungen. Vom 10. Das S. an den Universitäten ist hierarchisch gegliedert.
zum 12. Jh. bahnt sich durch die Schaffung von Bischofs- Der Kanon der septem artes liberales wird in der ‹unte-
schulen in den Städten (die bald in offene Konkurrenz ren› Artistenfakultät vermittelt. [84] Sie ist zur Vorbe-
zu den Klosterschulen treten) eine entschiedene Verän- reitung auf das S. an den ‹höheren› Fakultäten der Ju-
derung im Bildungswesen an. Auch hier bilden sich fach- risprudenz, Medizin und Theologie zu durchlaufen [85],
liche Schwerpunkte aus. Sie werden an den Universitä- wobei jede Universität des Mittelalters über eine artes-
ten offenkundig, die sich seit der Wende zum 13. Jh. aus Fakultät und mindestens eine der drei höheren Fakul-
städtischen Schulen heraus entwickeln. [71] täten verfügt [86]. Das S. eines der höheren Fächer
Viele Kloster- und Domschulen können zu der konnte ein Scholar (Student) erst dann aufnehmen,
Zeit den zunehmend elaborierteren Erkenntnis- und wenn er den Grad eines magister artium erworben, also
Lehrmethoden der Scholastik (wörtlich: «Schulwissen- den Status eines die artes Lehrenden erreicht hatte. [87]
schaft») und den gehobenen Ansprüchen der wissen- Er war damit Lehrender und Studierender zugleich.
schaftlich Interessierten nicht mehr nachkommen. Da- Die Formen universitären Lehrens und Lernens sind
her schließen sich im späten 12. Jh. einzelne Lehrer und grundlegend von der scholastisch-wissenschaftlichen
Schüler zu eigenständigen (Schul-)Korporationen zu- Methode, der Dialektik, bestimmt. [88] Dabei können
sammen. [72] Zu derartig spontanen Gründungen von zwei Hauptarten des Unterrichts unterschieden werden:
‹universitates magistrorum et scholarium› (Korporatio- die Vorlesung (lectio, lectura, praelectio) mit der dazu-
nen von Lehrern und Schülern) kommt es zuerst in Ita- gehörigen Stoffwiederholung (repetitio) und die Dispu-
lien, Frankreich und England, und hier vor allem in tation (disputatio). Bei der lectio kommt dem Magister
Städten mit alten Schultraditionen wie Bologna, Paris oder Professor die Aufgabe zu, ein bestimmtes Lehr-
und Oxford. [73] ‹Universitas› bedeutet zunächst nichts buch abschnittsweise vorzulesen und dann den Inhalt
anderes als ‹Kommunität›. [74] Diese Gemeinschaften der einzelnen Abschnitte zu erläutern. [89] In der Regel
unterstellen sich den höchsten Schutzgewalten des Mit- gibt es die morgendlichen lectiones ordinariae (ordent-
telalters: der Universalgewalt des Papstes, später auch liche Vorlesungen), in denen die für die Prüfung wich-
des Kaisers. [75] Diese gewähren ihnen juristischen tigsten Lehrgegenstände behandelt werden. [90] In den
Schutz und wirtschaftliche Privilegierung. Die von der am Nachmittag abgehaltenen lectiones extraordinariae
Kirche reklamierte Oberaufsicht über die universitates (außerordentliche Vorlesungen) werden dann Lehrin-
bewirkt sodann die Einführung der Prüfung des ‹ex- halte vermittelt, die die Hauptgegenstände des S. ergän-
amen rigorosum›. Mit ihm soll nicht nur ein Studienab- zen und als weniger wichtig angesehen werden. [91] Die
schluß geschaffen, sondern vor allem die Qualität des lectiones ordinariae sind ordentlichen Professoren vor-
künftigen Lehrpersonals gesichert werden. [76] Die al- behalten, die lectiones extraordinariae dagegen sind das
ten Ehrentitel magister und doctor werden nun zu aka- Terrain der außerordentlichen Professoren, die noch
demischen Auszeichnungen für diejenigen, die die ent- über keine eigene Lehrkanzel verfügen. Ergänzend zur
sprechenden Examina bestanden haben. [77] Bedeut- lectio gibt es die repetitio, in der spezielle, den Studenten
sam ist ferner die von päpstlicher Seite erstmals 1233 zugewiesene Betreuer die Inhalte der Vorlesungen noch
gewährte licentia ubique docendi (Erlaubnis überall zu einmal vertiefen. Diese repetitiones finden in den Uni-
lehren). [78] Sie besagt, daß ein erfolgreich geprüfter Leh- versitäten des ‹modus Parisiensis› meist in den Kollegi-
rer ohne neuerliche Prüfung an jeder mit päpstlichem en, sonst auch oft in den Privatunterkünften der Lehren-
(später auch kaiserlichem) Privileg versehenen Lehrein- den statt. Den am meisten dialektischen Zuschnitt der
richtung (auch: ‹S.› [79]) unterrichten darf. Im 13. Jh. Lehr- und Studienveranstaltungen hat die disputa-
kommt für die päpstlich privilegierten Universitäten die tio. [92] In ihr hat auf eine Frage (quaestio) eine Diskus-
Bezeichnung studium generale auf, um sie von den nicht sion mit Thesen und Antithesen zu folgen, die einer Lö-
mit Promotionsrecht und nicht päpstlich privilegierten sung (solutio) in Form einer Synthese zugeführt werden
Studieneinrichtungen an Bischofs- und Stiftskirchen, in muß. [93] Dieses Wechselgespräch findet an bestimmten
Klöstern und Städten (den studia particularia) abzuhe- Wochentagen und zu bestimmten Zeiten im Studienjahr
ben. [80] statt. An besonderen Feier- und Patronatstagen werden
Grundsätzlich kann man in den verschiedenen euro- gewöhnlich die großen disputationes quodlibeticae abge-
päischen Ländern an den Universitäten im Hinblick halten. [94] Als Schulung des sprachlichen Ausdrucks-
auf die Studienformen zwei Grundmuster unterschei- vermögens, der Rhetorik und Logik sowie als Nachweis
den. [81] Im sogenannten ‹modus Parisiensis› [82] domi- fachlicher Qualifikation bleibt die disputatio bis weit in

225 226
Studium Studium

die Frühe Neuzeit Grundbestandteil jeder Universitäts- Beachtung. Außerdem wirken sie mit ihrer anti-schola-
ausbildung. Ohne hinreichende Erfahrung im Disputie- stischen Haltung im weiterhin scholastisch bestimmten
ren konnte der Studierende damals keinen akademi- Universitätswesen zunächst wie Fremdkörper. Auf län-
schen Abschluß erwerben. gere Sicht haben die zunächst nur vereinzelt erfolgen-
Das Ziel des S. ist der Erkenntnisgewinn aus überlie- den persönlichen Berufungen von Humanisten auf Pro-
ferten Texten, genauer: «die Aneignung von Techniken, fessuren jedoch einen nachhaltigen Einfluß auf das uni-
bewundernswert wegen ihrer Feinheit und Spitzfindig- versitäre Studienwesen. [111]
keit, erfunden um die Texte zu verstehen, die zweifel- IV. Barock, Aufklärung. In der Frühen Neuzeit er-
haften Stellen bei der Lektüre zu klären, die Streitfragen geben sich durch Reformation und katholische Reform
zu beseitigen, die sich aus einander widersprechenden, nur kleinere Veränderungen im Universitäts- und Stu-
aber möglichen Meinungen ergeben.» [95] Angesichts dienwesen. [112] Die territoriale Konfessionsbildung im
der ausgefeilten Techniken der Textanalyse verlegen Sinne des Prinzips «cuius regio eius religio» führt dazu,
sich die Universitätsgelehrten auch beim Abfassen ei- daß im Deutschen Reich im Auftrag der Landesherren
gener Texte auf subtile Argumentationen. Die sprach- Theologen und Juristen Kirchen- und Schulordnungen
liche Gestalt der Schriften ist für sie unwichtig. (für alle Schulstufen) ausarbeiten. [113] In katholischen
III. Renaissance. An der Vernachlässigung des Sprach- Ländern sind dabei seit der Mitte des 16. Jh. die Jesuiten
stils und an dem scholastischen Formalismus, dem es führend. Sie orientieren sich bei der Erarbeitung des
nicht um Erkenntnisse über den Menschen und die Er- Studienprogramms für ihre Kollegien, der ‹Ratio studio-
scheinungen in der Welt geht, sondern um das, «was in rum›, in Fragen der sprachlich-literarischen Ausbildung
bestimmten Texten über Mensch und Welt geschrieben an den Lehrplänen der Humanisten. [114] Von prote-
steht» [96], kommt allerdings schon im Mittelalter Kritik stantischer Seite ist Philipp Melanchthon bei der Ein-
auf [97]. Doch erst im 14. Jh. setzt ein Wandel ein. Ziel richtung von Schulen bestimmend, in denen die Schüler
der nun verstärkt auftretenden Scholastik-Kritiker des eine sorgfältige sprachliche Ausbildung erhalten. [115]
später sogenannten ‹Renaissance-Humanismus› [98] ist Insofern bildet die Rhetorik eines der zentralen Fächer
es, die Welt und den Einzelmenschen direkt in den Blick auch der protestantischen Gelehrtenschule, die im
zu nehmen und auszubilden. Dabei geben sie der Be- 17. Jh. den in den deutschsprachigen Gebieten verbrei-
schäftigung mit den Schriften und Lehren antik-heidni- tetsten Schultypus darstellt. [116] Hinsichtlich der Uni-
scher Autoren gegenüber der biblisch-christlichen Lek- versitäten verstärkt sich in den konfessionellen Ausein-
türe mehr Raum und versuchen, das S. der überlieferten andersetzungen der Charakter der Landesuniversität,
Texte aus christlich-moralischer Reglementierung zu die konfessionell an den Landesherrn gebunden ist. Für
befreien. Ihr Ziel ist die Menschenbildung im Sinne sto- den Studienabschluß der Promotion wird seit 1568 an
isch-ciceronianischer humanitas. Als wahrhaft men- katholischen Universitäten das Tridentinische Glau-
schenbildend werden vom ersten bedeutenden Vertre- bensbekenntnis als Promotionseid eingeführt. [117] In
ter des Renaissance-Humanismus, Francesco Petrarca protestantischen Universitäten stehen an seiner Stelle
(und bald schon von seinen Anhängern und Nachfol- die jeweils regional geltenden Bekenntnisformeln oder
gern) all die Fächer begriffen, die jene Eigenschaften Konkordienbücher. [118] In katholischen Ländern wer-
fördern, die für den Menschen charakteristisch sind: sei- den an den Universitäten die Jesuiten dominierend, die
ne sprachliche Ausdrucksfähigkeit und seine sozialen in der 1599 endgültig formulierten ‹Ratio studio-
Kompetenzen. [99] Die zunächst als «liberalium et ho- rum› [119] auch den universitären Studiengang mit be-
nestarum artium studia» [100], später als «bonae» oder rücksichtigen. Er ist dreigeteilt: Auf die schulische
«optimae artes» [101], «bonarum» oder «optimarum ar- sprachlich-literarische Ausbildung folgt der universitäre
tium studia» [102] und schließlich im Anschluß an Cice- Studiengang der Philosophie, an den als krönender Ab-
ro [103] als «studia humanitatis» [104] bezeichneten Fä- schluß jener der Theologie anschließt. [120] Analoge
cher umfassen daher Grammatik, Rhetorik und Poesie Studiengänge ergeben sich auch für die protestantische
und darüber hinaus (zur Ausbildung des sittlichen Ver- Gelehrtenschule, sodaß diese Gliederung der Ausbil-
haltens anhand von historischen Beispielgeschichten dung in beiden Konfessionsräumen allgemeine Verbrei-
und theoretischen Ausführungen) Geschichte und Mo- tung findet und eine wesentliche Veränderung in den
ralphilosophie [105]. Die humanitas wird von Gelehrten Universitäten herbeiführt. Dadurch, daß in den auf das
wie Coluccio Salutati und Leonardo Bruni als Ein- universitäre S. vorbereitenden Schulen (Gymnasien) die
heit von sittlichem Handeln und geistig-gelehrtem Be- sprachlichen Grunddisziplinen (und damit auch die
mühen verstanden. [106] Daß das dafür erforderliche S. Rhetorik) vermittelt werden, wird die Artistenfakultät
weitgehend in Eigeninitiative erfolgt und seine Resul- von ihrer propädeutischen Funktion gegenüber den hö-
tate dann im Austausch mit anderen gleichgesinnten heren Fakultäten entlastet und kann sich zur philoso-
Gelehrten schriftlich und mündlich erörtert werden soll- phischen Fakultät entwickeln. [121]
ten, haben besonders Petrarca [107] und Bruni [108] her- Auch institutionell kommt es in den Universitäten
vorgehoben. der Frühen Neuzeit zu Veränderungen. Das Modell des
Doch schon im 15. Jh. erfahren die studia humanitatis Kollegs, das in Ländern verbreitet ist, die dem ‹modus
eine schulische Institutionalisierung durch Pädagogen Parisiensis› folgen, variiert zunehmend. Nach wie vor
wie Guarino Veronese und Vittorino da Feltre. [109] spielen in England, Frankreich und Spanien die Kolle-
Ende des 15. und zu Beginn des 16. Jh. finden die studia gien die dominante Rolle im Universitätsleben, doch
humanitatis auch an den Universitäten Eingang, wo ihre bildeten sich nationale Besonderheiten aus. [122] Das
Lehrer erstmals in Italien als ‹Humanisten› bezeichnet englische college entwickelt sich z.B. zu einem eigenen,
werden [110]. Die Humanisten dringen an den Univer- quasi-universitären Zentrum, das französische collège
sitäten jedoch zunächst nur langsam vor. Mit ihrem eli- wird zu einer gymnasialen und damit präuniversitären
tären Selbstverständnis, das sie als Wanderpoeten und Einrichtung. [123] Das spanische colegio bleibt vor-
Wandergelehrte ausgebildet haben, die an Fürstenhöfen nehmlich studentisches Wohnheim, in dem es keinen
wirken, schenken sie universitären Abschlüssen kaum Lehrbetrieb (wie in England und Frankreich) gibt.

227 228
Studium Studium

Besonders in England kommt es im Laufe des Spät- ‹Universalgelehrten› alten Stils betrachtet man als unge-
mittelalters und der Frühen Neuzeit an den colleges zu eignet für die Erfordernisse der Zeit. [136] Humboldt hat
eigenständigen Lehrveranstaltungen. Dienten diese an- dabei kaum in die traditionelle Universitätsstruktur ein-
fänglich allein der Repetition und Vertiefung der Uni- gegriffen. Sie sollte sich erst in der zweiten Hälfte des
versitätslektionen (repetitio), werden sie vor allem seit 19. Jh. durch die Gründung von neuen Lehrstühlen, In-
dem 16. Jh. um Vorlesungen ergänzt, die auf diese Weise stituten, Seminaren und Kliniken verändern, vor allem
der Universität entzogen werden. [124] Darüber hinaus aber durch die Aufspaltung der Philosophischen Fakul-
wird in der 2. Hälfte des 16. Jh. das tutorial system ausge- tät in einen natur- und in einen geisteswissenschaftlichen
bildet. [125] Jeder Student wird dabei einem Tutor zuge- Zweig. Was das S. anbelangt, kommt es zeitgleich mit der
wiesen, der S. und Lebenswandel des Kollegiaten be- Ausbildung der neuen Universitätsidee zu einem we-
gleitet und überwacht. Dieses enge Verhältnis zwischen sentlichen Wandel: Die wissenschaftliche Propädeutik
Student und Tutor ist die ausgeprägteste Besonderheit wird nun ganz in die Gymnasien verlagert. Der Prozeß
des englischen College- und Universitätswesens und fin- wird gleichsam besiegelt mit der Einführung des Abiturs
det sich in unveränderter Form v. a. an den englischen als Schulabschluß mit Zugangsberechtigung zum Uni-
Traditions-Universitäten Oxford und Cambridge. versitätsstudium in Preußen (1788) und mit seiner kon-
Da die Universitäten seit dem 16. Jh. nicht nur der tinuierlichen Durchsetzung in den übrigen deutschen
Berufs-, sondern auch der Standesausbildung dienen, Territorien. [137] So kann die gesamte Oberschulausbil-
sind in der sozialen Zusammensetzung der Studenten- dung im 19. Jh. im Hinblick auf das universitäre S. als
schaft vermehrt aristokratische Schichten vertreten. Propädeutik verstanden werden. In ihrem Rahmen wird
Dies führt im 17. Jh. zu Veränderungen. Wenn auch nur die Rhetorik dann im Literaturunterricht durch die Auf-
selten (wie in Halle [126] und Erlangen [127]) Ritter- satzlehre verdrängt. [138] Gleichwohl bleibt sie im uni-
akademien zur Adelserziehung als Basis für den Auf- versitären S. als Gegenstand v. a. der klassischen Philo-
bau landesherrschaftlicher Universitäten dienen, bieten logie erhalten.
Universitäten doch häufig sogenannte Kavaliersfächer In Frankreich wird im Zuge der Französischen Re-
an. Angesichts dessen kommt es auch zur Verbreitung volution nach 1793 in verschiedenen Stufen die Auflö-
von Hodegetiken, also Schriften, die (von griech. oëdoÂw, sung aller Fakultäten und Kollegien verfügt. Da aber
hodós: der Weg; und aÍgein, ágein: leiten, führen) einen weiterhin ein großer Bedarf an Ingenieuren, Ärzten, Ju-
einführenden Überblick über die gesamten Wissen- risten, Lehrern und Offizieren besteht, gründet man
schaften und die Möglichkeiten akademischer Bildung Spezialeinrichtungen. [139] So studieren Offiziere und
geben möchten, aber auch Verhaltensnormen für das in- Ingenieure seit 1794 an der ‹École Centrale des Travaux
ner- und außeruniversitäre Leben entwerfen. [128] Mit Publics› (die spätere ‹École Polytechnique›) und Lehrer
Blick auf die Studenten aus höheren Ständen finden sich an der ‹École Normale Supérieure›. Für die Ärzteaus-
bereits im 17. Jh. an verschiedenen Universitäten mo- bildung werden ‹Écoles de Santé› in Paris, Straßburg
derne Sprachen wie Englisch und Französisch im Stu- und Montpellier eingerichtet. Weitere spezialisierte
dienangebot [129] – lange bevor sie im 19. Jh. zu sprach- ‹Grandes Écoles› folgen. Sie genießen als Eliteschulen
wissenschaftlichen und philologischen Studiengängen bis heute in Frankreich ein außerordentliches Prestige.
ausgebaut werden [130]. In den zu Anfang des 19. Jh. wieder eingerichteten Uni-
V. 19. Jh. bis Gegenwart. In den ersten Jahrzehnten versitäten führen die Dekrete Napoleons zu erheblichen
des 19. Jh. ist das Universitäts-S. einschneidenden Ver- (bis heute nachwirkenden) Veränderungen. [140] 1808
änderungen unterworfen. Um 1800 kommt es im Deut- werden die von den Revolutionären abgeschafften uni-
schen Reich zum «Massensterben» der Universitä- versitären Grade ‹Baccalauréat›, ‹Licence›, ‹Doctorat›
ten. [131] Nur etwa die Hälfte der Ende des 18. Jh. be- wieder eingeführt und das Prüfungswesen strenger
stehenden 45 (allerdings durchschnittlich nur 120–150 staatlicher Kontrolle unterworfen. Die Folge für das
Studenten verzeichnenden [132]) Universitäten überle- S.-programm ist, daß die Lehre strikt an prüfungs- und
ben. Gründe für die zahlenmäßige Reduzierung der Uni- berufsrelevanten Stoffen ausgerichtet wird. Persönliche
versitäten sind v. a. Probleme ihres Unterhalts und das Interessen der Lehrenden und Lernenden finden keine
Vorbild des französischen Bildungswesens in den Terri- Berücksichtigung, und die Forschung wird weitgehend
torien, die unter napoleonischem Einfluß stehen. [133] aus der Universität verbannt. [141]
Preußen gelingt es in besonderem Maße, diese Uni- In England haben bis ins frühe 19. Jh. die Universi-
versitätskrise zu überwinden. Die universitären Studi- täten von Oxford und Cambridge eine Monopolstellung.
eneinrichtungen in Deutschland basieren bis weit ins Erst in den frühen 30er Jahren des 19. Jh. kommt es in
20. Jh. hinein auf der ‹klassischen Universitätsidee›, die anderen Städten zur Ausbildung der bürgerlichen Uni-
an preußischen Universitäten Ende des 18. Jh. ausgebil- versität (civic university) und zur Gründung von Uni-
det wird und auf die W. v. Humboldt 1809/1810 bei der versitäten mit kirchlicher Trägerschaft (1832 Durham,
Einrichtung der Berliner Universität zurückgreift. [134] 1828–1836 London, 1851 Manchester). [142] Während in
Demnach fungiert die Universität als ‹Gelehrtenrepu- Oxford und Cambridge noch das Ideal der Ausbildung
blik›, die zugleich beauftragt ist, die ‹Idee der Wissen- zum gentleman verfolgt wird, findet an den neuen uni-
schaft› zu vermitteln. Neben die eigenverantwortliche versitären Einrichtungen vermehrt eine Verbindung
Forschung tritt somit die akademische Lehre. Wie aus von Forschung und Lehre nach humboldtschen Modell
Humboldts Programmschrift ‹Über die innere und äu- Verbreitung. [143] Auch organisatorisch rückt man nun
ßere Organisation der höheren wissenschaftlichen An- verschiedentlich von der strikten Trennung von Bil-
stalten in Berlin› deutlich wird, beabsichtigt er, an der dungseinrichtungen (insbesondere colleges) und univer-
Universität eine lebendige Konkurrenz der Professoren sitären Prüfungsbehörden ab (auch wenn sie in dieser
zu ermöglichen. [135] ‹Forschende Lehre und lehrende Form in Oxford, Cambridge und einigen weiteren Uni-
Forschung› sollten diesen neuen Universitätstypus be- versitäten weiter besteht).
stimmen. Die Einheit von Forschung und Lehre wird da- In Deutschland erfolgen tiefgreifende Einschnitte in
bei vom qualifizierten Fachprofessor repräsentiert. Den Studienwesen, Studentenschaft, Forschung und Lehre

229 230
Studium Studium

erst wieder zur Zeit der nationalsozialistischen Herr- Griechenland: paidagvgoÂw, paidagōgós: Herodot VIII, 75; Pla-
schaft. So werden seit Sommer 1933 «vorläufige Maß- ton, Lysis 208c u. 223a; ders.: Symposion 183c; Euripides, Ion,
nahmen zur Vereinfachung der Hochschulverwaltung» 725; ders.: Helena, 287; im Anschluß an die griech. Wortbildung
in Rom paedagogus: Plautus, Bacchides 441; Cicero, De amici-
durchgesetzt, durch die das ‹Führerprinzip› auf die tia, 74; Seneca, Ep. 60, 1 u. 94, 9. – 17 am deutlichsten Isocr. Or.
Hochschulen übertragen wird. [144] Es kommt zu per- XIII (KataÁ tv Ä n sofistv Ä n) 17f. u. Or. XV (PeriÁ aÆntidoÂsevw)
sonellen ‹Säuberungen› aufgrund des ‹Gesetzes zur 184, 187, 191 u. 292. – 18 vgl. z.B. Platon: Protagoras 317b u. ö.;
Wiederherstellung des Berufsbeamtentums› [145] und zum Hintergrund: J. Dolch: Lehrplan des Abendlandes (1965)
zu starken Reglementierungen durch die Bildung von 18ff. – 19 Platon, Protagoras 338e–339a. – 20 ebd. 318d-e. – 21 so
parteilinientreuen Studentenschaften an den wissen- Gorgias in VS B11, 8–15. – 22 besonders im Dialog ‹Gorgias›;
schaftlichen Hochschulen. [146] Überhaupt wird das gegen die Rhetorik der Sophisten z.B. 462b–465e u. ö. – 23 vgl.
S. durch die Steuerung des Hochschulzugangs sowie die Zusammenstellung bei Th. Ballauf: Päd. I (1969) 58ff. –
24 Plat. Phaidr. 275cff. – 25 Platon, Siebter Brief, 341c. – 26 zu
durch studentische Ernte- und Kriegseinsätze stark be- Platon als Stilist vgl. Cic. Brut. 31, 120f.; Quint. X, 1, 81; zum
einträchtigt. [147] Zusammenhang A.D. Leeman: Orationis ratio (Amsterdam
In der Bundesrepublik Deutschland garantiert später 1963) I, 204f. – 27 Plat. Phaidr. 269d. – 28 vgl. A. Lesky: Gesch.
das Grundgesetz juristisch erneut die Freiheit von For- der griech. Lit. (Bern/München 1971) 643. – 29 dazu Cic. De or.
schung und Lehre; dazu wird die universitäre Selbstver- II, 94. – 30 Plat. Phaidr. 279a; krit. dagegen ist Aristoteles nach
waltung wieder hergestellt. Neue Impulse zur Verän- Cic. De or. III, 141; Isokrates vermutlich gegen Aristoteles in
derung erhalten die so gefestigten Studien- und Uni- Or. XV, 258. – 31 Isocr. Or. XIII, 12ff. – 32 ebd. XV, 189–191. –
versitätsstrukturen in den späten 60er und frühen 70er 33 ebd. XIII, 17f; ebd. XV, 184 u. 292. – 34 ebd. XV, 285. – 35 ebd.
253–257. – 36 Lesky [28] 661. – 37 Isocr. Or. XII, 26f.; ebd. XV,
Jahren. Die damaligen studentischen Proteste zielen un- 186–192 u. 261ff. – 38 Diogenes Laertius VI, 11; ähnlich dazu
ter anderem auf eine Beseitigung des sogenannten ‹Bil- Diogenes v. Sinope, ebd. VI, 73; gemeinsame Lehrsätze der Ky-
dungsnotstands›. [148] Zu seiner Behebung wird eine niker ebd. VI, 103ff. – 39 Aristoteles, Metaphysik II, 2, 996a32. –
‹soziale Öffnung› der Hochschulen gefordert, um Ju- 40 zu Zenon: Diogenes Laertius VII, 32; zu Ariston: ebd. VII,
gendlichen aus allen gesellschaftlichen Schichten das S. 160. – 41 vgl. Sextus Empiricus, Adversus mathematicos I, 1 und
an den Hochschulen zu ermöglichen. Erst in jüngerer I, 5. – 42 erster Nachweis erst aus dem 1. Jh. v. Chr.: Diodor
Zeit richtet man zudem S.-Programme für Senioren ein. XXXIII 7, 7; Dion. Hal., De Demosthene 15, 999; ders.: De com-
Inhaltlich befassen sich die Diskussionen um die Hoch- positione verborum 25, 206; Strabon, Geographica XIV, 5, 13. –
43 so z.B. in der Stoa; vgl. M. Pohlenz: Die Stoa. Gesch. einer
schulstudienreform in den 60er und 70er Jahren mit dem geistigen Bewegung, Bd. I (71992) 64ff. – 44 Cic. De or. I, 256;
Modell eines ‹Studium generale›, das interdisziplinäre Cicero, Pro Archia poeta, 3ff. – 45 Cic. De or. III, 64–71; zum
Kontakte zwischen den universitären Studien- und For- größeren Zusammenhang der Auseinandersetzung Cic. De or.
schungseinrichtungen ausbauen und ihre Bildungswir- I, 80–95. – 46 ebd. u. ebd. III, 140–143. – 47 ebd. III, 143. – 48 ebd.
kung nach dem Modell der Humboldtschen Universität – 49 ebd. I, 50–53 u. I, 20. – 50 ebd. I, 71–73; auch: Cicero, De
entfalten soll. [149] Hier wird jetzt aufgrund der Erfor- finibus bonorum et malorum V, 54. – 51 Cic. De or. I, 147–159,
dernisse eines zunehmend internationalen (außeruni- 256ff. – 52 Cicero, Pro Archia poeta, 3; dazu auch Cicero, Pro M.
versitären) akademischen Arbeitsmarkts zur Verkür- Caelio, 24. – 53 Cic. De or. I, 96–203. – 54 Quint. I, prooem. 13ff.
mit ausdrücklicher Bezugnahme auf Cic. De or. III, 50. –
zung von Studienzeiten und aufgrund tiefgreifender 55 Quint. XII, 1, 1, aber auch schon: I, prooem. 9; bei Cato: H.
Umstrukturierungen an den Universitäten wieder eine Jordan (Hg.): M. Catonis praeter librum de re rustica quae ex-
stärker fachspezifische Ausbildung angestrebt. Im Hin- stant (1860) Frg. 14, S. 80, 1. – 56 Quint. I, prooem. 18. – 57 ebd. I,
blick auf eine arbeitsmarktgerechte Ausbildung in einer prooem. 6. – 58 ebd. I, prooem. 19. – 59 ebd. I, 10, 1–8. – 60 ebd. I,
prinzipiell medienorientierten Gesellschaft und im Rah- prooem. 27. – 61 zur docendi ratio ebd. I, prooem. 23. –
men neuer kommunikationswissenschaftlicher und kul- 62 Clemens von Alexandrien v.a in seinem Werk PaidagvgoÂw
turhistorischer Forschungen erlangt auch die Rhetorik (Paidagōgós), der ersten christlichen Ethik. – 63 vgl. Dolch [18]
wieder an Bedeutung. Dies verdeutlicht nicht nur die 71ff. – 64 G. Friedlein (Hg.): Boethius: De institutione arith-
metica libri duo, de institutione musica libri quinque (1867) 725;
wachsenden Zahl von rhetorischen Ratgebern, sondern Cassiodor: De artibus et disciplinis liberalium litterarum, ML
auch die zunehmende Integration der Rhetorik als Wis- 70, 1151f.; Isid. Etym., I, 2: De septem liberalibus artibus, ML 82,
senschaft in den medien- und geisteswissenschaftlichen 73; Dolch [18] 78ff., 99–108. – 65 MGH Legum sectio II, 1, Ca-
Disziplinen. [150] pitularia Regum Francorum I (1883) 52–62, hier: 59f.; zu Karls
Bildungsprogramm siehe P. Riché: Die Welt der Karolinger
Anmerkungen: (21981) 230ff. – 66 MGH Legum sectio II, 1 [65] 235. – 67 ebd.
1 z.B. Cicero, Ep. ad familiares X, 12, 3 u. XII, 23, 1. – 2 Sallust, 78f. – 68 zu Alkuin vgl. M. Manitius: Gesch. der lat. Lit. des MA,
De coniuratione Catilinae 11, 37, 41. – 3 Cicero, In Verrem I, 35; Bd. I (1911) 273–288; F. Dechant: Die theol. Rezeption der artes
Cicero, Pro P. Quinctio, 70; Sallust, Bellum Iugurthinum 5, 42, liberales und die Entwicklung des Philosophiebegriffs in theol.
74; Tacitus, Annales I, 1(3); Tacitus, Historiae I, 85, 2. – 4 Cic. Programmschr. des MA von Alkuin bis Bonaventura (1993); zu
Inv. I, 36. Übers. v. Th. Nüßlein (Düsseldorf/Zürich 1998), in seiner Bildungsinitiative vgl. seine Lehrwerke, zusammenge-
diesem Sinne auch ebd. II, 9 (31). – 5 so etwa Cicero, Lucullus stellt in ML 101, 849ff.: Grammatica, ebd. 849–902; De Ortho-
65. – 6 so auch Körperübungen und Reiten bei Horaz, Ep. II, 1, graphia, ebd. 901–920; Dialogus de Rhetorica et Virtutibus, ebd.
95; Stud.: z.B. Cicero, De re publica I, 16 u. 37; Cicero, Tuscu- 919–950; De Dialectica, ebd. 949–976; Pippini regalis et nobilis-
lanae disputationes V, 68; Horaz, Ep. II, 2, 82; Ovid, Tristia V, 3 simi juvenis Disputatio cum Albino scholastico, ebd. 975–980;
(4) 10. – 7 Seneca, Controversiarum liber I, praefatio. – 8 Codex De Cursu et Saltu Lunae ac Bissexto, ebd. 979–1002; auch in J.
Theodosianus XIV, 9, 3; Velleius Paterculus, Historiae II, 59, 4; Freundgen: Alkuins päd. Schr. (21906) 59–86, 142–151. – 69 zu
Ammianus Marcellinus, Res gestae XV, 5, 3. – 9 S. Battaglia Hrabanus Maurus vgl. Manitius Bd. I [68] 288–302; zu Lupus
(Hg.): Grande dizionario della lingua italiana, Vol. 20 (Turin von Ferrière vgl. ebd. 483–490; E. Garin: Gesch. und Dokumen-
2000) 419–421. – 10 The Oxford English Dict. Second Edition. te der abendländischen Päd. I. MA (1964) 11f., 93ff. – 70 ebd. 12;
Prepared by J.A. Simpson and E.S. Weiner, Vol. XVI (Oxford dazu z.B. Alkuin: De Grammatica, ML 101, 854 A. – 71 zu den
1989) 979–982. – 11 Grand Larousse de la langue française en six ma. Schulen: J. Fried (Hg.): Schulen und S. im sozialen Wandel
volumes, III (Paris 1973) 1783. – 12 Platon, Symposion 208a; des hohen und späten MA (1986); M. Kintzinger, S. Lorenz, M.
ders.: Phaidr. 82b; ders.: Theaitetos 153b. – 13 Xenophon, Ky- Walter (Hg.): Schule und Schüler im MA. Beitr. zur europäi-
rupädie VIII, 1, 43; Plat. Phaidr. 67d. – 14 Xenophon [13] I, 6, 13. schen Bildungsgesch. des 9. bis 15. Jh. (1996); zur Entstehung
– 15 Demosthenes, Or. XVIII, 308; Lukian, Nigrinos 6. – 16 in der Univ.: J. Verger: Grundlagen, in: W. Rüegg (Hg.): Gesch.

231 232
Studium Studium

der Univ. in Europa, Bd. 1 (1993) 49–80. – 72 vgl. ebd. 58ff. – u. Komm. v. V. Wels (2001) und seine Erotemata Dialectices
73 ebd. – 74 ebd. 50f. – 75 ebd. 50, 56, 60, 64. – 76 vgl. P. Nardi: (1547), in: Corpus Reformatorum XIII (1846) 513–752. –
Die Hochschulträger, in: Rüegg [71] 83–108, hier bes.: 87–96; J. 116 vgl. Barner 258–261; Seifert [111] 282–312. – 117 zu Univ.
Verger: Die Universitätslehrer, in: Rüegg [71] 139–157, hier: und Konfessionalismus vgl. P. Baumgart: Die dt. Univ. im Zei-
139f. – 77 vgl. ebd. – 78 A. Gieysztor: Organisation und Ausstat- chen des Konfessionalismus, in: A. Patschovsky, H. Rabe (Hg.):
tung, in: Rüegg [71] 109–138, hier: 109f. – 79 wie oben [8]. – Die Univ. in Alteuropa (1994) 147–168; vgl. Boehm [80] 22. –
80 Verger [71] 50; H. Rashdall: The Universities of Europe in 118 ebd. 22. – 119 Seifert [111] 317ff. – 120 zum Überblick mit
the Middle Ages. Bd. I: Salerno-Bologna-Paris-Oxford (Oxford tabellarischer Zusammenstellung vgl. R.A. Müller: Gesch. der
1936) 6f.; L. Boehm: Einf., in: dies., R.A. Müller (Hg.): Univ. Univ. Von der ma. Universitas zur dt. Hochschule (1990) 56. –
und Hochschulen in Deutschland, Österreich und der Schweiz. 121 Boehm [80] 22f. – 122 vgl. J. Verger: Les universités à
Eine Universitätsgesch. in Einzeldarst. (1983) 9–31, hier: 14. – l’époque moderne, in: G. Mialaret, J. Vial (Hg.): Histoire mon-
81 zusammenfassend R.A. Müller: Studentenkultur und akad. diale de l’éducation, Bd. 2 (Paris 1981) 247–272; J. McConica
Alltag, in: W. Rüegg (Hg.): Gesch. der Univ. in Europa, Bd. 2: (Hg.): The Collegiate University (Oxford 1986); B. Little: The
Von der Reformation zur Frz. Revolution (1500–1800) (1996) Colleges of Cambridge 1286–1973 (London 1973); G. DiFazio:
263–286, hier: 266. – 82 M.-M. Compère: Les collèges de l’Uni- Collegi universitari italiani (Rom 1975); A. Carabias Torres:
versité de Paris au XVIe siècle: structure institutionnelle et Colegios mayores, centros de poder (Salamanca 1986). – 123 J.
fonction éducative, in: D. Maffei, H. de Ridder-Simoens (Hg.): I De Viguerie: Collèges en France, in: Mialaret, Vial [122] 301–
collegi universitari in Europa tra il XIV e il XVIII secolo (Mai- 315; M.-M. Compère: Du collège au lycée (1500–1800) (Paris
land 1990) 101–118, hier: 110; G. Codina Mir: Aux sources de la 1985). – 124 dazu v. a. McConica [122]; D.R. Leader: A History
pédagogie des Jésuites. Le ‹modus Parisiensis›, in: Bibliotheca of the University of Cambridge I: The University to 1546 (Cam-
Instituti Historici S.I. 28 (Rom 1968). – 83 vgl. S. D’Irsay: His- bridge 1988). – 125 vgl. zusammenfassend Müller [81] 273f. –
toire des universités françaises et étrangères des origines à nos 126 vgl. R. vom Buch: M.-Luther-Univ. Halle-Wittenberg, in:
jours, Bd. 1 (Paris 1933) 75ff.; W. Steffen: Die studentische Au- Boehm, Müller [80] 174–181, hier: 175; auch: H. Hübner (Hg.):
tonomie im ma. Bologna (Bern 1981) 127ff. – 84 vgl. Gieysztor Gesch. der M.-Luther-Univ. Halle-Wittenberg (1977). – 127 vgl.
[78] 110ff.; auch: P.G. Schmidt: Gramm. und Rhet. an den Univ. H. Dickerhof: Friedrich-Alexander-Univ. Erlangen-Nürnberg,
des Spätma., in: R.Chr. Schwinges (Hg.): Artisten und Philo- in: Boehm, Müller [80] 124–127, hier: 125. – 128 zu Begriff und
sophen. Wissenschafts- und Wirkungsgesch. einer Fakultät vom Textsorte K.H. Scheidler: Art. ‹Hodegetik›, in: Allg. Encyklop.
13. bis 19. Jh. (1999) 53ff. – 85 ebd. – 86 ebd. – 87 Verger [71] der Wiss. und Künste, Th. 9, 2. Sektion (1832) 204; ferner: K.H.
139ff. – 88 vgl. D. Mojsisch: Art. ‹Dialektik›, in: LMA, Bd. 3 Scheidler: Grundlinien der Hodegetik oder Methodik des akad.
(1986) Sp. 944–946. – 89 vgl. J. Verger: Die Universitätslehrer, S. und Lebens (1839); D.M.L. Loewe: Grundriß der allg. Ho-
in: Rüegg [71] 138–157, hier: 146ff. – 90 vgl. ebd. und Müller [81] degetik (1839); C. Kirchners Hodegetik oder Wegweiser zur
269; L. Brockliss: Lehrpläne, in: Rüegg [81] 453–494, hier: 456. – Univ. für Studierende (1858). – 129 vgl. Brockliss [90] 456ff. –
91 vgl. Müller [81] 269. – 92 vgl. ebd. 270f. – 93 vgl. ebd. 270; G. 130 ebd. – 131 Th. Ellwein: Die dt. Univ. vom MA bis zur Ge-
Leff: Die artes liberales, in: Rüegg [71] 279–302, hier: 294ff. – genwart (1985) 109ff.; H.W. Prahl: Sozialgesch. des Hochschul-
94 vgl. Müller [81] 271. – 95 vgl. Garin [69] 23. – 96 ebd. – 97 vgl. wesens (1978) 181ff.; Ch. McClelland: State, Society and Uni-
z.B. Johannes von Salisbury: Metalogicon, ML 199, 864; dazu versity in Germany, 1700–1914 (Cambridge 1980) 101ff.; Mül-
D.D. McGarry: Educational Theory in the Metalogicon of John ler [109] 66. – 132 Müller [109] 66. – 133 zusammenfassend
of Salisbury, in: Speculum 23 (1948) 659–675. – 98 zur Doppel- Boehm [80] 23f. – 134 dazu Ellwein [131] 111ff.; A. Kluge: Die
begrifflichkeit und ihrer Einf. zur Unterscheidung des Huma- Universitäts-Selbstverwaltung. Ihre Gesch. und gegenwärtige
nismus der Renaissance von anderen Humanismen vgl. z.B. G. Rechtsform (1958) 74ff.; Müller [109] 67; O. Scheel: Die dt.
Müller: Mensch und Bildung im ital. Renaissance-Humanismus Univ. von ihren Anfängen bis zu Gegenwart, in: Das akad.
(1984) 16f. – 99 vgl. W. Kölmel: Aspekte des Humanismus Deutschland I, 41ff. – 135 W. v. Humboldt: Werke in 5 Bd.,
(1981) 28f. – 100 F. Petrarca: Familiarium rerum libri IV, 7, 1, hg. Bd. 4: A. Flitner, K. Giel (Hg.): Schr. zur Politik und zum Bil-
v. V. Rossi, Bd. 1 (Florenz 1933) 171. – 101 C. Salutati: Ep. I, 3, dungswesen (1993) 255–266. – 136 ebd. 262ff.; Müller [109] 70. –
hg. v. F. Novati, Bd. 1 (Rom 1891) 8. – 102 L. Bruni: Ad Petrum 137 vgl. zum Überblick: A. Klein: Art. ‹Reifeprüfung›, in: Lex.
Paulum Histrum, hg. v. S.U. Baldassari (Florenz 1994) 235, 237 der Päd. III (Freiburg/Basel/Wien 51967) Sp. 1071–1074; auch:
u. ö.; C. Landino: De vera nobilitate, hg. v. M. Lentzen (Genf W. Oberle: Hundertfünfzig Jahre Reifeprüfung (1938). –
1970) 35. – 103 Cicero, Pro Murena 61; ders.:, Pro Archia poeta 138 vgl. O. Ludwig: Der Schulaufsatz (1988) 302ff. – 139 W. Rü-
2; auch: ders., Pro Caelio 24. – 104 Salutati, Ep. XII, 12 u. XIII, 3, egg: Themen, Probleme, Erkenntnisse, in: ders. [71] Bd. 3: Vom
hg. v. F. Novati, Bd. 3 (Rom 1896) 517, 598ff.; L. Bruni: Ep. VI, 6, 19. Jh. zum Zweiten Weltkrieg (1800–1945) 18f. – 140 vgl. G.
hg. v. L. Mehus, Bd. 2 (Florenz 1741) 49; ders. [102] 271f. – Schubring: The Impact of the Napoleonic Reforms on the Edu-
105 P.O. Kristeller: Humanismus und Renaissance I (1974) 17f.; cational System in Europe, in: L. Blanco, L. Pepe (Hg.): Stato e
ders.: Renaissance Thought and its Sources (New York 1979) pubblica istruzione. G. Scolopi e il suo viaggio in Germania
29f. – 106 vgl. Kölmel [99] 29. – 107 F. Petrarca: Rerum familia- (1812) (Bologna 1996) 435–443: V. Karady: De Napoléon à Du-
rium libri XXIV, 1, 5, hg. v. V. Rossi, U. Bosco (Florenz 1942) ruy. Origines et naissance de l’Université contemporaine, in:
Bd. 4, 214; vgl. dazu auch seine Br. XXIV, 2–11 an Cicero, Se- Histoire des Universités en France (Toulouse 1986) 269. –
neca, Varro, Quintilian, Livius, Pollio, Horaz und Vergil (ebd. 141 vgl. zusammenfassend H.-W. Prahl, I. Schmidt-Harzbach:
222–263); s. dazu F. Neumann: Nachwort, in: Petrarca, Epistolae Die Univ. Eine Kultur- und Sozialgesch. (München/Luzern
familiares XXIV. Vertrauliche Br. lat.-dt. Übers. von F. Neu- 1981) 120. – 142 R.D. Anderson: University and Elites in Britain
mann (1999) 332–342. – 108 Bruni [102] 238f. – 109 G. Müller: since 1800 (London 1992) 21–23; W.H.G. Armytage: Civic
Bildung und Erziehung im Humanismus der ital. Renaissance. Universities. Aspects of a British Trad. (London 1955); A.H.
(1969); ders. [98]. – 110 P.O. Kristeller: Humanismus und Re- Halsey, M.A. Trow: The British Academics (London 1971); R.
naissance [105] Bd. 1., 16f. – 111 vgl. A. Buck: Der ital. Huma- Lowe: The Expansion of Higher Education in Britain, in: K.H.
nismus, in: N. Hammerstein (Hg.): Hb. der dt. Bildungsgesch., Jarausch (Hg.): The Transformation of Higher Learning (Stutt-
Bd. 1.: 15.–17. Jh. (1996) 1–56, hier: 25ff.; A. Seifert: Das höhere gart 1983) 37–56. – 143 vgl. R.C. Schwinges: Humboldt Inter-
Schulwesen. Univ. und Gymnasien, ebd. 197–374, hier: 226–253; national. Der Export der dt. Universitätsmodells im 19. und
O. Pedersen: Trad. und Innovation, in: Rüegg [81] 363–390, 20. Jh. (Basel 2001). – 144 zusammenfassend: Müller [109] 95f.;
hier bes.: 367ff. – 112 vgl. N. Hammerstein: Die hist. und bil- zur Univ. zur Zeit des Nationalsozialismus vgl. Ph. Eggers, in:
dungsgesch. Physiognomie des konfessionellen Zeitalters, in: Dt. Verwaltungsgesch., Bd. 4 (1985) 968ff.; Ellwein [131] 233ff.;
Hb. der dt. Bildungsgesch. [111] Bd. 1, 57–101, hier: 68ff. – H. Heiber: Univ. unterm Hakenkreuz, 2 Teile in 3 Bdn. (1991–
113 Seifert [111] 253ff. – 114 vgl. bes. A. Scaglione: The Liberal 1994); A.F. Kleinberger: Gab es eine nationalsozialistische
Arts and the Jesuit College System (Amsterdam 1986); A.P. Hochschulpolitik?, in: M. Heinemann (Hg.): Erziehung und
Farrell: The Jesuit Code of Liberal Education. (Milwaukee Schulung im Dritten Reich, Bd. 2 (1980); Kluge [134] 100ff.; P.
1938). – 115 zu Melanchthon sein Rhet.-Lehrwerk Elementa Lundgren: Wiss. im Dritten Reich (1985); H. Maier: National-
Rhetorices (1531), Ausg.: Grundbegriffe der Rhet., hg., Übers. sozialistische Hochschulpolitik, in: Die dt. Univ. im Dritten

233 234
Sturm und Drang Sturm und Drang

Reich. Acht Beitr. (1966) 71–102; H.-W. Prahl: Sozialgesch. des stand um: «Wer fühlt oder auch nur ahndet, was Sturm
Hochschulwesens (1978) 317ff.; H. Seier: Univ. und Hochschul- und Drang seyn mag, für den ist er geschrieben»
politik im nationalsozialistischen Staat, in: Der Nationalsozia- (2.6.1777). [3] Charakterisierend wird in der jüngeren
lismus an der Macht (1984) 143ff.; eine Slg. von einschlägigen
Gesetzestexten etc. bei: G. Kasper (Hg.): Die dt. Hochschul-
Generation «das Gefühl des Ungenügens an der vor-
verwaltung. Slg. der das Hochschulwesen betreffenden Gesetze, handenen Wirklichkeit und [...] die daraus erfolgende
Verordnungen und Erlasse in amtlichem Auftrag, 2 Bde. (1942/ Auflehnung», die «Protagonisten [...] verstanden sich
1943). – 145 Müller [109] 96. – 146 ebd. 99. – 147 ebd. 99f.; O.B. zwar nicht eigentlich als Schule oder Gruppe im heuti-
Roegele: Student im Dritten Reich, in: Maier [144] 135–174. – gen Sinn des Wortes, waren aber für die Zeitgenossen
148 Ch. Oehler in Zusammenarbeit mit Chr. Bradatsch: Hoch- durchaus als solche erkennbar: der ‹Teutsche Merkur›
schulen. Die Hochschulentwicklung nach 1945, in: Chr. Führ, spricht von Hamanns oder Herders ‹Parthey› oder gar
C.-L. Furck (Hg.): Hb. der dt. Bildungsgesch., Bd. 6: 1945 bis zur ‹Secte› und rechnet hierzu vor allem Goethe und
Gegenwart. 1. Teilbd.: Bundesrepublik Deutschland. (1998)
412–446, hier: 426ff. – 149 ebd. 421. – 150 s. dazu den Art. ‹Rhe-
Lenz». [4]
torik, angewandte› und als Forschungsüberblick die Bibliogr. Schnell allerdings erhält die Formel einen pejorativen
im Jb. Rhetorik. Beigeschmack: In einer Sammelrezension neuer Thea-
F. Neumann terstücke in der ‹Nürnbergischen gelehrten Zeitung auf
das Jahr 1778› wird S. als Stilkategorie negativ gegen ei-
^ Allgemeinbildung ^ Disciplina ^ Disputation ^ Doctrina nen stärker naturnachahmenden Schriftsteller gesetzt,
^ Enkyklios paideia ^ Eruditio ^ Erziehung, rhetorische ^ Maler Müllers Fragment ‹Fausts Leben› (1778) iden-
Exercitatio ^ Gelehrtenliteratur, -sprache ^ Hodegetik ^ Ka- tifiziert S. sogar mit ‹Unreife›. Ab 1780 häufen sich sol-
non ^ Kultur ^ Lesung ^ Pädagogik ^ Polyhistorie ^ Quod- cherart pejorative Zuschreibungen – Luserke faßt zu-
libet ^ Redner, Rednerideal ^ Rednergesellschaften ^ Scho-
lastik ^ Schulrede ^ Sprachgesellschaften
sammen: «Hier wird also [...] Sturm und Drang als ein
literarisches und entwicklungspsychologisches Durch-
gangsstadium begriffen und damit die Abwertung der
Sturm-und-Drang-Literatur hervorgehoben» [5], schär-
Sturm und Drang fer noch: «Deutlich ist indes geworden, daß ‹Sturm und
A.I. Def. Aspekte. – II. Dichterbegriff, Disziplinen, Gattungen. Drang› bereits Ende der siebziger Jahre zu einer Formel
– III. Historische Einordnung. geprägt wurde, mit deren Hilfe der Anspruch der jungen
A. I. Definitorische Aspekte. ‹S.› dient als literaturge- Sturm-und-Drang-Autoren auf Originalität und Genia-
schichtlicher Epochenbegriff für eine spezifisch deut- lität als ästhetisch inakzeptabel zurückgewiesen und
sche Ausprägung der radikalisierten Empfindsamkeit. psychologisierend als Entwicklungsstufe abgewertet
Als Epochenbegriff ist S. zwischen Aufklärung und wurde.» [6] Vor allem aus der Perspektive der Literatur-
Weimarer Klassik angesiedelt, genauer betrachtet be- geschichtsschreibung des 19. Jh., die die sogenannte
zeichnet der Begriff allerdings eher eine kleine Grup- Weimarer Klassik als ‹Reife›-Epoche der deutschen Na-
pierung junger bürgerlicher Schriftsteller v. a. in den tionalliteratur deutete, hat sich der Begriff S. als Epo-
1770er Jahren. Kennzeichen dieser Gruppierung ist chenbezeichnung mit der Semantik des Unreifen, Ju-
die kritische, ja oppositionelle Wendung gegen die auf- gendlichen durchgesetzt.
geklärte Regelpoetik ebenso wie gegen die verkrustet Der S. wird vorbereitet in seiner «Frühphase» [7]
erscheinende absolutistische Gesellschaft und die bür- durch Hamanns ‹Gedanken über meinen Lebenslauf›
gerlichen Konventionen. Der S. prägt in der Weiter- und seine ‹Biblischen Betrachtungen› (beide 1758)
entwicklung empfindsamer Tendenzen einen eigenen und Herders frühe Gedichte; im engeren Sinne als li-
literarischen Stil aus. Gegen die Dichterauffassung des terarische Strömung oder Gruppierung läßt er sich fol-
poeta doctus, der noch das Ideal der rationalistischen gendermaßen datieren: Im September 1770 trifft Goe-
Aufklärungspoetik Gottscheds gewesen war, setzt sich the in Straßburg mit Herder zusammen. Dieser hat
hier das Ideal des Genies durch; der S. wird auch als schon seine Auffassungen über das Genie ausgeprägt
Genie-Periode bezeichnet. und vermittelt Goethe vor allem die Begeisterung für
Im Unterschied zu der geistesgeschichtlich begrün- Shakespeare und das Volkslied, die als ästhetische
deten Bezeichnung der Makroepoche ‹Aufklärung› und Orientierung beide die Werke (und die Poetik) der klas-
zu dem erst aus der Kanonisierungsgeschichte der deut- sischen Antike ersetzen. Herders lyrische Produktion
schen Literatur herrührenden Epochenbegriff ‹Weima- dieser Jahre steht dementsprechend konsequent im Zei-
rer Klassik› entspricht der Name ‹S.› dem Selbstbewußt- chen der Volkspoesie. Im April 1771 kommt J.M.R.
sein der Zeitgenossen. Die Formel ‹S.› taucht erstmals Lenz nach Straßburg, 1770/71 entstehen die ersten
1776 als Titel eines Dramas von F.M. Klinger auf, der ‹neuartigen› lyrischen Texte Goethes, die in Naturbe-
im Sommer 1776 bei einem Aufenthalt in Weimar sein geisterung, Ichgefühl und Innerlichkeitsausdruck Epo-
Drama ‹Wirrwarr› niederschrieb und auf Zuraten des che machen – eine emphatische Individualität, aus der
Schweizer Satirikers Chr. Kaufmann den Titel in ‹S.› noch Lenz’ Gedichte an F. Brion verfaßt sind. 1772
umwandelte. [1] M. Luserke weist sehr zu Recht darauf übernimmt J.H. Merck die ‹Frankfurter Gelehrten An-
hin, daß beide Begriffe dieses neuen Titels dem religi- zeigen›, denen er eine aufklärerisch-antihöfische, pole-
ösen Wortschatz des Pietismus entstammen und dort mische wie empfindsame Tendenz gibt. 1773 erscheint
mit spezifischer Semantik aufgeladen seien. [2] ‹Sturm› mit Herders ‹Von deutscher Art und Kunst› das erste
bezeichne hier einen äußeren und inneren Erregungs- Manifest der Genieästhetik, die gleichzeitig in einen
zustand (Aufgewühltheit/Anfechtung), ‹Drang› einen Zusammenhang des «Nationellen» gestellt wird. 1774
Handlungstrieb: Leidenschaftlichkeit und Selbsthelfer- feiert Goethes ‹Götz von Berlichingen› einen sensatio-
tum würden in der Formel zusammengeführt, die damit nellen Theatererfolg, im selben Jahr besingen die Hym-
eine spezifische Stimmungslage der jüngeren bürgerli- nen ‹Wanderers Sturmlied› und ‹Prometheus› das ge-
chen Generation repräsentiere. nialisch sich selbst setzende Ich. Goethes Romanerst-
Ein Brief H.L. Wagners über Klingers Drama wan- ling ‹Die Leiden des jungen Werthers› stellt einerseits
delt den Titel zu einer Formel für einen Geisteszu- den Gipfelpunkt der Literatur des S. dar, ist anderer-

235 236
Sturm und Drang Sturm und Drang

seits aber auch schon ihr Abgesang insofern, als radi- Gegen die aufgeklärte Regelpoetik wird eine Grup-
kalisierte Innerlichkeit und Irrationalität als Scheitern pensprache entwickelt, die dem Ideal des authentischen,
modelliert werden. Spätestens 1775 wird der Begriff des ‹echten› Ausdrucks individueller Empfindung folgen
‹Genies› schon als jugendlich-modische Pose negativ will; auch die poetologischen Gattungsbestimmungen
konnotiert; zwar wird das Jahr 1776 mit Dramen von und -grenzen werden in der Nachahmung nicht-klassi-
Leisewitz, Klinger, Lenz, Wagner, Müller und auch scher Muster gesprengt. Neue Figuren(konzepte) domi-
Goethe (‹Stella›) zum Höhepunkt der S.-Dramatik, nieren vor allem die dramatischen Texte: Kraftgenies
die «Integrationsfigur» Goethe [8] ist allerdings schon und Selbsthelfer zeigen exemplarisches Handeln, die
ausgebrochen: Aus der bürgerlich-antihöfischen Op- Leidenschaften emanzipieren sich von Vernunft und
positionsbewegung an den Hof in Weimar. Nach Luser- Tugend bis zu Irrationalität, Mord und Selbstmord, Se-
ke bilden Goethe und Lenz «sowohl literarisch als auch xualität wird unkontrollierter ausgelebt. Neue Themen
personell» die «stabilisierende Mittelachse» der litera- erobern Bühne und Roman: Auflehnung gegen väterli-
rischen Gruppierung, mit «dem Bruch zwischen Goethe che oder göttliche Ordnung, Brüderkonflikte, Kinds-
und Lenz, der sich bereits in Goethes Umzug nach Wei- oder Selbstmord. «Sturm und Drang ist der erste Ver-
mar ankündigt, bricht [...] dieses festigende Moment der such, ein Mißlingen der Aufklärung zu denken, den
Gruppenkultur des Sturm und Drang weg». [9] Die als- Vollkommenheitsanspruch der Aufklärung mit den Un-
bald einsetzenden Reaktionsformen der Schriftsteller zulänglichkeiten der gesellschaftlich-historischen Wirk-
auf die Kritik an der eigenen revolutionären literari- lichkeit zu konfrontieren.» [14] Damit kommt dem S. im
schen Orientierung sind vielfältig: Selbstauslöschung, Verhältnis zu der das ganze 18. Jh. bestimmenden Ma-
Revision, Wechsel in bürgerliche Berufe oder an den kroepoche die Funktion einer «Dynamisierung und Bin-
Hof, literarisches Verstummen. [10] Als Schiller 1781 nenkritik der Aufklärung» zu. [15]
seine ‹Räuber› im Stil des S. publiziert, ist die Epoche II. Dichterbegriff, Disziplinen, Gattungen. 1. Die
eigentlich schon vorüber. Bedeutung von Einbildungskraft und Phantasie. Der S.
Der S. als Epochenphänomen, literarische Strömung, steht einerseits in einem scharf oppositionellen Verhält-
Gruppierung und stilistische Besonderheit ist eine spe- nis zur Rhetorik: Die Einheit von Rhetorik und Poetik,
zifisch deutsche Erscheinung, da im Kontext der Viel- die bei Gottsched noch als gegeben vorausgesetzt wird,
staatigkeit innerhalb des Heiligen Römischen Reiches wird im S., seinem Selbstverständnis nach, aufgekün-
Deutscher Nation zwar eine Vielzahl kleinerer absolu- digt: Poetik und Ästhetik emanzipieren sich als eigene
tistisch geführter Einheiten existiert, aber keinerlei spe- Disziplinen – eine Bewegung, die sich längst in der Äs-
zifisch bürgerliche Öffentlichkeit. Nachdem schon die thetik der Empfindsamkeit, bei Baumgarten und den
Literatur der Empfindsamkeit als gleichsam inoffizielles Schweizern Bodmer und Breitinger ankündigte (s. u.).
Forum bürgerlicher Selbstartikulation fungierte, radi- Andererseits aber bleiben die Einflüsse der Rhetorik
kalisiert die Literatur des S. das Verhältnis zu absoluti- sichtbar: Gerade die Stilistik des S. macht diese Tradi-
stischer politischer Ordnung und repräsentativer Öf- tion deutlich (s. u.: Lyrik).
fentlichkeit zur expliziten Opposition. Vor allem auch Unter den Bedingungen moderner Medialität, höhe-
die Steigerung der Buchproduktion und Entstehung ei- rer Alphabetisierungsrate und sich entwickelndem
nes differenzierteren Buchmarkts als Folge wachsender Buchmarkt verändert sich im Laufe des 18. Jh. entschei-
Alphabetisierung macht Literatur zu einem wichtigeren dend die Position der imaginatio im rhetorischen Sy-
Medium. Allerdings bleibt die Literatur des S. gerade stem. Die Einbildungskraft wird aus der memoria, in-
vor diesem Hintergrund und im Vergleich zur Masse der nerhalb derer sie ein Hilfsvermögen zur Ausarbeitung
bis zum Ende des 18. Jh. andauernden Aufklärungslite- und Präsentation der Rede war [16], an eine zentrale
ratur zumindest quantitativ ein Randphänomen: Die Stelle der inventio verschoben: Spätestens bei Bodmer,
grob gerechnet etwa zwanzig bis dreißig Dramen und Breitinger und Klopstock gehört sie als Phantasie zu
Prosawerke des S. entfalten aber eine ungeheure Wir- den Erfindungsvermögen. Diese Phantasie ist für Bod-
kung. [11] mer das Unterscheidungskriterium zwischen poetischer
Insgesamt können dem Komplex S. folgende Charak- und rhetorischer Rede – auch im Hinblick auf ihre Wirk-
teristika zugeordnet werden: Die jungen bürgerlichen ziele: «[H]ingegen schildert die Poesie das Wahre, das
Autoren ordnen sich selbst «jenseits der ständisch-hier- sie vorstellet, wie es ist oder wie es seyn könnte, mit dem
archischen Ordnung» ein, ihre «Literatur [soll] Wider- Endzwecke, durch die Schilderung und Nachahmung
stand und Kritik» üben. Das Ideal der Aufklärung, die Lust und Vergnügen zu machen, indem sie die Phantasie
«Selbstbestimmung des Menschen», wird einerseits kri- der Leser und Hörer mit Bildern von trefflich-schönen,
tisch gegen die eigenen soziale und politische Gegen- großen und ungestümen Sachen anfüllt.» [17] In den
wart gewendet, andererseits literarisch vorgeführt in sei- Dienst dieser Wirkziele treten bei den Schweizern rhe-
nem Scheitern. Der S. entdeckt das Individuelle neu, es torisch-poetische Mittel wie etwa Vergleich und Meta-
wird als authentisches Erlebnis inszeniert, was «der Li- pher. [18] – Neben diese ästhetische Diskussion tritt eine
teratur [...] einen unvergleichlichen Individualisierungs- eher theologische: Hamann und Lavater denken in den
schub verleiht und die Literatur als Medium der Ichfin- 1760 Jahren den künsterlisch-schöpferischen Menschen
dung begreift». [12] Die eigene Individualität der Dich- als das inspirierte Individuum. [19]
ter wird aufgefaßt als «Anders-sein», die Schriftsteller Damit wird die Genie-Ästhetik des S. vorbereitet.
definieren sich selber als «Originaldichter», als Genies, Erfindung ist jetzt nicht mehr vernunftmäßige Tätigkeit
die angeblich ausschließlich aus sich selbst die Regeln der oberen Verstandeskräfte, sondern divinatorische
ihrer Kunst schöpfen – die damit der Natur entsprängen. Leistung der unteren. Zentral für die neuartige Vorstel-
Das bedeutet auch eine formale und inhaltliche Abkehr lung vom Dichter sind E. Youngs ‹Conjectures on Ori-
von den Mustern der Aufklärungsliteratur. «Sie attak- ginal Composition› (1759). «Während die älteren Vor-
kiert die ältere Literatur [...] [, man] kämpft gemeinsam stellungen vom ingenium noch in Verbindung mit der
gegen Rokoko und Spätaufklärung, will sagen gegen barocken Rhetoriktradition und ihrer ars inveniendi ste-
Wieland und Nicolai.» [13] hen und eine vorzügliche Begabung des Einzelnen an-

237 238
Sturm und Drang Sturm und Drang

nehmen, leicht und schnell Gedanken zu haben und et- kunst› Breitingers ist die «letzte deutschsprachige Groß-
was zu erfinden, deutet sich bei Young und den späteren poetik auf rhetorischer Grundlage und zugleich die er-
deutschen Genietheoretikern eine Subjektivierung des ste, die die Dichtkunst deutlich von der Redekunst ab-
durch Natur und Schöpferkraft Produktiven an.» [20] koppelt.» [27]
Diese Subjektivierung wird etwa von Gerstenberg em- In enger Anlehnung an Young entwickelt Herder
phatisch gefeiert: «Der beständige Ton der Inspiration, seine Genie-Vorstellung, die sowohl die Denkfigur des
die Lebhaftigkeit der Bilder, Handlungen und Fiktio- schöpfergleichen Künstlers als Originalschriftsteller
nen, die sich uns darstellen, als wären wir Zuschauern, wiederholte als auch Youngs höchste Wertschätzung für
und die wir mit bewunderndem Enthusiasmus dem ge- Shakespeare nach Deutschland importiert. Darüber
genwärtigen Gotte zuschreiben: diese Hitze, diese Stär- hinaus faßt Herder das im Begriff des Genies im Sinne
ke, diese anhaltende Kraft, dieser überwältigende traditioneller Inspirationstheorien inbegriffene Religi-
Strom der Begeisterung, der ein beständiges Blendwerk öse radikal psychologisiert auf – das Unbewußte spricht
um uns her macht, und uns wider unsern Willen zwingt, sich nunmehr genialisch aus; die individuellen Vermö-
an allem gleichen Anteil zu nehmen – das ist die Wir- gen des Einzelnen sind Voraussetzung der Genialität.
kung des Genies!» [21] Oder, mit den Worten E. Zudem überschreitet die Konzeption hier die Grenze
Youngs: «Das Genie ist von einem guten Verstande, wie des Einzelnen: Das naturhafte Material des Dichters ist
der Zauberer von einem guten Baumeister unterschie- die Muttersprache, das in ihr repräsentierte Individuelle
den; jener erhebt sein Gebäude durch unsichtbare Mit- eines Volkes ist genialisch: Das Originalgenie wird zum
tel, dieser durch den kunstmäßigen Gebrauch der ge- Nationalschriftsteller.
wöhnlichen Werkzeuge. Deßwegen hat man stets das Erst bei Goethe wird das Dichterkonzept des S. auf
Genie für etwas göttliches gehalten. Niemals ist jemand den Höhepunkt geführt. In einem sinnfälligen Bild in
ohne eine göttliche Begeisterung ein großer Mann ge- einem Brief an Herder Mitte Juli 1772 drückt er das
worden.» [22] Ideal künstlerischer Geschichtsmächtigkeit und Selbst-
In der Genie-Ästhetik des S. emanzipiert sich die ermächtigung aus: «Wenn du kühn im Wagen stehst,
Poetik tatsächlich endgültig von der Rhetorik, als deren und vier neue Pferde wild unordentlich sich an deinen
Spezialfall sie bis zu Gottsched betrachtet werden muß- Zügeln bäumen, du ihre Krafft lenckst, den austreten-
te – Bodmer und Breitinger hatten in ihrer Abgrenzung den herbey, den aufbäumenden hinabpeitschest, und
von Gottsched diese Emanzipationsbewegung bereits iagst und lenckst, und wendest, peitschest, hältst, und
vorbereitet. Poetik wird in der Ablösung der phantasie- wieder ausjagst, biss alle sechzehn Füße in einem Tackt
gesteuerten Erzeugung von Kunst autonom, die S.-Äs- ans ziel tragen. Das ist Meisterschaft, epikratein, Virtuo-
thetik bleibt aber insofern mit der Rhetorik verbunden, sität.» [28] Hier werden die Regeln der rhetorisch basier-
als sie wirkungsästhetische Konzepte weiterführt: mo- ten Poetik verabschiedet: Das künstlerische Individuum
vere, concitare, conciliare. Allerdings stehen diese eher schöpft alle Regeln nur aus sich selbst – und damit aus
emotionalen Wirkungsfunktionen der Literatur nicht der Natur. [29]
mehr, wie bei Gottsched oder Hallbauer [23], im Dienste Natur ist zentraler Programmbegriff des S. Sie ist der
von Belehrung oder moralischer Erbauung, sondern der Inbegriff des Schöpferischen und – gleichzeitig – des
Einübung in die Emotionen selbst. Affekthafte Wir- Ewig-Zerstörerischen. Natur ist emphatisch gefeierter
kungsabsichten der Rede sowie die damit notwendig Gegenstand des inspirierten individuellen Erlebens,
verbundene Affektstimmung auf Seiten des Redners ist oppositioneller Gegenbegriff zu aller höfischen
bzw. Dichters waren bereits in der rhetorischen Schrift ‹Poliertheit› und ist gleichzeitig «eine ständige Heraus-
des Pseudo-Longin zentrale Bestimmungen der Rheto- forderung, eine Erinnerung an die fundamentale Be-
rik gewesen [24], die seit der Antike auch als eine «Lehre grenztheit des menschlichen Lebens», ist Triebhaftig-
vom ‹Bewegen› und ‹Hinreißen›» aufzufassen ist und in- keit, Todesverfallenheit. [30] Daraus leitet sich die na-
sofern aufgrund ihrer «tiefe[n] Einsicht in das Wesen turrechtliche Vorstellung von der Familie ab: «Die in-
des Genialisch-Schöpferischen und der Irrationalität» takte patriarchalische Familie bleibt gewissermaßen das
eine «wichtige [...] Rolle für die Entwicklung des vor- Ideal auch der Stürmer und Dränger, nur zeigen ihre
romantischen Irrationalismus» spielt. [25] Damit wird Dramen immer wieder, daß eine solche Familie besten-
der wichtigste Impuls von Hamanns eigentlich theolo- falls ein schöner (schlimmstenfalls ein böser) Traum ist.
gisch intendierter Schrift ‹Ästhetica in nuce› realisiert, [...] Der Sturm und Drang will Natur restituieren und
die von den jüngeren Autoren des S. als «konzeptionelle gerät dabei unweigerlich in Konflikt mit der Gesell-
Neubegründung der Poesie als des [...] Mediums der schaft. Weil die Gesellschaft dem Leben nicht sein
Selbstverständigung und Weltorientierung» rezipiert Recht werden läßt, verkehrt sich Natur in Unnatur, so
wurde. [26] z.B. wenn eine verlassene und verzweifelte Mutter ihr
Die Dichterauffassung des S. entwickelt sich nicht in Kind tötet [...]» [31]; «In der Familie treffen Natur und
reiner Opposition zu der der Aufklärung, sondern wird Gesellschaft, Spontaneität und Konvention aufeinan-
innerhalb derselben vorbereitet. Bei Baumgarten muß der, denn Familie ist der soziale Ausdruck eines natür-
der Dichter Neues erschaffen, allerdings aus einem lichen Zusammenhangs und daher auch das erste Ge-
leibnizianisch abgeleiteten Konzept: In einem antizipa- bilde, das an einer wie immer gearteten zivilisatorischen
torischen Vorgriff auf Möglichkeiten (die nur in einem Unordnung leiden oder zugrunde gehen wird.» [32]
metaphorischen Sinne zukünftig, also zeitlich sind, in 2. Poetik und Stilistik. Die Bestimmung eines neuen
Wirklichkeit modal andersartig) werden diese in die Ge- Stils bei Bodmer und Breitinger als «hertzrührender
genwart des Kunstwerks geholt: Das ist das Neue als Schreibart» ist gleichzeitig innovative stilistische Selbst-
Originales, das der Einbildungskraft entspringt. Bei bestimmung poetischer Rede und Wirkungskonzept,
den Schweizern Bodmer und Breitinger wird Gottes löst sich also einerseits von den Regeln alter Rhetorik
Schöpfungstätigkeit zum Vorbild poetischer Mimesis. und Poetik, führt aber deren Wirkungskonzept weiter:
Nachahmung betrifft nicht mehr Schöpfung als natura Der Dichter soll die Sprache des Herzens reden, um al-
naturata, sondern natura naturans. Die ‹Critische Dicht- lerdings andere rühren zu können, muß er selbst gerührt

239 240
Sturm und Drang Sturm und Drang

sein. [33] Jedoch ist diese Herzrührung nicht mehr rein genstände vor allem der Hymne und Ode bei Klopstock
rhetorisches movere im Dienste einer Überzeugung mit und dem jungen Goethe wird das Erhabene als Präch-
pragmatischer Absicht, sondern wird mehr und mehr tig-Feierliches in die Lyrik überführt [41]; Medium in-
Selbstzweck. Dichtung wird autonom und zweckfrei de- dividueller Selbstverständigung wird Lyrik v. a. in der
finiert. [34] sogenannten Erlebnislyrik – geistlich-erhaben bleibt sie
Gerade aus der religiösen Sprache und Haltung des bei Lavater, weltliche Liebes- und Naturlyrik stellen vor
Pietismus adaptiert der S. die gerührte, ja begeisterte allem Goethes Sesenheim-Gedichte dar, auf die Lenz
Haltung: «Enthusiasmus, bei den Aufklärern im enge- wiederum mit erhaben-religiöser Geste antwortet.
ren Sinne wie in älterer Zeit als vernunftlose, unklare Gerade an der Lyrik wird der grundlegende Paradig-
Schwärmerei verpönt, wird zur vorbildlichen Seelenhal- menwechsel in der zweiten Hälfte des 18. Jh. sichtbar, an
tung der Ergriffenheit.» [35] Der S. bedient sich nicht dem auch die «Ablösung» von der Rhetorik teil hat.
nur, in der Tradition Klopstocks, am enthusiasmierten Rhetorik ist in der Wahrnehmung stark an die Hofkul-
Wortschatz der Pietisten, er überführt auch «Briefwech- tur des 17. und frühen 18. Jh. gebunden, die Autonomi-
sel, Tagebuch, Autobiographie als literarische und vor- sierung der Poetik ist gleichzeitig auch die Loslösung
literarische Formen der Selbstdarstellung und intimen von der politisch-gesellschaftlichen Bindung der Kunst.
Mitteilung, die schon der Pietismus besonders gepflegt Gleichzeitig aber führt Erlebnislyrik, trotz aller Ab-
hat», in die traditionellen literarischen Gattungen. [36] lösungsbeteuerungen, rhetorische Traditionen weiter:
3. Lyrik. Der S. kann als diejenige Periode deutscher Lyrischer Gefühlsausdruck ist nichts revolutionär Neu-
Literatur gelten, die den heutigen landläufigen Begriff es, sondern Metamorphose des rhetorischen Affektaus-
von Lyrik erstmals ausgeformt und damit geprägt hat. drucks. Auch Klopstock, Herder, auch der junge Goethe
Lyrik wird seitdem programmiert als Ausdruck von setzen poetische, rhetorische Mittel ein, um ein Gefühl
Empfindungen und Erlebnis, diese Ausdrucksqualität auszudrücken – oder, genauer, um beim Leser den An-
von Lyrik rückt sie auf den ersten Blick in Gegensatz zur schein, die Wirkung zu erzielen, der lyrische Text sei un-
Rhetorik, da bei der Lyrik auf keine Wirkung abgezielt mittelbarer, monologischer, intimer Ausdruck von
sei. Dies gilt aber nur für die erlebnishafte Tradition: Emotionalität. Herzrührung, das Wirkungskonzept der
Anstelle von Wirkung, Appell und ‹Überredung› sei Ly- Schweizer, ist etwas anderes als Persuasion, aber es ist
rik als ‹monologisches Medium› ganz auf den Ausdruck auch eine Wirkungskonzeption, die der Rhetorik nicht
beschränkt. Dies ist das Selbstverständnis der Lyrik erst fremd ist: Überzeugungsmittel ist Ethos! Lyrische Stil-
seit dem S., die Epoche ist damit die Scheidemarke zwi- mittel des S. wie etwa die Inversion, das Hyperbaton, die
schen einer auch rhetorisch aufzufassenden Lyrikkon- Ellipse, die exclamatio sind in der antiken und spätanti-
zeption (etwa bei Gottsched, auch noch bei Bodmer und ken Rhetorik als Schmuckformen der Rede geläufig.
Breitinger) und der modernen – die abhängig ist von der Die Gemütsbewegung, die im Lesepublikum erzielt
Autonomisierung des literarischen Systems. werden soll, hat aber, im Gegensatz zur rhetorischen
Der Gefühlskult der Empfindsamkeit führt zu einer Persuasion, keinen praktischen Zweck mehr. [42]
einschneidenden Änderung des Lyrikbegriffs, zur Auf- 4. Drama. In der literaturgeschichtlichen Wahrneh-
wertung aller Formen kürzerer Versgedichte zur dritten mung ist das Drama die dominante Gattung des S. [43]
Hauptgattung. Diese Emotionalisierung des Dichtungs- Das rührt auch daher, daß gerade in der Dramenästhetik
verständnisses wird vorbereitet bei Bodmer und Brei- des jungen Goethe, Lenzens, Wagners und auch des
tinger, ebenso bei Baumgarten; Batteux definiert Ly- jungen Schiller eine Abkehr von der Regelhaftigkeit
rik erstmals mit dem Gegenstand der sentiments, der der aufgeklärten Poetik programmatisch erklärt wurde.
Geniekult des S. radikalisiert den Anspruch – und auch In seiner ‹Rede zum Schäkespears Tag› (1771) schreibt
den Anschein – des Authentischen, Echten, Erlebnis- Goethe: «Ich zweifelte keinen Augenblick, dem regel-
haften. Lyrik wird damit zum idealen literarischen Me- mäßigen Theater zu entsagen. Es schien mir die Einheit
dium der neu gewonnenen Individualität, ihre Formen des Orts so kerkermäßig ängstlich, die Einheiten der
(vor allem die freieren wie die Ode und die Hymne) und Handlungen und der Zeit lästige Fesseln unsrer Einbil-
ihre Kürze werden aus der Emotionalität und Aus- dungskraft.» [44] Wie die gesellschaftlichen Imperative
druckqualität abgeleitet. In Klopstocks Odenexperi- werden auch die ästhetischen des französischen Klassi-
menten ebenso wie in den freirhythmischen Hymnen zismus – und damit auch der aristotelischen Dramatik –
löst sich die Lyrik nach und nach vom rhetorisch-poeti- als gekünstelte Fesseln erfahren, deren der schöpferi-
schen Kanon. Herder bindet Ode wie Volkslied schließ- sche Mensch als Natur sich entledigen müsse: «Ich
lich ganz an die Natur(laute) zurück [37], Mendelssohn sprang in die freie Luft und fühlte erst, daß ich Hände
zufolge tritt in der Ode an die Stelle der rhetorisch- und Füße hatte.» [45] An die Stelle der rhetorischen Re-
poetischen Regelhaftigkeit die «Ordnung der begeister- gulierung setzt Goethe sein Verständnis von Shake-
ten Einbildungskraft». [38] Gerade die Ode eignete sich speares offenerer Dramenform: «Shakespeares Theater
als Muster für eine solch neuartige Lyrikauffassung, in- ist ein schöner Raritätenkasten, in dem die Geschichte
sofern schon Boileau dieser lyrischen Gattung ein Ma- der Welt vor unsern Augen an dem unsichtbaren Faden
ximum an «éclat» und «énergie» zuerkannte. Zur Cha- der Zeit vorbeiwallt. Seine Plane sind, nach dem gemei-
rakterisierung ihres Stils greift Boileau auf Ronsards nen Stil zu reden, keine Plane, aber seine Stücke drehen
«beau désordre» zurück, eine Formel, die dieser im Vor- sich alle um den geheimen Punckt [...], in dem das Ei-
wort seines Oden-Bands 1550 geprägt hatte. [39] genthümliche unsres Ichs, die prätendierte Freiheit uns-
Herders Rigaer und Königsberger Gedichte aus res Wollens, mit dem notwendigen Gang des Ganzen
den 1760er Jahren erschließen mit ihren «neuen Wort- zusammenstößt.» [46]
bildungen, Klopstocks Spracherneuerungen noch über- Neben der offeneren Dramenform (die im Extremfall
bietend», mit ihrem «manchmal gewaltsam[en], Gedan- etwa der 1. Fassung des ‹Götz› durch 59 auch kleinste
kengänge aufs äußerste verknappende[n], mit langen Szenen praktisch unaufführbar wurde) wurden auch die
Denkpausen zu sprechende[n] Stil» neue Möglichkeiten traditionellen Gattungsgrenzen verwischt. Lenzens
lyrischen Sprechens. [40] Über die vornehmlichen Ge- ‹Hofmeister› (1774) hebt den tragischen Schluß im Ko-

241 242
Sturm und Drang Sturm und Drang

mischen auf. Die Auflösung der drei Einheiten des Or- Herold, wenn auch noch nicht als vollgültiger Vertreter
tes, der Zeit und Handlung kennzeichnet die S.-Dra- eines goldenen Zeitalters der deutschen Literatur.» [54]
matik [47] ebenso wie die Ablösung des Dramenverses Die historisch-materialistische und bürgerlich-sozialge-
durch die Prosa-Rede. Angemessenheit der dramati- schichtliche Darstellung interpretiert den S. dagegen
schen Rede richtet sich nicht mehr nach Gattung und «als Teil der Aufklärung [...], als eine Radikalisierung
Aufführungssituation, vielmehr erscheint die Sprache von aufklärerischen Positionen, die nicht zuletzt auch
bis zum Volkstümlichen angemessen an den darzustel- einen scharfen sozialen Protest beinhaltet und utopische
lenden Stand, wird also realistisch. Entwürfe macht.» Gleichzeitig aber wird die Be-
Gleichzeitig zu diesen Ablösungserscheinungen von schränktheit dieser selbsternannten ‹Revolution› auf die
der Rhetorik aber kann im Blick auf die Wirkungs- literarische Sphäre deutlich: «Aufbegehren gegen die
ästhetik des S.-Dramas von einer modifizierenden ‹deutsche Misere›, andererseits auch als deren Aus-
Fortsetzung der rhetorischen Tradition gesprochen wer- druck: statt Politik Literatur, statt wahrer Öffentlichkeit
den. Mitleidsästhetik und Rührungsabsicht werden ver- Nationaltheater.» [55] G. Kaiser zufolge kann Aufklä-
schärft: Zwischen Bühne und Publikum soll eine Mit- rung als «epochale Grundschicht» gedeutet werden [56],
empfindungsgemeinschaft etabliert werden – womit das «die Anakreontik» als «Seitentrieb der Aufklärungs-
Schauspiel die Wirkungsgrundlage antiker Rhetorik re- literatur, der Sturm und Drang aber eine [...] Avantgar-
formuliert. [48] Allerdings wird nicht mehr auf Überzeu- debewegung junger Autoren, in deren Werken Kulmi-
gung oder Überredung abgezielt, sondern auf Einfüh- nation und Umschlag der Aufklärung in einem statt-
lung. [49] findet». [57] Schon die Empfindsamkeit hatte die Auf-
5. Erzählende Prosa. Die Poetik der Antike ebenso klärung vom reinen Rationalismus fortgeführt, eine
wie die der rationalistischen Aufklärung sah Prosa für Tendenz, die sich mit dem Irrationalismus des S. radikali-
die künstlerische Sprachverwendung nicht vor – die siert. Beide Begriffe aber sind «nicht einfach als Gegen-
Prosa war gleichsam das Feld der Rhetorik im allge- satzpaar zu begreifen. [...] Sie verhalten sich vielmehr zu-
meineren. In diesem Sinne läßt sich die erzählende Pro- einander wie Evolution und Revolution, deren Neues
sa des S. naturgemäß im Sinne einer Fortführung rhe- eine stürmische Erfüllung und Verwandlung des Alten
torischer Gestaltungs- und Wirkungskonzepte beschrei- ist.» [58] Insbesondere Herder wandte sich, in der Spät-
ben. Literarische Rede als Ausdruckswiedergabe, als phase der Querelle, gegen die unkritische und ahistori-
«hertzrührende Schreibart», die selber Rührung voraus- sche Antikeauffassung der Gottschedianer und ihr Dik-
setze, läßt sich in der rhapsodischen Rede Hamanns, tat der klassizistischen Nachahmung der Alten. Dieser
Herders oder auch Stolbergs wiederfinden: Stolbergs regelpoetische Zwangsklassizismus verhindere die Aus-
‹Über die Fülle des Herzens› ist das beste Beispiel prägung eigener ästhetischer Standards und künstleri-
für stark rhythmisierte, poetische Prosa, wie sie auch scher Fertigkeiten. [59]
Goethes ‹Werther› vorlegt. K.Ph. Moritz deutet in sei- Die Loslösung der Autoren des S. von der eigenen,
nen ‹Vorlesungen über den Stil› etwa die Zentralstelle gerade vergangenen ästhetischen Orientierung zeigt
des Briefes vom 10. Mai als «ein poetisches Gemälde sich am schärfsten bei Goethe, an dem schließlich auch
von Goethe» [50], um an der Romanpassage die gelun- die Grenze zur sogenannten Weimarer Klassik sichtbar
gene Raumgestaltung im erzählenden Text zu demon- werden kann. Polemisch bezieht er sich rückblickend
strieren. Die Sprache macht den Versuch, Unsagbares auf die Inflation des Geniebegriffs in den 1770er Jahren:
auszudrücken: Unmittelbarkeit, Empfindung und Em- «Wenn einer zu Fuße, ohne recht zu wissen warum und
phase. Die Sprache im ‹Werther› will sprachliche Au- wohin, in die Welt lief, so hieß dieß eine Geniereise, und
thentizität literarisch erzeugen. Sie nähert sich einer wenn einer etwas Verkehrtes ohne Zweck und Nutzen
(vermuteten) ‘natürlichen’ Sprache an, die durch Inter- unternahm, ein Geniestreich. [...] Worte, Beiworte,
punktion, Wortwahl und Exklamatorik den Anschein Phrasen zu Ungunsten der höchsten Geistesgaben ver-
von Natürlichkeit zu erwecken versucht. Leidenschaft, breiteten sich unter der geistlos nachsprechenden Men-
Gefühl und ungezügelte Empfindungen bestimmen die ge dergestalt, daß [...] das Wort Genie eine solche Miß-
sprachliche Form der Werther-Briefe. Die ungeglättete deutung erlitt, aus der man die Nothwendigkeit ableiten
Sprache steigert die inhaltliche Aussagekraft des Tex- wollte, es gänzlich aus der deutschen Sprache zu verban-
tes: «Lakonische Wendungen, Inversionen, Auslassen nen.» [60] Der Angriff gilt aber nicht so sehr dem Begriff
von Bindewörtern, alleinstehende Nebensätze, Hyper- selbst, sondern seiner sinnentstellenden Verwendung in
beln, Aposiopesen, Ellipsen, Gedankenstriche, wenn der Alltagssprache. Goethe beginnt noch vor der Ita-
die Worte fehlen, die nachlässige und regelwidrige Fol- lienreise eine Umdeutung des Genie-Begriffs hin zu ei-
ge der Wörter.» [51] Die sprachlichen Mittel, die der ner begrifflich genaueren Bestimmung des Genies im
Roman wählt, gehören unmittelbar in die Literatur- Verhältnis zu Talent, künstlerischem Vermögen und
bewegung des S. – sie begründen eine qualitativ neue Handwerk. Das Genie-Konzept wird vermittelt mit der
Ausdruckstradition, setzen den Trend der «zum Ide- lernenden Hinwendung zur und Nachahmung der Na-
al erhobenen umgangssprachlichen Wortverkürzungen tur(-gesetze) wie der antiken Kunst. D. h., daß in der
und Wortverschleifungen mittels Synkope und Apoko- Ablösung vom radikalen Genie-Konzept des S. die pro-
pe». [52] Sprachlich gehören die ‹Leiden des jungen duktive Orientierung an der klassischen Antike wieder
Werthers› also in den Kontext der «Gruppensprache» ermöglicht wurde – allerdings nicht im Bereich der Rhe-
des Sturm und Drang. [53] torik. Die Autonomisierung der Poetik wird an keiner
III. Historische Einordnung – Verhältnis zu Aufklä- Stelle zurückgenommen.
rung, Empfindsamkeit, Weimarer Klassik und Roman- Im Verhältnis zur Romantik ist der S. Vorläuferbe-
tik. In der geistesgeschichtlichen Literaturgeschichts- wegung. Seine radikalisierte Empfindsamkeit sowie die
schreibung wird das Verhältnis des S. zur Aufklärung vor Entdeckung des Volkstümlichen, Naturbegeisterung,
allem als Opposition dargestellt: «Betont wurde die Los- Genieästhetik und Ablehnung klassizistischer Nachah-
lösung vom Rationalismus, die Entdeckung von Natur, mungsimperative, die Entdeckung des Mittelalters und
Herz, Seele und die Stellung des Sturm und Drang als der deutschen Nationalliteratur, die Tendenz zur Über-

243 244
Suasoria Suasoria

schreitung traditioneller Gattungsgrenzen und die Bil- gemeinen Begriff für das genus deliberativum [2] – ein
dung literarischer Gruppierungen – all diese Elemente Produkt der Rhetorenschule. Wie ihr Name sagt, geht es
werden in unterschiedlicher Weise aufgegriffen und um ein Zuraten zu (suadere, protrophÂ) oder Abraten
fortentwickelt. [61] (dissuadere, aÆpotrophÂ) von einem Vorhaben. In Rede
steht also, ob ein Unterfangen in die Tat umgesetzt wer-
Anmerkungen: den soll oder nicht, nicht aber, auf welche Art und Weise
1 Klinger an Goethe am 26.5.1814, Briefe an Goethe, in: Ham- dies geschehen solle [3]; letzteres behandelt der loÂgow
burger Ausg. (HA) Bd. 6 (31988) 152. – 2 M. Luserke: S. (1997) symboyleytikoÂw (lógos symbūleutikós) [4]. Nach Quin-
24. – 3 J.U. Fechner (Hg.): F.M. Klinger: S. (1970) 78. – 4 S.A.
Jørgensen, K. Bohnen, P. Øhrgaard: Aufklärung, S., Frühe
tilian stellt die S. thematisch eine Erweiterung der pro-
Klassik. 1740–1789 (1990) 425–437, hier 425. – 5 Luserke [2] 31. – gymnasmatischen ueÂsiw (thésis) [5] dar, indem ein all-
6 ebd. 32. – 7 H.G. Kemper: Dt. Lyrik der frühen Neuzeit. gemeines Problem in einen konkreten Sachverhalt ge-
Bd. 6/II: S.: Genie-Religion (2002) 19ff. – 8 Jørgensen u. a. [4] kleidet wird. Als Beispiel für eine thésis nennt der antike
437. – 9 Luserke [2] 9; vgl. auch G. Sauder (Hg.): Theorie der Rhetoriklehrer etwa die ewig brisante Frage, «ob ein
Empfindsamkeit und des S. (2003) 9. – 10 vgl. Sauder [9] 9f. – Mann heiraten sollte» (ducendane uxor) [6]. Den anti-
11 Luserke [2] 15. – 12 ebd. 12. – 13 Jørgensen u. a. [4] 427. – ken Quellen nach wurde dieses Dilemma häufig mit dem
14 Luserke [2] 13. – 15 G. Sauder: Einf., in: Goethe: Sämtl. Wer- älteren Cato in Zusammenhang gebracht. [7] Die Fra-
ke. Münchner Ausg. (MA) Bd. 1.1 (1985) 756. – 16 vgl. etwa Cic.
De or. II, 350–360; Quint. XI, 2, 1–51. – 17 J.J. Bodmer: Gemähl-
gestellung gibt nun durch die Verknüpfung mit einem
de der Dichter (1741) 126f. – 18 vgl. Chr. Siegrist: Poetik und ratsuchenden Individuum ein klassisches Suasorienthe-
Ästhetik von Gottsched bis Baumgarten, in: R. Grimminger ma ab: Eine prominente Figur aus Geschichte oder My-
(Hg.): Hansers Sozialgesch. der dt. Lit., Bd. 3: Dt. Aufklärung thos wird vor eine wichtige Lebensentscheidung gestellt.
bis zur Frz. Revolution 1680–1789 (1980) 280–303, hier 299f. – Ein Rhetorikschüler muß sich etwa in die Lage verset-
19 vgl. Kemper [7] 84ff. und 106ff. – 20 G. Sauder: Geniekult im zen, Cato stünde überlegend vor ihm, und er solle ihm
S., in: R. Grimminger [18] 327–340, hier 328. – 21 E. Loewen- bezüglich Heirat zu- oder abraten. Dabei sind bestimm-
thal, L. Schneider (Hg.): S. Krit. Schr. (1949) 50. – 22 E. Young: te Gesichtspunkte (telikaÁ kefaÂlaia [8] oder kefaÂlaia
Gedanken über die Original-Werke. Übers. v. H.E. von Teu-
bern (Leipzig 1760, ND 1977) 28. – 23 vgl. Hallbauer Orat.
thÄw symboylhÄw [9]) zu beachten: Aus den von manchen
316ff.; Gottsched Redek. 116f. – 24 Ps.-Long. Subl. 1, 3–4. – Rhetoren angenommenen Überzeugungskriterien ho-
25 Dockhorn 93f. – 26 Kemper [7] 79. – 27 vgl. B. Asmuth: Art. nestum (das Ehrenhafte), utile (das Nützliche) und ne-
‹Poetik›, in: HWRh, Bd. 6 (2003) Sp. 1346. – 28 Goethes Briefe, cessarium (das Notwendige) ist das dritte auszuschei-
HA Bd. 1 (1988) 132. – 29 vgl. Sauder [20] 330. – 30 Jørgensen den. Besser wäre als drittes Kriterium dynatoÂn (dyna-
u. a. [4] 432. – 31 ebd. 433. – 32 ebd. 434. – 33 vgl. J.J. Breitinger: tón, das Mögliche). [10] Manche lehrten noch weitere
Critische Dichtkunst, 2. Bde. (Zürich 1740, ND 1966) 352f. – Kriterien, die jedoch dem honestum oder utile zugeord-
34 vgl. F. Vollhardt: Art. ‹Autonomie›, in: RDL3, Bd. 1 (1997) net werden können. [11] Den Terminus partes suadendi
173–176. – 35 G. Kaiser: Aufklärung, Empfindsamkeit, S. (1976)
34. – 36 ebd. – 37 J.G. Herder: Frg. einer Abh. über die Ode, in:
kennt nur Quintilian. [12] Ausschlaggebend für die Qua-
ders., Sämtl. Werke, hg. von B. Suphan, Bd. 32 (1899) 61–79. – lifizierung der in Rede stehenden Handlung sind Krite-
38 M. Mendelssohn: Gedanken von dem Wesen der Ode (1764), rien der Nützlichkeit, der Möglichkeit und der religiösen
in: L. Völker (Hg.): Lyriktheorie. Texte vom Barock bis zur Angemessenheit dessen, zu dem der Redner rät. [13]
Gegenwart (1990) 67. – 39 N. Boileau: L’Art Poétique (1674, dt. Quintilian unterscheidet bei Beratungsreden zwischen
München 1970) 66f. – 40 U. Gaier: Kommentar, in: J.G. Herder: Fragen, die um ihrer selbst willen beraten werden (sua-
Volkslieder. Übertragungen. Dichtungen. (1990) 1447. – 41 vgl. soria simplex) und solchen, die aus einem bestimmten
C. Zelle: Art. ‹Erhabene, das›, in: HWRh, Bd. 2 (1994) Sp. 1372f. Anlaß zur Beratung kommen (suasoria duplex), der
– 42 vgl. K.L. Schneider: Klopstock und die Erneuerung der dt.
Dichtersprache im 18. Jh. (21965) 87–110. – 43 Jørgensen u. a. [4]
Auctor ad Herennium bildet noch eine dritte Form:
426f. – 44 J.W. Goethe: Werke, HA Bd. 12 (1982) 225. – 45 ebd. – «Ebenso müssen beratende Reden teils ihrer selbst we-
46 ebd. 226. – 47 vgl. auch J.M.R. Lenz: Anm. übers Theater, in: gen genau überlegt werden, z.B. wenn der Senat berät,
G. Sauder (Hg.): Theorie der Empfindsamkeit und des S. (2003) ob er die Gefangenen von den Feinden loskaufen soll
308–311. – 48 vgl. etw. Cic., De or. II, 189–191. – 49 vgl. B. As- oder nicht; teils kommen sie wegen irgendeiner außer-
muth: Art. ‹Drama›, in: HWRh, Bd. 2 (1994) Sp. 918f. – 50 K.Ph. halb liegenden Ursache zur Beratung und Überlegung,
Moritz: Werke, Bd. 3 (1981) 622–629, hier 622. – 51 I. Engel: z.B. wenn der Senat im Punischen Krieg berät, ob er Sci-
Werther und die Wertheriaden (1986) 58. – 52 H. Flaschka: pio von gesetzlichen Bindungen lösen soll, damit er vor
Goethes ‹Werther›. Werkkontextuelle Deskription und Ana-
lyse (1987) 141. – 53 V. Lange: Die Sprache als Erzählform in
der festgesetzten Zeit Konsul werden könne; teils bei-
Goethes ‹Werther›, in: W. Müller-Seidel (Hg.): Formenwandel. des: sie müssen ihrer selbst wegen beraten werden und
FS.P. Böckmann (1964) 261–272, hier 264. – 54 Jørgensen u. a. kommen noch mehr wegen einer außerhalb liegenden
[4] 426. – 55 ebd.; vgl. dazu auch W. Krauss: Stud. zur dt. und frz. Ursache zur Beratung, z.B. wenn der Senat im italischen
Aufklärung (1963) insbes. 309–399. – 56 Kaiser [35] 12. – 57 ebd. Krieg berät, ob er den Bundesgenossen das Bürgerrecht
13. – 58 ebd. 175f. – 59 vgl. M. Bachmann: Klassisch (antik) und verleihen soll oder nicht.» [14] Gewöhnlich gab es bei
romantisch (modern) bei A.W. Schlegel und J.G. Herder (Diss. Aufgabenstellungen die Wahlmöglichkeit zwischen
Leipzig 1985). – 60 Goethe: Werke. Weimarer Ausg. I, 29 (1891) zwei Alternativen, aber der Auctor ad Herennium [15]
147. – 61 vgl. D. Kremer: Romantik (2001) 1ff.
und Quintilian lassen manchmal auch drei Möglichkei-
B. Jeßing ten der Entscheidung zu, so Quintilian: «Man vergleicht
auch nicht nur Nützliches mit Unnützem, sondern auch
^ Aufklärung ^ Drama ^ Empfindsamkeit ^ Genie ^ Klas-
sizismus, Klassik ^ Lyrik ^ Poetik ^ Romantik
Nützliches untereinander, wenn wir etwa eine Auswahl
unter zwei Möglichkeiten treffen, was im einen Fall
mehr, im anderen weniger vorhanden ist. Das kann noch
weitergehen. Denn zuweilen kommen sogar dreifache
Suasoria (griech. protrophÂ/aÆpotrophÂ, protropē´/apo- Suasorien vor, etwa als Pompeius beriet, ob er nach Par-
tropē´; engl. suasory; frz. suasoire; ital. suasoria) thien, Afrika oder Ägypten sich wenden sollte.» [16]
A. Def. Die suasoria, die Übungsrede in Beratungs- Beide Formen der Einteilung sind bei Emporius [17]
situationen [1], ist – im Gegensatz zu suasio als dem all- verbunden.

245 246
Suasoria Suasoria

Ganz allgemein empfiehlt Quintilian politisch-ethi- niger Kenntnis erfordernd den Knaben übertragen, die
sche Fragestellungen als Suasorienthemen: «Auch die Kontroversien den Älteren zugewiesen.» [31] Bei der
Frage nach dem Ehrenhaften wird gestellt: ob die Rache Zeichnung der Person des Sprechers (hÆuopoiiÂa, ētho-
an Pompeius Caesars würdig sei; ob zu befürchten sei, poiı́a) verlangt Quintilian die Übereinstimmung zwi-
daß es die Sache der eigenen [Caesars] Partei ver- schen dem Charakter des Ratgebers und seiner Re-
schlechtere, wenn er zugebe, Pompeius habe den Tod de. [32]
nicht verdient.» [18] Abgrenzungsprobleme zur contro- B. Geschichte. I. Antike. Die S. dürfte zwar so alt
versia, der fiktiven Gerichtsrede, ergeben sich bei Ge- sein wie die Schulrhetorik selbst, Zeugnisse dieser Gat-
setzesanträgen: «Legum laus ac vituperatio iam maiores tung aus der Zeit vor Seneca d.Ä. sind allerdings nur
ac prope summis operibus suffecturas vires desiderant: spärlich erhalten [33]. In seiner ‹Rhetorik› erwägt Ari-
quae quidem suasoriis an controversiis magis accomo- stoteles die topischen Gesichtspunkte, die jemand an-
data sit exercitatio, consuetudine et iure civitatium dif- zuwenden hat, der Achilles beraten möchte (symboy-
fert.» (Lob und Tadel der Gesetze verlangen schon stär- leyÂonta tv Äì ÆAxilleiÅ). [34] Fragmente früher S. hat der
kere und fast für höchste Aufgaben ausreichende Kräf- Wüstensand aufbewahrt: Der Papyrus P. Hib. 15 aus der
te: Ob diese Übung allerdings mehr den Suasorien oder Zeit zwischen 280 und 240 v. Chr. [35] ist wohl eine S.
Kontroversien angepaßt ist, ist nach Brauch und Recht eines griechischen Generals an ein griechisches Publi-
der Staaten verschieden.) [19]. Fortunatian [20] und Iu- kum. Der Papyrus P. Oxy. 216 aus der ersten Hälfte des
lius Victor [21] weisen dies dem genus iudiciale zu. [22] ersten nachchristlichen Jh. [36] trägt Züge einer S. und
Der Auctor ad Herennium nennt als typische Suasorie- ist thematisch in der bei den Deklamatoren so beliebten
nthemen die Fragen, ob Karthago (von den Römern) Umgebung Philipps II. [37] oder seines Sohnes Alexan-
zerstört werden solle, ob Hannibal den Befehl zur Rück- ders des Großen [38] angesiedelt. [39]
kehr befolgen oder in Italien bleiben oder ob er schließ- Beispiele der Praxis der S. aus der Antike sind nur
lich nach Ägypten aufbrechen und Alexandria besetzen von Seneca dem Älteren erhalten. [40] Seine sieben
solle. [23] Suasorien bilden ein eigenes Buch, das man in zwei Teile
Von besonderer Bedeutung ist in der deliberativen zerlegen kann (Suas. 1–5 und Suas. 6–7). Sententiae und
Rede der Umstand, daß die Charaktere der Zuhörer divisio sind ausgearbeitet, colores fehlen; nicht erhalten
ganz verschieden sind: Ehrenwerten Adressaten Ehren- ist auch die praefatio. [41] Daß Seneca für seine beein-
wertes zu raten ist sehr leicht, will man das Rechte aber druckende Galerie von Deklamatoren [42], die er in sei-
vor schlechten Menschen durchsetzen, darf man nicht ner Jugendzeit gehört hatte, bei der Abfassung von im-
deren Lebensweise kritisieren [24], und da das Ehren- merhin 10 Büchern controversiae und einem Suasori-
hafte auf diese keine Wirkung hat, soll man zu anderen enbuch – und das rund ein Dreivierteljahrhundert später
Mitteln greifen [25]. Bisweilen werden auch guten Men- – nur sein Gedächtnis abrufen mußte [43], ist zu Recht
schen moralisch anfechtbare Ratschläge gegeben, und angezweifelt worden. Von schriftlichen Vorlagen und
schlechten Menschen wird für sie Nützliches empfoh- Anthologien der Deklamationen bedeutender Redner
len. [26] Besonders für Deklamationsübungen stellt wie Cestius, Montanus, Scaurus, Menestratus und Pollio
Quintilian das Gebot auf, daß guten oder auch schlech- kann mit Sicherheit ausgegangen werden. [44]
ten Menschen unehrenhafte Maßnahmen nicht als Unter den bei Seneca erhaltenen S. überwiegen hi-
solche empfohlen werden dürfen, sondern daß sie zu storische Themenstellungen: Suas. 1: «Alexander über-
beschönigen sind. [27] Auch die Überzeugung vieler legt, ob er über den Ozean fahren solle»; Suas. 2: «Drei-
Deklamatoren, das genus dicendi der S. müsse völlig ver- hundert gegen Xerxes entsandte Spartaner überlegen
schieden von dem der controversiae sein, wird von Quin- nach der Flucht von 300 Soldaten, die aus ganz Grie-
tilian getadelt. [28] Der Wortschmuck ist in den Schul- chenland geschickt worden waren, ob sie selbst auch flie-
suasorien nicht stärker anzustreben als in den contro- hen sollen»; Suas. 4: «Alexander der Große überlegt, ob
versiae, er ergebe sich aber in dieser Gattung von selbst er Babylon betreten solle, obwohl ihm ein Augur Gefahr
in höherem Maße. Denn für diese S. werden hochste- prophezeit hat»; Suas. 5: «Die Athener überlegen, ob sie
hende Personen und bedeutendere Gegenstände ge- das Siegesdenkmal des Perserkrieges beseitigen sollen,
wählt, und die Worte sind an diese anzupassen. da Xerxes droht, andernfalls zurückzukehren»; Suas. 6:
Ganz allgemein steht die S. thematisch der politi- «Cicero überlegt, ob er Antonius um Gnade bitten sol-
schen Ansprache nahe, auf diese vorzubereiten war le»; Suas. 7: «Cicero überlegt, ob er seine Schriften ver-
wohl Sinn der Übung. Daß dabei die häufig traktierte brennen solle, da ihm in diesem Falle Antonius Scho-
und schon von den Alten angeprangerte ‹Realitätsfer- nung verheißt». Lediglich Suas. 3 stellt sich einen my-
ne› der Sujets dem erzieherischen Erfolg der Deklama- thologischen Stoff zur Aufgabe: «Agamemnon überlegt,
torik abträglich war, wird heute nicht mehr einhellig be- ob er Iphigenie opfern solle, da Kalchas sagt, sonst kön-
hauptet. Denn daß der Jünger der Beredsamkeit in mög- ne man nicht weitersegeln». [45] Aus Contr. II, 4, 8 geht
lichst viele mannigfaltige und außergewöhnliche, auch hervor, daß Seneca die suasoriae nach den controversiae
der eigenen Lebenswirklichkeit widersprechende Rol- verfaßt hat. Freilich läßt sich Bestimmtheit hierin nicht
len schlüpfen muß, verlangt geistige Wendigkeit und so- gewinnen. Eine Vermutung bleibt auch, daß die beiden
ziales Einfühlungsvermögen. [29] Quintilian hält ein Teile der suasoriae (1–5 und 6–7) jeweils auf das zweite
Prooimion für eine S. nicht unbedingt für angebracht, und vierte Buch der controversiae gefolgt seien. [46] Aus
die captatio benevolentiae sei ja bei dem, der um Rat Suas. 6, 27 wird geschlossen, daß uns das Suasorienka-
fragt, nicht nötig, dennoch solle der Redner nicht zu jäh pitel mit dem ciceronischen Dilemma, sich nur durch die
und abrupt einsetzen und sich überhaupt vor Übertrei- Verbrennung seiner Werke sein Leben erkaufen zu kön-
bungen hüten. [30] Im Unterricht wurden die S. vor den nen, abgeschlossen vorliegt. Die Beliebtheit Ciceros als
als etwas schwieriger erachteten Kontroversien behan- Deklamationsobjekt schlägt sich bei Seneca noch in
delt: «Werden doch zwei Arten von Stoffen bei den Re- Contr. VII, 2 (Popillius Ciceronis interfector, Cicero-
delehrern behandelt, Suasorien und Kontroversien. Da- mörder Popillius) nieder und wird auch von Quintilian
von werden die Suasorien als eindeutig leichter und we- bezeugt. [47]

247 248
Suasoria Suasoria

Seneca beschreibt den Wandel der Redekunst zu sei- wird. Sie ist zweigeteilt: Zuraten und Abraten, und zwar
nen Lebzeiten. Eine Zeit lang hat man versucht, aus bezüglich eines Anzustrebenden und bezüglich eines zu
Dichtern der frühen Kaiserzeit geradewegs versifizie- Vermeidenden, d. h. hinsichtlich eines Tuns oder hin-
rende Rhetoriker zu machen. [48] Vor allem den ‹He- sichtlich eines Unterlassens. Die S. wird aber in drei Be-
roides› Ovids wurde bisweilen nachgesagt, sie seien reiche (loci) geteilt: das Ehrenhafte (honestum), das
«little else than suasoriae» [49]. Genährt wurde diese Nützliche (utile) und das Mögliche (possibile). Hierin
Ansicht, die das schriftstellerische Genie Ovids doch be- unterscheidet sich die S. etwas von der beratendenden
trächtlich verengt, von Seneca Pater selbst, der Ovids Rede, da die S. eine andere Person verlangt, die bera-
Ausbildung in den Rhetorenschulen Roms bezeugt und tende Rede aber bisweilen mit sich selbst auskommt. In
über den deklamierenden Dichter ausführt: «Er hatte der S. aber gibt es zwei Dinge, die von besonderer Be-
ein schmuckes, wohlgebildetes und liebenswertes Ta- deutung sind: Furcht und Hoffnung.» [65]
lent. Seine Rede konnte schon damals nur den Eindruck Gehen wir von unserer engen Definition der S. aus, so
eines Gedichts in Prosa machen.» [50] «Während seines hat diese Gattung, anders als die der Kontroversien, ein
Studiums galt er als guter Deklamator.» [51] «Ovid de- schwaches Fortleben entfaltet. [66] Daß die S. als Ela-
klamierte allerdings selten Kontroversien, wenn solche, borat des Klassenzimmers in der Spätantike nicht außer
dann nur ethische; lieber hielt er Suasorien; jede Argu- Übung geraten ist, scheint Gregor von Nazianz in ep.
mentation war ihm ein Greuel.» [52]. Dennoch be- 235 [67] zu bezeugen, wo er auf gängige Suasorienthemen
schränken sich die Gemeinsamkeiten zwischen S. und Bezug nimmt. Jedenfalls kommt es zu einer Verwischung
Ovids Heroinenbriefen auf die mythische Szenerie und der Gattungsgrenzen. Auch nach Seneca, Pseudo-Quin-
auf adhortative Elemente; Hauptspezifika der symbu- tilian und Calpurnius Flaccus gibt es eine rege Pro-
leutischen Schulgattung wie die Alternativfrage (ob- duktion von declamationes, die zwar keine controversiae
oder), die starke Zukunftbezogenheit der Argumenta- im antiken senecanischen Sinne darstellen, d. h. keine fin-
tion [53] fehlen den ‹Heroides› völlig. [54] gierten forensischen Schulreden sind, aber eben auch
In den uns erhaltenen Resten von Suetons ‹De gram- keine S. nach dem senecanischen Vorbild, Reden eben,
maticis et rhetoribus› [55] wird nicht bzw. nur indirekt die in eine historische oder mythologische Situation ge-
von S. gesprochen. [56] Lukian von Samosata (ca. 120– stellt sind und zu einem Unternehmen zu- oder abraten.
180), der Meister witziger und sprachlich anmutiger Un- So gelten die dictiones des Bischofs und kirchlichen
terhaltung, hat uns auch zwei Schulreden zu einem be- Schriftstellers Ennodius (473/4-521 n. Chr.) [68] als
liebten Thema der griechischen Frühzeit hinterlas- «ebenso bedeutsame Unterlagen für die Erforschung der
sen: [57] In der ersten Rede spricht ein Gesandter des Pädagogik der römischen Rhetorik wie die Werke des
Phalaris, des grausamsten Tyrannen der Antike, zu den älteren Seneca und des Pseudo-Quintilian» [69]. Sie wer-
Priestern und dem Volk von Delphi. Die Rede zielt dar- den traditionellerweise in controversiae und dictiones
auf ab, daß der eherne Stier, das berüchtigte Folterwerk- ethicae unterteilt; letztere nehmen starke Anleihen an
zeug des Gewaltherrschers, als Weihegeschenk für den den klassischen Vorbildern, die wir von Seneca ken-
pythischen Apoll angenommen werde. In der zweiten nen [70], und werden manchmal auch als S. bezeich-
Rede unterstützt ein Einwohner von Delphi die Rede net [71], allerdings fehlt die klar ablehnende oder klar zu-
des Gesandten des Phalaris. Es handelt sich um proso- ratende Position dieser Reden, sodaß man dabei eher von
popoietische Übungsstücke mit stark suasivem Ein- pathetischen Ethopoiien spricht. [72]
schlag. [58] Der rhetorisch geschulte christliche Advokat Blossi-
Von anderen Autoren der zweiten Sophistik ist ledig- us Aemilius Dracontius aus Karthago (Ende 5. Jh.) [73]
lich ein bunter Kranz von Suasorienthemen erhalten, zeigt in seinen profanen mythologischen Dichtungen
allerdings sind – bis auf drei Deklamationen eines Les- rückwärtsgewandtes römisches Selbstbewußtsein. Dar-
bonax aus Mytilene (2./3. Jh. n. Chr.) [59] – kaum Texte unter findet sich die S. ‹Deliberativa Achillis an corpus
auf uns gekommen. Die erste Rede (‹Politikos›) läßt Hectoris vendat› (Beratschlagungsfall [74] des Achill,
Lesbonax einen Athener nach der Eroberung von Pla- ob er Hektors Leichnam verkaufen solle) [75]. Der Titel
taiai durch die Thebaner (373 v. Chr.) halten. Sie soll sei- steht jedoch mit dem Inhalt des hexametrischen Gedichts
ne Mitbürger zu einem Rachefeldzug gegen Theben von 231 Versen nicht im Einklang. Darin soll Achill näm-
überreden. [60] Die zweite (‹Protreptikos A›) ist die An- lich bestimmt werden, den von ihm mißhandelten Leich-
sprache eines Feldherrn an seine Soldaten vor der nam Hektors zur Einäscherung freizugeben. Der an-
Schlacht. Aus dem kurzen Elaborat sind Rückschlüsse onyme Sprecher [76] argumentiert eingangs alternativ:
auf Zeit und Ort des Geschehens nicht zu ziehen. ‹Pro- Wenn die Seele mit dem Tode erlösche, gäbe es keinen
treptikos B› ist eine Ansprache an die Athener, nach- Grund, dem Feind die Bestattung zu verweigern, könne
dem die Lakedaimonier im Jahre 413 v. Chr. die Sklaven der Leib nach dem Tod noch empfinden, sei die Ein-
der Athener zum Aufruhr angestachelt und das atheni- äscherung für Hektor eine Qual – daß Achill dies will,
sche Umland nach der Besetzung von Dekeleia verwü- davon geht der Ratgeber aus. Er weist daraufhin das
stet hatten. [61] Diesen symbuleutischen Schulreden erste Argument als Lüge zurück und endet mit der Schil-
fehlt das übliche deliberat-Schema und die klare Ja- derung des Aufstiegs der Frommen in die Astralregi-
oder-Nein-Antithese der S., ebenso wie einer Jugend- on. [77]
schrift des Themistios mit dem suasorisch anmutenden II. Mittelalter. Im Mittelalter kommt die Deklamati-
Titel eiÆ gevrghteÂon (soll man Landbau betreiben? = onspraxis nahezu zum Erliegen. [78] Dennoch hat Wal-
Or. 30), einer reinen Lobschrift auf den Bauernstand, ter Map, Jurist am Hofe Heinrichs II., Kanzler in Lincoln
seit Maximos von Tyros eine beliebte rhetorische Fin- (1186) und Archidiakon in Oxford (1196/97), die oben
gerübung [62]. gestellte Frage, ob man heiraten solle, eine klassische
Ciceronische [63] und Quintilianische [64] Momente Thesis, in eine abratende Rede gekleidet. [79] Seine zu-
fügt Isidor von Sevilla zu einer Begriffsbestimmung: erst wohl gesondert in Umlauf gebrachte ‹Dissuasio Va-
«Die beratende Beredsamkeit (deliberativum genus) hat lerii ad Rufinum philosophum ne uxorem ducat› (Vale-
ihren Namen davon, daß in ihr über jeden Punkt beraten rius [80] rät dem Philosophen Rufin vom Heiraten ab),

249 250
Suasoria Suasoria

ein in Briefform abgefaßter einflußreicher Protreptikos In der Folgezeit findet die S. in der oben skizzierten,
zur Ehelosigkeit [81], ist als Teil seiner um 1181 verfaßten von Seneca vorgegebenen Form, anders als andere
Anekdotensammlung ‹De nugis curialium› (‹Höfische Übungsformen der antiken Schulrhetorik wie Chrie,
Belustigungen› oder ‹Flausen der Hofleute› [82]) über- Thesis, Prosopopoiie und die Deklamation überhaupt,
liefert und bietet exempelhaft alles auf, was die antike keine Fortsetzung. D.L. Clark plädiert für die Wieder-
und altkirchliche Literatur an Frauenfeindlichem zu bie- einführung der S. in den modernen Unterricht: «Ich hof-
ten hatte. [83] fe [...] gezeigt zu haben, daß schulische Beratungsreden
III. Neuzeit. Erasmus von Rotterdam äußert sich in über historische Themen eine gewinnbringende Sache
‹De ratione studii› (1511) [84] anerkennend über den sind. Könnten amerikanische Jungen oder Mädchen
pädagogischen Wert des Deklamierens und nennt neben nicht die Lebendigkeit der amerikanischen Geschichte
homerischen Themen für deliberative Reden als Glanz- entdecken, wenn man sie mit Themen wie den folgenden
punkte auch Senecas S. 7 und den Phalaris-Stoff. [85] beschäftigte: ‘Washington ruft seine Truppen in Valley
Aber schon fast zwei Dezennien davor hat der holländi- Forge zu neuem Mut auf.’ [...] ‘Lincoln erwägt das Für
sche Humanist die allgemeine Thesis für und wider die und Wider der Sklavenbefreiung.’.» [98] Gegenwärtig
Ehe in zwei epistolae suasoriae gegossen, die Teile von erlebt die S. im Zuge der Verbreitung von Debattier-
‹De conscribendis epistolis› bilden [86] und sich streng an clubs nach britisch-amerikanischem Vorbild auch im
die quintilianischen Vorschriften für das genus delibera- deutschsprachigen Raum wieder einen gewissen Auf-
tivum halten. [87] Vor allem der erste Teil, die epistula schwung. Nach sportlichen Regeln werden bei Debat-
suasoria, die bald auch gesondert als ‹Preis der Ehe› [88] tenturnieren in Formaten wie etwa der ‹Offenen parla-
ediert wird, bringt Erasmus den Tadel der Kirche und den mentarischen Debatte› aktuelle politische Streitfragen
Verdacht des Lutherismus ein, da man darin eine Kritik kontrovers diskutiert. [99]
des Zölibats und des mönchischen Lebens gesehen
hat. [89] Wie der zur Ehe ratende Brief ist auch dessen Anmerkungen:
ehekritisches Gegenstück, die epistula dissuasoria, an ei- 1 Auct. ad Her. I, 1, 2. – 2 Cic. De or. II, 333; Inv. I, 7; Auct. ad
nen fiktiven jungen Mann gerichtet und in einen quasi- Her. I, 2; vgl. Quint. II, 4, 25. – 3 vgl. Quint. III, 8, 6. – 4 J. Klek:
individuellen Kontext gestellt. Katholische Kritik an sei- Symbuleutici qui dicitur sermonis historia critica per quattuor
ner ehefreundlichen Haltung veranlaßt Erasmus zu einer saecula continuata (1919) 157–162. – 5 dazu eingehend H.
Verteidigungsschrift ‹Apologia pro declamatione [90] Throm: Die Thesis. Ein Beitrag zu ihrer Entstehung und Gesch.
matrimonii› (1519) [91], worin er den rhetorischen und (1932) und darauf aufbauend D. Matthes: Hermagoras von
dialektischen Aspekt der S. und den didaktischen Wert Temnos 1904–1955, in: Lustrum 3 (1958) 58–214, präzise und
klar zur Unterscheidung von thésis und hypóthesis (bzw. quae-
des für dieses Genre üblichen in utramque partem disse- stio infinita und quaestio finita) 121–132, daneben G. Reichel:
rere unterstreicht. [92] Den Angriffen Josse Clichtoves Quaestiones progymnasmaticae (1909) 113; H. von Arnim: Le-
erwidert er mit einer ‹Dilutio eorum quae Iodocus Cli- ben und Werke des Dio von Prusa. Mit einer Einl.: Sophistik,
thoveus scripsit adversus declamationem Des. Erasmi Rhetorik, Philosophie in ihrem Kampf um die Jugendbildung
Roterodami suasoriam matrimonii› (1532) [93]. (1898) 93–98. – 6 vgl. Diogenes Laertios VI, 3; VI, 54. – 7 und
Der spanische Humanist Juan Luis Vives (1492– wohl auch mit Sokrates, vgl. R. Kohl: De scholasticarum de-
1540) knüpft wohl an antike Traditionen an und verfaßt clamationum argumentis ex historia petitis (1915) 48; K. Gaiser
S. nach altem Muster [94]: Diese ausgefeilten S. sind in (Hg.): Für und wider die Ehe: antike Stimmen zu einer offenen
Frage, zsgest. u. übers. v. K.G. (1974). – 8 Syriani in Hermoge-
der römischen Republik angesiedelt und kreisen um nem commentaria, ed. H. Rabe (1892) p. 169, 17. – 9 Dionysios
Sulla, der als Mensch und Alleinherrscher in allen Fa- von Halikarnassos, Ars rhetorica, cap. 10, 15, in: Dionysii Ha-
cetten oratorisch ausgeleuchtet wird. licarnasei quae exstant, Vol. II, ed. H. Usener, L. Radermacher
In der ersten S. wird Sulla von einem gewissen Fun- (ND 1997) p. 370, 22. – 10 Quint. III, 8, 22–25. – 11 ebd. 26–29. –
danus geraten, die Diktatur nicht niederzulegen. In der 12 Die Zahl der Teile schwankt bei den einzelnen Autoren, vgl.
zweiten rät Fundanus zum Gegenteil. Sprecher der drit- Anax. Rhet. 1, 13; Cic. Inv. II, 157ff.; De or. II, 334ff.; Part. 83ff.,
ten ist Sulla selbst, er hält gleichsam einen Rechen- vgl. Hermog. Stat. 76, 4, Sulp. Vict. 342, 7f., ferner J. Adamietz
schaftsbericht anläßlich seiner Abdankung. Sprecher (Hg.): M.F. Quintiliani institutionis oratoriae lib. III (1966)
180f. – 13 Arist. Rhet. I, 3, 1358b 22; Quint. III, 4, 16; III, 8, 1–3;
der vierten Deklamation ist Marcus Aemilius Lepidus, III, 8, 22 u. 33; Anax. Rhet. 1, 13. – 14 Auct. ad Her. III, 2. –
der designierte Konsul, mit einer Tadelrede auf die po- 15 ebd. III, 2, 2. – 16 Quint. III, 8, 33; zu einem Echo solcher
litischen Untaten Sullas und der Forderung, ihn zur Re- Schulübungen bei Lucan VIII, 262ff. u. 276ff. vgl. St. F. Bonner:
chenschaft zu ziehen. Die fünfte Rede setzt Sullas Tod Lucan and the Declamation Schools, in: American J. of Philo-
voraus, Lepidus attackiert den Toten und fordert die logy 87 (1966) 286f.; vgl. ferner zur Beratung des Pompeius nach
Rücknahme Sullanischer Maßnahmen. [95] In ihrer der Niederlage von Pharsalus Plutarch, Pompeius 76; Velleius
komplexen thematischen Geschlossenheit um eine hi- Paterculus II, 53, 1; Florus II, 13, 51; Kohl [7] 101. – 17 Emporius,
storische Gestalt sind die ‹Declamationes Sullanae› in: Rhet. Lat. min. 570, 28–571, 5. – 18 Quint. III, 8, 57. – 19 ebd.
II, 4, 33; vgl. dazu auch J. Dingel: Scholastica materia. Unters. zu
nicht nur in der Renaissance-Literatur eine Besonder- den Declamationes minores und der Institutio oratoria Quinti-
heit, auch in der Antike fehlt ein Vorbild im Bereich lians (1988) 109f. – 20 Fortun. Rhet. II, 7. – 21 Iul. Vict. 3, 5; 4, 4. –
der Schuldeklamatorik. Vives erwähnt selbst, daß er 22 vgl. Ps.-Quint., Declamationes minores 255, 1 und M. Win-
das Ensemble von Ciceros Reden gegen Verres als terbottom (Hg.): The Minor Declamations Ascribed to Quin-
Vorbild vor Augen gehabt habe. [96] Die S. des Vives tilian. Ed. with Comm. (Berlin/New York 1984) 324 z. St. –
sind im Humanismus vielleicht die einzigen, die sich 23 Auct. ad Her. III, 2. – 24 Quint. III, 8, 38. – 25 ebd. 39–40; vgl.
eng an das Vorbild des alten Seneca anlehnen. Den S. Cic. Part. 91–92. – 26 Quint. III, 8, 41–47. – 27 ebd. 44–47. –
des Seneca und des Vives ist neben ihrer Fiktionalität 28 ebd. 58, vgl. auch 60–61. – 29 vgl. K. Vössing: Non scholae sed
vitae – der Streit um die Deklamationen und ihre Funktion als
noch gemeinsam, daß sie ein suadere bzw. ein dissua- Kommunikationstraining, in: G. Binder, K. Ehlich (Hg.): Kom-
dere zum Gegenstand haben und sich im Hinblick auf munikation durch Zeichen und Wort (1995) 91–136; W.M.
ein konkretes Unterfangen fragen: utrum potius faci- Bloomer: A Preface to the History of Declamation: Whose
endum sit [97], also ein ‹ob›, kein ‹wie› zum Inhalt ha- Speech? Whose History?, in: T. Habinek, A. Schiesaro (Hg.):
ben. The Roman Cultural Revolution (Cambridge 1997) 199–215. –

251 252
Suasoria Suasoria

30 Quint. III, 8, 6. u. 58–60, vgl. Arist. Rhet. III, 14, 1415b 33–38; Top. 84. – 64 Quint. III, 8, 22. – 65 Isid. Etym. II, 4, 4. – 66 zum
Anax. Rhet. 29, 18f.; Cic. Part. 13. – 31 Tac. Dial. 35, 4. – Nachleben der controversia im MA vgl. neben dem Art. ‹Con-
32 Quint. III, 8, 48. – 33 Wohl aber sind Themen erhalten und troversia› in diesem Wtb. noch Th. Haye: Oratio. Ma. Rede-
gesammelt bei Kohl [7]. – 34 Arist. Rhet. II, 22, 1396a 25. – kunst in lat. Sprache (Leiden 1999) 19f., 61–66, 170–173. –
35 The Hibeh Papyri, Part I, ed. with transl. and notes by B.P. 67 MG Bd. 37, 377; vgl. R.R. Ruether: Gregory of Nazianzus.
Grenfell and A.S. Hunt (London 1906) 55–61. – 36 The Oxy- Rhetor and Philosopher (Oxford 1969) 53, A. 1. – 68 ed. W. Har-
rhynchus Papyri, Part II, ed. with Transl. and Notes by B.P. tel, in: CSEL Bd. 6 (Wien 1882). – 69 J. Fontaine: Art. ‹Enno-
Grenfell and A.S. Hunt (London 1899) 33–34. – 37 Kohl [7] 56– dius›, in: RAC 5 (1962) 402. – 70 vgl. S.A.H. Kennell: Magnus
60. – 38 eine der Hauptfiguren der S. überhaupt, vgl. Sen. Suas. 1 Felix Ennodius. A Gentleman of the Church (Ann Arbor 2003)
und 4; Contr. VII, 7, 19; Quint. VIII, 5, 24; Fronto p. 160, 9 Naber 74–79; C. Fini: Le fonti delle dictiones di Ennodio, in: Acta An-
= p. 153, 12f. van den Hout; Dio Chrysostomus or. 22, 3 (die tiqua academiae scientiarum Hungaricae 30 (1982–4) 387–393;
Rede ist insgesamt [S. 271–273 in der Ausg. von H. von Arnim] L. Navarra: Le componenti letterarie e concettuali delle ‹Dic-
sehr aufschlußreich für die Einschätzung des didaktischen Er- tiones› di Ennodio, in: Augustinianum 12 (1972) 465–478; W.
trags der Traktierung gängiger schulrhetorischer Themen in der Schetter: Die Thetisdeklamation des Ennodius, in: Kaiserzeit
zweiten Sophistik). – 39 R.W. Smith: The Art of Rhetoric in und Spätantike. Kleine Schr. 1957–1992 (1994) 406–423. – 71 A.
Alexandria (Den Haag 1974) 115–122. – 40 L. Annaeus Seneca Ebert: Allg. Gesch. der Lit. des MA im Abendlande bis zum
Maior: Oratorum et rhetorum sententiae, divisiones, colores, Beginn des XI. Jh., Bd. 1 (21889) 436. – 72 dazu eingehend B.-J.
o
rec. L. Hakanson (1989) 331–373; The Elder Seneca: Declama- Schröder: Charakteristika der ‘dictiones ethicae’ und ‘contro-
tions, transl. by M. Winterbottom, vol. 2 (Cambridge, Mass. versiae’ des Ennodius, in: Studium declamatorium. Unters. zu
1974) 484–611. – 41 Da auch jedes Buch der controversiae mit Schulübungen und Prunkreden von der Antike bis zur Neuzeit,
einem Vorwort versehen wird, ist mit einem solchen auch bei hg. v. B.-J. Schröder und J. -P. Schröder (2003) 251–274. – 73 zu
den S. zu rechnen, vgl. L.A. Sussman: Seneca the Elder (Leiden Produktionsbedingungen, Leben und Werk vgl. B. Weber: Der
1978) 69 nebst Anm. 117. – 42 Insofern ist das Werk ein bedeu- Hylas des Dracontius, in: Romulea 2 (1995) 25–51. – 74 causa
tendes Dokument antiker Literaturkritik, vgl. J. Fairweather: ergänzt ThLL V, 438, 84. – 75 Dracontius. Œuvres tom. IV. Po-
The Elder Seneca and Declamation, in: ANRW II, 32, 1 (1984) èmes profanes VI–X, fragments, texte établi et traduit par É.
514–556, hier 529: M. von Albrecht: Gesch. der röm. Lit., Bd. 2 Wolff (Paris 1996) 40–51 (Text mit frz. Übers.) 173–186 (Kom-
(21994) 990. – 43 so nach Sen. Contr. I pr. 1–5. – 44 vgl. dazu Suss- mentar). – 76 so zu Recht W. Schetter: Dracontius, Romulea, 9,
man [41] 75–83. – 45 W.A. Edward: The Suasoriae of Seneca the 18–30, in: Rhein. Museum für Philol. NF 124 (1981) 81 – gegen
Elder. Introd. Essay, Text, Transl. and Explanatory Notes etwa J. Tolkiehn: Homer und die röm. Poesie (1900) 149 (der
(Cambridge 1928); M. Winterbottom: Roman Declamation. Ex- Priamus als Sprecher annimmt) und P. Langlois: Art. ‹Dracon-
tracts ed. with Comm. (Bristol 1980) 52–59 (Suas. 1, 5–6). – tius›, in: RAC Bd. 4 (1959) 256 (der diese S. Achill zuschreibt);
46 Fairweather [42] 539f. – 47 III, 8, 46; zur Abweichung der S. vgl. ferner J. Bouquet: L’influence de la déclamation chez Dra-
Senecas von Quintilians theoret. Vorgaben vgl. G. Hoffa: De contius, in: J. Dangel, C. Moussy (Hg.): Les structures de l’ora-
Seneca patre quaestiones selectae (1909) pass., bes. 54–65. – lité en latin (Paris 1996) 245–255. – 77 ausführl. zur drakonti-
48 S.F. Bonner: Roman Declamation in the Late Republic and schen Synthese paganer und christlicher Vorstellungen von
Early Empire (Liverpool 1949) 149–167; ders. [16]; D.H. Ho- «den letzten Dingen» Schetter [76] 81–94. – 78 M. Kraus: Art.
gendorn: Declamatory Influences in Lucan’s Pharsalia, in: Har- ‹Exercitatio›, in: HWRh 5 (1996) s. v.; gegen die These vom Er-
vard Studies in Philology 74 (1970) 337–339; J. De Decker: Ju- liegen des Deklamationswesens mit Ennodius im 6. Jh. und sei-
venalis Declamans. Études sur la rhétorique declamatoire dans nem Wiederaufleben im 14. Jh. Haye [66] 3–11. – 79 Walter Map:
les satires de Juvénal (Gent 1913); vgl. R. Webb: Poetry and De nugis curialium/Courtiers’ Trifles, ed. and transl. by M.R.
Rhetoric, in: St. E. Porter (Hg.): Handbook of Classical Rhe- James, rev. by C.N.L. Brooke, R.A.B. Mynors (Oxford 1983)
toric in the Hellenistic Period (330 B.C. – A.D. 400) (Leiden u. a. 288–315; dazu N. Cartlidge: Misogyny in a Medieval University?
1997) 339–369, den Einfluß der declamationes auf die röm. The ‹Hoc contra malos› Commentary on Walter Map’s Dis-
Dichtung betreffend bes. 349–369. Als völlig verfehlt ist der suasio Valerii, in: J. of Medieval University 8 (1998) 156–191. –
jüngst unternommene Versuch anzusehen, die Proömien des 1. 80 ein Pseudonym natürlich; aber noch Migne hat den Brief in
und 2. Buches von ‹Contra Apionem› des jüdischen Historikers seine Sammlung aufgenommen (ML Bd. 30, 254C–261C), vgl. P.
und Apologeten Flavius Iosephus aus dem 1. Jh. n. Chr. als Sua- Lehmann: Pseudo-antike Literatur des MA (1927; ND 1964) 23–
sorien aufzufassen, vgl. D. Dormeyer: Des Josephus zwei sua- 25. – 81 A.G. Rigg: A History of Anglo-Latin Literature 1066–
soriae (Übungsreden) Über das Volk der Juden. Die beiden 1422 (Cambridge 1992) 89–90, 254; Ph. Delhaye: Le dossier anti-
Vorworte (Proömien) Contra Apionem 1: 1–5; 2: 1–7 und die matrimonial de l’Adversus Jovinianum et son influence sur
beiden Vorworte Lukas 1, 1–4; Acta 1, 1–14, in: J.U. Kalms quelques écrits latins du XIIe siècle, in: Medieval Studies 13
(Hg.): Int. Josephus-Kolloquium Amsterdam 2000 (2001) 241– (1951) 65–86. – 82 so die Übers. in Kindlers Neues Lit. Lex. 17
261. – 49 L.C. Purser in seiner Einl. zu A. Palmer (Hg.): P. Ovidi (1988) 398. – 83 vgl. dazu noch F. Seibt: Über den Plan der
Nasonis Heroides with the Greek Text of Planudes (Oxford Schrift ‘de nugis curialium’ des Magisters W.M., in: Arch. für
1898) XIII; vgl. auch C. Brück: De Ovidio scholasticarum de- Kulturgesch. 37 (1955) 183–203; R. Levine: How to Read Walter
clamationum imitatore (Diss. Gießen 1909). – 50 Sen. Contr. II, Map, in: MlatJb 23 (1988) 91–105; zur Heiratsproblematik vgl.
2, 8. – 51 ebd. 9. – 52 ebd. 12. – 53 Quint. III, 8, 6. – 54 eingehend auch D. Roth: An uxor ducenda. Zur Gesch. eines Topos von
dazu E. Oppel: Ovids Heroides (1968) 38–67; ferner M. v. Al- der Antike bis zur Frühen Neuzeit, in: R. Schnell (Hg.): Ge-
brecht: Ovid. Eine Einf. (2003) 84–130, bes. 124. – 55 C. Sueto- schlechterbeziehungen und Textfunktionen. Stud. zu Ehe-
nius Tranquillus: De Gramm. et Rhet., ed. with a Transl., In- schriften der Frühen Neuzeit (1998) 171–232. – 84 hg. v. J.-C.
trod., and Comm. by R.A. Kaster (Oxford 1995). – 56 ebd. cap. Margolin, in: Opera omnia Des. Erasmi Roterodami ..., ord. I,
25, 5 u. S. 289f. Kaster z. St. – 57 Luciani opera ed. M.D. Mac- tom. II (Amsterdam 1971) 137f. – 85 Erasmus gebraucht die Be-
leod, tom. I (Oxford 1972) 1–7 (Phalaris A), 8–11 (Phalaris B); griffe suasorius und deliberativus durchwegs synonym, vgl. J.
Lucian, vol. I, with an Engl. Transl. by A.M. Harmon (1913; ND Chomarat: Grammaire et Rhetorique chez Erasme, Bd. I (Paris
Cambridge, Mass. 1991) 1–20 bzw. 20–31; zu den Deklamatio- 1981) 530, Anm. 114. – 86 Erasmus Conscr. ep; vgl. die Briefe auf
nen in tyrannos vgl. Kohl [7] 45–48. – 58 Die Reden werden in S. 400–429 bzw. 429–432. – 87 Dies veranschaulicht in präziser
der Lit. bald als lógoi symbuleutikoı́ (B. Keil: Über Lukians Klarheit M. van der Poel: Erasmus, Rhetoric and Theology: the
Phalarideen, in: Hermes 48 [1913] 501; J. Bompaire: Lucien écri- Encomium matrimonii, in: D. Sacré, G. Tournoy (Hg.): Myri-
vain. Imitation et création [Paris 1958] 264), bald als Ethopoiien cae. FS J. Ijsewijn (Löwen 2000) 207–227, bes. 213–220. –
bezeichnet (R. Nickel, Lex. der antiken Lit. [1999] 720). – 88 Encomium matrimonii, hg. v. J.-C. Margolin, in: Opera om-
59 Lesbonactis sophistae quae supersunt edidit et commentariis nia [83] ord. I, tom. V (Amsterdam/Oxford 1975) 333–416. –
instruxit F. Kiehr (1907) 25–37. – 60 vgl. auch Kohl [7] 53f. – 89 zur erasmischen Eheauffassung vgl. E. Telle: Erasme de Rot-
61 vgl. K. Aulitzky: Art. ‹Lesbonax›, in: RE XII 2 (1925) 2104– terdam et le septième sacrement (Genf 1954) 160–176; Cho-
2106. – 62 Maximos von Tyros, diss. 23 u. 24 Hobein; vgl. etwa marat [84] Bd. 1, 949–952; J.B. Payne: Erasmus. His Theology of
auch Libanios, decl. t. 8, 261ff.; 349ff. – 63 Cic. Inv. I, 7; Part. 11, the Sacraments (Atlanta 1970) 109–111; M. Heath: Erasmus and

253 254
Subnexio Subnexio

the Laws of Marriage, in: R. Schnur: (Hg.): Acta Conventus vollen Gestaltung des Textes (ornatus). Als eigenstän-
Neo-Latini Hafniensis. Proceedings of the Eighth Int. Congress dige rhetorische Figur ist sie jedoch nur schwach profi-
of Neo-Latin Studies Copenhagen (Binghamton, NY 1994) 474– liert und deshalb eher als Sammelbegriff zu sehen, unter
484; A.W. Reese: Learning Virginity: Erasmus’ Ideal of Chri-
stian Marriage, in: Bibliothèque d’humanisme et renaissance 57
den sich anders bezeichnete oder spezifischere Figuren
(1995) 551–567; van der Poel [86] 221–227. – 90 Der zur Ehe ra- subsumieren lassen. Im Rahmen der antiken Figuren-
tende Brief wurde auch gesondert als Deklamation ediert, vgl. lehre mit ihrer «Trichotomie von Tropen, Wort- oder
van der Poel [87] 211, Anm. 14 nebst 221. – 91 Des. Erasmus: Ausdrucksfiguren und Gedanken- oder Inhaltsfigu-
Opera omnia, ed. J. Clericus (Leiden 1703–1706) 10 Bde., ND ren» [1] wird die S. meist den Gedanken- oder Inhalts-
Hildesheim 1962 IX, 105 F–112 A.; vgl. zur Überlieferungs- figuren (figurae sententiae) zugerechnet. Die Ände-
gesch. und zu weiteren Rechtfertigungsschreiben des Erasmus rungskategorie wäre in diesem Fall die Umstellung
auch van der Poel [87] 221, Anm. 28. – 92 ebd. 222–227; ders.: (transmutatio). Weil durch die nachträgliche Angliede-
Cornelius Agrippa, the Humanist Theologian and His Decla-
mations (Leiden u. a. 1997) 156–159. – 93 hg. v. E. Telle (Paris
rung mehrteiliger Nebengedanken aber häufig Isokola
1968). – 94 Declamationes quinque Syllanae (Löwen 1520), im (Parallelismen) entstehen, kann die S. auch den Charak-
Bd. 2 der Gesamtausg. von G. Mayans y Sı́scar, 8 Bde. (Valencia ter einer durch Hinzufügung (adiectio) gebildeten Wie-
1782–1790; ND London 1964); die ersten beiden S. liegen in ei- derholungsfigur (etwa der Anapher) bekommen, die vor
ner ausgezeichneten, mit Übers. und Komm. versehenen Ed. allem der amplificatio dient. Sie wäre dann eher zu den
vor: E.V. George: Declamationes Sullanae. Part I (Leiden u. a. Wortfiguren (figurae verborum oder figurae elocutionis)
1989). – 95 E.V. George: The Sullan Declamations: Vives’ In- zu rechnen.
tentions, in: Acta Conventus Neo-Latini Guelpherbytani. Pro- In Bezug auf die syntaktische Anordnung der Haupt-
ceedings of the Sixth Int. Congress of Neo-Latin Studies, hg. v.
S.P. Revard u. a. (Birmingham/New York 1988) 55–61; ders.:
und Nebenglieder läßt sich die S. in mindestens zweifa-
The Declamationes Sullanae of Juan Luis Vives, Sources and cher Hinsicht differenzieren. So schlägt P. Rutilius Lu-
Departures, in: HL 38 (1989) 124–151. – 96 vgl. auch M. van der pus einen posterius-Typ und einen statim-Typ vor: «Nam
Poel: De declamatio bij de humanisten: bijdrage tot de studie sententiis duabus aut pluribus propositis sua cuique ra-
van de functies van de rhetorica in de Renaissance (Den Haag tio vel posterius reddetur, vel statim sub unaquaque sen-
1987) 219f. – 97 Auct. ad Her. III, 2, 2. – 98 D.L. Clark: Rhetoric tentia subiungetur.» (Bei zwei oder mehr Aussagen wird
in Greco-Roman Education (New York 1957) 227, Übers. Red. die jeweilige Begründung entweder hinterher gegeben
– 99 vgl. z.B. T. Bartsch, M. Hoppmann, B. Rex, M. Vergeest: oder unmittelbar an die einzelnen Aussagen ange-
Trainingsbuch Rhet. (2005) 124ff.; 215ff.
schlossen.) [2] Im ersten Fall werden zunächst alle Glie-
der des Hauptgedankens und dann der Reihe nach die
Literaturhinweise: ihnen zugeordneten Nebengedanken genannt. Quinti-
H. Bornecque: Les déclamations et les déclamateurs d’après lian gibt dafür das folgende Beispiel: «Besser ist es näm-
Sénèque le Père (Lille 1902). – M.L. Clarke: Rhetoric at Rome. lich, niemandes Herr als jemandes Knecht zu sein; ohne
A Historical Survey (London 1953). – G.A. Kennedy: The Art
of Persuasion in Greece (Princeton 1963). – J.E.G. Whitehorn:
das erstere nämlich lässt sich in Ehren leben, mit dem
The Elder Seneca: A Review of Past Work, in: Prudentia 1 letzteren aber unter keiner Bedingung.» [3] Im zweiten
(1969) 14–27. – F. Turner: The Theory and Practice of Rheto- Fall fügt man an jedes Glied des Hauptgedankens direkt
rical Declamation from Homeric Greek through the Renais- die entsprechende Begründung an: «Aber ich fürchte
sance (Temple Univ., Ph. D. 1972). – G.A. Kennedy: Classical ihn weder als Ankläger, weil ich unschuldig bin, noch
Rhetoric and Its Christian and Secular Tradition from Ancient scheue ich ihn als Mitbewerber, weil ich Antonius bin,
to Modern Times (London 1980). – D.A. Russell: Greek De- noch erhoffe ich ihn mir als Consul, weil es Cicero
clamation (Cambridge 1983). – L.A. Sussman: The Elder Se- ist.» [4] Hinsichtlich der semantischen Beziehung zwi-
neca and Declamation since 1900: A Bibliography, in: ANRW
II, 32, 1 (1984) 557–577. – E. Gunderson: Declamation, Pater-
schen dem Haupt- und den Nebengedanken der S. kön-
nity, and Roman Identity. Authority and the Rhetorical Self nen ebenfalls zwei Arten unterschieden werden: Kau-
(Cambridge 2003). – E. Migliario: Retorica e storia. Una lettura salität (wie in obigem Beispiel) und Kontrastierung.
delle Suasorie di Seneca Padre (Bari 2007). Wenn die Nebengedanken kausal auf den zuerst ge-
nannten Hauptgedanken bezogen sind, die S. also be-
G. Krapinger gründende Funktion hat, dann wird sie oft aetiologia ge-
nannt. Dient die Anfügung hingegen der Vertiefung des
^ Beratungsrede ^ Controversia ^ Deklamation ^ Erzie- Hauptgedankens oder stellt sie ein antithetisches Ver-
hung, rhetorische ^ Ethopoeia ^ Exercitatio ^ Parlaments- hältnis zwischen seinen beiden Gliedern heraus, dann
rede ^ Protreptik ^ Schulrhetorik
verwendet man meist die Termini comparatio, regressio,
redditio oder prosapodosis. [5] In inhaltsbezogener Per-
spektive kann die S. deshalb auch als eine der von Ari-
stoteles genannten Anordnungsformen der enthyme-
Subnexio (griech. yëpoÂzeyjiw, hypózeuxis, prosapoÂdo- mischen, also deduktiven Schlußfolgerung betrachtet
siw, prosapódosis; lat. auch regressio, redditio, compa- werden: Man präsentiert zuerst die Konklusion (z.B. in
ratio, aetiologia; dt. Anknüpfung) Form einer Sentenz) und liefert dann die mehrteilige
A. Der Begriff ‹S.› leitet sich ab von lat. subnecto: un- Begründung nach. [6]
ten anknüpfen, anbinden. Eine S. ist also die Verknüp- B. Für den Begriff ‹S.› als explizit so benannte, eigen-
fung eines, zumeist aber mehrerer angefügter Neben- ständige Figur gibt es nur in der Spätantike einige we-
gedanken mit einem Hauptgedanken, einer These oder nige Belegstellen. (Pseudo-)Iulius Rufinianus nennt
einer Sentenz. Die beigegebenen Nebengedanken sind den Terminus in seinem Figurentraktat ‹De schematis
dem Hauptgedanken, der selbst semantisch ein- oder lexeos› als lateinisches Synonym für den griechischen
mehrgliedrig sein kann, dabei syntaktisch immer nach- Begriff yëpoÂzeyjiw, hypózeuxis, den er als Verbindung
gestellt und dienen seiner Begründung, Vertiefung oder einzelner Gedanken oder Satzteile mit den ihnen je-
Erläuterung. Innerhalb des klassischen Systems der rhe- weils zugehörigen Wörtern definiert (yÂpozeyjiw est,
torischen officia gehört die S. zur Formulierungslehre cum singulis rebus sententiisque singula debita verba
(elocutio) und hat ihre Systemstelle im Gebiet der kunst- iunguntur). [7] In dem Lehrgedicht ‹Carmen de figuris

255 256
Subnexio Suggestion

vel schematibus› wird die S. hingegen als Äquivalent Suggestion (lat. suggestio; dt. Beeinflussung; frz., engl.
der griech. prosapoÂdosiw, prosapódosis, geführt. Sie suggestion; ital. suggestione)
wird durch diese Bezeichnung als Wiederholungsfigur A.I. Def. – II. Allgemeine Aspekte. – B. Geschichte.
spezifiziert, in der die vorderen Satzteile durch die an- A. I. Def. Gemeinsame Klammer der vielfältigen Ver-
gefügten Komplementärglieder erläutert oder erklärt wendung des auch für die Rhetorik wichtigen Begriffs
werden: «Hoc das, hoc adimis nobis: das spes, adimis ‹S›. ist der Aspekt der Beeinflussung. Diese kann sich
res.» (Dies gibst du, dies nimmst du uns: Du gibst uns auf Denken, Fühlen, oder Wollen beziehen, physiolo-
Hoffnung, du nimmst uns den Besitz.) [8] ‹Prosapódo- gischer, sprachlicher, sensorischer oder motorischer Art
sis› ist auch der Terminus, unter dem bei dem schon er- sein und somit Gefühle, Empfindungen, Wahrnehmun-
wähnten P. Rutilius Lupus von der Figur der S. die gen (taktiler, auditorischer, visueller etc. Natur), Vor-
Rede ist. Ihm dient der Grieche Gorgias von Athen als stellungen, Überzeugungen, Erinnerungen, Einstellun-
Quelle für seine Figuren. [9] Der Auctor ad Herenni- gen, Urteile, Intentionen, oder Handlungen betref-
um hingegen spricht nur in allgemeiner Weise von Sinn- fen. [1]
sprüchen, «die durch Hinzufügung einer Begründung In Abgrenzung zu anderen Formen des Einflusses
(subiectione rationis) bekräftigt» werden. [10] Auch Ci- kann von S. jedoch nur dann gesprochen werden, wenn
cero listet zwar «die nachträgliche Begründung einer die (potentielle) Wirkung weder reflexhaft noch reflek-
vorangegangenen Aussage» und «die jeder einzelnen tiert oder forciert zustande kommt. Veränderungen auf
Aussage folgende Begründung» (ad propositum subiec- der Basis angeborener Reflexe oder durch Konditionie-
ta ratio et item in distributis supposita ratio) als Stilmit- rung erworbener Reiz-Reaktions-Verknüpfungen sind
tel auf, bezeichnet sie aber nicht näher. [11] Quintilian damit ebenso wenig als Resultat suggestiver Prozesse zu
erörtert die Figur der S. in seinem Abschnitt über die verstehen wie Veränderungen, die aus rational-argu-
figurae verborum, aus dem die obigen Beispiele stam- mentativen Erwägungen folgen. Schließlich sind auch
men. Terminologisch bezieht er sich auf Rutilius Lupus äußere Zwänge als Grundlage des Einflußvorgangs aus-
und greift dessen Begriff der prosapódosis auf, der er zuschließen. Von S. ist folglich insbesondere dann zu
jedoch nur bei Mehrgliedrigkeit tatsächlich den Cha- sprechen, wenn eine Person im Suggestionskontext zu-
rakter einer Figur zugestehen will «servetur sane in plu- mindest potentiell über alternative Reaktionsmöglich-
ribus propositis». [12] keiten verfügt. Allerdings ist sie nicht in der Lage, diese
Sowohl im Mittelalter als auch im Renaissance-Hu- zu realisieren, da ihre Reaktion nicht auf ein bewußt
manismus und vor allem im Barock spielt die Figuren- kontrolliertes Abwägen zurückgeht. [2]
lehre zwar eine wichtige Rolle, und es entstehen zahl- Im Sinne der Bedeutung des Verbs ‹suggerieren›
reiche Figurentaxonomien. [13] Die S. wird jedoch nicht (von lat. suggerere/suggestum), das ‹etwas (unbemerkt)
mehr als eigenständige Figur reflektiert; lediglich die von unten heranbringen›, ‹unter der Hand beibringen›,
Bezeichnung prosapódosis taucht vereinzelt auf. Die ‹unterschieben›, aber auch ‹einflüstern›, ‹einflößen›,
mehrgliedrige Anfügung einer Begründung an einen ‹eingeben›, bedeutet, liegt der S. damit ein Unterschie-
Hauptgedanken spielt aber natürlich eine wichtige Rol- bungsvorgang zugrunde: Ein Einfluß kommt (potenti-
le in der enthymemischen ratiocinatio oder argumentatio ell) so zustande, als ob im Kontext keine andere Mög-
und ist in diesem Zusammenhang verschiedentlich er- lichkeit der Bewertung, Handlung etc. vorliegt, als ob es
wähnt. Ein Beispiel ist das Figurentraktat ‹De copia ver- eine mehr oder weniger selbstverständliche, nachvoll-
borum ac rerum› des Erasmus von Rotterdam, wo sich ziehbare oder unvermeidbare Reaktion wäre. [3] Rhe-
unter anderem einige nachgestellte «causales formulae» torisches Handeln umfaßt, ob bewußt oder nicht, ent-
(Begründungsformeln) finden. [14] sprechende Mechanismen im Dienste der genannten
Wirkungsbereiche.
Anmerkungen: II. Allgemeine Aspekte. Wiederholt ist darauf hinge-
1 J. Knape: Art. ‹Figurenlehre›, in: HWRh, Bd. 3 (1996) Sp. 289– wiesen worden, daß S. ein komplexes, facettenreiches
342, hier 312. – 2 P. Rutilius Lupus: De figuris sententiarum et Phänomen ist, das kaum endgültig, vollkommen oder in
elocutionis. Hg. und komm. v. E. Brooks, Jr. (Leiden 1970) 5.
Übers. Red. – 3 Quint. IX, 3, 95. – 4 ebd. IX, 3, 94. – 5 s. Lausberg
einer einzigen zutreffenden Erklärung darzustellen ist.
Hb. 866–871 und 798–799; vgl. auch J.A.E. Bons: Art. ‹Aetio- Vielmehr gilt S. als ein Sammelbegriff, der eine Vielzahl
logia›, in: HWRh, Bd. 1 (1992) Sp. 203–209; C.H. Kneepkens: distinkter elementarer Mechanismen umfaßt, bei denen
Art. ‹Comparatio›, in: HWRh, Bd. 2 (1994) Sp. 293–299 und verbale wie nonverbale, kognitive wie emotionale Fak-
R.A. Lanham: A Handlist of Rhetorical Terms (Berkeley/Los toren eine Rolle spielen. [4]
Angeles/Oxford 21991). – 6 Arist. Rhet. II, 21, 2–3; vgl. Lausberg Phänotypisch kann auf seiten des Suggestors zwi-
Hb. 875; zum arist. Konzept des Enthymems als deduktives schen absichtlicher und unabsichtlicher S., auf seiten des
Schlußverfahren: Chr. Rapp: Aristoteles über die Rationalität Suggerendus zwischen vorhergesehener und unvorher-
rhet. Argumente, in: ZfphF 50 (1996) 197–222; J. Knape: Allg.
Rhet. (2000) 37–42. – 7 Rhet. Lat. Min. 49. – 8 Carmen de figuris
gesehener S. differenziert werden. [5] Dabei ist die so-
vel schematibus. Intr., testo critico e commento a cura di R.M. wohl unabsichtliche als auch unvorhergesehene S. die im
D’Angelo (Hildesheim/Zürich/New York 2001) 64; auch in Alltag häufig vorkommende Form, bei der die Beteilig-
Rhet. Lat. Min. 63–70, hier 67; Übers. Verf; zur prosapódosis ten (z.B. Partner, Freunde, Lehrer und Schüler, Arzt
und verwandten Bez. s. auch Martin 302f. und Volkmann 470f. – und Patient, Eltern und Kinder) gar nicht merken, daß
9 Kennedy Rom. 485. – 10 Auct. ad Her. IV, 17, 24. – 11 Cic. De das, was zwischen ihnen vorgeht, ein suggestiver Vor-
or. III, 207. – 12 Quint. IX, 3, 94. – 13 zur lat. Terminologie im gang ist. Das Gegenstück, die absichtsvolle wie auch
MA s. die einschlägigen Nachschlagewerke, z.B. J. Knape, A. vorhergesehene S. ist z.B. in der hypnotherapeutischen
Sieber: Rhet.-Vokabular zur zweisprachigen Terminologie in
älteren dt. Rhetoriken (1998) und Arbusow. – 14 Erasmus Co-
Praxis anzutreffen, wo sie zum Wohle des Patienten Ein-
pia 120f. satz findet. Zu den unbeabsichtigten und vorhergese-
Ph. Erchinger henen S. können Placebo-Effekte gerechnet werden, bei
denen allein der Wirksamkeitsglaube des Patienten zur
^ Aetiologia ^ Antithese ^ Comparatio ^ Elocutio ^ En- Verbesserung der Symptomatik führt. Insbesondere po-
thymem ^ Ornatus ^ Wiederholung litische Propaganda sowie Werbung und Reklame stel-

257 258
Suggestion Suggestion

len Beispielbereiche des intendierten, auf Adressaten- Gefälligkeit die Wahrscheinlichkeit erhöht, auch der
seite jedoch oft unvorhergesehen wirksam werdenden Bitte nach einer damit im Zusammenhang stehenden
Einsatzes von S. dar. Insoweit wie S. im Kontrast zu ra- wesentlich größeren nachzukommen. [14] Verschiedene
tionalem Überzeugen gesehen wird [6] und mit einem ‹Tricks› der Werbung nutzen ebenfalls geschickt Har-
Autonomieverlust beim Suggerendus einherzugehen moniebedürfnisse, Sehnsüchte und Wünsche der Men-
scheint, haftet ihr gerade hier – und das ist für die Rhe- schen, sowie ihre Angst vor Zurückweisung, mögliche
torik entscheidend – der Ruch der Manipulation, der Schuldgefühle usw. für suggestive Einflüsse aus. [15]
Machtausübung und ethisch fragwürdigen Verführung B. Geschichte. Die heutige Verwendung des psycho-
an. [7] Grundsätzlich jedoch sind suggestive Einfluß- logischen Konzepts der S. ist historisch eng mit der Ent-
mechanismen ebenso im Zusammenhang mit ethisch- wicklung der Hypnose verknüpft. Dabei kann der Arzt
moralisch wertvollen wie auch mit fragwürdigen Zielen F.A. Mesmer (1734–1815) als Entdecker des Phäno-
von Bedeutung. mens der S. gelten, ohne daß er es selbst wußte. Er be-
Eng verknüpft mit der S. ist die Frage nach der Sug- handelte damals – vor dem Hintergrund der von ihm
gestibilität, also den interindividuellen Unterschieden in entwickelten Fluidumtheorie und der Annahme eines
der Bereitschaft zur Reaktion auf S. [8] Dabei betont ‹Magnetismus animalis› – Patienten mit hysterischen
bereits B. Sidis: «Nicht Sozialität, nicht Rationalität, Störungen durch Berühren oder Bestreichen der betrof-
sondern Suggestibilität charakterisiert das durchschnitt- fenen Körperteile. Erst der Abbé J.C. de Faria (1746–
liche Exemplar der Menschheit, denn der Mensch ist ein 1819) erkennt später die Bedeutung von S., da er der
beeinflußbares Lebewesen.» [9] Darüber hinaus gilt, Imagination der Behandelten die entscheidende Rolle
daß Suggestibilität das menschliche Zusammenleben zuschreibt.
erst möglich macht und fehlende Suggestibilität als pa- Eine erste Begriffsbestimmung nimmt A.A. Lié-
thologisch gelten muß. [10] beault (1866) vor, der überzeugt ist, daß der Prozeß der
Generell kann von einer erhöhten Wahrscheinlich- S. mit dem Hypnotismus identisch sei. Er bezeichnet die
keit für suggestive Einflüsse ausgegangen werden, wann S. als «Erzeugung einer Vorstellung durch Wort und
immer es einem Empfänger an der von ihm angestreb- Gebärde in einem Schlafenden, um die Abwicklung ei-
ten Klarheit fehlt. Mögliche Gründe sind Mehrdeutig- nes körperlichen oder geistigen Vorgangs zu veranlas-
keiten, schnelle Veränderungen, ein Mangel an Struk- sen». [16] H. Bernheim (1884) erweitert diese Definition
tur, eine hohe Komplexität, Inkonsistenzen oder die durch die Feststellung, die S. sei «der Vorgang, durch
Überraschung durch unerwartete Ereignisse, durch Fra- welchen eine Vorstellung in das Gehirn eingeführt und
gen, Wortspiele, Witze, Provokationen des Senders bzw. von ihm angenommen wird». [17] Vor allem aber trennt
Sprechers etc. [11] Demagogen nutzen dies gezielt, in- er die S. insofern von der Hypnose, als er eine Beein-
dem sie ihre Adressaten, z.B. durch Betonung einer star- flussung durch S. auch im Wachzustand für möglich er-
ken Bedrohung, zunächst verunsichern und so in einen achtet. Er ist daher davon überzeugt, daß die Lehre von
‹unstrukturierten› Zustand versetzen, der diese anfälli- der S. eine «Reihe der brennendsten Fragen auf allen
ger für jedwede Art von ‹Lösung› macht. Gebieten» anrege und für die Psychologie «geradezu
Auch Kongruenzen (Gemeinsamkeiten) sprachli- eine Revolution» bedeute. [18]
cher, sprechender und sozialer Art zwischen Sender und Liébeault und Bernheim als den beiden Gründern
Empfänger begünstigen suggestive Wirkmechanismen, der Schule von Nancy ist die Auffassung gemeinsam,
da sie eine Vertrauensbasis schaffen und so eine erhöhte daß es sich bei der S. um ein normales psychologisches
Übernahmebereitschaft bewirken können. Im Bereich Phänomen handle. Im Streit der Schule von Nancy ei-
der nonverbalen Kommunikation können z.B. Ähnlich- nerseits und jener von Paris-Salpêtrière andererseits
keiten in Körpersprache, Gestik, Mimik sowie Augen- vertritt J.M. Charcot demgegenüber die Ansicht, bei
kontakte und Stimmlage Vertrauen und Kooperations- der S. handle es sich um ein pathologisches Phänomen,
bereitschaft erzeugen. In der verbalen Kommunikation das nur bei hysterischen Patienten aufgrund einer Dis-
ist hier an den Sprachstil, an Formulierungspräferenzen, soziation des Bewußtseins aufträte. Allmählich jedoch
an bestätigende Aussagen, die Verwendung von Ana- setzt sich die Ansicht durch, daß die S. ein normales,
logien, Metaphern, Slogans oder Scheinerklärungen [12] auch jenseits der Hypnose vorkommendes Phänomen
zu denken. Ebenso erzeugen soziale Kongruenzen im ist. Damit weitet sich ihr Gegenstandsbereich aus. Ins-
Alter, im Kleidungsstil, in der politischen Meinung, in besondere erkennt man ihre potentielle Bedeutung im
den Vorlieben, Ideen oder Hobbys Ähnlichkeit, Zuge- sozialen Kontext, da es sich bei der S. um einen Effekt
hörigkeit, Vertrauen und Anziehung. Sie bereiten somit handelt, der von einer Person bei einer anderen indu-
den Boden für suggestive Beeinflussung vor. ziert wird und der daher eine fundamentale Interakti-
Andererseits können Kleidung, Titel, Besitztümer, onsform zwischen den Individuen darstellt.
verbale und nonverbale Ausdrucksformen Autorität im Der Soziologe G. Le Bon (1841–1931) übernimmt das
Sinne von (fachlicher) Expertise und (persönlicher) Konzept der S. im Sinne der von Charcot vertretenen
Glaubwürdigkeit signalisieren und so die Akzeptanz er- Sichtweise einer hysterischen Trennung der Persönlich-
höhen. Ebenso führen Informationen über das Verhal- keit und postuliert, daß sich der Einzelne als Glied der
ten anderer Personen, die uns ähnlich sind (sozialer Masse in dem Zustand befindet wie unter Hypnose:
Konsens), und Sympathie oder Bewunderung, z.B. auf- «Die bewußte Persönlichkeit ist völlig ausgelöscht, Wil-
grund von äußerlicher Attraktivität, Charme und Kom- le und Unterscheidungsvermögen fehlen, alle Gefühle
plimenten, leicht zu einer unkritischen Übernahme und Gedanken sind in die Sinne verlegt.» [19] Das
etwa von Meinungen. [13] Eine S. auf der Basis von scheinbare Paradox zwischen dem rationalen Verhalten
Reziprozität bewirkt bei Gratisproben, Kaffeefahrten des Einzelnen für sich und seinem irrationalen Verhal-
und Begrüßungsgeschenken größere Kaufbereitschaft. ten im Kollektiv löst Le Bon auf, indem er erklärt, der
Auch der Wunsch, konsistent zu sein oder zu erschei- Einzelne sei sich in der Masse seiner Handlungen nicht
nen, kann als Grundlage suggestiver Mechanismen fun- mehr bewußt, er werfe sich unter dem Einfluß der S.
gieren, z.B. wenn die Bereitschaft zu einer kleinen vielmehr «mit unwiderstehlichem Ungestüm auf gewis-

259 260
Suggestion Suggestion

se Taten [...]. Und dies Ungestüm ist in den Massen noch die sich ihnen aufdrängen und ihnen die Kontrolle ent-
unwiderstehlicher als bei den Hypnotisierten, weil die ziehen. Damit ist soziales Handeln als gedankenlos und
für alle Einzelnen gleiche Suggestion durch Gegensei- unvernünftig charakterisiert, reduziert auf reine Mani-
tigkeit wächst.» [20] Darüber hinaus legt Le Bon dar, wie pulation. Vernunft wird hier lediglich als Hemmungsin-
«Führer der Massen» die auf die Masse wirkenden Kräf- stanz gegen die primitive und beständige Kraft der S. als
te anwenden müssen, um sie «nutzbringend in Tätig- fundamentalen Prozeß verstanden.
keit» umzusetzen. [21] Bei Diktatoren vom Schlage Eine Wende markiert die von S. Asch 1952 formu-
Mussolinis und Hitlers fallen diese Ansichten über Mas- lierte Gegenposition. [31] Für ihn ist die Suggestions-
senführung und Demagogie später auf fruchtbaren Bo- doktrin noch nicht bewiesen. Er favorisiert daher eine
den, haben beide doch die suggestiven Möglichkeiten alternative, dezidiert rationale Sichtweise zur Erklärung
der Rhetorik besonders ausgenutzt. Manche Formulie- vermeintlich auf irrationale S.-Prozesse zurückzufüh-
rungen in «Mein Kampf» scheinen auch direkt von Le render Effekte. Demnach ist sozialer Einfluß oft nicht
Bon übernommen zu sein. [22] das Ergebnis «blinder Suggestion» [32] als eines reinen
Die Tatsache, daß die S. die Induktion von rein Wirkens emotionaler Kräfte. Stattdessen postuliert er,
psychologischen Effekten ermöglicht, ohne daß ent- daß diese Kräfte üblicherweise von kognitiven Faktoren
sprechende objektive Veränderungen in der Umwelt im Rahmen eines Verstehensprozesses gelenkt und
stattfinden, insbesondere ohne daß vernünftige Gründe kontrolliert werden. So liege beispielsweise der Presti-
vorliegen, betont W.M. Bechterew 1899 und 1904. Er gewirkung eines Autors auf die Beurteilung ihm zuge-
verweist darauf, daß Einflüsse durch S. «nicht durch den schriebener Aussagen eine Bedeutungsveränderung,
Haupteingang, sondern sozusagen von der Hintertreppe eine verschiedenartige Interpretation der betreffenden
aus [...] unmittelbar die inneren Gemächer der Seele» Aussagen zugrunde.
beträten [23], daß die S. «sich in die Seele schleicht wie Neuere Zwei-Prozeß-Modelle wie das Heuristisch-
ein Dieb» [24]. Vor allem aber betont er den Gegensatz Systematische Modell von S. Chaiken u. a. (1989) inte-
zwischen S. und Überzeugung: «Gegenüber der wörtli- grieren beide Erklärungsansätze. [33] Demnach können
chen Ueberzeugung, deren Mittel gewöhnlich in logi- verschiedene Faktoren (z.B. Expertenwissen oder Ver-
scher Darstellung und klarer Beweisführung bestehen, trauenswürdigkeit des Kommunikators, sozialer Kon-
wirkt demnach Suggestion kraft einer unmittelbaren sensus) vor allem bei mangelnder Fähigkeit oder gerin-
Überimpfung seelischer Zustände, Ideen, Gefühle und ger Motivation des Rezipienten über eine heuristische
Empfindungen, und zwar mit Hintansetzung aller Be- Verarbeitung zu einer Übernahme oder Zurückweisung
weise und ohne Mithilfe der Logik.» [25]. Auch der So- von Urteilen führen, bei der die inhaltliche Begründung
zialpsychologe W. McDougall unterstreicht 1908 den keine Rolle spielt. Stattdessen kommt es hier zu einer
unlogischen und irrationalen Charakter des durch S. be- Urteilsbildung auf der Basis von Heuristiken bzw. ein-
wirkten Verhaltens. Er definiert die S. als einen Kom- fachen Faustregeln wie z.B.: «Experten kann man trau-
munikationsprozeß, der in der überzeugten Annahme en.» Bei vorhandener Fähigkeit und Motivation können
einer kommunizierten Meinung resultiere, ohne daß diese Faktoren hingegen vor allem dann zu einer unter-
eine logisch angemessene Begründung für diese Annah- schiedlichen Interpretation führen, wenn die Begrün-
me vorliegt. Begünstigt werden S. seiner Meinung nach dung uneindeutig ist. V.A. Gheorghiu und P. Kruse
durch mehrere Faktoren, unter anderem durch Charak- postulieren diesbezüglich (1991), daß die Reizbeschaf-
teristika der Suggestionsquelle. Diese, von McDougall fenheit der Welt überhaupt als mehrdeutig angesehen
als ‹Prestige-S.› bezeichnet, wird auf einen menschli- werden muß, und es also für Lebewesen funktional ist,
chen Instinkt der Unterwerfung zurückgeführt, der bei- über adaptive Mechanismen zur Klärung von Mehrdeu-
spielsweise durch körperliche Merkmale (Größe, Kraft, tigkeiten zu verfügen. Menschen sind demnach ausge-
Kleidung) oder die soziale Stellung des Redners ange- stattet mit drei kognitiv unterschiedlich aufwendigen
regt werden kann. [26] Mechanismen: Reflexen, Suggestionsmechanismen und
In ähnlicher Weise sieht der Soziologe E.A. Ross der Fähigkeit zu rationalem, schlußfolgerndem Denken.
das Prestige als einen der Ursprünge der S. an. [27] Dar- Dabei vereinfachen suggestive Mechanismen die Sti-
über hinaus behandelt er die Rolle der S. für Mode, muluskomplexität, indem sie aus den vorhandenen
Konformität, Sitten und Gebräuche und betont die sug- Wahrnehmungs- und Verhaltensalternativen, Bedeu-
gestive Kraft der öffentlichen Meinung als Folge des in tungs- und Bewertungsmöglichkeiten eine Option so
ihr zum Ausdruck kommenden sozialen Konsensus: festlegen, als ob es nur sie gäbe, und reduzieren somit
«Menschen, die leicht die tausend aufeinanderfolgen- die Zahl der Freiheitsgrade auf effiziente Art und Wei-
den Suggestionen des täglichen Lebens von sich werfen, se. [34]
werden jedoch umgeworfen von der Größe der Sugge-
stion, die sich aus großen Zahlen ergibt. Das ist das Ge- Anmerkungen:
1 V.A. Gheorghiu: Die Domäne der Suggestionalität: Versuch
heimnis der Macht der öffentlichen Meinung.» [28] Nach der Konzeptualisierung suggestionaler Phänomene, in: Expe-
H. Cantril und N. Frederiksen (1939) erwirbt ein In- rimentelle und klinische Hypnose 16 (2000) 55–92. – 2 ebd. 61–
dividuum die Normen und Regeln der Gemeinschaft, 63. – 3 ebd. 66. – 4 F.H. Allport: Social Psychology (Boston 1924)
seine religiösen und politischen Überzeugungen, rassi- 242; G.W. Allport: The Historical Background of Modern So-
schen Vorurteile, ethischen und ästhetischen Standards cial Psychology, in: G. Lindzey (Hg.): Handbook of Social Psy-
hauptsächlich mittels S. [29] F.C. Bartlett (1940) ver- chology (Oxford 1954) 29; V.A. Gheorghiu: The Difficulty in
tritt die Auffassung, Propaganda sei eine organisierte Explaining S.: Some Conceivable Solutions, in: V.A. Gheor-
und öffentliche Form des Prozesses, den die Psychologie ghiu, P. Netter, H.J. Eysenck, R. Rosenthal (Hg.): S. and Sug-
gestibility: Theory and Research (Berlin/Heidelberg 1989) 99–
als ‹S›. bezeichnet. [30] Mit der S.-Theorie herrscht so- 112, hier 37 und 100; E.R. Hilgard: Foreword, in: Gheorghiu,
mit seit Ende des 19. Jh. bis Mitte des 20. Jh. die Ansicht Netter, Eysenck, Rosenthal, ebd. V–VII; B. Stokvis, M. Pflanz:
vor, daß soziales Handeln passiver Natur ist. Individuen S. (1961) IX. – 5 Stokvis, Pflanz [4]. – 6 D. Langen: Kompendium
ohne jede Autonomie handeln nicht aus innerem An- der medizinischen Hypnose (31972) 6. – 7 H.-C. Kossak: Hyp-
trieb, sondern in Abhängigkeit von externen Kräften, nose (1989) 172; E. Schwanenberg: S. als sozialpsychol. Alltags-

261 262
Suspensio Suspensio

phänomen, in: Experimentelle und klinische Hypnose 16 (2000) Steigerung von Spannung bei den Rezipienten verbin-
35–53, hier 42. – 8 Gheorghiu [1] 57. – 9 B. Sidis: The Psychology det. Allen Phänomenen der durch Retardierung desta-
of S. (New York 1898) 17; Übers. Red. – 10 Langen [6] 11. – bilisierenden, in Lessings Sinn ‹epigrammatischen› [4]
11 M. Kellermann: Suggestive Elemente der Kommunikation,
in: Experimentelle und klinische Hypnose 16 (2000) 1–16, hier
Spannungserzeugung – etwa durch «Informationsman-
3f.; V.A. Gheorghiu: The Development of Research on Sugge- gel, Vieldeutigkeit, Widersprüchlichkeit und Undurch-
stibility: Critical Considerations, in: Gheorghiu u. a. [4] 3–55, schaubarkeit» (D. Wellershoff) [5] – ist also eine kom-
hier 19; K. Pawlowski, H. Riebensahm: S. (2000) 24. – 12 E. Lan- plementäre Phase der Entspannung, (Auf)lösung oder
ger: Rethinking the Role of Thought in Social Interaction, in: des Aufschlusses gemeinsam. Diese Auflösung erfolgt
J.H. Harvey, W.J. Ickes, R.F. Kidd (Hg.): New Directions in häufig durch eine die Erwartungshaltung der Adressa-
Attribution Research (New York 1978). – 13 R.B. Cialdini: Die ten verblüffende Wendung (paraÂdojon, parádoxon, in-
Psychol. des Überzeugens (1997). – 14 ebd. 98. – 15 Schwanen- opinatum). Für das (an)spannende Hinhalten der Re-
berg [7] 47. – 16 L. Loewenfeld: Der Hypnotismus (1901) 39. –
17 ebd. – 18 H. Bernheim: Die S. und ihre Heilwirkung (1888)
zipienten stehen dem Redner, Autor oder Komponisten
145. – 19 G. Le Bon: Psychologie des foules (Paris 1895). Dt.: eine Reihe von Kunstgriffen wie gezielte Insinuationen
Psychol. der Massen (1896) 17–18. – 20 ebd. 18. – 21 ebd. 97. – (Andeutungen), (Kunst)Pausen, Auslassungen (Ellip-
22 G. Paichler: The Psychology of Social Influence (Cambridge sen), syntaktische Polaritäten (protasis-apodosis-Sche-
1988) 40 und 45. – 23 W.M. Bechterew: S. und ihre soziale Be- ma) oder Aufzählungen zu Gebote. Eine solcherart er-
deutung (1899) 3. – 24 ders.: Was ist S.?, in: Jb. für Psychol. und zeugte Spannungskurve entfaltet mikro- und/oder ma-
Neurologie (1904) 100–111, hier 104. – 25 ders. [23] 3f. – 26 W. krostrukturelle Wirksamkeit. Sie kann auf einzelne
McDougall: An Introduction to Social Psychology (London Syntagmen (Sätze oder Satzteile) beschränkt bleiben,
1908) 100ff. – 27 E.A. Ross: Social Psychology: An Outline and
Source Book (New York 1908) 30. – 28 ebd. 38, Übers. Red. –
sich aber auch über ganze Teile (namentlich Anfänge
29 H. Cantril, N. Frederiksen: Social Functions of the Individu- wie Proömien) [6] oder gar die Gesamtheit einer Rede
al, in: E.G. Boring, H.S. Langfeld, H.P. Weld (Hg.): Introduc- resp. eines literarischen oder musikalischen Werkes er-
tion to Psychology (New York 1939) 22. – 30 F.C. Bartlett: Po- strecken. Die intendierten Hauptwirkungen solcher
litical Propaganda (Cambridge 1940) 51. – 31 S.E. Asch: The Verfahren der inneren Verlebendigung (vgl. evidentia,
Doctrine of Suggestion, Prestige, and Imitation in Social Psy- enargeia) sind die Erzeugung und das Wachhalten von
chology, in: Psychological Review (1948) 250–276. ders.: Social interessierter Aufmerksamkeit (attentum parare) und
Psychology (New York 1952). – 32 ebd. [31] 251. – 33 S. Chaiken, die Vorbeugung gegen Überdruß und Langeweile (tae-
A.H. Eagly, A. Liberman: Heuristic and Systematic Processing
within and beyond the Persuasion Context, in: J.S. Uleman, J.A.
dium). Eine unerwünschte Nebenwirkung solch rheto-
Bargh (Hg.): Unintended Thought (New York 1989). – 34 V.A. risch-textueller Strategien ist die Irreführung des Pu-
Gheorghiu, P. Kruse: The Psychology of S.: An Integrative Per- blikums durch die Erzeugung von Ungewißheit und
spective, in: J.F. Schumaker (Hg.): Human Suggestibility (Lon- Dunkelheit (obscuritas), die unerwünschte Zweifel
don 1991) 62f. (dubium) erregen könnten. ‹S.› ist als terminus technicus
R. Ziegler vor dem 18. Jh. nicht belegbar und wird erst von J.Chr.
Gottsched in der rhetorisch geprägten Dichtungstheo-
^ Adressant/Adressat ^ Charisma ^ Demagogie ^ Manipu- rie etabliert. [7] Das nahezu synonyme sustentatio (Hin-
lation ^ Persuasion ^ Propaganda ^ Psychologie ^ Überre- halten) ist hingegen durch Quintilian schon für Aulus
dung, Überzeugung ^ Werbung ^ Wirkung
Cornelius Celsus (1. Hälfte des 1. Jh. n. Chr.) be-
zeugt. [8] Unter dem Einfluß Gottscheds verdrängt ‹S.›
die sustentatio und findet als Terminus durch J.A.
Suspensio (lat. auch sustentatio; dt. Spannung, ge- Scheibe Eingang in die musikalische Figurenlehre, wo
nauer In-Spannung-Versetzen/In-der-Schwebe-Halten; sie eine erstaunliche Wirkung entfaltet hat, die bis in die
griech. yëpomonhÂ, hypomonē´, paraÂdojon, parádoxon; Gegenwart reicht. [9] In Rhetorik und Literaturwissen-
engl. suspense, tension, thrill; frz. suspension; ital. sus- schaft ist die Rezeption differenzierter verlaufen: Wäh-
pense) rend in der französischsprachigen Rhetorik der Begriff
A. Def. Die S. ist – wie ihre viel früher bezeugte Ent- ‹suspension› nach wie vor eine prominente Stellung ein-
sprechung sustentatio (das Zurückhalten) – zur Sam- nimmt [10], ist im englischen und deutschen Sprachge-
melbezeichnung und zum Grundmuster von zahlrei- biet der rhetorische Terminus weitgehend von seinen
chen Wort- und Sinnfiguren der Spannungserzeugung nahen Verwandten paradoxon, inopinatum, aposiopese,
durch Hinhaltetaktiken in Rhetorik, Literatur und Mu- protasis/apodosis-Schema o. ä. aufgesogen. [11] In der
sik geworden. Ein mustergültiges Beispiel für erfolgrei- Sprach- und Literaturwissenschaft dagegen konnte
che Psychagogie durch S. in Verbindung mit Aposio- ‹Das Prinzip Spannung› (A. Fill), das sich vor allem aus
pese (reticentia) hat Vergil im zweiten Buch seiner ‹Ae- den englischen Konzepten von suspense und tension [12]
neis› gestaltet. Dort facht der vermeintliche Überläufer herleitet, nach längerer, eklatanter Geringschätzung
Sinon die Neugier seiner trojanischen Adressaten an, des Phänomens [13] gerade in jüngster Zeit zu einer im-
indem er seine fingierte Leidensgeschichte, in der er mer bedeutenderen Kategorie der Analyse von einzel-
sich als Zielscheibe von Odysseus’ Haß präsentiert, ur- textlichen und intertextuellen Gestaltungsmustern
plötzlich mitten im Satz abbricht (« [...], bis Odysseus avancieren. [14]
mit Kalchas als Handlanger – [...]») [1]. Mit diesem B. I. Antike. Quintilian behandelt S./sustentatio als
Spannungselement bindet er seine Zuhörer emotional Gedankenfigur zur Forcierung der emotionalen Wir-
an seine Lügenerzählung. [2] Dies bestätigt der Erzähler kungen im Zusammenhang mit der sog. communicatio,
zweiter Ordnung (Aeneas vor Dido), wenn er die Pu- der quasi-dialogischen Einbeziehung von Prozeßgeg-
blikumsreaktion auf die – freilich nicht als solche durch- nern oder Richtern in eine Überlegung des Redners.
schaute – Spannungsstrategie Sinons folgendermaßen Hier sei das eigenständige Schema von überraschenden
beschreibt: «Da aber waren wir alle Feuer und Flamme, Wendungen (inexpectatum) einschlägig, das Celsus als
es zu hören und nach den Gründen zu fragen». [3] Die- sustentatio (Hinhalten) bezeichne. Dies verdeutlicht
ser Effekt ist es, der das breite Spektrum der vielfach Quintilian anhand eines Beispiels aus Ciceros zweiter
aufgefächerten Mittel der technischen Erzeugung resp. Rede gegen Verres: «Sed non numquam communicantes

263 264
Suspensio Suspensio

aliquid inexpectatum subiungimus [...] ut in Verrem Ci- ‹Critischen Dichtkunst› von 1751 führt Gottsched sie
cero: ‹quid deinde? quid censetis? furtum fortasse aut als eigenes Lemma unter den «Figuren in der Poesie»
praedam aliquam?› deinde, cum diu suspendisset iudi- auf. Er begreift sie als labyrinthisch gewundene Form
cum animos, subiecit quod multo esset improbius. Hoc des Redeanfangs, die in der Lage sei, durch gewundenes
Celsus sustentationem vocat» (Doch bisweilen setzen Umspielen des Endes Spannung zu erzeugen und so
wir bei der communicatio eine Täuschung der Erwar- Aufmerksamkeit zu gewinnen: « [...] wenn man nämlich
tungshaltung als Zugabe ein [...] wie Cicero gegen Ver- eine Rede ganz von weitem anfängt, und eine gute Weile
res: «Was noch? Was meint ihr? Einen Raub vielleicht durch viele Umschweife fortführet: daß der Leser oder
oder einen Beutezug?» Und dann, nachdem er die Rich- Zuhörer nicht gleich weis, was der Poet haben will, son-
ter lange auf die Folter gespannt hatte, fügte er etwas an, dern das Ende erwarten muß». [21] Diese Variante des
was noch viel ungehöriger war [scil. als das Erwarte- «Aufhaltens» illustriert Gottsched mit einem Gedicht-
te]). [15] An der einschlägigen Stelle thematisiert Cicero passus J.Chr. Günthers (1695–1723). Dort löst der re-
sogar seine Strategie, die schlimmsten Erwartungen sei- sümierend eine Erklärung nachschiebende Hauptsatz
nes Publikums über die Verworfenheit des Angeklagten («Dieß alles ist mit Recht der Liebe zuzuschreiben») die
noch übertrumpfen zu wollen, wenn er seinen Hörern Spannung eines sich über zehn Verszeilen erstrecken-
zuruft: «Exspectate facinus quam vultis improbum; vin- den, mit einer Fülle von Aufzählungsgliedern versehe-
cam tamen exspectationem omnium» (Erwartet jetzt ru- nen Nebensatzes auf, der stets mit «Daß noch [...]» ein-
hig ein Schurkenstück von beliebiger Ungehörigkeit. geleiteten Satzabschnitten die «Welt in ihren Angeln» zu
Übertreffen werde ich dennoch die Erwartungen von beschreiben sucht. [22]
euch allen). [16] Quintilian klassifiziert nun zwei Typen Gottscheds Neubelebung des Begriffs S. macht rasch
von sustentatio. Von einer negativ überraschenden Lö- Schule. In die Musikwissenschaft führt J.A. Scheibe
sung des Spannungszustandes wie im Cicerobeispiel (1708–1776) in seinem ‹Critischen Musicus› (Leipzig
hebt er eine positive Überraschung ab: «frequenter, cum 1737–1790) mit direktem Rückgriff auf Gottscheds De-
expectationem gravissimorum fecimus, ad aliquid quod finition eine Analogiebildung ein. Ihm zufolge liegt S. in
sit leve aut nullo modo criminosum descendimus» (häu- der Musik dann vor, «wenn man einen Satz ganz von
fig biegen wir, wenn wir eine auf das Allerschlimmste weitem anfängt, und eine gute Weile durch viele Um-
gerichtete Erwartungshaltung erzeugt haben, auf etwas schweife fortführet, daß der Zuhörer nicht gleich weis,
Geringfügiges und keineswegs strafrechtlich Relevantes was des Componisten eigentliche Meinung ist, sondern
ab). [17] Iulius Rufinianus (4. Jh. n. Chr.), Rhetor und den Schluß erwarten muß, wo sich die Auflösung von
Verfasser eines Figurentraktates (‹De figuris sententia- sich selbst zeiget. [...] Sie betrifft nicht die ungewissheit
rum et elocutionis›) aus der Zeit Konstantins d. Gr., der Tonart [...] sondern sie betrifft die Einrichtung des
greift diesen Begriff der sustentatio auf und versteht ihn Anfangs eines Stückes». Als Beispiele nennt Scheibe 1)
als lateinische Übersetzung des griech. Terminus yëpo- den Beginn eines Stückes «mit einem Geräusche der In-
monhÂ, hypomonē´, den er wiederum als Synonym für sei- strumenten», das für sich noch keinen Satz ergibt, 2)
ne Figur des paraÂdojon, parádoxon einführt. Das Ver- Anfangssequenzen «mit einer starken und schwärmen-
bum suspendere (vgl. griech. kremannyÂnai, kremanný- den Modulation der Geigen», deren «fremd[e] und um-
nai) [18] ist durch die folgende Definition eng mit dieser schweifend[e] Sätze» dann erst das eigentliche Konzert-
Figur verwoben: «Hoc schema suspendit sensum, deinde instrument «mit einer angenehmen Melodie» zusam-
subicit aliquid eo, contra exspectationem auditoris, sive menführe, 3) Anfangssequenzen mit einer ganz fremden
maius sive minus, et ideo sustentatio vel inopinatum di- Art von Melodie, etwa ein Konzert, das mit einer eher
citur» (Diese Figur läßt das Gemeinte in der Schwebe symphonischen Melodie anhebt. [23] Alle diese Mittel
und fügt dann noch etwas hinzu, was der Erwartungs- des Hinhaltens und der zeitweiligen Irreführung dienten
haltung des Zuhörenden zuwiderläuft, sei es bedeutsa- der Gewinnung von Aufmerksamkeit beim Publikum,
mer oder geringfügiger [als erwartet], und wird daher als stehen also im Dienst der Schaffung einer Einstiegsmo-
‹Hinhalten› oder ‹Unverhofftheit› bezeichnet). [19] Sei- tivation. Die Aufnahme der S. in die musikalische Fi-
nen Textbeleg für dieses Verfahren hat Rufinianus der gurenlehre durch Scheibe ist ebenso bis heute wirksam
Rede für Ligarius entlehnt, wo Cicero über Tubero fol- wie seine Definition derselben; dies belegen etwa die
gendes äußert: «Hinc prohibitus non ad Caesarem, ne Lemmata bei J.N. Forkel (1749–1818) [24] und D. Bar-
iratus, non ad domum, ne iners, non aliquam in regio- tel. [25] Beide bestätigen die Rückkoppelung der mu-
nem, ne condemnare causam illam, quam secutus [esset sikalischen Figur an die rhetorische: «Sowohl in der
videretur]» (Von dort [von seiner Provinz] ferngehalten, Rhetorik wie auch in der Musik wird der Unterschied
ist er nicht zu Caesar, um nicht den Eindruck von Zorn zu zwischen dubitatio und suspensio zum Ausdruck ge-
erwecken, nicht nach Hause, um nicht untätig zu wirken, bracht. Die bewirkte Verzögerung soll beim Zuhörer
nicht in irgendeine andere Gegend, um nicht als Abtrün- keinen Zweifel verursachen, sondern seine Aufmerk-
niger seiner eigenen Sache zu erscheinen [...]). [20] Die samkeit gewinnen. Der Zuhörer muß wissen, daß der
qua Verneinung aufgezählten Handlungsalternativen, Satz eine gewisse ‹Richtung› hat, wenn ihm auch das
die alle möglich, ja naheliegend erscheinen, erzeugen Ziel vorerst nicht offenbar wird». [26]
eine Spannungshaltung, deren Auflösung erst deutlich III. Gegenwart. In der neueren und neuesten Rheto-
später mit «in Macedoniam ad Cn. Pompei castra venit» rik und Poetologie wirkt die Figur der S. in höchst un-
([...] sondern nach Makedonien in Pompeius’ Lager ge- terschiedlicher Weise fort. Namentlich die französisch-
gangen) erfolgt. Auch die syntaktisch hier durchaus be- sprachige Rhetorik hat den eher mikrostrukturellen
merkenswerte Endstellung des Hauptverbs venit, das Begriff von S., wie er sich bei Celsus, Quintilian und
den Satz von Anfang an bestimmt, steht hier im Dienst Gottsched findet, vielfältig ausdifferenziert, ohne den
der S. Wesenskern anzutasten. H. Morier etwa sieht das Be-
II. Neuzeit. Nach einer langen Latenzzeit während des stimmende der S. nach wie vor im Wecken der Neugier
Mittelalters gewinnt die S. erst in der spätbarocken Fi- des Rezipienten («piquer la curiosité de l’auditeur ou du
gurenlehre wieder ein kenntliches Eigenprofil. In seiner lecteur») durch die Abfolge von Retardierung und

265 266
Suspensio Suspensio

Überraschung. [27] Morier unterscheidet sieben For- lich abgestuften Spannungstypologien will A. Fuchs in
men von ‹S.› [28]: 1) Syntaktische Unterbrechung einer seinem integrierten Konzept dramatischer Spannung
Sinneinheit (einfach oder multipel); 2) Voranstellung aufgehoben wissen: «Es gibt nur eine Art der dramati-
einer Apposition vor den Ausdruck (etwa: «Ein Übel schen Spannung, die sich in verschiedenen Szenen emo-
...», erst Zeilen später folgt als Konkretisierung: «Die tional, kognitiv oder zeitlich ausprägen kann». [36]
Pest»); 3) Aufsparung eines wichtigen Eigennamens Doch statt einer Vereinigung der Spannungsebenen er-
oder Begriffs, der zunächst nur umschrieben oder durch gibt sich aus diesem Konzept nur ihre Verlagerung ins
Pronomina ersetzt wird; 4) plötzlicher Redeabbruch Psychologische. Einen sehr viel weiteren Begriff von
(reticentia, aposiopese, interruptio); 5) längstmögliche ‹Spannung› in literarischen Texten vertritt A. Fill, der
Verzögerung einer konkreten Antwort im Dramendi- ‹Spannung› – in gesuchter Analogie zu E. Blochs ‹Prin-
alog (durch Andeutungen und Umschweife); 6) paren- zip Hoffnung› – zu einem Prinzip erhebt, das die Welt
thetische Unterbrechung eines logischen Zusammen- der sprachlichen und textuellen Kommunikation im In-
hangs (etwa einer Ursache-Wirkungs-Beziehung); 7) nersten zusammenhält. Nach einem Vorspann über
Sonderfall: doppelte S. in Verbindung mit reticentia. Spannungstheorie untersucht Fill Spannung auf den
Die Sprach- und Literaturwissenschaft der jüngeren verschiedenen Ebenen der Sprache, um sich sodann
Zeit hat ihr Augenmerk auf den makrostrukturellen dem Prinzip Spannung in literarischen Texten zu wid-
Aspekt von S. als Spannungspotential von Texten ge- men. Wichtig ist hierbei seine Binnendifferenzierung in
richtet. In der Dramentheorie wird diese auf die linear- 1) Spannung zwischen Textwelt und Außenwelt, 2)
sequentielle Ablaufstruktur des Textes bezogene Kate- Spannung innerhalb des literarischen Textes und 3)
gorie von M. Pfister als suspense etikettiert und als Ef- Spannungen zwischen literarischen Texten (literarische
fekt «einer nur partiellen Informiertheit von Figuren Intertextualität). [37] Mit den Typen 1) und 3) öffnet er
und/oder Rezipienten in bezug auf folgende Handlungs- die herkömmliche, eher werkimmanente Kategorie
sequenzen» bestimmt. [29] Auf dieser Grundlage sucht Spannung, wie sie in Rhetorik, Poetik und Musikwis-
Pfister Spannungsbögen unterschiedlicher Reichweite senschaft üblich ist, zu einer dialogischen Größe, was
innerhalb eines Textes zu unterscheiden, um die ‹Was- zwangsläufig zu einer immensen Erweiterung ihres An-
Spannung› (= Spannung auf den Ausgang, also ‹Final- wendungsbereiches führt. Auf der Ebene der narrativen
spannung›, engl. macro suspense) und die ‹Wie-Span- Literatur sieht Fill hingegen Spannung lediglich als
nung› (= Spannung auf den Gang der Handlung, also Resultat «der Schaffung von Ungeduld durch Spannung
‹Detailspannung›, engl. micro suspense) als skalierbare auf der text-informationellen Ebene» [38], d. h. in den
Quanten ein und derselben dramatischen Kategorie zu Bereichen «plot, theme, character development und
erweisen. [30] Als Parameter der Spannungsintensität style». [39] Er listet dann – ähnlich wie Morier – eine
nutzt Pfister 1) den «Grad der Identifikation des Rezi- Vielzahl von sprachlichen Mitteln zur Erzeugung von
pienten» mit dem fiktiven Handlungssubjekt, 2) die suspense auf, «durch die das Tension-Relaxation-Sche-
Größe des für die Handelnden bestehenden und für die ma aktiviert» werde. [40] Fill dehnt das herkömmliche
Rezipienten antizipierbaren Risikos, 3) Menge und Spannungskonzept sodann konsequent auf die Rezep-
Konkretheit der zukunftsorientierten Informationsver- tionsästhetik (Spannung als Wechselspiel von Unbe-
gabe (etwa in Verabredungen, Schwüren, Prophezei- stimmtheit des Textes und Lesererwartung) und die
ungen und Träumen) und 4) den Informationswert der Gattungstheorie (Genre-spezifische Spannung in Par-
folgenden Handlungssequenz innerhalb der Skala Ab- odie, Travestie, Satire und Utopie) aus. [41] Schließlich
sehbarkeit (= geringer Informationswert) bis Unwahr- typisiert er einzelne Spannungsphänomene in Narration
scheinlichkeit (= hoher Informationswert). [31] Insge- (v. a. als Spannung zwischen Erzählzeit und erzählter
samt hat Pfister mit seinem System des Zusammenwir- Zeit), Drama (wo er Pfisters Konzept v. a. um die
kens mehrerer sich gegenseitig u. U. überwölbender «Spannung zwischen Welt und ihrer Darstellung» [42]
Spannungsbögen, die nach Reichweite und Intensität erweitert) und Lyrik genauso wie in der Wissenschafts-
variieren, ein flexibles Raster für die Interpretation von prosa, der er ebenfalls das erzählerische Verfahren,
Spannungsphänomenen in dramatischen Texten und «Information hinauszuzögern», zubilligen möchte. [43]
verwandten Genres (wie Hörspiel oder Film) [32] ent- Eine solche Neubewertung der Spannung als geradezu
wickelt. P. Wenzel hat Pfisters Konzept in modifizier- ubiquitäres Sprachprinzip birgt allerdings die Gefahr,
ter Form auf narrative Texte übertragen. Neben sus- die spezifische Trennschärfe der zu Recht immer belieb-
pense und tension stellt er den thrill als genuin körper- teren rhetorischen, poetologischen wie musiktheoreti-
lich erfahrbare Form der Spannung. [33] Wenzel zufolge schen Analysekategorie ‹S.› aufzuweichen.
sind «auf der story-Ebene» offene Fragen mit limitier-
ten oder gar nur alternativen Lösungsmöglichkeiten Anmerkungen:
von einer gewissen Wahrscheinlichkeit und Wichtigkeit 1 Verg. Aen. II, 100. – 2 ebd. II, 77ff., bes. 100–107. – 3 ebd. II,
105. – 4 vgl. G.E. Lessing: Zerstreute Anm. über das Epigramm,
in Verbindung mit einem Identifikationsangebot für und einige der vornehmsten Epigrammatisten, in: Werke 1770–
den Leser konstitutiv für die Spannungserzeugung. [34] 1773, hg. von K. Bohnen (2000) 179–290, hier 188. – 5 D. Wel-
Auf der discourse-Ebene unterscheidet Wenzel ein lershoff: Ein unbestimmtes Etwas im Dunkeln: Wie Spannung
auf den Fortgang der Geschichte gerichtetes Überra- entsteht und was sie bedeutet, in: ders.: Das geordnete Chaos:
schungsschema, das offenkundig der klassisch rheto- Essays zur Lit. (1992) 86–101, hier 96. – 6 vgl. dazu A. Fuchs:
rischen S. oder sustentatio entspringt (1), von einer Dramatische Spannung: moderner Begriff – antikes Konzept
auf vergangenes Geschehen gerichteten Rätselspan- (2000) 147–152. – 7 Gottsched Dichtk. Hptstk. X, § 23; vgl. dazu
nung, die als typisches Merkmal von analytischen Dra- D. Bartel: Hb. der musikalischen Figurenlehre (1985) 257f. –
8 Quint. IX, 2, 22–23 mit Verweis auf Celsus fr. rhet. 15 Marx. –
men (wie Sophokles’ ‹König Oidipus›), Kriminalroma- 9 Bartel [7] 258. – 10 vgl. bes. H. Morier: Dict. de poétique et de
nen und Detektiverzählungen einschlägig ist (2), und rhétorique (Paris 1975) 1007–1011. – 11 vgl. Martin 288 u. Laus-
schließlich von einem Konflikt- und Bedrohungsspan- berg Hb. 548 (§ 1194,1), 438f. (§§ 887–889). – 12 vgl. M. Pfister:
nungsschema, das sich in einem «Wechselspiel von Das Drama (102000) 142; H. Bonheim: Spannung, Suspense,
Furcht und Hoffnung» realisiere (3). [35] Solche säuber- Tension, in: R. Borgmeier, P. Wenzel: Spannung: Stud. zur eng-

267 268
Syllogismus Syllogismus

lischsprachigen Lit. (2001) 1–9; D. Zillmann: The Psychology of In aussagenlogischen S. ist mindestens eine Prämisse
Suspense in Dramatic Exposition, in: P. Vorderer, H.J. Wulff, ein aus zwei kategorischen Urteilen (Aussagen) mittels
M. Friedrichsen: Suspense. Conceptualizations, Theoretical logischer Junktoren zusammengesetztes Urteil, das z.B.
Analyses, and Empirical Explorations (Mahwah, NJ 1996) 199–
231. – 13 Belege bei U. Broich: Bedrohung und Spannung: Pin-
hypothetisch (wenn p, dann q: p ^ q), disjunktiv (ent-
ters comedies of menace und das Drama der ‹Jungen Wilden›, weder p oder q: p ∨ q) oder konjunktiv (sowohl p als
in: Borgmeier, Wenzel [12] 149–161, hier: 151. – 14 vgl. bes. Vor- auch q: p ∧ q) sein kann. In der Regel ist die zweite Prä-
derer u. a. [12]; Fuchs [6]; Borgmeier, Wenzel [12]; A. Fill: Das misse eine einfache Aussage (z.B. p), so daß ein Schluß
Prinzip Spannung. Sprachwiss. Betrachtungen zu einem univer- etwa folgenden Typs entsteht: wenn p, dann q; nun aber
salen Phänomen (2003). – 15 Quint. IX, 2, 22 mit einem Zitat p; also q. S., in denen beide Prämissen hypothetisch for-
von Cic. In Verrem II, 5, 10; dazu auch Fuchs [6] 160–162. – muliert sind, heißen rein hypothetische S.
16 Cic. In Verrem II, 5, 11. – 17 Quint. IX, 2, 23. – 18 vgl. dazu In beiden Systemen lassen sich ausgearbeitete Kal-
Fuchs [6] 148–150. – 19 Iulius Rufinianus § 34, in: Rhet. Lat. min.
46. – 20 Cic. Pro Ligario 27. – 21 Gottsched Dichtk. 334 (10.
küle errichten. Am wirkungsreichsten ist die auf der
Hauptstück, § 23). – 22 ebd. 335. – 23 J.A. Scheibe: Critischer Grundlage der Theorie der ‹Ersten Analytik› des Ari-
Musicus (1737–1790) 694. – 24 J.N. Forkel: Allg. Gesch. der Mu- stoteles beruhende Syllogistik des kategorischen S., die
sik (1788) 57. – 25 Bartel [7] 257f. – 26 ebd. 258. – 27 Morier [10] sich in der Darstellung der traditionellen Logik wie folgt
1007. – 28 ebd. 1007–1011. – 29 Pfister [12] 142 mit Bezug auf G. beschreiben läßt:
Wienold: Semiotik der Lit. (1972) 88–55 und I. u. J. Fónagy: Ein Ein kategorischer S. ist aus kategorischen Aussagen
Meßwert der dramatischen Spannung, in: LiLi 4 (1971) 73–98. – der folgenden Art zusammengesetzt: ‹alle S sind P›, ‹ei-
30 Pfister [12] 143. – 31 ebd. 144–147. – 32 vgl. dazu etwa H.-L. nige S sind P›, ‹kein S ist P›, ‹einige S sind nicht P›. In der
Borringo: Spannung in Text und Film (1980); P. Ohler, G. Nie-
ding: Cognitive Modeling of Suspense-Inducing Structures in
mittelalterlichen Logik haben sich als Abkürzungen für
Narrative Films, in: Vorderer u. a. [12] 129–147. – 33 P. Wenzel: diese vier verschiedenen Aussagetypen folgende Kenn-
Spannung in der Literatur: Grundformen, Ebenen, Phasen, in: vokale eingebürgert: a: universell bejahend; i: partikulär
Borgmeier, Wenzel [12] 22–35, hier 24–26. – 34 ebd. 23f. – bejahend; e: universell verneinend; o: partikulär vernei-
35 ebd. 26–32. – 36 Fuchs [6] 306. – 37 Fill [14] 67. – 38 ebd. 70. – nend (nach lateinisch affirmo, ‹ich bejahe› bzw. nego,
39 ebd. 73 mit Hinweis auf E.S. Rabkin: Narrative Suspense ‹ich verneine›).
(Ann Arbor 1973) 137ff. – 40 Fill [14] 75f. – 41 ebd. 76–79. – Zwischen diesen Aussagetypen bestehen folgende
42 ebd. 93. – 43 ebd. 98. Beziehungen: a und o bzw. e und i sind zueinander kon-
M. Janka
tradiktorisch (beide können nicht zugleich wahr sein,
^ Attentum parare ^ Dubitatio ^ Obscuritas ^ Paradoxe, das
z.B. «alle Menschen sind sterblich» und «einige Men-
^ Paradoxon ^ Witz schen sind nicht sterblich»); a und e sind zueinander
konträr (beide können zugleich falsch sein, z.B. «alle
Menschen sind mutig» und «kein Mensch ist mutig»),
Syllogismus (griech. syllogismoÂw, syllogismós; lat. syl- i und o subkonträr (beide können zugleich wahr sein;
logismus, ratiocinatio, (rationis) conclusio, collectio; dt. z.B. «einige Menschen sind mutig» und «einige Men-
Vernunftschluß, Schluß; engl. syllogism; frz. syllogisme; schen sind nicht mutig»); i ist zu a ebenso wie o zu e
ital. sillogismo) subaltern, da beide sich aus den jeweils stärkeren Aus-
A. Def. – B. I. Antike. – II. Mittelalter. – III. Renaissance, Hu- sagen als Korollare ergeben (z.B. «einige Menschen
manismus. – IV. Barock. – V. Aufklärung. – VI. 19. Jh. – VII. sind mutig» aus «alle Menschen sind mutig»). Diese Be-
20./21. Jh. ziehungen werden seit Apuleius (2. Jh. n. Chr.) in der
A. Def. Als S. (aus griech. syllogiÂzesuai, syllogı́zes- Form des sogenannten logischen Quadrats veranschau-
thai, ‹zusammenrechnen›, ‹zusammenfassen›) bezeich- licht.
net man 1. im weiteren Sinne und im ursprünglichen In den drei Sätzen eines kategorischen S. kommen
griechischen Wortsinne ein deduktives Argument, in insgesamt drei Begriffe vor (Ober-, Mittel- und Unter-
dem aus Prämissen eine Konklusion notwendig und al- begriff), wobei der Mittelbegriff als einziger in beiden
lein durch die Prämissen folgt (Prämissen-Konklusions- Prämissen auftritt; über ihn werden Ober- und Unter-
Argument); 2. im engeren Sinne einen formalen logi- begriff in der conclusio unmittelbar verknüpft. In dem
schen Schluß aus drei Sätzen, bei dem aus genau zwei Beispiel «Alle Menschen sind sterblich (Obersatz);
Prämissen (protaÂseiw, protáseis; praemissa: Obersatz alle Griechen sind Menschen (Untersatz); folglich
[maior, propositio] und Untersatz [minor, adsumptio]) sind alle Griechen sterblich (Konklusion)» ist «sterb-
von bestimmter Gestalt eine Konklusion (sympeÂrasma, lich» der Oberbegriff, «Grieche» der Unterbegriff, und
sympérasma; conclusio) notwendig folgt. Dieser kann «Mensch» der Mittelbegriff. Der Oberbegriff bildet je-
auftreten als kategorischer (assertorischer) S. in der Be- weils das Prädikat (P), der Unterbegriff das Subjekt (S)
griffslogik oder als hypothetischer bzw. disjunktiver S. in der Konklusion.
der Aussagenlogik. Nach der jeweiligen Stellung des Mittelbegriffs (M) in
Im kategorischen S. sind Prämissen und Konklusion den beiden Prämissen ergeben sich so theoretisch vier
jeweils kategorische Urteile, d. h. Aussagen, in denen mögliche Anordnungen (Figuren; sxhÂmata, schē´mata;
einem Begriff (griech. oÏrow, hóros, lat. terminus), dem figurae):
Subjekt, ein anderer Begriff, das Prädikat, in bestimmter 1. Figur 2. Figur 3. Figur 4. Figur
Weise zu- oder abgesprochen wird. Der kategorische S. Obersatz M–P P–M M–P P–M
ist beschreibbar in Begriffen der monadischen Prädika- Untersatz S–M S–M M–S M–S
tenlogik (Frege, Peirce) oder der Mengenlehre (gra- Conclusio S–P S–P S–P S–P
phisch darstellbar in Euler- bzw. Venn-Diagrammen).
Eine Weiterentwicklung des kategorischen S. stellt der Setzt man in diese Figuren alle möglichen Kombinatio-
modale S. dar, in dem die kategorischen Urteile noch nen von Aussagetypen ein, erhält man rechnerisch für
um modale Qualifizierungen wie ‹notwendigerweise›, jede Figur 4 x 4 x 4 = 64 mögliche Kombinationstypen
‹möglicherweise› oder ‹kontingenterweise› erweitert (Modi), d. h. insgesamt 256, von denen jedoch lediglich
sind. 24 logisch gültig sind. Für die 24 logisch gültigen Modi

269 270
Syllogismus Syllogismus

wurden von mittelalterlichen Logikern folgende Merk- rückgeführt werden können, beruht die Validität sämt-
wörter eingeführt: licher gültigen S. letztlich auf der Gültigkeit von Bar-
1. Figur: Barbara, Celarent, Darii, Ferio, (Barbari, Ce- bara und Celarent.
laront) Zusammenfassend lassen sich folgende allgemeinen
2. Figur: Baroco, Cesare, Camestres, Festino, (Came- Regeln für gültige S. aufstellen: a) Regeln der Qualität:
strop, Cesaro) 1. Mindestens eine Prämisse muß bejahend sein; 2. Sind
3. Figur: Bocardo, Darapti, Datisi, Disamis, Felapton, beide Prämissen bejahend, muß auch die Konklusion
Ferison bejahend sein; 3. Ist eine Prämisse verneinend, muß
4. Figur: Bamalip, Calemes, Dimatis, Fesapo, Fresison, auch die Konklusion verneinend sein; b) Regeln der
(Calemop) Quantität: 1. Mindestens eine der Prämissen muß uni-
In diesen Merkwörtern (von denen z. T. auch leicht un- versell sein; 2. Ist eine der Prämissen partikulär, muß
terschiedliche Versionen kursieren) bezeichnen die Vo- auch die Konklusion partikulär sein. Somit gilt: Wäh-
kale die Typen der Aussagen in der Reihenfolge Ober- rend in S. der ersten Figur Konklusionen jeden Typs vor-
satz-Untersatz-Konklusion; so bezeichnet Modus Bar- kommen, sind in S. der zweiten Figur nur verneinende
bara den zentralen S. der ersten Figur vom Typ a-a-a Konklusionen möglich, in S. der dritten Figur aus-
(z.B. «alle Menschen sind sterblich; alle Griechen sind schließlich partikuläre; der einzige Modus mit universell
Menschen; folglich sind alle Griechen sterblich»), Mo- bejahender Konklusion ist Barbara. Eine weitere Gül-
dus Darii einen S. der ersten Figur vom Typ a-i-i (z.B. tigkeitsregel betrifft die sogenannte ‹Distribution›
«alle Wale sind Säugetiere; einige Meeresbewohner sind (‹Verteilung›) der Begriffe (ein Begriff gilt innerhalb
Wale; folglich sind einige Meeresbewohner Säugetie- einer syllogistischen Aussage genau dann als ‹distribu-
re»). Die eingeklammerten Modi bezeichnen jeweils iert›, wenn er sich innerhalb der Aussage auf alle Ge-
‹schwache› Korollare (mit partikularer Konklusion) ei- genstände bezieht, auf die der Begriff zutrifft, anders
nes ‹starken› Modus (mit universeller Konklusion) der- ausgedrückt, wenn er unter Wahrung der Gültigkeit
selben Figur. Diese ‹subalternen› Modi finden, ebenso durch jeden echten Teilbegriff seiner selbst ersetzbar
wie die Modi der vierten Figur, erst nach Aristoteles ist): in Aussagen des Typs a ist jeweils das Subjekt, im
Anerkennung. Typ o das Prädikat, im Typ e beide, im Typ i keines von
Als logisch unmittelbar evident gelten in diesem Sy- beiden distribuiert; als Voraussetzung für die Gültigkeit
stem nur die Modi der ersten Figur (deren Gültigkeit eines S. gilt aber: 1. Der Mittelbegriff muß mindestens
gilt seit Aristoteles als verbürgt durch das Prinzip des einmal distribuiert vorkommen; 2. Wenn ein Begriff in
dictum de omni et nullo: Was der gesamten Gattung zu- der Konklusion distribuiert auftritt, muß er auch in einer
gesprochen oder abgesprochen wird, kann auch jeder Prämisse distribuiert auftreten.
ihrer Untergattungen zugesprochen bzw. abgesprochen Werden die einzelnen Aussagen eines kategorischen
werden). Alle übrigen müssen zum Beweis ihrer Gül- S. zusätzlich noch durch modale Qualifikatoren als mög-
tigkeit auf einen Modus der ersten Figur zurückge- lich, notwendig oder kontingent bestimmt (modaler S.),
führt (reduziert) werden. Die Anfangskonsonanten der ergeben sich noch weitaus vielfältigere und komplizier-
Merkwörter der Modi der zweiten bis vierten Figur ge- tere Kombinationsmöglichkeiten.
ben dabei an, auf welchen Modus der ersten Figur der Auch in den Kalkülen der Aussagenlogik wird ein
jeweilige Modus zurückgeführt werden kann (z.B. Ca- Gebilde aus zwei Prämissen und einer Konklusion als S.
mestres auf Celarent, Bocardo auf Barbara etc.), die verstanden. Die verschiedenen Arten mithilfe von Ne-
weiteren jeweils auf Vokal folgenden Konsonanten m, gationen und Junktoren aus Elementaraussagen zusam-
c, s und p, durch welche logischen Operationen diese mengesetzter, als Prämissen dienender Aussagen sind
Zurückführung möglich ist. Diese Operationen sind: dabei durch das Profil ihrer Wahrheitswertetabellen de-
Vertauschung der Prämissen (lat. metathesis praemisso- finierbar; so ist z.B. eine Implikation (wenn p, dann q)
rum, Kennbuchstabe m); indirekter Beweis durch re- nur dann falsch, wenn p wahr, q aber falsch ist (Wahr-
ductio ad impossibile (lat. ductio per contradictoriam heitswertetabelle w-f-w-w), eine einfache Disjunktion
propositionem, Kennbuchstabe c); einfache Umkeh- (p oder q) nur dann, wenn p und q beide falsch sind (w-
rung (lat. conversio simplex, Kennbuchstabe s: Vertau- w-w-f). Ein S. aus derartigen Prämissen ist genau dann
schung von Subjekt und Prädikat der jeweiligen Aus- gültig, wenn es keine Wahrheitswertezuweisung an die
sage; wegen der Distributionsregel, s. u., nur in Aussa- Elementaraussagen gibt, die beide Prämissen wahr, die
gen der Typen e und i gültig möglich; z.B. «kein Hund Konklusion aber falsch macht. Schon in der antiken Lo-
ist ein Mensch» aus «kein Mensch ist ein Hund» bzw. gik werden jedoch auch Methoden der Rückführung auf
«einige Griechen sind Philosophen» aus «einige Philo- wenige elementare S. entwickelt.
sophen sind Griechen»); Umkehrung mit Einschrän- Zusammengesetzte Formen des S. sind etwa der
kung (lat. conversio per accidens, Kennbuchstabe p: Kettenschluß (Sorites, coacervatio), in dem mehrere an-
Vertauschung von Subjekt und Prädikat bei gleichzei- einandergereihte Prämissen den Ober- und Unterbe-
tiger Einschränkung des Aussagetyps von universell auf griff über mehrere Mittelbegriffe verbinden) oder der
partikulär: a auf i bzw. e auf o; nur gültig unter der Vor- Polysyllogismus, in dem jeweils die conclusio des vor-
aussetzung, daß keine leeren Begriffe verwendet wer- angehenden Schlusses (Prosyllogismus) als Prämisse
den, es also immer mindestens ein x gibt, dem der Be- des folgenden (Episyllogismus) fungiert. Auch rein hy-
griff zukommt; z.B. «einige Menschen sind Griechen» pothetische aussagenlogische S. (p ^ q; q ^ r; r ^ s;
aus «alle Griechen sind Menschen», nicht aber «einige daher p ^ s) können als Kettenschlüsse interpretiert
Tiere sind Einhörner» aus «alle Einhörner sind Tiere»). werden.
Demnach kann etwa Disamis mittels einfacher Umkeh- Die Bedeutung des S. für die Rhetorik liegt vor allem
rung und Prämissenvertauschung auf Darii zurückge- im Bereich der Argumentationslehre; dort gelten jedoch
führt werden, Bamalip mittels Prämissenvertauschung der streng auf evidenten oder bewiesenen Sätzen auf-
und conversio per accidens auf Barbara. Da grundsätz- bauende wissenschaftliche (apodiktische) S. als unan-
lich auch Darii und Ferio wiederum auf Celarent zu- gemessen und die logisch vollständige Form des S. als

271 272
Syllogismus Syllogismus

pedantisch, weshalb ihnen die auf lediglich plausiblen Bei der Formulierung von S. verwendet Aristoteles
Prämissen beruhende und häufig verkürzte Form des als erster bereits Buchstabensymbole als Variablen für
rhetorischen S. (Enthymem) vorgezogen wird. Eine Ex- die einzelnen Termini. Dennoch unterscheidet sich die
pansionsform des dreisätzigen S. stellt hingegen (zumin- aristotelische Formulierung eines S. in mehrfacher Hin-
dest nach einer der gängigen antiken Definitionen) das sicht von derjenigen der traditionellen Logik. So ver-
bis zu fünfteilige Epicheirem dar. Ferner ist der S. von wendet Aristoteles anstelle von Formulierungen mit
Bedeutung im Rahmen der Statuslehre innerhalb des der Kopula ‹sein› (‹alle/einige S sind P›) grundsätzlich
status legalis als analogische (schlußfolgernde) Einbe- Wendungen wie ‹P kommt jedem/irgendeinem S zu
ziehung eines Falles unter ein Gesetz, wenn weder Ge- (yëpaÂrxei, hypárchei)› bzw. ‹P wird ausgesagt (katheÂ-
setzestext noch Intention des Gesetzgebers diesen Fall goreiÄtai, katēgoreı́tai) von jedem/irgendeinem S›. [14]
direkt erfassen. Eine begrenzte Rolle spielt der S. Auch läßt er im apodiktischen S. (im Unterschied zum
schließlich auch noch in der rhetorischen Figurenlehre Enthymem) keine singulären, sondern nur Gattungs-
bzw. als rhetorisches Dispositionsschema. begriffe zu. [15] Während schließlich ein traditioneller
B. Geschichte. I. Antike. Schon vor ihrer termino- S. ein Gebilde aus drei Sätzen ist («kein B ist A; einige
logischen Verfestigung durch Aristoteles begegnen der C sind B; daher sind einige C nicht A», Modus Ferio)
Terminus ‹syllogismós› und das Verbum ‹syllogı́zes- besteht der entsprechende Aristotelische S. aus einem
thai›, etwa bei Platon, im Sinne eines argumentativen einzigen konditionalen Satz der Form «wenn A keinem
Zusammentragens und Erschließens. [1] ‹Syllogismós› B und B einem C zukommt, so kommt A einem C
steht also ursprünglich allgemein für jegliche Art des notwendig nicht zu.» [16] Es besteht Uneinigkeit
Schließens. Andererseits kommt ‹syllogı́zesthai› noch darüber, ob eine solche Formulierung des Aristoteles
bei Demosthenes auch in der Bedeutung des bloßen eine zusammenhängende Aussage mit eigenem Wahr-
summarischen Zusammenfassens vor. [2] heitswert [17] oder vielmehr eine metasprachliche
Der wesentliche Schritt zu einer Systematisierung er- Aussage über einen Syllogismus darstellt. [18] Auch
folgt erst durch Aristoteles. Dieser definiert den S. in enthält der Aristotelische S. in der Regel die ausdrück-
‹Topik› und ‹Erster Analytik› nahezu gleichlautend als liche Feststellung der zwingenden Notwendigkeit des
«eine Rede, in der, wenn etwas gesetzt ist, etwas von Schlusses.
dem Gesetzten Verschiedenes mit Notwendigkeit durch Da Aristoteles sich nur an der Stellung des Mittel-
dieses Gesetzte folgt.» [3] Da Aristoteles in der ‹Topik› begriffs in den Prämissen orientiert, setzt er nur drei syl-
die erst etwa ein Jahrzehnt später in der ‹Ersten Ana- logistische Figuren (schē´mata) an (entweder ist der Mit-
lytik› erarbeitete formale Syllogistik nachweislich noch telbegriff einmal Subjekt und einmal Prädikat: 1. Figur,
nicht entwickelt hatte, muß hier offenbar ein voranaly- oder beide Male Prädikat: 2. Figur, oder beide Male
tisches Verständnis von ‹S.› zugrundeliegen, etwa im Subjekt: 3. Figur) [19]; die gültigen Modi der vierten Fi-
Sinne eines einfachen deduktiven Prämissen-Konklu- gur deutet er als solche der ersten Figur, in welche sie
sions-Arguments. [4] Aufgrund der Konstanz der Defi- durch Prämissentausch und Konversion der Konklusion
nition ist aber der Schluß unausweichlich, daß Aristo- übergehen. [20] In diesen drei Figuren gibt es insgesamt
teles diese weitere Auffassung von S. auch in den spä- 14 gültige Modi (vier in der ersten, vier in der zweiten
teren Schriften nicht grundsätzlich aufgegeben hat. [5] und sechs in der dritten Figur). [21] Dabei verwendet
Dies gilt auch für die ‹Rhetorik›, in der das Enthymem Aristoteles den Begriff ‹S.› ausschließlich für gültige
als rhetorischer S. definiert wird. [6] Schlüsse. In der Bestimmung der gültigen Modi sieht
In der ‹Topik› unterscheidet Aristoteles den auf wah- Aristoteles die Hauptaufgabe der Analytik, die er in
ren Prämissen beruhenden beweisenden (apodiktischen) Kap. 1–7 der ‹Ersten Analytik› durchführt.
S. von dem auf anerkannten Meinungen (eÍndoja, én- Dabei unterscheidet Aristoteles zwischen einem
doxa) basierenden dialektischen S. und dem nur schein- «vollkommenen» (teÂleiow, téleios) und einem «unvoll-
baren, aus scheinbaren éndoxa schließenden eristischen kommenen» (aÆtelhÂw, atelē´s) S. [22] Als vollkommen
S. [7] Aus dem dialektischen S. leitet er später das En- gelten ihm S., die aus den Prämissen allein ohne weitere
thymem als rhetorischen S. her. [8] Als Beweisverfahren Voraussetzungen evident sind. Als Grundlage für deren
wird dem S. als Deduktion dabei in der Regel die Induk- Gültigkeit finden sich schon bei Aristoteles Aussagen
tion (eÆpagvghÂ, epagōgē´) an die Seite gestellt, die jedoch zur Transitivität von Urteilen, die dem später sogenann-
gegenüber dem S. von untergeordneter Bedeutung ten dictum de omni et nullo entsprechen. [23] Als voll-
bleibt. [9] kommene S. bestimmt er diejenigen der ersten Schluß-
Die dialektischen Schlüsse behandelt Aristoteles in figur (behandelt in Kapitel I, 4), der somit eine Sonder-
der ‹Topik›, die eristischen Trugschlüsse in den ‹Sophi- stellung zukommt. [24] Als unvollkommen betrachtet er
stischen Widerlegungen›, die beweisenden Schlüsse in S., die zur Schlüssigkeit weitere, nicht mit den Prämissen
der ‹Zweiten Analytik›. In der ‹Ersten Analytik› hin- gegebene Voraussetzungen benötigen, also die S. der
gegen leistet er als Kernstück seiner Syllogistik die zweiten und dritten Figur (Kap. I, 5 bzw. 6).
grundlegende Klärung der formalen Gültigkeit von S. Die S. der zweiten und dritten Figur müssen zum Be-
und die Entwicklung einer Methode, die ausdrücklich weis ihrer Gültigkeit auf S. der ersten Figur «zurückge-
für alle Arten von S. gelten soll. [10] Ausgehend von der führt» werden (aÆnaÂgein, anágein). [25] Der parallel ver-
genannten Definition legt er dabei für den kategori- wendete Begriff der «Analyse» (aÆnaÂlysiw, análysis;
schen S. die Zahl der Prämissen auf zwei, die Anzahl der aÆnalyÂein, analýein), der der Schrift den Namen gab, be-
darin vorkommenden Begriffe auf drei fest [11], die als schreibt allgemein die Überführung eines S. in einen S.
Mittelbegriff (meÂsow, mésos), Unterbegriff (eÍsxatow, és- einer anderen Figur, ohne Sonderstellung der ersten Fi-
chatos) und Oberbegriff (prv Ä tow, prō´tos) – letztere gur. [26] Für diese Rückführung verwendet Aristoteles
auch als Außenbegriffe (aÍkra, ákra) – bezeichnet wer- die Methoden der Konversion (aÆntistrofhÂ, antistro-
den [12], und bestimmt die Form der Prämissen als syl- phē´), der reductio ad impossibile (aÆpagvghÁ eiÆw toÁ aÆdyÂ-
logistische Sätze in den vier möglichen kategorischen naton, apagōgē´ eis to adýnaton) und der sogenannten
Aussageformen. [13] Ekthesis (eÍkuesiw), d. h. der Einsetzung eines Unterbe-

273 274
Syllogismus Syllogismus

griffs. [27] Ergänzend weist Aristoteles auch die Nicht- rik an Alexander› (Mitte 4. Jh.), die eine völlig anders-
schlüssigkeit weiterer Modi eigens nach. [28] artige Definition des Enthymems gibt [39] und den Be-
In den Kapiteln 8–22 des ersten Buches der ‹Ersten griff des ‹syllogismós› überhaupt nicht heranzieht.
Analytik› erweitert Aristoteles diesen Kalkül des kate- Die Schüler des Aristoteles Theophrast (ca. 371–287
gorischen S. auch auf modale S. aus Urteilen der Not- v. Chr.) und Eudemos von Rhodos (vor 350-ca. 300
wendigkeit (aÆnagkaiÄon, anankaı́on), (einseitigen) Mög- v. Chr.) erweitern, vervollständigen und systematisieren
lichkeit (dynatoÂn, dynatón; was nicht unmöglich ist) in eigenen Werken zur Analytik die aristotelische Syl-
und Kontingenz (zweiseitige Möglichkeit, eÆndexoÂmenon, logistik, indem sie durch Preisgabe des Kriteriums der
endechoÂmenon, was weder notwendig noch unmöglich Evidenz der Modi der ersten Figur und des Grundsatzes
ist) in ihren Kombinationsmöglichkeiten in denselben der absteigenden Stufung der Begriffe fünf weitere
Figuren und Modi mit entsprechenden Gültigkeitsre- (‹indirekte›) Modi der ersten Figur anerkennen (Bara-
geln und -beweisen. [29] lipton, Celantes, Dabitis, Fapesmo and Frisesomorum),
Das zweite Buch der ‹Ersten Analytik› behandelt in denen der Unterbegriff vom Oberbegriff prädiziert
Spezialprobleme, häufige Schlußfehler und weitere wird. [40] Ferner vereinfachen sie die modale Syllogistik
Schlußarten, wobei die systemische Dominanz des S. so durch Neudefinition des Begriffs der Möglichkeit [41]
groß ist, daß selbst die Induktion (eÆpagvghÂ, epagōgē´) und Einführung des Prinzips, wonach in gemischt mo-
einmal als «S. durch Induktion» bezeichnet werden dalen S. die Modalität der Konklusion immer der schwä-
kann. [30] Schließlich wird dabei auch das Enthymem als cheren Prämisse folgt. [42] Theophrast nimmt weiterhin
rhetorische Ausprägung der Deduktion einer syllogisti- sogenannte ‹prosleptische› Prämissen und S. an («A
schen Interpretation unterzogen, indem es, definiert als kommt all demjenigen zu, welchem allem B zukommt; B
«syllogismós aus Wahrscheinlichem oder aus Anzei- kommt jedem C zu; folglich kommt A jedem C zu»). [43]
chen» [31], derart nach den drei Schlußfiguren klassifi- Durch die Lehre von den ‹hypothetischen› S. (z.B.
ziert wird, daß ein unwiderlegliches ‹Tekmerien-En- «wenn etwas F ist, dann ist es G; a ist F; also a ist G» oder
thymem› (Kennzeichen-Enthymem) nur in der ersten «entweder ist etwas F oder es ist G; a ist nicht F; also a ist
Schlußfigur möglich ist (z.B. «Frauen, die Milch haben, G») [44] werden Theophrast und Eudemos gar zu Weg-
sind schwanger; diese Frau hat Milch; also ist sie schwan- bereitern der stoischen Aussagenlogik. Theophrast wird
ger»), während in der zweiten und dritten Figur stets nur schließlich auch die Erfindung ‹rein hypothetischer› S.
widerlegbare Zeichen-Enthymeme zustande kommen («wenn etwas A ist, ist es B; wenn etwas B ist, ist es C;
(z.B. «wer schwanger ist, ist bleich; diese Frau ist bleich; folglich: wenn etwas A ist, ist es C») zugeschrieben. [45]
also ist sie schwanger»; «Pittakos ist gut; Pittakos ist wei- Bei den Dialektikern Diodoros Kronos und Philon
se; also sind die Weisen gut»). [32] Fraglich ist jedoch, von Megara (4./3. Jh.) wird die Entwicklung hin zur
inwieweit bereits die (im Kern den ‹Analytiken› chro- Aussagenlogik und die Klärung des Begriffs der gülti-
nologisch vorausgehende) ‹Rhetorik›, in der das En- gen Implikation weiter vorangetrieben, wobei Philon
thymem mehrfach als «eine Art von syllogismós» (syl- u. a. der erste Entwurf einer Wahrheitswertetafel ge-
logismoÂw tiw) [33] bzw. als «rhetorischer syllogismós» lingt. [46]
definiert wird [34], wenigstens ansatzweise auch eine syl- Die Stoiker (insbesondere Chrysipp, ca. 280–207
logistische Konzeption einbezieht oder vielmehr noch v. Chr.) entwickeln daraus einen Kalkül einer zweiwer-
das syllogismós-Konzept der ‹Topik› im Sinne eines ein- tigen axiomatischen Aussagenlogik. Aussagen (aÆjivÂ-
fachen deduktiven Prämissen-Konklusions-Arguments mata, axiō´mata) werden von anderen Sprechakten wie
zugrundelegt [35]; letzteres ist gewiß der Fall in den (ei- Fragen, Befehlen, Wünschen etc. durch die Wahrheits-
ner älteren Schicht entstammenden?) Kapiteln II 23 werte ‹wahr› oder ‹falsch› abgegrenzt. [47] Als logische
(über echte Enthymeme) und II 24 (über scheinbare En- Junktoren dienen die Negation («nicht»: ¬), die Impli-
thymeme), deren Beziehungen zur ‹Topik› und zu den kation («wenn ... dann ...»: ^), die Konjunktion («so-
‹Sophistischen Widerlegungen› evident sind. Doch gibt wohl ... als auch ...»: ∧) und die Disjunktion («entweder ...
es auch Passagen, die sich syllogistischen Strukturen zu- oder ...»: ∨). Die Stoiker definieren den S. als ein formal
mindest annähern. [36] Jedenfalls hat sich die Enthy- gültiges Argument aus einer Oberprämisse (lhÄmma, lē´m-
mem-Konzeption des Aristoteles aus dialektischen ma), einer Unterprämisse (proÂslhciw, próslēpsis) und
Grundlagen heraus zu einer syllogistischen Auslegung einer Konklusion (eÆpiforaÂ, epiphorá). [48] Formal gül-
hin entwickelt. Dabei liegt der wesentliche Unterschied tig (perantikoÂw, perantikós) ist ein Argument, wenn die
des Enthymems zum apodiktischen S. für Aristoteles Implikation zwischen der Konjunktion der Prämissen
nicht etwa in der (aus stilistischen und psychologischen und der Konklusion wahr ist (d. h. die Konklusion bei
Gründen durchaus anempfohlenen) Verkürzung [37], wahren Prämissen nicht falsch sein kann). Das Argu-
sondern im Charakter der Prämissen als kontingenter ment selbst gilt ferner als wahr, wenn seine Prämissen
(taÁ eÆndexoÂmena aÍllvw eÍxein, ta endechómena állōs wahr sind. [49]
échein, «was sich auch anders verhalten kann»), plausi- Das System besteht aus einer Reihe von fünf Grund-
bler (eiÆkoÂta, eikoÂta) und allgemein anerkannter Sätze axiomen, den sogenannten ‹Unbeweisbaren› (aÆnapoÂ-
(éndoxa). [38] deiktoi, anapódeiktoi; genauer: nicht beweisbedürftigen
Der praktische Anwendungsbereich von Syllogistik Schlüssen) sowie vier metalogischen Ableitungsregeln
wie Enthymematik besteht für Aristoteles nicht so sehr (ueÂmata, thémata) zur Reduktion aller anderen Schluß-
in deduktiver Ableitung von Sätzen aus Axiomen, son- formen auf diese Grundaxiome. Als S. gelten nur
dern umgekehrt in der Aufstellung geeigneter Prämis- Schlüsse, die entweder selbst Unbeweisbare oder auf
sen zum Beweis gegebener Sätze, insbesondere in der Unbeweisbare zurückführbar sind.
Findung des geeigneten Mittelbegriffs. Hierbei ist zu unterscheiden zwischen konkreten
Die besondere Leistung des Aristoteles für die rhe- Schlüssen («wenn es Tag ist, dann ist es hell; nun ist es
torische Beweismittellehre wird erkennbar im Vergleich Tag; also ist es hell»), den sogenannten Modi (troÂpoi,
mit der etwa gleichzeitigen, Anaximenes von Lampsa- trópoi), in denen Ordinalzahlen als Variable an die Stel-
kos zugeschriebenen, deutlich traditionelleren ‹Rheto- le der Aussagen treten («wenn das erste, dann das zwei-

275 276
Syllogismus Syllogismus

te; nun aber das erste; also das zweite»), den darin be- rennium die ratiocinatio auch als Redefigur (räsonnie-
schriebenen Schlußschemata und deren Definitionen rendes Selbstgespräch in Frage und Antwort). [61]
(«ein erster Unbeweisbarer ist ein Schluß, der aus einer In den ‹Topica› listet Cicero schließlich im Rahmen
Implikation und deren Antezedens zusammengesetzt der Topoi «aus Folgen, Voraussetzungen und Wider-
ist, mit dem Konsequens als Konklusion»). [50] sprüchen» eine Reihe von sieben «Schlußweisen»
Die fünf Unbeweisbaren lauten: (modi) der Dialektiker auf, die sich unschwer als die fünf
1. Wenn das erste, dann das zweite; nun aber das erste; stoischen Unbeweisbaren (erweitert um zwei weitere
also das zweite: p ^ q; p; ^ q (modus ponendo po- leicht modifizierte Modi) erweisen. Dabei erkennt er im
nens) dritten Modus die logische Struktur eines als Wider-
2. Wenn das erste, dann das zweite; nun aber nicht das spruchsargument definierten Enthymems. [62]
zweite; also nicht das erste: p ^ q; ¬ q; ^ ¬ p (modus Im 1. Jh. v. Chr. nehmen auch griechische Peripateti-
tollendo tollens) ker in Kommentaren zu den Analytiken Veränderungen
3. Nicht zugleich das erste und das zweite; nun aber das an der Aristotelischen Syllogistik vor. So erklärt Bo-
erste; also nicht das zweite: ¬ (p ∧ q); p; ^ ¬ q (modus ethos von Sidon auch die S. der zweiten und dritten Fi-
ponendo tollens) gur für vollkommen und die hypothetische Syllogistik
4. Entweder das erste oder das zweite; nun aber das er- für vorrangig gegenüber der kategorischen. [63] Ari-
ste; also nicht das zweite: p ∨ q; p; ^ ¬ q ston von Alexandria wiederum soll um 50 v. Chr. als
5. Entweder das erste oder das zweite; nun aber nicht erster die ‹subalternen› Modi der ersten Schlußfigur in
das erste; also das zweite: p ∨ q; ¬ p; ^ q (modus tol- die Aristotelische Syllogistik integriert haben. [64]
lendo ponens). [51] Quintilian rückt in seiner ‹Institutio› zwar in der Be-
Diese stoischen Schlußschemata haben den Vorteil weismittellehre das Enthymem (als rhetorischen oder
enormer Flexibilität, insofern in konjunktiven und dis- unvollkommenen S. aus Folgebeziehungen oder Wider-
junktiven Modi die Reihenfolge der Sätze kommutativ sprüchen [65]) und das Epicheirem (als probabilistische
ist und ferner alle Variablen auch durch negierte oder Abart des S. [66]) in den Vordergrund, behandelt dabei
wiederum zusammengesetzte Aussagen gefüllt werden aber stets eingehend deren jeweiliges Verhältnis zum S.
können. [52] und gesteht durchaus auch die Verwendung echter S. in
Nur schwer rekonstruierbar sind aufgrund der frag- rhetorischem Kontext zu. [67] Selbstverständlich kennt
mentarischen Überlieferungslage die vier thémata. Sie aber auch er syllogismós/syllogismus als einen der status
sind in Art und Funktion den Aristotelischen Rückfüh- legales (status ratiocinativus oder collectivus) [68], er-
rungsmethoden vergleichbar. Es handelt sich, soweit er- kennt dabei aber auch Verbindungen etwa zum status
kennbar, um eine Konversionsregel und drei Regeln zur finitionis. [69] Schließlich sieht er in der ratiocinatio auch
Analyse von Kettenschlüssen. [53] ein Mittel der Amplifikation [70] und kommentiert ihre
In der Folgezeit überlagern und verschränken sich Einstufung als Redefigur beim Rhetor Gorgias oder bei
peripatetische und stoische syllogistische Systeme. Ci- Cornificius. [71]
cero behandelt in ‹De inventione› unter dem Stichwort In der Kaiserzeit setzt sich die Amalgamierung peri-
der ratiocinatio auf stoischer Grundlage ein fünfteiliges patetischer und stoischer Syllogistik weiter fort. Dies
Argumentationsschema aus Oberprämisse (propositio), wird insbesondere deutlich an Galen (129–199 n. Chr.),
deren Stützargument (propositionis confirmatio), Un- der in seiner ‹Institutio logica› Aristotelische Syllogistik
terprämisse (adsumptio), deren Stützargument (ad- mit einer stark peripatetisch überformten Interpretation
sumptionis confirmatio) und Konklusion (complexio), stoischer Aussagenlogik verbindet. [72] Galen erarbei-
also das sogenannte Epicheirem, das er freilich Aristo- tet unter anderem eine Theorie relationenlogischer S.,
teles und Theophrast zuschreibt, und zieht dieses dem die weder in Aristotelischen noch stoischen Kategorien
dreiteiligen S. vor, deutet jedoch an, daß durch Wegfall reduzierbar sind. [73] Im verlorenen Werk ‹Über Be-
der Stützargumente auch vier- und dreiteilige Formen weise› soll Galen auch eine Theorie zusammengesetzter
möglich seien, äußert sich aber skeptisch zur Möglich- kategorischer S. mit vier Termen entwickelt haben, die
keit zwei- oder gar einteiliger Schlüsse. [54] Hingegen in vier Figuren zerfielen. Vielleicht deshalb wird Galen
reproduziert die ebenfalls fünfteilige «vollkommenste in der Tradition, u. a. von Avicenna, die Entdeckung der
und vollständigste Argumentation» aus propositio, ra- vierten syllogistischen Figur zugeschrieben, obwohl es
tio, rationis confirmatio, exornatio und complexio in der im überlieferten Werk dafür keine Hinweise gibt, Galen
‹Rhetorik an Herennius› keine syllogistische Form, son- diese sogar ausdrücklich ablehnt. [74]
dern ein progymnasmatisches Elaborationsschema (ent- Vertrautheit mit stoischen S. zeigt sich auch bei Au-
fallen können hier exornatio und complexio). [55] Mög- toren des mittleren Platonismus. [75] Auch Apuleius
licherweise ist jedoch diese stilistisch-amplifikatorische (ca. 125–171 n. Chr.), bei dem der S. terminologisch col-
Form des Epicheirems die ursprüngliche, so daß die lectio heißt, vermengt Aristotelisches und Stoisches.
Deutung als erweiterter S. nicht schon auf Theophrast Sein Werk ‹Peri hermeneias› gibt in etwa die kategori-
oder Hermagoras zurückginge [56], sondern erst von Ci- sche Syllogistik nach Kapitel 1–8 der ‹Ersten Analytik›
cero vorgenommen worden wäre. [57] mit einigen Modifikationen wieder, negiert aber den
Daneben kennen beide Schriften auch bereits die auf Unterschied von Begriffslogik und Aussagenlogik und
Hermagoras von Temnos (2. Jh. v. Chr.) [58] zurückge- diskutiert auch stoische S., deren er etliche verwirft. [76]
hende Bedeutung des syllogismós = ratiocinatio als Ana- Bedeutsam ist Apuleius daneben v. a. durch den ersten
logieschluß (Ausdehnung einer rechtlichen Norm auf Entwurf des ‹logischen Quadrats› (quadrata formu-
einen weder vom Gesetzestext noch vom Willen des la). [77]
Gesetzgebers explizit erfaßten Fall) im Rahmen der Sta- In dieselbe Epoche fällt allerdings auch die scharfe
tuslehre als Unterart des status legalis (bzw. der consti- Kritik skeptischer Autoren an der stoischen Syllogi-
tutio legitima). [59] Cicero erwähnt ratiocinatio daneben stik. [78]
auch als rationalen Antrieb zu einer Tat im status con- Eine Konfusion stoischer Aussagenlogik mit Ari-
iecturalis. [60] Dafür kennt wiederum der Auctor ad He- stotelischer Begriffslogik stellt schließlich auch die

277 278
Syllogismus Syllogismus

Theorie des hypothetischen S. dar, die um 200 n. Chr. sthenes, Or. 19, 177. – 3 Arist. Top. I, 1, 100a25–27; Analytica
der Aristoteleskommentator Alexander von Aphro- priora (= Anal. pr.) I, 1, 24b18–20; ähnlich auch Soph. el. 1,
disias entwirft. [79] Weitere Kommentatoren wie Por- 165a1–3; Rhet. I, 2, 1356b15f. – 4 C. Rapp: Aristoteles, Rhet.,
übers. und erl., Aristoteles, Werke in dt. Übers., Bd. 4 (2002)
phyrios (234-ca. 305), Philoponos (um 500) und Sim- Halbbd. 2, 60–64. – 5 O. Primavesi: Die Aristotelische Topik
plikios (6. Jh.) sind vornehmlich als Gewährsleute sol- (1996) 60–62; Rapp: Topos und S. in Aristoteles’ ‹Topik›, in: T.
cher Neuauslegungen Aristotelischer Syllogistik und als Schirren, G. Ueding (Hg.): Topik und Rhet. (2000) 15–35, hier
Quellen für Verlorenes von Bedeutung, Porphyrios da- 15–19. – 6 Rapp [4] Halbbd. 2, 59–64.241–243. – 7 Arist. Top. I, 1,
neben auch als Vermittler an das Mittelalter. [80] 100a27–101a4; vgl. S. Wolf: Hist.-systemat. Aufriss der Argu-
Generell sind bei den griechischen Aristoteleskom- mentationsformen bei Aristoteles (Mag.-Arbeit, Tübingen
mentatoren, aber auch schon etwa bei Apuleius zwei be- 2006) 53–85. – 8 Arist. Rhet. I, 1, 1355a6–14; I, 2, 1356a5-b11; vgl.
deutsame Tendenzen in der Wiedergabe Aristotelischer Anal. pr. II, 23, 68b9–14; Wolf [7] 86–96. – 9 Arist. Top. I, 12,
105b10–19; Rhet. I, 2, 1356a35-b2. – 10 Arist. Anal. pr. I, 29,
S. festzustellen: Ersetzung der Aristotelischen Relation 45b36–38. – 11 ebd. I, 25, 41b36f.; 42a32f.; H. Maier: Die Syllo-
des ‹Zukommens› («B kommt allen A zu») durch die gistik des Aristoteles, 2. T. (1900) Bd. 1, 222–228; G. Boger: Ari-
Kopula («alle A sind B») und (damit zusammenhän- stotle’s Underlying Logic, in: D.M. Gabbay, J. Woods (Hg.):
gend) Umstellung der Abfolge der beiden Prämissen Handbook of the History of Logic, Bd. 1 (Amsterdam 2004)
(Unter- vor Oberprämisse). [81] Die hochkomplizierten 101–246, hier 170–172. – 12 Arist. Anal. pr. I, 4, 25b32–37. –
Erörterungen der Kommentatoren über vollkommene 13 ebd. I, 1, 24a16-b15; Boger [11] 129f . – 14 G. Patzig: Die Ari-
und unvollkommene S. [82] sind sehr wahrscheinlich stotelische Syllogistik (31969) 18–23. – 15 J. Łukasiewicz: Ari-
auch für jenes folgenreiche Mißverständnis verantwort- stotle’s Syllogistic from the Standpoint of Modern Formal
Logic (Oxford 21957) 5–7; Patzig [14] 15–18. – 16 Arist. Anal. pr.
lich, das das Enthymem als formal unvollständigen S. I, 4, 26a25–27. – 17 Łukasiewicz [15] 1–3; Patzig [14] 13f. –
(Fehlen einer Prämisse) deutet. [83] 18 Primavesi [5] 24. – 19 vgl. Arist. Anal. pr. I, 23, 41a13–16; Mai-
Eine griechische Fassung der Statuslehre unter Ein- er [11] Bd. 1, 47–71; Łukasiewicz [15] 23–28; Patzig [14] 97–112;
beziehung des Status des syllogismós bietet um 200 Boger [11] 172–175. – 20 Patzig [14] 118–127. – 21 Maier [11]
n. Chr. noch Hermogenes von Tarsos. [84] Bd. 1, 72–94; W. u. M. Kneale: The Development of Logic (Ox-
Die lateinischen Rhetoriktraktate der Spätantike be- ford 1962) 72f.; Boger [11] 175–178. – 22 Arist. Anal. pr. I, 1,
handeln den S. teilweise als Bestandteil der Argumen- 24b22–26; Łukasiewicz [15] 43–47; Patzig [14] 51–93. – 23 Arist.,
tationslehre: Iulius Victor (4. Jh.) gibt eine Kontami- Categoriae 3, 1b10–16; Anal. pr. I, 1, 24b28–30; Maier [11] Bd. 2,
151; K. Oehler: Aristoteles, Kategorien, übers. und erl. (1984)
nation aus Cicero und Quintilian (Mehrteiligkeit, Bezug 191–193. – 24 vgl. Arist. Anal. pr. I, 4, 25b34; 26a20; b29. –
zu Enthymem und Epicheirem) [85], Fortunatianus 25 ebd. I, 7, 29b1; I, 45, 50b6; I, 32–46, 46b40–52b34. – 26 ebd. I,
(4. Jh.) grenzt den S. der Philosophie vom Enthymem 45, 50b5–51b5; Boger [11] 214–216. – 27 Maier [11] Bd. 2, 122–
der Rhetorik ab. [86] Die Enzyklopädisten Martianus 149; Łukasiewicz [15] 51–67; Kneale [21] 77–80; Patzig [14] 144–
Capella (5. Jh.), Cassiodor (6. Jh.) und Isidor von Se- 180; Boger [11] 180–188.211–213. – 28 Patzig [14] 180–197; Bo-
villa (6,/7. Jh.) bieten jeweils im Rahmen der Dialektik ger [11] 188–207. – 29 Kneale [21] 81–96; Łukasiewicz [15] 133–
eine Darstellung sowohl des kategorischen (praedicati- 208; P. Thom: Art. ‹S., Syllogistik›, in: HWPh, Bd. 10 (1998)
vus) S. auf der Grundlage von Apuleius als auch des hy- 687–707, hier 688–693; F. Johnson: Aristotle’s Modal Syllo-
gisms, in: Gabbay, Woods [11] 247–307. – 30 Arist. Anal. pr. II,
pothetischen (condicionalis) S. nach Ciceros sieben sto- 23, 68b15. – 31 ebd. II, 27, 70a10; vgl. Rhet. I, 2, 1357a32. –
ischen S. aus der ‹Topik›, wohl vermittelt durch Marius 32 Arist. Anal. pr. II, 27, 70a11–38; Maier [11] Bd. 1, 485–487; J.
Victorinus [87], Cassiodor und Isidor dazu auch eine Sprute: Die Enthymemtheorie der aristotelischen Rhet. (1982)
Erörterung von Enthymem und Epicheirem und ihrem 106–108. – 33 Arist. Rhet. I, 1, 1355a8; II, 24, 1400b36. – 34 ebd. I,
Bezug zu S./ratiocinatio im Bereich der Rhetorik. [88] 2, 1356b5. – 35 vgl. Rapp [4] Halbbd. 2, 59–64.241–243. –
Häufig wird dabei auch die eigene Unterkategorie eines 36 Arist. Rhet. I, 2, 1357b1–21; vgl. Sprute [32] 104–106; M.
‹syllogistischen (collectivum) Enthymems› erwähnt. [89] Kraus: Art. ‹Enthymem›, in: HWRh, Bd. 2 (1994) Sp. 1197–1222,
Daneben behandeln Iulius Victor, Pseudo-Augusti- hier 1203. – 37 Arist. Rhet. I, 2, 1357a16–21; II, 22, 1395b25–27;
24, 1401a5–7; III, 18, 1419a18f.; vgl. Sprute [32] 130–132. –
nus, Martianus Capella, Cassiodor und Isidor auch den 38 Arist. Rhet. I, 2, 1357a13–15.22–36; II, 24, 1402b14–16; vgl.
S. als status collectivus in der Statuslehre. [90] Anal. pr. I, 13, 32b4–10; 27, 43b32–36; Analytica posteriora I, 33,
Von größter Bedeutung für das Mittelalter sind je- 88b32–34; Sprute [32] 68–73; Kraus [36] 1203. – 39 Anax. Rhet.
doch die Arbeiten des Boëthius (um 480–524) zur Syl- 10, 1430a23–26; 14, 1431a29–35; Sprute [32] 140–143; Kraus [36]
logistik. Dieser verfaßt eine ‹Einführung in den kate- 1202. – 40 Theophrast, Frg. 91, in: Theophrastus of Eresus, ed.
gorischen S.› und Traktate ‹Über den kategorischen S.› and transl. W.W. Fortenbaugh, Bd. 1 (Leiden 1992); I.M. Bo-
und ‹Über hypothetische S.›, worin sich (möglicherwei- cheński: La logique de Théophraste (Fribourg 1947). –
se vermittelt durch Porphyrios) die kaiserzeitliche peri- 41 Theophrast, Frg. 102A Fortenbaugh. – 42 Theophrast, Frg.
106 und 107 Fortenbaugh; M. Mignucci: Per un’ interpretazione
patetisch-neuplatonische Entwicklung der hypotheti- della logica modale di Teofrasto, in: Vichiana 2 (1965) 227–277;
schen S. widerspiegelt. [91] Von entscheidender Wir- P. Lorenzen: Theophrastische Modallogik, in: Arch. for Ma-
kung auf die Syllogistik des Mittelalters sind auch seine thematical Logic 12 (1969) 72–75. – 43 Theophrast, Frg. 110
lateinische Übersetzung der logischen Schriften des Ari- Fortenbaugh; C. Lejewski: On Prosleptic Syllogisms, in: Notre
stoteles (mit Ausnahme der ‹Zweiten Analytik›) [92] Dame J. of Formal Logic 2 (1961) 158–176; ders.: On Prosleptic
und sein Kommentar zu Ciceros ‹Topica›. [93] Premisses, in: Notre Dame J. of Formal Logic 17 (1976) 1–18. –
Auch in der altindischen Logik findet sich etwa bei 44 Theophrast, Frg. 111 und 112 Fortenbaugh; J. Barnes: Theo-
Gautama Aksapāda (‹Nyāyasūtra›, 1./2. Jh. n. Chr.) ein phrastus and Hypothetical Syllogistic, in: J. Wiesner (Hg.): Ari-
˙ stoteles: Werk und Wirkung, Bd. 1 (1985) 557–576. –
fünfteiliges, halb logisches, halb rhetorisches Schluß- 45 Theophrast, Frg. 113 Fortenbaugh; S. Bobzien: Wholly Hy-
schema (These, Begründung, Beispiel, Anwendung, pothetical Syllogisms, in: Phronesis 45 (2000) 87–137. – 46 vgl.
Konklusion), das oft als ‹altindischer S.› bezeichnet Sextus Empiricus, Pyrrhoneae Hypotyposes II, 110–113; Ad-
wird. [94] versus Mathematicos VIII, 112–117; B. Mates: Stoic Logic
(Berkeley, Los Angeles 1953) 44–46; Kneale [21] 128–138; R.R.
Anmerkungen: O’Toole, R.E. Jennings: The Megarians and the Stoics, in: Gab-
1 z.B. Plat. Gorg. 479c5; 498e10; Theaitetos 186d3; Kratylos bay, Woods [11] 397–522, hier 479. – 47 O’Toole, Jennings [46]
412a5f.; Politeia II, 365a8; VII, 516b9; Timaios 87c7. – 2 Demo- 463–468. – 48 FDS Frg. 1036–1044.1053; C. Prantl: Gesch. der

279 280
Syllogismus Syllogismus

Logik im Abendlande, Bd. 1 (1855; ND Graz 1955) 470f.; M. Marenbon [76] 6; Cassiod. Inst. II, 3, 12–13; Sullivan [76] 173–
Frede: Die stoische Logik (1974) 118. – 49 Mates [46] 58. – 177; Marenbon [76] 21f.; Isid. Etym. II, 28; Marenbon [76] 22. –
50 Sextus, Empiricus, Adversus Mathematicos VIII, 224; Dio- 88 Cassiod. Inst. II, 2, 11–15; Isid. Etym. II, 9. – 89 Iul. Vict. 56,
genes Laertios, Vitae philosophorum VII, 80; S. Bobzien: Stoic 3–11; Fortun. Rhet. II, 29, 136, 13f.; Cassiod. Inst. II, 2, 11 u. 13;
Syllogistic, in: Oxford Stud. in Ancient Philos. 14 (1996) 133– Isid. Etym. II, 9, 9 u. 13. – 90 Iul. Vict. 15, 29; 18, 12–19, 29; Ps.-
192, hier 134–136. – 51 FDS Frg. 1130f.; O’Toole, Jennings [46] Aug. Rhet. 143; Mart. Cap. V, 465; Cassiod. Inst. II, 2, 4.6; Isid.
474–476. – 52 Bobzien [50] 136–138. – 53 FDS Frg. 1160–1167; Etym. II, 5, 9. – 91 Boethius, Introductio ad syllogismos cate-
Mates [46] 77–82; Frede [48] 172–196; K. Ierodiakonou: Analy- goricos, in: Opera omnia, PL 64 (1891) 761–794; De syllogismo
sis in Stoic Logic (Diss. London 1990); Bobzien [50] 142–171, categorico, ed. C. Thomsen Thörnqvist (Diss. Göteborg 2001);
bes. 152; D. Hitchcock: The Peculiarities of Stoic Propositional De hypotheticis syllogismis, ed. L. Obortello (Brescia 1969); S.
Logic, in: K.A. Peacock, A.D. Irvine (Hg.): Mistakes of Reason Ebbesen: Boethius as an Aristotelian Commentator, in: Sorab-
(Toronto 2005) 224–242. – 54 Cic. Inv. I, 57–76; vgl. Marius Vic- ji [80] 373–391; Marenbon [76] 8–18; vgl. S. Bobzien: A Greek
torinus, Explanationes in Ciceronis rhetoricam, in: Rhet. Lat. Parallel to Boethius’ De hypotheticis syllogismis, in: Mnemo-
Min. 243, 19–247, 32; W.W. Fortenbaugh: Cicero, On Invention syne 55 (2002) 285–300. – 92 in: PL 64 (1891) 159–762.909–1040;
1.51–77: Hypothetical Syllogistic and the Early Peripatetics, in: Marenbon [76] 7f. – 93 ebd. 1039–1174; E. Stump: Boethius’s In
Rhetorica 16 (1998) 25–46, bes. 29f. – 55 Auct. ad Her. II, 28–30. Ciceronis Topica. Translated, with notes and an introd. (Ithaca,
– 56 W. Kroll: Das Epicheirema (Wien 1936); D. Matthes: Her- London 1988). – 94 J. Ganeri: Indian Logic, in: Gabbay,
magoras von Temnos 1904–1955, in: Lustrum 3 (1958) 58– Woods [11] 309–395, hier 321–329.
214.262–78, hier 204–208. – 57 A.C. Braet: Hermagoras and the
Epicheireme, in: Rhetorica 22 (2004) 327–347, bes. 346f. – Literaturhinweise:
58 Hermagoras 47f.; Matthes [56] 183; M. Hoppmann: Argu- E. Kapp: Art. ‹Syllogistik›, in: RE IV, A, 1 (1931) 1046–1067. –
mentative Verteidigung. Grundlegung zu einer modernen Sta- I. M. Bocheński: Ancient Formal Logic (Amsterdam 1963). – O.
tuslehre (2008) 99.108–111.113. – 59 Cic. Inv. I, 17; II, 142.148f.; Bird: Syllogistic and Its Extensions (Englewood Cliffs 1964). –
Auct. ad Her. I, 19; II, 18; Hoppmann [58] 117.120.123. – 60 Cic. E. Kapp: Der Ursprung der Logik bei den Griechen (1965). – P.
Inv. II, 17f. – 61 Auct. ad Her. IV, 23. – 62 Cic. Top. 53–57; Knea- Thom: The Syllogism (1981). – T. S. Lee: Die griech. Trad. der
le [21] 179–181; Kraus [36] 1207; T. Reinhardt: M. Tullius Cice- aristotelischen Syllogistik in der Spätantike (1984). – J. Klein:
ro, Topica (Oxford 2003) 305–316; O’Toole, Jennings [46] 510– Der S. als Bindeglied zwischen Philos. und Rhet. bei Aristoteles
512. – 63 Apuleius, Institutio Logica 7, 2; P. Moraux: Der Ari- – Anm. aus sprechhandlungstheoretischer Perspektive, in: H.
stotelismus bei den Griechen von Andronikos bis Alexander Schanze, J. Kopperschmidt (Hg.): Rhet. und Philos. (1989) 35–
von Aphrodisias, Bd. 1 (1973) 164–170. – 64 Apuleius, De inter- 54. – G. Wolters: Art. ‹Syllogistik›, in: EPW, Bd. 4 (1996) 156–
pretatione 213, 5–10; Moraux [63] 186–191. – 65 Quint. I, 10, 38; 158. – J. Barnes: Proofs and the Syllogistic Figures, in: H.-C.
V, 10, 1–3; 14, 1–4.17.24–26; VIII, 5, 9; IX, 4, 57. – 66 ebd. V, 10, Günther, A. Rengakos (Hg.): Beitr. zur antiken Philos. FS W.
4–8; 14, 5–23. – 67 ebd. I, 10, 37f.; V, 10, 88; 14, 27. – 68 ebd. III, 6, Kullmann (1997) 153–166. – ders.: Logic and the Imperial Stoa
15f.43.46.61f.66.72.77.88.99.103; VII, 1, 60f.; 8, 1–7; VIII pro- (Leiden 1997). – R. Sorabji: The Philos. of the Commentators,
oem. 10. – 69 ebd. VII, 3, 11; 10, 1–3. – 70 ebd. VIII, 4, 3.15–26. – 200–600 AD, Bd. 3: Logic and Metaphysics (London 2004). – T.
71 ebd. IX, 2, 103; 3, 98. – 72 vgl. M. Maroth: Die hypothetischen Ebert: Aristoteles, Analytica priora, B. 1, übers. und erl., Ari-
S., in: Acta Antiqua Academiae Scientiarum Hungaricae 27 stoteles, Werke in dt. Übers., Bd. 3.1 (2007) 1. Halbbd.
(1979) 407–436; Moraux [63] Bd. 2 (1984) 701–710; S. Bobzien:
Peripatetic Hypothetical Syllogistic in Galen: Propositional Lo- II. Mittelalter. In der frühen mittelalterlichen Logik
gic off the Rails?, in: Rhizai 2 (2004) 57–102. – 73 Galen, Insti- bilden bis zum 12. Jh. die ‹Kategorien› und ‹De inter-
tutio logica 17–18; J. Barnes: A Third Sort of S.: Galen and the pretatione› des Aristoteles und die ‹Eisagoge› des Por-
Logic of Relations, in: R.W. Sharples (Hg.): Modern Thinkers phyrios (jeweils in der Übersetzung durch Boëthius) so-
and Ancient Thinkers (Boulder, CO 1993). – 74 Łukasie-
wicz [15] 38–42; M. Maroth: Galenos und die vierte Figur der S.,
wie die logischen Schriften des Boëthius (besonders
in: Acta Antiqua Academiae Scientiarum Hungaricae 27 (1979) ‹De differentiis topicis›) als Logica vetus den Kern des
187–205; Moraux [72] 706f.; A. Lumpe: Der logische Grundge- Curriculums und die Quelle der Kenntnis des S. So ver-
danke der vierten Schlußfigur, in: Prima Philosophia 11.4 (1998) faßt etwa Notker Labeo (um 950–1022) eine Schrift ‹De
397–404; für Zuschreibung an Galen: N. Rescher: Galen and the syllogismis› auf der Grundlage von Apuleius, Boëthius
S.: An Examination of the Thesis that Galen Originated the und Martianus Capella [1] und streut sogar in seine
Fourth Figure of the S. in Light of New Data from the Arabic Übersetzung von Boëthius’ ‹De consolatione philoso-
(Pittsburgh, PA 1966). – 75 vgl. z.B. Plutarch, De E Delphico 6, phiae› vielfache Hinweise zum S. predicativus und con-
386E–387D. – 76 M.W. Sullivan: Apuleian Logic: The Nature,
Sources, and Influences of Apuleius’s Peri Hermeneias (Am-
dicionalis sowie zum S. imperfectus bzw. rhetoricus, d. h.
sterdam 1967); D. Londey, C. Johanson: The Logic of Apuleius dem Enthymem, ja sogar zum S. als Status ein. [2] Auch
(Leiden, New York 1987); J. Marenbon: Logic Before 1100: The Gerbert von Aurillac (um 940–1003) und Abbo von
Latin Tradition, in: D.M. Gabbay, J. Woods: Handbook of the Fleury (um 945–1004) lehren Logik noch ganz in boë-
History of Logic, Bd. 2 (Amsterdam 2008) 1–63, hier 4. – thianischer Tradition; Abbo schreibt über beide Gattun-
77 Apuleius, Peri Hermeneias c. 5, in: Apuleius, De Philosophia gen des S. [3] Im 11. Jh. behandelt Garlandus Compo-
libri, hg. C. Moreschini (1991) 193–196; Abb.: E. Eggs: Art. ‹Lo- tista (um 1040) kategorische wie hypothetische S. in
gik›, in: HWRh, Bd. 5 (2001) 414–615, hier 422; C. Thiel: Logi- Abhängigkeit von boëthianischer Topik, erkennt aber
sches Quadrat, in: EPW, Bd. 3 (1995, 22004) 423; Londey, Jo-
hanson [76] 86–89.108–112; A. Lumpe: Die Logik des Pseudo-
erstmals dezidiert auch S. mit Individualbegriffen an. [4]
Apuleius. Ein Beitr. zur Gesch. der Philos. (1982) 34–36.46. – Selbst bei Anselm von Canterbury (1033–1109) liegt
78 vgl. z.B. Sextus Empiricus, Pyrrhoneae Hypotyposes II, 146– der Schwerpunkt noch mehr auf den Kategorien als auf
151; Adversus Mathematicos II, 429–434; Mates [46] 82f. – 79 A. der Syllogistik. [5] Noch um 1100 ist somit in Kommen-
Speca: Hypothetical Syllogistic and Stoic Logic (Leiden 2001). – taren und Traktaten wie in den Schulen das boëthiani-
80 S. Ebbesen: Porphyry’s Legacy to Logic, in: R. Sorabji (Hg.): sche Curriculum fest etabliert. [6]
Aristotle Transformed: The Ancient Commentators and their Dagegen ist im arabischen Bereich das gesamte Or-
Influence (London 1990) 141–171. – 81 Patzig [14] 84–87; A. ganon des Aristoteles (einschließlich der Analytiken)
Lumpe: Zur Anordnung der Prämissen des kategorischen S. bei
Albinos, Galenus und Pseudo-Apuleius, in: Prima Philosophia
spätestens seit dem 8. und 9. Jh. durch Übersetzungen
8.2 (1995) 115–124. – 82 vgl. Patzig [14] 78–84. – 83 Kraus [36] bekannt. [7] Besonders Al-Fārābī (um 870–950), Ibn
1209f. – 84 Hermog. Stat. 11, 88, 3–90, 4; Hoppmann [58] 127– Sīnā (Avicenna, 980–1037) und später Ibn Rušd (Aver-
129.134. – 85 Iul. Vict. 50, 27–56, 26; 59, 3–28. – 86 Fortun. Rhet. roes, 1126–1198) beschäftigen sich ausgiebig mit der
II, 28, 135f. – 87 Mart. Cap. IV, 406–422; Sullivan [76] 170–173; Aristotelischen Lehre vom S. (qiyās), einschließlich Mo-

281 282
Syllogismus Syllogismus

dallogik und hypothetischem S. [8] Al-Fārābı̄ wurzelt als späte Übersetzung der ‹Summulae› durch Georgios
noch unmittelbar im spätalexandrinischen Aristotelis- Gennadios Scholarios (15. Jh.) erwiesen hat. Die darin
mus; auf ihn greifen beide anderen zurück, wobei Avi- zu findende griechische Version der Merkwörter ist
cenna sich größere Eigenständigkeit erlaubt [9], Aver- möglicherweise eine Erfindung des Übersetzers Manu-
roes sich enger an Aristoteles orientiert. Dabei gelten in el Holobolos (spätes 13. Jh.). [24]
der arabischen Tradition auch Poetik und Rhetorik als Die ‹Summulae› des Petrus Hispanus bleiben über
Fortsetzungen und Bestandteile des Organon. [10] So zwei Jahrhunderte das Standardwerk der mittelalterli-
unterscheidet Al-Fārābı̄ fünf Arten des S. und sieht in chen Logik. Sie geben eine Zusammenfassung der anti-
der Rhetorik eine syllogistische Kunst. [11] Für Aver- ken Logik (logica antiqua) und der bedeutendsten Neu-
roes ist die Metapher der S. der Poetik. [12] Schon bei erungen der mittelalterlichen Logik (logica moderno-
Al-Fārābı̄ und Avicenna ist der korrekte Vernunft- rum), wie z.B. der Suppositionstheorie. Unter anderem
schluß wichtig auch im Bereich der Theologie. [13] Ent- werden darin nach Aristoteles S., Induktion, Enthymem
sprechend weist Averroes die drei Arten des Aristote- und Beispiel als Beweismethoden unterschieden. [25]
lischen S. – apodiktisch, dialektisch, persuasiv – den Thomas von Aquin (1225–1274) versteht bei seiner
Gruppen der Philosophen, Theologen und der gemei- Auslegung des Aristoteles den demonstrativen S. als
nen Masse zu und wagt die Behauptung, daß nur der Phi- Bewegung (processus) und dritte und höchste Tätigkeit
losoph, der über das Instrument des S. verfügt, befähigt (actus) der menschlichen Vernunft und weist ihm somit
sei, religiöse Gesetzestexte richtig zu verstehen. Priorität und Normativität im menschlichen Erkenntnis-
Erst ab dem 12. Jh. wird mit der Logica nova (Ana- prozeß zu. [26]
lytiken, Topik, Sophistici elenchi) die Syllogistik des Die Kommentare des 13. Jh. zur ‹Ersten Analytik› su-
Aristoteles auch im Abendland unmittelbar bekannt chen noch vor allem zu bewahren, was sie für das origi-
und wird zur dominierenden Disziplin der mittelalterli- nale Aristotelische System halten. Das Hauptinteresse
chen Philosophie. Dabei wird auch die arabische Tra- gilt der Modallogik. [27] Besondere Bedeutung kommt
dition genutzt. Als erster originaler Denker des lateini- dabei Robert Kilwardby (um 1215–1279) zu, dessen
schen Westens setzt Petrus Abaelard (1079–1142) sich Kommentar (1240/50) eine originelle Interpretation der
mit dem S. auseinander. Seine Behandlung des S. findet Modallogik auf der Basis Aristotelischer Wesensmeta-
sich hauptsächlich in seiner ‹Dialektik› [14], aber auch in physik gibt [28], aus der alle wichtigen Kommentatoren
anderen Werken wie der ‹Logica ingredientibus›. [15] des 13. Jh. (Albertus Magnus, Simon von Faversham,
Seine Darstellung des kategorischen S., ist traditionell, Radulphus Brito) schöpfen. [29] Ebenso wirkungs-
mit Innovationen eher im Detail als im Ganzen. Er setzt reich ist im frühen 14. Jh. der Ansatz von Richard von
drei Figuren mit 19 gültigen Modi an, behandelt die Me- Campsall (ca. 1280–1350), durch die systematische An-
thoden der Reduktion und stellt neun Gültigkeitsregeln wendung der Distinktion von Aussagen de dicto und de
auf. [16] Origineller ist seine Darstellung der modalen re auf den S. und die Erkenntnis, daß ein S. aus Propo-
Syllogistik, insbesondere durch die Differenzierung mo- sitionen und Termini, nicht aus Wörtern, Dingen oder
daler Aussagen de re und de dicto. [17] Neben modalen Begriffen bestehe, die Konsistenz der Aristotelischen
bezieht er auch temporale Variationen syllogistischer Modalsyllogistik zu beweisen [30], mit Wirkung u. a. auf
Aussagen ein. [18] Seine Behandlung des hypotheti- Wilhem von Ockham und Johannes Buridanus.
schen S. geht zwar noch von Boëthius aus, vermeidet Wird im 12. Jh. der S. noch eindeutig der Wissen-
aber durch Neudefinition der hypothetischen Proposi- schaft, die topische Argumentation der Dialektik zuge-
tion dessen Kontamination von Term- und Aussagen- ordnet [31], so verwischen sich ab dem 13. Jh. die Gren-
logik, gelangt so zu einem rein aussagenlogischen Kalkül zen. Syllogistik und Topik nähern sich einander an. Da-
und eliminiert vielleicht damit Boëthius’ Schrift über bei verliert der S. seinen bisher unangefochtenen Primat
hypothetische S. aus dem Kanon des 12. Jh. [19] Der hy- in der Argumentationslehre durch die Behauptung,
pothetische S. verschwindet danach zunehmend aus auch S. seien nur aufgrund einer topischen Beziehung,
dem Blick. nämlich des dictum de omni et nullo, gültig [32], so z.B.
Der erste Kommentar zur ‹Ersten Analytik› des Ari- bei Lambert von Auxerre (um 1255) [33], Roger Ba-
stoteles ist ein anonymes Werk aus der Zeit um 1160– con (1214–1292/4) [34], Siger von Courtrai (um 1283–
1180. [20] Die meisten der zahlreichen ‹terministischen› 1341) [35] oder Pseudo-Scotus (um 1335) [36].
Logiktraktate aus dem 12. Jh. kulminieren in der Dar- Im Kontext der sich im 14. Jh. aus Topik, hypotheti-
stellung des hypothetischen und kategorischen S. (in scher und Aristotelischer Syllogistik entwickelnden
dieser Reihenfolge). [21] Die nunmehr etablierte Stan- Konsequenzlogik [37] büßt der S. endgültig seine Aus-
dardtheorie des kategorischen S. bleibt von da an bis ins nahmestellung ein. Bereits Wilhelm von Ockham (um
13. Jh. mehr oder weniger konstant. [22] 1285–1347) löst in der Argumentationslehre seiner
Die Gepflogenheit, die einzelnen Modi des katego- ‹Summa Logicae› (1323) die Bindung an die Aristoteli-
rischen S. und ihren Reduktionsweg durch entsprechen- sche Theorie des S. zugunsten eines eigenständigen, mo-
de Merkwörter zu bezeichnen, entwickelt sich im 13. Jh. derneren Entwurfs einer modalen Syllogistik, die er
Die ältesten überlieferten Versionen stammen von Wil- (noch immer als wichtigste consequentia formalis) in das
liam von Sherwood (um 1200/1210-um 1272, ‹Introduc- breitere Konzept einer Konsequenzlogik integriert. [38]
tiones in logicam›, ca. 1230–1250) und Petrus Hispanus In seiner ‹realistischen› Antwort auf Wilhelms nomina-
(ca. 1210–1277, ‹Summulae Logicales› um 1240/1250), listischen Entwurf stellt Walter Burley (um 1275–
wobei die Priorität unklar ist. [23] Die alte These, die 1344) dann die Syllogistik bereits klar unter den Primat
Merkwörter seien zuerst im byzantinischen Bereich von der Konsequenzlogik. [39] Es bleibt jedoch letztlich Jo-
Michael Psellos (1018–1079) erfunden worden und hannes Buridanus (um 1300–1361, ‹Tractatus de con-
von dort in den lateinischen Westen gekommen, kann sequentiis›, 1335) überlassen, die Syllogistik als ganze in
als widerlegt gelten, seit sich ein vermeintlich von Psel- ein umfassendes Projekt einer Systematisierung des ge-
los stammendes, mit den ‹Summulae› des Petrus Hi- samten Feldes der Logik zu integrieren. [40] Der klassi-
spanus übereinstimmendes griechisches Compendium sche S. erscheint nunmehr nur noch als Spezialfall einer

283 284
Syllogismus Syllogismus

consequentia formalis aus drei oder mehr Termini mit gane Philosophie in Konflikt mit orthodoxer Theologie.
konjunktivem antecedens and einsätzigem consequens Eustratios wird noch 1117 wegen Häresie verurteilt u. a.
(womit Prämissentausch und vierte Figur trivial wer- wegen der Behauptung, Christus habe in seinen Sprü-
den). [41] Im Rahmen dieser neuen Konsequenzlogik ist chen Aristotelische S. benutzt. [57] Doch wird seit der
der S. nun nur noch eine von vielen consequentiae. Den- Palaiologen-Renaissance auch die Logik der westlichen
noch gibt Buridan die wohl umfassendste mittelalterli- Scholastik durch Übersetzungen wie diejenige von Bo-
che Behandlung des S. Auf dem Gebiet des kategori- ëthius ‹De hypotheticis syllogismis› durch Manuel Ho-
schen S. gelangt er durch Kombinatorik aller Möglich- lobolos (2. Hälfte 13. Jh.) [58] oder diejenige der ‹Sum-
keiten bis zu 38 (direkten und indirekten) gültigen mulae› des Petrus Hispanus durch Georgios Gennadi-
Schlußmodi [42]; ob er tatsächlich die vierte Schlußfigur os Scholarios (15. Jh., s. o.) an den Osten vermittelt.
anerkannt hat, ist freilich zweifelhaft [43]; ferner gelingt Schon im byzantinischen Thomismus des 14. Jh. (u. a.
ihm auf der Grundlage der Suppositionstheorie eine Demetrios und Prochoros Kydones) etabliert sich da-
Neudefinition des dictum de omni et nullo [44] und die her die Auffassung, die Kunst des S. sei den Menschen
Formulierung der Distributionsregeln. [45] Durch Er- als Vorrecht gegeben, und somit auch der Gebrauch des
weiterung dieses Grundkonzepts um temporale und mo- S. in der theologischen Diskussion.
dale Bestimmungen entsteht schließlich ein hochkom-
plexes, logisch leistungsstarkes und erschöpfendes Sy- Anmerkungen:
stem der mittelalterlichen Modalsyllogistik, das bis ins 1 Boëthius, De syllogismis, in: P. Piper (Hg.): Die Schr. Notkers
20. Jh. unerreicht bleibt. [46] und seiner Schule I (1882) 597–622; J. Marenbon: Logic Before
Buridans Entwurf markiert den Höhepunkt mittelal- 1100: The Latin Tradition, in: D.M. Gabbay, J. Woods: Hand-
terlicher Syllogistik. Jüngere Denker wie Albert von book of the History of Logic, Bd. 2 (Amsterdam 2008) 1–63, hier
Sachsen (1320–1390) oder Marsilius von Inghen (um 39f. – 2 Notker der Deutsche, Boëthius, de consolatione philo-
sophiae, hg. P.W. Tax (1986, 1988, 1990); vgl. J.C. King: Philo-
1335–1396) bleiben in der Konsequenzlehre weitgehend sophia kommt Boëthius mit Rhet. und Disputation entgegen, in:
Wilhelm von Ockham und Johannes Buridanus verhaf- H. Burger, A.M. Haas, P. Matt (Hg.): Verborum Amor. Stud.
tet [47], und selbst ein so einflußreicher Logiker wie zur Gesch. und Kunst der dt. Sprache. FS S. Sonderegger zum
Paulus Venetus im frühen 15. Jh. äußert sich kaum nä- 65. Geburtstag (1992) 201–213, hier 208–210. – 3 Abbo von Fleu-
her zum S. [48] Erst in der zweiten Hälfte des 15. Jh. ry, Opera inedita I: Syllogismorum categoricorum et hypothe-
kehrt, besonders bei Autoren thomistischer oder alber- ticorum enodatio, ed. A. van de Vyver (Brügge 1966); Maren-
tinischer Provenienz, ein gewisses Interesse an der ori- bon [1] 40–42. – 4 Garlandus Compotista, Dialectica, ed. L.M. de
ginalen S.-Konzeption des Aristoteles wieder. Georg Rijk (Assen 1959); D.P. Henry: The Singular Syllogisms of Gar-
landus Compotista, in: Rev. Int. de Philos. 113 (1975) 243–270;
von Brüssel (um 1500) versucht gar, eine (stark von E. Stump: Dialectic and Its Place in the Development of Medie-
Kilwardby beeinflußte) historische Rekonstruktion des val Logic (Ithaca, NY 1989) 67–88. – 5 Marenbon [1] 47–57. –
Aristoteles mit der systematischen Darstellung Buri- 6 ders.: Logic at the Turn of the Twelfth Century, in: Gabbay,
dans zu harmonisieren. [49] Eine extensive Behandlung Woods [1] 65–81. – 7 D. Gutas: Greek Thought, Arabic Culture
des S. in der Tradition Buridans findet sich noch bei Lu- (London/New York 1998); T. Street: Arabic Logic, in: Gabbay,
thers Lehrer Jodocus Trutfetter (1460–1519). [50] Woods [1] Bd. 1 (Amsterdam 2004) 523–596, hier 529–533. –
Auch in der spätmittelalterlichen Theologie wird der 8 Street [7] 533–552.562–566. – 9 ders.: An Outline of Avicenna’s
S. herangezogen. Nicolaus Cusanus (1401–1464) sieht Syllogistic, in: AGPh 84 (2002) 129–160. – 10 D.L. Black: Logic
and Aristotle’s ‹Rhetoric› and ‹Poetics› in Medieval Arabic Phi-
im begrifflichen ‹Ternar› des S. ein Abbild trinitarischer losophy (Leiden 1990); R. Würsch: Die Lehre vom Enthymem
Strukturen in der Schöpfung, das den Menschen zur Er- in der Rhet. des Aristoteles und ihre Weiterentwicklung bei
kenntnis der Trinität führe. [51] Avicenna und Averroes, in: K. Jacobi (Hg.): Argumentations-
Als Dispositions- und Amplifikationsschema begeg- theorie. Scholastische Forschungen zu den logischen und se-
net der S. gelegentlich auch in der ars dictaminis. Ein mantischen Regeln korrekten Folgerns (Leiden 1993) 589–606;
Beispiel einer Amplifikation über einen S. findet sich S. Kemal: The Philosophical Poetics of Alfarabi, Avicenna, and
z.B. im ‹Documentum› des Galfrid von Vinsauf (um Averroës: The Aristotelian Reception (London 2003). – 11 J.
1210). [52] Ähnliches gilt für die Predigtlehre, wo z.B. Lameer: Al-Fārābı̄ and Aristotelian Syllogistics: Greek Theory
and Islamic Practice (Leiden 1994). – 12 S. Kemal: Aristotle’s
Richard von Thetford (‹Ars dilatandi sermones›, um Poetics, the Poetic Syllogism, and Philosophical Truth in Aver-
1245) den S. neben Induktion, Beispiel und Enthymem roës’s Commentary, in: The Journal of Value Inquiry 35 (2001)
als modus der Amplifikation einreiht [53], Robert Ba- 391–412. – 13 C. Schöck: Koranexegese, Grammatik und Logik.
sevorn (‹Forma praedicandi›, 1322) dieselben Mittel für Zum Verhältnis von arabischer und aristotelischer Urteils-,
die Konstruktion von Einleitungen empfiehlt [54] und Konsequenz- und Schlußlehre (Leiden 2006) 394f.; Street [7]
Jean de Chalons (‹Ars brevis›, um 1372) ganze Predig- 556–558. – 14 P. Abaelard, Dialectica, ed. L.M. de Rijk (Assen
ten auf syllogistischen Strukturen aufbaut. [55] 1956, 21970). – 15 L. Minio-Paluello: Twelfth Century Logic:
Im byzantinischen Bereich verläuft die Aneignung Texts and Studies. II: Abaelardiana inedita (Rom 1958). –
16 Abaelard [14] 232–244; I. Wilks: Peter Abelard and His Con-
der Aristotelischen Syllogistik vornehmlich über Ari- temporaries, in: Gabbay, Woods [1] 83–156, bes. 116–119. –
stoteleskommentare in der Tradition der alexandri- 17 Abaelard [14] 245–249; P. Thom: Medieval Modal Systems:
nisch-neuplatonischen Kommentatoren, von Photios Problems and Concepts (Aldershot 2003); Wilks [16] 112. –
(9. Jh.) über Michael Psellos (11. Jh.), Eustratios von 18 Wilks [16] 119–121. – 19 Abaelard [14] 472–532; Wilks [16]
Nikaia (11./12. Jh.), Theodoros Prodromos (12. Jh.) bis 121–142; C.J. Martin: Denying Conditionals: Abelard and the
Theodoros Metochites und Georgios Pachymeres Failure of Boethius’ Account of the Hypothetical S., in: Viva-
(13./14. Jh.). Kompendien der Logik und Schriften zum rium 45 (2007) 153–168. – 20 MS Orléans BM 283; S. Ebbesen:
S. verfassen neben Psellos (bei dem sich in einem Analyzing Syllogisms or Anonymous Aurelianensis III: The
(Presumably) Earliest Extant Latin Commentary on the ‹Prior
Gedicht auch der S. als rhetorischer Status nach Analytics›, and Its Greek Model, in: Cahiers de l’Institut du
Hermogenes wiederfindet [56]) v. a. Johannes Italos Moyen-Âge Grec et Latin 37 (1981) 1–20. – 21 gesammelt in:
(11. Jh.), Nikephoros Blemmydes (13. Jh.), Josephos L.M. de Rijk (Hg.): Logica Modernorum II, 2 (Assen 1967). –
Rhakendytes (13./14. Jh.) und Johannes Chortasme- 22 vgl. T. Parsons: The Development of Supposition Theory in
nos (14./15. Jh.). Doch gerät der Aristotelismus als pa- the Later 12th through 14th Centuries, in: Gabbay, Woods [1]

285 286
Syllogismus Syllogismus

157–280, bes. 165–167. – 23 William of Sherwood, Introductio- 93–111; Knuuttila [27] 552–559. – 47 Dutilh Novaes [37] 445–
nes in logicam. Einf. in die Logik. Lat.-dt. hg. v. H. Brands und 447.470f. – 48 Paulus Venetus, Logica Parva, ed. A. Perreiah
C. Kann (1995); Peter of Spain, Tractatus called afterwards (Leiden 2002); Logica Magna: Tractatus de suppositionibus, ed.
Summule logicales, ed. L.M. De Rijk (Assen 1972) IV, 13, 46; A. Perreiah (St. Bonaventure, NY 1971). – 49 Georgius Bruxel-
Übers. in: N. Kretzmann, E. Stump: The Cambridge Translati- lensis, Expositio in Logicam Aristotelis, hg. T. Bricot (1499). –
ons of Medieval Philosophical Texts, Bd. 1 (Cambridge 1988) 50 J. Trutfetter, Summulae totius logicae (1501). – 51 Nicolaus
222–225; Parsons [22] 167f.; H. Lagerlund: The Assimilation of Cusanus, Predigt LXI; De aequalitate, hg. H.G. Senger, in: Ope-
Aristotelian and Arabic Logic up to the Later Thirteenth Cen- ra omnia, Bd. 10, 1 (2001); H. Schwaetzer: Aequalitas. Erkennt-
tury, in: Gabbay, Woods [1] 281–346, bes. 325–331. – 24 L.G. nistheoretische und soziale Implikationen eines christologi-
Benakis: Commentaries and Commentators on the Logical schen Begriffs bei Nikolaus von Kues (2000) 88–114, bes. 99–
Works of Aristotle in Byzantium, in: R. Claussen, R. Daube- 114. – 52 Galfrid von Vinsauf, Documentum 62–70, in: Faral
Schackat (Hg.): Gedankenzeichen. FS K. Oehler (1988) 3–12, 283f.; vgl. auch Murphy RM 235. – 53 Murphy RM 327. – 54 ebd.
hier 5; B. Bydén: ‹Strangle Them with These Meshes of Syllo- 350. – 55 ebd. 336f. – 56 Michaelis Pselli Poemata, ed. L.G. We-
gisms!›: Latin Philosophy in Greek Translations of the Thir- sterink (1992) Poema 7, v. 54–56. – 57 H.P.F. Mercken: The
teenth Century, in: J.O. Rosenqvist (Hg.), Interaction and Isola- Greek Commentators on Aristotle’s Ethics, in: R. Sorabji (Hg.):
tion in Late Byzantine Culture (Stockholm 2004) 133–157, bes. Aristotle Transformed: The Ancient Commentators and Their
149–152, gegen J. Duffy: Michael Psellos, Neophytos Prodro- Influence (London 1990) 407–444, hier 412. – 58 D.Z. Nikitas:
menos, and Memory Words for Logic, in: J. Duffy, J. Peradotto Eine byzant. Übers. von Boëthius’ ‹De hypotheticis syllogismis›
(Hg.): Gonimos: Neoplatonic and Byzantine Studies Presented (1982).
to L.G. Westerink at 75 (Buffalo, NY 1988) 207–216, bes. 214–
216. – 25 Peter of Spain [23] 56. – 26 Sancti Thomae Aquinatis Literaturhinweise:
Expositio libri Posteriorum, ed. R.-A. Gauthier (Paris 1989) I, 2, N. Kretzmann, A. Kenny, J. Pinborg (Hg.): The Cambridge His-
17–21; H.-G. Nissing: Sprache als Akt bei Thomas von Aquin tory of Later Medieval Philosophy (Cambridge 1982). – N. J.
(Leiden 2006) 500–502.537–549. – 27 H. Lagerlund: Modal Syl- Green-Pedersen: The Tradition of the Topics in the Middle
logistics in the Middle Ages (Leiden 2000); Thom [17]; S. Knuut- Ages (1984). – E. Stump: Dialectic and its Place in the Develop-
tila: Medieval Modal Theories and Modal Logic, in: Gabbay, ment of Medieval Logic (Ithaca, NY 1989). – J. P. Beckmann:
Woods [1] 505–578. – 28 Robert Kilwardby, In libros Priorum Art. ‹Logik›, in: LMA, Bd. 5 (1991) 2071–2077. – S. Knuuttila:
Analyticorum expositio (Venedig 1516, ND Frankfurt 1968); Modalities in Medieval Philosophy (London/New York 1993). –
Knuuttila [27] 545f. – 29 Albertus Magnus, Liber I Priorum Ana- ders.: Art. ‹Schlußmodi›, in: LMA, Bd. 7 (1995) 1496–1498. – J.
lyticorum, in: Opera omnia, ed. A. Borgnet, Bd. 1 (Paris 1890); Pinborg: Logik und Semantik im MA. Ein Überblick (1972). –
Simon von Faversham, Quaestiones super librum priorum Ana- M. Yrjönsuuri (Hg.): Medieval Formal Logic (Dordrecht 2001).
lyticorum; Radulphus Brito, Quaestiones super librum priorum.
– 30 Richard of Campsall, Questiones super librum Priorum III. Renaissance, Humanismus. Im Humanismus wird
Analeticorum, ed. E.A. Synan (Toronto 1968); Knuuttila [27]
547f. – 31 vgl. z.B. D. Gundissalinus, De divisione philosophiae,
harte Kritik am Aristotelischen S. und seiner scholasti-
Über die Einteilung der Philos. Lat.-dt. hg. und übers. von A. schen Ausgestaltung laut. Zwar behandelt noch Geor-
Fidora, D. Werner (2007) 29f.87–103. – 32 J. Pinborg: Topik und gios Trapezuntios um 1440 den S. traditionell im Rah-
Syllogistik im MA, in: Sapienter Ordinare, FS E. Kleineidam men der Aristotelischen Logik [1], doch streicht bereits
(1969) 157–178; E. Stump: Topics: Their Development and Ab- L. Valla (‹Repastinatio dialectice et philosophie›, um
sorption into Consequences, in: N. Kretzmann, A. Kenny, J. 1440) aus seiner deskriptiven Sicht der Dialektik kur-
Pinborg (Hg.): The Cambridge History of Later Medieval Phi- zerhand die letzten fünf Modi der ersten syllogistischen
losophy: From the Rediscovery of Aristotle to the Disintegra- Figur und die ganze dritte Figur, weil keine praktische
tion of Scholasticism, 1100–1600 (Cambridge 1982) 273–299,
hier 287–293. – 33 Lambert von Auxerre, Logica (Summa Lam-
Anwendbarkeit dieser Figuren in der alltäglichen Ar-
berti), ed. F. Alessio (Florenz 1971) 112f. – 34 A. de Libera: Les gumentation vorstellbar sei, ergänzt sie statt dessen um
Summulae dialectices de Roger Bacon, in: Archives d’Histoire weitere, praktikablere Formen wie den Sorites oder ‹er-
Doctrinale et Litteraire du Moyen Age 53 (1986) 139–289; 54 weiterte› S. Er lehnt die S.-Definition des Aristoteles als
(1987) 171–278. – 35 Siger von Courtrai, Ars priorum, in: G. zu vage ab, kritisiert die Erhebung des S. zum Garanten
Wallerand (Hg): Les œuvres de Siger de Courtrai (Löwen 1913) korrekter Argumentation und sieht in ihm nur die belie-
10.22. – 36 Pseudo-Scotus, In librum primum Priorum Analyti- bige äußere Form eines Arguments selbst. [2] Entspre-
corum Aristotelis quaestiones, in: Johannes Duns Scotus, Ope- chend kritisiert und erweitert er auch die klassische
ra omnia, ed. L. Wadding, Bd. 1 (Lyon 1631; ND Paris 1891)
273–341; Lagerlund [27] 165–167. – 37 vgl. C. Dutilh Novaes:
Vierzahl der Argumentformen (S., Induktion, Enthy-
Logic in the 14th Century After Ockham, in: Gabbay, Woods [1] mem, Beispiel). [3]
433–504, hier 467–484. – 38 William of Ockham, Summa Logi- R. Agricola übt ebenfalls heftige Kritik an der scho-
cae, ed. P. Boehner, G. Gál, S. Brown, in: Opera Philosophica lastischen Dialektik, erörtert in ‹De inventione dialec-
Bd. 1 (St. Bonaventure, NY 1974) Teil III; C.G. Normore: The tica› aber den S. im Rahmen der Argumentformen, ohne
Logic of Time and Modality in the Later Middle Ages: The Con- jedoch in formale Details zu gehen; er ist vielmehr eher
tribution of William of Ockham (Diss. Toronto 1975); Knuut- an der konkreten Verwendung von Argumenten in Tex-
tila [27] 551–557. – 39Walter Burley, De puritate artis logicae, ten interessiert. [4] Auch J.L. Vives kritisiert die «bar-
Tractatus longior, with a Revised Ed. of the Tractatus brevior,
ed. P. Boehner (St. Bonaventure, NY 1955). – 40 Johannes Bu-
barischen» sprachlichen Formulierungen der S. der mit-
ridan, Tractatus de consequentiis, ed. H. Hubien (Löwen 1976); telalterlichen Dialektiker [5] und gibt an anderer Stelle
ders., Summulae de Dialectica, transl. G. Klima (New Haven eine humanistisch gefärbte, an Valla erinnernde Dar-
2001). – 41 P. King: Jean Buridan’s Logic. The Treatise on Sup- stellung der Argumentformen und des S. [6] Ähnliche
position. The Treatise on Consequences, Transl. with Introd. Kritik kommt auch von Erasmus in seiner Predigtleh-
and Notes (Dordrecht 1985) 70f. – 42 ebd. 75–79.258–294. – re. [7] In volkssprachlicher Form richtet 1534 O. Fuchs-
43 H. Hubien: John Buridan on the Fourth Figure of the S., in: perger die These von der natürlichen Angeborenheit
Rev. Intern. de Philosophie 113 (1975) 271–285, bes. 284f.; E.J. syllogistischen Denkens gegen die «barbarische» Kün-
Ashworth: Developments in the Fifteenth and Sixteenth Cen-
turies, in: Gabbay, Woods [1] 609–643, hier 617. – 44 ebd. 71f. –
stelei der Scholastiker. [8]
45 ebd. 48–51.72f. – 46 ebd. 51–57.79–84.228–257.295–325; G.E. Melanchthon gibt in seiner Dialektik eine ausführ-
Hughes: The Modal Logic of John Buridan, in: G. Corsi, C. liche Darstellung der Modi und Figuren des S. sowie
Mangione, M. Mugnai (Hg.): Atti del Convegno Internazionale auch der übrigen Argumentformen [9], wenn auch mit
di Storia della Logica. Le Teorie della Modalità (Bologna 1989) deutlicher Kritik an den «Beschwörungsformeln» der

287 288
Syllogismus Syllogismus

Scholastiker [10], beschränkt sich aber in der ‹Rhetorik› Dassonville (Genf 1964); Mack [1] 338.355; Petrus [4] 17f. –
auf die notwendigsten Angaben und verweist auf die 14 z.B. A. Nifo: Super libros Priorum Aristotelis commentaria
freiere sprachliche Einkleidung des S. in der lebendigen (Venedig 1554), fol. 27va-vb; J. Eck: Aristotelis Stagyrite Dia-
lectica (1516/17) fol. xiira-xiiirb. – 15 z.B. J. Zabarella: De quarta
Rede [11] und auf die ratiocinatio als Status. [12] Petrus figura syllogismorum, in: Opera logica (1597) 101–132; Ash-
Ramus (1515–1572) führt den Begriff des S. auf den des worth [2] 617. – 16 P. Fonseca: Institutionum dialecticarum libri
Rechnens zurück, sieht im S. das Vernunftgesetz und octo (Lissabon 1564) VI. – 17 C. Soarez: De arte rhetorica libri
Abbild Gottes, unterscheidet schließlich zwischen ein- tres (1577) II, 19. – 18 P. Mack: Elizabethan Rhet.: Theory and
fachen (kategorischen) und zusammengesetzten (hypo- Practice (Cambridge 2004) 69. – 19 L. Carbone: Introductionis in
thetischen) S. und reduziert den S. wieder auf drei, spä- logicam libri sex (Venedig 1597) V, 1–2.20; J. Dietz Moss, W.A.
ter sogar nach Vallas Vorbild auf zwei Figuren. [13] Ei- Wallace: Rhet. & Dialectic in the Time of Galileo (Washington,
nigen Streit gibt es um die vierte Figur, die von einigen DC 2003) 70–75.96. – 20 F. Sanchez: Quod nihil scitur (1581),
lat.-dt. hg. K. Howald (2007) 28–30. – 21 Peacham 178.179f.186;
anerkannt [14], von vielen aber abgelehnt wird. [15] G. Puttenham, The Arte of English Poesie, ed. G.D. Willcock, A.
Auch in Schulbüchern zur Dialektik wie dem von der Walker (Cambridge 1936) 233–235.
humanistischen Konzeption von Agricola und Ramus
geprägten von P. Fonseca (1564) wird der S. behandelt Literaturhinweise:
und dabei neben Enthymem und Induktion dem iudi- W. Risse: Die Logik der Neuzeit, Bd. 1: 1500–1640 (1964). – C.
cium zugeordnet [16], während er im entsprechenden Vasoli: La dialettica e la retorica dell’umanesimo. ‹Invenzione›
Handbuch der Rhetorik von C. Soarez (1560) dem En- e ‹metodo› nella cultura del 15 e 16 secolo (Mailand 1968). – L.
thymem gegenübergestellt wird. [17] Schüler und Stu- Jardine: Humanistic Logic, in: C. B. Schmitt, Q. Skinner u. a.
(Hg.): The Cambridge History of Renaissance Philosophy
denten lernten also nach wie vor den Gebrauch von S. an (Cambridge 1988) 173–198.
Aristoteles oder moderneren Handbüchern. [18] Einen
humanistisch überformten Aristotelismus mit Behand-
lung des demonstrativen, dialektischen und sophisti- IV. Barock. Im 17. Jh. wächst die Kritik am S. weiter.
schen S. zeigen auch spätere Logikhandbücher wie das- Der Hauptvorwurf richtet sich gegen seine Untauglich-
jenige von Ludovico Carbone (1597). [19] Dagegen übt keit zur Gewinnung neuer Erkenntnis. F. Bacon sucht
Fransciscus Sanchez aus einer Position radikaler daher schon in ‹The Advancement of Learning› (1605),
Skepsis rigorose Kritik am demonstrativen S., der nicht mehr noch programmatisch im ‹Novum Organum›
zu Erkenntnis, sondern zu restlos unverständlichen Be- (1620) in Ablehnung der scholastischen Philosophie und
griffen führe. [20] ihrer begrifflich-deduktiven Verfahren für die Wissen-
Schließlich begegnen in den figuralen Poetiken und schaft neue Methoden und Zielsetzungen im Sinne einer
Rhetoriken des 16. Jh. syllogistische Formen sogar in ars inveniendi durchzusetzen. [1] In dieselbe Richtung
Gestalt rhetorischer Figuren, so als collectio und syllo- geht auch die Kritik von R. Descartes (‹Discours de la
gismus bei H. Peacham (1593) oder bei diesem und G. méthode›, 1637); seine Hauptkritikpunkte sind: jeder S.
Puttenham (1588) als expeditio (Schluß auf eine Alter- stelle eine petitio principii dar; Formalisierungen dien-
native durch Elimination aller übrigen). [21] ten nie dem Erkenntniserwerb, sondern allenfalls des-
sen Darstellung oder Vermittlung; einer ars inveniendi
Anmerkungen: stünden sie nur im Wege. [2] Entsprechend bestreitet er,
1 Georgios Trapezuntios: De re dialectica (1539; ND 1966); P. daß der Satz «Cogito, ergo sum» ein S. sei. [3]
Mack: Renaissance Argument: Valla and Agricola in the Tra-
ditions of Rhet. and Dialectic (Leiden 1993) 15. – 2 L. Valla: Re-
Dennoch halten die zeitgenössischen Logiken in der
pastinatio dialectice et philosophie, ed. G. Zippel (Padua 1982) Intention einer Rückwendung zum originalen Aristote-
239–254.280–328; C. Prantl: Gesch. der Logik im Abendlande, les am S. fest. So lehnt die ‹Logik von Port Royal› (1662)
Bd. 4 (1870; ND Graz 1955) 151–172; L. Jardine: Lorenzo Valla zwar die scholastische Logik ab, zeigt sich aber ebenso
and the Intellectual Origins of Humanist Dialectics, in: J. of the kritisch gegenüber ramistischen Tendenzen und erar-
History of Philosophy 15 (1977) 143–164; Mack [1] 80–86; E.J. beitet auf der Grundlage der ‹Ersten Analytik› und car-
Ashworth: Developments in the Fifteenth and Sixteenth Cen- tesianischer Vorstellungen detaillierte Regeln für eine
turies, in: D.M. Gabbay, J. Woods (Hg.): Handbook of the His- als allgemeine Denklehre verstandene Syllogistik. [4]
tory of Logic, Bd. 2 (Amsterdam 2008) 609–643, hier 631f.; vgl. L.
Nauta: In Defense of Common Sense: Lorenzo Valla’s Huma-
Ähnliches gilt für die der ‹protestantischen Scholastik›
nist Critique of Scholastic Philosophy (Cambridge, MA 2009). – zugerechnete Logik des J. Jungius (1638). [5] Die Logik
3 Valla [2] 334–355; Mack [1] 86–88. – 4 Agricola II, 1, 196–207; II, J. Claubergs (1654) sucht im Anschluß an Bacon und
18–19, 314–329; Mack [1] 199–256; K. Petrus: Genese und Ana- Descartes nach einer «neuen» Erfindungslogik zur Er-
lyse. Logik, Rhet. und Hermeneutik im 17. und 18. Jh. (1997) kenntniserweiterung, beruft sich aber in den Darstel-
16f.; V. Wels: Triviale Künste. Die humanistische Reform der lungsformen weiterhin auf die «alte» Logik des S. [6] R.
grammatischen, dial. und rhet. Ausbildung an der Wende zum Goclenius (1615) entwirft u. a. eine zu Aristoteles in-
16. Jh. (2000) 140–143. – 5 J.L. Vives: De causis corruptarum ar- verse Konstruktion des Sorites [7], H. Saccheri (1697)
tium III, in: Opera omnia, hg. G. Mayans, Bd. 6 (Valencia 1785;
ND London 1964) 136; Wels [4] 84f. – 6 J.L. Vives: De censura
erfindet eine neue Methode, die Ungültigkeit von S. auf-
veri, in: Opera omnia, Bd. 3 (1783; ND 1966) 163ff.; P. Mack: zuweisen [8], und H. Aldrich legt 1691 das für lange
Vives’ Contribution to Rhetoric and Dialectic, in: C. Fantazzi Zeit letzte formale Handbuch der Logik in England vor,
(Hg.): A Companion to Juan Luis Vives (Leiden 2008) 227–276, in dem zwölf Regeln zur Ermittlung gültiger S. formu-
hier 233. – 7 Erasmus: Ecclesiastes, hg. J. Chomarat, in: Opera liert werden. [9] Dabei beruft man sich darauf, daß der
omnia, Bd. 5, 4–5, bes. 252.369f.; Wels [4] 85.139f. – 8 O. Fuchs- S., wiewohl nicht zur Erkenntnisgewinnung, so doch zu
perger: Natürliche vnd rechte kunst der waren Dialectica (1534); ihrer Erklärung und Kommunikation tauge.
Wels [4] 95–97.108–110. – 9 z.B. Melanchthon: Erotemata dia- Insbesondere verteidigt G.W. Leibniz (1646–1716)
lectices (1547), in: Opera quae supersunt omnia, hg. C.G. Bret-
schneider, H. Bindseil, Corpus Reformatorum, Bd. 13 (1846)
den S. gegen die erhobenen Einwände, errechnet im
508–752, hier 599–642; Mack [1] 325–333; Wels [4] 140–143.145– Rückgriff auf die Syllogistik des J. Hospinianus (1515–
147. – 10 Melanchthon [9] 593; Wels [4] 140. – 11 Melanchthon: 1575) [10] die Anzahl der gültigen S. und postuliert vier
Elementa rhetorices, in: Opera omnia [9] Bd. 13, 417–506, hier syllogistische Figuren mit jeweils sechs Modi dergestalt,
433. – 12 ebd. 444f. – 13 P. Ramus: Dialectique (1555), hg. M. daß in den ersten drei Figuren jeder S. indirekt auf einen

289 290
Syllogismus Syllogismus

S. einer anderen Figur zurückgeführt werden kann, wo- 1, 41–59.182.1035.1048f.; Weise 2, 173f. – 18 E. Uhse: Wohl=in-
durch die Ableitung aller Modi der zweiten und dritten formirter Redner, worinnen die Oratorischen Kunst=Griffe
Figur aus denjenigen der ersten vollständig gelingt. [11] vom kleinesten bis zum grösten durch kurtze Fragen und aus-
führliche Antwort vorgetragen werden (51712; ND 1974) 98–108.
Überhaupt entwickelt Leibniz schon im 17. Jh. einen lo- – 19 Fabricius 381–384. – 20 Hallbauer Orat. 448–452.
gischen Kalkül, der in seinen formalen Zügen Ähnlich-
keiten mit dem späteren System Booles aufweist. [12] Literaturhinweise:
Die Akzeptanz der vierten Figur wird dabei in der zwei- W.S. Howell: Logic and Rhet. in England, 1500–1700 (Princeton
ten Hälfte des 17. Jh. erleichtert durch eine auf Johannes 1956). – W. Risse: Die Logik der Neuzeit, Bd. 2: 1640–1780
Philoponos zurückgehende Definition des Ober- und (1970). – M. Beetz: Rhet. Logik. Prämissen der dt. Lyrik im
Unterbegriffs, die zur Ablehnung ‹indirekter› Modi Übergang vom 17. zum 18. Jh. (1980).
führt. [13]
Als Konkurrenz erwächst dem schwerfälligen S. V. Aufklärung. Besonders harsche Kritik erfährt der S.
nunmehr vor allem das aus der Rhetorik bekannte, fle- von seiten der Empiristen (J. Locke, 1632–1704; G.
xiblere, leichtere, gefälligere und meist verkürzte En- Berkeley, 1685–1753; D. Hume, 1711–1776). Der wis-
thymem, das als verkürzter (truncatus), versteckter senschaftliche S., gegründet auf die metaphysische Ord-
(crypticus) oder zusammengezogener (contractus) S. in- nung der Begriffe, sei entweder trivial oder produziere
terpretiert wird. [14] In traditionellen Schulrhetoriken Unsinn, könne daher keine Erkenntnis vermitteln, noch
wie etwa der von J. Vossius (1606) wird jedoch nach wie weniger in der dialektischen Debatte. Locke erklärt, der
vor auch der S. nach antiken Vorgaben in Argumentleh- S. schaffe weder noch vermehre er Erkenntnis, er sei der
re wie Statuslehre behandelt. [15] Erkenntnis nachgeordnet, könne nur mit schon vorhan-
Verwendet schon ein Jahrhundert zuvor W. Ful- denem Wissen operieren. Zur Erkenntnisgewinnung sei
wood in seinem Briefsteller (1568) ein flexibles dreitei- der natürliche Menschenverstand («native rustick
liges, an den S. angelehntes Aufbauschema für Briefe reason») weit geeigneter. [1] Wäre der Syllogismus das
(cause, intent, conclusion = maior, minor, conclu- einzige Mittel rationaler Erkenntnis, hätte vor Aristo-
sio) [16], so bildet sich Ende des 17. Jh. v. a. bei C. Weise teles niemand Erkenntnis haben können, und danach
als probates Dispositionsschema für Briefe, Reden oder nicht einer von zehntausend. [2] Im selben Sinne urteilt
«Complimente» in Verbindung mit der Chrie der soge- auch C. Thomasius (1655–1728), die scholastischen Sub-
nannte ‹oratorische S.› heraus, der sich gegenüber dem tilitäten dienten eher dazu, über Irrtümer hinwegzutäu-
logischen S. durch freie Abfolge der drei Sätze sowie schen und aus Unsinn Tiefsinn zu machen, und verficht
durch die Möglichkeit der Verkürzung zum Enthymem statt dessen eine «ausübende», d. h. praktische Vernunft-
und Amplifikationsmöglichkeiten verschiedener Art lehre. [3] Auch E.W. von Tschirnhaus (1651–1708) ver-
auszeichnet. [17] Er findet sich u. a. bei Uhse [18], Fa- dammt den S. aus ähnlichen Gründen zugunsten einer
bricius [19] oder Hallbauer [20] wieder. ars inveniendi. [4] Unter dem Einfluß von Tschirnhaus
und Descartes wendet sich Chr. Wolff (1679–1754) zu-
Anmerkungen: nächst ebenfalls gegen den S. («S. non est medium in-
1 F. Bacon: The Advancement of Learning, in: Advancement of veniendi veritatem», «der S. ist kein Mittel der Wahr-
Learning and Novum Organum (New York 1899) 20; ders.: No- heitsfindung») [5], ändert jedoch später unter dem Ein-
vum Organum – Neues Organon, lat.-dt. (1990). – 2 R. Descar- druck der Arbeiten von Leibniz seine Meinung, wird
tes: Discours de la méthode, frz.-dt. (1990); K. Petrus: Genese
und Analyse. Logik, Rhet. und Hermeneutik im 17. und 18. Jh.
zum bedeutendsten Befürworter des S. als Mittel der
(1997) 16f.19; M. Gerten: Wahrheit und Methode bei Descartes. Erkenntnisgewinnung [6] und gibt in seinen Logiken
Eine systemat. Einf. in die Cartesische Philos. (2001) 188–195, ausführliche Darstellungen der Syllogistik [7], wobei er
bes. 189. – 3 Gerten [2] 195–207. – 4 A. Arnauld, P. Nicole: La jedoch der vorausgegangenen Kritik insoweit Rechnung
logique ou l’art de penser (Paris 1662), ND hg. von B. Baron v. trägt, als er den S. lediglich als eine Redeweise definiert,
Freytag Löringhoff u. H. Brekle (1965); R. Wahl: Port Royal: in der ein Vernunftschluß (ratiocinium) deutlich ausge-
The Stirrings of Modernity, in: D.M. Gabbay, J. Woods (Hg.): drückt werde (distincte proponitur). [8] Seine Anhänger
Handbook of the History of Logic, Bd. 2 (Amsterdam 2008) 667– folgen ihm freilich nur halbherzig. So beschränkt sich
699, bes. 685–692. – 5 J. Jungius: Logica Hamburgensis (1638,
ND 1957). – 6 J. Clauberg: Logica vetus et nova quadripartita
Gottsched (1700–1766) in seinen Ausführungen zur
(Amsterdam 1654); Petrus [2] 21f. – 7 R. Goclenius: Lex. philo- Syllogistik auf die Erörterung der ersten Figur [9] und
sophicum Graecum (1615; ND 1964). – 8 H. Saccheri: Logica gibt in der ‹Redekunst› nur eine knappe, traditionelle
demonstrativa (Turin 1697) I, 11, 1; W. u. M. Kneale: The De- Darstellung des «Vernunftschlusses» im Rahmen der
velopment of Logic (Oxford 1962) 345–348; P. Thom: Art. ‹S., Beweisgründe. [10]
Syllogistik›, in: HWPh, Bd. 10 (1998) 687–707, hier 700. – 9 H. Generell greift die Rhetorik der Aufklärung wieder
Aldrich: Artis Logicae Compendium (Oxford 1691), ed. H.L. verstärkt auf syllogistische Beweistechniken zurück.
Mansel (Oxford 1849) 75; T. Hailperin: Algebraical logic 1685– Zwischen rhetorischer und logischer Argumentation
1900, in: Gabbay, Woods [4] Bd. 3 (Amsterdam 2004) 323–388,
hier 343. – 10 K. Dürr: Die Syllogistik des Johannes Hospinianus
wird kein prinzipieller Unterschied gemacht. [11] So
(1515–1575), in: Synthese 9 (1955) 472–484. – 11 G.W. Leibniz: nehmen etwa J.M. Weinrich, C.M. Fischbeck und Gott-
Diss. de arte combinatoria (1666); ders.: De formis syllogismo- sched den S. auch für die Rhetorik in Anspruch. [12] Da
rum mathematice definiendis (um 1680), in: Opuscula et frag- aber andererseits der strenge S. den Aufklärern als un-
menta inedita, ed. L. Couturat (Paris 1903; ND 1961) 410–416; natürlich gilt, erlangt das Enthymem wachsende Bedeu-
Thom [8] 699f.; Hailperin [9] 324–342; W. Lenzen: Leibniz’s Lo- tung, da man bei ihm nicht, wie bei der Ausführlichkeit
gic, in: Gabbay, Woods [9] 1–83. – 12 Kneale [8] 336–345. – förmlicher Schlüsse, in «eckel und verdruß» versin-
13 ebd. 71; E.J. Ashworth: Some Notes on Syllogistic in the Six- ke. [13] Entsprechende Bemerkungen finden sich bei
teenth and Seventeenth Centuries, in: Notre Dame J. of Formal
Logic 11 (1970) 17–33. – 14 M. Kraus: Art. ‹Enthymem›, in:
Rüdiger, G.P. Müller, Hallbauer, A.F. Müller und
HWRh, Bd. 2 (1994)1197–1222, hier 1214. – 15 Vossius I, 2, 163– vielen anderen. [14] Auch frei erweiterte Formen wie
165; III, 4, 373–375. – 16 W. Fulwood: The enimie of idlenesse: der S. compositus oder der Sorites spielen eine Rolle.
Teaching the maner and stile how to endite, compose and write Dabei bleibt die Zurückführbarkeit solcher Schlußfor-
all sorts of epistles and letters (London 1568) 10r–13r. – 17 Weise men auf die zugrundeliegende ‹logikalische Form› je-

291 292
Syllogismus Syllogismus

derzeit gefordert. [15] Die ungeschmälerte Bedeutung 17 J.H. Lambert: Neues Organon (1764; ND 1965) Bd. 1,
des S. in der Logik des 18. Jh. ist hinreichend dokumen- §§ 347ff.; P. Thom: Art. ‹S., Syllogistik›, in: HWPh, Bd. 10 (1998)
tiert auch durch die Zahl der Einträge unter den Lem- 687–707, hier 700f. – 18 G. Patzig: Die Aristotelische Syllogistik
(1969) 87. – 19 I. Kant: Die falsche Spitzfindigkeit der vier syl-
mata ‹S.› und ‹Vernunft-Schluß› in J.H. Zedlers ‹Uni- logistischen Figuren (1762), in: Werke, hg. W. Weischedel, Bd. 1
versal-Lexicon›. [16] (1960) 597–615; Patzig [18] 87f. – 20 J.G. Herder: Von Schul-
Trotzdem fehlt es auch in dieser Periode nicht an we- übungen (1781), in: Sämtliche Werke, ed. B. Suphan, Bd. 30
sentlichen Beiträgen zur Analyse des S. So entwickelt (1889) 60–71, hier 70f. – 21 I. Kant: Vorrede zur 2. Aufl. der Kri-
etwa J.H. Lambert (1728–1777) eine Methode, die tik der reinen Vernunft (1787) VIIIf., in: Werke [19] Bd. 2 (1956)
Gültigkeit von S. unter Verwendung von Liniendia- 20f. – 22 ders.: Kritik der reinen Vernunft, A 322f./B 379f., in:
grammen zu veranschaulichen und zu überprüfen. [17] Werke [19] Bd. 2, 327f.; M. Tiles: Kant: From General to Trans-
Andererseits bestreitet Lambert im Sinne von Leibniz cendental Logic, in: D.M. Gabbay, John Woods: Handbook of
the History of Logic, Bd. 3 (Amsterdam 2004) 85–130.
dezidiert jeden Vorrang der ersten Figur vor den ande-
ren. [18] Im Gegensatz dazu verschärft der junge Kant Literaturhinweise:
die Konzentration auf die erste Figur, indem er den üb- S.W. Howell: Eighteenth-Century British Logic and Rhet.
rigen Figuren überhaupt das Recht abspricht, als logi- (Princeton 1971). – R. Klassen: Logik und Rhet. in der frühen
sche Gesetze zu gelten und die Vierzahl der Figuren zu dt. Aufklärung (1974). – F. Gaede: Poetik und Logik. Zu den
Grundlagen der lit. Entwicklung im 17. und 18. Jh. (1978).
einer falschen Spitzfindigkeit erklärt. [19]
Die Kritik am Formalismus des S. ebbt aber auch im
späten 18. Jh. nicht ab. So beklagt Herder, man habe in VI. 19. Jh. Gibt Kant eine transzendentale, so G.W.F.
den Schulen «über lauter S. in barbara und celarent die Hegel wenig später eine dialektische Begründung der
Sache selbst» vergessen. [20] Andererseits aber werden Logik. Dabei sieht dieser im Schluß drei verschiedene
in der Logik des 17. und 18. Jh. auch zunehmend nicht- Gattungen von Schlüssen aufgehoben: den Schluß des
formale und außerlogische, etwa metaphysische, psy- Daseins (mit vier ‹Figuren› der Verknüpfung von Ein-
chologische oder anthropologische Momente an den S. zelheit, Besonderheit und Allgemeinheit), den Schluß
herangetragen, was Kant später kritisch moniert. [21] der Reflexion (bestehend aus den Schlüssen der Allheit
Dem setzt er seinen Entwurf einer ‹transzendentalen› [Deduktion], der Induktion und der Analogie [Abduk-
Logik und Dialektik entgegen, innerhalb deren er die tion]) und den Schluß der Notwendigkeit (worunter sich
Dreiheit der kategorischen, hypothetischen und dis- die kategorischen, hypothetischen und disjunktiven
junktiven Vernunftschlüsse transzendental zu begrün- Schlüsse finden). [1] Später beschreibt er auch das dia-
den sucht. [22] lektische Verhältnis, in dem die drei ‹Reflexionsschlüs-
Anmerkungen:
se› zueinander stehen. [2]
1 J. Locke: An Essay Concerning Human Understanding (1690), Im Standardlehrbuch der klassischen Syllogistik von
ed. P.H. Nidditch (Oxford 1975) IV, 17, 4–8, 470ff., hier 17, 6, 679; R. Whately (1826) findet man noch die ganze Lehre
K. Petrus: Genese und Analyse. Logik, Rhet. und Hermeneutik vom S. mit philosophischer Präzision auseinanderge-
im 17. und 18. Jh. (1997) 19f. – 2 Locke [1] 17, 4, 671. – 3 C. Tho- setzt. [3] Whately sieht im S. allerdings keine spezifische
masius: Auszübung der Vernunfft=Lehre (1691; ND 1968) 5, 29, Art von Argument, sondern lediglich eine besondere
279f.; Petrus [1] 20.30–39. – 4 E.W. v. Tschirnhaus: Medicina Ausdrucksform, in der jedes Argument formuliert und
mentis sive artis inveniendi praecepta generalia (1687, ed. nova auf die jedes korrekte Argument reduziert werden
1695). – 5 Chr. Wolff: Ratio praefectionum Wolfianarum in ma-
thesin et philosophiam universam (1718) 119; ders.: Eigene Le-
kann. [4] Er dient somit als Validitätstest, wozu Whately
bensbeschreibung, hg. v. H. Wuttke (1841) 136; auch in: Dt. Lehr- sechs Regeln für gültige S. aufstellt. [5]
und Wanderjahre. Selbstschilderungen berühmter Männer und Der Schotte W. Hamilton teilt die S. ein in katego-
Frauen, II: Männer der Wiss. (1874) 290–345, hier 305f. – 6 ders.: rische (unterteilt in extensive und intensive), disjunkti-
Vernünfftige Gedancken von den Kräfften des menschlichen ve, hypothetische und hypothetisch-disjunktive. Er
Verstandes und ihrem richtigen Gebrauche in Erkenntniß der lehnt die vierte Figur ab und kritisiert die Aufteilung des
Wahrheit (1713) c. 4, § 24, in: GW, Abt. I: Dt. Schr., Bd. 1 (1965) S. in drei Sätze, versteht ihn vielmehr wie Aristoteles als
175f.; Petrus [1] 20. – 7 Wolff [6] (‹Dt. Logik›) c. 4, §§ 1–19, 162– ein Ganzes und legt das Hauptgewicht auf die Quantität
171; ders.: Philosophia rationalis sive Logica, methodo scienti-
fica pertractata (‹Lat. Logik›) (1728, 21740) §§ 332–560, in: GW,
und Qualität der syllogistischen Termini. [6] Außerdem
Abt. II: Lat. Schr., Bd. 1 (1983) 289–427; W. Risse: Die Logik der macht er sich verdient um die Rekonstruktion der ori-
Neuzeit, Bd. 2: 1640–1780 (1970) 579–659; G. Zingari: Die Phi- ginalen Enthymemkonzeption des Aristoteles. [7]
los. von Leibniz und die ‹Dt. Logik› von Chr. Wolff, in: Studia J. St. Mill unterscheidet 1843 programmatisch zwei
Leibnitiana 12 (1980) 265–278; J.I. Gómez Tutor: Die wiss. Me- Möglichkeiten, Schlüsse zu ziehen: Deduktion und In-
thode bei Christian Wolff (2004) 210–216.224–242. – 8 Wolff [7] duktion, die jedoch nicht isoliert sind, sondern ineinan-
§ 332, 289. – 9 J.C. Gottsched: Erste Gründe der gesammten dergreifen: mit einem S. allein kann kein epistemischer
Weltweisheit (1733/34; ND 1965) §§ 88–91. – 10 Gottsched Re- Fortschritt erzielt werden; doch ist jede Prämisse eines S.
dek. VI, 17–20, 120–124. – 11 A. Rüdiger: De sensu veri et falsi
(1709; 21722) 581; M. Beetz: Rhet. Logik. Prämissen der dt. Lyrik
immer das Resultat einer vorausgehenden Induktion. [8]
im Übergang vom 17. zum 18. Jh. (1980) 163–168. – 12 J.M. Wein- Optimistisch äußert sich hingegen A. Schopenhauer
rich: Erleichterte Methode die humaniora mit Nutzen zu treiben zur epistemischen Funktion des S. Man erfahre durch
(1721) 65f.; C.M. Fischbeck: Der studirenden Jugend Gott=ge- den S. durchaus Neues, «nicht schlechthin, aber doch
fällige und Frucht=bringende Ergetzlichkeiten, so in der Re- gewissermaaßen», indem man dadurch erst erkenne,
de=Kunst und Poesie zu geniessen (1724) 206ff.; Gottsched: daß man etwas bereits zuvor wußte. [9] Ferner meint
Acad. Redekunst (1759) 122. – 13 A.F. Müller: Einl. in die philos. Schopenhauer, «daß der S. im Gedankengange selbst
Wiss. (1728; 21733) 460; vgl. auch G.F. Meier: Anfangsgründe besteht, die Worte und Sätze aber, durch welche man
aller schönen Wiss., T. III (1750; 21759; ND 1976) 239f.; Petrus [1]
69–73. – 14 Rüdiger [11] 263f.; G.P. Müller: Idea eloquentiae
ihn ausdrückt, bloß die nachgebliebene Spur desselben
nov-antiquae (1717) 146; Hallbauer Orat. 305; A.F. Müller [13] bezeichnen.» [10] Seine Darstellung ist im übrigen fast
460ff.; M. Kraus: Art. ‹Enthymem›, in: HWRh, Bd. 2 (1994) scholastisch. Er opfert die vierte Figur, um gegen Kant
1197–1222, hier 1215; Petrus [1] 69–73. – 15 Petrus [1] 72. – die zweite und dritte zu retten, und benutzt veranschau-
16 Zedler, Bd. 41 (1744) 583–585; Bd. 47 (1746) 1436–1497.– lichende Kreisdiagramme. [11]

293 294
Syllogismus Syllogismus

Bedeutende Fortschritte in der Analyse und Syste- D.M. Gabbay, John Woods (Hg.): Handbook of the History
matik des S. bringt in der zweiten Hälfte des 19. Jh. v. a. of Logic, Bd. 4 (Amsterdam 2008) 75–91, bes. 83–86. –
die mathematische Logik. G. Boole entwickelt 1847 als 4 Whately [3] 11.24. – 5 ebd. B. II, c. 3, § 2; C.L. Hamblin: Falla-
cies (London 1970) 196f. – 6 W. Hamilton: Lectures on Logic
erster eine symbolische Notation, in der sowohl kate- (1836–1838), ed. H.L. Mansel and J. Veitch (Edinburgh, London
gorische als auch aussagenlogische Schlüsse (allerdings 1860) I, 275f.291–300.424–428; R. Jessop: The Logic of Sir Wil-
nicht beide zugleich) wiedergegeben werden können liam Hamilton: Tunnelling through Sand to Place the Keystone
(die sogenannte ‹Boolesche Algebra›) und begründet in the Aristotelic Arch, in: Gabbay, Woods [3] 93–162, bes. 152–
damit den ersten eigenständigen syllogistischen Kalkül 158. – 7 ebd. I, 386–394; ders.: Logic. The Recent Treatises on
nach Aristoteles und Chrysipp. [12] Ähnlich sucht später that Science, in: Edinburgh Review 56 (1833) 211–215. – 8 J.St.
G. Frege mit seiner ‹Begriffsschrift› eine Notation zu Mill: A System of Logic, Ratiocinative and Inductive (London
schaffen, in der die gesamte für logische Schlüsse rele- 1843) II, 2 u. 3, Bd. 1, 226–274; F. Wilson: The Logic of John
Stuart Mill, in: Gabbay, Woods [3] 229–281, bes. 232–250. – 9 A.
vante Struktur einer Aussage – ihr «begrifflicher Inhalt» Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung (31859) Bd.
– wiedergegeben werden kann. [13] II, Ergänzungen zum 1. B., Kap. 10, in: Werke, hg. L. Lütkehaus
Die algebraisierte Logik ergänzt zunächst nur die syl- (1988) Bd. 2, 126–138, hier 126f. – 10 ebd. 128. – 11 ebd. 134f. –
logistische Logik, beginnt sie aber danach Schritt für 12 G. Boole: The Mathematical Analysis of Logic: Being an Es-
Schritt zu verdrängen und zu ersetzen. [14] Ein Mangel say towards a Calculus of Deductive Reasoning (Cambridge
in Booles begriffslogischem System (ebenso wie in der 1847; ND Bristol 1998); ders.: An Investigation of the Laws of
klassischen Theorie des S.) ist das Fehlen der Möglich- Thought on Which are Founded the Mathematical Theories of
keit zur Darstellung von Relationen. Der erste Schritt zu Logic and Probabilities (London 1854; ND New York 1958); D.
Jacquette: Boole’s Logic, in: Gabbay, Woods [3] 331–379, bes.
einer Erweiterung in dieser Richtung ist das Verdienst 350–363; T. Hailperin: Algebraical Logic 1685–1900, in: Gabbay,
von A. De Morgan. [15] Doch ist es letztlich Ch.S. Woods [1] 323–388, hier 349–361. – 13 G. Frege: Begriffsschrift.
Peirce, dem es gelingt, die Ideen der Booleschen Alge- Eine der arithmetischen nachgebildete Formelsprache des rei-
bra erfolgreich auf Relationen und ‹Relationsbegriffe› nen Denkens (1879), in: ders.: Begriffsschrift und andere Auf-
anzuwenden und auszudehnen. [16] Epochemachend ist sätze, ed. I. Angelleli (1964); P.M. Sullivan: Frege’s Logic, in:
auch Peirces Leistung in der präzisen Bestimmung und Gabbay, Woods [1] 659–750, bes. 661–701. – 14 I. Grattan-Gu-
Systematisierung der Schlußarten Deduktion, Indukti- inness: The Mathematical Turns in Logic, in: Gabbay, Woods [1]
on und Abduktion (zunächst Hypothesis genannt) und 545–556, hier 545–549. – 15 A. De Morgan: On the Syllogism
(1864), in: ders.: On the Syllogism and Other Logical Writings,
ihrer Interdependenz auf der Grundlage der Aristoteli- ed. P. Heath (New Haven, CT 1966); Hailperin [12] 361–366;
schen Syllogistik. [17] M.E. Hobart, J.L. Richards: De Morgan’s Logic, in: Gabbay,
Auch W.S. Jevons entwickelt 1874 eine eigene ma- Woods [3] 283–329, bes. 297–318. – 16 C.S. Peirce: Description of
thematische Symbolsprache zur Wiedergabe syllogi- a Notation for the Logic of Relatives, Resulting from an Am-
stischer Formen in seinem logischen System [18] und plification of the Conceptions of Boole’s Calculus of Logic, in:
konstruiert eine mechanische Rechenmaschine, die bei Memoirs of the American Academy of Sciences 9 (1870) 317–
Eingabe syllogistischer Sätze unvereinbare Prämissen 378; ders.: On the Algebra of Logic. A Contribution to the Phi-
automatisch eliminiert. losophy of Notation, in: The American J. of Mathematics 7
(1885) 180–202; Hailperin [12] 368–370. – 17 R. Hilpinen:
Die Erweiterung des Kalküls durch Einbeziehung Peirce’s Logic, in: Gabbay, Woods [1] 611–658, hier bes. 644–653;
von Quantoren erfolgt schließlich ebenfalls durch Peirce I. Levi: Beware of Syllogism: Statistical Reasoning and Conjec-
sowie v. a. 1877 durch E. Schröder. [19] turing According to Peirce, in: C.J. Misak (Hg.): The Cambridge
Unter dem Einfluß der Arbeiten von Hamilton, Mill, Companion to Peirce (Cambridge 2004) 257–286. – 18 W.S. Je-
Boole und De Morgan führt J. Venn im Anschluß an L. vons: The Principles of Science: A Treatise on Logic and Scien-
Euler (1707–1783) die graphische Darstellung der Aus- tific Method (London 1874); B. Mosselmans, A. van Moer: Wil-
sagen der kategorialen Syllogistik weiter und konstru- liam Stanley Jevons and the Substitution of Similars, in: Gabbay,
iert entsprechende Diagramme mit sich überschneiden- Woods [3] 515–531, bes. 520f.; Hailperin [12] 367f. – 19 E. Schrö-
der: Der Operationskreis des Logikkalkuls (1877; ND 1966);
den Kreisflächen (‹Venn-Diagramme›). [20] Ähnliche Hailperin [12] 371f.; V. Peckhaus: Schröder’s Logic, in: Gabbay,
Diagramme zur Veranschaulichung von S. entwirft auch Woods [1] 557–609. – 20 J. Venn: On the Diagrammatic and Me-
L. Carroll. [21] chanical Representation of Propositions and Reasonings, in:
In der juristischen Argumentationslehre entwickelt London, Edinburgh, and Dublin Philosophical Magazine and J.
sich schließlich im Laufe des 19. Jh. im Zusammenhang of Science 10 (1880) 1–18; ders.: Symbolic Logic (London 1881);
auch mit der antiken Statuslehre, in der der S. als Ana- J. van Evra: John Venn and Logical Theory, in: Gabbay,
logieschluß eine Rolle spielt, und ihrer Wiederentdek- Woods [3] 507–513; P. Thom: Art. ‹S., Syllogistik›, in: HWPh,
kung etwa bei K.S. Zachariä [22] unter den Rechtswis- Bd. 10 (1998) 687–707, hier 701. – 21 L. Carroll: Symbolic Logic
(London 1897); A. Moktefi: L. Carroll’s Logic, in: Gabbay,
senschaftlern der ‹exegetischen Schule› die Vorstellung Woods [3] 457–505, bes. 471–488. – 22 K.S. Zachariä: Anleitung
vom ‹Rechts-› oder ‹Justizsyllogismus›, wonach der zur gerichtlichen Beredsamkeit (1810) §§ 23–38. – 23 H. Ortloff:
Richter aus einer allgemeinen Rechtsnorm und einem Die gerichtliche Redekunst (1887); vgl. M. Hoppmann: Argu-
konkreten Fall ein Urteil syllogistisch deduktiv über mentative Verteidigung. Grundlegung zu einer modernen Sta-
Modus Barbara ableite. Diese Theorie spielt auch in der tuslehre (2008) 30–45, bes. 30f.,34f.
juristischen Rhetorik des 19. Jh. eine wesentliche Rolle
(bes. H. Ortloff). [23] Literaturhinweise:
J. Novak: Some Recent Work on the Assertoric Syllogistic, in:
Notre Dame J. of Formal Logic 21 (1980) 229–242. – J. van Evra:
Anmerkungen:
The Development of Logic as Reflected in the Fate of the Syl-
1 G.W.F. Hegel: Wiss. der Logik (1812–1816) II. T., 1. Abschn.,
logism 1600–1900, in: History and Philosophy of Logic 21 (2000)
3. Kap.: Der Schluß; J.W. Burbidge: Hegel’s Logic, in: D.M.
115–134.
Gabbay, J. Woods (Hg.): Handbook of the History of Logic,
Bd. 3 (Amsterdam 2004) 131–175, hier 151–156. – 2 Hegel: En-
zyklop. der philos. Wiss. im Grundrisse (1830) T. 3: Die Philos. VII. 20./21. Jh. Eine wichtige Rolle spielt im 20. Jh. ne-
des Geistes, § 190, in: Werke, hg. E. Moldenhauer, K.M. Michel, ben der Fortwirkung der mathematischen Logik die
Bd. 10 (1986) 341. – 3 R. Whately: Elements of Logic (London Wiederentdeckung und formale Rekonstruktion der
1826); J. van Evra: Richard Whately and Logical Theory, in: Besonderheiten der originalen Aristotelischen Syllogi-

295 296
Syllogismus Symbol, Symbolismus

stik (die in älteren Darstellungen meist einfach mit der on System, in: ders. (Hg.): Ancient Logic and its Modern Inter-
historisch herausgebildeten sogenannten ‹traditionel- pretations (Dordrecht 1974) bes. 85–132. – 7 T.J. Smiley: What
len› Syllogistik gleichgesetzt wurde). Am Beginn steht Is a Syllogism?, in: J. of Philosophical Logic 2 (1973) 136–154. –
8 P. Thom: The Syllogism (1981). – 9 A. Becker: Die Aristoteli-
die Arbeit des polnischen Logikers J. Łukasiewicz, der sche Theorie der Möglichkeitsschlüsse (1933). – 10 S. McCall:
die Aristotelische Syllogistik mit Mitteln der Prädika- Aristotle’s Modal Syllogisms (Amsterdam 1963). – 11 J. van Ri-
tenlogik zu formalisieren und aus einem System von jen, Aspects of Aristotle’s Logic of Modalities (Dordrecht
Grundaxiomen abzuleiten sucht. [1] In eine ähnliche 1989). – 12 F. Johnson: Models for Modal Syllogisms, in: Notre
Richtung geht I.M. Bocheński. [2] Kritik an Łukasie- Dame J. of Formal Logic 30 (1989) 271–284. – 13 F. Buddensiek:
wiczs Entwurf kommt dagegen von A. Prior. [3] Eine Die Modallogik des Aristoteles in den ‹Analytica Priora› A
andere Rekonstruktion auf der Grundlage der ‹opera- (1994). – 14 U. Nortmann: Modale Syllogismen, mögliche Wel-
tiven Logik› von P. Lorenzen gibt K. Ebbinghaus. [4] ten, Essentialismus: Eine Analyse der aristotelischen Modallo-
gik (1996). – 15 C. Perelman, L. Olbrechts-Tyteca: Traité de l’ar-
Als Theorie zweistelliger Relationen zwischen Begrif- gumentation. La nouvelle rhétorique (Paris 1958; ND Brüssel
fen sowie des relativen Produktes solcher Relationen 1970) bes. 36.113.152.158.309f. – 16 S. Toulmin: The Uses of
deutet G. Patzig den Aristotelischen Entwurf. [5] J. Argument (Cambridge 1958; 22003) bes. 94–145. – 17 Perel-
Corcoran wiederum versucht die Aristotelische Syllo- man, Olbrechts-Tyteca [15] 259–350; Toulmin [16] 109–111.131–
gistik nicht über die Prädikatenlogik, sondern als eigen- 134.139–141. – 18 C.L. Hamblin: Fallacies (London 1970) 190–
ständigen ‹Kalkül des natürlichen Schließens› zu ver- 223. – 19 Th. Viehweg: Topik und Jurisprudenz (1953; 51974). –
stehen. [6] Zu ähnlichen Ergebnissen kommt unabhän- 20 R. Alexy: Theorie der juristischen Argumentation (1978)
gig T.J. Smiley [7], weiterentwickelt dann von P. bes. 273–283; F. Haft: Juristische Rhet. (1978) bes. 62f., 75–81;
W. Gast: Jurist. Rhet. Auslegung – Begründung – Subsumtion
Thom. [8] Entwürfe zur Rekonstruktion der Aristoteli- (1988); K. Larenz: Methodenlehre der Rechtswiss. (61991); vgl.
schen Modalsyllogistik werden u. a. vorgelegt von A. U. Klug: Juristische Logik (31966); K. Engisch: Logische Stud.
Becker [9], S. McCall [10], J. van Rijen [11], F. John- zur Gesetzesanwendung (21960); J. Wróblewski: Legal Syllo-
son [12], F. Buddensiek [13] und U. Nortmann. [14] gism and the Rationality of Judicial Decision, in: Rechtstheorie
Grundsätzliche Kritik an der Syllogistik als Argu- 5 (1974) 33–45; M. Hoppmann: Argumentative Verteidigung.
mentationsmethode im alltäglichen Gespräch kommt Grundlegung zu einer modernen Statuslehre (2008) 30–45. –
um die Jahrhundertmitte etwa gleichzeitig aus zwei 21 N. MacCormick: Legal Reasoning and Legal Theory (Oxford
Richtungen: C. Perelman und L. Olbrechts-Tyteca 1978); ders.: Rhet. and the Rule of Law: A Theory of Legal
Reasoning (Oxford 2005) bes. 32–48.52f.; J. Stelmach, B. Bro-
lehnen die Rückführbarkeit eines Arguments auf eine żek: Methods of Legal Reasoning (Amsterdam 2006) bes. 17–
syllogistische Struktur ab und setzen dafür lieber auf 67.130–165; vgl. C. Perelman: Logique juridique: Nouvelle
eine große Zahl von topischen Argumentationssche- rhétorique (Paris 1979); G. Sartor: Syllogism and Defeasibility:
mata. [15] Auch S. Toulmin entwickelt seine Argumen- A Comment on Neil MacCormick’s ‹Rhetoric and the Rule of
tationstheorie dezidiert gegen die Syllogistik der Ari- Law› (Badia Fiesolana 2006).
stotelischen ‹Analytiken› und entwirft sein eigenes
Strukturmodell eines Arguments aus ‹data›, ‹warrant› Literaturhinweise:
J.E.T. Wildschrey: Die Grundlagen einer vollständigen Syllo-
und ‹claim›, das allerdings Ähnlichkeiten zu Konzeptio- gistik (1907, ND 1980). – O. Bird: Syllogistic and Its Extensions
nen des Enthymems aufweist. [16] Beide Ansätze spre- (Englewood Cliffs 1964). – N. Öffenberger: Zur modernen Deu-
chen aber u. a. von «quasi-logischen» bzw. «quasi-syllo- tung der aristotelischen Syllogistik, in: AGPh 53 (1971) 75–92. –
gistischen» Argumenten. [17] Entsprechend wird auch J. Novak: Some Recent Work on the Assertoric Syllogistic, in:
in den bedeutenden Schulen der zeitgenössischen Ar- Notre Dame J. of Formal Logic 21 (1980) 229–242. – G. Wolters:
gumentationstheorie, der hauptsächlich in Kanada be- Art. ‹Syllogistik›, in: EPW, Bd. 4 (1996) 156–158.
heimateten ‹Informal Logic› und der in Amsterdam an- M. Kraus
sässigen ‹Pragmadialektischen Schule›, die Auseinan-
dersetzung mit syllogistischen Argumentationsmustern ^ Argument ^ Argumentatio ^ Argumentation ^ Beweis,
Beweismittel ^ Collectio ^ Conclusio ^ Enthymem ^
intensiv geführt, wobei freilich v. a. im Bereich der ‹In- Epicheirem ^ Folgerung ^ Induktion/Deduktion ^ Logik ^
formal Logic› der Anschluß an die klassische Syllogistik Ratiocinatio ^ Schluß ^ Sorites ^ Statuslehre ^ Topik ^
oft noch durchaus eng ist, was u. a. an der Analyse der Wahrscheinlichkeit, Wahrheit
‹formal fallacies› durch C. Hamblin deutlich wird. [18]
Auch Vertreter der Rhetorik sind an dieser Diskussion
wesentlich beteiligt. Symbol (griech. syÂmbolon, sýmbolon; lat. symbolum; dt.
Ansätze zu einer Abkehr von syllogistischer Argu- Sinnbild, Zusammengefügtes, (Kenn-)Zeichen; engl.
mentation und neuen Hinwendung zur Topik gibt es symbol; frz. symbole; ital. simbolo)
schließlich auch im Bereich der Jurisprudenz (Th. Vieh- Symbolismus (engl. symbolism; frz. symbolisme; ital.
weg). [19] Im Kontrast dazu gibt es allerdings gerade auf simbolismo)
dem Felde der juristischen Argumentation auch noch A.I. Def. – II. Symbol und Rhetorik. – III. Symbol, Literatur
immer eine starke Tradition des ‹Justizsyllogismus›, und und Rhetorik. – B. Geschichte: I. Antike und Mittelalter. – II.
zwar sowohl im deutschsprachigen (R. Alexy, F. Haft, Renaissance, Barock, Aufklärung. – III. 19. Jh.; Symbolismus. –
W. Gast, K. Larenz) [20] als auch im angelsächsischen IV. 20., 21. Jh. – C. Bildende Kunst. – I. Symbolbegriff und bild-
Bereich (N. MacCormick, J. Stelmach). [21] liche Darstellung. – II. Symbolbegriff und Symbolismus. – III.
Symbolismus als künstlerische Bewegung. – D. Musik. – I. All-
Anmerkungen: gemeines zur musikalischen Semiotik. – II. Spezielle Möglich-
1 J. Łukasiewicz: Aristotle’s Syllogistic from the Standpoint of keiten musikalischer Symbolgebung. – III. Musikalische Rhe-
Modern Formal Logic (Oxford 1951, 21957). – 2 I.M. Bocheński: torik und Semantisierung. – IV. Geschichtlicher Überblick.
On the Categorical Syllogism, in: A. Menne (Hg.): Logicophi-
losophical Studies (Dordrecht 1962) 15–39. – 3 A. Prior: Łuka-
A. I. Definitorisches. Das Symbol ist ein konkretes
siewicz’s Symbolic Logic, in: The Australasian J. of Philosophy Zeichen (Gegenstand, Darstellung, Handlung, visuelles,
(1952) 33–46. – 4 K. Ebbinghaus: Ein formales Modell der Syl- akustisches Signal) mit weisendem Charakter auf einen
logistik des Aristoteles (1964). – 5 G. Patzig: Die Aristotelische abwesend bleibenden, tieferen Sinngehalt, den es immer
Syllogistik (1969). – 6 J. Corcoran: Aristotle’s Natural Deducti- neu zu sichern gilt (z.B. das Kreuz für christliche Glau-

297 298
Symbol, Symbolismus Symbol, Symbolismus

bensinhalte). [1] Es steht in einer natürlichen, «dynami- stens durch die emotionale Aufladung der Instinkte und
schen und notwendigen Beziehung mit seinem Bezeich- zweitens dadurch, daß er durch seine Darstellung der
neten» [2]. besonderen Instinkte, die er ausdrückt, für die Vernunft
Das von dem Verb symbaÂllein, symbállein, sammeln eine Ausgangsbasis liefert.» [7] Zum Aufrechterhalten
abgeleitete griechische Substantiv syÂmbolon, sýmbo- symbolischer Kodes gehöre aber auch die furchtlose Be-
lon verweist etymologisch auf Bedeutungen zwischen- reitschaft zu ihrer Revision. [8] In diesem Sinne bezeich-
menschlicher Verabredung (z.B. Vertrag, Ausweis, Pa- net N. Elias das menschliche Wissen schlechthin als
role). Es geht zurück auf die Praxis geteilter Erken- «im Fluß befindliche Symbolmengen.» [9] Dem Her-
nungsmarken (z.B. zwei Ringhälften), die zwei Personen meneutiker P. Ricœur dient diese Dialektik von fiktiver
im Falle der Trennung ihrer Zugehörigkeit vergewissert Distanzierung und ereignishafter Neupräsentation als
und so tendenziell ein Moment des Geheimnisvollen und Basis für seinen Textbegriff, den er allerdings als meta-
Rätselhaften bis Sakralen mit sich führt. [3] phorisch bezeichnet. Interpretieren ist ihm so grundsätz-
Das Symbol unterscheidet sich von Allegorie und lich die Befindlichkeit einer kognitiven wie emotionalen
Sinnbild, die in umgekehrter Einstellung eine spezifi- Aneignung von Welt, die erst in der Mediation durch
sche abstrakte Eigenschaft bildlich darstellen (etwa die Texte entstehe. [10]
Gerechtigkeit als Waage der Justitia). Das Emblem wie- Das aktuelle Symbolverständnis rekurriert v. a. auf
derum weist im Unterschied zum Symbol eine plurime- den wirkungsrhetorischen Bezug von Ethos und Pathos
diale Form aus Motto, Bild und erläuternder Unter- und situiert das Symbol an der wichtigen Schnittstelle
schrift auf. zwischen sozialer Wertesicherung (ē´thos) und affektiver
Symbole stellen dagegen auf induktive Weise einen Abweichung (páthos), zwischen rationaler und emotio-
direkten, analogen Bezug zwischen dem sinnlich Erfahr- naler Weltsicht. Erst die spontane wie zugleich distan-
baren und seiner intersubjektiv geteilten Bedeutung zierte Neubegegnung mit symbolischen Zeichen von
her. Damit verweisen sie im sozialen und kulturellen Generation zu Generation sichert und modifiziert deren
Kontext auf einen Rahmen ethischer Werte, grundle- Bedeutungen: «Entgegen der Tradition des Cogito, ent-
gender Überzeugungen, gemeinschaftlicher Verabre- gegen auch der Anmaßung des Subjektes, sich unmit-
dungen oder religiöser Glaubensinhalte. Symbolisches telbar intuitiv selbst zu erkennen, muß man sagen, daß
Verstehen erfordert dabei aber stets eine interpretative wir uns erst über den großen Umweg der Zeichen in un-
Deutung der zeichenhaften Komponente. Der Symbo- serem Menschsein erkennen, wie sie in den Werken der
lisierungsprozess erscheint so generell als eine mehr Kultur gespeichert sind.» [11]
oder weniger offene, kommunikative Vermittlungsin- Symbolisch geformte Wertesysteme sind auch aus
stanz ordnender Welterschließung. ‘fundamentalrhetorischer’ [12] Sicht, die das «Phäno-
Symbol und Zeichen. Im Bereich der Zeichenlehre ist men des Rhetorischen in lebensweltlicher Öffentlich-
die konkrete Charakterisierung und Ausdifferenzierung keit» [13] zum Gegenstand hat, allen Produktionsstadi-
des Symbolischen wichtig, da es hier leicht zu Verwechs- en sprachlicher Diskurse inhärent. Sie bilden sozusagen
lungen kommt. So ist das Symbol im Gegensatz zum her- die implizite Basis gemeinschaftlicher Überzeugungen
kömmlichen Zeichen nicht arbiträr, sondern stets moti- für das hierauf aufbauende, parteiliche Ausloten singu-
viert und verweist stricto sensu auch nicht – wie etwa lärer Übereinkünfte. Für P.L. Oesterreich schafft ge-
Verkehrszeichen – allegorisch auf einen bestimmten rade die Aufstellung der Beredsamkeit zwischen den
Sinn oder eine konkrete Handlungsaufforderung. Von Polen von individueller, alltäglicher und universaler
der Ikone unterscheidet es sich, weil diese eine konkrete Sinnebene «die intersubjektiven Verbindlichkeiten, auf-
Ähnlichkeit zwischen Zeichen und Bezeichnetem vor- grund derer gemeinschaftliches Handeln in der jeweili-
aussetzt, vom Indiz, weil dieses eine Gemeinsamkeit auf gen geschichtlichen Lebenswelt ermöglicht wird.» [14]
gleicher Sinnstufe anzeigt. Das Symbol kann aufgrund Eine Durchsicht rhetorischer Systematik scheint
seines motivierten Bezuges zum Signifikat ebenfalls in Anbetracht dieser Befunde lohnend zu sein. Die
nicht mit strukturalistischen und poststrukturalistischen Wichtigkeit des Symbols für alle Bereiche von Theorie
Theorien der ‘referenzlosen Signifikanten’ erfaßt wer- und Praxis der Rhetorik läßt sich in der ars rhetorica
den, wie sie in der Nachfolge F. de Saussures entwickelt problemlos aufweisen. Für die Erkennung des Rede-
wurden. gegenstandes (inventio) findet sich die bei Oesterreich
II. Symbol und Rhetorik. Das Symbol ist im Allgemei- genannte duale Kommunikationsbasis im Akt des Aus-
nen Gegenstand der Anthropologie, semiotischer, her- lotens der Redeaussage zwischen individuellem und
meneutischer, auch psychoanalytischer Forschung und universellem Aspekt. [15] Der zu verhandelnde Sach-
nicht des Lehrfaches Rhetorik, auch wenn es in der hi- verhalt wird hier symbolisch eingelassen in ein offenes,
storischen Diskussion immer wieder Vergleiche mit gleichwohl aber nicht beliebiges Argumentationsfeld,
Tropen und Gedankenfiguren wie Metapher, Allegorie, in dessen Grenzen eine intersubjektive Zustimmung zu
Metonymie, Synekdoche oder Hypotypose gibt [4]. So erwarten ist.
beschreibt G. Kurz symbolische Handlungen als «Her- Insbesondere aber der Bereich der kunsthaften Re-
stellung von analogischen und synekdochischen Bezie- degestaltung (ars) stellt mit den Topoi bzw. Gemein-
hungen. Etwas wird ein Symbol, weil es in Analogie zu plätzen (loci communes) ein argumentatives Netzwerk
oder als Teil von einem Ganzen aufgefaßt wird.» [5] In bereit, das in hohem Maße symbolisch und ethisch vor-
seiner Bindung an pragmatische Erscheinungen und geprägte Sinngehalte des öffentlichen Lebens einer Kul-
Zeichen erscheint das Symbol darüber hinaus als «Text- tur (Familie, Vaterland, Gerechtigkeit, Glaubenssätze
element, das zugleich eine indizierende und eine meta- usw.) verfügbar macht. [16] Das Erzählen (narratio) [17]
phorische Bedeutung hat.» [6] eines Sachverhaltes dient also im Sinne einer fiktiven
Für A.N. Whitehead eignet der ‘kulturellen Symbo- Ausgestaltung (mýthos) zur parteilichen Explikation
lisierung’ der Lernprozess eines ‘Wissens durch Be- symbolischer Grundhaltungen. Die narratio stützt sich
kanntschaft’ und durch emotionalen Transfer. So be- dabei über die Topoi hinaus auf exemplarische Verwei-
wahre der symbolische Ausdruck «Gesellschaften er- se (exempla) [18] sowie auf die hohe Überzeugungskraft

299 300
Symbol, Symbolismus Symbol, Symbolismus

der signa, d. h. der «sinnlich wahrnehmbaren Zei- gen mit der Metapher, sein Aspekt singulärer Bezeich-
chen» [19] und Indizien. Somit sind es gerade symboli- nung zu interpretativen Überschneidungen mit Met-
sche Elemente, die das Erzählte als überzeugend er- onymie und Synekdoche. Vor allem aber gibt es auf-
scheinen lassen. grund des symbolischen Merkmales der Bezeichnung
Der Bereich der Anordnung des Stoffes (dispositio) von etwas, was nicht selbst in Erscheinung tritt, immer
belegt das Bemühen um die Übersetzung symbolisch an- wieder Gleichsetzungen des Symbols mit der Allegorie.
gedeuteter Werte, deren Vorrangstellung sich im Primat Allerdings bleibt der allegorische Begriff ganz im Be-
von natura hominis und ingenium gegenüber dem Zei- reich zeichenhafter Benennung und Ausdehnung einer
chen [20] anzeigt, in ein argumentatives Verknüpfungs- abstrakten Bedeutung, wohingegen das Symbol seine
system menschlicher Vernunft. Die ‘vertikale’, tenden- zeichenhafte Form nutzt, um direkt und mit der Geste
ziell metaphysische bzw. abstrakte Verankerung des grundlegender Evidenz auf einen ihm selbst bereits in-
symbolischen Wissens gelangt so im Zuge ihrer Anord- newohnenden Sinngehalt zu verweisen. [29]
nung auf die ‘horizontale’ Ebene diskursiver Auslegung, Die klassische Gedächtnislehre (memoria) belegt,
Anschauung und Komplexion. daß auch dem memorialen Handeln ein hohes Maß an
Im Kern verfolgt die sprachliche Ausschmückung Symbolizität zueigen ist. Insbesondere das in der Antike
der Rede (elocutio) das Prinzip einer «Einheit von Den- entwickelte System der prägnanten Vorstellungszeichen
ken und Sprechen» [21]. Dementsprechend formuliert und Merkbilder (imagines) [30] zum Erinnern selbst
die Elokution das fundamentale symbolische Ziel der komplexer Sinnzusammenhänge läßt das bewußte Ge-
Verbindung der beiden getrennten Hälften von ‘Sache’ dächtnistraining und seine Ausübung als symbolischen
und ‘Wort’ in der res-verba-Lehre [22]. Das Vertrauen in Akt erscheinen. So konnte ein Redeinhalt nur auswen-
die Einheit von Sache und Wort findet sich in Texten dig gelernt werden, wenn er dem Verstand des Redners
von Mystik und Romantik, aber auch in der klassizisti- wie ein ‘symbolischer Raum’ vor Augen trat. [31]
schen Haltung, vom griechischen Attizismus über die Als letztes Produktionsstadium macht sich auch der
christliche Beredsamkeit bis hin zum literarischen Rea- Redevortrag (actio) die symbolische Überredungskraft
lismus der europäischen Moderne. Das aptum-Gebot, zueigen, indem er die Rede mit einer Vielfalt an ver-
d. h. die Anpassung des Redners an die öffentliche Zu- stärkenden Zeichensystemen (Gestik, Mimik, Stimme)
stimmung sowie die hiermit eng verknüpfte Forderung unterlegt und kombiniert. Dabei zielt gerade der Vor-
nach verständlicher Redeweise (latinitas, claritas, per- trag auf Affektlagen von der praktisch-moralischen Ein-
spicuitas) [23] tragen dieser Tendenz Rechnung. fühlung und Akzeptanz (ē´thos) bis hin zu leidenschaft-
Andererseits ließ der Umstand der zeichenhaften licher Parteinahme (páthos) [32]. Auf der Theaterbühne
Offenheit sprachlicher Formgebung die Elokution stets gelangen diese plurimedialen Darstellungstechniken
als schwierigsten Produktionsbereich erscheinen. Von zur vollen Entfaltung.
Platons Kritik am sprachlichen Schattenbild (eiÍdvlon, III. Symbol, Literatur und Rhetorik. Von zentraler Be-
eı́dōlon) [24] bis zu Derridas Philosophie der Diffe- deutung ist das Symbol bei der Herausbildung der drei
renz [25] sehen Skeptiker der res-verba-Kongruenz in literarischen Grundgattungen Lyrik, Epos und Drama.
dem Glauben an die Analogie den trügerischen Quell- So ist die eminente Wirkungsmacht des Gesanges in der
grund für symbolische Ungenauigkeit und die prinzipi- antiken Lyrik geradezu zum Mythos erhoben worden.
elle Fälschungsneigung verbaler Diskurse. Die Verführungskunst der Stimme des Orpheus [33],
Der mit diesen beiden Grundhaltungen angedeutete das Klagelied der Sappho sowie im Mittelalter religiöse
Konflikt zwischen sprachlichem Ordnungswillen und Gesangsrituale, aber auch das Minnelied als amouröse
Sprachskepsis wird in der Elokution seit jeher im Span- Geste männlichen Werbens: die Poesie sucht grundsätz-
nungsfeld des Auslotens der Rede zwischen Klarheit lich eine plurimediale symbolische Anbindung des lyri-
und Dunkelheit (perspicuitas ) obscuritas) [26] ausge- schen Ichs an die universelle Wahrheit. Bausteine wie
tragen. So findet sich einerseits die Verortung symboli- Strophe, Reim, Rhythmus, Metaphorik oder das bei R.
scher Welterfahrung an dem Pol eines ‘attischen’, später Jakobson beschriebene Merkmal der ‘Äquivalenz’ als
klassizistischen und sogar realistischen Vertrauens in syntagmatisches Prinzip (in Abgrenzung vom ‘Konti-
die diskursive Analogie zu einem spezifischen Sinnge- guitätsprinzip’ als Syntagma der Prosa) [34], belegen für
halt. Daneben existiert seit jeher gleichberechtigt die die Lyrik die hohe Bedeutung symbolisch induktiver
‘asianische’, nominalistische, manieristische und später Zeichensprache.
strukturalistische Verlagerung des Interesses auf die Das Epos, dem in der Nachfolge von Homer und Ver-
Form des ‹Signifikanten›, der auf den verborgenen Sinn gil bis in das 16. Jh. hinein eine eminente Bedeutung im
nur repräsentativ anzuspielen vermag. Das hier ange- literarischen System zukam, weist eine hohe symboli-
deutete diskursive Spannungsfeld macht seit jeher die sche Dichte der narrativen Handlung auf. So fundiert
Faszination philosophischer wie literarischer Rede aus. das Symbol nicht nur Titel und Thematik, etwa im Hel-
Es ist ebenfalls ablesbar an der traditionellen ‘Dreistil- den- oder Rosenroman. Insbesondere die Abenteuer
lehre’ [27], wo sich zwischen der schlichten Stilart des der Protagonisten werden erst deutbar an den symbo-
genus subtile und dem pathetisch-erhabenen Sprechen lisch topisierten Marksteinen ihrer Reisewege und per-
des genus grande die beiden Symbolkonstituenten von sönlichen Begegnungen. So symbolisiert etwa die Weg-
konkretem Zeichen einerseits und hinter der Form ver- scheide einen zu erwartenden, neuen Lebensabschnitt
borgener Bedeutung andererseits wieder finden. oder ein überraschendes Ereignis, Brücken indizieren
Auch dem Bereich der Figurenlehre liegt eine sym- Begegnungen, Wälder Schutzsuche, aber auch Frevel-
bolische Einstellung zugrunde. Die Wiederholung (re- taten: die epische Landschaft ist durch und durch sym-
petitio) als eine ethisch rationale Wertestabilisierung – bolisch. [35]
etwa praktiziert in Ritualen – wie antithetische Figuren In der ‹Poetik› des Aristoteles wird das Handeln
zum Ausdruck von Emotionen sind so zwei zentrale (praÂgmata, prágmata) selbst zum symbolischen Akt des
strukturelle Merkmale des Symbols. [28] Jedoch führt Dramas. Die Bestimmung des Menschen, sein Glück
der bildhafte Charakter des Symbols zu Verwechslun- und Unglück seien erst im Handeln beschlossen [36],

301 302
Symbol, Symbolismus Symbol, Symbolismus

nicht bereits in charakterlicher Beschaffenheit. Deshalb Vorstellungsbilder wie das von der Amme im ‹Timaios›,
weise einzig mimetisches Agieren zum Allgemeinen der die auf neutrale Weise das ‘Werdende’ als ein ‘Abbild’
menschlichen Bestimmung, das heißt auf das, «was als des ‘Urbildes’ [46] aufnimmt, oder das vom Eros des
Wahrscheinliches oder Notwendiges möglich ist» [37]. ‹Gastmahls› als Verbindung von irdischem Mangel mit
Das Erkennen (aÆnagnvÂrisiw, anagnō´risis) der dramati- dem Reichtum des Seins [47] zeigen Platon jedoch auch
schen Peripetien als Umschwung der Handlung in ihr als Vertreter der Auflösung symbolischer Differenz.
Gegenteil (zum Guten=Komödie, zum Schlechten= Das berühmte Höhlengleichnis [48] wie auch die Praxis
Tragödie) erzeuge letztlich im Zuschauer ein punktuel- des ironischen sokratischen Dialoges deuten eine solche
les, aber gleichwohl universales Wissen, das er in der af- Überwindung ontologischer Differenz von ideeller und
fektiven Stimmung von Furcht, Mitleid oder Lachen zur diskursiver Seite zugleich an. Die Physik des Aristoteles
Korrektur (kaÂuarsiw, kátharsis) seiner eigenen Lebens- beschreibt wiederum ‹Materie› plus ‹Form› als verläßli-
gestaltung verwenden solle. Komödie und Tragödie sie- ches Äquivalent der ‹Substanz› [49] und hat einen wich-
deln sich dabei an je einem Pol der symbolischen Klam- tigen Anteil an der philosophischen ‹Überwindung› des
mer an. Die komische Handlung führt in der letzten Symbols bei der (natur)wissenschaftlichen Bestimmung
Szene zur weltlich konkreten ‘Verbindung’ dessen, was der Erscheinungen.
zusammengehört (Eheschließung der Protagonisten). Augustinus gelingt in ‹De doctrina christiana› der
Die tragische Handlung endet durch den Tod des Hel- Brückenschlag zwischen antiker Philosophie und christ-
den in der ‘Trennung’, in der schmerzhaften Erfahrung, licher Lehre. Die symbolische Klammer überträgt er da-
daß menschliches Tun als symbolischer Akt nie univer- bei in ein System christlicher Ethik, wenn er vom ‹Ge-
seller Gesetzmäßigkeit entspricht, sondern dieser auf- brauch› des Weltlichen (Sachen und Zeichen) zum
grund der irdischen Fehlbarkeit latent widerspricht. Zwecke des ‹Genusses› Gottes spricht. [50] Die symbo-
B. Geschichte: I. Antike und Mittelalter. Offene Ver- lische Kraft liege hier im Verweischarakter des sprach-
weisstruktur und affektives Potenzial machen das Sym- lichen Zeichens auf die göttliche Wahrheit, das heißt in
bol seit jeher dem Philosophen suspekt. Das Symbol der Überwindung eines «gewissen Widerspruches der
kann von philosophischer Warte also bestenfalls Aus- Worte» [51] (das Ausgesprochene ) die unaussprechli-
gangspunkt bei der Suche nach wahrer Erkenntnis sein, che Wahrheit Gottes; das Fleisch gewordene Wort )
was P. Ricœur zu der These führt: «Das Symbol gibt zu Gottes Wahrheit usw.). Symbolisches Handeln folgt so
denken auf.» [38] bei Augustinus dem Ziel der Erlangung des ewigen Le-
Spuren symbolischer Bezüge von konkretem Zeichen bens. Nur auf der Basis des Glaubens an ein stets gege-
und allgemeinem Sinn finden sich bereits bei den Vor- benes, gleichnishaft-symbolisches Verstehen der kon-
sokratikern. So faßt Anaximander den dualen symbo- kreten Dinge vermag er die Beredsamkeit als ars für die
lischen Bezug vom Unbeschränkten (aÍpeiron, aÂpeiron) christliche Lebenspraxis zu legitimieren. Solchermaßen
her, aus dem sich die Natur als ein kontrastives Gegen- symbolisch abgesichert, wird ihm die Eloquenz dann zu
bild ausscheidet. [39] Die Naturphilosophie des Py- einer ungefährlichen Redekunst, um «dasjenige vorzu-
thagoras betont dagegen den Gedanken einer geord- tragen, was wir selber schon verstanden haben», weni-
neten Ausbreitung des Urprinzips [40], der Selbstentfal- ger, um «unser eigenes Wissen dadurch zu mehren» [52].
tung des Kosmos in der Zahl: «Alles entspricht der Dem oben ausgeführten Denken im Zeichen von
Zahl.» [41] Letztlich streben die beiden genannten Po- Trennung und Konflikt steht eine Denktradition der
sitionen von entgegengesetzter Warte eine Explikation Akzentuierung des Aspektes der Begegnung von Kon-
symbolischer Unschärfe an. kretem und Allgemeinem gegenüber. Als zentrales
Dabei steht Anaximander in einer bis heute andau- Denkprinzip findet sich diese Haltung vorzugsweise in
ernden Tradition der Ausgrenzung des Symbolischen der Argumentation der Mystiker wie auch bei den Pe-
durch die Akzentuierung des Aspektes der Trennung, ripatetikern. Dionysios Areopagita etwa ermahnt zur
den er als das Gegensätzliche faßt und zum Grundprin- anagogischen Übersetzung der sinnlichen Wahrneh-
zip des Weltgeschehens erhebt. Heraklits Kosmos als mung, um in ihr das göttliche Prinzip anschaulich zu
‹Einheit der Gegensätze› [42] beegnet uns bis in Mittel- machen: «In diesem Leben aber müssen wir uns geeig-
alter und Renaissance. Diesem kontrastiven Denken neter Symbole zur Erkenntnis des Göttlichen bedienen,
steht die Tendenz zur Auflösung des symbolischen nach unseren Möglichkeiten, kraft heiliger Analogien
Spannungsfeldes bei Parmenides und in dessen Nach- [...].» [53] Die geistig kontemplative Schau des ‘Einen’
folge in Sophistik und Nominalismus zur Seite. Entge- überwindet auf diesem Wege die anthropologische Dif-
gen auch der späteren Fokussierung der Mystik auf das ferenzerfahrung und überführt sie in ein gemeinschaft-
ewige ‘Eine’ setzt Parmenides im Zeichen radikaler liches Verhältnis zu dem geheimen Sinn des ordnenden
geistiger Wende auf ein absolutes Vertrauen in die zei- Seins, hinter dem das konkret Sinnliche – und somit zu-
chenhafte Konkretion des Sinnes im Akt der Namens- letzt auch das Prinzip symbolischer Induktion – als ein
gebung: «Darum ist alles Name, was die Sterblichen an- Nicht-Wissen (agnosia) zurücktritt: «Denn ist es nicht
gesetzt haben, im Vertrauen darauf es sei wahr: wahr anzunehmen, daß Er [=Gott] Leben oder die Güte
Entstehen und Vergehen, Sein und Nichtsein [...]». [43] genannt werden könnte, als etwa Luft oder Ge-
Dieses Denken führt letztlich die Aspekte von ‘Tren- stein?» [54] Auch Plotin begreift die konkrete Erschei-
nung’ und ‘Begegnung’ des Symbolischen wieder zu- nung als ‹Spur des Verwandten›, als ein ‹Teilhaben an
sammen, jetzt im Vertrauen in die Form. der Gestalt der Idee›. [55] Hermes Trismegistos wieder-
Bei Platon und Aristoteles laufen die beiden ge- um strebt in seiner die ägyptische Toth-Lehre überlie-
nannten Traditionen antiken Denkens zusammen. Pla- fernden Mystik eine kosmologische Rückkehr zum ewi-
ton geht zunächst von der radikalen Trennung der Idee gen Leben an, in der Form der visionären Schau des
von ihrem Abbild (eiÍdvlon, eı́dōlon) aus, welches er kri- höchsten Geistes (Nous), bei der Wort und göttliche
tisch als Schattenbild auffaßt. [44] Die Trennung (xvris- Wahrheit eine Einheit bilden: «[...] das Element, das in
moÂw, chōrismós) [45] erscheint bei ihm als ein prinzipi- dir beobachtet und hört, ist das Wort (Logos) des Herrn,
eller Unterschied des Ortes zwischen Mensch und Sein. der ‘Nous’ hingegen ist der Gottesvater selbst. Und sie

303 304
Symbol, Symbolismus Symbol, Symbolismus

sind nicht voneinander getrennt, sondern ihre Verbin- vermittelt das Symbol zwischen Sinnesreiz und habi-
dung ist das Leben.» [56] tualisiertem moralischen Interesse der praktischen Ver-
II. Renaissance, Barock, Aufklärung. Rhetorik und nunft: «Das Schöne ist das Symbol des Sittlichgu-
Poetik überliefern das Symbol in Mittelalter und Re- ten.» [69]
naissance vor allem im sensus anagogicus, dem höchsten Auch De Jaucourt beschreibt das Symbol in der fran-
des vierfachen Schriftsinnes, wie er zwischen dem 4. und zösischen ‹Encyclopédie› von Diderot und D’Alembert
14. Jh. von Eusebius und Hieronymus bis Dante Ali- kritisch, und zwar als generelle bildhafte Zeichenstruk-
ghieri [57] überliefert wird. So wird zum Beispiel Jeru- tur von Rätsel, Parabel, Fabel, Allegorie und Em-
salem, historische Stadt der Juden, durch die Anagoge blem. [70] Der Rhetoriker Dumarsais reduziert das
erhoben zur «himmlischen Stadt Gottes, die unser aller Symbol formallogisch auf die pars pro toto-Funktion der
Mutter ist» [58]. Metonymie und nimmt ihm damit tendenziell seinen spe-
Nikolaus von Kues greift die antike Auffassung zifisch metaphysischen Weisungscharakter: «Der Adler
einer symbolischen ‘Trennung’ von irdischer Erschei- ist das Symbol für das Kaiserreich [...] und so steht der
nungswelt und transzendenter Ganzheit wieder auf. Er Adler für Deutschland. Er ist das Zeichen für die ge-
fundiert die coincidentia oppositorum im Zeichen der meinte Sache: er ist eine Metonymie.» [71] Interessant ist
‹kopernikanischen Wende› [59] zur Moderne christlich jedoch der durchweg angestellte Vergleich des Symbols
in dem Begriffspaar von ‹Anderes› und ‹Nicht-Ande- mit der Hieroglyphe [72] bei den französischen Sensua-
res› [60]. Als Christ vertraut Nikolaus zwar der sym- listen und Enzyklopädisten, da er neben aller Rhetorik-
bolischen Übersetzbarkeit göttlicher Wahrheit: «Die schelte sogleich wieder eine neue, jetzt ästhetisch fun-
Wahrheit in ihrer zeitlichen Erscheinung ist Symbol und dierte Übersetzung des metaphysischen Skeptizismus
Abbild der überzeitlichen Wahrheit.» [61]. Dennoch sei anzeigt. Figurative Darstellung von Ideen, gilt die Hie-
diese Wahrheit, aufgrund ihrer Befangenheit in irdi- roglyphe De Jaucourt zwar einerseits als unpräzise, früh-
scher Zeitlichkeit, ein stets problematisches Abbild des zivilisatorische Vorstufe für die indirektere Zeichen-
Abwesenden. G. Bruno stilisiert die Antithetik gar in sprache der Buchstaben. Auch der Sensualist E. de Con-
der Annahme eines unauflöslichen Kontrastes alles dillac und der den ‹Idéologues› zugehörige Destutt de
Wahrgenommenen. [62] Bei Erasmus von Rotterdam Tracy kritisieren diesen repräsentativen Charakter der
werden das Verstellungsspiel der Torheit, die Symbolik Hieroglyphen und loben dagegen die sinnlich erfahrbare
der Masken zu den eigentlich Erfolg versprechenden Stimme des Alphabets. Gerade in der graphischen Kom-
Verhaltensritualen eines erfüllten Lebens: «Was ande- ponente der Hieroglyphe sieht Diderot aber andererseits
res ist nun das Leben als ein Schauspiel, in dem jeder das Prinzip einer metaphorischen Veranschaulichung
seine Maske vor das Gesicht nimmt, auftritt und seine der Schriftlichkeit. So begreift er die Dichtung in seinem
Rolle spielt, bis der Leiter ihn abtreten heißt? [...] Alles ‹Brief über die Taubstummen› als «ein Gewebe von auf-
ist Blendwerk, aber anders läßt diese Komödie sich ein- einander gehäuften Hieroglyphen, die diesen Gedanken
mal nicht geben.» [63] malen» [73].
Der theatrum mundi-Topos führt direkt zum euro- III. 19. Jh.; Symbolismus. Im 19. Jh. entsteht die wich-
päischen Barock. Dort findet die Struktur der Gegen- tige, aber noch heute problematische Trennung zwi-
sätze ihren Ausdruck in der weltlichen Allegorese von schen naturwissenschaftlichem und geisteswissenschaft-
Graciáns ‹Criticon› [64] oder in der Übertragung des lichem Verstehen. In der Aufgabe der symbolischen
Sein-Schein-Themas auf die angemessene Lebensweise Verbundenheit von Naturhaftem und Metaphysischem
des Höflings. Zwischen den Polen von Diskretion und liegen wesentliche Problemstellungen der modernen
ostentativer Selbstdarstellung, wie sie das schillernde Kultur- und Geistesgeschichte begründet.
Gefieder des Pfaus symbolisiert, entfaltet sich eine spe- So rückt der wachsende Glaube an eine realistische
zifische Weisheit praktischen Handelns, die jedoch stets Erfassung der Welt, an die Sprache einer «vollkomme-
vom Verlust der Balance bedroht ist. [65] Die barocke nen Demystifizierung» [74] das Symbol in die Nähe von
Melancholie gipfelt in der Maxime Calderon de la Phantasterei und Irrglauben. In diesem Sinne gilt Scho-
Barcas vom Leben als Traum: «La vida es sueño.» penhauer das Symbol als «Abart der Allegorie», der
Die historische Aufklärung ist noch ganz dem sym- symbolische Zusammenhang von Zeichen und Bezeich-
bolischen Imitationsprinzip verhaftet. [66] Die analoge netem als rein «zufällig veranlasste Satzung», bei der
Struktur des Symbols führt jedoch Kant zu seiner kri- «die Darstellung gezwungener und gewaltsam herbei-
tischen Reduktion des Symbols auf die Funktion einer gezogener Deuteleien in das Alberne fällt.» [75] Bei
indirekten Darstellung der Begriffe (Hypotypose) [67]. R.M. Rilke heißt es später mit ironischer Distanz: «Und
Die Darstellung sei symbolisch, wenn «dem Begriffe, nur nichts Dunkles und Unverständliches, im Leben we-
den nur die Vernunft denken, und dem keine sinnliche nigstens. In der Kunst? Ah, das ist etwas anderes, da hat
Anschauung angemessen sein kann, eine solche unter- man ja das Symbol, nichtwahr? [...] Aber im Leben –
legt wird [...].» Symbolisches Sprechen sei somit ‘bloß Symbole, oh – lächerlich.» [76] W. Raabe spitzt diesen
analogisch’ und stimme mit dem Verstandesbegriff nur Gedanken zu, indem er der Realität, mit nun verkehrter
als Form der Reflexion, nicht aber als Anschauung und Akzentuierung, einen geradezu tautologischen Mehr-
Inhalt überein. Dabei unterscheidet Kant zwischen wert gegenüber dem Symbol einräumt: «Das ist mehr als
Symbol und Schema. Nur letzteres führe zu Urteilen ein Symbol [...] Das ist die Wirklichkeit! Das ist, wie es
des Verstandes: «Denn, zwischen einem despotischen ist [...].» [77] G. Forster wiederum stigmatisiert früh die
Staate und einer Handmühle ist zwar keine Ähnlichkeit, simplifizierende Wirkung der monumentalen bürgerli-
wohl aber zwischen der Regel, über beide und ihre Kau- chen Symbolik in der Französischen Revolution. Das
salität zu reflektieren.» [68] Gleichwohl ist ihm das Sym- Symbol wird erkannt als ein wichtiges Hilfsmittel zu jed-
bol im Bereich der Künste ein wichtiger Mittler zwi- weder politischer Machtausübung, wider die Freiheit
schen Anschauung und Verstandesbegriff. Als ästheti- des Individuums: «Aller Zwang bildet Maschinen, und
siertes Fundament des in der ‹Kritik der Urteilskraft› jedes Symbol ist der freien Moralität des Menschen
zentralen Konzeptes vom interesselosen Wohlgefallen, nachtheilig.» [78]

305 306
Symbol, Symbolismus Symbol, Symbolismus

Die starke Aufwertung des Symbols im Bereich der scheinen macht. Zugleich aber soll es nicht sich selbst als
schönen Künste erklärt sich dagegen mit der Ablösung dies konkrete einzelne Ding, sondern in sich nur eben
des Mimesiskonzeptes durch die produktiven Instanzen jene allgemeine Qualität der Bedeutung vor das Be-
von Einbildungskraft und Genie. [79] Entscheidend ist wußtsein bringen.» [92] Nur weil das höchste Ideal der
jedoch, daß sich das Individuum selbst bereits mit der subjektiven Idee sich im Symbol noch nicht hinreichend
Spätaufklärung symbolisch überhöht und das Allgemei- mitzuteilen vermag, besteht hier noch eine semantisch
ne nur noch in der Konkretion des menschlichen Er- zwar offene, aber gleichwohl unmittelbare Kongruenz
kenntnisvermögens faßbar scheint. Bereits für Diderot von Ausdruck und Bedeutung. [93] Bei Hegel zeigt sich
wird der Mensch als interprète de la nature zur höchsten so erneut und an wegweisender Stelle für die moderne
ordnungsstiftenden Instanz des Verstehens [80], und für Kunst die Faszination des Symbols als originären, ‘wil-
Herder ist «der Körper Symbol, Phänomen der Seele in den’ Ausdrucks subjektiven Geistes an.
Beziehung aufs Universum» [81]. Schiller wiederum In der Formel von der ‹transzendentalen Obdachlo-
bindet sein Konzept von der ‘beweglichen Schönheit’ an sigkeit› [94], die G. Lukács als die Grundstimmung des
die symbolische Wirkung einer persönlichen Eigen- literarischen Realismus bezeichnet, drückt sich aber nun
schaft, die auf andere Menschen übertragbar sei. In Ver- kulturhistorisch mehr und mehr eine ins 20. Jh. weisende
längerung des Rousseauschen Konzeptes vom Men- Problematik der Inkongruenz von allgemeinem und
schen als Bürger sieht Novalis den repräsentativen konkretem Pol symbolischer Sinnbildung aus. Dem rea-
Charakter des monarchischen Staates nicht mehr in der listischen Roman dient die Symbolik so ad negativum
Figur des Monarchen als ‘Statthalter Gottes auf Erden’ zur symptomatischen Darstellung degenerierter mate-
gewährleistet, sondern vielmehr in der konkreten Sym- rieller Wertesysteme in der bürgerlichen Öffentlichkeit,
bolik des sittlich guten Individuums: «Bedarf der my- und der Naturalismus erzeugt latent Stimmungsbilder
stische Souverain nicht, wie jede Idee, eines Symbols, der Lebensräume der ‘kleinen Leute’, Arbeiter und
und welches Symbol ist würdiger und passender, als ein Bauern, in denen vor allem deren entfremdete Existenz
liebenswürdiger trefflicher Mensch?» [82] sichtbar wird. Die Symbolik der bürgerlichen Öffent-
Der Ästhetisierungsprozeß der Romantik ist nur vor lichkeit wird dem modernen Intellektuellen und Künst-
diesem Hintergrund verständlich. A.W. Schlegels ler so letztlich zur tristen Ansicht einer ‘verkehrten
Gleichsetzung von ästhetisch Schönem und Symbol Welt’ [95]. K. Marx fundiert diese Position theoretisch
(«Das Schöne ist eine symbolische Darstellung des Un- und formuliert sie etwa in seinen Reflexionen über den
endlichen» [83]) ist so direkt an die produktive poetische in der bürgerlichen Gesellschaft zentralen Symbolwert
Kraft gebunden, denn «Dichten [...] ist nichts anderes als des Geldes. Sinnbild für die ‘Entfremdung’ des Men-
ein ewiges Symbolisieren» [84]. Goethes Aufwertung schen von seinen natürlichen Bedürfnissen, wird ihm das
des Symbols gegenüber der Allegorie verdankt sich Geld zur Instanz einer symbolischen Trennung: Das
eben dieser Idee. Leiste die Allegorie einzig die bildhaf- konkrete Bedürfnis verkomme ohne Geld zur bloßen
te Darstellung einer konventionellen Abstraktion, wir- Wunschvorstellung, unangemessene Ansprüche wieder-
ke das Symbol zwar indirekt, dafür aber stets natürlich. um fänden durch das Geld die Macht der Verwirkli-
Erst die ideelle Produktionsinstanz des Dichters schaffe chung, so daß individuelle und soziale Realität perver-
eine ganzheitliche Erkenntnis, denn: Die symbolisch tiert würden: «Was ich qua Mensch nicht vermag, was
dargestellten Gegenstände der Poesie «sind doch wie- also alle meine individuellen Wesenskräfte nicht ver-
derum im Tiefsten bedeutend, und das wegen des Idea- mögen, das vermag ich durch das Geld. Das Geld macht
len, das immer eine Allgemeinheit mit sich führt» [85]. also jede dieser Wesenskräfte zu etwas, was sie an sich
Schellings Definition des Schönen als «das Unendliche nicht ist, d. h. zu ihrem Gegenteil.» [96] So wird das In-
endlich dargestellt» [86] ist wiederum begründet im Ge- dividuum verzerrt und ist entweder, wie Lukács befin-
danken der Endlichkeit des Menschen selbst, der allein det, zu ‘klein’ oder zu ‘groß’ [97] für seine Lebenswelt.
das Medium für die «Einbildung des Wesens in die Eine solche negative Symbolik mündet dann leicht in
Form» [87] darzustellen vermag. Die Entfaltung der eine ironische Ansicht der Allegorien von Macht und
Idee in der Historizität des menschlichen Daseins kann Entfremdung. Konstruktivismus, Systemtheorie und
als Ausdeutung der symbolischen Klammer durch den Soziologie haben diesen Ansatz bis in die jüngste Zeit
deutschen Idealismus gedeutet werden. Hegel begreift getragen und weiter entwickelt, mit Entwürfen von der
das Symbol im Sinne einer symbolischen Kunstform als Autoreferenzialität kultureller Systeme oder der De-
Vorstufe zu klassischer und romantischer Kunst. Die er- pendenz des Schriftstellers vom literarischen Feld öf-
ste, klassische Struktur absoluter res-verba-Kongruenz fentlicher Produktionsbedingungen. [98]
im Sinne einer «Vollendung des Reichs der Schön- Die bisher skizzierte soziokulturelle Entwicklung des
heit» [88] werde in der zweiten, romantischen Kunst- 19. Jh. ist der Nährboden für den literarischen ‹Symbo-
form erhoben zur «absoluten Innerlichkeit» und «un- lismus›, der in den 80er und 90er Jahren in der franzö-
endlichen geistigen Subjektivität», deren Form nun eine sischen Dichterschule des symbolisme um J. Moréas
mannigfaltige, der äußeren Realität widerstrebende und G. Kahn einen programmatischen ästhetischen
«Selbständigkeit und Freiheit» [89] sei. Die Eigentüm- Niederschlag findet. [99] Die Sprache wird hier zu ei-
lichkeit des Symbolischen als Vorkunst bestehe nun nem unverbundenen Inventar sinnlicher bis mystischer
in seinem nicht willkürlichen, wiewohl offenen, vom Anspielungen auf eine Idee, die sich in der Welt der
subjektiven Geist noch zu formenden Zeichencharak- Erscheinungen nicht mehr kohärent, sondern einzig
ter. Dessen Merkmal der «Verwandtschaft und Ineinan- fragmentarisch zu manifestieren vermag: «Bilder von
der von Bedeutung und Gestalt» [90] assoziiert Hegel der Natur, menschliche Handlungen, alle konkreten
mit seiner Definition des Erhabenen, verstanden als Phänomene können sich selbst nicht mehr darstellen; es
ein «Hinaussein über die Bestimmtheit der Erschei- sind dies sinnliche Erscheinungen, dazu bestimmt, ihre
nung» [91]. Das Symbol ist für ihn somit genauer «ein esoterischen Affinitäten mit den ursprünglichen Ideen
Zeichen, welches in seiner Äußerlichkeit zugleich den zu repräsentieren.» [100] Im Aspekt seiner Trennung
Inhalt der Vorstellung in sich selbst befaßt, die es er- von der transzendenten Idee liegt hier der symbolische

307 308
Symbol, Symbolismus Symbol, Symbolismus

Gehalt der zumeist lyrischen symbolistischen Formen- nen «Prozess fortschreitender menschlicher Selbstbe-
sprache. Baudelaire gibt in seinem Sonett ‹Correspon- freiung» [109]. In der von S. Freud begründeten Psy-
dances› (1857) [101] der Figur der Synästhesie den Sta- choanalyse erhält das Symbol ebenfalls eine große Be-
tus eines strukturbildenden dichterischen Verfahrens. deutung. Das zeigt etwa die ‹Traumdeutung›, in der die
Die Welt der konkreten Erscheinungen wird zum Pro- Rhetorik beispielsweise bei der metaphorischen Ver-
dukt einer entregelten Phantasie der menschlichen Sin- schlüsselung verdrängter Gehalte des Unbewußten eine
ne stilisiert. Das Stiften künstlicher Korrespondenzen Rolle spielt. Auch C.G. Jungs Archetyp eignet die
der sinnlichen wie ideellen Wahrnehmung durch das Struktur symbolischer Vieldeutigkeit. Er versteht sich
lyrische Subjekt stellt deren Echtheit dabei prinzipiell als eine dynamische Struktur der Verbindung spirituel-
in Frage. Der Sinn des Dargestellten verflüchtigt sich in ler Vorstellungsbilder [110] und öffnet so die Freudsche
der Geste einer Anspielung auf dessen Aura, die W. Reduktion symbolischer Imagination auf den Bereich
Benjamin als die im industriellen Zeitalter verloren sexueller Libido. G. Bachelard entwirft eine Poetik des
gegangene, «einmalige Erscheinung einer Ferne» [102] Traumes [111], die sich als eine symbolische Ontologie
definiert. Symbolisches Tun wird so zur seriellen begreifen läßt. K. Burke sieht im ästhetischen Symbol
Reproduktion uneinlösbar gewordener menschlicher ein Mittel nicht nur zum künstlerischen Ausdruck, son-
Bedürfnisse. Deren Erfüllung scheint der jüngeren dern auch zur Evokation von Gefühlen beim Publikum.
Baudelaire-Forschung einzig noch als fingierende ‹Be- Die Kunst ist von daher ihrer Natur nach rhetorisch. Ins-
gehrungsdialektik› [103] möglich, d. h. als bildhafte Si- besondere seine Bücher ‹A Grammar of Motives›
mulation im Akt einer fetischisierten Substitution der (1945) und ‹A Rhetoric of Motives› (1950) verbinden
Erscheinungen [104]. Der Symbolismus ist somit formal die künstlerische mit sozialer Interaktion, und zwar aus
wesentlich von den rhetorischen Figuren der Allegorie dem Bestreben heraus, die Kunst in den Dienst einer
und der Ironie [105] bestimmt. Beide Figuren lenken Verbesserung des sozialen Lebens zu stellen. [112] Die
den flüchtig-modernen Blick des Stadtflaneurs Bau- Essay-Sammlung ‹Language as Symbolic Action› von
delaires. 1966 resümiert Burkes Ideenwelt noch einmal vom uni-
Im lyrischen Werk S. Mallarmés gerät die ganze versalen Aspekt des Symbolgebrauchs her.
Welt der Erscheinungen gar zu einer hermetischen Al- Zumeist wird die konstatierte Ubiquität symboli-
legorese des dichterischen Schreibaktes [106] selbst. Der scher Denk- und Handlungsprozesse jedoch negativ und
poète maudit A. Rimbaud wiederum radikalisiert 1871 reduktiv [113] aufgefaßt, gelten Sinnbilder aufgrund ih-
in seinen beiden Seherbriefen ‹Lettres du voyant› den res offenen Charakters als Einbildungen humaner An-
romantischen Topos vom Dichter-Seher, indem er das eignung von Welt. Gelenkt vom Paradigma des diskur-
Unbekannte durch eine Geste ekstatisch entregelter siven Charakters menschlichen Tuns gibt es in den
Sinneswahrnehmung und durch eine latent ironische Human- und Geisteswissenschaften eine breite Ten-
Formensprache von Fragment und Polysemie faßbar zu denz, die das Symbol einzig noch als zeichenhafte Ent-
machen vorschlägt: «[...] Zutritt zum Unbekannten er- fremdung auffaßt. J. Lacan versteht das Gebiet des
halten durch eine anhaltende, unermeßliche und durch- Symbolischen als ein institutionelles Machtsystem inter-
dachte Entregelung aller Sinne.» [107] subjektiver Beziehungen, diskursiv geprägt durch eine
IV. 20., 21. Jahrhundert. Die Kluft zwischen kulturel- bei G. Genette dargelegte, ‹restringierte› Rhetorik von
ler Verwendung und wissenschaftlicher wie künstleri- Substitutions- und Kontiguitätsbeziehungen (Synekdo-
scher Kritik des Symbols scheint im frühen 20. Jh. un- che u. Metonymie). [114] Für M. Richir, einem an Lacan
überbrückbar zu werden. Auf der einen Seite streben geschulten französischen Phänomenologen, bedeutet
die Ideologien eine sozial und politisch tragfähige Le- symbolisches Verhalten so ein Ausschalten des realen
gitimierung des bürgerlichen Subjektbegriffes an, die in Lebenshorizontes als Folge eines neurotischen Krank-
den radikalen Leitbildern vom faschistisch geprägten heitsbildes. Sehe das Individuum in der Welt «zugleich
Herrenmenschen oder aber dem sozialistischen Gegen- weniger und mehr als es erwartet» [115] und gelinge es
konzept der Herrschaft des Arbeiters kulminiert. Die nicht mehr, dieses Zuwenig an Realitätspotenzial aktiv
zeitgenössische Forschung in Natur- und Geisteswissen- zu gestalten, so setze zwischen den Polen von Realem
schaften gibt dagegen mehr und mehr Anlaß dazu, die und Irrealem das automatische Verhaltensmuster einer
Macht individuellen Erkennens, Wollens und Handelns passiven tautologischen Ausfüllung verspürter Lücken
konsequent zu desavouieren. Relativitäts- und Quan- ein. Die individuelle Handlungsebene sei somit gekenn-
tentheorie reduzieren die Hoffnung auf eine symbolisch zeichnet durch ein subtiles Ausschalten realer Gegen-
eindeutige und kohärente Ordnung der Außenwelt. wart und funktioniere als ein Automatismus des Wie-
Einsichten in die dominante Rolle des Unterbewußt- derholens nicht realisierter Wünsche und Situationen
seins bei der Prägung menschlicher Persönlichkeit oder aus der Vergangenheit. Der oft sehr konkreten Präsenz
in die Abhängigkeit individuellen Tuns von Sozialsy- solcher Individuen sei letztlich eine irreale Symptomatik
stemen unterstreichen von wissenschaftlicher Seite den zueigen, hinter der die bedrängende Macht eines entfes-
wachsenden Eindruck vom problematischen Individu- selt traumatischen Unbewußten hervorscheine; das ima-
um in den Künsten. ginäre Handlungsmuster erschöpfe sich in einer Serie
Dabei wird der allgegenwärtige Bedarf des Menschen «verfehlter Begegnungen» [116]. Auch der Struktura-
an Sinnbildern allerdings erst richtig deutlich. E. Bloch list M. Serres sieht im symbolischen Handeln das Pro-
dechiffriert die utopischen Gehalte der menschlichen blem einer Überbestimmung konkreter Details. Im Akt
Kultur gerade anhand von Symbolen, wie etwa seine der Symbolisierung «werde das Einzelne durch seman-
‹Tübinger Einleitung in die Philosophie› (2 Bde., tische Ausfüllung, durch Sinnüberfrachtung zum Mo-
1963/64) belegt. E. Cassirer begreift Kultur als dyna- dell» [117]. J. Kristeva deutet die menschliche Verwie-
misches Lebensprinzip. Menschliches Tun wird ihm zum senheit auf symbolisches Sprachhandeln in ihrer Dis-
grundlegend symbolischen Akt einer positiv verstande- kussion der platonischen chora [118] radikal als eine im
nen, weil offenen «Auseinandersetzung gegensätzlicher frühesten Kindesalter erfolgende Entfremdung vom ur-
Kräfte» [108]. Symbolisieren initiiere und sichere so ei- sprünglichen Lebensimpuls.

309 310
Symbol, Symbolismus Symbol, Symbolismus

In jüngster Zeit scheint auch die literarische und bild eines ‘diskreten Helden’ [128] im digitalen Zeitalter
künstlerische Praxis der eindeutigen Symbolkritik von werden.
Strukturalismus, Poststrukturalismus und Dekonstruk-
tion mehr und mehr Folge zu leisten. Symbolisierungen Anmerkungen:
erscheinen in literarischen Texten bestenfalls als Ober- 1 vgl. Art. ‹Symbol›, in: Brockhaus in 24 Bdn., Bd. 20 (191993)
flächenphänomene, die sogleich ironisch distanziert 517–519; Meyers Enzyklop. Lex., Bd. 23 (1988f.); G. Durand:
L’imagination symbolique (Paris 1964); R. Alleau: La science
werden. Symptomatisch für die diversen literarischen des symboles (Paris 1976). – 2 G. Kurz: Metapher, Allegorie,
wie philologischen Versuche der Verabschiedung des Symbol (1982, 52004) 81. – 3 vgl. ebd. 73. – 4 vgl. Kurz [2]; vgl. zur
Symbols als Inbegriff einer analogen bzw. dualistischen affektiven Qualität symbolischer Figuration G. Mathieu-Cas-
Rationalität ist jedoch, daß sie dabei ihrerseits, wenn tellani: La rhétorique des passions (Paris 2000) 96ff. – 5 ebd. 72. –
auch meist uneingestanden, eine eigene Symbolik 6 ebd. 81. – 7 A.N. Whitehead: Kulturelle Symbolisierung (2000)
hervorbringen. Auch sie produzieren in ihrer Tiefen- 129. – 8 vgl. ebd. 146. – 9 N. Elias: Symboltheorie (2001) 182. –
struktur die «dynamische und affektive Generalisierung 10 P. Ricœur: Du texte à l’action. Essais d’herméneutique II
eines Bildes», einen imaginär kohärenten Neuentwurf (Paris 1986) 113–131. – 11 ebd. 130 (Übers. Verf.). – 12 P.L.
Oesterreich: Fundamentalrhet. Unters. zu Person und Rede in
unserer hybriden Gegenwartskultur. Damit erfüllen sie der Öffentlichkeit (1990). – 13 ebd. 5. – 14 ebd. 6. – 15 Ueding/
die Definition, die G. Durand in Anlehnung an Goethe Steinbrink 196. – 16 vgl. ebd. 218ff. – 17 ebd. 242ff. – 18 ebd. 248.
für das Schema als ein ‹funktionelles Symbol› vor- – 19 ebd. 247. – 20 ebd. 197. – 21 ebd. 200. – 22 ebd. 199. – 23 ebd.
schlägt. [119] Sie inszenieren einen «diskursiven Pakt», 202ff. – 24 vgl. Plat. Pol. 598b; dazu E. Grassi: Die Theorie des
die neue Allianz von menschlichem Sein und Handeln, Schönen in der Antike (1980) 126f. – 25 J. Derrida: Die différ-
die Y. Labbé in der jüngsten Symbolforschung als eine ance, in: P. Engelmann (Hg.): Postmoderne und Dekonstrukti-
jeder Kultur und Epoche inhärente ‹symbolische Ver- on. Texte frz. Philos. der Gegenwart (1990) 76–113. – 26 Ueding/
knotung› bezeichnet hat. [120] Steinbrink 209. – 27 Arist. Rhet. 1404b; Cic. De or. III, 25–37
und 199; Auct. ad Her. IV, 8–11; Quint. XII, 10; Ps.-Long. Subl.
Dies gilt bereits für die (post)strukturalistischen 8, 1–4; Ueding/Steinbrink 211–214. – 28 vgl. Kurz [2] 82. – 29 vgl.
Sinnbilder wie die ‹Khora› bei J. Kristeva. J. Derrida J. Gaus: Wege, Methoden und Probleme der Symbolforschung,
greift die Diskussion um die ‹Khora› in seinem Begriff in: Symbolon NF 8 (1986) 9–34, 15f. – 30 Ueding/Steinbrink
der différAnce auf, der nicht erst durch das große ‘A’, 214f.; vgl. F.A. Yates: The Art of Memory (Chicago 1966,
2
sondern grundlegend symbolisch aufgeladen ist. Eine 1972) Kap. I, II. – 31 vgl. F.A. Yates: Gedächtnis und Erinnern
zentrale Rolle spielen dabei in Derridas Denken sinn- (31994). – 32 ebd. 215f. – 33 vgl. W. Storch (Hg.): Mythos Or-
bildlich überhöhte Begriffe wie die Schrift (l’écriture), pheus. Texte von Vergil bis I. Bachmann (1997, 21998). – 34 vgl.
die Spur (la trace), der Name (le nom) oder die Münze R. Jakobson: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921–1971 (1979)
94. – 35 vgl. E. Trachsler: Der Weg im mhd. Artusroman (1979).
(la monnaie). [121] G. Deleuze faßt die Differenz als ein – 36 Arist. Poet. 1450a 18f. – 37 ebd. 1451b. – 38 P. Ricœur: Fi-
‘reines Werden’. Die zu überwindende metaphysische nitude et culpabilité, Bd. 1: L’homme faillible (Paris 1960) 12. –
Idee erscheint ihm als ein Simulakrum, als reiner Ober- 39 J. Mansfeld (Hg.): Die Vorsokratiker, 2 Bde. (1990); Anaxi-
flächeneffekt. [122] Sie sei aus ihrer Tiefendimension mander: Bd. 1, 75. – 40 ebd. Bd. 1, 110. – 41 ebd. Bd. 1, 147. –
(Vertikalität) zu befreien und wirke dann als ein simu- 42 ebd. Bd. 1, 259–263. – 43 ebd. Bd. 1, 321. – 44 ebd. Anm. 23. –
liert horizontales Phantasma fort, begleitet u. a. von ei- 45 Platon, Phaidon 67d; vgl. Gaus [29] 18. – 46 Platon, Timaios
ner Metaphorik der Grenze und der Falte. [123] J.-F. 49a. – 47 Plat. Symp. 195a ff. – 48 Plat. Pol. 514a ff. – 49 Ari-
Lyotard [124] bedient sich wiederum einer Metapher, stoteles, De anima 412a ff. – 50 Augustinus: Die christliche Bil-
dung (De doctrina Christiana), hg. u. übers. v. K. Pollmann
wenn er seine Theorie der Umwege (Paralogie) mit dem (2002) 16f. (I,I.2.4ff.) – 51 ebd. 18f. (I,V.10f.) – 52 ebd. 99
Bild einer verästelten Wurzel, dem Rhizom, veran- (II,XLI.62.148). – 53 Dionysios Areopagita: Mystische Theol.
schaulicht. und andere Schr., übers., eingel. und kommentiert von W.
Es zeigt sich: Auch die Unordnung ist eine Ordnung, Tritsch (1956) 33. – 54 ebd. 169. – 55 Plotin: Das Schöne I, 10f.,
wo sie zum Programm wird. Auch die Diskurse der Plur- in: Ausgew. Einzelschr., hg. von R. Harder, Bd. 1 (1956) 9. –
alität, des ‘Anderen’ und der radikalen Abweichung ent- 56 Hermes Trismegistus: Poimandres, hg. von P. Scarpi, lat.-ital.
halten einen eminent symbolischen Ordnungswillen, der (Venedig 1987) 47 (Übers. Verf.). – 57 vgl. E. Garin: Gesch. und
nur vordergründig paradox und analogieresistent zu Dokumente der abendländischen Päd. (1964) Bd. 1, 257–282. –
58 J. Cassianus: Vorträge XIV, 8, in: Garin [57] I, 262, übers. von
sein scheint, dahinter jedoch die fällige Neuvermessung B. Waldenfels. – 59 vgl. H. Blumenberg: Die Legitimität der
unserer globalisierten Welt vornimmt. In der jüngsten Neuzeit (1966, 21988). – 60 N. von Kues: Vom Nichtanderen
Literaturwissenschaft belegen Symbolfiguren des ‘an- (1987). – 61 ders.: De docta ignorantia/Von dem Wissen des
dern’ weiblichen Geschlechts [125], des Kreolen [126], Nichtwissens, hg. von H.G. Senger (31999) 91. – 62 vgl. Blumen-
Migranten und Nomaden diese Tendenz und überfüh- berg [59] 639ff. – 63 Erasmus von Rotterdam: Laus stulti-
ren dabei zugleich die postmoderne Spielästhetik in eine tiae/Das Lob der Torheit, in: Ausgew. Schr., hg. von W. Welzig
‹Transkultur›, die hierzulande mit der Erinnerung an (1975) Bd. 2, 63. – 64 B. Gracián: Das Kritikon, übers. und kom-
große Figuren der deutschen Philologie auch das Poli- mentiert von H. Köhler (2001). – 65 ders.: Der kluge Weltmann
(El Discreto), hg. von S. Neumeister (1996). – 66 T. Todorov:
tische wieder erinnert. O. Ette beruft sich in seinem Plä- Symboltheorien (1995) 107–142. – 67 Kant KU § 59, 211. –
doyer für multikulturelle Vielfalt [127] zudem auf H. 68 ebd. – 69 ebd. 213. – 70 D. Diderot, Encycl. Art. ‹Symbole›,
Arendt und G. Agamben, wenn er eine neue Kultur des Bd. 32, 284–298, hier 284. – 71 Dumarsais: Traité des tropes (Pa-
Ausnahmezustandes skizziert, deren geistiges Überle- ris 1981), 17. – 72 vgl. Todorov [66] 129f. – 73 D. Diderot: Brief
ben nicht zuletzt von dem Ort der Mahnmale europäi- über den Taubstummen, in: Ästhet. Schr., hg. und übers. von F.
scher Konzentrationslager auszugehen habe. Nach dem Bassenge (1968) Bd. 1, 53. – 74 M. Foucault: Die Ordnung der
‹Verschwinden des Subjekts› im Roman der Avantgar- Dinge. Eine Archäologie der Humanwiss. (1971) 369. – 75 A.
de wie in der spätmodernen Philosophie scheint die Zeit Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, I, 3, § 50, in:
Werke in einem Band, hg. von W. Brede (1982) 314. – 76 R.M.
für die Symbolik einer neuen Epoche gekommen. Der Rilke: Ewald Tragy, in: Sämtliche Werke, hg. von E. Zinn, Bd. 4
homo symbolicus könnte dabei im Wechselspiel globa- (1961) 549. – 77 W. Raabe: Alte Nester, in: Ausgewählte Werke
ler (Über)lebensstrategien und spezifisch symbolischer Bd. 6 (1965), 164. – 78 G. Forster: Über Proselytenmacherei, in:
Tugenden – zwischen toleranter Selbstbescheidung und Werke. Sämtliche Schr., Tagebücher, Briefe, hg. von der Deut-
mutiger Selbstinszenierung – zum wegweisenden Sinn- schen Akad. der Wiss. zu Berlin, Bd. 3 (1966) 119. – 79 vgl. Todo-

311 312
Symbol, Symbolismus Symbol, Symbolismus

rov [66] 143ff. – 80 vgl. K. Semsch: Abstand von der Rhet. Struk- C. Bildende Kunst. I. Symbolbegriff und bildliche Dar-
turen und Funktionen ästhet. Distanznahme von der ars rheto- stellung. In der Kunsttheorie bezieht sich der Begriff
rica bei den frz. Enzyklopädisten (1999) 103ff. – 81 J.G. Herder: ‹Symbol› auf alle konventionellen und willkürlichen
Übers Erkennen und Empfinden in der menschlichen Seele, in:
Sämtliche Werke Bd. 8, hg. von B. Suphan (1967) 250. –
Zeichen mit abstrakter Bedeutung. [1] Die Eigenart des
82 Novalis: Glauben und Liebe, in: Schr. Die Werke F. von Har- Symbols besteht darin, das zu bezeichnen, was abwe-
denbergs, hg. von P. Kluckhohn und R. Samuel (1960–77) Bd. 2, send ist. Tatsache ist, daß ein Kunstwerk, um einen Ge-
487. – 83 A.W. Schlegel: Die Kunstlehre (1963) 82f. – 84 ebd.; genstand repräsentieren zu können, ein Symbol für ihn
vgl. Todorov [66] 195. – 85 J.W. v. Goethe: Über die Gegenstän- sein, für ihn stehen, auf ihn Bezug nehmen muß, und daß
de der Bildenden Kunst, in: Sämtliche Werke, hg. v. E. von der kein Grad von Ähnlichkeit hinreicht, um die erforder-
Hellen, Bd. 33 (1903) 94; vgl. Todorov [66] 196ff. – 86 F.W.J. liche Beziehung der Bezugnahme herzustellen. [2]
Schelling: Sämtliche Werke, hg. von K.F.A. Schelling, Bd. 3 Seinen eigentlichen Aufstieg und seine Wertschät-
(1858) 620. – 87 ebd. 162. – 88 G.W.F. Hegel: Vorles. über d.
Ästhetik, II, 3, Einl., in: Werke, hg. von E. Moldenhauer und
zung als ästhetischer Terminus erlebt das Symbol ab
K.M. Michel, Bd. 14 (1980) 127f. – 89 ebd. 129. – 90 ders. [88] I, 2, der Mitte des 18. Jh. Um 1800 wird der Begriff dem der
Einl., in: Werke, Bd. 13, 395. – 91 ebd. 394. – 92 ebd. 395. – 93 vgl. Allegorie diametral entgegengesetzt, die als Zusam-
ebd. 398. – 94 G. Lukács: Die Theorie des Romans. Ein ge- menstellung natürlicher Zeichen und Bilder mit imita-
schichtsphilos. Versuch über die Formen der großen Epik tivem Charakter und intuitiver Faßlichkeit gilt. [3] Für
(21994) 32. – 95 Marx/Engels: Über Kunst und Lit., hg. von M. Goethe muß das Symbol zwei Bedingungen erfüllen:
Lifschitz (1948) 42. – 96 ebd. 41. – 97 Lukács [94] 83ff. – 98 vgl. Anschaulichkeit und repräsentative Bedeutung. Re-
S.J. Schmidt: Texttheorie (1973); P. Bourdieu: Die Regeln der präsentation bedeutet Stellvertretung und Vergegen-
Kunst. Genese und Struktur des lit. Feldes (1999); vgl. P. de
Man: Allegorien des Lesens (1988). – 99 vgl. J. Theisen: Die
wärtigung, denn ein Besonderes vertritt ein Allgemei-
Dicht. des frz. Symbolismus (1974). – 100 J. Moréas: Manifeste nes, macht dieses vorstellbar und überschaubar. Diese
du symbolisme, in: Le Figaro (18.09.1886) Suppl. litt., 1f. symbolische Beziehung kann mit der rhetorischen Figur
(Übers. Verf.). – 101 Ch. Baudelaire: Les fleurs du mal, in: der Synekdoche erläutert werden. Gemäß rhetorischer
Œuvres complètes, hg. von C. Pichois (Paris 1975) Bd. 1, 11. – Lehre umfaßt die Synekdoche die Beziehung Teil-Gan-
102 W. Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner techni- zes, Ganzes-Teil, Art-Gattung. Die synekdotische Be-
schen Reproduzierbarkeit, in: Gesamm. Schr. (1974) I, 2, 431– ziehung ließe sich auch als eine Analogiebeziehung er-
508, 440. – 103 T. Greiner: Ideal und Ironie. Baudelaires Äs- läutern. Der klassische Symbolbegriff orientiert sich vor
thetik der modernité im Wandel vom Vers- zum Prosagedicht
(1993). – 104 vgl. G. Froidevaux: Baudelaire, représentation et
allem an der Synekdoche: ein exemplarisches Teil ver-
modernité (Paris 1989). – 105 vgl. W. Benjamin: Ch. Baudelaire. tritt das Ganze. [4] Eine solche Analogiebeziehung liegt
Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus, in: [102] 509ff.; zahlreichen Werken der bildenden Kunst zugrunde. Als
P. de Man: Allegory and irony in Baudelaire, in: Romanticism Beispiel seien die Bürger von Calais von Rodin genannt.
and Contemporary Criticism (Baltimore 1993) 101–119. – Das Werk ist ein Symbol des für die ihm übergeordnete
106 vgl. H.-J. Frey: Stud. über das Reden der Dichter. Mallarmé, Gemeinschaft geopferten Einzelnen. Hier wird jeweils
Baudelaire, Rimbaud, Hölderlin (1986). – 107 A. Rimbaud: eine beispielhafte Handlung im Sinne von Kants kate-
Lettre à P. Demeny, in: Lettres du voyant (13 et 15 mai 1871), gorischem Imperativ Symbol für ein sittlich-menschli-
krit. Ausg. von G. Schaeffer (1975) 137 (Übers. Verf.). – 108 E.
Cassirer: An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of
ches Verhalten.
Human Culture (New Haven, Conn. 21972) 223 (Übers. Verf.); II. Symbolbegriff und Symbolismus. Symbole finden
vgl. auch: F.-H. Robling: Rhet. Kulturtheorie nach E. Cassirer, sich in allen Kunstepochen. Im Symbolismus tauchen sie
in: R. Lachmann, R. Nicolosi, S. Strätling (Hg.): Rhet. als kul- jedoch plötzlich in neuen, ungewohnten Zusammenhän-
turelle Praxis (2008) 45–62. – 109 ebd. 228 (Übers. Verf.). – gen auf und lassen sich nicht mehr auf einen eindeutigen
110 vgl. C.G. Jung: Die Psychol. der Übertragung (1946); ders.: Sinngehalt festlegen. Stattdessen irritieren sie durch
Symbole der Wandlung (1952); Durand [1] 65ff. – 111 G. Ba- ihre Vieldeutigkeit. [5] Als Beispiel für den Gebrauch
chelard: La poétique de la rêverie (Paris 1968); vgl. Durand [1] traditioneller Symbole in neuem Kontext sei Böck-
72ff. – 112 vgl. dazu Th. Conley: Rhetoric in the European Tra-
dition (London 1990) 270–277. – 113 vgl. Durand [1] 42–61. –
lins ‹Selbstbildnis mit dem fiedelnden Tod› genannt
114 J. Lacan: Das Seminar (1978) I, 282; vgl. G. Genette: Die (Abb. 1). Der Maler verwendet hier herkömmliche Va-
restringierte Rhet., in: A. Haverkamp: Theorie der Metapher nitas-Symbole wie das Skelett und die einsaitige Geige.
(1996) 229–252. – 115 M. Richir: Phénoménologie et institution Im Sinne der mittelalterlichen Totentanzdarstellungen
symbolique (Grenoble 1988) 35 (Übers. Verf.). – 116 ebd. 145 wäre das Bildmotiv anekdotisch und didaktisch zu ver-
(Übers. Verf.). – 117 M. Serres: Hermès I. La communication stehen: als Darstellung eines Künstlers, der beim Arbei-
(Paris 1968) 31 (Übers. Verf.). – 118 J. Kristeva: Die Revolution ten vom Tod überrascht wird. In diesem Selbstbildnis
der poetischen Sprache (1978). – 119 G. Durand: Les structures aber erschrickt der Maler nicht über das Erscheinen des
anthropologiques de l’imaginaire (Paris 21992) 61. – 120 vgl. Y.
Labbé: Le nœud symbolique (Paris 1998) 275–279. – 121 vgl.
Todes, sondern leiht ihm nachdenklich sein Ohr, als
Derrida [25]; ders.: Chōra (Wien 1990); ders.: Zeit geben (1993), könnte dieser ihn besser als jede Muse inspirieren. Das
Bd. 1: Falschgeld. – 122 G. Deleuze: Logik des Sinns (1993). – Bild wird somit zu einem Symbol der künstlerischen In-
123 vgl. ders.: Anti-Ödipus (1974); ders.: Die Falte (1995). – spiration, die im Verständnis der Zeit zunehmend mit
124 J.-F. Lyotard: Das postmoderne Wissen (1985). – 125 vgl. J. der Vorstellung von Grenzerfahrungen verbunden
Butler: Gender trouble. Feminism and the Subversion of Iden- ist. [6] Erst durch diese Deutung wird das Bild symbo-
tity (New York 1990). – 126 vgl. E. Glissant: Zersplitterte Wel- lisch; es wäre sonst eine Allegorie.
ten (1986); ders.: Introduction à une poétique du divers (Paris Der Symbolismus operiert mit einer Vielfalt von
1996); J. Bernabé, P. Chamoiseau, R. Confiant: Éloge de la
créolité/In praise of creoleness (Paris 1989). – 127 O. Ette: Über-
Symbolbegriffen. Vor allem die Symbolik der Farbe ge-
Lebenswissen. Die Aufgabe der Philol. (2004). – 128 K. Semsch: winnt mit ihm große Bedeutung. Bereits Goethe sprach
Diskrete Helden. Strategien der Weltbegegnung in der roma- in seiner Farbenlehre von der bedeutenden Wirkung der
nischen Erzähllit. ab 1980 (2006). Farbe auf das Gemüt und ihrem symbolischen Ge-
brauch – Gedanken, die Kandinsky dann zu Beginn des
Literaturhinweis:
E. Rolf: Symboltheorien. Der Symbolbegriff im Theoriekontext
20. Jh. weiterführen wird. [7] In einigen Gemälden von
(2006). Moreau, dem Wegbereiter des französischen Symbolis-
K. Semsch mus, ersetzt die Farbe bereits Handlung und Figuren,

313 314
Symbol, Symbolismus Symbol, Symbolismus

Terrain vor, auf dem Freud dann gegen Ende des 19. Jh.
seine psychoanalytische Theorie des Unbewußten ent-
wickelt. [13] Klinger führt bereits 1881 in seiner ‹Para-
phrase über den Fund eines Handschuhs›, einem 10
Blätter umfassenden Graphikzyklus (Stiche), eine prä-
zise Traumsymbolik mit sexuellem Hintergrund
vor. [14] Kein anderer Symbolist bedient sich in so kon-
sequenter Weise rhetorischer Bildmittel wie Klinger.
Bereits der Begriff der ‹Paraphrase› unterstreicht das
rhetorische Moment. Ausgangspunkt ist ein reales Ob-
jekt und ein tatsächlicher Schauplatz sowie ein psycho-
logisch nachvollziehbarer Akt: Im ersten Blatt mit dem
Titel ‹Ort› sieht man die Besucher einer Rollschuhbahn.
Das 2. Blatt mit dem Titel ‹Handlung› stellt die beiden
Hauptpersonen vor: eine Rollschuh fahrende Dame, die
einen Handschuh verliert, und einen hinter ihr herfah-
renden Herrn, der sich danach bückt. Im 3. Blatt mit
dem Titel ‹Wünsche› sitzt der Mann schlaflos im Bett.
Der Handschuh, den er als Fetisch behalten hat, liegt vor
ihm auf der Decke. An ihm entzündet sich seine Phan-
tasie, die ihn in den folgenden Blättern mit Wunsch- und
Alptraumbildern konfrontiert. [15] Der Zyklus umfaßt
alle Bearbeitungsphasen einer Rede (inventio, exordi-
um, narratio, argumentatio und peroratio). Der erste
Stich (‹Ort›) entspricht der Einleitung, der zweite
(‹Handlung›) schildert den Sachverhalt. Die scheinbar
disparaten Motive der folgenden Stiche erweisen sich
bei genauerer Betrachtung als eine Argumentationsket-
te, die sich vom Rezipienten zu einem Syllogismus zu-
Abb. 1: Arnold Böcklin, Selbstbildnis sammenfassen läßt. Die Intervalle zwischen den Bildern
mit fiedelndem Tod (1872). markieren die notwendigen Fortschritte in einer imagi-
Berlin, Staatliche Museen, Nationalgalerie. © bpk. berlin nären Chronologie. So wird aus der Aneinanderreihung
der Bilder eine Erzählform. Der Künstler nutzt alle
Möglichkeiten der Ausschmückung und Erweiterung
die höchstens noch schemenhaft angedeutet sind. [8] So- (amplificatio) des Argumentationsgangs, die der Ein-
mit ebnet der Symbolismus der abstrakten Kunst den dringlichkeit dienen: Der Handschuh vollzieht phanta-
Weg. stische Metamorphosen, wechselt beständig Größe und
1885 äußert sich Gauguin in einem Brief zur Sym- Schauplatz. Immer wieder droht der Verlust des ange-
bolik von Linien [9] und nimmt sich zur gleichen Zeit der beteten Gegenstands. Die sicherlich eindruckvollste Se-
Graphologie an. Diese versteht die Handschrift als den quenz der ‹Handschuhodyssee› bildet die ‹Entführung›,
symbolischen Ausdruck des Schreibenden. [10] Die Blatt 9 des Zyklus (Abb. 2). Zur Anstachelung der Af-
Kunst zieht hieraus die Lehre, daß im Verlauf einer Li- fekte des Rezipienten zeigt Klinger ein furchterregen-
nie sich ein seelischer Zustand reiner ausdrückt als bei des geflügeltes Reptil, das den Handschuh bei Nacht aus
der Verwendung von herkömmlichen Symbolen. Van dem Hause des Verliebten entwendet. Die Arme des
de Velde schließlich widmet dem rhetorischen Poten- Mannes greifen durch die berstenden Fensterscheiben,
tial der Linie einen eigenen Aufsatz. Darin bezeichnet er um das Untier aufzuhalten. Im letzten Blatt (‹Amor›)
Linien als «übertragene Gebärden – offenkundige psy- folgt die Auflösung und das Ende der Alpträume: Der
chische Äußerungen». [11] Die abstrakten Symbolbe- Liebesgott sitzt schmunzelnd neben dem unversehrten
griffe von Farbe und Linie sind für die Kunst deshalb so Handschuh. Klinger folgt in seinem Zyklus dem vertrau-
wichtig, weil sie den Weg zu einer emblemfreien Sym- ten Aufbau eines Dramas von Zuspitzung und Lösung
bolik öffnen. (thesis und lysis). [16] Er nimmt nicht nur die ‹Traum-
Auf den physiognomischen Studien von Lavater auf- deutung› Freuds, sondern auch künstlerische Methoden
bauend, entwickelt Carus in seinem Werk über die des Surrealismus (Umkehrung der Größenverhältnisse,
‹Symbolik der menschlichen Gestalt› einen eigenen an- Eigenleben der Objekte) vorweg.
thropologischen Symbolbegriff. Carus beschreibt darin III. Symbolismus als künstlerische Bewegung. 1. Hi-
den Gang des Menschen als Spiegel seiner Seele. [12] storische Eingrenzung. Der Symbolismus entwickelt sich
Alle diese Studien münden in die Einsicht, daß Mimik, als Gegenbewegung zum Materialismus, der das Zeital-
Haltung, Gang und Gestik eines Menschen Ausdrucks- ter der Ersten industriellen Revolution prägt, in ganz
symbole seiner seelischen und charakterlichen Veran- Europa seit den 1880er Jahren. Er wendet sich in der
lagung sind. Die symbolistische Kunst setzt sie gezielt als bildenden Kunst vor allem gegen den akademischen Na-
affektische Überzeugungsmittel ein. turalismus und den Impressionismus, die beide auf die
In der Psychoanalyse wird unter ‹Symbol› die verhüll- Wiedergabe der sichtbaren Welt abzielen. Der Symbo-
te oder abgewandelte Form verstanden, in der verdräng- lismus bezeichnet daher eher eine geistige Strömung als
te Bewußtseinsinhalte und Triebkomplexe wiederkeh- einen Kunststil und manifestiert sich in erster Linie in
ren. Der Traum erscheint als symbolischer Ausdruck Thema und Darstellungsmitteln. Als Widerspiel zur
verdrängter Impulse und neurotischer Seelenzustände. herrschenden Salonkunst sind seine Themen teilweise
Die symbolistische Kunst und Literatur bereiten das provozierend antibürgerlich. Die symbolistische Kunst

315 316
Symbol, Symbolismus Symbol, Symbolismus

bedient sich bewußt unterschiedli-


cher Stilmittel, die sie ihrer jewei-
ligen Wirkungsintention anpaßt.
Eng verbunden mit dem Sym-
bolismus ist der Begriff der Deka-
denz und des ‹Fin de siècle›, der
auf finis saeculi, die lateinische Be-
zeichnung für das Ende der Welt,
zurückgeht. Obgleich dieser Ter-
minus in den Jahren vor 1900 eher
als Modewort denn als ernst ge-
meinter Ausdruck für eine nahen-
de Katastrophe verwendet wird,
haftet ihm dennoch ein gewisser Abb. 2: Max Klinger, Paraphrase über den Fund eines Handschuhs, Blatt 9:
Kulturpessimismus an. [17] Entführung (1881). © München, Staatliche Graphische Sammlung
Khnopff zeigt in seinem Gemäl-
de ‹Die verlassene Stadt› (1904)
eine solche Weltuntergangsvision (Abb. 3). Dargestellt nitäten mit den ursprünglichen Ideen versinnbild-
ist ein kleiner Platz in Brügge, auf dem sich keinerlei An- licht.» [23]
zeichen von Leben befindet. Selbst die Statue ist von ih- Ein Mittel zur Suggestion in der bildenden Kunst ist
rem Sockel verschwunden. Unter einem bräunlich die Verfremdung der sichtbaren Wirklichkeit. Rossetti
schimmernden Himmel spült die steigende Flut vom na- steigert in ‹Beata Beatrix› (Abb. 4) durch eine beson-
hen Meer lautlos über den Platz. Der Betrachter wird dere Lichtregie und den Verzicht auf optische Klarheit
zum einzigen Zeugen des Verschwindens einer Welt. die Gestalten ins Visionäre. Das Gemälde ist eine Hul-
Brügge erscheint hier als Symbol für die Dekadenz der digung an seine Frau Elisabeth Siddal, die sich 1862 mit
modernen Gesellschaft, die sich zwar auf dem Höhe- Laudanum, einem Derivat des Opiums, das Leben
punkt ihrer wirtschaftlichen Macht befindet, aber gera- nahm. Da Rossetti mit Vornamen Dante heißt, verklärt
dewegs auf eine militärische und kulturelle Katastrophe er seine Ehefrau zur geliebten Beatrice und versetzt sich
zusteuert. [18] selbst in die Rolle des trauernden Dichters. [24] Der
Im strengen Sinne bezeichnet der Symbolismus zwar Schatten des Todes liegt über dem Antlitz der Frau.
eine Bewegung am Ende des 19. Jh., doch reichen seine Mimik und Gestik zeigen ihre Verzückung im Moment
Anfänge in der bildenden Kunst bis ins 18. Jh. zurück des Todes. Eine Taube mit Heiligenschein, das christli-
(Goya, Blake, Füssli, Friedrich, Runge). Seine Wur- che Symbol des Heiligen Geistes, schwebt auf sie herab.
zeln sind in der Romantik zu suchen [19]; seine Wirkung Im Gegensatz zur christlichen Ikonographie ist ihr Ge-
reicht bis in die Gegenwart hinein. In vielen Punkten fieder jedoch rot, wie die Allegorie der Liebe links im
antizipiert er den Surrealismus, mit dem er das Interesse Hintergrund. In ihrem Schnabel hält die Taube eine
an Traum, Unterbewußtsein und Okkultismus teilt. Schlafmohnblüte, die allgemein auf Schlaf, Traum und
Ernst steht mit seinen Collagen zwischen Symbolismus
und Surrealismus. [20] Der Symbolismus öffnet den Weg
zur Abstraktion, an deren Grenze sich Sérusiers Ge-
mälde ‹Der Talisman› (1888) bereits befindet. Die Pio-
niere der abstrakten Kunst, Kandinsky, Malewitsch,
Kupka und Mondrian, waren in ihrer Anfangszeit sym-
bolistische Maler. [21] Noch deutlicher zeigt sich das
Fortleben symbolistischer Ausdrucksmittel in der Ge-
schichte des Films. Fellini, Buñuel und Bergmann
schaffen Filme von betont symbolistischem Charakter.
2. Künstlerische Mittel. Die symbolistische Kunst nutzt
die Eigenschaft des Symbols, eine Idee nur anzudeuten
bzw. zu suggerieren, ohne sie direkt zu benennen. In
Frankreich fordert Mallarmé die gleiche Vorgehens-
weise für die symbolistische Dichtung: «Ein Objekt be-
nennen heißt drei Viertel des Vergnügens am Gedicht
zu unterdrücken, das in der Freude des allmählichen
Begreifens besteht.» [22] Mallarmés Forderung nach
Suggestion impliziert eine neue Beziehung zwischen
Autor und Rezipienten, bei der letzterer aufgefordert
ist, in einer Art geheimer Komplizenschaft mit dem
Künstler das Werk zu vollenden. Im gleichen Sinne
schreibt J. Moréas, der dem Symbolismus seinen Na-
men gab: «[...] die wesentliche Eigenschaft der symbo-
listischen Kunst besteht darin, die Idee niemals begriff-
lich zu fixieren oder direkt auszudrücken. Und deshalb
müssen sich die Bilder der Natur, die Taten der Men-
schen, alle konkreten Erscheinungen in dieser Kunst,
nicht selber sichtbar machen, sondern sie werden durch Abb. 3: Fernand Khnopff, Die verlassene Stadt (1904).
sensitiv wahrnehmbare Spuren, durch geheime Affi- Brüssel, Musées Royaux des Beaux-Arts de Belgique

317 318
Symbol, Symbolismus Symbol, Symbolismus

Abb. 4: Dante Gabriel Rossetti, Beata Beatrix (um 1864–1870).


London, Tate Gallery. © Tate, London 2008
Abb. 5: Gustave Moreau, Die Erscheinung (um 1874–1876).
Paris, Musée Gustave Moreau. © bpk/RMN/Paris,
Tod verweist, hier aber ganz direkt die Todesursache Musée Gustave Moreau/René-Gabriel Ojéda
bezeichnet. [25] Die Sonnenuhr auf der Balustrade zeigt
neun Uhr an, die Stunde von Beatrices Tod. Das ganze
Bild erscheint unscharf und verschwommen, wodurch liebteste Figur dieses Themenkreises ist Salome. Wilde,
eine traumähnliche, entrückte Atmosphäre entsteht. Flaubert und Mallarmé sind von ihr fasziniert;
Möglicherweise will Rossetti damit die Wirkung des Strauss’ berühmte Opernfassung der Geschichte wurde
Opiums suggerieren. 1905 in Dresden uraufgeführt; Moreau hat sie zum The-
3. Bevorzugte Themen. In ihren 1891 verkündeten ma einiger seiner bedeutendsten Bilder gemacht. Sein
‹Hirtenbriefen der Rosenkreuzer zur Ästhetik› empfeh- Gemälde ‹Die Erscheinung› (Abb. 5) zeigt die Bestür-
len der Romancier J. Péladan, der Dichter P. Saint- zung Salomes über die furchterregende Vision des blu-
Pol-Roux und der Graf A. de la Rochefoucauld den tigen Hauptes von Johannes dem Täufer, dessen geöff-
Künstlern bestimmte Bildthemen, die Legenden, My- nete Lippen Vorwürfe auszusprechen scheinen. Huys-
then und der Welt des Traums entspringen. Sie verwer- mans läßt in seinem wenige Jahre später erschienenen
fen vehement die klassischen Bildgattungen wie Histo- Roman ‹A rebours› seinen Protagonisten Des Esseintes
rien-, Genre-, Porträt-, Tier- und Stillebenmalerei. [26] über dieses Bild sinnieren. [28]
1892 ruft Péladan in Paris den nach der Geheimbruder- Die Erotik wird in diesen Frauenbildern mit neuer
schaft der Rosenkreuzer benannten ‹Salon de la Rose- Direktheit zelebriert. In Stucks Gemälde ‹Die Sünde›
Croix› als Forum symbolistischer Kunst ins Leben. Der (Abb. 6) umwindet eine lüsterne Schlange – ein auf-
Symbolismus bedient sich mit Vorliebe irrealer Motive grund ihrer phallischen Form traditionelles Sexualsym-
aus der Welt der Phantasie und des Traums, die sich ei- bol – einen nackten Frauenkörper. Der Blick aus dem
ner rationalistischen Deutung entziehen. Er will damit Bild trifft sein Gegenüber doppelt: aus mysteriös ver-
ausdrücken, daß die sichtbare, messbare und definier- schatteten Frauen- und aus bedrohlichen Schlangenau-
bare Wirklichkeit nur den Vordergrund eines größeren gen.
Weltzusammenhangs darstellt. Diesen begreiflich zu
machen, ist aber nur durch Symbole möglich. Anmerkungen:
‹Der Kampf der Geschlechter› wird zwischen 1850 1 B.A. Sørensen: Symbol und Symbolismus in den ästhet. Theo-
und 1930 zu einem bestimmenden Thema der Kunst. rien des 18. Jh. und der dt. Romantik (1963) 26. – 2 N. Goodman:
Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie (1995) 38. –
Aus dieser Periode stammt auch die Formulierung des 3 G. Pochat: Der Symbolbegriff in der Ästhetik und Kunstwiss.:
genannten Begriffs. [27] Er stellt die unheilstiftende, un- Symbolismus (1983) 13. – 4 G. Kurz: Metapher, Allegorie, Sym-
ergründliche Frau in Verkörperung der Sphinx, Eva bol (1982) 69, 79. – 5 I. Ehrhardt: SeelenReich – Eine Einf., in:
oder der femme fatale dar, die ihre erotische Macht mit Ausstellungs-Katalog ‹SeelenReich. Die Entwicklung des dt.
Raffinesse zum Verderben des Mannes einsetzt. Die be- Symbolismus 1870–1920› (Frankfurt a. M./Birmingham/Stock-

319 320
Symbol, Symbolismus Symbol, Symbolismus

holm 2000) 10. – 6 Ausstellungs-Katalog A. Böcklin. Eine Re-


trospektive (Basel/Paris/München 2001/2002) 224. – 7 Goethes
Farbenlehre, ausgew. und erl. von R. Matthaei (21988) 168: sinn-
lich-sittliche Wirkung der Farbe; 189: allegorischer, symboli-
scher, mystischer Gebrauch der Farbe; W. Kandinsky: Über das
Geistige in der Kunst (81965). – 8 Ausstellungs-Katalog G. Mo-
reau, 1826–1898 (Paris/Chicago/New York 1999) 244–245. –
9 Lettres de Gauguin à sa femme et à ses amis, recueillies, an-
notées et préfacées par M. Malingue (Paris 1946) 45. – 10 vgl. das
grundlegende Werk von J. Crépieux-Jamin: L’écriture et le ca-
ractère (Paris 1888) sowie L. Klages: Handschrift und Charakter
(21920). – 11 H. van de Velde: Die Linie, in: ders.: Zum neuen
Stil, aus seinen Schr. ausgewählt von H. Curjel (1955) 181. –
12 C.G. Carus: Symbolik der menschlichen Gestalt, Ein Hb. zur
Menschenkenntnis (21858; ND 1997) 353f. – 13 M. Erdheim, A.
Blaser: Malend das Unbewußte erkunden, in: Ausstellungs-
Katalog A. Böcklin, G. de Chirico, M. Ernst. Eine Reise ins
Ungewisse (Zürich/München/Berlin 1998) 78. – 14 H.-G. Pfei-
fer: M. Klingers (1857–1920) Graphikzyklen. Subjektivität und
Kompensation im künstlerischen Symbolismus als Parallelent-
wicklung zu den Anfängen der Psychoanalyse (1980) 69–77. –
15 C. Hertel: Irony, Dream and Kitsch: M. Klinger’s Paraphrase
of the Finding of a Glove and German Modernism, in: The Art
Bulletin 74 (1992) 91–114. – 16 A. Kurlander, S. Wolohojian, C.
Wood: Das erzählte Drama in Bildern: A. von Menzel und M.
Klinger, in: W. Kemp: Der Text des Bildes, Möglichkeiten und
Mittel eigenständiger Bilderzählung (1989) 48. – 17 W. Rasch:
Fin de siècle als Ende und Neubeginn, in: ders.: Zur dt. Lit. der
Jahrhundertwende, Gesamm. Aufsätze (1967) 30. – 18 M.
Gibson: Der Symbolismus (1995) 95f. – 19 E. Lucie-Smith: Sym-
bolist Art (London 1972) 23ff. – 20 Zum Verhältnis von Ernst
zum Symbolismus vgl. Ausstellungs-Katalog Böcklin, de Chiri-
co, Ernst [13]. – 21 Zum Fortleben des Symbolismus im 20. Jh.
vgl. das Kap. über den ‹Postsymbolismus› in: Gibson [18] 213ff.;
Ausstellungs-Katalog P. Klee – In der Maske des Mythos
(1999). – 22 Antwort von Mallarmé auf eine Umfrage von J.
Huret über die Kunst seiner Zeit, in: J. Huret: Enquête sur
l’Evolution Littéraire (Vanves 1981) 60. – 23 J. Moréas: Le Sym-
bolisme, in: Figaro littéraire, 18. 9. 1886; zit. H. Hofstätter: Sym-
bolismus und die Kunst der Jahrhundertwende (21973) 227–229.
– 24 vgl. dazu die Gedichte Dantes in ‹Vita Nuova›. – 25 R. Up-
stone: Beata Beatrix, in: Der Symbolismus in England, 1860–
1910 (London/München/Amsterdam 1998). – 26 Gibson [18] 56.
– 27 Ausstellungs-Katalog: Der Kampf der Geschlechter. Der
neue Mythos in der Kunst 1850–1930 (1995). – 28 Hofstätter [23] Abb. 6: Franz von Stuck, Die Sünde (1893).
231f. Bayerische Staatsgemäldesammlungen, Neue Pinakothek,
München
Literaturhinweise:
H. Hofstätter: Idealismus und Symbolismus (1972). – P.-L. Ma-
thieu: La génération symboliste (1990). – G.-A. Aurier: Le sym-
benutzer, interpreter) gelangt und von diesem als Zei-
bolisme en peinture. Van Gogh, Gauguin et quelques autres chen verstanden wird. In der Semiotik (auch der musi-
(Caen 1991). – J. Pierre: L’Univers symboliste. Fin de siècle et kalischen) bedeuten ‹Zeichen› und ‹Symbol› allerdings
décadence (Paris 1991). – Ausst. Kat. Lost Paradise. Symbolist (gemäß allgemeiner Übereinkunft) nicht dasselbe. Er-
Europe (Montreal 1995). – E. Cassirer: Philos. der symbolischen steres gilt ganz allgemein als Signal, «welches seine ma-
Formen, Text und Anm. bearbeitet von C. Rosenkranz, in: teriale Zuständlichkeit überschreitet, [...] Informatio-
ders.: Gesamm. Werke, Hamburger Ausg., hg. v. B. Recki nen übermittelt, Bedeutungen aktiviert» [2] und auch
(2001) Bd. 11–13. Verständnis durch einen Zeichenbenutzer einschließt;
R. Bonnefoit
dabei umfaßt der Begriff ‹Zeichen› seit Ch. S. Peirce (in
Bezug auf das Objekt, auf das Bezeichnete) die drei Ka-
tegorien ‹Icon›, ‹Index› und ‹Symbol›. [3] – ‹Icon› rekur-
D. Musik. I. Allgemeines zur musikalischen Semio- riert auf die ‹Bildhaftigkeit›, seine Bedeutung ergibt sich
tik. Unter dem Aspekt, daß Musik immer auch als ‹Spra- durch äußere Ähnlichkeit, wobei es in der Musik so-
che› gesehen wurde, die eine Art ‹Mitteilungsfunktion› wohl um akustische (im Sinne einer akustischen Nach-
besitzt, erscheint es selbstverständlich, daß die (klang- ahmung) als auch um ‹bildhafte› (im Sinne einer musi-
lichen) Träger dieser Mitteilungen gleichsam als seman- kalischen ‹Nachzeichnung›) Ähnlichkeiten (‹Isomor-
tisch aufgeladene akustische Bausteine fungieren (kön- phie› [4]) gehen kann. – Von «Index» hingegen spricht
nen). [1] Wichtig ist dabei naturgemäß auch in der Mu- man, wenn zwischen dem Zeichen und dem Bezeichne-
sik, daß ein solcher Baustein als solcher erkannt wird, ten kausale Verbindungen existieren, wenn etwas ‹ange-
daß er also, um dies im Sinne der Semiotik auszudrük- zeigt› wird: z.B. eine Krankheit durch Fieber, in der Mu-
ken, als (von einem Bezeichnenden, engl. signifier, ge- sik etwa bestimmte Gefühle und ‹Affekte› durch (diese
setztes) Zeichen (Symbol) für etwas (mehr oder weniger Gefühle anzeigende bzw. ihnen ‹entsprechende›) Klän-
bestimmt) Bezeichnetes (ein Denotat; auch Designat, ge, Melodien und Rhythmen, die somit von «psychoso-
Signifikat, signified) an einen Adressaten (Zeichen- matische[r] Relevanz» [5] sind und dem Hörer durch

321 322
Symbol, Symbolismus Symbol, Symbolismus

den ‹Ausdruck› der Musik gleichsam synergisch Bedeu- sie auch – im Sinne einer ‹musikalischen Syntax› – im
tungen, Gefühlszustände etc. vermitteln. (Dabei gibt Sinngefüge der Musik ‹Bedeutung› besitzen. Ein deut-
es selbstverständlich Überlappungen mit bildhaften lich vorbereiteter Schlußakkord zeigt das Ende eines
Vorstellungen.) – Ein ‹Symbol› schließlich ist eine Stückes an, ein ausgehaltener Dominantseptakkord
‹künstliche› Setzung eines Zeichens ‹für› etwas, sein weist (in tonaler Musik) explizit auf etwas logisch Fol-
Verständnis ist (nur) durch Konvention, Übereinkunft, gendes, eine fanfarenhafte Intonation sagt gleichsam
kulturelles Wissen etc. möglich, wobei bisweilen zusätz- ‹Achtung›, ein ‹fragend› endender Vordersatz einer Pe-
lich logische Schlußfolgerungen benötigt werden, um riode ‹fordert› eine ‹antwortende› Vervollständigung
solche Symbole zu verstehen. usw. Wenn die musikalischen Zeichen (‹Bausteine›,
Gemäß dem allgemeinen, etymologischen Sinn des ‹Vokabel›) dann noch semantisch aufgeladen sind (wie
(griech.) Wortes sýmbolon als Kennzeichen, Merkmal, etwa ein ‹archaischer› terzloser Schlußakkord oder eine
aber auch angesichts der zahlreichen sich gegen eine bestimmte historische Fanfare) und somit auch auf au-
strikte Einordnung wehrenden musikalischen Zeichen ßermusikalische Inhalte weisen, erscheinen die Sinnzu-
wird in der Musikwissenschaft auch von ‹Symbolen› sammenhänge durch Doppelcodierung umso nachhal-
bzw. von ‹Symbolik› gesprochen, wenn es sich im ein- tiger.
zelnen eher um Bildhaftes oder (bzw. und) Indexikales II. Spezielle Möglichkeiten musikalischer Symbolge-
handelt. So reihen als ‹Symbole› gesetzte (und auch all- bung. Trotz dieser musiksemiotischen und zeichentheo-
gemein als solche angesehene) Zeichen (wie z.B. retischen Vorüberlegungen seien die Möglichkeiten
R. Wagners Leitmotive) einerseits oft Intervalle anein- musikalischer Bedeutungsgenerierung im folgenden
ander, die bestimmte Bewegungen gestisch bzw. iko- weitgehend gemäß der ‹üblichen›, historisch gewachse-
nisch ‹nachzeichnen›, andererseits (bzw. oft gleichzei- nen Systematik dargestellt und lediglich durch Hinweise
tig) drücken sie Gefühle bestimmter Protagonisten aus, auf die Peirceschen Kategorien ergänzt. Insbesondere
Gefühle, die sich ihrerseits durch jene (gedachten) Ge- erscheinen die musikalisch-rhetorischen Figuren in den
sten dokumentieren. Auch militärische Tonsignale kön- Gesamtverband der musikalischen Rhetorik gestellt
nen gleichzeitig a) gestisch-bildhaft einen ‹Aufbruch› und nicht von vornherein kategorial systematisiert.
darstellen, b) als Appell bzw. als Befehl zu einem sol- Zu allen Zeiten griffen die Komponisten zu bildhaf-
chen fungieren, c) indexikalisch ein ‹kriegerisches›, ‹he- ten Nachahmungen tatsächlicher Gegebenheiten oder
roisches› Gefühl hervorrufen (einen ‹kriegerischen› auch abstrakter Begriffe. Insbesondere ersteres wird im
Ausdruck besitzen) und d) rein musikalisch dennoch 18. und 19. Jh. «musikalische Malerey» genannt und be-
vorwiegend «die Qualität des Symbols besitzen» [6], also reits damals deutlich von ‹gesetzten› Symbolen abge-
Krieg, Kampf, Aufbruch etc. ‹bedeuten›. Letzten Endes hoben: «Malen heißt: Einen Gegenstand, nicht durch
kann das für alle ikonisch oder indexikal gewonnenen bloß willkührliche verabredete Zeichen für den Ver-
Zeichen zutreffen, die von einem Komponisten als Sym- stand andeuten, sondern ihn durch natürliche Zeichen
bol ‹für etwas Bestimmtes› eingesetzt werden. vor die sinnliche Empfindung bringen». [9] «Gemalt»,
Entsprechend dieser Mehrdeutigkeit und Polyfunk- nachgeahmt im Sinne der imitatio naturae bzw. der Mi-
tionalität ist auch der (ohnehin vage) Begriff ‹musikali- mesis, kann sowohl ‹real› Optisches oder Akustisches
scher Symbolismus› keineswegs auf die Verwendung werden, jedoch auch eine «innere Empfindung» oder
ausschließlich von ‹Symbolen› (im Peirceschen Sinne) der «Eindruk, den [ein] Gegenstand auf die Seele zu
beschränkt, sondern weit eher am Vorhandensein einer machen pfleget» [10]. Damit erscheint nun neben der
Gesamtheit bildhaft-illustrativer, «emotional suggesti- Kategorie des primär Bildhaften auch der heute inde-
ve[r]» [7] und symbolhafter Zeichen, deren Bindung an xikal gesehene musikalische ‹Ausdruck› angesprochen,
Außermusikalisches (an ein Programm, eine Stimmung) darüber hinaus aber auch die Allegorie, die «bildhafte
sogar zum Verzicht auf eine konzise musikalische [...] Verdeutlichung eines abstrakten Begriffs oder einer
Form(ung) führen kann. Ideenkonstellation». [11] Immer aber handelt es sich um
Eine andere Systematisierung musikalischer Bedeu- den «Ersatz des gemeinten Gedankens durch einen an-
tungsgebung hat G. Knepler entwickelt, der zwischen deren Gedanken, der zum gemeinten Gedanken in ei-
motorisch bestimmter «biogener» und sprachbestimm- nem Ähnlichkeits-Verhältnis [...] steht». [12]
ter «logogener» «Codierungsschicht» unterscheidet. [8] Bildhaft nachahmen können zunächst melodische
Erstere, Motorik und Körperlichkeit verströmend bzw. Konstellationen: hohe Töne stehen für Hohes, niedrige
eine solche im Rezipienten auslösend, spiegelt dadurch Töne für Niedriges (etc.), große bzw. kleine Intervalle
auch (sich gestisch-körperlich dokumentierende) Ge- für ‹Großes› oder ‹Kleines›, Kreisbewegungen für ‹um-
fühle, Emotionen und ‹Stimmungen› wider und vertritt armen›, ‹Schlange› o. Ä., Pendelbewegung für ‹Boot-
solcherart ganz allgemein das Ausdruckselement. Zei- fahrt› oder ‹Welle›, schroffes Hin und Her der Melodik
chen dieser Schicht besitzen naturgemäß keine exakt für ‹Blitz› (auch Geistesblitz), ‹hin und her laufen›
bestimmbare Bedeutung, ihr semantisches Feld ist breit (usw.), woraus sich zudem die Möglichkeit ergibt, Sprün-
und somit nur konnotativ umrissen. Die «logogene» ge oder andere Bewegungen (auch im Sinne einer ‹Rich-
Schicht hingegen umfaßt jene symbolhaften Elemente tung›) zu ‹malen›. Alle diese Elemente können aber auch
der Musik, die aus ‹sprachlichen› Überlegungen und aus allegorisch, gleichnishaft eingesetzt werden, hohe Töne
einem semantischen Mitteilungsbedürfnis heraus ge- etwa für ‹Gutes› oder ‹Himmel›, tiefe Töne für ‹Sünd-
wonnen und dann bewußt ‹gesetzt› werden; sie erschei- haftes› oder ‹Hölle›, Intervallgrößen für dementspre-
nen nicht selten sprachähnlich oder ahmen gar Sprache chend groß oder klein Empfundenes, eine vollkommene
nach. Je nach dem Verstehenshorizont des Rezipienten Kreisbewegung für etwas ‹Vollkommenes›, ‹besonders
ist ihre semantische Aussage vage bis eindeutig, kann Schönes› oder ‹Ewiges› bzw. ‹Ewigkeit›. – Weiters kön-
also in verschiedenster Abstufung konnotativ bzw. de- nen zwei (oder mehr) Stimmen gemeinsam ‹malen› bzw.
notativ sein. versinnbildlichen (und somit als ‹Setzung› auch symbo-
Nicht vergessen darf man, daß musikalische Zeichen lisieren): ‹kreuzen› (bzw. allegorisch ‹Kreuz›, ja sogar
nicht nur auf Außermusikalisches weisen, sondern daß ‹Christus› oder ‹Christentum›), sich ‹voneinander ent-

323 324
Symbol, Symbolismus Symbol, Symbolismus

fernen› bzw. ‹einander nähern› (und somit ‹liebgewin- intellektuell gesteuerten und topischen Gebrauch al-
nen›), ‹verfolgen›, aber auch ‹Gleichgestimmtheit›, ‹mit- ler zur Verfügung stehenden Zeichen (Symbole) ein-
einander gehen› und Ähnliches. Schließlich bringen eine schließlich der Möglichkeiten der musikalischen Rhe-
kleinere bzw. größere Anzahl eingesetzter Stimmen torik (und hier insbesondere der musikalisch-rhetori-
oder die Art ihrer Verarbeitung Vorstellungen wie schen Figuren).
‹Menge›, ‹Dichte›, ‹Bewegung› (und somit etwa ‹Auf- Bildhafte Zeichen ergeben sich in der Musik auch
ruhr›) o. ä. ein. durch spezielle Möglichkeiten der Notation, durch die
Bildhaft nachahmen kann Musik auch (und zwar sogenannte Notationssymbolik, wobei die Notation von
durch rhythmische Fakturen) Geschwindes, Langsames, Musik selbst eine Setzung von Symbolen darstellt: Buch-
Motorisches, Tanz(bewegungen), Eile, Unruhe, ge- staben, Noten oder andere Zeichen (bisweilen auch
schwinder bzw. langsamer Werdendes (und somit auch Zahlen wie im ‹Basso continuo› oder in Lautentabula-
‹sterben›, ‹gesund werden› etc.) oder zeitliche Dauern; turen) versinnbildlichen (direkt oder indirekt) Tonhö-
schleppende, stockende Bewegungen (für ‹Arbeit›, hen, Tondauern, Tempo, Dynamik etc. Wenn nun die
‹Mühe›, ‹Stolpern›, ‹Keuchen›) können zu Synkopen ‹Notenbuchstaben› auch als schriftsprachliche Buch-
oder pausendurchwirkten Linien führen, Begriffe wie staben fungieren, ist dies zwar ‹bildlich› (als Notat) fest-
‹nichts›, ‹Ruhe›, ‹Schlaf› oder ‹Tod› zu Pausen. – gehalten, stellt aber dennoch kein ‹icon› dar, weil es sich
Schließlich gibt es noch die Möglichkeit einer ‹Abbil- um keine ‹Abbildung› handelt. Bekanntestes Beispiel ist
dung› durch formale oder strukturelle Ähnlichkeiten: hier die (bisweilen sogar indexikalisch eingesetzte) Ton-
durch Symmetrie bzw. Asymmetrie, durch Wiederho- folge B-A-C-H (für [J.S.] Bach), doch auch G-A-D-E
lung bzw. Reihung, durch speziell geartete ‹strenge› (für [N.W.] Gade) im ‹Nordischen Lied› von R. Schu-
Formen wie Kanon oder Fuge, durch Ordnung bzw. Un- mann, A-D-ES[S]-C-H-B-E-G (für Arnold Schön-
ordnung, durch ‹Fertiges› bzw. ‹Unfertiges› usw. (Da- berg), A-E-B-E (für A. Webern) und A-B-A-B-E-G
durch, daß im Kanon gleichsam die erste Stimme die (für Alban Berg) in vielen Kompositionen der ‹Wiener
zweite initiiert, ist er bisweilen Symbol für eine Geburt – Schule› (etwa in Alban Bergs Kammerkonzert) oder die
z.B. beim Text «et ex patre natum» im Credo der Mes- häufigen ‹Unterschriften› H-E (H. Eisler) oder A-ES
se.) (A. Schönberg) vertreten diese Symbolik. In Schön-
Akustisch nachgeahmt können (manchmal nur nä- bergs Kanons stehen solche Kryptogramme vollends für
herungsweise) im Prinzip sämtliche Geräusche werden, Geburtstagswünsche, Huldigungen, aber auch politi-
aber auch das Entstehen und Vergehen von akustischen sche oder ganz persönliche Botschaften. [16]
Ereignissen und somit Räumliches wie ‹näherkommen› Noch schwieriger ist die Dechiffrierung von ‹Symbol-
oder ‹sich entfernen› sowie Echoeffekte. ‹Imitationen› Melodik›, die auf der Basis der Solmisationsilben steht.
erfahren auch, und zwar sowohl durch die menschliche Wenn im Text ein ‹König› angesprochen erscheint, be-
Stimme als auch durch Instrumente, Naturlaute (Vogel- gegnen wir oft der Note ‹d› (‹re›; ital. re = König) oder
bzw. Tierstimmen), extreme menschliche Äußerungen D-Dur (bei positivem Affekt) bzw. d-Moll (bei negati-
(Schreie, Lachen, Weinen, Stöhnen, Brummen usw.) vem Affekt). Ähnlich verhält es sich im Falle von ‹sol›
oder Instrumentenklänge. (ital. = Sonne), der Tonsilbe für ‹g›: Dieser Ton bzw.
Mit der «Malerei innerer Empfindungen» betreten G-Dur erklingen oft, wenn von der Sonne oder von
wir das große Feld des (heute eher der Kategorie ‹Index› Licht die Rede ist. Die Tonart g-Moll hingegen bedeutet
zugeordneten) musikalischen Ausdrucks sowie speziell oft Tod, Trauer oder symbolisiert die Unterwelt, da grie-
der ‹Affektenlehre›, die vor allem im 17. und 18. Jh. zu chisch ghÄ ‹Erde› heißt und so als Synonym fur ‹Grab›
breiten Systematisierungen eines ‹Vokabulars› für die galt. [17] In g-Moll steht z.B. Paminas Arie «Ach, ich
musikalische Darstellung von Gefühlen und Stimmun- fühl’s, es ist verschwunden» aus Mozarts ‹Zauberflöte›.
gen führt. Man ist überzeugt, daß Rhythmen, Akkorde, In älterer Musik sind Texte, die vom Tod oder Sterben
Tongeschlechter (dies wegen der unterschiedlichen handeln, oft im g-dorischen oder g-hypodorischen Mo-
Lage der Halb- und Ganztöne), Tonarten sowie Inter- dus geschrieben. – Besonders interessant sind Prakti-
valle [13] jeweils bestimmte (gleichsam ‹ähnliche›) Ge- ken, cantus firmi als «Spruchbänder» [18] zu erfinden,
fühle und Leidenschaften sowohl nachahmen als auch ein Verfahren, das nach G. Zarlino «soggetto cavato
erwecken (‹hervorrufen›) können, doch auch Instru- dalle vocali», ein aus den Vokalen (heraus)gezogenes
menten- und Stimmklänge (z.B. Sopran für ‹jung›, ‹Ju- Subjekt (Thema) [19], genannt wurde. Das bekannteste
gend›, Baß für ‹alt›), Metren, melodische Formeln und Beispiel steht in einer Huldigungsmesse für Ercole d’
Harmonieverbindungen erfahren ‹inhaltliche› Zuord- Este, Herzog von Ferrara, aus der Feder von J. Desprez,
nungen. Dadurch daß die Intervalle angesichts der noch wo für «Her-cu-les dux Fer-ra-ri-e» die ‹vokalgleichen›
nicht gleichschwebend temperierten Stimmungen un- Tonsilben «re-ut-re/ut/re-fa-mi-re» erklingen. Weitere
terschiedlich groß waren und es somit ‹kleinere› und cantus firmi gibt es z.B. über die Sprüche «vive le roi» (v
‹größere› Halbtöne und Ganztöne gab, wiesen auch die als u gelesen: ut-mi-ut-re/re/sol-mi) oder über «Stat felix
Tonartencharaktere deutliche Unterschiede auf: z.B. Domus Austriae» (la/re-mi/sol-ut/fa-mi-re), wobei die
gingen «C Dur und As Dur in ihrem Charakter am ersten fünf Silben hier noch zusätzlich die bekannte Ab-
meisten von einander ab» [14]. Da nun das Ziel jeder kürzung «A-E-I-O-U» ergeben, die meist mit «Austria
Musik «eine solche Vergnügung des Gehörs [ist], da- erit in orbe ultima» (Österreich wird bis ans Ende der
durch die Leidenschafften der Seele rege werden» [15], Welt bestehen) gedeutet wird.
besteht vor allem im 16. bis 19. Jh. (jedoch auch vorher Weitere Möglichkeiten der Notationssymbolik sind
und nachher) der Kompositionsvorgang des Tonschöp- tatsächlich ikonisch, wie etwa die optische Umdeutbar-
fers weitgehend aus Überlegungen, wie die gewünschten keit von Einzelheiten der Notation selbst. Hier ist zu-
‹Inhalte› und «affectus» ausgedrückt werden können. nächst die Eigentümlichkeit des color in der Mensural-
Da dies aber vor allem Gegenstand der rhetorischen notation zu nennen, also jener rot (in ‹schwarzem› Um-
inventio ist, führt das Verfertigen von Musik, die ‹musica feld) bzw. schwarz (in ‹weißem› Umfeld) geschriebenen
poetica›, angesichts der ‹Affektenlehre› vollends zum Noten, die andere rhythmische Werte als üblich anzei-

325 326
Symbol, Symbolismus Symbol, Symbolismus

gen. [20] Rote Notation finden wir bei Textstellen wie Bach mit aus 14 (Bach: 2+1+3+8) oder 41 (J.S. Bach)
‹rosa› (Rose) oder ‹erubescere› (erröten), schwarze bei Noten bestehenden Melodien spezielle persönliche Bot-
‹traurigen› Abschnitten, etwa bei Worten wie ‹mortuo- schaften oder Glaubensbekenntnisse aus. [25] – Im
rum› oder ‹[ne cadant in] obscura tenebrarum loca›. [21] 20. Jh. sind dann die Meister der ‹Wiener Schule› gera-
Und L. Lechner gibt in seinem Lied ‹Der Weiber Gmüt dezu Zahlenfetischisten, wenn etwa für A. Schönberg
erkennt man nit› (1586) den ‹schwarzen› Worten der der 13. sowie 26., 39. (etc.) Takt seiner Werke eine be-
Frauen gar in ironischer Weise schwarze Noten bei. – sondere Bedeutung besitzen oder wenn er in seinem
Ergänzend seien schließlich noch (neben der Stimm- Psalm ‹Dreimal tausend Jahre› 30 Gruppen von drei
kreuzung, s. o.) die Umdeutung der Kreuz-Vorzeich- gleich hohen Tönen in den insgesamt 100 (je 25) Takten
nung vor zu erhöhenden Noten als Symbol für das Kreuz der vier Stimmen erklingen läßt (30 x 100 = 3000). A.
(Jesu) (etwa in der ‹Kreuzstabkantate› und der ‹Mat- Bergs ‹persönliche Zahl› war hingegen 23, und sie be-
thäuspassion› J.S. Bachs) genannt sowie die Praxis, die stimmt in geradezu besessener Art und Weise sowohl
Worte ‹confundere› oder ‹verwirren› mit ‹verwirrend› die formale Struktur als auch die Metronomzahlen ei-
schwieriger Notation zu belegen. niger seiner Werke.
Ein wichtiger Zeichenfundus in der Musikgeschichte III. Musikalische Rhetorik und Semantisierung. Die
ist die Zahlensymbolik, das ‹Übersetzen› von Zahlen in Überzeugung, daß Musik eine Sprache sei und daher
musikalische Struktur, das in unterschiedlichster Art nicht nur sprachlichen Gesetzen gehorcht, sondern auch
und Weise gehandhabt werden kann. Zunächst gibt es das ‹musikalische Sprechen› selbst zur Gewinnung von
hier einfache Möglichkeiten, die bei einem Blick in die ‹Bedeutung› einsetzen kann, hat zu einer Summe von
Partitur als ‹Icon› erscheinen, wie etwa die Gleichset- weiteren ‹inhaltlichen› Möglichkeiten geführt, die über
zung der Stimmigkeit (der Anzahl der eingesetzten das Gebäude der ‹musikalischen Rhetorik› bzw. der
Stimmen) oder der Anzahl der erklingenden Noten mit ‹Figurenlehre› hinausgehen. Zunächst sei auf die Mög-
der ‹darzustellenden› Zahl. So wechselt C. Monteverdi lichkeiten der Semantisierung durch Zitate (aus eigenen
in seiner ‹Marienvesper› (1610) bei der Textstelle «et hi Werken oder aus solchen anderer Komponisten) sowie
tres unum sunt» von der Dreistimmigkeit zur Einstim- durch stilistische Besonderheiten verwiesen. Dabei wird
migkeit, in J.S. Bachs ‹Matthäuspassion› erklingt im Musik von ihrem ursprünglichen Kontext abgelöst, be-
Chor der Jünger ‹Herr, bin ich’s?› das Wort «Herr» nur hält aber im Sinne indexikalischer Verweisfunktion teil-
elfmal, obwohl zwölf Jünger beteiligt sind und die Frage weise oder vollständig ihre ‹Erstbedeutung›. Dies ist
«bin ich’s» dementsprechend gleichsam je zweimal sin- etwa bei der Übernahme eines weltlichen cantus firmus
gen, insgesamt also 24mal. Judas spricht das Wort in eine Messe der Fall: Der originale Text erklingt zwar
«Herr» offensichtlich nicht mehr aus, da Jesus für ihn nicht, doch kann die Verteilung des Meßtextes so erfol-
nicht mehr «Herr» ist. – Selbst die Gleichsetzung einer gen, daß sich inhaltliche Parallelen, Hinweise oder Kon-
musikalisch darzustellenden Zahl mit einem diese Zahl kretisierungen ergeben. Allzu ‹erdige› Anspielungen
‹nennenden› Intervall (das sich über jene Anzahl von sorgten hier sogar bisweilen für Unmut oder gar für ein
Tönen erstreckt) ist noch optisch (sowie auch akustisch) Verbot dieser Praxis. – Als Beispiele für spezielle ver-
erfaßbar, wenn also etwa die Zahl sechs durch ein Sext- deutlichende Zitate seien hingegen R. Wagners ‹Leit-
lntervall ‹symbolisiert› wird. motive› genannt.
Wenn nun aber die ‹dargestellte› Zahl selber Symbol Das zweite Feld hängt ursächlich mit der Zuordnung
ist, so wird das ikonische Element zweitrangig. So be- stilistischer Besonderheiten zu gewissen Affekten oder
rufen sich die Juden in J.S. Bachs ‹Matthäuspassion› in Inhalten zusammen. Als Beispiel fungiere L. Lechners
zehn Doppelchören auf das Gesetz, womit die zehn Ge- Zyklus ‹Deutsche Sprüche von Leben und Tod› (1606),
bote symbolisiert erscheinen. Marienmotetten sind we- von dessen 15 Kurzmotetten 14 im ‹alten› Figuralstil ge-
gen der sieben Schmerzen Mariae oft siebenstim- halten sind. Eine hingegen vertritt als eine Art ‹Ballet-
mig [22], doch kann die Zahl sieben auch auf ‹Ruhe› wei- to› den ‹modernen›, homophonen, weltlich-tänzeri-
sen und somit die Ruhe des Sonntags ansprechen. (Etwa schen Gesangston, der nun gleichsam zum Symbol für
in der Motette ‹In omnibus requiem quaesivi› von Or- ein oberflächliches Glück wird, vor dem der Text [26]
lando di Lasso.) Noch verschlüsselter ist die Zahlen- warnt. Auch andere Werke stellen (als Symbol für ‹alt›
symbolik in dem Rezitativ «Und siehe da, der Vorhang und ‹neu› bzw. ‹jung›) ‹alten› und ‹neuen› Stil gegen-
im Tempel zerriß» aus Bachs ‹Matthäuspassion›. Die einander. Ganz in diesem Sinne fordert A. Kircher
Zweiunddreißigstel-Noten unterhalb der drei Textstel- 1650 den ‹Stylus Motecticus› (der ‹grauis, maiestate ple-
len ‹und die Erde erbebete›, ‹und die Gräber taten sich nus›, also würdevoll und voll Majestät sei) für die Ver-
auf› sowie ‹und stunden auf viele Leiber der Heiligen, tonung biblischer Texte oder von Hymnen. [27] Der
die da schliefen› weisen durch ihre Anzahl auf die Psal- ‹stile antico› kann aber auch allein für ‹Altes› oder auch
men Nr. 18, 68 und 104, in denen von einem Erdbeben ‹Heiliges› stehen, wie dies in der kunstvollen Polypho-
die Rede ist. [23] Auch die Tatsache, daß die ‹Missa Sub nie der Szene mit den Geharnischten im Finale von
tuum presidium› von J. Obrecht 888 Tactus-Einheiten Mozarts ‹Zauberflöte›, bei den ‹alten› Stilelementen in
umfaßt, da «die Zahl 888 nach dem griechischen Al- Schuberts Lied ‹Der Einsame› oder bei den Choral-
phabet die Kabbala des Namens Jesus ist» [24], wirft ein Anklängen im ‹Till Eulenspiegel› von R. Strauss der
bezeichnendes Licht auf die sowohl symbolischen als Fall ist. – Analoges gilt schließlich für andere Elemente
auch intellektuellen Kompositionspraktiken alter Mei- stilistischer oder gattungsspezifischer Natur (aus Kir-
ster. chenmusik, Popularmusik, Tänzen etc.), die ebenfalls
Für die Musik des 15. bis 18. Jh. muß noch das Prinzip jeweils ganz bestimmte gesellschaftliche Konnotationen
des ‹Zahlenalphabetes› erwähnt werden, das viele nu- besitzen.
merische Versinnbildlichungen ermöglicht. Es fußt auf Verschiedene Kategorien decken die sog. musika-
der Gleichstellung der 24 Buchstaben (I und J sowie U lisch-rhetorischen Figuren ab. Einerseits ahmen sie (s.
und V gelten als gleich) mit ihren Ordnungszahlen im o.) Bildliches nach (Hypotyposis-Klasse), andererseits
Alphabet: A = 1, B = 2 usw. Auf dieser Basis drückt etwa imitieren sie durch die Übertragung deklamatorischer

327 328
Symbol, Symbolismus Symbol, Symbolismus

Elemente auf Tonhöhen und Tondauern sprachlichen gesteigerte Hinwendung zu musikalischer Semantisie-
Ausdruck, geben also vor allem (insbesondere durch rung. [38] – Alle genannten Elemente wirken dann in
Wiederholungen) Nachdruck (Emphasis-Klasse), und verschieden abgestufter, doch weitgehend ungebroche-
schließlich vermitteln sie spezielle allegorische bzw. ner Form bis ins 19. Jh. weiter. Im 18. Jh. arbeitet man
symbolische Hinweise. Die Figurenlehre, die als solche sogar an einer systematischen Erforschung der Möglich-
bis ins frühe 19. Jh. hinein tradiert wird, hinterläßt ihre keiten des musikalischen Ausdrucks; allerdings mangelt
Spuren insbesondere auf semantischem Gebiet bis in die es laut G.E. Lessing «unstreitig noch an einem Philo-
Musik der Gegenwart. sophen, der ihnen [den Komponisten] die Wege abge-
Im Sinne der Semiotik wichtig ist auch, daß sich in der lernt und allgemeine Grundsätze aus ihren Beispielen
Musik (in der pronuntiatio bzw. actio) zwischen den hergeleitet hätte». [39]
‹Bezeichner› (dem die verschiedenen Zeichen und Fi- Im 19. Jh. weicht das Prinzip der ‹objektiven› Nachah-
guren anwendenden Komponisten) und den Zeichen- mung langsam der persönlichen Gefühlsdarstellung,
benutzer oft noch ein ‹Interpretant› [28] schiebt, der ei- doch gilt die Musik nach wie vor vielen Autoren als
nem Werk seinen eigenen Erfahrungshorizont hinzu- «Sprache, deren Deutlichkeit sogar die der anschauli-
fügt und es somit ausdeutet. Im 18. Jh. wird von diesem chen Welt selbst übertrifft». [40] Erst Vertreter des Au-
allerdings gefordert, «sich in den Affekt des Stücks [zu] tonomie-Prinzips, allen voran E. Hanslik, leugnen die
setzen» [29], um dann «Charakter und Ausdruck» des- semantischen Möglichkeiten, allerdings ohne Ausdruck
selben möglichst genau im Sinne des Komponisten dar- oder Sprachlichkeit selbst in Frage zu stellen: «In der
stellen zu können. C.Ph.E. Bach sieht im guten Vortrag Musik ist Sinn und Folge, aber musikalische; sie ist eine
sogar nichts anderes als die «Fertigkeit, musikalische Sprache, die wir sprechen und verstehen, jedoch zu
Gedancken nach ihrem wahren Inhalte und Affeckt sin- übersetzen nicht im Stande sind.» [41] Die meisten Kom-
gend oder spielend dem Gehöre empfindlich zu ma- ponisten huldigen aber (weiterhin) sowohl der vor allem
chen». [30] bildliche Nachahmungen einbringenden Programmusik
IV. Geschichtlicher Überblick. Bereits im griechischen als auch dem (indexikalischen) Ausdrucksprinzip. Zu-
Altertum werden bei kultischen Handlungen sowie in dem wenden Komponisten wie R. Schumann, A.
den Gattungen der Bühnenkunst durch Musik und Tanz Bruckner, J. Brahms oder H. Wolf die musikalisch-
göttliche Wesen dargestellt. In der Instrumentalmusik rhetorischen Figuren immer wieder in bedeutungsge-
vertreten Verzierungen und koloristische Tonmale- nerierender Weise an. Selbst in den Werken der Ver-
rei [31] das ikonische Element. Damon von Athen be- treter der ‹Wiener Schule› (Schönberg, Berg, Webern)
schreibt bereits im 5. Jh. v. Chr. die Zusammenhänge lassen sich auf Schritt und Tritt sowohl der Tradition der
zwischen musikalischen Phänomenen und Gefühlen. Figurenlehre als auch anderen ‹alten› Usancen entwach-
Platon weist der Musik erzieherische Aufgaben und sene Symbolgebungen dingfest machen. [42]
Funktionen zu und will deswegen gar nur bestimmte Im 20. und 21. Jh. schließlich sind tatsächlich alle Po-
Tonarten ‹zulassen›. [32] In dieser Tradition steht dann sitionen vertreten. Während etwa der französische Im-
auch das Mittelalter, doch treten hier bald ‹Personifizie- pressionismus in hohem Maß mit ikonischen und inde-
rungen› hinzu, die etwa den Choral als Engelgesang ver- xikalischen Zeichen arbeitet und insbesondere Atmo-
stehen. Rhetorisch-deklamatorische Elemente sind ge- sphärisches anstrebt, während die ‹Wiener Schule› und
geben, wenn der Psalmgesang gestische Unterstützung ihre Nachfolger in hochexpressiver Weise Ausdruck
erfährt oder ‹Gestisches› melodisch ‹nachzeichnet›, und Zeichenhaftigkeit aufweisen, und während selbst
symbolische, wenn ‹falsche› Wendungen als Mittel des der bisweilen jedweder Expression abschwörende
Textausdrucks herangezogen [33] und als ornatus gese- I. Strawinsky oder der anfangs ähnlich denkende P.
hen [34] werden. In den Madrigalen des Trecento Hindemith viele Sujets sowohl aus bildhaften (zum Teil
schließlich erfahren Einzelheiten des Textsinnes pro- programmatischen) als auch aus indexikalen außermu-
nonciert ikonisch-allegorische Darstellung, die in den sikalischen Vorstellungen gewinnen und dementspre-
Jahrhunderten danach (in der Renaissance) noch weiter chend ausarbeiten, entsagen Komponisten wie E. Satie,
gesteigert und ausgebaut werden und auch geistliche J. Cage oder zahlreiche Vertreter der ‹seriellen Musik›
Gattungen erfassen. Allgemein wird damals die Mei- aus verschiedenen Gründen nicht nur jedweden bedeu-
nung vertreten, daß sich die Musik den Worten anzu- tungsgenerierenden Zeichen, sondern auch der ‹inhalt-
passen habe [35] und zudem auch auf ‹Wirkung› bedacht lichen› Kommunikation mit dem Hörer an sich. Musik
sein müsse. [36] Diesem Zweck dienen die Wahl des je- wird hier tatsächlich zur im Sinne von Hanslick «tönend
weils ‹geeigneten› Modus sowie sämtliche Einzelheiten bewegten Form» ohne außermusikalische ‹Bedeutung›,
der musikalischen Faktur, wodurch die Basis für den zu jener bereits für das frühe 19. Jh. reklamierten [43],
weiteren Ausbau der musikalischen ‹Affektenlehre› (s. damals aber noch keineswegs wirklich inhaltsfreien ‹ab-
o.) gegeben ist. soluten› Musik.
Wesentliche Impulse erhält das musikalische Sym-
boldenken dann durch die von V. Galilei dreifach ge- Anmerkungen:
sehene Idee der musikalischen «imitazione»: Natur, Ge- 1 Hier s. H. Krones: Musik. A., in: HWRh 5 (2001) Sp. 1532ff.,
danken sowie Worte sollen einerseits nachgeahmt, an- sowie ders.: Musik und Rhet., in: MGG2 Sachteil 6 (1997) 814f.
dererseits musikalisch wesenhaft erfüllt werden. [37] Umfassend unter zeichentheoretischen und semiotischen As-
Hohe Bedeutung erlangt aber auch G. Zarlinos Er- pekten s. Chr. Kaden: Zeichen, in: MGG2 Sachteil 9 (1998)
kenntnis von den Intervalltypen: ‹große› Intervalle ohne 2149–2220. – 2 Kaden [1] 2149. – 3 C. Hartshorne, P. Weiss, A.W.
Halbton (große Sekund, Terz, Sext und Dezim) geben Burk (Hg.): Collected Papers of Ch. S. Peirce (1931–1958,
2
1960) Bd. 2, 143f. – 4 V. Karbusicky: Grundriß der musikali-
Affekte der Freude, ‹kleine› Intervalle mit Halbton schen Semantik (1986) 11. – 5 ebd. 59. – 6 ebd. 86. – 7 Chr.
(kleine Sekund, Terz, Sext und Dezim) Affekte der Flamm: Symbolismus, in: MGG2 Sachteil 9 (1998) 5. – 8 G.
Trauer wieder. Und schließlich dokumentiert auch J. Knepler: Gesch. als Weg zum Musikverständnis (1977) 124–128.
Burmeisters erstmalige Zusammenfassung der musi- – 9 J.J. Engel: Ueber die musikalische Malerey (1780) 4. –
kalisch-rhetorischen Figuren die gegen bzw. um 1600 10 ebd. 11. – 11 H.L. Arnold, V. Sinemus (Hg.): Grundzüge der

329 330
Symploke Symploke

Literatur- und Sprachwiss. 1. Literaturwiss. (61980) 192. – leben soll) und ihre Nähe zum Isokolon, die sich dann
12 Lausberg: El. 139. – 13 Engel [9] 14. – 14 ebd. – 15 J. Matthe- einstellt, wenn die Wortgleichheit in der Wiederholung
son: Der vollkommene Capellmeister (1739) 207. – 16 vgl. H. gelockert wird. [2]
Krones: Kanonkompositionen, in: G.W. Gruber (Hg.): A.
Schönberg. Interpretationen seiner Werke II (2002) 327–345. –
B. Eine zentrale Belegstelle für den Einsatz der S. fin-
17 s. H. Krones: Das Wort-Ton-Verhältnis bei den Meistern der det sich bereits beim Auctor ad Herennium, der für sie
Wiener Klassik. Insbes. am Beispiel des Liedschaffens, in: E. folgendes Beispiel anführt: «Qui sunt, qui foedera saepe
Haselauer (Hg.): Wort-Ton-Verhältnis. Beitr. zur Gesch. im eu- ruperunt? Kartaginienses; qui sunt, qui crudelissime bel-
ropäischen Raum (1981) 47–66 und 145–151, hier 53 und 148. – lum gesserunt? Kartaginienses; qui sunt, qui Italiam de-
18 O. Wessely: Musik (o. J. [1973]) 231. – 19 G. Zarlino: Le Isti- formaverunt? Kartaginienses; qui sunt, qui sibi postu-
tutioni harmoniche (Venedig 1558) 267. – 20 vgl. W. Apel: Die lant ignosci? Kartaginienses.» (Wer sind die Leute, die
Notation der polyphonen Musik 900–1600 (1970) 134ff. und 387. Bündnisse oft gebrochen haben? – Die Karthager. Wer
– 21 vgl. vor allem W. Elders: Stud. zur Symbolik in der Musik
der alten Niederländer (1968) 20–39. – 22 Elders [21] 108ff. –
sind die Leute, die einen grausamen Krieg geführt ha-
23 M. Jansen: Bachs Zahlensymbolik, an seinen Passionen un- ben? – Die Karthager. Wer sind die Leute, die Italien
tersucht, in: Bach-Jb. 1937, 106ff. Zahlreiche ähnliche Hinweise verwüstet haben? – Die Karthager. Wer sind die Leute,
Bachs auf Psalm-Nummern bei L. Prautzsch: Vor deinen Thron die für sich Verzeihung verlangen? – Die Karthager.) [3]
tret ich hiermit. Figuren und Symbole in den letzten Werken J.S. Als Wiederholungsfigur ordnet er sie der ‹Ausschmük-
Bachs (1980) 13 und passim. – 24 Elders [21] 136. – 25 Besonders kung› (exornatio) einer Rede zu und bindet sie damit an
viele Beispiele für diese und andere ‹Buchstabensummen› gibt die Funktion, eine Angelegenheit zu bereichern und ihr
es in Bachs kanonischen Veränderungen über ‹Vom Himmel mehr Ansehen zu verleihen. [4] Behandelt wird sie unter
hoch› sowie in seiner ‹Kunst der Fuge›. Prautzsch [23] 16–46 und
50–186. – 26 «Wenn sich erschwinget das Glück, dir g’linget, tu
dem Terminus ‹conplexio› (Umfassung), den er jedoch
nit drauf bauen, ihm z’viel vertrauen.». – 27 A. Kircher: Musur- auch im Sinne von conclusio als Zusammenfassung einer
gia universalis 1 (Rom 1650) 310 und 585. – 28 Peirce [3] 134ff. – Argumentation [5] sowie gleichbedeutend mit contrac-
29 J.A.P. Schulz, Vortrag, in: Sulzer: Bd. 4 (1794) 710, 701. – tio als «Verschmelzung desselben Buchstabens» (con-
30 C. Ph. E. Bach: Versuch über die wahre Art das Clavier zu plexione eiusdem litterae) verwendet. Als Kombination
spielen (Berlin 1753) 117. – 31 Plat. Pol. 397a,b; Nomoi II 669, zweier Wiederholungsfiguren ist die ‹conplexio› in be-
670; VII 812c-e. – 32 Plat. Pol. 398e, 399a. – 33 Marchettus von sonderem Maße dazu geeignet, ‹Anmut›, ‹Feierlichkeit›
Padua: Pomerium in arte musicae mensuratae (um 1325), hg. und ‹Energie› auszustrahlen [6], Wirkungsfunktionen,
von J. Vecchi (= Corpus scriptorum de musica 6, 1961) 71. –
34 H. Eger v. Kalkar: Das Cantuagium (um 1380), hg. von H.
die auch für Cicero aus der Verdopplung von Worten
Hüschen (1952) 57. – 35 F. Gaffurius: Practica Musicae (1496), resultieren. Cicero betont hier vor allem ‹Nachdruck›
zit. Don Harrán: Word-tone-relations in Musical Thought (vis) und ‹Anmut› (lepos) [7] und führt an, dieses gelte
(Neuhausen/Stuttgart 1986) 366. – 36 Zarlino [19] 4ff. – 37 V. ebenso, wenn die Ähnlichkeit aufgrund geringfügiger
Galilei: Dialogo della musica antica et della moderna (Florenz Änderungen und Abweichungen im Ausdruck variiert.
1581) 82ff. – 38 J. Burmeister: Hypomnematum musicae poeti- Ein Beispiel hierfür findet sich in seiner Rede für Milo:
cae (Rostock 1599), Musica ayÆtosxediastikoyÄ (1601) und Mu- «Quis eos postulavit? Appius. Quis produxit? Appius.
sica poetica (1606). – 39 G.E. Lessing: Hamburgische Drama- Unde? Ab Appio.» (Wer hat sie zu verhören verlangt?
turgie, 26. Stück. – 40 A. Schopenhauer: Die Welt als Wille und
Vorstellung 1 (1819) 3, § 52. – 41 E. Hanslick: Vom Musikalisch-
Appius. Wer hat sie vorgeführt? Appius. Woher kamen
Schönen (1854) 35. – 42 Lit. hierzu s. bei H. Krones: Musik, in: sie? Von Appius.) [8] Quintilian unterscheidet hin-
HWRh 5 (2001) Sp. 1566, Anm. 253, 255, 257 und 264. Ergän- sichtlich der Wortwiederholung generell zwei Arten der
zend s. ders.: Semantische und formale Trad. in Bruckners IX. Wirkungsintention: zum einen um der Steigerung willen
Symphonie, in: Musik-Konzepte 120/121/122 (2003) 173–199, und zum anderen um Klagen auszudrücken. [9] Gleich-
sowie: Schönberg. Werk und Leben (2005) 151–186. – 43 C. zeitig lasse sich eine Verdopplung mit «Ironie zum Ba-
Dahlhaus: Die Idee der absoluten Musik (1978). gatellisieren» [10] nutzen, und es bestehe die Möglich-
H. Krones keit, der Rede Schärfe und Bedrohung zu verleihen. [11]
Aquila Romanus und Martianus Capella wählen zur
^ Allegorie, Allegorese ^ Bild, Bildlichkeit ^ Emblem, Em- Veranschaulichung der S. ein Beispiel, das aus Ciceros
blematik ^ Ikonologie/Ikonographie ^ Literatur ^ Malerei ^ zweiter Siedlergesetzrede gegen Rullus stammt: «Quis
Musik ^ Moderne ^ Repräsentation ^ Semiotik legem tulit? Rullus. Quis tribus sortitus est? Rullus. Quis
decemviros creavit? idem Rullus.» (Wer beantragte das
Gesetz? Rullus. Wer bestimmte durch das Los die Be-
Symploke (griech. symplokhÂ, symplokē´, auch syÂnuesiw, zirke? Rullus. Wer ließ den Ausschuß der zehn Männer
sýnthesis oder koinoÂthw, koinótēs; lat. complexio/com- wählen? Derselbe Rullus.) [12]
plexus, conplexio, conexum, conexio) Die angeführten Beispiele stellen die S. stets in Ver-
A. Die ‹S.› (aus griech. syn, syn: zusammen und bindung mit einer rhetorischen Frage (interrogatio) dar,
plokhÂ, plokē´: Geflecht) wird zu den durch Hinzufügung die in ungeduldig-pathetisch vorgebrachter Form auch
(per adiectionem) gebildeten Wiederholungsfiguren ge- mit dem Ziel der Demütigung der Gegenpartei einge-
zählt. Auffällig ist ihre streng parallele Struktur, da die setzt wird. [13] Die Figur erfüllt jedoch auch eine stili-
gleichen Worte immer am Anfang und am Ende von stisch-poetische Funktion. So verortet Puttenham die S.
zwei oder mehr syntaktischen oder prosodischen Ein- innerhalb des ornatus und hebt hervor, daß die wieder-
heiten wiederholt werden (a1...b1 – a2...b2 – a3...b3 holenden Glieder zu Beginn und am Ende die Verse
usw.). [1] Dieses Wiederholungsschema macht sie zu ei- stützen und umschließen würden. Dies verhindere ein
ner Kombination aus Anapher und Epipher. H. Laus- ‘Herausfallen’ der Satzglieder. [14] Für Peacham steht
berg verwendet in seinem ‹Handbuch der literarischen neben der stilistischen Schmuckfunktion v. a. die emo-
Rhetorik› für ‹S.› den lateinischen Terminus complexio tionale Wirkungskraft der S. im Zentrum des Interesses,
und ordnet sie unter ‹Wortwiederholungen auf Ab- weshalb er besonders ihren Einsatz zur Erregung von
stand› ein. Darüber hinaus verweist er auf ihre häufige Affekten schildert. Dabei warnt er zwar vor ihrem über-
Nutzung als exquisitio (ein fingierter, allein vom Redner triebenem Gebrauch, gesteht ihr jedoch bei richtiger
geführter Dialog, der die Gedankenfolge der Rede be- Anwendung einen Wohlklang bedingt durch den rhe-

331 332
Symploke Symposion

torischen Kreisschluß zu. Darüber hinaus geht er auf Symposion (griech. sympoÂsion, sympósion; dt. Trink-
den möglichen Gebrauch der S. in der Musik ein. [15] gelage, Gastmahl; lat. convivium, compotatio; engl. sym-
In der musikalischen Figurenlehre weicht die Defini- posium; frz. symposium; ital. simposio)
tion der S. von dem klassisch-rhetorischen Verständnis A. Def. – B. Das S. als Fest. – C. Das S. in der Literatur. – I.
ab. So benutzen beispielsweise in der dt. Barockmusik J. Platon und Xenophon als Muster. – II. Historische Entfaltung
Nucius, J. Thuringus und E. Walther den lateinischen der literarischen S.
Terminus complexio, um eine musikalische Wiederho- A. Def. ‹S.› bezeichnet ‹Trinkgelage, Gastmahl› und
lungsfigur zu bestimmen, deren mögliche Anwendung später auch den Raum, in dem beides stattfindet. ëH
sie nicht auf singuläre Sätze beschränken, sondern auf symposiÂa, hē symposı́a bedeutet eigentlich ‹das zusam-
vollständige Passagen und Strophen eines Musikstückes men Trinken›. Zum Ende der archaischen Zeit werden
ausdehnen. [16] Diese erweiterte Definition findet sich das Weintrinken und die Mahlzeit (deiÄpnon, deı́pnon)
ebenso bei Gottsched: «Hierher gehören denn auch die getrennt, die der geselligen Unterhaltung oft, aber nicht
Wiederholungen, da man in ganzen Strophen die ersten unbedingt, vorausgeht. Ähnlich verhält es sich mit der
Zeilen und Wörter, am Ende derselben noch einmal röm. comissatio, während das convivium (Bankett)
brauchet, welches sonderlich in musikalischen Stücken Schlemmen und Trinkerei verbindet.
angenehm fällt, und Symploce heißen kann.» [17] B. Das griechische S. als Fest. Die S. des alten Grie-
Schiller und Goethe setzen die Figur in erster Linie chenland, als private Trinkgelage, unterscheiden sich
zur Emphatisierung und Affekterregung ein («Alles ge- von öffentlichen (z.B. religiösen und staatlichen) oder
ben die Götter, die unendlichen/Ihren Lieblingen ganz/ militärischen Gemeinschaftsmählern, die pädagogische,
Alle Freuden, die unendlichen/Alle Schmerzen, die un- soziale und politische Funktionen erfüllen. Sie entstan-
endlichen ganz.» [18]) und noch im methodisch-didak- den aus den Mählern der archaischen Männerbünde. [1]
tischen Sprechtheater der deutschen Nachkriegszeit ist Im 5. Jh. v. Chr. entwickeln sie sich zu ritualisierten Ge-
neben der parodia und der transmutatio die repetitio und selligkeiten, vornehmlich der freien und wohlhabenden
damit auch die S. ein häufig verwendetes Mittel. [19] Das Bürger, an denen weder Frauen noch Mädchen teilneh-
veranschaulichen beispielsweise die Sprechstücke ‹Pu- men. Sowohl die weiblichen Bediensteten und die He-
blikumsbeschimpfung› und ‹Weissagung› von P. Hand- tären, die für Unterhaltung sorgen, als auch die Knaben,
ke: «Wir spielen nicht. Wir spielen nichts. Wir modulie- die auf bildlichen Darstellungen der S. oft unbekleidet
ren nicht. Wir gestikulieren nicht.» [20] erscheinen, kommen aus nichtbürgerlichen Schichten
H.F. Plett unterstreicht schließlich in seinem Sche- oder sind Sklaven. [2] Im aÆndrvÂn (andrō´n: Herrenzim-
ma der Figuren die mögliche Verknüpfung der S. mit mer) benötigt man Platz für etwa sieben bis elf ringsum
dem Isokolon und betont bezüglich der Wiederholungs- aufgereihte Klinen (kliÅÂnai, klı́nai: Speisesofas), auf de-
figuren, daß stetige Wiederholung Langeweile (taedi- nen die Teilnehmer des S. zu zweit lagern. [3] Jedes S.
um) erzeugen kann. Er empfiehlt daher für einen Text hat feste Rituale und Gebräuche, z.B. das Entfernen der
ein ausgewogenes Mischungsverhältnis von Konstan- Eßtische nach dem Mahl, die Waschung der Hände, die
tem und Neuem. [21] Bekränzung und die Salbung der Zecher, die Mischung
des Weines im krathÂr (kratē´r: Mischkrug), dann Trank-
Anmerkungen:
opfer und Gebet zur Eröffnung des eigentlichen S. usw.
1 Ueding/Steinbrink 303. – 2 Lausberg § 633 und § 772. – 3 Auct. Ein symposiÂarxow (symposı́archos, Zechmeister) wird
ad Her. IV, 14, 20. – 4 ebd. II, 18,28. – 5 ebd.; vgl. auch II, 19,30; zum Leiter des S. gewählt. Er bestimmt z.B. die Trink-
II, 24,46. – 6 vgl. ebd. IV, 13,19. – 7 Cic. De or. III, 206. – 8 ders.: ordnung und -quantität für jeden der Teilnehmer, damit
Pro T. Annio Milone oratio, in: M. Fuhrmann: Cicero. Sämtl. der Rauschzustand erreicht wird. [4] Die derbe Art der
Reden, Bd. 6 (1980) 22, 59. – 9 Quint. IX, 3, 28–33. – 10 ebd. IX, Geselligkeit und Unterhaltung, etwa die sexuell aus-
3, 29. – 11 ebd. IX, 3, 30. – 12 Rhet. Lat. min. 33, 20 (Romanus) schweifenden Rauschfeste, die tanzende oder kopulie-
und 482, 5 (Capella); Übers. Red.; vgl. auch Cicero, De lege rende Polonaise innerhalb des Hauses oder der Zecher-
agraria contra Rullum II, Kap. IX, 22. – 13 vgl. Lausberg § 767. –
14 G. Puttenham: The Art of English Poesie (New York et. al.
schwarm (kv Ä mow, kō´mos), der lärmend und oft pöbelnd
1936) 199f. – 15 Peacham 49. – 16 D. Bartel: Musica Poetica. durch die Straßen zieht, mäßigt sich bis zum Ende des
Musical-Rhetorical Figures in German Baroque Music (Lon- 5. Jh. [5] Gleichwohl bleiben Erotik und Päderastie ein
don 1998). – 17 Gottsched Dichtk. 324. – 18 K. Eibel: Johann Standardmotiv der S. Die Unterhaltung besteht einer-
Wolfgang Goethe. Sämtl. Werke, Br., Tagebücher und Ge- seits aus akustischen (aÆkroaÂmata, akroámata) sowie
spräche, Bd. 1 (1987) 250. – 19 P. Handke: Bemerkungen zu mei- visuellen (ueaÂmata, theámata) Darbietungen durch be-
nen Sprechstücken, in: Stücke 1 (1972). – 20 ders.: Publikums- rufsmäßige Unterhalter, z.B. Flötenspielerinnen, Spaß-
beschimpfung und andere Sprechstücke (71969) 31. – 21 H.F. macher, Sänger, Akrobaten und Gaukler, und anderer-
Plett: Einf. in die rhet. Textanalyse (92001) 45.
seits aus Eigenaktivitäten der Symposiasten mit Gesell-
Literaturhinweis:
schaftsspielen (z.B. koÂttabow, kóttabos, ein Wurfspiel
Arbusow 36, 38f. – D.M. Inguanez, H.M. Willard: Alberici Ca- mit Weinresten) sowie Wort- und Rätselspielen, auch
sinensis Flores rhetorici (Montecassino 1938). – J. Knape, A. Konversation und Rezitation von sympotischer Dich-
Sieber: Rhet.-Vokabular zur zweisprachigen Terminologie in tung. [6]
älteren dt. Rhetoriken (1998). – Lausberg Hb. §§ 629–634. – Als Geselligkeitsform der Wohlsituierten haben die
Martin 304f. – B. Mortara Garavelli: Manuale di retorica (Mai- S. soziale und politische Funktionen, speziell im Kontext
land 21992) 188. – A. Quinn: Figures of Speech. 60 Ways to turn der Spannungen im letzten Viertel des 5. Jh. zwischen
a Phrase (Davis, California 1993). – H.F. Plett: Einf. in die rhet. aristokratischer bzw. oligarchischer Minderheit und der
Textanalyse (71989) 215. – Volkmann 228, 469.
demokratischen Mehrheit in Athen. Sympotische Män-
Chr. Hartmann nerbünde sind oft mit den politischen Clubs (eëtaireiÄai,
hetaireı́ai) identisch, die bei den oligarchischen Staats-
^ Affektenlehre ^ Amplificatio ^ Anadiplose ^ Anapher ^ streichen in den Jahren 411 und 404 v. Chr. entscheidend
Distinctio ^ Emphase ^ Epanalepse ^ Geminatio ^ Memo- mitwirken. [7] Obgleich sie nicht eigentlich politisch
ria ^ Paronomasie ^ Ploke ^ Wiederholung ^ Wortspiel sind, werden S. und nächtliche Zecherschwärme von der

333 334
Symposion Symposion

demokratischen Bevölkerung oft mit aristokratischer hier anwesenden Symposiasten (Phaidros, Eryximachos
und oligarchischer Hybris assoziiert. Bekannt sind der und Alkibiades) der Profanierung der Mysterien be-
Hermenfrevel und die Affäre um die Profanierung der zichtigt wurden, betont den Kontrast zwischen kulti-
eleusinischen Mysterien beim S., Untaten, die Alkibia- viertem Ideal und Realität. Alkibiades, der trotz über-
des und seinen Zechgenossen 415 v. Chr. zur Last gelegt mäßigen Weingenusses noch zu einer improvisierten,
wurden. [8] Im 4. Jh. entsteht dann die Tradition der in- erotisierten Lobrede auf Sokrates fähig ist, macht sich
tellektuellen S. der Philosophenschulen, die, ausgehend zum Symposiarchen und initiiert das Zechen, das nach
von Platons Akademie und Aristoteles’ Lykeion, von dem lärmenden Einbruch eines weiteren Komasten-
Kynikern, Epikureern und Stoikern fortgeführt wird. [9] schwarms schließlich dem intellektuellen S. ein Ende
Platon legt in den ‹Nomoi› detailliert dar, wie ein S. und bereitet. [19]
die Trunkenheit, von autoritären Gesetzgebern genutzt, Charakteristisch für das literarische ‹Sym-posion› ist
zur Erziehung von selbstbeherrschten Staatsbürgern das ‹Miteinander› (sym-, sym-) und nicht die Trinkerei
dienen können. [10] (poÂsiw, poÂsis). Wenn das Dionysische herrscht, muß das
C. Das S. in der Literatur. Versteht man Platons ‹S.› Apollinische meist weichen (außer bei Platons Sokrates,
als Vorbild der literarischen Gattung, an dem alle nach- den weder Weinkonsum noch sympotisches Treiben be-
folgenden Texte gemessen werden, so kann man in der einflussen). [20] Oft droht das S. sich aufzulösen, sobald
Geschichte des literarischen S. die Geschichte eines das gesellige Miteinander durch Zwistigkeiten, Streit
Verfalls sehen. [11] Bestimmt man statt dessen aber We- und sogenannte Weinpöbelei (paroiniÂa, paroinı́a) ge-
sen und Eigenart dieser Literaturform anhand der Texte fährdet ist. Alles wird getan, um die heitere Stimmung
ihrer ersten Autoren, d. h. Platons und Xenophons, so zu retten. [21] Ob nun Reden gehalten werden oder ein-
läßt sich die Entfaltung einer ganzen Literaturgattung zelne Symposiasten sich unterhalten, die übrigen An-
nachzeichnen. [12] wesenden sind immer schon als zuhörende Teilnehmer
I. Platon und Xenophon als Muster. Gewiß ist die gedacht, die sich an der Bildung, der Urbanität oder dem
schriftstellerisch überragende Qualität von Platons ‹S.› Wissen der Sprecher erfreuen. So ist auch der aÆgvÁn so-
unbestreitbar; aber dies macht Xenophons ‹Gastmahl› fiÂaw, agō´n sophı́as, oder die eÆpiÂdeijiw sofiÂaw, epı́deixis
nicht einfach zur unzulänglichen Nachahmung. [13] In- sophiÂas, also der Wissenswettstreit oder die Zurschau-
halt und Ausführung der Texte lassen auf unterschied- stellung der Weisheit, ein weiteres Merkmal des litera-
liche Intentionen schließen. Die Hauptmerkmale des li- rischen S. [22] ‹Wissen› heißt hier Allgemeinbildung,
terarischen S., nämlich Dialogisierung des Werkes als Fachwissen und philosophische Thematik leichterer
Ganzen und Verflechtung von Ernst und Heiterkeit Art. Selbst Platon wählt den Eros als erquickliches The-
oder Spaß (spoydaiÄa kaiÁ geloiÄa, spūdaı́a kai geloı́a), ma. Sein Sokrates verzichtet weitgehend auf tiefgreifen-
von dramatischen Charakteren und Handlungen, ma- den Dialog, Elenchos und Maieutik. Er präsentiert sich
nifestieren sich in verschiedener Weise. [14] Beide Au- stattdessen als unwissenden Schüler im philosophischen
toren setzen das S. (eine Geselligkeitsform, die eigent- Gespräch mit der weissagenden Diotima. Sokrates und
lich bekannt ist für ihre Exzesse) vor allem dazu ein, ge- Eryximachos sorgen für die ernsten Themen, während
sellschaftsethisch zu erziehen. Xenophon orientiert sich Aristophanes und Alkibiades Heiteres und Spaßhaftes
ganz an den realen S., indem er viele der etablierten Un- beitragen, jeder natürlich seinem Charakter und Han-
terhaltungskomponenten beibehält, jedoch Konversa- deln entsprechend. Bei Xenophon unterhält man sich
tion und sympotisches Verhalten auf ein gebildeteres, über eine Vielfalt von Themen, die, wenngleich oft tri-
gemäßigteres und sittsameres Niveau zu bringen sucht. vial, von Sokrates jedoch zur belehrenden Präsentation
So leitet ein didaktisch vorgehender Sokrates ethisch der Weisheit benutzt werden (z.B. die Frage des Ge-
und konversationell das Gelage beim sophistischen Le- brauchs von Parfüm für Männer oder seine Schönheits-
bemann Kallias. Er initiiert Frage- und Antwortspiele, konkurrenz mit Kritobulos). [23] Sokrates’ Verhinde-
gebildete und triviale Konversationsthemen, empfiehlt rung der Diskussion eines wichtigen philosophischen
allen Mäßigung beim Weingenuß, beschwichtigt Que- Themas – der Frage, ob Tugend lehrbar ist – zugunsten
rulanten und hält eine Rede zur Preisung des Eros. [15] eines trivialeren ist bezeichnend, da die Vielfalt der Gä-
Die sympotische Konversation wird durch witzige Ein- ste verschiedene Arten von allgemein zugänglichen
lagen des Spaßmachers Philippos und der Truppe der Themen wünschenswert macht. [24] Entspannung bei
Syrakusaner unterbrochen, womit für heiteren Aus- der Geselligkeit erfordert das rechte Maß von Heiterem,
gleich gesorgt ist. Im idealisierenden Kontrast zum rea- das unterhält und erfreut, und Ernsthaftem, das den
len S. imitiert in Xenophons ‹S.› selbst die erotische Pan- Geist anregt. Erst die Nachfolger Xenophons und Pla-
tomime am Ende des Textes nur die ehelichen Freu- tons erörtern nüchternere philosophische und wissen-
den. [16] schaftliche Themen.
In Platons ‹S.› hingegen verzichtet der Autor zu- II. Historische Entfaltung der literarischen S. Die an-
nächst ganz auf professionelle Unterhaltung, Symposi- deren griechischen und überhaupt alle späteren S. ori-
archen und Weinzwang und widmet sich stattdessen der entieren sich explizit oder implizit an Platons und Xe-
intellektuellen Unterhaltung durch Veranstaltung eines nophons Texten, selbst wenn sie, wie Athenaios es tut,
rhetorischen Agon zur Lobpreisung des Eros. [17] Die diese scharf kritisieren und Homers Vorbild vorzie-
thematische Einheit der epideiktischen Darbietungen hen. [25] Erst durch die häufig wiederholte Nachahmung
markiert die Wende vom realen zum idealisierenden S. entstehen die unverwechselbaren Charakter- und Situa-
Wie fragil die kultiviert-heitere Geselligkeit des exzeß- tionstopoi und letztlich die Literaturgattung selbst. Was
freien S. wirklich ist, wird erstmals deutlich, als ausge- bei den ersten Autoren noch lebendige Dramatisierung
rechnet im Anschluß an Sokrates’ philosophische Eh- war, wird hier zum Typus, z.B. der ungebetene Gast
rung des Eros der plötzliche Auftritt des trunkenen Al- (aÍklhtow, áklētos): der Spaßmacher, der Arzt, der star-
kibiades und eines Komastenschwarms das Fest zu ke Zecher oder unvorhergesehene Situationen wie
sprengen droht. [18] Die Wahl des Datums 416 v. Chr. Streit oder Unterbrechung. [26] Generell entfaltet sich
für die Feier, also ein Jahr bevor mindestens drei der das literarische S. in zwei Richtungen: 1. Betonung der

335 336
Symposion Symposion

Darstellung eines griechischen Symposions auf einer rotfigurigen Schale des athenischen Malers Duris (ca. 505–465 v. Chr.),
gefunden in Vulci. © The Trustees of The British Museum.

geloı́a, 2. Betonung der spūdaı́a, wobei die Verflechtung durch wüste Zecherei zu ruinieren. [30] Stark karikiert
von beiden noch erkennbar sein muß. Die bloße Schil- ist auch die ‹Cena Trimalchionis› in Petrons Roman
derung von Mahlzeiten (deiÄpna, deı́pna), deren Zweck ‹Satyricon›, erzählt vom vagabundierenden Protagoni-
die Darstellung von Gastmählern ist, und die sog. periÂ- sten. [31] Die geloı́a resultieren hier aus derber Situati-
deipna, perı́deipna (eigentlich Leichenmähler), die mo- onskomik und zielen darauf, Extravaganz und Prunk-
nologische Enkomia für Gedächtnisfeiern sind, erfüllen sucht des immens reichen Gastgebers, eines freigelas-
diese Kriterien nicht. [27] Der Eindruck der lebendigen senen Sklaven, spöttisch anzuprangern. Petron nutzt
Mündlichkeit wird von allen literarischen S., obwohl sie geschickt die Situationstopoi des Streits und der Unter-
schriftliche Werke sind, aufrechterhalten und oft, nach brechung, z.B. den Einsturz eines Teils der Saaldecke
Platons Vorbild, durch den Rahmendialog noch unter- und den Einfall eines Komastenschwarms. [32] Statt mit
strichen. geselliger Konversation unterhält der Gastgeber hier
Eine Betonung der geloı́a findet sich klar erkennbar seine Gäste durch Aufbietung aller erdenklichen Mittel
in den satirischen S. der sogenannten ‹menippeischen wie Gaukler, Akrobaten, Rhapsoden usw. sowie durch
Nachahmer› dieser Textform, z.B. bei den Schriftstel- vermeintliche Wissensdarbietung, die nur seine Halb-
lern Horaz, Petron, und Lukian. Jedoch bedeutet ge- bildung enthüllt. Erst seine kurze Abwesenheit gestattet
loı́a hier nicht mehr ‹Heiteres›, sondern ‹Lächerliches›, eine Konversation der betrunkenen Gäste. [33] Obwohl
das, statt Frohsinn und guter Laune, die Abwendung all dies nur burlesk erscheint, verbirgt sich hier, wie bei
von den gebrandmarkten menschlichen Schwächen be- Horaz, eine scharfe Kritik an der dekadenten Gesell-
zweckt. [28] Die Satiriker übertreiben die schlimmsten schaft der Kaiserzeit. [34]
Aspekte der Schlemmermähler, um spöttisch scharfe Auch in Lukians ‹Symposion› (oder: ‹Der Lapithen-
Kritik zu üben und zu unterhalten. An Stelle heiterer kampf›) vertritt der Erzähler den Aspekt der Ernsthaf-
oder erbaulicher Konversation und des rhetorischen tigkeit. Inhalt seiner Schilderung ist das Hochzeitsmahl
Agons treten nun oft Wortgefechte und eine Epideixis einer Bankierstochter. Die Ehrengäste – Philosophen,
des Unkultivierten. So entlarvt z.B. die kleine Sympo- ein Rhetor und ein Grammatiker – demonstrieren dabei
sions-Satire des Horaz mit bissiger Kritik die Protzerei in zunehmend handgreiflicher Weise, daß ihr Benehmen
des Gastgebers, der durch seine entnervenden kulinari- nicht mit ihren Lehren vereinbar ist. [35] Als Fazit stellt
schen Kommentare den Gästen das opulent exotische sich heraus, daß hier die Laien gesitteter sind als die
Mahl verdirbt und sie letztlich so in die Flucht treibt. [29] Moralexperten und daß Buchwissen verbildet. [36] Die
Die humorlose Selbstüberschätzung des Gastgebers karikierten Vertreter der philosophischen Schulen ma-
wird durch die ernsthafte, doch verächtliche Darstellung chen sich durch humorloses Aufplustern und kleinliche
das Erzählers gebrandmarkt, und die geloı́a äußern sich Streitsucht lächerlich und sorgen so unfreiwillig für die
in der Schadenfreude der Geladenen, die sich am Ver- geloı́a. Der Kyniker z.B., den Lukian als ungebetenen
such zweier ungeladener Gäste ergötzen, das Bankett Gast und Spaßmacher einsetzt, beleidigt die anderen

337 338
Symposion Symposion

Banketteilnehmer, reagiert aber zunehmend aggressiv, Macrobius dient die sympotische Einkleidung bloß
als er selbst verspottet wird. [37] Statt intellektueller noch dazu, die enzyklopädische Gelehrsamkeit des Au-
oder gelehrter Unterhaltung ruinieren die Philosophen tors zu zeigen. Dennoch zählt das Werk zu den literari-
also durch ihr rüdes Benehmen und eine wüste Schlä- schen S., da Athenaios sich durchweg bemüht, trotz der
gerei das Fest, trotz der Beschwichtigungsversuche des Erörterungen in langen Kapiteln, die Dialogisierung
Gastgebers. [38] Lukian nutzt die literarische S.-Form und die Verflechtung von Ernst und Heiterkeit aufrecht
damit zur Kritik gelehrter Anmaßungen. zu erhalten. [45] Auch Macrobius erklärt zu Beginn der
Betonen die geloı́a Geselligkeit und Unterhaltung, ‹Saturnalien› ausdrücklich seine Absicht, die eigene Ge-
aber auch Kritik in den literarischen S., so bewirken die lehrtheit in eingängiger sympotischer Form, sozusagen
spūdaı́a eine Distanzierung vom Ablauf des realen Ge- appetitlich zubereitet, seinem Sohn zur Allgemeinbil-
schehens im S. Dies manifestiert sich einerseits als idea- dung zu vermitteln. [46] Dabei verzichtet er zugunsten
lisierende Fiktion und andererseits als enzyklopädische von Vielseitigkeit und Ausführlichkeit explizit auf jede
Wissensschau bzw. -sammlung. Beides will ethisch und Eleganz des Stils. [47] Die Fiktion einer Serie von sym-
geistig bilden. Der idealisierende Typus folgt oft Platons potischen Geselligkeiten zum Saturnalienfest gibt den
‹Symposion›, verzichtet aber auf scheinbare Geschicht- Geladenen Gelegenheit, vielfältiges Wissen von heiter
lichkeit. Plutarchs ‹Symposion der sieben Weisen› Trivialem (z.B. Bonmots Prominenter) bis zu ernsthaft
z.B. entwirft ein ideales Gelehrten-S., das kultivierte Gelehrtem (z.B. Gesetze, Literaturkritik und Rhetorik)
geistige Unterhaltung und auch klassische S.-Rituale zur Schau zu stellen. [48]
(einschließlich der Trennung von Mahlzeit und S.) bie- Nicht mehr zu den echten literarischen S. zählen
tet. [39] Die Dramatisierung der Handlung sowie Cha- Plutarchs ‹Symposiaka›. [49] Er unterscheidet hier
rakter- und Situationstopoi markieren hier das Kulti- nicht unbedingt zum S. Gehöriges von dem, was direkt
vierte der Geselligkeit. Anders als bei den Satirikern zie- dazu zählt. Beides zusammen macht seine ‹Symposiaka›
hen sich die Frauen vor Beginn des S. zurück. Passend aus. [50] Die Bücher enthalten Problemerörterungen als
zur illustren Gesellschaft der Weisen und ihren ver- Tischgespräche und Gesprächsspiele bei kultivierten
schiedenen Metiers erörtert man in Agon und Epideixis Gastmählern. Gesammelt bei wirklichen S., dienen sie
ernsthafte politische und ökonomische Themen. Leichte jetzt der Vorbildung für geselliges Miteinander. Ein-
Konversation und Rätselraten sorgen für Abwechslung. gangs diskutiert man die Frage, ob sich die Philosophie
Plutarchs Thales betont die Verpflichtung der Gäste, auch zur Unterhaltung beim S. eignet (was Macrobius
beim S. als Sprecher und Zuhörer an ernster und heite- ebenfalls erörtern läßt). [51] Die Themenkreise der
rer Konversation teilzunehmen und sich entsprechend ‹Symposiaka› umfassen Allgemeinbildung und Fachwis-
vorzubereiten. [40] Beim ‹Symposion› des Bischofs Me- sen, Triviales (z.B. Folklore) und Ernsthaftes (z.B. Wis-
thodios (mit dem Zusatztitel ‹Über die Keuschheit›) senschaftliches, Ethik, Philosophie und Poetik). In ähn-
beschränkt sich das Heitere auf kleine Neckereien im licher Weise ist auch Dantes ‹Convivio› trotz des Titels
Rahmengespräch. In verklärender Nachempfindung kein literarisches S. mehr. Ohne sympotische Einklei-
verwandelt sich bei den zehn Jungfrauen, die zu Gast bei dung und Dialogisierung, hat sich die Darstellung zu ei-
Aretē´ sind, die platonische Preisung des Eros in einen ner monologischen Wissenspräsentation des Autors
rhetorischen Agon zum Lob der jungfräulich christli- entwickelt, der allein den Leser zum literarischen Ban-
chen Liebe. [41] Die Situation des Paradiesgartens sug- kett lädt, da er die Früchte seiner Weisheit nur mit sei-
geriert bereits die Mustergültigkeit der moralischen nesgleichen teilen möchte. [52] Damit ist die literarische
Reinheit. Völliger Verzicht auf Wein, reiche Speisen Gattung des S. an ihr Ende gekommen. Nachfolgerin
und übliche S.-Bräuche markiert die Abwendung von wird die ebenfalls mündliche und schriftliche Form der
der sinnlichen Welt und die Hinwendung zum christli- Tischgespräche, die ihre Themen in anderer Weise prä-
chen Ideal. sentieren wird.
In diesem Zusammenhang ist auch Kaiser Julians
parodistisches ‹Symposion› (oder ‹Kronia›) zu erwäh-
nen, das, da es sich von realen S. abwendet, primär ernst- Anmerkungen:
1 O. Murray: Sympotic History, in: ders. (Hg.): Sympotica: a
haft wirkt. [42] Beim überirdischen Bankett der Götter- Symposium on the S. (Oxford 1990) 3–13; G. Binder: Gastmahl,
welt werden in diesem Text Speise, Trank und S.-Bräu- in: DNP, Bd. 4 (1998) Sp. 797–806; J. Bremmer: Adolescents, S.
che fast vergessen. Anders als in den menippeischen and Pederasty, in: Murray (1990) 136. – 2 I. Peschel: Die Hetäre
Satiren sind die geloı́a des Spaßmachers Silenus zwar bei S. und Komos (1987) 12 und passim. – 3 B. Bergquist: Sym-
boshaft, aber nicht vulgär. Im Zentrum steht die Bewer- potic Space: A Functional Aspect of Greek Dining-Rooms, in:
tung der römischen Kaiser, also von Julians Vorgängern. Murray [1] 37–65. – 4 Athenaios: Das Gelehrtenmahl, übers.
Viele von ihnen werden gleich verworfen. Die Auser- von C. Friedrich (1998–2001), insbes. die Bücher IX, X, XV; zu
wählten sollen zur Unterhaltung im rhetorischen Agon den griech. und röm. S.-Ritualen und -Bräuchen: Mau: Comis-
satio, in: RE, R.I. Bd. IV, 1 (1900) Sp. 610–619; F. Lissarrague:
und im Kreuzverhör dem Gericht der Götter ihre wah- Around the Krater: An Aspect of Banquet Imagery, in: Mur-
ren Verdienste (statt nur oratorische Fähigkeiten) be- ray [1] 196–209. – 5 Peschel [2] passim. – 6 E. Pellizer: Outlines
zeugen. [43] Der Sieg des Stoikers Mark Aurel und die of a Morphology of Sympotic Entertainment, in: Murray [1]
Verurteilung Kaiser Konstantins betonen Julians Ver- 177–184; außerdem Athenaios I, XIV u. a.; Kottabos: XV,
ehrung der klassischen und seine Ablehnung der christ- 665d ff. – 7 Aristoteles: Der Staat der Athener, übers. v. M. Dre-
lichen Werte (deutlich auch in der Kritik an Jesus, als her (1993) 34,3; G.M. Calhoun: Athenian Clubs in Politics and
Führer der Nicht-Enthaltsamen). [44] Litigation (New York 1970). – 8 Thukydides VI, 27–29; Ando-
Enzyklopädisches Wissen bieten die S. der Gram- kides, On the Mysteries, in: K.J. Maidment (Hg.): Minor Attic
Orators, Bd. 1 (Cambridge, Mass. 1960) I, 11–18, 65–66; zu Al-
matiker. Athenaios’ ‹Deipnosophisten› bilden die um- kibiades s. Plutarch: Fünf Doppelbiographien, T. 2, 22 übers.
fangreichste Kollektion sympotischen Wissens (15 Bü- von K. Ziegler, W. Wuhrmann (1994); O. Murray: The Affair of
cher) und die ergiebigste Informationsquelle für reale the Mysteries: Democracy and the Drinking Group, in: ders. [1]
und für literarische S., von denen viele nur hier Erwäh- 149–161. – 9 R. Hirzel: Der Dialog, T. 1 (1885) 359–360. –
nung finden oder zitiert werden. Wie auch später bei 10 Platon, Nomoi, übers. von K. Schöpsdau (2001) 639a–674a. –

339 340
Synaloephe Synaloephe

11 F. Ullrich: Entstehung und Entwicklung der Literaturgat- liciw, ékthlipsis bezeichnet wird (z.B. kat’ eÆmoyÄ, kat’
tung des S.T. 2 (1909) 18. – 12 J. Martin: S. Die Gesch. einer lit. emū´ – ‹gegen mich›, aus kataÁ eÆmoyÄ, katá emū´), sowie
Form (1931) VIII, der Ullrichs Verfallstheorie ablehnt. – auch die Krasis und die Synizese. Im Gegensatz zur S.,
13 Platon, S., dazu insbes.: Ullrich [11] T.1 (1908) 46–48; Xeno-
phon, S., dazu insbes.: Hirzel [9] T. 1, Anm. 4, 155–156, und
die graphisch im Text bezeichnet wird (so auch die Pra-
Martin [12]. – 14 Verflechtung: Martin [12] 2, 5–6 (mit Her- xis in griech. Texten, die S. mit dem Apostroph ausdrük-
mog.); Dialogisierung ebd. 155–156. – 15 Xenophon, Symposi- ken [8]), steht als graphisch nicht verdeutlichte Ausprä-
on/Das Gastmahl, Ausg. und Übers.: E. Stärk (1993) V, 24–26, gung die Synizese [9]. So kann Quintilian [10] die Er-
VII, 2–5, VIII, 13–41, u. a. – 16 ebd. IX, 2–7. – 17 Platon, scheinungsform der S., hier mit complexio bezeichnet,
S. 176a ff. – 18 ebd. 212c–213a. – 19 ebd. 213e–223b. – 20 ebd. den griech. Termini synaiÂresiw, synaı́resis und synaloi-
223c-d. – 21 Xenophon, S. VI, 1–2, 10, VII, 1; Platon, S. 213a-e. – phē´ zuordnen und die Dihärese (diaiÂresiw, diaı́resis) als
22 Martin [12] 136–139, 162. – 23 Xenophon, S. II, 3–4; V, 1–10. – gegensätzliches Phänomen zur S. fassen [11].
24 ebd. II, 6–7. – 25 Athenaios V, 182a ff. – 26 Topoi: Martin [12]
33–148. – 27 ebd. 155–156; deiÄpna, deı́pna und periÂdeipna,
Die in der lateinischen Antike faßbare Nähe zur Syn-
perı́deipna: ebd. 156–166; Ullrich [11] 19–32. – 28 Martin [12] izese hat bei den lat. Grammatikern zur Einordnung der
25f. – 29 ebd. 216–218; Horaz, Satiren II, 8. – 30 ders.: Satiren S. nicht unter der compositio, wo sie eigentlich stehen
und Episteln, übers. O. Schönberger (1991) Satire II, 8. Z. 33ff. – müßte [12], sondern unter den Metaplasmen [13] ge-
31 Petronius: Satyrgesch., Ausg. und Übers. O. Schönberger führt. Allerdings führt die im Lateinischen zusätzlich ein-
(1992). – 32 ebd.: Gastmahl bei Trimalchio, Streit: 70, 74; Un- tretende S. bei auf den schwachen Konsonanten -m en-
terbrechung: 60, 65. – 33 ebd. 41–46. – 34 P. Habermehl: Petro- denden Schlußsilben zu einer weiteren Differenzierung.
nius (5), in: DNP, Bd. 9 (2000) 674. – 35 Lucianus, Bd. III, Sym- S. bezeichnet so meistenteils die Elision des ersten [14]
posion ē Lapithai, hg. von K. Jacobitz (1836–1841, ND 1966)
34–35. – 36 ebd. 48. – 37 ebd. u. a. 13, 16, 19. – 38 ebd. 31–33, 36,
beim Zusammentreffen zweier Vokale, während die
43ff. – 39 vgl. Ullrich [11] 39ff. – 40 S. der sieben Weisen, in: Plut- Ausstoßung der auf -m endenden Silbe als ecthlipsis be-
arch’s Moralia, Bd. 2, hg. und übers. von. F.C. Babbit (London zeichnet wird [15]. Zum Teil werden S. und Aphärese,
1928) 147e–148a. – 41 Martin [12] 286–289. – 42 ebd. 230–234. – wie die von den Grammatikern gewählten Beispiele be-
43 Julian: S. ē Kronia, in: The Works of the Emperor Julian, hg. legen, auch nicht voneinander geschieden. [16]
und übers. von W. Cave Wright (Cambridge/London 1949) Noch Mosellanus [17] sowie Susenbrotus [18], wel-
318a ff. – 44 ebd. 336a-c. – 45 Martin [12] 270–280. – 46 Macro- che die S. ebenfalls unter die Metaplasmen ordnen, de-
bius, The Saturnalia, hg. und übers. von P.V. Davies (New York finieren S. und ecthlipsis in genau derselben Weise, wo-
1969) I, Prooem. 1–8. – 47 ebd. 14–15, I. 2.8. – 48 ebd. Saturnalia
II, III–VI. – 49 Plutarch: Symposiakōn Biblia/Table-Talk, in:
bei auch Susenbrotus zwischen S. und Aphaerese nicht
Plutarch’s Moralia, Bd. 8, hg. und übers. von P.A. Clement u. a. unterscheidet («casta (e)st quam nemo rogavit» [19]).
(Cambridge, Mass. 1949); Bd. 9: hg. und übers. von E.L. Minar Isoliert stehen die Ausführungen des Consentius, der
Jr. u. a. (Cambridge, Mass. 1961). Nur B.IX ist ein unabhängiges einerseits verschiedene Formen der S. und der ecthlipsis
lit. S., vgl. Martin [12] 247–252. – 50 Plutarch, [49] 629c-e. – als differenzierte Härtegrade der Elision voneinander
51 ebd. 612 ff, vgl. Macrobius, Saturnalia VII, 1. – 52 Dante Ali- scheidet [20] und andererseits die Wahlmöglichkeit der
ghieri: Convivio/Das Gastmahl, Bd. 1–3, Übers. T. Riskin Ausstoßung des ersten oder zweiten Vokals bei der S.
(1996) I, 1. referiert [21], so z.B. die Alternative «coniugi(o) An-
Literaturhinweise:
chisae» bzw. «coniugio (A)nchisae» [22].
F. Lissarrague: Un flot d’images, une esthétique du Banquet In der Dichtung ist die S. aufgrund der metrischen
Grec (Paris 1987). – N.R.E. Fisher: Greek Associations, Sym- Bindung der Texte gut zu beobachten; je nach Periode,
posia, and Clubs; Roman Associations, Dinner Parties, and Gattung und Autor divergiert die Elisionsfrequenz be-
Clubs, in: M. Grant, R. Kitzinger (Hg.): Civilization of the An- trächtlich: So wird in der frühen Dichtung stärker eli-
cient Mediterranean: Greece and Rome, Bd. 2 (New York 1988) diert als in der späten, in der Satire und Komödie stärker
1167–1225. als in der Lyrik. Catull, Vergil, Lucilius und Lukrez
E. Buccioni elidieren stärker als Ovid, Statius, Lucan und Clau-
dian. [23] Für die Prosa ist aus den theoretischen Trak-
^ Asteismus ^ Delectare ^ Dialog ^ Enkomion ^ Gesellig-
keit ^ Gesprächsspiel ^ Konversation ^ Lachen, das Lächer-
taten zu erschließen, daß das Streben nach Hiatvermei-
liche ^ Pädagogik ^ Parodie ^ Satire ^ Streitgespräch ^ dung groß war, vor allem beim Zusammentreffen von o
Tischrede ^ Urbanitas oder u mit a. [24] Allerdings darf Hiatvermeidung auch
nicht übertrieben werden. [25] In der Klausel wird um
der klaren Wortselbständigkeit willen S. in späterer Zeit
Synaloephe (griech. synaloifhÂ, synaloiphē´, auch syn- vermieden. [26]
alifhÂ, synaliphē´ [1]; lat. synaliphe [2], auch synaloe- Vor allem wegen des Unbehagens über den Wegfall
phe [3]; engl. synal[o]epha, elision; frz. synalèphe, élisi- verständniswichtiger Flexionsendungen ist in der Klas-
on; ital. sinalèfe) sischen Philologie die vollständige Ausstoßung der be-
A. Def. Als S. (von griech. synaleiÂfein, synaleı́phein – troffenen Vokale bzw. Silben bezweifelt worden. [27]
‹verschmieren, zusammensalben›) wird die beim Zu- Allerdings finden sich zu diesem Problem keine antiken
sammentreffen zweier Vokale in der Wortfuge entste- Zeugnisse [28]; die Annahme einer nicht vollständigen
hende Elision des ersten Vokals bezeichnet, die zur Hi- Elision führt entweder als Krasis zu ungewöhnlichen
atvermeidung dient. [4] Im Gegensatz dazu benennt Diphtongen [29] oder als angedeutete Aussprache bei
man dizae wesentlich seltenere Ausstoßung des zweiten sehr vielen Elisionen zu metrischen Problemen [30]. Zu-
Vokals als Aphärese. [5] In der englischsprachigen Li- mindest wird durch metrische Inschriften eine vollstän-
teratur hat sich als Bezeichnung für die S. der Terminus dige Elision nahegelegt. [31] «Über die wirkliche Aus-
elision, für die Aphärese prodelision etabliert. [6] sprache in der Rezitation herrscht keine Klarheit [...]
B. Geschichte. In der Antike wird der Begriff sowohl Für den modernen Schulunterricht muß man bei metri-
weiter als auch enger gefaßt. Im Griechischen umfaßt schen Texten die Aussprache mit voller Elision aus
der Terminus synaloiphē´ alle Erscheinungen, bei denen praktischen Erwägungen empfehlen.» [32]
zwei Vokale zu einem zusammengenommen werden [7], Auch in modernen Nationalsprachen ist die S. eine
so also die eigentliche S., die im Griechischen als eÍku- weitverbreitete Erscheinung. [33] Im Französischen ist

341 342
Synaloephe Synästhesie

meist das Schluß-e betroffen [34], so Molière: «Ingrat! – «kannt’ ich», V. 85 «hatt’ er» u. ö.; vgl. D. Breuer: Dt. Metrik
Laissez-l(e) en paix» [35]. Schon seit dem 16. Jh. ist ex- und Versgesch. (31994) 30 und 202.
treme Hiatvermeidung zu beobachten. [36] Im Italieni- J. Scherf
schen besteht die Alternative zwischen der Verschlei-
^ Änderungskategorien ^ Aphaerese ^ Apokope ^ Epen-
fung der beiden betroffenen Vokale, wobei jeder seine these ^ Figurenlehre ^ Metaplasmus ^ Paragoge ^ Prosthese
Klangqualität behält (sinalèfe; z.B. Tasso: «Molto egli ^ Sprachrichtigkeit ^ Synizese ^ Synkope ^ Systole
oprò co’l senno e con la mano» [37]), und der vollstän-
digen Ausstoßung (elisione bzw. afèresi; z.B. Petrarca:
«Quand’ io partı̀’ dal sommo piacer vivo» [38]) einer der Synästhesie (engl. synesthesia; frz. synesthésie; ital. sin-
beiden Vokale. [39] Schon in der althochdeutschen estesi, sinestesia)
Dichtung tritt S. auf, hier noch nicht auf das Schluß-e A. I. Typologie. Unter dem Begriff der ‹S.› wird im
reglementiert (Otfrid von Weissenburg: «thoh Médi iz allgemeinen das Phänomen der Miterregung eines Sin-
˙
sı́n ioh Pérsi» [40] mit Markierung des zu elidierenden nesorganes bei der Reizung eines anderen verstanden,
Lautes) wie ab der frühmittelhochdeutschen Dichtung wobei sich die Wahrnehmungen von mindestens zwei
(Gottfried von Strassburg: «sus múose er áber» [41]; Sinnen miteinander zu einer Einheit verbinden. So wer-
Hartmann von Aue: «vil schiere begunde ˙ er» [42]. Vor den beispielsweise optische Eindrücke oder Vorstellun-
˙
allem die Ausführungen von Opitz zur Hiatvermeidung gen durch akustische Signale ausgelöst, oder visuelle
(«Das e/wann es vor einem anderen selblautenden Reize ziehen akustische Wahrnehmung nach sich. Weit
Buchstaben zue ende des wortes vorher gehet [...] wird verbreitet ist auch die Assoziation von Buchstaben und
nicht geschrieben vnd außgesprochen/sondern an seine Zahlen mit bestimmten Farben. Sprachlich repräsen-
statt ein solches Zeichen ’ dafür gesetzt.» [43]) und die tiert werden synästhetische Erfahrungen durch die Be-
starke Anlehnung an die antike Metrik haben bei Dich- schreibung von Sinneseindrücken mit Eigenschaften,
tern wie Klopstock, Goethe und Hölderlin starke Hi- die eigentlich anderen Sinnesorganen zugeordnet wer-
atvermeidung durch Elision des Schluß-e bewirkt. [44] den (z.B. ‹schreiendes Rot›, ‹heller Klang›). Dabei liegt
jedoch nicht jeder sprachlich realisierten S. eine tatsäch-
Anmerkungen: liche Vermischung der Sinnesempfindungen zugrunde,
1 Eustath. p. 1561, 11. – 2 so Charisius 367, 23 Barwick oder Ps.- weshalb deutlich zwischen ‹S.› als a) ästhetisch-rhetori-
Probus IV, 263, 28 Keil. – 3 Priscian. II, 364, 16 Keil; zur unter- schem Stilmittel und b) als einem neurologisch nach-
schiedlichen Form M. Leumann: Lat. Laut- und Formenlehre weisbaren Phänomen unterschieden werden muß.
(1977) 77. – 4 W.S. Allen: Vox Graeca (Cambridge 1968) 90–92; zu a) Als Tropus wird die S. zu den rhetorischen Stil-
L. Mueller: De re metrica poetarum Latinorum praeter Plau-
tum et Terentium libri septem (1894) 327f. mit antiken Belegen.
mitteln des bildlichen Vergleiches, den Metaphern ge-
– 5 z.B. S. Boldrini: Prosodie und Metrik der Römer (1999) zählt. Allerdings wird sie heute überwiegend als eine
52–54. – 6 z.B. D.S. Raven: Latin Metre (London 1965) 27f. – «spezifische Unterkategorie der Metapher» [1] oder als
7 nach schol. A Hephaistion p. 106, 20–107, 21 Consbruch. – eine «Sonderform der Metapher» [2] bezeichnet. Im Un-
8 Allen [4] 94. – 9 Choiroboskos p. 208, 11–209, 8 Consbruch. – terschied zur Metapher im eigentlichen Sinne, die für
10 Quint. I, 5, 17. – 11 ebd. IX, 4, 36. – 12 Lausberg Hb. § 493. – den bildlichen Vergleich Beschreibungen beliebiger
13 Charisius 366, 4 Barwick; Donat IV, 395, 31 Keil. – 14 Marius Sachverhalte gebraucht, sind synästhetische Vergleiche
Victorinus VI, 66, 11–13 Keil. – 15 Charisius 367, 19–368, 4 Bar- besonders auf die Dimensionen der sinnlichen Wahr-
wick; Ps.-Probus IV, 263, 10–264, 12 Keil; Pompeius V, 298, 9–30
Keil; weitere Stellen bei W.O. Neumann: De barbarismo et
nehmung eines Reizes bezogen. Als sprachliche Figur
metaplasmo quid Romani docuerint (Königsberg 1917) 101f. – beschreibt sie dabei den Wechsel zwischen verschiede-
16 Beda VII, 247, 1–12 Keil. – 17 Petrus Mosellanus (= Peter nen Sinnesmodalitäten. Ihre Funktion liegt in der mög-
Schade): Tabulae in schemata et tropos Petri Mosellani (in lichst anschaulichen und bildhaften Darstellung eines
Rhetorica Philippi Melanchthonis) (Mainz 1548) a3v und a4v. – Sachverhaltes (illustratio): Als affektiv-eindrückliches
18 Iohannes Susenbrotus: Epitome troporum ac schematum et Mittel des bildlichen Vergleiches macht sie komplexe
grammaticorum et rhetorum (Zürich 1541) 23f. – 19 ebd. 23 = und abstrakte Vorgänge auf einer für den Zuhörer in-
Ovid, Amores I, 8, 43. – 20 Consentius V, 389, 30–390, 13 Keil. – tuitiv erfaßbaren Ebene greifbar. Der S. als Figur im
21 ders. V, 401, 2–404, 8 Keil. – 22 Verg. Aen. III, 475. – 23 vgl.
A. Siedow: De elisionis aphaeresis hiatus usu in hexametris
Arbeitsstadium der sprachlichen und stilistischen Aus-
(1911) passim; J. Soubiran: L’élision dans la poésie Latine (Pa- arbeitung der Rede (elocutio) und Instrument des Re-
ris 1966) 559–612. – 24 Quint. IX, 4, 33. – 25 Cic. Or. 23, 77; deschmucks (ornatus) fällt darüber hinaus eine beson-
Quint. IX, 4, 35. – 26 zum Komplex der Prosa vgl. Lausberg Hb. dere Funktion der Bedeutungsausweitung sprachlicher
§§ 969–973. – 27 so Boldrini [5] 52; mit Übersicht E.H. Sturte- Ausdrucksformen zu. Die Möglichkeiten zur Beschrei-
vant, R.G. Kent: Elision and Hiatus in Latin Prose and Verse, bung eines Sachverhaltes sind beschränkt, solange man
in: Transactions of the American Philological Association 46 sich bei ihnen nur auf eine Wahrnehmungsmodalität be-
(1915) 129–155 u. 135–138; W.S. Allen: Vox Latina (Cambridge zieht. Das poetische Stilmittel der ‹S.› hebt die Grenzen
1965) 78. – 28 zur umstrittenen Stelle Quint. IX, 4, 40; vgl. Stur-
tevant, Kent [27] 145–147. – 29 Lausberg Hb. § 473. – 30 Sturte-
unterschiedlicher Sinneseindrücke zugunsten einer Syn-
vant, Kent [27] 140–141. – 31 ebd. 139; zum ganzen Problem aus- these der Wahrnehmung auf und ermöglicht somit eine
führlich Soubiran [23] 55–91. – 32 Leumann [3] 123; ähnliches nuanciertere Darstellung. So läßt sich beispielsweise die
Fazit Allen [27] 82. – 33 Lausberg § 973; Sturtevant, Kent [27] Paraphrase ‹Ein Licht, das mich zwingt, die Augen zu
139–140. – 34 Morier 410f.; zu anderen Fällen W.Th. Elwert: schließen› treffender durch die synästhetische Wendung
Frz. Metrik (1961) 29f. – 35 Molière: Le Tartuffe II, 6. – 36 H.G. ‹hartes Licht› [3], – einer sprachlichen Synthese aus Tast-
Coenen: Frz. Verslehre (1998) 48–56; Elwert [34] 53–59; zur und Gesichtssinn – wiedergeben. Die synästhetische
Elision im Engl. vgl. T.V.F. Brogan: Art. ‹Elision›, in: Premin- Metapher setzt an dem Punkt an, an dem das Beschrei-
ger 325f. – 37 Gerusalemme Liberata I, 1, 3. – 38 Canzoniere
267, 13. – 39 W.Th. Elwert: Ital. Metrik (21984) 29–43. –
bungsinventar eines Sinnesbereiches darin versagt, Ver-
40 Evangelienbuch I, 1, 86. – 41 Tristan 900. – 42 Erec 163; vgl. gleiche zu liefern, die das Gemeinte zum Ausdruck brin-
W. Hoffmann: Ahd. Metrik (1967) 70–71; O. Paul, I. Glier: Dt. gen können. Da die S. die Grenzen des in der alltägli-
Metrik (91974) 59f. – 43 M. Opitz: Buch von der dt. Poeterey chen Wahrnehmung rational Getrennten überschreitet,
(1624) F2b. – 44 z.B. Hölderlin: Patmos, 1. Fassung, V. 24 findet sie ihre größte Wertschätzung v. a. in den litera-

343 344
Synästhesie Synästhesie

rischen Epochen, die sich nicht an klassizistischen oder den «Gebrauch des einen Sinnes, um die Stelle eines an-
realistischen Traditionen ausrichten, sondern sich stili- dern zu vertreten» [9] versteht, eine Adaptionsfähigkeit
stisch am Manierismus orientieren, besonders aber in menschlicher Sinnesorgane also, die dann in Erschei-
der Romantik und im Symbolismus. nung tritt, wenn der Verlust einer der fünf Sinne zu be-
zu b) In der synästhetischen Wahrnehmung ist theo- klagen ist. Beispiele hierfür finden sich schon im 17. und
retisch die Kombination zweier oder mehrerer Sinnes- frühen 18. Jh. in medizinischen und naturphilosophi-
eindrücke aus allen fünf Sinnesbereichen möglich, am schen Abhandlungen; besonders häufig ist die Erwäh-
weitesten verbreitet ist allerdings das ‹Farbenhören›. nung von Blinden, die Farben riechen oder mit Ohren
Bei dieser Form der S. (auch ‹Synopsie›) werden aku- und Tastsinn sehen könnten. [10] Berühmt wird hier vor
stische Signale wie Töne, Musik oder Sprache von opti- allem eine Stelle in J. Lockes ‹Essay Concerning Human
schen Sekundärempfindungen (Photismen) in Form von Understanding› von 1690, die die Situation eines Blin-
Farben, Mustern oder geometrischen Figuren begleitet. den schildert, der sich über Farben Gedanken macht und
Die zweithäufigste Erscheinungsform ist der umgekehr- schließlich zu dem Resultat gelangt, daß Scharlachrot
te Fall, das ‹Tönesehen›. Hier lösen optische Wahrneh- wie der Klang einer Trompete wäre. [11] Diese Stelle ist
mungen Sekundärempfindungen akustischer Natur aus der Ausgangspunkt für eine umfassende Diskussion, an
(Phonismen). Andere Formen der Sinnesverknüpfun- der sich im 18. und 19. Jh. europaweit zahlreiche Autoren
gen wie z.B. die von Geruchs- und Tastsinn oder etwa wie Shaftesbury, H. Fielding, A. Smith, Darwin, Mme
Hör- und Geschmackssinn sind relativ selten anzutref- de Staël oder L.-B. Castel beteiligen. Castel entwickelt
fen. Die physische S. zeichnet sich, im Unterschied zur ab 1723 sogar ein Farbenklavier, das akustische Reize
kreativ-ästhetischen Assoziation, dadurch aus, daß die mit optischen verbinden sollte. Vermutlich gehen auch
Primärempfindung, erzeugt durch die sinnliche Rei- die literarischen S. ‹mit den Ohren sehen› oder ‹mit den
zung, in untrennbarer Einheit mit der sie begleitenden Augen hören›, die als rhetorische Topoi in der abendlän-
Sekundärempfindung erlebt wird, was sich neurologisch dischen Literatur eine lange Tradition haben, auf diesen
nachweisen läßt. Kontext zurück. Ein berühmtes Beispiel hierfür präsen-
II. Begriffsetymologie. Bei dem Begriff ‹S.› handelt es tiert Shakespeare in seinem ‹King Lear›: «Man kann se-
sich um einen Neologismus aus der Psychologie und Me- hen, wie es in der Welt zugeht, auch ohne Augen. – Sieh
dizin des 19. Jh., der erstmals von dem französischen mit deinen Ohren!» [12]
Physiologen A. Vulpian verwendet wird [4] und das als Eine andere These sieht die Entstehung solch syn-
pathologisch angesehene Syndrom der Verschmelzung ästhetischer Metaphern nicht im Kontext krankhaf-
zweier Sinnesebenen (sensations associées) beschreibt. ter Abweichungen, sondern als Ergebnis einer allge-
Abgeleitet wird der Begriff von griech. synaiÂsuhsiw, mein anthropologischen Wahrnehmungs-, Gefühls- und
synaı́sthēsis (Zusammenwahrnehmung, Zugleichwahr- Denkfähigkeit, die sich auch in der Natur der Sprache
nehmung), der jedoch in der antiken Philosophie den niederschlägt. Einer der ersten, der diese Idee formu-
Zustand der ‹Sympathie› zwischen zwei Personen be- liert, ist Herder, der 1770 in seinem Aufsatz ‹Über den
schreibt, zudem in der antiken Medizin die Begleitemp- Ursprung der Sprache› die Entstehung der Sprache und
findungen von Schmerz umfaßt und damit für eine an- hier v. a. ihren metaphorisch-synästhetischen Charakter
dere Bedeutung als der moderne Begriff steht. Erst mit J. an eine ursprüngliche ‹Einheit der Sinne› bindet: «Die
Millet (1892) und V. Ségalen (1902) geht der Begriff Seele die im Gedränge solcher zusammenströmenden
‹synésthesie› in die Literaturwissenschaft als Bezeich- Empfindungen und in der Bedürfnis war, ein Wort zu
nung für eine Sonderform der Metapher ein [5], wobei schaffen, grif und bekam vieleicht das Wort eines nach-
Ségalen in seinem Aufsatz über die Symbolisten die S. als barlichen Sinnes, dessen Gefühl mit diesem zusammen-
«un Trope nouveau» [6] bezeichnet und damit die Neu- floß.» [13] Dieser Ansatz bestimmt auch die Arbeiten
artigkeit dieser rhetorisch-poetischen Figur hervorhebt. von A. Wellek, der (ab 1929) Beispielen rhetorisch-
Tatsächlich präsentiert aber schon Chr. A. Lobeck 1846 sprachlicher S. vom frühen Altertum bis hin zu außereu-
zahlreiche Textbelege aus der römischen und griechi- ropäischen Kulturen nachspürt und den Begriff der ‹Ur-
schen Literatur, die von Aischylos (ktyÂpon deÂdorka, synästhesien› prägt, die ‹allgemein-menschlich› gültig
«ich sah das Dröhnen» [7]) bis Vergil reichen und deut- seien und unter denen «im Sprachgut der verschieden-
lich machen, daß S. als sprachliches Stilmittel eine lange sten Völker nachweisbare Entsprechungen zwischen
europäische Tradition hat. Da Lobeck jedoch gemäß Qualitäten verschiedener Sinnesbereiche» zu verstehen
dem Kontext der medizinisch-physiologischen Diskus- sind. Als zentrale Beispiele nennt Wellek die Korre-
sion S. als krankhaft einstuft, bewertet er auch die vielen spondenz von Tönen mit den Eigenschaften «hell und
Beispiele sprachlich-literarischer S. als ‹Solözismen›. [8] dunkel», «warm und kalt», wie überhaupt die traditio-
Auch wenn man heute davon ausgeht, daß es sich bei den nelle «Tonmalerei» und musikalische Symbolik. [14]
Fällen tatsächlicher S. nicht um eine Erkrankung, son- B. I. Antike, Mittelalter. Es ist kein philosophischer
dern lediglich um eine psychologisch-neurologische Dis- Text der Antike bekannt, der sich für die Möglichkeit
position im Wahrnehmungsprozeß handelt und Lobecks einer realen Vermischung verschiedener Sinneseindrü-
Ansichten daher veraltet und pedantisch anmuten, ar- cke aussprechen würde. Im Gegenteil wird größtenteils
gumentiert der Autor auf der Basis einer langen Tradi- der Standpunkt vertreten, daß die Vermischung ver-
tion: Das Phänomen der ‹S.›, das auch unter umschrei- schiedener Sinnesqualitäten absolut unmöglich sei. Die-
benden Begriffen wie ‹Mitempfindung›, ‹Sinnesvertau- se Überzeugung findet sich v. a. in den Schriften ‹De sen-
schung›, ‹Doppel-› oder ‹Sekundärempfindung› seit su et sensibili› und ‹De anima› von Aristoteles, der hier
dem 17. Jh. thematisiert wurde, galt teilweise noch bis ausführlich schildert, daß jeder Sinn stets nur einen Ge-
ins 20. Jh. hinein als krankhafte Störung des Wahr- genstand habe und man auch nicht zweierlei zugleich
nehmungsapparates oder Begleiterscheinung anderer wahrnehmen könne, insbesondere nicht zwei verschie-
Wahrnehmungsstörungen wie Blindheit oder Taubheit. dene Sinnesmodalitäten wie ‹weiß› und ‹süß›. [15] Be-
Der pathologische Kontext spiegelt sich schon in der sonders einflußreich für das S.-Verständnis der antiken
Debatte um das «Vikariat der Sinne», worunter Kant und mittelalterlichen Tradition wird eine Stelle aus ‹De

345 346
Synästhesie Synästhesie

anima›: «[J]eder Sinn kann nur seinen Gegenstand be- tont der Mystiker und Philosoph J. Böhme, daß das Auf-
urteilen und täuscht sich nie darüber, ob es eine Farbe sei gehen aller Sinne in der Wahrnehmung des göttlichen
oder ein Klang». [16] Zwar bindet Aristoteles im Ab- «Schall des Hörens, Sehens, Fühlens, Schmeckens und
schnitt über Ton und Gehör die Wahrnehmung des Riechens» [27] möglich sei. Auch der antike Topos von
‹Tons› an das ‹Hohe› und ‹Tiefe›, die er als «metapho- ‹Sphärengesang› und ‹-harmonie›, demzufolge die Ord-
rische Ausdrücke vom Tastsinne» herleitet und mit dem nung des Kosmos hörbar sei, erlebt in Verbindung mit
‹Scharfen› und ‹Stumpfen› vergleicht. [17] Auch in der Zahlenmystik und -symbolik ein erneutes Interesse, das
‹Topik› [18] nennt er Beispiele für synästhetische Fügun- sich sowohl in A. Kirchers musikalisch-kosmologischen
gen und bemerkt, daß die Bezeichnungen ‹hell› und Spekulationen, Newtons Lehre von der ‹Farbenhar-
‹dunkel› sowohl mit Stimmen als auch mit Farben in Be- monie› als auch in den Anstrengungen um das bereits
ziehung gesetzt werden können. Dennoch betont er erwähnte Farbenklavier Castels niederschlägt. Die Ver-
gleichzeitig ihren rein metaphorischen Charakter, der je- bindung von Farbzusammenstellungen und musikali-
der realen Wahrnehmung zuwider laufe: «Dinge dersel- schen Konsonanzen aufgrund bestimmter Zahlenver-
ben Art werden nämlich von demselben Sinn wahrge- hältnisse wird hier ebenso diskutiert wie die Identität
nommen, das Helle in der Stimme und das der Farbe er- von Licht und Schall oder die Zuordnung einzelner
kennen wir jedoch nicht mit demselben Sinn, sondern Töne und Intervalle zu bestimmten Farben. [28]
das eine mit dem Gesichtssinn, das andere mit dem Ge- III. Romantik. In der literaturgeschichtlichen Epoche
hör.» [19] In der ‹Rhetorik› spricht er schließlich sogar der Romantik wird der S. als Stilmittel besondere Auf-
von einem ‹Solözismus› wenn Begriffe wie ‹Klang› und merksamkeit zuteil, denn bedingt durch die selbstre-
‹Farbe› mit dem Partizip ‹sehend› verknüpft werden. Als flexive Behauptung ästhetischer Autonomie in der Li-
gemeinsamer Oberbegriff kommt für Aristoteles höch- teratur der Romantik sucht man nach neuen Formen des
stens ‹bemerkend› in Frage, womit er eindeutig ein syn- Ausdruckes und strebt das Ideal des Gesamtkunstwer-
ästhetisches Zeugma als sprachliche Figur ablehnt. [20] kes an, der Synthese der Künste in einem einzigen
Die aristotelischen Überzeugungen üben einen star- Kunstwerk. Die S. in ihrer sinnesverbindenden Eigen-
ken Einfluß auf die mittelalterliche Tradition und hier schaft erweist sich auf der literarischen Ebene dafür als
insbesondere die christliche Philosophie aus. So ver- adäquates Stilmittel. So formuliert Novalis exempla-
neint auch Thomas von Aquin in seinem Kommentar zu risch die romantische Vorstellung der Einheit der Sinne
Aristoteles’ ‹De sensu et sensibili› die reale, physische im letzten Kapitel des ‹Heinrich von Ofterdingen›: «Alle
Vermischung der Sinne. Trotz Ablehnung des physi- Sinne sind am Ende ein Sinn. Ein Sinn führt wie Eine
schen Phänomens hat die literarisch-rhetorische S. je- Welt allmählich zu allen Welten.»
doch seit der Antike für Dichter und Rhetoren einen IV. Moderne. Erst ab der Periode des Symbolismus
besonderen Reiz. So spricht Homer von ‹lilienfarbigen deckt sich der Begriff der S., dem Phänomen nach schon
Stimmen› und Cicero demonstriert, wie die Metaphern längst vorhanden und bekannt, mit dem heute verwen-
von der ‹Süßigkeit der Rede› oder dem ‹Geruch der ele- deten literaturwissenschaftlichen Terminus. Während in
ganten Welt› von verschiedenen Sinnen abgeleitet un- der Romantik synästhetische Wendungen genutzt wer-
mittelbar auf die Sinnlichkeit der Zuhörer wirken kön- den, um die verdeckten Bezüge aller Dinge untereinan-
nen. [21] Auch Ps.-Longin bewundert an einem Gedicht der aufzuzeigen, betonen Sinnesverknüpfungen in der
Sapphos die «Versammlung von Affekten»: «Bewun- modernen Literatur häufig die Widersprüche und Miß-
derst du nicht, wie sie zugleich Seele und Leib, die Oh- töne der Wahrnehmung. Die sinnliche Überreizung
ren, Zunge, die Augen, die Haut, alles, als sei es ihr ent- durch das Leben in der Großstadt läßt bei Dichtern wie
fremdet und zerstoben, zusammensucht und in grellem A. Rimbaud oder Ch. Baudelaire das Gefühl einer
Wechsel Kälte zugleich und Hitze spürt, ohne Verstand Verwirrung der Sinne zurück, die sich in unstimmiger
besonnen ist [...], so daß nicht nur ein Affekt an ihr her- und paradoxer Verknüpfung des sinnlich Erfahrenen
vortritt [...].» Zwar handelt es sich hier nicht um eine Sin- äußert. Eine fast beängstigende Dissonanz zwischen
nesvertauschung im strengen Sinn der S., dennoch findet Wahrnehmung, Wahrnehmenden und Wahrgenomme-
hier zumindest eine Verknüpfung verschiedener Wahr- nen spürt man in P. Celans Gedicht ‹Ein Auge, offen›.
nehmungsqualitäten statt. Die wichtigsten Metaphern In den Zeilen «Stunden, maifarben kühl./Das nicht
zur «sinnliche[n] Vergegenwärtigung» werden dabei seit mehr zu Nennende, heiß,/hörbar im Mund» klingt deut-
der Antike v. a. dem Metapherntyp ‹belebt/unbelebt› lich das Gefühl der Verlorenheit in der Welt der Sinne
(ab animali ad inanimale) zugeordnet und spielen von und sinnlichen Wahrnehmungen nach.
Anfang an als Gedankenfiguren eine zentrale Rolle in
Poetik und Rhetorik. [22] Anmerkungen:
Beispiele für ‹S.› als rhetorisches Stilmittel finden sich 1 S. Gross: Lit. u. S.: Überlegungen zum Verhältnis von Wahr-
in der Bibel [23], bei Augustinus [24], in Darstellungen nehmung, Sprache und Poetizität, in: H. Adler, U. Zeuch: S. In-
terferenz-Transzferenz-Synthese der Sinne (2002) 57–76. – 2 P.
mystischer Ekstase oder des Paradieses sowie in Dantes Wanner-Meyer: Quintett der Sinne. S. in der Lyrik des 19. Jh.
‹Inferno› [25]. Dennoch kann davon ausgegangen wer- (1998) 26. – 3 W. Abraham: S. als Metapher, in: Folia Linguistika
den, daß es sich hier nicht um die literarische Wieder- 21 (1987) 156. – 4 A. Vulpian: Leçons sur la physiologie générale
gabe eines physischen Vorganges handelt. Mit größter et comparée du système nerveux faites au Muséum d’histoire
Wahrscheinlichkeit war die S. von der antiken bis hin zur naturelle, hg. v. E. Brémond (Paris/London/New York 1866);
frühneuzeitlichen Literatur lediglich ein rhetorisch- vgl. auch L. Schrader: Sinne und Sinnesverknüpfungen. Stud. u.
poetisches Mittel zur anschaulichen Beschreibung (de- Materialien zur Vorgesch. der S. und zur Bewertung der Sinne
scriptio). [26] in der ital., span. und frz. Lit. (1969) bes. 11ff. – 5 vgl. J. Millet:
Audition colorée (Thèse Montpellier 1892) u. V. Ségalen: Les
II. Barock. Die Beschäftigung mit dem Phänomen synesthésies et l’école symboliste, in: Mercure de France 42
der ‹S.› im Barock geschieht hauptsächlich aus Interesse (1902) 57–90. – 6 Ségalen [5] 86. – 7 Aischylos, Septem contra
an den universalwissenschaftlichen und religiös-mysti- Thebas V. 107; in der Übers. v. J.G. Droysen: «Getös, ich
schen Zusammenhängen, in denen die sinnliche Wahr- hör’es», in: Aischylos: Die Tragödien und Fragmente. Eingel. v.
nehmung der Schöpfung Gottes eingebettet ist. So be- W. Nestle, Nachwort v. W. Jens (1957) 78. – 8 Chr.A. Lobeck:

347 348
Synchronisation Synchronisation

PHMATIKON sive verborum Graecorum et nominum verba- B. I. Verhältnis der Fassungen. Ein Großteil der bis-
lium technologia (1846) 329ff. – 9 I. Kant: Werkausg., hg. v. W. herigen S.-Forschung basiert auf der praxisfernen An-
Weischedel, Bd. 10 (1975) 454. – 10 vgl. z.B. Chr.F. Richter: Die nahme, daß die Aufgabe der S., wie die der literarischen
höchst-nöthige Erkenntniß des Menschen sonderlich nach dem
Leibe und natürlichem Leben, oder deutlicher Unterricht von
Übersetzung, reproduktiv sei, sich also am ‘objektiven’
der Gesundheit und deren Erhaltung [...] (Leipzig 31710). – 11 J. Maßstab des Ursprungsprodukts zu orientieren habe.
Locke: An Essay Concerning Human Understanding (1690) III, So werten Forscher wie Müller oder Whitman-Linsen
4, § 11. – 12 W. Shakespeare: King Lear, IV, 6. – 13 J.G. Herder: Abweichungen von der Originalfassung nur als «Fehllei-
Über den Ursprung der Sprache, hg. v. C. Träger (Berlin 1959) stungen» [1] oder «errors» [2], ohne das schöpferische
51. – 14 A. Wellek: Art. ‹Farbenhören›, in: MGG 3 (1954) Sp. Leistungspotential einer S.-Fassung anzuerkennen,
1804–1811, hier 1807f. – 15 Arist. De sensu et sensibili VII, 447 b denn aus der Perspektive der Reproduktion heraus liegt
9 u. 20; s. auch De anima II, 6, 418 a 11; II 11, 423 a 8. – 16 Arist. das höchste Ziel darin, die ‘Qualität’ des Ursprungsfilms
De anima II, 6, 418 a 14; Übers. hier nach P. Gohlke: Über die
Seele (31961). – 17 ebd. II, 420 a 25; Übers. n. O. Gigon: Ari-
zu erreichen. Dieses negative Vor-Urteil hat eine andere
stoteles: Werke, Bd. 2 (1950) 307. – 18 vgl. Topik I, 106 a 15; Perspektive bisher nicht zugelassen.
Übers. n. T. Wagner u. Chr. Rapp (2004) 64. – 19 ebd. – 20 vgl. Ausgangspunkt für das Modell einer rhetorischen
Rhet. II, 1407b 18ff.; Übers. n. G. Krapinger (1999) 164. – 21 Cic. Analyse von Film-S. ist die theoretische Gleichberech-
De or. III, 161. – 22 vgl. Lausberg Hb. § 559, S. 287; unter den zit. tigung beider Fassungen. Die Frage, ob Ursprungs- oder
Belegen finden sich auch Bsp. für S. – 23 vgl. die Lutherübers. synchronisierter Film qualitativ höherwertig ist, wird da-
von 2 Moses 20,18: «alles volke sahe den donner und blitz und bei zunächst offen gelassen. Als Prämisse gilt statt des-
den ton der posaune» im Gegensatz zur mod. Einheitsübers.: sen, daß sich beide Fassungen wie zwei Aussagen zum
«Das ganze Volk erlebte, wie es donnerte und blitzte». – 24 vgl.
Aug. Confessiones X, 35. – 25 vgl. Dante, Inferno I, 60. –
gleichen Thema verhalten. Mit Hilfe dieses dialekti-
26 Einen Überblick über Entwicklungsströmungen und Bei- schen Modells der Rhetorik, deren Praktiken ursprüng-
spiele zur S. in MA und Renaissance bieten Schrader [4] 62ff. lich dazu dienten, «dem Redner [...] die parteiische Dar-
und A. Wellek: Das Doppelempfinden im abendländ. Altertum stellung des zur Debatte stehenden Falles zu ermögli-
und MA. Arch. für die gesamte Psychol. 80 (1931) 120–166. – chen» [3], kann die Arbeit von Synchronfirmen an ihrem
27 J. Böhme: Mysterium Magnum, oder Erklärung über das er- eigenen Anspruch gemessen werden, denn nun gelangt
ste Buch Mosis, Bd. 1 (1958) 27. – 28 vgl. A. Wellek: Art. ‹Far- neben der Wirkungsabsicht des Ursprungsfilms auch die
benmusik›, in: MGG 3 (1954) Sp. 1811–1822, hier 1812. der deutschen Fassung in den Blick, deren Motivationen
Literaturhinweis:
und Ziele durchaus anders definiert sein können. Die
P. Utz: Das Auge und Ohr im Text (1990). – U. Zeuch: Umkehr Unterschiede, die im Vergleich sichtbar werden, sind so-
der Sinneshierarchie (2000). – C. Catrein: Vertauschte Sinne mit nicht per se Fehler der S. Synchronfassungen wei-
(2003). chen teils aus technischen, rechtlichen und finanziellen
K.E. Ribicki, S. Fröhlich Zwängen, teils aufgrund freiwilliger Entscheidungen
von den Ursprungsfilmen ab. Der Ursprungsfilm steht
zwar zeitlich immer vor der Synchronfassung, nicht un-
Synchronisation (engl. dubbing; frz. synchronisation; bedingt aber qualitativ über ihr. Der Anspruch der deut-
ital. sincronizzazione) schen Fassung beschränkt sich also keinesfalls nur auf
A. Def. – B.I. Verhältnis der Fassungen. – II. Wirkungsabsich- die Übersetzung fremdsprachlicher Dialoge ins Deut-
ten. – III. Arbeitsschritte. – IV. Figuren. – V. Tugenden. sche. So sind bei Kurzfilmen von Chaplin in den deut-
A. Unter S. (moderne Wortschöpfung aus griech. syn, schen Fassungen Kommentare, neue Geräusche und
gemeinsam, gleich und chrónos, Zeit) versteht man all- Musik hinzugefügt worden, die den Gesamteindruck der
gemein die Steuerung der Gleichzeitigkeit von (techni- Filme völlig verändern. Eine angemessene Bewertung
schen) Vorgängen. Seit der Entwicklung der Medien solcher Filmfassungen ist nach dem in der Forschung
Film und Fernsehen hat sich jedoch vor allem die spe- häufig angenommenen Reproduktionsgebot kaum
zielle Definition von ‹S.› als Bezeichnung für die Über- möglich. Das Urteil müßte schlicht lauten, daß der Ur-
tragung der Bilder und Töne eines fremdsprachigen sprungsfilm verfälscht wurde. Unter rhetorischer Per-
Films in die eigene Sprache eingebürgert. Bei einer spektive dagegen ist jede Synchronfassung eine Inter-
nachträglichen Vertonung von Filmmaterial, um bei- pretation.
spielsweise die Tonqualität zu verbessern oder Sprecher II. Wirkungsabsichten. Die Vielfalt der Wirkungsab-
und Dialogtexte auszutauschen, spricht man von ‹Nach- sichten und Interessen, die mit dem Produkt einer Syn-
synchronisation›. chronfassung verbunden ist, resultiert nicht zuletzt aus
Bei der Film-S. werden nicht nur Dialoge übersetzt der Schwierigkeit, eine eindeutige Rednerinstanz aus-
und lippensynchron neu gesprochen, sondern zum Teil zumachen. Anders als in der antiken Rhetorik läßt sich
auch Texte im Bild, Geräusche, Musik und Schnitte ver- die ethos-Dimension der S. nicht auf einen einzelnen
ändert. Schon die ersten Filme kurz vor 1900 wurden Redner zuspitzen, sondern läuft auf ein Zusammenwir-
nicht stumm, sondern mit Musik und Erzählerkommen- ken von Filmverleihern, Fernsehsendern, Produzenten,
taren präsentiert, die an wechselnden Orten entspre- Regisseuren und Übersetzern hinaus, das sich jedoch
chend variiert wurden. Ab 1927 konnte aufgezeichneter durchaus an den klassischen Wirkungsabsichten der
Ton mit Dialog, Geräuschen und Musik problemlos syn- Rhetorik messen läßt: Auch hier gilt es zu informieren
chron mit dem Filmstreifen vorgeführt werden. Diese (docere), Emotionen zu wecken (movere) und zu unter-
Tonspur mußte für ein fremdsprachliches Publikum halten (delectare). Der Blick auf diese grundsätzlichen
übersetzt und neu aufgenommen werden. Da für alle Wirkungsabsichten der Produzenten unterscheidet die
Arten der Bearbeitung, von der Livemusik im Stumm- Rhetorik der Film-S. von linguistischen Ansätzen, die
filmkino über Erzählerkommentare und Zwischentitel vor allem auf das fertige Produkt fixiert sind. Dabei wird
bis zu lippensynchronen Dialogen die Synchronität der die Wirkung einer Synchronfassung auch von Kompo-
neuen Ton- und Bildelemente mit dem Ursprungsfilm nenten beeinflußt, die am Film selbst nicht nachweisbar
entscheidend ist, kann ‹S.› als Oberbegriff für alle Arten sind, wie etwa die Zeit, die zwischen der Aufführung des
der Bearbeitung importierter Filme dienen. Ursprungsfilms und der Synchronfassung liegt (bei

349 350
Synchronisation Synchronisation

Chaplins ‹Der große Diktator› beispielsweise 18 Jahre: schen Textes zu den Lippen- und Körperbewegungen
1940–1958). der Originalschauspieler. Wie die Studien von Thomas
Typische Verschiebungen der Wirkungsabsichten Herbst zeigen, wird die vom Zuschauer erwartete ‹Lip-
zeichnen sich durch die stärkere Ausrichtung von pensynchronität› meist überschätzt. [4]
Filmen auf Kinder ab – auch die Veränderung von Figu- Die in der Branche übliche zweistufige Überset-
renkonstellationen, wie die ‘Verwandlung’ von Natio- zungspraxis mit wörtlichen Rohübersetzungen und
nalsozialisten in Drogendealer und Kriminelle als poli- anschließenden Korrekturen durch den Synchronregis-
tisches Zugeständnis an die emotionale Lage des deut- seur beeinträchtigt die Qualität von Synchrontexten
schen Publikums nach 1945, leitet sich von spezifischen erheblich. Die meist nur als Vorbereitung gedachten
nationalen Intentionen ab, die sich von denen des Ori- Rohübersetzungen charakterisieren den späteren Syn-
ginals unterscheiden. chrontext nämlich bereits weitgehend und sind für eine
III. Arbeitsschritte. Die von Filmverleihern und Fern- Reihe von typischen Sprachunreinheiten und stilisti-
sehsendern importierten Filme stellen unterschiedliche schen Mängeln der übersetzten Fassung verantwortlich.
Anforderungen an die deutsche Bearbeitung. Der zeit- Was die Aufführungspraxis (actio) angeht, ergeben
liche und finanzielle Aufwand für eine deutsche Fassung sich je nach Präsentationsmedium für die Synchronisa-
richtet sich nach einer Reihe von Gesichtspunkten, die tionsarbeit abweichende Prioritäten. Genaue Lippen-
der Filmimporteur analog zu intellectio und inventio ei- synchronität etwa ist vor allem auf Kinoleinwänden
nes rednerischen Themas abzuwägen hat. Im systema- wichtig. Im Fernsehen werden umgekehrt oft Anpassun-
tischen Überblick dieser Gesichtspunkte ergibt sich eine gen des Filmformats notwendig.
spezielle Topik des Filmimports: zu beachten sind vor Obwohl jede Synchronisationsarbeit auf größtmögli-
allem die Charakteristika der in den Filmen gesproche- che Zuschauerakzeptanz ausgerichtet ist, soll die Be-
nen Sprachen, zu bearbeitende Texte in den Bildern, Sex- arbeitung dem Publikum nicht auffallen. Die beabsich-
und Gewaltdarstellungen, politische Inhalte, schwer ver- tigte Illusionswirkung einer deutschen Fassung verlangt
ständliche Kulturbesonderheiten, Schauspieler, die an die Unsichtbarkeit der Produktionsmittel (dissimulatio
deutsche Synchronsprecher gebunden sind, die Vollstän- artis), ein Paradox, das auch bei der Filmproduktion
digkeit der Musik und der Geräusche, die Verwendbar- selbst besteht. Da eine bewußte Wahrnehmung der Be-
keit des Vor- und Nachspanns sowie die Laufzeit des arbeitung durch den Zuschauer vermieden werden soll,
Films. ist es schwierig, den Publikumszuspruch für eine Be-
Je nach Zeitpunkt und Ort der geplanten Auffüh- arbeitung zu ermitteln. Normalerweise unterscheiden
rung einer deutschen Fassung führen diese Gesichts- die meisten Zuschauer nicht zwischen der Bewertung
punkte zu höchst unterschiedlichen Entscheidungen des bearbeiteten Ursprungsfilms und der Bearbeitung
der Bearbeiter. Gerade die Toleranz gegenüber Sex- selbst. Eine Differenzierung wird meist nur bei deutli-
und Gewaltdarstellungen hat sich in über 100 Jahren chen Asynchronitäten oder unangemessenen Unterti-
Filmgeschichte erheblich verändert und kann bei Kino-, teln vorgenommen.
Fernseh- oder Videoproduktionen unterschiedlich aus- Für die rhetorische Bewertung einer S.-Fassung kann
geprägt sein. Entscheidend für die jeweilige Auffüh- daher der Publikumszuspruch als Maßstab nicht heran-
rungssituation sind auch die politischen und rechtlichen gezogen werden. Statt dessen sind für eine praxisnahe
Umstände. Bewertung Kenntnisse über die Produktions- und Re-
In der Planungsphase einer Synchronisationsarbeit zeptionsbedingungen erste Voraussetzung. Nur vor dem
müssen aber nicht nur mögliche Konflikte mit Kontroll- Hintergrund der jeweiligen Aufführungssituation (äu-
gremien und Gerichten beachtet werden. Vier verschie- ßeres aptum) und den spezifischen Problemen und Mög-
dene Dispositionen stehen für eine S.-Bearbeitung von lichkeiten der einzelnen Arbeitsphasen kann die präzise
Filmen zur Verfügung: Analyse einer Synchronfassung vorgenommen werden.
1. Lippensychrone Fassungen sind die beim Publikum IV. Figurenlehre. Eine rhetorische Analyse unter-
beliebtesten, aber auch die teuersten Bearbeitungen; sucht in erster Linie Wirkungsunterschiede zwischen
2. Voice-over Fassungen, bei denen deutsche Sprecher den Filmfassungen. Dabei setzt ein möglicher Wir-
zeitversetzt aufgenommen werden, finden sich fast kungsunterschied nicht zwangsläufig auch einen Unter-
ausschließlich im Dokumentar- und Nachrichtenbe- schied im Medium selbst voraus. So kann ein nicht
reich; synchronisiertes Lied auf den deutschen Zuschauer
3. Untertitelfassungen bilden nur noch die Ausnahme ganz anders wirken als auf das Publikum im Ursprungs-
und sind beim Gros der deutschen Zuschauer unbe- land. Umgekehrt unterscheidet sich ein äquivalent
liebt; übersetzter Dialog zwar im Sprachcode vom Ur-
4. deutsche Zwischentitelfassungen sind seit den 1980er sprungsdialog, muß aber nicht unbedingt unterschied-
Jahren immer häufiger bei Stummfilmen üblich, die lich wirken.
viele Jahrzehnte lang mit einem deutschen Kommen- Im einzelnen lassen sich, neben der Aufführungssi-
tar aufgeführt wurden. tuation, sechs mögliche Orte unterscheiden, in denen
Rund neunzig Prozent aller Spielfilmimporte werden in unterschiedliche Wirkungen ihre Ursache finden: in den
Deutschland lippensynchron bearbeitet. Reine Unter- Stimmen, hier vor allem bei gesprochenen oder gesun-
titelfassungen sind selten, schon häufiger werden Unter- genen Worten, den Geräuschen, der Musik, den Bildern
titel mit synchronisierten Passagen kombiniert. Dies ist und Bildausschnitten (hier speziell bei Texten und Un-
bei fremdsprachlichen Texten im Bild, bei Liedern oder tertiteln im Bild), schließlich in der Beziehung der Orte
bei zweisprachigen Originalen sinnvoll. untereinander (wie z.B. dem Ton-Bild-Verhältnis). Die-
Für die Produktion von Synchronfassungen (elocu- se Phänomene, sei es ein veränderter Dialog, eine feh-
tio) haben sich in der Praxis eine Reihe von handwerk- lende Szene, ausgetauschte Untertitel oder eine neue
lichen Regeln herausgebildet, die z.B. die Lesbarkeit Musik, funktionieren im Prinzip wie die Figuren und
von Untertiteln optimieren sollen. Kaum reglementier- Tropen der Rhetorik, weshalb sich die Unterschiede
bar ist die Gestaltung von enger Synchronität des deut- zwischen Ursprungs- und Synchronfassungen innerhalb

351 352
Synchronisation Synchronisation

einer eigenen ‹Figurenlehre der Filmsynchronisation› risches Analysekriterium eine wichtige Funktion, um
systematisch ordnen lassen. das Verhältnis von Original- und S.-Fassung systema-
Vorbild ist hier Quintilian, der ‹Figuren› definiert tisch zu beschreiben.
als: «eine Gestaltung der Rede, die abweicht von der all- V. Tugenden. Eine Analyse der Synchronisationsfi-
gemeinen und sich zunächst anbietenden Art und Wei- guren stellt zunächst fest, wo und auf welche Weise
se.» [5] Dabei setzt er ein Gefälle zwischen eigentlichen mögliche Wirkungsunterschiede hervorgerufen werden.
und uneigentlichen Ausdrücken der Sprache voraus. Synchronisationsfiguren können der Verständlichkeit
Dieses Gefälle kann auch auf den Unterschied zwischen genauso dienen, wie sie den Ursprungsfilm unangemes-
Ursprungs- und Synchronfassungen übertragen werden. sen verfremden können.
Die Ursprungsfassung eines Films entspricht dann der Mit Verständlichkeit (perspicuitas) und Angemes-
Ebene des eigentlichen Ausdrucks, die deutsche Fas- senheit (aptum) sind zwei entscheidende rhetorische
sung der Ebene des uneigentlichen Ausdrucks. Nur so Beurteilungskriterien genannt. Die Verständlichkeit ei-
lassen sich die Unterschiede zwischen den Fassungen als ner deutschen Filmfassung kann jeweils nur potentiell
Figuren und Tropen darstellen, deren Variationsbreite festgestellt werden und obwohl sie die Grundmotivation
sich nach dem Quintilianschen Prinzip über die Kate- jeglicher Synchronisation darstellt, sollte sie nicht ab-
gorien von «Vertauschung, Hinzufügung, Weglassen solut gesetzt werden. Ausführliche Erläuterungen zu
und Anordnen» [6] beschreiben läßt. Damit erfährt kulturspezifischen Motiven können dem Stil des Ur-
Quintilians Definition von Tropen und Figuren, die sich sprungsfilms gegenüber nämlich unangemessen sein.
zunächst auf die rein sprachliche Ebene konzentrieren, Das Ziel, einen ausländischen Film für das deutsche Pu-
eine deutliche Ausweitung auf das Gesamt der filmi- blikum verständlich zu machen, stößt so an seine Gren-
schen Phänomene, denn natürlich können auch Stim- zen. Angemessen sollte eine deutsche Filmfassung so-
men, Bilder oder Geräusche hinzugefügt, weggelassen wohl gegenüber dem Ursprungsfilm als auch gegenüber
oder vertauscht werden. dem deutschen Publikum sein, zwei Kriterien, die leicht
Diese Unterschiede basieren noch auf faktischen Un- miteinander in Konflikt geraten. Im deutschen Feuille-
terschieden der Filme. In einer fünften Kategorie, die als ton wird meist einseitig die Angemessenheit gegenüber
‹Übernahme› bezeichnet werden kann, finden sich die dem Original gefordert, während die Synchronisateure
Figuren, die nicht auf einer Veränderung des Filmma- zu unterschiedlichen Zeiten stärker das eine oder das
terials oder der Tonspur beruhen. Quintilian schreibt: andere Ziel verfolgten.
«Eine Figur kann mit Worten in ihrer eigentlichen Be- Als wenig problematisch erweist sich die Überprü-
deutung und Wortstellung zustande kommen.» [7] Dies fung der sprachlichen Richtigkeit (latinitas), die entwe-
ist auch bei der Filmsynchronisation möglich, wo ein der erfüllt wird oder nicht. Typische Verletzungen
Wirkungsunterschied durch die bloße Übernahme von dieser Tugend sind zum Beispiel die im Synchrontext
Elementen des Ursprungsfilms hervorgerufen werden vorkommenden Anglizismen, die in unbedachten wört-
kann. Dies ist immer dann der Fall, wenn das Publikum lichen Übersetzungen wurzeln. ‹Ich habe mit Ihnen zu
des Ursprungslandes mit einer Handlung, einer Person sprechen›, zum Beispiel ist keine deutsche, sondern
oder einer Idee Gedanken oder Emotionen verbindet, eine typisch amerikanische Aufforderung: ‹I have to
die nicht universell verständlich sind. Die Übernahme talk to you.› Ebenfalls der Sprachrichtigkeit widerspre-
patriotischer Reden oder buddhistischer Rituale mag chen Ausdrücke wie ‹Wie ist seine Adresse?› (What is
beim deutschen Publikum gänzlich anders wirken als in his adress?). Umgekehrt lassen sich gekonnte Formulie-
den USA oder Japan. Auch dieses Phänomen findet sei- rungen im Synchrontext als schmuckvoll herausheben.
ne Parallele in der klassischen Rhetorik, z.B. bei der Der Schmuck (ornatus) in einer deutschen Fassung be-
Verwendung von Zitaten oder Barbarismen, die häufig zieht sich auf besondere gestalterische Leistungen der
durch Übernahme fremder Ausdrücke, die «unrömisch Synchronisateure. Sie sind zumeist als Austausch- oder
und ausländisch» sind [8], entstehen. Hinzufügungsfiguren zu entdecken und können inner-
Die Kategorie der ‹Übernahme›, die oben skizzierten halb der Dialoge, bei Erzählerkommentaren oder in
Orte sowie die klassischen vier Figurenkategorien nach hinzugefügter Musik realisiert werden. Solche mögli-
Quintilian dienen somit als analytischer Rahmen, inner- chen schöpferischen Leistungen der S. werden in der
halb dessen sich Synchronisationsphänomene und -tech- Forschung oft ignoriert. Dabei können schmuckvolle
niken exakt beschreiben lassen. Sie bilden hierbei ein Synchrontexte eigenständige Popularität erlangen, wie
überschaubares Koordinatensystem, in dem sich durch der Satz «Ich seh’ Dir in die Augen Kleines» aus der
unterschiedliche Kombinationen der einzelnen Orte zweiten deutschen Fassung von ‹Casablanca› (1975) be-
und Kategorien ein Maximum an Variationen erfassen weist. Rick Blaine (Humphrey Bogart) sagt ihn viermal
und klassifizieren läßt. zu Ilsa (Ingrid Bergmann). Der englischen Ursprungs-
Obwohl die Figuren und Tropen der S. prinzipiell zeile entspricht er nur teilweise. «Here is looking at you,
ähnlich funktionieren wie die der Rede, wirken sie nicht kid» heißt es im amerikanischen Original von 1942. Es
genauso auf den Zuschauer. Der Zuschauer einer Syn- ist ein abgewandelter Trinkspruch zur gleichzeitigen
chronfassung nimmt nämlich nur die uneigentliche Geste des Zuprostens, auf die der deutsche Satz keinen
Ebene wahr und kann nicht auf die eigentliche Ebene Bezug nimmt. Trinken ist dabei kein beliebiger Anlaß.
schließen, weil er den Ursprungsfilm in aller Regel nicht Trinken und Liebe gehören in der Pariser Zeit von
kennt. Bei einer mit Figuren geschmückten Rede ist das Rick und Ilsa eng zusammen, einsam in Casablanca
anders. Die Wirkung einer Metapher zum Beispiel lebt wird der Barbesitzer Rick zum strengen Antialkoholi-
von der Ähnlichkeit zum eigentlichen Ausdruck, den ker, der erst wieder trinkt, als Ilsa überraschend in Ca-
sich der Zuhörer auch immer erschließen kann, was bei sablanca auftaucht. «Ich seh’ Dir in die Augen Kleines»
einer Synchronfassung selten möglich ist. Die eigentli- ist also keinesfalls eine äquivalente Übersetzung, und
che Redeweise ist nicht implizit verständlich. Deshalb trotzdem sind diese Worte zum bekanntesten und
kann es für den Zuschauer auch keine metaphorische S. meistzitierten Satz der deutschen Synchrongeschichte
geben. Eine Figur der Film-S. erfüllt also nur als rheto- geworden.

353 354
Synchyse Synekdoche

Anmerkungen: Hyberbaton gehäuft «und durch die syntaktischen Um-


1 J.D. Müller: Die Übertr. fremdsprachigen Filmmaterials ins stände kompliziert» [8].
Dt. (1982) S. iii. – 2 C. Whitman-Linsen: Through the Dubbing B. Geschichte. Die S. gilt als rein poetische Figur und
Glass. The Synchronization of American Motion Pictures into
German, French and Spanish (1992) 15. – 3 W. Jens: ‹Rhet.›, in:
wird deshalb in der Grammatik unter den Tropen be-
RDL2, Bd. 3 (1977) 439. – 4 s. Th. Herbst: Linguistische Aspekte handelt [9], wo sie zusammen mit der Anastrophe, dem
der S. von Fernsehserien. Phonetik, Textlinguistik, Überset- Hysteron proteron, der Parenthese und der Tmesis un-
zungstheorie (1994) 49ff. – 5 Quint. IX, 1, 4. – 6 Quint. IX, 3, 27; ter die transgressio, die Veränderung von Wort- und
s. auch IX, 4, 146–147. – 7 Quint. IX, 1, 7. – 8 Quint. VIII, 1, 2. Sinnzusammenhängen fällt. In modernen Rhetoriken
wird sie nicht mehr eigens lemmatisiert, sondern zu-
Literaturhinweis: meist als «Extremform» unter das Hyperbaton subsu-
O. Hesse-Quack: Der Übertragungsprozeß bei der S. von Fil- miert [10], zumal die S. in den modernen Sprachen mit
men. Eine interkulturelle Unters. (1969). – G. Toepser-Ziegert: ihrer restriktiven Abfolge der Satzglieder keine nen-
Theorie und Praxis der S. (1978). – J. Garncarz: Filmfassungen.
Eine Theorie signifikanter Filmvariation (1992). – G.M. Pruys:
nenswerte Rolle mehr spielt. In dem Rapportschema
Die Rhet. der Filmsynchronisation. Wie ausländische Spielfil- (versus rapportati, subnexio) sehen manche eine Syste-
me in Dtld., zensiert, verändert und gesehen werden (1997). matisation der S. [11], doch geht es bei diesem eher um
das Gedanken-Hyperbaton, wie es etwa in der Paren-
G.M. Pruys these vorliegt, während es sich bei der S. um eine syn-
taktische Figur handelt. Als rhetorisches Mittel ist die S.
^ Aussprache ^ Betonung ^ Elocutio ^ Fernsehrhetorik ^ seit der Antike negativ konnotiert: Quintilian tadelt
Filmrhetorik ^ Pronuntiatio ^ Stimme, Stimmkunde sie wegen ihrer Artifizialität und Dunkelheit (obscuri-
tas), die sie für die Verwendung in der rhetorischen Pra-
xis ungeeignet mache. [12] Die Rhetoriken der frühen
Synchyse (griech. syÂgxysiw, sýnchysis [‹Vermischung, Neuzeit nehmen dieses Verdikt auf: Ernesti beanstan-
Vermengung›]; lat. confusio/mixtura [verborum], syn- det, daß die Verkehrung der natürlichen Wortstellung
chysis, synchesis; engl. confusion of order; frz. synchise; der Klarheit (safhÂneia, saphē´neia/perspicuitas) des
ital. sinchisi) Gedankenganges schade: «contraria est perspicuita-
A. Def. Die S. (von griech. sygxeiÄn, syncheı́n – ‹zu- ti». [13] Peacham warnt gar vor einer Nachahmung der
sammenschütten, vermengen›) bezeichnet eine Ver- Referenzstellen: «it is unprofitable, and rather to be
änderung der konventionellen Wortstellung, bei der avoyded, than at any tyme to be imitated.» [14]
innerhalb eines Satzes mehrere syntaktisch zusam-
mengehörige Einheiten (vor allem in den Kombinatio- Anmerkungen:
nen Substantiv/Attribut und Relativpronomen/Bezugs- 1 Marius Plotius Sacerdos, in: Gramm. Lat. VI, p. 466, 19–24
wort) ineinander verschränkt und dadurch voneinander (Übers. Verf.). – 2 Flavius Sosipater Charisius, Artis gramma-
ticae libri V, ed. C. Barwick, F. Kühnert (1997) p. 363, 3–9; Dio-
getrennt werden. Sie steht dem Hyperbaton sehr nahe: medes, in: Gramm. Lat. I, p. 461, 7–14. – 3 Donatus, Ars maior,
Daher wird sie auch als Kumulation und Verschrän- in: Gramm. Lat. IV, p. 401, 18–23; Servius auctus in Aen. I, 348;
kung verschiedener Hyperbata aufgefaßt: «Synchysis Pompeius, Commentum artis Donati, in: Gramm. Lat. V, p. 310,
est multis hyperbatis unius orationis ordo factus perver- 6; Beda, De tropis, in: Rhet. Lat. min p. 614, 29 (Übers. Verf.);
sus» (Die S. ist die Verdrehung der Wortstellung eines auch Lausberg Hb., S. 358. – 4 Pompeius [3] p. 310,7; Remigius
Satzes durch mehrere Hyperbata) [1]; sie unterscheidet Autissiodorensis, Commentum Einsidlense in Donati Artem
sich nach dieser Definition des Marius Plotius Sacer- maiorem, ed. H. Hagen (1870) = Gramm. Lat. Suppl. p. 271, 37:
dos also von einem ‘gewöhnlichen’ Hyperbaton durch verba et sensus confunduntur. – 5 Quint. VIII, 2, 14. – 6 Verg.
Aen. I, 109f. (Übers. Verf.). – 7 z.B. Diomedes [2] p. 461, 7; I.
die höhere Frequenz seiner Verwendung innerhalb ei- Susenbrotus, Epitome troporum ac schematum et grammati-
nes einzigen Satzes. So wird sie in der Regel als eine corum et rhetorum (Zürich 1541) p. 21; Peacham s. v. ‹synchisis›.
Sonderform des Hyperbaton angesehen, als hyperbaton – 8 Lausberg Hb., S. 358. – 9 z.B. Charisius [1] p. 363, 3; Dona-
obscurum (dunkles Hyperbaton) [2] oder, in der am tus [3] p. 401, 18; Isid. Etym. I, 37, 16; Beda [3] p. 614, 29. –
weitesten verbreiteten und auf Donat zurückgehenden 10 Arbusow 80; Lausberg Hb., S. 358 und 951. – 11 Curtius 290;
Definition, als «hyperbaton ex omni parte confusum» danach Lausberg Hb., S. 358. – 12 Quint. VIII, 2, 14. – 13 Ernesti
(in allen Teilen vollkommen durcheinander geratenes Lat. 256 s. v. ‹mixtura›. Die Stelle in der ‹Rhetorica ad Alexan-
Hyperbaton) [3], wobei diese Pervertierung der regel- drum›, auf die Ernesti sich Graec. 324 s. v. syÂgxysiw bezieht, be-
trifft eher allgemeine Zweideutigkeit des Sinns, z.B. in der Un-
mäßigen Wortstellung auch den Sinn beeinträchtigt. [4] unterscheidbarkeit von Subjekts- und Objektsakkusativ im
Das Standardbeispiel für die S., das die rhetorischen A. c. i. – 14 Peacham s. v. ‹synchisis›; vgl. L.A. Sonnino: A Hand-
Handbücher seit Quintilian [5] beinahe durchgehend book to Sixteenth Century Rhetoric (London 1956) 56.
angeben, stammt aus dem ersten Buch von Vergils ‹Ae-
neis›: «tris [sc. naves] Notus abreptas in saxa latentia C. Schindler
torquet – saxa vocant Itali mediis quae in fluctibus
Aras» (drei Schiffe reißt der Südwind fort und schleu- ^ Figurenlehre ^ Hypallage ^ Hyperbaton ^ Hysteron pro-
dert sie auf ein verborgenes Riff – ein Riff mitten in den teron ^ Parenthese ^ Tmesis ^ Wortfigur
Fluten, das die Italer ‹Altäre› nennen) [6]. Hier sind die
zusammengehörigen Worte saxa und quae sowie mediis
und fluctibus getrennt und ineinander verschränkt. Ein Synekdoche (griech. synekdoxhÂ, synekdochē´; lat.
ähnlicher Fall liegt an der ebenfalls häufig zitierten [7] (sub)intellectio; engl. synecdoche; frz. synecdoque; ital.
Stelle ‹Aeneis› I, 195–7 «vina bonus quae deinde cadis sineddoche)
onerarat Acestes /[...] dividit» (er gibt dann den Wein A. Definitorische Aspekte. – B. Historische Entwicklung: I.
aus, den der treffliche Acestes in Krüge gefüllt hatte) Antike. – II. Mittelalter. – III. 16.–18. Jh. – IV. 19. und 20. Jh. – V.
vor, wo vina und quae sowie bonus und Acestes syntak- Diskussion zentraler Problemfelder.
tisch zusammengehören und deinde erst auf dividit be- A. Definitorische Aspekte. Die S. (von griech. synek-
zogen werden darf. Auch bei diesem Beispiel ist das deÂxesuai, synekdéchesthai: ‹etwas (mit etwas anderem)

355 356
Synekdoche Synekdoche

aufnehmen, geistig mitverstehen›, lat. (sub)intellectio) Romanorum] (die römische Reiterei – eine Schwadron
ist ein Tropus, bei dem eine – in irgendeiner Weise – [römischer Reiter]) [7], boÂew ayËai, bóes aúai – byÂrsai,
quantitative Verschiebung zwischen dem gemeinten býrsai (trockene Rinder – Häute) [8], [frigidus] annus –
und dem tatsächlich ausgedrückten Begriff vorliegt. [frigida] hiems ([kaltes] Jahr – [kalter] Winter) [9]. Cha-
Eine globale Definition ist jedoch problematisch, da die risius betont in diesem Zusammenhang den quantitati-
zahlreichen unterschiedlichen Typen der S. nur schwer ven Charakter der S.: «dictio plus minusve pronuntians»
auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen sind. (eine Ausdrucksweise, die mehr oder weniger sagt) [10].
Üblicherweise werden drei Typen der S. unterschie- Beim Auctor ad Herennium und bei Cicero kommt
den: 1. Pars-Totum-S., sei es als pars pro toto (z.B. Segel die Numerus-S. hinzu: «Ab uno plura [...] intelleg[u]ntur
für Schiff), sei es als totum pro parte (z.B. Amerika für [...]. A pluribus unum [...] intelleg[i]tur» (Von einem ein-
USA); 2. Genus-Species-S., sei es als species pro genere zelnen her werden mehrere Dinge erfaßt [...]. Von meh-
(z.B. Salz, eigentlich ‹Natriumchlorid›, für ‹aus Ionen reren Dingen her wird ein einzelnes erfaßt). [11] Als Bei-
aufgebauter Feststoff›), sei es als genus pro specie (z.B. spiele werden jeweils genannt: Poeno fuit Hispanus au-
Sterbliche für Menschen); 3. Numerus-S., sei es als sin- xilio (Dem Punier [sc. den Puniern] kam der Spanier [sc.
gularis pro plurali (z.B. der Deutsche für die Deutschen), die Spanier] zu Hilfe) [12] bzw. Nos sumus Romani, qui
sei es als pluralis pro singulari (z.B. der pluralis mode- fuimus ante Rudini (Römer sind wir [sc. ich], die [sc. der]
stiae). [1] zuvor wir [sc. ich] Rudiner gewesen) [13]. Quintilian be-
Im Detail ergeben sich jedoch erhebliche Unsicher- handelt die Numerus-S. nur in Form von – ganz ähnli-
heiten in der Definition und Unterschiede zwischen den chen – Beispielen, nicht jedoch in der expliziten Klassi-
einzelnen Autoren, was die Untergliederung der S. so- fikation und Definition; bei Tryphon und Isidor wird die
wie ihre theoretische Abgrenzung gegenüber anderen Numerus-S. gar nicht erwähnt. Bei Quintilian und Isidor
Tropen angeht. Ebenso bestehen unterschiedliche Vor- erscheint noch zusätzlich die Genus-Species-S.: «[...] et
stellungen sowohl über ihre theoretische Bedeutung als per speciem genus, et per genus species demonstratur»
auch über ihre faktische Wirkung. (es wird die Gattung durch die Art sowie die Art durch
B. Historische Entwicklung. I. Antike. In Aristote- die Gattung ausgedrückt). [14] Das einzige Beispiel, das
les’ bekannter Systematik der Tropen (hier generell als hierzu überhaupt genannt wird, stellt eine genus pro spe-
metaforaiÂ, metaphoraı́ bezeichnet) werden – allerdings cie-S. dar: quadrupes – equus (Vierfüßler – Pferd). Her-
noch in anderer Terminologie – bereits Falltypen ge- vorzuheben ist die Tatsache, daß Isidor die Genus-Spe-
nannt, die man später der S. zuweisen wird: Neben der cies-S. explizit als Sonderfall der Pars-Totum-S. ansieht:
Übertragung von der Art auf die Art und der Analogie «Species pars est, genus autem totum» (Die Art ist ein
(= ‹Metapher› im heutigen Sinne) erscheinen dort die Teil, die Gattung aber ein Ganzes). [15]
Übertragung von der Gattung auf die Art (z.B. eëstaÂnai ì Als weitere Typen der S. werden angeführt: die Ma-
hestánai – oërmeiÄn, hormeı́n: stillstehen – vor Anker lie- terie für das Endprodukt, «aÆpoÁ thÄw yÏlhw toÁ aÆpoteÂles-
gen) und von der Art auf die Gattung (z.B. myriÂon, ma», apó tēs hýlēs to apotélesma, von Tryphon exem-
myrı́on – polyÂ, polý: zehntausend – viel). plifiziert durch «xrysoÁn dÆ ayÆtoÁw eÍdyne periÁ xroiÉ» (Das
Die Termini, die dann bei späteren Autoren für die S. Gold aber legte er sich um den Leib für: die goldene
angeboten werden, drücken, wie im Falle anderer Tro- Rüstung [...]) [16], sowie das Vorhergehende für das Fol-
pen auch (Metapher, Metonymie usw.), im wörtlichen gende, «[e] praecedentibus sequentia» [17] bzw. «aÆpoÁ
Sinne nur aus, daß irgendein semantischer Prozeß im toyÄ prohgoymeÂnoy toÁ aÆkoÂloyuon», apó tū prohēgū-
Spiel ist: lat. intellectio, eigentlich ‹Auslegung› (erstmals ménū to akólūthon, von Tryphon exemplifiziert durch
beim Auctor ad Herennium), griech. synekdoxhÂ, syn- «pollaÁw dÆ iÆfuiÂmoyw cyxaÁw [...] hërvÂvn» (viele tapfere
ekdochē´ ‹das Mitverstehen› (erstmals bei Tryphon und Seelen [...] der Helden für: [...] Seelen der tapferen Hel-
Quintilian, dann auch bei Isidor). [2] Quintilian merkt den [18] – eigentlich liegt hier eine von Lausberg als me-
sogar an: «quidam synecdochen vocant et cum id in con- tonymisch interpretierte hypallage adiectivi vor [19]),
textu sermonis, quod tacetur, accipimus: verbum enim schließlich das Folgende für das Vorhergehende, «aÆpoÁ
ex verbis intellegi, quod inter vitia ellipsis vocatur» toyÄ aÆkoÂloyÂuoy toÁ prohgoyÂmenon», apó tū akolū´thū
(Manche sprechen auch von Synecdoche, wenn wir ein to prohēgū´menon, von Tryphon exemplifiziert durch
Wort verstehen, das im Textzusammenhang unausge- «leyÂkainon yÏdvr jesthÄì sÆ eÆlaÂthsin»
ì (Sie machten das
sprochen ist; denn durch eine Mehrzahl von Worten Wasser weiß mit den polierten Tannen [sc. Rudern] für:
werde so ein Wort verstanden, eine Ausdrucksweise, die sie schlugen das Wasser [...] [20]; bei ‹Tannen› für ‹Ru-
wir im Bereich der Ausdrucksfehler als Ellipse bezeich- der› liegt übrigens zugleich eine S. des Typs Materie für
nen). [3] Er selbst, wie auch die übrigen uns zugängli- Endprodukt vor!).
chen Autoren, subsumiert die Ellipse jedoch nicht unter Alle bisher genannten Typen werden in zwei anony-
den Begriff der S., sondern legt diesen auf ganz anders- men byzantinischen Abhandlungen PeriÁ synekdoxhÄw
artige semantische Prozesse fest. (‹Über die S.)› bzw. PeriÁ poihtikv Ä n troÂpvn (‹Über die
Als definitorischer Kern der S. zeichnet sich die Pars- poetischen Tropen›) zu der wohl umfassendsten Be-
Totum-S. ab, die bei allen genannten Autoren ange- standsaufnahme zusammengeführt. Durch weitere Dif-
sprochen wird, so z.B. beim Auctor ad Herennium: ferenzierungen und die Hinzunahme üblicherweise zur
«intellectio est, cum res parva de parte cognoscitur aut Metonymie gerechneter Typen (Symbol – eigentlich
de toto pars» (Eine Synekdoche liegt vor, wenn eine Sa- Ausgedrücktes; Behälter – Inhalt und umgekehrt) ergibt
che von einem kleinen Teil her erfaßt wird oder ein Teil sich die imposante Zahl von 13 bzw. 12 Unterarten. [21]
vom Ganzen her). [4] Genannt werden überwiegend Was die rhetorische Wirkung der S. betrifft, so sieht
Beispiele für pars pro toto: parietes/tecta – aedificia Cicero sie im Vergleich zur Metonymie als «minus or-
(Wände/Dächer – Gebäude) [5], tectum – domus (Dach – nata» (nicht so eindrucksvoll) an. [22] Quintilian hinge-
Haus), mucro – gladius (Spitze – Schwert), puppis – na- gen grenzt ihre Wirkung – «variare sermonem» (Ab-
vis (Heck – Schiff) [6]; daneben als Beispiele für totum wechslung in die Rede bringen) – von derjenigen der
pro parte: equitatus populi Romani – turma [sc. equitum Metapher ab, die auf das Gefühl wirken und Dinge ein-

357 358
Synekdoche Synekdoche

dringlich vor Augen stellen solle. [23] Dabei möchte er bestimmten Zahl für eine abstrakte Menge und – über
den Gebrauch besonders gesuchter S. auf die Dichtung die Tradition hinausgehend – das Aufrunden von Zah-
beschränkt wissen. [24] Innerhalb der Numerus-S. ergibt len; die Beispiele für die Genus-Species-S. werden der
sich für den Auctor ad Herennium beim rhetorischen Pars-Totum-S. zugeschlagen (Nachtigall für Vogel, Ei-
Einsatz des Singulars (z.B. Poenus) besondere Anmut che für Baum oder jeweils umgekehrt). [35]
(festivitas), beim rhetorischen Einsatz des Plurals in der Ähnlich nennt Dumarsais eine Vielzahl von Typen
1. Person hingegen besondere Feierlichkeit (gravi- der S. (auch: compréhension), wobei seine Aufzählung
tas). [25] Aus heutiger Perspektive bemerkenswert ist sogar noch umfassender ist: Neben der Genus-Species-,
die Beobachtung Quintilians, daß die Numerus-S. nicht der Pars-Totum- und der Numerus-S. (hierunter auch:
nur zum ornatus der öffentlichen Rede, sondern auch bestimmte für unbestimmte Zahl sowie Auf- oder Ab-
zum Sprachgebrauch der Alltagsrede (cotidiani sermo- runden von Zahlen) nennt er noch die Materie-End-
nis usus) gehört. [26] produkt-S. (z.B. frz. argent für pièces d’argent, Silber –
II. Mittelalter. Die mittelalterlichen Theoretiker re- Silbermünzen). [36] Auch er versteht die S. als Art der
produzieren im wesentlichen das kanonische Verständ- Metonymie [37], sieht sich aber veranlaßt, das proble-
nis der S., deren Kern sie nun noch deutlicher bei der matische Verhältnis zwischen beiden durch explizite
Pars-Totum-S. ansiedeln: Beda, Alcuin, Matthaeus Kriterien zu klären. Im Kern greift er dabei das antike
von Vendôme (hier auch ein Beispiel für singularis pro plus minusve auf. Außerdem sei die jeweilige Beziehung
plurali), Eberhard von Béthune, Galfrid von Vin- zwischen dem gemeinten und dem genannten Objekt im
sauf, Eberhard der Deutsche (mit zusätzlicher Nume- Falle der Metonymie derart, daß das eine Objekt unab-
rus-S.) und Johannes von Garlandia (hier im Beispiel hängig vom anderen fortbestehe und keine Ganzheit mit
auch eine Genus-Species-S. angedeutet). [27] Wo ein ex- diesem bilde (so etwa bei Ursache-Wirkungs- oder Be-
pliziter Terminus geboten wird, hat sich synecdoche (mit hälter-Inhalt-Beziehungen), im Falle der S. aber liege
graphischen Varianten) weitgehend durchgesetzt (bei eine engere Beziehung vor («plus intérieure et plus
Alcuin interessanterweise translatio synechdochica, bei dépendante»), bei der die Objekte eine Gesamtheit
Johannes von Garlandia auch intellectio). Versuche ei- bildeten. [38] Was die Legitimität synekdochischer Ver-
ner allgemeineren Bestimmung der S. unternehmen wendungen von Wörtern betrifft, so beruft sich Dumar-
Beda (in wörtlicher Anlehnung an Charisius) und Mat- sais, ganz der Linie des zeitgenössischen Denkens ent-
thaeus von Vendôme mit «quod [...] dicitur generaliter, sprechend, auf die Kriterien des Sprachgebrauchs (usa-
specialiter [...] datur intelligi» (was allgemein gemeint ge), der Vernunft (raison) und der sprachlichen Reinheit
ist, wird speziell ausgedrückt). [28] Einige Autoren be- (pureté). [39]
schränken sich demgegenüber ganz auf Beispiele, die Vico behandelt anhand klassischer Beispiele die S. in
jetzt zunehmend christlich geprägt sind: «verbum caro seiner ‹Scienza nuova› im Rahmen eines semiotisch-
factum est» (Das Wort ist Fleisch geworden [sc. kulturellen Entwicklungsmodells der Menschheit und
Mensch]) oder anima – homo (Seele – Mensch). [29] ordnet die vier bereits in der Renaissance herausgestell-
Auch die Hinweise zur rhetorischen Wirkung der S. re- ten Grundtropen in eine Abfolge Metapher – Metony-
duzieren sich im Mittelalter auf sporadische Epitheta mie – S. – Ironie ein. Alle Tropen seien auf diese vier
wie «pulchra» und «placens». [30] rückführbar und ursprünglich nicht als geistreiche Erfin-
III. 16.–18. Jh. Die Autoren der frühen Neuzeit bezie- dungen von Schriftstellern, sondern als notwendige
hen sich bei der Besprechung der S. häufig auf tradierte Ausdrucksformen anzusehen («i quali si sono finora cre-
Auffassungen des Begriffs, wobei immer wieder ver- duti ingegnosi ritruovati degli scrittori, sono stati neces-
sucht wird, die verschiedenen Unterarten der S. – von sari modi di spiegarsi [di] tutte le prime nazioni poeti-
denen meist ein vergleichsweise breites Spektrum erfaßt che»). [40]
wird – zu systematisieren. Dabei reduziert sich in der Unter den ‹verblümten Redensarten› erfaßt Gott-
Renaissance das System der Tropen häufig auf Meta- sched innerhalb der S. (auch: ‹Auszug›) die Pars-To-
pher, Ironie, S. und Metonymie als die vier grundlegen- tum-S., die Genus-Species-S. (hierunter auch die Ant-
den Tropen. Diese werden bei Ramus, Sanctius und onomasie [41]) und ferner eine breite Palette weiterer
Vossius auf die logischen Prinzipien der Ähnlichkeit Phänomene: «eins für vieles», «vieles für eins», «eine ge-
(frz. ressemblance), des Gegensatzes (opposition), der wisse Zahl für die ungewisse», «eine sogenannte volle
Inklusion (inclusion) und des sachlichen Zusammen- Zahl, für eine größere oder kleinere» bzw. «die einzelne
hangs (circonstance) gegründet. [31] Die viergliedrige Zahl anstatt der mehrern», «die mehrere Zahl anstatt
Einteilung erscheint auch bei Fouquelin, der darüber der einzelnen», «[e]ine gewisse Zahl für die ungewisse»,
hinaus der S. in qualitativer Hinsicht den letzten Rang, «[e]ine gerade Zahl für eine ungerade, die entweder grö-
von ihrer quantitativen Bedeutung her jedoch den er- ßer oder kleiner ist» [42]. Ausgehend vom quantitativen
sten Rang unter den vier Tropen zumißt. [32] Aspekt der S. subsumiert Gottsched diesem Begriff so-
Bei Tesauro wird der Terminus ‹S.› nicht explizit ge- gar die besonders ausführlich diskutierte Hyperbel und
nannt; er bespricht jedoch einige Beispiele von S. und die Litotes/Tapeinosis. Mit seinen Warnungen vor über-
Metonymien. Als wesentlich für diese von ihm zu einer mäßigen, unvernünftigen, lächerlichen oder Ekel her-
eigenen Gruppe zusammengefaßten Tropen betrachtet vorrufenden Vergrößerungen oder Verkleinerungen
er dabei das Merkmal der Einheit (im Gegensatz etwa überschreitet er allerdings bereits die Grenze zwischen
zur Ähnlichkeit) sowie die Übertragung von der Gat- der Hyperbel als Einzelwort-Tropus und als Gedanken-
tung auf die Art bzw. umgekehrt. [33] figur. [43] Auch Gottsched sieht die Nähe der S. zur Met-
Lamy räumt bei seiner Besprechung der Tropen der onymie und sogar eine gewisse Willkürlichkeit ihrer ge-
Metonymie den Vorrang ein, da diese am weitesten ver- genseitigen Abgrenzung: «diese hätte gar leicht unter
breitet sei und verschiedene Unterarten enthalte, zu de- der Metonymie können begriffen werden, wenn es nicht
nen er die «synecdoche» rechnet. [34] Innerhalb der letz- unsern Vorfahren anders gefallen hätte». [44]
teren erscheinen in der theoretischen Beschreibung und In Frankreich reduziert sich im 18. Jh. das System der
in den Beispielen die Pars-Totum-S., die Setzung einer Tropen bei Beauzée und in der Schule der Ideologen

359 360
Synekdoche Synekdoche

auf Metapher, Metonymie und S., die nun auf die vom Alle übrigen, randständigen Typen der S., die in wech-
Sensualismus postulierten Geistesoperationen der Ähn- selnder Verteilung im Laufe der Geschichte benannt
lichkeit (similitude), der Entsprechung (correspondan- wurden, finden sich jetzt im Bereich der Metonymie wie-
ce) und der Verbindung (connexion) zurückgeführt wer- der (Vorhergehendes – Folgendes und umgekehrt; Ma-
den. [45] Ganz auf dieser Linie wird die S. (auch: com- terie – Endprodukt; Behälter – Inhalt und umgekehrt;
préhension) von Fontanier besprochen, der sich auf die Symbol – Bezeichnetes; usw.). Unbeschadet der tatsäch-
klassifikatorischen Aspekte konzentriert. Als gemein- lichen Behandlung traditioneller Teilbereiche der S.
samen Nenner seiner acht Typen der S. bietet er die taucht der Terminus selbst (außer natürlich bei Reisig
Formel tropes par connexion, die er folgendermaßen und beispielsweise bei Darmesteter [52]) oft gar nicht
entfaltet: «désignation d’un objet par le nom d’un autre oder allenfalls am Rande auf.
objet avec lequel il forme un ensemble, un tout, ou phy- In der linguistischen Semantik der ersten Hälfte des
sique ou métaphysique, l’existence ou l’idée de l’un se 20. Jh. zeichnet sich immer deutlicher ab, daß die tradi-
trouvant comprise dans l’existence ou dans l’idée de tionelle Genus-Species-S. gänzlich in den Kategorien
l’autre» (Bezeichnung eines Objekts durch den Namen der Bedeutungserweiterung und -verengung aufgegan-
eines anderen Objekts, mit dem es eine Einheit, ein gen ist. Der Terminus ‹S.› erscheint praktisch nur noch
Ganzes, sei es physischer, sei es metaphysischer Art bil- zur Bezeichnung des Pars-Totum-Typs und hier als Un-
det, wobei die Existenz oder Vorstellung des einen in terkategorie der Metonymie – so in der historischen Se-
der Existenz oder Vorstellung des anderen enthalten mantik von Ullmann und in Jakobsons weit über die
ist). [46] Die traditionelle Bestimmung plus minusve (bei Linguistik hinaus einflußreichem Artikel ‹Two Aspects
ihm: «le plus pour le moins, ou le moins pour le plus») of Language and Two Types of Aphasic Disturbances›
erwähnt er mit Vorbehalt, weil hier eher die Wirkung als (zumindest in dessen allgemeiner Rezeption). [53] So-
das Wesen der S. beschrieben werde. [47] Auffällig sind wohl die Pars-Totum-S. als auch die (traditionelle) Met-
unter den von ihm aufgeführten Typen die auch bei onymie wird damit bei beiden Autoren auf die asso-
Gottsched bereits genannte Antonomasie und vor allem ziative Relation der Kontiguität zurückgeführt (ähnlich
die synecdoque d’abstraction, bei der er zwei Arten un- z.B. auch schon bei Nyrop und Roudet [54]).
terscheidet: die – eigentlich nur durch eine syntaktische Ein radikaler Umschwung erfolgt mit der ‹Rhéto-
Gewichtsverschiebung erzeugte – abstraction relative rique générale› des Lütticher Groupe m, die traditionelle
(z.B. la moire d’une soutane für une soutane de moire, Konzepte der Rhetorik in strukturalistischer – und jetzt
der Moiréstoff einer Soutane für eine Soutane aus Moi- wieder streng synchronischer – Perspektive reinterpre-
ré) und die – wirklich als Einzelwort-Tropus funktionie- tiert. Hier kommt der S. eine regelrechte Schlüsselstel-
rende – abstraction absolue (z.B. la jeunesse – les jeunes lung zu, da sogar die zentralen Tropen Metapher und
gens, die Jugend – die jungen Leute). [48] Metonymie von ihr ausgehend rekonstruiert werden.
IV. 19. und 20. Jh. Einen neuen Bereich, in dem die Fundamental für die S. sind dabei zwei ‹Modi der se-
rhetorische Tropenlehre aufgegriffen und diachronisch mantischen Dekomposition› (referentiell = Modus P vs.
interpretiert wird, stellt die im 19. Jh. expandierende konzeptuell = Modus S), die mit zwei Grundoperatio-
Theoriebildung zum Bedeutungswandel im Wortschatz nen (Partikularisierung durch Hinzufügung vs. Gene-
dar. Letztlich enthält die traditionelle Rhetorik in Form ralisierung durch Unterdrückung von Semen) zu einer
der Überlegungen zur Habitualisierung von Tropen und Kreuzklassifikation verbunden werden. Daraus ergeben
zur Katachrese bereits Ansätze zu einer Theorie des le- sich folgende vier Grundtypen der S., illustriert an Bei-
xikalischen Bedeutungswandels, wobei allerdings ab spielen des Groupe m: Segel für Schiff (P, partikularisie-
dem 19. Jh. über den sprachlichen Mangel (inopia) hin- rend; vgl. das klassische pars pro toto); der Mann griff
aus zunehmend andere Faktoren identifiziert werden, sich eine Zigarette für die Hand griff sich eine Zigarette
die die Neu- (oder Um-)Benennung eines Begriffs be- (P, generalisierend; vgl. totum pro parte); frz. [nuit] zou-
einflussen. [49] Die historische Semantik des 19. Jh. (z.B. lou für [nuit] noire, Zulu-Nacht für schwarze Nacht (S,
Reisig, Paul, Darmesteter, Bréal,Wundt, Nyrop) [50] partikularisierend; vgl. species pro genere; hierzu jedoch
geht in diesem Bereich zunächst ganz offensichtlich von kritisch Le Guern, der das Beispiel als Metapher ana-
den rhetorischen Tropen aus (deutlich bei Reisig, auch lysiert [55]); Waffe für Dolch (S, generalisierend; vgl. ge-
noch bei Darmesteter) und versucht dann zunehmend, nus pro specie). [56] Auf dieser Grundlage werden im
die den Tropen zugrundeliegenden semantischen Prin- weiteren Metaphern und Metonymien jeweils als unter-
zipien durch logische und später vor allem psychologi- schiedliche Zweierschritte aus diesen atomaren Prozes-
sche Kategorien zu fundieren. Dabei entstehen teilweise sen interpretiert. [57]
völlig neue Systematiken des Bedeutungswandels. Als Im Paradigma der Kognitiven Semantik tritt das
Kernbestand des neuen Kategoriensystems kristallisiert Interesse an der S. im rhetorischen Sinne wiederum völ-
sich – mit unterschiedlichen Variationen und Benen- lig in der Hintergrund. Die Genus-Species-Problematik
nungen – eine Gegenüberstellung zwischen den vier wird nur noch im Kontext der Unterscheidung zwischen
Typen Bedeutungserweiterung, Bedeutungsverengung, superordinate/basic/subordinate level im Rahmen der
Metapher und Metonymie heraus. [51] Prototypen-Theorie verhandelt (Wann und warum be-
In dieser neuen lexikalisch-semantischen Perspektive nennt man einen bestimmten Referenten als Tier, als
bricht nun allerdings die Einheit des traditionellen S.- Hund oder als Spitz?). [58] Andererseits drängt im
Begriffs auseinander. Die Numerus-S. gerät ganz aus Gefolge von Lakoffs und Johnsons ‹Metaphors We
dem Blick, da es sich um ein rein grammatikalisches Live By› [59] zunächst in starkem Maße die Metaphern-
Phänomen handelt. Die Pars-Totum-S. wird in den Be- Problematik in den Vordergrund. Im Rahmen des zu-
reich der Metonymie hineingenommen (was ja auch in nehmenden Interesses auch an der Metonymie er-
der rhetorischen Tradition immer wieder anklingt). Die scheint dann implizit die Pars-Totum-S. als Sonderfall
Genus-Species-S. fällt praktisch mit den Bereichen der der Metonymie. [60] Im Rahmen der Fundierung der
Bedeutungserweiterung (species pro genere) bzw. der Metonymie auf der Grundlage von Konzepten wie
Bedeutungsverengung (genus pro specie) zusammen. Idealized Cognitive Model, Frame, Szenario usw. erhal-

361 362
Synekdoche Synekdoche

ten Teil-Ganzes-, aber auch Teil-Teil-Relationen sogar mel X ist ein Y paraphrasieren und werden grundsätz-
zusätzlich eine umfassendere Relevanz (z.B. Metony- lich transitiv interpretiert (der Spitz ist ein Hund; der
mie als Effekt zwischen Teilen desselben Frames bzw. Hund ist ein Tier; und auch: der Spitz ist ein Tier). Die
zwischen einem einzelnen Teil und dem Frame insge- radikalste Reaktion auf dieses Problem besteht darin,
samt). [61] das taxonomische Prinzip dem Teil-Ganzes-Prinzip un-
Weit von diesen linguistischen Überlegungen ent- terzuordnen und Unterklassen als Teile von Oberklas-
fernt kommen im 20. Jh. kulturwissenschaftliche und sen zu interpretieren (so schon Isidor und Lamy). [71]
-philosophische Ansätze auf die Behandlung der vier Häufiger wird dafür plädiert, die Trennung beizubehal-
grundlegenden Tropen bei Vico zurück. So greift etwa ten und entweder den Terminus ‹S.› auf einen dieser
Burke die vier master tropes als zentrale Denk- und Er- beiden Typen zu beschränken (so etwa die Reduktion
kenntnisformen auf, wobei er aber auch verschiedene auf die Pars-Totum-S. bei Le Guern bzw. – umgekehrt –
Überlappungen zwischen den Tropen und den ihnen zu- auf die taxonomische S. bei Nerlich, Sato und Se-
geordneten Prinzipien feststellt, insbesondere zwischen to [72]), oder die Gesamt-Kategorie ‹S.› einfach aufzu-
der Metonymie (Prinzip der Reduktion) und der S. geben. Noch einmal gänzlich anderer Natur ist das Pro-
(Prinzip der Repräsentation). [62] H. White, der sich so- blem der Numerus-S. Hier liegt beim Untertyp singu-
gar ausdrücklich auf Vico beruft, ordnet die vier Tropen laris pro plurali (z.B. Poenus) genau das grammatische
jeweils charakteristischen Arten des Geschichtsbewußt- schema [73] vor, das in der linguistischen Referenzse-
seins zu [63] und begreift sie als «a system, indeed the mantik als ‹generischer Singular› verhandelt wird. [74]
system, by which the mind comes to grasp the world con- Es geht hier nicht um (Pars-Totum- bzw. taxonomische)
ceptually in language» (ein System, ja das System, durch Relationen zwischen begrifflichen Wortinhalten, son-
das der Geist zu einer sprachlichen Konzeptualisierung dern um das Verhältnis zwischen begrifflichen Wortin-
der Welt gelangt). [64] Whites Ansatz wird auch von halten einerseits und Referenten bzw. Referentenklas-
Jameson aufgegriffen, der die vier Tropen in einem von sen andererseits. Bei dem scheinbar gegenläufigen Un-
Greimas angeregten semiotischen Quadrat verortet und tertyp nos sumus Romani liegt hingegen letztlich eine
sie damit – ebenfalls weit über ihren rhetorischen Ur- Totum-Pars-S. vor (Gruppe für Individuum); solche
sprung hinaus – auf Texte, Autoren, Gattungen und so- Phänomene werden in der Pragmatik unter dem Aspekt
gar Ideologien anwendet. [65] der Pluralisierung von Anreden und Selbstbezeichnun-
V. Diskussion zentraler Problemfelder. Insgesamt las- gen untersucht. [75]
sen sich im Hinblick auf die vielfältigen traditionellen Weitere Unterkategorien, die in der Geschichte der
Bestimmungen der S. drei zentrale Problemfelder um- Theorie der S. ins Spiel gebracht wurden, verweisen
reißen: 1. der tropische Charakter der S., 2. die Einheit schließlich auf das dritte Problem: die Abgrenzung von
des S.-Begriffs, 3. das Verhältnis von S. und Metony- S. und Metonymie. [76] Während die Einordnung bei
mie. [66] Zunächst einmal stellt sich die Frage, wieweit Materie-Endprodukt eventuell noch unterschiedlich ge-
die semantischen Effekte, die unterschiedliche Typen sehen werden kann, stellen Vorhergehendes-Folgendes,
der S. charakterisieren, überhaupt als rhetorischer Tro- Behälter-Inhalt, Symbol-Bezeichnetes usw. eindeutig
pus zu begreifen sind. So können Sätze wie der Mann keine Teil-Ganzes-, sondern Teil-Teil-Relationen (in-
griff sich eine Zigarette statt die Hand griff sich eine Zi- nerhalb übergeordneter Frames) dar. Sie sind also in je-
garette oder Es fuhr ein Cabrio vorbei für Es fuhr ein dem Fall der Metonymie zuzuschlagen, wie es ja in
Auto vorbei völlig unauffällige Äußerungen darstellen. wechselnden Verteilungen innerhalb der Geschichte
Fälle wie der erstere wurden in der neueren linguisti- der Rhetorik immer wieder geschah. Was nun die Teil-
schen Semantik unter Stichworten wie active zones bzw. Ganzes-Effekte betrifft, so können zunächst praktische
métonymie intégrée diskutiert. [67] Demnach liegt es in Schwierigkeiten bei der Beurteilung einzelner Fälle auf-
bestimmten Äußerungssituationen näher, auf das Gan- treten (Stellt z.B. die Perücke einen Teil des Menschen
ze (Mann) zu referieren, da sich der gemeinte Teil dar, oder ist sie ihm lediglich benachbart?). [77] Einige
(Hand) von selbst erschließt. Hinsichtlich des zweiten Autoren erkennen die Möglichkeit alternativer Analy-
Falles ist daran zu erinnern, daß bei begrifflichen Ta- sen für konkrete Beispiele ausdrücklich an. [78] In theo-
xonomien die Sprecher grundsätzlich über unterschied- retischer Hinsicht bestand durch die gesamte Geschich-
liche Abstraktionsebenen zur Kategorisierung eines Re- te hindurch eine Option darin, die S. oder Untertypen
ferenten verfügen, daß sie allerdings, in Abhängigkeit von ihr wiederum als Sonderfall der Metonymie zu se-
von Kontext, Textgattung usw., jeweils eine bestimmte hen. Wenn man die S. insgesamt so behandelt [79], bleibt
Ebene favorisieren. [68] das schon angesprochene Problem des fundamentalen
Zweitens stellt sich von den Anfängen der Rhetorik Unterschieds zwischen dem Teil-Ganzes-Prinzip und
an die Frage nach der Einheit des S.-Begriffs. [69] Die dem taxonomischen Prinzip bestehen. Dafür, die Pars-
Formel plus minusve bzw. das synekdochische Prinzip Totum-S. als Untertyp der Metonymie zu sehen, spräche
der Inklusion überdeckt einen fundamentalen Unter- das gemeinsame Merkmal eines Funktionierens inner-
schied zwischen zwei Grundprinzipien der begrifflichen halb von Frames, Szenarios usw. (sei es als Teil-Ganzes,
Organisation: dem Teil-Ganzes-Prinzip und dem taxo- sei es als Teil-Teil). Diametral entgegengesetzt wurde
nomischen Prinzip (was implizit in der rhetorischen auch vorgeschlagen, Metonymien grundsätzlich im
Tradition auch immer wieder deutlich wird und sich im Lichte von Pars-Totum-Relationen zu interpretie-
übrigen in der Unterscheidung zwischen den Modi P ren. [80] Ein häufig gewählter Mittelweg besteht darin,
und S durch den Groupe m niederschlägt). [70] Pars-To- den Teil-Ganzes-Effekten einen Sonderstatus innerhalb
tum-Relationen lassen sich über die Formel X ist Teil der Metonymien zuzubilligen. [81] Ein gänzlich sym-
von Y paraphrasieren und werden üblicherweise nicht metrisches Modell schlägt B. Meyer vor, der Teil-Gan-
transitiv interpretiert (der Ziegel ist ein Teil des Daches; zes-Effekte im Schnittbereich zwischen der S. (definiert
das Dach ist ein Teil des Hauses; aber: ?der Ziegel ist ein durch das – allerdings nicht unproblematische – Prinzip
Teil des Hauses). Taxonomische Über- bzw. Unterord- der ‹Inklusion›) und der Metonymie (definiert durch
nungsrelationen hingegen lassen sich nur über die For- ‹situationelle Assoziation›) ansiedelt. [82]

363 364
Synekdoche Synizese

Anmerkungen: Categories, in: T.E. Moore (Hg.): Cognitive Development and


1 Lausberg Hb. § 573. – 2 Auct. ad Her. IV, 44; Quint. VIII, 6, 19; the Acquisition of Language (New York 1973) 111–144; G. Klei-
vgl. B. Meyer: Synecdoques. Étude d’une figure de rhétorique, ber: Lexique et cognition: Y a-t-il des “termes de base”?, in: Ri-
2 Bde. (Paris 1993/1995) Bd. 1, 86. – 3 Quint. VIII, 6, 21. – 4 Auct. vista di linguistica 6/2 (1994) 237–266; J.A. Taylor: Linguistic
ad Her. IV, 44, Übers. Verf.; vgl. auch Cic. De or. III, 168; Quint. Categorization. Prototypes in Linguistic Theory (Oxford 21995)
VIII, 6, 19; Donat in Gramm. Lat., Bd. 4, p. 400, 25–29. – 5 Cic. De 38–46. – 59 G. Lakoff, M. Johnson: Metaphors We Live By (Chi-
or. III, 168. – 6 Quint. VIII, 6, 20; zu letzterem Beispiel auch Isid. cago/London 1980). – 60 z.B. K.-U. Panther, G. Radden (Hg.):
Etym. I, 37, 13. – 7 Cic. De or. III, 168. – 8 Tryphon, PeriÁ troÂpvn, Metonymy in Language and Thought (Amsterdam/Philadelphia
in Rhet. Graec. Sp., Bd. 3, p. 196, 4–5. – 9 Isid. Etym. I, 37, 13. – 1999). – 61 G. Radden, Z. Kövecses: Towards a Theory of Me-
10 Charisius, Ars grammatica, ed. C. Barwick, K. Kühnert (Leip- tonymy, in: Panther, Radden [60] 18–23; P. Koch: Frame and
zig 1964) IV, 274; vgl. auch Donat [4] p. 400, 25–26. – 11 Auct. ad Contiguity, ebd. 145–153; Blank [50] 235–243. – 62 K. Burke:
Her. IV, 45, Übers. Verf.; vgl. auch Cic. De or. III, 168. – 12 Auct. Four Master Tropes, in: ders.: A Grammar of Motives (New
ad Her. IV, 45. – 13 Cic. De or. III, 168. – 14 Isid. Etym. I, 37, 13; York 1955) 503–517. – 63 H. White: Metahistory. The Historical
Übers. Verf. – 15 ebd. – 16 Tryphon [8] p. 196, 5–6 = Homer, Ilias Imagination in Nineteenth-Century Europe (Baltimore/Lon-
VIII, 43 u. XIII, 25. – 17 Quint. VIII, 6, 19. – 18 Tryphon [8] p. 196, don 1973; 81993) xi. – 64 J. Culler: The Pursuit of Signs. Semiotics,
7–9 = Homer, Ilias I, 3–4. – 19 Lausberg Hb. § 685, 2. – Literature, Deconstruction (Ithaca, New York 1981) 65, Übers.
20 Tryphon [8] p. 196, 10–11 = Homer, Odyssee XII, 172. – Verf. – 65 F. Jameson: Foreword, in: A.J. Greimas: On Meaning.
21 Anon. in Rhet. Graec. W., Bd. 8, p. 691–693 u. 718–719; vgl. Selected Writings in Semiotic Theory (London 1987) xvii-xxi. –
Volkmann 422. – 22 Cic. De or. III, 168. – 23 Quint. VIII, 6, 19. – 66 Klinkenberg [53] 290. – 67 R. Langacker: Reference-Point
24 ebd. 19–20. – 25 Auct. ad Her. IV, 45. – 26 Quint. VIII, 6, 19–20. Constructions, in: Cognitive Linguistics 4 (1993) 29–35; G. Klei-
– 27 Beda in: Rhet. Lat. min., p. 613, 24–28; Alcuin. § 37, ebd. ber: Paul est bronzé versus La peau de Paul est bronzée, in: H.
p. 545, 19; Matth. v. Vend. III, 33–35; Eberhardus Bethuniensis, Stammerjohann (Hg.): Analyse et synthèse dans les langues ro-
Graecismus, hg. v. J. Wrobel (Breslau 1887; ND 1987) I, 99; Gal- manes (1991) 109–134. – 68 Le Guern [55] 31–33 u. 37; Klei-
frid IV, B. iii. 3, 1027–42; Eberhard der Deutsche, Laborintus, in: ber [58]; B. Nerlich, D.D. Clarke: Synecdoche as a Cognitive and
Faral, p. 350, 419–426; Joh. v. Garl. VI, 302–304; vgl. Faral 52–53. Communicative Strategy, in: A. Blank, P. Koch (Hg.): Historical
– 28 Matth. v. Vend. III, 34. – 29 Beda [27] p. 613, 25–27. – Semantics and Cognition (1999) 197–213, hier 205–210. – 69 Le
30 Alcuin [27] bzw. Galfrid [27] 1042. – 31 Meyer [2] Bd. 1, 91. – Guern [55] 29–30 u. 36. – 70 K. Seto: Distinguishing Metonymy
32 A. Fouquelin: La Rhétorique française (1555), in: F. Goyet from Synecdoche, in: Panther, Radden [60] 91–120, hier 116. –
(Hg.): Traités de poétique et de rhétorique de la Renaissance 71 G. Lakoff: Women, Fire, and Dangerous Things (Chicago
(Paris 1990) 346–347. – 33 E. Tesauro: Il Cannocchiale aristote- 1987) 79–82 u. 84–87. – 72 Le Guern [55] 36; Nerlich [68]; N. Sato:
lico (Turin 1670; ND hg. u. eingel. v. A. Buck 1968) 283. – Synecdoque, un trope suspect, in: Revue d’esthétique 1–2 (1979)
34 Lamy 59, dt. Übers. 65. – 35 ebd. 60–61, dt. Übers. 66–67. – 116–127, hier 126; Seto [70] 92, 116. – 73 Lausberg Hb. §§ 519,
36 C. Ch. Dumarsais: Des tropes ou des différents sens. Figure et 573; Meyer [2] Bd. 2, 162. – 74 T. Givón: Syntax, Bd. 1 (Amster-
vingt autres articles de l’Encyclopédie, suivis de l’Abrégé des dam/Philadelphia 1984) 405–406; F. Corblin: Indéfini, défini et
tropes de l’abbé Ducros (Paris 1988) 115–123. – 37 ebd. 115. – démonstratif (Genf 1987) 44–66, 82–97; C. Gerstner-Link: Über
38 ebd. 123. – 39 ebd. 121. – 40 G. Vico: La scienza nuova, in: La Generizität (1995) 25–39. – 75 J. Svennung: Anredeformen
scienza nuova e altri scritti di G. Vico, hg. v. N. Abbagnano (Tu- (Uppsala/Wiesbaden 1958) 59–88, 373–382; R. Brown, A. Gil-
rin 1976) 399–401. – 41 Gottsched Dichtk. § 16, 275; vgl. Redek. man: The Pronouns of Power and Solidarity, in: Th. A. Sebeok
§ XVII, 318. – 42 Gottsched Dichtk. §§ 14, 271–272; Redek. (Hg.): Style in Language (New York/London 1960) 253–276; F.
§ XVII, 316–318. – 43 Gottsched Dichtk. §§ 14–16, 272–275; Re- Braun: Terms of Address (Berlin/New York 1988). – 76 Le
dek. § XVIII, 318–320; vgl. auch G. Naschert: Art. ‹Hyperbel›, in: Guern [55] 29. – 77 Sato [72] 117; P. Schofer, D. Rice: Metaphor,
HWRh, Bd. 4 (1998) 115. – 44 Gottsched Dichtk. § 14, 271. – Metonymy, and Synecdoche Revis(it)ed, in: Semiotica 21 (1977)
45 Meyer [2] Bd. 1, 92; vgl. N. Beauzée: Art. ‹Trope›, in: Diderot 121–149. – 78 Meyer [2] Bd. 2, 171–172; Klinkenberg [53] 294 u.
Encycl., Bd. XVI, p. 699, Sp. 2. – 46 Fontanier 87. – 47 ebd. – 297. – 79 Dumarsais [37]; Arbusow 84; Lausberg Hb. § 572. –
48 ebd. 93–95. – 49 Cic. De or. III, 155; Quint. VIII, 6, 6; 21; 24–25; 80 Volkmann 423; F.J. Ruiz de Mendoza Ibáñez: The Role of
34; Lausberg Hb. §§ 561–562, 577. – 50 K. Reisig: Semasiologie Mappings and Domains in Understanding Metonymy, in: A.
oder Bedeutungslehre (1839), in: L. Antal (Hg.): Aspekte der Barcelona (Hg.): Metaphor and Metonymy at the Crossroads
Semantik (1972) 21–22; H. Paul: Prinzipien der Sprachgesch. (Berlin/New York 2000) 115–116. – 81 Le Guern [55] 36; R. Wal-
(Halle 1880; Tübingen 81968, ND 1970) 87–102; A. Darmesteter: tereit: Metonymie und Grammatik (1998). – 82 Meyer [2] Bd. 2,
La vie des mots étudiée dans leurs significations (Paris 1885; 166 u. 168–171.
5
1895) 46–48, 54–60; M. Bréal: Essai de sémantique, science des P. Koch, E. Winter-Froemel
significations (Paris 1897; ND Brionne 1982) 99–142; W. Wundt:
Völkerpsychol. II: Die Sprache, T. 2 (Leipzig 1912; ND 1975) ^ Antonomasie ^ Groupe m ^ Intellectio ^ Ironie ^ Meta-
459–627; K. Nyrop: Grammaire historique de la langue françai- pher ^ Metonymie ^ Ornatus ^ Tropus
se. IV: Sémantique (Kopenhagen u. a. 1913); vgl. B. Nerlich: Se-
mantic Theories in Europe 1830–1930 (Amsterdam/Philadel-
phia 1992); A. Blank: Prinzipien des lexikal. Bedeutungswandels
der roman. Sprachen (1997) 10–19. – 51 Nerlich [50] 69. – Synizese (griech. syniÂzhsiw, synı́zēsis, eÆpisynaloifhÂ,
52 Reisig [50] 21–22; Darmesteter [50] 46–48, 54–60. – 53 S. Ull- episynaloiphē´ [1], synaiÂresiw, synhaı́resis [2], selten syn-
mann: The Principles of Semantics (Oxford 11951, 21957) 89, 203, ekfvÂnhsiw, synekphō´nēsis [3]; lat. synizesis [4], comple-
204, 222, 232, 234; ders.: Semantics. An Introd. to the Science of
Meaning (Oxford 1962) 219; R. Jakobson: Two Aspects of Lan-
xio [5], episynaloephe [6], episynaliphe [7]; engl. synize-
guage and Two Types of Aphasic Disturbances, in: ders., M. Hal- sis; frz. synizèse, auch synérèse; ital. sinizesi, auch siner-
le: Fundamentals of Language (Den Haag/Paris 1956) 67–96; esi)
dazu auch J.-M. Klinkenberg: Problèmes de la synecdoque, in: A. Def. Die S. gehört zu den Figuren der phonologi-
Le Français moderne 51 (1983) 289–298, hier 293, n. 5. – schen Deviation durch Subtraktion [8]. Der Begriff be-
54 Nyrop [50] 188; L. Roudet: Sur la classification psychologique zeichnet heute die Zusammenziehung zweier zu ver-
des changements sémantiques, in: J. de Psychol. normale et pa- schiedenen Silben gehörender Vokale «zu einem (ein-
thologique 18 (1921) 690. – 55 M. Le Guern: Le problème de la silbigen) Diphthong oder sogar zu einem Monoph-
synecdoque, in: ders.: Sémantique de la métaphore et de la mé-
tonymie (Paris 1973) 29–38, hier 31. – 56 J. Dubois u. a.: Rhéto-
thong» [9], z.B. nëutrum ^ neutrum; Protëi ^ Pro-
rique générale (Paris 1970) 102–106. – 57 ebd. 106–108; K. Ost- tei [10]. In der Antike kann synizesis dagegen gelegent-
heeren: Art. ‹Groupe m›, in: HWRh, Bd. 3 (1996) 1206–1207; E. lich auch eine Kontraktion bezeichnen, so bei Servius:
Eggs: Art. ‹Metonymie›, in: HWRh, Bd. 5 (2001) 1217. – 58 E. «synizesis [...], id est vocalium collisio» (S. [...], d. h. das
Rosch: On the Internal Structure of Perceptual and Semantic Zusammenstoßen von Vokalen). [11].

365 366
Synizese Synizese

Werden zwei Vokale zu einem Phonem zusammen- Fällen wie deinde oder cui. Wahrscheinlich wurde die S.
gezogen, so wird der eine als voller Vokal ausgespro- in der gesprochenen Sprache zunehmend zu einem Kol-
chen, während der andere auch halbvokalisch realisiert loquialismus, vgl. die höhere Frequenz von S. in der sa-
werden kann. Dies betrifft v. a. die Vokale i (z.B. «abie- tirischen Dichtung des Horaz im Vergleich zu seinen ly-
te» [12]) und u («genua» [13], vgl. aber «sil-u-ae» [14]), rischen Gedichten [35]. Einen Hinweis auf einen gene-
daneben auch das geschlossene e [15] (oft bei uev Ä n, the- rellen phonetischen Wandel liefert Servius, der die S.
ō´n [16], vgl. ueoÂmoroi, theómoroi [17]; uarseÂvn, thar- von eodem in Vergil, Aeneis I, 575 fälschlich als Iam-
séōn [18]; im Lat. z.B. «eaedem» [19]). Auch wenn es benkürzung deutet.
sich dabei strenggenommen um eine Palatalisierung Eine Neuerung in der Technik der S. ist für uns bei
bzw. Labialisierung, d. h. um eine qualitative phoneti- Vergil faßbar: Während sie zuvor hauptsächlich bei Ei-
sche Veränderung handelt, wird der Vorgang meist un- gennamen und in Wörtern von geringem semantischem
ter den Begriff ‹S.› gefaßt. Wert [36] eintrat, verwendet Vergil die S. bei diesen
S. kann ferner bei den Komposita mit cum und de ein- Wortgruppen seltener. Dafür tritt sie nun häufiger bei
treten (z.B. coegi, deambulo), außerdem zwischen ein- semantisch ausdrucksstarken Wörtern auf, vor allem
fachem Vokal und Diphthong (z.B. deae, eaedem) und wenn diese sonst metrisch nicht brauchbar wären (z.B.
bei Vokalen, die durch h getrennt sind (z.B. «de «aurea» [37]). Ob es sich dabei um einen Einfluß Ho-
hinc» [20]). [21] mers handelt (vgl. die zweisilbige Messung von xry-
Im System der antiken Rhetorik gehört die S. zum seÂvn, chryséōn; xryseÂoiw, chryséois), ist umstritten. Nur
Bereich der elocutio und gilt bei den späten Grammati- bei Vergil wird diese Art der S. außer am Versschluß
kern, wohl entgegen dem Sprachgebrauch früherer auch am Anfang eines Hexameters gebraucht, und nur
Jahrhunderte (s. u. B.I.), gewöhnlich als ein Barbaris- Vergil dehnt sie auf die Vokalgruppe ei aus (z.B. «au-
mus, d. h. als «Fehler gegen die korrekte lautliche Zu- reis» [38]).
sammensetzung des Wortes» [22]. Consentius verurteilt II. Moderne Sprachen. Auch in den modernen Spra-
z.B. die zweisilbige Aussprache des Wortes neutrum: «si chen ist die S. anzutreffen. Das Neugriechische kennt
dicat aliquis “neutrum” disyllabum, quod trisyllabum u. a. die Zusammenziehung der Lautgruppen ia, ea, io,
fere enuntiamus, barbarismum faciet» (Wenn jemand eo und iu, vgl. z.B. die zweisilbige Aussprache von dro-
zweisilbig “neutrum” sagt, was wir gewöhnlich dreisilbig siaÂ, fvleaÂ, palaioÂw. Dadurch kann der vorhergehende
aussprechen, begeht er einen Barbarismus). [23] Dage- Konsonant mouilliert oder palatalisiert werden. Ob eine
gen wird eine S. aus metrischen Gründen (sog. Meta- S. stattfindet oder nicht, hängt oft vom lokalen Dialekt
plasmus) von den Grammatikern geduldet, z.B. durch- ab. [39] Im Französischen richtet sich die Silbenzahl ei-
gängig bei griech. Eigennamen auf -eus, deren Endung nes Wortes meist nach den Vokalverhältnissen des zu-
im Lat. in Anlehnung an die griechische Aussprache oft grundeliegenden lat. Ausdrucks. So wird das auf lat. le-
einsilbig gemessen wird (z.B. «Orpheus» [24]). onem zurückgehende lion zweisilbig ausgesprochen,
B. I. Antike. In der Forschung ist vor allem bei altla- während ciel (von celum) als einsilbig gilt. In einigen Fäl-
teinischen Dichtern umstritten, ob eine S. oder eine len ist jedoch durch Analogiebildung auch dort eine S.
Iambenkürzung (correptio iambica) anzunehmen sei. eingetreten, wo die Etymologie des Wortes eine Dihä-
Während Skutsch [25] bei der Analyse der plautinischen rese erwarten ließe (vgl. das zweisilbige chrétien aus lat.
Versmaße die S. ganz verwirft, da das Gesetz der Iam- christianum). [40] Die französische Poesie bevorzugt in
benkürzung allein zur Klärung strittiger metrischer Ver- einigen Fällen, in denen die schnelle mündliche Aus-
hältnisse ausreiche, nimmt sie Lindsay [26] ebenso wie sprache zur S. greift, die Dihärese, so bei ruine, das in der
Ceccarelli (wenn auch mit leichten Einschränkun- Dichtung ruı̈ne gemessen wird. Umgekehrt gilt aber der
gen) [27] als sicher an. Radford betrachtet die S. als lo- Ausdruck zouave als zweisilbig. [41] Zuweilen lassen
gische Folge des lat. Lautgesetzes «vocalis ante vocalem sich regionale Unterschiede feststellen: Im Osten Frank-
corripitur»: Während ein langer Vokal vor einem fol- reichs wird oft ein Wort mit Dihärese ausgesprochen, für
genden Vokal gekürzt wird, erhält ein kurzer Vokal in das der Pariser Sprachgebrauch die S. bevorzugt (vgl.
derselben Position den Lautwert des hebräischen schwa jouer und jou-er, saluer und salu-er. So besitzt eine große
(z.B. sorsum [d. h. seorsum] statt seorsum). [28] Beson- Zahl französischer Wörter eine variable Silbenzahl. [42]
ders bei den Possessiv- und Personalpronomina ist die- Auch die englischen und italienischen Dichter verwen-
ses Phänomen häufig, z.B. bei meorum, earum, eosdem. den S., während sie im Deutschen unüblich sind.
Sehr gebräuchlich ist auch die zweisilbige Messung des
Genitivs deorum. Einen Beleg für S. in frühlateinischer Anmerkungen:
Dichtung bieten z.B. Ennius: «eorundem me libertati 1 Quint. I, 5, 18. – 2 ebd. – 3 Hephaestion p. 8–10 Consbruch,
parcere certum est» [29] (mit Zusammenziehung von eo Gramm. Lat. VI, 66, 18. – 4 Serv. Aen. I, 698. – 5 Quint. [1]. –
bei eorundem: Hier ist eine Iambenkürzung nicht mög- 6 Isid. Etym. I, 35, 5. – 7 Consent. gramm. p. 6, 19 Niedermann
u. ö. – 8 H.F. Plett: Textwiss. und Textanalyse (21979) 152. –
lich, da die erste Silbe im Hexameter stets durch ein lan- 9 Lausberg Hb. § 492. – 10 Verg. Aen. XI, 262. – 11 Serv. Aen. I,
ges Element gebildet wird) oder Plautus Stich. 628: 332. – 12 Verg. Aen. II, 16. – 13 ebd. V, 432. – 14 Horaz, Carmina
«Dum parasitus mi atque fratri fuisti, rem confregi- I, 23, 4. – 15 S. Timpanaro: Art. ‹Sinizesi›, in: F. della Corte
mus» [30] (mit S. der ersten Silben von fuisti; nähme man (Hg.): Enciclopedia Virgiliana, Bd. 4 (Rom 1988) 877–883, 877. –
hier eine Iambenkürzung an, müßte regelwidrig die 16 z.B. Sophokles, Aias 698. – 17 Pindar, Olympische Oden 3,
Tonsilbe von fuisti gekürzt werden). [31] Die Häufigkeit, 10. – 18 ebd. 9, 109. – 19 Lucrez I, 306. – 20 Properz II, 3, 50, aber
mit der solche Fälle bei Plautus und Terenz eintreten, ohne S. bei Horaz, Epoden 16, 65; Satiren I, 3, 104; Ars 144. –
macht es nach Timpanaro [32] und Skutsch [33] wahr- 21 S. Boldrini: Prosodie und Metrik der Römer (1992) 50–52. –
22 Lausberg Hb. § 479. – 23 Consentius p. 7, 12–14 Niedermann;
scheinlich, daß es sich in dieser Epoche nicht nur wie Übers. Verf. – 24 Vergil, Eklogen 8, 55; vgl. Consentius p. 6, 22
später um eine metrische Freiheit, sondern um eine Er- Niedermann. – 25 F. Skutsch: Iambenkürzung und S., in: Geras.
scheinung der gesprochenen Sprache handelt. Nach Abh. zur Indogerman. Sprachgesch. FS A. Fick (1903) 108–151.
Lindsay [34] ist dies auch noch in augusteischer Zeit der – 26 W.M. Lindsay: Early Latin Verse (Oxford 1922) 60–62. –
Fall, sicher nachweisen läßt es sich aber nur bei häufigen 27 L. Ceccarelli: Sinizesi e ‹correptio iambica› nel verso scenico

367 368
Synkope Synkope

latino arcaico, in: Bollettino di Studi Latini 27, 2 (1997) 387–406. eine leichte Zeit die schwere gleichsam vorwegnimmt.
– 28 R.S. Radford: Plautine Synizesis. A Study of the Pheno- Auf dem gemeinsamen Feld prosodischer Gestaltung in
mena of Brevis Coalescens, in: Transactions and Proceedings of Dichtung wie Musik dient sie in geradezu expressioni-
the American Philological Association 36 (1905) 158–210. –
29 Ennius, Annalen 189 Skutsch. – 30 Plautus, Stichus 628. –
stischer Manier der Darstellung emotionaler Intensität
31 Boldrini [21] 51. – 32 Timpanaro [15] 878. – 33 The Annals of mit den Mitteln von Rhythmus und Melodie. [11] Als
Q. Ennius. Ed. with Introd. and Commenatry by O. Skutsch medizinischer Terminus bezeichnet die S. schon in der
(Oxford 1985) zu Ann. 188f. – 34 Lindsay [26] 59. – 35 vgl. die Antike Zusammenbruch und Entkräftung, insbes. einen
Ausg. von F. Klingner (31959) 322f. – 36 Timpanaro [15] 880. – Ohnmachtsanfall infolge mangelhafter Durchblutung
37 Verg. Aen. I, 698 u. ö. – 38 ebd. I, 726 u.ö; vgl. E. Norden des Gehirns bei Kreislaufkollaps. [12]
(Hg.): P. Vergilius Maro, Aeneis Buch VI (41957) zu V. 280. – B. I. Antike und Mittelalter. Die Stillehre des Dio-
39 G.N. Hatzidakis: Einl. in die neugriech. Gramm. (1892; ND nysios von Halikarnass (1. Jh. v. Chr.) spricht an
Hildesheim/New York 1977) 337f. – 40 Morier 1076. – 41 ebd.
1075. – 42 ebd. 1076.
mehreren, auf seine Phonetik folgenden Stellen von der
A. Bettenworth synkophÂ, synkopē´, im ursprünglichen Sinne des Zusam-
menstoßes von Lauten überhaupt, insbesondere sol-
^ Änderungskategorien ^ Aphaerese ^ Apokope ^ Barba- chen, die nebeneinander nur hart und kaum in einem
rismus ^ Epenthese ^ Figurenlehre ^ Metaplasmus ^ Fluß auszusprechen [13] sind und von daher zu einem
Sprachrichtigkeit ^ Synaloephe ^ Synkope Bruch bzw. Hiat in Klang, Silbenfolge oder Wortfügung,
zur aÆnakoph (anakopē´, auch aÆpo-eÆgkophÂ, apo-/en-
kopē´) tv Ä n hÍxvn (tōn ē´chōn)/syllabvÄ n (syllabō´n)/
aërmoniv Ä n (harmoniō´n) [14] führen. Das Meiden solcher
Synkope (griech. sygkoph [1], synkopē´; lat., engl., frz. syn-aÆna-kopaiÂ, syn-/ana-kopaı́, wird an Homer gelobt,
syncope; ital. sincope) auch ihr bewußter Einsatz zu lautmalerischen Zwek-
A. Def. Die S. (von griech. sygkoÂptein, synkóptein; ken [15]; für die rauhe Fügung (aërmoniÂa ayÆsthraÂ, har-
dt. ursprgl. Zusammenschlagen) gehört allgemein zu monı́a austērá) stehen Pindar und Thukydides [16]. Der
den Möglichkeiten, ein als linear ausgedehnt verstan- Autor der Schrift PeriÁ yÏcoyw (Perı́ hýpsūs, ‹Vom Er-
denes Phänomen (Haus, Strecke; Satzfolge, Satz, Wort- habenen›, 1. H. 1. Jh. n. Chr.) zählt die ‹aÍgan thÄw fraÂ-
form) durch Wegnahme eines oder mehrerer Bestand- sevw sygkoph (ágan tēs phráseōs synkopē´), übermäßige
teile (Steine; Silben, Buchstaben) zu ändern. Dabei ist Verkürzung, Zerstückelung des Ausdrucks› zu den Ge-
sie nach der Stelle dieser Wegnahme im linearen Ablauf fährdungen des hohen Stils, da sie ‹koloyÂei toÁn noyÄn
des Phänomenganzen [2] zu unterscheiden von der (kolū´ei tón nūn), den Gedanken verstümmele›. [17]
Aphärese (aÆfaiÂresiw, aph[h]aı́resis; lat. aphaeresis), der Auch das Herausziehen einer Silbe etwa aus der Satz-
Wegnahme vom Anfang (raus statt heraus), sowie von klausel kann den Klang der Wortfügung (aërmoniÂa, har-
der Apokope (aÆpokophÂ, apokopē´; apocope), der Weg- monı́a) beschneiden: eyÆuyÁw aÆkrvthriaÂzeiw thÄì sygkophÄì
nahme vom Schluß (z.B. Ausfall des Dativ -e). Als Weg- toÁ meÂgeuow [18] (sogleich verletzt du durch die Verkür-
nahme aus der Mitte bezeichnet die S. [3] in einem en- zung die Größe des Satzes).
geren, linguistisch-grammatischen Sinne die Subtraktion Der Mittelplatoniker Plutarch von Chaironeia (45 –
phonologischer Elemente im Inneren eines Wortes, die vor 125) sieht Präpositionen in verbis compositis als of-
Ausstoßung eines unbetonten Vokals oder einer unbe- fenkundige synkopaı́, Verkürzungen oder Fragmente
tonten Silbe aus artikulatorischen, grammatischen oder entsprechender Adverben an, so etwa pro-geneÂsuai,
metrischen Gründen (gehn statt gehen, hörn statt hören; pro-genésthai, für proÂteron geneÂsuai (próteron genés-
andre statt andere, ewger statt ewiger), auch wegen hö- thai; vorher geschehen, vorhergehen) [19], und ebenso
heren Sprechtempos (‹Allegro-Formen›: griech. ti pote überträgt er in seiner Romulusbiographie die S. im lat.
[tı́ pote: was immer] wird zu homer. tiÂpte [tı́pte]; lat. viri- ‹pomērium, Stadtgrenze› aus *pos(t) und *moiriom (zu
dis [grün] wird zu vlat. virdis wird zu frz. verde). [4] Im murum) ‹hinter der Mauer› ins griech. pvmhÂrion, pō-
System der Rhetorik ordnet sich die S. innerhalb der vier mérion [20]. Der griech. Grammatiker Apollonios Dys-
Änderungskategorien, der quadripertita ratio Quintili- kolos (1. H. 2. Jh. n. Chr.) weist unter den Adverben auf
ans, der Modifizierung eines Wortes per detractionem -ws auf die synkopierte, zweisilbige Bildung aÍfnv, áph-
zu. [5] Wenngleich als absichtsvolle Änderung Gegen- nō, aus dem dreisilbigen Grundwort aÆfanhÄw (aphanē´s,
stand auch der dispositio, ist sie unter dem ersten Stil- ungesehen) hin. [21] Die lat. ‹Artes› des Charisius (um
gebot der Latinitas (in verbis singulis) – nach Maßgabe 362) sowie (wenig später und von diesem abhängig) Dio-
des vierten: aptum – eine Option der elocutio. [6] Dabei medes [22] geben die grammatische Definition, wie sie
kann sie als aus metrischen Rücksichten und poetischer Consentius im 5. Jh. dann auf (vitiosen) barbarismus
Lizenz geduldeter oder wegen des ornatus gar gesuchter und (lizensierten) metaplasmus aufteilt: ‹Per detractio-
metaplasmus wie als fehlerhafter (eÍlleiciw [élleipsis: nem fiunt barbarismi [...] syncope est, cum mediae parti
Mangel, Zuwenig] wieder: per detractionem) barbaris- dictionis littera syllabave subtrahitur› (durch Entzie-
mus auftreten. [7] Quintilian nennt sie aber auch ‹fi- hung entstehen Barbarismen [...] S. liegt vor, wenn aus
gura in verbo› [8], womit sie zu den Mitteln des ornatus dem Mittelteil eines Wortes ein Buchstabe oder eine Sil-
zählt, des dritten Stilgebotes. Die Poetik, hier: die Metrik be weggenommen wird). Belegt wird das aus Vergil und
behandelt die S. als sprachliches Phänomen im Rahmen Terenz. [23] An der Schwelle zum Mittelalter spricht Isi-
der Prosodie, versteht unter einer S. ebenfalls die Un- dor aus dem westgotischen Sevilla (um 560–636) von
terdrückung einer Senkung im Verssystem, z.B. bei Ais- der ‹abscisio de medio› (Abschneiden aus der Mit-
chylos im iambischen Trimeter. [9] In der Musiklehre te). [24] Das byzantinische ‹Etymologicum magnum›
führt die – an das Taktprinzip gekoppelte – S. (belegt seit (1. H. d. 12. Jh.) vermerkt zum homerischen eiÆliÂpoyw
1631 [10]) zu einer rhythmischen Akzentverschiebung (eilı́pūs, schleppfüßig) die S. im Innern von Zusammen-
gegenüber der regulären Takt- oder Betonungsordnung, fügungen mit ursprünglich dreisilbigen Worten: eiÆ-leÂ-v
indem ein unbetonter Zeitwert (auch über die Taktgren- (eiléo, drängen [nicht eiÆ-liÂss-v, eilı́sso, winden, dre-
ze hinweg) an den folgenden betonten gebunden wird, hen]) und poyÂw (pús, Fuß). [25]

369 370
Synkope Synkope

II. Neuzeit. Ab dem 14. Jh. findet sich der Begriff syn- pothese über die zeichensyntaktische Dimension der
copa oder (J. Nucius 1613) syncopatio im musikalischen Sprachästhetik» ordnet H.F. Plett (1975, 21979) die S.
Kontext. [26] Er gehört «zu den am frühesten von den als phonologische Lautfigur den ‹regelverletzenden De-
Theoretikern herausgestellten Mitteln des kunstvollen viationen› durch «Subtraktion von Zeichen [...] in Mit-
Satzes» [27], mit ornamentaler (G. Dressler 1563) wie telstellung» zu. [34] Auch dieses Koordinatennetz zur
textverdeutlichender (S. Calvisius 1592) Funktion. Im Lokalisierung rhetorischer Figuren mit den aus der ge-
Übergang vom Späthumanismus zum Barock verbindet nerativen Transformationsgrammatik bekannten Trans-
J. Burmeister in seiner von der rhetorischen ausgehen- formationsarten zeigt unverkennbar die Kategorien des
den musikalischen Figurenlehre 1606 die syncopa als römischen Rhetorikprofessors.
Taktverschiebung wie als (von dieser hervorgerufene)
Dissonanz mit dem pleonasmus, wobei er innerhalb der Anmerkungen:
alle Stimmen einer musikalischen Periode variierenden 1 LSJ (91940) s. v. – 2 Publius Consentius, Ars de barbarismis et
figurae harmoniae verbleibt. [28] Das von Burmeister metaplasmis, p. 4, 16f./21; p. 5, 12 (Niedermann 1937); Mortara
wie Nucius stark beeinflußte ‹Opusculum bipartitum› Garavelli 124, 129. – 3 R. Kühner: Ausführliche Gramm. der
griech. Sprache, 1. Teil: Elementar- und Formenlehre, 3. Aufl.
des J. Thuringus (1624) ordnet sie den figurae princi- von F. Blass (1890/92, ND 1966) §§ 43, 232; E. Schwyzer: Griech.
pales zu (in seiner Nachfolge A. Kircher 1650 und T.B. Gramm., Bd. 1 (51977) 45; R. Kühner: Ausf. Gramm. der lat.
Janowka 1701), Chr. Bernhard (nach 1648) benutzt Sprache, 1. Teil, 2. Aufl. von F. Holzweissig (1912; ND 1978)
die syncopatio (erstmals auch ligatura) als figura funda- §§ 22f., 191f.; Leumann-Hofmann-Szantyr: Lat. Gramm., Bd. 1:
mentalis im stylus gravis. Im ‹Musicalischen Lexicon› Lat. Laut- und Formenlehre, von M. Leumann (61977) 95–99. –
J.G. Walthers (1732), einer auf diesen Autoren basie- 4 B. Snell in: LAW; H. Stammerjohann (Hg.): Hb. d. Linguistik
renden Summa der barocken Musik-Begriffe, «bedeutet (1975); C. Träger (Hg.): Wtb. d. Literaturwiss. (21989); G. v.
[sie] eine wieder den Tact angebrachte Rück- oder Zer- Wilpert (Hg.): Sachwtb. d. Lit. (71989); H. Bußmann: Lex. d.
Sprachwiss. (21990); G. u. I. Schweikle (Hg.): Metzler Lit.-Lex.
theilung einer Note». Für J.A. Scheibes ‹Critischen Mu- (21990); H. Glück (Hg.): Metzler-Lex. Sprache (22000) s. v.; Pre-
sicus› (1737–1790) schließlich «dienet [sie] dazu, den minger 1261; C. Haebler in: DNP, Bd. 6 s. v. ‹Lautlehre›, Sp.
Gebrauch der Dissonanzen angenehmer und lieblicher 1199; M.P. Schmude: Art. ‹Prosodie›, in: HWRh 7 (2005) Sp.
zu machen». [29] Zusammengefaßt: Die S. ist eine 355–365. – 5 Quint. I, 5, 10/38–41; J. Smith: The Mysterie of Rhe-
(klangliche) Dissonanz (und rhythmische Spannung), torique unvail’d (London 1657) 171; Lausberg Hb. § 462; J. Le-
die durch eine der gewöhnlichen Takteinteilung gegen- onhard: Dimensio syllabarum (1989) 231 (zu II 2); M.P. Schmu-
läufige Zusammenziehung oder Stückelung eines No- de: Art. ‹Rhythmus›, in: HWRh 8 (2007) Sp. 228. – 6 Lausberg
tenwertes entsteht, um im weiteren Verlauf wieder in Hb. § 479/489. – 7 Marius Victorinus, Frg. de soloecismo et bar-
barismo, p. 37, 3–5 (Niederm. [2]); Consentius [2] p. 2, 11–13;
eine Konsonanz aufgelöst zu werden. Mit dem Funk- p. 3, 5–18; Isid. Etym. I, 35, 1; Lausberg Hb. § 471. – 8 Quint. IX,
tionswandel der Figur als einer Abweichung von der ein- 3, 22. – 9 K. Rupprecht: Einf. in die griech. Metrik (31950) 13; D.
fachen Kompositionsart hin zur Affekterregung im wei- Korzeniewski: Griech. Metrik (1968) 3, 6f.4, 100–104, 109, 190–
teren Verlauf des 18. Jh. verlieren die wenig affekttra- 192; B. Snell: Griech. Metrik (41982) 34; M.L. West: Greek
genden figurae principales an Bedeutung. [30] Metre (Oxford 1982) 69, 99–106, 200; C.M.J. Sicking: Griech.
Wenig früher (1531) weist Ph. Melanchthon im Verslehre (1993) 48, 213; H. Drexler: Einf. in die röm. Metrik
zweiten Buch seiner ‹Elementa rhetorices› (‹De elocu- (1974) 60f., 68f., 71; F. Crusius: Röm. Metrik, bearb. von H. Ru-
tione›) mit ihren nach Wort-, Sinn- und Figuren zur am- benbauer (81992) §§ 25, 83. – 10 Morier 1158; früherer Ansatz
(14. Jh.) bei I. Misch: HMT s. v. ‹Syncopatio, Synkope›. –
plificatio (wie minutio) geordneten Klassen die S. als fi- 11 Riemann Musik-Lex., Bd. 3: Sachteil, hg. von H.H. Egge-
gura pronunciationis (der Aussprache) der ersten und brecht (121967) 928; E. Thiel: Sachwtb. der Musik (41984) 639;
damit den Grammatikern zu. [31] Die weithin wirksame Morier 1148–1158; D. Bartel: Hb. der musikal. Figurenlehre
Figurenlehre des I. Susenbrotus (1541, zuletzt 1621) (21992), 262–269; MGG2, Sachteil Bd. 8, 286; I. Misch [10]. –
rechnet innerhalb der grammatischen und dort unter 12 Theophr. Frg. 7 = Lass. 2; Diod. Sic. 3, 57, 5; Dion. Hal. Ant.
den orthographischen ‹Schemata›, welche «circa dictio- Rom. V, 44, 3 (Überanstrengung und Schock); Plut. Luc. 46, 2
num litteras ac syllabas versentur [...] in Regno solū (Zermürbung); Galen (2. Jh.) 7, 467 (Medicorum Graec. Op.,
Poëtico» (sich um Buchstaben und Silben der Wörter ed. C.G. Kühn 1821–1833); 9, 290f.; 10, 837/846; 15, 462/504. –
13 Dion. Hal. Comp. 16, 8; 22, 38. Zum Begriff Philodem v. Ga-
drehen [...] allein im Bereich der Dichtung) die S. als dara (um 110 – nach 40 v. Chr.), PeriÁ poihmaÂtvn = P. Hercul.
Wortfigur zu den Formen des metaplasmus (aus Not- 1676 col. 9. – 14 Comp. 22, 21/26/39/41/44; Dem. 38, 4. –
wendigkeit oder wegen des ornatus). Er führt sie in einer 15 Comp. 16, 8/11; vgl. auch 15, 17. – 16 Comp. 22, 7. – 17 Ps.-
– schon bei Charisius (s. o.) angelegten – Liste von der Long. Subl. 42, 1. – 18 ebd. 39, 4 (h.= aÆpokophÂ) mit Demos-
prothesis bis zur metathesis und dort wiederum in der thenes XVIII (Kranzrede) 188. – 19 Plutarch, Moralia 1011e
ersten Gruppe der hinzufügenden oder abziehenden Fi- (Platonicae Quaestiones 10). – 20 Plutarch, Romulus 11, 4. –
guren auf: «Syncope, est cum litera vel syllabe è dictionis 21 Apollonios Dyskolos Adv. p. 580, 20ff., in: Gramm. Graec.,
medio tollitur» (S. liegt vor, wenn ein Buchstabe oder Bd. I, 1 (1878) p. 169, 15. – 22 Charisius in: Gramm. Lat., Bd. 1
(1857) p. 278, 18–20; Diomedes ebd. p. 441, 27–30. – 23 Consen-
eine Silbe aus der Mitte eines Wortes ausgelassen wird). tius [2] p. 11, 13–18; p. 4, 20–5, 8 mit Vergil, Aeneis I, 26/118; Te-
Diese Definition belegt er mit Beispielen aus Vergil, Ju- rentius Phormio 101. – 24 Isid. Etym. I, 35, 3. – 25 Etym. Ma-
venal und Terenz. [32] In englischen Renaissance-Rhe- gnum 299, 28 Gaisford (Oxford 1848); Homer, Ilias VI, 424; IX,
toriken findet sich diese Liste geringfügig erweitert bei 466; Odyssee I, 92. – 26 W.S. Allen: Accent and Rhythm – Pro-
R. Sherry (1550), und eine Beispielsammlung zu ihr bie- sodic Features of Latin and Greek (Cambridge 1973) 111; Pre-
tet H. Peacham (21593). [33] minger 1260; Misch [10]. – 27 M. Ruhnke: J. Burmeister. Ein
In stilrhetorischen Textmodellen schließlich der mo- Beitr. zur Musiklehre um 1600 (1955) 153. – 28 J. Burmeister:
dernen Sprachwissenschaft wird die S. etwa in der Musica Poetica (1606) 55f., 60f.; Riemann ML [11] 927f.; Bar-
tel [11] 19, 24, 268. – 29 Bartel [11] 25ff., 264–268. – 30 ebd. 55,
‹Rhétorique générale› (1970, dt. 1974) der Lütticher 269; Misch [11]; zur affektiven Seite in der Figurenlehre der dt.
Gruppe m ganz entsprechend der quintilianschen quadri- Barockpoetik Dyck 33, 79–89, 136, 171. – 31 Melanchthon 475. –
pertita ratio als Metaplasmus zu den morphologischen 32 I. Susenbrotus: Epitome troporum ac schematum et gram-
‹suppressions (= detractio) partielles› gerechnet. In sei- maticorum et rhetoricorum (London 1621) 19f.; Vergil, Aeneis
nem eigenen Modellversuch einer «linguistischen Hy- VIII, 274; Iuvenal IV, 28. – 33 R. Sherry: A Treatise of Schemes

371 372
Synoikeiosis Synoikeiosis

and tropes (London 1550) B VI; H. Peacham: The Garden of der ‹Rhetorik›, allerdings ohne den Terminus zu nen-
Eloquence (London 1577/21593) E II–V; L.A. Sonnino: A nen, eine recht detaillierte Explikation der S.: «Man
Handbook to Sixteenth-Century Rhetoric (London 1968) 205f. muss aber für Lob und Tadel das mit dem Vorhandenen
– 34 H.F. Plett: Textwiss. und Textanal. Semiotik, Linguistik,
Rhet. (21979) 146–148, 152f., 156, 189 (vgl. auch 195).
Verwandte so nehmen, als sei es dasselbe, wie zum Bei-
spiel eine vorsichtige Person als kaltblütig und hinterli-
M.P. Schmude stig und eine einfältige Person als rechtschaffen oder
eine gefühllose Person als sanftmütig. Und man muss
^ Aphaerese ^ Apokope ^ Barbarismus ^ Metaplasmus ^ jede (Beschreibung) aufgrund der mitfolgenden Merk-
Metrik ^ Musik ^ Poetik ^ Prosodie ^ Rhythmus male dem Bestmöglichen entsprechend (nehmen), wie
zum Beispiel eine zum Jähzorn und zur Raserei neigen-
de Person als geradeheraus und eine selbstgefällige Per-
son als großgeartet und ehrwürdig. Und diejenigen, die
Synoikeiosis (griech. synoikeiÂvsiw, synoikeı́ōsis; lat. Merkmale im Übermaß aufweisen, (muss man) so (neh-
conciliatio, communicatio; nlat. commistio [coniunctio]; men), als besäßen sie die entsprechenden Tugenden, wie
engl. Schreibweise häufig synoeciosis) den Tollkühnen als Tapferen und den Verschwenderi-
A. Def. Etymologisch bezeichnet ‹S.› (aus syÂn ‹zu- schen als Freigebigen; es wird nämlich der Menge so er-
sammen› und oiÆkeiÄow ‹zum selben Haus, zur selben Fa- scheinen, und zugleich wird ein Fehlschluss aus der Ur-
milie gehörig, verwandt›) das in ein Haus (oiËkow, oı́kos) sache zustandekommen: Wenn sich nämlich einer dort
bzw. eine Familie Zusammenbringen, miteinander ver- in Gefahr begibt, wo es gar nicht nötig ist, dann dürfte er
wandt Machen, allgemeiner das Angleichen, Versöh- es dem Anschein nach noch weit eher dort tun, wo es
nen, Harmonisieren (von gegensätzlichen Dingen oder schön ist, und wenn einer dem Nächstbesten gegenüber
Personen). [1] Nach den nicht völlig übereinstimmenden großzügig ist, (dann dürfte er es dem Anschein nach)
antiken Erklärungen stellt sich die S. als eine paradoxale auch den Freunden gegenüber sein; denn jedem Gutes
Gedankenfigur dar, durch die entweder einem Subjekt zu erweisen ist eine Übertreibung der entsprechenden
gegensätzliche Prädikate zugeschrieben werden oder Tugend.» [5] Evident ist der sophistische Charakter die-
gegensätzliche Subjekte ein und dasselbe Prädikat er- ser Argumentationsweisen: Konträre Wertbegriffe als
halten. Paradoxal ist sie, weil sie dem Topos, daß einem Synonyme erscheinen zu lassen ist eines der verblüffen-
Subjekt nicht zugleich zwei konträre Prädikate zukom- den Paradestücke sophistischer Disputierkunst (Eri-
men können [2], widerspricht. Die Figur dient vor allem stik), wie sie exemplarisch die ‹Dissoi logoi› vorführen,
der amplificatio oder deren Gegenteil, der diminutio, in- in denen die Identität von Gut und Schlecht, Schicklich
dem sie Werturteile entgegen der communis opinio in und Schimpflich, Gerecht und Ungerecht kontrovers er-
bonam oder in malam partem umdeutet oder verschiebt. örtert wird. [6] Was die Sophisten als intellektuelles Ver-
Vom Oxymoron läßt sich die S. (zumindest in der Ver- wirrspiel betreiben, wird im aufgeheizten, von Mißtrau-
sion ihres antiken Hauptzeugen Rutilius Lupus) da- en beherrschten Klima eines politischen Konflikts zum
durch unterscheiden, daß in ihr die Gleichheit des Ge- Instrument der Eskalation, wenn sich im moralischen
gensätzlichen explizit und propositional, in einem Be- Urteilsvermögen der Öffentlichkeit die Maßstäbe zu-
hauptungssatz ausgesagt wird (insofern verhalten sich S. gunsten eines blinden Aktionismus verschieben, wie
und Oxymoron zueinander wie Vergleich und Meta- Thukydides es für den Peloponnesischen Krieg be-
pher) und daß diese Aussage noch zusätzlich eine ar- schreibt: «Und den bislang gültigen Gebrauch der Na-
gumentative Begründung erhält. Eine S. wäre dann et- men für die Dinge vertauschten sie nach ihrer Willkür:
wa: «Geburt und Tod sind dasselbe, denn mit der Ge- unbedachtes Losstürmen galt nun als Tapferkeit und
burt beginnt schon das Sterben», ein entsprechendes gute Kameradschaft, aber vordenkendes Zögern als auf-
Oxymoron: «Tot kam ich auf die Welt» (prädikativ) geschmückte Feigheit, Sittlichkeit als Deckmantel einer
oder «an meinem tödlichen Geburtstag» (attributiv). ängstlichen Natur, Klugsein bei jedem Ding als Schlaff-
B. Geschichte. I. Antike. Nicht als Figur, jedoch be- heit zu jeder Tat; tolle Hitze rechnete man zu Mannes
reits als ein der Steigerung (amplificatio/ayÍjhsiw, aúxē- Art, aber behutsames Weiterberaten nahm man als ein
sis) komplementäres Grundverfahren der Lobrede er- schönes Wort zur Verbrämung der Abkehr.» [7]
scheint die S. bei ihrem ersten Vorkommen, in der ‹Rhe- Als rhetorische Figur ist die S. in der Antike selten
torica ad Alexandrum› (2. Hälfte 4. Jh. v. Chr.): «Kurz belegt. Sie erscheint nur in drei rhetorischen Texten, die
gesagt ist die Gattung der Lobrede die Steigerung aner- in ihren Beschreibungen der S. nicht exakt übereinstim-
kannter (eÆndoÂjvn, endóxōn) und die Angleichung (S.) men. Den beigegebenen Beispielen ist allein gemein-
nicht vorhandener [anerkannter] Absichten, Handlun- sam, daß sie Gegensätzliches in einer bestimmten Hin-
gen und Worte.» [3] Durch die S. werden mit einer Per- sicht als gleich erscheinen lassen, darüber hinaus haben
son oder Sache positive Attribute verknüpft, die ihr in sie aber eine recht verschiedene logische Struktur. Die
Wahrheit nicht zukommen. Dieses Verfahren hatte be- älteste, ausführlichste und wohl auch maßgebliche De-
reits Isokrates für die Lobrede empfohlen: «Alle wis- finition der S. gibt uns Rutilius Lupus (Anfang 1. Jh.
sen, daß, wer jemanden loben will, ihm mehr gute Ei- n. Chr.) in seinem Traktat ‹De figuris sententiarum et
genschaften zuschreiben muß, als dieser besitzt.» [4] Da- elocutionis›, einer lateinischen Bearbeitung der verlo-
mit kann aber nicht die offenkundige Lüge gemeint sein, renen griechischen Figurenlehre seines Zeitgenossen
die mit den Tatsachen in krassem Widerspruch steht, Gorgias [8]: «Hoc schema docet diversas res coniungere
etwa wenn man einen Schwächling als Athleten preist. et communi opinioni cum ratione adversari, et habet
Vielmehr knüpft die S. an vorhandenen neutralen oder magnam vim vel ex laude vitium vel ex vitio laudem ex-
auch negativ bewerteten Eigenschaften des zu Loben- primendi.» (Diese Figur lehrt, unverträgliche Dinge mit-
den an und gleicht sie – dies ist ja die Grundbedeutung einander zu verbinden und der allgemeinen Ansicht be-
des Verbums synoikeioÂv, synoikeióō – den jeweils gründet zu widersprechen; sie ist gut dazu geeignet, aus
nächstliegenden Tugenden an – für die Tadelrede gilt einem Lob einen Fehler oder aus einem Fehler ein Lob
entsprechend das Umgekehrte. Aristoteles liefert in herauszupressen). [9] Das erste Beispiel, das aus einer

373 374
Synoikeiosis Synoikeiosis

nicht erhaltenen Rede des attischen Redners Hyperei- mit seiner eignenen Definition der S. überein, sofern in
des (4. Jh. v. Chr.) stammt, erfüllt alle von Rutilius ange- ihnen keine Angleichung von Gegensätzlichem erkenn-
gebenen Bestimmungen der S.: «Der Geizhals und der bar ist. [10]
Prasser haben ein und denselben Fehler. Denn beide Wesentlich kürzer als die des Rutilius Lupus ist die
können nicht mit Geld umgehen, beiden macht das Geld S.-Definition Quintilians: «Eine andere Art von Ver-
Schande. Mit Recht erleiden daher beide die gleiche bindung, die nicht um der Auslassung willen geschieht,
Strafe, da sie gleichermaßen besitzunwürdig sind.» Der nennt man S.; sie bindet zwei unverträgliche Dinge zu-
erste Satz behauptet die Identität zweier konträrer Cha- sammen.» (Non utique detractionis gratia factam con-
raktereigenschaften (diversa coniungere) und wider- iunctionem synoikeiosin vocant, quae duas res diversas
spricht damit der communis opinio. Der zweite Satz lie- colligat.) [11] Sein Beispiel einer S. ist im Unterschied zu
fert die Begründung (ratio) für die paradoxale Behaup- den Beispielen des Rutilius Lupus nicht ein Argument,
tung, indem er ein beiden Gegensätzen gemeinsames sondern eine stark pointierte Sentenz des Mimendich-
Merkmal angibt: die Unfähigkeit, mit Geld umzugehen. ters Publilius Syrus [12]: «Dem Geizigen fehlt das, was
Da der situative und sprachliche Kontext des Zitats un- er besitzt, ebensosehr wie das, was er nicht besitzt.»
bekannt ist, läßt sich über seine konkrete rhetorische Zwar werden hier kontradiktorische Ausdrücke mit ein-
Funktion für die Umkehrung von Lob in Tadel bzw. von und demselben Prädikat verbunden, doch ergibt sich der
Tadel in Lob nur mutmaßen. Möglicherweise hat der Sinn hier erst, wenn man das Prädikat ‹fehlen› bei den
Gegner einen ausgabefreudigen Menschen gelobt mit beiden Subjektsätzen verschieden versteht: Was er nicht
der Begründung, daß er das Gegenteil eines habgierigen besitzt, fehlt dem Geizigen im alltäglichen Sinne des
Menschen sei (Der Schluß würde dann etwa lauten: Wortes; was er besitzt, fehlt ihm in einem anderen, über-
‹Wenn Verschwendung das Gegenteil von Geiz ist und tragenen Sinn, nämlich insofern, als er keine Verwen-
wenn Geiz ein Laster ist, dann muß Verschwendung dung davon macht und daher ‘nichts davon hat’. Das
eine Tugend sein›). Hypereides setzt nun die Begriffe in Beispiel ist also ein Aperçu, das auf einem oxymoralen
ein anderes Verhältnis, indem er sie im Sinne der Mes- Spiel mit dem Wort ‹fehlen› beruht, und daher im her-
otes-Lehre als konträre Abweichungen von einer mitt- kömmlichen Sinn mehr eine Figur zu nennen als die Bei-
leren Tugend, vom besonnenen und maßvollen Umgang spiele, die Rutilius Lupus anführt. In Quintilians Be-
mit Geld, bestimmt. Die Ausgabefreudigkeit, die der schreibung der S. fehlen zudem zwei wichtige von Ru-
Gegner als Freigebigkeit gelobt hat, wird von Hyperei- tilius genannte Merkmale der S.: Die Begründung des
des als Verschwendungssucht gebrandmarkt. In dem Zusammenspannens der Gegensätze («cum ratione»)
nächsten von Rutilius Lupus zitierten Beispiel, das aus und die Umwertungsfunktion des S. («vis vel ex laude
einer Lysias-Rede stammt, wird ebenfalls ein gegneri- vitium vel ex vitio laudem exprimendi»). Quintilian re-
sches Argument aufgegriffen und vom Lob zum Tadel feriert weiter, daß man von der S. die distinctio (griech.
gewendet, d. h. aus den gleichen Prämissen wird der ent- paradiastolhÂ, paradiastolē´) unterscheide, «durch die
gegengesetzte Schluß gezogen: «Man soll daher nicht Ähnliches differenziert wird» (qua similia discernun-
glauben, daß verschwenderische Freigebigkeit gegen- tur) [13]. Nach dem beigegebenen Beispiel zu schließen
über vielen Leuten ein Zeichen von Uneigennützigkeit handelt es sich hier um eine Figur, mit der dem Gegner
sei: solche Leute sind nämlich noch viel dreister im Steh- eine täuschende Verwischung des Unterschieds zwi-
len. Denn je mehr sie für ihren kostspieligen Geltungs- schen einer Tugend und einem verwandten (Übertrei-
drang brauchen, desto frecher stecken sie ein, um sich so bungs-)Laster (Klugheit/Verschlagenheit, Dreistigkeit /
für ihren Geltungsdrang die Mittel zu verschaffen.» Der Mut, Sparsamkeit/Geiz) vorgeworfen wird.
Syllogismus des Gegners: ‹A ist äußerst freigebig, also Die letzte antike Erwähnung der S. stammt aus dem
ist er uneigennützig, also ist ihm Diebstahl nicht zuzu- anonymen spätantiken Lehrgedicht ‹Carmen de figuris›
trauen› wird durch Umdeutung der Freigebigkeit von (um 400 n. Chr.). Sie bietet nichts weiter als eine stark
einem Indiz der Tugend (Uneigennützigkeit, abstinen- komprimierte Version der Definition und des Hyperei-
tia) zu einem Indiz des Lasters (Geltungssucht, ambitio) des-Fragments aus Rutilius Lupus. [14]
und durch Einführung einer zusätzlichen Prämisse II. Neuzeit. Zeugnisse für die Bekanntheit der S. gibt
(‹Wer verschwenderisch freigebig ist, braucht mehr es danach erst wieder in der Rhetorik und Poetik der
Geld, als er hat›) zur entgegengesetzten Konklusion ge- Renaissance, in der die im Mittelalter weithin verges-
führt: ‹A ist äußerst freigebig, [...], also ist gerade er zum senen Schriften der rhetores minores durch den Buch-
Diebstahl disponiert.› Wiederum werden zwei konträre druck wieder zugänglich werden. Melanchthon kommt
Attribute (Geld verschenken und Geld stehlen) als in seinen ‹Elementa rhetorices› (1531) der Konzeption
Konsequenzen ein und desselben Lasters (Geltungs- des Rutilius Lupus bzw. Gorgias sehr nahe, wenn er die
sucht), als die ‘zwei Seiten derselben Medaille’ auf- S. unter den Amplifikationsfiguren ex contrarijs be-
gedeckt. Hier wird zusätzlich noch gezeigt, daß die bei- schreibt: «Um eine Communicatio [,Versöhnung’] oder
den konträren und damit anscheinend unverträglichen S. handelt es sich, wenn man Gegensätzlichem dasselbe
Handlungsweisen durchaus in einer Person koexistieren zuschreibt, wie z.B.: “In der Regierung sind übermäßige
können, ja daß die eine Ursache der anderen ist. Mög- Strenge und übermäßige Milde gleichermaßen Grau-
lich werden diese entgegengesetzten Schlußfolgerungen samkeit, weil übermäßige Milde die Dreistigkeit der
dadurch, daß es sich bei den diskutierten Gegensätzen Schurken fördert und ihnen die Freiheit gibt, gegen die
wie Freigebigkeit vs. Verschwendungssucht um polare, Rechtschaffenen zu wüten.”» [15] Der Kunstgriff be-
graduelle Gegensätze handelt, deren Grenzen nicht ex- steht hier in der Ausweitung des Begriffs der Grausam-
akt objektivierbar sind und daher einen gewissen Spiel- keit, unter der man normalerweise bei den Regen-
raum für parteiische Ausdeutung bieten, und daß ent- ten eine extreme Härte in der Ahndung von Delikten
scheidende Daten (wie im letzten Beispiel, ob A tatsäch- versteht, auf deren Gegenteil, die übertriebene Milde.
lich mehr verschenkt, als er besitzt), nicht bekannt sind. Verwischt wird aber der wesentliche moralische Unter-
Die beiden folgenden Beispiele des Rutilius (aus verlo- schied, daß die Mißhandlung bei einem im herkömmli-
rengegangenen Demosthenes-Reden) stimmen nicht chen Sinne grausamen Regenten dessen eigene Hand-

375 376
Synoikeiosis Synoikeiosis

lung ist, während sie beim laxen Regenten nur eine nicht einer Figurenlehre mehr ein argumentativer Topos als
intendierte Konsequenz aus dessen Nichthandeln ist, ein Mittel des rhetorisch-poetischen ornatus ist, verbin-
das anderen, wiederum im herkömmlichen Sinne grau- det die poetisierte S. der englischen Renaissance-Rhe-
samen Menschen freie Hand für Mißhandlungen gibt. torik nur noch der Name und die Verwendung konträ-
Man kann dennoch nicht sagen, daß dieses Argument rer Begriffe, und letzteres trifft ebenso auf die Anti-
vollkommen irreführend und ungerechtfertigt ist, da es these zu.
drastisch und rhetorisch wirkungsvoll die im Grunde Ende des 18. Jh. bringt der Leipziger Philologe
richtige Erkenntnis vermittelt, daß eine üblicherweise J.Chr.G. Ernesti die S. als Grundverfahren der Lobre-
als gut bewertete Eigenschaft (Milde) im Übermaß an- de in der ‹Rhetorica ad Alexandrum› erstmals in ter-
gewendet dieselben unerwünschten Ergebnisse zeitigen minologischen Zusammenhang mit der gleichnamigen
kann wie ihr als schlecht geltendes Gegenteil (Härte). von Rutilius Lupus beschriebenen rhetorischen Fi-
Der Poetiker I.C. Scaliger hingegen weicht in den gur. [25] In späteren Figuren- und Stilllehren sucht man
‹Poetices libri septem› (1561) stark von seiner Quelle nach der S. meist vergebens, und wenn sie einmal ir-
Rutilius Lupus ab, indem er die S. bloß als eine kunst- gendwo erwähnt wird, wird sie als mit dem Oxymoron
volle Anordnung von Antithesen («coniunctio diversa- identisch behandelt. [26]
rum rerum») definiert und das bei Lupus distinktive
Merkmal der begründeten Paradoxalität der S. («com- Anmerkungen:
muni opinioni cum ratione adversari») wegläßt. [16] An- 1 vgl. LSJ s. v. synoikeiÂvsiw und synoikeioÂv. – 2 vgl. Arist. Top.
hand seiner falschen Schreibung des Terminus (sygky- II, 7, 113a 20–23; Rhet. II, 23, 1397a 7–19. – 3 Anax. Rhet. 3, 1
keÂvsiw, synkykéōsis) läßt sich nachweisen, daß Scaliger (1425b 38), Übers. Verf.; zum problematischen Text vgl. Fuhr-
diese Figur aus der von Alexander Perusinus 1519 be- mann ad loc. – 4 Isocr. Or. XI (Busiris) 4; vgl. Or. XII (Pana-
thenaikos) 123; Platon, Menexenos 234c–235a; dazu Volkmann
sorgten editio princeps der antiken Figurentraktate von 323. – 5 Arist. Rhet. I, 9, 1367a 33-b 8, Übers. Chr. Rapp; vgl.
Aquila Romanus und Rutilius Lupus kennt, wo ihr ders.: Kommentar ad loc., in: Arist. Rhet., übers. u. erläutert von
Name «SYNCIKEVOSIS» buchstabiert wird. [17] Eine Chr. Rapp, 2. Halbbd. (2002) 417–420; vgl. Cic. Part. or. 81 (der
andere, sehr verbreitete Sammelausgabe antiker und hier aber im Gegensatz zu Aristoteles gerade vor Verwechslun-
zeitgenössischer rhetorischer Schriften, die sog. editio gen warnt); Cic. Inv. II, 165; vgl. Quint. IV, 2, 77; Iul. Vict.
Aldina des J. Taurellus von 1523, schreibt syskeyÂasiw, p. 74,9. – 6 vgl. Th. Schirren, Th. Zinsmaier (Hg.): Die Sophisten:
syskeúasis [18], ein Fehler, den die Lupus-Edition von R. ausgewählte Texte, griech.-dt. (2003) 292–308. – 7 Thukydides
Stephanus 1541 erstmals korrigiert. [19] Doch noch III, 82, 4, Übers. G.P. Landmann. – 8 vgl. Quint. IX, 2, 102. – 9 P.
Rutilius Lupus, De figuris sententiarum et elocutionis II, 9, ed.
1630 ist der große niederländische Philologe G.I. Vos- E. Brooks (Leiden 1970) p. 34; vgl. R. Dean Anderson Jr.: Glos-
sius im Zweifel über die richtige Schreibweise der Figur sary of Greek Rhetorical Terms (Löwen 2000) 112. – 10 vgl.
des Lupus. [20] Martin 293. – 11 Quint. IX, 3, 64, Übers. Verf.; vgl. J. Cousin:
In der englischen Renaissance-Rhetorik erfährt die Etudes sur Quintilien II (Paris 1936; ND Amsterdam 1967) 135.
in der Schulrhetorik sonst marginale S. eine bemerkens- – 12 Publilius Syrus: Sententiae, T 628 Meyer. – 13 Quint. IX, 6,
werte Beachtung, freilich um den Preis, daß sie begriff- 65; vgl. Rutilius Lupus I, 4; Carmen de figuris Vv. 115–117: sub-
lich nicht mehr vom Oxymoron zu unterscheiden ist. In distinctio. – 14 Carmen de figuris vel schematibus, Vv. 142–144,
G. Puttenhams ‹The Arte of English Poesie› (1589) läßt in: Rhet. Lat. min. p. 68f.; ed. M. Squillante (Rom 1993) 90; ed.
R.M. D’Angelo (Hildesheim/Zürich/New York 2001) 68 u.
sich anhand seiner Beispiele beobachten, wie die Kon- 126f.; vgl. U. Schindel: Die Rezeption der hellenist. Theorie der
zeption der S. (von ihm ins Englische übertragen unter rhet. Figuren bei den Römern (2001) 20 u. 62. – 15 Ph. Melanch-
dem Terminus «Crosse-couple»), ausgehend vom Hy- thon: Elementa rhetorices/Grundbegriffe der Rhet., hg., übers.
pereides-Beispiel des Rutilius Lupus über Quintilians u. komm. v. V. Wels (2001) 268f., Übers. Verf.; vgl. I. Susen-
Beispiel aus Publilius Syrus in das Oxymoron übergeht. brotus: Epitome troporum ac schematum et grammaticorum et
Puttenhams letztes Beispiel ist die von ihm selbst ge- rhetorum (Zürich s. a. [ca. 1541]) 86. – 16 Scaliger III, 46, Bd. 2
dichtete Klage eines verlassenen Liebenden: «Thus for (1994) 418–421. – 17 A. Perusinus (Hg.): P. Rvtilius et Aqvila
your sake I dayly dye,/And do but seeme to liue in Romanvs. Antiqvissimi avctores (Venedig, 12. 4. 1519) fol. biiiv;
s. L. Deitz, Einl. zu Scaliger, Bd. 2 (1994) 31–33. – 18 Continen-
deede:/Thus is my blisse but miserie,/My lucre losse tur in hoc volumine Georgii Trapezuntii Rhetoricorum libri V.
without your meede.» [21] Während H. Peacham seine [...] P. Rutilii lupi earundem figurarum è Gorgia liber. [...] (Ve-
Darstellung der S. («Synæceosis») in ‹The Garden of nedig 1523) fol. 107r. – 19 P. Rutilii Lupi Rhetoris antiquissimi
Eloquence› (1593) noch sehr eng an Rutilius Lupus an- libri duo [...] (Paris 1541) 20; s. Deitz [17] 31, Anm. 64 u. 70. –
lehnt [22], definiert J. Hoskins 1599 sie als «composition 20 Vossius, pars II, 407. – 21 G. Puttenham: The Arte of English
of contraries, and by both words intimateth the meaning Poesie (London 1589; ND Menston 1968) 172f. – 22 s. B.-M. Koll
of neither precisely but a moderation and mediocrity of (Hg.): Henry Peachams “The Garden of Eloquence” (1593).
both [...]. And one contrary is affirmed to be in the other Hist.-krit. Einl., Transkription und Kommentar (Frankfurt a. M.
u. a. 1996) 165. – 23 J. Hoskins: Directions for Speech and Style
directly by making one the substantive, the other the (London 1599), ed. H.H. Hudson (Princeton 1935) 36f.; weitere
adjective [...] or indirectly». Als Beispiel für die direkte engl. Renaissance-Quellen zur S. bei L.A. Sonnino: A Hand-
Prädikation von Gegensätzlichem nennt er u. a. «Wan- book to Sixteenth-Century Rhetoric (London 1968) 61f. s. v.
ton modesty, enticing soberness», für die indirekte ‹Contrapositum (Syneciosis)› [sic!]. – 24 s. dazu P. Mack: Synoi-
«Seeking honour by dishonouring and building safety ceosis and Antithesis in The Winter’s Tale, in: Rhetorica movet.
upon ruin». Abschließend weist er auf die große Be- FS H. Plett, ed. P.L. Oesterreich, Th.O. Sloane (Leiden u. a.
liebtheit der S. zu seiner Zeit hin: «This is an easy figure 1999) 187–197; ders.: Elizabethan Rhetoric. Theory and Prac-
now in fashion, not ever like to be so usual.» [23] In der tice (Cambridge 2002) 93f. – 25 s. Ernesti Graec. 332. – 26 so z.B.
bei H. Plett: Einf. in die rhet. Textanalyse, 9., aktualisierte und
Tat sind solche oxymoralen Ausdrucksformen typisch erw. Aufl. (2001) 61f.
für die manieristische Dichtung der elisabethanischen Th. Zinsmaier
Epoche (Ph. Sidney, Shakespeare u. a.) [24] und dar-
über hinaus des ganzen europäischen Barock. Mit der ^ Antithese ^ Coincidentia oppositorum ^ Conciliatio ^
S. ihres antiken Hauptgewährsmanns Rutilius Lupus, Contradicitio in adiecto ^ Distinctio ^ Oxymoron ^ Parado-
nach dessen Beschreibung sie trotz ihrer Behandlung in xe, das ^ Widerspruch

377 378
Synonymie Synonymie

Synonymie (griech. synvnymiÂa, synōnymı́a ‹Namen- nonymen Gruppen (a) und (b) nicht immer streng ge-
gleichheit›; lat. synonymia; engl. synonymy; frz. syn- schieden werden können.
onymie; ital., span. sinonimia) S. findet sich nicht nur auf der Wortebene; Gram-
A. Def. Nuancierte Bedeutungs‹gleichheit› unter- matiker untersuchen z.B. morphologische oder syn-
schiedlicher ‹Namen› wird seit den Tagen des Sophisten taktische S. [11] Zudem wird von Lexikographen das
Prodikos von Keos (5. Jh. v. Chr.) [1] unter ‹S.› verstan- Ähnlichkeitskriterium unterschiedlich weit interpre-
den. Aristoteles [2] belegt den Begriff mit den Beispie- tiert, z.B. ausgedehnt auf Antonyme oder wortartüber-
len poreyÂesuai, poreúesthai und badiÂzein, badı́zein und greifende Teilwortschätze im Rahmen onomasiologi-
nennt damit zwei Verben, deren lexikalische Bedeutun- scher Wörterbücher (z.B. Dornseiff; vgl. auch Sparck
gen ebensowenig identisch sind wie die der deutschen Jones [12]). Demgegenüber folgt die obige Darstellung
(gehen – wandern) und englischen (go – walk) Überset- den Fokussierungen der Rhetorik: 1. in der Beschrän-
zungen [3]. Die Geschichte des Begriffs ‹S.› beginnt also kung auf lexikalische und phraseologische (sterben/den
mit Beispielen lediglich ähnlicher Bedeutung, und dies Löffel abgeben) Einheiten, und zwar 2. solche mit Be-
ist kein Zufall: auf der Ebene des Sprachsystems scheint deutungen, deren «Verschiedenheit nicht leicht zu be-
es ‹absolute› oder ‹reine› S., d. h. Lexeme mit denotativ merken ist» (Eberhard [13]); dieses Kriterium der Ver-
und konnotativ identischer Bedeutung nicht oder nur als wechselbarkeit impliziert, daß Synonyme zur gleichen
Grenzfall zu geben. Einen derartigen «Luxus» (Ull- Wortart gehören. Die rhetorische Perspektive erfordert
mann [4]) verhindert in der Regel schon die unterschied- allerdings auch eine Erweiterung in die Pragmatik: Das
liche Polysemie der betreffenden Lexeme; so ist z.B. im stilistische Variationsgebot wäre unerfüllbar, gäbe es
norddeutschen Küchenalltag Lauch identisch mit Por- keine ‹kontextuelle S.› (vgl. auch Lyons [14]), und zwar
ree, bezeichnet aber im übrigen eine botanische Gattung im Sinne völliger Identität der durch Monosemierung
mit 300 Arten. Darüber hinaus versuchen die Sprachteil- (z.B. Wagen ^ ‹Auto›) oder Merkmalsbetonung/-aus-
haber, Bedeutungsidentität durch Funktionsdifferenzie- blendung (traben > laufen) aktuell reduzierten oder auf-
rung zu beseitigen, und bewirken damit, was Bréal [5] geladenen Bedeutungen. Für semantische Neutralisie-
das «Gesetz der Distribution» nennt. Das Ergebnis sind rung in «nicht-synonymischen Kontexten» gibt Gau-
‹Synonyme›, deren Bedeutungen zwar ähnlich sind, aber ger [15] zahlreiche Belege (S. Freud: ... gegen kleinere
doch feine Unterschiede aufweisen. Diese ‹partielle› S. Unterschiede stärker als gegen fundamentale Differen-
nennt Ullmann [6] ‹Homoionymie› und differenziert sie zen), desgleichen dafür, wie «synonymische Kontexte»
in zwei Stufen: (a) Zwei oder mehr Lexeme haben zwar Bedeutungsunterschiede (sauber vs. rein, essen vs. spei-
identische begriffliche bzw. ‹denotative› (Teil-)Bedeu- sen) hervortreten lassen. [16]
tungen, sind aber ‹konnotativ› bzw. «symptom- und/ B. Geschichte. I. Antike. Über antike Vorstellun-
oder signalfunktional» (Heger [7]) differenziert: Sie gen zur S. gibt am detailliertesten Quintilian (1. Jh.)
verweisen u. a. auf regionale (Brötchen/Schrippe/Sem- Auskunft, auf den sich u. a. Lausberg, Martin und
mel), gruppensprachliche (Geld/Kies/Zaster, mies/un- Ueding/Steinbrink in ihren Darstellungen vornehmlich
cool) oder fachsprachliche (Schraubenzieher/Schrau- stützen. [17] Quintilians Ausgangspunkt ist die copia
bendreher; Brustkrebs/Mammakarzinom) Hintergrün- verborum, d. h. die dem Redner zu Gebote stehende
de, tragen soziale Wertungen (Freitod/Selbstmord, Um- «Fülle» des Wortschatzes und speziell der «Vorrat» be-
sturz/Erhebung) und gehören zu unterschiedlichen deutungsnaher Wörter, zwischen denen er zu wählen hat
Stil- oder Beziehungsebenen (Schmerbauch/Embon- zum Zwecke der Klarheit, Angemessenheit, Eleganz
point, Visage/Gesicht/Antlitz; Mutter/Mutti/Muttchen/ und Parteilichkeit, die er aber auch kombinieren kann
Mami/Mamá). Bei vielen solcher lexikalischen ‹Dublet- zur Steigerung der Wirkung. In jedem Fall geht es dabei
ten› handelt es sich um gleichbedeutende ‹Heteronyme› um die Berücksichtigung feiner Unterschiede: (1a) De-
aus anderen Sprachen oder Varietäten, deren Entleh- notative Bedeutungsnuancen erfordern die Wahl des
nung systeminterne ‹S.› erzeugt, zumeist mit symptom- verbum eximium, des – relativ zu «den Genauigkeits-
funktionalem Beiklang: Dessert/Nachtisch, Deez/Kopf. Ansprüchen der Situation» [18] – maximal treffenden
Für Heger [8] und Henne [9] gehören konnotative Dif- Wortes. (1b) Wenn «mehrere Wörter dasselbe bezeich-
ferenzen zur Definition der ‹S.›; ihr stellt Henne das als nen, was man synvnymiÂa nennt» [19], und die einen «an-
«partielle S.» gegenüber, was bei Ullmann die andere ständiger, erhabener, glänzender» sind als die anderen,
Unterart der ‹Homoionymie› ist: (b) Die (Teil-)Bedeu- ist das angemessene (aptum) Wort zu wählen, das zum
tungen von Lexemen stimmen zwar im begrifflichen Inhalt paßt (inneres aptum), sowie den Anstandsregeln
Kern überein, enthalten aber denotative Unterschiede, und der Redesituation entspricht (äußeres aptum). (1c)
die die Substitution der Lexeme in manchen Kontexten Schließlich kann sich der Redner, sofern die Wörter
verhindern, die in anderen Kontexten jedoch nicht wahr- «gleiche Bedeutung und Geltung besitzen» [20], an
genommen werden. Eben dies unterscheidet die teilsy- Wohlklang und Rhythmus orientieren. Der Redner
nonymen von den nicht-synonymen Unterbegriffen; kann aber auch bewußt das innere aptum verletzen: (1d)
trotz gleicher Position im Begriffsbaum sind Fluß und wenn er nämlich Synonyma wählt, die den Sachinhalt
Strom zwar miteinander, jedoch kaum mit Bach ‹syn- «färben», d. h. verschärfen oder abmildern, ihn vergrö-
onym› (entsprechend Brocken/Klumpen vs. Kloß). So- ßern (amplificare) oder verkleinern (minuere): z.B.
wie abstraktere Merkmale anstatt sinnlich wahrnehm- «wenn wir einen, der geschlagen wurde, ‹erschlagen›,
barer Eigenschaften eine Rolle spielen – vor allem bei einen, der unmoralisch ist, einen ‹Räuber› nennen und
der Bezeichnung psychischer oder ideeller Sachverhalte umgekehrt von einem, der geschlagen hat, er habe ‹be-
–, wächst die Verwechselbarkeit (und damit ‹S.›) der rührt›, und von einem, der verwundet hat, er habe ‹ver-
dennoch begrifflich zu trennenden Lexeme [10]: z.B. sich letzt›, sagen» [21]. Trotz gelegentlicher Kritik [22] an
erfreuen/ergötzen/vergnügen, Mut/Tapferkeit/Kühnheit/ schon von Aristoteles [23] erwähnten euphemistischen
Schneid, dick/beleibt/fett/feist/korpulent/mollig. Oft sind Lobtechniken unterstreicht Quintilian mehrfach die
diese denotativ distinkten Merkmale untrennbar gekop- Wichtigkeit parteilicher Färbung (color) in forensischen
pelt mit konnotativen Markierungen, so daß die teilsy- Argumentationen. (2a) «Wirkungsvoller wird diese spe-

379 380
Synonymie Synonymie

cies amplificandi, wenn das amplifizierte Wort dem Nor- büchern ausgetragene Diskussion synonymischer Be-
malwort antithetisch (in einer Art correctio) gegenüber- deutungsnuancen, die im Deutschen ihren Zenith in
gestellt wird» [24], z.B: «Nicht nämlich einen Dieb, son- dem 6-bändigen Synonymwörterbuch von J.A. Eber-
dern einen Räuber, nicht einen Ehebrecher, sondern ei- hard (1795–1802) [40] erreicht. Dieses im 19. Jh. mehr-
nen Vernichter aller Schamhaftigkeit [...] haben wir vor fach ergänzte und wieder aufgelegte Werk [41] bildet
euer Gericht geführt» [25]. (2b) Auch durch die Reihung den Inbegriff für eine «distinktive» Synonymik [42], der
sinnverwandter Wörter kann ein Gegenstand amplifi- es darum geht, das iudicium, die Urteilskraft zu schärfen
ziert werden, sei es in Form einer graduell steigernden für die Wahl des treffenden und wirkungsvollen Wortes.
Synonymenreihe (incrementum), sei es in Form syn- Leider hat sich die moderne deutsche Lexikographie
onymischer ‹Häufung› (synathroismós, congeries), die dieser für rhetorische Textproduktion so wichtigen Auf-
durch Fülle Nachdruck erzeugt, vornehmlich aber dem gabe bislang vergleichsweise [43] spärlich angenom-
‹Schmuck› (ornatus) dient. Derartige Amplifikationen men. [44]
mischen sich in der Praxis oft mit nicht-synonymen Rei-
hungen sowie mit Wortwiederholungen; sie werden da- Anmerkungen:
1 vgl. H. Mayer: Prodikos von Keos und die Anfänge der Syn-
her in der Theorie als spezielle Realisierungen von onymik bei den Griechen (1913); F. Dornseiff: Der dt. Wort-
Wiederholungsfiguren wie geminatio, gradatio/Klimax, schatz nach Sachgruppen (51959) XVIIIf. – 2 Arist. Rhet. III, 2,
Anapher, Epipher, complexio behandelt: Statt des wie- 7. – 3 dt. von F.G. Sieveke; engl. von J.H. Freese. – 4 S. Ullmann:
derholten Wortes steht jeweils ein Synonym als wieder- The Principles of Semantics (Oxford 1957), dt. Grundzüge der
holte «Wortbedeutung mit verschiedenem Wortkör- Semantik (1967) 101. – 5 M. Bréal: Essay de sémantique (Paris
per» [26]. Der zusammenfassende Terminus für diese 1897) 36. – 6 Ullmann [4]. – 7 K. Heger: Monem, Wort, Satz und
Figuren ist zumeist synonymia, z.B. bei Alexander Text (21976) 67. – 8 ebd. – 9 H. Henne: Semantik und Lexiko-
(2. Jh.), Aquila Romanus (3. Jh.), Martianus Capella graphie (Berlin/New York 1972) 162ff. – 10 vgl. H.-M. Gauger:
Zum Problem der Synonyme (1972) 50ff. – 11 z.B. W. Mühlner:
(5. Jh.) und Isidor von Sevilla (um 600). So zitiert Isi- Syntaktische S. russischer verbaler Wortfügungen (1997). –
dor aus Cicero [27]: «Non feram, non patiar, non sinam» 12 Dornseiff [1] XLff.; K. Sparck Jones: Synonymy and Seman-
(Ich werde es nicht hinnehmen, dulden, zulassen) und tic Classification (Edinburgh 1986) 201ff. – 13 J.A. Eberhard:
definiert: «Synonymia liegt vor, sooft man in zusammen- Versuch einer allg. dt. Synonymik in einem kritisch-philos.
hängender Rede mit mehreren Wörtern dieselbe Sache Wörterbuche der sinnverwandten Wörter der hochdt. Mund-
bezeichnet.» Quintilian dagegen beschränkt den Ter- art, 6 Bde. (Halle/Leipzig 1795–1802) Bd. 1 (1795) VIII. –
minus synvnymiÂa auf die komplexere ‹Aufspaltung› 14 J. Lyons: Structural Semantics (Oxford 1969) 74ff. –
(dis-iunctio): «Preisgegeben hätte ich allen Gefahren, 15 Gauger [10] 95ff. – 16 zur neueren lexikolog. S.-Diskussion
vgl. auch: R. Schuster: Synonymität im Text (1995); A. Balibar-
ausgeliefert den Nachstellungen, ausgesetzt der Miß- Mrabti (Hg.): La synonymie (Paris 1997); M.C. Gómez: Las re-
gunst [...]» [28]; in ihr sind mehrgliedrige Isokola durch laciones léxicas (1999); M. Batteux: Die frz. Synonymik im
jeweils ein synonymes Satzglied, zumeist die Prädikate, Spannungsfeld zwischen Paradigmatik und Syntagmatik (2000);
verbunden. Schon die Herennius-Rhetorik [29] nennt R. Gorbounova: L’étude des synonymes en Russie (Lyon 2000);
die dis-iunctio und – als Perfektionierung des synony- M.L. Murphy: Semantic Relations and the Lexicon (Cambridge
men Gleichlaufs – auch die interpretatio: «Ruchlos ge- 2003); H. Schemann: ‹Kontext›, ‹Bild›, ‹idiomatische S.› (2003).
schlagen hast du den Vater, frevelhaft Hand angelegt an – 17 Lausberg Hb.; Lausberg El.; Martin; Ueding/Steinbrink
3
den Erzeuger.» 1994. – 18 Lausberg El. § 155. – 19 Quint. VIII, 3, 16. (Die Über-
setzungen folgen weitgehend H. Rahn). – 20 ebd. IX, 4, 58. –
II. Mittelalter und Neuzeit. Als Mittel steigernder 21 ebd. VIII, 4, 1. – 22 ebd. III, 7, 25. – 23 Arist. Rhet. I, 9, 28ff. –
oder schmückender Amplifikation ist die Stilfigur syn- 24 Lausberg Hb. § 402. – 25 Cicero, Gegen Verres, zit. Quint.
onymia, gespeist aus heimischen, klassischen und bibli- VIII, 4, 2. – 26 Lausberg Hb. § 650. – 27 Cicero, Gegen Catilina I,
schen Quellen, in all ihren Formen seit dem Mittelalter 10, zit. Isid. Etym. II, 21, 6 (p. 518 Rhet. Lat. min.); vgl. Lausberg
sehr beliebt in volkssprachiger und gelehrter Literatur: Hb. § 650. – 28 Quint. IX, 3, 45. – 29 Auct. ad Her. IV, 27, 37
z.B. Gottfried von Straßburg (um 1210): «Isot diu gienc (disiunctio) und IV, 28, 38 (interpretatio). – 30 Gottfried von
im an der hant/truric unde sere unvro» [30] oder Gry- Straßburg: Tristan, V. 11527. – 31 A. Gryphius: Sonnete; in: Ly-
phius (1637): «Ob mich gleich Ach und Noth/Angst / rische Gedichte, hg. v. H. Palm (1884) 619. – 32 Schiller: Wal-
lensteins Tod III, 21. – 33 Arbusow 61f., 65f.; Lausberg Hb.
Weh und Leid umbringen» [31] oder Schiller (1799): «So §§ 655, 740; Lausberg El. §§ 284f., 343, 352; H. Brinkmann: Zu
muß ich dich verlassen, von dir scheiden!» [32] (weitere Wesen u. Form ma. Dichtg. (21979) 151; vgl. auch W. Th. Elwert:
Belege bei Arbusow, Lausberg, Brinkmann [33]); vgl La dittologia sinonimica nella poesia lirica romanza delle origini
ferner die alten, bis in die heutige Phraseologie fortle- e nella scuola poetica siciliana (Palermo 1954); V. Bertolucci
benden Paarformeln: z.B. Weg und Steg, tun und treiben, Pizzorusso: L’iterazione sinonimica in testi prosastici mediola-
recht und billig . In mittelalterlichen Poetiken allerdings tini, in: Studi mediolatini e volgari 5 (1957) 7–29. – 34 vgl. Faral
wird die synonymia nur indirekt erwähnt, nämlich als 63f., 233, 277, 325, 347, 355; ferner 186: Matthaeus von Ven-
interpretatio [34], und tritt erst seit dem Humanismus dôme: Ars Vers. IV, 24 über die Funktion von Synonymen. –
35 vgl. auch L.A Sonnino: A Handbook to Sixteenth-Century
begrifflich wieder in Erscheinung: u. a. bei Johannes Rhetoric (London 1968) 116f. – 36 Meyfart 245. – 37 J. Matthe-
von Tepl, Melanchthon, Scaliger, Meyfart, Gott- son (1681–1764): «clausulae synonymae»; J.N. Forkel (1749–
sched. [35] Meyfarts (1634) Mahnung, daß die «Syn- 1818): «synonymische Ausdrücke», zit. D. Bartel: Musica Poe-
onymey statthabe/würdige und wichtige Dinge zuerklä- tica. Musical-Rhetorical Figures in German Baroque Music
ren/vnd die Zuhörer besser zuberichten» [36], paßt zu (Lincoln, Nebr./London 1997) 407f. – 38 G. v. Wilpert: Sachwtb.
dem hohen Ansehen dieses Stilmittels im Europa des 17. der Lit. (51969) 759. – 39 G. Girard: La justesse de la langue fran-
und 18. Jh., das sich u. a. ablesen läßt an der Übertragung çaise (Paris 1718); vgl. Gauger [10]. – 40 Eberhard [13]; da-
in die barocke Musiktheorie (Bezeichnung für vari- zu Henne [9] 66–83. – 41 41852; das zugehörige einbändige
‹Handwtb.› erlebt 1910 die 17. Aufl. – 42 F.J. Hausmann: The
ierende Motivimitation) [37] sowie an seinem Stellen- Dict. of Synonyms: Discriminating Synonymy, in: Hb. zur
wert im literarischen Diskurs: «Synonym-Schatzkam- Sprach- u. Kommunikationswiss. 5/2 (1990) 1067–1075; vgl. den
mern» [38] für den ehrgeizigen Dilettanten einerseits, Titel des Synonymwtb. von A. Room: Room’s Dict. of Distin-
andererseits eine seit der bahnbrechenden Arbeit von guishables (Boston 1981). – 43 vgl. etwa die zahlreichen anglo-
G. Girard (1718) [39] in Abhandlungen und Wörter- und frankophonen Synonymwörterbücher, z.B. S.I. Hayakawa,

381 382
Systemtheorie Systemtheorie

P.J. Fletcher (Hg.): The Cassell Thesaurus. A Comprehensive seiner Anwendungsbreite nach zunächst keine spezifisch
Guide to Synonymy and Nuance (London 1991); P.-A. Macé, wissenschaftliche Herkunft erkennen läßt. Als System
M. Guinard: Dict. des synonymes (Paris 1993). – 44 P. Grebe, W. kommen, insbesondere im Kontext kosmologischer oder
Müller: Duden. Vergleichendes Synonymwtb. (1964; 32004); E.
u. H. Bulitta: Wtb. der Synonyme und Antonyme (2003).
politischer Zusammenhänge, elementare Kennzeichen
des Anordnens und Zusammenfügens von Elementen zu
H. Rehbock einem übergeordneten Ganzen zur Sprache, wobei das
System in ontologischer Hinsicht als in diesem Sinne
^ Amphibolie, Ambiguität ^ Angemessenheit ^ Congeries ^ ‹Zusammenstehendes› (von griech. to syÂsthma, to sý-
Copia ^ Correctio ^ Disiunctio ^ Homonymie ^ Incremen- stēma) weder etwas substantiell ‹Seiendes› noch eine
tum ^ Interpretatio ^ Klimax ^ Polysemie ^ Wiederholung bloß akzidentielle Erscheinung ist; dies gilt für die Kör-
per des Weltalls, für den Kosmos im Ganzen (Stoa) oder,
wie bereits bei Platon und Aristoteles, für die Struktur
Systemtheorie (engl. systems theory) der Polis bzw. mehrerer Poleis. [1] Der klassisch-römi-
A. Def. – B.I. Tradiertes Systemdenken. – II. Rhetorik, Poetik, sche Sprachgebrauch kennt das Wort ‹systema› nicht,
Stilistik. – III. Soziologische S. – IV. Literaturwissenschaft. bestätigt aber den synthetisch-kompositionellen Wort-
A. Das Kompositum ‹S.›, seit den 1930er Jahren in der sinn insofern, als er ihm eine Reihe affiner Begriffe wie
Soziologie, seit den 1950er Jahren in der Biologie ge- coagmentatio, syntagma, synthesis oder – zum Teil titel-
bräuchlich, bezeichnet auf abstraktester Ebene ein theo- gebend und damit auf spätere wissenschaftliche Sedi-
retisches Modell zur Beschreibung von sprachlichen, mentierungen des Begriffs verweisend – compendium an
sozialen, biologischen, physikalischen, kybernetischen die Seite stellt. [2] Erst in spätantiker Zeit wird der Be-
und thermodynamischen Sachverhalten, wobei der im griff unter Bezug auf die griechische Musiktheorie von
Kompositum aufgehobene Systembegriff außerhalb tra- Martianus Capella aufgenommen, der erstmals die
ditioneller Systemverständnisse steht. Während das ‹Sy- später wichtig werdende Systemqualität des absolutum
stem› in der herkömmlichen Wortsemantik Ergebnis ei- und perfectum mitteilt. [3] Für die Frühe Neuzeit, insbe-
ner strukturierten ‹Zusammenstellung› ist und insofern sondere das 17. Jh., wird eine Doppelkonditionierung
die Qualität einer zur Summe ihrer Teile inkommensu- des Systembegriffs wesentlich, die einerseits die Syste-
rablen, übergeordneten Ganzheit besitzt, liegt dem sy- matizität der Darstellungsform – etwa als ‹Gefüge› von
stemtheoretischen Systembegriff insofern ein andersar- Begriffen und Lehrsätzen – meint, andererseits das «Sy-
tiges relationales Verständnis zugrunde, als das System stem als Gegenstandsform entdeckt» [4] und damit den
gleichursprünglich aus der Differenz zu einer Umwelt einheitlichen Methodenbegriff der Neuzeit anstößt. Im
hervorgeht, von der es sich kraft einer systemintern er- Vorfeld dieser epistemischen Innovation bewegen sich
zeugten Grenze unterscheidet. eine Reihe vorbereitender Entwicklungen: die ramisti-
Die Universalität systemtheoretischen Denkens hat sche Grundlegung der topisch-inventorischen Univer-
bereits früh eine interdisziplinäre Vereinheitlichung der salwissenschaft als ‹System› klassifkatorischer Topoi [5];
Wissenschaften nahegelegt, die sich aus den «formal das humanistische Konzept des «systema doctrinae chri-
gleichartigen Beziehungen auf verschiedenen Erschei- stianae» [6] als vollständige Darstellung theologischer
nungsbereichen» ergibt und die natürlichen wie sozialen Lehrsätze, nicht zuletzt die auf Teile der verfahrensför-
Sachverhalten insofern einen «allgemeinen Systemcha- migen artes-Wissenschaften bezogene Engführung von
rakter» [1] unterstellt. In der Biologie gehen system- ‹systema› und Methode, die – auch im Blick auf die Rhe-
theoretische Impulse seit den 1950er Jahren auf L. v. torik – ein «systema methodicum» [7] als widerspruchs-
Bertalanffy zurück, an die die neuere molekular- freies («non confusum et perturbatum» [8]) Gefüge
biologische Theorie lebender Systeme von H.R. Matu- präskriptiver Sätze entwirft. Der früheste lexikalische
rana und F. Varela angeknüpft hat. [2] In der Soziolo- Eintrag bestätigt diesen allgemein-wissenschaftlichen
gie reichen systemtheoretische Überlegungen auf T. Sprachgebrauch: «Systema est compendium, in quod
Parsons’ Grundlegung der Theorie sozialer Systeme zu- multa congregantur». [9]
rück, die der Soziologe N. Luhmann seit den 1960er Ebenfalls im Verlauf des 17. Jh. kommt es in Anleh-
Jahren in zunächst spannungsreicher Auseinanderset- nung an das neuartige Paradigma der (vor allem physi-
zung mit Parsons ausgearbeitet hat. [3] Unter vornehm- kalischen) Erfahrungswissenschaft zu einer über G. Ga-
licher Bezugnahme auf Luhmann werden systemtheo- lilei, J. Kepler und I. Newton führenden Konzeption
retische Konzepte im gesamten Spektrum gegenwärti- des Natursystems, in dem die bislang getrennten induk-
ger Wissenschaft und Kultur aufgenommen, wobei tiven und deduktiven Verfahren insofern zusammenge-
insbesondere die literatur- und kulturwissenschaftliche führt werden, als die induktiv gewonnenen und den Zu-
Rezeption der S. mit einer weitgehenden Suspension sammenhang der Phänomene systematisch herstellen-
hermeneutischer, sozialgeschichtlicher oder rezeptions- den Aussagen über die Natur deduktiv begründet und
ästhetischer Kategorien wie Autor, Leser, Text oder In- empirisch geprüft werden müssen. [10] Einen verwand-
terpretation einhergeht. ten, gleichwohl entschieden klassifikatorischen Zug
besitzen die neuen Systemwissenschaften Botanik, Zoo-
Anmerkungen: logie und Anatomie; nicht nur sie machen freilich deut-
1 L. v. Bertalanffy: Zu einer allg. Systemlehre, in: Biologia Ge- lich, daß der insbesondere im französischen 18. Jh. kri-
neralis 19 (1951) 127. – 2 vgl. H.R. Maturana, F.J. Varela: Au- tisch diskutierte [11] esprit systématique eine Inflation
topoietic systems. A Characterization of the Living Organism
(Urbana, Ill. 1975). – 3 vgl. G. Kneer, A. Nassehi: N. Luhmanns
des Systembegriffs hervortreibt, die – sieht man von der
Theorie sozialer Systeme. Eine Einf. (21994). folgenlos gebliebenen Begründung einer in ihrer «völ-
ligen Ausdehnung» [12] verstandenen ‹Systematologie›
durch J.H. Lambert ab – erst der deutsche Idealismus im
B. I. Tradiertes Systemdenken. Das ‹System› als Grund- Zuge seiner systemphilosophischen Fundamentalrefle-
kategorie moderner Wissenschaftssprache geht auf ei- xion wieder stärker zu kontrollieren beginnt. Movens
nen weitläufigen antiken Begriffsursprung zurück, der der idealistischen Philosophie ist die Verschärfung der

383 384
Systemtheorie Systemtheorie

von Kant übernommenen Gleichsetzung von «Wissen- der frz. Aufklärung am cartesianischen System-Begriff in der 1.
schaft» und «System» [13] im Zeichen eines sich selbst Hälfte des 18. Jh. (1973) 34–79. – 12 J.H. Lambert: Logische und
explizierenden Systemkonzepts, dessen Systematizität philos. Abh., in: Philos. Schr., hg. von H.-W. Arndt, Bd. 7 (1969)
385–413, 385; vgl. ders.: Frg. einer Systematologie, in: Texte zur
gleichermaßen auf die ehemals getrennten Bereiche von Systematologie und zur Theorie der wiss. Erkenntnis, hg. von G.
«Erfahrung» und begrifflicher «Spekulation» [14] über- Siegwart (1988) 125–144. – 13 I. Kant: Kritik der reinen Ver-
treten soll. Diesem «Duchsichselbstbestimmtseyn» des nunft (21787), in: Akad.-Ausg., Bd. 3 (1911) 538f. – 14 F.W.J.
Systems als «Vereinigung der ächten Materie mit der Schelling: Ideen zu einer Philos. der Natur als Einl. in das Stu-
ächten Form in demselben Fundamente» [15] gibt He- dium dieser Wiss., in: Schellings Werke. Nach der Originalausg.
gel, über die Systemreflexionen K.L. Reinholds [16], hg. von M. Schröter, Bd. 1 (1958) 689. – 15 K.L. Reinhold: Über
Fichtes [17] und Schellings [18] hinaus, die philoso- das Fundament des philos. Wissens, hg. von W. Schrader (1978)
phiegeschichtliche Bestimmung des absoluten Systems 111. – 16 vgl. ebd. – 17 vgl. J.G. Fichte: Über den Begriff der
Wissenschaftslehre oder der sog. Philos., in: Akad.-Ausg., hg.
auf, alle bisherigen Systeme nicht als bloß falsche «Vor- von R. Lauth u. H. Jacob, Bd. I, 2 (1965) 145. – 18 vgl. Schel-
gänger» [19], sondern als notwendigen «Moment» [20] ling [14]. – 19 G.W.F. Hegel: Differenz des Fichte’schen und
der im eigenen Philosophieren zu Ende kommenden Schelling’schen Systems der Philos., in: GW, Akad.-Ausg., Bd. 4
Geschichte der philosophischen Systeme zu begreifen. (1968) 10. – 20 Hegel: Glauben und Wissen oder die Reflexi-
Zu einer wirkmächtigen Konjunktur des System- onsphilos. der Subjectivität, ebd. 414. – 21 vgl. Ch. Strub: Art.
begriffs kommt es – nach einer langwährenden, insbe- ‹System›, in: HWPh, Bd. 10 (1998) 845ff. – 22 F. de Saussure:
sondere an Hegel anschließenden Phase der Systemkri- Grundfragen der allg. Sprachwiss., hg. Ch. Bally und A. Se-
tik [21] – nochmals im Kontext des europäischen Struk- chehay, übers. von H. Lommel (1931) 139. – 23 J. Derrida: Die
Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wiss. vom
turalismus, wobei der enge, über die strukturale Lingui- Menschen, in: ders.: Die Schrift und die Differenz (51992) 427. –
stik weit hinausreichende Zusammenhang von System 24 ebd. 426. – 25 Derrida zit. P. Forget: Diskursanalyse versus
und Struktur auf die einschlägigen Bestimmungen F. de Literaturwiss.?, in: J. Fohrmann, H. Müller (Hg.): Diskurstheo-
Saussures zurückgeht, nach denen die Sprache als rien und Literaturwiss. (1988) 316. – 26 ebd.
langue ein virtuell-synchrones System aus strukturierten
Elementen (Zeichen) und deren geregelten Relationen Literaturhinweis:
bildet, die auf der Ebene der parole in je konkrete Akte A. von der Stein: Der Systembegriff in seiner gesch. Entwick-
sprachlicher Realisierung umgesetzt werden. Bedeu- lung, in: A. Diemer (Hg.): System und Klassifikation in Wiss.
und Dokumentation (1968) 1–13. – F. Kambartel: ‹System› und
tung wird wesentlich durch den innersprachlichen ‹Begründung› als wiss. und philos. Ordnungsbegriffe bei und
«Wert» erzeugt, der die Positionalität der Zeichen im vor Kant, in: J. Blühdorn, J. Ritter (Hg.): Philos. und Rechts-
differentiellen Gefüge der Sprache markiert und die in- wiss. (1969) 99–113. – D. Henrich (Hg.): Ist systematische Phi-
sofern nicht «positiv durch ihren Inhalt, sondern negativ los. möglich?, in: Hegel-Stud. Beih. 17 (1977) 300–309. – J. Al-
durch ihre Beziehung zu den anderen Gliedern des Sy- brecht: Europäischer Strukturalismus (1988).
stems definiert» [22] sind. Dem Saussureschen System-
gedanken ist schließlich noch die Dekonstruktion J. II. Rhetorik, Poetik, Stilistik. 1. Rhetorik. Daß die
Derridas verpflichtet, wenn sie im Zuge der Untermi- Rhetorik, ungeachtet ihrer praktischen Orientierung,
nierung logozentrisch-einheitlicher Signifikationssyste- eine systemfreudige Disziplin ist, gehört zu den Eviden-
me die differentielle Eigenschaft der langue zum Anlaß zen schon der rhetorischen Lehrbücher der Antike. Den
nimmt, um die kurrenten Unterscheidungen der abend- Bedingungen ihres Ursprungs nach eine ‹Erfahrungs-
ländischen Metaphysik in ihren immanenten Hierar- wissenschaft›, systematisiert die Rhetorik wirkungsori-
chien zu verkehren. In dem Maße, wie diese dekon- entierte Redemittel, die sich in der Praxis ihrer Geltung
struktivistische Lektüre «systematisch» [23] verfährt, ist versichern und von dort in das systematische Lehrge-
sie freilich auf paradoxe Weise der «metaphysischen bäude überstellt werden. Erfahrungswissenschaftlich al-
Komplizenschaft» [24] überführt: Weil die Dekonstruk- lerdings ist das rhetorische System als Teil der antiken
tion ihre Tätigkeit nur mit den Kategorien des «syste- epistē´mē bzw. scientia lediglich in seiner Vermittlung
matischen angelegten Diskurses» [25] betreiben kann, von praktischer Beredsamkeit und systematischer Text-
den sie eigentlich zu dekonstruieren gedenkt, muß sie theorie; ein Umstand, den der erstmals im platonischen
dem metaphysischen Text eine disseminale Eigenener- ‹Gorgias› bezeugte Ausdruck rëhtorikhÁ teÂxnh, rhētorikē´
gie unterstellen, die ihn «spontan» die «Dekonstruktion téchnē noch festhält [1], bevor die römische Rhetorik
seiner selbst» [26] unternehmen läßt.) Theorie (ars rhetorica) und praktische Redeausübung
(ars oratoria bzw. eloquentia) gegeneinander differen-
Anmerkungen: ziert bzw., wie Ciceros ‹De oratore› belegt, die Auffas-
1 vgl. Platon: Nomoi 686b; Arist. EN IX, 8, 1168b 32; zum Be- sung vertritt, daß das «theoretische System aus der Be-
deutungsfeld des Begriffs ‹System› vgl. auch Grimm, Bd. 20, redsamkeit entstanden» (artificium ex eloquentia na-
1433ff. – 2 vgl. L. Hutter: Compendium locorum theol. (Witten- tum) [2] sei. Die antiken Handbücher zeigen dabei ein
berg 1610); O. Ritschl: System und systemat. Methode in der
Gesch. des wiss. Sprachgebrauchs und der philos. Methodologie
weitgehend einheitliches Gepräge. Systematische Qua-
(1906) Anhang. – 3 Mart. Cap. IX, 954. – 4 M. Riedel: Art. ‹Sy- lität besitzen sie, weil sie den zu vermittelnden Lehrstoff
stem, Struktur›, in: O. Brunner, W. Conze, R. Koselleck (Hg.): in Form einer hierarchischen Begriffsdisposition prä-
Gesch. Grundbegriffe. Hist. Lex. zur politisch-sozialen Sprache sentieren, die das Material in aller Regel vom Allge-
in Deutschland, Bd. 6 (1990) 292. – 5 W. Schmidt-Biggemann: meinen zum Besonderen durchschreitet und dabei eine
Topica universalis. Eine Modellgesch. barocker und humani- alternierende Bewegung von der jeweiligen Systemspit-
stischer Wiss. (1983) 40ff.; N.W. Gilbert: Renaissance Concepts ze bis zur konkreten Begriffsdefinition vollzieht. Grund-
of Method (New York 1960). – 6 Z. Ursinus: De Libro Concor- legend ist hierbei ein vierteiliges Schema, das zumeist
diae admonitio Christiana (Neustadt/Pfalz 1581) 191. – 7 C.
Timpler: Metaphysicae systema methodicum 1, 1, 3 (Hannover
aus Einteilung (diaiÂresiw, dihaı́resis; divisio), Gattung
1616) 5. – 8 ebd. – 9 J. Micraelius: Lex. philosophicum termino- (geÂnow, génos; genus), Art (eiÎdow, eı́dos; species) und
rum philosophis usitatorum (Jena 1653) 1053. – 10 vgl. Riedel [4] Definition (oÏrow, hóros; definitio) besteht. [3] Struktu-
294f. – 11 vgl. P. Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neu- relle Vorleistungen empfängt das rhetorische System
zeitlichen Rationalismus (1981) 298; H. Hasselbach: Die Kritik aus der zwischen dem 3. vorchr. und 2. nachchr. Jh. ge-

385 386
Systemtheorie Systemtheorie

pflegten Gattung des Lehrbuchs, das im Bereich ele- ken des 17. Jh. bereits im Titel als ‹Reim-Kunst› ausge-
mentaren oder wissenschaftlichen Wissens einen syste- wiesen wird. [14] Den dritten und letzten Teil bildet die
matischen «Überblick über das Ganze einer Diszi- ‹Dichtkunst›, die unter Aufnahme des rhetorischen Ar-
plin» [4] ermöglicht; prominent sind Varros ‹Libri re- beitsphasenschemas den eigentlich stofflich-materialen
rum rusticarum› oder Vitruvs ‹Libri de architectura›, Teil der Poetik bildet und Fragen der Stoffauffindung
wobei der i. e. S. rhetorische Systemtyp erstmals – wenn (inventio), der Gattungstheorie (dispositio) und des Stils
auch, wie Platons ‹Phaidros› bezeugt, bis ins ausgehen- (elocutio) bearbeitet. Die in diesem Sinne musterhafte
de 5. Jh. zurückreichend [5] – in der ‹rhētorikē´ téchnē› und bis weit ins 18. Jh. reproduzierte Systematik bietet
des Anaximenes von Lampsakos begegnet, der den M. Opitz’ ‹Buch von der deutschen Poeterey›: Auf die
Stoff nach den partes orationis gliedert und zunächst die «invention oder erfindung/vnd Disposition oder abthei-
sieben Arten der Rede, die Beweismittel und schließlich lung der dinge» [15] folgt die «zuebereitung vnd ziehr der
die speziellen Argumente behandelt. [6] Vollständig worte» [16], wobei die «abtheilung» [17] eine kurz umris-
enthalten sind die wichtigsten Systematisierungsprinzi- sene Theorie der «genera carminis» [18] bietet, während
pien erstmals in der ‹Rhetorica ad Herennium›; sie ver- die elocutio die virtutes elocutionis abhandelt. [19] Unge-
sammelt die sechs partes orationis, das System der status achtet dieser autoritativen Systematik gehen die überlie-
bzw. constitutiones, die vier virtutes dicendi und die drei ferten Dispositionssysteme – lange vor der Wende zur
genera bzw. figurae elocutionis. Hier wie in späteren philosophischen Ästhetik – dort verloren, wo sie den zu
Rhetorikbüchern erweist sich das System der Arbeits- Beginn des 18. Jh. aufkommenden Thesaurierungsten-
phasen aufgrund seiner hohen Integrationskraft für an- denzen weichen. [20]
dere Systemstellen als wichtigstes Gliederungsprinzip. 3. Stilistik. Einen nochmaligen Systemschub erleben
So behandelt die ‹Rhetorica ad Herennium› innerhalb die traditionell von der Rhetorik behandelten Sprach-
der inventio die Gattungs- und Statuslehre, während die phänomene mit der an der Wende vom 19. zum 20. Jh.
elocutio die Stilarten bzw. -tugenden übergreift und aufkommenden Stilistik, die allein die elokutionären Sy-
zumal die besonders systemfreudige Stilistik (ornatus) stemteile (Figuren, Tropen) thematisiert. Eine ähnliche
mitsamt Figuren- und Tropenlehre integriert. – Grund- Entwicklung dokumentieren bereits die (früh-)aufklä-
sätzlich ist die Rede vom rhetorischen System insofern rerischen Rhetoriken, wenn sie das rhetorische System
problematisch, als die implizierte Vollständigkeit der auf dessen stilistische Aspekte verengen; eine Entwick-
Systemstellen eine idealtypische Rekonstruktion dar- lung, für die das deutsche 18. Jh. – manifest etwa bei F.A.
stellt, die keine antiken bzw. klassischen Vorläufer be- Hallbauer – die Unterscheidung von ‹Oratorie› (als
sitzt und insofern auf einen historisch-hermeneutischen Gesamt des rhetorischen Systems mit Schwerpunkt auf
Rückhalt verzichten muß. Insbesondere systematische inventio und dispositio) und ‹Rhetorica› (als System der
Rhetoriken vom Typ des Lausbergschen ‹Handbuchs Stilmittel im Sinne des ornatus) findet [21] oder – wie
der literarischen Rhetorik› haben sich daher dem Ver- etwa bei J.G. Lindner – eine ausschließlich elokutionäre
dacht einer funktionsgeschichtlichen und wirkungsäs- Theorie der «guten Schreibart» [22] ausbildet. Unge-
thetischen «Skelettierung der Rhetorik» [7] ausgesetzt. achtet ihres von Fall zu Fall unterschiedlich ausgepräg-
2. Poetik. In die Poetik als bis ins letzte Drittel des ten Systemcharakters behandelt die im Anschluss an Ch.
18. Jh. reichende, rhetorisch-normative ars poetica findet Ballys ‹Traité de stylistique française› [23] neubegrün-
das rhetorische System vornehmlich als Dispositions- dete Stilistik Formen auffälliger sprachlicher Selektion,
prinzip Eingang; dies zumal, als der enge Zusammen- die auf der Ebene der Wortwahl wie auf der der Syntax
hang von Poetik und Rhetorik – sieht man von den ob- lokalisiert sind und insofern einen gesteigerten affekti-
ligatorischen Verweisen der rhetorischen Lehrbücher ven bzw. expressiven Charakter besitzen. In diesem Sin-
auf die poetisch-rhetorische Stildifferenz (licentia poeti- ne unterscheiden L. Spitzers geistesgeschichtliche ‹Stil-
ca) ab [8] – bereits in den artes liberales verankert ist, die studien› zwischen «Sprachstilen» als «stilistischen Aus-
die Poetik innerhalb des triviums als appendix artium in prägungen gewisser Geisteshaltungen» [24] und «Stil-
aller Regel der Rhetorik beiordnen. [9] In den Poetiken sprachen» als subjektiven «Individualsprachen» [25], die
selbst ist die Gliederung des poetologischen Stoffs ge- im Sinne eines «Stilkosmos» ein in «sich geschlossenes»,
mäß der Arbeitsphasenlehre verpflichtend [10], auch systematisches «Totalbild» [26] aufbewahren. Jüngere
wenn die Poetik, die sich im 17. und 18. Jh. primär als strukturale Stilistiken dagegen betonen unter Ausschluß
Anweisungstheorie schriftlicher Texte versteht, für die diachroner wie metalinguistischer, etwa individualpsy-
Arbeitsstufen der memoria und der actio keine Verwen- chologischer Aspekte die «strukturale Eigenschaft» [27]
dung mehr findet, während die dispositio – unter Aus- des Stils: Stil bildet – als Teil der langue und damit iden-
schluß der lyrischen Gattungen, die ein vornehmlich tisch mit ihren «Sub-Codes» – diejenige systematisch be-
metrisch-verstechnisches Problem darstellen [11] – zur schreibbare «Selektion, die jeder Text unter einer be-
Gattungstheorie umgebildet wird. Am Beginn der rhe- stimmten Zahl von in der Sprache enthaltenen Möglich-
torischen Poetologie steht die seit Quintilian als ‹Ars keiten trifft.» [28] In expliziter Weise wirkt dieses figural-
poetica› überlieferte ‹Epistula ad Pisones› des Horaz. In tropische Rhetorikverständnis auch in den Entwürfen
dieser nicht-aristotelischen Tradition findet die huma- einer neuen bzw. allgemeinen Rhetorik nach, die sich auf
nistische und barocke Poetik zu einem weitgehend stan- die rhetorisch weitläufig vorgeprägte Dichotomisierung
dardisierten Gliederungssystem [12]: Am Beginn steht einer performativ-figürlichen und einer argumentativ-
eine Exordialpartie, die sich aus einer zuweilen umfang- persuasiven Dimension der rhetorischen Rede stützen
reichen historia litteraria und einer Reihe von apologe- und zudem die traditionsreiche Bestimmung der Figür-
tischen Topoi zusammensetzt, die nacheinander das (bi- lichkeit als sprachliches Devianzphänomen aufgenom-
blische) Alter, die wissenschaftliche Universalität und men haben. In diesem Sinne hat die um J. Dubois for-
die religiöse Funktion der Dichtung als Gottesdienst be- mierte Lütticher ‹Groupe m› ein generativ-strukturales
weisen sollen; ein Beleg dafür, daß die rhetorische Poetik System sprachlicher Deviation vorgelegt, das, ausge-
systematisch der epideiktischen Rede entspricht. [13] An hend von einer angenommenen «Nullstufe» [29], über
zweiter Stelle folgt eine Verslehre, die von vielen Poeti- die zeichensyntaktische Projektion zweier Klassifikati-

387 388
Systemtheorie Systemtheorie

onsebenen – die Klasse der Abweichungsmodi (Detrak- 370. – 29 Dubois 59. – 30 ebd. 74f., 78. vgl. Quint. I, 5, 38. –
tion, Adjektion, Immutation, Transmutation) [30] einer- 31 Dubois 80ff., 110ff., 152ff., 204ff. – 32 H.F. Plett: Systemat.
seits, die grammatisch-logischen Sprachebenen anderer- Rhet. Konzepte und Analysen (2000) 19. – 33 ebd. 20. – 34 ebd.
21. – 35 ebd. 21f. – 36 ebd. 183ff., 191ff. – 37 vgl. Ch. Perelman, L.
seits – ein vollständiges System der Metabolien entwirft, Olbrechts-Tyteca: La Nouvelle Rhétorique. Traité de L’Argu-
das sich aus den vier Klassen der morphologischen mentation, 2 Bde. (Brüssel 21970); vgl. K.-H. Göttert: Einf. in
Metaplasmen, der syntaktischen Metataxen, der se- die Rhet. Grundbegriffe. Gesch., Rezeption (1991) 194ff. –
mantischen Metaseme (mit Metapher und Metonymie) 38 vgl. S. Toulmin: The Uses of Argument (Cambridge 1958),
und der logischen Metalogismen zusammensetzt. [31] dt.: Der Gebrauch von Argumenten (1975). – 39 vgl. R. Pod-
Eine ähnliche «Neukonstitution der rhetorischen elocu- lewski: Rhet. als pragmatisches System (1982). – 40 ebd. 61ff.
tio» [32] als ein generatives «System sprachlicher Ab-
weichungen» [33] verfolgt die systematische Rhetorik III. Soziologische S. Als Begründer der soziologi-
H.F. Pletts, die über die Abbildung der beiden «lingui- schen S. gilt T. Parsons, der seit den 1930er Jahren auf
stischen Operationen» der Normverletzung (Addition, einen neuartigen holistischen Theoriehorizont zurück-
Subtraktion, Substitution, Permutation) bzw. Normver- greift, um Gesellschaft als «allgemeines Handlungssy-
stärkung (Repetition) auf die «linguistischen Ebenen der stem» [1] zu konzipieren, das aus «primären Subsyste-
Phonologie, Morphologie, Syntax, Semantik und Gra- men» [2] besteht. Parsons’ analytisches Interesse richtet
phemik» [34] eine «Heuristik sprachkombinatorischer sich unter Vorordnung des Strukturbegriffs auf die ad-
Deviationen» [35] generiert. Innerhalb der sechsteiligen aptiven Mechanismen (Funktionen), mit denen die von
Figurenklassifikation zählen Metapher und Metonymie «kurzfristigen Schwankungen im Verhältnis System –
zu den semantisch-substitutiven Figuren, die im ersten Umwelt unabhängig[en]» [3] Systemstrukturen repro-
Fall «Similaritäts-Tropen», im zweiten «Kontiguitäts- duziert werden. Diese basalen «Funktionsbedingungen
tropen» [36] bilden. Insoweit sich die Begründung einer jedes Handlungssystems» [4] hat Parsons in einer spä-
‹Nouvelle Rhétorique› [37] auch auf die argumentati- teren Theoriephase im sogenannten «Agil-Schema»
onstheoretisch-persuasive Dimension erstreckt, in der (Adaptation, Goal Attainment, Integration, Latent
sich Geltungsansprüche jenseits älterer, formal-deduk- Structure Maintenance) zusammengefaßt.
tiver Evidenzgewinnungsverfahren an der situativen Gegenüber Parsons’ handlungstheoretischer S. stellt
Akzeptanz innerhalb einer Diskursgemeinschaft bemes- Luhmanns Theorieprojekt eine Neubegründung sy-
sen [38], hat die Rhetorik unter Aufnahme der Semio- stemtheoretischer Annahmen dar. Zunächst gibt Luh-
logie Ch.S. Peirce’ den Status eines «pragmatischen Sy- mann das ältere Handlungskonzept auf; an seine Stelle
stems» [39] gewonnen, in dem Redehandlungen unter tritt ein Kommunikationsbegriff, der in einer radikalen
Rekurs auf die aristotelische Gattungslehre allein durch Suspension soziologischer und linguistischer Traditio-
pragmatische Kontextualisierungen innerhalb einer spe- nen kein gerichtetes Übertragungsgeschehen zwischen
zifischen Redesituation bestimmt sind. [40] Sender und Empfänger mehr meint, sondern ein selek-
tives Ereignis, das den Sachaspekt einer Kommunikati-
Anmerkungen: onsofferte (Information) verstehend von der Modalität
1 Plat. Gorg. 449c. – 2 Cic. De or. I, 146, vgl. Quint. I, Vorrede, ihrer Mitteilung abhebt. Zudem weist Luhmann die
23. – 3 vgl. Fuhrmann Rhet. 76. – 4 ders.: Das systemat. Lehr- konventionelle Zurechnung kommunikativer Prozesse
buch (1960) 7. – 5 Plat. Phaidr. 257b ff. – 6 vgl. Anax. Rhet. 1–5 auf kommunizierende Menschen mit dem Argument zu-
(1ff.); 6–17 (29ff.); 29–37 (59ff.). – 7 J. Kopperschmidt: Rhet. –
ein inter(multi-, trans-)disziplinäres Forschungsprojekt, in:
rück, nur Kommunikation, nicht aber der Mensch, kön-
Rhetorica 15.1 (1997) 98; vgl. Lausberg Hb. – 8 vgl. Arist. Rhet. ne kommunizieren. [5] Vor diesem Hintergrund werden
III, 2, 1–4; Cic. De or. I, 70; Cic. Or. 21, 68; Quint. IX, 1, 18. – Kommunikationssysteme streng funktionalistisch ge-
9 P.O. Kristeller: Das moderne System der Künste, in: Huma- dacht: Systeme wie etwa Wirtschaft, Recht, Politik oder
nismus und Renaissance, Bd. 2 (1976) 173. – 10 vgl. L. Fischer: Wissenschaft reproduzieren sich unter Verweis auf ein
Gebundene Rede. Dicht. und Rhet. in der lit. Theorie des Ba- soziales Bezugsproblem und verhalten sich zu einer
rock in Deutschland (1968); Dyck 25ff.; I. Stöckmann: Vor der überkomplexen Umwelt, indem sie deren Komplexität
Lit. Eine Evolutionstheorie der Poetik Alteuropas (2001) 64ff. – nach Maßgabe systeminterner Verarbeitungsmechanis-
11 G. Dette: Lyriktheorie und barocke Poetik (1976). – 12 vgl. P.
Hess: Art. ‹Dichtkunst›, in: HWRh, Bd. 2 (1994) 644; Stöck-
men reduzieren. Diese funktionale Autonomie der Sy-
mann [10] 66f. – 13 vgl. Dyck 114; ders.: Rhet. Argumentation stemkommunikationen wird durch binäre Codes sicher-
und poetische Legitimation. Zur Genese und Funktion zweier gestellt, die einheitliche Relevanzgesichtspunkte for-
Argumente in der Lit.theorie des 17. Jh., in: H. Schanze (Hg.): mulieren, nach denen Kommunikationen im System
Rhet. Beitr. zu ihrer Gesch. in Deutschland vom 16. – 20. Jh. anschlußfähig sind. Während Codes aufgrund ihrer for-
(1974) 69f.; Stöckmann [10] 66, 256–263. – 14 vgl. J.G. Schottel: malen Binarität präferenzfreie Grenzerhaltungsmecha-
Teutsche Vers- oder ReimKunst (1645); A. Moller: Einl. zur Dt. nismen bilden, stellen Programme konkrete Selektions-
Vers- und Reimekunst (1656); L. v. Anhalt Köthen: Kurtze An- anweisungen bereit, wie im Einheitsbereich eines Codes
leitung Zur Dt. Poesi oder Reim-Kunst (1740). – 15 Opitz 359. –
16 ebd. 371. – 17 ebd. 360. – 18 ebd. – 19 ebd. 371–381. – 20 vgl. M.
von Fall zu Fall operiert werden soll. Luhmanns Kunst-
Windfuhr: Die barocke Bildlichkeit und ihre Kritiker. Stilhal- soziologie läßt vier Schwerpunkte erkennen: a) funk-
tungen in der dt. Lit. des 17. und 18. Jh. (1966) 116ff.; P.-A. Alt: tional-strukturale S. und die Codierung der Kunst, b)
Begriffsbilder. Stud. zur lit. Allegorie zwischen Opitz und Schil- Autopoiesis und die Selbstreproduktion des Kunst-
ler (1995) 327; ders: Aufklärung (1996) 65ff. – 21 Hallbauer werks, c) Beobachtung und die Kunst der Gesellschaft,
Orat. 200ff. – 22 J.G. Lindner: Anweisung zur guten Schreibart d) Thematisierungen der Rhetorik.
überhaupt und zur Beredsamkeit insonderheit (1755, ND 1974) Zu a): Mit der Vorordnung des Funktionsbegriffs be-
3. – 23 Ch. Bally: Traité de stylistique française (Paris/Genf wegt sich Luhmanns Kunstsoziologie dezidiert außer-
1909). – 24 L. Spitzer: Stilstud. T. 1: Sprachstile (21961) IX. –
25 ebd. – 26 ebd. X. – 27 T. Todorov: ‹Stil›, in: ders., O. Ducrot:
halb ästhetikgeschichtlicher Traditionen. An die Stelle
Enzyklop. Wtb. der Sprachwiss. (1975) 341, frz.: Dict. encyclo- einer Wesensbestimmung des Kunst-Schönen, das «das
pédique des sciences du langage (Paris 1972). – 28 ebd.; vgl. M. Schöne» gewöhnlich «als Schönes» analysiert hatte, «um
Arrivé: Forderungen an die linguistische Beschreibung lit. Tex- daraus zu erkennen, weshalb es schön ist» [6], tritt ein
te, in: H. Hatzfeld (Hg.): Romanische Stilforschung (1975) 355– «Vergleich mit Hilfe funktionaler Abstraktion» [7].

389 390
Systemtheorie Systemtheorie

Schönheit rückt in die Position eines symbolisch gene- kontexturale» [21] Verfaßtheit vor Augen führt: Weil
ralisierten Kommunikationsmediums [8], die die Un- sich das Kunstwerk im Prozeß seiner selektiven «Selbst-
wahrscheinlichkeit bearbeitet, daß an Kunstwerke als limitierung [...] alle Möglichkeiten nimmt, anders zu
«Träger außergewöhnlicher Selektionen» [9] dennoch sein» [22], betreibt die Kunst die «Konfrontierung der
kommunikativ angeschlossen wird. Vor diesem Hinter- (jedermann geläufigen) Realität mit einer anderen Ver-
grund bildet Schönheit – ähnlich wie Macht, Recht sion derselben Realität» [23].
oder Wahrheit – ein motivationales [10] Symbol, das Zu c): Die unvermeidlichen Schwierigkeiten, in die-
Kommunikationen situationsübergreifend vereinheit- ser Funktionsbestimmung mehr und anderes sehen zu
licht, indem es die für Kunst relevanten Selektionen bin- können, als eine funktionale Tautologie, die zwischen
det und unter Führung der «Code-Werte Schönheit und Welt und Werk lediglich einen analogen kontingenzba-
Hässlichkeit» [11] gegen andere Kriterien spezifiziert. sierten Selektionsmodus aufspannt [24], hat Luhmann in
Luhmanns Frage nach der Codierbarkeit der Kunst Anlehnung an die operative Logik G.S. Browns [25] zu
artikuliert damit im Kern bereits die Frage nach einer stärker epistemologisch-logifizierten Sozialphilo-
den «Chancen» kunstspezifischer «Systembildung» [12]: sophie von Kunst und Literatur geführt, die seit den
Wenn die Selektivität der Kunst von einem spezifischen 1990er Jahren zudem die Auseinandersetzung mit de-
Code geführt wird und wenn Werke die Kontingenz ih- konstruktivistischen und konstruktivistischen Positio-
rer eigenen Entstehung auf dem Weg von steigenden nen sucht [26]. Systeme sind nun formal als Beobachter
Formverdichtungen entfalten, dann wird der Frage al- definiert, die die Differenz von Unterscheiden (distinc-
lein dort noch eine Grenze gezogen, wo sich dem Sozio- tion) und Bezeichnen (indication) verwenden, indem sie
logen das ästhetische «Sonderproblem» [13] der Trans- im Akt des Unterscheidens eine Seite der Unterschei-
formation kommunikativer Unwahrscheinlichkeit in dung bezeichnen, während die andere unmarkiert bleibt
Wahrscheinlichkeit als «Normalfall» [14] sozialer Kom- und erst im Horizont einer Folgeoperation (crossing)
munikation entpuppt. Diese Normalisierung kunstsy- bezeichnet werden kann. [27] Epistemologisch führt die-
stemischer Reproduktion durchsetzt Luhmanns Kunst- se Konstruktion in die Unhintergehbarkeit eines «blin-
soziologie von Beginn an mit einer bezeichnenden Am- den Fleck[s]» [28], der immer dort entsteht, wo eine be-
bivalenz: einerseits fügt sich die Kunst in die Kontextur obachtungsleitende Differenz in die Unmöglichkeit
anderer sozialer Funktionssysteme wie Recht, Wirt- mündet, die verwendete Unterscheidung im Moment
schaft, Politik oder Wissenschaft; andererseits ist ihr Sy- der Beobachtung beobachten zu können; erst eine wei-
stemstatus insofern fraglich, als der kontingente Grund tere Beobachtung – die «Beobachtung zweiter Ord-
ihrer Operationen an der allgemeinen Reproduktions- nung» [29] – vermag die zuvor verwendete Unterschei-
logik sozialer Kommunikation teilhat. Luhmanns in An- dung zu rekonstruieren, bleibt aber ihrerseits an ihren
schluß an einen Begriff F. Heiders eingeführte Bestim- eigenen blinden Fleck gebunden.
mung der Kunst als «Medium» [15], die – gegen traditio- Für die Soziologie der Kunst ergibt sich vor diesem
nelle Form-Inhalt-Dichotomien – den selbstselektiven Hintergrund zunächst die Unterscheidung zwischen
Charakter der Kunst betont, indem sich Formen als «Objektkunst» und «Weltkunst» [30]: Während die
dichter gekoppelte Konfigurationen aus einem gestal- Kunst Alteuropas Werke allein in der Qualität ihres
tungsoffenen Medium realisieren, verstärkt diese Re- dinghaften «Hergestelltseins» [31] wahrnimmt und ge-
produktionsproblematik noch von einer anderen, evo- gen «andere Dinge» [32] diskriminiert, lenkt die «Welt-
lutionistischen Seite. Denn wenn die Relation von Me- kunst» der Moderne den Blick auf die werkinternen Un-
dium und Form evolutionär unablässig regeneriert wird, terscheidungen, die in der Kontextur auch «anderer
dann treibt die Evolutionsgeschichte der Kunst immer Möglichkeiten von unterscheidenden Formen» [33] den
unwahrscheinlichere Formlösungen hervor, in deren Letzthorizont der Welt als «Paradox der Beobachtbar-
Verlauf die «Möglichkeiten der Medienbildung be- keit des Unbeobachtbaren» [34] sichtbar machen. Luh-
grenzt» [16] scheinen. manns kunstsoziologisches Hauptwerk ‹Die Kunst der
Zu b): Luhmanns Kunstsoziologie kreist damit um Gesellschaft› erblickt die Funktion der Kunst von hier
die Frage, ob «Kunst [...] in gleicher Weise wie einige aus im «Nachweis von Ordnungszwängen im Bereich
andere Medien eine Chance für Anschlußselektionen des nur Möglichen» [35], um so die «Welt in der Welt
bietet» [17]. Noch die Mitte der 1980er Jahre eingelei- erscheinen zu lassen» [36]. Man wird in dieser Bestim-
tete autopoietische ‹Wende› der Luhmannschen S. läßt mung, die der Kunst zutraut, «die Wahrheit der Gesell-
erkennen, daß die systemtheoretische Fraglichkeit der schaft in der Gesellschaft erscheinen zu lassen» [37], ein
Kunst entschieden eine Fraglichkeit ihrer Systemquali- residuales Überleben ästhetikgeschichtlicher Konven-
tät ist. Sie erhärtet sich an dem Nachweis, ob im Blick tionen sehen müssen: Wenn der Referent aller künstle-
auf die Kunst «eine spezifische Funktion» ausgemacht rischen Selektivität die Welt in ihrer polykontexturalen
werden kann, «die in diesem System und nirgendwo Verfaßtheit ist, dann mündet die systemtheoretische So-
sonst erfüllt wird» [18]. Grundlage ist eine in Anschluß ziologie der Kunst nicht nur in ältere repäsentations-
an die Neurophysiologen H.R. Maturana und F.J. Va- theoretische Kategorien, sondern auch in ein histori-
rela [19] vorgenommene autopoietische Neufundie- sches Dispositiv, das an die diskursive Position der phi-
rung des Systembegriffs: Autopoietische (autós: selbst, losophischen Ästhetik um 1800 erinnert. Auch sie hatte
poieı́n: machen, herstellen) Systeme beruhen auf der re- an die Kunst delegiert, was reflexiv-systematisch nicht
kursiven Wiederverwendung von Elementen und selek- mehr einzuholen war: die Anschauung der modernen
tiven Zusammenhängen, die zum einen Produkte dieses Gesellschaft. [38]
Reproduktionsprozesses, zum anderen die Grundlage Zu d): Luhmanns S. hat, blickt man auf ihren kunst-
weiterer Operationen bilden. [20] Luhmanns Funktions- soziologischen Kontext, Fragen der Rhetorik keine ver-
analyse setzt die Autopoiesis der Kunst immer dort vor- gleichbare Aufmerksamkeit geschenkt. Thematisierun-
aus, wo ihre Selbstselektivität einen Zusammenhang gen der Rhetorik verlaufen selten explizit und rühren
von Kontingenz und Notwendigkeit engführt, der der letztlich an jenen Bruch in der modernen Wissens- und
«Welt» als unzugänglichem Letzthorizont ihre «poly- Wissenschaftsgeschichte, der als Verfall und Ende der

391 392
Systemtheorie Systemtheorie

Rhetorik diskutiert wird. [39] Luhmann thematisiert die gedachten «Logik» – als «Form» im «Medium» [53] der
Rhetorik immer dort, wo die Theorie den Prozeß der Sprache behandelt. Vor diesem Hintergrund erzeugt
Ausdifferenzierung des modernen Kunstsystems ver- die Rhetorik insofern «strukturierte Kontingenz» [54],
folgt und hierzu einen ‹alteuropäischen› Kontext benö- als sie «sprachliche Elemente» [55] über metabolische,
tigt, der aus darstellungstechnischen Gründen noch inverse oder amplifikative Formen in einem Maße
wenig selektive Innovationsmöglichkeiten bereithält. verdichtet, «daß Bestimmtheit gerade verunmöglicht
Diesem Kontext wächst insofern die Qualität des Rhe- wird» [56]. Demgegenüber markiert die Frage, inwie-
torischen zu, als die semantischen Traditionen Alteu- weit die ältere Auffassung der Rhetorik als intentiona-
ropas vor dem Zwang stehen, selektive Überschüsse ab- ler, pragmatisch kontextualisierter Redetyp mit system-
zusenken, um sie in einen überschaubaren Typenschatz theoretischen Kommunikationskonzepten kompatibel
an erwartbarer Kommunikation zurücklenken zu kön- ist, gegenwärtig ein Feld offener Forschung [57]; zu be-
nen: «Die gepflegte Kommunikation orientierte sich an denken ist allerdings, daß der systemtheoretische Kom-
Gemeinplätzen oder anderen topoi, jedenfalls an Gene- munikationsbegriff intentionale Vorabkoordinationen
ralisierungen. Ihr Ziel war die Amplifikation selbst, ihre von Aussagen, wie sie als persuasive Absichten oder
Anreicherung mit Überzeugungskraft und Ausstrah- perlokutionäre Sprechakte formalisierbar sind [58], al-
lung.» [40] Formulierungen dieser Art machen deutlich, lenfalls retrospektiv, d. h. allein von einem selektiven
daß Luhmann Rhetorik und historische Semantik in Akt des Verstehens her denken kann, ohne daß verste-
dem Maße in eine metonymische Relation einträgt, wie hende Attributionen dieser Art hinreichend durch den
die Rhetorik mitsamt ihren Generalisierungsregeln das pragmatischen Kontext oder eine Intentionalität gesi-
epistemische Feld tiefenstrukturell organisiert. Rheto- chert wären, die Sprecher schlicht verbürgten.
rische Werke verdanken sich daher noch einer «Sinn-
ebene des Stils» [41], die ihre «Ähnlichkeit» [42], ihre Anmerkungen:
1 T. Parsons: Zur Theorie sozialer Systeme (1976) 169. – 2 ebd. –
«Perfektion» kraft «Imitation» [43], nicht zuletzt ihre 3 ebd. 168. – 4 ebd. 172. – 5 vgl. N. Luhmann: Was ist Kommu-
«(technisch-artistische) Erzeugung» [44] bezeugt, bevor nikation?, in: Soziol. Aufklärung, Bd. 6 (1995) 113–124; ders.:
die «Ausdifferenzierung» [45] der Kunst eine «Aufwer- Soziale Systeme. Grundriß einer allg. Theorie (1984) 205; ders.:
tung von Imagination und Phantasie» [46] bewirkt, die Die Ges. der Ges., Bd. 1 (1997) 105. – 6 ders.: Ist Kunst codier-
am Werk dessen «individuelle Einzigartigkeit» [47] bar?, in: Soziol. Aufklärung., Bd. 3 (1981) 245. – 7 ebd. – 8 ebd. –
durchsetzt. Sind die Überlegungen zur Transformation 9 ebd. 246. – 10 ebd. 245. – 11 ebd. 246. – 12 ebd. 254. – 13 ebd.
des Stilbegriffs noch unübersehbar jenen schematischen 253. – 14 ebd. – 15 ders.: Das Medium der Kunst, in: Delfin 7
und gerade nicht prozeßhaften Epochenkonstruktionen (1986) 6–15; vgl. F. Heider: Ding und Medium, in: Symposion 1
(1926) 109–157. – 16 Luhmann [15] 14. – 17 ders. [6] 255. –
geschuldet, die ihnen die Rede von der Entrhetorisie- 18 ders.: Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst,
rung der Kunst vorgibt, so begibt sich Luhmanns in: H.-U. Gumbrecht, K.L. Pfeiffer (Hg.): Stil. Gesch. und Funk-
Spätwerk in die evolutionstheoretische Schwierigkeit, tionen eines kulturwiss. Diskurselements (1986) 624. – 19 vgl.
innerhalb der überlieferten frühneuzeitlichen Kunst- H.R. Maturana, F.J. Varela: Autopoetic systems (Urbana, Ill.
semantik eine ihrerseits rhetorische Materialschicht 1975); dies.: Autopoiesis and Cognition (Dordrecht 1980); vgl.
freizulegen, die die rhetorische Kommunikation mit H.R. Fischer (Hg.): Autopoiesis. Eine Theorie im Brennpunkt
innovativen Diskontinuitäten, geistreich-täuschenden der Kritik (1991). – 20 vgl. N. Luhmann: Die Autopoiesis des
Überraschungswerten und sinnhaften Überschüssen Bewußtseins, in: Soziale Welt 36 (1985) 403; ders. [18] 620. –
21 ebd. 625. – 22 ebd. – 23 ebd. 624. – 24 vgl. G. Stanitzek: Schöne
durchsetzt. Luhmann liest die entsprechenden Befunde Kontingenz. Niklas Luhmanns systemtheoretische Analysen
an der Poetik des Scharfsinns und ihrer Leitfigur der der Kunst, in: FAZ (25. 3. 1987). – 25 G. Spencer Brown: Laws of
acutezza ab, die im 17. Jh. «gegen alle Stilregeln der Form (London 1969). – 26 N. Luhmann: Dekonstruktion als Be-
überlieferten Rhetorik» [48] programmatisch die «Un- obachtung zweiter Ordnung, in: H. de Berg, M. Prangel (Hg.):
wahrscheinlichkeit der Formen» [49], ihre «Unähnlich- Differenzen. S. zwischen Dekonstruktion und Konstruktivis-
keit» und «Artifizialität» [50], ausweist. Unübersehbar mus (1995) 9–35; ders.: Das Erkenntnisprogramm des Kon-
bleibt dabei, daß die methodologischen Bemühungen struktivismus und die unbekannt bleibende Realität, in: Soziol.
um analytische Muster evolutionärer Epigenese, die den Aufklärung, Bd. 5 (1990) 31–58; U. Stäheli: Sinnzusammen-
brüche. Eine dekonstruktive Lektüre von Niklas Luhmanns S.
Eigenvariationen der semantischen Evolution nach- (2000); N. Binczek: Im Medium der Schrift. Zum dekonstruk-
spüren und insofern sozial- und rhetorikgeschichtlich tiven Anteil in der S. Niklas Luhmanns (2000). – 27 Spencer
nicht eingeholt werden können, ohne eine eigentliche Brown [25] 1f. – 28 N. Luhmann: Die Kunst der Ges. (1995) 51f. –
evolutionstheoretische Vermittlung auskommen müs- 29 ebd. 92f. – 30 ders.: Weltkunst, in: ders., F.D. Bunsen, D. Bae-
sen. So lange ungeklärt bleibt, mit welchen Mitteln die cker: Unbeobachtbare Welt. Über Kunst und Architektur
«involutive» [51] rhetorische Semantik ihre wachsende (1990) 10. – 31 ebd. 12. – 32 ebd. – 33 ebd. 20. – 34 ebd. –
evolutionäre Unruhe erzeugt, bleibt auch die theorie- 35 ders. [28] 238. – 36 ebd. 241. – 37 ebd. 494. – 38 vgl. G. Plumpe:
interne Doppelkonditionierung einer abweichungsresi- Ästhet. Kommunikation der Moderne. Bd. 1: Von Kant bis He-
gel (1993); ders.: Die Lit. der Philos., in: ders., N. Werber (Hg.):
stenten Rhetorik einerseits und einer innovationsberei- Beobachtungen der Lit. Aspekte einer polykontexturalen Li-
ten Rhetorik andererseits ohne einen historisch-evolu- teraturwiss. (1995) 177f. – 39 Ueding/Steinbrink 134ff.; M. Fuhr-
tionären Rückhalt. mann: Rhet. und öffentliche Rede. Über die Ursachen des Ver-
In all dem bewahrt Luhmanns Kunstsoziologie nicht falls der Rhet. im ausgehenden 18. Jh (1983). – 40 N. Luhmann:
nur eine emergente Logik, sondern besitzt auch Anteil Individuum, Individualität, Individualismus, in: Gesellschafts-
an einer Verengung des Rhetorischen auf jene figuralen struktur und Semantik. Stud. zur Wissenssoziol. der modernen
Segmente, die die S. in die Nähe der dekonstruktivisti- Ges. Bd. 3 (1989) 173. – 41 ders. [18] 634. – 42 ebd. – 43 ebd. 635. –
schen Rhetorikauffassung etwa P. De Mans und seiner 44 ebd. 634. – 45 ebd. 638. – 46 ebd. – 47 ebd. 643. – 48 ders. [28]
419. – 49 ebd. – 50 ebd. – 51 ders.: Interaktion in Oberschichten.
Vorstellung einer infiniten sprachlichen Signifikations- Zur Transformation ihrer Semantik im 17. und 18. Jh., in: Ge-
bewegung führen. [52] In der Tat bewegen sich die in sellschaftsstruktur und Semantik. Stud. zur Wissenssoziol. der
Anschluß an Luhmann formulierten Rhetorikkonzepte modernen Ges., Bd. 1 (1980) 87f.; vgl. I. Stöckmann: Vor der Lit.
primär innerhalb einer Präferenz des Sprachlichen, die (2001) 226ff., 363–371. – 52 P. de Man: Allegories of Reading
die Rhetorik – im Unterschied zu einer propositional (New Haven/London 1979), dt.: Allegorien des Lesens (1988). –

393 394
Systemtheorie Systemtheorie

53 Luhmann [28] 205ff.; M. Schäfer-Willenborg: Form und diert gegen Luhmann gewendetes Handlungssystem
Rhet., in: J. Fohrmann, H. Müller (Hg.): Literaturwiss. (1995) kommt Literatur dort zur Sprache, wo Aktanten und ihr
237. – 54 ebd. 241. – 55 ebd. – 56 ebd. – 57 O. Jahraus, N. Ort «pattern of interaction» [7] die Basiskomponenten des
(Hg.): Bewußtsein, Kommunikation, Zeichen. Wechselwirkun-
gen zwischen Luhmannscher S. und Peircescher Zeichentheorie
Sozialsystems Literatur bilden. Gemäß der Grundüber-
(2001). – 58 J.L. Austin: How to Do Things with Words (Oxford zeugungen der ‹Empirischen Theorie der Literatur› [8]
1962), dt.: Zur Theorie der Sprechakte (1972); J.R. Searle: (ETL), die an Luhmanns S. bereits seit den 1980er Jah-
Speech Acts (London 1969), dt.: Sprechakte (1971). ren «mangelnde Empirieorientierung» [9] moniert hat-
te, sind Systeme strukturell doppelt konditioniert: Als
Literaturhinweis: kognitionsbasierte Einheiten gründen sie auf Aktanten,
H. Wenzel: Einl., in: T. Parsons: Aktor, Situation und normative die als empirische Orte [10] der Produktion von sinnhaf-
Muster. Ein Essay zur Theorie sozialen Handelns, hg. und ten Realitätsentwürfen Wirklichkeit allererst konstru-
übers. von H. Wenzel (1986) 7–58. – R. Paslack, P. Knost: Zur
Gesch. der Selbstorganisationsforschung (1990). – C. Baraldi,
ieren, während ihre Bestimmung als i. e. S. soziale
G. Corsi, E. Esposito: Glossar zu N. Luhmanns S. (1997). – H. Strukturen auf Handlungsrelationen gerichtet ist, die im
Gripp-Hagelstange: N. Luhmann. Eine erkenntniskritische interaktionellen Vollzug einen die Handelnden über-
Einf. (1997). – K. Gloy (Hg.): S. (1998). – W. Reese-Schäfer: greifenden Horizont sinnhaften Erlebens herstellen.
Luhmann zur Einf. (31999). – H. de Berg, J.F.K. Schmidt (Hg.): Diese tendenzielle Gleichsinnigkeit der handlungsba-
Rezeption und Reflexion. Zur Resonanz der S.N. Luhmanns sierenden Realitätskonstruktionen läßt Handlungssy-
außerhalb der Soziol. (2000). – F. Becker, E. Reinhardt-Becker: steme zu «synreferentiellen Systemen» [11] werden, de-
S. (2001). ren konsensueller Sinnhorizont insofern regulierend auf
gewisse biologistisch-evolutionistische Annahmen des
IV. Literaturwissenschaft. Systemtheoretische Konzep- ‹Radikalen Konstruktivismus› bezogen ist, als sie jene
te werden in der Literaturwissenschaft – sieht man von überschüssigen kognitiven Energien abschöpfen, die im
einigen vereinzelten, bereits in die 1970er Jahre zurück- Prozess der Evolution die adaptiven Leistungen gegen-
reichenden Versuchen ab [1] – seit den 1980er Jahren über der Realität gefährden. [12] Literatur bildet vor
aufgenommen, wobei sich die Rezeption erkennbar auf diesem Hintergrund ein Handlungssystem, das «im
die S. Luhmannscher Provenienz verengt hat. Gegen- Zuge des allmählichen Umbaus [...] von stratifizierten zu
wärtig sind systemtheoretische Ansätze neben Diskurs- funktional differenzierten Gesellschaften» [13] emer-
analyse und Dekonstruktion mit der Ausarbeitung einer giert und seine Grenzerhaltung mithilfe des Codes
kulturwissenschaftlichen Grundlagentheorie befaßt, die «literarisch vs. nicht-literarisch» [14] sicherstellt. Die
nur noch mittelbar mit älteren literaturwissenschaftli- Funktion des Literatursystems sieht Schmidt in der
chen Fragestellungen korreliert. Gleichwohl gründet «Aufhebung der durch die soziale Differenzierung be-
die literaturwissenschaftliche Luhmann-Rezeption der dingten Entfremdung aller Subjekte in der kommuni-
1980er und 1990er Jahre [2] nicht zuletzt darin, daß sich kativen Behandlung von Lebenswelt» [15]. Wenn die
die S. auf der Ebene grundsätzlicher Theorieentschei- Literatur allerdings derart mit der «Schaffung eines
dungen durchaus affin zu literaturwissenschaftlichen Kontinuums von Lebenswelt und Kultur» [16] befaßt
Fragen verhält; hierzu zählen etwa die wissensso- ist, werden nicht restlos bewältigte Konstruktionsdefi-
ziologische Fassung der älteren Ideengeschichte [3], zite sichtbar, denn die Funktionsbestimmung gleitet in
die Einführung eines gepflegten [4], außerordentlich die um 1800 zeittypischen, ästhetisch-anthropologischen
textnahen Semantik-Konzepts, die Reformulierung des Kompensationsmythologien zurück, mit denen die Kul-
zentralen Verstehensbegriffs [5], die explizite Auseinan- tur ihre selbsterzeugten Folgelasten sentimentalisch (F.
dersetzung mit semiotischen Fragestellungen [6], nicht Schiller) oder neumythologisch (F. Schlegel) bear-
zuletzt die in der Theorie sozialer Differenzierung ver- beitet, während der binäre Code lediglich einen Refe-
ankerte, makrohistorische Wandlungshypothese zur renzgesichtspunkt artikuliert, der die Unterscheidung
Ausdifferenzierung des modernen Literatur- und Kunst- von System und Umwelt im System dupliziert. [17]
systems, die zwanglos von der älteren Sozialgeschichte In der Binnenstruktur des Literatursystems intera-
der Literatur abgeleitet werden konnte, ohne deren me- gieren demgegenüber vier «literaturbezogene Hand-
thodologische Prinzipien fortzuschreiben. Zudem fügt lungsrollen» [18] (Literaturproduzent, Literaturvermitt-
sich die S. in den großen Strang nachhermeneutischer ler, Literaturrezipient, Literaturverarbeiter) [19], deren
Theorien der Literatur, die ältere Konzepte wie Werk «mögliche Relationen» [20] die interne Systemkomple-
und Interpretation durch operative Konzepte wie Kom- xität festlegen. Neben dem Code wirken zwei «Makro-
munikation und Beobachtung ersetzen. Trotz der noch konventionen» [21] grenzerhaltend, die das subjektive
unabgeschlossenen Forschungsgeschichte lassen sich Verhalten systemspezifisch orientieren, den explizit
drei Schwerpunkte systemtheoretischer Literaturwis- anti-hermeneutischen Geltungsanspruch der ETL aller-
senschaft ausmachen: a) Handlungssystem, Symbolsy- dings in dem Maße in eine hermeneutische Problem-
stem, Kommunikationssystem; b) Textverstehen; c) li- stellung zurücklenken, wie die makrokonventionell ge-
terarische Evolution. führten «kognitiven Handlungen» [22] jenseits der Im-
Zu a): Die Fraglichkeit, mit der Luhmann selbst die manenz zeichen- und sprachloser Bewußtseinszustände
Systemeigenschaften von Kunst und Literatur zu einem allein als Kommunikation Gegenstand einer verstehen-
währenden Motiv seiner Kunstsoziologie erklärt hatte, den Bedeutungszuweisung werden können.
ist in der Literaturwissenschaft weitgehend zurückge- Ihre Signifikanz bewahren handlungstheoretische
drängt worden. Kann der Systemstatus der Literatur Positionen auch dort, wo sie ältere Problembestände der
hier schon aus heuristischen Gründen der Theoriebil- Sozialgeschichte – vor allem Thesen «über kausale oder
dung kaum in Zweifel gezogen werden, so stehen funktionale Zusammenhänge zwischen Literatur, Insti-
vornehmlich Konzeptualisierungsprobleme im Mittel- tutionen und historisch-gesellschaftlichen Verhältnis-
punkt, die in Anschluß an auch nicht-luhmannsche sen» [23] – aufnehmen und unter Bezug auf die be-
Theorietraditionen Literatur wahlweise als Handlungs- standsfunktionalistische S. Parsons’ in eine Theorie li-
oder als Kommunikationssystem verstehen. Als dezi- teraturbezogenen Handelns transformieren. Leitend ist

395 396
Systemtheorie Systemtheorie

hierbei Parsons’ «Agil-Matrix» [24] der adaptiven Sy- vität von Kommunikation zurückkehren lassen. Text-
stemfunktionen, so daß in der Funktion I «vor allem die verstehen ist in dieser Luhmann-nahen Fassung nicht an
wert- und musterbildenden Funktionen der Literatur in die Immanenz textueller Bedeutung verwiesen, sondern
der sozialintegrativen Perspektive» [25] zur Sprache soll als Rekonstruktion jener sinnhaften Selektionen
kommen, während die L-Funktion die Analyse jenes verstanden werden, die ein Text «in einem Kontext an-
«literarisch vermittelten [...] sozialen Wissens» ermög- derer Möglichkeiten» [36], d. h. als «zeitpunktfixierte
licht, das sich in den Sinnbildungsprozessen «kultureller Negationsleistung» [37] gegenüber selektiven Alterna-
Symbolwelten» [26] sedimentiert. Handlungssysteme tiven wählt: «Interpretation ist [...] in erster Linie als
thematisieren damit das, was der S. Luhmanns und ihrer Rekonstruktion der jeweiligen Negativfolie zu begrei-
traditionsreichen sozialtechnologischen Verdächtigung fen, der gegenüber Texte ihre Bedeutung erlangen.» [38]
gemäß unzugänglich bleiben muß: eine systemisch irri- Die programmatische Ereignishaftigkeit des Textes, die
tierte Lebenswelt, an deren sinnhafter Orientierung Sy- dessen «historisch-ursprüngliche Textbedeutung» [39]
steme gerade partizipieren. [27] zu erfassen hofft, mündet letztlich in ein nur schwer zu
In einer dezidierten Luhmann-Nachfolge stehen entfaltendes interpretatorisches Super-Konzept: Als
demgegenüber alle Versuche, Literatur als Kommuni- Analyse der «Einheit der Differenz zwischen dem, was
kationssystem zu begreifen. Unberührt von dieser ein Text sagt und dem, was er negiert» [40], begibt sich
grundsätzlichen Differenz der Zugänge bleibt der sy- systemtheoretisches Textverstehen in einer geradezu
stemtheoretische Konstruktionszwang, die um 1800 er- romantischen Geste in die unendliche Annäherung an
folgreich zu Ende kommende Ausdifferenzierung des einen Letzthorizont, der als «Welt» die unverfügbare
Literatursystems in ein ereignishaftes Epochenschema «Sinneinheit von System und Umwelt» [41] aufbewahrt.
einzutragen, das unter Absetzbewegung gegen rheto- Weniger aporetisch, dafür erkennbar auf der Grund-
risch-normative Verfahrensweisen zu einer Charakteri- lage älterer strukturaler Theorieansätze verfahren Ver-
sierung autonomer moderner Literatur gelangt, die er- stehenskonzepte, die die Aufmerksamkeit auf die
sichtlich von dem Bedürfnis getragen wird, Leistungser- textuellen Modalitäten lenken, mit denen der «Mit-
wartungen der philosophischen Ästhetik in die Umwelt teilungsaspekt literarischer Kommunikation» [42] zur
literarischer Kommunikation abzudrängen. Wenn der eigentlichen «Referenz der Information» [43] wird.
Code des Literatursystems in fraglos großer Nähe zu Während diese Unabtrennbarkeit des «Informationsas-
Konstellationen der poetologischen Semantik um 1800 pekts» von seiner «medialen Eigenart» [44] ihren Rück-
als «langweilig» vs. «interessant» [28] und seine Funk- halt in einer vertrauten Semiotik des autoreferentiellen
tion als «Unterhaltung» [29] im Horizont disponibler so- Zeichens findet [45], bezieht sich die «systemtheoreti-
zialer Zeit bestimmt wird, dann bilanziert das solcherart sche Verschärfung» [46] des Interpretationsbegriffs auf
epistemologisch entlastete Literatursystem ex negativo die Analyse der «verschiedenen äquivalenten» Lösun-
die reiche Geschichte seiner philosophisch-ästhetischen gen, die Texte erzeugen, wenn sie eine kategoriale Tie-
«Überforderung» [30], die ihre Genese – wie das entla- fenstruktur auf dem Weg geregelter Transformation
stete System selbst – jenen Differenzierungserfahrun- in eine textuelle Oberflächenstruktur überführen. [47]
gen verdankt, die sie zugleich zu kompensieren hofft. Das, was die S. derart im Namen der Interpretation zur
Zu b): Es gehört zur Applikationsbreite der system- Sprache bringt, scheint allerdings jede Erinnerung dar-
theoretischen Literaturwissenschaft, daß sie bereits früh an getilgt zu haben, daß es einer strukturalen Methode
Fragen nach den Möglichkeiten systemtheoretischen zugehört, die als Explikation sinnvorgängiger Regelsy-
Textverstehens integriert hat. Allerdings bleiben der S. steme (hermeneutische) Interpretation gerade suspen-
gewisse hermeneutische Traditionen unzugänglich. Ins- dieren wollte.
besondere gilt dies für alle Annahmen über eine dem Zu c): Weitreichende Neuorientierungen haben sy-
Akt des Verstehens vorausliegende Bedeutungskoor- stem- und evolutionstheoretische Modellbildungen für
dination, die eine manifeste oder latente, jedenfalls ei- Literaturgeschichte und Literaturgeschichtsschreibung
gentliche Sinnschicht reklamiert, so daß sich jedes Ver- erbracht. Im Gegensatz zu geistes- oder sozialgeschicht-
stehen als Prozeß zunehmender sachlicher Adäquation lichen Erklärungsgewohnheiten ersetzt Evolutionstheo-
zu entfalten hat. Von derlei hermeneutischen Adäqua- rie ‹Entwicklung› durch ‹Zufall› um mit einem Konzept
tionsansprüchen hat sich insbesondere die ETL dadurch nicht-teleologischer, d. h. ungerichteter Selektivität al-
abzusetzen versucht, daß sie «Bedeutungs- und Verste- lererst Bedingungen für Geschichte zu rekonstruie-
hensfragen» [31] ausschließlich an situative Aktualisie- ren. [48] An ihrem nur heuristisch zu bestimmenden
rungen von Sinn adressiert, wie sie Aktanten unter Be- evolutionären Beginn befinden sich daher Strukturän-
zug auf Texte vornehmen. Terminologisch unterschei- derungen [49], die aufgrund ihres Komplexitätszuwach-
det die ETL dabei Texte und Kommunikate; während ses prinzipiell unwahrscheinlich sind, gleichwohl mani-
der Text das «physikalische Substrat» [32] darstellt, «aus fest auftreten und ihre Emergenz dann «nutzbaren Zu-
dessen Anlaß kognitive Operationen im Bewußtsein fällen» [50] verdanken, die die soziokulturelle Evolution
von Aktanten ablaufen» [33], bildet das «Kommunikat» als Ausgangspunkt für weitere «evolutionäre Errungen-
die «Gesamtheit» dieser «kognitiven Operationen» [34]. schaften» [51] verwendet. Diese Transformation der
Ähnlich wie im Falle der beiden «Makrokonventionen» Entstehungsunwahrscheinlichkeit höherer Komplexität
bleibt auch an dieser Stelle ungeklärt, wie kognitive in die Wahrscheinlichkeit ihrer Erhaltung erklärt die sy-
Operationen rekonstruiert werden können, zumal Ver- stemtheoretische Evolutionstheorie mit Hilfe von evo-
stehen «konsequent kognitivistisch als ein innersyste- lutionären Mechanismen (Variation, Selektion und
mischer Vorgang modelliert werden» [35] muß. (Re-)Stabilisierung), deren Differenzierungsgrad unter-
Das Dilemma der ETL, die Suspension eines her- schiedliche Niveaus soziokultureller Komplexität er-
meneutischen Bedeutungsaprioris allein im Rückgang zeugt. [52] Für die Literaturgeschichtsschreibung sind
auf ein transkommunikatives Bewußtsein denken zu diese mikrologischen Kategorien allerdings weniger
können, hat die Bemühungen um ein systemtheoreti- konstitutiv, als die unhintergehbare Differenzierungs-
sches Textverstehen erneut zu Thesen über die Selekti- konstellation um 1800, von der aus eine «Systemge-

397 398
Systemtheorie Systemtheorie

schichte» [53] moderner literarischer Kommunikation um 1800 in der Tat aus einem Feld heterogener diskur-
ihren Ausgang nimmt, in der an die Stelle homogener siver Komplexe ausdifferenziert, dann wird die Analyse
Epochen eine Sequenz von «Programmen» tritt, die am eigensinnige kommunikative Operationen annehmen
Leitfaden der Differenz von System und Umwelt «prin- dürfen, die jenseits der manifesten Semantik den Blick
zipielle Optionen» [54] des Literatursystems ausbilden. auf die tieferliegenden Formierungsregularitäten dieser
Die Epochen moderner Literatur bilden strukturierte Semantik freigeben. Von ihrer Exploration könnte es im
Selektionsvorgaben, die dem System in der Referenti- Übrigen abhängen, die unter (1.) vermerkten Zirkula-
alisierungslogik seiner Leitdifferenz nur fünf grundsätz- ritäten mit Verweis auf metatheoretisch nicht reprodu-
liche Möglichkeiten zur Verfügung stellen: erstens die zierbare Formen kommunikativer Komplexitätserzeu-
epochale Reflexion der Differenz von System und Um- gung zu unterbrechen. (3.) Unbewältigt ist in allen Ent-
welt im System (Romantik) [55], zweitens eine im 19. Jh. würfen zur Ausdifferenzierung des Literatursystems ein
breite Option für «Umweltreferenz» (Realismus) [56], emergenter Zug, der den Ausdifferenzierungsprozeß
drittens eine komplementäre Option für «Systemrefe- letztlich in ein ereignishaftes Emergenzschema einträgt,
renz» (Ästhetizismus) [57], viertens die Re-Thematisie- ohne genetische Fragestellungen über vortheoretische
rung der Differenz von System und Umwelt in der Ab- Intuitionen oder ältere sozialgeschichtliche Einsichten
sicht ihrer kulturrevolutionären «Entdifferenzierung» hinaus weiterzuverfolgen. Anstelle der negativen At-
(Avantgarde) [58], fünftens schließlich eine nachavant- tribuierungsmodalitäten, mit der der ‹alteuropäische›
gardistische Konstellation, die die historische Erschöp- Diskurskontext der Ausdifferenzierung als sein ver-
fung der basalen strukturellen Möglichkeiten [59] in schwiegenes rhetorisches Zentrum gewöhnlich zur
einem großangelegten Rekombinationsgestus bilanziert Geltung gebracht wird [67], könnte eine evolutionstheo-
(Postismus) [60]. Nicht ohne Grund ist diese Geschich- retische Analyse jene Mechanismen beschreiben, mit
te epochaler Programme, die die «Konditionen ihres denen das rhetorisch-poetologische Feld Variationsan-
historischen Auftritts» [61] aus der Immanenz ihrer Ty- lässe präpariert, die retrospektiv, d. h. vom System aus,
pologie nicht zu erklären vermag, um ein «polykontex- als Vorleistungen rekonstruiert werden können [68].
turales» [62] Modell ergänzt worden, das den Epochen- Demgegenüber sind jüngere kulturtheoretische Zu-
wandel mit Blick auf jene Umweltkontexte plausibili- gänge zur S. Luhmanns mit einer Neuorientierung des
siert, die das Literatursystem zur Selbstkonditionierung Verhältnisses von S. und Literatur- bzw. Kulturwissen-
seiner Strukturentscheidungen verwendet. Zu ähnlich schaft befaßt, die – lassen sich gewisse Grundannahmen
großformatigen Interpunktionen der Literaturgeschich- über die immanent rhetorisch-narrative Verfaßtheit
te gelangen systemtheoretische Konzepte, wenn sie die von Theorien erhärten – der Rhetorik eine veränderte
Gattungsgeschichte des europäischen Dramas einmal analytische Perspektive verschafft. Zu dieser kultur-
mehr an der kulturgeschichtlichen Zäsur um 1800 auf- theoretischen Rhetorikanalyse zählt die Beobachtung,
suchen, an der die ehemals enge Verknüpfung zwischen wie die S. in den Fugen der reinen Begrifflichkeit Not-
alteuropäischen «Interaktionsprogrammen» [63] und ih- wendigkeiten errichtet, den theoretischen Diskurs mit
rer literarischen «Repräsentation» [64] zugunsten einer tropisch-figuralen oder allgemein narrativen Mustern
selbstreferentiellen Interaktion aufgebrochen wird, die zu durchsetzen, so daß der Blick auf eine rhetorische
ihre «sinnentleerte» [65] Bedeutungslosigkeit vorführt. Textschicht frei wird, die das systematische «Reinheits-
Gegenwärtig werden – nach einer Phase intensiver, begehren» [69] der Theorie unablässig hintertreibt. In
wenngleich noch immer unabgeschlossener systemtheo- dieser unbewältigten Literarizität besitzt Luhmanns S.
retischer Reflexion – die Leistungen, aber auch die Anteil an einer textuellen Evokationsfähigkeit, die ihre
Grenzen der systemtheoretischen Literaturwissenschaft rhetorische Abkunft offenbar nicht vergessen hat und
sichtbar. Soweit die Literaturwissenschaft in der Ver- die eine künftige, rhetorisch angeleitete Kulturwissen-
gangenheit vornehmlich mit applikativen Interessen be- schaft systematisch zu explizieren hätte. [70]
faßt war, wird man eine Reihe von unbewältigten me-
thodologischen Problemen vermerken müssen: (1.) Vor Anmerkungen:
allem die Profilierung der Literatur als selbstorganisie- 1 I. Even-Zohar: Polysystem Theory (1970), in: Poetics Today
11.1 (1990). – 2 vgl. H. de Berg: Luhmann’s Systems Theory and
rendes System hat zu einem weitgehend undurchschau- Its Application in Literary Studies. A Bibliography, in: Euro-
ten explikativen Zirkel zwischen Objekt- (Literatur) pean Journal of English Studies 5.1 (2001); G. Jäger: S. und Lit.
und Metaebene (Theorie) geführt. Theoretische Figu- T. 1: Der Systembegriff der empirischen Literaturwiss., in:
ren und Konzepte der Selbstbezüglichkeit oder der ba- IASL 19.1 (1994) 95–125; C.-M. Ort: S. und Lit. T. 2: Der lit.
salen Selbstreferenz, wie sie die Literaturwissenschaft in Text in der S., in: IASL 20.1 (1995) 161–178; O. Jahraus, B.M.
der Semantik ihres Gegenstandes entziffert hat, verhal- Schmidt: S. und Lit., T. 3: Modelle systemtheoretischer Litera-
ten sich zu ihrer theoretischen Rekonstruktion in dem turwiss. in den 1990ern, in: IASL 23.1 (1998) 66–111; C. Rein-
Maße immer schon affin, wie die selbstreferentielle S. fandt: S. und Lit., T. 4: Systemtheoretische Überlegungen zur
kulturwiss. Neuorientierung der Literaturwiss., in: IASL 26.1
logisch mit ihrem ebenfalls selbstreferentiell verfaßten (2001) 88–118. – 3 vgl. N. Luhmann: Gesellschaftsstruktur und
Objektbereich konvergiert, während das Literatursy- Semantik, Bde. 1–4 (1980, 1981, 1989, 1995). – 4 ders.: Gesell-
stem auf der Ebene seiner internen Organisation ledig- schaftliche Struktur und semantische Trad., in: Gesellschafts-
lich die «semantisch-logischen Voraussetzungen» seiner struktur und Semantik. Stud. zur Wissenssoziol. der modernen
«systemtheoretischen Applikation» [66] reproduziert. Ges., Bd. 1 (1980) 19. – 5 ders.: Die neuzeitliche Wiss. und die
(2.) Unübersehbar ist in den Thesen zur Ausdifferenzie- Phänomenologie (1996) 57; G. Kneer, A. Nassehi: Verstehen
rung literarischer Kommunikation ein Primat semanti- des Verstehens. Eine systemtheoretische Revision der Herme-
scher Analysen, die sich – methodologisch-herme- neutik, in: Zs. für Soziol. (1991) 341–356. – 6 vgl. N. Luhmann:
Zeichen als Form, in: D. Baecker (Hg.): Probleme der Form
neutisch im Übrigen kaum reflektiert – zu Texten nur (1993) 45–69. – 7 P.M. Hejl zit. Jäger [2] 100. – 8 vgl. H. Haupt-
insofern in ein Verhältnis setzen, als sie das in ihnen meier, S.J. Schmidt: Einf. in die Empirische Literaturwiss.
Ausgesagte reartikulieren, ohne die Analyse auf die (1985); S.J. Schmidt: Grundriß der Empirischen Literaturwiss.
Ebene der sie formierenden Aussagebedingungen wei- (1991). – 9 ders.: Die Selbstorganisation des Sozialsystems Lit.
terzuführen. Wenn sich die literarische Kommunikation im 18. Jh. (1989) 36. – 10 ebd. 43. – 11 P.M.: Hejl: Zum Begriff des

399 400
Systemtheorie Systole

Individuums. Bemerkungen zum ungeklärten Verhältnis von Rhetorik 9 (1990) 52–67. – M. Giesecke: Der Buchdruck in der
Psychol. und Soziol., in: G. Schiepek (Hg.): Systeme erkennen frühen Neuzeit: eine hist. Fallstud. über die Durchsetzung neuer
Systeme. Individuelle, soziale und methodische Bedingungen Informations- und Kommunikationstechnologien (1991). – S.J.
systemischer Diagnostik (1987) 128. – 12 vgl. P.M. Hejl: Kon- Schmidt (Hg.): Literaturwiss. und S. (1993). – K. Eibl: Die Ent-
struktion der sozialen Konstruktion: Grundlinien einer kon- stehung der Poesie (1995). – J. Fohrmann, H. Müller (Hg.): S.
struktivistischen Sozialtheorie, in: S.J. Schmidt (Hg.): Der der Lit. (1996).
Diskurs des Radikalen Konstruktivismus (51992) 313ff. – I. Stöckmann
13 Schmidt [9] 9. – 14 ebd. 427ff. – 15 ebd. 423. – 16 ebd. – 17 vgl.
N. Luhmann: Die Kunst der Ges. (1995) 306f. – 18 Schmidt [9] ^ Ästhetik ^ Close reading ^ Dekonstruktion ^ Hermeneu-
280. – 19 ebd. 285ff., 320ff., 335., 360ff. – 20 ders.: Diskurs und tik ^ Interpretation ^ Intertextualität ^ Literaturwissenschaft
Literatursystem. Konstruktivistische Alternativen zu diskurs- ^ Poetik ^ Postmoderne ^ Produktionsästhetik ^ Rezep-
theoretischen Alternativen, in: J. Fohrmann, H. Müller (Hg.): tionsästhetik ^ Strukturalismus ^ Wirkungsästhetik
Diskurstheorien und Literaturwiss. (1988) 136. – 21 Schmidt [9]
430f. – 22 ebd. 430. – 23 R. v. Heydebrand, D. Pfau, J. Schönert
(Hg.): Zur theoretischen Grundlegung einer Sozialgesch. der
Lit. Ein struktural-funktionaler Entwurf (1988) VII. – 24 ebd. Systole (griech. systolhÂ, systolē´ ‹Zusammenziehung,
10. – 25 ebd. 16. – 26 ebd. – 27 vgl. J. Habermas, N. Luhmann: Verdichtung›; lat. correptio, systole; engl. contraction;
Theorie der Ges. oder Sozialtechnologie? (1971); J. Schönert: frz. abrègement; ital. abbreviamento)
Mentalitäten, Wissensformationen, Diskurse und Medien als A. Def. I. In der grammatischen Figurenlehre ist S.
dritte Ebene einer Sozialgesch. der Lit. Zur Vermittlung zwi- die Kürzung einer eigentlich langen Silbe: «systole cor-
schen Handlungen und symbolischen Formen, in: M. Huber, G. reptio contra naturam» (die S. ist eine Kürzung entgegen
Lauer (Hg.): Nach der Sozialgesch. Konzepte für eine Litera-
turwiss. zwischen Hist. Anthropol., Kulturgesch. und Medien-
der Naturlänge) [1], wie z.B. in Vergils ‹Aeneis› «urbem-
theorie (2000) 96f. – 28 N. Werber: Lit. als System. Zur Ausdif- que Fidenam» (und die Stadt Fidenae) [2] statt «Fı̄de-
ferenzierung lit. Kommunikation (1992) 27; G. Plumpe: Epo- nam». ‹S.› bezeichnet auch dialektabhängige Kürzun-
chen moderner Lit. Ein systemtheoretischer Entwurf (1995) 53. gen. [3] Zur Beschreibung des Gegenteiles, der Dehnung
– 29 ebd. 55f.; vgl. C. Reinfandt: Der Sinn der fiktionalen Wirk- einer naturkurzen Silbe, finden die Begriffe diastolhÂ,
lichkeiten. Ein systemtheoretischer Entwurf zur Ausdifferen- diastolē´ (‹Auseinanderziehung›) [4] und eÍktasiw, éktasis
zierung des engl. Romans vom 18. Jh. bis zur Gegenwart (1997) (‹Ausdehnung›) [5], lat. productio (‹Ausdehnung›) [6]
25ff., 48ff. – 30 G. Plumpe: Ästhet. Lesarten oder die Überfor- Verwendung.
derung der Lit. durch die Philos., in: G. Rupp (Hg.): Ästhetik im
Prozeß (1998) 27–52. – 31 Schmidt [20] 138. – 32 ebd. – 33 ebd. –
II. In der Lehre von den Vokalen bezeichnet die S. den
34 ebd. – 35 ebd. 144. – 36 H. de Berg: Die Ereignishaftigkeit des Gebrauch eines der Quantität nach zweideutigen Vo-
Textes, in: ders., M. Prangel (Hg.): Kommunikation und Diffe- kals, d. h. a, i oder y (a, i oder y) als kurzen Vokal. Der
renz. Systemtheoretische Ansätze in der Lit.- und Kunstwiss. gegenteilige Begriff ist éktasis [7] oder auch mhÄkow, mē´-
(1993) 35. – 37 ebd. 42. – 38 ebd. 50. – 39 M. Prangel: Zwischen kos (‹Länge›). [8]
Dekonstruktionismus und Konstruktivismus. Zu einem system- B. Geschichte. In der Antike wird die S. gemeinhin als
theoretisch fundierten Ansatz von Textverstehen, in: de Berg, Metaplasmus («per detractionem» [durch Wegnah-
Prangel [36] 14. – 40 ebd. 19. – 41 N. Luhmann: Soziale Systeme me] [9]) gewertet, d. h. als eine metri causa zulässige
(1984) 283. – 42 G. Plumpe: Grenzen der Kommunikation?
Über das Verstehen der Lit. aus systemtheoretischer Sicht, in:
Normabweichung in der Dichtung. [10] Auch nach Quin-
G. Kühne-Bertram, G. Scholz (Hg.): Grenzen des Verstehens. tilian darf man die Verkürzung einer langen Silbe bzw.
Philos. und humanwiss. Perspektiven (2002) 264. – 43 ebd. 265. – die Längung einer kurzen in der Dichtung nicht als Fehler
44 ebd. – 45 vgl. R. Jakobson: Linguistik und Poetik, in: J. Ihwe ansehen. [11] Als Barbarismus «per detractionem»
(Hg.): Literaturwiss. und Linguistik. Bd. 2,1: Zur linguistischen (durch Wegnahme) hingegen wertet sie Consentius,
Basis der Literaturwiss. (1971) 151ff. – 46 D. Schwanitz: S. und wenn beispielsweise rator (‹Redner›) mit einer kurzen
Lit. Ein neues Paradigma (1990) 217ff. – 47 ebd. 228. – 48 vgl. N. ersten Silbe ausgesprochen werde, wie es als Fehler den
Luhmann: Das Problem der Epochenbildung und die Evoluti- Africanern eigen sei. [12] Falsche Kürzungen werden oft
onstheorie, in: H.-U. Gumbrecht, U. Link-Heer (Hg.): Epo-
chenschwellen und Epochenstrukturen im Diskurs der Lit.- und
in der Klauseltechnik vorgenommen, wenn z.B. «esse
Sprachhistorie (1985) 24. – 49 ebd. 16. – 50 N. Luhmann: Die merebatur» (er verdiente zu sein) fehlerhaft «esse uidea-
Kunst der Ges. (1997) 417. – 51 ders. [48] 17. – 52 ders.: Evolu- tur» (er möge zu sein scheinen) nachgebildet wird. [13]
tion und Gesch., in: Soziol. Aufklärung, Bd. 2 (1975) 152f. – H.F. Plett führt die S. nicht auf; sie müßte aber wohl zu
53 Plumpe [28] 31ff. – 54 ebd. 61. – 55 ebd. 65ff. – 56 ebd. 105ff. – den «Figuren der phonologischen Deviation» durch Sub-
57 ebd. 138ff. – 58 ebd. 177ff. – 59 ebd. 231ff. – 60 vgl. H.R. Jauß: traktion gerechnet werden. [14] H. Bonheim nimmt als
Der lit. Prozeß des Modernismus von Rousseau bis Adorno, in: moderne Beispiele für S. und diastol die variierende
Stud. zum Epochenwandel der ästhet. Moderne (1989) 68. – Aussprache der Wörter perseverance (‹Ausdauer›) und
61 Plumpe [28] 261. – 62 vgl. ders., N. Werber (Hg.): Beobach-
tungen der Lit. (1995) 177f. – 63 Schwanitz [46] 110. – 64 ebd.
commendable (‹empfehlenswert›) auf. Ebenso nennt er
125. – 65 ebd. 129. – 66 Ort [2] 176. – 67 vgl. F. Vollhardt: Zur sowohl S. als auch diastol ein beliebtes Verfahren in der
Selbstreferenz im Literatursystem: Rhet., Poetik, Ästhetik, in: populären Musik, wenn beispielsweise das Wort love un-
Fohrmann, Müller [20] 253. – 68 I. Stöckmann: Vor der Lit. natürlich gelängt werde. [15]
(2001) 363–371. – 69 A. Koschorke: Die Grenzen des Systems
und die Rhet. der S., in: ders., C. Vismann (Hg.). Widerstände Anmerkungen:
der S. Kulturtheoretische Analysen zum Werk von Niklas Luh- 1 Isid. Etym. I, 35, 4; Übers. Verf. – 2 Verg. Aen. VI, 773; Übers.
mann (1999) 49. – 70 I. Stöckmann: Die Zeit der Geselligkeit Verf. – 3 Apollonius Dyscolus, De constructione, ed. G. Uhlig,
und der Text der S. Über Unbegrifflichkeit bei Schleiermacher in: Gramm. Graec. II, 2 (1910; ND 1965) p. 401, 10; vgl. Ety-
und Luhmann, in: U. Landfester, C. Sinn, A. Todorow (Hg.): mologicum Magnum, ed. T. Gaisford (Oxford 1848; ND Am-
Unbegrifflichkeit. Ein Paradigma der Moderne (2004). sterdam 1967) p. 735, 54; vgl. auch I. Susenbrotus: Epitome tro-
porum ac schematum et grammaticorum & rhetorum (Zürich
Literaturhinweis: 1541?) 23. – 4 Susenbrotus ebd. – 5 Diomedes, Ars grammatica,
G. Stanitzek: Blödigkeit. Beschreibungen des Individuums im in: Gramm. Lat. I, 442, 5–10; Consentius, Ars de barbarismis et
18. Jh. (1989). – D. Schwanitz: Rhet., Roman und die internen metaplasmis, ed. M. Niedermann (Genf 1937) p. 26, 17 (vgl.
Grenzen der Kommunikation. Zur systemtheoretischen Be- Lausberg Hb. 263); Marius Plotius Sacerdos, Artes grammati-
schreibung einer Problemkonstellation der ‹sensibility›, in: cae I, in: Gramm. Lat. VI, p. 452, 15–20; Aelius Donatus, Ars

401 402
Tabu Tabu

maior III, ebd. IV, p. 396, 14–17; [M. Valerius Probus], De ulti- den jedoch inzwischen verstärkt von Vertretern der in-
mis syllabis liber, ebd. IV, p. 263, 17–20. – 6 productio Quint. VII, terkulturellen Germanistik, der Fremdsprachendidak-
9, 12; IX, 3, 69; producere z.B. Quint. I, 5, 18; I, 7, 2. – 7 Dion. Hal. tik und der Ästhetikforschung angeregt und gefor-
Comp. 25; vgl. 14; Dionysius Thrax, Ars grammatica, in:
Gramm. Graec. I, 1, p. 10, 3; 20, 2; Sextus Empiricus, Adversus
dert. [1]
mathematicos I, 115; vgl. auch Ernesti Lat. 334 s. v. systeÂllein, II. T. in Sprache und Rhetorik. Während sich T. bei
systéllein. – 8 Sextus Empiricus [7] I, 55, 108; 119. – 9 Lausberg den erforschten Völkern der Südsee auf Handlungen,
Hb. 262f. – 10 Isid. Etym. I, 35, 4; Charisius, Ars grammatica, in: Personen, Gottheiten und Gegenstände gleichermaßen
Gramm. Lat. I, p. 279, 1; Diomedes [5]; Servius auctus, Comm. und unterschiedslos bezieht, versteht man in modernen
ad Aen. I, 73; Consentius [5] p. 6, 5–10; 26, 10–17. – 11 Quint. I, 5, Gesellschaften unter T. vor allem das Sprechen über ta-
18. – 12 Consentius [5] p. 11, 18–20; 14, 6f.; vgl. Lausberg Hb. 263. buisierte Themen, was eigentlich nur einen Teil mögli-
– 13 vgl. Lausberg Hb. 263, 504. – 14 H.F. Plett: Textwiss. und cher Tabuisierung ausmacht. T. sind in modernen Ge-
Textanalyse (21979) 151–156. – 15 H. Bonheim: Literary Syste-
matics (Cambridge 1990) 346.
sellschaften vor allem Redetabus. Sprache stellt damit
I. Schmakeit-Bean gleichsam eine Art Indikator für T.-Bereiche dar. Wie
W. Havers bereits 1946 feststellt, muß daher zwischen
^ Änderungskategorien ^ Barbarismus ^ Figurenlehre ^ den betroffenen Objekten und den angewandten Er-
Metaplasmus ^ Synkope ^ Synizese satzmitteln in einer Kommunikationssituation unter-
schieden werden. Da die Bedeutung des Begriffs ‹T.›
zwar Handlungen einschließt, diese aber aufgrund der
Tabuisierung eben ohne Ausübung bleiben (sollen), gibt
es T. gewissermaßen nicht, es gibt bestenfalls ihre Spu-
T ren in der Sprache.
Insofern ist die radikalste Beachtung eines T. das
Schweigen, die religiöse oder publikumsrespektierende
Aposiopese. Dabei wird berechnend davon ausgegan-
Tabu (dt. sittliche bzw. konventionelle Schranke; engl. gen, daß Aussagen in einer Rede oder Kommunikati-
taboo; frz. tabou; ital. tabù) onssituation T. berühren. Nach Lausberg bedeutet das
A.I. Definition. – II. T. in Sprache und Rhetorik. – B. Geschich- den Verzicht auf Äußerungen, die dem Publikum unan-
te. genehm sein könnten, sowie auf Inhalte, die das Scham-
A. I. Definition. Der Begriff ‹T.› stammt von polyne- gefühl verletzen. [2] Derartige tabuisierte Themen und
sisch tabu oder tapu (bzw. ta pu) und wird im allgemei- Begriffe (z.B. Sexualität, Krankheiten, Tod, Exkremen-
nen mit ‹geheiligt› oder ‹verboten› übersetzt, heißt aber te) können in eigens zusammengestellten Lexika nach-
lediglich ‹besonders markiert›. ‹T.› ist, wer oder was geschlagen werden. [3]
über eine besondere Kraft verfügt und deshalb allein Auch wenn T. inzwischen in erster Linie als sprach-
durch seine Existenz besondere Vorsicht oder Verhal- liche Phänomene aufgefaßt werden, können sie sowohl
tensregeln fordert. T. in unterschiedlichen Kulturen sind nonverbal (Handlungen, Bilder) als auch verbal sein.
zunächst allein Gegenstand ethnologischer und religi- Nonverbale T. beziehen sich vor allem auf Handlungs-
onswissenschaftlicher Forschung. Der Begriff findet im weisen, die gesellschaftlich negativ bewertet, wenn auch
19. Jh. Eingang in die Umgangssprache und wird bald nicht unbedingt verboten sind. Bilder-T., Sprach-T. und
nicht mehr auf eine religiöse Bedeutung oder die Hand- Handlungs-T. müssen sich nicht decken. Es kann als
lungsweisen primitiver Völker eingeschränkt. Heute Handlung tabuisiert sein, was als Bild darstellbar ist.
versteht man unter T. Handlungen, Verhaltensweisen, Auf die Notwendigkeit einer Betrachtung der Interak-
bildliche Darstellungen, Themen und sprachliche Aus- tion zwischen verbalen und nonverbalen T. weist Schrö-
drücke, die in einer kulturellen Gemeinschaft von einer der hin. [4]
Mehrheit als nicht geduldet betrachtet werden, ohne Grundsätzlich ist bei ‹T.› zu unterscheiden zwischen
daß sie ausdrücklich verboten oder Gegenstand einer 1. Wörtern oder Phrasen, die etwas benennen, aber nicht
Diskussion sein müssen. In unterschiedlichen Kulturen verwendet werden dürfen, da sie etwas bezeichnen, das
sind z.B. bestimmte Speisen tabu, Kindern wird beige- gesellschaftlich als T. eingestuft wird, 2. Wörtern oder
bracht, öffentlich nicht über Körperausscheidungen zu Phrasen, die dazu dienen, über tabuisierte Themen und
sprechen, Leitbegriffe des Dritten Reichs wie ‹Endlö- Objekte zu sprechen, ohne sie direkt zu benennen. Da-
sung› sind in demokratischen Ländern verpönt, und hinter steht jeweils der Glaube an die Macht des Wortes
Gottesdarstellungen waren und sind in vielen Religions- und einer möglichen Identität von Signifikant und Re-
gemeinschaften verboten. Tabuisierte Begriffe und The- ferent. Wenn etwas nicht ausgesprochen wird, ist es nach
men können jedoch jederzeit wieder durch gehäufte dieser Vorstellung nicht in der Welt. S. Ullmann, N.
Verwendung in Politik und Massenmedien gesellschaft- Zöllner und H. Schröder unterscheiden bei den ver-
lich enttabuisiert werden (vgl. den Begriff der ‹Elite› in balen T. vier verschiedene Motivationen: Furcht, Tadel,
der deutschen Bildungsdiskussion). Wirkung und Exi- Anstand und soziale Rücksichtnahme aus ideologischen
stenz von T. hängen häufig von der Zugehörigkeit zu Gründen (political correctness). [5]
einer Generation, einem Geschlecht und einer sozialen Die Kommunikation über T.-Themen bzw. unter
Schicht ab. T. können stabilisierende Funktion haben Vermeidung tabuisierter Begriffe erzeugt eine Aporie,
und ähneln darin Ritualen. auf die U. Pieper und H. Schröder hingewiesen ha-
T. gibt es in allen Kulturen, aber nicht in allen diesel- ben. [6] Sprachliche Zeichen sollen Denotationen er-
ben, was das T. zum zentralen Gegenstand vergleichen- möglichen und bedingen gemeinhin Konnotationen.
der und pragmatisch ausgerichteter Forschung macht. Genau das soll bei einem T.-Gespräch umgangen wer-
Allerdings gibt es trotz der universalen Bedeutung von den, da auf diese Weise ein dauerhafter Bezug zum ta-
T. weder eine eigenständige T.-Forschung noch wird ein buisierten Objekt erzeugt und es damit unter Umstän-
T. in den betroffenen vergleichenden Disziplinen immer den gerade besonders deutlich markiert wird (was wie-
als zentral erkannt. Entsprechende Anstrengungen wer- derum der ursprünglichen Bedeutung des Begriffs ‹T.›

403 404

Das könnte Ihnen auch gefallen