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reflexiven Zeichensystems.1
[0] Wie nirgends sonst ist es in Mesopotamien möglich, den Prozeß der
Schrifterfindung zu verfolgen. Die Bedeutung dieses Vorgangs hat zu
recht auch das Interesse der unterschiedlichsten anthropologischen Dis
ziplinen auf die Altorientalistik gelenkt. Höchst einflußreich in dieser
Hinsicht waren die Arbeiten von D. SCHMANDT-BESSERAT,2 deren The
sen allerdings von den meisten Fachleuten für fragwürdig gehalten
werden. Auf der anderen Seite neigen eben diese Fachleute dazu, ihre
Argumente in hochspezialisierten Arbeiten darzulegen, die sich einer
breiteren Wahrnehmung oft entziehen. Eine Ausnahme war vor 15 Jah
ren das Werk von NISSEN, DAMEROW und Englund, Frühe Schrift,3
das zuvörderst einem kommunikationstheoretischen Ansatz verpflichtet
ist, und das für jede Beschäftigung mit Fragen zur Schrifterfindung
Pflichtlektüre bleibt. Das Werk zeigt eindringlich, wie die Schrifterfin
4 Leider berücksichtigt
Englund, Textsfrom the
der Beweiskraft von etli
Dennoch scheint die von
189ff.) insgesamt für sein
Langdon und A. Falken
postulierten, sollte nach
Lehrbüchern verschwinden.
5 Überraschend und nicht ohne Folgen ist die auch auf konzeptuellen
Argumenten und den Ergebnissen andere Disziplinen zur Schrifterfindung
beruhende Behauptung Glassners, daß es keine Schrift gäbe, die nicht auch in
einem Anfangsstadium eine Verbindung zur Sprache aufweise (p. 189 und pp.
279ff.).
6 Es ist äußerst bemerkenswert, daß der letztgenannte Befund mit den
Ergebnissen korreliert, die R.M. Boehmer in seinem jüngsten Werke Uruk.
Früheste Früheste Siegelabrollungen. Ausgrabungen in Uruk-Warka Endberichte Bd.
24, Mainz 1999 (zitiert als: Boehmer, Uruk), vorgelegt hat. Von hier aus
Schrifterfindung 171
einen Entwurf der Schrift allein aus den wirtschaftlichen Zielen und
Notwendigkeiten zu erklären versucht.7 Und fünftens wird die bereits
am Anfang der Schriftentwicklung stehende konzeptuelle Leistung, der
systematische ״Wille zur Schrift", herausgearbeitet.
müßte auch die These einer Rückständigkeit der Susiana neu diskutiert werden;
vgl. P. Amiet, L 'Age des echanges, pp. 83f., nach Glassner p. 85 Anm. 40.
7 Glassner formuliert schärfer, z.B. p. 279: ״L'ecriture n'est pas fabriquee ä
mesure des necessites ou du hasard". Ohne Zweifel wird ihm von ״materia
listischen" Theoretikern eine Wiedergeburt der idealistischen Historik unter
stellt werden. Rez. hält solche Diskussionen für fruchtlos und überflüssig, und
zwar weil die Rolle der Ökonomie bei der Herausbildung der Schrift ohne
Zweifel überragend war, aber auch weil das System der Wirtschaft ebenso
unbestreitbar eingebunden blieb in der viel umfassenderen Vorstellung von der
Ordnung der Welt.
8 Vgl. Glassner pp. 232f., insbesondere Anm. 1.
9 Vgl. R.K. Englund, OBO 160/1,99f. Anm. 225.
10 Siehe R.K. Englund, OBO 160/1,99-102.
172 G.J.Selz
schrifttradition nie de
das Wort - göttlichen U
von daher seine magis
erfundene Schrift ״un
Pecriture ayant le pou
des choses."17 Der Auto
Grundpotential der Sch
Objekte allerdings wie
insgesamt, dienen im
liegt zunächst nur in
können anders manipu
umgekehrt wiederum
Potential der Überschr
hersehbaren Maße erw
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können auch Zeichen -
gen. Möglicherweise l
rückverfolgen, wenng
Ahmar wohl nie sicher
16 J. Goodnick Westenh
Gs. Kutscher (1993) 205-
17 Eine erstmalige Sankt
späterer schriftreligiöse
Book", in id. (Hrsg.): The
5. Tafel des Erra Epos, w
Erwachen seine Traumof
einzige Zeile ausgelassen
Erra",Erra", SANE 1/3 (1977) 60.Erra", SANE 1/3 (1977) 60.
[11] Der vielzitierte Bruch zwischen der Uruk IV und der Uruk III Zeit,
erschlossen aufgrund der Neugestaltung von Uruk-E'ana am Übergang
beider Epochen, war einer der Zeitpunkte, zu dem frühere geschichtli
che Rekonstruktionen die Einwanderung der Sumerer festmachen woll
ten. Ein zeitlich jüngerer Ansatz dieser postulierten Einwanderung
scheint in jedem Falle problematisch. Mit gutem Recht unterstreicht
daher GLASSNER, daß zwischen Uruk IV und Uruk III ״il n'est nulle
trace d'aucune rupture sur le plan culturel" (p. 47). Im übrigen ist
GLASSNER auch der Auffassung, daß es im Übergang zwischen den
Obed- und den Uruk-Perioden zu keinem völligen Wandel kommt.
Generell gilt natürlich für die ganze Geschichte: ״La Mesopotamie est,
par essence, un terrain de rencontre." (p. 67).
[12] Für die Geschichte der Schriftentstehung selbst hat die Tatsache
entscheidende Bedeutung, daß die chronologische Ordnung der Uruk
20 Boehmer, Uruk ρ. 115: ״Fasst man diese Indizien zusammen, so läßt sich als
Ursprungsland der in Uruk gefundenen Tonkugeln zweifelsfrei Elam er
schließen."
verschiedensten anthro
in der Tat der Autorin
Fehler nach, daß man g
insgesamt für widerleg
compatibilite unique .
sogar, ob es nicht die S
״tokens" mit den Tonk
sich dann der Frage nac
kunft aus der Mitte des 4. Jts. auf eine Schriftvorläuferform verweise.
Für Susa sei 1978 erstmals Le Brun und Vallat ein eindeutiger Be
weis für die Verbindung von Zählsteinen und Zahlzeichen gelungen (p.
103f.) SCHMANDT-ßESSERATs Generalisierung dieser Beobachtungen
ist aber irreführend; dies ergibt sich insbesondere aus Glassners Be
weisführung, daß zwischen den calculi und den Zahlzeichen keine
eindeutige Verbindung aufgezeigt werden kann (pp. 104ff.).
[18] Nach der Besprechung von neun Dokumenten der Uruk-Zeit (aus
privaten und institutionellen Archiven) unterstreicht GLASSNER die Un
terschiede dieser Schrift zur Syntax einer gesprochenen Sprache: sie er
weckten den Eindruck einer Aneinanderreihung nominaler Syntagmen
(p. 133; vgl. pp. 136f. und femer pp. 283ff.). Drei grundlegende
Merkmale der Keilschrift zeigen allerdings bereits diese frühen
Schriftbeispiele: die Verwendung semantischer Indikatoren (z.B. ״I" für
Schrifterfindung 181
" Der Verweis auf die Bedeutungen von S1D (p. 133) als SAGGA
״administrateur" bzw. UMBISAG „expert" ist wohl kein gutes und sicheres
Beispiel; vgl. a. die Erläuterungen p. 142ff. Auch wenn es möglich ist, daß
Uruk IV-zeitlich u.a. diese beide Lesungen existiert haben (immerhin ist
umbisag in Ebla belegt; vgl. p. 142f. Anm. 4), so bleibt es doch Rez. unklar, ob
es sich wirklich um zwei verschiedene Funktionen handelt. Beide Bezeichnun
gen sind etymologisch wohl mit sumerisch sag „Kopf, Haupt" zu verbinden. Im
ersten Falle liegt vielleicht ein eingefrorener regensloser Genitiv vor, im
letzteren Falle liegt eine Deutung als „dieser Tafel Haupt" > „Schreiber" nahe.
- Dieser Vorschlag des Rez. beruht auf einer von Glassner abweichenden
Analyse der Schreibung dub:umbisag in LüA. Die Schreibung bezieht sich dann
wohl nicht auf „un personnage ... plus specialement charge de la tablette et
donc de l'ecriture", sondern dub ist als Lesemutter Hinweis auf die Lesung und
Etymologie der Funktion /(d)u(mb)bisag/.
34 S. zuletzt R.K. Englund, OBO 160, 78f. und Anm. 164f. mit Verweis auf
Civil, Selz, Boisson, Schretter u.a. und deren Diskussion der Frage nach
der Silbenstruktur und insbesondere der Doppelkonsonanz im An- und Auslaut
des Sumerischen.
35 R.K. Englund, OBO 160/1, 76f. allerdings bezweifelt diese auf A.A.
Vaiman zurückgehende Deutung!
182 G.J.Selz
[24] Wenn GLASSNER ein Unterkapitel mit dem Titel ״une nouvelle
hermeneutique" überschreibt (pp. 177ff), stellt er ähnliche Überle
gungen an: die Zahlen der ״numerischen Tafeln" sind keine abstrakten
״mathematischen" Einheiten. Sie bezeichnen Zahl und Gezähltes. Man
zählt einzelne Gegenstände, Felder, Zeit, Getreide, Milch. Die Ent
Schlüsselung der unterschiedlichen Systeme verdanken wir vornehmlich
DAMEROW und ENGLUND aus der NlSSEN-Forschungsgruppe zu Berlin.
Letztlich sind auch unsere heutigen gebräuchlichen Maßsysteme noch
ganz ähnlich strukturiert, etwa die Unterteilung in Hohlmaße und Ge
wichtsmaße, oder die Messung der Zeit. Die Folge davon ist, daß die
Zahlzeichen polysem und polyphon zugleich sind.
[27] Auf pp. 194ff. gibt Glassner eine schöne Beschreibung des me
sopotamischen Denkens, als dessen grundlegendes Element er die
Analogie bestimmt.45 Für die Schrift stellt er fest: „les signes d,ecriture
sont les marques visuelles d,analogies invisibles" (p. 202). Rez. ist der
Auffassung, daß hier dennoch eine Modifikation sinnvoll ist. Es handelt
sich um eine spezielle Art der Empirie, die hier vorliegt, und es ist die
Addition aller denkbaren Beziehungen, auch - aber nicht nur - der auf
Analogie fußenden, die dieses Denken bestimmt. Wahrnehmung um
faßt demnach nicht nur die Gegenstände dieser Welt, die Sinneswahr
nehmungen im modernen Sinne. Mentale Objekte etwa, oder die ver
schiedensten Relationen sind genau so Gegenstand der Wahrnehmung
und des Wissens, auch wenn es dazu, emisch gesprochen, besonders
„großer Ohren" und „großer Augen" bedarf. Axiomatisch wird voraus
gesetzt, daß die sichtbaren und unsichtbaren Dinge dieser Welt letztlich
nicht isolierbar sind. Isolierbar sind sie nur im Modell. Damit ist es die
46 Diesen Prozeß hat Rez. anderen Ortes als ״additives Denken" bezeichnet.
Dies hat offensichtlich auch Glassner im Blick, wenn er über das System der
Zeichen bemerkt (pp. 211 f.: ״Les associations se font de maniere souple; on ne
peut ni retrouver une formule fixe, ni reperer des unites constantes; elles
relevent davantage, comme il est typique dans la pensee mesopotamienne,
d'une pensee pointilliste procedant par touches juxtaposees dont chacune, dans
son individualite, ne vaut que par l'accumulation de toutes les autres, de la
mise en oeuvre de reseaux de suggestions plus ou moins vagues, des rapports
approximatifs, de similarites partielles."
47 Vgl. hierzu zuletzt Rez., „Über mesopotamische Herrschaftskonzepte", Fs.
W.H.Ph.W.H.Ph.W.H.Ph. Römer, 300f.
48 Beachte das Nebeneinander beider Titel (sowie der Bezeichnung gal-) als
Element in Götternamen in SF 1 Kol. 9; vgl. M. Krebernik ZA 76 (1986) p.
176f. (Lies in 9:6 NAM2, statt NAM; es liegt also die Zeichengruppe
NAMj:E§DA vor.)
188 G.J.Selz
52 So nach der üblichen Lesung; m.E. ist aber auch eine Lesung gal-ugkig oder
sogar gal-kigj nicht ausgeschlossen; im ersteren Falle handelte es sich um den
Vorsteher der Versammlung; im zweiten Falle um den „Aufseher über die
Arbeit(en)". S. ausführlich Rez., „Über mesopotamische Herrschaftskonzepte",
Fs. W.H.Ph. Römer, 301 ff.
Schrifterfindung 189
5353 Siehe F. Μ. Th. Böhl, AjO 11 (1936) 191ff.; J. BorrfiRO, Fs. Finkelstein, 5
28.
190 G.J.Selz
59 Ein bereits 1996 für die damals geplante Zeitschrift NIN geschriebener
Aufsatz mit dem Titel ״Five Divine Ladies" ist bedauerlicherweise immer noch
nicht erschienen.
60 Entsprechend favorisiert der Autor auch die Auffassung, daß die Siegel
Privatpersonen gehörten (p. 222).
192 G. J. Selz
65 Glassner (ρ. 256) schreibt: die Schrift ״favorise la composition de listes qui
ne se contentent pas d'enregistrer passivement des donnees et des
connaissances mais sont des lieux de reflexion et d'explication qui imposent
des choix, autorisent des decontextualisations et conferent le privilege des
reorganisations"; vgl.a. p. 258.
66 Die Annahme etwa, das Zeichen UDU sei auf ein ״Brandmal" zurück
zufuhren, ist bei einem Wolltier von vorneherein unsinnig. Aber auch der
Ausweg, es statt dessen auf eine Farbmarkierung zurückzuführen, ist nunmehr
widerlegt; s. Glassner p. 254 Anm. 39.
194 G.J.Selz
4m
־־hn MAS.giaiö
MAS.gwiO caprinmJie
ctprinCaptin müe
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~K> MAS+SIR (testicule·)
(testicule1) bouc
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LAGAB.gMoö+appendioe
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caprin fern
caprin fem die die
LAGABxMAS.
LAGABxMAS. gunü
gunO
UDU+SIR bäier
btiier
UDU+SIR.giinö- =
UDU+SER.gum3- = urua
trua
Wiierreproducteur
Wlier reproducteur
UDU.gurtf = =Ug
UDU.gunöUDU.gunö u, brebis pi
brebis pieine
cine
GU KKAL+SIR.gwTO
GUGU KKAL+SIR.gwTÖ b<lierreproducteur
biiie■ reproducteur * qqueue
neue grasse
grasse
UDU+appendice
UDU+appendice ==uds cbivre domestique
ud5 cbdvre domestique
SILA4+SAL
SELA^+SAL == kir!!
kirj i agndie
agneile
[44] Der Verbund von Schrift und Macht ist - wie im Grunde das ganze
Buch deutlich macht - seit der Schrifterfindung sehr eng. Der Autor
widmet diesem Phänomen ein eigenes Unterkapitel (pp. 266ff). Die
von GLASSNER zugrunde gelegte Rekonstruktion der politischen Ent
Wicklung im 3. Jahrtausend, die wegführt von der Regierung einer
Gruppe von Notabein „siegeant au sein d'assemblees", hin zu einer
monarchischen Autorität (p. 267) kann keinesfalls als gesichert angese
hen werden. Dabei ist die Tatsache, daß es solche Versammlungen
Schrifterfindung 197