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Lukas als Gleichniserzähler:

die Erzählung vom barmherzigen Samariter (Lk 10 25-37)1


Von Gerhard Seilin
(473 Ahlen [Westfalen], Platanenstraße 37)

A. Allgemeine Vorüberlegungen
1. Zur Methodik der neueren Gleichnisforschung
a) Es ist bis heute ein nur selten angezweifeltes Postulat der
Gleichnis-Exegese, daß die synoptischen Gleichnisse2 im Kern Ur-
bestand der Verkündigung des historischen Jesus seien. Bezeichnend
für diese Anschauung sind die ersten Sätze in J. Jeremias' Buch über
die Gleichnisse Jesu: »Wer sich mit den Gleichnissen Jesu, wie sie
uns die drei ersten Evangelien überliefern, beschäftigt, steht auf be-
sonders festem historischen Grund; sie sind ein Stück Urgestein der
Überlieferung3.« Dieses Urteil war aber nicht zu allen Zeiten historisch-
1
Stark gekürzter und überarbeiteter 1. Teil meiner Dissertation »Studien zu den
großen Gleichniserzählungen des Lukas-Sonderguts. Die avöpcoTros-Tis-Erzählun-
gen des Lukas-Sonderguts — besonders am Beispiel von Lk 1025-37 und Lk
1614-31 untersucht«, Münster 1973, maschinenschriftlich. Die Untersuchung wurde
durch Prof. Dr. G. Klein angeregt und betreut. — Für größere Ausführlichkeit
der Argumentation und der Literaturbelege in den Anmerkungen sei auf diese
Arbeit verwiesen.
2
Der Ausdruck wird bei den Synoptikern in doppelter Weise gebraucht:
1. im ursprünglichen Sinne für »Vergleich«, »Bildwort«, »Spruch« (z. B. Lk 423
036 639 2139), also eine besondere Gruppe der Logien, die »parabolisch« sind,
d. h. bei denen von der Bildhälfte auf die Sachhälfte transponiert werden muß.
Das Wesen der ist danach die Analogie. Die Sachhälfte ist immer
mitgenannt, entweder im Spruch selber (so die »Vergleichssprüche« unter den
alttestamentlichen meschalim: dazu G. v. Rad, Weisheit in Israel, 1970, 46. 159f.),
oder im Kontext (explizit oder implizit). Parabolisch kann auch eine ganze
Erzählung sein (Parabel). — 2. Lk braucht den Ausdruck nun aber
auch für Erzählungen, die nicht mehr parabolisch sind, sofern sie nur aus dem
Munde Jesu kommen (was nicht traditionsgeschichtlich gemeint ist) und eine
gegenüber der Rahmenhandlung eigene Handlungsebene haben. Somit gehören
die unparabolischen Beispielerzählungen in Lk unter die . Alle diese
Erzählungen bei Lk (ob parabolisch oder nicht) haben eine paradigmatische
Funktion. — Vorwiegend im 2. Sinne werden im folgenden die Worte »Gleichnis«
und vor allem »Gleichniserzählung« gebraucht. — Zur Unterscheidung von
»Gleichnis« (im engeren Sinne) und »Gleichniserzählung« (wozu die Parabel gehört)
s. u. Anm. 53.
3
J. Jeremias, Die Gleichnisse Jesu, 71967, 7 (Im folgenden: Jeremias, Gleichnisse).
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Gerhard Seilin, Lukas als Gleichniserzähler 167

kritischer Methode selbstverständlich: Ein Teil der Tübinger Schule


scheute im Zuge der Tendenzkritik nicht vor harten Urteilen über die
Authentizität vieler Gleichnisse zurück4. A. Jülicher konnte jedoch
durch seine gattungskritische Differenzierung nach Ausscheidung
allegorischer Elemente den Kern der meisten Gleichnisse (im engeren
Sinne), Parabeln und Beispielerzählungen vermeintlich retten: »Fol-
gende Tatsache scheint mir . . . für die Echtheit der Parabelreden Jesu
vielleicht am stärksten ins Gewicht zu fallen. Die parabolische Lehr-
weise steht in der christlichen Literatur einzig da ... ich darf be-
haupten, daß sie [sc. die verwandten Gebilde im AT und in den
spät jüdischen Schriften] den Vergleich mit den Parabeln Jesu nicht
entfernt aushalten . . . wenn denn das Parabeldichten so leicht und
verbreitet war, daß mindestens drei Evangelisten es um die Wette
trieben, wenn es für christlich galt, warum hat von den Andren keiner
es versucht ? . . . Wie erklärt sich, daß Lc, der im Evangelium so köst-
lich Parabeln zu erzählen . . . weiß, daß der in den zahlreichen Reden
der Apostelgeschichte nicht eine vorträgt ? Ist es nicht augenschein-
lich, daß er sie wohl nachzuerzählen aber nicht zu erfinden ver-
stand . . . ?«5 Dieses scheinbar schlagende Argument verrät jedoch
eine Genie-Christologie ästhetischer Art: War die perfekte Beherr-
schung volkstümlichen Erzählens Jesus vorbehalten? Überdies sind
die neutestamentlichen Gleichniserzählungen, was ihre ästhetische
Vollkommenheit betrifft, von verschiedenem Rang, wie Jülicher
selber bemerkt6. Die eindrucksvollsten sind gerade die, die nur bei
Lk überliefert sind. Für die Tatsache aber, daß kein Autor im NT selb-
ständig Gleichnisse dieser Art vorträgt, gibt es eine ganz einfache
Erklärung: Die Gleichnisrede ist Weisheitslehrern vorbehalten. In den
Evangelien wird sie daher ausschließlich Jesus zugeschrieben. So
reserviert auch Lk sie für den Jesus des Evangeliums. Formgeschicht-
lich, nicht historisch, sind die Gleichnisse der Evangelien an den
irdischen Jesus gebunden. Sodann ist Jülichers ästhetisches Urteil
im Rahmen des religionsgeschichtlichen Vergleichs anzuzweifeln:
Es gibt in AT, Judentum, hellenistischem Orient und griechisch-
lateinischer Antike parabolische und paradigmatische Erzählungen,
die dem Vergleich mit den evangelischen Erzählungen durchaus
standhalten: im AT z. B. die Nathan-Parabel 2 Sam 121-7a7 und die
4
Z. B. Th. Keim, Geschichte Jesu von Nazara, III, 1872, 12ff.; H. Lang, Das
Leben Jesu und die Kirche der Zukunft, 1872, 341; A. Jacobsen, Der lukanische
Reisebericht (ZwTh 29, 1886, 152—179).
5
A. Jülicher, Die Gleichnisreden Jesu, 1963 (= 21910), I, 22f. (Im folgenden:
Jülicher, Gleichnisreden).
6
Ebd., I, 24.
7
Der Anfang dieser Parabel entspricht fast völlig Lk 16 19 (vgl. Lk 18 10): »Es
waren zwei Männer in einer Stadt, der eine reich und der andere arm.« v. Rad,

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168 Gerhard Sellin, Lukas als Gleichniserzähler

Fabel Jdc 9 7-158. Parabeln des rabbinischen Judentums hat P. Fiebig


zusammengestellt9. Ferner sei auf die Sammlung von Schmidt/Kahle10
und auf die Erzählungen aus 1001 Nacht11 hingewiesen. Für das
hellenistische Judentum ist der Aufsatz von Berger zu vergleichen12.
Schließlich ist die griechisch-lateinische Tradition der Rhetorik zu
nennen13. Unter religionsgeschichtlichem Gesichtspunkt läßt sich
dann gegen Jülicher und die in seinem Banne stehende Gleichnis-
forschung sagen: Sowohl formal wie auch motivlich stehen die
»Gleichnisse Jesu« keineswegs einzigartig da14. Vor allem aber können
ästhetische Wertungen nicht historische Urteile implizieren.

a. a. O., 64f., vermutete, die Nathan-Parabel wäre im Kern älter als ihre jetzige
didaktische Funktion im Kontext. Es ist aber fraglich, ob sie von ihrer Kontext-
Funktion gelöst werden kann. K. Berger, Materialien zu Form und Überlieferungs-
geschichte neutestamentlicher Gleichnisse (NovTest 15, 1973, 1—37), 20ff. (vgl.
9 ff.), hat die Form dieser Parabel zutreffend als »exemplarischen Rechtsentscheid«
bestimmt (S. 21), eine Gattung, die ihren Ort in weisheitlichen Traditionen hat.
Dann ist aber anzunehmen, daß diese Erzählung als »Modell« für den »Fall«
konstruiert ist. Bergers für die Gleichnisforschung m. E. bahnbrechender Aufsatz
zeigt weiter, daß wir hier die Quelle der Form der von mir als - -
Erzählungen bezeichneten Gleichnisse (nur in Lk) haben. Spätere hellen.-jüd.
Wiedergaben der Nathan-Parabel beginnen denn auch mit (Test Sal E;
vgl. ebd., 13 Anm. 6) oder sogar (Palaia; vgl. ebd., 14 Anm. 1).
8
Die parabolische Lehrweise der Propheten ist dagegen schon allegorisch (Jes 5 1-7
Jer 18 l ff. Ez 17 19). Es bleibt auffällig, daß im AT nur wenige Parabeln und
Fabeln überliefert sind. Man kann vermuten, daß nur das religiös Relevante
überliefert ist (v. Rad, a. a. O., 641). Die weisheitlichen Bücher enthalten noch
eine Reihe von Parabeln, die in poetischer Form begegnen.
9
Die Gleichnisreden Jesu im Lichte der rabbinischen Gleichnisse des neu testa-
mentlichen Zeitalters, 1912.
10
H. Schmidt/P. Kahle, Volkserzählungen aus Palästina, gesammelt bei den Bauern
von Bir-Zet, II (FRLANT 47), 1930, besonders 11 ff.
11
Erzählungen aus 1001 Nacht, hrsg. von L. Fulda, 4 Bde., Berlin 1914, z. B. II,
290ff. und vor allem IV, Iff.
12
Vgl. o. Anm. 7.
13
Grundlegend dazu: H. Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine
Grundlegung der Literaturwissenschaft, 1960,1, § 413f. 422f. (S. 228ff.). Fabel und
Gleichnis haben in der rhetorischen Tradition die Funktion eines Paradigmas
(exemplum). Das gilt in besonderem Maße auch für die luk. Gleichnisse (s. u.).
Eine Auswertung der rhetorischen Traditionen für die Gleichnis-Exegese steckt
erst in den Anfängen; vgl. aber L. Schottroff, Das Gleichnis vom verlorenen
Sohn (ZThK 68, 1971, 27—52), 45ff.; dies., Die Erzählung vom Pharisäer und
Zöllner als Beispiel für die theologische Kunst des Uberredens (in: Neues Testa-
ment und Christliche Existenz. Festschrift für Herbert Braun, 1973, 439—461),
441 ff.
14
Vgl. A. Drews, Die Christusmythe, II: Die Zeugnisse für die Geschichtlichkeit
Jesu, 1911, 382ff.; neuerdings Berger, a. a. O., 20.

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Gerhard Seilin, Lukas als Gleichniserzähler 169

b) War die liberale Gleichnisforschung aus Gründen ihrer Genie-


Christologie am jesuanischen Ursprung der Gleichnisse interessiert,
so kommt seit C. H. Dodd15 ein anderer Gesichtspunkt hinzu, der
sich in der deutschen Forschung durch J. Jeremias durchgesetzt hat:
die Gleichnisse Jesu seien grundsätzlich eschatologisch ausgerichtet.
Diese These kann sich darauf stützen, daß ein Teil der Gleichnisse
vom Gottesreich oder der Parusie handelt. Jedoch wendet Jeremias
dies Auslegungsprinzip auch auf Gleichnisse an, die m. E. nichts mit
der kosmischen Endkatastrophe zu tun haben16 — ganz abgesehen
von der Frage, ob die Verkündigung des historischen Jesus überhaupt
in einem solchen Sinne eschatologisch war. Bei E. Fuchs und seinen
Schülern, die über die Gleichnisse gearbeitet haben, hängt die These
vom eschatologischen Charakter der Gleichnisse eng mit der »neuen«
Frage nach dem historischen Jesus im Rahmen der »Neuen Herme-
neutik« zusammen. Auch hier wird die These von der (freilich anders
als bei Jeremias verstandenen) eschatologischen Ausrichtung der
Verkündigung Jesu bei zu vielen Gleichnissen unterstellt17. Ent-
scheidend ist nun, daß sowohl Jeremias wie die »Neue Hermeneutik«
die formgeschichtliche Kategorie des »Sitzes im Leben« aufgreifen, sie
jedoch als »Situation« im Leben Jesu bestimmen und dadurch letzten
Endes historisierend einengen. Nach Jeremias haben die Gleichnisse
einen doppelten »Sitz im Leben«: im Leben Jesu und in der Urkirche.
Das Programm lautet dabei: »Von der Urkirche zu Jesus zurück18!«
Die Gleichnisse werden von sekundären Elementen gereinigt, so daß
ein Kern übrigbleibt, der die ipsissima vox Jesu enthalte. Fuchs ver-
steht den Begriff »Situation« nicht historisierend wie Jeremias, sondern
er geht von Jesu Selbstverständnis aus; dies sei die Sachhälfte der
Gleichnisse: »Sie ist der eigentliche Sitz im Leben für das Gleichnis.
Soll nun dieses Leben Jesu eigene Situation sein, so gerät man in große
Schwierigkeiten, wenn man dem Verständnis des Gleichnisses dadurch
aufhelfen will, daß man sich bei der Situation Jesu umsieht. Denn
es ist ja doch gerade das Gleichnis, das in diese Situation hinein-
leuchtet. Das wäre nur dann anders, wenn Jesus in seinen Gleichnissen
Aussagen über sich selbst gemacht hätte. Dann ginge es etwa in den
Himmelreichgleichnissen um ein Geschehen, an dem sich Jesus
15
The Parables of the Kingdom, London 1948 (= 1936).
16
Als Beispiel diene seine Auslegung von Lk 12 16-21: Hier gehe es nicht um den
individuellen Tod, sondern um die »eschatologische Katastrophe« (a. a. O., 105).
Dem widerspricht aber schärfstens v. 20: Die Frage »wem wird es (das Gut)
gehören ?« deutet an, daß das Leben der anderen weitergeht. Die anthropologische
Terminologie ist überdies völlig un-apokalyptisch.
17
S. u. Anm. 124: E. Jüngels Auslegung von Lk 1030-35.
18
Jeremias, Gleichnisse, 19ff.; vgl. Jülicher, Gleichnisreden, I, Iff.; Dodd, a. a. O.,
lllff.

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170 Gerhard Sellin, Lukas als Gleichniserzähler

zuerst selbst beteiligt weiß und zu dem er uns durch die Bildhälfte,
also durch das, was wir Gleichnis oder Parabel nennen, einen Zugang
verschaffen möchte. Dies scheint mir in der Tat der Fall zu sein19.«
Hinter dieser Auffassung steht die Grundannahme, daß die Gleich-
nisse 1. grundsätzlich auf Jesus zurückgehen und 2. Selbstaussagen
sind. Die altkirchliche christologische Gleichnisdeutung20 lebt hier
wieder auf. Ja, man kann sogar behaupten, daß die Gleichnisdeutung
der »Neuen Hermeneutik« allegorisch ist, wenn man den von D. 0.
Via21 gebrauchten Allegorie-Begriff voraussetzt: Eine Allegorie ist
nicht ausreichend damit definiert, daß in ihr mehrere Einzelzüge einen
über das eine tertium comparationis hinausgehenden Sinn haben.
Entscheidend ist vielmehr, daß der Hörer oder Leser einen besonderen
Code braucht, um eine Allegorie zu verstehen. Eine Allegorie ist also
gewissermaßen eine Kunst-Sprache, in der etwas gesagt wird, das der
Hörer schon vorher in der Metasprache weiß. In diesem Sinne hat
Via Fuchs zu Recht Allegorisierung vorgeworfen22. Bei Fuchs wird
ein außerhalb des Textes gewonnenes Deutungsmodell an die Texte
herangetragen. Letzten Endes dient als Beleg doch eine Auffassung
vom Leben Jesu, nun sogar noch aus dem nicht einsichtbaren Bereich
des Selbst Verständnisses Jesu.
Die hermeneutische Kategorie der »Situation« ist für die Aus-
legung der Gleichnisse ungeeignet, da ja der Text den einzigen Zu-
gang zur Situation darstellt. Ob Jesus aber in den Texten von sich
selbst spricht, muß dann aufgrund anderer Kategorien erst einmal
nachgewiesen werden. Vom formgeschichtlichen Begriff »Sitz im
Leben« ist der historisierende und psychologisierende Situations-
Begriff sowohl bei Jeremias wie bei Fuchs und der »Neuen Her-
meneutik« unterschieden.
All den Versuchen der Situationsbestimmung gegenüber bedeutet
es einen Fortschritt, wenn D. O. Via das Problem des hermeneuti-
schen Zirkels vom Text und nicht der Situation des »Sprechers« her
angeht. Die Parabel gilt ihm als ästhetisches Objekt, das autonom
ist und nur indirekt auf etwas außerhalb seiner verweist — im Gegen-
satz zu den Beispielerzählungen, die direkt verweisen23. Entscheidend
19
E. Fuchs, Bemerkungen zur Gleichnisauslegung (in: ders., Zur Frage nach dem
historischen Jesus. Gesammelte Aufsätze II. 1960, 136—142), 137.
20
Vgl. dazu W. Monselewski, Der barmherzige Samariter. Eine auslegungsgeschicht-
liche Untersuchung zu Lukas 1025-37 (BGE 5), 1967, 18ff. — Zu den neueren
christologischen Deutungsversuchen zu Lk 10 25ff. s. u. B 3b (im nächsten Heft).
21
Die Gleichnisse Jesu. Ihre literarische und existentiale Dimension. Aus dem
Amerikanischen und mit einem Nachwort von E. Güttgemanns (BEvTh 57),
1970, 191
22
Ebd., 29f.
23
Ebd., 76.

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Gerhard Sellin, Lukas als Gleichniserzähler 171

ist nun, daß nach Via die Deutung solcher Texte von der Struktur
auszugehen hat. Die Analyse hat streng text-immanent zu bleiben.
Nicht geklärt ist aber bei Via das Hintereinander von autonom-
ästhetischem Wesen der Parabeln und ihrem doch verweisenden
Charakter, der existentialen Dimension: »In bezug auf die Gleichnisse
Jesu könnten wir also sagen, daß die hauptsächliche Aufmerksamkeit
auf der ganzen Erzählstruktur ruhen sollte, und eine weniger konzen-
trierte Aufmerksamkeit auf dem implizierten Existenzverständnis24.«
Merkwürdig ist sodann, wie Via hintenan doch noch das wieder her-
einholt, was er zunächst zu überwinden schien: »Die Gleichnisse ver-
weisen auf eine untergeordnete Weise auch auf Jesu historische Situa-
tion . . ,25.« Am Schluß des Buches wird dann die Gleichnisauslegung
von E. Fuchs wieder voll rehabilitiert: Die Gleichniserzählungen sind
»indirekte Schlüssel für den Inhalt des Glaubens Jesu«26. »Die Gleich-
nisse sind der reichste Ausdruck des Glaubens, zu dem Jesus die Men-
schen rief, und, unter der Voraussetzung, daß seine eigene Entschei-
dung hinter der Entscheidung stand, zu der er andere aufforderte, ein
wichtiger Schlüssel für den Inhalt von Jesu Glauben. Daß Jesus diesen
Glauben vollkommen verwirklichte, ist für die christliche Perspektive
eine metaphysische Tatsache27.«
Ich stimme mit Via darin überein, daß einer Strukturanalyse des
Textes methodisch der primäre Rang zukommt. Der Text als formale
Einheit ist die Grundvoraussetzung der Exegese. Nun zeigte sich aber,
daß Via ohne den hermeneutischen Schlüssel der »Situation« letztlich
doch nicht auskommt. Die Ursache dafür liegt darin, daß er die Gleich-
nisse als isolierte Einheiten voraussetzt und als umfassende Einheit
und Bedeutungs-Matrix eine hinter-textliche Größe postuliert: ein
bestimmtes Verständnis der Verkündigung Jesu. Kommt man aber ohne
eine solche Matrix nicht aus, so muß man versuchen, eine solche auf
der Ebene des Textes zu gewinnen, und das heißt: die Texteinheit
(das Gleichnis) muß als funktional abhängig vom Kontext betrachtet
werden. Das führt zu der Behauptung: Die wahre Situation eines lite-
rarischen Textes (und um solche handelt es sich bei allen Texteinheiten
der Evangelien — gleichgültig ob eine traditionsgeschichtliche Rück-
führung in ein mündliches Stadium möglich ist oder nicht) ist sein Kon-
text. Damit sind wir aber beim Prinzip der konsequent redaktions-
geschichtlichen Exegese28.
24
Ebd., 88.
25
Ebd., 94.
26 27
Ebd., 191. Ebd., 1941
28
Vgl. W. Marxsen, Der Evangelist Markus. Studien zur Redaktionsgeschichte des
Evangeliums (FRLANT 67), 21959, 7 ff. Zur linguistischen und literaturwissen-
schaftlichen Begründung dieses Prinzips vgl. E. Güttgemanns, Offene Fragen
zur Formgeschichte des Evangeliums (BEvTh 54), 21971, 167ff. 184ff.; ders.,

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172 Gerhard Sellin, Lukas als Gleichniserzähler

c) Merkwürdigerweise sind gerade in der Gleichnisauslegung form-


geschichtliche Erkenntnisse selten zum Tragen gekommen. Das mag
an der hermeneutischen Schlüsselfunktion der Kategorie »Situation«
gelegen haben. R. Bultmann hat jedoch einige Ergebnisse volks-
kundlicher Forschung in die Gleichnisexegese eingebracht, die man als
bahnbrechend für die formale Gleichnisanalyse bezeichnen kann29:
es handelt sich um einen berühmten Aufsatz von Axel Olrik. Olrik
hatte Erzählgesetze der Volksdichtung beobachtet; folgende zählte
er in seinem Aufsatz auf: »das gesetz des eingangs und des abschlusses,
die widerholung, die dreizahl, die scenische zweiheit, das gesetz des
gegensatzes, das Zwillingsgesetz, das achtergewicht, die einsträngig-
keit, die schematisierung, die plastik, die logik der sage, die einheit
der handlung . . . die concentration um die hauptperson . . .30.« Dabei
hatte er die neutestamentlichen Gleichnisse überhaupt nicht im Blick
gehabt. Um so verblüffender ist die Übereinstimmung der Struktur
vieler Gleichnisse mit seinen »epischen Gesetzen«. Von gelegentlicher
Erwähnung abgesehen hat kaum ein Exeget nach Bultmann diese
Erkenntnis der formalen »Gesetze« für die Gleichnisexegese fruchtbar
gemacht31.
Erst in jüngster Zeit hat die bereits erwähnte »Generative Poetik«
E. Güttgemanns' unter Aufnahme der Ergebnisse der »strukturalen
Erzählforschung« die formale Gleichnisanalyse weitergeführt32. Als
Linguistisch-literaturwissenschaftliche Grundlegung einer Neutestamentlichen
Theologie (in: Linguistica Biblica. Interdisziplinäre Zeitschrift für Theologie und
Linguistik, hrsg. von E. Güttgemanns [bei E. G., 53 Bonn-Röttgen, Kirchweg],
Heft 13/14, Januar 1972), 13: »(die »Generative Poetik') versteht die Element-
funktion der einzelnen ,Bedeutungs'-Einheit als Ableitung der Bedeutungsmatrix
der nächst höheren ,Bedeutungs'-Einheit.« Einfacher gesagt: der Zusammenhang
entscheidet über die Bedeutung einer verbalen Einheit. Güttgemanns' »Generative
Poetik« interessiert jedoch dieses Prinzip nicht so sehr auf der Ebene der Perfor-
manz (Redaktionsgeschichte) als auf der Ebene der Kompetenz: Welches sind
die Gesetze narrativer Strukturen? (s. u.).
29
R. Bultmann. Die Geschichte der synoptischen Tradition (FRLANT 29), 51961,
203ff. (Im folgenden: Bultmann, Geschichte).
30
A. Olrik, Epische Gesetze der Volksdichtung (Zeitschrift für deutsches Altertum
51 [N. F. 39], Berlin 1909, 1—12), 11; vgl. dazu E. Güttgemanns, Die linguistisch-
didaktische Methodik der Gleichnisse Jesu (in: ders., studia linguistica neo-
testamentica. Ges. Aufs, zur linguistischen Grundlage einer Neutestamentlichen
Theologie [BEvTh 60], 99—183), 131ff. Bei der Analyse von Lk lOsoff. werden
wir auf einige dieser Gesetze zu sprechen kommen.
31
Eine Ausnahme bildet G. Eichholz, Das Gleichnis als Spiel (in: ders., Tradition
und Interpretation. Studien zum Neuen Testament und zur Hermeneutik [ThB
29], 1965, 57—77).
32
E. Güttgemanns, Methodik (o. Anm. 30), 166ff.; ders., Einleitende Bemerkungen
zur strukturalen Erzählforschung (in: Linguistica Biblica [o. Anm. 28] 23/24, Mai

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Gerhard Seilin, Lukas als Gleichniserzähler 173

Vater der »strukturalen Erzählforschung« gilt V. J. Propp33, der nach-


wies, daß alle Zaubermärchen eine feste Struktur haben, die gewonnen
wird, wenn man die Funktionen der handelnden Personen in Beziehung
zueinander setzt. Die Funktion einer Handlungsfigur ergibt sich nicht
aus ihrer Charakterisierung (bei isolierter Betrachtung der Figur),
sondern aus ihrem Stellenwert im Gefüge der Erzählung. Propp zählt
31 mögliche Funktionen auf (z. B. »Dem Helden wird ein Verbot
erteilt« oder: »Das Verbot wird verletzt« oder: »Der Held vermählt
sich und besteigt den Thron« usw.), die in bestimmten Reihenfolgen
auftreten können (die zuletzt genannte z. B. kann nur am Schluß
stehen) und die auf 7 handelnde Personenkreise verteilt werden
(Gegenspieler, Schenker, Helfer, gesuchte Gestalt [Zarentochter] und
ihr Vater, Sender, Held, falscher Held). Propps Methode ist inzwischen
verallgemeinert und stärker formalisiert worden. Güttgemanns hat
in seinen neuesten Veröffentlichungen neutestamentliche Texte
(überwiegend Gleichnisse) einer ähnlichen Analyse unterzogen, bei
der er eine logische Systematik möglicher Relationen der Funktionen
aufstellte34, einer Reihe von Texten die Funktionen ablas und in eine
Tabelle eintrug35. Für die Gleichnisse stellte er dabei z. B. folgende
Funktionen-Sequenz als »textkonstitutiv« fest: Qualifizierende Prü-
fung — Reaktion des Helden — Empfang eines Helfers — (Hochzeit/
Inthronisation)36. — Trotz (oder vielleicht gerade wegen) der formal-
logischen Geschlossenheit dieser Theorie bleiben die Ergebnisse doch
sehr unbefriedigend. Zunächst ist sie derart allgemein, daß sie für alle
möglichen narrativen Texte gelten soll, ohne jedoch deutlich unter-
schiedene Merkmale für Textgruppen zu verraten37. Weder Typisches
noch Spezifisches der Texte läßt sich mit dieser formalistischen
Methode erklären.
1973, 2—47); ders., Narrative Analyse synoptischer Texte (in: Ling. Bibl. 25/26,
Juli 1973, 50—73); vgl. D. O. Via, Parable and Example Story: A Literary-
structuralist approach (ebd., 21—30).
33
Morphologie des Märchens, hrsg. von K. Eimermacher (Literatur als Kunst. Eine
Schriftenreihe hrsg. von W. Heilerer), 1972 (= russ. 1928). Seine Ansätze wur-
den im französischen Strukturalismus (A. J. Greimas) und der neuesten Folk-
loristik weitergeführt mit der Tendenz der Verallgemeinerung auf andere Erzähl-
formen (vgl. E. Meletinskij, Zur strukturell-typologischen Erforschung des Volks-
märchens [bei Propp, 179ff.]).
34
A. a. O., Ling. Bibl. 23/24, 26ff.
35
A. a. O., Ling. Bibl. 25/26, 50ff. (bes. 70ff.).
36
Ebd. 71.
37
Das zeigt deutüch der Versuch von Via (Ling. Bibl. 25/26, 21 ff.), Parabel und
Beispielerzählung durch solche Funktions-Merkmale voneinander abzuheben: aus
seiner Tabelle S. 24 geht z. B. hervor, daß sich Lk 10 soff, von Lk 16 I9ff. (beides
Beispielerzählungen) in sechs Spalten der Tabelle unterscheidet, Lk 16 I9ff. von
Mt 18 23ff. (Parabel) aber nur in einer.

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174 Gerhard Seilin, Lukas als Gleichniserzähler

Sodann ist zu fragen, woher sich der Universalanspruch der 16


binären »Motifem«-Paare ergibt: Güttgemanns benutzt die 31 Funk-
tionen Propps als Repertoire; er ordnet sie lediglich zu Paaren, in
denen bestimmte logische Beziehungen bestehen38. Propp hatte sich
auf ein Genre beschränkt: die Zaubermärchen. Seine Theorie hat er
am Material gewonnen, nicht aber vor der Analyse formal-logisch
abgeleitet. Bei der »Erzähl-Logik« ist die Matrix (das zuvor erstellte
Strukturgitter) das, was zugleich vorausgesetzt und bewiesen wird.
Es ist wohl immer noch erforderlich, die Methode in der Arbeit am
Material zu gewinnen. — Dennoch scheinen mir einige Erkenntnisse
der »strukturalen Erzählforschung« besonders für die Gleichnisanalyse
angebracht zu sein. Der methodische Vorteil der strukturalen Analyse
liegt darin, daß sie das in der Gleichnisforschung bislang beherrschende
Prinzip des Ausgehens von der »Situation« ablöst und bei den Struk-
turen der Texte einsetzt. Eins der wesentlichen und hier zu über-
nehmenden Prinzipien ist der Grundsatz der Funktionsanalyse, und
zwar auf doppelter Ebene: 1) Analyse der Funktion einer Texteinheit
im Kontext (Redaktionsgeschichte); 2) Bestimmung der Handlungs-
funktionen in einer Erzählung (Funktionen im Sinne Propps; Erzähl-
gesetze im Sinne Olriks). Die Funktion im Kontext nimmt nun ge-
wissermaßen die Stellung ein, die die »Situation« bei Jeremias und
Fuchs einnahm.
d) Wir sahen, daß weder Via noch Güttgemanns39 zu redaktions-
geschichtlichen Konsequenzen gelangten. Hat sich die Gleichnis-
forschung bisher überwiegend nicht für die Redaktionsgeschichte
interessiert, so hat die Redaktionsgeschichte die Gleichnisse vernach-
lässigt. Gewöhnlich hat man — nach einer Deutung des Gleichnisses
als Jesu Gleichnis — hintenan und nebenbei noch einige redaktionelle
Zutaten vermutet und einen nachträglichen Blick auf den Kontext
geworfen. Von den wenigen Ausnahmen aus neuerer Zeit40 ist (neben
dem Aufsatz von K. Berger — o. Anm. 7) ein Beitrag von M. D.
Goulder41 von besonderer Wichtigkeit, weil hier neben konsequent
redaktionsgeschichtlichem Ansatz auch erstmals die auf Jülicher zu-
88
Die Methode geht zurück auf die Versuche strukturalistischer Folkloristen im
Anschluß an Claude Lovi-Strauss: z. B. A. J. Greimas (Lit.: Ling. Bibl. 23/24,
10 Anm. 41; S. 26 mit Anm. u. ö.).
89
Güttgemanns interessiert sich vorwiegend für die Kompetenz, um eine »linguisti-
sche Theologie« zu entwickeln. Die Performanztexte, die er heranzieht, könnten
beüebig sein (vgl. Ling. Bibl. 23/24, 29, Abschnitt 2.4), da sie letztlich nur die
allgemeine Theorie bestätigen sollen.
40
Z. B. M. S. Enslin, Luke and the Samaritans (HThR 36, 1943, 277—297), 2901;
G. Strecker, Die historische und theologische Problematik der Jesusfrage (EvTh
29, 1969, 453—476), 463; L. Schottroff (o. Anm. 13).
41
Characteristics of the Parables in the Several Gospels (JThS 19, 1968, 51—69).

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Gerhard Sellin, Lukas als Gleichniserz hler 175

r ckgehende Typisierung der Gleichnisse (in Gleichnis, Parabel,


Beispielerz hlung) berwunden wird.
Goulder findet charakteristische Unterschiede bei den jeweiligen
Gleichniserz hlungen der drei synoptischen Evangelien: 1. Das Milieu
ist verschieden: Vier der sechs Mk-Gleichnisse sind reine Natur-
gleichnisse. Bei Mt steht dagegen der Mensch im Mittelpunkt, die
Natur dient nur noch als Hintergrund. »Luke's own world is the
town42.« 2. Dem entspricht: Mt bertreibt in orientalischer Manier
(despotischer K nig, viele Knechte, gro e Geldsummen). Lk bleibt
realistischer. Seine »Reichen« sind kleine Gutsbesitzer (Lkl6iff.).
3. Das Stilmittel des Kontrastes wird verschieden angewendet: Mt
malt schwarz-wei . Lk benutzt ebenfalls das Zweier-Gesetz, schildert
jedoch dabei echte Individuen (keine Typen), die Monologe f hren:
»we see into their hearts43.« 4. Mt allegorisiert am meisten, Lk am
wenigsten (vor allem in den Gleichnissen des Sonderguts): »His eye
is on the story, and the meaning can take care of itself44.« Das wider-
legt die Theorie, allegorische Elemente seien immer Anzeichen f r
sp tes Stadium der Tradition. Zugleich gilt: Einfachheit ist nicht
immer ein Zeichen f r Urspr nglichkeit. 5. Umgekehrt verh lt sich
die par netische Ausrichtung der Gleichnisse: Die Gleichnisse aus
Mk 4 sagen weniger ber den Menschen als ber Gottes Heilshandeln.
Bei Mt sind erst einige par netisch, bei Lk nahezu alle.
Eine entscheidende Beobachtung liegt vor in dem Satz: »None
of the 'L'-Parables begins 'The kingdom of God is like .. / They all
begin with τίς interrogative or τις indefinite45.« Zwei Typen von
Gleichnissen sind damit charakterisiert: die av pcoTros-^s-Gleichnisse
(nur bei Lk) und die τί$-έξ-υμών-&ΐ€ίΑηί886. Dagegen ist keins der
Gleichnisse aus Lk-S mit einer όμοι-, ώ$- oder ούτως-Wendung ge-
bildet.
Nach der Zusammenstellung dieser Ph nome behauptet Goulder,
die Gleichnisse entspr chen alle genau den Tendenzen des jeweiligen
Evangeliums, in dem sie stehen, und stellt als Konsequenz die Fragen:
»What remains of the Parable-of-Jesus hypothesis46?« »Where then is
there room for the activity of the creative church before the
evangelists47?« und er behauptet: »Our tool for reconstructing the
original Parables of Jesus is broken48.« Als L sung bietet er die ein-
fache und radikale These an: Auf Jesus gingen nur die Mk-Gleichnisse
(l ndlich, eschatologisch, z. T. allegorisch) zur ck. Mt und Lk h tten
ihre Gleichnisse selber gebildet. Lk h tte Mt gekannt und die Mt/Lk
gemeinsamen Gleichnisse von ihm bernommen und seiner Intention

42 43
Ebd., 53. Ebd., 57.
44 45
Ebd., 61. Ebd., 65.
46 47 48
Ebd. S. 66. Ebd.

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176 Gerhard Sellin, Lukas als Gleichniserzähler

angepaßt. Darüber hinaus hätte er (neben der Wiedergabe der Mk-


Gleichnisse) noch das AT benutzt. — Diese These ist jedoch entschie-
den zu einfach. Goulder vertritt eine unhaltbare Quellenhypothese
(Leugnung von Q, Benutzungshypothese)49. Die zentrale Frage an
diese Theorie lautet: Warum sollte Lknur einen Teil der Mt-Gleichnisse
übernommen haben? Warum sollte ihn das Mt-Sondergut (Mt-S)
nicht interessiert haben? Dennoch ist Goulders Gleichniserklärung
akzeptabel, wenn man sie auf die Grundlage der Zwei-Quellen-Theorie
stellt: Dann hätte man nicht einfach mit drei Gleichnistypen zu rech-
nen, sondern wenigstens mit vier: mit Mk-, Q-, Mt-S- und Lk-S-
Gleichnissen. Eine solche Gruppierung kann freilich nur vorläufig
hilfreich sein50. Dennoch ist von ihr auszugehen. Die Leitfrage der
folgenden Typisierung ist: Bilden die Gleichniserzählungen des Lk-S
einen oder mehrere spezifische Typen, die sich von den übrigen
Gleichnissen abheben ? Erst im Anschluß daran könnte man die tra-
ditionsgeschichtlichen Aspekte in Erwägung ziehen.

2. Zur Typisierung der Gleichniserzählungen des Lk-Sonderguts


a) Sieht man von den kleineren Bildworten ab, so findet man in
Lk-S 15 Gleichniserzählungen51. Die übrigen 12 sind aus Mk (3) und
Q (9) übernommen.
Die gängige Klassifizierung der Gleichniserzählungen geht auf
Jülicher zurück. Jülicher teilte sie ein in Gleichnisse (im engeren
Sinne), Parabeln und Beispielerzählungen52. Das Gleichnis stellt
einen Zustand oder typischen Vorgang in Beziehung auf einen anderen
Sachverhalt dar. Zugrunde liegt ihm das Wesen des »Bildwortes«
oder des »Vergleichs«. Die Parabel setzt den gleichnishaften Sachver-
halt in Erzählung um: kein typischer Vorgang, sondern ein »inter-
essierende^) Einzelfall«53. Von besonderem Interesse ist hier die
49
Die Bestreitung der Zwei-Quellen-Hypothese führt in eine Aporie: Wie sollte
man z. B. die Dublette Mk 4 30-32 und Mt 133l-33/Lk 13 18-21 (Senfkorn, Sauer-
teig) erklären, wo doch die »agreements« von Mt und Lk gegen Mk und der bei Mk
fehlende Text Mt 13 33/Lk 13 20f. eine nichtmarkinische Quelle fast beweisen ?
50
Schon die erwähnte Dublette (vorige Anm.) zeigt, daß Mk und Q sich über-
schneiden. Sodann ist zu fragen, ob die Charakteristika der einzelnen Gleichnis-
Typen dieser Aufteilung entsprechen.
51
Lk 7 41-43 10 30-37 115-8 12 16-21 13 6-9 14 7-11.12-14 14 28-33 (ein Doppelgleichnis);
108-10.11-32 16 1-8. 19-31 17 7-10 18 1-8. 9-14.
52
Gleichnisreden, I, 92. 112; vgl. das Inhaltsverzeichnis II, S. VIIf. Diese Ein-
teilung ist heute fast ein gattungskritisches Dogma.
53
Bultmann, Geschichte, 188; vgl. Jülicher, Gleichnisreden, I, 92 ff. — Gleichnis
und Parabel sind durch ihr Tempus unterschieden: Bericht (Präsens) und Er-
zählung (Aorist). Das Gleichnis entspricht zwar dem alttestamentlichen Maschal,
der überwiegend im Nominalsatz erscheint (vgl. dazu H.-J. Hermisson, Studien

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Gerhard Sellin, Lukas als Gleichniserzähler 177

Gleichnisgattung der Beispielerzählungen: »Was sie unterscheidet


[sc. von Gleichnissen und Parabeln] ist allein, dass sie sich bereits
auf dem höheren Gebiete bewegen, welches ausschliesslich Jesu
Interesse beherrscht . . . Die Geschichte läuft nicht, wie unsere
,Paraber-Definition es forderte, auf anderm Gebiete ab, sondern auf
demselben, auf dem der zu sichernde Satz liegt, mit ändern Worten:
Die Geschichte ist ein Beispiel des zu behauptenden Satzes54.«
Die Differenzierung von Parabel und Beispielerzählung gehört
aber in ein anderes Klassifikationsschema als die Unterscheidung
von Gleichnis und Parabel (Tempus; s. Anm. 53): Parabel und Bei-
spielerzählung sind beides Erzählung. Was sie unterscheidet, ist die
Parabolik, die bei einer Parabel graduell verschieden sein kann: die
Analogie (das tertium comparationis) ist von Fall zu Fall größer oder
kleiner:
Bildhälfte Sachhälfte

tertium comparationis
Die Beispielerzählung ist ein Sonderfall:
Sachhälfte

Erzählung
zur israelitischen Spruchweisheit, [WMANT 28], 1968, 141 ff.)· Es befindet sich
jedoch schon auf dem Übergang vom Spruch zur Erzählung. Jülichers Einteilung
nach diesem Schema ist deswegen unbefriedigend, weil er dadurch einen formal
einheitlichen Gleichnistyp, die Tis-£5-Opcov-Gleichnisse, auf beide Klassen aufteilt:
Lk 17 7-10 erscheint bei den Gleichnissen, Lk 11 5-8 bei den Parabeln. Die ent-
scheidende Differenzierung ist die zwischen Gleichnis-Spruch (Zustand, Erfahrung)
und Gleichnis-Erzählung (Ereignis, Handlung).
54
Jülicher, Gleichnisreden, I, 112.

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178 Gerhard Sellin, Lukas als Gleichniserzähler

Bei der Beispielerzähhmg liegt die Erzählung vollständig auf dem


Gebiet der Sachhälfte. Möglich ist aber auch der Fall, daß die Er-
zählung mehr aussagt, als für die Sachhälfte erforderlich ist. Solche
Erzählungen können dann von der Sachhälfte gelöst werden und trotz-
dem eine suffiziente Aussage machen (z. B. Lk 15 iiff. — Mt 20 iff.
dagegen wäre ohne Sachhälfte sinnlos).
Die Beispielerzählungen, die überhaupt nur in Lk begegnen55,
setzen jeweils eine Information über die Sachhälfte voraus. Das
geschieht im Kontext, der geradezu mit der Sachhälfte identifiziert
werden kann. Sie dienen also innerhalb dieses Kontextes als rheto-
risches Paradigma56, als didaktisches Modell: Sie sollen an einem
Einzelfall eine Überzeugung in einer vom Einzelfall durchaus zu unter-
scheidenden Sache57 bewirken, haben also eine paradigmatische Funk-
tion. Die Folge daraus ist, daß sie vom Kontext abhängig sind. Es
zeigt sich aber, daß dies nicht nur für die Beispielerzählungen gilt,
sondern für alle Gleichniserzählungen in Lk. Sie sind alle kontext-
abhängig: z. B. hat Lk 741-43 die Funktion, dem Pharisäer mit Hilfe
eines Modells zu einer gewissen Überzeugung in der Angelegenheit
des Kontextes zu verhelfen. Darin gleicht diese Miniatur-Parabel
aber ganz genau der Beispielerzählung Lk 10 soff. Der Unterschied
ist lediglich, daß Lk 7 41-43 parabolisch ist, zur Deutung also eine
Übertragung von »Schulden« auf »Sünden« vorgenommen werden muß.
Lk 13 6-9 will einen Gedanken aus Lk 131-5 durch ein Modell auf
anderer Ebene (= Parabel) veranschaulichen und plausibel machen;
Lk 15 n-32 ist von Lk 15 if. abhängig, usw.
Die paradigmatische Funktion gilt überwiegend nur für die Gleich-
nisse in Lk, wenn auch bei Mk und Mt einige mit dem Kontext ver-
bunden sind. Jedoch wird dabei die Sachhälfte nicht durch den Kon-
text vertreten, sondern durch eine Einleitungswendung, z. B.: »das
Himmelreich ist gleich . . .«. Wir sahen bereits, daß bei Lk solche
Einleitungen durchweg fehlen.
Jülicher stellte den parabolischen Charakter als Kriterium für
seine Differenzierung von Parabel und Beispielerzählung heraus. Es
55
Jülicher rechnet hierzu Lk 10 30-37 12 16-21 1619-31 189-14. Wahrscheinlich muß
aber noch Lk 16 iff. dazugerechnet werden: s. u. Anm. 77 u. 83.
56
Bultmann, Geschichte, 192 Anm. l, will die Beispielgeschichten von den Para-
digmen der antiken Rhetorik unterscheiden. Als Paradigmen läßt er nur histo-
rische Beispiele gelten (z. B. Lk 13 1-5), die Beispielgeschichten seien Vorbilder
für rechtes Verhalten. Das stimmt aber nicht: Lk 10 30ff. dient z. B. der Er-
kenntnisfindung wie Lk 13 1-5. Als Paradigmen im Sinne der Rhetorik können
alle möglichen Formen dienen: Zitate, historische Beispiele, literarische Beispiele,
Parabeln usw. Lk 13 1-5 liegt jedoch auf der Ebene der Rahmenhandlung und
bildet keine erzählte Erzählung mit eigenem Tempussystem wie die Beispiel-
57
erzählungen. Sie sind also keineswegs einfach direkt anwendbare Paränesen.

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Gerhard Sellin, Lukas als Gleichniserz hler 179

fragt sich nun aber, ob diese Differenzierung so wichtig ist, da sie


als Klassifikationsmerkmal verwendet werden kann. Bei J licher
ger t z. B. ein Text wie Lk 15 11-32 in die gleiche Klasse (Parabeln)
wie etwa die Parabel vom Senfkorn, w hrend Lk 10 soff., eine Lk
15 uff. formal beraus hnliche Erz hlung, gleich einer anderen
Klasse (Beispielerz hlungen) zugeh rt. Wir sahen aber, da beide
eine paradigmatische Funktion haben, und da die Parabolik der Pa-
rabeln verschieden stark ist (kontinuierlich zwischen den Werten
0 [= Beispielerz hlung] und l [= Allegorie] liegen kann). Eine sinn-
volle Klassifizierung k nnen wir allerdings auf der Grundlage der
paradigmatischen Funktion auch noch nicht vornehmen. Die Funktion
der Erz hlungen kann ja ein sekund res Element sein — wenn man
bedenkt, da z. B. Lk 15 uff. auch ohne sie (d. h. ohne explizite Sach-
h lfte) eine suffiziente Erz hlung darstellt58.
b) Eine M glichkeit f r eine Klassifizierung k nnte sich aus
typischen Einleitungswendungen ergeben. Goulder hatte schon dar-
auf hingewiesen, da bei Lk die Gleichniserz hlungen entweder durch
τις (nach einem Nomen) oder durch τί$ εξ υμών eingeleitet werden59.
Die τί$-εξ-ύμών-Οΐ6ΐ<;1ιηί556 sind formal alle gleich gebildet60. Sie
begegnen nur in Lk-S (Lk 11 5ff. 14 28ff. 3if. 17 7ff.) und Q-Stoff
(Mt 7 9f./Lk 11 nf.; Mt 18 I2ff./Lk 154ff.). τί$ εξ υμών leitet jedoch in
Q auch Logien ein (Mt 5 27/Lk 12 25; Mt 12 n/Lk 14 5). Wir stehen
hier genau auf der Grenze zwischen Logion und Gleichniserz hlung,
haben aber einen abgeschlossenen Gleichnistyp vor uns.
Alle anderen Gleichniserz hlungen in Lk beginnen mit άνθρωπος
τις61 (bzw. άνθρωποι δύο62; κριτής τις63; einfach τις64). In zwei Para-
beln aus Q hat Lk einem vorgegebenen άνθρωπος ein τις zugef gt:
Lk 1416 und 19 12. Neun von f nfzehn Gleichnissen des Lk-S sind sol-
che άνθρωπός-τις-Gleichnisse65. Davon sind f nf unparabolisch (10 soff.
58
Die Erkenntnis der Kontextabh ngigkeit der Gleichniserz hlungen besagt als
solche auch noch nichts ber die traditionsgeschichtliche Stufe (Tradition oder
Redaktion) der Erz hlung, da eine berlieferte Erz hlung ja paradigmatisch
59
umfunktioniert sein kann. S. o. bei Anm. 45.
60
Vgl. H. Greeven, »Wer unter euch . . . ?«(WuD N. F. 3, 1952, 86—101), besonders
88f. Zur traditionsgeschichtlichen Herkunft dieser Form vgl. jetzt Berger,
a. a. O. 25ff. 31 fi. Berger hat gezeigt, da diese Gleichnisform nicht analogielos
ist, wie Greeven, 100f., meinte. Gerade diese Form diente auch in hellenistisch-
popularphilosophischer Tradition paradigmatischer Funktion.
61
Lk 1030 12 16 15 11 161 1619. άνθρωπος τι$ begegnet in LXX Hi li Bei l
Gen 38 l (im Akkusativ); vgl. auch o. Anm. 7.
62
Lk 1810 74l.
63
Lk 18 2; vgl. 7 4l: . . . δανειστή τινι.
64
Lk 13 6; vgl. noch in Lk 14 8 das υπό τινο$.
65
Lk 14?-ii und 1412-14 lassen wir unber cksichtigt, da es sich hierbei nicht um
Erz hlungen handelt.
Zeitschr. f. d. neutest. Wiss., 65. Band, 1974 13
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180 Gerhard Sellin, Lukas als Gleichniserzähler

12 ieff. 16 iff. 16 I9ff. 18 9ff.) und vier parabolisch (7 41-43 13 6-9 15 11-
32 18 1-8).
c) Nun wäre es freilich willkürlich, die paradigmatischen Gleich-
nisse des Lk nach ihren Einleitungswendungen in zwei Klassen auf-
zuteilen, wenn man nicht auch eine entsprechende Unterscheidung
in der Struktur nachweisen kann. Denn es könnte ja sein, daß die
Einleitungswendungen nur rein äußerliche stilistische Eingriffe des
Redaktors in ihm vorgegebene Gleichnisse wären. Wir klammern
nun die -ri$-e£^cbv-Gleichnisse aus, die — wie wir bereits sahen —
tatsächlich eine Klasse für sich darstellen66. Wie steht es aber mit
den übrigen, die mit eingeleitet sind?
Das erste Gleichnis dieser Art in Lk — 7 41-43 — stellt das Grund-
modell eines weiteren Typs dar: der für Lk typischen 0 < $- $-
Gleichniserzählungen. Lk 7 41-43 ist strukturiert durch eine besondere
Figurenkonstellation: es handelt sich um die Skizze einer Drei-
Personen-Erzählung. Zwei Personen sind von ihrem Status her gleich
(»Zwillinge«67: zwei Schuldner), von ihrer Funktion her bilden sie einen
Gegensatz (antithetisches Zwillingspaar: dem einen ist viel, dem
ändern wenig vergeben). Hinzu kommt eine dritte Person, die eine Art
Autorität darstellt und das ruhende Gegenüber zur Spannung der bei-
den anderen Figuren bildet: ein Gläubiger. Diese drei Personen bilden
ein Dreieck.
Lk 7 41-43 ist nun allerdings keine richtige Erzählung, da das
Ergebnis der Handlung vorausgesetzt, nicht aber dramatisch ent-
wickelt wird (daher: Skizze einer Drei-Personen-Erzählung). Es
gibt im NT noch eine solche Skizze: Mt 2128-31 a. Auch dieses
Gleichnis ist paradigmatisch gesehen ein Modell: es endet mit einer
Frage (und gleicht darin neben Lk 741-43 auch Lk 1030-3768), die dem
Sachverhalt des Kontextes parabolisch entspricht.
K. Berger hat diesen Gleichnistyp als erster formgeschichtlich
bestimmt: Es handelt sich — in Bergers Terminologie — um einen
»exemplarischen Rechtsentscheid«69. Diese Gattung begegnet erst-
mals in der Nathan-Parabel (s. o. Anm. 7) und ihrer späteren Über-
lieferungsgeschichte. Berger vermutet, daß diese Form weisheitlichen
Ursprungs ist und durch Vermittlung des hellenistischen Judentums
ins NT gelangt ist70. Bezeichnend für diese Form ist, daß eine zunächst
66
S. o. bei Anm. 60.
67
Vgl. Olrik, a. a. O., 6. Olrik gebraucht den Ausdruck »Zwillinge« aber nur für
zwei in der Charakteristik gleiche Figuren (z. B. Priester u. Levit), nicht aber
für die Gegensatzpaare.
68
Auch das zeigt, wie unspezifisch die Unterscheidung von Parabel und Beispiel-
erzählung eigentlich ist.
69
Berger, a. a. O., 20ff.
70
Ebd., 241

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Gerhard Seilin, Lukas als Gleichniserzähler 181

unwissende Person in einem Streitfall oder Streitgespräch selber das


Urteil fällt, das durch ein Modell (»exemplarischer Rechtsentscheid«)
des Weisheitslehrers herbeigeführt wird (2 Sam 12 5ff. Lk 7 43
lOsef.; Mt 21 31). Ein rabbinisches Beispiel hierfür ist b. Aboda zara
54 b 55 a71. Diese weitverbreitete Form entspricht genau der Funktion
des rhetorischen Paradigmas, das ja ebenfalls auf diese Weise ȟber-
zeugen« will72.
Das Drei-Personen-Schema ist deutlich erkennbar konstitutiv
für eine Reihe weiterer Lk-S-Gleichnisse. Ein Unterschied ist aber,
daß sie alle im Gegensatz zur Skizze Lk 7 41-43 die Handlung selber
dramatisch entwickeln. Entscheidend für diese Erzählungen ist, daß
die Handlung durch eine echte Interaktion in bezug auf die Handlung
freier und gleichberechtigter Individuen zustande kommt, wobei die
Initiative meist von einer der Zwillingsfiguren ausgeht.
Alle Drei-Personen-Gleichnisse in Lk-S sind nach diesem Schema
aufgebaut: Lk 7 41-43 10 30ff. 15 n ff. 16 I9ff. Es tritt jeweils ein
antithetisches Zwillingspaar auf: zwei Schuldner — zwei Wanderer73
— zwei Söhne — zwei Hadesbewohner. Von diesen in der Anfangs-
situation gleichen, für die Pointe aber gegensätzlichen Figuren ist
eine jeweils die für den Inhalt wesentliche: der Samaritaner (im
Gegensatz zum Klerus) — der ältere Sohn — der Reiche74. Die dritte
Figur ist jeweils die »formale Hauptperson«75, die Hintergrundfigur:
der Gläubiger — der Verwundete — der Vater — Abraham im Hades.
Die formale Hauptfigur ist in bezug auf den Status meistens eine
König-Vater-Herr-Figur, die inhaltliche Hauptfigur ist meistens eine
Sohn-Knecht-Figur76.
Ein Sonderfall innerhalb dieser Gruppe ist Lk 18 9ff. Zwar treten
hier nur zwei Personen auf, das antithetische Zwillingspaar: zwei
Beter im Tempel. Die formale Hauptperson scheint zu fehlen. Sie
ist jedoch verborgen da: Es ist die nicht mehr in die Handlungsebene
der Erzählung Jesu umgesetzte Rechtfertigungsinstanz in v. I4a.
Entsprechend verrät die Redeform des Gebetes ja noch die verborgene
Anwesenheit Gottes. Das Schlußurteil Jesu in 18 14 a vertritt etwa die
Funktion des Gläubigers in Lk 7 41-43 oder die Abrahams in Lk 16 i9ff.
71
Fiebig, a. a. O., 58f.; vgl. Bultmann, Geschichte, 197f.
72
Vgl. E. Fascher, Die formgeschichtliche Methode. Eine Darstellung und Kritik.
Zugleich ein Beitrag zur Geschichte des Synoptischen Problems (BZNW 2),
1924, 1921
73
Gemeint ist das Paar Kleriker — Samaritaner in Lk 10 3off. Zu Priester und
Levit s. u. bei Anm. 147 (im nächsten Heft).
74
In Lk 15 Uff. und 16 I9ff. ist die negative Figur die Hauptperson.
75
Den Begriff prägte Olrik, a. a. O., 10.
76
Diese Unterscheidung geht auf Via, a. a. O., 173, zurück.
13*
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182 Gerhard Sellin, Lukas als Gleichniserz hler

Lk 12i6ff.; 16 iff.; 18 iff. sind dagegen Zwei-Personen-Erz hlun-


gen. Es ist aber auff llig, da jeweils eine der beiden Personen einen
Monolog f hrt, der f r die Handlung wesentlich ist77. Es dr ngt sich
die Vermutung auf, da in diesen Monologen jeweils eine dritte
Person vertreten wird; die eine der beiden Personen bernimmt
jeweils zwei Handlungsfunktionen. Das, was wir »dramatisches Drei-
eck« nennen wollen, h tten wir dann auch in diesen Erz hlungen
vorliegen. Nur sind hier die drei Elemente nacheinandergeschaltet:
Ausgangsproblem — Scheinl sung — berraschende L sung (in Lk 12
f r den Helden negativ — in Lk 1511-24 positiv78). Der Gegensatz
(der in den anderen Gleichnissen durch das »antithetische Zwillings-
paar« vertreten wird) besteht zwischen Scheinl sung (positiv oder
negativ) und berraschender L sung (negativ oder positiv)79.
In zwei Gleichniserz hlungen gibt es eine Unterstruktur, die in
die Gesamtstruktur eingebettet ist. Es handelt sich um die beiden
»doppelgipfligen« Gleichnisse Lk 15 11-32 und 1619-3180. Der erste Teil
der Erz hlung vom Verlorenen Sohn (Lk 15 11-24) enth lt nun genau
die gleiche Struktur wie Lk 12 ieff. und 16 iff. (vgl. das Selbstgespr ch
77
Vgl. Lk 12 i7f. (τί ποιήσω, δτι . . . τούτο ποιήσω . . .) mit Lk 16 3f. (τί ποιήσω,
δτι . . . εγνων τί ποιήσω . . .); vgl. ferner Lk 18 4f. und Lk 15 i?ff. (dazu s. gleich).
Lk 12 16-21 und 161-9 sind formal v llig gleich aufgebaut:
12 16 a/161 a: Einleitung mit Adressatenangabe
12 i6b/16ib: Exposition mit άνθρωπος τις ... πλούσιος
12 17/16 2f: Das Problem (τί ποιήσω . . .)
12 18/164: Die (Schein-) L sung (τούτο ποιήσω . . .)
12 19/16 5-7: Ausmalung (12 19) bzw. Ausf hrung der L sung
12 20 a/16 8 a: berraschende Pointe
12 20b/16 8b: Begr ndung der Pointe
12 21/16 9: Moral — Anwendung mit positiver Alternative
Diese formale Verwandtschaft best rkt die Vermutung, da auch Lk 16 l ff. eine
negative Beispielerz hlung ist — zumal, wenn man bedenkt, da es beide Male
um einen Reichen geht.
78
Vgl. die Aufteilung in »komische« und »tragische« Gleichnisse bei Via, a. a. O.,
98 ff.
79
Lk 18 iff. entspricht diesem Schema nicht ganz: Die Pointe wird im Monolog des
Richters selber herbeigef hrt. Dieses Gleichnis ist stark mit dem τίς-έξ-νμών-
Gleichnis Lk 11 5ff. verwandt; vgl. W. Ott, Gebet und Heil. Die Bedeutung der
Gebetspar nese in der lukanischen Theologie (Studien z. A. u. NT 12), 1965.
80
Jeremias, Gleichnisse, 34, z hlt noch Mt 20 1-16 und 22 1-14 dazu. Mt 20 1-16 ist
jedoch nicht doppelgipflig: die Pointe Hegt in v. 10 (gleicher Lohn f r alle), das
folgende ist nur Erkl rung dieser Pointe ohne neue Handlungsmomente. In Mt
22 uff. Hegt dagegen ein sekund rer Zusatz vor. Lk 1511-32 und 1619-31 sind
jedoch traditionsgeschichtHch nicht sezierbar (die beiden S hne sind in Lk 15 11
schon als konstitutiv angelegt; Lk 16i9ff. verwendet im ersten Teil zwar ein lte-
res Motiv, ist aber auf den zweiten Teil hin komponiert), sondern von vornher-
ein als zweigipflige Erz hlungen angelegt.

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Gerhard Seilin, Lukas als Gleichniserzähler 183

1517-19). Lk 16 I9ff. enthält in seinem ersten Teil eine Unterstruktur,


die genau Lk 18 9ff. entspricht. Im Verlaufe der Handlung personi-
fiziert dann Abraham das, was in Lk 18 u a als Rechtfertigungs-
instanz jenseits der Erzählebene steht. Beide Erzählungen beginnen
mit parallelem Auftritt des antithetischen Zwillingspaares, während
Lk 7 41 ff. 10 soff. 15 11 ff. zuerst die formale Hauptfigur einführen. In
allen Gleichnissen treten immer nur zwei Personen zur gleichen Zeit
auf (z.B. Lk 15 11 ff.: Vater —verlorener Sohn; Selbstgespräch des
verlorenen Sohnes; Vater — verlorener Sohn; Vater — daheim-
gebliebener Sohn).
Entscheidend für den Übergang zur inhaltlichen Ebene der
Interpretation ist die Beobachtung, daß all diesen Erzählungen das
Prinzip der Umwertung zugrundeliegt. Jeweils eine der beiden Zwil-
lingsfiguren wird zunächst im Lichte eines positiven Wertes darge-
stellt: der Schuldner mit wenig Schulden (der Gerechte) — Priester
und Levit — der daheimgebliebene Sohn — der Reiche81 — der
Pharisäer. Zum Schluß erweist sich aber die scheinbar negative Person
als die bevorzugte: der Schuldner mit vielen Schulden — der kultisch
verachtete Samaritaner — der verlorene Sohn — der Arme — der
Zöllner82. Das gilt aber auch für Lk 12ieff.: die Scheinlösung wird
durch Gott zunichte gemacht83. Hinter dieser Umwertungstheologie
steckt ein besonderer Dualismus84. Die Umkehrung der Werte ist
aber niemals ein echtes Paradox: denn zwischen Anfangs- und End-
81
In der älteren Vergeltungslehre ist Reichtum ein positiver Wert: vgl. z. B.
Hi 15 20. 29 Prov 1116 u. ö.
82
Den Rang eines Interpretationsschlüssels für diese Umwertungstheologie nimmt
Lk 16i4f. ein: die Maßstäbe der Welt sind vor Gott Schein. Auch Armut ist ein
scheinbar negativer Wert (im Sinne eines weltimmanenten Vergeltungsprinzips).
Lk 16 I9ff. zeigt aber, daß im Jenseits die irdischen Werte verkehrt werden (auf
eine Formel gebracht in Lk 1625).
83
Komplizierter ist es in Lk 16 iff.: das Betrugsmanöver des Verwalters geht gut
aus (»der Herr« = der Besitzer lobt ihn für seine Schlauheit). V. 8b stellt aber
heraus, daß dies die Schlauheit der Kinder der Welt ist, die die Jünger gerade
nicht nachahmen sollen (vgl. 1610-12). Als »Kind der Welt« muß der Besitzer das
»weltgemäße« Handeln seines Verwalters loben, v. 9 stellt demgegenüber die
Alternative: nicht weltliche, sondern himmlische Freunde erwerben; und das
heißt: Almosen (vgl. Lk 122l).
84
Der Dualismus von Diesseits und Jenseits hat vielleicht orphische Wurzeln (vgl.
A. Dieterich, Nekyia. Beiträge zur Erklärung der neuentdeckten Petrusapoka-
lypse, 21913). E. Brandenburger, Fleisch und Geist. Paulus und die dualistische
Weisheit (WMANT 29), 1968, spricht hier von »dualistische(r) Weisheit«. Beson-
dere Bedeutung für den jenseits orientierten Dualismus »arm — reich« haben die
Schlußkapitel des I. Henoch (Kap. 94—103); zur Beziehung dieser Kapitel zu
Lukas, besonders in ihrem griechischen Text vgl. S. Aalen, St. Luke's Gospel and
the Last Chapters of I Enoch (NTS 13, 1966/67, 1—13).

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184 Gerhard Sellin, Lukas als Gleichniserz hler

zustand liegt immer eine auch psychologisch einsichtige Umkehr


(Bu e) oder zumindest ein entsprechendes Handeln. Am deutlichsten
ist das in Lk 15 uff.: Der verlorene Sohn kehrt im w rtlichen Sinne
um und wird »lebendig«. Der daheimgebliebene meint, eine Umkehr
nicht n tig zu haben. Am Ende steht er drau en und der verlorene
Bruder drinnen. Er, der immer zu Hause war, erf hrt pl tzlich seine
Entfremdung. Sein heimgekehrter Bruder ist ihm weit voraus. Ihm
selber bleibt nur eins: ber die Schwelle zu treten und selber »heim-
zukehren«.
Lk 15 n-32 endet offen. Ob der Sohn dem Vater folgt und eintritt
oder nicht, wird nicht gesagt. Durch diesen offenen Ausgang wird
der »Zuschauer« (H rer, Leser) in die Handlung mit einbezogen und
selber zur Entscheidung aufgefordert. Hier spielt also noch eine
Figur mit: der H rer/Leser. Das gleiche gilt f r Lk 1619-31: die f nf
lebenden Br der k nnen dem Schicksal des Reichen entgehen. An
ihrer Stelle steht der H rer/Leser. Dies Prinzip gilt vor allem auch
f r jene Gleichnisse, die noch am deutlichsten ihren paradigmatischen
Charakter zeigen: Lk 741-43 und Lk 10 soff, (im Rahmen von Lk
1025-37). Der H rer/Leser kann sich mit der Rahmenfigur (dem
Streitgespr chspartner Jesu: Simon in Lk 7, dem Gesetzeslehrer in
Lk 10) identifizieren und durch das Modell den Schlu selber finden85.
Wenn wir Lk 13 6-9 und 18 1-8 als Ausnahmen beiseitelassen86,
haben wir f r Lk-S eine besondere Klasse von Gleichnissen heraus-
gefunden, deren wesentliches Merkmal das »dramatische Dreieck«
(drei Personen; bzw. zwei Personen mit Monolog) ist. Wir wollen diese
Erz hlungen wegen ihrer h ufigen Einleitungswendung ανθρωπός-τις-
Gleichnisse nennen. Die Lk-S-Gleichnisse lassen sich dann folgender-
ma en gruppieren:
Tis-^-VMcov-Gleichnisse ανθρωτΓΟς-·π$-Ο1βίο1ιιιί88β Sonderf lle
Lklls-8 Lk 741-43 Lkl3e-9
1428-30 10 30£f. 18 1-8
31f. 1511-32 (147-14)
108-10 1619-31
177-10 189-14
(16i9ff.)
85
Diesen dramatischen (Episches Theater) und didaktischen Charakter der Gleich-
nisse hat un bertroffen G. Eichholz (o. Anm. 31), besonders 69ff., herausgear-
beitet. Einige der epischen Gesetze Olriks (Einstr ngigkeit, Szenische Zweiheit)
sind zugleich dramatische Gesetze (vgl. auch das Mittel des Dialogs). Die gro en
SvOpcuTTOs-Tis-Erzahlungen in Lk sind geradezu Dramen (Lk 10 3 Off. 15 l iff. 16 19 ff.).
86
Lk 13 6-9 entspricht als einziges Gleichnis in Lk-S den markinisch-alttestament-
lichen Gleichnissen (vgl. den Bezug auf Jes 5 l ff.). Man k nnte freilich Besitzer
und G rtner als Gegenspieler auffassen und den Feigenbaum als Surrogat einer
dritten (formalen Haupt-) Figur. Aber vermutlich ginge das zu weit. Zu Lk 18 1-8
s. o. Anm. 79.

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Gerhard Sellin, Lukas als Gleichniserz hler 185

12 16-21
161-9
(15 11-24)

d) Wir stehen jetzt vor der Aufgabe nachzuweisen, da sich diese


Gleichniserz hlungen von den anderen in Mk, Q und Mt-S unter-
scheiden. Die Naturgleichnisse aus Mk 4 sowie die k rzeren aus Q
scheiden auf den ersten Blick aus. Allenfalls kommen Mk 121-11
(»Weing rtner«); Mt 22 i-u/Lk 1415-24 (»Gro es Abendmahl«); Mt
25 14-30/Lk 19 n-27 (»Anvertraute Gelder«) und eine Reihe von Mt-S-
Parabeln in Frage: Mt 1823-35 (»Unbarmherziger Knecht«); 20i-i6
(»Arbeiter im Weinberg«); 2128-31 a (»Ungleiche S hne«) und 25i-i3
(»Zehn Jungfrauen«).
Mk 12 iff. Lk 14 ιβ-24/Mt 22 iff. und Lk 19 12-27/Mt 2514-30 in
ihrer Q-Fassung sowie Mt 2l28ff. werden eingeleitet mit άνθρωπος.
Dieses άνθρωπος begegnet aber auch in Mt 18 23 20 i87. Es geh rt also
schon zur vor- und au er-lukanischen Gleichnissprache. Seinem Stil
entsprechend hat Lk in 1416 und 1912 ein τι$ zugef gt88.
Mk 12 iff. Lk 14 ιβ-24/Mt 22 iff. Lk 19 ia-27/Mt 2514-30 Mt 20 i-ie
und Mt 25 1-13 haben eine einheitliche Struktur, die sich in manchem
von den lukanischen άνθρωπός-Tis-Gleichnissen unterscheidet: der
άνθρωπος als Hauptfigur beherrscht fast immer allein die Handlung
(der Weinbergbesitzer, der Gastgeber/K nig, der verreisende Mann,
der Br utigam). Dieser Hauptfigur tritt eine Reihe von Gegenspielern
entgegen (die Weing rtner, die G ste, die Knechte, die Arbeiter, die
Jungfrauen), die jedoch von der Hauptperson beherrscht oder be-
zwungen werden. Die Handlung wird fast durchgehend vom άνθρωπος
beherrscht, die Gegenspieler bleiben meist eine Gruppe und werden
nicht individualisiert. Die formale Hauptperson ist meistens zugleich
auch die inhaltliche Hauptperson. Die Struktur dieser Erz hlungen
ist monarchisch; wir nennen diese Gleichnisse άνθρωπος-Gleichnisse.
Der άνθρωπος ist immer Gott oder Jesus. ber diese sagen die
Parabeln etwas aus, weniger ber die Menschen.
Mk 12 iff.
hat berdies allegorischen Charakter (vgL den R ckgriff auf Jes 5;
der dritte get tete Knecht ist Jesus). Eine genuine Verbindung mit
dem Kontext besteht nicht (keine paradigmatische Funktion).
87
Mt 18 23 und 20 l ist dem stilgem en άνθρωπος ein spezifizierendes Substantiv
zugef gt: βασιλεύς (wie Mt 222) und οίκοδεσττότης (vgl. Mt 13 52). Das zeigt
1. da άνθρωπος formgem zur Gleichnissprache geh rt und unterstreicht 2. den
monarchischen Charakter der Hauptperson dieser Gleichnisse (dazu s. gleich).
88
Beide Parabeln hat Lk dem Kontext derart eingef gt, da sie nachtr glich noch
eine paradigmatische Funktion erhalten haben (durch 1415 und 19 11).

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186 Gerhard Sellin, Lukas als Gleichniserzähler

Mt 22iff./Lk 14i6ff.
dürfte in der Q-Fassung etwa Mt 22 1-10 entsprochen haben89. Formal
liegt hier das »Gesetz der Dreizahl« vor90. Der Sinn ist heilsgeschicht-
lich: Israel verwirft Gottes Heilsangebot, andere werden es erhalten.
Die Parabel entspricht in ihrem allegorisch-heilsgeschichtlichen Cha-
rakter Mk 12 iff.
Mt 25u-30/Lk 1912-27:
Auch hier stehen dem Herrn (= Jesus) drei Gegenspieler gegenüber,
diesmal allerdings nicht Gruppen, sondern einzelne. Wieder gilt das
Gesetz der Dreizahl mit Gegensatz und Achtergewicht: zwei Knechte
haben richtig gehandelt, der dritte nicht. Man kann daraus ohne
weiteres das für die Lk-S-Gleichnisse typische dramatische Dreieck
konstruieren: als formale Hauptperson der Herr — die beiden guten
Knechte einerseits und der schlechte Knecht andererseits als anti-
thetisches Zwillingspaar. Hinzu kommt, daß die Knechte bereits in
der Q-Fassung individualisiert sind. Ein entscheidender Unterschied
besteht jedoch einmal darin, daß diese Erzählung im Gegensatz zu
allen avOpcoTro$--ns-Gleichnissen ohne allegorische Elemente nicht
auskommt: die Abwesenheit des Herrn = die Parusie; das »Wuchern«
= Mission. Zum anderen (und für die Struktur relevanter) wird die
Handlung überwiegend und souverän vom Herrn bestimmt; es gibt
keine echte Interaktion, so daß es trotz allem berechtigt ist, vom
monarchischen Charakter dieser Parabel zu reden.
Mt 1823-35:
Diese Parabel steht dem Typ der $- $-& 6 856 noch näher
als die zuvor behandelte. Der König bleibt nur formale Hauptfigur,
inhaltliche Hauptfigur ist der Schalksknecht. Ein Mitknecht kommt
als dritte Person hinzu, so daß wir ein Drei-Personen-Gleichnis haben,
89
Mt 22 11 if. ist eine sekundäre Anfügung durch Mt. Darüber hinaus finden sich
wesentliche Unterschiede zwischen Mt und Lk: Bei Mt geht es um drei Ein-
ladungen, von denen die ersten beiden ausgeschlagen werden. Bei Lk ist die erste
Gruppe in drei Beispielpersonen individualisiert (das entspricht der Tendenz der
Lk-S-Gleichnisse). Die zweite und dritte Gruppe sagt zu. Dies dürfte im Sinne
lukanischer Interpretation der Heilsgeschichte sein: die bußfertigen Juden (Sünder
= Arme, Krüppel usw.) und dann die Heiden (die von den Straßen und Zäunen).
90
Zwei Versuche schlagen fehl — der dritte gelingt. Genauer gesagt geht es hier
um das Gesetz der dreifachen Wiederholung, verbunden mit dem Gesetz des Gegen-
satzes und dem Gesetz des Achtergewichtes (Olrik, a. a. O., 3f. 6f.). Der gleiche
Komplex Hegt auch Lk 10 3 o ff. vor: Priester — Levit — Samaritaner. Der Gegen-
satz besteht zwischen Priester und Levit einerseits und Samaritaner anderer-
seits. In Lk 10 soff, ist das Gesetz des Gegensatzes aber beherrschend, in Mt 22iff.
nicht.

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Gerhard Seilin, Lukas als Gleichniserz hler 187

dessen Struktur stark mit Lk 15 11-32 oder 10 soff, verwandt ist. Ent-
scheidend ist aber ein Unterschied: Am Ende wendet die formale
Hauptperson ihre Macht gegen den t richten Knecht an. Alle άνθρω-
TTO$-Parabeln enden mit einem Machterweis der Herr-K nig-Figur
(Mk 129 Mt 18341 20 15 22 1391 2512.30 [Lk 1927]; vgl. M t 2 46).
Das gilt f r die lukanischen av6pcoTro$-Ti$-Gleichnisse nicht92. In
diesem Sinne ist auch Mt 18 23-35 monarchisch.
Mt 20 i-ie:
Die Arbeiter bleiben ein differenziertes Kollektiv. Wie in Mk 12 iff.
gilt nicht das Gesetz der Dreizahl, sondern lediglich ein Gesetz der
steigernden Wiederholung. Die Parabel ist nicht nach dem drama-
tischen Dreieck gebaut.
Mt 21 28-31 a:
Dieses Gleichnis ist strukturell v llig identisch mit Lk 741-43: das
Modell einer Drei-Personen-Erz hlung mit formaler Hauptfigur und
antithetischem Zwillingspaar.
Mt 251-13:
Es existiert eine formale Hauptfigur und ein kollektives antithetisches
Zwillingspaar (f nf kluge — f nf t richte Jungfrauen). Es fehlt die
f r die Lk-S-Gleichnisse typische Individualisierung. Das gleiche gilt
von Mt 25 3iff.93.
Das Ergebnis dieser bersicht ist, da eine Reihe von Parabeln
in Mk, Q und Mt-S eine Vorstufe der lukanischen άνθρωττό$-τι$-
Gleichnisse bilden. Bis auf Mt 251 beginnen alle mit άνθρωπος
(Mk 12i Mt 22i par. Mt 25 14 par. Mt 1823 201 2128), das also
schon zur vorlukanischen Gleichnissprache geh rt94. Die Mehrzahl
dieser Parabeln unterscheidet sich jedoch strukturell von den άνθρω-
Tro$-Ti$-Gleichnissen: 1. die formale Hauptperson ist meist zugleich
auch die inhaltliche Hauptperson; 2. die Gegenspieler bilden meist
91
Mt d rfte darin gegen ber Lk 1416if. prim r sein.
92
Nur scheinbar gilt es f r Lk 16 19-31. Hier ist es aber nicht die souver ne oder
willk rliche Macht Abrahams, sondern ein abstraktes Vergeltungsprinzip, das
den Reichen in den Hades bringt. Abraham bleibt erstaunlich mitf hlend. In
Lk 18 9ff. wird der B er als gerechtfertigt hingestellt, von der Bestrafung des
Pharis ers aber nichts gesagt. Lk 15 11-31 bleibt am Ende offen.
93
Hierbei handelt es sich nicht um eine Gleichniserz hlung, sondern um eine
»apokalyptische Offenbarungsrede« (Jeremias, Gleichnisse, 204 Anm. 2). Statt des
»Erz hltempus« Aorist steht das Futur (G ttgemanns, Ling. Bibl. 25/26, 68 mit
Anm. 44).
94
Mt hat bis auf 21 28 alle diese Parabeln durch eine auf die βασιλεία bezogene
όμοι-Wendung eingeleitet (Mt 25 14 einfaches ώσπερ).

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188 Gerhard Sellin, Lukas als Gleichniserzähler

eine Gruppe (Knechte, Gäste, Arbeiter, Pächter, Jungfrauen), die


verschieden differenziert wird (Gesetz der Dreizahl, mehrzahlige
Wiederholung, Gegensatz wie in Mt 25 iff.); 3. die Hauptfigur erweist
spätestens am Schluß ihre souveräne Macht; 4. damit hängt zusam-
men, daß die Hauptfigur fast immer einen allegorischen Bezug zu
Gott oder Jesus hat.
In vier Fällen zeigte sich jedoch eine Nähe zum Typ der -
TTOs-Tis-Gleichnisse: 1. Mt 2128-31 a entspricht völlig Lk 741-43. Dieser
Gleichnistyp ist auch außerneutestamentlich belegt. 2. Die Q-Parabel
Mt 25 i4ff./Lk 19 I2ff. entspricht in ihrer Struktur vor allem Lk 10 30ff.
Sie unterscheidet sich aber trotz der Dreieck-Struktur durch ihren
monarchischen Charakter. 3. Das gleiche gilt für Mt 25 iff. Hier
kommt die fehlende Individualisierung hinzu. 4. Ein echtes Drei-
Personen-Gleichnis ist Mt 18 23ff. Auch dieses unterscheidet sich aber
durch den monarchischen Charakter von den Lk-S-Gleichnissen.
Die Folgerung aus dieser Übersicht ist, daß es eine Reihe von
Gesetzen für die Struktur von Gleichniserzählungen gibt, die im
Verlauf der synoptischen Überlieferung und Redaktion verschieden
angewandt worden sind. Man kann nicht behaupten, daß etwa Lk
selber der Erfinder des Typs der $- $- ^ 1 ^6 ist —
auch wenn in seinem Evangelium diese Form bevorzugt vorkommt
und in einigen Merkmalen einen nahezu unverwechselbaren Charakter
zeigt. Wir können behaupten: M t bevorzugte die (auch Mk 12 iff.
und zweimal in Q vorkommende) monarchische Struktur der Gleichnis-
erzählung, Lk die dramatische, für die sich das Drei-Personen-Schema
besonders eignet. Die nur bei Lk begegnende Form der dramatischen
-Tis-Erzählung ist eine Weiterentwicklung der Form des
»exemplarischen Rechtsentscheids« (vgl. o. bei Anm. 69).
Eine redaktionsgeschichtliche Herleitung der Gleichniserzählun-
gen des Lk-S ist damit allerdings noch keineswegs erwiesen. Vielmehr
ergibt sich hieraus nur eine Arbeitshypothese: Es ermöglicht sich der
Versuch, eine bestimmte Gruppe von Lk-S-Gleichnissen redaktions-
geschichtlich zu erklären. An einem Beispiel (Lk 10 soff.) soll der
Versuch im folgenden durchgeführt werden.

Übersicht über die Gleichnistypen95:


av6pcoTro$-Parabeln av.--n$-Gleichnisse Ti$-ä5-C^cov-Gleichnisse
Mk 12 iff. parr. Lk 7 4iff. (vgl. Mt 7 9f./Lk 11 iif.
Mt 22 iff./Lk 14 i6ff. Mt 2128ff.) Mt 18 i2ff./Lk 15 4ff.

95
Die hier nicht behandelten kürzeren Gleichnisse aus Mk und Q (Naturgleichnisse)
sind in diese Tabelle nicht aufgenommen.

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Gerhard Seilin, Lukas als Gleichniserzähler 189

Mt25i4ff./Lkl9i2ff. LklOsoff. Lkllsff.


Mt 1823ff. 12i6ff. 1428if.
20 iff. löiiff. 3if.
2l28ff. 16 iff. lösff.
25 iff. 16i9ff. 17?ff.
253iff. 189ff.
Mk, Q, Mt-S Lk (Mt-S) Q, Lk

(Der zweite Teil des Aufsatzes erscheint im nächsten Heft dieser


Zeitschrift.)

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