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Zur rhetorischen Analyse der Johannesbriefe

von Hans-Josef Klauck


(Institut für Biblische Exegese, Sanderring 2, 8700 Würzburg)

L Zur Ausgangslage
Die antike Rhetorik stand, wie inzwischen hinreichend bewußt ge-
worden ist, in der neutestamentlichen Exegese längere Zeit hindurch
nicht sonderlich hoch im Kurs. Wo man dennoch auf sie zurückgriff,
beschränkte man sich in der Regel auf einen Bereich, der in den Handbü-
chern der elocutio zugeordnet wird. Zur elocutio gehören die Stilfiguren
und die Tropen, der sprachliche Schmuck und die sprachlichen Bilder,
also etwa Antithese und Inklusio, Chiasmus und Wiederholung, Allitera-
tion und Paronomasie, Metonymie, Metapher und Vergleich1. Vor allem
die Gleichnisforschung hat sich, gerade in dieser Hinsicht maßgeblich
vertreten durch Adolf Jülicher, oft und gern auf die Rhetorik des Aristote-
les berufen2, was ihr, was insbesondere auch Jülicher andererseits nicht
selten zum Vorwurf gemacht wurde3. Hier gibt es also durchaus schon
ein früheres Paradigma für den Streit um den Stellenwert der Rhetorik in
der Exegese. Ausgespart blieben aber ganze Felder wie inventio und disposi-
tio, ausgespart blieb eine Beschäftigung mit den verschiedenen Redege-
nera — genus iudiciale, genus deliberativum, genus demonstrativum — und
mit der Status- oder Stasislehre.

1
Vgl. in diesem Sinn u. a. W. Bühlmann/K. Scherer, Stilfiguren der Bibel. Ein kleines
Nachschlagewerk, BiBe 10, Fribourg 1973, oder, älteren Datums und auf das AT
beschränkt, E. König, Stilistik, Rhetorik, Poetik in Bezug auf die biblische Littcratur,
Leipzig 1900. Vgl. insgesamt D. F. Watson, The New Testament and Greco-Roman
Rhetoric: A Bibliography, JETS 31, 1988, 465-472; J. Lambrecht, Rhetorical Criti-
cism and the New Testament, Bijdr. 50, 1989, 239-253.
2
Vgl. z. B. A. Jülicher, Die Gleichnisreden Jesu. Erster Teil: Die Gleichnisreden Jesu
im allgemeinen (1886/88), Freiburg 21899; Repr. Tübingen 1910, Repr. Darmstadt
1969 u.o., 52f.69-73.
3
Eine frühe, eher unzulängliche Kritik bei P. Fiebig, Die Gleichnisreden Jesu im
Lichte der rabbinischen Gleichnisse des neutestamentlichen Zeitalters. Ein Beitrag
zum Streit um die »Christusmythe« und eine Widerlegung der Gleichnistheorie
Jülichers, Tübingen 1912, 119 — 222; meisterlich sodann E. Jüngel, Paulus und Jesus.
Eine Untersuchung zur Präzisierung der Frage nach dem Ursprung der Christologie,
HUTh2, 4 1972, 88-102.
15*

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206 H.-J. Klauck, Zur rhetorischen Analyse der Johannesbriefe

Die Situation hat sich in den letzten Jahren rasch, um nicht zu sagen
dramatisch verändert. Rhetorische Mittel werden verstärkt eingesetzt für
die Untersuchung von MikroStrukturen und mehr noch von Makrostruk-
turen neutestamentlicher Texte. Wesentliche Impulse dazu kommen aus
den USA. Einen inspirierenden Beitrag leistete Hans-Dieter Betz mit
seiner Auslegung des Galaterbriefes4. Er bestimmt den Galaterbrief als
apologetisches Schreiben, gliedert ihn analog zu einer Gerichtsrede in
exordium, narratio, propositio, probatio, exhortatio und conclusio oder
peroratio und versucht bei der Kommentierung, die rhetorische Strategie
des Briefes herauszuarbeiten. Dieser Vorstoß hat eine lebhafte Diskussion
ausgelöst, in der sich inzwischen die alternative Möglichkeit herausgeschält
hat, den Galaterbrief nicht als apologetische Gerichtsrede, sondern als
beratende Rede, als ein Stück deliberativer Rhetorik zu interpretieren5.
Ob die Grundlagenproblematik schon hinreichend ausdiskutiert wurde,
steht noch einmal auf einem anderen Blatt. Noch größer dimensioniert
ist das Unternehmen von Klaus Berger. Er hat eine Neukonzeption
der Formgeschichte vorgelegt6, in der er die Vielzahl neutestamentlicher
Gattungen entschlossen den drei grundlegenden Redesituationen zuord-
net. Er spricht folglich — in dieser Reihenfolge — von symbuleutischen,
epideiktischen und dikanischen Gattungen (symbuleutisch entspricht dem
genus deliberativum, der beratenden Rede vor der Volksversammlung,
epideiktisch dem genus demonstrativum, der preisenden Rede vor einer
Festmenge, und dikanisch dem genus iudiciale, der Verteidigungsrede vor
Gericht).
Die eigene Auseinandersetzung des Autors dieser Zeilen mit der
Rhetorik wurde nach ersten Kontaktnahmen im Umkreis der Gleichnis-
forschung7 erneut angestoßen und intensiviert durch die Arbeit am vierten

4
H. D. Betz, The Literary Composition and Function of Paul's Letter to the Gala-
tians, NTS 21, 1975, 353-379; ders., Galatians: A Commentary on Paul's Letter
to the Churches in Galatia, Hermeneia, 1979; davon eine deutsche Ausgabe: Der
Galaterbrief. Ein Kommentar zum Brief des Apostels Paulus an die Gemeinden in
Galatien, München 1988.
5
J. Smit, The Letter of Paul to the Galatians: A Deliberative Speech, NTS 35, 1989,
1—26. Vgl. auch G.W. Hansen, Abraham in Galatians. Epistolary and Rhetorical
contexts, JSNT.S 29, 1989, 58-60: Mischung von forensischer (bis 4,11) und delibe-
rativer (ab 4,12) Rhetorik. Schließlich noch F. Vouga, Zur rhetorischen Gattung des
Galaterbriefs, ZNW 79, 1988, 291 f., und Kennedy, Interpretation (s. Anm. 47)
144-152.
6
K. Berger, Formgeschichte des Neuen Testaments, Heidelberg 1984; vgl. ders.,
Hellenistische Gattungen im Neuen Testament, in: ANRW 11/25,2, 1984, 1031-
1432.1831 —1885. Allen Hinweisen auf die Johannesbriefe bei Berger bin ich nachge-
gangen, ohne sonderlichen Ertrag.
7
Vgl. H. J. Klauck, Allegorie und Allegorese in synoptischen Gleichnistexten (1978),
NTANF 13, 21986, 6F.39-53.

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H.-J. Klauck, Zur rhetorischen Analyse der Johannesbriefe 207

Makkabäerbuch8. Diese dem hellenistischen Diasporajudentum entstam-


mende Schrift, zu datieren etwa um 100 n.Chr., gibt sich deutlich als
epideiktische Rede zu erkennen. Das geht so weit, daß in der Forschung
mehrheitlich die Ansicht vertreten wurde, es handele sich um eine wirklich
gehaltene und nachträglich schriftlich aufgezeichnete Rede aus Anlaß
einer jährlichen Gedächtnisfeier für die makkabäischen Märtyrer an ihrer
Grabstätte in der Synagoge von Antiochien. Das trifft meines Erachtens
so nicht zu. Das ganze Buch wurde von Anfang an als schriftliches Werk
zum Lesen — das heißt allerdings gleichzeitig auch: zum lauten Lesen,
zum Vorlesen — geschaffen. Aber als allgemeine Gattungsbestimmung
hilft seine Einordnung als epideiktische Rede sicher ein Stück weiter, und
rhetorische Kriterien greifen erwartungsgemäß auch bei der Analyse der
Schrift.
Die Beobachtungen zu 4Makk scheinen mir in verschiedener Hinsicht
von einiger Bedeutung für unsere Gesamtfrage zu sein. Das Heranziehen
der antiken Rhetorik für die Exegese des Galaterbriefes etwa dient ja
offenkundig nicht bloß dem Zweck, metasprachliche Beschreibungsgrößen
zu gewinnen, die aus der Antike stammen und insofern dem Text selbst
zeitlich näher stehen. Das wäre ein rein historisierendes und antiquarisches
Interesse, über das man ebenso streiten könnte wie über den Einsatz
zeitgenössischer Musikinstrumente bei der Wiedergabe von Mozarts Sinfo-
nien. Dahinter steckt aber mehr, dahinter steckt die Intention, auch den
Produktionsbedingungen des Textes auf die Spur zu kommen. Konkret
heißt das im Fall des Galaterbriefs: Paulus hat rhetorische Regeln gekannt
und sie bei der Niederschrift — genauer müßten wir sagen: beim lauten
Diktat — mehr oder weniger bewußt angewendet. Wie aber kommt der
Jude Paulus zu seiner Kenntnis der antiken Rhetorik? Das muß historisch
plausibel gemacht werden, und hier kann sich das hellenistische Diaspora-
judentum erneut als unentbehrliche Brücke erweisen. 4Makk jedenfalls
legt von einem beträchtlichen Bildungsniveau und von weitreichender
Vertrautheit mit der Rhetorik beredtes Zeugnis ab. Wenn 4Makk von
vornherein als reiner (Vor-)Lesetext abgefaßt wurde, zeigt sich daran
zugleich auch, daß nicht nur tatsächlich gehaltene und sekundär verschrift-
lichte Reden der Bearbeitung mittels der Rhetorik zugänglich sind. Aller-
dings bleiben in 4Makk die Gattungsmerkmale einer Rede dominant.
Hier scheint sich ein circulus vitiosus aufzutun: Der rhetorischen Analyse
zugänglich sind in erster Linie nur Texte, die zur Gattung der Rede
gehören; die Gattung Rede erkennt man daran, daß ein Text die rhetori-
schen Regeln befolgt. Dieser circulus hängt sicher wesentlich damit zusam-

8
H. J. Klauck, Hellenistische Rhetorik im Diasporajudentum. Das Exordium des
vierten Makkabäerbuchs (4Makk 1.1-12), NTS 35, 1989, 451 -465; ders., 4. Mak-
kabäerbuch, JSHRZ III/6, 1989.

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men, daß die rhetorischen Handbücher das klassifizieren, was an gelun-


genen Musterbeispielen tatsächlicher Reden abgelesen werden kann, und
daß sie es tun in der dezidierten Absicht, Vorlagen und Hilfen für die
effektvolle Gestaltung neuer Reden als Gebrauchstexte zu geben. Offen
steht noch die Frage, inwieweit sich die Rhetorik auf makrostruktureller
Ebene auch für die Erfassung anderer Textgattungen eignet, ob sie also
ohne weiteres auf Briefe übertragen werden kann. Die Entscheidung wird
letztlich in der Arbeit an den Einzeltexten fallen müssen.

2. Der erste Johannesbrief


a) Zur makrostrukturellen Analyse
Der formale Zugriff auf den ersten Johannesbrief sieht sich mit zwei
großen, von den Auslegern häufig und eloquent beklagten Schwierigkeiten
konfrontiert, die den Aufbau und die Gattung betreffen. Das spiralförmig
kreisende, assoziative Denken des Autors will beim ersten Augenschein
keine klaren und eindeutigen Gesichtspunkte für die Gliederung seines
Schreibens frei geben. Beim näheren Hinsehen lassen sich doch verschie-
dene Kriterien eruieren, aber ihre Gewichtung bleibt strittig. Vorgeschla-
gen werden Aufteilungen in zwei Hauptteile, in drei Hauptteile, in sieben
oder in zwölf Paragraphen9. Auch innerhalb eines Gliederungsschemas,
etwa des dreiteiligen, sind die Übergänge und die Integration von Prolog
und Epilog kontrovers. Meine eigene Sicht der Dinge kann ich hier nur
andeuten. Die dreimalige Thematisierung des Liebesgebotes empfiehlt für
das Korpus des Schreibens eine Dreiteilung, Prolog und Epilog sind davon
abzusetzen:
I. Prolog: Vom Wort des Lebens (1,1-4)
II. Korpus: Einweisung in die Wirklichkeit der Liebe (1,5 — 5,12)
1. Gottesgemeinschaft und Gotteserkenntnis (1,5 — 2,17)
2. Vor dem Anspruch der letzten Stunde (2,18-3,24)
3. Glaube und Liebe auf dem Prüfstand (4,1-5,12)
III. Epilog: Buchschluß und Nachtrag (5,13-21)

9
Vgl. nur als erste kurze Übersicht L H. Marshall, The Epistles of John, NIC, 1978,
22 — 27; als neuere monographische Behandlung P. J. van Staden, Die struktuur
van die eerste Johannesbrief, Diss. theol., University of Pretoria 1988 (mir durch
freundliche Vermittlung des Autors zugänglich in einer 42-seitigen englischen Fas-
sung). Dazu A. Jülicher/E. Fascher, Einleitung in das Neue Testament, GThW III/
l, 71931, 224: »Die zahllosen Versuche, in Uoh eine wohlüberlegte Disposition
nachzuweisen, haben das Verdienst, sich gegenseitig aufzuheben«; F. F. Segovia,
Recent Research in the Johannine Letters, Religious Studies Review 13, 1987, 132 —
139: 133: »no hope of a beginning resolution of this search«.

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H.-J. Klauck, Zur rhetorischen Analyse der Johannesbriefe 209

Was die Gattung angeht, suggeriert die traditionelle Einordnung des


l Job unter die Katholischen Briefe die Briefform. Im Text ist davon wenig
zu verspüren. Es fehlen — der Unterschied zu 2/3Joh unterstreicht das
noch — Briefpräskript und Schlußgrüße. Im Gegenzug kann man auf das
Auseinandertreten von Schreiber(n) und Adressaten verweisen (»wir« bzw.
»ich« und »ihr«), auf das formelhafte »dies schreibe ich euch« (2,1 etc.), auf
die Erwähnung der Freude ( ) in 1,4, die den üblichen Segenswunsch
»Gnade ( ) und Friede« abgelöst haben kann. Rudolf Bultmann
z.B., der diese Argumente ins Feld führt, erkennt in 1,1—4 die freie
Nachahmung eines Briefpräskripts10. Andere Gattungsbestimmungen lau-
ten: »religiöser Traktat«11, »ein an die ganze Christenheit gerichtetes
Manifest«12, »briefartige Homilie«13, »an enchiridion, an instruction book-
let«14. Beachtung verdient auch die Funktionsbestimmung (nicht Gat-
tungsbestimmung), mit der Raymond Brown l Joh versieht15: Das Schrei-
ben dient — sinngemäß — als theologische Lesehilfe für das rechte
Verständnis des Johannesevangeliums, dies aber nicht so, als sei es, wie
in der älteren Forschung gelegentlich vertreten, dem Evangelium als Be-
gleitschreiben mitgegeben16 oder als Einführung ins johanneische Denken
vorausgeschickt worden17, vielmehr ist es der nachträgliche Versuch einer
Absicherung des Evangeliums gegen Mißdeutungen. Die Leser werden
eingeladen, die Sicht der Johanneischen Theologie, die im Uoh als allein
authentische herausgestellt wird, zu ihrer eigenen zu machen, daran festzu-
halten, in der Sprache des Briefes: darin zu »bleiben« (2,24.27).
Hilfen von der Rhetorik, die zur weiteren Klärung beitragen könnten,
wären angesichts dieser Sachlage sehr erwünscht. Einen ersten und, soweit
ich sehe, bislang einzigen Schritt in diese Richtung hat Fran9ois Vouga
getan18. Er hält an der Gattungsbestimmung als Brief fest und wechselt

10
R. Bultmann, Die kirchliche Redaktion des ersten Johannesbriefes (1951), in: ders.,
Exegetica. Aufsätze zur Erforschung des Neuen Testaments, Tübingen 1967, 381 —
393: 381 f.
11 H. Windisch/H. Preisker, Die Katholischen Briefe, HNT 15, 31951, 107.
12
Jülicher, Einleitung (s. Anm. 9) 226.
13
G. Strecker, Die Johannesbriefe, KEK 14, 1989, 49 (im Orig. gesperrt). Vgl.
R. Schnackenburg, Die Johannesbriefe, HThK XIII/3, 71984, 2: »Letzthin bleibt
diese Art für uns ein Rätsel«; dort S. 3 auch Kritisches zur Hypothese eines Rund-
schreibens.
14
K. Grayston, The Johannine Epistles, NCeB, 1984, 4.
15
Vgl. R. E. Brown, The Epistles of John, AncB 30, 1982, 90 f.
16
So z. B. J. E. Belser, Die Briefe des heiligen Johannes, Freiburg 1906, 1.
17
So u.a. J.E. Huther, Kritisch exegetisches Handbuch über die drei Briefe des
Johannes, KEK 14, 21861, 33.
18
F. Youga, La reception de la theologie johannique dans les epitres, in: J. D. Kaestli/
J. Zumstein (Hg.), La communaute johannique et son histoire. La trajectoire de
l'evangile de Jean aux deux premiers siecles, Le Monde de la Bible, 1990, 283 —

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von dieser Basis aus ohne langes Zögern hinüber zur Rhetorik: »Uepitre
est construite comme toute lettre raisonnable« (4), und das heißt mit
anderen Worten, seine Struktur, die sich auch in 2/3Joh wiederfinde,
»correspond, en fait, ä la disposition preconisee pour les discours delibera-
tifs par la rhetoric antique« (6). Uoh gehört somit zum genus deliberati-
vum, zum Bereich der beratenden Rede. Für die Bestimmung des Aufbaus
schlägt sich das, wenn wir das Briefpräskript in 1,1 —4 und den Briefschluß
in 5,13 — 21 beiseite lassen, folgendermaßen nieder:
(1) captatio benevolentiae — 1,5 — 2,17
(2) narratio - 2,18-27
(3) propositio — 2,28 — 29
(4) probatio - 3,1-24
(5) exhortatio - 4,1-21
(6) peroratio — 5,1 — 12
Zu den einzelnen Elementen (für die Näherbestimmung der Termino-
logie halte ich mich der Einfachheit halber im wesentlichen an Lausbergs
Handbuch19):
(1) Ein eigentliches exordium ist nicht ausgewiesen. Erfüllt das Brief-
präskript seine Funktion oder wurde es vom Briefpräskript formal gesehen
verdrängt? Oder sollte es doch eher in 1,5 —10 stecken (s. u.)? Die captatio
benevolentiae gehört an sich zu den Exordialtopoi20. Gerade in der Einlei-
tung, wenn irgendwo, erscheint das Bemühen, die Gunst des Lesers zu
gewinnen, besonders angebracht. Die captatio fallt bei Vouga für Uoh
aber reichlich lang aus. Eigentliche Momente einer capatio macht er auch
nur in 2,1 —17 fest und bezeichnet zwischendurch 1,5 —10 als »exposition«
(6). Die Werbemittel, die der Briefautor einsetzt, bestehen aus den Hinwei-
sen auf den besonderen Status seiner Adressaten: Sie haben die Möglich-
keit, sündlos zu leben, wenn sie die Gebote halten (2,1—6); sie kennen
das neue Gebot der Liebe schon seit altersher (2,7 — 11); sie sind von der
Sünde befreit und haben die Welt besiegt (2,12—17). Besser wäre es nach
dem Gesagten wohl, 1,5 —10 als exordium anzusehen, dem in 2,1 —17 eine
lange captatio beigegeben ist. Der ganze Abschnitt 1,5 — 2,17 bildet in der
eingangs skizzierten eigenen Gliederung den ersten der drei Blöcke des

302. Herrn Kollegen Vouga möchte ich herzlich dafür danken, daß er mir seinen
perspektivenreichen Aufsatz, dem ich im folgenden nicht völlig gerecht werden kann,
schon im Manuskript zur Benutzung überlassen hat. Seitenzahlen oben im Text
beziehen sich auf das Manuskript.
19
H. Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literatur-
wissenschaft, München 21973; weitere rhetorische Handbücher aus Antike und
Moderne bei Watson, New Testament (s. Anm. 1) 465 — 468, und bei Klauck,
Rhetorik (s. Anm. 8) 455 Anm. 1.3.
20
Lausberg, Handbuch, 156-160, §273-279.

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Briefkorpus. Seine inneren Abschnitte würde ich eher angeben mit 1,5 —
2,2 (Im Lichte leben), 2,3-11 (Die Gebote halten) und 2,12-17 (Glau-
bensgewißheit und sittliche Verpflichtung).
(2) Die Aufgabe der narratio besteht in der Darlegung des Sachver-
haltes, was oft, daher der Name, in erzählender Form geschieht. Das ist
leicht einsichtig bei einer Gerichtsrede, wo der strittige Kasus erst einmal
rekapituliert werden muß, das allerdings nicht sine ira et studio, sondern
auf durchaus parteiische Weise. Hörer und Leser sollen von vornherein
für den eigenen Standpunkt gewonnen werden. Die narratio in l Joh 2,18 —
27 informiert uns über den betrüblichen Vorgang, der den Anlaß für das
Schreiben abgibt: »Aus unserer Mitte sind sie hinweggegangen ...« (2,19).
Das im Vollzug befindliche Schisma im Johanneischen Gemeindeverband
taucht am Horizont auf. Der Bericht wird vom Autor mit kräftiger
Polemik und mit Immunisierungsstrategien umgeben: Die Gegner sind
Antichristen, Lügner und Betrüger; sie haben nie wirklich zur Gemeinde
gehört. Die Adressaten sind im Besitz des heilsnotwendigen Wissens und
werden vom Geist in der Wahrheit gehalten.
(3) Die propositio definiert Lausberg im Anschluß an Quintilian so:
Sie »ist der gedankliche Kernbestand des Inhaltes der narratio«, erscheint
gern als deren Zusammenfassung am Ende und leitet die argumentatio
ein21. Hier fragt man sich nun doch schon mit mehr Nachdruck, wieso
l Joh 2,28 — 29 das inhaltlich gesehen leisten soll. Vouga sagt dazu nur:
»les destinataires sont invites a preserver le Statut d'election qui est le
leur, c'est-ä-dire a rester dans l'union des temoins« (7). Steht das so im
Text? Der Zusammenhang von 2,28 — 29 mit 3,1 — 10 dürfte außerdem
erheblich enger sein, als bei dieser Aufteilung sichtbar wird.
(4) Der Terminus probatio wird mehr oder weniger synonym mit
argumentatio verwendet. Auch confirmatio kommt vor22. Will man mit
Quintilian, InstOrat 111,9,1, unbedingt unterscheiden, dann ist die probatio
der positiv beweisende Teil der argumentatio, während die Aufgabe der
Widerlegung gegnerischer Argumente der refutatio zukommt. Der positi-
ven Beweisführung dient nach Vouga also l Joh 3,1—24, weil dort die
Gotteskindschaft der Glaubenden in Gegenwart und Zukunft, ihre Sünd-
losigkeit und ihre Praxis der Liebe ausformuliert wird. Wenn wir das mit
dem mehr traditionellen dreiteiligen Gliederungsvorschlag (s. o.) verglei-
chen, stellen wir fest, daß dort narratio, propositio und probatio zum
zweiten Hauptteil des Korpus zusammengefaßt erscheinen. Die Perikopen-
gliederung im Innern sieht aber an zwei Stellen anders aus. Daß 2,28 —
3,10 vermutlich doch enger zusammengehören, wurde schon angedeutet.
In 3,11 markiert der mit 1,5 parallel laufende Satzeingang

21
A.a.O., 189, § 346; vgl. Quint., InstOrat IV,4,5.
22
Vgl. die Synopse bei Lausberg, Handbuch, 148 f., § 262.

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' $ einen unverkennbaren syntaktischen


Einschnitt, den Vouga überspielt, während Raymond Brown z. B., der nur
zwei Hauptteile unterscheidet, an eben dieser Stelle den zweiten Hauptteil
beginnen läßt23. Meiner Meinung nach besteht 2,18 — 3,24 aus den drei
Abschnitten 2,18 — 27 (Das Bekenntnis zum Sohn als Kriterium), 2,28 —
3,10 (Heilserwartung und Sündlosigkeit der Gotteskinder) und 3,11—24
(Einübung des Liebesgebots).
(5) Eine exhortatio, unter Exegeten besser bekannt als Paränese,
behandeln die klassischen rhetorischen Handbücher im Grunde nicht24.
Das war eine Schwierigkeit, vor der schon Hans Dieter Betz letztlich
kapitulieren mußte. Er schreibt: »Es ist schwer zu erklären, warum die
Paränese in den antiken Handbüchern über Rhetorik, auch in der Rhetorik
selbst, nur einen geringen Stellenwert einnimmt«25, und er fügt im Vorwort
zur deutschen Ausgabe seines Kommentars hinzu: »Vielmehr ist der Ur-
sprung der ethischen Paränese sowie auch seine Beziehungen zur Rhetorik
immer noch ungeklärt ... was die rhetorischen Handbücher betrifft, so
darf man von ihnen nicht zu viel erwarten. Ihr Charakter ist gar nicht
dazu angetan, sich eingehend mit der ethischen Paränese zu befassen«26.
Betz hofft auf weitere klärende Beiträge, die aber auf sich warten lassen.
Nun arbeitete Betz beim Galaterbrief mit der Gerichtsrede, während Uoh
von Vouga dem deliberativen Redegenus zugewiesen wird. Hier — und in
der epideiktischen Rhetorik — könnte die exhortatio als guter Ratschlag
oder als Aufforderung zur Nachahmung des guten Beispiels eher ihren
strukturell vorgeprägten Ort finden. Die Handbücher, die gleichfalls mehr
an der Gerichtsrede orientiert sind, gehen aber allem Anschein nach nicht
darauf ein27, und man würde gern noch mehr überzeugende Beispiele aus
ausgearbeiteten Beratungsreden sehen (4Makk weist als epideiktische Rede
auch einige paränetische Appelle auf). Selbst wenn wir die exhortatio als
festen rhetorischen Baustein akzeptieren, fragt sich immer noch, ob sich
Uoh 4,1—24 zwanglos als exhortatio oder Paränese einordnen läßt. Vouga
erkennt »une serie d'instructions« (7). Zu denken ist an Imperative wie
4,1: »Glaubt nicht jedem Geist, sondern prüft die Geister«; 4,7: »Geliebte,
wir wollen einander lieben«; 4,11: »... sind auch wir verpflichtet, einander
zu lieben«; 4,19: »Wir, wir sollen lieben«. Aber diese Anweisungen prägen
den ganzen Abschnitt mit seinen tiefgründigen Aussagen über die Liebe

23
Vgl. Brown, Epistles (s. Anm. 15) 126.
24
Bei Lausberg, Handbuch, kommt nach Ausweis des Registers der Begriff nur ein
einziges Mal vor, nämlich 540, § 1120.
25
Galaterbrief (s. Anm. 4) 434.
26
Ebd., 2 f.
27
Aristot., Rhet 1,9 (1367b.36-1368a.37), und Cic., Or 11,37, sind schwerlich schla-
gende Gegenbeweise, dies zu Watson, Analysis of 3 John (s. Anm. 42) 494, und
Hansen, Abraham (s. Anm. 5) 60.230.

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doch nicht so, daß man sich leichten Herzens dazu entschließen könnte,
ihn als Paränese einzustufen.
(6) Die peroratio faßt zusammen, wiederholt, unterstreicht; mit Quin-
tilian: Sie »frischt das Gedächtnis des Richters auf, stellt ferner den ganzen
Fall in einem Gesamtbild anschaulich vor Augen und zeigt seine Stärke
... in der gedrängten Übersicht«28. Gerade in der peroratio sollen alle
Schleusen der Beredsamkeit und der Affekterregung geöffnet werden29.
Teilweise Wiederholungen früherer Themen liegen in Uoh 5,1 — 12 vor:
Zeugung aus Gott, Erkennen, Glauben und Lieben, die Gebote halten
(5,1 — 3), ewiges Leben (5,11), das Haben oder Nichthaben des Sohnes
(5,12; vgl. 2,23). Zu den Affektmitteln mag man die triumphierende
Sprache von 5,4 — 5 rechnen: Der Glaube erringt den Sieg über die Welt.
Daneben taucht mit den Drei, die bezeugen (5,6 — 8), und dem Zeugnis
Gottes (5,9 — 10) ein in Grenzen (vgl. 1,2; 4,14) neues, für die Auslegung
außerordentlich heikles Thema auf. Nach Vouga ist es über die Evozierung
der sakramentalen Initiation in die johanneische Gemeinde mit früheren
Stellen (namentlich mit 2,20.27) verbunden. Daß wir uns mit 5,1 — 12 dem
Briefschluß nähern, liegt auf der Hand. Affinitäten zur peroratio wird
man daher konzedieren. Die dreiteilige Gliederung faßt 4,1 — 5,12 als
dritten Hauptteil zusammen. Als größere Abschnitte sind herauszustellen:
4,1 —6 (Wo sich die Geister scheiden), 4,7 — 21 (Das Hohelied der Liebe)
und 5,1 — 12 (Zeugnis für den Glauben). Auch hier gewinnt 5,1 — 12 ein
gewisses Eigengewicht.
Im Rückblick wird man sagen müssen, daß der Erkenntnisgewinn,
den eine rhetorische Analyse der Makrostruktur des Uoh bringt, nicht
überwältigend ausfällt. Manche Etikettierungen und Zuordnungen bleiben
problematisch. Zusammenhängendes wird teils auseinandergerissen. Ob
das prinzipielle Gründe hat oder ob es mehr an einer noch zu mechani-
schen Handhabung der Methode liegt, wage ich im Moment nicht zu
entscheiden. Konvergenzen sehr allgemeiner Art ergeben sich am ehesten
noch im Bereich der klassischen Aufbauelemente exordium, narratio, argu-
mentatio und peroratio', aber führt das sonderlich weit über die Feststellung
hinaus, daß geordnete sprachliche Äußerungen normalerweise eine Einlei-
tung, eine Themenformulierung, eine Durchführung und einen Schluß
aufweisen? Nicht integriert wird im übrigen der den brieflichen Formalien
zugerechnete Eingangs- und Schlußteil (1,1-4; 5,13-21).

b) Zur mikrostrukturellen Analyse


Rhetorik hat es nicht nur mit der Makrostruktur von abgeschlossenen
Texten zu tun, sondern auch mit MikroStrukturen innerhalb dieser Texte.
28
InstOrat VI,1,1 (Übers. H. Rahn).
29
Ebd., VI,l,51: at hie, si usquam, totos eloquentiae aperire fontes licet. Vgl. Lausberg,
Handbuch, 236-240, §431-442.

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214 H.-J. Klauck, Zur rhetorischen Analyse der Johannesbriefe

Diese Einsicht war, wie eingangs angesprochen, nie ganz in Vergessenheit


geraten. Sie führt uns von der inventio und dispositio zur elocutio. Als
Beispiel für neuere Untersuchungen auf diesem Feld eignet sich gut ein
Aufsatz von Duane F. Watson zu Uoh 2,12—1430. Der Text der in sich
geschlossenen kleinen Einheit:
12a Ich schreibe euch, Kindlein:
b Vergeben sind euch die Sünden um seines Namens willen.
13a Ich schreibe euch, Väter:
b Ihr habt erkannt »den von Anfang an«.
c Ich schreibe euch, junge Männer;
d Ihr habt besiegt den Bösen.
14a Ich habe euch geschrieben, Knäblein:
b Ihr habt erkannt den Vater,
c Ich habe euch geschrieben, Väter:
d Ihr habt erkannt »den von Anfang an«,
e Ich habe euch geschrieben, junge Männer:
f Ihr seid stark,
g und das Wort Gottes bleibt in euch,
h und ihr habt besiegt den Bösen.
Zur Diskussion steht als erstes die Identifizierung der angesprochenen
Gruppen: Kindlein/Knäblein, Väter, junge Männer. Der Briefautor be-
nutzt hier die Stilfigur der distributio, die bei Lausberg im langen Abschnitt
über den ornatus, den Redeschmuck, besprochen wird31. Die distributio
benennt ein Ganzes und zählt anschließend seine Teile auf. Für die Ausle-
gung bedeutet dies, daß aller Wahrscheinlichkeit nach Kindlein/Knäblein
inklusiv die Gesamtheit der Glaubenden meint, während mit den Vätern
und den jungen Männern zwei durch Lebensalter und/oder geistliche Reife
unterschiedene Gruppen herausgehoben werden — eine Position, zu der
sich derzeit aus anderen Überlegungen heraus auch die Mehrzahl der
Ausleger bekennt. Die zahlreichen, auf den ersten Blick sichtbaren Wieder-
holungen und die Variationen innerhalb dieser Wiederholungen werden
mit den Begriffen conduplicatio und expolitio erfaßt. Eine Definition der
conduplicatio lautet: est cum ratione amplificationis aut commiseratiohis
eiusdem unius aut plurium verborum iteration, um aufzufüllen oder Mitge-
fühl zu erwecken, werden ein oder mehrere Wörter wiederholt. Im Text

30
D. F. Watson, l John 2.12-14 äs Distributio, Conduplicato, and Expolitio: A
Rhetorical Understanding, JSNT 35, 1989, 97-110. Die Seitenzahlen oben im Text
beziehen sich auf diesen Aufsatz.
31
Lausberg, Handbuch, 340 f., § 675; vgl. auch 338, § 671, und Rhet ad Her IV,35,47;
Quint., InstOrat IX,1,30; IX,2,2.
32
Rhet ad Her IV,28,38; vgl. Lausberg, Handbuch, 311, § 612 (und 314f., § 619-622,
zur reduplicatio).

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H.-J. Klauck, Zur rhetorischen Analyse der Johannesbriefe 215

vergleiche man z. B. V. 13b mit V. 14d, V. 13d mit V. 14h, das dreimalige
γράφω bzw. έγραψα usw. Dennoch wird auch variiert: Aus den τεκνία in
V. 12a werden in V. 14a die παιδία. Die strukturell verwandten Begr n-
dungss tze in V. 12b und V. 14b unterscheiden sich inhaltlich. Am Schlu
finden sich in V. 14fg zwei bersch ssige Zeilen. Das nennt die Rhetorik-
tradition eine expolitio. Sie »ist die Auslegung ... eines Gedankens ...
durch Ab nderung ... der sprachlichen Formulierung ... und der zum
Hauptgedanken ... geh renden Nebengedanken«33.
Watson entdeckt noch eine Reihe von weiteren Stilfiguren. Die Wieder-
holungen von γράφω ΟμΤν und έγραψα ύμΐν bilden eine epanaphora oder
Anapher34. Die verschiedenen Formen von πατήρ, n mlich πατέρες in
V. 13a/14c und πατέρα in V. 14b, mit unterschiedlichen Referenten, ist als
traductio zu bezeichnen35. Eine Synonymie36 wird durch das Nebeneinander
von τεκνία V. 12a und παιδία V. 14a erzielt. Auf eine Paronomasie37 sto en
wir in V. 14e und V. 14h: νεανίσκοι ... νενικήκατε. Die Apostrophierung des
Teufels als »der B se« in V. 13d/14h ist ein Beispiel f r eine Metonymie38,
und die Rede vom Sieg ber das B se impliziert eine Metapher39 aus
dem Bildfeld des Krieges (oder des Sports). Die Stilbeschreibung mittels
rhetorischer Begrifflichkeit erreicht allm hlich eine mikroskopische Ge-
nauigkeit. Grunds tzliche methodische Einw nde sind gegen diese soliden
Untersuchungen nicht zu erheben. Die leichte Gefahr, die zu versp ren ist,
m chte ich in die etwas berspitzte Frage kleiden: Droht der Auslegungsvor-
gang selbst nicht in einer Orgie der Terminologie zu ersticken?
Die Funktion von 2,12 — 14 im Kontext bestimmt Watson als digres-
sio. Damit sind wir wieder bei der Makrostruktur, rhetorisch bei der
inventio und der dispositio. Eine digressio kann als exkursartiger Einschub
nach Lausberg40 in alle Redeteile eingebaut werden. In Uoh 1 — 2 dient
sie in Watsons Sicht als Abschlu einer probatio, einer Beweisf hrung mit
Argument und Gegenargument, die in 1,5 bis 2,11 abgewickelt wurde.
Ihre besondere Aufgabe: »this digressio praises the audience in glowing
terms« (106). Das h rt sich nach einer captatio benevolentiae an, obwohl
Watson diesen Terminus — bewu t? — nicht gebraucht. Leider weitet
Watson seine Beobachtungen nicht auf Uoh insgesamt aus. An dieser

33
A.a.O., 413, § 830; die ganze Behandlung der expolitio erstreckt sich ber die §§
830-842.
34
A.a.O., 318f., §629f.
35
A.a.O., 333, § 658: Sie »umfa t auch die Wiederholung nur scheinbar gleicher
Wortk rper mit durchaus verschiedener Bedeutung«.
36
A.a.O., 329-332, § 649-656.
37
A.a.O., 322-325, § 637-639.
38
A.a.O., 292-295, § 565-571.
39
A.a.O., 285-291, § 558-564.
4
<> A.a.O., 187f., §340-342.

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216 H.-J. Klauck, Zur rhetorischen Analyse der Johannesbriefe

Stelle ergibt sich jedenfalls eine nicht unbeträchtliche Differenz zu Vouga,


der 1,5-2,17 komplett als captatio beurteilt wissen wollte (s.o.). Wir
sehen auch, wie die Untersuchung von Stilfiguren in einer begrenzten
Texteinheit in Überlegungen zum Gesamtaufbau einmünden kann, wie
sich anders gesagt die verschiedenen Ebenen von inventio und elocutio,
MikroStruktur und Makrostruktur, miteinander verschränken lassen.

3. Der zweite und dritte Johannesbrief


Die beiden kleinen Johannesbriefe haben eigentlich immer als Mu-
sterbeispiele für die Adaption des gängigen hellenistischen Briefformulars
durch das Urchristentum gegolten. Neuere Arbeiten zur Theorie und
Praxis der antiken Epistolographie haben diesen Eindruck eher noch
verstärkt und zu manchen Verfeinerungen in der Analyse geführt41. Dabei
wird keineswegs verkannt, welche Freiheiten sich die beiden kleinen Johan-
nesbriefe im Umgang mit dem Briefformular nehmen, wo sie z. B. unver-
kennbar eigene Akzente setzen. Da zu 2/3Joh relativ ausführliche Bearbei-
tungen unter dem Gesichtspunkt der Rhetorik aus der Feder des uns
inzwischen bekannten Autors Duane F. Watson vorliegen42, erscheint es
reizvoll, beide Zugangsweisen miteinander zu konfrontieren.

a) 2/3Joh als Brief


Die folgende Analyse von 2Joh und 3Joh, die von den brieflichen
Merkmalen ausgeht, wurde ohne die Kenntnis der Beiträge Watsons, aber
in ständiger Beschäftigung mit antiken Briefen, antiker Brieftheorie und
der Sekundärliteratur zur Epistolographie erstellt. Einzelnachweise aus
den Quellen und aus der Literatur sind in diesem Rahmen nicht möglich43.

41
Vgl. nur R. W. Funk, The Apostolic Presence: John the Elder, in: ders., Parables
and Presence. Forms of the New Testament Tradition, Philadelphia 1982, 103 — 110
= The Form and Structure of II and III John, JBL 86, 1967, 424-430; J. Lieu,
The Second and Third Epistles of John: History and Background, Studies of the
New Testament and Its World, 1986, 37-51.
42
D. F. Watson, A Rhetorical Analysis of 2 John according to Greco-Roman Conven-
tion, NTS 35, 1989, 104-130; ders., A Rhetorical Analysis of 3 John: A Study in
Epistolary Rhetoric, CBQ 51, 1989, 479-501; Seitenzahlen oben im Text beziehen
sich auf diese beiden, durch unterschiedliche Paginierung leicht voneinander zu
unterscheidenden Aufsätze. Vgl. zum Vorgehen und seiner methodologischen Fundie-
rung auch D. F. Watson, Invention, Arrangement, and Style: Rhetorical Criticism
of Jude and 2 Peter, SBLDS 104, 1988.
43
Summarisch seien einige hilfreiche neuere Arbeiten genannt: W. G. Doty, Letters in
Primitive Christianity, Guides to Biblical Scholarship, New Testament Series, 31979;
C. H. Kim, Form and Structure of the Familiar Greek Letter of Recommendation,
SBLDS 4,1972; H. Koskenniemi, Studien zur Idee und Phraseologie des griechischen

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H.-J. Klauck, Zur rhetorischen Analyse der Johannesbriefe 217

Zur Hauptsache muß der strukturierte Text der beiden Briefe für sich
selbst sprechen (vgl. die folgende Textsynopse auf S. 218 — 220).
Einige Anmerkungen nur zu der schematischen Darstellung: Beide
Briefe setzen mit einem Präskript ein. In 3Joh l weist es nur superscriptio
und adscriptio mit einem kurzen Zusatz auf. In 2Joh l —2 ist dieser Zusatz
bei Absender- und Adressatenangabe weiter ausgestaltet, und es tritt mit
V. 3 eine längere salutatio hinzu. Das Proömium besteht in beiden Fällen
aus einer Freudenäußerung, wie sie im reichen Vergleichsmaterial als
Brieftopos bestens belegt ist. 3Joh 2 bietet darüber hinaus noch einen
gleichfalls stereotypen Wohlergehenswunsch. Das Briefkorpus umfaßt
2Joh 5 — 10 und 3 Joh 5 — 12. Als Überleitung fungiert eine mit Begründun-
gen versehene briefliche Bitte, in 2Joh 5 mit eingeleitet und in
44
3Joh 6 kenntlich an dem klischeehaften $ . Die eigentliche
Information findet sich im 2Joh in V. 7, der vom Auftreten der Irrlehrer
spricht. Dem läßt sich — was den Informationsgehalt angeht, nicht hin-
sichtlich der Wertung — in 3Joh die Nachricht über die durch das seltsame
Verhalten des Diotrephes eingetretenen Kommunikationsstörungen an
die Seite stellen (V. 9-10). Mit 2Joh 8-9 und 3Joh 11 schließen sich
paränetische Momente an. Den je eigenen Akzent, der jedem der beiden
Briefe sein besonderes Charakteristikum verleiht, enthält 2Joh 10 — 11 und
3Joh 12. In 2Joh gibt der Autor die klare Anweisung, Irrlehrer nicht ins
Haus aufzunehmen, sie nicht einmal zu grüßen. In 3Joh empfiehlt er den
Demetrius und legt indirekt nahe, ihm gastfreundliche Aufnahme zu
gewähren. Der Briefschluß beginnt in 2Joh 12 und 3Joh 13 — 14 mit der
sprachlich parallel gehaltenen Ankündigung eines geplanten Besuches —
Dutzendware, wenn man so will, in Privatbriefen. Als Schlußgruß genügt
in 2Joh 13 eine einzige Zeile vom »third-person-type«45 (der Briefautor
gibt Grüße von dritter Seite an die Adressaten weiter). So auch 3Joh
15b, doch geht dort ein Friedenswunsch voraus, und es folgt noch ein
Grußauftrag vom »second-person-type«46 (der Adressat soll Grüße des
Briefautors an Personen in seiner Umgebung ausrichten).

b) 2/3Joh in rhetorischer Analyse


Wie bietet sich der gleiche Textbestand in rhetorischer Analyse dar?
Halten wir eingangs fest, daß Watson die Problematik sehr wohl sieht:

Briefes bis 400 n.Chr., AASF B/102,2, 1956; A. J. Malherbe, Ancient Epistolary
Theorists, SBL.SBibSt 19, 1988; F. Schnider/W. Stenger, Studien zum neutestament-
lichen Briefformular, NTTS 11,1987; S. K. Stowers, Letter Writing in Greco-Roman
Antiquity, Library of Early Christianity 5, 1986; J. L. White, Light from Ancient
Letters, Foundations and Facets, 1986; s. auch die folgende Anmerkung.
44
Vgl. H. A. Steen, Les cliches epistolaires dans les lettres sur papyrus grecques, CM 1,
1938, 119-176: 138-152.
45 T. Y. Muffins, Greeting as a New-Testament-Form, JBL 87, 1968, 418-426: 421 f.
46 A.a.O., 420f.

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218 H.-J. Klauck, Zur rhetorischen Analyse der Johannesbriefe

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H.-J. Klauck, Zur rhetorischen Analyse der Johannesbriefe 219

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220 H.-J. Klauck, Zur rhetorischen Analyse der Johannesbriefe

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H.-J. Klauck, Zur rhetorischen Analyse der Johannesbriefe 221

2/3Joh »conform more closely to ancient epistolary format than any other
NT epistles. In the ancient world rhetorical theory and epistolary theory
were not integrated«; deshalb sein Vorsatz: »Wherever possible in the
analysis I will integrate epistolary and rhetorical theory« (104). Die rheto-
rische Analyse wird im Anschluß an die von George Kennedy47 entwickelte
Methodik durchgeführt. Sie umfaßt folgende fünf Schritte: (1) Abgrenzung
der rhetorischen Einheit; (2) Beschreibung der rhetorischen Situation;
(3) Bestimmung des Redegenus, der Fragestellung und des Status bzw.
der Stasis; (4) Analyse von inventio, dispositio und elocutio; (5) Bewertung
der Rhetorik. Wir konzentrieren uns auf den vierten Punkt, das Herzstück
der Analyse auch bei Watson. Die Abgrenzung der beiden Einheiten,
2Joh und 3Joh, bereitet keine Schwierigkeiten. Die Beschreibung der
rhetorischen Situation arbeitet mit dem Material, das wir auch sonst in
der Exegese verwenden, wenn es um Sitz im Leben, Gemeindesituation,
Abfassungsverhältnisse und Abfassungszweck eines Briefes geht. Im Rück-
griff auf die Brieftheorie wird 2Joh von Watson als paränetischer Brief
mit Zügen anderer Brieftypen klassifiziert, 3Joh als Mischform aus
Freundschaftsbrief, Bittbrief, paränetischem Brief, Empfehlungsbrief,
preisendem Brief und tadelndem Brief. 2Joh gehört zum deliberativen,
3Joh zum epideiktischen Redegenus. Beim Status geht es um die Haupt-
frage, die einem Fall zugrundeliegt und von der bei seiner Behandlung
folglich auszugehen ist48. Für 2Joh und 3Joh kommt nur der status
qualitatis in Frage49; zur Debatte steht im einen Fall die Qualität der
Christologie, im anderen Fall die Qualität der Gastfreundschaft. Damit
zum Kernbestand der Analyse, überschrieben mit »Invention, Arran-
gement, and Style« (110 — 129 bzw. 485 — 500). Die Ergebnisse vorweg in
vergleichender Übersicht:
2Joh 3Joh
(1) exordium: V. 4 (V. l -3) V. 2-4 (V. 1)
(2) narratio: V. 5 V. 5-6
(3) probatio: V. 6 -11 V. 7 -12
(4) peroratio: V. 12 (V. 13) V. 13-14 (V. 15)
(1) Im 2Joh übernimmt V. 4 die Aufgabe eines Exordiums. Das
Hauptthema wird angegeben: Gehorsam gegenüber der Wahrheit. Mit
dem Gebot wird in V. 4d ein wichtiges Stichwort für das Folgende bereitge-
stellt. Der Genitiv ist nach Watson mit der Minderheits-

47
G. Kennedy, New Testament Interpretation Through Rhetorical Criticism, Chapel
Hill 1984; weitere einflußreiche Arbeiten dieses Autors bei Watson, New Testament
(s. Anm. 1) 466 .469, und bei Klauck, Rhetorik (s. Anm. 8) 455 Anm. 3 und 457
Anm. 1.
48
Vgl. Lausberg, Handbuch, 64, § 79.
49
A.a.O., 81 f., § 123-130.
16*

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222 H.-J. Klauck, Zur rhetorischen Analyse der Johannesbriefe

fraktion unter den Kommentatoren, der ich mich selbst aber zurechnen
möchte, so zu verstehen, daß nur ein Teil der Kinder der auserwählten
Herrin noch in der Wahrheit wandelt, andere aber nicht mehr. In einem
Exordium überraschen solche negativen Untertöne nicht. Im ganzen erfüllt
V. 4 die traditionelle Aufgabe eines Exordiums, »den Hörer wohlwollend,
gespannt und aufnahmebereit zu machen«50. Das Wohlwollen erreicht
der Autor vor allem durch die Betonung seiner Freude in V. 4a. Eine
Annäherung an die Brieftheorie nimmt Watson dadurch vor, daß er auf die
schon länger festgestellte Nähe von V. 4 zu einer brieflichen Danksagung
zurückgreift ( ist funktional äquivalent mit ). Außer-
dem versucht er in einem weiteren Schritt, auch das Präskript V. l — 3 in
seiner Funktion als exordium zu bestimmen, ohne es direkt als Bestandteil
des Exordiums zu bezeichnen. Dem Präskript exordiale Aufgaben zuzuwei-
sen fällt nicht sonderlich schwer, weil dort mit den Begriffen Wahrheit
und Liebe, die sich hindurchziehen, die theologische Substruktur des
Folgenden schon angesprochen wird und ein metaphorisches Sprachspiel
die freundschaftliche Relation des Presbyters zu der auserwählten Herrin
und ihren Kindern, das heißt zu der Gemeinde, bereits etabliert. Was 3Joh
angeht, ist zu begrüßen, daß Watson gegen zahlreiche Ausleger V. 2 —4
zusammenfaßt und von V. l abhebt. Der Wohlergehenswunsch gehört in
3Joh nicht mehr zum Präskript — dagegen spricht u.a. die Anrede
»Geliebter« in V. 2a —, sondern mit der Freudenäußerung zusammen
zum Briefproömium, bei Watson zum exordium. Daß die Verse 2 —4 in
3Joh Topoi des Briefkorpus vorwegnehmen und zugleich eine captatio vor
der Person des Gaius darstellen, ist ohne weiteres einsichtig. Aber das hat
auch die Brieftheorie immer schon vom Briefproömium gesagt. Auch
zu 3Joh unterbreitet Watson den Vorschlag, das offenkundig doch eher
störende Präskript V. l als ein exordium aufzufassen. An Stilfiguren ent-
deckt er im doppelten exordium von 2Joh und 3Joh u. a. wieder (s. o. zu
Uoh 2,12—14) traductio, conduplicatio und expolitio, daneben Metapher
und Paronomasie.
(2) Die narratio, die in deliberativer und epideiktischer Rhetorik im
übrigen nicht unbedingt erforderlich wäre, umfaßt in 2Joh nur V. 5, in
3Joh V. 5 - 6 (m. E. müssen im 2Joh V. 5 — 6 zusammengenommen werden,
aber Watson wendet sich ausdrücklich gegen diese Einteilung, s. 120
Anm. 6; in 3Joh haben wir oben V. 5 —8 als Einheit ausgegrenzt). Es
verwundert schon etwas, die briefliche Bitte als narratio wiederzufinden.
Restlos überzeugend wirken die Begründungen für die Eruierung der
narratio bei Watson denn auch nicht. In 2Joh 5 werde, so Watson, präzise,
kurz, klar und plausibel — alles Forderungen, die an eine narratio zu
stellen sind — der Kasus des Schreibens genannt: Wir sollen einander

50
Quint., InstOrat IV,l,5: si benevolum, attentum, docilemfecerimus.

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H.-J. Klauck, Zur rhetorischen Analyse der Johannesbriefe 223

lieben. 3Joh 5 — 6 beschreibe die loyale Gastfreundschaft, die Gaius ge-


währt hat und die er weiter gewähren soll, und erfasse damit den Kern-
punkt des ganzen Briefes. Vom Briefschema her bestimmt Watson 2Joh
4 — 5 und 3Joh 2 — 6 als »body-opening«, Korpuseröffnung. Die Integra-
tion von rhetorischer und epistolarer Analyse besteht in der These, daß
sich das mit »body-opening« zu bezeichnende Briefstück als eine Kombi-
nation von exordium und narratio enthüllt. Die narratio setzt Watson
schließlich noch gleich mit der propositio einer an sich möglichen, in
2/3Joh aber fehlenden partitio, deren Punkte es in der probatio zu ent-
wickeln gilt.
(3) Die probatio oder argumentatio fällt mit 2Joh 6 — 11 und 3Joh
7 — 12 beide Male recht lang aus, entspricht aber in etwa (mit Ausnahme
der Eingangsverse) unserem Briefkorpus und wird auch von Watson direkt
mit dem Hauptbestand des Briefkorpus (»body-middle«) verglichen. Im
einzelnen werden eine Fülle von weiteren Detailbeobachtungen beige-
bracht, aus denen ich nur weniges heraushebe: 2Joh 6 enthält eine doppelte
definitio51, die erneut mittels der beliebten Figur der expolitio (s. o.) durch
Wiederholung zur amplification der immer weiter und tiefer ausgreifenden
Erläuterung des Wesens der Liebe beiträgt. Einer definitio, verbunden mit
Metonymie und verdeckter Antithetik, begegnen wir gleich in 2Joh 7
wieder. In 2Joh 8 stoßen wir auf die schon hinreichend problematisierte
exhortatio, diesmal in Form eines Enthymems (eines unvollständigen Syl-
logismus). Ganz kompliziert wird es in 2Joh 9. Der Vers vereinigt in
sich — ich zitiere nur — die Stilfiguren »irony ... antithesis, parisosis,
and paromoeosis« (125), »epiphora ... conduplicato ... regressio ... syn-
onymy ... amplification by augmentation« (126). Ähnliches läßt sich für
3Joh vermelden. 3Joh 7 — 8 belegt die Notwendigkeit der Gastfreundschaft
durch ein Enthymem. 3Joh 9 — 10 trägt dazu ein negatives Exempel nach.
Als stilistisch besonders interessant erweist sich die exhortatio in V. 11,
wo es zu einer Anhäufung von Stilfiguren wie in 2Joh 9 kommt. In V. 12b
tritt wie vorher schon in V. 8c die Wahrheit personifiziert als handelnde
Größe auf, rhetorisch eine prosopopoiia oder personiflcatio5*.
(4) Werfen wir, ehe wir zu einer knappen Auswertung übergehen,
noch rasch einen Blick auf die peroratio. In 2Joh wäre das V. 12, in
3Joh V. 13 —14. Watson rechnet diese Verse noch als »body-closing« zum
Briefkorpus. Er stellt selbst fest, daß eine echte peroratio mit diesem
konventionellen Besuchswunsch nicht gegeben ist. Es kommt nicht zu
einer Zusammenfassung und emotionalen Steigerung wesentlicher Briefin-
halte. Als zusätzliche peroratio möchte Watson aber auch das »postscript«

51
Lausberg, Handbuch, 385, § 782.
52
A.a.O., 220-227, § 400-409.
53
A.a.O., 411-413, §826-829.

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224 H.-J. Klauck, Zur rhetorischen Analyse der Johannesbriefe

in 2Joh 13 und 3Job 15 veranschlagen. Wer im Kontrast dazu eine


beeindruckende echte peroratio lesen möchte, sollte doch zu 4Makk greifen
(vgl. 4Makk 17,7 — 18,24, zumindest in der Anfangspartie 17,7 — 16 ein
echter Lesegenuß).
Die sehr materialreichen Ausführungen Watsons mußten hier auf ihr
bloßes Skelett reduziert wiedergegeben werden. Die Lektüre seiner Auf-
sätze kann und soll das gewiß nicht ersetzen, sie lohnt sich ganz ohne
Frage. Die stilistische Untersuchung wird von Watson mit minutiöser
Akribie auf ein festes Fundament gestellt. Besonders in der Einzelbespre-
chung der probatio stecken auch eine Reihe von wertvollen exegetischen
Detailbeobachtungen, die für die Auslegung der beiden kleinen Johannes-
briefe einen Gewinn bedeuten. Allerdings wird die lange probatio intern gar
nicht oder nur unzureichend weiter untergliedert. Vorhandene syntaktische
Signale wie der Imperativ in 2Joh 8, wie in 3Joh 9 oder
der Vokativ »Geliebter« in 3Joh 11 werden überspielt bzw. zu wenig
berücksichtigt. Vermutlich ließe sich hier noch manches nachbessern, aber
ein sehr viel anderes Bild als bei der an den brieflichen Merkmalen
orientierten, oben vorgestellten detaillierten Gliederung dürfte dabei kaum
herauskommen. Die Briefform erweist sich überhaupt als einigermaßen
widerständig und spröde, vor allem am Beginn (Präskript) und am Schluß
(Besuchswunsch, Grüße), aber nicht nur dort. Zu einem rundum befriedi-
genden Resultat ist der mutige Versuch einer Integration von Brieftheorie
und rhetorischer Analyse noch nicht gelangt. Am gezwungensten erscheint
die Identifizierung der narratio. Hier verspürt man am stärksten den
negativen Effekt eines Vorgehens, das — ich übertreibe etwas — in
den rhetorischen Handbüchern nachschlägt, dort zusammensucht, was
einigermaßen zu passen scheint, und den Einzeltext dann in die vorgegebe-
nen Schemata preßt. Den Ausgleich zu finden zwischen den typisierten
Gattungsmustern und dem individuellen Einzeltext ist eine ständige Auf-
gabe der literarischen Kritik. Sie stellt sich auch, wenn wir von der
Briefgattung ausgehen. In den vorhandenen Beiträgen zu einer rhetori-
schen Analyse der Johannesbriefe wird diese Aufgabe bisher meinem
Eindruck nach schwerlich befriedigender gelöst, als es bei anderen Zu-
gangswegen der Fall ist.

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