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Ein gnädiges Jahr des Herrn - und Tage der Vergeltung

von Heinrich Baarlink


(Wilhelm Raabe-Str. 52 , 4460 Nordhorn)

Im Jahre 1921 vertrat Karl Bornhäuser - so weit ich weiß, erst-


malig — die These, Jesus habe in seiner Schriftlesung in Nazareth (Lk
4 18-19) absichtlich die folgenden Worte aus Jes 61 2 ausgelassen: »und
einen Tag der Vergeltung unseres Gottes«. Diese für jüdische Ohren will-
kürliche und unerhörte Weglassung habe dann auch sofort Befremden
und Ärgernis ausgelöst: »Er redet von Gnade und nur von Gnade, kein
Wort von Gericht, kein Wort vom Tage der Rache. Da zeugen sie alle
wider ihn«1. Bekanntlich hat Joachim Jeremias diese These in
verschiedenen Publikationen übernommen und weiter begründet2. Der
Zitatschluß »zu verkündigen das Gnadenjahr des Herrn« bedeutete eine
bewußte Auslassung der angekündigten Gottesrache und betonte damit
den radikalen Gnadencharakter im Auftreten und in der Predigt Jesu;
c. dat. kann nachweislich als dat. incommodi gedeutet und
übersetzt werden mit: gegen jemand zeugen, d. h. Anklage gegen ihn er-
heben3; sind wie in Act 20 3.24.32 als »Worte von der
Gnade (Gottes)« und nicht als »Worte voll Anmut« oder »holdselige
Worte« zu verstehen4. Zusammenfassend: »Lk 4 22 enthält keinen Bruch
in der Haltung der Hörer Jesu. Vielmehr ist von Anfang an einhellige
Entrüstung ihre Antwort auf Jesu Predigt. Am Evangelium entsteht ihr
Ärgernis . . .«5. Jeremias weist dann auf eine Parallelstelle hin, wo sich
Ähnliches ereignet, nämlich in 7 22 f. par. Mt 11 5 f. Jesu Antwort auf die
Zweifelsfrage des Johannes besteht, so wie wir sie in Lk finden, aus einem
Mischzitat, in dem Teile von Jes 35 5f., 29 I8f. und 611 zusammengefügt
werden zur Umschreibung dessen, was Evangelium ist: »Blinde sehen,

1
K. Bornhäuser, Das Wirken des Christus durch Taten und Worte, Gütersloh (1921)
2
1924, 59.
2
J. Jeremias, Jesu Verheißung für die Völker, Stuttgart 1956, 35-39; derselbe, Neu-
testamentliche Theologie I, Gütersloh 1971, 199f.
3
Jeremias übernimmt die diesbezügliche Beweisführung von B. Violet, Zum rechten Ver-
ständnis der Nazarethperikope, ZNW 37, 1938, 251-271.
4
Verheißung 38. Als Beweis für die gegenteilige Behauptung lese man O. Holtzmann,
Das Neue Testament, Erster Teil I, Gießen 1926, zu Lk 4 22: »Nun ist es aber auch nicht
der Inhalt, sondern der anmutige >Zauberfluß seiner Rede<, was alle ihm bezeugen und
bewundern.«
5
Verheißung 39.

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Lahme gehen, Aussätzige werden rein, Taube hören, Tote stehen auf,
Armen wird das Evangelium gepredigt«. Jeremias weist darauf hin, daß
im direkten Kontext der genannten Jesaja-Stellen, nämlich in 35 4, 29 20
und 61 2 vom eschatologischen Rachetag Gottes die Rede ist. Darauf be-
zieht sich dann auch die anschließende Mahnung Jesu: »und selig ist, der
nicht Ärgernis nimmt an mir«. In dieser Auslassung jeglicher Hinweise
auf die mit der Messiaszeit erwartete Vergeltung Gottes (vgl. die Predigt
des Johannes nach 3 9) als Kehrseite des radikalen Gnadencharakters
seiner Predigt lag gerade der Kern des Ärgernisses, das das Verhältnis
vieler jüdischer Zeitgenossen zu Jesus beherrschte.
Die Auslegung von Bornhäuser und Jeremias hat m. E. nicht überall
die Beachtung gefunden, die sie verdient. In vielen Studien blieb sie unbe-
achtet; dort aber, wo Autoren sich mit ihr auseinandersetzen, ist das Echo
sehr unterschiedlich und reicht von Übernahme bis zu schroffer Ableh-
nung, wie der folgende Überblick zeigt.

1. Keine Erwähnung und Beachtung


H. Conzelmann läßt in seiner Studie über die Theologie des Lukas
die Frage unbeachtet, obwohl er die Nazarethperikope ausführlich behan-
delt6. In seinem Aufsatz zu im Theologischen Wörterbuch7 lesen
wir zwar, der Ausdruck in 4 22 müsse wie in den Acta-
Stellen als »Worte der Gnade« aufgefaßt werden; trotzdem spricht er auf
derselben Seite von einem bewußten Schillern zwischen Anmut und
Gnade8. M. Dömer geht in seiner Monographie über die Theologie des
lukanischen Doppelwerkes9 auf das Problem gar nicht ein, obwohl er mit
Bezug auf Lk 418 f. andere Fragen der Auslassung bzw. des Einschubes
ausführlich behandelt10 und die genannten Veröffentlichungen von
Jeremias in anderem Zusammenhang wohl nennt. Gänzlich unerwähnt
bleibt die Frage auch bei J. Drury11, obwohl er sich ausdrücklich mit der
Frage nach dem Verhältnis von Tradition und lukanischer Struktur be-
schäftigt und Lk 4 17-20.25-27 als lukanische Hinzufügung zur markini-
schen Vorlage nennt. G. Schneider12 und W. Schmithals13 erwähnen in
6
H. Conzelmann, Die Mitte der Zeit, Tübingen 51964, 25-31.
7
Derselbe, ThWNT DC, 382, s.v. .
8
A.a.O., Anm. 153.
9
M. Dömer, Das Heil Gottes. Studien zur Theologie des lukanischen Doppelwerkes,
Köln-Bonn 1978.
10
A.a.O., 54-56.
11
J. Drury, Tradition and Design in Luke's Gospel. A Study in Early Christian Historio-
graphy, London 1976, 60.
12
G. Schneider, Das Evangelium nach Lukas, ÖTK 3/1, Gütersloh-Würzburg 1977.
13
W. Schmithals, Das Evangelium nach Lukas, ZBK.NT., Zürich 1980.

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ihren Erklärungen zu 4 18 f. die Frage eines eventuellen bewußten Aus-


lassens von Jes 61 2b nicht. Der Ausdruck wird durch
Schneider ohne weitere Folgerungen conform den Acta-Stellen als Wort
der Gnade verstanden; Schmithals hält eine Deutung im Sinne von
gnadenvoll, geistvoll, glanzvoll oder lieblich für naheliegend und hält die
Reaktion der Nazarener eher für anerkennend als kritisch oder gar
gehässig.

2. Übernahme

Hier seien allererst die Kommentare von F. Hauck14 und W. Grund-


mann15 genannt. Ohne Erwähnung der Studie Bornhäusers notiert Hauck
zu 4 19: »Jesu Predigt ist nicht Gerichtspredigt (bei Jes 61 2 a bricht der
Text ab) sondern Verkündigung vom Anbruch der Heilszeit«. Grund-
mann schließt sich in vollem Umfang der Argumentation Bornhäusers,
Violets und Jeremias' an. »Der Messias ist der Bringer des Heils und nicht
des Gerichts«. Die Reaktion der Nazarener ist dann auch sogleich Un-
glaube. »Die Hörer treten in ihrer Gesamtheit auf Grund des Gehörten
gegen Jesus als Zeugen auf und verwundern sich darüber, wie dieser ( . . . )
zu Worten der Gnadenkraft kommt«. Auch I. H. Marshall übernimmt
diese Auslegung16. Unter Hinweis auf die Nennung der Heiden im wei-
teren Verlauf des Abschnittes sowie auf die Aussage von 7 22 f. stellt er
fest, daß die These von Bornhäuser und Jeremias »well founded« ist. In
der Wertung der Reaktion der Hörer schwankt er ein wenig zwischen den
verschiedenen Deutungsmöglichkeiten, kann sich aber nicht anfreunden
mit der »awkward transition« einer anfänglich positiven Resonanz zu der
im nächsten Vers ans Licht tretenden Ablehnung. E. E. Ellis17, der diesen
Abschnitt aus Lk 4 nur im Vorübergehen behandelt, teilt ebenfalls diese
Meinung, Lukas habe den Satzteil über den Tag der Rache absichtlich
ausgelassen, weist auch auf den von Jeremias herangezogenen Text von
Lk 7 22 f. hin und spricht zusammenfassend von einer »Zweistufenescha-
tologie«. Wörtlich: »Die Wirksamkeit des Geistes in und durch Jesus ver-
leiht eschatologischen Segen, aber das Gericht und die Vollendung des
Reiches Gottes sind aufgeschoben«18. R. C. Tannehill19 verwirft zwar die

14
F. Hauck, Das Evangelium nach Lukas, ThHK 3, Leipzig 1934.
15
W. Grundmann, Das Evangelium nach Lukas, ThHK 3, Berlin 31974.
16
I. H. Marshall, The Gospel of Luke, Exeter 1978.
17
E. E. Ellis, Die Funktion der Eschatologie im Lukasevangelium, in: Das Lukas-Evange-
lium, W.d.F. CCLXXX, Darmstadt 1974, 378-397.
18
A.a.O., 390 und dort Anm. 31.
19
R. C. Tannehill, The Mission of Jesus Ace. to Luke IV 16-20. In: E. Gräßer u.a., Jesus
in Nazareth, BZNW 40, Berlin 1972, 51-75.

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These ber die sofortige negative Reaktion der Nazarener, kommt jedoch
weiter zu dem Ergebnis, da Lukas »avoids the reference to the >day of
recompense< which follows, which . .. would disturb the emphasis which
Luke wished to make. For Luke the ministry of Jesus means the coming of
the time of salvation«20.

3. Ablehnung

H. Render21 h lt die These von Bornh user und Jeremias f r »sehr


konstruiert« und deutet die Reaktion der H rer mit Zahn als »wohlge-
f lliges Staunen bei den H rern(, das) weniger auf den Inhalt als auf die
Anmut des Vertrages bezogen (ist)«. Da jedoch λόγος της χάριτος sonst
bei Lukas eindeutig Gnadenbotschaft bedeutet, nimmt Render eine
Mehrdeutigkeit der Aussage22 an: »Man kann es (n mlich: das Wort
Gottes) als ein blo menschliches Wort h ren, und man kann es als Gottes
Gnadenwort annehmen. W hrend die Nazarener nur die anmutige Rede
vernehmen, ist der Leser des Evangeliums aufgefordert, Gottes Gnaden-
botschaft >in die Ohren hinein< (v. 21 b) zu h ren und f r sich gelten zu
lassen«23. Eine ungleich schroffere Ablehnung findet sich bei H. Sch r-
mann in seinem gro angelegten Lukaskommentar24 zur Stelle. Lediglich
in einer Anmerkung zu 4 22 stellt er fest, man d rfe dieser Auslegung nicht
folgen, »wenn der Text interpretiert und wenn nicht phantasievoll hinter
den Text historisiert werden soll«. Sch rmanns bersetzung von v. 22
lautet denn auch: »Und alle gaben ihm Beifall und staunten ber die
Worte der Gnade . . .«
Wir stehen am Ende vor der Frage, ob die Art, wie die These von
Bornh user und Jeremias bei der Auslegung von Lk 4 18-19 bisher in die
Erw gungen aufgenommen ist, uns viel weiterf hrt. Wenn wir einmal ab-
sehen von all denen, die sie keiner Erw hnung w rdigen, m ssen wir
leider feststellen, da zumal Render und Sch rmann, die diese These als
»sehr konstruiert« oder »phantasievoll historisierend« ablehnen, uns ber
ihre Argumente im unklaren lassen. Es w re demnach nicht v llig sinn-
los, das F r und Wider auf Grund der bekannten Argumente noch einmal

20
A.a.O., 71.
21
H. Flender, Heil und Geschichte in der Theologie des Lukas, M nchen 1968.
22
Eine Mehrdeutigkeit des Ausdrucks nehmen auch an: E. Bertram, ThWNT III, 385, s. v.
θαύμα; R. Kittel, ThWNT IV, 107, Anm. 147, s.v. λέγω. Anders dagegen K. H. Rengs-
torf, ThWNT VII, 239, Anm. 287, s.v. σημεΐον und F. Hauck/S. Schulz, ThWNT VI,
579, s.v. εκπορεύομαι.
23
A.a.O., 138.
24
H. Sch rmann, Das Lukasevangelium I, HThk III/1 Freiburg 1969.
14 Zeitschr. f. d. neutest. Wiss., 73. Band 1982

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sorgf ltig gegeneinander abzuw gen. Dabei k nnte herauskommen, da


bestimmte Begr ndungen sich durchaus als tragf hig erweisen. Nun
meine ich aber, da wir heute in der Lage sind, den von Bornh user und
Jeremias angef hrten Gr nden zwei weitere Argumente hinzuzuf gen,
wodurch die Annahme einer bewu ten Auslassung der Ank ndigung des
Tages der Vergeltung Gottes in Lk 4 19 auf eine erheblich breitere Basis
gestellt werden kann25. Das soll in diesem Aufsatz geschehen.

1. Argumente aus der theologischen Struktur des Lukasevangeliums

1.0. Im Laufe der letzten Jahre ist Jeremias wiederholt der Vorwurf
gemacht worden, er mache sich durch seine Bem hungen um die ipsissima
verba Jesu einer bedenklichen Historisierung des synoptischen Zeugnisses
schuldig26. Und in der Tat konzentriert Jeremias sich mit ganz beson-
derem theologischen Interesse auf die Erforschung dessen, was historisch
sicher als authentische Aussage Jesu gelten darf. Bekannt geworden ist
sein programmatischer Satz: »Wir m ssen den Weg zum historischen
Jesus und zu seiner Botschaft gehen, ganz gleich, wohin er uns f hrt«27.
Man mu mit J. Roioff fragen, »ob er mit der berbetonung der histori-
schen Rekonstruktion dem Gefalle des neutestamentlichen Zeugnisses
gerecht wird«28. Auch im vorliegenden Falle l t Jeremias sich durch
diese Frage leiten, ohne zugleich die andere Frage nach dem Anliegen und
redaktionellen Anteil des Verfassers Lukas zumindest auch zu stellen. Ich
meine, da wir nach den Erfahrungen mit der redaktionsgeschichtlichen
Fragestellung und Forschung nicht mehr so direkt und ausschlie lich nach
den ipsissima verba Jesu fragen k nnen. Das k nnen wir auch dann nicht,
wenn wir von einer sehr behutsamen und verantwortungsvollen, in gewis-

25
Wir k nnen dabei die Frage au er Betracht lassen, ob in Lk 4 22 die Verben μαρτυρεϊν
und θαυμάζειν im Sinne sofortiger Ablehnung zu verstehen sind. Auch wenn es an-
f nglich das Staunen bewundernder Zuh rer ist, kann es sich doch sehr wohl auf den
Inhalt der Predigt (so m. E. die einzig m gliche bersetzung des typisch lukanischen
λόγοι της χάριτος) und somit auf die Hervorhebung des ένιαυτός κυρίου δεκτός und die
Auslassung des ήμερα άνταποδώσεως beziehen.
26
Vgl. E. K semann, Exegetische Versuche und Besinnungen II, G ttingen 1964, 15.
32-41.
27
J. Jeremias, Der gegenw rtige Stand der Debatte um das Problem des historischen Jesus,
in: H. Ristow—K. Matthiae, Der historische Jesus und der kerygmatische Christus,
Berlin 31962, 12-25; Zitat auf S. 20. Derselbe, Jesus und seine Botschaft, Stuttgart
1976, 13. Jeremias verkennt nicht die Bedeutung der Kompositionstechnik und der Un-
terscheidung zwischen Tradition und Redaktion. Aber diese Erkenntnis dient ihm vor
allem als »ein Hilfsmittel, die berlieferung in das vorliterarische Stadium zur ckzu-
verfolgen« (14).
28
J. Roioff, Neues Testament, Neukirchen-Vluyn 1977, 273.

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sem Sinne sogar konservativen Art der Zeugen ausgehen, die anvertraute
Botschaft weiterzugeben. Denn immerhin ging sie durch ihre H nde;
immerhin hatten sie die Aufgabe, diese Botschaft in eine neue Zeit und in
einen neuen Kulturraum hineinzutragen; immerhin haben sie schlie lich
auch ihre eigenen Fragen, Anliegen und Gemeindeverh ltnisse mit einge-
bracht. Den Faktor »Tradent« oder »Evangelist« oder wie wir ihn auch
nennen wollen, kann man nicht au er Betracht lassen, ohne die M glich-
keiten der Interpretation unn tig einzuschr nken.
1.1. Ich bestreite keineswegs die M glichkeit, da Jesus die in Lk
4 18 f. genannten S tze so in Nazareth vorgetragen haben kann, obwohl es
wegen der Worte »den Blinden, da sie sehend werden« aus der Version
von Jes 611 LXX (gegen den MT) und wegen des Zusatzes »den Zer-
schlagenen, da sie frei werden sollen« aus Jes 58 6 doch nicht sehr wahr-
scheinlich ist und dann im stringenten Sinne des Wortes keine Lesung aus
Jes 61 mehr genannt werden k nnte. Hier ist der Anteil des Tradenten
bzw. des Redaktors doch wohl nicht auszuschalten. Deshalb darf auch
die Frage nach der Intention des Lukas mit Bezug auf die L nge und also
den Schlu des Zitates gestellt werden. Das kann in zweierlei Weise ge-
schehen. Wir k nnen einmal fragen, warum der Anfang von Jes 61 2 noch
in das zitierte Wort der Schriftlesung hineingenommen ist. Nehmen wir
unseren Ausgangspunkt bei einer Stelle, die wegen der M glichkeit des
synoptischen Vergleichs eine eindeutige Auswertung erlaubt, nl. 3 4-6. In
Mk l 3 stand ein Zitat aus Jes 403. Lukas bernimmt dieses Propheten-
wort nicht nur, sondern er verl ngert das Zitat um die Verse 4 und 5 und
beschlie t es mit dem f r sein Evangelium bezeichnenden Satz: και όψε-
ται πάσα σαρξ το σωτήριον του θεού, vgl. 2 3029. In gleicher Weise darf
die Frage gestellt werden, warum Lukas die Worte von dem Gnadenjahr
des Herrn mit aufgenommen hat. Schlie lich strukturiert und gestaltet
Lukas sein Evangelium so, da der Gnadencharakter der Zeit des Auf-
tretens Jesu f r und unter Israel in jeder Hinsicht zum Ausdruck kommt.
Wir k nnen jedoch auch umgekehrt fragen: warum Lukas das Zitat nicht
bis zu dem darauf folgenden Satz ber das Urteil Gottes ausdehnt. Die
Antwort mu lauten: weil er hier noch nicht ber das Gericht Gottes
sprechen will.
1.2. Die Struktur des lukanischen Doppelwerkes wird bestimmt
durch ein konsequent durchgef hrtes Nacheinander von Heil und Ge-
richt. Die oben zitierte Bezeichnung als »Zweistufeneschatologie« trifft
den Sachverhalt gut30. Damit h ngt auch zusammen, da das Evangelium
und auch der Anfang der Apostelgeschichte ausgesprochen tempel-
29
hnliches k nnen wir auch feststellen in Mt 12 21, wo der Evangelist ein l ngeres Zitat
aus Jes 42 beschlie t mit dem Satz: mi τφ ονόματι αυτού Ιθνη έλπιοΰσιν, der in deut-
lichem Bezug steht zu der universalen Blickrichtung dieses Evangelisten.
30
Siehe Anm. 18.
14*
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zentrisch, jerusalemzentrisch oder auch judäazentrisch redigiert ist. Das


Evangelium fängt an und hört auf im Tempel zu Jerusalem. Der erste
Lobgesang von Menschen über die Geburt Jesu wird im Tempel gesun-
gen, 229-32. Mit zwölf Jahren erfolgt die erste Jerusalemreise, 241-52;
die Versuchung endet (und hört dann auch vorerst auf!) im Tempel,
49-13. Die Predigttätigkeit Jesu ist zwar weithin durch topographische
Angaben in Galiläa lokalisiert; in einer summarischen Notiz wird jedoch
die Angabe des Markus »in ganz Galiläa« (Mk l 39) umgeändert: »und er
predigte in den Synagogen Judäas«, 444. Alle Berichte des Markus über
eine Überschreitung der Grenzen des jüdischen Stammlandes werden ge-
strichen; das Petrusbekenntnis findet nicht in Cäsarea-Philippi statt, son-
dern ist geographisch mit dem Ort der Speisung verbunden, 9 18, ver-
glichen mit den Versen 10-17. Und die Perikopen von Mk 7 24-8 26, die
in erheblichem Umfang außerhalb des Landes spielen, werden nicht über-
nommen. Bei verschiedenen Heilungen wird Wert gelegt auf die Fest-
stellung, daß auch sie Kinder Abrahams sind, 13 16 und 199. Auch bei
dem armen Lazarus und den Verwandten des reichen Mannes wird selbst-
verständlich ausgegangen von dieser Abrahamskindschaft, 16 19-31. Bei
dem Hauptmann von Kapernaum (7 1-10) läßt sich zwar nicht leugnen,
daß er ein Ausländer ist; aber alles wird doch eingebettet in ein israeliti-
sches Milieu: es kommen jüdische Älteste zu Jesus; und ihr Argument für
die Bitte um Hilfe ist, daß der Hauptmann es wert ist, da er ihnen die Syn-
agoge gebaut und sich somit als Gottesfürchtiger erwiesen hat. Lukas läßt
dann auch die Warnung von Mt 8 11 f. weg, sie, die Juden, würden als Kin-
der des Reiches ausgestoßen werden zugunsten anderer Menschen aus
allen Himmelsrichtungen. So ist auch das Urteil von 7 9 weniger schroff
formuliert als in der Parallele von Mt 8 1031. Daß Lukas jeden Konflikt mit
dem Judentum möglichst verschweigt, zeigt sich darin, daß er auch den
Abschnitt von Mk 7 1-23 ausläßt32.
1.3. Wie sehr Jerusalem im positiven Sinne einen zentralen Platz in
seinem Evangelium einnimmt, zeigt sich auch darin, daß Jesu letzte Reise
dorthin schon in 9 5l angesagt wird, und zwar nicht nur, weil es die Stadt
seines Todes sein wird (13 33f.); zwar kündigen sich in Form von häufigen
Gerichtsandrohungen (1013-15 1129-32.37-54 13s.28f.) die kommende
Wende und das kommende Gericht an; trotzdem aber ist auch dieser Weg
nach Jerusalem bestimmt durch den Erweis göttlicher Barmherzigkeit und
intensiver Bemühung um Israel. Und wenn Jesus dann in Jerusalem ein-

31
So auch W. Schmithals in seinem Kommentar zu Lk 7 9. S. Schulz, Q — Die Spruchquelle
der Evangelien, Zürich 1972, 278, Anm. 410 zählt eine ganze Reihe von Lukanismen in
dieser Perikope auf.
32
Vgl. J. Drury, a.a.O. (siehe Anm. 11) 98: ».. . Luke is the least Gentile gospel of all
synoptics and . . . this is because as an historian he insists that the Gentile mission was the
great business of the Church in his second volume . . .«

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zieht, wiegen die positiven Notizen durchaus auf gegen all das, was auf
seinen kommenden Opfergang hinweist. Beim Einzug findet Jesus einen
gl ubigen Respons in breiten Schichten des Volkes. Da diese Menge der
J nger anf ngt, fr hlich Gott zu loben mit lauter Stimme ber alle Taten,
die sie gesehen hatten (19 37), ist lukanische Hinzuf gung zur Markusvor-
lage. Dasselbe gilt von der Doxologie von v. 38b: »Friede sei im Himmel
und Ehre in der H he!« Hier findet das Lied der Engel von 2 14 in Jerusa-
lem ein gl ubiges Echo. Und das in allen synoptischen Evangelien zu fin-
dende Hosianna wird nur bei Lukas erg nzt durch den K nigstitel, v. 38a.
1.4. Auffallend ist weiter, da Lukas die Verfluchung des Feigen-
baumes als Symbol des Gerichtes ausgelassen hat; dem steht gegen ber,
da er in 13 6-9 ein Gleichnis aufgenommen hat, das ebenfalls ber einen
Feigenbaum handelt, der keine Frucht bringt; aber im Gegensatz zu Mk
14 12-14.20-22 geht es hier gerade um den Aufschub des Gerichts: »Herr,
la ihn noch ein Jahr!«, Lk 13 8. Da diese Frist terminiert ist, steht au er
Frage. Und mit dem Gang nach Jerusalem geht Jesus und mit ihm das
Volk auch dem Ende dieses Gnadenjahres entgegen. In 19 4l f. — also
gleich im Anschlu an den eindrucksvollen Einzug — steht die Klage Jesu:
»Wenn doch auch du erkenntest an diesem Tage, was zu deinem Frieden
dient! Aber nun ist's vor deinen Augen verborgen.« Und darauf folgt
dann die ausdr ckliche Ank ndigung, da die Feinde (die R mer) einen
Wall aufwerfen und die Stadt erobern werden, v. 43 f. Jesus f gt auch die
Begr ndung hinzu: »weil du nicht erkannt hast der Zeit deiner Heim-
suchung« (τον καιρόν της επισκοπής σου). Das Jahr des Herrn (4 19),
das Jahr liebevoller Sorge (13 8), dieser Tag (19 4l) bzw. die Zeit des g tt-
lichen Suchens, Besuchens und Heimsuchens (1944; vgl. 168-78) geht
dem Ende entgegen. Inzwischen wird aber der Gnadencharakter dieser
Zeit ausdr cklich gehandhabt; und zwar sowohl von Seiten Jesu, der auch
an diesen letzten Tagen nicht aufh rt, im Tempel (!) zu lehren und das
Evangelium zu predigen (διδάσκειν καΐ εύαγγελίζεσθαι), 19 47 und 20 l,
als auch von Seiten des Volkes, das im Gegensatz zu den feindseligen obe-
ren Kreisen33 an seinen Lippen hing (19 48) und schon fr hmorgens in den
Tempel str mte, um ihn zu h ren (21 37).
1.5. Es ist diese Konsequenz des strengen zeitlichen Aufeinanders
der Zeit Israels und der Zeit der V lker, die Lukas bewogen hat, das
Evangelium so zu erz hlen, wie wir es oben skizzenhaft andeuteten. Im
zweiten Teil seines Werkes hat Lukas dieses Strukturprinzip zum Aus-
druck gebracht in dem Wort des Paulus in Antiochien (Pisidien): »Euch
mu te zuerst das Wort Gottes gesagt werden; nun ihr es aber von euch
sto et und achtet euch selbst nicht wert des ewigen Lebens, siehe, so
33
Diese wollen gegen den ausdr cklichen Willen des Volkes Jesus t ten (19 47 20 19 22 2.0)
und werden in der Passionsgeschichte in Abgrenzung sowohl gegen das eigene Volk als
auch gegen die r mischen Besetzer als die eigentlich Verantwortlichen gezeichnet.

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wenden wir uns zu den Heiden« (Act 13 46). Um Mißverständnissen vor-


zubeugen, sei hier noch ausdrücklich darauf hingewiesen, daß sich die
Sicht auf Israel als ersten Adressaten des Heilswillens Gottes durch die
Kreuzigung Jesu nicht im geringsten ändert. Jerusalem ist auch Zentrum
und Ausgangspunkt des mit Pfingsten anfangenden neuen Abschnittes im
Heilshandeln Christi. Die Frage nach der Königsherrschaft für Israel wird
nicht abschlägig beantwortet (l 6). Die Jünger werden zu Zeugen berufen,
angefangen in Jerusalem (l 7f.). In der Pfingstgeschichte werden die An-
wesenden ausdrücklich Juden genannt (2 5) und in der Pfingstpredigt als
solche angeredet (2 14.22). Ausgerechnet Israel muß mit Gewißheit er-
kennen, daß Gott Jesus zum und gemacht hat (2 36). Sie
sind ja die Anwärter auf Gottes Verheißungen (2 39), die Söhne der Pro-
pheten und des Bundes (3 25). Ihre Frage »Was sollen wir tun, Brüder?«
entspricht der Reaktion der Menge auf die Predigt des Täufers in Lk 3 10.
12.14. Es sind Juden, die zu Tausenden getauft werden (2 41.47 4 4). Wie im
Evangelium steht wieder das Volk auf der Seite der Apostel (4 2l 5 26)
und beschränkt sich die Feindschaft auf die Priester und Sadduzäer (4 l
5 17). Die Haltung Gamaliels (5 34-39) und das Gläubigwerden zahlrei-
cher Priester (6 7) beweisen zudem, daß auch innerhalb der geistigen und
geistlichen Elite durchaus Offenheit für das Evangelium bestand.
1.6. Nachdem wir erkannt haben, nach welchen Gesichtspunkten
Lukas den Stoff und die Aussagen seines Evangeliums angeordnet hat,
wenden wir uns erneut der Frage zu, wie sich die Aufnahme des Prophe-
tenwortes über das gnädige Jahr des Herrn und die Nichtaufnahme der
Ankündigung des Tages der Rache Gottes zu diesem, das ganze Evange-
lium prägenden, lukanischen Anliegen verhält. Es drängt sich uns der Ein-
druck auf, daß diese Begrenzung des Zitates aus Jes 61 sich gut einfügt in
diese für Lukas typische Bearbeitung und Prägung des Evangelienstoffes.
Hier muß nun aber eine Erwägung hinzugefügt werden. In Jes 61
waren die Heilsankündigung von v. i-2a und die Gerichtsankündigung
von v. 2b an zwei verschiedene Adressen gerichtet gewesen. Das Heil
wurde dem nunmehr befreiten Volk Israel zugesagt; aber die Rache des
göttlichen Gerichtes galt Israels Bedrängern. Diese Zweiteilung ist für
Lukas nicht ohne eine dem Evangelium gemäße Dialektik anwendbar.
Israel und die Völker sind die Adressaten des Heiles Gottes. Der Retter,
dessen Geburt in Kap. 2 verkündet und besungen wird, steht nicht
weniger in der Weite der Ökumene als der Kaiser Augustus, der am An-
fang des Kapitels genannt wird. Lukas schreibt sein Doppelwerk nicht nur
Jahrzehnte, nachdem die Heidenmission ihren Anfang genommen hat; er
schreibt sein Werk auch nicht allein an einen edlen Griechen; er hat sich
die Bewegung des Evangeliums von Jerusalem bis ans Ende der Welt (Lk
24 47 Act l 8) nicht weniger vorgenommen als die vorlaufende Bewegung,
die immer auf Jerusalem gerichtet war. Dem Ende des ersten Teiles in
Jerusalem (Lk 24 5l) entspricht völlig das Ende des zweiten Teiles in Rom

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H. Baarlink, Ein gnädiges Jahr des Herrn - und Tage der Vergeltung 213

(Act 28 16-31), wobei übrigens abschließend noch einmal die beiden auf-
einander folgenden Phasen »Israel — die Völker« in der Ansprache des
Paulus durchklingen, 28 27 f.
Wenn schon neben der Heilszusage von Jes 61 l-2a noch Raum ist
für die Ankündigung eines Tages der Vergeltung, das heißt des göttlichen
Gerichts, dann kann dies nicht bestehen in einer Zweiteilung der Mensch-
heit in erwählte und verworfene, angenommene und gerichtete Völker.
Im Johannesevangelium sagt Christus einmal, der Geist Gottes werde der
Welt ihre Sünde aufdecken, die darin besteht, daß sie nicht an ihn glaub-
ten, Joh 168. Einen Tag der Vergeltung kann es für Lukas auch nur geben
als Antwort Gottes auf die Ablehnung seiner Liebe, auf den Unglauben.
Deshalb liegt es sogar auf der Hand, daß in Lk 4 19 Gnadenjahr und Tag
der Rache nicht in einem Atemzuge genannt werden.

2. Argumente aus der Gerichtsankündigung von Lk 2122

2.0. Auf diesem Wege kommen wir nun zu dem zweiten Argument,
das nach meiner Meinung für die oben behandelte These von Bornhäuser
und Jeremias spricht. Wenn es wahr ist, daß Lukas den Nachsatz von Jes
61 2 in der Nazarethperikope bewußt weggelassen hat,
a) weil Jesus »von Gnade und nur von Gnade«34 spricht und »die
Rache an den Heiden aus dem Zukunftsbild streicht«35,
b) weil Jesus über das Gericht Gottes spricht als Antwort auf die
Ablehnung seiner offenbarten Barmherzigkeit,
dann könnte damit gerechnet werden, daß Lukas der Aussage über den
Tag der Vergeltung Gottes dort eventuell einen Platz gibt, wo diese Ab-
lehnung bereits erfolgt ist und zur Voraussetzung neuer Zukunftsaussagen
wird. Genau dies ist der Fall in der eschatologischen Rede Jesu, wie Lukas
sie in Kap. 21 wiedergibt. In den Versen 20 und 2l lesen wir die An-
kündigung der Zerstörung Jerusalems durch römische Heere, verbun-
den mit der Aufforderung, dann Judäa zu verlassen und auszuweichen in
ein außerhalb Judäa's liegendes Bergland. Dem schließen sich dann in
v. 22 als Begründung für die Katastrophe die an Jes 61 2b erinnernden
Worte an: »denn dies sind die Tage der Vergeltung, damit erfüllt werde
alles, was geschrieben ist«.
2.1. Um die Bedeutung dieser Aussagen an dieser Stelle verstehen
zu können, ist es notwendig, zunächst ihren Ort und ihre Funktion inner-
halb der eschatologischen Rede dieses Kapitels näher zu betrachten. Wir
beschränken uns dabei auf die für unsere Frage relevanten Einzelheiten.

34
K. Bornhäuser, a.a.O., 59.
35
J. Jeremias, Verheißung, 39.

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214 H. Baarlink, Ein gn diges Jahr des Herrn — und Tage der Vergeltung

2.1.1. Anders als bei Markus wird hier ber die nahende Katastrophe
auf eine sehr konkrete Weise gesprochen. An die Stelle des βδέλυγμα της
έρημώσεως έστηκότα όπου ου δει (Mk 13 14) wird einfach ber die (r mi-
schen) Heere gesprochen, die die Stadt Jerusalem umzingeln. Wir er-
innern uns, da in 19 43 f. ebenfalls in einer milit rischen Sprache ber den
Untergang der Stadt gesprochen war: ». . . da deine Feinde um dich und
deine Kinder einen Wall aufrichten werden, dich belagern und an allen
Orten ngstigen und werden dich schleifen und keinen Stein auf dem an-
deren lassen.« Man braucht dem Lukas gar nicht erst historisierende Ten-
denzen anzulasten; noch abgesehen von seiner durchgehenden Tendenz,
die Sprache des Markus und vor allem die schwer verst ndlichen Semi-
tismen darin einem gehobenen Griechisch anzugleichen, w re es wohl sehr
merkw rdig gewesen, wenn Lukas die weithin kryptische Sprache von Mk
13 14 unbesehen bernommen h tte. Markus stand inmitten der Unruhen
und in unmittelbarer zeitlicher N he zu dem Geschehen. Der Wink ό άνα-
γινώσκων νοείτο (Mk 13 14) ist vielsagend. Demgegen ber schaute Lukas
ungef hr 20 Jahre sp ter auf jenes Geschehen zur ck; ihm lag nun gerade
daran, da eben diese Ereignisse von Jesus im voraus als Gericht Gottes
ber das Volk Israel angek ndigt worden waren. Lediglich das Wort έρή-
μωσις als Andeutung des Zustandes Jerusalems nach seiner Einnahme,
der Zerst rung seines Tempels und der Schleifung seiner Mauern erin-
nert noch daran, da er Mk 13 14 paraphrasierend wiedergibt.
2.1.2. Schon Mk 13 I4b forderte auf zur Flucht in das Bergland
au erhalb Jud as. Darauf folgte die Mahnung, sich zu beeilen: wer auf
dem Dach war und also ber die Au entreppe hinabstieg, sollte nicht erst
ins Haus gehen; und wer auf seinem Acker war, der sollte nicht erst zu-
r cklaufen, um seinen abgelegten Mantel zu holen. Der lag wom glich am
Feldrand, wo er seine Arbeit angefangen hatte. Diese Mahnung finden wir
bei Lukas fast w rtlich in 17 3l, wo er in anderem Zusammenhang Worte
Jesu aufnimmt, die alle ber die Pl tzlichkeit des j ngsten Tages handeln.
Demgegen ber bekommt die Bezeichnung »Jud a« hier in 21 21 einen
noch st rkeren Akzent. Οι εν τη Τουδαίφ sollen in die Berge fliehen; ge-
meint ist jedenfalls ein Bergland au erhalb Jud as. Aber weiter: οι εν
μέσω αυτής sollen sie verlassen. Zwar bin ich nicht der Meinung, αυτής
beziehe sich grammatisch36 oder sogar dem Sinne nach37 auf Jud a. Man
mu 2lb+c schon parallel neben 2la stellen. Alle drei Aussagen beziehen
sich zur ck auf die in v. 20 angek ndigte Katastrophe. Dabei bernimmt
Lk den v. 2la von Markus. Danach pr zisiert er das Gesagte durch zwei
parallele S tze, wobei die auf Haus und Acker weisenden Aussagen von Mk
13 15 deutlich umgebogen werden zu Aussagen ber ungleich gr ere
Bereiche:
36
So z.B. I. H. Marshall z.St.
37
So z.B. J. Zmijewski, Die Eschatologiereden im Lukas-Evangelium, Bonn 1972, 211.

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v. 2ib: Wer in Jerusalem ist, m ge ausweichen;


v. 2lc: Wer auf dem Lande ist38, der gehe nicht erst in die Stadt (Jerusa-
lem) hinein (,sondern fliehe sogleich ins Gebirge au erhalb
Jud as).
Aber auch so bedeutet zumal v. 2lc eine Unterstreichung der Mahnung,
Jud a zu verlassen. Nun wissen wir aus 4 44, da Lukas das ganze Gebiet
des Wirkens Jesu — und das war, wie wir erkannt haben, ausschlie lich
das Gebiet j discher Bev lkerung — Jud a nannte, auch wenn aus dem
Kontext deutlich hervorgeht, da Jesus sich in und um Kapernaum, also in
Galil a befand. Wir f gen dem noch die folgenden Stellen hinzu: In dem
Summarium von 6 17 verk rzt Lukas die Landschaftsbezeichnungen άπο
της Γαλιλούας mi από της Ιουδαίας και άπο Ιεροσολύμων aus Mk 3 7
zu: από πάσης της Ιουδαίας και Ιερουσαλήμ, obwohl auch hier Gali a als
Ort der Handlung vorausgesetzt werden darf. In 7 17 befinden wir uns in
Nain, Galil a; aber die Kunde von der Auferweckung des J nglings
erscholl in ganz Jud a und in alle umliegenden Gebiete. Weiter: In der
Anklage vor Pilatus lautet nach 23 5 die Beschuldigung: Er wiegelt das
Volk auf dadurch, da er lehrt in ganz Jud a, angefangen von Galil a bis
hierher; vgl. auch Act 10 37. Die in den meisten deutschen bersetzungen
bliche Wiedergabe von 'Ιουδαία als »das j dische Land« entspricht ge-
nau der Intention des Lukas. Das best tigt sich vor allem an zwei Stellen
in der Apostelgeschichte, wo Ιουδαία und τα έθνη einander zugeordnet
bzw. gegen bergestellt werden: 111 und 26 20. Schlie lich ist dieses so an-
gedeutete j dische Land mit Jerusalem als geistlichem Zentrum sp ter
auch der Ausgangspunkt der Anfeindungen der Kirche durch die soge-
nannten Judaisten, wie aus Act 15 l und 26 20 hervorgeht.
Wenn wir Lk 21 2l in diesem weiteren Zusammenhang sehen, dann
wird ersichtlich, da Lukas aus der Aufforderung zur Flucht zugleich
einen Hinweis heraush rt, da die junge Kirche sich von dem unter dem
Gericht stehenden Judentum trennen soll39.
2.1.3. Wenn wir die Verse 23 und 24 im Zusammenhang betrachten,
zeigt sich, da das Wehe ber die Schwangeren und S ugenden nicht mehr
die fliehenden Christen betrifft, sondern da damit das Land Jud a und
dieses Volk, die Juden, gemeint sind, die durch des Schwertes Sch rfe
fallen und unter die Heiden gefangen gef hrt werden. Darum hat Lukas
auch die Aufforderung weggelassen, sie m chten darum beten, da ihre
Rucht nicht im Winter geschehen m ge, Mk 13 18. Conzelmann weist
weiter darauf hin, da θλίψις nicht ohne Bedeutungswandel durch ανάγκη
μεγάλη ersetzt wird, »θλΐψις ist f r Lukas das Schicksal der Gl ubigen«40.
38
Χώρα wird im NT wiederholt ausdr cklich als Bezeichnung f r Jud a gebraucht in
Unterscheidung von der Stadt Jerusalem, vgl. Job 11 55 Act 26 20.
39
Mit J. Zmijewski, a.a.O., 209-212.
40
H. Conzelmann (siehe Anm. 6), a.a.O., 20.

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216 H. Baarlink, Ein gn diges Jahr des Herrn — und Tage der Vergeltung

Demgegen ber geh ren ανάγκη und οργή der prophetischen Gerichts-
terminologie an41. Wenn es sich um Gottes Gerichte ber dieses Land und
ber dieses Volk handelt, ber das unter der r mischen Herrschaft die
Gerichte Gottes hereinbrechen, dann kann der letzte Teil des Satzes auch
nur die Zeiten der Heiden meinen, in denen sie Jerusalem unter die F e
laufen und Jud a ngstigen.
Nun hat man fter diesen Ausdruck άχρι ου πληρωθώσιν καιροί
εθνών in bereinstimmung mit Rom 11 25 erkl rt als Zeit der Bekehrung
der Heiden, die erf llt werden mu 42. Das scheint mir jedoch eine Fehl-
interpretation zu sein, wie bestechend die hnliche Ausdrucksweise auch
ist. Wer Lk 21 24 im Zusammenhang mit dem unmittelbaren Kontext er-
kl rt, kann nur zu dem Ergebnis kommen, da die καιροί εθνών die
ήμέραι έκδικήσεως (ν. 22) sind. Die Gerichte Gottes ber Israel sind nicht
das Endgericht. Und das Ende der Zeiten der Heiden ist nicht zugleich
der j ngste Tag43. Im Gegenteil, sie werden dadurch ein Ende nehmen,
da Gott die » ngstiger« ngstigt. Dar ber handeln die n chsten Verse.
2.1.4. Es ist die Frage, ob die Verse 25 ff. auf exklusive Weise als
Umschreibung der Wiederkunft des Menschensohnes und der sie einlei-
tenden oder begleitenden Zeichen gemeint sind. Es ist folgendes zu be-
achten. In v. 9 hatte Lukas in die Markusvorlage ein πρώτον eingeschoben,
das verbunden mit ουκ ευθέως die hier genannten Ereignisse deutlich ab-
setzt von den Endereignissen. Trotzdem geh ren zu diesen Zeichen lange
vor dem Ende und mitten in der Geschichte auch die φόβητρα τε και απ'
ουρανού σημεία μεγάλα, die nur Lukas hier zur Markusvorlage hinzu-
f gt. Ab v. 12 wird dann aber berichtet ber Geschehnisse, die sich noch
eher ereignen werden44. Zmijewski hat deutlich gemacht, da Lukas die
Verse 12-19 in deutlicher Analogie zu den in der Apostelgeschichte be-
richteten Erfahrungen, Verfolgungen und Bewahrungen pr gt45. Προ δε
τούτων ν. 12 meint also die Geschichte der Kirche vor dem J dischen
Kriege und dem Fall Jerusalems. Die φόβητρα τε και απ' ουρανού σημεία
μεγάλα von v. ll beziehen sich also auf die Ereignisse bzw. Erscheinungen
vor der in v. 20 gemeinten Belagerung von Jerusalem. Da diese Ank ndi-

41
J. Zmijewski, a.a.O., 214.
42
Siehe J. Zmijewski, a.a.O., 217, der dann mit J. Schmid den Unterschied zu Paulus
darin sieht, da jener »immerhin noch die Aussicht auf die endliche Bekehrung der Juden
bestehen l t, (w hrend) bei Lukas dieser Gedanke in 21 24c nicht ausgesprochen (ist)«
(219). F r W. Grundmann sind die »Zeiten der V lker« sowohl Zeit des Triumphes ber
Israel als auch Zeit, in der ihnen das Evangelium angeboten wird. Er ist der Meinung,
da »die Frage, ob auch Lukas an eine Endrettung Israels denke . . ., durch 13 34 f. posi-
tiv beantwortet (wird)«, a.a.O. (siehe Anm. 15), 383.
43
Gegen J. Zmijewski, a.a.O., 216.
44
Da Lukas die Struktur des Abschnittes von Mk 13 5-23 sprengt, sei nur vermerkt.
45
A.a.O., 150-175.

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gung nicht bei Markus vorkam und das ganze Kap. 21 den Eindruck
macht, da Lukas hier keine zweite Quelle benutzt hat46, w re zu fragen,
woran er bei diesen Worten gedacht hat. Immerhin hat Fl. Josephus, der
zwischen den Jahren 75 und 97 n. Chr. seine B cher ber den J dischen
Krieg verfa te47, ebenfalls ber verschiedenartige und schreckliche Zei-
chen des nahenden Unterganges der Stadt geschrieben48. Nach Erw h-
nung von Pseudopropheten, die f lschlicherweise das Volk in Sicherheit
wiegten und ihnen befahlen, ins Heiligtum zu gehen und Zeichen der Ret-
tung zu erwarten (285 f.), nennt er die folgenden »Zeichen, die die kom-
mende Verw stung im voraus anzeigten« (προσείμονα τέρατα) und Bot-
schaften Gottes (του θεού κηρύγματα) enthielten: ein schwert hnliches
Gestirn, einen Kometen, der ein ganzes Jahr am Himmel blieb, ein gro es
Licht am Altar zu n chtlicher Stunde, eine Kuh, die vor ihrer Schlachtung
am Altar ein Lamm zur Welt brachte, das Osttor des Tempelhofes, aus
Erz und darum au erordentlich schwer, das sich von selbst zu n chtlicher
Stunde ffnete, obwohl es zudem noch durch einen schweren Riegel ver-
schlossen war, gewi ein offenbares Zeichen der Verw stung (δηλωτικόν
ερημιάς ση μείον); weiter eine unheimliche, kaum glaubliche Erscheinung
(φάσμα δαιμόνιον ώφθη μείζον πίστεως), n mlich Lufterscheinungen in
Form von Wagen und bewaffneten Heerscharen, die durch die Wolke
donnerten und die St dte umzingelten (κυκλουμέναι τάς πόλεις; vgl. Lk
21 20). Schlie lich erw hnt Josephus einen lauten Ruf in der Pfingstnacht
im Tempel »La t uns von hier wegziehen!« sowie das Schreien eines
Jesus, Sohn des Ananias, der Tag und Nacht Zeter und Mordio geschrieen
habe in den Stra en Jerusalems. Als man ihn dann ausgepeitscht habe,
habe er bei jedem Hieb laut gerufen: »Weh dir, Jerusalem!« Dieses Weh-
geschrei ber Jerusalem habe er sieben Jahre und f nf Monate lang fort-
gesetzt, bis er schreiend auf der Mauer der eingeschlossenen Stadt durch
den Stein einer Wurfmaschine t dlich getroffen worden sei. Es d rfte
wahrscheinlich sein, da die Bemerkung in Lk 2111 ber die φόβητρα
τε και απ' ουρανού σημεία μεγάλα irgendwie auf hnliche Traditionen im
Volk zur ckgeht, wie das f r Josephus anzunehmen ist49.
2.1.5. In den Versen 25-28 steht das Thema der Parusie weniger
zentral, als das bei Markus der Fall gewesen ist. Mk 13 27 wird nicht zu-
f llig ausgelassen. Daf r steht bei Lukas das Gericht ber die V lker im
Mittelpunkt. Dieses kommende Gericht, vor dem die Gemeinde sich nicht

46
Mit H. Conzelmann, a.a.O. (siehe Anm. 6), 116 und der dort genannten Literatur.
Siehe auch J. Zmijewski, a.a.O., 311.
47
Siehe De bello Judaico, herausgegeben von O.Michel und O. Bauernfeind, M nchen
2
1962, XX.
48
VI 285-309.
49
In der Richtung sucht auch (mit Schlatter) K. H. Rengstorf, a.a.O. (siehe Anm. 22),
239, Anm. 289 die Erkl rung, ohne jedoch Josephus ausdr cklich zu nennen.

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zu f rchten braucht (v. 28), wird nun wiederum angek ndigt durch viele
Vorzeichen, genau so, wie das bei dem Gericht ber Israel der Fall
gewesen war. Die Verse 25 f. verhalten sich zu v. 27, wie vorher v. 11 sich zu
den Versen 20-24 verhalten hatte. Es scheint berspitzt zu sein, wenn wir
sagen, die Zeichen von v. 11 w rden sich in den in vv. 25 f. genannten fort-
setzen oder gar mit ihnen identisch sein. Und doch ist der Gedanke an
einen verborgenen Zusammenhang nicht einfach von der Hand zu weisen.
Die Andeutung έπι της γης in v. 25 mu nicht wie in v. 23 das j dische
Land meinen. Besteht nicht aber doch ein Zusammenhang? Denn eben
diese V lker, die Jerusalem und das j dische Volk unter die F e treten,
sind es doch, denen die Zeichen des Gerichts erscheinen; und sie sind es
doch, die beim Erblicken der Zeichen Angst bekommen und in eine Apo-
rie geraten, weil (auch!) sie die Zeichen nicht zu deuten verm gen. So
wird denn auch ber sie das Gericht kommen. Das Gericht m ge zwar
phasenweise ber die Welt kommen50, aber es erreicht ohne Unterschied
Israel und die V lker. Nicht betroffen sind allein sie, die aus Jesu Mund
wissen, da kein Haar von ihrem Haupt verloren geht (vgl. 2118 mit 12 7)
und da sich mit seiner Wiederkunft auch ihre Erl sung naht, 21 28.
2.2. Nachdem wir so die notwendige bersicht ber die spezifisch
lukanische Auspr gung bestimmter eschatologischer Aussagen Jesu ge-
wonnen haben, k nnen wir uns abschlie end dem Satz aus v. 22 zuwenden:
Denn das sind die Tage der Vergeltung, ήμέραι έκδικήσεως αύται είσιν.
Die bereinstimmung mit Jes 61 2b LXX ist, was die Sache betrifft, auf-
fallend gro : Dort hei t es: καλέσαι . . . ήμέραν άνταποδόσεως. Zwi-
schen έκδίκησις und άνταπόδωσις besteht inhaltlich keine Differenz.
Das erhellt aus Stellen wie Dtn 32 35 LXX: εν ήμερα έκδικήσεως ανταπο-
δώσω, in Rom 12 19 zitiert mit den Worten: έμοί έκδίκησις, εγώ ανταπο-
δώσω; sowie aus Hos 9 7 LXX: ήκασιν αϊ ήμέραι της έκδικήσεως, ήκασιν
αϊ ήμέραι της αποδόσεως σου. Von Bedeutung k nnte allenfalls die Plu-
ralbildung in 21 22 sein. Sie w re jedoch leicht zu erkl ren, weil Lukas zu-
r ckschaut auf Zeitereignisse, die einige Jahre gef llt haben. Es ist gerade
beachtlich, da er trotzdem nicht ber Jahre der Vergeltung spricht,
sondern ber Tage. Er f hlt sich dem prophetischen Wort von Jes 61 auch
hier verpflichtet. Deshalb handhabt er den Wortlaut der Ank ndigung
von Jes 61 2, so weit ihm das nur m glich ist.
Von diesen Tagen der Vergeltung wird pun weiter gesagt: »da er-
f llt werde alles, was geschrieben steht«. In den Kommentaren ist bisher,
soweit ich sehe, auf alle m glichen Prophetenworte hingewiesen, nur nicht
auf Jes 61. Dabei ist doch diese Hinzuf gung sehr sinnvoll. In 421 hatte
Jesus bereits gesagt, da diese Schrift vor ihren Ohren erf llt sei. Damit ist
noch nicht »alle Schrift« erf llt. Und wenn die Weglassung von v. 2b auch
50
Nach Paulus in Rom 11 30 f. verlaufen auch die Zeiten von Unglaube und Barmherzigkeit
unter den V lkern und f r Israel nicht synchron.

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dem Kommen und Wirken Jesu entspricht, so besagt dies doch keines-
wegs, da damit der Tag des Gerichts aus dem Programm der Erf llung
gestrichen ist. Man kann sagen: Es kommt, nur es kommt erstens sp ter,
und es kommt zweitens anders, als die murrenden Zuh rer von Nazareth
es dachten. Und erst wenn diese Tage des Gerichtes kommen, ist πάντα
τα γεγραμμένα erf llt. Der Ausdruck begegnet bezeichnenderweise aus-
schlie lich im lukanischen Doppelwerk (Lk 1831 21 22 2444 Act 13 29)
und weist die folgenden gemeinsamen Kennzeichen auf:
Erstens bezieht sich der Ausdruck an allen drei Stellen in Lk auf Ge-
richt und Gnade, Leiden und Auferstehung51.
Zweitens ist der Ausdruck in allen F llen verbunden mit Verben des
Erf llens, n mlich τελέω, πίμπλημι und πληρόω.
Auch von diesem Befund aus liegt es nahe, πάντα τα γεγραμμένα sowohl
auf den ersten Teil der Prophetic in Lk 4 18 f. als auch auf den zweiten Teil
hier in 21 22 zu beziehen.

3. Ergebnis

Die Thesen von Bornh user und Jeremias haben sich best tigt und
konnten au er durch die von ihnen gegebene Begr ndung durch zwei zu-
s tzliche Argumente gest tzt werden:
3.1. Das Weglassen der Ank ndigung des Tages der Vergeltung
Gottes in Lk 419 stimmt in jeder Hinsicht berein mit der Strukturierung
des Lukasevangeliums, wo Aussagen und Ereignisse jeweils ihren eigenen
Ort und ihre eigene Zeit haben und von Lukas erst an ihrem eigenen
heilsgeschichtlichen bzw. unheilsgeschichtlichen Ort zur Sprache gebracht
werden.
3.2. Der in Lk 4 19 ausgelassene Teil der Prophetie aus Jes 61 wird
beinahe w rtlich aufgenommen in 2122 und ergibt dort zusammen mit der
in 4 2l genannten Erf llung die Erf llung von allem, was geschrieben ist.
3.3. Wenn dieses Gericht die Antwort Gottes ist auf die Ablehnung
Jesu als Messias durch die Leiter des Volkes, so ist damit keineswegs ein
letztes oder absolutes Urteil ber Israel gesprochen. Vielmehr setzen sich
die Tage der Vergeltung fort und erreichen in gleicher Weise die V lker,
die Israel unterdr ckt und gepeinigt haben. So ist die Heilsgeschichte zu-
gleich begleitet von einer Unheilsgeschichte und geht in dieser doppelten
Wesenhaftigkeit dem Ende entgegen, auf das alle Zeichen und Gerichte
weisen, aber doch immer in dem Sinne, da Gott in seinen angenehmen
Jahren und in seinen Tagen der Gerichte nicht aufh rt, das Verlorene zu
suchen.
51
In Act 13 29 ist das immerhin insofern auch der Fall, als gleich im n chsten Vers ber
Jesu Auferstehung die Rede ist.

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3.4. Anders als Joachim Jeremias haben wir nicht so sehr nach dem
Wortlaut und Umfang des durch Jesus vorgelesenen Jesajazitates gefragt.
Methodisch hatten wir zuvor nach der Intention des Lukas zu fragen. Das
wäre auch dann unerläßlich gewesen, wenn nicht redaktionsgeschichtliche
Erkenntnisse uns diese Fragestellung aufdrängen würden, haben wir es
doch in Lk 4 I8f. mit einem Mischzitat zu tun, das zudem noch auf die
Übersetzung der LXX zurückgeht. Dies bedeutet keineswegs ein Des-
interesse an dem irdischen Jesus und seinem Auftreten. Nur muß dann die
Frage anders gestellt werden: Wenn Lukas aus einem eigenen theologi-
schen oder kerygmatischen Interesse das Jesajazitat in sein Evangelium
aufnimmt, und zwar in dieser Form und in diesem Umfang, und wenn er
die markinische Anfangsproklamation Jesu (Mk 114 f.) durch diesen Ab-
schnitt und durch diese Worte ersetzt, entspricht dieses alles der Eigenart
der Predigt und des Auftretens Jesu, wie uns das in allen Evangelien und in
allen Schichten ihrer Tradition bezeugt wird? So sollten wir auch dann
fragen, wenn wir entdeckt haben, daß Lukas behutsam mit der Tradition
umgeht und daß er auch an anderer Stelle ein überkommenes Propheten-
wort übernimmt und dann allerdings, was den Umfang betrifft, selbständig
hantiert; gemeint ist 3 4-7. Es besteht kein Grund, das Bestehen einer
dem Lukas verfügbaren Tradition in Zweifel zu ziehen, nach der Jesus in
Nazareth seinen Auftrag enthüllt hat durch den Hinweis auf den Auftrag
des Gesalbten aus Jes 61. Das entsprach übrigens durchaus dem Selbst-
verständnis Jesu, das allen Evangelien zugrunde liegt und auf verschieden-
artige Weise — zumeist ohne fest geprägte Titel — durchklingt.
Eines der hervorstechendsten Merkmale dieses Auftretens Jesu war
ganz gewiß die Annahme der Sünder, wo jedermann das Gericht erwartet
hätte. Aus der Fülle greifen wir drei Beispiele heraus: die Tischgemein-
schaft mit den Zöllnern (5 27-32 7 34), die Sünderin, die ihn salbte (7 36-50)
und den verlorenen Sohn (15 11-32). Verkündigung der Gnade ohne An-
kündigung des von allen erwarteten Gerichts, das war typisch für Jesus. In
seiner Nähe mußten Steine wieder zur Erde fallen, während man drauf
und dran war, mit ihnen das Gottesgericht über eine Sünderin zu voll-
ziehen (Joh 8 1-11). Insofern könnte Jesus selbst die Jesajaworte bis zu
der Ankündigung des Gnadenjahres und unter Ausschluß der Worte über
den Tag der Vergeltung Gottes durchaus zitiert haben. Nach unserer Mei-
nung sollten wir jedoch sowohl in 4 I8f. als auch in 21 22 den Redaktor
zumindest mit am Werk sehen. Dabei erweist Lukas sich in der Art, wie er
das prophetische Zeugnis aus Jes 61 in sein Evangelium aufnimmt, als
authentischer Zeuge des irdischen Jesus.

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