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Beiträge zur Wissenschaft

vom Alten und Neuen Testament

Band 213

Herausgegeben von
Walter Dietrich
Ruth Scoralick
Reinhard von Bendemann
Marlis Gielen

Heft 13 der elften Folge


Berend Meyer

Das Apodiktische Recht

Verlag W. Kohlhammer
1. Auflage 2017

Alle Rechte vorbehalten


© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Reproduktionsvorlage: Andrea Töcker, Neuendettelsau
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:
ISBN 978-3-17-031129-9

E-Book-Format:
pdf: ISBN 978-3-17-031130-5

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Vorwort

Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um meine 2011 angefertigte Dis-
sertation, die von Prof. Dr. Friedemann Golka, Universität Oldenburg, be-
treut wurde. Ich bin ihm zu großem Dank verpflichtet. Er hat meine Arbeit
„an langer Leine“, aber stets hilfsbereit und aufmerksam begleitet. Er verstarb
bereits 2011. Zweitgutachter war Prof. Dr. Wolfgang Weiß, ebenfalls Univer-
sität Oldenburg, der in gewohnt kluger und sachlicher Weise die Dissertation
beurteilt hat. Als Neutestamentler konnte er etliche zusätzliche Akzente ein-
bringen.
Ein besonderer Dank gilt Prof. Dr. Walter Dietrich, Wabern/Schweiz, der
dem Kohlhammer-Verlag meine Arbeit zum Druck vorgeschlagen hat. Seine
positive gutachterliche Stellungnahme hat mich sehr gefreut. Er hat mir
gleichzeitig einige Kürzungsvorschläge gemacht, die ich gerne übernommen
habe.
Im Übrigen konnte die Arbeit ohne wesentliche Änderungen übernommen
werden. Seit 2011 neu erschienene Literatur wurde eingearbeitet. Zu dem
sehr speziellen Thema einer rechtsgeschichtlichen und verfassungsrechtli-
chen Einordnung des Dekalogs und des apodiktischen Rechts sind allerdings
keine neueren Untersuchungen erschienen. Dieses Thema wird in der theo-
logischen Literatur kaum erörtert. Einen kurzen Überblick gibt allerdings
Dominik Markl in „Der Dekalog als Verfassung des Gottesvolkes“, Freiburg
2007, S. 24ff., mit einer sehr guten theoretischen Einführung.
Der zuverlässige Einsatz meiner langjährigen Mitarbeiterin Waltraud
Oldenkamp, Westerstede, hat mir die Arbeit wesentlich erleichtert. Von
ihr wurden sämtliche Schreibarbeiten exzellent erledigt, wofür ich herzlich
danke. Ein weiterer Dank gilt Friede Hopf, Hamburg, der ich manche Anre-
gung verdanke, und meinem verstorbenen Freund Gert Steinbeck, Olden-
burg, der ebenfalls kritisch Korrektur gelesen hat. Meinem Schwager, Dr.
Wilm Hack, Petersfehn, danke ich für viele anregende Gespräche.
Ohne meine Ehefrau Hanna wäre diese Arbeit nicht entstanden. Sie hat
mir stets den Rücken frei gehalten und mich zur Weiterarbeit ermuntert. Sie
starb viel zu früh im Dezember 2014.

Berend Meyer
Inhalt

Vorwort ............................................................................................... 5

1. Teil:
Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts ...................... 11

I. Einleitung ....................................................................................... 11

II. A. Alt: Die Entdeckung des Apodiktischen Rechts .................. 17

1. Kasuistisches und Apodiktisches Recht .............................................. 17


2. A. Alt und die heutige Forschung ........................................................ 26

III. Weitere Forschung ........................................................................... 29

1. Sprachliche Untersuchungen ............................................................... 29


2. Altorientalischer Rechtskreis, Hethitische Staatsverträge ................ 32
3. Amphiktyonie ......................................................................................... 33
4. E. Gerstenberger: „Sippenethos“ ........................................................... 38
5. G. Fohrer: „Lebens- und Verhaltensregeln“ ....................................... 41

IV. Heutiger Forschungsstand ............................................................. 43

1. Fr. Crüsemann: „Bewahrung der Freiheit“ ......................................... 43


2. Fr. Crüsemann: „Die Tora“ ................................................................... 48
3. E. Otto: „Ausdifferenzierung“ .............................................................. 52
4. B. S. Jackson: „Semiotik“ ....................................................................... 55
5. Eun-Ae Lee: „Grundnormen“ ............................................................... 57

V. Zusammenfassung ............................................................................. 61
8 Inhalt

Zweiter Teil:
Untersuchung einer eigenständigen Herkunft .......................... 71

I. Problem und These .............................................................................. 71

1. Historische Gründe ................................................................................ 74


2. Sprachhistorische Gründe .................................................................... 75
3. Rechtsgeschichtliche Gründe ............................................................... 75

II. Das geschichtliche Problem ............................................................. 77

1. Bibel und Archäologie ........................................................................... 77


2. Die Geschichte Israels im 12. und 11. Jahrhundert ........................... 80

Exkurs 1: Die Patriarchen ................................................................ 81


1. Die Suche nach den historischen Patriarchen ...... 81
2. J. Assmann und die Patriarchen ............................. 83
3. Ergebnis ................................................................................................... 100

Exkurs 2: Die Historizität des Exodus? .......................................... 104


Exkurs 3: Bauern, Hirten und Nomaden ....................................... 106

III. Das sprachhistorische Problem


(Quadratschrift, Dialekt, Textgeschichte) ................................. 115

IV. Das rechtshistorische Problem ..................................................... 117

1. Die komparative Methode .................................................................... 117


2. Recht in segmentären Gesellschaften .................................................. 120
a) Reziprozität ......................................................................................... 122
b) Konfliktbeilegung durch Schlichtung ........................................... 123
c) Die „faktische Kraft des Normativen“ ........................................... 124
d) Relativität des Rechts ....................................................................... 124
3. Ergebnis ................................................................................................... 125
Inhalt 9

V. Zusammenfassung und Ergebnis


(Späte Entstehung des apodiktischen Rechts) .......................... 129

1. Historische Gründe ................................................................................ 129


2. Sprachliche Gründe ............................................................................... 131
3. Rechtsgeschichtliche Gründe ............................................................... 131
4. Ergebnis ................................................................................................... 132

Dritter Teil:
Das apodiktische Recht als Verfassung ......................................... 135

I. Die Entwicklung der Menschenrechtsidee ................................... 137

Exkurs 4: Die Menschenrechte als Individualrechte .................... 148


Exkurs 5: Amos ................................................................................. 150
1. Amos und die Menschenrechte .............................. 150
2. Amos und das apodiktische Recht ......................... 152

II. Die Entwicklung des Verfassungsgedankens ............................. 157

III. Verfassungscharakter des apodiktischen Rechts ..................... 171

1. Entstehungszeiten .................................................................................. 172


2. Legitimation ............................................................................................ 176
3. Gottesbezug ............................................................................................ 179
4. Vertragscharakter / Bund ...................................................................... 184
5. Grundrechtskatalog ............................................................................... 185
6. Hierarchie der Rechtsnormen .............................................................. 192
7. Rechtswirklichkeit .................................................................................. 194
8. Geltendes Recht ...................................................................................... 195

IV. Ergebnis ............................................................................................... 197

Literaturverzeichnis ................................................................................... 201

Register .......................................................................................................... 207


Namen- und Sachregister .................................................................... 207
Bibelstellen in Auswahl ........................................................................ 208
1. Teil:
Forschungsgeschichte des apodiktischen
Rechts
1. Teil: Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts

I. Einleitung
I. Einleitung

Als Albrecht Alt im Jahre 1934 seine berühmte Studie „Die Ursprünge des
israelitischen Rechts“ veröffentlichte1, war ihm sicher nicht bewusst, dass er
damit eine Lawine lostreten würde, die bis heute nicht zum Stillstand ge-
kommen ist. Sie hat sich zwar breit ausgefächert und gleichzeitig verlang-
samt, aber in Bewegung ist sie immer noch. Die Diskussion ist noch nicht
abgeschlossen und hat vor allem noch kein allgemein akzeptiertes Ergebnis
erbracht.
Die von A. Alt vorgeschlagene Einteilung der biblischen Rechtsvorschriften
in zwei große Gattungen, nämlich „Kasuistisches Recht“ und „Apodiktisches
Recht“, lag voll im Trend der von H. Gunkel (1862–1932) angestoßenen
neuen „Form- und Gattungsgeschichte“, zu dessen Schülern A. Alt gehörte.2
Insbesondere seine Einordnung bestimmter Rechtssätze unter den von ihm
eingeführten Begriff „Apodiktisches Recht“ fand von Beginn an größtes Inte-
resse, war zugleich aber auch Nährboden für fundamentalistische Spekula-
tionen3, glaubten doch viele, hier einen zwingenden Beleg für die besondere
Stellung des israelitischen Rechts gefunden zu haben. Während das kasuisti-
sche Recht der langen Tradition des allgemeinen altorientalischen Rechts-
systems und den kanaanäischen Stadtstaaten zugeordnet werden konnte,
schien das apodiktische Recht eine Größe zu sein, die nur im israelitischen

1
A. Alt, Die Ursprünge des israelitischen Rechts, Kleine Schriften zur Geschichte des Volkes Israel,
Band I, 278–332.
2
W. Härle u. H. Wagner, Theologenlexikon, 122.
3
Vgl. H. J. Boecker, Recht und Gesetz, 167; G. Fohrer, Das sogenannte apodiktisch formulierte
Recht, 50.
12 1. Teil: Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts

Rechtskreis anzutreffen war und Israels Einzigartigkeit belegen konnte.


Reichte dieses Recht nicht weit in die Frühgeschichte Israels zurück, in eine –
postulierte – Amphiktyonie oder gar in die Wüste? Hatte sich hier etwa
direkt offenbartes „Gottesrecht“ erhalten?
Diese Diskussion hatte A. Alt insbesondere mit folgender Feststellung pro-
voziert:

„Auf kanaanäische Herkunft deutet ja auch nicht das Mindeste in den apodikti-
schen Satzreihen hin, weder die Anschauungen, die aus ihnen sprechen, noch
auch nur die allgemeinen Kulturverhältnisse, die sie voraussetzen. Alles in
ihnen ist vielmehr volksgebunden israelitisch und gottgebunden jahwistisch,
auch wo das in dem knappen Wortlaut keinen unmittelbaren Ausdruck findet.“
(I, 323)

Also „volksgebunden israelitisch und gottgebunden jahwistisch“ sollte das


apodiktische Recht sein. War es das wirklich? Immerhin war diese Feststel-
lung der vielleicht meistzitierte Satz A. Alts und schien bezüglich des apodik-
tischen Rechts auf einen „Edelstein der Einmaligkeit“ mit „direkter Offenba-
rungsqualität“ hinzudeuten.4
Wer nun auf die Idee kommen sollte, sich zunächst einmal einen allgemei-
nen Überblick über das israelitische Recht zu verschaffen, und glaubt, er
könne dies in einer allgemeinen Rechtsgeschichte Israels tun, wird ent-
täuscht. Es gibt keine umfassende, durchgehende Darstellung des israeliti-
schen Rechts im Sinne einer allgemein anerkannten Rechtsgeschichte als
einem Standardwerk, wie dies für andere Rechtsbereiche, z. B. das Römische
Recht, selbstverständlich ist. Der Rechtshistoriker U. Wesel vermerkt hierzu:5

„So wissen wir nicht, ob alle im Alten Testament beschriebenen Regeln in der
Rechtswirksamkeit tatsächlich gegolten haben. Schließlich kommen die bisheri-
gen Rekonstruierungsversuche zum größten Teil aus der – jüdischen oder
christlichen – Bibelexegese, die in erster Linie nicht rechtshistorisch interessiert
war, sondern der Bestätigung theologischer Lehrmeinungen dienten. So erklärt
sich, dass es bis heute keine einzige umfassende Darstellung des alten hebräi-
schen Rechts gibt, die rechtshistorischen Ansprüchen gerecht wird.“

Ein hartes, aber wohl zutreffendes Urteil. Etwas versöhnlicher ergänzt U.


Wesel:

4
H. J. Boecker, Recht und Gesetz, 167.
5
U. Wesel, Geschichte des Rechts, 104.
I. Einleitung 13

„Erst in letzter Zeit sind jüngere Theologen im deutschen Sprachbereich – an-


geregt durch Vorarbeiten von Albrecht Alt, Friedrich Horn und Reuven Yaron
– dazu übergegangen, das ungeheure Material des Alten Testaments für eine
moderne Sozial- und Rechtsgeschichte auszuwerten.“

Wenn U.Wesel dabei auf die nicht rechtshistorisch interessierten Bibelexe-


geten verweist, erwähnt er zugleich aber auch die „Rechtswirklichkeit“. Und
dies ist m. E. der entscheidende Punkt. Was wissen wir eigentlich über die –
tatsächliche – und historisch zuverlässige Geschichte des Rechts in Israel?
Insbesondere über die Frühzeit liegen nur sehr wenige Informationen vor.
Als Quellen haben wir nur die – historisch problematische – Bibel und die
Archäologie. Beides reicht – bisher – nicht aus, ein geschlossenes, für einen
Rechtshistoriker ausreichendes Bild zu entwerfen. Die biblischen Texte sind,
historisch gesehen, „Tendenzschriften“, die erst entschlüsselt werden müs-
sen. So betitelt E. Otto seine „Gesammelten Studien“ zu rechtshistorischen
Themen denn auch korrekterweise mit „Altorientalische und Biblische
Rechtsgeschichte“6 und nicht etwa mit dem Begriff „Israelitische Rechtsge-
schichte“. Wer sollte eine solche auch schreiben?
Dabei ist dies aber nicht ein spezielles Problem der Rechtsgeschichte, son-
dern primär der Geschichte Israels überhaupt. Wie soll sich ein Rechtshisto-
riker zurechtfinden, wenn ihm die Allgemein-Historiker keinen gesicherten
Rahmen für sein Spezialgebiet, die Rechtsgeschichte, bieten? Die „Geschichte
Israels“ ist eines der umstrittensten Themen im vorliegenden Bereich. E. Otto
führt hierzu aus:

„Wer vor der Aufgabe steht, eine Geschichte Israels zu schreiben, der hat ge-
genwärtig den Eindruck, er könne nur Hypothesengebäude auf Flugsand
bauen.“7

Es wird sogar die Auffassung vertreten, dass man auf eine Geschichtsschrei-
bung Israels, nur basierend auf den vorliegenden biblischen Texten, ganz
verzichten und sich auf eine „textlinguistische, oftmals strukturalistisch orien-
tierte Analyse der Endgestalt“ der Bibel beschränken müsse. Für die Histori-
ker sei dann die Archäologie und die historische Geographie die letzte Ret-
tung.8

6
E. Otto, Altorientalische und biblische Rechtsgeschichte.
7
E. Otto, Interdependenzen, 75.
8
Ebd., 75.
14 1. Teil: Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts

Dabei ist allerdings zu beachten, dass die Archäologie in der Tat nicht nur
destruktiv arbeitet und die biblisch fixierte Geschichte Israels demontiert,
sondern gerade für die vorstaatliche Zeit im 12. und 11. Jahrhundert viele
brauchbare Ansätze bietet, die sich insbesondere mit der Siedlungsgeschichte
befassen. Es sind aus dieser Zeit Strukturen erkennbar, die darauf schließen
lassen, dass gerade in diesem Zeitraum viele nichtsesshafte Gruppen sesshaft
wurden und damit einen Hintergrund für die biblischen Berichte von der
Landnahme und für die Richterzeit bilden können.9 Die Sachlage ist also
nicht aussichtslos.
Für einen Rechtshistoriker ist diese Situation natürlich wenig ermutigend.
Wenn er sich z. B. mit der Frage beschäftigen soll, ob hinter dem sog. apo-
diktischen Recht spezielle Trägerkreise stehen und eine eigene Herkunft
anzunehmen ist, müsste er wissen, welche Gruppierungen überhaupt in
Frage kommen und welche Bevölkerungsschichten im jeweiligen Zeitraum
existiert haben. Oder wenn von einer „Übernahme“ kasuistischen Rechts
gesprochen wird, setzt dies einen „Übernehmer“ voraus, der dieses Recht
ursprünglich nicht kannte. Dabei wird dann auf eingewanderte „Stämme“
oder „(Halb)Nomaden“ verwiesen, die sich bei ihrem Zuzug plötzlich mit
ausgebildetem Stadtrecht konfrontiert sahen. Wenn aber die Besiedelung des
Landes ohne größere Einwanderungen erfolgt ist und man mehr von einem
„Evolutionsmodell“10 ausgehen müsste, wird eine solche Annahme schon
wieder problematisch.
Gab es in vorstaatlicher Zeit wirklich die von M. Noth11 vorgeschlagene
„Amphiktyonie“, die in irgendeiner Form Träger von gemeinsamem Bundes-
recht gewesen sein könnte? Für viele Forscher war dieser sakrale Stämmever-
band eine „sichere Bank“, die Anknüpfungspunkte für viele Vorstellungen
der historischen und auch rechtlichen Entwicklung Israels bot. Ist dieses
Konstrukt aber nach heute wohl herrschender Meinung hinfällig12 oder nur
eingeschränkt denkbar, was bleibt dann für den Rechtshistoriker? Dieser hat
– für die Frühzeit – keinen festen historischen Rahmen, in dem er sich bewe-
gen könnte. Mit den neuen Arbeiten von I. Finkelstein und N. A. Silberman
kann man keine echte Rechtsgeschichte schreiben.13

9
Die heutige Palästina-Archäologie ergibt ein sehr gutes Bild der Siedlungsgeschichte und Hin-
weise auf die ersten Siedler (vgl. 2. Teil, Kap. II.2.).
10
M. Albani, M. Rösel, Altes Testament, 31.
11
M. Noth, Das System der zwölf Stämme Israels.
12
Z. B. R. de Vaux, The Early History of Israel, 700.
13
I. Finkelstein, N. A. Silberman, Keine Posaunen vor Jericho, und: David und Salomo.
I. Einleitung 15

Dabei ist der Rechtshistoriker gerade an der zeitlichen Rückverfolgung


von Rechtsentwicklungen interessiert. Jedes Recht hat eine Vor- und eine
Nachgeschichte. Recht hat keinen Anfang. Es basiert immer auf der Ent-
wicklung vorangegangener Generationen, wobei davon auszugehen ist, dass
jede menschliche Gesellschaft Rechtsnormen entwickelt und diese weitergibt
– und seien sie noch so archaisch.
Deshalb kann sich ein Rechtshistoriker, wenn er nicht zugleich Theologe
ist, auch nicht an einer Diskussion über „gestiftetes“ oder „offenbartes“ Recht
beteiligen. So etwas gibt es für ihn nicht. Eine „creatio ex nihilo“ existiert im
Rechtsleben nicht. Recht steht immer in einem längeren Zusammenhang.
Auch wenn man punktuell eine Fixierung von Recht ermitteln kann, z. B.
den „Codex Hammurapi“ aus der Zeit um 1700 v. Chr.14, so handelt es sich
auch hier nur um eine Rechtssammlung, die auf bereits vorhandenen
Rechtstraditionen aufbaut, diese fortführt oder abändert, aber nicht losgelöst
davon völlig neues Recht schafft. Hammurapi ist deshalb nicht der „Stifter“
dieser unter seinem Namen auf der Stele veröffentlichten Sammlung, son-
dern nur die Autorität, unter deren Ägide diese Texte erstellt und für ein
bestimmtes Territorium verbindlich gemacht wurden. Mehr nicht. Auch der
CH hat eine Tradition hinter sich, die ihn beeinflusst hat.
Ein Rechtshistoriker muss deshalb immer möglichst weit zurück in die
Entstehung einer Gesellschaft, um die großen Linien der Rechtsentwicklung
darstellen zu können. Und wenn dann, wie bei Israel, der nötige historische
Rahmen fehlt, ist eine umfassende Rechtsgeschichte nicht möglich. Deshalb
fehlt bis heute eine zusammenfassende Darstellung. Auch hier gilt der
Grundsatz: „rem tene, verba sequuntur.“ Man kann deshalb nur auf Einzel-
darstellungen zurückgreifen, die es dann aber auch in Hülle und Fülle gibt.
Für den Dekalog z. B. existiert eine Unmenge an Material. J. J. Stamm hat
allein für diesen Teilbereich einen eigenen Beitrag unter dem Titel „30 Jahre
Dekalogforschung“ erstellt.15 Die Menge der darin zusammengestellten Lite-
ratur ist überwältigend.
Nicht ganz so erdrückend, aber noch umfangreich genug, ist die Forschung
zum vorliegenden Thema: „Apodiktisches Recht“. Ausgehend von A. Alt hat
sich eine breit gefächerte Literatur entwickelt, die z. T. sehr konträre Auffas-
sungen wiedergibt. Hinzu kommt, dass dieses Thema, wie alle anderen auch,

14
H. J. Boecker, Recht und Gesetz, 57.
15
J. J. Stamm, Dekalogforschung, 189–239, 281–305.
16 1. Teil: Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts

nicht isoliert dasteht, sondern immer im Zusammenhang mit dem allgemei-


nen Recht und der Geschichte Israels steht. Neuere Erkenntnisse in der Ge-
schichtsforschung ergeben deshalb auch immer wieder neue Überlegungen
zum apodiktischen Recht, die dann zu weiterer Literatur führen.
II. A. Alt: Die Entdeckung des Apodiktischen Rechts
II. A. Alt: Die Entdeckung des Apodiktischen Rechts

1. Kasuistisches und Apodiktisches Recht

A. Alt war nicht der erste, der sich um die Frage einer Einteilung der Rechts-
normen nach formalen oder inhaltlichen Gesichtspunkten bemüht hat. Erst
ihm gelang es aber, eine Unterteilung vorzulegen, die trotz aller Kritik – im
Grundsatz – bis heute Bestand hat. Die Bezeichnungen „kasuistisches Recht“
und „apodiktisches Recht“ haben sich durchgesetzt und werden auch von
denjenigen Forschern benutzt, die die Bezeichnung „apodiktisches Recht“
ablehnen oder nur eingeschränkt anwenden wollen und eigentlich andere
Formulierungen benutzen möchten.1 Wenn diese Begriffe genannt werden,
weiß jeder, worum es geht. Jeder Theologe kennt den Aufsatz „Die Ursprünge
des israelitischen Rechts“ von 1934. H. J.Boecker schlägt deshalb ausdrücklich
vor, diesen Begriff trotz aller Kritik beizubehalten.2
Dabei ist es schon erstaunlich, wie A. Alt auf wenigen Seiten eine derart
wichtige Materie bewältigt und einen solch zwingenden Vorschlag machen
kann3. Hinzu kommt, dass seine Art zu schreiben den Leser mitnimmt und
überzeugt. Man spürt seine Sachkenntnis und Souveränität, so dass das Lesen
seiner Texte, obwohl sie sehr spezielle Themen behandeln, schon fast eine
Freude ist. Der Leser begleitet den Autor auf seiner Entdeckungsreise durch
das Recht und hat das Gefühl, unmittelbar dabei zu sein, wenn dieser am
biblischen Text arbeitet und seine Gedankengänge entwickelt. Seine Art zu
schreiben ist pädagogisch zwingend aufgebaut. Sein grundlegender Aufsatz
soll im Folgenden etwas ausführlicher dargestellt werden, weil er die Grund-
lage für die weiteren Diskussionen darstellt. Dies gibt gleichzeitig auch Gele-
genheit, bereits hier schon einige weiterführende Überlegungen anzustellen.
A. Alt beginnt mit dem Hinweis auf die frühere traditionelle Auffassung,
wonach alle Rechtsordnungen direkt „dem göttlichen Willen Jahwes“ ent-
stammten und durch Mose beim Bundesschluss übermittelt worden seien.
Die dann aber immer bewusster wahrgenommenen Widersprüche und Un-

1
W. Schottroff, Der altisraelitische Fluchspruch, 95 (mit weiteren Nachweisen).
2
H. J. Boecker, Recht und Gesetz, 171.
3
A. Alt, Ursprünge, 278–332.
18 1. Teil: Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts

gereimtheiten seien von der „konsequenten Literarkritik“ durch die Feststel-


lung verschiedener durchlaufender Schichten erklärt worden, denen die ver-
schiedenen Rechtskorpora hätten zugeordnet werden können.4 Aus dem
traditionellen Nebeneinander der Korpora, aus einem gemeinsamen mosai-
schen Ursprung sei ein Nacheinander einzelner verschiedener Stadien und
Tendenzen der israelitischen Rechtsentwicklung geworden.5
Die Literarkritik sei dann aber bei einer rein literarischen Betrachtung
stehen geblieben. Die Ermittlung der mündlichen Vorstufen sei demgegen-
über wichtig. Die vorliegenden Korpora (hauptsächlich das Bundesbuch, das
Heiligkeitsgesetz und der Dekalog) seien in ihren immer wieder überarbei-
teten heutigen Formen nur „Werke von Epigonen“, so dass „infolgedessen die
Ursprünge des israelitischen Rechts jenseits von ihnen gesucht werden müs-
sen.“ 6 Auch die weit ältesten – schriftlichen – Fassungen seien immer noch
sekundär. Man müsse zurück zu den vorliterarischen Stufen. „Rechtswer-
dung ist ja grundsätzlich ein Vorgang nicht des literarischen Schaffens,
sondern des gelebten Lebens.“ 7
Hierfür sei nun die „gattungs- oder formgeschichtliche Forschung“ die geeig-
nete Methode.8 (A. Alt erwähnt in diesem Zusammenhang H.Gunkel nur in
einer Fußnote; J.Wellhausen wird überhaupt nicht genannt!) Mit ihr könne
man die „Frühzeit volksmäßiger mündlicher Gestaltung und Überlieferung vor
aller Literatur“9 sicher ermitteln, wobei bestimmte Inhalte immer mit be-
stimmten Ausdrucksformen verbunden seien. Form und Inhalt gehörten
immer eng zusammen. Die Formen seien nicht erst von Schriftstellern ge-
schaffen worden, sondern von jeher den verschiedenen Gattungen von Tex-
ten und Überlieferungen aufgeprägt gewesen.
Mit dieser Erkenntnis beginnt A. Alt dann die einzelnen Rechtsnormen des
Hexateuch zu untersuchen und beginnt mit den kasuistischen Rechtssätzen.
Es sind dies für ihn die ‫שׁ ָפּטִים‬
ְ ‫ ִמ‬aus der Überschrift von Ex 21,1. Diese sind
über den ganzen Hexateuch verteilt. A. Alt geht dabei von einem „ursprüng-

4
A. Alt, Ursprünge, 279.
5
Ebd., 280.
6
Ebd., 282.
7
Ebd., 284; Auf diesen von A. Alt mehr nebenbei geschriebenen Satz kann man m. E. gar nicht
eindringlich genug hinweisen. Bei allen Erörterungen über die Entstehung von Recht wird dieser
Umstand meistens nicht ausreichend beachtet. Rechtsnormen sind immer nur Glieder in einer
langen schriftlichen oder mündlichen Traditionskette. Keine Gesellschaft kommt ohne Recht aus.
Es gibt deshalb immer Rechtsvorgänger.
8
Ebd., 284.
9
Ebd., 284.
II. A. Alt: Die Entdeckung des Apodiktischen Rechts 19

lichen Corpus der kasuistisch formulierten Rechtssätze“ aus,10 der sich dann
über den gesamten Text in unterschiedlicher Ausprägung verteilt habe.

Anmerkung:
Eine solche ursprüngliche Sammlung kasuistischen Rechts, in Form eines
geschlossenen Textes, der sich dann aufgesplittert habe, wird es aber mit
größter Wahrscheinlichkeit nicht gegeben haben. Wer sollte ihn verfasst und
für welchen Bereich sollte er gegolten haben? Palästina war im 12. und 11. Jh.
ethnisch und territorial stark zergliedert und hatte keine geschlossene Ge-
stalt. Die kanaanäischen Stadtstaaten bildeten kein einheitliches System.
Wenn das kasuistische Recht also von diesen Kleinstaaten „übernommen“
worden sein sollte, was m. E. in dieser Form überhaupt nicht eindeutig ist,
dann können es auch nur regional unterschiedliche Rechtssysteme gewesen
sein, die verschieden ausgeprägt waren.
Was sich dagegen im kasuistischen Recht des Alten Testaments wiederfin-
det, ist das allgemeine altorientalische System des „case law“, das überall
Anwendung fand und deshalb auch im israelitischen Rahmen auftaucht, weil
es bestimmte gesellschaftliche Verhältnisse (geschlossene Siedlungen,
Grundbesitz, Handelsverkehr usw.) zu regeln hatte. Recht folgt dem tatsäch-
lichen Leben und entwickelt sich immer dann, wenn es benötigt wird. Wenn
z. B. heute Aktiengesellschaften mit ihrer komplizierten finanziellen Beteili-
gung vieler Anleger wirtschaftlich erforderlich werden, dann muss ein Ak-
tiengesetz geschaffen werden – und nicht umgekehrt. Oder noch deutlicher:
‚Weltraumrecht‘ entwickelt sich erst dann, wenn der Mensch in der Lage ist,
die Erde zu verlassen. Vorher braucht man sich damit nicht zu beschäftigen.
Das kasuistische Recht des Alten Testaments kann deshalb – bei Bedarf –
direkt ‚übernommen‘ worden sein, kann aber auch selbständig innerhalb
israelitischer Gemeinschaften entstanden sein und sich dort fortentwickelt
haben. Bei A. Alt stand sicher – unausgesprochen – der Wunsch dahinter,
eine geschlossene, einheitliche ‚Gattung‘ durch die Zeitläufe zurückverfolgen
zu können.

Das kasuistische Recht zeichnet sich nach A. Alt zunächst durch seinen
„objektiven Wenn-Stil“ aus. Die konditionalen Vordersätze werden mit dem
ִ ִ
stärkeren ‫„( כּי‬gesetzt dass“) und dem schwächeren ‫„( אם‬wenn“) eingeleitet.
Die Nachsätze bringen dann die Rechtsfolge. Diese Satzkonstruktionen wi-

10
A. Alt, Ursprünge, 286.
20 1. Teil: Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts

dersprechen eigentlich dem hebräischen Sprachgefühl, das keine langen ver-


schachtelten Sätze liebt. Hier sind sie aber der Sache wegen erforderlich. Als
Musterbeispiel bringt A. Alt Ex 21, 18–19:11

‫שׁים ְו ִה ָכּה־ ִאישׁ ֶאת־ ֵר ֵעהוּ‬ ִ ָ‫ְו ִכי־י ְ ִרי ֻבן ֲאנ‬
ְ ‫ְבּ ֶאבֶן א ֹו ְב ֶאגְר ֹף וְֹלא י ָמוּת ְונָפַל ְל ִמ‬
‫שׁכָּב׃‬
‫שׁ ַענְתּ ֹו‬
ְ ‫ִאם־י ָקוּם ְו ִהתְ ַה ֵלְּך ַבּחוּץ ַעל־ ִמ‬
‫שׁבְתּ ֹו י ִתֵּ ן ו ְַרפּ ֹא י ְַרפֵּא׃‬
ִ ‫ְונִקָּה ַה ַמּכֶּה ַרק‬

„Wenn Männer streiten und einer verwundet seinen Nächsten mit einem Stein
oder der Faust, dieser stirbt aber nicht, sondern wird bettlägerig, wenn er auf-
stehen und im Freien an seiner Krücke umhergehen kann, dann soll der Schlä-
ger straflos bleiben, soll aber den Unterhalt und die Heilkosten (des Verletzten)
erbringen.“

Hier haben wir einen langen Vordersatz mit Hauptfall (‫ )כִּי‬und Unterfall
(‫)אִם‬, der den speziellen, zu entscheidenden Sachverhalt (Tatbestand) bringt,
und dann die daran anschließende „Entscheidung“, die Rechtsfolge. Genau
genommen sind es sechs Vordersätze und drei Nachsätze. Viele andere ka-
suistische Rechtssätze sind einfacher und kürzer; aber „das grundsätzliche
Anliegen der kasuistischen Formulierung bleibt überall das gleiche.“12
Diese Rechtsform hat nach A. Alt ihren Sitz in der normalen Gerichtsbar-
keit der einzelnen selbständigen Ortschaften. Es ist die örtliche Laienge-
richtsbarkeit der Ältesten als Repräsentanten der „im Tor versammelten
Rechtsgemeinde.“13 Dieser konkrete ‚Sitz im Leben‘ besage aber noch nichts
über die Herkunft, über die „letzten Ursprünge dieses Rechts“. Dies müsse
gesondert ermittelt werden.
Hierfür seien die aufgefundenen Rechtsbücher des alten Orients, der Baby-
lonier, Assyrer und Hethiter vergleichend heranzuziehen. Hierzu gehöre
insbesondere der ‚Codex Hammurapi‘. Derartige Vergleiche seien möglich,
weil das kasuistische Recht im Hexateuch, ebenso wie das orientalische, völlig
neutral, ohne Bezug auf Volk und Religion, abgefasst sei. Es würden nur die
Verhältnisse von Mensch zu Mensch geregelt. Es sei keine Gebundenheit an
Jahwe erkennbar.14

11
A. Alt, Ursprünge, 287.
12
Ebd., 288.
13
Ebd., 287.
14
Ebd., 294.
II. A. Alt: Die Entdeckung des Apodiktischen Rechts 21

Es sei deshalb zulässig, diese Rechtsform auf die „Vorbewohner des Kultur-
landes von Palästina“15, die Kanaanäer, zu beziehen, die allgemein orientali-
sches Recht benutzt hätten. Als die „israelitischen Stämme im Lauf der zwei-
ten Hälfte des 2. Jahrtausends v. Chr. in deren Kreis eintraten“, sei eine Er-
weiterung der Rechtsformen erforderlich geworden, was dann zu einer
„Übernahme … der Kanaanäischen Rechtsordnungen“ geführt habe.16 Es
lägen zwar keine Originalquellen des kanaanäischen Rechts vor, auch der
Vorgang der Übernahme durch die einwandernden Israeliten sei unbekannt,
von einer Herkunft aus diesen Stadtstaaten könne aber ausgegangen werden.
Als Träger und Wahrer dieses Rechts kann A. Alt sich die sog. ‚kleinen
Richter‘ aus dem Richterbuch 10,1–5 vorstellen, wobei Josua aus Jos 24
eventuell hinzuzurechnen sei.17

A. Alt kommt sodann zum „Apodiktischen Recht“, seiner eigenen – sprach-


lichen – Schöpfung. Diesem widmet er den größten Teil seiner Arbeit. Er
geht dabei davon aus, dass die „israelitischen Stämme natürlich schon in der
Wüste“ (!) Rechtsordnungen gehabt hätten. Beide Rechtsordnungen (Israel
und Kanaan) seien dann aufeinander geprallt. Dies sei heute noch in den
Texten erkennbar. Es gebe viele Stellen, besonders im Bundesbuch, „an de-
nen der gewaltsame Einbruch eines nach Form und Inhalt anderen Rechts, also
doch wohl des israelitischen, in das kasuistische noch im heutigen Text offen
zutage liegt.“18
A. Alt erwähnt als erstes das Talionsrecht aus Ex 21,23–25. Hier erscheint
das dem kasuistischen Recht fremde „Du“ der direkten Anrede. Auch be-
stehe eine inhaltliche Diskrepanz. Die Talionsformel wolle einer zu milden
Ersatzleistung bei Körperverletzungen durch das kasuistische Recht entge-
genwirken. Die Talionsformel sei daher ein israelitischer Eintrag in das vor-
gefundene kanaanäische, kasuistische Recht.
Auch in Ex 21,12–14 seien zwei Rechtsformen aufeinander gestoßen und
hätten zu einer Kompromisslösung geführt. Die kasuistische Differenzierung
zwischen Mord und Totschlag habe mit der unbedingten Folge von Blut-
rache oder „Hinrichtung“ bei Tötung eines Menschen kollidiert. Das Ein-
greifen Gottes durch Zuweisung eines Asylplatzes gleiche letzteres wieder

15
A. Alt, Ursprünge, 295.
16
Ebd., 296.
17
Ebd., 300: A. Alt geht dabei, ganz selbstverständlich, noch von einer sakralen Amphiktyonie aus –
unter Verweis auf Noth (s. 300, Fußnote 1).
18
Ebd., 302.
22 1. Teil: Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts

aus.19 Im Übrigen sei das ganze Kapitel Ex 21 ab Vers 12 eindeutig nicht


mehr kasuistisches Recht. A. Alt kommt damit zu der sog. Todesrechtsreihe,
den ‫מוֹת יוּמָת‬-Sätzen. Die Sätze dieser Reihe haben eine vom kasuistischen
Recht völlig abweichende sprachliche Struktur.

‫ַמכֵּה אִישׁ ָומֵת מוֹת יוּמָת‬


(Ex 21,12)

(„Wer einen Menschen so schlägt, dass er stirbt, muss sterben“)

Dieser Satz ist nicht direkt ins Deutsche zu übersetzen. Er kann nur sinnge-
mäß wiedergegeben werden. Das einleitende Partizip ‫ ַמכֵּה‬ist Substantiv und
Objekt zugleich und ist nur relativisch aufzulösen: „Wer einen Menschen
schlägt …“ Das abschließende ‫ מות יוּמָת‬ist eine typisch hebräische Sprachform
und ebenfalls kaum zu übersetzen. Man kann es mit „… muss unbedingt
getötet werden!“ inhaltlich wiedergeben.
Es handelt sich bei diesem Satz nach A. Alt um einen „hebräischen Fünfer“,
der langsam und nachdrücklich gesprochen werden muss, um die ganze
„Wucht des Ausdrucks“ zur Geltung zu bringen. Dieser Stil ist ein anderer
als der der kasuistischen Sätze. „Wir wollen ihn den apodiktischen Stil nen-
nen.“20
Dies war die Geburtsstunde bzw. der Namenstag des apodiktischen Rechts.
Zum inhaltlichen Unterschied weist A. Alt auf die Unbedingtheit der Aus-
sage und die dahinter stehende Autorität hin: „Es ist Jahwe, der für jedes ver-
gossene Blut strenge Sühne verlangt!“ Es gibt keinen Unterschied zwischen
Mord und Totschlag, keine Möglichkeit von Ersatzzahlungen, kein Asyl. Hier
spricht der strenge Wille des Volksgottes.21
Die Sätze von Ex 21,12–17 bilden eine Reihe gleichmäßig aufgebauter
Sätze, wobei die vorliegende Aufzählung nicht vollständig überliefert ist.
Diese Reihenbildung ist für A. Alt ein typisches Merkmal, das auch bei ande-
ren Gruppen auftauche. Durch die Verlesung solcher Reihen werde eine
„besonders gesteigerte Wirkung“ erzielt, die sich dem Hörer „förmlich ein-
hämmert.“22

19
A. Alt, Ursprünge, 306.
20
Ebd., 308.
21
Ebd., 309.
22
Ebd., 311.
II. A. Alt: Die Entdeckung des Apodiktischen Rechts 23

Die nächste von A. Alt vorgestellte Reihe apodiktischer Normen ist die
Sammlung der alten ‫אָרוּר‬-Sätze, die sog. Fluchreihe aus Dtn 27,15–16, die
verschiedene „heimliche“ Vergehen zum Inhalt hat.23 Ein Beispiel:

‫אָביו ְוא ִ֑מּ ֹו וְאָמַ ֥ר כָּל־ה ָ ָ֖עם אָמֵ ֽן׃‬


֖ ִ ‫אָרוּר ַמקְלֶ ֥ה‬
֣
(Dtn 27,16)

(„Verflucht, wer seinen Vater und seine Mutter schmäht, und das ganze Volk
spreche: Amen.“)

Auch diese Sätze sind schwer zu übersetzen. Die hier ebenfalls verwendeten
Partizipien, z. B. ‫ ַמ ְקלֶה‬, müssen wieder relativisch aufgelöst werden: „Wer
seinen Vater und (oder) seine Mutter schmäht, …“ Diese Sätze sind noch
prägnanter und kürzer. Sie bestehen – ohne den Zusatz über die Bestätigung
durch das Volk – aus nur vier Worten. Sie beschäftigen sich mit der Schmä-
hung der Eltern, Grenzsteinverrückung, Irreführung eines Blinden, Rechts-
beugung gegen Fremde, Waisen und Witwen, Blutschande, Sodomie, mit
heimlichem Totschlag und Auftragsmord. Diese Delikte werden, wie alle
Forscher erkannt haben, im Geheimen begangen und entziehen sich meist
der menschlichen Gerichtsbarkeit. Die Aufklärungsquote ist gering. Deshalb
sind sie dem Fluch, ‫אָרוּר‬, unterstellt. Die Täter werden der Strafe Gottes an-
heimgegeben. Gleichzeitig sagt sich das Volk als Gemeinschaft von diesen
Straftätern und derartigen Straftaten unwiderruflich los.24 Diese Reihe hat
ebenso wie die ‫מוֹת יוּ ָמת‬-Reihe nach Form und Inhalt keinerlei Ähnlichkeit
mit dem kasuistischen Recht.25
Eine dritte vergleichbare Reihe hat A. Alt dann im Heiligkeitsgesetz, in Lev
18,7–17, entdeckt, die sich mit Unzucht unter Verwandten befasst („Scham-
reihe“).
Ein Beispiel:

‫ָתהּ׃‬
ֽ ָ ‫אָב֛יָך ְוע ְֶרוַ ֥ת ִאמְּ ָך֖ ֹל֣ א תְ ג ֵַלּ֑ה אִ ְמָּך֣ ִ֔הוא ֹל֥ א תְ ג ֶַלּ֖ה ע ְֶרו‬
ִ ‫ע ְֶרוַ ֥ת‬
(Lev 18,7)

(„Die Scham deines Vaters, die Scham deiner Mutter, darfst du nicht entblößen.
Sie ist deine Mutter, du darfst ihre Scham nicht entblößen.“)

23
A. Alt, Ursprünge, 313.
24
Vgl. insgesamt W. Schottroff, Fluchspruch, 231.
25
Ironischerweise sind es gerade diese beiden Partizipialreihen, an denen sich später die Kritik
entzündet. Es wird die Auffassung vertreten, dass es sich wegen der sprachlichen Form doch um
kasuistisches Recht handelt, eine m. E. aber unzutreffende Ansicht.
24 1. Teil: Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts

Hier ändert sich allerdings der Sprachstil. Aus der objektiven Feststellung
wird eine direkte Anrede. Dies erfolgt im Hebräischen hier nicht durch das
schwächere ‫ אַל‬mit Jussiv, sondern durch das stärkere ‫ ֹלא‬mit Indikativ Imper-
fekt, also ‫ֹלא תְ גַלֵה‬. „Das gibt ihnen den gleichen Ton kategorischer Unbedingt-
heit.“26 Das Verbot ist dermaßen autoritativ gedacht, dass es nicht mehr im
Jussiv, sondern als Feststellung ausdrückt werden kann. Für diese Sprach-
form hat sich inzwischen allgemein der Begriff „Prohibitive“ durchgesetzt
(E. Gerstenberger).27
Inhaltlich geht es um die Verhinderung von Blutschande und Verwandten-
ehe. Es soll dem „Durcheinander der Geschlechtsgemeinschaft“28 innerhalb
von Großfamilien, bei denen mehrere Generationen eng beieinander woh-
nen, vorgebeugt werden. Dafür müssen die Verwandtschaftsgrade, die die
entsprechenden Verbote ergeben, genau angegeben werden.
Nach Erörterung einiger weiterer kleinerer Reihen aus Ex 23 kommt A. Alt
dann zum zentralen Thema, dem Dekalog aus Ex 20. Dessen apodiktische
Grundstruktur könne man aber erst nach Entfernung der verschiedenen,
nachträglichen Zusätze, insbesondere im ersten Teil, erkennen. A. Alt geht
von einer geschlossenen und vollständigen „Urform“ des Dekalogs aus.29
Die Sätze sind als Prohibitive in knappster Form gestaltet. Insbesondere
das 6., 7. und 8. Gebot sind an Präzision nicht zu übertreffen. Sie bestehen im
Hebräischen nur aus zwei Worten, nämlich wieder ‫ לא‬mit Imperfekt:

‫ֹלא תִּ ְרצָח‬ „Du sollst nicht morden“


‫ֹלא תִּ נְאָף‬ „Du sollst nicht ehebrechen“
‫ֹלא תִּ גְנ ֹו‬ „Du sollst nicht stehlen“

Auch hier ist im Deutschen wieder nur eine inhaltliche Wiedergabe möglich.
Schwierigkeiten bereiten A. Alt deshalb dann die Gebote der Sabbatheili-
gung und der Elternehrung, die positiv abgefasst sind. Er vermutet eine ur-
sprünglich negative Formulierung. Dahinter steht bei ihm der Wunsch nach
einer ursprünglichen einheitlich formulierten Sammlung, die erst im Laufe
der Tradition verändert wurde, was zu den erörterten Schwierigkeiten führte.
Andererseits will er einräumen, dass der jeweilige Inhalt eine besondere

26
A. Alt, Ursprünge, 315.
27
H. J. Boecker, Recht und Gesetz, 177.
28
Ebd., 176.
29
A. Alt., Ursprünge, 317.
II. A. Alt: Die Entdeckung des Apodiktischen Rechts 25

Form erfordert habe, so dass es sich dann vielleicht doch wieder um ur-
sprüngliche Formulierungen gehandelt haben könnte.30 Weil der Dekalog
„offensichtlich das Ganze umfassen“ wolle, sei dann der „Verzicht auf Eben-
mäßigkeit der Satzgestaltung“ erforderlich geworden.31
Die für A. Alt wichtigste Frage ist aber die Suche nach den Ursprüngen, der
Herkunft des apodiktischen Rechts und seinem „Sitz im Leben“. Er kommt
wegen der Andersartigkeit von Form und Inhalt im Vergleich zum kasuisti-
schen Recht zu dem für ihn eindeutigen Ergebnis:

„Alles in ihnen ist vielmehr volksgebunden israelitisch und gottgebunden jah-


wistisch.“32

Innerhalb Israels sieht er die Wurzeln dieses Rechts nicht in der – kasuisti-
schen – Gerichtsbarkeit, sondern in der ganzen Volksgemeinschaft, die von
außen, von Gott, angesprochen wird. Der Vortrag dieses Rechts ist das
„Kernstück eines sakralen Akts.“33 Der Rahmen hierfür ergibt sich für ihn aus
Dtn 27 und Dtn 31,9–13, dem sog. Bundeserneuerungsfest, mit der alle
sieben Jahre erfolgenden Verlesung von Gottes Geboten. Das apodiktische
Recht gehört damit für A. Alt in den Bundesschluss. Der Dekalog lässt diesen
Bundesschluss zwischen Jahwe und Israel besonders deutlich erkennen. Für
ihn ist sicher, „dass die Voraussetzungen für das Aufkommen dieser Gattung
sofort gegeben waren, als die Bindung an Jahwe und in ihrer Folge die Institu-
tion der Bundesschließung und Bundeserneuerung zwischen ihm und Israel ins
Leben trat.“34 Letztlich gingen die Ursprünge in die Wüste (Sinai) zurück.
Bei dem Zusammenprall dieses Rechts mit den vorgefundenen kanaanäi-
schen Rechten habe sich dann die Lebensfähigkeit Israels bewiesen. Der
„Kampf beider Rechte“ fülle die israelitische Rechtsgeschichte bis zu ihrem
Abschluss.35

30
A. Alt, Ursprünge, 319.
31
Ebd., 321.
32
Ebd., 323.
33
Ebd., 324.
34
Ebd., 330.
35
Ebd., 332.
26 1. Teil: Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts

2. A. Alt und die heutige Forschung

Wenn man diese grundlegenden Angaben von A. Alt betrachtet, kann man
sich einer gewissen Melancholie nicht erwehren. Was hätte er wohl gesagt,
wenn er mit den heutigen Forschungsergebnissen, insbesondere zur Ge-
schichte Israels konfrontiert würde? Er hätte seinen Aufsatz so nicht schrei-
ben können, zumindest nicht zur Herkunft des apodiktischen Rechts. Er ging
von vielen falschen historischen Voraussetzungen aus, die sich aus den da-
maligen Vorstellungen über die Entstehung des Volkes Israel ergaben. Israel
war aber nicht in der Wüste. Es gab keine Gesetzesoffenbarung am Sinai,
keine Amphiktyonie und erst recht kein Bundeserneuerungsfest. Auch die
„kleinen Richter“ waren nicht „bundesweit“ tätig. Die Frage nach der Her-
kunft und dem ‚Sitz im Leben‘ hätte A. Alt deshalb anders beantworten müs-
sen.
Trotzdem bleibt es sein unbestreitbares Verdienst, eine allgemein akzep-
tierte gattungsgeschichtliche Einteilung der vielen alttestamentlichen Rechts-
normen vorgeschlagen zu haben. Auf dieser Grundlage bauen alle weiteren
Untersuchungen auf. Die grundsätzliche Einteilung in kasuistisches und
apodiktisches Recht hat bis heute Bestand und wird auch weiterhin bei Un-
tersuchungen des israelitischen Rechts benutzt werden. Dabei ist allerdings
sein Grundsatz, dass es zwischen den beiden Rechtsgattungen mit der unter-
schiedlichen Trägerschaft einen „Kampf beider Rechte“36 gegeben habe, nicht
zwingend. Er verkennt dabei die große Variationsbreite von Rechtsentwick-
lungen. Unterschiedliche Rechtstypen müssen nicht zwangsläufig in Konkur-
renz zueinander stehen. Sie können sich durchaus auf gleichem Boden
gleichberechtigt nebeneinander entwickeln. Recht hat immer die Aufgabe,
bestimmte Sachgebiete zu regeln. Und wenn es unterschiedliche Lebensbe-
reiche gibt, haben wir auch unterschiedliches Recht, und zwar nicht nur vom
Inhalt, sondern auch vom formalen Aufbau her. Daß diese Rechte unter-
schiedlicher Herkunft sein können, ist dabei außer Frage. Es kommt aber
immer auf den letztmalig tätigen Gesetzgeber, vergleichbar dem Endredak-
tor, an. Dieser entscheidet, was geregelt werden soll und wie, und zwar ak-
tuell und unabhängig von irgendwelchen zurückliegenden Entwicklungen.
Bei Neufassungen von Gesetzen gibt es nie einen Kampf zwischen verschie-
denen Rechtssystemen, sondern immer nur einen Kampf von Interessen-

36
A. Alt, Ursprünge, 322.
II. A. Alt: Die Entdeckung des Apodiktischen Rechts 27

gruppen, die einen für sie möglichst günstigen Anteil am Gesetzesvolumen


sicherstellen möchten. Unterschiedliche Rechtstypen haben je ihre Aufgabe.
Im heutigen Rechtsstaat sind z. B. das Verfassungsrecht und das positive,
kodifizierte Recht zwei grundverschiedene ‚Gattungen‘. Beide stehen aber in
einer bestimmten Funktion neben- bzw. übereinander, so wie es vom Ge-
setzgeber beabsichtigt ist. Kasuistisches und apodiktisches Recht müssen
daher primär auf ihre in der Endfassung vorliegende Struktur und auf ihre
Beziehung zueinander untersucht werden. Herkunft und frühere Träger-
schaften sind dabei nur von rechtshistorischem Interesse.
Es muss sogar offen bleiben, ob wir vor den biblischen Endtexten über-
haupt schon von einem apodiktischen Recht sprechen können. Im 2. Teil
dieser Arbeit soll dargelegt werden, dass das apodiktische Recht nicht in der
Frühzeit Israels entstanden ist, sondern erst eine späte Entwicklung darstellt.
Selbstverständlich gab es, wie überall, apodiktische Redeweise, allgemeine
Hinweise und Ermahnungen weisheitlicher Art; die Frage ist aber, inwieweit
derartigen Aussprüchen bereits ein verbindlicher Rechtscharakter zukam
und welche Stellung sie innerhalb der frühen israelitischen Rechtsordnung
hatten. Die präzise Zusammenstellung und Zuordnung von apodiktischem
und kasuistischem Recht finden wir erst in den biblischen Texten, die alle
nicht in die Frühzeit Israels gehören.
III. Weitere Forschung
III. Weitere Forschung

1. Sprachliche Untersuchungen

Die zahllosen Untersuchungen nach der Veröffentlichung des Aufsatzes von


1934 beschäftigten sich bezeichnenderweise weniger mit dem kasuistischen
Recht, sondern fast ausschließlich mit denjenigen Texten, die A. Alt unter
dem Begriff „apodiktisches Recht“ zusammengefasst hatte. Letzteres war der
Stoff, an dem sich die ganze Diskussion entzündete. Für viele Autoren
konnte das, was A. Alt vorgetragen hatte, einfach nicht richtig sein. Es passte
„hinten und vorne“ nicht zusammen. Die Texte waren in sprachlicher und
inhaltlicher Hinsicht viel zu unterschiedlich.
Beim kasuistischen Recht war man sich dagegen weitgehend einig. Dieses
hatte eine klare Struktur und konnte auch seiner Herkunft nach ziemlich
unstreitig in den allgemeinen altorientalischen Rechtskreis eingeordnet wer-
den. Es bestand in Palästina bereits in vorisraelitischer Zeit und ließ sich
rechtsvergleichend und rechtshistorisch zureichend mit anderen Rechtskrei-
sen vergleichen. Man hatte sich sogar auf eine feste Regel, ein Schema ge-
einigt, nach dem alle kasuistischen Rechtssätze – im Prinzip – aufgebaut sind,
die sog. „lex Rössler“1.
Dieses Schema entspricht der Bestimmung des kasuistischen Rechtssatzes
durch A. Alt. Dessen Definition hat sich allgemein durchgesetzt.2 Es gilt der
objektive „Wenn-Stil“, der im Hebräischen mit ‫ כִּי‬oder ‫ ְוכִּי‬eingeleitet wird
und dem weitere Unterfälle mit ‫ אִמ‬oder ‫ ְואִמ‬angefügt werden können. Dem
folgt dann der Rechtsfolgesatz, sozusagen als „Antwort“ auf den vorangegan-
genen Problemfall. Wir haben es mit einer Protasis und der folgenden Apo-
dosis zu tun. Im Zusammenhang mit A. Alt war bereits ein Musterbeispiel,
Ex 21,18–19 (S. 15), vorgestellt worden.
Allerdings wird die Frage nach der Herkunft dieser kasuistischen Rechts-
normen sehr intensiv diskutiert. Eine direkte, literarische Abhängigkeit vom
orientalischen Recht, z. B. dem Codex Hammurapi, wird dabei allgemein

1
G. Liedke, Gestalt, 36.
2
H. J. Boecker, Recht und Gesetz, 129f.
30 1. Teil: Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts

nicht mehr angenommen. Wieweit demgegenüber eine „Übernahme“ von


den kanaanäischen Stadtstaaten erfolgt sein könnte, ist ebenfalls problema-
tisch. Es gibt keine direkten schriftlichen Zeugnisse kanaanäischen Stadt-
rechts.3 Hinzu kommt aus rechtshistorischer Sicht, dass Rechtsformen nicht
immer „übernommen“ werden müssen. Sie entstehen da, wo sie sachlich
benötigt werden. Kasuistisches Recht kann überall entstehen, z. B. in Eng-
land, wo das „case law“ den klassischen Kern des angelsächsischen Rechts
darstellt. Das „case law“ stammt auch nicht aus Mesopotamien. Die Frage der
Herkunft und einer „Übernahme“ ist also streitig. Ansonsten besteht aber
über Umfang und Charakter des kasuistischen Rechts allgemeiner Konsens.

Diese weitgehende Einigkeit hört aber beim apodiktischen Recht auf. Nur
die direkten Prohibitive, mit ‫ ֹלא‬Impf. (‫ֹלא תִּ ְרצַח‬, Ex 20,13) oder mit ‫ אַל‬Jussiv
in der 2. Pers. Sg. oder Pl., werden von allen Autoren als „sauberes“ apodikti-
sches Recht angesehen.4 Alle anderen Formen, insbesondere die ‫אָרוּר‬- und
die ‫מוֹת יוּמַת‬-Reihen werden diskutiert. Hier wird darauf hingewiesen, dass
diese Sätze in der Partizipial- oder Relativform abgefasst sind und dass sie
sehr wohl eine „Rechtsfolge“ enthalten, nämlich Fluch oder Tod. Auch wenn
es sich nur um einen geschlossenen hebräischen Satz handele und das einlei-
tende Partizip zugleich das Subjekt und das Objekt darstelle, müsse man
diese Sätze „kasuistisch“ mit Tatbestand und Rechtsfolge auflösen. Sie ge-
hörten deshalb nicht zum apodiktischen Recht.
G. Liedke hat in seiner Untersuchung die umfangreiche Diskussion hierzu
ausführlich vorgestellt.5 Genannt werden die Autoren Heinemann, Revent-
low, Feucht, Kilian, Fohrer, Gese, Gerstenberger, Jepsen, Caspari, Morgen-
stern, Cazelles, Sauber, Noth, Westermann, Horst und Hentschke – eine
stattliche Reihe von Forschern, die sich alle kritisch mit der Einordnung der
Partizipial- und Relativformen in das apodiktische Recht auseinandersetzen.
Der Anzahl der Autoren entspricht dann auch die Anzahl der Lösungsvor-
schläge. Die meisten wollen sie als kasuistisches Recht oder als Rechtssätze
sui generis verstanden wissen.
A. Alt hatte für dieses Problem einen anderen Ansatz. Ausgangspunkt war
zunächst die Definition des kasuistischen Rechts als einer festen unstreitigen

3
H. J. Boecker, Recht und Gesetz, 134.
4
E. Gerstenberger beschäftigt sich dann auch im Wesentlichen nur mit den Prohibitiven (Wesen
und Herkunft).
5
G. Liedke, Gestalt, 101.
III. Weitere Forschung 31

Größe. Dieses Recht war für ihn kanaanäischen und nicht israelitischen Ur-
sprungs. Alle anderen Rechtsformen, die demgegenüber „volksgebunden
israelitisch und gottgebunden jahwistisch“ waren, gehörten dann für ihn zum
apodiktischen Recht. Deshalb konnte er die durchaus unterschiedlichen Rei-
hen und Einzelbestimmungen unter diesen einen Sammelbegriff stellen.
A. Alt hat m. E. im Ergebnis recht. Die Partizipial- und Relativsätze sind
zumindest kein kasuistisches Recht. Wer die ‫אָרוּר‬- und die ‫מוֹת יוּמַת‬-Bestim-
mungen, rein sprachlich, als Rechtsfolge im kasuistischen Sinne versteht,
verkennt den Grundcharakter des kasuistischen Rechts. Dieses stellt eine
Sammlung von Einzelfällen dar, die auf tatsächliche oder fiktive Fallentschei-
dungen, also Urteile von Gerichten oder anderen Autoritäten (König, Pries-
ter, Älteste) zurückgehen und deswegen auch nicht vollständig und keines-
wegs systematisch geordnet sein müssen. Sie zeigen, wie ein eingetretener
Rechtsfall entschieden werden sollte oder könnte, und haben eher Beispiel-
charakter. Ein neuer Fall kann in Einzelheiten anders gelagert sein und muß
dann eventuell auch anders entschieden werden.6 Dies wird auch beim Codex
Hammurapi sehr deutlich. Dieser erscheint, nach heutigen Gesichtspunkten,
weitgehend ungeordnet und ziemlich systemlos. Eine gewisse Logik ergibt
sich erst, wenn man ihn als eine erzählende Fallsammlung versteht, mit der
ein Überblick über entschiedene Verfahren für ein rechtsuchendes Publikum
und für spätere Entscheidungen gegeben werden soll.7
Diese damit, im Grundsatz, gegebene Variationsmöglichkeit hat das apo-
diktische Recht, so wie A. Alt es zusammengestellt hat, nicht. Es gilt absolut
und soll nicht diskutiert oder relativiert werden. Tod und Fluch sind keine
von einem Gericht festzusetzende Rechtsfolge, sondern die selbstverständli-
che, unbedingte Antwort auf das angesprochene Vergehen. ‫ אָרוּר‬und ‫מוֹת יוּמַת‬
sind nur formelhafte Wendungen, die zur einheitlichen Reihenbildung ge-
hören und keine Entscheidungsvorschläge darstellen sollen. Eine solche un-
bedingte Sanktion haben die reinen Prohibitive – unausgesprochen – auch
hinter sich stehen. Auch bei ihnen muß derjenige, der dagegen verstößt,
natürlich mit einer schwerwiegenden Sanktion, eben auch mit Tod oder
Fluch, rechnen. Diese Folge ist aber so selbstverständlich, dass sie nicht ein-
mal mehr ausgesprochen zu werden braucht. Bei den Partizipialreihen wird
diese Sanktion dann doch ausgesprochen, bleibt aber nur eine Formel und

6
H. J. Boecker, Recht und Gesetz, 129.
7
Ebd., 63.
32 1. Teil: Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts

bedeutet deshalb nicht, dass diese Normen zum kasuistischen Recht gehören.
Sie verbleiben unbedingtes, nicht zu diskutierendes apodiktisches Recht.
Hinzu kommt, dass die Autoren, die die Zugehörigkeiten zum apodikti-
schen Recht aus sprachlichen Gründen diskutieren, oft auch gar nicht ange-
ben, warum sie dies eigentlich erörtern. Welche Konsequenzen sollen sich
hieraus ergeben? Man hat oft den Verdacht, dass es nur darum geht, einzelne
Bestimmungen der „besseren“ oder „schlechteren“ Abteilung zuzuschlagen,
wobei das apodiktische Recht als die edlere Rechtsform angesehen wird, weil
dieses irgendwie doch „israelitisch“ sei.

2. Altorientalischer Rechtskreis, Hethitische Staatsverträge

Die Auffindung altorientalischer Rechtstexte, insbesondere des ‚Codex


Hammurapi‘ aus der Zeit zwischen 1728–16868 v. Chr. und der Staatsver-
träge des Hattireiches aus der Zeit von 1395–12309 v. Chr. brachten neuen
Schwung in die rechts- und religionsgeschichtliche Betrachtungsweise des
gesamten Alten Testaments. Die Zusammengehörigkeit aller Kultur- und
Religionskreise und eine gemeinsame Herkunft aus dem mesopotamischen
Raum wurde vermutet und ist mit dem Schlagwort „Pan-Babylonismus“
verbunden.10 Dies führte zu dem berühmten „Babel-Bibel-Streit“.
Die gefundenen Rechtstexte, insbesondere der CH, enthalten fast aus-
schließlich kasuistisches Recht in typischer Ausgestaltung. Es lag deshalb
nahe, die entsprechenden biblischen Texte auf das altorientalische Recht
zurückzuführen – vermittelt vielleicht über die kanaanäischen Stadtstaaten.
Die Vasallenverträge waren dagegen anders aufgebaut. Sie sind nicht ka-
suistisch, sondern apodiktisch gestaltet. Es spricht der Großkönig und dik-
tiert zwingende Vertragsbestimmungen. Hier ergab sich ein direkter Ver-
gleich zum Bundesschluß, zum Bundesbuch, zum Dekalog und damit zum
apodiktischen Recht.
Die 1907 von H. Winckler in Boghazköi (145 km östlich von Ankara) ent-
deckten und ausgegrabenen 17 Verträge sind in akkadischer und hethitischer
Sprache (Keilschrifttexte) abgefasst. Ihr Vergleich mit dem Bundesschluss
des Alten Testaments wurde viel diskutiert. G. Heinemann vertrat in einer

8
H. J. Boecker, Recht und Gesetz, 57.
9
G. Heinemann, Untersuchungen, 27.
10
Vgl. A. Jeremias, Das Alte Testament im Lichte des Alten Orients.
III. Weitere Forschung 33

Arbeit von 1958 die Auffassung, dass der Dekalog bzw. seine Vorformen
wegen der teilweise frappierenden Ähnlichkeit mit den Vasallenverträgen
direkt aus dem orientalischen Rechtskreis stammen müssten.11 Auch A. Phil-
lips geht in einer älteren Untersuchung von 1970 von einem entsprechenden
Ursprung aus12 und M. Weinfeld sah 1973 Ähnlichkeiten mit „Hethitischen
Dienstanweisungen“.13
Die Vasallenverträge werden heute aber kaum noch erörtert. Mögliche
Verbindungen hängen historisch gesehen auch im luftleeren Raum. Ähnlich-
keiten können sich völlig unabhängig voneinander aus der Thematik heraus
ergeben. Auch moderne notarielle Kaufverträge zeigen im Prinzip den glei-
chen Aufbau. So werden die Vasallenverträge im Dekalogbuch von Fr. Crü-
semann14 auch überhaupt nicht mehr erörtert und M. Köckert erwähnt sie in
seinem neuen Buch „Die Zehn Gebote“ 15 nur ganz am Rande, im Zusammen-
hang mit der Erörterung der Präambel des Dekalogs, ohne eine direkte Ver-
bindung herstellen zu wollen.
Dies ist auch zutreffend. Es ist ein falscher Ansatz, für den Dekalog frühe,
geheimnisvolle Vorformen zu suchen. Dieser ist aus sich selbst heraus, in
seiner jetzigen Gestalt und Stellung im biblischen Endtext zu interpretieren
und zu verstehen.

3. Amphiktyonie

Mit unserem Thema aufs engste verknüpft ist die Frage nach einem Stam-
mesverband in der Zeit vor der Staatenbildung im 10. Jahrhundert. Diese
Zeit war ja nach A. Alt primärer „Sitz im Leben“ des apodiktischen Rechts
mit seiner Verlesung am Bundeserneuerungsfest und seiner Bewahrung
durch die „kleinen Richter“. Die Amphiktyonie-Hypothese sollte helfen, den
an sich geschichtslosen und historisch kaum greifbaren Zeitraum zwischen
der sog. Landnahme und der Entstehung der Königreiche zu füllen. In der
Bibel (Richterbuch) sind zwar Berichte aus dieser Zeit vorhanden; der histo-
rische Wert dieser Angaben ist aber gleich Null. Man kann nur indirekte
Informationen entnehmen, die zur Frage der Amphiktyonie aber belegen,

11
G. Heinemann, Untersuchungen.
12
A. Phillips, Ancient Israel’s Criminal Law.
13
M. Weinfeld, Origin, 63–75.
14
Fr. Crüsemann, Bewahrung.
15
M. Köckert, Zehn Gebote.
34 1. Teil: Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts

wie es gerade nicht gewesen ist. Ein sakraler Stämmeverband, der sich um ein
Zentralheiligtum schart, Träger gemeinsamen Rechts ist und geschlossen
heilige Kriege gegen äußere Feinde oder abtrünnige Mitglieder führt, ist aus
diesen Texten nicht zu ermitteln. Bei dem Feldzug gegen die Benjaminiten
(Ri 19–21) und beim Deboralied (Ri 5) handelt es sich um keine gemeinsa-
men Aktionen eines Zwölfstämmeverbandes, ganz abgesehen von der Frage
nach dem historischen Wert dieser Berichte überhaupt.16 Im Gegenteil: „Aus
solchen Erzählungen wird erkennbar, dass die Phase des Zusammenwachsens
der einzelnen Stämme nicht ohne Rückschläge und schwere Auseinanderset-
zungen vor sich ging. Ohne straffe, gewaltreiche, einigende Hand war das Kon-
glomerat der einzelnen Stämme nicht zusammenzuhalten. Die partikularisti-
schen Tendenzen waren zu stark.“ 17

Dabei hatte die von M. Noth entwickelte Amphiktyonie-Hypothese18 viele


Vorteile. Die biblische Tradition wurde bestätigt. Eine unbekannte Epoche
wurde ausgefüllt. Man hatte einen Ursprung für die biblischen Texte, für die
Religion Israels, für den Monotheismus und, wichtig für das vorliegende
Thema, für die Gesetzgebung.19 M. Noth hat seine These deshalb auch bis zu
seinem Tode 1968 verteidigt.20
Diese Theorie lässt sich aber nicht aufrechterhalten. Es spricht zu viel da-
gegen. Eine Übertragung der griechischen Amphiktyonie nach Palästina
ist nicht möglich. R. d. Vaux hat sich mit diesem Problem ausführlich be-
schäftigt.21 Er lehnt die Annahme eines Stämmeverbands in der von Noth
vorgeschlagenen Form rundherum ab: „Many different kinds of political in-
stitutions existed in the great semitic world, but there was never anything
resembling a greek amphictyony.“ 22 Im Einzelnen führt er aus,23 dass die
Zwölfzahl für eine Amphiktyonie nicht konstitutiv sei. Nur der Delphische
Verband hatte zwölf Mitglieder. Die Zahl 12 gebe vielmehr eine – scheinbare
– Vollständigkeit, entsprechend dem Jahresrhytmus, wieder. Ein historisch
belegter Pakt der Stämme, wie im Josuabuch suggeriert, wurde nicht ge-
schlossen. Es gab kein gemeinsames Zentralheiligtum. Vielmehr tauchten

16
G. Fohrer, Altes Testament, 80. D. Kinet, Geschichte Israels, 2001, 55.
17
Ebd., 58.
18
Ebd., 58.
19
M. Noth, System.
20
J. A. Soggin, Einführung, 125.
21
R. d. Vaux, The Early History of Israel, 695.
22
Ebd., 700.
23
Ebd., 702.
III. Weitere Forschung 35

mehrere Heiligtümer in unterschiedlichen Zusammenhängen auf. Tabor,


Schilo, Bet-El, Mizpa, Gilgal oder Beerscheba erlangten nie eine zentrale
Bedeutung. Ein amphiktyonisches Gremium, eine Versammlung von Abge-
ordneten oder Ältesten, ist nicht belegt, ebenfalls nicht gemeinsames, für alle
geltendes Bundesrecht. Und schließlich fehlen, wie schon erwähnt, gemein-
same Aktionen aller Mitglieder. R. d. Vaux kommt zu dem Ergebnis: „The
use of the word ‚amphiktyonie‘ in connection with Israel can only cause confu-
sion and give a wrong impression of the mutual relationships between the dif-
ferent tribes. It should be abandoned.“ 24
Die Amphiktyonie wird man also verabschieden müssen. „Daß dadurch
auf historischem Gebiet eine Leere entsteht, ist eine für viele peinliche, doch
nicht zu leugnende Tatsache, wie immer man auch versuchen mag, diese
Leere auszufüllen.“25 Was soll man an ihre Stelle setzen? Irgendeine gesell-
schaftliche und politische Entwicklung, die dann zur Staatenbildung führte,
musste es schließlich gegeben haben. Womit soll man diese Lücke ausfüllen?
Die Antwort hängt damit zusammen, wie man die sog. „Landnahme“, also
die Besiedlung und bevölkerungspolitische Entwicklung, sieht. Auf die ver-
schiedenen „Modelle“ kann hier nicht näher eingegangen werden. Dass es
sich dabei um keinen dramatischen Eroberungszug eindringender Stämme
gehandelt hat, ist allgemeiner Konsens, wenn man von einigen Unentwegten
in den USA absieht. Es war ein im Ganzen friedlicher, innerpalästinensischer
Vorgang. Eroberer oder eindringende Nomaden („Transhumanz“) waren
nur in geringem Umfang daran beteiligt. „Die ‚Einwanderung Israels‘ war in
Wirklichkeit zum größten Teil eine Unterwanderung und Umschichtung der
Bevölkerung, z. T. auch eine Sesshaftwerdung vorher nicht sesshafter Gruppen,
die man ganz allgemein als ‚Nomaden‘ bezeichnen kann. Das war zumeist ein
friedlicher Vorgang. Es gab keine geschlossene Eroberungsaktion. Der Vorgang
ist in seinem detaillierten Ablauf nicht mehr rekonstruierbar.“ 26

Dabei darf man sich diese „Nomaden“ allerdings nicht als die Nachfahren
der Patriarchen vorstellen. Gemeint sind damit alle möglichen nicht sesshaf-
ten Gruppen, die von außen gekommen sein können und teilweise zu den

24
R. d. Vaux, The Early History of Israel, 715.
25
J. A. Soggin, Einführung, 125.
26
D. Kinet, Geschichte, 47.
36 1. Teil: Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts

„hapiru“ gehört haben mögen, die es überall, nicht nur in Ägypten, gab;27
überwiegend waren es aber Gruppierungen, die sich aus dem Umkreis der
Städte gelöst hatten und teilweise in Opposition zu ihnen standen. Diese
wurden jetzt sesshaft und bildeten allmählich die „Stämme“, entsprechend
den geographischen Verhältnissen. Die Archäologen haben für diese Zeit in
den Hochebenen und in den südlichen Steppen neue Siedlungen entdeckt,
die z. T. von Bauern aus dem Kulturland, andererseits aber auch von
Halbnomaden gegründet wurden (kleine, nicht ummauerte Dörfer).28 Wir
hätten dann beide Gruppierungen, ehemalige Angehörige des Kulturlandes
(Kanaan) und ungebundene Gruppen von innen und außerhalb. Wieweit es
zwischen diesen und den kanaanäischen Stadtstaaten zu Konflikten gekom-
men ist („Israel gegen Kanaan“), lässt sich im Einzelnen nicht mehr ermit-
teln.29 Die Zerstörung von Städten in der damaligen Zeit kann die ver-
schiedensten Ursachen gehabt haben.
Auf jeden Fall kann man aber davon ausgehen, dass sich die „Stämme“ erst
im Inland gebildet haben. Die Zwölfzahl und die im Alten Testament aufge-
führten Namen sind eine genealogische Liste zur Feststellung und Bestäti-
gung der Abstammung und der Verwandtschaftsverhältnisse. Und G. Fohrer
formuliert es so: „Aus den angeführten Gründen scheint es mir ratsam, die
Amphyktyonie-Hypothese durch die Annahme zu ersetzen, dass das Schema
der zwölf Stämme Israels eine kurze volkstümliche Genealogie darstellt, die
während der Frühzeit in wechselnden Formen entsprechend dem jeweiligen
Bestand an Stämmen und unter Anpassung der Wirklichkeit an die vorgege-
bene Zwölfzahl die Gemeinschaft Israel konstituiert.“ 30
Diese Gruppierungen lebten dann in Form von „segmentären, akephalen
Gesellschaften“ zusammen. Mit diesem soziologisch-ethnologischen Begriff
ist ein Zusammenschluß von Sippen und Großfamilien gemeint, ohne staat-
liche Organisation und ohne staatliche Führung.31 So könnte man sich das
Leben in Palästina im 12. und 11. Jahrhundert vorstellen, verbunden mit
einem allmählichen Niedergang der kanaanäischen Stadtstaaten. Und der

27
Zu diesen „Zugereisten“ kann dann auch eine „Ägypten-Gruppe“ gehört haben – mit oder ohne
Anführer. Es spricht eigentlich nichts dagegen. Diese Gruppe hat dann ihre Traditionen an das
spätere Gesamt-Israel weitergegeben.
28
J. A. Soggin, Einführung, 119; vgl. im Einzelnen 2. Teil, II.2.
29
Ebd., 119.
30
G. Fohrer, Altes Testament, 894.
31
D. Kinet, Geschichte, 57.
III. Weitere Forschung 37

Jahwe-Kult war in weiter Ferne. Nur einige wenige Gruppen dürften ihn
praktiziert haben.

Diese Zusammenhänge mussten etwas ausführlicher dargestellt werden, weil


sie unmittelbaren Einfluss auf die Frage der Rechtsentwicklung haben. Der
Rechtshistoriker kann nämlich mit den Begriffen „segmentär“ und „akephal“
wieder arbeiten. Dies sind für ihn bekannte Größen, die ihm Angaben zum
Recht dieser Gesellschaften erlauben.32 In diesen frühen Verhältnissen
herrscht eine Verwandtschaftsordnung. Stämme als „patrilineare lineages“
setzen sich dabei ihrerseits aus den einzelnen Großfamilien mit drei bis vier
Generationen „unter einem Dach“, zusammen. Der „pater familias“ war die
Autorität innerhalb der Großfamilie und die Stämme („lineages“) wurden
wiederum von Ältesten vertreten. Konflikte innerhalb der „lineages“ wurden
von den eigenen Ältesten gelöst, Streitigkeiten zwischen den „lineages“ wur-
den, wenn möglich, durch Schlichtung geregelt, wie viele Berichte des Alten
Testaments zeigen. Daneben gab es die meist gewaltsame Selbsthilfe und die
Blutrache als feste Einrichtung.
Mit diesen rechtshistorischen Erkenntnissen kommen wir auch bei unse-
rem Thema weiter. Das apodiktische Recht müssen wir zumindest in Vor-
formen in diesen gesellschaftlichen Verhältnissen suchen, wie im nächsten
Kapitel anhand des Buches von E. Gerstenberger, Wesen und Herkunft des
Apodiktischen Rechts, von 1965, dargestellt werden soll.
Dabei muss allerdings hier schon darauf hingewiesen werden, dass das
apodiktische Recht als eigenständige Rechtsform eine späte Entwicklung ist
und sich in segmentären, akephalen Gesellschaften nicht als solches finden
lässt. In Israel ist es nicht möglich, bereits für das 12. und 11. Jahrhundert
apodiktische Rechtsformen festzustellen. Allgemeine Rechtsvorstellungen,
Verhaltensregeln, Sprichwörter u.ä. wird es, wie überall, gegeben haben; ein
apodiktisches Recht, so wie es uns in der biblischen Endfassung begegnet,
kann hier – noch – nicht entstanden sein; dies soll im 2. Teil dieser Arbeit
näher dargelegt werden.

32
U. Wesel, Geschichte des Rechts, 106.
38 1. Teil: Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts

4. E. Gerstenberger: „Sippenethos“

In seinem viel zitierten und für unser Thema grundlegenden Werk „“Wesen
und Herkunft des Apodiktischen Rechts“ von 196533 weist E. Gerstenberger
einleitend darauf hin, dass er für seine Arbeit die „form- und gattungsge-
schichtliche Methode“ als das geeignete Instrument halte, ein geschichtliches
Geschehen zu begreifen, allerdings nur in der von A. Alt praktizierten
Weise.34 H. Gunkels Glaube an eine „harmonisch-schöpferische Volksseele“,
die sich in den – mündlichen – Urformen der Textgattungen widerspiegele,
die man dann von späteren Zusätzen und Verunstaltungen befreien müsse,
ist ihm zu stark ideologisch belastet. A. Alt sei vorsichtiger und arbeite in
erster Linie als Historiker. Dieser Arbeitsweise kann sich E. Gerstenberger
anschließen.
Trotzdem beginnt er seine Arbeit sofort mit einer erheblichen Einschrän-
kung.35 Er will nur die sog. „Prohibitive“ als apodiktisches Recht gelten las-
sen. Alle anderen von A. Alt hinzugerechneten Formen sind für ihn
„Rechtssätze“ mit Tatbestand und Tatfolge, die als kasuistisches Recht oder
als Gruppierung sui generis zu gelten hätten. Damit scheiden alle Partizipial-
und Relativkonstruktionen mit ‫מוֹת יוּמַת‬, die ‫אָרוּר‬-Reihe und die Schamreihe
aus seiner weiteren Betrachtung aus. A. Alts Kriterien, nämlich metrische
Struktur, Reihenbildung und die „Wucht des Ausdrucks“ reichen für ihn
nicht aus, um aus diesen unterschiedlichen Normen eine einheitliche Gat-
tung zu machen. Sie alle enthielten nämlich eine Rechtsfolge, die Apodosis,
die auf ein als schon geschehen gedachtes Vergehen reagiert. Die Ge- und
Verbote dagegen hielten keine Rückschau auf zu ahnendes Unrecht, sondern
stellten – für die Zukunft – Verbotsschilder bzw. Richtungshinweise auf, an
die sich alle zu halten hätten. Sie sollten also kommendes Unrecht verhin-
dern und benötigten deshalb keine Straffolgebestimmung.36 Nur mit dieser
Gruppe, dem „Rest“, will sich E. Gerstenberger beschäftigen. Und das sind
dann nur die Prohibitive.

33
E. Gerstenberger, Wesen.
34
Ebd., 21.
35
Ebd., 23.
36
Ebd., 25; Diese Auffassung ist m. E. insofern problematisch, als E. Gerstenberger eine falsche
Vorstellung vom kasuistischen Recht hat (vgl. Kap. III.2.b). Letzterem fehlt nämlich die Unbe-
dingtheit der Rechtsfolge. Deshalb sind die neben den Prohibitiven von A. Alt genannten Formen
zumindest kein kasuistisches Recht. Ob man sie als Apodiktisches Recht oder als Sonderform ein-
stufen möchte, ist eine andere Frage.
III. Weitere Forschung 39

Diese „Prohibitive“ sind hauptsächlich in den als Gesetzessammlungen zu


betrachtenden Texten enthalten, also im Bundesbuch, Deuteronomium und
Heiligkeitsgesetz sowie im Dekalog. E. Gerstenberger fragt „nach dem Vor-
kommen von nichtkonditionalen, nichtrituellen, meist negativ und in direkter
Anrede formulierten und für das tägliche Leben normativen Geboten.“ 37 Er
untersucht die erwähnten Korpora und stellt alles zusammen, was unter
seinen Begriff der Prohibitive fällt, wobei dann im Wesentlichen aber doch
das gleiche Material erscheint wie bei A. Alt und den anderen Autoren.
Alle diese Sätze, sowohl die direkten Anreden wie auch die unpersönlichen
Aufreihungen, lassen sich nach E. Gerstenberger auf einen gemeinsamen
Ursprung zurückführen. Dieser lässt sich aus den charakteristischen Zügen
dieser Gattung, nämlich aus der Negativität der Form und der Verbindlich-
keit (Intensität) für das tägliche Leben ermitteln. Dabei haben auch die posi-
tiv formulierten Gebote über Sabbatheiligung und Elternehrung letztlich
einen inhaltlich negativen abwehrenden Charakter.38 Die Intensität ergibt
sich aus der sprachlichen Form (‫ אַל‬mit Jussiv und ‫ ֹלא‬mit Indikativ Perfekt).
Der Vergleich der Belegstellen ergibt dabei nach E. Gerstenberger aber keine
Unterschiede hinsichtlich der Stärke des Ausdrucks bei den beiden gramma-
tischen Formen. Generalisationen seien falsch. Es bestehe, im Grundsatz,
eine Gleichheit der Imperfekt- und der Jussivverbote.39
Entscheidend sei dann die Frage nach der hinter den Prohibitiven, dem
apodiktischen Recht, stehenden Autorität.40 Da die Prohibitive im vorliegen-
den Endtext meist in einem kultischen Rahmen und in Redezusammenhän-
gen auftauchen, in denen Jahwe das redende Subjekt ist, z. B. die Selbstvor-
stellungsformel in Ex 20,2, sollen sie im Endtext als direkte Offenbarung
Jahwes an sein Volk verstanden werden. Damit ist aber die eigentliche Her-
kunft der Prohibitive noch nicht geklärt, denn diese waren z. B. im Dekalog
ursprünglich gerade nicht mit der Selbstvorstellungsformel verbunden. Dies
sei unstreitig eine Komposition späterer Redaktionen.41 Die Stilisierung als
Jahwerede sei sekundär. Die Sätze seien ursprünglich nicht „jahwistisch“. Es
gehe nicht um eine Jahweverehrung. „Den Kern der Verbotssammlungen
bilden vielmehr die Vorschriften für das tägliche Leben in den allgemein
menschlichen, sozialen Gruppierungen.“ Die Prohibitive wollen im Kern nicht

37
E. Gerstenberger, Wesen, 27.
38
Ebd., 43.
39
Ebd., 54.
40
Ebd., 59.
41
Ebd., 60.
40 1. Teil: Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts

die Beziehungen der Menschen zu Gott, sondern der Menschen untereinan-


der regeln, besonders der durch Familie oder Gesellschaft verbundenen Per-
sonen. Mord, Diebstahl und Raub, sexuelle Tabus, Verhalten vor Gericht,
Schutz der Waisen und Witwen, der Fremden, Lohnarbeiter und sozial
Schwachen seien die vorwiegenden Themen der Prohibitive.
Und dieser Inhalt führt E. Gerstenberger dann auf den richtigen Weg. Die
Prohibitive stünden nicht mit einem fiktiven Bundesschluss, dem Sinaige-
schehen oder einer Amphiktyonie in Verbindung. Sie führten vielmehr
direkt in die Sippe, die Großfamilie, wo der Familienälteste für den Zusam-
menhalt und das geordnete Zusammenleben der Sippe verantwortlich sei. In
den Prohibitiven spreche der ‚pater familias‘ als oberste Autorität und als
Vertreter der geheiligten und seit altersher überlieferten Lebensordnung.
Ein Text belege dies ausdrücklich. In der Erzählung von den Rechabiten
(Jer 35) wird auf den Sippenvater Jonadab verwiesen. Dessen Weisung wird
als ‫ ִמ ְצוָה‬bezeichnet. Insgesamt seien die Prohibitive daher im Sippenverband,
in der Sippenordnung beheimatet. „Es scheint in der Tat die einfachste und
natürlichste Erklärung zu sein, wenn wir dem Sippenältesten die Prohibitive in
den Mund legen.“ 42 Die ganze Sippengemeinschaft unterstehe der „Jurisdik-
tions- und Exekutivgewalt des Vaters.“ „Dieser ist Hüter und Wahrer des Sip-
penethos“.43 Er führe die männlichen Mitglieder der Sippe in die Sippenord-
nung ein und garantiere die Einhaltung eines Sippenkodex. Und hieraus
stammten dann die Prohibitive und damit das, was A. Alt als das apodikti-
sche Recht bezeichnet habe.

Die sehr detaillierten Ausführungen E. Gerstenbergers konnten hier nur ver-


kürzt wiedergegeben werden. Seine Sicht des apodiktischen Rechts verdient
Zustimmung. Die Versuche, es in fiktive biblische Zusammenhänge zu zwin-
gen, werden damit hinfällig. Seine Überlegungen entsprechen auch der nach
dem bisherigen Forschungsstand zu ermittelnden Geschichte Palästinas in
vorstaatlicher Zeit, wo wir die bereits erörterten „segmentären“ und „ake-
phalen“ Gesellschaften vorfinden. Das „Sippenethos“ passt genau in diese
Verhältnisse.
Was von E. Gerstenberger nicht näher erörtert wird, ist die Stellung des
apodiktischen Rechts im Kontext der biblischen Endgestalt.44 Welche Funk-

42
E. Gerstenberger, Wesen, 110.
43
Ebd., 116.
44
Hier erscheint es nämlich dann doch wieder als israelitisches und jahwistisches Recht.
III. Weitere Forschung 41

tion hat es heute in Bezug auf die anderen Normen? Welche Vorstellungen
stehen insoweit hinter der Endredaktion? Es ist schließlich nicht unzulässig,
Rechtssätze, völlig losgelöst von ihrer eigentlichen Herkunft, neu zu verwen-
den und in ganz andere Zusammenhänge zu bringen. Diese Fragen müssten
noch näher erörtert werden. Fr. Crüsemann, E. Otto und auch Eun-Ae Lee
beschäftigen sich mit diesem Komplex und sollen deshalb noch näher vorge-
stellt werden.
Es wurde bereits mehrfach darauf hingewiesen, dass das apodiktische
Recht als solches in akephalen, segmentären Gesellschaften nicht zu finden
ist. Historische, sprachliche und rechtsgeschichtliche Gründe sprechen dage-
gen. Das von E. Gerstenberger herangezogene Sippenethos kann deshalb
nicht als direkte Quelle dieses Rechts angesehen werden. Erst in der bibli-
schen Endgestalt finden wir in einer großen Komposition das apodiktische
Recht als Rahmen der übrigen Rechtsordnung. Das Sippenethos war aber
sicherlich die Quelle der apodiktischen Redeweise, die einzelne Sentenzen
hervorbrachte, die dann schließlich im Dekalog zu einer Grundsatzordnung
zusammengefasst wurden.

5. G. Fohrer: „Lebens- und Verhaltensregeln“

Zu einem ähnlichen Ergebnis wie E. Gerstenberger kommt G. Fohrer in sei-


nem Aufsatz „Das sogenannte apodiktisch formulierte Recht und der Dekalog“
aus dem Jahre 1965.45 Er unterscheidet dabei zwischen dem apodiktischen
Stil und den apodiktischen Satzreihen.46 Der „Stil“ als solcher („tue dies“ –
„tue jenes nicht“) gehöre zu den „Urformen menschlicher Redeweise“ und sei
deshalb überall zu finden. Hierfür gebe es, worin ihm sicher zuzustimmen ist,
keinen speziellen, genuinen Herkunftsort. Die Bildung von Reihen sei dage-
gen das Spezifische und gehöre in den (halb)nomadischen Lebensbereich.
Innerhalb dieser Reihen gebe es dann „verschiedene Gattungen“. Aus sol-
chen „Reihen“ sei dann auch der Dekalog, Ex 20,1–17, gebildet worden. Die
heutige Form sei durch Erweiterungen verändert worden. Die Selbstvorstel-
lungsformel Adonais sei eine deuteronomistische Ergänzung und habe insbe-
sondere mit den letzten Verboten des Tötens, Ehebrechens und Stehlens

45
KuD 11 (1965), 49–74.
46
Ebd., 51.
42 1. Teil: Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts

„überhaupt nichts“ zu tun.47 Die „Urform“ des Dekalogs, wie immer diese
auch ausgesehen habe, sei also nicht „jahwegebunden“ gewesen.
Die Crux bei diesen Erörterungen ist, dass dabei immer nur auf die – ver-
mutete – Herkunft der Sätze geachtet wird. Wenn man die Texte weit genug
zurückverfolgt, kommt man natürlich in eine „jahwefreie“ Zeit. Dann haben
die Gebote – ursprünglich – tatsächlich nichts mit Adonai zu tun. Aber ist
dies das Entscheidende? Wenn in der vorliegenden Endfassung die Gebote
ausdrücklich Adonai unterstellt werden, dann sind sie – heute – doch „jah-
wegebunden“ und stehen in unmittelbarer Beziehung zu Adonai. Sie waren
es ursprünglich nicht, sollen es aber heute sein. Hierauf hat Fr.Crüsemann
überzeugend hingewiesen.48 Sein Buch soll später noch näher vorgestellt
werden. Für den Juristen ist dies auch kein Problem. Rechtsnormen gelten
immer nur in ihrer letzten Fassung. Frühere Formulierungen und Sinnzu-
sammenhänge interessieren nur den Rechtshistoriker. Ein Haus kann erst
nach seiner Fertigstellung zutreffend gewürdigt werden. Die Betrachtung der
einzelnen Baumaterialien ist eine andere Sache.
G. Fohrer betrachtet insgesamt die Reihen des apodiktischen Rechts als
Lebens- und Verhaltensregeln und kommt damit zu einem ähnlichen Er-
gebnis wie E. Gerstenberger. Apodiktisches Recht sei ursprünglich kein
„Recht“ im eigentlichen Sinne mit konkreten Sanktionen, sondern die
Sammlung allgemeiner Lebensregeln aus dem (halb)nomadischen Lebensbe-
reich.49
Wichtig ist hierbei, dass auch G. Fohrer die Diskussion um das orientali-
sche Recht, insbesondere die Vasallenverträge, hinter sich gelassen hat. Diese
werden von ihm im Zusammenhang mit dem apodiktischen Recht nicht
mehr erörtert. Insoweit liegt bei G. Fohrer wie bei E. Gerstenberger eine
eigenständige Entwicklung dieses Rechts vor. Ein Bezug zum orientalischen
Rechtsbereich besteht nach Meinung beider Autoren nicht.

47
KuD 11 (1965), 58.
48
Fr. Crüsemann, Bewahrung.
49
G. Fohrer, Apodiktisches Recht, 67.
IV. Heutiger Forschungsstand
IV. Heutiger Forschungsstand

1. Fr. Crüsemann: „Bewahrung der Freiheit“

Eines der besten Bücher zum Dekalog und damit auch für unser Thema ist
die kleine Schrift von Fr. Crüsemann „Bewahrung der Freiheit“. Der Unter-
titel lautet: „Das Thema des Dekalogs in sozialgeschichtlicher Perspektive“.
Dies ist nach Fr. Crüsemann der entscheidende Aspekt, wobei es ihm um die
soziale Funktion des Dekalogs in seiner Endgestalt, also um die gesellschafts-
politischen Gründe zur Zeit seiner abschließenden Formulierung geht. Die
speziellen Herkünfte und Traditionen der einzelnen Bestimmungen interes-
sieren ihn nur insoweit, als diese Aufklärung über die Bedeutung in der Ge-
genwart geben können.

a) Der Dekalog, die – vermeintliche – „Quintessenz des Menschenanstan-


des“1, ist für Fr. Crüsemann aber nicht die Zusammenfassung der gesamten
alttestamentlichen oder biblischen Ethik. Viele Themen werden nicht ange-
sprochen. Wir haben vielmehr eine Auswahl nach bestimmten Gesichts-
punkten vor uns, wobei die Auswahlkriterien für Fr. Crüsemann die ent-
scheidenden Aspekte sind. Die kompositorischen Überlegungen, die zu sei-
ner Endgestalt führten, sind das, worauf es ihm ankommt. Hieraus ergeben
sich für ihn die sozialen und politischen Hintergründe, die maßgebend bei
der Erstellung des Dekalogs in seiner Endgestalt waren. Von hier aus sei
verständlich, warum viele Themen im Katalog fehlten und warum man ihn
deshalb eben nicht als eine Zusammenfassung der gesamten Ethik, als ein
„Grundgesetz“ für die gesamten Rechtsvorschriften des Alten Testaments,
betrachten könne.2
Nach Fr. Crüsemann fehlen die sog. Taburegeln, nämlich die Enthaltung
von bestimmten Speisen und von Blutgenuss. Letzteres ist von Noah bis zu
Paulus („Aposteldekret“) eigentlich ein sehr zentrales Thema. „Rein“ und
„Unrein“ und das Verhalten gegenüber dem Tod und den Toten gehören

1
Th. Mann, Das Gesetz, 684.
2
Fr. Crüsemann, Bewahrung, 69.
44 1. Teil: Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts

hierzu. Ferner fehlen alle Sexualtabus, die im Dekalog nicht durch das Ehe-
bruchsverbot abgedeckt werden, wie von denjenigen angenommen wird, die
eine umfassende universale Geltung des Dekalogs postulieren.
Der gesamte Bereich des Kultes ist ebenfalls ausgeklammert. Dieser wird
nach Fr. Crüsemann auch nicht durch das Sabbatgebot erfasst. Alles, was an
anderen Stellen über spezielle Vorschriften über Opfer, Erstlinge, Zehnte,
Feste oder Wallfahrten ausführlich erörtert wird, wird vom Dekalog nicht
erwähnt.
Das Gleiche gilt für das Verhältnis zum Staat und zur Obrigkeit. Man kann
dies nicht über das Elterngebot hineininterpretieren. Steuern, Kriegsdienst,
das Verhalten gegenüber Fremden und Fremdvölkern werden nicht ange-
sprochen. Und schließlich fehlt, ganz verblüffend, das Verhalten gegenüber
den sozial Schwachen und Benachteiligten. Die Witwen und Waisen, Arme
oder Blinde treten nicht auf, obwohl das Verhalten gegenüber diesen Grup-
pen ein sonst ganz zentrales Thema ist.
Warum fehlen alle diese Vorschriften? Das Auswahlkriterium muß ermit-
telt werden. Hierfür weist Fr. Crüsemann darauf hin, dass der jetzige Dekalog
durch seinen Textzusammenhang und durch die Selbstvorstellung und Na-
mensnennung JHWH‘s eine Gottesbeziehung voraussetze, aus der heraus
der Dekalog zu betrachten sei. Die Rettungstat Adonais, der Israel aus Ägyp-
ten geführt hat, sei das Faktum, von dem aus alles seine Bedeutung beziehe.
„Nur vom befreienden Gott des Exodus her lassen sich die Gebote sachgemäß
verstehen.“3 Die hierdurch gewonnene Freiheit sei der zentrale Begriff.
Was hat dieser Begriff aber mit der Auswahl der Gebote zu tun? Warum
werden das Ehebruchsverbot und das Elterngebot erwähnt, das Verhalten
gegenüber sozial Schwachen aber nicht? Fr. Crüsemann geht davon aus, dass
dies kein Zufall ist. Der „Dekalog (ist) ein überaus reflektierter und bewusst
komponierter Text.“4 Er geht von einem speziellen „Thema des Dekalogs“
aus, das er mit Hilfe einer sozialgeschichtlichen Interpretation ermitteln
möchte. Für ihn sind die Adressaten des Dekalogs von Bedeutung, weniger
die Verfasserkreise. Letztere lassen sich schwer ermitteln. Die durch den
Dekalog Angesprochenen, die Adressaten, seien dagegen mit „weitgehender
Eindeutigkeit“ zu erkennen.

3
Fr. Crüsemann, Bewahrung, 12.
4
Ebd., 13.
IV. Heutiger Forschungsstand 45

b) Zunächst muss hierfür die Datierung geklärt werden. Dass der Dekalog, so
wie er uns heute vorliegt, nicht aus vorstaatlicher Zeit stammt, obwohl er in
der Bibel in einem solchen textlichen Zusammenhang steht (Exodus), ist
unbestritten. Er ist nach Fr. Crüsemann vielmehr in die „späte vorexilische
Zeit“ zu datieren, also in das 8. Jahrhundert, zwischen dem Untergang des
Nordreichs und Josija, wobei Crüsemann offenbar das 7. Jahrhundert mit
einbeziehen will. Der Dekalog stelle eine „Reaktion auf die tiefen religiösen,
theologischen, politischen und sozialen Krisen“ dieser Zeit dar. Er reagiere auf
die damals entstandenen starken sozialen Spannungen und Risse in der is-
raelitischen Gesellschaft. Hieraus resultierten die Auswahl der Gebote. Diese
sollten die durchaus konkret und sozial gedachte Freiheit des israelitischen
Bürgers bewahren. Dies beziehe sich unmittelbar auf die Rettungstat JHWH‘s
und werde hierauf zurückgeführt. Die Einhaltung des Dekalogs sei die un-
mittelbare Antwort Israels auf die von JHWH gewährte Freiheit. Nur
dadurch könne die Freiheit bewahrt werden.
Genauso sieht es auch M. Köckert. Er formuliert: Die Zehn Gebote „gelten
Befreiten und halten dazu an, die Freiheit zu bewahren. Aus der erfahrenen
Befreiung erwächst die Bindung an den befreienden Gott.“5

c) Der Adressatenkreis lässt sich nach Fr. Crüsemann dann leicht ermitteln.
Es ist der freie, grundbesitzende israelitische Vollbürger. Auf diesen beziehe
sich der Dekalog. JHWH stelle sich als derjenige vor, der Israel aus Ägypten
in die Freiheit geführt hat. Er definiert sich hier allein über dieses Ereignis. In
dieser Beziehung steht er zum einzelnen, befreiten Israeliten, soweit dieser als
Vollbürger Träger dieser Freiheit ist. JHWH hat Israel aus dem „Sklaven-
haus“ in das Land geführt, in dem „Milch und Honig fließen“. Hier lebt der –
befreite – Israelit in einer egalitären Gesellschaft, die es zu bewahren gilt. Die
drohende Aufspaltung der israelitischen Gesellschaft in Arme und Reiche,
die Herausbildung einer Aristokratie mit abhängigen Bauern soll verhindert
werden. Es ist dabei eine „kommunikative Freiheit“.6 Gottes „Befreiungstat“
entspricht der Freiheit der Bürger. Sie begründet dieses Privileg. Die Unter-
werfung unter JHWH und seine Gebote sichert diese Freiheit. Es geht also
nicht um die Herrschaft JHWH‘s, sondern umgekehrt um das freie Leben der
Angehörigen des Volkes Israel.

5
M. Köckert, Zehn Gebote, 48.
6
Fr. Crüsemann, Bewahrung, 39.
46 1. Teil: Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts

d) Diese Grundkonzeption ergibt dann nach Fr. Crüsemann die Auswahl der
Gebote. Es sind diejenigen Regeln, die zur Erhaltung dieser Freiheit erforder-
lich sind. Es geht um kein „Universalethos“ o. ä., sondern um die ganz kon-
kreten Beziehungen der Bürger. Diese Beziehungen werden von Fr. Crüse-
mann im Einzelnen dargelegt:
Die alleinige Verehrung JHWH’s und das Bilderverbot sollen den Rückbe-
zug auf Adonai sicherstellen. Dieser ist der Befreier und der Garant der ge-
wonnenen Freiheit. Auch die Einhaltung des Sabbats hat hier weniger kulti-
sche Bedeutung. Dieser Ruhetag soll vielmehr demonstrieren, dass man nicht
mehr im „Sklavenhaus“ Fronarbeit leisten muss, sondern „freier Bauer auf
freier Scholle“ ist, um diesen Ausdruck hier zu gebrauchen. Es ist eine Frage
der Lebensqualität, an der alle, auch der Sklave, seinen Anteil haben soll.
Das Gebot, die Eltern zu ehren, bedeutet ganz konkret die angemessene
Versorgung der alten Menschen, so wie später der durch dieses Gebot Ver-
pflichtete seinerseits von seinen Kindern versorgt werden soll. Nur so wird
seine eigene soziale Freiheit und Unabhängigkeit in der Zukunft sicherge-
stellt.
Das Verbot des Mordens, Stehlens und Meineids schützt den Bürger vor
kriminellen Handlungen. Das Verbot des Ehebruchs sichert den Bestand der
Familie und erhält den nachbarlichen, sozialen Frieden.
Das letzte Verbot scheint mit dem 8. Gebot zu kollidieren. „Du sollst nicht
begehren …“ bedeutet nach Fr. Crüsemann aber etwas anderes. Während das
8. Gebot den direkten kriminellen und strafbewehrten Diebstahl meint,
richtet sich das 10. Gebot gegen eine Aneignung von Habe des Nächsten
durch scheinlegale Handlungen. Wer Notsituationen seines Nachbarn aus-
nutzt oder bewusst herbeiführt, soll hier getroffen werden. Die soziale Aus-
beutung auf „legale“ Weise, z. B. durch Wucherzinsen, soll verhindert wer-
den. Wer durch solche Machenschaften die Habe seines Nächsten an sich
bringt, handelt genauso verwerflich wie ein Dieb, sogar noch verachtenswer-
ter. „Was ist der Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank!“
lässt Berthold Brecht seinen berüchtigten Titelhelden Macheath, genannt
„Mac the knife“, in der „Dreigroschenoper“ verkünden.
Dieses letzte Gebot ist eminent wichtig. Jedes gesellschaftliche System bie-
tet dem wirtschaftlich Stärkeren die Möglichkeit, sich Hab und Gut seiner
Mitbürger anzueignen, ohne sich direkt strafbar zu machen. Das skrupellose
Ausnutzen aller wirtschaftlichen und rechtlichen Möglichkeiten kann zu
einer unmittelbaren Gefährdung der Existenz der anderen Mitbürger führen.
IV. Heutiger Forschungsstand 47

Deren Lebensgrundlage und Freiheit sind in Gefahr. Sozialer Missbrauch ist


daher auch eines der Hauptthemen des Alten Testaments bei den Propheten,
bei Nehemia oder bei Hiob. Dies Problem birgt viel mehr sozialen Zündstoff
als ein kleiner Ladendiebstahl.
Insgesamt bringt der Dekalog eine „Solidaritätsethik innerhalb der ange-
sprochenen Schicht.“ Geschützt wird der freie Bürger gegen alle Angriffe, die
seine soziale Existenz bedrohen. Die traditionelle egalitäre Gesellschaft Is-
raels soll erhalten bleiben. Dies erfolgt über die Einhaltung der auf JHWH
bezogenen Verpflichtungen allen Mitbürgern gegenüber.7

e) Die sozialgeschichtliche Analyse des Dekalogs durch Fr. Crüsemann


musste hier etwas ausführlicher dargestellt werden. Zum einen haben wir es
beim Dekalog mit apodiktischem Urgestein, mit Prohibitiven in reinster
Form zu tun; zum anderen zeigt diese Betrachtungsweise, wie wichtig es ist,
nicht immer nur nach Herkunft und Ursprung und den wechselnden Träger-
schaften zu fragen. Gerade bei Rechtsnormen ist es viel wichtiger, ihre Be-
deutung in der jeweiligen Endgestalt zu erkunden. Für den Juristen ist dies
eindeutig. Jedes Gesetz gilt immer nur in seiner letzten veröffentlichten Fas-
sung. Welche Bedeutung einzelne Vorschriften vorher gehabt haben könn-
ten, ist eigentlich uninteressant und nur von rechtshistorischem Interesse.
Verbindlich ist der Wille des aktuellen Gesetzgebers. Er, und nicht sein Vor-
läufer, bestimmt, was geltendes Recht ist und was nicht. Wenn er dabei ein-
zelne Normen „umfunktioniert“, liegt das in seinem legitimen Ermessen. Er
kann eine völlige Verschiebung der Bedeutungsinhalte vornehmen, wenn
dies nach seiner Meinung erforderlich ist. Dies ist dann keine „Verfälschung“
einer alten „Urform“, sondern eben seine vorrangige Aufgabe. Er hat das
geltende Recht stets den aktuellen gesellschaftlichen Verhältnissen anzupas-
sen, um diese in die gewünschten Bahnen zu lenken.
Die Funktion der einzelnen Bestimmungen in Relation zu den übrigen
aktuellen Normen ist deshalb das, worauf es ankommt. Die Struktur der
Rechtskorpora in ihrer „letzten Fassung“ ist entscheidend. Wenn daher in
einem Textzusammenhang apodiktisches Recht auftaucht, ist nicht bedeut-
sam, was es früher einmal bedeutet hat, sondern was es heute, nach Meinung
des „Gesetzgebers“ bedeuten soll. Für den Dekalog kommt es also auf die

7
Fr. Crüsemann, Bewahrung, 79.
48 1. Teil: Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts

Verhältnisse zur Zeit seiner Abfassung in „spät vorexilischer Zeit“ an. Dies
hat Fr. Crüsemann in seiner Schrift überzeugend dargelegt.
Mit diesen Fragen beschäftigt sich auch das nächste Kapitel (IV.2.), in dem
ebenfalls Fr. Crüsemann mit seinem Buch „Die Tora“ zu Wort kommt. Es
geht dabei um die Entwicklung von Recht bis hin zu seiner Endgestalt im
biblischen Kontext.

2. Fr. Crüsemann: „Die Tora“

Die Frage nach dem apodiktischen Recht begrenzt sich nicht auf die Suche
nach seiner Herkunft. Viel wichtiger ist die Frage, welches weitere „Schick-
sal“ dieses Recht genommen hat. Wir hatten gesehen, dass es in seinen vielen
Vorformen dem noch nicht jahwegebundenen „Sippenethos“ einer „seg-
mentären, akephalen“ Gesellschaft zuzurechnen ist (E. Gerstenberger, G.
Fohrer). Dort verblieb es aber nicht. Es ist bis heute im biblischen Kontext in
schriftlich fixierter Form erhalten und hat einen bestimmten Bezug zu den
übrigen Rechtsnormen. Diese Entwicklung und die des Rechts insgesamt
wird von Fr. Crüsemann in seinem Buch „Die Tora – Theologie und Sozialge-
schichte des alttestamentlichen Gesetzes“ aus dem Jahre 2005 nachgezeichnet.8
Dabei gilt der erste Hinweis der Gestalt des „Mose“, auf den sich alles Recht
bezieht. Die Tora JHWH’s kann man deshalb auch als „Tora des Mose“ be-
zeichnen, was im Alten Testament auch mehrfach erfolgt (2 Chr 23,18; Jos
8,31; 23,6 u. a.). Die Frage, wer historisch hinter dieser Figur steht, führte
dann aber über die historisch-kritische Forschung zu einem ständigen
Schrumpfen dieses „Gesetzgebers“. Aus einem „Riesen“ wurde ein „kaum
mehr erkennbarer Zwerg“,9 dem M. Noth abschließend dann nur noch ein
„unbekanntes Grab“ zubilligen wollte.
Dieser Weg müsse aber, so Fr. Crüsemann, jetzt wieder umgekehrt gegan-
gen werden. Die Frage laute: „Wie konnte aus diesem historischen ‚Zwerg“
der ‚Riese‘ des Alten Testaments werden?“ Warum wurde nach und nach
alles Recht diesem Mose zugeschrieben und welche Personen und Institutio-
nen beriefen sich auf dessen Autorität?10 Hierauf wird auch von F. W. Golka

8
Fr. Crüsemann, Tora, 76.
9
Ebd., 76.
10
Ebd., 77.
IV. Heutiger Forschungsstand 49

in seinem Mose-Buch11 besonders hingewiesen: „Welche Gruppen oder Insti-


tutionen in der Geschichte Israels bzw. des Judentums haben ein Interesse da-
ran gehabt, sich in der Moseüberlieferung zu verankern, sich quasi in diese
Überlieferung ‚hineinzuschreiben‘?“12 F. W. Golka verweist dabei auf J. Ass-
mann und dessen Buch „Moses der Ägypter – Entzifferung einer Gedächtnis-
spur.“13 Hierin wird die „Wirkungsgeschichte“ der Gestalt des Mose, durch
die Geschichte Israels hindurch, aufgezeichnet. Diese verlief genau umge-
kehrt wie diejenige von Pharao Echnaton, dessen historische Präsenz bestens
belegt ist, dessen versuchte Religionsreform aber ohne jedes Resultat blieb.14
Mose dagegen wurde vom kleinen Leiter einer nicht mehr genau bekannten
Filiale (vielleicht Ex 1–19) zum Chef des gesamten Konzerns. Die biblische
Wirkungsgeschichte („Gedächtnisspur“) des Mose ist nach F. W. Golka ent-
scheidend und bedarf einer näheren Untersuchung. Parallel dazu verlief
dann der Wandel des Rechts, seiner Begründung und seiner Trägerschaften.

a) Für die Rechtsentwicklung in Israel ist nach Fr. Crüsemann wichtig, dass
es für die vorstaatliche Zeit keine Amphiktyonie, keine „hebräische Rechts-
gemeinde“, kein „Recht im Tor“15 und keine „Richter“ gab. Alle Berichte
hierüber sind spätere Texte und Rückprojektionen.16 Sie widersprechen auch,
wie bereits erörtert, den archäologischen Befunden. Es gibt keine direkten
Quellen für das vorstaatliche Recht Israels.
Fr. Crüsemann entnimmt den biblischen Texten, die er für relevant hält,
vielmehr ein anderes „Rechtssystem“. Die Erzählungen von Gen 31 (Jakob –
Laban), Gen 34 (Dina), Ri 17 (Michas Heiligtum), Ri 19 (Schandtat von
Gibea) und 2 Sam 14 (Frau aus Tekoa) ergeben Abweichendes. Es gelten die
Begriffe „Selbsthilfe und Verhandlung“.17 Hierbei gibt es immer eine direkte
Konfrontation der Beteiligten. Jeder sammelt seine Anhänger und es kommt
zu Verhandlungen und Disputen, und zwar ohne Mittler. Crüsemann kommt
zu folgendem Ergebnis: „Im vorstaatlichen Israel werden Rechtsfälle, soweit
sie nicht in die Zuständigkeit eines einzelnen pater familias fallen, nicht durch
vermittelnde Instanzen irgendwelcher Art gelöst, sondern allein durch direkte

11
F. W. Golka, Mose.
12
Ebd., 180.
13
5. Aufl., Frankfurt a. M. 2004.
14
F. W. Golka, Mose, 180.
15
Rut 4 mit der angeblichen „Sitzung eines Ältestengerichts“ ist ein späterer Text, der keine
Beweiskraft hat. Die zehn Männer sind zudem auch keine Richter, sondern nur Zeugen.
16
Fr. Crüsemann, Tora, 80.
17
Ebd., 91.
50 1. Teil: Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts

Verhandlungen zwischen den beteiligten Parteien.“18 Es entscheidet also keine


„Rechtsgemeinde im Tor“. Es erfolgt vielmehr eine rein faktische Konflikt-
lösung, wie immer sie auch aussehen mag.
Hinter allen diesen Konfliktlösungen steht der Gedanke eines Verstoßes
gegen allgemein gültige Normen. Diese liegen aber nicht schriftlich vor. Es
gibt auch keine dahinter stehende, göttliche Autorität. Die Normen sind
vielmehr Selbstverständlichkeiten. Fr. Crüsemann spricht hier von „Norm-
evidenz statt Gottesrecht.“19 Nichtzentralisierte Gesellschaften haben zwar
Normen. Diese sind aber flexibel, nicht fixiert und „selbstevident“. Sie stehen
nicht unter der Autorität Gottes. Dies entspricht auch der Auffassung E.
Gerstenbergers vom Entstehen des apodiktischen Rechts.

b) Erst in staatlicher Zeit, im Königtum, gab es dann Gerichte, das „Ältesten-


gericht im Tor“. Dies war ein Instrumentarium des königlichen Rechtssys-
tems. Es gab daher keine „Konkurrenz“ dieses Gerichts mit königlichen
Rechtsentscheidungen.20 Dies wird von Fr. Crüsemann mit vielen Textstellen
belegt. Erst jetzt entsteht die „hebräische Rechtsgemeinde“.
Eine weitere „mosaische Instanz“ ist in diesem Zusammenhang wichtig. In
Ex 18 werden „tüchtige Männer“ für kleinere Verfahren eingesetzt. Die
schwierigen, grundsätzlichen Fragen werden aber Mose belassen. Dieser
Text, zusammen mit 2 Chr 19,5ff und Dtn 17, bezieht sich auf das Jerusale-
mer Obergericht von König Joschafat. Dieses führt also seine Autorität direkt
auf Mose zurück.21 Fr. Crüsemann formuliert: „Der Schluß, den man daraus
ziehen muß, ist völlig eindeutig: Die Entscheidungen des Gerichts haben die-
selbe Bedeutung und denselben Rang wie die Rede des Mose und damit wie das
Deuteronomium selbst.“22 Auch das spätere „Synhedrion“ und sein Vorgän-
ger, die „Gerusia“, beziehen ihre Kompetenz von Mose her.23 Mose ist insge-
samt die überragende Autorität. Er „steht für den Rechtswillen Gottes“ und ist
so letztlich der „Grund der Freiheit“, die Adonai dem Volk Israel zugespro-
chen hat.24

18
Fr. Crüsemann, Tora, 93.
19
Ebd., 94.
20
Ebd., 98.
21
Ebd. 113.
22
Ebd., 120.
23
Ebd., 130.
24
Ebd., 131.
IV. Heutiger Forschungsstand 51

c) In diesen großen Rahmen gehört dann die Frage, welches Recht über-
nommen, schriftlich fixiert und über die Autorität des Mose als allumfassen-
des Gottesrecht verstanden wurde. Wie verhält es sich dabei mit dem apo-
diktischen Recht? Welche Stellung und Funktion hat es in Bezug auf die
übrigen Rechtsnormen?
Fr. Crüsemann25 erörtert dies im Zusammenhang mit seiner Diskussion
über den von E. Otto eingeführten Begriff der „Ausdifferenzierung“.26 Es geht
dabei um die Frage, ob sich durch die Übernahme apodiktischen Rechts und
dessen „Theologisierung“, nämlich Erklärung zum Gottesrecht, so etwas wie
ein Ethos aus dem Recht „ausdifferenziert“ habe. Sind die Sozialgebote und
alles das, was A. Alt „apodiktisches Recht“ genannt hat, noch „Recht“ im
eigentlichen Sinne oder muss man sie jetzt als „Ethos“ mit nur noch paräne-
tischem Charakter betrachten?
E. Otto soll im nächsten Kapitel noch näher vorgestellt werden. Fr. Crüse-
mann selbst befasst sich mit diesem Thema in seinem Kapitel „Recht oder
Ethik? – Zum Rechtscharakter der Sozialgebote.“27 Er vertritt die Auffassung,
dass die Sozialgebote im Bundesbuch, die den Schutz der Fremden, Armen
und Ausgebeuteten, der Witwen und Waisen beinhalten, durchaus zum
Recht im weiteren Sinne zu zählen seien. Sie seien zwar, anders als die
Mischpatim, ohne Sanktionsandrohung, trotzdem aber nicht zum reinen
unverbindlichen „Ethos“ geworden. Sie seien das, was von der „älteren For-
schung“ als apodiktisches Recht bezeichnet wurde. Ihre Übernahme in einen
Rechtskorpus und ihre Vermischung mit positivem, kasuistischem Recht
habe eine bestimmte Funktion. Sie seien Richtschnur und Korrektiv für die
Anwendung und Auslegung der übrigen Normen. Durch sie solle die ange-
messene, gottgewollte Durchführung der gesamten Rechtsordnung, ein-
schließlich seiner sozialen Aspekte, sichergestellt werden. Sie blieben deshalb
verbindliches „Recht“.
Die Gebote, also das alte apodiktische Recht, könne man als „Optimie-
rungsangebote“28 für das übrige Recht bezeichnen. Sie verpflichteten die
Gerichte und den Gesetzgeber zur Beachtung von grundsätzlichen Wertent-
scheidungen über ein gerechtes Zusammenleben der Menschen innerhalb
des israelitischen Volkes. Fr. Crüsemann sieht ihre Stellung wie die von mo-

25
Fr. Crüsemann, Tora, 224.
26
E. Otto, Sozial- und rechtshistorische Aspekte, 94.
27
Fr. Crüsemann, Tora, 224.
28
Ebd., 227.
52 1. Teil: Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts

dernen Grundrechtsbestimmungen oder Menschenrechtsnormen. Sie stehen


über dem positiven Recht. Sie sind „Metanorm und kritische Instanz.“ Und
das gesamte Recht war jetzt gottgebunden und führte sich auf Mose zurück.
Alles unterstand seiner alleinigen Autorität.

Diese Auffassung verdient m. E. volle Zustimmung. Aus dem apodiktischen


Recht wurde „Verfassungsrecht“. Das ursprünglich situationsgebundene
Spezialrecht aus dem Bereich der vorstaatlichen Gesellschaften avancierte
zum alles dominierenden und korrigierenden „Überbau“ der Rechtsordnung.
Seine Übernahme in die verschiedenen Rechtskorpora des Alten Testaments
verfolgt genau diesen Zweck.
Fr. Crüsemann ist, soweit ersichtlich, der erste Autor, der diesen Gedanken
präziser formuliert. „… die Frage nach der … juristischen Funktion solcher
Formulierungen und ihrer Funktion in einem gemischten Korpus wie dem
Bundesbuch wurde … nie präzise gestellt.“29 Wieweit man moderne Begriffe
wie „Menschenrechte“, „Grundrechte“ oder „Verfassungsnormen“ auf das
Alte Testament übertragen kann, müsste allerdings näher überprüft werden.
Der Grundgedanke eines bestimmten Verhältnisses zwischen Prinzipien und
den von hier aus zu kontrollierenden konkreten Regeln ist aber der gleiche.
In diesem Sinne hat das apodiktische Recht nicht nur überlebt und einen
wichtigen Platz im Alten Testament erhalten, sondern ihm wurde eine ganz
spezielle, neue Aufgabe zugewiesen. Es war jetzt „Metanorm und kritische
Instanz“, also das, was wir heute als „Verfassung“ bezeichnen würden.

3. E. Otto: „Ausdifferenzierung“

In direkter Ergänzung zu Crüsemann müssen die Auffassungen von E. Otto


zu diesem Thema herangezogen werden. In seiner „Rechtsgeschichte des Bun-
desbuchs“ 30 hat er sich näher mit den von ihm so bezeichneten „Ausdifferen-
zierungen“ verschiedener Funktionen des Rechts beschäftigt. Er führt hierzu
folgendes aus:
Das kasuistische Recht war zu Beginn ein reiner Konfliktslösungsmecha-
nismus zwischen Familien in einer segmentären Gesellschaft. Gemeinschafts-

29
Fr. Crüsemann, Tora, 244.
30
E. Otto, Wandel, 61.
IV. Heutiger Forschungsstand 53

zerstörende Gewalt bei der Durchsetzung eigener Positionen sollte vermie-


den werden durch eine friedliche Konfliktregelung.
Dieses Recht kannte noch keine Sanktionsbestimmungen i. S. einer Straf-
folge. Es waren Lösungsvorschläge, die von den Parteien angenommen wer-
den konnten, aber nicht mussten. Es gab noch keine „übergentale Gewalt“,
die die Sanktionen hätte durchsetzen können. In der Überlieferungsge-
schichte des kasuistischen Rechts im Bundesbuch zeigt sich dann aber eine
Aussonderung von Sanktionen, die dieses Vakuum ausfüllen,31 z. B. das
„Duplum“ im Depositenrecht (Ex 22, 6.7) oder im Körperverletzungsrecht
(Ex 21,18–32), wo der Kernüberlieferung eines reinen Ersatzleistungsrechts
(Ex 21,18f. u. 22) ein Sanktionsrecht, einschließlich einer Todessanktion,
hinzugefügt wird (Ex 21,23 u. 29). „Die zivilrechtliche Funktion der Konflikt-
regelung wird also auf breiter Basis um die strafrechtliche Sanktionsfunktion
erweitert.“ E. Otto liefert noch andere Beispiele,32 um dann auf eine weitere
„Ausdifferenzierung“ hinzuweisen, nämlich die Ausbildung eines sozialen
Schutzrechts der Schwachen in der Gesellschaft. Hier wird ein neuer Aspekt
sichtbar. Aus der „horizontalen“ Konfliktregelung zwischen im Grundsatz
gleichberechtigten Familien wird eine „vertikale“ Konfliktregelung zwischen
Reichen und Armen, z. B. Ex 22,24–27. Dies erfolgt über eine lokale Ge-
richtsorganisation, die diese Funktionen durchsetzen kann und nicht mehr
wie vorher auf nur freiwillige Übernahme von Konfliktregelungsvorschlägen
angewiesen ist. Jetzt spricht eine übergentale Autorität „von oben“, also
„vertikal“.
Für das apodiktische Recht gilt diese Entwicklung ebenfalls. Dieses ist
ursprünglich „als Todesrecht und Grenzrecht der Familie reines Sanktions-
recht.“33 Dieses wandert dann aber in staatlicher Zeit aus und wird an ein
Rechtsverfahren der lokalen Gerichtsinstitutionen gebunden. Das Tötungs-
verbot von Ex 21,12 wird durch Ex 21,13f. ergänzt, was ein Verfahren zur
Feststellung der Alternativen voraussetzt. Die Durchsetzung des apodikti-
schen Rechts liegt also nicht mehr in der Sippe, Autorität ist nicht mehr der
pater familias, sondern ein staatliches Gericht, das die Gemeinschaft aller
repräsentiert. Damit sind jetzt die verschiedenen Rechte, das kasuistische
und das apodiktische, am Ortsgericht vereint.34

31
E. Otto, Wandel, 61.
32
Ebd., 62.
33
Ebd., 63.
34
Ebd., 65.
54 1. Teil: Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts

Der Grund hierfür ist die zunehmende Komplexität der Gesellschaft, ins-
besondere in wirtschaftlicher Hinsicht. Die vielen neuen Probleme können
durch das alte intergentale apodiktische und intergentale kasuistische Recht
nicht mehr ausreichend gelöst werden. Gleichzeitig wird eine zunehmende
Systematisierung und Rationalisierung erforderlich.35
Die weitere Rechtsentwicklung zeigt dann nach Otto eine zunehmende
„Theologisierung“ des Rechts.36 Die früheren Rechtsbegründungen tragen
nicht mehr. Die Solidarität innerhalb der Familie und innerhalb der Gesell-
schaft wird zunehmend brüchiger. An diesen „Bruchlinien israelitischer Ge-
sellschaft“ setzt die Theologisierung ein. Wo die Kluft zwischen Arm und
Reich immer größer wird, kann an eine soziale Solidarität allein nicht mehr
ausreichend appelliert werden. Der Rückbezug auf Adonai wird erforderlich,
wie dies insbesondere auch im Dekalog sichtbar wird.37 JHWH wird der
neue, allumfassende Begründungszusammenhang.
E. Otto weist darauf hin, dass also nicht eine Profanisierung des Rechts aus
sakralen Ursprüngen stattgefunden hat, sondern dass umgekehrt ursprüng-
lich profane Rechtssysteme (intergentale Konfliktregelung und Sippenethos)
nach und nach „theologisiert“ wurden, um die schweren Probleme einer
auseinanderbrechenden Gesellschaft zu lösen. Nur JHWH kann jetzt noch als
tragender Grund der Rechtsordnung gelten, nicht mehr die Solidarität der
Gesellschaft, da diese nicht mehr solidarisch ist. Das apodiktische Recht ist
deshalb aus ursprünglich profanem Ursprung nachträglich theologisiert
worden, um seine Geltung zu erhalten.
Der Vorgang der „Ausdifferenzierung“ führt E. Otto dann zu weiteren
Überlegungen, auf die Fr. Crüsemann näher eingegangen ist. Es geht um die
Frage eines „altisraelitischen Ethos“. E. Otto hat hierzu eine eigene Untersu-
chung vorgelegt.38 Er unterscheidet zwischen Rechtsnormen, die justitiabel
sind, also Rechtsfolgen enthalten, und solchen, die keine Sanktionsregelun-
gen haben und damit nicht unmittelbar durchsetzbar sind. Hier sei nur ein
„paränetischer Appell“ möglich. Damit sind diejenigen Normen gemeint, die
das apodiktische Recht ausmachen. Diese enthalten keine unmittelbaren
Sanktionen. Auch der Fluch aus der ‫אָרוּר‬-Reihe ist nur eine formelhafte

35
E. Otto, Wandel, 66.
36
Ebd., 69.
37
Vgl. Fr. Crüsemann im Kapitel über den Dekalog (s. IV.1.).
38
E. Otto, Sozial- und rechtshistorische Aspekte.
IV. Heutiger Forschungsstand 55

Grundsatzerklärung. Dies ist also kein kasuistisches Recht, sondern gehört


zum ursprünglichen apodiktischen Recht.
Diese Normen bilden nach E. Otto das „Ethos“ neben dem eigentlichen
Recht. Das Ethos ist eine „Ausdifferenzierung“ grundsätzlicher Normen aus
dem apodiktischen Recht. Sie sind nicht erzwingbar. Für sie ist daher die
„Theologisierung“ besonders wichtig, weil die sozial zerrissene Gesellschaft
selbst sie nicht mehr tragen kann (s. o. S. 64). Nur der Rückbezug auf JHWH
ermöglicht jetzt ihre Durchsetzung.
Diese Auffassung ist, wie Fr. Crüsemann zu Recht gezeigt hat, m. E. nicht
zutreffend. Die fraglichen Normen, also das apodiktische Recht, sind nicht
„unverbindlich“, auch wenn ihnen die unmittelbare Durchsetzbarkeit fehlt.
Sie sind vielmehr Richtlinien für die Anwendung und Auslegung der übrigen
Normen. Sie stellen ein soziales Korrektiv dar, das die gleiche Funktion hat
wie eine Verfassung in einem modernen Rechtsstaat. Sie haben also „Verfas-
sungsrang“ und sind damit ebenfalls „Recht“ im unmittelbaren Sinne. „Ver-
fassungsrecht“ ist fester Bestandteil jeder „Rechtsordnung“. Das apodiktische
Recht ist deshalb nicht nur reines Ethos, wie E. Otto meint, sondern direkt
wirksames Recht, und zwar in Form von „Verfassungsrecht“.

4. B. S. Jackson: „Semiotik“

Ein weiterer interessanter Versuch zur Analyse des biblischen Rechts wurde
vor wenigen Jahren von B. S. Jackson vorgelegt.39 Er versucht, aus dem
sprachlichen Kontext heraus die Entwicklung des Rechts aus der mündlichen
Tradition bis hin zur Verschriftlichung zu ermitteln. Er beschäftigt sich mit
der grundsätzlichen Frage, wie „Recht“ entsteht und welche Bedeutung die
schriftliche Fixierung von Entscheidungen oder Rechtsauffassungen hat. Er
bedient sich dabei der „semiotischen Methode“, die sich aus verschiedenen
Fachrichtungen entwickelt hat: Phänomenologie, Ethnologie, Soziologie und
Anthropologie. B. S. Jackson geht davon aus, dass in den heutigen Texten
noch „frühere Erkenntnismuster der mündlichen Überlieferung durch-
schimmern“ und dass die vorliegenden Texte die rechtlichen Gedanken-
muster wiedergeben, die vorher entwickelt worden waren. Auf diese Weise
könne man auch den historischen Ursprung dieses Rechts ermitteln.

39
B. S. Jackson, Studies, zitiert in Eun-Ae Lee, Forschungsgeschichte, 153.
56 1. Teil: Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts

Es komme deshalb auf den narrativen Kontext an, in dem die jeweilige
Norm stehe. Recht entwickele sich aus einer bestimmten Situation heraus,
bedürfe außerdem aber noch eines besonderen „speech act“, um Rechtssatz
zu werden. In 1 Sam 30 wird z. B. die Beuteverteilungsregelung erst durch die
nachträgliche Anordnung Davids zu einem festen dauernden Rechtssatz.
B. S. Jackson übernimmt, wie eigentlich alle Forscher, die grundsätzliche
Einteilung A. Alts in apodiktisches und kasuistisches Recht als Gattungen,
sieht aber den „Sitz im Leben“ anders. Für ihn ist jedes Recht aus mündlich
überlieferten „wisdom laws“ entstanden, die nach und nach zu Rechtssätzen
und dann schließlich verschriftlicht wurden, dabei als erstes das älteste
Rechtskorpus, das Bundesbuch. Das apodiktische Recht ist dann auch für ihn
im Bereich der Familie beheimatet („domestic setting“), so wie es E. Gersten-
berger40 bereits herausgearbeitet hat.

Eine gewisse Nähe zu J. Assmanns „Gedächtnisspur“ ist nicht zu bestreiten.41


B. S. Jackson versucht die Trägerkreise der Rechtsüberlieferungen zu ermit-
teln und deren Interesse an einer Ausgestaltung dieser Überlieferungen dar-
zustellen. So wie das Jerusalemer Obergericht seine eigene Legitimation auf
Mose zurückführte und an einer entsprechenden Ausgestaltung der Tradi-
tionen interessiert sein musste, z. B. Ex 18, so galt dies auch für viele andere
Gruppierungen und Einrichtungen.42 Bei J. Assmann geht es allerdings spe-
ziell um Mose und dessen Einbindung in die biblischen Kontexte. B. S.
Jackson will die Überlieferung und Entstehung von Rechtsformen durch die
verschiedenen Trägerkreise darstellen und hat somit eine andere Aufgabe.
Vom Ansatz her besteht aber eine tendenzielle Ähnlichkeit der Denkweisen.
Wer nun erwarten würde, dass mit diesem speziellen Ansatz neue konkre-
tere Ergebnisse zu erzielen wären, wird enttäuscht. B. S. Jackson findet seine
Thesen in den von ihm behandelten Beispielsfällen (Num 27,1–11: Zelofhads
Töchter; Num 36,1–9: Erbrecht; Lev 24,10–23: Beuteregelung) zwar bestätigt;
neuere Erkenntnisse zur Herkunft des Rechts können aber auch damit nicht
erreicht werden. Die Herkunft des apodiktischen Rechts aus dem Sippen-
ethos (E. Gerstenberger), seine „Auswanderung“ an eine Gerichtsorganisation
verbunden mit einer zunehmenden Theologisierung (Fr. Crüsemann und E.

40
s. Kap. III.4.
41
J. Assmann, Moses.
42
Vgl. F. W. Golka, Mose, 64, 178.
IV. Heutiger Forschungsstand 57

Otto), um seine Durchsetzbarkeit zu erhalten, und seine Funktion als „Ver-


fassung“ werden von B. S. Jackson also nicht in Frage gestellt.

5. Eun-Ae Lee: „Grundnormen“

Die neueste Untersuchung zum Thema „Apodiktisches Recht“ ist die Dis-
sertation von Eun-Ae Lee von 2003.43 Die Autorin berichtet ausführlich über
die Ergebnisse von A. Alt und die weitere Forschung hierzu, u. a. auch über
die „semiotische“ Methode von B. S. Jackson, der im vorigen Kapitel vorge-
stellt wurde (s. IV.4). Für ihre eigenen Untersuchungen übernimmt sie dann,
wie alle ihre Vorgänger auch, die grundsätzliche Einteilung A. Alts in apo-
diktisches und kasuistisches Recht. Wir können also auch hier feststellen,
dass sich an diesem großen Wurf bis heute nichts geändert hat und diese
Unterscheidung allseits akzeptiert wird. Ich vermute, dass sich hieran auch
nichts ändern wird, völlig unabhängig davon, wo man die Herkunft des apo-
diktischen Rechts und seine Stellung innerhalb der verschiedenen Rechts-
korpora ansiedeln will. Ob sich der Begriff „Verfassungsrecht“ für das apo-
diktische Recht durchsetzen wird (vgl. Fr. Crüsemann), ist eine andere Frage.
Auch für die Darstellung der in der nachfolgenden Forschung durchge-
führten Detailuntersuchungen folgt sie A. Alt. Sie übernimmt dessen „Grob-
einteilung“ in die vier Gruppen bzw. Fundstellen, nämlich in die ‫מוֹת יוּמַת‬-
Sätze, die Dekaloge, die Prohibitiv-Reihe von Lev 18 und die ‫אָרוּר‬-Reihe. Im
Rahmen dieses Schemas stellt sie dann die verschiedenen Diskussionen um
das apodiktische Recht und dessen Einordnung in die Gesamtzusammen-
hänge dar, wobei ihr besonderes Interesse den sprachlichen Problemen gilt.
Diese standen ja auch am Beginn der kritischen Untersuchungen nach A. Alt.
Es ging um den genauen sprachlichen Aufbau der kasuistischen Rechtssätze
(„lex Rössler“)44 und dann insbesondere dem der apodiktischen Sätze. Die
Zahl der z. T. extrem detaillierten sprachlichen Abhandlungen mit endlosen
Diskussionen über hebräische Sprachformen ist fast unübersehbar und auch,
wenn man ehrlich sein will, sehr ermüdend. Dies gilt insbesondere dann,
wenn man die mehr inhaltlichen und historischen Arbeiten von F. Gersten-
berger, E. Otto oder Fr. Crüsemann dagegenhält. Diese bringen außerdem

43
Eun-Ae Lee, Forschungsgeschichte.
44
G. Liedke, Gestalt, 35.
58 1. Teil: Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts

auch noch die wesentlich interessanteren Ergebnisse, weil sie sich nicht mehr
allein auf die Frage der Herkunft fixieren, sondern die heutige Bedeutung
erörtern.
Den Einordnungen und Beurteilungen von Eun-Ae Lee45 kann man im
Wesentlichen zustimmen. Sie stellt in ihrer Zusammenfassung korrekt fest,
dass die apodiktischen Rechtssätze immer in Rechtssammlungen auftreten
und deshalb in einem bestimmten Kontext zu diesen Normen stehen. Ihre
Funktion innerhalb des jeweiligen Rechtsbuches (BB, Dtn, HG) ist also das
Entscheidende. „Diese Funktion drückt die Intention der Redaktoren der alt-
testamentlichen Rechtssammlungen aus, die ganze Rechtssammlung Gott zu
unterstellen und sie so zu sichern, weil die apodiktischen Rechte in ihren einfa-
chen und wuchtigen Ausdrucksformen als das die höchste Autorität Gottes
voraussetzende Gesetz angesehen wurden.“46 Zur Klarstellung muss hierbei
aber gesagt werden, dass die Autorin diesen Aspekt erst für die jeweiligen
Endfassungen der Rechtssammlungen ansetzt. Die ursprüngliche Herkunft
des apodiktischen Rechts sieht sie, wie die Mehrzahl der Forscher nach E.
Gerstenberger, in einer frühen, noch nicht schriftlichen Sippengesellschaft
mit dem pater familias als verbindlicher Autorität. Erst anschließend sei diese
Autorität über das Gericht zu Gott transponiert worden.47
Diese besondere Stellung des apodiktischen Rechts ist nach Eun-Ae Lee bei
den Endredaktionen, die bei den Rechtskorpora unterschiedlich anzusetzen
sind, bewusst eingesetzt worden, um der Sammlung einen sakralen Rahmen
zu geben. Diese Rahmung kann in allen drei Rechtsbüchern festgestellt wer-
den. Apodiktische Formulierungen fassen das kasuistische Recht ein und
bilden auf diese Weise die Richtschnur oder Zusammenfassung der jeweili-
gen Sammlung. Sie haben, modern gesprochen, Verfassungsrang und des-
halb eine herausgehobene Stellung, die durch die besondere Formulierung
noch hervorgehoben wird.

a) Bundesbuch48
21,12–17 mot-jumat-Reihe im profanen Bereich
21,18–22,16 Rechtsbestimmungen in kasuistischer Formulierung
22,17–19 Todesrechtsreihe im sakralen Bereich,

45
Eun-Ae Lee, Forschungsgeschichte, 171–181.
46
Ebd., 171.
47
Ebd., 176.
48
Ebd., 173.
IV. Heutiger Forschungsstand 59

die aus Prohibitiv (V. 17),


mot-jumat-Satz (V. 18) und Injunktiv (V. 19) besteht.

b) Deuteronomium49
Dtn 5 Dekalog in Prohibitiv- und Injunktivform
Dtn 12–26 Das deuteronomische Gesetz
Dtn 27 Fluchreihe in ’arur-Form

c) Heiligkeitsgesetz50
Lev 18 Reihe gegen Sexualverbrechen in Prohibitivform
Lev 19 soziale / kultische Rechtsbestimmungen,
die aus dem Bundesbuch und dem deuteronomischen
Gesetz zitiert werden und nach der dekalogischen
Struktur angeordnet sind.
Lev 20 Reihe gegen Sexualverbrechen in mot-jumat-Form

Diese Rahmennormen sind die Grundnormen einer einfachen alten Gesell-


schaft und durch die apodiktische Form zu israelitischem Recht geworden.
Sie „entwickeln sich weiter zum absoluten Recht, durch das alle Lebensbereiche
dem Gott Jahwe unterstellt werden. In diesem Sinne sind die ‚apodiktischen‘
Rechtsformen ein Spezifikum Israels.“51 Dieser Auffassung dürfte zuzustim-
men sein.
Eun-Ae Lee setzt sich in ihrer Arbeit unverständlicherweise nicht mit Fr.
Crüsemann und E. Otto auseinander, obwohl deren Untersuchungen schon
lange vorlagen und unmittelbar zum Thema gehören. Beide Autoren werden
nicht besprochen. Sie beschäftigt sich deshalb nicht mit der von E. Otto auf-
geworfenen Frage, ob es sich bei dem apodiktischen Recht in seiner jetzigen
Form um ein reines Ethos handelt oder ob es unmittelbar wirksames Recht
mit Verfassungsrang geworden ist (Fr. Crüsemann). Sie kommt allerdings
letztlich zum gleichen Ergebnis, dass nämlich das apodiktische Recht in sei-
ner biblischen Endgestalt einen „Rahmen“ für das übrige, das kasuistische
Recht darstellt und insofern so etwas wie eine Verfassung bildet.

49
Eun-Ae Lee, Forschungsgeschichte, 173.
50
Ebd., 174.
51
Ebd., 181.
V. Zusammenfassung
V. Zusammenfassung

1.
Bei unserem Streifzug durch die Forschungsgeschichte des apodiktischen
Rechts konnten wir feststellen, dass sich das Forschungsinteresse gewandelt
hat. Während es früher in erster Linie um die Frage der Herkunft und der
Entstehung der verschiedenen Rechtsgattungen ging, hat sich heute der Blick
mehr auf die Stellung und Bedeutung des apodiktischen Rechts innerhalb der
verschiedenen Rechtskorpora des Alten Testaments verlagert. Die ältere For-
schung beschäftigte sich überwiegend, literarkritisch und gattungsgeschicht-
lich, mit der Einordnung dieses Rechts in die zurückliegende Rechtsent-
wicklung. Eine Herkunft aus dem „israelitischen Stammesrecht“, eine
Anbindung an „amphiktyonisches Bundesrecht“ wurde postuliert und de-
tailliert untersucht. Andererseits wurde eine Verbindung zum altorientali-
schen Recht, insbesondere zu den hethitischen Vasallenverträgen gesucht.
Die sprachliche Gestaltung, im Unterschied zum kasuistischen Recht, wurde
minutiös ermittelt, immer in der Hoffnung, hieraus Rückschlüsse auf die
Herkunft dieser speziellen Rechtsform ziehen zu können.
Herauskristallisiert hatte sich dann die insbesondere von Gerstenberger
vorgetragene Überzeugung, dass das apodiktische Recht im sog. Sippenethos
beheimatet ist und dort seinen Ursprung hat. Es war damit nicht mehr
„volksgebunden israelitisch und gottgebunden jahwistisch“, wie A. Alt es
vorgeschlagen hatte, sondern entsprang der Sippenordnung einer „segmentä-
ren, akephalen Gesellschaft“. Die dahinter stehende Autorität war die selbst-
verständliche, von allen zu respektierende Grundordnung innerhalb einer
Großfamilie, repräsentiert durch den „Patriarchen“ oder die Ältesten der
Sippe. Diese Sippenordnung ist dann auch nicht ethnisch begrenzt und nicht
typisch „israelitisch“. Überall dort, wo sich Stammesgesellschaften noch in
vorstaatlichem Zuschnitt befinden, kann „apodiktisches Recht“ entstehen,
unabhängig davon, ob es sich um „Israeliten“ oder andere Volksgruppen
handelt. Wir finden derartige „archaische“ Rechtsformen in fast allen frühe-
ren Lebensordnungen.
Die demgegenüber viel wichtigere Frage ist aber, was sich von diesen
Rechtsformen erhalten hat und in spätere staatliche Gesellschaften über-
62 1. Teil: Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts

nommen worden ist, verbunden mit der Überlegung, welche Stellung diese
Formen in der Gesamtrechtsordnung des jeweiligen Staates haben sollen. Es
ist dann aber nicht mehr altes Sippenrecht, weil die Sippenordnungen zu-
nehmend durch staatliche Institutionen zurückgedrängt werden. Es wird
neues Recht, das sich durch seine Stellung innerhalb der jeweils geltenden
Rechtsordnung neu definiert.
Für einen Juristen sind derartige Überlegungen eigentlich selbstverständ-
lich. Ihn interessiert immer nur die „Endfassung“ eines Gesetzes, und zwar in
der Form, in der es im Bundesgesetzblatt oder im Reichsgesetzblatt verbind-
lich veröffentlich worden ist. Der Wille des letztmalig tätigen Gesetzgebers ist
für ihn entscheidend. Vorangehende Fassungen sind nicht mehr maßgeblich,
weil sie – wegen der Neufassung – eben gerade nicht mehr gelten sollen.
Sonst hätte der Gesetzgeber sie nicht geändert.
Es ist insofern eine klare Regelung. Kein Richter oder Verwaltungsjurist
käme heute auf die Idee, für die Entscheidung eines ihm vorgelegten Falles
hinter die Endfassung des anzuwendenden Gesetzes zurückzugehen und
nachzuprüfen, welche Grundsätze und Auffassungen eventuell der frühere
Gesetzgeber vertreten hat. Es gilt immer die vorliegende Endfassung. Alte
Rechtsgrundsätze, die sich im neuen Gesetz widerspiegeln, interessieren nur
den Rechtshistoriker.
Rechtsentwicklungen und frühere Rechtsauffassungen können natürlich
für ein Verfassungsgericht von Bedeutung sein, wenn es um die Verfas-
sungsmäßigkeit von Gesetzen geht. Hier sind die großen Entwicklungslinien
insbesondere von Grundrechts- oder Verfassungsnormen von Wichtigkeit
und können herangezogen werden. Dies ist aber ein Sonderfall und berührt
nicht die Gültigkeit eines korrekt erlassenen Gesetzes. Dieses gilt so, wie es
im Gesetzblatt steht.
Ein weiterer Sonderfall kann die Neufassung von Gesetzen sein. Wenn der
Gesetzgeber, heute das Parlament, aufgrund veränderter Umstände neue
gesetzliche Regelungen erlassen will oder muss, dann wird er die vorange-
gangene Rechtsentwicklung der jeweiligen Gesetzesmaterie im Auge haben
und bedenken, ob es langfristige, bedenkenswerte Grundsätze gibt, die sich
in früheren Gesetzesfassungen wiederfinden. Diese kann er berücksichtigen,
muss es aber nicht. Bei diesen Maßnahmen geht es aber nicht um die Frage
der Auslegung bestehender Gesetze, sondern um den Erlass neuer Gesetze.
Solange diese nicht vorliegen, gilt verbindlich die alte Regelung, ohne Rück-
sicht auf Herkommen oder alte historische Grundsätze.
V. Zusammenfassung 63

Dies lässt sich sehr gut an einem Beispiel aus dem heutigen Bürgerlichen
Recht, dem Zivilrecht, demonstrieren. Im heute geltenden Erbrecht, so wie es
im Fünften Buch des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) festgeschrieben ist,
gibt es verschiedene erbrechtliche Grundsätze, die in den §§ 1922ff. BGB
zum Tragen kommen und miteinander in Einklang gebracht werden müssen.
So stehen z. B. das sog. Familienerbrecht und die sog. Testierfreiheit in
Konkurrenz zueinander. Die „Testierfreiheit“ berechtigt den Erblasser zur
beliebigen testamentarischen Verfügung über seinen Nachlass; das „Fami-
lienerbrecht“ bedeutet demgegenüber, dass der Nachlass grundsätzlich auf
die Familie übergeht, wenn keine abweichende gesetzliche oder testamentari-
sche Verfügung vorliegt.1 Im deutschen Erbrecht ist das Verhältnis beider
Grundsätze so geregelt, dass der Erblasser zwar grundsätzlich zum Erben
einsetzen kann, wen er will, dass aber die Angehörigen (Kinder und Ehegat-
ten) durch die Pflichtteilsregelung immer mit der Hälfte ihres gesetzlichen
Erbteils am Nachlass beteiligt bleiben. Das kann der Erblasser nicht aus-
schließen. Er bleibt also im Endergebnis nur zur Hälfte Herr seines Nachlas-
ses; die andere Hälfte geht, wenn keine besonderen Umstände vorliegen,
grundsätzlich an die Familie.
Wir haben hier einen Kompromiss zwischen zwei widerstreitenden Rechts-
prinzipien vor uns, der dem Willen des aktuellen Gesetzgebers entspricht.
Wer nun wissen möchte, ob es früher anders war und woher diese Prinzipien
kommen, kann dies in der juristischen, insbesondere rechtshistorischen Lite-
ratur nachlesen und wird dann erfahren, dass die Testierfreiheit aus dem
römischen Recht, das Familienerbrecht mehr aus dem germanischen Rechts-
kreis stammt. Die Freiheit des Erblassers entspricht dem rationalen, indivi-
duellen Eigentumsbegriff des alten römischen Rechts, die Bindung an die
Familie geht auf germanische Volks- und Sippenvorstellungen zurück. Der
Eigentümer ist zwar „freier Bauer auf freier Scholle“, aber nur so lange er
lebt. Seine Freiheit reicht nicht über den Tod hinaus. Er kann insbesondere
seinen Hof nicht an „Fremde“ vermachen. Er ist dem Grunde nach nur
„Treuhänder“ seines Hofes und hat seinen Besitz so an seine Söhne weiterzu-
geben, wie er ihn seinerseits von seinem Vater erhalten hat.
Diese Erkenntnisse haben nun aber, so interessant sie auch sein mögen,
keine Auswirkungen auf das heute geltende deutsche Erbrecht. Dieses gilt so,
wie der Gesetzgeber es in seiner letzten Fassung verabschiedet hat. Bei einer

1
Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 58. Aufl. 1999, Einl. V. § 1922 BGB, Rn. 3.
64 1. Teil: Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts

Auslegung dieses Gesetzes in streitigen Einzelfragen werden deshalb nicht


„römische“ gegen „germanische“ Grundsätze abgewogen, sondern es gilt
ausschließlich zu ermitteln, wie der zuletzt tätige und damit zuständige Ge-
setzgeber sich das Verhältnis von Testierfreiheit und Familienerbrecht ge-
dacht hat. Dies lässt sich dann nur aus der Stellung der jetzt geltenden Best-
immungen zueinander feststellen. Ein einzelner Grundsatz kann herkom-
men, wo er will; in dem Augenblick, wo er in einer geltenden Rechtsnorm
zum Tragen kommt, ist er „deutsches“ Recht und wird nur in Beziehung zu
anderem deutschen Recht gesehen.

2.
Das Gleiche gilt entsprechend für das apodiktische Recht des Alten Testa-
ments. Auch hier sind Herkunft, Entwicklung und frühere Bedeutung nicht
so wichtig wie Geltung und Stellung in den abschließenden Rechtskorpora.
Entscheidend ist die letzte Fassung und deren Komposition. Haben die
Normen eine besondere Funktion innerhalb dieser Sammlungen? Haben sie
den gleichen Rang wie die übrigen Vorschriften oder sind sie vielmehr als
grundsätzliche, verfassungsähnliche Normen zu betrachten?2 Diesem gilt es
näher nachzuspüren.
Das Aufzeigen der Herkunft und der Entwicklungslinien ist natürlich für
das Verständnis dieser Rechtsformen hilfreich, nicht aber für die Einord-
nung und Bestimmung ihrer Geltung innerhalb der Endfassung der jeweili-
gen Texte. Hinzu kommt, dass die Suche nach einem Ursprung in der For-
schung oft von illusionären religiösen oder ideologischen Vorstellungen
begleitet war, die in die Irre führen mussten. Wer fundamentalistisch glaubte,
das apodiktische Recht könne ihn in eine israelitische Vorzeit, direkt an den
Sinai führen, wo er dann unmittelbarer als in späterer Zeit Gottes Wort lau-
schen könne, war ebenso auf dem Holzweg wie derjenige, der, mit H. Gunkel,
meinte, er könne hier einen Schatz, ein Produkt der reinen Volksseele heben,
noch unbelastet von späteren Verfälschungen. Die Suche nach einem münd-
lichen oder schriftlichen „Original“ setzt nämlich voraus, dass es dieses auch
gab. Und das ist bei Gesetzestexten problematisch.
Dies mag bei erzählenden Texten anders sein. Hier wird ein früherer, ur-
sprünglicherer Text näher an der historischen Wahrheit sein als ein späterer.

2
Die Frage eines alttestamentlichen Ethos war bereits im Zusammenhang mit E. Otto und Fr.
Crüsemann erörtert worden.
V. Zusammenfassung 65

Hier kann man dann auch von „Verfälschungen“ sprechen. Bei Rechts-
sammlungen stellt sich dieses Problem aber nicht. Hier sind Änderungen
und Ergänzungen keine „Fälschungen“, sondern „legale“ Neufassungen des
jeweiligen „Gesetzgebers“, der neue Sachverhalte zu regeln hat. Die „Fäl-
schung“ besteht dann im Alten Testament nur darin, dass die Neufassung auf
Mose zurückprojeziert und dessen Autorität unterstellt wird. Die Behaup-
tung, auch diese Neufassung gehe direkt auf Mose zurück, und die damit
verbundene Ausnutzung von dessen Autorität für möglicherweise eigennüt-
zige Interessen einzelner Gruppen, z. B. der Priesterschaft oder des Königs-
hauses3, ist dann das eigentliche Problem. Die grundsätzliche Berechtigung
jeder staatlichen Macht zur Setzung neuen Rechts wird hiervon aber nicht
berührt.
König Joschija hatte also durchaus die Befugnis, im 7. Jahrhundert ein
neues Gesetzbuch, das Deuteronomium, herauszugeben. Die Frage ist nur,
ob es „korrekt“ war, dieses als „Moserede“ auszugeben. Wir kennen dieses
Problem auch im Neuen Testament, wo es viele sog. Pseudepigraphen gibt,
insbesondere bei den Paulusbriefen. Die Meinungen hierzu sind geteilt. Es
wird meist darauf verwiesen, dass in antiker Zeit das Gefühl für literarische
Wahrhaftigkeit ein anderes gewesen sei als heute. Dies wird aber durchaus
diskutiert.4 Auch die Antike habe selbstverständlich ein Bewusstsein für Be-
trug und Fälschung gehabt und falsche Zuschreibungen nicht ohne weiteres
toleriert. Eine echte Fälschung wie der 2. Thessalonicherbrief, der ausdrück-
lich darauf angelegt war, den ersten, echten Brief zu ersetzen (2 Thess 2,1ff.),
wäre auch früher nicht akzeptiert worden, wenn dies nur rechtzeitig erkannt
worden wäre.
Im Alten Testament ist dieses Problem in Bezug auf den Pentateuch aber
wesentlich komplexer. Das Deuteronomium ist ja keine komplette Neu-
schöpfung, sondern enthält überwiegend älteres, authentisches Material, das
nur neu zusammengestellt und streckenweise abgeändert wurde. Ein Rück-
bezug auf Mose war deshalb nicht völlig unsachgemäß und entsprach vor
allem allgemeiner Auffassung. Mose war der große Gesetzgeber. „Alle gesetz-
geberische Autorität leitet sich daher von Mose ab.“5 Es war deshalb unum-
gänglich, auch neues Material der Autorität des Mose zu unterstellen. König
Joschija hatte gar keine andere Wahl, als sein Gesetzbuch als „torat moshäh“

3
Z. B. die Zentrierung des Kults auf Jerusalem.
4
G. Lüdemann, Ketzer, 113.
5
F. W. Golka, Mose, 181.
66 1. Teil: Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts

auszugeben. Ich bin mir auch sicher, dass alle Beteiligten wussten, wie es
gemeint war.

3.
Es ist insgesamt festzustellen, dass bei der Erforschung des apodiktischen
Rechts die Ermittlung seiner Herkunft nur einen ersten Teil der Diskussion
darstellen kann. Der m. E. entscheidende zweite Teil ist die Frage, was von
diesen Rechtsnormen noch im Alten Testament erhalten ist und aus welchen
Gründen es dort platziert ist. Die Auffassung von Eun-Ae Lee, dem apodikti-
schen Recht den Rang von „Grundnormen“ zu geben, welches die übrigen
Rechtsnormen einrahmt, wie sie schematisch auch darlegen konnte, ist eine
sicher richtige Überlegung. Dies korrespondiert mit der Auffassung von Fr.
Crüsemann, der den Dekalog aus Ex 20 als eine Art Grundgesetz für den
freien israelitischen Mitbürger ansieht, zusammengestellt in einer Zeit des
sozialen Umbruchs. Für ihn ist das apodiktische Recht eine „Metanorm“ (s.
Kap. IV.2., S. 62).
Um dies weiter zu überprüfen, müsste man „apodiktisches Recht“ aus an-
deren Rechtssystemen heranziehen und auf seine Funktion hin überprüfen.
Und wenn man sich dann erst einmal von der Vorstellung befreit hat, das
apodiktische Recht sei ein geheimnisumwittertes Spezifikum Israels und sei –
abgesehen von vereinzelten Vorkommen im altorientalischen Recht – nur im
Alten Testament zu finden, wird man auch schnell fündig, dazu noch in Be-
reichen, wo man es gar nicht vermutet hätte. Ich stelle einige Beispiele vor:

„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“

„Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.“

„Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“

„Die Wohnung ist unverletzlich.“

„Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet.“

Diese Liste ließe sich noch erweitern. Es handelt sich, wie jeder deutsche
Staatsbürger wissen sollte, um seine eigenen im „Grundgesetz für die Bun-
desrepublik Deutschland“ (GG) verbrieften Grundrechte. Wenn man diese
V. Zusammenfassung 67

unbefangen betrachtet, kann man sie eigentlich von der sprachlichen Struk-
tur und ihrer verbindlichen Aussagekraft her nur als „apodiktisch“ bezeich-
nen. Alle Elemente, die die Form und den Inhalt des apodiktischen Rechts
aus dem Alten Testament ausmachen, sind gegeben. Der einzige Unterschied
besteht darin, dass sie nicht so heißen, sondern die Grund- und Menschen-
rechte darstellen, die eine lange Verfassungstradition, beginnend mit der
Aufklärung, hinter sich haben.
Eine weitere verblüffende Übereinstimmung besteht außerdem hinsichtlich
des „Gottesbezuges“. Das ursprüngliche apodiktische Recht war nicht aus-
drücklich jahwegebunden. Es entsprang der unverbrüchlichen Sippenord-
nung, die jedes Mitglied der Sippe zu respektieren hatte. Erst nach und nach
wurde es unter göttliche und mosaische Autorität gestellt. Diese „Theologi-
sierung“6 bestand nicht von Anfang an, sondern ist sekundär. Fr. Crüsemann
hat dies für den Dekalog dargestellt. Dieser wurde aus zwei oder drei älteren
Reihen zusammengestellt und in Ex 20 in einen unlösbaren, dialektischen
Zusammenhang zur Rettungstat Adonais gestellt. Exodus und Dekalog be-
dingen sich jetzt gegenseitig.
Ähnlich wurde auch mit den Grund- und Menschenrechten im GG verfah-
ren. Verfassungsrichter U. Di Fabio hat in seiner „Einführung in das Grund-
gesetz“ 7 darauf hingewiesen, dass das Grundgesetz zwar seinen Ursprung in
der „verfassungsgebenden Gewalt des souveränen Volkes“ habe, wie dies in
der Präambel zum GG ausdrücklich formuliert wird, und zwar „ohne innere
oder äußere Fremdbestimmung“, dass aber gleichzeitig eine – freiwillige –
Bindung an Gott bestehe. Die „Verantwortung vor Gott und den Menschen“
ist die Einleitung zur deutschen Verfassung.
Damit sind die Grundrechte, unabhängig von ihrer teilweise „atheisti-
schen“ Herkunft aus der Aufklärung, in ihrer jetzigen Gestalt gottesbezogen.
Der Verfassungsgeber wollte dies so und hat die heute gültige Form der
Verfassung in dieser Weise ausgestaltet8. Es spielt dann keine Rolle mehr, wo
die einzelnen Grund- und Menschenrechte bzw. ihre Ausgestaltung histo-
risch anzusiedeln sind. Ihre Wurzeln reichen auch nicht nur bis in die Auf-

6
Vgl. S. 45.
7
U. Di Fabio, Einführung, VII.
8
Die Auffassung von einem direkten Gottesbezug ist allerdings streitig. Viele Verfassungen ande-
rer Länder besitzen zwar einen unmittelbaren Bezug zur christlichen Religion, für das deutsche
Grundgesetz wird demgegenüber von vielen Autoren nur eine sehr unbestimmte Anbindung an
eine neutrale transzendente Idee angenommen, weil das heutige Verfassungsdenken und die
Menschenrechtsidee primär aus der Aufklärung stammen (vgl. 3. Teil, Kap. I. u. III. Ziff.3.).
68 1. Teil: Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts

klärung. Die Idee der Menschenrechte geht zurück auf stoisches Gedanken-
gut.9 Jüdisch-christliche Vorstellungen spielen hinein. Vielfältige Einflüsse
und Ausgestaltungen in der historischen Entwicklung sind vorhanden. Dies
alles tritt aber zurück hinter die Bedeutung, die die Grund- und Menschen-
rechte heute innerhalb des GG haben sollen. Ihre Relation zueinander im
Rahmen des vorliegenden Verfassungstextes ist von Belang, nicht ihre
frühere Bedeutung oder Herkunft.
Ein gewichtiger Unterschied besteht allerdings. Die modernen Grund- und
Menschenrechte sind der heutigen Vorstellung nach unmittelbare Rechte
jedes Menschen. Er selbst ist direkter Träger dieser Rechte und kann sie ge-
genüber Staat und Gesellschaft einklagen. Das schwache und sozial benach-
teiligte Mitglied der Gesellschaft soll nicht darauf angewiesen sein, dass die
anderen von sich aus seine Existenz respektieren und ihn unterstützen. Die
Grundrechte sind deshalb justiziabel. Adressat ist primär der Staat und der
Gesetzgeber.
Das apodiktische Recht richtet sich demgegenüber an diejenigen Personen,
die die Bedürfnisse der Armen und Schwachen beachten und die die Rechte
ihrer Mitbürger respektieren sollen. Deshalb ist das apodiktische Recht des
Alten Testaments auch oft in Form der direkten Anrede gefasst. Wir haben
es insoweit mit Prohibitiven zu tun. Der so Angesprochene soll seine sozialen
und religiösen Pflichten erfüllen.
Trotzdem steht letztlich aber auch hier der Gedanke dahinter, dass jeder
Mensch als Geschöpf Gottes eine eigene Würde hat, die zu respektieren ist.
Die Menschenschöpfung ist hier Motor des sozialen Ausgleichs.10 Damit ist
auch bei den Prohibitiven das zu schützende Mitglied der Gesellschaft Träger
eines ihm eigenen Anspruchs.

4.
Die dem apodiktischen Recht des Alten Testaments vergleichbaren Grund-
rechte des Grundgesetzes (GG) bilden zusammen mit dem sog. Staatsorgani-
sationsrecht das Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland.11 Dieses
Recht besteht dabei nicht aus unverbindlichen Grundsatzerklärungen, es ist
kein uneinklagbares Ethos, sondern Recht im eigentlichen Sinne. Die deut-

9
Alpmann Brockhaus, Fachlexikon Recht, 878; die Entwicklung der Menschenrechtsidee soll im 3.
Teil, Kap. I., noch näher dargestellt werden.
10
F. W. Golka, Flecken, 146.
11
Alpmann Brockhaus, Recht, 1381.
V. Zusammenfassung 69

sche Verfassung heißt dementsprechend auch „Grundgesetz“ und hat eine


besondere Beziehung zum übrigen, sog. positiven Recht. Es bildet die
Grundlage, den Rahmen, innerhalb dessen sich alles Recht zu bewegen hat.
Es zieht Grenzen, die nicht überschritten werden dürfen, auch nicht in Not-
lagen. Auch bei der Terrorbekämpfung sind nur rechtsstaatliche Mittel er-
laubt, auch wenn der Rechtsstaat sich dadurch – zunächst – in eine schwä-
chere Position begibt. Langfristig kann er nur so überleben.
Diese vorgelagerte Grundordnung, die alle Rechts- und Lebensbereiche
durchzieht, ist der Garant des Rechtsstaates und damit der Garant der Frei-
heit. Nur wenn sie strikt eingehalten wird, hat der Rechtsstaat eine Chance
und der einzelne Bürger die Gewissheit, dass seine Rechte und damit seine
Freiheit gewahrt bleiben. Wir sind also genau dort, wo auch der Dekalog vor
knapp 3000 Jahren angesetzt hat, nämlich bei der „Bewahrung der Frei-
heit“.12
Die weitere Diskussion um das „Apodiktische Recht“ müsste also der Frage
nachgehen, ob diese Normen dem modernen Verfassungsrecht, nicht nur in
Deutschland, entsprechen und eine ähnliche Entwicklung durchlaufen ha-
ben. Wo liegen die Übereinstimmungen, wo die Unterschiede? Sind die
Ziele, die beide Rechtsformen verfolgen, im Grundsatz identisch und ist die
Dialektik des Gottesbezuges vergleichbar? Ergibt sich aus einem solchen
direkten Vergleich die Stellung und Aufgabe des apodiktischen Rechts im
Alten Testament? Dies alles sind Fragen, die weiterführend durchdacht wer-
den müssten. Dabei wäre dann die Suche nach Herkunft und Entwicklung
des apodiktischen Rechts nicht die zentrale Aufgabe, sondern das Aufzeigen
der Funktion innerhalb der biblischen Rechtskorpora in ihrer Endgestalt.
Diese Fragen waren bereits von Fr. Crüsemann und Eun-Ae Lee erörtert
worden, die vorgeschlagen hatten, das apodiktische Recht als „Grundnor-
men“ (Lee) oder als „Metanorm“ (F. Crüsemann) mit Verfassungsrang zu
betrachten. Beide haben aber noch keine Vergleiche zu „Verfassungen“ ande-
rer Rechtskreise, insbesondere der Neuzeit, angestellt. Dies müsste aber erge-
ben, dass viele Parallelen bestehen und dass vor allem das Grundanliegen
vergleichbar ist, nämlich die Wahrung der Grundrechte und der Freiheit des
Menschen im Rahmen einer dialektischen Gottesbeziehung. Menschrechte
werden letztlich immer auf die göttliche Menschenschöpfung zurückgeführt.

12
Vgl. Fr. Crüsemann, Bewahrung der Freiheit (Kap. IV.1.).
70 1. Teil: Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts

Es gibt, wie Golka zu Recht ausführt, „keine völlig säkulare Begründung der
Menschenrechte.“13
Gleichzeitig kommen wir zu dem überraschenden Ergebnis, dass Albrecht
Alt zum Schluss nun doch noch Recht erhält, wenn auch ganz anders, als er
es sich gedacht hat. Zumindest in der biblischen Endfassung wird sein apo-
diktisches Recht schließlich doch noch zu dem, was es immer sein sollte, aber
ursprünglich keineswegs war, nämlich „volksgebunden israelitisch und gott-
gebunden jahwistisch“.

13
F. W. Golka, Flecken, 151; vgl. aber 3. Teil, Kap. I. u. II.
Zweiter Teil:
Untersuchung einer eigenständigen Herkunft
Zweiter Teil: Untersuchung einer eigenständigen Herkunft

I. Problem und These


I. Problem und These

Obwohl der neue Begriff „Apodiktisches Recht“ seit A. Alt in der Forschung
allgemein anerkannt ist und seinen festen Platz in der theologischen Termi-
nologie behauptet, war die Frage der Herkunft dieses Rechts von Beginn an
streitig. Während A. Alt davon ausging, dass es sich um Rechtsgut handele,
das die einwandernden Israeliten direkt aus der Wüste nach Kanaan mitge-
bracht hätten, wo es dann mit dem kanaanäischen kasuistischen Recht kolli-
diert sei, verlegten M. Noth, E. Gerstenberger, G. Fohrer u. a. seine Entstehung
in die Richterzeit, in der vorstaatliche Verhältnisse, eventuell im Rahmen
einer Amphiktyonie, geherrscht hätten.
Die Verlegung in die Richterzeit war erforderlich, weil der „Exodus“ und
die „Landnahme“ sich zunehmend als Fiktion erwiesen, die einer historisch-
archäologisch ausgerichteten Forschung nicht standhalten konnten. Einwan-
dernde ethnisch selbständige Gruppierungen gab es nicht oder ließen sich
zumindest nicht nachweisen. Die biblischen Berichte über den Auszug des
ganzen Volkes aus Ägypten unter Mose, die Eroberung des Landes Kanaan
unter Joschua und die Entstehung Israels aus dieser eingewanderten Stam-
mesgruppe erwiesen sich immer mehr als eine fiktive Komposition ver-
schiedensten Materials, die viel später, erst ab dem 8. oder 7. Jahrhundert,
einsetzte und im 5. Jahrhundert und danach ihren redaktionellen Abschluss
fand.1 Religiöse und vor allem politische Motive unter Joschija und dann
später, nach der Katastrophe des Exils, die Notwendigkeit, eine neue religiös-
nationale Identität zu entwickeln, spielten eine entscheidende Rolle. Die
Entstehung Israels durch einwandernde Stämme als Nachkommen der Pa-

1
Frühere Entstehungszeiten werden von niemandem mehr vertreten (vgl. die Übersicht bei N. P.
Lemche, Vorgeschichte, 213.
72 Zweiter Teil: Untersuchung einer eigenständigen Herkunft

triarchen und die Bildung eines mächtigen Großreichs, das von Beginn an in
einer besonderen Beziehung zu JHWH stand, waren als Bild der eigenen
Vergangenheit erforderlich, um sich von seiner Umwelt absetzen und die
eigene religiöse und nationale Identität behaupten zu können.
Die schon seit langem durchgeführten historischen und archäologischen
Arbeiten haben aber ergeben, dass man von einer Eroberung oder Einwande-
rung nicht ausgehen kann. Die Entstehung Israels war eine überwiegend
innerpalästinensische Entwicklung, die kaum noch Raum für einen Gegen-
satz „Israel – Kanaan“ lässt, ganz abgesehen davon, dass „Kanaan“ oder „ka-
naanäisch“ völlig diffuse Begriffe sind, die die vielfältigen geographischen
und ethnischen Verhältnisse überhaupt nicht wiedergeben können.2 „Israel“
ist direkt aus „Kanaan“ hervorgegangen, ohne größere Einwanderungen von
außen. Es handelt sich um eine Umschichtung der Bevölkerung, verbunden
mit neuen Siedlungen, die durch vielerlei Faktoren ausgelöst wurde, auf die
noch näher eingegangen werden muss.3 Die biblischen Berichte über ein
Gegenüber von – eingedrungenen – israelitischen und kanaanäischen Bevöl-
kerungsteilen beziehen sich deshalb nicht auf ethnische, sondern primär auf
religiöse Unterschiede (Baal – JHWH). Und die Erzählungen über die stän-
digen „Rückfälle“ zum Baal-Kult spiegeln nur den Umstand wider, dass der
JHWH-Kult nicht die ursprüngliche, alleinige Religion der Israeliten war,
sondern dass sich dieser erst nach und nach gegen viele andere Kulte
durchsetzen musste.
Damit ist auch eine Zuordnung des apodiktischen Rechts an „Israel“ und
andererseits des kasuistischen Rechts an „Kanaan“ hinfällig. Man könnte
allenfalls darüber diskutieren, ob es sich um neues Recht handelt, das in den-
jenigen Gebieten entstanden ist, in denen sich ab dem 12. Jahrhundert die
Reiche Israel und Juda formierten. Es könnte sich dann um eigenständiges,
originäres Recht dieser Gebiete handeln, das in Abweichung oder Ergänzung
zum bereits vorhandenen vorderorientalischen Recht des Umlands entstand
und insofern eine besondere kulturelle Leistung dieser sich neu bildenden,
eigenen Gesellschaften darstellt.
Eine andere Möglichkeit wäre die Hypothese von kleineren Gruppierungen
von außerhalb, die den JHWH-Kult und die Exodustradition mitgebracht
und in den neuen Siedlungsgebieten durchgesetzt hätten. Es könnte sich um

2
W. Zwickel, Einführung, 16.
3
Vgl. 2. Teil, Kap. II. 2.
I. Problem und These 73

die viel diskutierte „Ägyptergruppe“ oder „Moseschar“ handeln4, die dann


vielleicht auch eigenes, besonderes Recht eingebracht hätte.
Aber auch das ist sehr fraglich und reinste Spekulation. Wir können nicht
davon ausgehen, dass die überlieferten Texte des apodiktischen Rechts auf
eine eigene originäre „Quelle“ zurückgehen, die man in Israels Frühzeit aus-
machen könnte. Hier soll die Auffassung vertreten werden, dass sich dieses
Recht erst nach und nach, zusammen mit dem übrigen in der Bibel überlie-
ferten Recht entwickelt hat. Es hat sicherlich Vorformen gegeben, die auch
apodiktisch formuliert gewesen sein mögen. Derartige Rechtssätze als
Grundnormen einer Gesellschaft können überall entstehen. Das, was wir
heute als apodiktisches Recht bezeichnen, ist aber erst später, bei der schrift-
lichen Fixierung der biblischen Texte entwickelt worden – als Rahmen oder
Grundnorm und in bewusster Überordnung zum übrigen Recht, was beim
Dekalog ganz offensichtlich ist.
Ich möchte deshalb die folgende These vorlegen und diese anschließend
näher begründen:

These:

Das apodiktische Recht war nie eine eigenständige historische Größe mit selbst-
ständiger Herkunft, sondern hat sich allmählich im Rahmen der biblischen
Tradition entwickelt. Vorher war es nur eine unsystematische Tradierung
allgemeiner Grundnormen, die in jeder Gesellschaft entstehen können.

Erst in der kanonischen Endgestalt wurde es zu dem, was in der Forschung seit
A. Alt als apodiktisches Recht bezeichnet wird.

Im biblischen Kontext erhält es dann allerdings durch die Einbindung in das


gesamte Rechtssystem und vor allem durch eine präzise Theologisierung als
übergeordnete „Verfassungsnorm“ eine besondere Ausgestaltung, die rechts-
historisch eine einmalige kulturelle Leistung Israels darstellt und vom Ansatz
her mit modernem Verfassungsdenken vergleichbar ist. Der Dekalog entspricht
in seiner Struktur einer heutigen Verfassung mit einer Präambel und einer
Auflistung von Grund- und Menschenrechten.

4
H. Donner, Geschichte, 123.
74 Zweiter Teil: Untersuchung einer eigenständigen Herkunft

Von einer selbständigen „Gattung“, die sich – nach Gunkel – bis in frühe
Zeiten und bis zu einer originären Quelle zurückverfolgen ließe, kann man
m. E. nicht ausgehen. Gegen eine solche Annahme sprechen mehrere
Gründe, wovon drei in den nachfolgenden Kapiteln näher erörtert werden
sollen. Hier sollen sie zunächst nur angerissen werden.

1. Historische Gründe

Dass man sich, bevor man Detailfragen erörtert, zunächst einmal mit dem
historischen Rahmen der fraglichen Zeit beschäftigt, ist eigentlich eine
Selbstverständlichkeit. Trotzdem wird dies oft vernachlässigt. F. W. Golka
hat oft darauf hingewiesen, dass in der alttestamentlichen Forschung zu-
nächst die geschichtlichen Zusammenhänge zu klären sind. Erst kommt die
„Geschichte Israels“ und dann die Theologie.
Wie wichtig dies gerade bei unserem Thema ist, soll noch dargelegt wer-
den. Weil die Herkunft des apodiktischen Rechts in die frühen Zeiten gelegt
und eine besondere Trägerschaft angenommen wird, ist die Untersuchung
dieser Frühzeit Israels besonders wichtig. Es muss dargestellt werden, wer als
Träger dieses Rechts in Frage kommt. Wie sah Israel vor der Königszeit aus
und wie ist es entstanden? Wo und bei wem könnte das apodiktische Recht
entwickelt und weitergegeben worden sein und wie ist es in den Pentateuch
gelangt?
Die Frühgeschichte Israels ist heute historisch und archäologisch weit-
gehend geklärt, wenn man von der Patriarchenzeit absieht, die sich einer
genauen historischen Erfassung entzieht.5 Man weiß heute, dass Israel aus
Kanaan heraus entstanden ist und welche historischen Umstände hierfür
verantwortlich waren. Und man weiß auch, aus welchen Gruppierungen die
Vorfahren Israels stammten. Können diese Gruppierungen aber Väter des
apodiktischen Rechts gewesen sein? In diesen Gesellschaften können allen-
falls Vorformen dieses Rechts entwickelt worden sein, die mit dem späteren
Dekalog und den anderen Reihen noch wenig gemeinsam hatten. Die histori-
sche Entwicklung Israels spricht gegen eine frühe Entstehung des apodikti-
schen Rechts.

5
N. P. Lemche, Vorgeschichte, 34.
I. Problem und These 75

2. Sprachhistorische Gründe

Die zum Charakter des apodiktischen Rechts gehörende „Wucht des Aus-
drucks“6 wird nicht nur durch den Inhalt, durch die kategorische Aussage
bestimmt, sondern in besonderer Weise durch die sprachliche Ausgestaltung,
wobei eines das andere bedingt. Es ist aber fast unmöglich, für die Frühzeit
Israels verbindliche Aussagen über Schrift und Sprache zu machen. Diese
haben sich in den ersten Jahrhunderten erst allmählich entwickelt. Die frü-
hen Sprachformen eventueller apodiktischer Aussagen sind deshalb nicht
sicher zu ermitteln.

3. Rechtsgeschichtliche Gründe

Ein ebenfalls stark vernachlässigter Bereich bei der Erörterung des apodikti-
schen Rechts sind die Erkenntnisse der Rechtsgeschichte. Diese bevorzugt
das römische, griechische, orientalische oder kanonische Recht, weil hierüber
schriftliche Quellen vorliegen und man bessere Parallelen und Verbindungs-
linien zum modernen Recht aufzeigen kann. Die für unser Thema wichtige
Rechtsentwicklung in frühen schriftlosen Gesellschaften ist demgegenüber
schwieriger darzustellen, weil es nur indirekte, spätere Zeugnisse gibt und
weil man im Wesentlichen auf ethnologisches, anthropologisches Material
aus heute noch existierenden „Naturvölkern“, den sogenannten „rezenten
Gesellschaften“, angewiesen ist.7 Trotzdem gibt es Erkenntnisse, die auch für
unser Thema herangezogen werden müssen. Sie können nämlich aufzeigen,
dass es höchst fraglich ist, ob Rechtsformen, wie sie uns im apodiktischen
Recht begegnen, in vorstaatlichen Gesellschaften nachzuweisen sind. In ein-
fachen, frühen Gruppierungen verläuft die Rechtsentwicklung anders, zumal
die Definition von „Recht“ äußerst problematisch ist. Damit liefert auch die
Rechtsgeschichte schwerwiegende Zweifel an einer frühen Entstehung des
apodiktischen Rechts.
Insgesamt haben wir es mit mehreren Problemen zu tun, die uns von einem
frühen apodiktischen Recht trennen und die im Folgenden genauer behan-
delt werden sollen.

6
A. Alt, Ursprünge, 306.
7
U. Wesel, Frühformen, 36.
II. Das geschichtliche Problem
II. Das geschichtliche Problem

1. Bibel und Archäologie

Wer sich mit der Frage der Herkunft des apodiktischen Rechts beschäftigt,
muß zu ermitteln versuchen, wer im frühen Israel Träger eines derartigen
Rechts gewesen sein könnte und welche lokalen, sozialen oder vielleicht reli-
giösen Gruppierungen für eine Entwicklung und Tradierung in Betracht
kommen. Dies gilt umso mehr, wenn man dieses Recht im Gegensatz zu den
übrigen Rechtsordnungen in Palästina sieht und eine eigenständige Entste-
hung annehmen möchte. Es ist dies eine historische, soziologische und sied-
lungsgeschichtliche Fragestellung, die in eines der zentralen Themen der
alttestamentlichen Wissenschaft, nämlich in die Frage nach der „Geschichte
Israels“ hineinführt.
Auf keinem anderen Gebiet wurde wohl intensiver gestritten und geforscht
als hier. Es ging um die Frage nach der „historischen Wahrheit“ der Bibel.
Man erhoffte sich dabei insbesondere von der Archäologie, dass diese ein-
deutige Beweise für die historische Zuverlässigkeit der biblischen Texte bei-
bringen könne. Ausgrabungen in Palästina waren deshalb immer von welt-
weitem Interesse. „Palästina zählt heute zu den am besten archäologisch
erforschten Gebieten der Welt.“ 1
Größte Brisanz haben dabei die Stichworte Patriarchen, Exodus, Landnah-
me oder davidisch-salomonisches Großreich, weil sich hier die größte Diskre-
panz zwischen religiös-politischem Anspruch und historischer Realität
ergibt. Für viele hängt das religiöse und auch das heutige politische Selbstver-
ständnis Israels von der Frage ab, wie sich die Entstehung und frühe Ge-
schichte Palästinas darstellt. Alle diese Erörterungen sind heute nicht nur
religiöser Natur, sondern zugleich auch hoch politisch. Diese Fragen werden
oft sehr emotional diskutiert und münden häufig in religiöse Grundsatz-
debatten.
Für die weitere Erörterung muss zunächst darauf hingewiesen werden, dass
die frühe Geschichte Israels schon seit langem von Archäologen, Historikern

1
W. Zwickel, Einführung, 12.
78 Zweiter Teil: Untersuchung einer eigenständigen Herkunft

und Ethnologen und weniger von Alttestamentlern geschrieben wird.


Gleichzeitig kann festgestellt werden, dass die Archäologie auch in der Lage
ist, ein Bild der Verhältnisse im 12. und 11. Jahrhundert zu entwerfen und
die Besiedlung im Westjordanland dazustellen. Das Verhältnis von Archäo-
logie und Bibelwissenschaft war lange Zeit äußerst problematisch und führte
oft zu falschen Ergebnissen, wie das Beispiel Jericho musterhaft zeigt. Wäh-
rend die biblische Archäologie früher weitgehend nur als eine Hilfswissen-
schaft der Theologie angesehen wurde, hat sie sich heute von jeder theologi-
schen Bevormundung befreit. Die Bibel ist längst nicht mehr die Richtschnur
der archäologischen Arbeit, sondern wird nur noch ergänzend herangezogen,
so wie andere Texte aus Ägypten oder Assyrien auch. Man redet deswegen
heute auch lieber von „Palästina-Archäologie“ statt von „biblischer Archäo-
logie“, obwohl die entsprechenden Universitätsinstitute bis heute nach wie
vor so heißen.
Stellvertretend für viele andere seien zwei Autoren zitiert, nämlich E. A.
Knauf und W. Zwickel:

„Schlechte Archäologen haben im Heiligen Land einiges Unheil angerichtet, in-


dem sie ihre Funde nicht im Lichte kritischer und selbstkritischer archäologi-
scher Theorien, sondern im Kontext der biblische(n) Geschichte(n) interpre-
tierten. Jetzt dreht die Archäologie den Spieß um und erklärt die Entstehung
der Bibel im Rahmen der archäologisch geklärten gesellschaftlichen Rahmen-
bedingungen; und es entsteht gute, weil empirische, Bibelwissenschaft.“2

„Die archäologische Forschung in Palästina ist inzwischen aber so weit voran-


geschritten, dass sich auf Grund der bisher bekannten Fakten ein völlig eigen-
ständiges Bild von der antiken Kultur erheben lässt, das auf Texte zumindest
weitgehend verzichten kann. So entsteht ein eigenständiges Bild der Lebensver-
hältnisse in biblischer Zeit, das sich teilweise mit den biblischen Aussagen
deckt, teilweise aber auch zu völlig neuen Sichtweisen biblischer Texte führt.“3

Das problematische Verhältnis von Archäologie und Bibelwissenschaft gilt


insbesondere für die Frühzeit Israels, mit dem Beginn der sog. Eisenzeit im
12. Jahrhundert. Dabei wird folgende grobe Einteilung zugrunde gelegt:

Mittelbronzezeit II 1950–1550
Spätbronzezeit 1550–1200

2
E. A. Knauf, Schreiber über Schreiber, WUB 2/2003, 58.
3
W. Zwickel, Einführung, 47.
II. Das geschichtliche Problem 79

Eisenzeit I (frühe Eisenzeit) 1200–1000


Eisenzeit II 1000–5874

Die frühe Eisenzeit kann man, in Analogie zur griechischen Geschichte nach
Mykene, durchaus als die Epoche der „dunklen Jahrhunderte“ Palästinas
bezeichnen. Die historischen Informationen über diese Zeit sind äußerst
spärlich. Und in diese Zeit fällt die Entstehung Israels. Wir haben für diese
Periode eigentlich nur die biblischen Texte als schriftliche Informations-
quellen. Da die dort geschilderten historischen Abläufe über die kriegerische
Landnahme einwandernder Stämme und deren anschließende Siedlung aber
fiktiv sind und primär dazu dienen, den Besitz des Landes Kanaan als ein
Geschenk Gottes zu verstehen, verbunden mit der Aufforderung, sich dieses
Geschenkes würdig zu erweisen und es, nach dem Exil, wieder erneut in Be-
sitz zu nehmen, sind wir auf andere Informationen angewiesen. Diese liefert
heute im Wesentlichen die Archäologie. Diese kann zeigen, wie die Gebiete
der Länder Israel und Juda, einschließlich Jerusalems, ab dem 12. Jahrhun-
dert besiedelt wurden und wie wir uns die Entstehung des Volkes Israel vor-
stellen können. Damit ergibt sich dann auch die Möglichkeit, über die Ent-
stehung von Recht in vorstaatlicher Zeit nachzudenken und Rückschlüsse auf
das apodiktische Recht zu ziehen.
Die Archäologie kann mit ihren vielen „Hilfswissenschaften“ wie Ethnolo-
gie, Textil- und Keramikkunde, Metallurgie, Zoologie, Botanik, Epigraphie,
Dendrochronologie usw., die alle eigenständige Wissenschaften sind, aber
gut zusammenarbeiten, heute sehr genaue Angaben zur Entstehung Israels in
Palästina machen. Viele Autoren wie V. Fritz, N. P. Lemche, D. Jericke, J.
Kamlah, H. Donner oder I. Finkelstein sind sich, gestützt auf die Archäologie,
über diese Zeit im Wesentlichen einig. So sind z. B. die entsprechenden An-
gaben von V. Fritz in Band 2 der Kohlhammer-Reihe „Biblische Enzyklopä-
die“5 fast deckungsgleich mit den späteren, sehr ausführlichen Darlegungen
von I. Finkelstein und N. A. Silberman in ihrem bekannten Buch „Keine
Posaunen vor Jericho“6.

4
V. Fritz, Entstehung Israels, 65.
Anm.: Die Einteilungen sind bei den verschiedenen Autoren nicht einheitlich und werden auch
noch detaillierter vorgenommen. Es hat sich aber allgemein durchgesetzt, die hier interessierende
Epoche von 1200–1000 als frühe Eisenzeit zu bezeichnen.
5
V. Fritz, Entstehung Israels, 118.
6
I. Finkelstein, Keine Posaunen, 112.
80 Zweiter Teil: Untersuchung einer eigenständigen Herkunft

2. Die Geschichte Israels im 12. und 11. Jahrhundert

Die Geschichte Israels beginnt mit dem Untergang der Paläste. Während der
Bronzezeit (ca. 3200–1200) waren Syrien und Palästina durchzogen von vie-
len vergleichsweise kleinen Palastherrschaften, den sog. Stadtstaaten. Diese
standen in mehr oder weniger starker Abhängigkeit von Ägypten, Mitanni
oder zeitweise auch von „Hatti“, den Hethitern in Kleinasien, wobei der Ein-
fluss der Hethiter sich meist auf das direkt angrenzende Syrien beschränkte.
Unter diesen Stadtstaaten finden wir bekannte Namen wie Megiddo, Hazor,
Qadesch, Aleppo, Haran, Byblos und viele andere. Sie wurden meistens von
einem selbsternannten „König“ regiert, der diesem Titel aber – vom Umfang
seiner Herrschaft her – nur selten gerecht wurde. Die Ägypter nannten diese
Herrscher denn auch zutreffender „khazanu“, was so viel wie „Bürgermeis-
ter“ oder „Amtmann“ bedeutet.7
Diese kleinen Herrschaftsgebiete konnte man, mit Einschränkungen,
durchaus als „staatliche“ Gebilde bezeichnen. Es waren urbane Gesellschaf-
ten mit einer zentralen Herrschaft, nämlich dem „König“ und seiner Sippe
oder seinem Gefolge, mit einem kleinen Verwaltungsapparat, Schreibern und
Bewaffneten in Form einer Palastwache oder einer Truppe von Söldnern.
Diese Truppen waren aber oft so klein, dass bei Streitigkeiten untereinander
die Entsendung einer kleinen Einheit ägyptischer Soldaten ausreichte, um
den Frieden wieder herzustellen.
Das war aber nicht oft der Fall. Die Anwesenheit eines ägyptischen Pro-
vinzgouverneurs oder einiger weniger Beamter, die den Kontakt nach The-
ben oder Amarna aufrecht erhielten, reichte meist aus. Im Übrigen küm-
merte sich die ägyptische Zentralregierung nicht sonderlich um ihre Provinz
„Kanaan“. Solange die Tributzahlungen eingingen, hatten die einzelnen Ter-
ritorien ihre Angelegenheiten selbst zu regeln. In dynastische Streitigkeiten
oder Rivalitäten untereinander mischte sich Ägypten selten ein, was wir den
oft verzweifelten Schreiben der Stadtfürsten aus der Amarnapost entnehmen
können. Auch innere Probleme mit den Hapiru oder Schasu interessierten
Ägypten wenig, zumal noch hinzukam, dass das „Neue Reich“ am Nil zu-
nehmend schwächer und instabiler wurde und zu Beginn der Eisenzeit (ab
1200) seine Kontrolle über Palästina praktisch aufgab. „Ramses VI. (1144–

7
N. P. Lemche, Vorgeschichte, 138.
II. Das geschichtliche Problem 81

1136) war der letzte Pharao, von dem mit Sicherheit gesagt werden kann, daß
er über Palästina regiert hat.“ 8
Die vielen Stadtstaaten waren in der Regel nicht autark. Sie lebten nicht
ausschließlich vom eigenen Handel, Handwerk und Landwirtschaft, sondern
waren alle in das große Netzwerk des internationalen Handels eingebunden.
Durch Palästina führten einige wichtige Handelsstraßen, die erhebliche Ein-
künfte für die anliegenden Städte erbrachten. Dieses Wirtschaftssystem brach
um 1200 in kürzester Zeit zusammen. Ein dramatischer Klimawandel (Tro-
ckenheit) führte zu einem Zusammenbruch der internationalen Wirtschafts-
beziehungen und zu einem Ende der vielen Palastherrschaften bzw. Stadt-
staaten, weil diese sich wirtschaftlich nicht mehr halten konnten. Ohne die
direkten und indirekten Einnahmen aus dem Fernhandel waren sie nicht
überlebensfähig. Handwerk und Landwirtschaft reichten allein nicht aus,
eine differenzierte Stadtgesellschaft mit einer teuren Oberschicht zu finanzie-
ren. Ein weiterer Grund war der Einbruch der sog. Seevölker, die im gesam-
ten östlichen Mittelmeerraum Eroberungszüge unternahmen und sich auch
in Palästina ansiedelten.
Insgesamt kam es zu einem Ende der Stadt- und Palastherrschaften, und
zwar zeitgleich auch in Mykene, Tiryns und Pylos. Da auch das Hethiterreich
um 1200 unterging und Ägypten an Einfluss verlor, war nunmehr in Paläs-
tina der Weg frei für die Entstehung neuer Gesellschaften, aus denen dann
später, ab 1000, neue Reiche entstanden, nämlich Israel, Juda, Ammon, Moab
und Edom.

Exkurs 1: Die Patriarchen

1. Die Suche nach den historischen Patriarchen

Die Geschichte Israels beginnt nicht mit den Patriarchen. Mit diesen beginnt
vielmehr die biblische Erzählung über die Geschichte Israels. Und diese
Erzählung „ist die erste große Saga der Bibel, eine Geschichte von den Einwan-
dererträumen und göttlichen Verheißungen, ein vielfarbiger, inspirierender

8
N. P. Lemche, Vorgeschichte, 134.
82 Zweiter Teil: Untersuchung einer eigenständigen Herkunft

Auftakt für die spätere Geschichte des Volkes Israels.“9 Es ist der große „Grün-
dungsmythos“, die „Gründungsurkunde Israels.“10
Der historische Gehalt der Erzvätergeschichten ist demgegenüber aber
äußerst umstritten. Wie schwierig und unergiebig dieses Thema ist, zeigt
allein schon der Umstand, dass das „Zeitalter der Patriarchen“ von den ver-
schiedenen Autoren in die verschiedensten Zeiten gelegt wird. Die Angaben
variieren von der Mitte des 3. Jahrtausends bis ins 12./11. Jahrhundert, wobei
meistens allerdings – entsprechend der biblischen Chronologie – die Zeit von
2000 bis 1800 oder im Gefolge der Dokumente von Nuzi ab ca. 1500 disku-
tiert wird. Es geht dabei darum, die Angaben der Genesis über die Erzväter
mit einer Zeit in Deckung zu bringen, in die die historischen, geographi-
schen, soziologischen, religiösen, kulturellen oder wirtschaftlichen Verhält-
nisse der Erzvätergeschichten hineinpassen.
Dies ist aber ein vergebliches Unterfangen und wurde in der Vergangenheit
oft schon fast unwissenschaftlich betrieben. Oft ging es nur darum, die histo-
rische Existenz der Erzväter zu „beweisen“. Man vergleiche nur, wie ein-
dringlich N. P. Lemche bei diesem Thema zur wissenschaftlichen Ordnung
ruft11. Man kann die ganze Diskussion dahin zusammenfassen, dass die Erz-
vätergeschichten in fast jede Zeit hineinpassen oder aber, im Gegenteil,
eigentlich mit keinem Zeitabschnitt deckungsgleich sind, je nachdem, wel-
chen Wert man auf welche Details legt. Die vielen Untersuchungen über
kanaanäische, amurritische oder aramäische Völkerwanderungen, über das
Nomadentum oder über juristische Verhältnisse wie Landkauf oder Braut-
werbung, Ersatzkind, Schwester als Ehefrau usw. haben zu keinem überzeu-
genden Ergebnis geführt. Auch die Überlegungen von A. Alt über den „Gott
der Väter“12 werden heute nicht mehr geteilt. Die Erzählungen lassen sich
„kaum einem bestimmten zeitgeschichtlichen Horizont zuordnen, sondern nur
einem allgemein orientalischen Milieu.“13
Es gibt keine „Beweise“ für die Existenz der Patriarchen, allerdings auch
keine gegen deren Wanderungen. Die vielen Anachronismen (Kamele,
Chaldäa, Philister, Ismaeliten usw.) kann man nicht als „Gegenbeweis“ ver-
wenden, da sie spätere Ausschmückungen aus der Abfassungszeit dieser

9
I. Finkelstein, Keine Posaunen, 39.
10
E. Zenger, Einleitung, 72.
11
N. P. Lemche, Vorgeschichte, 34.
12
A. Alt, Gott der Väter, in: Grundfragen, 21.
13
N. P. Lemche, Vorgeschichte, 45.
II. Das geschichtliche Problem 83

Geschichten darstellen, die deren historischen Gehalt nicht im Ganzen in


Frage stellen müssen.
Für die Entstehung der Erzvätergeschichte und ihre Einordnung in den
Pentateuch gibt M. Noth aber eine einleuchtende Erklärung. Danach handelt
es sich bei den Erzählungen über die drei Erzväter um ursprünglich ge-
trennte Überlieferungen verschiedener Gruppen oder Stämme, die sich auf
einen je eigenen „Vater“ als Gründer und Träger der Land- und Nachkom-
mens-Verheißung beriefen.14 Die mittelpalästinische Jakobs-Erzählung ist
dabei, wie das „kleine geschichtliche Credo“ aus Dtn 26,5–9 zeigt, die ältere
Überlieferung, ohne Abraham und Isaak und auch ohne Mose. Jakob war
danach als Vater seiner 12 Söhne direkter Ahnherr der 12 Stämme. Als die
im Süden beheimateten Abraham und Isaac bei der Entstehung Gesamt-Is-
raels hinzukamen, konnten sie nur „genealogisch verknüpft“15 werden, als
Vater und Großvater. So konnte für alle Israeliten eine gemeinsame Ab-
stammung geschaffen werden, wobei dann aber die ursprünglich schon bei
den Erzvätern vorhandene Erfüllung der Kulturlandverheißung abgekoppelt
werden musste.16 Diese verwirklichte sich erst später bei der sogenannten
Landnahme. Die Erzväter wurden auf diese Weise zu Stellvertretern für die
spätere Inbesitznahme des zugesagten Landes.

2. J. Assmann und die Patriarchen

Die vorangegangenen Erörterungen beschäftigten sich mit der Historizität


der Patriarchenerzählungen. Eine andere, zusätzliche Frage ist, welche Be-
deutung diese Erzählungen für die nachfolgenden Generationen hatten und
welche Absichten und Vorstellungen aus späterer Zeit Einfluss auf Entste-
hung und Ausformung dieser Berichte genommen haben. Wie konnte es zur
Bildung der in den biblischen Texten vorliegenden großen und zusammen-
hängenden Familiensaga kommen?
Diese Frage führt direkt zu J. Assmann und seinem Werk „Moses der Ägyp-
ter“17, wobei seine weitere Arbeit „Die Mosaische Unterscheidung“18 von der
Thematik her mit zu berücksichtigen ist. Es geht in diesen Arbeiten um die

14
M. Noth, Überlieferungsgeschichte, 1948, 58.
15
Ebd., 232.
16
Ebd., 59.
17
J. Assmann, Moses.
18
J. Assmann, Mosaische Unterscheidung.
84 Zweiter Teil: Untersuchung einer eigenständigen Herkunft

Entstehung des Monotheismus im Gegensatz zum Polytheismus und die sich


hieraus ergebenden Konsequenzen für die spätere Religions- und Geistesge-
schichte.
Der Monotheismus ist eine Weiterentwicklung der Monolatrie. Es wird
nicht nur ein Gott von vielen anderen verehrt, sondern dieser eine Gott ist
auch der einzig wahre Gott, der die Existenz aller anderen Götter ausschließt.
Diese sind nur falsche Götter, die nicht existieren und deren Verehrung
dementsprechend verabscheuungswürdiger Götzendienst ist. Es geht um die
Unterscheidung von „wahr“ und „unwahr“; und da die Begründung des Mo-
notheismus auf Moses zurückgeführt wird, nennt J. Assmann diesen Gegen-
satz die „Mosaische Unterscheidung“. Der monotheistische Gott ist außer-
kosmisch und deshalb nicht zu erfassen und auch nicht bildlich darzustellen.
Götterbilder sind blasphemisch und werden im Dekalog gleich zu Beginn
verboten.
Der Polytheismus kennt demgegenüber viele Götter, die innerkosmisch
gedacht und in Wort und Bild darstellbar sind. J. Assmann spricht hier des-
halb auch vom „Kosmotheismus“19. Alle polytheistischen Religionen haben
eine Vielzahl von Göttern, die sich in ihrem Aufgabenbereich ergänzen und
in einem großen Pantheon zusammengefasst sind. Sie haben alle eine spe-
zielle Funktion und sind bestimmten Bereichen zugeordnet, z. B. „Himmel“,
„Sonne“, „Mond“, „Weisheit“, „Tod“, „Gerechtigkeit“ usw. Sie haben damit
eine „spezifische semantische Dimension“, durch die die Götternamen und die
Götter selbst „übersetzbar“ werden.20 Die Götter sind in ihren Funktionen
ähnlich und daher direkt vergleichbar. Da es z. B. nur eine Sonne gibt, müs-
sen der griechische Helios und der ägyptische Aton die gleichen Götterge-
stalten sein. „Die Praxis der Übersetzung von Götternamen … führte schließ-
lich zu der Vorstellung, daß die Götter international, d. h. überall mehr oder
weniger dieselben sind.“21 Die Götter der anderen Religionen waren damit
keine „falschen Götter“. „Den antiken Polytheismen war der Begriff einer
unwahren Religion vollkommen fremd.“22 Religiöse Toleranz war möglich
und auch selbstverständlich. „Polytheisten führen keine Religionskriege.“23

19
J. Assmann, Moses, z. B. 11.
20
Ebd., 73.
21
Ebd., 74.
22
Ebd., 19.
23
F. W. Golka, Mose, 65.
II. Das geschichtliche Problem 85

„Daher war die Mosaische Unterscheidung etwas radikal Neues.“24 Der Mo-
notheismus war eine „Gegenreligion“25, die das Gegenteil von dem darstellte,
was der Polytheismus verkörperte. Es gab jetzt die Unterscheidung von
„wahr“ und „unwahr“. Alle anderen Götter waren Götzen und konnten nicht
mehr toleriert werden. Und dieser Gegensatz, dieser Antagonismus wurde
repräsentiert durch das Begriffspaar „Israel“ und „Ägypten“. Israel stand für
die wahre Religion, für den Glauben an den einzigen Gott, wobei die Gestalt
des Moses den Ausgangspunkt des Monotheismus und der endgültigen Ab-
sage an den bisherigen Religionstyp, den Polytheismus, darstellte. Ägypten
war demgegenüber der Inbegriff der unwahren Religion, der Vielgötterei.
J. Assmann untersucht dann sehr ausführlich das wechselnde Bild des Mo-
ses und Ägyptens in der langen europäischen Geistesgeschichte. Er legt dar,
welche Vorstellungen und Geistesströmungen hinter den jeweiligen Mose-
Rezeptionen und der Bewertung Ägyptens standen, z. B. im Zeitalter der
Aufklärung. Er prägt hierfür den Begriff der Gedächtnisgeschichte. Dabei
geht es nicht darum, den historischen Moses zu ermitteln und zu fragen, ob
hinter dem überlieferten biblischen Moses eine faktische Person auszu-
machen ist, sondern darum, „diese Überlieferungen selbst als Phänomene des
kollektiven bzw. kulturellen Gedächtnisses zu studieren“26, und zwar unabhän-
gig davon, ob diese Überlieferungen historisch zuverlässig sind oder nicht.
„Im Unterschied zur Geschichte im eigentlichen Sinne geht es der Gedächtnis-
geschichte nicht um die Vergangenheit als solche, sondern um die Vergangen-
heit, wie sie erinnert wird.“27 Und in dieser Erinnerung liegt dann die zu er-
mittelnde Wahrheit. Welche Vorstellungen und welche Epochen stehen
hinter den verschiedenen Mose- oder Ägyptenbildern und welchen Einfluss
nehmen sie auf diese Bilder? Wie formt und verändert die Gegenwart die
Vergangenheit? Die Gedächtnisgeschichte benutzt J. Assmann auch in sei-
nem neuesten Werk von 2015 über den Exodus. Auch hier wird die Erinne-
rung an Mose und den Exodus herausgearbeitet, und zwar unabhängig da-
von, was historisch noch zuverlässig greifbar ist.
Diese Erinnerungsarbeit mit der Ausformung der Vergangenheit erfolgt
meistens in Form einer „Großen Erzählung“28, eines Mythos, mit dem die
Vergangenheit neu erfunden und für die Gegenwart neu erklärt wird. Ein

24
J. Assmann, Moses, 20.
25
Ebd., 20.
26
Ebd., 27.
27
Ebd., 25.
28
Ebd., 24.
86 Zweiter Teil: Untersuchung einer eigenständigen Herkunft

solcher Mythos will deshalb nicht als historischer Tatsachenbericht verstan-


den werden, sondern als die Wiedergabe von Vorstellungen über die Entste-
hung der Welt, eines Volkes oder einer Religion. Er durchläuft daher eine oft
lange Entwicklung und wird von Generation zu Generation weiter ausge-
formt, entsprechend dem Selbstverständnis der jeweiligen Tradenten. Die
naheliegende Frage nach einer Geschichtsfälschung stellt sich daher beim
Mythos nicht.
Mythenbildungen gibt es besonders bei Berichten über die Entstehung der
eigenen Volksgemeinschaft. „Mythen im Sinne traditioneller Erzählungen
spielen eine entscheidende Rolle in der Ausbildung eigener Identitäten
(‚Ethnogenese‘)“.29 Die Identitätsbildung einer Gemeinschaft wird gefördert
durch Erzählungen, in denen über eine eigene, individuelle Herkunft be-
richtet wird und auf die man sich für die ethnische oder religiöse Abgren-
zung von seiner Umwelt berufen kann. Eine gemeinsame Abstammung oder
zumindest eine gemeinsame lokale Herkunft ist für das Selbstwertgefühl und
das Bewusstsein, eine selbständige Volksgemeinschaft zu sein, unerlässlich.
Das Wesen der Gedächtnisgeschichte wird von J. Assmann am Beispiel von
Echnaton und Mose verdeutlicht. Pharao Amenophis IV. (1372–55 v. Chr.),
der sich später Echnaton nannte, hatte in seiner nur kurzen Regierungszeit
versucht, durch eine religiöse „Revolution von oben“ die alleinige Verehrung
des Sonnengottes Aton in monotheistischer Form einzuführen. Nach seinem
Tode wurden seine gesamten Reformen aber wieder rückgängig gemacht und
sein Name erfolgreich aus den Königslisten und von allen Bauten entfernt.
Dies erfolgte so gründlich, dass er in völlige Vergessenheit geriet und erst
durch die Entdeckung seiner zerstörten Hauptstadt Amarna im 19. und 20.
Jahrhundert wieder bekannt wurde.
Echnaton ist eine historische Figur. Leben und Werk sind relativ genau
erforscht. Sein Versuch, eine neue Religion einzuführen, scheiterte aber in
kürzester Zeit und hinterließ keinerlei Wirkung, wenn man von der ver-
drängten Traumatisierung Ägyptens absieht, die nach J. Assmann durch eine
Übertragung möglicherweise einer der Gründe für den späteren Anti-
semitismus darstellt.30
Bei Mose ist es genau umgekehrt. Als historische Figur ist er kaum zu er-
mitteln, vielleicht nur in Ex 1–19.31 Außer den unsicheren biblischen Berich-

29
J. Assmann, Moses, 34.
30
Ebd., 71.
31
F. W. Golka, Mose, 179.
II. Das geschichtliche Problem 87

ten haben wir keine genaueren Informationen über seine historische Exis-
tenz. Seine Bedeutung für die Nachwelt, als Teil eines großen Mythos, ist
demgegenüber aber umso größer. Er ist die zentrale Figur des Alten Testa-
ments, auf die sich alles bezieht. Mose ist deshalb bis heute in fester „Erinne-
rung“ der späteren Generationen. Assmann formuliert dies kurz abschlie-
ßend so: „Moses ist eine Figur der Erinnerung, aber nicht der Geschichte;
Echnaton dagegen ist eine Figur der Geschichte, aber nicht der Erinnerung.“32
F. W. Golka hat in seinem Buch „Mose – Biblische Gestalt und literarische
Figur“33 die Überlegungen J. Assmanns ausführlich vorgestellt. Dabei weist er
darauf hin, dass dieser die Erinnerung an Mose und die wechselnden Mose-
bilder nicht innerhalb der biblischen Texte, sondern durch die antike und
abendländische Geistesgeschichte hindurch bis heute, bis zu S. Freud, unter-
sucht hat. „Er hat damit die Spur eines biblischen Themas außerbiblisch ge-
sucht. Es wäre nun zu fragen, ob man die Methode der Gedächtnisgeschichte
nicht auch innerbiblisch auf das Mose-Thema anwenden kann.“34
Und wenn man die Gedächtnisgeschichte innerbiblisch anwendet, müsste
die Frage nach Golka dann lauten:

„Welche Gruppen oder Institutionen in der Geschichte Israels bzw. des Juden-
tums haben ein Interesse daran gehabt, sich in der Moseüberlieferung zu ver-
ankern, sich quasi in diese Überlieferung ‚hineinzuschreiben‘? Auch dies ist
eine historische Fragestellung, sie bezieht sich nur nicht auf das dreizehnte,
sondern auf spätere Jahrhunderte. Für welche Gruppen im späteren Israel
wurde Mose zum Vorbild und Gewährsmann? Welche Gruppen und Institu-
tionen im späteren Israel legten Wert darauf, ihre Autorität von Mose abzulei-
ten?“35

Die verschiedenen Gruppen und Institutionen, die sich in die Gestalt des
Mose für ihre eigene Legitimation „eingeschrieben“ haben, kann man dann
an den verschiedenen Rollen erkennen, die Mose zugedacht sind:36

32
J. Assmann, Moses, 18.
Anm: Der Gedanke einer Unterscheidung von allgemeiner Geschichte und Gedächtnisgeschichte
ist allerdings nicht ganz neu. Wenn z. B. M. Noth schreibt: „Die Überlieferungsgeschichte des Pen-
tateuch ist selbst ein Stück Geschichte Israels“ (Überlieferungsgeschichte, 272), dann bringt er genau
diesen Unterschied zur Sprache.
J. Assmann ist allerdings der erste Autor, der diesen Komplex methodisch genauer untersucht
hat.
33
F. W. Golka, Mose, 64–74.
34
Ebd., 72.
35
Ebd., 180.
36
Ebd., 180.
88 Zweiter Teil: Untersuchung einer eigenständigen Herkunft

Er ist der „charismatische Führer“, die „gesetzgeberische Autorität“, der


„Erzprophet“, der „Erzpriester“ und hat schließlich auch eine „monarchische
Rolle“. Diesen verschiedenen Funktionen kann man diejenigen Gruppierun-
gen zuordnen, die offensichtlich an der Ausformung des Mose-Mythos mit-
gewirkt haben. F. W. Golka gibt hierzu einen entsprechenden Überblick und
stellt die Interessengruppen vor. Diese lassen sich als Träger einer Gedächt-
nisgeschichte bei der Bildung der Mose-Tradition identifizieren. Zu nennen
sind z. B. das Jerusalemer Obergericht, die israelitischen Könige (Joschija?),
die konkurrierenden Priesterfamilien oder die Propheten. Sie alle haben an
der Entstehung des Mosesbildes bis zur biblischen Endfassung mitgewirkt.
Es ist nun ein naheliegender Gedanke, die von F. W. Golka vorgeschlagene
innerbiblische Gedächtnisgeschichte auch auf andere Themen, z. B. die Pat-
riarchen, anzuwenden. Nach dem bisher Gesagten ist dieser Schritt auch
nicht allzu schwer. Wir hatten bereits gesehen, dass die drei Erzväter ur-
sprünglich getrennte Gestalten waren, die auch mit unterschiedlichen religiö-
sen Vorstellungen verbunden waren („Gott der Väter“). Im Laufe der Über-
lieferung sind sie dann aber zusammengewachsen und bilden heute im bibli-
schen Endtext eine einheitliche Familie, mit Großvater, Vater und Sohn. Die
jetzige Familien-Saga bildet den großen „Gründungsmythos“ Israels37, mit
dem die gemeinsame Abstammung der Israeliten von einer Familie und vom
ersten Patriarchen Abraham dokumentiert werden soll. Das Zusammenleben
der verschiedenen Stämme erforderte auch ein Zusammenwachsen der ein-
zelnen Traditionen. Dies war für die Identitätsbildung des Volkes Israel un-
umgänglich.
Aber nicht nur die gemeinsame ethnische Abstammung war wichtig.
Ebenso entscheidend war der Wunsch nach einer gemeinsamen Ableitung
der Religion. Die unterschiedlichen Gottheiten der altisraelitischen Gruppen,
die sich im biblischen Endtext noch in alten Namensbezeichnungen erhalten
haben (vgl. den „Schrecken Isaaks“, den „Starken Jakobs“ oder die verschie-
denen El-Namen, z. B. Ex 6,3 u. a.)38, mussten zusammengeführt und auf
eine einzige Gründungsfamilie bezogen werden. Abraham wurde dabei, ob-
wohl die Jakobtradition wahrscheinlich älter war, zum ersten Offenbarungs-
träger, der von Gott beauftragt wurde, in das versprochene Land zu ziehen.
Er war damit der Garant der Kulturlandverheißung und musste dieses dann

37
E. Zenger, Einführung, 71.
38
Vgl. A. Alt, Gott der Väter, 21, 44.
II. Das geschichtliche Problem 89

auch gleichermaßen für alle israelitischen Stämme werden. Der Aufenthalt


der Patriarchen in Kanaan war eine erste, stellvertretende Besitzergreifung
des Landes, die sich dann im Exodus und in der Landnahme vollenden sollte.
Gleichzeitig waren die Patriarchen auch die gemeinsamen Träger der
Nachkommensverheißung und der Schutzzusage Gottes für alle Israeliten.
Auch diese konnten nicht getrennt für Nord und Süd gelten, sondern muss-
ten in einer gemeinsamen Trägerschaft zusammengefasst werden. Auf diese
Weise konnten und mussten die verschiedenen Traditionen zusammenwach-
sen. Die Interessenlage war eindeutig. Die Gedächtnisgeschichte kommt auch
hier zur Anwendung.

Das Phänomen einer nachträglichen Identitätsbildung von Volksgemein-


schaften kennen wir auch aus anderen Bereichen. Nach der so genannten
„Völkerwanderung“ ab dem 4. Jh. n. Chr. kam es in Europa zu verschiedenen
Reichsgründungen germanischer Völkerschaften, die aus z. T. friedlichen,
z. T. aber auch kriegerischen Wanderbewegungen hervorgingen. Es bildeten
sich die Reiche der Vandalen, der West- und Ostgoten, der Gepiden, Lango-
barden, Burgunder, Sachsen, Alemannen, Franken, Norer, Chauken usw., die
sich auf entsprechende frühere Stämme dieses Namens aus ursprünglich
anderen Bereichen zurückführten.
Dies entsprach aber nicht den historischen Tatsachen. Die „Völkerwande-
rung“ bestand nur zu einem geringen Teil aus Wanderungen ethnisch ge-
schlossener Gruppen, sondern war nach heutigem Kenntnisstand überwie-
gend eine allmähliche und unregelmäßige Einwanderung verschiedenster
kleinerer Gruppen, die sich erst nachträglich zu ethnisch abgegrenzten Rei-
chen zusammenfanden. Aber auch größere Gruppen oder ganze Stämme
waren ethnisch nicht homogen i. S. einer „Blutsgemeinschaft“, sondern bil-
deten mehr eine Rechtsgemeinschaft, die offen war für neue Mitglieder.39
Deshalb ist es auch oft schwierig, die genaue Herkunft der wandernden
Stämme festzustellen. Trotzdem gab es Geschichten und Berichte über eine
bestimmte gemeinsame Herkunft, die sich, wie in Israel, nach und nach zu
einem gemeinsamen „Gründungsmythos“ zusammenfanden. Deshalb ist
z. B. die Herkunft der legendären Goten bis heute nicht restlos aufzuklären
(„Thule“/“Gotland“?).

39
Die Goten, Wanderer, Eroberer, Staatengründer, „Geschichte“ 6/2005, 20.
90 Zweiter Teil: Untersuchung einer eigenständigen Herkunft

Wenn wir uns demgegenüber wieder dem Übergang vom System der Stadt-
staaten zu einem System dörflicher Gesellschaften im 12. Jahrhundert zu-
wenden, haben wir wieder verwertbare archäologische Fakten als Grundlage
zur Verfügung. Die vielen Stadtstaaten lösten sich mit dem Beginn des 12.
Jahrhunderts weitgehend auf, was neue Siedlungsformen erforderlich
machte. Dies war ein massiver Einschnitt in die damaligen Verhältnisse.
I. Finkelstein sieht dies wie folgt: „In den letzten Jahren des 13. und zu Beginn
des 12. Jahrhunderts v. Chr. machte die gesamte alte Welt einen dramatischen
Wandel durch, als eine verheerende Krise die Königreiche der Bronzezeit da-
vonfegte und eine neue Welt entstand. Es war eine der dramatischsten und
chaotischsten Perioden in der Geschichte, während der alte Reiche zerbrachen
und neue, aufsteigende Kräfte an ihre Stelle traten.“40
Die Gründe hierfür waren vielfältig. Wenn V. Fritz41 schreibt: „Die Gründe
für diesen allgemeinen Rückgang sind unbekannt und aus den archäologi-
schen Daten auch nicht zu ermitteln“, so ist er mit dieser Auffassung nicht
auf dem neuesten Stand. Die Ursachen für den Untergang der Palast- und
Stadtstaaten können ziemlich genau angegeben werden:

a) Klimakatastrophe

Am Ende der Bronzezeit kann man im gesamten östlichen Mittelmeerraum


einen massiven Wechsel des Klimas verzeichnen. Zwickel gibt eine ausführli-
che Zusammenfassung zu diesem Thema.42 Ausbleibender Regen führte in
Palästina zu Dürreperioden, Ernteausfällen und Hungersnöten. Auch das
Hethiterreich war von der Dürre betroffen. Es gab, völlig ungewöhnlich für
die damalige Zeit, Hilfslieferungen von Getreide aus Ägypten nach Klein-
asien43, was allerdings den Untergang Hattis nicht verhindern konnte. Ägyp-
ten selbst war von der Dürreperiode kaum betroffen, weil es über den Nil von
den Regenfällen in Zentralafrika lebt.
In Palästina war die Dürre dermaßen gravierend, dass die Ernährung der
Bevölkerung, besonders in den Städten, nicht mehr gesichert war. Die Preise
für Nahrungsmittel stiegen und wir haben es in dieser Zeit mit einem großen

40
I. Finkelstein, Keine Posaunen, 97 (Hervorhebung vom Verf.).
41
V. Fritz, Entstehung, 67.
42
W. Zwickel, Zeit des Umbruchs, DAMALS, Das Magazin für Zeitgeschichte, 11/2008, 74.
43
N. P. Lemche, Vorgeschichte, 145.
II. Das geschichtliche Problem 91

Flüchtlingsproblem zu tun. Hierüber geben etliche Urkunden aus der Spät-


bronzezeit Auskunft.44 Die Städte entvölkerten sich und konnten sich wirt-
schaftlich nicht mehr halten.
Wie stark der Klimawandel war, kann man aus der Tatsache ersehen, dass
der Wasserspiegel des Toten Meeres damals auf den Stand sank, den er heute
wegen der zu großen Wasserentnahme aus dem Jordan erreicht hat.45 Es
müssen extreme Verhältnisse geherrscht haben. Die Abhängigkeit Palästinas
von ausreichenden Regenfällen war absolut.

b) Zusammenbruch des Fernhandels

Im gesamten östlichen Mittelmeerraum bestand während der späten Bronze-


zeit ein weitverzweigtes, überregionales Netz von Handelsbeziehungen.
Hauptbeteiligte waren Ägypten, Hatti und die Ägäis, einschließlich Kreta
und Zypern.46 Von diesem System profitierten auch die Stadtstaaten in
Syrien und Palästina. Die Levante war immer ein Durchgangsland für die
Handelskaravanen. Zölle und Gebühren fielen an, aber auch Zahlungen für
Versorgung und Unterkunft sowie Aufträge für die Handwerker.
Als der internationale Warenverkehr, hauptsächlich wegen der Klimakata-
strophe47, zum Erliegen kam, fielen diese Einkünfte fort. Die Städte waren
nicht mehr lebensfähig, entvölkerten sich oder wurden leichte Beute bei krie-
gerischen Auseinandersetzungen. Das gesamte Netz der verschiedenen teils
kooperierenden, teils konkurrierenden Stadtstaaten brach zusammen. Wir
haben ab dem 12. Jahrhundert einen dramatischen Abstieg der städtischen
Bevölkerung zu verzeichnen.
Dabei ist allerdings zu beachten, dass dies nicht absolut galt. Einzelne
Städte blieben erhalten, andere, wie z. B. Kinneret am See Gennesaret, blühten
erst in der Eisenzeit richtig auf.48 Außerdem gab es die Pentapolis der Philis-
ter mit einer ausgesprochenen Stadtkultur, sowie die Phöniker an der nördli-
chen Küste. Man darf deshalb die aufgezeigte Entwicklung nicht zeitgleich
für alle Regionen annehmen. Die Archäologen sind sich auch darüber einig,
dass jedes Gebiet für sich sorgfältig zu erforschen ist, schon weil die geogra-

44
N. P. Lemche, Vorgeschichte, 144.
45
W. Zwickel, Eine Zeit des Umbruchs, 74.
46
N. P. Lemche, Vorgeschichte, 148; J. Kamlah, Dörfer – Die Entstehung Israels, 29.
47
W. Zwickel, Eine Zeit des Umbruchs, 77.
48
J. Kamlah, Dörfer, 33.
92 Zweiter Teil: Untersuchung einer eigenständigen Herkunft

phischen Unterschiede differenzierte, zeitlich versetzte Prozesse erwarten


lassen.49
Die große Gesamtentwicklung war jedoch so, wie dargestellt. Sie entspricht
auch der Entwicklung im griechischen Raum. Auch hier gab es in der Bron-
zezeit frühgriechische Palastzentren in Mykene, Tiryns, Pylos, Knossos, The-
ben, Milet u. a., die eine ähnliche zentrale Verwaltungsstruktur aufwiesen wie
die Städte in Palästina. Bei ihnen kann man von einem „Seeimperium“, einer
„Thalassokratie“, sprechen, weil die Schifffahrt wichtigstes wirtschaftliches
und militärisches Rückgrat dieser Staaten war.50
Der Zusammenbruch der frühgriechischen Palaststaaten erfolgte ebenfalls
ab dem 12. Jahrhundert. Die näheren Umstände sind archäologisch sehr
intensiv erforscht worden.51 Die Zerstörungsschichten lassen auf gezielte
Überfälle und Invasionen von außen schließen. Hierfür werden in erster
Linie die sog. Seevölker aus der Ägäis verantwortlich gemacht, die auch in
Palästina eindrangen. In jedem Fall folgen auf die glanzvolle Zeit von Mykene
die „dunklen Jahrhunderte“, in der wir zunächst nur eine dörfliche Besied-
lung verzeichnen können, bis dann ab dem 9./8. Jahrhundert die verschiede-
nen Kleinstaaten, die „poleis“, wie Athen, Theben oder Sparta, entstehen.

c) Die Seevölker

Von den sog. Seevölkern tauchen in der Bibel die Philister als ständige Geg-
ner der Israeliten auf. Diese siedelten in Ekron, Gad, Gaza, Aschdod und
Aschkalon, der sog. philistischen Pentapolis. Sie wurden erst von Nebukad-
nezar vertrieben.52
Diese „Seevölker“ waren eine weitere Ursache für die großen Änderungen
zu Beginn der Eisenzeit. Ihre genaue Herkunft ist nicht völlig geklärt, weil es
sich um keine einheitliche Gruppierung, sondern um verschiedene Ethnien
aus verschiedenen Gegenden handelte. Sie stammen wahrscheinlich über-
wiegend aus der Ägäis und drangen als Invasoren nicht nur in Palästina,
sondern auch in Ägypten ein. Ramses III. (1188–1155) konnte diese Invasion
nur mit Mühe abwehren, musste aber die Ansiedlung der „Peleset“, der Phi-

49
D. Jericke, Woher kam das Volk Israel, WuB 3/2008, 21.
50
N. P. Lemche, Vorgeschichte, 148.
51
G.A. Lehmann, Die mykenische Kultur und ihr Untergang, DAMALS – Das Magazin für Ge-
schichte und Kultur, 10/2008, 16.
52
E. Yehuda, Die Philister, Abenteuer Archäologie, 4/2004, 31.
II. Das geschichtliche Problem 93

lister, an der südlichen Küste Palästinas zulassen, also in einem Bereich, der
eigentlich zum ägyptischen Einflussbereich gehörte.53
Wieweit diese „Seevölker“ nun für den Untergang der Stadtstaaten in Pa-
lästina verantwortlich waren, ist streitig. Die Zerstörung etlicher, bereits
geschwächter Städte geht sicherlich auf ihr Konto; N. P. Lemche warnt aber
davor, ihren Beitrag zu überschätzen.54 Für ihn war in erster Linie die innere
Entwicklung Syriens und Palästinas entscheidend. Trotzdem muss man sie
als eine der Ursachen für den Umschwung der Bevölkerungsstruktur be-
trachten.
Die „Seevölker-These“ ist in letzter Zeit wieder zunehmend in die Diskus-
sion geraten. Es wird darauf verwiesen, dass der Untergang der Stadtkulturen
nicht primär auf Eroberungszüge von Seevölkern zurückzuführen sei, son-
dern dass die Ursachen vielfältiger Natur seien und dass viele Stadtstaaten
auch erst später und ohne kriegerische Auseinandersetzungen verlassen
wurden.55 Diese Diskussion bringt aber nichts wirklich Neues. Es war immer
schon allgemeiner Konsens, dass die „Seevölker“ nur eine von mehreren
Ursachen waren.56

Die zwangsläufige Folge des Untergangs der Stadtstaaten waren neue Be-
siedlungsformen. Im westjordanischen Bergland entstanden kleine dörfliche
Siedlungen, die man inzwischen mit Hilfe sehr aufwendiger Oberflächen-
untersuchungen, den sog. Surveys, ermittelt hat.57 Allein im westjordanischen
Bergland, dort wo später die Reiche Israel und Juda entstehen sollten, fand
man bisher rund 300 derartiger Siedlungen. Das verdeutlicht folgende
Karte58:

53
N. P. Lemche, Vorgeschichte, 149.
54
Ebd., 149.
55
Vgl. J. Millek u. J. Kamlah in WUB 3/2015, 74.
56
M. Sommer, Narren in Purpur, 37.
57
J. Kamlah, Entstehung, 29; I. Finkelstein, Keine Posaunen, 121.
58
C. Frevel, Geschichte, 396.
94 Zweiter Teil: Untersuchung einer eigenständigen Herkunft

Die Arbeiten Finkelsteins, die nach N. P. Lemches Auffassung „für die Re-
konstruktion der geschichtlichen Entwicklung Palästinas in der Früheisenzeit
……… unentbehrlich sind“59, werden auch von A. Knauf als zutreffend über-
nommen60. Auch W. Zwickel und J. Kamlah verwerten sie bei ihren eigenen
Untersuchungen.

59
N. P. Lemche, Vorgeschichte, 88.
60
A. Knauf, Schreiber über Schreiber, 58.
II. Das geschichtliche Problem 95

Die durch die Oberflächenuntersuchungen entdeckten zahlreichen Dörfer


stimmen in ihrer Struktur weitgehend überein.61 Die Häuser sind nur für
Kleinfamilien bis zu 5 Personen, größere Häuser für maximal 10–14 Perso-
nen gedacht. Im Durchschnitt bildeten 5–10 derartiger Familien ein Dorf,
das damit nur 50–140 Einwohner hatte. Es wurde in erster Linie Ackerbau
(Getreide) und zusätzlich ein wenig Viehzucht betrieben, also nur für die
bäuerliche Selbstversorgung der Familie.62 Es war eine friedliche Besiedlung
ohne Waffen und ohne Verteidigungsanlagen. Ein soziales Gefälle ist nicht
erkennbar, so dass wir es offenbar mit einer weitgehend egalitären Gesell-
schaft zu tun haben.
Über Kult, Religion und Bestattungsriten lässt sich dagegen archäologisch
kaum etwas ermitteln. Kulträume oder kultische Gegenstände wurden nicht
gefunden. Hier sind wir auf Vermutungen angewiesen. Zur allgemeinen
Kultur und Lebensweise können die Archäologen dagegen etwas mehr bei-
tragen. Zisternenbau, Vorratshaltung, Architektur (Vier-Raum-Häuser mit
Innenhof), Keramik usw. sind genau untersucht und geben ein sehr präzises
Bild vom Lebenszuschnitt dieser Dörfer. Und in diesen Dörfern „lebten die
ersten Israeliten“.63
Aber wer waren die ersten Israeliten und woher kamen sie? Da es sich um
Neusiedlungen in bisher nicht fest bewohnten Regionen handelte, waren die
Neusiedler vorher woanders beheimatet. Und hier kommen die vielen Land-
nahmemodelle in die Diskussion, über die in jedem Lehrbuch ausführlich
berichtet wird. W. Zwickel stellt allerdings fest: „Unter den derzeit lieferbaren
deutschsprachigen Werken gibt es jedoch kein Lehrbuch, das den aktuellen
Stand der Forschung zur Landnahmezeit widerspiegelt.“ 64 Die meisten Mo-
delle sind überholt. Angesichts der neueren Forschungsergebnisse kann man
z. B. nicht mehr von einem Einwanderungs- oder gar Eroberungsmodell aus-
gehen. Die Albright-Schule ist insoweit überholt. Es gibt um 1200 keine zeit-
gleichen Zerstörungsschichten in Palästina, die auf eine gewaltsame „Land-
nahme“ eindringender Gruppen schließen lassen, insbesondere nicht in
Jericho, Ai oder Lachisch. Hier nützen auch keine Überlegungen zur Chro-

61
I. Finkelstein, Keine Posaunen, 123.
Finkelstein gibt eine sehr ausführliche und anschauliche Darstellung der Ergebnisse der „Surveys“
im Bergland. Die Lebensweise der neuen Siedler kann anhand der archäologischen Erhebungen
erstaunlich genau wiedergegeben werden.
62
J. Kamlah, Entstehung, 31.
63
Ebd., 123.
64
W. Zwickel, Einführung, 56.
96 Zweiter Teil: Untersuchung einer eigenständigen Herkunft

nologie, wie dies von verschiedenen Autoren versucht wird, indem sie eine
„Landnahme“ in die Zeit um 1400 verlegen.65 Dieses Datum hätte den Vor-
teil, dass wir für diese Zeit tatsächlich Zerstörungsschichten z. B. in Jericho
finden, die mit einer Eroberung durch „Israeliten“ zusammenpassen würden.
Es entspricht auch der Zeitangabe aus 1 Kön 6,1 und könnte außerdem bes-
ser erklären, warum bereits auf der „Israel-Stele“ von Pharao Merenptah
(1213–1204) in hieroglyphischer Schrift der Name „Israel“ auftaucht, als
Gebiets- oder Volksname. Für alle diese Überlegungen müsste dann aller-
dings auch die ägyptische Chronologie umgestellt werden, damit der Exodus
zeitlich in die Reihe der Pharaonen hineinpasst.
Eine „Landnahme“ schon um 1400 ist aber völlig indiskutabel. Sie würde
nicht in die historische Landschaft Palästinas und der umliegenden Länder
passen. Auch das damals noch starke Ägypten hätte eine derartige Invasion
in seine Provinz Kanaan sicher nicht reaktionslos hingenommen, ganz abge-
sehen davon, dass ein derartiger Vorgang in irgendeiner schriftlichen Quelle
aus Ägypten, Mesopotamien oder Hatti dokumentiert worden wäre.
Diskussionswürdig sind dagegen die anderen Theorien, wie das Weide-
wechsel-/Transhumanz-Modell, Migrations- oder Penetrations-Modell oder
das Revolutions-Modell. Aber auch diese sind inzwischen überholt. Nach
heutigem Stand der Forschung muss man davon ausgehen, dass es keine
Zuwanderung von außen gab, sondern dass die neuen Siedler Einheimische
waren, die nur ihre Lebensweise gewechselt hatten und sesshaft wurden, und
zwar friedlich, ohne Eroberung oder Revolte. Die sog. materielle Kultur der
neuen Bewohner ergibt, dass es keine Fremden waren. Sie kamen nur in
freies Land, das jetzt ohne Vertreibung von Vorbewohnern in Nutzung ge-
nommen werden konnte. „Die Vorfahren der früheisenzeitlichen Dorfbewoh-
ner sind demnach mehrheitlich nicht von außen nach Palästina eingedrungen,
sondern stammen aus dem Kulturland selbst.“66 D. Jericke formuliert es kür-
zer: „Woher kam das Volk Israel? Die neueste Antwort lautet: Es war schon
immer da.“ 67
Die Frage ist aber, wo die Dorfbewohner vorher gewohnt haben. Waren sie
ehemalige Bauern und Städter, also sesshaft, oder Nomaden? Die Meinungen

65
Vgl. J. J. Bimson u. a. mit mehreren Beiträgen in dem aufwendig gestalteten Sammelband von
P. v. d. Veen / U. Zerbst (Hrsg.), Biblische Archäologie am Scheideweg? Für und Wider einer Neu-
datierung archäologischer Epochen im alttestamentlichen Palästina, Holzgerlingen 2002; sowie in
U. Zerbst / P. v. d. Veen (Hrsg.), Keine Posaunen vor Jericho?, Holzgerlingen 2005.
66
J. Kamlah, Entstehung, 30.
67
D. Jericke, Woher kam das Volk Israel, WUB 3/2008, 16 (Hervorhebung vom Verf.).
II. Das geschichtliche Problem 97

hierüber sind nicht einheitlich. I. Finkelstein68 geht davon aus, dass sie über-
wiegend nomadischen Ursprungs waren, weil die neuen Dörfer im Oval, also
wie ein beduinisches Zeltlager, mit einer freien Fläche in der Mitte, sozusa-
gen einem Hof, angelegt wurden. Als Beispiel dient ein Ort namens Izbet-
Sartah, von dem I. Finkelstein die folgende Abbildung69 vorlegt, wobei aller-
dings nur die dunkel ausgezeichneten Teile tatsächlich vor Ort gefunden
wurden. Das Übrige ist eine Rekonstruktion.

From THE BIBLE UNEARTHED: Archaeology’s New Vision of Ancient Israel and the Origin of Its Sacred Texts by
Israel Finkelstein and Neil Asher Silberman. Copyright © 2000 by Israel Finkelstein and Neil Asher Silberman.
Reprinted by permission of Free Press, a Division of Simon & Schuster, Inc. All rights reserved.

J. Kamlah70 ist anderer Ansicht. Er bezweifelt, daß man die gefundenen Reste
von Izbet-Sartah zum Oval ergänzen könne. Im Übrigen sei bisher kein wei-
teres Dorf in dieser Form gefunden worden. Er geht davon aus, dass es sich
überwiegend um Bauern und Städter gehandelt hat, ohne allerdings nicht
sesshafte Teile ausschließen zu wollen. Auch Jericke sieht eher Städter: „Eine
Überprüfung des archäologischen Materials zeigt, daß sich die materielle Kul-
tur der frühen Eisenzeit weniger stark von derjenigen der bronzezeitlichen
Städte unterscheidet, als angenommen. So läßt sich die Annahme erhärten,
daß die neu entstandenen Siedlungen im Bergland von Menschen gegründet

68
I. Finkelstein, Keine Posaunen, 127.
69
Ebd., 127.
70
J. Kamlah, Entstehung, WUB, 3/2008, 30.
98 Zweiter Teil: Untersuchung einer eigenständigen Herkunft

wurden, die vorher in den bronzezeitlichen Städten lebten oder engen Kontakt
mit diesen Städten pflegten.“71 V. Fritz72 und N. P. Lemche73 gehen demgegen-
über wieder mehr von nomadischen Gruppen aus, wobei N. P. Lemche be-
sonders auf die Hapiru und die Schasu-Nomaden hinweist. Gemeinsam ist
allen Autoren aber die Auffassung, dass die „Proto-Israeliten“ Bewohner des
Lands Kanaan waren, die wegen des Niedergangs der Städte neuen Sied-
lungsraum suchten.
I. Finkelstein weist noch darauf hin, dass die von ihm als ehemalige Noma-
den gesehenen Dorfbewohner zu der neuen Besiedlung deswegen veranlasst
wurden, weil sie als Hirten keine eigenen landwirtschaftlichen Erzeugnisse
(Getreide, Wein, Oliven) produzierten, sondern auf Tausch und Handel mit
Sesshaften angewiesen waren. Da diese Handelspartner nunmehr weitgehend
wegfielen, mussten sie selbst das Fehlende anbauen und wurden so sesshaft.74
Diese vielen einzelnen Dörfer waren weitgehend autark. Da offenbar keine
kriegerischen Aktivitäten zu befürchten waren, gab es zunächst auch keine
staatlichen Zusammenschlüsse. Dies geschah erst nach und nach. Aus
Kleinfamilien wurden Großfamilien, es bildeten sich Sippen oder „lineages“,
die sich dann zu Stämmen zusammenschlossen. Aus diesem Stämmesystem
entstanden dann größere Einheiten, aber nicht wieder die alten Stadtherr-
schaften, sondern kleine Flächenstaaten, die mehrere Stämme umfassten.
Dies waren Israel im Norden und Juda im Süden, sowie östlich Ammon,
Moab und Edom. Die drei letzteren haben die gleiche demographische Ent-
wicklung durchlaufen wie ihre beiden israelitischen Nachbarn.75 Ihre Entste-
hung ist identisch.
Ein schon fast skurriler Unterschied besteht allerdings doch. In Israel und
Juda gab es von Anfang an, auch schon in der Zeit der Dorfgründungen,
keine Schweine. Sie wurden nicht gegessen und auch gar nicht erst gehalten.
Während die Archäologen in Ammon, Moab und Edom Schweineknochen in
Mengen fanden, fehlen diese im Westjordanland völlig. Für dieses Phäno-
men gibt es keine archäologische Erklärung. Klima und Boden waren weitge-
hend gleich. I. Finkelstein vermutet den Beginn einer Identitätsbildung durch

71
D. Jericke, Woher kam das Volk Israel?, WUB 3/2008, 20.
72
V. Fritz, Entstehung, 118.
73
N. P. Lemche, Vorgeschichte, 149.
74
I. Finkelstein, Keine Posaunen, 134.
75
Ebd., 135.
II. Das geschichtliche Problem 99

Abgrenzung in den Essgewohnheiten.76 In letzter Zeit sollen allerdings doch


Schweineknochen gefunden worden sein.
Die geschilderten Vorgänge in Palästina kann man als „Deurbanisierung“
mit anschließender „Retribalisierung“77 bezeichnen. Dabei ist beachtenswert,
dass diese Prozesse von 1200 nicht einmalig waren, sondern sich bereits vor-
her schon zweimal ereignet hatten. Es gab also insgesamt dreimal den Wech-
sel von einer urbanen zu einer bäuerlichen oder nomadischen Gesellschaft.
I. Finkelstein gibt folgende Übersicht:78

Epoche Datum Hauptmerkmale

Frühe Bronzezeit 3500–2200 v. Chr. Erste Besiedlungswelle;


ca. 100 Orte nachgewiesen
Zwischenzeit 2200–2000 v. Chr. Krise; die meisten Orte wer-
den aufgegeben
Mittlere Bronzezeit 2000–1550 v. Chr. Zweite Besiedlungswelle;
ca. 220 Orte nachgewiesen
Spätbronzezeit 1550–1150 v. Chr. Krise; nur ca. 25 Orte nach-
gewiesen
Eisenzeit I 1150–900 v. Chr. Dritte Besiedlungswelle;
ca. 240 Orte nachgewiesen
Eisenzeit II 900–586 v. Chr. Besiedlung wächst auf mehr
als 500 Orte an (8. Jahrhun-
dert v. Chr.)
Die Besiedlungswellen im Bergland

J. Kamlah79 stellt zu diesem Thema ein „Langzeit-Entwicklungsmodell“ vor,


aus dem sich die wechselnden Anteile der unterschiedlichen Bevölkerungen
ergeben:

76
I. Finkelstein, Keine Posaunen, 136.
77
N. P. Lemche, Vorgeschichte, 104.
78
I. Finkelstein, Keine Posaunen, 130.
79
J. Kamlah, Entstehung, 31.
100 Zweiter Teil: Untersuchung einer eigenständigen Herkunft

Abbildung aus:
Jens Kamlah: „Wohlauf, lasst uns eine Stadt bauen“ (Gen 11,4). Städtische Lebensweise
als Ressource in der Welt des Alten Testaments, in: J. Kampmann / C. Schwöbel (ed.): Die
Stadt (Theologie interdisziplinär; Neukirchen Vluyn; im Druck), Abb. 1.

Er spricht von einer „zyklischen Deurbanisierung“. Ob es sich dabei aller-


dings um einen automatischen Zyklus handelt, ist zu bezweifeln. Auslöser für
den Wechsel um 1200 war in erster Linie der Klimawandel. Was 2200–2000
und 3200 die Ursachen waren, ist nicht genau bekannt. Es kann daher auch
eine rein zufällige Abfolge gewesen sein.
Noch einen weiteren Aspekt bringt N. P. Lemche mit dem Hinweis auf den
ständigen, grundsätzlichen Gegensatz zwischen Zentrum und Peripherie oder
dem „Kampf zwischen der Wüste und dem Kulturland.“80 Ab 1200 verlieren
die Zentren, also die Städte, die Macht und geben sie an die Peripherie, die
Dörfer und Stämme ab, die dann ihrerseits wieder ab 1000, mit Beginn der
Staatenbildung, an Bedeutung verlieren und sich in die neuen Staaten ein-
gliedern müssen.

3. Ergebnis

Dieser historische Abriss war erforderlich, weil es um die Frage geht, ob das
apodiktische Recht in seiner Entstehung oder Tradierung in eine israelitische
Frühzeit zurückverfolgt werden kann. Dabei sind wir allerdings auf Spekula-
tionen angewiesen. Das apodiktische Recht haben wir nur in der Endfassung

80
N. P. Lemche, Vorgeschichte, 104.
II. Das geschichtliche Problem 101

der biblischen Texte. Auch wenn wir hinter den masoretischen Text zurück-
gehen und die Septuaginta, den Samaritanus oder die unterschiedlichen
Qumrantexte überprüfen, haben wir trotzdem immer nur den relativ späten
biblischen Text. Außerbiblische Belege über ein frühes – israelitisches – apo-
diktisches Recht gibt es nicht. Wir haben keine Möglichkeit, das apodiktische
Recht hinter die biblischen Texte zurückzuverfolgen. Auch die vielen Versu-
che, einen „Urdekalog“ oder frühe Reihen von Prohibitiven textkritisch zu
ermitteln, können keinen Erfolg bringen.
Wir haben aber die Möglichkeit, aus den archäologischen und historischen
Erhebungen Erkenntnisse über diejenigen Gruppierungen zu gewinnen, die
die Vorfahren der späteren Israeliten waren und auf deren Territorien dann
ab 1000 die Reiche Israel und Juda entstanden. Es ist dann auch zu überlegen,
ob hier ein besonderes Recht, nämlich das apodiktische, als eigene Gattung
denkbar ist.
Die ersten Israeliten im westjordanischen Bergland waren Dorfbewohner,
die Ackerbau betrieben, verbunden mit etwas Viehzucht, und zwar haupt-
sächlich Schafe und Ziegen. Sie hatten dort neu gesiedelt, um sich eine neue
Lebensgrundlage zu schaffen, die ihnen durch den Verfall der Stadtkulturen
entzogen worden war. Und sie stammten überwiegend aus dem alten Kul-
turland Kanaan. Von eingewanderten Bevölkerungsteilen kann man nur in
geringem Maße ausgehen.
Dabei handelte es sich allerdings nicht um eine Umsiedlung von einem
früheren Dorf in ein neues Dorf. Es gab in der Spätbronzezeit, also in der Zeit
vor 1200, in Palästina kaum Dörfer, obwohl die große Mehrheit der Bevölke-
rung Bauern waren.81 Aus Gründen, die archäologisch nicht zu ermitteln
sind, lebten sie im direkten Umkreis der Städte, teilweise in den Städten
selbst als sog. Ackerbürger. Sie standen also, von ihrer Herkunft her, ethno-
logisch und soziologisch nicht auf einer Vorstufe vor einer urbanen Kultur,
sondern entstammten ihr direkt. Dass sie sich in ihrer neuen Umgebung
verselbständigten und nach und nach eine eigene Identität im Rahmen von
segmentären Gesellschaften entwickelten, ändert hieran nichts. Es bestanden
außerdem nach wie vor Beziehungen zu den umliegenden, noch intakten
urbanen Regionen.
Auf diesen Umstand wird von J. Kamlah ausdrücklich hingewiesen. Am
Beispiel der sog. Rollkragenkrüge (collared rim jars) und des Vier-Raum-

81
N. P. Lemche, Vorgeschichte, 137.
102 Zweiter Teil: Untersuchung einer eigenständigen Herkunft

Hauses kann dies archäologisch belegt werden.82 „Daher ist es wahrscheinlich,


daß die meisten der Menschen, die in der frühen Eisenzeit im Gebirge Dörfer
gründeten, vorher sesshaft waren. Die Israeliten sind damit als ethnische
Gruppe aus der kanaanäischen Kultur hervorgegangen. Ihre ethnische Identi-
tät bildete sich erst am Ende der frühen Eisenzeit heraus.“83
Anders könnte es sich bei denjenigen Neusiedlern verhalten, die vorher
nicht sesshaft waren und zu denen auch die Hapiru oder die Schasu-Noma-
den gehören könnten. I. Finkelstein geht, wie (S. 112) dargestellt, davon aus,
dass sogar die Mehrheit der Siedler aus derartigen Gruppierungen bestand.
Nomadisch lebende Menschen mussten sich ihr Getreide selbst anbauen,
nachdem die bisherigen Bezugsquellen, die Städte mit ihren sesshaften Bau-
ern, am Ende der Bronzezeit wegfielen. Aber auch diese Gruppen stammten
nicht von außerhalb, sondern aus Kanaan. Auch sie standen vorher, wenn
auch nur in lockerer Form, im allgemeinen kulturellen Kontext der Stadt-
staaten in Kanaan. Sie hatten Kenntnis von deren Kultur, unabhängig davon,
wie viel sie selbst von dieser Kultur praktizierten. Die Frage des Zahlenver-
hältnisses von nicht sesshaften zu auch schon vorher sesshaften Siedlern
kann deshalb nicht sehr entscheidend ins Gewicht fallen.
In diesem Zusammenhang ist noch ein Hinweis von N. P. Lemche von
Bedeutung. Er weist darauf hin, „daß sich die vorderorientalische Gesell-
schaft nicht in die drei ‚Idealtypen‘ Nomade, Bauer und Stadtbewohner auf-
spalten läßt.“84 Man müsse vielmehr mit einem „polymorphen Gesellschafts-
modell“ mit „sozioökonomischen Mischformen“ rechnen. Die orientalische
Gesellschaft sei bis heute „durchlässig“. Ein Wechsel zwischen den verschie-
denen Lebensformen sei, wenn die Verhältnisse es erforderlich machten,
ohne Weiteres möglich. Man könne deshalb keine grundsätzliche Unter-
scheidung der Gesellschaftsgruppen machen. Der Gegensatz zwischen einem
freien Nomadenleben und einer erdgebundenen bäuerlichen Existenz ist also
nicht grundsätzlicher Natur. Beide Lebensformen sind austauschbar.
Auf den gleichen Aspekt weist H. Donner bei der Erörterung des Noma-
dentums hin. Die heute bekannten beduinischen Nomaden hätten sich erst
im 5. Jahrhundert und später gebildet. Kennzeichnend sei regelmäßiger Wei-
dewechsel (Transhumanz) und eine eigenständige Kultur und Lebensweise.85

82
J. Kamlah, Entstehung, 32.
83
Ebd., 30.
84
N. P. Lemche, Vorgeschichte, 97 u. 40.
85
H. Donner, Geschichte, 54; (vgl. auch R. Neu, Die Bedeutung der Ethnologie für die Alttestamentli-
che Forschung, Bd. 1, 15).
II. Das geschichtliche Problem 103

Diese Lebensform dürfe nicht ohne weiteres bei allen nicht sesshaften Grup-
pen Ende des 2. Jahrtausends vorausgesetzt werden. Man müsse vielmehr mit
den unterschiedlichsten Herkünften rechnen, nämlich „Jäger, Sammler,
Kleinviehzüchter, Ziehbauern, wandernde Kesselflicker, Zigeuner, outlaws aus
den Städten u. a. m.“ 86 Die Gruppe der Nichtsesshaften sei durchlässig und
nicht homogen.
An dieser Stelle ist noch ein weiterer, etwas überraschender Hinweis von
N. P. Lemche wichtig.87 Es geht um die fahrenden Sänger, umherziehende
Künstler, die die sog. Volksliteratur weitertrugen. Dabei handelt es sich um
Epen, Märchen oder Anekdoten, von denen es gerade in schriftlosen Gesell-
schaften eine große Anzahl gibt. So sind die ersten David-Geschichten und
viele andere Erzählungen zunächst nur mündlich tradiert worden.88 Sie wur-
den erst wesentlich später schriftlich fixiert. Da diese Märchenerzähler nicht
nur in den Städten und Residenzen, sondern auch auf dem flachen Lande
umherzogen, kann man sich vorstellen, wie viel Kulturgut auf diese Weise
vermittelt wurde. Auch hier haben wir eine sehr feste Anbindung an die um-
liegende Zivilisation und an zurückliegende Erzähltraditionen. Auf diesem
Wege dürften auch sehr viele Rechtsvorstellungen tradiert worden sein.

Nach allem kann man als Ergebnis festhalten, dass die Vorfahren der Israeli-
ten Kanaanäer waren, die aus dem Kulturland Palästina stammten. Sie waren
nicht von außerhalb zugezogen, sondern standen in kultureller Kontinuität
innerhalb ihres bisherigen kanaanäischen Umfeldes. Ihnen war die Kultur
der früheren Stadtstaaten, einschließlich deren Rechtsvorstellungen, vertraut.
Diese Rechtsauffassungen gehörten in den allgemeinen vorderorientalischen
Rechtskreis, der kasuistisch gestaltet war, weil komplexe, städtische Verhält-
nisse zu regeln waren. Apodiktisches Recht als eigene übergeordnete Rechts-
gattung war demgegenüber im vorderen Orient nicht bekannt. Der König als
Gesetzgeber handelte zwar in göttlichem Auftrag; er war verpflichtet, Ord-
nung und Gerechtigkeit in seinen Ländern zu sichern. Trotzdem waren es,
wie aus dem Codex Hammurabi ersichtlich, seine eigenen profanen Gesetze,
die keine göttliche Offenbarung für sich in Anspruch nahmen.89

86
H. Donner, Geschichte, 57.
87
N. P. Lemche, Vorgeschichte, 161.
88
I. Finkelstein, David und Salomo, 37.
89
R. Albertz, Theologisierung, 124.
104 Zweiter Teil: Untersuchung einer eigenständigen Herkunft

Wenn trotz dieses Umfeldes in Israel apodiktisches Recht entstand und


schließlich zum Grundbestand des Dekalogs, des Bundesbuches, des Heilig-
keitsgesetzes und des Deuteronomiums gehört, so muss es sich um eine
wesentlich spätere Entwicklung handeln, die mit der zunehmenden Theolo-
gisierung des Rechts zusammenhängt.90 Ein früheres allgemeines Sippen-
ethos91 oder andere Vorformen waren nur Ausgangspunkt und Material für
die spätere Ausformung der apodiktischen Rechtssätze. Erst eine präzise
Formulierung und vor allem die Einbindung in einen größeren rechtlichen
Zusammenhang macht apodiktische Redeweise zu apodiktischem Recht.

Exkurs 2: Die Historizität des Exodus?

Wenn man sich die dargelegten neueren historischen und archäologischen


Ergebnisse über die Besiedlung des nördlichen Israels und des südlichen
Judas vor Augen führt, bleibt kaum Raum für eine Einwanderung größerer
Bevölkerungsteile aus Ägypten oder dem übrigen Umland. Wie konnte dann
aber der Exodus unter JHWH’s Führung das zentrale Thema des Pentateuch
werden, auf das sich letztlich alles bezieht?
M. Noth hat dieses m. E. sehr überzeugend beantwortet: „Daß Jahwe, der
Gott Israels, derjenige sei, ‚der Israel aus Ägypten herausgeführt hat‘, ist einer
der elementarsten und der am häufigsten wiederholten Glaubenssätze im Alten
Testament. …………. Auf die in diesem Glaubenssatz ausgesprochene Tat
Gottes hat Israel seine Existenz und seine Sonderstellung im Kreise der Völker
zurückgeführt.“92 Diese Aussage sei „schon sehr früh zu einer fest geprägten
Formel geworden.“ Es sei „das Urbekenntnis Israels“ und auch zugleich die
„Keimzelle der ganzen großen späteren Pentateuchüberlieferung“.93 Trotzdem
weiß Noth, dass es sich historisch gesehen um keine gesamtisraelitische Tra-
dition, sondern nur um die Erlebnisse kleinerer Gruppen gehandelt haben
kann. Noth geht zutreffend davon aus, dass sich Israel und Juda und zuvor
die einzelnen Stämme erst im Inland gebildet haben und dass deshalb keine
„Israeliten“ die ursprünglichen, historischen Träger der Exodustradition
gewesen sind, sondern nur einzelne Gruppen oder Sippen, die noch keinen

90
R. Albertz, Theologisierung, 128.
91
E. Gerstenberger, Wesen und Herkunft, 110.
92
M. Noth, Überlieferungsgeschichte, 50.
93
Ebd., 52.
II. Das geschichtliche Problem 105

der späteren Stämme bildeten. Noth führt dann aus, „daß die Sippen, die die
Dinge in Ägypten und am Meer erlebt hatten, später hie und da in die Ver-
bände der sich bildenden landnehmenden israelitischen Stämme sich einglie-
derten, …………, so daß das ihnen Begegnete in weitere Kreise Israels getragen
und – durch seine Einmaligkeit und Gewalt auch zunächst Unbeteiligte mit
fortreißend – zum grundlegenden Glaubensbesitz aller israelitischen Stämme
wurde.“94
So könnte man sich die Entstehung und Einbindung des Exodus-Themas
vorstellen. Denkbar wäre m. E. aber auch, dass diese Berichte nur indirekt,
und zwar in Verbindung mit dem JHWH-Kult, in Israel Verbreitung fanden.
Die Exodus-Tradition könnte schon länger vorher mit dem JHWH-Glauben
in Verbindung gestanden haben und hätte sich dann als Teil des JHWH-
Glaubens in Israel festgesetzt, als die JHWH-Religion sich allmählich vom
Süden und vom Ostjordanland her in Israel ausbreitete. In jedem Fall sollte
man aber davon ausgehen, dass der Exodus-Tradition ein tatsächliches histo-
risches Ereignis zugrunde liegt und dass es sich nicht um eine bloße Fiktion
späterer Generationen handelt (vgl. auch Exkurs 3).
Eine wenn auch noch so kleine Gruppe von Flüchtlingen könnte die Exo-
dus-Tradition nach Israel gebracht haben, wo sie dann in Verbindung mit
dem JHWH-Glauben nach und nach gesamtisraelitisch wurde, weil beides,
JHWH-Glaube und Exodus, dem Wunsch nach einer freien, egalitären Ge-
sellschaft die theologische Grundlage geben konnte (vgl. auch S. 105). Die
ersten Siedler waren freie, selbständige Bauern und Viehhalter in einem
lockeren Familien- und Stammesverband, ohne staatliche Ordnung und
ohne Feudalsystem. Es handelte sich um eine egalitäre Gesellschaft, die auf
die Wahrung ihrer individuellen Freiheit angewiesen war. Anders wäre m. E.
die spätere zentrale Bedeutung von Exodus und Schilfmeer nicht zu erklären.
So konnte dann auch die Verteidigung der Freiheit Motivation und Anliegen
des Dekalogs werden, ein Anliegen, das auch alle anderen Verfassungen aus
späterer Zeit antreibt.

94
M. Noth, Überlieferungsgeschichte, 53.
106 Zweiter Teil: Untersuchung einer eigenständigen Herkunft

Exkurs 3: Bauern, Hirten und Nomaden

Die ersten Siedler, die im 12. und 11. Jahrhundert v. Chr. im brachliegenden
westjordanischen Bergland neue Dörfer gründeten und damit zu Stamm-
vätern des späteren Juda und Israel wurden, kamen nicht von außerhalb,
sondern aus Kanaan. Hierüber besteht in der heutigen Forschung allgemei-
ner Konsens.95 Es handelt sich nicht um Gruppierungen, die aus dem Um-
land nach Palästina eingewandert oder kriegerisch eingedrungen waren,
sondern um Personen, die aus der vielschichtigen Bevölkerung des Inlandes
stammten. Diskutiert wird nur die Frage, ob und in welchem Umfang der
JHWH-Glaube und die Exodustradition von einer auswärtigen Gruppe in
das werdende Israel eingebracht wurden.96
E. A. Knauf hat zu diesem Thema einen sehr konkreten Vorschlag.97 Nach
ihm vermittelte eine in Ägypten aufhältliche Midianiter-Gruppe einer nach
dort geholten palästinischen Söldnergruppe das Lied der aus Midian stam-
menden Mirjam, in dem JHWH und der Untergang von ägyptischen Streit-
wagen gefeiert wird (Ex 15, 21). Diese Inhalte wurden von den später aus
Ägypten flüchtenden Söldnern als eigenes Erleben übernommen und mit
dem eigenen Exodus verbunden. JHWH und das Schilfmeer gelangten auf
diese Weise nach Palästina und wurden dort nach und nach religiöses und
historisches Gemeingut der sich im Bergland formierenden Stämme.
Diese und andere Hypothesen basieren auf der Überlegung, dass eine so
zentrale Überlieferung wie der Exodus und der damit untrennbar verbun-
dene Gott JHWH keine reine Fiktion sein können, sondern einen histori-
schen Rückhalt haben müssen. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass diese
Überlieferung ohne einen historischen Kern entstanden sein könnte, so dass
wir insofern mit einer „Ägypten-Gruppe“98 unter den Begründern der neuen
Stammesgebiete im Bergland Juda und Israel rechnen müssen. Aber abgese-
hen von einer solchen kleinen, wenn auch wichtigen Außengruppe kamen
nach heute einhelliger Meinung alle frühen Siedler direkt aus Kanaan und
standen damit zwangsläufig in kultureller Anbindung an die größtenteils
untergegangenen, z. T. aber auch weiterbestehenden kanaanäischen Stadt-
staaten und deren vorderorientalische Lebensweise.

95
H. Donner, N. P. Lemche, V. Fritz, J. Kamlah, D. Jericke, I. Finkelstein, W. Zwickel, E. A. Knauf
u. a.
96
Vgl. H. Donner, Geschichte, Bd. 1, 147.
97
E. A. Knauf, Midian, 145.
98
H. Donner, Geschichte, 97.
II. Das geschichtliche Problem 107

Mit dieser Feststellung ist allerdings noch nicht die Frage beantwortet, aus
welchem Teil Palästinas bzw. aus welcher Bevölkerungsgruppe die neuen
Siedler kamen. Dies war bereits im geschichtlichen Teil (II.2.) erörtert
worden. Kamen die Bewohner der neuen Siedlungen aus dem Bereich der
Stadtstaaten oder gehörten sie zu nicht sesshaften Gruppen, vielleicht noma-
dischen Ursprungs? Die Meinungen hierzu sind geteilt. Während einige
Autoren (z. B. I. Finkelstein und V. Fritz) wegen der ovalen, an Zeltlager er-
innernden Bauweise der kleinen Dörfer mehr an eine nomadische Herkunft
denken, sehen andere (z. B. J. Kamlah) wegen kultureller Übereinstimmun-
gen (Vierraumhaus, Keramik) einen überwiegend früher sesshaften städti-
schen Bevölkerungsanteil. Die meisten Autoren gehen allerdings von einer
gemischten Herkunft aus.
Bei dieser Frage sind wir weitgehend auf Vermutungen angewiesen, da
insoweit präzise archäologische oder historische Belege fehlen.99 Man kann
allerdings Rückschlüsse aus der allgemeinen Bevölkerungsstruktur Palästinas
vor der Landnahme ziehen. Dabei haben wir eine grobe Einteilung in drei
größere Gruppen: Stadtbewohner, Hapiru und (Schasu-)Nomaden.

1. Stadtbewohner

Der größte Teil der Stadtbewohner bestand aus Ackerbauern, die teilweise
auch Viehzucht betrieben. Im palästinischen Raum haben wir nämlich die
Besonderheit, dass die Stadtstaaten der Bronzezeit, also bis zum 12. Jahrhun-
dert, keine umliegenden Dörfer hatten. Die Bauern wohnten vielmehr inner-
halb des Stadtbezirks und bewirtschafteten von hier aus ihre vor den Toren
der Stadt liegenden Ländereien, wobei man sich die einzelnen Städte auch
nicht allzu groß vorstellen darf.100 Diese Bauern waren Ackerbürger.
Als dann ab dem 12. Jahrhundert die Stadtkulturen weitgehend zusam-
menbrachen, mussten sich viele dieser Ackerbürger eine neue Existenz su-
chen. Wir können deshalb m. E. davon ausgehen, dass zu den ersten Siedlern
im Bergland viele ehemalige Stadtbewohner gehörten, die damit auch in
gewisser kultureller Kontinuität zu den Stadtstaaten standen. Wenn V. Fritz
die Auffassung vertritt, dass für die Gründung der neuen Siedlungen „nur die

99
V. Fritz, Entstehung, 57.
100
Eine der größten Städte der Bronzezeit, Arad, hatte z. B. nur ca. 3500 Bewohner (N. P. Lemche,
Vorgeschichte, 111).
108 Zweiter Teil: Untersuchung einer eigenständigen Herkunft

Gruppen im Umkreis der Städte in Frage kommen, die wegen ihrer sozialen
Stellung oder ihrer Lebensweise außerhalb der Städte gelebt haben“, und dabei
an die Hapiru und die Schasu-Nomaden denkt,101 so halte ich das für sehr
unwahrscheinlich. Für viele der Ackerbürger aus den untergegangenen
Stadtherrschaften muss sich die Notwendigkeit einer neuen Existenzgrün-
dung ergeben haben, so dass etliche von ihnen sicherlich auch in das angren-
zende Bergland ausgewichen sind, um dort das zu tun, was sie vorher auch
betrieben hatten, nämlich Ackerbau und Viehzucht.102

2. Hapiru

Eine kleine, aber sehr effiziente Gruppe, wenn auch nur im negativen Sinne,
waren die Hapiru (apiru).103 Es handelte sich dabei um „outlaws“, sozial ent-
wurzelte Menschen, Flüchtlinge und Kriminelle, die nicht in festen Siedlun-
gen wohnten, sondern sich zwischen den Stadtstaaten bewegten und die sich
in den Wäldern zu (Räuber-)Banden zusammenschlossen. Das Bergland war
damals im Gegensatz zu heute noch stark bewaldet. Die Hapiru lebten von
Raub, Diebstahl, Schutzgelderpressung und ähnlichen Tätigkeiten, wurden
aber auch in die Rivalitäten der Stadtstaaten hineingezogen. Oft tauchten sie
als Söldnertruppen oder Verbündete einzelner Herrscher auf, konnten gele-
gentlich aber auch selbst die Macht ergreifen und Herrscher kleinerer Terri-
torien werden.104
Wir kennen die Hapiru aus ägyptischen Quellen, insbesondere der
Amarnapost. Hier beschweren sich verschiedene „Könige“ aus kanaanäi-
schen Stadtstaaten über ihre Nachbarkönige, aber auch über die räuberischen
Hapiru. Der Begriff wird in dieser Post allerdings oft ausgeweitet und auch
auf politische Rivalen, als tatsächliche oder nur behauptete Gegner der ägyp-
tischen Oberhoheit, angewandt.
Von den Hapiru hören wir nach der Landnahme nichts mehr, wenn wir
nicht David und seine „outlaws“ dazu zählen wollen. Mit dem Untergang der
meisten Stadtstaaten wurde ihnen die „Existenzgrundlage“ entzogen. Es ist
daher sehr naheliegend, dass viele von ihnen sich den neuen Dorfbewohnern

101
V. Fritz, Entstehung, 120.
102
H. Donner, Geschichte, Bd. 1, 145.
103
Vgl. insgesamt V. Fritz, Entstehung, 111.
104
Die interessante Frage, ob das Wort „Hebräer“ sprachlich und historisch mit den „Hapiru“ zu tun
hat, soll hier nicht weiter erörtert werden.
II. Das geschichtliche Problem 109

anschlossen und sesshaft wurden. Sie werden dann den Wald gerodet haben,
in dem sie vorher Unterschlupf gefunden hatten, um jetzt Getreide anzu-
bauen und Kleinviehzucht zu betreiben. Auch sie gehören sicherlich zu den
Stammvätern Israels.

3. Nomaden

Der Begriff „Nomade“ ist sehr unbestimmt und vieldeutig, entsprechend


dem Erscheinungsbild, welches diese Gruppierungen boten. Man kann nur
ganz allgemein formulieren: Nomaden waren „Menschen, die weder in (be-
festigten) Städten noch in ganzjährig bewohnten dörflichen Siedlungen leb-
ten.“105 Nähere, generalisierende Definitionen sind angesichts der Vielfalt der
nomadischen Gruppen, die zu allen Zeiten vorhanden waren, nicht möglich.
So ist es auch erklärlich, dass sich im Alten Testament, wie überhaupt im
Alten Orient, kein eigentlicher Begriff für diese Lebensform findet. Am
nächsten kommt noch das Wort ‫ אֹבֵד‬aus dem „Kleinen Credo“ in Dtn 26,5
im Sinne von „umherirrend / umherziehend“.106 Der weitere Begriff ‫רֹעֶה‬
(Hirte), der im gesamten biblischen Text positiv konnotiert ist und bereits
bei Kain und Abel auftaucht,107 ist auf die Viehzucht begrenzt und umfasst
nicht die gesamte nomadische Lebensweise. Das Wort „Nomade“ kommt
vielmehr vom griechischen νομάς bzw. νομαδικός und meint Menschen, die
mit ihren Viehherden umherziehen und deshalb keine Angehörigen einer
polis sind.108
Ein häufiger Irrtum ist die Gleichsetzung des Nomaden mit dem „Araber“
oder „Beduinen“. Der Begriff „Araber“ ist aber mehr ethnisch gemeint und
bezieht sich überwiegend auf die Bewohner der arabischen Halbinsel, die
später die Träger des heutigen Islam wurden. „Beduinen“ sind demgegen-
über „reiterkriegerische Kamelnomaden“,109 die in der Lage waren, größere
Strecken zurückzulegen und oft kriegerisch auftraten. Diese beduinischen
Nomaden mit Kamelen als Reittieren gibt es aber erst ab Beginn des 1. Jahr-
tausends und scheiden daher für die Zeit der Landnahme und der Patriar-
chen aus. Dass Abraham mit Kamelen umherzog und dass Rebekka vom

105
Th. Schaubli, Das Image der Nomaden, 15.
106
Ebd., 150.
107
Ebd., 142.
108
Menge-Güthling, Altgriechisch-Deutsch, 472.
109
E. A. Knauf, Midian, 10.
110 Zweiter Teil: Untersuchung einer eigenständigen Herkunft

Kamel fiel, als sie zum ersten Mal Isaac sah, ist ein Anachronismus, der von
den späteren Schreibern in diese Zeit hineinprojiziert wurde. Rebekka müss-
te wohl doch auf einem Esel geritten sein.
Der Grund hierfür ist die einfache Tatsache, dass das Kamel zwar schon
seit dem 3. Jahrtausend domestiziert wurde, dass es aber zunächst nur als
Nahrungsquelle und nach und nach als Lasttier diente, wobei die Zucht
schwieriger ist als bei anderen Tieren. Das Kamel hat eine geringere Repro-
duktionsrate. Nur jede zweite Kamelstute bringt alle zwei Jahre ein Kamel-
füllen zur Welt, so dass das Schlachten eines Kamels vermieden wurde,110
zumal es später auch stolzer Besitz des beduinischen Nomaden wurde und
besondere Achtung erlangte.
Die Nutzung als Reittier war erst möglich, nachdem sich allmählich die
passende Sattelform entwickelt hatte. Aus dem Haulani- und Palansattel
entstand Anfang des 1. Jahrtausends der Sadadsattel, der das Sitzen nicht
hinter, sondern auf dem Höcker ermöglichte und die Kamele manövrierfähi-
ger und militärisch einsetzbar machte.111 So sollen an der Schlacht bei Qarqar
(853 v. Chr.) unter Salmanassar III. immerhin 1000 Kamelreiter beteiligt
gewesen sein.112
Erst das Kamel als Reittier ermöglichte die Zurücklegung längerer Strecken
und machte diese Nomadengruppe noch unabhängiger als andere Gruppie-
rungen. Man konnte sich schnell und zu jeder Zeit in die Wüste oder andere
unwirtliche Gegenden zurückziehen. Das Kamel benötigt keine tägliche
Tränke. Es kann für mehrere Tage im Voraus Wasser und Futter aufnehmen.
Nur diese auf Kamelen reitenden Nomaden werden als Beduinen bezeichnet.
Das Pferd war dann nur eine Ergänzung als schnelles und wendiges Reittier.
Alle anderen Nomadengruppen ohne Kamele waren auf tägliche Weide
und Tränke für ihre Viehherden angewiesen, die aus Schafen, Ziegen, Eseln
und allenfalls noch Rindern bestanden. Diese konnten in der Regenzeit in
den Randgebieten des Kulturlandes geweidet werden. In der Trockenzeit
mussten sie dann aber doch in das Kulturland selbst hineingetrieben werden,
da nur hier ausreichend Wasser und Weide vorhanden waren. Diese Wirt-
schaftsform wird Transhumanz oder Transmigration genannt,113 wobei V.
Fritz den Begriff der Transhumanz auf Wanderungen mit größeren Entfer-

110
E. A. Knauf, Midian, 15 Anm. 81.
111
Th. Staubli, Das Image der Nomaden, 184.
112
E. A. Knauf, Midian, 11.
113
V. Fritz, Entstehung, 114.
II. Das geschichtliche Problem 111

nungen, also auf das beduinische Nomadentum beschränken möchte, was


aber nur eine Definitionsfrage ist.
Nomadische Gruppen tauchen im Alten Orient unter verschiedenen Na-
men und Bezeichnungen auf.114 Aus den Texten von Mari kennen wir die
Sutäer, die Hanäer und die Jameniten,115 die sich um 1800 in den weniger
fruchtbaren Gebieten Mesopotamiens aufhielten. Vom Ausgang des 2. Jahr-
tausends an erscheinen als weitere größere Gruppe die Aramäer, ein Sam-
melbegriff für ethnisch unterschiedliche umherziehende Völkerschaften, die
teilweise auch zu Staatenbildungen kamen, z. B. in Aram / Damaskus, und
auf die die spätere lingua franca des Vorderen Orients, das Aramäische, zu-
rückgeht. Es ist interessant, dass im „Kleinen Credo“ (Dtn 26,5) der Stamm-
vater Jakob als „Aramäer“ bezeichnet wird.
Für Palästina wichtig sind dann die Schasu-Nomaden, die aus zahlreichen
ägyptischen Quellen bekannt sind. Es handelt sich dabei um einen „Sammel-
begriff semitisch sprechender Sandbewohner der südlichen Levante“,116 die in
vielfältigen friedlichen, aber auch kriegerischen Beziehungen zu Ägypten und
den kanaanäischen Stadtstaaten standen. Sie sind für die zweite Hälfte des 2.
Jahrtausends bezeugt und dürften daher bei der Landnahme und vielleicht
auch für den Exodus eine Rolle gespielt haben. Th. Staubli hat für diese
Gruppe eine große Fülle an Bild- und Textmaterial zusammengestellt.117
Nach der Landnahme sind von den Schasu-Nomaden keine Nachrichten
mehr vorhanden, zumindest nicht aus Ägypten. Dies wird daran gelegen
haben, dass ab dem 12. Jahrhundert die ägyptische Kontrolle über Palästina
zu Ende ging. Im Übrigen wird ab der Landnahme und der anschließenden
Staatenbildung in Israel und Juda immer weniger Raum für Nichtsesshafte
vorhanden gewesen sein, wobei noch hinzukommt, dass auch in den umlie-
genden Gebieten nicht wieder neue Stadtstaaten entstanden, sondern eben-
falls größere Flächenstaaten mit zentralistischer Struktur wie in Aram, Moab
und Edom.
Teile dieser Schasu-Nomaden sind mit großer Wahrscheinlichkeit in den
neuen Siedlungen im Bergland aufgegangen.118 Sie konnten damit ihre noma-
dische Lebensweise aufgeben und sesshaft werden, ohne ihre Kleinviehher-
den aufgeben zu müssen. Der Ackerbau in Palästina war immer auch mit

114
Vgl. zum Folgenden: H. Klengel, Zwischen Zelt und Palast; Th. Staubli, Das Image der Nomaden.
115
Vielleicht die Vorläufer des Stammes Benjamin (H. Klengel, 66).
116
Th. Staubli, Image, 23.
117
Ebd., 19–64.
118
V. Fritz, Entstehung, 120.
112 Zweiter Teil: Untersuchung einer eigenständigen Herkunft

Viehhaltung verbunden – und umgekehrt. Dies ergibt sich schon aus der
„Tatsache, dass der Mensch nicht ausschließlich von tierischem Eiweiß leben
kann, sondern auch auf pflanzliche Nahrungsmittel angewiesen ist. Kein No-
made kann ohne Getreideprodukte überleben.“119

Im Ergebnis können wir festhalten, dass die ersten Siedler sich aus allen drei
Bevölkerungsgruppen zusammengesetzt haben dürften, nämlich ehemalige
Stadtbewohnern, Hapiru und Schasu-Nomaden. Wir haben zwar keine siche-
re Beweislage, sondern müssen mit Wahrscheinlichkeiten auskommen; diese
sprechen aber m. E. für die Annahme einer derart gemischten Abstammung.
Dabei ist auch noch zu beachten, dass die Besiedlung, die sich immerhin über
zwei Jahrhunderte hinzog, nicht überall zeitgleich und gleichförmig verlaufen
sein kann. Es muss sowohl vom Zeitpunkt als auch von der Zusammenset-
zung der Siedler her regionale Unterschiede gegeben haben, so dass jede
Rekonstruktion schwierig ist. „Alle Bemühungen um die Erfassung der sozia-
len Gestalt des vorstaatlichen Israel bleiben hypothetisch und alle Analogie-
schlüsse sind stets kritisch zu hinterfragen.“120 Trotzdem dürfte es richtig sein,
alle Bevölkerungsgruppen einzubeziehen oder, andersherum formuliert,
keine Gruppe auszuschließen.
Die Lebensweise der ersten Siedler dürfte demgegenüber besser darzustel-
len sein. Nachdem die Ansiedlungen, meist wohl verbunden mit der Rodung
von Waldpartien, erfolgt waren, konnte man die Bewohner der neuen Dörfer
als Kleinbauern bezeichnen, die sesshaft waren und Ackerbau betrieben
(Getreide, Oliven, Wein). Gleichzeitig waren sie aber auch Viehhalter, über-
wiegend von Schafen und Ziegen, die in der Trockenzeit in unmittelbarer
Nähe der Siedlungen geweidet werden mussten, in den Regenmonaten aber
auch in die östlichen und südlichen Randgebiete geführt werden konnten.
Wir haben es hierbei mit einer der heutigen Sennwirtschaft in den Alpen
vergleichbaren Weideform zu tun. Da hierfür auch weitere Strecken zurück-
gelegt werden mussten, blieb immer noch ein nomadisches Element erhalten,
welches sicherlich Einfluss auf die Vorstellungswelt der späteren Generatio-
nen gehabt hat und die Erinnerung an eine zumindest teilweise nomadische
Abstammung verstärkt hat. „Das nachmalige Israel hat sich nach Ausweis
seiner eigenen Überlieferung eine nomadische Vergangenheit zugeschrieben.“121

119
N. P. Lemche, Vorgeschichte 98, Anm. 13.
120
V. Fritz, Entstehung, 111.
121
H. Donner, Geschichte, Bd. 1, 141.
II. Das geschichtliche Problem 113

– „Das nomadische Erbe ist in Israels Überlieferung so stark, dass die Ableh-
nung jeder nomadischen Vorgeschichte Israels keine historische Wahrschein-
lichkeit für sich hat.“122
Dabei ist aber immer zu beachten, dass auch in der biblischen Überliefe-
rung die Erzväter, Moses und die Israeliten niemals als „Vollnomaden“ dar-
gestellt werden, sondern immer mit Grundbesitz und Ackerbau verbunden
waren und Kontakte zu den Kleinstädten Palästinas hatten.123 Jakob wohnt
z. B. in Hebron und schickt Joseph zu seinen Brüdern, die sich in Sichem mit
den Kleinviehherden auf der Weide befinden. Die Auffassung von A. Alt,
dass Nomaden das apodiktische Recht aus der Wüste in das Kulturland ge-
bracht hätten, findet deshalb nicht nur in der archäologisch-historischen
Realität, sondern auch in den biblischen Berichten über die Erzväter keine
Stütze. Bei A. Alt besteht insofern eine falsche Vorstellung über das Noma-
dentum. Die Erzväter waren Esel- und Kleinviehnomaden mit teilweisem
Grundbesitz und Ackerbau. Und dies entsprach genau der Lebensweise der
ersten Siedler.

122
H. Donner, Geschichte, Bd. 1, 145.
123
N. P. Lemche, Vorgeschichte, 42.
III. Das sprachhistorische Problem
(Quadratschrift, Dialekt, Textgeschichte)
III. Das sprachhistorische Problem

Das sprachliche Gewand ist nach Auffassung aller Autoren ein konstitutives
Element des apodiktischen Rechts. Trotzdem beschäftigt sich kaum einer der
Autoren mit der Frage, in welcher Schrift und welcher Sprache Frühformen
des apodiktischen Rechts ausgesehen haben könnten. Alle gehen, wie selbst-
verständlich, vom masoretischen Endtext aus.
Dabei ist der heute vorliegende biblische Text in der sog. hebräischen
Quadratschrift abgefasst, die sich erst im 5. und 4. Jahrhundert in Israel, im
Zusammenhang mit der Übernahme der aramäischen Sprache, durchgesetzt
hat. Sie ist aus dem aramäischen Alphabet entstanden. Davor wurde die alt-
israelitische Schrift benutzt, die sich aus dem phönikischen Alphabet ent-
wickelt hat. Aber auch diese Schrift gibt es frühestens seit dem 10. oder 9.
Jahrhundert. Vor dieser Zeit und damit auch während der Entwicklung
Israels ab dem 12. Jahrhundert wurden andere Schriftformen aus dem alt-
orientalischen Kulturkreis verwendet.
Auch die hebräische Sprache hat sich erst ab dem 10. Jahrhundert ent-
wickelt. Davor und auch noch lange danach müssen die verschiedensten
kanaanäischen Dialekte gesprochen worden sein. Welche Sprache z. B. in
Jerusalem im 10. Jahrhundert gesprochen wurde, weiß niemand. Oder wie
das von E.Gerstenberger postulierte „Sippenethos“ der ersten Stämme formu-
liert wurde, kann ebenfalls niemand genau angeben.
Hinzu kommt noch die langwierige und verwickelte Textgeschichte der
biblischen Bücher. Es ist von zahlreichen „Textfamilien“ auszugehen, die
immer mehr divergieren, je weiter man in die Frühzeit zurückgeht.1 Es gibt
keine singulären „Urtexte“. Wir müssen mit einer Vielzahl von Alternativen
rechnen. Die Dominanz des masoretischen Textes ist hinfällig.2

Wie schwierig es ist, auf diesem Gebiet zu sicheren Erkenntnissen zu kom-


men, zeigt auch die frühere endlose Diskussion um die vermuteten Quellen J,

1
H. J. Fabry, Der Text und seine Geschichte, in: Erich Zenger u. a., Einleitung, 51.
2
Ebd., 52.
116 Zweiter Teil: Untersuchung einer eigenständigen Herkunft

E, P und Dt, die weitgehend mit der Streichung des Elohisten und dem „Ab-
schied vom Jahwisten“ beendet wurde. J. Wöhrle3 hat in seiner neuen Unter-
suchung von 2012 gezeigt, dass man heute eigentlich nur noch von „P“ und
„nicht P“ ausgehen könne, also von „priesterlichen“ und „nicht priesterli-
chen“ Texten, wobei diskutiert wird, ob es sich bei P um eine eigenständige
literarische Quelle oder nur um Redaktionsschichten handelt.
Insgesamt bleibt festzustellen, dass ein frühes, apodiktisches Recht sprach-
lich nicht sicher greifbar ist. Die von A. Alt gesehene „Wucht des Ausdrucks“
ist deshalb für die Frühzeit Israels sprachlich nicht zu belegen. Wir sind hier
auf den masoretischen Endtext angewiesen, der allerdings, wie A. Alt gezeigt
hat, diesen Sprachstil ganz prägnant und eindrucksvoll wiedergibt (vgl. II.1.).

3
J. Wöhrle, Fremdlinge im eigenen Land, 11.
IV. Das rechtshistorische Problem
IV. Das rechtshistorische Problem

1. Die komparative Methode

Die Rechtsgeschichte befindet sich bei der Beschreibung der Rechtsentwick-


lung in frühen Gesellschaften in einer besonderen Schwierigkeit. Vorstaatli-
che akephale Gesellschaften, die ohne eine institutionalisierte zentrale Gewalt
auskommen, hinterlassen in der Regel keine schriftlichen Quellen. „Akepha-
lie und Schriftlosigkeit gehören typischerweise zusammen.“ 1 Diese Gesellschaf-
ten sind deshalb gerade für die Frage nach ihrem Recht schwer zugänglich.
Auch archäologisch lässt sich wenig ermitteln, weil rein materielle Zeugnisse,
ohne Texte, keine Aufschlüsse über Recht und Rechtsanwendungen ergeben.
Ausgegrabene Dörfer enthalten keine Rechtsurkunden.
Man ist deshalb bei Gesellschaften aus früherer Zeit auf die Berichte anti-
ker Autoren angewiesen, die über ihre Nachbarvölker oder vergangene Kul-
turen berichten. Bei derartigen Texten ist aber zu beachten, dass unsere heu-
tigen Vorstellungen über eine „objektive“ Geschichtsschreibung nicht ohne
Weiteres auf antike Autoren übertragen werden können. Es sind immer die
Tendenzen zu ermitteln, aus denen heraus ihre Werke verfasst wurden. Hie-
raus können sich erhebliche Verschiebungen und Widersprüche ergeben. Ein
oft zitiertes Beispiel ist Flavius Josephus, in dessen Schriften deutlich unter-
schiedliche Motive und die Berücksichtigung der jeweiligen Leserschaft fest-
zustellen sind. König Herodes wird z. B. im Bellum noch neutral und mehr als
Opfer intriganter Berater dargestellt, während er in den Antiquitates2 als der
böse, hinterlistige Herrscher erscheint, dessen Unrechtstaten sich der Nach-
welt fest eingeprägt haben.
Derartige Tendenzen sind dann bei Berichten über fremde Völkerschaften
noch deutlicher zu erkennen. Wenn Herodot über die Völker des Ostens
schreibt, sind diese für ihn unzivilisierte Barbaren, ohne Freiheit, ohne De-
mokratie und ohne Kultur. Und wenn Tacitus über die Germanen berichtet,
werden diese umgekehrt von ihm idealisiert.3

1
Chr. Sigrist, Einführung, 7.
2
St. Mason, Flavius Josephus, 153.
3
U. Wesel, Frühformen, 17.
118 Zweiter Teil: Untersuchung einer eigenständigen Herkunft

Besonders prägnant ist das Auftreten von Tendenzen immer dann, wenn
Völker über ihre eigene Vergangenheit berichten. Und hierbei macht das
Alte Testament keine Ausnahme; im Gegenteil, die Tendenzen der alttesta-
mentlichen Autoren sind überdeutlich. Es geht um die besondere Beziehung
Israels zu JHWH, die im historischen Geschehen sichtbar werden soll, im
Guten wie im Schlechten. Deshalb wird das Schicksal des Volkes und seiner
Herrscher als eine Reaktion JHWH’s auf die Sünden der Könige und auf den
ständigen Abfall des Volkes dargestellt. Die Darstellung der Geschichte wird
dieser Erzählabsicht untergeordnet.
Es ist deshalb schwierig, aus antiken Texten zuverlässige historische Infor-
mationen zu erhalten. Der Rechtshistoriker darf diese Berichte nur sehr be-
dingt auswerten. Dies gilt auch für die biblischen Texte. Es ist äußerst
schwierig, aus den weitgehend fiktiven Berichten rechtshistorisch zuverlässi-
ges Material herauszuarbeiten. Es kommt hinzu, dass die Autoren oft auch
Verhältnisse ihrer eigenen Zeit in diejenige Zeit zurückverlegen, über die sie
berichten. Diese Schwierigkeiten führen zu dem schon erwähnten Umstand,
dass bis heute noch keine umfassende „hebräische Rechtsgeschichte“ exis-
tiert. Es gibt immer nur Einzeluntersuchungen zu speziellen Themen. Ande-
res ist auch nicht zu erwarten.
Der Rechtshistoriker ist deshalb bei der Untersuchung früher Gesellschaf-
ten auf weitere, zusätzliche Quellen angewiesen. Diese liefern ihm heute in
erster Linie die Ethnologie und verwandte Wissenschaften wie Soziologie
oder Anthropologie. Der Rechtshistoriker U. Wesel stellt fest: „Die Ethnologie
ist die wichtigste Grundlage für die Kenntnis vom frühen Recht. Das wichtigste
Material stammt aus der ethnologischen Forschung.“ 4
Dabei stellt sich allerdings ein grundsätzliches methodisches Problem. Das
von der Ethnologie gelieferte Material stammt aus Beobachtungen von sog.
„rezenten“ Gesellschaften, also von Völkern, die heute noch in ökologischen
Nischen existieren und sich in einem vermeintlichen Urzustand befinden. Es
gibt dabei viele bekannte ethnologische Untersuchungen. Ein grundlegendes
Werk ist die Arbeit von E. Evans-Prichard über die Nuer im Sudan, in der alle
erreichbaren soziologischen, rechtlichen und religiösen Daten dieses Volkes
sorgfältig zusammengetragen wurden.5 Das Gleiche gilt für viele andere Un-
tersuchungen. Es gibt eine Fülle von Material. Die Frage ist aber, ob man

4
U. Wesel, Frühformen, 15.
5
E. Evans-Pritchard, Das Stammessystem der Nuer, 123.
IV. Das rechtshistorische Problem 119

diese rezenten Gesellschaften mit anderen antiken Gesellschaften, z. B. der


vorstaatlichen Bevölkerung im frühen Israel des 12. und 11. Jahrhunderts,
vergleichen kann. Es geht um die „komparative Methode“.6
Diese Frage war lange Zeit umstritten. Der Vergleich eines zentralafrikani-
schen Stammes mit der Stammesgesellschaft in Israel erschien vielen als un-
zulässig. Es fehlte die räumliche und zeitliche Nähe. Außerdem wurde darauf
verwiesen, dass die heutigen rezenten Gesellschaften eine längere Vergan-
genheit und mehr Beeinflussungen durch umliegende Kulturen hinter sich
haben, z. B. durch Missionare, Händler oder europäische Kolonialverwaltun-
gen. Inzwischen besteht aber Einigkeit, dass derartige Vergleiche und Über-
tragungen möglich sind, wenn es sich um Kulturen mit gleicher gesellschaft-
licher Struktur handelt. Es muss sich um akephale, segmentäre Gesellschaf-
ten handeln. Dann ist die „komparative Methode“ zulässig.7
R. Neu gibt in seinem Beitrag „Die Bedeutung der Ethnologie für die alttes-
tamentliche Forschung“8 einen Überblick über die Einbindung der Ethnolo-
gie, insbesondere der Ethnosoziologie. Danach begann es mit H. Gunkel und
der Suche nach dem „Sitz im Leben“.9 Insbesondere M. Noth, G. E. Menden-
hall und N. K. Gottwald haben ethnologisches Material aufbereitet, ohne dies
allerdings immer deutlich zu machen.10 Oft wurden auch methodische Fehler
gemacht, indem nicht vergleichbare Verhältnisse herangezogen wurden. So
kann man das beduinische Nomadentum nicht ohne Weiteres auf die Pat-
riarchen- oder Landnahmezeit übertragen. Ebenso fehlt es an der Vergleich-
barkeit griechischer oder römischer Amphiktyonien (M. Noth)11 oder gar der
Eidgenossenschaft in der Schweiz (Chr. Schäfer-Lichtenberger)12 mit dem
Stämmeverband in Israel. Auch der „isländische Gesetzessprecher“ (A. Alt)13
kann nicht mit den „kleinen Richtern“ des Alten Testaments verglichen wer-
den, obwohl bei allen diesen Beispielen – gesuchte – Ähnlichkeiten vorhan-
den sind.
Wenn es sich dagegen um Gesellschaften im gleichen Entwicklungssta-
dium handelt, ist ein Vergleich möglich. Man kann segmentäre, akephale
Gesellschaften untereinander in Bezug setzen, auch wenn sie aus verschiede-

6
U. Wesel, Frühformen, 6.
7
Ebd., 44.
8
R. Neu, Die Bedeutung der Ethnologie, 11.
9
Ebd., 11.
10
Ebd., 20.
11
Ebd., 12.
12
Ebd., 24.
13
Ebd., 13.
120 Zweiter Teil: Untersuchung einer eigenständigen Herkunft

nen Kontinenten und Zeitaltern stammen. Ein Vergleich heutiger rezenter


Völker mit dem Stämmeverband im alten Israel ist also zulässig. Zwei Bei-
spiele sollen genannt werden:

1.1
Fr. Crüsemann bezieht sich in seinem Beitrag „Der Widerstand gegen das
Königtum“14 ausdrücklich auf segmentäre Gesellschaften, die akephal sind
und deshalb einen egalitären Charakter haben. Chr. Sigrist spricht von einem
„primären Egalitarismus“ derartiger Gesellschaften.15

1.2
F. W. Golka vergleicht in seiner Arbeit „Die Flecken des Leopoarden“ afrika-
nische Sprichwörter mit biblischer Weisheit.16 Er kann dabei nachweisen,
daß die Thesen von C. Westermann zur Entstehung der biblischen Weisheit
aus dem Sprichwort zutreffend sind.17 Benutzt wird sehr umfangreiches, von
dessen Vater D. Westermann gesammeltes ethnologisches Material. Die
Sprichwörter Israels und Afrikas stimmen in vielen Bereichen überein.18
Im folgenden Kapitel sollen die Rechtsverhältnisse in akephalen, segmentä-
ren Gesellschaften in ihren Grundzügen dargestellt werden, um feststellen zu
können, ob in derartigen Gesellschaften apodiktisches Recht entstehen kann.

2. Recht in segmentären Gesellschaften

Der Begriff „segmentäre Gesellschaft“ geht auf E. Durkheim (1858–1917)


zurück und hat sich in der Ethnologie und Soziologie zur Beschreibung frü-
her Gesellschaften allgemein durchgesetzt.19 Man unterscheidet drei Stufen
gesellschaftlicher Organisation:

Sammler und Jäger


Segmentäre, akephale Gesellschaften
Kephale (staatliche) Gesellschaften20

14
Ebd., 24; Fr. Crüsemann, Der Widerstand gegen das Königtum, 198.
15
Chr. Sigrist, Einleitung, 8.
16
F. W. Golka, Flecken.
17
Ebd., 49.
18
Ebd., 67.
19
Chr. Sigrist, Über das Fehlen und die Entstehung von Zentralinstanzen, 138.
20
U. Wesel, Frühformen, 36, 71, 189.
IV. Das rechtshistorische Problem 121

Die Übergänge sind fließend; es lassen sich aber strukturelle Unterschiede


feststellen, die diese Einteilung rechtfertigen. Hierauf soll aber nicht weiter
eingegangen werden, da hier nur die zweite Gruppe zum Vergleich herange-
zogen werden soll.
Der Soziologe Chr. Sigrist definiert die segmentäre Gesellschaft „als eine
akephale (d. h. politisch nicht durch eine Zentralinstanz organisierte) Gesell-
schaft, deren politische Organisation durch politisch gleichrangige und gleich-
artig unterteilte mehr- oder vielstufige Gruppen vermittelt ist.“ 21 Die segmen-
täre Struktur dieser Gesellschaften wird dabei durch das „Lineage-System“
erreicht. „Lineages“ sind Verwandtschaftsgruppen, die sich unilinear auf
einen Ahnen zurückführen, und zwar agnatisch, d. h. über die Vaterlinie. Sie
sind also patrilinear, was in segmentären Gesellschaften die Regel ist. Matri-
lineare Gruppen sind die Ausnahme.22
Wichtiges Element ist dabei die „Akephalie“, also das Fehlen einer Zentral-
gewalt. Die Lineages stehen in einer selbständigen Beziehung zueinander.
Erst in späteren kephalen, staatlichen Gesellschaften bildet sich ein zentrales
Herrschaftssystem heraus, das Autorität und Anordnungsbefugnis für sich
beansprucht. Die Selbständigkeit der Lineages geht hierdurch nach und nach
verloren. Natürlich gibt es auch in akephalen Gesellschaften Macht und Ein-
fluss. Zu einer Herrschaft wird Macht aber erst, wenn sie auf Dauer angelegt,
also institutionalisiert ist und autoritär über den Lineages steht.23
In akephalen Gesellschaften fehlen derartige Instanzen. Deshalb können
Konflikte innerhalb und zwischen den Lineages auch nur entweder durch
Vermittlung mit Schadensregulierung oder durch Selbsthilfe und Rache bei-
gelegt werden. Es gibt keine Gerichte oder ähnliche Institutionen. Recht und
Rechtsanwendung haben hier einen anderen Charakter und eine andere
Aufgabe als in späteren kephalen Gesellschaften. Es geht nicht um die
Durchsetzung einer abstrakten Gerechtigkeit, sondern um die Wiederher-
stellung des sozialen Friedens, der durch die Tat eines Einzelnen oder einer
Gruppe gestört wurde. Nicht die Verletzung eines Rechts, sondern die Ver-
letzung einer Person steht im Vordergrund. Es muss ein Ausgleich geschaf-
fen werden, um das Gleichgewicht innerhalb des sozialen Gefüges wieder-
herzustellen. Wenn Jakob in Gen 34 versucht, wegen der Vergewaltigung
seiner Tochter Dina eine gütliche Regelung mit Hamor herbeizuführen, so ist

21
Chr. Sigrist, Segmentäre Gesellschaft, 106.
22
J. Middleton / D. Tait, Die Lineage, 65.
23
U. Wesel, Frühformen, 25.
122 Zweiter Teil: Untersuchung einer eigenständigen Herkunft

dies ein typisches Beispiel für eine Konfliktlösung durch Verhandlung, ohne
Mitwirkung staatlicher Organe und unter Verzicht auf Strafverfolgung.
Wenn ein Ausgleich misslingt oder nicht eingehalten wird, kommt es zu
Fehde und Blutrache, wie bei den Söhnen Jakobs (vgl. auch S. 46).
Dieses System wird von dem Soziologen E. R. Karauscheck für den Stamm
der Nuer untersucht. „Die Nuer … lebten … als segmentäre Stammesgesell-
schaft unter den Bedingungen der Akephalie.“ 24 Problemlösungen erfolgten
nur durch Ausgleichsverhandlungen oder Fehde und Blutrache.
Der Ethnologe R. Schott und der Rechtshistoriker U. Wesel haben sich sehr
ausführlich mit der Entstehung und dem Charakter des Rechts in segmentä-
ren Gesellschaften beschäftigt.25 Trotz der großen Verschiedenheit der über
alle Kontinente verteilten Gesellschaften lassen sich einige Grundzüge er-
mitteln, die allen diesen Gesellschaften gemeinsam sind (nach R. Schott),
wobei Einigkeit besteht, dass es sich auch bei den frühisraelischen Siedlungen
um eine akephale Stammesgesellschaft handelte.26

a) Reziprozität

Dieser Gedanke, nämlich die Gegenseitigkeit der Rechtsbeziehungen, ist das


wichtigste Grundprinzip des Rechtslebens in frühen Gesellschaften.27 Rechts-
verhältnisse und Abhängigkeiten ergeben sich aus den faktischen Verhältnis-
sen innerhalb der Familie, der Lineage oder aus den Beziehungen zu anderen
Gruppen, z. B. beim Handel oder Warentausch. Es geht um die „symmetri-
schen Sozialbeziehungen, in denen der Grundsatz do-ut-des gilt.“ 28 Die sich
hieraus ergebenden Regeln und Verhaltensweisen entspringen daher nicht
abstrakten Normen oder allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen, sondern
der Notwendigkeit, ein geregeltes Zusammenleben zu ermöglichen. Sie ent-
stehen direkt aus den vorhandenen Beziehungen der Beteiligten und können
sich deshalb auch jederzeit ändern oder fortentwickeln, ohne Gesetzgeber
und ohne allgemeine, übergeordnete Grundsätze.

24
E. R. Karauscheck, Fehde und Blutrache, Kiel 2011, 189.
25
R. Schott, Anarchie und Tradition, 22; U. Wesel, Geschichte des Rechts; U. Wesel, Frühformen des
Rechts.
26
Vgl. Chr. Schäfer-Lichtenberger in WiBiLex, Das Bibellexikon, 2011.
27
R. Schott, Anarchie, 36; U. Wesel, Frühformen, 86, 232.
28
R. Schott, Anarchie, 37.
IV. Das rechtshistorische Problem 123

b) Konfliktbeilegung durch Schlichtung

Da die Reziprozität kein ausreichender Garant für die Einhaltung sozialer


Normen ist, müssen weitere Regulierungsmechanismen zur Verfügung ste-
hen, wenn Verstöße auftreten und Verletzungen anderer eintreten. Da keine
staatlichen Organe zur Regelung vorhanden sind, wäre Selbsthilfe oder Blut-
rache die unausweichliche Folge. Um dies zu vermeiden, hat sich in den ver-
schiedenen Gesellschaften ein breites Netz von Schlichtungsmöglichkeiten
herausgebildet.29 Eine Schlichtung können die Beteiligten, Täter und Opfer
bzw. deren Angehörige selbst vornehmen, was oft der Fall ist, oder es gibt
hierfür Einrichtungen und Vorgehensweisen, die die Einschaltung Dritter
vorsehen, die als Vermittler auftreten. Dies können Älteste, neutrale Perso-
nen aus Nachbarstämmen oder Priester oder weise Männer sein. Oft sind
religiöse Instanzen die einzige Möglichkeit zur Beilegung von Streitigkeiten.30
Wichtig ist dabei, dass die Schlichtung durch Dritte, die oft nach festen Ri-
tualen abläuft, keinen verpflichtenden Charakter hat. Es ist kein Urteils-
spruch, der von den Parteien angenommen werden muss. Es sind, von Aus-
nahmen abgesehen, nur Kompromissvorschläge, deren Durchsetzbarkeit
vom Ansehen des Schlichters oder dessen Verhandlungsgeschick abhängt. Es
besteht also nur ein sozialer, kein juristischer Druck.
Oberstes Ziel dieser Schlichtung ist die Wiederherstellung des sozialen
Friedens. Es geht nicht um Gerechtigkeit. Dieser Frieden wird meist durch
Ausgleichszahlungen erreicht, z. B. durch Hergabe einer bestimmten Menge
Viehs. Hierfür kann es feste Taxen geben, meistens wird die Höhe der Zah-
lung aber ausführlich ausgehandelt.
Da alle Beteiligten, auch das Opfer, in der Regel Interesse an einer friedli-
chen Regelung haben, gelingt es meistens, eine Schlichtung herbeizuführen.
„Der Grundgedanke des Schadensausgleichs zum Zwecke der Herstellung des
sozialen Gleichgewichts und Friedens beherrscht das Rechtsdenken vieler Völ-
ker in so hohem Maße, daß an einer ‚Sühne‘ oder ‚Strafe‘ als Reaktion auf eine
Unrechtshandlung … kaum ein Interesse besteht.“31 In einigen Gesellschaften
hat diese Schlichtung schon fast einen institutionalisierten Charakter; sie
bleibt aber, im Grundsatz, immer von der Zustimmung der Parteien abhän-
gig.

29
U. Wesel, Frühformen, 324.
30
R. Schott, Anarchie, 46.
31
Ebd., 44.
124 Zweiter Teil: Untersuchung einer eigenständigen Herkunft

c) Die „faktische Kraft des Normativen“

In schriftlosen segmentären Gesellschaften gibt es keine Gesetzbücher. Das,


was als verbindlich gelten soll, kann daher nur mündlich überliefert werden
oder sich aus der allgemeinen Überzeugung und Zustimmung heraus entwi-
ckeln. Schott spricht von der „faktischen Kraft des Normativen“. Das Handeln
des Menschen orientiere sich „an einem Datenhorizont, an dem ‚Normatives‘
als ebenso reales Faktum angesehen wird wie z. B. die tägliche Nahrung.“32
Man kann hier auch den Gedanken einer „Selbstevidenz“ von Normen ein-
führen.
Wichtig ist die „Tradition“, nämlich die Überlieferung von Geschichte und
Geschichten, von Erzählungen und Sprichwörtern. Hier können allgemeine
Rechtsvorstellungen übermittelt werden, aber nicht im Sinne von festen
Normen, sondern als geschichtliche Fakten, die Gemeingut dieser Gemein-
schaft sind. „Jedenfalls gehen Rechtsbewußtsein und Geschichtsbewußtsein aus
einer gemeinsamen Wurzel hervor, aus der Erinnerung an Vergangenes, wel-
ches für die Gegenwart normative Kraft beansprucht.“33
Hier wäre auch das von E. Gerstenberger34 als Ursprung des apodiktischen
Rechts angenommene „Sippenethos“ einzubringen. Eine selbstverständliche
Sippenordnung, die von Generation zu Generation weitervermittelt wird, ist
auch als ein solches Faktum anzusehen. Zu beachten ist allerdings, dass das
„Sippenethos“ nicht mit dem späteren ausformulierten apodiktischen Recht
gleichzusetzen ist. Es kann nur allgemeine und noch unbestimmte Grundlage
sein.

d) Relativität des Rechts

Ungleichheit von Recht und Rechtsmissbrauch sind allgemein bekannt. In


segmentären Gesellschaften kommt aber hinzu, dass Relativität, also eine
Abhängigkeit des Rechts von Person und Situation, systemimmanent ist. So
werden Vergehen innerhalb einer Gruppe oft nicht geahndet, weil keine
übergeordnete Instanz oder keine verletzte fremde Gruppe vorhanden ist.

32
R. Schott, Anarchie, 43.
33
Ebd., 44.
34
E. Gerstenberger, Wesen und Herkunft.
IV. Das rechtshistorische Problem 125

Bruder- oder Vatermord bleiben oft ungesühnt. Auch Kain (Gen 4,1–16)
wird Gottes Gerechtigkeit überliefert und entgeht menschlicher Strafe.35
Die Stellung innerhalb der Verwandtschaftsgruppe oder die Größe und
Macht dieser Gruppe sind ausschlaggebend für die Rechtsstellung und vor
allen Dingen für die Durchsetzung von Ansprüchen. Dies wird als gegeben
anerkannt und nicht an übergeordneten Gerechtigkeitsvorstellungen gemes-
sen. Oberstes Ziel ist die Friedenssicherung und die weitgehende Erhaltung
der sozialen Ordnung. Schadensersatzleistungen, Eigentumsverhältnisse oder
Nutzungsrechte aus Weideland richten sich nach der Stellung in der Gruppe.
Das Recht wechselt mit der Position der Betroffenen.
Die vorstehend dargestellten Grundzüge des Rechts in segmentären vor-
staatlichen Gesellschaften lassen erkennen, dass wir es mit einer völlig ande-
ren Auffassung von „Recht und Ordnung“ zu tun haben als in späteren staat-
lichen Verhältnissen. Das Recht ist noch horizontal, in direktem Gegenüber
der Beteiligten. Diese haben selbst für das soziale Gleichgewicht und ein
friedliches, geregeltes Miteinander zu sorgen. Es fehlt die spätere autoritäre
Setzung von Recht durch Zentralinstanzen, die in der Lage sind, eigene
Rechtsvorstellungen mit Zwang durchzusetzen. Wenn man Zwang und
Durchsetzungsmöglichkeiten von oben als konstitutiv für Recht ansehen will,
könnte man sogar sagen, dass es in akephalen Gesellschaften – noch – kein
Recht gibt. Das ist aber eine Definitionsfrage und sicher eine zu enge Be-
trachtungsweise. Auch in segmentären Gesellschaften gibt es Normen und
Rechtsvorstellungen, bei deren Verletzung eine Reaktion erfolgen muss, und
sei es nur durch Selbsthilfe. Diese Normvorstellungen haben aber, wie dar-
gelegt, einen anderen Charakter und andere Voraussetzungen. Es geht um
pragmatische Konfliktlösung und nicht um abstrakte Gerechtigkeit.

3. Ergebnis

Aus den dargestellten Grundzügen des Rechts in akephalen segmentären


Gesellschaften ergibt sich direkt die Frage, ob sich in derartigen Rechts-
strukturen apodiktisches Recht entwickeln kann. Dies muss aus rechtshisto-
rischer und ethnologischer Sicht verneint werden. Diese Rechtsform findet
sich in segmentären, akephalen Gesellschaften nicht. Aus der beigezogenen
Literatur ist kein Beispiel dieses Rechts bekannt, obwohl gerade auch die

35
U. Wesel, Frühformen, 33.
126 Zweiter Teil: Untersuchung einer eigenständigen Herkunft

Rechtsvorstellungen der rezenten Völker ausgiebig erforscht worden sind,


z. B. in den Arbeiten von E. E. Evans-Pritchard über die Nuer.36 Nirgends
erscheint eine Aufzählung von Rechtsvorschriften grundsätzlicher Art, in
besonderer sprachlicher Ausgestaltung oder gar Reihenbildung, die sich dem
Gedächtnis einprägen soll.
Dieses ist auch nicht zu erwarten. Die Rechtsvorstellungen in segmentären
Gesellschaften sprechen dagegen. Hier gelten die Grundsätze der Rezipro-
zität, der Konfliktschlichtung und der Relativität. Normen und Rechtsvor-
stellungen werden als gegeben, als faktisch vorliegend angenommen. Apo-
diktisches Recht mit einer dahinter stehenden Autorität wäre in diesen
Vorstellungen ein Fremdkörper. Auch der mit dem apodiktischen Recht in
Verbindung gebrachte Bundesgedanke, den man in der früheren Forschung
mit den hethitischen Vasallenverträgen verglichen hat,37 kann in segmentä-
ren Gesellschaften nicht aufkommen. Ein für alle Lineages gleichermaßen
verbindliches Recht gibt es nicht.
Dem Fehlen von apodiktischem Recht korrespondiert die Feststellung, dass
wir in segmentären Gesellschaften demgegenüber kasuistisches Recht finden.
Bei den Nuern gibt es folgende Aufstellung von Schadensersatzleistungen, die
sich mit entsprechenden Listen aus anderen Kulturen durchaus vergleichen
lässt:38

Bruch des Unterarms 2 Rinder


Bruch des Ellbogens 2 Rinder
Bruch des Oberarms 6 Rinder
Bruch der Kniescheibe 2 Rinder
Bruch des Oberschenkels 6 Rinder
Bruch des Schlüsselbeins 2 Rinder
Bruch des kleinen Fingers 1 Rind
Bruch des Daumens oder großen Zehs 1 Rind
Bruch der Schulter 6 Rinder
Riß der Sehne an Ferse oder Handgelenk 2 Rinder
Ausschlagen der Zähne eines Mädchens 2–4 Rinder
Verlust eines Auges 5 Rinder
Verlust beider Augen 10 Rinder

36
E. E. Evans-Pritchard, Das Stammessystem der Nuer, 123.
37
Vgl. G. Heinemann, Untersuchungen zum apodiktischen Recht.
38
U. Wesel, Frühformen, 260.
IV. Das rechtshistorische Problem 127

Hierbei handelt es sich um eine typische kasuistische Sammlung, die jeden


Fall getrennt regelt und ihn auch der Disposition und Verhandlung der Par-
teien überlässt.
Diese Feststellungen bestätigen aber nur den Befund über das Fehlen von
apodiktischem Recht in segmentären Gesellschaften. In diesen Gesellschaften
gibt es ein derart gestaltetes Recht nicht, so dass wir bei Anwendung der
„komparativen Methode“ zu dem Ergebnis kommen müssen, dass dies auch
für das frühe Israel gilt. Auch die Bewohner im Westjordanland des 12. und
11. Jahrhunderts lebten in Form einer akephalen segmentären Gesellschaft
zusammen. Hiervon geht man heute allgemein aus.39 Und da Vergleiche und
Übertragungen methodisch zulässig und auch in der theologischen For-
schung selbstverständlich sind, wie die vorgetragenen Beispiele von Fr. Crü-
semann und F. W. Golka demonstrieren, bleibt aus rechtshistorischer und
ethnologischer Sicht nur die Folgerung, dass das biblische apodiktische
Recht, so wie es erstmalig von A. Alt beschrieben wurde, nicht in der Früh-
zeit Israels beheimatet gewesen sein kann. Es muss einen anderen Ursprung
haben oder später entstanden sein.
Nicht zu verwechseln mit dem apodiktischen Recht sind Tabu-Bräuche, die
auch im alten Israel zu finden sind.40 Diese gehören aber in den magisch-
kultischen Bereich und haben keinen Rechtscharakter, auch wenn sie nach R.
Albertz häufig Vorläufer von späteren Rechtsvorschriften gewesen sein
könnten, z. B. der wöchentliche Ruhetag für den Sabbat (Ex 23,12).

39
Chr. Sigrist, Einführung, 7.
40
R. Albertz, Religionsgeschichte, Bd. 1, 155.
V. Zusammenfassung und Ergebnis
(Späte Entstehung des apodiktischen Rechts)
V. Zusammenfassung und Ergebnis

Die vorangegangenen Überlegungen haben deutlich gemacht, dass wir ein


inhaltlich und sprachlich präzise ausgestaltetes apodiktisches Recht nicht in
einer Frühzeit Israels erwarten können. Insbesondere die Epochen vor der
Staatenbildung, also das 12. und 11. Jahrhundert, scheiden hierfür aus. Aus
sprachlicher Sicht kommen nicht einmal das 10. oder 9. Jahrhundert in Be-
tracht, weil wir mit einer eigenständigen hebräischen bzw. altisraelitischen
Sprache erst ab dem 8. Jahrhundert rechnen können. Es sind lediglich un-
systematisch gesammelte, allgemeine Grundsätze in unbekannten Dialekt-
formen denkbar.

1. Historische Gründe

Es fehlt an eigenständigen Trägerkreisen, die für eine Entwicklung des apo-


diktischen Rechts in Betracht kommen. Die Siedler, die im 12. und 11. Jahr-
hundert in den brach liegenden Gebieten Israels und Judas Dörfer gründe-
ten, waren keine Einwanderer mit einer möglicherweise abweichenden
Rechtskultur, sondern Einwohner des Kulturlandes Kanaan. Sie kamen aus
den untergegangenen Stadtstaaten und deren Umkreis und suchten neuen
Lebensraum. Für sie war es ein wirtschaftlicher Neubeginn, aber keine totale
Loslösung von ihrer bisherigen Umwelt. Sie standen in kultureller Kontinui-
tät zu ihrem Herkunftsbereich, nämlich den kanaanäischen Stadtgebieten.
Ihnen war die allgemeine vorderorientalische Rechtstradition bekannt, die
kasuistisch, also fallbezogen und pragmatisch, ausgerichtet war. Apodikti-
sches Recht ist demgegenüber im alten Orient unbekannt und nirgends be-
zeugt.1 Wir müssen deshalb davon ausgehen, dass die Gründer der späteren
israelitischen Stammesgemeinschaften noch keine Rechtsformen kannten,

1
Das bei E. Gerstenberger zusammengestellte Material aus dem alten Orient ist kein apodiktisches
Recht im eigentlichen Sinne, sondern überwiegend Spruchweisheit (E. Gerstenberger, Wesen und
Herkunft, 131).
130 Zweiter Teil: Untersuchung einer eigenständigen Herkunft

die man als apodiktisch, also mit imperativem Grundsatzcharakter, bezeich-


nen kann. Bei den ersten Siedlern können wir noch keine Dekaloge erwarten.
Diese eindeutigen und überzeugenden historischen und archäologischen
Umstände sind bei der Untersuchung des apodiktischen Rechts und der
Rechtsentwicklung in Israel erstaunlicherweise noch nicht ausreichend be-
rücksichtigt worden. Dies dürfte daran liegen, dass sich diese Aspekte erst in
den letzten Jahrzehnten in ausreichender Eindeutigkeit ergeben haben und
deshalb noch nicht überall einbezogen werden konnten. Trotzdem liegen sie
schon lange genug vor, um ein entsprechendes Umdenken vornehmen zu
können. Es kommt aber wohl hinzu, dass vielen dieses Ergebnis als zu radikal
erscheint. Es lässt kaum noch Platz für die biblischen Berichte über den Exo-
dus und vor allem über die Landnahme bis hin zur Staatenbildung in Israel
und Juda, ganz abgesehen davon, dass auch die Existenz eines davidisch-
salomonischen Großreichs schon seit langem zur Diskussion steht.2 Wer die
bis heute andauernden, endlosen Debatten über die Zerstörungsschichten
von Jericho3 oder über die angeblichen salomonischen Stadttore4 verfolgt,
weiß, wie schwer es offenbar vielen Forschern fällt, lieb gewordene Vorstel-
lungen aufzugeben. Wenn Jericho um 1200 v. Chr. bereits zerstört war und
deshalb gar nicht mehr erobert werden konnte, entfällt ein wichtiger ar-
chäologischer Beweis für eine gewaltsame Landnahme.
Ein Überblick über die entsprechende Literatur ergibt allerdings, dass die
ganz überwiegende Mehrheit der Theologen und Historiker und insbeson-
dere der Archäologen nicht mehr von einer Okkupation des Landes durch
Nicht-Kanaanäer, sondern von einer eigenen Entwicklung im Inland aus-
geht. Man kann insofern durchaus von einer herrschenden Meinung spre-
chen. Trotzdem ist die hier dargestellte komplette Herkunft der ersten Israe-
liten aus Kanaan und deren kulturelle Anbindung an die untergegangenen,
teilweise aber auch noch existierenden Stadtstaaten noch nicht Allgemeingut
geworden.

2
Vgl. insgesamt I. Finkelstein, David und Salomo, 2006.
3
E. Villeneuve, Jericho, WUB 3/2008, 11.
4
I. Finkelstein, Was besagen „high“ und „low chronology“, WUB 3/2008, 23.
V. Zusammenfassung und Ergebnis 131

2. Sprachliche Gründe

Die sprachlichen Probleme sind zwar kein zwingendes Indiz gegen ein frühes
apodiktisches Recht, führen aber dazu, dass wir eventuelle Vorformen
sprachlich nicht fassen könnten. Wir können den masoretischen Endtext
oder auch frühere Qumrantexte sprachlich nicht zurückprojezieren.
Es ist zusätzlich zu bedenken, dass auch die jeweilige Grammatik eine an-
dere gewesen sein kann. Gab es in frühen kanaanäischen Dialekten bereits
die Möglichkeit, wie im späteren Hebräisch, einzelne Verbote mit nur zwei
Worten, nämlich ‫ ֹלא‬mit Imperfekt, wiederzugeben? Das alles muss offenblei-
ben und führt dazu, dass wir das apodiktische Recht in seiner Sprachform
nur anhand des biblischen Endtextes beurteilen können und nicht versuchen
dürfen, postulierte Vorformen irgendwie sprachlich formulieren zu wollen.

3. Rechtsgeschichtliche Gründe

Die Gründe, die sich aus der Rechtsgeschichte gegen die Annahme eines
frühen apodiktischen Rechts ergeben, sind m. E. besonders gravierend.
Trotzdem muss man auch hier feststellen, dass sich bisher noch kein Autor
mit diesem zugegebenermaßen sehr speziellen Thema befasst hat. Es besteht
zwar allgemeine Einigkeit, dass es sich bei der israelitischen Stammesgemein-
schaft des 12. und 11. Jahrhunderts um eine akephale, segmentäre Gesell-
schaft gehandelt hat. Ob aber in derartigen Gesellschaftsordnungen rechtsge-
schichtlich apodiktisches Recht zu erwarten ist, wird nicht diskutiert.
Dabei sind die Ergebnisse der Rechtsgeschichte insoweit eindeutig. Bei den
sogenannten „rezenten Gesellschaften“, also heute noch existierenden „Na-
turvölkern“, gibt es kein apodiktisches Recht. Natürlich haben auch diese
Völker Vorstellungen darüber, was falsch und richtig, gut und böse, gerecht
und ungerecht ist. Diese Vorstellungen münden aber nicht in ausformulierte
Grundsatzreden, die eine Grundlage für das Leben in der jeweiligen Gemein-
schaft bilden sollen. Es gibt, wie überall, kasuistisches Recht, das bestimmte
Einzelfälle regelt, aber keine allgemeinen Grundaussagen apodiktischer Art.
So enthalten z. B. die von F. W. Golka untersuchten afrikanischen Sprich-
wörter keine apodiktisch formulierten Rechtssätze.5 Einen afrikanischen
Dekalog gibt es nicht.

5
F. W. Golka, Flecken, 89.
132 Zweiter Teil: Untersuchung einer eigenständigen Herkunft

Diese Ergebnisse lassen sich dann rechtsgeschichtlich mit der komparati-


ven Methode auf antike Gesellschaften übertragen, sofern sie ebenfalls
akephal und segmentär strukturiert sind. Dies war für das frühere Israel des
12. und 11. Jahrhunderts der Fall, so dass der Rechtshistoriker für diese Zeit
und für diese Gesellschaft kein apodiktisches Recht nachweisen kann. Die
Rechtsauffassungen dieser Gemeinschaften lassen ein derartiges Recht nicht
zu.

4. Ergebnis

Als Gesamtergebnis lässt sich festhalten, dass das apodiktische Recht nicht
am Anfang der Rechtsentwicklung in Israel gestanden hat und auch nicht im
Gegensatz zum kanaanäischen Fallrecht gesehen werden kann. Wir haben es
vielmehr mit einer späten Entwicklung zu tun, die innerhalb der sich bilden-
den Staatlichkeit und innerhalb der allgemeinen Rechtsordnung abgelaufen
ist, und dies auch nicht als gegensätzliche Entwicklung, sondern durch ein
Verschmelzen verschiedenster Rechtsgruppen zu einer Gesamtrechtsord-
nung. Das apodiktische Recht, so wie es in den biblischen Texten überliefert
ist, hat dabei die Rolle einer Grundsatznorm, einer „Metanorm“ oder Verfas-
sung übernommen, die das übrige Recht, das positive Recht, in einen ver-
bindlichen, übergeordneten Rahmen stellt. Es war die Klammer, die das um-
fangreiche rechtliche Material in einen großen Zusammenhang bringen
sollte, sowohl religiös als auch rechtlich. Es war eine bewusste, groß angelegte
Komposition, bei der es dann auch nicht wichtig ist, welche Vorformen
eventuell bereits vorgelegen haben oder welche Teile neu konzipiert wurden.
Entscheidend ist die Endfassung. Wenn früheres Material eine abweichende
Bedeutung gehabt haben sollte, wird diese durch die neue Regelung „aufge-
hoben“.
Diese besondere Relation wird auch bestätigt durch das Größenverhältnis
des apodiktischen Rechts zum übrigen kasuistischen Recht. Letzteres macht
den weitaus größten Teil der Rechtsbestimmungen aus. Dieses Verhältnis ist
durchaus vergleichbar mit der Aufteilung von Verfassungen und dem übri-
gen positiven Recht in modernen Staaten. Wir haben insofern eine deutliche
Parallele zum heutigen Verfassungsstaat. Dass dies nicht die einzige Parallele
ist, sondern auch für die inhaltliche Ausgestaltung und die Genese der ein-
zelnen Rechte gilt, soll im dritten Teil dieser Arbeit dargelegt werden.
V. Zusammenfassung und Ergebnis 133

Wir können weiter feststellen, dass eine Einordnung des apodiktischen


Rechts in ein altes „Sippenethos“ (E. Gerstenberger) sehr problematisch ist.
Wenn damit die Vorstellung verbunden wird, dass es sich dabei um einen
mehr oder weniger fest umrissenen Korpus von Grundsätzen und Grund-
regeln handelt, die aus der unverbrüchlichen Sippenordnung entspringen
und vom „pater familias“ bewahrt und an seine Söhne weitergegeben werden,
so sind das romantisierende und wissenschaftlich nicht belegbare Hypothe-
sen. In akephalen, segmentären Gesellschaften finden wir ein derartiges
Recht nicht. Vor allen Dingen steht hinter dieser Vorstellung der Gedanke,
dass man das apodiktische Recht als eine Gattung i. S. der Form- oder Gat-
tunsgeschichte identifizieren und durch die Zeitläufe hindurch bis zu einem
mündlichen oder schriftlichen Ursprung zurückverfolgen könne. Dies wäre
aber, juristisch gesprochen, ein „untauglicher Versuch“, nämlich ein Bemü-
hen mit „untauglichen Mitteln am untauglichen Objekt“. Das apodiktische
Recht, so wie es heute im biblischen Text überliefert ist, hat eine eigene
Funktion innerhalb der verschiedenen Rechtskorpora, die sich erst aus der
aktuellen Zusammenstellung der verschiedenen Rechte ergibt. Hier erhält es,
insbesondere im Dekalog, seine besondere Stellung und Bedeutung. Vorher
können wir nur mit einzelnen Prohibitiven oder entsprechenden kleineren
Reihen rechnen. Dies wird für den Dekalog allgemein angenommen.6 Und
diese Vorformen haben die verschiedensten Herkünfte und Überlieferungen,
so dass man sie nicht schematisch zu einer Gattung zusammenführen kann.
Außerdem fehlt es an gemeinsamen Trägerkreisen. Ein „Sitz im Leben“ im
Kult oder in einer Verlesung auf einem fiktiven Bundeserneuerungsfest
scheitert schon an den fehlenden historischen Voraussetzungen.
Vereinzelte Prohibitive oder vergleichbare Formulierungen bilden noch
kein apodiktisches Recht, so wie es in der Komposition der biblischen Texte
erscheint. Dies kann man sehr gut an den von E. Gerstenberger zusammenge-
stellten zahlreichen Beispielen aus dem altorientalischen Raum erkennen.7 Es
handelt sich hierbei um Mahnworte und Spruchweisheiten, die in unter-
schiedlich präziser Form apodiktisch formuliert sind. Diese oft nur zufällige
apodiktische Formulierung macht einen Spruch aber noch nicht zu apodikti-
schem Recht. Hinzukommen muss die inhaltliche grundsätzliche Substanz
der Aussage und vor allen Dingen die Stellung und Funktion innerhalb eines

6
W. H. Schmidt, Die zehn Gebote, 1993, 25.
7
E. Gerstenberger, Wesen, 130.
134 Zweiter Teil: Untersuchung einer eigenständigen Herkunft

Rechtskorpus. Es muss sich um eine präzise Anordnung oder Grundsatz-


erklärung handeln, die rechtlich relevant ist. Sie muss justiziabel sein oder
dieses zumindest in Anspruch nehmen oder sie muss i. S. einer Überordnung
Grundregeln für die Rechtsordnung geben, was bei Verfassungen der Fall ist.
Dies alles fehlt bei dem von E. Gerstenberger vorgestellten Material.
Das Gleiche müssen wir auch bei vermuteten, aber nicht genauer zu ermit-
telnden Vorformen des apodiktischen Rechts der Bibel annehmen. Erst die
besondere Stellung zum übrigen Recht macht apodiktische Redeweise zu
apodiktischem Recht. Und da die genaue Formulierung dieser eventuellen
Vorformen und deren Stellung zum übrigen Recht sich nicht ausreichend
ermitteln lässt, können und müssen wir uns auf die Endfassung der bibli-
schen Texte beschränken und die Rechtsformen so untersuchen, wie sie dort
redigiert worden sind. Und wenn man die biblischen Texte insoweit als eine
Rechtsordnung begreift, ist ein solches Vorgehen nicht nur legitim, sondern
auch das einzig zulässige. Juristisch gilt so oder so immer nur die letzte Fas-
sung.
Dies kann man an einem Beispiel aus heutiger Zeit sehr gut deutlich ma-
chen. Der Satz „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ ist in eindeutig
apodiktischer Redeweise abgefasst. Trotzdem ist er für sich allein noch kein
apodiktisches Recht, weil der rechtliche Zusammenhang fehlt. Er kann in
theologischen oder philosophischen Erörterungen diskutiert und postuliert
werden, bleibt aber immer nur ein allgemeiner Grundsatz, den man im Na-
turrecht oder Gottesrecht verorten kann. Er hat dadurch jedoch noch keine
rechtliche Funktion. Dies erfolgt erst, wenn er z. B. als Artikel 1 in das deut-
sche Grundgesetz, also in eine Verfassung, aufgenommen wird. Hier kann er
eine rechtliche Wirkung entfalten, die er vorher noch nicht hatte, nämlich
eine Kontrollfunktion über das übrige Rechtssystem im Rahmen einer verfas-
sungsmäßigen Ordnung. Erst jetzt wird der allgemeine Ausspruch über die
Würde des Menschen zu konkretem apodiktischem Recht.
Dritter Teil:
Das apodiktische Recht als Verfassung
Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung

„Die zehn Gebote sind deswegen so kurz und logisch, weil


sie ohne Mitwirkung von Juristen zustande gekommen sind.“
(Charles de Gaulle)1

Wenn Fr. Crüsemann das apodiktische Recht als „Meta-Norm und kritische
Instanz“ bezeichnet und einen Vergleich mit heutigen Grundrechtsbestim-
mungen und Menschenrechtskatalogen vornimmt2 oder wenn J. Magonet,
aus ganz anderer Perspektive, den Dekalog „als eine Art Grundgesetz des
Bundes“ betrachtet3, dann bringen beide Autoren letztlich den Begriff der
Verfassung ins Spiel. Hieraus ergibt sich aber die weitere Frage, ob das apo-
diktische Recht überhaupt in der Lage ist, diesem hohen Anspruch aus juris-
tischer Sicht zu genügen.
„Verfassung“ ist ein Begriff der Neuzeit. Man versteht darunter im formel-
len Sinne die „mit erhöhter Geltungskraft und erschwerter Abänderbarkeit
ausgestattete Verfassungsurkunde“.4 Sie enthält die normierten Grundrechte
und das Staatsorganisationsrecht. Es ist dies die „geschriebene“ Verfassung.
Im materiellen Sinne ist der Begriff weiter zu fassen. Hier meint „Verfassung“
die „Gesamtheit der grundlegenden Regeln“ über die Leitung des Staates, über
die Strukturen der Gemeinschaftsordnung (Föderalismus, Gewaltenteilung)
und über die Stellung der Bürger im Staat, also insbesondere die anerkannten
Grundrechte.5 Großbritannien hat z. B. keine geschriebene Verfassung, son-
dern nur einzelne Verfassungsgesetze, die Magna Charta Libertatum, die
Habeas-Corpus-Akte und die Bill of Rights. Zur Verfassung im materiellen
Sinne gehören, soweit vorhanden, die geschriebene Verfassungsurkunde und
alle anderen verfassungsrechtlich relevanten Regeln, nämlich weitere Geset-

1
Alpmann Brockhaus, Fachlexikon Recht, 2004, Vorwort; V. Meid, Lachen ohne Bewährung, Mün-
chen 1980, 95.
2
Fr. Crüsemann, Tora, 227.
3
J. Magonet, Die subversive Kraft der Bibel, 91.
4
Alpmann Brockhaus, Recht, 1379.
5
Th. Maunz / R. Zippelius, Deutsches Staatsrecht, 31.
136 Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung

ze, Gewohnheitsrecht, die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts usw. Man


spricht hier auch von der „ungeschriebenen“ Verfassung.6
Wichtiger und nach heutiger rechtsstaatlicher Auffassung entscheidender
Teil jeder Verfassung sind die Grund- und Menschenrechte7, die die grund-
legenden Rechte des Einzelnen im Staat regeln. Moderne Verfassungen ent-
halten stets eine Zusammenstellung und Garantie dieser Rechte. Dabei ist die
Geschichte der Menschenrechtsidee älter als die Verfassungsgeschichte.
Während man den Beginn des eigentlichen Verfassungsdenkens und das
Entstehen schriftlicher Verfassungen allgemein bei den Unabhängigkeitsbe-
strebungen in den nordamerikanischen Kolonien im 18. Jahrhundert und der
französischen Revolution von 1789 ansetzt, führt man den Menschenrechts-
diskurs über die Aufklärung und das christliche Mittelalter zurück bis in die
Antike. Das Nachdenken über Menschenrechte und ein Naturrecht begann
bereits in Athen. Im Folgenden soll deshalb zunächst ein kurzer Überblick
über die Entwicklung der Menschenrechte gegeben werden, um dann den
Verfassungsbegriff näher zu erläutern und diesen mit der Struktur des apo-
diktischen Rechts zu vergleichen.

6
Th. Maunz / R. Zippelius, Deutsches Staatsrecht, 30.
7
Grundrechte sind in einer Verfassung normierte Menschenrechte.
I. Die Entwicklung der Menschenrechtsidee
I. Die Entwicklung der Menschenrechtsidee

Die heutigen Darstellungen der Menschenrechte beginnen im historischen


Teil allgemein mit der Antike, und zwar in der griechischen Welt.1 Sie legen
die Keimzelle der Menschenrechtsidee nach Athen und in die anderen grie-
chischen Metropolen. Die Sophisten, Plato, Aristoteles und vor allem die Stoa
setzen die ersten Grundlagen für ein dem weltlichen, positiven Recht vorge-
lagertes Naturrecht, aus dem sich mögliche Grundrechte des Menschen oder
zumindest des Bürgers einer Polis ergeben können.
Die Geschichte der Menschenrechte lässt man nicht in Jerusalem oder im
Babylon der Exilszeit beginnen, obwohl das apodiktische Recht und insbe-
sondere der Pflichtenkatalog des Dekalogs hierzu hätte Anlass geben müssen.
Erst im christlichen Mittelalter wird bei der Diskussion über ein – christli-
ches – Naturrecht auf das Alte Testament und einzelne Bestimmungen des
Dekalogs Bezug genommen.2 Erst hier wurden in der Literatur einzelne
Aspekte des alttestamentlichen Freiheitsbegriffs und eines biblischen Men-
schenbildes erörtert. Aber auch im Mittelalter wurden der Dekalog oder
andere Bestimmungen des Alten Testamentes nicht als Formulierung von
Menschenrechten oder eines Naturrechts verstanden, sondern nur als Aus-
druck allgemeiner Grundsätze. Der Dekalog wurde nicht als unmittelbarer
Vorläufer der Menschenrechte und auch nicht als selbständiges jüdisches
Gedankengut betrachtet. Die rein christologische Deutung des Alten Testa-
ments und das beharrliche Missverstehen der jüdischen Tora führten dazu,
den Dekalog nicht als einen eigenständigen, abgeschlossenen Rechtskorpus
zu betrachten.

1.
Bei der Erörterung der Menschenrechte in der Antike ist zu beachten, dass
zwar bei Platon und Aristoteles die Grundlagen für ein allgemeines Natur-
recht gelegt wurden. „Platons Ideenlehre als Lehre von den apriorischen We-
sensgehalten der Welt bildet das theoretische Rückgrat jeder ideellen Natur-

1
Vgl. das Standardwerk v. G. Oestreich, Geschichte der Menschenrechte; A. Neschke-Hentschke,
Tradition und Identität Europas.
2
Vgl. die umfangreiche Zusammenstellung von R. Weigand, Naturrechtslehre.
138 Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung

rechtslehre.“3 Von Freiheit und Gleichheit aller Menschen waren beide aber
weit entfernt. Platon geht gerade von der Ungleichheit der Menschen aus
und entwickelt hieraus seine Staatstheorien. Aristoteles ist zwar etwas gemä-
ßigter in seinen Auffassungen, hält aber z. B. die Sklavenhaltung nicht nur
für nützlich, sondern auch für gerechtfertigt.4 Erst die Stoa entwickelt später
das, was unseren heutigen Menschenrechtsvorstellungen nahe kommt.
Die Philosophenschule der Stoa geht zurück auf Zenon (300 v. Chr.) und
wurde in Rom von Lälius, Scipio und vor allem Cicero weitergeführt. Sie
mündete in die „jüngere Stoa“, vertreten durch Seneca, Epiktet und Marc
Aurel.5 Durch diese römischen Vertreter konnte sich stoisches Gedankengut
mit römischem Rechtsdenken verbinden. Allerdings wird die Stoa meist
nicht über ihre verschiedenen Vertreter, sondern als Sammelbegriff zitiert,
was auf die unklare Quellenlage zurückgeht.6
In der Stoa wird die Gleichheit aller Menschen, auch der Barbaren und
Sklaven, zum Prinzip erhoben. „Die Stoa entwickelte in ihrer Anthropologie
und Ethik die Lehre von der Gleichheit der Menschen. Sie wurde begründet
durch die zentrale Vorstellung, daß neben dem realen Gemeinwesen das
Reich der Vernunft existiert. In diesem steht jeder Mensch gleichberechtigt
da als Teilhaber an der Weltvernunft, dem logos, weil alle Menschen mit
Vernunft begabt sind.“7
Trotz der theoretischen Gleichheit aller Menschen hatte aber auch die Stoa
kaum praktische Konsequenzen. Allgemeine „Menschenrechte“ kannte die
Antike nicht.8 Athen und Rom blieben Sklavenhaltergesellschaften. Nicht nur
Platon und Aristoteles, auch die „Stoiker“ Cicero und Seneca beschäftigten
rechtlose Sklaven auf ihren umfangreichen Ländereien. Seneca war sogar
einer der reichsten Männer seiner Zeit und hätte, auch als Erzieher von Nero,
gesellschaftspolitisch sicher viel bewegen können. Aber Theorie und Praxis
liegen immer weit auseinander. Die gleiche Diskrepanz bestand auch für die
fehlende Gleichberechtigung der Frauen.

3
H. Welzel, Naturrecht, 22.
4
G. Oestreich, Geschichte der Menschenrechte, 16.
5
H. Welzel, Naturrecht, 38.
6
Lexikon der Alten Welt, Zürich u. Stuttgart 1965, 2930.
7
G. Oestreich, Geschichte, 16.
8
Ebd., 18.
I. Die Entwicklung der Menschenrechtsidee 139

2.
Das gleiche Problem müssen wir auch für das Frühchristentum und das
christliche Mittelalter feststellen. Dabei ist allerdings zu beachten, dass die
Begriffe „Menschenrechte“ und „Naturrecht“ nicht identisch sind. Das Na-
turrecht ist der theoretische Nährboden, aus dem die individuellen Men-
schenrechte erwachsen. Von letzteren spricht man erst, wenn sich allgemeine
naturrechtliche Vorstellungen zu präzisen Forderungen des Individuums an
seine Umwelt auf Respektierung gewisser Grundrechte konkretisieren.
„Menschenrechtliche Forderungen unterscheiden sich vom Gedanken eines
rein ethisch postulierten Naturrechts dadurch, daß sie nach einer Verrechtli-
chung drängen und die staatliche Ordnung bewußt prägen.“9 Aus diesem
Grunde waren im Mittelalter, wie in der Antike, durchaus naturrechtliche
Überlegungen vorhanden, ohne aber schon in konkret formulierte und vor
allem von der Rechtsordnung akzeptierte Menschenrechte zu münden. Von
einem Naturrecht bis hin zu fassbaren Menschenrechten ist es ein weiter
Weg.
Wir können deshalb auch im Frühchristentum und im christlichen Mittel-
alter nicht von Menschenrechten im heutigen Sinne sprechen. Eine weitere
Ursache kommt hinzu. Die drei klassischen Menschenrechte auf Leben, Frei-
heit und Eigentum10 sind Freiheitsrechte. Sie richten sich primär gegen den
Staat.11 Dieser hat die genannten drei Grundrechte seiner Bürger zu respek-
tieren und darf sie in ihrem Wesensgehalt nicht antasten. Sie sind Abwehr-
rechte gegen einen übermächtigen Staat. Die Menschenrechte setzen deshalb
einen „Staat“ voraus, der aber erst in der Moderne entstanden ist.12 Im Mit-
telalter gab es diesen Begriff noch nicht. Es gab vielmehr die feudalistisch
aufgebaute „Herrschaft“ mit dem „dominus terrae“ an der Spitze und den
Landständen, dem Adel.13 Der Gedanke von Forderungen gegen einen ano-
nymen Staat konnte damals noch nicht aufkommen.
Was jedoch weiterlaufen konnte, war die in der Antike begonnene Diskus-
sion um ein – nunmehr christliches – Naturrecht. Stärkster Impuls war dabei
die Vorstellung von der Gleichheit aller Menschen vor Gott, die sich aus der
Gottesebenbildlichkeit des Menschen, der Imago Dei, ergab (Gen 1,26) sowie

9
L. Kühnhardt, Universalität, 47.
10
Zur „Trias der Menschenrechte“ vgl. die näheren Ausführungen in Kap. I. 4., S. 142.
11
Auf das Problem der sog. Drittwirkung der Grundrechte soll später eingegangen werden.
12
U. Wesel, Geschichte, 415.
13
Ebd., 299; D. Willoweit, Deutsches Staatsrecht, 5.
140 Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung

aus der Überzeugung von der Gemeinschaft aller Gläubigen in Christus, die
alle Grenzen aufhob. So konnte Paulus den Galatern schreiben:

„Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann
und Frau; denn ihr alle seid ‚einer‘ in Christus Jesus.“14
(Gal 3,28)

Hinzu kam das allumfassende Gebot der Nächstenliebe, die forderte, auch
den Sklaven als „geliebten Bruder“ anzuerkennen (Phil 16).
Aber auch dieses hatte langfristig kaum praktische Konsequenzen. Die
Sklavenhaltung wurde in der altkirchlichen Literatur zwar für ungerecht
erklärt15, es blieb aber weitgehend bei einem Appell an die Mitbürger. Von
einer Ausbildung von Menschenrechten, die jedem Individuum unmittelbar
zustehen, konnte keine Rede sein. Das Naturrecht als theoretische Maxime
wurde zwar bei Ambrosius, Augustin, Ulpian und Thomas von Aquin weiter
ausgebaut, führte aber nur im Grundsatz zur Gleichheit und Freiheit aller
Menschen. Sklavenhaltung, Leibeigenschaft und Ketzerverfolgung blieben
bestehen. Augustinus war der Auffassung, dass man unter Berufung auf das
„compelle intrare“ aus Lk 14,23 die Menschen auch zu ihrem Seelenheil
zwingen dürfe16, und Thomas von Aquin hielt ebenfalls die Ketzerverfolgung
und sogar die Sklaverei für gerechtfertigt17, alles eklatante Verstöße gegen die
Glaubensfreiheit und die Gleichheit aller Menschen. Diese Auffassungen sind
natürlich auch aus ihrer Zeit heraus zu verstehen, führen aber dazu, dass man
die Bedeutung der Kirchenväter für die Entwicklung der Menschenrechte –
trotz aller Verdienste um das Naturrecht – nicht überbewerten darf.
Wir rühren hierbei an ein Grundproblem aller monotheistischen Religio-
nen. Im Zweifel ist letztlich die „Wahrheitsfrage“ und nicht ein die eigene
Religion relativierendes Menschenrecht entscheidend. Nur die Wahrheit darf
freie Rede für sich beanspruchen. Die Lüge muss schweigen. Und wer vom
rechten Glauben abweicht, muss zu seinem eigenen Nutzen notfalls mit Ge-
walt auf den richtigen Weg zurückgeführt werden. Und wer trotzdem an
seinem Irrglauben festhält, ist dumm oder böswillig und kann sich nicht auf
eine Glaubensfreiheit berufen. Ein Glaube, der direkt in die Hölle führt, kann
keinen Schutz für sich beanspruchen.

14
Einheitsübersetzung 2003.
15
G. Oestreich, Geschichte, 20.
16
Ebd., 21.
17
Ebd., 23.
I. Die Entwicklung der Menschenrechtsidee 141

Andererseits wurde dem Naturrecht durch die Anbindung nicht nur an die
Vernunft, sondern auch an Gott, ein besonderer Glanz und eine starke Auto-
rität verliehen. Die Verbindlichkeit des Naturrechts wird immer erheblich
verstärkt, wenn es einen göttlichen Ursprung für sich in Anspruch nehmen
kann. Aus Sicht der heutigen Menschenrechte ist diese Anbindung aber im-
mer gefährlich. Wer sich zu sehr von seiner Religion leiten lässt, läuft Gefahr,
vom Tugendweg der neutralen Menschenrechte abzuweichen. Diese Gefahr
ist auch heute noch gegeben, wenn sich Kirchen zu gesellschaftspolitischen
Fragen zu Wort melden. Trotzdem bleibt die Frage bestehen, ob nicht auch
die heutigen Menschenrechte einer letzten Begründung durch göttliche
Autorität bedürfen. Golka weist unter Bezugnahme auf die Französische
Revolution von 1789 und die nordamerikanischen Menschenrechtserklärun-
gen darauf hin, dass es keine völlig säkulare Begründung der Menschen-
rechte gebe.18 Diese Diskussion spiegelt sich auch bei der noch nicht gelösten
Frage eines Gottesbezuges in einer europäischen Verfassung wieder.19
Anzumerken ist bei den mittelalterlichen Juristen und Theologen, dass sie
bei der Erörterung von natürlichen Rechten teilweise auf den Dekalog zu-
rückgreifen. So wurde das Gebot „Du sollst nicht stehlen“ für die Frage einer
Eigentumsgarantie und das Gebot „Du sollst nicht töten“ für das allgemeine
Lebensrecht herangezogen.20 Dies erfolgte aber, wie erörtert, nicht in der
Form, dass es sich hierbei um direkte Individualrechte handeln sollte. Diese
Gebote wurden vielmehr allgemein als Hinweise auf Gottes Willen betrach-
tet.

3.
Auch die Reformation stand unter dem schlechten Stern der Wahrheits-
frage. Sie wird oft als die Wegbereiterin der Glaubens- und Gewissensfreiheit
betrachtet, kann diesem Anspruch aber nur sehr bedingt genügen. Der durch
die Reformation letztlich erzwungene „Augsburger Religionsfrieden“ von
1555 war in Wahrheit kein religiöser, sondern ein rein politischer Frieden,
ein Waffenstillstand, der beide Seiten dazu verpflichtete, nicht mit Gewalt
gegen die jeweils andere Konfession vorzugehen. Mehr nicht. Die andere
Konfession wurde keineswegs als ein möglicher Weg zum Heil anerkannt.
„Keine Seite gab ihren Monopolanspruch auf Wahrheit preis – man verzichtete

18
F. W. Golka, Flecken, 151.
19
Zur Frage des Gottesbezuges in den verschiedenen Verfassungen der Neuzeit vgl. Kap. III, Ziff. 3.
20
A. Neschke-Hentschke, Tradition und Identität Europas, 24 u. 26.
142 Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung

lediglich darauf, diesen Anspruch gewaltsam durchzusetzen.“21 Im Übrigen


hatten die Landesherren das ius reformandi und konnten nach dem Grund-
satz „cuius regio, eius religio“ die Konfession ihrer Untertanen festsetzen.
Diese hatten nur die Möglichkeit auszuwandern, das ius emigrandi, wenn sie
der anderen Konfession anhängen wollten.
A. Gotthard hat dies in seiner Untersuchung über den Augsburger Reli-
gionsfrieden sehr ausführlich dargelegt. Von Toleranz konnte nicht die Rede
sein. Im Gegenteil, im „konfessionellen Zeitalter“ nach 1555 verhärteten sich
die Fronten, die Calvinisten wurden von beiden Seiten verfolgt, die Gegen-
reformation setzte ein und alles mündete in den brutalen 30jährigen Krieg.
Erst im Westfälischen Frieden von 1648 wurde ein streng paritätisch ausge-
richteter Burgfrieden ausgehandelt.
Insofern fällt es schwer, die Reformatoren als Vorkämpfer der Religions-
freiheit zu betrachten. Sie kämpften für ihre Sache, die sie als wahr erkannt
hatten, wollten sich aber nicht für die Freiheit Andersgläubiger einsetzen. So
wurde von protestantischer Seite in Schriften, Flugblättern und in den zahllo-
sen Verfahren vor dem Reichs-Kammergericht immer wieder Religionsfrei-
heit eingefordert – aber nur für Protestanten. Von Katholiken war nicht die
Rede, was von katholischer Seite in Gegenschriftsätzen oft mit Verbitterung
beanstandet wurde.22
Trotzdem bleibt die Reformation – indirekt – eine Wurzel der Religions-
freiheit, weil sie Fakten geschaffen hat, die man später nicht mehr negieren
konnte und die zu einem Nachdenken über ein friedliches Nebeneinander
verschiedener Konfessionen zwangen.

4.
Die „entscheidende Wende“ im Naturrechtsdenken und damit in der Men-
schenrechtsentwicklung brachte das sogenannte klassische Naturrecht des
17. und 18. Jahrhunderts. Hier sind viele Namen zu nennen: Johann
Oldendorp, Johannes Althusius, Hugo Grotius, Thomas Hobbes, Samuel
Pufendorf, Christian Thomasius oder Christian Wolf. Der wichtigste Vertreter
aber ist John Locke (1632–1704). Er schweißte die schon vorher diskutierten
drei Grundrechte auf Leben, Freiheit und Eigentum zu der bis heute gültigen
Trias der klassischen Menschenrechte zusammen, als „angeborene Rechte der

21
A. Gotthard, Der Augsburger Religionsfrieden, 566.
22
Ebd., 566.
I. Die Entwicklung der Menschenrechtsidee 143

im Naturzustand gleichen und unabhängigen Individuen.“23 In seinen „Two


Treaties on Civil Government“ heißt es:

„Man being born with a title to perfect freedom and uncontrolled enjoyment of
all rights and privileges of the law of nature, equally with any other man, or
number of men in the world, hath by nature a power … to preserve his prop-
erty, that is, his life, liberty and estate, against the injuries and attempts of other
men“ (Second Treatise § 87; vgl. auch § 123).24

Der Begriff „property“ (proprium) ist dabei der Sammelbegriff für alle Rechte
und Möglichkeiten des Menschen, die ihm nicht genommen werden können.
Hiervon überträgt er dem Staat nur so viel, wie dieser zu seiner einzigen
Zweckerfüllung benötigt, nämlich die drei genannten Grundrechte seiner
Bürger zu schützen. Diese Grundrechte sind „Ausdruck individueller, ange-
borener, vorstaatlicher und unveräußerlicher Personenrechte mit universaler
Geltungskraft.“25 Der Staat wird damit zum Rechtsstaat.
Voraussetzung für diese Entwicklung war im Zeitraum der Renaissance,
des Humanismus und der Aufklärung eine zunehmende Enttheologisierung
bzw. Säkularisierung des Naturrechts. Das Naturrecht gründete jetzt „in der
menschlichen Vernunft und im Prinzip der sittlichen Autonomie“ des Men-
schen. „Die Vernunftnatur des Menschen wurde von der theologischen Ethik
abgekoppelt.“26 Gott wurde zwar nicht negiert – für Locke blieb er die Quelle
des Naturrechts –, aber er wurde nicht mehr für die dogmatische Begrün-
dung des Naturrechts benötigt. Er konnte sozusagen „in Klammern“ gesetzt
werden.27 Das Naturrecht galt gleichermaßen mit oder ohne Gott.
Die letzte Verselbständigung des Naturrechts und damit der Menschen-
rechte erfolgte durch Immanuel Kant, der den Menschen als freies autonomes
Subjekt definierte, das die Grundlage des Rechtsstaats bildet. Dieses auto-
nome Subjekt gibt sich selbst die Gesetze und befolgt sie in freier Selbstbe-
stimmung.28 Der freie, vernunftbegabte und verantwortungsbewusste
Mensch war nunmehr die letzte Begründung der Menschenrechte – und
nicht mehr Gott, wobei es jedem freigestellt blieb, wie John Locke doch noch
eine allerletzte Begründung des gedanklich an sich selbständigen Naturrechts
und der Menschenrechte bei Gott zu suchen.

23
G. Oestreich, Geschichte, 41.
24
Ebd., 41 (Hervorhebung vom Verf.).
25
L. Kühnhardt, Universalität, 32 (Hervorhebung vom Verf.).
26
Ebd., 57.
27
A. Neschke-Hentschke, Tradition, 30.
28
Ebd., 32.
144 Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung

Die Menschenrechte waren in dieser Form in einer Zeit entstanden, in der


sich der absolutistische Staat etablierte. Dieser nahm zunehmend die alleinige
Verfügungsgewalt über die Bürger in Anspruch, die damit nur noch Objekte
der Herrschaft waren. Die Menschenrechte waren deshalb in erster Linie rein
individuelle Freiheitsrechte zur Abwehr von Übergriffen des Staates, des
Leviathans, wie Hobbes ihn genannt hatte. Gegen ihn richteten sich die
Grundrechte und verlangten eine strikte Beschränkung der Herrschaftsge-
walt. Sie wurden damit zu bürgerlich-liberalen Freiheitsrechten, die bis heute
ihre Geltung behalten haben.

5.
In der Folgezeit entwickelten sich zwei Gegenströmungen, die dem Natur-
recht und den klassischen Menschenrechten skeptisch gegenüberstanden. Es
handelt sich dabei zunächst um den Rechtspositivismus, der, verbunden mit
einer besonderen Hochachtung des Staates und seiner Einrichtungen, in
unterschiedlicher Radikalität das Naturrecht oder zumindest eine Berufung
auf ein solches Institut ablehnt. Diese Auffassung basiert auf einer erhebli-
chen Skepsis gegenüber einem ungeschriebenen, zu Relativität und Subjekti-
vität neigenden vorstaatlichen Recht, was jeder Jurist nachempfinden kann.
Gerechtigkeit gibt es nur um den Preis geschriebenen Rechts. Der Richter
benötigt präzise formulierte Rechtsvorschriften, unter die er die zu entschei-
denden Einzelfälle subsumieren kann. Ein ungeschriebenes oder nur in all-
gemeinen Erklärungen gefasstes Naturrecht lässt sich nicht in die Praxis
umsetzen.
Der Rechtspositivismus geht aber noch einen Schritt weiter. Einige Vertre-
ter dieser Richtung bezweifeln, ob es überhaupt vorstaatliche, angeborene
Rechte des Menschen geben könne. Von „Rechten“ könne man erst spre-
chen, wenn diese von der Rechtsordnung anerkannt werden. Grundrechte
der Bürger werden zwar nicht bestritten; die Sicherung von Leben, Freiheit
und Eigentum gehören selbstverständlich zu den Kernaufgaben des Staates.
Aber diese Grundrechte entstehen erst im Rahmen des Rechtslebens, in einer
„positiven“ Fortentwicklung des Rechts, wobei oft Hegel als Gewährsmann
zitiert wird. „Es gibt keine natürlichen, sondern nur bestimmte, vom Staat
festgesetzte Rechte.“29

29
G. Oestreich, Geschichte, 80.
I. Die Entwicklung der Menschenrechtsidee 145

Der Rechtspositivismus besticht durch seine klare Linie. Nur das geschrie-
bene Recht gilt. Das bringt Rechtssicherheit, ein wichtiges Ziel der Rechts-
pflege. Man kann und will sich dabei darauf verlassen, dass der Gesetzgeber
seiner Verantwortung gerecht wird und nur Gesetze erlässt, die den Ansprü-
chen umfassender Gerechtigkeit genügen. Dies ist aber auch zugleich die
Achillesferse des Rechtspositivismus. So geriet er insbesondere in der Zeit
nach 1945 erheblich in die Kritik. Er wurde verantwortlich gemacht für die
„Gesetzeshörigkeit“ vieler deutscher Juristen während der Zeit des National-
sozialismus. Die kritiklose Befolgung erlassener Gesetze, auch wenn sie of-
fensichtliches Unrecht enthielten, sei eine der Ursachen für das Unglück vor
1945 gewesen. Allgemein wurde der Ruf laut: „Zurück zum Naturrecht!“
In diese Diskussion gehört auch der schon zitierte Beitrag von R. Albertz
über die „Theologisierung des Rechts im alten Israel“.30 Diese überzeugenden
Ausführungen betreffen aber nur die Notwendigkeit einer Anbindung des
Rechts an übergeordnete Werte. Es geht hier jedoch nicht um die Frage, ob
das positive, also das geschriebene Recht an eine übergeordnete Idee gebun-
den sein soll, sondern darum, wie eine solche Bindung ausgestaltet und vor
allem kontrolliert werden kann. Die Anbindung des Rechts an eine vorgege-
bene Autorität, sei es Gott, die Vernunft, das autonome Subjekt oder ganz
allgemein die Gerechtigkeit, wird von kaum jemandem bestritten; proble-
matisch ist aber, wie diese Bindung funktional auszugestalten ist, um Gesetz-
gebung und die Rechtsprechung auf die Beachtung dieser Grundsätze zu
verpflichten. Und das ist letztlich eine Frage der Ausgestaltung einer demo-
kratischen, rechtsstaatlichen Verfassung mit einer präzisen Regelung des
Normenkontrollverfahrens durch ein Verfassungsgericht.
Das zweite Problem ist die Ausweitung, aber auch der Missbrauch der
Menschenrechtsidee für politische und ideologische Ziele. Es geht dabei zu-
nächst um die sozialen Umbrüche im Frühkapitalismus mit der Entstehung
des Proletariats und dem damit verbundenen Massenelend in den Industrie-
nationen. Der Kommunismus / Sozialismus sah als eine der Ursachen den
Missbrauch der bürgerlich-liberalen Grundrechte an, die die Anhäufung von
Vermögen und wirtschaftlicher Macht durch den Schutz des Eigentums und
die Verarmung der Arbeiter mit schlechten Arbeitsverträgen durch die Si-
cherung der Vertragsfreiheit ermöglichten. Die traditionellen Grundrechte
schützten einseitig die besitzende Klasse.

30
R. Albertz, Theologisierung.
146 Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung

Die klassischen Grundrechte waren deshalb zu ersetzen oder zumindest zu


ergänzen durch eine Absicherung des Rechts auf ein Existenzminimum und
ein Leben in Würde für alle. So wurden Forderungen nach einem Recht auf
Arbeit, auf Wohnung, auf Krankenvorsorge oder auf Urlaub erhoben. Diese
an sich berechtigten Forderungen sollten jetzt aber den Status von allgemei-
nen Menschenrechten erhalten und damit unter entsprechendem verfas-
sungsmäßigen Schutz stehen. Die Kirchen schlossen sich teilweise diesen
Forderungen an.31 Man sprach von einer „zweiten Generation“ von Grund-
rechten, von „sozialen oder Teilhaberechten.“32
Die Diskussionen um diese Forderungen führten zu einer Zerreißprobe in
der internationalen Menschenrechtsdebatte.33 Die kommunistischen Staaten
füllten nicht nur ihre „Verfassungen“ mit einer Vielzahl niemals erreichter
Sozialrechte, sondern versuchten diese auch im Rahmen der UNO durchzu-
setzen. Die Menschenrechte wurden zu Kampfrechten.34 Die „Allgemeine
Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948“ der UNO35 ist des-
halb auch ein Kompromiss aus beiden Arten von Grundrechten.
Trotz dieser politischen Vorbelastung der sozialen Rechte versucht man
heute allgemein eine Zusammenschau der Rechte zu erreichen und nach
dogmatischen Zusammenhängen zu suchen.36 Die „Menschenwürde“ könnte
ein alles umfassender Begriff sein. „Die Würde des Menschen scheint uns
heute … den alle Grundrechte umfassenden und zusammenschließenden Wert
auszudrücken.“37 Im deutschen Verfassungsleben gewinnt bei dieser Diskus-
sion der Gedanke der Sozialstaatlichkeit zunehmend an Bedeutung. Hierbei
geht es nicht mehr um die Abwehr von Übergriffen des Staates durch eine
Festschreibung der klassischen Menschenrechte als Freiheitsrechte, sondern
umgekehrt um die Frage, wie weit der Staat verpflichtet ist, sich direkt selbst
um die sozialen Belange der Bürger zu kümmern und sich aktiv, gestalterisch
in die materiellen, kulturellen oder gesundheitspolitischen Fragen der Gesell-
schaft einzubringen. Obwohl das Grundgesetz kaum derartige Verpflichtun-
gen normiert hat, wird der in Art. 20 und 28 GG niedergelegte Grundsatz der
Sozialstaatlichkeit heute sehr extensiv angewandt, wobei nicht geklärt ist, ob

31
G. Oestreich, Geschichte, 116.
32
Ebd., 105.
33
L. Kühnhardt, Universalität, 136.
34
Ebd., 134.
35
Ebd., 305.
36
Chr. Tomuschat, Einheit, 140.
37
G. Oestreich, Geschichte, 117; L. Kühnhardt, Universalität, 232.
I. Die Entwicklung der Menschenrechtsidee 147

man hier von eigentlichen Grundrechten sprechen kann. Die sozialen Rechte
haben einen hohen Stellenwert. „Aber die Frage bleibt bis zum heutigen Tage
offen, ob sie echte subjektive Rechte in gleicher Weise wie die traditionellen
Freiheitsrechte verkörpern können.“38
Eine weitere Ausweitung des Menschenrechtsbegriffs erfolgte durch die
Entwicklungsländer. Hier wurden Forderungen nach einem Menschenrecht
auf Frieden, auf Entwicklung, auf eine natürliche Umwelt oder nach natio-
naler Selbstbestimmung laut.39 Sie werden eine „dritte Generation“ von Men-
schenrechten genannt,40 bei denen es sich dann aber nicht um Rechte von
Menschen, sondern von Völkern und Staaten handelt. Ob derartige Forde-
rungen deshalb den Rang von Menschenrechten haben, ist m. E. sehr zwei-
felhaft. Es handelt sich hierbei nicht um eine rein theoretische Diskussion.
Wenn diese durchaus berechtigten Ansprüche als „Menschenrechte“ aner-
kannt würden, stünden sie als solche nicht nur unter dem Schutze jedes ein-
zelnen Staates, sondern auch der Völkergemeinschaft, repräsentiert durch die
UNO. Sie ließen sich dann, zumindest moralisch und politisch, mit Nach-
druck einfordern und können als Munition im Debatten-Kampf gegen die
reichen Industrienationen eingesetzt werden.

Fazit

Als Ergebnis lässt sich festhalten, dass die heutigen Menschenrechte das Pro-
dukt einer über zweitausendjährigen abendländischen Entwicklung sind.
Antike Philosophie, römisches Rechtsdenken, christliche Theologie und der
Rationalismus der Aufklärung schufen das, was heute als die wichtigste Kul-
turleistung des Abendlandes bezeichnet werden kann: Die Anerkennung von
menschlichen Rechten, die dem Zugriff der Macht entzogen sind. Menschen-
rechte sind individuelle, angeborene, vorstaatliche und unveräußerliche
Rechte, die nicht aberkannt oder in ihrem Wesensgehalt eingeschränkt wer-
den dürfen. Sie sind sogar unverzichtbar; sie können also auch nicht freiwillig
aufgegeben werden. Die Menschenrechte haften dem Menschen von Geburt,
von Natur aus an und haben universale Geltung.

38
Chr. Tomuschat, Einheit, 147.
39
L. Kühnhardt, Universalität, 248.
40
Ebd., 248.
148 Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung

Sie stehen damit auch über den Religionen und deren Geboten. Auch die
islamische Scharia korrigiert nicht die Menschenrechte, sondern diese kon-
trollieren umgekehrt die Scharia – eine Konsequenz, die für viele traditio-
nelle Muslime nicht nachvollziehbar ist, die aber für das Zusammenleben in
einer modernen, westlichen Demokratie unerlässlich bleibt. Deshalb ist auch
der durchaus wünschenswerte „Dialog der Religionen“ nicht das Haupt-
problem multikultureller Gesellschaften, sondern die allgemeine Anerken-
nung gemeinsamer Grundwerte, so wie diese in einer über allen Religionen
und allen Ideologien stehenden Verfassung niedergelegt sind.
In dieser Bedeutung haben die Menschenrechte Eingang gefunden in die
ersten schriftlichen Verfassungen in Nordamerika und Frankreich, um dann
auch in den weiteren europäischen Verfassungen bis heute fortgeführt zu
werden.

Exkurs 4: Die Menschenrechte als Individualrechte

Bei der Diskussion um die Menschenrechte wird ein wichtiger Punkt oft
übersehen. Die heutigen Menschenrechte, so wie sie sich im abendländischen
Raum seit der Aufklärung entwickelt haben, sind Individualrechte, die jedem
Menschen von Geburt an zustehen und ihm nicht genommen werden kön-
nen. Er selbst ist Träger dieser Rechte und kann sie auch selbst einfordern.
Die Sicherung der materiellen Existenz und die Achtung der Menschen-
würde sollen also nicht davon abhängen, ob die anderen Mitglieder der Ge-
sellschaft diese Ansprüche aus religiöser oder moralischer Verpflichtung
heraus von sich aus erfüllen oder eben auch nicht, sondern davon, dass diese
elementaren Bedürfnisse als jedem Einzelnen unmittelbar zustehende Rechte
gesehen werden, die – in umgekehrter Blickrichtung – von diesem auch
selbst direkt von den Anderen eingeklagt werden können. Er ist also nicht
mehr nur Objekt einer moralischen oder religiösen Verpflichtung, sondern
unmittelbares Subjekt eigener Rechte. Ob die Einforderung dieser Rechte
dann in der Realität immer gelingt, ist eine andere Frage und hängt davon ab,
ob rechtsstaatliche, verfassungsgebundene Verhältnisse herrschen.
Wenn also im Rahmen dieser Diskussion unter Hinweis auf die Nächsten-
liebe im Neuen Testament, auf die Sozialgesetzgebung im Alten Testament
oder die Almosenpflicht im Koran oft vorgetragen wird, hiermit seien Men-
schenrechte angesprochen, so ist dies aus heutiger Sicht nicht richtig. Es
I. Die Entwicklung der Menschenrechtsidee 149

handelt sich vielmehr um nur einseitige Verpflichtungen, deren Einhaltung


der zu schützende Nächste nicht beeinflussen kann. Sie sind, juristisch ge-
sprochen, nicht „einklagbar“ und deshalb wertlos, wenn sie von der anderen
Seite nicht eingehalten werden.
Auf den Dekalog angewendet würde dies bedeuten, dass wir hier noch von
keinen Menschenrechten im modernen Sinne sprechen könnten. Dies wäre
aber eine voreilige Betrachtung. Der Dekalog will nämlich durch seine prä-
zise apodiktische Redeweise mehr sein als nur eine allgemeine Verpflichtung
zu sozialverträglichem Verhalten. Die unbedingte Anrede mit „Du sollst …!“
ist so zwingend, ohne wenn und aber, dass die Schwelle hin zu echten Men-
schenrechten sicherlich überschritten sein dürfte. Der Dekalog enthält zwar
expressis verbis keine direkten „Rechte“ des Nächsten; inhaltlich ist er aber
ein Normenkatalog, auf dessen Einhaltung sich der sozial Schwache unmit-
telbar berufen kann.
Hinzu kommt, dass der Dekalog zu seiner Zeit auch gar nicht anders for-
muliert werden konnte. Heutiges Verfassungsdenken und die Ausformung
von Menschenrechten sind ein Produkt der Neuzeit. Wir können deshalb
2.500 Jahre zurückgerechnet nicht die gleiche Wortwahl und Denkrichtung
erwarten. Umso erstaunlicher ist daher die geniale Art, durch die apodikti-
sche Formulierung die Unbedingtheit der Normen zum Ausdruck zu brin-
gen. Diese erhalten hierdurch dann doch den Charakter von echten Men-
schenrechten.
Ähnlich hierzu formuliert E. Otto: „Die rechtliche Anerkennung von Men-
schenrechten … ist ein Kennzeichen der Moderne. Erst die Überführung der
Ideen in den Bereich des Rechts unterscheidet die Moderne seit der Aufklärung
grundlegend von der Antike.“ 41
Menschenrechte bedürfen der rechtlichen Normierung, um wirksam sein
zu können. Dies kennen wir in der Tat grundsätzlich erst in der Moderne.
Eine Ausnahme hiervon bildet aber gerade der Dekalog durch seine noch
darzulegende verfassungsrechtliche Struktur als übergeordneter Grund-
rechtskatalog. Er stellt ein einmaliges Dokument dar, dessen Wert nicht hoch
genug eingestuft werden kann.

41
E. Otto, „Menschenrechte“, 120.
150 Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung

Exkurs 5: Amos

1. Amos und die Menschenrechte

Es wurde bereits zu Beginn dieses Kapitels (I.1.) darauf hingewiesen, dass in


der juristischen und rechtsgeschichtlichen Literatur der Menschenrechtsdis-
kurs erst in Athen mit der Stoa beginnt. Der Dekalog kommt erst später, bei
der Erörterung des christlichen Mittelalters, ins Gespräch. Das Gleiche gilt
auch für andere Texte des Alten Testaments, wie z. B. die Prophetenschriften.
Dabei hätten das apodiktische Recht oder die sozialen Anklagen der Pro-
pheten durchaus Anlass geben können, bereits hier erste Anfänge der Men-
schenrechtsdiskussion zu suchen. Geht es in diesen Texten doch nicht nur
um religiös-kultische Verfehlungen, sondern ganz vorrangig um die Verlet-
zung von elementaren Ansprüchen des Einzelnen gegenüber der Gemein-
schaft. Die Ausbeutung der Armen, die Missachtung des Lebens und der
Menschenwürde stehen im Zentrum dieser Anklagen bzw. Rechtsnormen.
Hier ist insbesondere auf den Propheten Amos zu verweisen, dessen Texte
trotz zahlreicher späterer Ergänzungen in ihrem Grundbestand bis in das 8.
Jahrhundert zurückreichen. Sie sind damit um mehrere Jahrhunderte älter
als die ersten Erörterungen in der griechischen Antike. Amos prangert in
seinen Anklagen massive Verfehlungen der reichen Oberschichten, aber auch
ganzer Völker an. Modern gesprochen handelt es sich dabei um Völker-
rechts- und Menschenrechtsverletzungen. Deshalb spricht E. Zenger hier
auch von „Menschenrechtsverbrechen“42 und F. W. Golka von „allgemeinen
Menschenrechten“, weil JHWH von Amos als Gott der gesamten Menschheit
angesehen werde.43
Dies wird unmittelbar deutlich in den sogenannten Völkersprüchen des 1.
Teils (1,3–2,16). Hier werden die Nachbarländer Aram, Philistea, Tyrus,
Edom, Ammon und Moab und schließlich, als Kulminationspunkt, auch Juda
und Israel wegen verschiedener Verbrechen Gottes Gericht überantwortet,
das von Amos endgültig und unwiderruflich gesehen wird. Erst in exilischer
oder nachexilischer Zeit wird durch den Zusatz von 9,7–15 die Heilszusage
Gottes wieder hergestellt.44

42
E. Zenger, Einleitung, 534.
43
F. W. Golka, Amos und Hosea, Vorlesung SS 05, 12.4.
44
J. Blenkinsopp, Geschichte der Prophetie, 81; E. Zenger, Einleitung, 539.
I. Die Entwicklung der Menschenrechtsidee 151

Bei den meisten Völkersprüchen haben wir es mit Vergehen zu tun, von
denen weder Israel noch seine Religion direkt betroffen sind. Täter und Op-
fer sind keine Israeliten. Hierbei handelt es sich zwar auch um einen rhetori-
schen Kunstgriff, um die folgenden Anklagen gegen Juda und Israel umso
dramatischer gestalten zu können; es zeigt aber auch, dass Amos von ver-
bindlichen Grundregeln ausgeht, die von allen Völkern, auch außerhalb Is-
raels, zu beachten sind. Es gibt Grenzen, die nirgends überschritten werden
dürfen. Leben, Freiheit und Eigentum sind überall und zu allen Zeiten ge-
schützt. Dies entspricht der Auffassung des Amos, dass JHWH nicht nur der
Herr Israels, sondern auch aller anderen Völker in Vergangenheit, Gegen-
wart und Zukunft ist und dass im Gericht totale Gleichheit zwischen Israel
und den Völkern herrscht.45 G. Fohrer formuliert diesen Gedanken wie folgt:
„Sogar für das Zusammenleben der Völker setzt er gottgewollte Regeln voraus,
deren Verletzung Jahwe ahndet, auch wenn Israel gar nicht betroffen ist, 2,1–3;
damit bahnt er den Weg in eine national entschränkte, universale Theologie.“46
Dieser zeitlose und universelle Charakter ist ein zentraler Punkt auch bei
der Diskussion um die Menschenrechte. Diese müssen überall und von je-
dermann beachtet werden, um wirksam sein zu können. Sie sind nicht an
unterschiedliche historische oder ethnische Gegebenheiten gebunden, son-
dern sind in ihrem Wesen unabänderlich, auch wenn bei ihrer Konkretisie-
rung Unterschiede auftreten können und müssen. Weiterhin muss es sich bei
Menschenrechten um die grundlegenden Ansprüche des Menschen handeln.
Nur schwerwiegende Verstöße kann man in die Menschenrechtsdebatte
einbeziehen.
Aber auch dies ist bei Amos der Fall. Es geht bei den Völkersprüchen u. a.
um Verschleppung und Sklaverei, kriegerische Überfälle, das Aufschlitzen
schwangerer Frauen und die Störung der Totenruhe. J. Magonet schreibt:
„Diese beiden letzten Anklagen erstaunen, stellen sie doch Angriffe auf die
Heiligkeit des Lebens selbst dar: die Vernichtung ungeborenen Lebens und die
Entweihung von Toten.“47 Ein würdiges Begräbnis und die Einhaltung der
Totenruhe waren in der Antike besonders wichtig. Dies wird z. B. im Trauer-
spiel „Antigone“ von Sophokles sehr eindringlich dargestellt. Das Wort
„Humanität“ leitet sich vom lateinischen „humare“ (= beerdigen) ab.

45
F. W. Golka, Amos und Hosea, Vorlesung SS 05, 12.4.
46
G. Fohrer, Einleitung, 481.
47
J. Magonet, Die subversive Kraft der Bibel, 99.
152 Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung

Die weiteren Anklagen des Amos gegen Juda, die allerdings erst später
eingefügt wurden48, und dann besonders gegen Israel / Samaria beinhalten
neben Verstößen gegen den Kultus ebenfalls schwerwiegende Verbrechen
der reichen Oberschicht durch hemmungslose Ausbeutung der Armen bis
hin zur Schuldsklaverei. Der Einsatz für die Armen und Geringen ist eines
der Hauptthemen bei Amos.49 Wir finden also bei ihm indirekt die spätere
Trias der Menschenrechte auf Leben, Freiheit und Eigentum.
Allerdings ist der Blickwinkel bei Amos ein anderer. „Menschenrechte“
werden nicht als solche formuliert. Es geht vielmehr um die Verpflichtung
der Menschen, Gottes Gebote zu achten. Die zu schützenden Personen sind
nicht Inhaber eigener Rechte, sondern Gegenstand der religiösen Pflichten
der Mitmenschen. Auf diesen Unterschied wurde bereits im vorigen Exkurs 6
hingewiesen. Trotzdem kann man aus den vorhergehenden Erwägungen bei
Amos durchaus von grundlegenden Normen sprechen, die bereits Men-
schenrechtscharakter tragen.

2. Amos und das apodiktische Recht

Eine viel diskutierte Frage ist, in welchen Traditionen theologischer, rechtli-


cher oder gesellschaftlicher Art Amos gestanden hat. Es geht um seine „geis-
tige Heimat.“50 R. Rendtorff will sich hier nicht festlegen: „Dabei sind viele
zutreffende Beobachtungen gemacht worden, doch hat sich kein abgrenzbarer
Bereich innerhalb der israelitisch-judäischen Traditionen ergeben, aus dem
heraus Amos verstanden werden könnte und müßte.“51 Auch G. Fohrer sieht
keine spezielle Bindung des Amos an bestimmte Traditionen: „Grundlegend
ist vielmehr sein Nein zum sozialen Verhalten Israels, zu seinem Geschichtsver-
ständnis, zum Kultus und zu seiner Existenz überhaupt.“ Die gleiche Auffas-
sung vertreten auch E. Zenger52 und J. Blenkinsopp53. Für sie ist Amos ein
„Konservativer, der die alte Ordnung entschwinden sieht.“ Es gehe um das
„traditionelle, allgemein anerkannte Ethos ……., wie es in Israels Sprüchen

48
J. Blenkinsopp, Geschichte, 81.
49
H. W. Wolff, Amos’ geistige Heimat, 48.
50
Ebd., 1.
51
R. Rendtorff, Das Alte Testament, 235.
52
E. Zenger, Einleitung, 543.
53
J. Blenkinsopp, Geschichte der Prophetie.
I. Die Entwicklung der Menschenrechtsidee 153

und Unterweisungen und in seinem apodiktischen und kasuistischen Recht


zum Ausdruck kommt.“54
In der älteren Literatur versuchte man dagegen, konkrete Anknüpfungs-
punkte an rechtliche oder gesellschaftliche Traditionen zu finden. R. Bach hat
in einem Beitrag von 195755 darzulegen versucht, dass Amos unmittelbar auf
das apodiktische Recht Bezug nehme. Dieser Nachweis ist ihm aber m. E.
nicht gelungen. Er übernimmt nämlich ohne Einschränkungen die Überle-
gungen von A. Alt zur Einteilung und Entstehung des apodiktischen und
kasuistischen Rechts. Auch für ihn ist das apodiktische Recht „volksgebunden
israelitisch und gottgebunden jahwistisch“, habe seinen Sitz im Kult (Bundes-
erneuerungsfest) und stehe in Konkurrenz zum profanen kasuistischen
Recht, das kanaanäischer Herkunft sei und seinen Sitz in der „Rechtsge-
meinde im Tor“ habe. Beide Rechtsformen hätten zur Zeit des Amos neben-
einander bestanden. „Ja, eine Verschmelzung und vollständige gegenseitige
Durchdringung der beiden Rechte stellt nicht einmal das uns im Pentateuch
vorliegende Endergebnis der israelitischen Rechtsgeschichte dar; es ist vielmehr
sowohl im Bundesbuch als auch im Deuternonomium lediglich zu einem
schiedlich-friedlichen Nebeneinander der beiden Rechte gekommen, ohne einen
wirklichen Ausgleich zwischen ihnen.“56
Nach R. Bach greifen deshalb alle Begründungen des Amos für seine Un-
heilsankündigungen auf das apodiktische Recht zurück, teilweise sogar in
ausdrücklicher Ablehnung des kasuistischen Rechts, wie z. B. bei der Schuld-
knechtschaft, die in Amos 2,6 und 8,6 abgelehnt wird, obwohl sie in Ex
21,2ff.; 7ff.; Dt 15,22ff. nicht verboten ist.57
Das Problem bei R. Bach besteht aber darin, dass er zwar für die Anklagen
des Amos, z. B. gegen die Unterdrückung der Armen, die Rechtsbeugung, die
Betrugspraxis der Kaufleute usw., entsprechende inhaltliche Parallelen im
apodiktischen Recht, so wie es im biblischen Endtext vorliegt, aufweisen
kann, dass aber an keiner Stelle ein direkter Hinweis bzw. ein Zitat des Amos
hinsichtlich des apodiktischen Rechts nachzuweisen ist. Es sind alles nur
inhaltliche Übereinstimmungen, die sich aus der Sache selbst ergeben, und
nicht aus der Formulierung bestimmter Rechtssätze.

54
J. Blenkinsopp, Geschichte der Prophetie, 86.
55
R. Bach, Gottesrecht, 23–34.
56
Ebd., 25.
57
Ebd., 29.
154 Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung

Der Grund hierfür ist einfach. Entgegen der Annahme von R. Bach gab es
das apodiktische Recht zur Zeit des Amos, also im 8. Jahrhundert, noch
nicht, zumindest nicht als eine fest gefügte ausformulierte Rechtsgattung.
Diese finden wir erst später im biblischen Endtext. Deshalb konnte Amos
auch noch nicht den Dekalog oder andere Bestimmungen des apodiktischen
Rechts zitieren. Ihm waren noch nicht einmal der Exodus, geschweige denn
der Sinai bekannt.58 Der Exodus wird erst im späteren Anhang (9,7) erwähnt.
Dem ursprünglichen Amos lagen die Exodus- und Sinaitraditionen offenbar
noch nicht vor. Wir können deshalb auch Amos als Beleg für die hier vertre-
tene These einer sehr späten Entstehung des apodiktischen Rechts heranzie-
hen.
Eine präzisere Untersuchung bietet demgegenüber H. W. Wolff in seinem
Buch „Amos’ geistige Heimat“. Er kann sehr ausführlich belegen, dass Amos
in der Tradition der altisraelitischen Sippenweisheit steht und hieraus seine
Ethik und Theologie bezieht. Es sind ausreichende sprachliche, grammati-
sche und thematische Übereinstimmungen mit der übrigen weisheitlichen
Literatur vorhanden, die diesen Schluss zulassen. Für H. W. Wolff ist Amos
deshalb auch nicht im Kult beheimatet. Vielmehr ist davon auszugehen, dass
„die urtümliche Verkündigung des altisraelitischen Gottesrechts in der Form
der Sippenweisheit mindestens bis in die Zeiten des Amos hinein wenigstens in
einigen noch mehr halbnomadisch lebenden Kreisen Israels und in deren land-
städtischen Siedlungszentren auf eine unverwechselbare Weise weiterlebte.“59
J. Blenkinsopp bringt für diese Problematik ein sehr schönes Beispiel.60 Im
Javneh-Jam-Ostrakon Nr. 1 bittet ein Landarbeiter den Ortskommandanten,
die Rückgabe seines gepfändeten Rockes zu veranlassen, für den er einen
Kredit nicht zurückzahlen konnte. Genau der gleiche Fall wird in Amos 2,8
angesprochen. Beide, Amos und der Landarbeiter, nehmen aber nicht Bezug
auf Ex 22,25f., obwohl dort der gleiche Sachverhalt geregelt wird. Alle drei
Zeugnisse stehen also nicht in Abhängigkeit voneinander, sondern gründen
auf dem allgemeinen Grundsatz, dass auch eine an sich legale Zwangsvoll-
streckung ihre Grenze bei einer Gefährdung der Existenz des Schuldners hat.
Diese Absicherung des Lebens und der Menschenwürde kann in verschiede-
nen Formen Ausdruck finden und zu verschiedenen Zeiten immer wieder
neu formuliert werden.

58
H. W. Wolff, Amos, 37.
59
Ebd., 60.
60
J. Blenkinsopp, Geschichte, 86.
I. Die Entwicklung der Menschenrechtsidee 155

Außerdem ist zu bedenken, dass das Anprangern sozialer Missstände keine


besondere, eigenständige „Heimat“ erfordert, sondern überall und zu allen
Zeiten denkbar ist. Die gerechte Empörung über Missetaten ist an keine spe-
zielle Kultur oder Theologie gebunden. Überall, wo Menschenrechtsverlet-
zungen begangen werden, finden sich auch immer wieder mutige Ankläger,
die versuchen, diese an die Öffentlichkeit zu bringen.
Anzumerken ist noch, dass sowohl R. Bach als auch H. W. Wolff bei ihren
sprachlichen Untersuchungen vom späten masoretischen Text ausgehen,
obwohl zwischen Amos und der Endfassung des masoretischen Textes ca.
1.800 Jahre Sprachentwicklung stehen. Im 8. Jahrhundert begann sich die
altisraelitische Schrift und Sprache erst allmählich zu formieren. Wir wissen
deshalb nicht, in welchem Dialekt Amos und seine ersten Schüler gesprochen
haben und wie er sich im Nordreich verständlich gemacht hat. Vielleicht
konnte er auf die damalige lingua franca, das Aramäische, oder das alte Phö-
nikisch zurückgreifen. Detaillierte sprachliche Untersuchungen sind deshalb
bei Amos immer nur unter Vorbehalt möglich.
II. Die Entwicklung des Verfassungsgedankens
II. Die Entwicklung des Verfassungsgedankens

1.
Die im vorigen Kapitel erörterten Menschenrechte bleiben wirkungslos,
wenn sie nur Gegenstand philosophischer oder theologischer Betrachtung
bleiben. Sie müssen aus dem Reich der Philosophie in die harte Welt des
Rechtslebens und der Rechtswirklichkeit geholt werden. Allgemeine Apelle
und auch die Überzeugung aller Betroffenen reichen nicht aus, um Men-
schenrechte durchzusetzen und sie dem Zugriff der Mächtigen zu entziehen.
Sie müssen vielmehr konkret normiert und für alle verbindlich gemacht wer-
den. Und dies kann, wie die historische Entwicklung gezeigt hat, nur im
Rahmen einer Verfassung geschehen. Man kann sogar zugespitzt formulie-
ren: „Ohne Verfassungsstaat gibt es im Grunde keine Menschenrechte – das ist
die fundamentale Erfahrung bis zum heutigen Tage geblieben.“ 1
Wenn die allgemeinen Menschenrechte in einer Verfassung verankert sind,
spricht man von Grundrechten. Die Begriffe Menschen- und Grundrechte
sind zwar inhaltlich im wesentlichen gleichbedeutend; von Grundrechten
spricht man aber erst, wenn es sich um Rechte handelt, die in einer konkre-
ten, schriftlichen Verfassung niedergelegt und garantiert sind.2 Dies kommt
im Grundgesetz, der heutigen deutschen Verfassung, in Art. 1 deutlich zum
Ausdruck:

„Art. 1 (Schutz der Menschenwürde) (1) Die Würde des Menschen ist unan-
tastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
(2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unver-
äußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft,
des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.
(3) Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt
und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.“3

Hier haben wir genau diese Reihenfolge: Die „unverletzlichen und unver-
äußerlichen Menschenrechte“ werden in den „nachfolgenden Grundrechten“
ausformuliert und werden dadurch „unmittelbar geltendes Recht“. Erst durch

1
L. Kühnhardt, Universalität, 65.
2
K. Hesse, Grundzüge, 125ff.
3
Grundgesetz, Beck-Texte im dtv, Nördlingen 2005, 15.
158 Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung

diese Aufnahme in eine Verfassung als Grundrechte und die Anerkennung


ihrer unmittelbaren Rechtsverbindlichkeit werden Menschenrechte konkreti-
siert und für den Schutz des Einzelnen verfügbar gemacht. Nur hier können
sie ihre volle Wirksamkeit entfalten. Deshalb ist Verfassungsgeschichte im-
mer auch eine Geschichte der Menschenrechte – und umgekehrt.
Bei dem Begriff der Verfassung müssen wir allerdings zwischen der allge-
meinen Bedeutung und der speziellen Ausformung in der Neuzeit unter-
scheiden. Jedes Herrschaftsgebiet hat eine „Verfassung“ im Sinne einer
rechtlichen Grundordnung; es muss nicht immer eine demokratisch-rechts-
staatliche Form sein. Jede Art von Verfassung ist denkbar und historisch
nachweisbar, wobei auch nicht unbedingt eine zusammenhängende Verfas-
sungsurkunde vorliegen muss. Es waren in früheren Zeiten häufig nur Ein-
zelgesetze oder andere Rechtseinrichtungen wie Gewohnheitsrechte, Urteile,
Privilegien oder Verträge aller Art, die erst in ihrer Gesamtheit eine be-
stimmte Form von „Verfasstheit“ eines Gemeinwesens4 oder Staates aus-
machten.5
So gesehen können wir für alle historischen Gesellschaften „Verfassungen“
aufzeigen. Erörtert werden in den gängigen Lehrbüchern, so z. B. von U.
Wesel, Geschichte des Rechts, üblicherweise die „Verfassungen“ von Athen
und Sparta, von Rom, des Frankenreichs und des Mittelalters6, weil es sich
hierbei um direkte Vorläufer der modernen Verfassungen handelt. Die Ver-
fassungen im engeren heutigen Sinne lässt man dann erst in Virginia und im
Frankreich der Revolution beginnen. Hier finden wir die ersten vollständigen
Verfassungen, mit einem Katalog der Menschen – oder Grundrechte und
dem sogenannten Staatsorganisationsrecht. Das deutsche Standardwerk von
W. Frotscher / B. Pieroth, Verfassungsgeschichte, beginnt dementsprechend
auch direkt mit der nordamerikanischen und der französischen Revolution
und lässt die frühen Vorläufer dieser Verfassungen nur rechtshistorisch
durchscheinen.7
Verfassungen im heutigen Sinne setzen zwei Dinge voraus: die Entstehung
eines „Staates“ und weiterhin die damit verbundene Trennung von öffentli-
chem und privatem Recht. Beides war in der Frühzeit und im Mittelalter
noch nicht gegeben. Nationalstaaten, meist in Form absolutistischer Herr-

4
K. Hesse, Grundzüge, 9.
5
D. Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, 2.
6
U. Wesel, Geschichte des Rechts, 121, 162, 276 u. 291.
7
W. Frotscher / B. Pieroth, Verfassungsgeschichte, 9.
II. Die Entwicklung des Verfassungsgedankens 159

schaften, kennen wir erst seit dem 17. und 18. Jahrhundert, mit dem Beginn
der Neuzeit.8 Erst hier machen umfassende Regelungen der gesamten politi-
schen Ordnung Sinn. Vorher konnte man sich mit Einzelregelungen begnü-
gen. Und in dieser Zeit entstand auch das heutige „öffentliche Recht“, das
„ius publicum“. Die Lehre hiervon nannte man die Reichspublizistik.9 Man
konnte jetzt die rechtlichen Verhältnisse des Menschen aufteilen, einerseits
in seine Stellung als Privatmann, in sein privates Verhältnis zu seinen Mit-
menschen (Zivilrecht), und andererseits in seine Stellung als Bürger inner-
halb eines Staates, der seinerseits ebenfalls zusätzliches, eigenes Recht für die
Regelung seiner öffentlichen Belange benötigte (öffentliches Recht). Beides,
nämlich die Entstehung von Staaten und die Trennung von privatem und
öffentlichem Recht, bedingen einander und entstanden zur gleichen Zeit.
Der einzelne Bürger wurde im absolutistischen Staat zunehmend als indivi-
duelles Objekt der Herrschaft gesehen. Der mittelalterliche Ständestaat
wurde allmählich zurückgedrängt. Es sollten möglichst keine ständischen,
statusbedingten Sonderregelungen mehr gelten. Der absolutistische Staat war
damit nicht nur Adressat und Gegner der Menschenrechte und des Verlan-
gens nach verfassungsmäßiger Absicherung dieser Rechte, sondern auch
deren Wegbereiter. Erst die Schaffung eines allumfassenden Staates und die
zunehmende Abschaffung der Ständestruktur zugunsten einer gleichförmi-
gen Verwaltung des gesamten Staatsgebiets ermöglichte die Vorstellung von
einer für alle Bürger gleichermaßen geltenden Verfassung.
Das Mittelalter war demgegenüber geprägt vom Ständedenken. Der ein-
zelne Mensch wurde über seine Zugehörigkeit zu einem bestimmten Stand
oder einer Berufsgruppe (Zünfte) definiert. Die ersten Regelungen mit
„staatsrechtlichem“ Charakter waren deshalb auch nur Vereinbarungen zwi-
schen dem Herrscher und seinen Ständen oder Städten, zwischen Kaiser und
Territorialherren oder zwischen selbständigen Regenten einzelner Länder.
Sie alle hatten Vertragscharakter und sicherten einem bestimmten Stand
oder Territorium und dem Herrscher als Vertragsparteien bestimmte ver-
tragliche Rechte und Pflichten zu. So war die Magna Charta Libertatum von
1251 ein Vertrag zwischen dem englischen König und seinen Vasallen, den
Baronen. Er galt nur für diese und nicht für die Gesamtheit der Untertanen.10
Das Gleiche gilt dann auch für weitere Vereinbarungen, z. B. die Goldene

8
U. Wesel, Geschichte, 415.
9
Ebd., 363ff.; G. Oestreich, Geschichte, 13.
10
U. Wesel, Geschichte, 416.
160 Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung

Bulle von 1356, das „Grundgesetz des Reiches“, oder den Augsburger Reli-
gionsfrieden von 1555. Es waren sogenannte „Statusverträge“. Ihnen fehlte
der allumfassende individuelle und universelle Charakter der heutigen Men-
schenrechte und der modernen Verfassungen.

2.
So gesehen ist es korrekt, wenn man das eigentliche Verfassungswesen erst
mit den entsprechenden Bestrebungen in Nordamerika und Frankreich be-
ginnen lässt. Hier wurden die ersten echten Verfassungen geschrieben. Den
Beginn macht die Bill of Rights of Virginia von 1776 mit einem Katalog von
Grundrechten. „Die Bill of Rights von Virgina war die erste umfassende und
verfassungskräftige Positivierung von Grundrechten im modernen Sinn.“11
Hier erscheint die klassische Trias von Leben, Freiheit und Eigentum, die auf
den schon genannten John Locke zurückgeht. Auf diesen beziehen sich die
Väter der ersten Verfassungen und knüpfen damit unmittelbar an das klassi-
sche Naturrecht an.
Es folgen, noch im gleichen Jahr, die Unabhängigkeitserklärung und spä-
ter weitere Verfassungen der amerikanischen Kolonialstaaten. 1787 tritt die
Verfassung für die gesamte USA in Kraft und 1791 werden die zehn
„Amendments“ (Zusatzartikel) als „Federal Bill of Rights“ hinzugefügt.
Letzteres war erforderlich, weil die ursprüngliche Verfassung von 1787 noch
keinen Grundrechtskatalog enthielt. Dies sollte durch die Hinzufügung der
„Amendments“ nachgeholt werden. Die amerikanische Verfassung war
nunmehr vollständig, nämlich mit einem Grundrechtsteil und dem Staats-
organisationsrecht. Die 10 Amendments wurden nach und nach durch 17
weitere Zusatzartikel ergänzt, die ebenfalls verschiedene grundrechtliche
Fragen regeln.12
In Europa begann das Verfassungsleben etwas später, mit der französi-
schen Revolution von 1789, wobei die Vorgänge in Nordamerika schon
durch die persönlichen Verbindungen über La Fayette, Thomas Jefferson und
Thomas Paine direktes Vorbild waren.13 Unmittelbar nach dem Sturm auf die
Bastille vom 14. Juli 1789 beschloß die verfassungsgebende Versammlung am
26. August 1789 die „Déclaration des droits de l’homme et du citoyen“, die
„Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte“.

11
W. Frotscher / B. Pieroth, Verfassungsgeschichte, 12.
12
Ebd., 19.
13
Ebd., 31.
II. Die Entwicklung des Verfassungsgedankens 161

Diese Erklärung, die direkt in die Verfassung vom 3. September 1791 auf-
genommen wurde, ist eines der bedeutendsten Dokumente der Neuzeit. Sie
ist das „Credo eines neuen Zeitalters“14 und in ihrer Wirksamkeit nur mit
ihrem religiösen Pendant, der Exodustradition und dem Dekalog, zu verglei-
chen. Es geht um Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit (Liberté, Egalité, Frater-
nité) und damit um die Verwirklichung allgemeiner Menschenrechte. Die
Déclaration ist bis heute in Frankreich geltendes Recht.15
Der von dieser französischen Erklärung ausgehende revolutionäre
Schwung erfasste ganz Europa und war Grundlage und Antrieb für Freiheits-
bestrebungen in allen anderen Ländern. Demokratie, Verfassung, Menschen-
rechte wurden zu allseits gehörten Schlagworten und führten zu weiteren
Verfassungsbestrebungen in den übrigen europäischen Territorien. Wichtige
Stationen in Deutschland waren dabei erste Verfassungen in Bayern, Baden
und Württemberg, die allerdings noch stark monarchistisch geprägt waren
und erhebliche Einschränkungen der Grundrechte enthielten.16 Die Frank-
furter Nationalversammlung in der Paulskirche erarbeitete dann aber 1848
einen Grundrechtskatalog, der in den Verfassungsentwurf vom 28. März
1849 aufgenommen wurde, auch wenn diese Verfassung nie in Kraft getreten
ist.17 Der Katalog von 1848 war aber Ausgangspunkt für die späteren deut-
schen Verfassungen, die in den einzelnen Ländern nach und nach erlassen
wurden. Er war ein Meilenstein auf dem Weg zu einer freiheitlichen demo-
kratischen Verfassungsordnung. „Deutschland hatte in der 48er Revolution
die Leistung Frankreichs von 1789 nachgeholt und die Grundsätze seines
neuen Rechtsverständnisses niedergelegt.“18
Es folgten die von Bismarck entworfene Verfassung des Norddeutschen
Bundes von 1867 und die Verfassung des Deutschen Reiches von 1871.
Beide Verfassungen enthalten jedoch keinen Grundrechtskatalog. Sie verwei-
sen vielmehr auf die jeweiligen Grundrechtsbestimmungen der einzelnen
Länder. Bismarck wollte damit weitere Schwierigkeiten bei der Eingliederung
der einzelnen deutschen Territorien vermeiden. Die Weimarer Reichsver-
fassung von 1919 enthielt dann aber wieder eine Auflistung der „Grund-
rechte und Grundpflichten der Deutschen.“ Diese Rechte hatten jedoch über-

14
W. Frotscher / B. Pieroth, Verfassungsgeschichte, 34.
15
Ebd., 34.
16
Ebd., 28.
17
G. Oestreich, Geschichte, 93.
18
Ebd., 98.
162 Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung

wiegend nur den Charakter unverbindlicher Programmsätze.19 Viele dieser


Bestimmungen wurden nicht als unmittelbar geltendes Recht aufgefaßt. Dies
lag nicht zuletzt daran, daß die Weimarer Verfassung zwar einen Staatsge-
richtshof für das Deutsche Reich vorsah, diesen aber mit nur sehr wenigen
Kompetenzen ausstattete. Es fehlten die abstrakte und konkrete Normen-
kontrolle und vor allem die aus heutiger Sicht unverzichtbare Verfassungsbe-
schwerde.20 Es bestand also nicht die Möglichkeit, Gesetze oder Maßnahmen
der Exekutive auf ihre Vereinbarkeit mit der Verfassung hin zu überprüfen,
ein schwerwiegender Mangel, der einer der vielen Ursachen für die schritt-
weise Machtergreifung der Nationalsozialisten war.
Das Grundgesetz vom 8. Mai 1949 hat hieraus gelernt. Nicht nur wurden
die Grundrechte an den Anfang gestellt und kürzer und präziser gefasst, um
ihre Wirksamkeit zu erhöhen, es wurde auch das Bundesverfassungsgericht
geschaffen und mit umfassenden Kompetenzen versehen. Das Normenkon-
trollverfahren, also die Überprüfung von Gesetzen, sowie die Verfassungsbe-
schwerde, die Anrufung des Gerichts durch einzelne Bürger, die sich in ihren
Verfassungsrechten verletzt fühlen, sind heute Grundpfeiler der Absicherung
der Grundrechte. Nur die Möglichkeit einer Kontrolle durch ein unabhängi-
ges Gericht sichert die Einhaltung der Grundrechte und garantiert zugleich
auch die Beachtung der Gewaltenteilung. Das heutige Grundgesetz hat auf
diese Weise, anders als die Verfassung in Weimar, weitgehende Akzeptanz
gefunden, was nicht zuletzt der umsichtigen Rechtsprechung des Bundes-
verfassungsgerichts zu verdanken ist.
Anzumerken ist in diesem Zusammenhang noch, dass dogmatisch keine
zwingende Abhängigkeit zwischen den Begriffen Menschenrechte und Demo-
kratie besteht. Menschenrechte können auch in anderen Staatsformen Be-
achtung finden. Eine Ausformulierung in Gestalt von Grundrechten im
Rahmen einer Verfassung ist auch in anderen Gesellschaftsformen denkbar.
Andererseits hat die historische Erfahrung gelehrt, dass Menschenrechte auf
Dauer nur in einer Demokratie sicher aufgehoben sind. Nur eine Staatsform,
in der das Volk, also die Gesamtheit aller Individuen, Souverän der Gesetz-
gebung ist und in der eine strikte Gewaltenteilung mit gegenseitiger Kon-
trolle der Staatsorgane herrscht, kann langfristig die Einhaltung der Men-
schenrechte garantieren. K. D. Bracher hat dies zutreffend formuliert:

19
W. Frotscher / B. Pieroth, Verfassungsgeschichte, 280.
20
Ebd., 277.
II. Die Entwicklung des Verfassungsgedankens 163

„In Wirklichkeit vermag wohl allein die rechtsstaatliche Demokratie das natur-
wüchsige ‚Recht des Stärkeren‘ mit seinem rücksichtslosen Geltungsdrang und
seiner steten Tendenz zu diktatorischer Machtwillkür aufzufangen: durch Ge-
waltenteilung, Schutz der Minderheiten und wechselseitige Machtkontrolle. Sie
schafft dadurch erst den Raum für Freiheit und kann daher trotz vieler
menschlicher Mängel mit Fug als der höchste Ausdruck der politischen Kultur
gelten.“21

3.
Die vorangegangenen Ausführungen zur Geschichte der Menschenrechte
und der Verfassungsidee lassen bereits erkennen, dass es schwierig ist, eine
allgemeine, für alle Zeiten zutreffende Definition des Verfassungsbegriffs zu
geben. Dafür ist der Sachverhalt zu komplex. „… die heutige Verfassungs-
rechtslehre hat Begriff und Eigenart der Verfassung, auch wenn sich weitge-
hende Übereinstimmungen finden, nicht bis zu dem Konsens einer ‚herrschen-
den Meinung‘ geklärt.“22 Dies hängt mit dem Wandel der Begriffe „Verfas-
sung“ und „Staat“ zusammen, die unmittelbar verknüpft sind, und auch mit
den unterschiedlichen Auffassungen über die Prioritäten bestimmter Aufga-
ben und Funktionen von Staat und Verfassung.
Es gibt zunächst den schon erwähnten Unterschied zwischen einer Verfas-
sung im materiellen und einer solchen im formellen Sinne.23 Der Inhalt
beider Formen ist weitgehend gleich. Es können aber unterschiedliche Berei-
che abgedeckt werden. So meint der formelle Begriff direkt die geschriebene
Verfassungsurkunde, der ein höherer Rang und eine höhere Bestandsgarantie
zukommt als einem einfachen Gesetz24 („Parlamentsgesetz“). Diese Verfas-
sung kann nicht oder nur in einem speziellen Verfahren (qualifizierte Mehr-
heiten oder Volksentscheid) abgeändert werden. Eine derartige Urkunde
muss nicht eine vollständige Auflistung aller verfassungs- oder staatsrecht-
lich relevanten Regelungen enthalten. Diese können ergänzend noch in vie-
len anderen Institutionen vorhanden sein, wie im Gewohnheitsrecht, in der
Rechtsprechung des Verfassungsgerichts oder in einfachen Gesetzen, soweit
diese grundlegende Regelungen der politischen und staatlichen Ordnung
enthalten.
Fasst man alle diese Regelungen zusammen, sprechen wir von einer Verfas-
sung im materiellen Sinne. Es ist sogar denkbar, dass, wie in Großbritannien,

21
K. D. Bracher, Geschichte und Gewalt, 1981, 27.
22
K. Hesse, Grundzüge, 3.
23
R. Zippelius / Th. Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 41.
24
Ebd., 41.
164 Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung

eine materielle Verfassung nur aus derartigen Einzelregelungen, ohne Ver-


fassungsurkunde, besteht. Verfassung ist dann die „Gesamtheit der grund-
legenden Regeln“ über die Staatsorganisation und die Stellung der Bürger im
Staat.25 Man nennt dies auch die „ungeschriebene“ Verfassung im Gegensatz
zur „geschriebenen“ Verfassung in einer Verfassungsurkunde.
Dies ist rechtshistorisch bedeutsam, weil wir „geschriebene“ Verfassungen
im formellen Sinne erst ab dem 18. Jahrhundert, seit der nordamerikanischen
und französischen Revolution kennen. Die „Bill of Rights of Virginia“ von
1776 war die erste geschriebene Verfassung und „die erste umfassende und
verfassungskräftige Positivierung von Grundrechten im modernen Sinn.“26
Diese und die weiteren Verfassungen, insbesondere die französische Men-
schenrechtserklärung von 1789 und die anschließende Verfassung von 1791,
waren geboren aus dem Kampf gegen den absolutistischen Staat bzw. gegen
eine rücksichtslose Kolonialmacht und strebten, im liberalen Sinne, die
Machtbegrenzung des Staates und die Sicherung der Menschenrechte durch
eine verbindliche schriftliche Verfassungsurkunde an. Gleichzeitig sollte, zur
Absicherung dieser Ziele, die demokratische Grundordnung mit einer Tei-
lung der Gewalten festgeschrieben werden. Diese Bestrebungen führten zu
den Verfassungen im heutigen Sinne.
Vorher waren derartige Urkunden unbekannt. Es gab nur Einzelregelun-
gen mit Vertragscharakter, wie z. B. die „Magna Charta Libertatum“ von
1215 oder die „Goldene Bulle“ von 1356, die vertragliche Bindungen des
Herrschers und der verschiedenen Stände des Territoriums enthielten. Eine
zusammenfassende Urkunde, in der alle grundlegenden Regeln des politi-
schen oder rechtlichen Lebens aufgelistet wurden, waren „systemfremd“. Sie
entsprachen nicht dem Staatsverständnis früherer Zeiten. Trotzdem gab es
im Mittelalter und in der Antike „Verfassungen“, zumindest im materiellen
Sinne.27 Sie musste es geben, weil kein geordnetes Gemeinwesen ohne Recht
und ohne eine Verteilung der politischen Machtbefugnisse auskommt. Ohne
feste Regeln herrschen Anarchie und Rechtlosigkeit.
So sprechen wir von einer athenischen oder römischen Verfassung, von
einer Verfassung des Frankenreichs oder des späteren deutschen Reiches.
Gemeint ist damit die Gesamtheit aller Regelungen (Gesetze, Verträge, Ge-
wohnheitsrecht usw.), die sich mit den Machtverhältnissen und der Stellung

25
R. Zippelius / Th. Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 41.
26
W. Frotscher / B. Pieroth, Verfassungsgeschichte, 12.
27
R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 42.
II. Die Entwicklung des Verfassungsgedankens 165

der Stände und Städte oder einzelner Territorien befassen. Wir haben es
dann, auch ohne Verfassungsurkunde, mit einer Verfassung im materiellen
Sinne zu tun. Diese hat immer eine bestimmte, historisch bedingte Struktur
und muss für jedes Territorium gesondert untersucht werden. Die Verfas-
sungsfrage ist damit nicht auf die Zeit nach der Aufklärung beschränkt, son-
dern kann und muss für alle Gesellschaften zu allen Zeiten gestellt und be-
antwortet werden. Und das gilt auch für Israel in biblischer Zeit.

Unter einer Verfassung versteht man ganz allgemein die „rechtliche Grund-
ordnung eines Gemeinwesens“ oder den „Strukturplan für die Rechtsgestalt
eines Gemeinwesens“.28 Verfassung kann man auch als die „Gesamtheit der
grundlegenden rechtlichen Regeln, nach denen Menschen als staatliche Ge-
meinschaft zusammenleben“29 definieren. Insgesamt fehlt es aber „an einem
feststehenden oder überwiegend anerkannten Verfassungsbegriff.“30 So wer-
den die hier zitierten allgemeinen und sehr unbestimmten Formulierungen
in Literatur und Rechtsprechung immer mit einer Beschreibung einzelner
Funktionen und Inhalte einer Verfassung ausgefüllt. Nach K. Hesse hat dem-
entsprechend auch das deutsche Bundesverfassungsgericht kein formelles,
sondern ein mehr inhaltliches Verfassungsverständnis. Die Verfassung wird
als materielle Einheit aufgefasst. Die Inhalte werden „als grundlegende, der
positiven Rechtsordnung vorausliegende Werte bezeichnet, die sich unter
Aufnahme der Traditionen der liberal-repräsentativen parlamentarischen
Demokratie, des liberalen Rechtsstaates und des Bundesstaates sowie unter
Hinzufügung neuer Prinzipien, namentlich des Sozialstaates, in den Ent-
scheidungen des Verfassungsgebers zu einer ‚Wertordnung‘ verbunden ha-
ben und ein Staatswesen konstituieren, das weltanschaulich neutral, aber
nicht wertneutral ist.“31
Allen Definitionen gemeinsam ist der Hinweis, dass es sich bei einer Ver-
fassung, im materiellen wie im formellen Sinne, um eine Regelung der recht-
lichen Grundordnung handelt. Diese muss in ihren Grundzügen festgelegt
sein, um langfristig ein Zusammenleben der Menschen und ein Funktionie-
ren des Staates, des Gemeinwesens, zu garantieren. Deshalb müssen diese
Normen sich auf das Wesentliche beschränken, um einer Interpretation und

28
K. Hesse, Grundzüge, 10.
29
R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 41.
30
K. Hesse, Grundzüge, 4.
31
Ebd., 4.
166 Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung

einer Fortentwicklung bzw. Anpassung an sich ändernde Verhältnisse Raum


zu lassen. Zu genaue und detaillierte Regelungen sind oft hinderlich und
können zur Notwendigkeit einer Verfassungsänderung führen, was mög-
lichst vermieden werden soll. Verfassungsnormen müssen deshalb „von mehr
oder minder großer inhaltlicher Weite und Unbestimmtheit sein.“32 Sie müs-
sen Raum lassen für eine eigenständige politische Bestätigung der verschiede-
nen Träger des Gemeinwesens, die z. B. in der Wirtschafts- oder Außenpoli-
tik flexibel und zukunftsorientiert bleiben müssen.
Das wichtigste funktionelle Element einer Verfassung ist ihre Stellung in-
nerhalb der „Hierarchie der Rechtsnormen“33. Sie muss als Rahmen- oder
Grundordnung des Gemeinwesens an der Spitze der Rechtsordnung stehen.
Sie ist dem positiven Recht, also den einfachen Gesetzen und übrigen
Rechtsnormen, vorgelagert und ist die Messlatte, an der das übrige Recht auf
seine Übereinstimmung mit den Grundvorstellungen der Gesellschaft ge-
messen wird. Sie hat insoweit eine Kontrollfunktion über die gesamte
Rechtsordnung. Einfaches Recht, das der Verfassung inhaltlich widerspricht,
ist von vornherein nichtig oder kann in einem bestimmten Verfahren für
nichtig erklärt werden, wofür dann wieder in einem modernen demokrati-
schen Staat eine präzise Gewaltenteilung mit einer unabhängigen Justiz und
insbesondere mit einer funktionierenden und anerkannten Verfassungs-
rechtsprechung erforderlich ist.
Die Legitimation für diese Vorrangstellung bezieht die Verfassung letztlich
aus den Werten, die sie nach dem Willen des Verfassungsgebers garantieren
soll. Wir kommen hier wieder auf die Idee der Menschenrechte zurück. Diese
angeborenen, unabdingbaren Rechte, die damit auch vorstaatlich sind, sollen
in der Verfassung geschützt werden. Dies geschieht in der Weise, dass sie in
Form von Grundrechten im Verfassungstext festgeschrieben werden und
dass die Einhaltung dieser Rechte durch eine bestimmte, heute demokrati-
sche und rechtsstattliche Organisation des Zusammenlebens sichergestellt
wird. Auch das sogenannte Staatsorganisationsrecht hat letztlich die Auf-
gabe, den einzelnen Bürger in seinen Grundrechten zu schützen. Und da
diese Rechte allem anderen Recht vorgelagert bzw. übergeordnet sind, ist
auch die Verfassung „vorgelagert“, d. h. sie steht über dem positiven Recht
und hat die Funktion, das einfache Recht abändern zu können, ohne selbst

32
K. Hesse, Grundzüge, 11.
33
R. Zippelius / Th. Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 42.
II. Die Entwicklung des Verfassungsgedankens 167

abgeändert werden zu dürfen. Die Verfassung entzieht sich damit dem Zu-
griff der sozialen Gewalten und der verschiedenen Interessengruppen einer
Gesellschaft. Sie entzieht sich letztlich sogar einem demokratischen Mehr-
heitswillen. Sie ist nur durch ein besonderes Verfahren und nur in bestimm-
ten Teilen demokratisch abänderbar. Im Übrigen steht sie unantastbar über
der gesamten Rechtsordnung.

Ein weiterer wichtiger Gesichtspunkt kommt hinzu. Verfassungen haben


auch die Aufgabe, die politische Einheit34 herzustellen bzw. zu bewahren. Sie
sollen durch die Schaffung einer gleichförmigen Rechtsordnung durch Be-
achtung der für alle gleichen Grundwerte ein politisch einheitliches Gemein-
wesen ermöglichen. Durch den Grundsatz „Gleiches Recht für alle“ wird in
dem Territorium, für das die jeweilige Verfassung gilt, auch die gesellschaftli-
che Gleichförmigkeit gewährleistet. Die Verfassung sagt verbindlich und für
alle gleich, wie Interessenkonflikte zu lösen sind und welche gemeinsamen
Grundentscheidungen als Kriterien hierfür zur Verfügung stehen und be-
achtet werden müssen. Durch diese Funktion wird eine wichtige politische
Aufgabe der Verfassung abgedeckt.
Ein weiterer Aspekt ergibt sich aus dem Wandel der Auffassung vom Staat.
Den „Staat“ sah man früher in einem grundsätzlichen Gegensatz zur „Gesell-
schaft“. Er war ein abstraktes, zeitloses, über der Geschichte stehendes Ge-
bilde, das sich möglichst aus der liberalen Gesellschaft der Bürger heraushal-
ten sollte. Die Gesellschaft regelte ihre Angelegenheiten selbst; der Staat
wurde überspitzt als „Nachtwächterstaat“ gesehen, der nur die notwendigste
äußere Ordnung zu wahren hatte. Insbesondere hatte er nicht in Rechte der
Bürger einzugreifen.
Dieser aus einer „vordemokratischen liberalen Vorstellung der Zeit vor
1918“35 stammende Dualismus ist heute weitgehend aufgehoben. „Staat“ und
„Gesellschaft“ durchdringen in modernen Demokratien einander so sehr,
dass man keine scharfen Trennungslinien mehr ziehen kann. Die großen
„sozialen Gewalten“ und Interessenverbände (Gewerkschaften, Wirtschafts-
verbände, Parteien, Kulturträger usw.) nehmen immer stärkeren Einfluss auf
den Staat und gestalten ihn mit. Umgekehrt beteiligt sich der Staat zuneh-
mend am öffentlichen Leben und ist auch hier gestaltend und lenkend tätig.

34
K. Hesse, Grundzüge, 5.
35
Ebd., 8.
168 Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung

Er hat zudem nach herrschender Auffassung konkrete Schutzpflichten. Er


hat also nicht nur – passiv – die Freiheit der Bürger zu respektieren, sondern
soll auch – aktiv – an der Sicherung der Bürgerrechte mitwirken, indem er
die nötigen Vorkehrungen für deren Realisierung trifft, z. B. durch Bereit-
stellung von Gerichten und Polizei, Absicherung von Demonstrationen,
Ausbau des Bildungswesen, Integration von Migranten, Mitgestaltung des
Rundfunk- und Fernsehwesens, Ausbau des Gesundheitswesens, Erhaltung
der Umwelt, Klimaschutz, Absicherung des atomrechtlichen Genehmigungs-
verfahrens usw.
Die Gegenüberstellung von Staat und Gesellschaft ist daher heute weitge-
hend aufgehoben. Man spricht deshalb in der Verfassungs- und Staatslehre
oft, beides zusammenfassend, vom „Gemeinwesen“.36 Trotzdem bleibt der
Staat als „regulierende Instanz“ für die Abwicklung des gesellschaftlichen
Lebens und für einen verfahrensmäßig abgesicherten Interessenausgleich als
übergeordnete Einrichtung erforderlich. Wenn er regulierend und unter
Anwendung seines Gesetzes- und Gewaltmonopols eingreift, ist er wieder der
neutrale Staat, der über den gesellschaftlichen Interessen steht.
Dieser Auffassung entspricht die „Lehre von den grundrechtlichen Schutz-
pflichten“ in einer modernen Verfassung. Die Schutzverpflichtung des Staates
ergibt sich danach unmittelbar aus der Verfassung und den dort verankerten
Grundrechten. Diese sind nicht nur zu „gewähren“, sondern aktiv zu schüt-
zen und gegen Gefährdungen abzusichern. Der Staat hat Vorsorge zu betrei-
ben. Hierher gehört auch der Begriff der „Sozialstaatlichkeit“. Das deutsche
Grundgesetz enthält zwar kaum direkte soziale Rechte, sondern überwiegend
die klassischen liberalen Freiheitsrechte37, ist aber verstärkt im Sinne einer
„Sozialstaatlichkeit“ zu interpretieren. Aus den vorhandenen Grundrechten
ist eine aktive Schutzpflicht des Staates herauszulesen.
Ein weiteres schwieriges Thema ist hierbei noch die Frage der „Drittwir-
kung“ der Grundrechte.38 Gelten die Grundrechte auch im Verhältnis der
Bürger zueinander? Hierbei ist zu beachten, dass die Formulierung der ersten
schriftlichen Verfassungen in einer Zeit erfolgt ist, in der es galt, die Zugriffe
eines absolutistischen Staates abzuwehren. Es ging um Herrschaftsbeschrän-
kung im Rahmen eines Über- und Unterordnungsverhältnisses. Hier sollte

36
K. Hesse, Grundzüge, 9.
37
Chr. Tomuschat, Die Einheit von liberalen Freiheitsrechten und sozialen Rechten, 141.
38
R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 261; K. Hesse, Grundzüge, 156.
II. Die Entwicklung des Verfassungsgedankens 169

der Bürger gegen einen übermächtigen Staat geschützt werden. Wir sprechen
hier von der „Staatsgerichtetheit“ der Grundrechte.
Diese Situation haben wir aber beim Verhältnis der Bürger untereinander
nicht. Hier stehen sich zwei im Grundsatz gleichberechtigte und juristisch
gleich starke Individuen gegenüber, deren Beziehung der freien Gestaltung
überlassen ist. Es gibt Vertragsfreiheit und niemand wird gezwungen, einen
für ihn nachteiligen Vertrag abzuschließen. Tut er es trotzdem, kann er hin-
terher nicht die Verletzung des Gleichheitssatzes geltend machen. Es war sein
eigener, freier Entschluss. Wenn ein Zeitungsredakteur sich in seinem Ar-
beitsvertrag verpflichtet, die politische oder weltanschauliche Linie seines
Verlages zu unterstützen, kann er sich nachträglich nicht mehr auf Art. 5 GG
berufen, obwohl er in seinem Recht auf freie Meinungsäußerung beeinträch-
tigt ist. Diese Einschränkung hat er sich selbst auferlegt. Sie ist ihm nicht
aufgezwungen worden.
Diese dogmatisch an sich richtigen Überlegungen gehen aber an der Wirk-
lichkeit vorbei. Es gibt in jeder Gesellschaft neben dem Staat viele nichtstaat-
liche „soziale Gewalten“39, Verbände, Presse, Wirtschaftsimperien, Konzerne,
Handelsketten, Gewerkschaften, Kirchen, Parteien, Interessenvertretungen
jeder Art, die eine faktische Machtposition erlangt haben und diese miss-
brauchen können. Auch ein einzelner Privatmann kann einem anderen
überlegen sein. Hier taucht die Frage auf, ob die verfassungsmäßigen Grund-
rechte nicht doch direkte Wirkung zeigen sollten.
Dieses Problem wird in Rechtsprechung und Lehre kontrovers diskutiert.
Kann die grundsätzliche Vertragsfreiheit der Bürger durch die Grundrechte
eingeschränkt werden? Wann dürfen Gerichte privatrechtliche Verträge oder
faktisches Verhalten Privater unter Berufung auf die Grundrechte für un-
wirksam erklären? Ein erster Ansatzpunkt für diese Überlegungen sind die
im Privatrecht geltenden Generalklauseln, z. B. § 138 BGB („gute Sitten“)
oder § 242 BGB („Treu und Glauben“). Hier kann man Grundrechtsüberle-
gungen einfließen lassen. Weiterhin hat die Rechtsprechung schon sehr früh
unter Berufung auf die Menschenwürde des Art. 1 GG ein allgemeines Per-
sönlichkeitsrecht entwickelt, das die Beachtung der menschlichen Würde in
Privatverträgen verlangt. Diese Entwicklung der Rechtsprechung ist noch
nicht abgeschlossen. Die Geltung von Grundrechten im privaten Verhältnis
und nicht nur gegenüber dem Staat wird aber zunehmend ausgedehnt.

39
R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 261.
170 Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung

Es gibt noch weitere Fragen zum Thema Staat – Verfassung – Grundrechte,


z. B. die Frage des Gottesbezuges oder der Verfassungslegitimation, die aber
nicht mehr hier, sondern im folgenden Kapitel bei der Erörterung der „Ver-
fassung“ des Alten Testaments, bestehend aus dem Dekalog und weiteren
grundlegenden Rechtsvorschriften, behandelt werden sollen.
III. Verfassungscharakter des apodiktischen Rechts
III. Verfassungscharakter des apodiktischen Rechts

Die Frage, ob der Dekalog oder andere Bestimmungen des apodiktischen


Rechts den Charakter einer Verfassung im juristischen Sinne beanspruchen
können, ist bisher noch nicht näher erörtert worden. Es gibt zwar Untersu-
chungen darüber, inwieweit der Dekalog für eine Begründung des Natur-
rechts in Betracht kommt oder ob er unmittelbare Menschenrechte formu-
liert1; die naheliegende Frage, ob er auch als eine Verfassung im staatsrechtli-
chen Sinne angesehen werden kann, wurde aber noch nicht gestellt. Dabei ist
es übereinstimmende Auffassung, dass die Menschenrechte oder noch allge-
meiner das Naturrecht ohne eine schriftliche Normierung wirkungslos blei-
ben. Insoweit kommt das Naturrecht nicht ohne seinen ständigen Wider-
sacher, den Rechtspositivismus aus; denn historisch gesehen wurden Men-
schenrechte immer erst dort lebendig, wo sie in einer Verfassung verankert
und damit rechtlich und moralisch „einklagbar“ wurden.
Eine Betrachtung der Menschenrechte ist deshalb ohne eine Hinzuziehung
der Verfassungsfrage unvollständig. Auch die Schwierigkeit und letztendliche
Unmöglichkeit, aus dem abstrakten Naturrecht konkrete, für alle Zeiten und
alle Gesellschaften gültige „materiale Inhalte“ zu ermitteln2, zwingt dazu, sich
mit denjenigen Erscheinungsformen zu beschäftigen, in denen dennoch ver-
sucht wurde, das Naturrecht und die daraus resultierenden Menschenrechte
zu konkretisieren und in die reale Welt zu holen. Und dies sind Verfassungen
von Staaten und Gesellschaften, wobei hier die Verfassung im materiellen
Sinne gemeint ist, nämlich unter Einbeziehung aller grundlegenden Rechts-
quellen, also neben einer Verfassungsurkunde auch der Rechtsprechung
eines Verfassungsgerichts als Interpret der Verfassungsordnung oder weite-
rer Verfassungsgesetze. Wenn deshalb in den nächsten Kapiteln auch der
Dekalog als Verfassung untersucht werden soll, so ist zu beachten, dass er in
einem solchen Zusammenhang nicht oder nicht nur als Ausdruck göttlichen
Willens zu werten ist, was sich objektiver Betrachtung entzieht, sondern als
einer der vielen Versuche, grundlegende Normen für das Zusammenleben

1
Vgl. Kap. III, Ziff. 5.
2
Vgl. die Ausführungen von H. Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 219.
172 Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung

der Menschen zu schaffen. Der Dekalog ist so gesehen eine Verfassung von
vielen, wobei er zwar die erste, aber nicht die einzige ist. Im Folgenden soll
versucht werden, den Dekalog an den verschiedenen Kriterien einer Verfas-
sung zu messen und zu beurteilen.

1. Entstehungszeiten

Verfassungen sind nie der Beginn, sondern immer der krönende Abschluss
einer meist langen und kontrovers verlaufenen Rechtsentwicklung. Es gibt,
historisch gesehen, keine Verfassung, die zeitlich am Anfang einer Rechts-
ordnung steht. Mit ihr beginnt zwar immer eine neue Ära, sie fußt aber auf
der zurückliegenden Ordnung, die von ihr abgelöst oder abgeändert wird.
Die heutigen Verfassungen sind das Ergebnis eines langen Kampfes und
eines zähen Ringens um die Menschenrechte und die beste Ordnung im
Staat. Auf dem Weg dahin mussten viele Hindernisse überwunden und viele
Rückschläge hingenommen werden. Schließlich setzte sich dann aber doch
die von Vernunft und Mehrheitswillen getragene demokratische Verfassung
durch. Verfassungsgebungen erfolgten deshalb zumeist in Zeiten revolutio-
nären Umschwungs, so wie in Frankreich, in Nordamerika oder in der
Paulskirche. Es stand immer ein sozialer Druck dahinter, der zur Schaffung
von Verfassungen führte. Diese mussten stets den Mächtigen abgetrotzt wer-
den und waren deshalb immer ein Instrument der Herrschaftsbegrenzung,
aber auch einer Herrschaftsbegründung für eine demokratische Gesellschaft.
Schon hieraus kann man ersehen, dass Verfassungen immer eine Vorge-
schichte haben, die sie dann selbst zum Abschluss bringen.
Eine scheinbare Ausnahme ist der Koran, der „Heilige QUR-AN“. Dieser
steht am Beginn der islamischen Bewegung und begründet diese. Trotzdem
ist er nicht der Anfang einer Rechtsentwicklung, sondern deren Abschluss.
Der Koran versteht sich selbst als Vollendung der schon mit Abraham be-
gonnenen Geschichte Gottes mit den Menschen. Es ist der gleiche Gott, der
zu Abraham, Mose, Jesus und zu den anderen Propheten gesprochen hat.
Mohammed ist dann der letzte Prophet, das „Siegel der Propheten“. „Der
Quran erhebt den Anspruch, Zusammenfassung aller religiösen Lehren aller
Zeiten zu sein und damit Vervollkommnung und Abschluß des göttlichen Ge-
setzes“.3

3
Hazrat Mirza Tahir Ahmad, Koran, Der Heilige QUR-AN, Vorwort.
III. Verfassungscharakter des apodiktischen Rechts 173

Die im Koran enthaltenen Rechtsvorschriften stehen in der Tradition des


Vorderen Orients. Auch von Mohammed neu geschaffene oder abgeänderte
Vorschriften stehen immer vor dem Hintergrund des zuvor geltenden
Rechts. Sie sollen deshalb Abschluss und Krönung der schon vorher begon-
nenen Rechtsentwicklung sein.
Dabei ist es allerdings fraglich, ob der Koran oder Teile daraus ihrem Auf-
bau nach überhaupt als eine „Verfassung“ angesehen werden können. Sie
sind sicherlich als ein geschlossener Rechtskorpus zu betrachten; eine Verfas-
sung ist aber die Zusammenstellung von grundlegenden Normen, die ihrer
Wertigkeit nach über den übrigen Normen stehen. Eine derartige „Hierar-
chie der Rechtsnormen“ ist im Koran nicht erkennbar. Er enthält auch keine
Aufzählung von Grund- oder Menschenrechten. Von islamischer Seite wird
zwar mit Nachdruck betont, dass der Islam selbstverständlich Menschen-
rechte kenne; dies ist jedoch nur sehr bedingt richtig. Menschenrechte sind
nirgends als solche formuliert; sie ergeben sich nur im Wege der Auslegung
aus anderen Vorschriften. Außerdem stehen sie, was oft nicht bedacht wird,
ausdrücklich unter dem Vorbehalt der „Scharia“4, gelten also nicht gleicher-
maßen für „Gläubige“ und „Ungläubige“. Und von grundsätzlicher Mei-
nungs- und Religionsfreiheit kann so oder so keine Rede sein. L. Kühnhardt5
hat diese Zusammenhänge ausführlich dargelegt, wobei er die gleichen
Probleme auch für andere Kulturkreise in Indien, Japan, China oder Afrika
aufzeigt. Der Islam hat noch nicht die „harte Schule der Aufklärung“ durch-
laufen.
In jedem Fall ist der Koran, selbst wenn man ihn trotzdem als eine Verfas-
sung betrachten wollte, faktisch und nach seinem eigenen Selbstverständnis,
nicht der Anfang, sondern das Ende einer langen Entwicklung. Er eröffnet
zwar eine neue, nämlich die islamische Zeitrechnung, beendet aber einen
davor liegenden Zeitraum, der mit einbezogen und zu einem Abschluss ge-
führt wird.
Alle bekannten Verfassungen sind also stets Abschluss einer Rechtsent-
wicklung. Auch der Dekalog sowie die übrigen Passagen des apodiktischen
Rechts sind eine späte Entwicklung, und zwar bezogen auf die Zeit des Ent-
stehens der Staaten Israel und Juda ab dem 12. Jahrhundert. Bereits ab die-
sem Zeitpunkt ist eine eigene israelitische Rechtsentwicklung anzusetzen.

4
Kairoer Erklärung von 1990, Art. 24: „Alle in dieser Erklärung aufgestellten Rechte und Freiheiten
unterliegen der islamischen Scharia“.
5
L. Kühnhardt, Universalität, 139.
174 Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung

Der Dekalog aus Ex 20 und aus Dtn 5 stammt demgegenüber nach Fr.
Crüsemann erst aus „spät vorexilischer Zeit“6 oder nach W. H. Schmidt aus
noch späterer Redaktionsarbeit: „Seine vorliegende Gestalt reicht wegen der
jüngeren (dtr) Sprachanteile kaum in vorexilische Zeit zurück“.7 Dabei wird
immer versucht, den Dekalog und seine Vorformen literarisch oder redak-
tionsgeschichtlich in frühere Zeiten zurückzuverfolgen. In der „älteren For-
schung“ hoffte man dabei einen „Urdekalog“ ermitteln zu können, der später
ausgeformt wurde.8 Diese Hoffnung, mit der man versuchte, doch noch
irgendwie an den Sinai zu kommen, hat man inzwischen aber aufgegeben.
Man geht heute allgemein davon aus, dass die Dekaloge aus einzelnen Reihen
zusammengesetzt wurden, die man bis in die Zeit der Schriftpropheten Ho-
sea und Micha nachzuweisen versucht.9 Damit kommt man aber auch nur
zurück bis in das 8. Jahrhundert.
In diesen Zusammenhang passt auch die Beobachtung, dass im Rahmen
der Pentateuchentwicklung die Sinai-Tradition ein Thema ist, das erst spät
zu den anderen Themen hinzugekommen ist. Schon M. Noth10 hat darauf
hingewiesen, daß die Themen „Herausführung aus Ägypten“, „Führung in der
Wüste“, „Hineinführung in das palästinische Kulturland“ und „Verheißung an
die Erzväter“, literarisch gesehen, die älteren Themen sind, mit denen das
Thema „Offenbarung am Sinai“ erst später verbunden wurde. Historisch
gesehen könnte es zwar „als ein Stück ältester uns noch erhaltener Überliefe-
rung im Alten Testament“ betrachtet werden, innerhalb der Pentateuchent-
stehung sei es aber literarisch ein jüngeres Thema11, das in die schon vorhan-
denen Hauptthemen eingebaut werden musste.
Auf die Frage, ob und welche älteren Vorformen existieren, kommt es aber
aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht an. Alle Verfassungen haben „Vorfor-
men“ bzw. bestehen aus Einzelmaterialien, die oft eine jahrhundertelange
Geschichte hinter sich haben. Das deutsche Grundgesetz hat z. B. die Be-
griffe der Menschenwürde, der Freiheit, der Gleichheit oder des Eigentums-
schutzes auch nicht „erfunden“. Diese Begriffe lagen schon lange vor und
sind nur neu gestaltet und zusammengesetzt worden. Und dies ist der ent-
scheidende Akt, nicht die rechtsgeschichtliche Zurückverfolgung einzelner

6
Fr. Crüsemann, Bewahrung, vgl. 1. Teil, Kap. IV, Ziff. 1.
7
W. H. Schmidt, Zehn Gebote, 26.
8
Ebd., 27.
9
Ebd., 30.
10
M. Noth, Überlieferungsgeschichte, 46.
11
Ebd., 65.
III. Verfassungscharakter des apodiktischen Rechts 175

Grundrechte zu einem meist doch nur fiktiven „Ursprung“. Derartige Unter-


suchungen sind wichtig für das Verständnis einzelner Rechtssätze, aber nicht
für die Frage ihrer Geltung. Hierüber entscheidet allein der Zeitpunkt ihrer
Endfassung. Hier erscheinen die einzelnen Sätze in einer ganz bestimmten,
gezielten Auswahl und Zusammenstellung und gelten erst in dieser abschlie-
ßenden Fassung. Wichtig sind dann auch noch weitere zusätzliche Kompo-
nenten, wie der Hinweis auf das Volk als Souverän der Verfassungsgebung
oder der Gottesbezug. Erst alles zusammen bildet dann eine primäre Einheit,
nämlich die neue Verfassung.
Genau die gleiche Konstellation haben wir beim Dekalog. Auch hier sind
die meisten der herangezogenen Sätze wesentlich älter, weil es sich um Nor-
men handelt, die schon vorher und überall galten. Mord, Diebstahl und Ehe-
bruch waren schon immer verboten. Insoweit enthält der Dekalog nichts
Neues. Neu ist aber die Auswahl der Ge- und Verbote und die religiöse Ein-
bindung, ihre Theologisierung. Sie sind hier in einen spezifisch religiösen
Kontext gestellt, der so das Koordinatensystem für ihre Auswahl und jetzige
Bedeutung darstellt. Die Befreiungstat JHWHs ist jetzt das entscheidende
Grunddatum, aus dem sich alles Weitere ergibt. Fr. Crüsemann hat dies aus-
führlich dargelegt.12
Auch beim Dekalog kommt es also auf seine Endfassung an. Erst als diese
schriftlich fixiert vorlag (7. oder 6. Jahrhundert), können wir eine Relation
zur gesamten Rechtsentwicklung in Israel und Juda herstellen und kommen
dann zu dem Ergebnis, dass vom Beginn der Volkswerdung im 12. und 11.
Jahrhundert an bereits 500 Jahre vergangen waren. Auch der Dekalog gehört
damit, wie alle Verfassungen, in die Endphase einer Rechtsentwicklung.
Aber auch wenn man trotzdem Wert auf eine Zurückverfolgung des apo-
diktischen Rechts auf vermutete Vorformen legen möchte, käme man nicht
sehr weit zurück. Im zweiten Teil dieser Arbeit ist ausführlich dargelegt wor-
den, dass eine Entstehung des apodiktischen Rechts in einer Frühzeit Israels
ausgeschlossen ist. Historisch, sprachlich und vor allem auch rechtsge-
schichtlich sind apodiktische Rechtsformen nicht nachweisbar. Sie haben
sich, wie der Gedanke eines Naturrechts, dem sie letztlich auch angehören,
erst allmählich entwickelt.13 Die Vorstellung von übergeordnetem, allen an-
deren Gesetzen vorgelagertem Recht ist immer eine späte Entwicklung und

12
Fr. Crüsemann, Bewahrung; vgl. 1. Teil, Kap. IV, Ziff. 1.
13
Anm: Auch das von E. Gerstenberger vorgeschlagene „Sippenethos“ ist in letzter Konsequenz
Naturrecht, weil es ohne religiöse Anbindung auskommt; vgl. 1. Teil, Kap. III. 4.
176 Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung

setzt ein abstraktes Rechtsverständnis voraus, das sich erst in einer fortge-
schrittenen Rechtskultur entfalten kann.
Deshalb ist es nachvollziehbar, wenn wir in frühen „segmentären, akepha-
len Gesellschaften“ rechtshistorisch kein apodiktisches Recht vorfinden. Im
Palästina des 12. und 11. Jahrhunderts fehlt es historisch außerdem an selb-
ständigen Trägerkreisen. Israel ist bevölkerungspolitisch direkt aus Kanaan
entstanden. Und sprachlich haben wir das Problem, dass in den ersten drei
oder vier Jahrhunderten israelitischer Geschichte noch kein Hebräisch, son-
dern Phönikisch oder andere kanaanäische Dialekte gesprochen wurden.
Auch die altisraelitische Schrift ist erst ab dem 8. Jahrhundert nachweisbar,
ganz abgesehen davon, dass in früher Zeit mit einer Vielzahl von Text-
varianten und Textfamilien zu rechnen ist, die gleichberechtigt nebeneinan-
der bestanden.
Wir müssen also auch bei Vorformen des Dekalogs oder des übrigen apo-
diktischen Rechts davon ausgehen, daß es sich um späte Erscheinungsformen
des Rechts handelt. Insgesamt ist daher hinsichtlich der Entstehungszeiten
eine deutliche Parallele zwischen dem Dekalog und den heutigen Verfassun-
gen festzustellen.

2. Legitimation

Jede Verfassung hat einen „Souverän“, von dem die verfassungsgebende


Gewalt ausgeht, die „pouvoir constituant“. Nach demokratischem Verständ-
nis ist dieser Souverän das freie Volk, das sich in freier Selbstbestimmung
eine Verfassung gibt. „Das entspricht der Grundkonzeption, daß das politische
Gemeinwesen insgesamt auf den Konsens seiner Mitglieder gegründet sein
soll.“14
Die historische Wirklichkeit entsprach diesem Ideal aber nur in den we-
nigsten Fällen. Die verschiedenen Verfassungen der Neuzeit haben alle eine
sehr eigene Geschichte, die nicht immer streng demokratisch war. Etliche
Verfassungen in den deutschen Ländern vor und auch wieder nach der
Paulskirche waren sogar „oktroyierte“ Verfassungen. Sie waren einseitig vom
Monarchen erlassen worden. Dieser war zwar nach demokratischen Maßstä-
ben hierzu nicht legitimiert, hatte aber de facto die verfassungsgebende Ge-

14
R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 50.
III. Verfassungscharakter des apodiktischen Rechts 177

walt. Die auf diese Weise erlassenen Verfassungen waren „legal“, nämlich
faktisch geltendes Verfassungsrecht, unabhängig von der Zustimmung des
Volkes.
Sogar bezüglich des deutschen Grundgesetzes vom 23.5.1949 wurde ein
solcher „Legitimationsmangel“ diskutiert.15 Dies beruhte darauf, dass die
Verfassungsgebung unter der „Ägide“ der Besatzungsmächte stand und nicht
durch eine Volksabstimmung oder Nationalversammlung erfolgte. Außer-
dem war das Grundgesetz ursprünglich nur für ein Provisorium, nämlich die
westlichen Zonen, gedacht. Es wurde im Verfassungskonvent in Herrenchiem-
see zunächst im Entwurf erarbeitet und dann dem Parlamentarischen Rat in
Bonn zur weiteren Beratung vorgelegt. Nach verschiedenen Änderungen, die
z. T. auf Vorbehalten und Änderungswünschen der Alliierten beruhten,
wurde dann am 8.5.1949 das künftige „Grundgesetz für die Bundesrepublik
Deutschland“ beschlossen. Nach Genehmigung durch die Militärgouver-
neure stimmten die Länderparlamente, mit Ausnahme Bayerns, zu. Am
23.5.1949 wurde das Grundgesetz dann offiziell verkündet.16
Die Mitglieder des Verfassungskonvents und des Parlamentarischen Rates
waren direkt von den bereits bestehenden Länderparlamenten gewählt wor-
den. Dies war demnach keine unmittelbare Wahl durch das Volk. Außerdem
bestand nach wie vor Besatzungsrecht. Dieses wurde durch das von den Mi-
litärgouverneuren erlassene „Besatzungsstatut“ fortgeführt. Hierin wurden
zwar die Autonomie der Bundesrepublik anerkannt, aber auch erhebliche
Rechtsvorbehalte gemacht. Es wurde sogar der generelle Vorbehalt aufge-
nommen, aus Gründen der Sicherheit direkt kraft Besatzungsrechts eingrei-
fen zu können.17 Von voller Souveränität konnte also nicht die Rede sein.
Die Frage der Legitimation hat sich aber inzwischen „durch Zeitablauf“
erledigt. Die Geltung des Grundgesetzes wird von niemandem mehr bezwei-
felt, ganz abgesehen davon, dass sich dieses Gesetz als eine der bestmöglichen
Verfassungen herausgestellt hat. Es basiert unmittelbar auf den Erfahrungen
von 1945 und hat zudem die lange deutsche Verfassungsgeschichte hinter
sich, über die die nötige Praktikabilität verfassungsrechtlicher Normen ein-
gebracht werden konnte.
Für die Rechtsvorschriften des Alten Testaments, insbesondere die Nor-
men des apodiktischen Rechts, stellt sich die gleiche Frage. Wer hatte die

15
R. Zippelius / Th. Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 51.
16
D. Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, 341.
17
Ebd., 343.
178 Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung

Kompetenz, diese Vorschriften zu erlassen? Und wenn die biblischen Be-


richte bei dieser Frage die Gesetze und insbesondere den Dekalog unmittel-
bar auf Moses bzw. Gott zurückführen, dann ist diese Erklärung juristisch
nicht verwertbar. Der Verfassungsrechtler muss fragen, wer faktisch hinter
den Bestimmungen steht und als „Verfassungsgeber“ in Betracht kommt.
Und selbst wenn sich einzelne Personen oder Institutionen ermitteln lassen,
bleibt immer noch die offene Frage, mit welcher – juristischen – Legitimation
sie handelten.
Dies lässt sich für das Alte Testament aber nicht sicher beantworten. Mose
scheidet aus historischen Gründen aus. In Betracht kämen vielleicht das Jeru-
salemer Obergericht oder König Joschija, mit dem „Buch des Gesetzes“, dem
späteren Deuteronomium. Auch die Hasmonäerzeit wäre denkbar. Hierüber
gibt es aber keine sicheren Erkenntnisse. Es bleibt weitgehend Spekulation.
Dies gilt m. E. auch für die Auffassung von R. Albertz, „daß die gesamte dtn.
Reformgesetzgebung eben diesem Obergericht selber oder seinem engsten Um-
feld entstammt.“18 Gerichte erlassen in der Regel aber keine Gesetze. Es
könnte sich nur um sogenanntes Richterrecht handeln, das sich aus bestän-
diger Rechtsprechung ergibt. Die Rechtsvorschriften entsprangen vielmehr
mehreren Traditionssträngen, die bei Gerichten, am Hofe, im Tempel, im
Exil und von Schriftgelehrten zusammengestellt und redigiert wurden, bis sie
dann schließlich im heutigen masoretischen Text als Gesamtkorpus vorlagen.
Wir haben damit zwar eine umfangreiche Gesetzessammlung, aber keinen
Gesetzgeber. Wir könnten hierfür nur noch die Masoreten aus Jamnia oder
Tiberias in Anspruch nehmen, da diese für die letzte Fassung verantwortlich
waren.
Ist damit die Frage nach der „Legitimation“ oder „Legalität“ des Alten
Testaments hinfällig? Sicher nicht, denn wir wissen z. B. aus Qumran, aus
dem Neuen Testament, von Flavius Josephus und vielen anderen Quellen,
dass die alttestamentlichen Schriften überall präsent waren und nicht nur
religiöse, sondern auch rechtliche Relevanz hatten, wobei beides nicht scharf
zu trennen ist. Sie hatten also eine weitgehende „Geltung“ und waren aner-
kannt. Und dies ist auch im heutigen Verfassungsdenken ein anerkanntes
Kriterium. Die „Akzeptanz“ einer Verfassung kann fehlende demokratische
Legitimation bei ihrem unmittelbaren Erlass nachträglich ersetzen bzw. aus-
gleichen. „Diese verfassungstragende Akzeptanz bildet … im historischen Ab-

18
R. Albertz, Theologisierung, 137.
III. Verfassungscharakter des apodiktischen Rechts 179

lauf die wesentliche Grundlage für die Legitimität einer Verfassungsordnung;


ihr gegenüber verliert auch die Frage nach der ursprünglichen Legitimität der
Verfassungsgebung an Bedeutung: For the Legislator is he, not by whose autho-
rity the Lawes were first made, but by whose authority they now continue to be
Lawes (Th. Hobbes, Leviathan, Kap. 26).“19
Mit diesem Argument behilft man sich auch beim deutschen Grundgesetz.
Die etwas zweifelhafte Legitimation seines Erlasses „wurde fortschreitend
durch die Akzeptanz der Verfassungsordnung seitens der später Geborenen
ersetzt.“20 „Die Effektivität des Grundgesetzes und damit dessen normative
Kraft, das politische Leben zu gestalten, steht seit Erlaß des Grundgesetzes
außer Frage.“21
Unter diesem Gesichtspunkt kann dann auch das Alte Testament als legi-
time Verfassungsordnung betrachtet werden. Einer Anerkennung des Deka-
logs als Verfassung stünde insoweit nichts im Wege.

3. Gottesbezug

Der sogenannte Gottesbezug war und ist bis heute bei allen Verfassungen ein
„heißes Eisen“. Darf in einer Verfassung, die für alle Bürger gleichermaßen
gelten soll, Bezug auf Gott oder eine Religion genommen werden, wenn Bür-
ger mit verschiedenem Glauben und unterschiedlicher Konfession in der
jeweiligen Gesellschaft zusammenleben? Muss nicht gerade in einer Verfas-
sungsordnung, die als wichtigsten Bestandteil die in der Aufklärung mühsam
errungenen säkularisierten Grundrechte enthält, auf eine derartige Festle-
gung verzichtet werden? Die gleichberechtigte pluralistische Gesellschaft ist
heute ein wichtiges Kennzeichen jeder Demokratie. Andererseits beruht jede
staatliche Ordnung und damit insbesondere auch die jeweilige Verfassung
auf einer historisch gewachsenen Werteordnung und einem bestimmten
Menschenbild. Dieses ist in Europa primär christlich geprägt. Warum also
keinen Gottesbezug?
K.-Th. Frhr. zu Guttenberg22 hat in seiner Arbeit über europäische und
amerikanische Verfassungen in einem eigenen Kapitel über den Gottesbezug

19
R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 51.
20
R. Zippelius / Th. Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 52.
21
Ebd., 52.
22
K.-Th. Frhr. zu Guttenberg, Verfassung und Verfassungsvertrag, 373.
180 Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung

sehr anschaulich die unterschiedlichen Regelungen in den europäischen


Verfassungen zusammengestellt. Danach weisen nur die Verfassungen von
Dänemark, Griechenland, Irland, Deutschland, Schweiz und Großbritannien
in ihrer Präambel einen direkten Gottesbezug auf, die übrigen nur indirekt
oder gar nicht. Wie aufwendig diese Präambeln sein können, zeigt die irische
Verfassung:

„Im Namen der Allerheiligsten Dreifaltigkeiten, von der alle Autorität kommt
und auf die, als unserem letzten Ziel, alle Handlungen sowohl der Menschen
wie der Staaten ausgerichtet sein müssen, anerkennen Wir, das Volk von Irland
in Demut alle unsere Verpflichtungen gegenüber unserem göttlichen Herrn, Je-
sus Christus, der unseren Vätern durch Jahrhunderte der Heimsuchung hin-
durch beigestanden hat …“23

Ähnlich lang ist der Bezug in der griechischen Verfassung. Der Hinweis des
deutschen Grundgesetzes ist demgegenüber eher bescheiden. Hier heißt es
nur:

„Präambel
Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem
Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem
Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfas-
sungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben.“24

Wie ist dabei die Formulierung „Verantwortung vor Gott“ gemeint? U. Di


Fabio, Verfassungsrichter, schreibt hierzu in seiner Einführung zum Grund-
gesetz: „Dies ist keineswegs hohles Pathos, sondern schöpft aus den tiefsten
Quellen unserer Kultur. Mit dem Gottesbezug machen die Deutschen ihre
christliche Identität deutlich.“25 Di Fabio hält den Gottesbezug für eine „be-
wußte Geste der Demut, ein Gegengewicht gegen jede Hybris einer Selbstver-
götterung menschlicher Vernunft“26.
Mit diesen Äußerungen dürfte der Autor aber etwas zu weit gegangen sein.
Gerade das Verfassungsdenken und insbesondere die Normierung angebo-
rener, unveräußerlicher Menschenrechte sind ein Verdienst der Aufklärung,
also der Vernunft. Das christliche Mittelalter war hierzu nicht in der Lage.
Erst die zunehmende Enttheologisierung des Naturrechts brachte die heuti-

23
K.-Th. Frhr. zu Guttenberg, Verfassung und Verfassungsvertrag, 385.
24
Grundgesetz, Beck-Texte im dtv, 2005, 15 (Hervorhebung vom Verf.).
25
Ebd., VII, Einf. v. U. Di Fabio.
26
Ebd., VII.
III. Verfassungscharakter des apodiktischen Rechts 181

gen Menschenrechte.27 Man kann also nicht nachträglich, auch nicht nach
1945, die christlichen Grundlagen der Naturrechtsdebatte wieder in den
Vordergrund rücken und von einer „Hybris der Selbstvergötterung menschli-
cher Vernunft“ sprechen, mit der nach U. Di Fabio offenbar zu rechnen ist,
wenn man den – christlichen – Gottesbezug vergisst. Mit einer solchen Ein-
stellung kann man die Akzeptanz einer Verfassung durch alle Bürger nicht
fördern. „Mit welchem Recht werden Früchte, die auf dem Baum der Vernunft
gewachsen sind, mit einemmal vom Baum der Offenbarung gepflückt?“28 Eine
sehr zutreffende Bemerkung!
Richtiger dürften deshalb die Ausführungen im Lehrbuch zum Deutschen
Staatsrecht von R. Zippelius / Th. Würtenberger sein, wo ausgeführt wird,
dass sich das Grundgesetz „weder zu einem christlichen Staat noch zu einer
prochristlichen Programmatik“ bekennt; „die weltanschauliche und religiöse
Neutralität des Grundgesetzes gilt auch für seine Präambel“.29 Der Gottesbe-
zug sei vielmehr der allgemeine Ausdruck, „daß die Verfassung wie alles
Recht vor dem Forum einer transzendenten Institution unvollkommenes Men-
schenwerk ist.“30 Gott wird hier also auf eine „transzendente Institution“ redu-
ziert. Dies lässt aber für alle Bürger aller Konfessionen und Weltanschau-
ungen Raum, sich mit dieser Verfassung zu identifizieren, was primäre Auf-
gabe einer verfassungsmäßigen Ordnung ist.

Außer bei den bis hierher erörterten nationalen Verfassungen war der Got-
tesbezug bei der Schaffung einer europäischen Verfassung besonders bri-
sant. Unter dem Motto „Ehre sei Gott … in der EU!“31 wurde heftig um Got-
tes Präsenz in einer für ganz Europa geltenden Verfassung gestritten.32 Von
27 Plenartagungen im verfassungsplanenden Konvent von 2003 wurden drei
ganze Tage für die Diskussion um Werte und Ziele der Europäischen Union
benötigt.
Auch in Deutschland wurde diese Diskussion sehr kontrovers geführt.
Insbesondere die Kirchen gaben Stellungnahmen ab, so z. B. 2004 der Rats-
vorsitzende der Evangelischen Kirche Wolfgang Huber zusammen mit dem
Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz Karl Kardinal Lehmann, die

27
G. Oestreich, Geschichte, 35.
28
H. Welzel, Naturrecht, 231.
29
R. Zippelius / Th. Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 2008, 79.
30
Ebd., 79.
31
K.-Th. Frhr. zu Guttenberg, Verfassung, 375, Fußnote 10.
32
Ebd. 377.
182 Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung

sich beide für einen präzisen Gottesbezug in einer Europäischen Verfassung


aussprachen.33
Nach langen Diskussionen im europäischen Konvent, wobei Frankreich
immer der Anführer der „gottlosen“ Fraktion war, wurde schließlich für den
Verfassungsentwurf folgende Kompromissformel gefunden, die in der deut-
schen Fassung lautet:

„In dem Bewußtsein ihres geistig-religiösen und sittlichen Erbes gründet sich
die Union auf die unteilbaren und universellen Werte der Würde des Men-
schen, der Freiheit, der Gleichheit und Solidarität.“

Dabei ist diese offizielle deutsche Fassung eine bewusste Erweiterung des
beschlossenen Textes. Im Französischen heißt es nämlich nur „patrimoine
spirituel et moral“ und im Englischen „spiritual and moral heritage“.34 In der
deutschen Version ist der Begriff „spirituel“ bzw. „spiritual“ eigenmächtig
mit „geistig-religiös“ wiedergegeben worden. Auch an dieser Episode kann
man den heftigen Kampf um einen angemessenen Gottesbezug erkennen.
Dieser Verfassungsentwurf konnte sich aber in den nationalen Ratifizie-
rungsverfahren nicht durchsetzen. Frankreich und die Niederlande waren
dagegen. Er wurde schließlich ersetzt durch den Vertrag von Lissabon vom
1.12.2009, in dem ebenfalls kein direkter Gottesbezug enthalten ist. Es heißt
hier in der Präambel lediglich: „… schöpfend aus dem kulturellen, religiösen
und humanistischen Erbe Europas …“ 35
Zusammenfassend kann man feststellen, dass die Frage nach einem Gottes-
bezug unterschiedlich beantwortet wird. Beide Varianten sind möglich.
Wichtig dürfte aber immer sein, dass auch bei einem Gottesbezug und einem
Verweis auf die christliche Religion oder Tradition die Neutralität der Ver-
fassung gewahrt bleibt, so wie dies beim Deutschen Grundgesetz der Fall ist.
Hier wird Gott nur in der Präambel erwähnt; ansonsten ist es eine Verfas-
sung, die ganz in der abendländischen aufgeklärten Tradition steht. Aber
auch bei Verfassungen, die einen stärkeren Gottesbezug aufweisen und die
die Trennung von Staat und Religion nicht immer konsequent durchhalten,
spricht man von gültigen Verfassungen im staatsrechtlichen Sinne. Ein feh-
lender oder ein vorhandener Gottesbezug haben also keinen Einfluss auf den
Verfassungscharakter.

33
H. Görlich, W. Huber, K. Lehmann, Verfassung ohne Gottesbezug?
34
K.-Th. Frhr. zu Guttenberg, Verfassung, 376.
35
V. Kreilinger, Europäische Gottesbezüge, Vortrag LMU München 2010, 2.
III. Verfassungscharakter des apodiktischen Rechts 183

Interessant ist, dass sogar die französische „Declaration des droits de


l’homme et du citoyen“ von 1789 einen Gottesbezug enthält, wenn auch nur
in Gestalt einer Kompromissformel:

„Infolgedessen anerkennt und erklärt die Nationalversammlung in Gegenwart


und unter dem Schutz des allerhöchsten Wesens folgende Menschen- und
Bürgerrechte:“36

Obwohl in der französischen Nationalversammlung die „Aufklärer“ gegen-


über den „Christen“ die Mehrheit hatten und sich in sachlichen Fragen
meistens durchsetzen konnten, nahm man die zitierte Formulierung auf.
„Man wählte diese Formel, weil die Masse des Volkes aus überzeugten Katho-
liken bestand, die anderen Deisten waren, und man benötigte die Geistlich-
keit.“37

Bei den Rechtsvorschriften des Alten Testaments ist der Gottesbezug dem-
gegenüber eindeutig. Zumindest in der vorliegenden Endfassung (MT) ste-
hen alle Vorschriften unter Gottes Autorität. Beim Dekalog gibt es deshalb,
wie in vielen heutigen Verfassungen auch, eine „Präambel“, die hier aller-
dings eine sehr spezifische Formulierung hat:

‫ֵאת֛יָך ִמצ ַ ְ֖רי ִם מ ֵ ִ֣בּ ֥ית ֲעב ִ ֑ ָֽדים׃‬


ִ ‫ֲשׁר ה ֹוצ‬
֧ ֶ ‫ֱֹלהיָך א‬
֑ ֶ֔ ‫ְהו֣ה א‬
ָ ‫אָ ֽנ ִ ֹ֖כ ֙י י‬

„Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat, aus dem Sklaven-
haus“; Ex 20, 2, Einheitsübersetzung 1980

Dies ist die Grundaussage, die über dem ganzen folgenden Rechtskorpus
steht. Dabei spielt es dann keine Rolle, dass die einzelnen Vorschriften des
Dekalogs wahrscheinlich schon länger existierten. Der Dekalog ist aus meh-
reren Einzelreihen zusammengestellt worden, die in früheren Zeiten auch
ohne direkten Gottesbezug bestanden haben mögen. Hier im Dekalog sind
sie aber „theologisiert“ worden, um ihre Rechtsverbindlichkeit außer Zweifel
zu stellen.38

36
W. Frotscher / B. Pieroth, Verfassungsgeschichte, 29 (Hervorhebung vom Verf.).
37
G. Oestreich, Geschichte, 69.
38
Vgl. R. Albertz, Theologisierung.
184 Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung

Wichtig ist dabei, dass der Gott des Exodus und nicht der Gott der Schöp-
fung oder der Tora gewählt wurde. Das hat seinen guten Grund. Religionsge-
schichtlich ist der Exodus das „religiöse Schlüsselerlebnis“ Israels39, und nicht
der Gedanke an die Schöpfung oder den Sinai. Dies kam erst später hinzu.
Zunächst war das Erlebnis der Befreiung durch den Exodus das Grunddatum
der sich entwickelnden Religion Israels. Der Gott JHWH muss von Anfang
an damit verknüpft gewesen sein, so dass er die Autorität wurde, auf die sich
dann später das Recht und insbesondere der Dekalog bezogen. Hieraus re-
sultiert dann auch die Auswahl der Rechtssätze. Diese sollten dazu dienen,
die innere und äußere Freiheit des israelitischen Bürgers zu sichern, was nur
unter Berufung auf den Gott des Exodus möglich erschien.40
Wir haben also beim Dekalog den typischen Aufbau einer Verfassung vor
uns: eine Präambel mit Gottesbezug, in der auf das Grundverständnis der
Rechtsgemeinschaft verwiesen wird, und einen Katalog von Vorschriften
(Grundrechten), die unter der Obhut dieser Präambel stehen.
Hierzu passt genau der Hinweis von M. Köckert, dass von den verschiede-
nen Rechtskorpora des Alten Testaments allein der Dekalog eine Präambel
enthält.41 Dies entspricht genau dem Aufbau einer modernen Rechtsord-
nung. Auch hier hat nur die Verfassung eine Präambel. Alle weiteren Gesetze
benötigen eine derartige Deklaration nicht mehr, da sie Ausläufer der in der
Verfassung niedergelegten Grundordnung sind und damit der gleichen Prä-
ambel unterstehen. Auch dies ist ein Beleg für den Verfassungscharakter des
Dekalogs.

4. Vertragscharakter / Bund

Sowohl die Rechtsordnung des Alten Testaments wie auch die heutigen
Verfassungsvorstellungen sind getragen vom Bundesgedanken. Ein Bund
bzw. ein Vertrag sind Ausgangspunkt und Begründung der rechtlichen Ord-
nung.
Dies ist beim Dekalog und den folgenden Rechtsvorschriften offensichtlich
und wird in der Rahmenerzählung deutlich zum Ausdruck gebracht, z. B. im
Deuteronomium (5,2):

39
R. Albertz Religionsgeschichte, Teil 1, 76; M. Noth, Überlieferungsgeschichte, 50.
40
Vgl. Fr. Crüsemann, Bewahrung, 1993.
41
M. Köckert, Zehn Gebote, 44.
III. Verfassungscharakter des apodiktischen Rechts 185

‫ְהו֣ה אֱֹל ֵ֗הינוּ כּ ַ ָ֥רת עִמָּ ֛נוּ בּ ִ ְ֖רית בְּח ֵ ֹֽרב׃‬


ָ ‫י‬

„Der Herr, unser Gott, hat am Horeb einen Bund mit uns geschlossen“; Ein-
heitsübersetzung 1980

Dieser Bundesgedanke durchzieht die gesamte Rechtsordnung, wobei es sich


nicht um einen Bund zwischen Gleichgestellten, sondern zwischen Gott als
Souverän und seinem Volk handelt. Das Wort ‫ בּ ִ ְ֖רית‬bedeutet deshalb auch
weniger einen Bund, als vielmehr eine auferlegte oder freiwillig übernom-
mene Verpflichtung42, die zwischen zwei, wenn auch nicht gleichgestellten
Vertragspartnern besteht.
Diesen Grundgedanken finden wir auch im modernen Verfassungsleben.
Der zwischen Herrscher und Volk geschlossene Verfassungsvertrag war die
ursprüngliche Begründung dieses Instituts. Dabei ging es primär darum,
Übergriffe des absolutistischen Staates zu verhindern. Der Gedanke der
Herrschaftsbegrenzung war vorrangig. Ausgehend von den amerikanischen
Verfassungen trat dann aber mehr und mehr die Vorstellung von einem
„Grundvertrag aller mit allen“ in den Vordergrund, durch den nach Wegfall
der englischen Kolonialherrschaft Herrschaft neu begründet und geregelt
werden sollte.43 Es war ein großer Gesellschaftsvertrag, den das Volk mit sich
selbst abschloss. In Weiterführung dieser Idee sah man dann das Volk als den
Souverän, der die verfassungsgebende Gewalt innehat. Es blieb aber immer
der Vertragsgedanke im Hintergrund bestehen. Die allgemeine Akzeptanz ist
wichtiges Kriterium einer heutigen Verfassung.44
Wir können also auch hier eine Übereinstimmung von Vorstellungen des
Alten Testaments mit modernem Verfassungsdenken feststellen.

5. Grundrechtskatalog

Alle modernen Verfassungen enthalten, zumeist am Anfang nach der Prä-


ambel, einen Grundrechtskatalog. Auf diese Weise soll die besondere Be-
deutung der Grundrechte, die die Verkörperung der Menschenrechte dar-
stellen, hervorgehoben werden. Auch das deutsche Grundgesetz ist in dieser

42
Gesenius, Hebräisches und Aramäisches Handwörterbuch, 17. Aufl., 116.
43
Chr. Winterhoff, Verfassung, 17.
44
R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 45.
186 Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung

Form aufgebaut. Es soll deshalb hier geprüft werden, ob auch das apodikti-
sche Recht mit dem Dekalog Menschen- bzw. Grundrechte enthält.
Dabei ist jedoch eines zu beachten. Nicht jede Rechtsvorschrift, die den
Schutz des Menschen vor Willkür und Habgier beinhaltet oder die Ansprü-
che auf soziale Leistungen sichert, ist deshalb schon ein Menschenrecht. Man
kann jede rechtliche Bestimmung letztlich auf allgemeine Rechtsgrundsätze
und auf grundlegende Menschenrechte zurückführen. Strafrechtsnormen
schützen z. B. Freiheit, Leben und Eigentum. Mietvorschriften schützen den
sozial Schwachen und das Erbrecht schützt in allen seinen Verästelungen die
Testierfreiheit und das Eigentum. Deshalb stehen alle Rechtsnormen im
großen Kontext der Menschenrechte. Zu diesen selbst zählen aber nur dieje-
nigen grundlegenden Rechte, die das Minimum dessen darstellen, was jeder
Mensch kraft Geburt beanspruchen darf. Sie sind die Richtschnur, der gro-
ßen Rahmen, an dem sich die allgemeine Rechtsordnung, also das positive
Recht, und staatliches Handeln auszurichten haben. Wie diese Rechtsord-
nung dann konkret aussehen soll, muss durch den weiteren Akt der Schaf-
fung positiven Rechts verwirklicht werden. Erst hier finden wir konkrete
Normen, in denen Rechtsfolgen angeordnet werden. Diese sind sozusagen
die Ausführungsbestimmungen der Menschenrechte bzw. des Naturrechts,
ohne selbst schon Menschenrechte zu sein.
Deswegen enthalten die Grundrechtskataloge der verschiedenen Verfas-
sungen in aller Regel auch nur allgemeine Grundsätze. Diese sind nicht ka-
suistisch, sondern apodiktisch aufgebaut. Die apodiktische Redeweise lässt
sich am deutschen Grundgesetz in den Artikeln 1 bis 19 genau beobachten:
„… ist unantastbar“, „Jeder hat …“, „Alle Menschen sind …“, „Niemand darf
…“ oder „… wird gewährleistet.“ Diese sprachliche Form entspricht der Er-
kenntnis, dass das Naturrecht, aus dem sich die Menschenrechte herleiten,
selbst auch keine konkreten Rechtsfolgen enthält. Diese ergeben sich erst bei
der Schaffung von positiven Rechtsnormen. „Es gibt keine rechtliche Sank-
tion45 von Natur aus … Es gibt daher keinen Bereich, in dem naturrechtliche
Normen mit ‚positivem‘, d. h. Rechtsfolgen schaffendem Inhalt möglich wä-
ren.“46 Die konkreten Inhalte ergeben sich erst durch das positive, also das
nicht-apodiktische Recht.

45
Rechtsfolge im kasuistischen Sinne.
46
G. Otto, Was darf man vom Naturrecht erwarten?, 12.
III. Verfassungscharakter des apodiktischen Rechts 187

Und genau dieses Verhältnis können wir auch beim apodiktischen Recht
des Alten Testaments feststellen. Die apodiktische Redeweise lässt sich in
Idealform beim Dekalog beobachten. Kürzer und präziser geht es nicht. Aber
auch die alten hebräischen ‫אָרוּר‬- oder die ‫מוֹת יוּמָת‬-Reihen sind apodiktisch
formuliert. Der Fluch und der Todesspruch sind nur formelhafte Wendun-
gen, die keine Rechtsfolgen im eigentlichen kasuistischen Sinn enthalten.
Diese Bestimmungen könnte man unter Weglassung dieser Formeln ohne
weiteres umformulieren in „Du sollst …“ oder „Du darfst nicht …“, ohne
dabei ihren Inhalt zu verändern.
Die inhaltlichen Aussagen des Dekalogs entsprechen – in ihrer Weise –
den allgemeinen Menschenrechten. Das ist im christlichen Mittelalter von
einigen Theologen auch untersucht worden.47 Dabei wurde allerdings der
Denkfehler gemacht, den Dekalog nur als Begründung der Menschenrechte,
z. B. auf Leben oder Eigentum zu betrachten, sozusagen als vorgelagertes
göttliches Naturrecht, aus dem die Menschenrechte abzuleiten wären. Der
Dekalog ist aber nicht das Naturrecht selbst, auch nicht ein göttliches, son-
dern der Versuch, das hier als Gottes Willen verstandene Naturrecht, so gut
es ging, in Worte zu fassen. Der Dekalog ist deshalb auch nicht die Zusam-
menfassung allen Rechts, er ist nicht der Extrakt oder der Fond der Tora,
sondern eine von vielen Möglichkeiten, letzte ewige Werte zu konkretisieren.
Dies ist auch der Grund, weshalb im jüdischen Bereich keine selbständige
Menschenrechtsdiskussion in Gang kam. Die Fixierung auf die im Text vor-
liegende Tora als Gottes endgültig offenbartem Willen verhinderte eine wei-
tergehende Betrachtung. „Eine eigenständige jüdische Auffassung oder Ent-
wicklung der Menschenrechtsidee läßt sich in der vorliegenden Forschung nicht
auffinden.“48
Dass der Dekalog nicht Gottes „letzter Wille“, nicht sein alles abschließen-
des Testament ist, kann man aber auch schon daraus ersehen, dass die Rege-
lungen des Dekalogs keineswegs vollständig sind und es auch nicht sein sol-
len und können. Dies hat Fr. Crüsemann sehr anschaulich dargelegt.49
Danach ist der Dekalog eine bewusste Auswahl von Vorschriften zu einem
bestimmten Thema, nämlich der Bewahrung der inneren und äußeren Frei-
heit der Bürger Israels, entsprechend der Selbstvorstellung JHWH’s in der
Präambel als Gott des Exodus. Bereiche, die nicht direkt zu diesem Thema

47
A. Neschke-Hentschke, Tradition und Identität Europas, 24 u. 26.
48
L. Kühnhardt, Universalität, 45 Anm. 47 a.E.
49
Fr. Crüsemann, Bewahrung der Freiheit; s. 1.Teil, Kap. IV., 1.
188 Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung

gehören, z. B. Kultvorschriften oder Armenfürsorge, wurden ausgelassen.


Der Dekalog war eine Antwort auf soziale Missstände, die durch ein zuneh-
mendes Auseinanderklaffen der armen und reichen Bevölkerungsschichten
und durch die Gefahr der Ausbeutung der Schwachen durch die politisch
und wirtschaftlich Stärkeren entstanden waren.
Der Dekalog gehört deshalb in eine bestimmte Situation und in eine be-
stimmte Gesellschaft, deren Belange zu regeln waren. Er war auf eine kon-
krete Gesellschaft und deren spezifischen Probleme „zugeschnitten“. Daraus
ergeben sich dann zwangsläufig Unterschiede zu anderen Verfassungsent-
würfen. Oder anders formuliert: der Dekalog sähe anders aus, wäre er 200
Jahre eher oder später entstanden, weil die gesellschaftlichen Verhältnisse
dann andere gewesen wären.

Dass Verfassungen immer unterschiedlich ausfallen, je nach ihrem politi-


schen Umfeld, ergibt sich aus der Erkenntnis, dass auch das Naturrecht, aus
dem die Menschenrechte entspringen, nicht für alle Zeiten gleich zu formu-
lieren ist. Wenn dem so wäre, könnte man das Postulat erheben, dass alle
Verfassungsentwürfe durch die Jahrhunderte hindurch jeweils die gleichen
Grundrechtskataloge aufweisen müssten. Dies ist aber nicht der Fall. Das
Naturrecht entzieht sich einem festen dauerhaften Zugriff. H. Welzel kommt
in seiner ausführlichen historischen Untersuchung des Naturrechts50 zu dem
nicht unbedingt pessimistischen Ergebnis, dass die Berufung auf die Natur
des Menschen immer nur eine „geistige Auseinandersetzung“ um die richtige
konkrete Entscheidung sein kann und deshalb nur ein „Kampfmittel“ ist, um
der für richtig erachteten Lösung die nötige Durchschlagskraft zu verleihen.
„Ewige Werte“, die durch die Zeiten hindurch stets den gleichen Inhalt ha-
ben, gibt es nicht.
Die Berufung auf das Naturrecht unterliegt zudem einem „Zirkelschluss“.
Um sich auf die „Natur“ zu berufen, muss diese erst definiert werden. Man
holt also letztlich nur das heraus, was man zuvor selbst hineingelegt hat.51
Wer z. B. das Vorrecht des Mannes in der Familie mit der Natur des familiä-
ren Zusammenlebens begründen will, muß diese zunächst erst selbst fest-
legen. Er muss bestimmen, dass der Mann „von Natur aus“ der Frau überge-
ordnet ist. Diese Ansicht hat Jahrtausende hindurch weitgehend Bestand

50
H. Welzel, Naturrecht, 236.
51
Ebd., 241.
III. Verfassungscharakter des apodiktischen Rechts 189

gehabt und wurde erst in der Neuzeit als nicht mehr angemessen empfunden.
Was also ist die „wahre Natur“ des Mannes oder der Frau? Es kann daher
nicht so sehr darum gehen, aus einem postulierten Naturrecht „ewige Wahr-
heiten“ herzuleiten, sondern darum, sich immer des Umstandes bewusst zu
sein, dass es übergeordnete Prinzipien gibt und geben muss, nach denen sich
letztlich alles auszurichten hat, und dass diese Prinzipien stets aufs Neue für
wechselnde Verhältnisse erarbeitet werden müssen, und zwar argumentativ
und nicht durch ein Diktat.
H. Welzel beschließt seine Untersuchungen über das Naturrecht deshalb
wie folgt:

„Was aus der Gedankenwelt des Naturrechts folgt, ist nicht ein System ewiger
materialer Rechtsgrundsätze, sondern der unter stets neuen Bedingungen zu
erfüllende Auftrag an das positive Recht, dafür zu sorgen, daß der Kampf um
die richtige Gestaltung der Sozialverhältnisse eine geistige Auseinandersetzung
bleibt und nicht durch die Vergewaltigung oder gar durch die Vernichtung von
Menschen durch Menschen beendet wird.“52

Die Unvollständigkeit des Dekalogs, aus heutiger verfassungsrechtlicher


Perspektive, besteht außer in den von Crüsemann bereits erwähnten Einzel-
fällen, noch in weiteren grundsätzlichen Bereichen. Aus der Gruppe der klas-
sischen Menschenrechte werden zwar der Schutz des Lebens (5. Gebot) und
des Eigentums (7. und 10. Gebot) im Dekalog direkt angesprochen. Die
ebenso wichtigen Grundrechte der Freiheit und Gleichheit sowie der Reli-
gionsfreiheit werden dagegen nicht direkt erwähnt. Sie sind nicht expressis
verbis aufgeführt und können nur indirekt erschlossen werden.
Dabei bereitet der Freiheitsgrundsatz noch die geringsten Schwierigkei-
ten. Der gesamte Dekalog steht, ausgehend von der Präambel, unter dem
Prinzip der Freiheit. Diese ist durch JHWH im Exodus gewährt worden und
muss nun durch ein sozial gerechtes Leben abgesichert werden. Den Schutz
der Freiheit kann man daher ohne weiteres dem Dekalog insgesamt entneh-
men, auch wenn eine eigene unmittelbare Norm hierfür fehlt.
Der Gleichheitsgrundsatz ist demgegenüber schwieriger zu eruieren. Dies
liegt daran, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse der damaligen Zeit zu
berücksichtigen sind. Und diese entsprechen, wie in allen anderen umliegen-
den Territorien auch, keineswegs dem heutigen Gleichheitsanspruch. Auch
Israel war eine Sklavenhaltergesellschaft. Hieran änderte auch die alttesta-

52
H. Welzel, Naturrecht, 253.
190 Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung

mentliche Sklavengesetzgebung nicht viel. Diese verschaffte den Sklaven


zwar gewisse Rechte, das Institut der Sklaverei blieb aber bestehen. Und auch
Frauen, Knechte, Mägde, Pächter, Söhne und Töchter waren keineswegs
gleichberechtigt. Der Gleichheitsgrundsatz bezog sich nur auf den israeliti-
schen Vollbürger, den pater familias. Andererseits war der Gleichheitsge-
danke in Israel wahrscheinlich ausgeprägter als in den umliegenden Berei-
chen. Dies entsprach dem Charakter der Jahwe-Religion. Diese wird häufig
als die Religion einer „egalitären Gesellschaft“ mit antiherrschaftlicher Ten-
denz bezeichnet.53 Das ganze Volk und vor allem jeder Einzelne stand durch
den Bund in direkter Beziehung zu Gott. Die gottgewollte Ordnung wurde
nicht durch einen Repräsentanten, einen absoluten Herrscher, vermittelt, der
als Vertreter der Götter in der irdischen Welt für Ordnung und Gerechtigkeit
zu sorgen hatte. Hierfür war jeder Einzelne selbst verantwortlich. Die Gebote
der Tora galten für alle gleichermaßen, ohne Unterschied nach Rang und
Stand. Der Gleichheitsgedanke war daher im Grundsatz vorhanden und war
religiös abgesichert. So ist z. B. der Umstand zu erklären, dass Frauen aus
fremden Ländern häufig froh waren, wenn sie einen Israeliten heiraten
konnten, weil in dessen Gesellschaft für Frauen ein durch die Religion ga-
rantierter Mindestbestand an Rechten vorhanden war.
Ein weiteres wichtiges Grundrecht, das in allen heutigen Verfassungen
enthalten ist, nämlich die Meinungs-, Gewissens- und Religionsfreiheit,
fehlt im apodiktischen Recht völlig. Dies lässt sich auch nicht im Wege der
Auslegung hineininterpretieren, weil es im Rahmen des Alten Testament
„systemfremd“, besser noch „systemfeindlich“ wäre. Wenn die Propheten bei
ihren mutigen Anklagen das Recht für sich in Anspruch nahmen, ihre Auf-
fassung frei äußern zu dürfen, so ging es ihnen nicht um Meinungsfreiheit,
sondern um die Durchsetzung der richtigen, eigenen Meinung. Nur diese
hatte das Recht der freien Rede. Und wenn Elija am Kischon die 450 Priester
des Baal hinrichten ließ (1 Kön 18,40), verhalf er zwar dem JHWH-Kult zum
Durchbruch, nicht aber der Religionsfreiheit. Diese konnte es, zumindest auf
israelitischem Territorium, nicht geben. Und wenn König Manasse (2 Kön
21) trotzdem fremde Kulte tolerierte, war er in den Augen der Bibel ein
schlechter König, der mit zum Untergang Jerusalems beitrug. Auch hier war
der Wahrheitsanspruch der monotheistischen Religion stärker als religiöse
Toleranz. Diese findet sich im Alten Testament nicht. Der Gedanke des

53
Vgl. R. Albertz, Religionsgeschichte, Bd. 1, 112.
III. Verfassungscharakter des apodiktischen Rechts 191

„freien Wettbewerbs der Religionen“ ist den biblischen Texten fremd. Dieses
Problem ist aber für die Verfassungsfrage nicht entscheidend. Verfassungen
können aus späterer Perspektive durchaus falsche Wertentscheidungen tref-
fen, ohne deshalb ihren Verfassungsrang zu verlieren. Auch Diktaturen kön-
nen eine Verfassung haben, die nach demokratischem Verständnis zwar
nicht legitim, aber legal und de facto gültig ist.
Diese aus heutiger Sicht fehlende Vollständigkeit des Dekalogs und des
übrigen apodiktischen Rechts ist also kein Grund, diesem den Charakter
einer Verfassung zu nehmen. Verfassungen sind immer für eine bestimmte
Zeit und eine bestimmte Gesellschaft gedacht. Ändern sich die Zeiten, än-
dern sich auch die Verfassungen. Nach heutiger Auffassung ist nur wichtig,
dass die elementaren Grundrechte auf Leben, Freiheit, Gleichheit und
Eigentum als solche geachtet werden. Die Ausformulierung kann dann im
Detail für jede Verfassung unterschiedlich ausfallen. Nur in ihrem Wesens-
gehalt dürfen die Grundrechte bzw. Menschenrechte nicht angetastet wer-
den.
Unterschiedliche Formulierungen, aber auch das Fehlen von Grundrech-
ten, die in anderen Verfassungen selbstverständlich sind, machen eine Ver-
fassung nicht ungültig. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass z. B. die
deutsche Reichsverfassung von 1871 überhaupt keinen Grundrechtskatalog
enthält, sondern auf die einzelnen Landesverfassungen verweist, die insoweit
aber keineswegs einheitlich waren. Unterschiedliche Formulierungen und
Unvollständigkeiten sind im heutigen Verfassungsleben historische Selbst-
verständlichkeiten und unschädlich. Auch eine unvollständige Verfassung
bleibt eine Verfassung.

Ein interessanter Unterschied des Dekalogs zu heutigen Grundrechtsnormen


besteht in der direkten Anrede: „Du sollst …“. Hier ist das „Du“ der Adressat
der Gebote. Damit ist jeder Einzelne gemeint, also auch der Herrscher, Be-
amte, Steuereintreiber, Pächter, Feldherr usw., so dass letztlich die Gesamt-
heit der Gesellschaft verpflichtet wird. Bei den modernen Verfassungen ist
dagegen der Staat mit seinen verschiedenen Organen der Adressat der
Grundrechte. Dieser ist verpflichtet, sich an bestimmte Grundsätze zu halten
und sie vor einer Verletzung durch Dritte zu bewahren. Dieser selbständige
und anonyme Staatsbegriff ist aber ein Produkt der Moderne. Er war in Israel
noch nicht bekannt. Deshalb musste der Dekalog anders formulieren. Even-
tuell wären allgemeine Sätze mit „Jeder ist verpflichtet …“ denkbar gewesen;
192 Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung

die direkte Anrede mit „Du“ ist aber viel expressiver und verpflichtender.
Hier kann sich niemand ausklammern; jeder wird gleichermaßen angespro-
chen.
Gleichzeitig wird mit dieser Anrede auch das Problem der Drittwirkung
der Grundrechte umgangen. Diese Frage brachte dem modernen Verfas-
sungsdenken gewisse dogmatische Schwierigkeiten, die sich erst allmählich
durch eine extensive Rechtsprechung der oberen Gerichte und des Bundes-
verfassungsgerichts beseitigen ließen. Die Diskussion zu diesem Thema hält
aber noch an. Hier im Dekalog ist das Problem durch die Form der Anrede
sozusagen mit einem Federstrich erledigt worden. Die Verfasser der Deka-
loge konnten diese spezifische Frage als solche noch nicht direkt im Blick
haben; der Grundgedanke, nämlich die Verpflichtung von jedermann, ist
aber der gleiche.

Bei der Frage der Grundrechte kommen wir also insgesamt zu dem Ergebnis,
dass unterschiedliche Inhalte und unterschiedliche Formulierungen für die
Verfassungsfrage unerheblich sind. Das apodiktische Recht kann trotz seiner
Beschränkung auf bestimmte Themen als Verfassung betrachtet werden.

6. Hierarchie der Rechtsnormen

Aufgabe jeder Verfassung ist es, dem jeweiligen Gemeinwesen eine rechtliche
und politische Grundordnung zu geben. Um dies sein zu können, muss sie
allem anderen Recht vorgeordnet sein. Sie ist die Richtschnur, nach der sich
die Rechtsordnung zu entwickeln hat. Sie muss deshalb fest und unverrück-
bar über dem positiven Recht stehen, welches dann nur die Ausformung der
in dieser Verfassung niedergelegten Grundsätze ist. Wir sprechen hier von
der „Hierarchie der Rechtsnormen“.
Das hat nicht nur theoretische, sondern auch praktische Konsequenzen.
Gesetze, die der Verfassung widersprechen, sind entweder von vornherein
nichtig oder können von einem Verfassungsgericht für verfassungswidrig
und damit ungültig erklärt werden. Letzteres setzt natürlich voraus, dass die
betreffende Verfassung auch eine Verfassungsgerichtsbarkeit vorsieht, wie
z. B. in den USA den Supreme Court oder in Deutschland das Bundesverfas-
sungsgericht in Karlsruhe. Weiterhin muss dieses Gericht auch mit den ent-
sprechenden Kompetenzen ausgestattet sein, was in der Weimarer Republik
III. Verfassungscharakter des apodiktischen Rechts 193

noch nicht der Fall war. Aber auch hier hatte die Verfassung einen überge-
ordneten Rang und starken appellativen Charakter. Die drei demokratischen
Gewalten Legislative, Exekutive und Judikative waren zumindest in einem
theoretischen Anspruch an die Verfassungsgrundsätze gebunden.
Diese Konstellation haben wir auch beim apodiktischen Recht. Beim Deka-
log ist dies schon aus der Rahmenerzählung über seine Schaffung und Be-
kanntgabe zu ersehen. In diesem Zusammenhang können wir die Absicht des
Erzählers direkt heranziehen, weil sie dem sogenannten „Willen des Gesetz-
gebers“ entspricht, und zwar dem des jeweils letzten. Wenn der Dekalog also
früher in einem anderen Zusammenhang gestanden hat und vielleicht aus
mehreren einzelnen Teilen zusammengesetzt worden ist, spielt dies hier
keine Rolle. Wichtig ist, wie er nach dem Willen des zuletzt tätigen Redak-
tors, vergleichbar dem zuletzt tätigen Gesetzgeber, aussehen sollte und wel-
che Stellung und Bedeutung ihm jetzt beigemessen wird. Und wenn nach den
biblischen Berichten der Dekalog das erste und wichtigste Gesetz ist, das
Mose direkt von Gott erhalten hat, dann soll es dieses auch sein. Der hier
zuletzt tätige Redaktor hatte insoweit die „Gesetzgebungskompetenz“ oder
genauer die „verfassungsgebende Gewalt“. Vorangegangene abweichende
Erzählungen werden, wie frühere Gesetze, durch den neuen Bericht verbind-
lich abgeändert und „gelten“ nicht mehr. Die Suche nach einem „Urdekalog“
ist also nicht erforderlich, ganz abgesehen davon, dass hinter einem solchen
Bemühen oft die irreführende fundamentalistische Auffassung einer höheren
Dignität einer früheren Fassung steht.
Der Dekalog hat damit auch von seiner Stellung im Text her eindeutig den
Rang übergeordneten Rechts. Er soll, so will es die Erzählung, die Grundlage
des Bundes und damit der gesamten Rechtsordnung Israels sein. Er kann
durchaus als eine geschlossene Verfassungsurkunde mit Präambel und
Grundrechtskatalog und damit als eine Verfassung im formellen Sinne ver-
standen werden.

Aber auch das übrige apodiktische Recht erhält durch seine Einordnung in
die Texte den Charakter von Grundsatz- oder Rahmenbestimmungen. Dies
hat Eun-Ae Lee überzeugend nachgewiesen.54 Die drei Gesetzeskorpora des
Bundesbuches, des Deuteronomiums und des Heiligkeitsgesetzes sind jeweils
von Normen des apodiktischen Rechts eingefasst, die ihnen, nach Eun-Ae

54
Eun-Ae Lee, Forschungsgeschichte, 173ff.; vgl. 1. Teil, Kap. IV, 5.
194 Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung

Lee, einen „sakralen Rahmen“ geben sollen. Diese sakrale Rahmung kann
man von einer verfassungsrechtlichen Sicht her auch als Einfassung durch
Grundsatznormen mit Verfassungsrang auffassen. Diese stehen dann zwar
nicht in einem geschlossenen Korpus wie der Dekalog und könnten deshalb
nicht als Verfassung im formellen Sinne angesehen werden, wohl aber als
Bestandteile einer Verfassung im materiellen Sinne.55 Sie haben dann eben-
falls übergeordnete Geltung.

7. Rechtswirklichkeit

Die in den vorangegangenen Kapiteln erörterten Einzelkriterien haben erge-


ben, dass man das apodiktische Recht mit einer Verfassung im heutigen
Sinne vergleichen kann. Eine ganz andere Frage ist, ob eine solche „Verfas-
sung“ auch im täglichen Rechtsleben in Israel Wirkung gehabt und tatsäch-
lich eine alle anderen Gewalten bindende Funktion ausgeübt hat. Es stellt
sich das Problem der Rechtswirklichkeit der alttestamentlichen Normen.
Diese Frage lässt sich nicht mit Sicherheit beantworten. Ob der Dekalog
eine die Gesetzgebung bindende und korrigierende Wirkung gehabt hat,
wissen wir nicht. Eine Verfassungsrechtsprechung im eigentliche Sinne
dürfte es im alten Israel nicht gegeben haben. Ob z. B. das Jerusalemer Ober-
gericht oder das spätere Synhedrion ein „Normenkontrollverfahren“ durch-
führen konnten, ist zu bezweifeln. Hierzu fehlte die rechtliche Institutionali-
sierung einer derartigen Gerichtsbarkeit und auch ein spezifisch verfassungs-
rechtliches Denken. Die in Dtn 17,8–13 wiedergegebenen neuen Kompeten-
zen des Jerusalemer Obergerichts scheinen zwar in diese Richtung zu deuten.
Sie geben aber diesem Gericht doch nur den Status einer „letzten Instanz“,
deren Entscheidungen zwar unbedingte Rechtskraft haben, die aber keine
Verfassungsrechtsprechung im eigentlichen Sinne sind. Auch die Möglich-
keit, Fälle aus der städtischen Gerichtsbarkeit in Jerusalem zur Entscheidung
vorzulegen, entspricht eher der auch im heutigen Recht gegebenen Möglich-
keit einer „Vorlage“ schwieriger Fälle an ein höheres Gericht, wenn z. B. in
Strafsachen ein Oberlandesgericht von der Rechtsprechung eines anderen
Oberlandesgerichts abweichen will. Dann kann die Sache durch Beschluss

55
Vgl. 3. Teil, Kap. II.
III. Verfassungscharakter des apodiktischen Rechts 195

dem Bundesgerichtshof vorgelegt werden. Aber auch dies ist noch keine
Verfassungsrechtsprechung.
Im Übrigen währte die deuteronomische Reformgesetzgebung nicht lange.
Mit dem Tode von König Joschija 609 v. Chr. war diese Ära sehr schnell
wieder vorüber, so dass wir nicht wissen, ob und wie lange das Jerusalemer
Obergericht tätig war.56
Die fehlende bzw. nicht nachweisbare Rechtswirklichkeit führt aber nicht
dazu, dem apodiktischen Recht die Qualität einer Verfassung abzusprechen.
Wir hatten schon bei der Frage der Legitimation57 gesehen, dass eine dauer-
hafte Akzeptanz einer Verfassung als ausreichend angesehen wird. Weiterhin
gibt es Verfassungen, die wie in Weimar ohne eine präzise ausgebaute Ver-
fassungsrechtsprechung auskommen. Und sogar Verfassungen, die niemals
offiziell in Kraft getreten sind, sind in der Theorie, als Entwürfe, von ihrem
Aufbau her mögliche Verfassungen. Bekanntestes Beispiel ist die Paulskir-
chen-Verfassung, die nicht mehr in Kraft treten konnte.58 Trotzdem war sie
als Modell Vorbild für viele weitere deutsche Verfassungen und wurde nicht
etwa als unbrauchbar oder weniger kompetent angesehen. Die Möglichkeit,
eine geltende Verfassung sein zu können, reicht insoweit aus.

8. Geltendes Recht

Verfassungen und die darin enthaltenen Grundrechte sind geltendes Recht,


kein reines Ethos mit nur paränetischem Charakter. Für das deutsche
Grundgesetz ergibt sich dieses direkt aus Art. 1 Abs. 3:

„Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt


und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.“

Sie enthalten zwar keine direkte Rechtsfolge oder Sanktion, sie sind apodik-
tisch formuliert, binden aber das übrige Recht, das sich nur in dem von der
Verfassung vorgegebenen Rahmen entfalten kann. Verlassen einzelne Nor-
men diesen Rahmen, sind sie verfassungswidrig und unwirksam. Insofern
haben Grundrechte unmittelbare rechtliche Relevanz.
Die gleiche Konstruktion können wir für den Dekalog und das übrige apo-

56
R. Albertz, Theologisierung, 137.
57
Vgl. 3. Teil, Kap. III, Ziff. 2.
58
G. Oestreich, Geschichte, 93.
196 Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung

diktische Recht annehmen. Es handelt sich um geltendes Recht im verfas-


sungsrechtlichen Sinne, indem es die Grundordnung vorgibt, nach der sich
das übrige Recht zu richten hat. Dieses kann die einzelnen Grundrechte zwar
eigenständig ausfüllen und konkretisieren, muss sich aber immer an den
Grundgedanken des Grundrechts halten. So muss der Grundsatz des fünften
Gebots: „Du sollst nicht ohne rechtfertigenden Grund töten“ näher konkreti-
siert werden, indem für den Einzelfall eine Differenzierung in Mord, Tot-
schlag, fahrlässige Tötung, Notwehr, übergesetzlichen Notstand, Todesstrafe,
Abtötung der Leibesfrucht, Kriegseinsatz usw. vorgenommen wird; der
Grundsatz selbst muss aber immer erhalten bleiben und zwingt zu einer ge-
nauen Abwägung der verschiedenen Rechtsgüter für den zu regelnden Ein-
zelfall.
Die Grundsatzkataloge der heutigen Verfassungen und der Dekalog haben
also die gleiche Funktion und sind in diesem Sinne geltendes Recht.
IV. Ergebnis
IV. Ergebnis

Die vorangegangenen Erörterungen haben gezeigt, dass das apodiktische


Recht inhaltlich und formal mit heutigen Verfassungen verglichen werden
kann. Nicht nur der „erste Anschein“, auch eine Untersuchung von Detail-
fragen haben eine erstaunliche Übereinstimmung ergeben.
Sowohl das moderne Verfassungsrecht als auch das alttestamentliche apo-
diktische Recht sind späte Entwicklungen. Sie stellen geistesgeschichtlich
einen Höhepunkt des Rechtslebens dar. Sie erfordern beide eine gedankliche
Durchdringung des Rechts und eine hoch entwickelte Rechtskultur. Der
Gedanke einer schriftlichen Formulierung grundlegender Regeln und die
Ausformung von Menschen- oder Grundrechten sind immer das Produkt
einer langen Entwicklung und intensiver geistiger Auseinandersetzung, oft
verbunden mit revolutionären Umbrüchen. So stammt auch das apodiktische
Recht nicht aus einer Frühzeit Israels, auch wenn sein „Entdecker“ A. Alt es
noch in die Wüste verlegen wollte. Es ist, ausgehend von allgemeinen und
wohl noch unverbindlichen Vorformen, erst spät entstanden und steht nicht
am Anfang der israelitischen Rechtsentwicklung. Das kasuistische Recht, als
das allgemeine vorderorientalische Recht, lässt sich durch die Jahrhunderte
hindurch weit über die Zeit des 11. und 12. Jahrhunderts hinaus zurückver-
folgen. Das apodiktische Recht taucht demgegenüber wie aus dem Nichts
unvermittelt auf und tritt uns erst in der biblischen Endgestalt in wohldurch-
dachter und sicherer Formulierung entgegen. Es bildet in der Rahmenerzäh-
lung den Anfang der gesamten Gesetzgebung.
Das apodiktische Recht hat wie das Verfassungsrecht den höchsten Rang in
der Hierarchie der Rechtsnormen. Es bildet die Grundlage aller Rechts-
überlegungen und steht damit über dem übrigen positiven kasuistischen
Recht. Ob diese Vorrangstellung im täglichen Rechtsleben aktualisiert wer-
den konnte, ist ein nur sekundäres Problem und schmälert nicht die grund-
sätzliche, theoretische Priorität dieses Rechts.

Verfassungen sind über die Idee der Menschenrechte letztlich Ausdruck


eines übergesetzlichen, wenn auch postulierten Naturrechts. Dies ist für das
198 Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung

heutige Verfassungsrecht allgemeiner Konsens. Aber auch das apodiktische


Recht kann m. E. nicht anders gesehen werden, auch wenn es in jüdischer
Überlieferung als unmittelbare göttliche Offenbarung betrachtet wird. Wir
müssen aber berücksichtigen, dass auch der Dekalog menschlicher Vorstel-
lungskraft entspringt, die ihrerseits einen Anhalt an vorgegebenen, ewig gül-
tigen Werten suchen muss, um Entscheidungen treffen zu können. Und diese
vorgegebenen Werte werden in der Bibel als Inhalt göttlichen Willens gese-
hen, was von der Funktion her gleichbedeutend ist. Sowohl das Naturrecht
als auch Gottes Wille muss in menschliche Worte gekleidet werden, um
wirksam werden zu können. Beides ist den jeweiligen Texten vorgelagert und
kann zu verschiedenen Zeiten auf verschiedene Weise zum Ausdruck ge-
bracht werden.
Dabei mindert diese juristische, verfassungsrechtliche Betrachtungsweise
keineswegs den Wert und die Würde des Dekalogs. Im Gegenteil, sie zeigt
deutlich, welch überlegene geistige Leistung die Schaffung eines solchen
Rechts darstellt. Die schriftliche Fixierung einer „Verfassungsurkunde“, die
dem übrigen Recht vorgeordnet ist, ist für die damalige Zeit einmalig. Keine
der anderen Rechtsordnungen aus Israels Umfeld hat diesen Gedanken je
hervorgebracht. Und auch später dauerte es über 2000 Jahre, bis sich in
Nordamerika und Europa wieder Verfassungsdenken durchsetzen konnte.
Das, was die Aufklärer und die vielen Denker vor ihnen durch viele Jahrhun-
derte hindurch mühsam erkämpft haben, erscheint im Alten Testament wie
selbstverständlich als Teil einer großen durchdachten Rechtsordnung. Wo-
rüber in der Antike und im christlichen Mittelalter rein akademisch und
ohne praktische Auswirkungen vergebens diskutiert wurde, war mit dem
Dekalog bereits lange vorher verwirklicht worden. Die Einordnung des De-
kalogs in die allgemeine Rechtsordnung als übergeordnete Verfassung ist
deshalb gerade aus dieser verfassungsrechtlichen Sicht eine herausragende
kulturhistorische Leistung Israels.

Der Dekalog und die übrigen Sätze des apodiktischen Rechts bilden nicht nur
die weitaus älteste, sondern auch die langlebigste Verfassung, die zwar ihren
ursprünglichen historischen Geltungsbereich verloren hat, deren lange Wir-
kungsgeschichte aber bis heute nicht abgeschlossen ist.1

1
Vgl. z. B. E. Wolf, Rechtsgedanke und biblische Weisung, 1948, der sich ausführlich mit den Zehn
Geboten als „Weisungen“ für Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung auseinandersetzt.
Er sieht sie allerdings nicht als Ausfluss eines absoluten, gerechten Naturrechts, welches er aus
IV. Ergebnis 199

Das vorliegende Ergebnis lässt sich noch genauer dahin präzisieren, dass
erst eine verfassungsrechtliche Betrachtung die besondere Funktion des De-
kalogs deutlich macht. Die einzelnen Sätze sind für sich allein betrachtet nur
allgemeiner Natur. Sie sind auch schon vor der Entstehung des biblischen
apodiktischen Rechts zu allen Zeiten und in allen Kulturen auf ver-
schiedenste Weise gedacht und formuliert worden. Der Dekalog bringt des-
halb, von der Theologisierung in den ersten Sätzen abgesehen, nichts Neues
und nichts spezifisch Israelitisches. Er ist inhaltlich gesehen kein Novum der
biblischen Autoren, sondern nur eine Zusammenstellung allgemeiner
grundlegender Normen, die auch schon vorher präsent waren und in vielen
anderen Völkern Beachtung beanspruchten.
Völlig neu und auf lange Zeit einmalig ist dagegen die Form ihrer Präsen-
tation. Sie werden in einem festgefügten Rechtskorpus mit präzisem Aufbau
und unter dem Grundmotiv der Freiheit als Grundlage des Bundes und als
verbindliche Richtschnur für das Leben des Volkes und seiner Rechtsord-
nung vorgestellt. Sie sind die oberste Ordnung innerhalb einer Hierarchie
von Rechtsnormen und entsprechen damit genau dem, was wir heute eine
Verfassung nennen. Das Entscheidende beim Dekalog ist deshalb nicht der
Inhalt, sondern die rechtliche Funktion.
Und aus diesem Grunde behält der eingangs auf S. 135 zitierte Charles de
Gaulle nun doch nicht Recht. Gerade weil der Dekalog von juristisch, ge-
nauer verfassungsrechtlich denkenden Autoren verfasst wurde, ist er so klar
und präzise und soll eindeutige und apodiktisch formulierte Grundnormen
wiedergeben.

protestantischer Sicht ablehnt; die Gebote seien „mehr als Natur- und Vernunftsrecht, weil sie der
Natur Schranken und der Vernunft Ziele setzen“ (S. 53). In ihrer Funktion sieht er sie dann letzt-
lich aber doch so wie ein übergeordnetes Naturrecht, auch wenn er dieses nicht gelten lassen will.
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Abkürzung:
WUB = Welt und Umwelt der Bibel, Zeitschrift für Archäologie, Kunst,
Geschichte, Katholisches Bibelwerk e.V., Stuttgart

Hinweis:
Aufgeführt wurde nur die tatsächlich benutzte Literatur. Es wurde darauf
verzichtet, zu jedem Einzelthema eine umfangreiche Bibliographie zusam-
menzustellen.
Register

Namen und Sachen


Abraham 83, 88, 109 Egalitäre Gesellschaft 47 Jonadab 40
Ägypten 85 f., 91 Elija 190 Joschafat 50
Ägyptergruppe 72, 104f., Erbrecht 63f. Joschija 65, 71
106 Ethnogenese 86 Joseph 113
Ai 95 Ethnologie 118 ff. Juda 81
Akephalie 121f. Europäische Verfassung Kain 124
Akephale Gesellschaften 181 Kamel 82, 109 f.
36f., 121f. Exodus 104f. Kanaan 19, 21, 71f., 101,
Akzeptanz 178 Fernhandel 91f. 139
Aleppo 80 Finkelstein, I. 14, 79. 90, Kant, I. 143
Alt, A. 11ff., 17ff., 26ff., 70 93f. Kasuistisches Recht 11,
Amarna 80, 86, 108 Flavius Josephus 117 18ff.
Ammon 98 Fluchreihe 23 Khazanu 80
Amos 150ff. Gedächtnisgeschichte 85ff. Kleines Credo 83, 111
Amphiktyonie 14, 21, 33ff. Gibea 49 Klima 90f.
Apodosis 29 Goten 89 Kinneret 91
Araber 109 Gott der Väter 82 Komparative Methode 11,
Aram 111 Gottesbezug 67, 179ff. 127
Aramäer 111 Grundgesetz 66, 69, 134, Koran 172
Archäologie 77ff., 97ff. 162, 177 Kosmotheismus 84
Aristoteles 137f. Grundrechte 66f., 157f., Laban 49
Aton 84, 86 185f. Landnahme 35 ff., 95 ff.
Augustinus 140 Gunkel, H. 11, 18, 38, 74 Lachisch 95
Ausdifferenzierung 52 Hapiru 36, 80, 102, 108f. Legitimation 176, 178
Baal 72 Haran 80 Lex Rössler 29, 57
Beduinen 109 Hatti 91 Lineages 37
Bill of Rights 160 Hazor 80 Locke, J. 142 f.
Bund 184f. Hebräische Rechtsgemein- Magna Charta 159
Bundesbuch 58 de 50 Manasse 190
Bundeserneuerungsfest 25 Heiligkeitsgesetz 59 Megidao 80
Bundesverfassungsgericht Herodes 117 Menschenrechte 137 ff.
162 Hethitische Staatsverträge Merenptah 96
Byblos 80 32f. Metanorm 52, 132
Case law 19 Hethiterreich 81 Michas Heiligtum 49
Codex Hammurapi 15, 20, Hierarchie 166, 192ff., 197 Midian 106
29, 31f., 103 Isaak 83, 88 Mirjam 106
David 108 Israel 74, 78, 88, 96 Moab 98
Dekalog 24, 33, 41f., 43ff., Israel-Stele 95, 104 Monotheismus 83ff., 140
73, 133, 149, 187ff. Israeliten 95, 104 Mosaische Unterscheidung
Deurbanisierung 99 Izbet-Sartah 97 84
Dina 49 Jakob 49, 83, 88, 21 Mose 48ff., 65, 83ff.
Drittwirkung 168, 192 Jericho 78, 95, 130 Moseschar 73, 104 f.
Echnaton 86 f. Jerusalemer Obergericht Mykene 79, 92
Edom 98 50, 194 Naturvölker 75
208 Register

Naturrecht 139, 142f., Rebekka 109 Stoa 138


188f., 197f. Rechtspositivismus 144 Surveys 93, 95
Nomaden 35f., 102, 106, Reformation 141 Tabu 127
109ff. Reihenbildung 22 Talionsrecht 21
Noth, M. 14, 48, 83 Retribalisierung 99 Tekoa 49
Nuer 126 Rezente Gesellschaften 75, These 73
Otto, E. 13, 52 118, 131 Thomas v. Aquin 140
Palastherrschaften 80f. Reziprozität 122 Tiryns 81
Palästina-Archäologie 78 Rollkragenkrüge 101 Tora 43
Pater familias 37, 40 Rut 49 Transhumanz 35, 110
Patriarchen 71f., 81ff., 88 Schamreihe 23 Transmigration 110
Patrilineare Lineages 37 Scharia 146, 173 Vasallenverträge 32f., 42
Paulskirche 161 Schasu 80, 102, 111 Verfassung 135ff., 157ff.
Pentapolis 92 Schweine 98f. Verfassungsrecht 68
Philister 92f. Seevölker 92 Vier-Raum-Häuser 95,
Platon 137 Segmentäre Gesellschaften 101
Polytheismus 84 36f.,120ff. Völkerwanderung 89
Prohibitive 24, 30, 38f. Semiotik 55 Wellhausen, J. 18
Protasis 29 Siedlungen 93 Weimarer Verfassung 161
Proto-Israeliten 98 Silberman, N. A. 14, 79 Wesel, U. 12 f.
Pseudepigraphen 65 Sippenethos 38ff., 61, 124,
Pylos 81 133
Qarqar 100 Sozialstaat 146, 168 Die Forscher, die sich spe-
Quadratschrift 117 Stadtbewohner 107 f. ziell mit dem apodikti-
Quellen 115 f. Stadtstaaten (Kanaanäi- schen Recht befasst haben,
Ramses III. 92 sche) 12f., 19, 30, 36, ergeben sich aus dem In-
Ramses VI. 80f. 80f., 91 haltsverzeichnis (1. Teil).

Bibelstellen in Auswahl

Genesis Leviticus Jeremia


1,26 139 18,7 23 35,1–19 40
24,10–23 56
Exodus Amos
1–19 49 Numeri 2,6 153
6,3 88 27,1–11 56 2,8 154
20,1–17 41 36,1–9 56 8,6 153
20,13 30
21,1 18 Deuteronomium Galater
21,12–14 21 f. 5,2 184 3,28 140
21,18–19 21 f. 15,22f. 153
21,23–25 21, 53 26,5 83, 109, 111
22,6–7 53 27,1–10 25
22,24–27 53, 154 27,16 23
31,9–13 25

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