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Band 213
Herausgegeben von
Walter Dietrich
Ruth Scoralick
Reinhard von Bendemann
Marlis Gielen
Verlag W. Kohlhammer
1. Auflage 2017
Print:
ISBN 978-3-17-031129-9
E-Book-Format:
pdf: ISBN 978-3-17-031130-5
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Vorwort
Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um meine 2011 angefertigte Dis-
sertation, die von Prof. Dr. Friedemann Golka, Universität Oldenburg, be-
treut wurde. Ich bin ihm zu großem Dank verpflichtet. Er hat meine Arbeit
„an langer Leine“, aber stets hilfsbereit und aufmerksam begleitet. Er verstarb
bereits 2011. Zweitgutachter war Prof. Dr. Wolfgang Weiß, ebenfalls Univer-
sität Oldenburg, der in gewohnt kluger und sachlicher Weise die Dissertation
beurteilt hat. Als Neutestamentler konnte er etliche zusätzliche Akzente ein-
bringen.
Ein besonderer Dank gilt Prof. Dr. Walter Dietrich, Wabern/Schweiz, der
dem Kohlhammer-Verlag meine Arbeit zum Druck vorgeschlagen hat. Seine
positive gutachterliche Stellungnahme hat mich sehr gefreut. Er hat mir
gleichzeitig einige Kürzungsvorschläge gemacht, die ich gerne übernommen
habe.
Im Übrigen konnte die Arbeit ohne wesentliche Änderungen übernommen
werden. Seit 2011 neu erschienene Literatur wurde eingearbeitet. Zu dem
sehr speziellen Thema einer rechtsgeschichtlichen und verfassungsrechtli-
chen Einordnung des Dekalogs und des apodiktischen Rechts sind allerdings
keine neueren Untersuchungen erschienen. Dieses Thema wird in der theo-
logischen Literatur kaum erörtert. Einen kurzen Überblick gibt allerdings
Dominik Markl in „Der Dekalog als Verfassung des Gottesvolkes“, Freiburg
2007, S. 24ff., mit einer sehr guten theoretischen Einführung.
Der zuverlässige Einsatz meiner langjährigen Mitarbeiterin Waltraud
Oldenkamp, Westerstede, hat mir die Arbeit wesentlich erleichtert. Von
ihr wurden sämtliche Schreibarbeiten exzellent erledigt, wofür ich herzlich
danke. Ein weiterer Dank gilt Friede Hopf, Hamburg, der ich manche Anre-
gung verdanke, und meinem verstorbenen Freund Gert Steinbeck, Olden-
burg, der ebenfalls kritisch Korrektur gelesen hat. Meinem Schwager, Dr.
Wilm Hack, Petersfehn, danke ich für viele anregende Gespräche.
Ohne meine Ehefrau Hanna wäre diese Arbeit nicht entstanden. Sie hat
mir stets den Rücken frei gehalten und mich zur Weiterarbeit ermuntert. Sie
starb viel zu früh im Dezember 2014.
Berend Meyer
Inhalt
Vorwort ............................................................................................... 5
1. Teil:
Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts ...................... 11
I. Einleitung ....................................................................................... 11
V. Zusammenfassung ............................................................................. 61
8 Inhalt
Zweiter Teil:
Untersuchung einer eigenständigen Herkunft .......................... 71
Dritter Teil:
Das apodiktische Recht als Verfassung ......................................... 135
I. Einleitung
I. Einleitung
Als Albrecht Alt im Jahre 1934 seine berühmte Studie „Die Ursprünge des
israelitischen Rechts“ veröffentlichte1, war ihm sicher nicht bewusst, dass er
damit eine Lawine lostreten würde, die bis heute nicht zum Stillstand ge-
kommen ist. Sie hat sich zwar breit ausgefächert und gleichzeitig verlang-
samt, aber in Bewegung ist sie immer noch. Die Diskussion ist noch nicht
abgeschlossen und hat vor allem noch kein allgemein akzeptiertes Ergebnis
erbracht.
Die von A. Alt vorgeschlagene Einteilung der biblischen Rechtsvorschriften
in zwei große Gattungen, nämlich „Kasuistisches Recht“ und „Apodiktisches
Recht“, lag voll im Trend der von H. Gunkel (1862–1932) angestoßenen
neuen „Form- und Gattungsgeschichte“, zu dessen Schülern A. Alt gehörte.2
Insbesondere seine Einordnung bestimmter Rechtssätze unter den von ihm
eingeführten Begriff „Apodiktisches Recht“ fand von Beginn an größtes Inte-
resse, war zugleich aber auch Nährboden für fundamentalistische Spekula-
tionen3, glaubten doch viele, hier einen zwingenden Beleg für die besondere
Stellung des israelitischen Rechts gefunden zu haben. Während das kasuisti-
sche Recht der langen Tradition des allgemeinen altorientalischen Rechts-
systems und den kanaanäischen Stadtstaaten zugeordnet werden konnte,
schien das apodiktische Recht eine Größe zu sein, die nur im israelitischen
1
A. Alt, Die Ursprünge des israelitischen Rechts, Kleine Schriften zur Geschichte des Volkes Israel,
Band I, 278–332.
2
W. Härle u. H. Wagner, Theologenlexikon, 122.
3
Vgl. H. J. Boecker, Recht und Gesetz, 167; G. Fohrer, Das sogenannte apodiktisch formulierte
Recht, 50.
12 1. Teil: Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts
„Auf kanaanäische Herkunft deutet ja auch nicht das Mindeste in den apodikti-
schen Satzreihen hin, weder die Anschauungen, die aus ihnen sprechen, noch
auch nur die allgemeinen Kulturverhältnisse, die sie voraussetzen. Alles in
ihnen ist vielmehr volksgebunden israelitisch und gottgebunden jahwistisch,
auch wo das in dem knappen Wortlaut keinen unmittelbaren Ausdruck findet.“
(I, 323)
„So wissen wir nicht, ob alle im Alten Testament beschriebenen Regeln in der
Rechtswirksamkeit tatsächlich gegolten haben. Schließlich kommen die bisheri-
gen Rekonstruierungsversuche zum größten Teil aus der – jüdischen oder
christlichen – Bibelexegese, die in erster Linie nicht rechtshistorisch interessiert
war, sondern der Bestätigung theologischer Lehrmeinungen dienten. So erklärt
sich, dass es bis heute keine einzige umfassende Darstellung des alten hebräi-
schen Rechts gibt, die rechtshistorischen Ansprüchen gerecht wird.“
4
H. J. Boecker, Recht und Gesetz, 167.
5
U. Wesel, Geschichte des Rechts, 104.
I. Einleitung 13
„Wer vor der Aufgabe steht, eine Geschichte Israels zu schreiben, der hat ge-
genwärtig den Eindruck, er könne nur Hypothesengebäude auf Flugsand
bauen.“7
Es wird sogar die Auffassung vertreten, dass man auf eine Geschichtsschrei-
bung Israels, nur basierend auf den vorliegenden biblischen Texten, ganz
verzichten und sich auf eine „textlinguistische, oftmals strukturalistisch orien-
tierte Analyse der Endgestalt“ der Bibel beschränken müsse. Für die Histori-
ker sei dann die Archäologie und die historische Geographie die letzte Ret-
tung.8
6
E. Otto, Altorientalische und biblische Rechtsgeschichte.
7
E. Otto, Interdependenzen, 75.
8
Ebd., 75.
14 1. Teil: Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts
Dabei ist allerdings zu beachten, dass die Archäologie in der Tat nicht nur
destruktiv arbeitet und die biblisch fixierte Geschichte Israels demontiert,
sondern gerade für die vorstaatliche Zeit im 12. und 11. Jahrhundert viele
brauchbare Ansätze bietet, die sich insbesondere mit der Siedlungsgeschichte
befassen. Es sind aus dieser Zeit Strukturen erkennbar, die darauf schließen
lassen, dass gerade in diesem Zeitraum viele nichtsesshafte Gruppen sesshaft
wurden und damit einen Hintergrund für die biblischen Berichte von der
Landnahme und für die Richterzeit bilden können.9 Die Sachlage ist also
nicht aussichtslos.
Für einen Rechtshistoriker ist diese Situation natürlich wenig ermutigend.
Wenn er sich z. B. mit der Frage beschäftigen soll, ob hinter dem sog. apo-
diktischen Recht spezielle Trägerkreise stehen und eine eigene Herkunft
anzunehmen ist, müsste er wissen, welche Gruppierungen überhaupt in
Frage kommen und welche Bevölkerungsschichten im jeweiligen Zeitraum
existiert haben. Oder wenn von einer „Übernahme“ kasuistischen Rechts
gesprochen wird, setzt dies einen „Übernehmer“ voraus, der dieses Recht
ursprünglich nicht kannte. Dabei wird dann auf eingewanderte „Stämme“
oder „(Halb)Nomaden“ verwiesen, die sich bei ihrem Zuzug plötzlich mit
ausgebildetem Stadtrecht konfrontiert sahen. Wenn aber die Besiedelung des
Landes ohne größere Einwanderungen erfolgt ist und man mehr von einem
„Evolutionsmodell“10 ausgehen müsste, wird eine solche Annahme schon
wieder problematisch.
Gab es in vorstaatlicher Zeit wirklich die von M. Noth11 vorgeschlagene
„Amphiktyonie“, die in irgendeiner Form Träger von gemeinsamem Bundes-
recht gewesen sein könnte? Für viele Forscher war dieser sakrale Stämmever-
band eine „sichere Bank“, die Anknüpfungspunkte für viele Vorstellungen
der historischen und auch rechtlichen Entwicklung Israels bot. Ist dieses
Konstrukt aber nach heute wohl herrschender Meinung hinfällig12 oder nur
eingeschränkt denkbar, was bleibt dann für den Rechtshistoriker? Dieser hat
– für die Frühzeit – keinen festen historischen Rahmen, in dem er sich bewe-
gen könnte. Mit den neuen Arbeiten von I. Finkelstein und N. A. Silberman
kann man keine echte Rechtsgeschichte schreiben.13
9
Die heutige Palästina-Archäologie ergibt ein sehr gutes Bild der Siedlungsgeschichte und Hin-
weise auf die ersten Siedler (vgl. 2. Teil, Kap. II.2.).
10
M. Albani, M. Rösel, Altes Testament, 31.
11
M. Noth, Das System der zwölf Stämme Israels.
12
Z. B. R. de Vaux, The Early History of Israel, 700.
13
I. Finkelstein, N. A. Silberman, Keine Posaunen vor Jericho, und: David und Salomo.
I. Einleitung 15
14
H. J. Boecker, Recht und Gesetz, 57.
15
J. J. Stamm, Dekalogforschung, 189–239, 281–305.
16 1. Teil: Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts
A. Alt war nicht der erste, der sich um die Frage einer Einteilung der Rechts-
normen nach formalen oder inhaltlichen Gesichtspunkten bemüht hat. Erst
ihm gelang es aber, eine Unterteilung vorzulegen, die trotz aller Kritik – im
Grundsatz – bis heute Bestand hat. Die Bezeichnungen „kasuistisches Recht“
und „apodiktisches Recht“ haben sich durchgesetzt und werden auch von
denjenigen Forschern benutzt, die die Bezeichnung „apodiktisches Recht“
ablehnen oder nur eingeschränkt anwenden wollen und eigentlich andere
Formulierungen benutzen möchten.1 Wenn diese Begriffe genannt werden,
weiß jeder, worum es geht. Jeder Theologe kennt den Aufsatz „Die Ursprünge
des israelitischen Rechts“ von 1934. H. J.Boecker schlägt deshalb ausdrücklich
vor, diesen Begriff trotz aller Kritik beizubehalten.2
Dabei ist es schon erstaunlich, wie A. Alt auf wenigen Seiten eine derart
wichtige Materie bewältigt und einen solch zwingenden Vorschlag machen
kann3. Hinzu kommt, dass seine Art zu schreiben den Leser mitnimmt und
überzeugt. Man spürt seine Sachkenntnis und Souveränität, so dass das Lesen
seiner Texte, obwohl sie sehr spezielle Themen behandeln, schon fast eine
Freude ist. Der Leser begleitet den Autor auf seiner Entdeckungsreise durch
das Recht und hat das Gefühl, unmittelbar dabei zu sein, wenn dieser am
biblischen Text arbeitet und seine Gedankengänge entwickelt. Seine Art zu
schreiben ist pädagogisch zwingend aufgebaut. Sein grundlegender Aufsatz
soll im Folgenden etwas ausführlicher dargestellt werden, weil er die Grund-
lage für die weiteren Diskussionen darstellt. Dies gibt gleichzeitig auch Gele-
genheit, bereits hier schon einige weiterführende Überlegungen anzustellen.
A. Alt beginnt mit dem Hinweis auf die frühere traditionelle Auffassung,
wonach alle Rechtsordnungen direkt „dem göttlichen Willen Jahwes“ ent-
stammten und durch Mose beim Bundesschluss übermittelt worden seien.
Die dann aber immer bewusster wahrgenommenen Widersprüche und Un-
1
W. Schottroff, Der altisraelitische Fluchspruch, 95 (mit weiteren Nachweisen).
2
H. J. Boecker, Recht und Gesetz, 171.
3
A. Alt, Ursprünge, 278–332.
18 1. Teil: Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts
4
A. Alt, Ursprünge, 279.
5
Ebd., 280.
6
Ebd., 282.
7
Ebd., 284; Auf diesen von A. Alt mehr nebenbei geschriebenen Satz kann man m. E. gar nicht
eindringlich genug hinweisen. Bei allen Erörterungen über die Entstehung von Recht wird dieser
Umstand meistens nicht ausreichend beachtet. Rechtsnormen sind immer nur Glieder in einer
langen schriftlichen oder mündlichen Traditionskette. Keine Gesellschaft kommt ohne Recht aus.
Es gibt deshalb immer Rechtsvorgänger.
8
Ebd., 284.
9
Ebd., 284.
II. A. Alt: Die Entdeckung des Apodiktischen Rechts 19
lichen Corpus der kasuistisch formulierten Rechtssätze“ aus,10 der sich dann
über den gesamten Text in unterschiedlicher Ausprägung verteilt habe.
Anmerkung:
Eine solche ursprüngliche Sammlung kasuistischen Rechts, in Form eines
geschlossenen Textes, der sich dann aufgesplittert habe, wird es aber mit
größter Wahrscheinlichkeit nicht gegeben haben. Wer sollte ihn verfasst und
für welchen Bereich sollte er gegolten haben? Palästina war im 12. und 11. Jh.
ethnisch und territorial stark zergliedert und hatte keine geschlossene Ge-
stalt. Die kanaanäischen Stadtstaaten bildeten kein einheitliches System.
Wenn das kasuistische Recht also von diesen Kleinstaaten „übernommen“
worden sein sollte, was m. E. in dieser Form überhaupt nicht eindeutig ist,
dann können es auch nur regional unterschiedliche Rechtssysteme gewesen
sein, die verschieden ausgeprägt waren.
Was sich dagegen im kasuistischen Recht des Alten Testaments wiederfin-
det, ist das allgemeine altorientalische System des „case law“, das überall
Anwendung fand und deshalb auch im israelitischen Rahmen auftaucht, weil
es bestimmte gesellschaftliche Verhältnisse (geschlossene Siedlungen,
Grundbesitz, Handelsverkehr usw.) zu regeln hatte. Recht folgt dem tatsäch-
lichen Leben und entwickelt sich immer dann, wenn es benötigt wird. Wenn
z. B. heute Aktiengesellschaften mit ihrer komplizierten finanziellen Beteili-
gung vieler Anleger wirtschaftlich erforderlich werden, dann muss ein Ak-
tiengesetz geschaffen werden – und nicht umgekehrt. Oder noch deutlicher:
‚Weltraumrecht‘ entwickelt sich erst dann, wenn der Mensch in der Lage ist,
die Erde zu verlassen. Vorher braucht man sich damit nicht zu beschäftigen.
Das kasuistische Recht des Alten Testaments kann deshalb – bei Bedarf –
direkt ‚übernommen‘ worden sein, kann aber auch selbständig innerhalb
israelitischer Gemeinschaften entstanden sein und sich dort fortentwickelt
haben. Bei A. Alt stand sicher – unausgesprochen – der Wunsch dahinter,
eine geschlossene, einheitliche ‚Gattung‘ durch die Zeitläufe zurückverfolgen
zu können.
Das kasuistische Recht zeichnet sich nach A. Alt zunächst durch seinen
„objektiven Wenn-Stil“ aus. Die konditionalen Vordersätze werden mit dem
ִ ִ
stärkeren „( כּיgesetzt dass“) und dem schwächeren „( אםwenn“) eingeleitet.
Die Nachsätze bringen dann die Rechtsfolge. Diese Satzkonstruktionen wi-
10
A. Alt, Ursprünge, 286.
20 1. Teil: Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts
שׁים ְו ִה ָכּה־ ִאישׁ ֶאת־ ֵר ֵעהוּ ִ ְָו ִכי־י ְ ִרי ֻבן ֲאנ
ְ ְבּ ֶאבֶן א ֹו ְב ֶאגְר ֹף וְֹלא י ָמוּת ְונָפַל ְל ִמ
שׁכָּב׃
שׁ ַענְתּ ֹו
ְ ִאם־י ָקוּם ְו ִהתְ ַה ֵלְּך ַבּחוּץ ַעל־ ִמ
שׁבְתּ ֹו י ִתֵּ ן ו ְַרפּ ֹא י ְַרפֵּא׃
ִ ְונִקָּה ַה ַמּכֶּה ַרק
„Wenn Männer streiten und einer verwundet seinen Nächsten mit einem Stein
oder der Faust, dieser stirbt aber nicht, sondern wird bettlägerig, wenn er auf-
stehen und im Freien an seiner Krücke umhergehen kann, dann soll der Schlä-
ger straflos bleiben, soll aber den Unterhalt und die Heilkosten (des Verletzten)
erbringen.“
Hier haben wir einen langen Vordersatz mit Hauptfall ( )כִּיund Unterfall
()אִם, der den speziellen, zu entscheidenden Sachverhalt (Tatbestand) bringt,
und dann die daran anschließende „Entscheidung“, die Rechtsfolge. Genau
genommen sind es sechs Vordersätze und drei Nachsätze. Viele andere ka-
suistische Rechtssätze sind einfacher und kürzer; aber „das grundsätzliche
Anliegen der kasuistischen Formulierung bleibt überall das gleiche.“12
Diese Rechtsform hat nach A. Alt ihren Sitz in der normalen Gerichtsbar-
keit der einzelnen selbständigen Ortschaften. Es ist die örtliche Laienge-
richtsbarkeit der Ältesten als Repräsentanten der „im Tor versammelten
Rechtsgemeinde.“13 Dieser konkrete ‚Sitz im Leben‘ besage aber noch nichts
über die Herkunft, über die „letzten Ursprünge dieses Rechts“. Dies müsse
gesondert ermittelt werden.
Hierfür seien die aufgefundenen Rechtsbücher des alten Orients, der Baby-
lonier, Assyrer und Hethiter vergleichend heranzuziehen. Hierzu gehöre
insbesondere der ‚Codex Hammurapi‘. Derartige Vergleiche seien möglich,
weil das kasuistische Recht im Hexateuch, ebenso wie das orientalische, völlig
neutral, ohne Bezug auf Volk und Religion, abgefasst sei. Es würden nur die
Verhältnisse von Mensch zu Mensch geregelt. Es sei keine Gebundenheit an
Jahwe erkennbar.14
11
A. Alt, Ursprünge, 287.
12
Ebd., 288.
13
Ebd., 287.
14
Ebd., 294.
II. A. Alt: Die Entdeckung des Apodiktischen Rechts 21
Es sei deshalb zulässig, diese Rechtsform auf die „Vorbewohner des Kultur-
landes von Palästina“15, die Kanaanäer, zu beziehen, die allgemein orientali-
sches Recht benutzt hätten. Als die „israelitischen Stämme im Lauf der zwei-
ten Hälfte des 2. Jahrtausends v. Chr. in deren Kreis eintraten“, sei eine Er-
weiterung der Rechtsformen erforderlich geworden, was dann zu einer
„Übernahme … der Kanaanäischen Rechtsordnungen“ geführt habe.16 Es
lägen zwar keine Originalquellen des kanaanäischen Rechts vor, auch der
Vorgang der Übernahme durch die einwandernden Israeliten sei unbekannt,
von einer Herkunft aus diesen Stadtstaaten könne aber ausgegangen werden.
Als Träger und Wahrer dieses Rechts kann A. Alt sich die sog. ‚kleinen
Richter‘ aus dem Richterbuch 10,1–5 vorstellen, wobei Josua aus Jos 24
eventuell hinzuzurechnen sei.17
15
A. Alt, Ursprünge, 295.
16
Ebd., 296.
17
Ebd., 300: A. Alt geht dabei, ganz selbstverständlich, noch von einer sakralen Amphiktyonie aus –
unter Verweis auf Noth (s. 300, Fußnote 1).
18
Ebd., 302.
22 1. Teil: Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts
Dieser Satz ist nicht direkt ins Deutsche zu übersetzen. Er kann nur sinnge-
mäß wiedergegeben werden. Das einleitende Partizip ַמכֵּהist Substantiv und
Objekt zugleich und ist nur relativisch aufzulösen: „Wer einen Menschen
schlägt …“ Das abschließende מות יוּמָתist eine typisch hebräische Sprachform
und ebenfalls kaum zu übersetzen. Man kann es mit „… muss unbedingt
getötet werden!“ inhaltlich wiedergeben.
Es handelt sich bei diesem Satz nach A. Alt um einen „hebräischen Fünfer“,
der langsam und nachdrücklich gesprochen werden muss, um die ganze
„Wucht des Ausdrucks“ zur Geltung zu bringen. Dieser Stil ist ein anderer
als der der kasuistischen Sätze. „Wir wollen ihn den apodiktischen Stil nen-
nen.“20
Dies war die Geburtsstunde bzw. der Namenstag des apodiktischen Rechts.
Zum inhaltlichen Unterschied weist A. Alt auf die Unbedingtheit der Aus-
sage und die dahinter stehende Autorität hin: „Es ist Jahwe, der für jedes ver-
gossene Blut strenge Sühne verlangt!“ Es gibt keinen Unterschied zwischen
Mord und Totschlag, keine Möglichkeit von Ersatzzahlungen, kein Asyl. Hier
spricht der strenge Wille des Volksgottes.21
Die Sätze von Ex 21,12–17 bilden eine Reihe gleichmäßig aufgebauter
Sätze, wobei die vorliegende Aufzählung nicht vollständig überliefert ist.
Diese Reihenbildung ist für A. Alt ein typisches Merkmal, das auch bei ande-
ren Gruppen auftauche. Durch die Verlesung solcher Reihen werde eine
„besonders gesteigerte Wirkung“ erzielt, die sich dem Hörer „förmlich ein-
hämmert.“22
19
A. Alt, Ursprünge, 306.
20
Ebd., 308.
21
Ebd., 309.
22
Ebd., 311.
II. A. Alt: Die Entdeckung des Apodiktischen Rechts 23
Die nächste von A. Alt vorgestellte Reihe apodiktischer Normen ist die
Sammlung der alten אָרוּר-Sätze, die sog. Fluchreihe aus Dtn 27,15–16, die
verschiedene „heimliche“ Vergehen zum Inhalt hat.23 Ein Beispiel:
(„Verflucht, wer seinen Vater und seine Mutter schmäht, und das ganze Volk
spreche: Amen.“)
Auch diese Sätze sind schwer zu übersetzen. Die hier ebenfalls verwendeten
Partizipien, z. B. ַמ ְקלֶה, müssen wieder relativisch aufgelöst werden: „Wer
seinen Vater und (oder) seine Mutter schmäht, …“ Diese Sätze sind noch
prägnanter und kürzer. Sie bestehen – ohne den Zusatz über die Bestätigung
durch das Volk – aus nur vier Worten. Sie beschäftigen sich mit der Schmä-
hung der Eltern, Grenzsteinverrückung, Irreführung eines Blinden, Rechts-
beugung gegen Fremde, Waisen und Witwen, Blutschande, Sodomie, mit
heimlichem Totschlag und Auftragsmord. Diese Delikte werden, wie alle
Forscher erkannt haben, im Geheimen begangen und entziehen sich meist
der menschlichen Gerichtsbarkeit. Die Aufklärungsquote ist gering. Deshalb
sind sie dem Fluch, אָרוּר, unterstellt. Die Täter werden der Strafe Gottes an-
heimgegeben. Gleichzeitig sagt sich das Volk als Gemeinschaft von diesen
Straftätern und derartigen Straftaten unwiderruflich los.24 Diese Reihe hat
ebenso wie die מוֹת יוּ ָמת-Reihe nach Form und Inhalt keinerlei Ähnlichkeit
mit dem kasuistischen Recht.25
Eine dritte vergleichbare Reihe hat A. Alt dann im Heiligkeitsgesetz, in Lev
18,7–17, entdeckt, die sich mit Unzucht unter Verwandten befasst („Scham-
reihe“).
Ein Beispiel:
ָתהּ׃
ֽ ָ אָב֛יָך ְוע ְֶרוַ ֥ת ִאמְּ ָך֖ ֹל֣ א תְ ג ֵַלּ֑ה אִ ְמָּך֣ ִ֔הוא ֹל֥ א תְ ג ֶַלּ֖ה ע ְֶרו
ִ ע ְֶרוַ ֥ת
(Lev 18,7)
(„Die Scham deines Vaters, die Scham deiner Mutter, darfst du nicht entblößen.
Sie ist deine Mutter, du darfst ihre Scham nicht entblößen.“)
23
A. Alt, Ursprünge, 313.
24
Vgl. insgesamt W. Schottroff, Fluchspruch, 231.
25
Ironischerweise sind es gerade diese beiden Partizipialreihen, an denen sich später die Kritik
entzündet. Es wird die Auffassung vertreten, dass es sich wegen der sprachlichen Form doch um
kasuistisches Recht handelt, eine m. E. aber unzutreffende Ansicht.
24 1. Teil: Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts
Hier ändert sich allerdings der Sprachstil. Aus der objektiven Feststellung
wird eine direkte Anrede. Dies erfolgt im Hebräischen hier nicht durch das
schwächere אַלmit Jussiv, sondern durch das stärkere ֹלאmit Indikativ Imper-
fekt, also ֹלא תְ גַלֵה. „Das gibt ihnen den gleichen Ton kategorischer Unbedingt-
heit.“26 Das Verbot ist dermaßen autoritativ gedacht, dass es nicht mehr im
Jussiv, sondern als Feststellung ausdrückt werden kann. Für diese Sprach-
form hat sich inzwischen allgemein der Begriff „Prohibitive“ durchgesetzt
(E. Gerstenberger).27
Inhaltlich geht es um die Verhinderung von Blutschande und Verwandten-
ehe. Es soll dem „Durcheinander der Geschlechtsgemeinschaft“28 innerhalb
von Großfamilien, bei denen mehrere Generationen eng beieinander woh-
nen, vorgebeugt werden. Dafür müssen die Verwandtschaftsgrade, die die
entsprechenden Verbote ergeben, genau angegeben werden.
Nach Erörterung einiger weiterer kleinerer Reihen aus Ex 23 kommt A. Alt
dann zum zentralen Thema, dem Dekalog aus Ex 20. Dessen apodiktische
Grundstruktur könne man aber erst nach Entfernung der verschiedenen,
nachträglichen Zusätze, insbesondere im ersten Teil, erkennen. A. Alt geht
von einer geschlossenen und vollständigen „Urform“ des Dekalogs aus.29
Die Sätze sind als Prohibitive in knappster Form gestaltet. Insbesondere
das 6., 7. und 8. Gebot sind an Präzision nicht zu übertreffen. Sie bestehen im
Hebräischen nur aus zwei Worten, nämlich wieder לאmit Imperfekt:
Auch hier ist im Deutschen wieder nur eine inhaltliche Wiedergabe möglich.
Schwierigkeiten bereiten A. Alt deshalb dann die Gebote der Sabbatheili-
gung und der Elternehrung, die positiv abgefasst sind. Er vermutet eine ur-
sprünglich negative Formulierung. Dahinter steht bei ihm der Wunsch nach
einer ursprünglichen einheitlich formulierten Sammlung, die erst im Laufe
der Tradition verändert wurde, was zu den erörterten Schwierigkeiten führte.
Andererseits will er einräumen, dass der jeweilige Inhalt eine besondere
26
A. Alt, Ursprünge, 315.
27
H. J. Boecker, Recht und Gesetz, 177.
28
Ebd., 176.
29
A. Alt., Ursprünge, 317.
II. A. Alt: Die Entdeckung des Apodiktischen Rechts 25
Form erfordert habe, so dass es sich dann vielleicht doch wieder um ur-
sprüngliche Formulierungen gehandelt haben könnte.30 Weil der Dekalog
„offensichtlich das Ganze umfassen“ wolle, sei dann der „Verzicht auf Eben-
mäßigkeit der Satzgestaltung“ erforderlich geworden.31
Die für A. Alt wichtigste Frage ist aber die Suche nach den Ursprüngen, der
Herkunft des apodiktischen Rechts und seinem „Sitz im Leben“. Er kommt
wegen der Andersartigkeit von Form und Inhalt im Vergleich zum kasuisti-
schen Recht zu dem für ihn eindeutigen Ergebnis:
Innerhalb Israels sieht er die Wurzeln dieses Rechts nicht in der – kasuisti-
schen – Gerichtsbarkeit, sondern in der ganzen Volksgemeinschaft, die von
außen, von Gott, angesprochen wird. Der Vortrag dieses Rechts ist das
„Kernstück eines sakralen Akts.“33 Der Rahmen hierfür ergibt sich für ihn aus
Dtn 27 und Dtn 31,9–13, dem sog. Bundeserneuerungsfest, mit der alle
sieben Jahre erfolgenden Verlesung von Gottes Geboten. Das apodiktische
Recht gehört damit für A. Alt in den Bundesschluss. Der Dekalog lässt diesen
Bundesschluss zwischen Jahwe und Israel besonders deutlich erkennen. Für
ihn ist sicher, „dass die Voraussetzungen für das Aufkommen dieser Gattung
sofort gegeben waren, als die Bindung an Jahwe und in ihrer Folge die Institu-
tion der Bundesschließung und Bundeserneuerung zwischen ihm und Israel ins
Leben trat.“34 Letztlich gingen die Ursprünge in die Wüste (Sinai) zurück.
Bei dem Zusammenprall dieses Rechts mit den vorgefundenen kanaanäi-
schen Rechten habe sich dann die Lebensfähigkeit Israels bewiesen. Der
„Kampf beider Rechte“ fülle die israelitische Rechtsgeschichte bis zu ihrem
Abschluss.35
30
A. Alt, Ursprünge, 319.
31
Ebd., 321.
32
Ebd., 323.
33
Ebd., 324.
34
Ebd., 330.
35
Ebd., 332.
26 1. Teil: Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts
Wenn man diese grundlegenden Angaben von A. Alt betrachtet, kann man
sich einer gewissen Melancholie nicht erwehren. Was hätte er wohl gesagt,
wenn er mit den heutigen Forschungsergebnissen, insbesondere zur Ge-
schichte Israels konfrontiert würde? Er hätte seinen Aufsatz so nicht schrei-
ben können, zumindest nicht zur Herkunft des apodiktischen Rechts. Er ging
von vielen falschen historischen Voraussetzungen aus, die sich aus den da-
maligen Vorstellungen über die Entstehung des Volkes Israel ergaben. Israel
war aber nicht in der Wüste. Es gab keine Gesetzesoffenbarung am Sinai,
keine Amphiktyonie und erst recht kein Bundeserneuerungsfest. Auch die
„kleinen Richter“ waren nicht „bundesweit“ tätig. Die Frage nach der Her-
kunft und dem ‚Sitz im Leben‘ hätte A. Alt deshalb anders beantworten müs-
sen.
Trotzdem bleibt es sein unbestreitbares Verdienst, eine allgemein akzep-
tierte gattungsgeschichtliche Einteilung der vielen alttestamentlichen Rechts-
normen vorgeschlagen zu haben. Auf dieser Grundlage bauen alle weiteren
Untersuchungen auf. Die grundsätzliche Einteilung in kasuistisches und
apodiktisches Recht hat bis heute Bestand und wird auch weiterhin bei Un-
tersuchungen des israelitischen Rechts benutzt werden. Dabei ist allerdings
sein Grundsatz, dass es zwischen den beiden Rechtsgattungen mit der unter-
schiedlichen Trägerschaft einen „Kampf beider Rechte“36 gegeben habe, nicht
zwingend. Er verkennt dabei die große Variationsbreite von Rechtsentwick-
lungen. Unterschiedliche Rechtstypen müssen nicht zwangsläufig in Konkur-
renz zueinander stehen. Sie können sich durchaus auf gleichem Boden
gleichberechtigt nebeneinander entwickeln. Recht hat immer die Aufgabe,
bestimmte Sachgebiete zu regeln. Und wenn es unterschiedliche Lebensbe-
reiche gibt, haben wir auch unterschiedliches Recht, und zwar nicht nur vom
Inhalt, sondern auch vom formalen Aufbau her. Daß diese Rechte unter-
schiedlicher Herkunft sein können, ist dabei außer Frage. Es kommt aber
immer auf den letztmalig tätigen Gesetzgeber, vergleichbar dem Endredak-
tor, an. Dieser entscheidet, was geregelt werden soll und wie, und zwar ak-
tuell und unabhängig von irgendwelchen zurückliegenden Entwicklungen.
Bei Neufassungen von Gesetzen gibt es nie einen Kampf zwischen verschie-
denen Rechtssystemen, sondern immer nur einen Kampf von Interessen-
36
A. Alt, Ursprünge, 322.
II. A. Alt: Die Entdeckung des Apodiktischen Rechts 27
1. Sprachliche Untersuchungen
1
G. Liedke, Gestalt, 36.
2
H. J. Boecker, Recht und Gesetz, 129f.
30 1. Teil: Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts
Diese weitgehende Einigkeit hört aber beim apodiktischen Recht auf. Nur
die direkten Prohibitive, mit ֹלאImpf. (ֹלא תִּ ְרצַח, Ex 20,13) oder mit אַלJussiv
in der 2. Pers. Sg. oder Pl., werden von allen Autoren als „sauberes“ apodikti-
sches Recht angesehen.4 Alle anderen Formen, insbesondere die אָרוּר- und
die מוֹת יוּמַת-Reihen werden diskutiert. Hier wird darauf hingewiesen, dass
diese Sätze in der Partizipial- oder Relativform abgefasst sind und dass sie
sehr wohl eine „Rechtsfolge“ enthalten, nämlich Fluch oder Tod. Auch wenn
es sich nur um einen geschlossenen hebräischen Satz handele und das einlei-
tende Partizip zugleich das Subjekt und das Objekt darstelle, müsse man
diese Sätze „kasuistisch“ mit Tatbestand und Rechtsfolge auflösen. Sie ge-
hörten deshalb nicht zum apodiktischen Recht.
G. Liedke hat in seiner Untersuchung die umfangreiche Diskussion hierzu
ausführlich vorgestellt.5 Genannt werden die Autoren Heinemann, Revent-
low, Feucht, Kilian, Fohrer, Gese, Gerstenberger, Jepsen, Caspari, Morgen-
stern, Cazelles, Sauber, Noth, Westermann, Horst und Hentschke – eine
stattliche Reihe von Forschern, die sich alle kritisch mit der Einordnung der
Partizipial- und Relativformen in das apodiktische Recht auseinandersetzen.
Der Anzahl der Autoren entspricht dann auch die Anzahl der Lösungsvor-
schläge. Die meisten wollen sie als kasuistisches Recht oder als Rechtssätze
sui generis verstanden wissen.
A. Alt hatte für dieses Problem einen anderen Ansatz. Ausgangspunkt war
zunächst die Definition des kasuistischen Rechts als einer festen unstreitigen
3
H. J. Boecker, Recht und Gesetz, 134.
4
E. Gerstenberger beschäftigt sich dann auch im Wesentlichen nur mit den Prohibitiven (Wesen
und Herkunft).
5
G. Liedke, Gestalt, 101.
III. Weitere Forschung 31
Größe. Dieses Recht war für ihn kanaanäischen und nicht israelitischen Ur-
sprungs. Alle anderen Rechtsformen, die demgegenüber „volksgebunden
israelitisch und gottgebunden jahwistisch“ waren, gehörten dann für ihn zum
apodiktischen Recht. Deshalb konnte er die durchaus unterschiedlichen Rei-
hen und Einzelbestimmungen unter diesen einen Sammelbegriff stellen.
A. Alt hat m. E. im Ergebnis recht. Die Partizipial- und Relativsätze sind
zumindest kein kasuistisches Recht. Wer die אָרוּר- und die מוֹת יוּמַת-Bestim-
mungen, rein sprachlich, als Rechtsfolge im kasuistischen Sinne versteht,
verkennt den Grundcharakter des kasuistischen Rechts. Dieses stellt eine
Sammlung von Einzelfällen dar, die auf tatsächliche oder fiktive Fallentschei-
dungen, also Urteile von Gerichten oder anderen Autoritäten (König, Pries-
ter, Älteste) zurückgehen und deswegen auch nicht vollständig und keines-
wegs systematisch geordnet sein müssen. Sie zeigen, wie ein eingetretener
Rechtsfall entschieden werden sollte oder könnte, und haben eher Beispiel-
charakter. Ein neuer Fall kann in Einzelheiten anders gelagert sein und muß
dann eventuell auch anders entschieden werden.6 Dies wird auch beim Codex
Hammurapi sehr deutlich. Dieser erscheint, nach heutigen Gesichtspunkten,
weitgehend ungeordnet und ziemlich systemlos. Eine gewisse Logik ergibt
sich erst, wenn man ihn als eine erzählende Fallsammlung versteht, mit der
ein Überblick über entschiedene Verfahren für ein rechtsuchendes Publikum
und für spätere Entscheidungen gegeben werden soll.7
Diese damit, im Grundsatz, gegebene Variationsmöglichkeit hat das apo-
diktische Recht, so wie A. Alt es zusammengestellt hat, nicht. Es gilt absolut
und soll nicht diskutiert oder relativiert werden. Tod und Fluch sind keine
von einem Gericht festzusetzende Rechtsfolge, sondern die selbstverständli-
che, unbedingte Antwort auf das angesprochene Vergehen. אָרוּרund מוֹת יוּמַת
sind nur formelhafte Wendungen, die zur einheitlichen Reihenbildung ge-
hören und keine Entscheidungsvorschläge darstellen sollen. Eine solche un-
bedingte Sanktion haben die reinen Prohibitive – unausgesprochen – auch
hinter sich stehen. Auch bei ihnen muß derjenige, der dagegen verstößt,
natürlich mit einer schwerwiegenden Sanktion, eben auch mit Tod oder
Fluch, rechnen. Diese Folge ist aber so selbstverständlich, dass sie nicht ein-
mal mehr ausgesprochen zu werden braucht. Bei den Partizipialreihen wird
diese Sanktion dann doch ausgesprochen, bleibt aber nur eine Formel und
6
H. J. Boecker, Recht und Gesetz, 129.
7
Ebd., 63.
32 1. Teil: Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts
bedeutet deshalb nicht, dass diese Normen zum kasuistischen Recht gehören.
Sie verbleiben unbedingtes, nicht zu diskutierendes apodiktisches Recht.
Hinzu kommt, dass die Autoren, die die Zugehörigkeiten zum apodikti-
schen Recht aus sprachlichen Gründen diskutieren, oft auch gar nicht ange-
ben, warum sie dies eigentlich erörtern. Welche Konsequenzen sollen sich
hieraus ergeben? Man hat oft den Verdacht, dass es nur darum geht, einzelne
Bestimmungen der „besseren“ oder „schlechteren“ Abteilung zuzuschlagen,
wobei das apodiktische Recht als die edlere Rechtsform angesehen wird, weil
dieses irgendwie doch „israelitisch“ sei.
8
H. J. Boecker, Recht und Gesetz, 57.
9
G. Heinemann, Untersuchungen, 27.
10
Vgl. A. Jeremias, Das Alte Testament im Lichte des Alten Orients.
III. Weitere Forschung 33
Arbeit von 1958 die Auffassung, dass der Dekalog bzw. seine Vorformen
wegen der teilweise frappierenden Ähnlichkeit mit den Vasallenverträgen
direkt aus dem orientalischen Rechtskreis stammen müssten.11 Auch A. Phil-
lips geht in einer älteren Untersuchung von 1970 von einem entsprechenden
Ursprung aus12 und M. Weinfeld sah 1973 Ähnlichkeiten mit „Hethitischen
Dienstanweisungen“.13
Die Vasallenverträge werden heute aber kaum noch erörtert. Mögliche
Verbindungen hängen historisch gesehen auch im luftleeren Raum. Ähnlich-
keiten können sich völlig unabhängig voneinander aus der Thematik heraus
ergeben. Auch moderne notarielle Kaufverträge zeigen im Prinzip den glei-
chen Aufbau. So werden die Vasallenverträge im Dekalogbuch von Fr. Crü-
semann14 auch überhaupt nicht mehr erörtert und M. Köckert erwähnt sie in
seinem neuen Buch „Die Zehn Gebote“ 15 nur ganz am Rande, im Zusammen-
hang mit der Erörterung der Präambel des Dekalogs, ohne eine direkte Ver-
bindung herstellen zu wollen.
Dies ist auch zutreffend. Es ist ein falscher Ansatz, für den Dekalog frühe,
geheimnisvolle Vorformen zu suchen. Dieser ist aus sich selbst heraus, in
seiner jetzigen Gestalt und Stellung im biblischen Endtext zu interpretieren
und zu verstehen.
3. Amphiktyonie
Mit unserem Thema aufs engste verknüpft ist die Frage nach einem Stam-
mesverband in der Zeit vor der Staatenbildung im 10. Jahrhundert. Diese
Zeit war ja nach A. Alt primärer „Sitz im Leben“ des apodiktischen Rechts
mit seiner Verlesung am Bundeserneuerungsfest und seiner Bewahrung
durch die „kleinen Richter“. Die Amphiktyonie-Hypothese sollte helfen, den
an sich geschichtslosen und historisch kaum greifbaren Zeitraum zwischen
der sog. Landnahme und der Entstehung der Königreiche zu füllen. In der
Bibel (Richterbuch) sind zwar Berichte aus dieser Zeit vorhanden; der histo-
rische Wert dieser Angaben ist aber gleich Null. Man kann nur indirekte
Informationen entnehmen, die zur Frage der Amphiktyonie aber belegen,
11
G. Heinemann, Untersuchungen.
12
A. Phillips, Ancient Israel’s Criminal Law.
13
M. Weinfeld, Origin, 63–75.
14
Fr. Crüsemann, Bewahrung.
15
M. Köckert, Zehn Gebote.
34 1. Teil: Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts
wie es gerade nicht gewesen ist. Ein sakraler Stämmeverband, der sich um ein
Zentralheiligtum schart, Träger gemeinsamen Rechts ist und geschlossen
heilige Kriege gegen äußere Feinde oder abtrünnige Mitglieder führt, ist aus
diesen Texten nicht zu ermitteln. Bei dem Feldzug gegen die Benjaminiten
(Ri 19–21) und beim Deboralied (Ri 5) handelt es sich um keine gemeinsa-
men Aktionen eines Zwölfstämmeverbandes, ganz abgesehen von der Frage
nach dem historischen Wert dieser Berichte überhaupt.16 Im Gegenteil: „Aus
solchen Erzählungen wird erkennbar, dass die Phase des Zusammenwachsens
der einzelnen Stämme nicht ohne Rückschläge und schwere Auseinanderset-
zungen vor sich ging. Ohne straffe, gewaltreiche, einigende Hand war das Kon-
glomerat der einzelnen Stämme nicht zusammenzuhalten. Die partikularisti-
schen Tendenzen waren zu stark.“ 17
16
G. Fohrer, Altes Testament, 80. D. Kinet, Geschichte Israels, 2001, 55.
17
Ebd., 58.
18
Ebd., 58.
19
M. Noth, System.
20
J. A. Soggin, Einführung, 125.
21
R. d. Vaux, The Early History of Israel, 695.
22
Ebd., 700.
23
Ebd., 702.
III. Weitere Forschung 35
Dabei darf man sich diese „Nomaden“ allerdings nicht als die Nachfahren
der Patriarchen vorstellen. Gemeint sind damit alle möglichen nicht sesshaf-
ten Gruppen, die von außen gekommen sein können und teilweise zu den
24
R. d. Vaux, The Early History of Israel, 715.
25
J. A. Soggin, Einführung, 125.
26
D. Kinet, Geschichte, 47.
36 1. Teil: Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts
„hapiru“ gehört haben mögen, die es überall, nicht nur in Ägypten, gab;27
überwiegend waren es aber Gruppierungen, die sich aus dem Umkreis der
Städte gelöst hatten und teilweise in Opposition zu ihnen standen. Diese
wurden jetzt sesshaft und bildeten allmählich die „Stämme“, entsprechend
den geographischen Verhältnissen. Die Archäologen haben für diese Zeit in
den Hochebenen und in den südlichen Steppen neue Siedlungen entdeckt,
die z. T. von Bauern aus dem Kulturland, andererseits aber auch von
Halbnomaden gegründet wurden (kleine, nicht ummauerte Dörfer).28 Wir
hätten dann beide Gruppierungen, ehemalige Angehörige des Kulturlandes
(Kanaan) und ungebundene Gruppen von innen und außerhalb. Wieweit es
zwischen diesen und den kanaanäischen Stadtstaaten zu Konflikten gekom-
men ist („Israel gegen Kanaan“), lässt sich im Einzelnen nicht mehr ermit-
teln.29 Die Zerstörung von Städten in der damaligen Zeit kann die ver-
schiedensten Ursachen gehabt haben.
Auf jeden Fall kann man aber davon ausgehen, dass sich die „Stämme“ erst
im Inland gebildet haben. Die Zwölfzahl und die im Alten Testament aufge-
führten Namen sind eine genealogische Liste zur Feststellung und Bestäti-
gung der Abstammung und der Verwandtschaftsverhältnisse. Und G. Fohrer
formuliert es so: „Aus den angeführten Gründen scheint es mir ratsam, die
Amphyktyonie-Hypothese durch die Annahme zu ersetzen, dass das Schema
der zwölf Stämme Israels eine kurze volkstümliche Genealogie darstellt, die
während der Frühzeit in wechselnden Formen entsprechend dem jeweiligen
Bestand an Stämmen und unter Anpassung der Wirklichkeit an die vorgege-
bene Zwölfzahl die Gemeinschaft Israel konstituiert.“ 30
Diese Gruppierungen lebten dann in Form von „segmentären, akephalen
Gesellschaften“ zusammen. Mit diesem soziologisch-ethnologischen Begriff
ist ein Zusammenschluß von Sippen und Großfamilien gemeint, ohne staat-
liche Organisation und ohne staatliche Führung.31 So könnte man sich das
Leben in Palästina im 12. und 11. Jahrhundert vorstellen, verbunden mit
einem allmählichen Niedergang der kanaanäischen Stadtstaaten. Und der
27
Zu diesen „Zugereisten“ kann dann auch eine „Ägypten-Gruppe“ gehört haben – mit oder ohne
Anführer. Es spricht eigentlich nichts dagegen. Diese Gruppe hat dann ihre Traditionen an das
spätere Gesamt-Israel weitergegeben.
28
J. A. Soggin, Einführung, 119; vgl. im Einzelnen 2. Teil, II.2.
29
Ebd., 119.
30
G. Fohrer, Altes Testament, 894.
31
D. Kinet, Geschichte, 57.
III. Weitere Forschung 37
Jahwe-Kult war in weiter Ferne. Nur einige wenige Gruppen dürften ihn
praktiziert haben.
32
U. Wesel, Geschichte des Rechts, 106.
38 1. Teil: Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts
4. E. Gerstenberger: „Sippenethos“
In seinem viel zitierten und für unser Thema grundlegenden Werk „“Wesen
und Herkunft des Apodiktischen Rechts“ von 196533 weist E. Gerstenberger
einleitend darauf hin, dass er für seine Arbeit die „form- und gattungsge-
schichtliche Methode“ als das geeignete Instrument halte, ein geschichtliches
Geschehen zu begreifen, allerdings nur in der von A. Alt praktizierten
Weise.34 H. Gunkels Glaube an eine „harmonisch-schöpferische Volksseele“,
die sich in den – mündlichen – Urformen der Textgattungen widerspiegele,
die man dann von späteren Zusätzen und Verunstaltungen befreien müsse,
ist ihm zu stark ideologisch belastet. A. Alt sei vorsichtiger und arbeite in
erster Linie als Historiker. Dieser Arbeitsweise kann sich E. Gerstenberger
anschließen.
Trotzdem beginnt er seine Arbeit sofort mit einer erheblichen Einschrän-
kung.35 Er will nur die sog. „Prohibitive“ als apodiktisches Recht gelten las-
sen. Alle anderen von A. Alt hinzugerechneten Formen sind für ihn
„Rechtssätze“ mit Tatbestand und Tatfolge, die als kasuistisches Recht oder
als Gruppierung sui generis zu gelten hätten. Damit scheiden alle Partizipial-
und Relativkonstruktionen mit מוֹת יוּמַת, die אָרוּר-Reihe und die Schamreihe
aus seiner weiteren Betrachtung aus. A. Alts Kriterien, nämlich metrische
Struktur, Reihenbildung und die „Wucht des Ausdrucks“ reichen für ihn
nicht aus, um aus diesen unterschiedlichen Normen eine einheitliche Gat-
tung zu machen. Sie alle enthielten nämlich eine Rechtsfolge, die Apodosis,
die auf ein als schon geschehen gedachtes Vergehen reagiert. Die Ge- und
Verbote dagegen hielten keine Rückschau auf zu ahnendes Unrecht, sondern
stellten – für die Zukunft – Verbotsschilder bzw. Richtungshinweise auf, an
die sich alle zu halten hätten. Sie sollten also kommendes Unrecht verhin-
dern und benötigten deshalb keine Straffolgebestimmung.36 Nur mit dieser
Gruppe, dem „Rest“, will sich E. Gerstenberger beschäftigen. Und das sind
dann nur die Prohibitive.
33
E. Gerstenberger, Wesen.
34
Ebd., 21.
35
Ebd., 23.
36
Ebd., 25; Diese Auffassung ist m. E. insofern problematisch, als E. Gerstenberger eine falsche
Vorstellung vom kasuistischen Recht hat (vgl. Kap. III.2.b). Letzterem fehlt nämlich die Unbe-
dingtheit der Rechtsfolge. Deshalb sind die neben den Prohibitiven von A. Alt genannten Formen
zumindest kein kasuistisches Recht. Ob man sie als Apodiktisches Recht oder als Sonderform ein-
stufen möchte, ist eine andere Frage.
III. Weitere Forschung 39
37
E. Gerstenberger, Wesen, 27.
38
Ebd., 43.
39
Ebd., 54.
40
Ebd., 59.
41
Ebd., 60.
40 1. Teil: Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts
42
E. Gerstenberger, Wesen, 110.
43
Ebd., 116.
44
Hier erscheint es nämlich dann doch wieder als israelitisches und jahwistisches Recht.
III. Weitere Forschung 41
tion hat es heute in Bezug auf die anderen Normen? Welche Vorstellungen
stehen insoweit hinter der Endredaktion? Es ist schließlich nicht unzulässig,
Rechtssätze, völlig losgelöst von ihrer eigentlichen Herkunft, neu zu verwen-
den und in ganz andere Zusammenhänge zu bringen. Diese Fragen müssten
noch näher erörtert werden. Fr. Crüsemann, E. Otto und auch Eun-Ae Lee
beschäftigen sich mit diesem Komplex und sollen deshalb noch näher vorge-
stellt werden.
Es wurde bereits mehrfach darauf hingewiesen, dass das apodiktische
Recht als solches in akephalen, segmentären Gesellschaften nicht zu finden
ist. Historische, sprachliche und rechtsgeschichtliche Gründe sprechen dage-
gen. Das von E. Gerstenberger herangezogene Sippenethos kann deshalb
nicht als direkte Quelle dieses Rechts angesehen werden. Erst in der bibli-
schen Endgestalt finden wir in einer großen Komposition das apodiktische
Recht als Rahmen der übrigen Rechtsordnung. Das Sippenethos war aber
sicherlich die Quelle der apodiktischen Redeweise, die einzelne Sentenzen
hervorbrachte, die dann schließlich im Dekalog zu einer Grundsatzordnung
zusammengefasst wurden.
45
KuD 11 (1965), 49–74.
46
Ebd., 51.
42 1. Teil: Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts
„überhaupt nichts“ zu tun.47 Die „Urform“ des Dekalogs, wie immer diese
auch ausgesehen habe, sei also nicht „jahwegebunden“ gewesen.
Die Crux bei diesen Erörterungen ist, dass dabei immer nur auf die – ver-
mutete – Herkunft der Sätze geachtet wird. Wenn man die Texte weit genug
zurückverfolgt, kommt man natürlich in eine „jahwefreie“ Zeit. Dann haben
die Gebote – ursprünglich – tatsächlich nichts mit Adonai zu tun. Aber ist
dies das Entscheidende? Wenn in der vorliegenden Endfassung die Gebote
ausdrücklich Adonai unterstellt werden, dann sind sie – heute – doch „jah-
wegebunden“ und stehen in unmittelbarer Beziehung zu Adonai. Sie waren
es ursprünglich nicht, sollen es aber heute sein. Hierauf hat Fr.Crüsemann
überzeugend hingewiesen.48 Sein Buch soll später noch näher vorgestellt
werden. Für den Juristen ist dies auch kein Problem. Rechtsnormen gelten
immer nur in ihrer letzten Fassung. Frühere Formulierungen und Sinnzu-
sammenhänge interessieren nur den Rechtshistoriker. Ein Haus kann erst
nach seiner Fertigstellung zutreffend gewürdigt werden. Die Betrachtung der
einzelnen Baumaterialien ist eine andere Sache.
G. Fohrer betrachtet insgesamt die Reihen des apodiktischen Rechts als
Lebens- und Verhaltensregeln und kommt damit zu einem ähnlichen Er-
gebnis wie E. Gerstenberger. Apodiktisches Recht sei ursprünglich kein
„Recht“ im eigentlichen Sinne mit konkreten Sanktionen, sondern die
Sammlung allgemeiner Lebensregeln aus dem (halb)nomadischen Lebensbe-
reich.49
Wichtig ist hierbei, dass auch G. Fohrer die Diskussion um das orientali-
sche Recht, insbesondere die Vasallenverträge, hinter sich gelassen hat. Diese
werden von ihm im Zusammenhang mit dem apodiktischen Recht nicht
mehr erörtert. Insoweit liegt bei G. Fohrer wie bei E. Gerstenberger eine
eigenständige Entwicklung dieses Rechts vor. Ein Bezug zum orientalischen
Rechtsbereich besteht nach Meinung beider Autoren nicht.
47
KuD 11 (1965), 58.
48
Fr. Crüsemann, Bewahrung.
49
G. Fohrer, Apodiktisches Recht, 67.
IV. Heutiger Forschungsstand
IV. Heutiger Forschungsstand
Eines der besten Bücher zum Dekalog und damit auch für unser Thema ist
die kleine Schrift von Fr. Crüsemann „Bewahrung der Freiheit“. Der Unter-
titel lautet: „Das Thema des Dekalogs in sozialgeschichtlicher Perspektive“.
Dies ist nach Fr. Crüsemann der entscheidende Aspekt, wobei es ihm um die
soziale Funktion des Dekalogs in seiner Endgestalt, also um die gesellschafts-
politischen Gründe zur Zeit seiner abschließenden Formulierung geht. Die
speziellen Herkünfte und Traditionen der einzelnen Bestimmungen interes-
sieren ihn nur insoweit, als diese Aufklärung über die Bedeutung in der Ge-
genwart geben können.
1
Th. Mann, Das Gesetz, 684.
2
Fr. Crüsemann, Bewahrung, 69.
44 1. Teil: Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts
hierzu. Ferner fehlen alle Sexualtabus, die im Dekalog nicht durch das Ehe-
bruchsverbot abgedeckt werden, wie von denjenigen angenommen wird, die
eine umfassende universale Geltung des Dekalogs postulieren.
Der gesamte Bereich des Kultes ist ebenfalls ausgeklammert. Dieser wird
nach Fr. Crüsemann auch nicht durch das Sabbatgebot erfasst. Alles, was an
anderen Stellen über spezielle Vorschriften über Opfer, Erstlinge, Zehnte,
Feste oder Wallfahrten ausführlich erörtert wird, wird vom Dekalog nicht
erwähnt.
Das Gleiche gilt für das Verhältnis zum Staat und zur Obrigkeit. Man kann
dies nicht über das Elterngebot hineininterpretieren. Steuern, Kriegsdienst,
das Verhalten gegenüber Fremden und Fremdvölkern werden nicht ange-
sprochen. Und schließlich fehlt, ganz verblüffend, das Verhalten gegenüber
den sozial Schwachen und Benachteiligten. Die Witwen und Waisen, Arme
oder Blinde treten nicht auf, obwohl das Verhalten gegenüber diesen Grup-
pen ein sonst ganz zentrales Thema ist.
Warum fehlen alle diese Vorschriften? Das Auswahlkriterium muß ermit-
telt werden. Hierfür weist Fr. Crüsemann darauf hin, dass der jetzige Dekalog
durch seinen Textzusammenhang und durch die Selbstvorstellung und Na-
mensnennung JHWH‘s eine Gottesbeziehung voraussetze, aus der heraus
der Dekalog zu betrachten sei. Die Rettungstat Adonais, der Israel aus Ägyp-
ten geführt hat, sei das Faktum, von dem aus alles seine Bedeutung beziehe.
„Nur vom befreienden Gott des Exodus her lassen sich die Gebote sachgemäß
verstehen.“3 Die hierdurch gewonnene Freiheit sei der zentrale Begriff.
Was hat dieser Begriff aber mit der Auswahl der Gebote zu tun? Warum
werden das Ehebruchsverbot und das Elterngebot erwähnt, das Verhalten
gegenüber sozial Schwachen aber nicht? Fr. Crüsemann geht davon aus, dass
dies kein Zufall ist. Der „Dekalog (ist) ein überaus reflektierter und bewusst
komponierter Text.“4 Er geht von einem speziellen „Thema des Dekalogs“
aus, das er mit Hilfe einer sozialgeschichtlichen Interpretation ermitteln
möchte. Für ihn sind die Adressaten des Dekalogs von Bedeutung, weniger
die Verfasserkreise. Letztere lassen sich schwer ermitteln. Die durch den
Dekalog Angesprochenen, die Adressaten, seien dagegen mit „weitgehender
Eindeutigkeit“ zu erkennen.
3
Fr. Crüsemann, Bewahrung, 12.
4
Ebd., 13.
IV. Heutiger Forschungsstand 45
b) Zunächst muss hierfür die Datierung geklärt werden. Dass der Dekalog, so
wie er uns heute vorliegt, nicht aus vorstaatlicher Zeit stammt, obwohl er in
der Bibel in einem solchen textlichen Zusammenhang steht (Exodus), ist
unbestritten. Er ist nach Fr. Crüsemann vielmehr in die „späte vorexilische
Zeit“ zu datieren, also in das 8. Jahrhundert, zwischen dem Untergang des
Nordreichs und Josija, wobei Crüsemann offenbar das 7. Jahrhundert mit
einbeziehen will. Der Dekalog stelle eine „Reaktion auf die tiefen religiösen,
theologischen, politischen und sozialen Krisen“ dieser Zeit dar. Er reagiere auf
die damals entstandenen starken sozialen Spannungen und Risse in der is-
raelitischen Gesellschaft. Hieraus resultierten die Auswahl der Gebote. Diese
sollten die durchaus konkret und sozial gedachte Freiheit des israelitischen
Bürgers bewahren. Dies beziehe sich unmittelbar auf die Rettungstat JHWH‘s
und werde hierauf zurückgeführt. Die Einhaltung des Dekalogs sei die un-
mittelbare Antwort Israels auf die von JHWH gewährte Freiheit. Nur
dadurch könne die Freiheit bewahrt werden.
Genauso sieht es auch M. Köckert. Er formuliert: Die Zehn Gebote „gelten
Befreiten und halten dazu an, die Freiheit zu bewahren. Aus der erfahrenen
Befreiung erwächst die Bindung an den befreienden Gott.“5
c) Der Adressatenkreis lässt sich nach Fr. Crüsemann dann leicht ermitteln.
Es ist der freie, grundbesitzende israelitische Vollbürger. Auf diesen beziehe
sich der Dekalog. JHWH stelle sich als derjenige vor, der Israel aus Ägypten
in die Freiheit geführt hat. Er definiert sich hier allein über dieses Ereignis. In
dieser Beziehung steht er zum einzelnen, befreiten Israeliten, soweit dieser als
Vollbürger Träger dieser Freiheit ist. JHWH hat Israel aus dem „Sklaven-
haus“ in das Land geführt, in dem „Milch und Honig fließen“. Hier lebt der –
befreite – Israelit in einer egalitären Gesellschaft, die es zu bewahren gilt. Die
drohende Aufspaltung der israelitischen Gesellschaft in Arme und Reiche,
die Herausbildung einer Aristokratie mit abhängigen Bauern soll verhindert
werden. Es ist dabei eine „kommunikative Freiheit“.6 Gottes „Befreiungstat“
entspricht der Freiheit der Bürger. Sie begründet dieses Privileg. Die Unter-
werfung unter JHWH und seine Gebote sichert diese Freiheit. Es geht also
nicht um die Herrschaft JHWH‘s, sondern umgekehrt um das freie Leben der
Angehörigen des Volkes Israel.
5
M. Köckert, Zehn Gebote, 48.
6
Fr. Crüsemann, Bewahrung, 39.
46 1. Teil: Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts
d) Diese Grundkonzeption ergibt dann nach Fr. Crüsemann die Auswahl der
Gebote. Es sind diejenigen Regeln, die zur Erhaltung dieser Freiheit erforder-
lich sind. Es geht um kein „Universalethos“ o. ä., sondern um die ganz kon-
kreten Beziehungen der Bürger. Diese Beziehungen werden von Fr. Crüse-
mann im Einzelnen dargelegt:
Die alleinige Verehrung JHWH’s und das Bilderverbot sollen den Rückbe-
zug auf Adonai sicherstellen. Dieser ist der Befreier und der Garant der ge-
wonnenen Freiheit. Auch die Einhaltung des Sabbats hat hier weniger kulti-
sche Bedeutung. Dieser Ruhetag soll vielmehr demonstrieren, dass man nicht
mehr im „Sklavenhaus“ Fronarbeit leisten muss, sondern „freier Bauer auf
freier Scholle“ ist, um diesen Ausdruck hier zu gebrauchen. Es ist eine Frage
der Lebensqualität, an der alle, auch der Sklave, seinen Anteil haben soll.
Das Gebot, die Eltern zu ehren, bedeutet ganz konkret die angemessene
Versorgung der alten Menschen, so wie später der durch dieses Gebot Ver-
pflichtete seinerseits von seinen Kindern versorgt werden soll. Nur so wird
seine eigene soziale Freiheit und Unabhängigkeit in der Zukunft sicherge-
stellt.
Das Verbot des Mordens, Stehlens und Meineids schützt den Bürger vor
kriminellen Handlungen. Das Verbot des Ehebruchs sichert den Bestand der
Familie und erhält den nachbarlichen, sozialen Frieden.
Das letzte Verbot scheint mit dem 8. Gebot zu kollidieren. „Du sollst nicht
begehren …“ bedeutet nach Fr. Crüsemann aber etwas anderes. Während das
8. Gebot den direkten kriminellen und strafbewehrten Diebstahl meint,
richtet sich das 10. Gebot gegen eine Aneignung von Habe des Nächsten
durch scheinlegale Handlungen. Wer Notsituationen seines Nachbarn aus-
nutzt oder bewusst herbeiführt, soll hier getroffen werden. Die soziale Aus-
beutung auf „legale“ Weise, z. B. durch Wucherzinsen, soll verhindert wer-
den. Wer durch solche Machenschaften die Habe seines Nächsten an sich
bringt, handelt genauso verwerflich wie ein Dieb, sogar noch verachtenswer-
ter. „Was ist der Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank!“
lässt Berthold Brecht seinen berüchtigten Titelhelden Macheath, genannt
„Mac the knife“, in der „Dreigroschenoper“ verkünden.
Dieses letzte Gebot ist eminent wichtig. Jedes gesellschaftliche System bie-
tet dem wirtschaftlich Stärkeren die Möglichkeit, sich Hab und Gut seiner
Mitbürger anzueignen, ohne sich direkt strafbar zu machen. Das skrupellose
Ausnutzen aller wirtschaftlichen und rechtlichen Möglichkeiten kann zu
einer unmittelbaren Gefährdung der Existenz der anderen Mitbürger führen.
IV. Heutiger Forschungsstand 47
7
Fr. Crüsemann, Bewahrung, 79.
48 1. Teil: Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts
Verhältnisse zur Zeit seiner Abfassung in „spät vorexilischer Zeit“ an. Dies
hat Fr. Crüsemann in seiner Schrift überzeugend dargelegt.
Mit diesen Fragen beschäftigt sich auch das nächste Kapitel (IV.2.), in dem
ebenfalls Fr. Crüsemann mit seinem Buch „Die Tora“ zu Wort kommt. Es
geht dabei um die Entwicklung von Recht bis hin zu seiner Endgestalt im
biblischen Kontext.
Die Frage nach dem apodiktischen Recht begrenzt sich nicht auf die Suche
nach seiner Herkunft. Viel wichtiger ist die Frage, welches weitere „Schick-
sal“ dieses Recht genommen hat. Wir hatten gesehen, dass es in seinen vielen
Vorformen dem noch nicht jahwegebundenen „Sippenethos“ einer „seg-
mentären, akephalen“ Gesellschaft zuzurechnen ist (E. Gerstenberger, G.
Fohrer). Dort verblieb es aber nicht. Es ist bis heute im biblischen Kontext in
schriftlich fixierter Form erhalten und hat einen bestimmten Bezug zu den
übrigen Rechtsnormen. Diese Entwicklung und die des Rechts insgesamt
wird von Fr. Crüsemann in seinem Buch „Die Tora – Theologie und Sozialge-
schichte des alttestamentlichen Gesetzes“ aus dem Jahre 2005 nachgezeichnet.8
Dabei gilt der erste Hinweis der Gestalt des „Mose“, auf den sich alles Recht
bezieht. Die Tora JHWH’s kann man deshalb auch als „Tora des Mose“ be-
zeichnen, was im Alten Testament auch mehrfach erfolgt (2 Chr 23,18; Jos
8,31; 23,6 u. a.). Die Frage, wer historisch hinter dieser Figur steht, führte
dann aber über die historisch-kritische Forschung zu einem ständigen
Schrumpfen dieses „Gesetzgebers“. Aus einem „Riesen“ wurde ein „kaum
mehr erkennbarer Zwerg“,9 dem M. Noth abschließend dann nur noch ein
„unbekanntes Grab“ zubilligen wollte.
Dieser Weg müsse aber, so Fr. Crüsemann, jetzt wieder umgekehrt gegan-
gen werden. Die Frage laute: „Wie konnte aus diesem historischen ‚Zwerg“
der ‚Riese‘ des Alten Testaments werden?“ Warum wurde nach und nach
alles Recht diesem Mose zugeschrieben und welche Personen und Institutio-
nen beriefen sich auf dessen Autorität?10 Hierauf wird auch von F. W. Golka
8
Fr. Crüsemann, Tora, 76.
9
Ebd., 76.
10
Ebd., 77.
IV. Heutiger Forschungsstand 49
a) Für die Rechtsentwicklung in Israel ist nach Fr. Crüsemann wichtig, dass
es für die vorstaatliche Zeit keine Amphiktyonie, keine „hebräische Rechts-
gemeinde“, kein „Recht im Tor“15 und keine „Richter“ gab. Alle Berichte
hierüber sind spätere Texte und Rückprojektionen.16 Sie widersprechen auch,
wie bereits erörtert, den archäologischen Befunden. Es gibt keine direkten
Quellen für das vorstaatliche Recht Israels.
Fr. Crüsemann entnimmt den biblischen Texten, die er für relevant hält,
vielmehr ein anderes „Rechtssystem“. Die Erzählungen von Gen 31 (Jakob –
Laban), Gen 34 (Dina), Ri 17 (Michas Heiligtum), Ri 19 (Schandtat von
Gibea) und 2 Sam 14 (Frau aus Tekoa) ergeben Abweichendes. Es gelten die
Begriffe „Selbsthilfe und Verhandlung“.17 Hierbei gibt es immer eine direkte
Konfrontation der Beteiligten. Jeder sammelt seine Anhänger und es kommt
zu Verhandlungen und Disputen, und zwar ohne Mittler. Crüsemann kommt
zu folgendem Ergebnis: „Im vorstaatlichen Israel werden Rechtsfälle, soweit
sie nicht in die Zuständigkeit eines einzelnen pater familias fallen, nicht durch
vermittelnde Instanzen irgendwelcher Art gelöst, sondern allein durch direkte
11
F. W. Golka, Mose.
12
Ebd., 180.
13
5. Aufl., Frankfurt a. M. 2004.
14
F. W. Golka, Mose, 180.
15
Rut 4 mit der angeblichen „Sitzung eines Ältestengerichts“ ist ein späterer Text, der keine
Beweiskraft hat. Die zehn Männer sind zudem auch keine Richter, sondern nur Zeugen.
16
Fr. Crüsemann, Tora, 80.
17
Ebd., 91.
50 1. Teil: Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts
18
Fr. Crüsemann, Tora, 93.
19
Ebd., 94.
20
Ebd., 98.
21
Ebd. 113.
22
Ebd., 120.
23
Ebd., 130.
24
Ebd., 131.
IV. Heutiger Forschungsstand 51
c) In diesen großen Rahmen gehört dann die Frage, welches Recht über-
nommen, schriftlich fixiert und über die Autorität des Mose als allumfassen-
des Gottesrecht verstanden wurde. Wie verhält es sich dabei mit dem apo-
diktischen Recht? Welche Stellung und Funktion hat es in Bezug auf die
übrigen Rechtsnormen?
Fr. Crüsemann25 erörtert dies im Zusammenhang mit seiner Diskussion
über den von E. Otto eingeführten Begriff der „Ausdifferenzierung“.26 Es geht
dabei um die Frage, ob sich durch die Übernahme apodiktischen Rechts und
dessen „Theologisierung“, nämlich Erklärung zum Gottesrecht, so etwas wie
ein Ethos aus dem Recht „ausdifferenziert“ habe. Sind die Sozialgebote und
alles das, was A. Alt „apodiktisches Recht“ genannt hat, noch „Recht“ im
eigentlichen Sinne oder muss man sie jetzt als „Ethos“ mit nur noch paräne-
tischem Charakter betrachten?
E. Otto soll im nächsten Kapitel noch näher vorgestellt werden. Fr. Crüse-
mann selbst befasst sich mit diesem Thema in seinem Kapitel „Recht oder
Ethik? – Zum Rechtscharakter der Sozialgebote.“27 Er vertritt die Auffassung,
dass die Sozialgebote im Bundesbuch, die den Schutz der Fremden, Armen
und Ausgebeuteten, der Witwen und Waisen beinhalten, durchaus zum
Recht im weiteren Sinne zu zählen seien. Sie seien zwar, anders als die
Mischpatim, ohne Sanktionsandrohung, trotzdem aber nicht zum reinen
unverbindlichen „Ethos“ geworden. Sie seien das, was von der „älteren For-
schung“ als apodiktisches Recht bezeichnet wurde. Ihre Übernahme in einen
Rechtskorpus und ihre Vermischung mit positivem, kasuistischem Recht
habe eine bestimmte Funktion. Sie seien Richtschnur und Korrektiv für die
Anwendung und Auslegung der übrigen Normen. Durch sie solle die ange-
messene, gottgewollte Durchführung der gesamten Rechtsordnung, ein-
schließlich seiner sozialen Aspekte, sichergestellt werden. Sie blieben deshalb
verbindliches „Recht“.
Die Gebote, also das alte apodiktische Recht, könne man als „Optimie-
rungsangebote“28 für das übrige Recht bezeichnen. Sie verpflichteten die
Gerichte und den Gesetzgeber zur Beachtung von grundsätzlichen Wertent-
scheidungen über ein gerechtes Zusammenleben der Menschen innerhalb
des israelitischen Volkes. Fr. Crüsemann sieht ihre Stellung wie die von mo-
25
Fr. Crüsemann, Tora, 224.
26
E. Otto, Sozial- und rechtshistorische Aspekte, 94.
27
Fr. Crüsemann, Tora, 224.
28
Ebd., 227.
52 1. Teil: Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts
3. E. Otto: „Ausdifferenzierung“
29
Fr. Crüsemann, Tora, 244.
30
E. Otto, Wandel, 61.
IV. Heutiger Forschungsstand 53
31
E. Otto, Wandel, 61.
32
Ebd., 62.
33
Ebd., 63.
34
Ebd., 65.
54 1. Teil: Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts
Der Grund hierfür ist die zunehmende Komplexität der Gesellschaft, ins-
besondere in wirtschaftlicher Hinsicht. Die vielen neuen Probleme können
durch das alte intergentale apodiktische und intergentale kasuistische Recht
nicht mehr ausreichend gelöst werden. Gleichzeitig wird eine zunehmende
Systematisierung und Rationalisierung erforderlich.35
Die weitere Rechtsentwicklung zeigt dann nach Otto eine zunehmende
„Theologisierung“ des Rechts.36 Die früheren Rechtsbegründungen tragen
nicht mehr. Die Solidarität innerhalb der Familie und innerhalb der Gesell-
schaft wird zunehmend brüchiger. An diesen „Bruchlinien israelitischer Ge-
sellschaft“ setzt die Theologisierung ein. Wo die Kluft zwischen Arm und
Reich immer größer wird, kann an eine soziale Solidarität allein nicht mehr
ausreichend appelliert werden. Der Rückbezug auf Adonai wird erforderlich,
wie dies insbesondere auch im Dekalog sichtbar wird.37 JHWH wird der
neue, allumfassende Begründungszusammenhang.
E. Otto weist darauf hin, dass also nicht eine Profanisierung des Rechts aus
sakralen Ursprüngen stattgefunden hat, sondern dass umgekehrt ursprüng-
lich profane Rechtssysteme (intergentale Konfliktregelung und Sippenethos)
nach und nach „theologisiert“ wurden, um die schweren Probleme einer
auseinanderbrechenden Gesellschaft zu lösen. Nur JHWH kann jetzt noch als
tragender Grund der Rechtsordnung gelten, nicht mehr die Solidarität der
Gesellschaft, da diese nicht mehr solidarisch ist. Das apodiktische Recht ist
deshalb aus ursprünglich profanem Ursprung nachträglich theologisiert
worden, um seine Geltung zu erhalten.
Der Vorgang der „Ausdifferenzierung“ führt E. Otto dann zu weiteren
Überlegungen, auf die Fr. Crüsemann näher eingegangen ist. Es geht um die
Frage eines „altisraelitischen Ethos“. E. Otto hat hierzu eine eigene Untersu-
chung vorgelegt.38 Er unterscheidet zwischen Rechtsnormen, die justitiabel
sind, also Rechtsfolgen enthalten, und solchen, die keine Sanktionsregelun-
gen haben und damit nicht unmittelbar durchsetzbar sind. Hier sei nur ein
„paränetischer Appell“ möglich. Damit sind diejenigen Normen gemeint, die
das apodiktische Recht ausmachen. Diese enthalten keine unmittelbaren
Sanktionen. Auch der Fluch aus der אָרוּר-Reihe ist nur eine formelhafte
35
E. Otto, Wandel, 66.
36
Ebd., 69.
37
Vgl. Fr. Crüsemann im Kapitel über den Dekalog (s. IV.1.).
38
E. Otto, Sozial- und rechtshistorische Aspekte.
IV. Heutiger Forschungsstand 55
4. B. S. Jackson: „Semiotik“
Ein weiterer interessanter Versuch zur Analyse des biblischen Rechts wurde
vor wenigen Jahren von B. S. Jackson vorgelegt.39 Er versucht, aus dem
sprachlichen Kontext heraus die Entwicklung des Rechts aus der mündlichen
Tradition bis hin zur Verschriftlichung zu ermitteln. Er beschäftigt sich mit
der grundsätzlichen Frage, wie „Recht“ entsteht und welche Bedeutung die
schriftliche Fixierung von Entscheidungen oder Rechtsauffassungen hat. Er
bedient sich dabei der „semiotischen Methode“, die sich aus verschiedenen
Fachrichtungen entwickelt hat: Phänomenologie, Ethnologie, Soziologie und
Anthropologie. B. S. Jackson geht davon aus, dass in den heutigen Texten
noch „frühere Erkenntnismuster der mündlichen Überlieferung durch-
schimmern“ und dass die vorliegenden Texte die rechtlichen Gedanken-
muster wiedergeben, die vorher entwickelt worden waren. Auf diese Weise
könne man auch den historischen Ursprung dieses Rechts ermitteln.
39
B. S. Jackson, Studies, zitiert in Eun-Ae Lee, Forschungsgeschichte, 153.
56 1. Teil: Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts
Es komme deshalb auf den narrativen Kontext an, in dem die jeweilige
Norm stehe. Recht entwickele sich aus einer bestimmten Situation heraus,
bedürfe außerdem aber noch eines besonderen „speech act“, um Rechtssatz
zu werden. In 1 Sam 30 wird z. B. die Beuteverteilungsregelung erst durch die
nachträgliche Anordnung Davids zu einem festen dauernden Rechtssatz.
B. S. Jackson übernimmt, wie eigentlich alle Forscher, die grundsätzliche
Einteilung A. Alts in apodiktisches und kasuistisches Recht als Gattungen,
sieht aber den „Sitz im Leben“ anders. Für ihn ist jedes Recht aus mündlich
überlieferten „wisdom laws“ entstanden, die nach und nach zu Rechtssätzen
und dann schließlich verschriftlicht wurden, dabei als erstes das älteste
Rechtskorpus, das Bundesbuch. Das apodiktische Recht ist dann auch für ihn
im Bereich der Familie beheimatet („domestic setting“), so wie es E. Gersten-
berger40 bereits herausgearbeitet hat.
40
s. Kap. III.4.
41
J. Assmann, Moses.
42
Vgl. F. W. Golka, Mose, 64, 178.
IV. Heutiger Forschungsstand 57
Die neueste Untersuchung zum Thema „Apodiktisches Recht“ ist die Dis-
sertation von Eun-Ae Lee von 2003.43 Die Autorin berichtet ausführlich über
die Ergebnisse von A. Alt und die weitere Forschung hierzu, u. a. auch über
die „semiotische“ Methode von B. S. Jackson, der im vorigen Kapitel vorge-
stellt wurde (s. IV.4). Für ihre eigenen Untersuchungen übernimmt sie dann,
wie alle ihre Vorgänger auch, die grundsätzliche Einteilung A. Alts in apo-
diktisches und kasuistisches Recht. Wir können also auch hier feststellen,
dass sich an diesem großen Wurf bis heute nichts geändert hat und diese
Unterscheidung allseits akzeptiert wird. Ich vermute, dass sich hieran auch
nichts ändern wird, völlig unabhängig davon, wo man die Herkunft des apo-
diktischen Rechts und seine Stellung innerhalb der verschiedenen Rechts-
korpora ansiedeln will. Ob sich der Begriff „Verfassungsrecht“ für das apo-
diktische Recht durchsetzen wird (vgl. Fr. Crüsemann), ist eine andere Frage.
Auch für die Darstellung der in der nachfolgenden Forschung durchge-
führten Detailuntersuchungen folgt sie A. Alt. Sie übernimmt dessen „Grob-
einteilung“ in die vier Gruppen bzw. Fundstellen, nämlich in die מוֹת יוּמַת-
Sätze, die Dekaloge, die Prohibitiv-Reihe von Lev 18 und die אָרוּר-Reihe. Im
Rahmen dieses Schemas stellt sie dann die verschiedenen Diskussionen um
das apodiktische Recht und dessen Einordnung in die Gesamtzusammen-
hänge dar, wobei ihr besonderes Interesse den sprachlichen Problemen gilt.
Diese standen ja auch am Beginn der kritischen Untersuchungen nach A. Alt.
Es ging um den genauen sprachlichen Aufbau der kasuistischen Rechtssätze
(„lex Rössler“)44 und dann insbesondere dem der apodiktischen Sätze. Die
Zahl der z. T. extrem detaillierten sprachlichen Abhandlungen mit endlosen
Diskussionen über hebräische Sprachformen ist fast unübersehbar und auch,
wenn man ehrlich sein will, sehr ermüdend. Dies gilt insbesondere dann,
wenn man die mehr inhaltlichen und historischen Arbeiten von F. Gersten-
berger, E. Otto oder Fr. Crüsemann dagegenhält. Diese bringen außerdem
43
Eun-Ae Lee, Forschungsgeschichte.
44
G. Liedke, Gestalt, 35.
58 1. Teil: Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts
auch noch die wesentlich interessanteren Ergebnisse, weil sie sich nicht mehr
allein auf die Frage der Herkunft fixieren, sondern die heutige Bedeutung
erörtern.
Den Einordnungen und Beurteilungen von Eun-Ae Lee45 kann man im
Wesentlichen zustimmen. Sie stellt in ihrer Zusammenfassung korrekt fest,
dass die apodiktischen Rechtssätze immer in Rechtssammlungen auftreten
und deshalb in einem bestimmten Kontext zu diesen Normen stehen. Ihre
Funktion innerhalb des jeweiligen Rechtsbuches (BB, Dtn, HG) ist also das
Entscheidende. „Diese Funktion drückt die Intention der Redaktoren der alt-
testamentlichen Rechtssammlungen aus, die ganze Rechtssammlung Gott zu
unterstellen und sie so zu sichern, weil die apodiktischen Rechte in ihren einfa-
chen und wuchtigen Ausdrucksformen als das die höchste Autorität Gottes
voraussetzende Gesetz angesehen wurden.“46 Zur Klarstellung muss hierbei
aber gesagt werden, dass die Autorin diesen Aspekt erst für die jeweiligen
Endfassungen der Rechtssammlungen ansetzt. Die ursprüngliche Herkunft
des apodiktischen Rechts sieht sie, wie die Mehrzahl der Forscher nach E.
Gerstenberger, in einer frühen, noch nicht schriftlichen Sippengesellschaft
mit dem pater familias als verbindlicher Autorität. Erst anschließend sei diese
Autorität über das Gericht zu Gott transponiert worden.47
Diese besondere Stellung des apodiktischen Rechts ist nach Eun-Ae Lee bei
den Endredaktionen, die bei den Rechtskorpora unterschiedlich anzusetzen
sind, bewusst eingesetzt worden, um der Sammlung einen sakralen Rahmen
zu geben. Diese Rahmung kann in allen drei Rechtsbüchern festgestellt wer-
den. Apodiktische Formulierungen fassen das kasuistische Recht ein und
bilden auf diese Weise die Richtschnur oder Zusammenfassung der jeweili-
gen Sammlung. Sie haben, modern gesprochen, Verfassungsrang und des-
halb eine herausgehobene Stellung, die durch die besondere Formulierung
noch hervorgehoben wird.
a) Bundesbuch48
21,12–17 mot-jumat-Reihe im profanen Bereich
21,18–22,16 Rechtsbestimmungen in kasuistischer Formulierung
22,17–19 Todesrechtsreihe im sakralen Bereich,
45
Eun-Ae Lee, Forschungsgeschichte, 171–181.
46
Ebd., 171.
47
Ebd., 176.
48
Ebd., 173.
IV. Heutiger Forschungsstand 59
b) Deuteronomium49
Dtn 5 Dekalog in Prohibitiv- und Injunktivform
Dtn 12–26 Das deuteronomische Gesetz
Dtn 27 Fluchreihe in ’arur-Form
c) Heiligkeitsgesetz50
Lev 18 Reihe gegen Sexualverbrechen in Prohibitivform
Lev 19 soziale / kultische Rechtsbestimmungen,
die aus dem Bundesbuch und dem deuteronomischen
Gesetz zitiert werden und nach der dekalogischen
Struktur angeordnet sind.
Lev 20 Reihe gegen Sexualverbrechen in mot-jumat-Form
49
Eun-Ae Lee, Forschungsgeschichte, 173.
50
Ebd., 174.
51
Ebd., 181.
V. Zusammenfassung
V. Zusammenfassung
1.
Bei unserem Streifzug durch die Forschungsgeschichte des apodiktischen
Rechts konnten wir feststellen, dass sich das Forschungsinteresse gewandelt
hat. Während es früher in erster Linie um die Frage der Herkunft und der
Entstehung der verschiedenen Rechtsgattungen ging, hat sich heute der Blick
mehr auf die Stellung und Bedeutung des apodiktischen Rechts innerhalb der
verschiedenen Rechtskorpora des Alten Testaments verlagert. Die ältere For-
schung beschäftigte sich überwiegend, literarkritisch und gattungsgeschicht-
lich, mit der Einordnung dieses Rechts in die zurückliegende Rechtsent-
wicklung. Eine Herkunft aus dem „israelitischen Stammesrecht“, eine
Anbindung an „amphiktyonisches Bundesrecht“ wurde postuliert und de-
tailliert untersucht. Andererseits wurde eine Verbindung zum altorientali-
schen Recht, insbesondere zu den hethitischen Vasallenverträgen gesucht.
Die sprachliche Gestaltung, im Unterschied zum kasuistischen Recht, wurde
minutiös ermittelt, immer in der Hoffnung, hieraus Rückschlüsse auf die
Herkunft dieser speziellen Rechtsform ziehen zu können.
Herauskristallisiert hatte sich dann die insbesondere von Gerstenberger
vorgetragene Überzeugung, dass das apodiktische Recht im sog. Sippenethos
beheimatet ist und dort seinen Ursprung hat. Es war damit nicht mehr
„volksgebunden israelitisch und gottgebunden jahwistisch“, wie A. Alt es
vorgeschlagen hatte, sondern entsprang der Sippenordnung einer „segmentä-
ren, akephalen Gesellschaft“. Die dahinter stehende Autorität war die selbst-
verständliche, von allen zu respektierende Grundordnung innerhalb einer
Großfamilie, repräsentiert durch den „Patriarchen“ oder die Ältesten der
Sippe. Diese Sippenordnung ist dann auch nicht ethnisch begrenzt und nicht
typisch „israelitisch“. Überall dort, wo sich Stammesgesellschaften noch in
vorstaatlichem Zuschnitt befinden, kann „apodiktisches Recht“ entstehen,
unabhängig davon, ob es sich um „Israeliten“ oder andere Volksgruppen
handelt. Wir finden derartige „archaische“ Rechtsformen in fast allen frühe-
ren Lebensordnungen.
Die demgegenüber viel wichtigere Frage ist aber, was sich von diesen
Rechtsformen erhalten hat und in spätere staatliche Gesellschaften über-
62 1. Teil: Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts
nommen worden ist, verbunden mit der Überlegung, welche Stellung diese
Formen in der Gesamtrechtsordnung des jeweiligen Staates haben sollen. Es
ist dann aber nicht mehr altes Sippenrecht, weil die Sippenordnungen zu-
nehmend durch staatliche Institutionen zurückgedrängt werden. Es wird
neues Recht, das sich durch seine Stellung innerhalb der jeweils geltenden
Rechtsordnung neu definiert.
Für einen Juristen sind derartige Überlegungen eigentlich selbstverständ-
lich. Ihn interessiert immer nur die „Endfassung“ eines Gesetzes, und zwar in
der Form, in der es im Bundesgesetzblatt oder im Reichsgesetzblatt verbind-
lich veröffentlich worden ist. Der Wille des letztmalig tätigen Gesetzgebers ist
für ihn entscheidend. Vorangehende Fassungen sind nicht mehr maßgeblich,
weil sie – wegen der Neufassung – eben gerade nicht mehr gelten sollen.
Sonst hätte der Gesetzgeber sie nicht geändert.
Es ist insofern eine klare Regelung. Kein Richter oder Verwaltungsjurist
käme heute auf die Idee, für die Entscheidung eines ihm vorgelegten Falles
hinter die Endfassung des anzuwendenden Gesetzes zurückzugehen und
nachzuprüfen, welche Grundsätze und Auffassungen eventuell der frühere
Gesetzgeber vertreten hat. Es gilt immer die vorliegende Endfassung. Alte
Rechtsgrundsätze, die sich im neuen Gesetz widerspiegeln, interessieren nur
den Rechtshistoriker.
Rechtsentwicklungen und frühere Rechtsauffassungen können natürlich
für ein Verfassungsgericht von Bedeutung sein, wenn es um die Verfas-
sungsmäßigkeit von Gesetzen geht. Hier sind die großen Entwicklungslinien
insbesondere von Grundrechts- oder Verfassungsnormen von Wichtigkeit
und können herangezogen werden. Dies ist aber ein Sonderfall und berührt
nicht die Gültigkeit eines korrekt erlassenen Gesetzes. Dieses gilt so, wie es
im Gesetzblatt steht.
Ein weiterer Sonderfall kann die Neufassung von Gesetzen sein. Wenn der
Gesetzgeber, heute das Parlament, aufgrund veränderter Umstände neue
gesetzliche Regelungen erlassen will oder muss, dann wird er die vorange-
gangene Rechtsentwicklung der jeweiligen Gesetzesmaterie im Auge haben
und bedenken, ob es langfristige, bedenkenswerte Grundsätze gibt, die sich
in früheren Gesetzesfassungen wiederfinden. Diese kann er berücksichtigen,
muss es aber nicht. Bei diesen Maßnahmen geht es aber nicht um die Frage
der Auslegung bestehender Gesetze, sondern um den Erlass neuer Gesetze.
Solange diese nicht vorliegen, gilt verbindlich die alte Regelung, ohne Rück-
sicht auf Herkommen oder alte historische Grundsätze.
V. Zusammenfassung 63
Dies lässt sich sehr gut an einem Beispiel aus dem heutigen Bürgerlichen
Recht, dem Zivilrecht, demonstrieren. Im heute geltenden Erbrecht, so wie es
im Fünften Buch des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) festgeschrieben ist,
gibt es verschiedene erbrechtliche Grundsätze, die in den §§ 1922ff. BGB
zum Tragen kommen und miteinander in Einklang gebracht werden müssen.
So stehen z. B. das sog. Familienerbrecht und die sog. Testierfreiheit in
Konkurrenz zueinander. Die „Testierfreiheit“ berechtigt den Erblasser zur
beliebigen testamentarischen Verfügung über seinen Nachlass; das „Fami-
lienerbrecht“ bedeutet demgegenüber, dass der Nachlass grundsätzlich auf
die Familie übergeht, wenn keine abweichende gesetzliche oder testamentari-
sche Verfügung vorliegt.1 Im deutschen Erbrecht ist das Verhältnis beider
Grundsätze so geregelt, dass der Erblasser zwar grundsätzlich zum Erben
einsetzen kann, wen er will, dass aber die Angehörigen (Kinder und Ehegat-
ten) durch die Pflichtteilsregelung immer mit der Hälfte ihres gesetzlichen
Erbteils am Nachlass beteiligt bleiben. Das kann der Erblasser nicht aus-
schließen. Er bleibt also im Endergebnis nur zur Hälfte Herr seines Nachlas-
ses; die andere Hälfte geht, wenn keine besonderen Umstände vorliegen,
grundsätzlich an die Familie.
Wir haben hier einen Kompromiss zwischen zwei widerstreitenden Rechts-
prinzipien vor uns, der dem Willen des aktuellen Gesetzgebers entspricht.
Wer nun wissen möchte, ob es früher anders war und woher diese Prinzipien
kommen, kann dies in der juristischen, insbesondere rechtshistorischen Lite-
ratur nachlesen und wird dann erfahren, dass die Testierfreiheit aus dem
römischen Recht, das Familienerbrecht mehr aus dem germanischen Rechts-
kreis stammt. Die Freiheit des Erblassers entspricht dem rationalen, indivi-
duellen Eigentumsbegriff des alten römischen Rechts, die Bindung an die
Familie geht auf germanische Volks- und Sippenvorstellungen zurück. Der
Eigentümer ist zwar „freier Bauer auf freier Scholle“, aber nur so lange er
lebt. Seine Freiheit reicht nicht über den Tod hinaus. Er kann insbesondere
seinen Hof nicht an „Fremde“ vermachen. Er ist dem Grunde nach nur
„Treuhänder“ seines Hofes und hat seinen Besitz so an seine Söhne weiterzu-
geben, wie er ihn seinerseits von seinem Vater erhalten hat.
Diese Erkenntnisse haben nun aber, so interessant sie auch sein mögen,
keine Auswirkungen auf das heute geltende deutsche Erbrecht. Dieses gilt so,
wie der Gesetzgeber es in seiner letzten Fassung verabschiedet hat. Bei einer
1
Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 58. Aufl. 1999, Einl. V. § 1922 BGB, Rn. 3.
64 1. Teil: Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts
2.
Das Gleiche gilt entsprechend für das apodiktische Recht des Alten Testa-
ments. Auch hier sind Herkunft, Entwicklung und frühere Bedeutung nicht
so wichtig wie Geltung und Stellung in den abschließenden Rechtskorpora.
Entscheidend ist die letzte Fassung und deren Komposition. Haben die
Normen eine besondere Funktion innerhalb dieser Sammlungen? Haben sie
den gleichen Rang wie die übrigen Vorschriften oder sind sie vielmehr als
grundsätzliche, verfassungsähnliche Normen zu betrachten?2 Diesem gilt es
näher nachzuspüren.
Das Aufzeigen der Herkunft und der Entwicklungslinien ist natürlich für
das Verständnis dieser Rechtsformen hilfreich, nicht aber für die Einord-
nung und Bestimmung ihrer Geltung innerhalb der Endfassung der jeweili-
gen Texte. Hinzu kommt, dass die Suche nach einem Ursprung in der For-
schung oft von illusionären religiösen oder ideologischen Vorstellungen
begleitet war, die in die Irre führen mussten. Wer fundamentalistisch glaubte,
das apodiktische Recht könne ihn in eine israelitische Vorzeit, direkt an den
Sinai führen, wo er dann unmittelbarer als in späterer Zeit Gottes Wort lau-
schen könne, war ebenso auf dem Holzweg wie derjenige, der, mit H. Gunkel,
meinte, er könne hier einen Schatz, ein Produkt der reinen Volksseele heben,
noch unbelastet von späteren Verfälschungen. Die Suche nach einem münd-
lichen oder schriftlichen „Original“ setzt nämlich voraus, dass es dieses auch
gab. Und das ist bei Gesetzestexten problematisch.
Dies mag bei erzählenden Texten anders sein. Hier wird ein früherer, ur-
sprünglicherer Text näher an der historischen Wahrheit sein als ein späterer.
2
Die Frage eines alttestamentlichen Ethos war bereits im Zusammenhang mit E. Otto und Fr.
Crüsemann erörtert worden.
V. Zusammenfassung 65
Hier kann man dann auch von „Verfälschungen“ sprechen. Bei Rechts-
sammlungen stellt sich dieses Problem aber nicht. Hier sind Änderungen
und Ergänzungen keine „Fälschungen“, sondern „legale“ Neufassungen des
jeweiligen „Gesetzgebers“, der neue Sachverhalte zu regeln hat. Die „Fäl-
schung“ besteht dann im Alten Testament nur darin, dass die Neufassung auf
Mose zurückprojeziert und dessen Autorität unterstellt wird. Die Behaup-
tung, auch diese Neufassung gehe direkt auf Mose zurück, und die damit
verbundene Ausnutzung von dessen Autorität für möglicherweise eigennüt-
zige Interessen einzelner Gruppen, z. B. der Priesterschaft oder des Königs-
hauses3, ist dann das eigentliche Problem. Die grundsätzliche Berechtigung
jeder staatlichen Macht zur Setzung neuen Rechts wird hiervon aber nicht
berührt.
König Joschija hatte also durchaus die Befugnis, im 7. Jahrhundert ein
neues Gesetzbuch, das Deuteronomium, herauszugeben. Die Frage ist nur,
ob es „korrekt“ war, dieses als „Moserede“ auszugeben. Wir kennen dieses
Problem auch im Neuen Testament, wo es viele sog. Pseudepigraphen gibt,
insbesondere bei den Paulusbriefen. Die Meinungen hierzu sind geteilt. Es
wird meist darauf verwiesen, dass in antiker Zeit das Gefühl für literarische
Wahrhaftigkeit ein anderes gewesen sei als heute. Dies wird aber durchaus
diskutiert.4 Auch die Antike habe selbstverständlich ein Bewusstsein für Be-
trug und Fälschung gehabt und falsche Zuschreibungen nicht ohne weiteres
toleriert. Eine echte Fälschung wie der 2. Thessalonicherbrief, der ausdrück-
lich darauf angelegt war, den ersten, echten Brief zu ersetzen (2 Thess 2,1ff.),
wäre auch früher nicht akzeptiert worden, wenn dies nur rechtzeitig erkannt
worden wäre.
Im Alten Testament ist dieses Problem in Bezug auf den Pentateuch aber
wesentlich komplexer. Das Deuteronomium ist ja keine komplette Neu-
schöpfung, sondern enthält überwiegend älteres, authentisches Material, das
nur neu zusammengestellt und streckenweise abgeändert wurde. Ein Rück-
bezug auf Mose war deshalb nicht völlig unsachgemäß und entsprach vor
allem allgemeiner Auffassung. Mose war der große Gesetzgeber. „Alle gesetz-
geberische Autorität leitet sich daher von Mose ab.“5 Es war deshalb unum-
gänglich, auch neues Material der Autorität des Mose zu unterstellen. König
Joschija hatte gar keine andere Wahl, als sein Gesetzbuch als „torat moshäh“
3
Z. B. die Zentrierung des Kults auf Jerusalem.
4
G. Lüdemann, Ketzer, 113.
5
F. W. Golka, Mose, 181.
66 1. Teil: Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts
auszugeben. Ich bin mir auch sicher, dass alle Beteiligten wussten, wie es
gemeint war.
3.
Es ist insgesamt festzustellen, dass bei der Erforschung des apodiktischen
Rechts die Ermittlung seiner Herkunft nur einen ersten Teil der Diskussion
darstellen kann. Der m. E. entscheidende zweite Teil ist die Frage, was von
diesen Rechtsnormen noch im Alten Testament erhalten ist und aus welchen
Gründen es dort platziert ist. Die Auffassung von Eun-Ae Lee, dem apodikti-
schen Recht den Rang von „Grundnormen“ zu geben, welches die übrigen
Rechtsnormen einrahmt, wie sie schematisch auch darlegen konnte, ist eine
sicher richtige Überlegung. Dies korrespondiert mit der Auffassung von Fr.
Crüsemann, der den Dekalog aus Ex 20 als eine Art Grundgesetz für den
freien israelitischen Mitbürger ansieht, zusammengestellt in einer Zeit des
sozialen Umbruchs. Für ihn ist das apodiktische Recht eine „Metanorm“ (s.
Kap. IV.2., S. 62).
Um dies weiter zu überprüfen, müsste man „apodiktisches Recht“ aus an-
deren Rechtssystemen heranziehen und auf seine Funktion hin überprüfen.
Und wenn man sich dann erst einmal von der Vorstellung befreit hat, das
apodiktische Recht sei ein geheimnisumwittertes Spezifikum Israels und sei –
abgesehen von vereinzelten Vorkommen im altorientalischen Recht – nur im
Alten Testament zu finden, wird man auch schnell fündig, dazu noch in Be-
reichen, wo man es gar nicht vermutet hätte. Ich stelle einige Beispiele vor:
Diese Liste ließe sich noch erweitern. Es handelt sich, wie jeder deutsche
Staatsbürger wissen sollte, um seine eigenen im „Grundgesetz für die Bun-
desrepublik Deutschland“ (GG) verbrieften Grundrechte. Wenn man diese
V. Zusammenfassung 67
unbefangen betrachtet, kann man sie eigentlich von der sprachlichen Struk-
tur und ihrer verbindlichen Aussagekraft her nur als „apodiktisch“ bezeich-
nen. Alle Elemente, die die Form und den Inhalt des apodiktischen Rechts
aus dem Alten Testament ausmachen, sind gegeben. Der einzige Unterschied
besteht darin, dass sie nicht so heißen, sondern die Grund- und Menschen-
rechte darstellen, die eine lange Verfassungstradition, beginnend mit der
Aufklärung, hinter sich haben.
Eine weitere verblüffende Übereinstimmung besteht außerdem hinsichtlich
des „Gottesbezuges“. Das ursprüngliche apodiktische Recht war nicht aus-
drücklich jahwegebunden. Es entsprang der unverbrüchlichen Sippenord-
nung, die jedes Mitglied der Sippe zu respektieren hatte. Erst nach und nach
wurde es unter göttliche und mosaische Autorität gestellt. Diese „Theologi-
sierung“6 bestand nicht von Anfang an, sondern ist sekundär. Fr. Crüsemann
hat dies für den Dekalog dargestellt. Dieser wurde aus zwei oder drei älteren
Reihen zusammengestellt und in Ex 20 in einen unlösbaren, dialektischen
Zusammenhang zur Rettungstat Adonais gestellt. Exodus und Dekalog be-
dingen sich jetzt gegenseitig.
Ähnlich wurde auch mit den Grund- und Menschenrechten im GG verfah-
ren. Verfassungsrichter U. Di Fabio hat in seiner „Einführung in das Grund-
gesetz“ 7 darauf hingewiesen, dass das Grundgesetz zwar seinen Ursprung in
der „verfassungsgebenden Gewalt des souveränen Volkes“ habe, wie dies in
der Präambel zum GG ausdrücklich formuliert wird, und zwar „ohne innere
oder äußere Fremdbestimmung“, dass aber gleichzeitig eine – freiwillige –
Bindung an Gott bestehe. Die „Verantwortung vor Gott und den Menschen“
ist die Einleitung zur deutschen Verfassung.
Damit sind die Grundrechte, unabhängig von ihrer teilweise „atheisti-
schen“ Herkunft aus der Aufklärung, in ihrer jetzigen Gestalt gottesbezogen.
Der Verfassungsgeber wollte dies so und hat die heute gültige Form der
Verfassung in dieser Weise ausgestaltet8. Es spielt dann keine Rolle mehr, wo
die einzelnen Grund- und Menschenrechte bzw. ihre Ausgestaltung histo-
risch anzusiedeln sind. Ihre Wurzeln reichen auch nicht nur bis in die Auf-
6
Vgl. S. 45.
7
U. Di Fabio, Einführung, VII.
8
Die Auffassung von einem direkten Gottesbezug ist allerdings streitig. Viele Verfassungen ande-
rer Länder besitzen zwar einen unmittelbaren Bezug zur christlichen Religion, für das deutsche
Grundgesetz wird demgegenüber von vielen Autoren nur eine sehr unbestimmte Anbindung an
eine neutrale transzendente Idee angenommen, weil das heutige Verfassungsdenken und die
Menschenrechtsidee primär aus der Aufklärung stammen (vgl. 3. Teil, Kap. I. u. III. Ziff.3.).
68 1. Teil: Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts
klärung. Die Idee der Menschenrechte geht zurück auf stoisches Gedanken-
gut.9 Jüdisch-christliche Vorstellungen spielen hinein. Vielfältige Einflüsse
und Ausgestaltungen in der historischen Entwicklung sind vorhanden. Dies
alles tritt aber zurück hinter die Bedeutung, die die Grund- und Menschen-
rechte heute innerhalb des GG haben sollen. Ihre Relation zueinander im
Rahmen des vorliegenden Verfassungstextes ist von Belang, nicht ihre
frühere Bedeutung oder Herkunft.
Ein gewichtiger Unterschied besteht allerdings. Die modernen Grund- und
Menschenrechte sind der heutigen Vorstellung nach unmittelbare Rechte
jedes Menschen. Er selbst ist direkter Träger dieser Rechte und kann sie ge-
genüber Staat und Gesellschaft einklagen. Das schwache und sozial benach-
teiligte Mitglied der Gesellschaft soll nicht darauf angewiesen sein, dass die
anderen von sich aus seine Existenz respektieren und ihn unterstützen. Die
Grundrechte sind deshalb justiziabel. Adressat ist primär der Staat und der
Gesetzgeber.
Das apodiktische Recht richtet sich demgegenüber an diejenigen Personen,
die die Bedürfnisse der Armen und Schwachen beachten und die die Rechte
ihrer Mitbürger respektieren sollen. Deshalb ist das apodiktische Recht des
Alten Testaments auch oft in Form der direkten Anrede gefasst. Wir haben
es insoweit mit Prohibitiven zu tun. Der so Angesprochene soll seine sozialen
und religiösen Pflichten erfüllen.
Trotzdem steht letztlich aber auch hier der Gedanke dahinter, dass jeder
Mensch als Geschöpf Gottes eine eigene Würde hat, die zu respektieren ist.
Die Menschenschöpfung ist hier Motor des sozialen Ausgleichs.10 Damit ist
auch bei den Prohibitiven das zu schützende Mitglied der Gesellschaft Träger
eines ihm eigenen Anspruchs.
4.
Die dem apodiktischen Recht des Alten Testaments vergleichbaren Grund-
rechte des Grundgesetzes (GG) bilden zusammen mit dem sog. Staatsorgani-
sationsrecht das Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland.11 Dieses
Recht besteht dabei nicht aus unverbindlichen Grundsatzerklärungen, es ist
kein uneinklagbares Ethos, sondern Recht im eigentlichen Sinne. Die deut-
9
Alpmann Brockhaus, Fachlexikon Recht, 878; die Entwicklung der Menschenrechtsidee soll im 3.
Teil, Kap. I., noch näher dargestellt werden.
10
F. W. Golka, Flecken, 146.
11
Alpmann Brockhaus, Recht, 1381.
V. Zusammenfassung 69
12
Vgl. Fr. Crüsemann, Bewahrung der Freiheit (Kap. IV.1.).
70 1. Teil: Forschungsgeschichte des apodiktischen Rechts
Es gibt, wie Golka zu Recht ausführt, „keine völlig säkulare Begründung der
Menschenrechte.“13
Gleichzeitig kommen wir zu dem überraschenden Ergebnis, dass Albrecht
Alt zum Schluss nun doch noch Recht erhält, wenn auch ganz anders, als er
es sich gedacht hat. Zumindest in der biblischen Endfassung wird sein apo-
diktisches Recht schließlich doch noch zu dem, was es immer sein sollte, aber
ursprünglich keineswegs war, nämlich „volksgebunden israelitisch und gott-
gebunden jahwistisch“.
13
F. W. Golka, Flecken, 151; vgl. aber 3. Teil, Kap. I. u. II.
Zweiter Teil:
Untersuchung einer eigenständigen Herkunft
Zweiter Teil: Untersuchung einer eigenständigen Herkunft
Obwohl der neue Begriff „Apodiktisches Recht“ seit A. Alt in der Forschung
allgemein anerkannt ist und seinen festen Platz in der theologischen Termi-
nologie behauptet, war die Frage der Herkunft dieses Rechts von Beginn an
streitig. Während A. Alt davon ausging, dass es sich um Rechtsgut handele,
das die einwandernden Israeliten direkt aus der Wüste nach Kanaan mitge-
bracht hätten, wo es dann mit dem kanaanäischen kasuistischen Recht kolli-
diert sei, verlegten M. Noth, E. Gerstenberger, G. Fohrer u. a. seine Entstehung
in die Richterzeit, in der vorstaatliche Verhältnisse, eventuell im Rahmen
einer Amphiktyonie, geherrscht hätten.
Die Verlegung in die Richterzeit war erforderlich, weil der „Exodus“ und
die „Landnahme“ sich zunehmend als Fiktion erwiesen, die einer historisch-
archäologisch ausgerichteten Forschung nicht standhalten konnten. Einwan-
dernde ethnisch selbständige Gruppierungen gab es nicht oder ließen sich
zumindest nicht nachweisen. Die biblischen Berichte über den Auszug des
ganzen Volkes aus Ägypten unter Mose, die Eroberung des Landes Kanaan
unter Joschua und die Entstehung Israels aus dieser eingewanderten Stam-
mesgruppe erwiesen sich immer mehr als eine fiktive Komposition ver-
schiedensten Materials, die viel später, erst ab dem 8. oder 7. Jahrhundert,
einsetzte und im 5. Jahrhundert und danach ihren redaktionellen Abschluss
fand.1 Religiöse und vor allem politische Motive unter Joschija und dann
später, nach der Katastrophe des Exils, die Notwendigkeit, eine neue religiös-
nationale Identität zu entwickeln, spielten eine entscheidende Rolle. Die
Entstehung Israels durch einwandernde Stämme als Nachkommen der Pa-
1
Frühere Entstehungszeiten werden von niemandem mehr vertreten (vgl. die Übersicht bei N. P.
Lemche, Vorgeschichte, 213.
72 Zweiter Teil: Untersuchung einer eigenständigen Herkunft
triarchen und die Bildung eines mächtigen Großreichs, das von Beginn an in
einer besonderen Beziehung zu JHWH stand, waren als Bild der eigenen
Vergangenheit erforderlich, um sich von seiner Umwelt absetzen und die
eigene religiöse und nationale Identität behaupten zu können.
Die schon seit langem durchgeführten historischen und archäologischen
Arbeiten haben aber ergeben, dass man von einer Eroberung oder Einwande-
rung nicht ausgehen kann. Die Entstehung Israels war eine überwiegend
innerpalästinensische Entwicklung, die kaum noch Raum für einen Gegen-
satz „Israel – Kanaan“ lässt, ganz abgesehen davon, dass „Kanaan“ oder „ka-
naanäisch“ völlig diffuse Begriffe sind, die die vielfältigen geographischen
und ethnischen Verhältnisse überhaupt nicht wiedergeben können.2 „Israel“
ist direkt aus „Kanaan“ hervorgegangen, ohne größere Einwanderungen von
außen. Es handelt sich um eine Umschichtung der Bevölkerung, verbunden
mit neuen Siedlungen, die durch vielerlei Faktoren ausgelöst wurde, auf die
noch näher eingegangen werden muss.3 Die biblischen Berichte über ein
Gegenüber von – eingedrungenen – israelitischen und kanaanäischen Bevöl-
kerungsteilen beziehen sich deshalb nicht auf ethnische, sondern primär auf
religiöse Unterschiede (Baal – JHWH). Und die Erzählungen über die stän-
digen „Rückfälle“ zum Baal-Kult spiegeln nur den Umstand wider, dass der
JHWH-Kult nicht die ursprüngliche, alleinige Religion der Israeliten war,
sondern dass sich dieser erst nach und nach gegen viele andere Kulte
durchsetzen musste.
Damit ist auch eine Zuordnung des apodiktischen Rechts an „Israel“ und
andererseits des kasuistischen Rechts an „Kanaan“ hinfällig. Man könnte
allenfalls darüber diskutieren, ob es sich um neues Recht handelt, das in den-
jenigen Gebieten entstanden ist, in denen sich ab dem 12. Jahrhundert die
Reiche Israel und Juda formierten. Es könnte sich dann um eigenständiges,
originäres Recht dieser Gebiete handeln, das in Abweichung oder Ergänzung
zum bereits vorhandenen vorderorientalischen Recht des Umlands entstand
und insofern eine besondere kulturelle Leistung dieser sich neu bildenden,
eigenen Gesellschaften darstellt.
Eine andere Möglichkeit wäre die Hypothese von kleineren Gruppierungen
von außerhalb, die den JHWH-Kult und die Exodustradition mitgebracht
und in den neuen Siedlungsgebieten durchgesetzt hätten. Es könnte sich um
2
W. Zwickel, Einführung, 16.
3
Vgl. 2. Teil, Kap. II. 2.
I. Problem und These 73
These:
Das apodiktische Recht war nie eine eigenständige historische Größe mit selbst-
ständiger Herkunft, sondern hat sich allmählich im Rahmen der biblischen
Tradition entwickelt. Vorher war es nur eine unsystematische Tradierung
allgemeiner Grundnormen, die in jeder Gesellschaft entstehen können.
Erst in der kanonischen Endgestalt wurde es zu dem, was in der Forschung seit
A. Alt als apodiktisches Recht bezeichnet wird.
4
H. Donner, Geschichte, 123.
74 Zweiter Teil: Untersuchung einer eigenständigen Herkunft
Von einer selbständigen „Gattung“, die sich – nach Gunkel – bis in frühe
Zeiten und bis zu einer originären Quelle zurückverfolgen ließe, kann man
m. E. nicht ausgehen. Gegen eine solche Annahme sprechen mehrere
Gründe, wovon drei in den nachfolgenden Kapiteln näher erörtert werden
sollen. Hier sollen sie zunächst nur angerissen werden.
1. Historische Gründe
Dass man sich, bevor man Detailfragen erörtert, zunächst einmal mit dem
historischen Rahmen der fraglichen Zeit beschäftigt, ist eigentlich eine
Selbstverständlichkeit. Trotzdem wird dies oft vernachlässigt. F. W. Golka
hat oft darauf hingewiesen, dass in der alttestamentlichen Forschung zu-
nächst die geschichtlichen Zusammenhänge zu klären sind. Erst kommt die
„Geschichte Israels“ und dann die Theologie.
Wie wichtig dies gerade bei unserem Thema ist, soll noch dargelegt wer-
den. Weil die Herkunft des apodiktischen Rechts in die frühen Zeiten gelegt
und eine besondere Trägerschaft angenommen wird, ist die Untersuchung
dieser Frühzeit Israels besonders wichtig. Es muss dargestellt werden, wer als
Träger dieses Rechts in Frage kommt. Wie sah Israel vor der Königszeit aus
und wie ist es entstanden? Wo und bei wem könnte das apodiktische Recht
entwickelt und weitergegeben worden sein und wie ist es in den Pentateuch
gelangt?
Die Frühgeschichte Israels ist heute historisch und archäologisch weit-
gehend geklärt, wenn man von der Patriarchenzeit absieht, die sich einer
genauen historischen Erfassung entzieht.5 Man weiß heute, dass Israel aus
Kanaan heraus entstanden ist und welche historischen Umstände hierfür
verantwortlich waren. Und man weiß auch, aus welchen Gruppierungen die
Vorfahren Israels stammten. Können diese Gruppierungen aber Väter des
apodiktischen Rechts gewesen sein? In diesen Gesellschaften können allen-
falls Vorformen dieses Rechts entwickelt worden sein, die mit dem späteren
Dekalog und den anderen Reihen noch wenig gemeinsam hatten. Die histori-
sche Entwicklung Israels spricht gegen eine frühe Entstehung des apodikti-
schen Rechts.
5
N. P. Lemche, Vorgeschichte, 34.
I. Problem und These 75
2. Sprachhistorische Gründe
Die zum Charakter des apodiktischen Rechts gehörende „Wucht des Aus-
drucks“6 wird nicht nur durch den Inhalt, durch die kategorische Aussage
bestimmt, sondern in besonderer Weise durch die sprachliche Ausgestaltung,
wobei eines das andere bedingt. Es ist aber fast unmöglich, für die Frühzeit
Israels verbindliche Aussagen über Schrift und Sprache zu machen. Diese
haben sich in den ersten Jahrhunderten erst allmählich entwickelt. Die frü-
hen Sprachformen eventueller apodiktischer Aussagen sind deshalb nicht
sicher zu ermitteln.
3. Rechtsgeschichtliche Gründe
Ein ebenfalls stark vernachlässigter Bereich bei der Erörterung des apodikti-
schen Rechts sind die Erkenntnisse der Rechtsgeschichte. Diese bevorzugt
das römische, griechische, orientalische oder kanonische Recht, weil hierüber
schriftliche Quellen vorliegen und man bessere Parallelen und Verbindungs-
linien zum modernen Recht aufzeigen kann. Die für unser Thema wichtige
Rechtsentwicklung in frühen schriftlosen Gesellschaften ist demgegenüber
schwieriger darzustellen, weil es nur indirekte, spätere Zeugnisse gibt und
weil man im Wesentlichen auf ethnologisches, anthropologisches Material
aus heute noch existierenden „Naturvölkern“, den sogenannten „rezenten
Gesellschaften“, angewiesen ist.7 Trotzdem gibt es Erkenntnisse, die auch für
unser Thema herangezogen werden müssen. Sie können nämlich aufzeigen,
dass es höchst fraglich ist, ob Rechtsformen, wie sie uns im apodiktischen
Recht begegnen, in vorstaatlichen Gesellschaften nachzuweisen sind. In ein-
fachen, frühen Gruppierungen verläuft die Rechtsentwicklung anders, zumal
die Definition von „Recht“ äußerst problematisch ist. Damit liefert auch die
Rechtsgeschichte schwerwiegende Zweifel an einer frühen Entstehung des
apodiktischen Rechts.
Insgesamt haben wir es mit mehreren Problemen zu tun, die uns von einem
frühen apodiktischen Recht trennen und die im Folgenden genauer behan-
delt werden sollen.
6
A. Alt, Ursprünge, 306.
7
U. Wesel, Frühformen, 36.
II. Das geschichtliche Problem
II. Das geschichtliche Problem
Wer sich mit der Frage der Herkunft des apodiktischen Rechts beschäftigt,
muß zu ermitteln versuchen, wer im frühen Israel Träger eines derartigen
Rechts gewesen sein könnte und welche lokalen, sozialen oder vielleicht reli-
giösen Gruppierungen für eine Entwicklung und Tradierung in Betracht
kommen. Dies gilt umso mehr, wenn man dieses Recht im Gegensatz zu den
übrigen Rechtsordnungen in Palästina sieht und eine eigenständige Entste-
hung annehmen möchte. Es ist dies eine historische, soziologische und sied-
lungsgeschichtliche Fragestellung, die in eines der zentralen Themen der
alttestamentlichen Wissenschaft, nämlich in die Frage nach der „Geschichte
Israels“ hineinführt.
Auf keinem anderen Gebiet wurde wohl intensiver gestritten und geforscht
als hier. Es ging um die Frage nach der „historischen Wahrheit“ der Bibel.
Man erhoffte sich dabei insbesondere von der Archäologie, dass diese ein-
deutige Beweise für die historische Zuverlässigkeit der biblischen Texte bei-
bringen könne. Ausgrabungen in Palästina waren deshalb immer von welt-
weitem Interesse. „Palästina zählt heute zu den am besten archäologisch
erforschten Gebieten der Welt.“ 1
Größte Brisanz haben dabei die Stichworte Patriarchen, Exodus, Landnah-
me oder davidisch-salomonisches Großreich, weil sich hier die größte Diskre-
panz zwischen religiös-politischem Anspruch und historischer Realität
ergibt. Für viele hängt das religiöse und auch das heutige politische Selbstver-
ständnis Israels von der Frage ab, wie sich die Entstehung und frühe Ge-
schichte Palästinas darstellt. Alle diese Erörterungen sind heute nicht nur
religiöser Natur, sondern zugleich auch hoch politisch. Diese Fragen werden
oft sehr emotional diskutiert und münden häufig in religiöse Grundsatz-
debatten.
Für die weitere Erörterung muss zunächst darauf hingewiesen werden, dass
die frühe Geschichte Israels schon seit langem von Archäologen, Historikern
1
W. Zwickel, Einführung, 12.
78 Zweiter Teil: Untersuchung einer eigenständigen Herkunft
Mittelbronzezeit II 1950–1550
Spätbronzezeit 1550–1200
2
E. A. Knauf, Schreiber über Schreiber, WUB 2/2003, 58.
3
W. Zwickel, Einführung, 47.
II. Das geschichtliche Problem 79
Die frühe Eisenzeit kann man, in Analogie zur griechischen Geschichte nach
Mykene, durchaus als die Epoche der „dunklen Jahrhunderte“ Palästinas
bezeichnen. Die historischen Informationen über diese Zeit sind äußerst
spärlich. Und in diese Zeit fällt die Entstehung Israels. Wir haben für diese
Periode eigentlich nur die biblischen Texte als schriftliche Informations-
quellen. Da die dort geschilderten historischen Abläufe über die kriegerische
Landnahme einwandernder Stämme und deren anschließende Siedlung aber
fiktiv sind und primär dazu dienen, den Besitz des Landes Kanaan als ein
Geschenk Gottes zu verstehen, verbunden mit der Aufforderung, sich dieses
Geschenkes würdig zu erweisen und es, nach dem Exil, wieder erneut in Be-
sitz zu nehmen, sind wir auf andere Informationen angewiesen. Diese liefert
heute im Wesentlichen die Archäologie. Diese kann zeigen, wie die Gebiete
der Länder Israel und Juda, einschließlich Jerusalems, ab dem 12. Jahrhun-
dert besiedelt wurden und wie wir uns die Entstehung des Volkes Israel vor-
stellen können. Damit ergibt sich dann auch die Möglichkeit, über die Ent-
stehung von Recht in vorstaatlicher Zeit nachzudenken und Rückschlüsse auf
das apodiktische Recht zu ziehen.
Die Archäologie kann mit ihren vielen „Hilfswissenschaften“ wie Ethnolo-
gie, Textil- und Keramikkunde, Metallurgie, Zoologie, Botanik, Epigraphie,
Dendrochronologie usw., die alle eigenständige Wissenschaften sind, aber
gut zusammenarbeiten, heute sehr genaue Angaben zur Entstehung Israels in
Palästina machen. Viele Autoren wie V. Fritz, N. P. Lemche, D. Jericke, J.
Kamlah, H. Donner oder I. Finkelstein sind sich, gestützt auf die Archäologie,
über diese Zeit im Wesentlichen einig. So sind z. B. die entsprechenden An-
gaben von V. Fritz in Band 2 der Kohlhammer-Reihe „Biblische Enzyklopä-
die“5 fast deckungsgleich mit den späteren, sehr ausführlichen Darlegungen
von I. Finkelstein und N. A. Silberman in ihrem bekannten Buch „Keine
Posaunen vor Jericho“6.
4
V. Fritz, Entstehung Israels, 65.
Anm.: Die Einteilungen sind bei den verschiedenen Autoren nicht einheitlich und werden auch
noch detaillierter vorgenommen. Es hat sich aber allgemein durchgesetzt, die hier interessierende
Epoche von 1200–1000 als frühe Eisenzeit zu bezeichnen.
5
V. Fritz, Entstehung Israels, 118.
6
I. Finkelstein, Keine Posaunen, 112.
80 Zweiter Teil: Untersuchung einer eigenständigen Herkunft
Die Geschichte Israels beginnt mit dem Untergang der Paläste. Während der
Bronzezeit (ca. 3200–1200) waren Syrien und Palästina durchzogen von vie-
len vergleichsweise kleinen Palastherrschaften, den sog. Stadtstaaten. Diese
standen in mehr oder weniger starker Abhängigkeit von Ägypten, Mitanni
oder zeitweise auch von „Hatti“, den Hethitern in Kleinasien, wobei der Ein-
fluss der Hethiter sich meist auf das direkt angrenzende Syrien beschränkte.
Unter diesen Stadtstaaten finden wir bekannte Namen wie Megiddo, Hazor,
Qadesch, Aleppo, Haran, Byblos und viele andere. Sie wurden meistens von
einem selbsternannten „König“ regiert, der diesem Titel aber – vom Umfang
seiner Herrschaft her – nur selten gerecht wurde. Die Ägypter nannten diese
Herrscher denn auch zutreffender „khazanu“, was so viel wie „Bürgermeis-
ter“ oder „Amtmann“ bedeutet.7
Diese kleinen Herrschaftsgebiete konnte man, mit Einschränkungen,
durchaus als „staatliche“ Gebilde bezeichnen. Es waren urbane Gesellschaf-
ten mit einer zentralen Herrschaft, nämlich dem „König“ und seiner Sippe
oder seinem Gefolge, mit einem kleinen Verwaltungsapparat, Schreibern und
Bewaffneten in Form einer Palastwache oder einer Truppe von Söldnern.
Diese Truppen waren aber oft so klein, dass bei Streitigkeiten untereinander
die Entsendung einer kleinen Einheit ägyptischer Soldaten ausreichte, um
den Frieden wieder herzustellen.
Das war aber nicht oft der Fall. Die Anwesenheit eines ägyptischen Pro-
vinzgouverneurs oder einiger weniger Beamter, die den Kontakt nach The-
ben oder Amarna aufrecht erhielten, reichte meist aus. Im Übrigen küm-
merte sich die ägyptische Zentralregierung nicht sonderlich um ihre Provinz
„Kanaan“. Solange die Tributzahlungen eingingen, hatten die einzelnen Ter-
ritorien ihre Angelegenheiten selbst zu regeln. In dynastische Streitigkeiten
oder Rivalitäten untereinander mischte sich Ägypten selten ein, was wir den
oft verzweifelten Schreiben der Stadtfürsten aus der Amarnapost entnehmen
können. Auch innere Probleme mit den Hapiru oder Schasu interessierten
Ägypten wenig, zumal noch hinzukam, dass das „Neue Reich“ am Nil zu-
nehmend schwächer und instabiler wurde und zu Beginn der Eisenzeit (ab
1200) seine Kontrolle über Palästina praktisch aufgab. „Ramses VI. (1144–
7
N. P. Lemche, Vorgeschichte, 138.
II. Das geschichtliche Problem 81
1136) war der letzte Pharao, von dem mit Sicherheit gesagt werden kann, daß
er über Palästina regiert hat.“ 8
Die vielen Stadtstaaten waren in der Regel nicht autark. Sie lebten nicht
ausschließlich vom eigenen Handel, Handwerk und Landwirtschaft, sondern
waren alle in das große Netzwerk des internationalen Handels eingebunden.
Durch Palästina führten einige wichtige Handelsstraßen, die erhebliche Ein-
künfte für die anliegenden Städte erbrachten. Dieses Wirtschaftssystem brach
um 1200 in kürzester Zeit zusammen. Ein dramatischer Klimawandel (Tro-
ckenheit) führte zu einem Zusammenbruch der internationalen Wirtschafts-
beziehungen und zu einem Ende der vielen Palastherrschaften bzw. Stadt-
staaten, weil diese sich wirtschaftlich nicht mehr halten konnten. Ohne die
direkten und indirekten Einnahmen aus dem Fernhandel waren sie nicht
überlebensfähig. Handwerk und Landwirtschaft reichten allein nicht aus,
eine differenzierte Stadtgesellschaft mit einer teuren Oberschicht zu finanzie-
ren. Ein weiterer Grund war der Einbruch der sog. Seevölker, die im gesam-
ten östlichen Mittelmeerraum Eroberungszüge unternahmen und sich auch
in Palästina ansiedelten.
Insgesamt kam es zu einem Ende der Stadt- und Palastherrschaften, und
zwar zeitgleich auch in Mykene, Tiryns und Pylos. Da auch das Hethiterreich
um 1200 unterging und Ägypten an Einfluss verlor, war nunmehr in Paläs-
tina der Weg frei für die Entstehung neuer Gesellschaften, aus denen dann
später, ab 1000, neue Reiche entstanden, nämlich Israel, Juda, Ammon, Moab
und Edom.
Die Geschichte Israels beginnt nicht mit den Patriarchen. Mit diesen beginnt
vielmehr die biblische Erzählung über die Geschichte Israels. Und diese
Erzählung „ist die erste große Saga der Bibel, eine Geschichte von den Einwan-
dererträumen und göttlichen Verheißungen, ein vielfarbiger, inspirierender
8
N. P. Lemche, Vorgeschichte, 134.
82 Zweiter Teil: Untersuchung einer eigenständigen Herkunft
Auftakt für die spätere Geschichte des Volkes Israels.“9 Es ist der große „Grün-
dungsmythos“, die „Gründungsurkunde Israels.“10
Der historische Gehalt der Erzvätergeschichten ist demgegenüber aber
äußerst umstritten. Wie schwierig und unergiebig dieses Thema ist, zeigt
allein schon der Umstand, dass das „Zeitalter der Patriarchen“ von den ver-
schiedenen Autoren in die verschiedensten Zeiten gelegt wird. Die Angaben
variieren von der Mitte des 3. Jahrtausends bis ins 12./11. Jahrhundert, wobei
meistens allerdings – entsprechend der biblischen Chronologie – die Zeit von
2000 bis 1800 oder im Gefolge der Dokumente von Nuzi ab ca. 1500 disku-
tiert wird. Es geht dabei darum, die Angaben der Genesis über die Erzväter
mit einer Zeit in Deckung zu bringen, in die die historischen, geographi-
schen, soziologischen, religiösen, kulturellen oder wirtschaftlichen Verhält-
nisse der Erzvätergeschichten hineinpassen.
Dies ist aber ein vergebliches Unterfangen und wurde in der Vergangenheit
oft schon fast unwissenschaftlich betrieben. Oft ging es nur darum, die histo-
rische Existenz der Erzväter zu „beweisen“. Man vergleiche nur, wie ein-
dringlich N. P. Lemche bei diesem Thema zur wissenschaftlichen Ordnung
ruft11. Man kann die ganze Diskussion dahin zusammenfassen, dass die Erz-
vätergeschichten in fast jede Zeit hineinpassen oder aber, im Gegenteil,
eigentlich mit keinem Zeitabschnitt deckungsgleich sind, je nachdem, wel-
chen Wert man auf welche Details legt. Die vielen Untersuchungen über
kanaanäische, amurritische oder aramäische Völkerwanderungen, über das
Nomadentum oder über juristische Verhältnisse wie Landkauf oder Braut-
werbung, Ersatzkind, Schwester als Ehefrau usw. haben zu keinem überzeu-
genden Ergebnis geführt. Auch die Überlegungen von A. Alt über den „Gott
der Väter“12 werden heute nicht mehr geteilt. Die Erzählungen lassen sich
„kaum einem bestimmten zeitgeschichtlichen Horizont zuordnen, sondern nur
einem allgemein orientalischen Milieu.“13
Es gibt keine „Beweise“ für die Existenz der Patriarchen, allerdings auch
keine gegen deren Wanderungen. Die vielen Anachronismen (Kamele,
Chaldäa, Philister, Ismaeliten usw.) kann man nicht als „Gegenbeweis“ ver-
wenden, da sie spätere Ausschmückungen aus der Abfassungszeit dieser
9
I. Finkelstein, Keine Posaunen, 39.
10
E. Zenger, Einleitung, 72.
11
N. P. Lemche, Vorgeschichte, 34.
12
A. Alt, Gott der Väter, in: Grundfragen, 21.
13
N. P. Lemche, Vorgeschichte, 45.
II. Das geschichtliche Problem 83
14
M. Noth, Überlieferungsgeschichte, 1948, 58.
15
Ebd., 232.
16
Ebd., 59.
17
J. Assmann, Moses.
18
J. Assmann, Mosaische Unterscheidung.
84 Zweiter Teil: Untersuchung einer eigenständigen Herkunft
19
J. Assmann, Moses, z. B. 11.
20
Ebd., 73.
21
Ebd., 74.
22
Ebd., 19.
23
F. W. Golka, Mose, 65.
II. Das geschichtliche Problem 85
„Daher war die Mosaische Unterscheidung etwas radikal Neues.“24 Der Mo-
notheismus war eine „Gegenreligion“25, die das Gegenteil von dem darstellte,
was der Polytheismus verkörperte. Es gab jetzt die Unterscheidung von
„wahr“ und „unwahr“. Alle anderen Götter waren Götzen und konnten nicht
mehr toleriert werden. Und dieser Gegensatz, dieser Antagonismus wurde
repräsentiert durch das Begriffspaar „Israel“ und „Ägypten“. Israel stand für
die wahre Religion, für den Glauben an den einzigen Gott, wobei die Gestalt
des Moses den Ausgangspunkt des Monotheismus und der endgültigen Ab-
sage an den bisherigen Religionstyp, den Polytheismus, darstellte. Ägypten
war demgegenüber der Inbegriff der unwahren Religion, der Vielgötterei.
J. Assmann untersucht dann sehr ausführlich das wechselnde Bild des Mo-
ses und Ägyptens in der langen europäischen Geistesgeschichte. Er legt dar,
welche Vorstellungen und Geistesströmungen hinter den jeweiligen Mose-
Rezeptionen und der Bewertung Ägyptens standen, z. B. im Zeitalter der
Aufklärung. Er prägt hierfür den Begriff der Gedächtnisgeschichte. Dabei
geht es nicht darum, den historischen Moses zu ermitteln und zu fragen, ob
hinter dem überlieferten biblischen Moses eine faktische Person auszu-
machen ist, sondern darum, „diese Überlieferungen selbst als Phänomene des
kollektiven bzw. kulturellen Gedächtnisses zu studieren“26, und zwar unabhän-
gig davon, ob diese Überlieferungen historisch zuverlässig sind oder nicht.
„Im Unterschied zur Geschichte im eigentlichen Sinne geht es der Gedächtnis-
geschichte nicht um die Vergangenheit als solche, sondern um die Vergangen-
heit, wie sie erinnert wird.“27 Und in dieser Erinnerung liegt dann die zu er-
mittelnde Wahrheit. Welche Vorstellungen und welche Epochen stehen
hinter den verschiedenen Mose- oder Ägyptenbildern und welchen Einfluss
nehmen sie auf diese Bilder? Wie formt und verändert die Gegenwart die
Vergangenheit? Die Gedächtnisgeschichte benutzt J. Assmann auch in sei-
nem neuesten Werk von 2015 über den Exodus. Auch hier wird die Erinne-
rung an Mose und den Exodus herausgearbeitet, und zwar unabhängig da-
von, was historisch noch zuverlässig greifbar ist.
Diese Erinnerungsarbeit mit der Ausformung der Vergangenheit erfolgt
meistens in Form einer „Großen Erzählung“28, eines Mythos, mit dem die
Vergangenheit neu erfunden und für die Gegenwart neu erklärt wird. Ein
24
J. Assmann, Moses, 20.
25
Ebd., 20.
26
Ebd., 27.
27
Ebd., 25.
28
Ebd., 24.
86 Zweiter Teil: Untersuchung einer eigenständigen Herkunft
29
J. Assmann, Moses, 34.
30
Ebd., 71.
31
F. W. Golka, Mose, 179.
II. Das geschichtliche Problem 87
ten haben wir keine genaueren Informationen über seine historische Exis-
tenz. Seine Bedeutung für die Nachwelt, als Teil eines großen Mythos, ist
demgegenüber aber umso größer. Er ist die zentrale Figur des Alten Testa-
ments, auf die sich alles bezieht. Mose ist deshalb bis heute in fester „Erinne-
rung“ der späteren Generationen. Assmann formuliert dies kurz abschlie-
ßend so: „Moses ist eine Figur der Erinnerung, aber nicht der Geschichte;
Echnaton dagegen ist eine Figur der Geschichte, aber nicht der Erinnerung.“32
F. W. Golka hat in seinem Buch „Mose – Biblische Gestalt und literarische
Figur“33 die Überlegungen J. Assmanns ausführlich vorgestellt. Dabei weist er
darauf hin, dass dieser die Erinnerung an Mose und die wechselnden Mose-
bilder nicht innerhalb der biblischen Texte, sondern durch die antike und
abendländische Geistesgeschichte hindurch bis heute, bis zu S. Freud, unter-
sucht hat. „Er hat damit die Spur eines biblischen Themas außerbiblisch ge-
sucht. Es wäre nun zu fragen, ob man die Methode der Gedächtnisgeschichte
nicht auch innerbiblisch auf das Mose-Thema anwenden kann.“34
Und wenn man die Gedächtnisgeschichte innerbiblisch anwendet, müsste
die Frage nach Golka dann lauten:
„Welche Gruppen oder Institutionen in der Geschichte Israels bzw. des Juden-
tums haben ein Interesse daran gehabt, sich in der Moseüberlieferung zu ver-
ankern, sich quasi in diese Überlieferung ‚hineinzuschreiben‘? Auch dies ist
eine historische Fragestellung, sie bezieht sich nur nicht auf das dreizehnte,
sondern auf spätere Jahrhunderte. Für welche Gruppen im späteren Israel
wurde Mose zum Vorbild und Gewährsmann? Welche Gruppen und Institu-
tionen im späteren Israel legten Wert darauf, ihre Autorität von Mose abzulei-
ten?“35
Die verschiedenen Gruppen und Institutionen, die sich in die Gestalt des
Mose für ihre eigene Legitimation „eingeschrieben“ haben, kann man dann
an den verschiedenen Rollen erkennen, die Mose zugedacht sind:36
32
J. Assmann, Moses, 18.
Anm: Der Gedanke einer Unterscheidung von allgemeiner Geschichte und Gedächtnisgeschichte
ist allerdings nicht ganz neu. Wenn z. B. M. Noth schreibt: „Die Überlieferungsgeschichte des Pen-
tateuch ist selbst ein Stück Geschichte Israels“ (Überlieferungsgeschichte, 272), dann bringt er genau
diesen Unterschied zur Sprache.
J. Assmann ist allerdings der erste Autor, der diesen Komplex methodisch genauer untersucht
hat.
33
F. W. Golka, Mose, 64–74.
34
Ebd., 72.
35
Ebd., 180.
36
Ebd., 180.
88 Zweiter Teil: Untersuchung einer eigenständigen Herkunft
37
E. Zenger, Einführung, 71.
38
Vgl. A. Alt, Gott der Väter, 21, 44.
II. Das geschichtliche Problem 89
39
Die Goten, Wanderer, Eroberer, Staatengründer, „Geschichte“ 6/2005, 20.
90 Zweiter Teil: Untersuchung einer eigenständigen Herkunft
Wenn wir uns demgegenüber wieder dem Übergang vom System der Stadt-
staaten zu einem System dörflicher Gesellschaften im 12. Jahrhundert zu-
wenden, haben wir wieder verwertbare archäologische Fakten als Grundlage
zur Verfügung. Die vielen Stadtstaaten lösten sich mit dem Beginn des 12.
Jahrhunderts weitgehend auf, was neue Siedlungsformen erforderlich
machte. Dies war ein massiver Einschnitt in die damaligen Verhältnisse.
I. Finkelstein sieht dies wie folgt: „In den letzten Jahren des 13. und zu Beginn
des 12. Jahrhunderts v. Chr. machte die gesamte alte Welt einen dramatischen
Wandel durch, als eine verheerende Krise die Königreiche der Bronzezeit da-
vonfegte und eine neue Welt entstand. Es war eine der dramatischsten und
chaotischsten Perioden in der Geschichte, während der alte Reiche zerbrachen
und neue, aufsteigende Kräfte an ihre Stelle traten.“40
Die Gründe hierfür waren vielfältig. Wenn V. Fritz41 schreibt: „Die Gründe
für diesen allgemeinen Rückgang sind unbekannt und aus den archäologi-
schen Daten auch nicht zu ermitteln“, so ist er mit dieser Auffassung nicht
auf dem neuesten Stand. Die Ursachen für den Untergang der Palast- und
Stadtstaaten können ziemlich genau angegeben werden:
a) Klimakatastrophe
40
I. Finkelstein, Keine Posaunen, 97 (Hervorhebung vom Verf.).
41
V. Fritz, Entstehung, 67.
42
W. Zwickel, Zeit des Umbruchs, DAMALS, Das Magazin für Zeitgeschichte, 11/2008, 74.
43
N. P. Lemche, Vorgeschichte, 145.
II. Das geschichtliche Problem 91
44
N. P. Lemche, Vorgeschichte, 144.
45
W. Zwickel, Eine Zeit des Umbruchs, 74.
46
N. P. Lemche, Vorgeschichte, 148; J. Kamlah, Dörfer – Die Entstehung Israels, 29.
47
W. Zwickel, Eine Zeit des Umbruchs, 77.
48
J. Kamlah, Dörfer, 33.
92 Zweiter Teil: Untersuchung einer eigenständigen Herkunft
c) Die Seevölker
Von den sog. Seevölkern tauchen in der Bibel die Philister als ständige Geg-
ner der Israeliten auf. Diese siedelten in Ekron, Gad, Gaza, Aschdod und
Aschkalon, der sog. philistischen Pentapolis. Sie wurden erst von Nebukad-
nezar vertrieben.52
Diese „Seevölker“ waren eine weitere Ursache für die großen Änderungen
zu Beginn der Eisenzeit. Ihre genaue Herkunft ist nicht völlig geklärt, weil es
sich um keine einheitliche Gruppierung, sondern um verschiedene Ethnien
aus verschiedenen Gegenden handelte. Sie stammen wahrscheinlich über-
wiegend aus der Ägäis und drangen als Invasoren nicht nur in Palästina,
sondern auch in Ägypten ein. Ramses III. (1188–1155) konnte diese Invasion
nur mit Mühe abwehren, musste aber die Ansiedlung der „Peleset“, der Phi-
49
D. Jericke, Woher kam das Volk Israel, WuB 3/2008, 21.
50
N. P. Lemche, Vorgeschichte, 148.
51
G.A. Lehmann, Die mykenische Kultur und ihr Untergang, DAMALS – Das Magazin für Ge-
schichte und Kultur, 10/2008, 16.
52
E. Yehuda, Die Philister, Abenteuer Archäologie, 4/2004, 31.
II. Das geschichtliche Problem 93
lister, an der südlichen Küste Palästinas zulassen, also in einem Bereich, der
eigentlich zum ägyptischen Einflussbereich gehörte.53
Wieweit diese „Seevölker“ nun für den Untergang der Stadtstaaten in Pa-
lästina verantwortlich waren, ist streitig. Die Zerstörung etlicher, bereits
geschwächter Städte geht sicherlich auf ihr Konto; N. P. Lemche warnt aber
davor, ihren Beitrag zu überschätzen.54 Für ihn war in erster Linie die innere
Entwicklung Syriens und Palästinas entscheidend. Trotzdem muss man sie
als eine der Ursachen für den Umschwung der Bevölkerungsstruktur be-
trachten.
Die „Seevölker-These“ ist in letzter Zeit wieder zunehmend in die Diskus-
sion geraten. Es wird darauf verwiesen, dass der Untergang der Stadtkulturen
nicht primär auf Eroberungszüge von Seevölkern zurückzuführen sei, son-
dern dass die Ursachen vielfältiger Natur seien und dass viele Stadtstaaten
auch erst später und ohne kriegerische Auseinandersetzungen verlassen
wurden.55 Diese Diskussion bringt aber nichts wirklich Neues. Es war immer
schon allgemeiner Konsens, dass die „Seevölker“ nur eine von mehreren
Ursachen waren.56
Die zwangsläufige Folge des Untergangs der Stadtstaaten waren neue Be-
siedlungsformen. Im westjordanischen Bergland entstanden kleine dörfliche
Siedlungen, die man inzwischen mit Hilfe sehr aufwendiger Oberflächen-
untersuchungen, den sog. Surveys, ermittelt hat.57 Allein im westjordanischen
Bergland, dort wo später die Reiche Israel und Juda entstehen sollten, fand
man bisher rund 300 derartiger Siedlungen. Das verdeutlicht folgende
Karte58:
53
N. P. Lemche, Vorgeschichte, 149.
54
Ebd., 149.
55
Vgl. J. Millek u. J. Kamlah in WUB 3/2015, 74.
56
M. Sommer, Narren in Purpur, 37.
57
J. Kamlah, Entstehung, 29; I. Finkelstein, Keine Posaunen, 121.
58
C. Frevel, Geschichte, 396.
94 Zweiter Teil: Untersuchung einer eigenständigen Herkunft
Die Arbeiten Finkelsteins, die nach N. P. Lemches Auffassung „für die Re-
konstruktion der geschichtlichen Entwicklung Palästinas in der Früheisenzeit
……… unentbehrlich sind“59, werden auch von A. Knauf als zutreffend über-
nommen60. Auch W. Zwickel und J. Kamlah verwerten sie bei ihren eigenen
Untersuchungen.
59
N. P. Lemche, Vorgeschichte, 88.
60
A. Knauf, Schreiber über Schreiber, 58.
II. Das geschichtliche Problem 95
61
I. Finkelstein, Keine Posaunen, 123.
Finkelstein gibt eine sehr ausführliche und anschauliche Darstellung der Ergebnisse der „Surveys“
im Bergland. Die Lebensweise der neuen Siedler kann anhand der archäologischen Erhebungen
erstaunlich genau wiedergegeben werden.
62
J. Kamlah, Entstehung, 31.
63
Ebd., 123.
64
W. Zwickel, Einführung, 56.
96 Zweiter Teil: Untersuchung einer eigenständigen Herkunft
nologie, wie dies von verschiedenen Autoren versucht wird, indem sie eine
„Landnahme“ in die Zeit um 1400 verlegen.65 Dieses Datum hätte den Vor-
teil, dass wir für diese Zeit tatsächlich Zerstörungsschichten z. B. in Jericho
finden, die mit einer Eroberung durch „Israeliten“ zusammenpassen würden.
Es entspricht auch der Zeitangabe aus 1 Kön 6,1 und könnte außerdem bes-
ser erklären, warum bereits auf der „Israel-Stele“ von Pharao Merenptah
(1213–1204) in hieroglyphischer Schrift der Name „Israel“ auftaucht, als
Gebiets- oder Volksname. Für alle diese Überlegungen müsste dann aller-
dings auch die ägyptische Chronologie umgestellt werden, damit der Exodus
zeitlich in die Reihe der Pharaonen hineinpasst.
Eine „Landnahme“ schon um 1400 ist aber völlig indiskutabel. Sie würde
nicht in die historische Landschaft Palästinas und der umliegenden Länder
passen. Auch das damals noch starke Ägypten hätte eine derartige Invasion
in seine Provinz Kanaan sicher nicht reaktionslos hingenommen, ganz abge-
sehen davon, dass ein derartiger Vorgang in irgendeiner schriftlichen Quelle
aus Ägypten, Mesopotamien oder Hatti dokumentiert worden wäre.
Diskussionswürdig sind dagegen die anderen Theorien, wie das Weide-
wechsel-/Transhumanz-Modell, Migrations- oder Penetrations-Modell oder
das Revolutions-Modell. Aber auch diese sind inzwischen überholt. Nach
heutigem Stand der Forschung muss man davon ausgehen, dass es keine
Zuwanderung von außen gab, sondern dass die neuen Siedler Einheimische
waren, die nur ihre Lebensweise gewechselt hatten und sesshaft wurden, und
zwar friedlich, ohne Eroberung oder Revolte. Die sog. materielle Kultur der
neuen Bewohner ergibt, dass es keine Fremden waren. Sie kamen nur in
freies Land, das jetzt ohne Vertreibung von Vorbewohnern in Nutzung ge-
nommen werden konnte. „Die Vorfahren der früheisenzeitlichen Dorfbewoh-
ner sind demnach mehrheitlich nicht von außen nach Palästina eingedrungen,
sondern stammen aus dem Kulturland selbst.“66 D. Jericke formuliert es kür-
zer: „Woher kam das Volk Israel? Die neueste Antwort lautet: Es war schon
immer da.“ 67
Die Frage ist aber, wo die Dorfbewohner vorher gewohnt haben. Waren sie
ehemalige Bauern und Städter, also sesshaft, oder Nomaden? Die Meinungen
65
Vgl. J. J. Bimson u. a. mit mehreren Beiträgen in dem aufwendig gestalteten Sammelband von
P. v. d. Veen / U. Zerbst (Hrsg.), Biblische Archäologie am Scheideweg? Für und Wider einer Neu-
datierung archäologischer Epochen im alttestamentlichen Palästina, Holzgerlingen 2002; sowie in
U. Zerbst / P. v. d. Veen (Hrsg.), Keine Posaunen vor Jericho?, Holzgerlingen 2005.
66
J. Kamlah, Entstehung, 30.
67
D. Jericke, Woher kam das Volk Israel, WUB 3/2008, 16 (Hervorhebung vom Verf.).
II. Das geschichtliche Problem 97
hierüber sind nicht einheitlich. I. Finkelstein68 geht davon aus, dass sie über-
wiegend nomadischen Ursprungs waren, weil die neuen Dörfer im Oval, also
wie ein beduinisches Zeltlager, mit einer freien Fläche in der Mitte, sozusa-
gen einem Hof, angelegt wurden. Als Beispiel dient ein Ort namens Izbet-
Sartah, von dem I. Finkelstein die folgende Abbildung69 vorlegt, wobei aller-
dings nur die dunkel ausgezeichneten Teile tatsächlich vor Ort gefunden
wurden. Das Übrige ist eine Rekonstruktion.
From THE BIBLE UNEARTHED: Archaeology’s New Vision of Ancient Israel and the Origin of Its Sacred Texts by
Israel Finkelstein and Neil Asher Silberman. Copyright © 2000 by Israel Finkelstein and Neil Asher Silberman.
Reprinted by permission of Free Press, a Division of Simon & Schuster, Inc. All rights reserved.
J. Kamlah70 ist anderer Ansicht. Er bezweifelt, daß man die gefundenen Reste
von Izbet-Sartah zum Oval ergänzen könne. Im Übrigen sei bisher kein wei-
teres Dorf in dieser Form gefunden worden. Er geht davon aus, dass es sich
überwiegend um Bauern und Städter gehandelt hat, ohne allerdings nicht
sesshafte Teile ausschließen zu wollen. Auch Jericke sieht eher Städter: „Eine
Überprüfung des archäologischen Materials zeigt, daß sich die materielle Kul-
tur der frühen Eisenzeit weniger stark von derjenigen der bronzezeitlichen
Städte unterscheidet, als angenommen. So läßt sich die Annahme erhärten,
daß die neu entstandenen Siedlungen im Bergland von Menschen gegründet
68
I. Finkelstein, Keine Posaunen, 127.
69
Ebd., 127.
70
J. Kamlah, Entstehung, WUB, 3/2008, 30.
98 Zweiter Teil: Untersuchung einer eigenständigen Herkunft
wurden, die vorher in den bronzezeitlichen Städten lebten oder engen Kontakt
mit diesen Städten pflegten.“71 V. Fritz72 und N. P. Lemche73 gehen demgegen-
über wieder mehr von nomadischen Gruppen aus, wobei N. P. Lemche be-
sonders auf die Hapiru und die Schasu-Nomaden hinweist. Gemeinsam ist
allen Autoren aber die Auffassung, dass die „Proto-Israeliten“ Bewohner des
Lands Kanaan waren, die wegen des Niedergangs der Städte neuen Sied-
lungsraum suchten.
I. Finkelstein weist noch darauf hin, dass die von ihm als ehemalige Noma-
den gesehenen Dorfbewohner zu der neuen Besiedlung deswegen veranlasst
wurden, weil sie als Hirten keine eigenen landwirtschaftlichen Erzeugnisse
(Getreide, Wein, Oliven) produzierten, sondern auf Tausch und Handel mit
Sesshaften angewiesen waren. Da diese Handelspartner nunmehr weitgehend
wegfielen, mussten sie selbst das Fehlende anbauen und wurden so sesshaft.74
Diese vielen einzelnen Dörfer waren weitgehend autark. Da offenbar keine
kriegerischen Aktivitäten zu befürchten waren, gab es zunächst auch keine
staatlichen Zusammenschlüsse. Dies geschah erst nach und nach. Aus
Kleinfamilien wurden Großfamilien, es bildeten sich Sippen oder „lineages“,
die sich dann zu Stämmen zusammenschlossen. Aus diesem Stämmesystem
entstanden dann größere Einheiten, aber nicht wieder die alten Stadtherr-
schaften, sondern kleine Flächenstaaten, die mehrere Stämme umfassten.
Dies waren Israel im Norden und Juda im Süden, sowie östlich Ammon,
Moab und Edom. Die drei letzteren haben die gleiche demographische Ent-
wicklung durchlaufen wie ihre beiden israelitischen Nachbarn.75 Ihre Entste-
hung ist identisch.
Ein schon fast skurriler Unterschied besteht allerdings doch. In Israel und
Juda gab es von Anfang an, auch schon in der Zeit der Dorfgründungen,
keine Schweine. Sie wurden nicht gegessen und auch gar nicht erst gehalten.
Während die Archäologen in Ammon, Moab und Edom Schweineknochen in
Mengen fanden, fehlen diese im Westjordanland völlig. Für dieses Phäno-
men gibt es keine archäologische Erklärung. Klima und Boden waren weitge-
hend gleich. I. Finkelstein vermutet den Beginn einer Identitätsbildung durch
71
D. Jericke, Woher kam das Volk Israel?, WUB 3/2008, 20.
72
V. Fritz, Entstehung, 118.
73
N. P. Lemche, Vorgeschichte, 149.
74
I. Finkelstein, Keine Posaunen, 134.
75
Ebd., 135.
II. Das geschichtliche Problem 99
76
I. Finkelstein, Keine Posaunen, 136.
77
N. P. Lemche, Vorgeschichte, 104.
78
I. Finkelstein, Keine Posaunen, 130.
79
J. Kamlah, Entstehung, 31.
100 Zweiter Teil: Untersuchung einer eigenständigen Herkunft
Abbildung aus:
Jens Kamlah: „Wohlauf, lasst uns eine Stadt bauen“ (Gen 11,4). Städtische Lebensweise
als Ressource in der Welt des Alten Testaments, in: J. Kampmann / C. Schwöbel (ed.): Die
Stadt (Theologie interdisziplinär; Neukirchen Vluyn; im Druck), Abb. 1.
3. Ergebnis
Dieser historische Abriss war erforderlich, weil es um die Frage geht, ob das
apodiktische Recht in seiner Entstehung oder Tradierung in eine israelitische
Frühzeit zurückverfolgt werden kann. Dabei sind wir allerdings auf Spekula-
tionen angewiesen. Das apodiktische Recht haben wir nur in der Endfassung
80
N. P. Lemche, Vorgeschichte, 104.
II. Das geschichtliche Problem 101
der biblischen Texte. Auch wenn wir hinter den masoretischen Text zurück-
gehen und die Septuaginta, den Samaritanus oder die unterschiedlichen
Qumrantexte überprüfen, haben wir trotzdem immer nur den relativ späten
biblischen Text. Außerbiblische Belege über ein frühes – israelitisches – apo-
diktisches Recht gibt es nicht. Wir haben keine Möglichkeit, das apodiktische
Recht hinter die biblischen Texte zurückzuverfolgen. Auch die vielen Versu-
che, einen „Urdekalog“ oder frühe Reihen von Prohibitiven textkritisch zu
ermitteln, können keinen Erfolg bringen.
Wir haben aber die Möglichkeit, aus den archäologischen und historischen
Erhebungen Erkenntnisse über diejenigen Gruppierungen zu gewinnen, die
die Vorfahren der späteren Israeliten waren und auf deren Territorien dann
ab 1000 die Reiche Israel und Juda entstanden. Es ist dann auch zu überlegen,
ob hier ein besonderes Recht, nämlich das apodiktische, als eigene Gattung
denkbar ist.
Die ersten Israeliten im westjordanischen Bergland waren Dorfbewohner,
die Ackerbau betrieben, verbunden mit etwas Viehzucht, und zwar haupt-
sächlich Schafe und Ziegen. Sie hatten dort neu gesiedelt, um sich eine neue
Lebensgrundlage zu schaffen, die ihnen durch den Verfall der Stadtkulturen
entzogen worden war. Und sie stammten überwiegend aus dem alten Kul-
turland Kanaan. Von eingewanderten Bevölkerungsteilen kann man nur in
geringem Maße ausgehen.
Dabei handelte es sich allerdings nicht um eine Umsiedlung von einem
früheren Dorf in ein neues Dorf. Es gab in der Spätbronzezeit, also in der Zeit
vor 1200, in Palästina kaum Dörfer, obwohl die große Mehrheit der Bevölke-
rung Bauern waren.81 Aus Gründen, die archäologisch nicht zu ermitteln
sind, lebten sie im direkten Umkreis der Städte, teilweise in den Städten
selbst als sog. Ackerbürger. Sie standen also, von ihrer Herkunft her, ethno-
logisch und soziologisch nicht auf einer Vorstufe vor einer urbanen Kultur,
sondern entstammten ihr direkt. Dass sie sich in ihrer neuen Umgebung
verselbständigten und nach und nach eine eigene Identität im Rahmen von
segmentären Gesellschaften entwickelten, ändert hieran nichts. Es bestanden
außerdem nach wie vor Beziehungen zu den umliegenden, noch intakten
urbanen Regionen.
Auf diesen Umstand wird von J. Kamlah ausdrücklich hingewiesen. Am
Beispiel der sog. Rollkragenkrüge (collared rim jars) und des Vier-Raum-
81
N. P. Lemche, Vorgeschichte, 137.
102 Zweiter Teil: Untersuchung einer eigenständigen Herkunft
82
J. Kamlah, Entstehung, 32.
83
Ebd., 30.
84
N. P. Lemche, Vorgeschichte, 97 u. 40.
85
H. Donner, Geschichte, 54; (vgl. auch R. Neu, Die Bedeutung der Ethnologie für die Alttestamentli-
che Forschung, Bd. 1, 15).
II. Das geschichtliche Problem 103
Diese Lebensform dürfe nicht ohne weiteres bei allen nicht sesshaften Grup-
pen Ende des 2. Jahrtausends vorausgesetzt werden. Man müsse vielmehr mit
den unterschiedlichsten Herkünften rechnen, nämlich „Jäger, Sammler,
Kleinviehzüchter, Ziehbauern, wandernde Kesselflicker, Zigeuner, outlaws aus
den Städten u. a. m.“ 86 Die Gruppe der Nichtsesshaften sei durchlässig und
nicht homogen.
An dieser Stelle ist noch ein weiterer, etwas überraschender Hinweis von
N. P. Lemche wichtig.87 Es geht um die fahrenden Sänger, umherziehende
Künstler, die die sog. Volksliteratur weitertrugen. Dabei handelt es sich um
Epen, Märchen oder Anekdoten, von denen es gerade in schriftlosen Gesell-
schaften eine große Anzahl gibt. So sind die ersten David-Geschichten und
viele andere Erzählungen zunächst nur mündlich tradiert worden.88 Sie wur-
den erst wesentlich später schriftlich fixiert. Da diese Märchenerzähler nicht
nur in den Städten und Residenzen, sondern auch auf dem flachen Lande
umherzogen, kann man sich vorstellen, wie viel Kulturgut auf diese Weise
vermittelt wurde. Auch hier haben wir eine sehr feste Anbindung an die um-
liegende Zivilisation und an zurückliegende Erzähltraditionen. Auf diesem
Wege dürften auch sehr viele Rechtsvorstellungen tradiert worden sein.
Nach allem kann man als Ergebnis festhalten, dass die Vorfahren der Israeli-
ten Kanaanäer waren, die aus dem Kulturland Palästina stammten. Sie waren
nicht von außerhalb zugezogen, sondern standen in kultureller Kontinuität
innerhalb ihres bisherigen kanaanäischen Umfeldes. Ihnen war die Kultur
der früheren Stadtstaaten, einschließlich deren Rechtsvorstellungen, vertraut.
Diese Rechtsauffassungen gehörten in den allgemeinen vorderorientalischen
Rechtskreis, der kasuistisch gestaltet war, weil komplexe, städtische Verhält-
nisse zu regeln waren. Apodiktisches Recht als eigene übergeordnete Rechts-
gattung war demgegenüber im vorderen Orient nicht bekannt. Der König als
Gesetzgeber handelte zwar in göttlichem Auftrag; er war verpflichtet, Ord-
nung und Gerechtigkeit in seinen Ländern zu sichern. Trotzdem waren es,
wie aus dem Codex Hammurabi ersichtlich, seine eigenen profanen Gesetze,
die keine göttliche Offenbarung für sich in Anspruch nahmen.89
86
H. Donner, Geschichte, 57.
87
N. P. Lemche, Vorgeschichte, 161.
88
I. Finkelstein, David und Salomo, 37.
89
R. Albertz, Theologisierung, 124.
104 Zweiter Teil: Untersuchung einer eigenständigen Herkunft
90
R. Albertz, Theologisierung, 128.
91
E. Gerstenberger, Wesen und Herkunft, 110.
92
M. Noth, Überlieferungsgeschichte, 50.
93
Ebd., 52.
II. Das geschichtliche Problem 105
der späteren Stämme bildeten. Noth führt dann aus, „daß die Sippen, die die
Dinge in Ägypten und am Meer erlebt hatten, später hie und da in die Ver-
bände der sich bildenden landnehmenden israelitischen Stämme sich einglie-
derten, …………, so daß das ihnen Begegnete in weitere Kreise Israels getragen
und – durch seine Einmaligkeit und Gewalt auch zunächst Unbeteiligte mit
fortreißend – zum grundlegenden Glaubensbesitz aller israelitischen Stämme
wurde.“94
So könnte man sich die Entstehung und Einbindung des Exodus-Themas
vorstellen. Denkbar wäre m. E. aber auch, dass diese Berichte nur indirekt,
und zwar in Verbindung mit dem JHWH-Kult, in Israel Verbreitung fanden.
Die Exodus-Tradition könnte schon länger vorher mit dem JHWH-Glauben
in Verbindung gestanden haben und hätte sich dann als Teil des JHWH-
Glaubens in Israel festgesetzt, als die JHWH-Religion sich allmählich vom
Süden und vom Ostjordanland her in Israel ausbreitete. In jedem Fall sollte
man aber davon ausgehen, dass der Exodus-Tradition ein tatsächliches histo-
risches Ereignis zugrunde liegt und dass es sich nicht um eine bloße Fiktion
späterer Generationen handelt (vgl. auch Exkurs 3).
Eine wenn auch noch so kleine Gruppe von Flüchtlingen könnte die Exo-
dus-Tradition nach Israel gebracht haben, wo sie dann in Verbindung mit
dem JHWH-Glauben nach und nach gesamtisraelitisch wurde, weil beides,
JHWH-Glaube und Exodus, dem Wunsch nach einer freien, egalitären Ge-
sellschaft die theologische Grundlage geben konnte (vgl. auch S. 105). Die
ersten Siedler waren freie, selbständige Bauern und Viehhalter in einem
lockeren Familien- und Stammesverband, ohne staatliche Ordnung und
ohne Feudalsystem. Es handelte sich um eine egalitäre Gesellschaft, die auf
die Wahrung ihrer individuellen Freiheit angewiesen war. Anders wäre m. E.
die spätere zentrale Bedeutung von Exodus und Schilfmeer nicht zu erklären.
So konnte dann auch die Verteidigung der Freiheit Motivation und Anliegen
des Dekalogs werden, ein Anliegen, das auch alle anderen Verfassungen aus
späterer Zeit antreibt.
94
M. Noth, Überlieferungsgeschichte, 53.
106 Zweiter Teil: Untersuchung einer eigenständigen Herkunft
Die ersten Siedler, die im 12. und 11. Jahrhundert v. Chr. im brachliegenden
westjordanischen Bergland neue Dörfer gründeten und damit zu Stamm-
vätern des späteren Juda und Israel wurden, kamen nicht von außerhalb,
sondern aus Kanaan. Hierüber besteht in der heutigen Forschung allgemei-
ner Konsens.95 Es handelt sich nicht um Gruppierungen, die aus dem Um-
land nach Palästina eingewandert oder kriegerisch eingedrungen waren,
sondern um Personen, die aus der vielschichtigen Bevölkerung des Inlandes
stammten. Diskutiert wird nur die Frage, ob und in welchem Umfang der
JHWH-Glaube und die Exodustradition von einer auswärtigen Gruppe in
das werdende Israel eingebracht wurden.96
E. A. Knauf hat zu diesem Thema einen sehr konkreten Vorschlag.97 Nach
ihm vermittelte eine in Ägypten aufhältliche Midianiter-Gruppe einer nach
dort geholten palästinischen Söldnergruppe das Lied der aus Midian stam-
menden Mirjam, in dem JHWH und der Untergang von ägyptischen Streit-
wagen gefeiert wird (Ex 15, 21). Diese Inhalte wurden von den später aus
Ägypten flüchtenden Söldnern als eigenes Erleben übernommen und mit
dem eigenen Exodus verbunden. JHWH und das Schilfmeer gelangten auf
diese Weise nach Palästina und wurden dort nach und nach religiöses und
historisches Gemeingut der sich im Bergland formierenden Stämme.
Diese und andere Hypothesen basieren auf der Überlegung, dass eine so
zentrale Überlieferung wie der Exodus und der damit untrennbar verbun-
dene Gott JHWH keine reine Fiktion sein können, sondern einen histori-
schen Rückhalt haben müssen. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass diese
Überlieferung ohne einen historischen Kern entstanden sein könnte, so dass
wir insofern mit einer „Ägypten-Gruppe“98 unter den Begründern der neuen
Stammesgebiete im Bergland Juda und Israel rechnen müssen. Aber abgese-
hen von einer solchen kleinen, wenn auch wichtigen Außengruppe kamen
nach heute einhelliger Meinung alle frühen Siedler direkt aus Kanaan und
standen damit zwangsläufig in kultureller Anbindung an die größtenteils
untergegangenen, z. T. aber auch weiterbestehenden kanaanäischen Stadt-
staaten und deren vorderorientalische Lebensweise.
95
H. Donner, N. P. Lemche, V. Fritz, J. Kamlah, D. Jericke, I. Finkelstein, W. Zwickel, E. A. Knauf
u. a.
96
Vgl. H. Donner, Geschichte, Bd. 1, 147.
97
E. A. Knauf, Midian, 145.
98
H. Donner, Geschichte, 97.
II. Das geschichtliche Problem 107
Mit dieser Feststellung ist allerdings noch nicht die Frage beantwortet, aus
welchem Teil Palästinas bzw. aus welcher Bevölkerungsgruppe die neuen
Siedler kamen. Dies war bereits im geschichtlichen Teil (II.2.) erörtert
worden. Kamen die Bewohner der neuen Siedlungen aus dem Bereich der
Stadtstaaten oder gehörten sie zu nicht sesshaften Gruppen, vielleicht noma-
dischen Ursprungs? Die Meinungen hierzu sind geteilt. Während einige
Autoren (z. B. I. Finkelstein und V. Fritz) wegen der ovalen, an Zeltlager er-
innernden Bauweise der kleinen Dörfer mehr an eine nomadische Herkunft
denken, sehen andere (z. B. J. Kamlah) wegen kultureller Übereinstimmun-
gen (Vierraumhaus, Keramik) einen überwiegend früher sesshaften städti-
schen Bevölkerungsanteil. Die meisten Autoren gehen allerdings von einer
gemischten Herkunft aus.
Bei dieser Frage sind wir weitgehend auf Vermutungen angewiesen, da
insoweit präzise archäologische oder historische Belege fehlen.99 Man kann
allerdings Rückschlüsse aus der allgemeinen Bevölkerungsstruktur Palästinas
vor der Landnahme ziehen. Dabei haben wir eine grobe Einteilung in drei
größere Gruppen: Stadtbewohner, Hapiru und (Schasu-)Nomaden.
1. Stadtbewohner
Der größte Teil der Stadtbewohner bestand aus Ackerbauern, die teilweise
auch Viehzucht betrieben. Im palästinischen Raum haben wir nämlich die
Besonderheit, dass die Stadtstaaten der Bronzezeit, also bis zum 12. Jahrhun-
dert, keine umliegenden Dörfer hatten. Die Bauern wohnten vielmehr inner-
halb des Stadtbezirks und bewirtschafteten von hier aus ihre vor den Toren
der Stadt liegenden Ländereien, wobei man sich die einzelnen Städte auch
nicht allzu groß vorstellen darf.100 Diese Bauern waren Ackerbürger.
Als dann ab dem 12. Jahrhundert die Stadtkulturen weitgehend zusam-
menbrachen, mussten sich viele dieser Ackerbürger eine neue Existenz su-
chen. Wir können deshalb m. E. davon ausgehen, dass zu den ersten Siedlern
im Bergland viele ehemalige Stadtbewohner gehörten, die damit auch in
gewisser kultureller Kontinuität zu den Stadtstaaten standen. Wenn V. Fritz
die Auffassung vertritt, dass für die Gründung der neuen Siedlungen „nur die
99
V. Fritz, Entstehung, 57.
100
Eine der größten Städte der Bronzezeit, Arad, hatte z. B. nur ca. 3500 Bewohner (N. P. Lemche,
Vorgeschichte, 111).
108 Zweiter Teil: Untersuchung einer eigenständigen Herkunft
Gruppen im Umkreis der Städte in Frage kommen, die wegen ihrer sozialen
Stellung oder ihrer Lebensweise außerhalb der Städte gelebt haben“, und dabei
an die Hapiru und die Schasu-Nomaden denkt,101 so halte ich das für sehr
unwahrscheinlich. Für viele der Ackerbürger aus den untergegangenen
Stadtherrschaften muss sich die Notwendigkeit einer neuen Existenzgrün-
dung ergeben haben, so dass etliche von ihnen sicherlich auch in das angren-
zende Bergland ausgewichen sind, um dort das zu tun, was sie vorher auch
betrieben hatten, nämlich Ackerbau und Viehzucht.102
2. Hapiru
Eine kleine, aber sehr effiziente Gruppe, wenn auch nur im negativen Sinne,
waren die Hapiru (apiru).103 Es handelte sich dabei um „outlaws“, sozial ent-
wurzelte Menschen, Flüchtlinge und Kriminelle, die nicht in festen Siedlun-
gen wohnten, sondern sich zwischen den Stadtstaaten bewegten und die sich
in den Wäldern zu (Räuber-)Banden zusammenschlossen. Das Bergland war
damals im Gegensatz zu heute noch stark bewaldet. Die Hapiru lebten von
Raub, Diebstahl, Schutzgelderpressung und ähnlichen Tätigkeiten, wurden
aber auch in die Rivalitäten der Stadtstaaten hineingezogen. Oft tauchten sie
als Söldnertruppen oder Verbündete einzelner Herrscher auf, konnten gele-
gentlich aber auch selbst die Macht ergreifen und Herrscher kleinerer Terri-
torien werden.104
Wir kennen die Hapiru aus ägyptischen Quellen, insbesondere der
Amarnapost. Hier beschweren sich verschiedene „Könige“ aus kanaanäi-
schen Stadtstaaten über ihre Nachbarkönige, aber auch über die räuberischen
Hapiru. Der Begriff wird in dieser Post allerdings oft ausgeweitet und auch
auf politische Rivalen, als tatsächliche oder nur behauptete Gegner der ägyp-
tischen Oberhoheit, angewandt.
Von den Hapiru hören wir nach der Landnahme nichts mehr, wenn wir
nicht David und seine „outlaws“ dazu zählen wollen. Mit dem Untergang der
meisten Stadtstaaten wurde ihnen die „Existenzgrundlage“ entzogen. Es ist
daher sehr naheliegend, dass viele von ihnen sich den neuen Dorfbewohnern
101
V. Fritz, Entstehung, 120.
102
H. Donner, Geschichte, Bd. 1, 145.
103
Vgl. insgesamt V. Fritz, Entstehung, 111.
104
Die interessante Frage, ob das Wort „Hebräer“ sprachlich und historisch mit den „Hapiru“ zu tun
hat, soll hier nicht weiter erörtert werden.
II. Das geschichtliche Problem 109
anschlossen und sesshaft wurden. Sie werden dann den Wald gerodet haben,
in dem sie vorher Unterschlupf gefunden hatten, um jetzt Getreide anzu-
bauen und Kleinviehzucht zu betreiben. Auch sie gehören sicherlich zu den
Stammvätern Israels.
3. Nomaden
105
Th. Schaubli, Das Image der Nomaden, 15.
106
Ebd., 150.
107
Ebd., 142.
108
Menge-Güthling, Altgriechisch-Deutsch, 472.
109
E. A. Knauf, Midian, 10.
110 Zweiter Teil: Untersuchung einer eigenständigen Herkunft
Kamel fiel, als sie zum ersten Mal Isaac sah, ist ein Anachronismus, der von
den späteren Schreibern in diese Zeit hineinprojiziert wurde. Rebekka müss-
te wohl doch auf einem Esel geritten sein.
Der Grund hierfür ist die einfache Tatsache, dass das Kamel zwar schon
seit dem 3. Jahrtausend domestiziert wurde, dass es aber zunächst nur als
Nahrungsquelle und nach und nach als Lasttier diente, wobei die Zucht
schwieriger ist als bei anderen Tieren. Das Kamel hat eine geringere Repro-
duktionsrate. Nur jede zweite Kamelstute bringt alle zwei Jahre ein Kamel-
füllen zur Welt, so dass das Schlachten eines Kamels vermieden wurde,110
zumal es später auch stolzer Besitz des beduinischen Nomaden wurde und
besondere Achtung erlangte.
Die Nutzung als Reittier war erst möglich, nachdem sich allmählich die
passende Sattelform entwickelt hatte. Aus dem Haulani- und Palansattel
entstand Anfang des 1. Jahrtausends der Sadadsattel, der das Sitzen nicht
hinter, sondern auf dem Höcker ermöglichte und die Kamele manövrierfähi-
ger und militärisch einsetzbar machte.111 So sollen an der Schlacht bei Qarqar
(853 v. Chr.) unter Salmanassar III. immerhin 1000 Kamelreiter beteiligt
gewesen sein.112
Erst das Kamel als Reittier ermöglichte die Zurücklegung längerer Strecken
und machte diese Nomadengruppe noch unabhängiger als andere Gruppie-
rungen. Man konnte sich schnell und zu jeder Zeit in die Wüste oder andere
unwirtliche Gegenden zurückziehen. Das Kamel benötigt keine tägliche
Tränke. Es kann für mehrere Tage im Voraus Wasser und Futter aufnehmen.
Nur diese auf Kamelen reitenden Nomaden werden als Beduinen bezeichnet.
Das Pferd war dann nur eine Ergänzung als schnelles und wendiges Reittier.
Alle anderen Nomadengruppen ohne Kamele waren auf tägliche Weide
und Tränke für ihre Viehherden angewiesen, die aus Schafen, Ziegen, Eseln
und allenfalls noch Rindern bestanden. Diese konnten in der Regenzeit in
den Randgebieten des Kulturlandes geweidet werden. In der Trockenzeit
mussten sie dann aber doch in das Kulturland selbst hineingetrieben werden,
da nur hier ausreichend Wasser und Weide vorhanden waren. Diese Wirt-
schaftsform wird Transhumanz oder Transmigration genannt,113 wobei V.
Fritz den Begriff der Transhumanz auf Wanderungen mit größeren Entfer-
110
E. A. Knauf, Midian, 15 Anm. 81.
111
Th. Staubli, Das Image der Nomaden, 184.
112
E. A. Knauf, Midian, 11.
113
V. Fritz, Entstehung, 114.
II. Das geschichtliche Problem 111
114
Vgl. zum Folgenden: H. Klengel, Zwischen Zelt und Palast; Th. Staubli, Das Image der Nomaden.
115
Vielleicht die Vorläufer des Stammes Benjamin (H. Klengel, 66).
116
Th. Staubli, Image, 23.
117
Ebd., 19–64.
118
V. Fritz, Entstehung, 120.
112 Zweiter Teil: Untersuchung einer eigenständigen Herkunft
Viehhaltung verbunden – und umgekehrt. Dies ergibt sich schon aus der
„Tatsache, dass der Mensch nicht ausschließlich von tierischem Eiweiß leben
kann, sondern auch auf pflanzliche Nahrungsmittel angewiesen ist. Kein No-
made kann ohne Getreideprodukte überleben.“119
Im Ergebnis können wir festhalten, dass die ersten Siedler sich aus allen drei
Bevölkerungsgruppen zusammengesetzt haben dürften, nämlich ehemalige
Stadtbewohnern, Hapiru und Schasu-Nomaden. Wir haben zwar keine siche-
re Beweislage, sondern müssen mit Wahrscheinlichkeiten auskommen; diese
sprechen aber m. E. für die Annahme einer derart gemischten Abstammung.
Dabei ist auch noch zu beachten, dass die Besiedlung, die sich immerhin über
zwei Jahrhunderte hinzog, nicht überall zeitgleich und gleichförmig verlaufen
sein kann. Es muss sowohl vom Zeitpunkt als auch von der Zusammenset-
zung der Siedler her regionale Unterschiede gegeben haben, so dass jede
Rekonstruktion schwierig ist. „Alle Bemühungen um die Erfassung der sozia-
len Gestalt des vorstaatlichen Israel bleiben hypothetisch und alle Analogie-
schlüsse sind stets kritisch zu hinterfragen.“120 Trotzdem dürfte es richtig sein,
alle Bevölkerungsgruppen einzubeziehen oder, andersherum formuliert,
keine Gruppe auszuschließen.
Die Lebensweise der ersten Siedler dürfte demgegenüber besser darzustel-
len sein. Nachdem die Ansiedlungen, meist wohl verbunden mit der Rodung
von Waldpartien, erfolgt waren, konnte man die Bewohner der neuen Dörfer
als Kleinbauern bezeichnen, die sesshaft waren und Ackerbau betrieben
(Getreide, Oliven, Wein). Gleichzeitig waren sie aber auch Viehhalter, über-
wiegend von Schafen und Ziegen, die in der Trockenzeit in unmittelbarer
Nähe der Siedlungen geweidet werden mussten, in den Regenmonaten aber
auch in die östlichen und südlichen Randgebiete geführt werden konnten.
Wir haben es hierbei mit einer der heutigen Sennwirtschaft in den Alpen
vergleichbaren Weideform zu tun. Da hierfür auch weitere Strecken zurück-
gelegt werden mussten, blieb immer noch ein nomadisches Element erhalten,
welches sicherlich Einfluss auf die Vorstellungswelt der späteren Generatio-
nen gehabt hat und die Erinnerung an eine zumindest teilweise nomadische
Abstammung verstärkt hat. „Das nachmalige Israel hat sich nach Ausweis
seiner eigenen Überlieferung eine nomadische Vergangenheit zugeschrieben.“121
119
N. P. Lemche, Vorgeschichte 98, Anm. 13.
120
V. Fritz, Entstehung, 111.
121
H. Donner, Geschichte, Bd. 1, 141.
II. Das geschichtliche Problem 113
– „Das nomadische Erbe ist in Israels Überlieferung so stark, dass die Ableh-
nung jeder nomadischen Vorgeschichte Israels keine historische Wahrschein-
lichkeit für sich hat.“122
Dabei ist aber immer zu beachten, dass auch in der biblischen Überliefe-
rung die Erzväter, Moses und die Israeliten niemals als „Vollnomaden“ dar-
gestellt werden, sondern immer mit Grundbesitz und Ackerbau verbunden
waren und Kontakte zu den Kleinstädten Palästinas hatten.123 Jakob wohnt
z. B. in Hebron und schickt Joseph zu seinen Brüdern, die sich in Sichem mit
den Kleinviehherden auf der Weide befinden. Die Auffassung von A. Alt,
dass Nomaden das apodiktische Recht aus der Wüste in das Kulturland ge-
bracht hätten, findet deshalb nicht nur in der archäologisch-historischen
Realität, sondern auch in den biblischen Berichten über die Erzväter keine
Stütze. Bei A. Alt besteht insofern eine falsche Vorstellung über das Noma-
dentum. Die Erzväter waren Esel- und Kleinviehnomaden mit teilweisem
Grundbesitz und Ackerbau. Und dies entsprach genau der Lebensweise der
ersten Siedler.
122
H. Donner, Geschichte, Bd. 1, 145.
123
N. P. Lemche, Vorgeschichte, 42.
III. Das sprachhistorische Problem
(Quadratschrift, Dialekt, Textgeschichte)
III. Das sprachhistorische Problem
Das sprachliche Gewand ist nach Auffassung aller Autoren ein konstitutives
Element des apodiktischen Rechts. Trotzdem beschäftigt sich kaum einer der
Autoren mit der Frage, in welcher Schrift und welcher Sprache Frühformen
des apodiktischen Rechts ausgesehen haben könnten. Alle gehen, wie selbst-
verständlich, vom masoretischen Endtext aus.
Dabei ist der heute vorliegende biblische Text in der sog. hebräischen
Quadratschrift abgefasst, die sich erst im 5. und 4. Jahrhundert in Israel, im
Zusammenhang mit der Übernahme der aramäischen Sprache, durchgesetzt
hat. Sie ist aus dem aramäischen Alphabet entstanden. Davor wurde die alt-
israelitische Schrift benutzt, die sich aus dem phönikischen Alphabet ent-
wickelt hat. Aber auch diese Schrift gibt es frühestens seit dem 10. oder 9.
Jahrhundert. Vor dieser Zeit und damit auch während der Entwicklung
Israels ab dem 12. Jahrhundert wurden andere Schriftformen aus dem alt-
orientalischen Kulturkreis verwendet.
Auch die hebräische Sprache hat sich erst ab dem 10. Jahrhundert ent-
wickelt. Davor und auch noch lange danach müssen die verschiedensten
kanaanäischen Dialekte gesprochen worden sein. Welche Sprache z. B. in
Jerusalem im 10. Jahrhundert gesprochen wurde, weiß niemand. Oder wie
das von E.Gerstenberger postulierte „Sippenethos“ der ersten Stämme formu-
liert wurde, kann ebenfalls niemand genau angeben.
Hinzu kommt noch die langwierige und verwickelte Textgeschichte der
biblischen Bücher. Es ist von zahlreichen „Textfamilien“ auszugehen, die
immer mehr divergieren, je weiter man in die Frühzeit zurückgeht.1 Es gibt
keine singulären „Urtexte“. Wir müssen mit einer Vielzahl von Alternativen
rechnen. Die Dominanz des masoretischen Textes ist hinfällig.2
1
H. J. Fabry, Der Text und seine Geschichte, in: Erich Zenger u. a., Einleitung, 51.
2
Ebd., 52.
116 Zweiter Teil: Untersuchung einer eigenständigen Herkunft
E, P und Dt, die weitgehend mit der Streichung des Elohisten und dem „Ab-
schied vom Jahwisten“ beendet wurde. J. Wöhrle3 hat in seiner neuen Unter-
suchung von 2012 gezeigt, dass man heute eigentlich nur noch von „P“ und
„nicht P“ ausgehen könne, also von „priesterlichen“ und „nicht priesterli-
chen“ Texten, wobei diskutiert wird, ob es sich bei P um eine eigenständige
literarische Quelle oder nur um Redaktionsschichten handelt.
Insgesamt bleibt festzustellen, dass ein frühes, apodiktisches Recht sprach-
lich nicht sicher greifbar ist. Die von A. Alt gesehene „Wucht des Ausdrucks“
ist deshalb für die Frühzeit Israels sprachlich nicht zu belegen. Wir sind hier
auf den masoretischen Endtext angewiesen, der allerdings, wie A. Alt gezeigt
hat, diesen Sprachstil ganz prägnant und eindrucksvoll wiedergibt (vgl. II.1.).
3
J. Wöhrle, Fremdlinge im eigenen Land, 11.
IV. Das rechtshistorische Problem
IV. Das rechtshistorische Problem
1
Chr. Sigrist, Einführung, 7.
2
St. Mason, Flavius Josephus, 153.
3
U. Wesel, Frühformen, 17.
118 Zweiter Teil: Untersuchung einer eigenständigen Herkunft
Besonders prägnant ist das Auftreten von Tendenzen immer dann, wenn
Völker über ihre eigene Vergangenheit berichten. Und hierbei macht das
Alte Testament keine Ausnahme; im Gegenteil, die Tendenzen der alttesta-
mentlichen Autoren sind überdeutlich. Es geht um die besondere Beziehung
Israels zu JHWH, die im historischen Geschehen sichtbar werden soll, im
Guten wie im Schlechten. Deshalb wird das Schicksal des Volkes und seiner
Herrscher als eine Reaktion JHWH’s auf die Sünden der Könige und auf den
ständigen Abfall des Volkes dargestellt. Die Darstellung der Geschichte wird
dieser Erzählabsicht untergeordnet.
Es ist deshalb schwierig, aus antiken Texten zuverlässige historische Infor-
mationen zu erhalten. Der Rechtshistoriker darf diese Berichte nur sehr be-
dingt auswerten. Dies gilt auch für die biblischen Texte. Es ist äußerst
schwierig, aus den weitgehend fiktiven Berichten rechtshistorisch zuverlässi-
ges Material herauszuarbeiten. Es kommt hinzu, dass die Autoren oft auch
Verhältnisse ihrer eigenen Zeit in diejenige Zeit zurückverlegen, über die sie
berichten. Diese Schwierigkeiten führen zu dem schon erwähnten Umstand,
dass bis heute noch keine umfassende „hebräische Rechtsgeschichte“ exis-
tiert. Es gibt immer nur Einzeluntersuchungen zu speziellen Themen. Ande-
res ist auch nicht zu erwarten.
Der Rechtshistoriker ist deshalb bei der Untersuchung früher Gesellschaf-
ten auf weitere, zusätzliche Quellen angewiesen. Diese liefern ihm heute in
erster Linie die Ethnologie und verwandte Wissenschaften wie Soziologie
oder Anthropologie. Der Rechtshistoriker U. Wesel stellt fest: „Die Ethnologie
ist die wichtigste Grundlage für die Kenntnis vom frühen Recht. Das wichtigste
Material stammt aus der ethnologischen Forschung.“ 4
Dabei stellt sich allerdings ein grundsätzliches methodisches Problem. Das
von der Ethnologie gelieferte Material stammt aus Beobachtungen von sog.
„rezenten“ Gesellschaften, also von Völkern, die heute noch in ökologischen
Nischen existieren und sich in einem vermeintlichen Urzustand befinden. Es
gibt dabei viele bekannte ethnologische Untersuchungen. Ein grundlegendes
Werk ist die Arbeit von E. Evans-Prichard über die Nuer im Sudan, in der alle
erreichbaren soziologischen, rechtlichen und religiösen Daten dieses Volkes
sorgfältig zusammengetragen wurden.5 Das Gleiche gilt für viele andere Un-
tersuchungen. Es gibt eine Fülle von Material. Die Frage ist aber, ob man
4
U. Wesel, Frühformen, 15.
5
E. Evans-Pritchard, Das Stammessystem der Nuer, 123.
IV. Das rechtshistorische Problem 119
6
U. Wesel, Frühformen, 6.
7
Ebd., 44.
8
R. Neu, Die Bedeutung der Ethnologie, 11.
9
Ebd., 11.
10
Ebd., 20.
11
Ebd., 12.
12
Ebd., 24.
13
Ebd., 13.
120 Zweiter Teil: Untersuchung einer eigenständigen Herkunft
1.1
Fr. Crüsemann bezieht sich in seinem Beitrag „Der Widerstand gegen das
Königtum“14 ausdrücklich auf segmentäre Gesellschaften, die akephal sind
und deshalb einen egalitären Charakter haben. Chr. Sigrist spricht von einem
„primären Egalitarismus“ derartiger Gesellschaften.15
1.2
F. W. Golka vergleicht in seiner Arbeit „Die Flecken des Leopoarden“ afrika-
nische Sprichwörter mit biblischer Weisheit.16 Er kann dabei nachweisen,
daß die Thesen von C. Westermann zur Entstehung der biblischen Weisheit
aus dem Sprichwort zutreffend sind.17 Benutzt wird sehr umfangreiches, von
dessen Vater D. Westermann gesammeltes ethnologisches Material. Die
Sprichwörter Israels und Afrikas stimmen in vielen Bereichen überein.18
Im folgenden Kapitel sollen die Rechtsverhältnisse in akephalen, segmentä-
ren Gesellschaften in ihren Grundzügen dargestellt werden, um feststellen zu
können, ob in derartigen Gesellschaften apodiktisches Recht entstehen kann.
14
Ebd., 24; Fr. Crüsemann, Der Widerstand gegen das Königtum, 198.
15
Chr. Sigrist, Einleitung, 8.
16
F. W. Golka, Flecken.
17
Ebd., 49.
18
Ebd., 67.
19
Chr. Sigrist, Über das Fehlen und die Entstehung von Zentralinstanzen, 138.
20
U. Wesel, Frühformen, 36, 71, 189.
IV. Das rechtshistorische Problem 121
21
Chr. Sigrist, Segmentäre Gesellschaft, 106.
22
J. Middleton / D. Tait, Die Lineage, 65.
23
U. Wesel, Frühformen, 25.
122 Zweiter Teil: Untersuchung einer eigenständigen Herkunft
dies ein typisches Beispiel für eine Konfliktlösung durch Verhandlung, ohne
Mitwirkung staatlicher Organe und unter Verzicht auf Strafverfolgung.
Wenn ein Ausgleich misslingt oder nicht eingehalten wird, kommt es zu
Fehde und Blutrache, wie bei den Söhnen Jakobs (vgl. auch S. 46).
Dieses System wird von dem Soziologen E. R. Karauscheck für den Stamm
der Nuer untersucht. „Die Nuer … lebten … als segmentäre Stammesgesell-
schaft unter den Bedingungen der Akephalie.“ 24 Problemlösungen erfolgten
nur durch Ausgleichsverhandlungen oder Fehde und Blutrache.
Der Ethnologe R. Schott und der Rechtshistoriker U. Wesel haben sich sehr
ausführlich mit der Entstehung und dem Charakter des Rechts in segmentä-
ren Gesellschaften beschäftigt.25 Trotz der großen Verschiedenheit der über
alle Kontinente verteilten Gesellschaften lassen sich einige Grundzüge er-
mitteln, die allen diesen Gesellschaften gemeinsam sind (nach R. Schott),
wobei Einigkeit besteht, dass es sich auch bei den frühisraelischen Siedlungen
um eine akephale Stammesgesellschaft handelte.26
a) Reziprozität
24
E. R. Karauscheck, Fehde und Blutrache, Kiel 2011, 189.
25
R. Schott, Anarchie und Tradition, 22; U. Wesel, Geschichte des Rechts; U. Wesel, Frühformen des
Rechts.
26
Vgl. Chr. Schäfer-Lichtenberger in WiBiLex, Das Bibellexikon, 2011.
27
R. Schott, Anarchie, 36; U. Wesel, Frühformen, 86, 232.
28
R. Schott, Anarchie, 37.
IV. Das rechtshistorische Problem 123
29
U. Wesel, Frühformen, 324.
30
R. Schott, Anarchie, 46.
31
Ebd., 44.
124 Zweiter Teil: Untersuchung einer eigenständigen Herkunft
32
R. Schott, Anarchie, 43.
33
Ebd., 44.
34
E. Gerstenberger, Wesen und Herkunft.
IV. Das rechtshistorische Problem 125
Bruder- oder Vatermord bleiben oft ungesühnt. Auch Kain (Gen 4,1–16)
wird Gottes Gerechtigkeit überliefert und entgeht menschlicher Strafe.35
Die Stellung innerhalb der Verwandtschaftsgruppe oder die Größe und
Macht dieser Gruppe sind ausschlaggebend für die Rechtsstellung und vor
allen Dingen für die Durchsetzung von Ansprüchen. Dies wird als gegeben
anerkannt und nicht an übergeordneten Gerechtigkeitsvorstellungen gemes-
sen. Oberstes Ziel ist die Friedenssicherung und die weitgehende Erhaltung
der sozialen Ordnung. Schadensersatzleistungen, Eigentumsverhältnisse oder
Nutzungsrechte aus Weideland richten sich nach der Stellung in der Gruppe.
Das Recht wechselt mit der Position der Betroffenen.
Die vorstehend dargestellten Grundzüge des Rechts in segmentären vor-
staatlichen Gesellschaften lassen erkennen, dass wir es mit einer völlig ande-
ren Auffassung von „Recht und Ordnung“ zu tun haben als in späteren staat-
lichen Verhältnissen. Das Recht ist noch horizontal, in direktem Gegenüber
der Beteiligten. Diese haben selbst für das soziale Gleichgewicht und ein
friedliches, geregeltes Miteinander zu sorgen. Es fehlt die spätere autoritäre
Setzung von Recht durch Zentralinstanzen, die in der Lage sind, eigene
Rechtsvorstellungen mit Zwang durchzusetzen. Wenn man Zwang und
Durchsetzungsmöglichkeiten von oben als konstitutiv für Recht ansehen will,
könnte man sogar sagen, dass es in akephalen Gesellschaften – noch – kein
Recht gibt. Das ist aber eine Definitionsfrage und sicher eine zu enge Be-
trachtungsweise. Auch in segmentären Gesellschaften gibt es Normen und
Rechtsvorstellungen, bei deren Verletzung eine Reaktion erfolgen muss, und
sei es nur durch Selbsthilfe. Diese Normvorstellungen haben aber, wie dar-
gelegt, einen anderen Charakter und andere Voraussetzungen. Es geht um
pragmatische Konfliktlösung und nicht um abstrakte Gerechtigkeit.
3. Ergebnis
35
U. Wesel, Frühformen, 33.
126 Zweiter Teil: Untersuchung einer eigenständigen Herkunft
36
E. E. Evans-Pritchard, Das Stammessystem der Nuer, 123.
37
Vgl. G. Heinemann, Untersuchungen zum apodiktischen Recht.
38
U. Wesel, Frühformen, 260.
IV. Das rechtshistorische Problem 127
39
Chr. Sigrist, Einführung, 7.
40
R. Albertz, Religionsgeschichte, Bd. 1, 155.
V. Zusammenfassung und Ergebnis
(Späte Entstehung des apodiktischen Rechts)
V. Zusammenfassung und Ergebnis
1. Historische Gründe
1
Das bei E. Gerstenberger zusammengestellte Material aus dem alten Orient ist kein apodiktisches
Recht im eigentlichen Sinne, sondern überwiegend Spruchweisheit (E. Gerstenberger, Wesen und
Herkunft, 131).
130 Zweiter Teil: Untersuchung einer eigenständigen Herkunft
2
Vgl. insgesamt I. Finkelstein, David und Salomo, 2006.
3
E. Villeneuve, Jericho, WUB 3/2008, 11.
4
I. Finkelstein, Was besagen „high“ und „low chronology“, WUB 3/2008, 23.
V. Zusammenfassung und Ergebnis 131
2. Sprachliche Gründe
Die sprachlichen Probleme sind zwar kein zwingendes Indiz gegen ein frühes
apodiktisches Recht, führen aber dazu, dass wir eventuelle Vorformen
sprachlich nicht fassen könnten. Wir können den masoretischen Endtext
oder auch frühere Qumrantexte sprachlich nicht zurückprojezieren.
Es ist zusätzlich zu bedenken, dass auch die jeweilige Grammatik eine an-
dere gewesen sein kann. Gab es in frühen kanaanäischen Dialekten bereits
die Möglichkeit, wie im späteren Hebräisch, einzelne Verbote mit nur zwei
Worten, nämlich ֹלאmit Imperfekt, wiederzugeben? Das alles muss offenblei-
ben und führt dazu, dass wir das apodiktische Recht in seiner Sprachform
nur anhand des biblischen Endtextes beurteilen können und nicht versuchen
dürfen, postulierte Vorformen irgendwie sprachlich formulieren zu wollen.
3. Rechtsgeschichtliche Gründe
Die Gründe, die sich aus der Rechtsgeschichte gegen die Annahme eines
frühen apodiktischen Rechts ergeben, sind m. E. besonders gravierend.
Trotzdem muss man auch hier feststellen, dass sich bisher noch kein Autor
mit diesem zugegebenermaßen sehr speziellen Thema befasst hat. Es besteht
zwar allgemeine Einigkeit, dass es sich bei der israelitischen Stammesgemein-
schaft des 12. und 11. Jahrhunderts um eine akephale, segmentäre Gesell-
schaft gehandelt hat. Ob aber in derartigen Gesellschaftsordnungen rechtsge-
schichtlich apodiktisches Recht zu erwarten ist, wird nicht diskutiert.
Dabei sind die Ergebnisse der Rechtsgeschichte insoweit eindeutig. Bei den
sogenannten „rezenten Gesellschaften“, also heute noch existierenden „Na-
turvölkern“, gibt es kein apodiktisches Recht. Natürlich haben auch diese
Völker Vorstellungen darüber, was falsch und richtig, gut und böse, gerecht
und ungerecht ist. Diese Vorstellungen münden aber nicht in ausformulierte
Grundsatzreden, die eine Grundlage für das Leben in der jeweiligen Gemein-
schaft bilden sollen. Es gibt, wie überall, kasuistisches Recht, das bestimmte
Einzelfälle regelt, aber keine allgemeinen Grundaussagen apodiktischer Art.
So enthalten z. B. die von F. W. Golka untersuchten afrikanischen Sprich-
wörter keine apodiktisch formulierten Rechtssätze.5 Einen afrikanischen
Dekalog gibt es nicht.
5
F. W. Golka, Flecken, 89.
132 Zweiter Teil: Untersuchung einer eigenständigen Herkunft
4. Ergebnis
Als Gesamtergebnis lässt sich festhalten, dass das apodiktische Recht nicht
am Anfang der Rechtsentwicklung in Israel gestanden hat und auch nicht im
Gegensatz zum kanaanäischen Fallrecht gesehen werden kann. Wir haben es
vielmehr mit einer späten Entwicklung zu tun, die innerhalb der sich bilden-
den Staatlichkeit und innerhalb der allgemeinen Rechtsordnung abgelaufen
ist, und dies auch nicht als gegensätzliche Entwicklung, sondern durch ein
Verschmelzen verschiedenster Rechtsgruppen zu einer Gesamtrechtsord-
nung. Das apodiktische Recht, so wie es in den biblischen Texten überliefert
ist, hat dabei die Rolle einer Grundsatznorm, einer „Metanorm“ oder Verfas-
sung übernommen, die das übrige Recht, das positive Recht, in einen ver-
bindlichen, übergeordneten Rahmen stellt. Es war die Klammer, die das um-
fangreiche rechtliche Material in einen großen Zusammenhang bringen
sollte, sowohl religiös als auch rechtlich. Es war eine bewusste, groß angelegte
Komposition, bei der es dann auch nicht wichtig ist, welche Vorformen
eventuell bereits vorgelegen haben oder welche Teile neu konzipiert wurden.
Entscheidend ist die Endfassung. Wenn früheres Material eine abweichende
Bedeutung gehabt haben sollte, wird diese durch die neue Regelung „aufge-
hoben“.
Diese besondere Relation wird auch bestätigt durch das Größenverhältnis
des apodiktischen Rechts zum übrigen kasuistischen Recht. Letzteres macht
den weitaus größten Teil der Rechtsbestimmungen aus. Dieses Verhältnis ist
durchaus vergleichbar mit der Aufteilung von Verfassungen und dem übri-
gen positiven Recht in modernen Staaten. Wir haben insofern eine deutliche
Parallele zum heutigen Verfassungsstaat. Dass dies nicht die einzige Parallele
ist, sondern auch für die inhaltliche Ausgestaltung und die Genese der ein-
zelnen Rechte gilt, soll im dritten Teil dieser Arbeit dargelegt werden.
V. Zusammenfassung und Ergebnis 133
6
W. H. Schmidt, Die zehn Gebote, 1993, 25.
7
E. Gerstenberger, Wesen, 130.
134 Zweiter Teil: Untersuchung einer eigenständigen Herkunft
Wenn Fr. Crüsemann das apodiktische Recht als „Meta-Norm und kritische
Instanz“ bezeichnet und einen Vergleich mit heutigen Grundrechtsbestim-
mungen und Menschenrechtskatalogen vornimmt2 oder wenn J. Magonet,
aus ganz anderer Perspektive, den Dekalog „als eine Art Grundgesetz des
Bundes“ betrachtet3, dann bringen beide Autoren letztlich den Begriff der
Verfassung ins Spiel. Hieraus ergibt sich aber die weitere Frage, ob das apo-
diktische Recht überhaupt in der Lage ist, diesem hohen Anspruch aus juris-
tischer Sicht zu genügen.
„Verfassung“ ist ein Begriff der Neuzeit. Man versteht darunter im formel-
len Sinne die „mit erhöhter Geltungskraft und erschwerter Abänderbarkeit
ausgestattete Verfassungsurkunde“.4 Sie enthält die normierten Grundrechte
und das Staatsorganisationsrecht. Es ist dies die „geschriebene“ Verfassung.
Im materiellen Sinne ist der Begriff weiter zu fassen. Hier meint „Verfassung“
die „Gesamtheit der grundlegenden Regeln“ über die Leitung des Staates, über
die Strukturen der Gemeinschaftsordnung (Föderalismus, Gewaltenteilung)
und über die Stellung der Bürger im Staat, also insbesondere die anerkannten
Grundrechte.5 Großbritannien hat z. B. keine geschriebene Verfassung, son-
dern nur einzelne Verfassungsgesetze, die Magna Charta Libertatum, die
Habeas-Corpus-Akte und die Bill of Rights. Zur Verfassung im materiellen
Sinne gehören, soweit vorhanden, die geschriebene Verfassungsurkunde und
alle anderen verfassungsrechtlich relevanten Regeln, nämlich weitere Geset-
1
Alpmann Brockhaus, Fachlexikon Recht, 2004, Vorwort; V. Meid, Lachen ohne Bewährung, Mün-
chen 1980, 95.
2
Fr. Crüsemann, Tora, 227.
3
J. Magonet, Die subversive Kraft der Bibel, 91.
4
Alpmann Brockhaus, Recht, 1379.
5
Th. Maunz / R. Zippelius, Deutsches Staatsrecht, 31.
136 Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung
6
Th. Maunz / R. Zippelius, Deutsches Staatsrecht, 30.
7
Grundrechte sind in einer Verfassung normierte Menschenrechte.
I. Die Entwicklung der Menschenrechtsidee
I. Die Entwicklung der Menschenrechtsidee
1.
Bei der Erörterung der Menschenrechte in der Antike ist zu beachten, dass
zwar bei Platon und Aristoteles die Grundlagen für ein allgemeines Natur-
recht gelegt wurden. „Platons Ideenlehre als Lehre von den apriorischen We-
sensgehalten der Welt bildet das theoretische Rückgrat jeder ideellen Natur-
1
Vgl. das Standardwerk v. G. Oestreich, Geschichte der Menschenrechte; A. Neschke-Hentschke,
Tradition und Identität Europas.
2
Vgl. die umfangreiche Zusammenstellung von R. Weigand, Naturrechtslehre.
138 Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung
rechtslehre.“3 Von Freiheit und Gleichheit aller Menschen waren beide aber
weit entfernt. Platon geht gerade von der Ungleichheit der Menschen aus
und entwickelt hieraus seine Staatstheorien. Aristoteles ist zwar etwas gemä-
ßigter in seinen Auffassungen, hält aber z. B. die Sklavenhaltung nicht nur
für nützlich, sondern auch für gerechtfertigt.4 Erst die Stoa entwickelt später
das, was unseren heutigen Menschenrechtsvorstellungen nahe kommt.
Die Philosophenschule der Stoa geht zurück auf Zenon (300 v. Chr.) und
wurde in Rom von Lälius, Scipio und vor allem Cicero weitergeführt. Sie
mündete in die „jüngere Stoa“, vertreten durch Seneca, Epiktet und Marc
Aurel.5 Durch diese römischen Vertreter konnte sich stoisches Gedankengut
mit römischem Rechtsdenken verbinden. Allerdings wird die Stoa meist
nicht über ihre verschiedenen Vertreter, sondern als Sammelbegriff zitiert,
was auf die unklare Quellenlage zurückgeht.6
In der Stoa wird die Gleichheit aller Menschen, auch der Barbaren und
Sklaven, zum Prinzip erhoben. „Die Stoa entwickelte in ihrer Anthropologie
und Ethik die Lehre von der Gleichheit der Menschen. Sie wurde begründet
durch die zentrale Vorstellung, daß neben dem realen Gemeinwesen das
Reich der Vernunft existiert. In diesem steht jeder Mensch gleichberechtigt
da als Teilhaber an der Weltvernunft, dem logos, weil alle Menschen mit
Vernunft begabt sind.“7
Trotz der theoretischen Gleichheit aller Menschen hatte aber auch die Stoa
kaum praktische Konsequenzen. Allgemeine „Menschenrechte“ kannte die
Antike nicht.8 Athen und Rom blieben Sklavenhaltergesellschaften. Nicht nur
Platon und Aristoteles, auch die „Stoiker“ Cicero und Seneca beschäftigten
rechtlose Sklaven auf ihren umfangreichen Ländereien. Seneca war sogar
einer der reichsten Männer seiner Zeit und hätte, auch als Erzieher von Nero,
gesellschaftspolitisch sicher viel bewegen können. Aber Theorie und Praxis
liegen immer weit auseinander. Die gleiche Diskrepanz bestand auch für die
fehlende Gleichberechtigung der Frauen.
3
H. Welzel, Naturrecht, 22.
4
G. Oestreich, Geschichte der Menschenrechte, 16.
5
H. Welzel, Naturrecht, 38.
6
Lexikon der Alten Welt, Zürich u. Stuttgart 1965, 2930.
7
G. Oestreich, Geschichte, 16.
8
Ebd., 18.
I. Die Entwicklung der Menschenrechtsidee 139
2.
Das gleiche Problem müssen wir auch für das Frühchristentum und das
christliche Mittelalter feststellen. Dabei ist allerdings zu beachten, dass die
Begriffe „Menschenrechte“ und „Naturrecht“ nicht identisch sind. Das Na-
turrecht ist der theoretische Nährboden, aus dem die individuellen Men-
schenrechte erwachsen. Von letzteren spricht man erst, wenn sich allgemeine
naturrechtliche Vorstellungen zu präzisen Forderungen des Individuums an
seine Umwelt auf Respektierung gewisser Grundrechte konkretisieren.
„Menschenrechtliche Forderungen unterscheiden sich vom Gedanken eines
rein ethisch postulierten Naturrechts dadurch, daß sie nach einer Verrechtli-
chung drängen und die staatliche Ordnung bewußt prägen.“9 Aus diesem
Grunde waren im Mittelalter, wie in der Antike, durchaus naturrechtliche
Überlegungen vorhanden, ohne aber schon in konkret formulierte und vor
allem von der Rechtsordnung akzeptierte Menschenrechte zu münden. Von
einem Naturrecht bis hin zu fassbaren Menschenrechten ist es ein weiter
Weg.
Wir können deshalb auch im Frühchristentum und im christlichen Mittel-
alter nicht von Menschenrechten im heutigen Sinne sprechen. Eine weitere
Ursache kommt hinzu. Die drei klassischen Menschenrechte auf Leben, Frei-
heit und Eigentum10 sind Freiheitsrechte. Sie richten sich primär gegen den
Staat.11 Dieser hat die genannten drei Grundrechte seiner Bürger zu respek-
tieren und darf sie in ihrem Wesensgehalt nicht antasten. Sie sind Abwehr-
rechte gegen einen übermächtigen Staat. Die Menschenrechte setzen deshalb
einen „Staat“ voraus, der aber erst in der Moderne entstanden ist.12 Im Mit-
telalter gab es diesen Begriff noch nicht. Es gab vielmehr die feudalistisch
aufgebaute „Herrschaft“ mit dem „dominus terrae“ an der Spitze und den
Landständen, dem Adel.13 Der Gedanke von Forderungen gegen einen ano-
nymen Staat konnte damals noch nicht aufkommen.
Was jedoch weiterlaufen konnte, war die in der Antike begonnene Diskus-
sion um ein – nunmehr christliches – Naturrecht. Stärkster Impuls war dabei
die Vorstellung von der Gleichheit aller Menschen vor Gott, die sich aus der
Gottesebenbildlichkeit des Menschen, der Imago Dei, ergab (Gen 1,26) sowie
9
L. Kühnhardt, Universalität, 47.
10
Zur „Trias der Menschenrechte“ vgl. die näheren Ausführungen in Kap. I. 4., S. 142.
11
Auf das Problem der sog. Drittwirkung der Grundrechte soll später eingegangen werden.
12
U. Wesel, Geschichte, 415.
13
Ebd., 299; D. Willoweit, Deutsches Staatsrecht, 5.
140 Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung
aus der Überzeugung von der Gemeinschaft aller Gläubigen in Christus, die
alle Grenzen aufhob. So konnte Paulus den Galatern schreiben:
„Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann
und Frau; denn ihr alle seid ‚einer‘ in Christus Jesus.“14
(Gal 3,28)
Hinzu kam das allumfassende Gebot der Nächstenliebe, die forderte, auch
den Sklaven als „geliebten Bruder“ anzuerkennen (Phil 16).
Aber auch dieses hatte langfristig kaum praktische Konsequenzen. Die
Sklavenhaltung wurde in der altkirchlichen Literatur zwar für ungerecht
erklärt15, es blieb aber weitgehend bei einem Appell an die Mitbürger. Von
einer Ausbildung von Menschenrechten, die jedem Individuum unmittelbar
zustehen, konnte keine Rede sein. Das Naturrecht als theoretische Maxime
wurde zwar bei Ambrosius, Augustin, Ulpian und Thomas von Aquin weiter
ausgebaut, führte aber nur im Grundsatz zur Gleichheit und Freiheit aller
Menschen. Sklavenhaltung, Leibeigenschaft und Ketzerverfolgung blieben
bestehen. Augustinus war der Auffassung, dass man unter Berufung auf das
„compelle intrare“ aus Lk 14,23 die Menschen auch zu ihrem Seelenheil
zwingen dürfe16, und Thomas von Aquin hielt ebenfalls die Ketzerverfolgung
und sogar die Sklaverei für gerechtfertigt17, alles eklatante Verstöße gegen die
Glaubensfreiheit und die Gleichheit aller Menschen. Diese Auffassungen sind
natürlich auch aus ihrer Zeit heraus zu verstehen, führen aber dazu, dass man
die Bedeutung der Kirchenväter für die Entwicklung der Menschenrechte –
trotz aller Verdienste um das Naturrecht – nicht überbewerten darf.
Wir rühren hierbei an ein Grundproblem aller monotheistischen Religio-
nen. Im Zweifel ist letztlich die „Wahrheitsfrage“ und nicht ein die eigene
Religion relativierendes Menschenrecht entscheidend. Nur die Wahrheit darf
freie Rede für sich beanspruchen. Die Lüge muss schweigen. Und wer vom
rechten Glauben abweicht, muss zu seinem eigenen Nutzen notfalls mit Ge-
walt auf den richtigen Weg zurückgeführt werden. Und wer trotzdem an
seinem Irrglauben festhält, ist dumm oder böswillig und kann sich nicht auf
eine Glaubensfreiheit berufen. Ein Glaube, der direkt in die Hölle führt, kann
keinen Schutz für sich beanspruchen.
14
Einheitsübersetzung 2003.
15
G. Oestreich, Geschichte, 20.
16
Ebd., 21.
17
Ebd., 23.
I. Die Entwicklung der Menschenrechtsidee 141
Andererseits wurde dem Naturrecht durch die Anbindung nicht nur an die
Vernunft, sondern auch an Gott, ein besonderer Glanz und eine starke Auto-
rität verliehen. Die Verbindlichkeit des Naturrechts wird immer erheblich
verstärkt, wenn es einen göttlichen Ursprung für sich in Anspruch nehmen
kann. Aus Sicht der heutigen Menschenrechte ist diese Anbindung aber im-
mer gefährlich. Wer sich zu sehr von seiner Religion leiten lässt, läuft Gefahr,
vom Tugendweg der neutralen Menschenrechte abzuweichen. Diese Gefahr
ist auch heute noch gegeben, wenn sich Kirchen zu gesellschaftspolitischen
Fragen zu Wort melden. Trotzdem bleibt die Frage bestehen, ob nicht auch
die heutigen Menschenrechte einer letzten Begründung durch göttliche
Autorität bedürfen. Golka weist unter Bezugnahme auf die Französische
Revolution von 1789 und die nordamerikanischen Menschenrechtserklärun-
gen darauf hin, dass es keine völlig säkulare Begründung der Menschen-
rechte gebe.18 Diese Diskussion spiegelt sich auch bei der noch nicht gelösten
Frage eines Gottesbezuges in einer europäischen Verfassung wieder.19
Anzumerken ist bei den mittelalterlichen Juristen und Theologen, dass sie
bei der Erörterung von natürlichen Rechten teilweise auf den Dekalog zu-
rückgreifen. So wurde das Gebot „Du sollst nicht stehlen“ für die Frage einer
Eigentumsgarantie und das Gebot „Du sollst nicht töten“ für das allgemeine
Lebensrecht herangezogen.20 Dies erfolgte aber, wie erörtert, nicht in der
Form, dass es sich hierbei um direkte Individualrechte handeln sollte. Diese
Gebote wurden vielmehr allgemein als Hinweise auf Gottes Willen betrach-
tet.
3.
Auch die Reformation stand unter dem schlechten Stern der Wahrheits-
frage. Sie wird oft als die Wegbereiterin der Glaubens- und Gewissensfreiheit
betrachtet, kann diesem Anspruch aber nur sehr bedingt genügen. Der durch
die Reformation letztlich erzwungene „Augsburger Religionsfrieden“ von
1555 war in Wahrheit kein religiöser, sondern ein rein politischer Frieden,
ein Waffenstillstand, der beide Seiten dazu verpflichtete, nicht mit Gewalt
gegen die jeweils andere Konfession vorzugehen. Mehr nicht. Die andere
Konfession wurde keineswegs als ein möglicher Weg zum Heil anerkannt.
„Keine Seite gab ihren Monopolanspruch auf Wahrheit preis – man verzichtete
18
F. W. Golka, Flecken, 151.
19
Zur Frage des Gottesbezuges in den verschiedenen Verfassungen der Neuzeit vgl. Kap. III, Ziff. 3.
20
A. Neschke-Hentschke, Tradition und Identität Europas, 24 u. 26.
142 Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung
4.
Die „entscheidende Wende“ im Naturrechtsdenken und damit in der Men-
schenrechtsentwicklung brachte das sogenannte klassische Naturrecht des
17. und 18. Jahrhunderts. Hier sind viele Namen zu nennen: Johann
Oldendorp, Johannes Althusius, Hugo Grotius, Thomas Hobbes, Samuel
Pufendorf, Christian Thomasius oder Christian Wolf. Der wichtigste Vertreter
aber ist John Locke (1632–1704). Er schweißte die schon vorher diskutierten
drei Grundrechte auf Leben, Freiheit und Eigentum zu der bis heute gültigen
Trias der klassischen Menschenrechte zusammen, als „angeborene Rechte der
21
A. Gotthard, Der Augsburger Religionsfrieden, 566.
22
Ebd., 566.
I. Die Entwicklung der Menschenrechtsidee 143
„Man being born with a title to perfect freedom and uncontrolled enjoyment of
all rights and privileges of the law of nature, equally with any other man, or
number of men in the world, hath by nature a power … to preserve his prop-
erty, that is, his life, liberty and estate, against the injuries and attempts of other
men“ (Second Treatise § 87; vgl. auch § 123).24
Der Begriff „property“ (proprium) ist dabei der Sammelbegriff für alle Rechte
und Möglichkeiten des Menschen, die ihm nicht genommen werden können.
Hiervon überträgt er dem Staat nur so viel, wie dieser zu seiner einzigen
Zweckerfüllung benötigt, nämlich die drei genannten Grundrechte seiner
Bürger zu schützen. Diese Grundrechte sind „Ausdruck individueller, ange-
borener, vorstaatlicher und unveräußerlicher Personenrechte mit universaler
Geltungskraft.“25 Der Staat wird damit zum Rechtsstaat.
Voraussetzung für diese Entwicklung war im Zeitraum der Renaissance,
des Humanismus und der Aufklärung eine zunehmende Enttheologisierung
bzw. Säkularisierung des Naturrechts. Das Naturrecht gründete jetzt „in der
menschlichen Vernunft und im Prinzip der sittlichen Autonomie“ des Men-
schen. „Die Vernunftnatur des Menschen wurde von der theologischen Ethik
abgekoppelt.“26 Gott wurde zwar nicht negiert – für Locke blieb er die Quelle
des Naturrechts –, aber er wurde nicht mehr für die dogmatische Begrün-
dung des Naturrechts benötigt. Er konnte sozusagen „in Klammern“ gesetzt
werden.27 Das Naturrecht galt gleichermaßen mit oder ohne Gott.
Die letzte Verselbständigung des Naturrechts und damit der Menschen-
rechte erfolgte durch Immanuel Kant, der den Menschen als freies autonomes
Subjekt definierte, das die Grundlage des Rechtsstaats bildet. Dieses auto-
nome Subjekt gibt sich selbst die Gesetze und befolgt sie in freier Selbstbe-
stimmung.28 Der freie, vernunftbegabte und verantwortungsbewusste
Mensch war nunmehr die letzte Begründung der Menschenrechte – und
nicht mehr Gott, wobei es jedem freigestellt blieb, wie John Locke doch noch
eine allerletzte Begründung des gedanklich an sich selbständigen Naturrechts
und der Menschenrechte bei Gott zu suchen.
23
G. Oestreich, Geschichte, 41.
24
Ebd., 41 (Hervorhebung vom Verf.).
25
L. Kühnhardt, Universalität, 32 (Hervorhebung vom Verf.).
26
Ebd., 57.
27
A. Neschke-Hentschke, Tradition, 30.
28
Ebd., 32.
144 Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung
5.
In der Folgezeit entwickelten sich zwei Gegenströmungen, die dem Natur-
recht und den klassischen Menschenrechten skeptisch gegenüberstanden. Es
handelt sich dabei zunächst um den Rechtspositivismus, der, verbunden mit
einer besonderen Hochachtung des Staates und seiner Einrichtungen, in
unterschiedlicher Radikalität das Naturrecht oder zumindest eine Berufung
auf ein solches Institut ablehnt. Diese Auffassung basiert auf einer erhebli-
chen Skepsis gegenüber einem ungeschriebenen, zu Relativität und Subjekti-
vität neigenden vorstaatlichen Recht, was jeder Jurist nachempfinden kann.
Gerechtigkeit gibt es nur um den Preis geschriebenen Rechts. Der Richter
benötigt präzise formulierte Rechtsvorschriften, unter die er die zu entschei-
denden Einzelfälle subsumieren kann. Ein ungeschriebenes oder nur in all-
gemeinen Erklärungen gefasstes Naturrecht lässt sich nicht in die Praxis
umsetzen.
Der Rechtspositivismus geht aber noch einen Schritt weiter. Einige Vertre-
ter dieser Richtung bezweifeln, ob es überhaupt vorstaatliche, angeborene
Rechte des Menschen geben könne. Von „Rechten“ könne man erst spre-
chen, wenn diese von der Rechtsordnung anerkannt werden. Grundrechte
der Bürger werden zwar nicht bestritten; die Sicherung von Leben, Freiheit
und Eigentum gehören selbstverständlich zu den Kernaufgaben des Staates.
Aber diese Grundrechte entstehen erst im Rahmen des Rechtslebens, in einer
„positiven“ Fortentwicklung des Rechts, wobei oft Hegel als Gewährsmann
zitiert wird. „Es gibt keine natürlichen, sondern nur bestimmte, vom Staat
festgesetzte Rechte.“29
29
G. Oestreich, Geschichte, 80.
I. Die Entwicklung der Menschenrechtsidee 145
Der Rechtspositivismus besticht durch seine klare Linie. Nur das geschrie-
bene Recht gilt. Das bringt Rechtssicherheit, ein wichtiges Ziel der Rechts-
pflege. Man kann und will sich dabei darauf verlassen, dass der Gesetzgeber
seiner Verantwortung gerecht wird und nur Gesetze erlässt, die den Ansprü-
chen umfassender Gerechtigkeit genügen. Dies ist aber auch zugleich die
Achillesferse des Rechtspositivismus. So geriet er insbesondere in der Zeit
nach 1945 erheblich in die Kritik. Er wurde verantwortlich gemacht für die
„Gesetzeshörigkeit“ vieler deutscher Juristen während der Zeit des National-
sozialismus. Die kritiklose Befolgung erlassener Gesetze, auch wenn sie of-
fensichtliches Unrecht enthielten, sei eine der Ursachen für das Unglück vor
1945 gewesen. Allgemein wurde der Ruf laut: „Zurück zum Naturrecht!“
In diese Diskussion gehört auch der schon zitierte Beitrag von R. Albertz
über die „Theologisierung des Rechts im alten Israel“.30 Diese überzeugenden
Ausführungen betreffen aber nur die Notwendigkeit einer Anbindung des
Rechts an übergeordnete Werte. Es geht hier jedoch nicht um die Frage, ob
das positive, also das geschriebene Recht an eine übergeordnete Idee gebun-
den sein soll, sondern darum, wie eine solche Bindung ausgestaltet und vor
allem kontrolliert werden kann. Die Anbindung des Rechts an eine vorgege-
bene Autorität, sei es Gott, die Vernunft, das autonome Subjekt oder ganz
allgemein die Gerechtigkeit, wird von kaum jemandem bestritten; proble-
matisch ist aber, wie diese Bindung funktional auszugestalten ist, um Gesetz-
gebung und die Rechtsprechung auf die Beachtung dieser Grundsätze zu
verpflichten. Und das ist letztlich eine Frage der Ausgestaltung einer demo-
kratischen, rechtsstaatlichen Verfassung mit einer präzisen Regelung des
Normenkontrollverfahrens durch ein Verfassungsgericht.
Das zweite Problem ist die Ausweitung, aber auch der Missbrauch der
Menschenrechtsidee für politische und ideologische Ziele. Es geht dabei zu-
nächst um die sozialen Umbrüche im Frühkapitalismus mit der Entstehung
des Proletariats und dem damit verbundenen Massenelend in den Industrie-
nationen. Der Kommunismus / Sozialismus sah als eine der Ursachen den
Missbrauch der bürgerlich-liberalen Grundrechte an, die die Anhäufung von
Vermögen und wirtschaftlicher Macht durch den Schutz des Eigentums und
die Verarmung der Arbeiter mit schlechten Arbeitsverträgen durch die Si-
cherung der Vertragsfreiheit ermöglichten. Die traditionellen Grundrechte
schützten einseitig die besitzende Klasse.
30
R. Albertz, Theologisierung.
146 Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung
31
G. Oestreich, Geschichte, 116.
32
Ebd., 105.
33
L. Kühnhardt, Universalität, 136.
34
Ebd., 134.
35
Ebd., 305.
36
Chr. Tomuschat, Einheit, 140.
37
G. Oestreich, Geschichte, 117; L. Kühnhardt, Universalität, 232.
I. Die Entwicklung der Menschenrechtsidee 147
man hier von eigentlichen Grundrechten sprechen kann. Die sozialen Rechte
haben einen hohen Stellenwert. „Aber die Frage bleibt bis zum heutigen Tage
offen, ob sie echte subjektive Rechte in gleicher Weise wie die traditionellen
Freiheitsrechte verkörpern können.“38
Eine weitere Ausweitung des Menschenrechtsbegriffs erfolgte durch die
Entwicklungsländer. Hier wurden Forderungen nach einem Menschenrecht
auf Frieden, auf Entwicklung, auf eine natürliche Umwelt oder nach natio-
naler Selbstbestimmung laut.39 Sie werden eine „dritte Generation“ von Men-
schenrechten genannt,40 bei denen es sich dann aber nicht um Rechte von
Menschen, sondern von Völkern und Staaten handelt. Ob derartige Forde-
rungen deshalb den Rang von Menschenrechten haben, ist m. E. sehr zwei-
felhaft. Es handelt sich hierbei nicht um eine rein theoretische Diskussion.
Wenn diese durchaus berechtigten Ansprüche als „Menschenrechte“ aner-
kannt würden, stünden sie als solche nicht nur unter dem Schutze jedes ein-
zelnen Staates, sondern auch der Völkergemeinschaft, repräsentiert durch die
UNO. Sie ließen sich dann, zumindest moralisch und politisch, mit Nach-
druck einfordern und können als Munition im Debatten-Kampf gegen die
reichen Industrienationen eingesetzt werden.
Fazit
Als Ergebnis lässt sich festhalten, dass die heutigen Menschenrechte das Pro-
dukt einer über zweitausendjährigen abendländischen Entwicklung sind.
Antike Philosophie, römisches Rechtsdenken, christliche Theologie und der
Rationalismus der Aufklärung schufen das, was heute als die wichtigste Kul-
turleistung des Abendlandes bezeichnet werden kann: Die Anerkennung von
menschlichen Rechten, die dem Zugriff der Macht entzogen sind. Menschen-
rechte sind individuelle, angeborene, vorstaatliche und unveräußerliche
Rechte, die nicht aberkannt oder in ihrem Wesensgehalt eingeschränkt wer-
den dürfen. Sie sind sogar unverzichtbar; sie können also auch nicht freiwillig
aufgegeben werden. Die Menschenrechte haften dem Menschen von Geburt,
von Natur aus an und haben universale Geltung.
38
Chr. Tomuschat, Einheit, 147.
39
L. Kühnhardt, Universalität, 248.
40
Ebd., 248.
148 Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung
Sie stehen damit auch über den Religionen und deren Geboten. Auch die
islamische Scharia korrigiert nicht die Menschenrechte, sondern diese kon-
trollieren umgekehrt die Scharia – eine Konsequenz, die für viele traditio-
nelle Muslime nicht nachvollziehbar ist, die aber für das Zusammenleben in
einer modernen, westlichen Demokratie unerlässlich bleibt. Deshalb ist auch
der durchaus wünschenswerte „Dialog der Religionen“ nicht das Haupt-
problem multikultureller Gesellschaften, sondern die allgemeine Anerken-
nung gemeinsamer Grundwerte, so wie diese in einer über allen Religionen
und allen Ideologien stehenden Verfassung niedergelegt sind.
In dieser Bedeutung haben die Menschenrechte Eingang gefunden in die
ersten schriftlichen Verfassungen in Nordamerika und Frankreich, um dann
auch in den weiteren europäischen Verfassungen bis heute fortgeführt zu
werden.
Bei der Diskussion um die Menschenrechte wird ein wichtiger Punkt oft
übersehen. Die heutigen Menschenrechte, so wie sie sich im abendländischen
Raum seit der Aufklärung entwickelt haben, sind Individualrechte, die jedem
Menschen von Geburt an zustehen und ihm nicht genommen werden kön-
nen. Er selbst ist Träger dieser Rechte und kann sie auch selbst einfordern.
Die Sicherung der materiellen Existenz und die Achtung der Menschen-
würde sollen also nicht davon abhängen, ob die anderen Mitglieder der Ge-
sellschaft diese Ansprüche aus religiöser oder moralischer Verpflichtung
heraus von sich aus erfüllen oder eben auch nicht, sondern davon, dass diese
elementaren Bedürfnisse als jedem Einzelnen unmittelbar zustehende Rechte
gesehen werden, die – in umgekehrter Blickrichtung – von diesem auch
selbst direkt von den Anderen eingeklagt werden können. Er ist also nicht
mehr nur Objekt einer moralischen oder religiösen Verpflichtung, sondern
unmittelbares Subjekt eigener Rechte. Ob die Einforderung dieser Rechte
dann in der Realität immer gelingt, ist eine andere Frage und hängt davon ab,
ob rechtsstaatliche, verfassungsgebundene Verhältnisse herrschen.
Wenn also im Rahmen dieser Diskussion unter Hinweis auf die Nächsten-
liebe im Neuen Testament, auf die Sozialgesetzgebung im Alten Testament
oder die Almosenpflicht im Koran oft vorgetragen wird, hiermit seien Men-
schenrechte angesprochen, so ist dies aus heutiger Sicht nicht richtig. Es
I. Die Entwicklung der Menschenrechtsidee 149
41
E. Otto, „Menschenrechte“, 120.
150 Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung
Exkurs 5: Amos
42
E. Zenger, Einleitung, 534.
43
F. W. Golka, Amos und Hosea, Vorlesung SS 05, 12.4.
44
J. Blenkinsopp, Geschichte der Prophetie, 81; E. Zenger, Einleitung, 539.
I. Die Entwicklung der Menschenrechtsidee 151
Bei den meisten Völkersprüchen haben wir es mit Vergehen zu tun, von
denen weder Israel noch seine Religion direkt betroffen sind. Täter und Op-
fer sind keine Israeliten. Hierbei handelt es sich zwar auch um einen rhetori-
schen Kunstgriff, um die folgenden Anklagen gegen Juda und Israel umso
dramatischer gestalten zu können; es zeigt aber auch, dass Amos von ver-
bindlichen Grundregeln ausgeht, die von allen Völkern, auch außerhalb Is-
raels, zu beachten sind. Es gibt Grenzen, die nirgends überschritten werden
dürfen. Leben, Freiheit und Eigentum sind überall und zu allen Zeiten ge-
schützt. Dies entspricht der Auffassung des Amos, dass JHWH nicht nur der
Herr Israels, sondern auch aller anderen Völker in Vergangenheit, Gegen-
wart und Zukunft ist und dass im Gericht totale Gleichheit zwischen Israel
und den Völkern herrscht.45 G. Fohrer formuliert diesen Gedanken wie folgt:
„Sogar für das Zusammenleben der Völker setzt er gottgewollte Regeln voraus,
deren Verletzung Jahwe ahndet, auch wenn Israel gar nicht betroffen ist, 2,1–3;
damit bahnt er den Weg in eine national entschränkte, universale Theologie.“46
Dieser zeitlose und universelle Charakter ist ein zentraler Punkt auch bei
der Diskussion um die Menschenrechte. Diese müssen überall und von je-
dermann beachtet werden, um wirksam sein zu können. Sie sind nicht an
unterschiedliche historische oder ethnische Gegebenheiten gebunden, son-
dern sind in ihrem Wesen unabänderlich, auch wenn bei ihrer Konkretisie-
rung Unterschiede auftreten können und müssen. Weiterhin muss es sich bei
Menschenrechten um die grundlegenden Ansprüche des Menschen handeln.
Nur schwerwiegende Verstöße kann man in die Menschenrechtsdebatte
einbeziehen.
Aber auch dies ist bei Amos der Fall. Es geht bei den Völkersprüchen u. a.
um Verschleppung und Sklaverei, kriegerische Überfälle, das Aufschlitzen
schwangerer Frauen und die Störung der Totenruhe. J. Magonet schreibt:
„Diese beiden letzten Anklagen erstaunen, stellen sie doch Angriffe auf die
Heiligkeit des Lebens selbst dar: die Vernichtung ungeborenen Lebens und die
Entweihung von Toten.“47 Ein würdiges Begräbnis und die Einhaltung der
Totenruhe waren in der Antike besonders wichtig. Dies wird z. B. im Trauer-
spiel „Antigone“ von Sophokles sehr eindringlich dargestellt. Das Wort
„Humanität“ leitet sich vom lateinischen „humare“ (= beerdigen) ab.
45
F. W. Golka, Amos und Hosea, Vorlesung SS 05, 12.4.
46
G. Fohrer, Einleitung, 481.
47
J. Magonet, Die subversive Kraft der Bibel, 99.
152 Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung
Die weiteren Anklagen des Amos gegen Juda, die allerdings erst später
eingefügt wurden48, und dann besonders gegen Israel / Samaria beinhalten
neben Verstößen gegen den Kultus ebenfalls schwerwiegende Verbrechen
der reichen Oberschicht durch hemmungslose Ausbeutung der Armen bis
hin zur Schuldsklaverei. Der Einsatz für die Armen und Geringen ist eines
der Hauptthemen bei Amos.49 Wir finden also bei ihm indirekt die spätere
Trias der Menschenrechte auf Leben, Freiheit und Eigentum.
Allerdings ist der Blickwinkel bei Amos ein anderer. „Menschenrechte“
werden nicht als solche formuliert. Es geht vielmehr um die Verpflichtung
der Menschen, Gottes Gebote zu achten. Die zu schützenden Personen sind
nicht Inhaber eigener Rechte, sondern Gegenstand der religiösen Pflichten
der Mitmenschen. Auf diesen Unterschied wurde bereits im vorigen Exkurs 6
hingewiesen. Trotzdem kann man aus den vorhergehenden Erwägungen bei
Amos durchaus von grundlegenden Normen sprechen, die bereits Men-
schenrechtscharakter tragen.
48
J. Blenkinsopp, Geschichte, 81.
49
H. W. Wolff, Amos’ geistige Heimat, 48.
50
Ebd., 1.
51
R. Rendtorff, Das Alte Testament, 235.
52
E. Zenger, Einleitung, 543.
53
J. Blenkinsopp, Geschichte der Prophetie.
I. Die Entwicklung der Menschenrechtsidee 153
54
J. Blenkinsopp, Geschichte der Prophetie, 86.
55
R. Bach, Gottesrecht, 23–34.
56
Ebd., 25.
57
Ebd., 29.
154 Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung
Der Grund hierfür ist einfach. Entgegen der Annahme von R. Bach gab es
das apodiktische Recht zur Zeit des Amos, also im 8. Jahrhundert, noch
nicht, zumindest nicht als eine fest gefügte ausformulierte Rechtsgattung.
Diese finden wir erst später im biblischen Endtext. Deshalb konnte Amos
auch noch nicht den Dekalog oder andere Bestimmungen des apodiktischen
Rechts zitieren. Ihm waren noch nicht einmal der Exodus, geschweige denn
der Sinai bekannt.58 Der Exodus wird erst im späteren Anhang (9,7) erwähnt.
Dem ursprünglichen Amos lagen die Exodus- und Sinaitraditionen offenbar
noch nicht vor. Wir können deshalb auch Amos als Beleg für die hier vertre-
tene These einer sehr späten Entstehung des apodiktischen Rechts heranzie-
hen.
Eine präzisere Untersuchung bietet demgegenüber H. W. Wolff in seinem
Buch „Amos’ geistige Heimat“. Er kann sehr ausführlich belegen, dass Amos
in der Tradition der altisraelitischen Sippenweisheit steht und hieraus seine
Ethik und Theologie bezieht. Es sind ausreichende sprachliche, grammati-
sche und thematische Übereinstimmungen mit der übrigen weisheitlichen
Literatur vorhanden, die diesen Schluss zulassen. Für H. W. Wolff ist Amos
deshalb auch nicht im Kult beheimatet. Vielmehr ist davon auszugehen, dass
„die urtümliche Verkündigung des altisraelitischen Gottesrechts in der Form
der Sippenweisheit mindestens bis in die Zeiten des Amos hinein wenigstens in
einigen noch mehr halbnomadisch lebenden Kreisen Israels und in deren land-
städtischen Siedlungszentren auf eine unverwechselbare Weise weiterlebte.“59
J. Blenkinsopp bringt für diese Problematik ein sehr schönes Beispiel.60 Im
Javneh-Jam-Ostrakon Nr. 1 bittet ein Landarbeiter den Ortskommandanten,
die Rückgabe seines gepfändeten Rockes zu veranlassen, für den er einen
Kredit nicht zurückzahlen konnte. Genau der gleiche Fall wird in Amos 2,8
angesprochen. Beide, Amos und der Landarbeiter, nehmen aber nicht Bezug
auf Ex 22,25f., obwohl dort der gleiche Sachverhalt geregelt wird. Alle drei
Zeugnisse stehen also nicht in Abhängigkeit voneinander, sondern gründen
auf dem allgemeinen Grundsatz, dass auch eine an sich legale Zwangsvoll-
streckung ihre Grenze bei einer Gefährdung der Existenz des Schuldners hat.
Diese Absicherung des Lebens und der Menschenwürde kann in verschiede-
nen Formen Ausdruck finden und zu verschiedenen Zeiten immer wieder
neu formuliert werden.
58
H. W. Wolff, Amos, 37.
59
Ebd., 60.
60
J. Blenkinsopp, Geschichte, 86.
I. Die Entwicklung der Menschenrechtsidee 155
1.
Die im vorigen Kapitel erörterten Menschenrechte bleiben wirkungslos,
wenn sie nur Gegenstand philosophischer oder theologischer Betrachtung
bleiben. Sie müssen aus dem Reich der Philosophie in die harte Welt des
Rechtslebens und der Rechtswirklichkeit geholt werden. Allgemeine Apelle
und auch die Überzeugung aller Betroffenen reichen nicht aus, um Men-
schenrechte durchzusetzen und sie dem Zugriff der Mächtigen zu entziehen.
Sie müssen vielmehr konkret normiert und für alle verbindlich gemacht wer-
den. Und dies kann, wie die historische Entwicklung gezeigt hat, nur im
Rahmen einer Verfassung geschehen. Man kann sogar zugespitzt formulie-
ren: „Ohne Verfassungsstaat gibt es im Grunde keine Menschenrechte – das ist
die fundamentale Erfahrung bis zum heutigen Tage geblieben.“ 1
Wenn die allgemeinen Menschenrechte in einer Verfassung verankert sind,
spricht man von Grundrechten. Die Begriffe Menschen- und Grundrechte
sind zwar inhaltlich im wesentlichen gleichbedeutend; von Grundrechten
spricht man aber erst, wenn es sich um Rechte handelt, die in einer konkre-
ten, schriftlichen Verfassung niedergelegt und garantiert sind.2 Dies kommt
im Grundgesetz, der heutigen deutschen Verfassung, in Art. 1 deutlich zum
Ausdruck:
„Art. 1 (Schutz der Menschenwürde) (1) Die Würde des Menschen ist unan-
tastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
(2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unver-
äußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft,
des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.
(3) Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt
und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.“3
Hier haben wir genau diese Reihenfolge: Die „unverletzlichen und unver-
äußerlichen Menschenrechte“ werden in den „nachfolgenden Grundrechten“
ausformuliert und werden dadurch „unmittelbar geltendes Recht“. Erst durch
1
L. Kühnhardt, Universalität, 65.
2
K. Hesse, Grundzüge, 125ff.
3
Grundgesetz, Beck-Texte im dtv, Nördlingen 2005, 15.
158 Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung
4
K. Hesse, Grundzüge, 9.
5
D. Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, 2.
6
U. Wesel, Geschichte des Rechts, 121, 162, 276 u. 291.
7
W. Frotscher / B. Pieroth, Verfassungsgeschichte, 9.
II. Die Entwicklung des Verfassungsgedankens 159
schaften, kennen wir erst seit dem 17. und 18. Jahrhundert, mit dem Beginn
der Neuzeit.8 Erst hier machen umfassende Regelungen der gesamten politi-
schen Ordnung Sinn. Vorher konnte man sich mit Einzelregelungen begnü-
gen. Und in dieser Zeit entstand auch das heutige „öffentliche Recht“, das
„ius publicum“. Die Lehre hiervon nannte man die Reichspublizistik.9 Man
konnte jetzt die rechtlichen Verhältnisse des Menschen aufteilen, einerseits
in seine Stellung als Privatmann, in sein privates Verhältnis zu seinen Mit-
menschen (Zivilrecht), und andererseits in seine Stellung als Bürger inner-
halb eines Staates, der seinerseits ebenfalls zusätzliches, eigenes Recht für die
Regelung seiner öffentlichen Belange benötigte (öffentliches Recht). Beides,
nämlich die Entstehung von Staaten und die Trennung von privatem und
öffentlichem Recht, bedingen einander und entstanden zur gleichen Zeit.
Der einzelne Bürger wurde im absolutistischen Staat zunehmend als indivi-
duelles Objekt der Herrschaft gesehen. Der mittelalterliche Ständestaat
wurde allmählich zurückgedrängt. Es sollten möglichst keine ständischen,
statusbedingten Sonderregelungen mehr gelten. Der absolutistische Staat war
damit nicht nur Adressat und Gegner der Menschenrechte und des Verlan-
gens nach verfassungsmäßiger Absicherung dieser Rechte, sondern auch
deren Wegbereiter. Erst die Schaffung eines allumfassenden Staates und die
zunehmende Abschaffung der Ständestruktur zugunsten einer gleichförmi-
gen Verwaltung des gesamten Staatsgebiets ermöglichte die Vorstellung von
einer für alle Bürger gleichermaßen geltenden Verfassung.
Das Mittelalter war demgegenüber geprägt vom Ständedenken. Der ein-
zelne Mensch wurde über seine Zugehörigkeit zu einem bestimmten Stand
oder einer Berufsgruppe (Zünfte) definiert. Die ersten Regelungen mit
„staatsrechtlichem“ Charakter waren deshalb auch nur Vereinbarungen zwi-
schen dem Herrscher und seinen Ständen oder Städten, zwischen Kaiser und
Territorialherren oder zwischen selbständigen Regenten einzelner Länder.
Sie alle hatten Vertragscharakter und sicherten einem bestimmten Stand
oder Territorium und dem Herrscher als Vertragsparteien bestimmte ver-
tragliche Rechte und Pflichten zu. So war die Magna Charta Libertatum von
1251 ein Vertrag zwischen dem englischen König und seinen Vasallen, den
Baronen. Er galt nur für diese und nicht für die Gesamtheit der Untertanen.10
Das Gleiche gilt dann auch für weitere Vereinbarungen, z. B. die Goldene
8
U. Wesel, Geschichte, 415.
9
Ebd., 363ff.; G. Oestreich, Geschichte, 13.
10
U. Wesel, Geschichte, 416.
160 Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung
Bulle von 1356, das „Grundgesetz des Reiches“, oder den Augsburger Reli-
gionsfrieden von 1555. Es waren sogenannte „Statusverträge“. Ihnen fehlte
der allumfassende individuelle und universelle Charakter der heutigen Men-
schenrechte und der modernen Verfassungen.
2.
So gesehen ist es korrekt, wenn man das eigentliche Verfassungswesen erst
mit den entsprechenden Bestrebungen in Nordamerika und Frankreich be-
ginnen lässt. Hier wurden die ersten echten Verfassungen geschrieben. Den
Beginn macht die Bill of Rights of Virginia von 1776 mit einem Katalog von
Grundrechten. „Die Bill of Rights von Virgina war die erste umfassende und
verfassungskräftige Positivierung von Grundrechten im modernen Sinn.“11
Hier erscheint die klassische Trias von Leben, Freiheit und Eigentum, die auf
den schon genannten John Locke zurückgeht. Auf diesen beziehen sich die
Väter der ersten Verfassungen und knüpfen damit unmittelbar an das klassi-
sche Naturrecht an.
Es folgen, noch im gleichen Jahr, die Unabhängigkeitserklärung und spä-
ter weitere Verfassungen der amerikanischen Kolonialstaaten. 1787 tritt die
Verfassung für die gesamte USA in Kraft und 1791 werden die zehn
„Amendments“ (Zusatzartikel) als „Federal Bill of Rights“ hinzugefügt.
Letzteres war erforderlich, weil die ursprüngliche Verfassung von 1787 noch
keinen Grundrechtskatalog enthielt. Dies sollte durch die Hinzufügung der
„Amendments“ nachgeholt werden. Die amerikanische Verfassung war
nunmehr vollständig, nämlich mit einem Grundrechtsteil und dem Staats-
organisationsrecht. Die 10 Amendments wurden nach und nach durch 17
weitere Zusatzartikel ergänzt, die ebenfalls verschiedene grundrechtliche
Fragen regeln.12
In Europa begann das Verfassungsleben etwas später, mit der französi-
schen Revolution von 1789, wobei die Vorgänge in Nordamerika schon
durch die persönlichen Verbindungen über La Fayette, Thomas Jefferson und
Thomas Paine direktes Vorbild waren.13 Unmittelbar nach dem Sturm auf die
Bastille vom 14. Juli 1789 beschloß die verfassungsgebende Versammlung am
26. August 1789 die „Déclaration des droits de l’homme et du citoyen“, die
„Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte“.
11
W. Frotscher / B. Pieroth, Verfassungsgeschichte, 12.
12
Ebd., 19.
13
Ebd., 31.
II. Die Entwicklung des Verfassungsgedankens 161
Diese Erklärung, die direkt in die Verfassung vom 3. September 1791 auf-
genommen wurde, ist eines der bedeutendsten Dokumente der Neuzeit. Sie
ist das „Credo eines neuen Zeitalters“14 und in ihrer Wirksamkeit nur mit
ihrem religiösen Pendant, der Exodustradition und dem Dekalog, zu verglei-
chen. Es geht um Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit (Liberté, Egalité, Frater-
nité) und damit um die Verwirklichung allgemeiner Menschenrechte. Die
Déclaration ist bis heute in Frankreich geltendes Recht.15
Der von dieser französischen Erklärung ausgehende revolutionäre
Schwung erfasste ganz Europa und war Grundlage und Antrieb für Freiheits-
bestrebungen in allen anderen Ländern. Demokratie, Verfassung, Menschen-
rechte wurden zu allseits gehörten Schlagworten und führten zu weiteren
Verfassungsbestrebungen in den übrigen europäischen Territorien. Wichtige
Stationen in Deutschland waren dabei erste Verfassungen in Bayern, Baden
und Württemberg, die allerdings noch stark monarchistisch geprägt waren
und erhebliche Einschränkungen der Grundrechte enthielten.16 Die Frank-
furter Nationalversammlung in der Paulskirche erarbeitete dann aber 1848
einen Grundrechtskatalog, der in den Verfassungsentwurf vom 28. März
1849 aufgenommen wurde, auch wenn diese Verfassung nie in Kraft getreten
ist.17 Der Katalog von 1848 war aber Ausgangspunkt für die späteren deut-
schen Verfassungen, die in den einzelnen Ländern nach und nach erlassen
wurden. Er war ein Meilenstein auf dem Weg zu einer freiheitlichen demo-
kratischen Verfassungsordnung. „Deutschland hatte in der 48er Revolution
die Leistung Frankreichs von 1789 nachgeholt und die Grundsätze seines
neuen Rechtsverständnisses niedergelegt.“18
Es folgten die von Bismarck entworfene Verfassung des Norddeutschen
Bundes von 1867 und die Verfassung des Deutschen Reiches von 1871.
Beide Verfassungen enthalten jedoch keinen Grundrechtskatalog. Sie verwei-
sen vielmehr auf die jeweiligen Grundrechtsbestimmungen der einzelnen
Länder. Bismarck wollte damit weitere Schwierigkeiten bei der Eingliederung
der einzelnen deutschen Territorien vermeiden. Die Weimarer Reichsver-
fassung von 1919 enthielt dann aber wieder eine Auflistung der „Grund-
rechte und Grundpflichten der Deutschen.“ Diese Rechte hatten jedoch über-
14
W. Frotscher / B. Pieroth, Verfassungsgeschichte, 34.
15
Ebd., 34.
16
Ebd., 28.
17
G. Oestreich, Geschichte, 93.
18
Ebd., 98.
162 Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung
19
W. Frotscher / B. Pieroth, Verfassungsgeschichte, 280.
20
Ebd., 277.
II. Die Entwicklung des Verfassungsgedankens 163
„In Wirklichkeit vermag wohl allein die rechtsstaatliche Demokratie das natur-
wüchsige ‚Recht des Stärkeren‘ mit seinem rücksichtslosen Geltungsdrang und
seiner steten Tendenz zu diktatorischer Machtwillkür aufzufangen: durch Ge-
waltenteilung, Schutz der Minderheiten und wechselseitige Machtkontrolle. Sie
schafft dadurch erst den Raum für Freiheit und kann daher trotz vieler
menschlicher Mängel mit Fug als der höchste Ausdruck der politischen Kultur
gelten.“21
3.
Die vorangegangenen Ausführungen zur Geschichte der Menschenrechte
und der Verfassungsidee lassen bereits erkennen, dass es schwierig ist, eine
allgemeine, für alle Zeiten zutreffende Definition des Verfassungsbegriffs zu
geben. Dafür ist der Sachverhalt zu komplex. „… die heutige Verfassungs-
rechtslehre hat Begriff und Eigenart der Verfassung, auch wenn sich weitge-
hende Übereinstimmungen finden, nicht bis zu dem Konsens einer ‚herrschen-
den Meinung‘ geklärt.“22 Dies hängt mit dem Wandel der Begriffe „Verfas-
sung“ und „Staat“ zusammen, die unmittelbar verknüpft sind, und auch mit
den unterschiedlichen Auffassungen über die Prioritäten bestimmter Aufga-
ben und Funktionen von Staat und Verfassung.
Es gibt zunächst den schon erwähnten Unterschied zwischen einer Verfas-
sung im materiellen und einer solchen im formellen Sinne.23 Der Inhalt
beider Formen ist weitgehend gleich. Es können aber unterschiedliche Berei-
che abgedeckt werden. So meint der formelle Begriff direkt die geschriebene
Verfassungsurkunde, der ein höherer Rang und eine höhere Bestandsgarantie
zukommt als einem einfachen Gesetz24 („Parlamentsgesetz“). Diese Verfas-
sung kann nicht oder nur in einem speziellen Verfahren (qualifizierte Mehr-
heiten oder Volksentscheid) abgeändert werden. Eine derartige Urkunde
muss nicht eine vollständige Auflistung aller verfassungs- oder staatsrecht-
lich relevanten Regelungen enthalten. Diese können ergänzend noch in vie-
len anderen Institutionen vorhanden sein, wie im Gewohnheitsrecht, in der
Rechtsprechung des Verfassungsgerichts oder in einfachen Gesetzen, soweit
diese grundlegende Regelungen der politischen und staatlichen Ordnung
enthalten.
Fasst man alle diese Regelungen zusammen, sprechen wir von einer Verfas-
sung im materiellen Sinne. Es ist sogar denkbar, dass, wie in Großbritannien,
21
K. D. Bracher, Geschichte und Gewalt, 1981, 27.
22
K. Hesse, Grundzüge, 3.
23
R. Zippelius / Th. Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 41.
24
Ebd., 41.
164 Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung
25
R. Zippelius / Th. Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 41.
26
W. Frotscher / B. Pieroth, Verfassungsgeschichte, 12.
27
R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 42.
II. Die Entwicklung des Verfassungsgedankens 165
der Stände und Städte oder einzelner Territorien befassen. Wir haben es
dann, auch ohne Verfassungsurkunde, mit einer Verfassung im materiellen
Sinne zu tun. Diese hat immer eine bestimmte, historisch bedingte Struktur
und muss für jedes Territorium gesondert untersucht werden. Die Verfas-
sungsfrage ist damit nicht auf die Zeit nach der Aufklärung beschränkt, son-
dern kann und muss für alle Gesellschaften zu allen Zeiten gestellt und be-
antwortet werden. Und das gilt auch für Israel in biblischer Zeit.
Unter einer Verfassung versteht man ganz allgemein die „rechtliche Grund-
ordnung eines Gemeinwesens“ oder den „Strukturplan für die Rechtsgestalt
eines Gemeinwesens“.28 Verfassung kann man auch als die „Gesamtheit der
grundlegenden rechtlichen Regeln, nach denen Menschen als staatliche Ge-
meinschaft zusammenleben“29 definieren. Insgesamt fehlt es aber „an einem
feststehenden oder überwiegend anerkannten Verfassungsbegriff.“30 So wer-
den die hier zitierten allgemeinen und sehr unbestimmten Formulierungen
in Literatur und Rechtsprechung immer mit einer Beschreibung einzelner
Funktionen und Inhalte einer Verfassung ausgefüllt. Nach K. Hesse hat dem-
entsprechend auch das deutsche Bundesverfassungsgericht kein formelles,
sondern ein mehr inhaltliches Verfassungsverständnis. Die Verfassung wird
als materielle Einheit aufgefasst. Die Inhalte werden „als grundlegende, der
positiven Rechtsordnung vorausliegende Werte bezeichnet, die sich unter
Aufnahme der Traditionen der liberal-repräsentativen parlamentarischen
Demokratie, des liberalen Rechtsstaates und des Bundesstaates sowie unter
Hinzufügung neuer Prinzipien, namentlich des Sozialstaates, in den Ent-
scheidungen des Verfassungsgebers zu einer ‚Wertordnung‘ verbunden ha-
ben und ein Staatswesen konstituieren, das weltanschaulich neutral, aber
nicht wertneutral ist.“31
Allen Definitionen gemeinsam ist der Hinweis, dass es sich bei einer Ver-
fassung, im materiellen wie im formellen Sinne, um eine Regelung der recht-
lichen Grundordnung handelt. Diese muss in ihren Grundzügen festgelegt
sein, um langfristig ein Zusammenleben der Menschen und ein Funktionie-
ren des Staates, des Gemeinwesens, zu garantieren. Deshalb müssen diese
Normen sich auf das Wesentliche beschränken, um einer Interpretation und
28
K. Hesse, Grundzüge, 10.
29
R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 41.
30
K. Hesse, Grundzüge, 4.
31
Ebd., 4.
166 Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung
32
K. Hesse, Grundzüge, 11.
33
R. Zippelius / Th. Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 42.
II. Die Entwicklung des Verfassungsgedankens 167
abgeändert werden zu dürfen. Die Verfassung entzieht sich damit dem Zu-
griff der sozialen Gewalten und der verschiedenen Interessengruppen einer
Gesellschaft. Sie entzieht sich letztlich sogar einem demokratischen Mehr-
heitswillen. Sie ist nur durch ein besonderes Verfahren und nur in bestimm-
ten Teilen demokratisch abänderbar. Im Übrigen steht sie unantastbar über
der gesamten Rechtsordnung.
34
K. Hesse, Grundzüge, 5.
35
Ebd., 8.
168 Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung
36
K. Hesse, Grundzüge, 9.
37
Chr. Tomuschat, Die Einheit von liberalen Freiheitsrechten und sozialen Rechten, 141.
38
R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 261; K. Hesse, Grundzüge, 156.
II. Die Entwicklung des Verfassungsgedankens 169
der Bürger gegen einen übermächtigen Staat geschützt werden. Wir sprechen
hier von der „Staatsgerichtetheit“ der Grundrechte.
Diese Situation haben wir aber beim Verhältnis der Bürger untereinander
nicht. Hier stehen sich zwei im Grundsatz gleichberechtigte und juristisch
gleich starke Individuen gegenüber, deren Beziehung der freien Gestaltung
überlassen ist. Es gibt Vertragsfreiheit und niemand wird gezwungen, einen
für ihn nachteiligen Vertrag abzuschließen. Tut er es trotzdem, kann er hin-
terher nicht die Verletzung des Gleichheitssatzes geltend machen. Es war sein
eigener, freier Entschluss. Wenn ein Zeitungsredakteur sich in seinem Ar-
beitsvertrag verpflichtet, die politische oder weltanschauliche Linie seines
Verlages zu unterstützen, kann er sich nachträglich nicht mehr auf Art. 5 GG
berufen, obwohl er in seinem Recht auf freie Meinungsäußerung beeinträch-
tigt ist. Diese Einschränkung hat er sich selbst auferlegt. Sie ist ihm nicht
aufgezwungen worden.
Diese dogmatisch an sich richtigen Überlegungen gehen aber an der Wirk-
lichkeit vorbei. Es gibt in jeder Gesellschaft neben dem Staat viele nichtstaat-
liche „soziale Gewalten“39, Verbände, Presse, Wirtschaftsimperien, Konzerne,
Handelsketten, Gewerkschaften, Kirchen, Parteien, Interessenvertretungen
jeder Art, die eine faktische Machtposition erlangt haben und diese miss-
brauchen können. Auch ein einzelner Privatmann kann einem anderen
überlegen sein. Hier taucht die Frage auf, ob die verfassungsmäßigen Grund-
rechte nicht doch direkte Wirkung zeigen sollten.
Dieses Problem wird in Rechtsprechung und Lehre kontrovers diskutiert.
Kann die grundsätzliche Vertragsfreiheit der Bürger durch die Grundrechte
eingeschränkt werden? Wann dürfen Gerichte privatrechtliche Verträge oder
faktisches Verhalten Privater unter Berufung auf die Grundrechte für un-
wirksam erklären? Ein erster Ansatzpunkt für diese Überlegungen sind die
im Privatrecht geltenden Generalklauseln, z. B. § 138 BGB („gute Sitten“)
oder § 242 BGB („Treu und Glauben“). Hier kann man Grundrechtsüberle-
gungen einfließen lassen. Weiterhin hat die Rechtsprechung schon sehr früh
unter Berufung auf die Menschenwürde des Art. 1 GG ein allgemeines Per-
sönlichkeitsrecht entwickelt, das die Beachtung der menschlichen Würde in
Privatverträgen verlangt. Diese Entwicklung der Rechtsprechung ist noch
nicht abgeschlossen. Die Geltung von Grundrechten im privaten Verhältnis
und nicht nur gegenüber dem Staat wird aber zunehmend ausgedehnt.
39
R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 261.
170 Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung
1
Vgl. Kap. III, Ziff. 5.
2
Vgl. die Ausführungen von H. Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 219.
172 Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung
der Menschen zu schaffen. Der Dekalog ist so gesehen eine Verfassung von
vielen, wobei er zwar die erste, aber nicht die einzige ist. Im Folgenden soll
versucht werden, den Dekalog an den verschiedenen Kriterien einer Verfas-
sung zu messen und zu beurteilen.
1. Entstehungszeiten
Verfassungen sind nie der Beginn, sondern immer der krönende Abschluss
einer meist langen und kontrovers verlaufenen Rechtsentwicklung. Es gibt,
historisch gesehen, keine Verfassung, die zeitlich am Anfang einer Rechts-
ordnung steht. Mit ihr beginnt zwar immer eine neue Ära, sie fußt aber auf
der zurückliegenden Ordnung, die von ihr abgelöst oder abgeändert wird.
Die heutigen Verfassungen sind das Ergebnis eines langen Kampfes und
eines zähen Ringens um die Menschenrechte und die beste Ordnung im
Staat. Auf dem Weg dahin mussten viele Hindernisse überwunden und viele
Rückschläge hingenommen werden. Schließlich setzte sich dann aber doch
die von Vernunft und Mehrheitswillen getragene demokratische Verfassung
durch. Verfassungsgebungen erfolgten deshalb zumeist in Zeiten revolutio-
nären Umschwungs, so wie in Frankreich, in Nordamerika oder in der
Paulskirche. Es stand immer ein sozialer Druck dahinter, der zur Schaffung
von Verfassungen führte. Diese mussten stets den Mächtigen abgetrotzt wer-
den und waren deshalb immer ein Instrument der Herrschaftsbegrenzung,
aber auch einer Herrschaftsbegründung für eine demokratische Gesellschaft.
Schon hieraus kann man ersehen, dass Verfassungen immer eine Vorge-
schichte haben, die sie dann selbst zum Abschluss bringen.
Eine scheinbare Ausnahme ist der Koran, der „Heilige QUR-AN“. Dieser
steht am Beginn der islamischen Bewegung und begründet diese. Trotzdem
ist er nicht der Anfang einer Rechtsentwicklung, sondern deren Abschluss.
Der Koran versteht sich selbst als Vollendung der schon mit Abraham be-
gonnenen Geschichte Gottes mit den Menschen. Es ist der gleiche Gott, der
zu Abraham, Mose, Jesus und zu den anderen Propheten gesprochen hat.
Mohammed ist dann der letzte Prophet, das „Siegel der Propheten“. „Der
Quran erhebt den Anspruch, Zusammenfassung aller religiösen Lehren aller
Zeiten zu sein und damit Vervollkommnung und Abschluß des göttlichen Ge-
setzes“.3
3
Hazrat Mirza Tahir Ahmad, Koran, Der Heilige QUR-AN, Vorwort.
III. Verfassungscharakter des apodiktischen Rechts 173
4
Kairoer Erklärung von 1990, Art. 24: „Alle in dieser Erklärung aufgestellten Rechte und Freiheiten
unterliegen der islamischen Scharia“.
5
L. Kühnhardt, Universalität, 139.
174 Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung
Der Dekalog aus Ex 20 und aus Dtn 5 stammt demgegenüber nach Fr.
Crüsemann erst aus „spät vorexilischer Zeit“6 oder nach W. H. Schmidt aus
noch späterer Redaktionsarbeit: „Seine vorliegende Gestalt reicht wegen der
jüngeren (dtr) Sprachanteile kaum in vorexilische Zeit zurück“.7 Dabei wird
immer versucht, den Dekalog und seine Vorformen literarisch oder redak-
tionsgeschichtlich in frühere Zeiten zurückzuverfolgen. In der „älteren For-
schung“ hoffte man dabei einen „Urdekalog“ ermitteln zu können, der später
ausgeformt wurde.8 Diese Hoffnung, mit der man versuchte, doch noch
irgendwie an den Sinai zu kommen, hat man inzwischen aber aufgegeben.
Man geht heute allgemein davon aus, dass die Dekaloge aus einzelnen Reihen
zusammengesetzt wurden, die man bis in die Zeit der Schriftpropheten Ho-
sea und Micha nachzuweisen versucht.9 Damit kommt man aber auch nur
zurück bis in das 8. Jahrhundert.
In diesen Zusammenhang passt auch die Beobachtung, dass im Rahmen
der Pentateuchentwicklung die Sinai-Tradition ein Thema ist, das erst spät
zu den anderen Themen hinzugekommen ist. Schon M. Noth10 hat darauf
hingewiesen, daß die Themen „Herausführung aus Ägypten“, „Führung in der
Wüste“, „Hineinführung in das palästinische Kulturland“ und „Verheißung an
die Erzväter“, literarisch gesehen, die älteren Themen sind, mit denen das
Thema „Offenbarung am Sinai“ erst später verbunden wurde. Historisch
gesehen könnte es zwar „als ein Stück ältester uns noch erhaltener Überliefe-
rung im Alten Testament“ betrachtet werden, innerhalb der Pentateuchent-
stehung sei es aber literarisch ein jüngeres Thema11, das in die schon vorhan-
denen Hauptthemen eingebaut werden musste.
Auf die Frage, ob und welche älteren Vorformen existieren, kommt es aber
aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht an. Alle Verfassungen haben „Vorfor-
men“ bzw. bestehen aus Einzelmaterialien, die oft eine jahrhundertelange
Geschichte hinter sich haben. Das deutsche Grundgesetz hat z. B. die Be-
griffe der Menschenwürde, der Freiheit, der Gleichheit oder des Eigentums-
schutzes auch nicht „erfunden“. Diese Begriffe lagen schon lange vor und
sind nur neu gestaltet und zusammengesetzt worden. Und dies ist der ent-
scheidende Akt, nicht die rechtsgeschichtliche Zurückverfolgung einzelner
6
Fr. Crüsemann, Bewahrung, vgl. 1. Teil, Kap. IV, Ziff. 1.
7
W. H. Schmidt, Zehn Gebote, 26.
8
Ebd., 27.
9
Ebd., 30.
10
M. Noth, Überlieferungsgeschichte, 46.
11
Ebd., 65.
III. Verfassungscharakter des apodiktischen Rechts 175
12
Fr. Crüsemann, Bewahrung; vgl. 1. Teil, Kap. IV, Ziff. 1.
13
Anm: Auch das von E. Gerstenberger vorgeschlagene „Sippenethos“ ist in letzter Konsequenz
Naturrecht, weil es ohne religiöse Anbindung auskommt; vgl. 1. Teil, Kap. III. 4.
176 Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung
setzt ein abstraktes Rechtsverständnis voraus, das sich erst in einer fortge-
schrittenen Rechtskultur entfalten kann.
Deshalb ist es nachvollziehbar, wenn wir in frühen „segmentären, akepha-
len Gesellschaften“ rechtshistorisch kein apodiktisches Recht vorfinden. Im
Palästina des 12. und 11. Jahrhunderts fehlt es historisch außerdem an selb-
ständigen Trägerkreisen. Israel ist bevölkerungspolitisch direkt aus Kanaan
entstanden. Und sprachlich haben wir das Problem, dass in den ersten drei
oder vier Jahrhunderten israelitischer Geschichte noch kein Hebräisch, son-
dern Phönikisch oder andere kanaanäische Dialekte gesprochen wurden.
Auch die altisraelitische Schrift ist erst ab dem 8. Jahrhundert nachweisbar,
ganz abgesehen davon, dass in früher Zeit mit einer Vielzahl von Text-
varianten und Textfamilien zu rechnen ist, die gleichberechtigt nebeneinan-
der bestanden.
Wir müssen also auch bei Vorformen des Dekalogs oder des übrigen apo-
diktischen Rechts davon ausgehen, daß es sich um späte Erscheinungsformen
des Rechts handelt. Insgesamt ist daher hinsichtlich der Entstehungszeiten
eine deutliche Parallele zwischen dem Dekalog und den heutigen Verfassun-
gen festzustellen.
2. Legitimation
14
R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 50.
III. Verfassungscharakter des apodiktischen Rechts 177
walt. Die auf diese Weise erlassenen Verfassungen waren „legal“, nämlich
faktisch geltendes Verfassungsrecht, unabhängig von der Zustimmung des
Volkes.
Sogar bezüglich des deutschen Grundgesetzes vom 23.5.1949 wurde ein
solcher „Legitimationsmangel“ diskutiert.15 Dies beruhte darauf, dass die
Verfassungsgebung unter der „Ägide“ der Besatzungsmächte stand und nicht
durch eine Volksabstimmung oder Nationalversammlung erfolgte. Außer-
dem war das Grundgesetz ursprünglich nur für ein Provisorium, nämlich die
westlichen Zonen, gedacht. Es wurde im Verfassungskonvent in Herrenchiem-
see zunächst im Entwurf erarbeitet und dann dem Parlamentarischen Rat in
Bonn zur weiteren Beratung vorgelegt. Nach verschiedenen Änderungen, die
z. T. auf Vorbehalten und Änderungswünschen der Alliierten beruhten,
wurde dann am 8.5.1949 das künftige „Grundgesetz für die Bundesrepublik
Deutschland“ beschlossen. Nach Genehmigung durch die Militärgouver-
neure stimmten die Länderparlamente, mit Ausnahme Bayerns, zu. Am
23.5.1949 wurde das Grundgesetz dann offiziell verkündet.16
Die Mitglieder des Verfassungskonvents und des Parlamentarischen Rates
waren direkt von den bereits bestehenden Länderparlamenten gewählt wor-
den. Dies war demnach keine unmittelbare Wahl durch das Volk. Außerdem
bestand nach wie vor Besatzungsrecht. Dieses wurde durch das von den Mi-
litärgouverneuren erlassene „Besatzungsstatut“ fortgeführt. Hierin wurden
zwar die Autonomie der Bundesrepublik anerkannt, aber auch erhebliche
Rechtsvorbehalte gemacht. Es wurde sogar der generelle Vorbehalt aufge-
nommen, aus Gründen der Sicherheit direkt kraft Besatzungsrechts eingrei-
fen zu können.17 Von voller Souveränität konnte also nicht die Rede sein.
Die Frage der Legitimation hat sich aber inzwischen „durch Zeitablauf“
erledigt. Die Geltung des Grundgesetzes wird von niemandem mehr bezwei-
felt, ganz abgesehen davon, dass sich dieses Gesetz als eine der bestmöglichen
Verfassungen herausgestellt hat. Es basiert unmittelbar auf den Erfahrungen
von 1945 und hat zudem die lange deutsche Verfassungsgeschichte hinter
sich, über die die nötige Praktikabilität verfassungsrechtlicher Normen ein-
gebracht werden konnte.
Für die Rechtsvorschriften des Alten Testaments, insbesondere die Nor-
men des apodiktischen Rechts, stellt sich die gleiche Frage. Wer hatte die
15
R. Zippelius / Th. Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 51.
16
D. Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, 341.
17
Ebd., 343.
178 Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung
18
R. Albertz, Theologisierung, 137.
III. Verfassungscharakter des apodiktischen Rechts 179
3. Gottesbezug
Der sogenannte Gottesbezug war und ist bis heute bei allen Verfassungen ein
„heißes Eisen“. Darf in einer Verfassung, die für alle Bürger gleichermaßen
gelten soll, Bezug auf Gott oder eine Religion genommen werden, wenn Bür-
ger mit verschiedenem Glauben und unterschiedlicher Konfession in der
jeweiligen Gesellschaft zusammenleben? Muss nicht gerade in einer Verfas-
sungsordnung, die als wichtigsten Bestandteil die in der Aufklärung mühsam
errungenen säkularisierten Grundrechte enthält, auf eine derartige Festle-
gung verzichtet werden? Die gleichberechtigte pluralistische Gesellschaft ist
heute ein wichtiges Kennzeichen jeder Demokratie. Andererseits beruht jede
staatliche Ordnung und damit insbesondere auch die jeweilige Verfassung
auf einer historisch gewachsenen Werteordnung und einem bestimmten
Menschenbild. Dieses ist in Europa primär christlich geprägt. Warum also
keinen Gottesbezug?
K.-Th. Frhr. zu Guttenberg22 hat in seiner Arbeit über europäische und
amerikanische Verfassungen in einem eigenen Kapitel über den Gottesbezug
19
R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 51.
20
R. Zippelius / Th. Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 52.
21
Ebd., 52.
22
K.-Th. Frhr. zu Guttenberg, Verfassung und Verfassungsvertrag, 373.
180 Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung
„Im Namen der Allerheiligsten Dreifaltigkeiten, von der alle Autorität kommt
und auf die, als unserem letzten Ziel, alle Handlungen sowohl der Menschen
wie der Staaten ausgerichtet sein müssen, anerkennen Wir, das Volk von Irland
in Demut alle unsere Verpflichtungen gegenüber unserem göttlichen Herrn, Je-
sus Christus, der unseren Vätern durch Jahrhunderte der Heimsuchung hin-
durch beigestanden hat …“23
Ähnlich lang ist der Bezug in der griechischen Verfassung. Der Hinweis des
deutschen Grundgesetzes ist demgegenüber eher bescheiden. Hier heißt es
nur:
„Präambel
Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem
Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem
Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfas-
sungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben.“24
23
K.-Th. Frhr. zu Guttenberg, Verfassung und Verfassungsvertrag, 385.
24
Grundgesetz, Beck-Texte im dtv, 2005, 15 (Hervorhebung vom Verf.).
25
Ebd., VII, Einf. v. U. Di Fabio.
26
Ebd., VII.
III. Verfassungscharakter des apodiktischen Rechts 181
gen Menschenrechte.27 Man kann also nicht nachträglich, auch nicht nach
1945, die christlichen Grundlagen der Naturrechtsdebatte wieder in den
Vordergrund rücken und von einer „Hybris der Selbstvergötterung menschli-
cher Vernunft“ sprechen, mit der nach U. Di Fabio offenbar zu rechnen ist,
wenn man den – christlichen – Gottesbezug vergisst. Mit einer solchen Ein-
stellung kann man die Akzeptanz einer Verfassung durch alle Bürger nicht
fördern. „Mit welchem Recht werden Früchte, die auf dem Baum der Vernunft
gewachsen sind, mit einemmal vom Baum der Offenbarung gepflückt?“28 Eine
sehr zutreffende Bemerkung!
Richtiger dürften deshalb die Ausführungen im Lehrbuch zum Deutschen
Staatsrecht von R. Zippelius / Th. Würtenberger sein, wo ausgeführt wird,
dass sich das Grundgesetz „weder zu einem christlichen Staat noch zu einer
prochristlichen Programmatik“ bekennt; „die weltanschauliche und religiöse
Neutralität des Grundgesetzes gilt auch für seine Präambel“.29 Der Gottesbe-
zug sei vielmehr der allgemeine Ausdruck, „daß die Verfassung wie alles
Recht vor dem Forum einer transzendenten Institution unvollkommenes Men-
schenwerk ist.“30 Gott wird hier also auf eine „transzendente Institution“ redu-
ziert. Dies lässt aber für alle Bürger aller Konfessionen und Weltanschau-
ungen Raum, sich mit dieser Verfassung zu identifizieren, was primäre Auf-
gabe einer verfassungsmäßigen Ordnung ist.
Außer bei den bis hierher erörterten nationalen Verfassungen war der Got-
tesbezug bei der Schaffung einer europäischen Verfassung besonders bri-
sant. Unter dem Motto „Ehre sei Gott … in der EU!“31 wurde heftig um Got-
tes Präsenz in einer für ganz Europa geltenden Verfassung gestritten.32 Von
27 Plenartagungen im verfassungsplanenden Konvent von 2003 wurden drei
ganze Tage für die Diskussion um Werte und Ziele der Europäischen Union
benötigt.
Auch in Deutschland wurde diese Diskussion sehr kontrovers geführt.
Insbesondere die Kirchen gaben Stellungnahmen ab, so z. B. 2004 der Rats-
vorsitzende der Evangelischen Kirche Wolfgang Huber zusammen mit dem
Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz Karl Kardinal Lehmann, die
27
G. Oestreich, Geschichte, 35.
28
H. Welzel, Naturrecht, 231.
29
R. Zippelius / Th. Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 2008, 79.
30
Ebd., 79.
31
K.-Th. Frhr. zu Guttenberg, Verfassung, 375, Fußnote 10.
32
Ebd. 377.
182 Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung
„In dem Bewußtsein ihres geistig-religiösen und sittlichen Erbes gründet sich
die Union auf die unteilbaren und universellen Werte der Würde des Men-
schen, der Freiheit, der Gleichheit und Solidarität.“
Dabei ist diese offizielle deutsche Fassung eine bewusste Erweiterung des
beschlossenen Textes. Im Französischen heißt es nämlich nur „patrimoine
spirituel et moral“ und im Englischen „spiritual and moral heritage“.34 In der
deutschen Version ist der Begriff „spirituel“ bzw. „spiritual“ eigenmächtig
mit „geistig-religiös“ wiedergegeben worden. Auch an dieser Episode kann
man den heftigen Kampf um einen angemessenen Gottesbezug erkennen.
Dieser Verfassungsentwurf konnte sich aber in den nationalen Ratifizie-
rungsverfahren nicht durchsetzen. Frankreich und die Niederlande waren
dagegen. Er wurde schließlich ersetzt durch den Vertrag von Lissabon vom
1.12.2009, in dem ebenfalls kein direkter Gottesbezug enthalten ist. Es heißt
hier in der Präambel lediglich: „… schöpfend aus dem kulturellen, religiösen
und humanistischen Erbe Europas …“ 35
Zusammenfassend kann man feststellen, dass die Frage nach einem Gottes-
bezug unterschiedlich beantwortet wird. Beide Varianten sind möglich.
Wichtig dürfte aber immer sein, dass auch bei einem Gottesbezug und einem
Verweis auf die christliche Religion oder Tradition die Neutralität der Ver-
fassung gewahrt bleibt, so wie dies beim Deutschen Grundgesetz der Fall ist.
Hier wird Gott nur in der Präambel erwähnt; ansonsten ist es eine Verfas-
sung, die ganz in der abendländischen aufgeklärten Tradition steht. Aber
auch bei Verfassungen, die einen stärkeren Gottesbezug aufweisen und die
die Trennung von Staat und Religion nicht immer konsequent durchhalten,
spricht man von gültigen Verfassungen im staatsrechtlichen Sinne. Ein feh-
lender oder ein vorhandener Gottesbezug haben also keinen Einfluss auf den
Verfassungscharakter.
33
H. Görlich, W. Huber, K. Lehmann, Verfassung ohne Gottesbezug?
34
K.-Th. Frhr. zu Guttenberg, Verfassung, 376.
35
V. Kreilinger, Europäische Gottesbezüge, Vortrag LMU München 2010, 2.
III. Verfassungscharakter des apodiktischen Rechts 183
Bei den Rechtsvorschriften des Alten Testaments ist der Gottesbezug dem-
gegenüber eindeutig. Zumindest in der vorliegenden Endfassung (MT) ste-
hen alle Vorschriften unter Gottes Autorität. Beim Dekalog gibt es deshalb,
wie in vielen heutigen Verfassungen auch, eine „Präambel“, die hier aller-
dings eine sehr spezifische Formulierung hat:
„Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat, aus dem Sklaven-
haus“; Ex 20, 2, Einheitsübersetzung 1980
Dies ist die Grundaussage, die über dem ganzen folgenden Rechtskorpus
steht. Dabei spielt es dann keine Rolle, dass die einzelnen Vorschriften des
Dekalogs wahrscheinlich schon länger existierten. Der Dekalog ist aus meh-
reren Einzelreihen zusammengestellt worden, die in früheren Zeiten auch
ohne direkten Gottesbezug bestanden haben mögen. Hier im Dekalog sind
sie aber „theologisiert“ worden, um ihre Rechtsverbindlichkeit außer Zweifel
zu stellen.38
36
W. Frotscher / B. Pieroth, Verfassungsgeschichte, 29 (Hervorhebung vom Verf.).
37
G. Oestreich, Geschichte, 69.
38
Vgl. R. Albertz, Theologisierung.
184 Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung
Wichtig ist dabei, dass der Gott des Exodus und nicht der Gott der Schöp-
fung oder der Tora gewählt wurde. Das hat seinen guten Grund. Religionsge-
schichtlich ist der Exodus das „religiöse Schlüsselerlebnis“ Israels39, und nicht
der Gedanke an die Schöpfung oder den Sinai. Dies kam erst später hinzu.
Zunächst war das Erlebnis der Befreiung durch den Exodus das Grunddatum
der sich entwickelnden Religion Israels. Der Gott JHWH muss von Anfang
an damit verknüpft gewesen sein, so dass er die Autorität wurde, auf die sich
dann später das Recht und insbesondere der Dekalog bezogen. Hieraus re-
sultiert dann auch die Auswahl der Rechtssätze. Diese sollten dazu dienen,
die innere und äußere Freiheit des israelitischen Bürgers zu sichern, was nur
unter Berufung auf den Gott des Exodus möglich erschien.40
Wir haben also beim Dekalog den typischen Aufbau einer Verfassung vor
uns: eine Präambel mit Gottesbezug, in der auf das Grundverständnis der
Rechtsgemeinschaft verwiesen wird, und einen Katalog von Vorschriften
(Grundrechten), die unter der Obhut dieser Präambel stehen.
Hierzu passt genau der Hinweis von M. Köckert, dass von den verschiede-
nen Rechtskorpora des Alten Testaments allein der Dekalog eine Präambel
enthält.41 Dies entspricht genau dem Aufbau einer modernen Rechtsord-
nung. Auch hier hat nur die Verfassung eine Präambel. Alle weiteren Gesetze
benötigen eine derartige Deklaration nicht mehr, da sie Ausläufer der in der
Verfassung niedergelegten Grundordnung sind und damit der gleichen Prä-
ambel unterstehen. Auch dies ist ein Beleg für den Verfassungscharakter des
Dekalogs.
4. Vertragscharakter / Bund
Sowohl die Rechtsordnung des Alten Testaments wie auch die heutigen
Verfassungsvorstellungen sind getragen vom Bundesgedanken. Ein Bund
bzw. ein Vertrag sind Ausgangspunkt und Begründung der rechtlichen Ord-
nung.
Dies ist beim Dekalog und den folgenden Rechtsvorschriften offensichtlich
und wird in der Rahmenerzählung deutlich zum Ausdruck gebracht, z. B. im
Deuteronomium (5,2):
39
R. Albertz Religionsgeschichte, Teil 1, 76; M. Noth, Überlieferungsgeschichte, 50.
40
Vgl. Fr. Crüsemann, Bewahrung, 1993.
41
M. Köckert, Zehn Gebote, 44.
III. Verfassungscharakter des apodiktischen Rechts 185
„Der Herr, unser Gott, hat am Horeb einen Bund mit uns geschlossen“; Ein-
heitsübersetzung 1980
5. Grundrechtskatalog
42
Gesenius, Hebräisches und Aramäisches Handwörterbuch, 17. Aufl., 116.
43
Chr. Winterhoff, Verfassung, 17.
44
R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 45.
186 Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung
Form aufgebaut. Es soll deshalb hier geprüft werden, ob auch das apodikti-
sche Recht mit dem Dekalog Menschen- bzw. Grundrechte enthält.
Dabei ist jedoch eines zu beachten. Nicht jede Rechtsvorschrift, die den
Schutz des Menschen vor Willkür und Habgier beinhaltet oder die Ansprü-
che auf soziale Leistungen sichert, ist deshalb schon ein Menschenrecht. Man
kann jede rechtliche Bestimmung letztlich auf allgemeine Rechtsgrundsätze
und auf grundlegende Menschenrechte zurückführen. Strafrechtsnormen
schützen z. B. Freiheit, Leben und Eigentum. Mietvorschriften schützen den
sozial Schwachen und das Erbrecht schützt in allen seinen Verästelungen die
Testierfreiheit und das Eigentum. Deshalb stehen alle Rechtsnormen im
großen Kontext der Menschenrechte. Zu diesen selbst zählen aber nur dieje-
nigen grundlegenden Rechte, die das Minimum dessen darstellen, was jeder
Mensch kraft Geburt beanspruchen darf. Sie sind die Richtschnur, der gro-
ßen Rahmen, an dem sich die allgemeine Rechtsordnung, also das positive
Recht, und staatliches Handeln auszurichten haben. Wie diese Rechtsord-
nung dann konkret aussehen soll, muss durch den weiteren Akt der Schaf-
fung positiven Rechts verwirklicht werden. Erst hier finden wir konkrete
Normen, in denen Rechtsfolgen angeordnet werden. Diese sind sozusagen
die Ausführungsbestimmungen der Menschenrechte bzw. des Naturrechts,
ohne selbst schon Menschenrechte zu sein.
Deswegen enthalten die Grundrechtskataloge der verschiedenen Verfas-
sungen in aller Regel auch nur allgemeine Grundsätze. Diese sind nicht ka-
suistisch, sondern apodiktisch aufgebaut. Die apodiktische Redeweise lässt
sich am deutschen Grundgesetz in den Artikeln 1 bis 19 genau beobachten:
„… ist unantastbar“, „Jeder hat …“, „Alle Menschen sind …“, „Niemand darf
…“ oder „… wird gewährleistet.“ Diese sprachliche Form entspricht der Er-
kenntnis, dass das Naturrecht, aus dem sich die Menschenrechte herleiten,
selbst auch keine konkreten Rechtsfolgen enthält. Diese ergeben sich erst bei
der Schaffung von positiven Rechtsnormen. „Es gibt keine rechtliche Sank-
tion45 von Natur aus … Es gibt daher keinen Bereich, in dem naturrechtliche
Normen mit ‚positivem‘, d. h. Rechtsfolgen schaffendem Inhalt möglich wä-
ren.“46 Die konkreten Inhalte ergeben sich erst durch das positive, also das
nicht-apodiktische Recht.
45
Rechtsfolge im kasuistischen Sinne.
46
G. Otto, Was darf man vom Naturrecht erwarten?, 12.
III. Verfassungscharakter des apodiktischen Rechts 187
Und genau dieses Verhältnis können wir auch beim apodiktischen Recht
des Alten Testaments feststellen. Die apodiktische Redeweise lässt sich in
Idealform beim Dekalog beobachten. Kürzer und präziser geht es nicht. Aber
auch die alten hebräischen אָרוּר- oder die מוֹת יוּמָת-Reihen sind apodiktisch
formuliert. Der Fluch und der Todesspruch sind nur formelhafte Wendun-
gen, die keine Rechtsfolgen im eigentlichen kasuistischen Sinn enthalten.
Diese Bestimmungen könnte man unter Weglassung dieser Formeln ohne
weiteres umformulieren in „Du sollst …“ oder „Du darfst nicht …“, ohne
dabei ihren Inhalt zu verändern.
Die inhaltlichen Aussagen des Dekalogs entsprechen – in ihrer Weise –
den allgemeinen Menschenrechten. Das ist im christlichen Mittelalter von
einigen Theologen auch untersucht worden.47 Dabei wurde allerdings der
Denkfehler gemacht, den Dekalog nur als Begründung der Menschenrechte,
z. B. auf Leben oder Eigentum zu betrachten, sozusagen als vorgelagertes
göttliches Naturrecht, aus dem die Menschenrechte abzuleiten wären. Der
Dekalog ist aber nicht das Naturrecht selbst, auch nicht ein göttliches, son-
dern der Versuch, das hier als Gottes Willen verstandene Naturrecht, so gut
es ging, in Worte zu fassen. Der Dekalog ist deshalb auch nicht die Zusam-
menfassung allen Rechts, er ist nicht der Extrakt oder der Fond der Tora,
sondern eine von vielen Möglichkeiten, letzte ewige Werte zu konkretisieren.
Dies ist auch der Grund, weshalb im jüdischen Bereich keine selbständige
Menschenrechtsdiskussion in Gang kam. Die Fixierung auf die im Text vor-
liegende Tora als Gottes endgültig offenbartem Willen verhinderte eine wei-
tergehende Betrachtung. „Eine eigenständige jüdische Auffassung oder Ent-
wicklung der Menschenrechtsidee läßt sich in der vorliegenden Forschung nicht
auffinden.“48
Dass der Dekalog nicht Gottes „letzter Wille“, nicht sein alles abschließen-
des Testament ist, kann man aber auch schon daraus ersehen, dass die Rege-
lungen des Dekalogs keineswegs vollständig sind und es auch nicht sein sol-
len und können. Dies hat Fr. Crüsemann sehr anschaulich dargelegt.49
Danach ist der Dekalog eine bewusste Auswahl von Vorschriften zu einem
bestimmten Thema, nämlich der Bewahrung der inneren und äußeren Frei-
heit der Bürger Israels, entsprechend der Selbstvorstellung JHWH’s in der
Präambel als Gott des Exodus. Bereiche, die nicht direkt zu diesem Thema
47
A. Neschke-Hentschke, Tradition und Identität Europas, 24 u. 26.
48
L. Kühnhardt, Universalität, 45 Anm. 47 a.E.
49
Fr. Crüsemann, Bewahrung der Freiheit; s. 1.Teil, Kap. IV., 1.
188 Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung
50
H. Welzel, Naturrecht, 236.
51
Ebd., 241.
III. Verfassungscharakter des apodiktischen Rechts 189
gehabt und wurde erst in der Neuzeit als nicht mehr angemessen empfunden.
Was also ist die „wahre Natur“ des Mannes oder der Frau? Es kann daher
nicht so sehr darum gehen, aus einem postulierten Naturrecht „ewige Wahr-
heiten“ herzuleiten, sondern darum, sich immer des Umstandes bewusst zu
sein, dass es übergeordnete Prinzipien gibt und geben muss, nach denen sich
letztlich alles auszurichten hat, und dass diese Prinzipien stets aufs Neue für
wechselnde Verhältnisse erarbeitet werden müssen, und zwar argumentativ
und nicht durch ein Diktat.
H. Welzel beschließt seine Untersuchungen über das Naturrecht deshalb
wie folgt:
„Was aus der Gedankenwelt des Naturrechts folgt, ist nicht ein System ewiger
materialer Rechtsgrundsätze, sondern der unter stets neuen Bedingungen zu
erfüllende Auftrag an das positive Recht, dafür zu sorgen, daß der Kampf um
die richtige Gestaltung der Sozialverhältnisse eine geistige Auseinandersetzung
bleibt und nicht durch die Vergewaltigung oder gar durch die Vernichtung von
Menschen durch Menschen beendet wird.“52
52
H. Welzel, Naturrecht, 253.
190 Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung
53
Vgl. R. Albertz, Religionsgeschichte, Bd. 1, 112.
III. Verfassungscharakter des apodiktischen Rechts 191
„freien Wettbewerbs der Religionen“ ist den biblischen Texten fremd. Dieses
Problem ist aber für die Verfassungsfrage nicht entscheidend. Verfassungen
können aus späterer Perspektive durchaus falsche Wertentscheidungen tref-
fen, ohne deshalb ihren Verfassungsrang zu verlieren. Auch Diktaturen kön-
nen eine Verfassung haben, die nach demokratischem Verständnis zwar
nicht legitim, aber legal und de facto gültig ist.
Diese aus heutiger Sicht fehlende Vollständigkeit des Dekalogs und des
übrigen apodiktischen Rechts ist also kein Grund, diesem den Charakter
einer Verfassung zu nehmen. Verfassungen sind immer für eine bestimmte
Zeit und eine bestimmte Gesellschaft gedacht. Ändern sich die Zeiten, än-
dern sich auch die Verfassungen. Nach heutiger Auffassung ist nur wichtig,
dass die elementaren Grundrechte auf Leben, Freiheit, Gleichheit und
Eigentum als solche geachtet werden. Die Ausformulierung kann dann im
Detail für jede Verfassung unterschiedlich ausfallen. Nur in ihrem Wesens-
gehalt dürfen die Grundrechte bzw. Menschenrechte nicht angetastet wer-
den.
Unterschiedliche Formulierungen, aber auch das Fehlen von Grundrech-
ten, die in anderen Verfassungen selbstverständlich sind, machen eine Ver-
fassung nicht ungültig. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass z. B. die
deutsche Reichsverfassung von 1871 überhaupt keinen Grundrechtskatalog
enthält, sondern auf die einzelnen Landesverfassungen verweist, die insoweit
aber keineswegs einheitlich waren. Unterschiedliche Formulierungen und
Unvollständigkeiten sind im heutigen Verfassungsleben historische Selbst-
verständlichkeiten und unschädlich. Auch eine unvollständige Verfassung
bleibt eine Verfassung.
die direkte Anrede mit „Du“ ist aber viel expressiver und verpflichtender.
Hier kann sich niemand ausklammern; jeder wird gleichermaßen angespro-
chen.
Gleichzeitig wird mit dieser Anrede auch das Problem der Drittwirkung
der Grundrechte umgangen. Diese Frage brachte dem modernen Verfas-
sungsdenken gewisse dogmatische Schwierigkeiten, die sich erst allmählich
durch eine extensive Rechtsprechung der oberen Gerichte und des Bundes-
verfassungsgerichts beseitigen ließen. Die Diskussion zu diesem Thema hält
aber noch an. Hier im Dekalog ist das Problem durch die Form der Anrede
sozusagen mit einem Federstrich erledigt worden. Die Verfasser der Deka-
loge konnten diese spezifische Frage als solche noch nicht direkt im Blick
haben; der Grundgedanke, nämlich die Verpflichtung von jedermann, ist
aber der gleiche.
Bei der Frage der Grundrechte kommen wir also insgesamt zu dem Ergebnis,
dass unterschiedliche Inhalte und unterschiedliche Formulierungen für die
Verfassungsfrage unerheblich sind. Das apodiktische Recht kann trotz seiner
Beschränkung auf bestimmte Themen als Verfassung betrachtet werden.
Aufgabe jeder Verfassung ist es, dem jeweiligen Gemeinwesen eine rechtliche
und politische Grundordnung zu geben. Um dies sein zu können, muss sie
allem anderen Recht vorgeordnet sein. Sie ist die Richtschnur, nach der sich
die Rechtsordnung zu entwickeln hat. Sie muss deshalb fest und unverrück-
bar über dem positiven Recht stehen, welches dann nur die Ausformung der
in dieser Verfassung niedergelegten Grundsätze ist. Wir sprechen hier von
der „Hierarchie der Rechtsnormen“.
Das hat nicht nur theoretische, sondern auch praktische Konsequenzen.
Gesetze, die der Verfassung widersprechen, sind entweder von vornherein
nichtig oder können von einem Verfassungsgericht für verfassungswidrig
und damit ungültig erklärt werden. Letzteres setzt natürlich voraus, dass die
betreffende Verfassung auch eine Verfassungsgerichtsbarkeit vorsieht, wie
z. B. in den USA den Supreme Court oder in Deutschland das Bundesverfas-
sungsgericht in Karlsruhe. Weiterhin muss dieses Gericht auch mit den ent-
sprechenden Kompetenzen ausgestattet sein, was in der Weimarer Republik
III. Verfassungscharakter des apodiktischen Rechts 193
noch nicht der Fall war. Aber auch hier hatte die Verfassung einen überge-
ordneten Rang und starken appellativen Charakter. Die drei demokratischen
Gewalten Legislative, Exekutive und Judikative waren zumindest in einem
theoretischen Anspruch an die Verfassungsgrundsätze gebunden.
Diese Konstellation haben wir auch beim apodiktischen Recht. Beim Deka-
log ist dies schon aus der Rahmenerzählung über seine Schaffung und Be-
kanntgabe zu ersehen. In diesem Zusammenhang können wir die Absicht des
Erzählers direkt heranziehen, weil sie dem sogenannten „Willen des Gesetz-
gebers“ entspricht, und zwar dem des jeweils letzten. Wenn der Dekalog also
früher in einem anderen Zusammenhang gestanden hat und vielleicht aus
mehreren einzelnen Teilen zusammengesetzt worden ist, spielt dies hier
keine Rolle. Wichtig ist, wie er nach dem Willen des zuletzt tätigen Redak-
tors, vergleichbar dem zuletzt tätigen Gesetzgeber, aussehen sollte und wel-
che Stellung und Bedeutung ihm jetzt beigemessen wird. Und wenn nach den
biblischen Berichten der Dekalog das erste und wichtigste Gesetz ist, das
Mose direkt von Gott erhalten hat, dann soll es dieses auch sein. Der hier
zuletzt tätige Redaktor hatte insoweit die „Gesetzgebungskompetenz“ oder
genauer die „verfassungsgebende Gewalt“. Vorangegangene abweichende
Erzählungen werden, wie frühere Gesetze, durch den neuen Bericht verbind-
lich abgeändert und „gelten“ nicht mehr. Die Suche nach einem „Urdekalog“
ist also nicht erforderlich, ganz abgesehen davon, dass hinter einem solchen
Bemühen oft die irreführende fundamentalistische Auffassung einer höheren
Dignität einer früheren Fassung steht.
Der Dekalog hat damit auch von seiner Stellung im Text her eindeutig den
Rang übergeordneten Rechts. Er soll, so will es die Erzählung, die Grundlage
des Bundes und damit der gesamten Rechtsordnung Israels sein. Er kann
durchaus als eine geschlossene Verfassungsurkunde mit Präambel und
Grundrechtskatalog und damit als eine Verfassung im formellen Sinne ver-
standen werden.
Aber auch das übrige apodiktische Recht erhält durch seine Einordnung in
die Texte den Charakter von Grundsatz- oder Rahmenbestimmungen. Dies
hat Eun-Ae Lee überzeugend nachgewiesen.54 Die drei Gesetzeskorpora des
Bundesbuches, des Deuteronomiums und des Heiligkeitsgesetzes sind jeweils
von Normen des apodiktischen Rechts eingefasst, die ihnen, nach Eun-Ae
54
Eun-Ae Lee, Forschungsgeschichte, 173ff.; vgl. 1. Teil, Kap. IV, 5.
194 Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung
Lee, einen „sakralen Rahmen“ geben sollen. Diese sakrale Rahmung kann
man von einer verfassungsrechtlichen Sicht her auch als Einfassung durch
Grundsatznormen mit Verfassungsrang auffassen. Diese stehen dann zwar
nicht in einem geschlossenen Korpus wie der Dekalog und könnten deshalb
nicht als Verfassung im formellen Sinne angesehen werden, wohl aber als
Bestandteile einer Verfassung im materiellen Sinne.55 Sie haben dann eben-
falls übergeordnete Geltung.
7. Rechtswirklichkeit
55
Vgl. 3. Teil, Kap. II.
III. Verfassungscharakter des apodiktischen Rechts 195
dem Bundesgerichtshof vorgelegt werden. Aber auch dies ist noch keine
Verfassungsrechtsprechung.
Im Übrigen währte die deuteronomische Reformgesetzgebung nicht lange.
Mit dem Tode von König Joschija 609 v. Chr. war diese Ära sehr schnell
wieder vorüber, so dass wir nicht wissen, ob und wie lange das Jerusalemer
Obergericht tätig war.56
Die fehlende bzw. nicht nachweisbare Rechtswirklichkeit führt aber nicht
dazu, dem apodiktischen Recht die Qualität einer Verfassung abzusprechen.
Wir hatten schon bei der Frage der Legitimation57 gesehen, dass eine dauer-
hafte Akzeptanz einer Verfassung als ausreichend angesehen wird. Weiterhin
gibt es Verfassungen, die wie in Weimar ohne eine präzise ausgebaute Ver-
fassungsrechtsprechung auskommen. Und sogar Verfassungen, die niemals
offiziell in Kraft getreten sind, sind in der Theorie, als Entwürfe, von ihrem
Aufbau her mögliche Verfassungen. Bekanntestes Beispiel ist die Paulskir-
chen-Verfassung, die nicht mehr in Kraft treten konnte.58 Trotzdem war sie
als Modell Vorbild für viele weitere deutsche Verfassungen und wurde nicht
etwa als unbrauchbar oder weniger kompetent angesehen. Die Möglichkeit,
eine geltende Verfassung sein zu können, reicht insoweit aus.
8. Geltendes Recht
Sie enthalten zwar keine direkte Rechtsfolge oder Sanktion, sie sind apodik-
tisch formuliert, binden aber das übrige Recht, das sich nur in dem von der
Verfassung vorgegebenen Rahmen entfalten kann. Verlassen einzelne Nor-
men diesen Rahmen, sind sie verfassungswidrig und unwirksam. Insofern
haben Grundrechte unmittelbare rechtliche Relevanz.
Die gleiche Konstruktion können wir für den Dekalog und das übrige apo-
56
R. Albertz, Theologisierung, 137.
57
Vgl. 3. Teil, Kap. III, Ziff. 2.
58
G. Oestreich, Geschichte, 93.
196 Dritter Teil: Das apodiktische Recht als Verfassung
Der Dekalog und die übrigen Sätze des apodiktischen Rechts bilden nicht nur
die weitaus älteste, sondern auch die langlebigste Verfassung, die zwar ihren
ursprünglichen historischen Geltungsbereich verloren hat, deren lange Wir-
kungsgeschichte aber bis heute nicht abgeschlossen ist.1
1
Vgl. z. B. E. Wolf, Rechtsgedanke und biblische Weisung, 1948, der sich ausführlich mit den Zehn
Geboten als „Weisungen“ für Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung auseinandersetzt.
Er sieht sie allerdings nicht als Ausfluss eines absoluten, gerechten Naturrechts, welches er aus
IV. Ergebnis 199
Das vorliegende Ergebnis lässt sich noch genauer dahin präzisieren, dass
erst eine verfassungsrechtliche Betrachtung die besondere Funktion des De-
kalogs deutlich macht. Die einzelnen Sätze sind für sich allein betrachtet nur
allgemeiner Natur. Sie sind auch schon vor der Entstehung des biblischen
apodiktischen Rechts zu allen Zeiten und in allen Kulturen auf ver-
schiedenste Weise gedacht und formuliert worden. Der Dekalog bringt des-
halb, von der Theologisierung in den ersten Sätzen abgesehen, nichts Neues
und nichts spezifisch Israelitisches. Er ist inhaltlich gesehen kein Novum der
biblischen Autoren, sondern nur eine Zusammenstellung allgemeiner
grundlegender Normen, die auch schon vorher präsent waren und in vielen
anderen Völkern Beachtung beanspruchten.
Völlig neu und auf lange Zeit einmalig ist dagegen die Form ihrer Präsen-
tation. Sie werden in einem festgefügten Rechtskorpus mit präzisem Aufbau
und unter dem Grundmotiv der Freiheit als Grundlage des Bundes und als
verbindliche Richtschnur für das Leben des Volkes und seiner Rechtsord-
nung vorgestellt. Sie sind die oberste Ordnung innerhalb einer Hierarchie
von Rechtsnormen und entsprechen damit genau dem, was wir heute eine
Verfassung nennen. Das Entscheidende beim Dekalog ist deshalb nicht der
Inhalt, sondern die rechtliche Funktion.
Und aus diesem Grunde behält der eingangs auf S. 135 zitierte Charles de
Gaulle nun doch nicht Recht. Gerade weil der Dekalog von juristisch, ge-
nauer verfassungsrechtlich denkenden Autoren verfasst wurde, ist er so klar
und präzise und soll eindeutige und apodiktisch formulierte Grundnormen
wiedergeben.
protestantischer Sicht ablehnt; die Gebote seien „mehr als Natur- und Vernunftsrecht, weil sie der
Natur Schranken und der Vernunft Ziele setzen“ (S. 53). In ihrer Funktion sieht er sie dann letzt-
lich aber doch so wie ein übergeordnetes Naturrecht, auch wenn er dieses nicht gelten lassen will.
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Hinweis:
Aufgeführt wurde nur die tatsächlich benutzte Literatur. Es wurde darauf
verzichtet, zu jedem Einzelthema eine umfangreiche Bibliographie zusam-
menzustellen.
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