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Technisierung der Natur – Historisierung der Moral

Ludwig Siep

Technisierung der Natur –


Historisierung der Moral
Ziele und Grenzen
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ISBN 978-3-95743-179-0 (paperback)


ISBN 978-3-95743-738-9 (e-book)
Inhaltsverzeichnis

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . vii

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . xi

1 Technisierung der Natur und philosophische Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . 1


1.1 Nachmetaphysische Naturbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1
1.2 Normquellen für die Naturveränderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6
1.2.1 Natur- und Vernunftrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
1.2.2 Moralsemantik und moralischer Standpunkt: Grundzüge
einer guten Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
1.2.3 Erfahrung mit Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
1.3 Tugenden: Natürliche Dispositionen, situierte Vernunft und
technische Verbesserung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18

2 Beschreiben, Bewerten, Begründen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21


2.1 Beschreibung und Bewertung in Lebenswelt, Wissenschaft
und Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21
2.2 Konkretisierung und Begründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26
2.3 Recht, Moral und Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31

3 Konkrete Ethik und Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35


3.1 Menschenrechte, Natur und Technisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44
3.2 Historizität der Menschenrechte – Historizität der Vernunft . . . . 46
3.3 Sind die Menschenrechte individualistisch? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51
3.4 Wer gehört zu den schützenswerten »Menschen«? . . . . . . . . . . . . . 64
3.5 »Menschenrechtskultur« oder »Kultur der Anerkennung«? . . . . 70

4 Historische Vernunft und irreversible Geltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75


4.1 Anthropologische Argumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77
4.2 Gerichtete Prozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83
4.3 Zwei Einwände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89
4.4 Genesis und Geltung, Kontextualität und Irreversibilität . . . . . . . 92

5 Begründete Alternativen zur Idee der Menschenrechte? . . . . . . . . . . . 97


5.1 Primat der Individualrechte oder »extremer
Kommunitarismus«? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99
vi Inhaltsverzeichnis

5.2 Internationale Verantwortung oder »liberaler


Nationalismus«? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102
5.3 Die Exklusivität der Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111
5.4 Konsequentialismus statt Priorität der Menschenrechte? . . . . . . . 114
5.5 Stärkere Begründungen der Menschenrechte? . . . . . . . . . . . . . . . . . 117

6 Gutes Leben und gute Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123


6.1 Wohlergehen, Moral und Sinn des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124
6.1.1 Die Unterscheidung der drei Dimensionen . . . . . . . . . . . . . . . . . 128
6.1.2 Die Herkunft der modernen »Sinn-Frage« . . . . . . . . . . . . . . . . . 130
6.1.3 Subjektive und objektive Perspektive des Sinns . . . . . . . . . . . . . 133
6.1.4 Gütekriterien des guten Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137
6.1.5 Sinn des Lebens und gute Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141
6.2 Gutes Leben und Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145
6.3 Individuum, Gemeinschaft, Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151

7 Ontologie und Hermeneutik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155


7.1 Ontologie der »guten Welt« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155
7.2 Werte und Wertewandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159
7.3 Ontologie und Irreversibilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164

8 Schluss: Gute Welt, Menschenrechte und die Grenzen der


Technisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179

Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195
Namen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195
Sachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196
Vorwort

Seit meinem ersten Aufsatz zur Bioethik im Jahre 1985 (Siep 1985) gilt mein
Interesse der Frage nach den Zielen und Grenzen moderner Technologien.
Wenn philosophische Ethik nicht nur eine problematische »Wächterfunk-
tion« ausüben soll – für die das Recht eher geeignet ist –, sondern auch bei
der Beurteilung der Richtung sozialer und technologischer Entwicklungen
mitwirken soll, muss sie an Zielvorstellungen dafür arbeiten. Seit den immer
schnelleren Fortschritten der Biotechnologie wird die Frage auch zunehmend
öffentlich diskutiert: »In welcher Natur, in welchem Körper wollen wir
leben?«. Allzu oft wird diese Frage gleichsam selber technisch beantwortet,
wenn vom »enhancement« des Körpers und dem »improvement« der
Natur – etwa in der synthetischen Biologie – die Rede ist. Da beides aber
nicht einfach Mittel für unumstrittene Ziele sind – wie ein guter Rechner oder
ein gutes Verkehrsmittel – müssen an der Diskussion über »gut« und »besser«
die Öffentlichkeit und die »Normwissenschaften« mitwirken. Dazu gehört
die philosophische Ethik, die es seit ihren griechischen Anfängen mit den
Kriterien eines guten Lebens, ja sogar mit den bejahenswerten Ordnungen und
Zuständen der Welt (»Kosmos«) zu tun hat. Sie war, zusammen mit anderen
Wissenschaften, auch an den Beiräten und Kommissionen beteiligt, die seit
den 1980er Jahren für die öffentliche Beratung über neu entstehende oder
abzusehende technologische Entwicklungen eingerichtet wurden. An einigen
waren auch gesellschaftliche Gruppen oder staatlicher Einrichtungen betei-
ligt. In einigen dieser Beratungsgremien (klinische Forschung, Nanomedizin,
Stammzellforschung) durfte der Autor zwischen 1986 und 2011 mitarbeiten.
Schon früh erwuchs daraus die Überzeugung, dass traditionelle oder gegen-
wärtig dominierende Richtungen der philosophischen Ethik schlecht für
diese Aufgaben geeignet sind. In einer Welt, in der von der kosmischen und
biologischen Evolution über den kulturellen Wertewandel bis zur immer
schnelleren technischen und normsetzenden Entwicklung sozusagen alles
in Bewegung ist, können zeitlose Prinzipien und hoch abstrakte Regeln keine
Orientierung geben. Um bloße Subsumtion neuer Fälle unter alte Regeln
kann es in der »angewandten« Ethik, das war bald auch eine gemeinsame
Überzeugung fast aller Richtungen dieser neu entstehenden Disziplin, nicht
gehen. Indem die Urteilskraft zwischen allgemeinen Normen und konkreten
Problemen zu vermitteln sucht, ändern sich auch die Wertvorstellungen. Zu
der Überzeugung, dass es in der philosophischen Ethik auch um Zielvor-
stellungen für technische und soziale Entwicklungen gehen muss, trat die
viii Vorwort

zweite, dass moralische Kriterien und historische Erfahrungen sich in der an-
gewandten oder konkreten Ethik wechselseitig bestimmen.
Im Hinblick auf eine jahrzehntelange Beschäftigung mit der Philo-
sophie Hegels standen dabei in der Konzeption einer »konkreten Ethik«
zwei Hegelsche Begriffe – allerdings aus einiger Entfernung – Pate: Erstens,
»Konkret« muss vom Verfahren der Konkretion einer Vorstellung des Ganzen
der natürlichen und kulturellen Welt verstanden werden, das in umfassendem
Sinne »gut« genannt werden kann. Zweitens, »Erfahrung« ist im Sinne
eines Prozesses des kollektiven Bewusstseins zu verstehen. Im »normativen
Selbstbild« einer Epoche entstehen Konflikte und Umwälzungen, deren
institutionelle Lösungen die zukünftige Entwicklung bestimmen. Nur eine
Vernunft, die durch das Verständnis dieser Entwicklungen »belehrt« ist, kann
für Ziele und Grenzen der Technisierung Kriterien entwickeln.
»Historisch belehrt« heißt aber nicht, historisch relativ. Zwar kann die Philo-
sophie ihren Zeithorizont, wie auch Hegel konstatiert, nicht überspringen. In
diesem sind vergangene Erfahrungen institutionell »aufgehoben«, d.h. bewahrt
und verarbeitet. Für eine Philosophie, die öffentlich berät und nicht »vom
Lehnstuhl« deduziert, sind dabei diejenigen grundlegenden Erfahrungen die
wichtigsten, über deren Ergebnis ein möglichst stabiler und globaler Konsens
besteht. Jedenfalls dann, wenn sie sich zugleich mit guten allgemeinen Ein-
sichten in das rechtfertigen lassen, was Moral und Recht ausmachen und was
den menschlichen Fähigkeiten und Verletzlichkeiten spezifisch ist. Auch das
sind keine essentialistischen oder apriorischen Begriffe, sondern solche einer
Entfaltung von Dispositionen (Vernunft, humane Emotionalität und Bedürftig-
keit) und der Ausweitung und Universalisierung von Ansprüchen auf Rechte
und auf »unparteiisches Wohlwollen«. Im technischen Zeitalter ist dieser
Horizont für eine antizipierbare Zukunft der »Technikfolgen« offen.
In der Hegelschen Konzeption war diese Entwicklung die Realisierung
immanenter Zwecke der vernünftigen Natur des Menschen. Sie musste vom
»an sich« der vorhandenen Anlagen zum »für sich« einer reflektierten und
institutionalisierten vernünftigen Ordnung voranschreiten. Von einer solchen
Teleologie kann man heute nicht mehr ausgehen, sie entspricht unserer Sicht
der Evolution und der Geschichte nicht mehr. Aber zum einen ist eine Moral,
die nach jeder neuen Wende der technischen und kulturellen Entwicklung
gänzlich verwandelt sein kann, nicht zur Bestimmung von Richtungen und
Grenzen einer »guten« Entwicklung in der Lage. Zum anderen verfügt das
kulturelle und institutionelle Gedächtnis über Erfahrungen, die zu einem Ent-
setzen des »Nie wieder« geführt haben. Das ist nicht nur eine emotionale Re-
aktion, sondern hat zu weltweiten Rechtskonventionen und einer Fülle gut
Vorwort ix

durchdachter Theorien des Minimums geführt, dass der Würde des Menschen
geschuldet ist. An die Stelle einer Hegelschen Teleologie dessen, was die Ver-
nunft nicht nur erreichen kann, sondern aufgrund ihrer inneren Logik und ihrer
Macht über das Bewusstsein und Handeln zunehmend aufgeklärter Menschen
auch erreichen muss, tritt eine bescheidenere Erfahrungsgeschichte der Fort-
schritte und Rückfälle – mit einigen normativ unumkehrbaren Erfahrungen.
Der Verteidigung dieses Programmes habe ich in den fünfzehn Jahren seit
Erscheinen der »Konkreten Ethik« (2004) eine Reihe von Arbeiten gewidmet
(vgl. Siep 2013). Dabei hatte und habe ich mich mit einer Reihe gründlicher
und lehrreicher Kritiken auseinanderzusetzen, die vor allem in zwei Sammel-
bänden vorliegen (Vieth/Halbig/Kallhoff 2008, Hoesch/Laukötter 2017).
Während ich im ersteren bereits auf die Beiträge und Kritiken geantwortet
habe, steht das für den zweiten Band noch aus und erfolgt in diesem Buch.
Gliederung und Schwerpunkte sind daher teilweise der Antwort auf die
Kritiken geschuldet. Ich konnte aber nicht allen Beiträgen und Kritiken den
gebührenden Platz einräumen, weil das Buch zugleich eine selbständige Neu-
fassung und Fortentwicklung meines Projekts darstellt. Die Entwicklung der
eigenen Überlegungen war bis vor einigen Jahren auch durch Erfahrungen in
Kommissionen und Beiräten angeregt.
Zu danken habe ich außer den Beiträgern des Buches von 2017 vor allem den
mündlichen und schriftlichen Stellungnahmen des Münsteraner Forschungs-
kolloquiums von Michael Quante, neben ihm selber vor allem Mathias Hoesch,
Amir Mohseni, Nadine Mooren, Katja Stoppenbrink, Simon Derpmann und
Tim Rojek. Thomas Gutmann danke ich für kritische Lektüre des Textes. Bei
der Erstellung des Manuskripts und der Besorgung von Literatur halfen mir
Elisabeth Huckschlag, Pia Jauch und Lea Kipper. Ermutigung und sorgfältige
verlegerische Betreuung verdanke ich Michael Kienecker.

Münster, im Februar 2020, Ludwig Siep


Einleitung

Die moderne technische Zivilisation gefährdet die Bewohnbarkeit der Erde


und die Entwicklung der künstlichen Intelligenz bedroht die menschliche
Autonomie. Zugleich legt das technische Denken nahe, dass auch die sozialen
und politischen Probleme »technisch« gelöst werden können, d.h. durch Ver-
besserung der Produktivität, durch Rationalisierung der Organisation oder
Perfektionierung des Menschen – seiner »Intelligenz« und »Sozialverträglich-
keit«. Moralische, rechtliche und politische Anstrengungen für eine »bessere
Welt« werden dadurch scheinbar überflüssig.
Die Abwehr solcher Gefahren, nicht nur für menschliche Autonomie,
sondern auch für die Integrität natürlicher Kreisläufe, die Mannigfaltigkeit
der Arten und Landschaften, oder das Gedeihen der Lebewesen ist inzwischen
Gegenstand nationaler und internationaler Rechtsordnungen geworden. Ihre
ethische Rechtfertigung kann aber nicht durch Ethiken reiner Vernunft oder
der Optimierung von Nutzen erfolgen. Dem Ideal der Perfektionierung kann
nur die ethische Einsicht in den Wert des Unvollkommenen, des Verzichtes auf
vollständige Kontrolle und des Respekts vor natürlich Gewordenem steuern.
Das bedeutet nicht den Verzicht auf die Bekämpfung von Leiden, auch mit
Hilfe technischer Mittel. Dieser Kampf kann auch die Mannigfaltigkeit patho-
gener Mikroorganismen (Keime) reduzieren. Aber schon das Versprechen
der Alterslosigkeit ist mit der Gerechtigkeit gegenüber Jugend und künftigen
Generationen nur schwer vereinbar. Wo liegen also die Grenzen zwischen
guter und schlechter Technisierung und welche Ethik ist zu ihrer Bestimmung
in der Lage?
Gemäß dem Projekt einer »konkreten Ethik«1 gehören dazu vor allem zwei
Bestandteile:
Erstens, die Zielvorstellung einer Welt, die für alle in ihr lebenden Wesen
»gut« im Sinne von »erstrebenswert« ist. Sie muss weit genug für einen Pluralis-
mus unterschiedlicher Handlungsziele und Auffassungen des Richtigen sein.
Aber zugleich muss sie konkretisierbar sein für die Frage nach ethischen und
nicht nur technischen Verbesserungen im Umgang mit der Natur, auch der
menschlichen.
Zweitens gehört zu einer solchen Ethik die Anerkennung der wesentlichen
Rolle, die Erfahrung in einem bestimmten Sinne auch für die Ethik und die

1 Vgl. Siep (²2016, urspr. 2004), Konkrete Ethik; Siep (2008), Erwiderungen; Vieth/Kalhoff/
Halbig (2008), Ethik und die Möglichkeit einer guten Welt; sowie Hoesch/Laukötter (2017),
Natur und Erfahrung.
xii Einleitung

Normfindung überhaupt spielt.2 Das umfasst Erfahrungen mit dem Scheitern


technischer und sozialer Utopien der Schaffung eines neuen Menschen oder
einer perfekten Gesellschaft. Aber auch konkrete Erfahrungen mit bestimmten
technischen Großprojekten. Ebenso wichtig ist die Anerkennung dessen, was
aus Erfahrungen mit Unrecht, Gewalt und Demütigung von Menschen zu
lernen ist. Nicht nur die rechtlich-institutionellen Barrieren gegen einen Rück-
fall, auch die philosophischen Rechtfertigungen sind auf solche Erfahrungen
angewiesen.
Beide Elemente gehören zu einer »konkreten« Ethik. Sie integrieren die
menschliche Vernunft in Natur und Geschichte. Nicht mehr eine erfahrungs-
freie und von »Sinnlichkeit« und Empirie freie Vernunft ist die Quelle
moralischer Normen und der Kritik normativer Entwicklungen. Als körper-
gebundenes Vernunftwesen ist der Mensch von den Prozessen der Gesamt-
natur abhängig, er kann sie nicht technisch unter vollständige Kontrolle
bringen. Das ist das Ergebnis von Krisenerfahrungen, die im folgenden Ab-
schnitt über die Technisierung erörtert werden.
In diesem Buch wird die »Technisierung der Natur« als Quelle ethischer
Probleme gesehen, die »Historisierung der Moral« dagegen als Teil ihrer
Lösung. Für beide Prozesse muss man nach Zielen und Grenzen fragen. Was
ist mit den Titeln Technisierung der Natur (1) und Historisierung der Moral
(2) gemeint und welche Konsequenzen ergeben sich daraus für die Ethik (3)?
1. Das Erreichen menschlicher Zwecke unabhängig vom Widerstand natür-
licher Kräfte und Ereignisse ist seit jeher das Ziel menschlicher Technik.3 In der
Neuzeit wird es zunehmend durch die Erfindung und Produktion »künstlicher«
Apparate und Maschinen sowie die Einführung standardisierter Handlungs-
abläufe verfolgt, die kausales und prognostisches Wissen (know how) um-
setzen. In einer Welt der maschinellen Technik, der »großtechnischen«
Produktion, (Orts)Bewegung, Kommunikation und Unterhaltung sind dafür
entsprechende Organisationen, Regeln, Zeiteinteilungen etc. notwendig. Ver-
fügbarkeit über das benötigte Material, technische Regenerierbarkeit statt

2 Armin Grunwald sieht in den »disruptiven Innovation« durch hohe Rechnerkapazitäten und
»Schwarmintelligenzen« eine Bedrohung für Erfahrung und Deliberation in Ökonomie und
Technikethik (Grunwald (2019a), Digitalisierung als Prozess, Kap. 3.5, S. 135, 137).
3 Schon Aristoteles nennt »technikótatos« die Tätigkeiten, »bei denen am wenigsten dem Zu-
fall überlassen bleibt« (Politik 1258b 36-37, Aristoteles Werke (1991), S. 29). Für Birnbacher
(1991, Technik) ist die moderne Technik durch zwei »Wesenszüge« gekennzeichnet: Ihre
Objekte sind »instrumental zweckbezogen, um bestimmter Funktionen willen da« und sie
werden »ihrerseits mithilfe von Werkzeugen, Geräten und Maschinen hergestellt« (S. 609).
Zum Folgenden (auch zu Technik-Begriffen in der Philosophie der Technik des 20. Jahr-
hunderts) vgl. auch Siep (i. Erscheinen a, Autonomie, Natürlichkeit und Technik).
Einleitung xiii

Knappheit, Verschleiß und Verfall, sind das der Technik eingeschriebene


Ziel. Denkt man an die technischen Utopien der Neuzeit bis in die moderne
»science fiction«, dann scheint der steuerbare, synthetisch erneuerbare oder
sich erneuernde, von allen natürlichen (auch menschlichen) Fehlern und Ver-
schleißprozessen unabhängige »ewige« Automat das ideale Ziel.4 In diesem
Sinne ist Technizität das Gegenteil von Natürlichkeit. An dieser Überwindung
von Natürlichkeit soll auch der menschliche Körper partizipieren.
Das technische Naturverhältnis des Menschen ist in der bislang letzten
Phase vom Ziel der Kontrolle und der Nutzbarmachung zu demjenigen der
Verbesserung und Steigerung übergegangen: Natürliche Prozesse, auch im
menschlichen Körper, sollen »verbessert« werden. Das heißt nicht nur, voraus-
gesetzten menschlichen Zwecken dienstbarer gemacht, sondern auch zu
neuen Perfektionen, Optionen und Leistungen befähigt werden. Das versteht
man mit Bezug auf den menschlichen Körper als »enhancement«. Die außer-
menschliche Natur wird in dieser Denkweise als verbesserbare Maschine
betrachtet (»nature is a machine to be improved«). Die vorneuzeitliche Nach-
ahmung der Natur ist umgekehrt worden zu einer Nachahmung technischer
Leistungen durch natürliche Prozesse oder Gegenstände (s.u. S. 4 f.). Es ist
diese Phase des technischen Naturverhältnisses, die mit »Technisierung«
im Titel des Buches gemeint ist. Die Öffentlichkeit und die philosophische
Ethik können aber die Definition von Verbesserung – und damit des Guten –
nicht allein der Perspektive funktionaler Optimierung oder der »Wirtschafts-
förderung« überlassen.
Nicht nur die Natur, auch die Zivilisation und die Ziele des menschlichen
Handelns passen sich heute der Technik an. Das reicht von der autogerechten
Stadt und der »betonierten Landschaft« über den Wettlauf an die Spitze der
Digitalisierung, der die Politik, Wirtschaft und Wissenschaft vieler Länder
beherrscht. Auch die philosophische Ethik kann sich dem nicht entziehen:
Die »Ethik des Internet«, die »Gen-Ethik«, die »Digitale Ethik« in Zeiten von
Robotik und künstlicher Intelligenz, ja die Ethik der Folgen automatisierter und
selbststeuernder Kriegstechnik folgt den durch die Technik hervorgerufenen
Problemen des Rechts und der Moral.5 Dieses »Folgen« wird zumeist als
ein Wettlauf gesehen, indem die Ethik prinzipiell hinterherläuft. Vor allem,
wenn man Gesetzmäßigkeiten der biologischen Evolution auf die Gesell-
schaft überträgt, erscheinen die technischen Entwicklungen als unaufhaltsam.

4 Nach Birnbacher (1991, Technik) gilt schon seit Francis Bacon, dass die Technik »wie die
Religion das Ziel« hat, »die Vertreibung aus dem Paradies rückgängig zu machen« (S. 629).
5 Vgl. Bayertz (1987), GenEthik; Sturma (2001), Robotik; Grunwald (2019), Der unterlegene
Mensch; Koch (2019), Die Technik der Befriedung?.
xiv Einleitung

Normsetzungen haben nur die Funktion, soziale Dysfunktionalitäten und


Konflikte zu vermeiden bzw. zu glätten. Sie sind im Grunde nichts wesentlich
Anderes als natürliche Adaptionen an gewandelte Umwelten.
Aus natürlichen, auch evolutionären Fakten folgen aber keine Normen.
Wenn technische Entwicklungen nicht per se fortschrittlich sind, dann
müssen sie nach ethischen Kriterien des Guten beurteilt werden. »Schlecht«
ist sicher die Verletzung basaler ethischer Normen und menschlicher Rechte,
aber für die »Güte« der Ziele muss es auch positive Kriterien geben, die auf
umfassende Maßstäbe für erstrebenswerte Weltzustände zurückgehen.
Den technischen Entwicklungen wurde lange Zeit auch Fortschrittlich-
keit im normativen Sinne unterstellt. Die Gleichsetzung von Wissenschaft,
Technik, Aufklärung und Fortschritt ist indessen in einer Folge von Krisen
zweifelhaft geworden. Schon die Krise der Industrialisierungsfolgen im 19.
Jahrhundert hat zu Erfahrungen der Entfremdung des Menschen geführt. Dass
vor allem der Industriearbeiter zum »Anhängsel der Maschine« (Robert von
Mohl) wurde, seine Arbeitskraft wie sein ganzes Leben unter die Imperative
der Zeitersparnis und der Produktivitätserhöhung gestellt wurde, ist nicht
nur eine »sozialistische« Perspektive.6 Man kann die Imperative der Kapital-
verwertung selber als »technisch« verstehen, insofern sie nicht auf bewusst
ausgeführte Absichten zurückgehen, sondern auch den Kapitalisten wie ein
Rad der wirtschaftlichen Maschine behandeln. Einen radikalen Zweifel an der
Fortschrittlichkeit der Technik »in den richtigen Händen« scheint es aber auch
in den sozialistischen Staaten nicht gegeben zu haben. Obwohl auch in ihnen
industrielle Technik zu einer Ursache der Disziplinierung und Steigerung
menschlicher Arbeitsleistung, aber auch des nicht-nachhaltigen, gesundheits-
gefährdenden Umganges mit der Natur wurde.
Erst die zweite Hälfte des 20. Jh. brachte Krisenerfahrungen im Umgang
mit der Kernenergie, der Gentechnologie und der Umweltbelastung durch
Industrie und Verkehr mit sich, die das Vertrauen in die Gleichsetzung von
Technik und Fortschritt erschütterten.7 Dabei wurde auch die Gefährdung von
Gütern bewusst, die es nicht mit dem »nackten« Überleben der Gattung zu tun
haben: der Zerstörung von Vertrautheit und Bedingungen kollektiver Identität

6 Vgl. dazu Siep (2019), Hegel und die Frühkonstitutionalisten.


7 Diese Erfahrungen haben nach Hofmann (1998, Menschenwürde und Naturverständ-
nis, S. 358) zu einer »Krise des europäischen Selbstbewusstseins« als souveränen Gestalters
der technischen und sozialen Umwelt geführt. Für Hofmann wirkt der technischen Souveräni-
tät auch im Naturverhältnis eine nicht intendierte Re-Integration des Vernunftwesens in
die Natur entgegen, beginnend mit der Evolutionstheorie und der Selbstobjektivierung
des Menschen in Biologie, Medizin und Biotechnologie. Die technische Einstellung des
sozusagen »extramundanen« Herrschers ändert sich dadurch aber nicht grundlegend.
Einleitung xv

(»Heimat«), der Mechanisierung und Beschleunigung menschlicher Lebens-


vollzüge, aber auch des Verlustes von Grundzügen der lebendigen Natur wie
spontaner Individualisierung (statt der serienmäßigen Produktion von Kopien
bei der Klonierung) und Selbstzweckhaftigkeit. Schließlich steht auch einer
der zentralen Werte der Neuzeit auf dem Spiel, der selber die Dynamik der
technischen Naturbeherrschung vorangetrieben hat: die Autonomie. Medizin-
technik, Informations- und Kommunikationstechnologien erweitern zwar die
Optionen selbstbestimmten Handelns, stellen aber auch Bedrohungen der
Autonomie dar.8
Das Musterbeispiel der Kontroversen und der Verunsicherung über
die »Fortschrittlichkeit« technischer Entwicklungen ist der Umgang mit
der gigantischsten technischen Erfindung auf dem Gebiet der Energie-
erzeugung, der Kernenergie. Aus dem Glauben an die Beherrschung einer
unerschöpflichen Energiequelle und der kontrollierten Nutzung potentiell
destruktiver kosmischer Kräfte wurde – nicht zuletzt durch die Erfahrungen
mit Reaktorkatastrophen – eine weitverbreitete Unsicherheit und apo-
kalyptische Ängste vor ihren unkontrollierbaren Folgen. In Deutschland
musste eine »Ethik-Kommission« die einmütige Abkehr von dieser Techno-
logie rechtfertigen.9
Eine vielleicht noch tiefere Verunsicherung löst heute die Klimakrise aus.
Fast alle technischen Geräte und die durch sie ermöglichten bequemen,
mobilen und (technisch-)kommunikativen Lebensweisen verursachen eine
Veränderung des Klimas der Erde, die potentiell für viele Menschen und
andere Lebewesen tödlich ist. Noch grundsätzlicher als die Kerntechnik
machen sie einen Ausstieg aus den Automatismen der Weiterentwicklung
und Perfektionierung der Technik nötig. Offen bleibt dabei, inwieweit ein
»Umbau« der Technik zu »klimaneutralen« Geräten und Lebensformen aus-
reichend ist. Die Folgen für Biodiversität, Natürlichkeit und auch für mensch-
liche Autonomie sind, dafür argumentiere ich im Folgenden, nur durch eine
Begrenzung des technischen Kontrollstrebens insgesamt zu bewältigen.
Schon die ethische Debatte über die Folgen der Nukleartechnik hatte zur
Forderung einer Berücksichtigung zukünftiger Generationen geführt, deren
Existenz durch hochriskante Technologien und die Zeiträume des Abbaus
ihrer gefährlichen Rückstände gefährdet waren. Wenn es auch fraglich ist, ob
alle traditionelle Ethik »Nah-ethik« (Hans Jonas) war, wurde die Notwendigkeit

8 Vgl. Siep (i. E. a). Zur Autonomiegefährdung durch die Digitalisierung u.a. Grimm et al.
(2019), Digitale Ethik; Grunwald (2019a), Digitalisierung als Prozess.
9 Vgl. Deutschlands Energiewende – Ein Gemeinschaftswerk für die Zukunft. Vorgelegt von
der Ethik-Kommission Sichere Energieversorgung (Berlin, 30. Mai 2011).
xvi Einleitung

einer Berücksichtigung der Folgen für zukünftige Generationen doch un-


abweisbar.10 Erst durch die Gefahr irreversibler Folgen für das Klima kommt
es aber zu erheblichen Verzichtanforderungen und dadurch auch zu einem
tiefgreifenden Interessenkonflikt zwischen den Generationen, auch den heute
schon lebenden der Jüngeren und Älteren.
Dennoch bleibt bis in die Gegenwart die Entwicklung der Technik auch
eine wichtige Bedingung der Emanzipation von sozialer und natürlicher
Abhängigkeit. Das gilt etwa für so konkrete Entwicklungen wie empfängnis-
verhütende Medikation oder moderne Haushaltstechnik, die zumindest
eine Beschleunigung der Emanzipation der Frau von paternalistischen
Rollenzwängen war. Es gilt auch noch immer – trotz aller negativen Folgen
für die informationelle Selbstbestimmung – für die Entwicklung der digitalen
Techniken, etwa für die Möglichkeit, sich schnell und umfassend zu infor-
mieren oder sich räumlich zurechtzufinden. Es geht also nicht um Kritik der
technischen Entwicklungen überhaupt, sondern um möglichst zustimmungs-
fähige Überlegungen zu Zielen, Tempo und Grenzen.
2. Von »Historisierung« der Moral wird hier in einem deskriptiven (a) und
einem normativen Sinn (b) gesprochen.
a) Es gibt sowohl in den moralischen Begriffen und Vorstellungen der
modernen Gesellschaften wie in der Ethik als Reflexion und Kritik solcher
Vorstellungen (s.u. Kap. 2.3) seit dem 19. Jahrhundert eine Historisierung.
Moralische Werte in verschiedenen Feldern erweisen sich als wandelbar, nicht
nur im Sinne des Sittenverfalls, den man durch die Wiederherstellung des
»guten Alten« begegnen muss. Letzteres war ein Muster sozialer und religiöser
Reformen noch der frühen Neuzeit.11 Vielmehr wurden Wandlungsprozesse
von Normen in Familie, Arbeitsleben und dem Verhältnis zur »Obrigkeit« jetzt
als Fortschritte gesehen. Das reicht bis zum heutigen Bewusstsein der Wandel-
barkeit fast aller Normen und dem experimentellen (»novellierenden«) Um-
gang mit ihnen.
Auch in der Philosophie kann man diese Historisierung zunächst einfach
zur Kenntnis nehmen. Bei den Klassikern kann man ihren Beginn vielleicht
auf Hegel datieren, der dem Kantischen Apriorismus auch in der praktischen
Philosophie das historische Begreifen der Geschichte der Sitten, Rechts-
ordnungen, Religionen etc. entgegenstellte. Allerdings hatte bei Hegel diese
Geschichte noch ein begreifbar vernünftiges Ziel, das im »modernen«, auto-
nomiegewährenden aber zugleich disziplinierenden Staat schon weitgehend
erreicht war. Im weiteren Verlauf wurde auch diese Fortschrittsgewissheit

10 Jonas (1979), Prinzip Verantwortung; Birnbacher (1988), Verantwortung.


11 Vgl. Schilling (2018), Historische Erfahrung; Roper (2016), Martin Luther.
Einleitung xvii

erschüttert. Mit Nietzsche wird nicht nur das freie Spiel mit historischen
Verhaltensmustern, sondern auch die bewusste Umwertung traditioneller
Werte christlich jüdischer Moral philosophisch gerechtfertigt. Mit der Folge
allerdings, dass bis heute die Historisierung der Moral und die damit ver-
bundene »Relativierung« ehemals ewiger Sittengesetze oder naturrechtlicher
Begründungen als Gefahr für Ethik und Recht verstanden und manchmal be-
kämpft wird.
b) Der normative Begriff der Historisierung, von dem im Folgenden haupt-
sächlich die Rede ist, geht von der Notwendigkeit aus, für die Aufgaben der
modernen Ethik auf »historische« Erfahrungen zurückzugehen. Wenn das
überzeugt, können zumindest einige der Entwicklungen des beschriebenen
sozialen Wertewandels als Fortschritt im Sinne der Entwicklung zum Besseren
verstanden werden. Es kann auch bei der Begründung oder Rechtfertigung
sogar elementarer Rechte, wie der Menschenrechte, auf historische Er-
fahrungen zurückgegriffen werden.
Bei den gesellschaftlichen Großexperimenten,12 die bis zur Schaffung
eines »neuen Menschen« gingen, sind auch verheerende Rückfälle hinter
moralische und rechtliche Normen aufgetreten. Das droht auch bei zu-
künftigen technischen Entwicklungen, vor allem, wenn sie mit irreversiblen
Veränderungen der menschlichen und außermenschlichen Natur verbunden
sind. Da man diese Verluste nicht immer antizipieren kann, gelten inzwischen
reversible Techniken als wünschenswert oder gar geboten.
Eine im normativen Sinne historisierte Ethik berücksichtigt »Erfahrung«
erstens im Sinne eines Testes der »Lebbarkeit« alter und neuer Normen und
Wertesysteme – zuletzt vor dem Hintergrund der erwähnten und noch aus-
zuarbeitenden Zielvorstellung einer guten Welt. Zweitens prüft sie Normen
im Lichte historischer Konsense über Unrechtserfahrungen. Dabei haben
sich, wie gezeigt werden soll, einige als so unerträglich erwiesen, dass die
Werte und Normen, die ihre Wiederholung verhindern sollen, als irrever-
sibel gültig gelten können. Die Historisierung der Moral durch die Öffnung
zu historischen Erfahrungen führt damit selber zu einer Grenze historischer
Relativierung. Was in tabuisierenden Forderungen des Zeitbewusstseins nach
1945, wie »Nie wieder Auschwitz«, zum Ausdruck kommt und zum Postulat
unverletzbarer Menschenwürde und Menschenrechten geführt hat, lässt sich
philosophisch rechtfertigen. Dabei kann die Irreversibilität auch mit einer
Reihe begrifflicher und theoretischer Überlegungen gestützt werden, die sich
auf zumindest relativ konstante Eigenschaften des Menschen und seiner
Lernprozesse beziehen. Ihre Bewusstwerdung und die Realisierung der ihnen

12 Vgl. Krohn (2007), Realexperimente.


xviii Einleitung

zugrundeliegenden Kompetenzen und Dispositionen ist zwar selber von


historischen Prozessen abhängig. In diesen sind sie aber entdeckt und nicht er-
funden worden. Faktisch unveränderlich sind sie nicht, aber ihre gewollte oder
technische Veränderung könnte die Grenzen von Moral und Recht überhaupt
sprengen. Zu zeigen, dass beides möglich und richtig ist, die Historisierung der
Moral und deren Begrenzung durch irreversible Rechte und Pflichten, ist eines
der wesentlichen Ziele dieses Buches
3. Beide Prozesse haben eine Re-Integration der menschlichen Vernunft
in Natur und Geschichte zur Folge. Die Krisenerfahrungen der Technik
problematisieren das Projekt einer Kontrolle der Natur mittels einer Vernunft,
deren wahre »Heimat« eine intelligible Welt ist. Die Einsicht in die Notwendig-
keit, aus kulturellen Erfahrungen zu lernen, problematisiert das Projekt einer
Metaphysik der Sitten aus reiner praktischer Vernunft. Die Re-Integration der
menschlichen Vernunft in die Welt der Geschichte, der Natur und des Leibes
ist aber auch die Voraussetzung dafür, Ziele und Grenzen der Technik erörtern
zu können. Bei aller Bedeutung, die etwa Kants Begriff der Achtung der Würde
als Verbot der Instrumentalisierung für den modernen Begriff der Menschen-
würde hat, lassen sich aus ihm weder für die technische Veränderung der
menschlichen Natur noch die Beurteilung der spezifischen Menschenrechte,
ihrer institutionellen und materiellen Voraussetzungen hinreichende Kriterien
gewinnen (s.u. S. 23).
Wenn der Respekt vor der Würde nicht dem »Göttlichen« des Sittengesetzes
im Menschen, sondern seiner sterblichen und verletzlichen Individualität gilt,
dann braucht man Begriffe mit »Empfindungsgehalt« (Avishai Margalit).13
Sie setzen die Offenheit der Vernunft für kollektive emotionale Erfahrungen
voraus, deren Resultate in Normen und Institutionen – das Letztere vor allem
im Recht – eingegangen sind. Erst recht gilt das für die Bedürfnisse und die
Werteigenschaften der außermenschlichen Natur, die vor fortschreitender
Technisierung zu »retten« sind. Die weltweit erreichten Regelungen, vor
allem zur Biodiversität und zum Naturerbe, lassen sich nicht mit einer reinen,
sondern nur mit einer verkörperten und in natürliche Prozesse re-integrierten
Vernunft verstehen und rechtfertigen oder kritisieren. Dafür argumentieren
die Ausführungen dieses Buchs.
In der Beurteilung der Technisierung des menschlichen Körpers, an den
seine Vernunft gebunden ist, kommen beide Prozesse zusammen. Welche

13 Zum Empfindungsgehalt der ethischen Grundbegriffe Würde, Achtung und De-


mütigung vgl. Margalit (1999), Politik der Würde, S. 276. Zum Sittengesetz als Gött-
liches im Menschen, vor allem beim späten Kant, vgl. Enskat (2008), Religion trotz
Aufklärung, S. 96-98.
Einleitung xix

moralischen Grenzen gibt es für eine solche Technisierung? Sind diese selber
der Historisierung entzogen? Eine, wenn auch nicht die einzige Grenze soll im
Folgenden für beide Prozesse nachgewiesen werden: die Menschenwürde und
die mit ihr verbundenen Menschenrechte. Auch wenn sie historisch entdeckt,
politisch umstritten und faktisch umkehrbar sind, kann ihre normative Un-
umkehrbarkeit gezeigt werden. Dazu muss gegen die Grenzenlosigkeit der hier
geforderten Historisierung der Moral argumentiert werden. Es wird nicht ein
einziges, sondern eine Reihe von Argumenten dafür geben, sowohl begriffliche
wie historische (vor allem Kap. 4 und 5).
Zum Schluss dieser Einleitung ein Vorblick auf den Inhalt. In den ersten
beiden Kapiteln des Buches geht es um die Möglichkeit und Methode einer
Ethik, die für eine Bestimmung der Grenzen der Technisierung der Natur taug-
lich ist. Philosophische Ethik war lange darauf beschränkt, Normen, Tugenden
und Werte im Zusammenleben der Menschen zu ergründen und zu begründen.
Die Natur, die externe und die menschliche, diente dabei vor der Neuzeit als
Reservoir vorbildlicher Prozesse, denen menschliches Handeln nacheifern
sollte. Die Bestimmung der menschlichen Natur konnte seiner Definition als
vernunftfähiges Lebewesen entnommen werden, die außermenschliche Natur
war hinzunehmen, wie sie ist. Die neuzeitliche Naturbeherrschung dient da-
gegen der Autonomie und dem Wohlergehen ihres Beherrschers. Wenn sie
heute die natürliche Basis der Moral wie die Werte einer nicht vollständig
kontrollierten Natur gefährdet, bedarf es neuer Kriterien für die »Güte« der
Natur.
Dazu muss zunächst der Sinn unserer Rede von »der Natur« geklärt werden.
Das erste Kapitel unterscheidet sowohl engere – Natur als Kontrastbegriff zu
Technik und Kultur als bewusstes Herstellen und Kontrollieren – wie weitere
Begriffe der Natur als materielles, raumzeitliches und kausales Kontinuum.
Während es bei letzterem heute – vorläufig beschränkt auf die Erde und den
nahen Weltraum – um Fragen der Erhaltung menschlicher Lebensbedingungen
geht, stellt sich beim engeren Begriff die Frage nach der Erhaltung von Natür-
lichkeit überhaupt durch Begrenzung der Technik. Zu ihrer Beantwortung be-
darf es einer mehr als privaten Auffassung von den Werten der Natur. Dazu
muss die Ethik über Kriterien des Guten einer erstrebenswerten Natur ver-
fügen sowie über eine Methode des bewertenden Beschreibens. Das ist Gegen-
stand des zweiten Kapitels.
Selbst wenn der Mensch der Natur nicht als grenzenloser Herrscher gegen-
überstehen, sondern in eine erstrebenswerte Natur integriert werden soll,
kommen ihm andere Güter zu als anderen Lebewesen. Das sind vor allem
Rechte, deren Einhaltung er von Mitmenschen und Institutionen einklagen
und zu der er sich selber verpflichten kann. Sie sind auch die ersten Kriterien für
xx Einleitung

eine Verbesserung der Welt, die heute zweifellos noch nicht »menschenrechts-
freundlich« ist. Eine solche nicht-technische Kategorie der Verbesserung ist
auch ein Kriterium des technischen Umganges mit der Natur, wenn auch nicht
das einzige. Fragen der Begründung oder Rechtfertigung der Menschenrechte
werden im Mittelteil dieses Buches (Kap. 3-5) diskutiert. Dabei wird ein Weg
verfolgt, der zur Überwindung der beiden Hauptgegensätze der Menschen-
rechtsdebatte führen könnte: Nämlich zwischen Zeitlosigkeit und Historizi-
tät sowie zwischen Individualismus und der Gemeinsamkeit von Werten und
Zielen.
Zu einem für den Menschen guten Leben gehören aber auch andere Kate-
gorien als Rechte, zumindest Wohlergehen oder Glück, Sinnerfüllung und
moralisch richtiges Leben – das alles im Rahmen seiner Sterblichkeit. Auch diese
Ziele bzw. ihre Erfüllung sind an das Gedeihen von sozialen Gemeinschaften
gebunden – teils sind sie davon abhängig, teils tragen sie (»kontributiv«) dazu
bei. Um die Kriterien dafür und um das Verhältnis der menschlichen Güter zu
denen der nicht-menschlichen Natur geht es im 6. Kapitel.
Das siebte Kapitel widmet sich ontologischen Fragen einer »historisierten«
Ethik, die der Technisierung der Natur von der Vorstellung einer im um-
fassenden Sinne – d.h. auch für die nicht-menschliche Natur – erstrebens-
werten Welt aus Grenzen setzt. Es geht um den ontologischen und modalen
Status einer solchen handlungsleitenden Idee,14 die an eine Beschreibung der
materiellen, kontingenten und sich entwickelnden Welt, in der Menschen leben,
gebunden ist. Das Verhältnis dieser Idee zu den auch für eine historisierte Moral
irreversibel geltenden Normen – Menschenwürde und Menschenrechten –
ist Gegenstand des Schlusskapitels (8.). Es ist eine zentrale Aufgabe mensch-
lichen Handelns, die möglicherweise auftretenden Spannungen – wie sie am
Beispiel der Öko- oder Klimadiktatur schon öffentlich diskutiert werden – zu
vermeiden. Konkrete Ethik arbeitet dabei mit anderen Wissenschaften, der
Öffentlichkeit und der Politik zusammen. In diesem Buch geht es aber im
Wesentlichen um grundsätzliche ethische Voraussetzungen. Ihre Anwendung
für konkrete Probleme der Bio- oder Technikethik steht nicht im Zentrum.15

14 Um keine Verwechslungen mit der dualistischen oder geistmonistischen Tradition


der »Idee« von Platon bis Hegel aufkommen zu lassen, habe ich statt Idee in früheren
Texten zur konkreten Ethik von »Rahmenvorstellung« gesprochen, die historisch und
empirisch – statt sozusagen aus eigener Kraft – konkretisiert wird. Vgl. dazu im Folgenden
Kap. 2.2 und 7.1
15 Vgl. aber Siep (2013), Moral und Gottesbild.
Kapitel 1

Technisierung der Natur und philosophische Ethik

1.1 Nachmetaphysische Naturbegriffe

Der Mensch lebt in und von etwas, das er nicht »gemacht« bzw. hervorgebracht
hat. Das gilt auch noch, wenn er in Städten oder artifiziellen Gebilden (Fahr-
zeugen, Wohnungen) von temperierter Luft und bearbeitetem Wasser lebt. Er
hat seine Umgebung zwar vielfach verändert, aber die Erde und den Weltraum
hat er nicht hervorgebracht – auch wenn er die Oberfläche der Erde (nicht
sehr tief) »umgepflügt« hat und im Weltraum inzwischen auch technische
Produkte des Menschen anzutreffen sind. Es ist auch fraglich, ob irgendetwas
Menschenähnliches, mit annähernd analogem »Verstand« und/oder Willen
Ausgestattetes (Gott, intelligentes Wesen, Weltvernunft) dieses Umfassende
hervorgebracht hat. Einen Schöpfer anzunehmen ist für viele Menschen
plausibel. Es ist aber für die konsistentesten und am besten belegten Er-
klärungen des Entstehens und der Entwicklung der materiellen Welt nicht
mehr nötig. Diese scheint eher aus sich selbst entstanden und entwickelt, also
im Sinne ihres ersten philosophischen Begriffes »Natur« (physis), das »von
sich her Aufgehende« (Heidegger)16 zu sein.
Im Folgenden wird »Natur« aber nicht nur im intensionalen Sinne des
nicht vollständig vom Menschen hergestellten oder Kontrollierten verwandt.
Unter »Natur« wird auch das raum-zeitlich-kausale Kontinuum verstanden, in
dem alle an Materie gebundenen Ereignisse, natürliche und kulturelle, statt-
finden und das sie voraussetzen. In Bezug darauf verwenden wir die Begriffe
»Natur« und »Welt« koextensiv. Da auch dieses Ganze nicht vom Menschen
gemacht und kontrolliert wird, umfasst Natur im Sinne des Weltalls alles
»Natürliche« ebenso wie alles Künstliche. Die Frage nach Ziel und Grenzen
der Technisierung ist dann die, ob es in der Welt oder der umfassenden Natur
noch Natürliches geben soll. Dann müsste auf das Ziel der perfekten Kontrolle
verzichtet werden.
Setzt eine solche Perspektive nicht ein transzendentales oder sogar
transzendentes Subjekt voraus, von dem aus überhaupt erst die Einheit einer
Welt oder Natur konstituiert wird? In diesem Buch geht es nicht um naturphilo-
sophische oder ontologische Fragen, daher hier nur eine Andeutung meines

16 Das ist bekanntlich Martin Heideggers Übersetzung von griech. »physis« in: Die Frage
nach der Technik (Heidegger (1967), S. 11).
2 1 Technisierung der Natur und philosophische Ethik

Verständnisses und Begriffsgebrauchs: Die Einheitssicht auf die Welt ist von
einer doppelten innerweltlichen Perspektive aus möglich. »Innerweltlich«,
weil wir derzeit allen Grund zu der Annahme haben, dass diese Perspektiven
materielle Träger (wie Gehirne) voraussetzen. Beide Perspektiven sind in
der menschlichen Kommunikationsgemeinschaft verbunden – unterstützt
durch zahlreiche technische Instrumente. Die eine ist die Perspektive von
Subjekten oder Personen, die zu einer begrifflichen Sprache, zum Aufstellen
von Gesetzeshypothesen und zur Erarbeitung allgemeingültiger Theorien
(»Wissenschaft«) fähig und die sich selbst reflexiv zugänglich sind. Die andere
ist die eines »menschheitlichen« Bewusstseins oder Gedächtnisses,17 das sich
in Kommunikationsgemeinschaften von Personen herausbildet. Ihm ist das
gegenständliche Korrelat der Welt potentiell präsent ist. »Potentiell« bedeutet:
selber in Perspektiven und Ausschnitten, die aber zusammengefasst werden
können. In diesem veränderlichen »Menschheitsbewusstsein« sind alle Wahr-
nehmungen und Begriffe aufeinander beziehbar, aber sie müssen nicht alle
zugleich und in einer umfassenden Einheit präsent sein – wie noch in Hegels
absoluter Idee als einfacher Persönlichkeit.18 Ein solches Gedächtnis kann
auch durch maschinelle Speicher- und Rechnerkapazitäten gestützt und ver-
größert werden, bedarf aber der Instantiierungen mit unmittelbar reflexivem
Selbstbezug.19
Menschen als sozial Handelnde, miteinander Kooperierende und sich Ver-
ständigende müssen eine solche Natur oder Welt voraussetzen – erst recht in
Zeiten, in denen die Bewohnbarkeit dieser Welt selber von ihrem koordinierten
Handeln abhängt. Das gilt unabhängig von den Gesetzes- und Theoriebegrif-
fen der Naturwissenschaften, etwa der Frage nach der Einheit der physikali-
schen Grundtheorien. Es ist auch unabhängig davon, ob es in der Phantasie
oder in theoretischen Konstrukten Antinomien oder »Sprünge« (saltus) geben
kann. Sogar wenn religiöse Weltanschauungen Sprünge in der Natur durch
übernatürliche Einwirkungen für möglich halten, müssen sie sich lebenswelt-
lich auf eine solche kontinuierliche Welt einlassen. Sonst können Menschen,
die diese Welt gemeinsam »bewohnen«, keine Übereinkünfte mit nicht
wundergläubigen Menschen schließen und ihre Handlungen mit ihnen ko-
ordinieren. Das gilt auch für diejenigen Handlungen, die heute und in Zukunft

17 Vgl. dazu Jan Assmanns Arbeiten zum kulturellen Gedächtnis (Assmann (2007),
Das kulturelle Gedächtnis). Ich gehe hier aber von einem Bewusstsein nicht nur der
kulturellen Vergangenheit aus, sondern auch von Natur, Gegenwart und antizipierbarer
Zukunft.
18 Vgl. dazu Siep, (2018a), Die Lehre vom Begriff, S. 753-766.
19 Vgl. Quante (2018), Pragmatistic Anthropology, S. 67-82; Gethmann (2016), fundamentum
inconcussum.
1.1 Nachmetaphysische Naturbegriffe 3

für die Erhaltung der Bewohnbarkeit zumindest der Erde nötig sind. Eine
solche ist aber auch nicht unabhängig von kosmischen Fernwirkungen. Die
notwendig gewordene menschheitliche Sorge um die Bewohnbarkeit der Welt
macht ihre zumindest lebensweltliche Einheit evident.
Was den engeren Naturbegriff angeht, so wird seine Unterscheidbarkeit vom
»Kultivierten«, von Menschen Beeinflussten, gerne in Frage gestellt. Vieles von
dem, was in der Umgangssprache oder den Wissenschaften »Natur« genannt
wird, ist zwar nicht völlig vom Menschen hergestellt, aber doch mehr oder
minder weitgehend von ihm verändert oder beeinflusst. Das gilt heute auch für
das Klima und in der Folge von denjenigen Landschaften, die der Mensch nicht
bewusst »kultiviert« bzw. auf seine Nutzung zugerichtet hat (schmelzende
Gletscher, »umgekippte« Salzseen etc.). Im Sinne eines Kontrastbegriffes zu
den von Menschen, teilweise unter Benutzung natürlicher Stoffe, hergestellten
Gebilden der Zivilisation, Technik, Kultur kann man diesen Bereich von
Objekten und Prozessen – darunter beeinflussten, aber nicht kontrollierten
Wachstumsprozessen – immer noch »Natur« nennen.
Naturbegriffe haben zweifellos eine eigene Geschichte, über die gerade in
den letzten Jahren viel geforscht wurde. Für meine Argumentation kommt
es vor allem auf die Wandlungen im modernen, nicht mehr durchgängig von
Metaphysik und Religion geprägten Verhältnis des »technischen« Menschen
zur Natur an. Der Mensch ist unter den Lebewesen offenbar das am wenigsten
an seine Umgebung angepasste, aber zugleich das zur aktiven Anpassung am
besten geeignete.20 Er hat sich »die Erde untertan«, bewohnbar, fruchtbar etc.
gemacht – bis in die letzten Winkel der Gebirge und der Meere (quantitativ
noch vergleichsweise geringfügig, aber tendenziell unbegrenzt). Zugleich hat
er gelernt, vielleicht bei zunehmender Entlastung von Selbstbehauptung,
dasjenige, in dem er lebt, »an sich« (d.h. ohne Verwendungsinteresse) an-
zuschauen, zu verstehen und zu genießen (er-leben) – in der Neuzeit durch
Kunst und Reise, heute auch im »Massentourismus«.
Die Natur gilt ihm nicht mehr als Ort feindlicher oder günstiger Dämonen,
aber für die meisten auch nicht als Lobpreis ihres Schöpfers, wie in der christ-
lichen Tradition. Sie erscheint nach den gegenwärtig besten Theorien ihrer Er-
klärung aus sich selbst entstanden und auf keinen externen Zweck bezogen.21

20 Es gibt aber Theorien, nach denen die Menschheit vor ihrer kulturellen Entfremdung
von der Natur eine stabile und für sein Wohlergehen förderliche evolutionäre Nische
einnahm. Sie schließen an die Rousseau-Kritik der menschlichen kulturellen Selbstent-
fremdung an – und über diese an (überzogene) Konzeptionen eines kulturellen Sünden-
falls, spätestens seit der Neuzeit. Vgl. Narvaez (2016), Baselines for Virtue.
21 Sie existiert aber nicht notwendig und entspricht daher nicht den klassischen Gottes-
begriffen (ens necessarium).
4 1 Technisierung der Natur und philosophische Ethik

Die außermenschliche Natur, ihre Prozesse, Ereignisse, Gegenstände und


Lebewesen steht dem Menschen gegenüber in einer dreifachen Beziehung:
Sie ist ihm gegenüber gleichgültig und potentiell dienlich – d.h. zu seinen
Gunsten anzueignen – oder schädlich, durch Mangel und durch Zerstörungen
(vor allem »Naturkatastrophen«). »Feindlich« ist dagegen ein verfehlter
Anthropomorphismus, der Absichten und Ziele impliziert. Auch eine durch
menschliche Klimaveränderung gänzlich »unwirtlich« gewordene Natur hat
keine feindlichen Absichten.
Auch in ästhetischer und hedonischer Hinsicht ist Natürliches und Natur
nicht nur als übermenschliches Werk, sondern für sich bewundernswert. Nicht
jeder erschließt sie sich als Naturerfahrung mit emotionalen und (mehr oder
minder tiefreichenden) kognitiven Aspekten. Andere genießen sie als Be-
dingungen lustvoller menschlicher Aktivitäten oder von Entspannung. Der
eigene Körper als ein »Stück« kultivierter Natur ist ebenfalls nicht mehr nur
Instrument moralischer oder religiöser Ziele.22 Seine Zustände und Aktivitäten
können für sich selber genossen werden, rechtlich ist dabei nur die Schädigung
anderer verboten, moralisch sind Pflichten gegen den eigenen Körper um-
stritten. Geistige Freuden sind an ihn gebunden und benötigen keine andere
»Substanz«, wenngleich viele Medien sie steigern können. Anstrengungen und
Opfer sind oft auf eine Steigerung der körperlichen und körpergebundenen
Leistungen selber gerichtet (Sport, »Abenteuer« etc.).
Bewusst wird aber auch, in wie tiefgreifendem Maße der Mensch die Natur
durch seine Aktivitäten verändert, und dabei eben das zu gefährden beginnt,
was er in den letzten Jahrhunderten als Quelle der Freude und Bewunderung
zu schätzen gelernt hat. Das ist zum Teil eine Folge mühsal-entlastender
und genuss-steigernder Technik. Die technische Steigerung der Leistung von
Mitteln der Mobilität, der Produktion und der Kommunikation hat tiefe Spuren
hinterlassen: »verkehrsgerechte« Städte und Landschaften, industrielle Land-
wirtschaft, erhöhter Energieverbrauch, Klimaveränderung etc. Das Ziel einer
Beherrschung der Natur zum Zweck der Ersparung von Mühsal und Leid ist
weitgehend dem der Anpassung der Natur an die Bedingungen der Technik
gewichen. Die sich ständig erweiternden Möglichkeiten und Leistungen
technischer Geräte sind selber zum Maßstab einer Verwandlung der Natur,
einschließlich des menschlichen Körpers, geworden.23 Man kann von einem

22 Charles Taylor spricht von der »Bejahung des gewöhnlichen Lebens«, so der Titel des
dritten Teils von Taylor (1994), Quellen des Selbst. Vgl. dazu Halbig (2013), Der Begriff der
Tugend, S. 72.
23 Man kann darin den nächsten Schritt sehen nach der Nachahmung der Natur und dem
Stadium, in dem »der Natur etwas vorausgemacht wird«, wie Blumenberg (2015, Verhält-
nis von Natur und Technik, S. 27) formuliert.
1.1 Nachmetaphysische Naturbegriffe 5

Technikdeterminismus sprechen, der in der Digitalisierung einen neuen


Höhepunkt erreicht hat.24
Das gilt quantitativ vor allem im Sinne von Geschwindigkeiten in allen
Dimensionen (Bewegung, Informationsübermittlung, Berechnung) und von
»Speicherkapazitäten«. Es gilt aber auch qualitativ im Sinne der Realisierung
von technischen Phantasiewelten. Deren Inhalte tendieren wohl in die
Richtung einer »idealisierten«, d.h. von Mangel und Vergänglichkeit befreiten,
Natur – wie schon in traditionellen Vorstellungen verwandelter Natur (Paradies,
Himmel, Utopie). Dass eine umfassende Realisierung auch die Verwandlung
des menschlichen Körpers samt seinen emotionalen und intellektuellen
Fähigkeiten – vor allem seiner »Sozialverträglichkeit« – voraussetzt, versteht
sich von selbst. Mit dem Material des »alten« Menschen, zum Teil auch mit
traditionellen Züchtungsmaßnahmen (Eugenik) sind Sozialutopien in den
letzten Jahrhunderten schrecklich gescheitert. Ob es gut ist, den »neuen« bio-
technologisch oder mithilfe vernetzter Technologien zu schaffen, und was
dabei die Ziele und Grenzen des Umganges mit der menschlichen Natur sind,
ist zentrales Thema sozialer und politischer Auseinandersetzungen geworden.
Wenn die Philosophie es noch mit dem »guten Leben« und den umfassenden
Zielsetzungen zu tun hat, dann muss sie dafür Kriterien entwickeln. Es geht
aber auch um die Folgen für Rechte und Pflichten, vor allem der Autonomie
und der Gerechtigkeit, die nicht nur Philosophen für unverletzlich gelten.
Philosophie kann sich nicht, wie manche Religionsvertreter, auf die Ver-
teidigung traditioneller Normen oder ein unveränderliches Naturrecht zurück-
ziehen. Wenn sie dem – der griechischen Kultur entstammenden, in der
Neuzeit essentiell gewordenen – Anspruch gerecht werden will, mit den am
besten begründeten wissenschaftlichen Methoden und Ergebnissen überein-
zustimmen, muss sie zur Kenntnis nehmen, dass sowohl Natur wie Wert- und
Normvorstellungen in Entwicklung begriffen sind. Nicht nur die biologische
Natur unterliegt einer ständigen Evolution, es gibt auch eine »Erdgeschichte«
und eine Entwicklung des Weltalls. Auch die menschliche Kultur unterliegt
einer Geschichte, d.h. einer Abfolge von Veränderungen, deren Akteure sich
bewusst auf die Vergangenheit beziehen, Ziele für die Zukunft verfolgen, aber
auch frühere Stadien zum Vorbild nehmen können. Alle diese Geschichten
sind voneinander abhängig, verlaufen aber nicht nach denselben Mustern
oder Gesetzmäßigkeiten. Es mag zwar auch in der menschlichen Kultur
Neuerung, Wettbewerb und Überleben des »Erfolgreichen« geben. Aber die

24 In diesem Sinne vor allem Mainzer (2016) und Grunwald (2019a, Digitalisierung als
Prozess, S. 139 f.), der diesen Determinismus teilweise für eine Ideologie zur Vermeidung
ethischer Wertung hält.
6 1 Technisierung der Natur und philosophische Ethik

biologischen Gesetzmäßigkeiten von Mutation und Selektion sind dafür nur


eine »schwache«, wenig aussagekräftige Erklärung. Es wird der Komplexität
von kulturellen Entwicklungen nicht gerecht, wenn sie nur unter dem Ge-
sichtspunkt der Anpassungsvorteile für die biologische Fitness, d.h. die Ver-
breitung von Genen und ihren Kopien, betrachtet werden. Plausibler ist, dass
die verschiedenen Entwicklungen eigenen, nur teilweise analogen, Mustern
und Gesetzmäßigkeiten folgen.

1.2 Normquellen für die Naturveränderung

Zur Kulturgeschichte gehört auch eine Geschichte der Normen und Werte
sowie der dazugehörigen Begründungen. Dabei gibt es durchaus Konstanten,
wie der moralische Standpunkt des wohlwollend unparteiischen25 Be-
obachters oder Grundzüge einer universalen, allen »Beobachteten« gleiche
Ansprüche zugestehenden Moral. Einstellungen der Kooperativität und
des Vermeidens wechselseitiger Schädigungen mögen sogar biologisch-
stammesgeschichtliche Wurzeln haben.26 Auf der anderen Seite bedurfte es
langer kultureller Entwicklungen, bis der Gedanke gleicher (Grund)Rechte
aller Menschen zumindest als Norm etabliert war. Die meisten Sprachen und
Kulturen verwenden asymmetrische Begriffe zur Bezeichnung der anspruchs-
berechtigten Mitglieder der eigenen Gruppe und derjenigen der weniger Be-
rechtigten der übrigen Gruppen.27 Sollte die »Sakralisierung der Person«
(Hans Joas) bereits in der Achsenzeit beginnen, sind langlebige Normen inner-
halb einer Geschichte – zumeist parallel verlaufender Geschichten, eine ge-
meinsame Weltgeschichte der Kultur und der Normen steht heute allenfalls
am Anfang – offenbar möglich.28

25 Vgl. Baier (1974), Der Standpunkt der Moral. Unparteilichkeit heißt nicht unbedingt
Gleichgültigkeit gegen soziale Nähe oder angeborene Regungen, wie Tugendethiker das
befürchten (vgl. Annas (2005),Virtue Ethics). Mit der Anerkennung prinzipiell gleicher
Ansprüche von Menschen ist die Differenz zwischen Nah- und Fernpflichten vereinbar
(s.u. S. 128 f.).
26 Tomasello (2016), Naturgeschichte der menschlichen Moral. Im Bereich nahe ver-
wandter Tiere sind aber auch Aggressivität, Kindstötung und gewalttätige Eroberung von
Territorien verbreitet. Vgl. Sachser (2018), Der Mensch im Tier, vor allem Kapitel 7.
27 Koselleck (1979), Historisch politische Semantik, vor allem S. 213: infedeles, impii,
increduli, perfidi, inimici dei.
28 Joas (2011), Die Sakralität der Person sowie ders. (2017), Die Macht des Heiligen. Kritisch
zur Achsenzeit-Theorie: Assmann (2018), Achsenzeit, vor allem S. 290-293. Zu Joas Thesen
vgl. Kühnlein (Hg.) (2019), Der Westen und die Menschenrechte, (darin auch mein Bei-
trag: Siep (2019b), Sakralisierung und Genealogie).
1.2 Normquellen für die Naturveränderung 7

1.2.1 Natur- und Vernunftrecht


Gänzlich entwicklungsunabhängige Normen wären aber nur unter einer von
zwei Voraussetzungen möglich: Erstens, wenn eine unveränderte menschliche
Natur Quelle der Normen wäre. Wenn die Natur aber keinen intelligenten Plan
zum Ausdruck bringt und natürliche Entwicklungsprozesse nach dem Ende
der teleologischen Erklärungen keine Ziele enthalten, die für menschliches
Handeln vorbildlich sind, entfällt die Möglichkeit, von ihr Normen »abzu-
lesen«. Die physische menschliche Natur ist auch trotz eines langsamen Ver-
laufs der natürlichen Evolution in historischen Zeiten nicht unveränderlich.
Potentiale und Eigenschaften des menschlichen Körpers, etwa Lebensdauer,
Krankheitsresistenz und Genussfähigkeit sind durch kulturelle Einwirkungen
erheblichem Wandel unterworfen. Die wichtigste Veränderung hinsichtlich
der Natur als Normquelle ist aber der Bedeutungsverlust natürlicher Unter-
schiede für die Rechte der Individuen. Die Berufung auf natürliche Vorrechte
und Privilegien wird seit dem 18. Jahrhundert in Europa zunehmend unhaltbar.
Die zweite möglicherweise geschichtsunabhängige Quelle neben der Natur
wäre eine von natürlichen und historischen Veränderungen gänzlich un-
berührte Vernunft. Vernunft, die mehr ist als zweckrationales Überlegen, hat
sowohl als theoretische wie als praktische zwei konstitutive Elemente: All-
gemeinheit und Verpflichtung. Zur Erkenntnis im anspruchsvollen Sinne
der griechischen theoria gehört die Verpflichtung, privates Wunschdenken,
Eingebungen und Einfälle zu überwinden zugunsten allgemeiner Begriffe
und Urteile, die für alle nachvollziehbar sind.29 Nur für solche Erkenntnisse
können Wahrheitsansprüche erfolgreich sein. Für die Gerechtigkeit des
moralischen Standpunktes sind allerdings die Chancen auf für alle einsichtige
»Wahrheiten« geringer als in der Theorie. Das hängt, wie schon Aristoteles
wusste, mit der Veränderlichkeit und »Multiperspektivität« der Welt des
sozialen Handelns zusammen. Dafür ist aber die Handlungsverpflichtung bei
moralischen Urteilen ausgeprägter: Etwas als gerecht oder gut einsehen, heißt
prima facie, zu entsprechendem Handeln verpflichtet zu sein – moralische
Vernunft ist selber verpflichtend oder (mit Kant) »praktisch«.
Das gilt für ganz konkrete Einsichten wie die, das irgendwo Hilfe not-
wendig ist, die man selber leisten kann, wie für allgemeine, dass Wohlwollen
und Unparteilichkeit auch geschuldet sind. Aus der Selbstbindung an eine ge-
meinsame Gesetzgebung für »Selbstzweckwesen« – um die Kantische Auto-
nomie einmal so abgekürzt zu formulieren – folgen einige Grundprinzipien

29 Brandom (2000, Making it Explicit) hat den Verpflichtungscharakter von Urteilen, die
als wahr behauptet werden, herausgearbeitet. Das gilt auch für diejenigen, die Urteile
anderer (ernsthaft) akzeptieren.
8 1 Technisierung der Natur und philosophische Ethik

des menschlichen Handelns. Dass nur Vernunftwesen nicht gänzlich ins-


trumentalisiert werden dürfen, leuchtet aber angesichts der heutigen Er-
kenntnisse über nicht-vernünftige Wesen nicht mehr ein. Zudem sind seit der
antiken (griechischen) Philosophie viele Gründe geltend gemacht worden, die
gegen eine rein »noumenale« Vernunft und ihre Trennbarkeit von den übrigen
menschlichen Vermögen und Strebungen sprechen.30 Aus einer solchen lassen
sich in der neuen historischen Situation, die gesamte Natur – einschließlich
des menschlichen Körpers – frei gewählten Zielsetzungen unterwerfen zu
können, keine normativen Ressourcen entnehmen. Die Autonomie einer
reinen Vernunft enthält nur wenige Grenzen für die »hardware«, in der sie um-
gesetzt werden kann: autarkere und perfektere Körper wären dafür unter Um-
ständen geeigneter – ebenso eine Natur, die menschlichen Wünschen optimal
angepasst wäre und daher wenig Anlässe zum Konflikt über knappe Lebens-
mittel böte.
Für die Frage, in welcher Natur und in welchem Körper zu leben, lohnens-
werte Ziele menschlichen Handelns wären, enthält die neuzeitliche
Autonomieethik – auch in der Form der Ethik des rationalen Diskurses – keine
ausreichenden Kriterien. Dasselbe lässt sich für andere moderne Formen der
Ethik zeigen, die von der Harmonisierung subjektiver Präferenz- und Nutzen-
realisierungen ausgehen.31 Notwendig sind basale Vorstellungen einer er-
strebenswerten Natur, die ein gutes Leben für den Menschen und für andere
Lebewesen zulässt. Sie können weder einer Philosophie reiner Vernunft
noch einer wertfrei beschreibenden und erklärenden Wissenschaft kausaler
Prozesse entnommen werden. Niemand muss solche Prozesse für gut, nach-
ahmenswert oder erhaltenswert halten, wenn er dazu nicht Gründe hat, die
aus Bewertungen und Normen des Handelns folgen. Die Vormoderne hat über
solche Vorstellungen unter den Titeln Kosmos, Schöpfung oder auch Paradies
verfügt, aber sie sind in ihrer klassischen Form weder mit der evolutionären
Verfassung der Natur noch mit der autonomen Zielsetzung und Norm-
generierung der Menschen vereinbar. Man kann aber unter den Bedingungen
einer evolutionären Natur und einer historischen Normentwicklung noch
daran anknüpfen.

30 Meine eigenen Überlegungen dazu gibt Christoph Halbig treffend wieder in: Halbig
(2017), Normative Ansprüche der menschlichen Natur, S. 84-94.
31 Vgl. Siep (2016), Konkrete Ethik, S. 126-135 sowie ders. (2008), Erwiderungen, S. 246 f.,
276 f., 344 f.
1.2 Normquellen für die Naturveränderung 9

1.2.2 Moralsemantik und moralischer Standpunkt: Grundzüge einer


guten Welt
Wertvorstellungen einer Natur, die erhaltenswert ist und den Prozess der
Technisierung begrenzen soll, liegen heute in weltweiten Konventionen
über Naturerbe, Biodiversität, Bewahrung eines für alle Lebewesen förder-
lichen Klimas etc. vor. Die philosophische Ethik kommt zu Ergebnissen, die
grundsätzlich damit übereinstimmen, wenn sie die Begriffe des Guten und
des moralischen Standpunktes analysiert. Überlegungen zur Semantik der
moralischen Sprache, in der nicht nur Ausdrücke zeitgenössischer Moral-
sprache, sondern auch die erwähnten traditionellen Begriffe des höchsten oder
umfassenden Guten einbezogen werden, habe ich an verschiedenen Stellen
entwickelt.32 Wenn man jede Einseitigkeit und Festlegung auf bestimmte
Traditionen vermeiden will ist die Bedeutung von »gut« in der Sprache der
Ethik und des Alltags zu bestimmen als die des umfassend Erstrebenswerten
für alles, das gefördert oder geschädigt werden kann. Im formalen Sinn be-
deutet »gut« also erstrebenswert, im inhaltlichen ist alles Gute Bestandteil
eines für alle erstrebenswerten Zustandes der Welt.33
Wenn das Gute das für alle Förderliche und Erstrebenswerte ist, ergeben
sich die Kriterien einer basalen Gerechtigkeit als Teilen der gemeinsamen
Lebensgrundlagen unter einer Mannigfaltigkeit natürlicher und kultureller
Formen, Gruppen und Individuen. Ferner das Gedeihen, Wohlergehen und
die Berücksichtigung berechtigter Interessen, je nach der Entwicklungs-
höhe, d.h. der Komplexität, Organisation und Leistungsfähigkeit natürlicher
Wesen. Allgemeine Grundzüge einer erstrebenswerten (»guten«) Welt sind
also vor allem Mannigfaltigkeit, Natürlichkeit, Gedeihen und Gerechtigkeit.
Diese Begriffe sind nicht rein quantitativ zu verstehen. Eine Beschränkung
der Mannigfaltigkeit kann im Sinne des Zusammenlebens und Gedeihens er-
forderlich sein – etwa bei Arten des Lebendigen, die Koexistenz radikal beein-
trächtigen wie einige Parasiten oder pathogene Keime. Diese wechselseitige

32 Vgl. Siep (2016), Konkrete Ethik, vor allem Kap. 2 sowie Siep (2013), Moral und Gottesbild,
Kap. 8, S. 174-176 und 12 sowie Siep (2017), Braucht die moderne Ethik einen umfassenden
Begriff des Guten? S. 8-13 (vgl. auch u. S. 12 f. 157 f.).
33 Auch der kantische Begriff des unbedingt Guten als eines unabhängig von allen un-
kontrollierbaren Folgen erstrebenswerten gesetzlich-universalen Willens wird im Postulat
des höchsten Gutes wieder in den traditionell umfassenden Begriff eingeordnet (vgl. Siep
2017, Braucht die moderne Ethik, S. 11-13). Ein interessanter Beleg aus dem klassischen
Utilitarismus ist Sidgwick, der »gut« einerseits formal bestimmt als »dasjenige, was wir
pro tanto und soweit es in unserer Macht steht, herzustellen oder zu erhalten versuchen
sollen« und andererseits inhaltlich vom höchsten Gut als umfassend Erhaltens- oder
Herstellenswerten »für die Welt lebender Wesen oder für den Kosmos« her (Sidgwick
(2019), <Sein und Sollen> S. 81 f.).
10 1 Technisierung der Natur und philosophische Ethik

Einschränkung in Konfliktsituationen teilen die Grundzüge mit den Prinzipien


der Prinzipienethik oder auch mit Optimierungsgeboten im Recht.34
Von »Grundzügen« ist hier die Rede,35 weil sie nicht unmittelbare Hand-
lungsgebote darstellen oder an Tugenden orientiert sind, wie die Prinzipien
der Prinzipienethik. Sie gehören zum Grundriss einer erstrebenswerten Welt.
Seinsollen und Tunsollen sind dabei unterschiedlich akzentuiert: Mannig-
faltigkeit, Natürlichkeit und Gedeihen bringen primär wertvolle Zustände
und Prozesse zum Ausdruck. Weil handlungsrelevante umfassende Werte
ceteris paribus zu realisieren sind, sollen sie erhalten und befördert werden.
Gerechtigkeit setzt schon die Perspektive des wohlwollend unparteiischen
Beobachters voraus, der eine Welt lebender, bedürftiger, strebender und um
knappe Mittel streitender Wesen beurteilt. Gerechtigkeit fordert die Teilung
ihrer Lebensgrundlagen. Diese Perspektive konstituiert das »Sprachspiel« der
Moral und aller seiner gehaltvollen Begriffe. Ein solches Sprachspiel im Sinne
einer Lebens- und Denkform ist in der kulturellen Entwicklung der Menschheit
entstanden und kann wieder verschwinden.36 Es ist aber eng verbunden mit
demjenigen einer »theoretischen« im Sinne einer – ebenfalls unparteiisch –
zur Wahrheit verpflichteten Vernunft.
Es bedarf dieser Perspektive, um das für Lebewesen Gute – wozu auch
die anorganischen Bedingungen des Lebens gehören – zu erfassen und sich
zu seiner Förderung verpflichtet zu wissen. Das bedeutet aber nicht, dass
das Gute von ihr abhängig ist und nur während der »Lebensdauer« dieser
Perspektive existieren kann. Es leuchtet in einer evolutionären Sicht nicht
ein, dass die Welt erst durch einen ihrer zufälligen Spätkömmlinge über-
haupt Sinn und Güte erhält. Es folgt auch keine »Symmetriebedingung«: die
wohlwollend betrachteten Wesen müssen nicht selber zur Einnahme der
moralischen Perspektive fähig sein. Diese Perspektive ist für die zu ihr Fähigen
verpflichtend, hängt aber in ihrer Realisierung von kontingenten äußeren Be-
dingungen ab – der Knappheit von Mitteln des Gedeihens und der Knapp-
heit wechselseitiger Sympathien – wie schon David Hume gesehen hat.37 Bei

34 Vgl. Beauchamp/Childress (2019), Principles of Biomedical Ethics; Alexy (1994), Theorie


der Grundrechte.
35 Den Begriff benutze ich seit der ersten Auflage der Konkreten Ethik (2004), vgl. S. 43 u. ö.
36 Das geht auch aus der Charakterisierung der Moral bei Hardy (2017), Understanding
Ethical Reasoning, S. 62 hervor: »Morality is a mode of peoples encountering. As moral
agents we share the desire for common experiences of respect, solidarity, sincerity, and
trust«.
37 Vgl. Hume (1978), Traktat über die menschliche Natur, S. 239. Gerechte Verteilungen
wären aber auch dann richtig, wenn die Rahmenbedingungen entfielen.
1.2 Normquellen für die Naturveränderung 11

grenzenlosem Überfluss und grenzenloser Zuneigung, auf alle Adressaten in


gleichem Maße gerichtet, gäbe es keine Konflikte und Verteilungsprobleme.
Auf die kontingent gegebene Welt bezieht sich auch ein Wertaspekt, der für
die Grenzziehung der technischen Naturveränderung immer wichtiger wird:
derjenige der Natürlichkeit selber. Zum Wesen der modernen Technik gehört
das Streben nach Kontrolle. Prozesse sollen das Ziel erreichen, das Menschen
ihnen bewusst gesetzt haben. Selbst wenn man mit perfekt »zielführenden«
Prozessen nicht rechnet: Die Konstruktion »fehlerfreundlicher« Technik soll
das Abweichen nicht zur Katastrophe geraten lassen, d.h. die Kontrolle nach
Verlust soll möglichst schnell zurückgewonnen werden und die Abweichung
vom Ziel möglichst gering bleiben. Zu Kontrolle gehört die Fähigkeit, zukünftige
Prozesse so weit wie möglich vorhersagen und beeinflussen zu können. Im
digitalen Zeitalter wird dazu eine Fülle von Programmen und Applikationen
entwickelt – vor allem auch solche, die das zukünftige Verhalten und die
körperlichen Zustände von Menschen antizipieren und gewinnbringend oder
machtsteigernd beeinflussen können. Intensive Datenschöpfung und Persön-
lichkeitsprofilierung ist dafür vorausgesetzt.
Natürlichkeit bezeichnet dagegen eben die Eigenschaft von Prozessen und
ihren Resultaten, vom menschlichen Willen ganz oder teilweise unkontrollier-
bar zu sein. Die drastischste Form davon ist die »Naturkatastrophe«. Sie läuft
den menschlichen Absichten radikal zuwider, weil sie gewaltige Schäden in
Bezug auf unbestrittene menschliche Güter zur Folge hat (Leben, Gesund-
heit, Nahrung, Behausung etc.). In einer enttabuisierten Natur, in der keine
»höheren Absichten« mehr angenommen und berücksichtigt werden müssen,
dürfen Menschen sich zum Schutz dieser Güter gegen solche Katastrophen
wehren. Das gilt auch für natürliche Dysfunktionalität und Degeneration des
menschlichen Körpers – einschließlich ungewollter zivilisatorischer Einflüsse.
Ob die natürliche Vergänglichkeit des menschlichen Körpers, Alter, Sterben
und Tod aber nur Übel sind, die der Mensch so weit wie möglich technisch
überwinden muss, ist fraglich. Der Wert oder Unwert des Todes wird später
noch genauer erörtert (u. Kap. 6. 2).
Entgegen der »Logik« der Technik fragt es sich, ob es ein sinnvolles, für den
Menschen und alle Lebewesen gutes Ziel ist, Unkontrollierbarkeit überhaupt
abschaffen zu wollen. Was die äußere Natur angeht, würde dadurch nicht nur
eine Quelle von Überraschungen, der Entstehung von Neuem, des Reichtums
von Formen etc. »zugeschüttet« (um im Bild zu bleiben). Es würde der
Menschheit auch ein selbständiges Gegenüber genommen, zu dem sie eine
Art »dialogischer Beziehung« der Frage, Antwort, und der möglichen Selbst-
beschränkung haben kann – wie asymmetrisch mit einem sprachlosen Dialog-
partner auch immer.
12 1 Technisierung der Natur und philosophische Ethik

Was das menschliche Leben selber betrifft, so gehört zur Natürlichkeit auch
Altern, Vergänglichkeit und Tod. Sie bringen viel Leid mit sich und es ist nicht
einzusehen, warum man sich nicht mit technischen Mitteln dagegen wehren
darf. Wie der Anstieg der Lebenserwartung zeigt – wenn auch disproportional
zugunsten der wohlhabenden Länder – ist der Fortschritt auf diesem Gebiet
beträchtlich. Werden diese Grenzen aber immer weiter hinausgeschoben,
droht eine Überalterung der Menschheit und eine erhebliche Verlangsamung
der Generationenfolge. Das ist kein reiner Zugewinn an Wert. Zur Natürlichkeit
gehört daher auch Endlichkeit und Unvollkommenheit im Sinne der Verletz-
lichkeit und Vergänglichkeit der Individuen, ohne die es natürliche Mannig-
faltigkeit und eine gerechte Verteilung von Raum und Zeit zwischen Arten und
Generationen nicht gibt (s.u. Kap. 6.2).
Man kann Mannigfaltigkeit, Natürlichkeit, Gedeihen und Gerechtigkeit als
Grundzüge einer guten Welt bezeichnen, wie sie aus der Semantik des Be-
griffs des Guten und den Konsequenzen des moralischen Standpunktes unter
kontingenten Bedingungen »dieser« gegebenen Welt folgen. Sie nehmen
wesentliche Charakteristika traditioneller Bestimmungen von »Schöpfung«
oder »Kosmos« unter Bedingungen einer »Historisierung« von Natur und
Normativität auf, die sich auch in heutigen weltweiten Konventionen wieder-
finden. Sie kehren in gewissem Maße zu vor-neuzeitlichen Wertvorstellungen
der Natur zurück. Das unterscheidet sie von den weltweiten Konsensen über
Grundzüge der Gerechtigkeit unter den Menschen, von denen im Folgenden
(Kap. 3-5) ausführlich die Rede sein wird: Für die Menschenrechte sind
Modernisierungsprozesse und Rechtsfortschritte entscheidend. Auch dass
hier den weltweiten Übereinstimmungen über Werte der Natur ein so hoher
Stellenwert für die Ethik eingeräumt wird, gehört zur (modernen) Schätzung
von Autonomie und Zwanglosigkeit.
Sowohl zu den traditionellen wie den in der Moderne weitgehend kon-
sensuellen Vorstellungen gehört die der unterschiedlichen Gewichtung der An-
sprüche von Lebewesen nach ihrer »Organisationshöhe«. Die metaphysische
Konzeption der scala naturae bemaß sie allerdings vor allem nach der onto-
logischen Perfektion, d.h. der Annäherung an unzerstörbares (immaterielles),
ewiges und »geistiges« Sein. Ohne einen metaphysischen Dualismus oder
Geistmonismus ist davon nicht mehr auszugehen. Es entspricht aber sowohl
den Normkonsensen wie der evolutionären Erklärung der Natur, an einer ana-
logen Stufung festzuhalten. Es gibt dafür eine Reihe plausibler, wenn auch
keineswegs unkontroverser Argumente, wie der Streit über den Wert eines
Menschenlebens gegenüber dem »höherer« Tiere (Wölfe, Bären, Großkatzen,
Primaten) deutlich macht. Es ist aber plausibel, dass der Anspruch auf Leben
und Leidensfreiheit bei Wesen in steigendem Maße gewichtet wird, bei denen
1.2 Normquellen für die Naturveränderung 13

die Empfindungsfähigkeit differenzierter, die Individualität ausgeprägter,


die Zeitvorstellungen ausgedehnter und die Sozialbeziehungen dauerhafter
werden.38 Zudem liefert die Entwicklung der Normen und Bewertungen inner-
halb der menschlichen Kultur eigenständige Kriterien. Man kann also grob
von Gedeihen (Pflanzen), Wohlergehen (Tiere) und gutem Leben mit spezi-
fisch menschlichen Rechten als den spezifischen Gütern auf der Stufenleiter
der Natur sprechen.

1.2.3 Erfahrung mit Normen


Die soziale Lebensform der Moral und ihre Sprache sind kulturelle Konstanten,
aber nicht außerhalb von Zeit und Geschichte. Vor allem der Standpunkt des
unparteilich wohlwollenden Beobachters ist einem Prozesse der Inklusion,
der Einbeziehung moralisch zu Berücksichtigender ausgesetzt. Beide reichen
aber nicht aus, um in gegebenen historischen Situationen Ziele und Grenzen
des Umganges mit der Natur, einschließlich des Lebewesens Mensch, zu er-
mitteln. Die Vernunft der Ethik muss eine historisch belehrte Vernunft sein.
In ihr spielen belastbare Erfahrungen eine Rolle, womöglich sogar einige ir-
reversible. Aber in welchem Sinne kann von Erfahrung mit Normen und
normativen Weltbildern die Rede sein? Da es hier um das allgemeine Verständ-
nis normativer Erfahrungen in diesem Buch geht, greife ich auch vor auf die
später ausführlicher zu erörternde Erfahrung mit Rechten der Menschen.
Erfahrung soll in einem weiten Sinne verstanden werden, der es mit dem
Wahrnehmen von Folgen dauerhafter Einstellungen und kollektiven Hand-
lungen in Bezug auf erwartete Güter und Ziele, vor allem aber auf Normen
zu tun hat. Zu Erfahrungen werden sie aber erst – hier lehne ich mich an
Hegels Begriff der Erfahrung des Bewusstseins in der Phänomenologie des
Geistes an –, wenn sie zu einer dauerhaften Umkehr in den Einstellungen
bzw. einer Korrektur von Normen geführt haben. Zwei Arten von Erfahrungen
sind in meiner Konzeption besonders wichtig: die das Verhältnis von Technik
und Natur betreffenden sowie diejenigen, die der Etablierung der Menschen-
rechte zugrunde liegen. Den Begriff »Erfahrung« in Bezug auf Normen habe
ich an anderer Stelle ausführlich behandelt.39 Abgekürzt gesagt, betreffen Er-
fahrungen mit Normen

38 Sie muss allerdings nicht der zeitlichen Folge der Evolution entsprechen. Norbert Sachser
macht darauf aufmerksam, dass in puncto Intelligenz und Individualität die Rabenvögel
dem Menschen näherstehen als viele Säugetiere. Vgl. Sachser (2018), Der Mensch im Tier,
Kap. 5.
39 Siep (2018), Arten normativer Erfahrung.
14 1 Technisierung der Natur und philosophische Ethik

a) die Konsequenzen der Befolgung von Normen für das mit ihnen Inten-
dierte, von der Regelung von Koordinations- und Kooperationsproblemen
bis zur Verwirklichung von Werten (Gerechtigkeit, Gleichheit etc.)
b) die Erfüllung der Bedürfnisse der unter den Normen lebenden Individuen
und Gruppen, aber auch der Bedingungen des Gedeihens natürlicher Ge-
bilde und Lebewesen. Bei Menschen reicht das von körperlichen Bedürf-
nissen wie Ernährung, Gesundheit oder körperlichen Genüssen bis zur
Anerkennung ihres Selbstverständnisses und der von ihnen verfolgten
individuellen und gemeinschaftlichen Ziele
c) die Rückwirkung von Normen auf die Inklusion oder die Diskriminierung
von Gruppen. Das betrifft insbesondere die Auswirkung rechtlicher
Normen, aber auch die anderer Formen geschuldeter oder wünschens-
werter Anerkennung (vgl. u. Kap. 3.5).
Auf allen diesen Ebenen kann es Gelingen, Gedeihen und Erfüllung von
Ansprüchen ebenso geben wie Scheitern, Verletzung, Frustration, Unter-
drückung, Leiden und Entwürdigung. Für die Errichtung normativer Grenzen,
wie es Menschenrechte sind, kommt solchen negativen Erfahrungen ent-
scheidende Bedeutung zu. Von »Erfahrung« im hier verwendeten Sinne kann
aber erst gesprochen werden, wenn es sich um dauerhafte Korrekturen der
Normen und Einstellungen handelt. Auch hier an Hegel angelehnt, kann man
von Umkehrungen im kollektiven »normativen Selbstbild« sprechen.40 Wegen
der institutionellen Stabilität haben dabei rechtliche Erfahrungen einen para-
digmatischen Charakter.41 Hier können die positiven Folgen durch Gesetze
und Institutionen gesichert werden bzw. – was wichtiger ist – der Wieder-
holung der negativen Folgen kann vorgebeugt werden. Sie müssen aber in
moralischen Überzeugungsänderungen verankert werden. In vielen Fällen
folgen Erfahrungen dem Geltendmachen von Ansprüchen und dem Kampf
um ihre Anerkennung, wie Axel Honneth und Thomas Gutmann heraus-
gearbeitet haben.42
Für die entscheidenden Erfahrungen, die sich in den Menschenrechten,
vor allem ihrem jüngeren Bezug auf die Menschenwürde, niedergeschlagen
haben, scheint mir das indessen keine vollständige Erklärung. Es handelt
sich nicht immer um Reaktion gegen Diskriminierung. Die meisten Fälle
der versuchten oder erfolgreichen Ausrottung von rassischen, ethnischen

40 Vgl. Siep (2018), Arten normativer Erfahrung, S. 253. Hegel untermauert diesen Erfah-
rungsbegriff mit seiner logischen Figur der Negation des Negativen.
41 So auch Gutmann (2018a), Claiming Respect, S. 297. Vgl. auch ders. (2012), Normen-
begründung als Lernprozess?.
42 Vgl. Gutmann, (2018a), Claiming Respect und Honneth (1992), Kampf um Anerkennung.
1.2 Normquellen für die Naturveränderung 15

oder sozialen Gruppen waren keine Reaktionen auf erhobene Ansprüche


der Betroffenen – der Holocaust war ja nicht einfach die Rücknahme der
jüdischen Emanzipation. Der Kampf imaginärer Großkollektive (Nation,
Rasse, Proletariat) gegen ihre ebenso imaginären »inneren Feinde«, sowohl
Individuen wie Gruppen, ist nur aus sehr distanzierter Perspektive die Durch-
setzung einer »Logik« der Inklusion.43 Die Phantasien des Quälens (Folter,
Vernichtung) sind nicht nur Ausdruck der Diskriminierung, sondern auch
Legitimation von individuellem und kollektivem Sadismus. Für die globalen
Konsense über Menschenwürde und -rechte waren nicht nur rationale
Gründe ungerechtfertigter Diskriminierung ausschlaggebend, sondern ebenso
die emotionale Empörung über die monströse Zufügung von Leid und Ent-
würdigung.44 Die letztere ist für dauerhafte Einstellungsänderungen vielleicht
sogar wichtiger. Auch die Verbindung von Erfahrung mit Problemlösung, wie
sie die pragmatistische Version von Rahel Jaeggi kennzeichnet, scheint mir,
wie die genannten Beispiele belegen, nicht für alle normativen Erfahrungen
hinreichend. Daher soll der Erfahrungsbegriff hier in der weiten Form ver-
wendet werden.
Im Blick auf kollektive Erfahrungen, die sich institutionell niedergeschla-
gen haben, lässt sich auch ohne die Annahme notwendigen Fortschritts
eine Abnahme an Ungleichheit, Hierarchie und – zunehmend überflüssig
erscheinenden – Verboten konstatieren.45 Es ist sicher richtig, dass die Zu-
nahme an individueller Autonomie mit der Unabhängigkeit von Zwängen der
Natur verbunden war. Dabei muss man unterscheiden zwischen der Kritik an
der Übertragung traditioneller Naturerklärung auf soziale Verhältnisse und der
Überwindung von Knappheit – beides war Anlass für soziale Disziplinierung.
Die Behauptung der »Natürlichkeit« und damit im traditionellen Sinne

43 Gutmann (2018a), Claiming Respect, S. 291. Auch für Gutmann (ebd. S. 288) sind Un-
rechtserfahrungen für diese Entwicklung unabdingbar.
44 »It is awful to be locked up or silenced, terrifying to be beaten and tortured, appalling
to be left to starve or vegetate when resources are available for food and education;
and one may think those ills so bad that their avoidance should be an overriding aim
for any decent society« (Waldron (1987), Nonsense upon Stilts, S. 187). Für eine nicht am
Holocaust, sondern am armenischen Genozid orientierte Beschreibung entsprechend
sadistischer Phantasien und Praktiken lese man Hilsenrath (2014), Das Märchen vom
letzten Gedanken.
45 Ob diese beiden Aspekte auf die europäische Perspektive begrenzt sind – auch dort
ständig von autoritären und restriktiven Rückfällen bedroht – muss den Experten über-
lassen werden. Eine entsprechende Tendenz außerhalb Europas scheint sich aber auch
bei der Lektüre der Historiker nahezulegen, die den Eurozentrismus kritisieren. Als Bei-
spiele: Osterhammel (2010), Die Verwandlung der Welt; Bauer (2018), Warum es kein
islamisches Mittelalter gab.
16 1 Technisierung der Natur und philosophische Ethik

Vorbildlichkeit von Verhältnissen der Herrschaft (Patriarchat, Stammesherr-


schaft) oder der Reproduktion (heterosexuelle Familie, »natürliche« Fort-
pflanzung) ist bis heute Ideologie – in der Zeit vor der modernen, wertfreien
und nicht-teleologischen Naturerklärung war das aber weniger bewusst.46
Menschen sind in doppelter Hinsicht von natürlichen Verhältnissen, frei: Sie
können sich wertend dazu verhalten und sie können sich »technisch« von
natürlichen Zwängen befreien. Das letztere leistet außer dem Schutz vor und
der Zähmung von elementaren Naturkräften (Wasser, Wetter etc.) vor allem
die moderne Medizin – bis zur Lebensverlängerung durch Transplantation
oder der Überwindung der Unfruchtbarkeit durch »assistierte« oder subs-
tituierte Reproduktion.
Die Erfahrung der Befreiung durch Technik und Medizin hat einen wichtigen
Vorzug vor anderen Emanzipationserfahrungen: Sie ist weniger kultur-
abhängig. Erfahrungen mit traditionellen Familienstrukturen oder religiösen
Verboten sind in aller Regel auf kollektive Deutungshorizonte bezogen. Das
gilt besonders für »traditionstreue« Kulturen, vor allem solche mit religiöser
Prägung. Aber auch in »modernen« Gesellschaften gibt es erheblichen Streit
über die Deutung vergangener Ereignisse und dem, was daraus zu lernen ist –
man denke an die kontroversen Deutungen der großen Revolutionen (1789,
1917, 1918), aus denen gegensätzliche politische Strömungen von langer Dauer
entstanden sind.47 Entsprechend beruhen die institutionellen Konsequenzen
auch hier auf »überlappenden Konsensen«.48
Viel schwieriger als bei nationalen oder europäischen Erfahrungen ist die
Berufung auf Erfahrung bei interkulturellen Konsensen, wie sie den Menschen-
rechten zugrunde liegen. Hier gibt es keine »nationale Erinnerungskultur«, die

46 Zur Kritik der ideologischen Funktion des »Natürlichen« bis in die gegenwärtige Ge-
setzgebung und Rechtsprechung vgl. auch Gutmann (2017), Natur und Selbstbe-
stimmung, S. 103-107. Es gibt auch in der neuzeitlichen Philosophie noch Versuche,
natürliche Unterschiede durch metaphysische Deutungen zu überhöhen – mit be-
deutenden rechtlichen Folgen z.B. für das Geschlechterverhältnis. Das gilt auch noch für
Kant und Hegel. Für den letzteren vgl. Siep (2011), Natur und Freiheit.
47 Dieses Problem hat vor allem Johannes Müller-Salo (2017), Historische Erfahrung und
wertende Interpretation, herausgearbeitet. Zum moralischen Lernen vgl. auch – mit
skeptischen Einwänden im Anschluss an Mackie – Ach/Pollmann (2017), Moralisch
Problematisch, S. 48 f.
48 Vgl. dazu Rawls (1992), The Idea of an Overlapping Consensus. Ein solcher Konsens
über die Prinzipien einer gemeinsamen Rechtsordnung in einer pluralistischen Gesell-
schaft kann auf miteinander unvereinbare Begründungen zurückgehen (religiös, säkular,
theistisch, atheistisch etc.).
1.2 Normquellen für die Naturveränderung 17

sich um ein umfassendes »Narrativ« der Ereignisse und die daraus gezogenen
Konsequenzen bemüht. Die Erfahrungen von Kolonialismus und Diktatur ist
allerdings weltumspannend. Die Verteidigung der Menschenrechte gegen den
Vorwurf der »Westlichkeit« wird uns noch beschäftigen, allerdings im Wesent-
lichen beschränkt auf das Problem des Individualismus (unten 3.3).49 Trotz-
dem zeigt die anhaltende politische Kontroverse um die Menschenrechte, dass
es keine unbestrittene weltweite Deutung der Erfahrungen in verschiedenen
Kulturen gibt. Wenn solche Erfahrungen aber neben den metaethischen und
anthropologischen »Ressourcen« der philosophischen Ethik eine unabding-
bare Erkenntnisquelle sind, dann ist die Arbeit an einer Konvergenz der
kulturspezifischen Erfahrungsgeschichten essentiell. Die philosophischen
Kompetenzen, vor allem was außereuropäische Kulturen angeht, sind aber
sehr begrenzt. Daher beschränke ich mich in diesem Buch im Wesentlichen
auf europäische Erfahrungen. Insofern sie den weltweiten Imperialismus und
Kolonialismus betreffen, haben sie allerdings auch globale Aspekte.
Was den erwähnten Vorzug der Erfahrungen technischer Befreiung von
natürlichen Zwängen angeht, so muss man ihn differenziert betrachten. Natur-
beherrschung und menschliche Autonomie fallen nicht zusammen.50 Be-
freiung setzt voraus, dass man sich nicht anschließend technischen Zwängen
unterwirft. Es gibt keinen Zwang, die Potentiale und Dispositionen der Natur
möglichst weitgehend zu ersetzen. Sie können für das menschliche Wohl-
ergehen angeeignet werden. Die Bindekraft erotischer Neigungen, die Lust
an verschiedenen Genüssen (Schauen, Bewegen, Verzehren) kann weiterhin
für ein gutes Leben in Anspruch genommen werden. Das Gleiche gilt für den
Reichtum der evolutionären Natur und ihrer »Überraschungen«. Die Krisen
der technischen Zivilisation haben gezeigt, dass sich menschliche Technik
besser in die umfassenden Abläufe integrieren sollte (»Nachhaltigkeit«) als sie
völlig zu ersetzen.
Was die Aneignung natürlicher Potentiale gegenüber ihrer technischen Er-
setzung auszeichnen könnte, soll im Folgenden am Beispiel von Tugenden und
Perfektion erörtert werden.51

49 Zu dieser Debatte vgl. Joas (2015), Sind die Menschenrechte westlich? sowie Kühnlein/
Wils (Hg.) (2019), Der Westen und die Menschenrechte.
50 Vgl. Siep, (i. E. a), Autonomie, Natürlichkeit und Technik.
51 Vgl. Siep, (i. E.), Virtue and Nature.
18 1 Technisierung der Natur und philosophische Ethik

1.3 Tugenden: Natürliche Dispositionen, situierte Vernunft und


technische Verbesserung

Klassische Tugendlehren, vor allem der aristotelischen Tradition, gehen von


einer Ausbildung emotionaler Gewohnheiten aus, die eine körperliche Basis
haben, aber von der Vernunft gemäß den sozialen Regeln und Situationen
»temperiert« werden können. Der Vorgang ist ein kompliziertes Wechsel-
verhältnis zwischen Sitten (ethos) bzw. gesellschaftlichen Erwartungen,
individuellen Emotionen und sowohl »kollektiver« wie individueller Vernunft.
Emotionen werden nach Aristoteles zunächst durch die soziale Vernunft der
Gesetze diszipliniert, dann durch individuelle Überlegung angeleitet, die aber
wiederum erst bei einer Dämpfung der Affekte »hörbar« werden kann. Diese
praktische Vernunft bleibt auch für das Wahrnehmen des Richtigen auf eine
eigene Sichtweise bzw. Sensibilität der emotionalen Dispositionen angewiesen.
Dass die Stimme der Vernunft eine Eindämmung der stärksten Affekte
voraussetzt, hat der Antiaristoteliker Hobbes herausgestellt; dass die Tugenden
selbst zu richtigen Einsichten befähigen, Aristoteles selber. Zur vernünftigen
Temperierung der Affekte gehört zudem, wie die platonische Tradition bis zu
Hegel betont, eine Integration der besonderen Affekte in ein ausgewogenes
Ganzes. Das setzt wiederum eine Integration der Individuen in eine soziale
»Umgebung« voraus, die jedem eine gerechte Entwicklungschance gibt (das
»Seine« zukommen lässt). Seit der Aufklärung ist von einer natürlichen Stelle
in der sozialen Hierarchie, die jeder finden soll, zu Recht keine Rede mehr.
Zwischen der Bildung eines ausgeglichenen Charakters und der Einrichtung
nicht überfordernder ökonomischer und politischer Verhältnisse besteht aber
eine Wechselwirkung.
Natürliche Fähigkeiten, die an eine bestimmte körperliche Verfassung ge-
bunden sind, waren in der aristotelischen Tradition Voraussetzung, aber nur
im Sinne eines mobilisierbaren oder zurückzudrängenden Potentials für
Tugenden. Für den Draufgänger ist der Weg zur Tapferkeit kürzer als der zur
Besonnenheit. Ohne eine bewusste Aneignung dieser Fähigkeiten durch eine
Vernunft, die sowohl die eigenen Stärken und Schwächen in ein ausgewogenes
Verhältnis bringen wie den eigenen Beitrag für das sozial Geforderte richtig
einschätzen und verwirklichen kann, wird aus den natürlichen Fähigkeiten
keine ethische Tugend.52
Diese Aneignung muss heute vor dem Hintergrund einer Veränderungs-
dynamik der menschlichen Natur und der sozialen Sitten gesehen werden.
Ihr ist aufgrund der Evolution schon die biologische Ausstattung ausgesetzt.

52 Vgl. Halbig (2013), Der Begriff der Tugend, S. 149 f.


1.3 Tugenden 19

Allerdings lassen sowohl die Konstanz vieler Tugenden – etwa Tapferkeit,


Großzügigkeit, Barmherzigkeit oder Fairness – wie die der Physiologie des
menschlichen Körpers vermuten, dass die körperlichen Voraussetzungen der
Affekte sich in der historisch erschließbaren Entwicklung nicht radikal ge-
ändert haben. Das muss aber nicht in aller Zukunft so bleiben, vor allem an-
gesichts der technischen Möglichkeiten der Veränderung. Verändert hat sich
aber auch die historische »Semantik« der Tugenden: Tapferkeit bedeutet in
einer kriegerischen Kultur etwas Anderes als in »postheroischen« Kulturen –
da spricht man eher von Zivilcourage, oder allgemein von Ȇberwindung von
Angst um eines Gutes willen, das dies rechtfertigt«.53 Bewunderte Haltungen
der Askese und des Verzichtes scheinen in einer Kultur staatlicher Daseinsvor-
sorge überwiegend »sportliche« Bedeutung zu haben. Von »heroischen« An-
strengungen, moralische und rechtliche Verpflichtungen einzuhalten, sollen
die Individuen, wie bereits angesprochen, durch die Leistungen von Wirt-
schaft und Staat gerade entlastet werden.
Dieses Wechselspiel von zu erwartender Selbsttemperierung und staatlicher
Entlastung könnte durch eine technische Änderung des menschlichen Körpers
aber unterlaufen werden: An die Stelle gemeinsamer Anstrengungen zur
Etablierung günstiger sozialer Voraussetzungen für ein »tugendhaftes« Leben
träte die technische Perfektionierung eines »sozialverträglichen«, in puncto
Aggressivität sowie Streben nach Non-konformität und »Regelinnovation«
gebremsten Menschen. Sicher ließe sich auch vorstellen, dass zu Zwecken
der Selbstverteidigung, für aggressive Sportarten oder einen künstlerischen
Nonkonformismus bei einigen Menschen die weniger sozialverträglichen
Affekte sozusagen »planmäßig« verstärkt würden. Dann fragt sich aber einer-
seits, ob man allgemeine Menschen- und Bürgertugenden von so heterogen
»verbesserten« Individuen noch verlangen kann. Zum anderen, wie es denn
mit der bewussten persönlichen Aneignung natürlicher Potentiale steht, wenn
diese durch eine biotechnische Planung (bis hin zur »Gottesmaschine«)54 so
weitgehend vorherbestimmt sind. Ohne in die Fragen der Realisierbarkeit bio-
technischer Menschenverbesserung und die Probleme des Determinismus

53 Halbig (2013), Der Begriff der Tugend, S. 357.


54 Unter dem Begriff »The God Machine« wird eine Änderung im Gehirn verstanden, die
Schädigungen anderer automatisch und unter (Selbst)Vorspiegelung der freien Ent-
scheidung verhindert. Vgl. Savulescu / Perrson (2012). Wenn künftig nach der Empfehlung
von Ethikern in Geräte mit künstlicher Intelligenz Programme eingebaut werden, die
(ohne die Freiheit der Abweichung) menschen- und menschenrechtsfreundliches Ver-
halten festlegen (vgl. Grimm et al. (2019), Digitale Ethik, S. 169 f.), dann legt sich der
Versuch nahe, so etwas bei Menschen nachzuahmen. Auch das würde moralische Ver-
antwortung beseitigen.
20 1 Technisierung der Natur und philosophische Ethik

einzugehen, wird doch deutlich, dass sowohl die natürliche wie die bewusst-
vernünftige Seite der bewundernswerten Haltungen bzw. Tugenden erheblich
gefährdet wären.
Das bedeutet nicht, dass jede technische Unterstützung autonomer Ent-
scheidungen und Handlungsmöglichkeiten gegenüber bisherigen »natür-
lichen« Grenzen suspekt wäre. Im Bereich der Reproduktion, der regenerativen
Therapien oder auch der Lebensbeendigung gibt es wenige natürliche
Grenzen, die nicht durch Entscheidungen der Normgemeinschaft unter Be-
rücksichtigung der Folgen für die Betroffenen geändert werden könnten. Das
Wohl der Kinder und ihre zukünftige Autonomie ist das primäre Kriterium
für die Normen bezüglich der Reproduktion, danach folgen die Autonomie
und die Freude der Eltern an ihren Kindern. Wie sich soziale Elternschaft
und biologische oder medizinisch assistierte dabei zueinander verhalten ist
Gegenstand gemeinsamer Normsetzung55 und jedenfalls keine Frage von
Natürlichkeitstabus. Auch die Akzeptanz eigener körperlicher Dispositionen,
seien es genetische oder hormonelle, kann niemandem aufgezwungen werden.
Das individuelle Recht auf »Unnatürlichkeit«, von der Ernährung oder Unter-
haltung bis zur Festlegung des Geschlechts, besteht in den Grenzen der
Gleichheit und Nicht-Schädigung. Das heißt aber nicht, dass die Kontrolle aller
natürlichen Prozesse selbstverständliches Ziel gesellschaftlichen Handelns
sein sollte.

55 Vgl. dazu Gutmann (2017), Natur und Selbstbestimmung sowie die Stellungnahme der
Nationalen Akademie Leopoldina »Fortpflanzungsmedizin in Deutschland – Für eine
zeitgemäße Gesetzgebung« vom Juni 2019.
Kapitel 2

Beschreiben, Bewerten, Begründen

2.1 Beschreibung und Bewertung in Lebenswelt, Wissenschaft


und Ethik

Zwischen der technischen Beherrschung einer Natur, die nur Mittel für die
Erfüllung menschlicher Wünsche ist, und dem »Weltbild« der modernen,
an den Naturwissenschaften orientierten Ethik besteht ein großes Maß
an Übereinstimmung. In der modernen Wissenschaftstheorie und vielen
Positionen der Ethik geht man von einer strikten Trennung zwischen wert-
freier Beschreibung und Erklärung einerseits und Bewertung andererseits
aus. Wertfreie Beschreibung ist vor allem Aufgabe der »objektiven« Wissen-
schaften von einer entzauberten Welt. Wertungen stammen »subjektiv«
aus individuellen Wünschen, (Geschmacks-)Wertungen und Präferenzen,
normative Beurteilungen aus der Vernunft, entweder einer quantifizierenden
und Nutzen aggregierenden oder einer praktischen Vernunft der erfahrungs-
freien Forderungen. Dass Werte und Normen nicht zur Realität einer durch
den »Zement« der Kausalität zusammengehaltenen Welt gehören,56 ist aber
nur evident, wenn man den Gegenstand der Naturwissenschaften, vor allem
Physik und Chemie, für »die Welt« hält.
Für diese Übereinstimmung sind viele Geistes- und Wissenschafts-
geschichtliche Erklärungen geliefert worden. Das Verhalten zu einer in sich
wert- und zweckfreien Natur wurde mit dem »Sündenbewusstsein« der
Reformation ebenso in Verbindung gebracht (Blumenberg) wie mit dem Geist
der Kolonisatoren und Kolonisten (Meier-Abich).57 Diese Gedanken sollen
hier ebenso wenig weiterverfolgt werden wie der Versuch, durch eine Theorie
der Erkenntnisinteressen die völlige Wertfreiheit der Naturwissenschaft in

56 Vgl. Mackie (1977), Ethics, Teil I, Kap. 1. 9, S. 43-49.


57 Die »reformatorische Verschärfung des Sündenbewusstseins und damit des Hiatus
zwischen Existenz und Natur« verstärkt nach Hans Blumenberg das Bewusstsein des
Menschen, sozusagen von außen (biblisch aus der Gottesnähe des Paradieses) in eine
wesensfremde Natur gekommen zu sein, die bezwungen und verbessert werden muss
(Blumenberg (2015), Verhältnis von Natur und Technik, S. 23). Für Klaus-Michael Meyer-
Abich verhält sich der ausschließlich an Naturbeherrschung orientierte Mensch zu
seinem Planeten wie ein interplanetarischer Kolonialeroberer, vgl. Meyer-Abich (1997),
Praktische Naturphilosophie, S. 11 (»Horden interplanetarischer Eroberer«).
22 2 Beschreiben, Bewerten, Begründen

Frage zu stellen (Habermas).58 Bewertende Auffassungen der Natur in der


Ethik zu erörtern, stellt auch keine »Wiederverzauberung« der Welt dar: Man
muss weder die Möglichkeit übernatürlicher Einwirkungen noch die Rückkehr
zu einer teleologischen Erklärung aus Zweckursachen postulieren. Dass Lebe-
wesen und Naturprozesse aber in sich selber zweckhaft sind und nicht allein
als Mittel menschlicher Zwecke zu betrachten sind, scheint mir gerade durch
eine unvoreingenommene Betrachtung und Erklärung der Natur, auch unter
evolutionärer Perspektive, nahegelegt zu werden.
Für ethische Überlegungen zu den Zielen des technischen Umganges mit
der Natur gehört aber eine Vorstellung nicht nur der Verluste und Krisen der
Technisierung, sondern auch erstrebenswerter Zustände. Der allgemeine
Rahmen dafür wurde oben in den Überlegungen zur Moralsprache und den
Grundzügen einer guten Welt skizziert. Dazu gehören Natürlichkeit im Sinne
des Unkontrollierten, Vergänglichen und Unvollkommenen (s.o. S. 10 f.). Aber
auch positive Formen des Gedeihens und Wohlergehens. Dabei handelt es sich
um Eigenschaften dieser (»unserer«), sinnlich wahrnehmbaren Welt. Es muss
also eine Rechtfertigung dafür geben, Beschreibungen immanent wertvoller
Eigenschaften der Welt, auch der für die Naturwissenschaften »wertfreien«,
in einer selber »wissenschaftlichen« Ethik zu verwenden. »Wissenschaftlich«
heißt hier, allein auf Vernunft und solche Erfahrungen gegründet, die jeder
nachvollziehen kann.
Für diese Behauptung soll hier in zwei Schritten argumentiert werden: Zu-
nächst soll gegen die These, nur die wertfrei betrachtete und erklärte Welt sei
wirklich, auf die enge Verknüpfung zwischen Wahrnehmen, Beschreiben und
Bewerten in der menschlichen Lebenswelt und Teilen der Wissenschaft auf-
merksam gemacht werden. An eine bestimmte Schrittfolge der unmittelbaren
Einheit, der reflektierenden Trennung und der reflektierten Synthese kann die
konkrete Ethik anknüpfen. Mit diesen Hegelschen Termini ist aber keine Über-
nahme seiner Gesamtkonzeption verbunden.
Menschliches Handeln findet in einer Lebenswelt statt, in der auf vielfache
Weise Wahrnehmen, Werten und darauf beruhende Verhaltenserwartungen
miteinander verknüpft sind. Das heißt nicht, dass man behaupten, bewerten
und begründen nicht trennen könnte. Aber man darf sie, wenn man in der
Ethik nicht nur von Geboten und Verboten, sondern auch von erstrebens- und
vermeidenswerten Gesamtzuständen von Natur und Kultur reden will, nicht
voneinander isolieren. Wertvolle Eigenschaften, etwa der Natürlichkeit jenseits
technischer Perfektion, muss man wahrnehmen bzw. entdecken, so, wie man

58 Habermas (1969), Rekonstruktion des Historischen Materialismus.


2.1 Beschreibung und Bewertung 23

ästhetische Werte entdecken kann. Aber auch das Abstoßende menschenun-


würdiger Behandlung muss »ins Auge springen«.
Wertende Wahrnehmungen gibt es aber auch bei Abscheu über Homo-
sexualität oder rassistischer Lynchjustiz. Dass die letzteren mit dem
moralischen Standpunkt des unparteilichen Wohlwollens, mit anthropo-
logischen und rechtsphilosophischen Erkenntnissen oder mit einem Verbot
völliger Instrumentalisierung des Menschen nicht vereinbar sind, muss gezeigt
werden. Von diesen begrifflichen Ressourcen wird im Folgenden noch die
Rede sein. Beide sind aber ohne die konkretisierenden Erfahrungen der Ent-
würdigung nicht ausreichend. Aus dem moralischen Gesichtspunkt etwa folgt
nicht, dass Betroffene nicht auf elementare Rechte verzichten können.
Auch Kants Verbot, moralische Wesen vollständig als Mittel zu behandeln,
reicht für eine Begründung der Grenzen der dem Menschen – als sterblichem
Individuum – geschuldeten Achtung nicht aus. Ohne das hier genau ausführen
zu können, soll auf drei Defizite hingewiesen werden. Erstens ist die Achtung
bei Kant im Wesentlichen dem Menschen in seiner Fähigkeit zu gesetzlich-
moralischem Handeln geschuldet, nicht seiner konkreten Verletzlichkeit und
Selbstachtung.59 Das geht schon aus Kants eigenen Thesen zum Familien-
und Strafrecht hervor – die er durchaus in Prinzipien seiner Philosophie be-
gründet sah.60 Es liegt aber auch der strengen Trennung zwischen Recht und
Wohl bei Kant zugrunde. Zweitens sind eben darum die konkreten Grund-
und Menschenrechte aus dem Verbot der vollständigen Instrumentalisierung
nicht abzuleiten. Und drittens kann es auch eine Instrumentalisierung
ohne Entwürdigung geben. So muss man etwa die Forschung mit nicht-
einwilligungsfähigen Patienten, ohne deren Zustimmung und direkten Nutzen,
nicht als Entwürdigung verstehen. Das gilt jedenfalls, wenn man ihnen eine
gewisse Solidarität zur Gruppe der an derselben Krankheit Leidenden unter-
stellt und sie durch die Forschung nur geringfügigen Risiken und Belastungen
aussetzt.
Allgemeine Prinzipien der genannten Art müssen in Beziehung auf die ur-
sprünglichen Beschreibungen wieder konkretisiert werden. Und sie dürfen
von diesem Ausgangspunkt nicht gänzlich gelöst werden. Zwischen beiden

59 So auch Jürgen Habermas (2010, Das Konzept der Menschenwürde, S. 252).


60 Wie sehr Kant das Individuum von dem in ihm verkörperten Gesetz her verstand und der
Respekt vor ihm nicht primär seiner sterblich-fragilen Individualität gilt, geht aus dem
unzureichenden Lebensschutz für das außergesetzlich geborene Kind (vgl. u. Anm. 151)
und der Pflicht der Hinrichtung des auf einer Insel zurückgelassenen Mörders hervor
(AA VI, 336). Eine stärker anthropologische Interpretation von Kants Begriffen der
Achtung und der Würde versucht Jörg Hardy (2017), Understanding Ethical Reasoning,
S. 61-75.
24 2 Beschreiben, Bewerten, Begründen

Ebenen muss ein Reflexionsgleichgewicht stattfinden.61 Auch in der modernen


angewandten Ethik gibt es Ansätze, die Kluft zwischen Beschreibung und
Bewertung zu überbrücken, etwa in der »narrativen« Ethik oder der
Kasuistik. In der Beschreibung einer Situation oder eines Falles sind oft
schon ethische Wertungen impliziert, die man bewusst machen, prüfen, und
in der Abwägung und Abschlussbeurteilung wieder mit einer genauen Be-
schreibung verbinden muss. Ein solches Verhältnis von Beschreibung und
Bewertung ist auch in einer Ethik erforderlich, die Wertaspekte der Natur
identifizieren und Empörung über Entwürdigung prüfen will, ohne sie in rein
rationale Urteile aufzulösen.
Eine solche Folge von unmittelbarer Einheit, Analyse und Synthese von
Beschreibung und Bewertung gibt es auch in vielen Wissenschaften. Das gilt
schon für Teile der Biologie, als Verhaltensbiologie oder als Ökologie. In beiden
ist nicht nur bewertendes Verhalten von Lebewesen – wie ihr Suchen und
Meiden – Gegenstand, sondern es ist auch von Gedeihen und Verkümmern,
ungestörten und gestörten Ökosystemen, Symbiosen etc. die Rede. Daraus
folgt noch nicht, wie Menschen sich dazu verhalten sollen – aber gänzlich
wertfrei sind solche Beschreibungen und Erklärungen nicht. Dasselbe gilt von
Geisteswissenschaften, die sich einer vorbehaltlos berichtenden Erfassung
historischer Ereignisse, Prozesse und Strukturen verpflichtet wissen. Auch
sie verwenden in der Regel Wertausdrücke in »dichten Beschreibungen« wie
>>grausam<< oder >>rücksichtslos<<. Die involvierten Auffassungen, etwa von
Tugenden und Rechten, müssen aber in einer kritischen Geschichtswissen-
schaft, »unterstützt« von den Normwissenschaften des Rechts und der Ethik,
auf einer allgemeineren, begrifflichen Ebene reflektiert werden. Auch auf
dieser sind aber die Wertungen nicht völlig von den Beschreibungen und ihren
emotionalen Gehalten zu lösen. Das gilt nicht nur für Tugenden, sondern auch
für Rechtsbegriffe wie »Würde«, »Verletzung«, »Milderung« von Strafe etc.
Dass eine reflektierte Einheit von Beschreiben und Bewerten den lebenswelt-
lichen Primat62 dieser Einheit sozusagen auf höherer Ebene wiederherstellt,
heißt nicht, dass aus Fakten Normen folgen. Auch aus der Beschreibung von
»guter« artgemäßer Funktionserfüllung bei Lebewesen folgt noch nicht, wie
sie zu behandeln sind. Dazu müssen sich Menschen bewusst Regeln geben.
Wenn diese an einer guten, d.h. für alle erstrebenswerten Welt orientiert sind,
fällt das für eine Art Gute dafür allerdings ins Gewicht. Solche »evaluativen«

61 Vgl. dazu Rawls (1975), Eine Theorie der Gerechtigkeit, S. 68-71 sowie Hahn (2000),
Überlegungsgleichgewicht. Zur Anwendung von Rawls’ Methode des Reflexionsgleich-
gewichtes in der Konkreten Ethik vgl. Siep (2016), Konkrete Ethik, S. 32, 118-120.
62 Vgl. dazu Halbig (2017), Normative Ansprüche der menschlichen Natur, S. 94.
2.1 Beschreibung und Bewertung 25

Weltsichten können, wenn sie Resultat intersubjektiver Einigungsprozesse


sind und mit weitgehend unkontroversen wissenschaftlichen Erklärungen
übereinstimmen, nicht als subjektive Projektionen über die »reale« Welt ab-
getan werden. Auch bezüglich der Inhalte eines guten Lebens des Menschen
gibt es, wie wir im 6. Kapitel sehen werden, Aussagen aus subjektiven und
objektiven Perspektiven zugleich. Dass nur eine gänzlich wertfreie Welt, wie
die mathematisch-experimentellen Wissenschaften sie zeigen, »real« ist, er-
scheint eher als eine dogmatische Behauptung.
Evaluative Beschreibungen der Natur, an die eine ethische Beurteilung er-
strebenswerter Ziele technischen Handelns anknüpfen kann, gibt es in der
Mythologie und der Kunst vieler Kulturen. Es scheint, dass diese Wertungen
in besonderem Maße von den Interessen von Gruppen abhängen. Sesshafte
Bauern schätzen an der Natur etwas Anderes als viehzüchtende Nomaden, als
Jäger oder Fischer. Sichtbar ist das oft an der Sammlung positiver Natureigen-
schaften, wie sie in Paradies- oder Himmelsvorstellungen ausgemalt werden.
Wüstennomaden schildern sie – wie sich auch in ihrer Kunst repräsentiert63 –
als friedliche Oase, Ackerbauern als blühende Landschaft, Händler und Hand-
werker als vollendete Stadt usw. Wie viel idealisierte Eigenschaften der tat-
sächlich begegnenden Natur dabei erhalten bleiben, hängt vor allem von der
Einschätzung des Verhältnisses von Innen- und Außenwelt ab. Wenn in der
Phantasie oder im reinen Denken, in den Begriffen und Zahlen das eigentlich
Schöne oder »Reale« gesehen wird, erscheint die Sinnenwelt im Kontrast als
unklar, täuschend, veränderlich und vergänglich. Ihre positiven Aspekte sind
dann Maße und Verhältnisse, unveränderliche Bewegungen und Körper, wie
die der »oberen« Himmelsphären (Fixsternhimmel) in der griechischen Philo-
sophie. In reiner Form erscheinen sie erst der Vernunft bzw. der einer voll-
endeten Erkenntnis korrespondierenden Ideenwelt.
Dennoch gibt es auch ein reiches Repertoire an übereinstimmenden Wert-
schätzungen der sinnlich erfahrbaren Welt, in Religionen, Normensystemen
und wertenden »Erzählungen«. Ihre Grundzüge sind in so dauerhaften Vor-
stellungen wie den Kosmogonien, den philosophischen Kosmos-Begriffen
der griechischen Tradition und den Schöpfungserzählungen und -theorien
vieler religiöser Traditionen enthalten. Es geht aber auch um konkretere Wert-
aspekte der Natur – wie den Voraussetzungen und Stützen kollektiver Identi-
tät (Heimat).64 Im vorigen Kapitel ging es mir um die übereinstimmenden

63 Man denke an die an Paradiesvorstellungen der Gartenarchitektur und der Buchmalerei


islamischer Herrscher. Vgl. dazu Stierlin (2009), Islamic Art and Architecture, S. 102, 173.
64 Vgl. etwa Lessing (1982), Emilia Galotti: Es »entzückt mich an ihm [Graf Appiani] … vor
allem der Entschluss, in seinen väterlichen Tälern sich selbst zu leben« S. 535. Nelson
26 2 Beschreiben, Bewerten, Begründen

Grundzüge, die sich auch ohne die Voraussetzungen eines vernünftigen


Schöpfers oder einer weltimmanenten ordnenden Vernunft verteidigen lassen.
Im folgenden Abschnitt (2.2) soll die Methode einer »welthaltigen« Ethik
etwas genauer erörtert werden.

2.2 Konkretisierung und Begründung

Eine Ethik, die nicht nur strenge Gebote und Verbote in Bezug auf zwischen-
menschliches Verhalten zu begründen sucht, sondern auch für das Verhalten
zur nicht-menschlichen Welt sowie die Ziele und Grenzen ihrer Beherrschung
und Perfektionierung, ist pluralistisch in mehrfachem Sinne. Sie kann nicht
auf ein einziges Prinzip zurückgehen und sich nicht mit einem unbedingten
formalen Gebot begnügen. Außer mit Geboten hat sie es auch mit Gütern,
Werten und Tugenden zu tun.
Die allgemeinsten Kriterien für die Bewertung von Handlungszielen er-
geben sich aus den folgenden Quellen (s.o. S. 9-13): Erstens die Explikation
der Grundwörter der Moralsprache »gut« und »sollen«. Aus ihnen lassen sich
Grundbegriffe einer für alle erstrebenswerten Welt entwickeln. Dabei handelt
es sich zunächst um Rahmenvorstellungen, die durch eine Beschreibung von
Wertaspekten dieser Welt konkretisiert werden müssen.
Die zweite Quelle ist der moralische Standpunkt des wohlwollend un-
parteiischen Beobachters, der »moral point of view«. Wechselseitige Er-
wartungen, Regeln und Sanktionen, die sich im sozialen Leben der Menschen
herausgebildet haben, sind erst von diesem Gesichtspunkt aus nicht nur
funktional, sondern moralisch zu beurteilen. Auch dieser Gesichtspunkt ist
nicht außerhalb von Zeit und historischer Erfahrung: Wessen Ansprüche zu
den unparteiisch zu Betrachtenden gehören, ist von dem engen Kreis einer
durch Kooperation und hinreichend geteilte Weltbilder verbundenen Gruppe
ausgeweitet worden auf alle Menschen, alle empfindungsfähigen Wesen –
nach dem hier entwickelten Vorschlag schließt es alles ein, das gefördert oder
gehindert werden kann. Eine umfassende und unparteiische Perspektive, wird
die Mannigfaltigkeit und generelle Koexistenz der Formen des Lebens – trotz
der Konkurrenz um Ressourcen und reproduktive Fitness – als Bedingung
und Grenze des Gedeihens von Individuen und Gruppen (Populationen)

Mandela: »Ich zweifle nicht, dass jeder von uns so eng mit dem Boden dieses Landes
verwurzelt ist wie die berühmten Jacaranda-Bäume von Pretoria und die Mimosen des
Bushveld-Komplexes« (Antrittsrede als Präsident Südafrikas 1994).
2.2 Konkretisierung und Begründung 27

anerkennen bzw. fordern. Außerhalb der Menschen müssen aber nicht alle
Interessen und Bedürfnisse grundsätzlich gleich gewichtet werden.
Eine dritte Quelle, von der vor allem in den nächsten Kapiteln die Rede
sein wird, sind konkrete Rechte von Menschen und eine ihnen zugrunde-
liegende Vorstellung von Würde, die transkulturell in der Gegenwart und
in der Zukunft nicht mehr aufgegeben werden dürfen. In einer von Autori-
täten unabhängigen, nur auf Vernunft und Erfahrung beruhenden Philo-
sophie kann anders nicht mehr von Moral und Recht gesprochen werden. Der
argumentativen Verteidigung einer solchen Irreversibilität sind die folgenden
Kapitel (3-5) gewidmet.
In diesem Abschnitt (2.2) geht es vor allem um die Fragen der Konkre-
tisierung der Begriffe einer guten Welt durch genauere Beschreibung dessen,
was an »unserer« Welt gut und erhaltenswert ist – zunächst im Rahmen der
beiden erstgenannten Quellen. Es geht also darum, wie man in vernünftiger
Argumentation – im Sinne des erörterten Vernunftbegriffs – und möglichst
großer Übereinstimmung in den »Wertbeschreibungen« wertvolle Eigen-
schaften natürlicher Prozesse und Gegenstände feststellen kann. Die Erfassung
dieser Eigenschaften ist in der oben (2.1) erläuterten Weise mit genauen Be-
schreibungen verbunden.
Dafür ist vorausgesetzt, dass man die Bedingungen des Gedeihens
(flourishing) von Lebewesen kennt – nicht nur im botanischen Sinne, sondern
dem einer Verfassung, die nicht nur Bedürfnisse erfüllt, sondern auch die
spezifischen Potentiale von Lebewesen entfaltet. Das erfordert Wissen über
Physiologie und Pathologie. Bei empfindungsfähigen Lebewesen kommen die
Bedingungen eines auch subjektiven Wohlergehens hinzu. Diese, sowie noch
erhebliche zusätzliche Bedingungen, gelten auch für ein gelingendes, für sich
selber als wertvoll realisiertes menschliches Leben. Davon wir unten noch aus-
führlich die Rede sein (Kap. 6).
Wenn Normen für Förderung und Respekt vor einer erstrebenswerten Natur
nicht aus einer formalen oder erfahrungsfrei reinen Vernunft stammen und
auch nicht aus einer absichtsvoll eingerichteten Natur, dann ist eine dichte,
bewertende Beschreibung von natürlichen Eigenschaften und Prozessen not-
wendig.65 Das gilt nicht exklusiv für die hier vorgeschlagene »Konkrete Ethik«,
sondern auch etwa für den wertpluralistischen Konsequentialismus. Welche
Werte in einer Handlungssituation zu berücksichtigen sind, muss zunächst in
einer präzisen »wertidentifizierenden« Beschreibung erfasst werden.

65 Selbst für so scheinbar apriorische Begriffe wie den der Person muss man innerhalb
der angewandten Ethik solche dichten »Mischverwendungen« annehmen. Vgl. Quante
(2018), Pragmatistic Anthropology, S. 64 und (2019), Personale Autonomie, S. 249.
28 2 Beschreiben, Bewerten, Begründen

Gleichwohl scheint das bisherige Verfahren den Forderungen der mensch-


lichen Vernunft nur unzureichend Rechnung zu tragen. Werte sind ja noch
keine verpflichtenden Handlungsnormen, kein – möglicherweise sogar
unbedingtes – Sollen. Und Beschreibungen des Wertvollen sind noch keine
Begründungen für solche Normen. Werte zu realisieren setzt eine gemeinsame
Verpflichtung voraus, das für alle Gute auch im Handeln zu befördern. Das muss
nicht immer eine tatsächliche Übereinkunft sein. Es genügt das Bewusstsein,
aus überlegter Stellungnahme wertvolle Zustände für alle auch im Handeln
zu verwirklichen – wie immer man sich den Prozess der gemeinsamen Ver-
wirklichung der menschlichen Fähigkeit zu allgemeinen Urteilen und zur
individuellen oder kollektiven Selbstverpflichtung auch vorstellen mag.
Auch wertende Formen eines Naturalismus in der aristotelischen Tradition
können nicht unmittelbar auf ethische Tugenden und Gebote schließen.
Ohne die metaphysische Teleologie des Aristoteles, nach der jedes Wesen
zur Erfüllung seiner artgemäßen Funktion bestimmt ist, kann man nur noch
funktionale Organisationen und Handlungsdispositionen »beschreiben«. Art-
gemäßes Verhalten ist noch nicht im ethischen Sinne »gut«.66 Auch die Er-
füllung einer sozialen Rolle ist als Maßstab für das richtige und gute Leben
des Menschen nicht zureichend. Seine Lebensform ist nicht nur eine soziale,
sondern auch eine personale und moralische.67 Dazu gehört die individuelle
Verantwortlichkeit für die Befolgung selber eingesehener universaler und sym-
metrischer Regeln der Interaktion.
Natürliche Prozesse, Eigenschaften und Dispositionen kann jeder bewerten,
von seinen eigenen Lebenszielen und denen seiner Gruppe aus. Bedürfnisse
und Neigungen seines Körpers kann er kritisch aneignen oder asketisch
zurückweisen. Die Fähigkeiten des aufrechten Ganges, der sprachlichen Mit-
teilung und des Teilens von Wahrnehmungen und Gefühlen muss er allerdings
zu Kompetenzen entwickeln, wenn er mit den Menschen seines Zeitalters ko-
operieren will.

66 Vgl. Halbig (2017), Normative Ansprüche der menschlichen Natur. Zu verschiedenen


Naturalismusbegriffen in der (Tugend)Ethik vgl. Siep (i. E.), Virtue and Nature.
67 Das gilt sicher auch für Neoaristoteliker wie Philippa Foot, Rosalind Hursthouse oder Julia
Annas. Sie unterscheiden beim artgemäß guten Leben des Menschen in der Regel vier
Zwecke: a) individual survival, b) the continuance of the species c) the freedom from pain
and enjoyment characteristic to the human species and d) the good function of the social
group (vgl. Hursthouse (1999), On Virtue Ethics, S. 197 ff.; Annas (2005), Virtue Ethics).
Zur Auswahl und Auszeichnung dieser Zwecke greifen sie aber auf die Spezies-Natur
des Menschen zurück. Vgl. dazu Halbig (2017), Normative Ansprüche der menschlichen
Natur, S. 81-84.
2.2 Konkretisierung und Begründung 29

Gibt es über die Rechtfertigung von Normen aus der Verpflichtung zur Mit-
wirkung an einer »guten Welt« und der Achtung der wechselseitigen Rechts-
ansprüche hinaus noch eine weitergehende Begründung? Wenn Begründung
die zwingende Ableitung aus ersten, »unbedingten« Prinzipien ist, dann kann
sie in einer solchen Ethik nicht geleistet werden. Wenn Moral »metaphysisch«
im Sinne Kants, also aus einem unbedingten Sollens-Prinzip begründet
werden muss,68 dann kann die hier erörterte jedenfalls keine metaphysisch
begründete sein. Das teilt sie aber mit vielen modernen Ethiken. Das allen
Lebewesen unterstellte Verlangen nach Schmerzvermeidung oder das allen
Personen unterstellte Autonomiestreben ist auch kein unbedingtes, von natür-
lichen Verfassungen oder historischen Entwicklungen unabhängiges Prinzip.
»Begründen« kann in solchen Ethiken nur Rechtfertigen mit guten, möglichst
unabhängig von Interessen und kulturellen »Vorurteilen« einleuchtenden
Argumenten bedeuten.69 Deren Plausibilität gegenüber Einwänden und
Gegenargumenten muss möglichst vollständig erwiesen werden (u. Kap. 5).
Die Ethik einer endlichen Vernunft hat außerhalb von Offenbarungen keine
guten Gründe mehr für die Annahme einer allmächtigen Schöpfervernunft.
Auch das Postulat einer mit übersinnlichen Wesen geteilten praktischen
Vernunft – wie bei Kant – hat an Überzeugungskraft verloren. Entsprechend
muss sich die Ethik in ihren Begründungsansprüchen bescheiden. Wer in
dieser Welt ohne überzogene, von »jenseitigen« Idealvorstellungen geprägte
Hoffnungen lebt, kann nicht bestreiten, dass gedeihliches Leben in ihr möglich
ist, dass Bedürfnisse erfüllt werden und erstaunliche kulturelle Leistungen mög-
lich sind. Er kann ebenso wenig verleugnen, dass es in dieser Welt ein großes
Ausmaß an Leid und Ungerechtigkeit gibt – Vieles davon vermeidbar. Obwohl
ein erheblicher Teil davon auf Naturkatastrophen, auch vom Menschen mit-
bewirkte, zurückgeht, scheint sich immer mehr Leid auf die von Menschen
untereinander und anderen Lebewesen zugefügten Beeinträchtigungen zu
verschieben – klassisch gesprochen vom natürlichen malum physicum zum
malum morale und dem von ihm ausgelösten physischen Leiden.
Die wohlwollend unparteiliche, sich zur Verwirklichung des Guten –
individuell und gemeinsam – verpflichtende Vernunft fordert Anstrengungen,
die Potentiale dieser Welt zum Guten, d.h. für alle Förderlichen, zu entwickeln
und das Gegenteil zurückzudrängen. Man kann das im kantischen Sinne eine
Verpflichtung durch die moralische Vernunft nennen, aber nicht zu ihrer

68 Vgl. dazu. Siep (2010), Wozu Metaphysik der Sitten?.


69 Ausführlicher zu den Formen des Begründens in einer Ethik, die Ressourcen zu einer um-
fassenden Bewertung des menschlichen Naturverhältnisses bereitstellt, vgl. Siep (2016),
Konkrete Ethik, S. 100-123.
30 2 Beschreiben, Bewerten, Begründen

Selbstverwirklichung, sondern zur Herbeiführung der von ihr eingesehenen


guten Zustände dieser Welt.
Eine »konkrete«, mit deskriptiven Wertungen der vorhandenen Welt ver-
bundene Ethik beansprucht aber, Vorzüge bei der Begründung von Urteilen
in der angewandten Ethik zu besitzen. Und zwar sowohl in Hinsicht auf die
Bereichsethiken wie hinsichtlich der Alltagsentscheidungen.70 Wenn Hand-
lungen daran gemessen werden, wie viel sie zu einem guten Zustand der Welt
für eine Mannigfaltigkeit von Wesen beitragen, für die es Gedeihen, Wohl-
ergehen und Rechte gibt, dann kommt es auf die richtige Bewertung aller
relevanten Aspekte einer Situation an.71 Dazu ist philosophische Ethik nicht
ohne die Mitwirkung der Wissenschaften in der Lage. Was etwa für betroffene
Tiere oder Pflanzen förderlich ist, können Biologen kompetent beurteilen.
Es muss mit menschlichen Ernährungsinteressen, auch mit ästhetischen
Gesichtspunkten oder Erkenntnisinteressen, abgeglichen werden. Genau-
so braucht man für soziale, stadt- oder verkehrsplanerische Entscheidungen
einen genauen Blick nicht nur auf Rechte, sondern auch auf Möglichkeiten der
Entwicklung von Fähigkeiten,72 der Begegnung und des Güteraustauschs von
Gruppen usw. Dabei muss auf Technikfolgenabschätzung und auf Erfahrungen
mit der Lösung von Problemen,73 dem Verfolgen von Zielen und der Eröffnung
neuer Möglichkeiten zurückgegriffen werden.
Da Lebewesen um Ressourcen konkurrieren und teilweise vom Einander-
Verzehren leben, muss der Mensch sozusagen von außen in einen »Ver-
teilungskampf« eingreifen. Dabei sind Mannigfaltigkeit, Natürlichkeit und
Gerechtigkeit allgemeine Kriterien, die differenziert und konkretisiert wer-
den können. Sie rechtfertigen das Eindämmen der Verdrängung von Arten
und Populationen, auch wenn diese nicht auf den Menschen zurückgeht.

70 Vgl. dazu die Überlegungen zum Anwendungsproblem bei Reinold Schmücker (2017),
Natur und Erfahrung, S. 21-38, in Bezug auf eine konkrete Ethik vor allem S. 34 f.
Schmücker vermisst einen Eintrag »konkret« im Sachregister der Konkreten Ethik (2004,
²2016). Der Grund war das häufige Vorkommen des Begriffs. Es gibt aber an etlichen
Stellen Bemerkungen zum Doppelsinn von »konkret« – als »Konkretisierung« in einem
an Hegel angelehnten Sinne und als Annäherung an besondere Handlungssituationen
(vgl. etwa S. 23 f., 37 f., 285-288)
71 Vgl. Vieth/Quante (2010), The Structure of Perception: »perceptions and principles
of correct actions are … two inseparable aspects« (S. 7); Schmücker (2017), Natur und
Erfahrung, S. 35.
72 Durchaus auch im Sinne des »capabilities approach« von Sen und Nussbaum. Vgl. Sen
(2001), Development as freedom; Nussbaum (2001), Women and human development.
73 Hier ist an Rahel Jaeggi zu denken (Jaeggi (2014), Kritik von Lebensformen). Nach meiner
Auffassung sollte dabei aber eine zu reaktive Sicht vermieden werden, vgl. Siep (2018c),
Immanentes Telos und Erfahrungsgeschichte.
2.3 Recht, Moral und Ethik 31

Schwieriger sind die Konflikte zwischen menschlichen und nicht-mensch-


lichen Interessen, zumal im Zeitalter einer von Mühsal entlasteten technischen
Landwirtschaft, Viehzucht, Fischerei etc. zu beurteilen. Notwendig ist ein
Ausgleich zwischen der »zentrierten« Perspektive des Menschen auf seine
Interessen und einer umfassend unparteilichen Perspektive.74 Selbstbe-
schränkung gehört sowohl zur individuellen wie zur Gattungsmoral.
Zwischen den hier entwickelten allgemeinen Kriterien für gute Ziele und
Grenzen des Handelns einerseits und konkreten ethischen Beurteilungen
andererseits gibt es viele Vermittlungsebenen. Vor allem in Beratungsgremien
spielen »mittlere Prinzipien« eine Rolle, die auf Konsensen der gegen-
wärtigen moralischen Kultur beruhen – etwa die bioethischen Prinzipien von
Beauchamp und Childress, einschließlich der von ihnen entwickelten Spezi-
fizierung.75 Sie müssen ergänzt werden durch die situative Erfassung mög-
licher und erreichbarer erstrebenswerter Zustände aller Betroffenen. Es gibt
aber auch Rechtsordnung und Institutionen, die Werte, Güter und Rechte des
menschlichen und nicht-menschlichen Lebens fördern.

2.3 Recht, Moral und Ethik

Wie ist das Verhältnis von Recht, Moral und Ethik in einer Ethik der historisch
belehrten konkreten Vernunft? In diesem Buch übernehme ich die üb-
liche Unterscheidung zwischen Moral und Ethik.76 Moral betrifft demnach
sowohl die inneren Überzeugungen wie die gelebten Sitten, Ethik dagegen
die grundsätzlichen theoretischen Überlegungen darüber – hier aber in einer
auf historische Erfahrungen angewiesenen Vernunft. Bei den gelebten Sitten
muss man die »äußerlichen« der Gebräuche und Traditionen vom Kern der
grundsätzlichen und universalen Gebote und Verbote unterscheiden.77 Dieser
Kern wird aber in modernen Gesellschaften auch durch Rechte gesichert, auf

74 Vgl. Nagel (1986), The View from Nowhere. Eine Vermittlung zwischen menschlichen
Interessen und dem »moral stance« versucht Jörg Hardy (2017), Understanding Ethical
Reasoning. S. 60 f.
75 Beauchamp/ Childress (2019), Principles of Biomedical Ethics. Zur Spezifizierung in der
Prinzipienethik vgl. Quante/ Vieth (2002), In defence of principlism.
76 Vgl. Ach/Siep (2016), Was ist Moral? Ich unterscheide hier nicht mehr, wie in Siep (2016,
Konkrete Ethik), zwischen Moral als dem engsten Kreis zwischenmenschlicher Pflichten
und Ethik als dem Bereich der Werte, Gebote und Tugenden in Bezug auf die gute Welt als
Ganze. Zur deontischen Differenz zwischen beiden Bereichen vgl. aber unten S. 174.
77 Vgl. zum Folgenden auch Pollmann (2012), Menschenrechte, S. 360. Pollmann erörtert zu
den »Dimensionen« der Moral und des Rechts noch die der Politik. Ihre Aufgaben der
Positivierung und Implementierung der Menschenrechte überschneiden sich mit dem
32 2 Beschreiben, Bewerten, Begründen

internationaler Ebene durch Menschenrechte, auf staatlicher durch Grund-


rechte und ihre gesetzliche Konkretisierung. Inhaltlich kann es für eine
konkrete Ethik also keine strenge Grenze zwischen Moral und Recht geben,
obwohl nur das letztere (auch) durch legitime physische Gewalt durchgesetzt
werden kann. Vor allem auch deswegen nicht, weil das Recht eher als die Moral
in der Lage ist, historische Erfahrungen des Missbrauchs und des Gelingens
institutionell zu verarbeiten und festzuhalten – ein Blick auf die deutsche Ver-
fassungsgeschichte des 20. Jahrhunderts ist ein hinreichender Beleg.
Eine konkrete Ethik muss also nahe am Recht und seiner Geschichte
bleiben – das wird im Folgenden stärker als in anderen Abhandlungen der
Ethik der Fall sein. Aber auch wenn weder Moral noch Ethik auf Prinzipien
einer zeitlosen Vernunft basieren, behalten sie doch ihre Distanz zum positiven
Recht. Jedes positive Gesetz kann kritisch befragt werden, auch von einer
historisch belehrten Vernunft. Der Bereich, den Moral und Recht teilen, ist be-
sonders derjenige der Menschenrechte. Da diese bei der Verteidigung eines ir-
reversiblen Kerns der historisierten Moral im Folgenden eine entscheidende
Rolle spielen, muss die unterschiedliche Zugangsweise der Ethik gegenüber
Verfassungs- und Völkerrecht beachtet werden. Das gilt auch für die Begriffe
von »Idee« und »Kern«, die im Kap. 3 weiter erläutert werden (s.u. S. 41).
Neben der Idee einer guten Welt, die ebenfalls keine abstrakte ist, sondern
sich in Werteigenschaften der tatsächlichen, sich evolutionär entwickelnden
Welt konkretisiert, ist die Idee der Menschenrechte für eine konkrete Ethik
von zentraler Bedeutung. Das Verhältnis beider Ideen zueinander, als eines
Bestandteils zum Ganzen, wird noch zu erörtern sein (Kap. 3 und 8). Be-
sondere, historisch konkretisierte und positivierte Menschenrechte sind für
die ethische Betrachtung bedeutsam als Konkretisierung einer Idee, nämlich
der rechtlich geschützten und geförderten Menschenwürde. Wie beim Be-
griff der Erfahrung kann man auch bei dem der Idee auf Hegel zurückgreifen,
aber in nach-metaphysischer Abwandlung: Eine Idee ist kein Begriff oder
Grundsatz, sondern der leitende, sich differenzierende Sinn eines Systems
von – theoretischen oder normativen – Bestimmungen. So konkretisiert sich
in Hegels Rechtsphilosophie die Idee der Freiheit in einem historisch ent-
wickelten System von Rechten (»Freiheiten«). Dabei braucht hier nicht zu
interessieren, dass bei Hegel die Freiheit des Staates letztlich derjenigen der
Individuen übergeordnet bleibt. Nicht mehr teilen kann eine endliche Ver-
nunft auch die These, dass das System der Rechte eine vollständige Ausfaltung

Recht, geht aber darüber hinaus (Wirtschaftspolitik, Entwicklungspolitik, »Menschen-


rechtspolitik«). Vgl. dazu unten Kap. 3.5.
2.3 Recht, Moral und Ethik 33

und Erkenntnis der Idee ist.78 Demgegenüber ist nur noch von einer Idee mit
Kern und offenen Rändern zu sprechen. Diese entwickeln sich in besonderen
Rechtsordnungen und -kulturen (Kommentare, Rechtsprechung etc.) fort –
mit eigenen sozusagen »regionalgeschichtlichen« Erfahrungen. Diese müssen
aber als Konkretisierung erkennbar bleiben und dürfen die Intention von Kern
und Idee nicht verkehren.
Um Grenzen der Veränderung geht es hier aus der Sicht der Moral, nicht des
Rechts. Mit den Veränderungssperren einer Verfassung hat das nur indirekt zu
tun, sie sind allenfalls ein Indiz für die »überpositive Dignität und Verankerung
der Menschenrechte als Leitidee«.79 Wenn für die Moral die Menschenwürde
eine Art »Backstop« ihrer Historisierung ist, dann kommt es aber auch auf die
unumkehrbaren Konkretisierungen an – also z.B. auf die Frage, ob zumindest
die »Generationen« der Menschenrechte etwas treffen, das mit der Idee der
Menschenwürde untrennbar verbunden ist. Wenn die Menschenwürde und
die sie ebenso konkretisierenden wie sichernden Rechte einen Bereich der
Moral darstellen, der nicht aufgegeben werden kann, ohne dass diese Lebens-
form (das normativ-praktische »Sprachspiel«) verlassen wird,80 dann ist die
Frage nach einem Kern für die Ethik zentral (vgl. dazu u. S. 41). Das gilt auch
dann, wenn es verfassungs- oder völkerrechtlich einen klar umgrenzten Kern
nicht geben sollte.
Ohne die in Rechten konkretisierte Erfahrung lässt sich, das ist die These,
der moralische Kernbereich dessen, was Menschen einander schulden, nicht
bestimmen. Sie werden zwar auch vom kantischen Instrumentalisierungs-
verbot und von der moralischen Perspektive des »unparteiisch wohlwollenden
Beobachters« gefordert bzw. gerechtfertigt. Aber diese enthalten eben kein
Potential der Konkretisierung.
Gegenstand einer konkreten Ethik sind aber nicht nur die Rechte der
Menschen, sondern auch die Bedingungen des Gedeihens und Wohlergehens
nicht-menschlicher Lebewesen. Auch da gibt es konkrete rechtliche Gebote
gegenüber Tieren und Umwelt. Tierschutz und Umweltrecht werden bis auf

78 Zu Hegels Logik der Idee vgl. Siep (2018a), Die Lehre vom Begriff. Die Analogie zu Hegel
betrifft hier nur das Verhältnis zwischen der Idee und ihren Konkretionen.
79 Vgl. Dreier (2013), Kommentar zu Art. 1, II Rn 13. Einen ȟber den Schutz der Menschen-
würde hinausgehenden unabänderlichen menschenrechtlichen Kern der Grundrechte«
lehnt Dreier verfassungsrechtlich ausdrücklich ab (Rn 25). Ethisch kann man aber nach
einem Kern der Menschenrechte fragen, dessen Veränderung die Menschenwürde
tangieren würde - und auch moralische Grenzen der Verfassungsänderung diskutieren.
80 Auch die »Irreversibilitätsthese« nimmt ein Hegelsches Erbe auf – ohne die notwendige
Verwirklichung der Vernunft in der Geschichte. Christoph Bauer (2000, Erkennen heißt
Handeln, S. 93) etwa spricht mit Bezug auf Hegel vom »Einfrieren« eines Freiheitsbegriffs
gegen die »Subversion« durch die Geschichte.
34 2 Beschreiben, Bewerten, Begründen

den Einzelfall durch die entsprechenden Gesetze, Genehmigungsregeln und


durch die entsprechende Rechtsprechung konkretisiert. Auch dies ist für
die konkrete Ethik von Belang, aber auch diese positiven Rechte und Ent-
scheidungen muss sie nicht unbefragt hinnehmen. Sie kann sie von ihren
Rechtfertigungsquellen aus befragen. Das bedeutet, sie sowohl »nach oben«
im Hinblick auf die Vorstellungen einer guten Welt und des moralischen
Standpunktes, wie »nach unten« in Bezug auf ihre konkreten Folgen in genau
beschriebenen Situationen zu reflektieren.
Das gute Leben des Lebewesens Mensch hat Dimensionen, die es mit
anderen Lebewesen teilt, und solche, die auf seine besondere Natur und Ver-
nunft bezogen sind. Zu den allgemein »animalischen« gehört das körperliche
Wohlergehen, zu den besonderen die Moralfähigkeit, das bewusste Verhalten
zu Sinn und Ende des Lebens und die mit der Würde jedes Individuums ver-
bundenen Rechte. Deren Exklusivität wird noch zu erörtern sein (Kap. 4.1 und
5.3). Zunächst geht es aber um die Rechte, die einer Historisierung der Moral
Grenzen setzen.
Kapitel 3

Konkrete Ethik und Menschenrechte

Menschenrechte sind aus drei Gründen für das Thema dieses Buches von
zentraler Bedeutung:
Erstens sind Menschenwürde und Menschenrechte die ersten Kandidaten
für einen globalen normativen Konsens. Eine Philosophie, die nicht von
apriorischen Prinzipien ausgeht, muss an solche Konsense anschließen. Der
hier vorgeschlagene Rahmen für die Deutung globaler Konsense ist aber eine
Konzeption der »guten Welt«. In ihr wird das normative »Sollen« aus dem
»Sein-Sollen« des Guten abgeleitet.81 Das scheint sich mit dem unbedingten
Anspruch von Menschenwürde und Menschenrechten nicht zu vertragen.
Es soll aber gezeigt werden, dass Menschenrechte entscheidend für das »art-
gemäß Gute« des Menschen ist. Daher haben die deontologischen Elemente
unbedingt gültiger Rechte und Pflichten auch innerhalb einer Ethik der guten
Welt Platz.
Zweitens sind Menschenrechte ein Prüfstein für das Projekt einer Histo-
risierung der Vernunft. Wenn sie – oder ihre Grundlage, die Menschenwürde –
unantastbar und unveränderbar sein sollen, dann scheinen transzendentale
oder naturrechtliche Ansätze allein zu ihrer Begründung geeignet. Eine
historisierte Vernunft, deren Argumente auf historische Erfahrungen zurück-
greifen, scheint daran scheitern zu müssen. Dagegen soll gezeigt werden, dass
auch eine solche Vernunft begründen kann, dass einige Rechte und Gebote
nicht mehr aufgegeben werden können.
Drittens sind Menschenwürde und Menschenrechte ein wichtiges Kriterium
für die Grenzen der Technisierung der menschlichen Natur. Die bioethischen
Debatten über Transhumanismus oder Enhancement, Lebensverlängerung
und Zell- bzw. Organersatz haben es damit zu tun, ob Rechte und Würde von
Menschen verletzt werden. Bis auf die Probleme des Umfanges dessen, was
unter den Begriff »Mensch« der Menschenrechte fällt (3.1), werden aber in
diesem Buch im Wesentlichen Grundlagenfragen, nicht Anwendungsbereiche
und -fälle behandelt.82

81 Zur Unterscheidung des »Sein-sollens« vom »Tun-sollen« vgl. Sidgwick (2019) <Sein und
Sollen> S. 84f., Broad (1934), Five Types of Ethical Theory, S. 141.
82 Vgl. dazu aber die Aufsätze 15-20 von Siep (2013) Moral und Gottesbild. Für eine ent-
schieden von den Menschenrechten ausgehende Bioethik plädiert Ludger Honnefelder.
Vgl. dazu Fuchs (2019), Einleitung, S. 19 f.
36 3 Konkrete Ethik und Menschenrechte

Es geht aber nicht um eine eigene Philosophie der Menschenrechte.83 Vor


allem die rechtswissenschaftlichen und -philosophischen Fragen des Ver-
hältnisses von Menschenrechten und Grundrechten innerhalb von Staats-
verfassungen stehen hier nicht zur Debatte.84 Zwei Themen sind für den
Gedankengang wesentlich: Zum einen die Gehalte dessen, was Menschen an
Rechten unbedingt zusteht. Das betriff vor allem auch die Frage des »Menschen-
bildes« hinter den Menschenrechten, genauer ihres Individualismus oder
ihrer Verträglichkeit mit dem Guten für menschliche Gemeinschaften. Zum
anderen geht es um den Charakter der Unumkehrbarkeit. Faktisch, d.h. in der
politischen Realität sind sie das keineswegs. Vor allem in der internationalen
Politik wird über sie gestritten. Rechtlich gibt es in einigen Verfassungen, wie
dem deutschen Grundgesetz, für das Prinzip des Schutzes von Menschen-
würde und Menschenrechten starke Veränderungssperren (Art. 79 III).85
»Irreversibel« im philosophischen Sinne bedeutet etwas Anderes: Es gibt
keine Gründe gegen sie, im gegenwärtigen philosophischen Diskurs nicht,
aber auch nicht in den vorstellbaren künftigen. Das Letztere scheint nur eine
Frage der Grenzen unserer Phantasie zu sein, vor allem, wenn man an die
technischen Möglichkeiten der Veränderung des Menschen denkt. Hier wird
aber versucht, die These zu verteidigen, dass solche Änderungen den Rahmen
dessen überschreiten können, was sinnvoll »Recht« und »Moral« genannt
werden kann. Zu den »Sinnkriterien« dieser Begriffe gehört, dass bestimmte
Handlungen und Regeln unter keinen Umständen unter sie fallen können.
Damit legitimiert die Philosophie aber nicht schlicht einen unveränderlichen
Kanon positiver Rechte. Es gibt zwischen Menschenrechten Spannungen und

83 Zu Begriff und Struktur der Menschenrechte vgl. auch Robert Alexy (1998), Menschen-
rechte im demokratischen Verfassungsstaat. Umfassend zu Theorie und Praxis der
Menschenrechte: Donnelly (2013), Universal Human Rights in Theory and Practice.
84 Vgl. dazu Pollmann (2012) Menschenrechte, S. 129-136; Dreier (2013), Kommentar zu
Art. 1, II Rn 13-21; Brugger (1997), Menschenwürde; Wasmaier-Sailer/ Hoesch (Hg.)
(2017), Begründung der Menschenrechte.
85 Nach Hofmann (1995, Langzeitrisiko und Verfassung) hindert schon der Begriff der Un-
veräußerlichkeit (Art. 1 GG, ähnlich in anderen Verfassungen) den Staat daran, »die
objektiv-menschenrechtlichen Schutzverpflichtungen in einer zeitlichen Beschränkung
zu denken« (S. 331). Das gelte vor allem gegenüber zukünftigen Generationen: »um
einen gewissen Bestand elementarer Rechte, deren Bewahrung Sinn und Zweck staat-
licher Vereinigung ist, darf eine Gesellschaft, auch wenn sie selbst darauf verzichten
wollte, ihre Nachkommen nicht bringen« (ebd. S. 332 f.). Nach Dreier (2013, Kommentar
zu Art. 1, II Rn 26, S. 279) muss aber verfassungsrechtlich zwischen dem Wesensgehalt
der Grundrechte, der nach Art. 19 GG vom einfachen Gesetzgeber nicht tangiert werden
darf, und der »Ewigkeitsgarantie« (Art. 79 III, Ausschluss der Verfassungsänderung) für
die Art. 1 (Menschenwürde und Menschenrechte) und 20 (Republik, Sozialstaat, Bundes-
staat) »stets streng unterschieden werden«.
3 Konkrete Ethik und Menschenrechte 37

es gibt Einwände gegen ihren Primat, vor allem in der internationalen Politik.
Was die Zugehörigkeit und den Umfang angeht, ist die Philosophie auch zu
kritischer Abschätzung aufgerufen. In welchem Sinne kann überhaupt von
einem unveränderlichen rechtlichen Konsens gesprochen werden?
Sowohl das Völkerrecht86 wie viele Verfassungen gegenwärtiger Staaten
enthalten eine Liste von basalen Rechten, als Menschenrechtsdeklarationen
oder Grundrechtsartikel von Verfassungen. Sie werden oft noch einmal auf
ein erstes Gebot, die Achtung der Menschenwürde zurückgeführt. Der ver-
fassungsrechtliche Schutz der Grundrechte ist stabiler und justiziabler als der
völkerrechtliche. Das zeigt die Geschichte der Menschenrechte im modernen
Völkerrecht. Die erste universale Erklärung der Menschenrechte von 1948 war
zwar umfassend, traf aber auf Vorbehalte der sozialistischen Staaten, die sich
bei der Abstimmung der Stimme enthielten. Erst nach der Verabschiedung
der beiden getrennten Pakte über »bürgerliche und politische Rechte« sowie
über »wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte« 1976 kann man davon
sprechen, dass alle drei Erklärungen zusammen eine »International Bill
of Rights« und eine »Magna Carta des völkerrechtlichen Menschenrechts-
schutzes« darstellen.87
Vergleicht man die Menschenrechtserklärungen von Kontinenten und
Staatengruppen, dann sind elementare Grundrechte wie die Freiheit zum
Verlassen einer Religionsgemeinschaft oder die Gleichheit der Geschlechter
in einigen nicht bekräftigt, sondern unter Vorbehalte gestellt worden.88 In
der jüngeren Zeit kann von einer »tiefen Krise der Menschenrechtspolitik«

86 Zum Folgenden vgl. die Übersicht in Nußberger (2009), Das Völkerrecht, vor allem S. 85-
96 – ausführlicher bei Eckel (2014), Ambivalenz des Guten.
87 Nußberger (2009), Das Völkerrecht, S. 93, Zur Geschichte und den Kontroversen über
die unterschiedlichen »Generationen« vgl. auch Maier (2019), Menschenrechte heute.
Maier konstatiert in Bezug auf die Stimmverhältnisse in den Vereinten Nationen ein
»Patt« in der Menschenrechtsdebatte zwischen Befürwortern und Gegnern, vor allem
der Individual- und Kollektivrechte (Maier (2019), Menschenrechte heute, S. 30). Zur
Rolle der Menschenrechte im Völkerrecht vgl. auch Walter (2012), Normenbegründung
als Lernprozess?.
88 Das gilt besonders für die islamischen Staatengruppen und den »Scharia«-Vorbehalt.
Vgl. dazu Maier (2019), Menschenrechte heute, S. 28; Eckel (2014), Ambivalenz des
Guten, S. 790. Im »Innenverhältnis« einiger christlicher Kirchen kann allerdings auch
nicht von einer vorbehaltlosen Entsprechung zum Sinn der Menschenrechte gesprochen
werden – etwa was den (theologisch unmöglichen) Kirchenaustritt oder die Persön-
lichkeitsentwicklung der Frau angeht. Im deutschen Verfassungsrecht ist nach Fabian
Wittreck »vergleichsweise einhellig anerkannt, daß sie (sc. »beide Kirchen«) weder an
staatliche Grundrechte noch an internationale Menschenrechtspakte gebunden sind«.
Wittreck (2013) Christentum und Menschenrechte, S. 36.
38 3 Konkrete Ethik und Menschenrechte

gesprochen werden.89 Auch zwischen Menschenrechten bestehen Spannun-


gen, etwa zwischen dem Recht auf Selbstbestimmung von Völkern und den
Rechten ihrer Minderheiten und einzelner Bürger. Bei einer Philosophie der
Menschenrechte gehören Rechtfertigung und Kritik also zusammen.
Im Folgenden werden Menschenwürde und Menschenrechte als Institutio-
nalisierung dessen verstanden, was aus Leidens-, Entwürdigungs- und Verbre-
chenserfahrungen unaufgebbar gelernt wurde.90 Das kann durch allgemeine
geschichtstheoretische und anthropologische Überlegungen gestützt werden
(Kap. 4). Sie ersetzen die Erfahrungen nicht, können aber die These erhärten,
dass das Festhalten an Menschenwürde und Menschenrechten eine Grenze
der Historisierung der Moral darstellen.
Man kann die These vertreten, dass es auch den Opfern der Vergangen-
heit geschuldet ist, aus Leiden und Unrecht in der Geschichte zu lernen. Für
eine an apriorischen Normen orientierte Vernunft haben sie im Grunde nur
die negative Bedeutung besonders schwerer vergangener Verletzungen von
Recht und Moral. Wenn man aus ihnen auch inhaltlich für die Schärfung und
Konkretisierung des Begriffs der Menschenwürde lernen kann und muss,
haben sie zumindest für die Nachwelt eine wesentlich größere Bedeutung.91
Mit einer nachträglichen Rechtfertigung oder Sinnverleihung hat das nichts zu
tun. Im Folgenden geht es aber nur um Gründe dafür, dass von einem irrever-
siblen Lernen gesprochen werden kann.
Einige begriffliche Klärungen erscheinen dabei vorab nötig: erstens zum
Verhältnis Menschenwürde-Menschenrechte (1), zweitens zu den Begriffen
»Idee«, »Kern« und »Kultur« der Menschenrechte (2).
(1) Fünf Punkte sind für dieses Verhältnis wichtig:
a) Menschenwürde und Menschenrechte werden seit dem Zweiten
Weltkrieg in einen engen Zusammenhang gebracht.92 Es ist
unbestritten, dass in den Rechtsdokumenten der Menschen-
würde eine Begründungsfunktion zukommt: Wegen der Würde
des Menschen müssen bestimmte grundlegende Rechte beachtet

89 Vgl. Bielefeldt (2019), Die Evidenz der Menschenrechte, vor allem S. 60.
90 Vgl. Pollmann (2018), Lernen aus historischem Unrecht? Zur menschenrechtlichen Be-
deutung der Erfahrung von Krieg, Gewalt und Entwürdigung.
91 Zur Frage einer Pflicht zur Erinnerung, die aus der jüdischen Tradition stammt, vgl.
Bienenstock (2018), Was bedeutet »sich erinnern«?; Dies. (Hg.) (2002), Devoir de mémoire
sowie Assmann (2002), Das kulturelle Gedächtnis, S. 30.
92 Vgl. dazu Pollmann (2018), Lernen aus historischem Unrecht?, S. 43-66, besonders S.48-
52. Jürgen Habermas (2010, Konzept der Menschenwürde, S. 343-357) vertritt dagegen die
Auffassung, dass das Konzept der Menschenwürde den Menschenrechten von Anfang an
inhärent war.
3 Konkrete Ethik und Menschenrechte 39

werden.93 Das ist sicher kein deduktives Verhältnis, aus dem Be-
griff der Menschenwürde folgen nicht die Menschenrechte in ihren
mehr oder minder langen Listen. Aber klar ist, dass man ohne die
Menschenrechte nicht wüsste, was man zu unterlassen habe, um
Würdeverletzungen zu vermeiden. Man kann das ein explikatives
Verhältnis nennen: Die Menschenrechte buchstabieren aus, was
Menschen an Verhalten anderer, Privatpersonen und Institutionen,
zusteht.
b) Der Begriff der Menschenwürde als ein Wert, aus dem ein um-
fassendes Gebot des Schutzes folgt, lässt zunächst offen, ob von
einzelnen Menschen, von Gruppen oder sogar von der Gattung
die Rede ist. Die enge Verbindung zwischen Menschenwürde und
Menschenrechten, die individuell einklagbar und vom Staat zu
schützen sind, macht aber klar, dass es sowohl um die gemeinsame
Eigenschaft des Menschseins wie um die Individualität geht. Bei
den Abwehrrechten sind die Individuen primär im Blick, es geht
aber auch um Gruppen wie Minoritäten und Glaubensgemein-
schaften (s.u. S. 59). Bei Rechten auf öffentliche Güter, die nicht
exklusiv genossen werden können – z.B. intakte Umwelt – sind
Individuen und Gruppen Anspruchsträger. Vor allem aber kommen
die Rechte den Individuen stets »als Menschen« in gleichem Maße
wie allen anderen Menschen zugute – unterschieden allenfalls
nach besonderen Grundrechten bestimmter Staaten und der Welt-
bevölkerung insgesamt.
c) Der Begriff »Würde« bedeutet im Unterschied zu »Recht«, dass
der Träger den Rechtsschutz verdient hat. Das muss nicht heißen,
das der biologischen Spezies ein besonderer normativer Rang zu-
kommt: Das Menschsein, das die Anspruchsträger qualifiziert,
ist kein biologischer Begriff, sondern ein normativer, der auf eine
kollektive Selbstzuschreibung zurückgeht – historisch vermut-
lich in gradueller Ausweitung der Inklusion (der Umfang der Zu-
gehörigkeit ist noch nicht in allen Fällen klar, vgl. 3.4). Es ist auch
nicht der Rangbegriff einer Ständegesellschaft gemeint, im Gegen-
teil wird dem Individuum das Recht zugeschrieben, seine Position

93 Das »Darum« in Art, 1 Abs. 2 GG drückt diese Folgebeziehung aus. Zum Menschen-
würdebegriff des Grundgesetzes und zur Geschichte des Begriffs vgl. Hofmann (2008),
Methodische Probleme, S. 47 ff. (54 ff.). Zum Verhältnis Menschenwürde-Menschen-
rechte vgl. auch den grundlegenden und rechtsvergleichenden Text von Peter Häberle
(2004), Menschenwürde als Grundlage, S. 317 ff.
40 3 Konkrete Ethik und Menschenrechte

in der Gesellschaft selbst zu bestimmen und etwaige Rang- oder


Funktionsstufen selbst zu erarbeiten. Eine normative Rangordnung
gegenüber nicht-menschlichen Lebewesen ist allerdings insofern
impliziert, als die Menschenwürde gerade Verhaltensweisen, die
anderen Lebewesen gegenüber jedenfalls in Situationen der Vertei-
digung (»Raubtiere«, Parasiten) und des (schonenden) Gebrauchs
gestattet sind, ausschließt. Menschen als »Untermenschen«,
Schädlinge etc. zu behandeln, stellt exemplarische Verletzungen
der Menschenwürde dar.
d) Der Begriff der Würde hat eine subjektive und eine objektive
Komponente. Vor allem über die subjektive Komponente ist unter
dem Begriff der »Selbstachtung« viel geschrieben worden.94 Der Be-
griff selber hat verschiedene Aspekte: epistemische (privilegierter
Zugang zu den eigenen Taten, Erwartungen und Überzeugun-
gen), evaluative (von Fremdschätzungen teilweise unabhängige
Selbstschätzung), emotionale (Selbstwertgefühl) und normative
(normatives Selbstbild). Die Würde setzt auch eine Sorge um sich
selbst voraus, die einen erst verletzungsempfindlich macht.95 Man
darf sie weder auf die emotionalen Aspekte einengen, denn Mangel
an Selbstwertgefühl kann andere Gründe haben. Aber auch allein
rationale Einschätzung der Gründe von Selbstachtung oder De-
mütigung kann zu falschen Schlüssen führen: »Niedrige Absichten«
anderer, wie Verachtung oder Bloßstellung, rechtfertigen ja rational
nicht das eigene Kränkungsgefühl.96 Aber sie machen die Ver-
letzung in besonderem Maße aus. Schließlich kann man auch
teilnahmslos »Dahinvegetierende« noch in der Menschenwürde
verletzen.
e) Die objektive Würdeverletzung zielt zwar oft gerade auf die Selbst-
achtung (etwa bei erzwungenem Verrat oder Geständnis), aber sie
ist weitgehend davon unabhängig, wie verletzt sich jemand fühlt.
Zur Evidenz von Würdeverletzungen gehört zwar, dass man sich in
den Verletzten hineinversetzt. Aber auch wenn das nicht erfolgreich

94 Vgl. etwa Stoecker (2019a), Selbstachtung und Menschenwürde; Schaber (2012),


Menschenwürde, vor allem S. 64-68 (beide mit zahlreichen Verweisen), sowie Pollmann
(2018), Lernen aus historischem Unrecht?, S. 56, 60 f.
95 Vgl. Stoecker (2019), Menschenwürde und das Paradox der Entwürdigung, S. 41.
96 Das haben Margalit und Stoecker unter dem Titel »Paradox der Entwürdigung« be-
handelt. Vgl. Stoecker (2019), Menschenwürde und das Paradox der Entwürdigung
sowie Margalit (1999), Politik der Würde, Kap. III, 7 (S. 121-134).
3 Konkrete Ethik und Menschenrechte 41

ist, genügt die Kenntnis des objektiven Sachverhalts für das Urteil,
dass »man so etwas Menschen nicht antun darf«.
(2) Im folgenden Text wird unterschieden zwischen der Idee, dem Kern und
der Kultur der Menschenrechte. Hier eine vorläufige Klärung:
a) Dass Menschen überhaupt ein elementares Bündel an Rechten
zukommt, wenn ihre Würde geschützt werden soll, kann man als
die Idee der Menschenrechte bezeichnen. Damit ist noch nicht
festgelegt, welche Rechte das genau sind. Menschenrechtskon-
ventionen und Listen von Grundrechten in Verfassungen sollen zwar
konkretisieren, was unter dem Schutz der Menschenwürde zu ver-
stehen ist, aber das kann sich mit der kulturellen und technischen
Entwicklung ändern. Dies kann zu weiteren Würdeverletzungen
führen, die auch die Entwicklung neuer Grundrechte erforderlich
machen können – wie etwa das Recht auf informationelle Selbst-
bestimmung oder auf Menschen als Pfleger (statt Pflege allein
durch Automaten). Bei solchen Erweiterungen muss sowohl auf
normative Begriffe (Selbstkontrolle, Inklusion etc.) zurückgegriffen
werden wie auf den Nachvollzug oder die Antizipation emotionaler
Reaktionen. Über die natürliche Verletzlichkeit hinaus entstehen
neue, sozusagen technische Verletzlichkeiten – man denke an
Hassmails oder »shitstorms« – die einen grundrechtlichen Schutz-
bereich fordern. Die Idee des Menschenwürdeschutzes durch
Menschenrechte kann also unterschiedlich konkretisiert werden.
b) Nicht alle Menschenrechtsverletzungen sind gleich »nahe« an
einer Würdeverletzung – daher ist im Folgenden auch vom Kern
der Menschenrechte die Rede. Nicht jede Einschränkung etwa der
Vereinigungsfreiheit ist eine Würdeverletzung. Aber Menschen,
die keinerlei Vereinigungen mehr bilden können, leben in einer
isolierenden Tyrannei. Die Unterscheidung zwischen einem Kern
und weniger zentralen Rechtsverletzungen wird vor allem im
modernen Völkerrecht notwendig, wenn es um den Schutz einer
Bevölkerung gegen ihre eigene Regierung geht (vgl. u. Kap. 5. 2).
Hier wird der Umkreis besonders eng sein und sich im Wesent-
lichen auf die Abwehrrechte beschränken (s.u. S. 105). Schon im
Völkerrecht kann er aber, etwa in Handelsverträgen, auch auf einen
weiteren – etwa arbeits- und umweltrechtlichen – Bereich bezogen
sein. Gleichwohl wird es weder im Völkerrecht noch in Verfassungen
eine klare Unterscheidung zwischen Kern- und Randgrundrechten
geben und die weitere Entwicklung darf auch nicht ausgeschlossen
sein. Trotzdem kann man einen Bestand elementarer Rechte
42 3 Konkrete Ethik und Menschenrechte

ausmachen, der von einem menschenrechtsbasierten Rechtstaat


nicht aufgegeben werden darf.97
In der philosophischen Betrachtung muss ein solcher Kern noch
allgemeiner gefasst werden. Aus Begriffen menschlicher Fähig-
keiten und aus historischer Erfahrung von Entwürdigung und Er-
niedrigung ergeben sich einige allgemeine positive Formulierungen
dessen, was zum rechtlichen Schutz der Menschenwürde gehört:
Selbstverfügung statt Ausgeliefertseins an »nötigende Willkür«
(Kant) anderer, überlegte Zustimmung oder Ablehnung statt Ge-
sinnungskontrolle und erzwungene Überzeugungen (Schauprozess
etc.), Inklusion und Rechtsgleichheit statt Ausschluss aus der Ge-
meinschaft gleichberechtigter Menschen (»Untermensch«, »Ver-
räter«, »Volksfeind«).
c) Zur dauerhaften Wirksamkeit der Menschenrechte gehören
rechtliche Institutionen sowie ökonomische und emotionale Be-
dingungen. Wenn man diese »Einbettung« ins Auge fasst, kann
man von einer Kultur der Menschenrechte sprechen.98 Die
institutionelle Einbettung ist auf der internationalen Ebene
durch die Organisationen der Vereinten Nationen, aber auch
durch zwischenstaatliche und Nichtregierungs-Organisationen
manifestiert. Auf der staatlichen Ebene sind dazu alle Gerichts-
und Verwaltungsbehörden zu rechnen, die zur Sicherung der
Grundrechte notwendig sind. Vor allem die Sozialrechte be-
dürfen solcher Implementierungen. Aber auch die Einstellungen
von Behörden und von Bürgern gegenüber Menschen, deren
Würde und Rechte besonders gefährdet sind, gehören zu den Be-
dingungen der Realisierung der Menschenrechte. Schließlich sind

97 Es gibt aber auch rechtswissenschaftliche oder rechtsphilosophische Versuche einen


solchen Kern zu umreißen. Adalbert Podlech skizziert ihn folgendermaßen: »Freiheit
von Existenzangst im Sozialstaat durch die Möglichkeit zur Arbeit und eine soziale
Mindestsicherung; die normative Gleichheit der Menschen, die nur verantwortbare tat-
sächliche Ungleichheiten erlaubt; die Wahrung menschlicher Identität und Integrität
durch freiheitlich-geistige Entfaltung des einzelnen; die Begrenzung staatlicher Gewalt
durch deren rechtstaatliche Einbindung; schließlich die Achtung der Körperlichkeit der
Menschen als Momente ihrer autonom verantworteten Individualität« (hier zitiert nach
Häberle (2004), Menschenwürde, S. 343.) Vgl. auch Hofmann (1995), Langzeitrisiko und
Verfassung, S. 332 f.
98 Thomas Gutmann (2018a, Claiming Respect, S. 289) spricht von einem »Netz aus
Prinzipien, Normen, Einstellungen und Praktiken«. Vgl. auch Pollmann (2018), Lernen aus
historischem Unrecht?, S. 65 f. Umfassend, aber vor allem aus soziologischer Perspektive:
Friedman (2011), The Human Rights Culture.
3 Konkrete Ethik und Menschenrechte 43

Würdeverletzungen auch unter Einhaltung rechtlicher Regeln mög-


lich, vor allem im Bereich besonders verletzlicher und von anderen
abhängiger Personen (Alters- und Krankenpflege, Psychiatrie). Das
Gesamt dieser Einrichtungen und Einstellungen kann man die
Kultur der Menschenrechte nennen.
In verschiedener Hinsicht stellt die Menschenwürde also einen Überschuss
über die Rechtsbeziehung der Menschenrechte dar. Sie ist ferner ein Maß für
die Rechtseinschränkungen durch Gesetze.99 Die Unaufgebbarkeit der Men-
schenrechte im Unterschied zur Änderung ihrer Formulierung und der
Offenheit zur Weiterentwicklung betrifft gerade ihre Verbindung mit der
Menschenwürde.
Im folgenden Abschnitt soll zunächst genauer erklärt werden, wie die
Menschenrechte in die Konzeption einer guten Welt und ihre Kriterien für
die Technisierung der Natur passen (3.1). Dann geht es um ihre Bedeutung
für die Historisierung der Moral. Ihr Charakter als historisch gewordene ist
mit dem Anspruch zu vereinbaren, nicht historisch-kulturell gebunden zu
sein. Zunächst geht es darum, ob historische Entstehung unbeschränkte
Geltung nicht prinzipiell ausschließt (3.2). Dann geht es um die Kritik an ihrer
kulturell-inhaltlichen Beschränkung. Sie entzündet sich vor allem an ihrem
Individualismus bzw. dem Primat individueller Freiheit (3.3). Es wird eine
Konzeption skizziert, nach der die Menschenrechte zwar die Grenze des dem
Einzelnen Zumutbaren festlegen, aber das Zusammenwirken für gemeinsame
Güter und auch Rechte von Gruppen und Pflichten ihrer Mitglieder keines-
wegs ausschließen.
Im Bereich der angewandten Ethik als Bio- und Medizinethik sind die
Menschenrechte mit einem Problem verbunden, das die öffentlichen und
wissenschaftlichen Debatten seit langem beschäftigt: Wer gehört zu den
»Menschen«, denen diese Rechte zukommen bzw. deren Ansprüche geschützt
werden müssen? Nur Geborene oder auch Embryonen und Föten – in oder
außerhalb eines mütterlichen Körpers? Insoweit es im Rahmen des Themas
Menschenrechte in einer konkreten Ethik unerlässlich ist, soll darauf im
vierten Abschnitt dieses Kapitels eingegangen werden (3.4). Im Hinblick auf
die umfassenden Konzepte des Guten wird schließlich diskutiert, ob die Kultur
der Menschenrechte durch eine Kultur der Anerkennung zu ergänzen ist (3.5).

99 Hans Maier (2019, Menschenrechte heute, S. 32) sieht eine Analogie zwischen dem
Wesensgehaltsbegriff des Grundgesetzes (Art. 19) und dem Menschenrechtsschutz
des Völkerrechts. Sie gilt allerdings nicht verfassungsrechtlich (vgl. Dreier (2013),
Kommenentar zu Art. 1, II Rn 26, S. 279).
44 3 Konkrete Ethik und Menschenrechte

3.1 Menschenrechte, Natur und Technisierung

Zu den Rechten der Menschen gehören die Bedingungen für das körperliche
Wohlergehen, also eine gesundheitsförderliche Umwelt. Das allein ist aber
kein Kriterium für Mannigfaltigkeit der Natur und das Wohlergehen anderer
Lebewesen. Ästhetische Maßstäbe besitzen kaum hinreichende Objektivi-
tät, um darauf ein Recht aller Menschen zu stützen. Menschenrechte reichen
also für die Ermittlung von Zielen und Grenzen des Umganges mit der Natur,
vor allem des technischen und ökonomischen, nicht aus. Daher wird hier
der umgekehrte Weg vorgeschlagen: Von der Konzeption einer guten, für alle
Lebewesen erstrebenswerten Welt aus die Menschenrechte als einen not-
wendigen Bestandteil auszuzeichnen. Die These aus dieser Perspektive wäre
also: Menschenrechte gehören zu dem für den Menschen, auf seiner spezi-
fischen Stufe der scala naturae, Guten als notwendiger, wenn auch nicht aus-
reichender Bestandteil. Nicht ausreichend, weil auch andere Bestandteile
eines guten Lebens des Menschen hinzukommen sollten, von denen später
(Kap. 6) noch die Rede sein wird.
Gerade im Lichte der Menschenrechte zeigt sich aber auch, wie ver-
besserungswürdig die Welt noch ist. Menschenrechte werden, wie es im
öffentlichen Diskurs heißt, immer wieder und überall »mit Füßen getreten«.
Wenn das so ist, dann stellt die Verbesserung der »Kultur« der Menschen-
rechte aber auch sowohl ein Ziel wie eine Grenze der Technisierung der
Natur dar. Das gilt vor allem, aber nicht nur, für die Technisierung der mensch-
lichen Natur. Es kann aber auch Konflikte zwischen der Verbesserung der
Menschenrechtsbedingungen und den Gütern der übrigen Lebewesen sowie
der Mannigfaltigkeit und Natürlichkeit der Natur geben. Davon wird im
Schlusskapitel (8.) die Rede sein.
Zunächst soll die Einbettung der Menschenrechte in die Konzeption der
guten Welt (1) und ihre Funktion für die Beurteilung von Zielen und Grenzen
der Technisierung (2) erläutert werden.
(1) »Gut« im umfassenden Sinne ist ein Zustand der Welt, der für alle förder-
lich und erstrebenswert ist. »Alle« ist dabei für einen wirklich unparteiischen
Beobachter weit über den Menschen hinaus prinzipiell auf alles auszudehnen,
für das etwas förderlich oder abträglich sein kann. Dabei gibt es natürlich
»Konkurrenzprobleme«: die Förderung des einen ist oft zum Schaden des
anderen. Das gehört in den Bereich der Priorisierungen und Abwägungen.
Aber nicht alles, was gefördert oder berücksichtigt werden kann, begründet ein
Recht. »Rechte« sind vor allem Ansprüche, die nicht verletzt werden dürfen
und für die es ein allgemein akzeptiertes Verfahren der Durchsetzung gibt. Sie
stellen Grenzen des Handelns gegenüber ihrem Träger dar. Vor allem bei den
3.1 Menschenrechte, Natur und Technisierung 45

Abwehrrechten gibt es strikt formulierbare Grenzen der körperlichen Integri-


tät oder des psychischen und geistigen Zwanges. Allerdings können Rechte
auch Ansprüche auf Förderung sein (z.B. Sozialrechte). Das Nicht-Verletzen
und das Unterlassen von Förderung können, wie die Gesundheit zeigt, nah
beieinanderliegen.
Menschenrechte enthalten das Minimum dessen, was Individuen einander
und was Gemeinschaften den Individuen schulden. Sie haben aber nicht nur
die Funktion unterer Grenzen, sondern sind Bedingungen der Entfaltung
menschlicher Fähigkeiten und Möglichkeiten. Sie betreffen sozusagen die
»Artgerechtigkeit« im Verhältnis zu diesem Lebewesen. Wenn man die scala
naturae um eine kulturgeschichtliche Dimension ergänzt, kommt beim
Menschen das Rechte-Haben – im Sinne wechselseitiger Verpflichtung – zum
Gedeihen und Wohlergehen der Lebewesen hinzu. In einer konkreten Ethik
geht es nicht nur um basale Güter aller Lebewesen wie Leidensfreiheit und
»pleasure«, sondern um konkrete Güter auf ihrer spezifischen evolutionären
und kulturgeschichtlichen Stufe. Menschenrechte gelten für Wesen mit be-
sonderen Fähigkeiten und Pflichten, vor allem Vernunft und Autonomie. Von
den besonderen Fähigkeiten der menschlichen Vernunft wird noch die Rede
sein, wenn es um die historische und allgemeingültige Form der menschlichen
Moral geht (3.2 und 4.1) Man kann sich auch die Frage stellen, ob der Mensch
es seiner Würde schuldet, mit der Natur angemessen umzugehen (Kap. 8).
Menschliche oder übermenschliche Vernunft ist aber nicht der einzige »Selbst-
zweck« und der Anteil an einer höheren Welt.
Die Konzeption einer guten Welt enthält also eigene Begründungsressourcen
für die Idee der Menschenrechte. Sie folgen aber nicht, wie im Naturrecht,
schlicht aus seiner Stellung in einem unveränderlich guten Kosmos. Dass sie
das sind, was ihm unbedingt zusteht, ergibt sich erst aus einer historischen
Anthropologie und einer Erfahrungsgeschichte der Vernunft (Kap. 4).
2) Menschenrechte sind auch ein zentrales Kriterium für die Richtung und
die Grenzen der Technisierung der Natur. Diese ist kein technischer Selbst-
zweck der Leistungssteigerung. Sie dient vielmehr dem menschenwürdigen
Leben, etwa durch Verbesserung seiner Nahrungsproduktion. Fördern sollte sie
auch das gute Leben verbesserter Kommunikation, Kooperation und Möglich-
keiten sinnvoller Betätigung (vgl. Kap. 6). Die »sozialen Verbesserungen«
sind aber nicht allein technisch zu erreichen. Technik darf kein Alibi dafür
sein, die moralischen und politischen Mühen der Verbesserung zu ersparen.
Menschenrechte sind aber nicht das alleinige Kriterium von »Verbesserung«.
Mit den Fähigkeiten der Vernunft und Empathie können Menschen auch er-
kennen, was für andere als menschliche Wesen gut ist und durch menschliches
Handeln verwirklicht werden soll.
46 3 Konkrete Ethik und Menschenrechte

Menschenrechte kommen also zu den allgemeinen Kriterien einer er-


strebenswerten Natur hinzu, können sie aber nicht ersetzen. Auch für das »für
den Menschen Gute« sind sie nicht ausreichend. Sie sind zwar allgemeine
Bedingungen für ein gutes menschliches Leben, aber dieses hat noch andere
Dimensionen. Schon das moralisch richtige Handeln erschöpft sich nicht in
der Einhaltung der Menschenrechte. Ihre Ausübung, etwa das Recht auf Eigen-
tum und Redefreiheit, kann selber moralisch beurteilt und unterschiedlich
bewertet werden.100 Allerdings sind die Menschenrechte selber Bedingungen
moralischen Entscheidens und Handelns: »I cannot be a moral agent without
space and security to think and reflect on what I ought to do«.101 Das gilt jeden-
falls für die Bedeutung von »Moral«, die – wie schon Hegel im Kapitel »Morali-
tät« der Rechtsphilosophie von 1821 entwickelt – zum Moralverständnis
zumindest seit dem späten 18. Jahrhundert gehört: Das moralische Subjekt hat
das Recht und die Pflicht, aus eigener Einsicht und Überzeugung das Richtige
zu tun. Menschenrechte sind die Bedingungen dafür, sie garantieren die Frei-
heit von physischem und geistigem Zwang und die Entlastung von der Not, die
freie Entscheidungen benötigen.
Auch Glück und Sinn des menschlichen Lebens ist nicht durch ihre Berück-
sichtigung oder die Beförderung ihrer Bedingungen allein erreichbar – auch
wenn viele im Kampf für Menschenrechte ihren Lebenssinn finden. Für Ziele
und Grenzen der Technisierung müssen diese Dimensionen (u. Kap. 6) eben-
falls berücksichtigt werden.

3.2 Historizität der Menschenrechte – Historizität der Vernunft

Menschenrechtsdeklarationen sind historisch entstanden. Sie haben eine an-


haltende Geschichte der Veränderung, Verteidigung und Kritik. Das gilt vor
allem für das Verhältnis der individuellen Freiheitsrechte zu den Rechten und
Zielen der Gemeinschaften in Bezug auf wirtschaftliche Entwicklung und
kulturelle (nationale) Identität. Ihre historischen Wurzeln gehen aber weit
zurück. Für manche Autoren liegen sie in der interkulturellen »Achsenzeit«
des ersten vorchristlichen Jahrtausends oder noch weiter in der Vergangen-
heit etwa der frühen ägyptischen Kultur.102 Auch für den historisch ältesten

100 Vgl. Waldron (1987), Nonsense upon Stilts, S. 193.


101 Waldron (1987), Nonsense upon Stilts, S. 207. Vgl. S. 209: »The capacity for moral action
cannot be taken for granted and each person has a legitimate and indeed morally
imperative interest in the conditions that make it possible for him«.
102 Vgl. Assmann J. (2018), Achsenzeit. Assmann bezweifelt die temporale Festlegung der
Achsenzeit auf das erste vorchristliche Jahrtausend, geht aber von einer »umfassenden
3.2 Historizität der Menschenrechte 47

Teil des Völkerrechts, das Kriegsvölkerrecht, spielen sie eine tragende Rolle
(vor allem im jus in bello). Zentrale Bestandteile wie der Schutz individueller
Autonomie vor den Ansprüchen von Kollektiven und Institutionen, selbst
solcher mit »letzten« Wahrheits- und Geltungsansprüchen (Kirchen, Staaten,
Nationen), sind aber erst Resultat der letzten Entwicklungsphase seit der
europäischen Aufklärung.103 Auf ihnen beruht das Gros der heutigen völker-
rechtlichen Konventionen.
Nicht nur der Ursprung, auch die Struktur ihrer Entwicklung ist um-
stritten. Einigkeit besteht nur darin, dass der Umfang der als Rechtsträger
verstandenen »Menschen« einem Prozess der Ausdehnung dessen unterlag,
was Menschen anfangs in kleinen Gruppen einander einräumten. Dabei sind
die früher überzeugenden Gründe, Menschen in Bezug auf ihre elementaren
Rechte unterschiedlich zu behandeln, zunehmend entfallen. Das hängt mit
Weltanschauungen und -erklärungen zusammen und mit Mythen, Visionen
(»Offenbarungen«) und Erfahrungen über bzw. mit den Menschen selber, vor
allem mit Unrechts- und Entwürdigungserfahrungen. »Es gibt gute Gründe
für die Annahme, dass die Vorstellung vom Recht überhaupt aus elementaren
Verletzungserlebnissen, aus dem Gefühl der Unerträglichkeit von Ein- und
Übergriffen resultiert«, schreibt der Verfassungsrechtler und Rechtsphilo-
soph Hasso Hofmann.104 Dass der Entzug bzw. die Verletzung selber zur Ent-
deckung dessen führt, was eine Sache ausmacht bzw. ihr zusteht, ist eine
auch bei Hegel – in der Figur der Negation des Negativen – antizipierte Er-
kenntnis. Die Menschenrechte, vor allem ihre neuere Entwicklung, stellen
den exemplarischen Fall des Bewusstwerdens durch Verletzungserfahrungen
dar.105 Es gab aber auch positive Erfahrungen der Freiheit, Gleichheit, wechsel-
seitigen Anteilnahme und ungezwungenen Unterstützung (»Brüderlichkeit«),
die in die Entwicklung und Konkretisierung der Menschenrechte eingegangen
sind.
Die Genese der Menschenrechte als moralischer und rechtlicher Forde-
rungen hängt mit der Entwicklung menschlicher Fähigkeiten zusammen,

Gemeinsamkeit aller Kulturen und Religionen« aus, auf der auch die modernen Men-
schenrechte beruhen. Ebd. S. 283 u. ö.
103 Seit der Französischen Revolution konkurrieren die Rechte der Individuen und die
Ansprüche der Nation miteinander. Ein Echo darauf sind die Konflikte zwischen den
Individualrechten und denen des Staates bzw. der Nation bei Fichte und Hegel. Vgl. Siep,
(2015), Der Staat als irdischer Gott, vor allem Kap. III. 5 u.6.
104 Vgl. Hofmann (1992), Vier Erfahrungen des Rechts, S. 87.
105 Vgl. dazu Gutmann (2018), Genesis und Geltung, S. 295: »Die Geschichte der Menschen-
rechte ist eine Geschichte der Erfahrung der Verletzung derjenigen Güter, die sie schützen
sollen«.
48 3 Konkrete Ethik und Menschenrechte

einschließlich solcher der Einfühlung in die Verletzungen des Selbstgefühls


und der Selbstachtung anderer.106 Zudem setzt sie die Entstehung eines
kollektiven bzw. kulturellen Gedächtnisses voraus, das verschiedene Stufen
der Schriftlichkeit, der Kanonisierung von Texten, sowie der Geschichts-
schreibung voraussetzt, wie vor allem Jan und Aleida Assmann heraus-
gearbeitet haben.107 Was die Erinnerung an kollektive Verletzungserlebnisse
angeht, sind ferner Formen der öffentlichen Erziehung und der Gedächtnis-
rituale notwendig. Für die jüngere Phase der Menschenrechtsentwicklung
seit dem 18. Jahrhundert, auf die ich mich hier beschränke, ist neben der Aus-
weitung der Träger die der Anspruchsinhalte – des »Rechts auf« – von Be-
deutung. Man spricht von »Generationen«, von Abwehr- über Mitwirkungs- bis
zu Sozial-, Kultur- und Umweltrechten (s.u. S. 55, 80).108 Solche strukturellen
Voraussetzungen entziehen sich einer geschichtsphilosophischen Gesamtein-
ordnung. Zumal dann, wenn Verletzungserlebnisse und negative oder positive
kollektive Erfahrungen auf zufällig historische Ereignisse wie Eroberungen und
Unterwerfungen, gewaltsame religiöse und ethnische »Homogenisierungen«,
soziale Kämpfe und Revolutionen etc. zurückgehen.
Begründungen der Menschenrechte haben selber eine Geschichte, aber
erst seit dem späten 19. Jahrhundert spielt dafür eine Erfahrungsgeschichte
mit Rechten und Normen eine besondere Rolle. Noch als die Menschenrechte
im 18. Jahrhundert Programm einer Bewegung konstitutioneller Revolutionen
und Reformen wurden, hat man sie zunächst »vernunftrechtlich« begründet.
Dabei wurde der Vernunft ein zeitloser, den Menschen mit unveränderlichen
Wesen verbindender Charakter zugesprochen. Der Durchbruch der Vernunft in
den sozialen Ordnungen folgte zwar vielfach dem »Plan« einer säkularisierten
Heilsgeschichte oder einer Absicht der Natur (Kant). Dennoch war die
Geschichte der Menschenrechte allenfalls als »Entdeckungsgeschichte« von
Bedeutung, nicht dagegen für ihre Begründung.
Seit Hegels Einsichten in der Phänomenologie des Geistes (1807) gibt es
überzeugende Gründe dafür, auch von Erfahrungen auszugehen, die den
Begriff der Vernunft selber betreffen und verändern. Dabei spielen gerade
die Erfahrungen mit den Normen und Institutionen, die der sozialen und
historischen Welt gleichsam »ausgesetzt« sind, eine entscheidende Rolle.
Sie betreffen auch den Begriff bzw. das Verfahren der Begründung. Schon für

106 Vgl. Hunt (2007), Inventing Human Rights.


107 Vgl. Assmann, A. (1999), Zeit und Tradition; Assmann, J. (2005), Das Kulturelle Gedächtnis.
108 Entsprechend der Geschichte der Einführung und der sachlichen Erweiterung der
Menschenrechte gibt es verschiedene Einteilungen in Abwehr-, Mitwirkungs-, Sozial-
und Umweltrechte. Vgl. dazu Donnelly (2013) S. 235 f. (mit weiterer Literatur). Zur völker-
rechtlichen Dimension der Generationen vgl. Maier (2019), Menschenrechte heute.
3.2 Historizität der Menschenrechte 49

Hegels Phänomenologie betraf diese Veränderung des Begriffs der praktischen


Vernunft vor allem das Verhältnis zwischen Individualität und Allgemein-
heit. Es gehört ja zu den klassischen Streitfällen der Philosophie, sowohl
der theoretischen wie der praktischen. Dabei ist es vor allem der Begriff der
Subjektivität als Hauptmerkmal der Vernunft, der in der Neuzeit und verstärkt
seit dem 18. Jahrhundert eine Wende bewirkt. Die menschlich-individuelle
Vernunft ist seit Descartes der Ort der primären Evidenzen, seit Locke sind
selbstbewusste Individuen (Personen) die Träger unverletzlicher Rechte.
Seit Kant ist das individuelle Subjekt gewissermaßen das Labor, in dem die
Strukturen der Subjektivität und damit der Vernunft untersucht werden. Für
Kant gibt es aber auch eine vom Menschen unabhängige praktische Vernunft
und Hegel geht von der Annahme einer umfassenden vernünftigen Subjektivi-
tät aus, die das menschliche Individuum überschreitet. Dennoch gewinnt bei
beiden das menschliche Individuum eine zentrale Bedeutung in der Welt der
Rechte und der sie durchsetzenden Institutionen. Das »Recht der Subjektivi-
tät« korrespondiert mit der Epoche der Menschen- und Bürgerrechte im
Staats- und Verfassungsrecht.
Die Erfahrung der Vernunft mit sich selber in der Geschichte der Menschen-
rechte ist mit deren frühen konstitutionellen »Positivierungen« aber nicht
zu Ende. Bis zu ihrem neuen welthistorischen »Schub« seit der Mitte des
20. Jahrhunderts gibt es eine neue grundsätzliche Erfahrung, sowohl auf der
institutionellen wie auf der philosophischen Begründungsebene. Ich be-
schränke mich auf Andeutungen im Ausgang von der deutschen Philosophie
auf der einen, der Geschichte der Menschenrechte auf der anderen Seite.
Auf der Ebene der Vernunftphilosophie steht der »Aufwertung« der
individuellen Subjektivität eine Subjektivität des allgemeinen Willens gegen-
über, die sich nicht nur in Institutionen, sondern auch in Kollektiven und
den sie repräsentierenden Personen manifestiert. Hegel bemüht sich in
differenzierten systematischen Synthesen um einen Ausgleich zwischen
dem Recht des »gewöhnlichen« Individuums und den Manifestationen des
objektiven und absoluten Geistes.109 Zum Recht des Individuums gehört aber
nicht nur ein geschütztes Privatrecht und Rechte der »moralischen« Subjektivi-
tät auf Einsicht und Zustimmung zu normativen Anforderungen. Sein höheres
Recht ist das auf eine kollektive sittliche Vereinigung mit einer hinreichenden
weltanschaulichen Homogenität und einem souveränen Handlungssubjekt.
Rechtlich kommt dem in diesem Sinne »sittlichen« Staat ein unbedingter
Primat über die Rechte des Einzelnen zu (vgl. u. S. 100). Es sind, neben anderen
Entwicklungen der theoretischen Philosophie, die historischen Erfahrungen

109 Vgl. Siep (2018e), Der Weg der Phänomenologie, S. 143-149.


50 3 Konkrete Ethik und Menschenrechte

mit diesem Primat, die zu einer Überwindung der Philosophie des absoluten
Subjekts geführt haben. Der Philosophie der Endlichkeit in Phänomenologie,
Existenzphilosophie, Neo-Kantianismus oder analytischer Philosophie ist
aber in Deutschland erst nach dem Zweiten Weltkrieg eine entsprechende
praktische Philosophie gefolgt. In ihr steht die endliche Vernunft im Zentrum
und die Rechte des Individuums stellen eine unbedingte Grenze für kollektives
Handeln dar. An einer solchen praktischen Philosophie soll auch dieses Buch
mitwirken.
In der Geschichte der Menschenrechte gibt es eine ungefähre Entspre-
chung, wenn man folgende Grobzeichnung für insgesamt plausibel hält: Zur
Sicherung der Rechte aller Individuen ist eine zentrale Instanz mit dem
Monopol der legitimen physischen Gewalt, aber auch einem zentralen
Rechtsprechungs- und Verwaltungssystem notwendig. Diese Ansprüche stei-
gen, wenn zum menschenwürdigen Leben auch allen zugängliche Systeme
der sozialen Sicherheit, der kulturellen Befähigung (Bildungseinrichtungen)
und der Bekämpfung der negativen Folgen der Industriegesellschaft ge-
hören. Die Macht des modernen Staates steigert sich notwendig auch mit
den Forderungen der Garantie, vor allem der späteren Generationen, der
Menschenrechte. Die Neutralität dieses Staates gegenüber den Religionen,
die für Gewissens-, Religions- und Weltanschauungsfreiheit notwendig ist,
fördert die Tendenz zu einer eigenen »nationalen« oder »wissenschaftlichen«
Weltanschauung. Diese kommt wiederum dem Bedürfnis nach Integration
in ein Ganzes entgegen, das nach der Auflösung ständischer Funktionen
und Reputationen (Anerkennung) gerade die schwächsten Mitglieder zur
Kompensation ihrer (gefühlten) Bedeutungslosigkeit benötigen. Zur neueren
Geschichte der Menschenrechte gehört mithin auch die der Stärkung ihres
gefährlichsten Gegners. Sie führt, nicht mit geschichtsphilosophischer Not-
wendigkeit, aber mit verständlicher Konsequenz, zu den Erfahrungen der
äußersten Erniedrigung der Individuen in den Katastrophen des 20. Jahr-
hunderts – und damit zum genannten »zweiten Schub« der Menschenrechte.
Dass zu diesen Entwicklungen noch ganz andere Tendenzen beitragen, vor
allem die schon erwähnten der technischen Industrie und Ökonomie, steht
außer Frage. Hier ging es nur um einen entscheidenden methodischen und
inhaltlichen Wandel in der Begründung der Menschenrechte: Methodisch von
einer a-historischen und überindividuellen Vernunft zu einer endlichen, auf
historische Erfahrungen angewiesene. Inhaltlich vom Primat des Kollektivs,
vor allem des institutionalisierten und mit einem Gewaltmonopol versehenen,
zu den Rechten der Individuen.
Das Letztere ist aber zugleich der Grund für die anhaltende Kritik und die
»Krise« der Menschenrechte heute: Wenn sie wirklich individualistisch sind,
3.3 Sind die Menschenrechte individualistisch ? 51

scheinen sie an eine bestimmte Kultur und Wirtschaftsform gebunden – ver-


einfacht des westlichen Liberalismus – der den »höchsten Rechten« der
Individuen nach Hegel ebenso wenig gerecht wird wie den Traditionen und
Werten der heute auch politisch erfolgreichen Kulturen des Ostens und des
Südens. Wenn sie derart gebunden sind, können die Menschenrechte aber
auch keinen universalen und »irreversiblen« Anspruch erheben.

3.3 Sind die Menschenrechte individualistisch?

Einer der zentralen Punkte der Kritik am universalen, d.h. kulturunabhängigen


und für die Zukunft unüberholbaren Geltungsanspruch der Menschenrechte
ist ihr angeblicher Individualismus. Wie individualistisch sind die Menschen-
rechte, auf die sich heute viele Völker festgelegt haben? Die Frage ist für dieses
Buch aus zwei Gründen wichtig:
Erstens scheint ein solcher Individualismus ein hinreichender Beleg für
die Kulturrelativität. Sind die Menschenrechte nicht schon deshalb auf eine
Kultur oder Epoche beschränkt, weil sie dem Individuum einen Primat ein-
räumen, den es in anderen Zeiten und nicht-westlichen Kulturen nicht hat? Ist
der Individualismus der Menschenrechte nicht bloß eine kultur- und epochen-
spezifische Wertung, die mit guten Gründen – und vielleicht auch mit neuen
Erfahrungen – revidierbar wäre?
Zweitens werden Formen eines individualistischen Liberalismus ins Feld
geführt, um alle Diskussionen über das Gute, sogar eine gute Welt, zurück-
zuweisen, die über individuelle Präferenzen und Rechtsbeziehungen hinaus-
gehen.110 Die Kritik an Formen des Liberalismus, die auf rechtsförmige
Beziehungen zwischen selbständigen Individuen eingeschränkt sind, war
Gegenstand meiner früheren Arbeiten zur Theorie der Anerkennung. Im
Rückgriff auf Fichte und Hegel wurde die Bedingtheit der Individualität
durch Interaktionen und Gemeinschaften herausgearbeitet.111 In den Arbeiten
zur konkreten Ethik geht es ebenfalls um die Kritik einer Minimalmoral, die
auf basale Normen der Nicht-Schädigung zwischen Individuen beschränkt
ist.112 Nach diesen Überlegungen führt eine politische Philosophie, die den
Staat auf die Förderung der Mittel (»all purpose means«) individueller

110 Zur Kritik an einem solchen Liberalismus als Grundlage der Bioethik vgl. Jennings (2019),
Kommunitarismus.
111 Vgl. Siep, (1979/2014), Anerkennung als Prinzip; Siep (1992), Verfassung, Grundrechte und
soziales Wohl; Siep (2010a), Aktualität und Grenzen.
112 Siep, (2016), Konkrete Ethik, S. 57-61.
52 3 Konkrete Ethik und Menschenrechte

Selbstverwirklichung beschränken will, zu einem »liberalen Paradox«: Um


dieser Mittel willen fördert Politik die wirtschaftlich-technische Entwicklung
und ihre strukturellen Bedingungen in einer Weise, die Präferenzen, Optionen
und Lebenspläne erheblich einschränkt. Heute gehört die Digitalisierung zu
einem solchen ambivalenten »Mittel«.
Ist das Ideal der Menschenrechtskultur (s.u. S. 70) – das isolierte Indivi-
duum einer »Eigentums-Marktgesellschaft«? Oder ist sie mit Gemeinschafts-
gütern, Gruppenrechten und einem Republikanismus zu vereinbaren, für
den Öffentlichkeit, Solidarität und gemeinsame Traditionen der Verfolgung
individueller Präferenzen übergeordnet sind?113 Ich vertrete im Folgenden die
These, dass sich jedenfalls auf der prinzipiellen Ebene der philosophischen
Reflexion Individualrechte, Gemeinschaftsgüter und Gruppenrechte nicht
ausschließen. Es geht auch hier wieder um eine Bestimmung der Ziele und
Grenzen bevor man praktische Konflikte und rechtliche Lösungen beurteilen
kann.
Zum Individualismus, Liberalismus oder »westlichen Imperialismus« der
Menschenrechte ist viel gesagt und geschrieben worden. Theorie und Praxis
moderner Menschenrechte, aber auch ihre radikale Kritik, sind in Europa
entstanden. Ihre ideologische Verwendung und ihr »Verrat« im europäischen
Kolonialismus haben aber auch zu einer globalen Erneuerung seit der Mitte
des 20. Jahrhunderts geführt. Danach ist auch die Kritik erneuert und gegen
eine Art Kulturimperialismus gewendet worden. Hier sollen nur einige
der Hauptargumente beleuchtet werden, die zur Verteidigung gegen den
Partikularismus-Vorwurf notwendig sind. Dabei werde ich die Einwände
hier nicht als undiskutabel abweisen – wie später die extremen Formen der
Menschenrechtskritik (Kap. 5) –, sondern zeigen, dass ein adäquates Ver-
ständnis der Menschenrechte dieser Kritik Rechnung trägt. Die kritischen
Positionen des Sozialismus, Republikanismus oder eines Kommunitarismus
der gemeinsamen Güter und Traditionen beziehen sich zweifellos auf wichtige
Aufgaben jedes Gemeinwesens, die nicht zur Disposition individueller
Interessen stehen dürfen: eine sichere Wohlfahrt aller unter würdigen Arbeits-
bedingungen, gemeinsame Selbstbestimmung nach öffentlicher Diskussion,
intakte gemeinsame Lebensgrundlagen und Lebensformen, die Identität und
Stabilität stiften etc.

113 Hier wird der Begriff Gruppe in einem weiten Sinne verwendet, die von gemeinsamen
Absichten, Verhaltensweisen oder auch der gleichen Behandlung durch externe Akteure
ausgeht (»Prüfgruppe«). Keineswegs ist impliziert, dass jedes Individuum nur einer
Gruppe angehören kann (vgl. dazu kritisch Sen, (2006) Identity and Violence). Zu unter-
schiedlichen Typen von Gruppen vgl. Boshammer (2003), Gruppen, Rechte, Gerechtig-
keit, S. 77-102.
3.3 Sind die Menschenrechte individualistisch ? 53

Bevor im 5. Kapitel die gegenwärtige philosophische Kritik der Menschen-


rechte im Einzelnen diskutiert wird, soll im Folgenden erörtert werden, in-
wiefern überhaupt von einem Individualismus der Menschenrechte die Rede
sein kann. Und zwar in folgenden Schritten:
1. Zunächst sind verschiedene Bedeutungen von »Individualismus« zu
unterscheiden, auf die sich Einwände und Verteidigung beziehen.
2. Ein kurzer Rückblick auf die Geschichte der Menschenrechtspolitik soll
erneut (vgl. 3.2) auf die Struktur der Erfahrung durch Krisen hinweisen.
Sie ist vor allem für das Verständnis der sogenannten Generationen der
Grund- und Menschenrechte wichtig. Ihr Verhältnis kann nicht im Sinne
einer absteigenden Bedeutung oder Priorität verstanden werden.
3. Generelle Überlegungen machen plausibel, dass liberale Freiheitsrechte,
öffentliche Güter und Gruppenrechte einander nicht ausschließen. Sie
sind miteinander vereinbar, sie fordern und fördern sich weitgehend
wechselseitig.
4. Eine Bestimmung der Ziele und Grenzen von individuellen Menschen-
rechten und den Ansprüchen von Gruppen und Staaten lassen Berechti-
gung und Grenzen eines Primats des Individuums klarer hervortreten.
Zu den Schritten im Einzelnen.
(1.) Kritik am Individualismus bzw. dem Primat der Freiheitsrechte des
Individuums vor Gemeinwohlpflichten und die Einschränkung staatlichen
Handelns kann auf Folgendes zielen:
a. Auf den »vorsozialen« Geltungsgrund der Menschenrechte.
b. Auf ihr Schutzgut der individuellen Autonomie, das durch Verfügung
über privates Eigentum und Abwehr der Eingriffe anderer und des Staates
gesichert wird
c. Auf den individuellen Träger der Rechte statt kollektiver bzw. Gemein-
schaftsrechte
d. Auf den angeblichen Primat individueller Güter vor öffentlichen oder
Gemeinschaftsgütern.
Die erste Bedeutung von Individualismus (a) steht in der Tradition des neu-
zeitlichen Natur- bzw. Vernunftrechts, das in der Tat das Individuum als Quelle
aller Rechte versteht. Auch das moderne Völkerrecht, das die Menschen aller
Staaten schützen will, versteht unter »Mensch« jedes Individuum inner-
halb und außerhalb von Staaten (»staatsfreie Räume«, »failed states« etc.).
In der Philosophie ist aber auch seit dem frühmodernen Vernunftrecht an-
erkannt, dass Rechte eine Gemeinschaft voraussetzen, in der sich alle zum
wechselseitigen Respekt und zur wechselseitigen Verteidigung der Rechte ver-
pflichten. Fichte und Hegel haben dann zu zeigen versucht, dass individuelles
Selbstbewusstsein ohne wechselseitige Anerkennung von »Vernunftwesen«
54 3 Konkrete Ethik und Menschenrechte

nicht möglich ist.114 Autonomie heißt bewusste Bindung an Regeln, die »sym-
metrische« Freiheit aller ermöglichen (Individualismus b). Dazu bedarf es
aber dauerhafter Rechtsbeziehungen und der sie sanktionierenden legitimen
Gewalt des allgemeinen gesetzgebenden Willens bzw. des Staates.
Die gegenwärtige Rechtsphilosophie, die sich überwiegend nicht mehr
auf das Naturrecht stützt, versteht Rechte als wechselseitige Zuschreibungen
durch Mitglieder einer Normgemeinschaft bzw. deren regelsetzenden und
-durchsetzenden Willen. Auch das Völkerrecht geht in seinen Menschen-
rechtserklärungen und -pakten davon aus, dass Staaten und deren selber
rechtsförmige Beziehungen die Voraussetzung für die Sicherung der Men-
schenrechte sind.115 Dass Menschenrechte im Notfall auch gegen den eigenen,
sie gefährdenden Staat zu verteidigen sind (s.u. S. 105-107), bedeutet nicht,
dass staatliche Beschränkung individueller Freiheit per se negativ wäre.
Freiheit ist nur rechtmäßig, wenn sie auf die Vereinbarkeit mit der gleichen
Freiheit anderer Mitglieder der Rechtsgemeinschaft eingeschränkt ist.
Träger der Menschenrechte sind aber primär Individuen als Menschen
oder Bürger (Individualismus c). Gegenüber der älteren Tradition kommen
ihnen primär Rechte und nicht Pflichten zu.116 Zu diesen gehören aber bereits
inhaltlich auch solche, die nur in Gemeinschaft realisierbar sind wie die Ver-
sammlungsfreiheit, die Vereinigungsfreiheit oder die aktive Religions- und
Weltanschauungsfreiheit. In Bezug auf die Sozial- und Umweltrechte sind
zunehmend auch Verbände berechtigt, Klagen zu erheben und sie vor Ge-
richt zu verteidigen. Das macht sie zumindest zu stellvertretenden Trägern
von Rechten, auch wenn sie ihren Mitgliedern zugutekommen sollen. Als
Repräsentanten von Rechten ihrer Bürger kommen natürlich auch Staaten
Rechte zu.
Die ersten beiden Bedeutungen von Individualismus (a, b) sind vor allem
für Kritik aus sozialistischer Richtung vorherrschend, die beiden letzteren für
kommunitaristische Kritik. Sie reagieren historisch auf Vereinseitigungen in
Theorie und Praxis der Menschenrechte. Deren neuere Geschichte ist zum
einen ein weiterer Beleg für das Lernen aus Krisen und Erfahrungen. Zum
anderen ist sie für die Reihenfolge der Rechte in modernen Menschen- oder
Grundrechtskatalogen von Bedeutung.

114 Vgl. dazu Quante (2011), Die Grammatik des Anerkennens; Siep (2014), Anerkennung als
Prinzip.
115 Vgl. etwa Allgemeine Erklärung der Menschenrechte AMR Art 15, 22.
116 Zum Verhältnis von Grundrechten und Grundpflichten vgl. Hofmann (1995), Langzeit-
risiko und Verfassung.
3.3 Sind die Menschenrechte individualistisch ? 55

(2.) Man unterscheidet bei den Menschenrechten verschiedene »Genera-


tionen« nach der historischen Abfolge der Durchsetzung, nämlich zumindest
die Abwehrrechte,117 die Mitwirkungsrechte und die sozialen, kulturellen
und ökologischen Rechte. Die früheren, während des späten 17. und des
18. Jahrhunderts formulierten Abwehrrechte, rangieren auch in den moder-
nen Menschenrechts- und Grundrechtskatalogen meist vor den übrigen.
Kritiker, vor allem in der Tradition von Karl Marx, haben den bürgerlichen
Egoismus der Menschenrechte kritisiert.118 Sie erlaubten dem Individuum die
Verfolgung seiner Ziele mit exklusiver Verfügung über die Mittel – vor allem
das Eigentumsrecht. Wer aus den Bedürfnissen bzw. der Nachfrage der Mit-
menschen an den eigenen Gütern Gewinn erzielt, instrumentalisiert sie. Sie
unterhöhlen damit auch die »kommunalen« Ansätze der Bürgerrechte (droits
du citoyen), denen Marx viel positiver gegenübersteht.119 Eine Auseinander-
setzung mit Marx’ Menschenrechtskritik kann hier aber nicht geleistet werden.
Die Kritik am individualistischen Charakter der Menschenrechte war
historisch insofern adäquat, als das Besitz- und Bildungsbürgertum die voran-
treibende Kraft des Konstitutionalismus und der Grundrechtskataloge in der
ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war. Auch ideengeschichtlich hat ein Teil
des Liberalismus120 diejenigen Grundrechte betont, die Voraussetzungen
einer Wirtschaftsordnung von Eigentümern waren. Das ist aber in der langen
Geschichte der Menschenrechte bereits zur damaligen Zeit eine Verzerrung.
Sie »unterschlägt« den primär abwehrenden, Souveränität und Macht begren-
zenden Charakter der traditionellen »Freiheiten« seit dem 13. Jahrhundert.121
Sie übersieht auch den Anfang der sozialstaatlichen Argumentation schon des
späten 18. Jahrhunderts. Diese knüpft nicht nur an die korporativen und christ-
lichen Traditionen der Nächstenliebe und Brüderlichkeit an, sondern fordert,

117 Genauer handelt es sich um »Freiheits- Gleichheits- und justizielle Rechte« (Gutmann
(2018a), Claiming Respect, S. 287). Sie konkretisieren das seit Hannah Arendt betonte
»Recht, Rechte zu haben« (vgl. Pollmann (2012), Menschenrechte, S. 358).
118 Zur Zurückweisung der Kritik am Individualismus und »Egoismus« der Menschenrechte
vgl. Waldron (1987), Nonsense upon Stilts, S. 183-209. Speziell zur Kritik von Karl Marx
an den Menschenrechten vgl. Waldron (1987), Nonsense upon Stilts, S. 119-136; Lohmann
(2012), Marx; Pollmann (2012), Menschenrechte, S. 361. Waldron macht für die Kritik auch
den Wechsel im Theorietyp von der normativen politischen Philosophie zur erklärenden
Sozialwissenschaft im 19. Jh. verantwortlich (1987, Nonsense Upon Stilts, S. 151 f.).
119 Jedenfalls in »Zur Judenfrage« von 1844. Vgl. Waldron (1987), Nonsense upon Stilts, S. 129-
136. Lohmann (2012, Marx) betont Marx’ Verdienste für die sozialen Menschenrechte.
120 Zur Beschäftigung der »klassischen« liberalen Rechtsstaatstheoretiker mit der »sozialen
Frage« und ihren teils weitgehenden Lösungsvorschlägen (vor allem bei Robert von
Mohl) vgl. aber Siep (2019), Wer macht die Geschichte? und die dort erörterte Literatur.
121 Vgl. Kriele (1973), Geschichte der Grund- und Menschenrechte, vor allem 196 f.
56 3 Konkrete Ethik und Menschenrechte

schon bei Hegel, schlicht die Bedingungen, unter denen man Rechte stabil
geltend machen kann – etwa die materiellen Mittel zur Klage und zum Erfolg
in einem Prozess.122
Die Geschichte der Durchsetzung der Menschenrechte und ihrer Er-
weiterungen seit der Französischen Revolution kann auch als eine Geschichte
krisenhafter Erfahrungen gedeutet werden. Die sozialen Rechte sind demnach
in verschiedenen Schüben als Reaktion auf die Verelendung von Gruppen und
Klassen formuliert worden, die unter dem Primat der liberalen Freiheitsrechte
seit dem frühen 19. Jahrhundert auftraten. Nach den »Vergewaltigungen«
der Individuen in totalitären Systemen erfolgten dann nach 1948 und erneut
nach 1989 neue Schübe für die individuellen Abwehrrechte. Sie waren aber,
etwa im deutschen Grundgesetz, mit erheblichen Sozialbindungen verknüpft
(Art 14, 15). Danach ist auch – wohl als Reaktion auf die Verbindung von
Großindustrie und Nationalsozialismus – die Überführung von Produktions-
mitteln (»Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel«) gegen
gesetzliche Entschädigung in »Gemeineigentum oder in andere Formen der
Gemeinwirtschaft« möglich (Art 15).
Verfassungen nach dem Staatssozialismus, also nach 1989, gehen zwar in
der Regel davon aus, dass das Privateigentum an den Produktionsmitteln nicht
prinzipiell verantwortlich für die Rechtlosigkeit der abhängig Arbeitenden
ist. Zu den Grundrechten, die durch gesetzliche Einschränkung miteinander
verträglich gemacht werden müssen, gehört daher auch das Eigentumsrecht
sowie das Recht der freien Berufswahl und der Gewerbefreiheit. Im Eigentum
wird aber immer noch (wie seit dem 17. Jh.) ein Mittel der individuellen Un-
abhängigkeit und Selbstbestimmung gesehen. Dagegen wird die Konzentration
politischer, ökonomischer und ideologischer Macht in einer Hand – Staat oder
Partei – als schwer überwindbares Hindernis individueller Freiheit betrachtet.
Ob dies ein für alle Mal gilt, steht dahin. Nicht nur die Erfahrungen mit dem
modernen Kapitalismus, auch die Entwicklung der Grundrechte ist unabge-
schlossen und Verfassungen wie das deutsche Grundgesetz kann man als
»lernende Verfassung« interpretieren.123
Völkerrechtlich ist die zeitliche Reihenfolge der Institutionalisierung
allerdings eher umgekehrt verlaufen, jedenfalls im 20. Jahrhundert: »Während
auf nationaler Ebene die Freiheitsrechte zuerst normiert werden, wird auf der

122 Vgl. Siep (1992), Verfassung, Grundrechte und soziales Wohl. Vgl. zur philosophischen
Entwicklung und Begründung der staatlichen Sozialaufgaben ders. (2015), Der Staat als
irdischer Gott, S. 79-97.
123 Wittreck (2018), Verfassungsrechtliche Fragen, S. 56. Zur Weiterentwicklung der Grund-
rechte vgl. Dreier (2013), Kommentar zu Art. 1 II S. 278, RN 25 (»Offenheit für inter-
pretative Weiterentwicklungen«).
3.3 Sind die Menschenrechte individualistisch ? 57

internationalen Ebene den sozialen Rechten der Vorrang eingeräumt.«124 Schon


die Atlantikcharta von 1941, erst recht aber die Menschenrechtsdeklaration
von 1948 enthielt die sozialen Rechte gleichrangig und in aller Ausführlichkeit
(vor allem Art 22-29). Dennoch war sie dem Widerstand der sozialistischen
Staaten gegen den »Liberalismus« der Abwehr- und Mitwirkungsrechte
der liberalen Staaten des Westens ausgesetzt. Erst durch den zusätzlichen
»Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte«
von 1966 (verabschiedet 1976) wurden ein völkerrechtlicher Kompromiss er-
zielt.125 Wenn die Staaten und die übrigen öffentlichen und privaten Akteure
die Verpflichtungen aus diesem Pakt ernstnehmen, dann müssen sie auch er-
hebliche Einschränkungen privater Verfügungen vornehmen. Die Texte von
1948 und 1976 gehen allerdings davon aus, dass sich die kollektiven Rechte der
Selbstbestimmung ebenso wie die Rechte der Einzelnen auf Teilnahme an der
wirtschaftlichen Entwicklung, auf Lebensunterhalt aufgrund eigener Arbeit
usw. mit den individuellen Abwehrrechten, auch mit dem Recht auf freie
Wahl des Arbeitsplatzes vereinbaren lassen.126 Man kann sicher bezweifeln,
ob dies in der Praxis der Menschenrechtspolitik bereits gelungen ist.
(3.) Die Reihenfolge der Grundrechte spiegelt ihre »Erfahrungsgeschichte«
wider. Man kann auch systematisch argumentieren, dass der Schutz der
Rechtsperson und ihrer Rechtsfähigkeit Voraussetzung der Wahrnehmung
subjektiver Rechte ist.127 Das gilt vor allem für körperliche Integrität,

124 Nußberger (2005), Sozialstandards im Völkerrecht, S. 52. Nußberger weist nicht nur auf
die Bedeutung der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) hin, sondern auch auf die
Atlantikcharta von 1941, die sich gegen den Verlust der sozialen Sicherheit als Ursache für
den Aufstieg der aggressiven totalitären Systeme (National-»Sozialismus« etc.) richtete.
Auch diese kollektive Erfahrung geht in die Menschenrechtsdeklaration von 1948 ein.
125 Vgl. Nußberger (2009), Das Völkerrecht, S. 93. Die USA haben den »Internationalen Pakt
über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte« von 1976 noch nicht unterschrieben
(»weltweit mittlerweile ziemlich alleine«, ebd. 94 f.). Ausführlich zum Menschen-
rechtsschutz im Völkerrecht Hailbronner (2004), Der Staat und der Einzelne, vor allem
S. 213-250.
126 Vgl. Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AMR) Art 23 (1) »freie Berufswahl«,
sowie Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte Art 6 (1)
»frei gewählte oder angenommene Arbeit«. Der Pakt geht grundlegend von einer Ver-
einbarkeit mit den Abwehr- und Mitwirkungsrechten (vgl. Art 5 (2) »grundlegende[n]
Menschenrechte«) in einer staatlichen Verfassung aus.
127 Selbst gegen eine solche Priorisierung richtet sich Donnelly (2013), Universal Human
Rights. Auch die Kennzeichnung der »ersten Generation« als Abwehrrechte und die
Unterscheidung positiver und negativer Rechte ist für ihn irreführend: »All human rights
require both positive action and restraint on the part of the state. Furthermore, whether
a right is relatively positive or negative usually depends on historically contingent
circumstances« (S. 43).
58 3 Konkrete Ethik und Menschenrechte

Rechtsgleichheit und die elementaren Prozeduren eines Rechtsverfahrens.


Zum Handeln als Verfolgung eigener Pläne nach verallgemeinerbaren Regeln,
in diesem Sinne zur Autonomie, gehört auch eine zumindest zeitweise un-
gestörte Verfügung über Mittel. Daraus folgt aber nicht, dass das Eigen-
tumsrecht einen systematischen Vorrang vor den »späteren« Rechten hätte.
Die Folge der Menschenrechte in den modernen Deklarationen ist keine
hierarchische oder gar lexikalische, nach der die ersten schon realisiert sein
müssen, bevor die späteren überhaupt Geltung beanspruchen können. »Wirt-
schaftsliberale« Rechte (Eigentum, Gewerbefreiheit) sind durch Abwehr-,
Sozial- und Gruppenrechte beschränkt.
Um das wechselseitige Verhältnisses zwischen Individualrechten, Gruppen-
rechten sowie Gütern und Werten in einer Gemeinschaft zu klären, muss man
zumindest die folgenden Bedeutungen von Rechten bzw. Rechtsansprüchen
unterscheiden:
a) Handlungsfreiheiten und Anspruch auf Güter, die exklusiv erworben und
»genossen« werden können (private Verträge, Eigentum etc.)
b) Ansprüche auf öffentliche Güter (public goods), die weder allein her-
gestellt noch exklusiv, unter Ausschluss anderer, genossen werden kön-
nen (z.B. saubere Luft)
c) Ansprüche auf Güter, deren Genuss das Wissen voraussetzt, dass andere
sie ebenso genießen (sozialer Friede, Bürgerfreundschaft). Diese Rechte
kann man »kommunale Güter« nennen, die man nur genießt, wenn man
weiß, dass andere sie teilen.128
d) Teilhabe an Gruppenrechten (z.B. Selbstbestimmung), die unterschied-
lich stark institutionalisierte Gruppen voraussetzen.129
Menschenrechte haben an diesen unterschiedlichen Bedeutungen Anteil. Sie
bestehen als Rechte nicht vor und unabhängig von Rechtsgemeinschaften
(gegen Individualismus a). Sie verhindern aber auch weder als moralische An-
sprüche noch als übergeordnete Rechte die gemeinsamen Anstrengungen für
gemeinsame und öffentliche Güter und Werte. Das lässt sich in Bezug auf alle
Generationen der Menschenrechte darlegen:
(I) Schon Abwehrrechte, die körperliche Integrität und geistige Selbst-
bestimmung sichern, setzen die Friedenszustände einer Rechtsgemeinschaft
und einen zumindest überlappenden Konsens über Rechtsgrundsätze voraus.

128 Vgl. Waldron (1993), Can Communal Goods be Human Rights?


129 Man kann etwa »Pluralsubjekte« mit informellen Vereinbarungen, (vgl. Gilbert (2009),
Zusammen spazieren gehen) unterscheiden von Gruppen mit Autoritäts-, Status-
und Kompetenzzuweisungen, also mit Institutionen. Vgl. dazu Ludger Jansen (2017),
Gruppen und Institutionen. Zu den Grenzen von Gruppenrechten vgl. Boshammer
(2003), Gruppen, Rechte, Gerechtigkeit, S. 135-137.
3.3 Sind die Menschenrechte individualistisch ? 59

Dass man den Naturzustand nur kollektiv uno actu verlassen kann, be-
hauptet schon der »Individualist« Hobbes, auch wenn er dazu einen gleich-
zeitig von allen Einzelnen unterschriebenen wechselseitigen Vertrag fingiert.
Ohne wechselseitiges Vertrauen ist die Überwindung von Gewalt nicht mög-
lich, aber auch Mißtrauen und Gewaltbereitschaft sind meist kollektive
Phänomene. Dass selbst die gemeinsamen Realitätsvorstellungen (»shared
reality«) ein Bewusstsein der Kongruenz und Affirmation in einer Gruppe
voraussetzen, haben moderne Sozialpsychologen empirisch nachgewiesen.130
Auch die Bewahrung der körperlichen Integrität ist, vor allem in Zeiten eines
wissenschaftlich-technischen Gesundheitssystems, ein Resultat gemeinsamer
Anstrengungen.
(II) Klarer als bei den Abwehrrechten ist, dass Mitwirkungsrechte ge-
meinsame Rechte und Verfahren voraussetzen.131 Dass gilt vor allem für
aktives und passives Wahlrecht, sowie gemeinsame Verfahren der Gesetz-
gebung, der politischen Willensbildung, zivilgesellschaftlichen Öffentlich-
keit etc. Mitwirkung an der Gesetzgebung des allgemeinen Willens erfordert
eine funktionierende Republik, bei einer parlamentarischen Demokratie auch
eine diskutierende Öffentlichkeit, ein ausreichendes Bildungssystem usw.
Wenigstens einige von ihnen sind nicht nur öffentliche Güter, die nicht allein
genossen werden können, sondern auch »kommunale«. Auch die Pflichten der
Bürger, etwa Schulpflicht und Steuerpflicht können sowohl individuellen wie
gemeinschaftlichen Gütern dienen – die Schulpflicht etwa ist ebenso wichtig
für die Teilnahme an demokratischer Mitbestimmung wie sie advokatorisch
für die Entfaltung der Persönlichkeit geltend gemacht werden kann. Beide
(die Steuerpflicht zumindest seit der Einführung der Steuerprogression) sind
aber auch ein Mittel der »Hervorbringung einer egalitären staatsbürgerlichen
Gesellschaft«.132
Allerdings können zwischen der kollektiven Selbstbestimmung und den
Rechten von Minderheiten und Individuen auch Konflikte entstehen. Zum
einen ist eine demokratische Gesetzgebung, die sich nicht mehr auf Natur-
recht, sondern »souveräne« Gesetzgebung des Volkes stützt, der Gefahr der
Tyrannei der Mehrheit ausgesetzt. Dem sind theoretisch durch die Minder-
heitenrechte und die Individualrechte Schranken gesetzt. Abgesehen von

130 Echterhoff/Higgins (2011), How Communication Shapes Memory.


131 Dass Menschenrechte ein diskursethisches Begründungsverfahren und damit demo-
kratische Prozeduren erfordern, wie Diskursethiker behaupten, scheint mir nicht evident.
Abwehrrechte verlangen vor allem Rechtsstaatlichkeit – und moderne Demokratien sind
keine idealen Diskurse. Zur diskursethischen Begründung der Menschenrechte vgl. auch
unten Kap. 5.5.
132 Hofmann (1995b), Grundpflichten und Grundrechte, S. 82.
60 3 Konkrete Ethik und Menschenrechte

den Versuchungen »populistischer« Volksführer, vor allem in einer Medien-


demokratie, bleiben aber Spannungen zwischen dem Recht des Einzelnen,
der Gruppe und dem Gesamtstaat auf Selbstbestimmung. Dass sie weder ver-
fassungsrechtlich noch völkerrechtlich ausgeräumt sind, zeigen die Sezessions-
kämpfe in vielen Weltgegenden.
(III) Sozialrechte sind primär für Gruppen, Organisationen (z.B. »Tarif-
partner«) und Klassen erkämpft worden. Sie setzen Kooperationen und Ver-
einigungen voraus und sind an Gruppen adressiert, auch wenn sie deren
Mitgliedern zugutekommen sollen. Sozialer Friede und soziale Sicherheit,
wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung sind öffentliche Güter. Das gilt
sowohl auf der Ebene des verfassungsrechtlichen wie des völkerrechtlichen
Menschenrechtsschutzes.133 Die Erfüllung der sozialstaatlichen Aufgaben er-
fordert bekanntlich den weitaus größten Teil staatlicher Budgets in modernen
Sozialstaaten. Auch das »gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht« (GG Art. 104b
2.) ist nicht ohne größere staatliche Anstrengungen zu sichern und erfordert
eine Reihe von Gemeingütern und günstigen Gesamtzuständen (Konjunktur,
Infrastruktur etc.).
(IV) Am deutlichsten wird die Abhängigkeit individueller Rechte von
öffentlichen Gütern bei den ökologischen Rechten.134 Schon im klassischen
Umweltrecht, vor allem aber angesichts des kollektiven (Menschheits-)
gutes eines intakten Klimas, zeigt sich, dass der Grundrechtsschutz über
individuelle Ansprüche hinausgehen muss. Über die genaueren verfassungs-
und verwaltungsrechtlichen Regelungen und Konfliktbewältigungen kann
sich der Philosoph nicht äußern.135 Bei ökologischen Rechten auf saubere
Umwelt, natürliche Lebensgrundlagen etc. geht es jedenfalls um öffentliche

133 Vgl. Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AMR) Art 28: »Jeder hat Anspruch auf
eine soziale und internationale Ordnung, in der die in dieser Erklärung verkündeten
Rechte und Freiheiten voll verwirklicht werden können« sowie Nußberger (2009), Völker-
recht, S. 15: »Die Verpflichtungen bestehen gerade nicht dem anderen Staat gegenüber,
sondern erga omnes, gegenüber allen. Damit ist ein neues Koordinatensystem der Werte
im Entstehen begriffen«.
134 Allerdings versuchen Verfassungen wie die deutsche, Umweltpflichten primär durch
den Schutz von Individualrechten zu begründen. Wann im Einzelfall eine geschützte
wirtschaftliche Unternehmung so viel Schäden an Gesundheit und Lebensqualität ver-
ursacht, dass ihr die Genehmigung versagt werden kann, ist aber schwer festzustellen.
Vgl. Hofmann (1995a), Technik und Umwelt, S. 458.
135 Auch in einer derart auf den Schutz individueller Grundrechte ausgerichteten Ver-
fassung wie dem deutschen Grundgesetz ist Platz für so etwas wie »ein für die Allge-
meinheit lebensnotwendiges Gut«, etwa das Grundwasser (Hofmann (1995a), Technik
und Umwelt, S. 460). Inzwischen ist das Bewusstsein für die Bedeutung kollektiver Güter
wie saubere Luft oder die Begrenzung der Klimaerwärmung weiter angestiegen und zu-
nehmend gesetzlich verankert.
3.3 Sind die Menschenrechte individualistisch ? 61

Güter, die gemeinsam »produziert« werden müssen und nicht individuell zu-
geteilt werden können.136 Das hat auch einschneidende Folgen für die Freiheit,
private Verkehrsmittel zu nutzen, sowie zunehmend für den privaten Konsum.
Man kann im Übergang von den Sozial- zu den Umweltrechten einen Para-
digmenwechsel »von der individuellen Sozialvorsorge zur globalen System-
vorsorge« sehen.137 Der verwaltungsrechtliche Schutz der Systeme durch
Umweltschutz und Raumordnung wird sogar als Abkehr von einem »Rechts-
system« gesehen, das »auf den subjektiven Rechten des Einzelnen aufbaut«.138
Das alles ist in noch stärkerem Maße der Fall, wenn man – wozu Verfassungen
(GG Art. 1 (2))139 und internationale Vereinbarungen verpflichten –, die Men-
schenrechte weltweit schützen und ihre Ausübung fördern will.
Eine solche Bestimmung des individualistischen und »kommunalen« An-
teils der Menschenrechte entspricht ihrer Entwicklung und der Erfahrungsge-
schichte nicht nur in Europa, sondern auch des Scheiterns der europäischen
Weltherrschaft. Sie hat sich in den Verfassungen moderner Rechts-, Sozial-
und zunehmend auch Umweltstaaten zumindest ansatzweise niedergesch-
lagen, muss aber bei jedem neuen Technisierungsschub im Auge behalten
werden.140 Sie ist vom »klassischen« Liberalismus vorstaatlicher und »wirt-
schaftsliberaler« Freiheitsrechte – philosophisch von Locke über Jefferson bis

136 »Grundrechte haben neben ihrer subjektiven Bedeutung bekanntlich auch eine objektive
als Wertentscheidungen oder Grundsatznormen. Daraus folgt, dass der Staat sich nicht
nur grundrechtswidriger Eingriffe zu enthalten hat, sondern die grundrechtlichen
Schutzgüter schützen und fördern, vor allem auch vor den rechtswidrigen Einwirkungen
Dritter bewahren muss« (Hofmann (1995a), Technik und Umwelt, S. 458). Vgl. zum Ver-
hältnis subjektiv- und objektivrechtlicher Grundrechtsgehalte auch Dreier (1994).
137 Hofmann (1995a), Technik und Umwelt, S. 461; vgl. 462: »So wie die Sozialstaatlichkeit
die Möglichkeitsbedingungen für den Rechtsstaat der sich entwickelnden respektive der
sich restaurierenden Industriegesellschaft ausdrückte, formuliert die Systemvorsorge die
Möglichkeitsbedingung des etablierten Sozialstaats«.
138 Hofmann (1995a), Technik und Umwelt, S. 468, mit Bezug auf weitere Literatur
(E. Schmidt-Aßmann, H. J. Papier). Dem trägt das Rechtsinstitut der Verbandsklage
Rechnung, das aber nicht einer substantiellen (oder ontologischen) Größe »Verband«
gilt.
139 Auch wenn das Bekenntnis des deutschen Grundgesetzes zu den Menschenrechten als
Grundlage des Friedens in der Welt »keinen Missionsbefehl« darstellt (Dreier (2013),
Kommentar zu Art. 1, II Rn 23, S. 277), lässt es sich doch – auch angesichts zahlreicher
Verpflichtungen und Programme der Vereinten Nationen und ihrer Unterorganisa-
tionen – als »Verpflichtung deuten, weltweit zur Verwirklichung der Menschenrechte
beizutragen« (ebd.).
140 Nach Armin Grunwald gefährdet die von der Politik fast überall massiv vorangetriebene
Digitalisierung die Synthese von liberalen und sozialen Rechten (Grunwald (2019a),
Digitalisierung als Prozess). Zu den Folgen für die Arbeitswelt vgl. auch Herzog (2019),
Die Rettung der Arbeit.
62 3 Konkrete Ethik und Menschenrechte

Nozick141 – ebenso entfernt wie von Theorien des Primats »substantieller«


Kollektive (Nation, Religion, Ethnie) über das Individuum. Freiwillige und
bis zu einer Grenze auch pflichtmäßige und erzwingbare Leistungen für
öffentliche Güter und geschätzte Traditionen lässt sie zu, Zwangszugehörig-
keiten und Eingriffe in elementare Menschenrechte schließt sie aber aus. Man
kann diese historisch erreichte, aber keineswegs abgeschlossene oder konflikt-
freie »Synthese« mit grundsätzlichen Argumenten stützen. Sie haben es mit
der konstitutiven Wechselbeziehung zwischen individuellem Bewusstsein und
kollektiver Intentionalität142 sowie der Stufung wechselseitiger Anerkennung
zu tun (vgl. u. Kap. 3.5 und 4.1).
4.) Wenn individuelle Menschenrechte Gruppenrechte nicht ausschließen,
heißt das noch nicht, dass Gruppenrechte selber Menschenrechte sind. Ge-
wichtige Argumente sprechen dagegen.143 Obwohl man Gruppen eigene Ab-
sichten und sogar Überzeugungen zuschreiben kann,144 kann man sie nicht
als »Mensch« bezeichnen – Metaphern, wie die von Hobbes und anderen
benutzte, beiseitegelassen. »Mensch« bezeichnet, juristisch gesprochen,
natürliche und nicht juristische Personen. Es würde auch zweifellos den
Menschenrechten der Individuen, z.B. der Religions- und Weltanschauungs-
freiheit, widersprechen, etwa die Entscheidung über Gruppenzugehörigkeit
den Gruppen oder ihren rechtlichen Vertretern zu überlassen – abgesehen von
gemeinsam festgelegten Aufnahme- und Ausschlusskriterien, die aber nicht
die Rechtsgemeinschaft aller Menschen betrifft.
Auf der anderen Seite gelten Gruppenrechte ihren Mitgliedern oft nicht
als Individuen, die sich von anderen unterscheiden, sondern als Mitglieder,
deren Rechte – z.B. der aktiven Religionsfreiheit – nur zusammen mit anderen
Mitgliedern ausgeübt werden können. Denkt man an die Rechte zukünftiger
Generationen, dann geht es überhaupt nicht um identifizierbare Individuen,
sondern um unbestimmte zukünftige Mitglieder der Gruppe, denen Rechte
zukommen. Solche »Rechte als« können aber auch in einer »menschen-
rechtsanalogen« Weise verletzt werden: Die Stigmatisierung von Juden mit
einem Davidsstern verletzt sie auch in ihrer Eigenschaft als Mitglieder einer

141 Zur radikalliberalen und »sozialliberalen« Locke-Interpretation – in der Gegenwart vor


allem bei Nozick 1976 – vgl. aber Waldron (2002), God, Locke, and Equality und Siep
(2018b), John Locke, S. 204 f. und (2019a), Locke, John.
142 Zur wechselseitigen Konstitution von individueller und kollektiver Intentionalität Pettit
(1994), The Common Mind; Schweikard (2011), Der Mythos des Singulären und Jansen
(2017), Gruppen und Institutionen.
143 Vgl. etwa Donnelly (2013), Universal Human Rights, S. 45-54.
144 Vgl. Pettit (2003), Groups with Minds.
3.3 Sind die Menschenrechte individualistisch ? 63

Religionsgemeinschaft. Das Bewusstsein, dass »meine Gruppe« diskriminiert


oder sogar ausgelöscht werden soll, ist unterscheidbar von dem meiner
individuellen Diskriminierung und Gefährdung. Gruppenrechte können
also zumindest in einer Weise verletzt werden, die man als Menschenrechts-
verletzung bezeichnen kann. Aber sie haben ihrerseits eine Grenze an den
Menschenrechten ihrer Mitglieder. Sie dürfen einzelne – z.B. »Laienbrüder« –
nicht auf demütigende Weise behandeln oder ihre personale Autonomie ver-
letzen, etwa durch Zwangsheirat oder Zwangsmitgliedschaft in der Gruppe.
Man kann in der Terminologie der Ziele und Grenzen beide Formen der
Güter- und Rechtsverwirklichung folgendermaßen zusammenfassen
A 1) Für die Individuen sind die Ziele, die sie unter Ausübung ihrer Grund-
oder Menschenrechte verfolgen, die Verwirklichung eines guten Lebens in
Selbstbestimmung, Wohlergehen und Sinnerfüllung (vgl. u. Kap. 6). Dafür ist
das Funktionieren unterschiedlicher Formen des Gemeinschaftslebens und
gemeinsamer Institutionen, auch mit legalen Zwangsrechten, erforderlich.
A 2) Grenzen der Ausübung individueller Rechte sind die Existenz-
bedingungen einer verfassten Gemeinschaft und die Möglichkeit gemeinsamer
Güter. Zu den erforderlichen Unterlassungen und positiven Leistungen kann
das Individuum auch unter Einschränkung von Freiheitsrechten (Beispiel:
Seuchengesetze) verpflichtet werden.
B 1) Ziele sind aus der Sicht der Gemeinschaft (Rechtsgemeinschaft) die ge-
meinsamen Grundlagen des natürlichen und pluralistisch-kulturellen Lebens.
Sie sind Werte in sich und zugleich Ermöglichung eines selbst bestimmten und
verantworteten guten Lebens der Individuen (s.u. Kap. 6. 3). Dessen wesent-
licher Bestandteil ist die Förderung der Ausübung von Menschenrechten.
B 2) Grenzen der Durchsetzung verpflichtender Gemeinschaftsaufgaben in
einer Rechtsgemeinschaft sind die Würde des Einzelnen und der Kern (vgl. o.
S. 61) seiner Rechte. In diesem Sinne kann von einem »Primat« der Individual-
rechte gesprochen werden (Individualismus d).
Auch bei einer solchen Grenzziehung sind Konflikte nicht ausgeschlossen.
Was gilt, wenn die Verteidigung des Staates Freiheit und Leben der Bürger
fordert? Wie weit kann man zum Erhalt wichtiger Gemeinschaftsgüter
(z.B. Klimastandards) in Freiheitsrechte (Bewegungs- und Konsumfreiheit)
eingreifen? Kann es Notfallsituationen geben, in denen die Menschenrechte
einer großen Zahl nur durch das bewusste Opfer einer kleinen zu schützen
sind (s.u. S. 115)? Auch in extremen Notfällen müssen aber Grenzen ein-
gehalten werden. Demütigung und »Gehirnwäsche« müssen ausgeschlossen,
Unschuldsvermutung, Rechtsbeistand etc. erhalten bleiben. Heute ist vor
allem die Dispension von Menschenrechten gegen pauschal als »Terroristen«
oder ihre Unterstützer Verdächtige zu kritisieren.
64 3 Konkrete Ethik und Menschenrechte

Die Technisierung des Umganges mit der Natur und die Zunahme des Ge-
wichtes individueller Autonomie hat aber noch eine andere Kontroverse
über den Begriff »Mensch« als Träger von Rechten eröffnet. Sie betrifft den
Bereich der technisch assistierten menschlichen Reproduktion, in dem es
noch keine vergleichbare Erfahrungsgeschichte mit stabilen institutionellen
Resultaten gibt.

3.4 Wer gehört zu den schützenswerten »Menschen«?

Der Begriff »Menschenwürde« hat zwei Bestandteile. »Würde« ist klarerweise


ein evaluativer und normativer Begriff: Es handelt sich um einen Status,145 der
Achtung und eine bestimmte Behandlung »verdient« und verlangt. Der Be-
standteil »Mensch« dagegen scheint deskriptiv zu sein: Er bezeichnet offenbar
die Mitglieder einer biologischen Art. Wenn deren Umfang (Extension) eine
Frage der Naturwissenschaft ist, scheint die Frage, wer Würde beanspruchen
darf, dem Streit um Normen und Rechte entzogen.146 In der modernen Bio-
ethik und Biopolitik gibt es aber gerade darüber die heftigsten Kontroversen:
Zählt schon die befruchtete Eizelle zu den Trägern der Menschenwürde, oder
der frühe Embryo im Mutterleib oder erst das geborene Kind? Dieser Streit hat
Auswirkungen auch auf den Würdebegriff bzw. die daraus folgenden Normen:
Gibt es Stufen der Würde oder jedenfalls Grade der Schutznormen? Gibt es
Konflikte zwischen Würdeträgern und entsprechende Einschränkungen wie
bei den Grundrechten?
Zwei Teilfragen müssen unterschieden werden: Erstens, gibt es eine natur-
wissenschaftlich neutrale Basis für die Zugehörigkeit zur Gattung (1)? Zweitens,
ist ein selber normativer Begriff des Menschen fähig, einen umfassenden
(»überlappenden«) Konsens zur Menschenwürde zu tragen (2)?
(1) Die moderne Biologie hat mit dem Artbegriff erhebliche Schwierigkeiten.
Viele Biologen und Philosophen der Biologie geben ihn ganz auf oder machen
ihn abhängig von praktischen Bedürfnissen, etwa der Züchtung.147 Andere
begnügen sich mit einem nicht völlig trennscharfen Begriff, der sich auf ver-
änderliche Populationen bezieht, deren Mitglieder sich – nach dem Stand

145 Hier ist nicht vom Statusbegriff der Würde – dignitas im klassischen Sinne – die Rede,
der Menschen unterschiedlich nach Stand, Ehre oder Rang zukommt, sondern vom
moralischen bzw. rechtlichen Status der Menschen als solcher. Das schließt Graduie-
rungen beim Würdeschutz nicht aus.
146 In diesem Sinne auch Robert Alexy: »Die klarste Abgrenzung des Trägerkreises erreicht
man, wenn man diesen Begriff biologisch definiert«. (Ders. (1998), Menschenrechte, S. 247).
147 Vgl. Gutmann/ Janich (2001), Methodologische Grundlagen der Biodiversität.
3.4 Wer gehört zu den schützenswerten »Menschen« ? 65

der Evolution und der Wissenschaft – mit denen anderer Populationen nicht
kreuzen bzw. fortpflanzen können.148 Dass es Grenzfragen der Zuordnung zur
menschlichen Gattung gibt, hat schon John Locke dazu veranlasst, im Kontext
normgeregelten Handelns den Begriff des Menschen durch den der Person
zu ersetzen. Personen sind Wesen, die sich verpflichten und Rechenschaft
über die Befolgung von Regeln ablegen können. Das Problem mit dieser Be-
stimmung ist aber, dass sie viele von Menschen erzeugte und geborene Lebe-
wesen ausschließt, denen Rechtssysteme seit langem Schutz gewähren.
Nicht nur die Gattungszugehörigkeit bietet schon auf der biologischen
Ebene Probleme, auch der Begriff der biologischen Individualität wird
schwierig, wenn man die Entwicklungsstadien des Menschen ins Auge fasst.
Die klarste Unterscheidung ist sicher die, über einen eigenen Körper zu ver-
fügen, der räumlich von anderen menschlichen Körpern getrennt ist. Das ist
mit der Geburt der Fall, auch wenn das Kleinkind nur in sehr eingeschränktem
Sinn »handlungsfähig« ist. Durch die Entwicklungsbiologie wissen wir aber,
dass bereits das Genom zumindest nach dem Stadium möglicher Mehr-
lingsbildung wesentliche individuelle Merkmale des zukünftigen geborenen
Menschen vorzeichnet. Die Chance, sich zu einem solchen zu entwickeln, hat
einen Wert und es gibt Gründe, sie zu erhalten bzw. zu fördern. Das impliziert
allerdings eine Wertung dieser biologischen Stadien: als biologische ent-
halten sie nicht mehr als ein biologisches Potential, dessen Realisierung von
Zufällen – allen voran der erfolgreichen Nidation – abhängig ist. Nach dem
Ende des teleologischen, von Zweckursachen ausgehenden Denkens, das die
neuzeitliche Naturwissenschaft – jedenfalls als Form der Erklärung natür-
licher Prozesse – durch die Beschränkung auf Wirkursachen ersetzt hat, gibt
es kein Sollen, keine »natürliche« Vorgabe mehr, diese Entwicklung auch zu
erreichen.
Der Schutz der Entwicklungschancen eines werdenden Menschen ist
also eine Frage der Wertung, die nicht durch die Naturwissenschaften vor-
geschrieben ist. Sie gerät zudem in Konflikt mit der Würde und den Freiheits-
rechten desjenigen Menschen, von dessen Körper ein Embryo oder Fötus ein
Teil ist: des mütterlichen. Zu den elementaren Rechten der Mutter gehört die
Verfügung über den eigenen Körper. Darein durch Rechtszwang einzugreifen,
hat eine erhebliche Rechtfertigungslast.
Es gibt Weltanschauungen, für die mit der Befruchtung der Eizelle eine
Person entsteht, die nicht nur der sinnlichen Welt, sondern einer ganz anderen

148 Zu den realistischen Begriffen der Art als einer zeitlich existierenden Fortpflanzungs-
gruppe bei Ernst Mayr und Theodosius Dobzhansky vgl. auch Siep (2016), Konkrete
Ethik, S. 232-234.
66 3 Konkrete Ethik und Menschenrechte

übersinnlichen Ordnung angehört. Für diese hat also die biologische Ent-
stehung eines menschlichen Organismus eine weit mehr als biologische Be-
deutung. Mit ihm beginnt die »Heiligkeit« eines menschlichen Lebens, die ein
Tabu für menschliche Handlungen darstellt. Eine solche Anschauung kann
aber nicht zur Grundlage des Konsenses einer pluralistischen Gesellschaft
über ihre elementaren Normen dienen.149
Vertreter einer solchen »übersinnlichen« Personalität berufen sich gerne
auf Kant, der ebenfalls von einer »noumenalen« Person ausging. Für Kant ist
dies aber kein Begriff der theoretischen, sondern der praktischen Vernunft:
eine noumenale Person unterliegt den Sittengesetzen und ist der Zurechnung
ihrer Taten zu diesem Gesetz fähig. Wie und wann sie in der sinnlichen Welt
entsteht, können wir uns theoretisch nicht erklären.150 Der Ursprung ihrer
Rechtsbeziehungen zu anderen Personen muss aber eine Handlung sein, die
der Zurechnung fähig ist. Das ist die Handlung der Zeugung. Was der Status der
Rechtsbeziehung der Eltern zu ungeborenem Leben ist, hat Kant damit aber
nicht festgelegt. Eine selbständige Rechtsperson ist der ungeborene Mensch
nicht, auch das Kind wird nur antizipatorisch als solche behandelt.151
Die biologische Bestimmung des Anfangs menschlichen Lebens hat also
nicht nur innerwissenschaftliche Schwierigkeiten – vor allem mit den Be-
griffen Art und Individuum – sie hat auch von sich aus keinen evaluativen
und normativen Gehalt. Eine Spezies ist biologisch gesehen nicht wertvoller
oder schützenswerter als eine andere – das wäre in der Tat ein ziemlich kruder
Speziesismus. Man kann aber umgekehrt Wertungen plausibel an biologische
Differenzen »andocken«, also rechtfertigen, warum man menschliches Leben

149 Auch wenn das Bundesverfassungsgericht ihr teilweise folgt, kann sie nicht als not-
wendiger Bestandteil der Begriffe der Menschenwürde im Grundgesetz in Anspruch
genommen werden. Vgl. Dreier (2002), Stufen des vorgeburtlichen Lebensschutzes;
sowie zur Kritik des Gerichtsurteil Hofmann (2008), Methodische Probleme, S. 70 ff.
(»naturalistischer Fehlschluss«).
150 Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre (AA VI, 280. Kant geht es ausdrücklich
nicht um Zeitpunkte in einem natürlichen Prozess (vgl. ebd. seine Anm.), sondern um
eine Handlung, aufgrund derer »die Kinder als Personen … ein ursprünglich-angeborenes
(nicht angeerbtes) Recht auf ihre Versorgung durch die Eltern« erhalten, »bis sie ver-
mögend sind, sich selbst zu erhalten.«. Zu den Konsequenzen für den Embryonenschutz
vgl. Geismann (2004), Kant und ein vermeintes Recht des Embryos.
151 Nach den Definitionen der Person in der Einleitung in die Metaphysik der Sitten (AA
VI, 223) muss eine Person ein zurechnungsfähiges Individuum sein. In der Anthropo-
logie in pragmatischer Hinsicht genügt für die Personalität die »Einheit des Bewusstseins
bei allen Veränderungen, die ihm zustoßen können« (AA VII, 127). Die Tötung eines ge-
borenen ehelichen Kindes ist nach Kant Mord, das uneheliche, nicht unter dem Gesetz
der Ehe geborene, ist dagegen »in das gemeine Wesen eingeschlichen (wie verbotene
Waare)«. Daher kann der Staat im Grunde »seine Vernichtung ignorieren« (AA VI, 336).
3.4 Wer gehört zu den schützenswerten »Menschen« ? 67

höher bewerten soll als das anderer Arten oder »Reproduktionspopulationen«.


Ferner, warum man zwischen komplexer organisierten und einfachen Lebe-
wesen ebenfalls evaluativ unterscheiden soll. Auf diese Weise lässt sich auch
begründen, warum man einem menschlichen Vielzeller auch außerhalb des
Körpers mehr Respekt zukommen lassen sollte als nicht-menschlichen –
und warum man die Entwicklungschancen eines Lebewesens im Mutterleib
mehr fördern sollte als vor der Nidation. Damit ist aber noch längst nicht ent-
schieden, ob man sie gegen die Selbstbestimmung der Mutter schützen darf, so
lange es sich um einen Teil des mütterlichen Körpers handelt.
(2) Es legt sich nahe, erst einmal umgekehrt zu fragen, was der Sinn der
Menschenwürdenorm im Recht ist. Natürlich bewegen wir uns damit im Be-
reich menschlichen Handelns und seiner Normen, die sich historisch wandeln
und die – gerade im Zeitalter individueller und gemeinsamer Autonomie –
von menschlichen Übereinkünften (»Konventionen«) abhängig sind. Damit
erhebt sich die – seit der »physei-nomo« (Natur vs. Brauch)-Debatte in der
griechischen Sophistik – kontroverse Frage, ob unbedingte und unantastbare
Rechte und Normen, wie die Menschenwürde, von historischen Überein-
stimmungen abhängig sein können. Dahinter wird allenthalben die Gefahr
des Relativismus oder der Abhängigkeit elementarer Normen von »zufälligen«
Mehrheiten vermutet.
Dass Würde, also körperliche und psychische Integrität und Selbst-
bestimmung, jedem Menschen unabhängig von Stand, Geschlecht, Rasse,
Weltanschauung, körperlichem Zustand usw. zukommen soll, ist historisch
gesehen eine Ausweitung über alle solche Ausschlusskriterien hinaus.
Menschen haben für lange Zeit nicht nur zwischen den Rechten der eigenen
Gruppe und denjenigen der »Fremden« unterschieden, sie haben auch den
Begriff des Menschen »asymmetrisch« gebraucht und die »anderen« mit
anderen Begriffen bezeichnet.152 Die Entwicklung von Menschenrechten und
Menschenwürde – seit dem Zweiten Weltkrieg auch in Rechtsdokumenten die
Grundlage der ersteren – bedeutet die zunehmende Inklusion der Fremden
bzw. die Universalisierung der Rechte. Der elementare Teil der Rechte, die sich
Menschen innerhalb von Gruppen eingeräumt hatten, soll von den Grenzen
zwischen Gruppen unabhängig werden – eine Art Gattungssolidarität. Wie die
entsprechenden Konventionen der Völkergemeinschaft bzw. des Völkerrechts
zeigen, werden zumindest die Schutzrechte auch unabhängig von körperlichen
Fähigkeiten anerkannt. De facto sind Menschen mit dauerhaften körperlichen
und geistigen Beeinträchtigungen in ihrer Lebensführung nicht wirklich auto-
nom, sondern von anderen Menschen weitgehend abhängig. Gleichwohl

152 Vgl. Koselleck (1979), Zur historisch politischen Semantik, vor allem S. 213.
68 3 Konkrete Ethik und Menschenrechte

sind alle verpflichtet, die Möglichkeiten ihrer Selbstachtung und ihres selbst-
bestimmten Handelns nicht einzuschränken, sondern zu unterstützen.
Wie weit diese Inklusion in den Bereich des ungeborenen Lebens aus-
gedehnt werden soll, bleibt aber umstritten. Normative Konsense sind zwar in
verschiedenen Gesetzgebungen erreicht worden, haben aber nicht den Grad
der Zustimmung verschiedener Weltanschauungen gefunden wie die übrigen
»Extensionen« des Würdeträgers Mensch. Sie konfligieren nämlich mit der
Autonomie derjenigen Individuen, deren körperlicher Teil der Embryo oder
Fötus ist. Die Kontroversen hängen auch mit der Zunahme an Autonomie im
Bereich der Reproduktion zusammen. Der Zweck dieser Reproduktion wird
heute nicht mehr als (eine Pflicht zur) Fortpflanzung der Gattung angesehen,
sondern als das Gut des Lebens des Kindes und mit einem Kind. Diese Güter
sind aber in aller Regel mit der Hoffnung oder Erwartung auf ein gesundes
Kind verbunden. Ein solches zu bekommen ist kein Recht, denn es liegt nicht
im Umfang der menschlichen Kontrolle, aber ein berechtigter Wunsch. Ob die
Verhinderung der Geburt von Kindern mit der Disposition zu schweren Erb-
krankheiten eine Beeinträchtigung der Würde von Menschen mit schweren
körperlichen Einschränkungen darstellt, ist Gegenstand von Kontroversen. Es
ist aber sehr fraglich ob im Wunsch von Menschen nach gesundem Nachwuchs
überhaupt eine solche Beeinträchtigung liegt – und ob sie einen Eingriff in die
Selbstbestimmung der Mütter rechtfertigen kann.
Die Maßnahmen der assistierten Befruchtung, die zur Erfüllung des
Wunsches nach einem gesunden Kind führen sollen, haben zur Entstehung
einer großen Zahl von Organismen früher menschlicher Entwicklungsstadien
geführt, die nicht einer Mutter implantiert werden. Das entspricht durch-
aus der natürlichen Befruchtung, in der auch die allergrößte Zahl der be-
fruchteten Eizellen nicht zur Einnistung gelangt, sondern abstirbt. Die in der
assistierten Befruchtung entstandenen Organismen (»pre-embryos«) werden
der Verfügung ihrer Erzeuger bzw. mit deren Zustimmung den Reproduktions-
kliniken überlassen. Damit eröffnen sich aber auch Möglichkeiten, an ihnen zu
forschen, um Gesundheit und Würde von Menschen späterer Entwicklungs-
stadien zu fördern. Diese Möglichkeiten werden heute von vielen Rechts-
ordnungen zugelassen.153
Solchen frühen Stadien menschlichen Lebens kommt nichts von dem zu,
was Würde menschlicher Individuen im Sinne der Selbstbestimmung und
der Selbstachtung ausmacht. Der Sinn ihres Schutzes ist die Erhöhung ihrer

153 Mit dem Stammzellengesetz von 2002 auch in der deutschen, auch wenn sie nur
aus Ländern importiert werden dürfen, in denen ihre Verwendung – anders als bei in
Deutschland hergestellten – rechtlich zulässig ist. Vgl. Siep (2015b), Stammzellen.
3.4 Wer gehört zu den schützenswerten »Menschen« ? 69

Entwicklungschancen. Dass über die Grade ihres Schutzes gesellschaftliche


Konsense erst gesucht werden, ist kein Rückfall hinter den erreichten Stand
des Menschenwürdeschutzes. Es gehört zum normalen Prozess der Norment-
wicklung im Umgang mit neuen Praktiken, Techniken und Autonomieformen
(hier besonders die reproduktive Autonomie).
Aber wird damit die Menschenwürde nicht ihres Charakters der Unantast-
barkeit beraubt? Wird sie nicht abhängig vom Willen einer Mehrheit? Es ist
eine verbreitete, aber rational nicht gut begründete Befürchtung, dass Unan-
tastbarkeit eines Rechtes nur dadurch gesichert werden könne, dass dieses
Recht der Vereinbarung von Menschen entzogen wird. Man muss unter-
scheiden zwischen Tabuargumenten, Naturrechtstheorien oder anderen
Formen von a priori-Begründungen auf der einen Seite und Selbstbindungen
von Verfassungs- und Gesetzgebern auf der anderen. Der Wunsch, solche
Selbstbindung durch epistemische oder emotionale Überhöhungen zu sichern,
ist verständlich. Normen stammen aber alle aus menschlichen und damit
historischen und veränderlichen »Setzungen«. Das schließt nicht aus, dass
solche Setzungen den Anspruch erheben, etwas historisch gefunden zu haben,
das dem Träger wirklich zusteht und von einer moralischen Perspektive un-
bedingt gefordert ist. In dieser Hinsicht kann man mit möglichst guten Argu-
menten für die Menschenwürde eine Unaufgebbarkeit oder Irreversibilität zu
verteidigen suchen. Das ist Gegenstand der nächsten Kapitel dieses Buches.
Was für den Inhalt der Würde gilt, muss aber nicht ebenso für den Um-
fang des Begriffes Mensch gelten.154 Es ist klar, was keine Ausschlusskriterien
sein dürfen: Geschlecht, Rasse, Überzeugung, sozialer Stand, Gesundheits-
zustand etc. Es ist aber noch nicht klar, wie weit dieser Schutz ins vorgeburt-
liche oder auch ins außermenschliche Leben ausgedehnt werden muss. Man
kann auch diskutieren, ob der Würdeschutz auf Primaten auszudehnen ist
(s.u. S. 112). Es ist aber zu bezweifeln, dass es der richtigen Behandlung von
Tieren dient, ihnen einen Wert zuzusprechen, der beim Menschen untrennbar
mit dem Respekt vor Selbstachtung und der Ausübung subjektiver Freiheits-
rechte, vor den Fähigkeiten der Selbstkontrolle und der Selbstverpflichtung
etc. verbunden ist. Dass mit einer Ausdehnung von Würdeaspekten etwa auf
menschennahe Primaten eine Gefährdung der Menschenwürde notwendig
verbunden ist, scheint aber eher den Status von Dammbruchargumenten mit
wenig empirischer Evidenz zu haben.

154 Hofmann (1998, Menschenwürde, S. 78) macht auf den »fundamentalen Unterschied
zwischen Mensch und ungeborenem menschlichem Leben« aufmerksam.
70 3 Konkrete Ethik und Menschenrechte

3.5 »Menschenrechtskultur« oder »Kultur der Anerkennung«?

Menschenrechte schützen Individuen vor Kollektiven, aber auch kleine


Gruppen (Familien, Arbeitnehmer, Minoritäten) vor großen. Es handelt sich
nicht nur um Verhinderung von Überschreitungen, sondern um eine um-
fangreiche aktive Förderung. Sie stehen auch nicht nur in Deklarationen oder
Gesetzbüchern, sondern sind Grundlage eines Systems von weltweiten Ver-
trägen und Institutionen, zunehmend auch internationalen Gerichten. Dazu
gehört eine Fülle von Organisationen auf der Ebene der Vereinten Nationen
(für Ernährung, Flüchtlingsfragen etc.) aber auch staatliche und nichtstaat-
liche Einrichtungen. In den letzteren engagieren sich weltweit viele Menschen
freiwillig. Sie finden in dieser Arbeit – etwa »Human Rights Watch«, »Ärzte
ohne Grenzen« etc. – eine wichtige Komponente ihres Lebenssinnes. Wie
für die Selbstbestimmung eines Volkes – in Unabhängigkeitskämpfen – und
seine demokratische Gesetzgebung kann man sich für die Ziele dieser Ein-
richtungen einsetzen und erhebliche Opfer auf sich nehmen. Auch in dieser
Hinsicht haben sie einen Aspekt öffentlicher Güter, auch wenn sie Individuen
zugutekommen.
Auch wenn man die Bekämpfung der Fluchtursachen für Kriegs-,
Wirtschafts- oder Umweltflüchtlinge noch nicht berücksichtigt, gibt es kaum
einen Bereich politischer und sozialer Aktivitäten, in dem es nicht zumindest
auch um die Bedingungen der Erfüllung menschenrechtlicher Ansprüche
geht. Diese Tätigkeiten können nur von gemeinsamen Überzeugungen und
Emotionen hinsichtlich der Ansprüche aller Menschen getragen werden.
Sie sind heute wieder mit nationalistischen Gegenströmungen konfrontiert.
Man kann dieses Netzwerk von Vereinbarungen, Institutionen, Organisatio-
nen und Mentalitäten eine »Kultur« nennen (vgl. o. S. 42).
Trotz der Universalität der Menschenrechte gibt es offenbar nicht nur
eine einzige globale Menschenrechtskultur. Gerade in Bezug auf die konkre-
tisierenden Pakte über die Sozialrechte zeigen sich deutliche regionale und
nationale Vorbehalte und Differenzen.155 Das hat nicht nur mit der Über-
forderung der Sozialsysteme in armen Ländern zu tun, sondern auch mit

155 Die Kritik am »westlichen« Charakter der Menschenrechte »gilt in wesentlich deut-
licherem Umfang für die spezifischen Sozialstandards« als für die grundlegenden
Freiheits- und Sozialrechte (Nußberger (2005), Sozialstandards, S. 185). Angesichts des
Ursprungs der Sozialgesetzgebung im Europa des 19. Jahrhunderts ist es »besonders
problematisch, Lösungen zu finden, die für die Nationalstaaten mit ihren sehr ver-
schiedenen, historisch gewachsenen Arbeits- und Sozialrechtssystemen ohne Abstriche
akzeptabel sind.« (ebd. S. 189).
3.5 »Menschenrechtskultur« oder »Kultur der Anerkennung« ? 71

unterschiedlichen Traditionen. Bei den positiven Zielen in Bezug auf soziale


Sicherheit und Produktionsformen ist ein Pluralismus eher zu tolerieren als
bei Abwehrrechten und Mitwirkungsrechten. Bedingungen elementaren
Wohlergehens – Hygiene, Gesundheit, Ernährung – dürfen aber ebenfalls
bestimmte Grenzen nicht unterschreiten. Man sollte daher hinsichtlich der
Menschenrechtskultur eine zweifache Unterscheidung vornehmen: Ein-
mal zwischen dem universalen Charakter und den unterschiedlichen Ver-
wirklichungsvarianten. Zum anderen zwischen dem Teil, der im Sinne strikten
Rechts erzwingbar ist und dem, der – als Staatsaufgabe oder als völkerrecht-
liches Ziel – eine nicht einklagbare Forderung der Gerechtigkeit ist.
Die erste Unterscheidung verlangt eine Analyse unterschiedlicher Varianten
der Menschenrechtskultur oder einer »multiplen Moderne«,156 die in diesem
Buch nicht geleistet werden kann. Hier sollen aber noch einige Überlegungen
hinsichtlich erzwingbarer und »verdienstvoller« Formen von Menschen-
rechtsförderung angestellt werden.
Ob es gut ist, fast alle Politikfelder mit der Achtung der Menschenrechte
in Beziehung zu setzen, oder ob deren Charakter der Einklagbarkeit und der
strikten rechtsförmigen Sanktionierung ihrer Verletzung dadurch gefährdet
wird, ist Gegenstand besonderer, auch rechtswissenschaftlicher Debatten.
Auf einige davon, nämlich die Frage der Überforderung von Nationalstaaten
durch internationale Verpflichtungen, das Problem der »humanitären Inter-
ventionen« sowie die Einwände eines extremen Kommunitarismus werde
ich im 5. Kapitel zurückkommen. Zwei Gesichtspunkte sollen hier kurz er-
örtert werden: Erstens, wie der Anspruch der Menschenrechte, kollektiven,
vor allem staatlichen Aktivitäten Grenzen zu setzen, erhalten werden kann,
wenn Sozialrechte, Umweltrechte und die kulturellen Rechte von Gruppen
gerade eine Ausweitung solcher Aktivitäten fordern (1). Zweitens, wie den
Intuitionen eines Primates der Sozialität und Interdependenz der Individuen
sowie ihrer gemeinsamen Selbstbestimmung (»Republikanismus«) Rechnung
getragen werden kann. In dieser Hinsicht wird vorgeschlagen, das Konzept
der »Menschenrechtskultur« durch das einer »Anerkennungskultur« zu
ergänzen (2).
(1) Im vorigen Kapitel wurde verdeutlicht, dass Menschenrechte nicht nur
Ansprüche von Individuen zum Gegenstand haben. Sie enthalten auch Rechte
von Gruppen als »Pluralsubjekte«, gemeinsame Ziele und Überzeugungen zu
verfolgen, und Rechte auf gemeinsame Güter, vom Frieden über die wirtschaft-
liche Entwicklung bis zur gesunden Umwelt (vgl. o. 3.3). Dabei dürfen den

156 Vgl. Sachsenmeier/ Reidel/ Eisenstadt (Hg.) (2002), Reflections on Multiple Modernities.
72 3 Konkrete Ethik und Menschenrechte

Individuen aber die Entscheidungen über ihr gutes Leben, d.h. über Glück,
Moralität und Sinn, nicht abgenommen oder zu sehr eingeengt werden. Die
bewusste Entscheidung für Ziele, an denen einem liegt, macht einen wesent-
lichen Bestandteil des guten Lebens aus (vgl. u. Kap. 6.1.3) Aber auch zu
moralisch richtigem Handeln muss ein Individuum sich aus seinem persön-
lichen Gewissen heraus entscheiden. Ein Glücks-, Moral- und Sinnpaternalis-
mus reduziert den Menschen zum unreflektiert glücklichen Tier.
Wenn es Güter der Gemeinschaft gibt, die dem Einzelnen Opfer abverlangen,
dann müssen die Individuen an deren Festlegung beteiligt sein und sie dürfen
die Grenze elementarer Menschenrechte nicht überschreiten. Es sind nur
noch bestimmte Begründungen möglich: Die Ehre, Macht, geschichtliche
Rolle etc. der Kollektive (Nation, Kirche etc.) darf nicht mehr das unfreiwillige
Opfer von Rechten auf Leben oder Auswanderung und auch nicht mehr das
freiwillige der Gewissens- oder Religionsfreiheit verlangen. Sonst würden die
schlimmsten Formen von Kollektivismus und Totalitarismus wieder recht-
fertigungsfähig. Historische Evidenz in Verbindung mit anthropologischen
und begrifflichen Analysen sind dafür hinreichender Grund (vgl. Kap. 4).
Vom Kern der Menschenrechte war schon die Rede (S. 41). Dazu rechnet
die Anerkennung der Freiwilligkeit jeder Bindung, sowohl des Handelns wie
der Überzeugung, und des Anspruchs auf Unterstützung der Erfüllung basaler
körperlicher und emotionaler Bedürfnisse. Es sind aber nicht nur Individual-
rechte, sondern auch Rechte von Gruppen auf Schutz vor Diskriminierung, die
zum Kern der Menschenrechte gehören. Das Verbot der Kennzeichnung von
Minderheiten (»Davidsstern«) oder das Recht auf gemeinsame Religionsaus-
übung betrifft nicht nur Individual- sondern auch elementare Gruppenrechte.
Umgekehrt können die Freiheitsrechte eines Individuums auch durch seine
Festlegung auf eine einzige Gruppenzugehörigkeit verletzt werden.
Ad 2) Was für Gründe könnte es geben, eine Kultur der Menschenrechte
durch eine Kultur der Anerkennung zu ergänzen? Es sind vor allem zwei:
a) Anerkennung bedeutet, vor allem in der auf Hegel zurückgehenden
Tradition, eine Relation der wechselseitigen Selbstbeschränkung und der
Überschreitung eigener Grenzen, sowohl zwischen Individuen wie zwischen
Individuen und Gruppen, vor allem Gruppen, die durch Institutionen »ge-
festigt« sind. Der Vermeidung von Übergriffen korrespondiert eine Öffnung,
eine Überwindung eigener Grenzen sowohl zugunsten des Anderen wie der
Gruppe – notfalls durch Verzicht auf eigene Rechte, etwa als Freundschaft
oder Versöhnung. Diese Beziehungen spielen sich nicht nur auf der Ebene der
Rationalität und des zweckmäßigen Handelns ab, sondern auch auf derjenigen
der emotionalen Einstellungen und Verhaltensdispositionen. Wenn sie nicht
nur bei Individuen, sondern auch bei Gruppen, zu stabilen Überzeugungen
3.5 »Menschenrechtskultur« oder »Kultur der Anerkennung« ? 73

und Haltungen geworden sind, kann man von einer »Kultur der Anerkennung«
sprechen.157
b) Zur Konzeption von Anerkennung gehören nicht nur Rechtsbeziehungen,
vor allem nicht nur strikt erzwingbare Individualrechte. Es gibt seit Hegel eine
Theorie von Stufen der Anerkennung, die zunehmend komplexer werden,
aber nicht alle erzwingbar sind. Hegel hat schon in seiner Frühzeit darauf den
neutestamentlichen Begriff des »pleroma«, der Erfüllung und Ergänzung (des
alttestamentarischen Gesetzes durch die neutestamentliche Liebe) verwandt.
Bei Hegel gefährden aber die höheren Stufen der Vereinigung in sittlichen
Institutionen den Abwehrcharakter der Grundrechte (s.u. S. 101). Um den auf-
rechtzuerhalten ist es wichtig, dass die Freiwilligkeit der »Gruppenbindung«
des Individuums auf den höheren Stufen zunimmt:158 Gegenüber der erzwing-
baren Gewaltlosigkeit, Nicht-diskriminierung und basaler Solidarität (Verbot
unterlassener Hilfeleistung, Steuerpflicht) sind Bürgerfreundschaft und
wechselseitige Anerkennung von Kompetenzen, Schwächen und Engagement
in unterschiedlichen Arten von »Teams« eher freiwillig und verdienstlich. Sie
können aber für die individuelle Selbstachtung wie für das Überleben und
Gedeihen der Gruppe ebenso wichtig sein. In einer Kultur der Anerkennung
haben die Gemeinschaftsaspekte der Menschenrechte gleiche Bedeutung wie
die Schutzaspekte. Die letzteren sichern aber, dass die Beiträge der Individuen
zu den kommunalen Gütern ihren freiwilligen – und möglichst spontanen –
Charakter behalten.
Die Ergänzung der Menschenrechtskultur durch die Anerkennungskultur,
der »protecting«- durch die »enabling«-Beziehungen, markiert den Übergang
von den Grenzen zu den Zielen, vom Rechten zum Guten, vom Respektieren
zum Erstreben – im Rahmen der hier konzipierten Ethik von dem, was dem
Menschen unbedingt zusteht, zu dem, was zu einem guten Leben und einer
guten Welt gehört. Das wird im 6. Kapitel wiederaufgenommen. Auf der Hand
liegt auch, dass der Übergang von »Kern« der Menschenrechte zur »Kultur«
der Menschenrechte und zur Kultur der Anerkennung die moralische Ver-
nunft immer stärker für historische Belehrung öffnet. Es werden dichtere
Beschreibungen von Beziehungen in der sozialen Welt nötig – und damit
stärkere Abhängigkeit von historischen Bedingungen.159 Aber es gibt auch hier
konsensuelle Erfahrungen, wie etwa den Übergang von einer ständischen

157 Vgl. Siep (2014b), Kultur der Anerkennung.


158 Vgl. dazu jetzt auch Siep (2020), Formen und Stufen der Anerkennung.
159 Das gilt schon für die Ausgestaltung der Sozialstandards in den Pakten zu den sozialen
Menschenrechten. Sie sind als »Reaktion der internationalen Gemeinschaft auf be-
sondere Risiken und Gefährdungen bzw. auf Unzulänglichkeiten in den einzelnen Pakten
zu erklären« (Nußberger (2005), Sozialstandards, S. 73).
74 3 Konkrete Ethik und Menschenrechte

Gesellschaft, in der die Individuen durch Vorfahren, »Geburt« und »natür-


liche« Rangordnungen einen nahezu unveränderlichen Platz und wenig
Denkfreiheit haben, zu einer Gesellschaft der freiwilligen Zusammenschlüsse
(Vereine, Verbände, Genossenschaften) und allein von Qualifikationen ab-
hängigen Funktionen. Das darin sowohl eine Zunahme an individueller Frei-
heit wie an kreativem »Input« in die Gruppe liegt, ist kaum zu bezweifeln.
Wie endgültig die Ergebnisse solcher Prozesse sind, kann kaum vorher-
gesehen werden. Die hier beanspruchte Irreversibilität gilt nicht ihnen,
sondern nur dem Kern der Menschenrechte. Ob die Historisierung der Ver-
nunft und der Moral an ihnen eine Grenze haben kann, ist jetzt eigens zu
erörtern.
Kapitel 4

Historische Vernunft und irreversible Geltung

Menschenrechte sind das Minimum dessen, was für Menschen innerhalb einer
universal erstrebenswerten Welt »gut« zu nennen ist. Von weiteren Aspekten
des guten Lebens wird noch die Rede sein (Kap. 6). Zugleich stellen sie, das
soll gezeigt werden, für die Historisierung der Vernunft und der Moral eine
Grenze dar: Sie gelten zwar nicht unabhängig von Zeit und Geschichte, aber
gegen eine bloß vorläufige Geltung wird eine für jetzt und die Zukunft un-
umkehrbare behauptet. Ein solcher Geltungsanspruch unterscheidet sich von
zeitlosen und kontextuellen. Was das für die Zukunftsgeltung bedeutet, kann
folgende Dreiteilung klarmachen:
1. Wenn etwas für alle Zeit gilt, beansprucht es auch Zukunftsgeltung.
Das ist der Fall für alle Begründungen, die auf apriorische Prinzipien
oder einen zeitlosen Begriff von Natur, Vernunft oder göttlichem Willen
zurückgehen. Derartige Moral- und Rechtsprinzipien haben immer ge-
golten und gelten für alle Zukunft. Man weiß schon jetzt, dass Theorien,
die in Zukunft etwa für alternative Prinzipien ins Feld geführt werden,
in sich widersprüchlich sind. Auch eine Geschichtsphilosophie des not-
wendigen Fortschritts zu einem vernünftigen Ziel, dessen normative
Konturen schon jetzt erkannt sind, kann einen solchen Anspruch stützen.
2. Kontextgebundene Theorien beschränken sich auf die Verteidigung der
Gültigkeit von Normen und Prinzipien im Rahmen der jetzt zur Ver-
fügung stehenden Begriffe und Argumente. Sie versuchen in diesem
Rahmen eine möglichst stringente Begründung. Damit wird aber nicht
beansprucht, zukünftige Begriffe, Argumente und Erfahrungen vorweg-
nehmen zu können. Wenn diese geltend gemacht werden, muss man sie
prüfen und zurückweisen oder annehmen. Da die Philosophie »ihre Zeit
in Gedanken« fasst (Hegel), muss sie auch ihre normativen Geltungs-
ansprüche auf diese Zeit beschränken.
3. Die »Irreversibilitätsthese« nimmt eine Mittelposition ein. Sie bezweifelt
mit der zweiten Position, dass wir die Widersprüchlichkeit zukünftiger
Argumente antizipieren können. Sie stimmt auch grundsätzlich zu, dass
Philosophie die Begriffe, Argumente und Erfahrungen einer Epoche nicht
überspringen kann. Dennoch reklamiert sie für die Idee der Menschen-
rechte einen Gültigkeitsanspruch für Gegenwart und Zukunft. Der Sinn
von Moral und Recht, so wird behauptet, kann nicht beliebig verändert
werden. Er ist mit Lebensformen verbunden, die bei einer grundlegenden
76 4 Historische Vernunft und irreversible Geltung

Veränderung des menschlichen Körpers, seiner Emotionen und


seiner Vernunft verlorengehen können, nämlich der personalen und
moralischen Lebensform. Es hat auf noch nicht technische Weise einen
Versuch dazu bereits durch Ideologien und Zwangsmaßnahmen ge-
geben. Das hat zu den Erfahrungen der Entwürdigung des Menschen
geführt. Moralisch geboten – solange es noch »Moral« gibt – ist es, die
Wiederholung oder eine »Variation« auf der Basis neuer Ideologien oder
technischer Veränderungen zu verhindern.
Die erste Position hat aus der Sicht der hier vertretenen dritten Position
zwei Nachteile: Sie reicht nicht aus, konkrete Verletzungen der Würde von
Individuen zu identifizieren. Damit ist sie aber auch nicht zureichend, künftig
zur Verhinderung notwendige neue Menschenrechte zu konzipieren. Das
kann hier nicht in der nötigen Ausführlichkeit gezeigt werden, soll aber durch
die positiven Argumente für die dritte Position deutlich werden. Die zweite
Position ist nach meiner Auffassung nicht in der Lage auszuschließen, dass mit
irgendwelchen Argumenten wieder Handlungen »moralisch« gerechtfertigt
werden, die den radikalen Menschenwürdeverletzungen der Vergangenheit
vergleichbar wären. Damit ist sie aber auch außer Stande, der Technisierung
etwa der menschlichen Natur definitive normative Grenzen zu setzen.
Eine historisierte, aber nicht völlig kontextrelative Vernunft hat verschiedene
argumentative Ressourcen. Sie kann zu zeigen versuchen, dass eklatante
historische Erfahrungen, deren Konsequenzen Eingang in stabile Institutionen
und globale Konsense gefunden haben, durch allgemeine Konzepte der ver-
nünftigen, personalen und leiblich-verletzlichen Natur des Menschen (4.1) zu
stützen sind. Anthropologische Argumente werden hier in einem weiten Sinne
verstanden, der Einsichten in die Bedingungen der Bildung eines personalen
Selbstbewusstseins und kollektiver bzw. institutioneller Intentionalität um-
fasst. Trotz der evolutionären Flexibilität ist die menschliche Physis, wenn
man von ihrer kulturellen Prägung absieht, über einen langen Zeitraum relativ
konstant geblieben. Die geistigen und emotionalen Fähigkeiten und Bedürf-
nisse sind aber in einer kulturellen Entwicklung begriffen. Die historische
Lerngeschichte ist selber eine Erkenntnisbedingung der Anthropologie. Was
der Mensch ist, wissen wir – mit den Worten von Karl Marx – aus der »Ent-
faltung seiner Wesenskräfte«.
Dass diese zumindest in Bezug auf die Menschenrechte – nicht insgesamt
auf die Kulturgeschichte – eine progressiv-unumkehrbare Richtung hat, kann
zum einen dadurch gestützt werden, dass diese Rechte die spezifisch mensch-
lichen Fähigkeiten und Bedürfnisse fördern bzw. erfüllen. Sie ermöglichen
es ihm, ein moralisches Subjekt im Sinne der autonomen Selbstbindung an
Regeln zu sein: Diese sollen allen die Ausübung dieser Fähigkeit erlauben,
4.1 Anthropologische Argumente 77

sie aber auch in die Lage versetzen, gemeinsame Güter zu verwirklichen –


darunter das hier als umfassend konzipierte eines guten Zustandes der Welt.
Zum anderen kann man in Bezug auf die Erfahrungsgeschichte nachzuweisen
suchen, dass zumindest die Entdeckung der Menschenwürde und der Idee bzw.
des Kerns der sie schützenden Menschenrechte einen unumkehrbaren Lern-
fortschritt darstellt (4. 2). Die Konzeption eines nicht-vernunftnotwendigen
Fortschritts gibt aber Anlass zu grundsätzlichen Einwänden. Die Philosophie
scheint abhängig zu werden von zweifelhaften historischen Fakten. Statt Teleo-
logie zu vermeiden, scheint sie zudem ihr eigenes normatives Selbstverständ-
nis der historischen Genese als Ziel zugrunde zu legen. Dagegen kann gezeigt
werden, dass die Autonomie der Philosophie einen Teil der Menschenrechte
für alle in der Idee vorwegnimmt, von ihrer neuzeitlichen Universalisierung
und Institutionalisierung aber auch abhängt (Kap. 4.3). Die Verbindung von
Genese und Geltung stellt die Irreversibilitätsthese nicht in Frage, sondern
stützt sie (Kap. 4.4).

4.1 Anthropologische Argumente

»Menschenrechte« sollen berechtigte Ansprüche schützen, die allen Men-


schen gemeinsam sind. Für eine »immanente« Philosophie kann sich das
nur auf Bedürfnisse und Fähigkeiten der menschlichen Natur oder einen
historischen Konsens darüber beziehen, was keinem Menschen genommen
werden darf. Sie schließen die Ansprüche anderer Lebewesen nicht aus,
sondern sollen den »artgerechten Umgang« auf dieser Stufe des Lebendigen
kennzeichnen.
Um zu zeigen, dass dieser Anspruch gerechtfertigt ist und Geltung für die
Zukunft besitzt, kann man entweder eine allgemeine Anthropologie ent-
wickeln, die, nach dem hier bisher Ausgeführten, historische Erfahrungen
berücksichtigen muss. Oder man kann von den Gruppen bzw. Generationen
der Menschenrechte zeigen, dass sie dem »Wesen« des Menschen und seiner
historischen Entwicklung gerecht werden. Das Erstere ist zu anspruchsvoll
für ein Kapitel, das Letztere erweckt leicht den Eindruck des Zirkulären: Man
bestimmt das Wesen des Menschen von seinen Rechten her, um diese als
wesensgerecht darzustellen. Wenn allerdings in der Erfahrungsgeschichte mit
Normen erst klar wurde, was dem Menschen zusteht bzw. nicht genommen
werden darf, dann ist ein solcher Zirkel nicht ganz vermeidbar.
Ich werde im Folgenden zunächst kurz umreißen, was dem menschlichen
»Tier« spezifisch ist, so dass es überhaupt subjektive Rechte haben und bei
allen anderen bewusst respektieren kann. Dabei kann man durchaus auf das
78 4 Historische Vernunft und irreversible Geltung

klassische Artmerkmal der »Vernunft« zurückgehen, wenn man sie – in der


in Kapitel 2 erläuterten Weise – »holistisch« statt dualistisch und »historisch
belehrt« statt »rein« versteht (1). Besonderes Augenmerk ist dabei der spezi-
fischen Form menschlicher Sozialität und Individualität zu widmen (2).
Dann lässt sich etwas genauer spezifizieren, welchen Gattungseigenschaften
welche Generationen von Menschenrechten entsprechen (3). Bei den
anthropologischen Thesen werde ich dabei nicht definitorisch, sondern eher
aufzählend-narrativ verfahren. Damit soll Verkürzung vermieden werden,
ohne dass Vollständigkeit beansprucht wird.
1) Die elementaren Rechte des Menschen haben es mit Fähigkeiten und Be-
dürfnissen der Leiblichkeit und Vernünftigkeit des Menschen zu tun – wobei
beides zwar nach Aspekten unterschieden, aber nicht nach Substanzen ge-
trennt werden darf. Diese Fähigkeiten müssen in Kommunikation und Inter-
aktion entwickelt und bewusst gemacht werden, sind aber nicht hergestellt
oder »verliehen«. Zur Vernunft gehört die Fähigkeit, das Gemeinsame an unter-
schiedlichen Phänomenen, Gegenständen und Menschen unter einheitlichen
Namen, Begriffen und unterschiedlichen Arten von Definitionen zu erfassen.
Das erlaubt, auch für das Verhalten verschiedener Menschen allgemeine
Regeln festzulegen und sich darauf unter den wechselseitig als »Normautori-
täten« Anerkannten zu einigen. Das Verstehen fremder Absichten,160 das Nach-
ahmen und »sich Einspielen« von regelmäßiger Kooperation etc. geht dabei
expliziten Vereinbarungen voraus. Für moralische Normen ist die Fähigkeit
zu einem unparteilich-wohlwollenden Beobachterstandpunkt entscheidend,
auch wenn der letztere ohne historische Erfahrungen allein nicht ausreichend
»konkret« ist. Der Weg dahin, natürliche und soziale Unterschiede als ir-
relevant für grundlegende Ansprüche und Normen zu betrachten und jedes
Wesen mit den biologischen Eigenschaften der Gattung als gleichberechtigte
Normautorität anzuerkennen, ist allerdings historisch sehr lang gewesen. Die
Inklusion umfasst aus Gründen normativer Erfahrung, nicht aus einem bio-
logischen Speziesismus, erst in jüngerer Zeit alle Menschen, auch solche, die
möglicherweise lebenslang zu rationaler Selbstbestimmung nach Regeln nicht
fähig sind.
Zur Erkenntnis und zur Verpflichtung auf allgemeine, sprachlich formulier-
bare Regeln sind selbst höhere Tiere, soweit wir wissen, nicht in der Lage. Sie
können auch keine Versprechen abgeben und sich auf ihre Einhaltung festlegen
lassen. Insofern können sie einander auch nicht vorwerfen, sich an Regeln und
Versprechen nicht gehalten zu haben. Das ist aber Voraussetzung dafür, Rechte
geltend zu machen und ihre Respektierung voneinander zu verlangen. Es

160 Tomasello (2016), Naturgeschichte der menschlichen Moral.


4.1 Anthropologische Argumente 79

impliziert bei Menschen, diese Rechte für alle gleich Berechtigten zu fordern
und sich der Abweichung eigener Handlungen von dieser Forderung bewusst
werden zu können. Das hat eine Verpflichtung zur Folge, sich gegen die Ver-
letzung von Grundrechten anderer einzusetzen.161
Die spezifisch menschliche Vernunft ist die eines verkörperten »Ich«, das
Interesse am eigenen und fremden Handeln und seinen Konsequenzen für leib-
liche und emotionale Zustände und Gefühle nimmt. Das umfasst nicht nur das
Interesse an körperlichem »Gleichgewicht« und Wohlbefinden, sondern auch
an Unterstützung, Zuwendung und Bestätigung. Davon hängen Zugehörigkeit,
Sicherheit und »Geborgenheit« in der kleineren und größeren Gruppe ab. Mit
zunehmender Arbeitsteilung und »innerartlicher Spezialisierung« wird auch
die Sicherheit über die Erfüllung eigener Pflichten und die Zufriedenheit mit
der Ausübung eigener Kompetenzen von der emotionalen und kognitiven
Bestätigung abhängig. Je mehr die individuelle Selbstachtung steigt, desto
empfindlicher wird die Missachtung und komplette Instrumentalisierung
durch andere wahrgenommen. Das Bewusstsein der Gleichheit vor einem
Schöpfer und später vor der menschlichen Gesetzgebung und Gerichtsbarkeit
führt zur Verbindung von Selbstachtung und dem Bewusstsein eigener Würde
und Rechte. Die Vulnerabilität der Menschen gegenüber der Natur mag mit
dem technischen Fortschritt abnehmen, gegenüber den Mitmenschen nimmt
sie zu.162 Der Widerstand gegen fremden Zwang könnte, wie das Sich-wehren
und die Eigenwilligkeit des Kleinkindes zeigen könnte, eine natürliche Basis
haben. Als Recht aller Menschen wird die Freiheit von nötigender Willkür
aber erst durch die Emanzipation von persönlicher Herrschaft und sakralen
Hierarchien bewusst.
Die Basis allgemeiner, gleicher und individuell einzufordernder Rechte ist
also eine spezifisch menschliche Vernunft. Inwieweit sie bei fortschreitender
Erkenntnis der Fähigkeiten von Tieren oder deren Einbezug in menschliche
Lebensformen ausgedehnt werden könnten, wird uns später noch beschäftigen
(u. 5.3).
2) Aus der sprachlich verfassten menschlichen Vernunft und vom wechsel-
seitigen Verstehen von Absichten her, ergeben sich besondere Weisen der
Vergesellschaftung und Individualisierung. Beides bedingt sich wechselseitig,
wie es oben schon als Gegenstand der Theorie der Anerkennung thematisiert
wurde (3.5). Menschen sind keine selbständigen Atome, die sich aus Interesse

161 Das versucht auch schon Locke naturrechtlich zu begründen als Verpflichtung, für das
Recht auf Selbsterhaltung jedes Mitglieds der Gattung einzutreten (Zweite Abhandlung
über die Regierung, § 6). Vgl. Siep (2018b), John Locke, S. 221-224.
162 Vgl. Hunt (2007), Inventing Human Rights.
80 4 Historische Vernunft und irreversible Geltung

in Verträgen mit anderen zusammenschließen. Menschliches Denken, Wollen,


Fühlen etc. ist von sozialen Interaktionen abhängig, die ihrerseits geprägt
sind von Institutionen, formellen und informellen Regeln mit impliziten
kollektiven Überzeugungen und Wertungen. Sogar um sich kritisch dagegen zu
wenden oder sich ins innere Refugium des Selbstgesprächs, des privaten Ge-
dächtnisses und des Gewissens zurückzuziehen, braucht das Individuum eine
gemeinsame Sprache und geteilte Vorstellungen. Das heißt nicht, dass ihm das
Vermögen der Selbstreflexion von außen nur verliehen wäre, sein privilegierter
Zugang zu seinen Überzeugungen und Entscheidungen kann ihm nicht ent-
zogen werden. Aber ohne soziale Bedingungen kann er nicht realisiert werden
und ein »Raum der Innerlichkeit« ist wohl auch historisch entdeckt worden.
Individualgeschichtlich gesehen sind Menschen vor und nach ihrer Ge-
burt von anderen Individuen und von Gruppen abhängig. Selbständigkeit
wird immer nur in der Gruppe und abhängig von deren Vorleistungen er-
worben, die ihrerseits Erwartungen von Gegenleistungen – »non-contractual
committments« – implizieren. Gruppen benötigen umgekehrt, vor allem
in kulturell und technisch entwickelten Kulturen, Spezialisierungen und
Individualisierungen, Kompetenz und Verantwortung. Die Vermittlung dieser
Kompetenzen kann durch Nachahmung, effektiver aber durch Anleitung und
»Belehrung« erfolgen. Individualisierung und die Bildung von Gruppen mit
gemeinsamen Intentionen und autorisierten Institutionen ist ein Wechsel-
verhältnis, wie moderne Theorien kollektiver Intentionalität und Handlungs-
fähigkeit gezeigt haben.163
3) Im Blick auf die verschiedenen Gruppen oder Generationen der Grund-
und Menschenrechte müssen besondere Fähigkeiten und Bedürfnisse der
Menschen akzentuiert werden. Ich deute das an in Beziehung auf Abwehr-
rechte (a), Mitwirkungsrechte (b), Sozialrechte (c), kulturelle (d) und öko-
logische Rechte (e). Dabei blende ich hier deren »erfahrungsgeschichtliche«
Entstehung weitgehend aus.
(a) Die Fähigkeit zur individuellen Selbstbestimmung, nicht nur zur Ver-
folgung eigener Interessen und Lebenspläne, sondern auch zur Bindung an
gemeinsame Regeln, ist sicher spezifisch menschlich und bedarf besonderer
Freiräume. Dabei kann die Bindung auch an Regeln, Gesetze oder Ideen
erfolgen, die in der Gruppe nicht anerkannt sind. Das ist die Besonderheit
des menschlichen Gewissens, dem eine intensive Bindungskraft eignet. Es
wird seit Sokrates theoretisch verteidigt, ein Rechtsanspruch ist aber nur in
Gruppen möglich, die Abweichungen gegen Zwang schützen. Auch »eigene«

163 Pettit (1993), The Common Mind; Jansen (2017), Gruppen und Institutionen.
4.1 Anthropologische Argumente 81

Ideen setzen aber Kommunikation und Überlieferung voraus – im digitalen


Zeitalter sogar weltweit. Je stärker die Macht der Gruppe wird – wie erörtert,
nicht zuletzt zur Sicherung der Menschenrechte selber – desto dringlicher
und schwieriger wird der Schutz der Überzeugungs- und Selbstbindungsfrei-
heit für kleine Gruppen und Individuen. Dazu müssen sich die übermächtigen
Gruppen selbst binden und diese Bindung mit den eigenen Mitteln durch-
setzen. Dazu dient die durch Verfassung und Grundrechte limitierte Herrschaft.
(b) Vernünftige Sprache gibt es nicht ohne öffentliche Rede über die ge-
meinsamen Ziele und Regeln. Das ist schon die Pointe von Aristoteles beiden
Definitionen des Menschen als sprachlichen (logon echon) und politischen
Lebewesens (politikon): Das Letztere entscheidet in öffentlicher Debatte über
das für alle Nützliche und Schädliche, Gerechte und Ungerechte.164 Ein Wesen,
das zu Selbstbindung an Regeln und zu deren öffentlicher und gemeinsamer
Festlegung in der Lage ist, kann im doppelten Sinne autonom sein: sich selbst
als Individuum und als Mitglied der gemeinsamen Normautorität (Kant: »zu-
gleich mit anderen« AA VI, 223) Gesetze geben und ihnen gehorchen. Dazu
bedarf es auf verschiedenen Ebenen der Freiheit, sich zu Gruppen mit ge-
meinsamen Regeln (Verfahrensregeln, Statuten etc.) zu vereinigen. Es gehört
dazu aber auch ein gemeinsamer Lernprozess, in dem nicht nur individuelle
Irrtümer, sondern auch gemeinsame korrigiert werden können. Wenn es Wege
gibt, Gesetze zu verändern, kann man auch ohne Überzeugungsopfer Gesetzen
gehorchen, die man für falsch hält.
(c) Menschen sind nicht nur intellektuell fehleranfällig, sie sind auch kör-
perlich und emotional »gebrechlich«.165 Sich allein am Leben erhalten – auch
das eine zentrale These des Aristoteles –, können nur (bestimmte) Tiere oder
Götter. Die kulturelle und ökonomische Entwicklung hat zu einer Steigerung
der Abhängigkeit von Großgruppen geführt, erst recht nach der Einführung
eines »Arbeitsmarktes«. Zugleich sind die Möglichkeiten, der individuellen
Schwäche durch gemeinsame Anstrengungen abzuhelfen, unter Zuhilfe-
nahme immer komplizierterer Technik, gestiegen. Großgruppen können
aber eher die körperlichen als die emotionalen Bedürfnisse der Menschen
erfüllen, die »menschliche Nähe« benötigen. Wenn sie in dieser Hinsicht die
kleineren Gruppen – Familie, Freunde, Kommune – nicht subsidiär schützen
und stärken, sondern starke Emotionen auf sich selber lenken (Nationalismus)
riskieren sie den Schutz der Abwehrrechte.

164 Aristoteles, Pol 1253 a 8-15 (2007, S. 13).


165 Thomas Gutmann weist darauf hin, dass schon Pufendorf »sein System des Naturrechts auf
die Dependenz, Vulnerabilität und Bedürftigkeit (imbecillitas) des sozialen Lebewesens
Mensch« zurückgeführt habe (Gutmann (2017), Natur und Selbstbestimmung, S. 100).
82 4 Historische Vernunft und irreversible Geltung

Am Beispiel der sozialen Rechte lässt sich zeigen, dass hier kein rein
»physiologischer« oder essentialistischer Bedürfnisbegriff zugrunde gelegt
wird: Körperliche Basis, eigene »Deutung«, allgemeine Ideen und historische
Kämpfe um Rechte spielen zusammen. Dass frühindustrielle Ausbeutung
die Arbeitenden physisch und – wie vor allem ihre bürgerlichen Advokaten
betonen – »moralisch« (Alkoholismus, Prostitution) ruinierte, ist empirisch
nicht zu bestreiten. Es bedurfte aber des »Angebots« sozialer Ideen (Früh-
sozialismus, christliche Soziallehre etc.) und ihrer Propagierung durch
politische Gruppen um zum Bewusstsein verletzter Rechte zu kommen. Be-
vor aus paternalistischen Sozialgesetzen subjektive Rechte auf staatliche
Leistungen wurden, war ein weiterer Erfahrungsprozess bezüglich berechtigter
oder missachteter »Bedürfnisse« notwendig.
(d) Sowohl reichere Optionen der Selbstbestimmung wie die Fähigkeiten
öffentlicher Diskussion und gemeinsamer Gesetzgebung erfordern Bildungs-
prozesse und -einrichtungen. Menschen können ihre Fähigkeiten nicht zu
Kompetenzen entwickeln und deren Ausübung nicht genießen, wenn sie
dazu nicht interaktiv und gemeinsam angeleitet werden. Ihre Gleichheit
auch vor dem Recht hängt von einer einigermaßen gleichen Kompetenz ab.
Die gemeinsame Ausübung intellektueller, »musischer« und körperlicher
Kompetenzen ist auf Wiederholung und Überlieferung angewiesen. Sie
macht die Fortbildung von Traditionen nicht nur in der Produktion lebens-
notwendiger, sondern auch »freier« Güter notwendig. Ohne deren Genuss gibt
es kein über die elementare Selbsterhaltung hinausgehendes gutes Leben (vgl.
u. Kap. 6).
e) Bedürfniserfüllung des Menschen ist nur in einer Natur möglich, aus
der er seine Nahrung und seinen Schutz (Kleidung, Wohnung etc.) bezieht,
vor deren zerstörerischen Kräften er sich aber auch selber schützen muss.
Über den Wandel von der Anpassung an natürliche Gegebenheiten über die
»Unterwerfung« natürlicher Kräfte bis zur Substitution durch kontrollier-
bare technische Produkte war schon die Rede. Die gegenwärtige Phase der
»anthropologischen« Angewiesenheit des Menschen auf die Natur ist die eines
notwendigen Schutzes der Natur vor Zerstörung durch den Menschen – mit
möglichen selbstzerstörerischen Folgen. Diese Aufgabe ist, wie wir gese-
hen haben (o. 3.3), nur unzureichend durch Garantie und Ausübung von
Individualrechten zu erfüllen. Es geht aber nicht nur um gemeinsame Güter,
die individuelle und gemeinsame Tätigkeiten voraussetzen. Gemeinsame Be-
dürfnisse und Fähigkeiten manifestieren sich auch in gemeinsamen Werter-
fahrungen der natürlichen Mannigfaltigkeit, der Selbstregulierung und
-regeneration natürlicher Prozesse, der globalen wechselseitigen Abhängig-
keit und der Verletzlichkeit von Fließgleichgewichten. Insofern stützen sie
4.2 Gerichtete Prozesse 83

auch die in den ersten Kapiteln dargelegte Konzeption einer erstrebens- und
erhaltenswerten guten Welt, zu der Menschenrechte als ein nicht aufzu-
gebender Bestandteil gehören.

4.2 Gerichtete Prozesse

Wenn die in der jüngeren Geschichte kodifizierten Menschenrechte dem


»Wesen« des Menschen entsprechen, dann muss die Rechts- und Moral-
geschichte zumindest auf diesem Feld einen Fortschritt erreicht haben. Dabei
können allerdings die Erfahrungen, die zu den Kodifizierungen geführt haben,
auch durch Rückfälle ausgelöst sein. Das gilt sicher für die Menschenrechts-
verletzungen und Entwürdigungen in den Genoziden des 20. Jahrhunderts, die
man trotz ihrer Verbindung mit ökonomischen, technischen oder ästhetischen
Modernisierungen gerne als »Re-Barbarisierung« bezeichnet. Es gilt aber
auch für die radikale Instrumentalisierung der Natur. Von einer »Krise des
europäischen Selbstbewusstseins« sprechen auch Rechtswissenschaftler.166
Man kann sogar die Menschenrechte selber als Grund für Rückfälle ansehen,
insofern der »egalitäre Anspruch auf allgemeine Geltung und Einbeziehung
auch dazu gedient [hat], die faktische Ungleichbehandlung der stillschweigend
Ausgeschlossenen zu verschleiern«.167 Die Idee und die Ansätze einer »Kultur«
der Menschenrechte stellen aber, wenn sie den spezifischen Bedürfnissen und
Fähigkeiten des Menschen entsprechen, einen Fortschritt gegenüber früheren
Normvorstellungen dar.
Wenn die Normen- und Institutionengeschichte zu einem Resultat führt,
das als unumkehrbar gültig verteidigt werden soll, dann muss sie eine
Richtung und einen Verlauf haben, die beide unumkehrbar sind. Gibt es dafür
gute Argumente? Im Folgenden soll kurz auf einige Theorien bzw. Theorien-
familien hingewiesen werden, die zu solchen Konsequenzen kommen (1). Sie
machen eine Linearität der Entwicklung plausibel, müssen aber im Blick auf
die Irreversibilität eines Kerns aller Generationen der Menschenrechte ver-
stärkt werden (2).
1 a) Verschiedene Autoren, darunter Lawrence Kohlberg und Jürgen
Habermas, haben eine Entsprechung zwischen der Theorie der kindlichen
Entwicklung über unumkehrbare »Lernniveaus« und der historischen

166 Hofmann (1998), Menschenwürde, S. 358.


167 Habermas (1999), Der interkulturelle Diskurs über Menschenrechte, S. 218. Für Habermas
löst diese ideologische Funktion aber eigene »Emanzipationsschübe« aus (217).
84 4 Historische Vernunft und irreversible Geltung

Entwicklung der Moral behauptet.168 Solche Lernniveaus sind für die kognitive
Entwicklung gut belegt, für die moralische bei Dissens über die einzelnen
Stufen insgesamt wohl auch akzeptiert. Der Weg von der autoritätsorientierten
über die gruppenorientierte bis zur grundsatzorientierten Moral ist allerdings
faktisch nicht unumkehrbar. Auf der am weitesten fortgeschrittenen Stufe uni-
versaler Moralgrundsätze spielen zumindest motivational die beiden anderen
Orientierungen mit. Das gilt erst recht für die Kultur – wenn sich denn eine
Entsprechung zur individuellen Entwicklung überhaupt nachweisen ließe.
Das ist aber schon aus methodischen Gründen schwierig, weil Kinder in der
gegenwärtigen Kulturstufe ja in deren Grundsätze sozialisiert und nach ihnen
erzogen werden – sie müssen sie folglich als höchste betrachten. Es ist aber
auch empirisch schwer nachzuweisen.169
Gleichwohl ist für einige Prozesse, die zur Menschenrechtskultur geführt
haben, die Annahme solch unumkehrbarer Stufen plausibel: Die Ausweitung
des moralischen Standpunktes des unparteilich-wohlwollenden Beobachters
von der beobachteten »Binnengruppe« auf die Gattung und darüber hinaus
auf bedürftige Lebewesen ist offenbar von einer eigenen unumkehrbaren
Logik. Das betrifft dann auch die Inklusion von Rechtsträgern.
1 b) Ähnlich unumkehrbar sind nach Auffassung vor allem sozialwissen-
schaftlicher Autoren auch soziale und ökonomische Rationalisierungs- und
Modernisierungsprozesse. Das moderne Recht insgesamt sowie die Menschen-
rechte insbesondere können als funktional für die Systeme der Ökonomie, der
Verwaltung, des Handels etc. verstanden werden. Niklas Luhmann hat auch
die Grundrechte der deutschen Verfassung als funktional, aber auch als Er-
öffnung besonderer Optionen individueller Selbstdarstellung in modernen
sozialen Systemen analysiert.170 In der Tradition von Max Weber wären
zwar umgekehrt individuelle Rechte in protestantischen Konfessionen Be-
dingungen der Entwicklung des modernen Kapitalismus. Aber mit seiner Ver-
breitung setzen sie sich weltweit durch und erhalten erst ihren universalen
Geltungsanspruch. Das moderne Recht scheint in der Tat die universale Norm-
sprache sowohl über die Systeme der ausdifferenzierten Gesellschaft hinweg
wie zwischen den staatlich verfassten Gesellschaften zu sein.
Inzwischen sind aber Modernisierungstheorien nicht mehr gänzlich un-
bestritten. Zum einen kann es unterschiedliche Formen von Modernisierung

168 Kohlberg (1996), Psychologie der Moralentwicklung; Habermas (1976), Rekonstruktion


des Historischen Materialismus.
169 Vgl. van den Daele u. Nunner-Winkler (2018), Aufbau moralischer Kompetenz. Vgl. zum
methodischen Problem auch Siep (2013d), Ethik und Anthropologie, S. 105.
170 Vgl. Luhmann (1999), Grundrechte als Institution.
4.2 Gerichtete Prozesse 85

geben – die sog. multiple modernities171 – zum anderen ist deren menschen-
rechtsförderliche Richtung nicht mehr unbezweifelbar. Säkularisierung als
ein Modernisierungsmerkmal kann der aktiven Religionsfreiheit auch ab-
träglich sein. Ökonomische Modernisierung, auch in kapitalistischer Form,
scheint ohne Menschenrechtskultur möglich – wie das Beispiel China neuer-
dings nahelegt. Auch wenn es keine Umkehr in traditionales Recht oder
ständische Rechtsprechung mehr geben mag, sind vor allem die individuellen
Abwehrechte nicht notwendig mit sozialen Modernisierungsprozessen ver-
bunden. Zudem drohen Modernisierungstheorien das Spezifische normativer
Gebote und normativer Erfahrungen auf funktionale Anpassungsleistungen
zu reduzieren.
1 c) Es gibt systemtheoretische Analysen des modernen Rechts, bei denen
die Eigenständigkeit normativer Erfahrungen erhalten bleibt. Thomas Gut-
mann schreibt der Ablösung der Konzeption und Institution natürlicher
Zwecke und Pflichten durch eine der subjektiven Rechte eine unumkehrbare
Richtung zu. Sie folgt einer Logik der Inklusion bzw. Nicht-Diskriminierung.
Vor allem die Weiterentwicklung des Systems der subjektiven Rechte folge
einer einsinnigen Binnenlogik.172 Grundrechtliche Systeme auf dieser Basis
befähigen die Rechtsträger zu neuen Unrechtserfahrungen, sie generieren erst
den Akteur solcher Erfahrungen. Insofern können Rechte und Erfahrungen
auch in einem Wechselverhältnis stehen.173 Der Prozess führt zu einer weiteren
Differenzierung der Rechte und kontinuierlicher Zunahme an Inklusion. Gut-
mann selber bezweifelt aber, ob diese Analyse ausreichend ist, die Entwicklung
der spezifischen Gruppen der Menschenrechte (z.B. der Sozialrechte) zu er-
klären und eine absolute Grenze dessen zu rechtfertigen, was man Individuen
und schwächeren Gruppen antuen darf.174
1 d) Man kann eine Rechtskultur wie die der Menschenrechte auch
pragmatistisch als Ergebnis von Problemlösungs- und Lernprozessen ver-
stehen. Mit der Sicherung individueller Handlungskompetenz und Ver-
antwortlichkeit und mit der Befähigung zu konsensueller gemeinschaftlicher
Aktion steigt offenbar die Fähigkeit von kleinen und großen Gruppen,
komplexe Probleme auf der Ebene materieller Notwendigkeiten und der von
Spannungen in (kollektiven) normativen Selbstbildern zu lösen. Der Fort-
schritt der Problemlösungsfähigkeit, und damit der Stabilität über Krisen

171 Vgl. Sachsenmeier/ Reidel/ Eisenstadt (Hg.) (2002), Reflections on Multiple Modernities.
172 Gutmann (2018a), Claiming Respect S. 292.
173 »Der Weg von der kollektiven historischen Erfahrung zur Normenbegründung [ist] keine
Einbahnstraße«. (Gutmann (2018a), Claiming Respect S. 276).
174 Gutmann (2018a), Claiming Respect, S. 303 ff.
86 4 Historische Vernunft und irreversible Geltung

hinweg, hinge dann von der Stärkung von individueller Verantwortung einer-
seits und zwangfreier Integration in handlungsfähige Kollektive andererseits
ab. Da in hochtechnisierten und global vernetzten Gesellschaften komplexe
Probleme zunehmen müssen, gilt das auch für die Menschenrechte als
problemlösungssteigernd.175
Es scheint mir aber nicht sicher, dass zukünftige Probleme nicht auch wieder
durch eine Zunahme an Disziplinierung lösbar erscheinen sollten. Vor allem
bei zunehmender Knappheit natürlicher Ressourcen und der »Verführung«
humantechnischer Lösungen scheint mir nicht garantiert, dass Menschen-
rechte nicht eher als Hindernis betrachtet würden. Die Beibehaltung dieser
Normen ist keine Konsequenz von Problemlösungskapazität.
1 e) Auch das Konzept der Sakralisierung der Person kann man als eine
Theorie des unumkehrbaren Fortschritts zu Menschenwürde und Menschen-
rechten verstehen.176 Unumkehrbar ist auch hier normativ und nicht faktisch
zu verstehen. Denn die dagegen gerichtete Sakralisierung von Kollektiven,
in der jüngeren Geschichte vor allem von Staaten, kann wieder die Ober-
hand gewinnen. Die erste Ent-Sakralisierung des Staates, nach Hans Joas
in der Achsenzeit des ersten vorchristlichen Jahrtausends, war aber ein
revolutionärer Schub, der nach einer langen Latenzphase in der neueren
Menschenrechtsphase sozusagen reaktiviert wurde. Was der zweite Schub vor
allem hinzusetzen musste, waren die Abwehrrechte der Personen und ihr An-
spruch, über Wahrheit und Zugehörigkeit selbst zu entscheiden. Normativ ist
das für Joas sicher ein irreversibler Fortschritt. Die Unvermeidlichkeit dieser
Abfolge liegt für ihn vermutlich in der Wahrheit des Bezugs auf das Heilige.
Diese These ist aber nicht frei von metaphysischen oder religiösen Prämissen,
die für die Akzeptanz der Menschenrechte nicht vorausgesetzt werden können.
Ohne diese hängt die Bewertung des Fortschritts dann allein von der positiven
Bewertung der Menschenrechte selber ab und ist daher für diese kein zusätz-
liches Argument.

175 Eine differenzierte Konzeption dieser Art vertritt Rahel Jaeggi (2014), Kritik von Lebens-
formen; sowie dies. (2018), Widerstand gegen die immerwährende Gefahr des Rückfalls.
Ich teile ihren Rückgriff auf Hegels Konzeption der Erfahrungsgeschichte. Ohne deren
logische Teleologie bedarf aber die Irreversibilität von Normen einer stärkeren Be-
gründung als die von unabgeschlossenen Problemlösungsgeschichten.
176 Vgl. Joas (2011), Die Sakralität der Person. Zu den Defiziten aus meiner Sicht vgl. Siep
(2019b), Sakralisierung und Genealogie. Für Jan Assmann (2018, Achsenzeit) sind Äqui-
valente »moderner« Rechte schon in alten Kulturen wie der ägyptischen anzutreffen (vor
allem S. 290-293). Zur Universalität vgl. Georg Mohr (2008), Sind die Menschenrechte auf
ein bestimmtes Menschenbild festgelegt?
4.2 Gerichtete Prozesse 87

Alle diese Theorien irreversibler Entwicklungen zu den Menschenrechten


sind plausibel, reichen aber nicht aus, eine unumkehrbare Fortschritts-
geschichte zu beweisen. Vor allem dem Verhältnis von linearer Logik und
revolutionären Kämpfen und Umbrüchen scheint mir eher eine an Hegels
»Erfahrungsgeschichte des Bewusstseins« anknüpfende Betrachtung der
Unumkehrbarkeit gerecht zu werden. Sie ist in der Lage, die normativen
Konsequenzen aus Krisen- und Verlusterfahrungen, sowohl durch begriffliche
Widersprüche in »normativen Selbstbildern« – nach Hegel etwa zwischen
christlicher Personalität und Sklaverei – wie durch kollektive emotionale
»Schocks« und durch soziale Kämpfe in eine konsequente Entwicklung
zu integrieren.177 Analog zu Hegel spielen auch Verabsolutierungen ein-
seitiger Prinzipien, darunter etwa das Eigentumsrecht, oder von Extremen
ohne Vermittlungsinstanzen – wie Individuum und Nation – eine Rolle für
die Krisen.178 Allerdings muss auf Hegels zentrale Fortschrittsgarantien ver-
zichtet werden: die Vernunftteleologie und die Logifizierung von Krisen als
»Widersprüche«.
Die hier vorgeschlagene Erfahrungsgeschichte begrenzt ihre Fortschritts-
these auf diejenigen Entwicklungen in Recht und Moral, die zu den Menschen-
rechten und ihren institutionellen Bedingungen geführt haben. Hegels Theorie
des zunehmenden und unumkehrbaren Selbstbegreifens des Geistes in der
Geschichte schwächt sie ab auf Analogien zwischen dem individuellen und
dem »kulturellen Gedächtnis«179: Reflexion, Inklusion und Befreiung sind
Prozesse, die nachträglich nur mit Gewalt und Verdrängung rückgängig zu
machen sind – jedenfalls solange die Kontinuität des kulturellen Gedächt-
nisses und die Suche nach historischer Wahrheit anhalten. Formen der Ge-
dächtnistilgung (damnatio memoriae) sind lange erfolgreich gewesen und
Tabus waren stabil. Auslöschung des gemeinsamen Gedächtnisses wird auch
aufgrund technischer Entwicklung der Kommunikation und Speicherung
immer schwieriger. Und wenn Tabus einmal als das erkannt sind, was sie sind,
nämlich begründungsverweigernde, mit physischer oder psychischer Gewalt
durchgesetzte Wertungen, dann gibt es kein argumentatives »Zurück«.
2) Moral und Recht sind anders als gesellschaftliche Konventionen oder
»Moden« Lebensformen mit einer internen Notwendigkeit der Verknüpfung
zwischen Handlungsweisen, Normen und Institutionen.180 Sie können eine

177 Zur Bedeutung sozialer und rechtspolitischer Kämpfe für eine irreversible Lerngeschichte
vgl. Pollmann (2018), Lernen aus historischer Erfahrung, S. 62, 65.
178 Vgl. Siep (2018), Arten normativer Erfahrung, S. 253.
179 Vgl. Assmann J. (2007), Das kulturelle Gedächtnis.
180 Zum Recht (»Law«) in diesem Sinne als über die Jahrhunderte konsequente Entwicklung
von Normen und Institutionen vgl. Berman (1983), Introduction.
88 4 Historische Vernunft und irreversible Geltung

kontinuierlich oder revolutionär wechselnde Folge von Werten und Ordnungs-


vorstellungen zum Ausdruck bringen – das Recht, jedenfalls das öffentlich
normierte, ist dabei flexibler als die Moral. Aber auch in dieser gibt es den
Auf- und Untergang von Werten und Tugenden. Gleichwohl haben beide
Ordnungen einen »Sinnhorizont«, der zunehmend bewusst werden, aber auch
überschritten werden kann. Dazu gehört im Recht etwa die Erfindung von Ver-
fahren, die etwas sozusagen Handwerkliches haben: an denke an »audiatur
et altera pars«, »nulla poena sine lege«, »ne bis in idem« »in dubio pro reo«
etc. – vor allem das römische Recht ist reich daran. Eine Umkehrung dieser
Formen passt zu keinem vernünftigen Rechtsbegriff mehr. Sie sind aber nicht
nur »handwerklich gelungen« im Sinne der Beilegung von Konflikten, sondern
schärfen und differenzieren auch den Sinn von Recht und Gerechtigkeit. Ihre
innere Kohärenz und ihren Beitrag zu diesem Sinn haben sie in einer Ordnung
von Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit gefunden, die in den Grund-
zügen unaufgebbar ist.
Analog dazu kann man die Grundzüge der Entwicklung der Moral vielleicht
in etwa so skizzieren: Bevor der Standpunkt des wohlwollend unparteiischen
Beobachters bei der Bewältigung von Verteilungs- und Konfliktlösungs-
problemen nicht entdeckt wurde, gab es so etwas wie Moral nicht. Ob diese
Entdeckung notwendig in der menschlichen Vernunft lag, wissen wir nicht
ohne essentialistische oder teleologische Annahmen. In der »Logik« dieser
Unparteilichkeit lag die schon öfter erwähnte Ausweitung des Skopus der Be-
troffenen ebenso wie deren grundsätzliche Gleichheit unabhängig von natür-
lichen Unterschieden, körperlicher, musischer und intellektueller Stärken
oder Schwächen, höherer oder niederer Abkunft. Natürlich war das keine
einfache logische Ausfaltung im Sinne der Explikation impliziter Prämissen.
Revolutionen und Kämpfe, Wertewandel und zufällige Ereignisse gehörten
dazu, aber auch die Entwicklung allgemein zugänglicher »Welterklärung«.
Die Annäherung an den Sinn von Moral ist aber im Lichte dieser Entwicklung
unumkehrbar: Wenn Vorrechte von Rassen oder von transhumanistisch Ver-
besserten (wieder)eingeführt würden, gäbe es keine moralische Unparteilich-
keit mehr.
Im historischen Rückblick und der – sicher sehr unsicheren, aber heute
für jede Sozial- und Technikwissenschaft eingeübten – Antizipation der Zu-
kunft, kann man eine teilweise konsequente Entwicklung und ein mögliches
Ende dieser sozialen Praxen übersehen. Mit der These der Entstehung, An-
reicherung und Explikation des Sinnes und des möglichen Endes wird eine
schwache Teleologie und Geschichtsphilosophie fortgeführt, die von einer
notwendigen Entfaltung und vollständigen Verwirklichung des »Wesens« von
Moral und Recht weit entfernt sind. Vor dem Hintergrund solcher gerichteten
4.3 Zwei Einwände 89

Prozesse bedeutet »Irreversibel«, dass Grenzen der Moral und des Rechts
nicht rückgängig gemacht oder überschritten werden können, wenn noch
sinnvoll von diesen Norm- und Handlungsbereichen gesprochen werden soll –
statt von Willkürherrschaft usw. Die Idee der Menschenrechte enthält nicht
nur Normen, die der menschlichen »Natur« im Sinne seiner artspezifischen
Möglichkeiten entsprechen – und daher wesentliches Element einer an-
zustrebenden »guten« Welt sind – sondern ist auch Resultat eines unumkehr-
baren Lern- bzw. »Findungs«prozesses. So weit reicht eine historisierte
Vernunft mit einer normativ sicheren »Veränderungssperre«.

4.3 Zwei Einwände

Anthropologische Theorien, unumkehrbare historische Prozesse und kollek-


tive Grenzerfahrungen bilden die Basis für die These der Irreversibilität der
Rechte und Pflichten, die mit der Menschenwürde verbunden sind. Dagegen
lassen sich zwei grundsätzliche Einwände formulieren: Zum einen scheint die
Argumentation auf einer unbefragten Voraussetzung zu beruhen, nämlich der
Tatsachenwahrheit der entsprechenden historischen Ereignisse (z.B. Geno-
zide oder politische Befreiungskämpfe). Von dieser ist die Argumentation
abhängig, ohne dass sie deren Wahrheit selber garantieren kann. Historische
Erfahrungswissenschaften erheben selber in der Regel aber keinen irrever-
siblen Gültigkeitsanspruch (1).
Zum anderen scheint die Philosophie die Gültigkeit der Rechte, die sie be-
gründen oder rechtfertigen will, selber vorauszusetzen. Sie nimmt bestimmte
Menschenrechte wie Weltanschauungsfreiheit, Freiheit der Meinungs-
äußerung und der Wissenschaft, selber in Anspruch. Dann sind ihrem
»methodischen Zweifel« offenbar Grenzen gesetzt und sie kann das Beweis-
ziel nicht erreichen (2).
Ad 1) Was wäre, wenn Massenmorde und -vergewaltigungen an europäischen
Juden, armenischen Christen, afrikanischen Stämmen oder kambodscha-
nischen Bauern gar nicht stattgefunden haben? Oder wenn Sklaven und
Folteropfer sich nicht wirklich gedemütigt gefühlt hätten? Solche Fakten sind
durch wissenschaftlich möglichst objektive historische Forschungen teil-
weise korrigierbar. Damit scheinen auch die darauf beruhenden normativen
Konsequenzen nicht irreversibel zu sein.
Normative Erfahrungen sind aber nicht diese Fakten selber, sondern
die Reaktionen darauf. Sie sind greifbar in literarischen Zeugnissen, philo-
sophischen Konzepten und politischen Manifesten – man denke an das
»Kommunistische Manifest«, das zumindest auch eine Reaktion auf das Elend
90 4 Historische Vernunft und irreversible Geltung

der frühindustriellen Arbeiterklasse ist. Noch wichtiger sind die institutionellen


Reaktionen. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass die gesamte Sozial- und
Arbeitsgesetzgebung, die historisch erkämpft, oder, wie die Bismarck’schen
Gesetze, zur Vermeidung solcher Kämpfe erlassen worden sind, ohne erlebte
Verelendung und Unterdrückung entstanden sind. Evidenz aus dritter Hand
oder Dramatisierung aus Machtinteresse hat es gegeben, aber eine historische
Bestreitung der Empörung über menschliches Leiden erscheint abwegig. Zu-
mindest die Reaktionen und die Lehren daraus hat es gegeben.181
Die Vorstellung, »dass man so etwas Menschen nicht antuen darf« hängt,
wenn sie sich auf Begriffe und Empfindungen stützen kann, im Grunde
nicht einmal davon ab, ob die Betroffenen die entsprechenden psychischen
Empfindungen selber hatten oder etwa »gänzlich abgestumpft« waren. Da
Normen vor allem zukünftige Handlungen verbieten, würde sogar die Vor-
stellung ausreichen, dass so etwas jetzt und in Zukunft eine Verletzung der
Integrität und Würde, meiner eigenen sowie aller Menschen, darstellen
würde. Allerdings dürfen diese Vorstellungen nicht nur durch Fiktionen,
durch erfundene Mythen und entsprechende »Erinnerungspolitik« erzeugt
sein. Sonst sind sie nur emotionale Manipulation in ideologischer Absicht. Es
muss zumindest einen Kern von Handlungen geben, die menschliche Selbst-
achtung verletzt haben. Sie müssen in der Vorstellung und im rationalen,
auf gute Gründe basierenden Denken zu dem Schluss geführt haben, dass
Menschen eine Würde besitzen, die durch grundlegende Rechte zu sichern ist.
Dass es für diesen Typus von Handlungen und Reaktionen in der Geschichte
»Instantiierungen« gegeben hat, ist nicht vernünftig zu bezweifeln.
Ad 2) Heutige philosophische Beschäftigung mit den Menschenrechten
nimmt zumindest einen Teil derselben, wie Wissenschaftsfreiheit, Freiheit der
Meinungsäußerung, Weltanschauungs- und Gewissensfreiheit in Anspruch.
Ist sie damit zu einer »unabhängigen« Begründung nicht mehr in der Lage?
Das wäre nur dann der Fall, wenn die Deklarationen der Menschenrechte
und ihre institutionellen Implementierungen der Philosophie in ihrem neu-
zeitlichen Selbstverständnis vorausgegangen wären. Dann könnte man von
einer nachträglichen Apologetik mit schwachen Begründungsansprüchen
sprechen. Das ist aber nicht der Fall. Die neuzeitliche Philosophie wirkt
von Anfang an bei der Begründung und Etablierung von Menschenrechten
mit – Belege aus Hobbes (für die Idee der subjektiven Rechte), Grotius (für
die völkerrechtliche Dimension) und Locke (für die Abwehrrechte) sind in der
Forschung schon lange erbracht worden. Sie finden sich weniger deutlich für

181 Vgl. Kants analoge Argumentation bezüglich der enthusiastischen »Theilnehmung« der
Zuschauer der Freiheitskämpfe der Französischen Revolution (AAVII, 85 f.).
4.3 Zwei Einwände 91

die späteren Generationen der Menschenrechte, obwohl sich Ansätze sozialer


Rechte bei den Kantianern ebenso wie bei Fichte und Hegel finden lassen.182
Die meisten Philosophen zumindest der Aufklärungstradition, seit Spinoza,
sind an der Auseinandersetzung um die Denkfreiheit mit staatlichen und
kirchlichen Autoritäten beteiligt. Man kann sagen, dass sich Menschenrechts-
idee und neuzeitliche Philosophie parallel entwickelt haben. Die Philosophie
hängt insofern nicht von einer Voraussetzung ab, die sie nachträglich zu be-
gründen suchte.
Im Grunde besteht eine autonome, nur an vernünftige Argumentation
und allen zugängliche Erfahrung gebundene Philosophie sogar seit Sokrates.
Die sokratische Methode des Zweifelns und Rechtfertigens (logon didonai)
nimmt die Unabhängigkeit von politischer und religiöser Herrschaft vorweg,
die sich in der neuzeitlichen autonomen Philosophie (libertas philosophandi)
gleichzeitig mit den für sie notwendigen Institutionen entwickelt.183 Aber es
gab und gibt bis heute apologetische Philosophie, die an heilige Texte und
Offenbarungen oder an vorgeblich wissenschaftliche Weltanschauungen und
politische Autoritäten gebunden ist. Auch und gerade in der frühen Neuzeit
war die Vernunft keine eigenständige Instanz und galt der Zweifel als Sünde
des Hochmuts (superbia), etwa bei Luther und Calvin.184 Der Versuch, seine
Glaubensevidenzen mit Mitteln der Reflexion, der Logik etc. stimmig zu
machen, ist durchaus legitim. Er ist aber nicht mehr das, was Philosophie als
Teil des Wissenschaftssystems bedeutet. Auch hier gibt es eine Irreversibili-
tät: Philosophie kann keine ancilla theologiae mehr sein und ist nicht mehr zu
betreiben, ohne Wissenschafts- und Weltanschauungsfreiheit in Anspruch zu
nehmen.
Zur Wissenschaftsfreiheit gehören dabei zumindest interne Standards
rationaler Argumentation und universal zugänglicher Erfahrung in der
»scientific community« von Fächern; ferner Zustimmung und Bestreitung aus
eigener Überzeugung, die auch nicht einem (angeblichen) Standardwissen
»der Wissenschaft« untergeordnet werden müssen. Zur Freiheit besonderer
Wissenschaften und der außerwissenschaftlichen Überzeugungen gehört zu-
dem, dass Wissenschaften sich der Grenze ihres Geltungsbereichs bewusst
werden, etwa der zwischen Fakten und Normen. Ohne Selbstkritik oder philo-
sophische Kritik werden Wissenschaften wieder zu pseudowissenschaftlichen

182 Vgl. Siep (2015), Der Staat als irdischer Gott.


183 Vgl. dazu Dreier (2018), Staat ohne Gott, und ders. (2019), Der lange Weg zur
Religionsfreiheit.
184 Vgl. zu Luther: Roper (2016), Der Mensch Martin Luther. Zur calvinistischen Akademie in
Genf: Reinhardt (2016), Die Tyrannei der Tugend.
92 4 Historische Vernunft und irreversible Geltung

Weltanschauungen. Zu den Charakteristika der Normwissenschaften gehört


ihr spezifischer Erfahrungsbegriff, der nicht auf wiederholbare Experimente
und nur wenig auf empirische Erhebungen gestützt ist. Auch faktisch be-
folgte Normen können falsch sein. Wie sie im Lichte allgemeiner Theorien
auf kollektive Erfahrungen zurückgreifen können, die in Institutionen nieder-
gelegt sind (Verfassungsgeschichte, Moralgeschichte etc.), haben wir gesehen.
Dass das keine Bindung an partikuläre Kulturen bedeutet, zeigen begriffliche
und anthropologische Argumente ebenso wie die globalen Konventionen.
Auch Wissenschaftsfreiheit ist eine Norm und kein Faktum. Weder Philo-
sophie noch Wissenschaften sind heute so autonom, wie es ihren Rechten
und ihrem Selbstverständnis entspräche. Vor allem die modernen Mittel der
Wissenschaftsförderung und auch -lenkung durch staatliche und private
Finanzierung kann nicht nur die Naturwissenschaften – diese aber wegen
ihrer Nutzbarkeit für private Unternehmen in besonderem Maße – sondern
auch die Philosophie von externen Zielsetzungen und Interessen abhängig
machen. Das Grundrecht der Wissenschafts- und Forschungsfreiheit ist nur
eine Minimalbedingung der Autonomie. Wenn die Philosophie es voraussetzt,
hängt sie nicht von einer externen Voraussetzung ab, sondern von Rechten, die
zu ihrer eigenen Idee gehören.
Man kann das Argument daher umkehren und daraus so etwas wie einen
»performativen Widerspruch« ableiten: Eine Philosophie, die der Abschaffung
der Menschenrechte – außer als einer bloßen Denkfigur – theoretisch und
praktisch gleichgültig gegenüberstände, würde dasjenige verneinen, was sie
selber in Anspruch nimmt. Das heißt nicht, dass über den Umfang und die
Stellung im Gesamt der philosophischen Ethik nicht weiter nachgedacht
werden könnte (vgl. dazu u. Kap. 8). Und es heißt ebenso wenig, dass für die
Irreversibilität der Menschenrechte nicht auch andere Begründungen als die
hier vorgeschlagenen möglich wären.

4.4 Genesis und Geltung, Kontextualität und Irreversibilität

Im Licht der Argumentation der ersten drei Abschnitte dieses Kapitels ist die
Irreversibilitätsthese noch einmal genauer zu formulieren. Zunächst zwei Ein-
schränkungen des Geltungsanspruches:
Erstens, dieser Anspruch wird nur für die mit der Menschenwürde unabding-
bar verbundenen Menschenrechte erhoben. Also in der hier verwendeten
Terminologie (vgl. o. S. 41 f.) für den von ihrer »Idee« geforderten »Kern«.
Entscheidend ist, dass sie eine Grenze dessen darstellen, was Menschen als
Individuen und in Gruppen zugemutet werden darf.
4.4 Genesis und Geltung 93

Zweitens, unter irreversibel wird nicht verstanden, dass Bestreitungen oder


alternative Konzeptionen »undenkbar« oder aus begrifflichen Gründen wider-
spruchsvoll wären. Es ist nicht undenkbar oder logisch widersprüchlich, dass
Individuen Kollektiven grenzenlos unterworfen werden. Es gab und gibt noch
heute vorgebrachte Gründe dafür. Es wird aber behauptet, dass eine Unter-
ordnung, die nicht an der Menschenwürde und den elementaren Menschen-
rechten begrenzt ist, mit den Begriffen von Philosophie, Recht und Moral
unvereinbar sind. Die Semantik dieser Begriffe ist eine historische, von ge-
danklichen und emotionalen Entwicklungen und Erfahrungen abhängige (vgl.
o. Kap. 3.2). Als solche hat sie aber auch eine Grenze, jenseits derer sie nicht
mehr sinnvoll zu verwenden ist.
Der Verzicht auf transzendentale oder andere Formen der Letztbegründung
zugunsten einer historisierten Vernunft und die gleichzeitige Behauptung
einer Unumkehrbarkeit stellt zweifellos schwierige Anforderungen an eine
Theorie. Ich fasse die bisherigen Überlegungen in einigen Thesen zusammen:
1. Zu den Begriffen Menschenwürde, Demütigung, Achtung etc. gehören
emotionale Aspekte. Sie beziehen sich auf den Menschen als vernünftig-
leiblich und emotional. Ihre Verletzung wird emotional empfunden und
nachempfunden. Zu ihrer Universalisierung gehören aber vernünftige
Einsichten in das, was dem Menschen zusteht.
2. Dass zum Begriff »Recht« und »als Mensch behandeln« eine Grenze der
Ansprüche der Kollektive gehört, setzt ein Verständnis von Gehalten
voraus, das nur (aber nicht allein) in Negativerfahrungen gewonnen
werden konnte. Diese Erfahrungen sind auch zur Motivation des Respekts
vor den Rechten unersetzbar.
3. Die entscheidenden Schritte der Genese sind die folgenden
a) die Aufwertung von Individualität, Autonomie und Unabhängigkeit
von nötigender Willkür
b) die Zuerkennung gleicher elementarer Rechte an alle Menschen,
unabhängig von ihren geistigen und körperlichen Fähigkeiten (ein-
schließlich Abstammung und ethnischer Zugehörigkeit)
c) die emotionalen Erfahrungen der Verweigerung dieser Rechte, der
Demütigung und Entwürdigung.
4. Diese Erfahrungen sind in die Semantik der Begriffe »Recht« und
»Mensch« eingegangen. Die elementaren Menschenrechte sind vom
moralischen Standpunkt des unparteiisch-wohlwollenden Beobachters
gefordert, aber in ihrer Konkretion aus diesem nicht abzuleiten.
5. Zukünftige Erfahrungen einer historisch belehrbaren Vernunft sind
damit vereinbar. Sie betreffen vor allem:
94 4 Historische Vernunft und irreversible Geltung

a) Die Konkretisierung dessen, was Menschenwürde unter geänderten


Verhältnissen bedeutet
b) Passende Grenzziehungen zwischen »Mensch« im biologischen
und im normativen Sinn sowie zwischen Mensch und Tier
(s. Kap. 3.4 und 5.3)
c) Neue Normen der Vereinbarkeit zwischen Individualrechten und
Gruppenrechten – ohne Aufhebung einer Grenze »nach unten«.
6. Die biologische und biotechnische Weiterentwicklung kann den Rahmen
einer sinnvollen Verwendung von »Recht« und »Moral« sprengen. Das
betrifft vor allem die durch Abwehrrechte gesicherten Grenzen, aber
auch die Fähigkeit zu Verantwortung und Autonomie. Folgende Ver-
änderungen scheinen vor allem denkbar:
a) Die selbständige Existenz von Individuen und ihre Selbstbestim-
mung hört auf. Sie wird durch neue Form von Symbiosen, Gruppen-
existenzen, Vernetzungen (z.B. zwischen Gehirn und Internet) etc.
ersetzt.
b) Durch »verbesserte« Gehirne, veränderte Hormone oder andere
körperliche, psychische und intellektuelle Fähigkeiten wird der
Streit zwischen Ansprüchen auf knappe Güter durch eine uni-
versale Sozialverträglichkeit obsolet.
c) Durch transhumanistische Perfektion erhalten einige Menschen
Fähigkeiten, die sie auf andere Stufen der Intelligenz und Phantasie
heben, als den »Rest« der Menschheit. Sie verhindern die all-
gemeine Verfügbarkeit dieser Verbesserungen.
In allen Fällen würden die Begriffe Individualität, Autonomie, gleiche Würde
und Rechte etc. unbrauchbar.
Ethische Urteile sind an empirische Bedingungen der Anthropologie und
der natürlichen Umwelt gebunden. Sie sind auch auf ein »Wir« der historischen
Argumentationspotentiale bezogen. Diese These teilt die Irreversibilitätsthese
mit dem Pragmatismus.185 Sie erhebt aber darüber hinaus den Anspruch, dass
der Sinn dessen, was man »Moral« und »Recht« nennen kann, an die Idee der
Menschenrechte gebunden ist. Man kann diese normativen Begriffe nicht rein
empirisch oder funktional verstehen. In einer Gesellschaft, in der sadistische
Quälerei, Vernichtung von Bevölkerungsgruppen als Sündenbock oder ihre

185 Vgl. etwa das Verständnis von »prinzipiell« bei Michael Quante: »>>Prinzipiell<< würde
dann heißen, dass diese Handlung [d.h. eine unentschuldbare Handlung] unter allen
empirisch erwartbaren und für unsere ethischen Überlegungen zu berücksichtigenden
Bewertungszenarien zu der Bewertung >>ethisch falsch<< führt« (Quante (2019a),
Prägungen durch Kultur, S. 158). »Empirisch erwartbar« hängt aber ab von biotech-
nischen Veränderungen, für die hier nach Grenzen gefragt wird.
4.4 Genesis und Geltung 95

Züchtung als Organlieferanten (s.u. Kap. 5. 4) erlaubt bzw. geboten ist, gibt es
noch Regeln der Kooperation und evtl. der Konfliktvermeidung, aber keine
»Moral« mehr.
Das Problem eines auf den verfügbaren Argumentationshorizont be-
schränkten Pragmatismus scheint mir zu sein, dass er die »moralische« Recht-
fertigung solcher Gebote oder Erlaubnisse nicht ausschließen kann. Wenn
»bisher keine überzeugenden Einwände«186 bedeutet, es könnten ja auch
wieder einmal gute Gründe für Folter, Sexismus, Rassismus etc. geben, dann
ist ein solcher Pragmatismus zu schwach. Eine derartige »Umkehr« ist mit
den leidvoll erlernten Begriffen des Rechts, der Moral und der Philosophie
nicht vereinbar – auch nicht mehr mit dem der Menschen als selbständige,
empathische, begrifflich denkende und den moralischen Standpunkt ein-
nehmende Wesen.
Die Gültigkeit bestimmter normativer Prinzipien ist nach dieser These für
die Rede von Moral und das Verständnis ethischer Geltungsansprüche sinn-
konstitutiv. Metaethisch kann sie, als nicht letztbegründet, relativiert werden.
Aber man kann von einer normativen Lebensform sagen, wann ihre Grenzen
überschritten werden. Nicht nur die Verneinung ihrer Grundnormen, sondern
auch die Überschreitung selber ist moralisch verboten. Unbedingte moralische
Normen implizieren, dass auch Moral selber gesollt ist – hier impliziert das
ought to do das ought to be, das Tun-Sollen das Sein-Sollen. Insofern kommt der
Moral Selbstzweckcharakter zu. Aber nicht, wie bei Kant, weil ein Gesetz der
praktischen Vernunft unbedingter Selbstzweck ist (ein »Göttliches in uns«)187
und daher die Träger Würde besitzen, sondern um der verletzlichen Würde
jedes menschlichen Individuums willen. Man kann das mit Michael Quante
seine personale Lebensform nennen.188 Dass diese nicht nur eine menschliche
Option unter anderen ist, sondern dass er zu ihr verpflichtet ist, folgt aus ihrer
notwendigen Verknüpfung mit der moralischen Lebensform. Und mit dieser
sind, wie hier zu zeigen versucht wurde, Menschenwürde und Menschen-
rechte untrennbar verbunden.
»Sinnkonstitutiv« heißt aber wiederum nicht, dass keine andere Moral über-
haupt denkbar sei. Es bedeutet, dass nach den historischen Erfahrungen und
anthropologischen Überlegungen keine Moral ohne Menschenrechte mehr
gerechtfertigt werden kann. Das setzt aber voraus, dass es nicht schon in der
gegenwärtigen Diskussionslage Argumente gegen die Menschenrechte gibt.
Solche werden aber vorgebracht und müssen daher auch entkräftet werden.

186 Quante (2017), Wie flexibel ist »irreversibel«?, S. 210.


187 Vgl. Enskat (2008), Religion trotz Aufklärung?, S. 98.
188 Vgl. Quante (2018), Pragmatistic Anthropology, S. 14 f. S. 64 f.
Kapitel 5

Begründete Alternativen zur Idee der


Menschenrechte?

Die Kritiken und Alternativen zur Idee der Menschenrechte zurückzuweisen,


ist sowohl den autonomen Rationalitätsstandards der Philosophie wie der
»vernünftigen Pluralität« (Rawls)189 in einer offenen Gesellschaft geschuldet.
Beide sind von den Menschenrechten der Wissenschaftsfreiheit und der demo-
kratischen Mitbestimmung selber geschützt.
Die Aufgabe einer solchen Zurückweisung überschreitet ebenso wie viele
der früheren Themen den Umfang eines Kapitels. Ich begnüge mich damit, auf
eine Auswahl zu antworten, die Matthias Hoesch (2017) getroffen hat. Sie be-
trifft Positionen, die in der heutigen Diskussion um die Menschenrechte eine
herausragende Rolle spielen: Kommunitarismus, (nationaler) Liberalismus,
Konsequenzialismus bzw. Utilitarismus und die Kritik am »Speziesismus«
der Menschenrechte. Es gibt von diesen Positionen auch Versionen, die mit
der Idee der Menschenrechte vereinbar sind, sie allenfalls geringfügig modi-
fizieren oder einzelne davon einschränken. Als »challenge« der Irreversibili-
tätsthese eignen sich aber nur ihre radikaleren Formen.
Um den Streit zu beurteilen, schlägt Hoesch zwei Kriterien der Plausibili-
tät oder Überzeugungskraft »guter« Gründe vor, das Kriterium der Unpartei-
lichkeit (1) und das Kriterium der Nachvollziehbarkeit durch einen normal
Urteilenden (2). Das erste ist ein normatives, das zweite ein epistemisches
Kriterium. Wie hier in den bisherigen Erörterungen über den »moral point
of view« gilt auch für das Unparteilichkeitsprinzip, dass »der Verlust dieses
Prinzips als kritischem Maßstab mit dem Verlust moralischer Normativität zu-
sammenfallen würde«.190 Das epistemische Kriterium definiert er genauer als
»Gründe, die jeder normal sozialisierte und über gewöhnliche kognitive Fähig-
keiten und alle relevanten Informationen verfügende Mensch einsehen kann;
niemand darf sich demnach selbst eine epistemisch hervorgehobene Position
zusprechen.« (ebd.). Auch dieses Kriterium ist nicht ganz unhistorisch, es

189 Vgl. Rawls (1993), Political Liberalism, S. 63 f. (u.ö.). Zum Wertpluralismus in der Demo-
kratie vgl. auch Willems (2016)
190 Vgl. Hoesch (2017a), Sind keine Gründe gegen die Geltung der Menschenrechte mehr
denkbar?, S. 226.
98 5 Begründete Alternativen zur Idee der Menschenrechte ?

schließt Positionen der prinzipiellen Überlegenheit von Experten – religiös,


philosophisch, wissenschaftlich – über »Laien« in solchen Debatten aus.
Das Unparteilichkeitsgebot stimmt mit meiner Version des moralischen
Standpunkts eines wohlwollend unparteiischen Beobachters auch insoweit
überein, als Hoesch ihm eine historische Dimension der Überwindung von
Diskriminierungen zugesteht, die unumkehrbar ist. Menschenrechte auf ein
Geschlecht zu begrenzen oder »Homosexuelle als Zwangsarbeiter für wichtige
soziale Projekte« einzusetzen widerspricht dem Diskriminierungsverbot und
würde daher nicht unter »gute Gründe« fallen (ebd.). Bei dem epistemischen
Prinzip will Hoesch dagegen offenbar keine historischen Informationen über
Katastrophen der Rechtskultur und ihre institutionellen Konsequenzen zu-
lassen. Denn es ist nicht zu sehen, warum »die Erfahrungen, die die Menschheit
in der Zukunft machen wird, die vergangenen Erfahrungen nicht revidieren
oder in ein anderes Licht stellen sollten« (228). Dass wir uns das angesichts der
vergangenen Katastrophen nicht mehr vorstellen können, könnte eine Sache
der Sozialisation und der Empfindung, aber nicht von guten Gründen sein. Es
ist nach dem Vorherigen klar, dass in diesem Buch ein anderes Verhältnis von
Rationalität und Emotionalität vertreten wird.
Beiden Kriterien halten nach Hoesch vier – von ihm referierte, aber selber
nicht vertretene – Gegenpositionen gegen die Idee der Menschenrechte stand.
Sie haben es »alle damit zu tun«, dass der »Vorrang des Individuums vor den
Belangen der Gemeinschaft weder aus der Idee der Unparteilichkeit folgt,
noch aus den Prinzipien der allgemeinen Nachvollziehbarkeit« (230). Ob dabei
vom »Vorrang« in dem hier verteidigten Sinne der Grenze des Zumutbaren
oder aber in dem des von mir zurückgewiesenen starken Individualismus die
Rede ist, lasse ich vorläufig offen.
Die erste Gegenposition ist die eines extremen Kommunitarismus, der
die Individualrechte den Rechten verschiedener Arten von Gemeinschaften
(Familie, Volk, Nation, Staat, Kirche etc.) unterordnet. Die zweite nennt Hoesch
»liberalen Nationalismus«. Sie bestreitet nur Pflichten für Menschenrechte
über die Bürger der eigenen Nation hinaus. Die dritte ist ein Gradualismus
der Extension von Grundrechtsträgern, der eine scharfe Grenze zwischen
Menschen und Nicht-Menschen ablehnt. Es gibt für sie keine Menschen-
würde und keine Rechte, die nur und die allen Menschen zukämen. Die vierte
plausible Gegenposition ist die eines Konsequentialismus, der Rechte nicht
von anderen Arten des sozialen Nutzens unterscheidet. Der quantitative
Gesamtnutzen, darf durch beliebige Einbußen des Individuums vergrößert
werden.
Da die Widersprüchlichkeit der Einwände nicht behauptet wird, müssen sie
nun nacheinander geprüft werden.
5.1 Primat der Individualrechte 99

5.1 Primat der Individualrechte oder »extremer Kommunitarismus«?

Kommunitaristen kritisieren in der Regel die Reduktion der Politik bzw.


des Staates auf die Garantie privater Rechte und Güter. Öffentliche Güter
materieller (Luft, Klima) oder »spiritueller« Art – gemeinsame Sprache,
(republikanische) Selbstbestimmung und Selbstgesetzgebung etc. – können
individuelle Opfer fordern. Auch aus der Sicht der Individuen rechtfertigen
oft gemeinsame Traditionen und das »tiefe Gefühl kultureller Verwurzelung«191
die radikale Unterordnung ihrer Freiheitsrechte. Das ist nicht nur eine
theoretische Kritik, sondern spielt auch in der politischen Opposition vieler
Staaten gegen »westliche« Menschenrechtspolitik eine große Rolle.192 Ge-
mäßigte Kommunitaristen akzeptieren die Menschenrechte und stellen daher
nicht die hier zu erörternde Herausforderung dar.193
In welchem Sinne die Menschenrechte einen »Vorrang des Individuums
vor den Belangen der Gemeinschaft«194 implizieren, ist oben (Kap. 3.2) schon
kritisch erörtert worden. Rechte in Anspruch zu nehmen, bedeutet immer, ihre
Gültigkeit für alle Berechtigten zu bekräftigen. Bei kollektiven Verpflichtungen
auf weltweite Förderung der Menschenrechte, wie in modernen Verfassungen
und Völkerrechtspakten, muss der Einzelne zum Schutz der Rechte anderer
gegen schwere Verletzungen u. U. darauf verzichten, eigene Erlaubnisrechte in
Anspruch zu nehmen. Der Einsatz für das Gemeinwohl und öffentliche Güter
ist nicht nur freiwillig, er wird durch eine Reihe von erzwingbaren Pflichten
von Steuer- über Schul- bis Impf- und möglicherweise Wehrpflichten auch
in grundrechtsbasierten Staaten erzwungen. Das Gemeinwohl soll allerdings
seinerseits ein menschenwürdiges Leben der Bürger und die freie Entfaltung
ihrer Persönlichkeit ermöglichen. Dafür kann durch Gesetze auch in Grund-
freiheiten eingegriffen werden – nach der deutschen Verfassung allerdings
nur, ohne ihren »Wesensgehalt« zu beseitigen (Art. 19).

191 Hoesch (2017a), Sind keine Gründe gegen die Geltung der Menschenrechte mehr denk-
bar?, S. 232.
192 Vgl. dazu Eckel (2014), Die Ambivalenz des Guten, S. 798-802.
193 Wie etwa Sandel (1998), Liberalism, oder Walzer (1990), Kritik und Gemeinsinn. Waldron
(1987, Nonsense upon Stilts, S. 189) entwickelt eine Verteidigung der Menschenrechte
als Rückfallposition bei Störung spontaner Gemeinschaftsformen. Das kommt der
Hegelschen Position zum Verhältnis von unmittelbarer Sittlichkeit und Recht nahe.
Es lässt die kommunitaristischen Einsichten in den Wert nicht-rechtsförmiger Ge-
meinschaften und Verpflichtungen bestehen, sichert aber die Individuen gegen deren
Instabilität.
194 Hoesch (2017a), Sind keine Gründe gegen die Geltung der Menschenrechte mehr denk-
bar?, S. 230.
100 5 Begründete Alternativen zur Idee der Menschenrechte ?

Ein »extremer Kommunitarismus«, der die Idee der Menschenrechte als


solche ablehnt, kann bestreiten, dass das Gemeinwohl auch die Rechte der
Individuen fördern soll. Stattdessen gehe es um die Unabhängigkeit, Selbst-
bestimmung oder Größe des Kollektivs, sei es Nation, Glaubensgemeinschaft
oder Klasse. Nicht die Ansprüche der Individuen auf Teilnahme daran sind das
Entscheidende, vielmehr sind die Ansprüche der »Kommune« der eigentliche,
davon unabhängige Zweck. Grundsätzlich infrage gestellt wird die Menschen-
rechtsidee aber erst durch die Bestreitung jeglicher Grenzen dessen, was dem
Einzelnen dazu an Pflichten und Lasten zugemutet werden kann.
Es geht also nicht um den »Vorrang« des Kollektivs im Sinne der Ranghöhe
von Gütern. Man kann die Auffassung vertreten, und ich folge ihr weitgehend
in diesem Buch, dass der gute Zustand von Natur und Kultur – einschließlich
des Blühens von Gemeinschaften auf den Gebieten von Kunst, Wissenschaft,
Technik oder Tugenden wie Freundschaft oder Tapferkeit – ein umfassenderer
Wert ist als individuelle Selbstverwirklichung. Es lässt sich auch – immer noch
in Übereinstimmung mit der Idee der Menschenrechte – argumentieren,
dass bei kollektiven (»nationalen«) Notständen (Hungersnöte, Verteidigungs-
kriege etc.) einzelne Grundrechte wie Eigentumsfreiheit oder freie Berufswahl
vorübergehend eingeschränkt werden können. Eine grundsätzliche Kritik der
Menschenrechte muss bestreiten, dass es sich dabei um Ausnahmen handelt.
Für einen extremen Kommunitarismus gibt es keine Rechte der Bürger, die
eine Grenze für kommunale Anforderungen darstellen.
Matthias Hoesch zieht die Position Hegels als ein Beispiel für kom-
munitaristische Argumente heran. Man kann bezweifeln ob Hegel ein extremer
Kommunitarist ist, denn er will die Idee der Grundfreiheiten nicht aufgeben.
Der moderne Staat muss für ihn die Freiheit der Person als Träger subjektiver
Rechte und die grundsätzliche Zustimmung des »moralischen« Subjekts zu den
Gesetzen respektieren. Er muss auch ihr physisches und emotionales »Wohl«
befördern, dazu zählen die rechtlichen und institutionellen Voraussetzungen
für Familie und Berufsstände. Darüber hinaus ist es aber die »höchste Freiheit«
und das »höchste Recht« des Individuums, von seinen privaten Interessen und
Rechten frei sich mit einem sittlichen Gemeinwesen zu vereinigen.195 Der sitt-
liche Staat sichert dem Einzelnen nicht nur die Teilnahme an der Ehre eines
»machthabenden« Kollektivs, sondern auch an dessen Ewigkeit, durch die er
seine natürliche Sterblichkeit überwindet (§ 324).196

195 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts § 258. (Die folgenden Paragraphenangaben
im Text beziehen sich auf dieses Buch)
196 Der natürliche Tod wird für Hegel im Krieg für die Existenz des Staates verwandelt und
zum »Werke der Freyheit, einem Sittlichen erhoben; – jene Vergänglichkeit wird ein
5.1 Primat der Individualrechte 101

Hegels »Synthese« von Kommunitarismus und Freiheitsrechten scheitert


aber letztlich daran, dass sie dem sittlichen Staat selber einen höheren onto-
logischen und evaluativen Rang zuerkennt hat als dem Individuum: Er ist
»absoluter unbewegter Selbstzweck« (§ 258) und seine Rechte haben im
Konfliktfall immer den Vorrang (ebd.). Das zeigt sich im Krieg, der den Vor-
rang der staatlichen Souveränität vor allen individuellen Rechten manifestiert
(§ 323). Schon in der Bereitschaft der Bürger, in Kriegen – für Hegel nicht
nur Verteidigungskriegen – alles aufs Spiel zu setzen, zeigt sich die »absolute
Macht gegen alles Einzelne und Besondere« und die »Nichtigkeit« der Rechte
des Lebens, Eigentums und der »weiteren Kreise«. Der Staat ist für Hegel die
Manifestation eines Absoluten, das in der (christlichen) Religion auf andere
Weise in Erscheinung tritt.197 Zu seiner Aufgabe gehört daher zwar die Unter-
stützung der Individualrechte, aber seine Souveränität ist nicht daran ge-
bunden. Die Vernachlässigung dieser Aufgabe führt nicht zur Beschränkung
des Rechtsgehorsams der Bürger im Widerstandsfall oder gar zu deren Schutz
von außen, wie es heute im Völkerrecht diskutiert wird (s.u. S. 105-107).
Eine moderne Synthese von Menschenrechtsidee und kommunitaristischen
Einsichten in den Wert der Gemeinschaft, die von ihren Mitgliedern Opfer
fordern kann, müßte anders aussehen. Sie muss in der Lage sein, die Rechtlosig-
keit der Bürger gegen extreme kollektive Zwangsmaßnahmen normativ aus-
zuschließen. In diese Forderung gehen wiederum nicht nur rein theoretische
Aussagen über Fähigkeiten (Selbstreflexion, freie Selbstbindung) und Verletz-
lichkeiten der Menschen ein, die auch Hegel teilt. Es geht auch hier wieder
um historische Erfahrungen mit der praktischen Unterordnung der Individual-
rechte unter die Größe der Nation oder die welthistorische Mission der Rassen
und Klassen im 19. und 20. Jahrhundert. In ihnen ist die Entwürdigung der
Menschen theoretisch klar und emotional unerträglich geworden. Nicht zu-
letzt daraus resultiert die philosophische Überwindung des Vorrangs des
Ewigen, Allgemeinen und Notwendigen vor dem Endlichen, Individuellen und
Zufälligen.

gewolltes Vorübergehen und die zum Grunde liegende Negativität (sc. der Endlichkeit)
zur substantiellen eigenen Individualität des sittlichen Wesens« (GW 14, 1, S. 265, (Z. 32-
37). Vgl. Siep (2015), Der Staat als irdischer Gott, S. 135-138 (dort auch Kap. II, 5 zu den
wohlfahrstaatlichen Aspekte von Hegels Staat)
197 Weil diese Parallelität den Staat in der letzten (»tiefsten«) persönlich-religiösen Ge-
wissheit verankert, soll er die Individuen zu einer Religionszugehörigkeit verpflichten.
Vgl. dazu Siep (2015) besonders S. 171-173. Es geht Hegel nicht primär um den Wert einer
religiösen Kultur oder des religiösen Gemeinschaftsgefühls (vgl. Hoesch (2017a), Sind
keine Gründe gegen die Geltung der Menschenrechte mehr denkbar?, S. 231).
102 5 Begründete Alternativen zur Idee der Menschenrechte ?

Auf institutioneller Ebene sind Menschenrechte und Völkerrecht die Kon-


sequenzen aus diesen Erfahrungen. Das Völkerrecht verpflichtet die Staaten
nicht nur zur Verhinderung des Genozids, sondern beschränkt die Recht-
fertigung des Krieges auch auf Verteidigungskriege, Kriege zum Schutz der
Menschenrechte oder zur Ausübung des Selbstbestimmungsrechts (Be-
freiungskriege).198 Die Pflicht, in Fällen der Verteidigung eines Staates sein
Leben aufs Spiel zu setzen, gilt dieser Institution als Gewährleistung des
Schutzes individueller und gemeinsamer Rechte (Selbstbestimmung) und der
Ermöglichung öffentlicher Güter. Sie gilt nicht dem »mystischen Körper« einer
Nation oder eines Volkes (»Du bist nichts, dein Volk ist alles«). Auch das vom
Staat auferlegte Lebensopfer bei Geiselnahmen dient der »Nichterpressbar-
keit« des Staates und damit der Sicherheit derzeitiger und künftiger Bürger,
nicht staatlicher Größe.
Natürlich darf man Individuen nicht verwehren, im freiwilligen Opfer für
ihre Gruppe ihren Lebenssinn zu verwirklichen – jedenfalls solange sie sich
nicht elementarer Rechte entäußern und sich selber völlig instrumentalisieren.
Gemeinschaften mit Zwangsrechten wie der Staat müssen aber keine
Sinnvermittlungs-Gemeinschaften mehr sein. Über die Quellen des Lebens-
sinnes ist im nächsten Kapitel noch zu sprechen. Sinnstiftung durch das
Kollektiv darf nach den Erfahrungen mit Nationalismus, Rassismus und
zwangsweise hergestellter religiöser Homogenität nicht mehr erzwungen
werden und muss reversibel sein (»opt out«). Sonst ist sie mit dem, was
moralische Subjektivität bedeutet (vgl. o. S. 49), nicht vereinbar. Ein extremer
Kommunitarismus liegt daher außerhalb dessen, was moralphilosophisch ge-
rechtfertigt werden kann.

5.2 Internationale Verantwortung oder »liberaler Nationalismus«?

Menschenrechte gelten dem Begriff nach für alle Menschen. Aber wer ist für
ihren Schutz verantwortlich, der jeweilige Staat, in dem sie leben, auch Staaten
gegenüber den Bürgern anderer Staaten, oder die »Staatengemeinschaft«
und die internationalen Organisationen für alle Menschen? Ein »liberaler
Nationalist« könnte argumentieren, dass jeder Staat genug leistet, wenn er
auf seinem Gebiet die Menschenrechte respektiert und durch sein Verhalten

198 Vgl. Bothe (2004), Friedenssicherung und Kriegsrecht. Neben der »Selbstverteidigung«
(S. 601) gibt es zwar noch andere völkerrechtliche »Rechtfertigungsgründe für Ge-
walt« (ebd. S. 601-609), die aber alle dem Schutz der Staatsbürger und ihrer Grund- und
Menschenrechte dienen sollen.
5.2 Internationale Verantwortung 103

im Umgang mit anderen Staaten nicht zu Verletzungen dort beiträgt (»Ver-


ursacherprinzip«).199 Alle anderen Pflichten würden den inneren Frieden
auf seinem Staatsgebiet gefährden (»Überforderung«). Zu solchen inter-
nationalen Pflichten gehört vor allem die Aufnahme von Flüchtlingen und die
Beteiligungen an Eingriffen zum Schutz der Bürger in anderen Staaten.
Diese Position stellt nicht die Menschenrechte als solche in Frage, sondern
nur die Pflicht, sich mit hohen Risiken für die eigene Bevölkerung dafür einzu-
setzen. Sie stimmt aber nicht mit dem Prinzip der universalen Verpflichtung
überein200 und enthält Inkohärenzen, auf die hingewiesen werden soll.
Was das Verursacherprinzip angeht, so ist es in Zeiten globalen Handelns
sicher naiv, nur die Verletzungen der Souveränität anderer Staaten als Be-
einträchtigung der Menschenrechte der dortigen Bürger anzusetzen. Es gibt
mannigfache ökonomische Ursachen für Armut und menschenunwürdiges
Leben, vor allem in ehemaligen Kolonien. Dafür sind zumindest die Vorfahren
der Bürger des »eigenen« Nationalstaates mitverantwortlich. Aber auch die
gegenwärtigen profitieren vom Handel mit korrupten und autoritären Regimes
in den ehemaligen Gebieten und deren Misshandlung der eigenen Bürger.
Die Reihe könnte fortgesetzt werden, bis zu Klimaveränderung oder der Be-
teiligung an Sanktionen, beides Ursachen weltweiter Migrationsbewegungen.
Das Recht, bei Verfolgung ein Land zu verlassen, gehört zu den Menschen-
rechten. Dass es auch im Völkerrecht ausgedehnt wird auf das Recht zur Flucht
vor Bürgerkriegen oder Hungersnöten, ist eine jüngere Entwicklung, die aber
zur Logik der Menschenrechte passt.201 Ungelöst ist noch, wie diese Rechte
durch entsprechende Einwanderungsrechte weltweit abgesichert werden
können. Hier gibt es in der Tat Kontroversen, über die diskutiert werden kann,
ohne die Menschenrechte insgesamt in Frage zu stellen.
Der Konflikt zwischen den Pflichten des Staates gegenüber den Rechten
der eigenen Bürger und gegenüber einer Welt-Rechtsordnung ist nicht ent-
schieden. Er gewinnt durch die Massen-Migrationsbewegungen neue Schärfe.
Es gibt vor allem zwei Probleme in der neueren Rechtspolitik und -philosophie:

199 Zum Folgenden Hoesch (2017a), Sind keine Gründe gegen die Geltung der Menschen-
rechte mehr denkbar?, S. 232 f.)
200 Henkin formuliert in Anlehnung an Kant: »how human beings are treated anywhere
concerns everybody everywhere«. (Henkin (1979), How Nations Behave, S. 257)
201 Es handelt sich um eine nach der Genfer Flüchtlingskonvention von 1948 erfolgte Aus-
weitung durch »Staatenpraxis« auf »Gewaltflüchtlinge« bzw. Personen, die vor Krieg
oder Kriegsfolgen wie Hungersnot und ethnischer Gewalt fliehen, seit 1985 (Auftrag an
UNHCR) auch »persons who are compelled to leave their homeland because of man-
created disasters, e.g. armed conflict or other political and social upheaval« (nach Kay
Hailbronner (2004), Der Staat und der Einzelne, S. 231). In der neueren Diskussion geht
es auch um Flüchtlinge infolge von Klimaveränderungen.
104 5 Begründete Alternativen zur Idee der Menschenrechte ?

Das Problem der Migration (a) und das der humanitären Intervention (b)
oder, wie man heute im Völkerrecht vorzieht, des Schutzes der Bevölkerung
gegen den eigenen Staat (»military assistance of a population in dire need
under attack by its own government«).202 Beide Problemkreise haben es mit
Konflikten zwischen kollektiver Selbstbestimmung in Staaten und universalen
Rechten aller Menschen, aber auch zwischen individuellen Menschenrechten
zu tun. Zu beiden sind hier nur kurze Überlegungen möglich. Auf die zweite
Problematik, zu der Anna Goppel (2017) kritische Fragen gestellt hat, gehe ich
etwas ausführlicher ein.
(a) Probleme der Ethik und des Rechts von Migration, Asyl und Flucht
haben es mit Konflikten zwischen dem Menschenrecht auf Verlassen eines
Staates und den Bürgerrechten im »Zielstaat« zu tun.203 Die Bürger des Ein-
wanderungslandes haben Rechte autonomer Gesetzgebung und sozialer
Sicherheit. Das Recht der Mitgesetzgebung in einem Staat setzt voraus zu
wissen, welche Kriterien für die Teilnahme an der gemeinsamen Gesetz-
gebung gelten. Zulassungskriterien für den Kreis der Mitgesetzgeber dürfen
allerdings über die Zustimmung zu den Verfassungsgrundsätzen nicht hinaus-
gehen. Bürger erwarten von ihrem Staat aber auch den Schutz des rechtmäßig
Erworbenen und gemeinsam Erarbeiteten, je nach Privatrechtsordnung auch
des Vererbten. Dabei sind Rechte der sozialen Sicherheit, aber auch des Eigen-
tums betroffen.
Das macht Kriterien der Zuwanderung zulässig, die aber vom vorüber-
gehenden Aufenthaltsrecht für Asylsuchende unterschieden werden müssen.
Mit einer grundsätzlichen Kritik der Menschenrechte haben es diese Fragen
nicht zu tun. Erst ein Nationalismus, der den Rechten seiner Mitglieder über die
Staatsbürgerrechte hinaus einen grundsätzlich anderen (privilegierten) Status
einräumen würde als Menschen außerhalb seines Staatsgebietes, benutzt
einen indiskutablen Rechtsbegriff. Es gibt keine universal nachvollziehbaren
Argumente mehr, die grundsätzliche Unterschiede in den Rechten von (aus-
erwählten, zivilisierteren, rechtgläubigen) Völkern oder Rassen legitimierten.
Für die historisch belehrte Vernunft ist ein solcher Nationalismus der Grund
der schmerzhaftesten und entwürdigendsten Erfahrungen der jüngeren Zeit
in allen Teilen der Welt.

202 Vgl. dazu und zum Folgenden Kreß (2019), On the Principle of Non-use of Force, vor
allem den Abschnitt: Humanitarian Intervention – or Rather: Lawful Force in Defense of
a Civilian Population under Attack? (nicht paginiert).
203 Vgl. dazu ausführlich Hoesch (2016), Was kann philosophische Aufklärung mit Blick auf
die Flüchtlingskrise leisten?.
5.2 Internationale Verantwortung 105

(b) Das Problem des Menschenrechtsschutzes gegen die Regierung des


eigenen Staates betrifft die ältesten Debatten der politischen Philosophie
über Tyrannis, Widerstandsrecht und staatliche Souveränität. Rechtfertigung
des Widerstandsrechts beruft sich in der Neuzeit auf das Recht der Not-
wehr von Bürgern gegen Verletzung ihrer elementaren Rechte. Das Recht, in
solchen Fällen auch in fremden Staaten einzugreifen, ist ein stellvertretendes
(»subsidiary«) Widerstandsrecht oder ein Recht zur Nothilfe.204 Aufgrund
der universalen Verpflichtung der Staaten und Individuen auf den Schutz der
Menschenrechte kam es zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu Versuchen der Be-
schränkung staatlicher Souveränität durch die Schutzverantwortung. Bei Ver-
stoß dagegen droht den Staaten eine gewaltsame Intervention von außen.205
Das Risiko von kriegerischen und bürgerkriegsartigen Auseinander-
setzungen kann man sicher nicht um eines jeden Ziels der Menschenrechts-
kultur willen eingehen. In einem Staat mit schlechtem Bildungssystem oder
schlechter Umweltbilanz würde gewaltsamer Eingriff nicht gerechtfertigt
erscheinen – wenn von internationalen Verflechtungen wie in der Klimapolitik
abgesehen wird. Im letzten Fall würde es sich aber eher um Verteidigung welt-
weiter Menschenrechte als um Intervention für die Bürger in einem Staat
handeln. Es wird vielmehr um schwere und weitverbreitete Schädigung
körperlicher Integrität (Beispiel: Einsatz chemischer Waffen) oder der Über-
zeugungsfreiheit gehen (religiöse und politische Verfolgung). Auch da gibt es
sicher schwierige Abwägungen, vor allem, da bei jeder Gewaltanwendung, sei
es Widerstandskampf oder humanitäre Intervention, Zivilisten möglicher-
weise gegen ihre Überzeugungen (»Regimeunterstützer«) schweren Schaden
erleiden.206
Ein solches Recht kollidiert mit den Rechten von Staaten, deren Gewalt-
monopol heute ebenfalls durch den Schutz der Bürgerrechte legitimiert ist.
Im Völkerrecht diente die Anerkennung dieser Souveränität auch der Be-
grenzung der Kriege, im 20. Jahrhundert vor allem auf die Selbstverteidigung.
Man muss kein »Nationalist« sein, um die Berechtigung, möglicherweise

204 Zum Widerstandsrecht in der europäischen Neuzeit vgl Schweikard/ Mooren/ Siep (Hg.)
(2018), Ein Recht auf Widerstand gegen den Staat? Zur Verbindung von Widerstandrecht
und humanitärer Intervention vgl. Laukötter (2014), Zwischen Einmischung und Nothilfe.
205 Die »responsibility to protect« wurde vor allem beim »world summit« der UN-General-
versammlung 2005 erklärt, ist aber durchaus noch keine völkerrechtliche Praxis (vgl.
Kreß (2019), On the Principle of Non-use of Force). Heute wird im Völkerrecht die
Formulierung »defense of the people« statt »humanitarian intervention« verwendet, die
weniger anfällig für Missbrauch ist (vgl. Kreß ebd.)
206 Darauf stützt sich die Kritik des Widerstandsrechts bei Reinhard Merkel und seiner
Schülerin Tessa Elpel. Vgl. Merkel (2017), Demokratischer Interventionismus?; Elpel
(2017), Das Widerstandsrecht.
106 5 Begründete Alternativen zur Idee der Menschenrechte ?

die Verpflichtung,207 zu bestreiten, staatliche Menschenrechtsverletzungen


außerhalb des eigenen Staates zu verhindern. Es genügt die klassische
Souveränitätstheorie, die auch im Völkerrecht vom 16. (Bodin) bis zum 19. Jahr-
hundert dominierend war. Seit Hobbes sollte sie dem größten Übel des Bürger-
krieges und der uneingeschränkten Gewalt nach innen und außen vorbeugen.
Die strikte Wahrung staatlicher Souveränität schließt den Gewalteinsatz von
außen, auch als »subsidiary protection«, aus. Es bedurfte der Erfahrungen
mit den Tyranneien des 20. Jahrhunderts und den Vertreibungen und Ver-
nichtungen von Minderheiten in den Staaten, um die Gefahr für den Völker-
frieden bei Einschränkung der Souveränität als das kleinere Übel erscheinen
zu lassen. Vom allgemeinen moralischen Standpunkt des unparteiischen Be-
obachters und von den Ideen der Universalität und Gleichheit her ist es ein-
leuchtend, den Schutz der Menschenrechte nicht auf das eigene Staatsgebiet
zu begrenzen, sondern den Kampf unterdrückter Mitglieder anderer Staaten
gegen menschenrechtsverletzende Regimes zu unterstützen. Auch das kann
aber mit den Rechten der eigenen Bürger konkurrieren, die für ihren Schutz
das Gewaltmonopol akzeptiert haben. Insoweit ist das Ȇberforderungsargu-
ment« diskutabel.
Die Kritik an dem Recht oder der Pflicht zum gewaltsamen Schutz der
Zivilbevölkerung gegen ihren eigenen Staat kommt heute aus zwei entgegen-
gesetzten Richtungen. Die eine, vornehmlich politische und völkerrechtliche,
sieht darin einen Vorwand für einen »Menschenrechtsimperialismus«, der
die pazifizierende Wirkung der unantastbaren Souveränität und des inter-
nationalen Gewaltverbots aushebelt (b1). Sie richtet sich im Übrigen auch
gegen die Bindung von Entwicklungshilfe und Handelsverträgen an die Ein-
haltung von Menschenrechten bei dem entsprechenden Partner.208 Die
andere, in der modernen politischen Philosophie diskutierte Kritik bestreitet
den Staaten oder der Staatengemeinschaft das Monopol auf die »auctoritas
principis«, d.h. die legitime Entscheidung über den Gewalteinsatz. Während
er im traditionellen Völkerrecht nur dem legitimen Staatsoberhaupt, dem
Fürsten oder der gesetzgebenden Versammlung zukam, spricht sie ihn jedem
Individuum zu (b2).
(b1) Nur die erste hat es (entfernt) mit einer Überforderung der National-
staaten zu tun. Überfordert werden, so kann man argumentieren, souveräne
Einzelstaaten mit der Pflicht, die Menschenrechte überall mit Gewalt durch-
zusetzen bzw. solche Durchsetzung hinzunehmen. Souveränität, Integrität
(auch der Grenzen) und Gewaltmonopol sind gerechtfertigt zum Schutz der

207 Eine Verpflichtung vertritt Walzer (2003), Die Politik der Rettung.
208 Vgl. Eckel (2014), Die Ambivalenz des Guten, S. 809 ff.
5.2 Internationale Verantwortung 107

Individuen gegen Rechtsverletzungen. Das stellt die Menschenrechte nicht


in Frage. Erst die Rechtfertigung des Staates oder der Nation als »mystische
Körper« kommt mit dem menschenrechtlichen Primat der Individualrechte
in Konflikt. Sie ist auch nach dem gegenwärtigen Verständnis der beiden
Kriterien guter Gründe, der Unparteilichkeit und der epistemischen Nach-
vollziehbarkeit, nicht mehr akzeptabel. Dem stehen sowohl anthropologische
wie historische Evidenzen entgegen. Mythisches Denken und das Konzept
mystischer Körper wie Kirche, Monarch oder Nation, sind zwar nicht schlicht
irrational, ihre Anerkennung darf aber nicht zur Verletzung individueller
Rechte, zu körperlichem und psychischem Zwang führen. Ein Nationalismus,
der solche Nation-Begriffe vertritt, kann auch kaum »liberal« genannt werden.209
Jenseits eines solchen Nationalismus ist der Konflikt ein solcher zwischen
verschiedenen Weisen der Sicherung der Menschenrechte. Eine internationale
»Bill of Rights«, die alle Staaten und Individuen verpflichtet, erfordert auch
ein Sanktionsverfahren.210 Nach dem gegenwärtigen Entwicklungsstand des
Völkerrechts, in dem den Vereinten Nationen keine eigene militärische Macht
zur Verfügung steht, kann das nur durch beauftragte Staaten oder Staaten-
gruppen erfolgen. Mit einem solchen Verfahren wäre aber die Einschränkung
der Gewaltausübung auf die Selbstverteidigung gelockert. Deshalb bleibt die
Intervention umstritten. Eine Erlaubnis des UN-Sicherheitsrates, wenn auch
keine Pflicht, zu solchen Interventionen bei schweren Menschenrechtsver-
letzungen scheint aber weitgehend akzeptiert.211 Grundsätzlich philosophisch
gesehen ist die Einschränkung staatlicher Souveränität, gerade wenn sie selber
durch den Schutz der Individual- und Gruppenrechte legitimiert ist, nur
konsequent.
(b2) Wenn die Rechte der Individuen aber im Konfliktfall primär sind
und alle die gleichen Rechte haben, dann kann die Überordnung des Staates
auch in Fragen der Entscheidung über die Nothilfe und ihre Durchführung in
Frage gestellt werden. In den modernen Debatten über den gerechtfertigten
Krieg (bellum justum) wird in der Tat das Monopol des Staates in Fragen der

209 Zu einem menschenrechtskompatiblen Nationenbegriff der Gegenwart vgl. Siep, (2014a),


Du corps mystique à l’histoire-expérience.
210 Vgl. dazu Nußberger (2009, Das Völkerrecht, S. 71-73), die allerdings selber gegen das
Recht zur humanitären Intervention skeptisch ist.
211 »However, the Security Council’s power to authorize a use of force is no longer in question
when it comes to protecting a civilian population that has been the victim of genocide,
crimes against humanity or the systematic commission of war crimes in cases where the
national government in question does not fulfill its responsibilities or is itself behind
the attacks« (Kreß (2019), On the Principle of Non-use of Force, (ohne Paginierung).
Die völkerrechtliche Legitimation beruft sich aber in der Regel auf eine Gefährdung der
kollektiven Sicherheit.
108 5 Begründete Alternativen zur Idee der Menschenrechte ?

»auctoritas principis«, der legitimen Entscheidung über die Kriegsführung


und ihre Ausführung, infrage gestellt. Wenn der Staat an den Respekt und die
Förderung der Rechte seiner Bürger gebunden ist, dann wird begründungs-
bedürftig, weshalb nicht das Individuum selber die letzte Instanz der Recht-
fertigung und der Ausübung der grundrechtsschützenden Gewalt ist.212
Man muss aber unterscheiden zwischen dem Recht des Individuums auf
Einsicht in die Notwendigkeit gewaltsamer Maßnahmen zum Schutz der
Grundrechte und dem zur Ausführung dieser Maßnahmen. Dass bei Abwesen-
heit rechtlich legitimierter Hilfe jeder im Notfall sein Leben und seine Un-
versehrtheit selbst verteidigen darf, ist in den Grundrechten eingeschlossen
und zumindest seit John Locke mit überzeugenden Argumenten verteidigt
worden.213 Aber die Beurteilung des Notfalls darf keine private Meinung sein,
wenn von der Ausübung eines Rechtes, das alle gleichermaßen beanspruchen,
die Rede sein soll – und grenzenlose Privatjustiz verhindert werden soll. Das
Gleiche gilt für die Pflicht, anderen in ihrer Selbstverteidigung beizustehen.
Erschwert wird das Problem der Entscheidung über den Notstandsfall für
individuelle Grundrechte durch Fragen der Staatsbürgerschaft, aber auch der
zerfallenden oder nicht (mehr) auf einem Mindestmaß der Zustimmung be-
ruhenden Staatlichkeit bzw. der Gebiete fehlender oder unklarer staatlicher
Ordnung.
Zum Schutz vor willkürlicher Gewalt in einer Großgruppe ist aber – wie
auch gegenwärtige Erfahrungen mit zusammengebrochenen Staaten (failed
states) zeigen – das öffentliche, durch Gesetze legitimierte und an sie ge-
bundene Gewaltmonopol nötig. Die öffentlich bekannten Gesetze müssen
unter Beteiligung aller ihnen Unterworfenen erlassen werden. Das Problem der
Willkürlichkeit subjektiver Entscheidungen wiederholt sich auf der zwischen-
staatlichen Ebene, wie vor allem Kant klar formuliert hat.214 »Souveräne«
Staaten, die Gewaltausübung innerhalb eines Gebietes unterbinden – auch
dann, wenn der Ursprung der Gewalt außerhalb liegt – können für ihr Urteil nur
dann Rechtsstatus beanspruchen, wenn es auf von allen Staaten anerkannten
Regeln beruht. Dieses Urteil selber durch überstaatliche Institutionen zu voll-
strecken, gefährdet wiederum das Gewaltmonopol und das kollektive Recht
auf Selbstbestimmung in einzelnen Staaten.

212 Vgl. Fabre (2008), Cosmopolitanism; dies., (2012)., Cosmopolitan War (2012a); Schwenken-
becher (2013), Rethinking Legitimate Authority, S. 161,170; Steinhoff (2012), On the Ethics
of War and Terrorism. Vgl. dazu meine kritischen Bemerkungen in: Siep (2019c), Ewiger
Friede und gerechter Krieg.
213 Zum Notrecht bei Locke vgl. Siep (2018b), John Locke, S. 224-226, 295.
214 Vgl. Siep (2018d), Widerstandsrecht zwischen Vernunftstaat und Rechtsstaat, S. 104-107.
5.2 Internationale Verantwortung 109

Für das Problem der gerechtfertigten Hilfe bei massiver Gefährdung


elementarer Grundrechte durch den eigenen Staat erlaubt das nur eine Ab-
stufung der Rechte. Jedes Individuum besitzt das Recht und die Pflicht zur
Hilfe bei Grundrechtsverletzungen, primär der Mitbürger, aber indirekt aller
Menschen. Aus Gründen der Objektivierbarkeit der Entscheidungen und
der Durchsetzbarkeit ohne Rückkehr zur permanenten Gewaltbereitschaft –
Hobbes’ bellum omnium contra omnes – müssen dabei staatliche Organe in An-
spruch genommen werden. Das gilt, so lange diese Organe zum Rechtsschutz
zur Verfügung stehen und nicht selber die Quelle der Bedrohung darstellen.
Wenn letzteres der Fall ist, darf an die Hilfe von außen appelliert werden.
Damit auch diese nicht von eigenen Interessen des fremden Staates bzw.
seiner Bürger geleitet ist, sondern von universal zustimmungsfähigen Regeln,
müssen die (vorläufigen) Organe der Völkergemeinschaft entscheiden und
selber handeln oder Staaten damit beauftragen.
Ein unvermeidbarer Zirkel bleibt bestehen: Für die Entscheidung darüber,
wann der einzelne (d.h. ein privater Anderer), ein fremder Staat oder die
Völkergemeinschaft gewaltsam Hilfe bei Menschenrechtsverletzungen leisten
darf, müsste das objektive Urteil der obersten Ebene, nämlich des Völkerrechts
in einer von allen akzeptierten Auslegung, in Anspruch genommen werden.
Zur Bedingung gerechtfertigten Notstandshandelns gehört aber gerade, dass
auf diese obere Ebene nicht zurückgegriffen werden kann, weil der eigene
Staat den Zugang dazu blockiert. Notstandshandeln auf den unteren Ebenen
ist also eine Antizipation dieser universalen Zustimmung. Für das Urteil über
legitime Nothilfe kann man Kriterien aufstellen, wie etwa die Bedingungen der
Gegenwärtigkeit (der Gefahr), der Erforderlichkeit (d.h. das Fehlen anderer
Mittel) und der Verhältnismäßigkeit.215 Das Urteil im Notstandsfall antizipiert
stets die höhere Stufe, also beim Individuum die der (intakten) staatlichen
Rechtsordnung, bei den Staaten die Ebene der Institutionen zur Anwendung
des Völkerrechts, derzeit vor allem der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen.
Bei diesen Stufen gibt es Analogien und Disanalogien, vor allem was die Frage
der Autorisierung und der Beendigung angeht. Private Nothilfe muss beendet
werden, wenn die staatlichen Organe diese Aufgabe übernehmen – jedenfalls
bei stabilen Staaten, die rechtsstaatliche Kriterien erfüllen. Das Gleiche gilt
aber nicht unbedingt gegenüber einer Organisation, die nur ein unvollständiges
Gewaltmonopol ausübt, wie die Vereinten Nationen. Diese wiederum können
einzelne Staaten oder Staatengruppen zum Eingreifen autorisieren. »Nach
unten« können die Staaten nur ihre eigenen rechtlich legitimierten Bürger be-
auftragen (vor allem rechtsstaatliche Polizei).

215 Vgl. Goppel (2017), Warum alle berechtigt sind zu handeln, S. 252.
110 5 Begründete Alternativen zur Idee der Menschenrechte ?

Das prinzipiell »alle Akteure« moralisch zur gewaltsamen Verteidigung der


Menschenrechte berechtigt sind, bedeutet also nicht, dass man in Fragen des
gerechtfertigten Gewaltansatzes auf das Prinzip einer legitimierten Autorität
mit Gewaltmonopol verzichten müsste.216 Nur so lässt sich Privatjustiz und die
Unterwerfung unter die »nötigende Willkür« des anderen (Kant) vermeiden.
Die Entscheidungen über den legitimen Gewalteinsatz müssen aber von allen –
bzw. in der Mehrheitsdemokratie von der Mehrheit – für alle getroffen werden.
Das bedeutet, dass sie auf Gesetz und Verfassung zurückgehen. Einsatz staat-
licher Gewalt muss selbst im Notfall so schnell wie möglich durch die gesetz-
gebende Gewalt, an der alle mitwirken, legitimiert oder verworfen werden. Das
geschieht in parlamentarischen Demokratien durch das Parlament.
Wenn diese Gewalt aber selbst korrumpiert ist und die Rechte bedroht sind,
dann darf der Bürger an eine überstaatliche Gewalt appellieren. Das bedeutet
nicht mehr, wie bei Locke, an den Himmel appellieren und das Gottesurteil
des Widerstandskampfes herbeiführen.217 Es bedeutet, an das Völkerrecht
und seine Menschenrechtsverpflichtung zu appellieren. Das geschieht in
»normalen« Fällen durch Appellation an internationale Gerichte oder auf
der Staatenebene durch Anrufung des Sicherheitsrates. Bevor »Hilfe naht«
oder wenn sie ausbleibt, ist der Widerstandskampf aber antizipatorisch ge-
rechtfertigt und er kann auch (vgl. o. S. 107) bei schweren und massenhaften
Menschenrechtsverletzungen durch Staaten unterstützt werden, die von der
Weltgemeinschaft legitimiert sind.218 Die Entscheidung geschieht im besten
Fall »von oben nach unten«, im schlimmsten, nämlich dem unmittelbaren Not-
standsfall von unten nach oben – nach den von Anna Goppel vorgeschlagenen
Kriterien der Gegenwärtigkeit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit.
Der Primat der Rechte »von unten nach oben« mit der undurchlässigen
Grenze der Menschenwürde bedeutet also nicht, dass das Urteil über Rechts-
konflikte bei den Einzelnen liegt. Es kann auch nicht heißen, das nicht
autorisierte Einzelne über den Einsatz der physischen Gewalt der Gruppe
entscheiden. Um das zu kritisieren, bedarf es aber keiner »nationalistischen«
Argumente. Vielmehr setzen alle diese Konflikte die Gültigkeit und den Primat
der Menschenrechte voraus.

216 Vgl. Goppel (2017), Warum alle berechtigt sind zu handeln, S. 252 ff. Unter »alle Akteure«
können außer Individuen auch nichtstaatliche Organisationen verstanden werden. Das
betrifft heute etwa Fragen der Seenotrettung bei Untätigkeit staatlicher Organe. Man
darf allerdings nicht ohne Weiteres die Selbstgefährdung mit der aktiven staatlichen
Menschenrechtsverletzung eigener Bürger gleichsetzen, auf die die »responsibility to
protect« zielt.
217 Vgl. Siep (2018b), John Locke, S. 287 f.
218 Die Probleme der Blockade des Sicherheitsrates durch Veto lasse ich hier beiseite, vgl.
dazu Kreß (2019), On the Principle of Non-use of Force.
5.3 Die Exklusivität der Menschenrechte 111

5.3 Die Exklusivität der Menschenrechte

Während der liberale Nationalismus die Verpflichtung zur Förderung der


Menschenrechte weltweit für überdehnt hält, kritisiert die dritte von Mathias
Hoesch ins Spiel gebrachte Gegenposition die moralische Bedeutung des
Begriffes »Mensch«. Es gibt – auch für den wohlwollend unparteiischen
Beobachter – andere plausible Kandidaten wie etwa schmerzempfindliche
Lebewesen. Bestimmt man den Begriff Mensch dagegen mittels spezifischer
Fähigkeiten für Rechtsträger, typischerweise Personalität und Vernunft,
schließt man Mitglieder der Gattung, die über solche Fähigkeiten nicht ver-
fügen, davon aus. Hoeschs Beispiel sind Behinderte und Bewusstlose, aber
in der Diskussion geht es natürlich auch um Embryonen und Föten (vgl. o.
Kap. 3.4).
Man kann den Einwand in zwei Hinsichten formulieren: Entweder
akzeptiert er so etwas wie Menschenrechte und stellt den Umfang der »Be-
günstigten« zur Diskussion. Dieser Umfang ist in der Tat keineswegs evident
und unterschiedliche Antworten auf die Frage sind nicht »undenkbar«. Oder
aber er bestreitet die Differenz zwischen Menschenrechten und anderen
Rechten bzw. Ansprüchen oder Gütern. Es gäbe dann graduell unterschiedlich
geschützte Rechte, eine entscheidende Schwelle zu den Menschenrechten ist
nicht sichtbar. Für die hier vertretene Konzeption ist dabei wichtig, ob dadurch
die »Schutzschwelle« für Menschen sinken muss.
Beiden Versionen von Gradualismus wird in der konkreten Ethik Rechnung
getragen, aber in Übereinstimmung mit der Menschenrechtsidee. Zunächst
zum nicht-menschlichen Leben: dass die Bedürfnisse unterschiedlicher Lebe-
wesen in einer umfassenden Ethik zu berücksichtigen sind, ist eines der Haupt-
anliegen der Konzeption einer »guten Welt«. Behauptet wird aber, dass zu dem
für Menschen Guten gerade die Rechte gehören, die mit seinen besonderen
Fähigkeiten verbunden sind und allein diese zum »Blühen« bringen können.
Auch für menschliches Leben vor der Geburt wird ein Gradualismus
akzeptiert. Er entspricht ja weitgehend auch dem in vielen Ländern
praktizierten Recht: Befruchtete Eizellen werden anders geschützt als Früh-
embryonen außerhalb des Mutterleibs und Foeten in verschiedenen Entwick-
lungsstadien.219 Entwicklungsfähiges menschliches Leben im biologischen
Sinne, das nicht durch eine Implantation auf den Weg zur Geburt gebracht
wird, oder solches, das Teil eines anderen (mütterlichen) Körpers ist, muss
nicht als Träger von Menschenwürde und vollen Rechten behandelt werden.
Da »Rechtsträger« kein biologischer, sondern ein normativer Begriff ist,
der auf historische Zuschreibungen zurückgeht, kann die Zuordnung zu

219 Vgl. o. Kap. 3. 4 sowie Dreier (2002), Stufen des vorgeburtlichen Lebensschutzes.
112 5 Begründete Alternativen zur Idee der Menschenrechte ?

biologischen Eigenschaften sich mit der Zeit ändern. Diese Zuordnung hängt
von historischen Erfahrungen, aber auch von Erkenntnissen über die Eigen-
schaften der Rechtsträger ab.
Die Grenzen zum nicht-menschlichen Leben sind in der Tat von biologisch-
empirischen Erkenntnissen abhängig. Nach dem Stand der Zoologie fehlen
Primaten – umso mehr den einfacher organisierten Lebewesen – fundamentale
Fähigkeiten und Bedürfnisse, die Menschen zu Rechtssubjekten machen.
Dazu gehört die Fähigkeit zur sprachlich-begrifflichen Verallgemeinerung, zur
Selbstverpflichtung auf Regeln, zur Rechtfertigung mit allgemeinen Gründen
sowie ein vergleichbarer Grad der Sorge um persönliche Identität und Selbst-
achtung. Man kann sich vorstellen, die Schädigung von Tieren, die Ausrottung
von Pflanzen oder die Zerstörung unbelebter Natur unter hohe Strafen zu
stellen. Vor allem Hominiden haben Ansprüche, in ihrem Wohlergehen be-
rücksichtigt zu werden. Aber man kann keinem Tier subjektive Rechte und zu
verantwortende Pflichten zusprechen.
Pathozentrische Konsequentialisten können demgegenüber Schmerzen
leidensfähiger Lebewesen höher werten als die von Menschen.220 Wenn
der Begriff Schmerz (pain) aber rein körperlich verstanden wird, ebnet er
alle Grenzen unterschiedlicher »Subjektivitäten« ein. Wir kennen zwar die
Innenperspektive von nicht-menschlichen Lebewesen nur unvollständig und
Thomas Nagels Programm einer vergleichenden Untersuchung der Arten
von Selbstwahrnehmung (»What is it like to be a bat?«) ist kaum durch-
geführt.221 Demgegenüber gibt es eine lange historische Erfahrung damit,
was bei Menschen Verletzungen nicht nur ihres körperlichen Wohlgefühls,
sondern ihrer Selbstachtung, sozialen Anerkennung etc. hervorruft. Wenn es
gute Gründe gibt, anderen Lebewesen auf diesem oder anderen Planeten oder
künstlichen »Menschen« diese Fähigkeiten zuzuschreiben, könnte man über
die Ausweitung der Menschenrechte nachdenken. Bei unserem gegenwärtigen
Kenntnisstand aber scheint es mir der Unparteilichkeit zu widersprechen,
die einen (Tiere) grotesk zu überfordern und die Bedürfnisse der anderen
(Menschen) grob zu unterschätzen. Man kann nicht zu Prozessen gegen Tiere
zurückkehren und man kann Menschen nicht mehr an den Pranger stellen
oder auspeitschen lassen.
Die Grenze der Menschenrechte gegenüber den Ansprüchen der Tiere
ist aber nicht starr. Ob man Tieren Rechte desselben Umfanges zu-
schreiben soll wie Menschen, hängt von ihren Fähigkeiten – vor allem
Verpflichtungsfähigkeiten – ab. Anderen als biologisch menschlichen Wesen

220 Man denke an Peter Singers berühmt-berüchtigten Vergleich zwischen Tieren (Schwein,
Hund, Schimpanse) und neugeborenen Menschen (Singer (1984), Praktische Ethik, S. 169).
221 Nagel (1974), What it is like to be a bat?.
5.3 Die Exklusivität der Menschenrechte 113

können Personrechte (als speziesunabhängiger Ausdruck) zugesprochen


werden. Das ist eine empirische Frage, auch gegenüber möglichen Weltraum-
bewohnern.222 Es hängt vor allem von praktischen Fragen der Kommunikation
ab. Es darf daraus aber keine Senkung des Schutzanspruchs von Menschen
ohne personale Fähigkeiten folgen. Nach den Einsichten der biologischen und
der praktisch-kommunikativen Vernunft kann man Tiere zwar nicht foltern,
um Aussagen zu erpressen, aber sadistisches Quälen ist auch ihnen gegen-
über unter keinen Umständen erlaubt. Untergrenzen des Erlaubten gibt es
also über die Menschenrechte hinaus. Ob moderne Haltung und Schlachtung
mit dem Wohl von Tieren vereinbar ist, kann man diskutieren und eines Tages
ändern. Wie weit menschliche Freiheiten gegenüber solchen Ansprüchen ein-
zuschränken sind, kann in wissenschaftlichen und demokratischen Diskursen
vereinbart werden. Die unterschiedlichen Fähigkeiten der Selbstreflexion
und Selbstsorge, der menschlichen Kommunikation und symmetrischer An-
erkennung bedingen aber, dass die Mindestlinie des Zumutbaren bei Menschen
anderswo liegt als bei Tieren – auch da liegt sie ja nach »Organisationshöhe«
und Graden der Subjektivität sehr unterschiedlich. Ansprüche von Tieren, die
Menschenrechten ähneln, wie körperliche Integrität und Wohlergehen sind
aber keine subjektiven Rechte und sie schützen auch nicht im selben Sinne
Individuen gegen Gruppen – Eingriffe in die Gruppendisziplin von Tieren
wären ebenfalls absurd.
Die besondere Stellung der Menschenrechte ermöglicht gerade die Ein-
schränkung weniger wichtiger Rechte. Die Mindestlinie des den Menschen
Geschuldeten ist aber überschritten, wenn Menschen etwa zum Schutz von
Tieren gequält oder gedemütigt werden. Auch demokratische Mitbestimmung
und Weltanschauungsfreiheit darf nicht den Experten einer »Ökodiktatur« ge-
opfert werden. Das schließt nicht aus, Gesetze zu erzwingen, die eine Mindest-
linie des für Tiere Zumutbaren festlegen.
Eine überlegte Ausweitung menschlicher Schutzansprüche auf Tiere muss
die Menschenrechte nicht schwächen. Auch die Ausweitung der Inklusion
von Menschen in den Kreis der Menschenrechtsträger hat keinesfalls zur
Einschränkung der Menschenrechte geführt. Im Gegenteil trug sie zu ihrer
Erweiterung und Konkretisierung bei – etwa in den völkerrechtlichen Kon-
ventionen zum Recht der Kinder oder der Behinderten. Keinen theoretisch
und praktisch unumstrittenen Konsens gibt es heute nur hinsichtlich des

222 Zum Verhältnis Menschen- und Tierrechte vgl. Ach (2012, Menschenrechte und Tier-
rechte). Amélie Rorty hat vorgeschlagen, die Frage, ob Venusbewohner als Personen
zu bestimmen sind, von den Erfahrungen bei einer Begegnung mit ihnen abhängig zu
machen (Rorty (1976), A Literary Postscript).
114 5 Begründete Alternativen zur Idee der Menschenrechte ?

vorgeburtlichen menschlichen Lebens (vgl. oben Kap. 3.4) Diese Konflikte


stellen die Menschenrechte aber nicht insgesamt infrage, sondern setzen sie
voraus.
Die Graduierung der Rechte innerhalb von Lebewesen der menschlichen
Art ist nicht mit der über Menschen hinaus zu vergleichen. Menschenrechte
sind der Idee nach »angeboren«, sie kommen jedem selbständig existierenden
Menschen zumindest ab der Trennung vom mütterlichen Leib zu. Das schließt
Menschen jeder Verfassung vor ihrem Lebensende ein. Auch hier haben zu-
sätzlich zu den Begriffen historische Erfahrungen eine Rolle gespielt – wie die
mit den menschenunwürdigen Folgen der Eugenik und Euthanasie im 20. Jahr-
hundert. Welche aktiven Grundrechte in verschiedenen Stadien zuzuschreiben
sind, kann Abwägungsgegenstand sein. Besonders schwierig ist das Beispiel der
Komatösen, weil eine vorstellbare weitere Verlängerung irreversibel bewusst-
losen Lebens und der Zahl der Betroffenen eines Tages die Lebenden über-
fordern könnte. Ein Sterbenlassen unter Wahrung der Menschenwürde würde
die Idee der Menschenrechte nicht unbedingt sprengen.
Erst wenn es um die Benutzung von Organen komatöser oder gar »ge-
züchteter« Menschen rein aus quantitativen Nutzenerwägungen für eine
größere oder angeblich »sensiblere« Gruppe geht, ist der »Nerv« der Menschen-
rechte getroffen. Von derartigen Quantifizierungen ist im nächsten Abschnitt
zu reden.

5.4 Konsequentialismus statt Priorität der Menschenrechte?

Die bis heute einflussreichste Form des Konsequentialismus, der Utilitaris-


mus, beginnt – nach einem Vorspiel bei David Hume – mit Benthams radikaler
Kritik an den Menschenrechten als »gestelztem Unsinn«, Nest von Wider-
sprüchen usw.223 Er führe zur Entfesselung eigensüchtiger Triebe und ver-
hindere die Anerkennung und reformorientierte Veränderung des positiven
Rechts. Benthams Kritik gilt einem auf Natur- oder Vernunftrecht gründendem
Menschenrechtsdenken, das absolut unveränderbare Gebote analog den zehn
Geboten der hebräischen Bibel enthalte. So wurden sie symbolisch in der
Französischen Revolution auf steinernen Gesetzestafeln ja auch dargestellt.
Einer solchen Kritik an einer ewigen und buchstäblichen Festsetzung der
Menschenrechte ist hier schon durch den Versuch einer Historisierung und
der Unterscheidung der Idee oder Kultur der Menschenrechte von einem

223 Vgl. den Text von Bentham und die ausführliche Kritik von Waldron (1987, Nonsense
upon Stilts), S. 29-76 u. 183-196.
5.4 Konsequentialismus statt Priorität 115

fixen Kanon zugestimmt worden. Der Vorwurf des Egoismus und eines mit ge-
meinsamen Gütern und Rechten unvereinbaren Individualismus wurde oben
(Kap. 3. 1.) zurückgewiesen.
Bereits seit John Stuart Mill wird im Utilitarismus versucht, Rechten eine
besondere Stellung gegenüber anderen Arten des Nutzens zuzuweisen. Für
Mill schließen sich individuelle Freiheitsrechte und sozialer Nutzen nicht
aus. Soziale Nützlichkeit wird durch Strafrechte und eine meritokratische
Güterverteilung gefördert: dadurch, »dass wir jeden gleich gut behandeln
sollen, … der sich um uns im gleichen Maße verdient gemacht hat, und dass
die Gesellschaft jeden gleich gut behandeln soll, der sich um sie im gleichen
Maße verdient gemacht hat.«224 Zwischen dem modernen Utilitarismus und
seinen Kritikern, von Rawls bis Nida-Rümelin,225 ist die Frage umstritten, ob
mit konsequentialistischen Mitteln extreme Eingriffe in Freiheit und Integri-
tät Weniger zugunsten einer Erhöhung der kollektiven Nutzenmenge –
paradigmatisch durch die Sklaverei – ausgeschlossen werden können.
Als Kritik an der Menschenrechtsidee taugt nur ein extremer Konse-
quentialismus, der vom unbegrenzten Primat der Menge oder der Gemein-
schaft vor dem Individuum ausgeht und auch radikale Eingriffe rechtfertigt.
Hoesch konstruiert eine Reihe solcher Einwände sowohl handlungs- wie regel-
utilitaristischer Art. Einige davon widersprechen dem Diskriminierungsverbot
des Unparteilichkeitsprinzips, wie etwa die Einstellung von Gesundheitsver-
sorgung oder Pflege alter Menschen. Andere, wie die heimliche Tötung um
der Organgewinnung willen oder die Folter von Terroristen, der Abschuss von
entführten Flugzeugen etc. sind gegen individuelle Rechte gerichtet. Dabei
verbleiben Ausnahmehandlungen, die Rechte mehrerer durch die Verletzung
der Rechte weniger Menschen retten wollen, noch innerhalb der Menschen-
rechtskultur. Dass im äußersten Notstand auch »Zahlen zählen« (numbers
count), wird man außerhalb des Utilitarismus zwar nicht als Regel (vor allem
nicht als Rechtsgesetz) anerkennen können. Es kann aber als moralische
Entschuldigung in Einzelfällen gelten, ohne dass die Idee der Menschen-
rechte als solche zu Fall käme.226 Man kann sogar davon sprechen, dass in

224 Mill (1976), Der Utilitarismus, S. 107. Zur individuellen Freiheit bei Mill vgl. auch Simon
Derpmanns Kommentar dazu in ders., (Hg.) (2014), Mill, S. 111-125.
225 Vgl. etwa Smart/ Williams (Hg.) (1973); Utilitarianism; O. Höffe (Hg.) (1975), Einführung
in die utilitaristische Ethik; Rawls (1975) Eine Theorie der Gerechtigkeit; Nida-Rümelin
(2019), Zur normativen Ontologie von Grenzen, vor allem S. 355. Nach Rawls ist die Ab-
weisung der Sklaverei im Utilitarismus nicht erfolgreich. Die Theorie der Gerechtigkeit
leiste dies dagegen vor allem mit ihrer Priorisierung der Selbstachtung (vgl. S. 193, 203 ff.)
226 Für eine Lösung im Rahmen des Utilitarismus, die den Individualrechten Rechnung trägt,
vgl. jetzt Dufner/Schöne-Seifert (2019), Die Rettung der größeren Anzahl.
116 5 Begründete Alternativen zur Idee der Menschenrechte ?

solchen Fällen konsequentialistische Überlegungen die Menschenrechtsidee


ergänzen. Es kommt aber außer auf die Zahl der Geretteten auf situations-
bedingte Abwägungen an, wie die Schwere der Verletzung und die Qualität der
abgewendeten Schäden, die berufs- und rollenethischen Pflichten, etwa von
Ärzten oder Eltern usw.
Anders steht es mit der prinzipiellen Verneinung der Grenzen dessen, was
man Individuen und Gruppen zugunsten größerer Kollektive antuen darf.
Nach dem Prinzip der unbegrenzten Verbesserung der Schmerz-Lust (oder
Leid-Freude) -Balance bei allen Betroffenen lassen sich sowohl die Wieder-
einführung extremer Diskriminierungen als auch die Züchtung und »Zer-
stückelung« von Menschen als Organersatzlager rechtfertigen – dieses Beispiel
hat Kazuo Ishiguro in »Never let me go« eindrucksvoll dargestellt.227 Die darin
implizite vollständige Instrumentalisierung widerspricht jedem diskutablen
Begriff von Autonomie, Recht und Moral. Rückfälle in ein solches anderes
Sprachspiel hat es gegeben (Eugenik und Euthanasie für den »gesunden Volks-
körper«) und kann es auch in Zukunft geben.
Das Instrumentalisierungsverbot hat aber seine Grenzen, wenn es ohne die
konkretisierenden Erfahrungen verwendet wird (s.o. S. 23). Auch das Unpartei-
lichkeitsgebot schließt ohne die historische Dimension des Lernfortschritts
solche Diskriminierungen nicht unbedingt aus. Allein mit unhistorischen
Kriterien der Unparteilichkeit sowie der Informations- und Argumentations-
gleichheit ist eine Zurückweisung schwierig.
An dieser Stelle zeigt sich, dass rein theoretisch »diskutable« Theorien an-
gesichts der historischen Erfahrung undiskutabel werden. Sie halten einer
zugleich emotionalen und rationalen Evidenz der Erinnerung vergangener –
teilweise, wie Ruanda oder »Daesh« zeigen, auch jüngst vergangener oder noch
gegenwärtiger – Ereignisse nicht stand. Wenn wieder die Ausrottung religiöser,
rassischer oder ethnischer Minderheiten zugunsten eines homogenen
»Herrenvolkes« gerechtfertigt werden kann, ist das mit den Menschenrechten
erreichte moralische Lernniveau definitiv verlassen. Es fällt nicht mehr unter
den Begriff »moralisch«, wenn Individuen wieder geistig, psychisch und
körperlich im Namen von Kollektiven gequält und vergewaltigt werden. Die
»zukünftigen Erfahrungen« von Menschen, die so technisch – biotechnisch,
psychotechnisch oder soziotechnisch – manipuliert werden, dass sie dem
zustimmen, sind keine moralischen mehr. Der Begriff hat einen durch
Geschichte und Erfahrungen erfüllten Sinn. Er ist nicht terminologisch auf
minimale Funktionen wie die Ermöglichung von Gruppenhandeln oder Ko-
operation zu beschränken. Das würde noch die Forderungen von »moralischer

227 Ishiguro (2005), Never Let Me Go.


5.5 Stärkere Begründungen 117

Selbstdisziplin« oder »Härte gegen sich selbst« von Nazi-Vollstreckern ein-


schließen.228 Wenn ein extremer Konsequentialismus – nicht ein gemäßigter
Utilitarismus – die Rechtfertigung solcher Verbrechen der Vergangenheit oder
ihrer zukünftigen Wiederholung nicht ausschließen kann, fällt er nicht mehr
unter die Sinnkriterien einer moralischen Theorie oder philosophischen Ethik.

5.5 Stärkere Begründungen der Menschenrechte?

Sind andere Begründungen der Menschenrechte eher in der Lage, den er-
örterten Einwänden zu begegnen? Zweifellos haben Theorien, die auf zeit-
lose Prinzipien wie die des rationalen Diskurses oder der wechselseitigen
Bedingungen der Personalität zurückgehen, mit der Zukunftsgeltung der
Menschenrechte weniger Schwierigkeiten. Die Ansätze haben aber eigene
Schwächen: Man muss in die Konzeption der Diskursteilnehmer oder der
»Partner« wechselseitiger Anerkennung bereits Bedingungen der Autonomie,
Gleichheit und Anteilnahme aufnehmen, wenn man konkrete Menschen-
rechte damit begründen will. Diskurse setzen eher Menschenrechte voraus als
umgekehrt. Ohne eine solche Historisierung der Diskursidee ist schwer zu ver-
stehen, weshalb über Jahrtausende die ungleiche Kompetenz von Diskursteil-
nehmern zwanglos akzeptiert wurde.
Jürgen Habermas beruft sich in seinen Arbeiten zu den Menschen-
rechten zwar auf die »stillschweigenden Präsuppositionen eines jeden auf
Verständigung abzielenden Diskurses«.229 Seine Herleitung der besonderen
Menschenrechte ist aber eine historische. Er erklärt sie aus der Verbindung
der Idee der Menschenwürde, deren Ursprung sowohl in der antik-stoischen
wie der christlich-jüdischen Tradition (und deren philosophischer An-
eignung) liege (S. 351). Dabei wird ein Begriff (Würde), der in der Stoa auf die
Stellung des Menschen im Kosmos bezogen war, über die Statuswürde von
Standesgesellschaften zum Begriff der »gleichmäßige[n] Anerkennung der
Würde eines jeden« (S. 349) in modernen Rechts- und Verfassungsgemein-
schaften. Der Gehalt des Würdebegriffes sensibilisiert in den neuzeitlichen
Kämpfen um die rechtliche Anerkennung Individuen und Gruppen für Ent-
würdigungserfahrungen: »Die Erfahrung verletzter Menschenwürde hat eine
Entdeckungsfunktion« (S. 346).230

228 Zur weltanschaulichen Pervertierung der moralischen Sprache im Nationalsozialismus


vgl. Lübbe (2019), Politischer Moralismus, vor allem S. 17-19.
229 Habermas (1999), Der interkulturelle Diskurs über Menschenrecht, S. 226.
230 Vgl. Habermas (2010), Das Konzept der Menschenwürde, S. 353.
118 5 Begründete Alternativen zur Idee der Menschenrechte ?

Habermas argumentiert hier nicht »transzendental«, sondern begriffs-


und rechtsgeschichtlich. Auch der Begriff der Menschenwürde ändert sich in
seiner Verbindung mit der Rechtskultur der frühen Neuzeit.231 Das lässt sich
nach meiner Auffassung auch für die Idee verständigungsorientierter Dis-
kurse sagen. Stärker ist eine These von Adel Cortina, nach der sich Diskurs
und Menschenrechte wechselseitig voraussetzen.232 Sie ist sich darüber im
Klaren, dass der Diskurs dann nicht ein formales Verfahren sein kann, sondern
selber von Werten wie Freiheit, Gleichheit und Autonomie durchdrungen ist
(S. 260). Das sind für sie aber moralische Forderungen der kommunikativen
Praxis und der Anerkennung als Person. Sie werden in freien Diskursen um-
gesetzt in Menschenrechte. Dass Menschenrechte nur »im Diskurs in die Welt
gesetzt« werden können, ist historisch aber fragwürdig. Sie sind das Resultat
von Kämpfen und selbst ihre modernen Positivierungen setzen Meinungs-
kämpfe, Koalitionen und Kompromisse voraus. Umgekehrt scheint die Idee
des freien Diskurses autonomer und gleicher Personen selber ein Resultat der
historischen Entwicklung der Menschenrechte.
Das Diskursmodell stellt sozusagen eine dialogische »Modellierung« des
Standpunktes der Unparteilichkeit dar. Die Konkretisierungen dessen, was
mit menschlicher Autonomie und Würde tatsächlich unvereinbar ist, setzt
aber gemeinsame, in Institutionen verfestigte Erfahrungen damit voraus,
was Demütigung und Entwürdigung ist.233 Derartige Erfahrungen sind nicht
abgeschlossen, sie setzen sich angesichts der Verhältnisse von Migranten in
Seenot oder in »Auffanglagern« fort – egal wie man die moralische Nötigung
durch voraussehbare Katastrophen oder die Probleme ungesteuerter Ein-
wanderung beurteilen mag. Auch die Folgen unbedingter Hingabe und
Gefolgschaftstreue – etwa in modernen theokratischen Herrschaftsverbänden
wie dem »Islamischen Staat« – sind unabdingbare Argumente im »Dis-
kurs« mit Menschen, die ihre Identität in bedingungsloser Loyalität zu einer
Glaubensgemeinschaft zu finden hoffen.234 Zusätzlich zu den Einsichten in die

231 Habermas (2010), Das Konzept der Menschenwürde, S. 348.


232 Cortina (2017), Eine diskursethische Begründung der Menschenrechte, S. 255-276 (Seiten-
zahlen im folgenden Abschnitt beziehen sich auf diesen Text). Matthias Hoesch gibt die
Position so wieder: »Die Idee des Diskurses erfordert Menschenrechte, und diese können
wiederum nur im Diskurs in die Welt gesetzt werden« (Hoesch (2017b), Universalität und
Priorität der Menschenrechte, S. 297).
233 Vgl. Margalit, (1999), Politik der Würde. Diese heute manchmal als »Humiliationismus«
kritisierte Position vertritt mit plausiblen Argumenten auch Ralf Stoecker (2019),
Menschenwürde.
234 Dafür gibt es auch hinreichend christliche Beispiele, vgl. etwa Reinhardt (2018), Die
Tyrannei der Tugend, oder William Faulkners und James Baldwins Romane über die Süd-
staaten der USA.
5.5 Stärkere Begründungen 119

Fähigkeiten des Menschen zur autonomen Überzeugungsbildung und Lebens-


führung sind solche Erfahrungen für »gute Gründe« oder Rechtfertigungen
unerlässlich.
Wenn die Verbindung zwischen Diskurs und Menschenrechten nicht so
eng ist, wie es manche diskursethische »Begründung« suggeriert, dann kann
man sich diskurstheoretisch auch nicht auf das Argument des performativen
Widerspruchs berufen. Jedenfalls nicht in dem Sinne, dass jeder, der an einem
Diskurs über Menschenrechte teilnimmt, sie dadurch schon bekräftigt. Ein
solcher Widerspruch ergibt sich erst mit Bezug auf einen bestimmten Philo-
sophiebegriff, der zumindest einen Teil der Menschenrechte voraussetzt (vgl.
o. Kap. 4.3).
Ist eine stärkere, von gemeinsamen Erfahrungen unabhängige Begründung
der Menschenrechte möglich? Georg Mohr hat in einem Text zur Frage der
Kulturabhängigkeit der Menschenrechte235 den Vorschlag gemacht, eine
solche Begründung auf zwei Elemente zu stützen, auf die Bedürfnisstruktur der
Menschen und auf ihre Rechtspersönlichkeit. Das Erstere entspricht in etwa
dem, was ich oben die anthropologischen Elemente der Begründung genannt
habe. Mohr selbst spricht von einer, wenngleich interpretationsbedürftigen,
»Natur des Menschen«. Zu diesen Bedürfnissen gehören physische, psychisch-
soziale und moralisch-weltanschauliche (S. 74) – letztere sind »Bedürfnisse
nach (und Fähigkeiten der Ausbildung von) Werten, Vorstellungen vom guten
Leben, Reflexion« (ebd.). Hinsichtlich aller drei Gruppen von Bedürfnissen
sind Menschen »verletzlich« und »schutzbedürftig«.
Das zweite Element ist die Rechtspersonalität, die Mohr im Anschluss an
Fichte bestimmt. »Menschenrechte artikulieren …bewusst, was es heißt, dass
Menschen handeln und als Handelnde überhaupt Rechte haben.« Zum Ver-
ständnis des Handelns gehört nämlich auch das Bewusstsein der wechsel-
seitigen Beeinflussung der Handlungsfreiheit. Wer überhaupt frei, d.h.
selbstbestimmt handeln will, muss zugleich den wechselseitigen Respekt vor
der Freiheit des Anderen wollen. Mit Fichte begegnen sich Menschen nur als
solche, wenn sie sich wechselseitig als Rechtspersonen anerkennen und nicht
zwingen oder manipulieren. Menschenrechte sichern die Voraussetzung von
»Sphären der Manifestation selbstbestimmter Freiheit« (76). Sie sind die Be-
dingung dafür, dass Menschen »als Rechtssubjekte und dadurch überhaupt als
Menschen betrachtet werden« (ebd.).
Das klingt nach einem transzendentalen Argument und bei Fichte ist es ja
auch so gemeint. Nicht nur soll es das Bewusstsein seiner selbst als Individuum

235 Mohr (2008), Sind die Menschenrechte auf ein bestimmtes Menschenbild festgelegt?
(Seitenzahlen im Folgenden beziehen sich auf diesen Text).
120 5 Begründete Alternativen zur Idee der Menschenrechte ?

überhaupt ermöglichen, sondern darüber hinaus das der Spontaneität des


Denkens, die auch Grundlage des theoretischen Erkennens ist. Fichte er-
klärt diese Erkenntnis aus einem Wechselspiel unbegrenzter Spontaneität,
reflexiver Selbstbeschränkung, und äußeren Anstößen, die aber nach eigenen
Denkgesetzen erst zu Erkenntnisobjekten werden. Das kann heute nicht mehr
ohne weiteres als »beste Erklärung« der menschlichen Erkenntnisformen
gelten. Davon abgelöst ist diese Erklärung des Individualitätsbewusstseins
aber nicht gänzlich alternativlos. Man kann sich das Individualitätsbewusst-
sein auch mit Bezug auf den eigenen Körper (als principium individuationis)
sowie einer sozialen Rolle vorstellen – auch in sozialen Zuständen ohne ein-
klagbare Rechte. Das Individuum selber und seine soziale Gruppe braucht
die Grundrechte nicht als Rechte mit dem »stärksten möglichen Geltungs-
anspruch« zu betrachten, die »nicht ›übertrumpft‹ werden können« (Mohr
ebd. S. 65). Ansprüche von Gruppen, Institutionen und Autoritäten können,
wie die Geschichte lehrt, mit stärkerem Geltungsanspruch auftreten.
Zu den Begriffen von Person, Handlung und Recht, die in die Rechts-
begründungen von Fichte und Mohr eingegangen sind, kennen wir also
historische Alternativen. Aber man kann sagen, dass wir, nach der Erklärung
der Menschenrechte und der Durchsetzung gegen ihre »Umkehrung« in
Kolonialismus, Rassismus und Totalitarismus, solche Privilegien von Gruppen,
Institutionen und (staatlichen oder religiösen) Autoritäten nicht mehr unter
den Begriff des Rechtes fassen können. Die Ideen des Rechts und der Humani-
tät haben sich in nicht-beliebiger Weise weiterentwickelt. Bestimmte Er-
fahrungen haben ihre Semantik definitiv verändert. Mohr selbst führt an
anderer Stelle aus: »Eine wichtige Lektion, die wir heute zu lernen haben, ist,
dass man die konstitutive Rolle der Geschichte für die Geltung der normativen
Prinzipien, denen gemäß wir die fundamentalen Rechtsbegriffe begründen,
nicht leugnen darf…Der normative Kern dieses unhintergehbaren Humanis-
mus ist der Universalismus der wechselseitigen Anerkennung der Menschen
als handelnder Personen«.236
Anstelle der Rechtsfähigkeit der Person kann man, wie Jeremy Waldron,
auch die Moralfähigkeit der Person an die Menschenrechte knüpfen.237 Nur
unter Schutz vor Gewalt, mit »Raum« für Überlegung, Optionen und freie
Entscheidungen kann man moralisch urteilen bzw. handeln (moral agent).
Das ist überzeugend, aber es ist an einen »modernen« – im Sinne Hegels (s.o.
S. 46) – Begriff von Moral bzw. Moralität gebunden. Die richtige moralische

236 Mohr (2012), Menschenrechte, S. 216 f.


237 Vgl. o. S. 46 u. Waldron (1987), Nonsense upon stilts, S. 207. Waldron ist sich der Historizi-
tät dieses Begriffs von Moralität bewusst.
5.5 Stärkere Begründungen 121

Entscheidung kann auch im Gehorsam gegen Autoritäten gesehen werden, die


das Wort Gottes verbindlich auslegen und die Gnade vermitteln, die zu seiner
Befolgung befähigt. Man kann dagegen theologisch argumentieren, dass Gott
keinen Gefallen an unfreiwilliger Verehrung und Gehorsam haben kann, wie
schon John Locke.238 Zur entsprechenden Umkehr im allgemeinen Moralver-
ständnis sind aber historische Erfahrungen nötig gewesen.
Die Begriffe der Rechtsperson und der moralischen Person sind selber
nicht völlig ahistorisch. Vor allem die entscheidende Wende zum »Vetorecht«
elementarer Individualrechte lässt sich mit den quasi-transzendentalen
Modellen nicht begründen. Entweder werden die Diskursteilnehmer und nach
Rechtfertigung Verlangenden schon als primäre Rechtsquelle angenommen,
dann wird die Begründung zirkulär. Oder man versteht die Individuen nicht
als Rechtsquelle, sondern allein als Vertreter von Argumenten. Dann ist aber
der performative Widerspruch nicht mehr einsichtig: Warum sollte man die
»Rechte«, die man in einer Redesituation einnimmt, nicht außerhalb dieser
gegenüber der Not oder Größe des Volkes oder der Kirche aufgeben? Und
warum sollten Argumente für den Primat von Kollektiven oder Experten nicht
als Rechtfertigung akzeptiert werden?
Für die europäische Geschichte hat die Wendung zur unüberschreitbaren
Mindestlinie der Rechte des Individuums viele Voraussetzungen. Sie betreffen
die Überwindung metaphysischer Wertungen (Umkehrung des Vorrangs des
Ewigen und Notwendigen über das vergängliche Zufällige)239 ebenso wie
theologischer (Vorrang des Gottesvolks vor dem Einzelnen). Auch eine grund-
sätzliche Umkehrung der Verbindlichkeitsquellen des Rechts gehört dazu –
vom Ursprung der Rechte in einem göttlichen Willen über die (königliche)
Verleihung von Privilegien etc. zum »allgemein vereinigten Willen« der Staats-
bürger (Kant, AA VI, 313).
Die Emanzipation des Individuums hat religionsphänomenologische und
sozialgeschichtliche Voraussetzungen. Erst wenn das Heil der Gruppe nicht
mehr von der Sünde des Einzelnen abhängt, kann dessen Moral und Religiosi-
tät ihm selbst überlassen werden – von der Ahndung von Verletzungen »säku-
larer« Regeln abgesehen. Sicher ist auch eine Abnahme der Sozialdisziplin
vorausgesetzt, die in Zeiten starker Naturabhängigkeit notwendig sein

238 Locke (1957), Ein Brief über Toleranz, S. 15.


239 Zur Negativbewertung des Individuellen in der Metaphysik vgl. Flasch (2013), Warum ich
kein Christ bin, S. 155, 241 u.ö. Flasch betont auch den antimetaphysischen Charakter der
Aufwertung der Individualrechte. Für die Metaphysik gilt überwiegend, was Michelle
Kosch (2014, Idealism and Freedom, S. 157) zu Schellings Freiheitsschrift schreibt: »Being
an independent particular is itself a temptation, a temptation to put oneself at the
center – elevating the particular over the universal«.
122 5 Begründete Alternativen zur Idee der Menschenrechte ?

mochte. Das Verhältnis zwischen Kollektiv und Individualrechten ist auch


schon wiederholt umgekehrt worden – am deutlichsten im Angriff des
NS-Systems auf den »Irrtum« der Aufklärung, dem Individuum Vorrang
vor dem »Volk« zu geben.240 Diese Voraussetzungen bedeuten aber nicht,
dass die Menschenrechts-Geschichte an die europäische Kultur und ihren
»Individualismus« gebunden wäre (s.o. Kap. 3.3). Die historischen Erfahrungen,
die zu den Völkerrechtskatalogen der Menschenrechte geführt haben, sind,
wie die Geschichte des 20. Jahrhunderts zeigt, nicht auf Europa begrenzt.241
Man muss die Idee des Diskurses also selber historisieren, wie das auch für
den unparteilich wohlwollenden Beobachter gilt. Nicht nur der Skopus der
»Beobachteten« weitet sich. Auch das Gewicht zwischen deren Ansprüchen
verändert sich. Zwar können nicht nur Individuen, sondern auch Gruppen
Unparteilichkeit bzw. Gerechtigkeit verlangen. Man kann auch die für das Be-
stehen der Gruppen minimale Solidarität von Individuen verlangen. Aber mit
dem Opfer ihrer Würde kann man sie nicht mehr erzwingen.
Die Annahme einer historisch belehrten Vernunft scheint mir dem
Eurozentrismus-Verdacht weniger ausgesetzt als die apriorischen Vernunft-
begriffe, die aus der Subjektivitätsphilosophie stammen.242 Da der para-
digmatische und primär zugängliche Ort des Subjekts das Individuum ist,
lassen sich Individualismus-Vorwürfe aus anderen Kulturen schwerer zurück-
weisen. Die wechselseitige Bestätigung historischer Leidenserfahrungen und
allgemeiner Begriffe menschlicher Vermögen und Verletzbarkeiten scheinen
mir die stärkere argumentative Position.
Auch das Resultat der Zurückweisungen der Kritik in diesem Kapitel (5.)
bestätigt die zuvor entwickelte These: Es lässt sich zwar keine strikte und
gänzlich kontextlose Irreversibilität rechtfertigen. Aber die vorgetragenen
teils anthropologischen teils erfahrungsgeschichtlichen Argumente für die
Menschenrechte sprechen dafür, dass durch eine zukünftige Abschaffung des
Kerns der Menschenrechte die Grenzen von Moral und Recht überschritten
und der Gebrauch dieser Begriffe sinnlos würde.

240 In jedem standesamtlichen Ahnenpaß der NS-Zeit stand eine Kritik des Individualismus
der Ideen von 1789 und eine Beschwörung des Primats des Volkes.
241 Vgl. Joas (2015), Sind die Menschenrechte westlich; Bellah/ Joas (2011), The Axial Age and
its Consequences; Assmann, J. (2018), Achsenzeit; Kühnlein (2019), Der Westen und die
Menschenrechte. Eckel (2014, Die Ambivalenz des Guten) analysiert die Gründe der Aus-
einandersetzung und die Idee alternativer (z.B. afrikanischer) Genesen.
242 Vgl. Siep (2012), Wie eurozentrisch ist die praktische Philosophie der Neuzeit?.
Kapitel 6

Gutes Leben und gute Welt

Fragt man nach Zielen und Grenzen des menschlichen Handelns im Um-
gang mit der Welt, vor allem für den technischen Umgang mit der natürlichen
Welt, dann sind die Menschenrechte zwar wichtige, aber keine ausreichenden
Kriterien. Es gibt andere Wesen, für die Zustände der Welt gut oder schlecht
sein können und die vom Standpunkt eines wohlwollend unparteiischen Be-
trachters der Welt im Ganzen berücksichtigt werden müssen. Weder von einer
Ethik aus Prinzipien reiner Vernunft noch von einer rein wissenschaftlich be-
schreibenden und erklärenden Perspektive aus ist ihre Bestimmung möglich.
Es kommt, wie im zweiten Kapitel erörtert wurde, auf das adäquate Verhält-
nis von beobachtenden, erklärenden und wertenden Aspekten des Denkens
an. Was Menschen als eine bestimmte Art von Lebewesen angeht, kann man
auf normative Traditionen zurückgreifen, in denen versucht wurde, das dem
Menschen Zustehende als Rechte zu formulieren und durchzusetzen. Der
neueren, auf universale Menschenrechte zielenden Entwicklung von Recht
und Moral liegt das wertende Konzept von individuell verantwortlichen und
aus Einsicht handelnden Menschen zugrunde. Auf diese Autonomie sollen
Gemeinschaften bauen, in denen Menschen auch zur Lösung gemeinsamer
Aufgaben und zur Arbeit an gemeinsamen »Werken« in der Lage sind.
Aber auch das gute Leben des Menschen hat noch andere Bedingungen als
den Respekt vor den Menschenrechten. Von den Tugenden war oben (Kap. 1.3)
die Rede, die nach Auffassung schon der antiken Philosophie denjenigen, der
sie ausübt, glücklich macht. Von Tätigkeiten für gemeinsame Werke sind wir
gewohnt zu sagen, dass sie dem individuellen Leben »Sinn« verleihen. Glück
und Sinn sind also zusätzlich zu dem »Genuss« von Rechten Bestandteile eines
guten menschlichen Lebens. Zum sinnvollen Leben gehört aber auch die Sorge
um den Weg, der für den Einzelnen geeignet ist, sei es zu seinem »Seelenheil«
oder – wie in der säkularen Moderne – zur Selbstverwirklichung. Bei einem
zumindest biologisch endlichen Leben gehört dazu auch die Einstellung zum
Tod, dem eigenen und dem der anderen (6.2). Wie sich diese Dimensionen
des menschlichen Lebens zueinander verhalten, ob sie unabhängig von-
einander sind und ob es sich um eine vollständige Unterscheidung handelt,
ist Gegenstand der philosophischen Diskussionen über das »gute Leben« (6.1).
In einer Ethik, die von der Möglichkeit einer nicht nur für Menschen guten
Welt ausgeht, ist auch das Verhältnis des guten Lebens zu einer guten Welt zu
reflektieren (6.3).
124 6 Gutes Leben und gute Welt ?

6.1 Wohlergehen, Moral und Sinn des Lebens

In der neueren philosophischen Debatte über das gute Leben werden über-
wiegend die drei Dimensionen des Wohlergehens – oder seiner höchsten
Stufe, des Glücks –, der Moral und des Sinns erörtert. Ob diese Einteilung sinn-
voll und vollständig ist und wie sich die Dimensionen zueinander verhalten,
ist aber umstritten.
Die Wiedereinführung der »Sinnfrage« in die philosophische Ethik war
von einer Unterscheidung geprägt, die sich den Arbeiten von Harry Frankfurt,
Bernard Williams und Susan Wolf verdankt: derjenigen zwischen den Fragen
des ethisch Gebotenen oder Wertvollen und dem, was einem individuellen
Leben Sinn verleiht – mit Harry Frankfurt: The Importance of what we care
about.243 Neuerdings ist aber wieder kontrovers geworden, ob man zwischen
der moralischen Perspektive, der »prudentiellen« – d.h. auf die Wahl der Mittel
des Wohlergehens zielenden – und der Sinn-Perspektive klar unterscheiden
kann.244
Wie die Überlegungen über die Rechte des Menschen hat auch die über sein
gutes Leben insgesamt mit den spezifischen Eigenschaften und Fähigkeiten
des Menschen zu tun (vgl. oben Kap. 4.1). Was die moralische Perspektive an-
geht, sind Menschen die einzigen, die zugleich Betroffene und unparteiische
Beobachter sein können. Sie allein können sich in ihrem Verhalten auf all-
gemeine Regeln verpflichten und diese bewusst einhalten oder brechen.
Menschen erreichen aber nicht nur einen höheren Grad an Selbstdistanz und
Fähigkeit des Umganges mit allgemeinen Perspektiven und Regeln. Sie ver-
halten sich zu diesen auch individuell, persönlich. Sie beziehen alle Güter,
Werte und Sachverhalte auf sich als individuierte, verkörperte, sich ihres »hier
und jetzt« bewusste Wesen. Weil sie zugleich von einem Zentrum aus und in
universalisierender Distanz dazu urteilen,245 können sie sich mit jedem Ziel,
Wert, Urteil, Regel identifizieren, aber auch gleichgültig sein, sich ablehnend
verhalten und sie mit Gründen aufgeben. Das umfasst auch das eigene Leben.
Selbstaufgabe und Selbstopfer können aus höheren Gründen gerechtfertigt
werden und (sich selbst oder anderen) als wertvoll erscheinen. Sie können
aber auch Ergebnis von Verzweiflung oder Überdruss sein. Ob ein gänzlich

243 Vgl. Williams (1985), Morality, the Peculiar Institution; Frankfurt (1988), The Importance
of what we care about; Wolf (2010), Meaning in Life and Why It Matters.
244 Vgl. Ernst (2011), Normative Individualität; Halbig (2019), Sinn – eine dritte Dimension des
guten Lebens.
245 Das hat besonders Thomas Nagel (1992, Der Blick von Nirgendwo) herausgearbeitet.
6.1 Wohlergehen, Moral und Sinn des Lebens 125

teilnahmsloses Dahinleben ein Verzicht oder noch eine Antwort auf »Sinn-
suche« darstellt, ist kaum zu beantworten.
Die zugleich zentrierte und distanzierte Perspektive auf sich selbst ist
Teil dessen, was philosophisch, vor allem in der Neuzeit, die Subjektivi-
tät des Menschen genannt wurde. Bei der Rekapitulation der Geschichte
der Menschenrechte war davon schon die Rede (o. Kap. 3.3). Weil bei den
folgenden Überlegungen davon wiederholt Gebrauch gemacht wird, muss die
Unterscheidung von subjektiver und objektiver Perspektive etwas differenziert
werden – wiederum nur für diesen Zweck und unter Ausblendung der Gesamt-
debatte. Beide können von einem Individuum selber eingenommen oder
angeeignet werden. Sie lassen eine Reihe von Abstufungen zu, für die im
Folgenden bei Gefahr von Missverständnissen Indices (1-3) verwandt werden.
Subjektiv 1: Die subjektive Perspektive ist vor allem die eines Individuums,
das sich selber (metaphorisch »von innen«) von anderen verkörperten Wesen
oder von Gruppen – mehr oder minder institutionalisierten – unterscheidet.
Über die Kriterien der persönlichen Identität muss aber hier nicht gehandelt
werden.
2: Ein Individuum kann sich, vermittelt über Sprache, Gestik oder unmittel-
bare Empathie, auch in die subjektive Perspektive eines anderen Individuums
versetzen.
3: Auch Kollektive können zumindest Elemente solcher Subjektivität be-
sitzen. Diese sind zumeist über Individuen vermittelt, können aber eine weit-
gehende Unabhängigkeit von ihnen erreichen – wie die Entscheidung einer
Institution.246
Objektiv 1: »Objektiv« kann die Perspektive einer Person oder Einrichtung,
heute vielleicht auch eines digitalen Programms (man denke an Profile und
»cookies«) auf ein Individuum sein. Eine solche Außenperspektive kann
ein Individuum sich selber aneignen, vom photographischen Selbstporträt
(»Selfie«) bis zur Personalakte. Sie wird sich aber immer von der Innen-
perspektive unterscheiden.
2: Diese Unabhängigkeit von der individuell-subjektiven Perspektive
kann höhere Grade erreichen, zunächst den einer Übereinstimmung ver-
schiedener Individuen oder Beobachter. Sie kann sich auch auf das richten,
was »von außen« beurteilt für ein Individuum passend erscheint – die
Beraterperspektive.
3: Wenn diese Übereinstimmung in wahren Aussagen besteht – je nach den
Kriterien einer Wahrheitstheorie – sprechen wir von Objektivität des Urteils.

246 Vgl. Jansen (2017), Gruppen und Institutionen.


126 6 Gutes Leben und gute Welt ?

Diese Unterscheidungen sind nicht immer völlig trennscharf. So kann man


von außen feststellbare verbale und nonverbale Äußerungen eines Subjektes
subjektiv (1) nennen, aber objektiv beobachten und beurteilen (objektiv 1-3).
Umgekehrt kann das Individuum selber (subjektiv 1) eine objektive Sicht auf
sich selber zumindest anstreben (objektiv 1-3).
Sowohl die Bekundungen subjektiver Erfahrungen (1) wie die objektiven
therapeutischen und anthropologischen Einsichten (3) in das, was Menschen
zu einem zumindest ausgeglichenen Gemütszustand und zu Anzeichen des
Wohlbefindens führen, legen nahe, dass menschliches Leben nur gut, genannt
werden kann, wenn es zu »lebhaftem« Interesse an eigenen Zielsetzungen
und Handlungen kommt. Menschen wollen selber beurteilen, wann ihr Leben
für sie lohnend ist. Dazu gehört in aller Regel ein Mindestmaß der Erfüllung
körperlicher, emotionaler und intellektueller Bedürfnisse – wenn man diese
der rationalen Psychologie entstammende Dreiteilung zu ersten Orientierung
in Anspruch nimmt.247 Diese Bedingungen sind sowohl individueller wie
sozialer Natur, sie hängen von Kooperation und Anerkennung ab, auf allen
drei Ebenen der Bedürfnisse. Das schließt ein gewisses Maß an Überein-
stimmung über moralische Pflichten ein. Es fragt sich aber, ob das Letztere zu
einem guten, insgesamt bejahens- und erstrebenswerten Leben des Einzelnen
ausreicht oder andere Formen der Bewertung und Identifizierung hinzutreten
müssen.
Viele Individuen identifizieren sich mit der Aufgabe, die in den letzten
Kapiteln behandelten und verteidigten Menschenrechte zu fördern. Sie
engagieren sich mit oft hohem Einsatz in entsprechenden Organisationen. Es
gibt sicher nicht wenige Menschen, die darin die Erfüllung eines sinnvollen
Lebens finden. Aber auch der Einsatz für fremdenfeindliche Organisationen
kann dem Einzelnen sinnvoll erscheinen und es gibt zahllose andere Ziele, mit
denen sich Menschen identifizieren. Sich für das einzusetzen, woran einem
liegt (»care about«), macht einem das Leben bewusst oder unbewusst sinn-
voll. Für sehr viele Menschen kann das aber auch der schlichte Kampf ums
Überleben sein. Sie betrachten ihn vielleicht nur als unausweichliche Aufgabe,
haben dabei aber immerhin Erfahrungen des Gelingens und führen ihn wohl
nicht überwiegend mit Verzweiflung oder völliger Apathie. Für die davon etwas
Entlasteten gibt es erst recht ein großes Spektrum von Zielen, für die sie Zeit

247 Vgl. auch Mohr (2008, Sind die Menschenrechte auf ein bestimmtes Menschenbild fest-
gelegt?) über die Bedeutung körperlicher, psychisch-sozialer und moralisch weltanschau-
licher Bedürfnisse für die Menschenrechte. Zum hier verwandten Bedürfnisbegriff vgl. o.
S. 14, 82.
6.1 Wohlergehen, Moral und Sinn des Lebens 127

und Mühe aufwenden – vom Münzen-Sammeln bis zur Vogel-Beobachtung


oder den sozialen Aktivitäten in der virtuellen Welt.
Zu den Bedingungen einer für alle erstrebenswerten Welt gehört in hohem
Maße die Verbesserung der Voraussetzungen für ein Leben, das möglichst
viele Menschen als lebenswert erfahren, in dem sie sich mit Zielen identi-
fizieren können, sei es mit umfassenden oder mit einer Vielzahl besonderer,
auch spezifisch in verschiedenen Lebensabschnitten.248 Das leidenschaftliche
Engagement sagt aber noch nichts darüber aus, ob die Ziele moralisch zu-
lässig sind und zum Wohlergehen anderer und dem Respekt vor ihren Rechten
beitragen.
Im Folgenden soll zunächst erläutert werden, in welchem Sinne die drei
Dimensionen des guten Lebens hier verstanden werden (6.1.1). Es ist für die
Eigenständigkeit der »Sinndimension« wichtig, sich an die Herkunft der
modernen Erörterung des individuellen Lebenssinnes zu erinnern (6.1.2).249
Spezifisch für den Sinn ist die individuelle Identifikation mit dem, worum
es einem im Leben geht. Wenn die objektive Beurteilung des Sinnes dagegen
überwiegt, droht die Differenz zu den anderen Dimensionen zu verschwinden.
Außerdem ist die gleiche Würdezuschreibung und damit die Idee der
Menschenrechte gefährdet. Entsprechend muss das Verhältnis von subjektiver
und objektiver Perspektive in den drei Dimensionen geklärt werden (6.1.3).
Die Frage, was die unterschiedlichen Dimensionen für die Gesamtgüte eines
guten Lebens bedeutet, ist dann eigens zu erörtern (6.1.4). Anschließend fasse
ich die Ergebnisse beider Abschnitte in Thesen zusammen (s.u. S. 140 f.).
Nicht nur für die Moral, sondern auch für den Sinn des Lebens ist die Ein-
nahme der in diesem Buch entwickelten Perspektive einer guten Welt bedeut-
sam. Es ist zu unterscheiden, welchen Beitrag die gute Welt zum Lebenssinn
leistet, und umgekehrt, was ein sinnvolles Leben zur guten Welt beiträgt (6.1.5).
Beide leiden aber unter einem Übel, dass den individuellen Lebenssinn ebenso
bedroht wie die Bedürfnisse und das Streben alles Lebendigen: der Tod. Das
scheint religiöse oder »existentialistische« Strategien der Bewältigung ebenso
zu fordern wie es technische Strategien der Rückkehr ins Paradies der Unsterb-
lichkeit rechtfertigen könnte (6.2).

248 Zu den Weisen, wie sich der Sinn eines Lebens zu dem der Lebensabschnitte verhält vgl.
Rüther und Muders (2015) S. 77. Der Fokus auf dem »Gesamtsinn« (78) könnte aber dem
Erbe der metaphysischen Tradition des Primats der Einheit und Ganzheit geschuldet
sein.
249 Zur Geschichte des Sinn-Begriffs insgesamt vgl. Gerhardt (2006)
128 6 Gutes Leben und gute Welt ?

6.1.1 Die Unterscheidung der drei Dimensionen


Wie für viele Begriffe der neueren ethischen Diskussion wäre für Wohl-
ergehen und Sinn, in geringerem Maße auch für Moral, eine ausführliche
Klärung der Bedeutungshorizonte in verschiedenen Sprachen notwendig. Vor
allem »Sinn«, »meaning«, »sens« etc. kann sehr unterschiedlich verstanden
werden.250 Sogar zwischen den Substantiven Sinn/meaning und den Ad-
jektiven sinnvoll oder meaningful – meist mit »bedeutend« oder »bedeutungs-
voll« übersetzt –, gibt es möglicherweise eine Differenz. Die Adjektive klingen
für mein Sprachgefühl »objektiver«. Da eine solche Analyse hier nicht mög-
lich ist, gebe ich mein vom deutschen Sprachgebrauch und der ethischen
Tradition – vor allem der aristotelischen und kantischen – bestimmtes Ver-
ständnis wieder. Für den Sinnbegriff wird im nächsten Abschnitt (6.1.2) noch
eigens auf die neuere philosophiegeschichtliche Herkunft eingegangen.251
a) Wohlergehen und seine Perfektion oder sein erfüllter Status, das Glück,
ist das, was alle Menschen sich wünschen – für sich, evtl. auch für andere. Ob
sie sich psychisch und physisch in einem guten Zustand befinden, können
oft Experten (Ärzte, Therapeuten) oder Freunde besser beurteilen. Es betrifft
auch die Wege, auf denen sie das Glück zu erreichen suchen – manchmal
können Externe besser (objektiver im Sinne 2 und 3) beurteilen, ob die Fähig-
keiten des Betroffenen und die Umstände dafür geeignet sind. Das gilt vor
allem dann, wenn es sich nicht nur um augenblickliches, sondern um nach-
haltiges Wohlergehen handeln soll, wie etwa bei Berufsberatung. Was das
Glück angeht, so müssen auch noch andere Unterscheidungen – sowohl die
Dauer wie den Intensitätsgrad betreffend – berücksichtigt werden. Außerdem
hat das Glück auch kulturelle Aspekte: In der Moderne gehört die Autonomie
(»seines Glückes Schmied«) unabdingbar dazu – was »Glücksberatung« nicht
ausschließt.
b) Auch bei der Moral ist die subjektive Seite des Gewissens oder der
Situationseinschätzung und die objektive Seite moralischer Regeln zu unter-
scheiden. Den Primat hat offenbar die objektive Perspektive (2,3): Pflichten,
Tugenden, moralische Werte, zu erreichende Zustände etc. gelten für alle.
Aber es gibt Werte, die kulturspezifisch oder für den Einzelnen von Bedeutung
sind. Wenn es richtig ist, dass zentrierte und distanzierte Perspektive nie völlig

250 Nicht zuletzt wegen der Verwandtschaft mit den theoretischen Begriffen der Fregeschen
Tradition (Sinn und Bedeutung). Vgl. Frege (1969).
251 Ausführlicher zu den Begriffen Rüther und Muders (2015), Sinn und Wohlergehen, S. 77
sowie die Einleitung in Hoesch/ Muders/ Rüther (2013), Glück, Werte, Sinn. Vgl. auch
meinen Beitrag in diesem Band (Siep 2013c, Was für ein Leben? Was für ein Sinn).
6.1 Wohlergehen, Moral und Sinn des Lebens 129

getrennt werden dürfen,252 ist eine größere Dringlichkeit der Nahbeziehung


vor der »Fernethik« zu rechtfertigen. Subjektiv sind auch die Momente der
Entscheidung und der Motivation, aus Überzeugung das Richtige zu tun. Auch
das Gewissen hat subjektive (1), aber auch objektive (3) Elemente: Man will im
eigenen Urteil das objektiv Richtige tun und kann sich darüber auch täuschen.
c) Auch bei »Sinn« oder »meaning« gibt es beide Aspekte, die z.T. mit Unter-
schieden der Tradition und Herkunft des Begriffs aus theoretischen und
praktischen Kontexten zu tun haben: Der Sinn eines Textes ist der Zusammen-
hang der Bedeutung seiner Elemente, der Sinn einer Handlung oder sogar des
Lebens hat es mit Zweck und Wert zu tun. Solange die Welt ein nach Plan ge-
schriebenes Buch war, fiel die Differenz nicht besonders ins Gewicht. Ohne
ein nachweisbares »Design« dieser Art ist das anders. Lebensläufe sind nicht
durchgängig nach Zweck-Mittel-Relationen strukturiert. Nicht nur Tugenden,
wie bei Aristoteles, sondern auch Handlungen des Genießens oder des »sich
Treiben Lassens« (der berühmte Stadt-Flaneur) können nicht nur glücklich
machen, sondern auch zum sinnvollen Leben beitragen. Bestandteil und
Mittel sind unterschiedliche Relationen auf ein Ganzes bzw. einen Zweck.
Das Leben der Individuen muss in einer evolutionären Welt ohne Endzweck
nicht mehr »gerechtfertigt« werden. Außerhalb religiöser Vorstellungen der
essentiellen Sündigkeit (»Erbsünde«) des unerlösten Menschen gibt es weder
für die Individuen noch für die Gattung eine Notwendigkeit der Rechtfertigung
ihrer Existenz.253
Entsprechend wichtiger wird der subjektive (1) Faktor: Sinnvoll ist ein
Leben, das für denjenigen, der es führt, seiner Anteilnahme wert ist. Wie zum
Wohlergehen heute die Autonomie gehört, so zum Sinn die Authentizität
oder »Jemeinigkeit« des Lebens. Allerdings ist auch hier Täuschung über das
möglich, was als Ziel oder Lebensform zu jemandem passt, ihn hinreichend
ausfüllt. In einer Welt der gleichen Menschenwürde und des gleichen Rechts
auf Selbstbestimmung hat aber niemand die Autorität, von außen zu urteilen,
ob ein Leben sinnvoll oder sinnlos, wertvoll oder wertlos ist – von später zu
diskutierenden Grenzfällen der Verbrecher gegen die Menschenwürde ab-
gesehen. Wohlergehen oder Glück sucht man weitgehend so wie jedes Lebe-
wesen auf seine Art, im Moment oder dauerhaft. Von den subjektiven und

252 Diese Auffassung vertritt vor allem Thomas Nagel (1992, Der Blick von Nirgendwo, S. 294-
301). Sie erschein mir auch vom Standpunkt einer konkreten Ethik aus einleuchtend
(Siep (2016), Konkrete Ethik, S. 290 f., 303).
253 Man kann allenfalls die Menschheit als ganze oder eine Generation daran messen, in-
wieweit sie im Guten oder Schlechten auf die Welt als ganze (»Mitwelt« und zukünftige
Generationen) gewirkt hat. Vgl. Meyer-Abich (1997), Praktische Naturphilosophie, vor
allem Kap. V.
130 6 Gutes Leben und gute Welt ?

objektiven Momenten der Glückssuche wird noch die Rede sein. Was einem
persönlich das Leben sinnvoll und lohnend macht, kann aber mit viel Verzicht,
Leiden etc. verbunden sein. An dem, was man einsetzt bzw. zu opfern bereit
ist, kann nicht zuletzt der Wert gemessen werden.
Ein »einmaliges« Leben muss aber nicht unersetzlich sein, nicht in der
sozialen Umgebung und erst recht nicht im Weltganzen. Auch in dieser Hin-
sicht muss es keine Rechtfertigung für ein Dasein geben. Für den einzelnen
ist das eine Frage des moralischen Verdienstes oder der Schuld, nicht der
Existenzberechtigung oder des Sinns. Auch die Selbstperfektionierung,254 die
vielfach als wichtiger Bestandteil des Lebenssinnes bezeichnet wird, bedeutet
nicht, dass ein Leben erst Verdienste erringen muss, um überhaupt in seiner
Existenz gerechtfertigt zu sein. Es ist aber nicht zu bestreiten, dass für viele
Menschen Selbstverbesserung oder Perfektionismus eine Quelle des Lebens-
sinnes ist. Dazu trägt auch die Anerkennung bei, die Asketen, Künstlern oder
Sportlern aus ihrer Umwelt entgegengebracht wird.

6.1.2 Die Herkunft der modernen »Sinn-Frage«


Dass man dem guten Leben eine eigene Dimension des Sinnes zugesprochen
hat, verdankt sich dem Versuch der Aufnahme einer Tradition der Authentizi-
tät, der Eigentlichkeit und des »Entwurfs« der eigenen Existenz. Diese Tradition
geht vor allem auf die Romantik und den Rousseauismus zurück und hat sich
in der Existenzphilosophie des 19. und 20. Jahrhundert verstärkt. Eine wichtige
Zwischenposition nimmt die Philosophie Hegels ein, der sich, vor allem in der
Phänomenologie des Geistes, um eine Vermittlung der romantischen Suche
nach Selbstverwirklichung mit der klassischen Tradition der Bildung durch
Versachlichung und Hingabe an objektive Werte – wenn auch nicht unter
diesem Begriff – bemüht. Für Hegel wie für Goethe ist der ästhetische und
moralische Subjektivismus ein entscheidendes Kennzeichen der Moderne, das
aber durch die Selbstverabsolutierung in Zynismus und Zerstörung endet. Die
Größe vor allem des modernen Staates liegt für Hegel darin, dieses »Prinzip«
der Individualität sich frei entwickeln zu lassen und doch in die Bindungskraft
einer objektiven Sittlichkeit zurückzuführen.255
Die weitere Pluralisierung der Lebensformen und Überzeugungen in der
Gesellschaft hat seitdem aber zu einer immer größeren Entfremdung zwischen
der Suche nach Authentizität und den sachlichen Erfordernissen einer Gesell-
schaft geführt, die von modernen technisch-industriellen und ökonomischen

254 Oder Selbsttranszendierung im Sinne von Sebastian Muders. Vgl. Muders (2017), Das
sinnvolle Leben und die gute Welt, S. 117-138, hier S. 129 f.
255 Vgl. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 260. Hegels Darstellung und Kritik
des Subjektivismus findet sich vor allem in den Kap. V B und C der Phänomenologie
(GW 9) und im Abschnitt Moralität (vor allem § 140) der Grundlinien (GW 14.1).
6.1 Wohlergehen, Moral und Sinn des Lebens 131

(»kapitalistischen«) Sachgesetzen beherrscht ist. Außerdem hat die identi-


tätsstiftende Kraft von Glaubens- und Sittengemeinschaften, jedenfalls in
säkularen Gesellschaften, stark abgenommen. Das Phänomen des »ennui«,
der Teilnahmslosigkeit und des Gefühls der Sinnlosigkeit hat – mit unter-
schiedlichen Höhen und Tiefen in den letzten beiden Jahrhunderten – eher
zu- als abgenommen.
Von dieser breiten Strömung haben Philosophen der angelsächsischen
Tradition wie Bernard Williams, Harry Frankfurt, Thomas Nagel, Charles Taylor
und Susan Wolf im Wesentlichen einen strukturellen Aspekt aufgenommen.
Er betrifft die Frage, wie sich das Individuum an Ziele, Aufgaben, Güter bindet,
die seinem Leben Richtung und Gewicht verleihen. Dabei ist aber die Frage
nach dem Anteil der subjektiven und objektiven Bewertung bis heute um-
stritten (vgl. u. S. 133-137).256 Bei der Betonung der objektiven Seite ist oft die
Anknüpfung an die alte metaphysische (physikotheologische) Frage noch
spürbar, ob dem Ganzen des Lebens oder der Welt ein »objektiver«, als Zweck-
zusammenhang oder rationaler Plan zu entziffernder Sinn zukommt. Oder
es gehen moralische, ästhetische und andere kulturelle Wertkriterien ein,
manchmal mit einer bildungsbürgerlichen Voreingenommenheit (»bias«). Das
entspricht durchaus alltäglichen Sinn-Diskussionen – etwa den berühmten
Schulaufsätzen zum »Sinn des Lebens«. Es passt aber nur schwer zu modernen
Naturerklärungen und Autonomierechten und gefährdet die Selbständigkeit
der Sinndimension.
Was die »lebensweltliche Basis« der philosophischen Sinn-Fragen angeht,
kann man Christoph Halbig weitgehend zustimmen: Es handelt sich vor allem
um »die rückblickende Bewertung des eigenen Lebens oder von Abschnitten
davon oder die Deutung von Entfremdungserfahrungen mit eigenen Projekten
und Zielen«.257 Es geht aber wohl auch um prospektive Überlegungen, vor
allem bei »Richtungsentscheidungen« der Lebensführung – Wahl eines
Berufes, eines Projekts oder einer Partnerschaft. Die Frage, welche Richtung
ein sinnvolles Leben verspricht, ist unterscheidbar von derjenigen, ob mich
diese Entscheidung (voraussichtlich) glücklich macht. Wie »bedeutsam« die
Aufgaben und Werte sind, denen man sich widmet, ist eine vor allem tugend-
und wertethische Frage.258 Es kann allerdings auch für einen externen Rat-
schlag wichtig sein, zu welchen Aufgaben die eigenen Kräften und Interessen
am besten passen (objektiv 1 u. 2).

256 Susan Wolf etwa gibt der objektiven Sicht eine stärkere Bedeutung als Harry Frankfurt:
»meaning arises when subjective attraction meets objective attractiveness« (Wolf (2010),
Meaning in Life, S. 9). Zu der Debatte mit einem eigenen Vermittlungsversuch vgl.
Stoppenbrink (2019), Praktisch bedeutsam, intrinsisch wertvoll und objektiv gut?.
257 Halbig (2019), Sinn – eine dritte Dimension des guten Lebens?, S. 77.
258 Wie ja auch bei Tugenden, vgl. Christoph Halbig (2013), Der Begriff der Tugend, S. 251.
132 6 Gutes Leben und gute Welt ?

Christoph Halbig bestreitet, dass die »Sinn-Dimension« eine eigen-


ständige dritte zu denen des Wohlergehens und der Moral ist, und zwar
sowohl im axiologischen Sinne einer eigenen Wertklasse wie im rationali-
tätstheoretischen einer eigenen Klasse von Gründen für Handlungen. Statt-
dessen empfiehlt er »die Vielfalt der Weisen, in denen gerade prudentielle und
moralische Gesichtspunkte sinnstiftend sein können, besser verständlich zu
machen«.259 Dem ist zuzustimmen, aber die phänomenologische Evidenz für
Eigenschaften der (modernen) »Sinndimension«, die von denen der beiden
anderen unterschieden sind, scheint mir erheblich.
Dass es genau die drei Dimensionen des guten Lebens gibt, die in der
modernen Diskussion mit Moral, Wohlergehen (oder Glück) und Sinn be-
zeichnet werden, ist in der Tat schwer zu beweisen. Andere Dimensionen sind
vorgeschlagen worden.260 Die Eigenständigkeit der Sinn-Dimension und ihres
subjektiv-individuellen Kerns ergänzt die beiden anderen aber in einer Weise,
die der Grenze an der Menschenwürde auf der einen Seite und der Offenheit
für eine gute Welt auf der anderen gerecht wird (s.u. Kap 6.1.5). Eine solche
Zielvorstellung hat eine eigene Attraktivität für das Mitwirken an sinnvollen
Aufgaben.261 Bei der Dimension des Sinnes geht es aber noch um eine andere
Art der Attraktivität: Nämlich die von Lebensweisen, Aufgaben und Zielen für
ein bestimmtes Individuum. Die Menschenrechte räumen dazu den nötigen
Spielraum ein. Das gilt auch für das Glücksstreben. Aber obwohl auch diesem

259 Halbig (2019), Sinn – eine dritte Dimension des guten Lebens?. Halbig gesteht durchaus
zu, dass es Gründe der Differenzierung zwischen Moral, Wohlergehen und Sinn gibt,
sowohl auf axiologischer (S. 76) wie rationalitätstheoretischer Ebene (»lassen sich durch-
aus überzeugende Beispiele für Gründe anführen, die sich weder als moralische noch als
prudentielle angemessen verstehen lassen«, ebd.). Er bestreit nur, dass es sich um eine
von genau drei Dimensionen und eine ebenso fundamentale wie die beiden anderen
handelt (S. 76 f.). Beides muss man nicht behaupten, wenn man, wie hier, für die Selb-
ständigkeit der »Sinn-Dimension« plädiert. Allerdings lassen sich aussichtsreiche andere
Kandidaten (etwa die religiöse) unter diese subsumieren – jedenfalls unter Voraus-
setzungen der Moderne.
260 Metz (2013, Das Sinnvolle und das Lebenswerte) unterscheidet vom Wohlergehen und
vom Sinn noch das »Lebenswerte«, das zu einem guten Leben hinzukommen müsse.
Er differenziert zwischen »worthwile« als »erfreulich« und »sinnvoll« als »einen be-
sonderen Stolz oder eine besondere Bewunderung« rechtfertigend (123). Dieser Sinn-
begriff kann auch weder intendierte noch bewusst gewordene – nämlich postmortale
– positive Konsequenzen für andere umfassen (das Beispiel des Malers van Gogh). Es
fragt sich, ob ein so objektiver Sinnbegriff die Selbständigkeit dieser Dimension nicht
gefährdet und eher dem moralischen Verdienst oder den Beiträgen zu einer guten Welt
zuzuordnen ist.
261 Vgl. auch meine Überlegungen zum Verhältnis von Wert und Motivation in Siep (2016),
Konkrete Ethik, S. 92 f. 177.
6.1 Wohlergehen, Moral und Sinn des Lebens 133

Streben eine »Selbstsorge« zukommt, scheint mir die Art des Engagements für
»mein Ding« – wie die moderne Jugend- und Werbesprache das nennt – bei
der Beurteilung eines sinnvollen Lebens charakteristisch anders.

6.1.3 Subjektive und objektive Perspektive des Sinns


Für Wohlergehen, Moral und Sinn des Lebens haben die subjektive und
objektive Perspektive unterschiedliche Bedeutung.
(1) Zunächst zur subjektiven Perspektive: Im moralischen Leben spielt das
eigene Urteil und die Zustimmung des Gewissens eine wichtige Rolle. Aber es
geht primär um das moralisch Richtige und nicht um die Individualität und
ihre Passung für eine spezifische Aufgabe. Die Befriedigung über die eigene
Kompetenz, die sich bei der Erfüllung der Pflichten einstellen kann, ist nicht
das Ziel der Handlung. Auch die Freude an der Ausübung der Tugenden, für
die antike Philosophie eine der wichtigsten Glücksquellen, ist nicht das vor-
rangige Ziel. Bei tugendhaften Handlungen geht es ebenso um den objektiven
Wert der realisierten Sache wie um die Erfüllung und Selbstübereinstimmung
des Tugendhaften, wie die »rekursive Theorie der Tugend«262 zu Recht hervor-
hebt. Selbst bei der Sorge um das eigene Wohlergehen ist die subjektive
Attraktion nur insofern wichtig, als man die eigenen Präferenzen erkennen
muss.
Dagegen ist die Rolle der individuellen Entscheidung und des »es geht
mir um mich selber« bei der Suche nach einem sinnvollen Leben ungleich
größer. Dabei kann das Verhältnis zwischen der aktiven, sinngebenden Rolle
eigener Wahl einerseits, und des Findens263 bzw. »Sinnentdeckens« sehr
unterschiedlich sein – es kann eine Skala zwischen beiden geben. Außerdem
hat Markus Rüther darauf aufmerksam gemacht, dass es durchaus eine
Wahl zwischen gleich guten Möglichkeiten geben kann.264 Dann kommt ein
inneres – manchmal auch äußeres – Werfen von Losen ins Spiel, nicht nur
die Entscheidung aus dem buchstäblichen »Bauchgefühl«, das ja immer noch
auf einer Geschichte der Gefühle und Assoziationen beruht. Die möglichst

262 Vgl. Halbig (2013), Begriff der Tugend, S. 49-54 et passim.


263 Vgl. dazu Ernst (2011), Normative Individualität, S. 154, Anm. 27: »Sowohl im individuellen
wie im gemeinschaftlichen Fall kommt es immer wieder vor, dass Menschen eine wert-
volle Form des Lebens finden.« Sein Beispiel der Lebensform der Geschlechtergleich-
berechtigung abstrahiert allerdings von der Grundrechtsentwicklung.
264 Vgl. Rüther (2017), Die Rolle der individuellen Entscheidung, S. 139-157, hier S. 156. Rüther
stimmt darin mit Ernst (2011) überein. Ernst verfolgt die Bedeutung der individuellen
(oder »kulturrelativen«) Entscheidung im Feld der Moral. Da er Werte mit Gründen und
dem, was jemandem wichtig ist, identifiziert (vgl. S. 151, 154) unterscheidet er offenbar
nicht zwischen moralischer (Wert-) und »Sinn«-Dimension.
134 6 Gutes Leben und gute Welt ?

unbeeinflusste Dezision kann ein »Metawert« sein, der in die Auswahl der
Möglichkeiten erst eine Hierarchie bringt.265 Das heißt aber nicht, dass
Authentizität eine völlig beratungs- und überlegungsfreie Dezision verlangte.
Man kann ebenso in der möglichst differenzierten Abwägung der Optionen
und ihrer Folgen für das Leben als Ganzes einen Metawert sehen. Vielleicht
sind Wahlen zwischen gleich »attraktiven« Zielen auch ein »Luxusproblem«,
das sich Menschen in ärmeren und weniger autonomiefreundlichen Gegenden
selten stellt.
In der neueren Bioethik ist die Frage umstritten, ob eine bestimmte
genetische Ausstattung die Wahl sinnvoller Lebensziele erleichtert. Ob eine
genetische Vorprägung günstig ist oder zu einer Belastung durch die Vor-
erwartungen der Erzeuger und der sozialen Umgebung führt, ist schwer zu
entscheiden. Das Risiko solcher Belastungen sollte vor der genetischen »Ver-
besserung« des Nachwuchses nach Antizipation der Eltern eher warnen. Vom
Ziel her gerechtfertigt wären allenfalls Versuche, Kinder vor allzu einengenden
und benachteiligenden »Ausstattungen« zu bewahren.
Für Sinnentscheidungen gibt es jedenfalls eine reiche Phänomenologie
zwischen Anziehung und Ausprobieren, langer Suche und plötzlichen Ent-
deckungen, gründlichem Überlegen und »glücklichen« Intuitionen. Grund-
sätzlich wichtig ist die Bedeutung und Unersetzbarkeit der persönlichen
»Bindung« an eine Lebensweise, sei es durch Entscheidung, Attraktion oder
Konvention.266 Dass dem Leben entweder nur durch die Attraktion von Werten
oder die individuelle Wahl eines umfassenden »Entwurfs« Sinn zukommen
könnte (s.u. S. 150), ist jedenfalls nicht ohne Voraussetzungen erweisbar, die
heute nicht mehr allgemein akzeptabel sind.267 Wenn die Sinnfrage letztlich
nur vom Individuum selber zu entscheiden ist, sagt das nichts über den Inhalt
der Entscheidung, eine enge Selbstzentrierung oder die Überschreitung eines
solchen Horizonts.

265 Rüther (2017), Die Rolle der individuellen Entscheidung, S. 155.


266 Richtig ist, dass solche Entscheidungen nicht nur für die Sinn-, sondern auch für die
moralische Dimension Folgen haben. Sie ziehen Konsequenzen für die Gewichtung der
moralischen Pflichten und Güter der Handelnden nach sich. Vgl. Ernst (2011), Normativer
Individualismus.
267 Dass Werte nicht nur durch Wahl, sondern auch durch Anziehung »befreiende«
Bindungen entfalten können, wie Joas (1997) und Taylor (1994) betonen, ist damit nicht
bestritten. Aber zum einen ist die Transzendierung des jeweiligen Horizonts noch
kein Schritt in die (übersinnliche) Transzendenz. Zum anderen ist das Interesse an der
eigenen Wahl kein Narzissmus oder die bloße Freiheit des »Bratenwenders« (Kant, AA V,
97). Schon Hegel hat nach einer Vermittlung zwischen subjektiver »Ironie« und der Sehn-
sucht nach unbezweifelbaren Werten (für ihn die Quelle der romantischen Konversionen
zum Katholizismus) gesucht.
6.1 Wohlergehen, Moral und Sinn des Lebens 135

(2) Eine von den beiden anderen Dimensionen unterschiedene Rolle spielt
auch die objektive Seite der Sinndimension.268 Trotz der überragenden Be-
deutung der subjektiven Entscheidung (»Identifizierung«) gibt es für ein
sinnvolles Leben auch objektive Kriterien, sowohl externe (objektiv 1,2) wie
auf allgemeinen Gründen basierende (objektiv 3). Konsensuelle menschliche
Erfahrungen und ihre begriffliche Rechtfertigung zu Rate zu ziehen, kann die
»Sinnchancen« eines Lebens, Lebensabschnittes oder einer kontinuierlichen
Praxis erhöhen. Es gibt aber drei Stufen einer objektiven Stellungnahme, die
man unterscheiden und unterschiedlich bewerten muss:
a) Die externe Vermutung über das, was zu einem Individuum passt und
es vermutlich langfristig ausfüllen wird (objektiv 2). Im Sinne einer nicht-
direktiven Beratung ist das mit der Autonomie und Gleichheit aller »Sinn-
sucher« vereinbar.
b) Die Beurteilung des Wertes der gewählten Ziele, der Leistungen und
der Folgen für die Umwelt und die Nachwelt.269 Das ist als »interesselose«
Beobachtung akzeptabel und kann allenfalls in die Beratung eingehen. Es
benutzt aber Maßstäbe, die nicht genuin zur Sinndimension gehören, vor
allem ethische und »perfektionistische« unterschiedlicher Wertungsskalen
(ästhetisch, sportlich, wissenschaftlich etc.). Dabei stehen unvermeidlich auch
kulturell-partikuläre im Hintergrund und es droht Konformismus. Eine solches
Urteil sozusagen über die Leistungshöhe eines Lebens darf die Autonomie der
Entscheidung und die Gleichheit des grundsätzlichen Wertes bzw. der Würde
nicht beeinträchtigen.
c) Die Rechtfertigung eines Lebens bzw. einer Existenz als sinnvoll oder
sinnlos.270 Eine solche Messung setzt eine unumstritten objektive Wert-
ordnung voraus und eine Bewertung eines Lebens von außen nach Gewicht
und sozusagen seinem Platz im Universum. Das ist ein »god’s eye view« den
Menschen nicht besitzen und bei Annahme gleicher Würde auch nicht ein-
nehmen dürfen. Ob es Ausnahmen bei Menschen gibt, deren Lebenssinn in
der Vernichtung der Würde anderer besteht, ist noch zu erörtern (s.u. S. 138 f.).
Kann man Urteile der ersten und zweiten Stufe dann vertreten, wenn
Menschen beim Versuch, ihre Lebenspläne zu verwirklichen, gescheitert sind?
Auch hier ist die eigene Sicht der Betroffenen in der Rückschau nicht zu über-
trumpfen. Die objektive Leistung entscheidet keineswegs immer über den Sinn

268 Womit wiederum nicht entschieden sein soll, dass es nur diese drei Dimensionen gibt.
269 Vgl. Metz (2013), Das Sinnvolle und das Lebenswerte, S. 123 f.
270 Das ist keine weitere Bedeutung von »objektiv«, sondern ein Vergleichen und Abwägen
des Wertes von individuellem Leben überhaupt. Unterschiedliche Verdienste für Mit-
menschen und Welt rechtfertigen aber keine Urteile über Existenzberechtigung.
136 6 Gutes Leben und gute Welt ?

als Erfolg der Identifizierung (subjektiv 1). Auch der Versuch, das individuell
Erreichte oder die rechtzeitige Aufgabe kann sinnvoll gewesen sein. Allen-
falls lassen sich für die Diagnose und die Warnung vor Entfremdung und Ver-
zweiflung annähernd objektive Kriterien der Psychopathologie angeben. Auch
literarische Zeugnisse von Ennui und Apathie sind aussagekräftig – man denke
an Chechov oder Gogol. Auf dem Weg, wieder Interesse und Anteilnahme am
Leben zu entwickeln, sind sie von großer Bedeutung. Zu »Unwerturteilen«
über Lebenssinn berechtigen sie aber nicht.271
Die Gefahr eines Paternalismus in der Beurteilung fremder Lebenspläne
besteht sicher auch beim Wohlergehen oder Glück. Niemand ist deshalb un-
glücklich, weil er das im Urteil anderer sein müßte. Aber dieses Urteil hat auch
nicht die Bedeutung eines Sinnlosigkeitsurteils. Außerdem spielt die objektive
Dimension zumindest der Beratung – im Zeitalter der Menschenrechte nicht
des Zwangs – eine größere und unproblematischere Rolle: Es handelt sich
um Optionen, die wesentlich weniger von individuellen Präferenzen und
Synkrasien abhängig sind. Menschen nehmen auf diesem Feld eher an, dass
das, was »man« tut Erfolg verheißt – die Kultur des Massenkonsums ist der
Beweis. Nachahmung und »geteilte Freuden« spielen beim Sinn eine wesent-
lich geringere Rolle. Das heißt nicht, dass die sinnvollen Ziele auch inhaltlich
individualistisch sein müssen – Einsatz und Opfer für andere und für Ge-
meinschaften ist erfahrungsgemäß besonders »sinnversprechend«.272 Aber es
kommt viel stärker als beim Wohlergehen darauf an, dass sie persönlich an-
geeignet sind.
Noch unproblematischer ist die Bedeutung der objektiven Perspektive in
der Moral. Es geht ja um gemeinsame, möglichst objektiv begründete Normen.
Zum modernen moralischen Subjekt gehört aber – was die Grund- und
Menschenrechte zu schützen haben (s.o. S. 46) –, die eigene Einsicht und die
Zustimmung des Gewissens. Das schließt aber das objektiv berechtigte Urteil
nicht aus, dass jemand falsch gehandelt hat oder ein »Wiederholungtäter« ist.
Die Verallgemeinerung auf Laster und schlechten Charakter sollte mit großer
Vorsicht erfolgen, ist aber nicht so grundsätzlich fehl am Platz wie ein Sinn-
losigkeitsurteil. Von extremen Ausnahmen des Letzteren wird noch die Rede
sein (u. S. 138).

271 Zu der Problematik solcher Urteile für den Respekt vor der Menschenwürde vgl. Pollmann
(2018), Lernen aus historischem Unrecht? S. 57.
272 Insofern ist Wolf (2010, Praktische Ethik, S. 9) zuzustimmen, dass das objektiv Erstrebens-
werte (»attractiveness«) Sinnerfahrungen ermöglicht. Vgl. die in Siep (2013c, Was für
ein Leben?) diskutierten Kriterien sinnvoller Aufgaben sowie die interessanten Über-
legungen von Savadogo (2019), Vie Sensée et Vie Heureuse.
6.1 Wohlergehen, Moral und Sinn des Lebens 137

Generell lässt sich sagen, dass die Bedeutung der subjektiven Perspektive
beim Sinn am wichtigsten ist und über das Glück zur Moral nachlässt, die
objektive (in allen Bedeutungen) dagegen umgekehrt ansteigt. Aber trotz
dieses »Individualismus« des Sinns folgt daraus nichts über die als sinnvoll
verfolgten Ziele – sie können auch in einer Hingabe an gemeinsame Güter
und Gruppenziele liegen. Das entspricht dem Befund über die Ausübung von
Menschenrechten.

6.1.4 Gütekriterien des guten Lebens


Für Theorien des guten Lebens ist eine wichtige Frage, ob die »Gütekriterien«
der Dimensionen von Wohlergehen, Moral und Sinn zu einem gemeinsamen
Maß der Güte beitragen oder nicht. Aus der Sicht des Wohlergehens wird man
sagen, dass zum guten Leben ein Mindestmaß an Freiheit von Not und Leiden
gehört. Das »tapfere« Ertragen großen Leids kann aber moralisch bewunderns-
wert sein. In der Bewältigung großer Schwierigkeiten kann ein Mensch auch
Quellen des Sinns und der Identifikation mit seinem Schicksal finden.
Moralisches Leben gehört schon deshalb zum guten Leben des Menschen,
weil es am stärksten seine (erworbenen) Gattungsfähigkeiten der Selbstver-
pflichtung auf Regeln, des Respekts vor den Rechten des Anderen und der An-
teilnahme an fremden Sorgen und gemeinsamen Aufgaben manifestiert. Es
kann dem Glück im Sinne des Wohlbefindens Abbruch tun, enthält aber für
die philosophische Tradition und auch für Glücksforscher eigene Beiträge zum
Glück – vor allem der Selbstübereinstimmung dessen, der sich keine Vorwürfe
machen muss.273 Um das genauer zu bestimmen, müsste man verschiedene
Güterarten und Weisen des Wohlbefindens, der Zufriedenheit und der Er-
füllung unterscheiden.
Sinnvolles Leben gehört sowohl zu den Fähigkeiten wie zu den Bedürfnissen
des Menschen, sein eigenes Leben bewusst zu führen und sich mit seinen Auf-
gaben und Tätigkeiten zu identifizieren. Je nach der objektiven Nachvollzieh-
barkeit des Wertes dieser Aufgaben und Leistungen wird dem Leben auch von
außen mehr oder weniger Sinn zugeschrieben. Diese Zuschreibung kann aber
die subjektive Identifizierung nicht ersetzen.

273 Für einen Aristoteliker liegt das Glück in der Übereinstimmung der seelischen Kräfte
unter Führung der Vernunft – das heißt auch in der inneren Ruhe dessen, der sich keine
Vorwürfe machen muss. Für den Kantianer ist Handlung nach dem Sittengesetz – und in
der Folge gutes Gewissen – die entscheidende Voraussetzung für ein verdientes Glück,
über das aber erst jenseits dieses Lebens entschieden wird. Zu neueren empirischen
Untersuchungen zum (positiven) Einfluß der Moral auf das Glück vgl. Bayertz (2007),
Ethik und Lebensgestaltung.
138 6 Gutes Leben und gute Welt ?

Alle drei Dimension besitzen also eigene Gütekriterien. Sie können die Güte
in den anderen Dimensionen – wie die Beiträge moralischen Handelns zu
Glück und Sinn – erhöhen und sie können sich zur Gesamtgüte eines Lebens
ergänzen. Es kann aber auch Spannungen zwischen ihnen geben, so dass ein
Leben nicht in jeder Dimension gut genannt werden kann. Solange in jeder
Dimension ein gewisses Maß vorhanden ist, wird man aber noch von einem
hinreichend guten Leben sprechen können. Fragen des minimalen, optimalen
oder maximalen Wohlergehens, der tolerablen, anerkennenswerten oder
perfekten Moral etc. werden hier nicht weiterverfolgt.
Kann aber ein völliges Fehlen von »Güte« in einer Dimension die Güte der
anderen und damit die Güte des Lebens insgesamt zerstören? Das scheint
am ehesten dann der Fall zu sein, wenn der Sinn eines Lebens dazu führt, die
Güter Anderer in allen Dimensionen zu zerstören. Kann ein engagierter und
reueloser Verbrecher, dessen Schuld objektiv etwa am Maßstab der Menschen-
rechte zu messen ist, auch die Güte seines eigenen Lebens zerstören? Kann
man ein solches Leben dann doch als »sinnlos« bezeichnen? Dann würde
offenbar zumindest in Grenzfällen, die objektive Sinndimension die subjektive
»übertrumpfen«. Dieser Frage soll hier noch etwas nachgegangen werden, um
den Beitrag des Lebenssinns zum guten Leben genauer zu bestimmen.
Unsere alltägliche Verwendung von »Sinn« scheint nahezulegen, dass es
den großen Zerstörer gibt, der sein Leben selber als sinnvoll erfährt. Wenn
über den Sinn eines Lebens nicht ohne die eigene Perspektive desjenigen ent-
schieden werden kann, der es führt, dann scheint auch der Ganove als Lebens-
künstler, der Mafioso oder der Kriegsverbrecher ein sinnvolles Leben führen
zu können. Die gleiche Würde jedes Einzelnen verbietet die Einnahme einer
»Gottesperspektive« über den Sinn der Existenz eines Menschen.
Andererseits sagen wir in extremen Fällen der mutwilligen oder raffiniert
geplanten, lustvollen Zerstörung doch, es wäre besser gewesen, dieses
Individuum hätte nicht existiert. Das ist vor allem aus moralischer Sicht ge-
urteilt,274 aber die Zerstörung sinnvoll angelegter und ausgeführter Lebens-
läufe ist auch »sinnwidrig« im objektiven Sinne. In beiden Dimensionen
kann, objektiv (3) geurteilt, der Sinn eines Lebens sozusagen die Nullgrenze
erreichen – was nicht bedeutet, dass man in seiner Behandlung nicht auf den
Respekt vor der Menschenwürde verpflichtet wäre. Es heißt auch nicht, ihm
den subjektiven Sinn abzusprechen. Eine gewisse Parallele besteht zu Hannah
Arendts Urteil über Eichmann: wer ganzen Völkern oder Rassen das Recht zur

274 Dann muss sich die moralische Perspektive aber auf unbedingte Gebote bzw. Rechte
beziehen (o. Kap. 5.4). Man darf nicht im konsequentialistischen Sinne böse Taten
durch positive Folgen relativieren. Viele zerstörerische Modernisierer, Adolf Hitler ein-
geschlossen, haben positive (Modernisierungs-)Folgen hinterlassen.
6.1 Wohlergehen, Moral und Sinn des Lebens 139

Existenz abspreche, habe es selber verloren.275 Aus einem solchen Unwert-


Urteil folgt allerdings noch nicht das Recht zur Todesstrafe. Gerade, dass wir
nicht zu unzweifelhaft gerechten Strafen in der Lage sind, unterscheidet ein
bloß hypothetisches Urteil der Sinnlosigkeit von dem göttlichen, das ewige
Strafen verhängen kann – wenn das zu seiner Allgüte passt.
Diese Verkehrung des Sinns in die Sinnlosigkeit hängt mit der Ambivalenz
der Sorge, des »care about«, zusammen: Zu dem, was ein Leben für den, der
es führt, attraktiv und gewichtig macht, gehören ja nicht nur positive Formen
wie amor und caritas, sondern auch Ablehnung, Feindschaft und Hass. Dass
solche negativen Formen der Emotionalität, der Überzeugung und der Hand-
lungsbereitschaft einem Leben Richtung und subjektiven Wert verleihen, gilt
nicht nur für individuelle Feindschaften – oft aufgrund früherer Verletzungen.
Es gilt vor allem auch für solche, die in der Gruppe gehegt und dem Einzel-
nen, oft buchstäblich »mit der Muttermilch« eingeflößt werden. In vielen
Fällen, so etwa in Völkern, deren gegenwärtige oder frühere Generationen
Opfer von Völkermord und unsäglichen Grausamkeiten waren, wie Juden
oder Armeniern, ist ein solcher Hass sogar durch unentschuldbare Ver-
brechen gerechtfertigt. Es fragt sich dann, ob gerechtfertigter Hass nicht zu
den integrativen Bestandteilen einer Person gehören, die rechtlich respektiert
und sogar ethisch entschuldigt werden müssen.276
Sinnstiftender bzw. identitätskonstitutiver Hass ist verständlich und muss
unter bestimmten Umständen hingenommen werden. Wenn daraus Rache-
handlungen resultieren, kann unter Umständen sogar auf rechtliche Strafe ver-
zichtet werden. Aber zu billigen ist ein Hass, der andere durch Handlungen oder
Verhalten – außer Klagen oder Wiedergutmachungsansprüchen – schädigt,
keineswegs. Solche Einstellungen sind Gründe und Motive zahlloser Kriege
und Gewalttaten, die mit der nationalen Ehre, der Verletzung historischer An-
sprüche, religiösen Provokationen etc. gerechtfertigt werden. Wenn das Recht
auf Integrität einer Persönlichkeit oder Gruppe, die durch ihre negativen Ein-
stellungen Sinn und Authentizität erhält, soweit reicht, rächende Handlungen
zu entschuldigen, wird die moralische und rechtliche Unparteilichkeit außer
Kraft gesetzt.277

275 Arendt deutet Eichmann als Feind der Menschheit (hostis generis humani): »Er konnte
nicht länger auf der Erde unter den Menschen bleiben, weil er in ein Unternehmen ver-
wickelt war, das zugegebenermaßen gewisse »Rassen« für immer vom Erdboden ver-
schwinden lassen wollte.«
276 Vgl. dazu Quante (2019a), Prägungen durch Kultur, besonders S. 165-171.
277 Eine ethische Akzeptanz solcher Einstellungen – individueller und sozialer Weltbilder –
wäre schon aus tugendethischen Gründen (Haltung des Hasses) problematisch, vor allem
aber bei entsprechenden Handlungsfolgen.
140 6 Gutes Leben und gute Welt ?

Zwischen den Gütekriterien des subjektiven und objektiven Sinns, der


Moral und dem Wohlbefinden gibt es also keine prästabilierte Harmonie.
Ein hohes Maß in einer Dimension kann ein geringeres in einer anderen aus-
gleichen. Völliges Fehlen in einer Dimension oder einer Perspektive – subjektiv
oder objektiv – kann aber die Güte des Lebens eines Menschen auch zerstören.
Die Konsequenzen der Überlegungen dieses und des vorigen Abschnitts für
die »Sinndebatte« können in folgenden Thesen zusammengefasst werden:
I. Kein Leben ist objektiv »sinnlos«. Das folgt aus der gleichen Würde und
aus dem unaufhebbaren subjektiven Bestandteil des Sinns. Menschen
haben nicht über den Sinn der Existenz ihrer Mitmenschen zu urteilen.
Es gibt aber Grenzfälle extremer Diskrepanz zwischen subjektivem und
objektiv erkennbarem Sinn (siehe These IV).
II. Subjektiver Sinn hängt an der Anteilnahme (attachment), oder am
wachen Interesse an den eigenen Plänen und Handlungen.278 Bezogen
auf andere kann dieses Interesse durch positive und negative Weisen
des Sorgens (care) geleitet sein, durch Zuwendung ebenso wie durch Ab-
neigung und Hass (love and hate). Ein Minimum an Bewusstsein und Ver-
antwortlichkeit ist allerdings auch für den subjektiven Sinn notwendig.
Es fehlt dem Triebtäter ebenso wie dem Fanatiker, der nur »außer sich«
ist.
III. Der Wert der Ziele, Aufgaben, Leistungen etc. kann objektiv – in allen
drei Bedeutungen – nachvollzogen werden. Die beanspruche Objektivi-
tät (3) kann sich auf relativ zeitübergreifende moralische oder mehr
zeitgebundene ästhetische, soziale, performative (Sport etc.), oder
wissenschaftliche Maßstäbe stützen. Sie kann den Wert für das
Individuum und seine »Umgebung« betreffen. Wenn ein Leben nach
solchen Maßstäben wertvolle Leistungen erbringt, kann man es objektiv
»sinnvoller« nennen: Der große Künstler, Befreier, Heiler etc. führt für die
objektive Perspektive ein besonders sinnvolles Leben.
IV. Es gibt Grenzfälle, in denen der subjektive Sinn für das individuelle
Leben wegen der leidenschaftlichen Anteilnahme hoch, der objektive
Wert dagegen negativ ist: Zerstörer in großem Maßstab, wie Völker-
Vernichter und Verbrecher gegen die Menschenwürde. Man wird dann
sagen müssen, das Leben war subjektiv sinnhaft, aber es wäre besser für
die (gute) Welt gewesen, es hätte ihn (sie) nicht gegeben.

278 Vgl. Hegel, Rechtsphilosophie § 123: »wofür sich die Menschen als für das ihrige
interessieren oder interessieren sollen, dafür wollen sie tätig sein«. Er versteht dieses
Interesse wörtlich als Dabeisein (ebd.).
6.1 Wohlergehen, Moral und Sinn des Lebens 141

V. Auch die subjektive Sinn-Absicht zielt intentional auf etwas Objektives


(objektiv 3): Man will das Richtige finden, auch das Wichtige, das nicht
bloß erfunden, phantasiert oder Täuschung ist. Außer vielleicht beim
völligen Außenseiter wird dabei auch Zustimmung gesucht. Ihr objektives
Pendant (objektiv 2) wäre das Urteil: »Das passt zu ihm«.
VI. Man kann weder subjektives Glück noch subjektiven Sinn und sein
Gegenteil von außen dekretieren. Beim Glück ist die subjektive Identi-
fikation aber weniger wichtig und die objektiven Faktoren sind eher ein-
zuschätzen. Eine objektive moralische Schuld bleibt dagegen bestehen,
auch wenn ein sich täuschendes Gewissen subjektiv entschuldigt.
VII. Es gibt einen formalen Primat des Individuellen und »Demokratischen«
bei der Sinnfrage: Es liegt an jedem Individuum, jeder zählt gleich und
die objektiven Urteile können das »care about« nicht herbeiführen oder
ersetzen. Das besagt aber nichts über den Inhalt: Objektiv als sinnvoll er-
achtete Gemeinschaftsaufgaben, Unternehmungen und »Werke« können
die Chancen des Individuums erhöhen, einen seiner Fähigkeiten und
Überzeugungen passenden Lebensinhalt zu finden. Solche Aufgaben zu
ermöglichen gehört deshalb auch zur Förderung des guten Lebens durch
Gruppen und Institutionen (vgl. o. Kap. 3.5).

6.1.5 Sinn des Lebens und gute Welt


Sinnvolles Leben und gute Welt sind für einander wechselseitig bedeut-
sam. Die Vorstellung einer erstrebenswerten Verfassung der Welt enthält
Sinnressourcen für das individuelle Leben (A). Umgekehrt ist ein sinnvolles
Leben selbst ein konstitutiver Bestandteil des guten Lebens und dieses ein
essentielles Element der guten Welt (B). Es ist für den unparteilichen Blick das
Gute für die höchste Komplexitätsstufe des Lebens. Für den Menschen ist das
Gattungsleben unter Maßgabe des Fortbestehens der Würde und Moralfähig-
keit unbedingt erhaltenswert.
(A) Die Vorstellung einer bejahens- und erstrebenswerten Welt schließt
das Urteil ein, dass es sinnvoll ist, sich für sie einzusetzen. Die motivierende
Kraft dieses Urteils zeigt sich in der Begeisterung, die der Natur-, Arten- und
Landschaftsschutz auslösen kann – manchmal bis zum undemokratischen
Fanatismus. Es gibt aber auch die Begeisterung für den Motorsport oder das
»pulsierende Leben« der nächtlichen Vergnügungsviertel, im Tourismus sogar
der »malerischen« Elendsviertel. Nicht nur umweltgerechtes oder sozial-
verträgliches Leben kann für Individuen attraktiv sein.
Kann man die Werthaftigkeit der Ziele sinnvoller Tätigkeiten an einer
wertenden Beschreibung der Welt festmachen? Würde sich dann eine Skala
der wertvollen Ziele ergeben, die gute Voraussetzungen für ein sinnvolles
142 6 Gutes Leben und gute Welt ?

Leben darstellen? Einen solchen Weg hat Sebastian Muders vorgeschlagen.279


Man kann argumentieren, dass sich in der aristotelischen Tradition die Ent-
wicklung menschlicher Fähigkeiten, besonders der Vernunft, oder im Ge-
folge des ethischen Intuitionismus die Realisierung intrinsischer Werte
wie Moral, Wissenschaft oder Kunst, als objektiver Maßstab des Sinnes ver-
wenden lässt. In Anlehnung an Thaddeus Metz schlägt Muders vor, die
»Transzendenz«-Perspektive des Beitrages zu einer guten Welt als Kriterium
sinnvollen Handelns zu benutzen.280 Je mehr ein Individuum seinen eigenen
Horizont überschreitet und zu den Werten beiträgt, die zu einer guten Welt
gehören, je »sinnvoller« ist sein Leben. Zu der ethischen Forderung, eine für
alle erstrebenswerte Welt nicht zu hindern und möglichst zu fördern, träte
quasi die Messung des individuellen Lebenssinnes an diesen Beiträgen.
Der Vorschlag wirft vor allem zwei Fragen auf: Zum einen, ob eine Messung
des Sinnes an einer Skala objektiver Werte ohne kulturelle und soziale Vor-
eingenommenheit möglich ist (1). Zum zweiten, ob die »Höhe« der Ziele und
Werte eine Antwort auf deren Attraktivität für die Individuen gibt. Das fragt
sich entsprechend auch für das umfassende Ziel einer guten Welt (2).
(1) Von der objektiven Beurteilung der Aufgaben und Ziele eines subjektiv
sinnvollen Lebens war in den beiden letzten Abschnitten schon die Rede.
Problematisch ist dabei, wie weit die Wertmaßstäbe allen Menschen die
gleichen Chancen einräumen. Die Chancen zur Realisierung traditioneller
Werte der europäischen Kultur, das »Gute, Wahre und Schöne«, hängen von
den Möglichkeiten und Fähigkeiten der Individuen ab.281 Selbst die Achtung
der Menschenrechte hat soziale und politische Bedingungen, die ungleich ver-
teilt sind – nicht zuletzt durch die Schuld ihrer europäischen Ideengeber.
Eine objektive Abstufung, die den natürlichen und sozialen Voraussetzungen
menschlichen Lebens auf der Erde gerecht wird, ist vertretbar allenfalls,
wenn sie sich auf moralische Leistungen unter vergleichbaren Verhältnissen
beschränkt – die auch hinsichtlich der Moral zwischen Ghettokindern und

279 Muders (2017), Das sinnvolle Leben und die gute Welt, S. 117-138.
280 Vgl. Metz (2011), The Good, the True and the Beautiful; Metz (2013), Das Sinnvolle und das
Lebenswerte.
281 Vgl. das Metz-Zitat bei Muders: »obtaining deep insights into the workings of nature and
creating a masterpiece that are significant in themselves« (Metz (2011), The Good, the
True and the Beautiful, S. 391). Rüther u. Muders (2015, Sinn und Wohlergehen) folgen
dem schon in ihrer Bestimmung des sinnvollen Lebens als »erstrebenswert, bedeutsam
und lobenswert« – das sind tugendethische oder »ästhetische« Attribute (vgl. S. 78, 96).
Entsprechend weist die »Kategorie des Lebenssinns« für sie »auf eine Ausrichtung auf
das Schöne, Wahre und Gute« (S. 79). Um Normalmenschen, auch unter Bedingungen der
(evtl. extremen) Knappheit ihren Lebenssinn nicht abzusprechen, verwende ich dem-
gegenüber einen »deflationären« Sinnbegriff.
6.1 Wohlergehen, Moral und Sinn des Lebens 143

Kindern mittleren Wohlstands und emotionaler Förderung nicht bestehen. Der


Vergleich moralischer Leistungen kann sich sowohl auf die Pflichterfüllungen
im engeren deontologischen Sinne des »what we owe to each other«282 be-
ziehen wie im weiteren Sinne der Beiträge zu einer guten Welt. Besonders das
Letztere kann man nach den Graden der Transzendenz des eigenen, selbst-
bezogenen Standpunktes bemessen. Die »Bestimmung sinnvoller und sinn-
loser Leben«283 muss aber auf den im letzten Abschnitt diskutierten negativen
Grenzfall der sinnvernichtenden und entwürdigenden Verbrecher beschränkt
bleiben.
(2) Das Kriterium der Transzendenz gibt auch keine Antwort auf die Be-
dingungen des affektiven Passens bzw. »Andockens« der Individuen an die
Optionen menschlichen Lebens. Für das sinnstiftende Interesse sind ja nicht
nur die natürlichen und sozialen Voraussetzungen bedeutsam, sondern auch
die individuelle Lebensgeschichte und die unvorhersehbaren Chancen der
Passung – wie das Beispiel des Verliebens zeigt. Wenn man das Bewusstsein
hat, für eine umfassend gute »Sache« zu leben, sind die Chancen höher, dass
ein solches Leben als lohnend erfahren wird. Ob sich Individuen aber für das
umfassende Gute persönlich engagieren und darin ihr Leben als sinnvoll be-
urteilen, geht aus dieser Konzeption selber nicht hervor.
Unter dem Gesichtspunkt einer umfassenden Sorge für die gute Welt er-
scheinen aber in der Tat die vieldiskutierten »skurillen« Formen der Selbstver-
wirklichung, wie das Sammeln von Kuriositäten als »beschränkt« im negativen
Sinne. Allerdings ist die Kulturtechnik des Sammelns eine der wesentlichen
Voraussetzungen des kulturellen Gedächtnisses.284 Sammeln, aber auch Er-
werben und die Freude an schönen, persönlichen und vertrauten Dingen
haben wichtige identitäts- und sinnstiftende Funktionen. Sie implizieren das
Herstellen von Ordnung gegen die Entropie der ständig zunehmenden »An-
sammlungen« und das Pflegen gegen Verfall. Das beobachtende »Sammeln«
natürlicher Objekte oder Lebewesen erhöht zudem die Sensibilität für den
Reichtum und das Überraschende der Natur.
Trotzdem scheint mir die Transzendenz des eigenen Horizonts kein ent-
scheidendes Kriterium für die Dimension des Sinnes. Sie kann allerdings in
der »objektiven« (2) Beratung zu einer Korrektur überzogenen Authentizitäts-
strebens beitragen. Das Sinnstreben ist ihm in noch höherem Maße ausgesetzt
als die Glückssuche. Täuschungen legen sich schon durch die Vorstellungen von

282 Vgl. Scanlon (1988), What we owe to each other.


283 Muders (2017), Das sinnvolle Leben und die gute Welt, S. 132.
284 Vgl. Sommer (2002), Sammeln; Assmann J. (2007), Das kulturelle Gedächtnis.
144 6 Gutes Leben und gute Welt ?

Lebensträumen und Lebensplänen nahe, mit denen ein sozusagen einsames


Individuum in der Welt auf »Traumerfüllungssuche« geht. Sie unterschätzen
die Gefahr, andere Menschen für die eigenen Träume zu instrumentalisieren
und an sich bietenden Aufgaben und Möglichkeiten vorbeizugehen. So kann
die alle Konventionen, auch die berechtigten Erwartungen anderer, miss-
achtende Authentizität oder die ständig zu steigernden Erfahrungen extremer
Situationen (»Kick«) nicht nur zum Amoralismus, sondern auch zum Über-
druss (des abnehmenden Grenznutzens) führen. Authentizität ist nicht
(immer) Nonkonformismus. Hier bekommt die Wertung der »Transzendenz«
ihren Sinn: Die Fixierung des Individuums auf sich selbst reduziert die Sinn-
chancen und die objektive Billigung.
(B) Sinn, Wohlergehen und Moral gehören zum guten Leben der Individuen.
Welchen Beitrag leistet ein solches Leben zur Güte der Welt?
Zum einen stellt es das Gute für Lebewesen auf einer bestimmten Stufe der
scala naturae dar, nämlich derjenigen vernunftfähiger Lebewesen. Nicht nur
deren Rechte müssen respektiert bzw. die entsprechenden Ansprüche aktiv
erfüllt werden (vgl. Kap. 3 bis 5). Eine Mannigfaltigkeit von Kulturen, in denen
Individuen ein gutes Leben nach den menschlichen Maßstäben von Wohl-
ergehen, Moral und Sinn führen können, erfüllt die Kriterien des für Menschen
Guten.
Zum anderen trägt ein gutes Leben, zumindest in den drei erörterten
Dimensionen, zum guten Gesamtzustand einer Welt bei. Durch entsprechende
Lebensformen, vor allem Wirtschaftsformen, durch ausreichenden, aber auch
die nicht-menschliche Natur in ihren Gütern und Werten »schonenden« Ein-
satz der Technik kann Mannigfaltigkeit, Natürlichkeit und Gerechtigkeit er-
halten bzw. gesteigert werden. Über die Achtung der Menschenrechte hinaus
sind natur- und umweltethische Normen entweder moralisch gefordert – vor
allem was die Zumutungsgrenze gegenüber Tieren angeht – oder »tugendhaft«.
Das menschliche Glück hat für den guten Zustand der übrigen Lebewesen
und der Welt im Ganzen sowohl destruktives wie förderliches Potential. Un-
begrenztes »Unterhaltungsglück« mit hohem technischen Aufwand hat, wie
moderne Städte, Verkehrswege und Formen des Tourismus zeigen, negative
Folgen für die außermenschliche Natur. Es gibt aber gute Argumente für eine
Förderung menschlichen Glücks, als sowohl ausgeglichenes wie bereicherndes
Leben, durch den schonenden Umgang mit natürlicher und kultureller
Mannigfaltigkeit.285 Nach den bereits angerichteten Zerstörungen kann auch
eine »renaturierende« Technik dazu beitragen. Das dadurch Gedeihen und

285 Vgl. Siep (2015a), Philosophische Theorien des Glücks.


6.2 Gutes Leben und Tod 145

Wohlergehen der Lebewesen »je nach ihrer Art« gefördert werden, entspricht
den Forderungen zur Mitwirkung an einer für alle erstrebenswerten Welt.
Das gilt auch für den Sinn des Lebens. Sinnvolle Lebensläufe gehören
sowohl für sich wie auch als Bestandteile des guten Lebens zu einer erstrebens-
werten Welt. Menschen selber suchen und streben danach und es ist auch aus
einer externen Perspektive bejahenswert. In der traditionellen Vorstellung
des Sinnes des Lebens und der Welt war der Mensch Teil einer zweckmäßigen
Ordnung, die auf eine unpersönliche oder personale Vernunft zurückging.
Eine solche Teleologie gehört nicht mehr zu den besten Erklärungen der Welt.
Ein darauf gegründetes Sinnverlangen ist außerhalb religiöser Überzeugungen
eine Überforderung. Die große Varietät sinnvoller Lebensläufe trägt aber
ihrerseits zu einer bejahens- und erstrebenswerten Welt bei. Lebenssinn wird
sowohl hervorgebracht wie gefunden. Er macht selber die Welt zu einer sinn-
vollen, erstrebenswerten – aber weder als bloß subjektive Konstruktion noch
als technische Hervorbringung. Stattdessen setzt sinnvolles Leben Sensibilität
für die Möglichkeiten des natürlichen und sozialen Lebens voraus. Es aktiviert
dessen Potentiale. Dazu können technische Lebenserleichterungen und
Optionen des Erlebens beitragen.286 Der Ersatz einer unvollkommenen Natur
durch ein technisches Paradies der unbegrenzten Möglichkeiten, der Unsterb-
lichkeit und Unvergänglichkeit gehört nach den Erfahrungen und anthropo-
logischen Einsichten nicht dazu (vgl. o. Kap. 4.1).

6.2 Gutes Leben und Tod

Für die »innerweltliche« Konzeption einer für alle bejahens- und erstrebens-
werten Welt ist das Leben prima facie ein hoher Wert, aus allen drei hier er-
örterten Dimensionen der Güte. Kann dann auch der Tod im positiven Sinne ein
Wert sein?287 Oder ist er das größte Übel und seine Überwindung das gebotene
Ziel aller Anstrengungen, auch der technischen, d.h. vor allem medizinischen?
Wenn die Ethik der technischen Kontrolle und dem Perfektionieren Grenzen
ziehen soll, auf welche Seite gehört der Tod? Zu dem, wogegen sich der Mensch
zu Recht wehrt oder zum Bejahens- wenn schon nicht zum Erstrebenswerten?

286 Viele Naturerfahrungen in von sich aus »menschenfeindlichen« Regionen der Erde –
wie Wüsten, Meeren, Hochgebirgen oder Großwildregionen – sind für gewöhnliche
Reisende nur mit einer technischen »Hülle« von Klimatisierung, Fortbewegungs- und
Kommunikationsmöglichkeiten realisierbar.
287 Diese Frage erörtert Amir Mohseni (2017), Der Tod als wertethische Herausforderung.
146 6 Gutes Leben und gute Welt ?

Für diese Fragen ist es wichtig, den Tod in seinem Verhältnis zur Idee einer
guten Welt (1) und zum Sinn des individuellen menschlichen Lebens zu be-
trachten (2). Dabei wird wiederum die individuelle subjektive Perspektive –
diesmal nicht nur des menschlichen Lebens – und die objektive von Bedeutung
sein.
(1) Wenn man nach Zuständen der Welt fragt, die für alle Betroffenen
förderlich und daher bejahenswert sind, scheint der Tod eindeutig nicht dazu
zu gehören. Zum Streben der Lebewesen gehört das Streben nach Selbst-
erhaltung (Ernährung, Brutpflege, Flucht etc.) und das Vermeiden des Todes.
Einige Lebewesen setzen sich zwar absichtlich oder instinktiv der Gefahr
des Todes aus. Soziobiologisch gesehen tragen sie dadurch zur Verbreitung
bestimmter Gene bei, beim Menschen kommen Emotionen der Verwandten-
und Gruppenliebe dazu. Insgesamt scheint der Tod aber nicht zu den er-
strebten, sondern den gemiedenen Zuständen zu gehören.
Auf der anderen Seite ist das Ende individuellen Lebens auf viel-
fältige Weise für das Entstehen von neuem Leben günstig.288 So lange der
Lebensraum auf die Erde begrenzt ist – also abgesehen von zukünftiger
Weltraumbesiedlung – hängt der Platz für neues Leben, und damit alle Vor-
züge des Generationenwechsels, mit der Endlichkeit des Lebens zusammen.
Man kann geradezu behaupten, dass die Hinnahme des Todes ein Gebot der
Generationengerechtigkeit ist.
Wenn Gentechnologen es dagegen für ein Gebot der Fürsorge für unsere
Nachkommen halten, die Lebenszeit immer mehr und möglichst unbegrenzt
zu verlängern, stellen sie die Einschränkung der Reproduktion und das Über-
wiegen des Alters in einer Welt der Langlebigen oder gar Unsterblichen in der
Regel nicht in Rechnung. Mit der Verletzlichkeit, Unkontrollierbarkeit und End-
lichkeit des menschlichen Lebens sind zudem die bisherigen Zuschreibungen
von Pflichten der Hilfe und Tugenden der Kooperation verbunden. Das alles
müsste breiter ausgeführt werden, es gibt heute eine detaillierte Debatte über
irdische Unsterblichkeit.289 Sie vernachlässigt aber oft die erwähnten Kriterien
und geht von idealen (»paradiesischen«) Bedingungen aus.
Dem Kreislauf des Entstehens und Vergehens sind auch das Anorganische
und vorläufig sogar die technischen Stoffe nicht entzogen, sie unterliegen den
Gesetzen der Entropie. Lebewesen steuern sogar genetisch ihre Alterungs-
prozesse. Die Technisierung der Natur zielt aber auf Permanenz und

288 Für Hegels Philosophie des Lebendigen sind Krankheit und Tod des Individuums eng mit
der Reproduktion der Gattung verbunden (vgl. Enzyklopädie (1830) §§ 369-376).
289 Vgl. etwa die Arbeiten von John Martin Fischer zum Thema in dem Aufsatzband Freiheit,
Verantwortlichkeit und das Ende des Lebens (Quante (Hg.) (2015)).
6.2 Gutes Leben und Tod 147

Unverderblichkeit. So sollen Züchtungserfolge durch Klonierung »verewigt«


werden – unter Verlust der Individualität. Mit den Folgen, der Entsorgung
langlebiger technischer Abfälle, der »Vermüllung« von Meeren, Weltraum etc.
hat die Menschheit auf dem derzeitigen Stand allerdings erhebliche Probleme.
Wenn der Tod zur natürlichen Veränderung und Vergänglichkeit, zu
Individualisierung und Reproduktion gehört, dann sind viele Güter der uns be-
kannten Welt untrennbar mit ihm verbunden. Insofern stellt er für Menschen
und andere Lebewesen einen Wert dar. Es gibt viele Gründe, die Endlichkeit
des Menschen, mitsamt der unkontrollierbaren Zufälle, einschließlich Un-
glück, Krankheit und Tod, als Bedingungen für Freuden und Tugenden des
irdischen Lebens zu begreifen. Das schließt die Bekämpfung von Krankheiten
und eine »mäßige« Lebensverlängerung nicht aus. Dafür spricht vor allem
die subjektive Sinnperspektive des Individuums (2). Bei einer objektiven Ab-
wägung tut der Tod einer bejahenswerten Welt aber keinen entscheidenden
Abbruch, auch wenn er für die betroffenen Lebewesen meist eher hinnehmens-
als erstrebenswert ist.
(2) Was die Chancen für Sinn und Glück des menschlichen Lebens aus der
Innenperspektive des Individuums angeht, so wird der Tod vielfach als höchste
Gefahr betrachtet. Nur bei der Moral kann er der Gegenstand von Tugend und
Pflichterfüllung sein, das Individuum aber auch der Chancen moralischen
Handelns berauben. Die größte Herausforderung, für viele der Grund einer nur
schwer überwindbaren »Sinnlosigkeit«, ist er für das Streben nach Sinn. Über
den Übelcharakter des Todes scheint sich auch die philosophische Tradition
von Augustinus (Sündenstrafe)290 über Hobbes (gewaltsamer Tod als höchstes
Übel) bis in den Existentialismus (totale Sinnlosigkeit) einig zu sein. Allerdings
gibt es auch eine Tradition der positiven Schätzung des (»süßen«) Todes, nicht
nur als Erlösung von einem unerträglichen Leben, sondern auch als Tor zur
absoluten Erkenntnis (Platonismus) oder als Auflösung der Individualität und
des mit allem Wollen verbundenen Leidens (Nirwana). Nichts muss dafür
mehr vermieden werden als Nachleben und Wiederverkörperung.
Die Frage, ob der Tod entweder technisch oder geistig, »überwunden«
werden muss, damit das Leben nicht sinnlos wird, hängt von der Einschätzung
seines Übel-Charakters für das individuelle Leben ab. Man muss dazu

290 Zu welchen oft absurden Konstruktionen die Lehre von der Verbindung zwischen dem
Sündenfall des ersten Menschen und der Strafe der Sterblichkeit etwa bei Augustinus
geführt hat, kann man nachlesen bei Kurt Flasch, (2013) Warum ich kein Christ bin,
S. 196-199. Bei Hobbes ist das summum malum nicht der natürliche, sondern nur der ge-
waltsame Tod durch die Hand eines anderen Menschen.
148 6 Gutes Leben und gute Welt ?

verschiedene Hinsichten und Einstellungen unterscheiden.291 Für die »Sinn-


frage« sind die folgenden besonders zu berücksichtigen: das Bewusstsein,
zu einem meist unbekannten Zeitpunkt sterben zu müssen (1); der Vorgang
des Sterbens (2); der Zustand des Tot-Seins (3) sowie die Folgen des Todes für
die eigenen Sinnerwartungen (Lebenspläne, Zukunftsinteressen) und die der
dadurch besonders Mitbetroffenen ( 4).
Das Bewusstsein des Sterbenmüssens (1) ist nicht einfach das Wissen um
den Sachverhalt, dass das Leben ein Ende hat. Es ist auch die Vorausahnung
des Sterbensvorgangs (2) selbst in einer dreifachen Qualität: als u.U. körper-
lich schmerzlich, als endgültiger Abschied von allem, was dem Leben Sinn gab,
und als Ungewißheit oder Furcht vor dem »Danach«. Der körperliche Schmerz
kann heute mit Mitteln der modernen – oft hochtechnisierten – Medizin er-
heblich gemildert werden. Auch die Einstellung zum »Danach« hat sich in
säkularisierten Gesellschaften geändert. Für religiöse Lehren war die »Todes-
stunde« nicht nur der Anfang ewigen Glücks oder nicht endenden Grauens.
Für diesen Scheideweg kam es auch auf die Haltung in dieser Situation selber
an. Das hat dem Sterben eine gewaltige Last aufgebürdet. Sie war oft nur
mit übermenschlicher Hilfe zu tragen. Wenn aber das »not to be« frei von
negativen Empfindungen ist, dann ist der Zustand des Tot-Seins (3) kein Übel,
es gibt keine davon Betroffenen mehr. Diese Erkenntnis sollte, wie schon Epi-
kur beabsichtigte,292 auch den Sterbevorgang (2) entlasten.
Was weder durch Medizin noch durch »Aufklärung« – auch Religionen
haben teilweise die Höllenvorstellung aufgegeben – zu beseitigen ist, bleibt
das Bewusstsein, sich von allem, woran einem liegt, trennen zu müssen.
Trennungsschmerz ist für die meisten Menschen ein Übel und dieses kann
jederzeit gegen den Willen und endgültig eintreten. Es kann dann aber auf-
richtiger sein, mit »dem Schicksal zu hadern«, als sich einem personalisierten
Willen zu fügen, der Schmerz nur vorläufig zufügt und für Gläubige im Jenseits
kompensiert.
Abgesehen vom Trennungsschmerz bleibt der Verlust von der Qualität des
beendeten Lebens abhängig. Das betrifft vor allem den Wert seiner Folgen (4).
Der Tod kann die Erlösung aus Leid oder »verzweifelten Situationen« sein und
Leben und Pläne Nahestehender retten oder entlasten. Er kann einem schreck-
liche Erlebnisse ersparen – etwa Leid und Tod der Kinder. In vielen Fällen
setzt er aber allen Lebensplänen, Glücksgefühlen und aller Kommunikation
ein Ende. Das Bewusstsein dieser Gefahr und der knappen Zeitreserven kann

291 Zu einer genauen Differenzierung des Übel-Charakters und der Werturteile, vor allem mit
Bezug auf die medizinethischen Probleme, vgl. Quante (2019), Tod, wo ist Dein Stachel.
292 Vgl. Mohseni (2017), Der Tod als wertethische Herausforderung, S. 159-163.
6.2 Gutes Leben und Tod 149

einen Schatten auf das Leben werfen. Es kann aber auch umgekehrt das
Bewusstsein der Kostbarkeit und Einmaligkeit von Erlebnissen und Be-
gegnungen schärfen, wie vor allem José Luis Borges in seiner Kritik der Un-
sterblichkeit hervorhebt.293
Die Einschätzung des Wert- oder Übelcharakters der Folgen des Todes (4)
für den Lebenssinn dessen, der sein Leben verliert, hängt offenbar vom Zeit-
punkt, damit aber auch von den durchschnittlichen Lebenserwartungen und
der zu erwartenden Lebensqualität ab. Das gängige Urteil, dass jemand zu früh
und zum falschen Zeitpunkt gestorben ist, bedeutet ja, dass dem Betreffenden
und den ihm besonders Nahestehenden ein üblicherweise zu erwartendes
Lebensglück vorenthalten wird. Dadurch werden sinnvolle Unternehmungen,
vielleicht sogar ein Lebenswerk, abgebrochen und auch die Nahestehenden –
bei großen »Meistern« sogar die Nachwelt – unwiderruflich geschädigt. Ebenso
schlimm kann das Bewusstsein sein, etwas versäumt zu haben bzw. etwas
nicht mehr wiedergutmachen zu können – am schlimmsten wohl, wenn man
einen ungewollten Tod schuldhaft herbeigeführt hat. Diese Übel betreffen vor
allem den Zeitpunkt des Todes und seine Unvorhersehbarkeit. Ob sie durch
eine technische Kontrolle beseitigt würden, ist aber höchst zweifelhaft – außer
in Fällen unerträglichen Leidens ist der vorhersehbare Tod für den Betroffenen
meist schwerer erträglich als der überraschende und plötzliche.
Der unbestreitbare Übelcharakter vor allem des vorzeitigen Todes hat
den Menschen immer schon zu geistigen, heute zunehmend auch zu
technischen Versuchen der Überwindung veranlasst. Geistige Verarbeitung
hat traditionell vor allem zwei Richtungen genommen: Die Relativierung und
die Instrumentalisierung des Todes, d.h. die Umwandlung seiner Zufälligkeit
(»Kontingenzbewältigung«) in ein notwendiges Mittel für »höheren« Sinn.
Das ist ein Kern vieler Religionen, aber auch Ziel des Strebens nach geschicht-
lichem Ruhm, für sich und das Kollektiv, durch Taten und Werke. Religionen
mit Doktrinen individueller Unsterblichkeit nehmen dem Tod die Endgültig-
keit und integrieren das Sterben in einen sinnvollen Gesamtzusammenhang,
sei es des heroischen Opfers oder der gläubigen Hinnahme. Die Annahme
der Vorläufigkeit des Todes ist zumeist mit der ewigen Tröstung der zu früh,
gewaltsam oder nach einem elenden Leben Gestorbenen verbunden. Die
Lebenserfahrungen vieler Menschen, die solche Kompensationen eher als
Wunschdenken betrachten, zeigen aber, dass auch ohne die Annahme eines
durchgängig zweckmäßigen Weltganzen ein sinnvolles Leben und Sterben
möglich ist. Vielfach erfordert das eine gewisse »Seelenstärke« oder Würde,
die religiöse Menschen gerne mit Hybris verwechseln.

293 Vgl. Borges (1982), The Immortal sowie dazu Stewart (1993), Borges on Immortality.
150 6 Gutes Leben und gute Welt ?

Sie ist auch nicht zu verwechseln mit einem extremen Individualismus des
»Jemeinigen« anstelle der Rückkehr in den Schoß der Gemeinde. Wie weit-
gehend sich jemand bei seinem Tod von anderen helfen lässt und ob er ihn als
eine Rückgabe an das Ganze der Generationen und der Natur versteht, bleibt
seinem eigenen Sinnverständnis überlassen. Auch die existentialistische
Integration des Todes in ein »eigentliches« Leben, dessen Zufälligkeit und
Endlichkeit durch Engagement und Entschlossenheit wettgemacht wird,
geht von der Voraussetzung aus, dass der Tod an sich sinnwidrig oder absurd
sei.294 »Sinnlos« ist der Tod aber nur im Licht metaphysischer Prämissen um-
fassender Zweckmäßigkeit oder eines radikalen Individualismus eigener Sinn-
gebung (Selbstentwurf, »Neudefinition« etc.). Auch darin sind noch technische
Phantasien vollständiger Kontrolle wirksam. Ohne diese Überschätzungen
gibt es keinen Grund, in der Sterblichkeit eine Kränkung der individuellen
Selbstachtung oder des Gattungsbewusstseins zu sehen. Eine gelassene Zu-
stimmung zur »artgemäßen« Sterblichkeit295, die unabdingbar für die Wert-
aspekte des organischen Lebens ist, erscheint angemessener.
Betrachtet der Mensch sein Leben aus dem Blickwinkel einer für alle Wesen
erstrebenswerten Welt, ist die Bedeutung des Sachverhaltes des Sterbenmüs-
sens eine ganz andere. In der natürlichen Welt überwiegt der Wert der Sterb-
lichkeit für eine Welt der Mannigfaltigkeit, Natürlichkeit (Selbsterneuerung,
Unkontrollierbarkeit, Unvollkommenheit) und Gerechtigkeit (Lebensraum
und Generationenfolge). Zum sinnvollen Verhalten des Menschen zur Natur
zählt daher die Schonung dieser Art von Sterblichkeit. Das hat auch erheb-
liche naturethische Folgen: Der Tod von Arten im Sinne des endgültigen Ver-
schwindens (von »Sterben« wird bei Gruppen nur metaphorisch gesprochen)
muss vermieden werden. Das Töten von Tieren soll der Erhaltung von Arten
und Populationen, von Pflanzen, Ökosystemen, Landschaften etc. dienen.
Wenn es für die menschliche Ernährung notwendig erscheint, muss es zu-
mindest mit artgerechter Haltung und schmerzfreier Tötung verbunden sein.
Dass in der natürlichen Welt ein technisch unsterblich gewordener Mensch
genügend Raum für seine eigene Reproduktion und die des übrigen Lebens
lassen könnte, ist kaum anzunehmen. Die Bekämpfung von Ursachen un-
zeitigen Sterbens, Erleichterung des Sterbevorganges und die Verhinderung

294 Vgl. Heideggers Konzeption des Vorlaufens zum Tod in § 53 von Sein und Zeit (1963).
Auch Michael Quante spricht von der »Sinnlosigkeit« des Todes, der den »Sinn unserer
Existenz« und »unsere Autonomie radikal in Frage« stelle. Vgl. Quante (2019) Tod, wo ist
dein Stachel, S. 74.
295 Vgl. Mohseni »Artgerechte Haltung« in Mohseni (2017), S. 169. Ich stimme seinen Aus-
führungen zu, halte aber auch das Vertrauen in eine unvergängliche Kraft der Natur nicht
für unbedingt nötig zum Trost über die Sterblichkeit (S. 170).
6.3 Individuum, Gemeinschaft, Welt 151

gewaltsamen Tötens ist aber zweifellos legitim. Dabei spielt die Technik in der
Medizin, möglicherweise sogar als schonende Kriegstechnik,296 eine wichtige
Rolle. Es ist zuzugeben, dass die natürliche Konstitution des Menschen für die
Überwindung »tödlicher« Konflikte nicht sehr förderlich ist. Daran muss er
aber, wenn seine Moralfähigkeit erhalten bleiben soll, vor allem durch soziale
und persönliche Formen der Verbesserung arbeiten, nicht durch technisches
»moral enhancement« (s.o. S. XIII, 19).

6.3 Individuum, Gemeinschaft, Welt

Von den Dimensionen des guten Lebens ist der Sinn, wie wir gesehen haben,
in erster Linie eine Frage der individuellen Identifikation. Diese kann sich
aber auf Gemeinschaftswerke richten und diese Richtung verspricht sinn-
volle Aufgaben. Anders als bei den Menschenrechten ist der »Individualis-
mus« des Lebenssinnes nicht normativ. Und ebenso wie diese ist er sozusagen
nur formal: Sowohl die aktive Entscheidung wie das passive Finden eines
Lebenssinnes geht vom Individuum aus und kann von außen nicht ersetzt
werden. Was dem Individuum aber persönlich bedeutsam ist, bleibt damit
offen. Es kann auch von außen »qualitativ« beurteilt werden. Dabei spielt die
»Transzendenz« der Entscheidung, das Überschreiten des selbstbezogenen
oder privaten Horizontes für die objektiven Maßstäbe – moralisch, ästhetisch,
historisch etc. – eine besondere Rolle.
Für die Frage nach den Zielen und Grenzen der Technisierung sind aber vor
allem die Richtungen gemeinsamer Tätigkeiten wichtig. Dazu gehören wissen-
schaftliche und technologische Entwicklungen, politische Zielsetzungen
und wirtschaftliche Strategien. Menschenrechte spielen dabei vor allem als
Grenzen eine Rolle (s.u. Kap. 8) Es geht aber auch um gute Gesamtzustände
menschlicher Gemeinschaften und ihr Verhältnis zur Natur.297
Das gute Leben des Einzelnen und die gute Verfassung von Gemeinschaften
hängt wechselseitig voneinander ab, das ist Konsens der politischen Philo-
sophie seit Aristoteles. Der moderne Staat gibt aber den Menschenrechten aller
Generationen und den individuellen Aspekten des guten Lebens, vor allem der
Glücks- und Sinnsuche einen weiten Spielraum. Können den Gemeinschaften

296 Vgl. Koch (2019), Die Technik der Befriedung? In der jüngeren Zeit nimmt die Zahl der
Kriegstoten durch »präzise« Waffentechnik offenbar weltweit ab. Man kann in der
Kriegstechnik in Verbindung mit der Rüstungsindustrie, aber auch einen Grund für die
Perpetuierung der Kriege sehen.
297 Zum Folgenden vgl. Siep (2017), Braucht die moderne Ethik einen umfassenden Begriff
des Guten?.
152 6 Gutes Leben und gute Welt ?

überhaupt noch Güter und Qualitäten zukommen, die über Bedingungen des
guten Lebens von Individuen hinausgehen? Ist das »Blühen« von Wissen-
schaft und Kunst ein Wert, der sich nicht auf den Genuss oder das gute Leben
der daran beteiligten Individuen reduzieren lässt? Oder hieße das, zum Primat
der Kollektive zurückzukehren?
Die Blüte einer Kultur – jedenfalls am Maßstab der Historiker gemessen –
war in der Vergangenheit in der Tat oft mit der Unterdrückung von Individuen
verbunden. Zu denken ist an Sklavenhalter-Gesellschaften, in denen der
Großteil der Bevölkerung weder über garantierte Rechte noch über ein hohes
Maß an körperlichen oder geistigen Freuden im diesseitigen Leben ver-
fügten. Beispiele sind die »goldenen Zeitalter« etwa Athens oder europäischer
Kolonialmächte. Grundsätzliche Theorien menschlicher Ungleichheit –
wie Aristoteles’ Unterscheidung zwischen aktiv und passiv Vernünftigen
(Pol. I,6) – oder religiöse Versprechen der Kompensation gegenwärtiger
Leiden durch künftige Freuden lieferten dafür Rechtfertigungen. Nach der
Entwicklung der individuellen Freiheit und ihrer rechtlichen Bedingungen ist
eine Verrechnung zwischen den Entbehrungen der Individuen und der Höhe
einer Kultur nicht mehr gerechtfertigt. Auch der Genuß späterer Generationen
trägt dazu nicht bei. Ob die Spontaneität und breite freiwillige Beteiligung die
ästhetischen und wissenschaftlichen Leistungen einer Kultur eher befördert
oder die hedonistische »Konsumkultur« sie senkt, ist eine empirisch schwer
zu entscheidende Frage. Möglicherweise nehmen nur die Heroen und Titanen
ab – in Militär ebenso wie in Wissenschaft und Kunst – aber nicht das Gesamt-
niveau. Ein Gemeinschaftsleben mit weniger Heroen, aber einem hohen Maß
an Gerechtigkeit, Rechtskultur und Bürgertugenden, muss nicht weniger
blühend sein.
Weder die Bedeutung der individuellen Rechte noch die der freien Sinn- und
Glücksverfolgung besagt aber, dass sich der Wert kultureller Leistungen nur
nach dem Genuss derjenigen bemisst, die daran teilnehmen können.298 Dieser
Wert lässt sich auch nicht allein auf gesellschaftlichen Nutzen reduzieren. Ob-
gleich die Werke der Gemeinschaften auf Tätigkeiten der Individuen zurück-
gehen, reichen sie über sie hinaus. So schützt etwa das Völkerrecht Monumente
des Weltkulturerbes wohl nicht nur zugunsten der wenigen Menschen, die
sie betrachten und genießen können. Kulturelle Mannigfaltigkeit ist nicht
nur ein Wert für Touristen und Wissenschaftler, so wenig wie natürliche
Mannigfaltigkeit.
Es gibt Gründe für die Annahme, dass die Existenz einer Gemeinschaft, in
der Künste und Wissenschaft blühen, aber auch ein gerecht verteilter Wohl-
stand, über das gute Leben der Individuen hinaus ein eigenes Gut darstellt.

298 Vgl. in diesem Sinne auch Waldron (1987), Nonsense Upon Stilts, S. 186.
6.3 Individuum, Gemeinschaft, Welt 153

Man kann sich etwa in der Weise von G. E. Moore fragen, ob die Welt nicht
besser wäre, wenn es solche Gemeinschaften gäbe, sogar in möglichst großer
Zahl.299 Wenn das gute Leben der Individuen und »intrinsische« Güter der
Gemeinschaft weder in einer Teil-Ganzes- noch einer (wechselseitigen)
Mittel-Zweck-Relation aufgehen, dann kann man von einem kontributiven300
Verhältnis sprechen. Sie tragen zur umfassenden Güte einer erstrebenswerten
Welt bei.
Nicht nur zwischen Individuen und Gemeinschaften, auch zwischen
den Bedingungen blühender Gemeinschaften und denen einer insgesamt
guten Verfassung der Welt, zu der die Grundzüge von Natürlichkeit gehören,
können aber Konflikte entstehen. Sie können sowohl auf den Ressourcenver-
brauch entwickelter Gemeinschaften wie auf ihre Rechtsordnungen zurück-
gehen (vgl. u. Kap. 8). Der Wert der Natürlichkeit bestimmter Prozesse wie
Wachstum, Reproduktion, Verbreitung und Wanderung (von Flussläufen
über Tierwanderungen bis zu menschlichen nomadischen Lebensformen)
liegt auf verschiedenen Ebenen. Natürlichkeit kann ästhetische, emotionale
(»Heimat«) und kognitive (z.B. in der Verhaltensforschung) Werterlebnisse
für Individuen ermöglichen, aber auch für Gemeinschaften wertvoll sein.
Viele Kulturen und Gemeinschaften haben ein über Landschaften, Vegetation
und Klima vermitteltes Zusammengehörigkeits-, Kontinuitäts- und Auto-
nomiebewusstsein.301 Die Werterfahrung von Natürlichkeit impliziert für die
meisten Menschen das Bewusstsein, dass darin alle Empfänglichen annähernd
kognitiv und emotional übereinstimmen. Insofern treffen auf sie die Kriterien
kommunaler Güter zu (s.o. S. 58). Sie müssen aber mit anderen menschlichen
Gütern und den Werten der Ernährung und der Eindämmung zerstörerischer
Naturkräfte abgestimmt werden.
Es gibt auch übereinstimmende Glücks- und Sinnbedürfnisse der Menschen,
die sich auf andere Werte richten. Die Attraktivität des Künstlichen und
Technischen ist für viele größer als der Wert der Natürlichkeit (Stadtmenschen,
Autonarren, »Technofreaks«). Die Prioritäten werden heute weitgehend durch
die Folgen für die Lebensgrundlagen auf der Erde diktiert. Wenn es aber
weniger um ökologische Notlagen als um das dauerhaft Erstrebenswerte geht,
müssen die meta-ethischen und historischen Überlegungen über das, was zum
umfassenden Guten und zum Sollen gehört (o. Kap. 2), hinzugezogen werden.

299 Vgl. Moore (1903), Principia Ethica, S. 258 f.


300 Michael Quante spricht vom »Bestandteilssinn« (Quante (2003), Einführung in die all-
gemeine Ethik, S. 37).
301 Vgl. die oben Anm. 64 zitierte Äußerung Nelson Mandelas.
154 6 Gutes Leben und gute Welt ?

Erst dadurch werden prinzipielle Grenzen für die Technisierung der Natur
erkennbar.
Die Grenzen zwischen dem Blühen der Gemeinschaften und den Lasten der
Individuen sind durch die Menschenrechte gezogen. Zwischen dem Florieren
einer Mannigfaltigkeit kultureller Gruppen einerseits und andererseits der
natürlichen Mannigfaltigkeit und dem Wohlergehen nicht-menschlicher
Lebewesen sind die Grenzen nicht so klar. In den Konflikten zwischen
traditionellen Jagdmethoden – vom Walfang bis zur Speerjagd auf große
Landtiere – versucht die Völkergemeinschaft, ihre Biodiversitäts- und Tier-
schutzregeln gegen nationale Gesetzgebungen und Traditionen von Gruppen
durchzusetzen. Man könnte in der Gefährdung von Dorfbewohnern durch
Großwildreservate auch eine Einschränkung des Rechts der Individuen auf
Unversehrtheit sehen. In dieses Recht wird allerdings nicht aktiv eingegriffen
und den Betroffenen bleiben Möglichkeiten der »Risikominimierung«. In-
wieweit zwischen Menschenrechten und den Anforderungen einer guten
Welt Konflikte bestehen, wird im Schlusskapitel grundlegender erörtert.
Das Gewicht dieser Güterarten hängt auch von ihrem ontologischen und
epistemischen Anspruch ab, der zuvor zu klären ist.
Kapitel 7

Ontologie und Hermeneutik

Was ist der Status der Konzeption der »guten Welt« als Zielorientierung für
individuelles und gesellschaftliches Handeln? Wie steht sie zu den subjektiven
Sinn- und Glücksvorstellungen von Einzelnen und Gruppen? Die Idee einer
»guten«, universal erstrebenswerten Welt geht auf verschiedene Quellen
zurück: der Semantik der moralischen Sprache, der Hermeneutik umfassender
Vorstellungen des Guten (Kosmos, Schöpfung) und einer »wertenden Be-
schreibung« tatsächlicher Eigenschaften der gegebenen Welt. Wie verhält sich
die Semantik zur Hermeneutik und was ist der ontologische Status von Ideen
und Werten?

7.1 Ontologie der »guten Welt«

Zunächst stellt sich die Frage, ob man von einer Welt im Singular überhaupt
reden kann oder ob es unendlich viele Welten als mögliche Sinnzusammen-
hänge oder Sprachspiele gibt, wie der »Neue Realismus« postuliert.302 Philo-
sophische Ethik und »common sense« gehen (überwiegend) davon aus, dass
menschliches Handeln in einer gemeinsamen, raum-zeitlich-materiellen Welt
stattfindet (s.o. S. 1). Das gilt sogar für einen weiten Begriff des Handelns, der
geistige Tätigkeiten im Bereich der Theorie, der Fiktion, oder auch »Akte« der
Phantasie einschließt. Die Hirnforschung und die Informatik haben es über-
aus wahrscheinlich gemacht, dass alle diese Akte eine »hardware« voraus-
setzen, das menschliche Gehirn oder vom Menschen geschaffene Medien
der Informationsverarbeitung und Kommunikation. Für die Sozialontologie
gibt es zwar auch Institutionen und künstliche Personen, die manchmal über
Jahrhunderte hinweg verbindliche Entscheidungen treffen. Aber auch solche
institutionellen Handlungen setzen lebende Menschen voraus, die sie ein-
mal in Gang gesetzt haben und die sie erneut realisieren.303 Es kann große

302 Vgl. Gabriel (2013), Warum es die Welt nicht gibt.


303 Vgl. dazu Jansen (2017), Gruppen und Institutionen. Für Jansen können Institutionen
und ihre Verpflichtungen zwar über lange Zeit »trägerlos« existieren, benötigen aber
Individuen (bzw. Sprechakte) für das »Statuszuweisungsereignis« und »physikalisch
manifeste Repräsentationen« für ihre kausale Relevanz (S. 286).
156 7 Ontologie und Hermeneutik ?

Zwischenräume ihrer Aktualisierung geben, aber ohne Menschen, die sie ein-
gerichtet haben und »aufwecken«, hört ihre Existenz auf.
Ob es außer der raumzeitlichen Welt ein »drittes Reich« von Ideen,304
mathematischen Wahrheiten, Fregeschen »Gedanken« etc. gibt, braucht die
Ethik nicht zu entscheiden. Dass die Ideen der Gerechtigkeit oder anderer
handlungsleitender Werte aus einer solchen Sphäre stammen, ist eine kaum
zu beweisende Annahme. Auch die Kantische These, dass der Imperativ der
strikten Gesetzlichkeit jeder Handlungsmaxime einer übersinnlichen Welt
entstammt und nicht dem in dieser Welt und ihrer Geschichte entwickelten
moralischen Standpunkt, ist nach meiner Auffassung nicht überzeugend.
Ebenso wenig, dass vernünftiges Handeln ziellos wäre, wenn es nicht ein un-
bedingtes »letztes« Ziel, ein höchstes Gut etc. verfolgte.305 Es lässt sich in
Anlehnung an die wissenschaftliche Kosmologie die La Place’sche Formel
variieren: »on n’a pas besoin de telles hypothèses«.
Es gibt in den traditionellen Religionen und Weisheitslehren Versuche,
sich durch Meditationen und richtige Lebensführung von dieser Welt zu
lösen und entweder auf eine jenseitige vorzubereiten oder einen Zustand
der Überwindung von Individualitäts- und Existenzbewusstsein zu erreichen
(»Nirwana«). Das hat Folgen auch für das soziale Handeln und geht daher
die Ethik an. Es stützt sich aber letztlich auf Visionen, »heilige« Texte und
Propheten, die nicht von allen Menschen zu akzeptieren sind. Würden
solche »akosmistischen« Einstellungen zum Maßstab sozialen Handelns ge-
macht, könnten verheerende Schäden für alle folgen – wie etwa die Passivi-
tät gegenüber dem Klimawandel aus eschatologischen Überzeugungen bei
evangelikalen Gruppen zeigt.
Aber selbst wenn man sich auf die raumzeitlich-materielle Welt als
äußersten Rahmen des menschlichen Handelns beschränkt – ohne den An-
spruch, dass aus deren naturwissenschaftlicher Erklärung moralische oder
rechtliche Normen folgen – gibt es diese als Einheit, als Gegenstand von Er-
klärungen und Handlungen? Ist sie nicht ein »Totalitätsbegriff«, der weder an-
schaulich noch experimentell belegbar, messbar etc. ist? Auch hier würde ich
mit den modernen Naturwissenschaften annehmen wollen, dass man aus einer
Vielzahl von Beobachtungen, Messungen, Berechnungen und theoretischen
Modellen ein einheitliches Weltall, offenbar in mehr als dreidimensionaler
raumzeitlicher Bewegung (derzeit Ausdehnung) extrapolieren kann. Ohnehin
ist für das menschliche Handeln zunächst die Erde entscheidend, die ja sogar

304 Vgl. Popper und Eccles (1989), Das Ich und sein Gehirn.
305 Ausführlicher dazu Siep (2017), Braucht die moderne Ethik einen umfassenden Begriff
des Guten? S. 8-13.
7.1 Ontologie der »guten Welt« 157

photographisch und kartographisch zu erfassen ist. Aufgrund der Raumfahrt


ist aber auch der (vorläufig relativ erdnahe) Teil des Weltalls vom mensch-
lichen Handeln betroffen und in dieser Hinsicht in der Ethik zu berück-
sichtigen. »Betroffen« sind natürlich auch die Welten, die aus menschlichem
Denken, Fühlen und Handeln in dieser Welt entstehen, im engeren Sinne also
die Welt der Politik, der Kunst, der Religionen usw. Damit kommen auch noch
einmal Weltvorstellungen dieser kulturellen Bereiche ins Spiel.
Auch die Fragen nach der impliziten Ontologie der besten theoretischen Er-
klärung der raumzeitlichen Welt, also die Debatten über Ding-, Ereignis- oder
Prozessontologie, sind für die hier entwickelte Ethik nur begrenzt relevant.
Wenn es für das Handeln wichtig ist, dass diese Welt in einen guten Zustand
kommt oder bleibt, dann sind davon sowohl Ereignisse und Prozesse wie
Handlungen und Dinge im Sinne relativ stabiler und abgrenzbarer materieller
Gegenstände betroffen. Das kann für das Verhalten zur Natur unterschiedliche
Konsequenzen haben, etwa was »Dinge« wie Pflanzen und Tiere, ihre Lebens-
und Reproduktionsprozesse, aber auch natürliche Prozesse des Wetters, Klimas
etc. angeht. Vermutlich kommen noch andere Entitäten wie Dispositionen,
Relationen etc. hinzu. Das hat für die Ontologie der Werte Konsequenzen.
Entscheidend sind für die Ethik primär nur die Begriffe »Welt« und »gut« –
allenfalls die Begriffe »Zustand« und »Handlung« liegen noch auf dieser
Ebene. Mit Zustand kann sowohl eine augenblickliche Konstellation von
Ereignissen (states) wie eine über einen Zeitraum stabile Verfassung (wie
in »state of the art«) gemeint sein.306 Der Begriff »Welt« ist auch auf sehr
abstrakter Ebene der eines gegliederten Ganzen, das von einer einfachen,
unterschiedslosen Einheit ebenso unterscheidbar ist wie vom Nichts.307 Die
interne Mannigfaltigkeit und Gliederung einer Welt kann schon ethisch be-
wertet werden, nämlich als gut oder erhaltenswert oder als schlecht im
Sinne entweder des Gegenstandes einer Befreiung (»Erlösung«) oder gar der
Zerstörung – im Sinne des Urteils von Mephisto in Gothes Faust: »alles, was
entsteht, ist wert, dass es zugrunde geht«.308
Damit sind auch die allgemeinsten Bedeutungen von »gut« schon benannt,
nämlich zu bejahen und zu erstreben – angefangen vom willentlichen nicht
Zerstören oder Zugrundegehen-Lassen. Da nicht alle urteilsfähigen Wesen

306 Vgl. zu einer solchen Verwendung von Zustand (state) auch Sidgwick, (2019), <Sein> und
<Sollen>, S. 87.
307 Wenn ein solcher Begriff überhaupt denkbar ist, was Parmenides bekanntlich bezweifelt.
Auch für Hegel ist der Gedanke des »reinen« Nichts nicht bestimmbar oder unterscheid-
bar – nicht einmal von einem ebenso bestimmunglosen Sein, wie am Anfang seiner
Wissenschaft der Logik gezeigt wird (GW 11, S. 44)
308 Goethe (2005), S. 65, Z, 1339-1340.
158 7 Ontologie und Hermeneutik ?

auch strebens- oder handlungsfähig sein müssen, kann man die beiden Be-
deutungen unterscheiden.
Für diese »Güte« der Welt reicht ihre innere Mannigfaltigkeit allein nicht
aus. Sie könnte ja auch in einem permanenten Prozess des Kampfes oder der
wechselseitigen Beschädigung ihrer Bestandteile bestehen, in dem Mannig-
faltigkeit nicht verlorengeht.309 Dieser Zustand bzw. diese Verfassung wäre
aber für keines ihrer Glieder bejahens- oder erstrebenswert. Wenn man nicht
von einem permanenten »Todestrieb«, sondern von elementarer Selbst-
bejahung ausgeht, kann man eine Art von Koexistenz oder Teilung der Exis-
tenzmöglichkeit positiv bewertend feststellen. Sie ist in einem allgemeinen
Sinne »Gerechtigkeit« zu nennen.
In der Welt, in der Menschen leben, vor allem auf der Erde, ist diese Ko-
existenz ein Verhältnis des wechselseitigen Angewiesen-Seins bzw. der Ab-
hängigkeit. Schon unorganische Prozesse und Dinge brauchen einander, erst
recht gilt das auf der Ebene des Lebens. Lebendige Wesen sind auf Stoff-
wechsel mit der Umgebung angewiesen – die benötigten Stoffe zu erhalten ist
für sie »gut« im Sinne des Förderlichen für ihre Erhaltung und ihr Gedeihen. In
diesem Sinne habe ich Mannigfaltigkeit, Gerechtigkeit, Gedeihen und Natür-
lichkeit als die allgemeinsten Attribute einer »guten Welt« bezeichnet (s.o.
S. 12). Dazu muss eine Fülle materieller Voraussetzungen gegeben sein.
Wenn das in einem graduell ausreichenden Maße der Fall ist, kann man
von einem guten Zustand bzw. hinsichtlich eines größeren Zeitraums von
einer guten Verfassung der materiellen Welt sprechen. Das lässt sich über-
tragen auf das wechselseitige Verhältnis von Kulturen, Völkern, Gruppen und
Individuen. Da höhere oder niedere Grade bzw. Niveaus solcher Güte sowohl
natur- wie kulturgeschichtlich vorgekommen sind, handelt es sich nicht um
die Realisierung eines Ideals, sondern um die Beförderung oder Verhinderung
von Zuständen dieser Welt. In der Gegenwart geht es offenbar primär um ein
Aufhalten von Verschlechterung. Es kann sich auch nicht um die beliebige
Steigerung von Mannigfaltigkeit handeln, denn das könnte auch durch er-
höhte Künstlichkeit, Züchtung, Technik, Aufspaltung etc. erfolgen. Warum der
damit einhergehende Verlust von Natürlichkeit weder für die Welt noch für
die Menschen »gut« wäre, bedarf aber eigener Argumente, die ich teils oben
(S. 11 f.), teils andernorts zu entwickeln versucht habe.310

309 In der außermenschlichen Natur gibt es entgegen klischeehafter Vorstellungen nicht nur
permanente gegenseitige Schädigung, sondern auch Symbiose, Kooperation usw. – was
eine Konkurrenz um erfolgreiche Weitergabe von Genen nicht ausschließt.
310 Zuletzt in Autonomie, Natürlichkeit und Technik, vgl. Siep (i. E. a).
7.2 Werte und Wertewandel 159

7.2 Werte und Wertewandel

Das »Gut-sein-für« in diesem allgemeinen Sinne habe ich auch als »Wert« be-
zeichnet. Dazu gehört beim Menschen alles, was ein gutes Leben zu einem
solchen macht. Wenn ein Wesen »Würde« in dem Sinne hat, dass es eine be-
stimmte Behandlung verdient, sie ihm »konstitutionell« gerecht wird usw.,
dann ist eine solche Behandlung für es »gut«. Auch Rechte sind für ihre
Träger wertvoll, aber deswegen, weil sie anders als andere Wertbeziehungen
Personen, Gruppen und Institutionen zu etwas verpflichten.
Werte sind nach dieser Konzeption also Relationen des für-etwas bzw.
jemanden-wertvoll Seins. So, wie man die Rechtsbeziehung als »Rechte«
substantivieren kann, so auch die Wertbeziehungen als »Werte«. Mehr onto-
logische Verselbständigung scheint mir nicht vonnöten.
Man kann den Begriff einer guten Welt, wie ich ihn hier noch einmal
kurz skizziert habe, als »Rahmenvorstellung« bezeichnen, die weiter spezi-
fiziert werden muss und in der Geschichte der Religion, der Philosophie
oder der Literatur auch wurde. Ohne eine ausführliche Begriffsgeschichte
lässt sich sagen, dass die erwähnten Grundzüge in wesentlichen Stadien
dieser Geschichten leitend waren, etwa in der griechischen Tradition des
»Kosmos« oder der christlichen der Schöpfung. In diesen Traditionen galten
sie allerdings nicht als temporäre Zustände, die erhalten oder erreicht werden
können, sondern als ewige Ordnungen eines zeitlosen Logos bzw. göttlichen
Schöpfers. In der Neuzeit verloren die Weltbegriffe diese metaphysische
Stützung, außerdem traten die Dimensionen von Natur und Geschichte, später
auch Kultur, auseinander. Wenn die Ethik heute an die normativen Selbst-
bilder von Kulturen und ihre teils vereinbarten (z.B. durch internationale
Konventionen), teils möglichen Konsense anknüpfen will, dann muss sie
»hermeneutisch« deren Grundlagen deuten. Dazu gehört auch die Geschichte
der Menschenrechte (o. Kap. 4). Die Begriffe der guten Welt ebenso wie die
des moralischen Standpunktes enthalten aber Kriterien, an denen diese
Geschichte gemessen werden kann.
Sowohl die Werte wie die »gute Welt« haben nach der konkreten Ethik ein
doppeltes fundamentum in re: im bewerteten Gegenstand und im bewertenden
Subjekt.311 Der Wert des für Bedürfnisse (Lebensfunktionen, Gesundheit)
Förderlichen ist in bestimmten Eigenschaften von Dingen und Prozessen der
materiellen Welt ebenso verankert wie in den physiologischen Bedingungen,

311 Zu meiner relationalen Werttheorie vgl. Konkrete Ethik (Siep 2016), S. 124-185 sowie
Siep (2004) Ethics and the Structure of Valuation. Zur Diskussion relationaler Theorien
ethischer Werte vgl. auch Quante (2013) Einführung in die allgemeine Ethik, S. 95 ff., 103 ff.
160 7 Ontologie und Hermeneutik ?

aber auch den Strebens- und Urteilsaktivitäten wertender Wesen. Er realisiert


sich teils kausal, teils auf der »subjektiven« Seite intentional und propositional.
Begriffe einer guten Welt gibt es natürlich nur im Denken und Handeln eines
urteilsfähigen Subjekts. Der materiale Gehalt der darauf bezogenen Urteile,
Intentionen, geistigen und körperlichen Aktivitäten ist aber ein Zustand der
immer auch materiellen Welt. Das gilt auch für die »geistigen Bedürfnisse«
der Menschen nach Kommunikation und kultureller »Nahrung« unterschied-
licher Art. Real ist aber nicht nur der materielle Träger kultureller Gebilde.
Auch diese selber können auf unterschiedliche Weise real sein: als Kunst-
werke, Institutionen, sozial (vor allem rechtlich) realisierbare Ansprüche etc.
Wie Sozialontologen gezeigt haben, kann man auf sie eindeutig Bezug nehmen
und sie sind unbestreitbar kausal wirksam.312
Was an diesen »Sinnwelten« für Menschen bejahens- und erstrebenswert
ist, also Werte darstellt, kann sich aber in der Zeit wandeln. Damit verändert
sich auch, was in einer jeweiligen Epoche oder Kultur als »Wert« zu bezeichnen
ist. Aber zum einen gibt es einen Rahmen dieses Wandels und zum anderen
verschiedenartige Bedingungen für sein Tempo. Um das zu präzisieren, kann
man sich an den Zeiträumen und den Geschwindigkeiten der Veränderung
orientieren. Der sich am langsamsten verändernde Rahmen ist vermutlich
die physiologische Konstitution des Menschen. Was er für seine Erhaltung
und seine Gesundheit braucht, hat sich seit der evolutionären Entstehung
des homo sapiens sapiens nicht grundlegend geändert – auch wenn die not-
wendigen Stoffe in einer fast unendlich variablen »Darreichungsart« vorliegen
können. Es ist aber der weiteren biologischen Evolution nicht völlig entzogen.
Geändert haben sich die Begriffe der Gesundheit. Zu ihr gehören außer den
störungsfreien körperlichen Funktionen auch die Aspekte des subjektiven
Wohlbefindens und der Erbringung »normaler« Leistungen in einer Gesell-
schaft. Wessen man dazu bedarf, ist in Gesellschaften mit moderner Medizin
und gestiegenem Lebensstandard ständigen Änderungen unterworfen – und
lässt in den gleichen Epochen und Gesellschaften erhebliche Unterschiede zu.
In modernen Sozialstaaten sind die Stufen der »Bedürftigkeit«, die Ansprüche
auf soziale oder staatliche Unterstützung rechtfertigen, durch umfangreiche
Gesetzbücher, wie etwa das deutsche Sozialgesetzbuch, festgelegt.
Die zweite Art des konstanten oder zumindest »trägen« Rahmens ist der
moralische Standpunkt des unparteiisch wohlwollenden Beobachters. Er
hat sich vermutlich relativ früh in der Kulturgeschichte entwickelt, aber der
Umkreis der Betroffenen, deren Bedürfnisse, Interessen und Ansprüche
ein solcher Beobachter – der als Mensch immer zugleich Mitspieler ist – zu

312 Vgl. Jansen (2017), Gruppen und Institutionen, S.21, 40, 55, 285.
7.2 Werte und Wertewandel 161

berücksichtigen hat, bleibt Veränderungen unterworfen. Zur »Entwicklungs-


logik« dieses Standpunkts gehört die Ausweitung der Inklusion (vgl. o. Kap. 4.2).
Mit den ersten Begriffen einer wohlgeordneten, gerechten (Anaximander),
schönen oder gottgewollten Welt beginnen die konkreteren Formen der Vor-
stellung einer Welt, die für alle daran Beteiligten förderlich ist – und sei es in
den frühen Formen durch die Zuweisung eines jedem gebührenden Platzes in
einer Hierarchie (»jedem das Seine«). Es beginnen auch die Geschichten von
Leiden und Schuld, die entweder eine ursprünglich gute Welt »entstellen«,
oder negatives Vorzeichen dafür sind, was nach der Erlösung die Güte dieser
Welt ausmachen soll.
In noch kürzeren Zeiträumen entwickeln und verändern sich die normativen
Selbstbilder von Kulturen und Gruppen in der Kulturgeschichte. Insofern sie
innerhalb der genannten Rahmenbedingungen bleiben, kann man in ihnen
bloßen Wechsel, aber auch Fort- und Rückschritte unterscheiden. In den
Kapiteln 3 und 4 sind die Fortschritte in den allgemeinsten und striktesten, der
Würde des Menschen geschuldeten Verhaltensweisen erörtert worden. Dabei
handelt es sich zum Teil um Lernprozesse, zum Teil um fundamentale Um-
brüche, vor allem im Verhältnis des Individuums zu den Kollektiven, denen
es angehört. Politisch und religiös ist noch heute umstritten, ob der Wert von
Nationen, Staaten, Kirchen etc. das Opfer individueller Rechte verdient, oder
der Schutz der Rechte und der Würde der Individuen »Verpflichtung aller
staatlichen Gewalt« (Grundgesetz Art. 1 I) ist.
Werte innerhalb des normativen Selbstbildes einer Gruppe, Kultur, Epoche
stehen also nicht außerhalb des zeitlichen Wandels. Es gibt Werte und ihnen
entsprechende Tugenden wie Gehorsam, »unbedingte«, d.h. kritiklose Loya-
lität, Opferbereitschaft und Askese für Kollektive, die den neuzeitlichen
Werten der Autonomie gewichen sind. Wie steht es dann mit der Realität
von Werten bzw. Wertbeziehungen? Um diese Frage zu klären, müsste man
Arten von Werten und Wertbeziehungen unterscheiden, wie das etwa Nikolai
Hartmann in subtiler Weise getan hat.313 Ich kann hier nur einige für die
konkrete Ethik besonders relevanten Werte erörtern, nämlich gute Welt und
Menschenwürde.
Insoweit sich die Güte auf physische Bedürfnis- und Förderungsrelationen
zwischen materiellen Gegenständen und Prozessen bezieht, hat sie einen
klaren materiellen und kausalen Träger. Gleichwohl muss die Förderung des
Gedeihens und Wohlergehens einer Mannigfaltigkeit von Lebewesen und ihrer
»Lebensgrundlagen« als Wert geschätzt werden, um für den Menschen hand-
lungsleitend zu sein. Das ist aber keine Erfindung oder Projektion, sondern

313 Hartmann (1962), Ethik.


162 7 Ontologie und Hermeneutik ?

ein »Andocken« an Relationen und Sachverhalte, die auch von anderen Wesen
gesucht bzw. (bei Schädlichem) gemieden werden und für diese tatsächlich
förderlich sind.314 Zudem verlangt der moralische Standpunkt ihre Förderung.
Die Exklusion von Lebewesen und ihren Lebensbedingungen aus dem Kreis
des moralisch Berücksichtigenswerten war von daher eine Inkonsequenz. Dass
es bei der Ausweitung dieser Inklusion zu schwierigen Konflikten und Ab-
wägungen kommt, nicht nur zwischen menschlichen und nicht-menschlichen
Ansprüchen, sondern auch zwischen diesen selber – bedingt durch die
Nahrungskette und die Formen der Arterhaltung bzw. Genverbreitung – liegt
auf der Hand.
Viel schwieriger ist diese Frage für geistige Werte und für Rechte von
Menschen zu beantworten. Wenn man »Kultur« zumindest mit Sprachlichkeit
beginnen lässt, gehören Bedürfnisse der Kommunikation und des wechsel-
seitigen Verständnisses dazu. Mit dem Vermögen des sprachlichen bzw. be-
grifflichen Denkens oder der Vernunft kommen neue artgemäße Bedürfnisse
und Wünsche hinzu, solche die zu dem sich entwickelnden moralischen
Standpunkt passen (»gute«) und solche, die ihm widersprechen (»böse«).
Zur Allgemeinheit der Begriffe und Regeln sowie der Unparteilichkeit des
moralischen Standpunkts gehören allgemeine Normen für die Regelung
individueller Ansprüche in einer Gruppe.
Von dem Wandel im Primat der Rechte der Einzelnen sowie der engeren
Gruppen vor den umfassenden und institutionalisierten (Staat) war schon
die Rede. Für den ontologischen und evaluativen Primat der Kollektive gab
es in der Vergangenheit tiefgreifende philosophische, religiöse und politische
Gründe (s.o. S. 121). Die »weltlichen« Institutionen, die Anteil oder direkten
Zugang zum Göttlichen haben, die Kirche oder das sakrale Königtum,
partizipieren an der eigentlichen Realität des Ewigen, das der Vergänglich-
keit der raumzeitlichen Welt und ihrer materiellen Körper entzogen ist. In der
Neuzeit übernehmen zunächst Institutionen, die von einer zeitlosen, über
den Menschen hinausreichenden Vernunft gefordert sind diese Funktionen,
vor allem der das Vernunftrecht sichernde Staat – wie bei Kant und Hegel.
Mehr voluntaristisch als rationalistisch verstanden, können auch Volk oder
Nation als Träger einer unbedingten Souveränität über die Individuen zu einer
solchen Entität werden. Dass Völker immer nur in zeitlich vorübergehenden
Bürgerschaften existieren, die aufeinander folgen, sich aber auch durch ab-
rupte Brüche – wie Revolutionen, Sezessionen, Vertreibungen – voneinander

314 Für eine »realist conception of evaluative properties« plädieren auch Vieth/Quante
(2010), The Structure of Perception, S. 6.
7.2 Werte und Wertewandel 163

unterscheiden können, wird über dieser Hypostasierung meist verdrängt.315


Die unvergängliche Substanz wird dann ersetzt durch einen religiösen oder
historischen Mythos, der Kontinuität, Größe und Unvergänglichkeit zugleich
suggeriert.
Die Aufwertung der sterblichen Individualität gegen diese metaphysischen
Entitäten, vor allem in der Neuzeit, wird seit Emile Durkheim gerne als »Sakra-
lisierung der Person« charakterisiert. Wenn diese Sakralisierung allerdings an
eine zeitenthobene Seelensubstanz und ihre Verbindung (Schöpfung, Gabe,
Ebenbild) mit einem göttlichen Urheber gebunden wird, ist sie immer noch an
einem metaphysischen Realitätsbegriff orientiert. Eine solche Heiligung der
Person soll der Selbstsakralisierung des Staates wehren,316 birgt aber die Ge-
fahr, dass die Individuen nur als von Gott gewürdigt selber Würde besitzen. Die
leibliche Existenz und Fragilität kann dann seinem »Seelenheil« unterworfen
werden, wie in der Vergangenheit in extremer Form in der Inquisitionsgerichts-
barkeit. Das soll nicht heißen, dass religiöse Rechtfertigungen des Wert-
primats des Individuums nicht möglich sind und Teil eines »überlappenden
Konsenses« über die Menschenwürde sein können.
Die Umkehrung der metaphysischen »Seinshierarchie« zwischen ewigem,
notwendigem und allgemeinem auf der einen und vergänglichem, zufälligem
und individuellem Sein wird in der Moderne oft naturalistisch begründet:
Realität kommt nur den materiellen Körpern und ihren gesetzmäßigen Ver-
änderungen zu. In den Institutionen sind das die menschlichen, leiblichen
Individuen. Darauf stützt sich auch der »methodische Individualismus«, für
den die Individuen das einzig oder primär reale sind. Sozialontologen haben
aber gezeigt, dass nach den Regeln der Ontologie, darunter der Identifizierbar-
keit, der Zurechenbarkeit von Handlungen, der kausalen Wirkungen etc. auch
institutionalisierten Kollektiven, von der Aktiengesellschaft bis zum Staat,
eigenständige Realität zukommt.317 Allerdings setzt die Institutionalisierung
und die Befolgung der Regeln handelnde menschliche Individuen voraus. Man
kann sich auch fragen, ob die Begriffe sozialen Handelns, sich Verpflichtens
etc. nicht alle am Vorbild menschlicher Individuen orientiert sind – nicht im
Sinne der bloßen Metaphorik, sondern, mit Aristoteles gesprochen einer pros
hen-Analogie: im eigentlichen Sinne handeln Individuen, im abgeleiteten
Kollektive und Institutionen.

315 Vgl. Müller-Salo (2019), Diachrone Legitimität.


316 Vgl. Joas (2013), Sakralisierung und Entsakralisierung.
317 Vgl. Jansen (2017), Gruppen und Institutionen; Pettit (2003), Groups with Minds of their
own.
164 7 Ontologie und Hermeneutik ?

Eine plurale Ontologie, die den Institutionen und den Individuen eine
eigene Seinsart und Realität zuspricht, ist aber für eine Ethik passend, die von
Individualrechten, Gemeinschaftsgütern und intrinsischen Werten blühender
Gemeinschaften ausgeht – den ersteren aber den normativen Primat in
Konfliktfällen einräumt. Eine höhere Seinsart im Sinne der Zeitlosigkeit
kommt beiden nicht zu, das kann auch eine »Sakralisierungstheorie« nicht
zeigen. Was hat es dann aber mit der Irreversibilität auf sich? Beanspruchen
Menschenwürde und Menschenrechte nicht doch eine Unveränderlichkeit,
die einen höheren ontologischen Status begründet oder seiner bedarf?

7.3 Ontologie und Irreversibilität

Im vierten Kapitel wurde dafür argumentiert, dass Würde und grundlegende


Rechte Ergebnis eines »begriffenen« Erfahrungsprozesses sind.318 Er entdeckt
etwas, das Menschen zusteht, quasi ein Ersatz für eine zeitlose Wesenserkennt-
nis. Was der Mensch »ist« bzw. als was er seinen Mitmenschen gelten soll, hat
sich entwickelt – wie es etwa dem Konzept einer historischen Anthropologie
entspricht. Diese Entwicklung ist aber eine normativ gerichtete Lerngeschichte,
die auf einigen Gebieten der Kultur – vor allem Recht und Moral,319 aber auch
hinsichtlich unumkehrbarer Wissensfortschritte – irreversibel ist. Dass das
Individuum Kollektiven und Institutionen nicht mehr geopfert werden darf,
dass bestimmte Rechte dafür nicht mehr unfreiwillig eingeschränkt – aber
auch nicht als Rechte selber aufgegeben – werden dürfen, ist Teil dieser Ent-
deckung der Würde.
Die Realität des Wertes der Menschenwürde ist also nicht die einer zeit-
losen Substanz. Dieser Wert ist in der Zeit, hat einen Anfang und kann ein Ende
haben. Er hängt von Zuschreibungen ab, die durch kollektive Erfahrungen als
adäquat erwiesen wurden. Ein faktisches Ende dieser Zuschreibung wäre aber
nicht das ihrer normativen Gültigkeit. Ihre Realität ist deutlich unterschieden
von Projektionen, Wünschen und Mythen, also Erzählungen, die weder
Fakten wiedergeben noch berechtigte normative Ansprüche. Die Realität des

318 Vgl. Hegels »begriffene Geschichte« in der Phänomenologie des Geistes, die allerdings nach
meiner Lesart mit »logischen«, letztlich doch metaphysischen Begriffen rekonstruierbar
ist. Die hier vorgeschlagene Methode entspricht einem »Hegel ohne Teleologie der Ver-
nunft«, d.h. ohne die Annahme einer sich in der Geschichte notwendig durchsetzenden,
allen materiellen Hindernissen überlegenen Vernunft.
319 Vgl. dazu auch Schneewind (1971), Moral Progress (sowie die Comments von Fein-
berg, ebd. S. 19) sowie Jaeggi (2018), Widerstand gegen die immerwährende Gefahr des
Rückfalls.
7.3 Ontologie und Irreversibilität 165

Mythos ist ein eigenes komplexes Thema, zu dem von Ernst Cassirer über
Hans Blumenberg bis Jan Assmann wichtige Beiträge geleistet wurden.320 Man
muss aber den Anspruch von Wertungen und Zuschreibungen, die in Mythen
enthalten sind, von denen der Menschenrechte klar trennen. Aus religiösen
oder nationalen Mythen folgen keine Ansprüche an Menschen, die sie nicht
freiwillig anerkennen. Solche Mythen sind Erzählungen, die Menschen zur
Erklärung von Gegebenheiten und Erfahrungen und zur Rechtfertigung von
Ansprüchen ersonnen haben. Die darin vorkommenden Entitäten haben
keinen nachweislich »höheren« Realitätsgehalt als menschliche Individuen.
Ihre Ansprüche – etwa überweltlicher Wesen oder weltlicher Kollektive –
haben keine Basis, die Unterdrückung und Entwürdigung dieser Individuen
rechtfertigen könnten. Individuen können freiwillig ihre Interessen der Ver-
ehrung oder Unterstützung solcher Entitäten unterordnen, aber sie dürfen
dazu nicht gezwungen werden. Sie dürfen sich dabei ihrer Würde und ihrer
elementaren Rechte auch nicht selber »entäußern«.
Sicher sind auch historische Erfahrungsgeschichten wie die der Ab-
schaffung der Sklaverei nicht frei von narrativen Elementen. Sie können aber
an historischen Quellen überprüft werden. Die Gefühle der Unterdrückung
und Entwürdigung können noch immer real nachvollzogen werden und sie
empören sich immer wieder gegen neue Unterdrückungsversuche. Ontologie
und Naturwissenschaften entlarven die gegenteiligen Ansprüche imaginierter
Kollektive auf einen höheren Status. Wie immer die Geschichte der Abschaffung
der Sklaverei erzählt werden mag, aus dem Resultat einer mit Sklaverei un-
vereinbaren Menschenwürde folgen Ansprüche an alle Menschen, auch wenn
sie gerne Sklavenhalter oder sogar Sklaven wären. Das ist eine andere Art von
Wert oder normativer Realität als der eines Konventions- oder Geschmacks-
wandels. Er ist auch verbunden mit wirklichen Fähigkeiten der Menschen,
aktiven und passiven, wie ihrer Selbstverpflichtung aus begründeter Einsicht,
aber auch Gefühlen der Selbstachtung oder Kränkung.
Auch die Würde von Menschen, die in ihrem Leben zur Ausübung ihrer Ver-
nunft, Zurechenbarkeit, Pflichterfüllung etc. niemals in der Lage sein werden,
ist nicht die der Gattung, sondern der Individuen, wenn auch in Ansehung
ihrer Zugehörigkeit zur Gattung. Sie werden durch die Rechtsgemeinschaft
der Verfügung durch jeden anderen Menschen entzogen. In manchen Fällen
bleibt ihnen allerdings nur ein »Rest« von Selbstverfügung, etwa bei lebens-
langer Sicherungsverwahrung oder Entmündigung. In solchen Fällen wird

320 Cassirer (1994), Philosophie der symbolischen Formen II; Blumenberg (1996), Arbeit am
Mythos; Assmann J. (2007), Das kulturelle Gedächtnis, S. 78-83; ders., (2015), Exodus, S. 91-
95, 386 f.
166 7 Ontologie und Hermeneutik ?

die Autonomie der Lebensführung in Ansehung körperlicher Bewegungs-


freiheit und rechtlicher Selbständigkeit der Sicherung der Integrität ihrer
selbst und ihrer sozialen Umgebung untergeordnet. Ob das noch mit dem
Instrumentalisierungsverbot in Einklang steht, ist eine offene Frage. Jedenfalls
müssen aber der Ausdruck ihres Willens und die Bedingungen ihrer Selbst-
achtung so weit wie möglich respektiert werden.
Auch in diesen Fällen ist es nicht einfach die biologische Spezieszugehörig-
keit, sondern eine kulturelle Zuschreibung, die den Wertstatus begründet.
Sie erfolgt aber nicht willkürlich oder durch Mehrheitskonsens, sondern an-
gesichts einer »Entdeckungsgeschichte« im Bewusstsein des »an sich« zu-
stehenden Status und Wertes. Ich habe oben zu zeigen versucht, dass ihm
die Unumkehrbarkeit des »Fortschritts im Bewusstsein der Freiheit« (Hegel)
zukommt. Dass man dem so entdeckten Wert der Menschenwürde nicht den
Status eines ewigen, »platonischen« Wertes zuschreiben muss, sondern den
eines entdeckten und durch gemeinsame Verpflichtung »verliehenen«, macht
ihn nicht zu einem beliebig veränderbaren. Ewige Werte in platonischer
Tradition sind nur ein Ersatz für metaphysische Substanzen. Es »gibt« auch
nicht »die« Gerechtigkeit, aber es gibt gerechte Ordnungen, die Menschen,
Tiere etc. gerecht behandeln, d.h. nach dem, was ihnen zukommt – wie die
Menschheit historisch entdeckt hat. Insofern sich darin ein Wert erschließt,
durchhält und bereichert kann man von der Selbigkeit eines Sinnes bzw. einer
Idee sprechen.
Moralische Werte sind gebunden an Handlungen, Ordnungen, Regeln, die
eine eigene Realität haben. Sie sind es wert, für sie zu kämpfen und Opfer zu
bringen – aber freiwillig und nicht, weil sie »unbewegte Selbstzwecke« (vgl. o.
S. 101) sind, einen höheren Wert und wahrhafte bleibende Existenz verleihen.
Sie müssen einem nicht zur Unsterblichkeit in der Vereinigung mit Staat
oder Nation verhelfen und sollten auch nicht notwendig sein, um Defizite
des Selbstbewusstseins zu kompensieren. Es kommt darauf an, Institutionen
und Werten eine eigene Existenzweise zuzugestehen, ohne ihren Wert und
Zweck von den Menschen und anderen Lebewesen zu trennen, deren Leben
sie ordnen. Religiöse und metaphysische Bedürfnisse des Menschen, sich
höheren, aller Vergänglichkeit und allem Bösen entzogenen Entitäten zu
opfern – sozusagen als selbst dargebrachter Ersatz früherer Menschenopfer –
sind allerdings nach wie vor stark. Nach den ewigen Arten der (aristotelischen)
Biologie fallen aber auch die ewigen Geister (National- oder Volksgeister etc.)321
und absoluten Werte der Entmythologisierung zum Opfer. Es bleibt aber eine

321 Noch für Ranke sind Staaten »Gedanken Gottes«. (Ranke (1958), Politisches Gespräch,
S. 61).
7.3 Ontologie und Irreversibilität 167

schwere Aufgabe, Menschen aller Veranlagungen und »Ausgangschancen«


Bedingungen zur Entwicklung von Selbstachtung jenseits solcher Selbst-
transzendierung zu verschaffen. Das Bewusstsein der Bedeutung der Gruppe,
der man angehört, ist für die Kompensation individueller Schwäche oder
Minderwertigkeitsgefühle nur schwer ersetzbar.
Gemeinsame Verpflichtungen können natürlich auch verändert werden. In
der neueren politischen Philosophie ist eine Debatte darüber entstanden, ob
und inwieweit ein verfassungsgebendes Volk – genauer eine sich zu einem be-
stimmten Zeitpunkt konstituierende Bürgergesellschaft – spätere Nachfolger
zur Einhaltung der Verfassungsgrundsätze verpflichten kann.322 Dazu dienen
Veränderungshindernisse (qualifizierte Mehrheiten für eine Verfassungs-
änderung), bis hin zu Ewigkeitsklauseln, die bestimmte Teile der Verfassung
ganz von Veränderungen ausnehmen – etwa im deutschen Grundgesetz
(Art 79 III) das Bekenntnis zur Menschenwürde und »unverletzlichen und un-
veräußerlichen« Menschenrechten (Art 1) sowie eine gewaltenteilige Rechts-
ordnung (Art 20).323 Solche Sperren nehmen späteren Generationen offenbar
einen Teil der demokratischen Selbstbestimmung. Man kann in ihnen aber
auch das Gebot sehen, die unveräußerlichen Grundrechte für künftige
Generationen zu erhalten.324
Wenn der Wert der Menschenwürde nach jahrhundertelangen Erfah-
rungen der Entwürdigung, Knechtung und Diskriminierung als etwas »dem
Menschen« Zustehendes entdeckt und begriffen wird, dann sind solche Ver-
änderungssperren nicht illegitim. Sollten spätere Generationen zu einer
anderen Einsicht kommen, dann werden sie eine solche Verfassung ersetzen.
Sie müssen sich aber nicht darauf berufen können, dass ein solcher Umsturz die
demokratischen Intentionen der Vorgänger-Verfassung erfüllt. Wenn eine zu-
künftige Bürgerschaft den grundrechtlichen Kern der Freiheit abschaffen will,
warum soll sie sich dann auf Artikel der alten Verfassung berufen können und
so eine Kontinuität zu den Rechtsüberzeugungen der Vorgängergenerationen
beanspruchen? Vielleicht gibt es sogar ein Recht lebender Generationen, den
folgenden in diesem Fall eine solche Berufung zu verweigern. Völlige Verän-
derungen von Verfassungen oder ihrer elementaren Grundartikel nennen wir
Revolutionen – ob gewaltsam oder nicht. Gegen Revolutionen »von oben« gilt
in grundrechtsbasierten Verfassungen in der Regel ein Widerstandsrecht.325

322 Zum Folgenden vgl. Müller-Salo (2019), Diachrone Legitimität.


323 Vgl. dazu – auch kritisch – Dreier (2009), Gilt das Grundgesetz ewig?.
324 Vgl. Hofmann (1995), Langzeitrisiko und Verfassung, S. 331-333. Eine solche Verpflichtung,
die Grundrechte für spätere Generationen zu bewahren (»unveräußerlich«), passt nicht
zu einer Vorausberechtigung ihrer Aufgabe.
325 Vgl. Schweikard/ Mooren/ Siep (Hg.) (2018), Ein Recht auf Widerstand gegen den Staat?.
168 7 Ontologie und Hermeneutik ?

Erfolgen sie »von unten«, wird man ihnen nur dann ein »Recht« zuschreiben,
wenn ein beträchtlicher oder repräsentativer326 Teil des Volkes frei ent-
schieden hat und die Verfassung zumindest keinen schweren Rückfall hinter
bereits erreichtes Recht darstellt.
Der ontologische Status von Werten und Normen ist verschieden, je nach
ihrer Zuordnung zu Institutionen und Individuen. Der Wert der Gesundheit
etwa ist sozialontologisch gesehen verankert in Institutionen wie Kranken-
kassen, Krankenhäusern oder dem Sozialgesetzbuch. Dabei werden, etwa
in der Rechtsprechung, auch unterschiedliche Standards berücksichtigt
werden – im 21. Jahrhundert ist das »Niveau« erwartbarer Gesundheit höher
als im 16. oder 19. Jahrhundert. Gesund zu sein ist aber auch ein von den
meisten Menschen gehegter Wunsch, der individuell sehr unterschiedlich aus-
geprägt ist. Für einen »unheilbar« oder »austherapierten« Kranken bleibt er
eine Erinnerung und ein Traum, der in seinem Leben mit großer Wahrschein-
lichkeit nicht mehr realisiert wird. Er kann aber immer noch Realität besitzen
als handlungsorientierend und -motivierend. Der Traum von einer für den
Durchschnitt erreichbaren Gesundheit ist etwas anderes als der Wunsch nach
einem Jungbrunnen. Das intentionale Objekt von Werthaltungen besitzt einen
sehr unterschiedlichen ontologischen Status.
Die Menschenwürde hat ebenfalls einen teilweise institutionalisierten
Status in völkerrechtlichen Abkommen, einzelstaatlichen Verfassungen sowie
Organisationen und Ämtern überstaatlicher oder zivilgesellschaftlicher Art
(»Human Rights Watch« etc.). Teilweise ergreifen sie Maßnahmen zu ihrer
Achtung in aller Welt – bei völkerrechtlichen Organisationen auch militärischer
Art (s.o. Kap. 5.2). Diese Achtung bleibt aber für viele Menschen ein unerfülltes
Versprechen, auf dessen Einlösung in ihrer Lebenszeit nicht mehr zu hoffen
ist. Der sozialontologisch zu affirmierenden Realität der Menschenwürde
steht also eine normative Forderung gegenüber, die in der raumzeitlichen Welt
noch nicht erfüllt ist und in vielen individuellen Fällen auch nicht mehr erfüllt
werden wird.
Analoges ist von der guten Welt zu sagen: Sie ist ein Begriff, der auf realisierte
Wertbeziehungen in der Vergangenheit und Gegenwart zutrifft (»referiert«),
insofern es Blühen und Gedeihen einer Mannigfaltigkeit von Wesen und
Formen gegeben hat und gibt. Zugleich ist sie aber eine unerfüllte Forderung,
die Chancen auf weitergehende Erfüllung besitzt, aber auch erheblich an

326 Das traf auf den erfolglosen Widerstandsversuch des 20. Juli 1944 zu, hinter dem Vertreter
unterschiedlicher politischer und weltanschaulicher »Lager« standen – von der »Roten
Kapelle« über den Kreisauer Kreis bis zum konservativen Adel und Bürgertum (Robert
Goerdeler).
7.3 Ontologie und Irreversibilität 169

Realisierung in natürlichen und sozialen Beziehungen verlieren kann. Wichtig


ist sie als Zielvorgabe individuellen und sozialen Handelns. Diese Realisierung
ist graduierbar, d.h. unterschiedliche Aspekte der guten Welt können in unter-
schiedlichen Graden realisiert sein. Das ist aber nicht als Annäherung an ein
unrealisierbares Ideal oder eine Idee im Sinne Kants zu verstehen, an die nur
asymptotische Annäherungen möglich sind. Das Erreichen eines von allen
Betroffenen bejahens- und erstrebenswerten Zustandes der Welt ist nicht un-
möglich, wenn auch unwahrscheinlich. Selbst über den Grad des Erreichten
wird wahrscheinlich ein ständiger Streit bestehen. Aber es gibt Handlungen
und Zustände, die dieser Zielvorstellung entsprechen – zumindest partikulare
und temporäre Zustände einer gerechten Verteilung der Bedingungen des Ge-
deihens für unterschiedliche Lebensformen, Gruppen und Individuen.
Als Ziel ist eine solche »gute Welt« zudem in individuellen und ge-
meinsamen Handlungen und Strebungen wirksam – partiell etwa, wenn
Biodiversitäts- oder Weltkulturerbe-Abkommen in Gesetzgebungen, Politik,
Verwaltung und Lebensführung befolgt werden. Von einer bloßen Idee unter-
scheidet sich dieser Wert durch partielle Realisierungen: natürliche Symbiosen
mit relativ stabilen Fließgleichgewichten realisieren sie ebenso wie plurale
Gesellschaften mit stabilen Menschenrechts-Regimes und einer »Kultur der
Anerkennung«. Für diese Stabilität werden allerdings auch Prozesse benötigt,
die noch in weiter Ferne liegen: Eine nachhaltige Klimaregulation und eine
globale rechtliche Konfliktbewältigung.
Kapitel 8

Schluss: Gute Welt, Menschenrechte und die


Grenzen der Technisierung

Zur Idee einer umfassend bejahens- und erstrebenswerten Welt gehört das
gute Leben der Menschen. Es umfasst seine elementaren Rechte, aber auch
andere Bedingungen für Wohlergehen, moralisch richtiges Handeln und ein
nach eigenen Kriterien sinnvolles Leben. Über den Menschen hinaus fordert
diese Idee aber auch günstige Bedingungen des Gedeihens und Wohlergehens
anderer Lebewesen. Grundzüge eines solchen möglichen »Kosmos« sind
Natürlichkeit, Mannigfaltigkeit, Gedeihen und Gerechtigkeit (vgl. o. S. 9-13).
Wie verhalten sich diese Forderungen zu den Normen mit dem strengsten
Verbindlichkeitsanspruch, den Menschenrechten? Stimmen sie überein
oder sind Konflikte möglich? Gilt dabei ebenfalls ein »Vetorecht« für die
Menschenrechte?
Im Folgenden werden zunächst Argumente für eine Übereinstimmung er-
wogen (1), dann für einen möglichen Konflikt (2). Schließlich geht es um die
Frage einer Überwindung dieser Spannungen (3).
(1) Für eine Übereinstimmung in den Zielen der Förderung einer guten Welt
und der Menschenrechte spricht das Folgende:
A) Zu den Menschenrechten gehören ökologische Rechte, die An-
sprüche auf »natürliche Lebensgrundlagen« und intakte Umwelt
umfassen. Diese Rechte erstrecken sich auf künftige Generationen,
auch was die Mannigfaltigkeit natürlicher Arten angeht – im Sinne
der oben skizzierten konkurrierenden Grundzüge (S. 9 f.).
B) Zur Persönlichkeitsentwicklung vieler Menschen trägt eine mannig-
faltige Natur, und die Begegnung mit natürlich-unkontrollierten
Prozessen bei – ein Grund unter anderen für die Renaturierung
von Flüssen und Wäldern. Die gewaltige Anziehungskraft eines
weltweiten Tourismus – ganz unabhängig von den positiven und
negativen politischen, ökonomischen und ökologischen Folgen –
zeigt ein global verbreitetes Interesse an natürlicher und kultureller
Mannigfaltigkeit. Auch das Identitätsbewusstsein von Gruppen
hängt oft an der Erhaltung natürlicher (Heimat) Landschaften.
C) Viele philosophische, politische und theologische Strömungen
haben die Verknüpfung von Unterwerfung und Ausbeutung
172 8 Schluss: Gute Welt, Menschenrechte

der Natur und entsprechender Beherrschung der Menschen


thematisiert. Das reicht von der »Dialektik der Aufklärung« von
Adorno und Horkheimer über die Thesen von der Unvereinbar-
keit hochtechnischer Technologien mit Freiheitsrechten (»Der
Atomstaat«)327 bis zur Ökotheologie befreiungstheologischer Her-
kunft (Leonardo Boff, Papst Franziskus).328 Die auf den Marxis-
mus zurückgehenden Autoren betrachten allerdings oft auch die
Menschenrechte als mitverantwortlich für die kapitalistische Aus-
beutung der Natur.
D) Es fragt sich, ob eine »kolonialistische« Ausbeutung der Natur
(Meyer-Abich, s.o. S. 21) mit der Würde des Menschen vereinbar ist.
Wie im sozialen Verhältnis ein der eigenen Würde entsprechendes
Verhalten an die Einschränkung der Instrumentalisierung anderer
gebunden ist, so könnte es auch im Umgang mit natürlichen
Adressaten sein. Zumal dann, wenn zur Wertschätzung von Natür-
lichkeit der Vorzug eines dialogischen Verhältnisses statt eines voll-
ständig technisch-instrumentalen gehört.329
(2) Folgende Spannungen bzw. Konflikte zwischen Menschenrechten und
den einer guten Welt geschuldeten Handlung sind denkbar:
A) Bei der Begrenzung der technischen »Verbesserung« der Natur
könnte die Knappheit zunehmen, sowohl die an Lebensmitteln
wie die an kooperationsförderlichen Dispositionen und Emotionen
der Menschen. Das könnte die Verwirklichung der Menschen-
rechte erschweren – sei es durch soziale Konflikte oder durch
»Ökodiktaturen«.
B) Menschenrechte werden durch Staatsformen geschützt, in denen
die Bürger selber an der Gesetzgebung beteiligt sind. In ihnen
sind politische Handlungen zugunsten einer »guten Welt« nicht
garantiert. Denn diese Leitvorstellung ist noch nicht die Form des
Guten, die jedem einleuchtet. Wo Überzeugungs- und Meinungs-
freiheit ebenso gewährleistet werden muss wie Vereinigungsfreiheit
und die Konkurrenz politischer Gruppierungen um die Mehrheit,
können sich Akteurs-Koalitionen mit anderen Zielrichtungen
bilden.

327 Jungk (1977), Der Atomstaat; Roßnagel (Hg.) (1984), Recht und Technik im Spannungsfeld.
328 Vgl. die Enzyklika Laudato si (Papst Franziskus 2015) und die dort in Anspruch ge-
nommene Ökotheologie von Leonardo Boff (2012, Zukunft für Mutter Erde).
329 Vgl. Siep (2018), Natur als Maß menschlichen Handelns, S. 48.
8 Schluss: Gute Welt, Menschenrechte 173

C) Die drei Geschichtsmodelle eines technischen Fortschritts ohne


Grenzen, eines Rechtsfortschrittes mit einem im Wesentlichen
unüberholbaren Resultat, und einer Rückkehr zu vor-neuzeitlichen
Wertauffassungen der Natur als möglicher Wohlordnung (»Kosmos«)
passen nicht ohne Weiteres zusammen.
(3) Was ergibt eine – hier thesenhaft verkürzte – Abwägung dieser Argumente?
A) Von den Argumenten für mögliche Konflikte sind nur die beiden
ersten überzeugend. Zu berücksichtigen ist aber, dass die Pflicht
zur Erhaltung nachhaltiger Lebensgrundlagen für künftige
Generationen ohnehin den derzeit lebenden Menschen Ein-
schränkungen abverlangt. Das dritte Argument (C) spricht zwar
für eine Pluralisierung geschichtsphilosophischer Modelle, es
gibt nicht auf allen Gebieten einen Fortschritt und nur wenige
Normen sind irreversibel. Es ist aber nicht zu sehen, warum sich
diese Geschichtsmodelle ausschließen sollten. Zu einer offenen
Konzeption gehören sowohl Erfahrungen, die eine Umkehr oder
Renaissance nahelegen, wie solche, die ein korrigiertes Fort-
schreiten empfehlen. Es gibt schon heute genügend Beispiele
für »weiche« Technologien oder eingeschränkte Verfügung über
natürliche Prozesse. Partielles Wachstum der Kontrolle und ihre
Einschränkung war auch in der Geschichte der Menschenrechte
miteinander verträglich: Die Souveränität des modernen Staates
gegenüber den partikularen Mächten war für ihren Schutz ebenso
erforderlich wie die – gegen ihn erkämpfte – Einschränkung dieser
Souveränität gegenüber Individuen und Gruppen. Die aktiven Mit-
wirkungsrechte in einer Demokratie müssen in der Lage sein, der
Richtung und dem Grad der zunehmenden Technisierung und des
bloß technisch verstandenen »Fortschritts« Ziele und Grenzen zu
setzen.
B) Es bleiben aber die Argumente der möglicherweise wachsenden
und freiheitsgefährdenden Knappheit und der Unvorhersehbarkeit
der demokratischen Mehrheitsentscheidungen. Vor allem wenn die
Ausübung der Menschenrechte und der spezifisch menschlichen
Fähigkeiten für immer mehr Menschen ermöglicht werden sollen,
könnte eine weitere technische Steigerung der Produktivität nötig
werden. Inwieweit andere Wirtschafts- und Politikformen eine aus-
reichende, aber wachstumsfreie Produktivität erreichen können,
ist trotz vieler partieller Ansätze noch nicht klar. Menschenrechte
haben einen epistemischen Primat vor den Konzepten der guten
Welt, sie sind Gegenstand größerer Übereinstimmungen und
174 8 Schluss: Gute Welt, Menschenrechte

möglicherweise stärkerer Begründungen. Vor allem ihr Kern be-


sitzt unter allen Rechten und Pflichten den stärksten Verbindlich-
keitsgrad. Auch für die demokratische Mitgesetzgebung gilt, dass
sie keiner auch nur zeitlich begrenzten »Ökodiktatur« geopfert
werden darf, die nicht nachweisbar unumgänglich für die physische
Rettung der Menschheit ist.
C) Die Argumente für eine Übereinstimmung haben viel Über-
zeugungskraft, aber sie räumen die Möglichkeit eines Konfliktes
nicht vollständig aus. Die Menschenrechtskonsense sind weniger
umstritten als die über eine mannigfaltige Natur und eine Be-
grenzung der Technik. Allerdings macht die Menschheit zu-
nehmend Leidenserfahrungen auf der Ebene von Technik- und
Umweltkatastrophen. Es ist aber nicht auszuschließen, dass sie sich
als Mangel an Nachhaltigkeit der Technik erklären lassen – einer
Technik die immer noch unter anthropozentrischen Perspektiven
der Mehrung des Nutzens für den Menschen steht. Es erscheint
unwahrscheinlich, aber es ist nicht sicher, ob katastrophale Folgen
von technischen Prozessen nicht auch durch Perfektionierung der
Technik – möglicherweise einer »fehlerfreundlichen« – vermieden
werden können.
Die hier vorgeschlagene Konzeption der guten Welt stützt sich auf philo-
sophische Theorien eines hohen Allgemeinheitsgrades – darunter meta-
ethischen Theorien der Semantik der moralischen Grundworte »gut« und
»sollen« sowie der Bedeutung des moralischen Standpunkts und seiner
»Inklusionsdynamik«. Sie kann sich auch auf interkulturelle Konsense ver-
schiedener Zeitepochen berufen, bis hin zu gegenwärtigen völkerrechtlichen
Konventionen (u.a. zur Biodiversität). Aber es gibt auf den Ebenen der Philo-
sophie und der Politik Alternativen und Gegenpositionen, die schwerer zu
entkräften sind als die Kritik der Menschenrechte. Anthropozentrische,
präferenzutilitaristische und andere ethische Theorien, die mit ihr nicht ver-
einbar sind, können zwar auch mit guten Gründen zurückgewiesen werden.
Wir verfügen aber noch nicht über so klare historische Erfahrungen wie bei
den Menschenrechten um sagen zu können, dass andere Konzepte als der hier
vorgeschlagene normative Kosmosbegriff die Begriffe von Moral und Recht
sprengen.
Wenn die Grenzen der Technisierung der Natur, vor allem der mensch-
lichen, weiter hinausgeschoben werden, dann drohen allerdings auch die
Grundlagen der Menschenwürde zu erodieren. Das gilt sowohl hinsicht-
lich der natürlichen Lebensgrundlagen für zukünftige Generationen, nicht
nur der Nahrungs- und Energieressourcen, sondern auch der Erlebnis- und
8 Schluss: Gute Welt, Menschenrechte 175

Beheimatungsmöglichkeiten in einer mannigfaltigen, vom Menschen noch


teilweise unabhängigen Natur. Es betrifft auch den menschlichen Körper, der so
gezähmt und »automatisiert« werden könnte, dass ihm die für Moralität nötige
Autonomie ebenso abgeht wie die für Kreativität nötige Unvorhersehbarkeit.
Die Berücksichtigung der Argumente für die Vereinbarkeit, die oben
skizziert wurden, könnte das Entstehen von Konflikten zwischen »Menschen-
rechtskultur« und dem Ziel einer mannigfaltigen, gerechten und Natürlichkeit
erhaltenden Welt vermeiden. Grundrechte können eingeschränkt werden, so
lange ihr Wesensgehalt nicht tangiert wird. Neue Generationen von Gesetz-
gebern können etwa das Verhältnis von Eigentumsrecht – nicht nur an
Produktions-, sondern auch an Kommunikationsmitteln –, und freier Persön-
lichkeitsentfaltung gegenüber dem Staatszweck des Schutzes der natürlichen
Lebensgrundlagen anders austarieren.
Die moderne Ethik hat gelernt, Fragen des Grades der Entwicklung und An-
wendung von Technik in enger Verbindung mit anderen Wissenschaften zu
diskutieren und auf diese Weise zu kompetenten Ratschlägen zu gelangen. Das
gilt bereits für die Technik in der Medizin und sollte auch für die Technik in Er-
nährung, Verkehr und Kommunikation gelten. Vor allem sollte es für Projekte
der technischen Optimierung des Menschen selber gelten – oder seinen
»Ersatz« durch künstliche Intelligenz. Moral und Recht können ebenso durch
übermäßige Knappheit an Lebensmitteln den Boden verlieren wie aufgrund
technisch erzeugter Aggressionsdämpfung oder automatischer »Sympathie«
zwischen den Menschen.
In diesem Buch ging es aber vor allem um die grundsätzliche Frage, welche
Ziele und welche Grenzen für menschliches Handeln, vor allem für technisches,
in der philosophischen Ethik erkennbar sind. Nach meiner Argumentation
sind die Kriterien dafür die Verwirklichung der Menschenrechte, die Be-
dingungen guten Lebens sowie die Erhaltung einer Welt natürlicher und
kultureller Mannigfaltigkeit. Die humane Welt hat noch einen erheblichen Be-
darf an Verbesserung, vor allem sozialer, politischer und rechtlicher Art. Die Be-
wältigung natürlicher Mängel und Katastrophen ist dafür notwendig, hat aber
Grenzen an den Gütern der Natürlichkeit. Die letzteren erfordern heute eher
Bewahrung und Rücknahme als weiteren Ersatz natürlicher Prozesse durch
technische. »Gut« und »besser« darf nicht auf technische Verbesserung und
Autonomie nicht auf perfekte Kontrolle reduziert werden. Natürliche Grenzen
der Autonomie – auch der Tod – sind nicht nur Quelle von Abhängigkeit und
Leiden, sondern auch von Überraschung, Spontaneität und Gelassenheit. Das
eine zu mindern und das andere zu erhalten, erfordert eine Gratwanderung,
die eine konkrete Ethik begleiten kann.
176 8 Schluss: Gute Welt, Menschenrechte

Ohne konkreten interdisziplinären Beratung vorzugreifen, kann man die


Überlegungen zu den Zielen und Grenzen der Technik und dem Umfang der
Historisierung der Moral in folgenden Thesen resümieren:
1. Ziel der technischen Eingriffe in die Natur und der technischen
Substitution natürlicher Gegenstände und Grenzen ist die »Zähmung«
zerstörerischer Kräfte der »äußeren« Natur – einschließlich einer
Reduktion der Mannigfaltigkeit von Krankheitserregern. Ferner die Ent-
lastung von Mühsal sowie die Eröffnung neuer Erlebnismöglichkeiten.
Zunehmend werden technische Maßnahmen auch benötigt, um die
Schäden der Eingriffe in die Natur und die Folgen der Industrialisierung
zu mildern bzw. zu beseitigen oder zu kompensieren. Das gilt heute vor
allem für Techniken zur Bewältigung des Klimawandels. Die Umstellung
auf alternative Energien und die Orientierung an der »Klimaneutralität«
zeigen an, dass eine Reintegration in nachhaltige natürliche Prozesse
an die Stelle vollständiger Kontrolle und technischer Substitution tritt.
Auch für Renaturierung oder Neuzüchtung ausgestorbener Arten werden
selbstverständlich technische Geräte, Planung und Kontrolle benötigt.
Ziel dabei ist, die natürliche Mannigfaltigkeit zu erhalten und das Ge-
deihen nicht-menschlicher Lebewesen zu fördern. Menschliches Leben
zu erleichtern und Leiden zu bekämpfen, bleibt ein legitimes Ziel der
Technik. Die Überwindung seiner Endlichkeit oder die technische
Steigerung seiner Fähigkeiten steht aber der Wertschätzung der Natür-
lichkeit entgegen. Vor allem muss seine Moralfähigkeit erhalten werden.
Die Entwicklung von Robotern und künstlicher Intelligenz muss deren
instrumentellen Charakter beibehalten.
2. Ziel der Historisierung der Moral ist eine Ethik, die angesichts der
natürlichen, technischen und kulturellen Entwicklung orientierende
Funktionen ausüben kann. Dazu ist die bloße Anwendung zeitloser
Maßstäbe nicht in der Lage. Gefordert ist eine Vorstellung der Um-
risse einer Welt, die für den Menschen und die übrigen Erdbewohner
gut bzw. erstrebenswert ist. Die traditionellen Zielvorstellungen einer
wohlgeordneten Welt, in der Lebewesen »je nach ihrer Art« gedeihen
können, müssen entsprechend der dynamisierten Welt-Begriffe in den
Theorien natürlicher und sozialer Evolution transformiert werden. Die
Entwicklung der Kultur folgt aber nicht denselben Gesetzen wie die der
Natur, in ihr spielen individuelle und kollektive Absichten, revolutionäre
Neuerungen und bewusste Rückgriffe eine entscheidende Rolle.330 Auch

330 Gegen natürliche Evolution als Paradigma der Kulturgeschichte vgl. auch Assmann
(2012), Cultural Memory, S. 369 f.
8 Schluss: Gute Welt, Menschenrechte 177

die Vorstellungen des guten Lebens der Menschen wandeln sich – nicht
zuletzt angesichts technischer Möglichkeiten.
3. Grenzen der Technisierung folgen aus dem Verzicht auf die Ziele der
vollständigen Kontrolle und Verbesserung der Natur und des Menschen.
Natürlichkeit im Sinne der Selbstregulierung und Selbstzweckhaftig-
keit von Lebewesen und Prozessen, die für den Menschen keine
katastrophalen Folgen haben, soll erhalten bleiben. Insofern der Tod
für die natürliche Mannigfaltigkeit und die Gerechtigkeit zwischen den
Generationen notwendig ist, muss er in Kauf genommen werden. Un-
bedingte Grenze technischer Entwicklung ist die Moralfähigkeit des
Menschen, seine Würde und Selbstbestimmung sowie die dazu erforder-
lichen Rechte.
Um es an einem Beispiel der vieldiskutierten Grenzen der Gen-
technologie weiter zu konkretisieren: Eine Verbesserung der mensch-
lichen »Sozialverträglichkeit«, die seine Autonomie und die Fähigkeit
zur Selbstverpflichtung auf gemeinsame Regeln beseitigt, liegt jenseits
der Grenzen. Das mit dem Verzicht verbundene Leid von Unrecht und
Strafe muss um der Würde willen hingenommen werden. Gentechnische
Eingriffe, die von Krankheit und schwerer Benachteiligung befreien, sind
im Prinzip legitim. Dazu gehört prinzipiell sogar das Ziel, die genetische
Benachteiligung von Teilen der Bevölkerung zu korrigieren. Grenze
dafür ist aber die Instrumentalisierung der Nachkommen nach den
Wünschen ihrer Erzeuger und die Verletzung der sozialen Gerechtigkeit.
Wo diese Grenzen genau liegen, muss (erst) angesichts realisierbarer
Optionen entschieden werden. Es hängt auch von den Möglichkeiten
ab, genetische Korrekturen überhaupt über Experimente, die ihre »Pro-
banden« nicht entwürdigen, als sichere Therapie zu etablieren. Selbst
wenn dies gelänge, wäre die Gerechtigkeit verletzt, wenn nur Wenigen
(»Finanzstarken«) solche Möglichkeiten offenständen. Das gilt auch für
die Versuche, das Lebensalter zu verlängern.
Jenseits der Grenzen liegen auch Techniken, die zwischen dem Gehirn
von Menschen und Kommunikationsnetzen wie dem Internet eine Ver-
bindung herstellen. Das gilt jedenfalls dann, wenn sie dem Individuum
seine informationelle Selbstbestimmung, seinen »privilegierten Zugang«
zu eigenen Gedanken und Gefühlen331 sowie seine nicht-manipulierte

331 »To extend the human nervous system across the internet and to create new forms
of communication« war eine Idee von Kevin Warwick, erörtert in einem Vortrag der
Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften im September 2017. Vgl. auch
Warwick (2004), March of the Machines sowie kritisch Grunwald (2017), Abschied vom
Individuum.
178 8 Schluss: Gute Welt, Menschenrechte

Entscheidung nehmen oder beträchtlich erschweren würden – kurz


seine moralisch-personale Lebensform.
4. Grenzen der Historisierung der Moral liegen in den Menschenrechten,
deren Respektierung der Würde des Menschen geschuldet ist. Sie sind
nicht gänzlich unveränderlich, schon deshalb, weil sie den sich wan-
delnden kulturellen und technischen Verhältnissen angepasst werden
müssen. Es gibt Spannungen und mögliche Konflikte zwischen ihnen, vor
allem zwischen der Selbstbestimmung der Individuen und der Gruppen.
Es ist aber in der Ethik möglich, einen Kern der Menschenrechte zu
bestimmen, der vom moralischen Standpunkt eines wohlwollend
unparteiischen Beobachters gefordert ist – nach einem unumkehr-
baren Prozesse der Inklusion. Er ist für einen großen Teil der Mensch-
heit schon heute durch überwältigende Erinnerungen an Demütigung,
Entwürdigung, grenzenlose Instrumentalisierung usw. einleuchtend
und verbindlich. Er ist nicht »individualistisch«, wenngleich er eine
Grenze dessen festlegt, was Individuen im Namen von Kollektiven an-
getan werden darf – aber auch kleinen Gruppen im Namen größerer
oder solcher, die ihnen an Macht überlegen sind. Wiederholungen der
radikalen Grenzüberschreitungen der Vergangenheit sind unter keinen
vorstellbaren Gründen zu rechtfertigen, die mit dem Sinn von Moral und
autonomer philosophischer Argumentation vereinbar wären. Jede ernst-
zunehmende Ethik und Rechtsphilosophie muss eine solche normative
Rechtfertigung ausschließen können. Diese Rechte stellen daher auch
für die Technisierung eine unbedingte normative Grenze dar. Derzeit
sind die Menschenrechte weltweit noch weit von ihrer durchgängigen
Respektierung und den materiellen und sozialen Bedingungen ihrer In-
anspruchnahme entfernt. Die sozialen Verhältnisse, die dazu notwendig
sind, bilden das Ziel von Moral und Recht und der dafür notwendigen
technischen Instrumente.
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Register

Namen Gethmann 2
Gilbert, M. 58
Ach, J. 16, 31 Goethe, J. W. 130
Alexy, R. 35, 64 Goerdeler, C. F. 168
Annas, J. 6, 28 Goppel, A. 104, 110
Arendt, H. 138, 139 Grotius, H. 90
Aristoteles XII, 7, 18, 28, 81, 128 f., 137, Grunwald, A. XII, 5, 61
142, 151 f., 163, 166 Gutmann, T. 14-16, 42, 47, 55, 81, 85 f.
Assmann, A. 48
Assmann, J. 2, 6, 46, 48, 86, 165, 176 Häberle, P. 39
Habermas, J. 22, 38, 83, 117, 118
Bauer, C. 33 Hailbronner, K. 57, 103
Bauer, T. 15 Halbig, C. 28, 131 f.
Bayertz, K. 137 Hardy, J. 10, 23, 31
Bentham, J. 114 Hegel, G. W. F. XVI, XX, 14, 16, 18, 22, 30,
Berman, H. 87 33 f., 46 f., 49, 51, 53, 56, 72 f., 75,
Bienenstock, M. 38 87, 91, 100 f., 130, 134, 140, 157, 162,
Birnbacher, D. XII f. 164, 166
Blumenberg, H. 4, 21, 165 Heidegger, M. 1, 150
Bodin, J. 106 Henkin, L. 103
Boff, L. 172 Herzog, L. 61
Bothe, M. 102 Hilsenrath, E. 15
Borges, J. L. 149 Hobbes, T. 18, 59, 62, 90, 106, 147
Brandom, R. B. 7 Hoesch, M. 97-101, 111, 118
Hofmann, H. XIV, 36, 39, 47, 54, 60 f., 66,
Calvin, J. 91 69, 83, 167
Cassirer, E. 164 Honnefelder, L. 35
Cortina, A. 118 Honneth, A. 14
Hume, D. 10, 114
Donnelly, J. 36, 48, 57 Hursthouse, R. 28
Derpmann, S. 115
Dreier, H. 33, 36, 56, 61, 167 Jaeggi, R. 15, 30, 86
Dufner, A. 115 Jansen, L. 58, 155
Jefferson, T. 61
Elpel, T. A. 105 Jennings, B. 51
Enskat, R. XVIII Joas, Hans 6, 86, 134
Ernst, G. 133, 134 Jonas, Hans XV

Fichte, J. G. 47, 51, 53, 91, 119 f. Kant, I. XVIII, 7, 9, 23, 29, 33, 42, 48-50,
Fischer, J. M. 146 66, 81, 90 f., 95, 108, 110, 121, 128, 134,
Flasch, K. 121, 147 137, 156, 162, 169
Frankfurt 124, 131 Koch, B. 151
Frege, G. 128 Kohlberg, L. 83
196 Register

Kosch, M. 121 Sachser, N. 13


Kreß, C. 105, 107, 110 Savulescu, J. 19
Schmücker, R. 30
Laukötter, S. 105 Schöne-Seifert, B. 115
Lessing, G. E. 25 Schweikard, D. P. 62, 105
Locke, J. 49, 61 f., 65, 79, 90, 108, 110, 121 Sen, A. 30, 52
Lohmann, G. 55 Sidgwick, H. 9, 35, 157
Lübbe, H. 117 Singer, P. 112
Luhmann, N. 84 Sokrates 91
Luther, M. 91 Stierlin, H. 25
Stoecker, R. 40, 118
Maier, H. 37, 43 Stoppenbrink, K. 131
Mandela, N. 26
Margalit, A. XVIII, 40, 118 Taylor, C. 4, 131, 134
Marx, K. 76
Merkel, R. 105 Vieth, A. 30, 162
Metz, T. 132, 142
Meyer-Abich, K.-M. 21, 129 Waldron, J. 15, 46, 55, 62, 99, 120
Mill, J. St. 115 Warwick, K. 177
Mohr, G. 119, 120, 126 Weber, M. 84
Mohseni, A. 145, 150 Williams, B. 124, 131
Moore, G. E. 153 Wittreck, F. 37
Mooren, N. 105 Wolf, S. 124, 131, 136
Muders, S. 127 f., 130, 142
Müller-Salo, J. 16, 167
Sachen
Nagel, T. 128, 131
Narvaez, D. 3 Abhängigkeit XVI, 60, 81 f., 158, 175
Nida-Rümelin, J. 115 Abwehrrechte 39, 41, 45, 55-59, 71, 8o f.,
Nozick, R. 62 87, 90, 94
Nussbaum, M. C. 30 Alter 11, 115
Nußberger, A. 57, 60, 70, 73, 107 Anerkennung 14, 43, 45, 51, 53, 62, 70-73,
79, 105, 112 f., 117 f., 120, 126, 130, 169
Osterhammel, J. 15 Anthropologie 45, 76-82, 94, 164
Antizipation 41, 88, 109, 134
Perrson, I. 19 Apriori VIII, XVI, 35, 38, 122
Pettit, P. 62 Arbeit 17, 42, 57, 61
Podlech, A. 42 Armenien 15, 139
Pollmann, A. 16, 31, 38, 55, 87, 136 Art (biologische, s. Spezies) 28
Ästhetik, ästhetisch (s. Kunst) 4, 23, 30,
Quante, M. 2, 27, 30 f., 94 f., 139, 148, 150, 44, 83, 130 f., 135, 140, 142, 151-153
153, 159, 162 Atomenergie (Kernenergie) XIV f., 172
Aufklärung 18, 47, 95, 122, 148, 172
Rawls, J. 16, 97, 115 außermenschlich (nicht-menschlich)
Reinhardt, V. 118 XIII, XVII-XX, 4, 26, 31, 40, 67, 69,
Rorty, A. O. 113 111 f., 162
Rüther, M. 127 f., 133, 142 Automat XIII, 19, 175
Register 197

Autonomie X, XV, 7 f., 12, 15, 17, 20, 45, 53 f., Erde XI, XV, XIX, 1, 3, 139, 142, 145 f., 153,
63 f., 67-69, 77, 92-94, 116-118, 123, 128 f., 156, 158, 172
135, 161, 165, 175-177 Erfahrungsbegriff VIII, 14 f., 92
Authentizität 129 f., 134, 139, 144 Erfahrungsgeschichte IX, 45, 48, 57, 61, 64,
Autorität 27, 58 f., 91, 110, 120 f., 129 77, 86 f.
Erinnerung 38, 48, 116, 168
Bedürfnis XVIII, 14, 27-29, 55, 64, 72, 76-78, Erlösung 147 f., 157, 161
80-83, 111 f., 119, 126 f., 137, 159-162, 166 Evolution VII f., XIII f., 3, 5, 7 f., 10, 12 f., 17 f.,
Befruchtung (assistierte) 65, 68 22, 32, 45, 65, 76, 129, 160, 176
Begrifflich 2, 23 f., 72, 93, 112, 162 Ewig, Ewigkeit XIII, 100 f., 114, 121, 139, 148 f.,
Bewusstsein IX, XVI, 21, 28, 59, 62 f., 79, 82, 159, 162, 166
119 f., 140, 143, 148 f., 153, 166 f. Existenzialismus, existentialistisch 127, 147,
Bildung 55, 59, 82, 105, 131, 150 150
Biodiversität XV, XVIII, 9, 64, 154, 168 f., 174 Experiment 92, 177
Bioethik VII, 35, 51, 64, 134 Experten 98, 113, 121, 128
Biotechnik, Biotechnologie XIV, 5, 19, 94
Blühen (flourishing) 111, 152, 154, 168 Familie XVI, 16, 81, 98, 100
Bürger 38, 54, 59, 63, 98-110, 172 Folter 15, 95, 113, 115
Forschung 23, 68, 89 f., 92
christlich (Christentum) XVII, 3, 55, 89, Fortschritt XIV, XVII, 12, 79, 83-86, 173
101, 159 Freiheitsrechte 46, 53, 61, 63, 69, 72, 95, 115

Demokratie 59, 97, 173 Ganzes 18, 50, 129, 153


Demütigung XII, XVIII, 40, 63, 93, 118, 178 Gattung(en)
Dezision 134 menschliche 31, 38, 64 f., 68, 78, 84,
deskriptiv XVI, 64 111, 165
Digitalisierung XIII, XV, 5, 52, 61 nicht-menschliche (s. Tiere) 40, 84
Diskurs 36, 44, 59, 118 f. Gattungseigenschaften XVII, 7, 78, 112,
Disposition VIII, XVIII, 17 f., 20, 28, 157, 172 124, 132
Disziplin XIV, XVI, 15, 18, 86, 113, 117, 121 Gedächtnis (kulturelles) VIII, 2, 87
Dualismus 12, 20, 78 Gehirn 19, 94, 155, 177
Gehorsam 121, 161
egalitär (s. Gleichheit) 59, 83 Generationen
Egoismus 55, 115 (der Menschenrechte) 50, 53, 58, 77, 80,
Emanzipation XVI, 15 f., 79, 83 83, 91
Embryo 43, 64-66, 68, 111 (zukünftige) XI, XV f., 12, 36, 62, 129, 139,
Emotion, emotional VIII, XVIII, 15, 18, 150, 152, 167, 171, 173-175, 177
24, 42, 69, 70, 72, 79, 81, 87, 90, 93, 98, Genozid (s. Völkermord) 15, 83, 89, 102
100 f., 116, 126, 139, 143, 146, 172 Gentechnologie 147, 177
Empfindung XVIII, 13, 26 f., 90, 148 Gerechtigkeit XII, 5, 7, 9 f., 12, 14, 30, 71,
entdecken, Entdeckung XVIII f., 47, 77, 80, 88, 122, 144, 150, 152, 156, 158, 166,
88, 164 f. 171, 177
enhancement VII, XIII, 35 f., 151 Geschichtsphilosophie 48, 50, 75, 88, 173
Entfremdung XV, 3, 130 f., 136 Gesellschaft (Zivilgesellschaft) XII f., XVII,
Entwürdigung 38, 40, 42, 47, 76, 83, 93, 101, 16, 18, 36, 40, 59, 66, 69, 74, 84, 94, 97,
117 f., 165, 167, 178 130, 152, 160, 168
Erbe (Kultur-, Natur-) XVIII, 9, 152, 169 Gesetzgebung 7, 16, 59, 70, 79, 82, 104, 172
198 Register

Gewalt (Gewaltmonopol) XII, 32, 42, 50, Kolonisation, Kolonialismus 17, 21, 52,
54, 87, 102 f., 105 f., 108-110, 120, 161 120, 152
Gewissen 72, 80, 90, 128, 137, 141 Kommunal (kommunale Güter) 58 f., 100,
Gleichheit 14 f., 20, 38, 42, 47, 55, 57, 79, 153
82, 88, 106, 116-118, 135, 152 Kommunikation XII, 4, 45, 78, 81, 87, 113,
Glück XX, 46, 72, 123, 128-153 148, 155, 160, 162, 175
Gott, (göttlich) XVIII, 1, 3, 20 f., 110, 121, Kommunitarismus 52, 71, 97 f., 100-102
138 f., 159, 162 f., 166 Konkretisierung 26-33, 38, 47, 94, 113
Grundgesetz (deutsches) 36, 56, 60, 66, Konsens VIII, XVII, 12, 15 f., 31, 35, 37, 58, 64,
161, 167 66, 68 f., 73, 76 f., 85, 113, 135, 151, 159,
Gruppenrechte 52 f., 58, 62 f., 72, 94, 107 163, 166, 174
Konsequentialismus 27, 98, 112, 114-117, 138
Handel 84, 103, 106 Konstanz (Konstante) XVII, 6, 13, 19, 76, 160
Heimat XV, XVIII, 25, 153, 171 Kontingenz 10-12, 20, 149
Humiliationismus 118 Kontrolle XI-XIII, XVIII, 1, 11, 20, 68, 145,
149 f., 173, 175-177
Identität XIV, 25, 42, 46, 52, 112, 118, 123 Konvention VIII, 9, 12, 41, 47, 67, 87, 92, 113,
Individualismus XX, 3, 17, 36, 51-55, 58, 134, 144, 159, 174
63, 98, 115, 122, 137, 150 f., 163 Krieg XIII, 47, 70, 100-103, 105, 107 f., 138, 151
Information XV f., 5, 41, 116, 155, 177 Krise XII, XIV, XVIII, 17, 22, 37, 50, 53 f., 56,
Inklusion 13-15, 39, 41 f., 67 f., 78, 84 f., 87, 83, 85, 87
113, 161 f., 178 Kunst 3, 25, 100, 142, 152, 157
Instrumentalisierung XVIII, 23, 79, 83, 118, künstlich XI-XIII, 1, 19, 112, 153, 155, 158,
149, 172, 177 f. 175 f.
Integration XIV, XVIII, 18, 86, 150
Integrität XI, 42, 45, 57-59, 67, 90, 105 f., Lebensform XV, 13, 28, 30, 33, 52, 75 f., 79,
113, 115, 139, 166 86 f., 95, 129 f., 133, 144, 153, 169, 178
Intelligenz (auch: künstliche) XI, XIII, 13, Lebensgrundlagen 9 f., 52, 60, 153, 161, 171,
19, 94, 176 f. 173-175
Interaktion 28, 78 Letztbegründung 93, 95
Internet XIII, 94, 177 liberal (Liberalismus) 51 f., 57, 61, 98, 102,
Intervention (humanitäre) 71, 104 f., 107 107
Luft 1, 58, 60, 99
Judentum, jüdisch XVII, 15, 38, 62, 89,
117, 139 Macht 50, 55 f., 72, 81, 101, 107, 178
Mannigfaltigkeit (s. Biodiversität) XI, 9 f.,
Kambodscha 15 12, 26, 30, 44, 82, 144, 150, 152, 157 f., 161,
Kampf XI, 14 f., 46, 106, 126 168, 171, 175-177
Kanon 36, 48, 115 Medizin XIV f., 16, 145, 148, 151, 160, 175
Kapitalismus XIV, 56, 84 f., 172 Metaphysik, metaphysisch XVIII, 3, 12, 16,
Katastrophen XV, 4, 11, 29, 50, 98, 118, 28 f., 32, 86, 121, 127, 131, 150, 159, 163 f.
174 f. Moral
Kern 31-33, 38, 41 f., 63, 72-74, 90, 92, 120, Standpunkt der 9, 13, 23, 26, 88, 93, 95,
132, 149, 167, 174, 178 106, 123, 156, 160-162, 178
Klasse 56, 60, 100 f., 132 und Recht 31-34, 87-89, 122, 174 f., 178
Klima (Klimakrise) XV f., 3 f., 99, 103, 153 und Ethik 31-34
Klonierung XV, 147 Mythos 25, 47, 90, 107, 163-166
Register 199

Nation 15, 47, 62, 72, 87, 98, 100-102, 107 Sozialismus 52
Nationalismus 81, 98, 102, 104, 107, 111 Spezies (s. auch Art) 28, 97, 113, 166
Naturrecht XVII, 5, 35, 45, 54, 59, 79 Speziesismus 66, 78, 97
Nothilfe 105, 107, 109 Sprache 2 f., 6, 9, 13, 22, 26, 78-81, 84, 99,
112, 117, 125, 128, 133, 155, 162
Ökologie (s. Umwelt) 24, 55, 60, 80, 150, Subjektivität 49, 102, 112 f., 122, 125
153, 172 Subjektivismus 130
Ökonomie XII, 50, 84, 171 Substitution 82, 176
Opfer 4, 63, 70, 99, 101 f., 122, 136, 139, 161, Sünde 3, 21, 91, 121, 129, 147
166
Ordnung VIII, 66, 88, 108, 143, 145 Terror 63, 115
Tier 6, 12 f., 30, 33, 78, 81, 113, 157, 166
Pathozentrismus 112 Tod 11, 100, 123, 127, 139, 140-145, 158,
Perfektion XI f., XV, 1, 8, 19, 26, 138, 145, 174 f. 175, 177
Person, personal 6, 27 f., 63, 65 f., 86 f., 100, Totalitarismus 56 f., 72, 120
113, 117-121, 125, 139, 145, 148, 163, 178 Tugend 18-20, 133, 147
Pflanze 13, 30, 112, 150, 157
Pluralismus XI, 16, 26, 63, 66, 71, 130 Überforderung 18, 70 f., 103, 186, 112, 114, 145
Politik, politisch XIII, XX, 31, 36 f., 52, 61, 82, Überzeugungsfreiheit 81, 105, 119, 172
89, 91, 105 f., 142, 151, 162, 171 f. Umwelt XIV, 33, 39, 44, 60 f., 71, 94, 135, 171
Pragmatismus 15, 85, 94 f. Umweltrechte (ökologische Rechte) 33, 41,
48, 54, 60 f., 71, 80, 171
Rassismus 95, 102 f., 120 UN (Vereinte Nationen) 37, 42, 61, 70, 105,
Rationalität 8, 72, 90, 97 f., 132 107, 109, 137
Raumordnung 61 Unabhängigkeit 15, 56, 91, 92, 100
Redefreiheit 46 Universalität (von Rechten) VIII, 67, 70, 77,
Reflexion XVI, 52, 87, 91, 119 86, 93, 106
Reflexionsgleichgewicht 24 Unparteilichkeit (des moralischen
Religion, religiös XIII, 2 f., 48, 62, 101, 105, Standpunkts) 6 f., 10, 13, 26, 33, 78, 88,
120, 127, 132, 139, 148 f., 152, 162 f., 165 f. 93, 97 f., 107, 112, 116, 118, 122, 139, 160,
responsibility to protect 162
(Schutzverantwortung) 105, 110 Unsterblichkeit 127, 145 f., 149, 166
Revolution 16, 47, 56, 86-88, 114, 162, 167, 176
Veränderungssperre 33, 36, 167
säkular, Säkularisierung 16, 48, 85, 122 f., 131 Verantwortung 80, 86, 94, 105, 110
Selbstachtung 23, 40, 48, 68 f., 73, 79, 90, Vereinigungsfreiheit 41, 54, 172
112, 115, 150, 165-167 Verfassung (Staats-) 33, 37, 56, 60, 81, 84,
Selbstbestimmung XV f., 16, 38, 41, 52, 110, 167 f.
56-60, 63, 67 f., 70 f., 78, 80, 82, 94, 99 f., Verhältnismäßigkeit 109 f.
102, 104, 108, 119, 129, 167, 177 f. Vernichtung 15, 66, 94, 135
Semantik 9, 12, 19, 93, 120, 155, 174 Vertrag 41, 58 f., 70, 80, 106
Sexismus 95 Verwaltung 42, 50, 60 f., 169
Sollen 10, 26, 28 f., 35, 65, 95, 153, 174 Völkerrecht 32, 37, 41, 53 f., 57, 60, 101-106,
Souveränität XIV, 49, 55, 59, 101, 103, 110, 152
105-108, 173 Völkermord (Genozid, Ausrottung) 14 f., 83,
Sozialrechte 42, 45, 50, 55-57, 60 f., 70 f., 73, 89, 116, 139
73, 80, 82, 85, 104, 177 Vorsorge 19, 61
200 Register

Westen, westlich 17, 51 f., 57, 71, 99 Zukunft (s. Antizipation, Generationen)
Widerstand 57, 79, 101, 105, 110, 168 VIII, XVI, 11, 20, 62, 75, 86, 90, 93,
Widerstandsrecht 105, 167 122 f., 167, 174
Willkür 42, 79, 89, 93, 108, 110
Wissenschaftsfreiheit 89-92, 97

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