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Ditmar Brock · Matthias Junge · Heike Diefenbach

Reiner Keller · Dirk Villányi

Soziologische Paradigmen nach Talcott Parsons


Ditmar Brock · Matthias Junge
Heike Diefenbach · Reiner Keller
Dirk Villányi

Soziologische
Paradigmen nach
Talcott Parsons
Eine Einführung
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
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1. Auflage 2009

Alle Rechte vorbehalten


© VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2009

Lektorat: Frank Engelhardt

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Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel
Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier
Printed in the Netherlands

ISBN 978-3-531-16216-4
Inhaltsverzeichnis

Einleitung
Matthias Junge/Ditmar Brock............................................................................. 11

Das interpretative Paradigma


Reiner Keller
1 Der Aufstand des Konkreten....................................................................... 17
2 Die Chicago School of Sociology............................................................... 24
2.1 Chicago: ein städtisches Labor der Kulturen ...................................... 24
2.2 Positionen der Chicago School of Sociology...................................... 25
2.2.1 Das Handlungsmodell des Pragmatismus ................................ 26
2.2.2 Die „Definition der Situation“ ................................................. 30
2.2.3 Die polnischen Bauern in der Neuen Welt............................... 35
2.2.4 Hinein in die Abenteuer der Großstadt!................................... 37
2.2.5 Die „Street Corner Society“..................................................... 41
2.3 Die Bedeutung der Chicago School .................................................... 43
3 Symbolischer Interaktionismus................................................................... 45
3.1 Symbolgebrauch und soziale Konstitution des Selbst......................... 47
3.1.1 Die menschliche Fähigkeit zum Symbolgebrauch................... 49
3.1.2 Die Funktionsweise signifikanter Symbole ............................. 51
3.1.3 Die Entwicklung des Einzelnen zum sozialen Selbst .............. 54
3.1.4 Kommunikation und Gesellschaft............................................ 58
3.2 Der Symbolische Interaktionismus ..................................................... 59
3.2.1 Grundannahmen....................................................................... 62
3.2.2 Von der Symbolischen Interaktion zur Gesellschaft................ 65
3.2.3 Anwendungsbeispiele .............................................................. 66
3.3 Bilanz und Aktualität des Symbolischen Interaktionismus................. 74
4 Die sozialkonstruktivistische Wissenssoziologie........................................ 76
4.1 Sozialphänomenologische Grundlegungen ......................................... 77
4.1.1 Die Sinnkonstitution im Bewusstsein ...................................... 80
4.1.2 Das Ich und die Anderen – zur Intersubjektivität der
Lebenswelt............................................................................... 82
4.2 Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit .......................... 84
4.2.1 Gesellschaft als objektive und subjektive Wirklichkeit ........... 87
4.2.2 Die ‚objektive’ Wirklichkeit als kollektiver
Wissensvorrat .......................................................................... 89
4.2.3 Die individuelle Aneignung des Wissens ................................ 90
4.3 Bilanz und Aktualität der sozialkonstruktivistischen
Wissenssoziologie............................................................................... 91
6 Inhaltsverzeichnis

5 Ethnomethodologie..................................................................................... 93
5.1 Agnes und die Frage, wie Geschlecht ‚getan’ wird............................. 97
5.2 Soziale Ordnung als Ergebnis von Handlungsvollzügen .................... 99
5.3 Theoretische Konzepte...................................................................... 103
5.4 Bilanz und Aktualität der Ethnomethodologie.................................. 105
6 Die Soziologie der Interaktionsordnung ................................................... 107
6.1 Interaktionsrituale ............................................................................. 110
6.2 Die Darstellung des Selbst ................................................................ 112
6.3 Die Situations-Rahmung ................................................................... 115
6.4 Bilanz und Aktualität der Soziologie der Interaktionsordnung......... 117
7 Eine vorläufige Bilanz des Interpretativen Paradigmas ............................ 118
8 Literatur .................................................................................................... 119

Gesellschaftskritische Theorieansätze
Ditmar Brock
1 Was sind gesellschaftskritische Theorieansätze?...................................... 127
1.1 Welche Rolle spielen gesellschaftskritische Theorieansätze
innerhalb der Soziologie?.................................................................. 128
2 Gesellschaftskritik als Alternative zum Strukturfunktionalismus............. 129
2.1 Kritik an der Beschränkung auf Deskription – das Bedürfnis
nach Orientierung (das „Positivismusproblem“)............................... 129
2.2 Kritik am Verständnis „reiner“ soziologischer Theoriebildung –
Soziologische Begriffsbildung und Theoriekonstruktion als
moralisch-politischer Akt.................................................................. 130
2.3 Kritik harmonistischer Konzepte der modernen Gesellschaft –
befreiende Taten, Revolutionen, Institutionen und
Gemeinschaften als Rettungsanker gegen den Zerfall der
Gesellschaft....................................................................................... 132
2.4 Kritik an den soziologischen Klassikern – Renaissance
philosophischer Konzepte des 18. und 19. Jahrhunderts................... 134
2.5 Kritik am wissenschaftlichen Elfenbeinturm –
Gegenwartsdiagnose und politische Wirksamkeit ............................ 135
3 Fragestellungen, Erklärungsanspruch und Methode
gesellschaftskritischer Theorien................................................................ 135
4 Die Gesellschaftskritik der Frankfurter Schule......................................... 138
4.1 Vorbemerkung zu den Begriffen „Frankfurter Schule“ und
„Kritische Theorie“........................................................................... 138
4.2 Ältere Frankfurter Schule/Kritische Theorie..................................... 139
4.2.1 Neomarxismus ....................................................................... 139
4.2.2 Max Horkheimer: das Programm einer „Kritischen
Theorie“ ................................................................................. 140
4.2.3 Kritische Theorie und Psychoanalyse – Studien über
Autorität und Familie............................................................. 144
4.2.4 Die verfehlte Naturbeherrschung – die „Dialektik der
Aufklärung“ ........................................................................... 149
Inhaltsverzeichnis 7

4.2.5 Theodor W. Adorno – Gesellschaftskritische


Philosophie, Kulturkritik und empirische
Sozialforschung ..................................................................... 157
4.2.6 Differenzierung der Vernunft – Sozialtheorie und
politische Praxis..................................................................... 161
4.3 Jüngere Frankfurter Schule: Jürgen Habermas ................................. 165
4.3.1 Theorie und Praxis................................................................. 165
4.3.2 Diskurstheorie der Wahrheit.................................................. 167
4.3.3 Kommunikatives Handeln ..................................................... 169
4.3.4 Der Paradigmenwechsel von der Bewusstseins- zur
Sprachphilosophie.................................................................. 174
4.3.5 System und Lebenswelt ......................................................... 174
4.3.6 Die Kolonialisierungsthese .................................................... 176
4.3.7 Ausblick................................................................................. 180
5 Konservative Gesellschaftskritik .............................................................. 181
5.1 Was ist konservative Gesellschaftskritik?......................................... 181
5.2 Hans Freyer....................................................................................... 182
5.2.1 Gedankliche Ausgangspunkte................................................ 182
5.2.2 Kapitalismuskritik und konservative Revolution................... 185
5.2.3 Revolutionärer Aktivismus: Führer und Volk ....................... 187
5.2.4 Freyers Bedeutung für die Soziologie.................................... 189
5.3 Arnold Gehlen: Der Mensch – Handlungen und Institutionen.......... 190
5.3.1 Gedankliche Ausgangspunkte................................................ 190
5.3.2 Frühwerk................................................................................ 191
5.3.3 Gehlens Hauptwerk: „Der Mensch“ ...................................... 192
5.3.4 Theorie der Institutionen........................................................ 194
5.3.5 Gegenwartskritik.................................................................... 197
5.4 Von der Gesellschaftskritik zur kritischen Zeitdiagnose:
Schelsky und Riesman ...................................................................... 199
5.4.1 Helmut Schelskys Antisoziologie .......................................... 200
5.4.2 David Riesman: der angepasste Mensch................................ 202
6 Zusammenfassung und heutige Bedeutung............................................... 204
6.1 Kritikmaßstäbe.................................................................................. 204
6.2 Kann man trennscharf zwischen gesellschaftskritischen und
„konventionellen“ soziologischen Theorieansätzen
unterscheiden?................................................................................... 207
6.3 Ausblick ............................................................................................ 209
7 Literatur .................................................................................................... 209

Konflikttheorie
Ditmar Brock
Einleitung.......................................................................................................... 215
1 Die Konflikttheorie – ein „dritter Weg“ zwischen Empirismus und
Strukturfunktionalismus............................................................................ 216
8 Inhaltsverzeichnis

1.1 Die implizite Kritik am integrativen Anspruch des


Strukturfunktionalismus.................................................................... 217
1.2 Die explizite Kritik an der Ausblendung von Konflikt ..................... 220
2 Grundlagen der Konflikttheorie ................................................................ 224
2.1 Empirische Grundlagen..................................................................... 224
2.2 Theoretische Grundlagen .................................................................. 224
3 Lewis Coser: Funktionen des sozialen Konflikts...................................... 225
4 Dahrendorfs Theorie gesellschaftlicher Konflikte .................................... 229
5 Konflikttheorie: Zusammenfassung und Bewertung................................. 236
6 Literatur .................................................................................................... 237

Die Theorie der Rationalen Wahl oder „Rational


Choice“-Theorie (RCT)
Heike Diefenbach
1 Definition und Einordnung der RCT in die soziologische
Theorienlandschaft.................................................................................... 239
2 Der rational handelnde Mensch: Grundannahmen.................................... 239
2.1 Rationales Handeln als zweckgerichtetes Handeln zum eigenen
Nutzen............................................................................................... 240
2.2 Die Wahl einer Handlung ................................................................. 244
3 Individuelle, rationale Handlungen als Grundlage gesellschaftlicher
Phänomene: Der methodologische Individualismus ................................. 250
3.1 Holismus und verschiedene Formen des Individualismus in den
Sozialwissenschaften ........................................................................ 250
3.2 Der methodologische Individualismus nach Karl R. Popper ............ 253
3.3 Das Modell einer RC-theoretischen Erklärung nach James S.
Coleman ............................................................................................ 259
4 Die Spieltheorie ........................................................................................ 263
5 Anwendungsbeispiele ............................................................................... 268
5.1 Die Tragik der Gemeingüter oder: Das Allmende-Problem.............. 268
5.2 Die Entstehung von Wohnsegregation.............................................. 271
5.3 Die Erklärung unterschiedlicher Geburtenraten in verschiedenen
Ländern ............................................................................................. 273
5.4 Die Erklärung von Bildungsungleichheit.......................................... 276
6 Kritik an der RCT und offene Fragen ....................................................... 277
6.1 Kritik am Menschenbild der RCT und an der SEU-Theorie............. 278
6.2 Kritik an der RCT als Forschungsprogramm .................................... 284
7 Literatur .................................................................................................... 285
Inhaltsverzeichnis 9

Strukturalismus/Poststrukturalismus
Matthias Junge
1 Einleitung.................................................................................................. 291
2 Sprachwissenschaftlicher Strukturalismus................................................ 291
2.1 Sprache und Sprechen....................................................................... 292
2.2 Signifikat und Signifikant ................................................................. 294
2.3 Struktur als Sinn................................................................................ 297
3 Kulturanthropologischer Strukturalismus ................................................. 298
3.1 Der Sinn von Verwandtschaftsstrukturen ......................................... 299
3.2 Natur und Kultur oder: Das Rohe und das Gekochte........................ 302
4 Poststrukturalismus ................................................................................... 305
4.1 Foucault ............................................................................................ 305
4.2 Derrida .............................................................................................. 312
5 Postmoderne und Soziologie der Postmoderne......................................... 316
5.1 Lyotard.............................................................................................. 317
5.2 Baudrillard ........................................................................................ 320
6 Die Integration von Strukturalismus und Subjektivismus: Bourdieu........ 324
6.1 Das Ausgangsproblem ...................................................................... 324
6.2 Das Feld und die Klasse.................................................................... 325
6.3 Der Habitus und die Lebensstile ....................................................... 327
6.4 Die Kapitalsorten .............................................................................. 330
7 Literatur .................................................................................................... 332

Soziologische Systemtheorie
Dirk Villányi/Matthias Junge/Ditmar Brock
1 Einleitung.................................................................................................. 337
2 Systemisches Denken – Grundlagen und Anfänge ................................... 339
2.1 Grundlagen........................................................................................ 339
2.2 Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile – die erste
Phase systemtheoretischen Denkens ................................................. 341
2.3 Umweltoffene Systeme – eine zweite Phase
systemtheoretischen Denkens ........................................................... 343
3 Systemarten – die Suche nach einem angemessenen Systembegriff
für die Sozialwissenschaften..................................................................... 348
3.1 Komplexe adaptive Systeme – Walter F. Buckley............................ 348
3.2 Die Theorie lebender Systeme – James Grier Miller ........................ 352
3.3 Autopoietische Systeme – Luhmann und die Santiago School ......... 355
4 Luhmann: Systeme aus Kommunikation .................................................. 357
4.1 Anknüpfungspunkte von Luhmanns soziologischer
Systemtheorie.................................................................................... 357
4.2 Soziale Systeme operieren mit Kommunikation ............................... 361
4.3 Das Problem doppelter Kontingenz .................................................. 363
4.4 Luhmanns Medientheorie ................................................................. 365
4.5 Evolution und Differenzierung ......................................................... 369
4.6 Mit Hilfe von Differenzen beobachten und operieren....................... 372
10 Inhaltsverzeichnis

4.7 Systemtheorie aus der Perspektive des operativen


Konstruktivismus .............................................................................. 376
4.8 Selbstbeschreibung und Selbstbeobachtung...................................... 381
5 Alternative Ansätze systemtheoretischen Denkens................................... 382
5.1 Walter L. Bühl .................................................................................. 383
5.2 Kenneth D. Bailey............................................................................. 387
5.3 Edgar Morin ...................................................................................... 389
6 Zusammenfassung .................................................................................... 391
7 Literatur .................................................................................................... 392

Personenregister................................................................................................ 399

Sachregister ...................................................................................................... 403

Glossar .............................................................................................................. 407

Bildnachweise................................................................................................... 429
Matthias Junge/Ditmar Brock

Einleitung
Einleitung

Dieses Lehrbuch führt in die Soziologische Theorie nach Talcott Parsons ein.
Dieser Großtheoretiker beschloss den ersten Band – Brock/Junge/Krähnke: So-
ziologische Theorien von Auguste Comte bis Talcott Parsons –, der sich mit den
Vorläufern, Gründern und Klassikern der Soziologischen Theorie befasste.
In didaktischer Hinsicht ist der vorliegende Band wie der erste Band gestal-
tet. Lesezeichen, Lesetipps, Querverweise, Merksätze, Übungsaufgaben, ein
Glossar, Beispiele und Hinweise auf weiterführende Literatur sind in gleicher
Weise eingearbeitet. Und noch ein weiteres Merkmal haben wir mit Hilfe von 30
freiwilligen studentischen Lesern wieder verwirklichen können: die letzte Prü-
fung und Beurteilung der Verständlichkeit der Inhalte und ihrer sprachliche Dar-
stellung haben wieder Studenten des 2. bis 4. Semesters eines Soziologiestudien-
ganges vorgenommen. Diese Rückmeldungen haben uns erneut dabei geholfen,
eine Darstellung zu erreichen, die den potentiellen Lesern angemessen ist – außer
der Kenntnis des in Band 1 vermittelten wird nichts vorausgesetzt.
Vom Inhalt her unterscheidet sich der zweite Band vom ersten dagegen in
einem wichtigen Aspekt. Während der erste Band die wichtigsten soziologischen
Klassiker präsentiert, stellt der zweite Band die wichtigsten soziologischen The-
orierichtungen (Paradigmen) nach Parsons vor. Er behandelt also nicht das wis-
senschaftliche Werk einzelner Personen, sondern ist nach Diskussions- und Ar-
beitszusammenhängen gegliedert, die in der Regel von mehreren Wissenschaft-
lern geprägt wurden. Mit dieser andersartigen Darstellungsweise reagieren wir
auf Entwicklungen in der soziologischen Theoriebildung und in der Rezeption
soziologischer Theorien.
Die frühe Geschichte der Soziologie ist weitgehend kanonisiert. Das heißt,
es steht mit gewissen Grauzonen fest, wessen Denken dargestellt werden muss.
Muss, weil wir auch heute noch Anregungen daraus ziehen, aber auch, weil die
fachliche Entwicklung der Soziologie diesem Kanon in der Praxis überwiegend
zugestimmt hat, obwohl jeder weiß, dass der Kanon auch andere Autoren und
Positionen umfassen könnte. Parsons ist der Soziologe, der die Kanonisierung
am weitesten vorangetrieben hat und dadurch selbst zum „letzten“ Klassiker
geworden ist.
Aber als Klassiker zu gelten, das heißt auch, dass festgelegt ist, was man
über den Klassiker wissen muss: welche Werke man zumindest aus der Sekun-
därliteratur zu Kenntnis genommen haben muss; welches Argument man sofort
zuordnen können sollte; welche Begriffe von welchem Klassiker eingeführt
wurden usf. Daraus ergibt sich eine standardisierte Darstellungsweise der Klas-
siker soziologischen Denkens, die Sie in fast allen Lehrbüchern finden. Differen-
zen beziehen sich fast nur auf die Darstellungsform, das Was ist Gemeingut, von
12 Matthias Junge/Ditmar Brock

allen geteilt. Deshalb ähneln sich die Inhalte der Lehrbücher über diese Phase der
Entwicklung der Soziologie so sehr.
Nach dem „letzten“ Klassiker verändert sich die Situation. Der Anspruch
von Parsons, eine allgemeine Theorie entwickelt zu haben, die in vielen Diszip-
linen gleichermaßen zur Arbeitsgrundlage werden sollte, er trifft recht früh auf
Widerstand, Gegenbewegung und Kritik am, gelegentlich als hegemonial ge-
kennzeichneten Anspruch. Die Reaktion und Auseinandersetzung mit der ein-
heitswissenschaftlichen Position von Parsons führte zum direkten Gegenteil des
von ihm vorgeschlagenen: zur Pluralität theoretischer Positionen, Sprachen und
Erkenntnisinteressen. Die Landkarte soziologischen Denkens enthält plötzlich
Flüsse, Kanäle, Bäche und Rinnsale, verschiedenste Wasserwege anstatt des
einen großen Flusses. Und jeder dieser Wasserwege ist in sich nochmals unter-
gliedert: auch wenn viele ein Paradigma, eine Grundorientierung und -ausrich-
tung der Forschung, teilen, wie sie es dann konkret ausfüllen, das unterscheidet
sich wiederum. So entsteht insgesamt eine Landschaft der Soziologischen Theo-
rie, in der einige wenige starke Flüsse, die Paradigmen, viele Seitenarme, die
besonderen Ausprägungen des Paradigmas, haben.
Das verändert die Anforderungen an die Darstellung Soziologischer Theo-
rien seit Parsons. Denn diese Vielfalt kann nicht mehr durch die Darstellung aller
Positionen, der Seitenarme, innerhalb eines Paradigmas, dem starken Fluss, er-
folgen. Würde man so verfahren, so würde der Lernstoff nicht mehr zu bewälti-
gen sein. Zu viele Unterschiede in ihren Konsequenzen wären anzueignen, zu
viele verschiedene Definitionen für ein Konzept und eine große Anzahl von
Autoren wären darzustellen – schnell hätte man ein kleineres Lexikon zu lernen
– nicht mehr wie im ersten Band eine Gruppe von überschaubaren neun Autoren.
Nein, die Zahl würde schnell die Größenordnung von zwanzig und mehr Autoren
innerhalb eines Paradigmas überschreiten. Und das bei mehreren Paradigmen, so
ergäben sich schnell 100 und mehr Einzeldarstellungen. Das kann kein guter
Weg für die erste Vertiefung von Kenntnissen sein.
Deshalb haben wir uns darauf geeinigt, in der Darstellung keine Vollstän-
digkeit aller Paradigmen anzustreben (so fehlt etwa eine umfangreiche Darstel-
lung des an Parsons anschließenden Neofunktionalismus). Und auch innerhalb
der ausgewählten Paradigmen werden nicht alle Varianten dargestellt. Stattdes-
sen stellen die sechs Beiträge die wichtigen Argumente, Begriffe und Überle-
gungen innerhalb eines Paradigmas so dar, dass von hier aus eine eigenständige
Auseinandersetzung mit einzelnen Ausrichtungen innerhalb des Paradigmas wie
auch zwischen den Paradigmen erfolgen kann. Das Lehrbuch vermittelt also kein
auf Vollständigkeit hin angelegtes Wissen über alle soziologischen Paradigmen.
Wer eine solche enzyklopädische Darstellung sucht, der sei auf eben diese ver-
wiesen.
Während die Autoren an ihren Beiträgen arbeiteten, kristallisierte sich noch
ein weiterer Unterschied gegenüber der kanonisierten Darstellung einzelner
Klassiker im ersten Band heraus. Bei manchen Paradigmen, insbesondere bei der
Gesellschaftskritik und dem Interpretativen Paradigma, erwies es sich als sinn-
voll die, gelegentlich auch verwickelte, Geschichte ihrer Entwicklung zum Leit-
faden der Darstellung zu machen. Andere Paradigmen ließen sich hingegen bes-
ser über analytische Weichenstellungen erklären.
Einleitung 13

Wir haben für diese Unterschiede folgende Deutung gefunden: in der Dar-
stellung eines Paradigmas zeigt sich das Paradigma doppelt, als dargestellter
Inhalt und in der Form der Darstellung. Anders formuliert: das Paradigma
„drängt“ zu einer bestimmten Darstellungsform. Manchmal erzählend, historisch
orientiert, manchmal analytisch, eher die allgemeine Form der Aussage bevorzu-
gend. Beide Formen sind gleichwertig und dem jeweiligen Paradigma angemes-
sen. Man könnte die jeweilige Darstellungsform eines Paradigmas nicht durch
die Form der Präsentation eines anderen Paradigmas ersetzen ohne bestimmte
Inhalte dabei zu „verlieren“. Aus diesem Unterschied ergibt sich auch die unter-
schiedliche Länge der einzelnen Darstellungen. Darin kommt keineswegs eine
Bewertung der Bedeutung der Paradigmen – nach dem Motto „Die Seitenanzahl
signalisiert die Bedeutung“ – zum Ausdruck, vielmehr schlägt auch in ihr das
Paradigma auf seine Darstellung durch. Dies hat aber auch damit zu tun, dass in
den einzelnen Darstellungen jeweils ein anderes Kriterium zur Auswahl der
dargestellten Autoren Anwendung findet. Bei den eher historisch orientierten
Beiträgen werden viele, fast alle wichtigen Vertreter bis zur Gegenwart erwähnt,
dargestellt und eingeordnet. Bei den analytischen Darstellungen werden eher
besonders prägnante Autoren bestimmter Entwicklungsphasen des Paradigmas
ausgewählt und referiert. Sie stehen dann stellvertretend für das Ganze aller
möglichen Autoren.
Welche Paradigmen haben wir ausgewählt? Konflikttheorie, Gesellschafts-
kritik, das Interpretative Paradigma, die Systemtheorie, die Theorie der rationa-
len Wahl und schließlich den Strukturalismus. Zweifellos wäre auch eine Ergän-
zung um den Neofunktionalismus, die Praxistheorie und die Tradition der Wis-
senssoziologie sinnvoll gewesen. Jede Auswahl hätte mit guten Gründen bezwei-
felt werden können. Aber, es sprechen gleichermaßen gewichtige Gründe für die
vorliegende Auswahl: es sollten maßgebliche Richtungen der Soziologischen
Theorie zwischen ungefähr 1937, dem Erscheinungsjahr der „Structure of Social
Action“ von Parsons, und 1984, das Veröffentlichungsjahr von Luhmann „Sozia-
le Systeme“ erfasst werden. Aber so genau haben wir dann beide zeitlichen
Grenzlinien auch nicht fixieren können, bereits das Ziehen einer Grenze bereitet
erhebliche Probleme. Manche Vorarbeiten, im Einzelfall aber auch Schlüsseltex-
te erschienen vor 1937, das ist vor allem für die Arbeiten der Chicagoer Soziolo-
gie im Rahmen des Interpretativen Paradigmas zu beachten. Gleiches gilt für die
Gesellschaftskritischen Theorieansätze, wenn man es genau nimmt, dann gehen
hier Vorarbeiten mindestens bis auf Marx zurück, wenn man großzügig argu-
mentieren will, dann könnte man selbst noch die erste Utopie von Thomas Morus
von 1516 als Vorläufer und Vorarbeit verstehen. Und auch die Grenze zur Ge-
genwart hin kann nicht so exakt gezogen werden, wie die Jahreszahl 1984 sugge-
riert. Manche Theorierekonstruktion greift zeitlich weit darüber hinaus, so wer-
den etwa in der Präsentation des Strukturalismus auch Arbeiten berücksichtigt,
die als Postmoderne und Poststrukturalistische Soziologie gelten und teilweise
erst in den letzten 10 Jahren erschienen sind. Auch manche der vorgestellten
Diskussionen im Paradigma rationaler Wahl sind erst in den letzten fünf bis zehn
Jahren geführt worden.
Wenn diese Klarstellungen in Bezug auf die zeitlichen Grenzen der Aus-
wahl bereits hier in der Einleitung zu treffen sind, dann liegt eine Frage nahe:
14 Matthias Junge/Ditmar Brock

Warum wird angesichts aller Schwierigkeiten trotzdem eine zeitliche Grenzlinie


für die Auswahl benutzt? Sie fungiert als notwendige symbolische Markierung,
um eine bestimmte Entwicklung innerhalb der Soziologischen Theoriebildung
anzuzeigen. Diese lässt sich als begrifflicher Dreischritt kurz zusammenfassen:
von Personen über Paradigmen zu Problemen.
Der erste Band widmete sich den Personen und Werken der Gründer und
Klassiker. Der vorliegende zweite Band beschreibt die daran anschließend ent-
wickelten Paradigmen: von einzelnen Personen abgelöste Netzwerke von Auto-
ren, die jeweils bestimmte Grundannahmen ihrer Soziologie teilen. Nach der
Entwicklung und Etablierung verschiedener Paradigmen zeigt sich die Soziolo-
gie als eine multiparadigmatische Wissenschaft. Zwischen den Paradigmen ist
ein abwägender Vergleich kaum möglich, weil ein Kriterium für einen solchen
Vergleich keinem Paradigma entnommen werden darf, sondern „überparadigma-
tisch“ sein müsste, um den Vergleich „neutral“ zu gestalten. Dieser denkbare
Weg heraus aus der multiparadigmatischen Struktur war und ist bis heute nicht
verfügbar. Stattdessen entwickelt sich zwischen den verschiedenen Paradigmen
eine Zusammenarbeit im Einzelfall. Es rückten gemeinsame Problemstellungen
in den Mittelpunkt, so etwa die Frage nach der Verknüpfung von Mikro- und
Makroebene der soziologischen Analysen. Die Problem zentrierte Phase der
Entwicklung der Soziologischen Theorie setzt ungefähr Mitte der 80er Jahre ein,
und soll das Thema des geplanten dritten Bandes dieser Einführung sein. Des-
halb die obere Grenze 1984, in diesem Jahr steht das Paradigma der Systemtheo-
rie Luhmanns zum ersten Mal in entwickelter Gestalt zur Verfügung. Und 1937
ist die untere Grenze, weil Parsons seine Kanonisierung der Klassiker vorlegt,
um das Paradigma der voluntaristischen Handlungstheorie zu entwickeln.
Die vorgestellten Paradigmen stehen sowohl in der Darstellung wie auch in
ihrer Entwicklung nebeneinander. Auch dieser Sachverhalt erschwert eine An-
eignung. Man muss sich jedes Mal in die Denkbewegungen eines Paradigmas
hineinbegeben, man lässt sich jeweils auf ein bestimmtes Sprachspiel ein, man
lernt neue Begriffe oder auch bekannte Begriffe mit einer anderen Bedeutung zu
verwenden, erlernt eine Perspektive zu übernehmen, setzt sich mit einer theoreti-
schen Haltung und einem spezifischen Erkenntnisinteresse auseinander. All das
wird anfangs schnell unübersichtlich und verwirrend.
Um dem Leser die Orientierung zu erleichtern, soll folgendes Schema einen
ersten Überblick geben. Alle Paradigmen können entlang der Antworten auf vier
Fragen unterschieden werden. Erstens: Was ist das Hauptinteresse, das ein Pa-
radigma motiviert? Welches Erkenntnisinteresse wird mit einem Paradigma
verfolgt? Worauf will das Paradigma zuletzt hinaus? Sodann zweitens: Mit wel-
cher Erkenntnistheorie und welchen Methoden wird das Erkenntnisinteresse
angestrebt? Welche Methodologie steht hinter einem Paradigma. Oder anders:
Wie arbeitet das Paradigma? Die dritte Frage möchte wissen: Was sind die wich-
tigsten Grundbegriffe eines Paradigmas? Um welche Begriffe kreist das Para-
digma, welche tauchen immer wieder auf? Oder in anderer Formulierung: An der
Verwendung welcher Begriffe kann abgelesen werden, welches Paradigma be-
nutzt wird? Und viertens schließlich: Was war der Anlass zur Entwicklung des
Paradigmas? Welcher historische oder systematische Ausgangspunkt steht am
Einleitung 15

Anfang der Entwicklung des Paradigmas? Wo oder wann fing alles an? Welche
Frage stand am Anfang?
Tabellarisch, und ohne weitere inhaltliche Kennzeichnung, die sich durch
die Lektüre der einzelnen Kapitel ergeben wird, zusammengefasst:

Gesell- Inter- System- Theorie Struk- Konflikt-


schaftskritik pretatives theorie rationaler turalismus theorie
Paradigma Wahl
Perspek- Die Ermögli- Die aktive Begriffe der Die Erklärung Die Aufde- Die soziale
tive/ chung einer Herstellung Analyse gesellschaft- ckung des Produktivität
Erkenntnis- besseren sozialer bereitstellen, licher Phä- Sinns von von Konflik-
interesse Gesellschaft Ordnung die Selbstor- nomene als Strukturen, ten
ganisation unbeabsich- Aufdeckung
sozialer tigtes Resul- der latenten
Ordnung tat individu- Regeln des
ellen Han- Sozialen
delns
Methode/ rekonstruk- interpretativ, konstrukti- erklärend rekonstruktiv rekonstruktiv
Metho- tiv-appellativ hermeneu- vistisch
dologie tisch
Grund- Kritik, Situation, Kommunika- Situation, Struktur, Konflikt,
begriffe Gesellschaft, Symbol, tion, System, Abwägung, Zeichen Herrschaft
Pathologie Interaktion, Umwelt Wahl/ Ent-
Interpretati- scheidung,
on (oder rationale
Auslegung) Wahl, Aus-
tausch,
Nutzenma-
ximierung
Ausgangs- Weimarer Chicago; Entwicklung Schottische Ethnologie; Ausblendung
punkt Republik/ Pragmatis- von Biologie Moralphilo- Sprachwis- sozialer
Stalinismus; mus/ und Kyberne- sophie; senschaftli- Konflikte im
normativer Klärung tik; Entschei- cher Struktu- Strukturfunk-
Bezugspunkt, unübersicht- Theorieevo- dungstheo- ralismus tionalismus
Versagen der licher Ver- lution über rie, Mathe-
Moderne hältnisse Parsons matisierung
und des hinaus sozialer
Marxismus Prozesse;
Soziales ist
auf individu-
elles Handeln
zurückzufüh-
ren (alterna-
tiv: Kritik am
Kollektivis-
mus)

Diese Übersicht vermittelt dem Leser einen ersten Eindruck von der Heterogeni-
tät und Vielschichtigkeit soziologischer Theorien nach Parsons. Dadurch wird es
möglich, ein und dasselbe Thema aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln zu
analysieren und ihm so ganz unterschiedliche Ergebnisse abzugewinnen. Die
16 Matthias Junge/Ditmar Brock

Kehrseite dieser gesteigerten Erkenntnismöglichkeiten ist, dass auf diese Weise


die Eindeutigkeit soziologischen Wissens abhanden kommt. Ob es sich hier um
eine Besonderheit der Soziologie oder um ein generelles Problem moderner
Wissenschaft handelt, braucht an dieser Stelle nicht entschieden werden.
Möglich wurde diese Entwicklung jedenfalls aufgrund einer in diesem Band
nicht gesondert betrachteten Theorierichtung, nämlich des Wissenssoziologie.
Deshalb sei an dieser Stelle wenigstens einer der wichtigsten, weil auch interna-
tional rezipierten Vertreter dieser Denkrichtung, Karl Mannheim erwähnt. Seiner
Auffassung nach ist das Wissen in den Geistes- und Sozialwissenschaften immer
seinsverbundenes Denken, abhängig vom sozialen Standort des Denkenden.
Allgemein verbindliche Erkenntnis ist in diesem Wissenschaftsbereich also nicht
zu erwarten, allenfalls indirekt durch eine Variation der Denkstile und Denkmus-
ter. Mannheim bewegt sich hierbei in den Fußstapfen Diltheys, der einen inneren
Zusammenhang zwischen Erleben, Ausdruck und Verstehen in den Geisteswis-
senschaften ausgemacht hatte. Eine praktische Konsequenz dieser weitgehend
akzeptierten Position ist der in der Soziologie bewusst gepflegte Theorienplura-
lismus. Hierin führt dieser Band ein. Dieser Aspekt charakterisiert zwangsläufig
das soziologische Umfeld aller hier dargestellten Paradigmen, er wird jedoch,
schon um den geschätzten Leser nicht allzu sehr zu strapazieren, nur in der Dar-
stellung zur Konflikttheorie ausführlich in exemplarischer Absicht behandelt.
Zum Schluss sei noch ausdrücklich den Rostocker Studentinnen und Stu-
denten gedankt, deren Engagement und Bereitwilligkeit zur intensiven und ehrli-
chen Kritik an früheren Manuskriptfassungen den Text zu verbessern half. Unser
Dank gilt auch Yvonne Niekrenz für das Korrekturlesen der Manuskripte. Und
nicht zuletzt gilt unser herzlicher Dank für die überaus gründliche, fachkundige
und aufmerksame Arbeit an der gestalterischen Erstellung dieses Bandes Ulrike
Marz, unserer studentischen Mitarbeiterin in diesem Projekt. Ohne ihre Mitarbeit
hätten wir den Band nicht so präsentieren können, wie er sich jetzt zeigt.
Reiner Keller

Das interpretative Paradigma

1 Der Aufstand des Konkreten


Der erste Band der vorliegenden Reihe zur Entwicklung soziologischer Positio- Das Theoriemodell
von Talcott Parsons
nen endete mit dem systemtheoretischen Theoriemodell, das Talcott Parsons in
wird in Frage gestellt
den 1950er Jahren entwarf. Die als Zusammenführung soziologischer Klassiker-
positionen entwickelte „strukturfunktionalistische Systemtheorie“ dominierte die Systemtheorie
soziologische Theoriediskussion in den USA und in Europa bis weit in die zwei-
te Hälfte der 1960er Jahre. Sie lieferte auch die Bezugskonzepte í etwa Definiti-
Rolle
onen von Rolle, sozialer Schichtung, Ungleichheit usw. í für die empirische
Sozialforschung, sofern letztere Anschluss an theoretische Ausgangsüberlegun-
gen suchte. Die Landkarte der Soziologie in dieser Zeit lässt sich so weitgehend
zwischen zwei Polen aufzeichnen: der Parsonschen Theorie und daran orientier-
Positivistische
ter Analysen auf der einen Seite, der mehr oder weniger ‚theorielosen’ positivis- Sozialforschung
tischen, empirisch-quantitativen Sozialforschung auf der anderen Seite. Weitere
‚großtheoretische’ Schulen í etwa marxistischer Ausrichtung oder die Kritische
Kritische Theorie
Theorie der Frankfurter Schule (vgl. S. 138ff. im vorliegenden Band) í existier-
ten zunächst in verbleibenden Nischen und wurden dann in den 1960er Jahren zu
Referenztheorien der Studentenbewegungen. In dieser Zeit brach die übersichtli-
che theoretische und empirische Landschaft der Soziologie auf. Der US-amerika-
nische Soziologe Alvin Gouldner sprach deswegen gar von der „kommenden
Krise der westlichen Soziologie“ (Gouldner 1974). Vor dem Hintergrund gesell-
schaftlicher Veränderungen í beispielsweise der Schwarzen-, Studenten-, Frau-
enbewegungen í und aufkommender Hoffnungen auf eine demokratisch-ausglei-
chende Gesellschaftsgestaltung erweise sich, so seine Einschätzung, insbesonde-
re das Theoriemodell von Parsons nunmehr in zweifacher Weise als ungeeignet,
das gesellschaftliche Geschehen angemessen zu analysieren: Einerseits fehlten
ihm Konzepte für die Analyse von Konflikten und gesellschaftlichem Wandel.
Andererseits könne es, da es von gesellschaftlichen Selbstregulierungsprozessen
ausgehe, keine Hilfen für die neuen gesellschaftsbezogenen Planungs- und Ge-
staltungserwartungen anbieten.
Das soziologieinterne Indiz dieser „Krise“ sah Gouldner in der Abwendung Die neuen ‚radikalen’
Soziologen fordern
der Studierenden und der jüngeren Fachkollegen von der Parsonschen Großtheo-
die Hinwendung zum
rie. Stattdessen entwickelten sie ein starkes Interesse für neue, sich mehr oder Konkreten
weniger radikal und auf jeden Fall ‚unkonventionell’ gebende Positionen, die mit
den Namen von Harold Garfinkel, Erving Goffman, Howard S. Becker und an-
deren verbunden wurden. Dies galt gewiss nur für Teile der sozialen Bewegun-
gen und der Studenten der 1960er Jahre. Für andere war die Orientierung an den
marxistischen und kritischen Theorietraditionen wesentlich wichtiger, die auch
18 Reiner Keller

weiterhin, ähnlich wie Parsons, das ‚große Ganze’ der gesellschaftlichen Zusam-
menhänge in den Blick nehmen wollten.
Makrostrukturelle Dagegen interessierten sich die neuen ‚radikalen’ Soziologen nicht für abs-
Theorieansätze
trakte Theorieentwürfe und makrostrukturelle Gesellschaftsbetrachtungen. Viel-
mehr standen sie für eine Abkehr von den großen Strukturen und institutionellen
Komplexen zugunsten einer Aufwertung der konkreten Situationen des Alltags,
der Beschäftigung mit dem unmittelbar erfahrbaren ‚Hier und Jetzt’ des gelebten
Lebens, der sozialen Beziehungen. Ihre Forderung lautet, die Soziologie müsse
ihre Distanz zu den sozialen Phänomenen aufgeben und wieder in die Niederun-
gen des tatsächlichen Lebens zurückkehren, sich wortwörtlich die Hände
schmutzig machen. Und dies nicht unbedingt dort, wo sie es sich bequem ein-
richten kann, sondern bei den gesellschaftlichen Außenseitern, den Kriminellen,
den Jugendbanden, den Insassen psychiatrischer Anstalten.
Die neuen Ansätze Damit war keineswegs der Verzicht auf theoretische Grundpositionen und analyti-
betonen die Rolle der
sche Distanz verbunden. Obwohl viele aus der neuen jungen Soziologengeneration
Handelnden und
präferieren qualitati- mit den Außenseitern, Gruppen und zwielichtigen Gestalten an den Rändern der
ve Sozialforschung bürgerlich-ehrvollen Gesellschaft sympathisierten und ihre Forschungen diese auch
in ein neues Licht rückten, bedeutete dies nicht, dass sie einfach die Seiten wech-
selten und zu deren politischen Fürsprechern wurden. Vielmehr begannen Mitte
der 1950er Jahre verschiedene dieser Soziologen í neben den bereits erwähnten
etwa auch Herbert Blumer, Anselm Strauss, Aaron Cicourel u.a. í mit der Ent-
wicklung neuer, mehr oder weniger miteinander verknüpfter theoretischer Positio-
nen, die unter den Namen des Symbolischen Interaktionismus, des Labeling Ap-
proach, der Grounded Theory, der Ethnomethodologie usw. bekannt werden soll-
ten. Ungeachtet der Vielfalt ihrer Positionen und der Unterschiedlichkeit ihrer
Handeln Forschungsinteressen im Einzelnen war diesen neuen Ansätzen zweierlei gemein-
sam: Sie interessierten sich erstens für die praktisch-interpretativen Leistungen, die
soziale Akteure in ihrem Handeln permanent erbringen müssen. Solche Interpreta-
tionsleistungen sind nicht nur für individuelles Handeln bedeutsam, sondern in
gleichem Maße für wechselseitiges Handeln, also Interaktionen, und darüber hin-
Interaktion aus für die „Herstellung“ von über die jeweilige Handlungssituation hinausreichen-
den sozialen Phänomenen und gesellschaftlichen Ordnungen. Damit war zweitens
eine Präferenz für qualitative Sozialforschung verbunden, die als Schlüssel zur
Erfassung dieser Interpretationsleistungen galt.
Interpretation Menschen müssen die Situationen und Beziehungen, in denen sie sich be-
finden und bewegen, permanent deuten und verstehen, um handeln zu können.
Solche Situationen sind nicht einfach gegeben oder aus vorgefertigten Normen
und Rollenschemata aufgebaut. Sie erfordern von den Beteiligten eine aktive
Gestaltungs- und Deutungsleistung. Das kann einfach durch zwei Beispiele il-
lustriert werden: Ein Seminar an der Universität lässt sich soziologisch nicht
einfach durch die Annahme fester Rollenvorgaben í derjenigen der Studierenden
und der DozentInnen í beschreiben und erklären. Vielmehr sind alle Beteiligten
ununterbrochen damit beschäftigt, zu deuten, was alle gerade alleine oder ge-
meinsam tun. Warum sitzen wir hier? Was bedeutet es, wenn da vorne jemand
steht und redet oder Fragen stellt? Wieso kann sie oder er Antworten erwarten
usw.? An diesen Deutungen orientieren sie dann ihr eigenes Verhalten und Han-
Das interpretative Paradigma 19

deln. Gewiss ist dieses permanente Zusammenspiel von Deuten und Handeln
üblicherweise ein Routinevorgang, der keiner besonderen Aufmerksamkeit be-
darf und den man nach einigen Monaten an der Universität auch gleichsam ne-
benbei erledigt. Dennoch sollte deutlich sein, dass solche grundlegenden Inter-
pretationsprozesse unabdingbar sind, damit man sich ‚im Seminar als Seminar’
mit wissenschaftlichen Themen beschäftigen kann.
Das lässt sich auch an einem anderen Beispiel verdeutlichen, bei dem zu- Menschliches
Handeln und soziale
nächst weniger klar ist, um was für eine Situation es sich handeln könnte. Stellen
Interaktionen
Sie sich beispielsweise vor, Sie stehen in einer Diskothek an der Tanzfläche. erfordern permanent
Von gegenüber schaut Sie jemand über längere Zeit direkt an. Die Person geht Interpretations-
dann an Ihnen vorbei und fragt im Vorübergehen nach Feuer. Wie reagieren Sie? leistungen
Zunächst müssen Sie natürlich die Frage verstehen können. Das setzt ein gewis-
ses Grundwissen über Rauchen, Zigaretten, Feuerzeuge, allgemeiner über Disko-
theken, Musik, Tanzen usw. voraus. Ihr eigenes Handeln richtet sich dann nach
Ihrer Interpretation des ganzen Geschehens: War das Gegenüber kurzsichtig und
blickte deswegen nicht auf Sie sondern ins Leere? Lassen Kleidung und Gesamt-
erscheinung auf eine Person schließen, die mich í wofür auch immer í interes-
sieren könnte? Könnte ich der Typ von Person sein, der für ein solches Gegen-
über interessant wirkt? War die Frage nach Feuer tatsächlich nur aus der Not
geboren, d.h. am Zweck des Rauchens orientiert? Oder sollte es ein unverbindli-
cher (und nicht sehr origineller) Versuch sein, mit mir ins Gespräch zu kommen?
Wie auch immer Sie diese und andere Fragen für sich beantworten; Sie schließen
daran ein Handeln an, auf das wiederum das Gegenüber reagiert, mit ähnlich
breiten Deutungsmöglichkeiten. Vielleicht handelt es sich ja tatsächlich nur um
eine kurzsichtige Person, die rauchen will í und jede weitergehende Interpretati-
on brüsk zurückweist. Auf jeden Fall sind in all diesen Vorgängen permanente
Deutungsanstrengungen der Beteiligten gefordert, und zwar sowohl im Hinblick
auf die Signale oder Mitteilungen, die sie selbst aussenden, wie auch im Hinblick
auf diejenigen, die sie wahrnehmen. Die Eigenleistungen der Beteiligten werden
in einer solchen Perspektive sehr viel wichtiger als dies in der Theorie von Par-
sons angenommen wurde. Denn dort schien die Abstimmung der Verhaltens-
und Handlungsweisen sich im Wesentlichen aus der gelungenen Übernahme von
Rollenmustern und Normen in Sozialisationsprozessen zu ergeben. Eine Sozio-
logie, die sich dagegen für die Situations-Deutungen der handelnden Akteure
interessierte, musste auch ihren soziologischen Zugang entsprechend auf die
Erfassung der Interpretationsprozesse ausrichten, ja ihr eigenes Tun selbst als
Interpretationsvorgang verstehen und methodisch umsetzen. Dafür schienen die
etablierten Methoden der quantitativen empirischen Sozialforschung í standardi-
sierte Fragebogentechniken oder Analysen statistischer Variablen í ungeeignet.
Stattdessen galt es, „qualitative“ oder „interpretative“ Vorgehensweisen zu ent-
wickeln und einzusetzen, die in der Lage waren, die Komplexität der Deutungs-
prozesse im soziologischen Gegenstandsbereich zugänglich zu machen.
20 Reiner Keller

Die neuen Ansätze fragen nach den praktisch-interpretativen Leistungen, die


soziale Akteure in ihrem Handeln und in ihren Interaktionen sowie bei der
Herstellung der sozialen Phänomene und gesellschaftlichen Ordnungen
erbringen müssen. Sie präferieren Vorgehensweisen der qualitativen Sozial-
forschung.

Die neuen Soziologen Wenige Jahre nachdem Gouldner von den Anzeichen einer Krise gesprochen
stellen dem Norma-
hatte, etablierten sich diese neuen Ansätze der Soziologie soweit und haben so-
tiven Paradigma ein
Interpretatives viel Zuspruch erfahren, dass Thomas Wilson (1981 [1970]) von einem „Inter-
Paradigma gegen- pretativen Paradigma“ sprach und Roland Robertson (1993) wegen der darin
über hervorgehobenen Rolle der Deutungsprozesse eine allgemeine „wissenssoziolo-
gische Wende“ in dieser Zeit ausmachte. Wilson beschrieb die Grundintention
des Interpretativen Paradigmas mit dem Verständnis von sozialer Interaktion als
Makro-soziale interpretativem Prozess und betonte, dass auch ‚makro-soziale Phänomene’ aus
Phänomene Interaktionen aufgebaut sind:

„Es gibt keine voneinander isolierten Handlungen; vielmehr sind Handlungen auf-
einander bezogen, insofern der eine Handelnde auf den anderen ‚antwortet’ und
zugleich die Handlungen des anderen antizipiert, und dies gilt auch, wenn in situati-
ver Einsamkeit gehandelt wird. (…) Makro-soziale Phänomene (wie Organisationen,
Institutionen, soziale Konflikte) erscheinen in dieser Sicht als strukturierte Bezie-
hungen zwischen den interaktiv aufeinander bezogenen Handlungen einzelner.“
(Wilson 1981: 55)

Dem Interpretativen Paradigma stellte Wilson das „Normative Paradigma“


gegenüber. Damit war im Wesentlichen die Soziologie von Parsons bezeichnet,
in der einerseits davon ausgegangen wurde, dass Handelnde mit spezifischen
erworbenen Dispositionen (wie Sprachkompetenz, Handlungskompetenz) aus-
gestattet sind. Andererseits wurde angenommen, dass sie Rollenerwartungen
Sanktionen erfüllen müssen, deren Missachtung mit negativen Sanktionen belegt ist, wäh-
rend sie für die Beachtung und Einhaltung belohnt werden.

Interpretatives Paradigma = Bezeichnung für soziologische Ansätze, welche


die Deutungsleistungen der handelnden und interagierenden menschlichen
Akteure betonen

Normatives Paradigma = Bezeichnung für soziologische Ansätze – insbes. die


Theorie von Talcott Parsons –, die Handeln durch Orientierungen an Rollen-
und Normvorgaben erklären

Handlungen und Interaktionen zwischen Personen wurden hier als Beziehungen


zwischen Rollen analysiert. Sie sind möglich, weil die Handelnden in ein ge-
Konsens, kognitiver
meinsames Symbolsystem und einen „kognitiven Konsens“ über die jeweiligen
Situationen, in denen sie handeln, eingebunden sind. Als „normativ“ galt dieses
Modell deswegen, weil es den Rollenerwartungen, also einer spezifischen Form
Normen
von Normen, einen zentralen Stellenwert einräumt: die Handelnden erfüllen die
Das interpretative Paradigma 21

Erwartungen oder weichen davon ab. In beiden Fällen ist jedoch die Bezugnah-
me auf die Norm der eigentliche Motor des Geschehens. Demgegenüber geht das
Interpretative Paradigma davon aus, dass die Handelnden erst zu einer gemein-
samen Situationswahrnehmung gelangen müssen, dass sie aktiv, in einem andau-
ernden Deutungsprozess die Art und den Ablauf ihrer Handlungen und Interak-
tionen begleiten. Ralph Turner (1976: 118 [1962]) spricht deswegen im Rekurs
auf Überlegungen von George Herbert Mead vom „role taking“, d.h. von der
aktiven Rollenübernahme, im Unterschied zur Annahme des passiven Rollen-
vollzugs im normativen Paradigma: Rollenübernahme

„Die Betonung liegt nicht mehr auf dem einfachen Prozess des Ausführens einer
vorgeschriebenen Rolle, sondern auf der Art und Weise, wie man das eigene Han-
deln auf der Basis einer unterstellten Rolle des anderen plant und entwirft. Der Han-
delnde nimmt nicht einfach einen Status ein, für den es einen wohlgeordneten Satz
von Regeln oder Normen gibt; (…) Der tentative Charakter der Rollendefinition und
des Rollenspiels wird niemals gänzlich aufgehoben.“ (Turner 1976: 118) Rollenspiel

Das Interpretative Paradigma geht davon aus, dass die Handelnden eine ge-
meinsame Situationswahrnehmung aufbauen und ihre Rollen sowie die damit
verbundenen Handlungen und Interaktionen in einem permanenten Deutungs-
prozess aktiv übernehmen und gestalten. Parsons Idee des Rollenspiels als
Vollzug von Normen wird als unangemessen verworfen.

Mit dem Interpretativen Paradigma ist gerade deswegen ein entschiedenes Plä- Soziologisches
Wissen über die
doyer für qualitative Forschungsmethoden verbunden: Das Attribut „qualitativ“
Deutungsleistungen
bezieht sich hier auf die „Daten“, die der soziologischen Analyse zugrunde lie- der sozialen Akteure
gen. Wenn die aktiven Interpretationen, d.h. die Sinnzuschreibungen der Betei- lässt sich nur durch
ligten eine solch wichtige Rolle für die sozialen Interaktionen spielen, dann qualitative (Feld-)
Forschung gewinnen
greift eine sozialwissenschaftliche Forschung zu kurz, die über die Auswertung
statistischer Regelmäßigkeiten oder standardisierte Fragebögen mit festgelegten
Antwortvorgaben in Erfahrung bringen will, warum soziale Phänomene in ihrer
spezifischen Weise in Erscheinung treten und wie sie von den Handelnden gese-
hen werden. Stattdessen wird es notwendig, „ins Feld zu gehen“, sich an den
Interaktionen zu beteiligen oder zumindest im Sinne einer teilnehmenden Beob-
achtung die Bedeutungen und Interpretationsleistungen der Handelnden zu er-
kunden. Die Soziologinnen und Soziologen sollten „herumschnüffeln“, forderten
viele Protagonisten dieser Richtung immer wieder und bezogen sich damit auf
journalistische Recherchestrategien, aber auch auf die Feldforschung der Ethno-
logen in den Stammeskulturen beispielsweise Afrikas oder Südamerikas. Oft sei
es notwendig, lange Gespräche und Diskussionen mit den Beforschten einzuge-
hen sowie auf „natürliche Daten“, d.h. Dokumente aus dem untersuchten Feld
(Briefe, Photographien, Zeitungsartikel usw.), zurückzugreifen, um Zugang zur
Wirklichkeit des Sozialen zu erlangen. Auch Tonband- oder Filmaufzeichnungen
von ‚Originalhandlungen’ wurden benutzt, um diese in ihrer „tatsächlichen“, also
nicht durch standardisierte Vorgaben gebrochenen Komplexität zu analysieren
(das letztere Vorgehen ist vor allem die Option der Ethnomethodologie Garfin-
kels; vgl. S. 93ff.).
22 Reiner Keller

Mit den neuen Der Unterschied zwischen dem normativen Paradigma und dem Interpreta-
Ansätzen sind auch
tiven Paradigma oder zwischen der dominierenden Soziologie und dem „fri-
neue Stile der Präsen-
tation von Untersu- schen Wind” wird sehr schön in einem Zitat von Joseph Gusfield, einem promi-
chungsergebnissen nenten Vertreter des Symbolischen Interaktionismus, deutlich, der sich 1982
verbunden rückblickend erinnerte:

„We used to say that a thesis about drinking written by a Harvard student might well
be entitled ‘Modes of Cultural Release in Western Social Systems’; by a Columbia
student it would be entitled, ‘Latent Functions of Alcohol Use in a National Sam-
ple’; and by a Chicago graduate student as ‘Social Interaction at Jimmy’s: A 55th St.
Bar.’ It was a methodology that held the student firmly to what he/she could see,
hear, and experience at first hand…. Abstractions and concepts ungrounded by the
experience with concrete observations were suspect…I remember first hearing Tal-
cott Parsons present his theoretical perspective at a lecture in Mandel Hall [on cam-
pus] at which he was introduced by Louis Wirth who then sat in the front row and
proceeded to read his mail during Professor Parsons’ presentation!” (zit. nach Galli-
her 1995: 183)

Chicago School of Harvard steht im obigen Zitat für die Position von Parsons. Eine dortige Doktor-
Sociology arbeit über das Trinken hieße also wahrscheinlich „Formen der kulturellen Frei-
setzung in Westlichen Sozialsystemen“. An der Universität von Columbia, wo
Robert Merton, ein Vertreter funktionalistischer Theorien ‚mittlerer Reichweite’,
und der quantitativ-empirisch vorgehende Sozialforscher Paul Lazarsfeld lehrten,
hätte sie den Titel „Latente Funktionen des Alkoholgebrauchs in einer bundes-
weiten Datenerhebung“ gewählt. Chicago schließlich steht für das Interpretative
Paradigma bzw. die Tradition der Chicago School of Sociology (s.u. Kapitel 2,
S. 24ff.). Dort lautete der Titel dann wohl: „Soziale Interaktion bei Jimmy’s:
Eine Bar in der 55. Straße“. So trug auch eine der ersten Studien von Howard S.
Becker, Anselm Strauss u.a., die später wichtige Vertreter des Symbolischen
Interaktionismus wurden, den Titel „Boys in White“ (Becker/Geer/Hughes/
Strauss 1992 [1961]). Bei den ‚Jungs in Weiß’ handelte es sich um junge Medi-
zinstudenten; in der Studie ging es darum, wie sie ihr Studium verbrachten und
zunehmend zu ‚ernsthaften’ Mitgliedern des Ärztestandes wurden. Schon an den
Titeln ihrer Veröffentlichungen lässt sich also ablesen, in welche Richtung die
neue Soziologengeneration sich bewegte.
Die Rezeption im Im deutschsprachigen Raum wurden die Positionen des Interpretativen Pa-
deutschsprachigen
radigmas sehr früh schon von Jürgen Habermas in seinem 1967 veröffentlichten
Raum beginnt Ende
der 1960er Jahre Literaturbericht über die „Logik der Sozialwissenschaften“ beachtet (Habermas
1985: 203ff und 311ff).1 Eine breitere Rezeption setzte dann mit verschiedenen
Sammelbänden ein, die Übersetzungen grundlegender Texte der genannten Posi-
tionen und Autoren enthielten. Dazu zählen insbesondere die Veröffentlichung
„Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit“, die 1973 von

1
In seiner „Theorie des kommunikativen Handelns“ setzt sich Habermas (1981) insbesondere mit
George Herbert Mead auseinander und schließt über den Begriff der „Lebenswelt“ an das Interpretati-
ve Pardigma an (vgl. S. 169ff. in diesem Band).
Das interpretative Paradigma 23

der Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen herausgegeben wurde,2 und beispiels-


weise der von Heinz Steinert im selben Jahr publizierte Sammelband mit dem
Titel „Symbolische Interaktion. Arbeiten zu einer reflexiven Soziologie“ (Stei-
nert 1973). Weitere Sammelbände folgten in den nächsten Jahren. 3
Im weiteren Verlauf des vorliegenden Buchabschnitts wird es nun um die Die Gemeinsamkeit
der neuen Ansätze
verschiedenen Ansätze oder Positionen gehen, die sich hinter dem doch etwas
besteht in der Beto-
vereinfachenden Sammelbegriff des Interpretativen Paradigmas verbergen. nung der Deutungen,
Denn trotz der erwähnten Grundannahmen und Forschungspräferenzen unter- des Zeichen- und
scheiden sich die theoretischen Strömungen, die unter dem Dach des Interpreta- Symbolgebrauchs
und der handlungs-
tiven Paradigmas versammelt werden. Dies gilt sowohl im Hinblick auf ihre praktischen bzw.
weiteren theoretischen Ausgangspositionen wie auch für die damit verbundenen interaktiven Herstel-
Forschungsinteressen und empirisch-methodischen Vorgehensweisen. Es handelt lung sozialer Ord-
sich nicht um große Theoriegebäude, die direkt mit der Systemtheorie von Par- nung
sons in Konkurrenz treten, aber doch um entschiedene und theoretisch begründe-
te Plädoyers für ein anderes Verständnis sozialer Phänomene und eine entspre-
chend andere soziologische Perspektive. Die unterschiedlichen Akzentuierungen
des Interpretativen Paradigmas haben ihre gemeinsamen Ausgangspunkte in der
Betonung des aktiven und kreativen menschlichen Zeichen- und Symbol-
gebrauchs, des permanenten Zusammenspiels von Deuten und Handeln in kon-
kreten Situationen sowie der interaktiven Herstellung sozialer Ordnungen.

Der gemeinsame Ausgangspunkt der Ansätze des Interpretativen Paradigmas


liegt in der Betonung des aktiven und kreativen menschlichen Zeichen-
gebrauchs als Bestandteil der menschlichen Handlungsfähigkeit. Deuten und
Handeln sind in konkreten Situationen und Interaktionen untrennbar ineinan-
der verschlungen. Soziale Ordnungen werden in interaktiven Prozessen der
Bedeutungszuweisung konstituiert.

Entwickelt wurden diese Ansätze allesamt von US-amerikanischen Soziologen


oder í wie im Falle der phänomenologisch-wissenssoziologischen Arbeiten von
Alfred Schütz, Peter Berger und Thomas Luckmann (Abschnitt 4) í doch von
Soziologen, die zum damaligen Zeitpunkt in den USA lebten. Das bedeutet
nicht, dass sie keine Verbindungen zur klassischen europäischen Soziologietradi-
tion aufweisen í insbesondere Arbeiten und Positionen von Georg Simmel (vgl.
Verstehenstradition
Bd.1, S. 133ff.) und aus der deutschen ‚Verstehenstradition’ (von Wilhelm Dil-
they bis Max Weber, vgl. Bd.1, S. 161ff.) waren für sie wichtig. Zugleich knüpf-
ten sie an eine spezifische US-amerikanische Soziologieschule an, die Anfang
des 20. Jahrhunderts, also vor dem Aufstieg Parsons, als dominierende, gar als
„die“ US-amerikanische Soziologie schlechthin galt í die „Chicago School of
Sociology“. Die Vorstellung des Interpretativen Paradigmas muss deswegen dort

2
Das waren Joachim Matthes, Werner Meinefeld, Fritz Schütze, Werner Springer, Ansgar Weymann
sowie der später hinzugekommene Ralf Bohnsack.
3
Mit Ausnahme des weitgehend übersetzten Werkes von Erving Goffman sind viele Texte dieser
Tradition in deutscher Sprache nur auszugsweise in Sammelbänden erschienen (beispielsweise Au-
wärter/Kirsch/Schröter 1976).
24 Reiner Keller

í d.h. zeitgeschichtlich vor dem Werk von Parsons í ihren Ausgangspunkt neh-
men. Die Erläuterung der Ansätze konzentriert sich auf die Phase ihrer Grundle-
gung. Ihre Weiterführung bis in die heutige Soziologie und ihre gegenwärtige
Bedeutung können jeweils nur knapp angerissen werden. Im Einzelnen werden
folgende Positionen vorgestellt:

ƒ die Chicago School of Sociology (Abschnitt 2, S. 30ff.),


ƒ der Symbolische Interaktionismus (Abschnitt 3, S. 54ff.),
ƒ die sozialkonstruktivistische Wissenssoziologie (Abschnitt 4, S. 90ff.),
ƒ die Ethnomethodologie (Abschnitt 5, S. 111ff.), und
ƒ die Soziologie der Interaktionsordnung (Abschnitt 6, S. 128ff.).

Im abschließenden siebten Abschnitt wird ein kurzes Resümee der gegenwärti-


gen Bedeutung des Interpretativen Paradigmas gezogen.

Übungsaufgaben:

ƒ Was sind die beiden Grundannahmen, mit denen die Vertreter des Interpre-
tativen Paradigmas sich gegen die etablierte Soziologie der 1950er Jahre
richteten?
ƒ Was bedeuten und worin unterscheiden sich das ‚Normative Paradigma’
und das ‚Interpretative Paradigma’?
ƒ Erläutern Sie an einem selbst gewählten Beispiel die Rolle von Situations-
deutungen für das Handeln der Beteiligten!

2 Die Chicago School of Sociology


2.1 Chicago: ein städtisches Labor der Kulturen

Die Stadt Chicago ist Etwa seit den 30er Jahren des 19. Jahrhundert befanden sich die USA in einem
Anfang des 20.
gewaltigen Um- und Aufbruch. Viele Millionen europäischer Aussiedler suchten
Jahrhundert ein
brodelnder Schmelz- ihr Glück in der ‚neuen Welt’, wo nach dem Bürgerkrieg die Wirtschaft expan-
tiegel der Einwande- dierte wie nirgends sonst. Exemplarisch dafür ist die Entwicklung Chicagos –
rerkulturen und der 1820 kaum mehr als ein Armeelager mit einigen Siedlungen, nur 80 Jahre später
Dynamik des US-
mit 1,7 Millionen Einwohnern die zweitgrößte Stadt der USA. In Chicago boom-
amerikanischen
Kapitalismus te insbesondere die Getreide- und Viehproduktion – die berühmt-berüchtigten,
im sozialkritischen Roman „Der Sumpf“ (The Jungle) von Upton Sinclair
(http://www.online-literature.com/upton_sinclair/jungle/; Stand vom 12.05.2008)
aus dem Jahre 1906 eindrucksvoll literarisch festgehaltenen Schlachthöfe –, die
Stahlindustrie und der Eisenbahnverkehr. Nachdem der Strom der europäischen
Einwanderer mit dem ersten Weltkrieg abebbte, stieg die Zahl der afroamerika-
nischen Zuwanderer aus dem Süden der USA stark an. Sie ließen sich im Süden
der Stadt, im ‚schwarzen Gürtel’, nieder. Um 1930 stellten sie mit über 230 000
Angehörigen die größte lokale ethnische Minderheit:
Das interpretative Paradigma 25

„Chicago unterschied sich von Städten wie Detroit und Philadelphia unter anderem
dadurch, daß es den Unterhaltsbedürfnissen aller Schichten und ethnischer Gruppen
in extremem Maße entgegenkam. Chicago galt als ‚weit offene’ Stadt mit einer aus-
geprägten Kooperation zwischen Politikern, Polizei und Unterwelt. Daß dubiose An-
tihelden und Bösewichter wie der Bürgermeister ‚Big’ Bill Thompson oder der
Obermafioso Al Capone gerade in Chicago ihr Betätigungsfeld fanden und nicht in
irgendeiner anderen Stadt, war gewiß kein Zufall; ebensowenig die Tatsache, daß
das im Januar 1920 erlassene Alkoholverbot, die Prohibition, Chicagos Nachtleben
nicht etwa schadete, sondern (...) immens belebte. Innerhalb von wenigen Monaten
nach der Gesetzesverkündung gab es in Chicago schätzungsweise 20 000 Etablisse-
ments, in denen illegal Alkohol verkauft wurde, wobei das Spektrum von hochklas-
sigen Nachtklubs bis zu schäbigen ‚Flüsterkneipen’ (speakeasies) reichte.“ (Jost
2003: 56)

Die damalige Chicagoer Situation, vor allem die „roaring twenties“, die „wilden Soziale Ungleichheit
zwanziger Jahre“, lässt sich als brodelndes Laboratorium begreifen, in dem sich
neue soziale Ungleichheiten, Konfrontationen zwischen unterschiedlichsten
ethnisch-kulturellen Gruppen und Wertvorstellungen, kreative Potentiale und
Gegensätze zwischen offiziellen Moralvorstellungen und dem tatsächlichen
Alltagsleben, der Suche nach Arbeit und Vergnügen entwickelten – eine Stadt,
wie gemacht für Debatten und Sozialreformbewegungen aller Art. Dort trafen
das alte Amerika der Siedler und das alte Europa der dörflichen Traditionen auf
den entstehenden Massenkonsum, die aufschießenden Hochhäuser, auf ehrliche
und weniger ehrliche Geschäftemacher, die Gewinner und das Fußvolk der boo-
menden Wirtschaft (vgl. Mikl-Horke 1997: 163ff).

2.2 Positionen der Chicago School of Sociology

1892 wurde die University of Chicago gegründet. Sie entwickelte sich bald zu Aus dem Zusammen-
spiel von philosophi-
einer der führenden Universitäten der Welt. Im Gründungsjahr der Universität
schem Pragmatis-
entstand auf dem Chicagoer Campus auch das erste US-amerikanische Soziolo- mus und soziologi-
giedepartment; die dort entwickelten Positionen galten alsbald als weltweit füh- schen Forschungsin-
rend. Die wichtigste Aufbaufigur der Chicagoer Soziologie war Albion W. Small teressen entstand
eines der weltweit
(1854-1926), der bereits 1885 das American Journal for Sociology initiiert hatte führenden soziologi-
und 1895 die American Sociological Society mit begründete. Obwohl in Chicago schen Departments
eine große Bandbreite soziologischer Positionen und Forschungsstrategien ver-
treten war, hat sich in die Soziologiegeschichte unter dem Begriff der Chicago
School of Sociology ein spezifischer Zusammenhang von Personen und Ansät-
zen eingeprägt, der nicht alle damaligen Chicagoer Soziologen versammelt.
Zentrale Figuren dieser Konstellation waren William I. Thomas und Robert E.
Park. Thomas und Park hatten u.a. in Deutschland studiert – die deutschen Uni-
versitäten galten damals als führende Lehrstätten der Welt – und dort verschie-
Völkerpsychologie
dene Denktraditionen kennen gelernt. Dazu zählten die Völkerpsychologie von
Wilhelm Wundt, die Hermeneutik von Wilhelm Dilthey, die soziologischen Hermeneutik
Arbeiten von Georg Simmel und Max Webers sinnverstehende Soziologie. Ge-
rade Simmel mit seinen Analysen des Großstadtlebens war – vor allem für Ro- Verstehende
Soziologie
bert E. Park – ein einflussreicher Autor. Bereits um die Jahrhundertwende er-
26 Reiner Keller

schienen Übersetzungen Simmelscher Aufsätze im Chicagoer American Journal


for Sociology.
Ähnlich wie Simmel interessierten sich die Chicagoer Soziologen für das
Großstadtleben, insbesondere für das Aufeinandertreffen der verschiedenen eth-
Kultur
nischen Gruppen und Kulturen in der expandierenden Metropole. Es ging ihnen
weniger um große Theorien als vielmehr um die Bearbeitung ganz konkreter
Fragen nach den Erfahrungen, Konflikten, Innovationen des Großstadtlebens,
auch um die Möglichkeiten und Grenzen der Gestaltung durch politisch-soziale
Reformbewegungen. Diese Interessen und auch die Vorstellungen über die
Handlungsweisen der Menschen wurden von der ebenfalls in Chicago vertrete-
nen philosophischen Richtung des Pragmatismus geteilt. Vertreter dieser Philo-
sophie sind Charles S. Peirce (1839-1914), William James (1842-1910) oder
John Dewey (1859-1952) und auch der weiter unten ausführlicher vorgestellte
George Herbert Mead. Robert E. Park hatte sowohl bei James wie auch bei De-
wey studiert, war mit letzterem befreundet und in gemeinsame Arbeitsvorhaben
eingebunden. Im Anschluss an die Arbeiten Meads entwickelte sein damaliger
Chicagoer Assistent, Herbert Blumer, später die Grundzüge des Symbolischen In-
teraktionismus (vgl. Kap. 3). Bevor die soziologischen Positionen von Thomas und
Park näher erläutert werden, soll zunächst das Handlungsmodell des Pragmatismus
vorgestellt werden. Es ist von zentraler Bedeutung für die verschiedenen Ansätze
des Interpretativen Paradigmas.

Lektürevorschlag:

Lindner, Rolf (1990): Die Entdeckung der Stadtkultur. Soziologie aus der Erfahrung der
Reportage. Frankfurt/Main: Suhrkamp, S. 75-115.
Vertiefung:
Hier kann das gesamte Buch von Lindner empfohlen werden.

2.2.1 Das Handlungsmodell des Pragmatismus

Der Pragmatismus Der Pragmatismus ist eine Philosophie des Handelns, die sich dafür interessiert,
geht davon aus, dass
wie Menschen im Handeln der Welt begegnen, wie sie die praktischen Probleme
menschliches
Handeln sich an ihres Lebens angehen. Menschen entwickeln dabei Routinen des Deutens und
Nützlichkeit für Handelns, aber sie zeigen auch Kreativität, wenn sie Störungen oder Irritationen
Problembearbeitun- erfahren. Dann probieren sie neue Deutungen der Welt und Strategien des Han-
gen orientiert;
delns aus. Oft wird der Pragmatismus als eine Philosophie der Nützlichkeit be-
Denken und Handeln
sind eng miteinander zeichnet. Dies ist dann zutreffend, wenn man einen sehr weiten Begriff der Nütz-
verknüpft lichkeit anlegt und damit die Annahme bezeichnet, dass Menschen in ihrem
Handeln bemüht sind, Aufgaben oder Probleme zu bewältigen und dafür die
geeigneten Mittel einzusetzen. Nehmen wir dazu ein einfaches, in der Literatur
wiederholt auftauchendes Beispiel (vgl. Mead 1969: 242): Stellen Sie sich bitte
vor, Sie machen einen Spaziergang. Sie gehen aber nicht auf einem Weg, son-
dern querfeldein. Dabei kommen Sie an einen tiefen Bach, der zu breit ist, um
einfach hinüberzuspringen. Sie stehen also vor einem sehr konkreten Problem,
Das interpretative Paradigma 27

zumindest dann, wenn Sie keine nassen Schuhe, Strümpfe, Röcke oder Hosen
haben wollen. In dieser Situation werden Sie wohl Verschiedenes ausprobieren:
den Bach entlang laufen, um eine schmalere Stelle zu finden und hinüberzu-
springen; Ausschau nach Steinen im Wasser halten, auf die Sie vielleicht treten
könnten; das Gebüsch nach einem dicken Ast durchsuchen, auf dem Sie trocke-
nen Fußes balancieren würden; oder, wenn alles nicht hilft, einfach Hose und
Schuhe ausziehen, Zähne zusammenbeißen und los. Mit seinem Handlungskon-
zept interessiert sich der Pragmatismus für solche kreativen Situationen des
Problemlösens in ihrem Zusammenspiel mit den eingeübten Routinen des Han-
delns und Denkens.
Menschliches Handeln ist eine Abfolge von Versuchen oder Handlungsex- Der Pragmatismus
argumentiert gegen
perimenten und Problemlösungen, die, wenn sie sich bewähren, als Routinen
die Idee der ‚Nutzen-
übernommen werden, oder aber, wenn sie scheitern oder als nicht länger bewährt maximierung’, wie
erscheinen, in einem kreativen Prozess durch andere Handlungen ersetzt werden. sie der Utilitarismus
In diesem Sinne lässt sich das Handlungskriterium des Pragmatismus als dasje- vertritt
nige der „Nützlichkeit“ verstehen. Keineswegs ist damit also eine philosophische
Position verbunden, die als Utilitarismus bezeichnet wird und den Menschen als
an eigenen Nutzenmaximierungen und rationalen Nützlichkeitserwägungen
(Zweck-Mittel-Kalkulationen) orientiertes Handlungswesen begreift (vgl. Bd.1,
S. 202). Eine solche philosophische Grundidee liegt ja der ökonomischen (und
soziologischen) Handlungstheorie des Rational Choice zugrunde (vgl. S. 239ff.
im vorliegenden Band). Letztere geht davon aus, dass Individuen sich für Hand-
lungen entscheiden, indem sie bestimmten Vorlieben (Präferenzen) folgen und
dabei versuchen, die damit verbundenen Kosten und Nutzen abzuwägen und
ihren individuellen Nutzen zu maximieren. Aus pragmatistischer Sicht formuliert
der Utilitarismus mit seinen Vorstellungen von Zielen, Zwecken, Motiven und
Kalkülen, die dem Handeln vorausgehen und es anleiten, ein theoretisches Mo-
dell, dem das tatsächliche Handeln der Menschen nur in seltenen Grenzfällen
entspricht. Deswegen wird die allgemeine Angemessenheit des utilitaristischen
Handlungsmodells entschieden bestritten.
Der Pragmatismus wandte sich nicht nur gegen den Utilitarismus und des- Der Pragmatismus
argumentiert auch
sen Handlungsmodell, sondern auch gegen eine andere, psychologische Richtung
gegen das auf Reiz-
der Analyse menschlichen Verhaltens, die heute als Behaviorismus bekannt ist Reaktionsmechanis-
und beispielsweise mit dem Namen von John B. Watson (1878-1958) verbunden men abzielende
wird. Der Behaviorismus ging in seiner Untersuchung des menschlichen Verhal- Verhaltens- und
Lernmodell des
tens und Handelns davon aus, dass dieses ebenso wie das Verhalten von Tieren
Behaviorismus
von außen als Mechanismus oder Zusammenhang von Reiz und Reaktion be-
schrieben werden könne. Dabei stehen nicht so sehr angeborene bzw. genetisch
bedingte Reaktionen im Mittelpunkt als vielmehr der Erwerb von neuen Reakti-
onsmustern durch reiz-reaktionsbasiertes Lernen im Kontakt mit der Umwelt. In
Laborversuchen mit Hunden hatte der russische Forscher und Nobelpreisträger
Iwan P. Pawlow (1849-1936) gezeigt, dass sich Tiere über bestimmte Kopplun-
gen von äußeren Reizen (beispielsweise dem Klingeln einer Glocke) mit Beloh-
nungen (Futter) oder Bestrafungen (elektrische Schläge) zu bestimmten Verhal-
tensweisen (wie der Speichelabsonderung) bringen ließen, die schließlich als
Reaktion auch dann auftraten, wenn auf die tatsächliche Belohnung bzw. Bestra-
fung verzichtet wurde. Ganz ähnlich wurde angenommen, dass auch menschli-
28 Reiner Keller

ches Verhalten und Handeln im selben Modell als Zusammenhang von Reizen
(Stimuli) und Reaktionen zu analysieren und zu verstehen sei. Ein eindrucksvol-
les Beispiel für den möglichen Einsatz dieser Theorie liefert der Film „Uhrwerk
Orange“ von Stanley Kubrick aus dem Jahre 1971, nach dem etwa zehn Jahre
zuvor erschienenen gleichnamigen Roman von Anthony Burgess. Dort wird der
‚böse’ Protagonist dadurch ‚gebessert’, dass man ihn zwingt, Filme und Bilder
exzessiver Gewalt anzusehen, wobei ihm gleichzeitig eine Substanz injiziert wird,
die Übelkeit verursacht. Danach bekommt er nicht nur bei jeder Begegnung mit
Gewaltszenen (Reiz) entsprechende Anfälle von Erbrechen u.a. (Reaktion). Son-
dern diese treffen ihn nunmehr auch bei seiner früheren Lieblingsmusik, den
Symphonien Ludwig van Beethovens – ein kleiner, nicht beabsichtigter Nebenef-
fekt der Behandlung, in der die Gewaltszenen mit Musik unterlegt waren.

Pragmatismus = Philosophie des Handelns, die davon ausgeht, dass Handeln


sich an Problemlösungen orientiert und Denken aus Irritationen des Handelns
entspringt

Utilitarismus = philosophische Position, die von der Nutzenorientierung und


-maximierung als Grundlage des menschlichen Handelns ausgeht

Behaviorismus = philosophische und verhaltenswissenschaftliche Position,


die menschliches und tierisches Verhalten als Reiz-Reaktions-Mechanismus
unter Absehung von Denkprozessen analysiert

Der Pragmatismus Während aus der Sicht des Pragmatismus der Utilitarismus dem Handeln gewis-
geht von der
sermaßen ein ‚Zuviel an Denken’ als Voraussetzung zuspricht, ist es beim Beha-
Verwicklung des
Denkens und viorismus gerade ein ‚Zuwenig an Denken’ bzw. ein völliger Verzicht auf An-
Handelns in konkre- nahmen über menschliche Denkprozesse, der von den pragmatistischen Philoso-
ten Situationen des phen kritisiert wird:
Problemlösens aus
„Dewey bestreitet, daß wir uns Handlungen summativ zusammengesetzt aus den
Phasen äußerer Reizung, innerer Reizverarbeitung und äußerer Reaktion vorstellen
dürfen; er setzt diesem ‚Reflexbogenmodell’ die Ganzheitlichkeit der Handlung ent-
gegen: die Handlung konstituiert erst, welche Reize in ihrem Zusammenhang rele-
vant sind.“ (Joas 1992b: 31)

Genau zwischen den beiden Positionen des Utilitarismus und des Behaviorismus
situieren die Pragmatisten also ihr eigenes Handlungskonzept, das von den Ver-
wicklungen des Denkens und Handelns in den konkreten Situationen des Hand-
lungsvollzuges und Problemlösens ausgeht. James und Dewey betonen die per-
manenten, gleichsam interaktiven Abstimmungsprozesse zwischen den Bewusst-
seinsleistungen und dem Handeln der Menschen. Äußere Reize erzeugen dem-
nach nicht das Handeln, sondern wirken als Impulse zur permanenten Neujustie-
rung ablaufender Handlungsprozesse. So schreibt John Dewey in einer Zusam-
menfassung seiner Theorie des Denkens:

„Das Denken nimmt seinen Ausgang von einer Stelle, die man ganz gut eine Stra-
ßenkreuzung nennen kann, von einer Situation, die mehrdeutig ist, die Alternativen
Das interpretative Paradigma 29

enthält, ein Dilemma darstellt. (…) Der Wunsch, dem Zustand der Beunruhigung ein
Ende zu bereiten, leitet den gesamten Reflexionsprozess. (…) Dieses Verlangen, ei-
ne Beunruhigung zu beseitigen, beeinflusst auch die Art der Fragestellung. Ein
Wanderer, der nach einem schönen Pfad Ausschau hält, wird andere Betrachtungen
anstellen und seine Gedanken nach anderen Gesichtspunkten prüfen als der Mann,
der nach einer bestimmten Stadt gelangen will. Das Problem setzt den Gedanken ein
Ziel, und das Ziel regelt den Denkprozess.“ (Dewey 2002: 14f [1910])

Dies gilt ganz analog auch für das Handeln der Wissenschaftler. Hier formulierte Die Annahmen des
pragmatistischen
vor allem Charles S. Peirce mit seinem Konzept der „Abduktion“, der geistes-
Handlungsmodells
blitzartigen Erschließung des Neuen, eine Theorie der Kreativität wissenschaftli- gelten auch für
cher Erkenntnisprozesse (vgl. Reichertz 2002). Die Pragmatisten argumentierten wissenschaftliches
gleichzeitig gegen einen objektiven Wahrheitsbegriff und damit gegen die Mög- und kollektives
Handeln
lichkeit des Erkennens von absoluten Wahrheiten über weltliche Phänomene.
‚Wahrheit’ muss sich vielmehr im Handeln bewähren, wahr ist das, was funktio-
niert, und zwar sowohl auf der Ebene des individuellen Handelns wie auch beim
kollektiven Handeln. Es ist deswegen kein Zufall, dass sie – insbesondere Dewey
– die Bedeutung der gesellschaftlichen Öffentlichkeit, der Debatten und kollekti-
ven Kommunikationsprozesse betonten, die kollektive Erfahrungen, deren Irrita-
tion und anschließende gemeinsame Suchprozesse nach Problemlösungen beglei-
ten: Gesellschaft existiert durch und in Kommunikation. Das Selbstbewusstsein
und die Verschiedenheit der Gesellschaftsmitglieder ist eine Bedingung gelin- Abduktion
gender Kommunikation, denn sonst wäre sie nicht notwendig. Soziale Gruppen
bilden ein gemeinsames, keineswegs widerspruchsfreies Kommunikations- und
Bedeutungsgebilde aus, ein „universe of discourse“, das sich in ständigem Fließ-
gleichgewicht befindet. Dieses „Diskursuniversum“ ist die Grundlage dafür, dass
die Handlungs- und Erfahrungsprozesse verschiedener Individuen innerhalb
einer sozialen Gruppe überhaupt aufeinander bezogen, gegeneinander abgewo-
gen, miteinander abgestimmt werden können. Was für das individuelle Handeln
gilt, lässt sich auch für das kollektive Handeln festhalten:
Menschliches „Handeln stößt auf Probleme und führt zu unintendierten oder unanti-
zipierten Konsequenzen, welche von dem handelnden Kollektiv reflexiv verarbeitet
werden müssen. Im Rahmen gemeinschaftlicher Standards werden Handlungsfolgen
von spezifisch vorgesehenen Institutionen, aber auch von allen betroffenen Indivi-
duen und Kollektiven wahrgenommen, interpretiert, bewertet und in der Vorberei-
tung künftiger Handlungen berücksichtigt. In diesem Prozeß der Folgeninterpretati-
on und -bewertung spielt die Kommunikation zwischen allen Betroffenen eine we-
sentliche Rolle.“ (Joas 1992b: 35)

Lektürevorschlag:

Einen konzentrierten Überblick über die Zusammenhänge von Pragmatismus, Chicago


School und Symbolischem Interaktionismus gibt Joas (1992b).
Zum Verhältnis von Denken und Handeln im Pragmatismus: Dewey, John (2002): Wie
wir denken. Zürich, S. 8-16.
Vertiefung:
Ein guter Einblick in die Chicagoer Philosophie und Soziologie ist zu finden unter:
www.pragmatism.org/genealogy/chicago.htm. [Stand v. 12.05.08]
30 Reiner Keller

2.2.2 Die „Definition der Situation“

Das pragmatistische Welche Entsprechung hatte das pragmatistische Handlungsmodell in den sozio-
Handlungsmodell
findet seine Entspre-
logischen Positionen der Chicago School gefunden? Einen Schlüssel zur Beant-
chung im Konzept wortung dieser Frage bildet das Konzept der „Definition der Situation“. Damit
der subjektiven prägte der US-amerikanische Soziologe William I. Thomas eine Annahme, die
„Definition der bis heute eine zentrale Rolle im Interpretativen Paradigma der Soziologie und
Situation“ darüber hinaus spielt. Thomas geht nun davon aus, dass Menschen immer in
„Situationen“ handeln und dass dieses Handeln ganz im Sinne des Pragmatismus
als eine situationsbezogene ‚Problemlösung’ verstanden werden kann. Solche
Situationen können in dreierlei Hinsicht soziologisch beschrieben werden:

ƒ einmal in Bezug auf die „Werte“, d.h. die objektiven Faktoren und Bedin-
gungen der Situation wie beispielsweise der räumliche Kontext oder die
Zahl der Anwesenden;
ƒ dann im Hinblick auf die Motive oder „Einstellungen“ der Beteiligten, die
das Geschehen vorantreiben. Doch beide Momente wirken nicht als gleich-
sam unabhängige Größen in der Situation í das Handeln der sozialen Ak-
teure kann vielmehr nur dann verstanden werden, wenn
ƒ drittens ihrer ‚subjektiven’ Wahrnehmung dieser Faktoren, d.h. ihrer Defini-
tion der Situation Rechnung getragen wird.

Die Soziologie muss sich also darum bemühen zu verstehen, wie sich die Wirk-
lichkeit einer Situation aus der Sicht des oder der Handelnden darstellt. Nur
dann kann sie erklären, was vor sich geht. Thomas formuliert diese Forderung
erstmals in seiner berühmten, gemeinsam mit Florian Znaniecki verfassten Stu-
die über die ‚polnischen Bauern in Europa und Amerika’ (s.u.). Für individuelles
und kollektives Handeln gilt:

„Jede konkrete Handlung ist die Lösung einer Situation. Die Situation beinhaltet drei
Arten von Daten: 1. Die objektiven Bedingungen, unter denen ein einzelner oder ei-
ne Gesellschaft zu handeln hat, d.h. die Gesamtheit der Werte (…). 2. Die bereits
bestehenden Einstellungen des einzelnen oder der Gruppe, die im gegebenen Au-
genblick sein Verhalten tatsächlich beeinflussen. 3. Die ‚Definition der Situation’,
d.h. die mehr oder weniger klare Vorstellung von den Bedingungen und das Be-
wußtsein der Einstellungen. Die Situationsdefinition ist eine notwendige Vorausset-
zung für jeden Willensakt, denn unter gegebenen Bedingungen und mit einer gege-
benen Kombination von Einstellungen wird eine unbegrenzte Vielzahl von Hand-
lungen möglich und eine bestimmte Handlung kann nur dann auftreten, wenn diese
Bedingungen in einer bestimmten Weise ausgewählt, interpretiert und kombiniert
werden und wenn eine gewisse Systematisierung dieser Einstellungen erreicht wird
und die andere überragt.“ (Thomas 1965: 84f)

Situationsdefinitionen Auch wenn pragmatistisch Handeln als Problemlösen begriffen wird, bedarf die
orientieren die gese-
Auswahl von Handlungen einer begleitenden Interpretation, die die Komplexität
henen Handlungs-
optionen des Geschehens auf eine handhabbare Größe reduziert. Im vorher erwähnten
Beispiel des Spaziergängers, der auf das Problem ‚breiter Wildbach’ trifft, muss
ja nicht die ‚ganze Welt’ neu gedeutet werden. Die Suche nach geeigneten Mit-
Das interpretative Paradigma 31

teln zur Bachüberquerung hat nur dann Chancen auf Erfolg, wenn bestimmte
Vorstellungen, Suchkriterien und Deutungen bereits vorliegen und zum Einsatz
kommen – nicht zuletzt die Vorstellung, dass man durch einen Bach nicht ein-
fach hindurchgeht. In diesem Sinne verfügt auch der Spaziergänger über eine
‚Definition der Situation’. Thomas hat die Idee der Situationsdefinition an meh-
reren Stellen formuliert. In einem der berühmtesten Zitate der Soziologiege-
schichte í dem sogenannten „Thomas-Theorem“ í kommt sie besonders präg-
nant zum Ausdruck. So schreiben Dorothy und William Thomas in ihrer gemein-
sam 1928 veröffentlichten Studie über „The Child in America“:

„So weigerte sich z.B. ein Gefängnisaufseher, die Anordnung eines Gerichts zu be-
folgen, nach welcher ein Gefängnisinsasse zu einem bestimmten Zweck nach außer-
halb der Gefängnismauern zu schicken war. Er entschuldigte sich damit, daß der
Mann zu gefährlich sei. Er hatte mehrere Menschen getötet, welche die unglückliche
Angewohnheit hatten, auf der Straße mit sich selbst zu reden. Aus ihrer Lippenbe-
wegung schloß der Mörder, daß sie ihn beschimpften und er benahm sich so, als ob
dies wahr wäre. Wenn die Menschen Situationen als real definieren, so sind auch ih-
re Folgen real.“ (Thomas/Thomas, The Child in America, 1928, zit. nach Thomas
1965: 113f; Hervorh. des Thomas-Theorems durch R.K.)

Man darf das von Thomas/Thomas hier vorgestellte Beispiel nicht dahingehend
missverstehen, dass es sich nur um Ausnahmen oder psychische Störungen han-
dele, bei denen die „Definition der Situation“ Probleme schaffe und wichtig
werde. Vielmehr gilt der beschriebene Zusammenhang von Situationsdefinition
und den anschließenden Handlungen bzw. Folgen für alle menschlichen Hand-
lungssituationen: Die Definition einer Situation, wie falsch oder irreführend sie
in den Augen anderer auch scheinen mag, liegt den Aktionsweisen der darin
Handelnden und damit auch den beobachtbaren „realen Folgen“ dieser Situation
zugrunde. Erinnern wir uns an die im vorangehenden Kapitel beschriebene ‚Feu-
er-Situation’: Wenn sie von der um Feuer gebetenen Person als Flirtsituation
definiert wird, so wird diese Person in der einen oder anderen Weise vielleicht
versuchen, den Flirt aufzugreifen und weiterzuführen, oder aber ihn brüsk zu-
rückweisen. In beiden Fällen hat also die Situationsdefinition reale Folgen, selbst
dann, wenn es ‚ursprünglich’ tatsächlich nur um die einfache Frage eben nach
‚Feuer für eine Zigarette’ ging.

Menschen handeln immer in „Situationen“; Handeln ist eine situationsbezo-


gene ‚Problemlösung’. Situationen werden gebildet aus objektiven Faktoren
und Bedingungen („sozialen Werten“), Handlungsmotiven oder „Einstellun-
gen“ der Beteiligten und ihrer Wahrnehmung all dieser Faktoren, d.h. ihrer
Definition der Situation. Das Thomas-Theorem lautet: „Wenn die Menschen
Situationen als real definieren, so sind auch ihre Folgen real.“ Die Soziologie
muss untersuchen, wie sich die Wirklichkeit einer Situation aus der Sicht des
oder der Handelnden darstellt.
32 Reiner Keller

Situationsdefinitionen Situationsdefinitionen sind keineswegs Ausdruck einer im strengen Sinne sub-


sind soziale
jektiven Vorstellung oder Bedeutungszuweisung. Thomas nimmt vielmehr an,
Konstrukte
dass jede Kultur den handelnden Individuen sozial verfestigte und damit mehr
oder weniger stark vorgegebene Situationsdefinitionen zur Verfügung stellt, etwa
in Gestalt von Verhaltensrichtlinien, Vorschriften, Traditionen oder „standardi-
sierten Sozialbeziehungen“ (Volkart 1965: 21). Situationsdefinitionen haben
also, ganz ähnlich wie die Kollektivvorstellungen im soziologischen Denken von
Emile Durkheim, eine Existenz sui generis, d.h. aus eigenem Recht: Sie entste-
hen aus sozialen Prozessen der Institutionalisierung und treten dem Einzelnen in
seinem Handeln als äußerliche, soziale Muster mit Ansprüchen an angemessenes
Verhalten gegenüber.4 Gleichzeitig gesteht Thomas den Handelnden durchaus
Möglichkeiten der Beeinflussung oder Modifikation von Situationsdefinitionen
zu. In besonderen sozialen Positionen í beispielsweise bei Richtern, die prüfen,
ob ein Verdächtiger eine Tat begangen hat, bei Wissenschaftlern, die nach den
gesellschaftlichen Ursachen von schlechten Schulnoten fragen, oder bei Prophe-
ten, die bestimmte religiöse Erfahrungen deuten í können solche Möglichkeiten
Einzelner weitaus stärker zum Tragen kommen als im gewöhnlichen Fluss des
Alltagslebens. Die maßgeblichen Akteure in der Genese von Situationsdefinitio-
nen sind hier soziale Gruppen mit unterschiedlichster Ausdehnung und Einbin-
dung in umfassendere soziale Prozesse. Eine besondere Bedeutung für die Ver-
mittlung von Situationsdefinitionen kommt gleichwohl spezifischen „Agenten
der Gesellschaft“ im Alltagsleben zu. Thomas schreibt:

„Dieses Definieren der Situation wird von den Eltern begonnen, indem sie befehlen,
verbieten und lehren, es wird von der Gemeinschaft mit Lob und Tadel fortgeführt
und wird formal repräsentiert durch die Schule, das Gesetz, die Kirche.“ (Thomas
1965: 298 [1917])

Gesellschaftliche Thomas’ soziologisches Forschungsinteresse richtete sich auf den Zusammen-


Lagen, in denen
hang von sozialen Verhaltensregeln, den Institutionen bzw. der sozialen Organi-
unterschiedliche
Situationsdefinitionen sation einer Gruppe und dem tatsächlichen Handeln sowie den ‚Situationsdefini-
aufeinander treffen, tionen’ der Gruppenmitglieder. Spezifischer analysierte er í und das kommt in
sind soziologisch seinen Studien deutlich zum Ausdruck í Konstellationen, in denen die individu-
besonders interessant
ell vorgenommenen Situationsdefinitionen von den kollektiven und ‚öffentli-
chen’ Gruppenvorgaben oder -erwartungen abweichen, etwa die Frage, warum
aus gesetzestreuen und anpassungswilligen jungen polnischen Männern Krimi-
nelle wurden. Die Ursachen solcher Abweichungen sind vielfältig. Sie können
beispielsweise, wie bei den polnischen Bauern, in sozialen Transformationser-
fahrungen, in der Empfindung von sozialer Desorganisation, im Aufeinandertref-
fen unterschiedlichster sozialer Gruppen oder allgemeiner in sozialen Krisenla-
gen begründet liegen, die die gesamte Gruppe zu Modifikationen oder Anpas-
sungen ihrer Situationsdefinitionen an veränderte Umstände zwingt. Eine weitere
Möglichkeit, die Thomas am Beispiel des „schlecht angepassten Mädchens“,

4
Hier lässt sich erkennen, wie Thomas einige Überlegungen der späteren Theorie der Wissenssoziolo-
gie von Peter L. Berger und Thomas Luckmann (s.u. Kapitel 4.2; S. 100ff.) vorwegnimmt (vgl. Hitzler
1999).
Das interpretative Paradigma 33

einer 1923 erschienenen Untersuchung über ‚unkonventionelles weibliches Se-


xualverhalten’ und Prostitution erläutert, ist das Aufeinandertreffen unterschied-
licher Moralvorstellungen und damit verbundener Handlungsorientierungen.
Chicago bot dafür einen paradigmatischen Nährboden:

„Die Situationsdefinition gleicht einer Bestimmung des Unbestimmten. (…) Ob die


Ehe unauflöslich ist, ob ein außereheliches Geschlechtsleben gestattet ist, ob bereits
Kinder über Geschlechtsdinge aufgeklärt werden sollten, ob die Kinderzahl begrenzt
werden darf í alle diese Fragen sind unbestimmt geworden. Es gibt konkurrierende
Situationsdefinitionen, von denen keine bindend ist.“ (Thomas 1965: 324f [1923])

Kulturen sind im Verständnis von Thomas keineswegs vollständig reglementier-


te, konfliktfreie und starre Vorräte an solchen Schemata. Sie zeichnen sich viel-
mehr durch eine hohe interne Heterogenität, Konflikthaftigkeit und auch Flexibi-
lität der Situationsauslegungen aus. Eine wichtige Aufgabe der Soziologie be-
steht dann im Herausarbeiten der unterschiedlichen Standpunkte oder Situations-
definitionen, die in konkreten sozialen Situationen aufeinandertreffen. Solche
Definitionen können aus der Situation bzw. aus Aufzeichnungen und Materialien
herausgearbeitet werden, welche von den Handelnden selbst erzeugt wurden. Sie
können auch durch Gespräche von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern
mit den Beteiligten einer Situation ermittelt werden. Die Ergebnisse solcher
„Ermittlungen“ sind ihrerseits wieder Bestandteile der wissenschaftlichen Situa-
tionsdefinition í auch die Forscherinnen und Forscher sind ja von Definitions-
prozessen nicht ausgenommen. Wenn schon für den Normalfall komplexer Ge-
sellschaften von einer großen Heterogenität und ‚Unübersichtlichkeit’ der Situa- Migration
tionsdefinitionen auszugehen ist, so gilt dies umso mehr für Gesellschaften, die Individualismus/
sich beispielsweise durch Migrationsprozesse in schnellen Phasen des Wandels Individualisierung
befinden. So beschreibt Thomas bereits in der damaligen Situation eine Dynamik
der Individualisierung, die zu zahlreichen moralischen Verurteilungen – bei-
spielsweise der gelebten Sexualität der ‚nichtangepassten jungen Mädchen’ im
damaligen Chicago – und gesellschaftlichen Konflikten führte, letztlich ihren Ort
aber in der Vervielfältigung und zunehmenden ‚Unverbindlichkeit’ der verfügba-
ren Situationsdefinitionen hatte.
Vor dem Hintergrund der enormen Wandlungsdynamik, wie sie exempla- Aufgabe der Soziolo-
gie ist die Untersu-
risch in Chicago zum Ausdruck kam, benennt Thomas schließlich als For-
chung von Irritatio-
schungsprogramm der Soziologie das Studium von ‚Anpassungsprozessen’, also nen und Neuausrich-
von Neuausrichtungen des individuellen und/oder kollektiven Handelns ange- tungen des Handelns
sichts neuartiger Handlungsprobleme (Thomas 1965: 137f [1937]). Dieses Pro- auf individueller und
kollektiver Ebene
gramm richtet sich zum damaligen Zeitpunkt sehr deutlich gegen die Vertreter
des erwähnten Behaviorismus, die menschliches Verhalten als Reiz-Reaktions-
Prozess analysierten. Zwar bestreitet Thomas keineswegs die Existenz und Not-
wendigkeit biochemischer Prozesse in Gestalt von Wahrnehmungsabläufen,
Muskelstimuli usw. Sie besitzen jedoch keine kausale Erklärungskraft für die
Sozialbehaviorismus
Analyse des menschlichen Verhaltens und Handelns. Wichtig ist vielmehr í und
hier trifft sich die Position von Thomas direkt mit dem weiter unten vorgestellten
„Sozialbehavioristen“ George Herbert Mead í die gerade erläuterte ‚Zwischen-
ebene’ der Interpretation bzw. Situationsdefinition, die zwischen dem Reiz und
der Reaktion steht. Es gibt also weder für die SoziologInnen noch für die sozia-
34 Reiner Keller

len Akteure selbst eine unmittelbare soziale Wirklichkeit, die als Reiz auf ihr
Handeln wirkt und bei ihnen spezifische Reaktionen hervorruft. Dazwischen
geschaltet sind vielmehr immer die Interpretationsprozesse, mit denen die Han-
delnden das deutend wahrnehmen, ‚was vor sich geht’. Dies gilt nicht nur für
objektiv-materielle Bestandteile von Handlungssituationen, sondern gerade auch
für die Wahrnehmung dessen, was die jeweils anderen (scheinbar) tun. Deswe-
gen sind für die soziologische Analyse die erwähnten zwei Aspekte notwendig:
die Analyse äußerer Bedingungen oder Faktoren der Situation í das kann auch in
Gestalt von Statistiken erfolgen (Volkart 1965: 42f) í ebenso wie die Erfassung
der individuell und/oder gemeinsam durch die involvierten Akteure gehandhab-
ten Situationsdefinitionen. Und eine wichtige Möglichkeit des Zugangs zu sol-
chen Situationsdefinitionen bieten beispielsweise qualitative Analysen persön-
lich-biographischer Dokumente, wie sie William I. Thomas und Florian Znanie-
cki in ihrer klassischen Studie der qualitativen Sozialforschung über die polni-
schen Bauern einsetzten. Diese Studie wird deswegen im anschließenden Ab-
schnitt vorgestellt.

William Isaac Thomas (1863-1947)

William I. Thomas wurde 1863 in einer abgelegenen


ländlichen Gegend als Sohn eines Methodistenpredigers
und Farmers geboren. 1880 begann er sein Studium der
zeitgenössischen und klassischen Literatur an der Uni-
versity of Tennessee. 1888-1889 hielt er sich in Berlin
und Göttingen auf, wo sein Interesse für Ethnographie
geweckt wurde, beispielsweise anhand von Wilhelm
Wundts Buch „Völkerpsychologie“. Nach einem kurzen
Zwischenstopp am Oberlin College als Professor für
Englische Sprache entschloss er sich zum Graduierten-
studium am Soziologiedepartment der University of Chi-
cago. 1895 erhielt er dort eine Stelle als Assistant Professor; 1910 wurde er
„full professor“. In diesen Jahren reiste er erneut mehrmals nach Europa, ins-
besondere auch nach Polen. Methodisch an ethnologischen und vergleichen-
den Studien interessiert, lernte er Polnisch und entschloss sich, die polnische
Community in Chicago zu erforschen. Thomas unterhielt Kontakte zu den
verschiedenen städtischen Reformprojekten der damaligen Zeit, wenn auch
seine Ansichten í beispielsweise über die Unvermeidlichkeit der Prostitution
í nicht im Einklang mit den Ansichten der Reformpolitiker standen. 1918
wurde er in Chicago wegen „unmoralischen Verhaltens“ entlassen; später
lehrte er an der New School for Social Research in New York. 1926 wurde
Thomas mit großer Mehrheit zum Präsidenten der American Sociological
Society (später: American Sociological Association) gewählt.
Das interpretative Paradigma 35

Lektürevorschlag:

Thomas, William I. (1965a): Der polnische Bauer in Europa und Amerika. In: Ders.,
Person und Sozialverhalten. Neuwied am Rhein/Berlin: Luchterhand, S. 63-85 [ge-
kürzte dt. Übersetzung der ‚Methodological Note’, mit der Thomas/Znaniecki ihre
Studie über „The Polish Peasant“ einleiten].
Vertiefung:
Thomas, W. I. (1965): Person und Sozialverhalten. Neuwied am Rhein: Luchterhand
[enthält Aufsätze und Auszüge aus verschiedenen Arbeiten].
Volkart, E. H. (1965): Einführung: Soziales Verhalten und Definition der Situation. In:
Thomas, William I., Person und Sozialverhalten, S. 9-52 [Erläuterungen zu Leben
und Werk].

2.2.3 Die polnischen Bauern in der Neuen Welt

Die allgegenwärtige Bedeutung der Migrationsprozesse in Chicago, die Bemü- Die Migrationspro-
zesse aus Europa in
hungen der Stadtpolitiker um die Aufrechterhaltung sozialer Ordnung und die
die USA werden zum
Durchführung verschiedenster Sozialreformen beeinflussten die Forschungsinte- Forschungsthema;
ressen der Chicagoer Soziologen, die zugleich selbst vielfach sozialreformerisch Thomas und Znanie-
engagiert waren. Deswegen ist es wenig verwunderlich, dass sich eine der ersten cki erfinden die
‚biographische Me-
großen und klassischen soziologischen Studien des 20. Jahrhunderts in der Tradi- thode’
tion der Chicago School mit Migrationserfahrungen befasste. Es handelt sich
dabei um die in den Jahren 1918-1920 publizierte, mehrbändige und berühmte
Untersuchung über „The Polish Peasant in Europe and America“, die William I.
Thomas zusammen mit Florian Znaniecki (1858-1958) durchführte. Thomas
hatte den Philosophen Znaniecki während einer Reise nach Polen kennengelernt.
Letzterer war damals Direktor der ‚Polish Emigrants Protective Association’ und
kannte sich gut mit dem Leben der polnischen Bauern aus. Nach dem Ausbruch
des ersten Weltkrieges verließ er Polen und arbeitete in Chicago mit Thomas
zusammen. Beide interessierten sich für die Erfahrungen der polnischen Immig-
ranten, die sich aus dem ländlichen und bäuerlichen Umfeld in Polen, aus der
Sicherheit und Verwurzelung in ihren Heimatdörfern, nun in die sich rapide
wandelnde, chaotische und expandierende nordamerikanische Großstadt versetzt
sahen. Die damit verknüpften Fragen sind auch heute, in einer globalisierenden
Welt, von enormer Bedeutung: Wie verlaufen Eingliederungsprozesse im Ein-
wanderungsland? Welche Beziehungen zum Herkunftsland entstehen bzw. wer-
den aufrechterhalten? Welche Rolle spielten ethnische Identitäten und die Her-
ausbildung ethnischer Subkulturen? Als Datenquellen dienten Thomas und Zna-
niecki insbesondere Briefe, die polnische Migranten in ihre Heimat schrieben
bzw. von dort erhielten. Nach einer Suchanzeige in einer in Chicago erscheinen-
den Zeitschrift polnischer Immigranten erhielten sie über 700 solcher Schriftstü-
cke. Thomas und Znaniecki führten damit die „biografische Methode“, d.h. die
Nutzung von Lebensgeschichten und -erfahrungen als soziologisches Datenmate-
36 Reiner Keller

rial, nachdrücklich in die moderne Soziologie ein.5 Außerdem standen ihnen


8000 Dokumente aus den Unterlagen einer polnischen Tageszeitung zur Verfü-
gung. Zusätzlich zogen sie Daten von Immigrantenverbänden, sozialen Organi-
sationen, Autobiographien und aus Tagebüchern heran. Sammlung, Auswertung
und Interpretation der Daten nahmen etwa ein Jahrzehnt in Anspruch und wur-
den schließlich in einem ursprünglich fünf-, in späteren Auflagen dann zweibän-
digen Werk unter dem Titel The Polish Peasant in Europe and America veröf-
fentlicht (vgl. Bulmer 1984: 45ff).
Wie verarbeiten die Die Untersuchung beschäftigte sich ausgehend von den überwiegend aus
polnischen Einwan-
derer die Erfahrungen
dem bäuerlichen Milieu stammenden polnischen Migranten in den USA (insbe-
der Migration und des sondere in Chicago) in vergleichender Perspektive mit den Lebensformen im
beschleunigten Ankunftsland und im Auswanderungsland, also in Polen selber. Die ersten Bän-
sozialen Wandels? de behandeln das jeweilige Familienleben und das nähere soziale Umfeld. Der
dritte Band stellt die Autobiographie eines Immigranten vor. Im vierten Band
werden Transformationsprozesse des bäuerlichen Lebens in Polen selbst unter-
sucht. Der fünfte Band schließlich analysiert die Wandlungsprozesse der Immig-
rantengemeinschaften in den USA. Durch alle Bände hindurch zieht sich ein
Frageinteresse, das sich auf die Erfahrungen des beschleunigten Wandels be-
Anomie zieht, welche die jeweiligen Gruppen und ihre Lebenswelten im Übergang von
der bäuerlich-traditionalen zur modernen Welt erleben. Genauer geht es um
anomische Prozesse, Krisen, Destabilisierungen aller Art, die die traditionalen
Vergemeinschaftung Vergemeinschaftungsbeziehungen betreffen, und ihr í in den USA bzw. in Polen
Vergesellschaftung sich deutlich unterscheidendes í Auffangen durch neue, moderne Formen der
Vergesellschaftung. Besonders deutlich wird dies am Phänomen der Auflösung
der traditionellen Großfamilien und Dorfgemeinschaften im Übergang zu indivi-
Enttraditiona-
dualistischen Formen der Lebensführung. In diesem Zusammenhang entwickeln
lisierung
die Autoren eine idealtypische Unterscheidung von drei Persönlichkeitstypen,
die sich in ihrem Umgang mit den Erfahrungen der Transformation beträchtlich
unterscheiden: den ‚Philister’ (Spießer), der in einem engen Korsett von Einstel-
lungen und Situationsdefinitionen gefangen ist, den ‚Bohemien’, der keine mora-
lische Position bezieht, über Moralapostel spöttelt und sich unendlich und bis zur
Orientierungslosigkeit flexibel gibt, sowie schließlich den ‚Kreativen’, dessen
Lebensführung und Wertvorstellungen eine permanente Orientierung auf neue
Situationen beinhalten, d.h. immer wieder überdacht, abgewogen, entwickelt
werden.
Aufgabe der Soziolo- Die „methodologische Vorbemerkung“, die Thomas und Znaniecki ihrer
gie ist es, gegen
Studie über die polnischen Migranten voranstellten, erlaubt einen guten Zugang
‚blinden Moraleifer’
die Wirklichkeit der zur allgemeinen soziologischen Haltung von Thomas. Um kausal wirksame In-
Einwanderer bzw. terventionsmöglichkeiten auszuloten, dürfe, so die Autoren, die Soziologie selbst
allgemeiner der nicht naiv, aus dem Alltagswissen heraus betrieben werden, sondern müsse als
großstädtischen
unabhängige, sozialreformatorisch nicht voreingenommene Wissenschaft ange-
Lebensformen zu
untersuchen legt sein. Nur so könne sie ein Wissen über die tatsächlichen Lebensweisen und
-umstände liefern und der gesellschaftlichen Öffentlichkeit anbieten, das diese

5
In der europäischen Volkskulturforschung des 19. Jahrhunderts arbeiteten bereits vorher verschiedene
Autoren, etwa Wilhelm Heinrich Riehl (1823-1897), mit biographischem Material.
Das interpretative Paradigma 37

dann zur weiteren ‚Selbstgestaltung’ nutzen kann. Eine solche Position richtete
sich í wie viele Arbeiten der Chicago School í gegen naiven moralischen Re-
formeifer ‚von oben’. Für ihre Umsetzung wählten die Autoren einen deutenden
(interpretativen) Zugang. Es ging darum, zu verstehen, wie die ehemaligen Bau-
ern selbst ihre Situation wahrnahmen und wie sie – denken Sie an das pragma-
tistische Handlungsmodell! – mit den erlebten Störungen ihrer traditionellen
Handlungsroutinen praktisch-kreativ umgingen. Keinesfalls solle man sich dazu
auf eine von außen herangetragene Einschätzung verlassen, die auf eine genaue
Kenntnis der wirklichen Lebensumstände verzichte. Der spätere Begründer des
Symbolischen Interaktionismus, Herbert Blumer (1939), hat die Studie über die
polnischen Bauern kurz nach ihrem Erscheinen ausführlich gewürdigt, aber auch
schon damals einer Kritik insbesondere im Hinblick auf ihren unsystematischen
und intransparenten Umgang mit den empirischen Materialien unterzogen. Die-
ser Einschätzung kann man sich anschließen, ohne die soziologische und gesell-
schaftliche Bedeutung der Untersuchung abzuwerten.

2.2.4 Hinein in die Abenteuer der Großstadt!

In den Jahren zwischen 1920 und 1932 entwickelte sich die Chicagoer Soziolo- Die US-amerika-
nische Soziologie
gie zum führenden Soziologie-Institut der Welt. Die früheste Bezeichnung als entdeckt die Groß-
„Chicago School“ findet sich bereits 1930 (Bulmer 1984: 229). Zwar waren, wie stadt
erwähnt, im Soziologie-Department sehr unterschiedliche soziologische Positio-
nen vertreten. Doch insbesondere die an den Pragmatismus und die Positionen
von Thomas anschließenden Soziologen bildeten mit ihren überwiegend qualita-
tiven Forschungsansätzen und ihrem Interesse für Fallstudien über städtische
soziale Milieus und Orte den Kern dessen, was heute als Chicago School of So-
ciology gilt. Die Soziologie der Chicago School ist also im Wesentlichen eine
Soziologie des Großstadtlebens. Nicht zufällig hatte William I. Thomas in seiner
Präsidentschaftsansprache vor der American Sociological Association im Jahre
1926 entschieden eine umfassende und detaillierte Untersuchung des Großstadt-
lebens gefordert:

„Wir sollten ausgewählte Stadtviertel in bestimmten Städten vornehmen, darunter


z.B. die Zwischenraum-Zonen, in denen die Jugendkriminalität am höchsten ist, und
die guten Stadtviertel, wo die Jugendkriminalität am niedrigsten ist, und wir sollten
alle Faktoren, die einen sozialen Einfluß enthalten, untersuchen. Eine Studie dieser
Art würde alle Institutionen umfassen í Familie, Banden, soziale Einrichtungen, Er-
holungsstätten, Jugendgerichte, die Tagespresse, das kommerzialisierte Vergnügen
usw. í und würde sie mit allen zur Verfügung stehenden Methoden durchforschen
(...)“ (Thomas 1965: 99 [1927])

Die Chicagoer Soziologen gingen zunächst von einer allgemeinen evolutionsthe- Evolutionstheorie
oretischen Perspektive aus. Ganz so wie die damaligen europäischen Soziologen
Herbert Spencer (vgl. Bd.1, S. 88ff.), Ferdinand Tönnies, Emile Durkheim (vgl. Gemeinschaft
Bd.1, S. 127ff.) u.a. betrachteten sie die gesellschaftliche Entwicklung als – in
den Worten von Ferdinand Tönnies (1855-1936) – Übergang von der „Gemein-
Gesellschaft
schaft“ zur „Gesellschaft“, von einfachen und homogenen Einheiten zu komple-
38 Reiner Keller

xen und differenzierten Sozialbeziehungen. Chicago galt ihnen zu Recht als


Prototyp dieser Prozesse. Sie wandten sich diesem Laboratorium mit Hilfe von
Fallstudien zu, die allerdings sehr unterschiedlicher Art sein konnten und auch
verschiedenste Datenmaterialien í von teilnehmender Beobachtung über Inter-
views bis hin zu Statistiken í nutzten. Aber „to see and to know life“, d.h. in der
direkten Begegnung gewonnenes Anschauungswissen, sollte die Basis jeder
soziologischen Erkenntnis bilden (Lindner 2002). So entstanden Studien über die
„Gang“ (Frederic Trasher, 1928), das „Ghetto“ (Louis Wirth, 1928), die „Taxi
Dance Hall“ (Paul Cressey, 1932), den „Hobo“ (Landstreicher) (Nels Anderson,
Ethnologie
1923), über die Chicagoer Stadtviertel „The gold coast and the slum“ (Harvey
Kulturanthro- Zorbaugh, 1929) oder den „Jack Roller“ (Glücksspieler) (Clifford Shaw, 1930).
pologie In diesen Studien sind methodische Einflüsse der Ethnologie und Kulturanthro-
pologie spürbar. Mehr noch kommt darin jedoch eine Haltung zum Ausdruck,
die derjenigen des investigativen Journalismus entspricht und ihre Wurzeln in
Robert E. Parks journalistischen Erfahrungen zu haben scheint (Lindner 1990:
11). Immer wieder forderte Park, eine der soziologischen Leitfiguren, seine Stu-
denten zum „nosing around“ auf, zum Umherstreifen, Beobachten, Herum-
schnüffeln, die Nase direkt in die Stadtgesellschaft zu stecken – sie sollten keine
theoretischen Studien betreiben, sondern sich ‚in wirklicher Forschung die Hän-
de schmutzig, die Füße nass machen’:

„The world had been discovered. This adventure is finished. But the world is still
young, still eager for adventure; what next? There are other worlds to be discovered;
even more interesting. The world of great cities. The immigrant colonies. The Ghet-
tos and the Chinatowns.” (Robert E. Park, 1915, zit. nach Lindner 1990: 98)

Park entwickelt die Den allgemeinen Rahmen für diese Forschungen bietet das stadtsoziologische
humanökologische
Perspektive der
und auch gesellschaftstheoretische Programm, das Park (1915/1925) in seiner
Stadtforschung Antrittsvorlesung „The City: Suggestions for the Investigation of Human Beha-
vior in the Urban Environment“ entwarf (Lindner 1990: 76ff): Ausgehend von
der Annahme zweier, sich wechselweise beeinflussender Ordnungen unterschied
Park zwischen den sich räumlich ausformenden, geographisch bestimmten Ge-
meinschaften einerseits und der sich auf dieser Grundlage entwickelnden morali-
schen oder kulturellen Ordnung bewusster Sinnbezüge, Kommunikationen und
sinnbehafteter Institutionen andererseits. Letzterer gelte das Interesse der Sozio-
logie. In seiner Theorie der Person bzw. der Identitätsbildung übernahm Park
weitgehend die Überlegungen der pragmatistischen Tradition (S. 30ff. bzw. Kap.
3.1, S. 54ff.). Er verknüpfte sie mit umfassenderen kulturtheoretischen Bezügen
auf Herbert Spencer und William Graham Sumner, die beide eine evolutionsthe-
oretische Perspektive auf den Übergang von der kleinen, homogenen Gemein-
schaft zur komplexen, heterogenen Gesellschaft verfolgt hatten (vgl. zu Spencer
Bd.1, S. 91). Auch betonte Park, dass Individuen immer Eigenwilligkeiten und
Eigenanteile haben, d.h. sie bilden sich nicht vollständig in der Interaktion und
sozialen Beziehungen, sondern setzen solchen Bezügen auch Eigenes, Wider-
ständigkeiten usw. entgegen. Jedes Individuum verfüge über eine Art Restge-
heimnis, darin bestehe seine Freiheit und Tragödie zugleich í eine Position, die
Das interpretative Paradigma 39

über die Vermittlung des Park-Schülers Everett C. Hughes einen starken Nach-
hall im Werk von Erving Goffman finden wird (vgl. Kap. 6).

Robert Ezra Park (1864-1944)

Robert E. Park wurde 1864 in Harveyville, Pennsyl-


vania geboren. Er studierte Philosophie u.a. bei Wil-
liam James in Harvard und John Dewey in Michigan.
Zwischen 1890 und 1899 arbeitete Park bei verschie-
denen Zeitungen und Zeitschriften (Gerichts-, Polizei-
und Lokalreportagen). Ab 1899 hielt Park sich mit
seiner Frau und seinen Kindern vier Jahre lang in
Deutschland auf, wo er u.a. Soziologie bei Georg
Simmel in Berlin studierte. Im Herbst 1903 gingen sie
zurück in die USA. Park arbeitete als Assistent für
Philosophie in Harvard und promovierte von dort aus bei Windelband in Hei-
delberg mit einer Arbeit über „Masse und Publikum“. Ende 1904 übernahm er
die Stelle des Sekretärs und Öffentlichkeitsreferenten bei der Congo Reform
Association, einem Verband, der sich für eine Verbesserung der Situation im
damaligen Belgisch-Kongo einsetzte. 1905 lernte er den schwarzen Bürger-
rechtler Booker T. Washington kennen. Über lange Jahre war er dann dessen
Pressereferent, Assistent und Ghostwriter. 1913 trat er seine erste Stelle als
Soziologe in Chicago an und hielt Vorlesungen über „The Negro in America“;
1923 erhielt er eine Professur für Soziologie. 1925 wurde Park zum Präsiden-
ten der American Sociological Association gewählt. Er verfolgte eine reform-
orientierte Soziologie und war praktisch engagiert in der Frage der Rassenbe-
ziehungen oder lokal-städtischen Demokratiebewegungen.

Lektürevorschlag:

Park, Robert E. (1928): Human Migration and the Marginal Man. S. 881-893 in: Ameri-
can Journal of Sociology Vol. 33, 1928 (Wiederabdruck in Park 1950).
Vertiefung:
Christmann, Gabriele (2007): Robert E. Park. Konstanz: UVK (eine informative Darstel-
lung von Leben und Werk).
Lindner, Rolf (1990): Die Entdeckung der Stadtkultur. Soziologie aus der Erfahrung der
Reportage. Frankfurt/Main: Suhrkamp (eine gut lesbare, ausführliche Erläuterung
der Bedeutung von Park für die Chicago School of Sociology).

Das soziologische Interesse Parks und der von ihm beeinflussten Chicagoer So- Soziale Prozesse
entstehen aus dem
ziologen gilt eher dem Prozesshaften, dem Wandel auf der Ebene des Handelns,
Zusammenspiel von
der Gruppen und Institutionen, weniger den festen Strukturgebilden. Die kultu- Konflikt und Konkur-
relle Ordnung, von der schon die Rede war, wird, so nahm Park an, über zwei renz
Basisprozesse erzeugt: die Kommunikation, die integrierend und vergesellschaf-
tend wirke, und die Konkurrenz, die individualisierend und arbeitsteilend wirke.
Zusammengenommen ergibt dies vier Basistypen der Interaktion oder Formen
der Vergesellschaftung, die in der Art eines „Interaktionszirkels“ miteinander
40 Reiner Keller

verbunden sind: den Wettbewerb, den Konflikt (als bewusst gewordener Wett-
bewerb), die Akkomodation (d.h. die Entstehung von Einigungen) und die Assi-
milation (also das Verschwinden der Unterschiede). Dieser Ansatz wird wegen
seiner begrifflichen und ideengeschichtlichen Anschlüsse an die Pflanzen- und
Tierökologie allgemein als humanökologische Perspektive in der Stadtforschung
bezeichnet (vgl. Lindner 1990: 75ff; Christmann 2007: 69ff). Park betont vor
allem die Rolle der Kommunikation. Gesellschaft besteht für ihn ganz im Sinne
des Pragmatisten John Dewey durch Kommunikationsprozesse und in Kommu-
nikationsprozessen. Kommunikation ist die Brücke zwischen den Individuen, der
Vorgang, in dem ein „öffentliches Diskursuniversum“ entsteht, wo die verschie-
Symbole denen Perspektiven aufeinander treffen und gemeinsame Symbole und Situati-
onsdeutungen entwickeln können (Matthews 1977: 146).
Die Soziologie Städte erscheinen in dieser sozialökologischen Perspektive als große Men-
interessiert sich für
schenzusammenballungen in einem labilen Gleichgewicht, in ständiger Bewe-
die Prozesse des
städtischen Lebens gung und chronischer Krise. Ähnlich wie bei Georg Simmel (vgl. Bd.1; S. 136f.)
gilt Park die Ebene des Sozialen als permanenter Prozess, auf den die Gesell-
schaft Stabilisierungsversuche sozialer Kontrolle richtet í soziale Kontrolle nicht
Soziale Kontrolle
verstanden als Überwachung des Verhaltens, sondern als gelingende gesell-
schaftliche Selbstgestaltung. Bezogen auf die Stadtentwicklung bedeutet dies,
Segregation, dass sich städtische Milieus durch Prozesse räumlicher Segregation stabilisieren
räumliche und dadurch zu einem Puzzle kleiner Welten werden, das einerseits Distanzen
zwischen kulturellen Mustern etabliert, andererseits aber auch gerade die Freiset-
zung und Entfaltung von Individualität für diejenigen ermöglicht, die der spezifi-
schen Zugehörigkeit entgehen. Die soziologische Analyse kann diese Prozesse
sowohl im Hinblick auf sozialstrukturelle Merkmale í z.B. Bevölkerungsvertei-
lungen, Berufsstrukturen í wie auch im Hinblick auf die sich entwickelnden,
beispielsweise stadtteilspezifischen und migrationsbedingten kulturellen Muster
beschreiben. Im städtischen Labor entstehen nicht nur neue Berufe und Persön-
lichkeitstypen, Mentalitäten und Verhaltensweisen. Es wandeln sich auch die
institutionellen Formen und die Probleme sowie Möglichkeiten der sozialen
Kontrolle.
Der ‚marginal man’ Dabei war Park insbesondere an den Migrationsphänomenen und an der
ist der Prototyp des
damit zusammenhängenden sozialen und räumlichen Mobilität interessiert. Unter
modernen Menschen
dem Eindruck von Georg Simmels Essay über den „Fremden“ faszinierte ihn die
Idee, aus den Mobilitätsprozessen könne eine neue soziale Figur entstehen, die-
jenige des kosmopolitischen Intellektuellen, des „marginal man“, Grenzgängers
oder „Randseiters“ (Merz-Benz/Wagner 2002), der sich seiner Situation „zwi-
schen den Welten“ bewusst ist und von da aus neue Kreativität entwickelt. „The
Marginal Man“ ist Parks Beitrag zur Erforschung des Migrationsgetümmels in
Chicago, zugleich Ausdruck seiner eigenen Lebensgeschichte und einer utopi-
schen Hoffnung, die auch und gerade heute von ungebrochener Aktualität ist.
Der „marginal man“ ist weniger der randständige, nicht richtig zugehörige
Mensch, sondern derjenige, der seine Möglichkeiten daraus zieht, im Schnitt-
punkt, im Mischungsbereich oder auf der Konfrontationslinie zwischen ver-
schiedenen Kulturen zu leben:
Das interpretative Paradigma 41

„Die marginale Persönlichkeit wird zur Schlüsselfigur des Kulturkontakts, weil die-
ser in sie hineinverlagert ist, ja sie verkörpert ihn, bildet sie doch den Schmelztiegel,
in dem die kulturellen Prozesse stattfinden. Das Leben in der Schwebe führt zu-
nächst zu einer psychischen Krise, in der das Gefühl der Entwurzelung und Desori-
entierung dominiert. Aber die Verarbeitung dieser Krise eröffnet dem Randseiter ei-
ne Chance, die dem Verwurzelten nicht so leicht zufällt. ‚Unausweichlich’, schreibt
Park apodiktisch, wird der Randseiter ‚das Individuum mit dem weiteren Horizont,
dem schärferen Intellekt, dem unvoreingenommenen und rationalen Standpunkt’.
(...) Aufgrund seiner dualen Kultursituation verliert der Randseiter jene naive
Selbstgewißheit, die den in seiner Kultur festverwurzelten, bodenständigen Typus
auszeichnet; mangels entsprechender Kulturtechniken ist er zugleich nicht in der
Lage, einfach in das neue kulturelle Milieu einzutauchen. (...) In seiner Person ver-
einigt der Mensch in der Schwebe das Wissen und den Einblick des Eingeweihten
mit der kritischen Attitüde des Außenstehenden, was ihn für die Rolle des Mittlers
und Interpreten prädestiniert.“ (Lindner 1990: 203f)

Der „Marginal Man“ ist ein kultureller Hybrid, der gegenüber allen Welten,
denen er begegnet, die Rolle des Fremden und Kosmopoliten einzunehmen ver-
steht. Ähnlich wie der von Georg Simmel beschriebene „Fremde“ ist er eine
soziale Figur, die kommt und bleibt, aber wurzellos und mobil, ohne völlig mit
seiner Herkunft zu brechen oder in der Ankunftsgruppe vollständig aufzugehen.
Ja er kann darin nicht aufgehen, weil unter den Bedingungen des städtischen
Laboratoriums überhaupt keine homogene Ankunftsgesellschaft existiert. Er
befindet sich insoweit in einer ambivalenten Situation, ist Fremder unter Frem-
den. Die ethnisch gemischten Großstadtviertel der Gegenwart sind exemplari-
sche Beispiele für solche Konstellationen. Park betont nicht die negativen Seiten,
sondern die neuen, kreativen Möglichkeiten der Erfahrung und des Handelns, die
eine solche gesellschaftliche Situation bietet. Deswegen könnte man sagen, dass
der „Marginal Man“ den Prototyp der modernen Subjektivität, mehr noch: des
kosmopolitischen Nomaden unserer Zeit abgibt (Makropulus 2004).

Die Stadtentwicklung ist durch die beiden Prozesse der Konkurrenz und der
Kommunikation geprägt. Deren Zusammenspiel strukturiert die städtischen
Sozialphänomene. Aus der Vielfalt der aufeinandertreffenden Kulturen ent-
steht der Sozialtyp des ‚Marginal Man’, des Grenzgängers zwischen den Wel-
ten. Er gehört keiner der verschiedenen Gruppen, Subkulturen und Traditio-
nen vollständig an, gewinnt daraus aber eine wichtige Rolle als Vermittler und
kreativer Erneuerer soziokultureller Prozesse.

2.2.5 Die „Street Corner Society“

Ein exemplarisches Echo und Anwendungsbeispiel fand die Forschungstradition Das Leben italieni-
scher Jugendgangs in
der Chicago School, als sie, zumindest was ihre ursprüngliche Bedeutung betraf,
Boston wird erforscht
bereits längst im Niedergang begriffen war. Es handelt sich dabei um William F.
Whytes (1914-2000) berühmte Studie über „Die Street Corner Society. Die Sozi-
alstruktur eines Italienerviertels“, mit der er an der University of Chicago 1942
seinen US-amerikanischen Doktorgrad, den Ph.D., erlangte. Whyte hatte in Har-
42 Reiner Keller

vard studiert, stammte also keinesweges direkt aus der Chicagoer Soziologie.
Dennoch wurde seine Studie mit deren Tradition in Verbindung gebracht, nicht
nur wegen ihrer Vorgehensweise und ihres Inhaltes, sondern wohl auch, weil
Whyte damit in Chicago bei einem Schüler von Park, Everett Hughes (s.u.) und
W. Lloyd Warner promovierte. Whyte, der später Professor an der Cornell Uni-
versity und ebenfalls, wie schon Park und Thomas, Präsident der American So-
ciological Association werden sollte, präsentiert in seiner 1939/1940 durchge-
führten Untersuchung die Ergebnisse einer teilnehmenden Beobachtung im Bos-
toner Slum-Stadtviertel North End, in dem er über zwei Jahre hinweg gelebt
hatte. Er porträtiert vor allem das Alltagsleben zweier Straßengangs, der Corner
Boys und der College Boys, in dem heruntergekommenen Viertel, das von „an-
ständigen“ Amerikanern gemieden wurde. Weitere Kapitel sind den Beziehun-
gen zwischen der Unterwelt und der Politik í den „big shots“ í in Bezug auf
mehr oder weniger illegale Geschäfte und Glücksspiele gewidmet. Bei den Cor-
ner Boys und den College Boys handelt es sich um ‚Jugendliche mit Migrations-
hintergrund’, d.h. um Kinder italienischer Einwanderer, die im Viertel und in
ihren Gangs ihre eigene, „lokale Kultur“ (Peter Atteslander) leben:

„Die corner boys, die Eckensteher, sind Gruppen von jungen Männern, deren gesell-
schaftliche Aktivitäten sich an bestimmten Straßenecken konzentrieren, die nächst-
gelegenen Friseurläden, Imbissstuben, Billardsalons oder Clubs eingeschlossen. Sie
bilden in ihrer Altersgruppe die unterste Stufe der Gesellschaft und stellen zugleich
die große Mehrheit der jungen Männer von Cornerville dar. Während der Wirt-
schaftskrise waren die meisten arbeitslos oder nur unregelmäßig beschäftigt. Wenige
hatten die Oberschule (High School) abgeschlossen, und viele von ihnen waren
schon vor dem Ende der achten Klasse abgegangen. Die college boys sind eine klei-
ne Gruppe junger Männer, die sich durch eine bessere Ausbildung über die Stufe der
corner boys erhoben haben. Sie versuchen, sich Positionen in besseren Berufen zu
schaffen, und ihr sozialer Aufstieg ist noch nicht abgeschlossen.“ (Whyte 1996: 4)

Bspw. zeigt Whyte in einer eindrucksvollen dichten Beschreibung, wie die


Rangordnung der Gruppe die Leistung der Mitglieder im Bowlingspiel, einer der
häufigsten Freizeitaktivitäten, beeinflusst. Spieler, die, wenn sie alleine spielen,
sehr gut und den Ranghöchsten deutlich überlegen sind, spielen in gemeinsamen
Spielen nur noch so, wie es ihrer Gesamtstellung in der Gruppe entspricht. Die
ungebrochene Aktualität dieser Arbeit liegt darin, dass Whyte zeigen kann, wie
die verschiedenen Gangs ihre eigenen Kulturen des Viertels aufbauen und sich
damit ihr Leben gestalten, aber dadurch gleichzeitig in Konflikte mit anderen
geraten í ein Thema, das auch in den heutigen Großstädten allgegenwärtig ist.
Interessant bleibt das Buch auch wegen seiner offenen Behandlung methodischer
Fragen: Whyte schildert seine mehrfach missglückenden Versuche, einen guten
Zugang in sein Feld zu finden und er verschweigt auch nicht die Irrtümer, das
Cultural Studies tastende und suchende Vorgehen, die Schwierigkeiten und Probleme, die ein
entsprechendes Forschungsprojekt mit sich bringen kann. Whytes Untersuchung
hat seit ihrem Erscheinen eine Unzahl von ähnlichen Analysen angeregt, nicht
nur in der Soziologie, sondern auch in Nachbardisziplinen wie beispielsweise
den Cultural Studies. Zu den bekanntesten ‚Nachfolgern’ zählt Paul Willis’ Mitte
Das interpretative Paradigma 43

der 1970er Jahre verfasste Studie über die Schulerfahrungen englischer Jugendli-
cher des Arbeitermilieus mit dem Titel „Spaß am Widerstand“ (Willis 1979).

Lektürevorschlag:

Whyte, W. F. (1996): Die Street Corner Society. Die Sozialstruktur eines Italienerviertels.
Berlin S. 18-28

2.3 Die Bedeutung der Chicago School

Die Bedeutung der Chicago School of Sociology in der Entwicklung des soziolo- Die Leistungen der
Chicago School of
gischen Denkens und Forschens lässt sich in folgenden Punkten zusammenfas-
Sociology
sen:

ƒ Mit dem pragmatistischen Handlungsmodell wird eine Konzeption des


Handelns in die Soziologie eingeführt, die das Forschungsinteresse auf kon-
kretes, alltagspraktisches Handeln als Problemlösen und kreativer Prozess
lenkt.
ƒ Die Betonung von Interaktions- und Kommunikationsprozessen unter-
streicht, dass dieses Handeln kein isoliertes Einzelgeschehen ist, sondern in
sozialen Prozessen eingebettet stattfindet.
ƒ Das Konzept der „Definition der Situation“ von William I. Thomas weist
Affinitäten zur Verstehenden Soziologie Max Webers auf. Damit werden
die Deutungs- bzw. Interpretationsleistungen der Handelnden als zentrale
Größe soziologischer Analysen etabliert. Gleichzeitig wird betont, dass die-
se Interpretationen keine individuellen Erfindungen sind, sondern immer
auf gesellschaftlich bereitgestellte Interpretationsmuster zurückgreifen.
ƒ Die Chicago School richtet den soziologischen Blick auf die konkrete prak-
tische Bewältigung von Deutungs- und Handlungsproblemen. Sie interes-
siert sich dabei insbesondere für Störungen und Innovationen, die aus dem
Kontakt bzw. der Konfrontation unterschiedlicher soziokultureller Konfigu-
rationen entstehen. Dafür bot die Großstadt Chicago mit ihren Migranten-
kulturen und vielfältigen Sozialphänomenen einen exemplarischen Untersu-
chungsgegenstand.
ƒ Robert Parks Konzept des „marginal man“ beschreibt so nicht nur eine
spezifische Konstellation der Migrationsprozesse, sondern kann allgemeiner
als prototypische Leitfigur des modernen, enttraditionalisierten Menschen
gelesen werden.
ƒ Mit ihrer Hinwendung zur Teilnahme an den ‚sozialen Welten der Groß-
stadt’, dem Eintauchen in die konkrete Realität der sozialen Phänomene, der
Kombination unterschiedlichster Forschungsmethoden im Analyseprozess
entwickelt die Chicago School einen neuen Stil der soziologischen Analyse,
der prägend für die weitere Entfaltung der gesamten qualitativen Sozialfor-
schung werden sollte.
44 Reiner Keller

Quantitative Sozial- Etwa Mitte der 1930er Jahre verloren die Chicagoer Soziologen ihre Vorrang-
forschung und neue
stellung in der nordamerikanischen Soziologie. Der Neuaufbau soziologischer
Theorieentwicklun-
gen drängen den Abteilungen an anderen Universitäten, das damit verbundene Interesse an statis-
Einfluss der Chicago tischen Methoden oder alternativen theoretischen Traditionen, eine Mischung
School zurück aus Surveyforschung und funktionalistischer Soziologie löste ihre dominierende
Position auf. Dafür mögen manche Defizite ihrer Arbeiten verantwortlich sein,
etwa das, von wenigen Ausnahmen abgesehen, durchgängige Problem, aus den
empirischen Untersuchungen heraus neue theoretische Konzepte zu generieren.
Auch der weitgehend unbekümmerte Umgang mit den Methoden der Daten-
sammlung und -auswertung trug dazu bei. Dafür liefert die erwähnte Untersu-
chung von Thomas über die „unangepassten Mädchen“ ein gutes Beispiel, wo
Aussagen aus Gesprächen, Briefen usw. als Illustrationen für die Ausführungen
von Thomas eingestreut werden, ohne dass der Analyseprozess näher erläutert
würde. Diese Vorgehensweisen, die bereits von Herbert Blumer in den 1930er
Jahren kritisiert wurden, konnten gewiss nicht mit den Vorgaben der aufsteigen-
den quantifizierenden Sozialforschung konkurrieren und lassen auch aus der
Sicht der heutigen qualitativen Sozialforschung viele Fragen offen. Schließlich
mag die aus der Auseinandersetzung mit dem Behaviorismus resultierende Ab-
arbeitung an psychologischen Handlungskonzepten zum Einflussrückgang beige-
tragen haben. Das alles fand seinen institutionellen Ausdruck: Während noch in
den 1920er Jahren mit Park und Thomas die Leitfiguren der Chicago School als
Präsidenten des US-amerikanischen Soziologieverbandes fungierten und mit
dem Chicagoer American Journal for Sociology die soziologischen Debatte be-
stimmten, wird 1935 die American Sociological Review als Alternative dazu
gegründet und als Vereinszeitschrift der American Sociological Association
etabliert. Erst Anfang der 1950er Jahre kommt es zu einem Neuaufschwung, der
zunächst unter dem Etikett des „Symbolischen Interaktionismus“ ansetzt und an
dem viele ehemalige Studierende aus der früheren Phase der Chicago School
nunmehr als Lehrende und Forschende beteiligt sind. Bisweilen ist deswegen
auch von einer „zweiten Chicago School“ die Rede (Fine 1995).

Übungsaufgaben:

ƒ Erläutern Sie das Handlungsmodell des Pragmatismus an einem eigenen


Beispiel!
ƒ Wenden Sie die Handlungsmodelle des Utilitarismus und des Behavioris-
mus auf dieses Beispiel an! Wie verändert sich dadurch das Verständnis der
Beispielsituation?
ƒ Welches der Modelle erscheint Ihnen am plausibelsten, um das Beispiel aus
theoretischer Perspektive zu erklären? Begründen Sie Ihre Einschätzung!
ƒ Wenden Sie das Konzept der „Definition der Situation“ auf empirische
Beispiele an, in denen konkurrierende Situationsdefinitionen aufeinander-
treffen! Was hat das für Folgen?
ƒ Worin liegt die Besonderheit und Aktualität der damaligen Chicagoer Situa-
tion?
Das interpretative Paradigma 45

ƒ Warum sind soziologische Untersuchungen tatsächlicher Lebensweisen


notwendig, wenn gesellschaftliche Reformen beabsichtigt sind?
ƒ Erläutern Sie die Rolle von Kommunikationsprozessen bei Park!
ƒ Was sind für Park Kennzeichen des ‚marginal man’ und wie lässt sich seine
gesellschaftliche Situation erklären?
ƒ Inwiefern lässt sich das Konzept des ‚marginal man’ auf die heutigen ge-
sellschaftlichen Erfahrungen übertragen?

3 Symbolischer Interaktionismus
Anfang der 1950er Jahre beginnt in den USA die Renaissance der Chicago In den 1950er Jahren
belebt der Symboli-
School of Sociology. Zwei ehemalige Chicagoer Soziologen spielen darin eine
sche Interaktionis-
wichtige Rolle – Herbert Blumer und Everett Hughes. Blumer war ein Assistent mus die Chicago
des pragmatistischen Sozialphilosophen und Sozialpsychologen George Herbert School neu
Mead (s. u. Kapitel 3.1). Er prägte bereits Ende der 1930er Jahre in einem Hand-
buch-Artikel über Sozialpsychologie den Begriff des „Symbolischen Interaktio-
nismus“ bzw. der „Symbolischen Interaktionisten“ (Blumer 1938) und formulier-
te im Anschluss an Überlegungen von Mead die theoretische Grundlegung dieses
Ansatzes für die Soziologie. Darauf wird weiter unten noch eingegangen (Kap.
3.2). Everett Hughes, ein Schüler Parks, war stärker sozialanthropologisch orien-
tiert und interessierte sich weniger für soziologische Theorie und Methodologie
als für empirisch-substantielle Beobachtungen. Er arbeitete auf den Gebieten der
Berufs- und Arbeitssoziologie und beschäftigte sich dabei auch mit den Bezie-
hungen zwischen Institutionen und Organisationen, die als kollektive Akteure
begriffen wurden. In seiner inhaltlichen Arbeit führte er u.a. das Parksche Kon-
zept des ‚marginal man’ weiter aus und übertrug es auf die gesellschaftliche
Situation von Frauen. Während Blumer mit dem Begriff des „Symbolischen
Interaktionismus“ die Theorieperspektive prägte – für viele, schreibt Fine (1993:
63), „Herbert Blumer was symbolic interactionism“ –, äußerte sich der Einfluss
von Hughes weniger in Form von Veröffentlichungen, sondern in den For-
schungsgegenständen und der Art und Weise ihrer Bearbeitung, der sich die
„zweite Generation der Chicago School“ annahm. Die Forschungen von Howard
S. Becker oder Anselm Strauss etwa standen unmittelbar in dieser Tradition
(Fine 1995; Joas 1992b: 50). Allerdings haben weder Blumer noch Hughes mit
eigenen inhaltlichen Arbeiten die breitere soziologische Wahrnehmung des
Symbolischen Interaktionismus als einer neuen, erfrischenden, radikalen und
pragmatistisch inspirierten Soziologie des Konkreten angestoßen. Verantwortlich
dafür war vielmehr eine Vielzahl äußerst aktiver und kreativer Schüler dieser
Mittelsmänner zwischen der ersten und zweiten Generation der Chicago School.
Dazu zählen neben Becker und Strauss auch Erving Goffman oder Joseph Gus-
field und viele andere.6 Statt einer großformatigen ‚Kritischen Theorie’ (vgl. S.
6
Obwohl Goffman mit seinen frühen Arbeiten mitunter dieser ‚zweiten Chicago School’ zugerechnet
wird (Fine 1995), hat er selbst seine Einordnung in den Symbolischen Interaktionismus abgelehnt.
Tatsächlich kommt seinem Werk eine große Originalität zu, so dass es weiter unten als eigenständige
Position innerhalb des interpretativen Paradigmas vorgestellt wird (vgl. Kapitel 6). Vgl. zum zeitge-
46 Reiner Keller

162ff. in diesem Band) wurde hier u.a. eine ‚kritische Haltung’ insofern verfolgt,
als es darum ging, bislang nicht bekannte oder ‚gehörte’ Perspektiven der ‚un-
derdogs’ und allgemeiner: der ‚einfachen’ Gesellschaftsmitglieder als soziologi-
schen Untersuchungsgegenstand ernst zu nehmen.
Die theoretische Worin besteht nun das Besondere, die theoretische Eigenständigkeit des
Eigenständigkeit des
Symbolischen Interaktionismus, dieser „first and most distinctively American
Symbolischen Inter-
aktionismus sociological theory” (Sandstrom/Martin/Fine 2001)? Sehr allgemein lassen sich
zunächst folgende Punkte dazu festhalten:

ƒ Der Symbolische Interaktionismus fragt danach, wie soziale Phänomene aus


Interaktionen aufgebaut sind und welche Rolle dabei Deutungsprozesse der
Beteiligten und die wechselseitige Abstimmung dieser Deutungsprozesse
spielen.
ƒ Der Symbolische Interaktionismus schließt an das pragmatistische Hand-
lungsmodell an und betont die Verwicklung von Deuten (Denken) und
Handeln sowie das Primat der Interaktions- und Kommunikationsprozesse
vor dem Einzelhandeln.
ƒ Eine zentrale Rolle spielt deswegen die Aufnahme des Konzepts der „Defi-
nition der Situation“ und die Frage danach, wie Situationsdefinitionen in
sozialen Situationen zum Einsatz kommen und in routinierter bzw. kreativer
Weise durch soziale Akteure gehandhabt werden.
ƒ Diesen Fragestellungen liegt die von dem pragmatistischen Philosophen und
Sozialpsychologen George Herbert Mead entwickelte umfassende Theorie
des menschlichen Symbolgebrauchs zugrunde.
ƒ Im Symbolischen Interaktionismus geht es also darum, wie soziale Phäno-
mene durch den menschlichen Gebrauch von Symbolen konstituiert werden.
ƒ ‚Gesellschaft’ erscheint im Symbolischen Interaktionismus als ein vernetz-
tes, stabilisiertes, dynamisches und komplexes Gefüge von symbolisch
vermittelten Interaktionsprozessen.

Der Symbolische Interaktionismus fragt danach, wie soziale Phänomene aus


symbolisch vermittelten Interaktionen aufgebaut sind und welche Rolle dabei
Deutungsprozesse der Beteiligten und die wechselseitige Abstimmung dieser
Deutungsprozesse spielen.

Nachfolgend werden die wichtigsten Grundüberlegungen dieser Theorieperspek-


tive erläutert. Zunächst steht dabei die Meadsche Theorie des menschlichen
Symbolgebrauchs im Vordergrund (Kapitel 3.1). Daran anschließend wird der
Theoriestandort des Symbolischen Interaktionismus vorgestellt, wie er von Her-
bert Blumer formuliert wurde (Kapitel 3.2).7 Die empirische Anwendung dieses

nössischen Überblick über das Interpretative Paradigma auch den frühen Sammelband von Rose
(1962).
7
Hier wird nur auf die Blumer-Tradition des Symbolischen Interaktionismus eingegangen. Ausgehend
von Mead entstand auch die „Iowa School of Symbolic Interactionism“ um Manford E. Kuhn (1911-
1963), die quantifizierend vorgeht und größere Strukturzusammenhänge untersucht.
Das interpretative Paradigma 47

Theorieparadigmas hat verschiedene Forschungstraditionen hervorgebracht, die


in Kapitel 3.3 diskutiert werden. Abschließend wird eine knappe Bilanz des
Symbolischen Interaktionismus gezogen und mit einem Ausblick auf seine ge-
genwärtige Bedeutung verbunden (Kapitel 3.4).

3.1 Symbolgebrauch und soziale Konstitution des Selbst

Die pragmatistischen Philosophen hatten ihre Vorstellung vom kollektiven Han- In das Handlungs-
modell des Pragma-
deln in sozialen Gruppen bzw. Gesellschaften ihrem Modell des Einzelhandelns tismus wird die
nachempfunden. So wie auf der Ebene dieses Einzelhandelns Denken bzw. Be- ‚soziale Dimension’
wusstseinstätigkeiten und Handlungen unmittelbar ineinander verwoben sind und einbezogen
sich kreative Denkprozesse aus Situationen der Störung oder Irritation des Rou-
tinehandelns ergeben, kommt auf der Ebene des kollektiven Handelns öffentli-
chen Kommunikationsvorgängen eine vergleichbare Rolle zu. Deswegen interes-
sierten sie sich sowohl für Denkprozesse wie für Kommunikationsprozesse.
Allerdings ist ihr Handlungsmodell letztlich ‚individualistisch’. Damit ist ge-
meint, dass es das einzelne handelnde Individuum zum Ausgangspunkt nimmt
und dann das ‚Gruppenhandeln’ diesem Einzelhandeln nachbildet. Thomas und
Park hatten jedoch darauf hingewiesen, dass die Situationsdefinitionen norma-
lerweise keineswegs eine Erfindung des individuellen und isolierten Bewusst-
seins sind, sondern einem sozialen, mehr oder weniger verbindlichen und geteil-
Identität, Ich-,
ten Deutungsvorrat entstammen (vgl. Kapitel 2). Trotz dieser wichtigen Hinwei- personale, soziale
se fehlt jedoch in den soziologischen Ansätzen von Thomas und Park eine ge-
nauere Betrachtung dazu, wie die Handelnden über diese sozialen ‚Situationsde-
finitionen’ verfügen und inwieweit sie selbst als gesellschaftliche Wesen gedacht
werden können. Genau dies leisten der in Michigan lehrende Soziologe Charles
Horton Cooley und insbesondere dann der Chicagoer Pragmatist George Herbert
Mead mit ihren Überlegungen zum Ablauf von Sozialisationsprozessen, zur
Herausbildung von Identitäten und zur Bedeutung des menschlichen Symbol-
gebrauchs.8 Insbesondere das Werk von Mead gilt heute als für die Soziologie
grundlegender Beitrag. Auch wenn Cooley die Grundidee einer sozialen und
interaktiven Konstitution der personalen Identität entwickelte, so ist es doch das
Verdienst von George Herbert Mead, die theoretischen Grundlagen einer solchen
Annahme ausgearbeitet zu haben. Einfluss auf die Chicagoer Soziologie übte
Mead in den 1920er Jahren aus, als viele Studierende der Soziologie seine Semi-
nare besuchten. Seine Rezeption im Symbolischen Interaktionismus ist vor allem
durch seinen ehemaligen Assistenten Herbert Blumer beeinflusst und greift se-
lektiv einige zentrale Aspekte seines Werkes auf. Meads Symboltheorie und

8
Charles Horton Cooley (1864-1929) kann als der eigentliche Begründer einer soziologischen, pro-
zessualen Sozialisations- und Identitätstheorie gelten. Er wendet gegen die Pragmatisten ein, dass man
nicht vom individuellen Bewusstsein ausgehen könne; dieses sei durch seine Entstehung immer ein
„soziales Bewusstsein“. Die Identitätsbildung erfolge im Spiegel der Anderen („Spiegel-Selbst“); die
Bedeutung von Primär- und Sekundärgruppen sowie Kommunikationsprozessen für die Ich-
Entwicklung sei immens (vgl. Helle 2001: 50ff; Mikl-Horke 1997: 176ff).
48 Reiner Keller

seiner Grundlegung der sozialen Konstitution des Selbst und des Bewusstseins
werden wir uns nun zuwenden.

George Herbert Mead (1863-1931)

George Herbert Mead wurde 1863 als Sohn eines protes-


tantischen Pfarrers in South Hadley, Massachussetts
(USA) geboren; er wuchs in einer puritanischen Umge-
bung auf. Bevor er 1887 sein Philosophiestudium in Har-
vard begann, hatte er als Vermessungsingenieur bei einer
Eisenbahngesellschaft gearbeitet. Während des Studiums
war Mead Hauslehrer der Kinder des pragmatistischen
Philosophen William James. 1888 reiste er nach Deutsch-
land und studierte Psychologie und Philosophie in Leipzig und Berlin (u.a. den
deutschen Idealismus; die experimentelle Psychologie von Wilhelm Wundt).
Eine Dissertation war bei Wilhelm Dilthey geplant, wurde jedoch nicht abge-
schlossen, da Mead 1891 kurzfristig wegen einer Stelle in die USA zurück-
kehrte. 1894 wechselte er mit seinem Freund und Mentor John Dewey nach
Chicago. Dort hatte er bis zu seinem Tod 1931 einen Lehrstuhl für Philosophie
und Psychologie inne. Politisch engagierte sich Mead in sozialreformerischen
Bewegungen. Er hat zeitlebens keine Bücher, sondern nur Aufsätze veröffent-
licht.

Lektürevorschlag:

Mead, G. H. (1969): Sozialpsychologie, herausgegeben von Anselm Strauss (1969)


[1956], S. 218-225; 235-306.
Vertiefung:
Mead, G. H. (1969): Sozialpsychologie, herausgegeben von Anselm Strauss [1956] [darin
sind Teile von ‚Geist, Identität und Gesellschaft’ (Mead 1973) in anderer Überset-
zung abgedruckt; dazu kommen einige wichtige Aufsätze von Mead].
Wenzel, Harald (1990): George Herbert Mead zur Einführung. Hamburg: Junius.
Wichtige Anschlüsse und Weiterführungen: Habermas, J. (1981): Theorie des kommuni-
kativen Handelns. Bd. 2. Frankfurt/Main: Suhrkamp.
Joas, H. (1992): Die Kreativität des Handelns. Frankfurt/Main: Suhrkamp.
Webseiten:
www.pragmatism.org/genealogy/chicago.htm [Stand vom 03.11.2004].
The Mead project. Foundational documents in sociological social psychology. Depart-
ment of Sociology, Brock University, St. Catharines, Kanada: http://spartan.ac.
brocku.ca/~lward/ [Stand vom 13.05.2008].
Das interpretative Paradigma 49

Bereits im ersten Satz seiner Vorlesungen über Sozialpsychologie formuliert Kommunikation und
Interaktion sind
Mead seine These:
Voraussetzungen der
Entwicklung des
„In der Regel befaßt sich die Sozialpsychologie mit den verschiedenen Phasen ge- Bewusstseins
sellschaftlicher Erfahrung aus der psychologischen Sicht der individuellen Erfah-
rung. Ich möchte einen anderen Ansatz vorschlagen: die Erfahrung vom Standpunkt
der Gesellschaft aus zu betrachten, zumindest unter dem Gesichtspunkt der Kom-
9
munikation als der Voraussetzung für eine Gesellschaftsordnung“. (Mead 1973: 39)

Die soziologische Bedeutung von Mead beruht auf seiner Betonung des Vorrangs
der Kommunikationsprozesse und damit der Interaktion bzw. des Gesellschaftli-
chen oder Sozialen vor dem einzelnen Bewusstsein. Letzteres kann sich als Den-
ken und Ich-Identität nur dann entwickeln, wenn bereits ein gesellschaftliches
„universe of discourse“, eine Kommunikationsgemeinschaft existiert. Der Schlüs-
sel zum spezifisch menschlichen Vermögen der Kommunikation liegt in der sozial
konstituierten Fähigkeit und Kompetenz zum Symbolgebrauch. Mead entwickelt
diese Überlegungen in drei Schritten:

ƒ Er interessiert sich erstens für die evolutions- und gattungsgeschichtlichen Geste


(phylogenetischen) Hintergründe der menschlichen Fähigkeit zum Symbol-
gebrauch und nimmt deswegen eine genaue, bis in physiologische Grundla-
gen reichende Analyse des Gestengebrauchs bei Tieren und Menschen vor.
ƒ Er fragt zweitens danach, wie „signifikante“ Symbole, d.h. Symbole, die
von verschiedenen Interaktionspartnern in gleicher Weise benutzt und inter-
pretiert werden, in Interaktionsprozessen entstehen.
ƒ Schließlich interessiert er sich drittens für die ontogenetische Ebene des
einzelnen Menschen, für die in jedem individuellen Lebenslauf erfolgende
Herausbildung der Kompetenz zum Symbolgebrauch.

3.1.1 Die menschliche Fähigkeit zum Symbolgebrauch

Mead kritisiert, wie die Pragmatisten generell, zunächst das bereits erwähnte Die Besonderheit des
menschlichen Be-
behavioristische Modell des menschlichen Handelns von John B. Watson. Dieses
wusstseins liegt in der
Modell erklärte tierisches und menschliches Handeln durch ein Reiz-Reaktions- Fähigkeit zum Sym-
Schema. Als Datum wird nur das anerkannt, was von außen sichtbar ist: Ein Reiz bolgebrauch
kann gemessen, eine Reaktion aufgezeichnet oder gesehen werden. Auf Tiere
oder Menschen wirken Reize und die Organismen reagieren darauf. Das lässt
sich beobachten, im Unterschied zur „black box“ des tierischen und menschli-
chen Bewusstseins, die nicht einsehbar ist. Zwar sah auch Mead, wie die Beha-
vioristen im Allgemeinen und eben auch sein Freund Watson den Menschen als
Mind
biologisches Wesen in einer spezifischen Umwelt an. Mead betonte jedoch wie
Dewey oder auch Thomas, dass zwischen den aus der Umwelt kommenden Reiz Signifikante
und die Reaktion des Menschen etwas anderes tritt, das die Besonderheit des Symbole

9
Diese Vorlesungen liegen in zwei unterschiedlichen Übersetzungen vor. Im Folgenden wird abwech-
selnd nach Mead (1973) bzw. nach Mead (1969; enthält nur Auszüge) zitiert.
50 Reiner Keller

Menschen ausmache: die Wahrnehmung des Reizes, die zugleich immer eine
Interpretation, ein aktives Handhaben von Zeichen und Symbolen ist: „Die Situa-
tion, in der man nach auslösenden Reaktionen sucht, stellt sich, wie ich glaube,
immer í soweit es um effektive Intelligenz geht í in Form eines Problems.“
(Mead 1969: 242) Er spricht von „mind“ – in den deutschen Übersetzungen als
„Geist“ oder „Bewusstsein“ wiedergegeben –, um die besondere Fähigkeit des
Menschen zur Erzeugung und Verwendung von signifikanten Symbolen zu be-
zeichnen. Symbole sind in diesem Verständnis Zeichen, die auf etwas verweisen,
die Träger einer über sie selbst hinausweisenden Bedeutung sind. Signifikante
Symbole sind solche, die von mehreren oder allen Mitgliedern einer sozialen
Gruppe in gleicher Weise benutzt und verstanden werden.

Symbole sind Zeichen, die Träger einer über sie selbst hinausweisenden Be-
deutung sind. Signifikante Symbole sind Symbole, die von mehreren oder al-
len Mitgliedern einer sozialen Gruppe in gleicher Weise benutzt und verstan-
den werden

Die Unterscheidung Symbole vermitteln die Reizwahrnehmung und entscheiden darüber, was den
von Geste und
„Reiz des Reizes“ ausmacht. Wie lässt sich jedoch die menschliche Fähigkeit
Symbol
zum Zeichen- bzw. Symbolgebrauch evolutionär bzw. evolutionstheoretisch
erklären? Wie und wo erfolgt der Übergang vom Tier zum Menschen, vom Ges-
tengebrauch zur Lautgebärde und dann zur Sprache als Symbolsystem? Das sind
Symbolsystem
zunächst die Fragen, auf die Mead eine Antwort geben will. Dazu diskutiert er
vergleichend und in Auseinandersetzung mit Charles Darwin und Wilhelm
Wundt das tierische und menschliche Ausdrucksverhalten. Während Menschen
über „Bewusstsein“ und Intentionen verfügen, die das Ausdrucksverhalten kon-
stituieren, zeigen Tiere instinkthaftes bzw. reflexhaftes Verhalten. Dabei kann
nicht ernstlich von Zielen, Absichten usw. gesprochen werden, zumindest nicht
im Sinne einer gedanklich bewussten Vorstellung. So kann ein Hund gegenüber
einem zweiten Hund durch Zähnefletschen zwar einen drohenden Angriff an-
kündigen, aber man kann schwerlich sagen, dass er absichtlich die Zähne
fletscht, um seiner Umgebung zu drohen. Das gerade erwähnte Verhalten des
Hundes lässt sich dennoch als „Geste“ verstehen:

„Wir haben es mit einer Verständigung nur durch Gesten zu tun. Es sind jedoch
nicht Gesten in dem Sinne, daß sie eine bestimmte Bedeutung hätten. Wir nehmen
nicht an, daß der Hund sich selbst sagt: ‚Wenn das Tier aus dieser Richtung kommt,
wird es mir an die Kehle springen, also werde ich mich entsprechend drehen.’ Er
wird lediglich seine eigene Position ändern, je nach dem, aus welcher Richtung der
andere Hund gerade kommt.“ (Mead 1969: 210)

Menschlicher und Gesten sind wahrnehmbare äußerliche Körperreaktionen, die zwischen Tieren
tierischer Gesten-
reflexhaft oder instinkthaft aufeinander folgen und ‚Interaktionen’ oder ‚Ver-
gebrauch unterschei-
den sich ständigungen’ zwischen Tieren ermöglichen. Auch im menschlichen Verhalten
lassen sich vergleichbare Phänomene beobachten, am ehesten da, wo í wie bei-
spielsweise im Boxkampf í ein schneller Schlagabtausch erfolgt, der kaum be-
wusst gesteuert ist, sondern auf eingeübten Reflexen beruht. Doch zwischen
Das interpretative Paradigma 51

tierischen und menschlichen Gesten gibt es einen entscheidenden Unterschied.


Menschliche Gesten sind immer in soziale Handlungen und Handlungszusam-
menhänge eingebunden. Das gilt auch für das gerade erwähnte Beispiel des
Boxkampfs. Deswegen hat hier der Interaktionsprozess Vorrang. Die tatsächli-
che Bedeutung der menschlichen Gesten ergibt sich aus diesem Zusammenhang,
nicht aus dem individuellen Wollen. Gewiss können dabei der individuelle Voll-
zug der Geste und die externe Bedeutungszuweisung unterschieden werden:
Jemand, der reflexhaft einen Schlag abwehrt, indem er seinen Arm zum Schutz
vor das Gesicht hält, hat im Moment des Vollzugs seiner Geste nicht unbedingt
eine Vorstellung davon, was er gerade tut. Die Bedeutung der Geste wird in
diesem Fall zunächst durch einen Beobachter des Handlungszusammenhangs
zugeschrieben; allerdings kann auch der Ausführende der Geste eine entspre-
chende bewusste Vorstellung seines Tuns haben. Dann stimmen die ‚innere’ und
die ‚äußere’ Bedeutungszuweisung überein. In Bezug auf tierische Gesten wird
nicht unterstellt, sie könnten in gleichem Maße ‚bewusst’ oder ‚geplant’ und
‚absichtsvoll’ sein. Das ist ein wesentlicher, von menschlichen Beobachtern
unterstellter Unterschied zwischen menschlichem und tierischem Verhalten.

Gesten sind wahrnehmbare äußerliche Körperreaktionen, die zwischen Tieren


reflexhaft oder instinkthaft aufeinander folgen, beim Menschen aber in Inter-
aktionszusammenhänge eingebunden sind, die ihre Bedeutung festlegen.

3.1.2 Die Funktionsweise signifikanter Symbole

Sieht man von Ausnahmen wie derjenigen des Abwehrreflexes beispielsweise im Die Geste wird beim
Menschen zum
Boxkampf ab (der im Übrigen ja durchaus auch antrainiert wird), dann wirkt im signifikanten Symbol
menschlichen Reagieren auf einen Reiz eine gewisse Verzögerung. Dies ist der und zur Sprache
Moment der Denk- oder Bewusstseinsprozesse, der Deutung. Doch schon in
Bezug auf die Abwehrgeste selbst kann davon gesprochen werden, dass sie für
beide Boxkämpfer die gleiche Bedeutung hat, wenn man davon absieht, dass sie
den einen schützt und den anderen behindert: Beide können sie als Abwehrgeste
deuten. Wenn zwei Gegenüber einer Geste die gleiche Bedeutung zuschreiben,
ist sie zu einem „signifikanten Symbol“ geworden. Ein Sprachlaut ist eine Geste,
die dann als signifikantes Symbol funktioniert, wenn er von den Beteiligten mit
gleicher Bedeutung versehen wird. Sprache ist nichts anderes als ein zu signifi-
kanten Symbolen geronnener Vorrat an Lautgesten:

„Beim Kampf zwischen den Hunden handelt es sich um eine Geste, die eine ent-
sprechende Reaktion hervorruft, hier aber um ein Symbol, dem eine Bedeutung in
der Erfahrung des einen Individuums entspricht und das den gleichen Bedeutungsin-
halt beim anderen Individuum weckt. Wenn die Gesten dieses Stadium erreicht ha-
ben, sind sie zu dem geworden, was wir ‚Sprache’ nennen. Eine Geste ist nun ein
signifikantes Symbol, es signalisiert eine bestimmte Bedeutung.“ (Mead 1969: 213)

Eine wesentliche Bedingung der Möglichkeit zur Entwicklung signifikanter


Symbole sieht Mead in der Sprachfähigkeit: Laute, die man ausspricht, hört man
52 Reiner Keller

in etwa so, wie andere sie hören (was beispielsweise nicht für Gesichtsausdrücke
und die Wahrnehmung von Körperbewegungen gilt), zumindest hört man sie
gleichzeitig. Dies gilt für Menschen und Tiere gleichermaßen. Mead verweist auf
den Löwen, der laut brüllt und dadurch seine Feinde abschreckt. Aber führt das
Brüllen dazu, dass der Löwe gleichsam vor sich selbst Angst bekommt, also in
sich die gleiche Reaktion auslöst wie bei einem Gegenüber? Das erscheint doch
fragwürdig. Aber wie unterscheidet der Löwe zwischen dem eigenen und dem
fremden Brüllen? Auch Menschen hören die eigene Stimme anders als ihr sozia-
les Gegenüber; das kann man leicht mit einem Aufnahmegerät ausprobieren.
Tatsächlich erscheint Meads Argumentation hier nicht überzeugend (vgl. zur
Kritik Habermas 1981, Bd. 2: 25).
Signifikante Symbole Die Geste funktioniert im menschlichen Gestengebrauch als Zeichen, das
sind Zeichen, deren
auf etwas verweist – sie hat eine Bedeutung. Signifikant ist ein Symbol, wenn es
Bedeutungen in
Kommunikationspro- für verschiedene Handlungsbeteiligte die gleiche Bedeutung hat, wenn sie also
zessen konventionali- wissen, was damit üblicherweise gemeint ist. Denn ein solcher Bedeutungsinhalt
siert wurden; ihre ist sozial festgelegt, also geregelt. Dies gilt nicht nur für Körpergesten und ‚Kör-
Existenz ist Grundla-
persprache’, sondern in gleicher Weise für stimmliche Gesten oder Lautgebär-
ge der menschlichen
Denkfähigkeit den, und damit für die gesprochene (und davon abgeleitet: die verschriftete)
Sprache: Ein Wort, ein Begriff lassen sich als signifikantes Symbol begreifen,
insofern sie für den Äußernden wie für Zuhörer den gleichen Bedeutungsinhalt
hervorrufen, also in gleicher Weise einen Bezugspunkt, ein Ding, eine Referenz
bezeichnen und damit bei allen Beteiligten miteinander vereinbare bzw. gleiche
Reaktionen nahelegen. Erst dadurch können Einzelhandlungen aufeinander be-
zogen sein und Teil von umfassenderen Handlungszusammenhängen oder Inter-
aktionen werden. Dabei handelt es sich um eine evolutionäre Errungenschaft von
kaum zu unterschätzender Bedeutung. Die Bewusstseinstätigkeit des Indivi-
duums, das Denken setzt seinerseits signifikante Symbole sowie die Kompetenz
ihrer Nutzung voraus. Es ist letztlich eine Art Verständigung des Individuums
mit sich selbst mit Hilfe signifikanter Symbole (vgl. Mead 1969: 213f). Deswe-
gen können Individuen die Fähigkeit entwickeln, sich „in die Rolle“ oder „Hal-
tung des Gegenüber“ („taking the attitude of the other“) zu versetzen bzw. Rol-
len aktiv zu spielen (das „role making“ in den Worten von Ralph Turner).

Signifikante Symbole sind Zeichen, deren Bedeutungen in Kommunikations-


prozessen konventionalisiert wurden. Ihre Existenz ist Grundlage der mensch-
lichen Denkfähigkeit sowie der Kompetenzen, sich in die Rolle des Gegen-
übers zu versetzen und selbst soziale Rollen aktiv zu spielen und zu gestalten.

Die Bedeutung Bewusstsein bzw. Denken funktioniert nur, weil es signifikante Symbole gibt. Es
stammt aus der
setzt Kommunikation voraus, die ihrerseits nach Mead erst dann möglich ist,
Kommunikation und
Interaktion wenn signifikante Symbole existieren. Woher kommt also die „Bedeutung“
(meaning), deren Träger solche Symbole sind, und wie wird ein Symbol zum
„signifikanten Symbol“? Meads Antwortet lautet: Die Bedeutung rührt keines-
wegs aus dem Einzelbewusstsein í der soziale Handlungszusammenhang, die
Interaktion ist die Quelle der Bedeutung. Wie lässt sich das verstehen? Stellen
Sie sich dazu eine einfache, in einen Handlungszusammenhang eingebettete
Das interpretative Paradigma 53

Geste vor, deren Bedeutung zunächst unbestimmt ist: das Ausstrecken der rech-
ten Hand. Ein Gegenüber ergreift die Hand und schüttelt sie. Die Bedeutung
wird nun klar: Es handelt sich um eine in unserem Kulturkreis geläufige Form
der Begrüßung. Nach Mead ist es genau die Reaktion des Gegenübers, nicht die
ursprüngliche individuelle Absicht, durch welche die Bedeutung der Geste kon-
stituiert wird. Diese Reaktion erfolgt jedoch nur deswegen, weil die Geste zuvor
erschien. Deswegen gehört dies alles zusammen, um die Entstehung von Bedeu-
tung verständlich zu machen:

„Die Geste eines Organismus, die daraus resultierende soziale Handlung in der die
Geste ein frühes Stadium bildet, und die Reaktion eines anderen Organismus sind
die Elemente einer dreifachen Beziehung; einer Beziehung zwischen Geste und dem
einen Organismus, zwischen Geste und dem anderen Organismus und zwischen der
Geste und den Phasen der betreffenden sozialen Handlung, die auf sie folgen; diese
dreifache Beziehung ist das Netz, aus dem die Bedeutung entsteht, sie bildet die
Matrix, die sich zu einem Bedeutungsfeld entwickelt (...) Die Handlung oder Anpas-
sungsreaktion des zweiten Organismus gibt der Geste des ersten Organismus ihre
Bedeutung. (...) Bedeutung ist also in erster Linie nicht als ein Bewußtseinszustand
oder eine Reihe von Beziehungen zu sehen, die geistig außerhalb des Erfahrungsbe-
reichs lägen, in den sie eingehen; im Gegenteil: man sollte Bedeutung objektiv als
etwas betrachten, das unmittelbar in diesem Bereich selbst existiert.“ (Mead 1969:
219ff)

In diesem Zitat klingt auch die pragmatistische Zeichentheorie von Charles S. Pragmatistische
Peirce an, die ab den späten 1930er Jahren von Charles W. Morris, dem Heraus- Zeichentheorie
geber der Vorlesungsmitschriften von Mead (1973), weiterentwickelt wurde.
Diese Zeichentheorie betont in deutlichem Kontrast zum abstrakten Zeichenmo- Strukturalismus
dell des Strukturalismus (vgl. S. 291ff in diesem Band) die interpretativen und
handlungsbezogenen, pragmatischen Momente des tatsächlichen Zeichen-
gebrauchs (Morris 1972, Peirce 1993).

Der soziale Handlungszusammenhang, die Interaktion ist die Quelle der Be-
deutung.

Meads erläuterte Argumentation zur Entstehung und Funktionsweise signifikan- Hat Mead die
Entstehung signifi-
ter Symbole lässt sich plausibel kritisieren: Denn die Übereinstimmung der Re-
kanter Symbole
aktion zweier menschlicher Organismen auf eine Geste kann zwar durch einen überzeugend erklärt?
Beobachter festgestellt werden, aber damit ist noch nicht nachgewiesen, dass es
sich nunmehr für beide um dieselbe Bedeutung handelt (vgl. Habermas 1981,
Bd. 2: 25 und Schneider 2002a: 185f). Man muss ja schon die „Perspektive des
Gegenüber“ kennen, also wissen, welche Bedeutung er zuschreibt, um darüber
urteilen zu können, ob die eigene Bedeutung damit übereinstimmt. Wenn jemand
meine ausgestreckte Hand nicht ergreift, so kann das ja sehr unterschiedliche
Gründe haben: Er kennt die Geste nicht, er hat eine ansteckende Krankheit, er
kann mich nicht leiden, er hat schmutzige Hände usw. Die alleinige Beobachtung
des Nichtergreifens sagt noch wenig über die Bedeutung aus.
54 Reiner Keller

Das „Diskursuniver- Dieses Argument trifft jedoch ‚nur’ den gattungsgeschichtlichen Teil von
sum“ gewährleistet
Meads Überlegungen. Es bleibt also ungeklärt, wie die Entstehung signifikanter
die Verfügbarkeit
signifikanter Symbole Symbole im Übergang von der tierischen zur menschlichen Ebene von Verhal-
tenszusammenhängen erklärt werden kann. Sobald jedoch auf der menschlichen
Verhaltensebene entsprechende Symbolsysteme existieren, kann der Prozess
ganz so funktionieren, wie Mead ausführte. Damit signifikante Symbole tatsäch-
lich im erwähnten Sinne übersituativ signifikant sein können, muss ein gesell-
schaftliches Umfeld vorausgesetzt sein, innerhalb dessen sie zum Einsatz kom-
men. Mead nennt diesen Kontext, innerhalb dessen Symbole ihre Bedeutung
haben, ein „universe of discourse“. Ein solches Diskursuniversum (oder ‚Sprach-
universum’) entsteht aus den Interaktionen von Menschen innerhalb sozialer
Beziehungen. Es ist eine ‚Redegemeinschaft’, in der permanent Bedeutungen,
also signifikante Symbole, produziert und reproduziert werden. Dies schließt ein
gewisses Maß an ‚Kommen und Gehen’ ein: immer wieder verschwinden Sym-
bole, also beispielsweise Wörter oder Ausdrücke, die nicht mehr benutzt werden,
und neue kommen hinzu. Ein solches Diskursuniversum „wird aus einer Gruppe
von Individuen gebildet, die an einem gemeinsamen Erfahrungs- und Verhal-
tensprozeß teilnehmen“ (Mead 1973: 129f). In diesem Prozess haben die Symbo-
le für alle Mitglieder dieser Gruppe den „gleichen oder einen allen gemeinsamen
Sinn“, egal ob es sich um die Benutzer oder Adressaten signifikanter Gesten
handelt. Das Diskursuniversum ist ein im historisch-gesellschaftlichen Prozess in
mehr oder weniger voneinander abgrenzbaren Kollektiven entstandenes und
veränderliches System gemeinsamer Bedeutungen.

Als „Diskursuniversum“ bezeichnet Mead ein System konventionalisierter


Zeichen und Bedeutungen, das innerhalb sozialer Gruppen in Interaktionen
und im Sprechen produziert, reproduziert und verändert wird.

3.1.3 Die Entwicklung des Einzelnen zum sozialen Selbst

Das individuelle Das Vermögen, die Kompetenz des Gebrauchs signifikanter Symbole lässt sich
Bewusstsein entsteht
nicht erklären, wenn man annimmt, dass ein Individum mit seinem Bewusstsein
durch den sozialen
Prozess der Kommu- außerhalb oder vor dem sozialen Prozess existiert. Ein lebendiger menschlicher
nikation Körper hat noch keine Vorstellung von sich, ist nicht gleichzusetzen mit den
Denkprozessen im Bewusstsein. Vielmehr setzen Denkprozesse die Verfügung
über signifikante Symbole voraus – sonst wäre Denken nicht sinnhaft. Da signi-
fikante Symbole jedoch nur in sozialen Erfahrungs- und Handlungszusammen-
hängen entstehen, ist das Phänomen des Bewusstseins nunmehr eine sekundäre
Erscheinung í das ist das zentrale Argument der Meadschen Position. Deswegen
müsse man das denkende „Ich“ „aus dem sozialen Prozeß und aus der Kommu-
nikation heraus beschreiben. ... Das Bewußtsein entsteht durch Kommunikation,
durch Verständigung im sozialen Prozeß oder im Zusammenhang der Erfahrung
í nicht Kommunikation durch Bewußtsein.“ (Mead 1973: 217)
Das interpretative Paradigma 55

Das Bewusstsein entsteht durch Kommunikation im sozialen Prozess í nicht


Kommunikation durch Bewusstsein.

Die Bedeutung der Objekte oder Dinge in der Welt ergibt sich nicht aus diesen Die objektive Realität
von Perspektiven
selbst, sondern sie wird durch die kommunikativ induzierten Bewusstseinspro-
zesse und die „Organisation von Haltungen“ der Individuen diesen Dingen ge-
genüber konstituiert. Solche Bewusstseinsprozesse und ‚Haltungen’ sind im
beschriebenen Sinne Ergebnisse der sozialen Bedeutungskonfiguration in gesell-
schaftlichen Handlungs- und Erfahrungszusammenhängen, in sozialen „Diskur-
suniversen“. Dabei spielt auch der Organismus eine Rolle, denn seine Erfah-
rungsmöglichkeiten, beispielsweise sein Geruchsempfinden, die Organisation
seines Sehapparates usw. sind zentral für den „Erfahrungsinhalt“ eines Objekts.
Die Eigenschaften der Welt oder Wirklichkeit für soziale Gruppen oder Gesell-
schaften sind jedoch immer nur Eigenschaften im Hinblick auf ihre besondere
Perspektive, ihr besonderes System signifikanter Symbole, mittels derer sie sich
ihre Erfahrung der Welt vergegenwärtigen. Das unterscheidet sich dann auch
zwischen verschiedenen Organismen bzw. Lebensformen. Mead spricht deswe-
gen in vergleichsweise „revolutionärer“ Weise davon, dass das einzig „Objekti-
ve“ die „objektive Realität von Perspektiven“ sei. Eine solche Position nimmt
einige Erkenntnisse der modernen sozialwissenschaftlichen Wissenschaftsfor-
schung vorweg. Sie ist deswegen so bedeutsam, weil sie die Erkennbarkeit einer
„objektiven“, für alle Organismen in gleicher Weise bestehenden „Natur“ be-
streitet:

„Also ist der Organismus in gewissem Sinne für unsere Umwelt verantwortlich. Und
da Organismus und Umwelt einander bestimmen und jeweils in ihrer Existenz von-
einander abhängen, folgt daraus, daß der Lebensprozeß, um adäquat verstanden zu
werden, als Wechselbeziehung zwischen beiden begriffen werden muß. In der sozia-
len Umwelt entstehen Bedeutungen aus dem Prozeß des sozialen Handelns; soziales
Handeln besteht aus einer Struktur objektiver Beziehungen innerhalb der Gruppe
von Organismen, die an solchem Handeln, an Prozessen sozialer Erfahrung und so-
zialen Verhaltens, beteiligt sind. Die Außenwelt besitzt bestimmte Eigenschaften
nur in Relation zu einer interagierenden sozialen Gruppe von einzelnen Organismen;
ebenso hat sie andere Eigenschaften nur für jeweils einzelne Organismen.“ (Mead
1969: 248)

Bewusstsein entsteht in tatsächlichen Interaktionen, im sozialen Prozess und In ihrer Sozialisation


erwerben Menschen
setzt die Fähigkeit zur Reflexion voraus; Erfahrungen der Individuen sind nur
die Kompetenz zum
möglich, sofern sie Mitglieder eines sozialen Zusammenhangs, einer Gesell- Symbolgebrauch und
schaft sind – hier setzt Meads Sozialisationstheorie an. Menschen werden gebo- damit ihre Ich-
ren in bestehende „Diskursuniversen“, d.h. in soziale Gruppen und Gemeinschaf- Identität
ten, die bereits über ein ausgebildetes System signifikanter Symbole verfügen.
Diese Symbole sind innerhalb eines sozialen Kollektivs „universal“, das heißt
allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern in ihrer Bedeutung hinreichend geläu-
fig. Im Prozess der individuellen Entwicklung, insbesondere in den frühesten
Phasen der Kindheit werden Kinder in dieses Symbolsystem eingeführt, „hinein-
sozialisiert“. Sie internalisieren seine wichtigsten Elemente und Anwendungs-
56 Reiner Keller

weisen. Dabei entwickeln sie ihre Denkfähigkeit und die Vorstellung von ihrer
„Ich-Identität“, d.h. ein „Selbst-Bewusstsein“ sowie die Fähigkeit zur Rollen-
übernahme. Mead spricht vom „Self“, das aus den Komponenten des „I“ (Ich)
I und des „Me“ (Mich) besteht. Das „I“ steht für die individuellen kreativen, akti-
ven Elemente des Bewusstseins. Das „Me“ ist der Blick, den ich auf mich durch
Me
die Perspektive der Anderen einnehmen kann, also die Art und Weise, wie ich
Self sehe, wie andere mich wahrnehmen und auf mich reagieren. Das „Selbst“ ist das
Gesamt, die Identität, die aus dem Zusammenspiel von I und Me entsteht. Es ist
keineswegs Ergebnis einer individuellen Entwicklung, sondern es „entsteht aus
dem Prozeß sozialer Erfahrung und sozialen Handelns; d.h. es entwickelt sich im
betreffenden Individuum als Ergebnis seiner Beziehungen zum sozialen Prozeß
insgesamt und zu den anderen Individuen in diesem Prozeß.“ (Mead 1969: 263)

Nach Mead besteht das „Self“ aus den Komponenten des „I“ (Ich) und des
„Me“ (Mich). Das „I“ steht für die individuellen kreativen Elemente des Ich-
Bewusstseins. Das „Me“ ist der Blick, den ich auf mich durch die Perspektive
der Anderen einnehmen kann. Das „Selbst“ ist das Gesamtbild, die Identität,
die aus dem Zusammenspiel von „I“ und „Me“ entsteht. Es ist wegen seiner
Entstehung in sozialen Interaktions- und Kommunikationsprozessen eine „ge-
sellschaftliche Struktur.“

Das Ich ist eine Das Ich-Bewusstsein ist zwar im Körper lokalisiert, aber es ist nicht mit diesem
gesellschaftliche
Körper identisch. Vielmehr kann man sich ja gerade aus einer gewissen Distanz
Struktur
auf den eigenen Körper beziehen, sich ihm reflexiv zuwenden, seine Reaktionen
beobachten.10 Dies gilt ähnlich für die gedankliche Beschäftigung mit den eige-
Philosophische nen Gefühlen, Empfindungen, Stimmungen, Erlebnissen, Erinnerungen usw.
Anthropologie
Natürlich ist unser Alltagsleben nicht durchgängig von solchen Momenten der
Reflexion durchzogen. Viele Handlungen vollziehen wir ganz routiniert, ohne
uns damit zu beschäftigen: ich gehe, rede dabei, sondiere nebenbei, ob ich Pas-
santen ausweichen muss; gleichzeitig atmet mein Körper, mein Blut zirkuliert
usw. Meads Grundannahme ist ähnlich wie schon bei Cooley, dass die Erfahrung
des eigenen „Selbst“ nicht unmittelbar erfolgt, sondern vermittelt wird über den
Standpunkt anderer Individuen bzw. den verallgemeinerten Standpunkt einer
sozialen Gruppe, der man angehört: „Das Ich ist í in der Form, in der es ein
Objekt seiner selbst sein kann í im Grunde eine gesellschaftliche Struktur, es
entsteht in sozialer Erfahrung. Nachdem ein Ich entstanden ist, sorgt es gleich-
sam selbst für seine gesellschaftlichen Erfahrungen.“ (Mead 1969: 268) Men-
schen verfolgen ständig, wie sie auf andere Menschen wirken; sie orientieren
sich, ihr Sprechen und ihr nicht-sprachliches Verhalten am Verständnis signifi-
kanter Symbole und bemühen sich dadurch um eine Kontrolle der Anschluss-
handlungen.

10
In der deutschen Tradition der Philosophischen Anthropologie spricht man im Anschluss an Hel-
muth Plessner (1975) von der „exzentrischen Positionalität“ als dem konstitutiven Merkmal des
Menschlichen, d.h. von der Fähigkeit, sich selbst von außen, als Objekt zu betrachten, nicht nur ‚Leib
zu sein’, sondern seinen ‚Körper zu haben’.
Das interpretative Paradigma 57

Denken ist nichts anderes als eine nach innen genommene Interaktion, ein Das Ich ist ein
Prozess
Selbst-Gespräch, das im Prinzip so funktioniert wie die tatsächliche Kommuni-
kation mit anderen. Bedeutsam ist weiterhin, dass wir mit verschiedenen Ande-
ren auch unterschiedliche Interaktionen und Beziehungen unterhalten. Nach
Mead kann von verschiedenartigen Formen des Ich gesprochen werden, die aus
den jeweiligen sozialen Prozessen entstehen. Die Ich-Identität besteht aus vielen,
in unterschiedlichen Zusammenhängen ausgebildeten elementaren Teil-Ichs; sie
ist keineswegs stabil, sondern ein Prozess, der nach Maßgabe von sozialen Er-
fahrungszusammenhängen Veränderungen unterliegt. Sie setzt signifikante Sym-
bole und damit ein hinreichend stabilisiertes Diskursuniversum voraus, nicht
zuletzt auch die Fähigkeit, sich in die Perspektiven der Anderen hineinzuverset-
zen und sich mit deren Augen zu sehen. In der sozialisatorischen Ausbildung
dieser Fähigkeiten kommt dem kindlichen Spielen und dem Erlernen von Gesell-
schaftsspielen eine besondere Funktion zu. Im freien Rollenspiel („play“) mit
Play
häufigen Rollenwechseln lernen Kinder, sich aus den Augen der Mutter, des
Vaters oder anderer Bezugspersonen zu sehen und aus der Fremdperspektive zu
formulieren, was diese von ihnen erwarten, etwa beim ‚Mutter-Vater-Kind-
Spiel’. Vater und Tochter spielen dann z.B. mit mehr oder weniger großer Hin-
gabe und Puppenarsenal ‚Kindergartenausflug’. In diesem Stadium der Ich-
Entwicklung orientiert sich das Individuum an genau bestimmten Anderen, meist
an den wichtigsten Bezugspersonen seiner unmittelbaren Kindheits-Umgebung
(z.B. Mutter, Vater, Geschwister). Es handelt sich dabei in Meads Verständnis
Signifikante Andere
um „signifikante Andere“, d.h. um konkrete Andere mit í aufgrund der früh-
kindlichen Abhängigkeiten í besonderer Nähe zum und Einflusschancen auf das
Kind. Bspw. verkörpert in dieser Phase und unter den gegenwärtigen soziohisto-
rischen Bedingungen im westlichen Kulturkreis die Mutter häufig die Welt der
Anderen schlechthin. Erst später entdeckt das Kind die Welt jenseits des oder der
signifikanten Anderen. Das geschieht dann wesentlich im regelorientierten Spiel
(„game“), also in Wettkampfspielen bzw. Gesellschaftsspielen nach festen Re- Game
geln. Hier ist zunächst die eigene Rolle festgelegt: Torwart oder Stürmer, aber
nicht beides zugleich, und es gibt ein vergleichsweise enges Regelkorsett, das
beachtet werden muss, damit das Zusammen-Spiel erfolgreich ist. Auch dabei
wird die Perspektivenübernahme eingeübt, freilich in einem anderen Sinne: Das
Kind lernt, dass die verschiedenen Rollen aufeinander angewiesen sind, es muss
die Haltung der anderen in dieser Hinsicht einnehmen können und auch seine
Position im Zusammenhang erkennen. Mead nennt diese Berücksichtigung der
allgemeinen Perspektive die Einnahme der Position des „generalisierten Ande-
ren“. Wo das Kind vorher nur sah, dass Mutter oder Vater nicht wollen, dass es
bei Tisch rülpst, weiß es nun: ‚Man’ tut das nicht:

„Die organisierte Gemeinschaft oder soziale Gruppe, die dem Individuum die Ein- Generalisierte
heit seines Ichs gibt, kann der ‚generalisierte Andere’ genannt werden. Die Haltung Andere
des generalisierten Anderen entspricht der Haltung der gesamten Gemeinschaft. Bei
einer sozialen Gruppe, wie z.B. einer Baseballmannschaft, ist also die Mannschaft
insofern der generalisierte Andere, als sie í als organisierter Prozeß sozialen Han-
delns í in die Erfahrung jedes einzelnen Mitglieds eingeht.“ (Mead 1969: 282)
58 Reiner Keller

Im freien Rollenspiel (play) erwirbt das Kind die Kompetenz der Übernahme
der Rollen von signifikanten Anderen. Signifikante Andere sind die wichtigs-
ten Bezugspersonen der frühen Kindheit (z.B. Mutter, Vater, Geschwister). Im
geregelten Wettkampfspiel (game) erwirbt das Kind die Kompetenz der Über-
nahme der Rollen des generalisierten Anderen. Der generalisierte Andere ist
das ‚man’, die allgemeine Struktur eines Rollengefüges und der damit ver-
bundenen Verhaltenserwartungen. Das Kind begreift sich hier als Teil eines
sozialen und allgemeinen Erwartungszusammenhangs, in dem es eine spezifi-
sche Rolle einnimmt. Der generalisierte Andere kann eine Sportmannschaft
sein bzw. später dann ganz allgemein ‚die Gesellschaft’.

Die soziale Genese Die Einnahme dieser vielen Perspektiven oder allgemeiner: der Haltung des
des Ich bedeutet nicht
generalisierten Anderen ist die Voraussetzung dafür, auch das eigene Ich zu
seine soziale Deter-
mination bestimmen. Das Ich entwickelt sich in sozialen Beziehungen. Das bedeutet nicht,
das Ich bestehe nur aus dieser von Außen induzierten „Struktur der Haltungen“.
Zwar „können (wir) nur dann wir selbst sein, wenn es eine Gemeinsamkeit der
Haltungen gibt, die die Haltungen aller Mitglieder einer Gemeinschaft kontrol-
lieren.“ (Mead 1969: 291) Und koordinierte Aktivitäten sozialer Kollektive sind
nur möglich, insoweit ihnen Individuen angehören, die die entsprechenden
Kompetenzen der Rollenübernahme und die damit verknüpften Ich-Identitäten
ausgebildet haben. Doch in der weiter oben erwähnten Identitäts-Komponente
des „I“ wurzelt etwas Unvorhersehbares, Unbestimmtes, es ist der Sitz der Frei-
heit, Spontaneität, Kreativität. Das den Ball auf dem Fußballfeld spielende „I“
kann unkonzentriert einen Fehlpass schlagen; es kann sich über einen gelunge-
nen Spielzug freuen und darüber vergessen, dass das Spiel weitergeht. Demge-
genüber steht das „Me“ für die übernommenen Normen und Konventionen der
sozialen Gruppe, der man angehört, für das, was ‚man’ tun darf oder nicht, wenn
man sich an allgemeinen Regeln orientiert. In ihrem Zusammenspiel lassen „I“
und „Me“ zu, dass das Individuum zugleich einmalig, individuell sein kann und
doch im selben Moment durch und durch sozial konstituiert. Im gesellschaftli-
chen Rollengefüge gibt es Positionen, welche die Kreativität des „I“ besonders
hervorheben: dies ist der gesamte Bereich der Kunst. In vielen Situationen des
alltäglichen Handelns spielen entweder das „I“, also der spontane oder impulsive
Ausdruck des Individuellen, oder das „Me“, also die Befolgung der sozialen
Konventionen, eine größere Rolle. Deswegen gelten wir in den Augen anderer
als mehr oder weniger ‚besonders’ oder ‚sonderbar’, deswegen erhalten wir An-
erkennung für eine spezifische Art von Individualität, die uns unverwechselbar,
beliebt, unsichtbar oder verhasst macht im Kreis der sozialen Gruppen und Be-
ziehungen, in denen wir uns bewegen.

3.1.4 Kommunikation und Gesellschaft

Das gesellschaftliche Mead führt seine Überlegungen schließlich bis hin zur Ebene der Gesellschaft,
Primat der
der Institutionen und ihres Zusammenhangs. Gegen Marx, der das Wesen des
Kommunikation
Menschen in seiner tätigen Auseinandersetzung mit der Natur in Gestalt von
Das interpretative Paradigma 59

„Arbeit“ sah und dies als primäres gesellschaftliches Verhältnis betrachtete (vgl.
Bd.1, S. 67ff.), betont Mead, dass die Abstimmung der Arbeitsprozesse, der
religiösen Rituale, des Wirtschaftens usw. der Kommunikation bedarf: „Der
Kommunikationsprozeß ist also in gewissem Sinn universaler als diese verschie-
denen kooperativen Prozesse. Er ist das Medium, durch das die kooperativen
Tätigkeiten in einer ihrer selbst bewußten Gesellschaft abgewickelt werden kön-
nen.“ (Mead 1973: 306) Erst die Inhalte der Kommunikation entwickeln sich aus
den Situationen, in denen sich Gesellschaften wiederfinden. Gesellschaftliche
Institutionen sind nichts anderes als „eine gemeinsame Reaktion bei allen Mit-
gliedern einer Gesellschaft auf eine bestimmte Situation“. (Mead 1969: 319)
Konkret bestimmt sich dies natürlich nach den Praxisfeldern oder Handlungsbe-
reichen, die in den Blick genommen werden: Die Organisation einer Fußball-
weltmeisterschaft erfordert andere Bündelungen von Reaktionen als der Umgang
mit abweichendem Verhalten, Diebstählen usw., bei denen Staatsanwälte, Rich-
ter, Polizisten zum Einsatz kommen. Doch in allen Fällen handelt es sich um
mehr oder weniger weit reichende „organisierte Reaktionsketten“, die auf der
menschlichen Fähigkeit zum Symbolgebrauch beruhen. Mit der Kompetenz des
Gebrauchs signifikanter Symbole wird zugleich die Fähigkeit zur Rollenüber-
nahme erworben. Menschen können sich dann in die „Rolle des Gegenüber“
versetzen. Erst dadurch wird die Abstimmung und Vernetzung von Rollenhan-
deln möglich. Ein Individuum muss im Sinne der Kenntnis des signifikanten
Symbols beispielsweise wissen, was ein „Verkäufer“ ist, um sich als „Kunde“ in
seinem Handeln darauf zu beziehen – und umgekehrt (vgl. Mead 1969: 320f).
Das lässt sich schließlich auf das Verständnis von Gesellschaft insgesamt bezie-
hen: Letztere ist nicht mehr und nicht weniger als eine „organisierte Gruppe von
Reaktionen auf bestimmte Situationen.“ (Mead 1973: 317) Perspektivisch deutet
Mead hier bereits an, dass ein Gefühl der Zugehörigkeit zur Welt-Gemeinschaft
im Entstehen begriffen sei, dass also die lokalen Beziehungen und Institutionen
sich mehr und mehr mit denen in allen Teilen der Welt verknüpfen und daraus –
dies ist seine Hoffnung í entsprechende Orientierungen an einem generalisierten
Anderen auf der Ebene der Weltgesellschaft, in einer „Konstellation der univer-
salen Nachbarschaft“ (Mead 1973: 321) entstehen könnten.

Der Begriff „Gesellschaft“ bezeichnet nach Mead eine von anderen Umgangs-
weisen unterscheidbare, organisierte Gruppe von Reaktionen auf bestimmte
Situationen.

3.2 Der Symbolische Interaktionismus

Der Symbolische Interaktionismus (SI) interessiert sich dafür, wie Individuen in Der Symbolische
Interaktionismus
Interaktionsprozessen und durch Symbolgebrauch ihre Annahmen über die
entwickelt aus Meads
Wirklichkeit bzw. allgemeiner: die symbolische Ordnung ihrer Welt erzeugen, Analysen eine sozio-
stabilisieren und verändern. Gesellschaft gilt ihm als permanenter, vernetzter logische Perspektive
Prozess der Herstellung und Veränderung solcher Ordnungen. Der SI greift ne-
ben den Überlegungen Meads das Handlungsmodell des philosophischen Prag-
60 Reiner Keller

matismus und die Tradition der Chicago School of Sociology auf. Dabei fließen
zusätzlich Ideen von Georg Simmel über die beständigen „Wechselwirkungen
zwischen den Individuen“ als Grundlage aller sozialen Gebilde (vgl. Bd.1, S.
136) und aus der deutschen ‚Verstehenstradition’ ein, die mit den Namen Wil-
helm Dilthey (1833-1911) und Max Weber (vgl. Bd.1, S. 165f.) verbunden ist.
Dilthey hatte die Besonderheit der Geisteswissenschaften in der Aufgabe des
„Verstehens“ kultureller Erscheinungen gesehen. Diese ergibt sich deswegen,
weil soziale bzw. kulturelle Phänomene immer aus Bedeutungen bestehen, die
ihrerseits nur deutend analysiert werden können. Simmel und Weber haben sich
in unterschiedlicher Weise ebenfalls mit dieser Verstehensproblematik auseinan-
dergesetzt. Der SI gehört bis heute zu den wichtigsten Teilströmungen des Inter-
pretativen Paradigmas der Soziologie.

Der Symbolische Interaktionismus (SI) untersucht, wie Individuen in Interak-


tionen und durch Symbolgebrauch die symbolische Ordnung ihrer Welt erzeu-
gen. „Gesellschaft“ ist demnach ein netzwerkartiges Gebilde von Interaktio-
nen, in denen solche Ordnungen hergestellt, behauptet und verändert werden.

Blumer prägt den Als theoretische Grundlegung dieses Ansatzes gilt das gleichnamige Buch von
Begriff des
Herbert Blumer („Symbolic Interactionism“, 1969), das Ende der 1960er Jahre
Symbolischen
Interaktionismus erschien und Beiträge aus mehreren Jahrzehnten enthielt. Besonders wichtig ist
der darin enthaltene Aufsatz Blumers „Der methodologische Standort des Sym-
bolischen Interaktionismus“ (Blumer 1981).11 Die dort ausgearbeiteten Annah-
men bilden den „theoretischen Kern“ des Ansatzes. Unter dem von Blumer skiz-
zierten Dach versammeln sich eine Vielzahl von eigenständigen Autoren, die den
SI nutzten und auch weiterentwickelten. Nach der Erläuterung der Position Blu-
mers werden nachfolgend drei Weiterführungen in den Feldern des abweichen-
den Verhaltens (Howard S. Becker), der kollektiven Definition sozialer Proble-
me (Joseph Gusfield) und der Interaktionsprozesse in Organisationen (Anselm
Strauss) vorgestellt.

11
Die deutschsprachige Rezeption des Symbolischen Interaktionismus leidet darunter, dass weder das
Werk Blumers í etwa seine Arbeiten zum Film, zu ethnischen Konflikten und Rassimus oder zu
sozialen Konflikten und kollektiven Akteuren í in seiner inhaltlichen Breite aufgegriffen wurde (vgl.
Blumer 2000) noch viele der Anwendungen, die aus der Tradition des Symbolischen Interaktionismus
heraus in den USA vorangetrieben wurden (vgl. dazu weiter unten Bilanz und Ausblick).
Das interpretative Paradigma 61

Herbert George Blumer (1900-1987)

Herbert Blumer wurde in St. Louis, Missouri, geboren.


Er studierte und lehrte zunächst bis 1925 an der dorti-
gen Universität. 1923 begann er seine Promotion an der
University of Chicago; gleichzeitig wurde er professio-
neller Football-Spieler bei den ‚Chicago Cardinals’.
Seine soziologischen Arbeiten sind stark durch William
Thomas, Ellsworth Faris und George Herbert Mead be-
einlusst und versuchen, deren Positionen zu verbinden
(Helle 2001: 96). Als Mead Anfang der 1930er Jahre
schwer erkrankte, übernimmt er dessen Lehrveranstal-
tung in Chicago; insgesamt lehrte er dort 1925-1952. Von 1941-1952 war
Blumer Herausgeber des American Journal of Sociology. 1956 wurde er Prä-
sident der American Sociological Association. Sozialpolitisch engagierte er
sich als Konfliktvermittler zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften. 1952
wechselte er an die University of California (Berkeley) und übernahm die
Leitung des dort neu gegründeten soziologischen Departments. Blumer arbei-
tete seit Ende der 1930er Jahre über Rassenkonflikte, Kollektivverhalten, in-
dustrielle Beziehungen und die Auswirkungen von Filmen auf das menschli-
che Verhalten. Er interessierte sich beispielsweise für die Entwicklung kollek-
tiver Definitionen in herrschenden Gruppen, die dadurch ihre Macht und ihren
Status erhalten wollen (vgl. Wacker 1995: 143).

Lektürevorschlag:

Blumer, Herbert (1981): Der methodologische Standort des Symbolischen Interaktionis-


mus. In: Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hrsg.): Alltagswissen, Interaktion
und gesellschaftliche Wirklichkeit, Reinbek: rowohlt, S. 80-101 [1969; 1973 für die
deutsche Erstausgabe].
Vertiefung:
Blumer, Herbert (1969): Symbolic Interactionism. Perspective and Method. Englewood
Cliffs (Aufsatzsammlung).
Blumer, Herbert (2000): Selected Works of Herbert Blumer. A Public Philosophy for
Mass Society. Hrsg. von Stanford M. Lyman/Arthur J. Vidich. Urbana/Chicago:
University of Illinois Press [1988].
Charon, Joel M. (2006): Symbolic Interactionism. An Introduction, An Interpretation, An
Integration. 9. Auflage; Upper Saddle River: Prentice Hall (Einführung in den aktu-
ellen Symbolischen Interaktionismus).
Sandstrom, Kent L./Martin, Daniel D./Fine, Gary Alan (2006): Symbols, Selves, and
Social Reality. A Symbolic Interactionist Approach to Social Psychology and Soci-
ology. 2. Auflage. Los Angeles: Roxbury Publishing Company (Einführung in den
aktuellen Symbolischen Interaktionismus).
Webseite: socsci.colorado.edu/SOC/SI/si-tableofcontents.htm (Stand vom 13.05.08).
62 Reiner Keller

3.2.1 Grundannahmen

Drei Grundprämissen Die Grundposition des Symbolischen Interaktionismus lässt sich am besten mit
des Symbolischen
Interaktionismus
drei Prämissen Herbert Blumers kennzeichnen, die an Mead anschließen:

„Die erste Prämisse besagt, daß Menschen ‘Dingen’ gegenüber auf der Grundlage
der Bedeutungen handeln, die diese Dinge für sie besitzen. Unter ‘Dingen’ wird al-
les gefaßt, was der Mensch in seiner Welt wahrzunehmen vermag – physische Ge-
genstände, wie Bäume oder Stühle; andere Menschen, wie eine Mutter oder einen
Verkäufer; Kategorien von Menschen, wie Freunde oder Feinde; Institutionen, wie
eine Schule oder eine Regierung; Leitideale wie individuelle Unabhängigkeit oder
Ehrlichkeit; Handlungen anderer Personen, wie ihre Befehle oder Wünsche; und sol-
che Situationen, wie sie dem Individuum in seinem täglichen Leben begegnen. Die
zweite Prämisse besagt, daß die Bedeutung solcher Dinge aus der sozialen Interakti-
on, die man mit seinen Mitmenschen eingeht, abgeleitet ist oder aus ihr entsteht. Die
dritte Prämisse besagt, daß diese Bedeutungen in einem interpretativen Prozeß, den
die Person in ihrer Auseinandersetzung mit den ihr begegnenden Dingen benutzt,
gehandhabt und abgeändert werden.“ (Blumer 1981: 81)

Handeln orientiert Was bedeuten zunächst diese Prämissen? Beginnen wir mit einer kurzen Diskus-
sich an der Bedeu-
tung der ‚Dinge’ für
sion der ersten Prämisse. Zunächst erinnert sie einerseits an das weiter oben
die Handelnden bereits erwähnte Konzept der „Definition der Situation“ von William I. Thomas;
zusätzlich auch an die Idee der Bedeutungen, die sich beim Menschen zwischen
den äußeren Reiz und seine Reaktion darauf schiebt, so wie das Mead entwickelt
hatte. ‚Dinge’ sind hier nicht nur tatsächliche materielle Objekte, sondern auch
sehr abstrakte Ideen (Freiheit, Fortschritt, Frieden), soziale Handlungszusam-
menhänge (Institutionen und Organisationen), Verhaltensweisen und Tätigkeiten
(arbeiten, faulenzen, helfen), menschliche oder tierische Lebewesen, Pflanzen,
Hergestelltes und ‚Natürliches’ usw. Blumer unterscheidet deswegen zwischen
physikalischen (Baum), sozialen (Freund) und abstrakten (Freiheit) Objekten.
Mit dem Hinweis auf die ‚Bedeutung’ dieser Dinge ist keine besondere ‚Wich-
tigkeit’ bezeichnet, etwa in dem Sinne, wie beispielsweise ein bestimmtes Buch,
eine bestimmte Person, der man begegnet ist, für einen „von Bedeutung“ war.
Der Begriff der Bedeutung verweist vielmehr auf den Sinn oder die Sinndimen-
sion solcher ‚Dinge’. Wenn wir von einem Baum, einer Mutter, einem Freund,
einer Schule usw. sprechen, dann beinhalten diese Begriffe ja mehr als das jewei-
lige Wort. Das Wort oder Zeichen ist nur der Träger der Bedeutung, des Sinnge-
haltes, den wir mit dem Begriff verbinden, und den wir darüber hinaus verwen-
den, um etwas Tatsächliches, ein Ding, ein Phänomen, ein Handeln oder einen
Prozess zu benennen. Das schließt nicht aus, dass wir mit dem Bezeichneten in
manchen Fällen auch eine ‚besondere Bedeutung’ verbinden: „Mein Kind“ hat
für mich eine andere Bedeutung als „die Kinder auf dem Spielplatz“. Aber in
beiden Fällen ist mit dem Wort „Kind“ auch ein ungefähres Alter und eine spezi-
fische gesellschaftliche Stellung zu den Erwachsenen usw. bezeichnet. Das alles
(und noch viel mehr) gehört zur Bedeutung des ‚Dinges’ „Kind“. Will man das
Handeln von Menschen verstehen, muss man wissen, wie ihre „Welt von Objek-
ten“ aufgebaut ist. Diese Objekte sind „soziale Schöpfungen“, die betrachtet
werden müssen „als in einem Definitions- und Interaktionsprozess, wie er in der
Das interpretative Paradigma 63

Interaktion zwischen Menschen abläuft, geformt und aus ihm hervorgehend.“


(Blumer 1981: 91)
In der zweiten Prämisse heißt es nun, dass diese Bedeutung aus der sozialen Die Bedeutung
entsteht in
Interaktion mit Anderen abgeleitet ist oder entsteht. Erinnern wir uns: Weiter Interaktionen
oben hatten wir erläutert, wie George Herbert Mead ganz allgemein die ge-
schichtlich-evolutionäre Entstehung von „signifikanten Symbolen“, also Symbo-
len, die für die Mitglieder einer sozialen Gruppe die gleiche Bedeutung haben,
aus der Interaktion ableitet. Mein Tun, die Reaktion des Gegenüber und mein
Wahrnehmen dieser Reaktion í alles in allem also: der Interaktionsprozess í
entscheiden über die Bedeutung eines Tuns, eines Dings, einer Handlung. Da wir
als menschliche Wesen in soziale Kollektive hineingeboren werden, in denen
bereits in einem historisch langwierigen Prozess ein oder mehrere Systeme von
signifikanten Symbolen herausgebildet wurden í die sich im Übrigen in perma-
nentem Umbau befinden í, übernehmen wir im Sozialisationsprozess diese
Symbolsprachen bzw. wir entwickeln in Interaktionen die Kompetenz, sie selbst
einzusetzen und in interpretierenden Prozessen mit solchen Symbolen umzuge-
hen. Das sind die üblichen Deutungsroutinen, auf die wir in unserem Handlungs-
vollzug gleichsam nebenbei zurückgreifen, uns wechselweise permanent Bedeu-
tungsangebote machen und bestätigen, ohne die wir schon bei kleinsten Hand-
lungs- und Interaktionszusammenhängen hoffnungslos überfordert wären. Doch
das ist nur die eine der in dieser Prämisse enthaltenen Lesarten. Denn sie lässt
sich auch so verstehen, dass wir tatsächlich im gemeinsamen Handeln mit ande-
ren, in Interaktionen die Bedeutung von Dingen erzeugen. Das kann für abstrakte
Ideen wie „Frieden“ nachvollzogen werden, etwa dann, wenn zwischen zwei
Gegnern erst Übereinstimmung gestiftet werden soll, was darunter in einem
konkreten Fall verstanden werden soll. Das passiert bei der wissenschaftlichen
Entdeckung neuer Phänomene, etwa, wenn Astronomen aus bestimmten Mess-
größen auf die Existenz eines Sternes, eines Planetensystems oder eines schwar-
zen Loches usw. schließen. Das stimmt für unsere schon etwas konkreteren all-
täglichen Vorstellungen etwa davon, was eine ‚beste Freundin’ ausmacht und auf
wen diese Bezeichnung unter welchen Bedingungen anzuwenden (oder auf-
zugeben) ist. Das gilt aber auch für ganz ‚handfeste’ Dinge wie beispielsweise
einen Stuhl oder einen Tisch, deren ‚Bedeutung’ wir uns ja Tag für Tag wech-
selweise bestätigen. Dadurch reproduzieren wir sie zugleich, wir vergewissern
uns gegenseitig der Gültigkeit genau dieser Bedeutung. In mehrfacher Hinsicht
kann man also feststellen: „Die Bedeutung eines Dinges für eine Person ergibt
sich aus der Art und Weise, in der andere Personen ihr gegenüber in bezug auf
dieses Ding handeln.“ (Blumer 1981: 83)
In der dritten Prämisse spricht Blumer von einem interpretativen Prozess, Bedeutungen werden
in interpretativen
innerhalb dessen wir die Bedeutung „handhaben“ oder auch verändern. Norma-
Prozessen gehandhabt
lerweise funktioniert unser alltägliches Deuten weitgehend reibungslos: Ein
Tisch ist ein Tisch, ein Stuhl ein Stuhl, ein Schmerz ein Schmerz, eine Rose eine
Rose usw. Mead hatte darauf hingewiesen, dass die Denkprozesse im Einzelbe-
wusstsein als eine Art „innere Interaktion“ verstanden werden können. Sie sind
nur möglich, wenn und insoweit wir über die Kompetenz der Nutzung „signifi-
kanter Symbole“ verfügen. Bedeutungen liegen nicht ‚an sich’ in den gegen-
ständlichen oder nicht-gegenständlichen Objekten und Prozessen in der Welt,
64 Reiner Keller

sondern sie werden von uns im Kontakt und Wechselprozess, also in der Begeg-
nung mit der Welt durch ‚Interpretation’ zugewiesen. Das hatte ähnlich bereits
das weiter oben erwähnte Handlungsmodell des Pragmatismus so beschrieben.
Blumer betont, dass dieser Prozess aus „zwei Schritten“ bestehe. Der Handelnde
macht sich selbst auf die für ihn bedeutsamen Dinge (beispielsweise Bestandteile
einer Situation) aufmerksam und prüft dann weiter deren Bedeutung für sein
Handeln. In beiden Fällen handelt es sich um einen „internalisierten sozialen
Prozess“, eine ‚Interaktion des Handelnden mit sich selbst’, die „nicht als rein
automatische Anwendung bestehender Bedeutungen“, sondern als „formender“,
für Veränderungen offener Prozess gedacht werden muss (Blumer 1981: 84).
Von ‚symbolischer Interaktion’ zu sprechen, bedeutet hier keinen Gegensatz zu
einer ‚realen Interaktion’ und bezeichnet auch keine besondere Form (etwa die
‚symbolische’ Kreuz-Geste des katholischen Priesters bei der Vergebung der
Sünden), sondern bezeichnet die Art und Weise, wie alle menschlichen Interakti-
onen vermittelt werden: über den Gebrauch signifikanter Symbole.

Die drei Prämissen des SI lauten


1. Menschen handeln gegenüber ‚Dingen’ auf der Grundlage der Bedeutun-
gen, die diese Dinge für sie besitzen.
2. Die Bedeutung solcher Dinge ist aus sozialen Interaktionen abgeleitet.
3. Die Bedeutung wird in einem interpretativen Prozess gehandhabt und ver-
ändert.

Ein Beispiel für den Die Interpretationsleistungen der menschlichen Akteure enthalten also ein star-
Widerstand der
kes kreatives Moment. Nur dann sind sie im Sinne des Pragmatismus in der La-
Wirklichkeit gegen
Deutungen ge, auf Störungen, Irritationen, Probleme, kurz: Widerständigkeiten der Wirk-
lichkeit und Welt zu reagieren. Bedeutungszuschreibungen können nämlich an
der Realität ‚scheitern’ (Blumer 1981: 103f). Das lässt sich durch ein einfaches
Beispiel erläutern: Nehmen wir an, Sie gehen durch eine Geschäftsstraße und
sehen plötzlich eine maskierte Person mit einer Tasche und einer Pistole aus
einer Bank herauslaufen. Vermutlich werden Sie diese Situation als Banküberfall
wahrnehmen (also deuten). Kurz nach Verlassen der Bank stoppt jedoch die
Person, zieht sich die Maske vom Gesicht und ruft: „War das gut so?“ Sie wen-
den sich um und erkennen (deuten!), dass sie in ein Filmset hineingeraten sind.
Sie verändern also ihre Deutung der Situation. Kriminalgeschichten spielen da-
mit, dass sie beständig zunächst nahe liegende Deutungen von Situationen durch
die Hinzufügung von Details oder Hintergrundwissen verändern. Im Alltag ver-
fügen wir über enorme Kompetenzen der reaktionsschnellen Umdeutung; in
systematisierter Form wird das Suchen nach ‚angemessenen’ Interpretationen
beispielsweise in den Wissenschaften betrieben. Der Symbolische Interaktionis-
mus ist also eine Theorieperspektive, die die Bedeutung der durch Symbole ver-
mittelten menschlichen Interaktionen für den Aufbau der gesellschaftlichen
Wirklichkeit hervorhebt.
Das interpretative Paradigma 65

3.2.2 Von der Symbolischen Interaktion zur Gesellschaft

Aufbauend auf den erläuterten Prämissen entwirft Blumer nun ein Theorie- Menschliche Gesell-
schaften bestehen aus
Gerüst der „Kernvorstellungen“ des Symbolischen Interaktionismus von Gesell- Verkettungen von
schaft und menschlichem Verhalten (Blumer 1981: 86ff). Menschliche Gruppen Handlungen
und Gesellschaften bestehen demnach nur in Handlungen; sie müssen soziolo-
gisch deswegen in einem handlungs- bzw. genauer: interaktionstheoretischen
Ansatz, mit „Handlungskategorien“ analysiert werden. Der Mensch wird hier als
Organismus betrachtet, der sowohl zu nicht-symbolischem (Bsp.: mit dem
Hammer einen Nagel in die Wand schlagen) wie zu symbolischem Handeln
(Bsp.: Flirt, Klatsch) fähig ist. Dies impliziert, dass er eine Ich-Identität bzw. ein
„Selbst“ sowie die Kompetenzen zur Zeichen- und Symbolnutzung ausbildet und
dass er in der Lage ist, mit sich selbst im beschriebenen Sinne zu „interagieren“
bzw. zu kommunizieren, sich also etwas anzuzeigen und darauf wiederum zu
reagieren. Der Mensch ist deswegen nicht in reflexartigen Reiz-Reaktionsketten
gefangen, sondern er handelt und entwirft entsprechende Handlungspläne oder -
verläufe. Alles, was über längere Zeit als stabile gesellschaftliche Wirklichkeit
existiert, also sowohl Deutungsstrukturen wie auch soziale Strukturen (bei-
spielsweise Institutionen, Organisationen), entsteht aus dem permanenten Tun
der Menschen und wird darin reproduziert oder transformiert. Bei den erwähnten
individuellen oder kollektiven Handlungen handelt es sich überwiegend um
symbolische Interaktionen, die Bestandteile von Interaktionsketten sind. Die
„Objekte“ und „Welten“, die für Menschen bzw. menschliche Kollektive existie-
ren, sind das Produkt symbolischer Interaktionen. Dies gilt auch für „eine Ar-
mee“, eine „Körperschaft“, eine „Nation“ (Blumer 1981: 96). Der Gegenstand
der Soziologie, also soziale Phänomene wie Heirat, Handel, Krieg, Gottesdienst
usw., lässt sich als „gemeinsames Handeln“ begreifen, das tatsächlich aus mitun-
ter weit reichenden Verkettungen von Einzelhandlungen zusammengesetzt ist.
Blumer spricht deswegen auch von „komplexen Netzwerken von Handlungen“,
beispielsweise im Hinblick auf die gesellschaftliche Arbeitsteilung.

Menschliche Gesellschaften bestehen nur in Handlungen bzw. in komplexen


Netzwerken von Handlungen; sie müssen soziologisch deswegen im Rück-
griff auf „Handlungskategorien“ analysiert werden. Die über längere Zeit als
stabil empfundene gesellschaftliche Wirklichkeit entsteht aus dem permanen-
ten Tun der Menschen. Bei den erwähnten Handlungen handelt es sich über-
wiegend um Elemente von symbolisch vermittelten Interaktionen, die Be-
standteile von Interaktionsketten sind. Die „Objekte“ und „Welten“, die für
Menschen existieren, sind deswegen das Produkt symbolischer Interaktionen.

Anselm Strauss, einer der wichtigsten Schüler Blumers, hat in einem Interview Der Symbolische
Interaktionismus will
erwähnt, Blumer habe wenig Hinweise zum konkreten Vorgehen gegeben: „Blu-
‚die Schleier lüften’
mer besaß überhaupt keine Methode. Er sagte einfach: ‚Mach mit den Daten, was
du willst’.“ (Strauss, zit. in Legewie 2004, Abs. 22) Allerdings war es für Blu-
mer unstrittig, was das Ziel der qualitativen Vorgehensweisen sein sollte, in
66 Reiner Keller

denen Sozialwissenschaftler letztlich auf die Deutungskompetenzen zurückgrei-


fen, die auch die Handelnden selbst einsetzen (vgl. Blumer 1981: 117ff):

„Die Metapher, die mir gefällt, ist die, daß man die Schleier lüftet, die das Gesche-
hen verdunkeln oder verdecken. (...) Die Schleier werden nicht dadurch gelüftet, daß
man die direkte Kenntnis, in welchem Ausmaß auch immer, durch vorgeformte Vor-
stellungen ersetzt. Die Schleier werden vielmehr dadurch gelüftet, daß man nahe an
diesen Bereich herankommt und durch sorgfältige Forschung tief in ihn eindringt.
Methodologische Schemata, die dies nicht ermutigen oder ermöglichen, verraten das
Grundprinzip, die Beschaffenheit der empirischen Welt zu berücksichtigen.“ (Blu-
mer 1981: 121)

Deswegen gehen, so Blumer mit Blick auf Talcott Parsons, Theorien des sozia-
len Systems (und, so ließe sich ergänzen: makrostrukturell argumentierende
Kritische Theorien), aber auch Konflikttheorien (vgl. S. 215ff.) oder Theorien
rationaler Wahl (vgl. S.339ff.), die spezifische Handlungsformen zum allgemei-
nen Modell erheben, in ihrer Analyse des Sozialen „wunderliche“ und falsche
Wege. Demgegenüber liege der Weg der soziologischen Erklärung „in der Art,
in der die Teilnehmer die Situationen in ihren jeweiligen Positionen definieren,
interpretieren und ihnen begegnen.“ (Blumer 1981: 141).

Lektürevorschlag:

Eine amüsante Anwendung und Explikation des SI anhand eines Sketches von Loriot hat
Dirk Koob verfasst: „Loriot als Symbolischer Interaktionist. Oder: Warum man
selbst in der Badewanne gelegentlich soziale Ordnung aushandeln muss.“ Dieser
Text ist online verfügbar unter Forum Qualitative Sozialforschung 8(1), Art. 27:
http://www.qualitative-research.net/fqs-texte/1-07/07-1-27-d.htm [Stand vom
13.05.08].

3.2.3 Anwendungsbeispiele

Unter den Anwendungen und Weiterentwicklungen des Symbolischen Interakti-


onismus sollen abschließend drei Beispiele vorgestellt werden. Diese beziehen
sich (1) auf den Zusammenhang von abweichendem Gruppenverhalten und ge-
sellschaftlichen Normsystemen, (2) die kollektive Herstellung von symbolischen
Ordnungen und (3) die Untersuchung institutionell-organisatorisch eingebetteter
Interaktionsvollzüge.

(1) Die Etikettierungstheorie des abweichenden Verhaltens

Abweichendes Aus der Tradition des Symbolischen Interaktionismus sind unzählige Studien
Verhalten ist
über Gruppenprozesse entstanden, die methodisch mit teilnehmender Beobach-
Ergebnis von
Regelsetzung und tung durchgeführt wurden. Damit ist gemeint, dass die Wissenschaftlerin oder
Situationsdefinition der Wissenschaftler über einen längeren Zeitraum in einem bestimmten Untersu-
chungsfeld – etwa einem Stadtviertel, einem Unternehmen, einer Jugendgang
Das interpretative Paradigma 67

usw. – lebt, sich an den dortigen Aktivitäten beteiligt, Bekanntschaft und mitun-
ter Freundschaft mit den Menschen schließt und so vielfältige Daten in die Un-
tersuchung einbezieht. Zu den bekanntesten Studien dieser Tradition gehört Ho-
ward S. Beckers Arbeit über „Außenseiter“. Becker, der selbst in einer Jazzka-
pelle spielte, versammelt hier mehrere Untersuchungen über Jazzmusiker und
Marihuana-Konsumenten und wird damit zum wesentlichen Mitbegründer des
„labeling approach“ bzw. „Etikettierungsansatzes“, dem Beitrag des Symboli- Labeling approach
schen Interaktionismus zur soziologischen Analyse abweichenden Verhaltens (Etikettierungs-
(Becker 1981 [1963]). In dieser Perspektive werden drei Argumente miteinander ansatz)
verknüpft:

1. Es gibt kein abweichendes Verhalten ‚an sich’, das also unabhängig von
einem sozialen Bezugsrahmen als „abweichend“ gelten könnte. Die Be-
stimmung eines Verhaltens als ‚abweichend’ ist immer Ergebnis eines (kol-
lektiven) Prozesses der Unterscheidung bzw. Definition von Normalität und
Abweichung sowie der anschließenden Anwendung dieser Definition auf
Moralischer Unter-
ein konkretes Verhalten. Becker spricht hier von „moralischen Unterneh- nehmer
mern“ und „moralischen Kreuzzügen“. Gesellschaftliche Gruppen schaffen
abweichendes Verhalten dadurch, „daß sie Regeln aufstellen, deren Verlet-
zung abweichendes Verhalten konstituiert, und daß sie diese Regeln auf be-
stimmte Menschen anwenden, die sie zu Außenseitern abstempeln.“ ‚Ab-
weichung’ ist keine Qualität der Handlung, sondern Ergebnis einer Anwen-
dung von Regel bzw. Situationsdefinitionen (vgl. Becker 1991: 8).
2. Abweichendes Verhalten resultiert damit auch nicht aus einer individuellen Karrieremodell
abweichenden
Verhaltensdisposition, sondern aus Sozialisationsprozessen in spezifischen Verhaltens
gesellschaftlichen Teilkulturen; es wird darin sukzessive ‚erlernt’. Becker
illustriert dies am Marihuanarauchen: Man muss die richtigen Rauchtechni-
ken erlernen, man muss die Effekte wahrnehmen, und man muss diese
schließlich als angenehm empfinden: „Mit einem Wort, das Individuum
lernt, an einer Subkultur zu partizipieren, die um das jeweilige Verhalten
gruppiert ist“ (Becker 1981: 27). Das alles gilt ganz analog beispielsweise
für den Genuss von Alkohol.
3. Aus dem Zusammenspiel von 1. und 2. lässt sich ein „Karrieremodell ab-
weichenden Verhaltens“ entwickeln, das verschiedene Stufen vorsieht, über
die „Abweichungen“ entstehen. Becker spricht in diesem Zusammenhang
von „abweichenden Laufbahnen“. Solche Laufbahnen sind weder Einbahn-
straßen noch vollständig das weitere Handeln bestimmende, gleichsam
ausweglose Kanäle – auf jeder Stufe ist vielmehr auch der Ausstieg aus der
Karriere möglich.

Wie lassen sich diese Überlegungen verstehen? Die erwähnten Annahmen impli-
zieren, dass noch nicht die Verletzung einer Regel jemanden zum Außenseiter
macht, sondern erst die gesellschaftliche Wahrnehmung dieser Regelverletzung.
Umgekehrt kann jemand gesellschaftlich so behandelt werden, als habe er eine
Regel gebrochen, ohne dass er das tatsächlich getan hat. Die Qualität der „Ab-
weichung“ entsteht, ganz in Analogie zur Theorie Meads, in der Interaktion
zwischen mehreren Handelnden. Becker untersuchte das am Beispiel des Mari-
68 Reiner Keller

huanakonsums. So ist es erstens kultur- bzw. gesellschaftsabhängig, ob die Ein-


nahme dieser Droge verboten ist oder nicht. Ist die Einnahme verboten, so
schließt das keineswegs aus, dass sie nicht doch tatsächlich genommen wird.
Und nicht alle Fälle der Einnahme werden polizeilich bekannt. Tatsächlich fol-
gen Polizisten bestimmten Suchstrategien, um eventuelle Verdächtige aufzuspü-
ren. Nur ein Teil der Drogennutzer wird „erwischt“ und den verschiedenen An-
klage- und Strafprozeduren unterworfen. Gleichzeitig konstituiert die Drohung
der Verfolgung einen besonderen Gruppenzusammenhalt, ein besonderes Wir-
Gefühl der ‚Gesetzesbrecher’, die ihre geheimen Orte finden müssen, um ihrem
Drogenkonsum zu frönen.
Die Soziologie Becker spricht von „moralischen Unternehmern“, „Regelsetzern“, „Regel-
interessiert sich für
durchsetzern“ und „moralischen Kreuzzügen“, um gesellschaftliche Akteure und
‚moralische Unter-
nehmer’ und Karrie- Prozesse zu beschreiben, die darauf zielen, bestimmte Verhaltensweisen als
ren der Abweichung „abweichend“ zu bestimmen und einen rechtlichen Rahmen der Sanktionen zu
etablieren oder umgekehrt: einen bestehenden Rahmen abzubauen. Die Unter-
scheidung von Normalität und Abweichung ist also Gegenstand von gesellschaft-
lichen Konflikten und Auseinandersetzungen. Sie verändert sich im historischen
Prozess. Für soziologische (und gesellschaftspolitisch motivierte) Analysen kann
es zudem von besonderem Interesse sein, die Faktoren zu ermitteln, die zu Aus-
stiegen aus den erwähnten Laufbahnen beitragen bzw. die Karrieren unterbre-
chen oder umgekehrt: sie verfestigen. Auch wenn die Theorie des „labeling ap-
proach“ das Analyseinteresse auf die erwähnten Definitionskonflikte und Lauf-
bahnen abweichenden Verhaltens richtet, so beansprucht sie damit nicht, alle
Arten der Abweichung zu erfassen bzw. alle Aspekte des abweichenden Verhal-
tens in den Blick nehmen zu können. Ein ‚Mord im Affekt’ etwa lässt sich so
gewiss nicht soziologisch analysieren. In einem entschiedenen Nachwort hat
Becker deswegen auch so manche verzerrte oder übertrieben „romantische“
Rezeption des Ansatzes kritisiert: „Es wäre lächerlich, zu behaupten, daß Räuber
andere Leute einfach deswegen überfallen, weil sie irgend jemand als Räuber
bezeichnet hat, oder daß alles, was ein Homosexueller tut, aus der Tatsache re-
sultiert, daß jemand ihn homosexuell genannt hat.“ (Becker 1981: 161) Worauf
aber das Interesse in der Tradition des Symbolischen Interaktionismus gelenkt
wird, das sind die komplexen Handlungs- bzw. Interaktionsverflechtungen,
durch die soziale Phänomene der Abweichung konstituiert werden. Untersucht
werden nicht nur die Angeklagten, sondern der gesamte interaktive Komplex der
Situationsdefinitionen, Regelsetzungen und -durchsetzungen (Becker 1981:
186f). Becker forderte in einer berühmten Rede auf dem US-amerikanischen
Soziologietag 1966 entschieden, die Soziologie solle die Perspektiven der gesell-
schaftlichen Außenseiter, der Benachteiligten untersuchen, nur daraus ließe sich
etwas lernen – die Perspektive der ‚Herrschenden’ sei ohnehin bekannt.
Das interpretative Paradigma 69

Howard S. Becker (geb. 1928)

Howard S. Becker wurde in Chicago geboren.


Er studierte dort an der Universität vor allem bei
Everett Hughes und Herbert Blumer und war
mit Erving Goffman befreundet. Weitere wich-
tige Einflüsse auf sein Werk kamen von Georg
Simmel und Robert Park (Plummer 2003: 23).
Gleichzeitig arbeitete er als professioneller Pia-
nist in einer Jazzkapelle, die in der Barszene
Chicagos auftrat. In seiner Ph.D.-Thesis (1951) beschäftigte er sich mit Schul-
lehrern. Nach seiner Zeit in Chicago lehrte er an verschiedenen Universitäten,
zuletzt von 1965-1991 als Professor für Soziologie an der Northwestern Uni-
versity. Beckers Studien beschäftigen sich mit Interaktionsprozessen und
Karriereverläufen in Bildungsinstitutionen, abweichendem Verhalten oder den
sozialen Arenen und „Welten der Kunst“. Außerdem verfasste er mehrere
Bücher mit Tipps, wie Studierende Schreibschwierigkeiten überwinden oder
Forschungsarbeiten verfassen können. Sein Buch ‚Tricks of the Trade’ enthält
Vorschläge zur Konkretisierung der methodischen Vorgehensweisen des
Symbolischen Interaktionismus. Zeitweilig war er Vorsitzender der ‚Society
for the study of social problems’.

Lektürevorschlag:

Becker, Howard (1981): Außenseiter. Frankfurt/Main: Fischer, S. 36-52.


Vertiefung:
Plummer, Ken (2003): Continuity and Change in Howard S. Becker’s work. An Interview
with Howard S. Becker. In: Sociological Perspectives Vol. 46, Nr. 1, S. 21-39.
Webseite: home.earthlink.net/~hsbecker (Stand: 13.05.08)

(2) Symbolische Kreuzzüge und die Kultur öffentlicher Probleme

Beckers „labeling approach“ stellt ein besonders berühmtes Beispiel für eine all- Symbolische Kreuz-
züge und die Kultur
gemeine Perspektive innerhalb des Symbolischen Interaktionismus dar, die sich
öffentlicher Probleme
nicht auf Interaktionsprozesse und Bedeutungskonstitutionen in gesellschaftlichen
Mikrosituationen beschränkt, sondern darüber hinausgehend kollektive Verhal-
tensweisen, öffentliche Debatten und Konflikte um Situationsdefinitionen analy-
siert. Schon Blumer selbst hatte í das wird oft übersehen í den Symbolischen
Interaktionismus in Studien über das neue Medium Film, über Machtkonflikte
zwischen gesellschaftlichen Interessensgruppen sowie Rassenbeziehungen in den
USA auf die Ebene des kollektiven Handelns bezogen (vgl. Lyman/Vidich
2000).12 Soziale Probleme sind Ergebnisse von kollektiven Definitionskämpfen,

12
Eine Sammlung entsprechender Aufsätze ist zu finden in Blumer (2000); vgl. auch Shibutani (1970),
Maines (2001: 55ff).
70 Reiner Keller

die in öffentlichen Diskursen oder ‚Diskursarenen’ konstituiert und ausgetragen


werden (vgl. Keller 2005). Exemplarisch lässt sich dies an einer klassischen Stu-
die von Joseph Gusfield zur „Kultur öffentlicher Probleme“ illustrieren, in der die
US-amerikanische öffentliche Diskussion über ‚Alkohol am Steuer’ analysiert
wird. Alkohol ist das Thema vieler Studien Gusfields. Seine 1955 angenommene
Dissertation erschien 1963 unter dem Titel „Symbolic Crusade: Status Politics
and the American Temperance Movement“ (Gusfield 1986). Er untersuchte darin
„symbolische Kreuzzüge“, d.h. die Rolle, Ziele und Strategien sozialer Bewegun-
gen und moralischer Reformer aus dem historischen Kontext der Prohibitionszeit
beim „making of meaning“ und der Definition von Abweichungen auf dem wei-
ten Feld des Alkoholkonsums. Dabei zeigt er, wie die „symbolischen Kreuzzüge“
der Prohibitionsbewegung zu Gesetzen führen, die sich dazu eignen, die ländlich-
protestantischen Anhänger des Alkoholverbots von den trinkenden Immigranten
aus Irland und Deutschland zu unterscheiden und in die jeweiligen Lebensführun-
gen sowie Arbeitsbedingungen zu intervenieren.13
Warum ist ‚Alkohol In der Untersuchung zur ‚Trunkenheit am Steuer’ geht es darum, wie ein
am Steuer’ ein
soziales Phänomen – Autofahren unter Alkoholeinfluss – zum öffentlichen Prob-
Problem?
lem gemacht wird und dabei eine spezifische Deutung erfährt, an die bestimmte
institutionelle und materiale Konsequenzen anschließen. Gusfield betont darin
das Zusammenspiel von Prozessen der Wissenskonstruktion mit der institutionel-
len Strukturierung der betreffenden Handlungsfelder. Er beschäftigt sich hier mit
verschiedensten Aspekten der Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit
dieses Problems. Neben den mit der Faktenherstellung befassten Wissenschaften
(einschließlich der Unfallstatistiken, Blutproben, Testverfahren und Rhetorik
wissenschaftlicher Berichte) zählen dazu die zugrunde liegende Theorie des
Autofahrers als Unfallverursacher, die soziale Organisation der Datengrundlage
einschließlich der involvierten Akteure (z.B. der Nationale Sicherheitsrat), die
Dramatisierung des Phänomens in der öffentlichen Arena und die Behandlung
im Recht. Der gesamte Prozess wird als öffentliches Ritual der Schaffung einer
kollektiven moralischen Ordnung interpretiert. Zunächst sei, so Gusfield, von der
Konkurrenz von Problemdefinitionen und Problemlösungen auszugehen. Eine
erste Frage der soziologischen Analyse bezieht sich auf die Definition von Ak-
teuren bzw. Institutionen, die für die Problembearbeitung zuständig sind – eine
Zuschreibung, die bereits in die jeweilige Problemdefinition mit eingebaut ist.
Das Problem der Zuständigkeit und Verantwortung besitzt einerseits eine „kultu-
relle Dimension“. Damit sind Fragen der Wahrnehmung und Bedeutung anvi-
siert, also beispielsweise Vorstellungen darüber, ob der Konnex von Alkoholge-
nuss und Autofahren als Entscheidungsprozess einer zurechnungsfähigen Person
betrachtet wird oder als Ergebnis eines medizinischen Sachverhaltes, einer
Krankheit, die keine Entscheidung zulässt (Alkoholismus). Anderseits muss auch
die strukturelle Ebene dieses Phänomenbereichs einbezogen werden: Die Fixie-

13
Neben der Einbettung in den Symbolischen Interaktionismus schließt Gusfield an Berger/Luckmann
(1980; s. u. Kap. 4) und Kenneth Burke an. Burke (1969 [1945]) hatte in seinem Werk wichtige Ele-
mente einer Theorie des menschlichen Symbolgebrauchs im Handeln und in der Sprachverwendung
entwickelt und die Bedeutung umfassender symbolischer Ordnungen für die konkreten Situationsdefi-
nitionen der Individuen betont.
Das interpretative Paradigma 71

rung von Zuständigkeiten erhebt gleichzeitig unterschiedliche Institutionen und


Personen – beispielsweise die Kirchen, das Recht, die Polizei, die Medizin usw.
– in den Rang involvierter Akteure. Dies kann sich je nach der kognitiven Kon-
struktion des Problems sehr stark unterscheiden: Betrachtet man Alkoholproble-
me als Krankheit, gewinnt die Medizin einen stärkeren Einfluss, wohingegen das
Recht mit seinen Handlungsmöglichkeiten eher eingeschränkt wird. Die institu-
tionelle und strukturelle Dominanz einer spezifischen Problemsicht kanalisiert
die verfügbaren Lösungen und schließt Alternativen schon als Denk-Möglich-
keiten aus. Dann bleiben nur die Umerziehung der Autofahrer und das Verbot als
alternativlos erscheinende Position: „What we cannot imagine, we cannot desire.
... The absence of alternative modes of transportation is logically as much a
cause of drinking-driving as is the use of alcohol.” (Gusfield 1981: 11)
Öffentliche und ‚soziale’ Probleme werden, das zeigt Gusfields Studie sehr Strukturen sind
‚kristallisierte
deutlich, in der Öffentlichkeit – der „public arena“ – in soziohistorisch spezifi-
Ordnungsprozesse’
scher Weise begrifflich und institutionell geordnet, strukturiert. Dabei sind die
Legitimitätszuschreibungen, Einfluss- und Definitionschancen sozialer Akteure
sehr unterschiedlich verteilt und im zeitlichen Verlauf Verschiebungen unterwor-
fen. Dies gilt auch für das, was als „Struktur“ eines Problem- und Handlungszu-
sammenhangs in Erscheinung tritt. Gesellschaftliche, institutionelle und organi-
satorische Strukturen sind, so Gusfield, nichts anderes als in der Zeit zu Ord-
nungsmustern eingefrorene Prozesse. Solche Strukturen können von gesell-
schaftlichen Gruppen „angegriffen“, bekämpft, verändert oder zerstört und er-
setzt werden. Auch für den Symbolischen Interaktionismus ist ein solcher Struk-
turbegriff als Analysewerkzeug notwendig, denn – und dieses Argument richtet
sich beispielsweise gegen die Ethnomethodologie (s.u. Kapitel 5) – nicht alle
sozialen Phänomene und Faktoren sind lediglich situativ bzw. in der untersuch-
ten Situation enthalten. Vielmehr sind Situationen, Ideen oder auch Ereignisse
immer in einen umfassenderen, sich verändernden Kontext gesetzt, der bei ihrer
Analyse berücksichtigt werden muss (Gusfield 1981: 5ff).
72 Reiner Keller

Joseph R. Gusfield (geb. 1923)

Gusfield, der aus einer jüdischen Familie stammt und im


zweiten Weltkrieg als Soldat in Frankreich und Deutsch-
land eingesetzt war, studierte nach Kriegsende in Chicago
zunächst Recht, dann Soziologie, u.a. bei Herbert Blumer
und Everett Hughes sowie in engem Kontakt mit Anselm
Strauss und Erving Goffman (mit dem er befreundet war).
Sehr früh schon wird er auch durch die Arbeiten von Karl
Marx, dann durch John Deweys Pragmatismus, die Arbei-
ten von Mead und Thorstein Veblen sowie durch Kenneth Burke beeinflusst; er
engagiert sich in kommunistischen Gruppen. Seine Doktorarbeit über die Wo-
men’s Christian Temperance Union schreibt er bei Herbert Blumer, obwohl er,
wie er im Interview mit Cefaï/Trom (2001) betont, „weder Frau noch Christ
gewesen sei und zudem gerne trinke”. In seinen Arbeiten, die um die Fragen
der sozialen Konstruktion öffentlicher oder sozialer Probleme durch kollektives
Handeln kreisen, verbindet Gusfield ethnographisch inspirierte Feldforschun-
gen mit historischen Analysen. Er wird damit zu einem der wichtigsten Refe-
renzautoren der Forschungen über soziale Bewegungen und soziale Probleme.

Lektürevorschlag:

Gusfield, Joseph R. (1981): The Culture of Public Problems: Drinking-Driving and the
Symbolic Order. Chicago: University of Chicago Press, S. 1-26.
Vertiefung:
Cefaï, Daniel/Trom, Danny (2001): Interview mit Joseph Gusfield: Action collective et
problèmes publics. Online verfügbar unter: www.commonweb.unifr.ch./Socio
Media/ Pub/cefai_txt/Entretiengusfieldprbpublics.pdf [Stand vom 20.02.2007] sowie
Gusfield (1981).

(3) „Soziale Welten“ als ausgehandelte Ordnungen und Handlungsverkettungen

Anselm Strauss Zu den bis heute einflussreichsten Vertretern des Symbolischen Interaktionismus
entwickelt die Theo-
zählt Anselm Strauss. Strauss hatte zunächst in den 1950er Jahren im Anschluss
rie und Methodologie
des SI weiter an Cooley, Mead, Simmel u.a. eine nach wie vor aktuelle Theorie der Identität
ausgearbeitet (Strauss 1968 [1959]; vgl. dazu Helle 2001: 123). Sein späteres
Werk lässt sich in drei Schwerpunkte gliedern: (1) die Weiterentwicklung des SI
durch die Konzepte der „ausgehandelten Ordnungen“ und der kontinuierlichen
„Permutationen des Handelns“ sowie die Perspektive der „sozialen Welten“; (2)
die einflussreiche Fundierung der Methodologie qualitativer Sozialforschung in
Gestalt der „grounded theory“ (mit Barney Glaser); und (3) empirische Studien
zu Interaktionsprozessen in organisatorischen Kontexten des Gesundheitswesens.
Strauss war seit den 1960er Jahren um die theoretische und methodologische
Weiterentwicklung des Symbolischen Interaktionismus bemüht. Dazu schlägt er
beispielsweise den Begriff des „negotiated order approach“ vor (Strauss 1979;
Das interpretative Paradigma 73

vgl. zum Überblick Maines/Charlton 1985). Er verbindet damit die Betonung


von Interaktionsprozessen und das Insistieren auf der Bedeutung von strukturel-
len Merkmalen von Organisationen bzw. „sozialen Welten“ oder „Arenen“
(Strauss 1991). Organisationen werden als permanente Aushandlungsnetzwerke
begriffen, die im Handeln und seinen „Permutationen“ (Strauss 1993) konstitu-
iert und reproduziert bzw. transformiert werden. Strauss analysiert über den Be-
reich der Organisationen hinaus alle möglichen Formen oder Typen sozialer
Ordnung als durch Aushandlungsprozesse konstituiert, die in strukturelle Kon-
texte eingebunden und durch diese mitbedingt sind, wobei Letztere ihrerseits
Ergebnisse von (historischen) Aushandlungen darstellen. In einem Interview
fasste er sein Anliegen so zusammen:

„Mir geht es um den engen Zusammenhang oder besser die Identität von Aktion und
Interaktion, ich entwickle eine dementsprechend interaktionistische Handlungstheo-
rie. Am Anfang steht das Handlungsschema der Pragmatisten. (...) Im Mittelpunkt
meiner Handlungstheorie stehen Akteure í Individuen, Organisationen, soziale Wel-
ten í, die eine wie auch immer geartete soziale Ordnung oder Struktur miteinander
aushandeln, aufrechterhalten oder auch verändern. Soziale Welten sind Gruppierun-
gen von Menschen, die durch gemeinsame Ziele und Sichtweisen verbunden sind,
ohne dass es scharfe Grenzen der Mitgliedschaft gäbe, wie sie für Organisationen
typisch sind. Gesellschaftliche Kontroversen oder Konflikte werden in unterschied-
lichen Arenen ausgehandelt, sei es innerhalb einer sozialen Welt oder zwischen ver-
schiedenen Welten. Wir haben solche Aushandlungsprozesse in letzter Zeit z.B. in
der AIDS-Arena untersucht, einer Arena, die sich in rasanter Entwicklung befindet
und in der das Wechselspiel von Organisationen und sozialen Welten besonders gut
zu studieren ist.“ (Strauss, zit. nach Legewie 2004, Abs. 72-73)

Die „grounded theory“, d.h. die aus der Gegenstandsanalyse erfolgende Theorie- Die „grounded
theory“ entwickelt
bildung, stellt innerhalb des SI die am weitesten entwickelte Grundlegung eines systematische Vor-
methodischen Vorgehens bei der Analyse empirischer Daten dar. Sie enthält eine schläge zur qualitati-
Vielzahl hilfreicher Empfehlungen zur Gewinnung theoretischer Erkenntnisse ven empirischen
aus empirischer Forschung. Illustriert wird der Ertrag einer solchen Vorgehens- Sozialforschung
weise in verschiedenen empirischen Studien, beispielsweise in einer von Strauss
gemeinsam mit Barney Glaser verfassten Untersuchung über Sterbeprozesse in
Krankenhäusern (Glaser/Strauss 1995 [1965]). Zentrales Ergebnis dieser Studie
ist das Konzept des „Bewusstheitskontextes“ („context of awareness“), das auch
auf andere Handlungskontexte übertragen werden kann. Glaser und Strauss fan-
den heraus, dass die Interaktionen zwischen den verschiedenen Personengruppen
in einer Klinik (medizinisches und pflegerisches Personal, Patienten, Angehöri-
ge) wesentlich davon abhingen, welches ‚öffentliche’ Wissen über die Situation
des jeweiligen Patienten (beispielsweise über die Unheilbarkeit seiner Krankheit
und den bevorstehenden Tod) vorhanden war und wie dieses Wissen allseits
‚gemanagt’ wurde. Glaser/Strauss unterscheiden so die Wahrnehmungskontexte
der „geschlossenen Bewußtheit“, des „Argwohns“, das „rituelle Spiel wechsel-
seitiger Täuschung“, die „Doppeldeutigkeit des Wissens“ oder die „direkte Auf-
klärung“ (Glaser/Strauss 1995). Das konkrete Interagieren der einzelnen Akteure
ist am gemeinsam erzeugten Bewusstheitskontext orientiert. Dabei sind spezifi-
sche Wechsel möglich, etwa von der geschlossenen zur offenen Bewusstheit.
74 Reiner Keller

Dadurch verändert sich dann das wechselseitige Handeln. Neuere Entwicklungen


der „grounded theory“ versuchen in stärkerem Maße umfassende Situationskon-
texte in die Analyse einzubeziehen (z.B. Clarke 2005).

Anselm Strauss (1916-1996)

Strauss wurde in New York als Enkel jüdischer Ein-


wanderer aus Deutschland geboren. Er studierte von
1935-1944 an den Universitäten von Virginia und
Chicago und war Schüler von Herbert Blumer. Die
Einflüsse von Everett Hughes bewegten ihn zur
Untersuchung von Organisationen. 1945 promovier-
te er in Chicago und lehrte dort dann als ‚assistant
professor’ von 1952-1958. 1958-1960 war er Leiter
einer sozialwissenschaftlichen Forschungsstelle im
Bereich der Psychosomatik und Psychiatrie am Michael Reese Hospital in
Chicago; ab 1960 Professor an der School of Nursing der University of Cali-
fornia (San Francisco) und Gründer des dortigen sozial- und verhaltenswis-
senschaftlichen Departments. Bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1987 ver-
fasste er zahlreiche empirische Studien, u.a. über Schmerzbewältigung, den
Einsatz neuer Technologien im Krankenhaus und die damit einhergehende
Veränderung der Arbeit am Patienten, chronische Krankheiten, Gefühlsarbeit
sowie den Umgang mit Sterbenden.

Lektürevorschlag:

Legewie, H. (2004): Interview mit Anselm Strauss (mit vielen Hinweisen zur Biographie,
zum soziologischen Hintergrund und zu zentralen Konzepten).
Vertiefung:
Strauss, Anselm (1993): Continual Permutations of Action. New York: Aldine de Gruyter.
Strauss, Anselm/Juliet Corbin (1996): Grounded Theory: Grundlagen Qualitativer Sozial-
forschung [1990].
Glaser, Barney G./Strauss, Anselm L. (1995): Betreuung von Sterbenden. Eine Orientie-
rung für Ärzte, Pflegepersonal, Seelsorger und Angehörige. 2. überarb. Auflage Göt-
tingen: Vandenhoeck & Ruprecht [1965].
Strübing, Jörg (2007): Anselm Strauss. Konstanz: UVK.
Webseite: www.ucsf.edu/anselm-strauss/

3.3 Bilanz und Aktualität des Symbolischen Interaktionismus

Von der Gegenbewe- In seiner Bilanz über den „traurigen Untergang, das Verschwinden und den glor-
gung zum allgemei-
reichen Triumph des Symbolischen Interaktionismus“ formuliert Gary Alan Fine
nen Paradigma
(1993; vgl. auch Fine 1991) eine Einschätzung, die vielleicht auch für den
deutschsprachigen Raum gilt. So markiere der Tod Herbert Blumers im Jahre
1986 mit dem Verschwinden der Symbolfigur zugleich das Ende einer identifi-
zierbaren expliziten Theorieposition des SI. Demgegenüber sei die nachfolgende
Das interpretative Paradigma 75

und also aktuelle Phase dadurch gekennzeichnet, dass Symbolische Interaktio-


nisten Bezüge zu den unterschiedlichsten anderen theoretischen Paradigmen
(etwa des Poststrukturalismus, vgl. S. 305ff.) gesucht hätten. Und mehr noch:
Der erst auf den zweiten Blick erkennbare „glorreiche Triumph“ des SI bestehe
darin, dass viele neuere Theorietraditionen í etwa der Neo-Institutionalismus
Poststrukturalismus
von John Meyer (vgl. dazu Hasse/Krücken 1999) oder der bereits erwähnte Post-
strukturalismus í seine Grundannahmen übernommen und soweit integriert
hätten, dass deren Herkunft gar nicht mehr wahrgenommen werde. Der SI exis-
tiere also nicht länger als unterscheidbare ‚Gegenbewegung’, sondern habe dem
pragmatistischen Ansatz eine breite und allgemeine Grundlagen-Bedeutung
beschert (Fine 1993: 81). Dennoch gibt es nach wie vor zahlreiche Studien, die
unmittelbar an den SI anschließen. Sie bearbeiten ein umfangreiches Feld von
Gegenständen, angefangen bei Studien zu Prozessen der Identitätsbildung und -
darstellung, zu Gefühlen und Gefühlsarbeit, zur gesellschaftlichen Konstruktion
abweichenden Verhaltens und sozialer Probleme, zur Soziologie der Kunst, zur
Analyse von Organisationen und kollektivem Handeln, zu Fragestellungen der
feministischen und kritischen Soziologietraditionen, zur Diskursforschung bis
hin zu Anleihen an Poststrukturalismus und Cultural Studies (Sandstrom/Martin/
Fine 2001; Denzin 1992; Keller 2005; Clarke 2005). Gerade der häufig gegen
diese Theorietradition erhobene Vorwurf der ‚Mikro-Orientierung’, über dessen Mikrostrukturelle
Ansätze
Berechtigung man schon immer streiten konnte, lässt sich so keinesfalls auf-
rechterhalten. Zeitschriften wie „Symbolic Interaction“ oder die „Society for the
Study of Symbolic Interaction“ sowie neuere umfangreiche Textbücher zur Ge-
schichte und Aktualität des Symbolischen Interaktionismus (Plummer 1991a,b
oder das 1200 Seiten dicke „Handbook of Symbolic Interactionism“ von Rey-
nolds/Herman-Kinney 2003) sowie spezifische Theorie-Einführungen (beispiels-
weise Charon 2006; Sandstrom/Martin/Fine 2006), die bislang hierzulande kaum
rezipiert werden, sprechen für die Lebendigkeit dieses Paradigmas (vgl. auch
Joas/Knöbl 2005; Maine 2001). Am deutlichsten wird dies vielleicht in der star-
ken Resonanz, die das Werk von Anselm Strauss in den letzten Jahren erfahren
hat.

Übungsaufgaben:

ƒ Wie denkt Mead den Übergang von der Geste zum signifikanten Symbol?
ƒ Überlegen Sie Beispiele für reflexartige menschliche Gesten und diskutie-
ren Sie, inwiefern sie in einen übergreifenden Interaktionszusammenhang
eingebunden sind!
ƒ Warum spricht Mead vom „Selbst“ als einer „gesellschaftlichen Struktur“?
ƒ Was sind die Grundzusammenhänge der Sozialisation nach Mead? Geben
Sie Beispiele!
ƒ Während der Fußballweltmeisterschaft 2006 hat der französische National-
spieler Zinedine Zidane einem Spieler der gegnerischen Mannschaft, der ihn
wohl beleidigt hatte, einen Kopfstoß verpasst, der zum eigenen Platzverweis
und vielleicht sogar zur Niederlage der eigenen Mannschaft führte. Ist das
76 Reiner Keller

ein Beispiel für eine Reaktion des ‚I’ oder des ‚Me’ von Zidane? Begründen
Sie Ihre Einschätzung!
ƒ Erläutern Sie die Grundprämissen des SI an Beispielen! Stellen Sie dabei
Bezüge zu den Überlegungen von Mead her!
ƒ Wie konzipiert der SI das Verhältnis von Interaktionen und größeren sozia-
len Gebilden?
ƒ Diskutieren Sie vergleichend die Bedeutung von Zeichen bzw. Symbolen
im Strukturalismus und im SI (vgl. dazu das Kapitel ‚Strukturalismus’ im
vorliegenden Band)!
ƒ Für welche Fälle abweichenden Verhaltens eignet sich die Perspektive des
SI? Welche Fragen stellt sie an solche Fälle? Finden Sie Beispiele, wo sich
der SI nicht eignet und begründen Sie ihre Einschätzung!
ƒ Erläutern Sie die Entstehung sozialer Probleme aus der Perspektive des SI
an einem selbst gewählten Beispiel!
ƒ Inwiefern lassen sich Organisationen als ‚permanente Aushandlungen’
begreifen? Diskutieren Sie Ihre Überlegungen an einem konkreten Beispiel!

4 Die sozialkonstruktivistische Wissenssoziologie


Eine europäische Etwa zur gleichen Zeit, als sich die von der Chicago School kommende Genera-
Denktradition im
Exil: die sozialkon-
tion der ‚jungen Rebellen’ aufmachte, eine symbolisch-interaktionistische Sozio-
struktivistische logie des Konkreten zu entwickeln, arbeitete in den USA an der New School for
Wissenssoziologie Social Research der österreichische Sozialphänomenologe Alfred Schütz an sei-
ner Grundlegung der Soziologie. Schütz, der aus Wien kam, hatte dort zunächst
begonnen, die theoretischen Grundlagen der sinnverstehenden Soziologie Max
Phänomenologie Webers (vgl. Bd.1, S. 165ff.) im Rekurs auf die philosophischen Phänomenolo-
gien von Edmund Husserl und Henri Bergson genauer auszuarbeiten. Wegen der
Bedrohung durch die nationalsozialistische Judenverfolgung war er zur Auswan-
derung gezwungen. In den USA kam er u.a. in Kontakt mit der Philosophie des
Pragmatismus und der Parsonschen Handlungstheorie. Zunächst versuchte er,
mit Parsons in eine Diskussion über soziologische Handlungsbegriffe einzutre-
ten, doch dieses Unterfangen scheiterte an der großen Diskrepanz der beiden
Ansätze. Zunehmend beschäftigte sich Schütz mit dem Verhältnis zwischen der
Konstitution der Welterfahrung im individuellen Bewusstsein einerseits und den
sozialen Bedingungen dieses Konstitutionsprozesses in Form gesellschaftlich
erzeugter und individuell angeeigneter bzw. verfügbarer Wissens- und Zeichen-
vorräte andererseits. In gewissem Sinne handelt es sich um eine Ausarbeitung
der Seite der Bewusstseinsprozesse, die bei Mead zugunsten der Theorie der
interaktiven Erzeugung signifikanter Symbole in den Hintergrund getreten war.14
Im Anschluss an Schütz und im Rekurs auf verschiedene europäische sozialwis-
senschaftliche Traditionen, die mit den Namen von Karl Marx, Émile Durkheim,

14
Es gibt einen soziologischen Streit darüber, ob sich die Positionen von Mead und Schütz ergänzen
oder widersprechen. Hier wird Ersteres vertreten. Vgl. z.B. das Interview von Jo Reichertz (2004) mit
Hans-Georg Soeffner.
Das interpretative Paradigma 77

Max Weber und Karl Mannheim (1893-1947) verbunden sind, aber auch unter
Bezugnahme auf die Sozialisationstheorie von Mead haben dann zwei Schüler
von Schütz, Peter L. Berger und Thomas Luckmann eine „Theorie der Wissens-
soziologie“ entwickelt und Mitte der 1960er Jahre unter dem Titel „Die gesell-
schaftliche Konstruktion der Wirklichkeit“ veröffentlicht. Obwohl diese Theorie
zahlreiche Parallelen zum SI aufweist, unterscheidet sie sich davon doch in Institutionalisierung
zweierlei Weise: Zum einen spricht sie statt von ‚signifikanten Symbolen’ von in
historisch konkreten Gesellschaften erzeugtem gesellschaftlichem Wissen bzw.
kollektiven Wissensvorräten. Zum zweiten entwirft sie Gesellschaft als Doppel-
prozess der permanenten sozialen Institutionalisierung und individuellen Aneig-
nung von solchen Wissensvorräten. Die daraus hervorgegangene wissenssozio-
logische Tradition prägte in den angelsächsischen Ländern die Debatten des Sozialkonstruk-
„Sozialkonstruktivismus“. Im deutschsprachigen Raum haben Thomas Luck- tivismus
mann, Hans-Georg Soeffner (geb. 1939) u.a. die entsprechenden Überlegungen
weitergeführt. Von ihren Schülern wurde sie zum theoretischen Programm einer
„Hermeneutischen Wissenssoziologie“ ausgearbeitet. Nachfolgend werden zu-
nächst die Ausgangsannahmen von Schütz vorgestellt. Im Anschluss daran wird
die Theorie der Wissenssoziologie von Berger/Luckmann erläutert. Abschlie-
ßend wird eine kurze Einschätzung zum Ertrag und zu aktuellen Entwicklungen
dieser Theorieposition formuliert.

4.1 Sozialphänomenologische Grundlegungen

Alfred Schütz (1899-1959)

Alfred Schütz wurde 1899 in Wien geboren. Er studierte Jura, Ökonomie und
Philosophie. Nach seiner juristischen Promotion arbeitete er zunächst als Fi-
nanzjurist und Bankkaufmann bei verschiedenen Wiener Bankhäusern.
Gleichzeitig interessierte er sich für die Grundlegung des Weberschen Pro-
gramms einer sinnverstehenden Soziologie. Seine Bearbeitung dieser Fragen
greift, nach einer längeren Beschäftigung mit Henri Bergson (1859-1941), vor
allem auf die Philosophie von Edmund Husserl (1859-1938) zurück, den er ab
1932 öfters in Freiburg besuchte; Schütz bewegt sich so an der Grenze zwi-
schen Philosophie und Soziologie. Sein Buch über die Grundlagen der verste-
henden Soziologie („Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt“) erscheint 1932.
Da Schütz aus einer jüdischen Familie stammte, musste er vor dem Hinter-
grund der nationalsozialistischen Machtergreifung und Judenverfolgung Wien
verlassen. Nach einem sechzehnmonatigen Zwischenaufenthalt in Paris lebte
er mit seiner Familie ab 1939 in den USA. Dort arbeitete er zunächst weiter-
hin als Wirtschaftsjurist bei einer Bank; seit 1943 lehrte er als Gastdozent an
der „New School for Social Research“ in New York; 1952 erhielt er dort eine
Professur für Soziologie und Sozialpsychologie. Weitere Buchvorhaben blie-
ben unvollendet. Sein Werk ist deswegen in erster Linie in Aufsätzen zugäng-
lich. Aus Manuskripten hat Thomas Luckmann die zwei Bände der „Struktu-
ren der Lebenswelt“ ausgearbeitet, die eine systematische Zusammenstellung
vieler Grundannahmen enthalten.
78 Reiner Keller

Lektürevorschlag:

Schütz, Alfred (1981): Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die
verstehende Soziologie. Frankfurt/Main: Suhrkamp [1934], S. 11-28.
Schütz, Alfred/Luckmann, Thomas (1979): Strukturen der Lebenswelt, Bd. 1. Frank-
furt/Main: Suhrkamp, S. 25-44.
Vertiefung:
Endreß, Martin (2006): Alfred Schütz. Konstanz: uvk (kurze Einführung zu Leben und
Werk).
Eberle, Thomas S. (1999): Die methodologische Grundlegung der interpretativen Sozial-
forschung durch die phänomenologische Lebensweltanalyse von Alfred Schütz. In:
Österreichische Zeitschrift für Soziologie, 24. jg., Nr. 4, S. 65-90 [kurze systemati-
sche Darstellung der Bedeutung von Schütz für das Interpretative Paradigma].
Schütz, Alfred (1971): Gesammelte Aufsätze. Bd. 1 u. 2. Den Haag (enthält die wichtigs-
ten Aufsätze).
Schütz, Alfred/Luckmann, Thomas (1979/1984): Strukturen der Lebenswelt. Frank-
furt/Main: Suhrkamp (enthält eine Gesamtdarstellung der Schützschen Position).
Webseite: Alfred Schütz Archiv: www.waseda.jp/Schutz/AlfredEng.htm (Stand v.
31.01.07).

Weber formuliert die Schütz beschäftigt sich zunächst mit der Grundlegung der Verstehenden Sozio-
Grundposition der
Verstehenden Sozio-
logie durch Max Weber. Weber hatte Soziologie definiert als eine Wissenschaft,
logie die „soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und
seinen Wirkungen ursächlich erklären will“. Als soziales Handeln galt ihm alles
Soziales Handeln Handeln, „welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach
auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert
ist.“ (Weber 1972: 1 [1922]; vgl. dazu Bd. 1, S. 165f.) Diesen „gemeinten“ oder
Subjektiver Sinn auch „subjektiven“ Sinn, den Handelnde mit ihrem Tun verbinden, muss die
Soziologie verstehen. Eine solche Forderung ähnelt dem weiter oben vorgestell-
ten Konzept der „Definition der Situation“ von William I. Thomas, denn der mit
einem Handeln verbundene Sinn ist in eine entsprechende Wahrnehmung der
Handlungssituation eingebunden. Den Sinn des Handelns könne man, so Weber,
Idealtypus soziologisch im Rückgriff auf „Idealtypen“ verstehen, beispielsweise im Rekurs
auf die von ihm unterschiedenen Typen des zweckrationalen, des wertrationalen,
Typen des Handelns des affektuellen und des traditionalen Handelns. Der „gemeinte“ oder „subjekti-
ve“ Sinn ist also ein ‚typischer’ Sinn (vgl. Bd. 1, S. 167ff). Es geht nicht darum,
tatsächlich jede einzelne Handlung auf die damit verbundenen, gleichsam als
einzigartig gedachten „subjektiven Motive“ des Handelnden zu befragen. Dies
lässt sich leicht an einem Beispiel verständlich machen: Wenn die Soziologie
untersuchen will, welchen Sinn Studierende mit dem Besuch einer Vorlesung
verbinden, dann muss sie nicht jede einzelne Person befragen, sondern sie kann
‚typische Motivlagen’ annehmen, die dem subjektiven Sinn des Vorlesungsbe-
suchs jeweils zugrunde liegen. Deren Zahl ist ziemlich begrenzt (beispielsweise
das Bestehen einer Abschlussklausur, der Wissenserwerb, der Kontakt zu Mit-
studierenden), auch wenn es im Einzelfall Abweichungen davon geben mag
(‚neben dem netten Mädchen/Jungen mit den roten Haaren sitzen, um sie/ihn
kennenzulernen’). In seiner Studie zur „Protestantischen Ethik“ untersuchte
Weber ebenfalls idealtypische Sinnbezüge des Handelns, um von dort auf gesell-
schaftliche Folgen dieser Handlungsweisen zu schließen (vgl. Band 1, S. 175ff).
Das interpretative Paradigma 79

Weber sprach zwar von „verstehender“ Soziologie. Aber die Frage, ob und Schütz fragt danach,
wie Sinngebung und
wie ein solches „Verstehen“ überhaupt möglich ist, wurde von ihm nicht weiter
Verstehen möglich
behandelt. Sie schien ihm vielmehr über das „Werkzeug“ der Konstruktion von sind
Idealtypen und im Weiteren durch das Interpretationsvermögen des Wissen-
schaftlers als gelöst und deswegen unproblematisch. Doch Schütz will es genau-
er wissen: Wie ist es überhaupt im Alltag möglich, den Sinn, den andere mit
ihrem Handeln verbinden, zu verstehen? Und wie kann das „Verstehen“ gleich-
zeitig zu einer wissenschaftlichen Methode werden? Der Schlüssel zur Beant-
wortung dieser Fragen liegt für Schütz in der Erklärung der Art und Weise, wie
im Einzelbewusstsein so etwas wie ‚Sinn’ aufgebaut (konstituiert) wird und wie
schon der Alltagsmensch von da aus darauf schließen kann, dass es neben ihm
andere menschliche Wesen gibt, die in vergleichbarer Weise ‚Sinn’ verwenden.
Die Möglichkeit, diesen ‚fehlenden Baustein’ der verstehenden Soziologie zu
entwickeln, sah Schütz im Anschluss an philosophische Argumentationen, die
Anfang des 20. Jahrhunderts von dem „Lebensphilosophen“ Henri Bergson
(1859-1941) und insbesondere von dem „Phänomenologen“ Edmund Husserl
(1859-1938) entwickelt wurden. Während Schütz sich auf Bergson bezog, um
die zeitliche Struktur von Bewusstseinsprozessen genauer zu analysieren, ge-
wann die Phänomenologie Husserls eine darüber hinausgehende allgemeine
Grundlagenbedeutung für sein Werk. Die Phänomenologie war innerhalb der
Philosophie angetreten, um í ganz ähnlich wie der weiter oben erwähnte Prag-
matismus í einen Ausweg aus der ‚Sackgasse des Cartesianismus’ zu entwi-
ckeln. René Descartes (1596-1650) hatte den Ausgangspunkt der wissenschaftli- Cartesianismus
chen Welterkenntnis in der Annahme eines einsamen Ichs ausgemacht, das an
allem zweifeln könne, nur nicht an seiner eigenen Denktätigkeit und Existenz
(„Ich denke, also bin ich.“), und das von diesem festen ‚Halt’ aus der objektiven,
materialen Welt gegenübertrete, um diese zu erkennen. Den Pragmatisten schien
diese Vorstellung zu realitätsfern. Sie setzten an die Stelle des weltenthobenen
Zweifels den praktischen, d.h. in konkreten Situationen und Handlungsproble-
men verwurzelten Zweifel als Ausgangspunkt der Denk- und Erkenntnisprozesse
(vgl. weiter oben Kap. 2.1). Die Phänomenologen schlugen eine andere Lösung
des Descartschen Problems vor und gingen von der Intentionalität oder Gerich-
tetheit des Bewusstseins aus: Menschliches Bewusstsein ist immer ‚Bewusstsein
von etwas’; d.h. die Beziehung zwischen dem Denken und der Welt ist immer
schon in die Bewusstseinstätigkeit eingebunden. Die Welt liegt also nicht völlig
außerhalb des Denkens. Was die Phänomenologie dann bezweckte, war die Re-
flexion und präzise Bestimmung der Grundmerkmale dieser Bewusstseinstätig-
keit.

Die Phänomenologie bestreitet die von Descartes vorgenommene Trennung


zwischen dem denkenden Bewusstsein und der äußeren, erkennbaren Welt.
Sie betont, dass unser Bewusstsein immer auf einen Bezugspunkt gerichtet ist,
d.h. „Bewusstsein von etwas“ ist. In der Bewusstseinstätigkeit sind also das
Denken und die äußere Welt immer schon „zusammengebunden“. Die phä-
nomenologische Analyse richtet sich dann darauf, wie die Welt in der Be-
wusstseinstätigkeit konstituiert wird.
80 Reiner Keller

Schütz entwickelt den Von da aus sollte deutlich werden, wie sich die menschliche und auch spezifi-
Ansatz der Sozial-
scher die wissenschaftliche Welterkenntnis zu immer komplexeren Sinngebilden
phänomenologie
aufbaute. Während Husserl bei seinen Überlegungen ein einzelnes, gleichsam
außerhalb der Welt stehendes denkendes Subjekt zum Ausgangspunkt nahm,
geht Schütz davon aus, dass dieses Subjekt (und damit sein Bewusstsein) immer
schon in der Welt und mehr noch: in sozialen bzw. intersubjektiven Zusammen-
hängen existiert. Deswegen wird seine Position als „Mundan-“ oder „Sozialphä-
nomenologie“ bezeichnet. Thomas Luckmann hat mehrfach darauf hingewiesen,
dass es sich bei der Sozialphänomenologie noch nicht im eigentlichen Sinne um
Proto-Soziologie
„Soziologie“ handele, sondern um eine „Proto-Soziologie“, d.h. um die ‚vorso-
ziologische’ Klärung von Grundbedingungen des soziologischen Forschens und
des soziologischen Gegenstandes. Die Argumentation von Schütz soll hier nur
sehr knapp erläutert werden. Vorab lässt sich festhalten, dass sie als komplemen-
tär zur Grundlegung des SI bei Mead (vgl. Kapitel 3) verstanden werden kann.
Schütz, der sich u.a. auch mit dem Pragmatismus beschäftigte (Schütz 1971a:
331ff [1955]), entwirft eine Theorie darüber, wie das sozialisierte Bewusstsein
‚sinnhaft arbeitet’. Ähnlich wie bei Mead spielen der menschliche Symbol-
gebrauch und die Existenz von Zeichensystemen wie beispielsweise dasjenige
der Sprache eine zentrale Rolle.15 In der Schützschen Argumentation lässt sich
dabei ein Sprung beobachten: Der Übergang zur „Intersubjektivität“ wird nicht
argumentativ aus der Analyse der Bewusstseinsprozesse heraus eingeführt, son-
dern ist Ergebnis einer Setzung: „Die Welt des Alltags ist von vorneherein inter-
subjektiv.“ (Schütz 1971a: 360)

4.1.1 Die Sinnkonstitution im Bewusstsein


Erleben wird sinnhaft In den bisherigen Erläuterungen zum Interpretativen Paradigma war vielfach von
und damit erfahrbar
„Bedeutung(en)“ gesprochen worden. Doch wie lässt sich die Art und Weise
begreifen, mit der das Einzelbewusstsein solche Bedeutungen ‚einsetzt’? Mit
dem Begriff des „Sinns“ wird bei Schütz zunächst die ‚Operationsweise des
individuellen Bewusstseins’, d.h. die Gerichtetheit oder Intentionalität der Be-
wusstseinsakte bezeichnet: Bewusstsein ist immer Bewusstsein von etwas, also
intentional auf einen Gegenstand (welcher Art auch immer) bezogen und da-
durch sinnhaft (ob es auch „sinnvoll“ im alltagsweltlichen Verständnis ist, mag
dahingestellt bleiben). Im Alltagsleben agieren wir ständig ‚sinnhaft’, wir deuten
Situationen, Menschen, Dinge, Handeln u.v.a. mehr. D.h., dass wir unser sinnli-
ches Erleben in sinnhafte Erfahrung transformieren. Der erste Schritt der Analy-
sen von Schütz bezieht sich darauf, wie sich ein entsprechender „Sinn“ im Ein-
zelbewusstsein bildet oder ‚aufbaut’. „Sinn“ ist, so Schütz, die

„Bezeichnung einer bestimmten Blickrichtung auf ein eigenes Erlebnis, welches wir,
im Dauerablauf schlicht dahinlebend, als wohlumgrenztes nur in einem reflexiven
Akt aus allen anderen Erlebnissen ‚herausheben’ können. Sinn bezeichnet also eine

15
Eine Diskussion des Verhältnisses von Mead zu verschiedenen phänomenologischen Ansätzen
findet sich bei Bergmann/Hoffmann (1985).
Das interpretative Paradigma 81

besondere Attitüde des Ich zum Ablauf seiner Dauer. Dies gilt grundsätzlich für alle
Stufen und Schichten des Sinnhaften.“ (Schütz 1981: 54)

Die Bewusstseinstätigkeit ist das, was im Einzelbewusstsein stattfindet und was


seine ureigenste Leistung ist. Doch weiter oben hatten wir schon erwähnt, die
Phänomenologie gehe davon aus, dass sich Bewusstsein immer auf etwas be-
zieht, d.h. Inhalte hat. Diese Bewusstseinsinhalte, sind sozialen Ursprungs. Des-
wegen wird „Sinn“ bei Schütz zwar im Einzelbewusstsein aufgebaut (das ist der
Tätigkeitsaspekt), aber er ist seinem Wesen nach immer ‚sozialer Sinn’ (das ist
der Inhaltsaspekt). Sinn macht unspezifische Erlebnisse zu spezifischen, eben
sinnhaften Erfahrungen, die sich im Bewusstsein ablagern. Während Erfahrun-
gen zunächst auf etwas Vergangenes verweisen, lassen sich „Erwartungen“ als
vorgestellte und zukünftig vergangene Erfahrungen begreifen. Diese Beziehung
ist wichtig, um zu verstehen, was Handeln bedeutet. Schütz unterscheidet zwi-
schen dem Handeln, also dem Tun selbst in seinen einzelnen Komponenten, und Natürliche
der Handlung als der entworfenen Gesamtgestalt eines Handelns: „Was das Weltanschauung
Handeln vom Verhalten unterscheidet, ist also das Entworfensein der Handlung,
die durch das Handeln zur Selbstgegebenheit gelangen soll.“ Daraus folge, „daß
der Sinn des Handelns die vorher entworfene Handlung sei.“ (Schütz 1981: 79;
vgl. ebd. 74ff) Das „Ich“ greift im Rahmen seiner „natürlichen Weltanschauung“
auf individuelles und kollektives Wissen und Vorwissen zurück, um solcherma-
ßen sein Erleben in sinnhafte Erfahrung und sinnhaftes Handeln zu verwandeln:
„Wir wollen die Ordnungen, in welche sich der jeweilige Erfahrungszusammen-
hang gliedert ..., Schemata unserer Erfahrung nennen und diesen Begriff wie
folgt definieren: Ein Schema unserer Erfahrung ist ein Sinnzusammenhang unse-
rer erfahrenen Erlebnisse ...“ (Schütz 1981: 108f). Dafür entwickelt Schütz die
Begriffe des Wissens, der kollektiven Wissensvorräte, der Typisierungen u.a.
Die Schemata der Erfahrung sind die Schemata der Deutung oder Interpretation
von Erlebnissen; eine Deutung ist dann „nichts anderes als Rückführung von
Unbekanntem auf Bekanntes“ (ebd.: 112). Wir entnehmen sie den soziohisto-
risch spezifischen kollektiven Wissensvorräten, die uns zur Verfügung stehen
(Schütz/ Luckmann 1979/1984).
Die erwähnten Deutungsschemata haben wir zum Teil aus eigenem früheren Handeln als Sinnzu-
sammenhang.
Erleben gewonnen (wobei wir auf gesellschaftlich verfügbare Deutungen zu-
rückgreifen), z.T. aus dem „gesellschaftlichen Wissensvorrat“ (beispielsweise
der Sprache) übernommen, etwa wenn wir ‚wissen’ bzw. ‚gelernt haben’, was
‚Krieg’ ist, ohne selbst Krieg ‚leibhaftig’ erfahren zu haben. Auch der dem Han-
deln zugrunde liegende Motivationszusammenhang ist ein Sinnzusammenhang.
Schütz unterscheidet „Weil-Motive“ von „Um-zu-Motiven“. Um-zu-Motive
markieren den „Entwurf“, das in der Zukunft liegende Ziel einer Handlung, das
beabsichtigte Ergebnis ihrer Durchführung. „Weil-Motive“ verweisen auf die
nachträgliche, rückblickende Deutung der Motive bzw. Bedingungen für eine
Handlung: Ich nehme die U-Bahn, um zu einer Verabredung pünktlich einzutref-
fen. Ich will den hübschen blonden Jungen wiedersehen, weil ich mich in ihn
verliebt habe. Wichtig ist, dass „Um-zu-Motive“ und „Weil-Motive“ nicht im
Zeitverlauf einfach ineinander übergehen und deckungsgleich werden; meist
fallen sie aufgrund der komplexen und vielfältigen ‚Verwicklungen’ von Hand-
82 Reiner Keller

lungssträngen, -bedingungen, -interpretationen in der sozialen Realität sogar


deutlich auseinander. Die erwähnten Motive und Deutungsschemata sind in Re-
levanzstrukturen, also in Wahrnehmungen und Unterscheidungen des situativ für
mich Wichtigen vom Unwichtigen eingebunden, die sich im Alltag aus pragma-
tischen Motiven des Handlungsvollzugs und der Bewältigung wiederkehrender
Routinesituationen ergeben. Bei Störungen, Irritationen bzw. weit reichenden
Neuausrichtungen des Handlungsvollzugs werden ganz im Sinne des Pragma-
tismus solche Relevanzstrukturen verändert. So muss ich im gerade erwähnten
Beispiel nicht wissen, wie eine U-Bahn funktioniert, ob es alternativ auch eine
Busverbindung gibt oder wie teuer ein Taxi wird. All das ist nicht relevant, kann
es jedoch werden, sobald die U-Bahn stecken bleibt, ausfällt usw.
Schütz arbeitet noch weitere elementare Momente unserer alltäglichen Ori-
entierung in der Welt heraus. In der „natürlichen Einstellung“ des Alltags gehen
wir beispielsweise davon aus, immer wieder in gleicher oder doch ähnlicher
Weise handeln zu können. Damit unterstellen wir auch, dass die Welt morgen, ja
streng genommen sogar im nächsten Moment, so ist, wie gerade jetzt, dass sie
also stabil bleibt. Schütz nennt diese Grundannahmen über die Konstanz der
Weltstruktur, die unser Handeln begleiten, die „Idealisierungen“ des „Ich-kann-
immer-wieder“ und des „Und-so-weiter“ (Schütz/Luckmann 1979: 42). Erzäh-
lungen wie Franz Kafkas Geschichte über „Die Verwandlung“ (1997, München,
dtv [1915]), in der sich der Protagonist eines Morgens als ‚Käfer’ wiederfindet,
oder Filme wie der erste Teil der Matrix-Trilogie der Gebrüder Wachowski
(1999, Warner) spielen mit den Ängsten und Erschütterungen, die ein Bruch
dieser Idealisierungen mit sich bringt.

4.1.2 Das Ich und die Anderen – zur Intersubjektivität der Lebenswelt
Vom Selbstverstehen In einem nächsten Schritt der Schützschen Analysen geht es darum, wie das
zum Fremdverstehen
subjektive Bewusstsein auf die Bewusstseinsleistungen eines Gegenübers, eines
Alter Ego Alter Ego schließt, die ihm ja nicht direkt zugänglich sind. Damit ist der Über-
gang vom Selbstverstehen zum „Fremdverstehen“ angesprochen. Schütz nimmt
Lebenswelt an, dass wir in der „natürlichen Einstellung der alltäglichen Lebenswelt“ gleich-
sam fraglos davon ausgehen, dass es andere Menschen gibt, die im Wesentlichen
mit den gleichen Bewusstseinsprozessen und -fähigkeiten ausgestattet sind wie
wir selbst, und dass sie die Wirklichkeit der Welt im Großen und Ganzen so
wahrnehmen wie wir. Das, was wir von ihnen erblicken, also die Ausdrucksge-
stalt ihres Leibes, wird von uns so interpretiert, als wären sie „Menschen wie
ich“. Denn tatsächlich haben wir ja immer nur Zugang zu unseren eigenen Be-
wusstseinsprozessen, und keineswegs zu denjenigen der anderen. Allgemein
spricht Schütz im Hinblick auf die erwähnten Unterstellungen hier von der „Ge-
Generalthese des neralthesis des alter ego“ (Schütz 1981: 146). Das Verstehen des Sinnes, den
Alter Ego
andere ihren Handlungen beimessen, ist dann als eine Übertragung von denjeni-
gen Sinnprozessen aus zu begreifen, die wir aus unserer Selbstauslegung kennen.
Aufbauend auf der Generalthesis des alter ego, also der Grundannahme, dass
andere Menschen existieren, die mehr oder weniger „wie ich“ sind, müssen nun
noch weitere Grundunterstellungen vorgenommen werden, damit intersubjektive
Verstehensprozesse und Interaktionen möglich werden. Dazu zählen:
Das interpretative Paradigma 83

ƒ die Idealisierung der „Vertauschbarkeit der Standpunkte“: damit ist die


Annahme gemeint, dass der Andere, wäre er an meiner Stelle, die Dinge
weitgehend so sehen würde wie ich, und umgekehrt;
ƒ die Idealisierung der „Kongruenz der Relevanzsysteme“: wir gehen davon
aus, dass unsere Relevanzsysteme unabhängig von unserer individuellen
Lebenserfahrung und -situation hinreichend übereinstimmen, damit wir uns
verständigen und gemeinsam bzw. aufeinander bezogen handeln können.

Schütz nennt diese beiden Idealisierungen zusammengenommen die „General-


these der wechselseitigen Perspektiven“ (vgl. Schütz/Luckmann 1979: 87ff).
Indem wir mit anderen eine gemeinsame Sprache, ein Zeichensystem benutzen,
sind die Grundbedingungen dieser Annahmen immer schon weitestgehend ge-
währleistet, eben über die darin enthaltenen Typisierungen, also für historisch
spezifische Gesellschaften typische Deutungsschemata, Kategorien, Motive,
Modelle für Handlungen usw.
Damit sind wir bei der Analyse der „Sinnstruktur der Sozialwelt“ und unse- Die Sinnstruktur der
Sozialwelt
rer alltäglich-selbstverständlichen Wahrnehmung des „in Gesellschaft Seins“
angekommen. Eine wichtige Rolle spielt hier für Schütz der Begriff der „Le-
benswelt“. Damit hatte Husserl die Welterfahrung unseres Alltagslebens be-
zeichnet: Durch unsere Sinne vermittelt nehmen wir darin Dinge in räumlicher
Lokalisierung und zeitlicher Dauer wahr und erfahren sie als „einfach gegeben“.
Demgegenüber zeichnet sich beispielsweise eine wissenschaftliche Haltung zur
Welt meist durch die Infragestellung dieser „naiven“ Gegebenheit der Phäno-
mene aus. Die Soziologie jedoch müsse, so Schütz, mit der Beschreibung der
Grundstrukturen dieser „alltäglichen Lebenswelt“ beginnen, also derjenigen Rea-
litätsebene, die uns in der „natürlichen Einstellung“, in derjenigen des „gesunden
Menschenverstandes“, als selbstverständlich gegeben und „fraglos“ erscheint
(Schütz/Luckmann 1979: 23). Neben die Analyse der Sinnkonstitution im Be-
Sinnkonstitution
wusstsein tritt damit eine Untersuchung von Strukturen: Schütz erschließt den
„sinnhaften Aufbau der sozialen Welt“ durch eine phänomenologische Analyse
der „Strukturen der Lebenswelt“ (Schütz/Luckmann 1979/1984). Dabei konzent-
riert er sich auf die Ebene der „Lebenswelt des Alltags“ als derjenigen Wirklich-
keitsebene, an der wir regelmäßig teilnehmen, in die wir eingreifen und die wir
verändern können, die uns auch Widerstände entgegensetzt und zur Kreativität
zwingt, in der wir uns mit anderen verständigen können, die also intersubjektiv
ist í was beispielsweise in einem anderen Sinnbereich, der „Traumwelt“ nicht
möglich ist: „Wir können sagen, daß unsere natürliche Einstellung der Welt des
täglichen Lebens gegenüber durchgehend vom pragmatischen Motiv bestimmt
ist.“ (Schütz/Luckmann 1979: 25ff)
Die Deutungsschemata, mit denen wir unsere Erlebnisse belegen und sie Wir nehmen die Welt
im Modus des
dadurch zu Erfahrungen machen, lassen sich als „Typen“ und „Typisierungen“
Typischen wahr
begreifen. Wir handhaben dabei die gesellschaftlich-historisch entstandenen,
(sozial)strukturell gegliederten und unterschiedlich verteilten Zeichen- bzw. Typisierung
Symbolsysteme, d.h. die Wissensvorräte, die uns zur Verfügung stehen. Was
bedeutet die Rede von einer solchen „Erfahrung im Modus des Typischen“?
Nehmen wir das Beispiel eines Apfels in der Obstschale. Wir sehen ihn nur zum
Teil, nehmen ihn aber als Gesamtgestalt eines ‚Apfels’ wahr, d.h. wir ordnen
84 Reiner Keller

einen spezifischen Erlebensgehalt einer allgemeinen Kategorie (Apfel) zu, die


ihrerseits Teil eines weiteren Kategorienbestandes ist (essbares Obst). „Apfel“ ist
ja ein allgemeiner Ausdruck, den wir auf unterschiedlichste konkrete Erschei-
nungen, also ‚konkret existente Dinge, die wir der Rubrik Apfel zuordnen’, be-
ziehen können. Auch unsere Vorstellung von Personen ist eine Typisierung:
Jemanden als „Freund“ wahrzunehmen, heißt nichts anderes, als ihn unter eine
allgemeine Kategorie zu stellen. Selbst unsere Wahrnehmung von besonderen
Personen í mein Freund Willy í ist eine Typisierung. Der Willy von gestern ist
ja, streng genommen, nicht der Willy von heute: Sein Körper hat sich verändert,
er hat andere Erfahrungen gemacht usw. Ihn als Willy zu identifizieren, bedeutet
deswegen eben auch, ihn unter seinem Namen zu typisieren. Letztlich ist jede
Bedeutungsgebung in diesem Sinne ein Typisierungsakt, da es keine zwei glei-
chen Weltzustände gibt. Kollektives Wissen bzw. gesellschaftliche Symbol- oder
Zeichensysteme sind nichts anderes als historisch aufgehäufte und tradierte Ty-
pisierungen, die sich in erster Linie aus dem ergeben, was in einer Gesellschaft
typischerweise als relevant, wichtig und wirklich (oder unwirklich) gilt í und die
durch ihren Gebrauch genau diese Relevanzen wiederum mit erzeugen. Sozial-
wissenschaftlich von Interesse ist diese Feststellung u.a. deswegen, weil man
über die Analyse solcher „Typen“ einen Zugang zu den sozialen Erfahrungen der
Gesellschaftsmitglieder erhalten kann. Ein von Schütz selbst dazu vorgestelltes
Beispiel ist die Figur des „Fremden“. Vor dem Hintergrund seiner eigenen
Migrationserfahrungen beschrieb er diesen Typus durch das Merkmal, dass für
ihn gerade die unproblematische Gegebenheit der Relevanzstrukturen und Deu-
tungsschemata eines Kollektivs nicht gelten. Da er aus einer Herkunftskultur mit
einer besonderen „Alltagswirklichkeit“ (einschließlich der spezifischen kulturel-
len Normen und institutionellen Strukturierungen des Handelns) in eine An-
kunftsgesellschaft mit deren „Alltagswirklichkeit“ übertritt, verliert jede dieser
Wirklichkeiten ihre Fraglosigkeit. Er weiß also darum, dass es unterschiedliche
Relevanzsysteme gibt und tritt mit diesem Wissen, dieser Erfahrung der Relativi-
tät in jede Situation ein. Für ihn ist also weder das alte noch das neue Bezugssys-
tem der Erfahrung uneingeschränkt gültig, d.h. in der Art und Weise „fraglos“
und „gegeben“ wie für eine Person, die ihren Kulturzusammenhang nie verlassen
hat (Schütz 1972a).

4.2 Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit

Von der Sinnkonsti- Bei der vorangehenden Diskussion der Sinnkonstitution im Einzelbewusstsein
tution im Bewusst-
wurde deutlich, dass dieses Bewusstsein auf Deutungsschemata bzw. allgemei-
sein zur gesellschaft-
lichen Konstruktion ner: auf typisiertes Wissen zurückgreift. Wie sich solche Typisierungen in histo-
der Wirklichkeit rischen Gesellschaften zur sprachlichen Gestalt eines komplexen, sozial geteilten
„universe of discourse“ (Schütz/Luckmann 1984: 327) bzw. eines kollektiven
Wissensvorrates stabilisieren können, und wie dieser wiederum von den Indivi-
duen in Sozialisationsprozessen angeeignet wird, ist das Grundthema der „Ge-
sellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit“ von Peter L. Berger und Thomas
Luckmann (Berger/Luckmann 1980 [1966]). Die Sinnkonstitution im Bewusst-
sein und die Wissenskonstruktion in der intersubjektiven Lebenswelt des Alltags
Das interpretative Paradigma 85

sind gewissermaßen zwei Seiten einer Medaille. Aber die letztere stellt den ei-
gentlichen Gegenstand einer sozialphänomenologisch fundierten sozialkonstruk-
tivistischen Wissenssoziologie dar. Die von Berger und Luckmann verfasste
„Theorie der Wissenssoziologie“ ist in verschiedener Hinsicht ein Schlüsselwerk
der weiteren wissenssoziologischen Entwicklungen und mehr noch: der allge-
meinen Soziologie. Sie fassen die Wechselbeziehung zwischen Mensch(en) und
Gesellschaft in die folgende knappe Aussage: „Gesellschaft ist ein menschliches
Produkt. Gesellschaft ist eine objektive Wirklichkeit. Der Mensch ist ein gesell-
schaftliches Produkt.“ (Berger/Luckmann 1980: 67)

Peter L. Berger (geb. 1929)

Peter L. Berger wurde 1929 in Triest geboren und wuchs in


Wien auf. Mit seinen Eltern jüdischer Herkunft, die zum
Protestantismus übergetreten waren, wanderte er nach dem
Zweiten Weltkrieg in die USA aus. Er studierte Soziologie
und Philosophie. 1952 promovierte er an der New School
for Social Research in New York, wo er unter anderem
Schüler von Alfred Schütz war. Danach forschte und lehrte
er an verschiedenen Institutionen, zuletzt bis zu seiner
Emeritierung an der Boston University. Dort leitete er das
„Institute for the Study of Economic Culture“ (heute: Institute on Culture,
Religion and World Affairs). Berger hat neben bedeutenden Einführungen in
die Soziologie und der ‚Theorie der Wissenssoziologie’ vor allem religionsso-
ziologische Fragestellungen verfolgt und sie ähnlich wie Weber mit wirt-
schaftssoziologischen Themen verbunden.

Thomas Luckmann (geb. 1927)

Thomas Luckmann wurde 1927 in Slowenien geboren und


lebte dann u.a. in Laibach, Klagenfurt und Wien. Gegen
Kriegsende wurde er noch zur deutschen Luftwaffe einge-
zogen. Nach dem Zweiten Weltkrieg studiert Luckmann
zunächst in Wien, später in Innsbruck u.a. Sprachwissen-
schaften und Philosophie. 1951 geht er in die USA, arbeitet
zunächst als Chauffeur und setzt dann sein Studium an der
New School for Social Research fort, wo er auch Peter L.
Berger kennen lernt. Alfred Schütz wird für ihn ein wich-
tiger Lehrer. Luckmann promoviert 1956 in Soziologie und arbeitet dann in
verschiedenen Forschungsprojekten und Universitäten, etwa von 1960-1965
an der New School, von 1965-1970 an der Universität Frankfurt/Main und
dann bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1994 an der Universität Konstanz.
Ähnlich wie Peter L. Berger verfolgte er religionssoziologische Interessen.
Gleichzeitig arbeitete er stärker an der Verbindung von sprach- und kommu-
nikationstheoretischen Fragen mit der soziologischen Wissensanalyse.
86 Reiner Keller

Lektürevorschlag:

Berger, Peter L./Luckmann, Thomas (1980): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirk-
lichkeit. Frankfurt/Main: Fischer, S. 56-76.
Vertiefungen:
Berger, Peter L./Berger, Brigitte/Kellner, Hansfried (1975): Das Unbehagen in der Mo-
dernität. Frankfurt/Main Verlag.
Berger, Peter L./Luckmann, Thomas (1980): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirk-
lichkeit. Frankfurt/Main: Fischer.
Luckmann, Thomas (1992): Theorie des sozialen Handelns. Berlin Verlag.
Schnettler, Bernt (2006): Thomas Luckmann. Konstanz: UVK.
Webseiten: Peter Berger Resources www.geocities.com/williamjamison/Berger (Stand v.
31.01.07)
Peter L. Berger Room www.angelfire.com/or/sociologyshop/PLB.html (Stand v.
31.01.07)

Eine Synthese unter- Berger/Luckmann stützen ihre Theorie auf ein breites Gedankenfundament: Zu-
schiedlicher
Positionen
nächst knüpfen sie an die philosophisch-anthropologischen Perspektiven von
Hellmuth Plessner und Arnold Gehlen an: Plessner hatte in der „exzentrischen
Positionalität“ des Menschen, also in seinem Vermögen, sich reflexiv-denkend
(gleichsam ‚von außen’) auf sich selbst zu beziehen, die Differenz zwischen
Mensch und Tier ausgemacht (Plessner 1975 [1928]). Arnold Gehlen betrachtete
Exzentrische den Menschen als ‚umweltoffenes’ „Mängelwesen“, das der sozialen Institutio-
Positionalität nen als einer Art ‚zweiter Natur’ und Instinktersatz bedarf, die sein Verhalten
einschränken und ermöglichen zugleich (Gehlen 1976; vgl. dazu S. 190ff. in
diesem Band). Im Anschluss an Karl Marx und im Rekurs auf den Pragmatismus
konzipieren Berger/Luckmann menschliche Praxis als arbeitsteilig-interaktive
Mängelwesen Tätigkeit der Externalisierung, Stabilisierung, Objektivierung und Wiederaneig-
nung von (symbolischen) Ordnungen: „Auf welche Weise entsteht gesellschaft-
liche Ordnung überhaupt? Die allgemeinste Antwort wäre, daß Gesellschaftsord-
nung ein Produkt des Menschen ist, oder genauer: eine ständige menschliche
Produktion.“ (Berger/Luckmann 1980: 55)

Die Grundidee der „gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit“ besagt,


dass Gesellschaftsordnung als ständige menschliche Produktionsleistung ver-
standen werden muss. Gesellschaft ist objektive und subjektive Wirklichkeit
zugleich. Sie wird stabilisiert, wahrgenommen und verändert durch sozio-
historische Wissensvorräte, die von Menschen gemacht sind und die von ih-
nen sozialisatorisch angeeignet werden. Als Wissen gilt alles, was als wirklich
angenommen wird, einschließlich der Existenz von Ideen, außerweltlichen
„Transzendenzen“ (Gottheiten usw.).

Max Webers Grundlegung der Verstehenden Soziologie liefert ihnen das Fun-
dament einer handlungstheoretisch angelegten Perspektive auf die Bedeutung
des Sinnverstehens und das Soziale als Sinnzusammenhang. Mit Durkheim inte-
ressieren sie sich aber gerade für diejenigen Mechanismen, durch die symboli-
sche Ordnungen als „ärgerliche Tatsache der Gesellschaft“ (Ralf Dahrendorf),
als entfremdete Produkte menschlichen Handelns und Zwang ausübende „soziale
Das interpretative Paradigma 87

Dinge“ erscheinen. Alfred Schütz wird mit seinen phänomenologischen Analy-


sen der Konstitution von Wirklichkeit im individuellen Bewusstsein herangezo-
gen, um die Aufschichtungen und Zusammenhänge zwischen individuellen und
kollektiven Wissensvorräten zu beschreiben und die ‚Wirkweise‘ des Wissens
bei der Strukturierung menschlicher Praxis zu erfassen. Sie führen Berger/Luck-
mann auch zur Betonung der Wirklichkeitsordnung der alltäglichen Lebenswelt,
des Allerwelts- oder Jedermann-Wissens als permanent produzierter und repro-
duzierter Grundlage der gesellschaftlichen Ordnung. Die pragmatistische Sozial-
theorie des SI bietet dann nicht nur eine Vorstellung über die konkreten Aus-
handlungsprozesse von Situationsdefinitionen und Wissensbeständen, sondern
mit der Meadschen Sozialisationstheorie auch die Grundgedanken dafür, wie
gesellschaftliche, objektivierte Wissensbestände in Sozialisationsprozessen wie-
derum angeeignet und damit weitergegeben werden.
Im Ergebnis entwickeln Berger/Luckmann eine Theorie der sozialen Kon- Sinnkonstruktion
struktion von Deutungs- und Handlungswissen, das gesellschaftlich institutiona-
lisiert und in Sozialisationsprozessen an Individuen vermittelt wird. Auch wenn
sie dabei von „Konstruktion“ sprechen, so bedeutet dies keineswegs, dass es sich
um einen geplanten und kontrollierten Prozess handelt – das ist höchstens eine
unter mehreren möglichen Arten und Weisen des ‚Erzeugens’ von Wissensord-
nungen. Tatsächlich bezeichnet „gesellschaftliche Konstruktion“ zunächst nur
die Annahme, dass es sich um ‚von Menschen gemachte’ Wissenskonstruktionen
handelt. „Wissen“ ist hier alles, was ‚als wirklich’ angenommen wird, Sinn stif-
tet oder doch sinnvoll interpretiert werden kann, etwa Handlungsmuster, Deu-
tungsmuster, Normen und Regeln, Sprache, Klassifikationen, Institutionen, Be-
rufe, Gefühle und Empfindungen, Routine- und Referenzwissen. Der gesell-
schaftliche (und immer soziohistorisch spezifische!) Wissensvorrat ist komplex,
keineswegs homogen und konsistent; es gibt soziale Strukturen seiner Verteilung
und Differenzierung. Nicht jeder verfügt über alles Wissen; nicht jeder lebt damit
– zumindest in modernen Gesellschaften – in der gleichen Welt. Es gibt Exper-
ten, Spezialisten für dies und das, aber auch unwissende Laien. Es gibt Hierar-
chien der Wissensverteilung und differenzierte, ungleiche Chancen, Wissen zu
produzieren, gesellschaftlich durchzusetzen oder sich individuell anzueignen.
Nach sozialen Orten und Gruppenzugehörigkeiten werden unterschiedliche Be-
standteile dieses Wissensvorrates subjektiv angeeignet und relevant.

4.2.1 Gesellschaft als objektive und subjektive Wirklichkeit

„Gesellschaft“ wird so in zweifacher Weise gedacht: als objektive und subjektive Gesellschaft ist
objektive und subjek-
Wirklichkeit zugleich. Was ist damit gemeint? Der Sinn, die wahrnehmbare
tive Wirklichkeit
Wirklichkeit der Welt erschließt sich dem erkennenden, deutenden (sinnkonstitu-
ierenden), handelnden Subjekt immer als sozial konstruierter, als Wissen, das
aus dem übersubjektiven gesellschaftlichen Wissensvorrat stammt und sowohl
Inhalte wie Handlungsweisen, Regeln, Normen oder Moralvorstellungen um-
fasst. Dieser historisch entstandene und kontingente Wissensvorrat wird dem
Individuum von den verschiedensten Vermittlungsinstanzen (z.B. Familie, Peer-
groups, Bildungseinrichtungen, Massenmedien) als objektiv gegeben vorgestellt
88 Reiner Keller

und von den Subjekten in unterschiedlichsten Prozessen und Situationen ange-


eignet. Gesellschaft ist die in einer Vielzahl von symbolischen Sinnwelten objek-
Legitimierung
tivierte, d.h. institutionalisierte, legitimierte, in gewissem Sinne aktiv „verwirk-
lichte“ Realität, gemachtes Faktum einerseits, sozialisatorisch angeeignete Wirk-
lichkeit andererseits. Damit ist Thomas’ „Definition der Situation“ endgültig in
eine umfassende soziologische Theorie der Wirklichkeit eingebettet. Prozesse
Objektivierung gesellschaftlicher Objektivierung von Sinn – etwa durch Zeichensysteme, Insti-
tutionen, Sprache und materielle Objekte – sind konstitutiv für das ,soziale Wirk-
lichwerden’ der Wirklichkeit:

„Wissen über die Gesellschaft ist demnach Verwirklichung im doppelten Sinne des
Wortes: Erfassen der objektivierten gesellschaftlichen Wirklichkeit und das ständige
Produzieren eben dieser Wirklichkeit in einem.“ (Berger/Luckmann 1980: 71)

Eine dialektische Die Beziehung zwischen objektiviertem Wissen und gesellschaftlicher Hand-
Beziehung zwischen
objektiviertem Wis-
lungspraxis wird dialektisch gedacht. Jedes Deuten und Handeln greift auf die
sen und gesellschaft- gesellschaftlich erzeugten, im jeweiligen soziohistorischen Kontext kollektiv
licher Handlungs- verfügbaren typisierten Wissenselemente zurück. Diese werden im Deutungs-
praxis und Handlungsprozess aktualisiert, transformiert, angesichts neuartiger Problem-
situationen modifiziert oder erweitert. Die Vortypisierung bietet zugleich Entlas-
tung, Ermöglichung und Einengung von Deuten und Handeln. Gesellschaft ist so
objektivierte, d.h. durch Menschen gemachte und in Form von Wissen bzw.
Institutionen mit Gültigkeitsansprüchen versehene, auf Dauer gestellte und des-
wegen objektive Wirklichkeit einerseits, im individuellen Werdegang aktiv an-
geeignete und deswegen subjektive Wirklichkeit andererseits. Der subjektive
Wissensvorrat umfasst nicht nur explizite Wissensbestände, reflexiv verfügbare
Deutungsmuster usw., sondern auch das routinehaft bzw. habituell verfügbare
‚Rezeptwissen’ für Alltagspraktiken. Die Aktualisierung von Elementen des
Habitualisierung Wissensvorrates erfolgt meist als pragmatisch-fragloser Routineprozess, der nur
dann, wenn es Probleme gibt, eine besondere Zuwendung und Reflexionsarbeit
notwendig macht. Sinn ist damit, wie bei Alfred Schütz, immer sozialer Sinn bzw.
in seinen verbleibenden subjektiven Attributen der soziologischen Analyse nicht
zugänglich. Die Sozialstruktur ist die soziologisch bedeutsamste Ebene der Struk-
turierung des individuellen Handelns und der gesellschaftlichen Wissensverteilung
(vgl. Knoblauch/ Raab/ Schnettler 2002). Aufgabe der Soziologie ist, so argu-
mentieren Berger und Luckmann, insbesondere die Untersuchung des Alltags-
oder Jedermannwissens, das als basale Bedeutungsstruktur der gesellschaftlichen
Wirklichkeit zugrunde liegt: „Allerweltswissen, nicht ‘Ideen’ gebührt das Haupt-
interesse der Wissenssoziologie, denn dieses ‘Wissen’ eben bildet die Bedeu-
tungs- und Sinnstruktur, ohne die es keine menschliche Gesellschaft gäbe.“ (Ber-
ger/Luckmann 1980: 16)
Das interpretative Paradigma 89

4.2.2 Die ‚objektive’ Wirklichkeit als kollektiver Wissensvorrat

Wie entstehen nun „kollektive Wissensvorräte“? Die grundlegenden gesell- Die Entstehung
kollektiver
schaftlichen Prozesse der Wissenskonstruktion verlaufen als Stufenabfolge: Sie Wissensvorräte
beginnen in Interaktionssituationen mit der situativen Entäußerung von Sinnan-
geboten, der interaktiven Verfestigung von Handlungen und Deutungen in Pro-
zessen der wechselseitigen Typisierung durch unterschiedliche Akteure, der
habitualisierten Wiederholung, der Objektivation durch Institutionenbildung
etwa in Rollen und der Weitergabe an Dritte in Formen sozialisatorisch vermit-
telter Aneignung. Was so recht kompliziert klingt, illustrieren Berger/Luckmann
am Beispiel einer Robinson Crusoe-Situation: Auf einer einsamen Insel treffen
zwei gestrandete Personen aufeinander, die aus unterschiedlichen Kulturen stam-
men und zwischen denen zunächst keine sprachliche Verständigung möglich ist.
Gedankenexperimentell skizzieren sie dann den Weg, der über wechselseitiges
Handeln und Beobachten zum Aufbau von komplexen gemeinsamen Zeichen-
formen und Rollenbezügen führt. A klettert auf eine Palme und holt eine Kokos-
nuss. Sie wird von B dabei beobachtet. A wiederholt dies und wiederum wird das
von B bemerkt. Umgekehrt wiederholt B Handlungen, die von A beobachtet
werden. Sie machen dafür ‚Lautvorschläge’, die dann von beiden benutzt wer-
den. Irgendwann verfestigen sich die Handlungsweisen: A ist dann diejenige, die
auf Bäume klettert. Kommt eine dritte Person C hinzu, dann werden A und B ihr
gegenüber verdeutlichen, dass das Bäume erklettern Sache von A ist, von nie-
mandem sonst. Sie entwickeln dafür eine Begründung, etwa eine Theorie der
besonderen Fähigkeiten von A. Damit ist eine kleine Institution innerhalb der
Gruppe entstanden, in der A die Rolle des Baumkletteres innehat. Allerdings
kann dieses Beispiel nicht erklären, wie überhaupt die Fähigkeit zum Zeichen-
gebrauch entsteht. Denn A, B oder C werden schon als erwachsene Mitglieder
von sozialen Gruppen gedacht. Ähnlich wie bei Mead bleibt also hier die evolu-
tionsgeschichtliche Entfaltung offen; im Unterschied zu Mead beanspruchen
Berger/Luckmann jedoch auch nicht, diese Frage klären zu wollen. Ihr Thema ist
ja die Konstruktion von Wissen in soziohistorisch konkreten Gesellschaften.
Institutionen stellen Wissensvorräte auf Dauer, d.h. sie gewährleisten ihre Institutionen sind auf
Dauer gestellte
Existenz über einzelne soziale Situationen hinweg, ‘verschleiern’ ihre geschicht-
Wissensvorräte
liche Kontingenz und setzen dazu verschiedenste Kontroll- und Sanktionsme-
chanismen ein. Mit der institutionellen Vorstrukturierung von Deutungs- und
Handlungsmustern entsteht zugleich das Problem der Kontrolle von Abweichun-
gen. Entsprechend werden Sanktionspotenziale aufgebaut. Institutionen schlie-
ßen schon durch ihr Vorhandensein, durch die Art und Weise ihrer spezifischen
sinnhaften Ordnung von Wirklichkeitsbereichen Alternativen aus. Sie gewinnen
ihren Charakter als objektive Faktizität vor allem dann, wenn sie an Dritte ver-
mittelt werden, die an ihrer Entstehung nicht beteiligt waren (Berger/Luckmann
1980: 49 ff): „Das Fortwirken einer Institution gründet sich auf ihre gesellschaft-
liche Anerkennung als ‚permanente’ Lösung eines ‚permanenten’ Problems.
Potentielle Akteure für institutionalisierte Aktionen müssen daher systematisch
mit institutionalisiertem Sinn bekanntgemacht werden.“ (Berger/Luckmann
1980: 74f)
90 Reiner Keller

Institutionen benöti- Dafür werden Legitimationen, also Erklärungen und Rechtfertigungen für
gen Legitimationen
das Bestehen der Institutionen und ihren Geltungsanspruch entwickelt – es wird
eine entsprechende Geschichte erzählt, in der die institutionelle Ordnung be-
gründet und sowohl als kognitiv wie auch als normativ einzig mögliche ausge-
wiesen wird. „Die objektivierte soziale Welt wird von der Sprache auf logische
Fundamente gestellt. Das Gebäude unserer Legitimationen ruht auf der Sprache,
und Sprache ist ihr Hauptargument.“ (Berger/Luckmann 1980: 69) Solche Legi-
timationen können sehr unterschiedliche konkrete Erscheinungsformen anneh-
men, die von einfachen ‚Alltagsrezepten’ und ‚Das ist eben so’/,Man tut das
nicht’ über wissenschaftliche Theorien bis hin zu ausgearbeiteten komplexen
Weltbildern (etwa Religionen) reichen und kognitive Elemente (‚etwas ist so und
so’) mit normativen Elementen (‚das soll auch so sein’, ‚das ist gut so’) verbin-
den. Interessen konkreter Personengruppen und gesellschaftliche Herrschaftsver-
hältnisse entscheiden über ihre relative Geltung: „Wer den derberen Stock hat,
hat die bessere Chance, seine Wirklichkeitsbestimmung durchzusetzen.“ (ebd.:
117) Macht in der Gesellschaft schließt die Verfügung über Sozialisationspro-
zesse ein, und „damit die Macht, Wirklichkeit zu setzen ...“ (ebd.: 128). Die
‚Einverleibung’ der Institutionen in die Individuen läuft über Rollen. Institutio-
nen werden von Individuen durch deren Rollenspiel verwirklicht, reproduziert
und transformiert; sie sind unmittelbar mit gesellschaftlichen Interessenlagen
verbunden: „Institutionen und symbolische Sinnwelten werden durch lebendige
Menschen legitimiert, die ihren konkreten gesellschaftlichen Ort und konkrete
gesellschaftliche Interessen haben.“ (ebd.: 137)

4.2.3 Die individuelle Aneignung des Wissens

Die kollektiven Im Anschluss an die Untersuchung von „Gesellschaft als objektiver Wirklich-
Wissensvorräte
keit“ wenden sich Berger und Luckmann der „Gesellschaft als subjektiver Wirk-
werden in Sozialisa-
tionsprozessen lichkeit“ und damit der Frage nach der Internalisierung dieser Ordnung in das
selektiv angeeignet individuelle Bewusstsein zu. Dieser Aneignungsprozess bildet die allgemeine
Grundlage für menschliches Handeln in historisch konkreten Gesellschaften. Sie
gehen davon aus, dass Menschen qua Geburt eine „Disposition für Gesellschaft“
mit auf die Welt bringen und insbesondere in Prozessen der primären Sozialisa-
tion die basalen Wissensstrukturen der gesellschaftlichen Wirklichkeit internali-
sieren (Berger/Luckmann 1980: 139ff). Im Anschluss an sozialisationstheoreti-
sche Überlegungen von William James, Charles H. Cooley und insbesondere
George Herbert Mead betonen Berger/Luckmann die sozialstrukturell selegierte
Vermittlung der gesellschaftlichen Wissensstrukturen in das kindliche Bewusst-
sein durch signifikante Andere im Prozess der Primärsozialisation. Über die
Generalisierung der signifikanten Anderen kommt es schließlich zur weitgehen-
den, aber nie völligen Übereinstimmung:

„Was ‚außen’ wirklich ist, entspricht dem, was ‚innen’ wirklich ist. ... Wichtig ist
jedoch, daß die Symmetrie zwischen objektiver und subjektiver Wirklichkeit nicht
vollkommen sein kann. Die beiden Wirklichkeiten entsprechen einander, ohne sich
zu decken. Immer ist mehr objektive Wirklichkeit ‚erreichbar’, als tatsächlich von
irgendeinem Bewußtsein internalisiert wird ... Andererseits gibt es immer auch Be-
Das interpretative Paradigma 91

standteile der subjektiven Wirklichkeit, die nicht in der Sozialisation wurzeln. Das
des eigenen Körpers Innesein ist zum Beispiel vor und unabhängig von allem, was
in der Gesellschaft über ihn erlernbar ist. Das subjektive Leben ist nicht völlig ge-
sellschaftlich. Der Mensch erlebt sich selbst als ein Wesen innerhalb und außerhalb
der Gesellschaft. Das deutet darauf hin, dass die Symmetrie zwischen objektiver und
subjektiver Wirklichkeit niemals statisch, niemals ein unabänderlicher Tatbestand
ist. Sie muß immer in actu produziert und reproduziert werden.“ (Berger/Luckmann
1980: 144f)

In der späteren sekundären Sozialisation in institutionelle Felder der Gesellschaft Sprache und Kom-
munikation als Träger
(„Subsinnwelten“) spielen Identifikationsprozesse eine untergeordnete Rolle. Da
der Wirklichkeitskon-
die Sozialisandin oder der Sozialisand nunmehr um die verfügbaren Optionen struktion
bzw. Alternativen mehr oder weniger weiß und vor dem Hintergrund ihrer/seiner
Primärsozialisation auch eine gewisse Distanz zu den sich ihr/ihm neu erschlie-
ßenden Wirklichkeitsbereichen aufbringt, sind hier stärkere äußere Stützungen Subsinnwelt
des Prozesses – durch Legitimationstheorien, Zwang etc. – notwendig. Der
Gebrauch einer gemeinsamen Sprache bildet dabei den Grundmodus der perma-
nenten Konstruktion von Wirklichkeit. Die Aufrechterhaltung der jeweiligen
Sinnbezüge im individuellen Bewusstsein erfordert unablässig einen kommuni-
kativen Input:

„Das notwendigste Vehikel der Wirklichkeitserhaltung ist die Unterhaltung. Das


Alltagsleben des Menschen ist wie das Rattern einer Konversationsmaschine, die
ihm unentwegt seine subjektive Wirklichkeit garantiert, modifiziert und rekon-
struiert. ... Der Austausch von ein paar Worten wie: ‚So allmählich wird’s Zeit, daß
ich zum Bahnhof gehe’ und: ‚Stimmt, Schatz, mach’s gut im Büro’, setzt eine ganze
Welt voraus, innerhalb deren die anscheinend so einfachen Aussagen Sinn haben.
Kraft dieser Eigenschaft bestätigt ein solcher Austausch die subjektive Wirklichkeit
der Welt.“ (Berger/Luckmann 1980: 163)

Mit Hinweisen auf die sozialstrukturelle Prägung der individuellen Aneignung


gesellschaftlicher Wissensvorräte schließen Berger/Luckmann den Kreis zurück
zum alten Programm der Wissenssoziologie: der Fragen nach den sozialen Struk-
turierungen des Wissenserwerbs, auf die schon Karl Marx und Karl Mannheim
hinwiesen. Nicht zufällig erinnern sie gegen Ende ihrer Ausführungen noch
einmal an Ersteren: „Die Einsicht in die Dialektik zwischen gesellschaftlicher
Wirklichkeit und individuellem Dasein in der Geschichte ist keineswegs neu.
Kein geringerer als Marx hat sie der modernen Gesellschaftsphilosophie hinter-
lassen. Die theoretische Orientierung der Sozialwissenschaften braucht dringend
einen Schuß Dialektik.“ (ebd.: 199)

4.3 Bilanz und Aktualität der sozialkonstruktivistischen Wissenssoziologie

Gewiss enthält die vorgestellte Theorie der Wissenssoziologie einige Schwach- Einige problemati-
sche Aspekte der
stellen. Dazu zählt sicherlich zunächst der Konstruktionsbegriff selbst, der –
Theorie
gegen die Absicht der Autoren – an bewusste, geplante und kontrollierte Prozes-
se denken lässt. Tatsächlich geht es jedoch viel eher um die Mannigfaltigkeit von
nicht beabsichtigten Folgen oder Nebeneffekten gesellschaftlichen Handelns, aus
92 Reiner Keller

denen die Wirklichkeit als eine durch gesellschaftliche Wissensvorräte geordnete


entsteht. So ist beispielsweise die Sprache nicht Ergebnis einer bewussten Kon-
struktion, sondern ein Produkt sozialer und historischer Prozesse und gleichzeitig
ein Wissensvorrat, der unsere Wirklichkeit durch die darin verfügbaren Begriffe
und Bedeutungen ordnet. Auch der Begriff des Wissens ist nicht unproblema-
tisch, denn er verführt zu einer „kognitivistischen“ Interpretation, die suggeriert,
es gehe in erster Linie um ‚explizit gewusstes’ Tatsachen-Wissen. Menschen
erscheinen dann leicht als Aneigner von festen, vorgegebenen Wissensbeständen,
ohne dass deutlich wird, wie dieser Anwendungsprozess selbst anders denn als
„Ausführung“ dieses Wissens im Rollenspiel gedacht werden kann. Damit gehen
Assoziationen von Stabilität, Stimmigkeit und Zusammenhang einher, die den
komplexen, chaotischen und konflikthaften Wissensverhältnissen in modernen
Gesellschaften nicht mehr angemessen erscheinen. Kritisiert wurde auch, dass
die Autoren wenig Hinweise dazu geben, wie ihre Theorie jenseits allgemeiner
forschungsleitender Grundannahmen in empirische Forschung umgesetzt werden
kann. Schließlich ist anzumerken, dass ihre ausgedrückte Präferenz für die Ebene
des ‚Jedermann-Wissens’ eine Rezeption und Anwendung befördert hat, die sich
vor allem für die Mikroebene sozialer Interaktionen und Gruppeneinbindungen
interessierte (vgl. beispielsweise Wolff 1997; Maasen 1999; Keller 2005).
Ein Anwendungs- Berger und Luckmann selbst haben ihre Theorie der Wissenssoziologie in
beispiel
verschiedenen empirischen, beispielsweise religionssoziologischen Studien be-
nutzt. Ein eindrucksvolles Beispiel liefert etwa die Analyse von Berger/Ber-
ger/Kellner (1987) über das „Unbehagen in der Modernität“. Dort untersuchen
sie Auswirkungen von strukturellen Einbindungen in Arbeitsprozesse und sozia-
le Gruppen in ihren Wirkungen auf gesellschaftliche ‚Bewusstseinslagen’ im
Vergleich zwischen modernen westlichen Industriegesellschaften und Gesell-
schaften, denen in öffentlichen Debatten ‚Modernisierungsrückstände’ attestiert
wurden. Sie schreiben: „... wir analysieren bestimmte Institutionen und instituti-
onelle Prozesse als die gesellschaftliche Basis bestimmter Bewußtseinsstruktu-
ren. Anders ausgedrückt, jede Art von Bewußtsein ist nur unter besonderen sozi-
alen Bedingungen plausibel. Diese Bedingungen nennen wir eine Plausibilitäts-
struktur.“ (Berger/Berger/Kellner 1987: 19f) In einem berühmten Aufsatz haben
sich Berger/Kellner (1965) mit der „Ehe und die Konstruktion der Wirklichkeit“
befasst. Sie diskutieren darin die Art und Weise, wie Ehepartner im Eheverlauf
ihre Sicht der Welt aneinander anpassen. Thomas Luckmann hat sich in jüngerer
Zeit für kommunikative Prozesse und Muster der Wissensvermittlung interessiert
(Luckmann 2002). Schließlich lassen sich viele Studien der neueren Wissen-
schaftsforschung, des SI oder auch der Cultural Studies kaum ohne den prägen-
den Einfluss der Theorie von Berger/Luckmann denken.
Weiterführungen in In der heutigen deutschsprachigen Soziologie stützt sich die Hermeneuti-
der Hermeneutischen
sche Wissenssoziologie (Hitzler/Reichertz/Schröer 1999) in wesentlichen Teilen
Wissenssoziologie
und im Neo- auf das Programm von Berger/Luckmann und verbindet es mit einer methodolo-
Institutionalismus gischen Reflexion der Forschungspraxis als Interpretationsprozess. Sie unter-
sucht Prozesse intersubjektiver Wirklichkeitskonstruktion in Jugendszenen
(Hitzler/Bucher/Niederbacher 2005), typisierbare Deutungs- und Handlungsmus-
ter sozialer Akteure (beispielsweise von Polizisten; Reichertz/Schröer 2003) oder
in ethnographischen Zugängen „kleine Lebenswelten“ (Honer 1993), aber auch
Das interpretative Paradigma 93

Medienformate (Reichertz 2000), kommunikative Gattungen und „Kommunika-


tionskulturen“ (Knoblauch 1975), Ritualformen (Soeffner 1992) oder Diskurse
(Keller 2005). Wenig bekannt ist, dass auch der im letzten Jahrzehnt stark rezi-
pierte soziologisch-politikwissenschaftliche Ansatz des Neo-Institutionalismus
mit seiner entschiedenen Hinwendung zur Institutionenanalyse das sozialkon-
struktivistische Programm aufgreift. John Meyer (1992), einer der wichtigsten
Protagonisten, akzentuiert eine mehrfache Weiterführung der Theorie von Ber-
ger/Luckmann. Dazu zählen etwa die Einbeziehung kollektiver Akteure sowie
umfassenderer institutioneller und zeit-räumlicher Kontexte.

Übungsaufgaben:

ƒ Diskutieren Sie das Verhältnis der Theorien von Mead und Schütz!
ƒ Erläutern Sie, welche Rolle Wissen für die gesellschaftliche Konstruktion
der Wirklichkeit spielt!
ƒ Diskutieren Sie, ob und inwiefern sich SI und sozialkonstruktivistische
Wissenssoziologie unterscheiden!
ƒ Wenden Sie das Modell von objektiver und subjektiver Wirklichkeit auf ein
selbst gewähltes Beispiel an!

5 Ethnomethodologie
Einen deutlich anders akzentuierten Anschluss an das Werk von Alfred Schütz Parsons sieht
soziale Akteure als
als denjenigen, den wir gerade kennen gelernt haben, nahm der US-amerika-
‚kulturelle Deppen’
nische Soziologe Harold Garfinkel etwa ab Mitte der 1950er Jahre vor. Er erfand
dafür den Begriff der „Ethnomethodologie“. Garfinkel hatte bei Talcott Parsons
studiert und auch promoviert; von ihm – bzw. durch Parsons vermittelt: von
Emile Durkheim und Thomas Hobbes (1588-1679) – übernahm er das Interesse
an der Untersuchung sozialer Ordnung. Allerdings schien ihm, der auch Veran-
staltungen von Alfred Schütz besucht hatte und sich für die Phänomenologie von
Husserl interessierte, die von Parsons angebotene Lösung dieses Problems völlig
unzureichend. Gerade die Annahmen von Schütz über die Prozesse der Sinnkon-
stitution und die Motivationen des Handelns gaben ihm ein Analysewerkzeug in
die Hand, um in seiner Dissertation darin den 1940er Jahren das Parsonianische
Handlungsmodell (vgl. Bd.1, S. 194ff.) anzugreifen. Denn Parsons könne mit
seinem normorientierten, starren Handlungsbegriff und Rollenkonzept die not-
wendigen Interpretationsleistungen, die in den Handlungsvollzug eingebaut sind,
nicht berücksichtigen. Garfinkels Kritik an Parsons Rollenkonzept und an dessen
Handlungsbegriff ist ziemlich scharf: Er wirft ihm vor, soziale Akteure als „kul-
turelle Deppen“ („cultural dopes“) oder „Deppen ohne eigenes Urteilsvermögen“
(„judgmental dopes“; Garfinkel 1967: 68) hinzustellen, deren Handeln von all-
gemeinen Norm- und Wertsystemen gesteuert werde, ohne dass ihnen dabei ein
besonderer und aktiver Eigenanteil zugerechnet werden könne. Handelnde er-
schienen hier als simple Marionetten der kulturellen Systeme. „By ‘cultural
dope’ I refer to the man-in-the-sociologist’s-society who produces the stable
94 Reiner Keller

features of the society by acting in compliance with preestablished and legitimate


alternatives of action that the common culture provides.“ (Garfinkel 1967: 68)
Man muss das tat- Hinter einer solchen Kritik standen Garfinkels eigene Erfahrungen aus ver-
sächliche Tun unter-
suchen, durch das
schiedenen Untersuchungen zu Gerichtsprozessen, in denen es um Morde unter
soziale Akteure Schwarzen, Weißen bzw. zwischen Weißen und Schwarzen ging. Dabei hatte er
‚Ordnung’ erzeugen festgestellt, dass die Geschworenen keineswegs einfach eine Rolle ausführten
und die bestehenden Gesetze und Normen im eindeutigen Vollzug auf die ver-
handelten Fälle bezogen. Vielmehr boten sie erhebliche interpretative Kreativität
Ethnomethoden auf, um die jeweiligen Fälle zu beurteilen und ihre unterschiedlich ausfallenden
Urteile dann auch zu begründen. Dies geschah etwa in der Unterscheidung von
‚Fakten’ und ‚Meinungen’ oder in der Beurteilung ‚überzeugenden Beweismate-
rials’ (vgl. Heritage 1984: 4). Demgegenüber schien die Annahme einer Verhal-
tenssteuerung durch Normen und Wertsysteme einfach unangemessen. Statt also,
wie Parsons, diese Frage durch eine ausgearbeitete Theoriekonstruktion und ein
Modell dieses Ordnungszusammenhangs anzugehen, schlug er vor, empirisch zu
untersuchen, wie die Gesellschaftsmitglieder für soziale Ordnung sorgen, d.h.
wie sie in ihrem ganz praktischen und alltäglichen Tun – einschließlich des Re-
dens – gleichsam routinehaft die Ordnung sozialer Phänomene erzeugen, herstel-
len, stabilisieren, verteidigen (oder auch angreifen). Garfinkel bezeichnete solche
Alltagstechniken der Herstellung von Ordnung, die sich ebenso in privaten Kon-
texten wie auch am Arbeitsplatz, nicht zuletzt auch in den Wissenschaften je
unterschiedlich finden lassen, als „Ethnomethoden“, also als die Methoden der
Ethnien, Stammesvölker, besser: der Gesellschaftsmitglieder in den jeweiligen
Praxiskontexten. Ethnomethodologie ist dann das Forschungsprogramm, das
diese Methoden untersucht. Geht man von einem weiten Wissensbegriff aus,
dann kann man die Ethnomethodologie durchaus der Wissenssoziologie zurech-
nen: Sie untersucht Methoden bzw. Kompetenzen der Ordnungsherstellung im
praktischen Tun. Dies schließt sowohl Wissensbestände wie auch Körperprakti-
ken, Sprach- und Handlungskompetenzen ein.

Garfinkel bezeichnet Alltagstechniken der Herstellung von Ordnung, die sich


ebenso in privaten Kontexten wie auch am Arbeitsplatz, nicht zuletzt auch in
den Wissenschaften je unterschiedlich finden lassen, als „Ethnomethoden“,
also als die Methoden der Ethnien bzw. der Gesellschaftsmitglieder in den
jeweiligen Praxiskontexten. Ethnomethodologie ist das Forschungsprogramm,
das diese Methoden untersucht.

Die Ethnomethodo- In einer späten Veröffentlichung (Garfinkel 2002) betont Garfinkel, sein Pro-
logie untersucht die
gramm drehe sich letzten Endes darum, eine berühmte Formulierung von Emile
Konstruktion der
sozialen Wirklichkeit Durkheim endlich ernst zu nehmen. Durkheim hatte ja gefordert, die sozialen
im praktischen Tun Phänomene wie „Dinge“ zu betrachten und von deren „objektiver Realität“ aus-
der Gesellschafts- zugehen. Garfinkel schlägt vor, dass „im Gegensatz zu bestimmten Auffassun-
mitglieder
gen von Durkheim ... folgende Lehre angenommen und als Untersuchungsver-
fahren verwendet wird: Die objektive Realität der sozialen Tatsachen ist als eine
andauernde Hervorbringung der konzertierten Handlungen des Alltags ... ein
fundamentales Phänomen.“ (Garfinkel 1967: VII, hier zitiert nach der Überset-
Das interpretative Paradigma 95

zung in Zimmerman/Pollner 1976: 79). Dies bedeutet für Garfinkel, die soziale
Konstruktion oder Herstellung dieser „Dinge“ in den Blick zu nehmen, d.h. das
konkrete Handeln und die Praktiken, durch die und in denen die „sozialen Din-
ge“ (und beispielsweise auch „wissenschaftliche Fakten“) gemacht werden. Mit
anderen Worten: Die Ethnomethodologen analysieren die Methoden, die Men-
schen in ihrem Alltagsleben zur Konstruktion der sozialen Wirklichkeit nutzen.
Das lässt sich anhand der bereits erwähnten Studie über Geschworenenurteile
illustrieren. Entsprechende Untersuchungsfragen können dann lauten: Mit wel-
chen Methoden versichern sich die Geschworenen der Angemessenheit ihrer
Tätigkeit? Wie konstruieren sie eine gemeinsame moralische Ordnung der Welt,
die Ihnen als Richtgröße zur Beurteilung des unter Anklage stehenden Verhal-
tens dient? Wie erzeugen sie also die „Richtigkeit“ ihres Urteils (vgl. Psathas
1980: 271)?
Dabei gilt es allerdings aus der Sicht der Ethnomethodologie – und das ist Die Frage nach den
Situationsdeutungen
der wesentliche Unterschied zu den anderen hier vorgestellten Ansätzen des
wird abgelehnt
Interpretativen Paradigmas – auf die Frage nach den Situations-Deutungen oder
‚subjektiven Sinnbezügen’ zu verzichten. Stattdessen wird das, was die Han-
delnden tun, der tatsächliche Handlungsvollzug als die der Analyse einzig zu-
gängliche Erscheinungsweise der Interpretation begriffen: Das Handeln selbst ist
die Interpretation. Garfinkel und die Ethnomethodologie interessieren sich dafür,
wie Situationen in ihrem Vollzug durch die beteiligten Gesellschaftsmitglieder
erzeugt und organisiert werden. Deswegen muss sich die soziologische Analyse
auf „natürliche Daten“ und das Beobachtbare „Wie?“ der Handlungsvollzüge
(„doing“), durch die Ordnung hergestellt wird, konzentrieren:

„Garfinkel und konsequenter noch Harvey Sacks stellen sich immer wieder die Fra-
ge ‚Wie wird eine Handlung zustandegebracht?’ ... [Sie sprechen] von der ‚Durch-
führung’ (doing) solcher Alltagshandlungen wie Reden, Fragen, Argumentieren, um
zu betonen, daß es sich dabei um ein stets neu in Gang zu bringendes Tun handelt,
das mehr impliziert, als mit dem traditionellen Handlungsbegriff ausgedrückt ist.
Mit der Unzahl solcher tagtäglicher Handlungen stellen die Mitglieder ihre soziale
Ordnung her. (...) Dieses Insistieren auf dem (methodischen) ‚Durchführungs’aspekt
des Handelns, auf dem Wie-es-gemacht-wird, auf dem Wie-es-zu-machen-ist, auf
dem praktischen Hervorbringen von Handlungen, samt allen ihren Merkmalen, legt
das frei, was den Ethnomethodologen am sozialen Geschehen interessiert, und zeigt
den Bereich auf, gegenüber dem er seine ‚ethnomethodologische Indifferenz’ aus-
spielt.“ (Weingarten/Sack 1976: 13; vgl. zum Begriff des ‚doing’ Garfinkel/Sachs
1976: 148)

Die Ethnomethodologie verzichtet auf die Frage nach den Situations-Deutun-


gen oder ‚subjektiven Sinnbezügen’. Stattdessen wird das, was die Handeln-
den tun, der tatsächliche Handlungsvollzug („doing“) als die der Analyse ein-
zig zugängliche Erscheinungsweise der Interpretation begriffen: Das Handeln
selbst ist die Interpretation.
96 Reiner Keller

Die Ethnomethodo- Gewiss werden vielfach auch Formen der teilnehmenden Beobachtung einge-
logie verfolgt eine
setzt, damit notwendige Verstehenskompetenzen im Hinblick auf die vorliegen-
quasi-objektivistische
Perspektive den Daten erworben werden. Aber dies geschieht doch in einer Forschungshal-
tung, die sich deutlich von derjenigen der anderen Positionen des Interpretativen
Paradigmas unterscheidet. Der Ethnomethodologie geht es nämlich keineswegs
um den Nachvollzug von Handlungsmotiven, um die Teilnehmerperspektive
oder die interaktive Prozessierung symbolischer Ordnungen. Vielmehr zielt sie
gleichsam „quasi-objektivistisch“ und von ‚außen’ auf die Analyse der Metho-
den sozialer Ordnungserzeugung, die den TeilnehmerInnen sozialer Praxiszu-
sammenhänge zwar routinehaft vertraut sein mögen (und, wenn sie „kompetent“
sein wollen, als „praktisches Wissen“ auch vertraut sein müssen!), aber nicht
notwendig von ihnen bewusst eingesetzt und reflektiert werden.16

Harold Garfinkel (geb. 1917)

Harold Garfinkel wurde 1917 in Newark, New Jersey als Kind einer jüdischen
Familie geboren; sein Vater hatte ein kleines Möbelgeschäft. Er besuchte
Ende der 30er Jahre an der University of Newark einige wirtschaftswissen-
schaftliche Kurse. Im Herbst 1939 wechselte Garfinkel an die University of
North Carolina (Chapel Hill) und begann sein Soziologiestudium; auch beleg-
te er Veranstaltungen zur Phänomenologie. Seine 1942 fertiggestellte Ab-
schlussarbeit behandelt Gerichtsverfahren über ‚inter- und intrarassische
Mordfälle’. Er stellte fest, dass die Gerichte je nach ‚Mordkonstellation’ un-
terschiedlich verfuhren und dies auch unterschiedlich begründeten. In den
1940er Jahren entwickelte Garfinkel seine soziologischen Ideen weiter.
Gleichzeitig interessierte ihn die Phänomenologie von Edmund Husserl und
Alfred Schütz. Nachdem er einige Zeit bei der Air Force gedient hatte, ging
Garfinkel nach Kriegsende nach Harvard und promovierte bei Parsons („The
Perception of the Other: A Study of Social Order“, 1952). Nach mehreren
Zwischenstationen wechselte Garfinkel im Herbst 1954 an die University of
California in Los Angeles, wo er bis zu seiner Emeritierung 1987 lehrte und
forschte. Neben Garfinkel waren an der Ausarbeitung der Ethnomethodologie
seine Schüler Aaron Cicourel und Egon Bittner sowie, vor allem im Hinblick
auf die Konversationsanalyse, Harvey Sacks, Emmanuel Schegloff (Berkeley)
und Gail Jefferson (UCLA) beteiligt.

Lektürevorschlag:

Garfinkel, Harold (1967): Studies in Ethnomethodology. Englewood Cliffs: Prentice-Hall


Inc., S. 116-149 [Auszug aus dem Fallbeispiel ‘Agnes’].

16
Es gibt eine umfangreiche Diskussion zwischen der Ethnomethodologie und anderen Positionen des
Interpretativen Paradigmas. Strittig ist dabei insbesondere die Frage, welche Interpretationsprozesse
das analytische Vorgehen der EthnomethodologInnen selbst impliziert, und inwiefern diese im Fort-
gang der Analyse reflektiert werden, ob also mit anderen Worten die behauptete quasi-objektivistische
Herangehensweise überhaupt möglich ist.
Das interpretative Paradigma 97

Garfinkel, Harold (1980): Das Alltagswissen über soziale und innerhalb sozialer Struktu-
ren. In: Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen, S. 189-210 [1959/1961].
Vertiefungen: Garfinkel, Harold (1967): Studies in Ethnomethodology. Englewood Cliffs:
Prentice-Hall Inc. (Zusammenstellung grundlegender Aufsätze).
Heritage, John (1984): Garfinkel and Ethnomethodology. Cambridge: Polity Press (emp-
fehlenswerte Einführung).
Patzelt, Werner J. (1987): Grundlagen der Ethnomethodologie. Theorie, Empirie und
politikwissenschaftlicher Nutzen einer Soziologie des Alltags. München: Wilhelm
Fink Verlag (enthält im ersten Teil eine theoretische Systematisierung von Grund-
annahmen der Ethnomethodologie, dann einen Überblick über ausgewählte Studien
und schließlich eine Diskussion der Anwendungsmöglichkeiten in der Politikwis-
senschaft).
Webseiten: International Institute for Ethnomethodology and Conversation Analysis
www.iiemca.mrl.nott.ac.uk (Stand vom 02.02.07)

5.1 Agnes und die Frage, wie Geschlecht ‚getan’ wird

Bevor die Grundannahmen der Ethnomethodologie weiter vorgestellt werden, Wie man(n) zur Frau
wird
soll zunächst ein Beispiel die Position illustrieren. In den 1950er Jahren arbeitete
Harold Garfinkel in der medizinischen Abteilung der University of California in
Los Angeles im Department für Psychiatrie. Unter anderem war er dort beratend
mit Fällen der (biologischen) Zweigeschlechtlichkeit beschäftigt, d.h. mit Perso-
nen, die sowohl männliche wie auch weibliche Geschlechtsmerkmale besaßen
und ihren offiziellen und körperlichen Geschlechtsstatus verändern bzw. verein-
deutigen wollten (also zu weiblich oder männlich). Eine der Personen, mit denen
Garfinkel in diesem Zusammenhang ab November 1958 mehrere Gespräche
führte, hieß Agnes (vgl. Garfinkel 1967: 116-185). Agnes arbeitete als Typistin
bei einer Versicherung. Sie war damals eine 19jährige junge Frau mit weiblichen
Körperformen, aber voll entwickelten primären männlichen Geschlechtsorganen;
sie war als ‚Junge’ zur Welt gekommen und wurde als Kind entsprechend erzo-
gen. Sie erzählte jedoch, sie habe sich schon immer als Mädchen bzw. als Frau
gefühlt; es sei ihr in ihrer Kindheit nie gelungen, ein ‚richtiger’ Junge zu sein
und sich so zu verhalten. Mit der Pubertät hätten sich dann ihr Busen und sonsti-
ge weibliche Körperformen entwickelt; sie sei also schon immer, von Natur aus
eine Frau gewesen. Dies sei nur durch eine merkwürdige Laune der Natur in
Gestalt von Penis und Hoden fälschlicherweise überdeckt worden. Seit der Pu-
bertät sei klar, dass sie sowohl psychisch wie körperlich letztlich und eigentlich
eine Frau sei. Deswegen habe sie schließlich im Alter von 17 Jahren auch be-
gonnen, als Mädchen bzw. dann als junge Frau zu leben. Garfinkel ist von ihrer
weiblichen Erscheinung sichtlich beeindruckt:

„Agnes’ appearance was convincingly female. She was tall, slim, with a very female
shape. Her measurements were 38-25-38. She had long, fine dark-blonde hair, a
young face with pretty features, a peaches-and-cream complexion, no facial hair,
subtly plucked eyebrows, and no makeup except for lipstick. At the time of her first
appearance she was dressed in a tight sweater which marked off her thin shoulders,
ample breasts, and narrow waist. Her feet and hands, though somewhat larger than
usual for woman, were in no way remarkable in this respect. Her usual manner of
98 Reiner Keller

dress did not distinguish her from a typical girl of her age and class.” (Garfinkel
1967: 119)

Doing Gender: In unseren Gesellschaften gilt der biologische Status des Männlichen und des
Geschlechtszugehö-
Weiblichen als eine durch den Besitz von Penis oder Vagina qua Natur vorgege-
rigkeit als Hand-
lungsvollzug bene fundamentale und lebensbestimmende dichotome Kategorie, mit der ge-
schlechtsadäquate Normen und moralische Verpflichtungen verknüpft sind. Da
es sich hier um einen qua Geburt vermittelten und damit gleichsam ‚natürlichen’
Status handelt, ist ein dauerhafter und tatsächlicher Wechsel zwischen den Ge-
schlechterkategorien im Lebenslauf einzelner Menschen nicht vorgesehen (wenn
man von vorübergehenden ‚Maskeraden’ etwa beim Theaterspielen, im Fa-
sching, bei Kinderspielen usw. absieht). Dennoch gibt es immer wieder Men-
schen, die mit den körperlichen Merkmalen einer Geschlechtsgruppe geboren
werden, sich aber dann der anderen Geschlechtsgruppe zugehörig fühlen. Wie
erwähnt, war Agnes zunächst als Junge erzogen worden und lebte dann ab ihrem
17. Lebensjahr als Mädchen bzw. junge Frau. Sie trug entsprechende Kleidung,
sprach mit veränderter Stimme, bewegte sich anders, hatte über mehrere Jahre
hinweg einen ‚Boyfriend’ usw.
Agnes ist für Garfinkel und die Ethnomethodologie gerade deswegen als
Fall interessant, weil sie sich das, was Mädchen sonst gleichsam ‚nebenbei’ in
ihrer Erziehung lernen – wie sie sich ‚weiblich’ anziehen, bewegen, verhalten
usw. – bewusst aneignen musste. Sie war gezwungen, die „Ethno-Methoden“ zu
erwerben, durch die sie anderen gegenüber überzeugend als Mädchen und später
dann als junge Frau erscheinen würde, obwohl sie ja weiterhin einen Penis und
einen Hodensack besaß. Auch musste sie verschiedene Verbergungstechniken
entwickeln, damit ihr ‚Geschlechtsstigma’ nicht auffiel, beispielsweise beim
Baden, am Strand oder beim Sport in den Umkleidekabinen. Zu den von Agnes
eingesetzten Methoden zählte der heimliche Austausch von Urinproben beim
Arzt, der Hinweis, ‚nicht in Stimmung fürs Baden im Meer’ zu sein, gerade unter
weiblichen ‚Unpässlichkeiten’ zu leiden usw. Deutet man das, was Agnes prak-
tisch tat, aus der Perspektive der Ethnomethodologie, dann lässt sich sagen, dass
sie verschiedene Ethnomethoden einsetzte, um im normalen Alltagsleben, ge-
genüber ihrem Freund oder auch an ihrem Arbeitplatz in den jeweiligen Interak-
tionsprozessen die normale Geschlechterordnung aufrechtzuerhalten, indem sie
sich eindeutig einer Geschlechtskategorie zuordnete. Und dies war ein zwar
zunehmend routinisierter, letztlich aber doch von ihr aktiv gestalteter Vorgang.
Das ist ja genau das, was Garfinkel interessiert: wie Gesellschaftsmitglieder
soziale Ordnung – hier durch den praktischen Vollzug von Geschlechterzuord-
nungen – praktisch herstellen. In unseren praktischen Lebensvollzügen stellen
wir in vergleichbarer Weise permanent unsere Geschlechtszugehörigkeit her. Im
Feministische Anschluss an Diskussionen der feministischen Theoriebildung wird hier von
Theorie „Doing Gender“ (Gildemeister/Wetterer 1992; Kessler/McKennas 1978; West/
Zimmermann 1987) gesprochen. Später stellte sich im Übrigen heraus, dass
Agnes seit ihrem 12. Lebensjahr heimlich Hormone (Östrogene) geschluckt
hatte, dass sie also keineswegs, wie von ihr vorher behauptet, von selbst weibli-
che sekundäre Geschlechtsmerkmale ausgebildet hatte, sondern dass auch dieser
Das interpretative Paradigma 99

Teil ihres Geschlechterstatus von ihr aktiv hergestellt worden war (Garfinkel
1967: 285ff).

5.2 Soziale Ordnung als Ergebnis von Handlungsvollzügen

Die theoretischen Grundannahmen Garfinkels sind stark an das Programm von Basisregeln der
Herstellung sozialer
Alfred Schütz angelehnt (vgl. Garfinkel 1980; Garfinkel 1990: 26ff; vgl. Kapitel
Ordnung
4.1). Garfinkel schließt an dessen Analysen zur Intersubjektivität der alltäglichen
Lebenswelt an. Während Schütz sich mit diesen Problemen in erster Linie in
sozialtheoretischen Abhandlungen und phänomenologischen Analysen beschäf-
tigte, nimmt Garfinkel eine strikt empirische Perspektive ein: Er fragt danach,
wie Gesellschaftsmitglieder bzw. Handelnde in tatsächlichen Situationen Wissen
konstituieren und die soziale Ordnung der ablaufenden Prozesse und Phänomene
herstellen. Die von Schütz beschriebenen Idealisierungen und Generalthesen der
Intersubjektivität der Lebenswelt fließen in Garfinkels Konzeption von „Basisre-
geln“ der interaktiven Herstellung von Ordnung im Handlungsvollzug ein (Gar-
finkel 1990: 30ff [1963]).17 Dazu zählt die Ethnomethodologie etwa

ƒ die wechselseitige Unterstellung der Rationalität bzw. ‚Vernünftigkeit’ des


Denkens und Handelns sowie der Wirklichkeitsannahmen eines Gegenüber
nach Maßgabe des ‚gesunden Menschenverstandes’;
ƒ die Annahme, die Perspektive der Anderen hinreichend verstehen zu kön-
nen;
ƒ das Denken in der zweifelsfreien und pragmatischen natürlichen Einstellung
der alltäglichen Lebenswelt;
ƒ die Typenhaftigkeit der Verstehensprozesse und des Wissens;
ƒ die Idealisierungen des „und so weiter“ (Kontinuität) und des „ich kann
immer wieder“ (Wiederholbarkeit);
ƒ die Generalthese der „Reziprozität der Perspektiven“, bestehend aus der
„Idealisierung der Vertauschbarkeit der Standpunkte“ und der Idealisierung
der „Kongruenz der Relevanzsysteme“ (beispielsweise auch der hinreichen-
den Übereinstimmung bezüglich der Situationsdefinition und der angemes-
senen Interaktionsform).

Für Garfinkel war Agnes ein ‚lebendes Krisenexperiment’, weil sich hier ange- Krisenexperimente:
Die Basisregeln im
sichts der Bewusstheit, mit der sie ihren weiblichen Status herstellen musste, die
Test
Methoden beobachten ließen, die sonst von Menschen ohne größere Reflexion
und permanent zur Herstellung der sozialen Geschlechterordnung eingesetzt
werden. Mit seinen Studenten und Studentinnen führte Garfinkel selbst zahlrei-
che tatsächliche „Krisenexperimente“ durch, mit denen er Grundannahmen über
die Normalität und Ordnung von Wirklichkeit erschüttern und dadurch in ihrer
Geltungskraft prüfen wollte. Diese Krisenexperimente trugen ihren Namen des-
17
Entsprechende Ausführungen finden sich nicht nur bei Garfinkel, sondern ebenso bei Aaron Cicou-
rel, George Psathas, Harvey Sachs u.a. Vgl. auch Zimmermann/Pollner (1976) und Schütz/Luckmann
(1979).
100 Reiner Keller

wegen, weil sie künstlich starke Irritationen normaler Interaktionsvollzüge her-


beiführten und dabei zum Teil heftige Abwehrreaktionen der ‚Versuchskanin-
chen’ hervorriefen. Sie hatten eine gewisse Nähe zu den Happenings der Alterna-
tivbewegung in den frühen 1960er Jahren, und manche Kritiker sehen darin auch
einen der Schlüssel zum zunehmenden Interesse an der Ethnomethodologie.
Das Prinzip der Krisenexperimente ist uns heute vertraut, wenn wir an Fern-
sehformate wie „Verstehen Sie Spaß?“ usw. denken. Es geht darum, in eine für
sich genommen banale und alltägliche Situation eine Irritation einzubauen, also
eine Abweichung von dem, ‚was normalerweise als nächstes passiert’ oder ‚wie
man sich normalerweise da und da verhält’. Dabei wird zweierlei sichtbar: die
Art und Weise der Methoden, mit denen Gesellschaftsmitglieder normalerweise
Ordnung erzeugen und ihre Versuche, solche Störungen wieder zurück in etwas
‚Ordentliches’ zu überführen. Ein Beispiel dafür sind die folgenden, von Garfin-
kel mit seinen StudentInnen durchgeführten Experimente, die darauf zielen, die
„Basisregeln“ der intersubjektiven Verständigung und Ordnungserzeugung
nachzuzeichnen, in dem sie das alltagsweltliche „Vertrauen“ in wechselseitiges
Verstehen unterminieren (vgl. insbes. Garfinkel 1990 [1963]; vgl. auch den fol-
genden Schaukasten S. 120):

ƒ In einem berühmten Experiment forderte er seine StudentInnen auf, sich


zuhause bei ihren Eltern über eine gewisse Zeit als Fremde zu benehmen,
also beispielsweise danach zu fragen, ob sie sich setzen dürfen, ob sie etwas
zu trinken haben könnten, wo der Kühlschrank stehe usw. und dann die ei-
genen inneren Reaktionen und die Reaktionsweisen der anderen Beteiligten
zu beobachten.
ƒ In einem anderen Experiment sollte während eines Gesprächs der Nasenab-
stand zum Gegenüber auf wenige Zentimeter verringert und die Reaktionen
beobachtet werden.
ƒ Ein weiteres Beispiel war eine fingierte Beratungssitzung, in der ein angeb-
licher Experte auf Fragen von Ratsuchenden nach einem vorher festgelegten
Ja/Nein-Schema antwortete. Hier ging es darum, wie die Ratsuchenden
selbst aus den völlig willkürlichen und inkonsistenten Antworten eine ins-
gesamt sinnvolle Reaktion deuteten.

Solche „Krisenexperimente“ zielten darauf, indirekt zu erkunden, was diese


„Basisregeln“ (Cicourel 1980), also die „normalen“ Formen, Methoden oder
Routinen der Ordnung sozialer Prozesse sind, beispielsweise welche Unterstel-
lungen wir immer ungeprüft ‚mitlaufen’ lassen, wenn wir uns mit anderen unter-
halten oder wenn wir mit anderen konkret etwas tun. Schließlich lässt sich da-
durch auch in Erfahrung bringen, über welche Mittel wir verfügen, um möglichst
lange so etwas wie „Normalität“ aufrechtzuerhalten bzw. Situationen und Perso-
nen, die uns irritieren, soweit in verfügbare (kognitive) Schemata einzuordnen,
bis alles wieder ‚geklärt’ erscheint – und wenn das auch durch die Annahme
geschieht, das Gegenüber leide gerade unter einem Sonnenstich und sei deswe-
gen zur Zeit etwas durcheinander.
Das interpretative Paradigma 101

Krisenexperimente als Untersuchungsverfahren zur Aufdeckung der Basisre-


geln des Alltagswissens:

Demonstration: Bruch mit der Annahme der wechselseitigen Übereinstim-


mung der Relevanzstrukturen (Garfinkel 1990: 36ff [1963])

VP = Versuchsperson
E = Experimentator

Bsp.: „Reifenpanne“:
„Die Versuchsperson erzählte dem Experimentator, da die beiden Mitbenutzer
desselben Wagenparks waren, gerade davon, daß sie am vorhergehenden Tag
während der Fahrt zur Arbeit eine Reifenpanne gehabt habe.
(VP) Ich hatte eine Reifenpanne.
(E) Was meinst du damit, daß du eine Reifenpanne hattest?
Der Student berichtet: Sie erschien im Augenblick wie betäubt. Dann antwor-
tete sie mit feindseligem Unterton: ‚Was meinst du mit deiner dummen Frage:
‚Was meinst du damit’? Eine Reifenpanne ist eine Reifenpanne. Genau das
meine ich und nichts sonst. Was für eine verrückte Frage!“

Bsp.: Die Freundin


„(VP) Hallo Ray, wie fühlt sich deine Freundin?
(E) Was meinst du mit der Frage, wie sie sich fühlt? Meinst du das körperlich
oder geistig?
(VP) Ich meine: wie fühlt sie sich? Was ist denn mit dir los? (Er wirkte einge-
schnappt.)
(E) Nichts. Aber erklär doch mal ein bischen deutlicher, was du meinst.
(VP) Lassen wir das. Was macht deine Zulassung für die medizinische Hoch-
schule?
(E) Was meinst du damit: ‚Was macht sie?’
(VP) Du weißt genau, was ich meine.
(E) Ich weiß es wirklich nicht.
(VP) Was ist mit dir los? Ist dir nicht gut?“

(beide Beispiele entnommen aus Garfinkel 1980: 206)

In den vorangehenden Beispielen wird deutlich, dass eine Verletzung der Unter- Die Basisregeln
garantieren gelingen-
stellung weitgehend deckungsgleicher Relevanzstrukturen sehr schnell in Inter-
de Interaktionen
aktionsprozessen oder hier: in einer Konversation für Probleme sorgt. Das ist
schon im Schützschen Verständnis der „Typisierungen“ angelegt. Wenn eine
Person von ihrem ‚Freund’ spricht oder etwas ‚cool’ findet, also typisiertes Wis-
sen benutzt, scheitert die weitere Interaktion, wenn versucht wird, genau zu
bestimmen, was damit gemeint ist. Weiterhin wird unterstellt, dass die Deutungs-
perspektiven und Sinnverwendungen zwischen den Teilnehmern hinreichend
übereinstimmen und dass sich die Bedeutung einzelner Elemente eines Interakti-
onsgeschehens aus seiner Einbettung in die Sequenzen des Ablaufs ergibt bzw.
ergeben wird:
102 Reiner Keller

„Die Tatsache, daß Personen im Ablauf von Alltagsgesprächen einander ohne über-
mäßigen Informationsverlust, ungebührliche Entstellungen, Verdrehungen oder
Mißverständnisse Informationen vermitteln können, oder anders: dass sie einen ro-
ten Faden wechselseitig aufeinander abgestimmter Interaktion in Gang erhalten kön-
nen, während sie ‚Gelegenheitsausdrücke’ verwenden, scheint folgendes zu bedeu-
ten: Jene Personen scheinen den ‚unausgesprochenen gemeinsamen Einverneh-
mungszusammenhang’ anzuerkennen, den ‚jede Person wie wir’ in einer mehr oder
weniger ähnlichen und typischen Weise – so unterstellen sie – kennen müßte.“ (Gar-
finkel 1980: 203)

Dies lässt sich auch noch in anderer Weise verdeutlichen. Dazu forderte Garfin-
kel seine Studierenden auf, eine kurze Unterhaltung zu protokollieren und dann
festzuhalten, was alles mitgedacht werden muss, damit die einzelnen Äußerun-
gen für ein Gegenüber verständlich und stimmig erscheinen.

Bsp.: „Dana“18
Gesprochener Text Hintergrundannahmen
Ehemann: Dana hat es heute geschafft, einen Heute Nachmittag, als ich Dana, unseren
Penny in die Parkuhr zu stecken, vierjährigen Sohn, vom Kindergarten nach
ohne hochgehoben zu werden. Hause brachte, schaffte er es, hoch genug
zu reichen, um einen Penny in die Parkuhr
zu stecken, als wir in einer Parkuhrenzone
parkten, wohingegen er früher immer
hochgehoben werden mußte, um so hoch
zu reichen.
Ehefrau: Hast du ihn ins Schallplattenge- Wenn er einen Penny in die Uhr gesteckt
schäft mitgenommen? hat, dann bedeutet das, daß du angehal-
ten hast, während du mit ihm zusammen
warst. Ich weiß, daß du entweder auf dem
Weg, um ihn zu holen oder auf dem Rück-
weg an dem Schallplattengeschäft an-
gehalten hast. War es auf dem Rückweg,
so daß er bei dir war, oder hieltest du dort
auf dem Weg, um ihn zu holen und ir-
gendwo anders auf dem Rückweg?
Ehemann: Nein, in den Schuhreparaturladen. Nein, ich hielt an dem Plattenladen, auf
dem Weg, um ihn zu holen und am Schuh-
reparaturgeschäft auf dem Heimweg, als
er bei mir war.
Ehefrau: Wofür? Ich kenne einen Grund, warum du am
Schuhreparaturgeschäft angehalten haben
könntest. Warum hieltest du tatsächlich?
Ehemann: Ich kaufte neue Schnürsenkel für Wie du dich erinnern wirst, ist mir neulich
meine Schuhe. ein Schnürsenkel an einem meiner brau-
nen Oxford-Schuhe gerissen, weshalb ich
anhielt, um neue Schnürsenkel zu kaufen.

18
Vgl. Garfinkel (1967: 25f); die Wiedergabe übernimmt die Übersetzung in Schneider (2002b: 23);
vgl. auch Patzelt (1987: 154ff), wo verschiedene Krisenexperimente und die jeweils untersuchte Di-
mension erläutert werden.
Das interpretative Paradigma 103

Ehefrau: Deine Freizeitschuhe brauchen Ich dachte an etwas anderes, das du hät-
unbedingt neue Absätze. test erledigen können. Du hättest deine
schwarzen Freizeitschuhe hinbringen kön-
nen, die unbedingt neue Absätze brau-
chen. Du kümmerst dich besser möglichst
bald darum.

5.3 Theoretische Konzepte

Die Ethnomethodologie geht davon aus, dass die erwähnten Basisregeln den Aus den Untersu-
chungen werden
Handlungen, Interaktionen und damit auch Konversationen zugrundeliegen. Sie
theoretische Konzep-
ermöglichen die Konstitution der alltäglichen Wirklichkeit als ein „ongoing te entwickelt
accomplishment“, d.h. als fortlaufend durch Handlungsvollzüge, durch perma-
nentes „doing“ erreichte und hergestellte stabile Ordnung. Es handelt sich um
eine „Vollzugswirklichkeit“. In ihren Untersuchungen haben Garfinkel & Co
Vollzugswirklichkeit
verschiedene Konzepte entwickelt, mit denen sich die Aufrechterhaltung von
Wirklichkeitsordnungen (einschließlich der Interaktionsordnungen) genauer
beschreiben lässt. So charakterisieren sie beispielsweise den in sozialen Begeg-
nungen eingesetzten Alltagswissensbestand und seine Verwendung durch fol-
gende Merkmale: Zunächst spielt die Indexikalität der benutzten Sprache eine Indexikalität
zentrale Rolle; Husserl, sprach diesbezüglich von „okkassionellen Ausdrücken“
(Garfinkel 1980: 202ff sowie den ebd.: 210ff mit Sacks verfassten Anhang zur
Indexikalität; Garfinkel/Sacks 1976). Damit ist gemeint, dass sich die Bedeutung
von Ausdrücken nicht abstrakt bestimmen lässt, sondern nur aus der Einbettung
und Nutzung in der konkreten Situation und Gelegenheit verstanden werden
kann. Gleichzeitig sind die benutzten Ausdrücke sehr vage. Sie können nur dann
funktionieren, wenn nicht versucht wird, sie exakt zu bestimmen.
Im Rekurs auf einen Begriff des Wissenssoziologen Karl Mannheim spricht Dokumentarische
Garfinkel auch von der „dokumentarischen Methode der Interpretation“ (Gar- Methode
finkel 1967: 76ff; Garfinkel 1980: 198ff). Mannheim hatte damit darauf hinge-
wiesen, dass unterschiedlichen sozialen Phänomenen ein gleiches Grundmuster
zugrunde liegt, das soziologisch analysiert werden kann. Das konkrete Phäno-
men ist dann ein „Dokument“, ein Ausdruck dieses Musters. Garfinkel betont –
wie Alfred Schütz mit seinem Konzept der Typisierung – dass wir auch im All-
tag ständig eine solche dokumentarische Methode der Interpretation anwenden,
beispielsweise wenn wir uns angemessen in den oben beschriebenen Unterhal-
tungen benehmen, weil wir sie eben als Beispiel, als Dokument einer solchen
Situation erkennen.
Bei der „dokumentarischen Methode der Interpretation“ handelt es sich also
nicht um ein wissenschaftliches Konzept der Ethnomethodologie, sondern um die
Bezeichnung der Vorgehensweise des alltäglichen, praktischen Interpretierens in
der alltäglichen Lebenswelt. Nicht anders geht natürlich die Ethnomethodologie
vor, wenn sie sich ihren Untersuchungsgegenständen zuwendet. Da sie selbst ja
auch eine praktische Art und Weise ist, Wirklichkeit und Wissen zu konstruieren,
ist sie auf genau diejenigen „Methoden“ verwiesen, die auch die Alltagsmenschen
verwenden – wobei es natürlich Unterschiede der ‚gültigen’ und ‚akzeptierten’
Argumentationen und im Ausmaß der Systematisierungen gibt. Die Methoden,
104 Reiner Keller

durch die die Ordnung solcher Prozesse hergestellt wird, sind zugleich die Me-
thoden, durch die sie auch als prinzipiell ‚vernünftig’, also begründbar (accoun-
Reflexivität table) angesehen werden. Das ist der von Garfinkel immer wieder betonte selbst-
bezügliche, „reflexive“ Charakter der „accounting practices“.
Account, Die Begriffe „accountable“ und „account“ sind nicht einfach ins Deutsche
accountable
übertragbar und die verschiedenen Übersetzungen wählen dafür unterschiedliche
Lösungen, z.B. als „praktische Erklärungen“, deren Formen und Akzeptanzbe-
dingungen weiter nach Situationstypen unterschieden werden können. Sie sehen
beispielsweise in einem Gerichtsverfahren anders aus als bei einem intimen Ge-
spräch unter Freundinnen (vgl. Scott/Lyman 1976; Heritage 1984: 135ff; Patzelt
1987: 89ff). Sie zielen auf die Gründe, die einen Handlungs- oder Interaktions-
verlauf als stimmig und sinnvoll, in diesem Sinne also als begründet erscheinen
lassen, somit darauf, wie sich Gesellschaftsmitglieder beständig gegenseitig die
Normalität und Ordnung der ablaufenden Prozesse anzeigen. Dazu zählt bei-
spielsweise die erwähnte Verwendung indexikalischer Ausdrücke. Auch gibt es
immer viele Weltbezüge, von denen, wie im obigen Beispiel des Münzeinwurfs
in die Parkuhr („Dana“) von den Beteiligten angenommen wird, dass sie gegebe-
nenfalls weiter erläutert werden können.
Kompetente Den sozialen Akteuren oder „kompetenten Mitgliedern“ eines situativen
Mitglieder Kontextes wird so eine aktive Rolle im Interaktionsvollzug zugesprochen: Ihr
Handeln folgt nicht einer vorgängen Interpretation der Situation, sondern ist
diese Interpretation, die den weiteren Verlauf gestaltet (vgl. Heritage 1984:
104ff). In einem Aufsatz mit dem Titel „What is ethnomethodology?“ fasste
Garfinkel die Ergebnisse seiner Studien so zusammen: Gesellschaftsmitglieder
benutzen zur Herstellung von und zum Umgang mit organisierten Alltagsangele-
genheiten die gleichen Aktivitäten wie dazu, diese Settings „accountable“ zu
machen, das heißt beobachtbar, erzählbar, begründbar, ‚vernünftig’ usw. Dieser
Prozess sei eine beständige und andauernde Vollzugswirklichkeit des „doing“,
eben ein „ongoing accomplishment“ (Garfinkel 1967: 11).

Vollzugswirklichkeit (doing, ongoing accomplishment): soziale Ordnung wird


permanent im praktischen Tun hergestellt

(kompetente) Mitglieder: der Begriff bezeichnet die an den untersuchten


Handlungs- bzw. Interaktionsvollzügen beteiligten ’praktischen Akteure’ so-
zialer Zusammenhänge

Ethnomethoden: die Methoden, mit denen die Akteure der Praxis die Ordnung
ihrer Interaktionen und Handlungen herstellen

Indexikalität: die Bedeutung von Handlungen und Ausdrücken ergibt sich aus
der Einbettung und Nutzung in der konkreten Situation

dokumentarische Methode: wir orientieren unser Handeln daran, dass wir Phä-
nomene als ‚Beispiel für dieses oder jenes’ deuten und einordnen; diese Deu-
tung wird permanent justiert und rejustiert
Das interpretative Paradigma 105

praktische Erklärungen (accounts):wir unterstellen, dass Interaktionsverläufe


vernünftig (accountable) sind und dass sich für das Tun der Beteiligten von
diesen selbst bei Bedarf Begründungen (accounts) einfordern und angeben
lassen

Reflexivität: die Methoden, durch die Ordnung hergestellt wird, sind zugleich
die Methoden, durch sie als vernünftig oder begründbar erscheint

5.4 Bilanz und Aktualität der Ethnomethodologie

Obwohl Garfinkel nur wenige Schriften veröffentlicht hat, sind doch aus seinen Aus der Ethnometho-
dologie sind ver-
Arbeiten und seinem Kollegenkreis einflussreiche Untersuchungsrichtungen
schiedene For-
innerhalb der qualitativen Sozialforschung entstanden.19 Zu nennen ist dabei schungsprogramme
neben der „Doing gender“-Forschung und Rezeptionen in der feministischen hervorgegangen
Theoriedebatte, die sich mit der Frage der Herstellung von Geschlechtszugehö-
rigkeit im Handlungsvollzug beschäftigen,20 zunächst vor allem die von Harvey
Konversations-
Sacks (1990) und Emmanuel Schegloff (1990) ausgearbeitete, in Deutschland analyse
beispielsweise von Jörg Bergmann (2000) vertretene ethnomethodologische
Konversationsanalyse. Dort wird das Untersuchungsprogramm der Ethnometho-
dologie auf sprachliche Interaktionen bezogen (Heritage 1984: 233ff). Stärker
auf die Analyse des praktischen Tuns an Arbeitsplätzen hin ausgerichtet sind die
von Garfinkel angeregten „Studies of work“, die organisatorische Kontexte in
den Blick nehmen, beispielsweise in Schulen, Gerichten, bei der Polizei oder in
Museen:

„Die ‘Studies of Work’ zeichnen sich aus durch das Bemühen, über die genaue Er- Studies of Work
fassung, Beschreibung und Analyse von realen Arbeitsvollzügen die situativen ver-
körperten Praktiken zu bestimmen, in denen sich die für diese Arbeit spezifischen
Kenntnisse und Fertigkeiten materialisieren. Damit rücken Arbeitstätigkeiten in ih-
rer gegenständlichen, zeitlichen und sozialen Organisation ins Zentrum der Auf-
merksamkeit.” (Bergmann 2005: 639)

Mit ihrer Anwendung in der Wissenschaftsforschung, insbesondere in Laborun-


tersuchungen, hat diese Spezialisierung der Ethnomethodologie eine besonders
aktive Sparte der ethnomethodologischen Forschung begründet. Dafür stehen
stellvertretend die Studien von Karin Knorr-Cetina (1984) zur wissenschaftli-
chen „Fabrikation von Erkenntnis“ oder die Studie von Bruno Latour und Steve
Woolgar über das „Laborleben“ (Latour/Woolgar 1979). Mit der Aktor-
Netzwerk-Theorie, die in jüngerer Zeit auch als „Theorie der Verknüpfungen“
vorgestellt wird, hat vor allem Bruno Latour dem ethnomethodologischen Pro-
gramm eine neue und starke theoretische Ausrichtung gegeben (Latour 2007).
19
Vgl. für einen knappen aktuellen Überblick Have (2004).
20
Die gesellschaftliche Bedeutung der Geschlechtskategorie lässt sich allerdings nicht auf diesen
Prozess des „doing“ reduzieren. Vgl. Gildemeister/Wetterer (1992); Kessler/McKennas (1978);
West/Zimmermann (1987); Hirschauer (1993).
106 Reiner Keller

Die Ethnomethodolo- Bis hin zu ihren neuesten Weiterentwicklungen ist die Ethnomethodologie
gie vertritt einen
häufig in einer „prinzipiellen Frontstellung gegenüber der traditionellen Soziolo-
‚radikalisierten’
Empirismus gie“ (Weingarten/Sack 1976: 19f) aufgetreten. Sie wirft nämlich allen existieren-
den soziologischen Paradigmen und insbesondere auch den anderen interpretati-
ven Ansätzen vor, unangemessene theoretische Modelle zu erfinden und sie den
analysierten sozialen Phänomenen überzustülpen, also nur künstliches und unge-
eignetes Wissen zu produzieren. Dagegen fordert sie einen radikalen Empirismus
der Analyse ‚natürlicher Daten’, der auf jegliche Unterstellung übersituativer
Wirkmechanismen oder Ordnungsmodelle verzichten solle, gerade weil der je-
weilige soziale Prozess selbst schon immer seine eigene Ordnungsstruktur her-
vorbringe, die es zu erfassen gelte. Dazu schreibt beispielsweise Heritage:

„The studies-of-work programme addresses these issues by proposing to treat as


relevant materials for analysis all exhibits of activity which are recognized as be-
longing to a domain of action by the participants to that domain. These materials are
subjected to a rigorous naturalistic description in which the focus is on the produc-
tion, management and recognition of specific, material competences as they are ex-
hibited in real time and in settings in which their employment is recognizably con-
sequential. Ordinary activities are thus examined for the ways in which they exhibit
accountably competent work practice as viewed by practitioners.” (Heritage 1984:
302)

Die Soziologie Diese Radikalität hat einerseits den Zusammenhalt der ethnomethodologischen
schlägt zurück
Community befördert; andererseits aber auch starke Rezeptionsblockaden auf
Seiten der ‚übrigen’ Soziologie hervorgerufen. So wurde dem beständigen ethno-
methodologischen Fragen nach dem „Wie“ der methodischen Konstruktion der
Wirklichkeit vorgeworfen, letztlich nur banale Ergebnisse zu liefern und die
‚wirklich’ interessanten soziologischen Themen und Fragestellungen unbeachtet
zu lassen. Problematisch bleibt auch ihre eigene, naiv-realistische Analysepositi-
on, welche die eben auch spezifischen Aufmerksamkeitskriterien und Bedingun-
gen der eigenen Beobachtungsleistung ausblendet (vgl. insgesamt schon die
Kritik bei Eickelpasch 1983; auch Patzelt 1987: 38ff). Jenseits dieser wechselsei-
tig überzogenen Polemiken lässt sich in jüngerer Zeit eine stärkere ‚Anwen-
dungsorientierung’ der Ethnomethodologie beobachten. Ein Beispiel dafür wäre
die von Jörg Bergmann u.a. durchgeführte Untersuchung über Krisenkommuni-
kation im Flugzeugcockpit, die einen ganz praktischen und wohl unwiderspro-
chenen Zweck verfolgt: Anhand einer Auswertung von aufgezeichneten Cock-
pitgesprächen, in denen unklare Situationen, beispielsweise Veränderungen von
Landeflughäfen u.a. geklärt werden mussten, zielt die Konversationsanalyse hier
darauf, ‚Defizite’ der Kommunikationsprozesse – beispielsweise ein mehr oder
weniger systematisches ‚Überhören’ von Argumenten des Copiloten durch den
Kapitän – zu bestimmen. Dann können im Vorfeld Schulungen durchgeführt
werden, um entsprechende Abstimmungsprozesse im Cockpit zu verbessern –
und im besten Falle die Zahl der Abstürze zu verringern (vgl. dazu die Online-
Materialien von Bergmann auf http://www.uni-bielefeld.de/soz/personen/
bergmann/ cockpit/ index.htm; Stand vom 28.02.2007).
Das interpretative Paradigma 107

Übungsaufgaben:

ƒ Erläutern Sie die Grundbegriffe der Ethnomethodologie an Beispielen!


ƒ Überlegen Sie sich ein Krisenexperiment. Welche Basisregel wird damit
getestet?
ƒ Diskutieren Sie an einem selbst gewählten Beispiel vergleichend, welche
Fragen der Symbolische Interaktionismus bzw. die Ethnomethodologie dazu
formulieren würden?
ƒ Was spricht für, was gegen das Plädoyer der Ethnomethodologie für die
Analyse natürlicher Daten und den Verzicht auf ‚Sinnfragen’?

6 Die Soziologie der Interaktionsordnung


Im Vergleich zu den bisher vorgestellten Ansätzen des Interpretativen Paradig- Ein Ethnograph der
Interaktions-
mas fällt auf, dass mit dem Namen Erving Goffman kein ‚Schulen-Begriff’ ver-
ordnung
bunden ist. Und das, obwohl es sich bei diesem kanadischen Autor um einen der
meistgelesenen und erfolgreichsten Soziologen des 20. Jahrhunderts handelt, der
weit über die Disziplingrenzen hinaus auf öffentliches Interesse gestoßen ist.
Dies kann schon als erster Hinweis auf seine Sonderstellung gelesen werden.
Zwar wird sein Ansatz mitunter als „dramaturgische“ oder „dramatologische“ Dramatologischer
Perspektive vorgestellt (z.B. Hitzler 1992), und er selbst bezeichnete sich in Ansatz
einem Interview einmal als „soviel Symbolischer Interaktionist wie alle ande-
ren“, aber er sei auch „Strukturfunktionalist“ im traditionellen Sinne – er könne
und wolle sich nicht unter solch ‚nichtssagende’ Etikette einordnen (Helle 2001:
160). Sein Wunschlabel sei allenfalls dasjenige eines Ethnographen des Groß-
stadtlebens in der Chicagoer Tradition der Feldforschung, wie sie der weiter
oben erwähnte Everett Hughes vorantrieb: „If I had to be labelled at all, it would
have been as a Hughesian urban ethnographer.“ (Goffman in einem 1980 von
Josef Verhoeven geführten Interview, zit. nach Helle 2001: 162). Am besten
lässt sich Goffmans umfangreiches Werk wohl mit dem Begriff kennzeichnen,
den er selbst kurz vor seinem Tod in seiner geplanten Präsidentschaftsansprache
vor der American Sociological Association vorschlug. Demnach handelt es sich
bei seinem Vorhaben weniger um eine Theorie als um ein Forschungsprogramm
– die Untersuchung der „Interaktionsordnung“ (Goffman 1994a). Diese gelte es
als ein soziales Phänomen eigenen Rechtes zu studieren, ganz so, wie die Sozio-
logie beispielsweise auch Familienstrukturen oder die Wirtschaft analysiere. Mit
der Interaktionsordnung ist die Strukturierung von „sozialen Situationen“, d.h.
Situationen der Begegnung mindestens zweier gleichzeitig anwesender (koprä- Soziale Situationen
senter) Personen gemeint, unabhängig davon, ob es sich um einen zufälligen und
flüchtigen Kontakt oder um eine länger andauernde Situation handelt:

„Soziale Situationen definierten wir als Szenen der gegenseitigen Kontrolle. Der
Forscher hat durchaus die Möglichkeit, diese sozialen Situationen als natürlichen
Ausgangspunkt zu betrachten, von dem er das ganze gesellschaftliche Leben unter-
sucht. Immerhin kommunizieren die einzelnen im vollen Sinne des Wortes in sozia-
len Situationen miteinander, und nur in ihnen können sie physischen Zwang aufein-
108 Reiner Keller

ander ausüben oder einander beleidigen, sexuell miteinander interagieren, sich durch
Gesten bedrohen, einander liebkosen usw. Außerdem wird die meiste Arbeit dieser
Welt in sozialen Situationen verrichtet. Daher ist es verständlich, daß wir in allen
Gesellschaften gewisse Formen der Anpassung finden, darunter auch normative
Zwangssysteme, die es ermöglichen, mit den für soziale Situationen typischen
Chancen und Risiken umzugehen. Soziale Situationen interessieren uns deswegen,
weil vor allem sie den Individuen die Möglichkeit bieten, mit Hilfe ihres Gesichts,
ihres Körpers und kleinerer verfügbarer Materialien soziale Porträts von sich selbst
zu entwerfen.“ (Goffman 1981b: 28)

Bausteine der Inter- „Welche Art von Viechern finden wir im interaktiven Zoo?“ (Goffman 1994a:
aktionsordnung
68) Die erwähnten sozialen Situationen bestehen aus

ƒ Personen als grundlegenden Trägerinstanzen und bewegliche Einheiten,


ƒ Begegnungen, d.h. Ereignissen, bei denen ein Individuum in die Wirkzone
eines anderen gelangt,
ƒ Ensembles oder Teams, die zusammen agieren,
ƒ Ritualen, die Interaktionsabläufe strukturieren, und
Ensembles/Teams ƒ Bühnenformaten, d.h. unterschiedlichen Arten und Ausstattungen der Situa-
tion.

Goffman greift in seinen Überlegungen auf die Ausführungen von Émile Durk-
heim zur gesellschaftlichen Funktion von Ritualen zurück (vgl. Bd.1, S. 124f. –
Religiöse Praktiken und Gesellschaft). Auch ist ein deutlicher Einfluss von Ge-
org Simmel (vgl. Bd.1, S. 137ff.) in seinen impressionistischen Ausführungen
nicht zu übersehen. Ausgehend von Analysen heterogener empirischer Materia-
lien – Protokolle teilnehmender Beobachtung, mehr oder weniger systematisierte
andere Beobachtungen, Zeitungsmeldungen, Werbephotographien, Spionagero-
mane usw. – entwickelt Goffman Konzepte, um die ihn jeweils interessierenden
typischen Muster oder Bausteine der „Interaktionsordnung“ zu bezeichnen. Dazu
setzt er in seinen zahlreichen Büchern unterschiedliche Akzente: Er untersucht
die Selbstdarstellung des Einzelnen in sozialen Begegnungen, die Identitätsbe-
hauptung in „(totalen) Institutionen“ wie psychiatrischen Anstalten, das Verhal-
ten auf öffentlichen Plätzen, aber auch die Darstellung von „Begegnungen“ zwi-
schen den Geschlechtern im Alltag und in der Werbung, in sprachlichen Interak-
tionen oder allgemeiner die Bestimmung des Wirklichkeitsstatus von solchen
Begegnungen. Auf einige dieser Aspekte wird im weiteren Verlauf der Darstel-
lung Bezug genommen.

Goffmans Analyseinteresse richtet sich auf die „Interaktionsordnung“ als ei-


nem eigenständigen Gegenstandsbereich der Soziologie. Damit bezeichnet er
soziale Situationen, in denen sich Menschen in irgendeiner Weise begegnen
und in ihrem Verhalten aufeinander reagieren. Elemente der Interaktionsord-
nung sind Personen, Ensembles, Begegnungen, Rituale und Bühnenformate.
Das interpretative Paradigma 109

Erving Goffman (1922-1982)

Erving Manual Goffman wurde 1922 in Manville,


Kanada geboren. Nach dem in der ersten Hälfte der
1940er Jahre absolvierten Bachelorstudium der
Soziologie und Anthropologie an der Universität von
Toronto wechselte er für das Masterstudium an die
University of Chicago. Dort promovierte er 1953 bei
Everett Hughes. Starke Einflüsse auf ihn hatten W.
Lloyd Warner und der Kulturanthropologe Alfred
Radcliff-Brown. Zwischenzeitlich hielt er sich an der
Universität Edinburgh auf, von wo aus er die zwölf-
monatigen Feldforschungen zu seiner Doktorarbeit
auf den Shetlandinseln vor der schottischen Küste unternahm. Diese Studie
über „Communication conduct in an Island Community“ schrieb er hauptsäch-
lich in Paris. Von 1954-1957 arbeitete Goffman in Washington am National
Institute of Mental Health und führte Feldforschungen im dortigen Urban
Mental Hospital durch. 1958 ging er nach Berkeley an die University of Cali-
fornia. Mit Unterstützung von Herbert Blumer bekam er 1961 eine Professur
für Soziologie. Von 1968-1982 lehrte er an der University of Pennsylvania
(Philadelphia) als Professor für Anthropologie und Soziologie. 1981-1982 war
Goffman Präsident der American Sociological Association. Er starb 1982.

Lektürevorschlag:

Goffman, E. (1997): Wir alle spielen Theater. 7. Auflage. Müchen, S. 5-34 [ursprünglich
1956].
Goffman, Erving (1994a): Die Interaktionsordnung. In: ders.: Interaktion und Geschlecht.
Konstanz: UVK, S. 50-104.
Vertiefungen:
Goffman, Erving (1972): Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität.
Frankfurt/Main: Suhrkamp [1963] (Analyse des Umgangs mit Beeinträchtigungen).
Goffman, Erving (1973): Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und
anderer Insassen. Frankfurt/Main: Suhrkamp [1961] (Untersuchung der Identitätsbe-
hauptung in einer psychiatrischen Anstalt).
Goffman, Erving (1983): Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag. Mün-
chen: Piper [1959] (berühmteste Studie; hier geht es um die Selbstdarstellung in so-
zialen Situationen).
Hettlage, Robert/Lenz, Karl (1991): Erving Goffman – ein soziologischer Klassiker der
zweiten Generation. Bern/Stuttgart: Haupt (Biographie und Werkdiskussionen).
Manning, Philip (1992): Erving Goffman and Modern Sociology. Cambridge: Polity
Press.
Webseiten: Erving Goffman Biography: http://people.brandeis.edu/%7Eteuber/goffman-
bio.html (Stand v. 02.02.07)
110 Reiner Keller

6.1 Interaktionsrituale

Situationen und ihre Goffmans Arbeiten unterscheiden sich von denjenigen der Symbolischen Inter-
Menschen
aktionisten durch die starke Betonung von gesellschaftlichen Strukturmustern in
Ritual Gestalt von Ritualen, die in sozialen Begegnungen zum Einsatz kommen und als
orientierende Regeln das Handeln der Beteiligten leiten, selbst dann, wenn letzte-
re bewusst solche Regeln der Interaktion verletzen. In einer dafür einschlägigen
Interaktionsrituale Wendung in seinem Buch „Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kom-
munikation“ sprach Goffman davon, es ginge ihm nicht um „Menschen und ihre
Situationen“, sondern um „Situationen und ihre Menschen“, genauer: um die
Verhaltensregeln, welche die jeweiligen Handlungen verknüpfen und die Inter-
aktionsmöglichkeiten strukturieren:

„Es sind jene Ereignisse, die im Verlauf und auf Grund des Zusammenseins von
Leuten geschehen. Die Grundelemente des Verhaltens sind Blicke, Gesten, Haltun-
gen und sprachliche Äußerungen, die Leute ständig in die Situation einbringen, un-
abhängig davon, ob diese Situation erwünscht ist oder nicht. (...) Ein Ziel der Ver-
wendung dieses Materials [Untersuchungen über Tierverhalten, Kleingruppenfor-
schung und Psychotherapie; Anm. RK] ist die Beschreibung natürlicher Interakti-
onseinheiten; angefangen bei der kleinsten Einheit, dem flüchtigen Mienenspiel, das
zum Ausdruck bringen kann, daß man mit den Ereignissen Schritt hält, bis hin zu
solchen Ereignissen wie wochenlangen Konferenzen, Interaktionsmonstren, die an
der äußersten Grenze dessen liegen, was man als soziale Gelegenheit bezeichnen
kann. Ein weiteres Ziel ist die Aufdeckung der normativen Ordnung, die innerhalb
und zwischen diesen Einheiten herrscht, d.h. die Verhaltensregeln, die es überall
gibt, wo Leute sind, unabhängig davon, ob es sich um öffentliche, halböffentliche
oder private Orte handelt.“ (Goffman 1986: 7ff)

Die ethnomethodolo- Diese Betonung von strukturellen Elementen oder Mustern, die als „Rituale“ die
gische Frage nach
Interaktionen formen, richtet sich auch gegen die Ethnomethodologie, für die
dem situativen Wie
der Handlungsvollzü- sich einige seiner Schüler entschieden hatten. Denn die Ethnomethodologie ver-
ge ist unzureichend gesse ihrerseits die „Glückungsbedingungen“ („felicity conditions“) für die er-
folgreiche Bewältigung von Situationen, d.h. die Hintergrundbedingungen (etwa
Glückungs-
Konstanten des räumlichen Settings, der übersituativen Bekanntschaft von Per-
bedingungen
sonen, der eingenommenen sozialen Positionen), die erst die „Erdung“ bzw. das
Footing „footing“ von beispielsweise sprachlichen Äußerungen liefern. So kann nicht
jeder das Mikrophon für die Präsidentschaftsansprache vor der Mitgliederver-
sammlung der American Sociological Association übernehmen. Das setzt viel-
mehr einen langen Vorbereitungsprozess, entsprechende Wahlvorgänge, die
Kenntnis von „Rahmungen der Situation“ (Goffman 1980) und vieles mehr vor-
aus. Eine ethnomethodologische Analyse, die nur die situative Herstellung von
Ordnung anvisiere, ist demnach niemals in der Lage, ein solches Interaktions-
phänomen angemessen zu begreifen (vgl. Goffman 2005).
Das verletzliche Was Goffman an „Situationen und ihren Menschen“ insbesondere interes-
Selbst
siert, das sind die sozialen Konventionen bzw. Rituale der Darstellung oder Prä-
sentation ihres „Selbst“ durch die Menschen, die Aufrechterhaltung ihrer Identi-
tät und die Bezugnahme auf jeweils in Kopräsenz anwesende Andere. Im An-
schluss an Émile Durkheim spricht er von einem modernen „Kult des Indivi-
Das interpretative Paradigma 111

duums“. Das Individuum werde als etwas „Heiliges“ betrachtet und die Funktion
der Rituale bestehe im Wesentlichen darin, dieses Individuum vor ‚Verletzun-
gen’ zu bewahren:

„Ich verwende den Terminus Ritual, weil ich mich auf Handlungen beziehe, durch
deren symbolische Komponente der Handelnde zeigt, wie achtenswert er ist oder für
wie achtenswert er die anderen hält. (...) Das Image eines Menschen ist etwas Heili-
ges und die zu seiner Erhaltung erforderliche expressive Ordnung deswegen etwas
Rituelles.“ (Goffman 1986: 24) Und ein paar Seiten weiter heißt es: „In diesem Auf-
satz will ich einige der Bedeutungszusammenhänge analysieren, in denen dem Indi-
viduum in unserer urbanisierten, säkularisierten Welt eine Art Heiligkeit zugespro-
chen wird, die in symbolischen Handlungen entfaltet und bestätigt wird.“ (Goffman
1986: 54)

Rituale sind konventionalisierte, symbolisch aufgeladene Regelsysteme oder Die Schutzfunktion


der Rituale
Codes, die unser Verhalten orientieren – Goffman spricht auch von den „Ver-
kehrsregeln der sozialen Interaktion.“ (Goffman 1974). Geläufig sind uns sicher-
lich Begrüßungen und Verabschiedungen als stark ritualisierte (und häufig for-
malisierte) Momente von Interaktionen. Hier ist die Symbolik oder der symboli-
sche Gehalt der Handlungen offensichtlich, etwa bei der ausgestreckten Hand,
mit der die Begegnung eröffnet wird, oder beim Winken im Rahmen eines
‚schmerzlichen Abschieds’. Solche Verhaltensweisen und Körperbewegungen
bedeuten etwas über ihren eigentlichen Ablauf hinaus. In diesem Symbolver-
ständnis spricht Goffman von ‚symbolischen Handlungen’, nicht im allgemeine-
ren Sinne des Symbolischen Interaktionismus. Zu den Interaktionsritualen gehö-
ren jedoch nicht nur solche Strukturmuster, die beispielsweise eine zeitliche oder
hierarchische Ordnung und Struktur (den Beginn und Abschluss einer Begeg-
nung; wer sitzt, wer muss stehen, wer hat Rederecht) zum Ausdruck bringen, und
die vor allem in offiziellen, formalen Interaktionskontexten eine wichtige Rolle
spielen (aber beileibe nicht nur dort!). Dazu gehören nach Goffman auch sehr
viel weniger augenfällige Bestandteile von Interaktionen, etwa die grundsätzlich
einem Alter Ego zunächst entgegengebrachte prinzipielle Anerkennung, ein
‚normales’, ebenbürtiges, ‚interaktionswürdiges’ Gegenüber zu sein. Beschä-
mungen werden vermieden, kleinere Peinlichkeiten übergangen, ein allzu detail- Arbeitskonsens
liertes Nachfragen auf zweifelhafte Äußerungen unterbleibt, auch wenn dennoch
permanent Bestätigungen der eigenen Aufmerksamkeit für den Anderen gegeben
werden müssen etc. Solche Verhaltensweisen gehören zu denjenigen Interakti-
onsritualen, die nach Goffman den immer ‚bis auf weiteres’ bestehenden „Ar-
beitskonsensus“ für Interaktionen strukturieren. Sie beziehen sich nicht nur auf
den Umgang mit den Anderen, sondern betreffen auch die permanente Kontrolle
der eigenen Verhaltensweisen in der Interaktion, etwa die Aufrechterhaltung
einer ‚normalen körperlichen Erscheinung’, korrekte Sitzhaltungen und die
Kundgabe von Bestätigungen durch Nicken, Blickzuwendung, zustimmende
Laute usw. Dazu gehört auch die Einhaltung eines kulturspezifisch als angemes-
Territorium des
sen geltenden Körperabstandes, der das „Territorium des Selbst“ nicht über- Selbst
schreitet bzw. in Situationen solcher Überschreitung – etwa beim Sex oder in
überfüllten Fahrstühlen – durch verschiedenste Körpertechniken (beispielsweise
im Fahrstuhl die Vermeidung direkten Augenkontaktes) abgefedert wird. Dazu
112 Reiner Keller

gehört auch die Regel, nicht ‚in fremden Sachen zu wühlen’, bei privaten Es-
senseinladungen nicht das Schlafzimmer Anderer ausführlich zu inspizieren usw.
Gewiss unterscheiden sich solche Rituale der gegenseitigen Anerkennung und
Selbstdarstellung nach Art der jeweiligen sozialen Begegnungen, also etwa zwi-
schen einem intensiven Arbeitsgespräch, einer feucht-fröhlichen Partyunterhal-
tung oder einer flüchtigen Begegnung zweier Fremder beim Überqueren der
Straße. Insofern können ‚Zentrierungsgrade’ von Interaktionen unterschieden
werden:

(Nicht)-zentrierte „Nicht-zentrierte Interaktion besteht aus den zwischenmenschlichen Kommunikati-


Interaktion onen, die lediglich daraus resultieren, daß Personen zusammenkommen, z.B. wenn
sich zwei Fremde quer durch einen Raum hinsichtlich der Kleidung, der Haltung
und des allgemeinen Auftretens mustern, wobei jeder das eigene Verhalten modizi-
fiert, weil er selbst unter Beobachtung steht. Eine zentrierte Interaktion tritt ein,
wenn Menschen effektiv darin übereinstimmen, für eine gewisse Zeit einen einzigen
Brennpunkt der kognitiven oder visuellen Aufmerksamkeit aufrechtzuerhalten, wie
etwa in einem Gespräch, bei einem Brettspiel ...“ (Goffman 1973a: 7)

Die jeweiligen Regeln können sowohl in privaten wie in öffentlichen Begegnun-


gen symmetrischen oder asymmetrischen Charakter haben. Letzteres gilt etwa
für Etiketteformen zwischen den Geschlechtern: Der Mann hilft der Frau in den
Mantel, nicht umgekehrt. Die Frau blickt in Werbebildern zum Mann auf; der
Mann legt schützend seine Arme um sie (Goffman 1981a). Es gibt jedoch keine
‚ritualfreien’ Bereiche der Interaktionsordnung, selbst nicht in den intimsten
Interaktionen. Dies gilt auch für Rituale, die auf Degradierung, Enttarnung, Ab-
Totale Institution wertung des Anderen zielen, etwa die verschiedenen ‚Entwürdigungen’, welche
die Aufnahme in eine Armee oder eine andere „totale Institution“ mit sich bringt,
und die gewissermaßen die Negativ- oder Kehrseite der ‚normalen’ Anerken-
nungsformen darstellen. Goffmans Analysen präsentieren so eine Fülle von In-
teraktionsritualen, die hier nicht erläutert werden können.

Interaktionsrituale sind Regelsysteme, die unser Verhalten in sozialen Situati-


onen orientieren und darin den symbolischen Gehalt unserer Handlungen an-
leiten – Goffman spricht auch von den „Verkehrsregeln der sozialen Interakti-
on.“ Im Regelfall sind sie auf die Aufrechterhaltung eines ‚Arbeitskonsensus’
der Interaktion bezogen, als dessen Grundprinzipien die wechselseitige Ach-
tung und der Schutz der Identität des Gegenübers gelten.

6.2 Die Darstellung des Selbst

Die Welt als Bühne Ein wesentlicher Teil der Arbeiten Goffmans kreist um die Frage, wie Individu-
des Selbst
en ihre Identität, ihr Selbst in sozialen Situationen präsentieren, d.h. wie sie sich
gegenüber Anderen „darstellen“ und einen bestimmten „Eindruck“ machen wol-
len. Dafür hat er in seinem berühmtesten Buch „Wir alle spielen Theater. Die
Präsentation des Selbst im Alltagsleben“ (1956/1959) den Begriff des Rollen-
Theatermetapher spiels und die Metapher der ‚Welt als Bühne’ herangezogen. Dieser Aspekt sei-
Das interpretative Paradigma 113

nes Werkes wird mitunter als ‚dramatologischer’ oder ‚dramaturgischer’ Ansatz


bezeichnet, auch wenn es sich dabei, bezogen auf sein Gesamtwerk, nur um
einen Ausschnitt und keineswegs um ‚die’ Grundperspektive Goffmans handelt.
Wenn Goffman von Darstellungen des Selbst spricht und damit all die Tä- Darstellung(des
tigkeiten bezeichnet, mit denen Interaktionsteilnehmer ihre Wahrnehmung durch Selbst)/Vorstellung/
Performance
die Anderen beeinflussen wollen, dann sind damit aktive Aufführungen, Vorstel-
lungen, ‚performances’ bezeichnet. Denn sicherlich prägen wir ja die Art und
Weise, wie Andere uns sehen, auch durch die unwillentliche Weitergabe von
Informationen, etwa durch unsere Körperhaltung, unsere Stimme usw. – nicht
alles kann überhaupt oder zumindest permanent kontrolliert werden. Mit den
‚Darstellungen’ bezieht sich Goffman jedoch auf aktive Versuche der ‚Ein-
druckserzeugung’. Das lässt sich an einem Beispiel aus dem erwähnten Buch
illustrieren. Goffman zitiert hier eine Episode aus einem Roman von William
Samson (A Contest of Ladies, London 1956), in dem es um das Verhalten eines
Engländers geht, der in Spanien seinen Urlaub verbringt:

„Auf alle Fälle aber war er darauf bedacht, niemandem aufzufallen. Als erstes mußte
er allen, die möglicherweise seine Gefährten während der Ferien sein würden, klar-
machen, daß sie ihn überhaupt nichts angingen. Er starrte durch sie hindurch, um sie
herum, über sie hinweg – den Blick im Raum verloren. Der Strand hätte menschen-
leer sein können. Wurde zufällig ein Ball in seine Nähe geworfen, schien er über-
rascht; dann ließ er ein amüsiertes Lächeln über sein Gesicht huschen (Preedy, der
Freundliche), sah sich um, verblüfft darüber, daß tatsächlich Leute am Strand waren,
und warf den Ball mit einem nach innen gerichteten Lächeln – nicht etwa mit einem,
das den Leuten zugedacht wäre – zurück und nahm heiter seine absichtslose Be-
trachtung des leeren Raums wieder auf. Aber jetzt war es an der Zeit, eine kleine
Schaustellung zu inszenieren, die Schaustellung Preedys, des Geistmenschen. Durch
geschickte Manöver gab er jedem, der hinschauen wollte, Gelegenheit, den Titel
seines Buches zu bemerken – einer spanischen Homer-Übersetzung, also klassisch,
aber nicht gewagt und zudem kosmopolitisch –, baute dann aus seinem Bademantel
und seiner Tasche einen sauberen, sandsicheren Schutzwall (Preedy, der Methodi-
sche und Vernünftige), erhob sich langsam und räkelte sich (Preedy, die Raubkatze!)
und schleuderte die Sandalen von sich (trotz allem: Preedy, der Sorglose!).
Preedys Hochzeit mit dem Meer! Es gab verschiedene Rituale. Einmal jenes
Schlendern, das zum Laufen und schließlich zum Kopfsprung ins Wasser wird, da-
nach ruhiges, sicheres Schwimmen auf den Horizont zu. Aber natürlich nicht wirk-
lich bis zum Horizont! Ganz plötzlich drehte er sich auf den Rücken und schlug mit
den Beinen große weiße Schaumwogen auf; so zeigte er, daß er weiter hinaus hätte
schwimmen können, wenn er nur gewollt hätte, dann reckte er den Oberkörper aus
dem Wasser, damit jeder sehen konnte, wer er war.
Die andere Methode war einfacher. Sie schloß den Schock des kalten Wassers
ebenso aus wie die Gefahr, übermütig zu erscheinen. Es ging darum, so vertraut mit
dem Meer, dem Mittelmeer und gerade diesem Strand, zu erscheinen, daß es keinen
Unterschied machte, ob er im Wasser oder draußen war. Langsames Schlendern hin-
unter an den Saum des Wassers – er bemerkt nicht einmal, daß seine Zehen naß wer-
den: Land und Wasser sind für ihn eins! – die Augen zum Himmel gerichtet, ernst
nach den für andere unsichtbaren Vorzeichen des Wetters ausspähend (Preedy, der
alteingesessene Fischer).“ (Goffman 1983: 8f)
114 Reiner Keller

Mittel der Gewiss sieht Goffman die Unterschiede zwischen dem Leben und dem Theater:
Selbstdarstellung
beispielsweise wird letzteres vor Publikum aufgeführt, ist zeitlich eng begrenzt,
während in ersterem die Mitspieler zugleich das Publikum bilden und nicht um
zehn der Vorhang fällt. Dennoch gibt es Parallelen. So versuchen wir mit unse-
ren Präsentationen (die auch Vortäuschungen falscher ‚Tatsachen’ beinhalten
können), die Wahrnehmung der Anderen von uns selbst zu kontrollieren, und
umgekehrt sind wir permanent auf der Suche nach Informationen über die Ande-
ren. Dies lässt sich besonders deutlich an den „Techniken der Bewältigung be-
schädigter Identität“, etwa bei der Verbergung körperlicher Stigmata nachzeich-
nen (Goffman 1972). Goffman unterscheidet mehrere Elemente solcher Darstel-
lungen: die Fassade bzw. die Ausdrucksoberfläche (das ‚display’), die Bedeu-
tung des Glaubens an die eigene Rolle, die szenischen Komponenten und Orte
der Darstellung (Vorderbühnen und Hinterbühnen: Im Restaurant beispielsweise
der Bereich der Gäste als Vorderbühne und die nicht einsehbare Küche, wo sich
Kellnerinnen sehr unterschiedlich verhalten, als Hinterbühne), die Möglichkeiten
des Abweichens von der Rolle, die Techniken der Eindrucksmanipulation oder
auch die Bedeutung strategischer Verhaltensweisen. Häufig – etwa beim erwähn-
ten Restaurant – kann auch von einem Ensemble von Mitspielern gesprochen
werden, die gemeinsam eine bestimmte Darstellung ‚aufführen’. Das kühle Kal-
kül einer ‚vorgespielten Rolle’ ist ein eher seltener Grenzfall der Alltagsbühne.
Häufiger bedeutet, eine Rolle zu erfassen, von ihr ‚gepackt’ zu werden. Gleich-
zeitig zeigt sich die zunehmende Souveränität des Rollenspielers in seinem Ver-
mögen zur demonstrativen Rollendistanz:

„Wenn wir also zum Karussell zurückkehren, sehen wir, daß die Situation im Alter
von fünf Jahren besonders für Jungen verwandelt ist. Ein Karussellpferdreiter zu
sein, ist jetzt offensichtlich nicht mehr genug, und diese Tatsache muß aus gezie-
mender Rücksicht auf den eigenen Charakter auch demonstriert werden. Eltern dür-
fen nun wahrscheinlich nicht mehr mitfahren, und die Kette, die einen Sturz verhin-
dern soll, wird oft verschmäht. Ein Reiter schlägt vielleicht den Takt zur Musik, in-
dem er mit einer Hand oder einem Fuß gegen das Pferd klopft, ein frühes Zeichen,
daß man völlig Herr der Lage ist. (...) Durch seine Handlungen sagt das Kind ‚Was
ich auch bin, ich bin nicht bloß jemand, der mit knapper Not auf einem hölzernen
Pferd bleiben kann.’ ...“ (Goffman 1973a: 121; dort 93ff).

Selbst-Schutz und In einer berühmten Studie über die Insassen einer psychiatrischen Anstalt (Goff-
Identität
man 1973 [1961]), die auf teilnehmender Beobachtung beruhte, beschäftigte sich
Goffman damit, wie Individuen ihre Identität auch unter Bedingungen extremer
Fremdbestimmung behaupten und darstellen. Solche Anstalten – etwa Klöster,
Kasernen, psychiatrische Anstalten oder Konzentrationslager – werden von ihm
als „totale Institutionen“ bezeichnet: „Eine totale Institution läßt sich als Wohn-
und Arbeitsstätte einer Vielzahl ähnlich gestellter Individuen definieren, die für
längere Zeit von der übrigen Gesellschaft abgeschnitten sind und miteinander ein
abgeschlossenes, formal reglementiertes Leben führen.“ (ebd.: 11) Wird man
zum Insassen einer solchen Anstalt, so werden zunächst typischerweise die Be-
standteile der vorher bestehenden Identität enteignet: man bekommt Anstalts-
kleidung, wird zu einer Nummer usw. Goffman spricht dann von Prozessen der
Primäre Anpassung „primären Anpassung“, in der man sich an den geforderten Regeln orientiert.
Das interpretative Paradigma 115

Davon unterscheidet er die „sekundäre Anpassung“, d.h. die Schaffung eines Sekundäre
‚subversiven’ Nebenbereichs, in der man sich als individuelle Identität weiter Anpassung
behaupten und darstellen kann, beispielsweise in Witzen über das Anstaltsperso-
nal, durch besondere körperliche oder geistige Kompetenzen usw.
Diese individuelle oder ‚Ich-Identität’ trennt Goffman (1972) von der sozia-
len Identität und der personalen Identität. Sowohl die soziale wie auch die perso-
nale Identität sind nicht dem Individuum, sondern seiner sozialen Umwelt zuge-
rechnet. Während die soziale Identität sich auf die Rolle des Individuums und
seine Passung in soziale Erwartungsstrukturen bestimmt, ist die personale Identi-
tät die Art und Weise, wie von Anderen die Besonderheit des Einzelnen be-
stimmt wird: über sein Gesicht, einen Fingerabdruck, die institutionell notierten
Stationen eines individuellen Lebenslaufs usw. Demgegenüber macht die Ich-
Identität den eigentlichen individuellen Part aus und bezeichnet das Verhältnis
des Einzelnen zu seinem im Lebensverlauf entfalteten ‚Charakter’ und seinem
körperlichen Erscheinungsbild.

Selbstdarstellung und Identitätsbehauptung auch unter schwierigsten Umstän-


den sind ein zentrales Thema in Goffmans Untersuchungen. Er unterscheidet
zwei Formen der sozialen Identitätszuweisung: die soziale Identität (die Rolle
des Individuums in sozialen Gefügen) und die personale Identität (die Merk-
male, durch die ein Individuum von anderen als unverwechselbares identifi-
ziert wird). Demgegenüber macht die Ich-Identität den eigentlichen individu-
ellen Part aus und bezeichnet das Verhältnis des Einzelnen zu seinem im Le-
bensverlauf entfalteten ‚Charakter’ und körperlichen Erscheinungsbild. In to-
talen Institutionen bezeichnet die ‚primäre Anpassung’ die nach außen gezeig-
te Befolgung der Anstaltsregeln; die ‚sekundäre Anpassung’ ist der Bereich,
in dem Freiräume der Selbst- bzw. Identitätsdarstellung genutzt werden.

6.3 Die Situations-Rahmung

Auch Goffman unterstreicht in seinen Analysen die Bedeutung der Situationsde- ‚Rahmungen’ legen
den Wirklichkeitssta-
finitionen für die ablaufenden Interaktionsprozesse (Goffman 1980 [1974]).
tus von Situationen
Allerdings akzentuiert er diese Idee in spezifischer Weise und spricht von „Rah- fest
men“ oder „Rahmungen“, die den ‚Wirklichkeitscharakter’ einer Situation unab-
hängig von ihrem inhaltlichen Thema festschreiben. Dadurch werden die Bedin-
gungen festgelegt, unter denen wir etwas für wirklich halten. So kann man bei-
spielsweise die Interaktion auf einer Theaterbühne von derjenigen ‚im richtigen
Leben’ unterscheiden. Auch fragt er danach, wie sich der Wirklichkeitscharakter
von Situationen durch Täuschungen, neue Mitspieler oder Umdefinitionen ver-
ändern kann. Dies ist ja beispielsweise ein beliebtes Motiv der James Bond-
Filme, in denen bei zahlreichen Flirts und Liebesszenen nicht klar wird, ob es um
‚echte Gefühle’ oder einen Spionageakt geht, der vielleicht sogar mit dem ‚Mes-
ser im Rücken’ enden kann. Allerdings wird der Rahmenbegriff von ihm dann
auch direkt mit der Idee der ‚Definition der Situation’ verbunden:
116 Reiner Keller

„Ich gehe davon aus, daß wir gemäß gewissen Organisationsprinzipien für Ereignis-
se – zumindest für soziale – und für unsere persönliche Anteilnahme an ihnen Defi-
nitionen einer Situation aufstellen; diese Elemente, soweit mir ihre Herausarbeitung
gelingt, nenne ich ‚Rahmen’. Mein Ausdruck ‚Rahmen-Analyse’ ist eine Kurzfor-
mel für die entsprechende Analyse der Organisation der Erfahrung.“ (Goffman 1980:
19)

Jede Gesellschaft Goffman beansprucht mit seinem Rahmenkonzept nicht mehr und nicht weniger
stellt spezifische
als eine Integration und Überbietung der verschiedenen Ansätze des Interpretati-
grundlegende Rah-
men für das Verste- ven Paradigmas, einschließlich der „Definition der Situation“ von Thomas, der
hen von Ereignissen pragmatischen Analysen von Bewusstseinsprozessen bei William James oder der
zur Verfügung Konstitutionstheorie des Sinns von Alfred Schütz. Es gehe ihm um einen „Ver-
such, einige der grundlegenden Rahmen herauszuarbeiten, die in unserer Gesell-
schaft für das Verstehen von Ereignissen zur Verfügung stehen, und ihre beson-
deren schwachen Punkte zu analysieren.“ (Goffman 1980: 18) Zu solchen grund-
legenden „Rahmen“ zählt Goffman die Unterscheidung von Natürlichem und
Sozialem bzw. von physikalischen Vorgängen, die als Naturprozesse betrachtet
werden, und sozialen Vorgängen, die mit Intentionen und Handlungen verbun-
den sind, also auch gegebenenfalls verantwortet und begründet werden müssen.
Ein anderes Beispiel für eine elementare Rahmung ist der Geschlechtercode, der
die Interaktionsordnung in modernen Gesellschaften durchzieht. Goffman hat
diesem Code schon in den 1970er Jahren eine ausführliche Analyse gewidmet.
Geschlecht, nicht Religion, sei „das Opium des Volkes“ (Goffman 1994b: 131).
Seine Analyse kreist um die Besonderheit, dass dieser Code einerseits eine
starke Asymmetrie herstellt und zugleich die Gruppe der dadurch Benachteilig-
ten, die Frauen, mit besonderen Ehrerbietungen bzw. Höflichkeiten, Rückzugs-
räumen und Schutz betraut, was in seiner konkreten Umsetzung wiederum den
Code bzw. mehr noch, dessen Bestehen und Existenzberechtigung bestätigt: das
‚schwache’ Geschlecht muss beschützt werden, weil es als ‚schwaches Ge-
schlecht’ gerahmt wurde und deswegen als ‚schwaches Geschlecht’ existiert.
Goffman spricht in solchen Fällen von „institutioneller Reflexivität“ – weil
Frauen anders behandelt werden, sind sie anders, obwohl doch durch den Code
der Eindruck erzeugt wird, es sei umgekehrt:

„Und obwohl sich Personen beiderlei Geschlechts hinsichtlich ihrer Ausscheidungen


und deren Beseitigung ziemlich ähneln, sollte darüber hinaus die Umgebung, in der
Frauen diese Akte vollziehen, etwas vornehmer, geräumiger und besser ausgestattet
sein als die, die Männer dazu benötigen – jedenfalls scheinen wir in Amerika dieser
Meinung zu sein. (...) Aber das Arrangement dieser Absonderungen als solches kann
nicht an die biologischen Erscheinungen selbst, sondern nur an die landläufigen
Auffassungen der biologischen Erscheinungen anknüpfen. Es betrifft zwar die Funk-
tionsweise der je nach Geschlecht unterschiedlichen Organe, doch nichts an dieser
Funktionsweise würde biologisch eine Absonderung verlangen; dieses Arrangement
ist ein rein kulturelles Phänomen. Hier hat man es also mit einem Fall von institutio-
neller Reflexivität zu tun: Die Trennung der Toiletten wird als natürliche Folge des
Unterschieds zwischen den Geschlechtskategorien hingestellt, obwohl sie tatsächlich
mehr ein Mittel zur Anerkennung, wenn nicht gar zur Erschaffung dieses Unter-
schieds ist.“ (Goffman 1994b: 132ff)
Das interpretative Paradigma 117

Mit dem Begriff des „Rahmens“ greift Goffman die Idee der ‚Definition der
Situation’ von William I. Thomas auf, betont jedoch stärker den Wirklich-
keitsstatus einer sozialen Situation und die Möglichkeiten des Übergangs zwi-
schen verschiedenen ‚Wirklichkeitsebenenen’, etwa ‚ernsten’ Situationen, ge-
spielten Situationen, Spielsituationen oder bewussten Vortäuschungen.

6.4 Bilanz und Aktualität der Soziologie der Interaktionsordnung

Die Soziologie solle die Gesellschaft einfach deswegen untersuchen, weil sie da Die Menschen
beim Schnarchen
ist. So lautete Goffmans lapidare Antwort auf die Frage nach dem Sinn seiner
beobachten
Disziplin. Auch ihm wurde vorgeworfen, sich nicht für die ‚wirklich großen
Themen’ der Soziologie zu interessieren: die Sozialstruktur, die Machtverhält-
nisse usw. So entwerfe er im Wesentlichen eine Soziologie der bürgerlichen
Mittelschicht und deren Alltagsleben. Dies war für ihn kein Problem. Offen gab
er zu, die Gesellschaft für das Primäre zu halten, sich selbst aber nur für „Sekun-
däres“ zu interessieren. Auch dürfe nicht erwartet werden, die Analyse der Inter-
aktionsordnung könne zu den ‚großen soziologischen Fragen etwas beitragen’.
Soziologischer Gesellschaftskritik und Aufklärung stand er skeptisch gegenüber

„Ich kann nur sagen, wer das falsche Bewußtsein bekämpfen und den Menschen ihre
wahren Interessen zum Bewußtsein bringen möchte, der hat sich eine Menge vorge-
nommen, denn die Menschen schlafen sehr tief. Was mich betrifft, so möchte ich
hier kein Wiegenlied komponieren, sondern bloß mich einschleichen und die Men-
schen beim Schnarchen beobachten.“ (Goffman 1980: 23)

Wegen ihrer großen Originalität und der guten Lesbarkeit haben Goffmans Bü-
cher einen öffentlichen und andauernden Erfolg auch über die Soziologie hinaus
erzielt, der seinesgleichen sucht. Seine Konzepte sind aus heutigen soziologi-
schen Untersuchungen der Identitätsbildung und der Interaktionen nicht mehr
wegzudenken. Obwohl er keine Schule begründet und im Hinblick auf seinen
Gegen-stand, die Interaktionsordnung, keinen wirklichen Nachfolger gefunden
hat, gehört er zu den einflussreichsten Soziologen des 20. Jahrhunderts.

Übungsaufgaben:

ƒ Suchen Sie sich (etwa aus dem Fernsehen) Beispiele für unterschiedliche
Interaktionssituationen und erstellen Sie ein Inventar der Interaktionsrituale,
die in diesen Situationen zum Einsatz kommen!
ƒ Suchen Sie nach Beispielen, in denen sich der ‚Wirklichkeitsstatus’ einer
Situation verändert!
ƒ Wie verhalten sich Formen und Rituale der Selbstdarstellung in Interaktio-
nen zum Arbeitskonsensus der gegenseitigen ‚Anerkennung’?
ƒ Hat die Bedeutung des Geschlechterrahmens abgenommen? Begründen Sie
Ihre Einschätzung!
ƒ Erläutern Sie an Beispielen das Phänomen der Rollendistanz!
118 Reiner Keller

7 Eine vorläufige Bilanz des Interpretativen Paradigmas


Die Selbstverständ- In den verschiedenen Abschnitten des vorliegenden Kapitels wurde bereits eine
lichkeit des Interpre-
Bilanz der gegenwärtigen Bedeutung des jeweiligen Ansatzes gezogen. Ganz
tativen Paradigmas
allgemein lässt sich am Ende der Ausführungen zum Interpretativen Paradigma
festhalten, dass diese Ausrichtung der Soziologie auf die Analyse von symbo-
lisch vermittelten Interaktionsprozessen eine nachhaltige Veränderung und Er-
weiterung des soziologischen Denkens und Forschens mit sich gebracht hat. Sie
bildet heute eine ‚fraglos gegebene’, selbstverständliche Grundlage der qualitati-
ven Sozialforschung; viele ihrer Annahmen sind in unterschiedlichste soziologi-
sche Theorieentwicklungen diffundiert (Atkinson/Housley 2003). Auch sollte
deutlich geworden sein, dass sich die vorgestellten Ansätze nicht per se und
unausweichlich auf die mikrosoziologische Analyse von Interaktionsprozessen
oder ‚subjektiven Sinnsetzungen’ beschränken. Während der SI im angelsächsi-
schen Raum nach wie vor als Theorieperspektive explizit vorhanden ist und
Weiterentwicklungen erfährt, diffundierte er in der deutschsprachigen Soziologie
in die Hintergrundannahmen der qualitativen Sozialforschung. Umgekehrt hat
die sozialkonstruktivistische Wissenssoziologie von Berger/Luckman im
deutschsprachigen Raum zu einer besonderen Profilbildung in Gestalt der Her-
meneutischen Wissenssoziologie geführt. Länderübergreifend haben sich Ethno-
methodologie und Konversationsanalyse als spezifische Forschungsparadigmen
etabliert. Goffmans Soziologie wurde und wird breit rezipiert, ohne in eine ent-
sprechende Schulenbildung einzumünden.
Die Versöhnung Aus der Frontstellung zwischen den Vertretern der interpretativen Soziolo-
der Soziologie des
Konkreten mit der
gie und den strukturfunktionalistischen oder strukturtheoretischen Theoriemodel-
strukturorientierten len sind seit Anfang der 1970er Jahre Entwicklungen entstanden, die sich um
Soziologie? eine Integration der verschiedenen paradigmatischen Ausrichtungen bemühen.
Dazu können etwa die Theorie des kommunikativen Handelns von Jürgen Ha-
bermas (1981), die Strukturierungstheorie von Anthony Giddens (1992) oder die
Theorie der Praxis von Pierre Bourdieu (1993) gezählt werden, nicht zuletzt
auch die Cultural Studies, die, was oft übersehen wird, ihrerseits in weiten Teilen
aus der erwähnten Paradigmenkonstellation hervorgegangen sind (Hall 1997;
Hörning/Winter 1999; Bromley/Göttlich/Winter 1999). Allerdings zeigt sich in
der Konstruktion und Rezeption dieser Theorieansätze immer wieder das Prob-
lem, dass nur einige wenige Aspekte aus dem reichhaltigen Angebot des Inter-
pretativen Paradigmas übernommen werden beziehungsweise die entsprechende
Rezeption allzu verkürzt erfolgt. Deswegen ist die direkte Bezugnahme auf die
jeweiligen Originalpositionen, Studien und Vorgehensweisen zu empfehlen,
zumindest dann, wenn die Einschätzung besteht, die Soziologie „verliere“ sich in
abstrakte Theoriespielereien oder eine empirische hypothesentestende For-
schung, welche beide die Lebendigkeit und Dynamik sozialer Phänomene nur
unzureichend zu erfassen vermögen. Dies war ja der Eingangs beschriebene
Ausgangsimpuls der hier vorgestellten Positionen.
Das interpretative Paradigma 119

Übungsaufgaben:

Greifen Sie das weiter oben erwähnte Beispiel der Anwendung des SI auf einen
Badewannensketch von Loriot auf. Betrachten Sie die Situation jeweils aus der
Sicht der anderen vorgestellten Ansätze. Wie verändern sich dadurch die For-
schungsfragen der Analyse? Welche Auswirkungen hat das auf die Ergebnisse?
Wie verhalten sich letztere zueinander?

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Ditmar Brock

Gesellschaftskritische Theorieansätze

1 Was sind gesellschaftskritische Theorieansätze?


1 Was sind gesellschaftskritische Theorieansätze?
Das Ziel soziologischer Theorien besteht üblicherweise darin, dass sie eine mög-
lichst genaue Beschreibung des gesellschaftlichen Ist-Zustands anstreben und
diesen auf die eine oder andere Weise zu erklären suchen. Als gesellschaftskriti-
sche Theorieansätze können wir dagegen solche soziologischen Theoriekonzepte
bezeichnen, die den gesellschaftlichen Ist-Zustand nicht einfach beschreiben
wollen, sondern ihn als Fehlentwicklung kritisieren und dabei u. U. auch Wege
zur Überwindung der kritisierten Entwicklungstrends aufzeigen und propagieren.
Bei der Kritik am gesellschaftlichen Ist-Zustand können zwei alternative Konservative Gesell-
schaftskritik zielt auf
konzeptionelle Wege beschritten werden. Einmal kann die kritisierte Gegenwart
die Bewahrung einer
mit einer besseren Vergangenheit konfrontiert werden, dann ist die Gesell- besseren Vergangen-
schaftskritik in dem Sinne konservativ, als sie die Bewahrung oder Rückkehr zu heit
einer besseren Vergangenheit anstrebt. Diese konservative Ausrichtung muss
sich nicht unbedingt auf die Bewahrung der gesamten Gesellschaftsformation
erstrecken. Sie kann sich genauso auf bestimmte Aspekte wie z.B. die Sozialisa-
tionspraktiken in frühbürgerlichen Familien beschränken.
Die andere Möglichkeit der Gesellschaftskritik besteht darin, den gesell- Negativistische
Gesellschaftskritik
schaftlichen Ist-Zustand unter Hinweis auf bessere alternative Möglichkeiten
entwickelt Modell-
abzulehnen. Sie werden nicht in der Vergangenheit, sondern in Modellen einer vorstellungen einer
alternativen besseren Gesellschaft erläutert. Einen solchen „Idealzustand“ hatte besseren Gesellschaft
bereits Thomas Morus 1516 in seinem Roman „Utopia“ (griech. „Nirgendheim“)
entwickelt. Bei Karl Marx fungierte die „klassenlose Gesellschaft“ als ein sol-
ches, nun aber wissenschaftlich begründetes Modell einer alternativen besseren Utopie
Gesellschaft. Da das Wort Utopie stark negativ besetzt ist, ist es sinnvoll, nicht
von einer utopistischen sondern von einer negativistischen Gesellschaftskritik zu
sprechen. „Negativistisch“ hebt hervor, dass hier die bisherigen gesellschaftli-
chen Verhältnisse abgelehnt, negiert, werden.

Gesellschaftskritische Theorieansätze zielen auf die Kritik gesellschaftlicher


Fehlentwicklungen.

Konservative Gesellschaftskritik orientiert sich an der Bewahrung einer besse-


ren Vergangenheit.

Negativistische Gesellschaftskritik entwickelt dagegen Modellvorstellungen


einer besseren Gegenwart und Zukunft.
128 Ditmar Brock

1.1 Welche Rolle spielen gesellschaftskritische Theorieansätze innerhalb


der Soziologie?
1.1 Welche Rolle spielen gesellschaftskritische …
Bedeutung bis 1939 Utopische Entwürfe einer besseren Gesellschaft dominieren den Einstieg in das
heutige soziologische Denken (Bd.1, S. 14-17). Sie haben noch im 19. Jahrhun-
dert (Bd.1, S. 58ff.) und ebenso in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch
einen erheblichen Einfluss auf das Alltagsdenken der Menschen über die Gesell-
schaft gehabt (Brock 1991).
Bedeutung nach 1945 Auch nach dem Zweiten Weltkrieg haben gesellschaftskritische Theoriean-
sätze in der Soziologie bis in die frühen 80er Jahre des 20. Jahrhunderts eine
wichtige Rolle gespielt. Sie kann insbesondere an der öffentlichkeitswirksamen
Resonanz dieser Theorieansätze abgelesen, aber auch fachintern an der Durch-
setzung von Themen, Begriffen und Diagnosen näher belegt werden.
Internationale Wenn man etwas vereinfacht, dann kann man unterstellen, dass die Sozio-
Bedeutung
logie in diesem Zeitraum primär in den USA, Großbritannien, Deutschland,
Frankreich und Italien stattfand1. Je nach Land differierte nicht nur die Bedeu-
tung gesellschaftskritischer Ansätze, sondern auch ihre Ausprägung.
Eher geringe Beutung In den USA und in Großbritannien stößt man vornehmlich auf stark empi-
im angloamerikani-
risch orientierte, aber weniger auf theoretisch ambitionierte Gesellschaftskritik in
schen Raum
der sozialreformerischen Tradition der Webbs bzw. der Chicago School (vgl. S.
24ff. sowie Riesman S. 202). Daneben setzen Immigranten wie Herbert Marcuse
(vgl. S. 161ff.) und Marxisten wie Baran und Sweezy (z.B. Baran/ Sweezy 1973)
stärker auf eine grundsätzliche Kapitalismuskritik.
Stärkere Bedeutung In der kontinentaleuropäischen Soziologie impliziert Gesellschaftskritik da-
in Kontinentaleuropa
gegen vor allem die Suche grundsätzlichen Alternativen gegenüber gesellschaft-
lichen Fehlentwicklungen, denen durchweg systematische Qualität beigemessen
wird. Während in Italien und Frankreich prinzipielle Gesellschaftskritik (neben
Marxismus und Neomarxismus, vgl. auch den Text zum Strukturalismus in die-
sem Band) ausgeprägt philosophische Züge trägt (z.B. Sartre 1967; Baudrillard
1982; Gramsci 1967), dominiert in Deutschland die Suche nach soziologischen
Alternativkonzepten auf philosophischer Grundlage. Diese engere Anbindung an
die Soziologie verpflichtet die Theoretiker stärker auf eine Reflexion der Mög-
lichkeiten wissenschaftlicher Gesellschaftskritik. Aus diesem Grund konzentriert
sich die nachfolgende Darstellung auf deutsche Vertreter dieser Theorierichtung.

1
Zumindest wird dieses Bild bei der Rezeption soziologischer Klassiker und wichtiger Theorieansätze
immer wieder erzeugt. Vgl. die beiden dreibändigen Theorieeinführungen von Richard Münch (2002;
2004) und George Ritzer (1992; 1996; 1997).
Gesellschaftskritische Theorieansätze 129

2 Gesellschaftskritik als Alternative zum


Strukturfunktionalismus
2.1 Kritik an der Beschränkung auf Deskription – das Bedürfnis nach
Orientierung (das „Positivismusproblem“)

Der allmähliche Aufstieg der Soziologie nach 1945 zu einem gleichermaßen Kritische Distanz
gegenüber dem
öffentlichkeitswirksamen wie Studenten anziehenden Fach war immer auch
Positivismus
begleitet von kritischer Distanz gegenüber einem auf reine Deskription der Ge-
sellschaft zugeschnittenen Wissenschaftsverständnis. Deskription in der Traditi-
on des Positivismus (vgl. Bd.1, S. 42) war sowohl das Ziel empirischer Sozial-
forschung wie auch der theoretischen Bemühungen des Strukturfunktionalismus.
Damit ist ein weitgehender Verzicht auf Bewertung gesellschaftlicher Sachver-
halte verbunden. Wenn man ausschließlich das, was ist, möglichst exakt zu be-
schreiben versucht, dann verzichtet man ja darauf, die gegebene Realität zu beur-
teilen, sie zu kritisieren und dem Leser bzw. den Adressaten soziologischer For-
schung normatives „Orientierungswissen“ an die Hand zu geben.
Erst der Verzicht auf normative Bewertung hatte im 17.-19. Jahrhundert die Die soziologischen
Klassiker folgten der
Möglichkeit für die Herausbildung der Soziologie als einer am Vorbild der Na-
positivistischen
turwissenschaften orientierten empirisch-analytischen Wissenschaft eröffnet Tradition
(vgl. Bd.1, S. 25ff.). Dieser Prozess war um die Jahrhundertwende durch Festle-
gungen des soziologischen Gegenstandsbereichs und der soziologischen Metho-
de durch Durkheim, Weber, Simmel und andere zu einem gewissen Abschluss
gekommen (vgl. Bd.1, Kap. 3). Auf dieser Grundlage hatte sich in den USA der
Strukturfunktionalismus entwickelt (vgl.Bd.1, Kap.4), der nach 1945 auf jenen
Teil Europas ausstrahlte, der nicht sowjetisch dominiert war.
Vor allem in Frankreich, Italien und der BRD zeigte sich jedoch in Gestalt Wichtige Rolle
gesellschaftskriti-
gesellschaftskritischer Strömungen, dass der Neubeginn der Soziologie nach dem
scher Strömungen in
2. Weltkrieg nicht umstandslos auf dieses Fundament gegründet werden konnte. Kontinentaleuropa
Das wurde exemplarisch auf den deutschen Soziologentagen 1959 und 1964 auch nach 1945
sichtbar.
Der 1959 in Berlin veranstaltete Soziologentag zeigte, dass in zwei der drei Bei der Neugründung
der Soziologie in
Kristallisationszentren der westdeutschen Nachkriegssoziologie Kultur- und
Westdeutschland
Gesellschaftskritik als ein zentrales Element der Soziologie angesehen wurde. dominiert zunächst
Das galt sowohl für Hamburg/Münster, repräsentiert durch Helmut Schelsky wie die Gesellschaftskri-
auch für Franfurt/Main, repräsentiert durch Horkheimer und Adorno. Lediglich tik
René König, der Repräsentant des dritten Zentrums (Köln) plädierte für eine
Selbstbeschränkung auf Deskription (vgl. Schelsky 1959; Dahrendorf 1960;
Behrmann 1999; 294ff, Weyer 1984).
Der dem 100. Geburtstag Max Webers gewidmete Soziologentag in Heidel- Kein Konsens über
den Klassiker Weber
berg (vgl. Stammer 1965) machte noch deutlicher, dass das von den Klassikern
fixierte Konzept einer nicht auf Wertungen ausgerichteten empirisch-analyti-
schen Soziologie keineswegs Konsens war. Während Parsons, einer der beiden
Hauptredner (vgl. Parsons 1965), dieses Konzept vertrat, versuchte sein Gegen-
part für Webers Analyse des industriellen Kapitalismus zu zeigen, „dass der
Begriff der wissenschaftlichen Neutralität, oder besser Ohnmacht, ... nicht auf-
rechterhalten werden kann“ (Marcuse 1965: 108). Marcuse wollte unter Rück-
130 Ditmar Brock

griff auf Marx und Hegel nachweisen, dass „die reinen, wertfreien wissenschaft-
lichen Begriffe“ (ebd.) bei ihrer Anwendung „die in ihnen enthaltene Wertung“
(ebd. 109) enthüllen. Daher kann er wissenschaftliche Neutralität nur als Ohn-
macht verstehen, die die unvermeidliche Wertung ausblende und sie damit eben
anderen überlasse.

Das Konzept einer auf Werturteile verzichtenden Soziologie wird von konser-
vativen wie auch von linken Gesellschaftskritikern nicht geteilt.

2.2 Kritik am Verständnis „reiner“ soziologischer Theoriebildung –


Soziologische Begriffsbildung und Theoriekonstruktion als moralisch-
politischer Akt

Gesellschaftskritiker Mit dieser Kritik an der Selbstbeschränkung der Mainstream-Soziologie auf


beharren auf philoso-
wertfreie Deskription ist die Ablehnung des Konzepts der Soziologie als in sich
phischer Begründung
geschlossener Einzelwissenschaft eng verknüpft. Durkheims Forderung, soziale
Tatsachen nur durch Rückgriff auf andere soziale Tatsachen zu erklären (vgl.
Bd.1, S. 113), gilt als illusionär, weil soziale Tatsachen immer auch als Produkt
von Bedingungen und Faktoren anzusehen seien, die dem soziologischen Ge-
genstandsbereich vorgeschaltet seien: der biologischen und kulturellen Verfasst-
heit des Menschen (vgl. insbes. Gehlen), der insgesamt fehlgeschlagenen Ge-
schichte menschlicher Welterkenntnis (Horkheimer/Adorno), der Problematik
des Umgangs mit der menschlichen Triebstruktur (insbesondere Fromm, Marcu-
se), des Zusammenhangs zwischen dem Reproduktionserfordernis menschlicher
Arbeit und der Aneignung und Nutzung der Arbeitsprodukte (Marxismus, Frank-
furter Schule, Freyer). Daher könne die Selbstbeschränkung auf Soziologie, die
„nichts als Soziologie ist“ (König 1958: 7), den gesellschaftlichen Problemhori-
zont nicht hinreichend erfassen. Da Verhängnis- oder Verstrickungszusammen-
hänge angenommen werden, wird auch die Aufgabe wissenschaftlicher Erklä-
rung als komplexer angesehen. Anders als im Positivismus wird die Rolle des
Soziologen zudem als „heroischer“ und moralisch verpflichtender aufgefasst, so
dass ein auf die „Oberfläche“ beschränktes Registrieren und Vermessen der
gesellschaftlichen Wirklichkeit unzureichend bleiben müsse.
Begriffsverständnis in Gesellschaftskritik in Deutschland ist zudem mit dem von den Philosophen
der Tradition des
des deutschen Idealismus entwickelten Begriffsverständnis verquickt. Begriffe
deutschen Idealismus
können danach nicht aus der Empirie abgeleitet werden, sondern müssen „a prio-
ri“ aller empirischen Erfahrung vorausgehen (Kant). Die „Bewegung“ der Be-
griffe formt die „Realität“ und kann als dialektischer Entwicklungsprozess von
These, Antithese und Synthese analysiert werden (Hegel, aber auch Schelling
und Fichte2; vgl. auch obiges Marcuse-Zitat ).

2
Hegel (1770-1831), Schelling (1775-1854) und Fichte (1762-1814) sind Philosophen des deutschen
Idealismus. Dialektik wurde ursprünglich in der griechischen Philosophie als eine Kunst (insbesondere
bei Platon und Aristoteles) gepflegt, Meinungen im Gespräch auf ihre Gründe hin zu untersuchen, um
Argumentationsfehler aufzudecken. Im deutschen Idealismus wird die Dialektik zu einer Methode
Gesellschaftskritische Theorieansätze 131

Vor diesem Hintergrund werden Begriffsbildung und Theoriekonstruktion Moralische Ver-


pflichtungen der
als politisch-moralische Akte angesehen, die weit über eine bloße Benennung
Soziologen und der
empirischer Sachverhalte hinausgehen. Sie können daher immer als eine Brücke Soziologie
zwischen generellen politischen bzw. moralischen Zielvorstellungen oder auch
generellen Zeitdiagnosen und speziellen soziologischen Fragestellungen und
Themen benutzt werden. Die moralische Komponente spielt aber auch für das
Selbstverständnis der Gesellschaftskritiker eine erhebliche Rolle. Sie fühlen sich
moralisch verpflichtet, sich den (primär politisch-moralisch codierten) Heraus-
forderungen ihrer Zeit zu stellen und kommen dieser Verpflichtung gerade dann
nach, wenn sie konkrete soziologische Analysen unter perspektivisch wesentlich
weiter gesteckten Begriffen zusammenfassen.
Instruktive Beispiele für dieses Verständnis der Aufgabe des Soziologen Beispiele für
kritische Gesell-
geben sowohl der von Schelsky geprägte Begriff der „nivellierten Mittelstands-
schaftsdiagnosen
gesellschaft“ wie auch das von Habermas verfasste Vorwort zu „Student und
Politik“. In beiden Fällen ging es um die Interpretation empirischer Studien. Bei
Schelsky um eine empirische Studie über Auswirkungen des Weltkriegs und der
Vertreibung auf die soziale Struktur der Familien, bei Habermas um eine empiri-
sche Studie zum politischen Bewusstsein Frankfurter Studenten.
Schelsky fasste ein Kapitel der familiensoziologischen Studie, bei dem es Die nivellierte Mit-
telstandsgesellschaft
um Mobilitätsziele der befragten Familien ging, mit der überraschenden These
zusammen, die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland entwickle sich zu
einer nivellierten Mittelstandsgesellschaft. Das Zusammenwirken sozialer Ab-
und Aufstiege führe „zur Herausbildung einer nivellierten kleinbürgerlich-
mittelständischen Gesellschaft, die ebenso wenig proletarisch wie bürgerlich ist,
d.h. durch den Verlust der Klassenspannung und sozialen Hierarchie gekenn-
zeichnet wird“ (Schelsky 1955: 218). Die These folgt keineswegs zwingend aus
der dargestellten Studie. Sie könnte auch nur durch weitere, ganz anders gelager-
te Empirie überprüft werden. Aber sie bringt das kapitalismuskritische Pro-
gramm seiner akademischen Lehrer Gehlen und Freyer, dass die industrielle
Klassengesellschaft mit ihrer Klassenspaltung „überwunden“ werden müsse
(z.B. Freyer 1931), in der abgeschwächten Form einer Zeitdiagnose in die öffent-
liche Debatte ein.
In seinem Einleitungskapitel zur empirischen Studie „Student und Politik“ Ein anspruchsvoller
Begriff der politi-
entwickelte Habermas einen äußerst anspruchsvollen Begriff politischer Beteili-
schen Beteiligung
gung, der zusammenfiel „mit der Mitwirkung am Herstellen von Verhältnissen,
in denen tatsächlich alle beteiligt waren“ (Wiggershaus 1988: 611). Dieses Ver-
ständnis politischer Beteiligung knüpfte allenfalls locker an die Auswertungsme-
thode der empirischen Studie an. Habermas wollte damit vielmehr die in der
„Dialektik der Aufklärung“ von Horkheimer und Adorno entwickelte Position
aufnehmen, wonach die fortschrittlichen Ideale der frühen bürgerlichen Gesell-
schaft gegen eine zerstörerische Gegenwart zu verteidigen seien. Zu diesen bür-
gerlichen Idealen gehört auch ein Demokratieverständnis, das die legitime

entwickelt, mit der das Verhältnis von erkennendem Subjekt und dem Gegenstand seiner Erkenntnis,
dem Objekt dargestellt und analysiert werden kann. Hegel baut die Dialektik zu einer Methode um, mit
der die Entwicklung von Begriffen und einer diesen Begriffen folgenden sozialen Realität analysiert
und dargestellt werden kann.
132 Ditmar Brock

Staatsgewalt an das freiwillige Einverständnis freier Bürger bindet. Ähnlich wie


bei Schelsky ging es auch Habermas vorrangig um die Beeinflussung öffentli-
cher Debatten und eher am Rande um die Interpretation empirischer Ergebnisse.

Gesellschaftskritiker gewinnen ihre Begriffe und Gegenwartsdiagnosen nicht


ausschließlich aus empirischen Befunden, sondern sind ebenso philosophisch-
anthropologischen Hintergrundannahmen verpflichtet.

Übungsaufgabe:

Versuchen Sie, einen auf die Beeinflussung öffentlicher Debatten zielenden


Begriff (oder eine suggestive Formel) dafür zu finden, dass in Deutschland die
Geburtenrate seit den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts unter den Wert von
2,05 Kindern pro Frau gefallen ist, der erforderlich ist, um die Bevölkerungszahl
ohne Zuwanderung auf dem erreichten Stand zu halten. Heute liegt der Wert
unter 1,4.

2.3 Kritik harmonistischer Konzepte der modernen Gesellschaft –


befreiende Taten, Revolutionen, Institutionen und Gemeinschaften als
Rettungsanker gegen den Zerfall der Gesellschaft

Das Gegenbild einer Die Mainstream-Soziologie, die von den Klassikern bis hin zu Parsons konzipiert
rettungsbedürftigen
wurde, kreiste immer um den Nachweis der Stabilität und Integrationsfähigkeit
Gesellschaft
moderner Gesellschaften. Diesem Integrationsthema halten die Gesellschaftskri-
tiker das konträre Bild einer sich selbst zerstörenden, in ihre Widersprüche zer-
fallenden Gegenwartsgesellschaft entgegen, die vor dem weiteren Zerfall gerettet
werden müsse.
Das harmonistische Mit den Konzepten des AGIL-Schemas und des analytischen Realismus
Gesellschaftsver-
(vgl. Bd.1, S. 193ff.) hatte Parsons das harmonistische Gesellschaftsverständnis
ständnis des Struktur-
funktionalismus auf die Spitze getrieben und die entwickelte moderne Industriegesellschaft zum
Inbegriff einer durch die Verbindung von allgemeiner Inklusion, Massen-
wohlstand, spezialisierter Aufgabenbewältigung mit universalistischen Werten
charakterisierten Tendenz gesellschaftlicher Perfektionierung erklärt. Die USA
galten ihm als Vorreiter dieser alternativlosen Entwicklung (vgl. Parsons 1972;
sowie Bd.1, S. 213).
Modernitätskritik Die Auseinandersetzung um besonders problematische Annahmen und Imp-
likationen eines allzu harmonistischen Verständnisses der Moderne führt zu
einem als alternativ verstandenen gesellschaftskritischen Theoriekonzept, sobald
die gegenwärtige Entwicklung als permanenter Rückschritt oder als systemati-
sche Fehlentwicklung interpretiert und die Frage einer Trendwende zu einem
zentralen Anliegen wird. Über eine Renaissance des klassischen Marxismus
hinaus (vgl. Bd.1, S. 74) werden vor allem in den 60er Jahren auf gesellschaftli-
che Veränderung abzielende Modernitätskritiken entwickelt, die entweder auf
eine Trendwende durch eine revolutionäre Praxis neuer Schlüsselgruppen setzten
Gesellschaftskritische Theorieansätze 133

oder eine „Rückbesinnung“ auf in der Vergangenheit erfolgreiche Institutionen


und Moralvorstellungen propagierten.
Ein Beispiel für eine derartige Modernitätskritik ist „Der eindimensionale Beispiel: Der eindi-
mensionale Mensch
Mensch“ von Herbert Marcuse (Marcuse 1964). Marcuse zeichnet in scheinbarer
Übereinstimmung mit dem Strukturfunktionalismus das Bild einer materiell
erfolgreichen und in hohem Maße durch Technik wie Massenkultur integrierten
Gesellschaft ohne Opposition. Anders als die von Marx analysierte kapitalisti-
sche Klassengesellschaft produziere die kapitalistische Wohlstandsgesellschaft
aufgrund ihrer Integrationsfähigkeit keine revolutionäre Klasse mehr, die diese
Gesellschaft ablehnt. Dennoch werde das Selbstverständnis der modernen Ge-
sellschaft als rational und fortschrittlich durch die Realität dementiert, allerdings
nur auf der Ebene der Sozialisation und der Persönlichkeitsentwicklung. Hier
seien keine Fortschritte festzustellen, vielmehr dominierten nach wie vor Trieb-
unterdrückung, Verdrängung und autoritäre Verhaltensweisen. Der Stand der
Produktivkräfte, von Technik und Wissenschaft, ermögliche jedoch eine Befrei-
ung von entbehrlich gewordenen Zwängen (vgl. Marcuse 1969), eine neue Reali-
tät solidarischen Miteinander-Lebens, die aber durch die immer noch bestehende
Fokussierung gegenwärtiger Gesellschaften auf die Produktion von materiellem
Wohlstand blockiert sei. Es sei nur zu einer Verbesserung des materiellen Le-
bensstandards, aber nicht zu einer Verbesserung der zwischenmenschlichen
Beziehungen gekommen.
Ebenfalls Ende der 60er Jahre legt Gehlen sein drittes Hauptwerk „Moral Gehlens Warnung vor
dem Unsinn des
und Hypermoral“ (Gehlen 1969) vor. Es liefert ein weiteres Beispiel für eine
Humanitarismus
derartige Modernitätskritik. Auch Gehlen geht es um die Konsequenzen einer
Überflussgesellschaft – genauer einer Gesellschaft, die die Menschen vom Nega-
tiven wie Hunger, schwere körperliche Arbeit, Krankheit und Tod entlaste. An-
ders als Marcuse propagiert Gehlen keine „Befreiung“ von entbehrlich geworde-
nen Realitätszwängen. Er warnt umgekehrt vor dem Problem einer weiteren
„Enthemmung einer fürchterlichen Natürlichkeit“ (Gehlen GA 4; 140). Gehlen
sieht vier Quellen der Moral: (a) im ökonomischen und juristischen Bereich das
Prinzip des „do ut des“3, (b) eine biologische, auf Zuwendung zu Kindern adres-
sierte Ethik, (c) eine Familienmoral und schließlich (d) eine Ethik der Institutio-
nen, insbesondere des Staates. In der Überflussgesellschaft beobachtet Gehlen
nun die Tendenz einer Überdehnung der Familienmoral auf Kosten der Instituti-
onenmoral, die die Aufrechterhaltung staatlicher Ordnung gefährde. Vor diesem
„Unsinn“ des „Humanitarismus“ möchte Gehlen warnen.

Die Modernitätskritik ist ein zentrales Thema gesellschaftskritischer Theorie-


ansätze. Die moderne Gesellschaft erscheint nicht als Ausbund an Integrati-
ons- und Leistungsfähigkeit, sondern als eine der Korrektur bedürftige Fehl-
entwicklung.

3
Übersetzung: Ich gebe, damit du gibst.
134 Ditmar Brock

Übungsaufgabe:

Wie würden Sie die heutige bundesrepublikanische Gesellschaft beschreiben?


Als funktional differenziert, leistungsfähig, mit hohem Lebensstandard oder
fallen Ihnen eher kritische Punkte ein?

2.4 Kritik an den soziologischen Klassikern – Renaissance philosophischer


Konzepte des 18. und 19. Jahrhunderts

Wiedereinführung der Den Konventionen des Positivismus folgend hatten die Klassiker die Soziologie
Philosophie in die
als eine empirisch-analytische Wissenschaft konzipiert. Wie jede andere Wissen-
Soziologie
schaftsdisziplin auch, soll sie Erklärungen im Rahmen ihres Gegenstandsbe-
reichs finden, also „Soziales durch Soziales erklären“ (Durkheim). Auf dieser
Grundlage haben sich auch die zentralen Begriffe entwickelt, über die die Sozio-
logie ihren Gegenstand beschreibt. Die Kritik an diesem Wissenschaftsmodell
führt zur Wiedereinführung „spekulativer“, über den Gegenstandsbereich der
Soziologie hinausreichender Elemente. Die wichtigsten Vertreter gesellschafts-
kritischer Theorieansätze sind daher auch nicht ausschließlich Soziologen, son-
dern arbeiten zugleich auf dem Feld der Philosophie bzw. der Anthropologie. Sie
fundieren ihre soziologischen Beiträge durchweg durch einen Rekurs auf (meist
ältere) philosophische Konzepte.
So ist Gehlen stark Dieses Merkmal wird nun für die wohl wichtigsten Vertreter der konserva-
vom deutschen
Idealismus
tiven wie der negativistischen Gesellschaftskritik, für Arnold Gehlen und Theo-
beeinflusst dor W. Adorno, aufgezeigt.
Bei Gehlen ist das Verständnis soziologischer Phänomene sehr stark durch
die Filter der Freiheitsphilosophie des deutschen Idealismus geprägt. Insbesonde-
re der Philosophie Fichtes, aber auch Schillers und Herders entnimmt Gehlen ein
Menschenbild, das er nicht mit soziologischer Empirie, sondern mit Ergebnissen
der damaligen biologischen Forschung untermauert (vgl. sein Hauptwerk: Der
Mensch). Auf der Ebene der Soziologie liegen erst die Folgerungen, die er aus
seinem Menschenbild zieht: Seine Handlungs-, Kultur- und Institutionentheorie
erläutern soziologische Konsequenzen seines Menschenbildes (Näheres siehe
unter 5.3.4).
Vermittlung zwischen Für das Denken Adornos sind insbesondere Kant, Hegel und Marx wesent-
Soziologie und
liche Bezugspunkte. Bei ihm durchdringen sich soziologische (und musikwissen-
Philosophie bei
Adorno schaftliche) Analysen und philosophische Konzepte wechselseitig. Seine Philo-
sophiekritik in der „Negativen Dialektik“ wäre ohne diese Analysen ebenso
wenig denkbar wie seine Beiträge zur Soziologie ohne seinen umfassenden phi-
losophischen und philosophiegeschichtlichen Hintergrund (näheres siehe unter
4.2.5).

Die wichtigsten Vertreter gesellschaftskritischer Theorieansätze sind nicht


ausschließlich Soziologen, sondern meist auch Philosophen. Sie streben eine
Verbindung beider Disziplinen an, die klassische Vorstellungen spezialisierter
Einzeldisziplinen sprengt.
Gesellschaftskritische Theorieansätze 135

2.5 Kritik am wissenschaftlichen Elfenbeinturm – Gegenwartsdiagnose


und politische Wirksamkeit

Eine weitere wichtige Konsequenz des von den Gesellschaftskritikern vertrete- Aktive Rolle im
„Meinungskampf“
nen Wissenschaftsverständnisses besteht in der öffentlichen Wirksamkeit. Wäh-
rend die Vertreter des Modells der Soziologie als einer spezialisierten, wertur-
teilsfreien Einzelwissenschaft im Sinne einer wissenschaftlichen Dienstleistung
Spezialwissen allen Interessierten zur Verfügung stellen, sind die Gesellschafts-
kritiker direkt an der Verbreitung ihrer Thesen interessiert. Sie treten vielfach als
„gesellschaftspolitische Unternehmer“ auf, die gegen die Vertreter anderer
Sichtweisen polemisieren und den „Meinungskampf“ als genuinen Teil ihrer
Aufgabe als Wissenschaftler betrachten. Sicherlich treten auch andere Wissen-
schaftler öffentlich auf, jedoch meist in einer vorsichtigeren und auf die eigene
Expertenrolle beschränkten Weise.
Als Beispiel für diese Besonderheit möchte ich eine der letzten Veröffentli- Schelskys Polemik
gegen die „Priester-
chungen von Helmut Schelsky anführen, deren Titel bereits polemisch ist: „Die
herrschaft“ der Intel-
Arbeit tun die anderen. Klassenkampf und Priesterherrschaft der Intellektuellen“. lektuellen
In den besonderen Charakter seiner durchaus von einem soziologischen Funda-
ment aus geführten Auseinandersetzung führt am instruktivsten der Klappentext
ein. Ich zitiere aus dem Klappentext der 2. Auflage (Schelsky 1975):

„Schelsky sieht in der Umformung der Intellektuellen zur Klasse und in ihren sozial-
religiösen Heilsverheißungen gegenüber dem „geborgten Elend“ unserer heutigen
Wirklichkeit den Angelpunkt des künftigen Geschehens … Die neuen Formen der
Herrschaft dieser „Reflexionselite“ sind Belehrung, Betreuung, Beplanung…Hier
wird an manchen geistigen Denkmälern der bundesrepublikanischen Kultur ener-
gisch gerüttelt. Schelsky hat nicht nur ein Streitbuch gegen die Illusion der Progres-
siven geschrieben, sondern auch eine Einführung in die Soziologie… – allerdings
die aggressivste Einführung in die Soziologie, fast eine „Anti-Soziologie“.

Viele Veröffentlichungen zielen direkt auf öffentliche Kontroversen und Aus-


einandersetzungen.

3 Fragestellungen, Erklärungsanspruch und Methode


gesellschaftskritischer Theorien
Gesellschaftskritische Theorien sind weder auf soziologische Aspekte beschränkt Eine präzise Rubri-
zierung von Autoren
noch stellen sie ein einheitliches Paradigma dar. Sie gewinnen schärfere Kontu-
unter das Etikett
ren erst in der Frontstellung gegen das Modell der Soziologie als empirisch- Gesellschaftskritik ist
analytischer Wissenschaft in der Tradition des Positivismus. So bürgert sich problematisch
beispielsweise das Etikett „Frankfurter Schule“ (vgl. die Erläuterung in Ab-
schnitt 4.1) erst in den 60er Jahren in Zusammenhang mit Kontroversen ein,
obwohl „die Einheit eines Schulzusammenhangs ... mit Ausnahme weniger Jahre
in New York, nie bestanden hat“ (Habermas 1986: 8). Aber selbst dann ist es
nicht möglich, reinlich zwischen Vertretern des einen oder des anderen Theorie-
typs zu unterscheiden. Bedeutende gesellschaftskritische Autoren wie z.B. Ador-
136 Ditmar Brock

no haben sich auch Verdienste um die Übernahme neuer Methoden der empiri-
schen Sozialforschung erworben. Wenn der Begriff nicht so negativ besetzt wä-
re, könnte man von einem „Virus Gesellschaftskritik“ sprechen, der sich rapide
ausbreiten und ebenso rasch wieder verschwinden kann, der viele Autoren für
kürzere oder auch längere Phasen ihres Schaffens „befällt“, sie aber nur in Aus-
nahmefällen dauerhaft prägt.
Vor diesem Hintergrund kann man versuchen, die Merkmale dieses „flüch-
tigen“ Theorietyps im Vergleich mit „reiner Soziologie“ näher zu umreißen.

Gesellschaftskritische Analysen und Theorien gehen von Fragestellungen aus,


die (a) auch (aber keineswegs ausschließlich) einen normativen Bezug auf ih-
ren Gegenstand aufweisen und (b) die Selbstbeschränkung auf einen soziolo-
gischen Gegenstandsbereich im Sinne wissenschaftlicher Arbeitsteilung zu-
mindest punktuell überschreiten.

Normativ sind alle Fragestellungen, die sich für die Qualität des Sozialen im
Sinne eines „Besser“ oder „Schlechter“ interessieren (so die Beispiele für Mo-
dernitätskritik in Abschnitt 2.3). Die Selbstbeschränkung eines arbeitsteilig so-
ziologischen Gegenstandsbereichs wird spätestens dann überschritten, wenn auf
Soziologie nicht reduzierbare anthropologische (bzw. biologische) oder psycho-
logische, ökonomische Aspekte die Fragestellung prägen (vgl. Abschnitt 2.2 und
2.4).
Der besondere Diese beiden Merkmale charakterisieren auch einen spezifischen Erklä-
Erklärungsanspruch
rungsanspruch gesellschaftskritischer Analysen bzw. Theorien. Darüber hinaus
kennzeichnen auch Forderungen nach dem Erfassen gesellschaftlicher „Totalität“
und der Anspruch auf „Anleitung“ der gesellschaftlichen Praxis etwa durch das
Aufzeigen von Wegen der „Befreiung“, der „Rettung“ und dergleichen einen
über ein konventionelles Wissenschaftsverständnis hinausgehenden Erklärungs-
anspruch gesellschaftskritischer Analysen (vgl. Abschnitt 2.2 und 2.5).
Begrenzte empirische Schon aus der Reichweite der Fragestellungen und des Erklärungsanspru-
Überprüfbarkeit
ches ergibt sich, dass gesellschaftskritische Analysen in methodischer Hinsicht
nicht vollständig auf konventionelle Verfahren der empirischen Sozialforschung
gestützt werden können. Vielmehr müssen diese zumindest punktuell durch „be-
gründete Spekulation“ ergänzt werden. Das setzt der empirischen Nachprüfbar-
keit enge Grenzen. Das klassische Gütekriterium, wonach die mit denselben
Methoden und unter denselben Randbedingungen durchgeführte Nachprüfung
eines Ergebnisses dieses identisch reproduzieren muss, kann daher von diesem
Theorietypus nicht beansprucht werden.
So kann z.B. die oben erwähnte These von Schelsky, die Ungleichheits-
struktur in der Bundesrepublik entwickle sich in Richtung einer „nivellierten
Mittelstandsgesellschaft“, nicht durch eine Replikation der familiensoziologi-
schen Studie nachgeprüft werden, über die diese These entwickelt wurde. Das
scheitert schon daran, dass die Reichweite der These über eine Zusammenfas-
sung der empirischen Ergebnisse dieser Studie weit hinausgeht.
Legitimationspro- Für das Überschreiten des Modells arbeitsteiliger Wissenschaft zahlen ge-
bleme gesellschafts-
sellschaftskritische Theorieansätze einen erheblichen Preis. Er äußert sich in zwei
kritischer Theorien
Gesellschaftskritische Theorieansätze 137

Problemen: zum einen in Schwierigkeiten, die Wissenschaftlichkeit derartiger


Analysen nachzuweisen, und zum anderen im Problem der Vereinbarkeit norma-
tiver Empfehlungen mit einer demokratischen politischen Kultur.
Das Problem der Wissenschaftlichkeit gesellschaftskritischer Analysen Das Problem der
Wissenschaftlichkeit
hängt systematisch damit zusammen, dass jede Gesellschaftskritik normative
Maßstäbe voraussetzt, die sich nicht vollständig aus empirischen Beschreibungen
ergeben. Konservative Gesellschaftskritik, die gesellschaftliche Fehlentwicklun-
gen der Gegenwart durch einen Vergleich mit einer in bestimmter Hinsicht als
„besser“ bewerteten Vergangenheit kritisiert, kann solche Maßstäbe noch eher
empirisch belegen als „linke“ Gesellschaftskritik, die die Gegenwart anhand
hypothetischer Modelle z.B. einer „repressions- oder herrschaftsfreieren Gesell-
schaft“ kritisiert. Beiden politischen Varianten der Gesellschaftskritik ist aber
gemeinsam, dass normative Maßstäbe zwar mit den Mitteln empirischer For-
schung erläutert und in ihren Konsequenzen durchgespielt, aber nicht gerechtfer-
tigt werden können. Anders als bloße Beschreibungen bleiben sie immer An-
sichtssache, die von anderen normativen Prämissen aus abgelehnt werden kön-
nen.
Das Problem der Vereinbarkeit mit einer demokratischen politischen Kultur Das Problem der
Vereinbarkeit mit
kann folgendermaßen erläutert werden: Vor dem Hintergrund einer demokrati-
einer demokratischen
schen Kultur stellt sich die Frage, wer Gesellschaftskritikern ein Mandat gegeben Kultur
hat, gesellschaftspolitische Urteile und Empfehlungen abzugeben, die nicht als
persönliche Meinung ausgewiesen sind, sondern mit der Aura wissenschaftlicher
Kompetenz verknüpft werden. Da der normative Gehalt solcher Urteile oder
Empfehlungen nicht vollständig mit den Mitteln wissenschaftlicher Verfahren
legitimiert werden kann (siehe oben), bleibt eine Legitimationslücke, die erneut
sichtbar macht, dass gesellschaftskritische Analysen und Theorieansätze Mög-
lichkeiten wissenschaftlicher Einflussnahme in funktional differenzierten Gesell-
schaften überziehen.

Gesellschaftskritische Theorien stellen Behauptungen auf, die nur teilweise


empirisch überprüfbar sind.

Aufgrund ihres normativen Anspruchs haben sie ein Problem der Wissen-
schaftlichkeit.

Unklar ist auch das Mandat der Gesellschaftskritiker für gesellschaftspoliti-


sche Empfehlungen.

Wenn im folgenden Teil zunächst von „negativistischer“ und danach von „kon- Sinn der Begriffe
negativistische und
servativer“ Gesellschaftskritik die Rede ist, dann geht es dabei primär darum,
konservative Gesell-
zwei verschiedene Macharten von Gesellschaftskritik zu unterscheiden. „Norma- schaftskritik
tivistische“ Gesellschaftskritik führt normative Urteile über hypothetische Mo-
delle einer „besseren“ Gesellschaft ein, die ihrerseits aus theoretischen Überle-
gungen abgeleitet werden. „Konservative“ Gesellschaftskritik kann normative
Urteile unter Rückgriff auf eine prinzipiell empirischer Forschung zugängliche
„bessere Vergangenheit“ begründen. Hinsichtlich des Wissenschaftlichkeitsprob-
138 Ditmar Brock

lems hat „rechte“ Gesellschaftskritik damit einen gewissen strategischen Vorteil,


weil ihre Maßstäbe mit empirischen Mitteln eher kritisierbar sind. Für die Zu-
kunft kann aber nicht ausgeschlossen werden, dass auch theoretische Modelle
z.B. mit spieltheoretischen Mitteln in ähnlicher Weise empirisch getestet werden
könnten, wie das im Bereich von Rational-Choice-Ansätzen bereits praktiziert
wurde (vgl. S. 239ff.).

Mit den Begriffen „negativistische“ und „konservative“ Gesellschaftskritik


werden verschiedene Macharten der Gesellschaftskritik analytisch unterschie-
den.

Übliche Etiketten: Die nachfolgende Darstellung muss sich aber auch an den in anderen Büchern
Kritische Theorie,
benutzten Etiketten und Unterscheidungen orientieren, um dem Leser eine ver-
Frankfurter Schule,
konservative bzw. gleichende Lektüre zu ermöglichen. Daher werden im nächsten Abschnitt zu-
rechte Gesellschafts- nächst die als „negativistisch“ bzw. „links“ angesehene ältere und jüngere
kritiker „Frankfurter Schule“ bzw. „Kritische Theorie“ vorgestellt und im vierten Ab-
schnitt allgemein als „rechts“ oder „konservativ“ eingestufte Gesellschaftskriti-
ker behandelt. Dabei werden wir allerdings unabhängig von der üblichen Zuord-
nung auf Unterschiede in der Machart der Gesellschaftskritik zurückkommen
und bemerken, dass auch ein üblicherweise als „links“ eingestufter Gesell-
schaftskritiker wie z.B. Adorno sich des Typs „konservativer“ Gesellschaftskri-
tik bedient, wenn er im Spätkapitalismus bedrohte frühbürgerliche Identitätsfor-
men zu „retten“ versucht. Umgekehrt findet man bei einem allgemein als
„rechts“ angesehenen Gesellschaftskritiker wie Hans Freyer auch Elemente einer
„linken“ bzw. „negativistischen“ Gesellschaftskritik, wenn er die Entfremdung
des modernen Menschen beklagt.

Übungsaufgabe:

Versuchen Sie, in ihren eigenen Worten das Problem gesellschaftskritischer


Theorien zu beschreiben, einen mit wissenschaftlichen Mitteln überprüfbaren
Kritikmaßstab zu entwickeln! Welchen Unterschied macht es, ob die Gesell-
schaftskritik ihre Maßstäbe aus einer als besser angesehenen Vergangenheit
bezieht oder ob sie ein rein theoretisches Modell einer besseren Gesellschaft
entwickelt?

4 Die Gesellschaftskritik der Frankfurter Schule


4.1 Vorbemerkung zu den Begriffen „Frankfurter Schule“ und „Kritische
Theorie“

Frankfurter Schule – Da der Begriff „Kritische Theorie“ einen falschen Monopolanspruch suggeriert,
ein Kreis von Wis-
verwende ich das allerdings ebenfalls problematische Etikett „Frankfurter Schu-
senschaftlern um
Max Horkheimer le“, um damit einen Diskussions- und Arbeitszusammenhang zu umreißen, der
um Max Horkheimer entstanden ist, als er 1930 Ordentlicher Professor und Di-
Gesellschaftskritische Theorieansätze 139

rektor des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt geworden ist. Die institutio-
nellen Kristallisationspunkte der „Frankfurter Schule“ sind das Institut für Sozi-
alforschung und die von 1932-1941 erschienene „Zeitschrift für Sozialfor-
schung“ (vgl. hierzu: Dubiel 1992: 17-22).
Der Begriff „Frankfurter Schule“ wurde erst in den 60er Jahren geprägt, um Begriff Frankfurter
Schule in den 60ern
damit einen an der Universität Frankfurt angesiedelten Schwerpunkt mit eigenem
entstanden
Profil von der „Kölner“ und „Münsteraner“ Soziologie zu unterscheiden (Dubiel
1992: 12). Bei näherer Betrachtung zeigt sich aber, dass die „Frankfurter Schule“
weder an den Ort Frankfurt gebunden ist (vgl. Dubiel 1992:11ff), noch als eine
„Schule“ im klassischen Sinne angesehen werden kann. Die profilbildenden
Werke sind im amerikanischen Exil entstanden, die wichtigsten Mitglieder haben
sich nur zeitweilig in Frankfurt aufgehalten und sich dort auch nicht heimisch
gefühlt (vgl. Rosen 1995: 20ff und 48ff). Als Schule bezeichnet man üblicher-
weise „eine von einem Meister ausgehende künstlerische oder wissenschaftliche
Richtung“ (Der neue Brockhaus, Bd. 4: 546), die von Schülern weitergeführt
wird. Die damit unterstellte einheitliche „Richtung“ existiert nur sehr allgemein
in der Form eines interdisziplinären Programms, die gesellschaftliche Gegenwart
schonungslos analysieren und verstehen zu wollen, also Hegels Versuch, die
Gegenwart auf den Begriff zu bringen, mit konkreteren sozialwissenschaftlichen
Analysen zu wiederholen. Die Ergebnisse sind wesentlich heterogener als der
Rahmen einer Schulbildung suggeriert.
Wer gehörte zur „Frankfurter Schule“? In den 30er und 40er Jahren vor al- Wer gehörte zur
Frankfurter Schule?
lem: Theodor W. Adorno (1904-1968); Erich Fromm (1900-1980); Max Hork-
heimer (1895-1973); Otto Kirchheimer (1905-1965); Leo Löwenthal (1900-
1993); Herbert Marcuse (1898-1979); Franz Neumann (1900-1954); Friedrich
Pollock (1894-1970). In der Nachkriegszeit sind vor allem Jürgen Habermas
(1929), Oskar Negt (1934), Claus Offe (1940), Alfred Schmidt (1931) und Alb-
recht Wellmer (1933) hinzugekommen. Neuere Vertreter dieser Theorierichtung
sind: Hauke Brunkhorst (1945), Helmut Dubiel (1946) und Axel Honneth
(1949). Horkheimer, Adorno und teilweise auch Marcuse werden als „innerer
Kreis“ oder als Schlüsselfiguren angesehen.

4.2 Ältere Frankfurter Schule/Kritische Theorie

4.2.1 Neomarxismus

Die frühen Schriften der Frankfurter Schule bis etwa Ende der 30er Jahre müssen Grundorientierung
auch als eine Reaktion auf eine zweifache Krise: auf die Krise des Kapitalismus
und des Marxismus verstanden werden. Das Konzept einer „kritischen Theorie“
oder (wie es Horkheimer zunächst formulierte) einer „materialistischen Theorie“
sollte zwar den methodisch-konzeptionellen Stand des Marxismus aufnehmen,
aber es sollte auch eine gegenüber dem ausgehenden 19. Jh. völlig veränderte
historische Situation reflektieren, die durch diese zweifache Krise charakterisiert
ist.
Spätestens mit dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise im Jahre 1929 war Ökonomische Krise
und Faschismus
die von den Marxisten prognostizierte große, weltweite ökonomische Krise des
140 Ditmar Brock

Kapitalismus eingetreten. Die erwartete Zuspitzung der Klassenkämpfe mit der


Perspektive einer sozialistisch-kommunistischen Revolution war allerdings weit-
gehend ausgeblieben. Nicht nur in Deutschland, sondern auch in einer ganzen
Reihe anderer Industriestaaten ohne ausgeprägte demokratische Tradition brach-
te die ökonomische Krise statt kommunistischer oder sozialistischer Parteien
faschistische oder autoritäre Regimes an die Macht.
Problem des In der Sowjetunion, wo es Ende des Ersten Weltkriegs eine kommunistische
Stalinismus
Machtübernahme gegeben hatte, entwickelte sich spätestens unter Lenins Nach-
folger Josef Stalin eine Willkür- und Terrorherrschaft, die immer weniger durch
Hinweis auf das langfristige Ziel einer kommunistischen Gesellschaft zu recht-
fertigen war.
Geistige Grenzen Diese Entwicklungen warfen auch für Marxisten, die sich nicht als gehor-
des klassischen
same „Parteisoldaten“ verstanden, sondern sich ein selbständiges Urteil bewahrt
Marxismus
hatten, vor allem zwei Fragen auf: Erstens: Warum hatte sich die Arbeiterklasse
nicht zu dem von Marx prognostizierten revolutionären Subjekt entwickelt?
Zweitens: Wie war der Faschismus zu beurteilen? Auf beide Fragen konnten
weder der klassische Marxismus noch der von Lenin weiter dogmatisierte „Mar-
xismus-Leninismus“ überzeugende Antworten geben.

4.2.2 Max Horkheimer: das Programm einer „Kritischen Theorie“

Horkheimers Diese Antworten sollte das Programm einer Kritischen Theorie4 geben. Es wurde
Programm einer
Kritischen Theorie
insbesondere von Max Horkheimer in einer Reihe von Aufsätzen entwickelt, die
zwischen 1933 und 1937 in der Zeitschrift für Sozialforschung veröffentlicht
wurden (vgl. Horkheimer 1992). Es wird in Frontstellung gegen das (a) „traditi-
onelle“ Wissenschaftsverständnis, und gegen (b) die idealistisch-verstehenden
Ansätze, in weitgehender, aber mit neuen Akzenten versehener, Anlehnung an
den Marxismus formuliert.
Als traditionelles Wissenschaftsverständnis – als „traditionelle Theorie“ –
bezeichnet Horkheimer das Bemühen, ein in sich geschlossenes und deduktiv
geordnetes System von Aussagen zu entwickeln, die mit festgestellten Tatsachen
in Übereinstimmung stehen müssen. Diese Art der Theoriebildung ziele auf
Mathematisierung und auf „kalkulieren“ (Horkheimer 1992: 211) ab. Sie über-
trage betriebliche Arbeitsteilung (ebd. 214) auf den Bereich wissenschaftlicher
Erkenntnis und führe lediglich zu pragmatischem Wissen, das beruflich-arbeits-
teilig genutzt werden könne. Auf diese Weise könne jedoch kein Wissen für eine
vernünftige Gestaltung einer zukünftigen Gesellschaft gewonnen werden. Genau
dies aber müsse das Ziel einer – alternativen – kritischen Theorie der Gesell-
schaft sein. Daher sei der Bezug isolierter wissenschaftlicher Erkenntnis auf die
„gesamtgesellschaftliche Praxis“ (216) ebenso in den Blick zu nehmen wie die
„Diskrepanz zwischen Tatsache und Theorie“ (220). Weiterhin müsse die Tren-
nung von Individuum und Gesellschaft kritisch reflektiert und damit gedanklich
4
Den Begriff Kritische Theorie verwendet Horkheimer erst ab 1937. Davor (vgl. insbesondere 1992a)
verwendet er den Begriff Materialismus, den er vermutlich aus Opportunitätsgründen aufgibt. Hork-
heimer möchte in den USA nicht als Marxist gelten. Vgl. hierzu Wiggershaus 1988.
Gesellschaftskritische Theorieansätze 141

relativiert werden. Die soziale Differenzierung sei im Hinblick auf die in ihr
liegenden Fallstricke der Entfremdung vom Ganzen zu reflektieren. Denn: „Die
Vernunft kann sich nicht selbst durchsichtig werden, solange die Menschen als
Glieder eines vernunftlosen Organismus handeln“ (225). Dieses Programm
könne nur durch die Techniken dialektischen Denkens5 realisiert werden.
Ebenso lehnt Horkheimer eine „idealistische Metaphysik“ ab, die in Anleh- Ablehnung des
Idealismus
nung an Hegel und daraus entwickelte verstehende (hermeneutische) Traditionen
(Dilthey u.a.) „die Wirklichkeit aus einem Ideenhimmel oder überhaupt aus einer
rein geistigen Ordnung zu verstehen (versuchen). Ein solcher Trost über die
Welt ist uns nach Marx versagt“(Horkheimer 1986: 283). Damit spielt Horkhei-
mer auf Marxens Kritik an Hegels idealistischem Konzept an. Hegel war der
Auffassung, dass „Denken, Wahrheit und Sein zusammenfallen“ (Hirschberger
1976, Bd.II, 411), so dass man durch Nachvollziehen aller wesentlichen Gedan-
ken die Welt verstehen könne. Marx hatte demgegenüber zu zeigen versucht,
dass die Gedanken die Fehlentwicklungen der gesellschaftlichen Herrschafts-
und Ausbeutungsverhältnisse „verdoppeln“ und gerade nicht transparent werden
lassen. Daran knüpft Horkheimer an: Es könne nicht darum gehen, in einer kon-
templativen Haltung alle existierenden Vorstellungen als Erscheinungsformen
eines „objektiven Geistes“ in sich aufzunehmen.

„Nur die Menschen selbst, und zwar nicht das „Wesen“ Mensch, sondern die wirkli-
chen ... Menschen eines bestimmten geschichtlichen Augenblicks sind die tätigen
und lebenden Subjekte der Geschichte“ (Horkheimer 1986: 282).

Sie sind der entscheidende Bezugspunkt der Kritischen Theorie, einschließlich


der „kritischen Theoretiker“ und ihrer Praxis.

Max Horkheimer (1895-1973)

geboren am 14.02.1895 in Stuttgart; gestorben am 07.07.1973 in Nürnberg.

Max Horkheimer wurde am 14. Februar 1895 in


Stuttgart als Sohn einer jüdischen Fabrikantenfamilie
geboren. Nach einer Handelslehre, der Arbeit in der
Fabrik seines Vaters und der Teilnahme am Ersten
Weltkrieg studierte er von 1919 bis 1922 Psychologie
und Philosophie in München, Freiburg und Frank-
furt/Main. Schnell promovierte und habilitierte er sich
in Frankfurt/Main und schloss Freundschaft mit dem
Millionärssohn Felix Weil und Theodor W. Adorno
(1903-1969). 1930 wurde er zum Ordinarius für Sozi-
alphilosophie an der Universität Frankfurt ernannt und wurde 1931 Direktor
des von Felix Weil finanzierten Instituts für Sozialforschung. Die Emigration
nach 1933 führte ihn über Genf und Paris nach New York, wo er an der Co-

5
Vgl. hierzu Bd.1; S. 59.
142 Ditmar Brock

lumbia University das Institut für Sozialforschung neu gründete. 1947 veröf-
fentlichte er gemeinsam mit Theodor W. Adorno die „Dialektik der Aufklä-
rung“, eines der Hauptwerke der Frankfurter Schule. 1949 kehrte Horkheimer
an die Universität Frankfurt zurück, wo er 1950 das Institut für Sozialfor-
schung wieder einrichten konnte. 1951 wurde er zum Rektor der Frankfurter
Universität gewählt. Neben zahlreichen Ehrungen und Auszeichnungen, dar-
unter die Verleihung der Goethe-Plakette der Stadt Frankfurt/Main und des
Lessing-Preises der Stadt Hamburg, erfolgte 1960 die Ernennung zum Ehren-
bürger der Stadt Frankfurt/Main. Horkheimer bildete zusammen mit Adorno
den inneren Kern der Frankfurter Schule. Am 7. Juli 1973 starb Horkheimer in
Nürnberg.

Einem konkreten Woran aber kann sich eine „Kritische Theorie“ positiv halten, die weder ortho-
Humanismus ver-
doxen Marxismus (vgl. Orthodoxie im Glossar), noch idealistische Metaphysik,
pflichtet
noch unreflektierte arbeitsteilige „bürgerliche“ Wissenschaft betreiben will? Ihr
Orthodoxie universeller Bezugspunkt sind die konkreten, wirklichen Menschen und ihr An-
spruch auf Glück6. Überall dort, wo festgestellt werden kann, dass er nicht einge-
löst ist, besteht Anlass zu einer auf Veränderung abzielenden Kritik. Hier liegt
ihr utopischer7 Maßstab für Gesellschaftskritik.
Menschen dürfen Was das genau bedeutet, zeigt ein Vergleich mit dem klassischen Marxis-
nicht für die Revolu-
mus. Marx war davon ausgegangen, dass die ökonomischen Widersprüche der
tion geopfert werden
kapitalistischen Produktionsweise auch ein revolutionäres Proletariat hervorbrin-
gen würden, dessen historische Mission in der Abschaffung des privaten Eigen-
tums an Produktionsmitteln und damit der ausbeuterischen Herrschaft von Men-
schen über Menschen bestehe. Dieser historischen Mission des Kollektivsubjekts
Proletariat war alles, auch das individuelle Leid der konkreten Menschen unter-
zuordnen. Leid ist als wichtige revolutionäre Triebfeder in der marxistischen
Konzeption durchaus funktionalisierbar. Unter Rückgriff auf Schopenhauer, der
die Menschheitsgeschichte als Leidensgeschichte begriffen hat8, ist bei Hork-
heimer dagegen jeder einzelne Mensch mit seinem Glücksanspruch und dessen
Fehlschlagen im Leiden ein nicht für historische Fernziele funktionalisierbarer
Selbstzweck Selbstzweck. Damit geht es der Kritischen Theorie, anders als dem klassischen
Marxismus, immer auch um Naturbeherrschung in einem zweifachen Sinne – um
Beherrschung der äußeren wie der inneren Natur.
Vom Marxismus Diese wichtige Akzentverschiebung ist sicherlich auch eine Reaktion auf
abweichendes
die politische Praxis kommunistischer Parteien. Insbesondere soll jeder Verklä-
Menschenbild
rung „historischer Opfer“ auf dem Weg zum Endziel der Boden entzogen wer-
den. Mit dem Einbezug der menschlichen Natur in die Fragen des gesellschaftli-
chen Fortschritts wird der Mensch in ganz anderer Weise zum Thema als im

6
Horkheimer spricht vielfach noch allgemeiner von dem nicht eingelösten Anspruch der Kreatur auf
Glück (Horkheimer 1986; 309-452; vgl. Bock 1999; S. 50 FN.
7
Von Utopie kann man immer dann sprechen, wenn die Realisierung eines Postulats nicht aufgezeigt
werden kann. Vgl. Kurt Lenk: Dialektik bei Marx, Soziale Welt H.3/4, S. 279; Jg. 1968
8
Arthur Schopenhauer (1788-1860), deutscher Philosoph, Hauptwerk: Die Welt als Wille und Vorstel-
lung (1819). Er kennt drei Triebfedern menschlicher Handlungen: Egoismus, Bosheit und Mitleid. Nur
letzteres sei auf das Wohl anderer gerichtet und Fundament der Moral. (Hirschberger 1976; Bd.II; 467)
Gesellschaftskritische Theorieansätze 143

klassischen Marxismus. Dort war die Entwicklung der „gesellschaftlichen Sub-


jektivität“, also der jeweilige historische Entwicklungsstand der Menschheit,
direkt abhängig von den Möglichkeiten der Naturbeherrschung, also von der
Entwicklung der „Produktivkräfte der gesellschaftlichen Arbeit“ und der Produk-
tionsweise bestimmt. Die Kritische Theorie macht dagegen das Leid konkreter
Individuen und deren Möglichkeiten der Beherrschung ihrer inneren Natur zum
zentralen Thema. Es wird sich zeigen, dass es nicht in den klassischen marxisti-
schen Rahmen einer Kritik der kapitalistischen Produktionsweise eingebaut wer-
den kann.
Ein weiterer Anker für die Entwicklung einer eigenständigen kritischen Forderung nach
Interdisziplinarität
Theorie ist Horkheimers Forderung nach Interdisziplinarität, also nach einem
Anschluss der Kritischen Theorie an den Forschungsstand insbesondere der
Sozialwissenschaften.

Merkmale von Horkheimers Konzept einer Kritischen Theorie:

ƒ Anknüpfen am Marxismus und an der marxistischen Kritik am Idealismus


ƒ Veränderungen am Marxismus
ƒ Ablehnung der „traditionellen“ Theorie in der Tradition des Positivismus
ƒ Konkreter Humanismus; Menschenbild in Anlehnung an Schopenhauer
ƒ Forderung nach Interdisziplinarität

Übungsaufgabe:

Welche Unterschiede gibt es zwischen Kritischer Theorie und dem klassischen


Marxismus?

Lektürevorschlag:

Max Horkheimer: Traditionelle und kritische Theorie. In: Max Horkheimer 1992: Traditi-
onelle und kritische Theorie. Fünf Aufsätze, Frankfurt/Main: Suhrkamp, S. 205-259.

Soweit die Darstellung der Weichenstellungen, die Horkheimer insbesondere in Gab es vergleichbare
Ansätze ?
seinen Aufsätzen in der Zeitschrift für Sozialforschung bis etwa 1937 vorge-
nommen hat. Abschließend wird noch der Frage nachgegangen, ob bereits diese
Weichenstellungen der Kritischen Theorie ein unverwechselbares eigenes Profil
geben oder ob es in der Zwischenkriegszeit noch vergleichbare gesellschaftskri-
tische Theorieansätze gab. Man kann diese Frage in zwei Etappen beantworten.
Zunächst einmal kann festgestellt werden, dass die Kritische Theorie nicht Vergleichbare Kon-
zepte bei Landshut
der einzige Versuch war, auf Schwächen des Marxismus zu reagieren und ihm und Freyer
neue Akzente zu geben. Konzeptionelle Weiterentwicklungen haben auch
Korsch, Lukacs, Bloch, Benjamin u.a. vorgenommen. Zwischen diesen Autoren
gab es wechselseitige Einflüsse. Wenn man zusätzlich zu den Korrekturen am
144 Ditmar Brock

Marxismus noch zwei weitere Merkmale, nämlich (b) Frontstellung gegen die
„traditionelle Theorie“ und (c) gegen Idealismus/Hermeneutik zur Charakterisie-
rung der Kritischen Theorie benutzt, dann fallen zwei parallele Konzepte auf, die
ebenfalls Ende der 20er Jahre entwickelt wurden: Siegfried Landshuts „Kritik
der Soziologie“ und Hans Freyers „Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft“
(vgl. S. 182ff.).

Die Zielsetzung – Überwindung der bürgerlichen Klassengesellschaft – teilt


die Kritische Theorie insbesondere mit Landshut und Freyer.

Gemeinsames The- „Sowohl Siegfried Landshut als auch Hans Freyer versuchen wie Horkheimer das
ma: Überwindung der dialektische Denken in die Soziologie zurückzuholen. Für beide ist Marx der Mo-
Klassengesellschaft dellfall für eine Erkenntnisabsicht und -haltung, die von einem Idealbild erfüllten
menschlichen Seins aus die gesellschaftliche Wirklichkeit der Gegenwart als zu ver-
ändernde im Hinblick auf dieses Idealbild in den Blick nimmt ... Freiheit und
Gleichheit“ sollen „als Voraussetzung für das Glück der Menschen den Fundamen-
talcharakter der Forschung bestimmen“ (Bock 1999: 49f).

Die Konzepte von Landshut und Freyer zielen ebenso wie Horkheimer auf die
Überwindung der Klassengesellschaft (vgl. Bock 1999: 54).

4.2.3 Kritische Theorie und Psychoanalyse – Studien über Autorität und


Familie

Das im wesentlichen von Horkheimer entwickelte Konzept einer Kritischen


Theorie wurde in den „Studien über Autorität und Familie“ einer ersten Nagel-
probe unterzogen. Das rund 1000 Seiten umfassende von Fromm, Horkheimer,
Mayer, Marcuse u.a. verfasste Werk wurde bereits im Exil 1936 bei Alcan in
Paris in deutscher Sprache veröffentlicht. Es enthält zwei kaum miteinander
verbundene Teile. Der erste Teil umfasst drei „theoretische Entwürfe über Auto-
rität und Familie“. Der zweite Teil besteht aus einem Bericht über eine Arbeiter-
und Angestelltenerhebung des Instituts, die noch von Frankfurt aus 1929 begon-
nen wurde.
Die Arbeiter- und Die Arbeiter- und Angestelltenerhebung setzte sich aus fünf Fragebogener-
Angestelltenerhebung
hebungen zusammen, die in der Veröffentlichung nur dokumentiert und ansatz-
weise „exemplarisch“ ausgewertet wurden. Es handele sich nur um einen „Vor-
bericht“, der sich „ganz auf die Darstellung der Ziele und Methoden“ (231) be-
schränke. „Die Analyse desjenigen Teils des gesammelten Materials, der uns zur
Verfügung steht9, haben wir einer besonderen Veröffentlichung vorbehalten“
(231), die mehrfach angekündigt wurde (Wiggershaus 1988), aber nie erfolgt ist
(vgl. jedoch Bonß 1980).

9
Den Institutsmitarbeitern haben im Pariser Exil offensichtlich nur Teile des Materials zur Verfügung
gestanden. Bei der Arbeiter- und Angestelltenerhebung 700 von 1150 ausgefüllten Fragebögen. Ver-
schickt wurden 3000 (vgl. 239).
Gesellschaftskritische Theorieansätze 145

Folgende Erhebungen wurden durchgeführt:

1. Arbeiter- und Angestelltenerhebung


2. Erhebung über Sexualmoral
3. Sachverständigenerhebung über Autorität und Familie
4. Erhebung bei Jugendlichen über Autorität und Familie
5. Erhebung bei Arbeitslosen über Autorität und Familie.

Wie insbesondere der Fragebogen der Arbeiter- und Angestelltenerhebung zeigt


(vgl. S. 228ff.), sollten nicht einfach „Meinungen“ erhoben, sondern „die reale
Lebenssituation“ (248) erfasst werden. Da der Band aber keine direkte Auswer-
tung enthält, kann über den möglichen Ertrag des empirischen Materials nur
spekuliert werden.
Von den „theoretischen Entwürfen“ des ersten Teils ist nur der von Erich Eine materialistische
Erklärung der Verhal-
Fromm verfasste „sozialpsychologische Teil“ von besonderer Relevanz. Wig-
tensweisen
gershaus hält ihn „für das Beste, was er je schrieb“ (Wiggershaus 1988: 173).
Fromm macht hier mit dem Postulat ernst, dass es der kritischen Theorie um
Fragen der Beherrschung der äußeren wie der inneren Natur gehe. Haltungen und
Verhaltensweisen und damit auch die Frage, unter welchen Bedingungen Arbei-
ter und Angestellte revolutionär werden bzw. warum sie trotz materiellen Elends
gerade nicht revolutionär werden, versucht er materialistisch aus der Lebenspra-
xis der Menschen heraus zu erklären. Fromms Schlüsselbegriff ist der „sado-
masochistische bzw. autoritäre Charakter“, den er in Zusammenhang bringt mit
„autoritären Gesellschaftsformen“ (Wiggershaus 1988: 174).
Ich erläutere zunächst einige zentrale psychoanalytische Begriffe und stelle
dann die von Fromm entwickelte Erklärung vor.
Bei Fromm spielen die Begriffe Ich, Es, Über-Ich sowie Charakter eine Die Begriffe Ich, Es
und Über-Ich
zentrale Rolle. Er übernimmt sie von Sigmund Freud (1856-1939), dem Begrün-
der der Psychoanalyse. „Das Es bildet den Triebpol der Persönlichkeit; seine
Inhalte, psychischer Ausdruck der Triebe, sind unbewusst, einesteils erblich und
angeboren, andernteils verdrängt und erworben ... Das Es (ist) für Freud das
Hauptreservoir der psychischen Energie“ (Laplanche/ Pontalis 1973: 147). Die
Rolle des Über-Ich „ist vergleichbar mit der eines Richters oder Zensors des
Ichs. Freud sieht im Gewissen, der Selbstbeobachtung, der Idealbildung Funkti-
onen des Über-Ichs ... es bildet sich durch Verinnerlichung der elterlichen Forde-
rungen und Verbote“ (Laplanche/Pontalis 1973: 540). Das Ich bezeichnet die
menschliche Persönlichkeit. Am „Ich hängt das Bewusstsein, es beherrscht die
Zugänge zur Motilität10, das ist: Abfuhr der Erregungen in der Außenwelt; es ist
diejenige seelische Instanz, welche die Kontrolle über alle Partialvorgänge, wel-
che zur Nachtzeit schlafen geht und dann immer noch die Traumzensur hand-
habt. Von diesem Ich gehen auch die Verdrängungen aus, durch welche gewisse
seelische Strebungen nicht nur vom Bewusstsein, sondern auch von anderen
Arten der Geltung und Betätigung ausgeschlossen werden sollen“ (Freud 1925:
359).

10
Motilität (lat) = Beweglichkeit
146 Ditmar Brock

Der Begriff Charakter Mit „Charakter“ wird eine verfestigte Organisationsform der menschlichen
Persönlichkeit (also des Ich) bezeichnet. Seine Grundlage ist die Anpassung der
Triebstruktur an bestimmte gesellschaftliche Bedingungen: Durch Sublimierung
und Reaktionsbildungen verfestigen sich die Triebimpulse zu Charakterzügen
des Ich (vgl. Fromm 1936: 113). Die im Charakter fixierte „Vermittlung“ zwi-
schen dem Es (der Triebstruktur) und dem Über-Ich, also „dem gesellschaftlich
erforderlichen Verhalten“ (Fromm 1936: 114) verbindet die menschliche Hand-
lungsenergie mit der in der Gesellschaft erreichbaren Bedürfnisbefriedigung.
Zwar ist eine Beschränkung der vom Es ausgehenden Impulse und Wünsche
durch die Gesellschaft unvermeidlich. Bei der Art und Weise, wie diese Be-
schränkungen im Ich erfolgen und im Charakter verfestigt werden, kann man
allerdings qualitative Unterschiede in der Reaktionsbildung feststellen. Sie wer-
den unter dem Gesichtspunkt eines rationalen bzw. irrationalen Umgangs mit
den Anforderungen der Gesellschaft festgestellt.
Ein rationales und ein Fromm (ebd.: 96ff.) unterscheidet ein rationales Modell des bewussten Ver-
irrationales Modell
zichts auf Wünsche aus Angst vor Strafe von einem nicht-rationalen Modell, bei
des Umgangs mit den
Trieben dem die Angst vor Strafe zur Verdrängung der Wünsche aus dem Bewusstsein
führt. „Diese ... Triebabwehr ist sehr radikal. Der abzuwehrende Wunsch ... wird
verdrängt... es bedarf des beständigen Aufwands von“ (vom Ich nicht kontrol-
lierbaren) „psychischen Energien, um sie am Auftauchen im Bewusstsein zu
verhindern“ (95). Beim rationalen Modell ergibt sich die Befriedigung aus dem
rationalen Umgang mit den gesellschaftlichen Anforderungen, bei der Verdrän-
gung muss dagegen die Befriedigung aus der irrationalen Triebabwehr gezogen
werden.
Das irrationale Verdrängung kennzeichnet auch den „autoritär-masochistischen Charak-
Modell des autoritär-
ter“ (110). Befriedigung wird hierbei durch die Unterwerfung unter herrschende
masochistischen
Charakters Autoritäten gezogen: Gehorchen, die Unterwerfung unter die Mächtigen, ver-
schafft Lustgewinn.

„Entscheidend bleibt für den autoritären Charakter, dass Situationen, wo er gehor-


chen kann, für ihn befriedigend sind, dass er sie, wo er sie in der Realität findet,
nicht zu ändern, sondern zu verfestigen sucht“ (114).

Schon ältere literarische Figuren wie der am Vorabend des ersten Weltkriegs
entstandene „Untertan“ von Heinrich Mann zeigen, dass Masochismus und Sa-
dismus einen charakteristischen Zusammenhang bilden.

„Die masochistischen Strömungen zielen darauf ab, ... in der Hingabe (an die Auto-
rität und ihre Repräsentanten), die in pathologischen Fällen bis zum Erleiden körper-
licher Schmerzen geht, Lust und Befriedigung zu finden. Die sadistischen Strebun-
gen haben das umgekehrte Ziel, einen anderen zum willen- und wehrlosen Instru-
ment des eigenen Willens zu machen, ihn absolut und uneingeschränkt zu beherr-
schen und in den extremen Fällen ihn zum Leiden und damit verbundenen Gefühls-
äußerungen zu zwingen“ (115). „Ebenso wie Macht in ihm Furcht und, wenn auch
ambivalente, Liebe erweckt, erweckt Hilflosigkeit in ihm Verachtung und Hass ...
Muss man den Hass gegen den Stärkeren verdrängen, so kann man doch die Grau-
samkeit gegen den Schwächeren genießen“ (116f).
Gesellschaftskritische Theorieansätze 147

Für Fromm ist der „autoritär-masochistische Charakter“ ein Tatbestand, der Begünstigt durch:
totalitären Staat und
unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen systematisch entsteht. Welche
Faschismus, Religion
Bedingungen sind das? Der entscheidende Punkt scheint zu sein, dass eine un- und strenge Sexual-
überbrückbare Kluft zwischen den Mächtigen bzw. anonymen Mächten (wie moral
Schicksal, Vorsehung) und der eigenen Person angenommen wird. Insofern ist
„die Hilflosigkeit des Menschen ... das Grundthema dieser masochistischen Phi-
losophie“ (120). Hierbei „gehört es zum Wesen des Führers, dass er zum Führer
geboren ist und dass er über solche herrscht, die von Natur aus zum Folgen be-
stimmt sind“ (124).

„Die ... Überschätzung der Autorität gewinnt so die wichtige Funktion, das Unterle-
genheitsverhältnis ... zu vertiefen, zu verewigen und zu verklären“ (127f).

Dieses tiefe Gefühl der Schwäche und Unterlegenheit bringt Fromm (allerdings
nicht sehr systematisch) mit den Realitäten der Gegenwart, mit verschärfter sozi-
aler Ungleichheit zwischen den Klassen und vor allem mit dem Übergang vom
bürgerlichen Staat des 19. Jhs. zum totalitären Staat im Faschismus in Zusam-
menhang. Weiterhin komme

„der Religion und der strengen Sexualmoral ... die Hauptrolle bei der Erzeugung der
für das Autoritätsverhältnis so wichtigen Schuldgefühle“ zu (130).

Der Familie schließlich weist Fromm eine Schlüsselrolle bei der Reproduktion Rolle der patriarcha-
lischen Familie
dieses Charaktertyps zu. Die patriarchalische Familienstruktur gebe Vätern,
deren „gesellschaftliche Situation bar der Möglichkeit, selbst zu herrschen und
zu befehlen“ (90) sei, die Möglichkeit ihre gesellschaftliche Machtlosigkeit zu
kompensieren. In der Familie könne er den sadistischen Teil seines Charakters
gegenüber Frau und Kindern ausleben. Damit wird die objektiv bestehende
Abhängigkeit des Sohnes vom erziehenden Vater (von Töchtern und Müttern ist
bei Fromm nie die Rede!) nicht zu Erziehungspraktiken genützt, die die Persön-
lichkeitsentwicklung fördern (ein starkes und rationales Ich) und auf die zukünf-
tige gesellschaftliche Rolle des Kindes vorbereiten. Vielmehr prägen die sadisti-
schen Bedürfnisse des Vaters den Erziehungsstil. Da das Kind bei derartigen
Erziehungspraktiken nicht zwischen der Autorität des Vaters, dessen psychi-
schen Bedürfnissen und sachlich begründeten Verboten unterscheiden könne,
vermag es seinerseits nur mit Triebabwehr und einer autoritären Charakterstruk-
tur reagieren11. Fazit:

„Es ist ... die soziale Hilflosigkeit des Erwachsenen, die der biologischen Hilflosig-
keit des Kindes ihren Stempel aufdrückt ...“ (100).

Damit kann erklärt werden, warum trotz einer zugespitzten Wirtschaftskrise mit Erklärung der ausge-
bliebenen Revolution
sechs Millionen Arbeitslosen in Deutschland Anfang der dreißiger Jahre des 20.
und des Vormarsches
Jhs., welche die marxistische Kriterien einer revolutionären Situation erfüllte, die des Faschismus

11
Nach einem Bonmot meines Vaters: „Vater schlägt Mutter, Mutter schlägt mich und ich geh in den
Stall und verdresch das Ferkel“.
148 Ditmar Brock

proletarische Revolution dennoch nicht nur ausgeblieben war, sondern eine fa-
schistische Diktatur auf beinahe demokratischem Wege an die Schalthebel der
politischen Macht gespült hat. Während Marx erwartete, dass eine proletarische
Masse, die nichts mehr zu verlieren hatte als ihre Ketten, über kurz oder lang
revolutionär werden müsse, konnte Fromm durch Rückgriff auf die Psychoana-
lyse zeigen, dass sich auch diese materiell desolate Situation psychologisch sta-
bilisieren und politisch instrumentalisieren lässt.
Sozialpsychologische Welche Folgerungen ergaben sich aus Fromms Thesen für das Programm
Voraussetzungen für
einer revolutionären Veränderung der Gesellschaft? Sie legten eine konträre
eine revolutionäre
Veränderung der Perspektive zur marxistischen Hoffnung auf eine Verschärfung der gesellschaft-
Gesellschaft lichen Widersprüche nahe. Nicht ohnmächtige Menschen können ihre „objekti-
ven Interessen“ rational verfolgen, sondern eher „Ich-starke“ Charaktere, die
schon als Kinder einen rationalen, verdrängungsarmen Umgang mit gesellschaft-
lichen Anforderungen erlernt haben. Man könnte nun fragen, ob das nicht auch
erklären würde, warum die Gewerkschaften und z.T. auch linke Parteien nicht
von besonders unterprivilegierten Arbeitern geführt werden, sondern typischer-
weise von einer Elite qualifizierter und relativ gut verdienender Arbeiter aus
Berufssparten wie z.B. den Schriftsetzern (vgl. Brock 1991). Fromm dagegen
sucht seine positiven Beispiele im Bürgertum und der bürgerlichen Demokratie
des 19. Jhs.! Diese gedankliche Distanz gegenüber der Arbeiterklasse findet sich
aber auch bei anderen Vertretern der Frankfurter Schule.
Psychisches Elend Welche Konsequenzen ergaben sich aus dieser Verbindung von Marxismus
blockiert die Suche
und Psychoanalyse für das von Horkheimer formulierte utopische Ziel, die sozia-
nach einer besseren
Gesellschaft le Realität an dem Anspruch aller Menschen auf Glück, zumindest aber auf
Verminderung menschlichen Leids zu messen? Das Ergebnis war zunächst, dass
Freudomarxismus sich dieser scheinbar einfache Maßstab verkompliziert hatte. Es war deutlich
sichtbar geworden, dass die Menschen nur unter günstigen Sozialisationsbedin-
gungen ein Interesse an der Verminderung von Leid entwickeln können. Unter
ungünstigen Bedingungen, so muss man aus Fromms Analyse folgern, ziehen
Menschen dagegen psychischen Nutzen aus dem Leiden Anderer und der eige-
nen bedingungslosen Unterwerfung unter Abhängigkeitsverhältnisse, die ein
selbstständiges Verfolgen von Glücksansprüchen ausschließen. Die marxistische
Kritik an den gesellschaftlichen Ausbeutungsverhältnissen und an der Entfrem-
dung des Menschen von seinen Verwirklichungsbedingungen wird damit ergänzt
durch eine „freudomarxistische“ (siehe Glossar) Kritik an dem psychischen
Elend der Menschen. Anders als das materielle Elend zementiert es gesellschaft-
liche Fehlentwicklungen und entgleitet der Kontrolle durch das menschliche
Bewusstsein.

Übungsaufgabe:

Wie begründet es Fromm, dass die Wirtschaftskrise in Deutschland nicht zur


„proletarischen Revolution“, sondern zu einem Aufstieg des Nationalsozialismus
und anderer „rechter“ Parteien geführt hat?
Gesellschaftskritische Theorieansätze 149

Übungsaufgabe:

Woraus zieht ein autoritär-masochstischer Charakter Befriedung? Wie kann man


das erklären?

Lektürevorschlag:

Lesen Sie den „Sozialspychologischen Teil“ in Erich Fromm u.a. 1987, Studien über
Autorität und Familie, Lüneburg: Zu Klampen, S. 77-135 [1936].

4.2.4 Die verfehlte Naturbeherrschung – die „Dialektik der Aufklärung“

In der Literatur wird darauf hingewiesen, dass man die „Dialektik der Aufklä- Wie soll das
Programm der
rung“ und weitere zentrale Schriften, die während des 2. Weltkriegs entstanden
Aufklärung noch
sind, als Reaktion auf das Überhandnehmen des Grauens und des kulturellen eingelöst werden?
Verfalls verstehen könne, das sich vor allem im Totalitarismus und im Holocaust
manifestiert habe. Man sollte aber auch nicht vergessen, dass die Studien zu
Autorität und Familie und weitere Aufsätze aus den 30er Jahren gezeigt hatten,
dass das Problem menschlichen Leidens in und an der Gesellschaft komplizierter
war als zunächst angenommen und damit auch immer unklarer wurde, wie die
Intentionen der Aufklärung überhaupt realisiert werden könnten.
Das Hauptwerk der älteren Frankfurter Schule, die „Dialektik der Aufklä- Erklärung der ausge-
bliebenen Zivilisation
rung“, wurde von Horkheimer und Adorno gemeinsam verfasst12. Es sollte die-
sen von der politischen Situation wie der Lage der Theorie her gleichermaßen
aktualisierten gordischen Knoten lösen. Es markiert definitiv, wie Wiggershaus
zutreffend urteilt, den Übergang „von der Theorie der ausgebliebenen Revoluti-
on auf die Theorie der ausgebliebenen Zivilisation“ (Wiggershaus 1988: 347;
Hervorh. D.B.).
Thema des Buches ist eine Revision der Geschichte der Aufklärung. Nach Die Geschichte der
Aufklärung wird
klassischer Vorstellung verbessert die systematische Anwendung des menschli-
revidiert
chen Verstands die Möglichkeiten der Naturbeherrschung und umgekehrt, so
dass immer rationaleres Denken gleichermaßen die Möglichkeiten menschlicher
Selbstbestimmung erhöht wie die menschlichen Lebensbedingungen durch im-
mer bessere Naturbeherrschung verbessert (vgl. z.B. Versionen des Drei-Stadien-
Gesetzes, Bd.1, S. 22f.). Marx hatte in dieses aufklärerische Fortschrittsszenario
bereits die Herrschafts- und Eigentumsverhältnisse als verzögerndes und entstel-
lendes Element eingefügt und die Einlösung der Versprechen der Aufklärung
von einer erfolgreichen Revolution abhängig gemacht. Aber reichte das wirklich
aus, um zu verstehen, „warum die Menschheit, anstatt in einen wahrhaft
menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt“
(Horkheimer/ Adorno 1988: 1)? Das sollte in der „Dialektik der Aufklärung“

12
Wieso es zu dieser Zusammenarbeit kam und wieso damit der Arbeitszusammenhang zu den ande-
ren Mitgliedern des Kreises endgültig aufgelöst wurde, kann man bei Wiggershaus 1988 (insbesondere
327ff.) nachlesen.
150 Ditmar Brock

aufgeklärt werden. Wie die weitere Vorrede deutlich macht, halten Horkheimer
und Adorno dazu eine wirkliche Neubewertung der Fortschrittsgeschichte für
erforderlich, wie sie auch Walter Benjamin für unabweisbar hielt: „Das Staunen
darüber, dass die Dinge, die wir erleben, im zwanzigsten Jahrhundert ‘noch’
möglich sind, ist kein philosophisches. Es steht nicht am Anfang einer Erkennt-
nis, es sei denn der, dass die Vorstellung von Geschichte, aus der es stammt,
nicht zu halten ist“ (Benjamin, zit. nach Wiggershaus 1988: 365f).
Die Dialektik der Eine derartige Revision der Aufklärungsgeschichte wird möglich, wenn
Aufklärungsgeschich-
man die Dialektik der Aufklärung reflektiert. Das bedeutet für die Autoren, dass
te muss reflektiert
werden die positiven Aspekte mit den negativen in Beziehung gesetzt werden müssen,
um so die Aufklärung noch retten zu können.

„Wir hegen keinen Zweifel ..., dass die Freiheit in der Gesellschaft vom aufklärenden
Denken unabtrennbar ist. Jedoch glauben wir, genauso deutlich erkannt zu haben,
dass der Begriff eben dieses Denkens, nicht weniger als die konkreten historischen
Formen, ... schon den Keim zu jenem Rückschritt enthalten, der heute sich überall er-
eignet. Nimmt Aufklärung die Reflexion auf eben dieses rückläufige Moment nicht
auf, so besiegelt sie ihr eigenes Schicksal“ (Horkheimer/Adorno 1988: 3).

Zusammenhänge Nicht die Analyse psychischer Prozesse, sondern die von den Philosophen des
zwischen Angst und
Deutschen Idealismus entwickelte und von Marx auf die Analyse gesellschaftli-
Erkenntnis
cher Prozesse angewandte Methode der Dialektik soll die aktuellen zivilisatori-
schen Katastrophen verstehen helfen. Nach Marxschem Vorbild soll es dabei
aber nicht um Ideengeschichte, sondern um reale Prozesse gehen. Aufklärung
muss also als Erkenntnisprozess aufgefasst und sowohl auf fortschrittliche wie
auf rückschrittliche Momente hin untersucht werden. Die Autoren formulieren
das so: Sie wollen zeigen

„dass die Ursache des Rückfalls von Aufklärung in Mythologie nicht so sehr bei den
eigens zum Zweck des Rückfalls ersonnenen nationalistischen, heidnischen und
sonstigen modernen Mythologien zu suchen ist, sondern bei der in der Furcht vor
Mythos
der Wahrheit erstarrenden Aufklärung selbst. Beide Begriffe (Aufklärung und My-
thologie) sind nicht bloß als geistesgeschichtliche sondern real zu verstehen“ (Hork-
heimer/Adorno 1988: 3f; Klammer D.B.). (siehe Stichwort Mythos im Glossar)

Die Brücke von „Autorität und Familie“ zur „Dialektik der Aufklärung“ schlägt
dabei die Denkfigur der den Verstand und das menschliche Bewusstsein lähmen-
den Angst. In „Autorität und Familie“ betraf sie konkrete Personen unter ungüns-
tigen sozialen Verhältnissen, in der „Dialektik der Aufklärung“ soll sie als ein
Grundmerkmal jeglicher menschlicher Erkenntnis verallgemeinert werden.
Gliederung Wie erklären die Autoren „jenen sich überall ereignenden Rückschritt“ als
Folge aufgeklärter Welterkenntnis? Sie gehen so vor, dass sie im Anschluss an
die Vorrede, die das Thema umreißt, ein Kapitel über den „Begriff der Aufklä-
rung“ stellen, das die Erklärung präsentiert. Daran schließen dann zwei Exkurse
sowie zwei weitere Kapitel zu Kulturindustrie und Antisemitismus an, die diese
Erklärung illustrieren bzw. für Sachthemen fruchtbar machen sollen. Den letzten
Teil bilden „philosophische Fragmente“, kurze zettelkastenartige Essays zu ganz
unterschiedlichen Themen. Gehen wir der Reihe nach vor.
Gesellschaftskritische Theorieansätze 151

Die radikale Neubewertung der Geschichte der Aufklärung wird im ersten Erkenntnis auf Zweck
der Naturbeherr-
Kapitel präsentiert. Im Zentrum der Aufklärung steht die Entwicklung von Wis-
schung zugeschnitten
sen, das zur Beherrschung (der Natur, anderer Menschen, des eigenen Selbst ...)
eingesetzt werden kann: „Was die Menschen von der Natur lernen wollen, ist, sie
anzuwenden, um sie und die Menschen vollends zu beherrschen ... Nur solches
Denken ist hart genug, die Mythen zu zerbrechen, das sich selbst Gewalt antut ...
Nicht auf jene Befriedigung, die den Menschen Wahrheit heiße, sondern auf
„Operation“, das wirksame Verfahren komme es an ... „Im Wirken und Arbeiten
und der Entdeckung vorher unbekannter Einzelheiten zur besseren Ausstattung
und Hilfe im Leben“ liege „das wahre Ziel der Wissenschaft … Es soll kein Ge-
heimnis geben, aber auch nicht den Wunsch seiner Offenbarung.“ (10f) So be-
schreiben die Autoren unter Rückgriff auf Bacon die Ziele der modernen Wis-
senschaft. Sie stellt aber nur den Höhepunkt einer immer identisch bleibenden
Tendenz der Entwicklung und Anhäufung von auf den bloßen Zweck der Natur-
beherrschung zugeschnittenem Wissen dar, ist also für die gesamte Geschichte
der Aufklärung aussagekräftig.
In dem Zitat klingt bereits an, worum es bei der Neubewertung der Wis- Operatives Wissen
impliziert Wissens-
sensentwicklung gehen soll. Der bislang nicht erkannte Preis des Wissensfort-
verzicht
schritts ist Wissensverzicht. Die Menschheit hat diesen Preis bezahlt, weil sie
nicht am Wissen selbst, sondern nur an seiner Nutzung zur Beherrschung der
äußeren und inneren Natur, also an operativ tauglichem Wissen, interessiert ist.
Wie begründen die Autoren diese Dialektik in der Wissensentwicklung?
Wichtig ist zunächst, dass man erkennt, dass das Problem nicht im direkten An-
wendungsbezug, sondern in dessen Verallgemeinerung steckt. Der instrumentel-
le Anwendungsbezug des Wissens wird in dem, was Menschen überhaupt für
wissbar halten, verallgemeinert. Es wird also operatives Wissen mit Wissen
überhaupt gleichgesetzt. Auf diese Weise werden andere Varianten von „Wis-
sen“ zunehmend ausgeschlossen.

„Auf dem Weg zur neuzeitlichen Wissenschaft leisten die Menschen auf Sinn Ver-
zicht. Sie ersetzen den Begriff durch die Formel, Ursache durch Regel und Wahr-
scheinlichkeit ... Von nun an soll die Materie endlich ohne Illusion waltender oder
innewohnender Kräfte, verborgener Eigenschaften beherrscht werden. Was dem
Maß von Berechenbarkeit und Nützlichkeit sich nicht fügen will, gilt der Aufklärung
für verdächtig ... Beharrt wird auf der Zerstörung von Göttern und Qualitäten“
(11ff).

Um die durch die moderne Wissenschaft und die Zuspitzung auf operatives Wis- Gegenbegriff Mythen
sen zunehmend ausgeschlossenen Formen von „Sinn“ oder „Wissen“ genauer
umreißen zu können, verwenden die Autoren den Gegenbegriff Mythen bzw.
Mythologie. Mythen sind eine für archaische Gesellschaften wie auch teilweise
noch für heute existierende Stammesgesellschaften charakteristische Form der
Weltauslegung und Lebensdeutung. Sie erfolgt durch die mündliche Weitergabe
von Erzählungen über legendäre Begebenheiten aus der Vorzeit. Mythen arbeiten
mit Bildern, Symbolen, Metaphern, Legenden und fabulierenden Darstellungen.
Mythen gehen die Merkmale systematischer Erklärung und instrumenteller An-
wendbarkeit ab.
152 Ditmar Brock

Mehrdeutigkeit des Von der klassischen Aufklärung wurden auf überlieferten Mythen basieren-
Mythos
de Gesellschaften als eine vorrationale und insofern auch unterlegene Kulturstufe
angesehen. Das ist aber ein durch das moderne/herrschende Wissensverständnis
verengter Blick, der z.B. ausblendet, dass Mythen noch bei Platon als Aus-
drucksform des Unsagbaren galten. Mit diesen unterschiedlichen Bedeutungsva-
rianten des Begriffs Mythos, die für den heutigen Leser vielfach verwirrend sind,
also der Dialektik des Begriffs, arbeiten die Autoren systematisch.

Zentrale Thesen des „Der Mythos geht in die Aufklärung über und die Natur in bloße Objektivität. Die
1. Kapitels Menschen bezahlen die Vermehrung ihrer Macht mit der Entfremdung von dem,
worüber sie Macht ausüben. Die Aufklärung verhält sich zu den Dingen wie der
Diktator zu den Menschen. Er kennt sie, insofern er sie manipulieren kann“ (Hork-
heimer/Adorno 1988: 15).

Dieses Zitat enthält in komprimierter Form die zentralen Thesen des ersten Kapi-
tels.

(a) Aus mythischen Erzählungen wird modernes Wissen mit den bereits darge-
stellten Eigenschaften wie Konzentration auf Wahrscheinlichkeitsregeln.

(b) In diesem Veränderungsprozess kommt es zu einer radikalen Trennung zwi-


schen den Erkennenden als Subjekt und ihrem Gegenstand, der Natur, als Ob-
jekt. Während z.B. der Schamane in magischen Ritualen sich den Dämonen, die
er beeinflussen will, ähnlich macht (15f), muss die moderne Wissenschaft einen
Objektbereich isolieren und jede Beziehung zwischen Forscher und Gegenstand-
bereich unterbrechen, um objektive, d.h. wiederholbare, Forschungsergebnisse
erzielen zu können. Diese Trennung verändert die Beziehung zwischen Erken-
nendem und Erkenntnisgegenstand. Im Mythos und in der Magie wird diese
Beziehung dagegen noch als Verwandtschaft verstanden. Die Zwecke des Ma-
giers oder Zauberers werden auf dem Wege der Mimesis verfolgt, also durch
wiederholte Nachahmung z.B. von Geistern und Dämonen in Traum bzw. bildli-
cher Darstellung. In der modernen Wissenschaft muss dagegen zwischen Gedan-
ken (Beobachtungssprache) und Gegenstand strikt getrennt werden.
(c) Das moderne Wissen führt zu einem kontinuierlichen Zuwachs manipulativer
Möglichkeiten. Insoweit die Machart bzw. Funktionsweise eines Erkenntnisob-
jekts erforscht ist, kann dieses Wissen z.B. zur Herstellung synthetischer Stoffe
oder zur Regulierung von Wachstumsprozessen benutzt werden. Dieser Gewinn
an manipulativen Möglichkeiten wird aber erkauft durch Desinteresse und Er-
kenntnisverzicht an nicht manipulierbaren Aspekten des Erkenntnisobjekts. In-
struktive Beispiele für diese These sind z.B. Laborexperimente oder Tierversu-
che, die auch in der Summe selektiv sind und z.T. von einem „echten“ Unver-
ständnis für die Problematik dieser Formen der Wissensgewinnung begleitet
werden. In den Sozialwissenschaften gelten z.B. black box Konzepte (vgl. das
Problem doppelter Kontingenz, S. 363ff.), die explizit ausblenden, was im Inne-
ren eines Menschen vorgeht, als „besonders elegant“ und von der Anlage her als
wissenschaftlich überlegen.
Gesellschaftskritische Theorieansätze 153

(d) Die wichtigste, schwierigste (und zugleich auch problematischste) These


behauptet, dass die Menschen für ihre Manipulationsmacht „bezahlen“. Das ist
im vollen mythisch-religiösen Wortsinn einer schicksalhaften Vergeltung, eines
sich selbst Richtens selbstgerechter Richter gemeint. Unter diesem Gesichts-
punkt kann sich die Aufklärung gerade nicht vom Mythos verabschieden, son-
dern „verstrickt mit jedem ihrer Schritte tiefer sich in Mythologie ... In den My-
then muss alles Geschehen Buße dafür tun, dass es geschah. Dabei bleibt es in
der Aufklärung“ (18). Damit ist folgendes gemeint. Da die moderne Wissen-
schaft auf Wahrscheinlichkeitsregeln aufbaue, zerstöre sie in ihrem Beharren auf
Regeln und diesen folgenden Prozessen alles Verständnis für die Besonderheit
der einzelnen Kreatur. In der Praxis führe das zu „realer Konformität“, zum
Abschneiden des „Inkommensurablen“ (19). Die Menschen, die sich als Gebie-
ter über die Natur an die Stelle ihrer Götter gesetzt hätten (15) zerstörten damit
ihre eigene im je Besonderen liegende Subjekthaftigkeit und gerieten damit „nur
umso tiefer in den Naturzwang hinein“ (19).

Diese „Theorie der ausgebliebenen Zivilisation“ (Wiggershaus) lässt ein Fünk-


chen Hoffnung, mit der das erste Kapitel über den Begriff der Aufklärung
schließt. Es besteht in der Natur des Denkens. Es „reflektiert eben vermöge sei-
ner unaufhaltsamen Konsequenz auch sich selber als ihrer selbst vergessene
Natur, als Zwangsmechanismus“ (45f).

Zentrale Thesen der „DdA“:

1. Fortschritt hat sich in Form der Zunahme operativen und für manipulative
Zwecke nutzbaren Wissens ereignet.
2. Damit geht die Trennung zwischen erkennendem Subjekt und dem Er-
kenntnisobjekt einher. Auf diese Weise wird die Verwandtschaft zwischen
Mensch und Natur einschließlich daran gekoppelter Erkenntniswege (ins-
besondere die Mimesis) gekappt.
3. Alles, was sich diesem Schema der Wissensproduktion nicht fügt, wird
eliminiert, begründet einen ebenfalls wachsenden Bereich des Nichtwis-
sens.
4. Die Menschen müssen für ihre Manipulationsmacht „bezahlen“, indem sie
selbst ihrem Herrschaftswissen unterworfen werden.

Übungsaufgabe:

Versuchen Sie, für diese Thesen ein eigenes Beispiel zu finden!

Diese Neubewertung der Geschichte der Aufklärung wird zunächst im zweiten Die Odyssee als
Beispiel
und dritten Kapitel in Form zweier aufklärungsgeschichtlicher Exkurse illust-
riert. Im zweiten Kapitel wird die Odyssee, Homers mythische Erzählung aus
dem antiken Griechenland, benutzt, um den Preis der Aufklärung in einer frühen
Phase der Menschheitsentwicklung zu verdeutlichen. Der „listenreiche“ Odys-
154 Ditmar Brock

seus überlebt nur, weil er auf bestimmte Erfahrungen und Möglichkeiten ver-
zichtet. Seine vielgerühmte Klugheit besteht im genau kalkulierten Verzicht. Er
kann die mythischen Mächte nämlich immer nur um den Preis des Verzichts und
der Entsagung überlisten. Beispielsweise kann er den verlockenden Gesang der
Sirenen nur deswegen ohne Schaden anhören, weil er sich rechtzeitig am Mast
seines Schiffes festbindet und der rudernden Mannschaft die Ohren verstopft.
Exkurs zu Kant, Sade Das dritte Kapitel behandelt in einem Exkurs zu Kant, de Sade und Nietz-
und Nietzsche
sche das Verhältnis von Aufklärung und Moral. Diese drei Autoren werden aus-
gewählt, weil sie auf je eigene Weise die Widersprüche eines entfalteten Ver-
nunftbegriffs reflektieren. Bei Kant kollidiert die auf Naturbeherrschung und
Selbsterhaltung ausgerichtete Vernunft noch mit der „Idee eines freien Zusam-
menlebens der Menschen“ (90), Nietzsche und de Sade ziehen dagegen die radi-
kalen Konsequenzen des instrumentellen Vernunftbegriffs. Da das Gegenteil
durch die eigene Vernunft bestimmter Selbsterhaltung Unmündigkeit ist im Sin-
ne von Unvermögen, sich selbst zu erhalten (ebd.), muss alles Schwache wie
Frauen und Juden verachtet, beherrscht und ausgemerzt werden (120). Aufklä-
rung wird von Nietzsche und de Sade als Herrschaftswissen durchschaut, das
auch den kalkulierten Mord nicht ausschließen kann.

„Die Unmöglichkeit, aus der Vernunft ein grundsätzliches Argument gegen den
Mord vorzubringen, nicht vertuscht, sondern in alle Welt geschrieen zu haben, hat
den Hass entzündet, mit dem gerade die Progressiven Sade und Nietzsche heute
noch verfolgen. Anders als der logische Positivismus nahmen beide die Wissen-
schaft beim Wort“ (127).

Die Kulturindustrie Im vierten und fünften Kapitel werden mit der „Kulturindustrie“ und dem „Anti-
betrügt die Menschen
semitismus“ aktuelle Gegenwartsthemen behandelt. Die sich in den damals noch
um den Kunstgenuss
relativ neuen Medien wie Radio und Film manifestierende „Kulturindustrie“
mache den breiten Massen zwar Kultur zugänglich, aber auf eine Art und Weise,
die sie um den Kunstgenuss betrüge.

„Der Nutzen nämlich, den die Menschen ... vom Kunstwerk sich versprechen, ist
weithin selber eben das Dasein des Nutzlosen, das doch durch die völlige Subsumti-
on unter den Nutzen abgeschafft wird. Indem das Kunstwerk ganz dem Bedürfnis
sich angleicht, betrügt es die Menschen vorweg eben um die Befreiung vom Prinzip
der Nützlichkeit, die es leisten soll“ (167).

Mit anderen Worten: die Menschen wollen im Kino oder vor dem Radio von den
Zwängen und Nöten des Daseins abgelenkt werden, sie möchten sich amüsieren,
lachen, auf andere Gedanken kommen. Dieses Bedürfnis wird aber von einer
Industrie bedient, die daran verdienen möchte und deswegen dieses Bedürfnis
ganz kalkuliert bedient. Daher bleiben die Menschen denselben Mechanismen
unterworfen, denen sie entfliehen möchten.
Der Antisemitismus – In dem abschließenden Kapitel über den Antisemitismus arbeiten Horkhei-
Ritual einer fehl-
geschlagenen
mer und Adorno die Geschichte der Judenverfolgung und des Antisemitismus als
Zivilisation die Geschichte einer fehlgeschlagenen Zivilisationsentwicklung auf:
Gesellschaftskritische Theorieansätze 155

„Die Juden sind heute die Gruppe, die praktisch und theoretisch den Vernichtungs-
willen auf sich zieht, den die falsche gesellschaftliche Ordnung aus sich heraus pro-
duziert ... Der Antisemitismus ist ein eingeschliffenes Schema, ja ein Ritual der Zi-
vilisation, und die Pogrome sind die wahren Ritualmorde. In ihnen wird die Ohn-
macht dessen demonstriert, was ihnen Einhalt gebieten könnte, der Besinnung, des
Bedeutens, schließlich der Wahrheit. Im läppischen Zeitvertreib des Totschlags wird
das sture Leben bestätigt, in das man sich schickt“ (177ff).

Die in diesem Zitat benutzte Argumentationsfigur erinnert an Fromms Analyse In den Elementen des
Antisemitismus outen
des autoritär – masochistischen Charakters, der seine Ohnmacht und sein eigenes
sich die Elemente
Leiden in sadistische Aggression gegen Schwächere und Abhängige umsetzt. einer gescheiterten
Nur wird hier keine Charakteranalyse sondern Zivilisationsanalyse betrieben. westlichen Zivili-
Alle „Elemente des Antisemitismus“ werden als Elemente einer gescheiterten sation
Zivilisationsentwicklung betrachtet, die der Antisemitismus gewissermaßen seis-
mographisch ortet: neben dem Faschismus sind das die bürgerliche Gesellschaft
und das Christentum (185ff). Zugleich macht der Antisemitismus aber auch
zivilisatorische Verdrängungsprozesse sichtbar – die durch den Siegeszug der
auf operative Naturbeherrschung ausgerichteten modernen Wissenschaft ver-
drängten mimetischen (= auf Nachahmung ausgerichteten) Energien werden auf
die Juden als Gegenstand gelenkt: „Kein Antisemit, dem es nicht im Blute läge,
nachzuahmen, was ihm Jude heißt. Das sind selbst mimetische Chiffren: die
argumentierende Handbewegung, der singende Tonfall ... die Nase ...“ (193).
Es bleibt die Frage, welche Art von Erkenntnisprozessen nach Auffassung Maßstab für eine
gelingende Zivilisa-
der Autoren zu einer gelungenen Zivilisationsentwicklung führt. Das ist zugleich
tionsentwicklung
die Frage nach dem Maßstab der Zivilisationskritik. Er wird nur an einer Stelle
in dem letzten Kapitel über Antisemitismus skizziert. Der Grundgedanke ist
folgender: „Das Subjekt schafft die Welt außer ihm noch einmal aus den Spuren,
die sie in seinen Sinnen zurücklässt: die Einheit des Dinges in seinen mannigfal-
tigen Eigenschaften und Zuständen; und es konstituiert dann rückwirkend das
Ich, indem es nicht bloß den äußeren sondern auch den ... inneren Eindrücken
synthetische Einheit zu verleihen lernt. Das identische Ich ist das späteste kon-
stante Projektionsprodukt“ (198). Zu was der Mensch sich im Verlaufe der Zivi-
lisationsentwicklung macht, hängt also davon ab, was er an seiner Umwelt re-
gistriert und gedanklich verarbeitet. Von der Differenziertheit und Vielschichtig-
keit der Wahrnehmung der Welt hängt daher auch die Differenziertheit und Viel-
schichtigkeit des Ich ab. Die Autoren formulieren diese Folgerung so:

„In nichts anderem als in der Zartheit und dem Reichtum der äußeren Wahrneh-
mungswelt besteht die innere Tiefe des Subjekts. Wenn die Verschränkung unter-
brochen wird, erstarrt das Ich. Geht es, positivistisch, im Registrieren von Gegebe-
nem auf, ohne selbst zu geben, schrumpft es zum Punkt, und wenn es idealistisch,
die Welt aus dem grundlosen Ursprung seiner selbst entwirft, erschöpft es sich in
sturer Wiederholung ... Nur in der Vermittlung, in der das nichtige Sinnesdatum den
Gedanken zur ganzen Produktivität bringt, deren er fähig ist, und andererseits der
Gedanke vorbehaltlos dem übermächtigen Eindruck sich hingibt, wird die kranke
Einsamkeit überwunden, in der die ganze Natur befangen ist“ (198). Nur in dem „re-
flektierten Gegensatz“ von erkennendem Mensch und Natur zeige sich die „Mög-
lichkeit der Versöhnung“ (ebd.).
156 Ditmar Brock

Halten wir fest:

1. Der utopische Maßstab der Zivilisationskritik besteht in der Möglichkeit,


die Trennung zwischen Mensch und Welt gedanklich zu überwinden
(„Vermittlung“) und so beide Seiten miteinander zu „versöhnen“. Das
schließt die Entwicklung einer gelungenen und entwickelten Identität mit
ein.
2. Die Orientierung der Erkenntnis an den Konzeptionen des Positivismus
wie des Idealismus verkürzt die Erkenntnismöglichkeiten wie die mensch-
lichen Entwicklungsmöglichkeiten und führt in die im Antisemitismus
sichtbar gewordene zivilisatorische Katastrophe.
3. Die erkenntnistheoretische Position von Kant, wonach man vor aller Er-
kenntnis erst Begriffe entwickelt haben muss, wird als verkürzt kritisiert.
Sinneseindrücke können auch ohne Begriffe wahrgenommen werden, Beg-
riffe entwickeln sich im Prozess der Verarbeitung von Wahrnehmungen.
Der Positivismus wird als auf Herrschaft und Beherrschung reduzierte
Strategie der Wissensentwicklung kritisiert.
4. Zwar folgt die Kritikmethode marxistischen Vorbildern, die Autoren revi-
dieren aber zugleich zentrale marxistische Grundannahmen zugunsten re-
ligiöser Motive („Versöhnung“ an Stelle der Abschaffung von Formen ge-
sellschaftlicher Herrschaft und Ausbeutung; Einflüsse von Buber und Ben-
jamin).
5. Die wichtigsten Revisionen des Marxismus sind: (a) Ziel der Zivilisations-
entwicklung ist nicht die völlige Naturbeherrschung (Abschaffung unmit-
telbarer menschlicher Arbeit), sondern die Versöhnung zwischen Mensch
und Natur. (b) Während im Marxismus die gesellschaftlichen Probleme
durch Vergesellschaftung der Produktionsmittel gelöst werden sollen, wer-
den sie hier letztlich auf die Erkenntnisinteressen und das auf Herrschaft
zugeschnittene Wissen zurückgeführt. Sie sind daher erst durch eine Ver-
änderung der Erkenntnisinteressen in Richtung „Vermittlung“ und „Ver-
söhnung“ (siehe unter 1.) lösbar.
6. In der Dialektik der Aufklärung werden nicht einmal in Ansätzen Wege
zur Lösung der zivilisatorischen Krise, die für die Autoren mit dem militä-
rischen Sieg über den Faschismus keineswegs endet, aufgezeigt, weil die
Autoren keine direkten Wege sehen (vgl. Wiggershaus 1988: 371ff.).

Wiederentdeckung Die 1944 erschienene Dialektik der Aufklärung wurde zunächst kaum rezipiert13,
Ende der 60er Jahre
was auch mit Horkheimers Blockade einer Neuauflage (zu Horkheimers Publika-
tionspolitik vgl. Wiggershaus 1988: 492ff) zu tun hatte und erst Ende der 60er
Jahre durch die Studentenbewegung wiederentdeckt. Heute gilt der Text als
Hauptwerk der älteren Frankfurter Schule.

13
„Als Marcuse und Kirchheimer im Dezember 1944 die Philosophischen Fragmente (so der Unterti-
tel der Dialektik der Aufklärung; D.B.) zugeschickt bekamen, reagierten beide unabhängig voneinan-
der ratlos. Sie konnten nur danken ... Das erwies sich als symptomatisch für die Wirkungsgeschichte
dieser Texte auf lange Zeit.“ (Wiggershaus 1988; 383)
Gesellschaftskritische Theorieansätze 157

Lektürevorschlag:
Lesen Sie den Exkurs I aus der „Dialektik der Aufklärung“ von Max Horkheimer/Theodor
W. Adorno 1988, Frankfurt/Main: Fischer, S. 50-87 [1947].

4.2.5 Theodor W. Adorno – Gesellschaftskritische Philosophie, Kulturkritik und


empirische Sozialforschung

Die „Dialektik der Aufklärung“ ist nicht zuletzt deswegen ein für Soziologen
schwer zugängliches Werk, weil sie mit Horkheimers Programm einer interdis-
ziplinären Erforschung der gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht Ernst macht,
sondern sich auf deren Erforschung allein unter erkenntnistheoretischen und
weiteren philosophischen Gesichtspunkten zurückzieht.

Theodor W. Adorno (1903-1969)

geboren am 11.09.1903 in Frankfurt am Main; gestorben am 06.08.1969 in


Brig (Kanton Wallis in der Schweiz).

Theodor Wiesengrund Adorno wurde am 11. September


1903 als Sohn des Weinhändlers Wiesengrund und seiner
Frau, der italienischen Sängerin Maria Calvelli-Adorno,
in Frankfurt/Main geboren. Nach dem Abitur studierte er
von 1921 bis 1923 Philosophie, Soziologie, Psychologie
und Musiktheorie in Frankfurt/Main und promovierte
anschließend. Adorno schloss in dieser Zeit Freundschaft
mit Max Horkheimer (1895-1973) und Walter Benjamin
(1892-1940). 1931 habilitierte er sich mit einer Arbeit
über Kierkegaard. Im Zuge der Amtsenthebung jüdischer
Dozenten wurde Adorno 1933 die Lehrbefugnis entzogen. Über Oxford ge-
langte er schließlich im Jahre 1938 in die USA und wurde offizielles Mitglied
des Instituts für Sozialforschung. 1947 veröffentlichten Horkheimer und Ador-
no in den USA eines der Hauptwerke der Frankfurter Schule, die „Dialektik der
Aufklärung“. Nach dem Krieg kehrte Adorno wieder nach Deutschland zurück;
er erhielt eine Professur für Sozialphilosophie an der Universität Frank-
furt/Main. 1951 erschien die Schrift „Minima Moralia. Reflexionen aus dem
beschädigten Leben“. Als Nachfolger Horkheimers übernahm schließlich
Adorno 1958 die Leitung des Instituts für Sozialforschung. In den 60er Jahren
war er Initiator des „Positivismusstreits“ in der deutschen Soziologie. 1966
veröffentlichte er die „Negative Dialektik“. Darüber hinaus verfasste Adorno
zahlreiche Beiträge zu Musikwissenschaft, Literatur und Kunst. Er gilt neben
Max Horkheimer und Herbert Marcuse (1898-1979) als Hauptvertreter der
älteren Frankfurter Schule. Mit seiner Kritik an der bürgerlichen Ideologie der
allmählich zu Wohlstand gekommenen Nachkriegsgesellschaft erreichte er vor
allem die junge Generation. Er lehnte aber die gewalttätige Zuspitzung der
Studentenbewegung und jede Art von Terror entschieden ab, was in der Folge
zu heftigen Auseinandersetzungen mit Studenten führte. Am 6. August 1969
starb Adorno an den Folgen eines Herzinfarkts.
158 Ditmar Brock

Negative Dialektik Auf dieser Linie liegt auch Adornos erstes Hauptwerk, die „Negative Dialektik“
(im Folgenden ND)14, das als 20 Jahre später erschienene Fortsetzung der Dia-
lektik der Aufklärung anzusehen ist (vgl. z.B. Gmünder 1985: 67). Negative
Dialektik ist eine Denkmethode, die sich von der Hegelschen wie der Marxschen
Dialektik durch die Zielsetzung abhebt. Während es Marx wie Hegel darum
ging, die gesellschaftlichen Verhältnisse „auf den Begriff zu bringen“, sie durch
möglichst präzise, auf Widersprüche hin sensibilisierte Begriffsentwicklung
genau zu erfassen, geht es Adorno darum, die Vorteilhaftigkeit eines Verzichts
auf volle begriffliche Erfassung für das erkennende Subjekt herauszustellen.
Der Grundgedanke Ein Kampf gegen die Windmühlenflügel der Vernunft? Das wäre zu ein-
der negativen
fach. Zumindest kämpft der Autor nicht mit der Lanze sondern mit den Wind-
Dialektik
mühlenflügeln der Vernunft gegen die Vernunft. Anders ausgedrückt: Der Ver-
zicht ist selbst ein Akt der Vernunft des erkennenden Subjekts. Adorno argumen-
tiert folgendermaßen: Während das Objekt auch ohne das erkennende Subjekt
existiert, ist das Objekt vom Subjekt „nicht einmal als Idee wegzudenken“
(Adorno 1973: 185). Seine Möglichkeiten, sein innerer Reichtum, seine Identität
ergeben sich erst über das Denken, das auf das Identifizieren und Klassifizieren
seiner Umwelt ausgerichtet ist. Das Problem ist nun aber, dass „die Gegenstände
in ihrem Begriff nicht aufgehen“ (16). Sie geraten in Widerspruch zu den Begrif-
fen, unter denen sie erfasst werden. Die klassische dialektische Methode sieht
darin etwas, das durch eine verbesserte, die Widersprüche einschließende Be-
griffsbildung (These – Antithese – Synthese) repariert werden könne. Es sei aber
eine Illusion – Adorno spricht von „Unwahrheit“ –, das Nichtidentische unter
den Aspekt der Identität bringen zu wollen. Es erscheine

„so lange divergent, dissonant, negativ, wie das Bewusstsein der eigenen Formation
nach auf Einsicht drängen muss: so lange es, was nicht mit ihm identisch ist, an sei-
nem Totalitätsanspruch misst. Das hält Dialektik dem Bewusstsein als Widerspruch
vor“ (17).

Mit anderen Worten: die klassische dialektische Methode reproduziert nur die
gesellschafts- und herrschaftsbedingten Zwänge identifizierenden Denkens. Die
Alternativen zum identifizierenden und klassifizierenden Denken wurden schon
in der „Dialektik der Aufklärung“ genannt: Mimesis, Versöhnung.

Übungsaufgabe:

Versuchen Sie am Beispiel von Tierversuchen sich die Grundgedanken der nega-
tiven Dialektik klar zu machen. Wieso können Wissenschaftler z.B. über Labor-
schimpansen im Sinne Adornos „mehr erfahren“, wenn sie darauf verzichten, mit
ihnen Laborexperimente durchzuführen, über die bestimmte Hypothesen über-

14
Auf sein zweites nachgelassenes Hauptwerk „Ästhetische Theorie“ wird hier nicht eingegangen, da
es vom Standpunkt soziologischer Theorie nichts Neues bringt. Es bündelt Adornos musik-, literatur-,
und kunsttheoretische Interessen, die in werkgeschichtlicher Hinsicht bei Adorno zweifellos zentral
sind.
Gesellschaftskritische Theorieansätze 159

prüft werden sollen? (Zu diesem Thema gibt es übrigens u.a. das Buch: Fouts/
Mills: Unsere nächsten Verwandten. Von Schimpansen lernen, was es heißt, ein
Mensch zu sein. München 2000).

Der Totalitätsanspruch des begreifenden Denkens ist – und das macht das Zitat Gesellschaftskritik
ebenfalls deutlich, „notwendig falsches Bewusstsein“, das den gesellschaftlichen
Verhältnissen anzulasten sei, die Herrschaftswissen forderten, also Unterordnung
unter den Begriff, um darüber zu verfügen. Insofern handelt auch die „Negative
Dialektik“ von Gesellschaftskritik unter dem utopischen Maßstab vernünftigerer
Möglichkeiten. „Deshalb ist der einzige vernünftige Ausweg Versöhnung, Aner-
kennung des Objekts, des Anderen, des Fremden – hieß die Konsequenz der
ND.“ (Wiggershaus 1988: 668)
Die „Negative Dialektik“ hätte durchaus ein soziologischer Text werden Die ND – ein
philosophischer Text
können, wenn Adorno Wege hätte aufzeigen können bzw. wollen, wie der Zwang
zur immer weiteren Anhäufung und Perfektionierung von Herrschaftswissen und
-denken über eine Veränderung gesellschaftlicher Strukturen gebrochen werden
könnte. Da das nicht der Fall war, wurde sie ein philosophischer Text zum Thema
Vernunftkritik. Eine Konsequenz dieser Kritik war, dass sie nicht mehr in ein in
sich geschlossenes philosophisches System münden konnte – dann wäre sie selber
der Illusion eines Universalanspruchs identifizierender Vernunft aufgesessen. So
konnte es nur eine Vernunftkritik auf exemplarischen Feldern, Adorno verwendet
den Begriff Modelle, geben. Die Felder sind: das Gebiet der Moralphilosophie
(zum Begriff der Freiheit), das der Geschichtsphilosophie (zu den Begriffen
Weltgeist und Naturgeschichte) und „metaphysische Meditationen zu Begriffen
wie Tod, Leben, Glück, Unsterblichkeit, Auferstehung, Transzendenz, Hoffnung
– zu den letzten Dingen also“ (Wiggershaus 1988: 670).
Charakteristisch sind Adornos moralphilosophische Überlegungen zum Zum Freiheitsbegriff
Begriff der Freiheit. In kritischer Auseinandersetzung mit Kant insistiert er dar-
auf, dass es „angesichts der realen Ohmacht aller Einzelnen“ (283) nicht um
abstrakte Prinzipien, sondern immer nur um konkreten Abbau von Unfreiheit
gehen könne. Das rechtfertige auch spontane Widerstands- und Revolutions-
handlungen. Diese Exkurse auf konkrete Felder ändern jedoch nichts an dem
Gesamteindruck, dass die ND „ein philosophietheoretisches Gegenstück zur
Wissenschaftstheorie und auch zur älteren Erkenntnistheorie“ (Wiggershaus
1988: 675) darstellt.
Die immense öffentliche Wirkung Adornos – er war von Ende der 50er Jah- Kultur- und kunst-
kritische Schriften
re bis zu seinem Tod 1969 in den Medien ständig präsent – hing vor allem mit
seinen kultur- und kunstkritischen Arbeiten zusammen (vgl. Schweppenhäuser
1996: 139). Sie bilden auch den quantitativen Schwerpunkt seines Werks: „Gut
die Hälfte der Gesammelten Schriften betrifft die Kunst, vor allem die Musik“
(Wiggershaus 1987: 101). Zwar ordnen sich diese Arbeiten in die Grundlinie der
ND ein, allerdings sah Adorno insbesondere in der Musik „Möglichkeiten eines
Fortschritts, die er der Gesellschaft nicht zugestand ... An der Kunst, die immer
schon das menschliche Dasein transzendiert und nach Adornos Ansicht eine
ästhetische, Zivilisation revidierende Verhaltensweise repräsentiert hatte, musste
sich also zweierlei ablesen lassen: der Stand naturbeherrschenden Geistes und
160 Ditmar Brock

der Stand auf Versöhnung zielenden Geistes ... Es gebe, meinte er in seiner Rede
über Lyrik und Gesellschaft, objektive Kräfte, welche einen beengten und been-
genden gesellschaftlichen Zustand über sich hinaustreiben zu einem menschen-
würdigen hin; Kräfte einer Gesamtverfassung, ... die der Gesellschaft blind op-
poniert“ ... Was moderne Kunstwerke von älteren ... nach Adornos Ansicht un-
terschied, war das Verstörende und selber Verstörte an ihnen, das betont Unhar-
monische ... Der nach wie vor von naturverfallener Naturbeherrschung bestimm-
ten Gesellschaft erscheinen solche Kunstwerke, die immer deutlicher das Ge-
genmodell zur Verfassung der Gesellschaft verkörpern, als bloße Zerstörung der
Herrschaft des Allgemeinen über das Besondere, als zerrüttet eben … Im
schlimmeren Fall lassen sie die Gesellschaft gleichgültig, bleiben sie ohne Publi-
kum“ (Wiggershaus 1987: 102ff). Daher hat nach Adorno die Kunst eine Dop-
pelfunktion. Sie zeigt gleichermaßen auf, wie es ist und wie es sein könnte.

Adorno hat ein eindrucksvolles Werk hinterlassen. Seine theoretischen Über-


legungen haben weniger in der Soziologie, sondern mehr in der Philosophie
ihren Platz.

Für die Sozialtheorie ist insbesondere sein Konzept der negativen Dialektik
von Bedeutung.

Die negative Dialektik ist eine Methode der Vernunft- und Erkenntniskritik.
Sie zeigt die Grenzen identifizierenden Denkens auf und plädiert für eine auf
Versöhnung und Mimesis gegründete Beziehung des Menschen zu seiner
Umwelt.

Weitere Aktivitäten Da es hier um soziologische Theorie geht, wird nur am Rande angemerkt, dass
Adornos
Adorno in seinen Funktionen als Inhaber einer Professur für Philosophie und
Soziologie und als Direktor des Frankfurter Instituts für Sozialforschung Einfüh-
rungen in die Soziologie verfasst, empirische Projekte betreut, Schriften des
Instituts herausgegeben und sich intensiv mit empirischer Sozialforschung be-
schäftigt hat. Insbesondere während des amerikanischen Exils hat er an der Ent-
wicklung von Techniken indirekter Befragung, vor allem an der so genannten F-
Skala im Rahmen eines groß angelegten Antisemitismus-Projekts gearbeitet
(Adorno u.a. 1950) und Konzepte für einen Mix sich gegenseitig ergänzender
Erhebungs- und Materialsammlungsmethoden entworfen. Bedeutsam für das
Konzept einer Kritischen Theorie ist hieran nur zweierlei, dass er wie Horkhei-
mer diese Aktivitäten als Ablenkung von seiner eigentlichen Aufgabe angesehen
und dass er ein interdisziplinäres Ineinandergreifen von Philosophie und Sozio-
logie nicht erreicht hat.

Lektürevorschlag:

Als Einführung in das soziologische Denken Adornos können Sie das Stichwort „Kunst-
und Musiksoziologie“ in den „Soziologischen Exkursen“ lesen: Institut für Sozial-
forschung 1956, Frankfurt/Main: Fischer, S. 93-105.
Gesellschaftskritische Theorieansätze 161

4.2.6 Differenzierung der Vernunft – Sozialtheorie und politische Praxis

Das Konzept einer Kritischen Theorie der Gesellschaft muss aber nicht zwangs- Wege in eine
soziologische
läufig wie bei Adorno einen mit wohlklingenden Zitaten15 gepflasterten Weg Vernunftkritik
zurück in die Philosophie nehmen. Die soziologische Ebene bekommt sofort eine
eigene Bedeutung, wenn nicht am (von der dialektischen Methode nahe geleg-
ten) Konzept einer einheitlichen Vernunft festgehalten wird16. Das wird deutlich,
wenn man an einige Überlegungen Horkheimers erinnert, die nicht in die Dialek-
tik der Aufklärung eingeflossen sind, sondern in „Eclipse of Reason“(1947 –
deutsche Fassung 1967 „Zur Kritik der instrumentellen Vernunft“) veröffentlicht
wurden. Dieser Gesichtspunkt wird aber noch greifbarer in den zentralen Arbei-
ten von Herbert Marcuse.
Zunächst also zu Horkheimer. Er unterscheidet zwei Begriffe: objektive und Horkheimers Unter-
scheidung zwischen
subjektiv-instrumentelle Vernunft. Als subjektiv-instrumentell bezeichnet er eine
objektiver und in-
Form der Vernunft, die in der modernen Gesellschaft vorherrscht und auf strumenteller
„Zweckrationalität“ (Weber) zielt, also auf die Ermittlung optimaler Mittel für Vernunft
gegebene und auf die individuelle Selbsterhaltung zugeschnittene Zwecke. Ob-
jektive und zugleich „autonome“ Vernunft könne sich dagegen nur dort entfal-
ten, wo sie auf umfassendere Zwecke als die Selbsterhaltung bezogen sei.

„Große philosophische Systeme, wie die von Platon und Aristoteles, die Scholastik
und der deutsche Idealismus waren auf einer objektiven Theorie der Vernunft ge-
gründet. Sie zielte darauf ab, ein umfassendes System ... alles Seienden einschließ-
lich des Menschen und seiner Zwecke zu entfalten. Der Grad der Vernünftigkeit des
Lebens eines Menschen konnte nach seiner Harmonie mit dieser Totalität bestimmt
werden“ (Horkheimer 1967: 16).

Diese Art der Differenzierung führte allerdings nur in die Vergangenheit, zu


Philosophie, Religion und Mythen als Quellen der Versöhnung zwischen den
Menschen und zwischen Mensch und Natur.
In Herbert Marcuses Hauptwerken Eros and Civilization ( 1955; zit. nach: Differenzierungen
des Vernunftbegriffs
Triebstruktur und Gesellschaft. Ffm. 1965) und One Dimensional Man (1964;
bei Marcuse

15
Das Wichtigste aus der Einleitung der ND lautet: „Philosophie, die einmal überholt schien, erhält
sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward. Das summarische Urteil, sie
habe die Welt bloß interpretiert, sei durch Resignation vor der Realität verkrüppelt auch in sich, wird
zum Defaitismus der Vernunft, nachdem die Veränderung der Welt misslang“ (Adorno 1966; 15). M.
a. W.: Weil die Revolution der Gesellschaft nicht erfolgt ist, muss auch die von Marx in den Feuer-
bachthesen formulierte Kritik an der Philosophie (vgl. Bd.1; S. 61) zurückgenommen werden.
16
Im Rahmen eines Einführungsbuches kann nur angemerkt werden, dass es eine direkte Verbindung
zwischen den in der Dialektik der Aufklärung und der ND entwickelten erkenntnistheoretischen Posi-
tionen und der Theorie funktionaler Differenzierung gäbe. Letztere zeigt nämlich, dass die instrumen-
telle Vernunft gerade durch funktionale Differenzierung ihre Geländegewinne erzielt hat. Funktionale
Differenzierung bedeutet immer Anerkennung von in der Sache liegenden Unterschieden, die eine
einheitliche Systematisierung als unsachgemäß verbieten, sondern vielmehr eine „Differenzierung der
Wertsphären“ (Weber) erfordern. Das führt auch zu Variationen des Problems der sich nicht der in-
strumentellen Vernunft fügenden Aspekte des Gegenstandsbereichs und könnte die Sonderrolle der
Kunst bei Adorno systematisch erklären. Auf diese Weise könnten nicht nur psychologische, sondern
auch gesellschaftliche Probleme der „Verdrängung“ (z.B. der Werturteile und der Praxis aus der
Wissenschaft) analysiert werden.
162 Ditmar Brock

dt.: Der eindimensionale Mensch. Neuwied/Berlin 1967) werden dagegen sozio-


logisch gehaltvolle Differenzierungen des Vernunftbegriffs eingeführt. Marcuse
geht es dabei um die Möglichkeit, durch eine „befreiende Revolution“ eine ver-
nünftigere Gesellschaft zu schaffen. Diese Zielsetzung erklärt auch, warum Mar-
cuse Ende der 60er Jahre zu einem Mentor der Studentenbewegung in den USA
wie in der BRD wird.

Herbert Marcuse (1898-1979)

geboren am 19.07.1898 in Berlin; gestorben am 29.07.1979 in Starnberg.

Herbert Marcuse wurde als Sohn eines jüdischen


Textilfabrikanten in Berlin geboren. Nach seinem
Notabitur, wurde er 1916 zur Reichswehr einbe-
rufen. Nach Kriegsende studierte Marcuse Germa-
nistik, Philosophie und Nationalökonomie, zu-
nächst in Berlin, dann in Freiburg i. Br. Er pro-
movierte und war anschließend im Buchhandels-
und Verlagswesen in Berlin tätig. Im Jahre 1928
kehrte Marcuse nach Freiburg zurück, um bei Edmund Husserl (1859-1938)
und Martin Heidegger (1889-1976) weiterzustudieren. Durch Vermittlung von
Leo Löwenthal (1900-1993) trat er dem Institut für Sozialforschung bei. 1933
musste auch Marcuse Deutschland verlassen und gelangte über die Stationen
Genf und Paris 1934 nach New York. Die ökonomische Situation des Instituts
zwang Marcuse dazu, eine Stellung in Washington D.C., am Office of Strate-
gic Services (OSS), anzunehmen. Anders als Horkheimer und Adorno (1903-
1969) kehrte Marcuse nach dem Zweiten Weltkrieg nicht wieder nach
Deutschland zurück. Er erhielt 1954 seine erste Professur für Philosophie und
Politologie an der Brandeis University in Waltham (Massachusetts); 1964
wurde Marcuse Professor für Politologie an der University of California, San
Diego. Neben seiner dortigen Lehrtätigkeit nahm er 1965 eine außerordentli-
che Professur an der Freien Universität Berlin an. Seine beiden Hauptwerke
„Triebstruktur und Gesellschaft“ (1955) und „Der eindimensionale Mensch“
(1964) gehören zu den wichtigsten Büchern der Kritischen Theorie und zähl-
ten zu den Standardwerken der Studentenbewegung in aller Welt. In den Jah-
ren 1967 und 1969 verbrachte er mehrere Monate in Europa und hielt Vorträ-
ge mit Diskussionen vor Studenten in Berlin, London und Rom. Marcuse
erhoffte sich im Gegensatz zu anderen Vertretern der Frankfurter Schule von
der linken Studentenbewegung Impulse für die Revolutionierung der Gesell-
schaft. Am 29. Juli 1979 starb Marcuse während eines Deutschlandbesuches
bei Jürgen Habermas in Starnberg.

Für eine repressio- In „Eros and Civilization“ entwickelt Marcuse in kritischer Auseinandersetzung
närmere Gesellschaft
mit Freud die These, dass eine humanere Gesellschaft die menschliche Trieb-
struktur erheblich weniger unterdrücken müsse, als das derzeit der Fall sei. Es
gebe herrschaftsbedingte „Surplus-repression“, die objektiv abschaffbar sei.
Während der Kulturpessimist Freud der Ansicht war, dass „ohne Triebverzicht
Gesellschaftskritische Theorieansätze 163

und Triebunterdrückung, ohne Anerkennung des Realitätsprinzips eine Zivilisa-


tion nicht denkbar sei“ (Wiggershaus 1988: 556), hält Marcuse eine zumindest
erheblich „repressionsärmere“ Gesellschaft für denk- und realisierbar. Er ver-
schiebt also die Marxsche Denkfigur einer durch Abschaffung des Kapitalismus
möglich werdenden Befreiung von materieller Ausbeutung auf das psychoanaly-
tische Feld des Triebverzichts und der Triebunterdrückung. Während der fort-
schreitende Industrialisierungsprozess den Menschen immer weniger Zwänge
auferlege, führten die Herrschaftsverhältnisse zu gesteigerter Repression, die die
erotische Komponente der Triebenergie schwäche und die destruktive Kompo-
nente stärke17. Eine Abschaffung dieser „überflüssigen Herrschaft“ führe also
nicht nur zu weniger Triebunterdrückung, sondern auch zu qualitativ besseren
Beziehungen der Menschen untereinander. Einer der davon inspirierten Slogans
auf den Demonstrationen gegen den Vietnam-Krieg lautete „make love not war!“
In theoretischer Sprache lautete die Formulierung:

„Diese Idee würde bedeuten, dass der freie Eros dauerhafte ... gesellschaftsbildende
Beziehungen nicht ausschließt – dass er nur die überverdrängende Organisation der
gesellschaftsbildenden Beziehungen unter einem Prinzip, das die Verneinung des
Lustprinzips ist, abweist“ (Marcuse 1965a: 47).

Übungsaufgabe:

Vor gut 50 Jahren hielt Marcuse Formen des zwischenmenschlichen Zusammen-


lebens für denkbar, die weitgehend ohne z.B. sexuelle Verbote auskommen. Ist
das vorstellbar und wenn ja, in welchen Bereichen? Wo würden Sie Grenzen
sehen?

Die individualpsychologische Kategorie der Verdrängung, die besagt, dass die Für eine befreiende
Revolution
verdrängten Triebe im Unbewussten unkontrolliert weiter existieren, wird von
Marcuse auf eine gesellschaftliche Ebene gehoben und als kulturelles Verdrän-
gungsphänomen behandelt.

„Es ist die Wiederkehr des Verdrängten, die die unterirdische, tabuierte Geschichte
der Kultur speist ... Und die Vergangenheit fährt fort, einen Anspruch auf die Zu-
kunft zu erheben: sie erzeugt den Wunsch, dass auf der Grundlage zivilisatorischer
Errungenschaften das Paradies wieder hergestellt werde“ (21ff zit. nach Wiggers-
haus 1988: 558).

„War damit nicht endlich unverblümt zur Diskussion gestellt, ... dass es eine
positive Spielart (der Vernunft D.B.) gebe, die letztlich in einem spontanen und
insofern natürlichen Gefühl für das Richtige, Gute, Wahre gründete?“ (Wiggers-
haus 1988: 559). Wie dem auch sei, in jedem Fall hatte Marcuse ein zeitgemäße-
res und für die Studentenbewegung attraktiveres Szenario der „befreienden Re-
17
zu den psychologischen Aspekten siehe auch die obige Darstellung von Fromms „autoritär-
masochistischem Charakter“, der ebenfalls nicht in erotischen, sondern in destruktiven Aktivitäten
Befriedigung sucht.
164 Ditmar Brock

volution“ entwickelt als Marx ein Jahrhundert zuvor in dem Bild des Proleta-
riers, der nichts mehr zu verlieren habe als seine Ketten.
Der eindimensionale Gerade weil diese Utopie gesellschaftlicher Befreiung einigermaßen hand-
Mensch
fest war, konnte sie auch durch die weitere Entwicklung von Kultur und Gesell-
schaft widerlegt werden. Man kann das zweite Hauptwerk von Marcuse, den
neun Jahre später (1964) erschienenen One Dimensional Man als Eingeständnis
des Scheiterns politischer Hoffnungen des Autors lesen (vgl. auch das Selbst-
zeugnis in Marcuse/Popper 1971: 6). Marcuse entwirft hier das Bild einer herme-
tisch geschlossenen Gesellschaft, die von Innen her keinerlei Ansatzpunkte für
Veränderung bietet. Im Hinblick auf Wirtschaft und Lebensstandard sei sie
„überentwickelt“, die instrumentelle Vernunft dominiere und sogar die Verdrän-
gung von Bedürfnissen auf Glück finde nicht mehr statt. Unter den herrschenden
Bedingungen, die die Vaterrolle durch Medien und peer groups ersetze und die
Familienabhängigkeit der Jugendlichen relativiere (Marcuse 1964: 88), komme
es gar nicht mehr zur Entwicklung eines autonomen Ich, einer je individuellen
Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Anforderungen. Der Entstehung von
Massen und der unmittelbaren Identifikation mit dem herrschenden System wer-
de so der Boden bereitet (ebd. 89). „In einer solchen Welt ist zwar alles ... in
einem nie gekannten Umfange »da«, aber ... das von allen Wertvorstellungen
entbundene Seiende (degeneriert) zum Gleichgültigen, zum uns nur flüchtig
berührenden Transitorischen der Jeweiligkeit“ (Zahn 1991: 211). Marcuse über-
bietet die in der DdA erfolgte Denunzierung der „Kulturindustrie“ dadurch, dass
er die eindimensionale Oberflächlichkeit bis in die Gegenwartssprache hinein
verfolgt (ebd.). In einem Vorgriff auf die „Erlebnisgesellschaft“ (Schulze 1992)
diagnostiziert Marcuse eine künstlich erzeugte Bedürfnismentalität, die immer
wieder durch vom Markt gelieferte „Sensationen“ befriedigt werde. Sie

„mag für das Individuum höchst erfreulich sein, aber dieses Glück ist kein Zustand,
der aufrechterhalten und geschätzt werden muss, wenn er dazu dient, die Entwick-
lung derjenigen Fähigkeit zu hemmen, die Krankheit des Ganzen zu erkennen und
die Chancen zu ergreifen, diese Krankheit zu heilen“ (Marcuse 1967: 25).

Ist die Kritische Wer soll dann „die zivilisatorische Krankheit heilen“? Aus welchen Quellen soll
Theorie konzeptionell
sich der Widerstand speisen? Marcuse hält nur noch den spontanen Protest von
gescheitert?
Randgruppen und die „subjektive Weigerung der Sensibelsten und Einsichtigs-
ten“ für möglich (vgl. Habermas 1968: 12). In politischer Hinsicht war diese
Hoffnung zumindest für einige Jahre durchaus berechtigt, in konzeptioneller
Hinsicht wird damit das Scheitern einer Kritischen Theorie der Gesellschaft
markiert. Zahn führt es plausibel darauf zurück, dass sich keine gedankliche
Brücke zwischen Vernunftbegriffen und menschlichem Glück bauen lasse.
Schon Kant habe auf dem rein empirischen Charakter von Glück bestanden
(Zahn 1991: 213 ff). Adorno und Horkheimer sprachen von einem Zusammen-
hang zwischen Glück und „Versöhnung“. Ist damit aber nicht das Projekt einer
am menschlichen Glück und der Vermeidung von menschlichem Leid orientierte
Vernunftkritik definitiv gescheitert?
Gesellschaftskritische Theorieansätze 165

Lektürevorschlag:

Lesen Sie zu Herbert Marcuse den Aufsatz „Ethik und Revolution“ in Herbert Marcuse
1965, Kultur und Gesellschaft 2, Frankfurt/Main: Suhrkamp, S. 131-146 sowie Her-
bert Marcuse 1965a, Triebstruktur und Gesellschaft, Frankfurt/Main: Suhrkamp,
Kapitel 10, S. 195-218.

Von den Vertretern der älteren Frankfurter Schule hat Herbert Marcuse die
größte Politische Wirkung als Mentor der 68er Bewegung entfaltet.

Er hielt eine repressionsärmere Gesellschaft für erreichbar und plädierte für


bessere zwischenmenschliche Beziehungen.

Die Frage nach dem „revolutionären Subjekt“ blieb offen. In seinen späteren
Arbeiten hält er nur noch die spontane Verweigerung von Randgruppen für
möglich.

4.3 Jüngere Frankfurter Schule: Jürgen Habermas

4.3.1 Theorie und Praxis

Dass Jürgen Habermas überhaupt der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule Zurechnung zur
Kritischen Theorie
zuzurechnen sei und sich tatsächlich noch an dem von Horkheimer in den 30 er
umstritten
Jahren des letzten Jahrhunderts entwickelten Theorieprogramm orientiere, wird
von vielen „getreuen“ Anhängern dieser Theorierichtung vehement bestritten
(z.B.: Wehling 1992, Prokop 2003). Unstrittig ist dagegen, dass er die Akzente
anders setzt und, je nach Position des Betrachters, „Ballast abwirft“ oder aber
zentrale Intentionen der klassischen Frankfurter Schule „verrät“.

Jürgen Habermas (geb. 1929)

Der 1929 in Düsseldorf geborene deutsche Philosoph stu-


dierte Philosophie, Geschichte und Psychologie in Göt-
tingen, Zürich und Bonn, wo er 1954 auch promovierte.
Von 1956 bis 1959 war er Assistent am Institut für
Sozialforschung in Franfurt/Main, habilitierte sich aller-
dings 1961 nicht zuletzt wegen der Differenzen mit Max
Horkheimer (1895-1973) in Marburg. Daraufhin trat er
eine außerordentliche Professur für Sozialphilosophie an
der Universität Heidelberg an, die er aber 1964 zugunsten
des Lehrstuhls für Philosophie und Soziologie in Frankfurt/Main aufgab. Hier
begann er sich zunehmend mit dem Verhältnis von instrumenteller Rationali-
tät und praktischer Vernunft auseinanderzusetzen; so erschien 1968 die von
dieser Thematik gekennzeichnete Aufsatzsammlung „Technik und Wissen-
schaft als »Ideologie«“. 1971 wechselte Habermas nach Starnberg, wo er
gemeinsam mit Carl Friedrich von Weizsäcker (1912) das Max-Planck-Institut
166 Ditmar Brock

zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen


Welt leitete. 1981 veröffentlichte er sein soziologisches Hauptwerk „Theorie
des kommunikativen Handelns“. 1983 kehrte er nach Frankfurt zurück, um bis
zu seiner Emeritierung 1994 den Lehrstuhl für Philosophie mit dem Schwer-
punkt Sozial- und Geschichtsphilosophie zu übernehmen. Habermas gilt nicht
nur als wichtigster Vertreter der zweiten Generation der Frankfurter Schule.
Er ist zudem weltweit einer der bekanntesten lebenden Philosophen des
deutschsprachigen Raumes. In Anerkennung seiner wissenschaftlichen Leis-
tung wie seines lebenslangen, prägenden Engagements in der öffentlichen
Diskussion um die Entwicklung von Demokratie und Zivilgesellschaft wurden
Habermas hohe Auszeichnungen zuteil, unter anderem der Sigmund-Freud-
Preis, der Theodor-W.-Adorno-Preis, der Theodor-Heuss-Preis, der Friedens-
preis des deutschen Buchhandels sowie der Kyoto-Preis.

Anknüpfung an die In diesem Text wird er als der wichtigste Vertreter der „jüngeren Generation“ der
Kritische Theorie
Kritischen Theorie herausgestellt, weil sein ganzes Denken um die Beziehung
zwischen Theorie und Praxis kreist (vgl. Zimmerli 1991; sowie Habermas 1971
– Einleitung zur Neuausgabe von Theorie und Praxis), also dem zentralen Thema
der Aufklärung und jeder Theorie, die die Geschichte der Aufklärung kritisch
überprüfen möchte. Dieses Thema schließt zweifellos auch an eine der zentralen,
aber auch ungelösten, Intentionen bei Horkheimer, Adorno, Marcuse u.a. an.
Dagegen verfolgt Habermas die spekulativ-religiösen Motive nicht weiter, bei
denen es um eine Versöhnung zwischen menschlichem Denken und der inneren
wie der äußeren Natur geht, die eine „Befreiung“ der menschlichen Subjektivität
von den Fesseln herrschaftlichen Denkens ermöglichen soll. An die Stelle des
Versöhnungsmotivs tritt bei Habermas das Verständigungsmotiv.
Möglichkeiten politi- Weiterhin sieht Habermas heute die Möglichkeiten politischer Einfluss-
scher Einflussnahme
nahme von Intellektuellen wesentlich enger als Marcuse und auch Adorno – sie
müssen in den Rahmen der demokratischen Überzeugungen eingepasst werden,
die jedem Bürger gleiche Rechte zugestehen, über Zukunftsfragen zu entschei-
den18. Gerade auch in sozialtheoretischer Hinsicht stellt sich für ihn die Frage,
wie ein Wissenschaftler empirisch nicht voll belegbare, zwangsläufig normative
Aussagen darüber rechtfertigen kann, wie das zwischenmenschliche Zusammen-
leben verbessert oder befreit werden soll. Ihm stehen, wie allen anderen sprach-
und handlungsfähigen Gesellschaftsmitgliedern auch, nur die in jeder Sprache
enthaltenen Möglichkeiten zur Verfügung, durch möglichst überzeugende Ar-
gumente mit anderen darüber ein Einverständnis zu erzielen. Warum dieser Ge-
sichtspunkt für Habermas zentrale Bedeutung hat, wird sich im Folgenden zei-
gen.
Grundproblem: In den vor dem soziologischen Hauptwerk, der Theorie des kommunikativen
kommunikative
Handelns (im Folgenden TkH), erschienenen Arbeiten konzentriert sich Haber-
Rationalität
Praxis mas auf drei Aspekte des Verhältnisses von Theorie und Praxis (siehe Glossar):

18
So hat sich Habermas z.B. von einigen in Erkenntnis und Interesse (1968) enthaltenen Implikationen
über die politisch-öffentliche Rolle von Intellektuellen später distanziert; vgl. Habermas 1999.
Gesellschaftskritische Theorieansätze 167

1. „Auf den empirischen Aspekt des Zusammenhangs von Wissenschaft,


Technik, Politik und öffentlicher Meinung in der Entwicklung spätkapitalis-
tischer Gesellschaftssysteme“ (Zimmerli 1991: 226). Hierzu gehören vor al-
lem: Habermas 1962, 1968a, 1969.
2. „Auf den erkenntnistheoretischen Zusammenhang von Erkenntnis und Inte-
resse“ (ebd.). Hierzu gehören vor allem: Habermas 1967, 1968.
3. „Auf den methodologischen Aspekt einer kritischen Gesellschaftstheorie“
(ebd.). Hierzu gehören: Habermas 1967, 1970, 1971, 1971a, 1971b.

„Bei der Untersuchung dieser Aspekte ... von Theorie und Praxis eröffnete sich
für Habermas eine zentrale Einsicht: Nur aufgrund einer Theorie der Kommuni-
kation lässt sich ... das im Theorie-Praxis-Problem versteckte Grundproblem
einer umfassenden, d.h. kommunikativen Rationalität, wie Habermas es seither
nennt, überhaupt lösen“ (Zimmerli 1991: 226; Hervorh. i. Orig.). Die Problemlö-
sung wird in Habermas’ soziologischem Hauptwerk, der „Theorie des kommuni-
kativen Handelns“, präsentiert, auf das die nachfolgende Darstellung konzentriert
ist.

Habermas will das Verhältnis von Theorie und Praxis durch eine Kommuni-
kationstheorie klären, die eine Rekonstruktion kommunikativer Rationalität
erlaubt.

4.3.2 Diskurstheorie der Wahrheit

Wir nähern uns der TkH über die von Habermas entwickelte Diskurstheorie der
Wahrheit (vgl. insbesondere Habermas 1972, 1999), die Reese-Schäfer „als
Schlüssel zu seinem Werk“ (2001: 22) bezeichnet. Das liegt daran, dass sie ver-
sucht, Regeln und Bedingungen für die Wahrheitsfindung zu benennen, die The-
orie und Praxis miteinander verschränken und die Aspekte der Methodologie,
Erkenntnistheorie und Empirie auf eine allerdings nicht vollständig klare Art und
Weise einbeziehen19.
Anders als Meinung oder Glauben beansprucht Wahrheit absolute Geltung. Wahrheit durch
soziale Prozesse der
Etwas ist so und nicht (nie) anders. Ob es absolute Geltung überhaupt geben
Wahrheitsfindung
kann, ist immer wieder z.B. von David Hume heftig bestritten worden (vgl. S.
240f.). Der logische Positivismus, mit dem sich Habermas Ende der 60er Jahre
eingehend beschäftigt hatte, hat eine vorsichtige und weitgehend akzeptierte
Variante „vorläufiger“ und „historischer“ Wahrheit entwickelt, die absolute
Wahrheit nicht ausschließt und vor allem die Wahrheitsfindung an Regeln bin-
det, die qua Einsicht allgemein akzeptiert werden sollen. Danach gelten Hypo-
thesen, also Wahrheit beanspruchende, beschreibende Aussagen, so lange, wie

19
Die nachfolgende Darstellung ist – überwiegend – an Reese-Schäfer 2001, Kapitel 1, 3, 4 orientiert.
Das gesamte Buch kann allen empfohlen werden, die sich eingehender mit Habermas befassen wollen.
Es ist sehr verständlich geschrieben, ohne dass die Verständlichkeit auf Kosten der gedanklichen
„Tiefe“ und Sorgfalt geht!
168 Ditmar Brock

sie durch Forschungsergebnisse gestützt und nicht widerlegt werden. In der Aus-
einandersetzung mit Hans Albert, einem wichtigen Vertreter dieser Richtung,
hatte Habermas darauf hingewiesen, dass es auch bei diesem scheinbar techni-
schen Verfahren letztlich darauf ankomme, dass die Diskrepanz zwischen Beo-
bachtungssprache, also der konkreten Empirie, und verallgemeinernden Hypo-
thesen nur durch Einverständnis, durch allgemein geteilte Überzeugungen, der
Wissenschaftlergemeinschaft überbrückt werden könne (vgl. Habermas 1969a:
238ff.). Wissenschaft, so könnte man verallgemeinern, ist also zunächst einmal
ein soziales Spiel, das so lange vorläufige Wahrheiten produziert, wie sich die
Teilnehmer an gemeinsame Regeln der Wahrheitsproduktion halten. D.h. (in
ihrer Verallgemeinerbarkeit wie auch immer eingeschränkte) Wahrheiten beru-
hen letztlich auf gemeinsamen Regeln. Hinzukommen muss aber, so Habermas’
Einwand gegen Albert, ein Konsens der Wissenschaftlergemeinschaft über re-
gelgerechtes Spielen. Wahrheit beruht also immer auch auf Einverständnis, Kon-
sens der Wissenschaftlergemeinschaft20. Diese beiden Aspekte verallgemeinert
Habermas über den Spezialfall der Wissenschaft hinaus für alle Formen der
„Wahrheitsfindung“.
Die ideale Für die Diskurstheorie von Habermas stellt sich nun zusätzlich die Frage,
Sprechsituation
wie man einen falschen (= kollektiver Irrtum) von einem wahren Konsens unter-
scheiden kann. Das kann auf dieser gedanklichen Grundlage nur über Spielregeln
geschehen, die allen Teilnehmern absolute „materiale“ Chancengleichheit geben.
Dieses Spiel demokratischer Wahrheitsfindung nennt Habermas „ideale Sprech-
situation“. Die Regeln sind:

1. Vollständige Öffentlichkeit: „Alle potentiellen Teilnehmer müssen die glei-


che Chance haben, kommunikative Sprechakte zu verwenden, so dass sie
jederzeit Diskurse eröffnen sowie durch Rede und Gegenrede, Frage und
Antwort fortsetzen können“ (Habermas 1984: 177).
2. Gleichverteilung der Kommunikationsrechte und -chancen: Vorhandene
Meinungen werden nur dann in gleicher Weise kritisch überprüft, wenn alle
Teilnehmer die gleiche Chance haben, Meinungen in eine Debatte einzu-
bringen und vorhandene Positionen zu problematisieren.
3. Chancengleichheit offener Meinungsäußerung: „Zum Diskurs sind nur
Sprecher zugelassen, die ... gleiche Chancen haben ... ihre Einstellungen,
Gefühle und Wünsche zum Ausdruck zu bringen ...“ (Ebd.).
4. Chancengleichheit bei der Regulierung von Diskursen: „Zum Diskurs sind
nur Sprecher zugelassen, die ... die gleiche Chance haben ... zu befehlen und
sich zu widersetzen, zu erlauben und zu verbieten, Versprechen zu geben
und abzunehmen, Rechenschaft abzugeben und zu verlangen ...“ (ebd.).

Regeln in Form Zum Verständnis dieser Regeln ist wichtig festzuhalten, dass sie nicht per An-
kontrafaktischer
ordnung oder Befehl eingeführt werden können. Sie haben eher mit intuitiven
Erwartungen
kontrafaktischen Erwartungen der Teilnehmer einer Debatte an eine faire Dis-
20
Die Grundidee stammt von dem Begründer des amerikanischen Pragmatismus, Charles S. Peirce
(1839-1914), der Wahrheit als die „ultimate opinion“ einer unbegrenzten Gemeinschaft von Verstan-
deswesen auffasst (vgl. Apel 1975).
Gesellschaftskritische Theorieansätze 169

kussion zu tun. Kontrafaktisch bedeutet hier: auch wenn man zig mal enttäuscht
und getäuscht wurde, muss man bei sprachlicher Verständigung immer gewisse
idealisierende Annahmen machen. Denn wenn man beispielsweise nicht davon
ausginge, dass jeder aufrichtig seine Meinung sagt, würde es sich ja gar nicht
lohnen, mit Anderen über kontroverse Themen zu debattieren.
Ist die ideale Sprechsituation dann aber nicht als Utopie einer wahrhaft de- Die ideale Sprech-
situation – ein ge-
mokratischen und solidarischen Gesellschaft bzw. Sprechgemeinschaft zu ver- dankliches Modell
stehen, die unsere entsprechenden kontafaktischen Erwartungen in uns wach
hält? Zunächst hat Habermas mit diesem Gedanken gespielt, dann aber klarge-
stellt: „Der Ausdruck „Ideale Sprechsituation“ führt, soweit er eine konkrete
Gestalt des Lebens suggeriert, in die Irre“ (Habermas 1985: 161, zit. nach Reese-
Schäfer 2001: 27). Wenn man weiterhin an die Überlegungen zur „deliberativen
Demokratie“ (Habermas 1992) denkt, die auch Gehlens Gedanken der „Entlas-
tung“ aufgreifen, dann kann man vermuten, dass Habermas eine unendliche
Debatte aller über alles nicht (mehr?) für erstrebenswert hält. Weiterhin hat Ha-
bermas später explizit (vgl. Habermas 1999: 50f) darauf hingewiesen, dass die
„Ideale Sprechsituation“ die pragmatischen Voraussetzungen klären möchte,
unter denen Behauptungen im Rahmen zeitlicher und sozialer Grenzen Rationali-
tät und auch „Wahrheit“ beanspruchen können. Damit sei aber der Anspruch auf
„zwingende“ Gültigkeit nicht erreicht, den der Wahrheitsbegriff der klassischen
Philosophie auszeichne.
Von der „Idealen Sprechsituation“ führt nun folgende Überlegung zur TkH. Soziale Konsequen-
zen sprachlicher
Es gibt offenbar Regeln und Verfahren, die die sprachliche Verständigung ratio-
Verständigung
nalisieren können. Wenn man nun, wie Habermas unter Rückgriff auf Austin und
Searle, sprachliche Verständigung untrennbar auf Handeln bezieht, dann hat die
Rationalisierung sprachlicher Verständigung unmittelbar soziologische Bedeu-
tung. Es stellt sich die Frage, wie die sprachliche Rationalisierungs- und Ent-
wicklungsdimension mit dem Mainstream der soziologischen Theorie, mit sozio-
logischen Rationalisierungs- und Modernisierungsbegriffen zusammenhängt.
Darum geht es in der TkH.

Habermas geht es nicht um absolute, sondern um historische Wahrheit. Er in-


teressiert sich für die Regeln und Bedingungen, unter denen im Prozess
sprachlicher Verständigung solche Wahrheiten gefunden werden können. Die
„ideale Sprechsituation“ erläutert Bedingungen der Wahrheitsfindung.

4.3.3 Kommunikatives Handeln

Bei diesem Vorhaben knüpft Habermas weiterhin an seine in Auseinanderset- Arbeit und
Interaktion
zung mit dem klassischen Marxismus entstandene Unterscheidung zwischen
„Arbeit“ und „Interaktion“ (Habermas 1968) an. Sie besagt, dass Arbeit immer
zweckrational strukturiert sei, also nur unter diesem Gesichtspunkt rationalisiert,
entwickelt und verstanden werden könne. Begriffe wie Arbeitsproduktivität
drücken diesen Gesichtspunkt instruktiv aus. Dagegen gehe es bei Interaktion
immer um Handlungsmotive, Einverständnis, Handlungskoordination über ge-
170 Ditmar Brock

meinsame Motive oder Interessen. Die Begriffe stünden daher für ganz unter-
schiedliche Sphären des Sozialen.
Kommunikatives Einen neuen integrativen Blickwinkel gewinnt Habermas dadurch, dass er
Handeln
den Begriff „kommunikatives Handeln“ einführt. Der Begriff prägt den Titel des
Buches; das zeigt schon seine zentrale Bedeutung. Er schlägt eine Brücke zwi-
schen „Kommunikation“ und dem in der Soziologie häufig verwendeten Begriff
„Handeln“. Man könnte diese Verbindung als über sprachliche Verständigung
erfolgendes, ablaufendes und kontrolliertes Handeln in die Umgangssprache
übersetzen. Weiterhin zeigt Habermas, dass dieser Begriff umfassender sei als
die in der Soziologie ansonsten gebrauchten Handlungsbegriffe. „Habermas
verwendet dabei ein in der Philosophie übliches Verfahren des Begriffsaufbaus,
bei dem sich von Stufe zu Stufe die Leistungsfähigkeit und Erklärungskraft eines
Begriffs erhöht:

ƒ Teleologisches (zielgerichtetes) Handeln zielt auf Verwirklichung eines


Zwecks. Als strategisches Handeln liegt es heute den entscheidungs- und
spieltheoretischen Anätzen in Ökonomie, Soziologie und Sozialpsychologie
zugrunde.
ƒ Normatives Handeln bezieht sich auf Gruppen, die ihr Handeln an gemein-
samen Werten orientieren. Die Normbefolgung wird von allen Mitgliedern
erwartet. Dieses Modell liegt (weitgehend; D.B.) der heutigen Rollentheorie
zugrunde (Durkheim und Parsons).
ƒ Dramaturgisches Handeln bezieht sich auf die expressive“ (Reese-Schäfer
2001: 50f.) Repräsentation von Rollen und anderen sozialen Zuschreibun-
gen vor einem Publikum.
ƒ „Kommunikatives Handeln schließlich bezieht sich auf die sprachliche Ver-
ständigung zwischen sprach- und handlungsfähigen Subjekten“ (ebd.). Ha-
bermas knüpft hierbei an G.H. Mead (vgl. S. 45ff.) und an Wittgenstein an.

Da die ersten drei Handlungsbegriffe als Grenzfälle des kommunikativen Han-


delns darstellbar sind, erweist sich der Begriff kommunikatives Handeln als der
umfassendste, also auch die anderen Perspektiven einschließende, Begriff21.
Darüber hinaus aber haben die Begriffe des teleologischen, normativen und dra-
maturgischen Handelns bei Habermas die Bedeutung, dass sie Dimensionen
kommunikativer Weltauslegung bezeichnen.

21
Warum ist nicht auch der in der Soziologie zentrale Begriff des „sozialen Handelns“ (Max Weber;
vgl. Bd.1; S. 165) in diesem Vergleich enthalten? Das hängt damit zusammen, dass das Adjektiv
„sozial“ bei Weber keine spezifische Art und Weise des Handelns charakterisiert, sondern nur den
sozialen Bezug von Handlungen auf eine andere Person oder auch auf soziale Sachverhalte markiert.
Vier unterschiedliche Handlungsarten behandelt Weber „ohne Anspruch auf Vollständigkeit“ .. unter
den Idealtypen des Handelns (vgl. Bd. 1; S. 167f.). Sie sind, da sie an Sprache gebunden sind, im
kommunikativen Handeln enthalten.
Gesellschaftskritische Theorieansätze 171

Handlungsart Geltungsanspruch Weltbezug

Teleologisches Handeln Wahrheit objektive Welt

Normatives Handeln Richtigkeit soziale Welt

Aufrichtigkeit
Dramaturgisches Handeln subjektive Welt
(Wahrhaftigkeit)

reflexiver Bezug auf alle


Kommunikatives Handeln Verständigung
drei »Welten«

(in Anlehnung an: Reese-Schäfer 2001, S. 53)

Der untersten Zeile der Übersicht ist zu entnehmen, dass kommunikatives Han-
deln durch den Geltungsanspruch der Verständigung charakterisiert wird und
sich reflexiv auf alle drei Welten bezieht. Dass Kommunikation auf Verständi-
gung zielt, aber nicht immer zur Verständigung führt – deshalb ist von Geltungs-
anspruch und nicht etwa von Geltung die Rede – ist vermutlich leicht zu verste-
hen. Geltungsansprüche gehören zu den kontrafaktischen Annahmen, die wir
auch dann machen müssen, wenn wir enttäuscht wurden. Nur unter dieser An-
nahme macht die Nutzung der Sprache zur Verständigung überhaupt Sinn, das
Verständigungsziel muss auch als Motiv der Sprecher verfügbar sein.
Aber was bedeutet „reflexiver Bezug auf alle drei Welten“? Ähnlich der Drei Symbolwelten
Bedeutung der Umwelt für ein Tier ist eine „Welt“ unendlich, man kommt nie
über sie hinaus, kann sie selbst als Astronaut nicht von außen betrachten. Anders
als die Umwelt ist sie jedoch eine kulturelle Konstruktion im Rahmen der Sym-
bolsprache. „Welt“ steht für einen unerschöpflichen Horizont sprachlicher The-
matisierungsmöglichkeiten. Anders ausgedrückt: nur weil es eine symbolische
Welt gibt, können wir über alles sprechen. Zu dieser Welt können wir zwei un-
terschiedliche Haltungen einnehmen. Wir können sie als allen Mitgliedern einer
Sprachgemeinschaft selbstverständlich gegebenes Wissen behandeln. Wenn wir
von einem Tisch oder Ball sprechen, nehmen wir natürlich an, dass jeder weiß,
was gemeint ist. Damit gehen wir im Anschluss an Alfred Schütz (vgl. S. 76ff.)
von einer „intersubjektiv geteilten Lebenswelt“ aus (TKH, Bd. 1.: 123). Die
alternative Haltung bezeichnet der in der Übersicht benutzte Begriff des reflexi-
ven Bezugs auf die Welt: Wir können alles in dieser Welt überprüfen oder in
Frage stellen. Im Anschluss an Popper, Jarvie u.a. behauptet Habermas nun, dass
wir uns nicht auf eine, sondern zugleich auf drei dieser unendlichen Symbolwel-
ten beziehen. Das bedeutet vor allem, dass es keine einheitliche Vernunft, keine
einheitliche Rationalität, sondern eine in drei unterschiedliche Gesichtspunkte
differenzierte gibt. Für jeden Sprecher folgt daraus, dass er in einem Satz bis zu
drei Geltungsansprüche erheben kann.
172 Ditmar Brock

Geltungsansprüche Um welche Geltungsansprüche und welche drei Weltbezüge es dabei geht,


zeigen die oberen Spalten der Übersicht. So bezieht sich etwa die Handlungsart
teleologisches Handeln auf die objektive Welt und erhebt Ansprüche auf Wahr-
heit. Ebenso können Ansprüche auf normative Richtigkeit gegenüber einer sozia-
len Welt und auf Aufrichtigkeit (man kann auch von Wahrhaftigkeit sprechen)
gegenüber einer subjektiven Welt erhoben werden. Bei diesen drei Welten geht
Habermas von einem historischen Ausdifferenzierungsprozess aus, der das Den-
ken und Handeln heutiger Menschen unter modernen Bedingungen von dem
„wilden“ oder mythologischen Denken in Stammesgesellschaften trennt. Zu-
nächst habe man Aspekte der objektiven von denen der sozialen und der subjek-
tiven Welt nicht trennen können (TKH, Bd.1: 72ff).
Praktische Konse- Das heutige Denken sei dagegen dadurch charakterisiert, dass wir mit Din-
quenzen der Diffe-
gen, die wir einer objektiven Welt von Tatsachen zurechnen, Habermas definiert
renzierung der Ver-
nunft in drei Welten sie als „Gesamtheit der Sachverhalte“ (TKH, Bd.1: 130), prinzipiell anders um-
gehen als mit Aspekten, die wir einer sozialen oder subjektiven Welt zurechnen.
Das liegt daran, dass eine soziale Welt „aus einem normativen Kontext besteht
..., der festlegt, welche Interaktionen zur Gesamtheit berechtigter interpersoneller
Beziehungen gehören“ (ebd. 132). Unter subjektiver Welt versteht Habermas
eine Innenwelt oder „innere Welt“ der Sprecher, die gegen eine äußere Welt
abgegrenzt ist (ebd. 140). Diese drei Welten sind inkompatibel und jeweils für
sich unendlich, weil jede Welt andersartige Klärungsfragen, also auch andere
Vernunft- und Rationalitätsaspekte aufwirft. Während in der objektiven Welt nur
nach der Wahrheit von Tatsachenbehauptungen gefragt werden kann, macht
diese Frage in den anderen beiden Welten keinen Sinn. Dagegen geht es in der
sozialen Welt nur um Fragen nach der normativen Richtigkeit. In Bezug auf die
subjektive Innenwelt eines Sprechers kann nach Habermas nur gefragt werden,
ob ein Sprecher aufrichtig ist oder ob er irgendetwas vortäuscht. Diese unter-
schiedlichen Arten von Behauptungen nennt Habermas Geltungsansprüche. Dass
wir im Alltag immer solche Geltungsansprüche aufstellen, wird erst Gegenstand
der Alltagskommunikation, wenn jemand eine Behauptung in Frage stellt. Dann
müssen wir entweder die darin enthaltenen Geltungsansprüche mit Argumenten
rechtfertigen oder einräumen, dass wir uns geirrt haben. Über den Mechanismus
des in Frage Stellens von Geltungsansprüchen kann die Vernünftigkeit der All-
tagskommunikation immer überprüft werden.

Übungsaufgabe:

Welche Geltungsansprüche enthält der Satz: „Ich verspreche dir, dass ich mor-
gen komme“? Worüber müsste im Zweifelsfall diskutiert werden?

Soziale Bindungs- Warum werden überhaupt Behauptungen in Frage gestellt? Das hat damit zu tun,
effekte sprachlicher
dass wir unsere Handlungen durch sprachliche Verständigung koordinieren. Wir
Verständigung haben
mit Rationalität folgen aber nicht jeder Aufforderung, sondern nur solchen, die wir für begründet
zu tun halten. So wird beispielsweise niemand der Aufforderung einfach Folge leisten,
jetzt aus dem Fenster zu springen. Dazu können ihn nur gute Gründe veranlas-
sen. Daher wird die Sprache nur dann zu einem sozialen Bindemittel, wenn unter
Gesellschaftskritische Theorieansätze 173

den Beteiligten gegebenenfalls durch Argumentation Einverständnis über die


aufgestellten Geltungsansprüche erzielt werden konnte.
Wie ist nun aber der naheliegende Fall zu bewerten, dass jemand etwas nur Grenzen sprachlicher
Rationalität
vorgibt, vortäuscht oder irgendwelchen Nonsens oder Illusionen von sich gibt?
In diesen Fällen könnte der Hörer überhaupt nicht oder nicht begründet Stellung
nehmen. In diese Fällen „bleibt das in sprachlicher Verständigung enthaltene
Potential für eine durch Einsicht in Gründe motivierte Bindung“ (TkH, Bd.1:
410) ungenutzt. Hierzu ist allerdings anzumerken, dass dieses Argument darauf
aufmerksam macht, dass es offenbar Grenzen für die Nutzung sprachlicher Ver-
ständigung im Alltag gibt, mit denen sich Habermas allerdings nicht näher be-
schäftigt. In obigem Beispiel könnte ja auch ein Revolver und die damit verbun-
dene Drohung zu schießen, jemanden veranlassen, der Aufforderung zu folgen,
aus dem Fenster zu springen.

Übungsaufgabe:

Wozu wird in „Big Brother“ und ähnlichen expliziten Voyeur-Situationen die


Sprache benutzt?

Kommunikatives Handeln ist das zentrale mikrosoziologische Konzept bei


Habermas. Der Begriff ist so konzipiert, dass er alle anderen Handlungsbe-
griffe einschließen soll. Die Verbindung zwischen Kommunikation und Ratio-
nalität wird durch die drei Welten-These und die Annahme von Geltungsan-
sprüchen hergestellt, die in jeder Kommunikation behauptet, in Diskursen ge-
rechtfertigt werden können und im Erfolgsfall gemeinsame historische Wahr-
heiten begründen.

Den Nachweis für die weitreichenden Behauptungen zum kommunikativen Han- Aufbau der TkH
deln führt Habermas über die Theoriegeschichte, also nur indirekt. Nach dem
Vorbild der Konvergenzthese bei Parsons (vgl. Bd.1, S. 202) möchte Habermas
zeigen, dass sich die wesentlichen Elemente der soziologischen Theorie in sein
integratives Konzept einer Theorie des kommunikativen Handelns einbauen
lassen. Nach dem Vorbild von Max Webers Wirtschaftsethik der Weltreligionen
(vgl. Bd.1, S. 177ff.) möchte Habermas weiterhin in zwei Zwischenbetrachtun-
gen und einer Schlussbetrachtung einen zusätzlichen Ertrag aus diesen Exkursen
zur klassischen Sozialtheorie bilanzieren. Hier wird sein Argumentationsgang
nicht im Einzelnen nachgezeichnet (vgl. hierzu Reese-Schäfer 2001: 55ff), son-
dern nur die wesentlichen Ergebnisse werden referiert. Habermas präsentiert sie
in zwei Zwischenbetrachtungen (TkH, Bd. 1: 369-454; Bd.2: 173-296) und in
der Schlussbetrachtung (TkH, Bd. 2: 447-593). Die nachfolgende Darstellung
zeichnet somit nicht den Gang durch die Theoriegeschichte nach, sondern kon-
zentriert sich ausschließlich auf die Wiedergabe der zentralen Ergebnisse dieser
Kapitel.
174 Ditmar Brock

4.3.4 Der Paradigmenwechsel von der Bewusstseins- zur Sprachphilosophie

Der Paradigmen- In der ersten Zwischenbetrachtung begründet Habermas anhand von Webers
wechsel
Begriff des sozialen Handelns (vgl. Bd.1, S. 165 f.) den von ihm für notwendig
gehaltenen Paradigmenwechsel von der Bewusstseins- zur Sprachphilosophie.
Während die Bewusstseinsphilosophie in der Tradition von Descartes und Kant
von der Selbstvergewisserung des einsamen Subjekts ausgeht22, setzt die Sprach-
philosophie von vornherein an dem an, was zwischen Sprechern, also intersub-
jektiv, passiert. Ihre Fixpunkte – Sprache, Sätze, die Frage: was kann ich verste-
hen? (vgl. Reese-Schäfer 2001: 58) – tangieren viel direkter soziologische Frage-
stellungen. Der philosophische Hauptvertreter dieser Richtung ist Wittgenstein23.
Vorteil des Paradig- Hier interessieren nicht die Details der Begründung für diesen Paradigmen-
menwechsels
wechsel, sondern nur seine Anwendung. Der erste Vorteil ist, wie Habermas im
letzten Kapitel des ersten Bandes erläutert, dass damit ein Grundproblem der
älteren Kritischen Theorie gelöst wird. Horkheimer und Adorno hatten die Ge-
sellschaft insgesamt als Fehlentwicklung kritisiert ohne den Standpunkt angeben
zu können, von dem aus diese Kritik überhaupt formuliert werden kann. Haber-
mas dagegen kann, wie noch erläutert werden wird, eine Gesamtkritik als Kritik
der „Verständigungsverhältnisse“ in der Kommunikation verankern.

4.3.5 System und Lebenswelt

Lebenswelt In der zweiten Zwischenbetrachtung wird diese Gesellschaftskritik durch den


Dualismus von System und Lebenswelt vorbereitet. Anknüpfend an seine frühere
Unterscheidung zwischen „Arbeit“ und „Interaktion“ hält es Habermas für wei-
terführend „Gesellschaft gleichzeitig als System und Lebenswelt zu konzipieren“
(Habermas 1981, Bd.2: 180). In diesem Konzept ist Lebenswelt der tragende
Begriff. Er wurde als Komplementärbegriff zum Begriff „Welt“ eingeführt. Der
Begriff bezeichnet die unendliche Symbolwelt aus der Perspektive der „natürli-
chen Einstellung“ (Schütz, vgl. S. 80ff.): Der Mensch lebt in einer Welt fraglos
gegebener und intersubjektiv geteilter Überzeugungen. Den Begriff „Welt“ re-
serviert Habermas für einen reflexiven, in Frage stellenden Bezug auf das tra-
dierte kulturelle Wissen.
Lebenswelt und Während Lebenswelt die Gesellschaft aus der Teilnehmerperspektive re-
System – Teil-
flektiert, also die Art und Weise rekonstruieren möchte, wie die Menschen in
nehmer- und Beo-
bachterperspektive ihrem Alltag Gesellschaft erfahren und in ihr leben (vgl. auch den Beitrag von
Reiner Keller in diesem Band), ist der Systembegriff aus der Beobachtungsper-
spektive konzipiert. Systemtheoretiker wie Luhmann (vgl. S. 357ff.) wählen
diese Beobachtungsperspektive, um Gesellschaft unter Gesichtspunkten rekon-
struieren zu können, die gerade nicht der Teilnehmerperspektive entsprechen.
Genau dieser veränderte Blickwinkel sei informativ (vgl. Luhmann 1984, Einlei-
tung).
22
Kant: „Was kann ich wissen?“ Descartes: „Cogito ergo sum“ (Ich denke, also bin ich)
23
Ludwig Wittgenstein (1889-1951) war ein österreichisch-britischer Philosoph. Hauptwerke zu
Lebzeiten: Tractatus logico-philosophicus (1922) und Some Remarks on Logical Form (1929).
Gesellschaftskritische Theorieansätze 175

Systemtheoretiker benutzen den Begriff „soziales System“ als Universal-


begriff, der prinzipiell auf den gesamten Gegenstandsbereich der Soziologie
angewendet werden kann. Wie kann Habermas diesen Begriff für einen be-
stimmten Ausschnitt der Gesellschaft, nämlich den Bereich „materieller Repro-
duktion“ reservieren und umgekehrt den Begriff Lebenswelt auf den Bereich
kultureller Reproduktion eingrenzen?
Habermas bezeichnet als „System“ eine Beobachtungsperspektive, die über Systembegriff bei
Habermas
die Medien Macht und Geld gesellschaftlich institutionalisiert wurde. Immer
dann, wenn wir im Alltag mit Geld oder Macht hantieren, interessieren wir uns
nicht für die Motive unserer Mitmenschen, sondern nur für ihre tatsächlichen
Handlungen – Sprache als Mittel der Verständigung und Handlungskoordination
ist dann entbehrlich. Jeder kann das entsprechende Experiment selbst machen:
Gehen Sie in einen Laden und versuchen Sie ohne ein Wort zu sprechen einzu-
kaufen. Das geht nicht nur im Selbstbedienungsladen ziemlich problemlos.
Wichtig ist allein, dass man bezahlen kann. Das Geld können Sie nicht durch
sprachliche Verständigung ersetzen – es ist zwecklos, der Verkäuferin zu erklä-
ren, warum man eine bestimmte Ware ganz dringend braucht und sie zu bitten,
sie einem auch ohne Bezahlung zu geben. Das zeigt, dass hier eine Beobach-
tungsperspektive gesellschaftlich institutionalisiert wurde. Es kommt nur auf
bestimmte Handlungen unabhängig von den Motiven an. Was die Verkäuferin
über ihre Kunden denkt oder der Kunde über die Verkäuferin ist ebenso belang-
los wie Begründungen, Behauptungen und dergleichen, die nicht unmittelbar mit
dem Kaufakt zu tun haben (wie Reklamationen und dergleichen). Genau diesel-
ben Feststellungen kann man auch in anderen Bereichen der materiellen Repro-
duktion machen, wo es um Arbeitleistungen oder um die Einhaltung von Vor-
schriften und Gesetzen geht.
Ein solcher „systemischer Bereich“ ist nach Habermas aus Effektivitäts- Effektivitätssteige-
rung durch Macht
gründen entstanden – die Medien Macht und Geld erlauben wesentlich effektive-
und Geld
re Lösungen der Probleme materieller Reproduktion als Formen der Arbeits- und
Aufgabenteilung über gute Worte.

Übungsaufgabe:

Vergleichen Sie die Systembegriffe bei Habermas und Luhmann!

Komplementär zum System ist die Lebenswelt auf Probleme kultureller Repro- Lebenswelt bei
Habermas
duktion spezialisiert. Eine über Medien organisierte Beobachtungsperspektive
kann hier die sprachliche Verständigung nicht ersetzen – bei der Kolonialisie-
rungsthese weiter unten wird erklärt, warum das so ist. Allerdings kann die Le-
benswelt aus zwei Gründen einen gewissen Vorrang gegenüber dem systemi-
schen Bereich beanspruchen.
Der erste Grund hat mit dem Evolutionsprozess zu tun. Ein systemischer Be- Vorrang der
Lebenswelt
reich wurde aus der Lebenswelt ausgegliedert und nicht umgekehrt. Daraus kann
man folgern, dass im Not- oder Katastrophenfall eine Gesellschaft ohne System
noch funktionieren könnte, aber keine Gesellschaft ohne Lebenswelt und sprach-
liche Verständigung. Die Ausgliederung des systemischen Bereichs aus der Le-
176 Ditmar Brock

benswelt erfolgte über die Medien Macht und Geld. Man kann sie sich als Stan-
dardisierung von Erwartungen vorstellen, die sprachliche Verständigung entbehr-
lich machen. Das ist daran zu erkennen, dass man z.B. mit Geld nur solange etwas
kaufen kann, wie alle vom „Wert“ des bedruckten Papiers überzeugt sind. Sobald
diese Erwartung (in der BRD z.B. unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg; in einigen
Ländern der dritten Welt heute) nicht mehr generell besteht, muss auf Ersatzzah-
lungsmittel ausgewichen werden (Zigaretten, Dollars ...), an deren Wert noch alle
glauben. Sonst bliebe nur der über Sprache laufende Naturaltausch.

Habermas entwickelt einen dualistischen, aus System und Lebenswelt zu-


sammengesetzten Begriff der Gesellschaft. Er bringt die Teilnehmerperspek-
tive der Lebenswelt mit der Beobachterperspektive des Systems zusammen.
Anders als bei Luhmann handelt es sich bei der Beobachterperspektive um
eine über die Medien Macht und Geld in der Gesellschaft selbst verankerte
Perspektive. Das ermöglicht die Effektivierung menschlicher Aktivitäten im
Bereich der materiellen Reproduktion. Dagegen bleibt der Bereich kultureller
Reproduktion auf sprachliche Verständigung und diskursive Rationalisierung
im Rahmen der Lebenswelt angewiesen. Die Lebenswelt ist der primäre Be-
reich, aus dem der systemische Bereich im Laufe der Evolution ausdifferen-
ziert wurde.

Der zweite Grund für einen Vorrang der Lebenswelt besteht darin, dass sie für
Verständigung offen ist – jederzeit können selbstverständliche Überzeugungen in
Frage gestellt und einer Überprüfung unterzogen werden. Darauf basiert auch die
weitere Rationalisierung der Lebenswelt. Im Kern geht es dabei um Fragen eines
normativ richtigen Zusammenlebens, also um eine Weiterentwicklung normati-
ver Überzeugungen. Die Rationalisierung der materiellen Reproduktion ist dage-
gen viel festgelegter. Sie setzt voraus, dass die Medien Geld und Macht nicht in
Frage gestellt werden. Nur auf dieser Grundlage ist weitere Rationalisierung im
Sinne von Effektivitätssteigerung möglich.

Übungsaufgabe:

Habermas entlehnt den Begriff Lebenswelt von Schütz (vgl. S. 80ff.). Verwendet
er diesen Begriff genau so wie Schütz oder versieht er ihn mit anderen Akzen-
ten? Diese Frage können Sie am besten beantworten, wenn Sie vergleichen, auf
welche Weise der Mensch bei Schütz bzw. bei Habermas seinen Alltag optimal
bewältigt.

4.3.6 Die Kolonialisierungsthese


Verständigung in der In der Schlussbetrachtung stellt Habermas die so genannte Kolonialisierungsthe-
Lebenswelt bedroht
se auf. Danach besteht das Problem, es ist auch von „Pathologie“ die Rede, mo-
derner Gesellschaften darin, dass der Bereich Lebenswelt/kulturelle Reprodukti-
on in unsachgemäßer Weise rationalisiert und „verdinglicht“ werde. Habermas
befürchtet
Gesellschaftskritische Theorieansätze 177

„das Eindringen von Formen ökonomischer und administrativer Rationalität in


Handlungsbereiche, die sich der Umstellung auf die Medien Geld und Macht wider-
setzen, weil sie ... auf Verständigung als Mechanismus der Handlungskoordinierung
angewiesen bleiben“ (TkH, Bd.2: 488).

In einer gesellschafts- und modernisierungstheoretischen Sichtweise geht es Das Problem einer


inneren Kolonialisie-
darum, das Umschlagen einer sachlich angemessenen „Mediatisierung“ der Le-
rung
benswelt in „innere Kolonialisierung“ abzuwenden. Mit „Mediatisierung“ erfasst
Habermas den Vorgang,

„dass eine fortschreitend rationalisierte Lebenswelt von ... Ökonomie und Staats-
verwaltung zugleich entkoppelt und in Abhängigkeit gebracht wird. Diese ... Ab-
hängigkeit nimmt in dem Maße sozialpathologische Formen einer inneren Kolonia-
lisierung an, wie kritische Ungleichgewichte in der materiellen Reproduktion ... nur
noch um den Preis von Störungen der symbolischen Reproduktion der Lebenswelt
(d.h. von „subjektiv“ erfahrenen identitätsbedrohenden Krisen oder Pathologien)
vermieden werden können“ (TkH, Bd. 2: 452; Hervorh. i. Orig.; Erläuterung in
Klammern D.B.).

Diese komplexe These wird in zwei Schritten erklärt. Zunächst wird an einem
einfachen Beispiel gezeigt, warum der Einsatz von systemischen Medien in der
Lebenswelt zu unsachgemäßen Resultaten führt. In einem zweiten Schritt geht es
dann um die gesellschaftstheoretische Anwendung dieses Aspekts auf den Zu-
sammenhang zwischen „systemischen Krisen“ und „Störungen der symbolischen
Reproduktion der Lebenswelt“.

Erster Schritt: Feierabend in einer deutschen Kleinfamilie.

Stellen wir uns den Feierabend einer deutschen Kleinfamilie vor. Die Eltern Ein einfaches
Beispiel
kommen abends erschöpft von der Arbeit nach Hause und werden mit den Prob-
lemen ihres Kindes konfrontiert. Es hat z.B. den ganzen Nachmittag mit Fernse-
hen und Computerspielen verbracht und noch keine Schularbeiten gemacht. Der
angemessene Weg wäre nun, in geduldigen Gesprächen und unter emotionaler
Zuwendung nach den Gründen zu suchen und mit dem Kind gemeinsam einen
Weg zu finden, das Problem zu lösen. Der unangemessene, aber Zeit und Nerven
sparende „systemische“ Weg wäre dagegen, dem Kind für sein zukünftiges
Wohlverhalten eine Geldprämie anzubieten. Dabei würde das Kind mit seinen
Problemen alleingelassen und die Verankerung der Familie in der Lebenswelt –
in Form gemeinsam geteilter Überzeugungen – würde weiter zerfallen.

Zweiter Schritt: Zusammenhang zwischen systemischen Krisen und Störungen


der symbolischen Reproduktion der Lebenswelt.

Zunächst: Was sind systemische Krisen? Habermas geht davon aus, dass der Privatsphäre und
Öffentlichkeit als
Sozial- und Wohlfahrtstaat Krisen des Wirtschaftssystems abfedert und kompen-
Nahtstellen zwischen
siert, ohne dabei dessen institutionelle Grundlagen wie Privateigentum und Pro- System und
fitstreben anzutasten. Im Zuge der Mediatisierung der Lebenswelt hätten sich Lebenswelt
Bereiche ausdifferenziert, die auf jeweils einen der beiden systemischen Berei-
178 Ditmar Brock

che bezogen sind: Die Privatsphäre ist die Nahtstelle zum Wirtschaftsystem, die
Öffentlichkeit die zum politischen System. Die Nahtstelle selbst kann als Aus-
tauschbeziehung zwischen komplementär aufeinander bezogenen Leistungen
beschrieben werden. Näheres ist dem folgenden Schaubild zu entnehmen

Institutionelle Ordnungen der Austausch- mediengesteuerte


Lebenswelt Beziehungen Subsysteme
1) M’

Arbeitskraft

Arbeitseinkommen
Privatsphäre Wirtschaftssystem
2) G

Güter und Dienste

G’

Nachfrage

1a) G’

Steuern

Öffentlichkeit Organisationsleistungen
Verwaltungssystem
2a) M

Politische Entscheidungen

M’

Massenloyalität
G = Geldmedium/M = Machtmedium
(in Anlehnung an: Habermas 1981, Bd. 2, S. 473)

Eindringen von Systemische Krisen wirken, wie auch derzeit (im Jahr 2005) zu beobachten ist,
Macht und Geld in
durch Veränderungen an der Nahtstelle zwischen System und Lebenswelt in die
die Lebenswelt
Lebenswelt hinein – z.B. wenn längere Arbeitszeiten bei gleichzeitiger Kürzung
Gesellschaftskritische Theorieansätze 179

der Lohneinkommen durchgesetzt werden oder über so genannte Reformen So-


zialleistungen gekürzt und Steuern erhöht werden. Als Habermas 25 Jahre früher
an diesem Thema arbeitete, konnte er noch davon ausgehen, dass Konflikte ge-
genüber dem Wirtschaftsystem über die Konsumentenrolle und gegenüber dem
Sozialstaat über die Klientenrolle abgefedert würden (TkH, Bd.2: 515f). Beide
Rollen liegen an der Nahtstelle zwischen System und Lebenswelt. Unter diesen
Bedingungen vermutet Habermas nun, dass „das kapitalistische Wachstum Kon-
flikte innerhalb der Lebenswelt vor allem infolge der Ausdehnung und Verdich-
tung des monetär-bürokratischen Komplexes“ (ebd. 516) auslöse. Mit anderen
Worten: Dieses Eindringen der systemischen Medien Macht und Geld in die
Lebenswelt erfolge zunächst über Konsum und über Abhängigkeiten vom Sozi-
alstaat (als Klient von Ämtern). Ein kritischer Punkt werde aber erst dann er-
reicht, „wenn Funktionen der symbolischen Reproduktion der Lebenswelt“ (ebd.
516) insgesamt berührt werden.
Um besser verstehen zu können, was damit gemeint ist, greife ich noch Sinnverlust und
Anomie
einmal das obige Beispiel auf, das man sich nun aber im Großformat vorstellen
muss. Was passiert in einer Gesellschaft, deren Mitglieder nur noch Zulieferer
für und Empfänger von staatlichen und wirtschaftlichen Leistungen sind? Ähn-
lich den müde von der Arbeit nach Hause kommenden Eltern in unserem Bei-
spiel wird ihnen Kraft, Gelegenheit und Muße fehlen, sich darauf zu verständi-
gen, nach welchen Normen und Mustern gemeinsam gelebt werden sollte. Die
die Lebenswelt ausmachenden selbstverständlichen Überzeugungen können
unter diesen Bedingungen nicht mehr weitergegeben, geschweige denn auf ihre
normative Richtigkeit hin diskursiv überprüft werden. Sie werden in beliebige
Bestandteile zerfallen und anschließend vergessen werden, oder sie lösen sich
einfach in nichts auf. Damit würden aber auch die systemischen Bereiche Wirt-
schaft und Staat nicht mehr auf Ordnungsleistungen der Lebenswelt zugreifen
können. Auf der Ebene der Kultur würde an die Stelle „konsensfähiger Deu-
tungsschemata („gültiges Wissen“)“ (TkH, Bd.2: 214) „Sinnverlust“ treten. Auf
der Ebene Gesellschaft würde die Stelle „legitim geordneter interpersoneller
Beziehungen“ (ebd.) „Anomie“ (TkH, Bd.2: 215) treten. Auf der Ebene der Per-
sönlichkeit würde die Interaktionsfähigkeit durch „Psychopathologien“ (TkH,
Bd.2: 215) zerstört werden.
Ein Beispiel für solche fehlenden Ordnungsleistungen der Lebenswelt sind
die immer lauter werdenden Klagen der Wirtschaft über wachsende Anteile
„nicht ausbildungsfähiger“ Jugendlicher. Den Jugendlichen fehlten neben not-
wendigen Grundkenntnissen zunehmend auch „Arbeitstugenden“ wie Fleiß und
Pünktlichkeit (Ebene Kultur). Solche Defizite hängen oft damit zusammen, dass
sie in solchen Familien aufwachsen, wo die Eltern keine Erziehungsaufgaben
mehr wahrnehmen (Ebene Gesellschaft). Zugleich nehmen Gewalttaten in Schu-
len zu (Indikator für Störungen der Interaktionsfähigkeit – Ebene Persönlich-
keit). Eine Folge solcher Probleme ist, dass die Wirtschaft im Aufschwung auf
zu wenig qualifizierte Arbeitskräfte zurückgreifen kann.
Wenn man weiterhin berücksichtigt, dass die Systeme aus der Lebenswelt Zerstörung der
Lebenswelt wirkt auf
heraus entstanden sind („sich ausdifferenziert haben“), dann wird vollends klar,
Wirtschaft und Staat
dass sie sich den Ast absägen, auf dem sie sitzen. Zumindest die globalisierte zurück
180 Ditmar Brock

Wirtschaft könnte sich allerdings derartige Zerstörungen zumindest so lange


leisten, bis überhaupt keine intakten Lebenswelten mehr nutzbar sind.
Als Beleg für die These einer Kolonialisierung der Lebenswelt nennt Ha-
bermas in illustrativer Absicht einige eher harmlos klingende Beispiele wie die
Tendenz, Konflike zwischen Lehrern, Schülern und Eltern durch Gerichte und
Verrechtlichungs- damit letztlich durch eine weitere Verrechtlichung der Schulen zu lösen. Sie
tendenzen verlieren diesen Anschein der Harmlosigkeit aber schnell, wenn wir uns vorstel-
len, was es bedeutet, wenn alle zwischenmenschlichen Beziehungen nach diesen
Mustern umgestaltet würden.

Lektürevorschlag:

Lesen Sie den letzten Abschnitt der „Theorie des kommunikativen Handelns“ von Jürgen
Habermas 1982; Frankfurt/Main: Suhrkamp, Bd.2, S.583-593.

Die These einer Kolonialisierung der Lebenswelt durch die Medien Macht
und Geld erneuert die Gesellschaftskritik der Frankfurter Schule mit aktuelle-
ren begrifflichen Mitteln. Das Eindringen dieser Medien in die Lebenswelt
zerstört nach Auffassung von Habermas die kulturelle Reproduktion moderner
Gesellschaften. Damit wird auch die kommunikative Rationalisierung norma-
tiver Vorstellungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens blockiert und
möglicherweise zerstört. Die „Verständigungsverhältnisse“ sind in modernen
Gesellschaften also permanent bedroht.

4.3.7 Ausblick

Weitere Vertreter der Es würde den Rahmen dieser knappen Einführung endgültig sprengen, wenn ich
jüngeren Generation
versuchen würde, Ihnen in geraffter Form auch einen Einblick in das Schaffen
weiterer Vertreter der „jüngeren Generation“ der Frankfurter Schule zu geben.
Ähnlich wie bei der älteren Frankfurter Schule muss dieser Text rigoros auf
Positionen und Personen beschränkt bleiben, die zum soziologischen Allge-
meinwissen zählen. Eine empfehlenswerte Einführung in die Arbeiten von Oskar
Negt, Claus Offe, Alfred Schmidt, Albrecht Wellmer, Hauke Brunkhorst, Hel-
mut Dubiel und Axel Honneth gibt Arno Waschkuhn (2000: 193-252).
Ausblick Diesen Abschnitt möchte ich mit einem hoffentlich motivierenden Ausblick
abschließen. Sie werden sich vielleicht an der einen oder anderen schwierigen
Textstelle gefragt haben, wozu man sich mit „solchen ollen Kamellen“ „jenseits
des Verfallsdatums“ überhaupt beschäftigen sollte. Den obligaten Antworten
wie: „das muss man wissen, wenn das Rad nicht immer wieder neu erfunden
werden soll“ und „das kann in der XY Prüfung drankommen“, möchte ich eine
weniger selbstverständliche hinzufügen. Kritische Theorie hat zwar derzeit keine
Konjunktur und es könnte durchaus sein, dass sie noch weiter an öffentlicher
Reputation verliert. Sie hat aber Konzepte, Fragen, Denkmuster hervorgebracht,
die das tun, was sich die Kritischen Theoretiker so inständig (und vergeblich)
Gesellschaftskritische Theorieansätze 181

von den „Widersprüchen“ der kapitalistischen Gesellschaft erhofft haben: Sie


wirken subversiv weiter und entfalten auf diese Weise verändernde Kraft. Sie
ähneln dabei verblüffend den in den „Saatgutgesellschaften“ (Parsons 1975:
149ff) entwickelten Ideen.
Was ist damit gemeint? Neuere Philosophen, die, wie etwa Lyotard und Viele heutige Sozial-
theoretiker greifen
Foucault, nicht der Kritischen Theorie, sondern anderen Richtungen wie dem
auf die Aufklärungs-
Poststrukturalismus (vgl. S. 305ff.) zugerechnet werden und sich mit Aspekten und Rationalitäts-
der Rationalität in der Moderne beschäftigen, greifen auf Erkenntnisse der Auf- kritik zurück
klärungs- und Rationalitätskritik zurück oder erneuern diese. Auch in der neue-
ren soziologischen Modernisierungstheorie ist es undenkbar geworden, Moderni-
sierung wie einst Parsons im Sinne des klassischen Aufklärungsdenkens als blo-
ße Realisierung der Vernunft und des Fortschritts zu begreifen. Es charakterisiert
geradezu den Realismus der Konzepte beispielsweise von Giddens, Beck, Lash
oder Bauman, dass sie offen sind für Schattenseiten der Moderne, für Ambiva-
lenzen, für die Möglichkeiten eines Umschlagens von Modernisierungsprozes-
sen. Auch wenn die ältere Frankfurter Schule in diesen Konzepten allenfalls am
Rande erwähnt wird, wären sie ohne diese nicht denkbar. In ähnlicher Weise
tauchen auch andere Argumente, Thesen, Überlegungen in heutigen Mainstream-
Konzepten auf. Das zeigt, wie breit der Einfluss der hier vorgestellten Theorien
tatsächlich ist, auch wenn bloße Gesellschaftskritik als Zielsetzung überwiegend
abgelehnt wird. Zu den paradoxen Wirkungen der Kritischen Theorie gehört
somit auch, dass sie den von Horkheimer viel beschworenen Graben zwischen
„traditioneller“ und „kritischer“ Theorie über solche Langzeiteffekte eher zuge-
schüttet als klar markiert hat.

5 Konservative Gesellschaftskritik
5.1 Was ist konservative Gesellschaftskritik?

Wenn in diesem Abschnitt von konservativer Gesellschaftskritik die Rede ist, Konservative
Gesellschaftskritik
dann wird damit zunächst eine rein analytische Unterscheidung getroffen. Kon-
servative Gesellschaftskritik entwickelt ihren Kritikmaßstab aus einem in der
Vergangenheit erreichten Zustand der Gesellschaft, der als „besser“ oder „ideal“
oder „überlegen“ angesehen wird. Es geht ihr politisch um die Erhaltung dieser
„besseren“ Vergangenheit. Dagegen bezieht negativistische Gesellschaftskritik
„von links“ ihren Maßstab aus utopischen Modellen einer vorstellbaren besseren,
idealeren oder unter welchem Gesichtspunkt auch immer vorteilhafteren alterna-
tiven Gesellschaft. Es geht also in diesem Abschnitt nicht darum, irgendwelche
Autoren in die rechte Ecke zu stellen. Intendiert ist vielmehr, ein Muster konser-
vativer Gesellschaftskritik herauszuarbeiten.
182 Ditmar Brock

Auch „linke“ Sozial- Weil es sich hierbei um eine rein analytische Unterscheidung handelt, erge-
kritik enthält konser-
ben sich erhebliche Darstellungsschwierigkeiten, die zu einer gewissen Stilisie-
vative Elemente
rung zwingen. Würde man die Unterscheidung mit aller Konsequenz anwenden,
dann müssten Autoren, deren Werke, ja ganze Theorieprogramme „geteilt“ wer-
den, sofern sie beide Maßstäbe nebeneinander benutzen. Die im vorangegange-
nen Abschnitt vorgestellte ältere Frankfurter Schule beispielsweise bediente sich
Frühbürgerliche immer dann eines konservativen Kritikmaßstabes, wenn sie Institutionen und
Gesellschaft Errungenschaften der frühbürgerlichen Gesellschaft (siehe Glossar) gegen aktu-
elle Entwicklungen der Massengesellschaft retten und verteidigen wollte. Diese
Aspekte haben jedoch nur begrenzte und letztlich untergeordnete Bedeutung.
Deswegen können sie im Rahmen eines Lehrbuchs schon aus Gründen der Über-
sichtlichkeit nur angemerkt, aber nicht systematisch dargestellt werden.
Utopische Elemente Zu ähnlichen Stilisierungen und Vereinfachungen muss nun auch bei der
auch bei konservati-
Darstellung der konservativen Gesellschaftskritik gegriffen werden. Neben dem
ver Sozialkritik
konservativen Maßstab spielten in diesem Bereich vor allem in der Anfangspha-
se utopische Modelle eine nicht unerhebliche Rolle. Darauf verweist schon der
Begriff der „konservativen Revolution“, der das Denken zumindest von Hans
Freyer in den 20er und 30er Jahren durchaus trifft (vgl. Sieferle 1995: 13ff und
164ff). In der Sache deuten solche Darstellungsprobleme auf Gemeinsamkeiten
zwischen konservativer und „linker“ Sozialkritik hin, die üblicherweise unter
den Teppich gekehrt werden. In dieser Darstellung werden sie im sechsten Ab-
schnitt gesondert besprochen.
Gab es eine Leipziger Schließlich gilt auch für diesen Abschnitt, dass sich die Darstellung im Sin-
Schule?
ne der Vermittlung sozialtheoretischen Grundwissens selektiv auf die wichtigs-
ten Autoren und Werke beschränken muss. Drei der nachfolgend vorgestellten
Autoren werden vielfach der „Leipziger Schule“ zugerechnet, der Begriff ist aber
noch missverständlicher als der der Frankfurter Schule (vgl. Rehberg 2000: 72f),
deswegen wird er hier nicht verwendet.

Konservative Sozialkritik greift zur Kritik der gegenwärtigen Gesellschaften


auf Kritikmaßstäbe zurück, die einer als „besser“ bewerteten Vergangenheit
entnommen sind. Der Begriff konservative Sozialkritik ist ein rein analyti-
scher Begriff.

5.2 Hans Freyer

5.2.1 Gedankliche Ausgangspunkte

Rezeption Freyers Hans Freyer wird von der Sozialtheorie meist unter Hinweis auf seine NS-
Vergangenheit als Unperson behandelt24 und, wenn überhaupt, nur oberflächlich

24
Wiggershaus (1988; 641) weist darauf hin, dass Heideggers (und Gehlens – D.B.) wesentlich inten-
sivere Verstrickung mit dem NS-Regime deren Bedeutung in der Nachkriegszeit nicht geschadet
hätten. Freyer sei nur deswegen zur Unperson abgestempelt worden, weil er sich nie entschieden vom
Gesellschaftskritische Theorieansätze 183

(z.B. Rehberg 2000) oder beschränkt auf seine Nachkriegsveröffentlichungen


(vgl. insbes. Kruse 1994) rezipiert. Eine gute Rekonstruktion seines gesamten
Denkens liefert dagegen Sieferle 1995, dessen Darstellung für eine eingehendere
Beschäftigung mit Freyer empfohlen wird.

Hans Freyer (1887-1669)

geboren am 31.07.1887 in Leipzig; gestorben am 18.01.1969 in Eberstein-


burg.

Nach einem Studium der Philosophie, Geschichte und Nationalökonomie an


den Universitäten Greifswald und Leipzig promovierte und habilitierte sich
Freyer an der Leipziger Universität. Ab 1925 war er an der Universität Leip-
zig als erster Wissenschaftler in Deutschland auf einem Lehrstuhl für Soziolo-
gie tätig. Seine Person ist allerdings nicht unumstritten. Er war zwar kein
Mitglied der NSDAP, gehörte jedoch zu den geistigen Wegbereitern des Nati-
onalsozialismus. Zudem waren einige seiner Schüler, darunter Arnold Gehlen
(1904-1976) und Helmut Schelsky (1912-1984), aktive Parteimitglieder. Nach
dem Zweiten Weltkrieg konnte er weiterhin an der Universität Leipzig lehren,
und zwar wie zu Beginn seiner Karriere als Soziologe. Aufgrund seiner Nähe
zum Nationalsozialismus geriet er in Misskredit und siedelte daraufhin 1948
nach Westdeutschland über. In Wiesbaden erhielt er eine Redakteursstelle
beim Brockhaus-Verlag. An einer westdeutschen Universität konnte Freyer
sich als ordentlicher Professor nicht mehr etablieren, lehrte jedoch als Emeri-
tus von 1953 bis 1955 an der Universität Münster. Lediglich in Ankara erhielt
er eine Gastprofessur und half dort für kurze Zeit beim Aufbau eines soziolo-
gischen Instituts aus. Im Jahre 1969 starb Freyer. Soziologisch relevante Wer-
ke sind insbesondere das 1930 erschienene „Soziologie als Wirklichkeitswis-
senschaft“ sowie „Theorie des gegenwärtigen Zeitalters“ (1955). In seinen
Schriften nach dem Zweiten Weltkrieg ist kein grundlegender Bruch zu seinen
frühen Werken festzustellen. Er gehörte weiterhin zu den Vertretern einer
äußerst konservativen Strömung.

Eine wichtige Wurzel des antibürgerlichen Ressentiments und der zuweilen Geprägt durch
Jugendbewegung,
überaus pathetischen Prosa Freyers ist die Jugendbewegung25. Intellektuell wur-
Leipzig und Simmel
de Freyer nicht nur durch das Leipziger Umfeld (vgl. Rehberg 2000: 73), son-
dern vor allem durch die (in der Sozialtheorie nicht rezipierte; vgl. jedoch Bd.1,
S. 153) lebensphilosophisch akzentuierte Spätphilosophie Simmels (Simmel
1911; 1917) geprägt, bei dem er sich auch habilitieren wollte. Dieser erste Habi-
litationsversuch ist nur an Simmels frühem Ableben gescheitert.

Faschismus distanziert und die Nachkriegssoziologie wegen ihrer Anpassung an die amerikanische
Soziologie verspottet habe.
25
Freyer war Mitglied des lebensreformerisch orientierten Sera-Kreises um den Verleger Eugen Died-
richs (Sieferle 1995; 164). Einen derartigen Einfluss gibt es auch im Umfeld der Frankfurter Schule –
Lukács, Benjamin und Buber wurden ebenfalls durch die Jugendbewegung geprägt.
184 Ditmar Brock

Spannung zwischen Simmel ging von einer existenziell grundlegenden Spannung zwischen „Le-
Leben und Kultur
ben“ und „Kultur“ aus. Einerseits ist Kultur Voraussetzung für die konkrete
Freiheit des Individuums, die durch Wahl zwischen unterschiedlichen kulturellen
Objektivationen des menschlichen Lebens und die Abarbeitung an ihnen reali-
siert werden kann. Andererseits bleibt die Kultur immer etwas „Fremdes und
Dinghaftes“ (Sieferle 1995: 166) – und diese Entfremdungskomponente nimmt
mit wachsender Vielfalt und Unübersichtlichkeit der modernen Kultur zu. Beide
Seiten dieses Spannungsverhältnisses erhalten bei Freyer neue Akzente.
Lebensbegriff bei Der Lebensbegriff wird durch sprachlichen Anschluss an seine biologischen
Freyer
Komponenten konkretisiert: Freyer betont das „Triebhafte, Über- und Irrationa-
le“ (ebd.). Damit gewinnt Kultur eine viel direktere Ambivalenz – sie hat immer
auch (a) die Bedeutung von Eindämmung, Kanalisierung, Erstarrung des „wilden
Lebens“ und (b) von Unterwerfung des Konkreten unter das Allgemeine. Wie
man z.B. am Begriff der sozialen Identität erkennen kann, führt die Kultur immer
auch dazu, persönliche Besonderheiten einzelner Menschen, also die konkrete
Person, zugunsten allgemein geltender sozialer Schemata, insbesondere den
ausgeübten Rollen, auszublenden.

Übungsaufgabe:

Vergleichen Sie Freyers Lebensbegriff mit dem psychoanalytisch geprägten


Menschenbild bei Marcuse (Eros and Civilization) und Fromm!

Volk als Wesentlich folgenreicher ist eine zweite Veränderung des Lebensbegriffs, in der
Kollektivbegriff
man wie Sieferle (1995: 167) eine Reaktion auf den modernen Relativismus
erkennen kann. Freyer führt einen Kollektivbegriff für „Leben“ ein, das bei
Simmel immer nur individuell gedacht wurde. Er verwendet nicht den Genpool
der heutigen Biologie, sondern den Begriff „Volk“. Anders als das individuelle
Leben, lässt sich der Begriff Volk nicht als „wildes Leben“ konkretisieren, son-
dern immer nur als in gemeinsame kulturelle und soziale Formen gegossenes
Leben. Gerade unter diesem soziologischen Blickwinkel landet man auf dieser
gedanklichen Schiene ganz schnell bei dem auch für den Nationalsozialismus
zentralen Begriff der „Volksgemeinschaft“. Die gedankliche Trennung zwischen
ungeformtem Leben und seiner sozialen Formung und Kanalisierung muss hier
aufgegeben, gedanklich kurzgeschlossen werden – damit scheinen alle Entfrem-
dungsprobleme und Wahlalternativen verschwunden zu sein.

Übungsaufgabe:

Vergleichen Sie den in der Soziologie gebräuchlichen Lebensweltbegriff (vgl. S.


82ff. und S. 174ff.) mit Feyers Begriff „Volk“! Welche Gemeinsamkeiten, wel-
che Unterschiede können Sie entdecken?
Gesellschaftskritische Theorieansätze 185

5.2.2 Kapitalismuskritik und konservative Revolution

Freyer löst dieses konzeptionelle Problem durch Rückgriff auf die damals in der Die authentische
Vergesellschaftung in
deutschen Soziologie im Zentrum soziologischer Debatten stehenden Begriffe der Volksgemein-
Gemeinschaft und Gesellschaft26. Sie werden benutzt, um das Entfremdungs- schaft
problem des in sozialen Zusammenhängen lebenden Menschen zu beschreiben.
Während die „Volksgemeinschaft“ für eine authentische, „subjektnahe“ soziale
Formung des Lebens steht, wird „Gesellschaft“ sowohl mit der Entfremdungs-
komponente wie mit dem modernen Kapitalismus in Zusammenhang gebracht.
Über den weiter unten behandelten Begriff „sekundäre Systeme“ wird dies von
Freyer später genauer ausgearbeitet.
Sieferle referiert Freyers Position so: „Sinn kann das Strömen des Lebens
nur gewinnen, wenn es sich selbst eine Form gibt, zur Gestalt gerinnt oder, in
Freyers Terminologie, „bündig“ wird. Diese „Bündigkeit“ des Lebens formiert
sich dann zu einem System der „Kultur“, dessen sich das menschliche Indivi-
duum in Form von „Bildung“, das heißt als spezifische Eingrenzung und For-
mung seiner chaotischen Vitalität, versichern kann. Dieser Bildungsprozess ist
jedoch notwendigerweise an zwischenmenschliche Kommunikation gebunden,
wodurch das Individuum in Relation zu anderen Individuen gesetzt wird. Auf
diesem Wege entstehen soziale Gemeinschaften, innerhalb derer die Individuen
Form und Halt gewinnen“ (Sieferle 1995: 172).
Dieser völkische Gemeinschaftsbegriff liefert Freyer den gesellschaftskriti- Die Volksgemein-
schaft als Maßstab
schen Maßstab, mit dem er Modernitäts- und Kapitalismuskritik betreibt. In
der Modernitäts- und
seiner Habilitationsschrift (Freyer 1921) hatte er sich mit unterschiedlichen Ein- Kapitalismuskritik
stellungen zur Technik beschäftigt. Ausgangspunkt seiner Kritik sind Verselbst-
ständigungstendenzen der Technik:

„Hier hat sich zwischen den Menschen und die eigentlichen Zwecke seines Lebens
ein riesenhafter und selbstherrlicher Komplex von Mitteln mit eigener Wachstums-
tendenz eingeschoben, und die Frage wird dringend, ob ein solcher Apparat über-
haupt noch beherrschbar ist“ (Freyer 1921: 135).

In seinen weiteren Veröffentlichungen (insbes. 1923, 1925, 1955) verallgemei- Sekundäre Systeme
nert Freyer diese Problemdiagnose zu einer „Theorie sekundärer Systeme“. Als
Diagnose ist sie eng mit der zentralen Überlegung bei Marx verwandt, dass sich
nämlich die Arbeitsmittel als Kapital gegenüber ihrem eigentlichen Zweck ver-
besserter Naturbeherrschung zu einer das Proletariat unterdrückenden Kraft ver-
selbstständigten (vgl. Bd.1, S. 67). Sekundäre Systeme verkörpern ein nach Per-
fektion im Detail strebendes, aber gegenüber dem realen Leben letztlich illusio-
näres Machbarkeitsdenken, das vier Dimensionen aufweist: die Machbarkeit der
Sachen, die Organisierbarkeit der Arbeit, die Zivilisierbarkeit des Menschen und
die Vollendbarkeit der Geschichte (vgl. Freyer 1955, Kap. 1). Der Mensch wird
nur noch punktuell in diese neue Ordnung integriert.

26
Das 1931 erschienene „Handwörterbuch der Soziologie“ bietet z.B. zu diesem Thema dem Leser
gleich drei von Geiger bzw. Tönnies verfasste umfangreiche Artikel (Vierkandt 1931).
186 Ditmar Brock

„Es ist, als ob die Denkweise der exakten Naturwissenschaft modernen Stils durch
eine Zauberei zur Wirklichkeit geworden wäre: nur ein Minimum von Setzungen,
und nur was aus ihnen konstruierbar ist, gilt; wie dort gedacht wird, so wird hier ge-
baut… Die Elemente eines solchen Systems (im Falle einer sozialen Struktur also
die Menschen) müssten ebenfalls durch wenige Eigenschaften definiert sein … Der
Mensch wird also, insofern er diesem Modell angehört, auf ein Minimum redu-
ziert… Konkret gesprochen: es wird nur mit solchen Antriebskräften und Dispositi-
onen gerechnet, die kaum aus der menschlichen Natur wegzudenken sind und deren
konstante Mitwirkung das Modell selbst … zu garantieren sich getraut – mit seinem
Selbsterhaltungstrieb, mit seinem Willen, gebotene Chancen auszunutzen, mit einem
gewissen Streben, sich zu verbessern…, ferner mit dem Hang zum Wohlleben und
mit einigen elementaren Bindungen an Weib und Kind. So „nehmen“ sekundäre
Systeme den Menschen; das heißt: sie entwerfen eine soziale Ordnung, die von so
beschaffenen Subjekten vollzogen werden kann und ihnen laufend zu tun gibt“
(Freyer 1955: 83f).

Sekundäre Systeme Die sekundären Systeme überlagern als eine eigene, Festigkeit und Sachgesetz-
ermöglichen zivilisa-
lichkeit gewinnende Realität das als Volksgemeinschaft gedachte „eigentliche“
torische Globalisie-
rung soziale Leben. Eine Dimension dieser Überlagerung ist bereits bei Freyer die
Globalisierung, da „Wirtschaft und Technik ... Produkte und Verfahren her-
vor(bringen), die ... auf andere Kulturen übertragen werden können. So absurd es
gewesen wäre, etwa inmitten der chinesischen Hochkultur eine gotische Kathed-
rale zu errichten, so selbstverständlich ist der Export technischer Gegenstände an
jeden beliebigen Ort auf der Erde“ (Sieferle 1995: 175f). Mit seiner These vom
„Wettkampf der Kontinente“ (Freyer 1955: 253) nimmt Freyer Huntingtons27
Szenario eines „Clash of Civilizations“ vorweg.

Für Freyer ist der Kapitalismus ein zivilisatorisches Problem, weil infolge der
Profitinteressen Ordnungen entstehen, die den Menschen keinen „Halt“ mehr
geben, sondern sie nur noch punktuell integrieren.

Übungsaufgabe:

Richard Sennett hat vor einigen Jahren eine Gegenwartsdiagnose vorgelegt, wo-
nach der heutige Kapitalismus von den Beschäftigten ein derartiges Maß an Fle-
xibilität fordere, dass sie jeglichen Halt verlören und ein diffuses Gefühl der Drift
entwickelten (Sennett 1998). Vergleichen Sie Freyers mit Sennetts Diagnose.
Folge: doppelte In den Programmen der Aufklärung und des Liberalismus werden einer der-
Entfremdung
artigen Entwicklung, nicht nur in materieller Hinsicht, positive Effekte zuge-
schrieben. Individuelle Wahlmöglichkeiten nehmen zu. Mit der Auflösung ge-
schlossener Stammes- und Volksgemeinschaften wird auch der kulturelle Reich-
tum der gesamten Menschheit der Tendenz nach universell verfügbar. Dagegen
versehen Freyer, aber auch andere konservative Kulturkritiker wie z.B. Spengler

27
Samuel P. Huntington (1927), amerikanischer Politikwissenschaftler, behauptet, dass die Weltpolitik
im 21. Jahrhundert von den Beziehungen zwischen 8 (bzw. 9) Kulturkreisen bestimmt werde.
Gesellschaftskritische Theorieansätze 187

oder Jünger28, dieselbe Tendenzaussage (hierin besteht Einigkeit) mit negativen


Vorzeichen. Die Vielfalt potentieller Möglichkeiten führe nur, so wird befürch-
tet, zur Desorientierung, da ihnen eben die Verbindlichkeit abgehe. Individuell
konstruierten „Bastelbiographien“ (Hitzler 1994) fehlt die allgemeine und un-
zweifelhafte Anerkennung, so dass Nihilismus, Relativismus, Gleichgültigkeit
um sich greifen. Zudem könnten die vereinzelten Individuen einer neuen, abs-
trakt-unpersönlichen Herrschaft sekundärer Systeme unterworfen werden. Wirt-
schaftlich-technische Globalisierungstendenzen führten somit in eine doppelte
Entfremdung hinein – in eine Entfremdung des isolierten Individuums gegenüber
kulturell-institutionellen Verbindlichkeiten und in eine Entfremdung der Herr-
schafts- und Abhängigkeitsverhältnisse.
Eine derartige Kultur- und Gesellschaftskritik kann, wie Freyer das in sei- Das Volk als
Rettungsanker gegen
nem späten Hauptwerk Theorie des gegenwärtigen Zeitalters (1955) auch detail-
die zivilisatorische
liert betreibt, ihre Kritikmaßstäbe historischen, noch über eine „Volkskultur“ Bedrohung
integrierten Gesellschaften entnehmen. „Die ‚Menschheit’ existiert in einer sol-
chen Perspektive nur als Mosaik völkischer Besonderheiten“ (Sieferle 1995:
177). Nur ein Volk, das daran festhalten kann, entgeht „dem gefürchteten
Schicksal der Nivellierung und Homogenisierung durch den Kapitalismus“
(ebd.). Ebenso wie in den Augen der Theoretiker der Frankfurter Schule stellt
auch für Freyer der Kapitalismus vor allem eine kulturelle Gefahr für den Men-
schen dar.

5.2.3 Revolutionärer Aktivismus: Führer und Volk

Während Freyer nach 1945 ganz auf dieser Linie der Bewahrung kultureller und Ein „Führer“ kann
Entfremdung
historischer Besonderheiten argumentiert, enthalten seine Veröffentlichungen aufheben
zwischen 1923 und 1934 darüber hinaus noch eine revolutionäre Pointe. Die
Autonomie von Wirtschaft und Technik kann dadurch beendet werden, dass sie
in den Dienst völkischer Zwecke gestellt wird und so wiederum ihren Mittelcha-
rakter „zurückerhält“. Denn Technik sei von jeher (wie bei Marx, aber auch bei
Spengler) eine Verkörperung des menschlichen Geistes und des menschlichen
Willens – in Hegels Terminologie eine Gestalt des objektiven Geistes. Dieser
Zusammenhang kann politisch jederzeit wieder explizit hergestellt werden:

„Die Technik, dieses System von eigner Herkunft, eigner Entwicklungstendenz und
planetarischem Ausmaß, wird zum Glied des Reichs gemacht: gleichsam zur Wehr-
verfassung des Volks in seinem Kampf gegen die Natur“ (Freyer 1925: 175f zit.
nach Sieferle 1995: 179).

28
Oswald Spengler (1880-1936) war in der Zwischenkriegszeit ein viel gelesener Autor, der sich vor
allem mit Geschichtsphilosophie und Kulturgeschichte beschäftigte. Ernst Jünger (1895-1998) hat sich
mit Insektenkunde (!) beschäftigt, ist aber als Schriftsteller bekannt geworden. Vor allem eine realisti-
sche Darstellung seiner Erfahrung des Ersten Weltkriegs („In Stahlgewittern“) hat ihm internationale
Anerkennung verschafft.
188 Ditmar Brock

Dazu ist es erforderlich, dass das Volk auf „seine“ Ziele hin orientiert wird. Dies
vermag nach Freyer letztlich nur ein auserwähltes Individuum, ein charismati-
scher „Führer“, der als „Staatsmann“ das Volk zum „Reich“ formiert, also aus
einer kulturell bestimmten Einheit eine politisch bestimmte macht.
Revolutionäre Tat Die Entfremdung könne letztlich nur durch die revolutionäre Tat des Volkes
überwunden werden, die Freyer in einer Art „Revolutionslyrik“ (Sieferle 1995:
182) besingt. „Die genuin revolutionäre Position Freyers wird in seiner 1931, zu
einem Zeitpunkt höchster politisch-apokalyptischer Erregung, verfassten Pro-
grammschrift „Revolution von rechts“ in ihrer schärfsten Fassung erkennbar.
Zentrale Figur dieser Revolution ist der charismatische „Führer“, „der im geeig-
neten Augenblick, getragen von der geschichtlichen Chance, die Menschen zum
‚politischen Volk’, zum ‚Staat’ oder ‚Reich’ zusammenfügt“( Sieferle 1995:
182). Er „ist an keine Regel oder Verfassung gebunden. Er besitzt die gleiche
revolutionäre Geschichtsmacht, wie sie dem Messias ... zukommt .... Die Revo-
lution ist absolute, totale Bewegung, in welcher Mittel und Ziele miteinander“
(ebd.) zur befreienden Tat verschmelzen. Verschmolzen mit dem Willen der
Volksgemeinschaft werden nicht nur Wirtschaft und Technik, sondern auch das
ebenso entfremdete „vorgestrige Schema von Bourgeoisie und Proletariat“ (ebd.
183). Es müsse zu einem „Subjektwandel vom Proletariat zum Volk“ (ebd. 198)
kommen.

Freyer sieht den Ausweg aus der zivilisatorischen Krise in einer Führerdikta-
tur, die die Volksgemeinschaft aktiviert und politisch ausrichtet. Auf diesem
Wege entstehen „verbindliche Ordnungen“ – unserem heutigen Verständnis
nach handelt es sich dabei um totalitäre Ordnungen.

Ungelöste Probleme Das immanente Problem dieses Konzepts hat Freyer praktisch erfahren. Es ent-
einer Führerdikatur
hält weder Kriterien für die Unterscheidung zwischen „geeigneten“ und „unge-
eigneten Führern“ noch Verfahren für die Entfernung ungeeigneter Führer. Frey-
er habe zwar 1933 die „Machtergreifung“ Hitlers und der Nationalsozialisten
begrüßt, sie aber nur als Vorstufe für die ersehnte Führerdiktatur angesehen, da
er Person und Programm für allzu dünn hielt (vgl. Sieferle 1995: 193ff). „Gerade
im Erfolg der nationalen Revolution zeigt sich jedoch das Scheitern dieses Kon-
zepts ... Der „Führer“, in welchem sich Wille und die Substanz des revolutionä-
ren Volkes verkörpern sollten, erwies sich als bloßer Ver-Führer ... Statt zum
selbstbewussten Subjekt der Geschichte zu werden, ließ sich das Volk zum Ob-
jekt der Manipulation machen. Wenn eine solche Verkehrung der nationalen
Revolution aber möglich war, dann entzog dies Freyers Lösungskonzept eine
fundamentale Voraussetzung: Das Volk als Subjekt war nicht „wirklich“, es
stand nicht auf der Höhe der ihm zugeschriebenen geschichtlichen Aufgabe“
(ebd. 196).
Gesellschaftskritische Theorieansätze 189

Übungsaufgabe:

Ebenso wie Habermas entwickelt auch Freyer ein dualistisches Gesellschafts-


konzept, das als Anker für Sozialkritik fungiert. In gesellschaftspolitischer Hin-
sicht sind beide Konzepte jedoch sehr unterschiedlich ausgerichtet. Während
Freyer zunächst für eine Führerdiktatur plädierte, später dann nur noch Moderni-
tätskritik betrieb, sympathisiert Habermas mit neuen sozialen Bewegungen und
plädiert für eine lebensweltliche Modernisierung „von unten“. Vergleichen Sie
beide Konzepte! Welche Begriffe finden sich bei Freyer an den Stellen, wo bei
Habermas „Lebenswelt“ und „System“ platziert sind? Wieso kann Freyer von
seinem Konzept her keine „Vergemeinschaftung von unten“ entwickeln?

5.2.4 Freyers Bedeutung für die Soziologie

Es bleibt noch die Frage zu klären, inwiefern Freyers Überlegungen einen Bei- Bedeutung für die
Soziologie
trag zur Soziologie geleistet haben. Formal gesehen war Freyer der erste, der
1925 in Leipzig eine allein der Soziologie gewidmete Professur erhalten hatte
(Rehberg 2000: 72). Nach 1933 hat er sie – konsequenterweise (da nur eine poli-
tische Lösung des Entfremdungsproblems für möglich hielt) – in eine Professur
für Politikwissenschaft umwidmen lassen (Rehberg 2000: 74). Dieses ambiva-
lente Verhältnis zur Soziologie drückt bereits die Charakterisierung des Fachs in
der Einleitung seines wohl insgesamt wichtigsten soziologischen Werks Soziolo-
gie als Wirklichkeitswissenschaft (1930/1964) aus: Dort schreibt er, Soziologie
sei die „Wissenschaft von der Klassengesellschaft des Hochkapitalismus“ (zit.
nach Rehberg 2000: 72). Diese gelte es aber zu überwinden. Davon habe die
Soziologie als „Krisenwissenschaft“ (Freyer 1964: 166, zit. nach Rehberg 2000:
76) ein Bewusstsein. Die von Freyer skizzierten Wege dieser Überwindung (sie-
he oben) führen allerdings aus dem soziologischen Denken heraus. Erwähnt
werden sollte, dass Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft für den Beginn der
30er Jahre die wohl die beste deutschsprachige Darstellung soziologischer Denk-
systeme (Rehberg 2000: 76) bietet. Parsons zitiert sie an zentraler Stelle als eines
„of the two most useful general accounts“ (Parsons 1937: 473) zur Rekonstrukti-
on der idealistischen Tradition.
Die Darstellung zeigt, dass Freyer neben anderen Intellektuellen wie Speng- Geistiger Wegbereiter
des National-
ler oder Jünger zu den geistigen Wegbereitern, allerdings nicht zu den direkten
sozialismus
Parteigängern (Rehberg 2000: 74), des Nationalsozialismus zählt. Das enthebt
allerdings niemanden von der Pflicht, sich mit seinem Denken auseinanderzuset-
zen. Dabei zeigt sich unter anderem, dass es nur erstaunlich wenige Weichenstel-
lungen sind, die Freyer von den linken Gesellschaftskritikern trennen. Die Maß-
stäbe seiner Kritik sind überwiegend die einer besseren Vergangenheit – als
Theoretiker einer Revolution von rechts gewinnt sein Konzept allerdings auch
Konturen eines utopischen Modells absoluter Mobilisierung des völkischen Wil-
lens. Das historische Gesellschaftsmodell „Volk“ sollte damit gewissermaßen
„auf den Begriff gebracht“ werden.
190 Ditmar Brock

Lektürevorschlag:

Lesen Sie Hans Freyer 1955, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, Stuttgart: DVA, S. 79-
93.

5.3 Arnold Gehlen: Der Mensch – Handlungen und Institutionen

5.3.1 Gedankliche Ausgangspunkte

Gehlen wird nach Anders als Freyer wurde Arnold Gehlen in der deutschen Nachkriegssoziologie
1945 rezipiert
rezipiert und war auch in den Medien präsent. Gehlen war aktiver Parteigänger
der NSDAP und machte in den 30er Jahren rasch Karriere, ohne sich allerdings
mit der NS-Ideologie vollständig zu identifizieren. So gibt es beispielsweise
keine antisemitischen Äußerungen Gehlens (vgl. Weissmann 2004: 12ff; zur
Biographie: Rehberg 2000: 78f). Gehlen zählt neben Max Scheler (1874-1928)
und Helmuth Plessner (1892-1985) zu den Begründern der philosophischen
Anthropologie.

Arnold Gehlen (1904-1976)

geboren am 29.01.1904 in Leipzig; gestorben am 30.01.1976 in Hamburg.

Gehlen war Sohn des Verlegers Max Gehlen und dessen


Frau Margarete Gehlen, geborene Ege. Der deutsche Phi-
losoph und Soziologe lehrte nach seiner Habilitation in
Philosophie 1930 zunächst 1933 als Assistent von Hans
Freyer (1887-1969) am Soziologischen Institut und ab
1934 als Professor für Philosophie an der Universität
Leipzig. 1933 trat Gehlen in die NSDAP ein und wurde
Mitglied des NS-Dozentenbunds. Er machte rasch Kar-
riere an den Universitäten Königsberg, Wien und Budapest. Seine Haltung
wurde nach dem Zweiten Weltkrieg scharf kritisiert, war er doch im National-
sozialismus nicht nur Mitläufer, sondern profitierte vom Weggang und der
Vertreibung von aus rassistischen und politischen Gründen entlassenen und
teilweise emigrierten Professoren. Seit 1962 war er nach einer Zwischenstati-
on in Speyer bis zu seiner Emeritierung 1969 als Professor für Soziologie an
der Universität Aachen tätig. Gehlen ist neben Max Scheler (1874-1928) und
Helmuth Plessner (1892-1985) einer der Hauptvertreter der philosophischen
Anthropologie. 1940 erschien sein Hauptwerk „Der Mensch. Seine Natur und
seine Stellung in der Welt“, 1956 „Urmensch und Spätkultur“. Als weitere
wichtige Arbeit Gehlens ist insbesondere „Die Seele im technischen Zeitalter“
(1957) zu nennen. Gehlen verstarb 1976 in Hamburg. Er ist bis heute ein ein-
flussreicher Denker eines gesellschaftspolitischen Konservatismus. In den
1960er Jahren wurde er vor allem als Antipode der Frankfurter Schule, und
hier insbesondere von Theodor W. Adorno (1903-1969) bekannt, wobei sich
die beiden Kulturkritiker in ihrem Pessimismus erstaunlich ähnlich waren.
Gesellschaftskritische Theorieansätze 191

Mit Freyer, dessen Assistent er für kurze Zeit war, teilt Gehlen einmal den Akti- Gemeinsamkeiten
und Unterschiede zu
vismus (Rehberg 2000: 80f). Das bedeutet, real „ist“, was der Mensch tatsächlich
Freyer
tut. Weiterhin geht auch Gehlen vom menschlichen Leben in biologischen Kate-
gorien aus. Im Unterschied zu Freyer interessiert er sich für das Wissen der Bio-
logie und der Verhaltensforschung über den Menschen. Das ermöglicht es Geh-
len, das Verhältnis zwischen Mensch und Kultur präziser zu bestimmen. Nur
Handeln, Kultur und Institutionen sichern seiner Meinung nach das Überleben
des Menschen. Auch dieses Konzept ist zumindest anschlussfähig für die politi-
sche Praxis totalitärer Gesellschaften.
Die vergleichsweise größere Bedeutung Gehlens hängt damit zusammen, Zeitgemäßeres
Konzept
dass er in vielen Punkten moderner und nüchterner operiert als Freyer. Mit der
Umstellung der Subjekt-Objekt-Unterscheidung auf die Unterscheidung intern –
extern (Böhler 1991: 235), aber auch mit seinem Versuch philosophische Positi-
onen durch biologische Fakten zu erhärten, schlägt er eine Brücke vom deut-
schen Idealismus zur Systemtheorie (vgl. 337ff.).

5.3.2 Frühwerk

Bereits in seiner Dissertation (Gehlen 1927) und seiner Habilitationsschrift (Geh- Anfängliche
Fragestellung
len 1931) entwickelt Gehlen die Grundlinien seines Denkens. Schon in seiner
Dissertation will er die Frage beantworten „wie ein konsistentes, mit sich identi-
sches Handeln, das als solches einen Willen durchhalten und durchsetzen kann,
möglich ist“ (Böhler 1991: 233). Diese Fragestellung wird 1939 in das biolo-
gisch evidente „Motiv der Selbsterhaltung“ (ebd.) übersetzt.
In „Wirklicher und unwirklicher Geist“ (Gehlen 1931) setzt sich Gehlen Problem des
Relativismus und
(wie viele andere Autoren der Zwischenkriegszeit) mit den philosophischen
Nihilismus
Problemen des Relativismus und des Nihilismus auseinander und entwickelt
dabei eine eigene Position29, die er durchhält und die später für seine Gegen-
wartskritik bestimmend wird. Seit der Entwicklung sinnverstehender (hermeneu-
tischer) Ansätze etwa durch Dilthey ergab sich das Problem, dass das innere
Nacherleben, Verstehen und historische Einordnen normativer Überzeugungen
dazu führt, dass keine allgemeinen Kriterien mehr für die normative Beurteilung
von Werten oder Lebensformen angegeben werden können. Aus dem Blickwin-
kel des Aktivismus bedeutet dieses geisteswissenschaftliche hermeneutische
Programm zunächst einmal Handlungsverzicht und den Verzicht, Realitäten zu
schaffen wie auch Realitäten praktisch zu erfahren, in letzter Instanz also „Le-
bensersatz“, „Leben aus zweiter Hand“ (Gehlen 1986a: 114). „In der hand-
lungslosen Selbstbesinnung ... erfährt man gar keine Realität“! (Gehlen 1930:
180). Daraus folgt für Gehlen, dass in jedem Fall gehandelt werden muss.

Leben heißt für den Menschen Handeln. Folgenlose Reflexion lehnt Gehlen
ab.

29
Der rechtskonservative, ebenfalls in den Nationalsozialismus verstrickte Jurist Carl Schmitt hat ganz
ähnliche Folgerungen aus der Beschäftigung mit dem Nihilismusproblem gezogen (Böhler 1991; 247).
192 Ditmar Brock

Rationalität einer Eine weitere Kontrastfolie ist für Gehlen die Frage nach der Rationalität einer
Handlung
Handlung. In funktionalistischer Manier hält Gehlen fest, dass Reflexion nur im
Sinne eines Entschlusses zu handeln erforderlich sei, aber keinesfalls im Sinne
von ständiger Kontrolle und Korrektur.

„Ich glaube, dass der echte, gesammelte Entschluss die Reflexion für immer aus-
hängt, dass im menschlichen Leben eine innere Nötigung zur Vereinseitigung und
Verhärtung liegt, dass Entschlossenheit und Verschlossenheit zusammengehören
und dass das Resultat eines tätigen Lebens doch wohl notwendig eine gewachsene
und organische Intransigenz30 ist“ (Gehlen 1927: 34).

Böhler fasst Gehlens Position hierzu so zusammen: „Das Handeln muss, um


wirksam zu sein und das heißt, um sich konsistent durchhalten und etwas durch-
setzen zu können, eine instinktanaloge Sicherheit und Ordnung gewinnen ... Die
Ordnung des Handelns kann (daher) nicht auf rationale Setzungen des Ich zu-
rückgeführt werden, sie ist angewiesen auf vorgegebene ... Gewissheiten“ (Böh-
ler 1991: 238).

Handlungen sind immer Resultat eines von Notwendigkeiten bestimmten Ent-


schlusses. Das begrenzt alle Formen reflexiver Handlungskontrolle.

Übungsaufgabe:

Vergleichen Sie dieses Verständnis menschlicher Handlungen mit dem Ver-


ständnis der Operationen sozialer Systeme bei Luhmann (vgl. S. 361-363)

5.3.3 Gehlens Hauptwerk: „Der Mensch“

Philosophie und Diese Auffassung vom menschlichen Handeln versucht Gehlen durch philoso-
Biologie
phische Begründungen zu stützen und darüber hinaus durch Anknüpfung an das
biologische Wissen vom Menschen zu erhärten. Gehlen orientiert seine „philo-
sophische Anthropologie“ an Schopenhauer, Herder und Nietzsche. Hinsichtlich
des Schlüsselproblems des handelnden Menschen knüpft er an Schopenhauer31
an. Die These vom Menschen als Mängelwesen verweist dagegen auf Herder.
Der Mensch und Tier gemeinsame Gesichtspunkt der Selbsterhaltung greift
schließlich Überlegungen von Nietzsche auf. Das Besondere an Gehlens Argu-
mentation ist, dass er aus diesen Elementen kein rein philosophisches und inso-
fern immer spekulatives Konzept erstellt, sondern dass er seine wichtigsten The-
sen zusätzlich mit Befunden und Argumenten der damaligen Biologie empirisch
zu belegen sucht.

30
Intransigenz = Unversöhnlichkeit, Unzugänglichkeit
31
Auch für Horkheimer hat Schopenhauer zentrale Bedeutung – vgl. S. 149.
Gesellschaftskritische Theorieansätze 193

„Schlüsselbegriff der Gehlenschen Anthropologie32 ist die Handlung“ (Reh- Der Mensch kann nur
durch Handeln
berg 2000: 80). Der Handlungsbegriff kann jetzt in der biologischen Evolutions-
überleben
theorie verankert werden. An die Stelle der „Entscheidung zum Handeln“ tritt ein
aus der physiologischen Beschaffenheit des Menschen als Mängelwesen resultie-
render Zwang zum Handeln. Denn nur so kann der Mensch im Unterschied zum
Tier überleben.

„Die Natur ... hat im Menschen ... ein neues Organisationsprinzip zu erschaffen be-
liebt. Zu diesem gehört, dass der Mensch in seinem bloßen Dasein eine Aufgabe
vorfindet, dass sein Dasein seine eigene Aufgabe und Leistung wird, ganz elemen-
tar... er verhält sich zu sich selbst, lebensnotwendig, wie dies kein Tier tut .... Wenn
die Natur ein Wesen allen Gefahren der Störbarkeit und Abirrung auslieferte, ... in
diesem Zwang, sich selbst festzustellen und über sich zu verfügen, so muss ein erns-
ter Grund vorliegen. Und er liegt vor in dem Risiko einer Physis, die aller beim Tie-
re wohlbewährten Gesetzlichkeit geradezu widerspricht“ (Gehlen 1940, zit. nach
1986: 17).

Legt man an den Menschen nämlich die Messlatte der biologischen Evolutions- Dem menschlichen
Organismus fehlt die
theorie an, dann fällt auf, dass er vergleichsweise unspezialisiert ist, also ein
Umweltanpassung
geringes Maß an physiologischer Umweltanpassung aufweist. Insbesondere sei
die menschliche Natur durch zahlreiche Organprimitivismen gekennzeichnet
(Schädelwölbung, unentwickeltes Gebiss, fehlendes Haarkleid, geringe Sinnes-
schärfe, keine angeborenen Angriffsorgane, extrem hilflose Neugeborene, späte
Geschlechtsreife; vgl. Gehlen 1986: 86ff). Eine gewisse Ausnahme bilde nur die
menschliche Hand (vgl. ebd.). Aber auch sie ist nicht von vornherein auf eine
bestimmte Verwendung festgelegt. Gerade dies ist nach Gehlen für den Men-
schen symptomatisch. Von seiner biologischen Beschaffenheit her sei er nicht
auf bestimmte Verhaltensweisen fixiert, sondern weitgehend „weltoffen“. Das
bedeute aber auch, einer Überfülle von Sinneseindrücken ausgesetzt zu sein,
ohne über ein biologisch festgelegtes Verarbeitungs- und Reaktionssystem zu
verfügen. Deswegen sei der Mensch von seiner Natur her zum Handeln bestimmt
(ebd. 31ff und 73ff).
Ein Mängelwesen ist der Mensch deswegen, weil ihn Gehlen am Modell in- Instinktsicheres
Verhalten bei Tieren
stinktsicheren Verhaltens von Tieren misst. Das Verhalten aller anderen Lebewe-
sen beruht auf einem durch die ererbten Anlagen fixierten festen biologischen
Programm. Es stellt eine direkte Verkettung von Antriebsenergie, wahrgenom-
menen Auslösereizen und instinktiver Reaktion her. Bei der Fixierung dieses
Modells instinktsicheren Verhaltens hat die experimentell arbeitende Tierverhal-
tensforschung von Konrad Lorenz, Nico Timbergen, L. Bolk und anderen Pate
gestanden. Sie konnte unter anderem nachweisen, dass hochstilisierte Modelle,
die aus menschlicher Sicht nur eine geringe Ähnlichkeit zum Original aufwiesen,
hinreichen, um bei Tieren Reaktionen hervorzurufen, die nicht erlernt worden
waren, sondern auf ein arteigenes, angeborenes Verhaltensrepertoire zurückge-
führt werden müssen. Zu diesem Modell gehören auch hohe Umweltanpassung

32
Anthropologie bedeutet: Wissenschaft vom Menschen.
194 Ditmar Brock

und spezialisierte Organe, die ein perfektioniertes Leben und Überleben in einem
sehr spezifischen Ausschnitt des Ökosystems Erde erlauben.
Die Kontrastfolie instinktsicheren Verhaltens benützt Gehlen auch, um ei-
nen anthropologisch fundierten Begriff des Handelns zu entwickeln. Tiere kön-
nen nach diesem Modell nicht handeln, eben weil sie instinktsicher sind und
daher eine enge und feste Verbindung zwischen Umweltwahrnehmung („Reiz“)
und Verhalten („Reaktion“) aufweisen. Der intelligente Naturbeherrschung er-
möglichende Mangel an Instinktsicherheit beim Menschen hat zunächst eine
Unterbrechung, einen „Hiatus“ (Gehlen 1986: 332) zwischen Reiz und Reaktion
zur Folge. Dieser Hiatus macht es überhaupt erst möglich, Umweltwahrnehmun-
gen aktiv zu verarbeiten, alternative Reaktionen zu bedenken, abzuwägen und
sich für eine Handlung zu entscheiden. Handeln bedeutet also, nicht auf eine
bestimmte Reaktion festgelegt zu sein, sondern die eigenen Reaktionen bewusst
variieren zu können.

Der Mensch ist nach Gehlen in biologischer Hinsicht ein Mängelwesen. Auf-
grund fehlender Instinkte ist er zum Handeln und damit zu bewusster Verar-
beitung seiner Umwelt gezwungen. Nur so kann der Mensch überleben.
Insofern bestätigen Befunde der Biologie ein philosophisches Verständnis der
Sonderstellung des Menschen.

Übungsaufgabe:

Versuchen Sie, in ihren eigenen Worten zu erklären, warum der Mensch auf-
grund seiner biologischen Beschaffenheit nur durch bewusstes Handeln überle-
ben kann! Welche Nachteile, welche Vorteile hat Handeln gegenüber instinkti-
vem Reagieren?

Lektürevorschlag:

Lesen Sie die Einleitung von Arnold Gehlen 1986, Der Mensch. Seine Natur und Stellung
in der Welt, Bonn: Athenäum, S. 9-85 [1940].

5.3.4 Theorie der Institutionen

Institutionen bewir- Die These vom Menschen als einem von seiner biologischen Ausstattung her
ken instinktanaloge
unangepassten Mängelwesen belegt die These vom Handlungszwang auf denk-
Handlungssicherheit
bar drastische Weise. Aber was ist in der Lage, die nach Gehlen erforderliche
instinktanaloge Sicherheit und Selbstverständlichkeit des Handelns zu bewirken?
Die Biologie hat auch Belege für diese Forderung erbracht. Im Anschluss an
Storch hebt Gehlen hervor, dass

„die Funktionskreise, welche beim Tier die Sinnesorgane in Bann halten und in den
scharf eingeschränkten Dienst der Aufgaben der spezifischen Umweltbereiche stel-
Gesellschaftskritische Theorieansätze 195

len, beim Menschen zerbrechen, so dass nun die Sinnesorgane „frei geworden“ …
sind zu anderer, eigenwilliger Betätigung“ (Gehlen 1956, zit. nach 1986a: 21).

Auf die infolge Instinktreduktion, Antriebsüberschuss und Umweltoffenheit feh-


lende Verhaltenssicherheit antwortet Gehlens Institutionentheorie. Institutionen
leisten im Großen das, was Habitualisierung im Kleinen bewirkt: sie stellen auf
kulturellem Wege Entlastung und Handlungssicherheit her. Habitualisierung ist
die Fähigkeit, erlernte Bewegungsabläufe zu „automatisieren“, sie ohne Bewusst-
seinsaufwand immer wieder identisch wiederholen zu können. Gehen oder das
Schalten beim Autofahren muss daher nur einmal, mehr oder weniger mühsam,
erlernt werden, jede weitere Wiederholung ist von diesem Aufwand entlastet.
Auf der gesellschaftlichen Makroebene vermutet Gehlen einen vergleichba- Urmensch und
Spätkultur
ren Vorgang, der das variierbare menschliche Handeln zu fester, routinierter und
zuverlässiger Aufgabenbewältigung „automatisiert“: die Entwicklung von Insti-
tutionen. „Eine Kultur wäre chaotisch, in der die konstitutionelle Plastizität der
menschlichen Antriebe, die Variabilität der Handlungen und die Unerschöpf-
lichkeit der Dingansichten zur Geltung kämen. Sie wäre in höchstem Grade
instabil“ (Gehlen 1986a: 21). Im Anschluss an Hariou entwickelt Gehlen diese
Institutionentheorie in seinem zweiten Hauptwerk Urmensch und Spätkultur.
Damit korrigiert er seine in den ersten drei Auflagen von Der Mensch (vgl. Geh-
len Gesamtausgabe Band 3) publizierten Überlegungen zu „Zuchtsystemen“.
Während im ersten Hauptwerk Der Mensch eine Fundierung in der Biologie und
der Ethologie (Tierverhaltensforschung) gesucht wird, gründet Gehlen seine
Institutionentheorie auf Materialien aus dem Gebiet der Früh- und Vorgeschichte
und der Ethnologie33.
Mit Hariou setzt Gehlen sich gleichermaßen gegen vertragstheoretische Institutionen gründen
sich auf Leitideen
(vgl. z. B. Hobbes, Bd.1, S. 15f.) wie auch gegen funktionalistische Erklärungen
von Institutionen ab. Eine funktionalistische Institutionentheorie würde letztlich
annehmen, dass es Institutionen deswegen gibt, weil sie funktional erforderlich
sind. Hariou und Gehlen argumentieren dagegen kulturalistisch. Nach Hariou
begründen Leitideen (idée directrice) Institutionen und sorgen für deren Kontinu-
ität. Leitideen kann man als verpflichtende, die Menschen in ihren Bann ziehen-
de und auf diese Weise „bindende“ Ideen verstehen. Daher können Institutionen
nicht gewaltsam von herrschenden Schichten dekretiert werden. „Eine Institution
ist eine Idee vom Werk oder vom Unternehmen, die in ihrem sozialen Milieu
Verwirklichung und Rechtsbestand findet. Damit diese Idee in die konkrete Tat-
sachenwelt umgesetzt wird, bildet sich eine Macht aus, von der sie mit Organen
ausgestattet wird. Zwischen den Mitgliedern der an der Durchsetzung der Idee
beteiligten sozialen Gruppe ergeben sich unter der Oberleitung der Organe Ge-
meinsamkeitsbekundungen, die bestimmten Regeln folgen“ (Hariou 1965: 34).
Die Genese der Institutionen aus Leitideen schließt nicht aus, dass Instituti- Zweckmäßigkeit der
Institutionen – ein
onen zweckmäßig sind. Diese Eigenschaft ist aber sekundär, sie wird erst aus der
sekundäres Merkmal
Perspektive einer funktionalistischen Analyse sichtbar. Gehlen spricht von „se-
kundärer objektiver Zweckmäßigkeit“ (Gehlen 1986a: 106f). Der sekundäre
33
Die Ethologie (Verhaltensforschung) untersucht Verhaltensweisen von Tieren, die Ethnologie
(Völkerkunde) die von Stammesgesellschaften.
196 Ditmar Brock

Charakter der Zweckmäßigkeit von Institutionen bestätigt, dass es primär auf die
Stabilisierung und Standardisierung der Aufgabenbewältigung und allenfalls
sekundär auf Fragen der Effektivität und Rationalität ankommt.
Entstehung von Gehlen sieht den historischen Ansatzpunkt zur Entwicklung von Institutio-
Institutionen
nen im Ritus, im Nachahmen und Nachspielen emotional erregender Eindrücke.
Aus dem Rahmen des Alltäglichen fallende Erscheinungen lösten einen „Ge-
fühlsstoß von starker, instinktiver, aber unspezifischer Färbung“ (Weissmann
2004: 51; vgl. Gehlen 1986a: 129ff) aus, der dann im mimetischen Nachspielen
ausagiert worden sei. Aber auch für spätere Institutionen ist die „Stabilisierung
der Affektspannung“ (Gehlen 1986a: 78ff) charakteristisch, „eine neue Gefühls-
lage, eine sehr spezifische wache Spannung mit Vorbehalten, eine Art Gefahren-
bereitschaft, die in unserer Sprache keinen eigenen Namen hat“ (Gehlen 1986a:
78). Wichtig ist „die Erkenntnis, dass eine „tension stabilisée“ ihrem Wesen
nach eine Entscheidung zum Dasein ihres Gegenstandes einschließt, sie akzep-
tiert dieses Dasein in qualitativer Endgültigkeit“ (Gehlen 1986a: 82f). Institutio-
nen binden also nicht nur die Handlungen, indem sie vorgeben, was wie zu tun
ist, sie binden auch die Emotionen und Affekte an diese Vorgaben.
Innen- und Außen- Aus dem Blickwinkel gesellschaftlicher Nützlichkeit sind Institutionen
stabilisierung
„überdeterminiert“.

„Das Wesentliche an einer dauerhaften Institution ist ihre Überdeterminiertheit: sie


muss nicht nur ... nützlich sein, sie muss auch Anknüpfungspunkt und „Verhaltens-
unterstützung“ höherer Interessen sein .... Dann erfüllt sie die tiefen vitalen, auch
geistigen Bedürfnisse der Menschen nach Dauer, Gemeinsamkeit und Sicherheit –
sie kann sogar etwas wie Glück erreichbar machen, wenn dieses darin besteht, im
Über-Sich-Hinauswachsen nicht allein zu bleiben“ (Gehlen 1980, zit. nach Weiss-
mann 2004: 56).

Das Merkmal der „Überdeterminiertheit“ zeigt, dass Institutionen, so wie Gehlen


sie versteht, nicht nur menschlichen Handlungen die erforderliche Fraglosigkeit,
Dauer und Festgelegtheit verleihen, sondern dass sie darüber hinaus gleicherma-
ßen zu „Innen-“ wie „Außenstabilisierung“ führen, also immer auch Bedürfnisse
modellieren und deren Befriedigung besorgen. An die Stelle des für Tiere cha-
rakteristischen Modells instinktsicherer Reaktion tritt mit den Institutionen ein
ebenso geschlossenes kulturelles Modell.

Merkmale von Institutionen nach Gehlen


ƒ Institutionen bewirken instinktanaloge Sicherheit und Selbstverständlich-
keit des menschlichen Handelns.
ƒ Sie leisten eine Innen- wie Außenstabilisierung (psychische Stabilisierung,
kulturelle Modellierung der Emotionen wie auch zuverlässige gesellschaft-
liche Aufgabenbewältigung).
ƒ Institutionen werden durch Leitideen getragen. Sie haben sich aus Riten
entwickelt.
Gesellschaftskritische Theorieansätze 197

Übungsaufgabe:

Die Familie wird als Institution bezeichnet – wie müssten die Rollen von Vätern,
Müttern, Kindern sowie die Männer- und Frauenrolle beschaffen sein, damit sie
Gehlens Merkmale von „Institution“ erfüllen? Wie würde Gehlen vermutlich
über familiale Lebensformen wie „living apart together“ oder über die heutige
Scheidungsrate urteilen?

Lektürevorschlag:

Arnold Gehlen 1986a, Urmensch und Spätkultur, Frankfurt/Main: Athenäum, S. 260-264


[1956].

5.3.5 Gegenwartskritik

Aus dieser „Überdeterminiertheit“ des Gehlenschen Institutionenbegriffs ergeben


sich gleichermaßen Probleme der langfristigen Stabilisierung von Institutionen
wie auch Gehlens Gegenwartskritik.
Gefährlich für die Institutionen ist der Erfolg der durch sie stabilisierten Gefährdung der
Innenstabilisierung
Handlungen. Werden die propagierten Ziele mit immer weniger Anstrengung
und Mühe erreicht, dann werden menschliche Energien („Antriebsüberschuss“)
freigesetzt – die Innenstabilisierung wird brüchig. Dem können die Eliten durch
„Rückwärts–Stabilisierung“ (Gehlen 1986a: 217ff.) entgegenwirken – Institutio-
nen werden durch Mythen, etwa als besonders alt, als immer schon existierend,
verklärt.
Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass Gehlen ein vehementer Kritik an der Verbes-
serung der Lebens-
Kritiker des in der Nachkriegszeit immens gewachsenen Massenwohlstands bedingungen
(Brock 1991: 216ff), der Konsumgesellschaft und der immer kürzer werdenden
Arbeitszeiten war. Alle diese Tendenzen verschärften in seinen Augen die Ge-
fahr des „Subjektivismus“: der ersatzlosen Entbindung psychischer Energien aus
Aufgaben und Pflichten.

„Es lässt sich doch nicht ernstlich bestreiten, dass der moderne Subjektivismus ein
Produkt der Kulturverhältnisse ist ... Die Affekte können ja auch gar nicht mehr an
der Außenwelt festgemacht werden, weil diese viel zu versachlicht und symbolent-
leert ist – dazugerechnet den fehlenden Widerstand der rohen Natur, die Stillegung
der körperlichen Anstrengung: was sollte anderes folgen, als der „Erlebnisstrom“,
der in chronischer Wachheit und Reflexion bewältigt wird? Jetzt beginnt notwendig
die Subjektivierung und Aufweichung der Kunst, des Rechts – aber auch der Religi-
on. Überall schießen die „Ideen“ empor, mit denen sich nichts anderes anfangen
lässt, als sie zu diskutieren“ (Gehlen 1986a: 256).
„Das menschliche Leben hat die paradoxe Eigenschaft, eingesetzt werden zu müs-
sen, und von daher hatte schon der mühsame tägliche Kampf um das Brot, das sich
Aufreiben um die elementare Fortsetzung und Dauer des Lebens selbst, seine eigene
Würde. In der Welt der Maschinen und „Kulturwerte“, der großen Entlastungen, zer-
läuft das Leben wie Wasser zwischen den Fingern, die es halten wollen, weil es der
Güter höchstes ist“ (ebd. 258)
198 Ditmar Brock

Diese Kritik hat Gehlen in seinem größten Bucherfolg (Rehberg 2000: 82) „Die
Seele im technischen Zeitalter“ (1957), einem Rohwohlt-Taschenbuch, weithin
bekannt gemacht.

Übungsaufgabe:

Vergleichen Sie Gehlens Kulturkritik mit der Kritik von Horkheimer und Ador-
no an der Kulturindustrie!
Kein Kritiker der Diese Gegenwartskritik hat Gehlens Dauerpolemik gegen die folgenlose
Industriegesellschaft
Reflexion der Intellektuellen neue Akzente verliehen (auf dieses Thema wird
unter 5.4, S. 262 eingegangen). Trotz des Subjektivismus-Problems war Gehlen
aber kein Kritiker der industriellen Massengesellschaft – er hielt sie für unhinter-
gehbar und irreversibel, in sachlicher Hinsicht leistungsfähig aber auch ohne
große kulturelle Bindungskraft. Diesen Zustand bezeichnete er im Anschluss an
Pareto34 als Kristallisation.
Moral und Eine weitere, durchaus polemische Zuspitzung, aber auch theoretische Fun-
Hypermoral
dierung erfährt diese Gegenwartskritik in Gehlens drittem und letztem Haupt-
werk Moral und Hypermoral (Gehlen 1969). Es trägt den missverständlichen
Untertitel Eine pluralistische Ethik. Dort entwickelt er die These, dass alle diffe-
renzierten Gesellschaften auch ihre Moral nach Lebensbereichen differenziert
hätten. Man kann auch schärfer formulieren: Die Ausdifferenzierung unter-
schiedlicher Lebensbereiche lässt keine einheitliche moralische Codierung mehr
zu, sondern erfordert eine ebenso differenzierte Moralisierung, die an unter-
schiedliche Quellen des moralischen Denkens anschließt. Gehlen unterscheidet
vier Quellen der Moral:

ƒ das Prinzip der Reziprozität, des „do ut des“35. Es eignet sich zur morali-
schen Codierung rechtlicher, vor allem wirtschaftlicher Lebensbereiche.
ƒ Kinship, eine genetisch fundierte Hinwendung zu hilflosen Jungen und
Blutsverwandten.
ƒ die Ethik der intimen Kleingruppe, die Familienmoral, welche auf Fragen
der Selbsterhaltung solidarischer Kleingruppen antwortet.
ƒ die politische Moral des Staates und weiterer Institutionen, die an institutio-
neller Selbsterhaltung anzusetzen habe.

Entlastung der politi- „Unter aktuellen Gesichtspunkten ging es Gehlen ... um das Widerspiel ... der
schen Moral von den
Familienmoral und der politischen Moral. Gehlen erkannte der Ethik der intimen
Maximen der
Hausmoral Kleingruppe durchaus das Recht zu, den Grundsätzen der Liebe und gegenseiti-
gen Achtung, der Ehrlichkeit und der Fürsorge, aber er bestritt ganz entschieden
das moralische Recht, diese Prinzipien auf die Welt im großen zu übertragen ...
Individualismus und Universalismus wurden in einen direkten Zusammenhang

34
Vilfredo Pareto (1848-1923) war ein italienischer Ingenieur, Wirtschaftswissenschaftler und Sozio-
loge.
35
„do ut des“ besagt wörtlich übersetzt: Ich gebe, damit du gibst. Im Deutschen wird der Zweck etwas
kaschiert: Gebe, dann wird dir gegeben.
Gesellschaftskritische Theorieansätze 199

gebracht, die „überdehnte Hausmoral“ zum Maßstab jeder Handlung und eben
auch der staatlichen gemacht.“ (Weissmann 2004: 81). Gehlen möchte damit
eine in seinen Augen an falschen moralischen Fragen festgemachte Diskussion
politischer Fragen „entlasten“, die dazu geführt habe, dass die Deutschen ihre
nationalen politischen Interessen nicht entschiedener verfolgten.

„Es ist die bedeutendste geschichtliche Leistung einer Nation, sich überhaupt als ei-
ne so verfasste geschichtliche Einheit zu halten, und den Deutschen ist sie nicht ge-
glückt.“ (Gehlen 1969: 103)

Im Mittelpunkt von Gehlens Gesellschaftskritik stehen das Problem des Sub-


jektivismus und die Aufrechterhaltung einer auf Selbsterhaltung zielenden
Staatsmoral.

Das Problem des Subjektivismus impliziert eine Kritik an der Entwicklung


der Lebensbedingungen in der Industriegesellschaft, die zu einer Entbindung
der psychischen Energien aus der Aufgaben- und Pflichterfüllung führen.

Die politische Moral darf nicht durch eine auf Liebe und gegenseitige Ach-
tung ausgerichtete Hausmoral verwässert werden.

5.4 Von der Gesellschaftskritik zur kritischen Zeitdiagnose: Schelsky und


Riesman

Gesellschaftskritik hatte in den bisherigen Ausführungen immer bedeutet, dass


eine Kritik an der gesellschaftlichen Entwicklung als Ganzer vorgenommen
wurde. In diesem Abschnitt werden nun zwei Autoren vorgestellt, die zwar in
das Spektrum einer konservativen Gesellschaftskritik hineinpassen, die aber nur
partielle Fehlentwicklungen kritisieren. Sie könnten daher genauso gut unter
anderen Etiketten verbucht werden, etwa als „Zeitdiagnostiker“ oder „Stichwort-
geber des Zeitgeistes“ (Rehberg). Schelsky wird hier vorgestellt, weil er in den
Kontext der „Leipziger Schule“ gehört, Riesman, weil er besonders instruktiv
den für rechte Gesellschaftskritik charakteristischen Maßstab der besseren ge-
sellschaftlichen Vergangenheit gebraucht. Beide Autoren werden jedoch nur
unter den hier interessierenden Aspekten behandelt – eine Würdigung ihres Ge-
samtwerks ist nicht beabsichtigt.

Während Gesellschaftskritik immer Fehlentwicklungen kritisiert, die die Ge-


sellschaft als Ganze prägen, setzt sich die kritische Zeitdiagnose mit partiellen
Fehlentwicklungen auseinander.
200 Ditmar Brock

5.4.1 Helmut Schelskys Antisoziologie

An der Neugründung Helmut Schelsky war vor 1945 Mitarbeiter bei Gehlen und Freyer und wurde
der Soziologie in
Westdeutschland
noch vor Kriegsende auf eine Professur für Soziologie und Staatsphilosophie
maßgeblich beteiligt berufen (vgl. Rehberg 2000: 85). Seine eigentliche Karriere fällt aber in die
Nachkriegszeit. In den 50er und 60er Jahren war Schelsky wesentlich am Neu-
aufbau der Soziologie in Westdeutschland beteiligt und hatte erheblichen Anteil
an der Erforschung der Sozialstruktur der frühen BRD. Mit Formeln wie der
„nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ oder der „skeptischen Generation“ war er
einer der wichtigsten Diagnostiker des sozialen Wandels der 50er und 60er Jahre.
Auch theoretisch verkörperte er zunächst den Mainstream. Die Institutionentheo-
rie seines Lehrers Gehlen entschärfte er beispielsweise durch Rückgriffe auf den
Ethnologen Malinowski. Während Gehlen für die BRD der 50er und 60er Jahre
Szenarien des institutionellen Niedergangs und Verfalls fertigte (Subjektivismus,
Kristallisation usw.), konzipierte Schelsky Szenarien des „stabilen Institutionen-
wandels“ (Rehberg 2000: 89): Sobald Institutionen die Befriedigung grundle-
gender Bedürfnisse zuverlässig besorgen, bieten die so freigesetzten Energien
Anknüpfungspunkte für weitere Institutionalisierung. Erst als Schelsky ab Ende
der 50er Jahre (Rehberg 2000: 90f), aber vor allem nach 1968 an Einfluss auf
den soziologischen Wissenschaftsbetrieb verlor, wurde er zum Anti-Soziologen
und Intellektuellen-Kritiker.

Helmut Schelsky (1912-1984)

geboren am 14.10.1912 in Chemnitz; gestorben am 24.02.1984 in Münster.

Der 1912 in Chemnitz geborene deutsche Soziolo-


ge studierte Philosophie unter anderem bei Hans
Freyer (1887-1969) und Arnold Gehlen (1904-
1976) in Leipzig, bei denen er später auch eine
Assistententätigkeit ausübte. Genauso wie Gehlen
war auch Schelsky aktives Mitglied der NSDAP.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er als ordent-
licher Professor für Soziologie von 1949 bis 1960
an die Universität Hamburg, danach von 1960 bis 1969 an die Universität
Münster, von 1969 bis 1973 nach Bielefeld und bis zu seiner Emeritierung
1978 wiederum nach Münster berufen. Schelsky gilt als einer der führenden
Vertreter der westdeutschen Soziologie der Nachkriegszeit. Viele Kontrover-
sen erregten seine These, dass die Bundesrepublik sich zu einer „nivellierten
Mittelstandsgesellschaft“ entwickelt habe, sowie in den 70er Jahren seine
Intellektuellenkritik und „Antisoziologie“. Zu seinen wichtigsten Werken
zählen „Die skeptische Generation“ (1957), „Der Mensch in der wissenschaft-
lichen Zivilisation“ (1961), „Die Arbeit tun die anderen. Klassenkampf und
Priesterherrschaft der Intellektuellen“ (1975) und „Funktionäre“ (1982). Im
Gegensatz zu anderen soziologischen Theoretikern zeichnete Schelsky sich
durch eine anwendungs- und empirieorientierte Forschung aus. Am 24. Febru-
ar 1984 starb er in Münster.
Gesellschaftskritische Theorieansätze 201

In seiner Schrift Die Arbeit tun die anderen. Klassenkampf und Priesterherr- Die linken Intellek-
tuellen – eine neue
schaft der Intellektuellen (Schelsky 1975) benützt Schelsky die Herrschaftssozio-
herrschende Klasse
logie Max Webers für einen Rundumschlag gegen die linken Intellektuellen.
Ansatzpunkt ist die Überzeugung Webers, dass es ohne religiöse Unterfütterung
keine legitimierten und zugleich stabilen Formen der Herrschaft geben könne.
Trotz dieser Bezugnahme auf Weber geht es Schelsky ganz zentral um Gesichts-
punkte, die auch Gehlen den Intellektuellen unterschiedlichster Provenienz vor-
gehalten hatte. Unproduktiv und daher verachtenswert und moralisch verwerflich
seien die Aktivitäten der Intellektuellen, weil sie nichts praktisch bewirkten.
Während dies bei Gehlen auf bloße Reflexion, Relativismus und Nihilismus
bezogen war, werden die linken Intellektuellen von Schelsky als „Reflexionseli-
te“ bezeichnet und im Sinne Veblens36 als eine müßiggehende herrschende Klas-
se denunziert, die an die Stelle der „Priesterherrschaft“ getreten sei. In ähnlicher
Weise wie Veblen über derartige Praktiken der amerikanischen Elite Ende des
19. Jahrhunderts aufklären wollte, will Schelsky einmal die Abwertung der
„notwendigen Arbeit“ durch die „Klasse der Sinnproduzenten“ zeigen und zum
anderen die unproduktiv-überflüssigen Aktivitäten dieser neuen herrschenden
Klasse „aufdecken“. Die Abwertung der produktiven Arbeit meint er in der
„Verleumdung der Leistung“ (181ff) zu erkennen. Die „Funktionsmonopole“ der
Sinnproduzenten sind die Bereiche von Sozialisation und Information (221ff), in
der sie der beherrschten arbeitenden Klasse „Belehrung, Betreuung und Bepla-
nung“ (367ff) angedeihen lassen – Aktivitäten, die ihre Herrschaft stabilisieren
und eine neue Form des „Untertanen“ hervorbringen: der „betreute Mensch“.

„Die sozialpsychologisch erzeugte Hilflosigkeit schafft ihrerseits erst den ängstli-


chen und unsicheren Menschen in einer Dimension, wie ihn die realen Verhältnisse
... in keiner Weise bedingen“ (ebd. 371).

Bei der Analyse der Zusammensetzung der „herrschenden Klasse der Sinnprodu- Rolle der Soziologen
zenten“ stößt Schelsky neben den Pädagogen, linken Theologen, Medien (wie
dem „Spiegel“), linken Literaten auch auf die Soziologen, die gewissermaßen
den Kern dieser herrschenden Klasse bildeten, weil sie nicht nur die Person in
soziologische Kategorien aufgelöst sondern auch, und nur dies sei zu beanstan-
den, diese Sichtweise über die Grenzen ihres Faches hinaus kulturell und sozial
durchgesetzt hätten. „Heute“, also nach 1968, bestehe die Schwierigkeit, „dass
man Soziologie kaum treiben kann, ohne wenigstens ungewollt eine neutheologi-
sche Wirkung zu entfalten“ (ebd. 298).

36
Thorstein Veblen (1857 – 1929) war ein amerikanischer Soziologie, der die „Theory of the Leisure
Class“ verfasste. Nach Veblen ist die Grundlage jeder Arbeitsteilung die Unterscheidung zwischen
produktiv – nützlichen Arbeiten und nicht notwendigen, den Müßiggang eher kaschierenden Aktivitä-
ten (Sport, Krieg, Politik, Religion). Letztere werden von der herrschenden Klasse betrieben, die die
gesellschaftlichen Normen setzt und daher die überflüssigen Tätigkeiten für ehrenvoll, die notwendi-
gen produktiven und mühseligen Tätigkeiten dagegen für unwürdig und verächtlich erklärt.
202 Ditmar Brock

Lektürevorschlag:

Helmut Schelsky 1975, Die Arbeit tun die anderen. Klassenkampf und Priesterherrschaft
der Intellektuellen, München: dtv, S.367-376.

Schelskys Kritik richtet sich gegen die linken Intellektuellen, die er als „neue
herrschende Klasse“ zu denunzieren sucht.

5.4.2 David Riesman: der angepasste Mensch

Schelskys These vom belehrten, betreuten und beplanten Durchschnittsbürger


knüpft an eine These von David Riesman an und versucht, sie zu überbieten.
Diese These von Riesman wird nun erläutert.
Der außengeleitete Riesman unterscheidet drei unterschiedliche Verhaltensformen, über die
moderne Mensch
Gesellschaften Verhaltenskonformität herstellen: traditionsgeleitetes, innengelei-
tetes und außengeleitetes Verhalten. Die Konformität mit überlieferten Traditio-
nen ist typisch für vormoderne Gesellschaften; diese traditionsgeleitete Verhal-
tensform wird von Riesman eher der Vollständigkeit halber erwähnt. Innengelei-
tetes Verhalten orientiert sich an moralischen Überzeugungen. Innengeleitete
Charaktere37 dominieren nach Riesman in frühindustriellen Gesellschaften mit
starker Bevölkerungsexpansion. Die USA der 50er Jahre38 sind dagegen gekenn-
zeichnet durch eine stabil hohe Bevölkerungsdichte (niedrigere Geburtenrate,
hohe Lebenserwartung und daher geringere Sterberaten). Mit diesen Bedingun-
gen korreliert außengeleitetes Verhalten. Was ist darunter zu verstehen? Die
Menschen orientieren sich nicht an ihrem Gewissen, sondern an sozialer Kon-
formität. Während das moralische Gewissen ähnlich einem Kreiselkompass in
jeder denkbaren Situation in dieselbe Richtung tendiert, ist außengeleitetes Ver-
halten mit einem Radargerät vergleichbar. Es geht hier darum, den herrschenden
Meinungstrend aufzuspüren und sich daran zu orientieren.
Verhängnisvolle Riesman benutzt diese Unterscheidung nicht einfach dazu, seine Zeitgenos-
Anpassungs-
sen der Gewissenlosigkeit zu überführen. Scheinbar skrupulös und auf strengste
bereitschaft
Neutralität bedacht, diagnostiziert er Vor- wie Nachteile dieses Verhaltensmus-
ters. Die Vorteile liegen im harmonischeren Zusammenleben, das auf dieser
Basis möglich wird – Riesman erkennt im außengeleiteten Verhalten einen den
Bedingungen der modernen Massengesellschaft optimal angepassten Verhaltens-
typus. Die Nachteile liegen im Verlust politischer Urteilsbereitschaft und perso-
neller Autonomie. Der angepasste Mensch bezahlt die soziale Harmonie in der
Massengesellschaft mit dem Verzicht auf eine eigenständige politische Meinung
und mit dem Verlust seiner persönlichen Autonomie. Schon der Aufbau des Bu-

37
Zum Begriff des Charakters vgl. die Erläuterung auf S. 149f.
38
Riesmans Buch trägt den Titel: Die einsame Masse und den Untertitel: Eine Untersuchung der
Wandlungen des amerikanischen Charakters. Helmut Schelsky stellt in seinem Vorwort zur deutschen
Ausgabe jedoch zu Recht fest, dass Riesmans Aussagen auf alle modernen Gesellschaften mit ver-
gleichbarer Sozialstruktur und mit vergleichbarem Lebensstandard übertragbar seien.
Gesellschaftskritische Theorieansätze 203

ches macht klar, dass der Autor beides für unverzichtbar hält – der angepasste
Mensch der modernen Massengesellschaft wird von Riesman an den Kriterien
eines moralischen Kreiselkompasses gemessen, als zeitgemäß verstanden und für
zu oberflächlich befunden.
Dieser Maßstab macht Riesmans These einer verhängnisvollen Anpassungs- Ein Musterbeispiel
konservativer
bereitschaft des modernen Menschen zu einem prototypischen Beispiel einer
und punktueller
Gesellschaftskritik vom Standpunkt einer besseren Vergangenheit aus, also einer Sozialkritik
im vollen Wortsinn konservativen Gesellschaftskritik. An diesem in betont dis-
tanziertem Stil vorgetragenen Beispiel ist auch besser als bei den zuvor behan-
delten deutschen Vertretern dieser Richtung, die alle in den Nationalsozialismus
verstrickt waren, zu erkennen, dass ein derartiges Strickmuster der Gesell-
schaftskritik nicht zwangsläufig mit der Person und den politischen Präferenzen
des Autors zusammenhängen muss – Riesman zählte im Spektrum der US-
Soziologie eher zu dem links-liberalen Flügel39. Daneben steht Riesman aber
auch für „Gesellschaftskritik light“, für eine nicht mehr auf die Gesellschaft
insgesamt, sondern nur auf ein ausgewähltes Merkmal konzentrierte Gesell-
schaftskritik.
Beides wird deutlicher, wenn wir uns den Hauptpunkt seiner Kritik näher
ansehen, die Einstellung zur Politik. Die drei unterschiedlichen Verhaltensfor-
men lassen sich direkt in eingängige Typisierungen übersetzen.

Drei unterschiedliche Haltungen zur Politik:

ƒ Der traditionsgeleitete Typus reagiert mit Gleichgültigkeit auf politische


Fragen, weil diese Sache der Mächtigeren sind und ihn daher nichts ange-
hen (Riesman 1958: 179).
ƒ Der innengeleitete Typus tritt als Moralist auf, beurteilt politische Fragen
unter moralischen Aspekten und mit großem emotionalem Engagement.
ƒ Der außengeleitete „moderne“ Typ dagegen betrachtet Politik eher unen-
gagiert aus der Konsumentenperspektive – als „inside-dopester“ , zu
Deutsch als Informationssammler, geht es ihm um Unterhaltung und da
möchte er einfach „mitreden können“.

Übungsaufgabe:

Auf welchen dieser drei Typen ist ihrer Auffassung nach die Politikberichterstat-
tung im Fernsehen ausgerichtet? Können Sie dabei Unterschiede nach Sendern
bzw. Sendungen ausmachen?

Riesman charakterisiert den „Informationssammler“ folgendermaßen: Der Informations-


sammler

39
So gibt es in der Vorurteilsforschung starke Berührungspunkte mit Adorno, Horkheimer und Fromm
(Wiggershaus 1988; 395 und 473).
204 Ditmar Brock

„Seine Meinungen dienen ihm ... als bargeldloses Zahlungsmittel in seiner Rolle als
Mitglied einer Verbrauchsgenossenschaft der politischen Tagesnachrichten. Seine
Toleranz gegenüber den Meinungen anderer leitet sich ... auch von der Tatsache
(her), dass er sie eben als „bloße“ Meinungen ansehen kann, die vielleicht interes-
sant oder amüsant sind, aber nicht mehr das Gewicht einer teilweisen oder gar voll-
ständigen Hingabe an eine politische Rolle oder Handlung tragen. Sie sind ferner
„bloße Meinungen“, weil die politische Welt der Interessenverbände anscheinend so
festgelegt und verwickelt ist, dass die Meinung als solche so gut wie bedeutungslos
zu sein scheint“ (Riesman u.a. 1958: 239).

Lektürevorschlag:

David Riesman u.a. 1958, Die einsame Masse. Eine Untersuchung der Wandlun-
gen des amerikanischen Charakters, Reinbek: Rowohlt, S. 193-201.

Riesman kritisiert Anpassungsstrategien in der „Massengesellschaft“ als


menschlich wie gesellschaftlich schädlich.

6 Zusammenfassung und heutige Bedeutung


6.1 Kritikmaßstäbe

Besondere Bedeutung für die Beurteilung gesellschaftskritischer Theorieansätze


hat die Frage, auf welche Weise sie ihre Kritikmaßstäbe gewinnen und ob diese
Kritikmaßstäbe als wissenschaftlich gerechtfertigt werden können. Diese beiden
Fragen werden in diesem Abschnitt zusammenfassend behandelt.
Plausibilitätsvorteile In der Einleitung wurde dargestellt, dass konservative Gesellschaftskritik,
konservativer Gesell-
die ihre Maßstäbe einer als besser angesehenen Vergangenheit abgewinnt, Plau-
schaftskritik
sibilitätsvorteile hat, weil ihre Maßstäbe reale gesellschaftliche Verhältnisse
sind, die empirisch erforscht werden können. Die Darstellung konservativer
Gesellschaftskritik hat jedoch ergeben, dass diesen Vorteil nur die von David
Riesman und seinen Mitarbeitern entwickelte Kritik am außengelenkten Men-
schen in vollem Umfang beanspruchen kann. Riesman kritisiert aber nur einen
bestimmten Aspekt. Seine Kritik kann daher nicht als „vollständige“ Gesell-
schaftskritik angesehen werden.
Charakteristischer für konservative gesellschaftskritische Theorien sind eher
Fälle, die eine bevorzugte Modellvorstellung von Gesellschaft mit bestimmten
gesellschaftlichen Verhältnissen in eine direkte Verbindung bringen, wie sie in
einer bestimmten historischen Phase existiert haben. Das trifft direkt auf das
Denken von Arnold Gehlen zu, gilt mit Abstrichen aber auch für Hans Freyer
wie für Theodor W. Adorno und Max Horkheimer.
Wie universell ist In Gehlens Menschenbild kann der Mensch seine spezifischen kulturellen
Gehlens Institutio-
Möglichkeiten nur dann mit Verhaltenssicherheit und stabiler Aufgabenerfüllung
nentheorie?
verbinden, wenn er in Institutionen lebt, die ihm zweifelsfrei bestimmte Aufga-
ben und die Art und Weise vorgeben, wie sie zu tun sind. Diese Art von Institu-
Gesellschaftskritische Theorieansätze 205

tionen charakterisieren Gesellschaften seit der neolithischen Revolution bis hin


zur frühen Moderne (vgl. insbesondere Gehlen 1957). Sie können daher als Be-
lege für funktionierende Institutionen benutzt werden. Aus dieser Beschränkung
des historischen Bezugs der Institutionentheorie ergeben sich allerdings kritische
Einwände gegen die Wissenschaftlichkeit von Gehlens Gesellschaftskritik. Geh-
len kann einmal die Evolution der menschlichen Gattung vor der Entwicklung
von Institutionen nicht erklären. Zum andern begreift er die entwickelte moderne
Gesellschaft aufgrund ihres Relativismus und des Subjektivismusproblems als
defizitär. Beide Probleme begrenzen nach dem Institutionenkonzept das Funkti-
onieren von Institutionen. Man kann Gehlen daher vorwerfen, dass er sich gar
nicht darum bemüht hat, zu verstehen, warum entwickelte moderne Gesellschaf-
ten aber dennoch leistungsfähiger sind als weniger moderne Gesellschaften (Par-
sons, vgl. Bd.1, S. 210.) und Menschen sich auch unter Bedingungen der Ambi-
valenz (vgl. Junge 2000) orientieren können. Gehlens Gesellschaftskritik kann
daher als Resultat einer historisch verkürzten Sozialtheorie verstanden werden.
Ein ähnlicher Einwand trifft auch auf Hans Freyer zu. Er begreift die mo- Normative Prämissen
von Freyers Moderni-
derne Gesellschaft von vornherein als defizitär. Anders als etwa Max Weber
täts- und Kapitalis-
(vgl. seine Begriffe Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung; Weber 1972: muskritik
21f) fasst er die für die ältere Sozialtheorie übliche Unterscheidung zwischen
Gemeinschaft und Gesellschaft nämlich nicht analytisch, sondern normativ auf:
Nur unter den mit dem Begriff „Volk“ erfassten Bedingungen der Vergemein-
schaftung gewinnt das menschliche Leben eine ihm gemäße Form. Dagegen
schafft zweckhafte Vergesellschaftung nur eine falsche Nivellierung „gewachse-
ner“ Unterschiede, die den Menschen „keinen Halt“ biete. Freyer identifiziert
nun Vergemeinschaftung mit den angeblich in vormodernen Gesellschaften
„gewachsenen“ „völkischen“ Strukturen. Alle spezifisch modernen Elemente im
Kontext von Aufklärung, Klassengesellschaft und globalem Kapitalismus wer-
den dagegen der Vergesellschaftung zugeordnet. Das führt zwangsläufig zur
Modernitäts- und Kapitalismuskritik. Die notwendige Überwindung der Klas-
sengesellschaft kann für Freyer sowohl durch eine Revitalisierung vormoderner
Strukturen, also konservativ, wie auch auf revolutionärem Wege (im Zusammen-
spiel zwischen „Volk“ und „Führer“) erfolgen.

Der empirische Bezug des Kritikmaßstabs ist bei Gehlen wie Freyer zwar ge-
geben, aber problematisch.

Wieso haben auch „linke“ Gesellschaftskritiker Formen konservativer Gesell- Elemente konservati-
ver Gesellschaftskri-
schaftskritik entwickelt? Beispielsweise sind Adorno und Horkheimer an einer
tik bei Horkheimer
Konservierung zentraler Elemente des frühen Bürgertums interessiert und benut- und Adorno
zen sie als sozialpsychologischen Maßstab für den gelungenen Umgang mit
gesellschaftlichen Anforderungen, weil in der These von der Dialektik der Auf-
klärung die These eines gesellschaftlichen Rückschritts mit enthalten ist. Daher
kritisieren Horkheimer und Adorno ebenso wie Gehlen und Freyer die entwi-
ckelte moderne/kapitalistische Gesellschaft als zivilisatorischen Rückschritt.
Übereinstimmungen zwischen rechter und linker Gesellschafts- und Kulturkritik
ergeben sich aber auch in vielen Aspekten der Gegenwartskritik, weil die Unter-
206 Ditmar Brock

schiede der Gesellschaftsmodelle erst dann eine zentrale Rolle spielen, wenn es
um Rezepte für gesellschaftliche Veränderung geht.
Jedoch unterschiedli- Hier liegt also der eigentliche Unterschied zwischen konservativer und „lin-
che Rezepte für
gesellschaftliche
ker“ Gesellschaftskritik. Während die konservativen Gesellschaftskritiker eine
Veränderung Rücknahme der Moderne (bzw. eine konservative Revolution) und eine Revitali-
sierung vormoderner und vordemokratischer Strukturen erreichen wollen, zielen
„linke“ Gesellschaftskritiker auf eine Vollendung des Programms der Aufklä-
rung, auf die Befreiung der Menschen aus der selbstverschuldeten Unmündig-
keit. Dies bringt sie allerdings in noch stärkere Probleme, die Wissenschaftlich-
keit ihrer Kritik zu belegen, da sie sich stärker auf utopische Möglichkeiten des
gesellschaftlichen Zusammenlebens beziehen müssen.
Konkretisie- In welche utopischen Modelle übersetzen linke Gesellschaftskritiker das
rungsschwie-
Programm der Aufklärung? Dabei muss man immer zwischen theoretischen
rigkeiten bei utopi-
schen Gesellschafts- Formeln und ihrer konkreten Ausformulierung unterscheiden. Die sich hier erge-
modellen benden Schwierigkeiten illustrieren die Klassiker der Gesellschaftskritik Marx
und Engels. Während die theoretischen Formeln: „Abschaffung der Herrschaft
von Menschen über Menschen“ und „Ende der Ausbeutung menschlicher Ar-
beitskraft durch Vergesellschaftung der Produktionsmittel“ sich wie ein roter
Faden durch das gesamte Werk ziehen, haben sie nur an einer einzigen Stelle das
Leben in der kommunistischen Gesellschaft der Zukunft beschrieben. Sie biete
den Menschen die Möglichkeit über ihre Tätigkeiten frei zu disponieren und z.B.
morgens fischen und nachmittags jagen zu gehen. Die Aktivitäten der Menschen
in der zukünftigen kommunistischen Gesellschaft sind für Marx also die denkbar
archaischsten!
Diese Konkretisierungsschwierigkeiten sind für Horkheimer und Adorno
seit der „Dialektik der Aufklärung“ noch größer geworden, weil ihre Kritik we-
sentlich grundsätzlicher ist. In ihren Augen ist das menschliche Wissen generell
auf Manipulation, auf instrumentelle Herrschaft verkürzt. Daran sei auch das
Projekt der Aufklärung gescheitert. Wie kann dagegen ein alternatives Gesell-
schaftsmodell einer an nichtinstrumentellem Wissen interessierten Gesellschaft
gesetzt werden? Es ist noch schwerer zu klären, als die Möglichkeit ihrer eigenen
Fundamentalkritik: Wie lässt sich auf der Grundlage des durch und durch in-
strumentellen menschlichen Wissens überhaupt erkennen, dass die Aufklärung
fehlgeschlagen ist? Die Möglichkeit eines nicht instrumentell ausgerichteten
Wissens können Adorno und Horkheimer nur an historischen Beispielen der
Mimesis erläutern. Darunter ist das in archaischen Gesellschaften häufig anzu-
treffende Nachspielen und sich verwandt machen mit anderen Wesen (etwa mit
Geistern und Dämonen) durch Akteure wie z.B. Schamanen zu verstehen. Auch
Modelle einer nicht gescheiterten Aufklärung können scheinbar nur von archai-
schen Formen des Wissens aus erläutert werden!
Ausnahme Marcuse Vor diesem Hintergrund ist es wenig verwunderlich, dass von den linken
Gesellschaftskritikern nur Herbert Marcuse eine über Intellektuellenzirkel hin-
ausreichende breite Wirkung entfalten konnte. Dies lag daran, dass er sich darauf
konzentriert hat, die bestehende Gesellschaft auf die in ihr enthaltenen Möglich-
keiten des Abbaus überflüssig gewordener Herrschaft hin zu untersuchen. Sein
utopisches Modell einer repressionsfreieren Gesellschaft ist daher näher an der
sozialen Realität moderner Gesellschaften. Allein, auch diese Verbindung von
Gesellschaftskritische Theorieansätze 207

marxistischen und freudianischen Denkfiguren zeigt keinen Hebel, über den eine
derartige Zivilisationsveränderung erreicht werden kann. Daher kann sich Mar-
cuse in seinem Spätwerk „Der eindimensionale Mensch“ nur noch eine von
Randgruppen angestoßene Veränderung vorstellen.

Weder Adorno noch Horkheimer nennen konkrete Ansatzpunkte für gesell-


schaftliche Veränderungen. Marcuse verfügt zwar über solche Ansatzpunkte,
er vermag jedoch nicht, Gruppen zu identifizieren, von denen die propagierte
gesellschaftliche Veränderung ausgehen könnte.

Mit diesen Überlegungen sind erst die konzeptionellen Schwierigkeiten der be- Ist politische Ein-
flussnahme legitim?
handelten Positionen konservativer und „linker“ Gesellschaftskritik benannt.
Eine Antwort auf die Frage nach der wissenschaftlichen Rechtfertigung utopi-
scher Gesellschaftsentwürfe steht noch aus. Da die gesellschaftliche Zukunft
keinen Naturgesetzen folgt, sondern immer von menschlichen Handlungen und
Entscheidungen abhängig sein wird, können Zukunftsentwürfe nie die Objektivi-
tät von Aussagen über regelhafte Ereignisse oder Prozesse beanspruchen. Utopi-
sche Gesellschaftsentwürfe gehören insofern zu dem Bereich politischer Ein-
flussnahme im weitesten Sinne. Damit stellt sich viel eher die Frage, ob es für
einen Wissenschaftler legitim ist, die eigene wissenschaftliche Qualifikation und
die Autorität der beruflichen Position für eine derartige Einflussnahme zu nut-
zen. Wenn man diese Frage bejaht, dann plädiert man für Formen „politischer
Führung“, die sich weder von autoritären noch von diktatorischen Modellen
„rechter“ Gesellschaftskritiker (wie Führer und Volk bei Freyer) trennscharf
abgrenzen lassen.
Aus solchen Rechtfertigungsproblemen hat von den hier behandelten Auto- Habermas: Rückzug
auf analytische
ren allein Habermas Konsequenzen gezogen, die mit Vorstellungen über demo- Fragen
kratische Willensbildungsprozesse übereinstimmen. Sieht man einmal von frü-
hen Veröffentlichungen aus den 50er und 60er Jahren ab, verzichtet er auf utopi-
sche Gesellschaftsmodelle und versucht, die Bedingungen politischer Willens-
bildung im weitesten Sinne zu klären. Das bedeutet, dass er die sozialen Bedin-
gungen der Verständigung über normative Bindungen rekonstruieren möchte.
Gesellschaftskritik konzentriert sich hier auf die Frage nach strukturellen Prob-
lemzonen solcher Verständigungsprozesse. Sie werden in der Kolonialisierungs-
these benannt.

6.2 Kann man trennscharf zwischen gesellschaftskritischen und


„konventionellen“ soziologischen Theorieansätzen unterscheiden?

In der Einleitung zu diesem Kapitel wurde hervorgehoben, dass gesellschaftskri-


tische Theorieansätze im Unterschied zu „konventionellen“ soziologischen The-
orieansätzen keine vollständige Beschreibung der Gesellschaft anstreben, son-
dern Fehlentwicklungen benennen und kritisieren wollen. Aus dieser Zielsetzung
ergeben sich dann anders gelagerte Begriffe und Unterscheidungen als sie Theo-
208 Ditmar Brock

rien aufweisen, die eine möglichst genaue Beschreibung der sozialen Realität
anstreben.
Unterscheidung trifft Diese Charakterisierung trifft zu. Sie ist allerdings für ältere Sozialtheorien
für ältere Sozialtheo-
rie zu
informativer und trennschärfer als für aktuelle Theorieansätze. Diese Behaup-
tung soll hier erläutert werden. In der älteren Sozialtheorie bis in die 70er Jahre
des letzten Jahrhunderts hinein waren beide Theorierichtungen programmatisch
getrennt. Die konventionellen, den Mainstream bildenden Theorieansätze folgten
einem in der Tradition des Positivismus (vgl. Bd. 1, S. 42f.) liegenden Pro-
gramm, das durch möglichst genaue Erfassung der Realität in erster Linie den
wissenschaftlichen und in zweiter Linie auch den gesellschaftlichen Fortschritt
voranbringen wollte. Gesellschaftskritische Theorieansätze verlangten dagegen
nach direkter Parteinahme des Wissenschaftlers (für den Fortschritt, die Aufklä-
rung, die Erneuerung der Gesellschaft, gegen linke Intellektuelle, den Verfall der
Institutionen, des Gewissens usw.).
Zunehmende Vermi- Gegen diese reinliche Trennung richten sich zunehmende Zweifel. Die
schung zwischen
Zweifel auf Seiten der Gesellschaftskritik wurden unter 6.1. (Habermas) bereits
Beschreibung und
Gesellschaftskritik dargestellt. Sie lassen sich auf die folgende Formel bringen: Während sich Ge-
sellschaftskritiker wie Adorno oder Gehlen früher noch für ihren Mut applaudiert
haben, tritt heute die Frage nach dem politischen Mandat für eine derartige Kritik
in den Vordergrund. Sie kann wie bei Habermas durch Annäherung an den
Mainstream beantwortet werden oder wie bei neueren Gesellschaftskritikern vom
Schlage Naomi Kleins (2001) durch den Anschluss an Organisationsnetzwerke
wie Attac (vgl. Leggewie 2003).
Wissenssoziologie Auf Seiten der konventionellen Sozialtheorie sind dagegen die Zweifel an
der Objektivität soziologischer Erkenntnisse gewachsen. Über wissenssoziolo-
gisch begründete Zweifel in der wissenssoziologischen Tradition Karl Mann-
heims hinausgehend, werden heute zwei weitere Einwände weitgehend geteilt:

ƒ Eine für Objektivitätsvorstellungen unabdingbare Unabhängigkeit des Er-


kenntnisobjekts Gesellschaft von den Sozialwissenschaften ist insofern
nicht gegeben, als wissenschaftliche Begriffe ziemlich unabhängig von den
Absichten der Wissenschaftler in die Alltagssprache einziehen und auf diese
Weise die Realitätssicht der Menschen verändern (vgl. Giddens 1988). Et-
was, was gesellschaftskritische Theorieansätze intendieren, ereignet sich al-
so generell und unabhängig von den Intensionen der Theoriebildung.
ƒ Die Richtung gesellschaftlicher Entwicklungen wird letztlich von selekti-
vem menschlichem Handeln bestimmt. Das schließt immer die Möglichkeit
von Richtungsänderungen mit ein. Kann man unter derartigen Bedingungen
dann überhaupt, wie etwa Parsons (vgl. Bd.1, S. 209f.), von festliegenden
Entwicklungstendenzen etwa der gesellschaftlichen Modernisierung spre-
chen? Sobald man, wie die neuere Modernisierungstheorie, derartigen Ein-
wänden mit Begriffen wie dem der reflexiven Modernisierung (Beck/Gid-
dens/Lash 1993) Rechnung trägt, bekommen die Aussagen zur gesellschaft-
lichen Entwicklung explizit jene politische, entscheidungsabhängige Kom-
ponente, von der gesellschaftskritische Ansätze immer ausgegangen sind.
Gesellschaftskritische Theorieansätze 209

Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass ausschließlich auf Ge-
sellschaftskritik zugeschnittene Ansätze in den heutigen Sozialwissenschaften
kaum noch eine Rolle spielen, dass deren Gedankengut aber in viele der neueren
Theorieansätze eingeflossen ist.

Gesellschaftskritisches Gedankengut findet sich in vielen neueren Theoriean-


sätzen.

6.3 Ausblick

Daher ist die Kenntnis wichtiger Positionen gesellschaftskritischer Theorieansät-


ze nach wie vor unentbehrlich, wenn man aktuelle Theorievarianten verstehen
möchte.

Im Vergleich mit konventionellen Theorieansätzen bleibt immer noch der Unter- Gegentrend gegen die
Spezialisierung?
schied, dass die hier behandelten Positionen nicht im engeren Sinn soziologische
Positionen sind, sondern im Spektrum zwischen Philosophie und Soziologie, z.T.
auch interdisziplinär entwickelt wurden. Wie ist diese Besonderheit vor dem
Hintergrund eines vermeintlich universellen Trends zu einer immer feinmaschi-
geren wissenschaftlichen Arbeitsteilung zu verstehen? Haben wir es – ähnlich
wie übrigens auch im Poststrukturalismus (vgl. S. 305ff.) – hier mit Anpas-
sungsproblemen und romantischen Widerständen gegen harte Trends wissen-
schaftlicher Arbeitsteilung zu tun, oder signalisieren sie eine partielle Sonderstel-
lung der Soziologie als fachübergreifende Deutungswissenschaft in der Nachfol-
ge der Philosophie? Diese Fragen sind für das Verständnis gesellschaftskritischer
Theorien zweifellos entscheidend. Das ändert aber nichts daran, dass sie derzeit
nicht eindeutig beantwortet werden können. Hier muss daher jeder Leser sein
eigenes Urteil bilden.

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Ditmar Brock

Konflikttheorie

Einleitung
Dass Soziologen ein und dasselbe soziale Phänomen ganz unterschiedlich inter- Theorienpluralismus
in der Soziologie
pretieren können, je nachdem, welche Theorieperspektive sie sich zu eigen ma-
chen, ist seit einigen Jahrzehnten ein wichtiges Merkmal der Soziologie. Gerade
diese Möglichkeiten, etwas aus unterschiedlichen Theorieperspektiven interpre-
tieren zu können, nähren ihr Image als „Reflexionswissenschaft“; also als einer
Disziplin, deren Nutzen ganz wesentlich darin besteht, scheinbare Selbstver-
ständlichkeiten zu hinterfragen und sie aus ungewohnter Perspektive zu beleuch-
ten. Der Theorienpluralismus in der Soziologie ruft aber auch kritische Reaktio-
nen hervor, die daran ansetzen, dass damit die Eindeutigkeit soziologischen Wis-
sens verloren geht.
Wie es zu dem für die heutige Soziologie typischen Theorienpluralismus Kritisches Korrektiv
des Strukturfunktio-
gekommen ist, kann man brennglasartig an der Entstehung, vor allem aber an der nalismus
Popularisierung der Konflikttheorie studieren. Die Konflikttheorie hat nämlich
als kritisches Korrektiv des Strukturfunktionalismus ihre heutige Bedeutung
gewonnen. Sie sollte jenes von Talcott Parsons entwickelte Theoriekonzept nicht
ablösen, sondern vielmehr ergänzen, das nach dem 2. Weltkrieg bis Ende der
50er/Anfang der 60er Jahre die „westliche Soziologie“ (siehe Glossar) dominiert Westliche Soziologie
hat. Parsons Theoriearbeit war noch von der Intention geprägt, zu einer Synthese
soziologischer Fragestellungen und Theorieperspektiven zu kommen. Schon
seine erstmals 1937 veröffentlichte Handlungstheorie sollte die Konvergenz in
den handlungstheoretischen Annahmen so unterschiedlicher wirtschaftswissen-
schaftlicher und soziologischer Theoretiker wie Marshall, Pareto, Durkheim und
Weber fixieren. Daraus hat sich dann der Strukturfunktionalismus entwickelt, ein
universalistisch angelegtes Analysekonzept, das an generellen funktionalen Er-
fordernissen von Handlungssystemen (AGIL-Schema) ansetzt (vgl. Bd. 1, S.
194ff.). Ausgehend von der Annahme, dass sich Soziologen ausschließlich mit
der Analyse von Handlungssystemen befassen, war in dem Moment ein allge-
meines Analyseraster erreicht, als das AGIL-Schema auf alle denkbaren Analy-
seebenen angewendet werden konnte (vgl. Bd.1, S. 197f.).
216 Ditmar Brock

1 Die Konflikttheorie – ein „dritter Weg“ zwischen


Empirismus und Strukturfunktionalismus
Die Konflikttheorie – ein „dritter Weg“ …
Mit der Konflikttheorie entstand Ende der 50er/Anfang der 60er Jahre des 20.
Jhs. dann aus diversen Themengebieten ein alternatives Paradigma, eine alterna-
tive „Sichtweise“ von Gesellschaften. Der Aufstieg der Konflikttheorie zeigt an,
dass die Ergänzungsbedürftigkeit des Strukturfunktionalismus zumindest für
einen Teil der „scientific community“ offenkundig war und auch der integrative
Anspruch des Strukturfunktionalismus erfolgreich bezweifelt werden konnte.
Gründe für Plausibili- Wenn man nach den Gründen für den Plausibilitätsverlust des Strukturfunk-
tätsverlust des Struk-
tionalismus sucht, dann wird man einmal bei den gesellschaftlichen Veränderun-
turfunktionalismus
gen der ausgehenden 50er und der 60er Jahre fündig. Ralf Dahrendorf leitete ein
späteres Nachwort zu einer Sammlung alter Aufsätze aus dieser Zeit mit der
Feststellung ein: „Die sechziger Jahre waren für den deutschen Sozialwissen-
schaftler mit wachem Sinn für die politische Umwelt ein Glücksfall“ (Dahrendorf
1986: I). Was tat sich damals in der politischen Umwelt? Sie war u.a. dadurch
geprägt, dass benachteiligte Sozialschichten ihre Rechte einforderten und vielfäl-
tige Partizipationsansprüche erhoben. Zugleich werden spezifische Gruppeninte-
ressen, etwa Jugendlicher, Heimatvertriebener, Arbeiter, Selbstständiger, sowie
Regionalinteressen artikuliert und akzeptiert. Die Arbeiterschicht wird zuneh-
mend am Wohlstand beteiligt, erlangt Mitspracherechte in den Betrieben (zu-
nächst Montanmitbestimmung) und wird auch nicht mehr kulturell ausgegrenzt
(vgl. Schelskys These von der nivellierten Mittelstandsgesellschaft, S. 248ff.).
Konflikte wie die so genannte Spiegelaffaire 1962 und die in den 60er Jahren
beginnend mit den Schwabinger Krawallen eskalierenden Proteste politisierter
Studenten („68er“) zeigten sehr deutlich, dass gesellschaftliche Veränderungen,
sei es eine Respektierung der kritischen Berichterstattung der Presse oder eine
Aufarbeitung des Nationalsozialismus und das Infragestellen überkommener
Werte, ohne soziale Konflikte nicht zu haben waren. International prägten der
Widerstand gegen die Kolonialherrschaft (Algerien, Vietnam, Indien und Kenia)
und die daraus folgende Entkolonialisierung, aber auch der erfolgreiche Kampf
der Bürgerrechtler in den USA gegen die in den Südstaaten immer noch prakti-
zierte Rassendiskriminierung das politische Klima. Alle diese Prozesse vollzo-
gen sich nicht reibungslos, sondern in Form von Konflikten und Auseinanderset-
zungen zwischen unterschiedlichen Gruppen und deren Interessen. Sie mündeten
in integrative Kompromisse und wurden vielfach auch über Verhandlungen und
institutionell vorgesehene Ausgleichs- und Schlichtungsmechanismen beigelegt.
Forderung nach Jüngere Soziologen sahen in diesen konflikthaften Prozessen fortschrittliche
„kritischer Soziolo-
Entwicklungen, für die die Soziologie aber kein konzeptionelles Gespür entwi-
gie“
ckelt hatte. Die klassischen Empiriker registrieren nur unpolitisch, was an dieser
Entwicklung zählbar ist. Der Strukturfunktionalismus zeichnete das Bild gesell-
schaftlicher Uhrwerke. Deswegen forderten „kritische“ Stimmen wie C. Wright
Mills einen „dritten Weg“ zwischen diesen beiden Polen (Mills 1963). Es solle
eine weder instrumentalisierbare noch abgehobene „kritische Soziologie“ entwi-
ckelt werden, die private Lebensumstände mit öffentlichen Fragen verbinde.
Dahrendorf schwebte eine Verbindung von einer „ungebrochene[n] und an-
Konflikttheorie 217

spruchsvolle[n] Wissenschaftstradition mit dem Drängen nach praktischer Ver-


änderung, nach Reform“ (Dahrendorf 1986: I) vor.
Die Legitimation für eine solche kritische gesellschaftspolitische Ausrich-
tung der Soziologie musste aber erst gegen den damals vorherrschenden Struk-
turfunktionalismus erstritten werden. Bei der Auseinandersetzung der Konflikt-
theoretiker mit dem Strukturfunktionalismus spielten vor allem zwei Aspekte
eine zentrale Rolle. Sie waren zwar eng miteinander verflochten, aber aus analy-
tischen Gründen ist es sinnvoll, sie zu unterscheiden. Deshalb wird hier zunächst
(a) die Kritik am integrativen Anspruch des Strukturfunktionalismus und in ei-
nem eigenen Abschnitt dann (b) die Kritik an der Ausblendung von Konflikt und
sozialem Wandel behandelt.

1.1 Die implizite Kritik am integrativen Anspruch des


Strukturfunktionalismus

Der integrative Anspruch des Strukturfunktionalismus steht in der Tradition, aus Integrativer Anspruch
des Strukturfunktio-
der heraus sich das heutige soziologische Denken entwickelt hat. Es beginnt mit
nalismus
der Erfahrung, dass ein rationaler Umgang mit Normen und Werten nur dann
möglich ist, wenn man von einem nichtnormativen Standpunkt aus deren Bedeu-
tung bzw. Nutzen analysiert (vgl. Bd.1, S. 11ff.). In Form des Positivismus (Bd.
1, S. 44) wurde daraus ein einheitswissenschaftliches Programm entwickelt, an
das der Strukturfunktionalismus insofern anschließt, als auch die Analyse funkti-
onaler Voraussetzungen von Handlungssystemen ohne Wertprämissen des Wis-
senschaftlers betrieben werden kann und zu generalisierbaren Ergebnissen führen
sollte.
Dieses Programm kann von kulturtheoretischen und wissenssoziologischen Wissenssoziologische
Kritik
Positionen aus bezweifelt werden. Aus kulturtheoretischer Sicht kann gezeigt
werden, dass auch eine von nichtnormativen Standpunkten getragene soziologi-
sche Analyse kulturelle Grundlagen wie Sprache und Semantik voraussetzt. In
der Wissenssoziologie (siehe Glossar) kann auf dieser Grundlage gezeigt wer- Wissenssoziologie
den, dass gerade auch universalistisch angelegte Begriffe von partikularen Inte-
ressen geprägt sein können.
Nach Karl Mannheim, einem der Begründer der Wissenssoziologie, gehört
der Gegenstandsbereich der Geistes- und Sozialwissenschaften in den Bereich
des „seinsverbundenen Denkens“. Hier sind die Begriffswahl wie das Denken
der Menschen von ihrer sozialen Lage und ihren Interessen zutiefst geprägt.
Außerintellektuelle Faktoren wie Nationalität, Konfession, die Klassen- und
Schichtzugehörigkeit oder auch Mentalitäten beeinflussten hier die Wahrneh-
mung und Interpretation der sozialen Realität. Mannheim spricht hier von „tota-
len Ideologien“. Das sind Ideologien, bei denen kein bewusster Täuschungsver-
such vorliegt. Auch eine wissenschaftliche Betrachtungsweise könne sich davon
nicht lösen. Anders als in den Naturwissenschaften sei Objektivität hier nicht
möglich. Diese Sichtweise schließt auch eine allgemein akzeptierte Sozialtheorie
als unerreichbar aus. Sie verallgemeinerte den wissenssoziologischen Blickwin-
kel und sah jedes Denken in seinem Universalismus begrenzt durch Interessen
und soziale Lagen.
218 Ditmar Brock

Aus heutiger Sicht ist diese Folgerung jedoch nicht zwingend. Bereits 1966
haben Peter Berger und Thomas Luckmann die wissenssoziologische Perspekti-
ve radikalisiert. Sie analysieren die gesellschaftlichen Bedingungen jeglichen
Wissenserwerbs (Berger/Luckmann 1996: V; vgl. S. 84ff.). Wissen ist danach
immer gesellschaftlich geprägt, eine Orientierung an „objektivem“, durch Inte-
ressen gewissermaßen nicht „verunreinigtem“ Wissen führt in die Irre. Diesen
Bedingungen können auch die Naturwissenschaften nicht entrinnen. Zu einem
ähnlichen Ergebnis ist auch der Konstruktivismus (siehe Glossar) gekommen.
Konstruktivismus Danach konstruiert jede Wissenschaft mit den Mitteln der Sprache „ihren“ Ge-
genstandsbereich. Zudem sind die menschlichen Erkenntnismöglichkeiten immer
auch durch die biologische Beschaffenheit des Menschen vorstrukturiert – ande-
re intelligente Arten könnten durchaus zu anderen Ergebnissen kommen. Diese
Bedingungen schließen aber nach konstruktivistischer Auffassung die Entwick-
lung einer einheitlichen Wissenschaftssprache keineswegs aus.
Theorienpluralismus In der Auseinandersetzung mit Parsons wurde aus der von Mannheim ver-
oder Einheitswissen-
tretenen wissenssoziologischen Position überwiegend die Folgerung gezogen,
schaft?
dass auch integrative Theoriekonzepte wie der Strukturfunktionalismus immer
nur seinsverbundenes Denken repräsentieren können und daher der Ergänzung
durch andere Theoriekonzepte bedürfen. Konsequent zu Ende gedacht ist diese
Position bei Luhmann, der einen Wissenszuwachs über die Gesellschaft nur
durch eine konsequente Variation von Gesellschaftsbeschreibungen für erreich-
bar hält (Luhmann 1997: 879ff.; vgl. S. 357ff. in diesem Band). Wir haben be-
reits gesehen, dass diese Folgerung nicht zwingend ist. Man kann z.B. aus dieser
Debatte auch die Folgerung ziehen, dass Gesellschaften nichts anderes als Wis-
senskonstruktionen der Gesellschaftsmitglieder mit praktischen Folgen sind, die
von der Soziologie deswegen re-konstruiert werden sollten (Brock 2006). Auch
Theorien rationaler Wahl (vgl. S. 239ff. in diesem Band) halten am Konzept
einer Einheitswissenschaft fest.
Konflikttheorie war Wichtig für das Verständnis der Konflikttheorie ist, dass hier erstmals eine
Vorreiter des Theo-
rienpluralismus
relativierende Kritik am Strukturfunktionalismus erfolgreich praktiziert wurde.
Dem Strukturfunktionalismus wurde eine einseitige Sichtweise der Gesellschaft
vorgeworfen, ohne dass dieser Vorwurf mit dem Anspruch auf eine stimmigere
umfassende Sozialtheorie verknüpft wurde. Der Anspruch war lediglich, dass die
Konflikttheorie eine ergänzende Sichtweise bereitstellen würde, die die Einsei-
tigkeit des Strukturfunktionalismus „ausgleichen“ könne. Dabei wurde still-
schweigend unterstellt, dass eine allumfassende Sozialtheorie nicht erreichbar
sei. Mit der Akzeptanz der Konflikttheorie wurde zugleich eine „vorsichtigere“,
„pluralistische“ Sichtweise der Möglichkeiten soziologischer Theoriebildung
etabliert. Dieser bewusste Theorienpluralismus hat die eher kurze Konjunktur
der Konflikttheorie bis heute überlebt.
Skepsis gegenüber Wenn man die Konflikttheorie weltanschaulich lokalisieren möchte, dann
Großtheorien
fällt – ähnlich wie bei den Theorien rationaler Wahl – (vgl. S. 239ff. in diesem
Band) eine gewisse Nähe zum Liberalismus auf. Sie äußert sich einmal in einer
grundsätzlichen Skepsis gegenüber Großtheorien, die Dahrendorf in die Begrün-
dung der Konflikttheorie einfließen lässt:
Konflikttheorie 219

„Wir leben in einer Welt der Ungewissheit. Was wir denken und was wir tun, ist da-
her Entwurf. Da wir nicht wissen können, ob unsere Entwürfe richtig sind, kommt es
darauf an, den Streit der Entwürfe zu pflegen. Versuch und Irrtum sind Quellen des
Fortschritts in Erkenntnis und Gesellschaft. Sie sind auch Element der Freiheit. Die
Aufgabenstellung der Erfahrungswissenschaften, ihr Verhältnis zur Praxis, die Be-
griffswelt von Herrschaft, Ungleichheit und Konflikt und eben die politische Theo-
rie der Freiheit gehören in diesen Zusammenhang“ (Dahrendorf 1986: II).

Diese Skepsis hat nicht zuletzt eine anthropologische (siehe Stichwort Anthropo- Anthropologische
Dimension der Kon-
logie im Glossar) Dimension.
flikttheorie

„Eine vollkommene Gesellschaft setzt die Möglichkeit voraus, dass zumindest ein Anthropologie
Mensch in der Lage ist, das Vollkommene in seiner ganzen Fülle zu erkennen. Nun
ist aber die philosophische Annahme zumindest plausibel, dass wir konstitutionell in
einer Welt der Ungewissheit leben, d. h. dass kein Mensch je in der Lage sein wird,
auf alle Fragen die ein für allemal richtigen Antworten zu geben… Aus der Unge-
wissheit der menschlichen Existenz in der Welt könne man den anthropologischen
Sinn des Konflikts in der Gesellschaft, aber auch im Einzelnen begründen“ (Dah-
rendorf 1986: 275f.)

Vor diesem philosophisch – anthropologischen Hintergrund kritisiert Dahrendorf Das Nadelöhr von
Struktur und
ganz prinzipiell die Unzulänglichkeit des Strukturfunktionalismus, aber auch
Funktion
jeder möglichen anderen Sozialtheorie, die alle soziologischen Phänomene auf
die Begriffe Struktur und deren Funktion für die Gesellschaft bezieht (vgl. Dah-
rendorf 1955; 1986b). Dieser Kritik hat übrigens Luhmann bei der Neubegrün-
dung soziologischer Systemtheorie Rechnung getragen (vgl. S. 357ff. in diesem
Band). Wie auch andere Versuche (etwa von Merton 1957) zeigten, ist ein Theo-
riegerüst, das Strukturen bestimmte Funktionen zurechnet, prinzipiell nicht in der
Lage, Dissens und Konflikt als etwas anderes als eine Funktionsstörung anzuse-
hen. Dabei zeigten bereits Alltagsbeispiele, dass Konflikt die Funktion habe, den
sozialen Wandel voranzutreiben.

„Was folgt denn aus dem Gegensatz von Regierung und Opposition? Zur bloßen Er-
haltung des bestehenden Systems reichte eine Gruppe. Wäre die Opposition nur ein
pathologisches Element, ein Faktor der Instabilität, dann wäre sie überflüssig. Doch
ist es der offenbare Sinn des Widerspiels von Regierung und Opposition, den politi-
schen Prozess lebendig zu erhalten, in Widerspruch und Diskussion neue Wege zu
erkunden und damit die schöpferische Qualität menschlicher Gesellschaften zu er-
halten. Das gleiche gilt für Konflikte im wirtschaftlichen Bereich, aber auch im
Rechtswesen und in allen Organisationen und Institutionen.“ (Dahrendorf 1986b:
274)

Übungsaufgabe:

Warum kann der Strukturfunktionalismus nach Dahrendorf die gesellschaftliche


Funktion sozialer Konflikte nicht erfassen?
220 Ditmar Brock

Kein Konsens über Aus dieser Perspektive wäre es nicht nur unzweckmäßig, sondern auch unpas-
Theorienpluralismus
send, ja geradezu vermessen, eine umfassende Sozialtheorie vorzuschlagen. Ein
Nebeneinander alternativer „Sichtweisen“ und Analysemethoden würde dagegen
den „Streit der Entwürfe“ pflegen und die Chancen vermehren, unser soziologi-
sches Wissen über den Weg von Versuch und Irrtum allmählich zu verbessern.
Unter wissenschaftslogischen Gesichtspunkten ist ein solches Nebeneinander
allerdings problematisch und hat immer den Status eines Provisoriums. So hält
etwa Giddens fest: Insofern „Konsenstheorie und Konflikttheorie divergierende
Interpretationen anbieten, haben sie als rivalisierende Erklärungen und nicht als
komplementäre zu gelten“ (Giddens 1984: 119). Nach Giddens muss also das
Nebeneinander von Strukturfunktionalismus/ Konsenstheorie und Konflikttheo-
rie entweder zugunsten der einen oder der anderen Richtung entschieden, oder
aber durch eine erfolgreiche Synthese beider Theorierichtungen beendet werden.

Lektürevorschlag:

Lesen Sie Ralf Dahrendorfs Aufsatz „Struktur und Funktion“. In: Ralf Dahrendorf 1986,
Pfade aus Utopia. Zur Theorie und Methode der Soziologie, München: Piper, S.
213-242.

1.2 Die explizite Kritik an der Ausblendung von Konflikt

Bedeutung von Der Strukturfunktionalismus analysiert Gesellschaften/Nationalstaaten als Hand-


Konflikten wird im
lungssysteme. Entsprechend dem AGIL-Schema stehen dabei Gesichtspunkte
Strukturfunktionalis-
mus weitgehend der Umweltanpassung, Zielerreichung und der sozialen wie kulturellen Integrati-
ausgeblendet on im Mittelpunkt (Vgl. Bd.1, S. 194ff.). Wenn man sich jedoch mit der realen
Geschichte von Nationalstaaten beschäftigt, dann stößt man bald auf die zentrale
Rolle, die Konflikte zwischen Anhängern unterschiedlicher religiöser Bekennt-
nisse, zwischen unterschiedlichen Ständen, Klassen und sozialen Schichten,
zwischen Stadt und Land, Repräsentanten alter und neuer Ordnungen gespielt
haben. Die Art und Weise, wie sie entschieden oder erfolgreich befriedet werden
konnten, hat Gesellschaften zutiefst geprägt.
Gesellschaften wer- Zwar kann man Parsons nicht vorwerfen, dass er diese Gegebenheiten völ-
den durch Konflikt-
lig übersehen habe, wohl aber, dass er nur bestimmte, in die Theorie hineinpas-
austragung geprägt
sende Ergebnisse solcher Konflikte registriert und den Konfliktverläufen und
Modalitäten der Konfliktaustragung und -beilegung selbst zu wenig Aufmerk-
samkeit geschenkt hat. So hat er beispielsweise zwar sowohl die demokratische
wie die industrielle Revolution als für moderne Gesellschaften grundlegende
Differenzierungsvorgänge angesehen (Parsons 1972). Dagegen hat er den unter-
schiedlichen Mustern der Austragung dieser Herrschafts- und Modernisierungs-
konflikte wenig Aufmerksamkeit geschenkt, obwohl sie die weitere Modernisie-
rungsgeschichte ebenso geprägt haben (Richta 1968) und z.B. in unterschiedli-
chen Sozialstaatsmodellen (Esping- Andersen 1990) bis heute wirksam geblie-
ben sind. Autoren, die sich mit Aspekten der Modernisierungsgeschichte westli-
cher Gesellschaften näher beschäftigt haben, haben daher immer wieder auf
Konflikttheorie 221

Defizite des Strukturfunktionalismus bei der Aufarbeitung von Prozessen der


Konfliktaustragung aufmerksam gemacht. Zu nennen sind in diesem Zusammen-
hang vor allem C. Wright Mills, der über die Machtausübung von Eliten gearbei-
tet hatte (Mills 1956) und Ralf Dahrendorf, der u.a. historische Studien zu As-
pekten der Industrialisierung (Dahrendorf 1959) und Demokratisierung (Dahren-
dorf 1961,1968) verfasst hatte.
Direktere Ansatzpunkte für eine grundsätzliche Kritik an der Einseitigkeit Dissens bei konkreten
Sachthemen
des Strukturfunktionalismus boten indessen Beiträge, die aus der Perspektive des
Strukturfunktionalismus zu konkreten Sachthemen geleistet wurden. Besonders
instruktive Debatten ergaben sich dabei auf den Feldern „soziale Ungleichheit“
und „Berufssoziologie“.
Die Debatte über soziale Ungleichheit wurde insbesondere in den 40er und Funktionalistische
Deutung sozialer
50er Jahren in den USA geführt. Sie wurde durch einen Beitrag von Parsons
Ungleichheit
eingeleitet, in dem er feststellte, dass die Über- und Unterordnung, also die so-
ziale Stellung von Gesellschaftsmitgliedern auf Bewertungen zurückgehe. Die-
sen liege zugrunde, dass die moralische Wertung einen entscheidenden Aspekt
des Handelns in sozialen Systemen darstelle. Rangordnungen seien somit ein
wesentlicher Bestandteil des umfassenderen Phänomens der normativen Orien-
tierung (Parsons 1940: 182). Soziale Schichtung sei daher ein zentraler Bestand-
teil der institutionellen Struktur jeder Gesellschaft, der konformes Handeln moti-
viere. Schärfere Konturen gewinnt diese Position erst durch Arbeiten von Kings-
ley Davis (Davis 1942; Davis/Moore 1945), einem Schüler von Parsons. Davis
möchte klären, was denn die Unterschiedlichkeit der Wertung begründe. Die Allokation
Antwort lautet „funktionale Wichtigkeit“ (Davis 1942: 317). Was darunter genau
zu verstehen ist, erläutern Davis und Moore mit folgender Formel: „Social ine-
quality is ... an unconsciously evolved device by which societies insure that the
most important positions are conscientiously filled by the most qualified per-
sons1.“ Dabei wird ein durch die Knappheit von Talent, Wissen und Arbeitsmo-
tivation bedingtes Allokationsproblem (siehe Glossar) unterstellt, das durch
differentielle und an der Relevanz von Positionen orientierte Bewertung gelöst
wird, der ein einheitliches normatives Bewertungssystem zugrunde liegt.
Aus Platzgründen kann die weitere Debatte hier nicht nachgezeichnet wer- Kritik an dieser
Sichtweise
den (vgl. hierzu: Tumin 1970; Wiehn 1968). Es bedarf aber keiner detaillierten
Erläuterung, um zu erkennen, dass diese Sichtweise sozialer Ungleichheit für
jede Art von kritischer Soziologie keinerlei Ansatzpunkte bietet. Bei Davis und
Moore verwischt die Grenze zwischen soziologischer Analyse und Affirmation
sozialer Ungleichheit. Insofern fällt die funktionalistische Schichtungstheorie
weit hinter Webers mehrdimensionale Analyse sozialer Ungleichheit entlang von
Klasse, Stand und Partei zurück.
Ein ganz ähnliches Ergebnis hatte auch die Anwendung des Strukturfunkti- Funktionalistische
Deutung von Beruf
onalismus auf die Berufssoziologie. Während Parsons sich insbesondere mit
und Profession
Professionen beschäftigt hat (Parsons 1953), hat Heinz Hartman (Hartmann
1968; 1972) den Versuch unternommen, die drei Schlüsselbegriffe Arbeit, Beruf
1
„Soziale Ungleichheit ist also ein unbewusst entwickelter Mechanismus, durch den Gesellschaften
sicherstellen, dass die wichtigsten Positionen gewissenhaft (zuverlässig) durch die qualifiziertesten
Personen ausgefüllt werden“ (eig. Übersetzung).
222 Ditmar Brock

und Profession aus strukturfunktionalistischer Sicht zu charakterisieren. Wäh-


rend Arbeit – ganz ähnlich der Marxschen Sichtweise – „sans phrase“ verrichtet
wird, weisen Berufe und in noch stärkerem Maße Professionen Bezüge auf das
gesellschaftliche Wertesystem auf, sind also ebenso wie soziale Schichtung in
die Reproduktion der gesellschaftlichen Ordnung direkt eingebunden. Diese
höhere funktionale Bedeutung drücke sich in „entsprechenden“ sozialen Attribu-
ten und Belohnungen aus.
„Kritische Wesentlich stärker als dieser Beitrag ist in der Berufssoziologie jedoch eine
Berufssoziologie“
in etwa zeitgleich erschienene Studie von H.A. Hesse (Hesse 1972) rezipiert
worden, die gewissermaßen im Geiste der Konflikttheorie angelegt war. Hesse
erklärt nämlich die Entstehung von Professionen aus erfolgreichen Strategien
von Berufsverbänden, eine Monopolstellung für bestimmte Leistungen herzustel-
len, zu zementieren und entscheidende Faktoren, wie den Berufszugang und die
Bewertung beruflicher Leistungen, zu kontrollieren. Aus dieser Sichtweise kön-
nen dann Privilegien von Ärzten und anderen Professionen auf erfolgreiche Mo-
nopolisierungsstrategien von Interessenorganisationen (z.B. Marburger Bund)
zurückgeführt werden. In strukturfunktionalistischer Perspektive können sie
dagegen nur mit der besonderen funktionalen Bedeutung einer Profession ge-
rechtfertigt werden.
„Marxistische Frage- Diese beiden Anwendungsbeispiele machen auf ein grundlegendes Handi-
stellungen“ sollen
Einäugigkeit des
cap strukturfunktionalistischer Gesellschaftsanalyse aufmerksam. Entsprechend
Strukturfunktionalis- dem AGIL-Schema werden Gesellschaften als sozial integrierte und auf gemein-
mus beheben same Ziele festgelegte Handlungssysteme analysiert, obwohl es nur ein klein
wenig „common sense“ bedarf, um zu erkennen, dass zumindest moderne Ge-
sellschaften ein hohes Maß an Heterogenität von Interessen, Zielen aber auch
Normen und Werten aufweisen. Verglichen mit der strukturfunktionalistischen
Analyseperspektive gewinnt eine marxistische Sichtweise daher zumindest in-
soweit an Attraktivität, als sie unterschiedliche Interessen, Herrschaft, Konflikt
und Kampf in den Mittelpunkt rückt. Auch wenn die marxistische Geschichts-
philosophie nicht mehr überzeugen kann, haben sicherlich Erfahrungen mit der
Anwendung des Strukturfunktionalismus auf konkrete Fragestellungen (wie in
den erwähnten Beispielen ,soziale Schichtung’ und ,Berufssoziologie’) eine
Renaissance marxistischer Sichtweisen befördert (vgl. u.a. Giddens 1988: 26f.).
Vielen schwebte „so etwas wie eine Kombination von parsonianischen und mar-
xistischen Konzepten“ (ebd. 27) vor. Genau eine solche Ergänzung sollte die
Konflikttheorie liefern.
Dahrendorfs Diese Ergänzung hat Dahrendorf auf folgende vier programmatische Punkte
„Gegenprogramm“
konzentriert:

(1) Aus strukturfunktionalistischer Perspektive erscheint jede Gesellschaft als


eine beständige Konfiguration von Elementen. Dagegen zeigt eine konflikttheo-
retische Perspektive, dass jede Gesellschaft permanenten sozialen Wandel auf-
weist.

(2) Der Strukturfunktionalismus analysiert jede Gesellschaft als eine gut integ-
rierte Konfiguration von Elementen. Die Konflikttheorie zeigt dagegen, dass
sozialer Konflikt allgegenwärtig ist.
Konflikttheorie 223

(3) Der Strukturfunktionalismus geht davon aus, dass jedes Element zum gesell-
schaftlichen Funktionieren beiträgt. Dagegen wird es aus der Sichtweise der
Konflikttheorie auf seinen Beitrag zur gesellschaftlichen Veränderung hin unter-
sucht.

(4) Aus der Perspektive des Strukturfunktionalismus basiert jede Gesellschaft auf
Konsens. Dagegen stellt die Konflikttheorie den gesellschaftlichen Zwang, den
einige Gesellschaftsmitglieder auf andere ausüben, in den Mittelpunkt ihres Ver-
ständnisses von gesellschaftlicher Integration.

Wie bereits erwähnt, ist ein derartiges Programm aus wissenssoziologischer Aus wissenssoziolo-
gischer Sicht plausi-
Sicht plausibel, aus wissenschaftstheoretischer Sicht dagegen nicht überzeugend.
bel, aber wissen-
Wenn wir Karl Mannheim folgen und den Gegenstandsbereich der Soziologie schaftstheoretisch
dem seinsverbundenen Denken zurechnen, dann können wir auf keinen rationa- problematisch
len Konsens hoffen, sondern Gesellschaften nur aus unterschiedlichen Perspekti-
ven beschreiben. Insofern könnte die Konflikttheorie eine sinnvolle Kontrastie-
rung des strukturfunktionalistischen Programms liefern. Die Wissenschaftstheo-
rie erkennt dagegen nur eindeutiges Wissen an, das empirischer Überprüfung
standhält2. Aus dieser Sicht ist entweder die eine oder die andere Sichtweise
zutreffend. Wenn beide Positionen zutreffen, dann müsste nach einer Gesell-

2
Diese Formulierung verkürzt eine komplexe Debatte auf eine handliche Formel. Deswegen hier
einige Hinweise für wissenschaftstheoretisch interessierte Leser. „Die“ einheitliche Wissenschaftstheo-
rie, die den Einzelwissenschaften klare Vorgaben macht, existiert nicht. Stark vereinfacht können wir
derzeit drei Positionen unterscheiden, die ganz unterschiedliche Antworten auf die m. E. zentrale Frage
geben: Gibt es eine von der Wissenschaft rekonstruierbare „objektive Realität“ (Naturgesetze etc.)
oder werden „Realitäten“ und „Ordnungen“ über Sprache, Begriffe, menschliche Interessen etc. erst
geschaffen? Der „wissenschaftliche Realismus/logische Empirismus“ bejaht eine „objektive Realität“.
Er stützt sich letztlich auf das „Wunder-Argument“. Dieses antwortet auf die Frage: Wie sind zutref-
fende Prognosen möglich? Wenn wir sie nicht durch ein „Wunder“ erklären wollen, dann müssen wir
annehmen, dass die Wissenschaft eine gegebene Ordnung erfolgreich rekonstruiert hat. Die zweite
Richtung hingegen, der „Instrumentalismus“, der insbesondere von den Arbeiten Thomas S. Kuhns
(geb. 1922; amerikanischer Wissenschaftshistoriker und Wissenschaftstheoretiker) geprägt wurde,
erklärt wissenschaftlichen Fortschritt als Folge von Paradigmenwechseln, die ihrerseits viel zu kom-
plex sind, als dass sie direkter empirischer Überprüfung zugänglich wären. Die dritte Richtung schließ-
lich, der Konstruktivismus (siehe Glossar), votiert für eine letztlich von den Erkenntnisinstrumenten
ausgehende Realitätskonstruktion. Was wir als Menschen erkennen können, hängt von den Möglich-
keiten unseres Organismus, aber auch unseren kulturellen Möglichkeiten ab. Unsere Realitätssicht ist
letztlich auf die Fähigkeit zurückzuführen, Unterscheidungen treffen zu können.
Trotz dieser erheblichen Unterschiede besteht jedoch Übereinstimmung darin, dass jede Wissenschaft
systematisch vorgehen und die empirische Überprüfung anstreben sollte. Das gilt auch für den Kon-
struktivismus. Anknüpfend an die Pragmatik (Handlungsbezug) der Umgangssprache strebt die maß-
gebliche Erlanger Schule (vgl. Stichwort Konstruktivismus im Glossar) eine Rekonstruktion der
vortheoretischen und messtheoretischen Apriori an, auf denen Wissenschaftssprachen aufbauen. M. a.
W.: Jegliches wissenschaftliche Vorgehen soll auf eine konsensfähige Elementarsituation lebensweltli-
cher Erfahrung zurückgeführt werden. Daher ist es schlicht Unfug, ein ungeklärtes Nebeneinander von
Theorieansätzen durch Hinweise auf „den Konstruktivismus“ rechtfertigen zu wollen. Konstruktivisti-
schem Geiste entspräche ein genau umgekehrtes Vorgehen, das auf die Rekonstruktion gemeinsamer
lebensweltlicher Grundlagen der diversen Theorieansätze zielte. Als Einstieg in diese schwierige
Thematik empfehle ich die Artikel „Wissenschaftstheorie“, „analytische Wissenschaftstheorie“, „kon-
struktive Wissenschaftstheorie“ und „Konstruktivismus“ in Mittelstraß 2004.
224 Ditmar Brock

schaftstheorie gesucht werden, die diesen Befund erklärt und beide Sichtweisen
in eine übergeordnete integriert.

Die Konflikttheorie entwickelt sich in kritischer Auseinandersetzung mit dem


Strukturfunktionalismus. Sie will den Strukturfunktionalismus nicht ersetzen,
sondern ihn dort ergänzen, wo Phänomene des sozialen Wandels, wo Herr-
schaft, Zwang, soziale Konflikte und Interessenauseinandersetzungen Gegens-
tand soziologischer Untersuchungen sind. Dies wird damit begründet, dass der
Strukturfunktionalismus einseitig auf Konsens hin orientiert sei, also die funk-
tionale Bedeutung von Dissens und Konflikt für die gesellschaftliche Ent-
wicklung nicht erfassen könne.

2 Grundlagen der Konflikttheorie


2.1 Empirische Grundlagen

Themenfelder der Auf vielen Themengebieten ist die zentrale Rolle sozialer Konflikte evident.
Konflikttheorie
Deswegen überrascht es auch nicht, dass einige der Autoren, die für eine kon-
flikttheoretische Ergänzung des Strukturfunktionalismus plädierten, auf derarti-
gen „konfliktträchtigen“ Feldern gearbeitet haben. So haben z.B. Mills (1956)
und Dahrendorf (1961) über Eliten geforscht. Dahrendorf hat sich weiterhin mit
dem „industriellen Konflikt“, der Mitbestimmung, der Rolle des Bürgertums in
der Industrialisierung (1961), mit sozialen Klassen und Klassenkonflikt (1959)
und weiteren „konfliktlastigen“ Themen intensiv auseinandergesetzt.

2.2 Theoretische Grundlagen

Grundlage bei Die entscheidende Frage ist aber, auf welcher theoretischen Grundlage jenseits
Simmel
des Marxismus eine Konflikttheorie entwickelt werden konnte. Unter den sozio-
logischen Klassikern hatte vor allem Simmel (vgl. Bd.1, S. 132-159) erkannt,
dass Auseinandersetzungen eine wichtige Form der Vergesellschaftung sind.
Daher enthält seine „Soziologie“ ein umfangreiches viertes Kapitel über den
„Streit“. Im einleitenden Teil dieses Kapitels betrachtet Simmel tatsächlich den
Streit bzw. Kampf als notwendigen Kontrapunkt zu Harmonie und Konsens.

„Dass der Kampf soziologische Bedeutung hat, indem er Interessengemeinschaften,


Vereinheitlichungen, Organisationen verursacht oder modifiziert, ist prinzipiell nie
bestritten. Dagegen muss der gewöhnlichen Anschauung die Frage paradox vor-
kommen, ob nicht der Kampf selbst schon, ohne Rücksicht auf seine Folge- oder
Begleiterscheinungen, eine Vergesellschaftungsform ist“ (Simmel 1995: 284). Man
müsse nämlich sorgfältig unterscheiden, zwischen den „dissoziierenden Ursachen“
(ebd.) wie „Haß, Neid, Not und Begier“ und dem eigentlichen Prozess der kämpferi-
schen Auseinandersetzung. „Der Kampf selbst ist schon die Auslösung der Span-
nung zwischen den Gegensätzen“ (ebd.). Er bezeichne „das positive Moment, das
Konflikttheorie 225

sich mit seinem Verneinungscharakter zu einer nur begrifflich, aber nicht tatsächlich
auseinanderzutrennenden Einheit verflicht“ (ebd. 284f.).

Weil der Kampf selbst ohne Bezug auf den Gegner nicht möglich sei und zudem Zentrale Bedeutung
von Dissens und
auf gesellschaftlichen Zusammenhang abziele, sei er ebenso wie der Konsens ein
Konflikt
zentrales gesellschaftliches Gestaltungselement. Die Gesellschaft brauche „ir-
gendein quantitatives Verhältnis von Harmonie und Disharmonie, Assoziation
und Konkurrenz, Gunst und Missgunst, um zu einer bestimmten Gestaltung zu
gelangen“. Sie sei daher immer das „Resultat beider Kategorien von Wechsel-
wirkungen“ (ebd. 286). Eine Gruppe, die „bloß Vereinigung wäre“ sei nicht nur
„unwirklich, sondern sie würde auch keinen eigentlichen Lebensprozeß aufwei-
sen“ (ebd. 285).

Übungsaufgabe:

Mit welchen Argumenten begründet Simmel seine These, dass der Kampf einen
wichtigen Beitrag zur Vergesellschaftung leistet?

Lektürevorschlag:

Georg Simmel 1992, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaf-
tung, Frankfurt/Main: Suhrkamp, S. 284-302 [1908].

3 Lewis Coser: Funktionen des sozialen Konflikts


An diese Überlegungen Simmels knüpft Lewis Coser mit seinem 1956 erschie- Coser – Funktionen
des sozialen
nenen Buch „The Functions of Social Conflict“ direkt an. Dieser direkte Bezug
Konflikts
auf Simmel wird schon am formalen Aufbau des Buches deutlich. Es gliedert
sich in neun Kapitel, die (abgesehen vom ersten) jeweils mit einem längeren
Simmel-Zitat eingeleitet werden. Das Buch besteht aus 16 Thesen zur Funktion
sozialer Konflikte, die jeweils mit Zitaten aus Simmels Überlegungen zur sozio-
logischen Bedeutung des Kampfes belegt werden. Cosers eigene Leistung be-
steht darin, dass er auf diese Weise die Überlegungen Simmels systematisieren
möchte und dass er jede These einer empirischen Überprüfung unterzieht. Im
ersten Kapitel, der Einleitung, belegt Coser, dass das Thema Konflikt zu Beginn
des 20. Jahrhunderts noch im Mittelpunkt der gerade entstehenden amerikani-
schen Soziologie stand und dann durch Parsons und weitere Soziologen dieser
Generation zu einem Randthema gemacht wurde.
226 Ditmar Brock

Lewis A. Coser (1913-2003)

geboren am 27.11.1913 in Berlin; gestorben am 08.07.2003 in Cam-


bridge/Massachusetts (USA).

Lewis Alfred Coser wurde 1913 mit dem Namen Ludwig


Alfred Cohen als Sohn eines Börsenmaklers in Berlin
geboren. Sein Vater entschied sich auf Grund des
zunehmend antisemitischen Klimas der späten Weimarer
Republik für die Anglisierung des Namens. Coser be-
gann 1933 an der Sorbonne in Paris zu studieren, um als
gläubiger Marxist dem Nationalsozialismus zu entkom-
men. Von dort aus floh er weiter über Portugal in die
USA. Ihm gelang es 1944 ein Doktorat an der Columbia University zu erwer-
ben, nachdem er als Garderobier, Packer und Übersetzer gearbeitet hatte. Das
war dann die Entscheidung für eine akademische Karriere in den Vereinigten
Staaten. Von 1951 bis 1968 war er Professor an der Brandeis University in
Boston, an der er die soziologische Abteilung begründete; zuletzt hatte er eine
Professur an der State University of New York inne. 1956 veröffentlichte
Coser sein wichtigstes Werk über die Konflikttheorie „The Functions of Soci-
al Conflicts“. Zusammen mit Ralf Dahrendorf (1929) zählt Coser zu den
Wegbereitern einer soziologischen Konflikttheorie. Den Höhepunkt seiner
Karriere stellte aber zweifellos die Präsidentschaft der American Sociological
Association 1974/75dar.

Lektürevorschlag:

Lewis A. Coser 1965, Theorie sozialer Konflikte, Neuwied: Luchterhand, S. 15-35.

Ähnlich wie Simmel möchte Coser die sozial integrative Bedeutung sozialer
Konflikte herausarbeiten. Seine grundlegende These lautet daher: Soziale Kon-
flikte – etwa um die Auslegung von Werten und Normen – verbessern die Um-
weltanpassung einer Gesellschaft bzw. einer gesellschaftlichen Teilpopulation.
Soziale Bedingungen Wie der Buchtitel ausdrückt, möchte Coser keine direkte Konfliktanalyse
der Konflikt-
betreiben, sondern Funktionen des sozialen Konflikts aufzeigen. Zunächst unter-
austragung
sucht er den sozialen Konflikt als Ressource gesellschaftlicher Akteure, also
sowohl des einzelnen Individuums wie der sozialen Gruppe. Dazu analysiert er
die sozialen Bedingungen, die mehr oder weniger ausgeprägte Konflikte ermög-
lichen. Er kommt dabei zu einer Fülle von Einsichten, die hier nur ausschnitthaft
dargestellt werden können.

(1) Konflikte können ihre Funktion in sozialen Beziehungen am besten erfüllen,


wenn Unzufriedenheit offen ausgedrückt und Dissens offen ausgetragen werden
kann. Unter diesen Bedingungen ist die Chance groß, dass Konflikte gelöst wer-
den können, also nicht von Dauer sind. Dagegen sind alle Mechanismen, die
Unzufriedenheit unterdrücken oder die sie auf Nebenschauplätze umleiten, nur
Konflikttheorie 227

geeignet, das Konfliktpotential zu steigern, den Konflikt zu perpetuieren und


Lösungen zu verhindern.

(2) Coser unterscheidet zwischen realistischen und nicht realistischen Konflik-


ten. Ein nicht realistischer Konflikt ist immer dann gegeben, wenn allgemeine
Feindseligkeit vorliegt und Anlässe gesucht werden, sie auszuagieren. Der Kon-
flikt wird damit zum Selbstzweck. Bei einem realistischen Konflikt geht es da-
gegen um konkurrierende Interessen. Hier können Lösungen durch Umdefinition
von Erwartungen oder Interessen gefunden werden. Der Konflikt ist in diesem
Fall nur Mittel der Interessendurchsetzung, nicht Selbstzweck. Wesentlich kom-
plizierter sind Fälle gelagert, wo sich beide Elemente vermischen.

(3) Ein weiterer Faktor, der den Gebrauch der Ressource Konflikt prägt, ist die
Intensität sozialer Beziehungen. Je intensiver eine soziale Beziehung ist, desto
mehr Emotionen kommen ins Spiel, so dass im Konfliktfall starke negative Emo-
tionen aufkommen und der Konflikt sehr intensiv ist. Bei stark versachlichten
Beziehungen spielt dieser Aspekt dagegen eine geringe Rolle. Die Ideologisie-
rung eines Konflikts kann ebenfalls die Intensität steigern. Sie erschwert darüber
hinaus aber auch die Konfliktlösung, da Kompromisse nur allzu leicht als „Ver-
rat an der eigenen Sache“ aufgefasst werden.

(4) Coser unterscheidet zwischen internen und externen Konflikten. Interne Kon-
flikte sind Konflikte innerhalb von Gruppen oder Gesellschaften. Ein interner
Konflikt besteht in Deutschland seit etwa 2005 hinsichtlich des Umgangs mit
Dauerarbeitslosen. Soll die Gesellschaft über das soziale Sicherungssystem Men-
schen ohne Arbeit ein einigermaßen auskömmliches Lebensniveau sichern oder
soll das ALG II so niedrig sein, dass sie gezwungen sind, jede sich bietende
Beschäftigung anzunehmen? Externe Konflikte finden dagegen zwischen in sich
geschlossenen sozialen Einheiten statt, also z.B. zwischen der Gesellschaft und
einer Gruppe. Ein solcher externer Konflikt zeichnet sich seit 2006 in Deutsch-
land im Umgang mit islamistischen Religionsgemeinschaften ab, die von der
Gesellschaft eine weitgehende Akzeptanz ihrer Autonomie fordern. Dagegen
erwartet die Gesellschaft, dass sie zunächst einmal die Gesetze und die dahinter
stehenden Wertvorstellungen akzeptieren, also z.B. Verbot der Diskriminierung
von Frauen, von Zwangsheiraten usw.

Während im Strukturfunktionalismus interne soziale Konflikte generell unter den Wann integrativ –
wann desintegrativ?
Aspekt der Desintegration gestellt werden, ermittelt Coser strukturelle Bedin-
gungen in der Beschaffenheit von Gruppen bzw. Gesellschaften. Von diesen
strukturellen Bedingungen hängt es ab, ob soziale Konflikte desintegrativ oder
integrativ wirken. In totalitären Gesellschaften wirken Konflikte immer dann
desintegrativ, wenn sie ideologisiert und als ideologische Konflikte ausgetragen
werden. So wurde in der DDR z.B. 1953 die offene Unzufriedenheit vieler Ar-
beiter mit drastischen Erhöhungen der Soll-Leistungen von der politischen Füh-
rung als „antikommunistischer Aufstand“ interpretiert und mit militärischen
Mitteln niedergeschlagen. Wenn ein Konsens über Grundwerte besteht, dann
können in lose strukturierten Gruppen bzw. offenen Gesellschaften Konflikte wie
228 Ditmar Brock

z.B. Tarifkonflikte zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern dagegen als ein


unvermeidliches Element der Konsensbildung angesehen werden. Das Austragen
von sozialen Konflikten innerhalb von Gruppen und Gesellschaften ist unter
diesen Bedingungen kein Zeichen von Schwäche und Instabilität, sondern umge-
kehrt von Stärke und Stabilität. Wenn in totalitären Gesellschaften keine Kon-
flikte auftreten oder sie geleugnet und heruntergespielt werden, dann ist dies
vielfach ein Ergebnis von Konfliktunterdrückung, was perspektivisch jedoch die
gesellschaftliche Integration gefährdet.
Gemeinsame Regeln Wie sind nun Konflikte zwischen gesellschaftlichen Gruppen einzuschät-
zwischen Konflikt-
parteien
zen? In Coser`s Terminologie haben wir es hier mit externen Konflikten (siehe
oben) zu tun. Zunächst einmal konstatiert Coser, dass Konflikte zwischen sozia-
len Gruppen deren Grenzen bestätigen, Gruppenzugehörigkeiten stabilisieren
und damit auch eine bestehende soziale Struktur verstärken und stabilisieren
können. Wie bereits Simmel festgestellt hat, teilen die Kontrahenten eine ge-
meinsame soziale Situation und gehen im Konflikt eine soziale Beziehung ein.
Hierin sind Möglichkeiten angelegt, sich beispielsweise auf gemeinsame Regeln
zu verständigen. Solche Regeln können von gemeinsamen Ehrbegriffen bis hin
zur Verrechtlichung von Tarifkonflikten und zu demokratischen Verfahren rei-
chen.
Wettbewerb und Konkurrenz bedürfen in hohem Maße solcher gemeinsa-
mer Regeln. So wäre beispielsweise ein Sieg in einer sportlichen Disziplin wert-
los, wenn sich herausstellt, dass der Sieger die Regeln der Fairness missachtet
hat, indem er sich etwa durch Doping Vorteile verschafft hat. Das gleiche gilt im
Prinzip beispielsweise bereits auch für den Sieg in einem Duell oder sogar in
einer kriegerischen Auseinandersetzung. Auch hier kann ein Sieg, der mit nicht
allgemein akzeptierten Mitteln (z.B. ABC-Waffen) errungen wurde, deswegen
als illegitim angesehen werden und den Ruf nach Revanche stärken. Ausnahmen
können nur dann gemacht werden, wenn damit die soziale Missachtung des
Gegners demonstriert werden soll wie beispielsweise bei der Auseinanderset-
zung zwischen Adel und Bauern in den Bauernkriegen des 16. Jahrhunderts.
Ähnliche Fälle sind die Feststellung einer fehlenden Satisfaktionsfähigkeit im
Duell oder auch die Behandlung von gefangenen Terroristen in Guantanamo.
Darüber hinaus erfordert die Konfliktaustragung in vielfacher Weise eine Be-
schäftigung mit dem Gegner oder dem Wettbewerber, was zur Beschleunigung
des sozialen Wandels beiträgt.

Zusammenfassend kann man feststellen,

ƒ dass Coser Simmels Überlegungen zum Kampf als einer basalen Form der
Vergesellschaftung weiterführt und
ƒ dabei jene gesellschaftlichen Bedingungen genauer analysiert, die die In-
tensität sozialer Konflikte bestimmen, aber auch ihre gesellschaftliche
Funktion definieren.

Das Ergebnis dieser Überlegungen lässt sich dahingehend zusammenfassen,


dass nur in solchen Gesellschaften, die soziale Konflikte nicht institutionali-
siert haben und sie nicht tolerieren, Konflikte eine dysfunktionale und desin-
Konflikttheorie 229

tegrative Funktion haben. Offene Gesellschaften, die soziale Konflikte tolerie-


ren und zugleich Foren der Konfliktaustragung bereitstellen, können sich da-
gegen über die Austragung von Konflikten zwischen gesellschaftlichen Grup-
pen und innerhalb gesellschaftlicher Gruppen weiterentwickeln. Hier entfal-
ten soziale Konflikte eine funktionale und integrative Bedeutung.

ƒ Man kann daher Cosers Analyse durchaus als Versuch einer Präzisierung
und Ergänzung des Strukturfunktionalismus verstehen.

Dagegen bleiben in Cosers Analysen die Ursachen sozialer Konflikte weitge-


hend ausgeblendet. Dass es solche Ursachen geben muss, unterstellt bei-
spielsweise seine Unterscheidung zwischen echten und unechten sozialen
Konflikten.

Übungsaufgabe:

Suchen Sie Beispiele für Cosers These, dass gesellschaftlich tolerierte und offen
ausgetragene soziale Konflikte eine positive Wirkung (soziale Integration plus
Umweltanpassung) haben!

Übungsaufgabe:

Suchen Sie ein Beispiel für einen nicht realistischen Konflikt!

Lektürevorschlag:

Lewis A. Coser 1965, Theorie sozialer Konflikte, Neuwied: Luchterhand, S. 134-143.

4 Dahrendorfs Theorie gesellschaftlicher Konflikte


Die Frage nach den Ursachen sozialer Konflikte führt zur Konflikttheorie von Herrschaft ist univer-
sell und eine ständige
Ralf Dahrendorf. Er sieht die Ursachen sozialer Konflikte in den gesellschaftli- Quelle sozialer
chen Herrschaftsverhältnissen. Dabei gilt Herrschaft als ein universelles Phäno- Konflikte
men, ein unvermeidliches Nebenprodukt jeglicher Form sozialer Differenzie-
rung. Nicht nur Gesellschaften weisen, sobald sie auch nur eine gewisse soziale
Dynamik kennen, Herrschaftsverhältnisse auf (Dahrendorf 1986a). Herrschaft ist
darüber hinaus ein soziales Merkmal jedes sozialen Gebildes. Sobald nämlich
auch nur ein gewisses Maß an Rollendifferenzierung existiert, treffen wir auf
Rollen, die ihren Inhabern das Recht geben, Anweisungen an andere zu richten.
Komplementär dazu haben sich Rollen entwickelt, deren Inhaber diese Anwei-
sungen anzuführen haben. Aus diesen Herrschaftsverhältnissen speisen sich
ständig soziale Konflikte, sobald man unterstellt, dass die Beherrschten ihrer-
seits ein Interesse haben, in Herrschaftspositionen hineinzukommen. Umgekehrt
230 Ditmar Brock

kann man den Herrschenden ein Interesse an der Aufrechterhaltung des Status
quo, also an ihrer Herrschaftsrolle, unterstellen.
Konflikte als Folge Unter Wettbewerbsbedingungen ist Dahrendorfs These plausibel, dass Herr-
von Herrschaft
schaft soziale Konflikte impliziert. In einer Demokratie wird eine anders den-
kende politische Minderheit zwar die durch die Mehrheit aufgestellten Gesetze
respektieren, insoweit sie legal zustande gekommen sind. Sie wird aber dafür
kämpfen, ihrerseits in eine Machtposition zu kommen, die es ihr gestattet, nun
selbst die eigenen Interessen in allgemeine Gesetze gießen zu können.

Übungsaufgabe:

Entwickeln Sie auch für die Arena des wirtschaftlichen Wettbewerbs Beispiele
dafür, dass Herrschaft zu sozialen Konflikten führt!

Ralf Gustav Dahrendorf (geb. 01.05.1929 in Hamburg)

Ralf Gustav Dahrendorf, Sohn des Genossenschafters und


SPD-Reichstagsabgeordneten Gustav Dahrendorf, studierte
Philosophie und Klassische Philologie in Hamburg und
promovierte 1952 mit einer Arbeit über Karl Marx. Es
folgten eine zweite Promotion in Soziologie an der London
School of Economics sowie die Habilitation. Seit 1958
lehrte er zunächst als Professor für Soziologie in Hamburg,
Tübingen und Konstanz. Seine politische Karriere führte
ihn über den Landtag von Baden-Württemberg (1968/69)
und die Mitgliedschaft im Bundesvorstand der FDP (1968-
1974) in den Deutschen Bundestag und in die Bundesregierung, wo er als
Parlamentarischer Staatssekretär im Außenministerium tätig war (1969/70).
1970 wechselte er für 4 Jahre als Mitglied der EU-Kommission nach Brüssel.
Danach leitete er zehn Jahre die London School of Economics, anschließend
war er Präsident des St. Anthony’s Colleges in Oxford (England). 1988 nahm
er die britische Staatsbürgerschaft an. Für seine Verdienste wurde er von Kö-
nigin Elizabeth II. zunächst zum Sir und 1993 zu einem Life Peer als Baron
Dahrendorf of Clare Market erhoben. ‚Clare Market’ ist der Name eines Park-
platzes der London School of Economics. Den Titel hat Dahrendorf selbst
gewählt und damit seine Verbundenheit mit der LSE und liberalen Humor
gezeigt. Dahrendorfs wissenschaftliches Interesse hingegen gilt in erster Linie
den konfliktreichen Prozessen des sozialen Wandels. Zu Dahrendorfs zentra-
len Schriften gehören insbesondere „Homo Sociologicus“ (1958), „Soziale
Klassen und Klassenkonflikt in der industriellen Gesellschaft“ (1957), „Ge-
sellschaft und Freiheit“ (1961), „Gesellschaft und Demokratie in Deutsch-
land“ (1965), „Der moderne soziale Konflikt“ (1988).
Konflikttheorie 231

Lektürevorschlag:

Lesen Sie Ralf Dahrendorfs Aufsatz „Amba, Amerikaner und Kommunisten. Zur These
der Universalität von Herrschaft“ in Ralf Dahrendorf 1986, Pfade aus Utopia. Zur
Theorie und Methode der Soziologie, München: Piper, S. 315-336.

Dahrendorfs Argumentation leuchtet zwar intuitiv ein, sie ist aber in dieser All- Das Problem
legitimer Herrschaft
gemeinheit beispielsweise nicht mit der Herrschaftssoziologie Max Webers
kompatibel. Max Weber unterscheidet bekanntlich zwischen Macht und Herr-
schaft (vgl. Bd.1, S. 170). Herrschaft ist danach eine spezialisierte Form der
Machtausübung, die durch den Legitimitätsglauben der Beherrschten abgesichert
ist. Insoweit Herrschende etwas anordnen, wozu sie nach Auffassung der Be-
herrschten autorisiert sind, wird dem Folge geleistet, weil die Beherrschten von
der Legitimität dieser Herrschaftsausübung überzeugt sind. Wenn man diese
kulturellen Faktoren mit einbezieht, dann käme es nur bei jener Herrschaftsaus-
übung zu Konflikten, die vom Legimitätsglauben der Beherrschten nicht oder
nicht mehr gedeckt ist. Dazu gehört u.a. die missbräuchliche Herrschaftsaus-
übung. So werden Rekruten typischerweise erst dann rebellisch, wenn ihrer Mei-
nung nach Vorgesetzte ihre Befehlsgewalt missbrauchen und sie beispielsweise
schikanieren. Bei derartigen Fällen missbräuchlicher Herrschaftsausübung ist es
plausibel, dass sich aus der Alltagspraxis der Herrschaftsausübung ganz automa-
tisch latente Interessen an der Veränderung des Status quo bzw. an seiner Auf-
rechterhaltung ergeben. Anders sieht es dagegen bei solchen Befehlen aus, von
deren Legitimität beispielsweise Rekruten überzeugt sind. Warum sollten sie
dann ein Interesse an einer Veränderung der Herrschaftsverhältnisse haben?
Eine offene Frage ist also, ob tatsächlich jede Form der Herrschaftsaus-
übung sozusagen automatisch Konfliktpotenzial generiert. Eine solche These
würde nur aus einer marxistischen Position Sinn machen, da hier ja generell
Kultur als ein Überbauphänomen angesehen wird, das die in den materiellen
Bedingungen enthaltenen Herrschaftsverhältnisse nur abzusichern sucht. Marxis-
ten sehen daher in Legitimitätsüberzeugungen der Beherrschten nur Verschleie-
rungsideologien, die zu widerlegen seien, damit die Beherrschten ihre „wahren“
Interessen erkennen. Diese Position macht sich Dahrendorf aber nicht zu eigen
(s.u.). Daher muss hier eine Argumentationslücke registriert werden.
Ähnlich wie Karl Marx eine „Klasse an sich“ kennt, spricht auch Dahren- Quasi-Gruppen
dorf von Quasi-Gruppen, wenn für eine bestimmte Population latente Interessen
am Status-quo- bzw. an seiner Veränderung zwar analytisch festgestellt werden
können, diese Interessen aber noch nicht organisiert sind. Auf dieser Stufe blei-
ben soziale Konflikte latent. Sie werden in dem Moment manifest, als auf zu-
mindest einer der beiden Seiten die latenten Interessen bewusst vertreten und
organisiert werden.
Sobald sozialer Konflikt manifest wird, kommt es zu sozialem Wandel. Sozi- Konflikte fördern
sozialen Wandel
aler Wandel findet nicht nur dann statt, wenn sich die Beherrschten durchsetzen.
Er ereignet sich auch dann, wenn die herrschenden Interessen den Konflikt er-
folgreich durchstehen. In letzterem Falle kommt es dann zu sozialem Wandel,
wenn die Herrschenden beispielsweise zu Präzisierungen gezwungen werden
232 Ditmar Brock

oder wenn sie auf bestimmten Feldern nachgeben, um sich in den wesentlichen
Fragen besser behaupten zu können.

Übungsaufgabe:

Suchen Sie ein Beispiel für soziale Konflikte, in denen die herrschenden Interes-
sen gewonnen haben, aber nur um den Preis von Präzisierungen oder Zugeständ-
nissen!

Sozialer Konflikt Eine wesentliche Grundlage für diese Sichtweise von sozialem Wandel und sozi-
als Inter- und
alem Konflikt bildet Dahrendorfs Rollentheorie (vgl. auch Münch 2004, 353).
Intrarollenkonflikt
Bei seiner Rezeption der Rollentheorie betont Dahrendorf die Bedeutung, die
positive und negative Sanktionen von Bezugspersonen bzw. Bezugsgruppen für
die Aufrechterhaltung rollenkonformen Verhaltens haben. Rollen existieren aus
dieser Sichtweise unabhängig von den Verhaltenserwartungen der konkreten
Personen, die eine Rolle innehaben. Rollenspezifisches Verhalten wird dem
Rolleninhaber durch Zwang, nämlich Sanktionszwang, von denjenigen aufokt-
royiert, die legitimerweise Erwartungen an „seine“ Rolle haben. Allein mit dieser
Argumentationsfigur können bestimmte Aspekte des Rollenverhaltens nicht
erklärt werden. Insbesondere bleibt unklar, woher die Legitimität von Erwartun-
gen an bestimmte Rollen kommt. Diese Sichtweise kann aber plausibel machen,
warum Zwang und als Zwang empfundene Herrschaft von Dahrendorf als uni-
verselle Phänomene angesehen werden. Vor dem Hintergrund dieses Rollenkon-
zepts kann er Konflikt immer als Inter- und Intrarollenkonflikt verstehen, der in
Gesellschaften mit einiger sozialer Komplexität nahezu unausweichlich auftreten
wird. Intrarollenkonflikte werden durch unterschiedliche Erwartungen unter-
schiedlicher Bezugspersonen hervorgerufen. So unterscheiden sich beispielswei-
se die Erwartungen der Untergebenen an „ihren“ Meister typischerweise in wich-
tigen Aspekten von den Erwartungen der Vorgesetzten. Einen klassischen Inter-
rollenkonflikt markieren beispielsweise die diskrepanten Erwartungen an die
Mutter- und die Berufsrolle einer Frau.

Konflikt ist für Dahrendorf deswegen ein universelles Phänomen, weil es auf
andere universelle soziologische Begriffe, nämlich Herrschaft und Rolle, zu-
rückgeführt werden kann. Sobald Gesellschaften ein Minimum an sozialem
Wandel aufweisen, können sie nicht ausschließlich über gemeinsame Normen
und Werte integriert werden, sondern bedürfen in Rollen institutionalisierter
Anweisungsbefugnis. Dies ist eine unerschöpfliche Quelle sozialer Konflikte
zwischen Herrschenden und Beherrschten.

Sozialer Wandel kann durch Verstärkung von Rollenerwartungen bzw. durch


massivere Sanktionen herbeigeführt werden. In Dahrendorfs Konstruktion des
sozialen Wandels sind – der Marxschen Tradition folgend – letztlich nur die
Beherrschten für Veränderungen zuständig, während den Herrschenden ein Inte-
resse an dem Erhalt des Status quo unterstellt wird. Auch wenn, wie oben darge-
Konflikttheorie 233

stellt, Herrschende am sozialen Wandel mitwirken, tun sie dies immer unter dem
Druck der Beherrschten.
Wie universell ist Dahrendorfs Konflikttheorie? Zu dieser Frage hat Dah-
Reichweite der
rendorf selbst Überlegungen angestellt und dabei versucht, eine Gesamttypologie Konflikttheorie
sozialer Konflikte zu entwickeln. Diese Typologie unterscheidet insgesamt 15
unterschiedliche Konflikttypen. Diese Auffächerung sozialer Konflikte ergibt
sich aus der Kombination zweier Unterscheidungen.
Einmal unterscheidet Dahendorf unterschiedliche Konstellationen hinsicht- Eine Dimension:
Rangordnung
lich der Rangordnung der am Konflikt Beteiligten. Dabei werden drei idealtypi-
sche Fälle unterschieden. Einmal Konflikte zwischen gleichrangigen Beteiligten.
Daneben Konflikte zwischen Über- und Untergeordneten. Ein drittes idealtypi-
sches Muster sind Konflikte zwischen Ganzem und Teil (z.B. Konflikte zwischen
speziellen Gruppierungen, die Wirtschafts- bzw. Arbeitnehmerinteressen verfol-
gen, im Rahmen einer Volkspartei wie der CDU oder SPD).
Diese drei unterschiedlichen Konfliktkonstellationen können auf unter- Die zweite
Dimension:
schiedlichen soziologischen Abstraktionsebenen auftreten. Dahrendorf unter-
Abstraktionsebene
scheidet fünf solcher soziologischen Abstraktionsebenen: Rollen, Gruppen, Sek-
toren, Gesellschaften, übergesellschaftliche Verbindungen. Wenn man beide
Unterscheidungen miteinander kombiniert, ergeben sich insgesamt 15 Konflikt-
typen. Sie werden jeweils durch ein oder zwei Beispiele illustriert und in dem
folgenden Schaubild aufgeführt.

Rang der
Beteiligten
2. Übergeordneter contra
1. Gleicher contra Gleichen 3. Ganzes contra Teil
Soziale Untergeordneten
Einheit

Patienten c. Kassen Herkunftsfamilie c. eigene Sozialpersönlichkeit c.


Familienrolle
A. Rollen (in Arztrolle) Familie (als Rollen)
Soldatenrolle c. Gehor-
Familienrolle c. Berufsrolle Berufsrolle c. Vereinsrolle samsverpflichtung
Fußball-Abt. c. Leichtathle-
Vorstand c. Mitglieder Altbelegschaft c. Neuling
tik-Abt.
(i. Verein) (i. Betriebsabt.)
B. Gruppen (i. Sportclub)
Vater c. Kinder Familie c. »verlorenen
Jungen c. Mädchen
(i. Familie) Sohn«
(i. Schulklasse)
Unternehmensverbände c. Kath. Kirche c. »Altkatholi-
Firma A c. Firma B
C. Sektoren Gewerkschaften ken«
Luftwaffe c. Heer
Monopolist c. Außenseiter Bayern c. »Zugereiste«

Regierungspartei c. Staat c. kriminelle Bande


D. Gesellschaften Protestanten c. Katholiken
Opposition Staat c. ethnische Minder-
Flamen c. Wallonen
Freie c. Sklaven heit

E. Übergesellschaft- Westen c. Osten Sowjetunion c. Ungarn UN c. Kongo


liche Verbindungen Indien c. Pakistan Deutschland c. Polen OEEC c. Frankreich

Quelle: Dahrendorf 1972: 27.


234 Ditmar Brock

Dahrendorf nur an Innerhalb dieses Spektrums möglicher Konflikttypen ist Dahrendorfs Konflikt-
Herrschaftskonflikten
theorie nur auf maximal drei dieser 15 Felder (nämlich: 2B, 2C, 2D) zugeschnit-
in Gesellschaften
interessiert ten. Das erklärt sich aus zwei Einschränkungen. Einmal hängt diese Verengung
mit einer drastischen Einschränkung der als „wichtig“ oder „interessant“ angese-
henen Konfliktkonstellation zusammen. Dahrendorf interessiert sich ausschließ-
lich für hierarchische Herrschaftskonflikte, also Konflikte, bei denen es immer
eine übergeordnete und eine hierarchisch untergeordnete Konfliktpartei gibt.
Eine zweite Einschränkung macht er hinsichtlich der Reichweite der Herr-
schaftskonflikte. Aus dem Aufmerksamkeitsspektrum der Konflikttheorie fallen
sowohl Rollenkonflikte wie auch übergesellschaftliche Konflikte heraus. Inter-
rollenkonflikte zwischen übergeordneten und untergeordneten Rollen erscheinen
als eine „zu individuelle“ Konfliktebene, obwohl in den letzten Jahren einige für
Fragen der gesellschaftlichen Modernisierung überaus wichtige Debatten über
typische Veränderungen in der Gewichtung zwischen unterschiedlichen Rollen
abgelaufen sind. Hier sei nur an die Debatten über die veränderte Gewichtung
zwischen Arbeit und Freizeit oder Arbeit und Familie sowie an den Wertewandel
erinnert, der Veränderungen in der Bewertung positiver wie negativer Sanktio-
nen mit reflektiert. Weiterhin fällt die übergesellschaftliche Ebene von Konflik-
ten zwischen stärkeren und schwächeren Staaten aus Dahrendorfs Interessen-
spektrum heraus. Sie wird der Politikwissenschaft zugeordnet.
Positiv ausgedrückt ist Dahrendorfs Konflikttheorie insbesondere auf Herr-
schaftskonflikte innerhalb von Gesellschaften zugeschnitten (2D). Daneben er-
fasst sie auch noch Gruppenkonflikte (2B) und Sektorenkonflikte (2C). Für alle
anderen Fälle seien „Bereichstheorien“ zuständig. Unter Bereichstheorien ver-
steht Dahrendorf Theorien mittlerer Reichweite (Merton), die nur für ein be-
stimmtes Forschungsfeld (z.B. Familiensoziologie oder Industriesoziologie)
Gültigkeit beanspruchen.

Dahrendorf ist weniger an einer systematischen und universell anwendbaren


Konfliktsoziologie, sondern vor allem an einer politikbezogenen und kriti-
schen Soziologie interessiert, die innergesellschaftliche Herrschaftskonflikte
analysiert.

Grenzen der Der kritische Leser wird sich an dieser Stelle vermutlich fragen, mit welchem
Konflikttheorie
Recht Dahrendorfs Konflikttheorie ihrerseits mehr sein soll als eine „Bereichs-
theorie“, wenn sie sich auf einen derart kleinen Ausschnitt denkbarer Konfliktty-
pen konzentriert. Darüber hinaus kann man sich fragen, ob Simmels Ansatz,
Kampf als eine grundlegende Vergesellschaftungsform anzusehen, nicht doch
Möglichkeiten eröffnet, zu stärker verallgemeinerbaren Aussagen zu kommen.
Diese Fragen können hier nur angemerkt, aber nicht ausführlich behandelt wer-
den.
Schwerpunkt der Nach Dahrendorf haben innergesellschaftliche Herrschaftskonflikte für Fra-
Konflikttheorie
gen des sozialen Wandels besondere Bedeutung. Schließlich tritt hier der soziale
Konflikt zwischen Herrschenden und Beherrschten direkt zu Tage. Deswegen sei
eine Konzentration auf dieses Feld sinnvoll. Wenn man dieses Argument akzep-
tiert, dann legitimiert sich daraus das weitere Programm. Die relevanten Akteure
Konflikttheorie 235

innergesellschaftlicher Herrschaftskonflikte sind nicht Individuen, sondern


Gruppen oder Klassen. Ihre Konstellation kann über die dichotomische3 Vertei-
lung von Herrschaftsrollen charakterisiert werden: Eine Gruppe oder Klasse hat
etwas, was die andere nicht hat wie z. B. die Regierung im Unterschied zur Op-
position oder freie Bürger im Unterschied zu Sklaven oder auch Manager im
Unterschied zu Arbeitern. Soziale Konflikte oszillieren also immer um „soziale
Strukturtatsachen“, insbesondere um die Festlegung von Herrschaftsrollen.
Eine Anwendung der Konflikttheorie könne immer nur in konkreten Fall- Soziologische
Konfliktanalysen
analysen erfolgen. Weitere theoretische Verallgemeinerungen führten dagegen
zunächst nicht weiter. Solche konkreten Fallanalysen müssen vor allem drei
Faktoren erfassen und vergleichen:

(a) Sie müssen die Bedingungen der Interessenorganisation auf beiden Seiten
klären.
(b) Sie müssen die Bedingungen der Konfliktaustragung klären.
(c) Schließlich müssen auch die Bedingungen des Strukturwandels für beide
Seiten geklärt werden.

Diese drei Punkte sind jeweils Stichworte für größere Aufgabenkataloge.


So geht es bei den „Bedingungen der Interessenorganisation“ einmal dar-
um zu klären, inwieweit soziale, technische und organisatorische Bedingungen
für die Organisation von gemeinsamen Interessen überhaupt gegeben sind und
inwieweit nicht. Das hängt nicht zuletzt mit politischen Rechten zusammen, die
die Interessenorganisation erleichtern können, wie z.B. Rechten der Koalitions-
und Versammlungsfreiheit. Wenn solche politischen Rechte der Interessenorga-
nisation fehlen, dann spitzt sich, wie bereits Coser gezeigt hat, die Situation zu.
Einerseits besteht für die herrschende Seite eine größere Möglichkeit, Konflikte
zu unterdrücken, andererseits müssen die Beherrschten, sobald sie ihre Interessen
zu organisieren versuchen, erkennen, dass sie ihre Forderungen nur dann dauer-
haft einlösen können, wenn sie strategisch wirksame institutionelle und rechtli-
che Veränderungen fordern.
Dieses Szenario ist aus der Marxschen Klassenanalyse (vgl. Bd.1, S. 69ff.) Resultate sozialer
Konflikte sind offen
bereits hinlänglich bekannt. Während Marx bei Herrschaftskonflikten auf lange
Sicht nur eine revolutionäre Lösung sieht, werden mit den Mitteln der Konflikt-
theorie noch andere Resultate von Interessenauseinandersetzungen verständlich.
Konflikte können vor allem in ihrer Reichweite dadurch entschärft werden, dass
den Beherrschten institutionelle Bedingungen der Interessenorganisation zuge-
standen werden. So kann man etwa an der Geschichte der Arbeiterbewegung in
Demokratien ablesen, dass Organisationsrechte bis hin zu einem tarifpartner-
schaftlichen System dazu führen, dass die Arbeiterorganisationen sich mit dem
„System“ arrangieren und nur noch die direkten Interessen ihrer Mitglieder an
höheren Löhnen oder besseren Arbeitsbedingungen vertreten.
Analysen der „Bedingungen der Konfliktaustragung“ haben insbesondere den Offenheit oder Ge-
schlossenheit von
Aspekt der sozialen Offenheit bzw. Geschlossenheit der beteiligten Interessen- Interessengruppen

3
Dichotomie (griechisch) = Zweiteilung
236 Ditmar Brock

gruppen zu klären. Eine hohe Geschlossenheit wird dadurch begünstigt, dass


Kategorien von Gesellschaftsmitgliedern an bestimmte Strukturmerkmale ge-
bunden sind. Ein klassisches Beispiel wären hier Arbeiter, die keine andere
Überlebenschance haben, als ihre Arbeitskraft an den Meistbietenden zu verkau-
fen. Würden die Arbeiter dagegen auch von Kapitalerträgen, etwa über Aktien,
profitieren oder könnten sie sich Chancen ausrechnen, selbst einmal einen Be-
trieb zu gründen, dann wären ihre Interessen wesentlich heterogener, die Ge-
schlossenheit also erheblich geringer.
Ein zweiter zentraler Aspekt bei der Konfliktaustragung ist die Frage, ob es
gesellschaftliche Mechanismen gibt, die die Konfliktaustragung in bestimmte
Bahnen lenken und den Konfliktverlauf regulieren können. Solche Mechanismen
existieren insbesondere in Demokratien, etwa in Form rechtlicher Regelungen
von Tarifauseinandersetzungen oder des Parteien- und Versammlungsrechts.
Bei den „Bedingungen des Strukturwandels“ geht es Dahrendorf um detail-
lierte Analysen der Möglichkeiten und Fähigkeiten der Herrschenden, ihre
Machtposition zu halten sowie um eine Analyse der Ressourcen der Beherrsch-
ten, über die sie ihre Interessen zur Geltung bringen können.

Dieser hier nur grob skizzierte Katalog soziologischer Konfliktanalyse zeigt,


dass es der Konflikttheorie zumindest indirekt darum geht, mit soziologischen
Mitteln die Vorzüge offener, durch Institutionen der Konfliktaustragung ge-
prägter Gesellschaften gegenüber totalitären oder in hohem Maße kulturell
integrierten Gesellschaften zu demonstrieren.

Übungsaufgabe:

Warum weisen nach Dahrendorf alle differenzierten und dem sozialen Wandel
unterliegenden Gesellschaften Herrschaft auf?

Übungsaufgabe:

Welche Argumente sprechen Ihrer Meinung nach für, welche gegen die These,
dass jede Herrschaftsausübung die Quelle sozialer Konflikte ist?

5 Konflikttheorie: Zusammenfassung und Bewertung

Die Konflikttheorie geht zwar auf Überlegungen von Georg Simmel zurück.
Sie hat aber erst im Zuge der kritischen Auseinandersetzung mit dem Struk-
turfunktionalismus die Bedeutung einer eigenen Analyseperspektive gesell-
schaftlicher Entwicklung gewonnen, die Einseitigkeiten und Verkürzungen
des Strukturfunktionalismus zu kompensieren vermag.
Konflikttheorie 237

Die Arbeiten Ralf Dahrendorfs zielten stärker auf diese kritische Auseinan-
dersetzung und perspektivische Korrektur des Strukturfunktionalismus als die
von Lewis Coser. Dahrendorfs Verdienst besteht vor allem in der erneuten
Sensibilisierung der Gesellschaftstheorie für die Phänomene von Herrschaft,
Zwang, sozialem Konflikt und die Organisierung von Interessen. Dieses Ver-
dienst teilt er sich mit den hier nicht behandelten Arbeiten von Mills und auch
von Gouldner. Coser hat sich dagegen vor allem in den Fußstapfen von Sim-
mel um eine soziologische Ausarbeitung der sozialen Rahmenbedingungen
sozialer Konflikte bemüht.

Die kritische Diskussion von Dahrendorfs Programm hat gezeigt, dass es bis-
her nicht gelungen ist, die Konflikttheorie zu einem sozialtheoretischen Theo-
rieprogramm mit generellem Anspruch auszubauen. Seine Bedeutung besteht
auch heute nach wie vor in der Ergänzung allzu harmonistischer Sichtweisen
gesellschaftlicher Entwicklung.

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238 Ditmar Brock

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Heike Diefenbach

Die Theorie der Rationalen Wahl oder


„Rational Choice“-Theorie (RCT)
Die Theorie der Rationalen Wahl

1 Definition und Einordnung der RCT in die soziologische


Theorienlandschaft
Definition und Einordnung …
Die Theorie der rationalen Wahl oder „Rational Choice“-Theorie besagt vor Die RCT beansprucht
für sich, erklären zu
allem zweierlei: erstens, dass individuelle Handlungen auf rationalen oder ver-
können, wie gesell-
nünftigen Handlungsentscheidungen basieren, und zweitens, dass gesellschaftli- schaftliche Phänome-
che Phänomene durch individuelle Handlungen erklärt werden können und müs- ne als unbeabsichtigte
sen. Gesellschaftliche Phänomene werden nicht einfach als Resultat der Wün- Resultate absichtsvol-
len Handelns entste-
sche oder Pläne einzelner Personen oder einer Gruppe von Personen aufgefasst.
hen
Vielmehr betrachten es Vertreter der „Rational Choice“-Theorie – im folgenden
mit RCT abgekürzt – gerade als eine, wenn nicht die Stärke dieser Theorie, dass
sie erklären kann, wie gesellschaftliche Phänomene als unbeabsichtigte Resultate
absichtsvollen Handelns entstehen können, während andere soziologische Theo-
rien davon ausgehen (müssen), dass gesellschaftliche Phänomene nach Gesetz-
mäßigkeiten entstehen und funktionieren, die nicht auf der Ebene individueller
Personen angesiedelt sind und daher nicht durch individuelle Handlungen erklärt
werden können.

Die RCT ist eine spezifische Form der Erklärung gesellschaftlicher Phänome-
ne auf der Basis individueller rationaler Handlungen.

Sowohl das Menschenbild, das der RCT zugrunde liegt, als auch das Postulat, Die RCT ist eine der
derzeit einflussreichs-
nach dem gesellschaftliche Phänomene durch individuelle rationale Handlungen
ten und am stärksten
erklärt werden können und müssen, sind bei vielen Soziologen lange Zeit auf – diskutierten Theorien
teilweise heftige – Ablehnung gestoßen. Seit den 1980er-Jahren stößt die RCT in in den Sozialwissen-
den Sozialwissenschaften jedoch auf ein immer größeres Interesse und eine im- schaften
mer größere Akzeptanz, auch bei Soziologen. Wenn man außerdem bedenkt,
dass die RCT in der Ökonomie die vorherrschende Theorie ist, so darf man ohne
Übertreibung sagen, dass die RCT derzeit eine der einflussreichsten und am
meisten diskutierten Theorien in den Sozialwissenschaften ist.

2 Der rational handelnde Mensch: Grundannahmen


Der Schlüssel zum Verständnis der RCT liegt im Menschenbild, das ihr zugrun-
de liegt, denn nur dann, wenn klar ist, wie sich Vertreter der RCT die Natur des
240 Heike Diefenbach

Menschen vorstellen, ist verständlich, was im Rahmen der RCT „Rationalität“


bzw. „rationales Handeln“ bedeuten soll.

2.1 Rationales Handeln als zweckgerichtetes Handeln zum eigenen Nutzen

Die schottischen Das Menschenbild der RCT ist stark beeinflusst vom Menschenbild der so ge-
Moralphilosophen nannten schottischen Moralphilosophen des 18. Jahrhunderts, die auch als Ver-
treter der schottischen Aufklärung bezeichnet werden. Zu ihnen zählen die be-
kannten Philosophen David Hume und Adam Smith sowie die in Deutschland
weniger bekannten Thomas Brown, James Burnet (Lord Monboddo), Adam
Ferguson, James Ferrier, Henry Home (Lord Kames), John Millar, Thomas
Reich, William Robertson und Dugald Stewart. Ihnen allen ging es um die Frage,
was eine sichere Grundlage menschlichen Wissens sein könnte bzw. wie eine
solche geschaffen werden könnte und wie eine Gesellschaft aussehen müsste, die
auf diesem gesicherten Wissen aufbaut. Dies mag dem heutigen Leser als eine
ziemlich abstrakte Thematik erscheinen. Wenn man sich aber den Kontext in
Erinnerung ruft, in dem die Philosophen des 18. Jahrhunderts ihre Werke ver-
fassten – sie waren stark von den Folgen eines religiös geprägten Weltbildes und
in der Folge von den konfessionellen Glaubenskriegen beeinflusst –, wird nach-
vollziehbar, warum ihnen die Frage nach einer sicheren Grundlage menschlichen
Wissens so wichtig war. Um zu gesichertem Wissen zu kommen, muss man sich
zunächst darüber klar sein, wie der Mensch und insbesondere sein Erkenntnisap-
parat beschaffen ist. Einer der ersten, der hierzu eine detaillierte Theorie geliefert
hat, war David Hume.

David Hume (1711-1776)

David Hume war Diplomat, Historiker und einer der


bekanntesten Philosophen der schottischen Aufklärung.
Er wurde am 07. Mai 1711 in der Nähe von Edinburgh
als Sohn eines Adeligen geboren. Im Jahr 1723 nahm er
an der Universität Edinburgh das Studium der Rechts-
wissenschaft auf, brach dieses Studium jedoch nach drei
Jahren ab und widmete sich stattdessen der Philosophie
im Selbststudium. Nach einer Tätigkeit als Kontorist in
einem Handelsunternehmen ging er 1734 nach Frank-
reich und blieb dort bis 1737. In dieser Zeit verfasste er
sein Hauptwerk, „A Treatise of Human Nature“, das in den Jahren 1739 und
1740 anonym veröffentlicht wurde, aber zu diesem Zeitpunkt keine große
Resonanz fand. Erst die moralisch-politischen Essays, die er in den folgenden
Jahren veröffentlichte, machten ihn bekannt, und in dieser Zeit lernte er auch
Adam Smith kennen, der bis zu Humes Tod sein enger Freund geblieben ist.
Im Jahr 1744 wurde seine Kandidatur um den Lehrstuhl für Moralphilosophie
an der Universität Edinburgh abgelehnt. Er nahm eine Tätigkeit als Sekretär
von General St. Clair auf und begleitete ihn 1746 auf einer militärischen Ex-
pedition gegen Kanada und 1748 auf einer diplomatischen Mission nach Tu-
Die Theorie der Rationalen Wahl 241

rin. Im selben Jahr wurde eine überarbeitete und gekürzte Version seines
„Treatise of Human Nature“ veröffentlicht, die deutlich erfolgreicher war als
das ursprüngliche Werk. Von 1752 bis 1757 war Hume als Bibliothekar der
juristischen Fakultät der Universität Edinburgh tätig und verfasste seine „Ge-
schichte Englands“, die bis 1764 in fünf Bänden erschien und so erfolgreich
war, dass sie Hume zu einem gewissen Wohlstand verhalf. 1763 wurde Hume
Sekretär der britischen Botschaft in Paris, wo er Jean-Jacques Rousseau ken-
nen lernte. Als Hume 1766 nach England zurückging, folgte der zu diesem
Zeitpunkt aus der Schweiz ausgewiesene Rousseau der Einladung Humes und
verbrachte eine kurze Zeit in London. 1767 wurde Hume Unterstaatssekretär
im Auswärtigen Amt, kehrte aber im Jahr 1769 als nunmehr wohlhabender
Mann nach Edinburgh zurück, wo er bis zu seinem Tod am 28. August 1776
als Privatgelehrter und Förderer junger Schriftsteller tätig war.

Hume ging – wie alle Vertreter der schottischen Aufklärung – davon aus, dass Die Annahme der
Gleichförmigkeit der
„eine große Gleichförmigkeit in den Handlungen der Menschen aller Nationen
menschlichen Natur
und Zeitalter besteht“ (Hume 1984: 99), die dadurch zu erklären sei, dass es eine
einheitliche menschliche Natur gebe, aus der „die regelmäßigen Triebkräfte
menschlichen Handelns und Betragens“ (Hume 1984: 100) erwüchsen. Wäre die
Natur des Menschen nicht gleichförmig, „so wäre es unmöglich, allgemeine
Beobachtungen über die Menschen zu sammeln; keine noch so besonnen durch-
gearbeitete Erfahrung würde jemals irgend einem Zwecke dienen“ (Hume 1984:
101). Weil Hume auf der Suche nach Ursache-Wirkungs-Gesetzen nicht nur in
der unbelebten Natur, sondern auch in Bezug auf menschliches Handeln war,
d.h. menschliches Handeln erklären (und nicht nur beschreiben oder interpretie-
ren) wollte, war die Annahme einer gleichförmigen menschlichen Natur für ihn
unabdingbar.

Lektürevorschlag:

Hume, David (1984): Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand. Hamburg:
Felix Meiner, S. 96-102. (Orig. 1748)

Im oben stehenden Zitat spricht Hume an, was für ihn die Gleichförmigkeit Menschliches Han-
deln als grundsätzlich
menschlichen Handelns ausmacht, nämlich seine Zweckgerichtetheit. Die Zwe-
zweckgerichtetes
cke, die Menschen mit ihren Handlungen verfolgen, sind auf ihr eigenes Wohl- Handeln zum eigenen
ergehen ausgerichtet, d.h. auf ihr Eigeninteresse oder ihren eigenen Nutzen. Nutzen
Hume selbst spricht in diesem Zusammenhang von Selbst- oder Eigenliebe: „Es
ist aber gewiss, dass die Eigenliebe, wenn sie freies Spiel hat, uns nicht zur
rechtlichen Handlung antreibt. Sie ist vielmehr die Quelle aller Widerrechtlich-
keit und Gewalttat. Und ein Mensch kann diese Laster niemals überwinden,
wenn er nicht die natürlichen Regungen und Begierden überwindet und im Zaum
hält“ (Hume 1978: 223). Obwohl Hume an vielen Stellen in seinem Gesamtwerk
zugesteht, dass der Mensch zum allgemeinen Wohlwollen anderen gegenüber
und zum Mitgefühl fähig ist, hält er die Überwindung der Selbstliebe oder auch
Eigennützigkeit letztlich nicht für möglich: „Es gibt also keinen Affekt, der fähig
242 Heike Diefenbach

ist, die eigennützige Neigung im Zaum zu halten, außer dieser Neigung selbst,
wenn man ihr nämlich eine neue Richtung gibt“ (Hume 1978: 236). Damit meint
Hume, dass Menschen sich dann (scheinbar) selbstlos verhalten können, wenn
sie meinen, dass es für sie selbst in einer bestimmten Hinsicht nützlich ist, ihr
Eigeninteresse in anderer Hinsicht zurückzustellen. Dies ist nach Hume z.B.
dann der Fall, wenn sich jemand bemüht, in Gesellschaft höflich, unterhaltsam
und witzig zu sein, denn dann sind andere Menschen gerne mit dieser Person
zusammen, und dies wiederum befriedigt deren natürliche Eitelkeit (Hume 1984:
142). Das Gegensatzpaar „Selbstsucht vs. Selbstlosigkeit“ oder „Egoismus vs.
Altruismus“ ist für Hume also gar keines oder nur scheinbar eines.
Definition rationalen Die RCT schließt an diese Vorstellung von der menschlichen Natur an:
Handelns im Rahmen
Wenn sie behauptet, dass Menschen rational, d.h. vernünftig handeln, behauptet
der RCT
sie, dass Menschen aufgrund von Absichten oder Zwecken handeln, die kurz-,
mittel- oder langfristig ihren eigenen Zielen, Wünschen oder Bedürfnissen die-
nen. Dabei spielt es keine Rolle, worauf genau sich diese Ziele, Wünsche und
Rationale Bedürfnisse richten. Rationale Handlungen zielen „not only at economic goals
Handlungen
but also at sociability, approval, status and power“ (Granovetter 1985: 509/510).
Rationales Handeln im Sinne der RCT entspricht weitgehend dem Idealtypus des
zweckrationalen Handelns nach Max Weber (vgl. Bd.1, S. 167f.): „Wie jedes
Handeln kann auch das soziale Handeln bestimmt sein 1. zweckrational: durch
Erwartungen des Verhaltens von Gegenständen der Außenwelt und von anderen
Menschen und unter Benutzung dieser Erwartungen als ‚Bedingungen’ oder als
‚Mittel’ für rational, als Erfolg, erstrebte und abgewogene eigne Zwecke, ...“
(1988: 565).

Als rationales Handeln gilt in der RCT jedes individuelle Handeln, das auf-
grund von Absichten oder Zwecken erfolgt, die den eigenen Zielen, Wün-
schen oder Bedürfnissen dienen sollen.

Das Menschenbild Wenn sich die RCT das Menschenbild der schottischen Moralphilosophen zu
der RCT unterschei-
eigen macht, widerspricht sie damit sowohl dem Menschenbild, das häufig als
det sich sowohl vom
„typisch soziologi- das „typisch“ soziologische betrachtet wird, als auch dem Menschenbild, das der
schen“ als auch vom neoklassischen Ökonomie zugrunde liegt: Dem „typisch soziologischen“ Men-
„typisch ökonomi- schenbild widerspricht sie insofern als sie bestreitet, dass das menschliche Han-
schen“ Menschenbild
deln durch Sozialisationsprozesse an den normativen Vorgaben der Gesellschaft
ausgerichtet werde. Dem „typisch ökonomischen“ Menschenbild widerspricht
sie, indem sie bestreitet, dass der Mensch immer nur aufgrund seiner persönli-
chen Vorlieben oder in der Sprache der Ökonomen: aufgrund seiner stabilen
Präferenzordnung handelt, die unabhängig von den gesellschaftlichen Bedingun-
gen oder der jeweiligen Handlungssituation ist. Für die spätere Erreichung der
Ziele bzw. der späteren Befriedigung der Bedürfnisse einer Person kann es näm-
lich nützlich sein, wenn sie sich zum aktuellen Zeitpunkt selbstlos oder zumin-
dest kooperativ verhält.
Die Theorie der Rationalen Wahl 243

Lektürevorschlag:

Esser, Hartmut (1993): Soziologie. Allgemeine Grundlagen. Frankfurt: Campus, S. 231-


239.

Das Menschenbild der RCT bzw. der schottischen Moralphilosophen ist mit Zweckgerichtetes
Handeln in der RCT
demjenigen, das soziobiologischen Erklärungen menschlichen Verhaltens zu-
im Vergleich zum
grunde liegt, in dem Punkt vergleichbar, dass beide davon ausgehen, dass Men- zielgerichteten
schen von ihrem Eigeninteresse geleitet sind. Das Eigeninteresse des Menschen Handeln in der
in der Soziobiologie bezieht sich auf die Maximierung der so genannten repro- Soziobiologie
duktiven Fitness, d.h. des Fortpflanzungserfolges, der sowohl die Zahl der eige-
nen Nachkommen umfasst als auch die Zahl der Nachkommen der Träger der
gleichen Gene, also naher Verwandter (Wilson 1978: 9). Da in der RCT das
Eigeninteresse des Menschen auf seine Ziele, Wünsche oder Bedürfnisse gerich-
tet ist, ohne dass diese inhaltlich bestimmt würden, ist die soziobiologische Vor-
stellung vom Menschen als Maximierer seiner reproduktiven Fitness zunächst
mit dem Menschenbild der RCT vereinbar. Allerdings ist ein wichtiger Unter-
schied der, dass in der RCT davon ausgegangen wird, dass die Ziele, Wünsche
oder Bedürfnisse verschiedener Menschen inhaltlich unterschiedlich sein kön-
nen, während die Soziobiologie das Eigeninteresse aller Menschen einheitlich als
reproduktive Fitness beschreibt (Smith/ Winterhalder 1992: 48). Damit wird
menschliches Verhalten in der Soziobiologie als determiniert von überindividu-
ellen Strukturen betrachtet, während in der RCT Menschen im Rahmen bestimm-
ter struktureller Möglichkeiten Handlungswahlen treffen können (dazu mehr in
Abschnitt 3). Ein weiterer Unterschied zwischen der RCT und der Soziobiologie
ist, dass gemäß der RCT Menschen die Ziele, Wünsche oder Bedürfnisse, die ihr
Handeln anleiten, im Prinzip benennen können. Sie sind sich ihrer bewusst und
versuchen bewusst, sie durch ihr Handeln zu erreichen. In der Soziobiologie ist
dies nicht der Fall. Wenn sich z.B. jemand seiner verwaisten Nichte annimmt, so
wird er selbst vielleicht meinen, dass er dies aus einem Gefühl der familiären
Verpflichtung heraus tut oder schlicht deshalb, weil er seine Nichte liebt. Sozio-
biologen würden die Unterstützung von Verwandten aber im Sinne ihres eigenen
Fortpflanzungserfolges interpretieren: „Verwandt sein ist biologisch gleichbe-
deutend mit übereinstimmende Erbinformationen besitzen. Je enger die Ver-
wandtschaft, desto mehr Informationen sind identisch. Ein Individuum hat dem-
nach noch einen zweiten Weg [neben der eigenen Fortpflanzung], eigene geneti-
sche Informationen in der nächsten Generation unterzubringen, indem es Ver-
wandten hilft und so deren Fortpflanzungschancen erhöht“ (Vowinckel 1995: 50;
Hervorhebungen im Original). In der Soziobiologie kennen Individuen also ihre
„wahren“ Ziele nicht und können deshalb auch nicht bewusst zweckgerichtet auf
ihre Ziele hin handeln, während die RCT behauptet, dass nur die Individuen über
ihre „wahren“ Ziele und darüber, welche Handlungen sie als Zwecke zur Errei-
chung dieser Ziele ansehen, Auskunft geben können.
244 Heike Diefenbach

Lektürevorschlag:

Vowinckel, Gerhard (1995): Verwandtschaft, Freundschaft und die Gesellschaft der


Fremden. Grundlagen menschlichen Zusammenlebens. Darmstadt: Wissenschaftli-
che Buchgesellschaft, S. 48-53.

Rationalität in der Die Evolutionspsychologie, die ebenso wie die Soziobiologie auf der Evoluti-
RCT und in
onsbiologie aufbaut, geht (im Unterschied zur Soziobiologie) davon aus, dass
der Evolutions-
psychologie menschliches Verhalten durch kognitive Mechanismen bestimmt wird, die die
Evolutionsgeschichte des Menschen reflektieren, aber die unter den heute herr-
schenden Lebensbedingungen nicht unbedingt dazu geeignet sind, die reproduk-
tive Fitness von Menschen zu maximieren. Diese kognitiven Mechanismen, die
das Verhalten von Menschen steuern, sind unterhalb der Ebene bewussten Den-
kens angesiedelt (Kanazawa 2004: 376). Rationalität ist nichts anderes als einer
von vielen verschiedenen kognitiven Mechanismen, die – wenn man so will –
alle spezifische Anwendungsprogramme für unterschiedliche Aufgaben und
Situationen bereitstellen: „... adaptive problems posed by social life loom large ...
which could only be satisfied by cognitive programs that are specialized for
reasoning about the social world (Cosmides/Tooby 1994: 53/54; Hervorhebung
im Original). Diese Idee ist nicht nur unter Evolutionspsychologen, sondern
allgemein in der kognitiven Psychologie als These von der Modularität der Kog-
nition (Fodor 1983; Carruthers 2005) oder Domänenspezifizität (Cosmides/
Tooby 1994a) bekannt. Rationalität ist nach dieser Vorstellung also nur eine
besondere Form der evolutionären Adaption des (modularen) menschlichen
Geistes (Smith/Winterhalder 1992: 42). Dagegen ist für Vertreter der RCT Rati-
onalität ein grundlegendes Merkmal menschlichen Denkens und Entscheidens
unabhängig von der Situation, in der sich jemand befindet, bzw. unabhängig von
der Aufgabe, die jemand zu lösen hat. In den vergangenen Jahren haben sich eine
Reihe von Vertretern der RCT (Kanazawa 2004; Nelson/Winter 2002; Vanberg
2002) mit der Frage beschäftigt, inwiefern die RCT von der Evolutionspsycholo-
gie profitieren kann bzw. inwieweit beide miteinander vereinbar sind. Eine Fort-
setzung dieser Diskussion ist für die nächsten Jahre sicherlich zu erwarten.

2.2 Die Wahl einer Handlung

Wie entscheidet sich eine eigennützige Person nun aber für eine bestimmte
Handlung? Die meisten RCT-Vertreter stimmen darin überein, dass die Wahl
einer Handlung einen Prozess darstellt, der sich in drei Schritte unterteilen lässt,
nämlich

a) die Definition der Handlungssituation,


b) die Abwägung der Nutzen und Kosten möglicher Handlungsalternativen und
c) die Wahl einer Handlung.

Die Wahl einer Die drei Schritte zusammen bilden die so genannte SEU-Theorie, wobei „SEU“
Handlung als Prozess
für „subjective expected utility“ steht. Im Deutschen wird sie häufig als Werter-
in drei Schritten
Die Theorie der Rationalen Wahl 245

wartungstheorie bezeichnet, obwohl dies keine angemessene Übersetzung ist.


Eher angemessen wäre es, von der Theorie des subjektiv erwarteten Nutzens zu
sprechen, und tatsächlich findet sich in der deutschsprachigen Literatur diese
Bezeichnung neben der Bezeichnung „Werterwartungstheorie“. Sie geht in ihren
Grundlagen auf Daniel Bernoulli (1954 [1738]) zurück und wurde von John von
Neumann und Oskar Morgenstern (1944) aufgegriffen und weiterentwickelt.
Leonard J. Savage hat sie dann in seinem Buch „The Foundations of Statistics“
(1954) in der Weise formuliert, wie sie heute in der RCT allgemein verwendet
wird.

Die SEU-Theorie stellt den handlungstheoretischen Kern der RCT dar, indem
sie beschreibt, wie eine Handlung in einer bestimmten Situation aus einer
Menge von Handlungsalternativen ausgewählt wird.

Leonard Jimmie Savage (1917-1971)

Leonard J. Savage wurde am 20. November 1917 in


Detroit in den USA geboren, wo er auch zur Schule
ging. Anschließend studierte er an der University of
Michigan in Ann Arbor Mathematik. 1941 erwarb er
seinen Ph.D. mit einer Arbeit über metrische und
differentielle Geometrie. Die Jahre 1941 und 1942
verbrachte er am Institute for Advanced Study in
Princeton, wo er sich weiterhin der Mathematik wid-
mete. 1944 wechselte er auf Empfehlung von John
von Neumann an die Columbia University, wo er sich
der Statistik zuwandte. 1947 wechselte er wieder die
Universität, diesmal an die University of Chicago, wo er in den folgenden
Jahren zwei Artikel gemeinsam mit Milton Friedman publizierte. Im Jahr
1949 gründete Savage gemeinsam mit Allen Wallis das Chicago Statistics
Department, dessen Direktor er von 1956 bis 1960 gewesen ist. Aufgrund
privater Schwierigkeiten ging er von dort an die University of Michigan, bis er
1964 eine Professur in Yale antrat. Seine Publikationen beschäftigen sich vor
allem mit schließender Statistik und Entscheidungstheorie. Sein berühmtestes
Werk ist sicherlich das Buch „Foundations of Statistics“, das 1954 erschien
und unter Statistikern und Entscheidungstheoretikern aufgrund des – wie Sa-
vage selbst sagte – sehr persönlichen Zugangs des Verfassers zur Wahrschein-
lichkeitstheorie eine Debatte auslöste. In seinen späteren Jahren widmete er
sich Fragen der Geschichte der Statistik und der Wissenschaftstheorie aus
statistischer Sicht. Savage starb am 1. November 1971 in New Haven.
246 Heike Diefenbach

Die Definition der Zunächst nehmen Personen die Handlungssituation als solche wahr und interpre-
Handlungssituation
tieren sie anhand ihrer Vorerfahrungen mit ähnlichen oder vergleichbaren Situa-
tionen. Je nachdem, wie die Handlungssituation interpretiert wird, stehen entwe-
der bereits bestimmte Routinen zur Verfügung, denen eine Person in einer Situa-
tion dieser Art folgt, oder sie muss eine bewusste Handlungsentscheidung tref-
Restriktionen
fen, wobei bestimmte Handlungsmöglichkeiten offen stehen, andere dagegen
nicht. In Bezug auf die Begrenzung der Handlungsmöglichkeiten in einer be-
stimmten Situation sprechen Vertreter der RCT von Restriktionen; die offen
stehenden Handlungsmöglichkeiten werden Handlungsalternativen genannt.
Die Abwägung der Im zweiten Schritt wird für jede Handlungsalternative eine Bestandsauf-
Nutzen und Kosten
nahme darüber gemacht, mit welchen Konsequenzen sie verbunden ist. Jede
möglicher Hand-
lungsalternativen dieser Konsequenzen hat einen bestimmten Nutzenwert, der positiv oder negativ
sein kann. Ist der Nutzenwert positiv, so spricht man vom Nutzen, ist der Nut-
zenwert negativ, so spricht man von Kosten einer Handlungskonsequenz. Weil
aber unsicher ist, ob die jeweiligen Konsequenzen einer Handlungsalternative
auch tatsächlich eintreten, müssen die Nutzen oder Kosten mit den Erwartungen
darüber gewichtet werden, wie wahrscheinlich es ist, dass sich eine bestimmte
Konsequenz einer Handlungsalternative auch tatsächlich einstellen würde. Diese
Erwartungen bezeichnet man als Eintrittswahrscheinlichkeiten für Handlungs-
konsequenzen. Der subjektiv erwartete Gesamtnutzen einer Handlungsalternative
(SEU (i)) ergibt sich also aus der Summe der Nutzenwerte (U), die diese Hand-
lungsalternative für die Erreichung des Ziels (j) hat, multipliziert mit den jeweils
subjektiv erwarteten Wahrscheinlichkeiten (p), dass diese Nutzen auch tatsäch-
lich realisiert werden:
SEU (i) = ™ pij * Uj

Die Wahl einer Im dritten Schritt erfolgt die eigentliche Wahl einer Handlungsalternative aus der
Handlung aufgrund
Menge der Handlungsalternativen, deren Nettonutzen die Person nunmehr „er-
der Maximierungs-
regel rechnet“ hat. Die Entscheidungsregel ist sehr einfach. Sie lautet: Wähle diejenige
Handlungsalternative, für die der subjektiv erwartete Gesamtnutzen am größten
ist. Gewöhnlich wird diese Entscheidungsregel Maximierungsregel oder Opti-
mierungsregel genannt. Vielleicht haben Sie sie bereits unter einem anderen
Namen kennen gelernt, nämlich als so genannte Rationalitätshypothese im Rah-
men der Austauschtheorie von George Homans. Sie lautet: „Wenn eine Person
sich zwischen alternativen Richtungen des Handelns zu entscheiden hat, wird sie
diejenige Handlung wählen, bei der, soweit sie es wahrnehmen kann, der ma-
thematische Wert p * v am größten ist. Dabei ist p die Wahrscheinlichkeit („pro-
bability“), dass die Handlung eine bestimmte Belohnung einbringen wird, und v
ist der Wert („value“), den diese Belohung für die Person hat“ (Homans 1969:
44).

Lektürevorschlag:

Büschges, Günter/Abraham, Martin/Funk, Walter (1995): Grundzüge der Soziologie.


München: Oldenbourg, S. 124-127.
Die Theorie der Rationalen Wahl 247

Eine Anwendung der SEU-Theorie auf die Frage, wie ein Student entscheidet, ob er die
Universität wechseln wird oder ob er an der Universität bleiben wird, die er derzeit
besucht, bietet: Kunz, Volker (2004): Rational Choice. Frankfurt/M.: Campus, S. 47.

Nach Savage liegt die Rationalität der Handlung sowohl im Prozess der Hand- Die SEU-Theorie als
normative und als
lungswahl als auch im Ergebnis, denn wenn die Handlungswahl „korrekt“, d.h.
empirische Theorie
hier: nach der Vorstellung von Savage, erfolgt, führt sie zur Auswahl der besten
Handlung, d.h. zu der Handlung, für die der subjektiv erwartete Nutzen am größ-
ten ist. Wenn Menschen während des Prozesses der Handlungswahl nicht von
den Annahmen der SEU-Theorie abweichen, müssen sie automatisch zur Wahl
der optimalen Handlung kommen. Wenn sie während des Auswahlprozesses von
den Modellannahmen abweichen, also ihre Handlung auf irgendeine andere Wei-
se, sagen wir beispielsweise zufällig, auswählen, oder während des Auswahlpro-
zesses Fehler machen und zu einer anderen als der optimalen Handlung kom-
men, dann haben sie aus Savages Sicht falsch bzw. irrational gewählt. Die SEU- Normative oder
Theorie ist daher eine normative oder präskriptive Theorie. Als solche beschreibt präskriptive Theorie
sie, wie ein Mensch bei der Wahl einer Handlung vorgehen soll, aber nicht (un-
bedingt), wie er dabei tatsächlich vorgeht, was zu beschreiben Aufgabe einer
Empirische oder
empirischen oder erklärenden Theorie, auch positive Theorie genannt, wäre. In erklärende Theorie
den Worten von Savage kann die SEU-Theorie betrachtet werden „... as a predic-
tion about the behaviour of people ... in decision situations. Second, it can be
regarded as a logic-like criterion of consistency in decision situations. For us, the
second interpretation is the only one of direct relevance, but it may be fruitful to
discuss both, calling the first empirical and the second normative” (Savage 1954:
19; Hervorhebung durch H.D.). Für Savage geht es also darum, einen Standard
zu entwickeln, anhand dessen es Menschen möglich ist, optimale Handlungs-
wahlen zu treffen, und er geht davon aus, dass Menschen, die von diesem Stan-
dard abweichen, ihren Fehler erkennen und ihre Vorgehensweise verändern kön-
nen, wenn sie auf ihren Fehler aufmerksam gemacht werden (Savage 1954: 101-
103).
Die meisten RC-Theoretiker, zumindest unter denjenigen, die soziologische Rationale Handlun-
gen als Ergebnisse
Fragestellungen bearbeiten, sind in dieser Hinsicht jedoch nicht Savages Mei-
rationaler Denkpro-
nung. Sie betrachten die SEU-Theorie als empirische Theorie, also als Theorie zesse
darüber, wie Menschen ihre Handlungen tatsächlich auswählen. Daher liegt für
sie die Rationalität der Handlung nicht in ihrem Ergebnis, sondern im Prozess
der Handlungswahl. Herbert Simon spricht daher auch von Rationalität als einem
Ergebnis eines Denkprozesses oder von prozeduraler Rationalität, d.h. Rationali-
tät im Hinblick auf die Prozedur, anhand derer jemand Handlungsentscheidun-
gen trifft: „In the past, economics has largely ignored the processes that rational
man uses in reaching his resource allocation decisions. This was possibly an
acceptable strategy for explaining rational decisions in static, relatively simple
problem situations where it might be assumed that additional computational time
or power could not change the outcome. The strategy does not work, however,
when we are seeking to explain the decision maker’s behavior in complex, dy-
namic circumstances that involve a great deal of uncertainty, and that make se-
vere demands upon his attention” (Simon 1978: 14). Eine Handlung, in der das
Ergebnis eines rationalen Denkprozesses umgesetzt wird, gilt als eine rationale
248 Heike Diefenbach

Handlung, auch dann, wenn dem Handelnden im Verlauf seines Denkprozesses


objektiv betrachtet „Fehler“ unterlaufen sind.

Für die meisten RC-Theoretiker liegt die Rationalität einer Handlung nicht in
ihrem Ergebnis, sondern im Prozess der Handlungswahl.

Die Rationalität einer Aus dieser Perspektive betrachtet ist es unwichtig, ob die gewählte Handlung
Handlung ist in der
tatsächlich besser als alle anderen denkbaren Handlungsalternativen dazu geeig-
RCT subjektiv
net ist, ein gegebenes Ziel zu erreichen. Würde man dies als Maßstab für die
Rationalität einer Handlungswahl heranziehen, so würde man ein außerhalb des
Handelnden stehendes, objektives Kriterium für rationales Handeln einführen.
Für die RCT ist entscheidend, ob eine Person ihre Handlung unter den von ihr
betrachteten Handlungsalternativen als das am besten geeignete Mittel zur Errei-
chung eines bestimmten Ziels in einer bestimmten Situation angesehen hat oder
nicht, auch wenn dies für eine andere Person, vielleicht den Forscher, schwierig
nachvollziehbar ist oder das angestrebte Ziel durch die Handlung tatsächlich
nicht erreicht wurde. Die Rationalität einer Handlung ist in der RCT also subjek-
tiv.
Die RCT macht keine Die RCT macht keine Aussagen darüber, auf welche Ziele, Wünsche oder
Aussagen darüber,
Bedürfnisse eine rational handelnde Person mit ihrer Handlung abzielt oder ab-
welche Ziele man
verfolgen sollte zielen sollte. So sagt sie z.B. nichts darüber aus, ob es vernünftiger ist, sich viel
Geld oder eine gute Gesundheit zu wünschen und sich entsprechend zu verhal-
ten. Was jemand bevorzugt, z.B. Geld oder Gesundheit, hängt von seinen Vor-
lieben – in der RCT Präferenzen genannt – ab, und diese sind individuell ver-
schieden und situativ unterschiedlich, d.h. für ein und dieselbe Person in ver-
schiedenen Situationen unterschiedlich. Die RCT beschäftigt sich aber nicht mit
den mehr oder weniger guten Gründen, die es dafür gibt, (in bestimmten Situati-
onen) bestimmte Präferenzen zu haben, oder anders gesagt: mit der Rationalität
von Präferenzen, sondern nur mit der Rationalität von Handlungsentscheidun-
gen.
Die RCT ist eine Die RCT ist also in doppelter Hinsicht eine empirische Theorie und keine
positive, keine nor-
normative Theorie: Weder bezüglich der Ziele, die man verfolgen sollte, noch
mative Theorie
bezüglich der Mittel, die man einsetzen sollte, um gegebene Ziele zu erreichen,
macht die RCT Vorgaben.
Rationales Handeln In vieler Hinsicht ist die RCT der Handlungstheorie von Talcott Parsons
in der RCT und bei
ähnlich: Nach Parsons umfasst die kleinste Einheit seiner Handlungstheorie, der
Talcott Parsons
„unit act“, einen Akteur, der mit seiner Handlung ein Ziel verfolgt und sich in
Akteur einer spezifischen Handlungssituation befindet, die sowohl bestimmte Mittel zur
Verfügung stellt, die zur Zielerreichung eingesetzt werden können, als auch
bestimmte Handlungsbeschränkungen enthält (Parsons 1968: 44; 77; vgl. auch
Bd.1, S. 202). Eine Handlung ist für Parsons insoweit rational, „... as it pursues
ends possible within the conditions of the situation, and by the means which,
among those available to the actor, are intrinsically best adapted to the end for
reasons understandable and verifiable by positive empirical science“ (Parsons
1968: 58). Darüber hinaus betont Parsons den subjektiven Charakter rationalen
Handelns: “It is evident that these categories have meaning only in terms which
Die Theorie der Rationalen Wahl 249

include the subjective point of view, i.e., that of the actor” (Parsons 1968: 77).
Bis hierher hätten die meisten Vertreter der RCT keine Schwierigkeiten, Parsons
zuzustimmen. Die Zustimmung endet da, wo Parsons sozialen Normen eine
entscheidende Bedeutung für rationales Handeln zuschreibt. Inwieweit eine
Handlung dazu geeignet ist, ein angestrebtes Ziel zu erreichen, ist nach Parsons
nämlich davon abhängig, welche Handlungsweisen in einer gegebenen Hand-
lungssituation als angemessene Handlungsweisen gelten, und was als situativ
angemessen gilt, ist wiederum abhängig von sozialen Normen. Deshalb betrach-
tet Parsons die normative Orientierung einer Handlung – neben Akteur, Ziel und
Handlungssituation – als weiteren grundlegenden Baustein des „unit act“ (Par-
sons 1968: 44; vgl. hierzu auch Bd.1, S. 194). Weil Normen weitgehend interna-
lisiert sind, handelt eine Person immer gleichermaßen unter Bezug auf ihre Wün-
sche, Ziele und Bedürfnisse und unter Bezug auf soziale Normen (Parsons 1968:
40). Nur Handlungen, die auf die Zielerreichung durch bestimmte Mittel vor dem
Hintergrund weithin akzeptierter Normen ausgerichtet sind, sind nach Parsons
rationale Handlungen: „Rationality of action, that is, depends on a knowledge of
the intrinsic properties of means, and the predictable consequences of conformity
with norms“ (Parsons 1968: 415). Mit dieser Auffassung sind jedoch einige
Probleme verbunden. Eines ist, dass Parsons keine Ausführungen darüber macht,
wie groß der Spielraum für menschliche Handlungsentscheidungen seiner Mei-
nung nach noch ist, wenn internalisierte Normen (oder die Verpflichtung auf
Normen durch Androhung von Sanktionen) für das Handeln wichtig sind. Ent-
sprechend hat Giddens in Bezug auf Parsons’ Handlungstheorie kritisch festge-
stellt: Eine Handlungstheorie bzw. Erklärung für menschliches Handeln ist nur
notwendig und sinnvoll, wenn „a person ‚could have acted otherwise’“ (Giddens
1993: 81; Hervorhebung im Original). Vertreter der RCT haben mit Parsons’
Theorie vor allem das Problem, dass in ihr nicht erklärt wird, woher die Normen
kommen, die für das Handeln von Individuen konstitutiv sind. So kritisiert James
S. Coleman, der vielleicht bekannteste Vertreter der RCT: „Das Prinzip, welches
in etwa lautet, ‚Personen verhalten sich in Übereinstimmung mit sozialen Nor-
men’, belässt die Untersuchung des Gehaltes von Normen als theoretische Auf-
gabe auf der Makroebene. Während die Theorie der rationalen Wahl individuelle
Interessen als gegeben hinnimmt und versucht, die Funktionsweise sozialer Sys-
teme zu erklären, nimmt die Normentheorie soziale Normen als gegeben an und
versucht, individuelles Verhalten zu erklären“ (Coleman 1991: 311/312). Wie
Vertreter der RCT das Verhältnis zwischen Individuum und gesellschaftlichen
Phänomenen betrachten und wie sie versuchen, gesellschaftliche Phänomene auf
der Basis individuellen Handelns zu erklären, wird im folgenden Abschnitt 3
gezeigt.
250 Heike Diefenbach

3 Individuelle, rationale Handlungen als Grundlage


gesellschaftlicher Phänomene: Der methodologische
Individualismus
Die RCT ist eine Die SEU-Theorie kann als Kerntheorie im Rahmen der RCT gelten, und tatsäch-
individualistische
lich werden beide Begriffe, SEU-Theorie und RCT, in der Literatur manchmal
Theorie
synonym gebraucht. Die RCT hat aber – wie gesagt – einen weitergehenden
Anspruch als „nur“ zu erklären, wie Menschen Handlungsentscheidungen treffen
oder zu formulieren, wie Menschen bei der Wahl einer Handlung vorgehen soll-
ten, um eine optimale Wahl zu treffen. Als sozialwissenschaftliche Theorie will
die RCT gesellschaftliche Phänomene auf der Basis individueller, rationaler
Handlungsentscheidungen erklären. RC-Theoretiker sind daher immer Vertreter
des individualistischen Ansatzes in den Sozialwissenschaften, nach dem eine
Gesellschaft, eine Gruppe oder überhaupt alle Kollektivbegriffe eine Ansamm-
lung von Individuen bezeichnen und jede Eigenschaft eines Kollektivs aus den
Eigenschaften der Individuen resultiert.

3.1 Holismus und verschiedene Formen des Individualismus in den


Sozialwissenschaften

Holismus in den Im Gegensatz dazu steht der holistische Ansatz oder Holismus, nach dem ein
Sozialwissenschaften
Kollektiv Eigenschaften aufweist, die ihm eigen sind, d.h. die nicht auf die Ei-
genschaften der Individuen, aus denen sich das Kollektiv zusammensetzt, zu-
rückführbar sind (Brodbeck 1958: 2 sowie Bunge 1979: 13). Ein gutes Beispiel
für eine holistische Sichtweise gibt Gustav Le Bons Buch „Psychologie der Mas-
sen“, das im Jahr 1895 erschien. In diesem Buch behauptet Le Bon, dass Men-
schenmassen eine mentale Einheit darstellen, die sich u.a. durch hohe Impulsivi-
tät, große Beeinflussbarkeit, eingeschränkte Urteilsfähigkeit und Konservatismus
auszeichnet. Er stellt explizit fest, dass die psychologischen Merkmale einer
Menschenmasse nicht dem Durchschnitt der psychischen Merkmale der Indivi-
duen entsprechen, aus denen sich die Masse zusammensetzt. Vielmehr handelt es
sich bei den psychologischen Merkmalen einer Menschenmasse um „neue“
Merkmale, die der Masse, aber nicht unbedingt den Individuen oder der Mehr-
heit der Individuen in der Masse eigen sind. Daher schreibt Le Bon Menschen-
massen auch eine Massen- oder Gemeinschaftsseele zu (Le Bon 1982: 10). Wei-
tere holistische oder kollektivistische Konzepte oder Theorien, die in den Sozi-
alwissenschaften eine große Rolle gespielt haben oder noch spielen, sind z.B. das
kollektive Unbewusste nach Carl G. Jung (1934) oder die „patterns of culture“
nach Ruth Benedict (1934) sowie Pitirim Sorokins soziokulturelle Theorie (So-
rokin 1962) oder Immanuel Wallerstein Weltsystemtheorie (Wallerstein 1994;
2004). Der bekannteste Vertreter der holistischen Sichtweise in der Soziologie ist
aber sicherlich Émile Durkheim, der die Gesellschaft als „eine Wirklichkeit sui
generis“ (Durkheim 1994: 36/37), d.h. als von konkreten Personen unabhängig
existierend bezeichnet (vgl. Bd.1, S. 113). „Sie [die Gesellschaft] hat ihre eige-
nen Züge, die man im übrigen Universum nicht oder nicht in derselben Form
Die Theorie der Rationalen Wahl 251

findet. Die Vorstellungen, die sie ausdrücken, haben also einen anderen Inhalt
als die rein individuellen Vorstellungen, und man kann im vorhinein sicher sein,
dass die ersteren den zweiten etwas hinzufügen (Durkheim 1994: 37).
Individualisten bestreiten nicht, dass es sinnvoll sein kann, vom „Staat“, Ontologischer und
methodologischer
von „der Kirche“ oder vom „Kapitalismus“ zu sprechen, aber sie bestehen dar-
Individualismus
auf, dass die Eigenschaften von „Staat“, „Kirche“ oder „Kapitalismus“ als Ei-
genschaften von Individuen bestimmbar sind oder als Eigenschaften, die sich aus
den Beziehungen der Individuen untereinander ergeben (Brodbeck 1958: 2). Dies
können sie entweder deshalb tun, weil sie die Existenz von Kollektiven als Wirk-
lichkeit eigener Art bestreiten, d.h. sich gegen jede Form der Reifikation wenden Reifikation
(Maynard/Wilson 1980: 287). Z.B. kann man bestreiten, dass Menschenmassen
ihnen eigene Eigenschaften haben, und das „Verhalten“ von Menschenmassen
eben doch durch die Eigenschaften der Individuen erklären, aus denen sich die
Masse zusammensetzt, und durch die Art und Weise, auf die sich die Individuen
in der Masse in ihrem Handeln gegenseitig beeinflussen. Diese Haltung bezeich-
net man als ontologischen Individualismus (Stoutland 1990: 107). Oder sie sehen
keine Möglichkeit, ein Kollektiv oder eine Struktur in seiner/ihrer Gesamtheit zu
betrachten, geschweige denn: zu untersuchen. Weil Kollektive nur als Menge
von Individuen und Strukturen nur in ihren Effekten auf Individuen sichtbar
werden, ist es notwendig, die Betrachtung auf die Elemente zu beziehen, aus
denen sich die Kollektive oder die Strukturen zusammensetzen. Während sich
das Erkenntnisinteresse des Forschers also auf das Kollektiv oder die Struktur
richtet, ist seine Untersuchungsmethode auf die Individuen bezogen, aus denen
sich das Kollektiv oder die Struktur zusammensetzt, und deshalb spricht man in
diesem Zusammenhang von methodologischem Individualismus: Als methodolo-
gischen Individualismus bezeichnet man die Forderung, dass Individuen und ihre
Handlungen die kleinste Einheit jeder Erklärung gesellschaftlicher Phänomene
sein sollen.

Lektürevorschlag:

Zur Kritik des Holismus: Popper, Karl Raimund (1987): Das Elend des Historizismus.
Tübingen: J.C.B. Mohr, S. 61-66. (Orig.1965)

Übungsaufgabe:

Versuchen Sie, die in den anderen Beiträgen dieses Lehrbuches beschriebenen


Theoretiker als Holisten oder Individualisten zu identifizieren! Lässt sich anhand
bestimmter Konzepte oder Schlüsselbegriffe erkennen, ob sie eine holistische
oder individualistische Perspektive einnehmen?
252 Heike Diefenbach

Zum Verhältnis Aussagen darüber, was tatsächlich existiert und was nicht, und Aussagen dar-
zwischen ontologi-
über, wie man gesellschaftliche Phänomene erklären sollte, sind zwei verschie-
schem und methodo-
logischem Indivi- dene Dinge. Es lässt sich aber festhalten, dass methodologische Individualisten
dualismus gleichzeitig ontologische Individualisten sein können und es wahrscheinlich
auch häufig sind, es aber nicht sein müssen. Umgekehrt leitet sich die Vorge-
hensweise, wie sie der methodologische Individualismus fordert, aber aus dem
ontologischen Individualismus ab und ist für ontologische Individualisten daher
eine Notwendigkeit. So begründet der Philosoph John Watkins den methodolo-
gischen Individualismus durch den ontologischen Individualismus, wenn er
schreibt, dass „the ultimate constituents of the world are individual people who
act more or less appropriately in the light of their dispositions and understanding
of their situation. ... we shall not have arrived at rock-bottom explanations of
such large-scale [social] phenomena until we have deduced an account of them
from statements about the dispositions, beliefs, resources and inter-relations of
individuals” (Watkins 1957: 105/106). Es sei nicht verschwiegen, dass es einige
namhafte Autoren gibt, die meinen, dass man ontologischer Individualist sein
könne, ohne sich dem methodologischen Individualismus verpflichtet zu fühlen
(so z.B. Goldstein 1958; Kincaid 1997: 4 und Nagel 1961: 542). Für diese Posi-
tion wählen sie häufig die Bezeichnung „nicht-individualistische Sozialwissen-
Nicht- schaft“ (Goldstein 1958: 1). Sie begründen diese Position aber gewöhnlich nur
individualistische indirekt und negativ, indem sie darauf hinweisen, dass methodologische Indivi-
Sozialwissenschaft dualisten nicht hinreichend gezeigt hätten, dass die Ablehnung des methodologi-
schen Individualismus notwendigerweise mit einer holistischen Auffassung ein-
hergehe (Goldstein 1958: 3/4). Oder sie interpretieren Werke von Autoren, die
gewöhnlich als Holisten betrachtet werden, in ihrem Sinne (um?) (wie dies z.B.
Goldberg 1958: 5 mit Émile Durkheim tut).
Methodologischer Die Forderung, bei der Erklärung gesellschaftlicher Phänomene von Indivi-
und normativer
duen und ihren Handlungen auszugehen, ist offensichtlich eine normative Aus-
Individualismus
sage. Jedoch ist der methodologische Individualismus nicht mit dem normativen
normative Aussage Individualismus zu verwechseln, der besagt, dass die Bedürfnisse und Wünsche
von Individuen gegenüber Kollektivinteressen oder Effizienzerwägungen im
Hinblick auf das Kollektiv Priorität haben und daher Individuen und nicht Rep-
räsentanten von Kollektiven oder gar „der Staat“ über Dinge entscheiden sollten,
die Individuen betreffen, oder diese Dinge bewerten sollten. Folgt man dieser
Annahme, dann sind ökonomische Prozesse ebenso wie sozialpolitische Maß-
nahmen daran zu messen, ob sie die Bedürfnisse und Wünsche der Menschen
befriedigen und nicht das befriedigen, was Repräsentanten der Wirtschaft oder
der Politik für die Bedürfnisse oder Wünsche der Menschen halten, oder das,
was nach deren Meinung für sie „gut“ ist: „... individual preferences alone provi-
de the measuring rod that is needed in order to formulate normative statements
on economic states and processes in general and policy measures in particular. It
is not allowed to evaluate these preferences from some ‘external’ perspective, i.e.
in a paternalistic way” (Buchanan 1960: 118). Inwieweit methodologische Indi-
vidualisten auch normative Individualisten sind, ist eine empirische Frage. Je-
denfalls müssen methodologische Individualisten nicht notwendigerweise nor-
mative Individualisten sein. Der bekannte Ökonom und Nobelpreisträger für
Die Theorie der Rationalen Wahl 253

Wirtschaftswissenschaften des Jahres 1972, Kenneth Arrow, sieht den Sinn der
Bezeichnung „methodologischer Individualismus“ gerade darin, dass sie erlaubt,
sich vom normativen Individualismus abzugrenzen: „The unwieldy adjective,
‚methodological’, is needed to distinguish the concerns of constructing positive
theory from the normative and policy implications wrapped up in the term ‚indi-
vidualism’“ (Arrow 1994: 1).

Es gibt verschiedene Formen des Individualismus in den Sozialwissenschaf-


ten. Alle Vertreter der RCT sind methodologische Individualisten, aber nicht
zwangsläufig ontologische oder normative Individualisten.

3.2 Der methodologische Individualismus nach Karl R. Popper

Geprägt wurde der Begriff „methodologischer Individualismus“ von Joseph A. Definition des me-
Schumpeter, der ihn in seiner Habilitationsschrift über „Das Wesen und Haupt- thodologischen
Individualismus
inhalt der theoretischen Nationalökonomie“ (1908: 88-98) benutzte. Er meinte nach Popper
damit aber etwas anderes als das, was heute gewöhnlich unter methodologischem
Individualismus verstanden wird. Außerdem bezog er den Begriff auf die theore-
tische Nationalökonomie und nicht auf die Sozialwissenschaften. (Für die Sozi-
alwissenschaften diskutierte er einen „soziologischen Individualismus“, den er
allerdings verwarf.) Vertreter der RCT berufen sich daher gewöhnlich auf den
methodologischen Individualismus, wie ihn Karl Raimund Popper aufgefasst und
beschrieben hat. Popper beschreibt methodologischen Individualismus als „die
wichtige Lehre, dass alle sozialen Phänomene, insbesondere das Funktionieren
der sozialen Institutionen, immer als das Resultat der Entscheidungen, Handlun-
gen, Einstellungen usf. menschlicher Individuen verstanden werden sollten und
dass wir nie mit einer Erklärung auf Grund so genannter ‚Kollektive’ (Staaten,
Nationen, Rassen usf.) zufrieden sein dürfen“ (Popper 1992: 116).
Damit ist klar, dass jede Erklärung für gesellschaftliche Phänomene auf In- Poppers Erklärung
menschlichen
dividuen rekurrieren muss, aber es bleibt offen, wie sie dies tun soll. Popper geht
Handelns durch die
an vielen Stellen in seinem Werk hierauf ein. So will er seine Auffassung auf Situationslogik
keinen Fall als Psychologismus verstanden wissen, „die Lehre also, dass die
Ereignisse des sozialen Lebens, seine Konventionen eingeschlossen, die Ergeb-
nisse von Beweggründen sein müssen, die dem Bewusstsein individueller Men-
schen entspringen“ (Popper 1992: 106). Die Reduktion sozialer Phänomene auf
psychologische Phänomene würde nach Popper eine Erklärungslücke hinterlas-
sen, nämlich insofern als die Beweggründe, die menschliches Handeln anleiten,
im Zusammenhang mit der Situation gesehen werden müssen, in der gehandelt
wird: „Wir können sagen, dass sich unsere Handlungen in weitem Ausmaße aus
der Situation erklären lassen, in der sie stattfinden. Eine Erklärung aus der Situa-
tion allein ist natürlich nie möglich; wenn wir erklären wollen, warum ein
Mensch beim Überqueren der Straße den Fahrzeugen in bestimmter Weise aus-
weicht, so werden wir vielleicht über die Situation hinausgehen müssen; wir
werden Bezug nehmen müssen auf seine Beweggründe, auf einen ‚Instinkt’ der
Selbsterhaltung, auf einen Wunsch, Schmerzen zu vermeiden. Aber dieser psy-
254 Heike Diefenbach

chologische Teil der Erklärung ist sehr oft trivial im Vergleich zu der detaillier-
ten Bestimmung seiner Handlungen durch das, was man die Logik der Situation
nennen könnte; und außerdem ist es unmöglich, alle psychologischen Faktoren in
die Beschreibung der Situation einzubeziehen“ (Popper 1992: 114). Die Analyse
von Handlungssituationen ist für Popper daher die Methode, „um die Handlung
aus der Situation heraus ohne weitere psychologische Hilfe zu erklären“ (Popper
1987: 96). Dabei geht Popper davon aus, dass sich Typen von Handlungssituati-
onen unterscheiden lassen. Es geht ihm also nicht um die detaillierte Analyse
spezifischer Situationen, sondern um „Modelle (natürlich sehr provisorische
Modelle) typischer gesellschaftlicher Situationen“ (Popper 1995: 351). Die Ty-
pik von Situationen ergibt sich vor allem aus Institutionen und Traditionen, die
den Handlungsmöglichkeiten Grenzen setzen oder bestimmte Ziel-Mittel-Bezie-
hungen nahe legen: Sie „... bestimmen den eigentlichen sozialen Charakter unse-
rer sozialen Umwelt“ (Popper 1987: 97). Das Büro eines Grundstücksmaklers
z.B. ist gleichzeitig Teil der physischen Umwelt und Teil der sozialen Umwelt,
weil wir alle wissen, zu welchem Zweck es da ist, d.h. warum es normalerweise
aufgesucht wird und welche Art von Transaktion dort gewöhnlich getätigt wird.
Weil Popper davon ausgeht, dass das Rationalitätsprinzip gilt, nach dem Men-
schen „adäquat oder zweckmäßig – das heißt, der Situation entsprechend – han-
deln“ (Popper 1995: 352; Hervorhebung im Original) und damit auf mehr oder
weniger ähnliche und vorhersagbare Weise, lassen sich Modelle menschlichen
Handelns auf der Basis der Situationsanalyse entwickeln, ohne dass Rückgriffe
auf die individuelle Psychologie der handelnden Individuen notwendig wären.
Um das Beispiel vom Büro des Grundstücksmaklers aufzunehmen: Wenn wir
jemanden in das Büro hineingehen sehen, haben wir sofort eine Vermutung dar-
über, warum diese Person es betreten hat und was sie dort tun möchte. Wir haben
diese Vermutung deshalb, weil es adäquat und zweckmäßig ist, einen Grund-
stücksmakler aufzusuchen, wenn man die Absicht hat, ein Grundstück zu kaufen
oder zu verkaufen. Für die Rekonstruktion der Handlung, die wir beobachtet
haben, ist es nicht erforderlich, weitere Annahmen über die Gefühlszustände der
beobachteten Person zu machen (z.B. müssen wir nicht wissen, ob die Person
schon immer davon geträumt hat, ein eigenes Grundstück mit Haus und Garten
zu besitzen, oder ob sie Geldsorgen hat und sich gezwungen sieht, ihr Haus oder
Grundstück zu verkaufen).
Die Theorie der Rationalen Wahl 255

Sir Karl Raimund Popper (1902-1994)

Karl Raimund Popper wurde am 18. Juli 1902 in Wien


geboren. Sein Vater, der aus Prag stammte, war ein
wohlhabender Rechtsanwalt, und die Vorfahren seiner
Mutter waren Wissenschaftler, Ärzte und Musiker, die
aus Schlesien und Ungarn zugewandert waren. Beide
Elternteile waren zum Protestantismus konvertierte
Juden. Popper verließ mit 16 Jahren die Mittelschule
und wurde Gasthörer an der Universität Wien. Sein
Abitur legte er als Auswärtiger erst im zweiten Anlauf Falsifikationismus
mit Erfolg ab. 1920 bis 1922 studierte Popper am
Wiener Konservatorium Kirchenmusik, brach dieses
Studium aber ab und begann eine Tischlerlehre. Gleichzeitig nahm er eine
Ausbildung an der Lehrerbildungsanstalt auf. Beide Ausbildungen schloss er
erfolgreich ab. Während er als Erzieher arbeitete, studierte er am Pädagogi-
schen Institut der Universität Wien und promovierte 1928 bei Karl Bühler,
einem bekannten Psychologen und Sprachtheoretiker. 1929 erwarb Popper die
Lehrberechtigung für die Hauptschule in den Fächern Mathematik und Physik,
1930 bis 1935 unterrichtete er diese Fächer an einer Hauptschule in Wien.
Während dieser Zeit begann er auf Anregung von Herbert Feigl, einem Mit-
glied des so genannten Wiener Kreises (einer Gruppe von Philosophen und
Wissenschaftstheoretikern, die sich einmal pro Woche trafen und zu denen
u.a. Rudolf Carnap und Moritz Schlick gehörten), seine philosophischen Ge-
danken zu Papier zu bringen. Seine siebte Publikation, die „Logik der For-
schung“, die bis heute als eines seiner Hauptwerke gilt, veröffentlichte er
1934. In diesem Buch kritisiert er den Positivismus des Wiener Kreises und
führt den Falsifikationismus als methodologische Regel für wissenschaftliches
Arbeiten ein. Dieses und seine folgenden Werke waren geprägt von seiner
Auseinandersetzung mit den Gedanken Werner Heisenbergs und Alfred Tars-
kis sowie Erwin Schrödingers, Bertrand Russells und Friedrich von Hayeks,
die er auf einer Reise nach England in den Jahren 1935/1936 kennen gelernt
hatte. Im Jahr 1937 nahm Popper eine Dozentur am Canterbury College in
Christchurch in Neuseeland an, weil er den Anschluss Österreichs an Deutsch-
land fürchtete. Dort verfasste er „Das Elend des Historizismus“ und „Die
offene Gesellschaft und ihre Feinde“. In beiden Werken vertritt er den metho-
dologischen Individualimus bzw. kritisiert er den Holismus. 1946 wurde Pop-
per Außerordentlicher Professor an der London School of Economics and
Political Science, 1949 außerdem Professor für Logik und Methodenlehre an
der Universität London. Seine wissenschaftstheoretische Position vertrat Pop-
per 1961 in Deutschland auf einer Tagung zum Thema „Logik der Sozialwis-
senschaften“. Die Debatte, die daraufhin stattfand, ist unter der unzutreffenden
Bezeichnung „Positivismusstreit“ bekannt geworden. In Anerkennung seines
Lebenswerkes wurde Popper 1965 geadelt. Seither trug er den Titel „Sir“
Popper. Nach seiner Emeritierung im Jahr 1969 publizierte Popper eine Viel-
zahl weiterer Werke. Er starb am 17. September 1994 in London.
256 Heike Diefenbach

Poppers Vorstellung Falls Ihnen diese Beschreibung der Situationslogik nach Popper bekannt vor-
von der Situationslo-
kommt, so kann das daran liegen, dass sie sehr stark dem ähnelt, was Max Weber
gik entspricht weit-
gehend Webers als eine soziologische Erklärung mit Hilfe des Konzeptes der adäquaten Verursa-
Konzept der adäqua- chung beschrieben hat. Popper nimmt im Zusammenhang mit der Situationslogik
ten Verursachung keinen Bezug auf Weber, aber weil Popper Webers Werke nachweislich gut
gekannt hat, kann man davon ausgehen, dass seine Darstellung direkt von Weber
beeinflusst war (wie dies z.B. Goldthorpe 1998 tut). Auf die grundlegenden Ähn-
lichkeiten und Unterschiede zwischen Popper und Weber kann hier nicht detail-
liert eingegangen werden. Bezüglich der Ähnlichkeiten sei lediglich darauf hin-
gewiesen, dass nach Weber die verstehende Soziologie (vgl. Bd.1, S. 165ff.)
„nicht Teil einer ‚Psychologie’“ (Weber 1988: 432) ist und zunächst von rationa-
lem Handeln auszugehen habe: „Die unmittelbar ‚verständlichste Art’ der sinn-
haften Struktur eines Handelns ist ja das subjektiv streng rational orientierte
Handeln nach Mitteln, welche (subjektiv) für eindeutig adäquat zur Erreichung
von (subjektiv) eindeutig und klar erfassten Zwecken gehalten werden“ (Weber
1988: 432). So verständlich gemachtes Handeln ist für Weber die Basis jeder
soziologischen Erklärung: „Begriffe wie ‚Staat’, ‚Genossenschaft’, ‚Feudalis-
mus’ und ähnliche bezeichnen für die Soziologie, allgemein gesagt, Kategorien
für bestimmte Arten menschlichen Zusammenhandelns, und es ist also ihre Auf-
gabe, sie auf ‚verständliches’ Handeln, und das heißt ausnahmslos: auf Handeln
der beteiligten Einzelmenschen, zu reduzieren“ (Weber 1988: 439). Hier erweist
sich Weber – wie an vielen anderen Stellen in seinem umfangreichen Werk – als
dezidierter Verfechter des methodologischen Individualismus.

Lektürevorschlag:

Jacobs, Struan (1990): Popper, Weber and the Rationalist Approach to Social Explana-
tion. In: The British Journal of Sociology 41, 4, S. 559-570.

Die Rekonstrukti- Poppers methodologischer Individualismus beinhaltet neben der Erklärung indi-
onsthese als Kern des
vidueller Handlungen aus der Handlungssituation die Erklärung gesellschaftli-
methodologischen
Individualismus cher Phänomene auf der Basis individueller Handlungen. Wie oben bereits be-
schrieben wurde, gehen methodologische Individualisten normalerweise ebenso
wenig wie Popper davon aus, dass gesellschaftliche Phänomene sich einfach als
Summe der individuellen Handlungen ergeben. Sie behaupten zwar, dass alle
Kollektivbegriffe oder gesellschaftlichen Phänomene letztlich auf individuelle
Handlungen zurückzuführen sind, aber sie behaupten nicht, dass Kollektivbegrif-
fe immer oder auch nur normalerweise auf Individualbegriffe reduzierbar sind.
(Dies gilt auch dann, wenn sie sich manchmal unglücklich, weil missverständlich
ausdrücken, wie Max Weber im oben stehenden Zitat, in dem er von Reduktion
spricht.) Daher steht im Zentrum des methodologischen Individualismus die so
genannte Rekonstruktionsthese nach der „Kollektivbegriffe ... durch Individual-
begriffe rekonstruierbar [sind]“ (Raub/Voss 1981: 18), aber keine Reduktions-
these, nach der gesellschaftliche Phänomene auf das Handeln autonomer und
atomisierter Individuen reduziert werden können. Popper führt ein unmittelbar
eingängiges Beispiel dafür an, warum gesellschaftliche Phänomene zwar auf
Die Theorie der Rationalen Wahl 257

rationale individuelle Handlungen zurückgeführt, aber nicht auf sie reduziert


werden können: „Wenn jemand dringend ein Haus kaufen möchte, dann kann
man mit Sicherheit annehmen, dass er nicht wünscht, den Marktpreis des Hauses
zu erhöhen. Aber gerade der Umstand, dass er als ein Käufer auf dem Markt
erscheint, wird die Tendenz haben, die Marktpreise zu erhöhen“ (Popper 1992: paradoxe Effekte
113). Eine Erhöhung der Häuserpreise ergibt sich also als von niemandem beab-
sichtigte Folge absichtsgeleiteter individueller Handlungen. In der Regel sind
Handlungen verschiedener Individuen miteinander verknüpft, ohne dass die
Individuen dies wissen oder daran denken, und dies führt wie in Poppers Beispiel
zu Ergebnissen auf der Ebene der Gesellschaft, die niemand beabsichtigt hat und
die unerwünscht sind und die deshalb in der Literatur häufig als paradoxe Effek-
te bezeichnet werden. „Sogar jene Institutionen und Traditionen, die als das
Ergebnis bewusster und absichtlicher menschlicher Handlungen entstehen, sind
in der Regel das indirekte, unbeabsichtigte und oft unerwünschte Nebenprodukt
solcher Handlungen [Hervorhebung im Original]“ (Popper: 1992[1958]: 110).
Beispiele hierfür werden im folgenden Abschnitt (Abschnitt 4) gegeben.
Selbst gesellschaftliche Phänomene, die auf den ersten Blick wie die Sum- Aggregation und
Transformation bei
me individueller Handlungen erscheinen mögen, sind es nicht. Dies wird anhand
der Rekonstruktion
eines Beispiels von Karl-Dieter Opp (1979: 116) deutlich, dem das Verdienst
zukommt, die RCT in den 1960er und 1970er Jahren in die deutsche Soziologie
eingeführt zu haben: Wäre die Aufklärungsquote von Straftaten die Summe der
aufgeklärten Straftaten, so wäre Erstere auf Letztere reduzierbar. Aber sie ist es
nicht. Stattdessen wird bei der Errechnung der Aufklärungsquote von Straftaten
die Anzahl der aufgeklärten Fälle mit 100 multipliziert und das Ergebnis durch
die Anzahl der erfassten Straftaten dividiert. Zur Summe der aufgeklärten Straf-
taten hinzu tritt also eine – hier sehr einfache – mathematische Regel, die neben
der Summe der aufgeklärten Straftaten eine weitere Größe berücksichtigt, näm-
lich die Summe der erfassten Straftaten. Durch die mathematische Operation, die
die Aufklärungsquote ergibt, wurden bestimmte Handlungen von Individuen in
einen Kollektivbegriff oder ein gesellschaftliches Phänomen transformiert. Daher
ziehen es einige Autoren vor, statt von der Rekonstruktion von gesellschaftlichen
Phänomenen durch individuelle Handlungen von der Transformation individuel-
ler Handlungen in ein gesellschaftliches Phänomen zu sprechen. Den Ausdruck
„Transformationsregeln“ für die Regeln, die die Transformation individueller Transformations-
regeln
Handlungen in ein gesellschaftliches Phänomen bewerkstelligen, hat Siegwart
Lindenberg eingeführt (Lindenberg 1977). Jedenfalls genügt es in der Regel
nicht, das Aggregat der individuellen Handlungen zu bilden, also die Handlun-
gen einzelner Individuen einfach aufzusummieren, um zu einer Erklärung eines
Kollektivbegriffs oder gesellschaftlichen Phänomens zu kommen. Stattdessen ist
es Bestandteil jeder RC-theoretischen Erklärung eines gesellschaftlichen Phäno-
mens, anzugeben, auf welche Weise die Handlungen von Individuen das kollek-
tive Phänomen hervorgebracht haben.

Individuelle rationale Handlungen werden in der der RCT normalerweise


nicht zu gesellschaftlichen Phänomenen aggregiert, sondern in gesellschaftli-
che Phänomene transformiert. Dabei ergeben sich gesellschaftliche Phänome-
258 Heike Diefenbach

ne als paradoxe Effekte, d.h. als unbeabsichtigte Folgen der individuellen rati-
onalen Handlungen.

Lektürevorschlag:

Opp, Karl-Dieter (1979): Individualistische Sozialwissenschaft. Stuttgart: Enke, S. 112-


121.

Übungsaufgabe:

Warum entspricht die Sitzverteilung im Bundestag nicht der Summe der indivi-
duellen Stimmabgaben? Nennen Sie zumindest eine Transformationsregel, die
hier am Werk ist! Nennen Sie weitere Beispiele für einfache mathematische
Transformationsregeln, die die Summe individueller Handlungen in gesellschaft-
liche Phänomene transformieren!

Die „Dualität der Der methodologische Individualismus nach Karl Popper berücksichtigt also
Struktur“ bei Antho-
gesellschaftliche Phänomene auf doppelte Art: Einerseits werden Kollektivbe-
ny Giddens
griffe oder gesellschaftliche Phänomene auf der Basis individueller Handlungen
erklärt. Andererseits wird individuelles Handeln auf der Basis der sozialen Um-
welt der Handelnden erklärt, wobei die Institutionen und Traditionen, die die
soziale Umwelt ausmachen, „... ihrerseits in der Regel indirektes Ergebnis von
Handlungen und Entscheidungen bestimmter Individuen“ (Buzzoni: 2004: 159)
sind. Die doppelte Präsenz von Kollektivbegriffen als das zu Erklärende einer-
seits und als ein Teil der Erklärung andererseits findet sich auch in der sehr be-
kannt gewordenen Strukturationstheorie von Anthony Giddens. Giddens spricht
von einer „Dualität der Struktur“, bei der die strukturellen Eigenschaften sozialer
Systeme beides, das Medium und das Ergebnis der Handlungen sind, die diese
Systeme konstituieren (‚duality of structure’; Giddens 1979: 69). Bezüglich der
doppelten Präsenz von Kollektivbegriffen in Erklärungen gesellschaftlicher Phä-
nomene ist Giddens Auffassung also identisch mit der Poppers, auf den er jedoch
nur auf zwei Seiten seines Buches eingeht (Giddens 1979: 94/95).
Warum die Struktura- Giddens meint, sich von Popper dadurch zu unterscheiden, dass Popper ge-
tionstheorie von
sellschaftliche Phänomene durch individuelle Handlungen erklären wolle, ohne
Giddens keine Alter-
native zum methodo- dabei die Handlungssituation zu beachten. Offensichtlich hat Giddens Poppers
logischen Individua- Idee von der Situationslogik nicht gekannt. Giddens Strukturationstheorie macht
lismus ist also keine über Poppers methodologischen Individualismus hinausgehende Aus-
sage. Sie bleibt vielmehr hinter dem zurück, was Vertreter des methodologischen
Individualismus im Bereich der Forschungsmethodologie geleistet haben: Zur
Untersuchung gesellschaftlicher Phänomene schlägt Giddens das Verfahren der
Einklammerung (‚methodological bracketing’; Giddens 1979: 81) vor, bei dem
jeweils die individuellen Handlungen oder die Institutionen bzw. die strukturel-
len Eigenschaften der Handlungssituation als „gegeben“ behandelt werden, da-
mit das andere vor dem Hintergrund des „Gegebenen“ untersucht werden kann
(Giddens 1979: 80). Die getrennte Betrachtung von Handlungen und Strukturen
Die Theorie der Rationalen Wahl 259

ist bei Giddens eine Arbeitsmethode, derer man sich bedienen muss, um die
wechselseitige Abhängigkeit von Handlungen und Strukturen sichtbar zu ma-
chen. Faktisch sind aber Handlungen und Strukturen in der Realität unauflöslich
miteinander verbunden. Damit schlägt Giddens letztlich nichts anderes vor als
das, was Soziologen in einer Art Arbeitsteilung schon immer getan haben, näm-
lich zur Beantwortung einer Forschungsfrage Untersuchungen auf der individu-
ellen Ebene oder auf der strukturellen Ebene vorzunehmen, und Giddens führt
selbst als Beispiel für diese Arbeitsteilung die Arbeiten von Durkheim und
Goffman an (Giddens 1979: 80/81). Wie ein spezifisch strukturationstheoreti-
sches Forschungsprogramm konkret aussehen sollte, bleibt unklar. Archer (1982:
466) erinnert im Zusammenhang mit ihrer Kritik der Strukturationstheorie von
Giddens daher auch daran, dass „... the interrelationship [between actions and
institutions] is not really at issue ... The real theoretical issue is not whether to
acknowledge it but how to analyse it, and how to explain the systematic proper-
ties it generates and elaborates”. In einer Antwort auf seine Kritiker hat Giddens
den Anspruch, seine Strukturationstheorie sei für die empirische Sozialforschung
relevant, dann auch aufgegeben. Er stellt explizit fest, dass seine Theorie nicht
dazu gedacht sei, als methodologischer Ansatz oder als Forschungsmethode zu
dienen (Giddens 1989: 296). Eine Theorie, die nicht prüfbar ist, hat aber nur als
Gedankenexperiment einen Wert. Sie hat keine (feststellbare) Erklärungskraft
und ist von keiner praktischen Relevanz.

3.3 Das Modell einer RC-theoretischen Erklärung nach James S. Coleman

Die RCT ist die einzige Theorie, die auf dem methodologischen Individualismus
basiert und ein formales Erklärungsmodell aufzuweisen hat, das darüber Aus-
kunft gibt, welche Arbeitsschritte in welcher Reihenfolge getan werden müssen,
um eine Erklärung für gesellschaftliche Phänomene zu liefern, die dem methodo-
logischen Individualismus Rechnung trägt. Dass die RCT ein solches formales
Erklärungsmodell aufzuweisen hat, verdankt sie vor allem dem Soziologen Ja-
mes S. Coleman, der als einer der wichtigsten Vertreter der RCT gilt und wahr-
scheinlich derjenige unter den RCT-Vertretern ist, der den größten Bekannt-
heitsgrad erreicht hat, und zwar weit über die Gruppe der RC-Theoretiker hinaus.

James Samuel Coleman (1926-1995)

James S. Coleman wurde am 12. Mai 1926 in Bedford im


Bundesstaat Indiana in den USA geboren. Nach dem Ende
des Zweiten Weltkrieges, während dessen er in der Marine
gedient hatte, nahm er ein Studium der Verfahrenstechnik
an der Purdue University auf und schloss es 1949 ab. Nach
einigen Jahren der Berufstätigkeit bei Eastman-Kodak
entschloss er sich, wieder die Universität zu besuchen, um
Soziologie zu studieren, und zwar an der Columbia Univer-
sity in New York City, wo er Vorlesungen von Robert
Merton hörte und stark von ihnen beeinflusst wurde.
260 Heike Diefenbach

Während seines Studiums, zwischen 1953 und 1955, arbeitete er am Bureau of


Applied Social Research, das an die Universität angeschlossen war. Dessen
Direktor war Paul Lazarsfeld, der Colemans Interesse an der quantitativen
Sozialforschung gestärkt hat. 1955 erwarb Coleman seinen Ph.D. in Soziolo-
gie, und ein Jahr später wurde er Assistenz-Professor an der University of
Chicago. Dort wurde er zusammen mit einigen Kollegen vom Bildungsminis-
terium der USA mit der Anfertigung einer Studie über zehn Schulen in Illinois
beauftragt, die 1961 unter dem Titel „Social Climates in High Schools“ veröf-
fentlicht wurde. Im Jahr 1959 wechselte Coleman an die John Hopkins Uni-
versity in Baltimore, wo er zunächst Assistenz-Professor und dann regulärer
Professor wurde. Zusammen mit seinem Kollegen Ernest Q. Campbell von der
Vanderbilt University wurde er im Jahr 1964 beauftragt, einen Bericht über
die Frage der Gleichheit der Bildungschancen in den USA zu schreiben, der
1966 unter dem Titel „Equality of Educational Opportunity“ veröffentlicht
wurde. Der über 700 Seiten lange Bericht, der heftige Kontroversen ausgelöst
hat und als „Coleman Report“ berühmt geworden ist, ist das Ergebnis einer
der umfangreichsten empirischen Studien in der Soziologie und gilt als Klas-
siker der Bildungssoziologie. Auch nach seiner Rückkehr an die University of
Chicago im Jahr 1973 beschäftigte sich Coleman mit dem amerikanischen
Schulsystem. In Deutschland werden die bildungssoziologischen Arbeiten
Colemans aber zugunsten seiner allgemeinsoziologischen Werke vernachläs-
sigt. Das über tausend Seiten umfassende Buch „Foundations of Social Theo-
ry“, das 1990 im Original und ein Jahr später in einer deutschen Übersetzung
als „Grundlagen der Sozialtheorie“ in zwei Bänden erschien, ist ein Schlüs-
selwerk der RCT. Die Zeitschrift Rationality & Society, die als eines der
wichtigsten Kommunikationsmedien unter Vertretern der RCT gilt, wurde im
Jahr 1989 von Coleman gegründet. Er starb am 25. März 1995 in Chicago.

Die verschiedenen Bestandteile, die zusammen eine RC-theoretische Erklärung


eines gesellschaftlichen Phänomens ausmachen, und ihre Beziehungen unterein-
ander hat Coleman wie folgt dargestellt:
Die Theorie der Rationalen Wahl 261

Abbildung 1: Das Grundmodell der Erklärung gesellschaftlicher Phänomene


nach James S. Coleman

Quelle: eigene Abbildung nach Coleman 1991: 10

Nach diesem Modell, das in der Literatur manchmal als Colemansche Badewan- Drei Erklärungs-
schritte im Grundmo-
ne oder Badewannenmodell bezeichnet wird, muss eine Erklärung für ein gesell-
dell der soziologi-
schaftliches Phänomen in drei Arbeitsschritten formuliert werden: Im ersten schen Erklärung nach
Schritt muss erklärt werden, welches die in der Handlungssituation herrschenden James S. Coleman
Bedingungen sind bzw. wie das Individuum sie angesichts seiner Werte, Präfe-
renzen oder Ziele wahrnimmt. Im zweiten Schritt wählt das Individuum diejeni-
ge Handlung aus, die seines Erachtens von allen wahrgenommenen Handlungsal-
ternativen am ehesten zum Ziel führt, und zwar so, wie es in der SEU-Theorie
angenommen wird (vgl. Abschnitt 2.2). Im dritten Schritt muss angegeben wer-
den, auf welche Weise die zweckgerichteten Handlungen von Individuen zum
gesellschaftlichen Phänomen führen, d.h. die Transformationsregeln müssen an-
gegeben werden. In Colemans eigenen Worten: „Diese [seine Sozialtheorie]
umfasst das Erklären von Verhalten eines sozialen Systems anhand von drei
Komponenten: die Auswirkungen der systemimmanenten Eigenschaften auf Be-
schränkungen oder Orientierungen von Akteuren, die Handlungen von Akteuren,
die dem System angehören, und die Verknüpfung oder Interaktion dieser Hand-
lungen, die das Systemverhalten entstehen lässt“ (Coleman 1991: 33). Aufgrund
der systematischen Verknüpfung gesellschaftlicher Strukturen mit individuellen
Handlungen wird dieses Modell auch häufig als stukturell-individualistisches
Erklärungsmodell nach Coleman bezeichnet.

Eine vollständige RC-theoretische Erklärung beinhaltet (1) eine Beschreibung


der strukturellen Eigenschaften der Handlungssituation, (2) die SEU-Theorie
als handlungstheoretischen Kern und (3) die Regeln, nach denen die individu-
ellen Handlungen in gesellschaftliche Phänomene transformiert werden.
262 Heike Diefenbach

Jedes RC- Wie Karl-Dieter Opp (1992: 147/148) gezeigt hat, können die strukturellen oder
theoretische Erklä-
– wie Coleman sagt – systemimmanenten Eigenschaften, die die Handlungen
rungsmodell beginnt
bei der Spezifikation von Akteuren beeinflussen und die am Anfang der Erklärung gesellschaftlicher
der Handlungsbedin- Phänomene stehen, ihrerseits zum Erklärungsgegenstand einer RC-theoretischen
gungen, die ihrerseits Erklärung werden. Bildlich gesprochen: Das, was in einem Badewannenmodell
in einem vorgelager-
A links oben steht, kann in einem Badewannenmodell B als Punkt rechts oben
ten Erklärungsmodell
erklärt werden stehen, nämlich indem man vor das Modell A Modell B setzt. Auf diese Weise
können können komplexere Zusammenhänge modelliert werden, die die zeitliche Di-
mension der postulierten Zusammenhänge abbilden. Auch wenn jede RC-
theoretische Erklärung bei den strukturellen Eigenschaften der Handlungssituati-
on beginnt, so müssen diese Eigenschaften also nur innerhalb des in Frage ste-
henden Badewannenmodells als gegeben behandelt werden. Sie können ihrer-
seits innerhalb eines vorgeschalteten Modells erklärt werden (vielleicht sogar
durch ein und denselben Forscher), das derselben Erklärungslogik unterliegt.
Die RCT als soziolo- Das Erklärungsmodell nach Coleman beansprucht für sich, ein Erklärungs-
gische und sozialwis-
modell für gesellschaftliche Phänomene aller Art zu sein. Coleman versteht sein
senschaftliche
Theorie Modell daher als ein Modell für alle Sozialwissenschaften, nicht nur die Sozio-
logie. Es basiert auf einer alle Sozialwissenschaften umfassenden Sozialtheorie,
weswegen Colemans Hauptwerk auch „Grundlagen der Sozialtheorie“ bzw. im
englischsprachigen Original „Foundations of Social Theory“ und nicht „Grund-
lagen der soziologischen Theorie“ heißt. Diesen umfassenden Erklärungsan-
spruch teilt Coleman mit nahezu allen Vertretern der RCT. Er ist angelegt in der
in Abschnitt 2.1 beschriebenen Annahme der Gleichförmigkeit der menschlichen
Natur: Wenn die menschliche Natur gleichförmig ist und menschliches Handeln
sich aufgrund dieser menschlichen Natur erklären lässt und menschliches Han-
deln die gesellschaftlichen Phänomene konstituiert, dann erscheint eine Unter-
scheidung von Fachdisziplinen innerhalb der Sozialwissenschaften zumindest
unnötig, wenn nicht hinderlich. Tatsächlich wurde die inhaltliche und institutio-
nelle Trennung verschiedener universitärer Fächer, die wir heute kennen, in
früheren Zeiten nicht oder anders vorgenommen. So gilt Max Weber nach heuti-
gem Sprachgebrauch als Soziologe, obwohl er Rechtswissenschaft, Nationalöko-
nomie, Geschichte und Philosophie studiert hat und Professor für Nationalöko-
nomie war. Das Buch „Die elementaren Formen des religiösen Lebens“ von
Émile Durkheim, der den ersten Lehrstuhl für Soziologie innehatte, weil sein
Lehrstuhl entsprechend umgewidmet wurde, ist Pflichtlektüre für Ethnologie-
Studenten, weil es sich detailliert mit ethnographischem Material auseinander-
setzt (wird aber m.W. von Soziologie-Studenten eher selten gelesen). Pierre
Bourdieu hat Philosophie studiert, und seine ersten Publikationen handelten von
den Kabylen in Algerien, über die er ethnographische Forschungen angestellt
hat, bevor er einen Lehrstuhl für Soziologie bekommen hat. Diesen Lehrstuhl
hatte vor ihm Marcel Mauss inne. Marcel Mauss hat Philosophie, Philologie und
Geschichte studiert und anschließend hinduistische und buddhistische Philoso-
phie gelehrt. Er war der Neffe von Émile Durkheim und wurde im Zuge seines
Studiums stark von Edward Tylor beeinflusst, der wiederum als Begründer der
Ethnologie gilt. Weil sich dies in seinen Publikationen bemerkbar macht, wird
Marcel Mauss gewöhnlich als Soziologe und Ethnologe eingeordnet. Ähnliche
Beispiele sind Legion. Der Status der RCT als soziologische Theorie ist also
Die Theorie der Rationalen Wahl 263

nicht fragwürdiger als der Status von Émile Durkheim oder Pierre Bourdieu als
Soziologen. Sie ist (auch) eine soziologische Theorie, weil sie eine sozialwissen-
schaftliche Theorie ist.

Die RCT ist eine verschiedene Fachdisziplinen wie die Soziologie, die Öko-
nomie, die Ethnologie und die Politikwissenschaft umfassende sozialwissen-
schaftliche Theorie. Sie ist also auch, aber nicht nur eine soziologische Theo-
rie.

4 Die Spieltheorie
Wenn von der RCT die Rede ist, wird häufig auch die Spieltheorie erwähnt. In Die Analyse strategi-
schen Handelns als
welchem Verhältnis beide, RCT und Spieltheorie, zueinander stehen, bleibt aber
Gegenstand der
in der Regel ungeklärt. Die Spieltheorie ist ein Fachgebiet innerhalb der Mathe- Spieltheorie
matik und der Statistik, und gewöhnlich sind Spieltheoretiker Mathematiker oder
Ökonomen, die sich der stark formalisierten Instrumentarien ihrer Fachdiszipli-
nen bedienen. Für RC-Theoretiker ist die Spieltheorie deshalb interessant, weil
die RCT und die Spieltheorie viele ihrer Annahmen über rationales Handeln
teilen und die Spieltheorie aufgrund ihrer formalen Sprache auf einfache und
eingängige Weise zeigen kann, wie paradoxe Effekte aufgrund individueller
rationaler Handlungen entstehen. Allerdings beschäftigt sich die Spieltheorie
ausschließlich mit einer bestimmten Variante rationalen Handelns, nämlich mit
strategischem Handeln, während die RCT den strategischen Aspekt menschli-
chen Handelns häufig ausblendet oder zumindest nicht explizit anspricht. „Stra-
tegisches Handeln“ bedeutet, dass eine Person bei ihrer Handlungswahl in Rech-
nung stellt, wie eine andere Person oder mehrere andere Personen voraussicht-
lich handeln wird oder werden, und sich außerdem darüber im Klaren ist, dass
die andere Person/die anderen Personen dasselbe tun wird/werden: „Gegenstand
der Spieltheorie ist die Analyse von strategischen Entscheidungssituationen, d.h.
von Situationen, in denen

a) das Ergebnis von den Entscheidungen mehrerer Entscheidungsträger ab-


hängt, so dass ein einzelner das Ergebnis nicht unabhängig von der Wahl
der anderen bestimmen kann;
b) jeder Entscheidungsträger sich dieser Interdependenz bewusst ist;
c) jeder Entscheidungsträger davon ausgeht, dass alle anderen sich ebenfalls
dieser Interdependenz bewusst sind;
d) jeder bei seinen Entscheidungen (a), (b) und (c) berücksichtigt“
(Holler/Illing 2006: 1).

Strategische Handlungswahlen sind für die Sozialwissenschaften offensichtlich Relevanz strategi-


scher Handlungswah-
von großer Bedeutung, denn viele Handlungswahlen, die Sozialwissenschaftler
len in den Sozialwis-
interessieren, werden nicht unabhängig von den Handlungswahlen anderer ge- senschaften
troffen. Dies gilt gleichermaßen für die Entscheidung darüber, wohin der Famili-
enurlaub in diesem Jahr führen soll, für die Preisbildung konkurrierender Pro-
264 Heike Diefenbach

dukte, für Tarifverhandlungen oder für Entscheidungen für oder gegen Auf- oder
Abrüstung. Schon die Aufzählung dieser wenigen Beispiele zeigt, dass strategi-
sche Handlungswahlen für Soziologen, Wirtschaftswissenschaftler und Politik-
wissenschaftler gleichermaßen relevant sind.

Die Spieltheorie ist für RC-Theoretiker deshalb interessant, weil sie mit der
RCT viele ihrer Annahmen über rationales Handeln teilt und unter Verwen-
dung ihrer formalen Sprache auf einfache Weise zeigen kann, wie paradoxe
Effekte aufgrund strategischen Handelns entstehen.

Eine (sehr) kurze Geschichte der Spieltheorie

Strategische Überlegungen sind vermutlich so alt wie die Menschheit. Forma-


le Theorien strategischen Handelns finden sich aber vor Beginn des 20. Jahr-
hunderts nur in den Werken einzelner Autoren, wie z.B. in den „Recherches
sur les principes mathématiques de la théorie des richesses“ (1838) des fran-
zösischen Philosophen, Ökonomen und Mathematikers Antoine Cournot, in
dem das – zumindest unter Wirtschaftwissenschaftlern – bekannte duopoly-
Modell formuliert wird. Die ersten systematischen Arbeiten über Strategie-
spiele hat der französische Mathematiker Émile Borel in den Jahren zwischen
1921 und 1927 verfasst, aber die Grundlage der modernen Spieltheorie ist das
von John von Neumann und Oskar Morgenstern gemeinsam verfasste Buch
„Theory of Games and Economic Behavior“, das im Jahr 1944 erschien. Einen
weiteren grundlegenden Beitrag zur modernen Spieltheorie hat John F. Nash
erbracht, auf den die Unterscheidung zwischen kooperativen und nicht-
kooperativen Spielen und das Konzept des „Nash-Gleichgewichtes“ zurück-
geht, das ein Schlüsselkonzept in der modernen Spieltheorie ist. Bereits zu
dieser Zeit spielten Fragen der Anwendung der Spieltheorie eine große Rolle,
nämlich im Zusammenhang mit dem Kalten Krieg bzw. der Ausarbeitung
einer militärischen Strategie an der RAND Corporation, die 1946 von der U.S.
Army Air Force gegründet, aber schon zwei Jahre später eine unabhängige
non-profit-Organisation wurde, die seitdem Politikanalyse und -beratung be-
treibt und als „think tank“ bekannt ist. Sowohl John von Neumann als auch
John F. Nash arbeiteten zeitweise für die RAND Corporation bzw. mit ihr
zusammen. In den folgenden Jahren wurde die Spieltheorie zunächst in den
Wirtschaftswissenschaften in größerem Ausmaß rezipiert, dann in der Poli-
tikwissenschaft und in der Psychologie und schließlich auch in der Soziologie.
Als ein Meilenstein in der Entwicklung der Spieltheorie darf die Gründung der
Zeitschrift „Games and Economic Behavior“ im Jahr 1989 gelten, die seitdem
das wichtigste Publikationsorgan im Bereich der Spieltheorie ist. Eine beson-
dere Form der Akzeptanz als etabliertes Forschungsfeld und der Wertschät-
zung hat die Spieltheorie im Jahr 1994 gefunden: In diesem Jahr wurde der
Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften zu gleichen Teilen an drei Wissen-
schaftler vergeben, die sich insbesondere um spieltheoretische Modellierun-
gen verdient gemacht haben, nämlich an John C. Harsanyi, John F. Nash und
Reinhard Selten. Im Jahr 1999 wurde die „Game Theory Society“ gegründet,
Die Theorie der Rationalen Wahl 265

in der Spieltheoretiker verschiedener Fachdisziplinen vertreten sind. Im Juli


2000 wurde der erste Weltkongress der „Game Theory Society“ in Spanien
abgehalten.

Situationen, in denen strategisches Handeln gefragt ist, werden in der Spieltheo- Grundelemente eines
Spiels: Spieler,
rie ausgehend von der Analyse von Gesellschaftsspielen als Spiele betrachtet. Strategien und Aus-
(Deshalb heißt die Spieltheorie „Spieltheorie“.) Die Bestandteile eines Spiels zahlungen
sind (1) die handelnden Personen oder Spieler, (2) die Handlungsmöglichkeiten,
die ihnen im Rahmen der Spielregeln zur Verfügung stehen, oder Strategien und
(3) die Auszahlungen oder „payoffs“, die sie bei der Wahl einer bestimmten
Handlungsmöglichkeit erhalten. Das Ergebnis („outcome“) des Spiels ergibt sich
aus den von jedem Spieler gewählten Strategien.
Mit den RC-Theoretikern teilen die Spieltheoretiker die Annahme, dass Per- Zwei Grundannah-
men der Spieltheorie:
sonen sich rational im Sinne der Maximierung ihres Gesamtnutzens verhalten.
Rationalität der
Darüber hinaus gehen Spieltheoretiker davon aus, dass die jedem Spieler offen- Spieler und „gemein-
stehenden Handlungsmöglichkeiten und die diesen Handlungsmöglichkeiten sames Wissen“
zugehörigen Auszahlungen jedem Spieler bekannt sind, also gemeinsames Wis-
sen („common knowledge“) darstellen.
Zur Analyse strategischen Handelns wird in der Spieltheorie ein mathemati- Die Spieltheorie ist
vorrangig eine nor-
sches Instrumentarium verwendet, das es erlaubt, allein aufgrund formaler Logik
mative Theorie
anzugeben, welche Strategie Spieler wählen sollten, um den für sie höchstmögli-
chen Gesamtnutzen zu erzielen, und mit welchem Spielergebnis zu rechnen ist,
wenn sie diese Strategie wählen. Die Spieltheorie ist daher vorrangig eine nor-
mative Theorie, und die Begründer der Spieltheorie haben dies in ihren Schriften
auch hinreichend betont (Colman 1999: 3/4; Luce/Raiffa 1957: 63; von Neu-
mann/Morgenstern 1944: 31-33). In neuerer Zeit hat sich aber ein empirisch
orientierter Zweig der Spieltheorie herausgebildet, der als „Behavioral Game
Theory“ bezeichnet wird und derzeit in Deutschland unter dem Titel „Spieltheo-
rie und menschliches Verhalten“ firmiert.

Lektürevorschlag:

Camerer, Colin F. (2003): Behavioral Game Theory: Experiments in Strategic Interaction.


Princeton: Princeton University Press.

In der Spieltheorie wird eine Vielzahl unterschiedlicher Typen von Spielen un- Verschiedene Spiele
repräsentieren unter-
terschieden (u.a. Spiele mit zwei Spielern vs. Spiele mit mehr als zwei Spielern,
schiedliche Konstel-
kooperative vs. nicht-kooperative Spiele, statische vs. dynamische Spiele lationen in sozialen
u.v.m.). Sie alle repräsentieren spezifische, jeweils unterschiedliche Konstellati- Interaktionen
onen in sozialen Interaktionen. In unserem Zusammenhang muss es genügen, die
„Logik“ der Spieltheorie anhand eines Spiels darzustellen, das wahrscheinlich
das bekannteste und eines der für die Sozialwissenschaften wichtigsten Spiele
ist, nämlich das so genannte Gefangenendilemma.
266 Heike Diefenbach

Lektürevorschlag:

Holler, Manfred/Illing, Gerhard (2006): Einführung in die Spieltheorie. Berlin: Springer.

Lektürevorschlag:

Diejenigen die eher bescheidene Mathematikkenntnisse haben, finden sicherlich Zugang


zur Spieltheorie mit Hilfe von: Straffin, Philip D. (2002): Game Theory and Strate-
gy. Washington, DC: Mathematical Society of America.

Das Gefangenen- Das Gefangenendilemma wurde von den Mathematikern Merrill M. Flood und
dilemma
Melvin Dresher im Zuge ihrer Arbeit an der RAND Corporation (s. Box zur
Geschichte der Spieltheorie) im Jahr 1950 entwickelt. Seinen Namen bzw. die
Illustration der Struktur dieses Spiels durch das Beispiel zweier Gefangener hat
es aber von einem anderen amerikanischen Mathematiker, nämlich Albert Willi-
am Tucker, bekommen, der es im Rahmen eines Vortrages über die Spieltheorie
an der Psychologischen Fakultät der Stanford University beschrieben hat (so
berichten Kollock 1998: 185 sowie Straffin 1983: 229). Das Gefangenendilem-
ma wird gewöhnlich in der folgenden Form beschrieben: Man stelle sich vor,
zwei Personen wären wegen des Verdachtes, gemeinsam ein Verbrechen, sagen
wir: einen Bankraub, begangen zu haben, von der Polizei festgenommen worden
und würden getrennt voneinander in Untersuchungshaft gehalten und verhört.
Ein Geständnis darüber, dass sie das Verbrechen gemeinsam begangen haben,
wäre für den Staatsanwalt wünschenswert, weil er dann kein Risiko bezüglich
der Beweislage im Prozess gegen die beiden Gefangenen eingeht. Die Geschich-
te spielt in einem Staat, in dem es die so genannte Kronzeugenregelung gibt.
Also wird jedem der beiden Gefangenen das Angebot gemacht, ein Geständnis
des Verbrechens abzulegen, und jedem der beiden wird gesagt, dass dieses An-
gebot auch dem anderen gemacht wird. Wenn das Geständnis des einen dazu
führt, dass der andere in dem Fall, dass dieser nicht gesteht, verurteilt werden
kann, bleibt Ersterer als Kronzeuge des Staatsanwaltes straffrei, aber Letzterer
bekommt als Ungeständiger, aber überführter Täter die für Bankraub vorgesehe-
ne Höchststrafe von fünf Jahren. Wenn beide gestehen, können beide verurteilt
werden, aber sie haben aufgrund ihrer Geständigkeit nicht mit der Höchststrafe
zu rechnen, sondern nur mit drei Jahren Gefängnis. Wenn beide nicht gestehen,
so können sie nicht für den Bankraub verurteilt werden, aber immerhin für uner-
laubten Waffenbesitz, was mit einer Strafe von einem Jahr Gefängnis verbunden
ist. Weil die beiden Gefangenen getrennt voneinander untergebracht sind, kön-
nen sie sich nicht absprechen, ihre Vorgehensweise also nicht koordinieren.
In der Sprache der Spieltheoretiker handelt es sich hier um ein Zwei-
Personen-Nicht-Nullsummen-Nicht-Kooperations-Spiel. D.h. am Spiel sind zwei
Personen beteiligt, die wir Spieler A und Spieler B nennen wollen. Das Spiel ist
deswegen ein Nicht-Nullsummen-Spiel, weil es nicht so ist, dass Spieler A in
jedem Fall genauso viel gewinnt wie Spieler B verliert oder umgekehrt, und es
ist ein Nicht-Kooperationsspiel, weil im Spiel keine Kommunikation erlaubt ist
und damit keine Vereinbarungen zwischen den Spielern möglich sind. Beide
Die Theorie der Rationalen Wahl 267

Spieler können zwischen zwei Strategien wählen, nämlich zu gestehen oder nicht
zu gestehen. Die Frage ist nun: Welche Strategie sollte jeder der beiden Spieler
wählen? Je nachdem, welche Strategie jeder Spieler wählt, werden unterschiedli-
che Ergebnisse (‚payoffs’) erreicht, die wie folgt tabellarisch dargestellt werden
können (Spieltheoretiker sprechen von einer Auszahlungs- oder payoff-Matrix):

Abbildung 2: Payoff-Matrix im Gefangenendilemma


Spieler B
gesteht nicht gesteht
Spieler A gesteht nicht 1 Jahr; 1 Jahr 5 Jahre; 0 Jahre
gesteht 0 Jahre; 5 Jahre 3 Jahre; 3 Jahre

In den Zellen der Tabelle sind die Strafmaße eingetragen, die Spieler A und Auszahlungsmatrix
und Geständnis als
Spieler B in den jeweiligen Konstellationen zu erwarten haben, wobei das Straf-
dominante Strategie
maß für Spieler A jeweils zuerst genannt ist. Wenn man davon ausgeht, dass (1) im Gefangenendi-
es das Ziel jedes der beiden Spieler ist, ein möglichst geringes Strafmaß zu erhal- lemma
ten, und (2) es jedem der beiden gleichgültig ist, wie hoch das Strafmaß für den
anderen Spieler ist, wird jeder Spieler gestehen, weil es für ihn unabhängig da-
von, was der andere Spieler tut, besser ist zu gestehen als nicht zu gestehen:
Spieler A denkt sich: Angenommen, Spieler B gesteht nicht; dann ist es für mich
besser zu gestehen, weil ich dann straffrei ausgehe (in der Tabelle: 0; 5) statt ein
Jahr im Gefängnis zu verbringen, wenn ich ebenfalls nicht gestehe (in der Tabel-
le: 1; 1). Wenn Spieler B aber gesteht, dann bekomme ich die Höchststrafe von
fünf Jahren, wenn ich selbst nicht gestehe (in der Tabelle: 5; 0), und eine gerin-
gere Strafe von drei Jahren, wenn ich gestehe (in der Tabelle: 3; 3). Keine Ge-
fängnisstrafe ist besser als eine einjährige Gefängnisstrafe, und drei Jahre Ge-
fängnisstrafe sind besser als fünf Jahre Gefängnisstrafe; ich stelle mich also in
beiden Fällen (im Fall, dass Spieler B gesteht, und im Fall, dass Spieler B nicht
gesteht) besser, wenn ich selbst gestehe. Im Gefangenendilemma ist das Ges-
tändnis also die dominante Strategie. Spieler B denkt sich dasselbe, so dass auch
für ihn ein Geständnis die dominante Strategie ist, und daher werden beide ge-
stehen. Das führt für beide zu einem Strafmaß von drei Jahren, was für jeden der
beiden Spieler das zweitschlechteste der möglichen Ergebnisse darstellt.
Die Bedeutung des Gefangenendilemma für die Sozialwissenschaften besteht Spieltheorie als
mathematisches
aber nicht darin zu zeigen, dass das rationale Handeln eines Spielers in strategi-
Modell für die Dis-
schen Interaktionen zu einem für ihn vergleichsweise schlechten Ergebnis führen krepanz zwischen
kann, sondern darin, dass es auf einfache Weise nachvollziehbar macht, dass individuellem und
rationales Handeln im Sinne individueller Nutzenmaximierung zu suboptimalen kollektivem Nutzen
Ergebnissen auf der kollektiven Ebene führen kann: Wäre es das Ziel, ein mög-
lichst niedriges Strafmaß für beide Spieler gemeinsam zu erreichen, wäre die
beste Strategie diejenige gewesen, nach der beide Spieler nicht gestehen. Beide
zusammen hätten dann ein Strafmaß von zwei Jahren. In keiner anderen Konstel-
lation ist das Strafmaß beider Spieler gemeinsam so niedrig. Aufgrund ihrer
individuell rationalen Handlungswahlen erreichen die beiden Spieler aber das für
sie gemeinsam höchste Strafmaß von sechs Jahren: „Individually rational decisi-
268 Heike Diefenbach

onmaking leads to collective disaster“ (Picker 1994: 5). Es handelt sich hier um
ein soziales Dilemma (Dawes 1975: „social dilemma“, auch als „social trap“
soziales Dilemma
bezeichnet, z.B. von Rapoport 1988) oder auch um einen paradoxen Effekt im
oben definierten Sinn (vgl. Abschnitt 3). Während Sozialwissenschaftler aber
häufig wortreich erläutern und plausibilisieren müssen, wie ein bestimmter para-
doxer Effekt zustande kommt (und dabei den Aspekt strategischen Handelns
häufig vernachlässigen), ist es mit Hilfe der Spieltheorie möglich, anhand mini-
maler und klar (weil mathematisch) formulierter Annahmen und Regeln zu zei-
gen, wie paradoxe Effekte im Allgemeinen entstehen können. Statt (viele) ein-
zelne Fälle zu beschreiben, kann die Spieltheorie die Entstehung paradoxer Ef-
fekte aufgrund bestimmter Spielstrukturen demonstrieren, von denen angenom-
men wird, dass sie den spezifischen paradoxen Effekten, die man in den Sozial-
wissenschaften beobachten kann, zugrunde liegen.

Übungsaufgabe:

Rekonstruieren Sie das Wettrüsten zwischen zwei Nationen anhand der Spiel-
struktur des Gefangenendilemmas! Gibt es Möglichkeiten, ein Wettrüsten zu
verhindern, d.h. die Spielstruktur so zu verändern, dass Aufrüstung nicht die
dominante Strategie im Spiel ist?

Lektürevorschlag:

Eine gute und leicht verständliche Einführung in die Geschichte des Gefangenendilemmas
und die Diskussion um das Gefangenendilemma bietet: Poundstone, William (1992):
Prisoner’s Dilemma. New York: Doubleday.

5 Anwendungsbeispiele
Wie eine Erklärung eines gesellschaftlichen Phänomens durch die RCT funktio-
niert, soll nunmehr anhand einiger Beispiele verdeutlicht werden. In den beiden
ersten Beispielen (s. Abschnitte 5.1 und 5.2) wird gezeigt, wie von niemandem
beabsichtigte und unerwünschte Ergebnisse auf der gesellschaftlichen Ebene
durch die zielgerichteten Handlungen von Individuen erklärt werden können. Die
dann folgenden Beispiele (s. Abschnitte 5.3 und 5.4) verdeutlichen, wie RCT-
Vertreter vorgehen, wenn sie gesellschaftliche Phänomene um ihrer selbst willen
und unter Verwendung empirischer Umfragedaten untersuchen möchten.

5.1 Die Tragik der Gemeingüter oder: Das Allmende-Problem

Die „Tragik der Die Tragik der Gemeingüter, die auch als das Allmende-Problem bezeichnet
Gemeingüter“ nach
wird, wurde im Jahr 1968 von dem Zoologen und Mikrobiologen Garrett Hardin
Garrett Hardin
in der Zeitschrift „Science“ beschrieben und ist aufgrund dieses Artikels sehr
bekannt geworden. Hardin hat sich bei seiner Beschreibung des Problems auf
Die Theorie der Rationalen Wahl 269

eine Vorlesung des Ökonomen William Foster Lloyd an der Universität von
Oxford aus dem Jahr 1832 gestützt, die ein Jahr später, 1833, unter dem Titel
„Two Lectures on the Checks to Population“ veröffentlicht wurde und in späterer
Zeit an verschiedenen Stellen nachgedruckt wurde (Lloyd 1977; 1980). In seiner
Ausarbeitung des Problems behauptet Hardin, dass das Recht von Menschen auf
eine uneingeschränkte Fortpflanzung beschränkt werden müsse, weil es keine
technische Lösung für all die Probleme gebe, die durch Überbevölkerung verur-
sacht werden. Trotz der derzeit weit verbreiteten Überzeugung in den westlichen
postindustriellen Staaten, dass es keine Beschränkung der Geburtenzahlen geben
müsse, sondern – im Gegenteil – mehr Geburten notwendig wären, ist dieser
Aufsatz bis heute der am häufigsten nachgefragte Aufsatz in der renommierten
Zeitschrift „Science“, und dies hat seinen Grund: Die Frage der Überbevölke-
rung ist ein spezieller Fall eines Problems, das notwendigerweise auftaucht,
wenn die Allgemeinheit uneingeschränkten Zugang zu einer Ressource bzw. ein
uneingeschränktes Nutzungsrecht hat. Um dies zu verdeutlichen, verweist Har-
din auf die so genannte Allmende oder das Allmendgut, d.h. das Grundeigentum,
das im Besitz einer Dorfgemeinschaft ist und damit jedem der Dorfgemeinschaft
Zugehörigen zur Nutzung offen steht. Wenn die zu einem Dorf gehörenden Wei-
den allen zugänglich sind, wird jeder seine Tiere dort grasen lassen. Weil dies
nicht auf Kosten des Hirten oder Besitzers der Tiere geht, sondern auf Kosten
der Allgemeinheit, aber der Verkauf jedes Tieres dem Hirten oder Besitzer Ge-
winn einbringt (und nicht der Allgemeinheit), wird dieser versuchen, so viele
Tiere wie möglich dort weiden zu lassen. Mit jedem seiner Tiere, das dort wei-
det, vergrößert er seinen Gewinn, den er aus seinem späteren Verkauf erzielen
kann, ohne jedoch größere Kosten für den Unterhalt der Tiere aufbringen zu
müssen. Für Hardin besteht das Allmende-Problem darin, dass anzunehmen ist,
dass jedes rationale Individuum in dieser Situation so handeln wird, so dass im-
mer mehr Tiere auf die Weide geschickt werden, bis sie überweidet ist. Das Gut,
das jedem zur Nutzung offen steht und ein Auskommen ermöglicht hat, ist dann
unbrauchbar geworden und für niemanden mehr nützlich. Weil es unweigerlich
so kommen wird und es nach Hardin nichts gibt, was getan werden könnte, um
diesen Gang der Dinge zu verhindern, spricht Hardin von „the tragedy of the
commons“, was mit „Tragik der Gemeingüter“ sicherlich treffender übersetzt
wird als mit dem spezifischeren Begriff „Allmende-Problem“, der sich in der
deutschsprachigen Literatur verbreitet hat: „Therein is the tragedy. Each man is
locked into a system that compels him to increase his herd without limit – in a
world that is limited. Ruin is the destination toward which all men rush, each
pursuing his own best interest in a society that believes in the freedom of the
commons. Freedom in a commons brings ruin to all“ (Hardin 1968: 1244). Ein
aktuelles Beispiel für die Tragik der Gemeingüter ist die Überfischung der
Weltmeere.

Übungsaufgabe:

Arbeiten Sie die Erklärungsstruktur der Tragik der Gemeingüter heraus, indem
Sie sie als „Badewannenmodell“ rekonstruieren, d.h. ein „Badewannenmodell“
270 Heike Diefenbach

zeichnen und entsprechend beschriften (und tun Sie dies jetzt, bevor Sie den
nächsten Abschnitt lesen)!

Die Erklärungsstruk- Untersucht man die Tragik der Gemeingüter auf die Erklärungsstruktur hin, die
tur der „Tragik der
Coleman graphisch (vgl. Abschnitt 3.3, Abbildung 1) abgebildet hat, so muss
Gemeingüter“
man zunächst die Handlungsbedingungen identifizieren. Die hier relevanten
Handlungsbedingungen liegen zum einen im theoretisch unendlichen Zugang zur
endlichen Weide, also einer Knappheitsbedingung, und zum anderen darin, dass
die theoretisch unendlichen Gewinne aus dem Verkauf von Tieren Privateigen-
tum bleiben. Auf der Ebene der Handlungsentscheidung begründet Hardin, wa-
rum es angesichts der gegebenen Bedingungen für jeden einzelnen Hirten oder
Tierbesitzer am besten ist, wenn er möglichst viele Tiere auf die Weide schickt,
weshalb er dies auch tun wird, sofern er rational handelt, und hiervon geht die
RCT ja aus. Eine Transformationsregel wird von Hardin nicht explizit genannt,
und sie ist auch nicht notwendig: Hier ist es schlicht die Summe der rationalen
Handlungen jedes einzelnen Individuums, die den Ruin des Gemeingutes und
damit ein von niemandem gewünschtes Ergebnis verursacht.
Warum die „Tragik Bei Hardins Tragik der Gemeingüter handelt es sich wie beim Gefangenen-
der Gemeingüter“
dilemma um ein soziales Dilemma, das sich – wie Sie sich erinnern – dadurch
nicht der Spielstruk-
tur des Gefangenen- auszeichnet, dass individuell rationale (im Sinne von nutzenmaximierenden)
dilemmas entspricht Handlungswahlen dazu führen, dass der kollektive Nutzen suboptimal ausfällt,
d.h. ein kollektiv irrationales Ergebnis eintritt (Rapoport 1988: 457/458). Häufig
werden Hardins Tragik der Gemeingüter und das Gefangenendilemma aber nicht
als zwei verschiedene Typen sozialer Dilemmata betrachtet. Stattdessen fassen
viele Autoren die Tragik der Gemeingüter als ein generalisiertes, d.h. als ein auf
mehr als zwei Spieler ausgeweitetes Gefangenendilemma, auf (so z.B. Da-
wes/McTavish/Shaklee 1977 und Russell Hardin (1971), der nicht mit Garrett
Hardin zu verwechseln ist). Andere Autoren haben aber gezeigt, dass dies nicht
angemessen ist (Hirshleifer 1983; 1985; Holzinger 2003; Godwin/Shepard
1979). Es ist nämlich damit zu rechnen, dass verschiedene Gemeingutprobleme
mit unterschiedlichen Spielen der Spieltheorie in Verbindung gebracht werden
können, d.h. dass ihnen jeweils unterschiedliche Spielstrukturen zugrunde liegen,
je nachdem, wie genau sich das in Frage stehende Gemeingutproblem darstellt:
Weil Gemeingüter in unterschiedlichen sozialen Situationen nachgefragt werden
und sich diese Situationen in vieler Hinsicht voneinander unterscheiden, unter-
scheiden sich auch Art und Anzahl der möglichen Strategien voneinander (Hol-
zinger 2003: 176). Wenn das Problem, das Hardin beschreibt, durch die aggre-
gierten nutzenmaximierenden Handlungen vieler Einzelner zustande kommt, die
die Handlungen der anderen ebenso wenig in Rechnung stellen wie die Effekte
des eigenen Handelns, ist eine spieltheoretische Modellierung des Problems
ohnehin nicht angebracht, denn die Spieltheorie befasst sich ja mit strategischem
Handeln, also solchem Handeln, bei dem das Handeln anderer in Rechnung ge-
stellt wird und die eigene Handlungsentscheidung beeinflusst. Bei dem Problem,
das Hardin beschreibt, handelt es sich also um ein soziales Dilemma, für das eine
spieltheoretische Modellierung nicht notwendig ist.
Zur Möglichkeit, die Bezüglich der Frage, ob der Ruin von Gemeingütern verhindert werden
„Tragik der Gemein-
güter“ zu verhindern
kann, ist Hardin der Überzeugung, dass Appelle an das Gewissen, d.h. letztlich
Die Theorie der Rationalen Wahl 271

an die Bereitschaft, die Handlungen der anderen und deren Bedeutung für das
eigene Handeln in Rechnung zu stellen, nutzlos sind. Er schlägt stattdessen vor,
die Nutzung von Gemeingütern durch die staatliche Autorität zu beschränken.
Damit würden sie aufhören, Gemeingüter zu sein, aber die Güter selbst blieben
erhalten. Würde man z.B. eine Obergrenze für Tiere festsetzen, die jeder auf die
Gemeinschaftsweide schicken darf, könnte man verhindern, dass eine Überwei-
dung stattfindet. Anders ausgedrückt: Würde man der Maximierung der eigenen
Tiere auf der Gemeinschaftsweide und damit des persönlichen Gewinns eine
Obergrenze setzen, die für jeden gleichermaßen gilt, so könnte dadurch vielleicht
der Erhalt von Gemeingütern erreicht werden. Eine andere bekannte Arbeit hat
aber gezeigt, dass sich von niemandem gewünschte Ergebnisse auch dann ein-
stellen können, wenn keine Maximierungsregel angenommen wird, sondern eine
Obergrenze der Ansprüche eingeführt wird. Allerdings bezieht sich diese Arbeit
nicht auf Hardins Aufsatz oder das so genannte Allmende-Problem. Vielmehr
handelt es sich bei ihr um einen Versuch zu erklären, wie es zu Wohnsegregation
kommt.

5.2 Die Entstehung von Wohnsegregation

Ein Jahr, nachdem Hardins Arbeit erschienen war, wurde der Aufsatz von Tho- Wohnsegregation
mas Schelling mit dem Titel „Models of Segregation“ (1969) veröffentlicht, der
– wie der Aufsatz von Hardin – sehr bekannt geworden ist, weil er anhand eines
Modells mit wenigen und einfachen Annahmen zeigt, wie das Zusammenspiel
individueller Entscheidungen über einen Umzug oder Nicht-Umzug zu Wohn-
segregation führen kann, obwohl diese von niemandem gewünscht wird, also
wieder ein soziales Dilemma rekonstruiert. Zu diesem Zweck ordnet Schelling
Mitglieder zweier verschiedener Populationen, z.B. Schwarze oder Weiße, Ka-
tholiken oder Protestanten, die durch Pluszeichen oder Nullen repräsentiert wer-
den, zufällig auf einer Linie an, die einen Straßenzug darstellen soll. Sehr viele
werden Nachbarn haben, die nicht zur eigenen Gruppe gehören, d.h. neben den
meisten Pluszeichen werden Nullen stehen und umgekehrt. Schelling lässt für
jedes Pluszeichen und jede Null einen Positionswechsel, also einen „Umzug“ in
eine andere Nachbarschaft zu. Die Bedingung dafür, dass ein Zeichen seine Posi-
tion wechselt, ist, dass es sich in seiner Nachbarschaft in der Minderheit befin-
det. Er nimmt also lediglich an, dass niemand in seiner Nachbarschaft in der
Minderheit leben möchte. Er nimmt aber nicht an, dass Individuen sozusagen
„unter sich“ bleiben wollen und eine Segregation anstreben. Schelling definiert
als „Nachbarschaft“ eines Zeichens die acht Zeichen, die ihm am nächsten ste-
hen, also die nächsten vier Zeichen, die rechts oder links neben dem in Frage
stehenden Zeichen stehen, z.B.:

00++00++0

Wäre die in der Mitte stehende fettgedruckte Null ein Individuum, so hätte dieses Thomas Schellings
Segregationsmodell
Individuum in seiner Nachbarschaft ebenso viele Angehörige seiner eigenen
Gruppen (Nullen) wie Angehörige der anderen Gruppe (Pluszeichen), so dass es
272 Heike Diefenbach

mit seiner Position zufrieden wäre. Ein Zeichen, das sich in seiner Nachbarschaft
in der Minderheit befindet, wechselt jedoch die Position, und zwar entweder
nach rechts oder nach links auf die nächstliegende Position, in der die Hälfte
seiner Nachbarn derselben Gruppe angehören wie es selbst. Mit den Positions-
wechseln der „Unzufriedenen“ verändern sich aber die Nachbarschaften der
anderen Zeichen. Es können neue „Unzufriedene“ entstehen, weil durch die
Positionswechsel anfänglich „Zufriedene“ in die Minderheit geraten können.
Diese nunmehr „Unzufriedenen“ werden ihrerseits umziehen und die Nachbar-
schaften anderer Zeichen verändern. Einzelne Zeichen können im Verlauf dieses
Prozesses mehrfach vom Status des „Zufriedenen“ in den des „Unzufriedenen“
und umgekehrt wechseln. Setzt man dies so lange fort, bis alle zufrieden sind,
wird sich ein Zustand der Segregation ergeben, in dem nur noch sehr wenige
Zeichen Nachbarn haben, die der anderen Gruppe angehören. Segregation ist
entstanden, aber nicht, weil kein Individuum Angehörige der anderen Gruppe in
seiner Nachbarschaft dulden würde, sondern nur deshalb, weil kein Individuum
in seiner Nachbarschaft in der Minderheit sein möchte. Anders gesagt: Obwohl
kein Individuum Segregation anstrebt und nicht gegen Angehörige der anderen
Gruppe diskriminiert, ergibt sich fast vollständige Segregation.

Übungsaufgabe:

Probieren Sie unter Verwendung von Spielsteinen oder Geldmünzen oder einer
Simulationssoftware (aus dem Internet) verschiedene Varianten dieses Experi-
mentes aus: Prüfen Sie z.B., wie sich Diskriminierung auf den Segregationspro-
zess auswirkt, indem Sie die Entscheidungsregel zum Umzug verändern. Lassen
Sie ein Zeichen umziehen, wenn von seinen acht Nachbarn zwei oder auch nur
eines der anderen Gruppe angehört. Oder prüfen Sie, was passiert, wenn Sie für
die beiden Gruppen unterschiedliche Umzugsregeln festlegen. Überlegen Sie
auch, wie eine Startsituation aussehen könnte, die nicht in Segregation endet.
(Die Antwort finden Sie bei Büschges/Abraham/Funk (1995), S. 161, Fußnote
21.)

Die Erklärungsstruk- Die einzige relevante Handlungsbedingung ist in diesem Experiment die Zu-
tur des Segregati-
sammensetzung der Nachbarschaft. Die Handlungsalternativen sind „Umzug“
onsmodells von
Schelling oder „Nicht-Umzug“, und die Handlungsentscheidung erfolgt gemäß der Vorga-
be, nicht in der Minderheit sein zu wollen. Damit die individuellen Handlungs-
entscheidungen (hier: Umzugsentscheidungen) Segregation hervorbringen, ist es
aber notwendig, dass die Handlungen einiger Individuen zu einem Zeitpunkt die
Handlungsbedingungen für andere Individuen zu einem anderen Zeitpunkt ver-
ändern. Zur Erklärung von Segregation genügt es daher nicht, die Umzugsent-
scheidungen „Unzufriedener“ zu einem einzigen Zeitpunkt zu summieren. Viel-
mehr ist es eine Kettenreaktion, die die Segregation hervorbringt.
Die Theorie der Rationalen Wahl 273

Lektürevorschlag:

Für diejenigen, die sich dafür interessieren, wie und mit welchem Ergebnis Schellings
Experiment in empirische Forschung umgesetzt wurde: Clark, W.A.V. (1991): Resi-
dential Preferences and Neighborhood Racial Segregation: A Test of the Schelling
Segregation Model. In: Demography 28, 1: 1-19.

Schellings Experiment ist ein eingängiges, weil einfaches Beispiel dafür, wie Warum Schellings
Segregationsmodell
gesellschaftliche Phänomene als paradoxe Effekte individuellen rationalen Han-
kein spieltheoreti-
delns entstehen können, und dies zu zeigen, war das Hauptanliegen von Schel- sches Modell ist
ling. Sein Experiment ist ein ‚low tech’-Vorfahre der agentenbasierten Simulati-
on, die sich langsam, aber stetig, in den Sozialwissenschaften etabliert. Durch die
Analyse der Simulationen, die auf der Basis individueller Handlungsentschei-
dungen und der Interaktionen zwischen ihnen berechnet werden, soll ein besseres
Verständnis komplexer sozialer Systeme erreicht werden (Axelrod 1997: 3). Das
beschriebene Segregationsmodell von Schelling ist aber kein spieltheoretisches
Modell, und zwar deshalb, weil die Entscheidung eines Spielers für oder gegen
einen Umzug nicht unter Berücksichtigung der möglichen Entscheidungen ande-
rer Spieler gefällt wird, sondern angesichts bereits erfolgter Entscheidungen der
anderen, die sich in einer veränderten Nachbarschaft niederschlagen. Ein Spieler
ist also nicht unsicher über die Handlungsentscheidungen der anderen, und sein
Handeln involviert keine strategischen Überlegungen. Er weiß über die Umzüge
in der letzten Spielrunde Bescheid und stellt nicht in Rechnung, wie sich seine
eigene Handlungsentscheidung auf die Nachbarschaft, aus der er kommt, und
diejenige, in die er ggf. umzieht, auswirken wird. Wenn er in der nächsten Runde
umzieht, reagiert er damit auf die Nachbarschaft, die durch die Umzüge anderer
in der vorhergehenden Runde geschaffen wurde, also auf die gegebenen Um-
weltbedingungen. Wie bei Hardins Tragik der Gemeingüter handelt es sich also
auch bei Schellings Wohnsegregationsmodell um Explikationen der Entstehung
sozialer Dilemmata, die kein strategisches Handeln involvieren.
Gesellschaftliche Phänomene werden aber nicht nur als paradoxe Ergebnis-
se rationaler individueller Handlungsentscheidungen untersucht, sondern auch
um ihrer selbst willen und unter Verwendung empirischer Umfragedaten zu
erklären versucht. Zwei Beispiele hierfür werden Sie in den nächsten beiden
Abschnitten kennen lernen.

5.3 Die Erklärung unterschiedlicher Geburtenraten in verschiedenen


Ländern

Nicht nur die Veränderungen der Geburtenraten innerhalb einzelner Länder im „Value of children“
nach Hoffman &
Zeitverlauf, sondern auch die zwischen verschiedenen Ländern unterschiedlichen Hoffman
Geburtenraten sind von großer sozialpolitischer Relevanz. Die RCT kann erklä-
ren, warum diese Unterschiede bestehen bzw. wie es zu diesen Unterschieden
kommt. Ausgangspunkt dieser Erklärung ist das so genannte „value of children“-
Modell oder – abgekürzt – VOC-Modell, das 1973 von Hoffman & Hoffman
formuliert worden ist. Ob man ein (weiteres) Kind haben will oder nicht, hängt
274 Heike Diefenbach

in diesem Modell davon ab, welche Werte (im Rahmen der RCT würde man von
Nutzen sprechen) potentielle Kinder für ihre Eltern haben, d.h. welche Ziele
Eltern meinen, durch sie erreichen zu können. Hoffman & Hoffmann haben
insgesamt neun solcher Werte von Kindern für ihre Eltern aus empirischen Stu-
dien extrahiert, die sich auf drei Dimensionen reduzieren lassen, nämlich öko-
nomisch-utilitaristische Werte, psychologisch-affektive Werte und sozial-
normative Werte (Kagitcibasi & Esmer 1980). Ökonomisch-utilitaristische Wer-
te beziehen sich z.B. auf den Nutzen, den Eltern aus der Arbeit ihrer Kinder
ziehen können. Ein psychologisch-affektiver Nutzen wäre z.B. die Freude, die
man dabei hat, ein Kind aufwachsen zu sehen, und sozial-normative Werte kön-
nen die Fortführung des Familiennamens durch die Kinder oder die soziale
Wertschätzung, die man als Elternteil genießt, sein. Wenn man außerdem die
Kosten berücksichtigt, die Eltern mit Kindern verbunden sehen, kann man erklä-
ren, warum sich Menschen für oder gegen (weitere) Kinder entscheiden: Je höher
der mit Kindern verbundene Gesamtnutzen, d.h. die positiven Nutzen von Kin-
dern abzüglich der Kosten, die sie verursachen, ist, desto eher wird man sich für
(weitere) Kinder entscheiden.
Die Erklärung repro- Bernhard Nauck hat das VOC-Modell in Deutschland bekannt gemacht und
duktiver Entschei-
es in eine RC-theoretische Erklärung für zwischen verschiedenen Ländern unter-
dungen auf der
Grundlage der „va- schiedliche Geburtenraten eingebaut. Zu diesem Zweck hat er dem Modell zu-
lues of children“ nach nächst Annahmen über die Handlungssituation hinzugefügt: Z.B. wird für Men-
Bernhard Nauck schen in einem Land, in dem Kinderarbeit gesetzlich verboten ist, der ökono-
misch-utilitaristische Nutzen von Kindern nicht so groß sein wie für Menschen
in einem Land, in dem das nicht der Fall ist. In einem Land, in dem Kinder die
einzige Altersversorgung darstellen, ist dagegen der ökonomisch-utilitaristische
Nutzen von Kindern größer als in einem Land mit einer umlagefinanzierten Al-
tersrente. Die Werte, die Menschen mit Kindern verbinden, werden – so die
Annahme – von diesen länderspezifischen Gegebenheiten beeinflusst, so dass
sich ein rationales Individuum, das in einem Land lebt, in dem Kinderarbeit
erlaubt ist und Kinder die einzige Altersversorgung darstellen, dazu entscheiden
wird, möglichst viele Kinder zu bekommen (ungeachtet der Kosten, die Kinder
verursachen). Ein rationales Individuum, das in einem Land lebt, in dem Kinder
so gut wie keinen ökonomisch-utilitaristischen Nutzen haben, sondern „nur“
psychologisch-affektiven Nutzen haben, wird sich dagegen nur für ein Kind oder
zwei Kinder entscheiden, weil „psychologischer Nutzen nicht in gleicher Weise
[wie ökonomisch-utilitaristischer Nutzen] kumuliert werden kann: ein oder zwei
Kinder können genauso viel psychische Befriedigung schaffen wie vier oder
mehr Kinder: gleichzeitig steigen aber die absoluten (ökonomischen – und wahr-
scheinlich auch: psychologischen) Kosten, so dass die psychologische Ratio bei
niedriger Kinderzahl günstig, dagegen ungünstig bei Kinderlosigkeit und bei
hoher Kinderzahl ist“ (Nauck/Kohlmann 1999: 65). Diese Annahmen konnten
durch empirische Befunde bestätigt werden (Nauck 1997).
Die Erklärung länder- Bis hierher hat Nauck das VOC-Modell zu einer Erklärung reproduktiver
spezifischer Gebur-
tenraten durch repro-
Entscheidungen durch die SEU-Theorie ausgebaut: Die Handlungssituation wird
duktive Entscheidun- durch die länderspezifischen Gegebenheiten definiert, die Kosten und Nutzen der
gen und institutio- Handlungsalternativen, d.h. die Kosten und Werte eines (weiteren) Kindes, wer-
nelle Regelungen den angesichts dieser Gegebenheiten abgewogen, und es wird die Handlung
Die Theorie der Rationalen Wahl 275

ausgewählt, deren subjektiv erwarteter Gesamtnutzen am größten ist. (In diesem


Fall stehen nur zwei Handlungsalternativen, nämlich die Entscheidung für oder
gegen ein Kind, zur Verfügung.) Ist damit erklärt, warum die Geburtenraten in
Entwicklungsländern – nach wie vor – deutlich höher sind als die Geburtenraten
in westlichen postindustriellen Gesellschaften? Würde man diese Frage mit „ja“
beantworten, würde dies bedeuten, dass man annimmt, die Geburtenraten seien
schlicht die aufsummierten Entscheidungen der Menschen für oder gegen Kinder
und dementsprechender Geburtenzahlen. Wie Sie inzwischen wissen, ist das aber
schon deshalb falsch, weil die Geburtenrate als solche, d.h. eben als Rate, die
Geburtenzahlen in einem bestimmten Lebensraum auf eine andere Größe, z.B.
auf eintausend Bewohner in diesem Lebensraum, bezogen ist. Es ist also zumin-
dest wieder eine einfache mathematische Transformationsregel notwendig. Um
die Verbindung zwischen reproduktiven Entscheidungen und Geburtenraten
herstellen zu können, muss man aber auch berücksichtigen, dass in verschiede-
nen Gesellschaften unterschiedlich gute Chancen gegeben sind, die Handlungs-
entscheidungen zu verwirklichen. Wenn z.B. in einem Land Verhütungsmittel
weitgehend unzugänglich gemacht werden oder sogar illegal sind, ist es schwie-
rig für Menschen, die kein (weiteres) Kind haben möchten, ihrer Entscheidung
entsprechend zu handeln. Sie bekommen dann vielleicht Kinder, die sie gar nicht
haben wollten. In diesem Fall würde die Geburtenrate also nicht durch die Sum-
me der Entscheidungen von Menschen für oder gegen Kinder erklärt. Zusätzlich
müssen neben diesen Entscheidungen gesellschaftliche oder institutionelle Rege-
lungen berücksichtigt werden, die die Möglichkeiten der Menschen, ihre Hand-
lungsentscheidungen in die Tat umzusetzen, fördern oder einschränken. Daher
berücksichtigt Nauck in seinen VOC-Studien entsprechende Variablen.

Übungsaufgabe:

Überlegen Sie, ob in einer RC-theoretischen Erklärung Paarentscheidungen ge-


nauso behandelt werden können wie Entscheidungen einzelner Individuen! Kon-
kret: Wäre es notwendig, in einer empirischen Studie zum Test der Theorie von
Nauck beide Ehe- oder Lebenspartner nach den Kosten und den Werten zu fra-
gen, die Kinder für sie haben, oder genügt es, nur Frauen zu befragen? (Die Auf-
fassung der Autorin und die Begründung dieser Auffassung finden Sie in: Die-
fenbach, Heike (2005): Die Rationalität von Kinderwünschen und reproduktivem
Verhalten. Einige Anmerkungen zur konzeptionellen Weiterentwicklung des
‚value-of-children’-Modells. In: Steinbach, Anja (Hrsg.): Generatives Verhalten
und Generationenbeziehungen. Festschrift für Bernhard Nauck zum 60. Ge-
burtstag, S. 111-129, insbesondere S. 117-121.)

Eine weitere Studie, die explizit berücksichtigt, dass individuelle Entscheidun-


gen durch institutionelle Regelungen transformiert werden, und versucht, eine
vollständige RC-theoretische Erklärung zu formulieren, wird im Folgenden vor-
gestellt.
276 Heike Diefenbach

5.4 Die Erklärung von Bildungsungleichheit

Die SEU-theoretische Die Tatsache, dass Kinder aus den verschiedenen sozialen Schichten der Gesell-
Erklärung schichtspe-
zifischer Bildungs-
schaft zu sehr unterschiedlichen Anteilen bestimmte Schultypen besuchen und
entscheidungen nach entsprechende Schulabschlüsse erreichen, ist in der Bildungssoziologie hinläng-
Hartmut Esser lich bekannt und empirisch gut belegt (eine kurze Zusammenfassung der Lage in
Deutschland bieten Avenarius et al. 2003: 208-213). Auf der Basis der SEU-
Theorie erklärt Hartmut Esser (1999), wie Eltern Bildungsentscheidungen für
ihre Kinder beim Übergang in die Sekundarstufe treffen. Vereinfachend darge-
stellt sind nach Esser zwar der Wert des Bildungsertrages und die Kosten eines
bestimmten Bildungsganges für alle sozialen Schichten gleich, aber die Wahr-
scheinlichkeiten, dass das Kind bestimmte Bildungsgänge mit Erfolg durchläuft,
wird von Eltern aus verschiedenen sozialen Klassen unterschiedlich hoch einge-
schätzt. Eltern aus niedrigeren Schichten schätzen z.B. die Erfolgswahrschein-
lichkeit für ihr Kind, das Gymnasium erfolgreich zu besuchen, als niedriger ein
als Eltern aus höheren Schichten. Gemäß der SEU-Theorie ist damit der Ge-
samtnutzen der Handlungsalternative „Übergang des Kindes auf das Gymnasi-
um“ für Eltern aus niedrigeren Schichten geringer als für Eltern aus höheren
Schichten, so dass Erstere ihre Kinder seltener auf das Gymnasium schicken
werden als Letztere. Die Frage, warum Eltern aus niedrigeren sozialen Schichten
die Wahrscheinlichkeit, dass ihr Kind das Gymnasium erfolgreich besuchen
kann, als niedriger einschätzen sollten als Eltern aus höheren sozialen Schichten,
verweist auf die Handlungsbedingungen, unter denen die Handlungsalternativen
zu sehen sind: Man kann davon ausgehen, dass Eltern aus allen Schichten (z.B.
im Zusammenhang mit der PISA-Studie) davon gehört haben, dass ein enger
positiver Zusammenhang zwischen sozialer Schicht und Bildungserfolg besteht.
Angesichts dieses Faktums müssen Eltern aus niedrigeren Schichten vernünfti-
gerweise annehmen, dass ihr Kind nicht so große Chancen auf schulischen Er-
folg hat wie Kinder von Eltern aus höheren Schichten.
Die Ergänzung der Hartmut Esser hat eine Erklärung für schichtspezifische Bildungsentschei-
SEU-theoretischen
dungen geliefert, die die ersten beiden Schritte einer vollständigen Erklärung auf
Erklärung schichtspe-
zifischer Bildungs- der Basis der RCT beinhaltet. Der dritte Schritt fehlt jedoch, d.h. er hat keine
entscheidungen um Transformationsregel(n) angegeben. Das gesellschaftliche Phänomen des engen
Transformationsre- Zusammenhangs zwischen Schichtzugehörigkeit und Bildungserfolg scheint sich
geln durch Rolf
für ihn als Summe der Entscheidungen der Eltern aus verschiedenen sozialen
Becker
Schichten für einen bestimmten Bildungsgang ihrer Kinder zu ergeben. Rolf
Becker hat dieser Auffassung in seinem Aufsatz „Klassenlage und Bildungsent-
scheidungen“ aus dem Jahr 2000 widersprochen. Er meint, dass „die Rolle des
Bildungssystems bei der theoretischen Verknüpfung von elterlicher Bildungsent-
scheidung auf der Individualebene und dem auf der strukturellen Ebene angesie-
delten Phänomen der Bildungsungleichheit ... vernachlässigt wird“ und „bei der
Aggregation vieler einzelner elterlicher Bildungsentscheidungen ... die hochgra-
dig institutionalisierte Selektionsleistung des Bildungssystems systematisch
eingeschlossen werden [muss], damit die theoretische Verknüpfung zwischen der
individuellen und gesamtgesellschaftlichen Ebene gelingt“ (Becker 2000: 456).
Als „Selektionsleistung des Bildungssystems“, die zwischen der Entscheidung
der Eltern für einen bestimmten Sekundarschultyp und dem tatsächlichen Über-
Die Theorie der Rationalen Wahl 277

gang auf einen Sekundarschultyp steht, betrachtet Becker die Grundschulemp-


fehlung, also die Empfehlung, die Abgänger von der Grundschule von ihrer
Klassenlehrerin oder dem Lehrerkollegium darüber erhalten, welchen Sekundar-
schultypus sie besuchen sollten. Das um diese Größe erweiterte Erklärungsmo-
dell unterzieht Becker einem statistischen Test, und es zeigt sich, dass die sub-
jektiv wahrgenommenen Nutzen und Kosten höherer Bildung und die erwartete
Wahrscheinlichkeit für den Bildungserfolg des Kindes tatsächlich zwischen
Eltern aus verschiedenen sozialen Schichten variieren und die schichtspezifi-
schen Bildungsentscheidungen der Eltern z.T. erklären können. Das bestätigt
Essers SEU-theoretische Erklärung elterlicher Bildungsentscheidungen. Der
statistische Test ergibt aber auch, dass der tatsächliche Übergang auf einen be-
stimmten Sekundarschultyp nicht nur von der Entscheidung der Eltern, sondern
ebenso stark von der Grundschulempfehlung abhängt. Damit zeigt sich, dass
„Bildungsungleichheit nicht ohne weiteres ausschließlich als eine Folge indivi-
dueller Bildungsentscheidungen anzusehen ist. Für die Verbindung zwischen
individueller und struktureller Ebene beinhalten die Institutionen des Bildungs-
systems wichtige Transformationsregeln...“ (Becker 2000: 467). Becker ist damit
eine Erklärung der Bildungsungleichheit zwischen sozialen Schichten gelungen,
die in jeder Hinsicht dem Modell einer vollständigen soziologischen Erklärung
nach Coleman entspricht und sich außerdem empirisch bewährt hat.

Lektürevorschlag:

Kurze Darstellungen weiterer Anwendungsbeispiele für die RCT finden Sie bei: Hill, Paul
B. (2002): Rational-Choice-Theorie. Bielefeld: transcript Verlag, S. 58-71.
Einen kurzen Überblick über Anwendungen der RCT in verschiedenen Forschungsgebie-
ten, u.a. in der Familien-, Geschlechter- und Organisationsforschung, liefern: Hech-
ter, Michael/Kanazawa, Satoshi (1997): Sociological Rational Choice Theory. In:
Annual Review of Sociology 23: S. 191-214, darin: S. 196-208.

6 Kritik an der RCT und offene Fragen


Wie bereits ausgeführt wurde, ist die RCT keine Theorie, die einem einzigen
Fachgebiet zugeordnet werden kann. Die RCT kann treffender als ein fächer-
und disziplinenübergreifendes Forschungsprogramm betrachtet werden, das aus
allen Fachrichtungen Anregungen erhält, aber auch aus den unterschiedlichsten
Blickwinkeln und Erkenntnisinteressen heraus kritisiert und diskutiert wird.
Einige dieser verschiedenen Blickwinkel bzw. Kritik- und Diskussionspunkte,
auf die Sie in der Literatur über die RCT immer wieder stoßen werden, werden
im Folgenden vorgestellt.
278 Heike Diefenbach

6.1 Kritik am Menschenbild der RCT und an der SEU-Theorie

Kritik am Menschen- Der überwiegende Anteil der kritik- und diskussionswürdigen Punkte im Zu-
bild der RCT aus
feministischer Sicht
sammenhang mit der RCT hat mit dem ihr zugrunde liegenden Menschenbild
oder der handlungstheoretischen Basis der RCT, der SEU-Theorie, zu tun. So
wird die RCT manchmal abgelehnt, weil das Menschenbild, das ihr zugrunde
liegt, als ungerechtfertigt pessimistisch oder – umgekehrt – als ungerechtfertigt
optimistisch betrachtet wird. Diejenigen, die es als zu pessimistisch einschätzen,
beziehen sich auf die Betonung der Rationalität in der RCT. Von feministischer
Seite wird vorgebracht, in der RCT würden die „menschlichen Fähigkeiten Ratio
und Emotion künstlich in zwei gegensätzliche Dichotomien geteilt“, und diese
„Trennung von (subjektiver) Emotion und (objektiver) Ratio [sei] aus der Sicht
eines separatistischen Selbstverständnisses zu verstehen ... (separate self), das im
Alltag eher der männlichen Lebenswelt zugeordnet wird“ (Holst 2001: 6). Abge-
sehen davon, dass die besagte Trennung, wenn sie vorgenommen würde, eine
Dichotomie und nicht zwei Dichotomien darstellen würde und es nicht sinnvoll
ist, von „gegensätzlichen Dichotomien“ zu sprechen, weil Dichotomien per defi-
nitionem gegensätzlich sind, ist diese Auffassung deswegen falsch, weil Emotio-
nen in der RCT meistens keine Rolle spielen (als Ausnahmen können Becker
1996 und Simon 1993 gelten) und Rationalität in der RCT keineswegs als objek-
tive Rationalität aufgefasst wird (vgl. Abschnitt 2.2). Man kann also bestenfalls
kritisieren, dass Emotionen im Rahmen der RCT kaum thematisiert werden, wie
das z.B. Jon Elster (1998) tut, aber nicht, dass die RCT eine Trennung zwischen
Ratio und Emotionen (und schon gar nicht zwischen objektiver Ratio und sub-
jektiven Emotionen) vornehmen würde. Anders als einige Feministinnen dies tun
geht die RCT auch nicht davon aus, dass Männer und Frauen unterschiedliche
Kompetenzen in Bezug auf Ratio oder Emotion haben. Vielmehr kann es gerade
als emanzipatorische Leistung der RCT gelten, dass sie Rationalität als allgemein
menschliche Eigenschaft definiert. Auch nimmt die RCT keine Wertung der Art
vor, dass Rationalität als menschliche Eigenschaft besonders geschätzt würde.
Sie geht davon aus, dass Menschen rational handeln, und vielleicht auch davon,
dass Rationalität eine besonders wichtige Eigenschaft des Menschen ist, aber
dass Rationalität eine allen anderen menschlichen Eigenschaften vorzuziehende
Eigenschaft sei, wird nicht behauptet. Und selbst dann, wenn es behauptet wür-
de, wäre dies ein rein ideologischer und daher kein wissenschaftlich akzeptabler
Grund, die RCT abzulehnen. Wenn tatsächlich „die Gefahr [besteht], dass bei
einer Tendenz, menschliche Qualitäten in gegensätzlich definierte Dichotomien
zu trennen, das den beiden Sphären zugeordnete Verhalten unterschiedlich be-
wertet oder sogar missbilligt wird“ (Holst 2001: 6/7), dann begibt sich die RCT
jedenfalls nicht in diese Gefahr.
Widerlegt altruisti- Eine differenziertere Kritik ist diejenige, nach der die RCT zu kurz greife,
sches Handeln die
wenn sie als einziges Handlungsmotiv von Menschen die Nutzenmaximierung
Nutzen-maximie-
rungsthese der RCT? (aner)kenne, weil Menschen durchaus zu selbstlosem Handeln fähig seien und
auch häufig entsprechend handelten. Dieser Kritik kann man entweder dadurch
begegnen, dass man die Existenz altruistischen, d.h. selbstlosen Handelns be-
streitet, bei dem der Handelnde allein am Wohlergehen anderer und nicht am
„warmen Schein“ (‚warm glow’; Andreoni 1989: 1448) interessiert ist, der auf
Die Theorie der Rationalen Wahl 279

ihn selbst fällt, wenn er im Interesse anderer handelt. Selbstloses Handeln ist
dann scheinbar selbstloses Handeln im Sinne Humes (vgl. Abschnitt 2.1). Oder
man schließt echtes selbstloses Handeln als Anomalie aus einer Erklärung durch
die RCT aus. Die meisten Vertreter der RCT neigen zur folgenden Lösung: Wem
das Wohlergehen eines anderen wichtig ist, der baut dessen Wohlergehen in die
eigenen Nutzenkalküle ein, so lautet die Vermutung. Aus diesem Grund werden
z.B. in familiensoziologischen Studien, die eine RC-theoretische Erklärung ver-
suchen, Ehepartner oder Eltern und Kinder als Einheiten definiert, also als Ehen,
Familien oder Haushalte, für die ein gemeinsames Nutzenkalkül angenommen
wird. So schreibt der berühmte Haushaltsökonom und Nobelpreisträger Gary
Becker: „Die ökonomische Sicht der Familie nimmt an, dass selbst intime Ent-
scheidungen […] durch Abwägung der Vorteile und Nachteile alternativer Hand-
lungsweisen getroffen werden. Die Gewichte werden durch Präferenzen be-
stimmt, die entscheidend von Altruismus und von Gefühlen der Pflicht und
Schuldigkeit gegenüber Familienmitgliedern abhängen“ (Becker 1996a: 40).
Und an anderer Stelle behauptet er: „Die Annahme des Altruismus ist für die
überwiegende Mehrheit von Familien realistisch, obwohl die Beziehungen zwi-
schen Eltern und Kindern auch von anderen Motiven bestimmt sind“ (Becker
1996b: 121/122). Ob dies aber tatsächlich so ist, lässt sich nur anhand empiri-
scher Forschung zur Übereinstimmung der Nutzenkalküle z.B. von Lebens- oder
Ehepartnern prüfen, die aber bislang aussteht. Auf diese Frage und die weiter
gefasste Frage, ob selbstloses Handeln die Nutzenmaximierungsannahme der
RCT widerlegt, gibt es also keine klare Antwort.
Die RCT wird manchmal schlicht für irrelevant erklärt mit dem Verweis Routinemäßiges
Handeln steht nicht
darauf, dass sie sich auf bewusst getätigte Handlungsentscheidungen beziehe,
außerhalb der RCT
während doch die Mehrzahl menschlicher Handlungen vollzogen würden, ohne
dass ihnen Entscheidungen vorausgegangen wären. Wenn die meisten Handlun-
gen spontan oder aus Routine vollzogen werden, ist dann eine Handlungstheorie,
deren Kern die Annahme eines Nutzenkalküls ist, nicht verfehlt oder nur auf eine
vergleichsweise selten auftretende Sonderform menschlichen Handelns anwend-
bar? Gegen dieses Argument kann man einwenden, dass Handlungsentscheidun-
gen gar nicht so selten getroffen werden und die RCT sich in vielen Fällen Phä-
nomenen widmet, die tatsächlich eine Handlungsentscheidung beinhalten, wie
z.B. in der Studie von Rolf Becker zur Bildungs-ungleichheit, in deren Rahmen
elterliche Bildungsentscheidungen thematisiert werden, bei denen man davon
ausgehen darf, dass es tatsächlich Entscheidungen sind. Darüber hinaus sind
RCT-Vertreter mehrheitlich nicht der Auffassung, dass routinemäßiges Handeln
außerhalb der RCT liege. Vielmehr betrachten sie es als eine Art einfache Ent-
scheidungsheuristik, die in etwa lautet: „Handle so, wie du es in ähnlichen Situa-
tionen getan hast; das ist normalerweise die beste Wahl” (übersetzt aus dem
Englischen nach Harms 2003: 5). Eine solche Heuristik funktioniert sozusagen
Heuristik
als Energiesparer: Bereits die Deutung einer Handlungssituation ist insofern ein
aufwändiger Prozess als er die Verarbeitung einer Vielzahl von Informationen
erfordert. Der Aufwand kann aber dadurch verringert werden, dass auf „... all-
gemeine und integrierte Wissensstrukturen über einen bestimmten Bereich“
(Esser 1990: 234) zurückgegriffen wird, so genannte Schemata und Skripte.
Wenn die Rationalität der Handlung nicht in ihrem Ergebnis, sondern im Prozess
280 Heike Diefenbach

der Handlungswahl liegt, wie oben ausgeführt wurde (vgl. Abschnitt 2.2), dann
kann auch routinemäßiges Handeln rationales Handeln sein: Eine Routine statt
eines aufwändigen Nutzen-Kosten-Kalküls zu verwenden, wenn die Situation
strukturell als eine bereits bekannte Situation definiert wird, ist vernünftig, weil
weniger aufwändig.

Lektürevorschlag:

Bargh, John A./Barndollar, Kim (1996): Automacity in Action: The Unconscious as Re-
pository of Chronic Goals and Motives. In: Gollwitzer, Peter M./Bargh, John A.
(Hrsg.): The Psychology of Action: Linking Cognition and Motivation to Behavior.
New York: Guilford Press, S. 457-481.

Die SEU-Theorie hat Heuristiken werden aber auch in echten Entscheidungssituationen verwendet,
sich als empirisch
d.h. auch in solchen Situationen verfahren Menschen nicht so, wie es die SEU-
falsch erwiesen. Ist
sie deshalb un- Theorie postuliert. Inzwischen liegt eine Vielzahl von empirischen Studien vor,
brauchbar? die dies belegen, insbesondere die experimentellen Studien von Daniel Kahne-
man, Amos Tversky und Kollegen sind in diesem Zusammenhang wichtig (Kah-
neman/Tversky 1996; Kahneman/Slovic/Tversky 1982; Tversky/ Kahneman
1974, aber auch: Gigerenzer/Todd/ABC Research Group 1999 sowie Schoema-
ker 1982, der einen Überblick gibt über die Unterschiede zwischen dem theoreti-
schen Modell der SEU-Theorie und den Beobachtungsdaten, die die Forschung
ergeben hat). Aus diesem Grund wird die RCT insgesamt oder speziell die SEU
manchmal als empirisch falsch abgelehnt: Eine Theorie, die empirisch nachweis-
lich auf falschen Annahmen beruht, sei schlicht unbrauchbar. Auch diesem Ein-
wand kann man auf (mindestens) drei verschiedene Weisen begegnen.
Die Einschränkung Die erste Möglichkeit besteht darin, die SEU-Theorie nicht als empirische,
der SEU-Theorie auf
sondern als normative Theorie aufzufassen (vgl. Abschnitt 2.2). Für Richard
eine normative
Theorie Thaler sind die „Fehler“, die Menschen bei der Wahl einer Handlung machen,
mit optischen Täuschungen vergleichbar, und niemand kommt auf die Idee, diese
optischen Täuschungen als etwas anderes als Täuschungen darzustellen, nur,
weil Menschen ihnen unterliegen und sie die menschliche Wahrnehmung prägen:
„It goes without saying that the existence of an optical illusion that causes us to
see one of two equal lines as longer than the other should not reduce the value
we place on accurate measurement. On the contrary, illusions demonstrate the
need for rules!“ (Thaler 1991: 138). Eine normative Theorie, die einen Standard
vorgibt, an dem sich Handeln ausrichten soll, bleibt nicht nur unberührt von dem
Vorwurf, Menschen würden nicht diesem Standard entsprechend handeln (weil
sie das ja nicht behauptet); sie gewinnt hieraus sogar einen Gutteil ihrer Rele-
vanz: Je weniger Menschen nach den Standards handeln, die eine normative
Theorie postuliert, desto notwendiger erscheint es, Menschen über diese Stan-
dards aufzuklären und ihnen die Möglichkeit zu geben, ihr Handeln an ihnen
auszurichten. (In Abschnitt 2.2 wurde bereits darauf hingewiesen, dass Savage
selbst mit der Formulierung der SEU-Theorie beabsichtigte, einen Maßstab für
rationales Handeln zu entwickeln.) Diese möglicherweise paternalistisch anmu-
tende Auffassung wird dadurch unterstützt, dass „falsche“ Entscheidungen tat-
Die Theorie der Rationalen Wahl 281

sächlich sowohl individuelle als auch gesellschaftliche Kosten verursachen: „The


optimistic bias and irrational discounting cost our health care and social welfare
system billions of dollars annually in uninsured treatment and indigent services“
(Trout 2005: 393). Weil jeder Mensch im Verlauf seines Lebens mit einer Viel-
zahl möglicherweise weit reichender Entscheidungen konfrontiert ist, wie der,
sich einer Impfung zu unterziehen oder es nicht zu tun, ein bestimmtes Medika-
ment einzunehmen oder es nicht zu tun, eine Lebensversicherung in einer be-
stimmten Höhe abzuschließen oder irgendeine Form der Altersvorsorge zu tref-
fen, ist es in seinem eigenen Interesse, die Nutzen verschiedener Handlungsalter-
nativen möglichst umfassend und korrekt gegeneinander abzuwägen und die
optimale Handlung zu wählen: „People need to learn how to think about acting
in ways that are in better conformity with their deep-set values and beliefs“
(Raiffa 1994: 8; vgl. auch Fischer 1989: 495/496 und Trout 2005: 395/396).
Tatsächlich gibt es einige Studien, die zeigen, dass statistische oder wahrschein-
lichkeitstheoretische Bildung unter bestimmten Umständen dazu beiträgt, dass
Menschen rationale Entscheidungen (im Sinn der SEU-Theorie) treffen
(Fong/Krantz/Nisbett 1986; Hansen/Helgeson 1998). Die Vorstellung, dass rati-
onal im Sinne eines durch die Wissenschaft vorgegebenen Maßstabs zu handeln,
letztlich bedeute, ein Wissenschaftler in Bezug auf die eigenen Handlungsent-
scheidungen zu werden, hat bereits Parsons (1968: 66) herausgearbeitet. Er lehn-
te diese Vorstellung allerdings ab, und zwar mit der Begründung, dass dann nur
als rationales Handeln gelte, was dem Modell von Rationalität folge, das der
Wissenschaftler aufgestellt habe und das auf der Grundlage wissenschaftlicher
Erkenntnisse „richtig“ und damit objektiv richtig sei. Subjektive Rationalität
könne es dann gar nicht geben, sondern nur objektiv rationales Handeln einer-
seits oder irrationales Handeln andererseits (Parsons 1968: 65/66). Was Parsons
kritisiert, betrachten Vertreter der SEU-Theorie als einer normativen Theorie
gerade als Vorteil: Eine als normativ aufgefasste SEU-Theorie hat nämlich nicht
nur den beschriebenen emanzipatorischen Effekt, sondern verhindert auch, dass
Rationalität zu einem inhaltsleeren Konzept oder einer Frage des Geschmacks
(„a matter of taste“; Fischer 1989: 491) wird: Wenn Rationalität subjektiv aufge-
fasst wird, dann besteht die Gefahr, dass jede Handlung, die jemand getätigt hat,
als rational gilt oder gelten kann, denn wäre sie es nicht, hätte sich die betreffen-
de Person ja nicht für sie entschieden. Im Extremfall gibt es dann kein irrationa-
les Handeln, und „der Irrsinnige, der sich für ein ‚verlorenes Ei’ hält, ist nur
deshalb zu verurteilen, weil er in der Minderheit ist, oder sagen wir lieber – da
wir nicht unbedingt von der Demokratie ausgehen müssen –, weil die Regierung
anderer Meinung ist als er. Das ist eine trostlose Auffassung, und wir müssen
hoffen, ihr auf irgendeine Weise entrinnen zu können“ (Russell 1999: 682). Eine
Möglichkeit, ihr zu entrinnen, ist, eine normative Theorie rationalen Handelns zu
vertreten. Während sich in der Ökonomie zwei Lager formiert haben, die jeweils
für die normative Variante der SEU-Theorie (genannt: „Rational Economics“)
oder die empirische Variante der SEU-Theorie (genannt: „Behavioral Econo-
mics“) eintreten, sind die RC-Theoretiker, die die SEU-Theorie als empirische
Theorie betrachten, in der Soziologie deutlich in der Mehrheit.
282 Heike Diefenbach

Die SEU-Theorie als Nach einer anderen Argumentation, deren berühmtester Vertreter der Öko-
„als-ob“-Theorie im
nom und Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften Milton Friedman ist, ist
Sinn Milton
Friedmans die Brauchbarkeit einer Theorie vor allem danach zu beurteilen, ob sie dazu
geeignet ist, prüfbare Aussagen zu generieren und ob sie sich empirisch als er-
klärungskräftig erweist. Ob ihre einzelnen Bestandteile „wahr“ im Sinne von
empirisch wahr oder zutreffend sind, sei dagegen zweitrangig. Friedman stellt
seine Auffassung von der SEU-Theorie als einem unrealistischen, aber sparsa-
men Werkzeug zur Vorhersage von Handlungsentscheidungen realistischen
Theorien gegenüber, deren Ziel es sei, möglichst korrekt und genau abzubilden,
wie sich etwas tatsächlich verhält. Er ist der Überzeugung, dass es nicht Ziel der
Wissenschaft sein kann, realistische, d.h. akkurat beschreibende Theorien zu
entwickeln, weil diese am Ende ebenso detailliert, komplex und umfassend wä-
ren wie das Phänomen, das sie beschreiben. Man hätte aus dieser Art von Theo-
rien keinerlei Gewinn: „Any attempt to move very far in achieving this kind of
‚realism’ is certain to render a theory utterly useless“ (Friedman 1953: 32). The-
orien sind nach Friedmans Auffassung vielmehr dazu da, möglichst viele ver-
schiedene Phänomene durch möglichst wenige Annahmen zu erklären, d.h. eine
komplexe Welt mit Hilfe möglichst weniger Größen und einfacher Mechanismen
zu erklären, ganz so, wie eine Landkarte nur deswegen nützlich und handhabbar
ist, weil sie die Außenwelt unter Auslassung vieler Details zugunsten weniger
anderer Details maßstabgerecht abbildet (vgl. Poundstone 1992a: 38-40). Theo-
rien im Sinne Friedmans werden in der Literatur gewöhnlich als „als-ob“-
Theorien bezeichnet. Als eine als-ob-Theorie macht die SEU-Theorie Voraussa-
gen darüber, für welche Handlung sich eine Person in einer bestimmten Hand-
lungssituation entscheiden wird. Wenn die Person so handelt, wie vorhergesagt,
hat sich die Theorie bewährt, und man kann sagen, dass Menschen so handeln,
als ob sie dabei so vorgehen würden, wie die SEU-Theorie es behauptet. Mit
dieser pragmatischen Haltung steht Friedman keineswegs allein. Auch der Be-
gründer der SEU-Theorie selbst, Leonard Savage, stellt fest: „It is appealing to
suppose that, if two individuals in the same situation, having the same tastes and
supplied with the same information, act reasonably, they will act in the same way
.... Personally I believe that [this idea] does not correspond even roughly with
reality, but, having at the moment no strong argument behind my pessimism on
this point, I do not insist on it” (Savage 1954: 7 [Hervorhebung durch H.D.]).
Deshalb, und weil er seine Theorie – wie wir bereits gesehen haben – für eine
normative Theorie hält, hat er keine Probleme damit, seine Theorie, die er nicht
für realistisch hält, auf den folgenden 370 Seiten seiner „Foundations of Sta-
tistics“ auszuführen.

Lektürevorschlag:

Friedman, Milton (1953): The Methodology of Positive Economics. In: Milton Friedman:
Essays in Positive Economics. Chicago: University of Chicago Press, S. 3-43, darin:
S. 30-34.
Die Theorie der Rationalen Wahl 283

Eine weitere Möglichkeit, auf die Kritik zu reagieren, nach der es falsch sei an- Begrenzte Rationali-
tät und das „satisfi-
zunehmen, dass Menschen Handlungsentscheidungen so träfen, wie die SEU-
cing“-Prinzip nach
Theorie es behauptet, ist, die SEU-Theorie als Handlungstheorie im Rahmen der Herbert A. Simon
RCT fallen zu lassen oder solche Veränderungen oder Ergänzungen an ihr anzu-
bringen, die die empirischen Befunde zum menschlichen Entscheidungsverhalten
aufnehmen und einarbeiten. Bereits kurz nach dem Erscheinen des Buches von
Savage im Jahr 1954 hat ein weiterer Nobelpreisträger für Wirtschaftswissen-
schaften (der eigentlich Sozialwissenschaftler war), Herbert A. Simon, vorge-
schlagen, einige Vereinfachungen an der SEU-Theorie vorzunehmen. U.a. geht
Simon davon aus, dass Menschen in Entscheidungssituationen nur wenige Hand-
lungsalternativen in Betracht ziehen und aufhören, weitere Alternativen zu be-
trachten, sobald sie auf eine Handlungsalternative stoßen, die ihrer Meinung
nach den Zweck des Handelns erfüllen wird. Handlungsalternativen, die sich bei
weiterer Überlegung als noch besser geeignet zur Zielerreichung erwiesen hätten,
werden dann gar nicht mehr betrachtet. Simon lehnt also das Maximierungsprin-
zip der SEU-Theorie (vgl. Abschnitt 2.2) ab und ersetzt es durch das „satisfi-
cing“-Prinzip. Dieser Begriff ist das Ergebnis einer Kombination der Worte
„sufficing“ (zu Deutsch: „ausreichend sein“) und „satisfying“ (zu Deutsch: „zu-
frieden stellend sein“). Man könnte das „satisficing“-Prinzip daher – unvoll-
kommen – als Zufriedenheitsprinzip bezeichnen. Angesichts beschränkter zeitli-
cher und kognitiver Ressourcen, die für eine Handlungsentscheidung zur Verfü-
gung stehen, und angesichts unvollkommener Informationen über Handlungsal-
ternativen und deren Konsequenzen ist es effizienter, nach diesem Prinzip als
nach dem Maximierungsprinzip zu handeln. Simon ist aber überzeugt, dass das
„satisficing“-Prinzip nicht nur effizienter ist, sondern dass es Menschen gar nicht
möglich ist, gemäß dem Maximierungsprinzip zu entscheiden, weil ein Mensch
niemals alle Handlungsalternativen samt ihrer Handlungskonsequenzen kennen
oder bedenken und gegeneinander abwägen kann. Simon spricht daher von der
menschlichen Rationalität als einer „begrenzten Rationalität“ (“bounded rationa-
lity“, Simon 1957: 198).
Von der Vorstellung von der begrenzten Rationalität ausgehend hat sich ei- Ökologische Rationa-
lität nach Gerd Gige-
ne eigene Forschungsrichtung in der Psychologie entwickelt, die sich zum Ziel
renzer als neues
gesetzt hat zu untersuchen, wie Menschen entscheiden und wo genau die Be- Konzept begrenzter
schränkungen der kognitiven Fähigkeiten von Menschen liegen. Einer der derzeit Rationalität
einflussreichsten und berühmtesten Vertreter dieser Forschungsrichtung ist der
deutsche Kognitionspsychologe Gerd Gigerenzer, der Forschungsergebnisse über
die menschliche Kapazität zur Entscheidungsfindung und Problemlösung mit
evolutionstheoretischen Überlegungen in Verbindung bringt und eine „ökologi-
sche Rationalität“ postuliert, die als adaptives Verhalten aufgefasst wird, das
seinen Ursprung in der Passung der Mechanismen hat, nach denen der menschli-
che Geist funktioniert, und der Struktur der Umwelt, in der er operiert (Gigeren-
zer/Todd 1999: 728); vgl. auch die Darstellung von Rationalität in der Evoluti-
onspsychologie in Abschnitt 2.1). Seine und ähnlich ausgerichtete Arbeiten ha-
ben starke informationstheoretische Bezüge und reichen bis in den Bereich der
Künstlichen Intelligenz. Ihre Relevanz für die Erklärung gesellschaftlicher Phä-
nomene, für die sich Soziologen interessieren, ist aber noch umstritten.
284 Heike Diefenbach

Lektürevorschlag:

Einen recht gut verständlichen Überblick über verschiedene Varianten bzw. aktuelle
Weiterentwicklungen des Konzeptes der begrenzten Rationalität finden Sie bei:
Hoffrage, Ulrich/Reimer, Torsten (2004): Models of Bounded Rationality: The Ap-
proach of Fast and Frugal Heuristics. In: Management Revue 15, 4, S. 437-459.

6.2 Kritik an der RCT als Forschungsprogramm

Der Psychologismus- Die starke Beschäftigung mit der SEU-Theorie oder – allgemein – mit der Frage
Vorwurf an die RCT
danach, wie genau die Handlungstheorie im Rahmen der RCT aussehen soll, hat
bei einigen Autoren den Eindruck hinterlassen, die RCT sei eigentlich eine Ent-
scheidungstheorie oder wolle gesellschaftliche Phänomene letztlich psycholo-
gisch erklären (Haller 1999: 310; Srubar 1994). Dies erscheint aber nur dann so,
wenn man übersieht, dass für eine RC-theoretische Erklärung gesellschaftlicher
Phänomene die gesellschaftliche Ebene in doppelter Hinsicht wichtig ist, näm-
lich einmal bei der Formulierung der Bedingungen, unter denen die Handlungs-
entscheidungen von Individuen getroffen werden müssen, und ein weiteres Mal
bei der Formulierung der Regeln, die die individuellen Handlungen zum gesell-
schaftlichen Phänomen transformieren (vgl. Abschnitt 3). Insofern als bei einer
RC-theoretischen Erklärung immer gezeigt werden muss, wie die individuelle
Ebene und die gesellschaftliche Ebene ineinander greifen, gilt: „Unlike decision
theory, rational choice theory is inherently a multilevel enterprise“ (Hech-
ter/Kanazawa 1997: 193; Hervorhebung durch H.D.).
Der Trivialitätsvor- Betrachtet man empirische Studien, die eine RC-theoretische Erklärung für
wurf an die RCT
bestimmte gesellschaftliche Phänomene versuchen, wie z.B. die oben angespro-
chenen Studien von Rolf Becker zur Bildungsungleichheit oder die Arbeiten von
Bernhard Nauck zu international unterschiedlich hohen Geburtenraten, so stellt
man fest, dass in ihnen tatsächlich kein Versuch gemacht wird, die zur Verfü-
gung stehenden Handlungsalternativen sowie die Kosten und Nutzen der mit
ihnen verbundenen Handlungskonsequenzen im Einzelnen zu spezifizieren, wie
das eigentlich gemäß der SEU-Theorie erforderlich wäre. (Den weitestgehenden
Versuch in der deutschsprachigen Soziologie, Handlungsentscheidungen in der
Form zu untersuchen, in der sie in der SEU-Theorie beschrieben werden, haben
m.E. Opp/Roehl in ihrer Untersuchung über die Ursachen politischen Protestes
im Zusammenhang mit dem Reaktorunglück von Tschernobyl (1990) vorgelegt.)
Stattdessen orientieren sich diese Studien an stark vereinfachten Varianten der
SEU, die eher der Vorstellung von der begrenzten Rationalität entsprechen, und
räumen der Untersuchung der gesellschaftlich definierten Handlungsspielräume
und -beschränkungen einigen Raum ein. Während dies von einigen Autoren
begrüßt wird, weil es eine realistischere Vorstellung von den Handlungsent-
scheidungen von Menschen darstellt als die SEU-Theorie, kritisieren andere,
dass damit die Aussagen über die Handlungsentscheidungen, die Individuen
treffen, trivial und wenig informativ würden, weil nichts mehr ausgesagt würde,
was nicht jeder schon wüsste (Bohmann 1994: 67). Es scheint, dass es die RCT
in dieser Frage einfach nicht jedem recht machen kann: Entweder ihr wird vor-
Die Theorie der Rationalen Wahl 285

geworfen, unrealistisch hohe Ansprüche an die Entscheidungskompetenz von


Menschen zu erheben, oder ihr wird vorgeworfen, triviale Aussagen zu machen,
die ebenso auf der Basis des Alltagsverstandes hätten gemacht werden können.
Dies verweist zurück auf die Frage, wie abstrakt und allgemein eine Theorie sein
muss, um anhand weniger Größen möglichst viele gesellschaftliche Phänomene
erklären zu können, und wie abstrakt und allgemein sie sein darf, um nicht trivial
oder inhaltsleer zu sein. Eine Entscheidung in dieser Frage ist nicht absehbar,
falls sie überhaupt möglich ist. Klar ist aber, dass sie zwar auch an die RCT, aber
nicht nur an sie zu richten ist, sondern an alle soziologischen oder sozialwissen-
schaftlichen Theorien, die den Anspruch erheben, Erklärungen für gesellschaftli-
che Phänomene zu liefern, statt sich z.B. darauf zu beschränken, andere Theorien
zu kritisieren, wie dies nach Auffassung verschiedener Autoren (darunter Ha-
bermas 1985; Norris 2000; Thompson 1993) z.B. Poststrukturalisten bzw. Post-
modernisten tun.

7 Literatur
Andreoni, James (1989): Giving with Impure Altruism: Applications to Charity and Ri-
cardian Equivalence. In: The Journal of Political Economy, 97, 6, S. 1447-1458.
Archer, Margaret S. (1982): Morphogenesis Versus Structuration: On Combining Struc-
ture and Action. In: The British Journal of Sociology 33, 4, S. 455-483.
Arrow, Kenneth J. (1994): Methodological Individualism and Social Knowledge. In: The
American Economic Review 84, 2, S. 1-9.
Avenarius, Hermann/Ditton, Hartmut/Döbert, Hans/Klemm, Klaus/Klieme, Eck-
hard/Rürup, Matthias/Tenorth, Heinz-Elmar/Weishaupt, Horst (2003): Bildungs-
bericht für Deutschland. Erste Befunde. Opladen: Leske + Budrich.
Axelrod, Robert (1997): The Complexity of Cooperation. Agent-Based Models of Com-
petition and Collaboration. Princeton: Princeton University Press.
Bargh, John A./Barndollar, Kim (1996): Automacity in Action: The Unconscious as Re-
pository of Chronic Goals and Motives. In: Gollwitzer, Peter M./Bargh, John A.
(Hrsg.): The Psychology of Action: Linking Cognition and Motivation to Behavior.
New York: Guilford Press, S. 457-481.
Becker, Gary S. (1996): Accounting for Tastes. Cambridge: Harvard University Press.
Becker, Gary S. (1996a): Die ökonomische Sicht des Verhaltens. In: Pies, Ingo (Hrsg.):
Gary S. Becker. Familie, Gesellschaft und Politik – die ökonomische Perspektive.
Tübingen: J. C. B. Mohr, S. 21–49.
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Matthias Junge

Strukturalismus/Poststrukturalismus

1 Einleitung
Die folgende Darstellung skizziert die Grundzüge des strukturalistischen Para-
digmas, es fasst Argumente zusammen, die sich zu einem zusammenhängenden
Muster fügen. Dies geschieht anhand ausgewählter Vertreter und beispielhafter
Texte mit dem Ziel, die schrittweise Entwicklung, Entfaltung und Veränderung
des strukturalistischen Paradigmas aufzuzeigen. Es geht nicht vorrangig um die
umfassende Darstellung der Werke der ausgewählten Vertreter des Strukturalis-
mus. Vielmehr sind für diese Einführung sowohl die behandelten Autoren wie
auch ihr Gesamtwerk zweitrangig.
Im Vordergrund stehen einzelne Argumentationsfiguren, grundlegende
konzeptionelle Unterscheidungen, Beschreibungen des methodischen Vorgehens
strukturalistischer Analysen und zentrale Texte und Textstellen. Deutlich werden
soll so, wie man strukturalistisch denken kann. Die Interessenten an einzelnen
Autoren oder umfassenden Werkdarstellungen seien auf die einschlägigen Ge-
samtdarstellungen verwiesen. Im Mittelpunkt werden hier ausschließlich der
Kern des strukturalistischen Paradigmas und seine Veränderungen stehen.

2 Sprachwissenschaftlicher Strukturalismus
Der Strukturbegriff ist für die Soziologie ein unverzichtbares Arbeitsinstrument.
Vor allem in der Sozialstrukturanalyse, so beispielsweise in der Analyse sozialer
Ungleichheit, sind Sie dem Begriff bereits begegnet. Dort bedeutet er die Anord-
nung von Elementen zu einer Ganzheit. Dieser allgemeine Strukturbegriff, der
Struktur als Relationen von Elementen versteht, ist jedoch nur eine Möglichkeit,
den Strukturbegriff in der Soziologie fruchtbar zu machen. Eine andere Mög-
lichkeit bietet der Strukturbegriff des Strukturalismus.
Der Strukturbegriff des Strukturalismus weicht von der üblichen Bedeutung Struktur
erheblich ab. Er zielt auf die Eigenbedeutung des Zusammenhangs von Zeichen.
Ein Zeichen gilt dabei als eine Art Stellvertreter, er vertritt etwas Gemeintes, Sinn
verweist auf etwas Abwesendes. Der Sinn eines Zeichens ergibt sich nur aus
seiner Beziehung zu anderen Zeichen. Diese Beziehung, diese Struktur ist mit
dem Sinn der Zeichen identisch. Ein Zeichen als ein einzelnes Zeichen hat kei-
nen Sinn. Sinn hat nur die Beziehung zwischen Zeichen (vgl. hierzu auch den
Beitrag von Reiner Keller in diesem Band, S. 54ff.).
Der Strukturbegriff in dieser Fassung ist maßgeblich geprägt durch die Ar- Ferdinand de
Saussure
beiten des Schweizer Sprachwissenschaftlers Ferdinand-Mongin de Saussure
292 Matthias Junge

(1857-1913), der 1916 postum Autor des Werkes „Grundfragen der Sprachwis-
senschaften“ war. In dieser Arbeit wird die Struktur sprachlicher Zeichen unter-
sucht und eine Möglichkeit herausgearbeitet, wie der Sinn sprachlicher Zeichen
entschlüsselt werden kann.

Ferdinand-Mongin de Saussure (1857-1913)

Saussure wurde 1857 in Genf geboren und verstarb 1913.


Er gilt als einer der bedeutendsten Begründer der Sprach-
wissenschaft.
Er wuchs in einer calvinistischen Familie auf und
fand bereits früh Prägung und Beeinflussung durch sprach-
wissenschaftlich interessierte Freunde der Familie. Schon
1876 studierte er Sprachwissenschaften und wurde Mit-
glied der neu gegründeten sprachwissenschaftlichen Verei-
nigung in Paris. Von 1876 – 1880 studierte er in Lepzig,
war zwischenzeitlich kurz in Berlin und schloss sein
Studium 1880 mit der Promotion ab. Kurze Zeit später
lehrte er erfolgreich 1881-1891 an der Sorbonne, um anschließend an die
Universität Genf zurückzukehren und dort bis zum Jahre 1912 eine Professur
für indogermanische und allgemeine Linguistik innezuhaben.
Am Ende seiner Zeit als Professor kehrte er aus Krankheitsgründen der
Universität den Rücken und verstarb ein Jahr später im Kreise der Familie.
Dort entstanden die Manuskripte zu einer allgemeinen Sprachwissenschaft,
die heute als sein Hauptwerk gelten. Bis zu diesem Zeitpunkt galt bereits seine
Promotion als sein Hauptwerk, welches sich mit der Thematik des indogerma-
nischen Vokalsystems beschäftigte. Schon früh begann er sich für die Theorie
einer allgemeinen Systematik der Sprache zu interessieren, was sich darin
niederschlug, dass er bereits als 15jähriger ein Manuskript über ein allgemei-
nes System der Sprache entwarf.

Für den sprachwissenschaftlichen Strukturalismus von Saussure sind drei An-


nahmen entscheidend: Erstens, das System der Sprache ist vom Sprechen zu
unterscheiden (a). Zweitens, der Sinn von Zeichen ergibt sich aus der Struktur
der Verknüpfung von Zeichen untereinander (b). Drittens, dieser Sinn ist unab-
hängig von einer Beziehung der Zeichen zu einer Realität (c).

2.1 Sprache und Sprechen

Saussure arbeitet die allgemeinen Strukturen der Sprache als eines Zeichensys-
tems heraus. Sprache wird dabei als das System der Regeln korrekter Zeichen-
verwendung, vergleichbar der Grammatik, verstanden. Die Hauptquelle zur Er-
forschung dieser Strukturen ist die Grammatik.
Zeichenstruktur Der sprachwissenschaftliche Strukturalismus unterscheidet zwar zwischen
Sprachkompetenz, sprachlichen Regeln und Regeln des Sprechens. Er verzichtet
Strukturalismus/Poststrukturalismus 293

aber auf eine genauere Analyse der Sprachkompetenz. Vielmehr beschränkt sich
die Analyse auf die reine Zeichenstruktur der Sprache.
Zu diesem Zweck führt Saussure die begriffliche Differenzierung zwischen Sprache, langue und
Sprechen, die Rede,
sozialverbindlicher langue und individuell ausgeprägter parole ein. Langue be-
parole
zeichnet den strukturellen Aspekt der Sprache, das System von Regeln, welches
verbindliche Konventionen für die Zeichenverwendung vorgibt. Parole hingegen
bezeichnet die Sprachpraxis. Sprache im Sinne von langue ist ein System von
Regeln, welches normativ festgelegt ist. Dagegen ist parole die individuelle An-
wendung, ist die zumeist regelkonforme, jedoch möglicherweise auch kreative
und von der Regel abweichende Benutzung der langue.
Die Konzeption der langue ist vermutlich, die fachliche Diskussion ist hier Die langue ähnelt der
Konzeption des
nicht einig, von der durch Émile Durkheim geprägten Idee des Kollektivbe-
Kollektivbewusst-
wusstseins beeinflusst. Beide Konzepte werden als soziale Tatsache aufgefasst, seins bei Durkheim
die der individuellen Aneignung vorgeordnet ist. Sie „zwingen“ dem Individuum
ihre Struktur auf, sie sind durch das individuelle Handeln oder Sprechen, parole,
nicht zu beeinflussen. Vielmehr ist individuelles Handeln und Sprechen die An-
wendung und Umsetzung der sozial verbindlichen Forderungen des Kollektiv-
bewusstseins im Fall des sozialen Handelns, der langue im Fall der sprachlichen
Handlung.
Die Beziehung zwischen langue und parole ist dadurch ausgezeichnet, dass Die Rede ist die
kreative Anwendung
parole niemals vollständig das System von langue zum Ausdruck bringen kann. der Sprache
Die Sprachverwendung ist keine Abbildung der Struktur von langue. Vielmehr
ist sie ein innovativer und kreativer Umgang mit den normativen Regeln von
langue. So gehorchen beispielsweise die Sätze „Der Tod des Bäckers“ und „Das
Haus des Bäckers“ beide den Regeln des Genitivs, allerdings wissen wir als
Benutzer der Sprache, dass das Haus dem Bäcker anders zuzuordnen ist als sein
Tod.
Saussure definierte in seiner allgemeinen Einführung in die Sprachwissen- Denken in Relationen
schaften das Hauptmerkmal strukturalistischen Denkens durch den relationalen
Ansatz der Rekonstruktion von Sinn und Bedeutung: „Der Wert der einzelnen
Figuren hängt von ihrer jeweiligen Stellung auf dem Schachbrett ab, ebenso wie
in der Sprache jedes Glied seinen Wert durch sein Stellungsverhältnis zu anderen
Gliedern hat.“ (1967: 105)

Die Bedeutung eines Zeichens ergibt sich aus der Beziehung zu anderen Zei-
chen.

Bemerkenswert ist, dass das begrenzte Regelsystem der langue zur Generierung Sprachregeln generie-
ren Sprechmöglich-
einer unbegrenzten Anzahl praktischer Sprachverwendungen herangezogen wer-
keiten
den kann. Das System der Sprache kann, um diese Annahme zu verdeutlichen,
mit dem Regelsystem von Schach verglichen werden. In diesem Spiel reichen
wenige Regeln über die erlaubte Ausführung von Bewegungen der unterschiedli-
chen Spielfiguren aus, um eine unbegrenzte Anzahl von unterschiedlichen Par-
tien zu spielen. Diese Eigenschaft des Regelsystems der Sprache führt später zur
Idee der Tiefengrammatik der Sprache von Noam Chomsky.
294 Matthias Junge

Das Schachspiel als Saussure zieht das Schachspiel heran, um deutlich zu machen, dass die Be-
Beispiel für relationa-
deutung einzelner Figuren wie auch die Bedeutung einzelner Züge nur ersichtlich
les Denken
wird, wenn sie im Gesamtzusammenhang aller anderen Züge und aller anderen
Figuren gesehen werden. Jede Stellung auf einem Schachspiel ist eine individu-
elle Bedeutungskonfiguration, deren Sinn sich nur unter Berücksichtigung aller
anderen Positionen anderer Schachfiguren ergibt. Dann kann die Bedeutung
einer Stellung herausgearbeitet werden. Ohne die Angabe relationaler Strukturen
lässt sich ein Schachspiel nicht rekonstruieren.
Sprachwandel Schließlich ist zu vermerken, dass der Zusammenhang zwischen langue und
parole nicht festgelegt ist, sondern durch die soziale Praxis der Sprachverwen-
dung jederzeit verändert werden kann. Das System der Sprache schreibt zwar
Regeln für das Sprechen, die Sprachverwendung vor, aber die Sprachverwen-
dung unterliegt einem beständigen Wandel. So können wir etwa im „Lexikon der
bedrohten Wörter“ lernen, dass die Sprachverwendung gelegentlich einzelne
Wörter aus ihrem Sprachschatz streicht, weil deren Verwendung unüblich ge-
worden ist. So sind etwa in den letzen Jahren folgende Wörter unüblich gewor-
den: Affenfett, Schindluder, Milchmann, Kratzfuß, Bückling. Umgekehrt gilt
aber auch, dass die Sprachverwendung neue Wörter erzeugt, etwa die Neologis-
men, die im Rahmen der Wahl des Wortes des Jahres ausgewählt werden, so
„Fanmeile“ im Jahre 2006.

Lektürevorschlag:

Saussure, Ferdinand de (1967; Orig. 1916): Grundfragen der allgemeinen Sprachwissen-


schaft. Berlin/New York: de Gruyter, S. 147-157.

Übungsaufgabe:

Suchen Sie Beispiele für unüblich gewordene Wörter und Beispiele für den Be-
deutungswandel einzelner Wörter und zeigen sodann, dass dieser Wandel das
Regelsystem der Sprache nicht berührt. (Hintergrundinformation: Mrozek, Bodo
(2005): Lexikon der bedrohten Wörter. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt)

2.2 Signifikat und Signifikant

Signifikat und Die Analyse des sprachlichen Zeichensystems beruht vor allem auf der Unter-
Signifikant
scheidung von Signifikant und Signifikat. Sprachliche Zeichenverwendung be-
ruht auf der Differenz von Signifikat d. h. dem gedanklich Bezeichneten, dem
Konzept und Signifikant, d.h. dem Bezeichnenden, dem Lautbild. Es verweist
auf ein Konzept, eine Bedeutung, eine Vorstellung. Anders formuliert, der Signi-
fikant ist ein Mittel, um den gemeinten Gegenstand, das Signifikat, zu bezeich-
nen. Aber dieser Zusammenhang ist nicht starr, er hat nicht immer die gleiche
Form, vielmehr ist er eine willkürliche Festlegung.
Strukturalismus/Poststrukturalismus 295

Worauf verweist das Zeichen? Nahe liegend ist die Vermutung, dass ein Zeichen verweisen
auf Zeichen
Zeichen einen Gegenstand, ein Element der Realität anzeigt. Aber diese Annah-
me ist irrig. Ein Zeichen kann nur auf andere Zeichen verweisen. Daraus ergibt
sich, dass Sprache ein in sich geschlossenes System ist. Es wird durch die wech-
selseitige Verwiesenheit von Zeichen auf Zeichen konstituiert. Der Sinn, den
eine Zeichenanalyse rekonstruieren kann, ist immer nur der Sinn von Zeichenzu-
sammenhängen. Sie können zwar zur Kennzeichnung möglicher Verweise auf
die Realität verwandt werden, aber der Sinn von Zeichenzusammenhängen ergibt
sich ausschließlich aus dem Zusammenhang der Zeichen von Konzept, Vorstel-
lung und Lautbild. Sinn ist also etwas, was sich aus den Strukturen, der Anord-
nung von Zeichen ergibt (vgl. hierzu auch den Beitrag von Reiner Keller in die-
sem Band, S. 54ff.).
Der Zusammenhang von Lautbild und Vorstellung, Konzept ist willkürlich. Ein Lautbild kann auf
verschiedene Vorstel-
Es ist nicht so, dass ein Lautbild nur auf eine Vorstellung verweist. Vielmehr
lungen verweisen
kann ein Lautbild viele Vorstellungen meinen. So ist beispielsweise das Lautbild
„motorisiertes Verkehrsmittel“ ein Hinweis auf eine recht große Anzahl damit
bezeichneter Vorstellungen und Konzepte, die Mofas, Mopeds, Motorräder,
Autos, LKWs und Busse umfassen. Die Beziehung zwischen Lautbild und Vor-
stellung ist demnach eine, die vielfältige Bedeutungsmöglichkeiten enthält. Erst
durch die weitere Verwendung zusätzlicher Lautbilder kann es zu einer stärker
eindeutigen Kennzeichnung des Bezeichneten kommen. Diese Präzisierung der
Zuordnung setzt jedoch Kontexte voraus. Diese Kontexte werden, gemäß den
Regeln der sprachwissenschaftlichen Analysen von Saussure, nur durch andere
sprachliche Kontexte zur Verfügung gestellt.
Wie ist das konkrete Verhältnis von Lautbild und Vorstellung zu denken? Die Beziehung zwi-
schen Signifikant und
Saussure verwendet in seiner Analyse das Beispiel eines Blattes Papier. Auf der
Signifikat ist beliebig
einen Seite befindet sich das Lautbild und auf der anderen Seite die damit ange-
zeigte Vorstellung. Beide sind zwei Seiten desselben Blattes und untrennbar
miteinander verbunden. Dieses Bild bringt einerseits die enge Verbindung zwi-
schen Signifikant und Signifikat zum Ausdruck. Andererseits ist dieses selbst
gewählte Beispiel von Saussure in gewisser Weise auch irreführend, weil es das
zentrale Merkmal des Zusammenhangs von Lautbild und Vorstellung nicht an-
gemessen zum Ausdruck bringt. Denn der Zusammenhang zwischen beiden ist
willkürlich, d.h. zufällig, keinesfalls notwendig.

Die Beziehung zwischen Lautbild und Vorstellung ist beliebig.

Lektürevorschlag:

Saussure, Ferdinand de (1967; Orig. 1916): Grundfragen der allgemeinen Sprachwissen-


schaft. Berlin/New York: de Gruyter, S. 13-18.

Anschließend an dessen wegbereitende Unterscheidung von language und parole Semiologie


entwickelte sich die französische Tradition der Zeichentheorie, die Semiologie.
In der Semiologie, wird das Zeichen als zweistellige Relation von Signifikant
296 Matthias Junge

(Lautbild) und Signifikat (Vorstellung) aufgefasst. Die Analysen zielen vordring-


lich auf die sich durch die Relationen zwischen den Signifikanten ergebende
Bedeutung und geben dem sprachlichen Laut, dem phonem, Vorrang in der Ana-
lyse, so etwa in der sprachwissenschaftlichen Weiterführung Saussures durch
Roman Jakobson. Daran wird später Derridas Kritik am Phonozentrismus, der
Bevorzugung der gesprochenen Sprache im Gegensatz zur Schrift, ansetzen.

Lektürevorschlag:

Linke, Angelika/Nussbaumer, Markus/Portmann, Paul R. (2001): Studienbuch Linguistik.


Ergänzt um ein Kapitel "Phonetik und Phonologie" von Urs Willi. Tübingen: Nie-
meyer. 4. unver. Aufl., S. 30-39.

Der Mythos als Die spezifische Perspektive der Semiologie kann an den Arbeiten von Roland
semiologisches
Barthes (1915-1980) verdeutlicht werden. Barthes untersuchte zwischen 1954
System
und 1956 in einer lockeren Folge von Artikeln die „Mythen des Alltags“ (1964).
Diese Mythen waren für ihn recht beliebige Gegenstände, Objekte, des Alltags-
lebens, wie etwa „Beefsteak und Pommes frites“ oder die „Plastik“. Seine Re-
flektionen zielten auf die, ideologiekritisch das Kleinbürgertum analysierend,
Aufdeckung ihrer Bedeutung als eines alltäglichen Mythos.
Wesentlich ist dabei die Annahme, „der Mythos ist eine Aussage.“ (Barthes
1964: 85) Der Mythos ist eine Aussage, weil er eine Botschaft, eine Mitteilung
enthält, er spricht etwas aus, ohne dass das Objekt, etwa die Pommes frites, die
Aussage bestimmt. Diese Schlussfolgerung ist möglich, weil Barthes in semiolo-
gischer Perspektive das Bedeutende (Saussures Signifikant), das Bedeutete
(Saussures Signifikat) und das Zeichen, „die assoziative Gesamtheit der ersten
beiden Termini“ (Barthes 1964: 90), unterscheidet. Der Mythos dient als Meta-
sprache, die das Zeichen der Objektebene, etwa die Pommes frites, als ein Be-
deutendes, als einen Signifikanten in der Metaebene verwendet. Dieser Wechsel
von der Objekt- auf die Metasprache macht den Mythos unabhängig vom Objekt,
lässt den Mythos etwas „ausdrücken“, indem er vom Objekt handelt.
Mode als Zeichen Barthes hat später diese Analyseperspektive noch an anderen Beispielen
durchgeführt, so etwa „Die Sprache der Mode“ (1976) oder in „Das Reich der
Zeichen“ (1981) an den Besonderheiten des Zeichens in der japanischen Kultur.
Im Mittelpunkt steht für ihn immer die Entschlüsselung der Bedeutung des Zei-
chens als ein Zeichens. Wie entsteht die Bedeutung des Zeichens? Welche Be-
deutung „transportiert“ ein Zeichen? In dieser Perspektive interessiert hingegen
nicht, warum ein Zeichennutzer ein bestimmtes Zeichen, etwa einen bestimmten
Modetrend, aufnimmt.

Übungsaufgabe:

Übertragen Sie das Schema der Analyse der Mode von Barthes auf eine heutige
Jugendzeitschrift (etwa Bravo oder Girl) und führen eine semiologische Analyse
durch.
Strukturalismus/Poststrukturalismus 297

2.3 Struktur als Sinn

Ein weiteres wichtiges Merkmal des Zusammenhangs von Vorstellung und


Lautbild im sprachwissenschaftlichen Strukturalismus ist, dass ihre Beziehung
nicht notwendig ist. Folglich kann der Sinn von Lautbildern auch nicht durch die
Rekonstruktion ihres Zusammenhangs mit dem Bezeichneten erschlossen wer-
den. Der Sinn eines Lautbilds, eines Signifikanten kann nur durch die Aufklä-
rung seines Zusammenhanges mit anderen Lautbildern entschlüsselt werden.
Dazu ist Kontextwissen über die Anordnung der Lautbilder, Wissen über ihren
Platz in der Struktur notwendig. So spielt es etwa keine Rolle, ob wir für die
Vorstellung Wasser das deutsche, englische oder französische Wort einsetzen.
Die Bedeutung des jeweils eingesetzten Wortes ergibt sich erst aus dem Kontext
der darum herum angeordneten anderen Begriffe desselben Sprachsystems.
Wenn man diese Analyse aufgreift, so fällt vor allem auf, dass der Sinn ei- Lautbilder bilden ein
Netz von Lautbildern,
nes einzelnen Lautbilds erschlossen wird, indem seine Einbindung in ein Netz
diese Struktur be-
von anderen Lautbildern aufgeschlüsselt wird. Die Analyse des Sinns erfolgt stimmt ihren Sinn
dadurch, dass man ihren Ort in einem Netz von Lautbildern bestimmt. So erhält
das bereits erwähnte Lautbild „Bus“ seinen spezifischen Sinn, wenn benachbarte
Lautbilder wie etwa „war voll besetzt“ und „der“ herangezogen werden, um
seinen Sinn zu bestimmen. Sinn erschließt sich durch Verweis auf anderen Sinn.
Der Sinn von Lautbildern erschließt sich durch die Beziehung zu anderen Laut-
bildern. Wenn man diese allgemeine Formulierung etwas weiter abstrahiert, so
hat man bereits die Grundlagen für die am Ende dieses Kapitels zu beschreiben-
de poststrukturalistische Theorieanlage.
Vorläufig bewegen wir uns jedoch noch in der Grundlegung einer allgemei- Die strukturalistische
Analyse von Sinn
nen strukturalistischen Analyseperspektive. Wenn man die Analysen zum Sinn
braucht kein Subjekt,
von Zusammenhängen zwischen Signifikanten genauer untersucht, so fällt noch das den Sinn erzeugt
eine Eigenschaft einer strukturalistischen Perspektive auf. Wenn sich der Sinn
von Lautbildern aus ihrer Anordnung, aus ihrer Struktur ergibt, so ist Sinn etwas,
was den Signifikanten eigen ist. Der Sinn liegt in der Beziehung der Signifikan-
ten untereinander, in ihrer Struktur. Der Strukturalismus kommt ohne den Ge-
danken eines Sinn verstehenden oder Sinn erzeugenden Subjekts aus. Sinn ist
mit den Strukturen gegeben.
Im Strukturalismus ist Sinn den Relationen von Signifikanten, dem wech- Die Relationen
zwischen Signifikan-
selseitigen Verweis von Signifikanten auf andere Signifikanten inhärent. Diese
ten sind ihr Sinn
Formulierung verweist auf das erste Merkmal, welches für einen soziologischen
Strukturalismus bedeutsam wird: Er konzentriert sich auf die den Strukturen
inhärenten Sinnzusammenhänge. Sinn ist im soziologischen Strukturalismus die
Beziehung von Signifikanten zu Signifikanten. Hierfür ist die Annahme eines
interpretierenden Subjekts unerheblich. Kurz: Die relationalen Zusammenhänge
zwischen Signifikanten sind ihr Sinn, ihre Bedeutung.
Auffallend ist auch, dass die Methode von Saussure unhistorisch arbeitet. Die strukturalistische
Sinnanalyse unter-
Diese Analyse der Strukturen von Lautbildern geht davon aus, dass das System
stellt universale Re-
der sprachlichen Strukturierung als universal und gleich bleibend gedeutet wird. geln, daher ist sie ten-
Der Sinn von Signifikanten ergibt sich aus einer allgemeinen Regel. Diese gilt denziell a-historisch
als invariant, unveränderlich. Insofern hat der sprachwissenschaftliche Struktura-
298 Matthias Junge

lismus von Anfang an eine tendenziell a-historische Orientierung in der Betrach-


tung der sprachlichen Bedeutung.

Insgesamt kennzeichnet der Verzicht auf den Subjektgedanken und eine stark
ausgeprägte A-Historizität die sprachwissenschaftliche Linguistik.

Lektürevorschlag:

Münker, Stefan/Roessler, Alexander (2000): Poststrukturalismus. Stuttgart: Metzler,


S. 1-7.

Übungsaufgabe:

Vergleichen Sie Strukturalismus und Max Webers Handlungstheorie im Hinblick


auf das Konzept des Sinns und arbeiten Sie die Unterschiede zwischen beiden
heraus. (Hintergrundinformation: Weber, Max (1985): Wirtschaft und Gesell-
schaft. Tübingen: Mohr, Abschnitt: Soziologische Grundbegriffe § 1-4.)

3 Kulturanthropologischer Strukturalismus
Der kulturanthropologische Strukturalismus setzt mit der Übertragung des
sprachwissenschaftlichen Strukturalismus auf die Untersuchung sozialer und
kultureller Strukturen und Bedeutungen ein. Der Ethnologe und Kulturanthropo-
loge Claude Lévi-Strauss (geb. 1908) entwickelte, fasziniert auch durch seine
frühere Auseinandersetzung mit Marcel Mauss’ (1872-1950) „Die Gabe“ (1925),
in dem für den französischen Strukturalismus Bahn brechenden Werk „Die ele-
mentaren Strukturen der Verwandtschaft“ 1949 die Grundlagen für einen verall-
gemeinerten, nicht mehr nur sprachwissenschaftlichen Strukturalismus (vgl.
hierzu auch den Beitrag von Dirk Villanyi in diesem Band, Abschnitt 2.2).

Lektürevorschlag:

Mauss, Marcel (1949; Orig. 1925): Die Gabe, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 15-26.

Lévi-Strauss überträgt den sprachwissenschaftlichen Strukturalismus in die


Kulturanthropologie.
Strukturalismus/Poststrukturalismus 299

Claude Lévi-Strauss (geb. 1908)

Claude Lévi-Strauss wurde 1908 in Brüssel geboren und ist


einer der bedeutendsten Vertreter des französischen Struk-
turalismus an der Grenzlinie zwischen Ethnologie, Kul-
turanthropologie und Soziologie. Von 1934 bis 1937 war er
Professor für Soziologie an der Universität von Sao Paulo
und nahm während dieser Zeit an mehreren Expeditionen
in das Innere Brasiliens teil. Von 1941 bis 1945 lehrte er an
der New York School for Social Research. Dort lernte er
Roman Jakobson, ein führender Vertreter der an Saussure
anschließenden Linguisten des „Prager Kreises“, kennen und setzte sich ange-
regt durch diese Begegnung mit dem sprachwissenschaftlichen Strukturalis-
mus auseinander. Seit 1950 hatte er einen Lehrstuhl für vergleichende Religi-
onswissenschaften der schriftlosen Völker inne und ab 1959 lehrte er am Col-
lège de France als Professor für Sozialanthropologie.
Sein Denken wurde früh während seiner Zeit als Student an der Rechts-
wissenschaftlichen Fakultät der Pariser Universität durch die Arbeiten von
Saint-Simon, Comte, Durkheim und Mauss angeregt. Seine strukturalistische
Perspektive schlug sich bedeutsam für die Soziologie, vor allem in seinem
1949 veröffentlichten Werk „Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft“
nieder, welches bereits im Titel die Anspielung auf „Die elementaren Formen
des religiösen Lebens“ von Durkheim zu erkennen gibt. Dieses für die Verall-
gemeinerung und Übertragung des sprachwissenschaftlichen Strukturalismus
auf andere Gebiete wegweisende Werk diente vor allem der Erforschung des
Übergangs von Natur zu Kultur durch das Prinzip der Reziprozität, der Wech-
selseitigkeit oder Gegenseitigkeit, und der Aufklärung elementarer Verwandt-
schaftsstrukturen, die durch den Vergleich kleinster verwandtschaftlicher
Einheiten und Beziehungsstrukturen ermöglicht wurde.

3.1 Der Sinn von Verwandtschaftsstrukturen

Lévi-Strauss analysierte anhand ethnologischen Materials über Familienstruktu-


ren die Bedeutung von Verwandtschaftssystemen. Er ging dabei von der An-
nahme aus, dass Verwandtschaftssysteme trotz ihrer individuellen Unterschied-
lichkeit einer gleichförmigen Gesetzmäßigkeit unterliegen.
Um diese gleichförmige Struktur von Verwandtschaftsverhältnissen zu re- Strukturanalyse
erfolgt durch den
konstruieren, stellt er eine Vielzahl verschiedener Verwandtschaftssysteme ge-
Vergleich von
genüber. Dadurch will er die zugrunde liegende gemeinsame Struktur herausar- Strukturen
beiten. Er bedient sich hier des bereits von Durkheim als wichtigste Methode der
Soziologie bezeichneten Vergleichs. Denn durch die Herausarbeitung von Ge-
meinsamkeiten und Unterschieden sozialer Erscheinungen lässt sich, so Durk-
heim, etwas über die Struktur eines sozialen Phänomens lernen. Und um diese
Struktur, die Struktur von Verwandtschaftssystemen, geht es Lévi-Strauss.
300 Matthias Junge

Das Inzestverbot Die gemeinsame Struktur verschiedener Verwandtschaftssysteme wird be-


bestimmt die Struktur
stimmt durch das Inzest-Verbot. Das Inzest-Verbot regelt, allgemein formuliert,
von Verwandtschafts-
systemen soziale und sexuelle Beziehungen zwischen nahen Verwandten und schließt
diese kategorisch aus. Wir finden dieses Verbot nicht nur in traditionellen oder
archaischen Gesellschaften, sondern auch heute noch ist dieses Verbot ein Struk-
turelement der Gesellschaft. So finden wir in fast allen Ländern Gesetze, die
sexuelle Beziehungen zwischen Blutsverwandten regeln. Etwa ist in der BRD in
§ 173 des StGB festgelegt, ab welchem Grad der Blutsverwandtschaft eine Hei-
rat erlaubt, d.h. die Aufnahme sexueller Beziehungen legitim ist.
Das Inzestverbot als Das Inzestverbot ist für Lévi-Strauss aber auch von Interesse, weil es die
Übergang von Natur
Spannung von Natur und Kultur zu begreifen hilft. Denn es ist eine Erscheinung,
zur Kultur
die den Übergang aus dem Naturzustand des Menschen in den Kulturzustand des
Menschen ermöglicht. Es ist der entscheidende Übergang von Natur zur Kultur.
„Das Inzestverbot ist das Verfahren, mit dem die Natur sich selbst überwindet; es
ist der Funke, der eine neue und komplexere Struktur entstehen lässt, welche die
einfacheren Strukturen des psychischen Lebens überlagert und integriert, sowie
diese in noch einfacheren Strukturen des tierischen Lebens überlagern und integ-
rieren. Es zeitigt und ist selbst die Heraufkunft einer neuen Ordnung.“ (1949: 74)

Lektürevorschlag:

Lévi-Strauss, Claude (1949): Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft. Frankfurt


am Main: Suhrkamp, S. 72-74.

Vermeintliche Über die Grundlagen für die überwiegende Einhaltung des Inzest-Verbots in
Gründe für das
verschiedenen Kulturen und zu verschiedenen Zeiten gab es bis zur Deutung des
Inzestverbot
Phänomens durch Lévi-Strauss eine Vielzahl verschiedener Meinungen. Eine der
Positionen ging davon aus, dass das Inzest-Verbot aus Gründen der genetischen
Vielfältigkeit notwendig ist. Denn Inzest führt zu einer Reduktion der geneti-
schen Vielfalt, da nur noch innerverwandtschaftliches genetisches Material wei-
tergegeben würde. Ein anderer, heute populärerer Gesichtspunkt ist, dass Inzest
über mehrere Generationen hinweg zu schweren Schädigungen des Nachwuchses
führt, die sich in diversen Krankheitssymptomen manifestieren.
Das Inzestverbot All diese Gründe sind jedoch nicht maßgeblich für die soziale Aufrechter-
erzwingt den Frauen-
haltung und Einhaltung des Inzest-Verbots. Bedeutsam ist vor allem, dass durch
tausch und integriert
verschiedene Famili- seine Geltung Verwandtschaftsbeziehungen zu anderen Familiensystemen eröff-
ensysteme net werden. Denn das Inzest-Verbot zwingt zur Verbindung mit Frauen außer-
halb des eigenen verwandtschaftlichen Kreises durch Heirat. Es führt dazu, dass
Frauen an andere Verwandtschaftssysteme angebunden werden, weil die Anbin-
dung innerhalb des eigenen Verwandtschaftssystems untersagt ist. Diese Anbin-
dung von Frauen an andere Verwandtschaftssysteme etabliert eine Form des
Tausches, eine Form der Austauschbeziehungen. Auf lange Sicht wird so die
Integration, der innere Zusammenhang zwischen verschiedenen Verwandt-
schaftssystemen stabilisiert.
Das Inzestverbot Das Inzestverbot führt deshalb nicht nur zum Übergang von Natur zur Kul-
konstituiert soziale
tur, sondern auch zur sozialen Integration verschiedener Familiensysteme. Denn
Integration
Strukturalismus/Poststrukturalismus 301

der Übergang von Natur zu Kultur wird durch die Etablierung einer Tauschregel
für Frauen eingeführt, die zuletzt auf das Inzestverbot zurückgeht.

Das Inzestverbot etabliert durch den Zwang zur Verbindung mit Frauen aus
anderen Familiensystemen den Frauentausch als Grundlage sozialer Integrati-
on.

Lektürevorschlag:

Lévi-Strauss, Claude (1949): Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft. Frankfurt


am Main: Suhrkamp, S. 128-132.

Die Einführung einer Frauentauschregel durch das Inzestverbot bedeutet, und


hier schließt Lévi-Strauss direkt an Saussure an, dass die Frauen als ein Zeichen
behandelt werden: „Was bedeutet das anderes, als dass die Frauen selbst als
Zeichen behandelt werden, die man mißbraucht, wenn man nicht den Gebrauch
von ihnen macht, der den Zeichen zukommt und der darin besteht, kommuniziert
zu werden?“ (1949: 662) Mit dieser Formulierung wird die Rekonstruktion von
sozialer Integration und ihrer Bedeutung an das strukturalistische Paradigma
zurückgebunden, wie es in der Sprachtheorie von Saussure entstanden ist. Sozia-
le Integration durch den Frauentausch wird als ein Austausch von Zeichen ver-
standen. Soziale Integration durch den Frauentausch ergibt sich aus der Bezie-
hung zwischen den getauschten Frauen verstanden als getauschte Zeichen.

Soziale Integration durch den Frauentausch ergibt sich aus der Beziehung
zwischen den getauschten Frauen verstanden als getauschte Zeichen.

In dieser Schilderung werden Frauen als ein Zeichen betrachtet, welches durch Tausch als Ord-
nungsprinzip sozialer
die Anbindung an ein anderes Verwandtschaftssystem kommuniziert wird. Die
Beziehungen
Frau erscheint als ein Zeichen, welches durch seine Anbindung an ein anderes
Verwandtschaftssystem seine Bedeutung, seinen Sinn erhält. Die Weitergabe
von Frauen durch ihre Heirat in an anderes Verwandtschaftssystem fungiert als
ein Zeichen. Es kommuniziert, dass Frauentausch, dass Tausch allgemein, ein
Ordnungsprinzip der sozialen Beziehungen zwischen Verwandtschaftssystemen
ist (vgl. hierzu auch den Beitrag von Heike Diefenbach in diesem Band, S. 305).

Übungsaufgabe:

Das Konzept des Tausches ist nicht nur im Strukturalismus bedeutsam, vielmehr
ist Tausch auch ein zentrales Konzept der Tauschtheorie etwa von Homans oder
in den Überlegungen von Gouldner zur Norm der Reziprozität. Vergleichen Sie
diese Konzepte miteinander. (Hintergrundinformation: Gouldner, Alvin W.
(1984): Reziprozität und Autonomie. Ausgewählte Aufsätze. Frankfurt a. Main:
302 Matthias Junge

Suhrkamp, S. 97-109; Homans, George Caspar (1972): Elementarformen sozia-


len Verhaltens. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 44-70)

Die strukturale Damit öffnet Lévi-Strauss den Weg für eine strukturale Analyse sozialer Bezie-
Analyse sozialer
hungssysteme. Sie wird getragen von der Annahme, dass Heiratsregeln wie eine
Beziehungssysteme
Sprache im Sinne von Saussure aufgebaut sind. Damit ist die Übertragung des
allgemeinen zeichentheoretischen Instrumentariums der Sprachwissenschaften
im Anschluss an Saussure auf soziale Verhältnisse geglückt.
Lévi-Strauss ging von der Annahme aus, dass die Sprache wie auch andere
Systeme des sozialen Zusammenhangs auf eine universale Ordnung des symboli-
schen Denkens zurück verweisen, welche sich in unterschiedlichen kulturellen
Formen realisieren kann. Das bedeutet, er betrachtet die soziale Realität wie ein
sprachliches Phänomen. Weil aber die Sprache als eine universale Größe
menschlichen Zusammenlebens betrachtet wird, gilt: Wo Sprache ist, ist der
Mensch und wo Sprache ist, ist Gesellschaft gegeben, und dies immer in einer
dem Strukturalismus zugänglichen invarianten Struktur.

Wo Sprache ist, ist der Mensch und wo Sprache ist, ist Gesellschaft gegeben,
und dies immer in einer dem Strukturalismus zugänglichen invarianten Struk-
tur.

3.2 Natur und Kultur oder: Das Rohe und das Gekochte

Die Struktur von Auf der Suche nach weiteren universalen Ordnungsprinzipien durchkämmt Lévi-
Mythologien
Strauss nach seinen Analysen der Strukturen der Verwandtschaft vor allem My-
thologien auf ihren gemeinsamen Kern. Als dieser erweist sich die Bearbeitung
der Spannung von Natur und Kultur. Lévi-Strauss erarbeitet sich dieses For-
schungsergebnis, indem er hinter den einzelnen Mythologien durch ihren Ver-
gleich die so genannten Mytheme herausarbeitet. Sie sind die kleinsten Einheiten
mythologischer Erzählungen, deren Sinn sich nur durch die Beziehung zu ande-
ren Mythemen herausarbeiten lässt.
Das Rohe und das Das Beispiel, das zur Anwendung gebracht wird, ist die Differenz von roh
Gekochte
und gekocht. Die Eigenschaften von Nahrungsmitteln – roh, gar oder verfault –
ergeben das so genannte kulinarische Dreieck. Dieses ist aufgespannt zwischen
den beiden Dimensionen von Kultur und Natur einerseits, und andererseits zwi-
schen einem unveränderten und einem veränderten Zustand des Materials, des
Lebensmittels. Ein rohes Produkt steht zwischen Kultur und Natur und verweist
entweder auf den Zustand des Garen als eines kulturell veränderten Zustandes
oder auf den Zustand des Rohen eines natürlichen unveränderten Zustandes.
Das kulinarische Das kulinarische Dreieck entsteht in der Überkreuzung von zwei Dimensio-
Dreieck
nen, der von Kultur und Natur und der von Unverändert und Verändert. Es sym-
bolisiert die Bedeutsamkeit kultureller Prozesse als Prozesse, die durch den
Verweis auf Zeichenbeziehungen rekonstruiert werden können.
Strukturalismus/Poststrukturalismus 303

Diese Konstruktion mag im ersten Moment wie eine akademische Spielerei Der Umgang mit
Nahrungsmitteln
aussehen. Jedoch verweist sie, wenn man mit dem Kulturvergleich arbeitet, auf
weist eine kulturu-
eine gemeinsame Struktur des Umgangs mit Nahrungsmitteln. Dieser Umgang nabhängige invariante
mit Nahrungsmitteln ist kulturabhängig und offenbart einerseits eine Vielzahl Struktur auf
kultureller Eigentümlichkeiten. Hinter diesen aber zeigt sich andererseits eine
allgemeine invariante Regel.
Egal, ob die amerikanische Hausfrau, der französische Koch oder ein India-
nerstamm Amerikas einkaufen oder jagen gehen, die erbeuteten oder gekauften
Produkte werden typischerweise als roh, gar und verfault klassifiziert. Davon
hängt ihre jeweilige Nutzbarkeit im weiteren Rahmen kultureller Besonderheiten
ab. Das bedeutet, das kulinarische Dreieck bringt eine allgemeine Struktur zum
Ausdruck, die kulturunabhängig gilt, wenngleich ihre kulturelle Realisierung
sich jeweils unterschiedlich gestaltet. Die Systeme der Nahrungseinteilung in die
drei Kategorien sind, wie Kulturvergleiche ergeben haben, hinreichend ähnlich,
d.h. Rohes wird zumeist ähnlich klassifiziert und Gares und Verfaultes ebenfalls.
Das heißt, hinter dem kulinarischen Dreieck verbirgt sich eine invariante Struk-
tur, die durch das im kulinarischen Dreieck zum Ausdruck kommende Zeichen-
system manifestiert wird.
Für Lévi-Strauss ist dieser Sachverhalt ein weiteres Indiz dafür, dass inner- Das Soziale folgt
universalen, invarian-
halb des Sozialen, ähnlich wie in der Natur, universale invariante Gesetzmäßig-
ten Gesetzmäßigkei-
keiten aufgefunden werden können. Diese kann jedoch nicht mit naturwissen- ten
schaftlichen Mitteln erforscht werden, sondern verlangt die Rekonstruktion des
Zeichensinns durch seine Kontextualisierung, durch seine Relationalisierung zu
anderen Zeichen.

Das kulturelle Zeichen erhält seinen Sinn durch die Gesetzmäßigkeiten des
Verweises auf andere kulturelle Zeichen.

Lektürevorschlag:

Dosse, Francois (1999): Geschichte des Strukturalismus. Band 1: Das Feld der Zeichen
1945-1966. Frankfurt am Main: Fischer, S. 117-126.

Aufbauend auf dieser Grundlage fanden später vielfache Versuche zur Anwen- Barthes Analyse des
Systems der Mode
dung der strukturalistischen Perspektive auf andere Untersuchungsgegen-stände
statt. Bereits erwähnt wurde Roland Barthes Analyse zur Mode, die das Zeichen-
system der Mode durch eine Analyse der Modedarstellung in Modezeitschriften
in strukturalistischer Perspektive zu erfassen sucht. Wichtig ist dabei vor allem,
dass es Barthes nicht um die Rekonstruktion der von Individuen getragenen
Mode ging, sondern um das Zeichensystem der Mode, welches ohne Berücksich-
tigung der sich modisch kleidenden Individuen analysiert werden kann. Das
System der Mode gibt vielmehr einen Rahmen, einen Satz von Zeichen vor,
dessen Bedeutung sich allein aus den verwendeten Zeichen ergibt.
Die Analysen von Barthes suchen das Zeichensystem der Mode durch die
Differenzierung zwischen „abgebildeter“, „geschriebener“ und „realer“ Kleidung
304 Matthias Junge

zu erfassen (1985: 13f) Alle drei Formen der Kleidung(spräsentation) nutzen


jeweils eine andere Struktur. Die abgebildete Kleidung nutzt eine „ikonische“,
bildliche, Struktur, die geschriebene eine „verbale“ und die reale eine „technolo-
gische“. Es sind zwischen den drei Strukturen insgesamt drei Paarkombinaten
möglich, jede dieser Kombinationen definiert zugleich eine Art Übertragungsre-
gel zwischen den Zeichen, eine Anweisung etwa, wie man vom Bild zum Realen
kommt: durch das Schnittmuster, von der Sprache zum Realen führt die Nähvor-
schrift, und schließlich werden Sprache und Bild durch eine „elliptische“ Regel
zusammengeführt. Deutlich wird hier nochmals, dass sich die strukturalistische
Analyse einzig auf der Ebene und der Ebenendifferenzierung zwischen Zeichen
bewegt. Kurz: Die Mode ist ein Zeichenzusammenhang.

Lektürevorschlag:

Barthes, Roland (1985): Die Sprache der Mode. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 9-18.

In strukturalistischer Perspektive hat später der Kulturethnologe Marshall Sah-


lins diese Analyse von Barthes aufgegriffen und durch die Berücksichtigung
klassenstruktureller Merkmale ergänzt. Seine Interpretation des Zeichensystems
der Mode sieht es, ähnlich der Struktur des kulinarischen Dreiecks, aufgespannt
zwischen einer Dimension zur Definition von Ort und Zeit der je angemessenen
Kleidung, und andererseits der Dimension des Status des Trägers der Kleidung.
Entlang dieser beiden Dimensionen können Sie sofort erkennen, dass ein „Blau-
mann“ (eine blau gefärbte grobe Latzhose) von der Statusgruppe der Arbeiter
während der Arbeit getragen wird, während das weiße Hemd und eine Krawatte
den Status des Angestellten während der Arbeit signalisiert. Diese Unterschei-
dung kehrt in der für die Arbeits- und Berufssoziologie wichtigen Konzeption
von blue and white collar wieder. Und sie macht deutlich, wie Zeichenverwen-
dung auch soziale Unterschiede reproduziert.

Lektürevorschlag:

Marshall Sahlins (1994): Kultur und praktische Vernunft. Frankfurt am Main: Suhrkamp,
S. 253-263.

Nach Sahlins In dieser Perspektive hat Sahlins ebenfalls die sozialen Praktiken von Schenken,
bestimmen kulturelle
Geben und Teilen und unterschiedliche Formen der Reziprozität untersucht. Er
Strukturen die Re-
ziprozitätsformen unterscheidet allgemeine Reziprozität, ausgeglichene Reziprozität und negative
Reziprozität. In allen drei Formen kommt es zum Austausch, jedoch mit unter-
schiedlichen Bedeutungen. Die allgemeine Reziprozität zeigt sich etwa in stein-
zeitlichen Jäger- und Sammlergesellschaften (Sahlins 1968) – die nach Sahlins
Überflussgesellschaften ohne Armut waren –, die von ihrer Beute nur wenig
behalten dürfen, ebenso beim Teilen des Essens, hier wird der ökonomische
Aspekt der Reziprozität heruntergespielt, während die soziale Dimension des
Austausches in den Vordergrund rückt und der Zeitpunkt und der Umfang der
Strukturalismus/Poststrukturalismus 305

Gegenleistung nicht festgelegt ist. Ausgeglichene Reziprozität entspricht unge-


fähr der ökonomischen Tauschbeziehung, die Gegenleistung ist festgelegt und
erfolgt im Regelfall sofort, die soziale Dimension hingegen, etwa Dankbarkeit
für eine Leistung, tritt in den Hintergrund. Und schließlich ist negative Rezipro-
zität im Diebstahl oder Betrug gegeben, weil eine Leistung ohne jegliche Gegen-
leistung „genommen“ wird. In allen drei Formen ist die jeweilige kulturelle Co-
dierung der ökonomischen Aktivität entscheidend für die konkrete Ausgestaltung
der Reziprozität. Mit dieser Analyse wird die Vorstellung vom reinen ökonomi-
schen Nutzenkalkulierer relativiert durch die Betonung der Bedeutung kultureller
Strukturen, der kulturellen Codierung des ökonomischen Handelns.
Auffallend an strukturalistischen Analysen ist zusammenfassend: Erstens,
sie kommen ohne ein Subjekt aus, der Sinn kann gedacht werden durch den
Rückgriff auf andere Zeichen. Er ergibt sich nur aus der Relation von Zeichen
zueinander – und auch kulturelle Erscheinungen sind Zeichen. Zweitens, dass die
Erarbeitung von Sinn nur über die Bearbeitung von Differenzen zwischen Zei-
chen möglich ist. Es ist der Differenzbegriff, der die gesamte strukturale Analyse
– sowohl die sprachwissenschaftliche wie auch kulturanthropologische oder
soziologische trägt. Zeichen sind differente Zeichen, weil sie in Differenz zu
anderen Zeichen erst Sinn ergeben. Der Kern strukturaler Analyse besteht in der
Annahme Bedeutung tragender Differenzen, die sich als invariante Strukturen zu
erkennen geben (vgl. hierzu auch den Beitrag von Reiner Keller in diesem Band,
S. 54ff.; ebenso Dirk Villanyi in diesem Band, Abschnitt 4.2).

4 Poststrukturalismus
Diese Zusammenfassung ergibt, ähnlich wie die zu Saussure, dass der kultur-
anthropologische Strukturalismus trotz seiner Kulturvergleiche zuletzt eine a-
historische Orientierung aufweist und der historischen Entwicklung von Zei-
chensystemen zu wenig Aufmerksamkeit schenkt, weil er nur auf die invarianten
Strukturen konzentriert ist.
Diese Einseitigkeit hat relativ früh zu Gegenbewegungen geführt, die in Ansatzpunkte der
Weiterentwicklung
unmittelbarer Auseinandersetzung mit Lévi-Strauss entweder eine historische
zum Poststruktura-
Analyseperspektive für den Strukturalismus zu erarbeiten suchen, wie etwa die lismus
Arbeiten von Michel Foucault (1926-1984), oder aber die in der Bewegung des
Poststrukturalismus, etwa bei Jacques Derrida (1930-2004), zu einer grundle-
genden Kritik an den Prämissen des Strukturalismus ansetzte.

4.1 Foucault

Foucault steht an einer Schnittstelle der Weiterentwicklung des Strukturalismus. Foucault zwischen
Strukturalismus und
Es ist sehr schwierig, Foucault eindeutig als Strukturalisten oder als Poststruktu-
Poststrukturalismus
ralisten zu bezeichnen. Es ist umstritten, ob seine Analyse der Strukturen sozia-
len Wissens nur beispielhaft auf historische Gegebenheiten verweisen oder aber,
ob sie historische Transformationen der Tiefenstrukturen des Zusammenhangs
und der Veränderung von Zeichensystemen vornehmen. So geht Foucault den
306 Matthias Junge

Strukturen des Wissens im gesellschaftlichen Kontext von Macht nach und un-
tersucht damit eine der zentralen Strukturgrößen gesellschaftlichen Zusammen-
hangs. Aber man könnte ihn auch als Poststrukturalisten bezeichnen, weil er
etwa in „Wahnsinn und Gesellschaft“ poststrukturalistische Motive aufnimmt,
indem er die Differenz von Wahnsinn und Normalität ihrerseits im Rekurs auf
historisches Material in Frage stellt und ihre Machtgestütztheit herausarbeiten
kann.

Michel Foucault (1926-1984)

Michel Foucault wird am 15. Oktober 1926 in der fran-


zösischen Stadt Poitiers geboren und verstirbt am 25.
Juni 1984. Foucault gilt als einer der bedeutendsten
Vertreter des Poststrukturalismus, der sich vor allem
mit den Phänomenen von Macht, Normalität und des
Subjekts befasst.
Nach Kriegsende 1946 beginnt Foucault das Stu-
dium der Psychologie und Philosophie an der École
Normale Supérieure und setz sich dort mit der Phäno-
menologie und dem Marxismus, vor allem vertreten
durch Louis Althusser, auseinander. 1952 legt er das Staatsexamen in Philo-
sophie ab. Nach Zwischenstationen mit Arbeits- und Forschungsaufenthalten
in Schweden, Warschau und Hamburg kehrt Foucault 1960 nach Paris zurück
und verteidigt 1961 seine Doktorarbeit „Wahnsinn und Gesellschaft“.
1966 ist für seine wissenschaftliche Entwicklung ein entscheidendes Jahr,
weil sein Buch „Die Ordnung der Dinge“ ein weltweiter Erfolg wird. Seitdem
verlässt er Paris nur noch kurzzeitig, so etwa für einen Forschungsaufenthalt
in Tunis. 1970 wird er Professor für die Geschichte der Denksysteme am Col-
lège de France und hält dort seine Antrittsvorlesung „Die Ordnung des Dis-
kurses“. Bis zu seinem Tod im Jahre 1984 bleibt Foucault Dozent am Collège
de France, zwischenzeitlich hält er jedoch auch Vortragsreihen in Berkeley,
Japan, im Iran und in Polen.

Unabhängig von dieser ungeklärten Zuordnungsfrage stellen Foucaults Untersu-


chungen einen wesentlichen Entwicklungsschritt in der Auseinandersetzung mit
dem Strukturalismus und für seine Weiterentwicklung dar. So untersucht Fou-
cault beispielsweise in „Wahnsinn und Gesellschaft“ die Geschichte des Irrsinns.
Er beschreibt, wie Wahnsinn als soziale Bezeichnung verwendet, etabliert und
schließlich durchgesetzt wird, indem spezielle Institutionen für die „Verwah-
rung“ der Irrsinnigen bereitgestellt werden. Wahnsinn und Irrsinn haben dabei
vor allem die Bedeutung, Normalität zu definieren. Sie dienen nicht der helfen-
den oder heilenden Behandlung des Irrsinns. Vielmehr etablieren sie vor allem
eine bestimmte Vorstellung von Normalität.
Foucaults Methode, Wie geht Foucault in dieser frühen Arbeit methodisch vor? Er sucht in der
die Befragung histo-
Aufarbeitung und Interpretation vielfältiger historischer Dokumente eine Ge-
rischer Dokumente
samtdeutung des Zusammenhangs von Wahnsinn und Normalität bereitzustellen.
Bemerkenswert ist vor allem, dass von Anbeginn historische Quellentexte –
Strukturalismus/Poststrukturalismus 307

diese reichen von Zeitungsberichten, Ankündigungen der Eröffnung von Psychi-


atrien, Gesetzen, die die Form der psychiatrischen Behandlung festlegen, medi-
zinische Traktakte zur Behandlung des Wahnsinns, Polizeiakten, … – auf eine
darin verborgene „Ordnung“ des Verständnisses von Wahnsinn und Normalität
hin untersucht werden. Diese Arbeit, wie auch die spätere „Überwachen und
Strafen“, benutzt vor allem Archive, dokumentierende Zeugnisse der Geschichte,
um die Struktur des Zusammenhangs von Wahnsinn und Normalität durch die
Rekonstruktion des gesellschaftlichen Diskurses über beide zu erfassen. „Die
Geschichte des Wahnsinns schreiben, wird also heißen: eine Strukturuntersu-
chung der historischen Gesamtheit – Vorstellungen, Institutionen, juristische und
polizeiliche Maßnahmen, wissenschaftliche Begriffe – zu leisten“ (Foucault
1973: 13). Foucault zielt auf den Gesamtzusammenhang eines diskursiven Ge-
schehens, in dem sich die schrittweise Definition und Ausgrenzung des Wahn-
sinns vollzieht, in dem Macht, etwa Deutungsmacht, eingesetzt wird, um das
„Normale“ und das „Wahnsinnige“ zu unterscheiden, eine Grenze zwischen
beiden festzulegen und so insgesamt Normalität und Irrsinn zu etablieren. In
diesem Prozess verbinden sich die vielfältigen gesellschaftlichen Kräfte und
Mächte so miteinander, dass am Ende ein Gewebe, aufgespannt zwischen Nor-
malität und Irrsinn, die soziale Wirklichkeit bestimmt. Und es ist dieser Prozess
des Verwebens, der durch die Arbeit im Archiv nachgezeichnet werden kann und
die verborgene „Ordnung“ von Wahnsinn und Normalsinn sichtbar werden lässt
(vgl. hierzu auch den Beitrag von Dirk Villanyi in diesem Band, Abschnitt 4.8).
In der Interpretation der Geschichte von Nervenheilanstalten anhand histori- Die soziale Definition
des Wahnsinns hat
scher Quellen kommt das Grundmotiv des strukturalistischen Differenzdenkens die Funktion Norma-
erneut zum Ausdruck: Wahnsinn kann nur in Relation zur Normalität, zum Nor- lität zu definieren
malsinn beschrieben werden, und Normalität kann nur beschrieben werden in der
Differenzsetzung zum Wahnsinn. Der Wahnsinn erfüllt eine gesellschaftliche
Funktion, weil er die gesellschaftliche Kennzeichnung von Normalität erlaubt.

Mit der Etablierung des Wahnsinns wird eine bestimmte Form gesellschaftli-
cher Normalität festgelegt.

Lektürevorschlag:

Foucault, Michel (1973): Wahnsinn und Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S.


539-551.

Übungsaufgabe:

Diskutieren Sie vor dem Hintergrund der Analyse Foucaults, welche Auswir-
kungen die Schließung aller Psychiatrien und die Rückführung ihrer Insassen in
Italien in den 80er Jahren für das Verhältnis von Normalität und Wahnsinn hatte.
(Hintergrundinformation: Hinterhuber, H./Liensberger, D./Tasser, A./Schwitzer,
308 Matthias Junge

J./Rizzuti, E./Meise, U. (2001): Stand und Entwicklung der psychiatrischen Ver-


sorgung in Italien. In: Der Nervenarzt, Vol. 72, S. 501-510.)

Seine leitende Annahme benennt Foucault später als „Archäologie des Wissens“
(1981). Sie zielt auf ein Verständnis der historischen Veränderung von Wissen,
Wissensbeständen und der Ordnung des Wissens. Hierzu ist vor allem eine ver-
änderte Sichtweise des historischen Dokuments, das stellvertretend für das Wis-
sen steht, nötig. Es wird nicht mehr als Einzelnes betrachtet und dokumentari-
siert, vielmehr wird das einzelne Dokument der Ausgangspunkt, um von dort aus
die „Gesamtheit“ der in ihm gebündelten Zusammenhänge und Einflussfaktoren
zu entschlüsseln. Im Vordergrund dieser Analysen stehen einzelne Ereignisse.
Sie gelten als Knotenpunkt im Geflecht des Wissens, an ihnen zeigt sich die
typische Vernetzung und Herstellung von Verbindungen mit anderem Wissen –
und daher reicht ein (gut ausgewähltes) Dokument, um die komplexe Wissens-
ordnung zu erkennen.
Archäologie des Dabei geht es nicht mehr um die Rekonstruktion des logischen Zusammen-
Wissens als Rekon-
hangs von Äußerungen, sondern, in Foucaults Worten, um „Systeme der Streu-
struktion diskursiver
Formationen ung“ (Foucault 1981: 58), wenn bei „den Begriffen, den thematischen Entschei-
dungen eine Regelmäßigkeit (eine Ordnung, Korrelationen, Positionen und Ab-
läufe, Transformationen) definiert werden könnte“, dann kann von einer „diskur-
siven Formation“ (Foucault 1981: 58) gesprochen werden. Sie beschreibt den
Raum möglicher und wirksamer Äußerungen im Gesamtzusammenhang aller
Äußerungen.
Genealogie als Diese Analyseperspektive hat jedoch eine Schwäche: sie konzentriert sich
Rekonstruktion der
stark auf die einzelnen Elemente, so dass bei der Herausarbeitung einer „diskur-
machtgestützten
Durchsetzung von siven Formation“ „nicht sicher“ ist (Foucault 1981: 59), ob wirklich die Einheit
Diskursen aller Elemente in der Rekonstruktion getroffen wird. Das führt Foucault dazu,
die Intentionen des Verfahrens später zu präzisieren und es unter der Kennzeich-
nung „Genealogie“ weiter zu entwickeln. Sie, die 1970 in seiner Antrittsvorle-
sung noch als Ergänzung der Archäologie bezeichnet wurde, überschreitet deren
Grenze, weil sie nun direkt auf die diskursive Ordnung und ihre Erzeugung
durch den Einsatz gesellschaftlicher Macht zielt. War die Archäologie ein rein
auf die Eigentümlichkeiten und Regelmäßigkeiten von Diskursen zielendes Ver-
fahren, bezieht die Genealogie nun vor allem Machteffekte in der Durchsetzung
von bestimmten Diskursen in die Analyse ein. Dadurch werden Diskurse – ein
ordnungsloses, beständiges „Rauschen“ (Foucault 1991: 33) von Aussagen und
Beiträgen zu einem thematischen Feld – als von Regeln „kontrolliert, selektiert
und kanalisiert“ (Foucault 1991: 11) betrachtet. Das Verfahren bezieht Anregun-
gen aus den genealogischen Untersuchungen Friedrich Nietzsches (1844-1900)
und versucht, die Entstehungsgeschichte bestimmter Diskurse in einem histori-
schen Zeitraum im Zusammenhang mit den Herrschaftsformen als Resultat von
Konflikten zu beschreiben. Die Genealogie zeigt, wie ein Anspruch auf Geltung
von Aussagen in einem Gegenstandsbereich mit Hilfe von Macht durchgesetzt
wird. Durch solche Analysen wird das Konzept der Universalität von Wahrheit
relativiert, sie wird zum „Reflex“ eines historisch bestimmten Kräftespiels.
Strukturalismus/Poststrukturalismus 309

Lektürevorschlag:

Keller, Reiner (1997): Diskursanalyse. In: Ronald Hitzler/Anne Honer (Hrsg.): Sozialwis-
senschaftliche Hermeneutik. Eine Einführung. Opladen: Leske + Budrich, S. 309-
333.

Der Ausarbeitung der Genealogie folgen die beiden historisch orientierten Ana-
lysen zu „Überwachen und Strafen“ und zur „Geschichte der Sexualität“.
„Überwachen und Strafen“ beginnt mit zwei Zitaten aus detaillierten und an-
schaulichen Berichten über eine öffentliche Hinrichtung mit vorausgehender
Marter und Peinigung von 1757. Sie zeigen die Praxis des Strafens als eine auf
den Körper zielende öffentliche Prozedur. Demgegenüber wird bereits nicht ganz
ein Jahrhundert später zur „Besserung“ junger Gefangener eine andere Methode
eingesetzt, „Zeitplanung“ (Foucault 1994: 14), die Unterwerfung der Gefangenen
unter eine disziplinierende Zeitordnung. In beiden Formen manifestiert sich ein
unterschiedlicher „Straf-Stil“ (Foucault 1994: 14), der eine Veränderung des
Umgangs mit Strafe und Bestrafung anzeigt. In „Überwachen und Strafen“ wird
die Geschichte des Strafens und Bestrafens ins Verhältnis gesetzt zu sozialen
Regulationen, die nicht auf Strafe und Überwachung zielen. Auch in dieser Stu-
die zeigt sich, dass die Form der Überwachung historisch wandelbar ist und
verschiedene soziale Definitionen des Strafens zur Anwendung kommen, die die
Strukturen des Strafens selber in Relation zu den Strukturen des Nicht-Strafens
verständlich machen.
Die Strukturen des Strafens verändern sich in Übereinstimmung mit Verän- Die Internalisierung
sozialer Kontrolle am
derungen der Form der sozialen Kontrolle im gesamtgesellschaftlichen Zusam-
Beispiel von Ben-
menhang. War in traditionalen Gesellschaften das Strafen eher eine barbarische thams Panoptikum
und peinigende Angelegenheit, so findet im 18. Jahrhundert eine Umstellung der
Praxis des Strafens statt. Sie führte dazu, dass die Bestraften nicht mehr hinge-
richtet oder öffentlich Torturen unterzogen wurden, sondern vielmehr hinter
Gefängnismauern einer spezifischen Art der Überwachung – wie sie etwa das
Bentham’sche Panoptikum beschreibt – unterworfen werden, die der sozialen
Kontrolle des alltäglichen Zusammenlebens ähnelt. Das Bentham’sche Panopti-
kum skizziert die Architektur eines Gefängnisses, in dem die Wärter jederzeit
ihrerseits unbeobachtet die Gefangenen beobachten können. Diese potentielle
Beobachtbarkeit führt auf Seiten der Gefangenen zu einer Internalisierung der
kontrollierenden Beobachterperspektive und diszipliniert das Verhalten. Auch
dann, wenn keine faktische Beobachtung vorliegt.

Der Architekturvorschlag des Bentham’schen Panoptikums skizziert eine wir-


kungsvolle Form der sozialen Kontrolle.

Lektürevorschlag:

Foucault, Michel (1975): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frank-
furt am Main: Suhrkamp, S. 256-263.
310 Matthias Junge

Übungsaufgabe:

Diskutieren Sie, ob sich die Praxis des Strafens im Sinne des Bentham’schen
Panoptikums durch die Einführung von elektronischen Fußfesseln ändert, die
Bestrafte, ohne ihre Strafe im Gefängnis verbringen zu müssen, außerhalb der
Haftanstalt zu tragen gezwungen sind. (Hintergrundinformation: Niedzwicki,
Matthias (2005): Elektronische Fußfesseln – Freiheitsbeschränkung nach Art. 2
II S. 2 GG oder Freiheitsentziehung nach Art. 104 GG?, in: Niedersächsische
Verwaltungsblätter (10/2005), Zeitschrift für öffentliches Recht und öffentliche
Verwaltung, S. 257-260.)

Auch diese historische Analyse zeigt, dass Strafe und der Bereich des Nicht-
Bestrafens innerhalb der Gesellschaft aufeinander verweisen und dass die Struk-
turen der außeralltäglichen Strafe auf ein System der alltäglichen sozialen Kon-
trolle in einem machtgestützten sozialen Zusammenhang verweisen. Im Unter-
schied zum Strukturalismus von Lévi-Strauss arbeitet Foucault mit einer histori-
schen Perspektive. Er wendet sich ab von der auf die Synchronie zielenden struk-
turalistischen Analysemethode und überschreitet sie durch den betonten Einbe-
zug der Diachronie in seine historischen Rekonstruktionen. Ein weiterer Unter-
schied zum klassischen Strukturalismus liegt in Foucaults Interesse am Subjekt,
oder anders, im Interesse an der Entstehung und Formung des Subjekts als einer
an einen bestimmten historischen Prozess und Diskurs gebundenen Figur im
sozialen Wissenshaushalt. Sowohl „Wahnsinn und Gesellschaft“ wie auch
„Überwachen und Strafen“ zeigen, wie gesellschaftliche Kräfte – repräsentiert in
den herangezogenen Materialien und Quellen und den darin enthaltenen Äuße-
rungen – auf eine bestimmte Vorstellung des Subjekts zielen und es dadurch
erzeugen. Erzeugen durch die Art und Weise, wie und in welcher Hinsicht vom
Subjekt gesprochen wird, wie es in den Praktiken des Strafens oder der Definiti-
on des Wahnsinns behandelt und dadurch „geformt“ wird.
Die Regulation der Die gleiche Analyseweise findet sich auch in den Studien Foucaults zur Ge-
Sexualität
schichte der Sexualität wieder. Auch hier wird eine tendenzielle Abnahme der
Repression, der Unterdrückung von Sexualität, des Denk-, Rede-, Mal- und
Schweigeverbots im Hinblick auf Sexualität aufgewiesen. Dies führt zur immer
stärkeren Einbeziehung der Sexualität in das gesellschaftliche Zusammenleben.
Macht erzeugt Struk- Die Grundannahme Foucaults in all diesen Analysen ist, dass der gesell-
turen des Diskurses
schaftliche Diskurs ein machtgestützter Diskurs ist, in dem durch Macht be-
stimmte Strukturen des Diskurses erzeugt werden (vgl. Keller 2008). Diese wie-
derum prägen die Strukturen des fremd- oder eigenrepressiven Verhaltens. Der
zentrale Faktor in der historischen Entwicklung ist nach Foucault die Entfaltung
und Etablierung bestimmter Machtformen, die sich bestimmter Diskurse bedie-
nen, um bestimmte Formen sozialer Kontrolle zu ermöglichen.
Gouvernementalität Einen weiteren Schritt in der Analyse von Machtverhältnissen unternimmt
Foucault seit 1978 (vgl. 2000; 2006) schließlich mit seinen späten Arbeiten zur
„Gouvernementalität“ (Foucault 2006 I: 180). Diese zeichnen sich aus durch
eine in den früheren Schriften nicht vollzogene begriffliche Trennung zwischen
Macht und Herrschaft und erweitern die Analyseperspektive Foucaults. Diese
Arbeiten fragen nach dem Zusammenhang von Regierungsformen, Machtbezie-
Strukturalismus/Poststrukturalismus 311

hungen, Herrschaftsformen und Subjektivität. Das Konzept der Regierung wird


zu einer Schnittstelle, um sowohl Herrschaftsformen zu beschreiben wie auch die
Konstitution von Subjektivität durch „Technologien des Selbst“ zu erfassen.
Anders jedoch als bei Elias wird diese Analyse nicht auf der Grundlage einer
Zivilisationstheorie durchgeführt, sondern in Form einer Untersuchung unter-
schiedlicher historischer Formen des Regierens.
Die Regierungsformen werden historisch entlang der Entwicklung von Technologien der
Machtausübung:
„Staatsräson“, „Policey“ und „Liberalismus“ unterschieden. Sie verwenden je-
Recht, Disziplin und
weils andere Mechanismen und Technologien der Machtausübung: Recht, Dis- Sicherheitstechnik
ziplin und Sicherheitstechnik. Für die Gegenwart ist besonders der Mechanismus
Sicherheitstechnik bedeutsam. Im Gegensatz zur Disziplinartechnik, die die
Bevölkerung mit dem Kriterium einer Norm konfrontiert und danach klassifiziert
und behandelt, geht die Sicherheitstechnik den entgegengesetzten Weg: die Rea-
lität der Bevölkerung wird zur Norm, die statistische Verteilung von Merkmalen
(etwa Alter, Geschlecht, Krankheiten, Absonderlichkeiten, Geburtenraten) gibt
Anhaltspunkte zur Klassifikation für entsprechende Mittel des Umgangs mit
diesen Gruppen. Der Sinn dieser im 18. Jahrhundert entstehenden Technologie
ist es, das, so Foucault, konstitutive Problem des Liberalismus zu lösen. Dieser
erzeugt individuelle Freiheit und Freiheitsrechte (der Bürger), die allerdings mit
Risiken für Individuen und Kollektive verbunden sind. Die Frage ist: Wie kön-
nen diese Pole miteinander integriert oder ausbalanciert werden? Die Antwort
besteht in der Entwicklung von Sicherheitsmechanismen.
Die Selbsttechnologien bilden das Gegenstück zu den Herrschaftstechnolo- Selbsttechnologie
gien. Denn diese können die Individuen nicht mehr nur über Zwänge disziplinie-
ren, sondern nun auch zu bestimmten Handlungen bewegen. Dies geschieht,
indem zur Verfügung gestellte Freiheiten zugleich auf eine bestimmte Form der
Nutzung durch die Individuen hindrängen. Kurz: Freiheit mündet in Handlungs-
zwänge. Selbsttechnologien erlauben es den Individuen, sich, ihre Körper und
ihre Lebensführung selbst zu transformieren, sich eine eigene Formung zu ge-
ben. Mit dieser Annahme überschreitet Foucault eine Engstelle seiner Analysen
zu den Disziplinartechniken des Staates, denn sie identifizierten die Konstitution
von Subjektivität mit ihrer Unterwerfung. Hingegen wird mit der Analyse der
Selbsttechnologien der Zusammenhang von Selbst- und Fremdbestimmung für
eine Untersuchung geöffnet, die deren Wechselwirkungen aufgreifen kann.

Lektürevorschlag:

Foucault, Michel (2000): Die "Gouvernementalität". In: Ulrich Bröckling/Susanne Kras-


mann/Thomas Lemke (Hrsg.): Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur
Ökonomisierung des Sozialen. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 41-67. (Orig.
1978)

Insgesamt: Foucault analysiert keine universalen invarianten Strukturen mehr, Machtgeschichtliche


Analysen dynamisie-
sondern macht konkrete historische Prozesse zum Gegenstand einer strukturalen ren und überschreiten
Analyse. So wird das Manko des Strukturalismus von Lévi-Strauss, die Fixie- den Strukturalismus
rung auf Synchronie, durch eine diachrone Analyse behoben. Zudem wird über
312 Matthias Junge

den Strukturalismus hinausweisend das Konzept der Struktur kritisch hinterfragt


und muss nicht mehr ausschließlich als invariante Struktur betrachtet werden.
Besonders deutlich ist dies in „Wahnsinn und Gesellschaft“. Denn hier wird
nicht nur die wechselseitige Verwiesenheit von Wahnsinn auf Normalität und
von Normalität auf Wahnsinn herausgearbeitet, sondern vor allem die histori-
schen Wandlungen und Transformationen der je konkreten Verweisungen. Kurz:
der Wandel der Struktur. Hierdurch kommen in die Analysen von Foucault post-
strukturalistische Motive hinein, weil Strukturen ihrerseits sich als konkrete
Strukturen und Verweisungen in einer je spezifischen historischen Konstellation
erweisen.

4.2 Derrida

Derridas Kritik am Als eine weitere grundsätzliche Kritik am Strukturalismus sind vor allem die
strukturalistischen
Arbeiten von Jacques Derrida zu nennen, die sich mit dem Grundbegriff des
Strukturbegriff
Strukturalismus – der Struktur – auseinandersetzen. Seine Kritik am Struktura-
lismus besteht vor allem darin, aufzuzeigen, dass eine Struktur – wie sie der
Strukturalismus in sprachwissenschaftlicher und Lévi-Strauss in kulturanthropo-
logischer Perspektive herausgearbeitet haben – nur begriffen werden kann als
Struktur ohne eine Struktur ohne Zentrum. Die These des bedingungslosen wechselseitigen
Zentrum Verweisungszusammenhangs von Zeichen auf andere Zeichen wird zu ihrer
letzten Konsequenz geführt und herausgearbeitet, dass dann Struktur im strengen
Sinne keinen Ort mehr finden kann. Denn die Struktur ist ein ortloser Ort, weil
sie sich nur in der Relation zwischen Zeichen, die auf andere Zeichen verweisen,
realisiert. D.h., Struktur ist nicht mehr eine invariante fest gefügte Ordnung,
sondern Struktur erscheint dann als ein Prozess des wechselseitigen Verwei-
sungszusammenhangs von Zeichen auf andere Zeichen. Struktur ist dann aber
eher ein Prinzip und ein Prozess.

Jacques Derrida (1930-2004)

Jacques Derrida wurde am 15.07.1930 in El Biar in


Algerien geboren. Er verstarb am 08. Oktober 2004
in Paris. Kennzeichnend für sein Denken ist vor
allem, dass er in der Sprache und mit der Sprache
diese aufzuklären versucht.
Derrida wurde in der französischen Tradition
in Algerien erzogen und wanderte 1949 nach
Frankreich aus, wo er an der École Normale Supérieure studierte und später
von 1960 bis 1964 an der Sorbonne Philosophie unterrichtete. Von 1964 bis
1984 lehrte er an der École Normale Supérieure und von 1984 bis 1999 an der
Schule für Höhere Studien der Sozialwissenschaften in Paris. Seit 1960 veröf-
fentlichte er vielzählige Bücher, die sich vor allem aus der Sprache heraus mit
der Sprache und der Möglichkeit einer Verständigung beschäftigten. Er war
1975 einer der Gründer der Gruppe Greph, die sich zur Forschung über den
Philosophieunterricht zusammenfand. Seit 1993 war Derrida zudem Direktor
Strukturalismus/Poststrukturalismus 313

des Internationalen Collège für Philosophie und gleichzeitig Gastprofessor an


der Cornell Universität in New York und später auch an anderen Universitäten
in den USA.

Derridas Auseinandersetzung mit Lévi-Strauss findet sich vor allem in seinem Die zentrumslose
Struktur
Text „Die Strukturen, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaft
von Menschen“, der sich direkt auf dessen Strukturbegriff bezieht. Der Kernge- Nicht-Zentrum der
danke dabei ist: Der klassische Strukturbegriff verlangt für eine Struktur ein Struktur
unveränderliches Zentrum zur Steuerung der Möglichkeiten der Struktur. Daraus
ergibt sich die Frage: Gehört dieses Zentrum zur Struktur oder nicht? Dieses
Zentrum ist paradoxerweise metaphorisch gesprochen „innerhalb“ und „außer-
halb“ der Struktur. „Außerhalb“ der Struktur, weil es selbst nicht durch die
Struktur erzeugt wird und als unveränderlich gilt, und „innerhalb“ der Struktur,
weil es die Möglichkeiten der Struktur steuert. So ergibt sich für Derrida die Idee
eines Nicht-Zentrums der Struktur (Derrida 1970: 264). In dieser Überlegung
spielt er mit der räumlichen Assoziation, die der Strukturbegriff wachruft. Struk-
turen werden zwar abstrakt als Relationen verstanden, konkretisiert wird diese
Vorstellung jedoch zumeist durch ihre Interpretation einer räumlichen Anord-
nung von Elementen. Man kann die eben formulierte Frage nun nochmals stel-
len: Sind es die Anordnung der Elemente von „innen“ oder die Steuerung der
Anordnung von „außen“, welche die Struktur ergeben?

Lektürevorschlag:

Derrida, Jacques (1994; Orig. 1967): Die Schrift und die Differenz. Frankfurt am Main:
Suhrkamp, S. 422-426.

Derrida radikalisiert die zeichentheoretischen Annahmen des Strukturalismus Der Zusammenhang


von Zeichen ist ein
und führt sie dadurch bis zu ihrer Konsequenz der Undenkbarkeit der Idee inva-
unabschließbares
rianter Strukturen. Wenn Zeichen auf Zeichen verweisen, aber der Zeichenzu- Netz von Verweisun-
sammenhang selber ein beliebiger ist, dann lässt sich keine endgültige Definition gen
oder Beschreibung vom Sinn der Zeichenstrukturen erarbeiten. Vielmehr erweist
sich der Zusammenhang von Zeichen als ein unbegrenzter fortdauernd interpre-
tierbarer offener Zusammenhang von möglichen Verweisungszusammenhängen
zwischen Zeichen. Hier kann keine invariante Struktur zwischen Zeichen aufge-
deckt werden, äußerstenfalls die invariante Struktur einer Unabschließbarkeit
von Verweisungszusammenhängen. Diese Kritik mündet in den Nachweis der
immanenten Grenzen des Strukturbegriffs des Strukturalismus. Er verweist in
den Augen Derridas auf seine eigene Grenze und legt seine poststrukturalistische
Weiterführung nahe.
Mit dieser Kritik von Derrida ist der Strukturalismus in der sprachwissen-
schaftlichen und frühen soziologischen Form endgültig überschritten. Denn das
Fundament des Strukturalismus, die Annahme invarianter Strukturen, wird dabei
untergraben. Es wird aufgedeckt, dass der Zusammenhang zwischen Zeichen ein
unabschließbarer Sinnzusammenhang ist, der durch die Beliebigkeit der Zeichen
selber erst erzeugt wird. Daraus ergibt sich jedoch, dass der Poststrukturalismus
314 Matthias Junge

zu einer Betonung der Unkontrollierbarkeit der Sprache (Frank 1983) und der
Bedeutung von Zeichen führt.

Wenn die Bedeutungen von Zeichenzusammenhängen nicht mehr fixiert wer-


den können, so ist auch das Fixieren einer Struktur nicht mehr möglich und
die soziale Realität erweist sich als ein Spiel mit Interpretationen von Zeichen
und Zeichensystemen.

Derridas Kritik am Die Leistungsfähigkeit einer Dekonstruktion wird von Derrida an der struktura-
Gabenbegriff von
Mauss
listischen Interpretation der Gabe von Marcel Mauss eindringlich vorgeführt.
Mauss ging davon aus, dass mit dem erstmaligen Geben einer Gabe an einen
Empfänger das Prinzip der Reziprozität in Kraft gesetzt wird. Die erste Gabe
initiiert ein System des Tausches von Gaben und führt indirekt zu einer Befrie-
dung sozialer Beziehungen. In einer minutiösen Kritik am Gabenbegriff von
Mauss zeigt Derrida, dass diese Analyse voraussetzt, was sie abzuleiten behaup-
tet. Zudem wird ein etymologisch unzutreffender Begriff der Gabe verwendet,
der das entscheidende ihrer Merkmale verfehlt: Eine Gabe ist eine einseitige
Schenkung, deren Charakter als Schenkung durch eine Gegengabe aufgehoben,
negiert wird. Kritisch zu dieser Dekonstruktion ist jedoch anzumerken, dass
Derrida seinerseits die soziale Dimension der Gabe übergeht und sich nur auf
den etymologischen Sinn der Gabe bezieht.

Lektürevorschlag:

Mauss, Marcel (1990; Orig. 1925): Die Gabe. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 20-26;
Derrida, Jacques (1993; Orig. 1991): Falschgeld. Zeit geben I. München: Fink, S.
15-26; S. 49-95; Adloff, Frank/Mau, Steffen (2005): Zur Theorie der Gabe und Re-
ziprozität. In: Frank Adloff/Steffen Mau (2005): Vom Geben und Nehmen. Zur So-
ziologie der Reziprozität. Frankfurt/Main; New York: Campus, S. 9-57.

Dekonstruktion ist Was ist unter Dekonstruktion im methodischen Sinne konkret zu verstehen? Um
eine Methode der
Textinterpretation
vorab eine kurze Antwort zu geben: Dekonstruktion ist ein methodisches Verfah-
ren der Textinterpretation, ohne sich den universalistischen Standards des Me-
thodenkonzepts zu unterwerfen. In dieser Formulierung kommt die Problematik
der Dekonstruktion umfassend zum Ausdruck. Denn folgende Fragen liegen
nahe: Was bedeutet Text in diesem Zusammenhang? Was heißt Methode? Was
sind die universalistischen Standards von Methoden?
Derridas Kritik am Die Dekonstruktion geht zurück auf eine Kritik der Zeichentheorie von
Konzept des
Saussure. Diese ging davon aus, dass Lautbild und Konzept in beliebiger Weise
Lautbilds
aufeinander verweisen und sich der Sinn aus der Verkettung, dem Zusammen-
hang von Lautbildern ergibt. Dadurch folgt eine Bevorzugung der phonetischen
Strukturen in der Linguistik, ein Phonozentrismus. Am Ende verliert sich so die
tragende Differenz von Lautbild und Konzept. Sie fallen in eins zusammen. Das
ist jedoch nach Derrida eine problematische Annahme, denn die „sogenannte
Lautschrift kann prinzipiell … nur funktionieren, wenn sie nicht-lautliche „Zei-
chen“ (Interpunktion, Zwischenraum etc.) in sich aufnimmt“ (Derrida 2004: 79).
Strukturalismus/Poststrukturalismus 315

Beispielsweise hängt die Bedeutung eines Satzes mit den Worten „Steh“ und
„auf“ wesentlich davon ab, ob er „Steh auf!“ geschrieben oder eher resigniert
den Verschlafenden anspricht und „Steh auf.“ geschrieben ist.
Dieses kleine Beispiel zeigt zweierlei: Einerseits kann Derrida unter Ver- Derridas Kritik am
Phonozentrismus
weis auf diese Beobachtung einen Vorrang der Schrift vor der Rekonstruktion
begründet einen
der phonetischen Struktur beanspruchen. Damit ist die Grundlage für die Ent- Vorrang der Schrift
wicklung der Grammatologie gelegt. Ihr Ausgangspunkt ist die Priorität der
Schrift, gramma, für die linguistische Analyse und sucht den linguistischen
Strukturalismus Saussures weiterzuentwickeln. Andererseits vermeidet dieser
Ansatz das Zusammenfallen von Lautbild und Konzept und damit zuletzt den
Rückgriff auf eine metaphysische Annahme, die Annahme eines den Zusam-
menhang zwischen Lautbild und Konzept sichernden „transzendentalen Signifi-
katen“ (Engelmann 2004: 25), einer jederzeit verfügbaren Brücke zwischen Sig-
nifikant und Signifikat. So wird ein Ansatzpunkt für einen Versuch frei, eine
Linguistik ohne metaphysische Vorannahme zu entwickeln und sich damit aus
den Fängen der philosophischen und sprachwissenschaftlichen Tradition zu be-
freien.
Ein solcher Versuch erfordert einen neuen Begriff des Textes. Um diesen zu différance und
différence
gewinnen, versucht Derrida den Begriff der Differenz, das tragende analytische
Konzept des Strukturalismus und der Linguistik, in seinem ganzen, etymologisch
umfassenden Sinn freizulegen, indem er auf die lateinische Wortbedeutung von Differenz
differre zurückgeht. In dieser Wortverwendung bedeutet Differenz nämlich
zweierlei: einerseits „die Tätigkeit, etwas auf später zu verschieben … die Tem-
porisation“ (Derrida 2004: 83) – die Verzeitlichung, die Inanspruchnahme der
zeitlichen Dimension des Prozesses des Differenzierens, und andererseits die
eingewöhnte Bedeutung von „nicht identisch sein, anders sein, erkennbar sein“
(Derrida 2004: 83), womit die „Verräumlichung“ (Derrida 2004: 84) angespro-
chen ist. Dieser Unterschied wird von Derrida als die phonetisch, lautlich, beim
Hören nicht erkennbare, nicht identifizierbare Unterscheidung von différance
und différence eingeführt, die nochmals auf den Vorrang der Schrift für die In-
terpretation verweist (vgl. hierzu auch den Beitrag von Dirk Villanyi in diesem
Band, Abschnitt 4.6).
In der Diskussion des Konzepts der Differenz überwiegt üblicherweise die Text als Horizont von
Verweisungen
Betonung der Verräumlichung zu Lasten der Temporisation. Nimmt man die
Temporisation mit in den Bedeutungsgehalt des Differenzkonzepts auf, dann
verweist eine Bedeutung auf eine nicht präsente, nicht gegenwärtige, in einem
anderen zeitlichen Zusammenhang auffindbare andere Bedeutung. Und dadurch
wird ein Text zu einem unabschließbaren Verweisungszusammenhang. Jeder
Text verweist auf einen offenen Horizont von möglichen Bedeutungen. Ein end-
gültiger Textsinn ist demnach nicht fixierbar. Ein Text ist ein Horizont von Ver-
weisungen.
Geht man nun von diesem Textbegriff aus, dann kann ein methodisches, Dekonstruktion als
ein an den jeweiligen
d.h. kontrolliertes und kontrollierbares, Vorgehen der Interpretation von Texten
Text angepasstes
angestrebt, aber nicht erreicht werden. Denn jede Interpretation muss eine be- Verfahren der Textin-
stimmte Verweisung aus dem Horizont auswählen, obwohl doch eine unbegrenz- terpretation
te Anzahl weiterer Verweisungen für die Interpretation ausgewählt werden könn-
te. Damit ist das Konzept der Methode als der Anwendung eines reduktionisti-
316 Matthias Junge

schen, vereinfachenden, Eindeutigkeit herstellenden Verfahrens unmöglich. Oder


anders: die Verwendung der Dekonstruktion als einer Methode garantiert keine
bestimmte, wiederholbare Interpretation. Vielmehr ist jedes Interpretationser-
gebnis einzigartig. Daraus ergibt sich eine „Achtung“ vor der Einzigartigkeit des
Textes und seiner Interpretation, die das Ergebnis immer mit einer begrenzten
Gültigkeit versieht. Deshalb lässt sich eine Methode der Dekonstruktion auch
nicht gemäß methodischer Standards beschreiben. Dekonstruktion ist das dem
jeweiligen Text angepasste und nur für diesen Text jeweils spezifische Vorgehen
der Textinterpretation.
Die Kritik an der Es ist dieser Textbegriff, der zum Gegenstand der Kritik von Jürgen Ha-
Bedeutungslosigkeit
bermas (1985) an Derrida wird. Denn ein so verallgemeinerter Textbegriff hebt
von Gattungsunter-
schieden zwischen scheinbar die Differenz unterschiedlicher Textgattungen, etwa den Unterschied
Texten zwischen philosophischen und literarischen Texten, auf. Dann aber wird die
Kritik und Dekonstruktion von Texten beliebig: ein philosophischer Text kann
auch aufgrund seiner zur Darstellung verwendeten Sprachfiguren und Rhetorik
kritisiert werden, ebenso wie auch ein literarischer oder poetischer Text aufgrund
seiner impliziten philosophischen Annahmen. Textgattungen und die Form der je
angemessenen Kritik sind dann nicht mehr unterscheidbar und eine Bevorzugung
wissenschaftlicher Standards für die Angemessenheit einer Argumentation oder
Darstellung nicht mehr zu begründen. In den Augen von Habermas stellen Fried-
rich Nietzsches (1844-1900) oder Richards Rortys (1931-2007) Schriften Bei-
spiele für die unzulässige, die Geltungsansprüche unterschiedlicher Text- und
Argumentationsweisen verwischende Vermengung literarischer und philosophi-
scher Kritik dar.

Lektürevorschlag:

Habermas, Jürgen (1985): Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen.
Frankfurt am Main: Suhrkamp. S. 219-247.

5 Postmoderne und Soziologie der Postmoderne


Die Gemeinsamkeit sowohl der Arbeiten von Foucault wie auch der philosophi-
schen Arbeiten von Derrida bestehen darin, dass sie die Idee einer binären Struk-
turierung an ihre Grenzen heranführen und das Konzept der Struktur historisie-
ren und dadurch dekonstruieren.
Philosophische und Diese Entwicklungen, die sich mit der Entfaltung einer poststrukturalisti-
soziologische Diskus-
schen Soziologie und Philosophie abgezeichnet haben, werden von zwei anderen
sionen über die
Postmoderne: Lyo- theoretischen Bewegungen begleitet. Einerseits entwickelt sich eine Philosophie
tard und Baudrillard der Postmoderne, die wiederum Auswirkungen auf eine Soziologie der Postmo-
derne hat. Auf der einen Seite ist hier Jean Francois Lyotard (1924-1998) und auf
der anderen Seite Jean Baudrillard (1929-2007) zu nennen. Beide Denker nehmen
Momente des poststrukturalistischen Denkens auf, ohne jedoch im strengen Sinne
der Tradition poststrukturalistischen Denkens zu folgen. Vielmehr entwickeln sie
eigene Vorstellungen von, im Falle des philosophischen Diskurses bei Lyotard,
Strukturalismus/Poststrukturalismus 317

Grenzen der Vernünftigkeit und, im Falle des soziologischen Diskurses bei


Baudrillard, von Grenzen der gesellschaftlichen Organisation.

5.1 Lyotard

Der philosophische Diskurs geht vor allem zurück auf Lyotard, der in seiner
Bahn brechenden Studie „Das postmoderne Wissen“ von 1979 aufzeigt, dass es
in der Geschichte der Moderne einen Bruch gegeben hat. Dieser Bruch hat etwas
mit den Einheit verbürgenden Erzählungen einer Gesellschaft und eines Denk-
systems über sich selbst zu tun. Jedes Denksystem ist darauf angewiesen, eine
Idee von sich selber zu bilden, um Denkbewegungen innerhalb des eigenen
Rahmens zu legitimieren, d.h. für begründet und für richtig halten zu können.

Jean-Francois Lyotard (1924-1998)

Jean-Francois Lyotard wurde am 10. August 1924 in Ver-


sailles geboren und verstarb am 21. April 1998 in Paris. Er
gilt als wegweisender Denker der Postmoderne.
Nach Lehrtätigkeiten an den Universitäten Nanterre
und Vincennes zwischen 1966 und 1972 wurde er 1972 an
die Universität von Paris-VIII berufen. Dort veröffentlichte
er 1979 das für den Diskurs um die Postmoderne weg-
weisende Werk „Das Postmoderne Wissen“ und bereits
1983 sein Hauptwerk „Der Widerstreit“. 1987 emeritierte er
und hatte seitdem verschiedene Gastprofessuren inne.
Kennzeichnend für seine Auseinandersetzungen sind vor allem, dass er
ein politisch orientierter, sich mit der kritischen Theorie auseinandersetzender
Philosoph gewesen ist, der auch Mitglied der Gruppe „Sozialismus oder Bar-
barei“ in Paris war, welche sich mit der Faktizität des sowjetischen Kommu-
nismus auseinandersetzte.

Die moderne Erzählung ist nach Lyotard vor allem eine Einheitserzählung, d.h. Die große Erzählung
der Moderne: die
die Erzählung, dass es nur eine einzige Vernunft gibt und dass alle darum herum
Einheit der einen
gelagerten Erzählungen – wie Freiheit, Emanzipation und Gleichheit – in diesen Vernunft
Rahmen integriert werden können. So entsteht das Bild eines dichten Netzes
miteinander verwobener Teilerzählungen, die alle auf eine einzige große Erzäh- Einheitserzählung
lung verweisen: die einer universal geltenden Vernunft. Diese ist eine starke
Norm, sie bindet das Denken und die Denkenden und führt so dazu, dass die
Praxis des Denkens wie auch die Praxis der Anerkennung des Gedachten immer
zurück greift auf die zugrunde liegende Idee, dass das Gedachte ein vernünftig
Gedachtes war.
Diese Erzählung im Sinne von Lyotard ist Strategie der Legitimierung, sie Erzählungen
verleiht dem Gedachten Wert und spricht ihm allgemeine Gültigkeit zu. Die
Übernahme einer Erzählung stellt im soziologischen Sinne einen Rahmen im
Sinne Goffmans (1977) zur Verfügung, der das Handeln orientiert und ausrich-
tet. Erzählungen sind „richtungsweisend für alle menschlichen Realitäten. Sie
318 Matthias Junge

verleihen der Moderne ihren charakteristischen Modus: das Projekt“ (Lyotard


1987: 32).
Erzählungen als Mit dieser Explikation der modernen Erzählungen, zu denen die Ideen der
Handlungsrahmen
Freiheit, der Aufklärung und die des Sozialismus gehören, wird klar, dass Erzäh-
lungen nicht nur legitimieren, sondern auch einen spezifischen Modus der Legi-
timation realisieren: das strebende Projekt. Eine Erzählung ist eine Handlungs-
anweisung zur Realisierung in konkreten Handlungsprojekten.
Postmoderne als Wenn jedoch die Erzählung vom Singular in den Plural transformiert wird
Pluralität von
und zwischen den Erzählungen auf Grund ihrer Gleich-Wertigkeit nicht mehr
Projekten
entschieden werden kann, dann setzt die Postmoderne ein und die Moderne ver-
liert den Charakter, ein Projekt zu sein. Die Postmoderne hat vielmehr den Mo-
dus einer Vielzahl von Projekten.
Die einfache Grundstruktur einer übergreifenden Erzählung der universalen
Vernünftigkeit bekommt in dem Moment Risse, Sprünge, Frakturen, wenn die
Annahme einer einzigen Vernunft nicht mehr geteilt wird. Diese Annahme wird
fragwürdig, wenn viele miteinander konkurrierende Ansprüche auf Vernunft
entstehen. Vernünftig ist dann nicht mehr nur wissenschaftliches oder das auf
argumentative Klärung drängende Denken. Sondern vernünftig sind nun auch
ganzheitliche Philosophien, ökologisches Denken, alternative Vorstellungen von
Denkmöglichkeiten, holistische Denkweisen, alternative Vorstellungen einer
postmodernen Beliebigkeit und Ähnliches mehr. Aufgespalten wird dadurch die
Einheitsannahme einer Vernunft.
Die Krise der großen Zurück bleibt eine Vielheit von konkurrierenden Diskursen unter Rückgriff
Erzählung
auf divergente Standards von Vernünftigkeit. Der Haken an dieser Entwicklung
ist in den Augen von Lyotard nun, dass diese konkurrierenden Standards nicht
mehr miteinander vermittelt werden können. Es kann also nicht mehr entschie-
den werden, welcher Form von Vernunft der Vorzug zu geben ist. Zurück bleibt
Vielheit eine Vielheit ohne Einheit. Die Einheit der Vernunft kann so nicht mehr gewähr-
leistet werden.
Die Unvermeidlich- Die von Derrida bereits bekannte Idee der Zentrumslosigkeit einer Struktur
keit einer Pluralität
wird von Lyotard mit einer ähnlichen Überlegung zur „Strukturlosigkeit“ von
von Diskursen
Diskursen erneut vorgetragen: „Die Vorstellung, daß eine höchste Diskursart, die
alle Einsätze umfaßt, eine höchste Antwort auf die Schlüsselfragen der verschie-
denen Diskursarten liefern könnte, scheitert an der Russellschen Aporie. – Diese
ergibt sich aus der Frage: … Übertragen auf die Einheit von Diskursen: Entwe-
der ist diese Diskursart Teil aller Diskursarten, ihr Spieleinsatz ein Einsatz unter
den anderen und ihre Antwort also nicht die höchste. Oder sie gehört nicht zur
Gesamtheit der Diskursarten und umfaßt folglich nicht alle Spieleinsätze, da sie
ihren eigenen ausnimmt. [...] Das Prinzip eines absoluten Sieges einer Diskursart
über die anderen ist sinnleer“. (1984: 230) Lyotard zieht hier die Konsequenz aus
der philosophischen Kritik an der strukturalistischen Grundannahme, dass sich
durch die Angabe von relativen Positionen eine absolute Bedeutungsstruktur
rekonstruieren lasse.
Strukturalismus/Poststrukturalismus 319

Die philosophische Diskussion um die Postmoderne geht davon aus, dass die
vormals durch eine Vernunft gegebene einheitliche Bedeutung zwingend in
eine Vielzahl von Bedeutungen zerfällt, die in Diskursen miteinander um die
Definitionsmacht über die Situation oder das Bedeutungsfeld ringen.

Lektürevorschlag:

Lyotard, Francois (1986; Orig. 1979): Das postmoderne Wissen. Wien: Passagen Verlag,
S. 1-15; S. 112-119.

Wenn man von dieser Beschreibung ausgeht, so muss man fragen, welche sozia- Soziale Ursachen für
die Erosion der
len Prozesse diese Erosion der einheitlichen Erzählung vorangetrieben haben.
modernen Erzählung
Lyotard verweist vor allem auf die Zunahme von Informationen, auf die Ver-
mehrung medialer Produktion und damit auf die Vervielfältigung von Quellen
des Wissens, die jeweils um die Vorherrschaft über die Deutung eines bestimm-
ten Bereiches kämpfen. Diese sozialgeschichtliche Ableitung eines Bruchs in der
einheitlichen Erzählung der Moderne legitimiert auf soziologische Weise die
philosophische These vom Ende der Erzählung.
Wenn jedoch die Einheit der Vernunft nicht mehr gewährleistet ist, so ist es Transversale
Vernunft
nahe liegend, nach einer „Meta-Erzählung“ zu suchen, die das als unvereinbar
Gedachte möglicherweise noch zusammenbinden kann. Solche Versuche liegen
in vielfältiger Form vor. Einer der Bekanntesten ist das Konzept der transversa-
len Vernunft von Wolfgang Welsch. Er geht davon aus, dass die Grundthese von
Lyotard – dass es eine Vielheit miteinander konkurrierender Erzählungen gibt –
zutrifft, allerdings auch davon, dass es ein zugrunde liegendes Konzept der Ver-
nünftigkeit gibt, welches das Überbrücken der nur scheinbar nicht zueinander
passenden, nur scheinbar nicht aufeinander beziehbaren Diskurse ermöglicht.
Ob dieser theoretische Versuch geglückt ist oder möglicherweise nur eine Vernunfttheoretische
Reaktionen auf die
überspannte Vorstellung einer letztlich noch der Einheitsidee der Vernunft fol-
Pluralisierung der
genden Idee ist, muss hier nicht beurteilt werden. Bemerkenswert ist jedoch an Vernunft
diesem Versuch, dass innerhalb der von Lyotard als Postmoderne gekennzeich-
neten Phase zugleich Bewegungen philosophischer Art aufscheinen, die versu-
chen, die Einheitsidee der modernen Vernunft noch zu retten bzw. wiederzubele-
ben: durch die Suche nach Einheit in der Vielheit. Das bedeutet, hinter die post-
moderne Fragmentierung und Vervielfältigung von Vernunft und Vernünftigkeit
kann nicht zurückgegangen werden im Bestreben, eine neue Einheitsbasis für das
Konzept der Vernunft zu finden.

Übungsaufgabe:

Diskutieren Sie die These einer nicht unüberbrückbaren Differenz zwischen


Diskursen am Beispiel der Begegnung von Menschen aus einander unbekannten
Kulturen. Gibt es in dieser Situation Wege zur Überbrückung der unterschiedli-
320 Matthias Junge

chen kulturellen Perspektiven? (Hintergrundinformation: Burke, Peter (2000):


Kultureller Austausch. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 9-40.)

5.2 Baudrillard

Im Rückgriff auf diese Analysen versucht Baudrillard sozialhistorisch die Ent-


wicklung von Gesellschaften mit Hilfe der Idee eines Übergangs von der Moder-
ne zur Postmoderne zu rekonstruieren. Er will zeigen, dass das Soziale sich in
Fragmentierung verliert und zu einer Illusion seiner selbst wird. Statt Sozialität
steht am Ende dieses Prozesses eine Imagination von Sozialität, ein Bild, das zu
sehen verhindert, dass hinter dem Bild keine „reale“ Sozialität mehr auffindbar
ist.
Kritik der politischen Baudrillard entwickelt seine postmoderne Zeitdiagnose durch die Zusam-
Ökonomie von Marx
menführung der den theoretischen Ausgangspunkt seiner Arbeiten darstellenden
Zeichentheorie und des Strukturalismus mit einer daran anschließenden Kritik an
Marx’ Analyse der politischen Ökonomie. Er wendet sich damit einerseits, un-
terstützt durch Anregungen Georges Batailles, vom Problem der Produktion von
Gütern ab und dem Problem des Konsums von Gütern zu, andererseits wird,
unter Aufnahme der Zeichentheorie, Konsum zugleich auch als Zeichenkonsum
interpretiert.

Jean Baudrillard (1929-2007)

Jean Baudrillard wurde 1929 in Reims geboren und


verstarb 2007. Er ist vor allem durch seine Analysen
zur Konsumgesellschaft, zur Macht der Medien und
zum Verschwinden der Politik im Zeitalter der
Simulation bekannt geworden.
Nach dem Studium der Germanistik unterrich-
tete er zunächst als Deutschlehrer an einer Mittel-
schule. Mitte der 60er Jahre wurde er Assistent bei
Henri Lefèbvre an der Universität Nanterres in Paris, wo er 1968 mit der Ar-
beit „Das System der Dinge“ promovierte und später einen Lehrstuhl für So-
ziologie übernahm. 1987 habilitierte Baudrillard mit der Arbeit „Das andere
Selbst“ und beendete im gleichen Jahr seine Lehrtätigkeit.

Das System des Das Modell einer Kritik der Ökonomie widerspricht den Analysen von Marx aus
Potlatsch als
der theoretischen Perspektive des Potlatsch primitiver Gesellschaften, d.h. von
Ausgangspunkt der
Kritik des ökonomi- einem Standpunkt außerhalb des herrschenden Produktionsparadigmas. Denn das
schen Produktions- Konzept des Potlatsch beschreibt nicht nur ein System des Geschenkaustauschs,
paradigmas sondern er stellt auch ein System verschwenderischen Konsums dar, weil der
Zwang zur Erwiderung der Gabe nicht nur symbolische Integration, die soziale
Bindung zwischen Menschen konstituiert, sondern auch Verschwendung, ein
Übermaß der Gegengabe. In diesem Sinne kann der Potlatsch als ein Modell für
ein Konsumparadigma aufgefasst werden. Die Entgegensetzung von Konsum-
und Produktionsparadigma zeigt sich darin, dass beispielsweise im Rahmen des
Strukturalismus/Poststrukturalismus 321

Produktionsparadigmas die Beziehungen zwischen Geber und Nehmer in einem


Tauschverhältnis durch Gleichheit der Tauschbeiträge, durch äquivalente Re-
ziprozität bestimmt werden, diese jedoch im Konsumparadigma nicht mehr gilt
(vgl. hierzu den Beitrag von Ditmar Brock zu Marx in Bd. 1, S. 57-77).
Die theoretischen Grundlagen einer Ökonomie der Verschwendung werden Batailles Ökonomie
der Verschwendung
von Bataille aus einer allgemeinen Theorie der Natur abgeleitet: „Der lebende
Organismus erhält, dank des Kräftespiels der Energie auf der Erdoberfläche,
grundsätzlich mehr Energie, als zur Erhaltung des Lebens notwendig ist. Die
überschüssige Energie (der Reichtum) kann zum Wachstum eines Systems (zum
Beispiel eines Organismus) verwendet werden. Wenn das System jedoch nicht
mehr wachsen und der Energieüberschuß nicht gänzlich vom Wachstum absor-
biert werden kann, muß er notwendig ohne Gewinn verlorengehen und ver-
schwendet werden, willentlich oder nicht, in glorioser oder in katastrophischer
Form.” (Bataille 1975: 45 (1967))
Diese Grundüberlegung aufgreifend entwickelte Baudrillard in „Der symbo- Die historische Kritik
der politischen
lische Tausch und der Tod” (vgl. 1991b (1976)) eine Kritik der politischen Öko-
Ökonomie
nomie von Marx aus der Perspektive der Ordnung des symbolischen Tausches,
wie sie exemplarisch durch den Potlatsch verkörpert wird. In dieser Hinsicht
stützt er sich vor allem auf die anthropologischen Arbeiten von Marcel Mauss,
insbesondere „Die Gabe” und die dort enthaltene Beschreibung des Potlatsch.
Mit der Beschreibung des Potlatsch im Hintergrund gewinnt Baudrillard eine
kritische und historische Perspektive auf die politische Ökonomie, ohne sich
innerhalb des Produktionsparadigmas bewegen zu müssen. Und erst von hier aus
kann Baudrillard seinen Haupteinwand gegen die Analysen von Marx entwi-
ckeln, dass sich diese noch innerhalb der herrschenden politischen Ökonomie
bewegen und sie dadurch indirekt anerkennen, kurz: dass Marx’ Analysen nicht
radikal genug sind.
Baudrillard sucht seine grundsätzliche Kritik an Marx durch zwei weitere Konsum- statt
Produktionsparadig-
historische Thesen zu unterstützen: Die eine These behauptet, dass der zentrale
ma und das Zusam-
Regulationsmechanismus der gesellschaftlichen Verhältnisse nicht mehr dem menfallen von
Produktionsparadigma folgt, sondern schrittweise durch ein Konsumparadigma Gebrauchs- und
ersetzt wird; die andere These sucht die sich herausbildende Identität von Ge- Tauschwert
brauchs- und Tauschwert in der Gegenwart zu begründen, um über die Marx’
schen Analysen ihres Zusammenhangs hinauszugehen.
Die erste historische These geht davon aus, dass die Ära der Produktion, die Der Vorrang des
Konsums
noch der Kapitalismuskritik von Marx voraus lag, zu Ende geht und in die Ära
des Konsums einmündet. Diese reguliert nicht mehr den Arbeiter und die Bezie-
hung zwischen Arbeiter und Kapitalbesitzern, sondern den Konsum, der das neue
Hauptproblem gegenwärtiger kapitalistischer Reproduktion darstellt. Die Not-
wendigkeit zur Regulation des Konsums resultiert daraus, dass der Konsument
konsumieren muss, um das System der Produktion aufrechtzuerhalten. Aus die-
sem Grund hat in den Analysen Baudrillards der Konsum Vorrang vor der Pro-
duktion, weil ohne Konsum das ökonomische System zusammenbrechen würde.
Veranschaulichen kann man sich diese These etwa an den entstehenden „Kathed-
ralen des Konsums“ (vgl. Ritzer 1999) wie sie in Amerika bereits viele Einkaufs-
zentren darstellen. Diese versuchen, den Vorgang und die Umgebung des Kon-
sumierens durch ein Angebot an spektakulären Erlebnissen so zu gestalten, dass
322 Matthias Junge

der Konsument zunehmend auch jenseits der Sättigungsgrenze seiner Bedürfnisse


konsumiert und so in die verschwenderische Ökonomie hereingezogen wird.
Die Einsicht in den Vorrang des Konsums ergibt sich auch in der Argumen-
tationslinie zur zweiten geschichtlichen These: aus den Analysen zur Verände-
rung des Zusammenhanges zwischen dem Gebrauchswert, d.h. dem Wert des
Nutzens eines Produktes, und dem Tauschwert, dem Wert der zur Produktion
eines Gutes aufgewendeten Arbeitszeit. Baudrillard geht davon aus, dass in Ge-
genwartsgesellschaften der Tauschwert mit dem Gebrauchswert zusammenfällt,
weil beide der gleichen Logik gehorchen – dem Herstellen äquivalenter Relatio-
nen. Dieses Zusammenfallen begründet die Rede vom Zeitalter der Indifferenz,
der Ununterscheidbarkeit und damit auch der Unentscheidbarkeit (vgl. 1981). „In
effect, our hypothesis is that needs (i.e., the system of needs) are the equivalent
of abstract social labor: on them is erected the system of use value, just as ab-
stract social labor is the basis for the system of exchange value. This hypothesis
also implies that, for there to be a system at all, use value and exchange value
must be regulated by an identical abstract logic of equivalence, an identical
code.” (Baudrillard 1981: 131) Zwischen der Logik von Tauschwert und Ge-
brauchswert herrscht die gleiche Beziehung wie zwischen Signifikat und Signifi-
kant: letztlich sind sie identisch und ihre Differenz nur Metaphysik.
Die Identität von Für beide Analysen, die zeichentheoretische und die werttheoretische, gilt,
Gebrauchs- und
Tauschwert
dass die Logik des Zeichens der Logik der Signifikanten folgt. Denn der Signifi-
kat ist nur Folge eines „denotation effect” (Baudrillard 1981: 157), ein Effekt des
Signifikanten, der seine „Objektivität” durch den Verweis auf eine scheinbare
Dinglichkeit außerhalb seiner zu bewahren sucht. Dann ist aber Realität ein Ef-
fekt der Zeichenverwendung – „“world” that the sign “evokes” ... is nothing but
the effect of the sign” (Baudrillard 1981: 152). Kurz: Die Welt ist geprägt von
ihrer Konstitution durch Zeichen.
Die Analyse zum symbolischen Tausch, zur Indifferenz von Signifikat und
Signifikant, zur Ununterscheidbarkeit von Gebrauchswert und Tauschwert, sie
alle stehen mit den Analysen zum Konsum in unmittelbarer Verbindung und
stützen sich wechselseitig in der Begründung der Perspektive auf Konsum als
Zeichenkonsum.

Abbildung 1: Grundelemente der Marxkritik

Strukturalismus: Potlatsch als Ökonomie


 
Potlatsch als Ökonomie Ÿ Vorrang des
der Verschwendung Konsums

Potlatsch als Form symbo- Ÿ Konsum als


lischer Integration Zeichenkonsum
ž
Semiologie: Potlatsch als Zeichen
Strukturalismus/Poststrukturalismus 323

Baudrillard geht davon aus, dass in modernen Gesellschaften die eigentliche Die Grenzenlosigkeit
des Zeichenkonsums
Leistung der Konsum ist, der aus seiner ökonomischen Erfassung herausgelöst
werden muss und als Konsum von Zeichen, von Differenzmerkmalen, zu verste-
hen ist. „Today consumption ... defines precisely the stage where the commodity
is immediately produced as a sign, as sign value, and where signs (culture) are
produced as commodities.” (Baudrillard 1981: 147) Konsum wird dabei, anders
als noch im Produktionsparadigma der Ökonomie, als ein unbegrenztes Potential
verstanden, weil Konsum als Zeichenkonsum keine natürliche Grenze hat. Zei-
chenkonsum ist in diesem Sinne eine „totale idealistische Praxis ..., die ... weder
mit der Bedürfnisbefriedigung noch mit dem Prinzip der Realität etwas zu tun
hat” (Baudrillard 1991a: 249 (1968)), sondern „der Vollzug einer systematischen
Manipulation von Zeichen” (Baudrillard 1991a: 244 (1968)). Der postmoderne
Konsum ist letztlich unabschließbar, weil er immer enttäuscht wird, denn das
Unterscheidungsbegehren ist grenzenlos und verlangt immer weiter nach dem
Konsum von Unterscheidungen (vgl. hierzu auch den Beitrag von Ditmar Brock
in diesem Band, S. 198ff. und S. 251ff.).
Man kann dies exemplarisch an Simmels Überlegungen zur Soziologie der Mode als Beispiel
Mode verdeutlichen (vgl. 1992 (1895)). Wenn das Kennzeichen der Mode ihre
jeweilige Neuigkeit ist, so ist die immer schnellere Entstehung neuer Moden,
Trends oder Modestile zwingend, weil jede Neuigkeit bereits nach der ersten
Präsentation keine Neuigkeit mehr darstellt und dem Unterscheidungsbegehren
keine Befriedigung mehr verschaffen kann. Vor diesem Hintergrund verfällt aber
auch die Bedeutung des Begriffs des Bedürfnisses. Bedürfnisse sind nicht mehr
das, was wir benötigen, sondern vielmehr entsprechen Bedürfnisse der Ordnung
des Unterscheidens. Sie schreibt vor, was wir bedürfen. Knapp zusammenge-
fasst: Das System der Dinge definiert die Bedürfnisse.
Was ist der gedankliche Gewinn dieser Überlegungen Baudrillards? Mit der
Interpretation der Ökonomie aus der Perspektive des Konsums gewinnt Baudril-
lard einen privilegierten Kritikstandpunkt (vgl. Ritzer 1997: 88) außerhalb der
am Produktionsparadigma orientierten politischen Ökonomie. Mit dem ideali-
sierten Konzept des Potlatsch sichert er sich einen normativen Angelpunkt für
Gesellschaftskritik. Zudem verfügt er mit dem Konzept des symbolischen Tau-
sches über die Möglichkeit, um Gegenreaktionen und Abwehrstrategien gegen
die alle sozialen Beziehungen dominierende Herrschaft des Codes zu entwickeln.
Denn der symbolische Tausch ist eine Bedrohung der herrschenden gesellschaft-
lichen Ordnung des Codes und funktionaler Integration (vgl. Baudrillard 1991b:
206 Fn. 6 (1976)). Kurz: Der Rückgriff auf die Idealisierung des symbolischen
Austausches legitimiert die Kritik des Zeichenkonsums als Gesellschaftskritik.
Baudrillards postmoderne Soziologie ist der radikalste Versuch, aus dem Medien und
Gesellschaft
Übergang von Moderne und Postmoderne soziologisch Gewinn zu ziehen,
wenngleich es nicht klar ist, inwiefern seine Analysen ernsthafter empirischer
Überprüfung zugänglich sind. Gelegentlich hat man den Eindruck, dass er zwar
ein großer Erzähler ist, nicht jedoch ein an der empirischen Überprüfung seiner
Thesen Interessierter. Anzumerken ist allerdings, dass Baudrillard mit dem Hin-
weis auf die mediale Steuerung und mediale Gestaltung der sozialen Realität in
Gegenwartsgesellschaften aufweisen kann, dass vor allem der Einfluss von Me-
dien gravierende Veränderungen für die sozialen Strukturen erzeugt.
324 Matthias Junge

6 Die Integration von Strukturalismus und Subjektivismus:


Bourdieu
6.1 Das Ausgangsproblem

Parallel zu dieser Entwicklung des postmodernen und des poststrukturalistischen


Denkens vollzieht sich zeitgleich auch im Werke von Pierre Bourdieu (1930-
2002) ein kritischer Rückgriff auf Intentionen des Strukturalismus von Lévi-
Strauss.

Pierre Bourdieu (1930-2002)

Pierre Bourdieu wurde am 01.08.1930 in Denguin


geboren und verstarb am 23. Januar 2002. Er hinter-
lässt ein umfangreiches Werk, welches vor allem der
Entwicklung einer Theorie der Praxis aus soziologi-
scher und ethnologischer Perspektive gewidmet war.
Nach seinem Studium in Philosophie, welches
er 1954 abschloss, war er zuerst, eine typische Kar-
rierestufe im französischen Bildungssystem, zwi-
schen 1955 und 1957 Lehrer an einem Gymnasium,
um von dort aus Assistent in Algerien zu werden und später, 1960 bis 1962
eine Lehrtätigkeit an der Sorbonne aufzunehmen. 1964 wurde er bereits Di-
rektor der Schule für höhere praktische Studien und schließlich 1982 an das
Collège de France berufen.
Ebenso wie für Lyotard ist für Bourdieu kennzeichnend, dass er ein poli-
tisch engagierter Intellektueller in der Zeitsituation gewesen ist. Von 1964 bis
1984 war er Professor an der Ecole nationale d’administration und hatte wäh-
rend dieser Zeit verschiedene Direktorenposten inne und war zudem Gastmit-
glied des Instituts für Fortgeschrittene Studien in Princeton von 1972 bis
1973. Von 1982 bis 2002 war er Professor und Inhaber des Lehrstuhls für
Soziologie am Collège de France in Paris, wo er verstarb.

Das Sinnverständnis Der Strukturalismus hinterlässt der Sozialtheorie ein bedeutsames Problem. Er
des Strukturalismus:
konzentrierte sich in der Rekonstruktion der Bedeutung ausschließlich auf die
objektiver Sinn
sich aus den Zusammenhängen von Zeichen ergebenden Bedeutungen. Ein Sub-
jekt, ein interpretierendes Individuum, ein handelnder Akteur, der die Zeichen-
konstellation zu deuten versucht, ist nicht vorgesehen. Sinn ist eine Eigenschaft
von Zusammenhängen zwischen Zeichen, einer Interpretation der Verwender
von Zeichen braucht es konzeptionell nicht.
Das Sinnverständnis Das ist für die Soziologie, geht man auf ihre handlungstheoretische Fundie-
der Handlungstheo-
rie: subjektiver Sinn
rung bei Simmel und Weber zurück, problematisch. Denn der Ausgangspunkt
wurde dort immer vom Sinn gebenden, interpretierenden, das Verstehen aufsu-
chenden Individuum genommen. In dieser Traditionslinie der Soziologie entste-
hen Sinn und Bedeutung durch einen aktiven Akt des Individuums, welches sich
einen Raum zur Verfügung stehender Zeichen, etwa im kulturellen System, an-
Strukturalismus/Poststrukturalismus 325

eignet und diesen verwendet, um Handlungen und Verhalten zu deuten, ihnen


einen Sinn zu verleihen.
Beide Positionen stehen sich unvermittelt gegenüber. Einen Vermittlungs- Die Notwendigkeit
einer Verbindung von
versuch für diese Problematik hat Bourdieu unternommen. Er geht dabei von der Objektivismus und
französischen Tradition sozialtheoretischen Denkens aus und möchte zugleich Subjektivismus
die theoretischen Engpässe des Strukturalismus in der Variante von Lévi-Strauss
überwinden. Dadurch soll der Strukturalismus nicht nur vom Geruch der A-
Historizität befreit werden, sondern gleichzeitig soll auch durch die Fixierung
auf Strukturen erzeugter Objektivismus mit dem Subjektivismus der verstehen-
den Soziologie verbunden werden.
Bourdieu setzt mit seiner Theorie mit dem Versuch ein, die Konzepte Hand- Habitus als struktu-
rierte und strukturie-
lung und Struktur und damit auch die Begriffe von Struktur und Subjektivität
rende Praxis
erneut zu verbinden, um die Subjektlosigkeit des Strukturalismus zu überwinden.
Entwickelt wird eine Theorie, die mit dem Konzept des Habitus als einer struktu-
rierten und strukturierenden Praxis eine Deutung von Strukturen entwickelt, die
auch den subjektiven Sinn handelnder Individuen angemessen beachtet. Das
Habitus-Konzept von Bourdieu ist, gemeinsam mit den Arbeiten von Anthony
Giddens (vgl. 1984) ein Versuch, Handlung und Struktur, Objektivismus und
Subjektivismus so miteinander zu verbinden, dass sie eine erfolgreiche Synthese
eingehen können.
Diese Verbindung ist nötig, weil beide Theorietraditionen jeweils eine Ein- Objektivismus und
Subjektivismus
seitigkeit, jeweils einen Mangel in ihrer theoretischen Konzeption haben. Der
weisen komplementä-
Objektivismus kann nicht erklären, wie die objektiven Strukturen auf die darin re theoretische Ein-
handelnden Akteure und Individuen wirken bzw. von diesen aufgenommen wer- seitigkeiten auf
den. Und der Subjektivismus kann nicht angeben, wie die subjektiven Bedeutun-
gen zu subjektunabhängigen, objektiven Strukturen und Zusammenhängen ge-
rinnen. Beide Perspektiven weisen spiegelbildliche Einseitigkeiten auf. Was der
Objektivismus kann, kann der Subjektivismus nicht leisten und was der Subjek-
tivismus kann, kann der Objektivismus nicht leisten.

Objektivismus und Subjektivismus weisen zueinander komplementäre Einsei-


tigkeiten der theoretischen Konzeption auf. Da beide jedoch auch wichtige
Einsichten in das Soziale erlauben, versucht Bourdieu sie zu einer theoreti-
schen Figur zu integrieren.

Lektürevorschlag:

Bourdieu, Pierre (1987; Orig. 1980): Sozialer Sinn. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 57-
96.

6.2 Das Feld und die Klasse

Um diese Verknüpfung herzustellen, entwickelt Bourdieu eine Theorie des Fel- Das Feld als
Kraftzentrum
des und eine dazu komplementäre Theorie des Habitus. Das Feld ist der Zusam-
326 Matthias Junge

menhang aller objektiv eine Situation bestimmenden Einflussgrößen wie Ak-


teurskonstellationen, Machtungleichgewichte, kulturelle Einflussfaktoren, domi-
nierende Gruppierungen, politische Systeme und Ähnliches mehr. Es beeinflusst
die Handlungsmöglichkeiten der Subjekte. Das Feld ist vorzustellen als ein
Kraftzentrum im physikalischen Sinne, vom ihm gehen Kräfte aus wie von ei-
nem Gravitationsfeld. Sie wirken auf die handelnden Akteure ein und legen be-
stimmte Handlungsweisen nahe, zwingen, das ist die Durkheim’sche Idee des
Sozialen als zwingender Kraft, Akteure zu bestimmten Verhaltensweisen. Denn
die Kräfte des Feldes sind, verglichen mit den Kräften der handelnden Akteure,
starke Kräfte.
Soziale Klassen und Das Feld, die eigenständige Kraft des relationalen Gefüges von Positionen,
Klassenzugehörigkeit
übt Einfluss auf die Klasse aus. Bourdieu unterscheidet im Anschluss an Marx
drei Grundklassen entlang der Struktur, der Zusammensetzung des klassenspezi-
fisch verfügbaren ökonomischen und kulturellen Kapitals: die herrschende Klas-
se, untergliedert in Unternehmer und andere (viel ökonomisches Kapital, eher
weniger kulturelles Kapital) sowie Intellektuelle (wenig ökonomisches Kapital,
viel kulturelles Kapital), sodann die Mittelklasse, differenziert in absteigendes,
exekutives und neues Kleinbürgertum, und schließlich die beherrschte Klasse
(wenig ökonomisches und kulturelles Kapital). Wichtig ist dabei, dass eine Klas-
se nur definiert werden kann, wenn man die Gesamtheit aller Bestimmungs-
merkmale heranzieht. „Eine soziale Klasse ist … definiert durch die Struktur der
Beziehungen zwischen allen relevanten Merkmalen, die jeder derselben wie den
Wirkungen, welche sie auf die Praxisformen ausübt, ihren spezifischen Wert
verleiht.“ (Bourdieu 1988: 182) Bereits aus dieser Definition ergibt sich, dass
auch und gerade die scheinbar nachrangigen Merkmale für die Analyse bedeut-
sam sind.
Der soziale Raum Das Konzept des sozialen Raumes tritt an die Stelle des Gesellschaftsbe-
ersetzt den Gesell-
griffs. Dieser wird entbehrlich, weil der soziale Raum auch die Merkmale der
schaftsbegriff
Eigenständigkeit und Wirkmächtigkeit aufweist, allerdings besser erfasst werden
kann als „Gesellschaft“. Denn Bourdieu beschreibt den sozialen Raum durch das
recht präzise bestimmbare Volumen und die Struktur des Kapitals. Zudem ist der
soziale Raum eine mehrdimensionale Vorstellung, in der objektive Strukturen und
soziale Praktiken zwei Dimensionen eines Zusammenhangs darstellen. Durch
diese Auffassung entkommt man der bei den Klassikern der Soziologie noch
üblichen Entgegensetzung von Individuum und Gesellschaft, denn der soziale
Raum ist die Einheit aus objektiven, überindividuellen Strukturzusammenhängen
und den sozialen, individuell angeeigneten und ausgeführten Praktiken.
Autonomie der Felder Der Einfluss des Feldes auf die klassenstrukturellen Merkmale ist dadurch
und Differenzie-
bedingt, dass es festlegt, welches Kapital dort als wertvoll gilt. So ist im ökono-
rungsprozesse
mischen Feld die Bedeutung ökonomischen Kapitals wesentlich, während bei-
spielsweise im wissenschaftlichen Feld kulturelles Kapital, vor allem wissen-
schaftlicher Verdienst und Reputation, von herausragender Bedeutung sind. Die
Stärke und Eigenständigkeit eines Feldes bemisst sich daran, wie gut es ihm
gelingt, „fremde“ Einflüsse abzuwehren. Auch wenn hier differenzierungstheore-
tische Aspekte – etwa die „thematische“ Reinigung (Berger 2003) – anklingen,
sie werden von Bourdieu nicht weiter verfolgt.
Strukturalismus/Poststrukturalismus 327

6.3 Der Habitus und die Lebensstile

Aber für eine umfassende Lösung des Vermittlungsproblems von Subjektivismus Habitus als System
von Dispositionen
und Objektivismus fehlt noch die Integration der subjektiven Wahrnehmung von
objektiven Strukturzusammenhängen in die Konzeption. Mit dem ersten Schritt,
der Konzeption des Feldes, ist nur eine Umformulierung der strukturalistischen
Analyseperspektive gelungen. Ergänzt wird der Objektivismus von Bourdieu
daher mit einer zweiten grundsätzlichen Annahme: dass das Feld sich komple-
mentär zu einem Habitus verhält. Mit dieser Annahme wird der Subjektivismus
in die Theorie integriert. Ein Habitus gilt als ein System von Dispositionen, wel-
che das Individuum prägen. Dieses System passt zu den Strukturen des Feldes, in
denen das Dispositionssytem durch die Akteure realisiert wird.
Habitus und Lebensstil zusammen bilden die „repräsentierte soziale Welt“ Lebensstil
(Bourdieu 1988: 278). Lebensstile stellen das subjektive Gegenstück zur objekti-
ven sozialen Welt dar. Lebensstile sind Bündel von Wertvorstellungen, Ge-
schmackspräferenzen, Konsumvorlieben, Gewohnheiten und Mustern der Le-
bensführung. Der Geschmack wird, ähnlich wie in der Interpretation des Inzest-
verbots bei Lévi-Strauss, in dieser Perspektive aus seiner Naturalisierung her-
ausgelöst und seine soziale und kulturelle Erzeugung, seine Prägung durch das
Soziale aufgezeigt.

Lektürevorschlag:

Bourdieu, Pierre (1988): Die feinen Unterschiede. Frankfurt am Main: Suhrkamp. S. 442-
462 (Darstellung des Lebensstils einer „’sehr klassischen’ Lehrkraft“)

Lebensstile bündeln diese vielfältigen Präferenzen aufgrund der Wirkungen des Der Habitus
verknüpft die
Habitus. Dieser bewirkt eine Lebensführung, die den objektiven, klassenstruktu- Klassenzugehörigkeit
rellen Zugehörigkeiten im Hinblick auf die verfügbaren Ressourcen, d.h. Kapi- mit dem Lebensstil
talsorten und ihr Volumen, entspricht und zu einheitlichen Mustern zusammen-
fügt. Wegen dieser über den Habitus hergestellten Verbindung von Klasse und
Lebensstil, ist die Lebensstilanalyse ein geeignetes Verfahren zur Analyse sozia-
ler Ungleichheiten. Denn die repräsentierte soziale Welt korrespondiert mit den
objektiven klassenstrukturellen Merkmalen.
Das Material für Bourdieus Beschreibungen der objektiven wie auch der
repräsentierten sozialen Welt entstammt überwiegend Sekundäranalyse vorlie-
gender Daten, jedoch hat er auch, vor allen in „Die feinen Unterschiede“ eigene
Erhebungen durchgeführt, um etwa Lebensstile zu erfassen. Zu diesem Zweck
werden etwa die Vorlieben bei der Wohnungseinrichtung, die Ausstattung mit
Konsumgütern, bevorzugte Freizeitbeschäftigungen, Kleidungsgewohnheiten,
Musikpräferenzen, Lektürevorlieben, Lieblingsfilme, Kenntnisse von und über
Musikstücke und Schauspiele etc. erfragt. Durch die Gruppierung dieser Daten
lassen sich typische Lebensstile auffinden und in Beziehung zur klassenstruktu-
rellen Positionierung setzen.
328 Matthias Junge

Lektürevorschlag:

Bourdieu, Pierre (1988): Die feinen Unterschiede. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 800-
808 (Fragebogen) und S. 403-416 (Ein Bild der Homologie: Aufeinander abgebilde-
te Klassenlagen und Lebensstile).

Die Homologie von Die Annahme der Komplementarität von Feld und Habitus sowie von Klasse und
Feld und Habitus
Lebensstil ist notwendig, um die Verbindung von Strukturalismus und verste-
hender Soziologie, um die Verbindung von Objektivismus und Subjektivismus
herstellen zu können. Sie kann sich u.a. auf die religionssoziologischen Schriften
wie auch auf die Überlegungen zu Klassifikationssystemen und ihrer histori-
schen Genese bei Émile Durkheim berufen. Diese gehen davon aus, dass Klassi-
fikationssysteme gesellschaftlich determiniert, aber in individuellen Lernprozes-
sen und Sozialisationsvorgängen angeeignet werden und dadurch für das Han-
deln bestimmend in dem Sinne werden, dass sie das Handeln orientieren können.
Auch wissenssoziologisch, etwa unter Rückgriff auf die Thesen zur Generations-
soziologie bei Karl Mannheim, kann man zeigen, dass tief liegende Erfahrungen,
d.h. besonders in frühen Lebensjahren gemachte Erfahrungen, die weiteren
Handlungsmöglichkeiten und die elementarsten Deutungsschemata für Men-
schen bereitstellen. Sie sind homolog zu den jeweils gegebenen Zeitumständen
der Auseinandersetzung mit dem historisch konkret situierten Feld im Sozialisa-
tionsprozess.
Die Homologiean- Mit der Homologieannahme gelingt ein Brückenschlag zwischen Objekti-
nahme als Verbin-
vismus und Subjektivismus. In dem Moment, wo angenommen wird, dass Feld
dung von Objekti-
vismus und Subjekti- und Habitus zueinander passende, nur jeweils eine unterschiedliche Perspektive
vismus bietende Konzepte sind, in diesem Moment fällt die in den Augen von Bourdieu
fruchtlose Dichotomie von Objektivismus und Subjektivismus.

Mit der Annahme der Homologie (strukturelle Gleichartigkeit) von Feld und
Habitus wird die konzeptionelle Integration von Objektivismus und Subjekti-
vismus zu leisten gesucht.

Dieser Intention folgt Bourdieus Praxeologie. Sie zielt auf eine Praxistheorie, die
er auch als strukturalen Konstruktivismus bezeichnet, und versucht zu zeigen,
wie man mit dieser Analyseperspektive konkrete soziale Verhältnisse und das
Handeln der Akteure in diesen Verhältnissen rekonstruieren und begreifen kann.

Lektürevorschlag:

Bourdieu, Pierre (1988; Orig. 1979): Die feinen Unterschiede. Frankfurt am Main: Suhr-
kamp, S. 277-286.

Habitusformen Für die weitere Entwicklung des Werkes hat nun vor allem der Begriff des Habi-
tus bzw. das Konzept der Habitusformen entscheidende Bedeutung gehabt: „Die
Konditionierungen, die mit einer bestimmten Klasse von Existenzbedingungen
verknüpft sind, erzeugen die Habitusformen als Systeme dauerhafter und über-
Strukturalismus/Poststrukturalismus 329

tragbarer Dispositionen, als strukturierte Strukturen, die wie geschaffen sind, als
strukturierende Strukturen zu fungieren, d.h. als Erzeugungs- und Ordnungs-
grundlagen für Praktiken und Vorstellungen, die objektiv an ihr Ziel angepasst
sein können, ohne jedoch bewusstes Anstreben von Zwecken und ausdrückliche
Beherrschung der zu deren Erreichung erforderlichen Operationen vorauszuset-
zen, die objektiv „geregelt“ und „regelmäßig“ sind, ohne irgendwie das Ergebnis
der Einhaltung von Regeln zu sein, und genau deswegen kollektiv aufeinander
abgestimmt sind, ohne aus dem ordnenden Handeln eines Dirigenten hervorge-
gangen zu sein.“ (Bourdieu, 1987: 98)
Der Habitus hat ein Doppelgesicht, das macht seine Wirksamkeit aus. Ei-
nerseits ist er eine Struktur, etwas Vorgegebenes, ein Rahmen, in den man sich
fügen muss. Ein Rahmen, den man aber auch benutzen kann. Und es ist dieses
„benutzen können“ andererseits, das dazu verhilft, dass der Habitus auch neue
Strukturen aufzubauen ermöglicht. Es ist die Verwendung einer Folie, die zur
Produktion neuer Folien beiträgt, weil die „Vorschrift“ zur Produktion recht viel
Freiraum für die Ausgestaltung der Produktion lässt.

Übungsaufgabe:

Vergleichen Sie Bourdieus Integrationsversuch von Subjektivismus und Objekti-


vismus mittels des Habituskonzepts mit der ähnlichen Intentionen folgenden
Konzeption der Dualität von Strukturen von Giddens. (Hintergrundinformation:
Giddens, Anthony (1988): Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer
Theorie der Strukturierung. Frankfurt/Main; New York: Campus, S. 67-81.)

Entscheidend an dieser Definition ist, dass Habitusformen Möglichkeiten des Regel und Akteure:
Die Bedeutung der
Verhaltens zur Verfügung stellen. Diese sind als Dispositionen, als Voreinstel-
Autonomie
lungen angelegt und werden im konkreten einzelnen Handeln nach Maßgabe des
Wollens der Individuen realisiert. Aber sie schreiben keine bestimmte Realisie-
rungsform vor, sondern sie stellen einen Möglichkeitsraum zur Verfügung, der
unter Rückgriff auf die Autonomie der handelnden Akteure ausgeschöpft werden
kann. Das Dispositionssystem ist zwar ein strukturiertes Ganzes, wie jedoch die
darin enthaltenen Regeln angewendet werden, ist dem Akteur überlassen. An
dieser Stelle findet sich die Perspektive des Subjektivismus wieder. Wenn die
objektiven Strukturen, die man der objektivistischen Tradition folgend ohne
Rückgriff auf die Subjekte oder handelnden Akteure rekonstruieren kann, so ist
gleichzeitig doch das Regelsystem, das im Sozialen zur Anwendung kommt,
individueller Interpretation der angebotenen Regeln unterworfen. Insofern wird
die Passung von Objektivismus und Subjektivismus mit dem Konzept der Habi-
tusformen als eines Systems von Dispositionen geleistet.
Bislang haben wir jedoch nur eine Verknüpfung zwischen beiden Analyse- Regelanwendendes
Handeln erzeugt
perspektiven erreicht. Unklar ist noch, wie sich diese Verknüpfung auswirkt.
Strukturen
Wenn die Habitusformen als System von Dispositionen der individuellen Inter-
pretation und Anwendung von Regeln unterworfen sind, so sind die Habitusfor-
men vorgegebene Strukturen, wie Bourdieu formuliert „strukturierte Strukturen“,
die in ihrer Realisierung durch die individuelle Regelinterpretation handelnder
330 Matthias Junge

Akteure zu „strukturierenden Strukturen werden“, weil sie Grundlage bieten für


die Erzeugung von Praktiken und Vorstellungen, die ihrerseits Struktur bildend
wirken. Regelanwendendes Handeln erzeugt Strukturen.

Der Rückgriff auf das System strukturierter Strukturen erzeugt durch das Han-
deln hindurch strukturierende Strukturen.

Die Einheit von Strukturiert nimmt das Element des Strukturalismus auf, d.h. das Element einer
subjektiver Deutung
vorgegebenen und bereits Bedeutung habenden Struktur, und strukturierende
und Aneignung
objektiver Strukturen Praxis nimmt auf, dass diese Struktur nur durch die individuelle Aneignung und
Deutung dieser Struktur hindurch reproduziert werden kann. Dadurch wird kon-
zeptionell Platz geschaffen für die Einbeziehung der Subjekte und ihrer Intentio-
nen in die Analysen des sozialen Feldes und der Erzeugung von sozialen Struk-
turen: Diese sind immer auch mitgeprägt durch die subjektive Aneignung und
Deutung der Struktur.

6.4 Die Kapitalsorten

Die Verfügung über Wenn sich nun Individuen unter Rückgriff auf ihre Habitusformen im sozialen
Kapital als Hand-
lungsressource
Feld bewegen, so sind ihre Handlungschancen vor allem durch die Verfügung
über Kapital, Ressourcen des Handelns, festgelegt. Der durch das Feld gespannte
Raum wird im Rahmen der Handlungsmöglichkeiten, die sich aus der Verfügung
über Kapital ergeben, genutzt.
Kapitalformen Bourdieu unterscheidet vier Sorten von Kapital, über welche ein Indivi-
duum verfügen kann: ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital
und symbolisches Kapital. Diese Kapitalformen sind teilweise miteinander aus-
tauschbar. Sie erfüllen also die Grundregeln ökonomischer Tauschgesetze, wie
sie beispielsweise von Marx formuliert wurden oder wie man sie unter Rückgriff
auf die Studie von Marcel Mauss zum Gabentausch formulieren kann.

Der Grad der Verfügung über die verschiedenen Kapitalformen bestimmt die
Handlungsmöglichkeiten im Feld.

Ökonomisches Ökonomisches Kapital bezeichnet die Verfügung über Besitz, über materiellen
Kapital
Besitz, die in einer Gesellschaft mit einem entwickelten Markt mittels Geld er-
worben oder getauscht werden können. Ökonomisches Kapital bestimmt von
dort aus auch die erreichbaren sozialen Positionen, bestimmt die erreichbaren
Handlungschancen im ökonomischen Feld. Aber, wurde bei Marx immer die
Einseitigkeit seiner auf die Ökonomie fixierten Betrachtungsweise bemängelt, so
ergänzt Bourdieu diese Kapitalsorte durch die drei anderen genannten, von denen
vor allem das kulturelle Kapital für seine Analysen etwa in „Die feinen Unter-
schiede“ bedeutsam wird.
Kulturelles Kapital; Das kulturelle Kapital tritt in drei Formen auf. Einerseits gibt es eine objek-
Objektiviertes kultu-
tivierte Form des kulturellen Kapitals, welches im Prinzip aus den materiellen
relles Kapital
Substraten der Kulturproduktion besteht. Dazu gehören Bücher, Kunstwerke,
Strukturalismus/Poststrukturalismus 331

Bilder, technische Instrumente und Ähnliches mehr. In ihnen schlägt sich mate-
rial nieder, was Kulturproduktion und Kulturaneignung für den handelnden Ak-
teur bedeuten.
Sodann gibt es den inkorporierten Zustand des kulturellen Kapitals, das be- Inkorporiertes
kulturelles Kapital
deutet, die angeeigneten Kenntnisse und Fähigkeiten im Umgang mit Kulturpro-
dukten. Es entspricht dem, was man „Bildung“ in Deutschland zu nennen pflegt,
und dem, was man in Frankreich als „Kultur“ bezeichnet. An der Konzeption ist
vor allem bedeutsam, dass die Aneignung kulturellen Kapitals den Körper des
Menschen überformt. Der Körper wird Träger, wird Repräsentant des angeeigne-
ten kulturellen Materials. Er wird in diesem Sinne durch die angeeigneten kultu-
rellen Formen überschrieben und geprägt. Man kann dies daran erkennen, wie
beispielsweise Schüler aus englischen Elite-Internaten gehen. Oder etwa daran,
wie Ballettschüler sich auch im Alltag bewegen, daran, wie Gebildete lesen und
schreiben, wie sie mit Büchern als einem der wichtigsten kulturellen Produkte
umgehen usw. An dieser Stelle erkennt man, wie die Habitusformen als System
von Dispositionen den Körper verändern. Der Körper des Menschen wird durch
die angeeigneten kulturellen Kapitalien und die angeeigneten Habitusformen
überformt: Er wird zum Träger, zum Bedeutungsträger, von Sinn. Kurz: Der
Körper drückt aus, was ihm eingeprägt wurde.
Neben dieser zweiten Form kulturellen Kapitals gibt es noch das so genann- Institutionalisiertes
kulturelles Kapital
te institutionalisierte kulturelle Kapital. Dieses manifestiert sich in Abschluss-
zeugnissen von Bildungsgängen, Hochschulabschluss, Abitur usw. usf. Instituti-
onalisiertes Kapital ist eine Währung, die getauscht werden kann, die einen
Tauschwert hat. Eine bestimmte erreichte Ausbildung ermöglicht weitere Schrit-
te in der Aneignung von ökonomischem Kapital genauso wie in der Aneignung
von sozialem Kapital oder auch von symbolischem Kapital. Neben der Verfü-
gung über objektives bedeutet auch die Verfügung über kulturelles Kapital eine
Möglichkeit, sich im gesellschaftlichen Feld eine je einzigartige Position zu
verschaffen.
Das soziale Kapital könnte man als Vitamin B umschreiben. Soziales Kapi- Soziales Kapital
tal ist das Netz aller Beziehungen, die benutzt werden können, über die sie ver-
fügen, um Hilfe zu erbitten, Rat zu erfragen, Freunde zu finden, sich auszutau-
schen, ein Netzwerk der Unterstützungen in Problemsituationen zu entwickeln
und Ähnliches mehr. Es ergänzt die beiden anderen Kapitalsorten, weil auch
soziales Kapital genutzt werden kann, um kulturelles Kapital zu erwerben, ge-
nauso wie es dazu genutzt werden kann, um ökonomisches Kapital zu erwerben
bzw. sich den Zugang zur Erwerbsmöglichkeit ökonomischen Kapitals zu schaf-
fen. Soziales Kapital ist jedoch nur begrenzt tauschbar. Kann kulturelles Kapital
relativ bruchlos in ökonomisches Kapital transformiert werden und umgekehrt,
so lässt sich soziales Kapital nicht bedingungslos tauschen.
Zu erwähnen bleibt schließlich noch das symbolische Kapital, welches aus Symbolisches Kapital
den Chancen besteht, soziale Anerkennung und soziales Prestige zu gewinnen
oder zu erhalten. Dazu gehört u.a. die Legitimierung des kulturellen Kapitals
durch Bildungszertifikate oder das Sponsoring von kulturellen Möglichkeiten
durch ökonomisches Kapital.
332 Matthias Junge

Lektürevorschlag:

Bourdieu, Pierre (1983): Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital. In:
Reinhard Kreckel (Hrsg.): Soziale Ungleichheiten. (Sonderband 2 der Sozialen
Welt) Göttingen: Schwartz, S. 183-198.

Mit der Analyse der Kapitalformen ist ein weiterer Schritt gelungen, über Einsei-
tigkeiten etwa der marxistischen Analyse, die auch Einseitigkeiten eines struktu-
ralen Blickes sind, hinauszugehen und die individuelle Anwendung und Aneig-
nung von Verfügungsmöglichkeiten aus der Perspektive des Subjekts zu rekon-
struieren. Mit der Analyse von Feld und Habitus und den Kapitalsorten sind die
Grundsteine gelegt, auf denen Bourdieu seine Praxistheorie zur Überwindung
der Spannung von Objektivismus und Subjektivismus in der empirischen For-
schung weiterentwickelt.
Mit den Konzepten des Feldes und des Habitus kann Bourdieu seine Inten-
tion einer Vermittlung von Objektivismus und Subjektivismus durch eine Praxis-
theorie realisieren. Seine Sozialtheorie zielt zuletzt auf eine Praxistheorie. Der
Mensch ist ein sich das soziale Feld lebenspraktisch aneignendes Wesen, wel-
ches die Vorgaben einer Struktur in seinen Handlungen so wendet und interpre-
tiert, dass diese zur Ausprägung eines eigenständigen subjektiv interpretierbaren
Lebensstils verdichtet werden können. Der Habitus und seine subjektive Aneig-
nung in der Lebenspraxis stellen die Verbindung von Objektivismus und Subjek-
tivismus her.

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Lyotard, Jean-Francois (1986): Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. (Herausgegeben
von Peter Engelmann) Graz/Wien: Edition Passagen. [1979]
Lyotard, Jean-Francois (1987): Der Widerstreit. München: Fink. [1983]
Mauss, Marcel (1990): Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen
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Mikl-Horke, Gertraude (2001): Soziologie. Historischer Kontext und soziologische Theo-
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Mrozek, Bodo (2005): Lexikon der bedrohten Wörter. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.
Niedzwicki, Matthias (2005): Elektronische Fußfesseln – Freiheitsbeschränkung nach Art.
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Sahlins, Marshall (1994): Kultur und praktische Vernunft. Frankfurt am Main: Suhrkmp.
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Welsch, Wolfgang (1996): Vernunft. Zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept der
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Dirk Villányi/Matthias Junge/Ditmar Brock

Soziologische Systemtheorie

1 Einleitung
Die Vorstellung, dass eine Gesellschaft als Einheit aufzufassen sei, die zudem Wie funktionieren
Gesellschaften?
einer Eigendynamik folge und von einzelnen Akteuren nicht zu steuern sei, hat
der Entwicklung der Soziologie zu einer empirisch-analytischen Wissenschaft
entscheidende Impulse gegeben (Bd. 1: 28f.). An diese Vorstellung knüpft die
soziologische Systemtheorie an und sie geht entscheidend darüber hinaus, wenn
sie klären möchte, wie Gesellschaften als Systeme funktionieren, wie sie entste-
hen und sich reproduzieren, was die Grundlagen der Selbstorganisation sozialer
Systeme sind.
Wie andere Paradigmen auch (vgl. den Beitrag von Heike Diefenbach in Systemdenken in der
Soziologie
diesem Band) integrieren solche Grundlagenfragen die Systemtheorie in einen
interdisziplinären Kontext der Systemforschung, aus dem immer wieder neue
Impulse und Anregungen aufgenommen werden. Dieser Textl konzentriert sich
auf den Beitrag des „Systemdenkens“ zur Soziologie und stellt dar, welche Mög-
lichkeiten soziologischer Analyse sich aus der Anwendung systemtheoretischen
Denkens ergeben.
Dabei müssen die konkreten Anwendungsfelder ausgeklammert bleiben.
Der Beitrag möchte dem Leser nur ausgewählte Konzepte präsentieren, auch
wenn gerade die praktische Arbeit mit Systemkonzepten beispielsweise in der
Familientherapie (einen Überblick geben von Schlippe/Schweitzer 1997) oder
der Organisationsberatung (z.B. Malik 1993) sehr viel über den Nutzen system-
theoretischen Denkens aussagt.
Der Text ist in vier Themenkomplexe gegliedert. Im zweiten Abschnitt (2.) Gliederung
wird zunächst ein Überblick über die Entwicklung systemtheoretischen Denkens
bis in die 70er Jahre des letzten Jahrhunderts gegeben. Die wesentlichen Impulse
gehen hier von technischen Systemkonstruktionen im Kontext der Kybernetik
aus, die offenbar nur schwer auf den sozialwissenschaftlichen Gegenstandsbe-
reich zu übertragen sind.
Im dritten Abschnitt (3.) präsentiert der Beitrag drei ausgewählte Autoren
(Buckley, Miller und Luhmann), die auf diese Schwierigkeiten so reagieren, dass
sie nun umgekehrt vom soziologischen Gegenstandsbereich aus nach dem Sys-
temcharakter des Sozialen fragen. Welche Arten von Systemen sind hier auszu-
machen und mit welchen begrifflichen Mitteln lassen sich ihre „Systemeigen-
schaften“ erfassen? Mit der Unterscheidung zwischen allopoietischen und auto-
poietischen Systemen erreicht Luhmann einen gewissen Durchbruch.
Sein Theoriekonzept wird im vierten Abschnitt (4.) ausführlicher vorge-
stellt. Es ist für die Soziologie deswegen so bedeutsam, weil Luhmann erstmals
338 Dirk Villányi/Matthias Junge/Ditmar Brock

nach Parsons den Anspruch einer fachuniversellen Theorie erneuert, also einer
Theorie mit der sich alle Analyseebenen und Themenbereiche der Soziologie in
einheitlicher Art und Weise behandeln und bearbeiten lassen. Das Ergebnis ist
eine eigene „Theoriesprache“, deren Begriffe netzwerkartig aufeinander verwei-
sen und sich gegenseitig präzisieren. Darüber hinaus entwickelt Luhmann auf
dieser Grundlage in Ansätzen eine Theorie des Sozialen (Menschenbild, Kom-
munikation, Problem doppelter Kontingenz, Sinn) und eine Theorie moderner
Gesellschaften mit den Schwerpunkten Medientheorie, Evolutions- und Diffe-
renzierungstheorie.
Solche Durchbrüche sind selten unbestritten und alternativlos. Deswegen
stellt der Beitrag schließlich im 5. Abschnitt ausgewählte Kritiker und alternative
Konzepte vor (Bühl, Bailey und Morin), so dass sich der deutsche Leser auch ein
Bild über alternative Möglichkeiten machen kann. Eine Gesamtdarstellung aller
wesentlichen Autoren und Beiträge kann eine solche Einführung selbstverständ-
lich nicht leisten. Der Beitrag enthält aber Wegweiser für eine intensivere Be-
schäftigung mit der soziologischen Systemtheorie.
Gibt es Systeme? An das Ende dieser kurzen Einleitung wird mit einer immer wieder gestell-
ten Frage ein Exkurs gestellt: Wie wirklich sind soziale Systeme? Sind Systeme –
hier im Besonderen mit Blick auf soziale Systeme – als reale Phänomene aufzu-
fassen oder sind Systeme lediglich analytische Konstruktionen unseres Verstan-
des? Diese Frage wird keineswegs einhellig beantwortet; nicht zuletzt, da die
verschiedenen Anhänger soziologischer Systemtheorie selbst recht unterschiedli-
che Auffassungen darüber vertreten, was als System zu gelten hat. So beschreibt
z.B. Stefan Jensen (1983) in einem Buch »Systemtheorie« die Existenz von Sys-
temen wie folgt:
„In der Wirklichkeit gibt es keine Systeme. … Aber wir können uns ent-
schließen, beliebige Gegenstände zu einem System zu verknüpfen, indem wir
annehmen, dass einige Gegenstände enger zusammengehören als andere, Wech-
selwirkungen unterliegen und dergleichen mehr. Indem wir dies tun, indem wir
eine solche Zurechnung von Gemeinsamkeiten vornehmen, bilden wir Systeme“
(ebd.: 9).
Demgegenüber geht etwa die „Living Systems Theory“ des amerikanischen
Biologen und Psychologen James G. Miller (1978) eindeutig von konkreten
Systemen aus, wozu Miller u.a. auch Gemeinschaften, Gesellschaften und supra-
nationale Systeme zählt. Und auch Luhmann (1984) startet das erste Kapitel
seines Grundrisswerkes „Soziale Systeme“ mit den Worten:
„Die folgenden Überlegungen gehen davon aus, dass es Systeme gibt. …
Der Systembegriff bezeichnet also etwas, was wirklich ein System ist, und lässt
sich damit auf eine Verantwortung für Bewährung seiner Aussagen an der Wirk-
lichkeit ein“ (Luhmann 1984: 30). Weiter heißt es dort an späterer Stelle: „Der
Systembegriff steht (im Sprachgebrauch unserer Untersuchungen) immer für
einen realen Sachverhalt. Wir meinen mit ›System‹ also nie ein nur analytisches
System, eine bloße gedankliche Konstruktion, ein bloßes Modell“ (ebd.: 599).
Gibt es Atome und Es spricht für die intellektuelle Redlichkeit, dass in vielen Diskussionen
Moleküle?
solche Grundsatzfragen aufgeworfen werden. Allerdings ist es ebenso nützlich,
einen Blick über den Tellerrand der Soziologie zu werfen und beispielsweise zu
fragen: gibt es Atome oder Moleküle wirklich? Wie ist es um den Realitätsgehalt
Soziologische Systemtheorie 339

solcher naturwissenschaftlichen Begriffe bestellt, die ja ebenfalls niemand wirk-


lich gesehen hat?
Für Atome, Moleküle und Systeme gilt gleichermaßen, dass sie etwas Rea- Begriffe sollen heu-
ristisch fruchtbar sein
les erfassen, was auch ohne wissenschaftliche Beschreibung vorhanden ist. Inso-
fern sind beispielsweise Systeme real. Diesen üblichen wissenschaftlichen An-
spruch reklamiert Luhmann auch für die Systemtheorie. Das schließt aber nicht
aus, dass sich die wissenschaftlichen Begriffe verändern, sobald bessere oder
erfolgreichere Erklärungen entwickelt werden. Daher kommt es immer auf die
heuristische Fruchtbarkeit wissenschaftlicher Begriffe an. Nur sie hält wissen-
schaftliche Begriffe am Leben.

Lektürevorschlag:

Nassehi, Armin (1992): Wie wirklich sind Systeme? Zum ontologischen und epistemolo-
gischen Status von Luhmanns Theorie selbstreferentieller Systeme. In: Krawietz,
Werner/Welker, Michael (Hg.): Kritik der Theorie sozialer Systeme. Auseinander-
setzungen mit Luhmanns Hauptwerk. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 43-70.

Übungsaufgabe:

Im dritten Abschnitt finden Sie Überlegungen Heinz von Foersters zur Selbstor-
ganisation von Systemen. Welche Folgerung können Sie aus diesen Überlegun-
gen zur Frage nach der Realität von Systemen ziehen?

2 Systemisches Denken – Grundlagen und Anfänge


2.1 Grundlagen

Die Systemtheorie kultiviert und steigert eine ganz bestimmte Sichtweise der Systemtheorie – eine
Ordnungswissen-
gesellschaftlichen Wirklichkeit. Im Mittelpunkt dieser Sichtweise stehen gesell-
schaft
schaftliche Ordnungen, die bewirken, dass Menschen typischerweise auf eine
ganz bestimmte Art und Weise kommunizieren, handeln, funktionieren. Wenn
man den Begriff nicht als politisches Etikett ansieht, sondern darunter eine be-
stimmte Analysestrategie versteht, dann kann man die Systemtheorie als „Ord-
nungswissenschaft“ (Negt 1963) bezeichnen. Dieses „Ordnungsdenken“ ist kei-
neswegs nur auf den Bereich des sozialen Miteinanders beschränkt, sondern es
zielt ganz allgemein darauf, Strukturen von Ordnung, ihr Entstehen und ihre
dauerhafte Stabilisierung („Reproduktion“) zu erforschen. Als Analysestrategie
durchzieht dieses Systemdenken die gesamte abendländische Geistesgeschichte
und beschreibt heute die Aufgabenstellung der Allgemeinen Systemtheorie (Ge-
neral System Theory), die etwa Mitte des 20. Jahrhunderts in den USA entstand.
In diesem Beitrag geht es ausschließlich um die Anwendung dieser Analysestra-
tegie auf den soziologischen Gegenstandsbereich, also um soziale Systeme.
340 Dirk Villányi/Matthias Junge/Ditmar Brock

Skeptisches Die konträre Analysestrategie setzt dagegen direkt am handelnden und ent-
Menschenbild der
scheidenden Menschen an, der aktiv in sein soziales Umfeld eingreift (vgl. den
Systemtheorie
Beitrag von Heike Diefenbach in diesem Band). Wenn wir diese beiden grund-
sätzlichen Sichtweisen vergleichen wollen (vgl. hierzu grundlegend: Dawe 1970;
1978), dann kann man der am sozialen Handeln ansetzenden Betrachtungsweise
ein eher optimistisches Menschenbild zuschreiben, das die Gesellschaft als Men-
schenwerk ansieht. Dagegen schätzt die Systemtheorie die menschlichen Mög-
lichkeiten skeptischer ein und interessiert sich daher vor allem für die hinter der
„Oberfläche“ menschlicher Aktivitäten wirkenden Ordnungskräfte (zur Mög-
lichkeit einer Verbindung beider Menschenbilder vgl. Schimank 1996: 204ff.).
Wenn man das Ordnungsdenken weiter aufschlüsselt, dann zeigen sich zwei
ganz unterschiedliche Antwortmöglichkeiten auf die Grundfrage: Wie ist Ord-
nung in Natur und Gesellschaft überhaupt möglich? Man kann darauf sowohl
mit dem Entwurf mechanistischer wie auch mit organismischen Weltbildern
antworten. Wie wir noch sehen werden, haben beide Ansätze die Entwicklung
des systemtheoretischen Denkens in der Soziologie beeinflusst.
Das mechanistische Der mechanistische Ansatz wird von seinen Kritikern vielfach als atomis-
Weltbild
tisch, reduktionistisch charakterisiert. Dieses Denken wird getragen von der
Atomismus Vorstellung, alle Phänomene – so auch soziale Systeme, wie etwa Gruppen,
Gemeinschaften und Gesellschaften – seien ausschließlich bestimmt und be-
stimmbar durch die Eigenschaften ihrer Teilelemente, hier z.B. individuelle Ak-
Mechanizismus teure. Wenn das zutrifft, dann können Wirkungen auf der Meso- und Makroebe-
ne aus in der Mikroebene liegenden Ursachen abgeleitet werden (vgl. hierzu
auch den Beitrag von Heike Diefenbach in diesem Band, S. 329-333). Der fran-
zösische Mathematiker und Astronom Pierre-Simon de Laplace (1749-1827)
ging von der Möglichkeit aus, den Zustand des Universums, Vergangenheit und
Zukunft der Welt berechnen zu können, sofern wir über die Kenntnis aller Ge-
setze und Ausgangsbedingungen verfügen. Der so genannte Laplacesche Dämon
verkörpert eine deterministische Welt, in der Überraschungen oder gar Wunder
freilich nicht zu erwarten sind (vgl. Heiden 1996: 99). Auf soziale Systeme kann
dieser Gedanke folgendermaßen angewendet werden: Könnte man soziale Sys-
teme als soziale Mechanismen verstehen, die auf bestimmte Anstöße aus der
Systemumwelt immer auf dieselbe Art und Weise reagieren, dann könnte auf
diese Weise letztlich die soziale Gesamtordnung von Gesellschaften bestimmt
werden. Diese „reduktionistische“ Analysestrategie hat vor allem die zweite
Phase systemtheoretischen Denkens in der Soziologie geprägt (vgl. unten).
Das organismische Der organismische (auch: organologische oder organizistische) Ansatz steht
Weltbild
für ein ganzheitliches (holistisches), hierarchisch gegliedertes und zielgerichtetes
Organizismus (teleologisches) Verständnis von systemischer Ordnung. Als Sinnspruch dieses
Denkens lässt sich hier die bekannte Formulierung des Holismus (Ganzheitsleh-
Holismus re) anführen: Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Dieses Mehr steht
für die durch Vernetzung der Teile hervorgebrachten, über die Eigenschaften der
Emergenz Einzelelemente hinausgehende neue „Systemeigenschaften“. Dieses Phänomen
wird als Emergenz, seine Verwendung zur Erklärung neuer Ordnungsstrukturen
Emergentismus als »Emergentismus« bezeichnet (s. Abschnitt 3.2 Das Stufenmodell der Systeme
nach James G. Miller). Der organismische Ansatz hat nicht nur die Anfänge
Soziologische Systemtheorie 341

systemtheoretischen Denkens in der Soziologie geprägt, sondern auch der neue-


ren Entwicklung (3. Phase) entscheidende Impulse gegeben.

Die Systemtheorie geht von einem pessimistischen Menschenbild aus. Sie


zielt darauf ab, die Ordnung des Sozialen zu erklären. Dabei spielen sowohl
die Merkmale von Mechanismen wie von Organismen eine Rolle.

Übungsaufgabe:

Man kann optimistische wie pessimistische Menschenbilder mit Sonnenbrillen


vergleichen, die unsere optischen Eindrücke systematisch einfärben. Versuchen
Sie, das Problem des Dopings im Radsport zunächst aus der Perspektive eines
optimistischen und dann aus dem Blickwinkel eines pessimistischen Menschen-
bilds zu erklären und jeweils Lösungsvorschläge zu erarbeiten!

2.2 Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile – die erste Phase
systemtheoretischen Denkens

Eine erste Phase systemtheoretischen Denkens in der Soziologie greift das seit Gesellschaft als
unabhängiges System
der Antike bekannte Grundmuster auf, wonach das Ganze mehr als die Summe
seiner Teile sei. Dieses Denken antwortet auf das praktische Scheitern des Kon-
zepts einer ingenieurmäßig zu konstruierenden zweckmäßigen Gesellschaft in
der französischen Revolution (vgl. Bd.1: 25ff.). Dieses Scheitern wurde von
konservativen Gesellschaftsanalytikern wie de Maistre (1754-1821) und de Bo-
nald (1754-1840; vgl. Bd. 1, S. 29) mit der „Entdeckung“ der vom Willen der
einzelnen Gesellschaftsmitglieder unabhängigen Eigendynamik von Gesellschaf-
ten erklärt. Auch Rousseaus (1712-1778) berühmte Unterscheidung zwischen der
Summe beliebiger Einzelinteressen (volontée de tous) und einem gesellschaftli-
chen Gesamtinteresse (volontée générale) macht auf diesen Aspekt aufmerksam.
Eine weitere Aufwertung erfährt diese Denkfigur mit der Mitte des 19. Jahr- Charles Darwin
hunderts durch Charles Darwins (1809-1882) Erklärung der Evolution der Arten.
Sein Hauptwerk “On the origin of species by means of natural selection“ (engl.
Erstausgabe 1859) wurde zu einem in viele Sprachen übersetzten Bestseller. Es
setzte eine intellektuelle Revolution in Gang, die auch das soziologische Denken
erfasste.
Die von Darwin formulierten Aspekte und Eigenschaften des Organismus
haben die allgemeine und die soziologische Systemtheorie immer wieder faszi-
niert und vorangetrieben. Der Soziologe und Systemtheoretiker Dirk Baecker
(2005) formuliert dieses Phänomen in seiner Einführung zu „Schlüsselwerke der
Systemtheorie“ so:
„Für die Systemtheorie steckt die ganze Magie im Organismus selber. Sie
verwandelt die Welt und ihren Beobachter in eine black box, nur um keine
Chance auszulassen, den Mechanismen des Organismus auf die Spur zu kom-
men. Die Welt der Ursachen, Kräfte und Wirkungen gilt ihr demgegenüber als
342 Dirk Villányi/Matthias Junge/Ditmar Brock

ein bloßes Schattenreich, auf das sich beschränkt, wer vom Wunder nichts ahnt
und nichts wissen will“ (ebd.: 10).
Grundgedanke der Was macht den Kern dieser „Magie des Organismus“ aus? Darwin war es
Evolutionstheorie
erstmals gelungen, eine empirisch überprüfbare Antwort auf die von der Aufklä-
rung radikalisierte Frage nach der Herkunft von Ordnung auf dem weiten Feld
lebendiger Organismen zu geben. Wie ist es zu den auf der Erde lebenden Tier-
und Pflanzenarten gekommen, wenn die Erklärung der Bibel nicht wörtlich zu
nehmen ist, dass Gott alle diese Arten einschließlich des Menschen geschaffen
Evolution
habe. Darwin beantwortet diese Frage mit einer Evolutionstheorie, die Gesetze
des Überlebenskampfes am Werke sieht, die immer nur die anpassungsfähigsten
Moderne Exemplare einer Art und die anpassungsfähigsten Arten überleben lassen. Dieser
Evolutionsbiologie
von der modernen Evolutionsbiologie konkretisierte und im Wesentlichen bestä-
tigte Grundgedanke schreit geradezu nach einer Anwendung auf Gesellschaften.
Herbert Spencer Herbert Spencer (1820-1903) nimmt diese offene Problemstellung auf und
formuliert ein allgemeines Evolutionsgesetz (vgl. Bd.1: 84, vgl. auch die aus-
führliche Darstellung von Spencers Beiträgen zur Soziologie; ebd. S. 78-105),
das er auch auf die Entwicklung von Gesellschaften anwendet. Gesellschaft
umfasse alle „durch die gegenseitigen Handlungen der Individuen“ (zit. nach
Bd.1: 86) hervorgebrachten Erscheinungen. Er spricht auch von Gesellschaft als
„sozialem Organismus“, da ihre innere Struktur in Analogie zum menschlichen
Körper verstanden werden könne. Der menschliche Körper steigert seine Leis-
tungsfähigkeit durch spezialisierte Organe, Gesellschaften weisen eine Funkti-
onsdifferenzierung auf.
Funktionale Der innergesellschaftliche Differenzierungsvorgang ergibt sich einerseits
Differenzierung
aus einer zunehmenden Komplexität sozialer Verhältnisse, die, um weiterhin
handhabbar zu sein, organisiert werden müssen. Diese Organisation sozialer
Verhältnisse folgt dem Grundsatz, dass von der Homogenität zur Heterogenität
vorangeschritten wird, das bedeutet, am Anfang gesellschaftlicher Entwicklun-
gen standen einander sehr ähnliche Einheiten, während am Ende des gesell-
schaftlichen Differenzierungsprozesses höchst verschiedenartige Einheiten in
einem wechselseitig aufeinander abgestimmten Spezialisierungsverhältnis ste-
Reduktionismus hen. Funktionale Differenzierung ist der Hauptmechanismus sozialer Systeme
zur Reduktion von Komplexität, eine Möglichkeit, sich selbst so zu organisieren,
Komplexität dass eine Beherrschung der Komplexität gelingen kann. Zu weiteren Beiträgen
Spencers, insbesondere zur Nutzung des Konzepts des Fließgleichgewichts für
soziologische Analysen vgl. Bd. 1: 86ff.

Übungsaufgabe:

Die Übertragung von Darwins Evolutionskonzept auf Gesellschaften lenkt die


Aufmerksamkeit darauf, dass Gesellschaften ihre Leistungsfähigkeit durch Diffe-
renzierung steigern können. Überlegen Sie sich Beispiele, die den Zusammen-
hang zwischen gesellschaftlicher Differenzierung und Leistungssteigerung bele-
gen.
Soziologische Systemtheorie 343

Einen eigenständigen Weg in ein ganzheitliches Systemdenken hat die moderne Systemdenken in der
Ethnologie
Ethnologie genommen. Sie beginnt in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts
mit der Abwendung von der „Lehnstuhlethnologie“ Frazers (z.B. Frazer 1978)
und der Verpflichtung auf empirische Feldstudien von Stammesgesellschaften.
Wegweisend waren insbesondere die ersten Feldstudien von Malinowski und
Radcliffe-Brown (vgl. insbes. 1952) nach dem ersten Weltkrieg. Am Beginn der
empirischen Arbeit stand aber ein gravierendes Problem: Nach welchen Maßstä-
ben sollte denn das gesellschaftliche Leben der „Wilden“ beurteilt werden?
Würde man es an den kulturellen Maßstäben moderner Gesellschaften messen,
dann würde man nur den Kolonialherren folgen und die Stammesgesellschaften
als „primitiv“ oder „defizitär“ abqualifizieren. Für ein wissenschaftliches Vorge-
hen wurde also zunächst ein unabhängiger Maßstab benötigt, der auch Verglei-
che zwischen unterschiedlichen Stammesgesellschaften zulassen sollte. Dieser
Maßstab wurde induktiv entwickelt. Er bestand darin, alle kulturspezifischen
Eigenheiten und Praktiken einer Stammesgesellschaft auf ihren Beitrag für das
Funktionieren des gesellschaftlichen Gesamtgefüges hin zu untersuchen.
Das wohl berühmteste Beispiel dieser Variante des Systemdenkens ist der Die gesellschaftliche
Funktion des Kula-
Kula-Tausch der Trobriander (die Bewohner der vor Neu-Guinea gelegenen
Tauschs
Trobriand-Inseln). Das Prinzip des Kula-Tauschs ist einfach zu erklären. Ein
Bewohner einer Dorfgemeinschaft nimmt eine als kostbar angesehene Kula-
Muschel, setzt sich in sein Boot und besucht ein auf einer anderen Insel gelege-
nes Dorf, dessen Bewohner demselben Stammesverband angehören. Er gibt die
Muschel dort als Geschenk ab, feiert mit den Dorfbewohnern ausgiebig und
kehrt am nächsten Tag in sein Heimatdorf zurück. In einem nicht genau festlie-
genden zeitlichen Abstand begibt sich dann ein Bewohner des beschenkten Dor-
fes mit einer Kula-Muschel auf die Reise zu einem weiteren Dorf. Dieser schein-
bar „unsinnige“ Vorgang wiederholt sich so lange bis ein Abgesandter mit einer
Kula-Muschel das Dorf erreicht, von dem der Kula- Tausch ausgegangen ist.
Betrachtet man den Kula-Tausch als reinen Tauschvorgang, dann ist er sinnlos,
da niemand profitiert, niemand gewinnt. Es werden auch keine unterschiedlichen
Güter getauscht. Erst wenn man den Stammesverband als Gesamtzusammenhang
betrachtet und daran denkt, dass immer Situationen entstehen können, wo ein
Dorf des Beistands durch andere bedarf, dann zeigt sich, dass der Kula-Tausch
eine ganz unverzichtbare Institution ist, die den Zusammenhalt zwischen wirt-
schaftlich unabhängigen Einheiten aufrechterhält (vgl. Malinowski 2001: 115ff.,
(vgl. hierzu auch den Beitrag von Matthias Junge in diesem Band, S. 383ff.)).

2.3 Umweltoffene Systeme – eine zweite Phase systemtheoretischen


Denkens

Eine zweite Phase systemtheoretischen Denkens beginnt in den 1950er Jahren Zweite Phase
systemtheoretischen
mit einer Theoretisierung „des Ganzen“ als umweltoffenes Funktionssystem.
Denkens
Diese Entwicklung vollzieht sich auf unterschiedlichen Feldern und über unter-
schiedliche Begriffe. Diesen Entwicklungen ist gemeinsam, dass sie auf eine
innere Grenze der Vorstellung antworten, dass das Ganze mehr sei als die Sum-
me seiner Teile. Diese Grenzen liegen darin, dass nicht geklärt werden konnte,
344 Dirk Villányi/Matthias Junge/Ditmar Brock

„wie das Ganze… auf der Ebene der Teile als Einheit zur Geltung gebracht wer-
den könne“ (Luhmann 1984: 20). Für die Soziologie bedeutete das, dass nur
unbefriedigende Erklärungen dafür vorgebracht werden konnten, warum die
Menschen das tun, was sie sollen.
Gleichgewicht Ein Entwicklungsstrang ist mit der alten Vorstellung von einem Gleichge-
wicht verknüpft. Ein solches Konzept wurde vor allem in der klassischen und der
neoklassischen Ökonomie, aber z.B. auch bei Spencer (s.o.) entwickelt, um das
Zusammenspiel unterschiedlicher dynamischer und nicht im einzelnen steuerba-
rer Kräfte oder Einflüsse genauer zu erforschen. Vor diesem Hintergrund haben
sich in der Nachkriegszeit zwei Ansätze entwickelt, mit denen man das Zusam-
menwirken komplexer Faktoren systematisch in den Griff bekommen wollte.
Input-Output-Analyse Der eine Ansatz ist die Input-Output-Analyse, die auch für soziale Systeme,
insbesondere aber politische Systeme genutzt wurde. So wurde das politische
System etwa von Easton als Transformationsmechanismus betrachtet, der auf
den Input durch Wählervoten und organisierte Interessen mit einem Output von
politischen Entscheidungen und Werten reagiert (Easton 1953). Entsprechend
mechanistischer Vorstellungen wurde also das politische System als ein System
betrachtet, das auf identische Umwelteinflüsse immer in derselben Weise rea-
giert. Man könnte es mit einem Kaffeeautomaten vergleichen, der uns auf ent-
sprechende Programmwahl und Münzeinwurf immer mit Cappuccino versorgt.
Während der Kaffeeautomat jedoch immer in derselben Weise funktioniert (so
lange nicht „Störung“ auf dem Display erscheint), könnte das politische System
diesen identischen Output auf ganz unterschiedlichen Wegen erreichen. Die
Input-Output-Analyse legt es jedoch nahe, das politische System als eine „black
box“ zu behandeln, d.h. also aus Gründen zu großer Komplexität auf eine Analy-
se der inneren Strukturen des politischen Systems zu verzichten.
Kybernetik Die zweite Entwicklung besteht in der Kybernetik (wörtlich übersetzt: Steu-
ermannskunst). Ausgangspunkt der Kybernetik ist die Beobachtung von Analo-
gien zwischen informationsverarbeitenden Automaten und neurophysiologischen
Regelungsprozessen bei Lebewesen (Wiener 1948). Das Ziel war, Mechanismen
zu isolieren, über die Systeme bzw. Systemzustände oder Systemoutputs unter
variablen Umweltbedingungen stabil bleiben. So hält z.B. der Thermostat an
einer Heizung die Raumtemperatur auf dem eingestellten Wert, obwohl die Au-
ßentemperatur schwankt und der Heizkessel eventuell viel mehr Energie produ-
ziert, als gerade benötigt wird. Der Thermostat funktioniert auf Grundlage eines
Rückkopplungsmodells, das auch in ganz anderen Fällen zur Anwendung
kommt. Bei der Heizung wird dabei der Ist-Wert, die tatsächliche Raumtempera-
tur, permanent mit dem eingestellten Soll-Wert (z.B. 20 °C) verglichen. Solange
der Sollwert niedriger oder gleich dem Ist-Wert ist, wird der Heizkörper gedros-
selt, damit er keine weitere Wärme abgibt. Im umgekehrten Fall wird solange
über den Heizkörper Wärme zugeführt, bis der Soll-Wert erreicht ist. In jedem
Fall wird der gemessene Ist-Wert ständig auf den Soll-Wert rückgekoppelt. Nach
diesem Grundmodell wurden so genannte „Kybernetische Maschinen“ entwi-
ckelt, also lernende Automaten, die ein Gesamtsystem gegenüber wechselnden
Umwelteinflüssen stabil halten konnten. Dabei wurde das Ziel verfolgt, zu unter-
suchen, inwieweit man damit das Verhalten von Lebewesen simulieren konnte.
Soziologische Systemtheorie 345

Einen wichtigen Beitrag zur Kybernetik hat John v. Neumann geleistet (v. Modell des
Automaten
Neumann 1958). Er entwickelte ein theoretisches Automatenkonzept, das Ana-
logien zur Informationsverarbeitung in Elektronenrechnern wie zu neurologi-
schen Systemen (Informationsverarbeitung bei Organismen) aufweist. Dieser
Automat weist (mindestens) einen Eingangskanal auf, über den er Informationen
aus der Umwelt gewinnt. Diese Umweltinformation wird gemäß einem Pro-
gramm, das die innere Struktur des Automaten charakterisiert, verarbeitet. Dar-
aus kann dann ein Impuls resultieren, der über einen Ausgangskanal in die Um-
welt geht. Dieses Automatenkonzept geht insofern über mechanistische Vorstel-
lungen determinierter Maschinen (z.B. Kaffeeautomat) hinaus, als dass Ein-
gangsinformationen auch Indifferenz auslösen können bzw. auch Wahrschein-
lichkeitswerte für innere Zustände angenommen werden können. Weiterhin hat
v. Neumann (gemeinsam mit O. Morgenstern) die Spieltheorie (vgl. den Beitrag
von Heike Diefenbach in diesem Band) zu einer eigenen Disziplin weiterentwi-
ckelt (v. Neumann 1928; v. Neumann/ Morgenstern 1944).
Man kann diese zweite Phase der Entwicklung systemtheoretischen Den- Übertragbarkeit auf
Soziologie problema-
kens als eine technokratische Entwicklungsphase zusammenfassen. Auch wenn
tisch
Systeme nicht einfach als Maschinen, sondern immer als nicht determinierte
informationsverarbeitende Systeme verstanden wurden, waren die Konzepte zu
direkt auf Systemleistungen und deren Steuerung zugeschnitten (vgl. hierzu auch
den Beitrag von Ditmar Brock in diesem Band, S. 177-178), um wirklich breite
Felder sozialwissenschaftlicher Anwendung erschließen zu können. Eine gewis-
se Ausnahmestellung nimmt nur Talcott Parsons ein, der systemtheoretisches
Denken in der Nachkriegssoziologie erstmals breit angewendet hat.
Da Parsons im ersten Band ausführlich dargestellt wurde (Bd. 1: 189-218) Talcott Parsons – eine
eigenständige Varian-
wird er hier nur ganz kurz eingeordnet. Parsons nimmt einige Denkansätze aus
te systemtheoreti-
der Kybernetik auf (vgl. insbes. seinen Begriff der kybernetischen Kontrollhie- schen Denkens
rarchie; ebd. 199; Erklärung bei Schimank 1996: 112f.). Er operiert weiterhin
mit dem Begriff des Systemgleichgewichts und knüpft auch (etwa in Form der
„double interchanges“, vgl. Schimank 1996: 111ff.) an die Input-Output-
Analysen an. Insofern kann Parsons in die zweite Phase des systemtheoretischen
Denkens eingeordnet werden. Diese Bezüge haben aber keinen zentralen Stel-
lenwert in seinem Konzept des Strukturfunktionalismus. Daher ist es treffender,
sein Werk im Anschluss an Luhmann (Luhmann 2002: 18-26) als eine eigen-
ständige Variante systemischen Denken aufzufassen. Sein Operieren mit dem
Systembegriff geht nicht auf Versuche zurück, ein allgemeines Systemkonzept
auf soziologische Fragestellungen anzuwenden. Es wird direkt durch soziologi-
sche Überlegungen zur sozialen Konstitution sozialen Handelns gerechtfertigt.
Luhmann bringt sie auf die Formel „action is system“ (vgl. hierzu Luhmann
2002: 18f. Vgl. weiterhin die aufschlussreiche Einschätzung von Parsons durch
Luhmann 2002: 18-40). Damit ist gemeint, dass soziales Handeln immer eine
Kombination bestimmter Voraussetzungen realisiert und reproduziert. Da zu
diesen Voraussetzungen Kultur und Gesellschaft gehören, analysiert Parsons
Handlungssysteme, die immer ein im AGIL-Schema fixiertes identisches syste-
misches Grundmuster (vgl. Bd.1: 194ff.) aufweisen.
346 Dirk Villányi/Matthias Junge/Ditmar Brock

Karl Ludwig von Bertalanffy (1901-1972)

Karl Ludwig von Bertalanffy (1901-1972) gilt als einer der


bedeutendsten Biologen und Systemtheoretiker des 20.
Jahrhunderts. Sein Interessengebiet ist weit gefächert. Ber-
talanffy beschäftigt sich unter anderem mit Problemen der
Physiologie, Krebsforschung, Biophysik und Thermody-
namik. Er gilt als Begründer der General System Theory,
in welcher gemeinsame Gesetzmäßigkeiten in physikali-
schen, biologischen und sozialen Systemen erforscht wer-
den sollen. In der theoretischen Biologie stellt Bertalanffy
ein allgemeines Modell eines offenen Systems vor. Danach
sollen lebende Systeme als Systeme von Elementen verstanden werden, wel-
che in dynamischer Interaktion zueinander stehen (vgl. Bertallanffy 1968: 38).
Bertalanffy bemängelte vor allem die Reduktion von Problemen in ver-
schiedenen Fachgebieten auf unabhängig voneinander agierende Elemente. Er
ging umgekehrt von der Vermutung aus, dass verschiedenste Systeme Ge-
meinsamkeiten aufweisen und so durch allgemeine Prinzipien beschrieben
und erklärt werden können. Als Beispiele für solche Prinzipien nennt Berta-
lanffy Komplexität, Rückkopplung, Selbstorganisation und Gleichgewicht.
Bei letzterem unterscheidet er verschiedene Gleichgewichtsarten. Zum einen
unterscheidet er zwischen dem dynamischen Gleichgewicht und dem Fließ-
gleichgewicht eines Systems. Ein echtes Gleichgewicht stellt sich dann ein,
wenn ein geschlossenes System weder Materie noch Energie mit seiner Um-
welt austauscht, so dass keine Arbeit mehr verrichtet werden kann (vgl. den 2.
Hauptsatz der Thermodynamik). Das Fließgleichgewicht stellt dagegen ein
Charakteristikum offener Systeme dar, welche Materie und Energie auf einer
konstanten Basis primärer Regulation austauschen. Weiterhin unterscheidet
Bertalanffy noch das homöostatische Gleichgewicht, eine besondere Form des
Fließgleichgewichts.
Als ein Ziel seiner Theorie beschreibt der Biologe „the developing of
unifying principles running vertically through the universe of the individual
sciences“ (Bertalanffy 1968: 38), so dass eine Einheitlichkeit in der Wissen-
schaft entstehen kann.

Schlüsselwerke der Systemtheorie

1948 Wiener: Cybernetics or Control and Communication in the Animal


and the Machine
1949 Shannon /Weaver: The Mathematical Theory of Communication

1951 Parsons: The Social System


1952 Ashby: Design for a Brain
1956 Ashby: An Introduction to Cybernetics

1967 Buckley: Sociology and Modern Systems Theory


Soziologische Systemtheorie 347

1968 Bertalanffy: General System Theory


1969 Spencer-Brown: Laws of Form

1972 Bateson: Steps to an Ecology of Mind


1974 Wallerstein: The Modern World-System
1977 Morin: La Méthode
1978 Miller: Living Systems
1979 Barel: Le Paradoxe et le Système

1980 Maturana /Varela: Autopoiesis and Cognition


1981 von Foerster: Observing Systems
1984 Luhmann: Soziale Systeme

1990 Bühl: Sozialer Wandel im Ungleichgewicht


1994 Bailey: Sociology and the New Systems Theory
1997 Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft
1998 Bühl: Verantwortung für Soziale Systeme

Lektürevorschlag:

Baecker, Dirk (2005) (Hg.): Schlüsselwerke der Systemtheorie. Wiesbaden: VS Verlag für
Sozialwissenschaften.

Übungsaufgaben:

Entwickeln Sie Beispiele für die Übertragung eines Rückkopplungsmechanismus


(vergleichbar der Funktionsweise eines Thermostaten) auf soziologische The-
men. Solche Beispiele können Sie finden, wenn Sie daran denken, wie Wert-
überzeugungen funktionieren.

Entwickeln Sie Beispiele für die Übertragung des v. Neumannschen Automaten


auf soziologische Themen. Solche Beispiele können Sie finden, wenn Sie z.B. an
Abteilungen für Öffentlichkeitsarbeit bei großen Konzernen oder Interessenver-
bänden denken.

Eine zweite Phase systemtheoretischen Denkens beginnt mit Versuchen der


Theoretisierung der Funktionsweise von „Ganzheiten“. Diese Theoretisierung
ist am Konzept eines für Umwelteinflüsse offenen Funktionssystems orien-
tiert. Wichtige Entwicklungen sind: Gleichgewichtskonzepte, Automatenkon-
zepte, Rückkopplungskonzept, Black-Boxkonzepte (Input-Output-Analysen).
Der von T. Parsons entwickelte Strukturfunktionalismus ist dagegen eher in-
duktiv aus soziologischen Fragestellungen entwickelt worden.
348 Dirk Villányi/Matthias Junge/Ditmar Brock

3 Systemarten – die Suche nach einem angemessenen


Systembegriff für die Sozialwissenschaften
Einleitung So fruchtbar die Entwicklungen in Richtung einer allgemeinen Systemtheorie
auch gewesen sein mögen, die Anwendung dieser Konzepte auf den sozialwis-
senschaftlichen Gegenstandsbereich blieb schwierig und in ihren Erfolgen eng
begrenzt. Mit der zunehmenden Kritik am Strukturfunktionalismus von Parsons
verfestigte sich der Eindruck, dass die Systemtheorie „zu technokratisch“ sei,
dass sie Systeme konzipierte, die letztlich nicht erfolgreich auf sozialwissen-
schaftliche Fragestellungen anzuwenden waren.
Diesen Eindruck teilten auch die wenigen Soziologen, die sich in den
1970er Jahren noch für Systemtheorie interessierten. Das führte zu Versuchen,
Systemarten zu unterscheiden, um auf diese Weise für sozialwissenschaftliche
Fragen geeignete Systemmodelle identifizieren zu können.
Dieser Abschnitt stellt drei Autoren vor, die an diesem Suchprozess wesent-
lich beteiligt waren: Buckley, Miller und Luhmann. Er geht weiterhin auf we-
sentliche konzeptionelle Vorarbeiten für die autopoietische Wende ein.
Das – positive – Ergebnis dieser Suchprozesse ist das Konzept des auto-
poietischen Systems, das eine dritte Phase systemtheoretischen Denkens einlei-
tet. Diese als „autopoietische Wende“ (Reese-Schäfer 1992: 47) bezeichnete
Neuorientierung systemtheoretischen Denkens kann auf das Jahr 1984 datiert
werden. In diesem Jahr legt Luhmann mit seinem Werk „Soziale Systeme“ den
„Grundriss einer allgemeinen Theorie“ (so der Untertitel) vor.

3.1 Komplexe adaptive Systeme – Walter F. Buckley

Hauptwerke Der amerikanische Soziologe Walter F. Buckley (1922-2006) bezweifelte die


vorbehaltslose Übertragung mechanistischer und organismischer Gleichge-
wichtsmodelle auf den soziologischen Gegenstandsbereich. In seinem 1967 ver-
öffentlichten Buch „Sociology and Modern System Theory“ und dem ein Jahr
später folgenden Aufsatz „Society as a Complex Adaptive System“ arbeitet
Buckley die Grenzen sowohl des mechanistischen Äquilibrium-Modells wie
auch des organismischen Modells der Homöostase heraus und entwirft ein drittes
Modell, das er als dynamisches, komplexes adaptives System bezeichnet.

Walter F. Buckley (1922-2006)

Walter Frederick Buckley wird 1922 in Lynn/Massachusetts


geboren. Mit 34 Jahren erhält Buckley seinen Doktortitel in
Soziologie an der Universität von Wisconsin. Mit einem Ful-
bright-Stipendium arbeitet er an der Sorbonne in Paris. Zwi-
schen 1971 und 1985 ist Buckley Soziologie-Professor an der
University of New Hampshire. Als einer der ersten Wissen-
schaftler überträgt er Konzepte der Allgemeinen Systemtheo-
rie, basierend auf den Arbeiten Ludwig von Bertalanffys, auf
die Soziologie. Während seiner soziologischen Tätigkeit kriti-
Soziologische Systemtheorie 349

siert er stetig die Annahmen Parsons, dass der Begriff des Gleichgewichts auf
soziale Beziehungen übertragbar sei.
Seine Hauptwerke „Sociology and Modern Systems Theory“ und „Mo-
dern Systems Research for the Behavioral Scientist“ erscheinen 1967 und
1968. Drei Dekaden später veröffentlicht er sein letztes Werk: „Society – A
Complex Adaptive System. Essays in Social Theory“ (1998). Als Versuch,
eine wissenschaftliche Grundlage für die gegenwärtige Soziologie wiederher-
zustellen, präsentiert Buckley hier eine Vielzahl systemtheoretischer Überle-
gungen. Er spricht grundlegende Probleme der Basistheorie und Methodologie
an. Besonders schaut er auf die sozio-kulturelle Regulation und Kontrolle von
dynamischen Systemen unter Berücksichtigung von strukturerhaltenden und
strukturverändernden Aspekten. Buckley vertritt die Ansicht, dass die gesell-
schaftliche Evolution keiner vorgegebenen Richtung folgt.
Seit 1998 hielt er den Ehrenvorsitz des Socio-Cybernetics Research
Committee of the International Sociological Association inne. Walter Buckley
ist neben seiner soziologischen Tätigkeit passionierter Jazz-Saxophonist. Im
Januar 2006 verstirbt Buckley im Alter von 84 Jahren.

Ein System ist für Buckley ein Komplex von Elementen und Komponenten, die Der Systembegriff
von Buckley
direkt oder indirekt in Form eines kausalen Netzwerkes untereinander in Bezie-
hung stehen, so dass zumindest einige seiner Komponenten zu anderen in einer
mehr oder weniger stabilen Weise zu jeder Zeit verbunden sind. Die Art der System
Beziehungen zwischen den Elementen bestimmt die jeweilige Struktur des Sys-
tems (vgl. Buckley 1968: 493).
In einem System ist eine Menge von Elementen so organisiert, dass Ein-
schränkungsverhältnisse zwischen ihnen bestehen, so dass zu einem bestimmten
Zeitpunkt nur bestimmte (und keine anderen) Wechselbeziehungen oder Interak-
tionen zwischen ihnen herrschen. Die Einheit des Systems kann nicht über die
Art der Beziehungen, die die Elemente zueinander aufbauen, d.h. über die Struk-
tur des Systems bestimmt werden. Ein System bildet trotz eines strukturellen
Wandels nach wie vor eine Einheit. Dies gilt es, im Auge zu behalten, da Buck-
ley den komplexen adaptiven Systemen eben diese Fähigkeit zur Strukturverän-
derung zuspricht.
Im Folgenden soll nun geklärt werden, warum Buckley die Modelle mecha-
nistischer und organismischer Gleichgewichtssysteme für die Beschreibung
sozial-kultureller Systeme für unangemessen hält.
Mechanistische Gleichgewichtssysteme sind durch ihre relative Geschlos- Kritik am mechanisti-
schen Systembegriff
senheit und ihr entropisches Verhalten gekennzeichnet, d.h. sie verlieren (gemäß
dem 2. Hauptsatz der Thermodynamik) typischerweise an Struktur bzw. Ord-
nung. Im Allgemeinen tendieren solche Systeme zu einem Gleichgewichtspunkt Äquilibrium
mit einem geringen Energieniveau, der auch als Äquilibrium bezeichnet wird.
Ausgehend von relativ einfachen Elementen und Strukturen mechanistischer
Systeme werden diese ausschließlich von externen „Störungen“ beeinflusst, da
sie über keine internen oder endogenen Quellen für Wandel verfügen. Aufgrund
ihrer Geschlossenheit besitzen mechanistische Systeme keine Mechanismen, wie
etwa Rückkopplungsschleifen (feedback control loops), die eine Selbstregulie-
350 Dirk Villányi/Matthias Junge/Ditmar Brock

rung, Selbststeuerung oder gar eine Anpassung an eine veränderte Umwelt mög-
lich machten.

Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik

Das Forschungsfeld der Thermodynamik wurde im 18. Jh. initiiert, um die


Leistung von Dampfmaschinen zu verbessern. Dabei geht es um Erkenntnisse
über die Umwandlung der Energie in ihren verschiedensten Formen. Die we-
sentlichen Aussagen wurden in vier (von 0 bis 3 bezifferten) Hauptsätzen von
allgemeiner Bedeutung zusammengefasst.
Entropie Der erste Hauptsatz der Thermodynamik besagt, dass Arbeit und Wärme
äquivalente Größen sind, also ineinander umgewandelt werden können. Die
Vorstellung, dass beide Größen beliebig ineinander umgewandelt werden
könnten, wird jedoch durch den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik ein-
geschränkt. Denn dieser hält fest, dass physikalische Prozesse eine irreversible
Entwicklungsrichtung haben: Die Entwicklung verläuft von der geordneten
Energie (Arbeit) zur ungeordneten (Wärme). Das Maß für diese Unordnung
wird als Entropie bezeichnet. Der zweite Hauptsatz besagt nun, dass in einem
von der Umwelt isolierten (geschlossenen) System die Entropie durch beliebi-
ge physikalische Ereignisse immer nur zunimmt, aber nie abnimmt.

Homöostase Homöostatische Systeme (z.B. Organismen) sind demgegenüber offen und


zugleich durch negative Entropie, d.h. durch eine Tendenz internen Strukturauf-
baus, also der Zunahme an Differenzierung und damit Komplexität beschreibbar.
Im Unterschied zu den mechanistischen Systemen verfügen organismische Sys-
teme über weit mehr Energie und sind dadurch nicht zuletzt in der Lage, ihr
Gleichgewicht auf einem vergleichsweise höheren Energieniveau innerhalb kon-
trollierter Grenzen aufrechtzuerhalten (vgl. hierzu auch den Beitrag von Matthias
Junge in Bd. 1, S.199). Jedoch auch diesem Systemmodell sind, wie Buckley
bemerkt, Grenzen gesetzt. Zwar sind in organismischen Systemen Mechanismen
vorhanden, die sowohl einen Informations- als auch einen reinen Energieaus-
tausch möglich machen – dies ermöglicht den Systemen eine Selbstregulation.
Dennoch kommen homöostatische Systeme über ihren Strukturerhalt nicht hin-
aus; sie sind nicht fähig, ihre eigenen Strukturen denen ihrer sich verändernden
Umwelt zügig anzupassen. Dafür benötigen sie allenfalls größere Zeiträume.
Soziale Systeme sind Ausgehend von der Möglichkeit eines permanenten Wandels der Umwelt
lernfähig
(nicht nur der natürlichen Umwelt, sondern auch der sozio-kulturellen), sieht
Buckley die Besonderheit von komplexen adaptiven Systemen, konkret: von
psychologischen und sozio-kulturellen Systemen, gerade in ihrer den Gleichge-
wichtssystemen fehlenden Eigenschaft, interne Strukturen wandeln und/oder
ausbauen zu können, um so ein „Überleben“ zu sichern. Umwelt ist dabei einer-
seits gekennzeichnet durch die mannigfaltigen Möglichkeiten der Elemente, sich
zueinander in Beziehung setzen zu können, was Buckley mit dem Begriff der
Varietät fasst. Andererseits verbleiben die Elemente nicht alle in einem lose
miteinander verbundenen Zustand, so dass die Elementbeziehungen bzw. -ver-
bindungen als annähernd gleich zu beobachten wären. (Ein solcher Zustand ließe
sich dann als Chaos beschreiben.) Vielmehr bauen Elemente relativ stabile „kau-
Soziologische Systemtheorie 351

sale“, räumliche und/oder zeitliche Beziehungen zueinander auf, die mit dem
Begriff der Restriktion (constraint), der Be- bzw. Einschränkung also, erfasst
werden. Es ist zunächst einmal diese Fähigkeit adaptiver Systeme: Umweltvarie-
tät und Umweltrestriktionen erfassen zu können, die es überhaupt erst möglich
erscheinen lässt, der Umwelt angemessen zu begegnen. Wie und in welchem
Maß Varietät und Restriktionen der Umwelt im System abgebildet werden kön-
nen, hängt nicht zuletzt von dessen Entwicklungsgrad ab. So geht Buckley bei
dynamischen, komplexen adaptiven Systemen von einer tendenziellen Höher-
entwicklung, d.h. einer zunehmenden Anpassungsfähigkeit dieser Systeme aus.

Abbildung 1: Systemmodell nach Buckley

Das Äquilibrium-Modell ist auf solche Systemtypen anwendbar, welche, wenn Anwendungsbezug
der drei Modelle
sie sich in Richtung eines Gleichgewichtspunktes (equilibrium point) bewegen,
typischerweise an Organisation, d.h. an Ordnung und Struktur verlieren und dann
dazu tendieren, ein minimales Ordnungsniveau innerhalb relativ begrenzter Stö-
rungsbedingungen zu halten. Homöostatische Modelle hingegen beschreiben
dagegen solche Systeme, welche dazu neigen, ein gegebenes, relativ hohes Ni-
veau an Organisation aufrechtzuerhalten. Das dynamische oder komplexe adap-
tive System setzt bei Systemen an, welche durch die Entstehung oder Entwick-
lung von Organisation charakterisiert sind (vgl. Buckley 1967: 40).
Ein adaptives System muss Buckley (1968: 491) zufolge vier Anforderun- Anforderungen an
adaptive Systeme
gen erfüllen: Das System muss …

1. in einem permanenten Austausch mit seiner Umwelt stehen. Es benötigt


einen bestimmten Grad an Plastizität und Irritationsfähigkeit gegenüber sei-
ner Umwelt, so dass es in der Umwelt stattfindende Ereignisse wahrnehmen
und auf diese Einfluss nehmen, zumindest aber reagieren kann.
2. über eine Quelle bzw. einen Mechanismus verfügen, der es ihm ermöglicht,
seinerseits Varietät zu erzeugen, um so latent gehaltene Möglichkeiten einer
adaptiven Variabilität zu schaffen. Das System ist damit in der Lage, den
veränderten Umweltvarietäten und Umweltrestriktionen angemessen zu be-
gegnen.
352 Dirk Villányi/Matthias Junge/Ditmar Brock

3. selektive Kriterien oder Mechanismen haben, die aus dem Varietätspool


struktureller Veränderung die beste aller möglichen, d.h. realisierbaren
Umweltentsprechungen herausstellt.
4. in der Lage sein, die neu entschiedene „erfolgreiche“ Eigenstruktur erhalten
und/oder durchsetzen zu können.

Morphogenese und Das Überleben oder die Kontinuität eines adaptiven Systems, so schreibt Buck-
Morphostase
ley (1968: 493), kann als notwendige Bedingung erfordern, dass die System-
strukturen verändert werden. Dem einseitigen Konzept der Strukturerhaltung,
das mit dem Begriff der Homöostase gefasst wird, stellt Buckley sein Konzept
des Strukturwandels gegenüber, das er als Morphogenese bezeichnet. Den Be-
griff der Morphogenese stellt Buckley dem der Morphostase gegenüber.
Morphostase bezieht sich auf solche Prozesse eines komplexen System-
Umwelt-Austausches, die auf eine Bewahrung der vorhandenen Form, Organisa-
tion und Zustände des Systems hinauslaufen. Morphogenese hingegen bezeich-
net jene Prozesse, die auf deren Weiterentwicklung oder Wandel hinwirken (vgl.
Buckley 1967: 58 f).
Die Gesellschaft kann als ein kontinuierlicher morphogenetischer Prozess
angesehen werden, der es ermöglicht, die Entwicklung von Strukturen, ihre Auf-
rechterhaltung und ihren Wandel zu verstehen (vgl. Buckley 1968: 497).

Lektürevorschlag:

Buckley, Walter F. (1978): Gesellschaft als komplexes adaptives System. In: Türk, Klaus
(Hg.): Handlungssysteme. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 273-288.

Übungsaufgaben:

Beschreiben Sie die Familie als System unter Rückgriff auf die drei beschriebe-
nen Systemmodelle: mechanistisches, organismisches und komplexes adaptives
System. Überlegen Sie, wie sich das Bild der Familie durch die Verwendung der
verschiedenen Modelle verändert.

Welche wichtigen soziologischen Aspekte der Familie blenden mechanistische


und organismische Konzepte aus?

Welche „Leistungen“ von Familien können erkannt werden, wenn man sie als
komplexes adaptives System interpretiert?

3.2 Die Theorie lebender Systeme – James Grier Miller

Hauptwerk In seinem Hauptwerk „Living Systems“ (1978) entwirft der amerikanische Bio-
loge und Psychologe James Grier Miller (1916-2002) eine Theorie lebender
Systeme. Er schlägt damit bereits die Richtung ein, die dann bei Luhmann zur
Soziologische Systemtheorie 353

autopoietischen Wende führt. Es geht nicht mehr darum, Systeme zu konzipie-


ren, auf die die eigene Fragestellung angewendet wird, sondern umgekehrt dar-
um, den Systemcharakter des eigenen Gegenstandsbereichs zu formulieren. Er
hat im weitesten Sinne mit der Organisationsform von Leben zu tun.
Anders als Automaten sind lebende Systeme nicht zufällige Anhäufungen Merkmale lebender
Systeme
von Materie-Energie (matter-energy) in physikalischer Raum-Zeit, welche zu
interagierenden Subsystemen und Komponenten organisiert sind. Lebende Sys-
teme sind vielmehr offene, selbstorganisatorische Systeme, die spezielle Merk-
male und wechselseitige Interaktionen mit ihrer Umwelt aufweisen. Sie erhalten
ihre Struktur, die als eine Verbindung von Subsystemen und seinen Elementen
beschrieben werden kann, durch den ständigen Austausch von Energie und Ma-
terie mit ihrer Umwelt. Die verschiedenen Subsysteme nehmen die Materie,
Energie und/oder Informationen auf, verarbeiten sie und geben diese (verändert)
wieder ab. Lebende Systeme operieren fernab vom thermodynamischen Gleich-
gewicht.

James Grier Miller (1916-2002)

James Grier Miller wird 1916 geboren. Nach dem Besuch des Columbia Bible
College in South Carolina, wechselt Miller nach Boston an die Harvard Uni-
versity. In nur sechs Jahren schließt Miller sowohl seinen BA und Master of
Arts in Psychologie als auch seinen MD und PhD in diesem Fach ab. Nach
dem Militärdienst im Zweiten Weltkrieg geht Miller nach Washington als
Leiter des Veteran's Administration Central Office. 1948 nimmt er den Posten
als Leiter des Psychologie Departments an der Universität von Chicago an, wo
er sieben Jahre bleiben wird.
Der Psychologe befasste sich in seiner Forschungsarbeit insbesondere
mit der Verbindung von Biologie und Sozialwissenschaften. Eine enge Ver-
bindung zu seiner Frau Jessie L. Miller, mit der er zwei Söhne hat, zeigt sich
auch in seiner Arbeit. Zusammen veröffentlichen sie zahlreiche Bücher und
Aufsätze. Miller gilt als Gründer des interdisziplinären University of Michi-
gan Mental Health Research Institut, welches die Arbeit an den Verhaltens-
wissenschaften in den Vordergrund stellt. 1956 wird er Herausgeber des Be-
havioral Science Journal. Elf Jahre später verlässt Miller die Universität von
Chicago und wird Leiter der Cleveland State University, 1973 wird er Präsi-
dent der University of Louisville. Nach 25 Jahren Arbeit veröffentlicht er
1978 sein Hauptwerk „Living Systems“ bei welchem vor allem die achtstufige
Einteilung der Gesellschaft ins Auge fällt. 1982 wird Miller Co-Direktor des
Robert Maynard Hutchins Center for the Study of Democratic Institutions in
Santa Barbara, wo er auch das Konzept der University of the World, eine
Organisation, welche Bildungsinstitutionen weltweit miteinander verbinden
soll, um ein besseres Verständnis auf internationaler Ebene zu erreichen, ent-
wickelt. Er stirbt im November 2002 mit 86 Jahren.
354 Dirk Villányi/Matthias Junge/Ditmar Brock

Übungsaufgabe:

Beschreiben Sie eine Bäckerei als lebendes System. Was an Energie, Materie
und Information nimmt sie aus ihrer Umwelt auf, was gibt sie an ihre Umwelt
ab?

Organisationsniveaus In seiner Theorie lebender Systeme geht Miller (1978) von sieben verschachtel-
lebender Systeme
ten Hierachie-Stufen bzw. Organisationsniveaus lebender Systeme aus: die Zelle,
das Organ, der Organismus, die Gruppe, Organisation, Gesellschaft und Supra-
nationalität. Dieses Schema wurde 1990 um eine weitere Stufe, nämlich die der
Gemeinschaft, ergänzt. Diese platziert sich zwischen die Stufen Organisation
und Gesellschaft. Jede dieser (nun acht) Stufen umfasst 20 Subsysteme. Zu die-
sen Subsytemen gehören auf der einen Seite jene Prozessoren, welche sich mit
dem Austausch Materie-Energie befassen und auf der anderen Seite ist eine Rei-
he von Subsystemen für die Aufnahme und Verarbeitung von Informationen
abgestellt.

20 Subsysteme nach J.G.Miller:

Prozesse mit Eingangsenergie (»input stage«):

ƒ Input Umwandler (input transducer): bringt Informationen ins System


ƒ Aufnehmer (ingestor): bringt Materie-Energie ins System

Prozesse mit Durchlaufleistung (»throughput stage«):

ƒ Interner Umwandler (internal transducer): erhält und wandelt die einge-


gebenen Informationen um
ƒ Kanäle und netz (channel and net): verteilen die Information im System
ƒ Decodierer (decoder): bereitet die Informationen für den systemgebrauch
vor

ƒ Timer: erhält Raum-Zeit Verbindungen/Beziehungen aufrecht


ƒ Assoziator (associator): erhält Verbindungen zwischen Informationsquel-
len aufrecht
ƒ Gedächtnis (memory): speichert Information für den Systemgebrauch
ƒ Entscheider (decider):entscheidet über Systemabläufe
ƒ Codierer (encoder): wandelt Informationen brauchbare und gebrauchte
Form

Materie-Energie Prozesse:

ƒ Reproduzent (reproducer): ist für eine reproduktive Systemfunktion zu-


ständig
ƒ Begrenzung (boundary): schützt das System vor äußeren Einflüssen
ƒ Verteiler (distributer): verteilt Materie-Energie für den Systemgebrauch
ƒ Umwandler (converter): wandelt Materie-Energie in nutzbare Form für
den Systemgebrauch um
Soziologische Systemtheorie 355

ƒ Produzent (producer): synthetisiert Materie-Energie für den System-


gebrauch von Materie-Energie
ƒ Lager (storage): lagert Materie-Energie, welche vom System genutzt
wird

ƒ Motor (motor):beschäftigt sich mit der Gängigkeit verschiedener System-


teile
ƒ Träger (supporter): stellt materielle Unterstützung für das System bereit

Prozesse mit Ausgangsenergie (»output stage«):

ƒ Output-Umwandler (output transducer): beschäftigt sich mit der Informa-


tionsausgabe des Systems
ƒ Extruder: beschäftigt sich mit Materie-Energie, welche vom System
abgesondert wird

Den beiden Ansätzen von Buckley und Miller ist gemeinsam, dass sie vor allem Von der System-
Umwelt-Beziehung
auf die Organisation der System-Umwelt-Beziehungen konzentriert sind. Sie
zur Selbstorganisa-
beschreiben Systeme vor dem Hintergrund der Problematik: Wie wird ein Sys- tion
tem mit der Umwelt fertig? Weniger Aufmerksamkeit widmen sie hingegen der
Frage nach der inneren Organisation und dem Aufbau, der Strukturbildung von
Systemen. Diese Frage wird vor allem in Luhmanns Entwurf einer Systemtheorie
aufgegriffen. Zwei Konzepte der Selbstorganisation sind dabei für Luhmann von
großer Bedeutung: die Konzeption der Autopoiesis der Argentinier Maturana
und Varela sowie das Konzept der Selbstorganisation von Heinz von Foerster.

3.3 Autopoietische Systeme – Luhmann und die Santiago School

Das Konzept der Autopoiesis wurde von dem Biologen Umberto Maturana und Autopoiesis
seinem Schüler Francis Varela entwickelt (Maturana/Varela 1972; Maturana
1982; 2000). In der Biologie wird dieser Ansatz als Santiago School bezeichnet.
Mit dem Konzept sollte die Frage beantwortet werden, wo die innere Ordnung
lebender Systeme herkommt und wie sie aufrechterhalten werden kann. Lebende
Systeme – etwa Zellen – zeichnen sich durch eine besondere Form der inneren
Organisation aus. Diese innere Organisationsform definiert am Ende für die
beiden Biologen die Organisationsform des Lebens im Allgemeinen. Was bedeu-
tet Autopoiesis? „Danach ist ein lebendes System durch die Fähigkeit charakteri-
siert, die Elemente, aus denen es besteht, selbst zu produzieren und zu reprodu-
zieren und dadurch seine Einheit zu definieren.“ (Baraldi/Corsi/Esposito 1997:
29)
Diese komplexe Formulierung macht zweierlei deutlich. Lebende Systeme Prozessorientierung
erzeugen sich selbst, erhalten sich selbst und sie tun dies, indem sie nur auf die
ihnen zugänglichen inneren Prozesse und Ressourcen zurückgreifen. Autopoiesis
hat zur Konsequenz, dass ein System, dem diese Eigenschaft zugesprochen wird,
sich nur auf sich selbst beziehen muss, um sich als System erhalten zu können.
Zugleich wird damit – vergleichbar mit der Idee des Fließgleichgewichtes – eine
356 Dirk Villányi/Matthias Junge/Ditmar Brock

starke Prozessorientierung in die systemtheoretische Analyse eingefügt. Denn


jedes einzelne Ereignis, das zur Produktion oder Reproduktion des Systems be-
nutzt wird, verschwindet im Moment seines Erscheinens. Autopoietische Syste-
me bestehen aus nichts anderem als aus der Aneinanderfolge von miteinander
verknüpften Ereignissen, die das jeweils nächste anschließende Ereignis „provo-
zieren“.
Selbstorganisation Maturanas und Varelas Überlegungen zum „Systemcharakter“ biologischer
Organismen treffen sich mit den bereits 1960 formulierten theoretischen Überle-
gungen Heinz v. Foersters über Selbstorganisation (v. Foerster 1960). Von
Foerster (1911-2002) war ein Neffe Ludwig Wittgensteins, der nach dem 2.
Weltkrieg von Wien in die USA ausgewandert ist. Als Leiter des „Biological
Computer Laboratory der Universität Illinois“ hat der gelernte Naturwissen-
schaftler einen enormen Beitrag zur interdisziplinären Diskussion insbesondere
kognitionswissenschaftlicher Fragen geleistet. In dem angesprochenen Aufsatz
über Selbstorganisation fasst er Organisation als eine einschränkende Bedingung
angesichts unbegrenzter und ungeordneter Umweltbedingungen auf. Von
Foerster weist damit nach, dass die Fähigkeit zur Selbstorganisation nur von
jemandem erkannt werden kann, der seinerseits zur Selbstorganisation fähig ist.
Das bedeutet zugleich, dass jedes Lebewesen, das Selbstorganisation beobachten
kann, damit beweist, dass es zur Selbstorganisation fähig ist. Beide genannten
Lebewesen, das Beobachtende und das Beobachtete, sind daher strukturgleich.
Aus der kybernetischen Tradition, der etwa auch Norbert Wiener (1894-1964)
angehört, wurden Begriffe in die Theorie sozialer Systeme übernommen wie:
Rückkopplung, Selbstorganisation, Beobachtung 1. und 2. Ordnung (vgl. u.a.
Foerster 1999).
Autopoietische und Mit der Anknüpfung an diese beiden Diskussionen wird in der Systemtheo-
allopoietische
Systeme
rie Luhmanns eine Unterscheidung zwischen zwei Arten von Systemen möglich:
allopoietische und autopoietische Systemen. Ein autopoietisches System ist im
Unterschied zu so genannten allopoietischen Systemen in der Lage, sich selbst
zu reparieren. Das bedeutet, dass das System in Reaktion auf Ausfälle, Defekte
oder Beschädigungen mit selbst gesteuerten Produktion neuer Ereignisse nach
Maßgabe seiner eigenen Organisation reagieren kann. Selbstorganisation be-
kommt aus dieser Perspektive den Charakter einer dynamischen Selbststeue-
rungsfähigkeit.
Allopoietische Ein allopoietisches System hingegen wird auch als triviale Maschine be-
Systeme zeichnet. „Eine triviale Maschine ist durch eine eineindeutige Beziehung zwi-
schen ihrem Input (Stimulus, Ursache) und ihrem Output (Reaktion, Wirkung)
charakterisiert. Diese invariante Beziehung ist ‚die Maschine’“ (Foerster 1971a:
12). Allopoietische Systeme sind deshalb „triviale Maschinen“, weil sie nur die
einfache Aufgabe der Produktion erfüllen können. Aber allopoietische Systeme
können sich nicht selbst reproduzieren oder reparieren. So ist etwa ein Fließband
ein allopoietisches System: das Fließband strukturiert die Produktion etwa von
Autos nach Vorgabe seiner Programmierung. Aber wenn das Fließband aufgrund
einer Störung ins Stocken kommt, kann sich die Fertigungsstraße nicht selbst
reparieren und die Störung beheben. Vielmehr bedarf es dazu eines Eingriffs von
außen, kurz: Die Steuerung des Systems Fließband erfolgt aus der Umwelt.
Soziologische Systemtheorie 357

Gerade dieser Aspekt der Selbst(re)produktion zeichnet im Gegensatz hierzu Autopoietische


Systeme
autopoietische Systeme aus. Sie reagieren zwar auf die Umwelt, aber sie steuern
sich aus dem System heraus selbst und können auf eventuelle Störungen mit
Eigenreparaturen reagieren. Autopoietische Systeme sind operativ geschlossene
Systeme.

Übungsaufgabe:

Versuchen Sie, die Merkmale autopoietischer Systeme auf ein Tier z.B. einen
Igel anzuwenden. Wieso kann er nicht als triviale Maschine angesehen werden?
Woran kann man erkennen, dass er ein operativ geschlossenes System ist? Was
hat das mit seiner Lebensdauer zu tun?

Der entscheidende Schritt zur dritten Phase systemtheoretischen Denkens ist


die Orientierung an den Organisationsprinzipien lebender Systeme. Während
sich Buckley auf den Vergleich der Eigenschaften unterschiedlicher System-
konzepte konzentriert und Miller den Austausch zwischen System und Um-
welt in den Mittelpunkt stellt, interessieren sich Luhmann, Maturana und Va-
rela für die Selbstorganisation von Systemen.

4 Luhmann: Systeme aus Kommunikation


4.1 Anknüpfungspunkte von Luhmanns soziologischer Systemtheorie

Obwohl das von Luhmann übernommene Konzept autopoietischer Systeme zu- Bezug auf Parsons
nächst von Biologen entwickelt wurde, hat Luhmanns Systemtheorie ihre ersten
entscheidenden Impulse aus der Auseinandersetzung mit dem Soziologen Talcott
Parsons (vgl. Abschnitt 2. 3) gewonnen. Parsons systemtheoretisches Hauptwerk
„The Social System“ (1951) fand in den 1950er Jahren weltweit Beachtung,
vielfach auch Bewunderung und avancierte schnell zu einem Klassiker der So-
ziologie (vgl. Bd.1: 192).
Luhmann kritisiert an Parsons, dass er gegebenen Strukturen eine bestimmte Kritik an Parsons
Funktion zuschreibt und daher auch nicht in strukturellen Alternativen denken
kann (vgl. Kiss 1977: 321ff.). Daher stellt er Parsons’ Strukturfunktionalismus
um und gibt in seinem Modell den Funktionen das Primat vor den Strukturen.
Damit wird ein Perspektivwechsel in der Betrachtung des Zusammenhangs von
Struktur und Funktion eingeleitet: Nun steht die Funktion im Mittelpunkt. Nicht
länger dienen die Funktionen dem Strukturerhalt, sondern die Strukturen müssen
sich den Erfordernissen der Funktionen zuordnen, so dass die gesellschaftlichen
Strukturen als veränderbar und eben nicht wie bei Parsons als stabil, weil funkti-
onal notwendig beschrieben werden.
358 Dirk Villányi/Matthias Junge/Ditmar Brock

Niklas Luhmann (1927-1998)

Als Sohn eines Brauereibesitzers wird Niklas Luhmann 1927


in Lüneburg geboren. Im Zweiten Weltkrieg gelangt er in
amerikanische Kriegsgefangenschaft. Mit 19 Jahren beginnt
er ein Studium der Rechtswissenschaft in Freiburg. Anschlie-
ßend beginnt der Niedersachse eine Referendar-Ausbildung
und arbeitet in der Verwaltung. 1960 heiratet er Ursula von
Walter, mit der er 3 Kinder bekommt. Noch im selben Jahr
lässt Luhmann sich für einen Studienaufenthalt an der Har-
vard-Universität in Boston beurlauben. Hier lernt er den
Begründer des Strukturfunktionalismus – Talcott Parsons – kennen. Nach
einem Aufbaustudium der Verwaltungswissenschaften in Speyer wird er als
Abteilungsleiter an die Sozialforschungsstelle Dortmund berufen. 1964 veröf-
fentlicht Niklas Luhmann sein 1. Buch „Funktionen und Folgen formaler
Organisation“. Dieser Band sowie ein weiteres Werk werden als Dissertation
und Habilitationsschrift an der Rechts- und Staatswissenschaflichen Fakultät
in Münster angenommen. 1968 wird Luhmann auf eine Professur für Soziolo-
gie an der Universität Bielefeld berufen, welche er 25 Jahre innehat. Jürgen
Habermas und Luhmann veröffentlichen ihren Band „Theorie der Gesellschaft
oder Sozialtechnologie – Was leistet die Systemforschung?“ (1971). In den
Folgejahren erscheinen weitere wichtige soziologische Bücher, wie „Gesell-
schaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie“ (1980), „Liebe
als Passion“ (1982) und „Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theo-
rie“ (1984). Ein Jahr vor seinem Tod erscheint nach 30jähriger Forschung
Luhmanns opus magnum „Die Gesellschaft der Gesellschaft“. Niklas Luh-
mann stirbt im November 1998 in Oerlinghausen bei Bielefeld. Luhmanns
Gesamtwerk umfasst über 70 selbstständige Schriften und nahezu 500 Aufsät-
ze (vgl. Schmidt 2000: 8). (Für eine Übersicht des Schriftenverzeichnis Niklas
Luhmanns vgl. Zeitschrift: Soziale Systeme, 1998, H.1)

Sinnsysteme Sinn ist eine der entscheidenden Grundbegriffe in Luhmanns Entwurf einer so-
ziologischen Systemtheorie. Psychische und soziale Systeme sind – hier im Ge-
gensatz zu Organismen – dadurch gekennzeichnet, dass ihre Operationen inner-
halb der Grenzen des Sinns, als ein nicht negierbares Medium, vollzogen wer-
den: Psychische und soziale Systeme sind Sinnsysteme. Alles, was überhaupt
gedacht oder kommuniziert werden kann, ist damit sinnhaft. Es gibt kein Denken
jenseits der Grenzen des Sinns und also weder Un-Sinn noch Nicht-Sinn (vgl.
Luhmann 1984: 96).
Bezüge zu Husserl Über den Begriff Sinn schließt Luhmann an grundsätzlichen Überlegungen
des Philosophen Edmund Husserls (1859–1938), den Begründer der Phänomeno-
logie, an. Edmund Husserl analysierte die inneren Strukturen des Bewusstseins
und versuchte zu verstehen, wie Sinn „funktioniert“. Dabei ergibt sich folgendes:
Sinn funktioniert nur, Sinnhaftes kann nur als Sinnhaftes aufgebaut werden,
wenn eine sinnhafte Aussage auf eine andere verweist. Jeder Sinn bewegt sich
vor dem Horizont eines unabgegrenzten Sinnbereiches. Denn jede Aussage, jeder
Satz, jeder Bewusstseinsvorgang ist als ein bestimmter Vorgang eben einer, der
Soziologische Systemtheorie 359

indirekt auf alle anderen möglichen Bewusstseinszustände, Aussagen und Sach-


verhalte verweist. Wer A sagt, sagt eben nicht B, C, D usw. Es ist dieser implizi-
te Verweis – also, wer etwas Bestimmtes sagt, sagt gleichzeitig vieles anderes
nicht – der den unbegrenzten Horizont jedes Operierens mit Sinn ausmacht. Fügt
man additiv alle Sinnverweisungen zusammen, also alles, was nicht gesagt wur-
de, so hat man mit Husserl den unbegrenzten Horizont des Sinns. An vielen
Stellen hat Luhmann auf Analysen von Husserl zurückgegriffen, um gerade die
aus der Bewusstseinsphilosophie entstammende Analyse von Sinn für seine
soziologische Systemtheorie fruchtbar zu machen.
Es ist eine sozial- und geisteswissenschaftliche Grundsatzfrage, wer oder Soziale Systeme
bestehen aus
was eigentlich ein soziales System zu einem solchen werden lässt, an welcher
Kommunikation
sich der Streit um Luhmanns Theorie sozialer Systeme entzündet. Während nicht
nur Anhänger des Holismus, der Ganzheitslehre, die Auffassung vertreten, dass
ein soziales System mehr ist als die Summe seiner Teile, sind nur noch wenige
bereit, Luhmann dahingehend zu folgen, dass ein soziales System ausschließlich
aus Kommunikation besteht. Menschen sind nach Luhmann keine Bestandteile
sozialer Systeme und auch selbst keine sozialen Systeme. Sie liegen in seiner
Beschreibung außerhalb dieser, also in deren Umwelt.
Aber psychische Systeme sind für die Herausbildung sozialer Systeme un- psychische Systeme
sind für soziale
verzichtbar. Aus der Perspektive sozialer Systeme bedeutet das, dass sie an die
Systeme unverzicht-
Wahrnehmungsleistungen psychischer Systeme gekoppelt sind. Damit soziale bar
Systeme kommunizieren können, benötigen sie die Wahrnehmungskompetenz
von Bewusstseinssystemen. Nur diese können Sinneseindrücke haben und verar-
beiten: sehen, hören, riechen, schmecken und tasten. Andernfalls bleibt die Welt
für die Kommunikation unbeobachtbar. Für den kommunikativen Aspekt, also
das Zustandekommen eines sozialen Systems, spielt zunächst nur das psychische
System eine Rolle. Es wird auch als Bewusstseinssystem bezeichnet, da es mit
der permanenten (Re)Produktion von Gedanken, d.h. Bewusstsein, beschäftigt
ist: Auf einen Gedanken folgt der nächste. Er bezieht sich dabei zwangsläufig in
irgendeiner Weise auf den vorhergehenden Gedanken. Das Bewusstseinssystem
operiert selbstreferentiell. Man kann auch sagen, dass das Bewusstsein in der Selbstreferenz
Generierung von Gedanken rückläufig operiert, was in der Luhmannschen Sys-
temtheorie auch mit dem Begriff der Rekursivität überschrieben wird. Umge-
kehrt ist Bewusstsein von der Entwicklung der Sprache abhängig, die nur inter-
subjektiv erfolgen kann.
Beide Systeme, sowohl psychische als auch soziale Systeme, sind über das Der Begriff struktu-
relle Kopplung
Medium Sprache und den unvermeidbaren Bezug auf Sinn miteinander verbun-
den; oder systemtheoretisch formuliert: strukturell gekoppelt. Der Begriff, auch
er geht auf Varela und Maturana zurück, macht darauf aufmerksam, dass Syste- Strukturelle
me ihre Umwelt nicht nur gemäß eigener interner Strukturen „verarbeiten“ kön- Kopplung
nen, sondern, dass sie auch ausgewählte Strukturen dieser Umwelt für sich nut-
zen können. In diesem Sinne ist zum Beispiel die Muskulatur von Lebewesen an
die Schwerkraft der Erde gekoppelt (Luhmann 2002: 120). Unter den Bedingun-
gen der Schwerelosigkeit ist sie für ein Lebewesen nicht zweckdienlich. In die-
sem schmalen Bereich struktureller Kopplung bauen Systeme also besondere
Umweltbezüge auf, an denen sie ihre Binnenstruktur direkt orientieren. Diese
besondere Umweltbeziehung charakterisiert die Beziehung zwischen psychi-
360 Dirk Villányi/Matthias Junge/Ditmar Brock

schen und sozialen Systemen. Luhmann nimmt an, dass sich beide Systeme koe-
volutionär, also interdependent aufeinander bezogen, entwickelt hätten (Luh-
mann 2002: 277; zur Evolution vgl. unten 4.5)

Abbildung 2: Modelle sozialer Systeme: Modell der Interaktion/Luhmanns


Modell

Soziale Systeme Abbildung 2 veranschaulicht, dass auch bei Luhmann für das Zustandekommen
emergieren aus
von Kommunikation in Form von Interaktion psychische Systeme unerlässlich
Kommunikation
sind (vgl. Luhmann 1995a: 114), wenngleich diese als autonome, d.h. operativ
geschlossene Systeme begriffen werden müssen. Ohne ein Vorhandensein von
mindestens zwei psychischen Systemen – Alter und Ego – in Form von ihres
jeweiligen Bewusstseinssystems, ist Kommunikation nicht möglich, da sie auf
die Spezialkompetenz des Bewusstseins: der Wahrnehmung angewiesen ist (vgl.
Luhmann 1995c: 14). Kommt es also zu einer Interaktion, sind nach Luhmann
drei eigenständige Systeme gegenwärtig. Das durch Kommunikation entstehende
dritte System, das soziale System, kann als das emergente Moment der Interakti-
on psychischer Systeme aufgefasst werden: Es steht für das Wort »mehr«, in
dem oben bereits angedeuteten, oft zitierten Satz: Das Ganze ist mehr als die
Summe seiner Teile. Eben dieses mehr versucht Luhmann zu fassen.

Lektürevorschlag:

Niklas Luhmann (1984): Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt
am Main: Suhrkamp, S. 15-29.

So sind es die Kommunikationen, die soziale Systeme ausmachen, sie erzeugen.


Sie allein beziehen sich aufeinander. Demnach sind es nicht mehr die Menschen,
die miteinander kommunizieren, wie dies im allgemeinen Verständnis ange-
nommen wird, sondern die Kommunikation selbst, die nunmehr kommuniziert.
Soziologische Systemtheorie 361

Übungsaufgabe:

Warum bestehen nach Luhmann soziale Systeme nicht aus konkreten Menschen,
sondern aus Kommunikationen? Möglicherweise können Sie diese Frage erst
beantworten, wenn Sie die Abschnitte 4.2 und 4.7 gelesen haben. Nach der Lek-
türe dieser Abschnitte sollten Sie unbedingt versuchen, diese Frage zu beantwor-
ten. Nur wenn Ihnen die Antwort klar geworden ist, haben Sie Luhmanns Sys-
temtheorie verstanden!

4.2 Soziale Systeme operieren mit Kommunikation

„Nur die Kommunikation kann kommunizieren. Zieht man diese Begriffsdisposition Die Kommunikation
in Zweifel, und das will ich tun, bekommt man normalerweise zu hören: letztlich kommuniziert
seien es doch immer Menschen, Individuen, Subjekte, die handeln bzw. kommuni-
zieren. Demgegenüber möchte ich behaupten, dass nur die Kommunikation kommu-
nizieren kann und dass erst in einem solchen Netzwerk der Kommunikation das er-
zeugt wird, was wir unter ›Handeln‹ verstehen“ (Luhmann 1995a: 113).

Ein solches Netzwerk der Kommunikation ist in Abbildung 3 dargestellt. Soziale Kommunikation
Systeme sind also, Luhmann folgend, Kommunikationssysteme, da sie nur aus
Kommunikation bestehen. Führt man sich dies vor Augen, so wird deutlich, dass
mit der Kommunikationsfrage bei Luhmann alles steht oder fällt. Zu klären ist
deshalb, was genau Luhmann unter Kommunikation versteht.

Abbildung 3: Interaktion als soziales System: Modell nach Habermas/Modell


nach Luhmann

Luhmann arbeitet mit einem triadischen Kommunikationsmodell. Demgegenüber


ist das klassische Modell der Kommunikation nach dem Bild von Sender und
Empfänger ein zweistelliger Kommunikationsbegriff. So besteht der Kommuni-
kationsprozess nach Luhmann aus einer dreigliedrigen Einheit von Information,
362 Dirk Villányi/Matthias Junge/Ditmar Brock

Mitteilung und Verstehen (Abb. 4). Jeder dieser Teilschritte setzt eine Selektion
voraus. Und: erst der dritte Schritt, die dritte Selektion, also das Verstehen, er-
zeugt Kommunikation.

Abbildung 4: Luhmanns triadisches Kommunikationsmodell

Kommunikation ist Alle drei Bestandteile jeder Kommunikation sind Selektionen. D.h. Alter (Sen-
selektiv
der) selektiert aus einer unbegrenzten Zahl von Möglichkeiten eine bestimmte
Information (1. Selektion), die er zum Gegenstand der Kommunikation machen
will. Informativ sind nur solche Selektionen, von denen angenommen werden
kann, dass sie für Ego Neuigkeitswert haben. Jede Information wird mit einer
Mitteilung (2. Selektion) kombiniert. Wenn z.B. Alter Ego fragt, ob er seinen
Regenschirm dabei habe, dann nicht, weil er an der Information interessiert ist,
sondern weil man mit der Frage einen bestimmten Mitteilungssinn verbindet.
Vielleicht soll Ego darauf aufmerksam gemacht werden, dass es regnen könnte?
Politiker teilen den Wählern gerne vor der Wahl mit, welche Segnungen sie im
Falle ihrer Wahl an die Wähler verteilen möchten. Nach der Wahl werden die
Wähler dann vielleicht darüber in Kenntnis gesetzt, dass die Steuern erhöht wer-
den müssen. Die veränderten Interessen verändern auch die ausgewählte Infor-
mation. Schließlich kann Alter auch entscheiden, wie eine Information mitgeteilt
werden soll – so kann eine Liebesbezeugung in einem vorgetragenen Liebeslied
bekundet werden oder etwa durch eine Rose (vgl. hierzu Luhmann 1982, Bard-
mann 1997).
Verstehen Der dritte Selektionsschritt nun ist das Verstehen durch Ego, den Empfänger
der Information und der Mitteilung. Verstehen bedeutet, dass Ego die Differenz
zwischen Information und Mitteilung versteht. Der Begriff ist formal, so dass
auch jedes Missverständnis auf Verstehen beruht. Wenn Ego z.B. die Frage nach
dem Regenschirm so missversteht, dass Alter sich gerne von Ego einen Regen-
schirm leihen möchte, dann hat er Alter einen Mitteilungssinn unterstellt, auch
wenn seine Vermutung vielleicht falsch war. Solche Fehlinterpretationen können
dann durch weitere Kommunikation geklärt werden. Ego hätte nur dann nicht
verstanden, wenn er Alter überhaupt keinen Mitteilungssinn unterstellt. Erst mit
der dritten Selektion ist Kommunikation entstanden. Anders: Verstehen generiert
Kommunikation, aus Verstehen emergiert Kommunikation.
Soziologische Systemtheorie 363

Weil erst das Verstehen Kommunikation erzeugt, dreht Luhmann die übli- Alter und Ego
vertauscht
che, dem Sender-Empfänger-Modell entsprechende, Zuordnung von Ego und
Alter um. Denn nicht mehr der Sender generiert Kommunikation, sondern erst
das Verstehen durch den Adressaten. Erst mit dem Verstehen ist Kommunikation
gegeben, also ist der sonst als Empfänger bezeichnete Alter die Ursache der
Kommunikation. Um das deutlich zu machen, bezeichnet Luhmann durchgängig
den üblicherweise als Alter (der Andere; lat.) bezeichneten Adressaten als Ego.
Den Sprecher, der üblicherweise als Ego (Ich; lat.) bezeichnet wird, nennt Luh-
mann Alter.
Wir erkennen nun auch, dass jede Kommunikation Fremdreferenz, d.h. den Kommunikation ist
immer Systembildung
Bezug dieses sozialen Systems auf seine Umwelt (zu der ja bekanntlich auch
Ego und Alter als psychische Systeme zählen) durch die Selektion von Informa-
tion, mit Selbstreferenz, also dem internen sozialen Bezug von Alter auf Ego,
verbindet. Alter will ja über den Mitteilungsaspekt in irgendeiner Weise auf Ego
einwirken, etwa dazu motivieren, die angebotene Selektion zu übernehmen.
Diese Überlegung ist wichtig, weil sie erklärt, warum Kommunikation die ele-
mentare Operation ist, aus denen ein soziales System besteht und durch die es
reproduziert, fortgeschrieben wird: Kommunikation ist deshalb diese elementare
Operation, weil in jeder Kommunikation sowohl der Umweltbezug wie auch die
Systemgrenze als Differenz von Information und Mitteilung hergestellt wird.
Das grundlegende Problem von Kommunikationssystemen ist die Herstel- Anschlusskommuni-
kation
lung von Anschlusskommunikation. Denn nur wenn beständig Kommunikation
an Kommunikation anschließt, bleibt das Kommunikationssystem erhalten.
Wenn hingegen die Kommunikation abbricht, weil keine weitere Kommunikati-
on an die vorausgegangene anschließt, dann ist das System am Ende. Erst eine
zustimmende oder auch ablehnende Anschlusskommunikation setzt die Existenz
des sozialen Systems fort.

Übungsaufgaben:

Was bedeutet es, wenn Ego eine Kommunikation nicht versteht? Und warum ist
ein Missverständnis eine Form des Verstehens?

Nach Luhmann ist Kommunikation die Operation, aus der soziale Systeme
bestehen. D.h. nur über Kommunikation können soziale Systeme eine innere
Struktur entwickeln und ihren Bestand erhalten, also gewissermaßen „am Le-
ben bleiben“. Kommunikation findet nur dann statt, wenn sie von dem oder
den Adressaten verstanden wurde.

4.3 Das Problem doppelter Kontingenz

Vor dem Hintergrund des beschriebenen dreistufigen Selektionsprozesses (Se- Unwahrscheinlichkeit


der Kommunikation
lektion aus Information, Mitteilung und Verstehen) und der Notwendigkeit der
Sicherung von Anschlusskommunikation wird deutlich, dass Systeme aus Kom-
364 Dirk Villányi/Matthias Junge/Ditmar Brock

munikation vor allem ein Problem haben: die Sicherung der nächsten Kommuni-
kation. Weil die nächste Kommunikation aber wieder drei Selektionen benötigt,
bevor sie emergiert ist, spricht Luhmann von einer hohen Unwahrscheinlichkeit
des Zustandekommens von Kommunikation. Doch wie kommt diese unwahr-
scheinliche Kommunikation zustande? Wie wird das Unwahrscheinliche in
Wahrscheinliches überführt?
Problemformulierung Luhmann knüpft dabei erneut in kritischer Auseinandersetzung und Ab-
bei Parsons
grenzung an ein von Parsons (Parsons/Shils 1951: 16) aufgeworfenes Problem
an. Parsons nahm zwei Akteure an, die ihr jeweiliges Handeln am Handeln des
Interaktionspartners ausrichten. Das ist eine klassische Patt-Situation in der
nichts geschehen wird. Denn Ego und Alter handeln erst dann, wenn jeweils der
Andere gehandelt hat. Oder anders: Niemand macht den ersten Schritt. Wie kann
es dann aber zu einem Einstieg in eine Interaktionsbeziehung kommen? Nach
Parsons sind gemeinsame und zeitlich stabile Wertorientierungen erforderlich,
damit es überhaupt zur Interaktion kommt (vgl. hierzu auch den Beitrag von
Matthias Junge in Bd. 1, S. 200-203).
Kritik an Parsons Luhmann kritisiert diese Lösung als vordergründig, da sie das Problem nur
Problemlösung
in die Vergangenheit als schon immer gelöst verschiebe. „Im Prinzip ist die Kon-
stitution sozialer Systeme an einen immer schon vorhandenen kulturellen Code
gebunden, obwohl sie auch dessen Entstehung und Funktion zu klären hätte“
(Luhmann 1984: 150).
Luhmanns Alter- Problemstellung wie Problemlösung müssen also grundsätzlicher gefasst
native Problemformu-
werden: Das Problem der Verhaltensabstimmung kommt zustande, wenn andere
lierung und
Problemlösung psychische Systeme als kontingent erlebt und behandelt werden: „nämlich als
unendlich offene, in ihrem Grunde dem fremden Zugriff entzogene Möglichkei-
ten der Selbstbestimmung“ (Luhmann 1984: 152). Den Begriff der Kontingenz
schneidet Luhmann auf sein Verständnis einer sinnhaft bestimmten Realität zu:
„Kontingent ist etwas, was weder notwendig noch unmöglich ist ... Der Begriff
(Doppelte) bezeichnet mithin Gegebenes ... im Hinblick auf mögliches Anderssein ... Er ...
Kontingenz bezeichnet nicht das Mögliche überhaupt, sondern das, was von der Realität aus
gesehen anders möglich ist ... Die Realität dieser Welt ist also im Kontingenz-
begriff als erste und unauswechselbare Bedingung des Möglichseins vorausge-
setzt“ (Luhmann 1984: 152). Das Problem doppelter Kontingenz entsteht als
Problem wechselseitiger Verhaltensbestimmung dann, wenn diese Zuschreibung
der Nichtdeterminierbarkeit wechselseitig vorgenommen wird und beide Seiten
um die Wechselseitigkeit dieser Zuschreibung wissen. „Die Grundsituation der
doppelten Kontingenz ist ... einfach: Zwei black boxes bekommen es, auf Grund
welcher Zufälle immer, miteinander zu tun. Jede bestimmt ihr eigenes Verhalten
... Das, was von ihr sichtbar wird, ist deshalb notwendig Reduktion ... Auf diese
Weise kann eine emergente Ordnung zustande kommen ... Wir nennen diese
emergente Ordnung soziales System“ (Luhmann 1984: 156f.).

Lektürevorschlag:

Niklas Luhmann (1984): Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt
am Main: Suhrkamp, S. 148-162.
Soziologische Systemtheorie 365

Die Konstellation doppelter Kontingenz kann dann in eine gemeinsame Ordnung Ordnung und
doppelte Kontingenz
überführt werden, wenn wechselseitig auf den jeweils anderen ausgerichtete
„Bestimmungsinteressen“ konditional miteinander verknüpft werden und auf-
grund dieser Verknüpfung eine wechselseitige Akzeptanz der jeweils „fremden“
Bestimmungsinteressen erreicht wird: „Ich tue, was du willst, wenn Du tust, was
ich will“ (Luhmann 1984: 166). Nach Luhmann entsteht der gesuchte kulturelle
Code, also soziale Ordnung, somit über die wechselseitig miteinander verknüpfte
Akzeptanz der Fremdbestimmung des eigenen Handelns.

Dieser kulturelle Code reproduziert sich nicht über personale Selbstreferenzen,


sondern über Selbstreferenzen sozialer Systeme.

„Zur Selbstreferenz gehört mithin einerseits: dass die Handlung sich selbst in der
Perspektive des alter Ego kontrolliert; und andererseits: dass sie sich eben damit ei-
nem sozialen System zuordnet ... Mit der Konstitution selbstreferentieller Hand-
lungszusammenhänge entsteht also zugleich eine Selbstreferenz des sozialen Sys-
tems, nämlich die Miteinarbeitung des Geltungsbereichs doppelter Kontingenz und
seiner sachlichen, zeitlichen und sozialen Grenzen“ (Luhmann 1984: 183).

Auch wenn bezweifelt werden kann, dass diese Problemformulierung ohne kul-
turelle Prämissen auskommt (vgl. Brock 2006: 336ff.), kann Luhmann damit den
Grundlagencharakter seiner beiden zentralen Begriffe – soziales System und
Kommunikation – demonstrieren.

4.4 Luhmanns Medientheorie

Alle aus Kommunikation bestehenden Systeme haben das schon erwähnte Prob- Schwierigkeiten der
Kommunikation von
lem gemeinsam: Wie kann die nächste Kommunikation gesichert werden? Denn
Systemen
ohne Lösung dieses Problems endet ein Kommunikationssystem, es hört sofort
zu existieren auf. Aber die Herstellung einer weiteren Kommunikation ist mit
Schwierigkeiten, „Unwahrscheinlichkeiten“ (1984: 218), behaftet, weil die Her-
stellung von Kommunikation sehr voraussetzungsreich ist. Wenn Kommunikati-
onssysteme sich einmal stabilisiert haben, also die drei Selektionen von Informa-
tion, Mitteilung und Verstehen erfolgreich zu Kommunikation geführt haben,
dann ergeben sich neue Schwierigkeiten. Sie gehen vor allem auf die Frage nach
der Reichweite und der Erreichbarkeit von Adressaten der Kommunikation zu-
rück. Luhmann stellt drei Schwierigkeiten der Herstellung von Kommunikation
in den Vordergrund: Verstehen, Erreichen und Erfolg.
Erstens, es ist nie sicher, ob Ego Alter versteht, denn sowohl Ego wie auch Verstehen, Erreichen
und Erfolg
Alter verstehen zuerst und nur vor ihrem eigenen Hintergrund, Erfahrungen und
Wissen. Falls es da keine Ähnlichkeiten gibt, sind Missverständnisse und Miss-
verstehen fast zwangsläufig und die Kommunikation droht abzubrechen. Zwei-
tens, solange Kommunikation auf Anwesende beschränkt ist, wird durch Takt
und angemessene Aufmerksamkeit gewährleistet, dass eine Kommunikation in
Interaktionssystemen den Adressaten erreicht. Aber auch das kann bereits miss-
lingen, wenn der Adressat etwa mit den Gedanken „ganz woanders ist“. Wenn
die Kommunikation aber über die Grenzen von Interaktionssystemen hinausgeht,
366 Dirk Villányi/Matthias Junge/Ditmar Brock

dann ist die nötige Aufmerksamkeit der Adressaten nicht mehr garantiert. Dann
ist, anders formuliert, nicht mehr sicher, ob die Kommunikation den Adressaten
erreicht. Und drittens schließlich, selbst dann, wenn die Hürden des Verstehens
und Erreichens überwunden wurden, kann die Kommunikation keinen Erfolg
haben, weil Ego den Inhalt der Kommunikation nicht übernimmt, etwa: nicht tut,
was ihm geraten wurde; oder eine gegebene Information missachtet.
Medien erhöhen die Die Unwahrscheinlichkeit von Verstehen, Erreichen und Erfolg von Kom-
Wahrscheinlichkeit
munikation muss auf irgendeine Weise in Wahrscheinlichkeit überführt werden,
erfolgreicher Kom-
munikation damit Systeme aus Kommunikation bestehen können. Für diese Anforderung
entwickeln Kommunikationssysteme schrittweise Medien. Sie transformieren
„Unwahrscheinliches in Wahrscheinliches“ (Luhmann 1984: 220). Medien
verbessern die Chance für das Gelingen von Kommunikation, lassen „die An-
nahme einer Kommunikation erwartbar“ werden (Luhmann 1997 I: 316). Dabei
sind die Medien spezialisiert auf die Lösung jeweils eines der drei Teilprobleme
der Erzeugung von Kommunikation. Einzelne Medien sind auf die Verbesserung
der Wahrscheinlichkeit des Verstehens, Erreichens oder des Erfolgs ausgerichtet
(vgl. hierzu auch den Beitrag von Matthias Junge in Bd. 1, S. 205-208).
Sprache und das So ist die Sprache das Medium, um Verstehen wahrscheinlicher werden zu
Verbreitungsmedium
lassen. Denn Sprache benutzt Zeichen, und durch zufällige Übereinstimmungen
Schrift
im Zeichengebrauch von Ego und Alter können diese den Eindruck gewinnen,
dasselbe zu meinen. So kann schrittweise der Umfang möglicher Kommunikati-
onen unbegrenzt ausgeweitet werden – es entsteht ein unerschöpfliches Reser-
voir für mögliche Kommunikationen. Neben der Sprache stehen noch Verbrei-
tungsmedien (Luhmann 1984: 221) zur Verfügung, um die Wahrscheinlichkeit
des Erreichens des Adressaten zu erhöhen. Dazu gehören die Schrift, die Ent-
wicklung des Drucks, vor allem des für die Neuzeit revolutionär wirkenden
Buchdrucks, sowie der Funk. Verbreitungsmedien vergrößern die Reichweite
von Kommunikationsprozessen. Denken Sie zum Beispiel an die allmähliche
Durchsetzung der Alphabetisierung – anfänglich konnten nur wenige Menschen
lesen und schreiben, die anderen waren auf mündliche Vermittlungsangebote,
etwa unregelmäßig auftauchende Herolde, angewiesen und für Kommunikation
nicht verlässlich erreichbar.
Symbolisch generali- Das dritte Problem, die Sicherung des Erfolgs von Kommunikation, wird
sierte Kommunikati-
mit der Entwicklung symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien gelöst
onsmedien sind
Erfolgsmedien (vgl. hierzu auch Bd. 1, Kapitel zu Parsons). Sie stellen eine Verbindung zwi-
schen den Selektionen von Information und Mitteilung der Kommunikation und
der Motivation zur Übernahme gerade dieser Selektion her.
An dieser Stelle muss nun ein Wechsel von der allgemeinen Theorie sozia-
ler Systeme zur Gesellschaftstheorie erfolgen, um die einzelnen Medien und
ihren Zusammenhang mit gesellschaftlicher, vor allem funktionaler Differenzie-
rung, zu erläutern.
Die Medienentwick- Die Formen der Überwindung von Unwahrscheinlichkeit und ihre Trans-
lung bestimmt die
formation in Wahrscheinlichkeit von Kommunikation „regeln zugleich den Auf-
Möglichkeiten der
Differenzierung bau sozialer Systeme.“ (Luhmann 1984: 219), oder anders: „Medien können
entstehen und differenziert werden, bevor es entsprechende Funktionssysteme
gibt.“ (Luhmann 1997 I: 392; vgl. Künzler 1989: 120). Das heißt, die Entwick-
lung von Medien ist eine Voraussetzung dafür, dass funktional ausdifferenzierte
Soziologische Systemtheorie 367

Systeme sich mit diesen symbolisch generalisierten Medien stabilisieren können.


Damit ist dreierlei zum Ausdruck gebracht: Für den logischen Ableitungszu-
sammenhang ist eine Priorität der Medientheorie vor der Differenzierungstheorie
gegeben (deshalb steht auch dieser Abschnitt zur Medientheorie vor dem Ab-
schnitt zur Differenzierungstheorie). Erst wenn Medien ausreichend stabilisiert
zur Verfügung stehen, dann kann sich durch die Verwendung eines spezifischen
Mediums ein System stabilisieren. Zweitens ist damit (vgl. das Wörtchen „kann“
im vorstehenden Satz) gesagt, dass nicht alle Medien zur Entwicklung stabiler
Systeme führen, einige sind mehr, andere weniger dazu geeignet (so gibt es etwa
nach Luhmann kein über das Medium Werte stabilisiertes System, weil Werte
überall auftreten können und damit keine hinreichende Abgrenzung zu anderen
Systemen möglich ist). Drittens schließlich ist zu beachten, dass die Entwicklung
von Medien historisch kontingent ist, sie können sich entwickelt haben, ihre
Entwicklung ist aber in der gesellschaftlichen Entwicklung nicht zwangsläufig
(so gibt es auch heute noch schriftlose Kulturen, eines von den oben genannten
wichtigen Verbreitungsmedien).
Welche symbolisch generalisierten Medien gibt es? Medien gibt es in unter- Die einzelnen Medien
schiedlichen Formen, sie sind differenziert. Zu nennen sind hier: Wahrheit, Lie-
be, Eigentum/Geld, Macht/Recht, religiöser Glaube, Kunst und zivilisatorisch
standardisierte ‚Grundwerte’. (Luhmann 1984: 220ff.) Nicht allen diesen Medien
entsprechen ausdifferenzierte Funktionssysteme, so gibt es etwa kein System für
die erwähnten ‚Grundwerte’. Und Macht und Recht sind jeweils Medien für
verschiedene Funktionssysteme, Recht für das Rechtssystem und Macht für das
politische System. Aber sie sind wechselseitig so sehr miteinander verschränkt –
so begrenzt etwa Recht den Gebrauch von Macht – dass sie auch als
Macht/Recht dargestellt werden müssen.
Bislang haben wir die Funktion – die Transformation des Unwahrscheinli- Die Struktur von
Medien
chen in Wahrscheinliches – und die Differenzierung von Medien – die verschie-
denen Medien – behandelt. Offen ist jedoch noch, welche Strukturen Medien
aufweisen. Welche Eigenschaften müssen gegeben sein, damit von einem sym-
bolisch generalisierten Medium gesprochen werden kann? Luhmann erarbeitet
insgesamt neun Strukturmerkmale von symbolisch generalisierten Medien
(Luhmann 1997 I: 359-393). Von diesen sollen nachfolgend allerdings nur die
wichtigsten erwähnt werden:

1. Alle Medien benötigen einen „einheitlichen Code“ (Luhmann 1997 I: 359)


für den gesamten Bereich, in dem sie Kommunikation ermöglichen sollen.
Dieser immer binär strukturierte Code muss also alle Kommunikationen in
einem Bereich erlauben, und er muss alle anderen Formen der Codierung
als Nichtzugehörige ausschließen. So ist etwa das System Wissenschaft auf
die Codierung wahr/unwahr festgelegt. Es gelten nur Aussagen, die sich ei-
ner Prüfung entlang des Kriteriums wahr/unwahr unterwerfen können. Als
nichtwissenschaftlich würden dort beispielsweise Aussagen gelten, die
durch dogmatische Glaubenssätze begründet werden, oder, eine Aussage
wird nicht dadurch wahr oder unwahr, weil Macht eingesetzt wird, um diese
Aussage durchzusetzen, auch Liebe würde der Gleichung 2x2=5 keine An-
erkennung als wahr im Codebereich des Mediums wahr/unwahr einbringen.
368 Dirk Villányi/Matthias Junge/Ditmar Brock

Zudem enthalten alle Codierungen eine Präferenz, einen Vorzug der positi-
ven Seite der Codierung – so sucht das Wissenschaftssystem nach wahren
Aussagen – es kann dabei problemlos über viele unwahre oder falsche Aus-
sagen hinweg weiter Wahrheit anstreben, wie es zum Beispiel der von Pop-
per entwickelte Falsifikationismus fordert (vgl. S. 347).
2. Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien sind „reflexiv“ (Luh-
mann 1997 I: 372), d.h. sie können ihren Code auf die Anwendung des ei-
genen Codes richten. So kann Wissenschaft auch die wissenschaftliche Er-
forschung der Wissenschaft umfassen, oder Werte können ihrerseits einer
Bewertung unterworfen werden.
3. Medien ermöglichen die Differenzierung zwischen Beobachtungen erster
und zweiter Ordnung. So beobachten Wissenschaftler die Beobachtungen
anderer Wissenschaftler, wenn sie auf Tagungen fahren, Aufsätze oder Bü-
cher lesen. Alles wird im Medium auf die Ebene der Beobachtung zweiter
Ordnung bezogen. Damit werden Beobachtungen erster Ordnung frei für
Überraschungen: Erfindungen, neue Ideen, Argumente oder Daten. Werden
diese dann kommuniziert, so sind sie bereits wieder Gegenstand von Beo-
bachtungen zweiter Ordnung – etwa: ist das Argument wissenschaftlich
haltbar; sind die Daten einwandfrei erhoben etc.
4. Codierungen von Medien benötigen Regeln oder Anweisungen, um festle-
gen zu können, wann der positive und wann der negative Wert der Codie-
rung eines Medienbereiches zugeordnet werden muss. Diese Anweisungen
sind „Programme“ (Luhmann 1997 I: 377). Durch sie hindurch kann der
Code realisiert werden. So wird etwa der Code wahr/unwahr im Wissen-
schaftssystem durch die Anwendung der Programme „Theorie“ oder „Me-
thode“ gesichert. Ein Vorgehen ist dann wissenschaftlich, wenn es entweder
zur Beantwortung einer Forschungsfrage eine Theorie zur Anwendung
bringt, oder wenn bestimmte methodische Regeln bei der Erzeugung eines
Forschungsergebnisses verwendet werden.

Zieht man diese Betrachtungen zusammen, so zeigen sie, wie unverzichtbar


symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien für den Bestand von Kom-
munikationssystemen sind. Zudem legen Sie den Grundstein, um sich von dort
aus der Analyse von Funktionssystemen und den Prozessen gesellschaftlicher
Differenzierung zuzuwenden.
Medien reduzieren Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien sind spezielle Struktu-
Kontingenz
ren, die der Kommunikation Erfolgswahrscheinlichkeit sichern, weil sie Un-
wahrscheinlichkeit in Wahrscheinlichkeit überführen. Damit sind sie Erfolgsme-
dien (vgl. Luhmann 1975, 1997: 316ff.). Oder anders formuliert: Symbolisch
generalisierte Kommunikationsmedien schränken als Spezialmedien Kontingenz
ein, indem sie durch ihre besondere Konditionierung von Motivation und Selek-
tion erfolgreiche Kommunikation ermöglichen.
Funktionssysteme So gelten neben anderen Macht, wissenschaftliche Wahrheit, Geld, Liebe
sind Medien
zugeordnet
und Kunst als symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien. Sie ermögli-
chen zum einen: die Autonomisierung funktionaler Teilsysteme der Gesellschaft
(u.a. Politik, Wissenschaft, Wirtschaft); zum anderen: setzen symbolisch genera-
Soziologische Systemtheorie 369

lisierte Kommunikationsmedien die verschiedenen (selegierenden) Systeme


zueinander in Beziehung.

Lektürevorschlag:

Niklas Luhmann (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhr-
kamp, Band I: S. 15-29.

Übungsaufgabe:

Wann ist eine Kommunikation abgeschlossen, die sich des Mediums des ge-
druckten Buchs (z.B. dieses Buches) bedient? Tipp: Sie müssen nur die Behaup-
tung aus 4.2, dass eine Kommunikation erst durch das Verstehen erfolgt, auf
diese Frage beziehen.

Die Unwahrscheinlichkeit von Verstehen, Erreichen und Erfolg von Kommu-


nikation muss auf irgendeine Weise in Wahrscheinlichkeit überführt werden,
damit Systeme aus Kommunikation bestehen können. Daher entwickeln Kom-
munikationssysteme schrittweise Medien. Das Medium Sprache macht es
wahrscheinlicher, dass Kommunikationen verstanden werden können. Ver-
breitungsmedien (Schrift, Buchdruck, elektronische Medien) erhöhen die
Wahrscheinlichkeit, dass Kommunikationen verbreitet werden. Erfolgsmedien
(symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien) erhöhen die Wahrschein-
lichkeit, dass Kommunikationen akzeptiert werden.

4.5 Evolution und Differenzierung

Die Entwicklung symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien bietet für


ihren Geltungsbereich die Möglichkeit, bestimmte Selektionen aus der Menge
aller möglichen Selektionen zu bevorzugen. Damit werden die Stabilität und der
Wandel dieser so abgegrenzten Bereiche auf Dauer gestellt. Wandel und gesell-
schaftliche Entwicklung werden von Luhmann vor allem mit den Konzepten von
Evolution und Differenzierung erfasst. Da Luhmanns Überlegungen hier näher
am Mainstream liegen und seine Differenzierungstheorie gut dokumentiert ist
(vgl. Schimank 1996: Kap. 4) werden hier nur seine wichtigsten Überlegungen
kurz skizziert.
Luhmann sieht die Evolutionstheorie als eine konkurrenzlose Denkmethode Variation
an. Um die Entstehung von Ordnung zu erklären, konzipiert er gesellschaftliche
Entwicklung daher als Evolution. Evolution vollzieht sich im Zusammenspiel
dreier Mechanismen: Variation, Selektion und Retension (vgl. z.B. Luhmann
1997: 456 ff.). Variation ist dabei der grundlegende Mechanismus. Er ist in jeder
Kommunikation enthalten, genauer in der Möglichkeit der Negation und der Ja/
370 Dirk Villányi/Matthias Junge/Ditmar Brock

Nein Codierung sprachlicher Kommunikation. Jede Ablehnung regt zur Variati-


on, zur Erfindung von Alternativen an.
Selektion Über die gesellschaftliche Bedeutung solcher zufälligen Variationen wird
auf der Ebene der Selektion entschieden. Selektion bezieht sich auf „die Struktu-
ren, also auf die Bildung und den Gebrauch von Erwartungen“ (Luhmann 1997 I:
476). Hier entscheidet sich, ob eine zufällige Variation allgemein akzeptiert wird
oder ob alles beim Alten bleibt. Mit der Ausdifferenzierung symbolisch generali-
sierter Kommunikationsmedien (vgl. unter 4.4) entwickeln sich spezifische Se-
lektionsgesichtspunkte, die den sozialen Wandel auf Dauer stellen. „So wird
„Profit“ zum Selektionsgesichtspunkt für die Verwendung von Geld, obwohl der
Profit selbst instabil ist …“ (Luhmann 1997 I: 482).
Retension Retension oder Restabilisierung ist ein Mechanismus, der selbst Produkt der
Evolution ist. Mit zunehmender Selektion von Veränderungen müssen Systeme
den sozialen Wandel verarbeiten. „In jedem Fall führt Selektion, ob positiv oder
negativ, zum Ansteigen der Komplexität des Systems, und darauf muss das Sys-
tem mit Restabilisierungen reagieren“ (Luhmann 1997 I: 488). Als Beispiel für
die Verarbeitung einer negativen Selektion nennt Luhmann u.a. Preußen nach
Ablehnung der bürgerlichen Revolution. Das Systemgedächtnis müsse „mit dem
Wissen zurechtkommen, dass etwas Mögliches nicht realisiert wurde“ (ebd.).

Lektürevorschlag:

Niklas Luhmann (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhr-
kamp, Band I: S. 456-497.

Übungsaufgabe:

Überlegen Sie mit diesen Begriffen, wieso sich die Ablehnung der Todesstrafe in
Europa, aber nicht in den USA durchsetzen konnte?

Auf dieser begrifflichen Grundlage entwickelt Luhmann ein Konzept evolutionä-


rer Errungenschaften, das in etwa Parsons Konzept der evolutionären Universa-
lien (vgl. Bd.1: 210) entspricht.
Funktionssysteme Ein Produkt der Evolution sind auch Formen sozialer Differenzierung, ins-
moderner
besondere die funktionale Differenzierung. Mit seinem 1988 veröffentlichten
Gesellschaften
Buch „Die Wirtschaft der Gesellschaft“ eröffnet Luhmann eine Publikationsrei-
he, die sich der Analyse einzelner Funktionssysteme widmet. So erschienen in
den Folgejahren Arbeiten zu den Systemen der Wissenschaft (1990), des Rechts
(1993), der Kunst (1995), zu den Massenmedien (1995/96) und posthum weiter-
hin: zu den Systemen der Politik und Religion (2000) und der Erziehung (2002).
Damit sind wichtige primäre Funktionssysteme der heutigen Gesellschaft durch
Luhmann selbst in umfangreichen Publikationen beschrieben worden.
Soziologische Systemtheorie 371

Allerdings sind auch heute noch in der (primär) funktional differenzierten Vier Differenzie-
rungsbegriffe
Gesellschaft evolutionär ältere Differenzierungsformen vorzufinden. In zeitlicher
Reihenfolge (beginnend mit der ältesten Form) sind zu unterscheiden:

ƒ Die segmentär differenzierte oder auch als archaisch-tribalisch bezeichnete


Gesellschaft. Segmentäre Differenzierung unterteilt die Gesellschaft in
gleichrangige und gleichartige Teile (vgl. Schimank 1996, 150f.). Heutige
Ausprägungen segmentärer Differenzierung sind Betriebe oder Haushalte.
Bereits Durkheim (vgl. Band 1: 113-118) hatte mit einer ähnlichen Unter-
scheidung gearbeitet und segmentär differenzierte Gesellschaften durch me-
chanische Solidarität gekennzeichnet.
ƒ Die gesellschaftliche Differenzierung nach Zentrum und Peripherie und die
stratifizierte bzw. (gleichbedeutend) stratifikatorische Gesellschaft. Bei die-
sen beiden Formen gesellschaftlicher Differenzierung werden Gesellschaf-
ten in ungleichartige und ungleichrangige Teile (Stände bzw. Stadt-Land)
differenziert (ebd.). In heutigen Gesellschaften bilden z.B. Unterschiede im
Berufsprestige oder in der Einkommensverteilung segmentäre Differenzie-
rungsmuster, und Stadt-Land-Unterschiede weisen auch heute noch die
Zentrum-Peripherie-Differenzierung auf (vgl. z.B. Sassen 1996).
ƒ Das Muster funktionaler Differenzierung untergliedert dagegen Gesellschaf-
ten in gleichrangige, aber ungleichartige Funktionssysteme (Schimank
1996: 151).

Abbildung 5: Formen der Differenzierung


Teile gleichartig Teile ungleichartig
Teile gleichrangig Segmentäre Differenzierung Funktionale Differenzierung
Teile ungleichrangig Stratifikatorische Differen-
zierung; Differenzierung von
Zentrum und Peripherie
© Villányi

Folgt man den Beobachtungen Luhmanns, so leben wir heute in einer funktional Plurales dezentriertes
Weltverständnis in
differenzierten Gesellschaft. Diese Gesellschaft ist dadurch gekennzeichnet, dass
der modernen
sie für die wachsende Zahl zu bewältigender gesellschaftlicher Probleme immer Gesellschaft
neue Zuständigkeitsbereiche ausdifferenziert, die spezifische Probleme in ebenso
spezifischer Weise bearbeiten. Für jedes von der Gesellschaft erkannte Problem
gibt es mithin so genannte Funktionssysteme. Sie sind Kommunikationssysteme,
die sich durch eine ihnen spezifische Kommunikation ausweisen. Sie ergänzen
gewissermaßen die Ja/Nein Kodierung der Sprache durch funktionsspezifische
binäre Codes (vgl. unter 4.4). So codiert beispielsweise das Wissenschaftssystem
die einschlägige Kommunikation über den Code wahr/ unwahr, das Wirtschafts-
system codiert „seine“ Kommunikationen über zahlen/nicht zahlen, das Rechts-
system stellt auf die Unterscheidung Recht/Unrecht ab. Insgesamt kennt Luh-
mann 12 Funktionssysteme (vgl. Schimank 1996: 154). Da jedes dieser Funkti-
onssysteme über seine spezifische Codierung die Gesellschaft beobachtet, Prob-
372 Dirk Villányi/Matthias Junge/Ditmar Brock

leme identifizert und Problemlösungen propagiert, kommt es in modernen Ge-


sellschaften zu einer Dezentrierung, zu einem pluralen, von den Funktionssyste-
men getragenen Weltverständnis. Mit dieser These erneuert Luhmann mit ande-
ren begrifflichen Mitteln die bereits rund 100 Jahre zuvor von Max Weber be-
hauptete Gegenwartsdiagnose, die von einer „Differenzierung der Wertsphären“
und einem modernen Polytheismus ausgeht (vgl. Bd. 1: 179ff.).

Übungsaufgabe:

Warum fällt es heute vielen Menschen immer schwerer, Wichtiges von Unwich-
tigem zu unterscheiden? Tipp: Sicherlich gibt es mehrere Antworten auf diese
Frage. Die hier gesuchte Antwortmöglichkeit hängt mit funktionaler Differenzie-
rung zusammen.

Luhmanns Evolutionstheorie basiert auf den Begriffen Variation, Selektion,


Retension. Die Sprache ermöglicht Variationen, deren Erfolgschancen von
Selektion und Retension abhängen. Ein wichtiges Produkt gesellschaftlicher
Evolution sind Formen sozialer Differenzierung. Luhmann kennt vier Diffe-
renzierungsbegriffe: Segmentäre Differenzierung, stratifikatorische Differen-
zierung, Differenzierung zwischen Zentrum und Peripherie sowie funktionale
Differenzierung. Moderne Gesellschaften sind durch funktionale Differenzie-
rung gekennzeichnet.

4.6 Mit Hilfe von Differenzen beobachten und operieren

Anders als bei Weber wird von Luhmann eine Beobachtungstheorie als Grundla-
ge für diese Gegenwartsdiagnose verwendet. Denn die Gegenwartsdiagnose ist
eine Form der Selbstbeschreibung der Gesellschaft, die auf der Beobachtung der
Gesellschaft in der Gesellschaft mit Hilfe von Unterscheidungen beruht.
Sinn und Welt sind Im Einzelnen: Luhmanns Denken ist ein Denken in Differenzen. Aber auch
differenzlose Begriffe
dieses Denken operiert auf Grundlagen, die es nicht infrage stellen kann. Es
müssen daher einige Begriffe verwendet werden, die nicht mehr weiter differen-
ziert werden können. Solche Begriffe erkennt man daran, dass sie nicht negiert,
nicht verneint werden können. Sinn ist ein solcher Begriff. Denn nichts ist ohne
Sinn – auch Unsinn oder der Dadaismus haben Sinn – oder genauer: Es gibt kein
„außerhalb“ des Sinns. Auf Sinn beruhen alle psychischen und sozialen Systeme.
Er ist ihre gemeinsame Grundlage für ihr Operieren. Diese Operationen beziehen
sich auf die Welt, ein Begriff, der ebenfalls differenzlos ist. Welt ist einfach
gegeben. Was könnte denn auch die Negation von Welt sein?
Beobachtung Soziale Systeme beziehen sich auf die Welt durch ihre Beobachtung, die ein
„Bild“ von der Welt konstruiert. Diese Konstruktion ist nicht die Welt, sondern
sie verhält sich zur Welt wie eine Landkarte zur Landschaft. Der Begriff Beo-
bachtung ist ein Terminus technicus, der der Kybernetik entlehnt wurde. Ge-
meint ist hier nicht etwa das Sehen mit den Augen, sondern allgemein das Tref-
Soziologische Systemtheorie 373

fen von Unterscheidungen, die erst ein Operieren von Systemen in Gang setzen.
Jeder Kommunikation liegt eine Unterscheidung zugrunde, und sie ist damit
zugleich: Beobachtung.
Systeme müssen sich selbst und ihre Umwelt beobachten, um auf System- Beobachtungen
machen einen
und Umweltveränderungen reagieren zu können. Über Beobachtung können
Unterschied
Aussagen über die Art und Weise gemacht werden, wie die Selektivität von Kom-
munikation (vgl. 4.3) erzeugt wird. Genauso wie Kommunikation ist auch Beo-
bachtung eine Operation sozialer Systeme. Prinzipiell gesehen überführt sie die
Welt aus ihrem unterscheidungslosen Zustand in eine ungleich zweigeteilte Welt
(vgl. Abb. 6).

Abbildung 6: ormenkalkül nach George Spencer Brown

Jeder Beobachter kann nur in der Welt operieren, wenn er Unterscheidungen


trifft. Ein Beobachter kann sich angesichts der Welt orientieren, wenn etwas
davon bezeichnet wird. Alles was nicht bezeichnet wurde (die vorhin bei Husserl
schon erwähnten impliziten Verweisungen) fällt damit aus seinem Blickfeld her-
aus. Am Anfang muss eine Unterscheidung stehen. Sonst kommt keine Beobach-
tung von was auch immer zustande. Diese Überlegung geht zurück auf George
Spencer Browns Formenkalkül, den er in seinem Buch „Gesetze der Form“ (vgl.
Spencer Brown 1969) entfaltet.

„’Wir’ erzeugen eine Existenz, indem wir die Elemente einer dreifachen Identität
auseinander nehmen. … Jede Kennzeichnung impliziert Dualität, wir können kein
Ding produzieren, ohne Koproduktion dessen, was es nicht ist, und die Grenze da-
zwischen.“ (Spencer Brown o.J., o.S. zit. nach Fuchs 2001: 12)

Ohne Beobachtung der Welt befindet sie sich in einem unmarkierten Zustand.
„Wir wollen künftig … von unmarked state sprechen, wenn der unterscheidungs-
374 Dirk Villányi/Matthias Junge/Ditmar Brock

lose Zustand der Welt gemeint ist“ (Luhmann 1995c: 52). Unmarkiert ist die
Welt ohne Bedeutung, ohne Relevanz, kurz: sie ist. Sie erhält erst dann Bedeu-
tung, wenn ein Beobachter eine Unterscheidung vornimmt, die die Welt dann in
zwei Seiten aufteilt. Die Seite, die für das System von Relevanz ist, wird be-
zeichnet bzw. markiert. Alles andere, welches für den Beobachter nicht von
augenblicklichem Interesse ist bzw. sein kann, bleibt unmarkiert. Damit stehen
sich zwei Seiten gegenüber: die bezeichnete Seite (Innenseite) und die unbe-
zeichnete Seite (Außenseite). Beide Seiten ergeben zusammen eine so genannte
Form, wobei die (markierte) Innenseite für den marked space, die (unmarkierte)
Außenseite für den unmarked space steht. Der Bereich des unmarked space ist
ungleich größer d.h. komplexer, als der des marked space. Dieser Umstand wird
auch als Komplexitätsgefälle bezeichnet. Nur durch eine ungleiche, asymmetri-
sche Differenz ist Beobachtung und damit Informationszuwachs möglich.
Der Beobachter kann Gleichzeitig kann ein Beobachter die Unterscheidung, mit der er beobach-
seine Unterscheidun-
tet, selbst nicht beobachten. Die bezeichnete Unterscheidung bleibt sich selbst
gen nicht beobachten
unbeobachtbar. Sie ist invisibilisiert, unsichtbar. Ein System kann erst dadurch
erkennen, dass es nicht nur anderes, sondern auch die Unterscheidung selbst in
den unmarked space verweist und damit diese nicht sieht. Es sieht also, weil es
selbst nicht sieht, wie es sieht.
Kontingenz Es wurde bereits erläutert, dass psychische und soziale Systeme Sinnsyste-
me sind und Sinn als Einheit der Differenz von Aktualität und Possibilität be-
schrieben werden kann. Dies kann nun unter Hinzunahme des systemtheoreti-
schen Kontingenz-Begriffes präzisiert werden. Kontingenz meint hier nicht, wie
oft synonym verwendet, Zufall oder Zufälligkeit. Kontingenz meint, dass „et-
was“ so sein kann, nicht aber notwendig so sein muss, also auch anders möglich
ist. Alles, was “ist“, könnte auch anders sein. Während wir von einem zufälligen
Ereignis dann sprechen, wenn es sich jedem Kalkül entzieht, können wir dann
von einem kontingenten Ereignis sprechen, wenn es sich um ein Ereignis han-
delt, das aus einer abgrenzbaren Menge möglicher Ereignisse stammt. Kontin-
genz beschreibt also immer Selektionen aus abgrenzbaren Möglichkeitsräumen.
Possibilität und Einer jeden vollzogenen Operation, einer Beobachtung oder Unterschei-
Aktualität
dung, liegt eine vollzogene Selektion zugrunde. Aus der Gesamtheit von mögli-
chen Operationen kann immer nur eine einzige tatsächlich im selben Augenblick
realisiert, also aktualisiert werden. Diese wird dann aus dem unmarked space in
den marked space überführt und damit zu einem Ereignis. Alle weiteren Possibi-
litäten verbleiben im unmarked space.
Sinnsysteme sind Begreift man die Gesamtheit der Punkte der Oberfläche der in Abbildung 7
lernfähig
dargestellten Kugel als die Gesamtheit aller Möglichkeiten, dann wird deutlich,
dass das Operieren eines Systems im Medium Sinn, also der Einheit der Diffe-
renz von Aktualität und Possibilität, eine permanente Verschiebung (d.h. hier
Drehung der Kugel) erzeugt. Es gibt also keinen Stillstand, denn die ständige
Wiederholung der gleichen Operation trifft jeweils auf ein verändertes System,
im Rahmen der Kugelmetapher formuliert: auf eine weiter gedrehte Kugel. Diese
beständigen Drehungen kann man auch als Lernen des Systems bezeichnen, weil
der Ausgangszustand beständig überarbeitet, verändert wird.
Soziologische Systemtheorie 375

Abbildung 7: Einheit der Differenz

Noch ein weiterer Aspekt kann mit Hilfe dieser Darstellung verdeutlicht werden:
Jedes System hat seine ihm entsprechende Umwelt (als Korrelat des Systems).
Kommt es also zu einer Verschiebung, d.h. zu einer Verschiebung der System-
grenze (die mit dem Zeichen der Barre zum Ausdruck gebracht wird), ändert sich
nicht nur das System (im marked space liegend), sondern eben auch dessen Um-
welt. Daher können zwei verschiedene Systeme niemals deckungsgleiche Um-
welten haben. Dies widerspricht einer kanonisierten Vorstellung, die davon aus-
geht, dass alle Systeme in einer gemeinsamen Umwelt liegen. Gibt man diese
Annahme auf und geht stattdessen davon aus, dass jedes System eine andere
(seine) Umwelt hat, so hat man die theoretische Ableitung für die vorhin am
Ende von 4.5 erwähnte Dezentrierung und die Pluralität von Weltinterpretatio-
nen.
Schließlich verdeutlicht die Darstellung auch Luhmanns Unterscheidung Medium und Form
von Medium und Form. Die Unterscheidung von Medium und Form geht auf
Fritz Heider (1926) zurück. Medien bestehen dabei aus nur lose miteinander
verknüpften Elementen. Kommt es zu einer Verdichtung einzelner Elemente, so
spricht man von einer Form. So stellt zum Beispiel das Alphabet ein Medium
dar, aus dessen Elementen (Buchstaben) prinzipiell unendlich viele Formen
(Wörter) geschöpft werden können. Oder anders: Medien sind nicht „aufbrauch-
bar“ (vgl. Luhmann 1988: 62).
Ein weiterer grundsätzlicher Aspekt ist, dass Systeme aufgrund ihrer in zeit- Systeme operieren
immer unter der
licher, sachlicher und sozialer Hinsicht immer begrenzten Leistungsfähigkeit
Bedingung der
begrenzt Probleme be- und verarbeiten können. Sie müssen sich einschränken, Knappheit
um so ihr Fortbestehen gewährleisten zu können. Andernfalls laufen sie Gefahr
zu kollabieren.
Diese Beschränkung der Möglichkeiten von Systemen wird über eine ent-
sprechende Differenz, oder genauer: über den schon erwähnten (s. 4.4) binären
Code geregelt. Auf einer ersten Ebene, der Referenz-Ebene, wird zunächst ent-
schieden, ob „etwas“ überhaupt als systemzugehörig oder aber in die Umwelt
376 Dirk Villányi/Matthias Junge/Ditmar Brock

des Systems gehörig aufgefasst werden kann. Hier wird ein Annahmewert (Ak-
zeptionswert) von einem Absagewert (Rejektionswert) unterschieden (vgl. Abb.
8); sie fungieren als eine Art System-Filter.

Abbildung 8: Referenz und Code

Binäre Codes So grenzt sich das Wissenschaftssystem, dessen spezifische Kommunikation sich
im Medium der Wahrheit entfaltet, durch die Unterscheidung ’Wahrheit/Nicht-
Wahrheit’ von seiner Umwelt ab: Alles, was nicht mit dem Code wahr/unwahr
beschrieben wird, wird in die Umwelt des Systems Wissenschaft verwiesen, z.B.
Macht, Liebe oder Schönheit. Akzeptions- und Rejektionswert folgen hier wie-
der dem Formenkalkül: Es gibt also weitaus mehr „Dinge“, die durch ein System
exkludiert werden, als jene, die von Relevanz sind und deshalb im System
verbleiben.

Übungsaufgabe:

Sie haben gerade gelesen, dass binäre Codes die Funktion eines kommunikativen
Filters haben. Was wird ausgefiltert, wenn die Ökonomen sagen, die Unterneh-
men könnten für Briefzusteller nur Stundenlöhne in einer Höhe bezahlen, die es
ihnen noch ermöglicht, Gewinne zu machen?

Luhmanns Systemtheorie basiert auch auf einer Beobachtungstheorie. Beo-


bachtet wird durch Anwendung einer Unterscheidung, die unser Augenmerk
auf etwas lenkt, indem alles andere ausgeblendet wird. Von Beobachtung
zweiter Ordnung kann man dann sprechen, wenn eine Beobachtung mit Hilfe
einer darauf bezogenen Unterscheidung beobachtet wird.

4.7 Systemtheorie aus der Perspektive des operativen Konstruktivismus

Die Theorie sozialer Systeme ist in erkenntnistheoretischer Sicht dem Konstruk-


tivismus verpflichtet. Identität wird hiernach nicht als etwas an sich Gegebenes,
a priori Determiniertes verstanden, wie dies einer ontologischen Auffassung vom
Soziologische Systemtheorie 377

Wesen der Dinge entspricht, sondern als eine erst durch Beobachtung konstitu-
ierte Einheit.

„Wir fragen nicht, was etwas Identisches ist, sondern wie das erzeugt wird, was dem Identität als
Beobachten als Identisches zugrunde gelegt wird. Damit verschiebt sich der Begriff Konstruktion der
der Identität in eine Richtung, die heute als ’konstruktivistisch’ bezeichnet wird. Er Beobachtung
bezeichnet nicht mehr die Form, in der Seiendes in Übereinstimmung mit sich selbst
existiert, sondern zunächst ‚idealistisch’ eine Leistung der Synthese von Eindrücken
externer Herkunft, die als solche eben deshalb nicht identifiziert werden können“
(Luhmann 1990a: 21, Hervorhebungen im Orig.).

Dieser Gedanke soll am Beispiel der Kunst verdeutlicht werden. Viele Künstler Ein Beispiel: Kunst
des 20. Jahrhunderts haben versucht, unumschränkt alles zur Kunst zu erheben,
was nur irgendwie wahrnehmbar erschien. Zu denken wäre hier u.a. an das be-
rühmt gewordene Urinal von Marcel Duchamp, dessen Einlass in die heiligen
Hallen der Kunst einen Skandal auslöste; an Joseph Beuys’ Fettstuhl, der wieder
einmal mehr sein erweitertes Kunstverständnis demonstrierte – denn: „Jeder
Mensch ist ein Künstler“ oder an den Komponisten John Cage, der ein Musik-
stück (4:33) aufführen ließ, in dem kein einziger Ton zu vernehmen war (zumin-
dest nicht vom Klavier auf der Bühne).
Getragen wird diese Entwicklung von der Idee, dass alles, wenn es als
Kunst beobachtet wird, Kunst ist. Der Luhmann-Schüler Peter Fuchs nannte dies
den „Midas-Code“ des modernen Kunstsystems; benannt nach dem phrygischen
König Midas (736-700 v. Chr.) der griechischen Mythologie, dessen Schicksal es
war, dass alles, was er berührte, zu Gold wurde (vgl. Fuchs 1993: 163 ff). Damit
wurde deutlich, dass ein profaner Stuhl Kunstwerk sein kann, wenn man ihn nur
als Kunstwerk begreifen möchte und seine alltägliche Beobachtung umstellt auf
eine ästhetische Beobachtung. Plötzlich ist dann ein Stuhl nicht mehr nur ein
Stuhl. Er kann auch Kunst sein; abhängig davon, wie der Beobachter ihn sehen
möchte. Deutlich ist, dass alles – ästhetisch beobachtet – zur Kunst werden kann,
so dass das Beobachtete seine dauerhaft zugeschriebene Identität verliert.

Übungsaufgabe:

Wie kann man mit den begrifflichen Mitteln der Beobachtungstheorie erklären,
dass moderne Kunst vor dem Reinigungspersonal geschützt werden muss? Wie
könnte verhindert werden, dass ein Kunstwerk versehentlich als „Müll“ entsorgt
wird?

Verallgemeinert man diese am Beispiel der Kunst dargestellte Einsicht auf alle Konstruktivismus
überhaupt möglichen Beobachtungen, so wird deutlich, dass wir eine vollkom-
men neue Art, die Welt zu sehen und zu beschreiben entdeckt haben: den Kon-
struktivismus. Nach ihm wird alles, was wir besehen und manchmal auch be-
staunen, erst durch uns selbst zu dem, was es dann für uns ist. Die Identität eines
bestaunten „Etwas“, eines Unjektes gewinnt sich jetzt aus der systemimmanen-
ten Konstruktionsleistung des Beobachters. Und er sieht nur, was er sehen kann,
d.h. wozu er befähigt ist, es zu sehen.
378 Dirk Villányi/Matthias Junge/Ditmar Brock

Abbildung 9: Ontologie versus operativer Konstruktivismus

Der Begriff Unjekt soll an dieser Stelle ein identitätsloses Ding bezeichnen, also
ein Ding vor jeder Beobachtung, vor einer bezeichnenden Unterscheidung. Der
Begriff geht auf Peter Fuchs zurück (vgl. Fuchs 2001: 13). Das Erkannte ist
Konstrukt eines sich selbst und seine Umwelt beobachtenden Beobachters. „Die
Umwelt, die wir wahrnehmen, ist unsere Erfindung“ (Foerster 1973: 25), denn
weder enthält die Umwelt Information (vgl. Foerster 1972: 85, 93), noch ist die
Welt Information (vgl. Luhmann 1989c: 7). Aber durch die Beobachtung mit
Hilfe einer Unterscheidung kann aus der, ohne Unterscheidung informationslo-
sen, bedeutungslosen Welt, eine Information für die Kommunikation gewonnen
werden. Information wird durch die Operation der Beobachtung konstruiert.
Operativer Konstruk- Während konstruktivistische Ansätze Erkenntnis zunächst ganz allgemein
tivismus
als Konstruktionsleistung eines Systems beschreiben, macht die Bezeichnung
operativer Konstruktivismus deutlich, wie diese Konstruktionsleistung vollzogen
wird: nämlich operativ. Dabei ist die Operation der Beobachtung von zentraler
Bedeutung. Durch den Vollzug einer Beobachtung sind Systeme überhaupt erst
in der Lage, Informationen (systemintern) zu generieren. Beobachtung wird hier
als eine zweiteilige Operation begriffen, die sich aus einer Unterscheidung und
einer dazugehörigen Bezeichnung ergibt. Der Vollzug einer Unterscheidung
trennt die Welt in zwei ungleich große Teile bzw. Seiten, wobei sogleich die
Innenseite der Form bezeichnet wird – das meint der Begriff der Bezeichnung.
Beobachtung 1. Dies alles geschieht zuallererst auf der so genannten Ebene der Beobach-
Ordnung
tung 1. Ordnung. Dies könnte man auch mit Gegenstandsbeobachtung über-
schreiben, so dass auch danach gefragt werden kann: Was wird beobachtet? Der
Beobachter sieht dann nur, was er sieht und nicht, was er nicht sieht (s. Abb. 10).
Soziologische Systemtheorie 379

Oder anders: Er sieht nicht seine Unterscheidung. Dies wird auch als der blinde
Fleck bezeichnet.
Im Gegensatz dazu wird eine weitere: die Beobachtung 2. Ordnung unter- Beobachtung 2.
Ordnung
schieden. Sie steht für die Beobachtung der Beobachtung und ist somit eine Beo-
bachtungsbeobachtung. Dabei kann der Beobachter 2. Ordnung nicht nur sehen,
was der beobachtete Beobachter 1. Ordnung sieht, sondern auch, was dieser
nicht sieht. Kurz: Der Beobachter 2. Ordnung sieht die Unterscheidung eines
Beobachters 1. Ordnung. Dennoch sind auch Beobachtungen 2. Ordnung immer
auch Beobachtungen 1. Ordnung, denn auch sie operieren mit einer dem Beob-
achter der 2. Ordnung unsichtbaren Unterscheidung.

Übungsaufgabe:

Angenommen Sie sehen im Fernsehen Schalke 04 Fußball spielen und stellen


dann fest: „Die haben auch schon mal besser gespielt!“. Handelt es sich dabei
um eine Beobachtung 1. oder 2. Ordnung? Welche Unterscheidung haben Sie
verwendet?

Abbildung 10: Beobachtung 1. und 2. Ordnung

Die Beobachtung 2. Ordnung kann nun ihrerseits zum Gegenstand einer Beo- Beobachtung 3.
Ordnung
bachtung 3. Ordnung werden, in der die Beobachtungsbeobachtung beobachtet
wird. In dieser Weise lässt sich eine beliebige, unbegrenzte Anzahl von Beo-
bachtungen n-ter Ordnung konstruieren, die jeweils sehen, was der Beobachter
(n-1)ter Ordnung nicht sehen kann.
Nicht nur psychische Systeme sind nach Luhmann in der Lage, sich selbst Selbstbeobachtung
zu beobachten, sondern auch soziale Systeme. Auch die Selbstbeobachtung ist
eine Beobachtung 2. Ordnung und damit Beobachtungsbeobachtung, da das
System nun beobachtet, wie es selbst beobachtet, welche Unterscheidung es
380 Dirk Villányi/Matthias Junge/Ditmar Brock

seinen Beobachtungen zugrunde legt. Beobachteter und Beobachtender fallen


zusammen, so dass bei Selbstbeobachtungen Systeme ihre (eigene) Unterschei-
dung mittels ihrer Unterscheidung beobachten.

Lektürevorschlag:

Niklas Luhmann (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhr-
kamp, Band II: S. 879-893.

Daraus folgt, dass auf der Beobachtungsebene 2. Ordnung eine auf der Beobach-
tungsebene 1. Ordnung zunächst nicht sichtbare Unterscheidung nun sichtbar
wird. Dies führt, konsequent gedacht, allerdings – und daraus resultiert eine recht
seltsam anmutende Denkfigur – z.B. im Kunstsystem zu der Frage, ob die Unter-
scheidung von schön/hässlich tatsächlich auch eine schöne oder eben hässliche
Unterscheidung ist.
Umgang mit Ein Paradoxiemanagement ist hier erforderlich (vgl. Luhmann 1995b, Maa-
Paradoxien
sen 1999: 41 ff.). Denn es nimmt schon seltsame Züge an, wenn etwa das
Rechtssystem, das mit dem Code recht/unrecht operiert, plötzlich die Frage stellt,
ob es denn recht oder unrecht sei, eben dies zu tun. Und auch die Moral muss
fragen, ob ihre Leitdifferenz gut/schlecht eine gute ist. Wie kann die Wissen-
schaft wissen, ob ihre Unterscheidung wahr/falsch, mit der sie ihre Umwelt beo-
bachtet, wahr oder falsch ist? Es gibt jedoch keinen archimedischen Punkt, von
dem aus man diese Fragen beantworten könnte, weil Kommunikation und Beo-
bachtung, die diese Paradoxien erzeugen, sich immer in der durch Kommunika-
tion konstituierten Gesellschaft ereignen.
Das Zustandekommen von Paradoxien bei der Beobachtung von Welt ist
unausweichlich. So bleibt nur die Konsequenz, mit Paradoxien umgehen zu ler-
nen, sie handhabbarer werden zu lassen: „Alles Wissen ist letztlich Paradoxie-
management, und dies in der Weise, daß man eine Unterscheidung vorschlägt,
deren Einheit nicht thematisiert wird, weil dies das Beobachten in eine Paradoxie
bringen, also blockieren würde“ (Luhmann 1995b: 173).

Übungsaufgaben:

Erzeugen Sie selbst eine Paradoxie! Versuchen Sie in ihren eigenen Worten zu
beschreiben, was unter operativem Konstruktivismus zu verstehen ist.

Realität ist nach Auffassung des Konstruktivismus nicht einfach gegeben. Sie
wird durch Unterscheidungen von wahrnehmenden Beobachtern konstruiert.
Luhmann betont, dass Beobachter mit Unterscheidungen operieren und auf
diese Weise eine für sie relevante Realität herstellen. Daher kann man von
operativem Konstruktivismus sprechen.
Soziologische Systemtheorie 381

4.8 Selbstbeschreibung und Selbstbeobachtung

Die Besonderheit der Selbstbeobachtung, so Luhmann, entspringt der Tatsache,


dass das Selbst der Selbstreferenz sich selbst als unaustauschbar behandeln
muss: „Im Falle von Selbstbeobachtung muss es sich selbst mit dem Beobachte-
ten identifizieren“ (Luhmann 1984: 622).
Im Zuge funktionaler Ausdifferenzierung der modernen Gesellschaft Selbstbeschreibung
kommt es zur Autonomisierung ihrer entsprechenden Funktionssysteme (vgl.
4.5), welche nunmehr vermittels ihres spezifischen Codes nicht nur ihre Umwelt
und sich selbst beobachten, sondern anfangen, sich selbst zu beschreiben. „Mit
‚Selbstbeschreibung’ meinen wir … eine Operationsweise von Systemen, die die
systemeigene Identität des Systems erzeugt“ (Luhmann 1995c: 398). Es handelt
sich also um eine Beschreibung des Systems durch sich selbst; das System macht
sich selbst zum Thema. Selbstthematisierung und Reflexion sind gleichbedeu-
tende Termini (vgl. ebd. 399).
Damit ist jedoch die zeitliche Abfolge von Beobachtungen und Beschrei- Semantikgeschichte
bungen die Geschichte des Wandels. Verfolgt man diesen Wandel im Gebrauch
von Unterscheidungen, Bobachtungen und Beschreibungen, dann kann man die
Geschichte des sozialen Systems rekonstruieren. Denn die vorhin erwähnten
beständigen Drehungen der Kugel lassen sich als Geschichte des sozialen Sys-
tems verstehen. Ordnet man also alle Drehungen ihrer zeitlichen Abfolge gemäß,
so hat man die Geschichte der Unterscheidungen eines sozialen Systems vor
sich. Dieses Vorgehen bezeichnet Luhmann als Semantikgeschichte, eines seiner
theoretischen Instrumente, um vergangene Evolutions- und Differenzierungspro-
zesse zu rekonstruieren. Ein anschauliches Beispiel bietet Luhmanns „Liebe als
Passion“ (1982).
Während Selbstbeschreibungen zunächst noch als identitätsstiftende und Reflexionstheorien
damit systemstabilisierende Operationen des jeweiligen Funktionssystems ver-
standen werden können, bilden Reflexionstheorien eine besondere Form von
Selbstbeschreibungen. Sie vermitteln dem System nicht nur ein jeweils erzeugtes
(Selbst)Bild, sondern thematisieren vielmehr (auf einer Meta-Ebene) die Vielheit
erzeugbarer Bilder selbst. Aus Gründen der Strukturentwicklung von Gesell-
schaft muss nunmehr auf eine „feste Position für richtiges Beobachten“ (Luh-
mann 1997: 958) verzichtet werden. Damit treten (selbst)erzeugte Selbstbilder in
Konkurrenz zueinander; die eine „richtige“ Wahrheit kann nicht mehr unterstellt
werden. „Von Reflexionstheorien kann man sprechen, wenn die Identität des
Systems im Unterschied zu seiner Umwelt nicht nur bezeichnet wird (so daß
man weiß, was gemeint ist), sondern begrifflich so ausgearbeitet wird, daß Ver-
gleiche und Relationierungen anknüpfen können“ (Luhmann 1984: 620, Hervor-
hebung im Orig.).
In Hinblick auf Beobachtungsordnungen sind Reflexionstheorien Beobach- Reflexionstheorie
sind Beobachtungen
tungen 3. Ordnung. Sie fragen nun, „wie es möglich ist, dass ein Beobachter
3. Ordnung
beobachtet, wie ein Beobachter beobachtet, was er beobachtet“ (Krause 1996:
173). Sie ermöglichen einen systemtheoretischen Zugang zur Diskussion um die
Postmoderne (vgl. Luhmann 1992).
Die Postmoderne ist geprägt vom Bild der Vielheit in der Einheit. Dieses Beobachtungsplurali-
tät und Postmoderne
Bild lässt die Pluralität von Beobachtungsmöglichkeiten in der Gesellschaft nicht
382 Dirk Villányi/Matthias Junge/Ditmar Brock

nur zu, sondern fordert diese geradezu ein. Aus der einstmals zentristischen Ge-
sellschaft der Vormoderne, die „routiniert handhabbare Orientierungsstrukturen“
(Fuchs 1992: 18) zu geben vermochte, hat sich eine polyzentristische, mit Kon-
tingenz überhäufte Gesellschaft entwickelt. Die daraus erwachsenden chancen-
reichen alltagsweltlichen wie wissenschaftstheoretischen Perspektiven gehen
einher mit zunehmenden persönlichen und gesellschaftlichen Unsicherheiten, die
durchaus als „Syndrom“ der Postmoderne (vgl. ebd. 16) bezeichnet werden
können (vgl. hierzu auch in diesem Band S. 316-324).

Übungsaufgabe:

Sie haben gerade gelesen, dass die Postmoderne, also unsere Gegenwart eine
Vielfalt von Beobachtungsmöglichkeiten geradezu erfordere. Versuchen Sie für
ein bestimmtes Thema herauszufinden, wie unterschiedlich die verschiedenen
Medien einen bestimmten Sachverhalt beschreiben und kommentieren. Sie kön-
nen das entweder an einem anspruchsvollen Thema wie z.B. Beobachtung sozia-
ler Ungleichheit probieren oder sie nehmen ein bestimmtes Tagesereignis, das
Resonanz in den Medien gefunden hat.

Verfolgt man den Wandel im Gebrauch von Unterscheidungen, Beobachtun-


gen und Beschreibungen, dann kann man die Geschichte eines sozialen Sys-
tems rekonstruieren.

5 Alternative Ansätze systemtheoretischen Denkens


Alternativen zu Luhmanns Entwurf einer allgemeinen Systemtheorie findet sowohl Anerkennung
Luhmanns allgemei-
und Weiterentwicklung, etwa in den Schriften von Dirk Baecker, Rudolf Stich-
ner Systemtheorie
weh, Helmut Willke und Peter Fuchs, aber auch substantielle Kritik. Zu dieser
gehören etwa folgende Einwände. Luhmann wurde vorgeworfen, sein Entwurf
einer Systemtheorie sei zu abstrakt, so wurde etwa von einem „Flug über den
Wolken“ (Dirk Kaesler) gesprochen. Mit dieser Einschätzung einher geht der
häufig geäußerte Vorwurf, dass diese Theorie keinen Erklärungsanspruch verfol-
gen würde, sondern vielmehr nur einen analytischen Begriffsapparat entfalte.
Auch die Annahme, dass das Individuum kein Bestandteil sozialer Systeme sei,
weil diese nur aus Kommunikation bestünden, wird vielfach unter Verweis so-
wohl auf anthropologische wie auch handlungstheoretische Perspektiven und
nicht zuletzt eine humanistische Weltanschauung bezweifelt. Diese grundsätzli-
chen Einwände zielen gegen die Gesamtanlage der Theorie, sie versuchen aber
nicht, den Ansatz Luhmanns konstruktiv aufzunehmen. Nachfolgend konzentrie-
ren wir uns im Gegensatz hierzu auf Ansätze, die mit ihrer Kritik zu einer Wei-
terentwicklung der Systemtheorie beitragen wollen. Dann werden Einwände
genutzt, um ihrerseits alternative systemtheoretische Überlegungen vorzustellen.
Drei Ansätze haben sich dabei als besonders bedeutsam erwiesen. So setzt Wal-
ter Bühl an den Grenzen der Verwendung des Autopoiesiskonzepts in Hinblick
Soziologische Systemtheorie 383

auf die Soziologie an, Kenneth Bailey will, über Niklas Luhmann hinausgehend,
von einer allgemeinen Systemtheorie zu einer soziologischen Systemtheorie
übergehen, und Edgar Morin stellt wie auch Walter Bühl das Problem der Steue-
rung sozialer Systeme und ihre ethische Regulierung in den Vordergrund.

5.1 Walter L. Bühl

a) Kritik an Luhmann

Bühls Kritik setzt an der Verwendung der Autopoiesiskonzeption zur Analyse Kann man Autopoie-
sis in Gesellschaften
sozialer Systeme an. Er beruft sich dabei auf die Entwickler dieser Konzeption.
empirisch nachwei-
Varela hatte bereits auf die Grenzen der Übertragbarkeit der Konzeption auf sen?
andere Gegenstandsbereiche hingewiesen. Das Konzept wurde zunächst nur
entwickelt, um das Leben von Zellen zu beschreiben. Wenn also ein anderer
Gegenstandsbereich mit dem Konzept beschrieben wird, müsste empirisch, nicht
nur analytisch, gezeigt werden, dass er Merkmale von Autopoiesis aufweist.
Dieser Nachweis steht aber bereits für andere biologische Systeme wie das Im-
munsystem, das Nervensystem oder das Gehirn aus (vgl. Bühl 1987: 225). Ein-
zig der Zelle konnte bislang erfolgreich Autopoiesis zugesprochen werden.
Fraglich ist dann aber, ob Autopoiesis auf den Gegenstand der Soziologie Autopoiesis ist nicht
alles
übertragen werden kann. Greift das Konzept, oder ist es eher eine Metapher, die
wie Durkheim die soziale Tatsache als Phänomen sui generis umschreiben will?
Bühl spricht hier deutlich von einer „autopoietischen Metaphysik“ (vgl. Bühl
1987: 233) und spitzt damit seinen Einwand zu: Das Konzept wird überzogen
und seine dominierende Stellung in der allgemeinen Systemtheorie vernachläs-
sigt die Bedeutung anderer Eigenschaften und Organisationsformen von sozialen
Systemen.
Bühl weist darauf hin, dass ein soziales System mehrere Organisationsfor- Soziale Systeme
vereinen verschiede-
men zugleich aufweisen kann. Neben autopoietischen Prozessen sind dies allo- ne Organisations-
poietische Organisationsformen sowie „indifferente Komponenten“ (Bühl 1987: formen
226), die wichtige Beiträge für den autopoietischen Prozess bereitstellen. Damit
wird eine Perspektivenverschiebung in der Beschreibung eines autopoietischen
Systems vorgenommen – allopoietische und indifferente Komponenten gehören
zum System dazu. Sie sind ein Teil des Systems, darin eingeschlossen. Dann
aber wird die Wahl der Konzeption – Autopoiesis oder Allopoiesis – zu einer
Frage des jeweiligen Beobachtungsstandpunktes. Aus der Perspektive der Zelle
ist Selbsterhaltung durch Autopoiesis vordringlich. Aber betrachtet man Prozesse
von „außen“, um sie der Kontrolle und Steuerung zugänglich zu machen, dann
erscheint das Konzept der Allopoiesis geeigneter (vgl. Bühl 1987: 229).

Sozialsysteme weisen vielfältige Organisationsformen – Autopoiesis, Allo-


poiesis, Heterarchie, Hierarchie – indifferente Elemente und Prozesse auf, die
ineinander greifen und insgesamt das Sozialsystem aufbauen.
384 Dirk Villányi/Matthias Junge/Ditmar Brock

Lektürevorschlag:

Walter L. Bühl (1987): Grenzen der Autopoiesis. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und
Sozialpsychologie, Jg. 30, S. 225-254.

Endogen und exogen Im letzten Satz klang bereits an, dass Bühl auf eine Analyse des sozialen Wan-
verursachter sozialer
dels, die Möglichkeiten der Steuerung und Kontrolle von sozialen Prozessen
Wandel
einschließt, hinaus will. Dies kann allein mit dem Konzept der Autopoiesis nicht
geleistet werden. In Luhmanns allgemeiner Systemtheorie gibt es nur einen ein-
zigen Mechanismus sozialen Wandels: den endogenen Mechanismus der Auto-
poiesis. Das hat weit reichende Konsequenzen für die Möglichkeiten der Analyse
sozialen Wandels: „Die Autopoiese scheint somit ein idealer Ausgangspunkt für
eine Theorie des sozialen Wandels zu sein, die immer dynamisch und niemals zu
widerlegen ist, da sie ja dem Problem der Strukturbestimmung, der Rekonstruk-
tion des Wandlungsmechanismus, der Angabe von Kontrollparametern oder der
Vorhersage von Wandlungsverläufen geschickt ausweicht“ (Bühl 1987: 230).
Um mit den Mitteln systemtheoretischen Denkens zu einer auch empirisch über-
prüfbaren Theorie des sozialen Wandels zu kommen müssen nach Bühl daher
weitere, insbesondere exogene Mechanismen des sozialen Wandels berücksich-
tigt werden, etwa Katastrophen, Fluktuation oder Oszillationen.

Abbildung 11: Formen, Bedingungen und Phänomenbereiche des


Kulturwandels nach Bühl (1987b: 73)
Formen Fluktuation Katastrophe Oszillation Zyklus Evolution

Bedingungen Weit entfernt Zum Teil fest, Gleichge- Balance von Adaptives
vom möglichen zum Teil locker wichtssyste- positiver Fließgleichge-
Gleichge- gekoppelte me mit und negati- wicht bei
wichtszustand Systemeinhei- festen ver Rück- dominant
bei weitge- ten bei Bifurka- Grenzwerten kopplung positiver
hend entkop- tion jenseits des und Domi- bei guter Rückkopplung
pelten Sys- optimalen nanz der IntraSystem und zirkulär
temeinheiten Gleichgewichts- negativen und schwa- gekoppelter
zustandes Rückkopp- cher Inter- Systemeinhei-
lungen System- ten
Kopplung

Phänomenbe- Symbolbereich Übersteuerte, Ahistorische Lebenszyk- Biogenetischer


reiche bei freier sakralisierte Kulturen und lus von Bereich oder
Interaktion/ Kulturen und primäre Organisati- flexible Institu-
Diffusion Kulturbereiche Institu- onen; tionen
tionen Ökologische
Zyklen von
Zivilisatio-
nen
(Systemtheorie als Steuerungstheorie)

Alle vorgetragenen Überlegungen Bühls münden in die Formulierung seines


Anspruchs an eine Systemtheorie: „Eine Theorie jedoch ohne jede Vorhersage-
Soziologische Systemtheorie 385

und Kontrollkapazität ist auch in explanatorischer Hinsicht unbrauchbar … Auf-


gabe wäre doch gerade die Entwicklung einer sozialkybernetischen Kontroll-
und Steuerungstheorie der ‚offenen’ Systeme“ (Bühl 1987: 249). Bühl formuliert
damit auch implizit sein Anliegen, dass gesellschaftliche Entwicklungsprozesse
einer ethisch verantwortbaren Steuerung zu unterwerfen sind. Soziale Systeme
dürften nicht sich selbst überlassen bleiben, sondern ihre Entwicklung ist, soweit
möglich, zu kontrollieren – und dazu bedarf es einer die Individualethik ergän-
zende „Systemethik“ (Bühl 1998).

b) Aspekte einer sozialkybernetischen Steuerungstheorie offener Systeme

Sind soziale Systeme planbar und kontrollierbar? Das ist die Ausgangsfrage von Steuerung und
Kontrolle sozialer
Bühl. Und ihr schließt sich die weiterführende Problemstellung an: Wie können
Systeme
sie gesteuert werden? In Beantwortung beider Fragen greift Bühl auf historische
Erfahrungen und seinen Einwand gegen die nur endogene Ursachen des sozialen
Wandels zulassende Theorie Luhmanns zurück. So waren etwa die Deutsche
Vereinigung und die sich daran anschließende Transformation in den neuen
Bundesländern exogen verursachte Vorgänge.

Walter L. Bühl (1934-2007)

Walter Ludwig Bühl wird 1934 geboren. Nach einem Stu-


dium der Philosophie, Soziologie und Pädagogik, arbeitet
Bühl zunächst als Gymnasiallehrer, bevor er 1965 zum Dr.
phil promoviert. Dozenturen erhält er an den Universitäten
München und Bern, u.a. mit den Arbeitsschwerpunkten:
Soziologische Theorien, Wissens- und Wissenschaftsso-
ziologie und Kultursoziologie.
1970 verfasst er „Evolution und Revolution“. Mit der
„Struktur und Dynamik des menschlichen Sozialverhaltens“ beschäftigt er
sich in seinem 1982 erschienen Buch. Die Systemtheorie interessiert ihn be-
sonders seit den 1980er Jahren. Er publiziert „Kulturwandel“ (1987) und „So-
zialer Wandel im Ungleichgewicht“ (1990). Auch in seinen Werken
„Deutschland im sozioökonomischen Systemvergleich“ von 1992, sowie
„Verantwortung für soziale Systeme“ 1998 beschäftigt er sich mit dieser Ma-
terie. Walter Bühl stirbt im April 2007.

Vor allem aber am Scheitern exogener Transformation kann abgelesen werden, Evolutionäre Bedin-
gungen der Steuerung
„daß es ohne bestimmte evolutionäre Konstitutionsbedingungen nicht geht“
sozialer Systeme
(Bühl 1998: 365). Zu diesen evolutionären Konstitutionsbedingungen gehören:

1. „Von einer echten ‚Transformation’ wird jedenfalls nur dann die Rede sein
können, wenn eine Umschaltung oder Überleitung auf endogene Mecha-
nismen gelingt“ (Bühl 1998: 365). Das heißt, nur wenn am Ende des Trans-
formationsprozesses alle Vorgänge der Regulation und Steuerung wieder
durch Selbstorganisation des Systems übernommen werden, in dieses inte-
386 Dirk Villányi/Matthias Junge/Ditmar Brock

griert werden, kann von einer „Endogenisierung der Transformation“ (Bühl


1998: 366) gesprochen werden.
2. Das ist nur möglich, wenn ein Steuerungsversuch auf die Eigenheiten des zu
steuernden Systems achtet. „Jeder Kontroll- und Steuerversuch ist … ge-
zwungen, auf die Binnenstruktur und die Eigendynamik des Systems einzu-
gehen“ (Bühl 1998: 366). Hierzu müssen im System vorhandene Potentiale
und Entwicklungen aufgegriffen werden, verstärkend, modifizierend oder
abschwächend. Andernfalls drohen Steuerungsversuche ins Leere zu laufen,
wirkungslos zu bleiben. Insgesamt gilt daher: „Das Potential eines entwi-
ckelten oder ‚historisch gewachsenen’ Systems ist auch durch die größten
Entwicklungsanstrengungen von innen oder durch noch so massive Importe
von außen nicht zu ersetzen“ (Bühl 1998: 379).

Probleme der Um- Wenn soziale Systeme eine große Komplexität erreicht haben, dann ist insbeson-
weltanpassung von
dere ihr Verhältnis zur Umwelt wichtig. Denn diese unterwirft das Sozialsystem
Sozialsystemen
beständigem Anpassungsdruck. Dabei kann Anpassung an veränderte Umwelt-
bedingungen einerseits zu gut gelingen, und andererseits zur Vernachlässigung
der Anstrengung weiterer Anpassung führen. Im ersten Fall führt das zum Un-
tergang des Sozialsystems, wenn sich die Umweltbedingungen entscheidend
verändern. Im zweiten Fall fällt das Leistungsniveau des Systems unter den bis-
her erreichten Standard. Beispiele hierfür können leicht gefunden werden. Für
den ersten Fall ist an untergegangene Zivilisationen – etwa die der Maya oder an
die Induszivilisation – zu denken, ein Beispiel für den zweiten Fall wären Ge-
sellschaften, deren Entwicklung erst stagnierte und dann hinter den erreichten
Stand zurückfielen – so zum Beispiel das antike Athen nach den pelloponesi-
schen Kriegen.

„Komplexe Sozialsysteme stehen vor einem großen Dilemma: Entweder sie haben
mit der Zeit eine optimale Anpassung in eine Umweltnische erreicht – dann sind sie
zum Untergang verurteilt, wenn die Umweltbedingungen sich grundlegend ändern;
oder sie tendieren zur ‚Erschlaffung’ und beginnen über kurz oder lang, auf einen
niedrigeren Leistungsgrad zurückzufallen und sozusagen nur noch ‚mit halber Kraft’
zu arbeiten. Noch wichtiger als der erreichte Entwicklungsgrad ist daher die Erhal-
tung der Anpassungs- und Entwicklungsfähigkeit des Systems, die gerade nicht in
der optimalen Anpassung, sondern in der Fähigkeit besteht, mit Unsicherheit und ir-
regulärem (nicht vorherzusehendem) sozialen Wandel zurechtzukommen“ (Bühl
1998: 379f.).

Die Vielfältigkeit von Wenn in dieser Perspektive soziale Systeme betrachtet werden, so rücken drei
Strukturdynamiken
Annahmen in den Vordergrund:
von Sozialsystemen

1. Soziale Systeme vereinigen ganz unterschiedliche „Verhaltenslandschaften“


oder Strukturdynamiken in sich. In Sozialsystemen finden sich die ver-
schiedensten Formen der Organisation – Autopoiesis, Allopoiesis, Heterar-
chie und Hierarchie – und jede leistet einen bestimmten unverzichtbaren
Beitrag.
2. Die beste Überlebenssicherung ist vermutlich ein Mix von Strukturdynami-
ken oder Verhaltenspotentialen. Je breiter das Angebot an Möglichkeiten
Soziologische Systemtheorie 387

zur Reaktion auf Veränderungen der Umwelt ist, umso größer sind die
Chancen gelingender Anpassung. Legt sich ein Sozialsystem hingegen auf
nur eine Anpassungsreaktion fest oder versäumt gar den Aufbau von Reak-
tionsstrategien, dann ist es für Umweltveränderungen schlecht gerüstet.
3. Soziale Systeme folgen einer nichtlinearen Dynamik; Gleichgewichtszu-
stände sind eher die Ausnahme. Damit wird einer simplifizierenden An-
nahme der Gradlinigkeit und Ausgeglichenheit von Entwicklungsprozessen
widersprochen. Zahlreiche historische Beispiele zeigen, dass die Entwick-
lung von Sozialsystemen sprunghafte, nichtlineare, manchmal auch revolu-
tionäre Phasen durchlaufen kann. Sozialsysteme sind nur kurzzeitig im
Gleichgewicht – in besonders stabilen Entwicklungsphasen – zumeist hin-
gegen sind sie im Ungleichgewicht. (Vgl. Bühl 1998: 381 ff.)

Sozialsysteme lassen sich unter Berücksichtigung ihrer Eigenschaften in


Grenzen steuern und kontrollieren und durch Vermehrung ihrer Reaktions-
möglichkeiten auf Umweltveränderungen besser vorbereiten. Dabei ist davon
auszugehen, dass sie sich zumeist im Ungleichgewichtszustand befinden.

Lektürevorschlag:

Jared Diamond (2006): Kollaps. Warum Gesellschaften überleben oder untergehen.


Frankfurt am Main: Fischer, S. 13-41.

Übungsaufgabe:

Rekonstruieren Sie ein Beispiel für eine Gesellschaft im Ungleichgewicht. Tipp:


Hilfreiches Material enthält der vorstehende Lektürevorschlag.

5.2 Kenneth D. Bailey

In den 1950er Jahren dominierte der funktionalistische Ansatz der Analyse so- Social Entropy
Theory
zialer Systeme von Talcott Parsons die Soziologie. Diese zeitweilige Dominanz
rief massive Kritik an Grundannahmen des Funktionalismus hervor (vgl das
Kapitel zu Parsons in Band 1 und exemplarisch den Abschnitt 4.1 und 4.3). Kri-
tisiert wurde seine Theorie vor allem aufgrund seiner Betonung des Gleichge-
wichtes sozialer Systeme und der Vernachlässigung des Aspektes des sozialen
Wandels. Oft wurde die Theorie als zu teleologisch, zu tautologisch, statisch,
konservativ und vor allem empirisch nicht überprüfbar bezeichnet. Aus dieser
Kritik entwickelte in den USA aufbauend auf James G. Millers „Living Systems
Theory“ (vgl. Abschnitt 3.2) Kenneth D. Bailey die „Social Entropy Theory“
(1994), deren Grundaussagen im Folgenden nachgezeichnet werden.
388 Dirk Villányi/Matthias Junge/Ditmar Brock

Kenneth D. Bailey (1943*)

Kenneth D. Bailey wird 1943 geboren. Nach einem Ab-


schluss in Mathematik an der Universität von Austin/
Texas 1963 beginnt er anschließend ein Masterstudium
im Fach Soziologie. Hierin promoviert er zwei Jahre
später. Seither arbeitet er an der Universität von Kali-
fornien in Los Angeles als Professor am Institut für
Soziologie.
Seine Forschungsschwerpunkte sind Systemtheorie,
Methoden, Umweltsoziologie und Demographie. Von seinen bisherigen Ver-
öffentlichungen zählt sein Buch „Sociology and the New Systems Theory“
(1990) zu den bekanntesten. Er kritisiert in dieser Schrift vor allem die funkti-
onalistische Gleichgewichtsauffassung von Systemen. Mit seiner „Social
Entropy Theory“ (1994) gab Bailey schließlich neue Impulse für die Entwick-
lung einer Systemtheorie.

Social Entropy Theo- Die „Social Entropy Theory“ ist eine makrosoziologische Systemtheorie, welche
ry als makrosoziolo-
ein Ungleichgewicht des Systems voraussetzt. Dabei bezeichnet Entropie in der
gische Systemtheorie
Soziologie den natürlichen Strukturverfall eines sozialen Systems, kann aber
auch als Maß der Unordnung eines geschlossenen Systems verstanden werden
(vgl. Abschnitt 3.1). Geht man vom Gedanken der Entropie aus, dann ist gesell-
schaftliche Ordnung ein Zustand, der durch Arbeit und den Einsatz von Energie
gegen die Zunahme gesellschaftlicher Entropie hergestellt werden muss, andern-
falls nimmt die gesellschaftliche Unordnung zu.
Globale, unveränder- Als Kritiker des Funktionalismus präsentiert Bailey in seinem systemtheore-
liche und veränderli-
tischen Ansatz drei Variablensets, welche allen Gesellschaften zugrunde liegen.
che Variablen
Das erste Set, das der „globalen Variablen“, besteht aus sechs makrosoziologi-
schen Variablen, welche als „PILOTS“ zusammenfassend bezeichnet werden.
Diese Variablen sind: Population, Information, Level-of-Living (Lebensniveau),
Organisation, Technology und Spatial areas (räumliche Flächen). Jedes System
hat eine Population (P) und eine räumliche Umwelt (S). Die Gesellschaft muss
nun innerhalb dieser Umwelt Energie nutzen, um Arbeit zu verrichten. Diese
Energie stammt sowohl aus externen als auch internen Quellen. Ebenso wird die
Energie genutzt, um das Lebensniveau (L) der Gesellschaft zu erhalten. Die
Gesellschaft bewältigt Arbeit durch Selbstorganisation (O) und zwar in dem
Maße, in dem zur Verfügung stehende Technologie (T) und Information (I) ge-
nutzt werden können. Die zum System gehörenden Individuen einer Gesellschaft
haben bestimmte unveränderliche Mikromerkmale, so genannte „unveränderli-
che Variablen“ – Rasse, Geschlecht und Alter –, die mit den globalen Variablen
in Verbindung stehen und teilweise das soziale System mitprägen. Die globalen
Makrovariablen und die veränderlichen Mikrovariablen sind durch „veränderli-
che Variablen“ miteinander verbunden. Die veränderlichen Variablen sind in
zwei Subsysteme untergliedert: in individuelle Leistung und gemeinsame Vertei-
lung, etwa von Einkommen, Arbeit oder Bildung (vgl. Bailey 1994: 32).
Soziologische Systemtheorie 389

Kann ein System sich so organisieren, dass es Technologie und Information


effizient nutzt, kann es sein Lebensniveau erhalten oder sogar erhöhen und
zudem den Anstieg von Entropie kompensieren.

Die Social Entropy Theory analysiert, wie Gesellschaftssysteme die Interaktion Social Entropy Theo-
ry in ausgewählten
zwischen diesen drei Variablensets nutzen, um ihre Ziele zu erreichen (vgl. Bai-
Vergleichen mit
ley 2001: 396). Dabei zeigen sich wichtige Unterschiede zu einigen der hier Parsons, Miller und
behandelten Systemtheorien. So konzipiert etwa Parsons Systeme als abstrakte Luhmann
Systemmodelle, Bailey hingegen geht von einem Wechselspiel zwischen abs-
trakten Systemen und konkreten Systemen aus. Auch der Unterschied zur Living
System Theory von Miller ist erkennbar: Miller ging es um eine allgemeine Sys-
temtheorie, Bailey möchte eine soziologische Systemtheorie entwickeln, in deren
Mittelpunkt die Analyse von Gesellschaften unter Einbeziehung der Subsysteme
Individuum, Gruppe und Organisation steht (vgl. Bailey 1994: 33). Zu guter
Letzt ist damit auch die Differenz zum von Bailey hoch geschätzten Luhmann
angedeutet: das Individuum ist Bestandteil eines sozialen Systems, die Eigen-
schaften sozialer Systeme beruhen zum Teil auf Eigenschaften der zugehörigen
Individuen (vgl. Bailey 1994: 33).

Lektürevorschlag:

Kenneth D. Bailey (1994): Talcott Parsons, Social Entropy Theory, and Living Systems
Theory. In: Behavioral Science, Vol. 39, S. 25-45.

Übungsaufgabe:

Arbeiten Sie aus dem vorstehenden Lektürevorschlag alle Gemeinsamkeiten und


Unterschiede im Systemdenken von Parsons, Miller und Bailey heraus. Tipp: Sie
sind alle im Text benannt und durchnummeriert.

5.3 Edgar Morin

Edgar Morin (geb. 8.7.1921)

Edgar Morin wurde in Paris geboren und hieß ursprünglich Edgar Nahoum. Er
ist jüdisch-spanischer Herkunft. Seine Arbeiten, insbesondere die mehrbändi-
ge „La Méthode“ (1977-2004) sind transdisziplinär orientiert und versuchen
einerseits die Kluft zwischen Geistes- und Naturwissenschaften zu überwin-
den, andererseits wenden sie sich beständig gegen simplifizierendes, binäres
Denken in Oppositionen, um an deren Stelle der Komplexität der Phänomene
in vielfältigen Perspektiven gerecht zu werden. Dabei greift er auf Elemente
der Kybernetik, Informations- und Systemtheorie zurück. Morin ist ein Wis-
390 Dirk Villányi/Matthias Junge/Ditmar Brock

senschaftler, dessen Interessen Philosophie, Musik, Kunst, Literatur, Soziolo-


gie, Anthropologie, Biologie und Pädagogik umgreifen und zu einem umfas-
senden Verständnis von Mensch und Gesellschaft beitragen wollen.
Morin wurde 1968 Nachfolger von Henri Lefebvre an der Universität
von Nanterre und war bis zu seiner Emeritierung Direktor des Forschungs-
zentrums Centre national de la recherche scientifique (CNRS). 2001 verfasste
er für die UNESCO einen Bericht über Anforderungen an die Erziehung in
einer Welt der Komplexität.

Die normative Sys- Aus dieser Vielfältigkeit der Interessen und der Komplexität seiner Theorie sol-
temtheorie von Morin
len hier nur zwei Elemente herausgestellt werden, die Morins Denken als eine
weitere alternative systemtheoretische Konzeption sichtbar werden lassen. Dazu
gehören die Idee des „homo sapiens demens“ und seine Überlegungen zum Phä-
nomen der Komplexität. Gemeinsam ist beiden Elementen, dass Morin einen
normativen Anspruch an seinen Entwurf einer Systemtheorie stellt: sie soll dazu
dienen können, verändernd in die soziale Wirklichkeit eingreifen zu können.
Auch in seinem Denken findet sich wie bei Bühl (vgl. Abschnitt 5.1) die Intenti-
on, Prozesse nicht nur beschreiben zu können, sondern sie zu gestalten.
Der homo sapiens Anders als Luhmann (vgl. Abschnitt 2.1) geht Morin in seiner Systemtheo-
demens
rie von einem Menschenbild aus. Er stellt die Beschreibung des Menschen als
Gattungswesen an den Anfang und hat daher auch Platz für die Einbeziehung des
Individuums in sein systemtheoretisches Gedankengebäude. Dieses Menschen-
bild beruht auf der Annahme des „homo sapiens demens“. Der Mensch ist nicht
nur ausgezeichnet durch aufrechten Gang, Sprachfähigkeit, Vernunft und Sym-
bolverwendung. Vielmehr gehört zum Mensch auch der Wahnsinn, die Ver-
rücktheit. „Der Wahnsinn ist kein Randphänomen, er macht die Menschheit im
Kern aus.“ (Morin 2005: 14) Erst die Einbeziehung des Wahnsinns, nicht nur im
psychiatrischen Sinne, sondern vor allem verstanden als Kreativität, Innovations-
fähigkeit und Abweichung, ermöglicht gesellschaftliche Entwicklung. Es sind
die ver-rückten Anteile, die gesellschaftlichen Fortschritt vorantreiben. Der
Wahnsinn bringt ein Irritation erzeugendes Merkmal in die soziale Ordnung
hinein: Unordnung. Gesellschaftliche Ordnungen werden durch Unordnungen
des Ver-rückten zur Anpassung und zum Umgang mit dieser Unordnung und
ihrer Integration und Transformation in eine neue Ordnung herausgefordert.

Übungsaufgabe:

Vergleichen Sie Morins Analyse der gesellschaftlichen Bedeutung des Wahn-


sinns mit der von Foucault (vgl. zur Hilfestellung das Kapitel von Matthias Jun-
ge zum Strukturalismus, Abschnitt 4.1 in diesem Band.)

Hyperkomplexität Die dabei entstehenden neuen sozialen Ordnungen tendieren zur Ausbildung von
Hyperkomplexität. Hyperkomplex sind soziale Systeme dann, wenn sie eine
starke Binnendifferenzierung, etwa funktionale Differenzierung, aufweisen und
dadurch auf Störungen durch Ver-rücktes wie auch Umwelteinflüsse besser vor-
bereitet sind, weil die Variationsbreite der Reaktionsmöglichkeiten größer ist.
Soziologische Systemtheorie 391

Hyperkomplexität steigert einerseits die Leistungsfähigkeit des Systems durch


die Inklusion der Abweichung des Ver-rückten, andererseits aber wird dadurch
auch die interne Komplexität weiter gesteigert.
Mit dieser Hyperkomplexität und der dadurch beförderten Erweiterung des Die Steuerung hyper-
komplexer Systeme
Möglichkeitsraumes korrespondiert jedoch ein Problem: Wie kann die durch
und die Aufgabe der
Differenzierungsprozesse entstehende Hyperkomplexität noch als Ganze erfasst Erziehung
und gestaltet werden? Morin schlägt hierfür politische Steuerung und Erziehung
vor. Politische Steuerung soll vor allem zur Integration von Ideologie, Politik
und Wissenschaft beitragen, um der Komplexität durch die simultane Nutzung
unterschiedlicher Ressourcen und Perspektiven des Denkens, des Handelns und
der Forschung gerecht werden zu können. Erziehung schließlich soll den Men-
schen zur Übernahme von Verantwortung befähigen. Denn diese ist in einer
Gemeinschaft der zusammenhängenden menschlichen Schicksale auf dem Glo-
bus nötig. Gemeinschaft soll die Anonymität und Vielfalt nebeneinander stehen-
der Interessen in der Gesellschaft durch ein verbindendes Element, die Fähigkeit
zur Verantwortungsübernahme, überschreiten und integrieren. Morin setzt hier,
anders als Bühl mit der Idee der Sozialethik, seine Hoffnung auf die Entwicklung
einer verbindend wirkenden Individualethik durch Erziehung.

Lektürevorschlag:

Edgar Morin (2001): Die sieben Fundamente des Wissens für eine Erziehung der Zukunft.
Krämer-Verlag.

6 Zusammenfassung
Ein langer Weg in der Darstellung der Entwicklung der Systemtheorie liegt hin- Systemtheorien
ter Ihnen und soll abschließend kurz zusammengefasst werden. Bereits der vor-
stehende Einleitungssatz war, und dies sollte Ihnen nach der Lektüre aufgefallen
sein, nicht ganz korrekt. Denn der Beitrag zeigt insgesamt, dass es „die“ System-
theorie nicht gibt. Vielmehr gibt es unterschiedliche Ansätze zur Entwicklung
von Systemtheorien. Jeder dieser Ansätze greift auf unterschiedliche Traditionen,
Problemformulierungen und Konzepte mit je anderem Zuschnitt des Gegens-
tandsbereichs zurück. Luhmanns Skizze einer in drei Phasen verlaufenden Ent-
wicklung systemtheoretischen Denkens ist hilfreich – und hat auch die Gliede-
rung von Abschnitt 2 getragen – um sich das Ganze nochmals vor Augen zu
führen.
Systemtheoretisches Denken beginnt mit der, aus heutiger Sicht problemati- Entwicklung
systemtheoretischen
schen, Formulierung „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile“. Gleich-
Denkens
wohl bringt diese Formulierung bereits einen Grundgedanken systemtheoreti-
schen Denkens zum Ausdruck: Systeme sind nicht auf ihre Bestandteile redu-
zierbar, vielmehr führt das wie auch immer geartete Zusammenwirken der Teile
zur Emergenz von etwas Neuem, Eigenständigem. Aufzuklären war daher in der
zweiten Phase der Entwicklung systemtheoretischen Denkens sowohl die innere
Organisation des Systems wie auch die Ausgestaltung der Beziehungen zur Sys-
392 Dirk Villányi/Matthias Junge/Ditmar Brock

temumwelt. In dieser Phase fließen Anregungen vor allem der Kybernetik als
einer Steuerungslehre in die theoretische Entwicklung ein und verdeutlichen die
Fähigkeit von Systemen zur Selbstregulierung in der Auseinandersetzung mit der
Umwelt. Im Übergang zur dritten Entwicklungsphase schließlich werden zwei
weitere Konzepte bedeutsam für das systemtheoretische Denken, Autopoiesis
und Konstruktivismus. Beide lenken die Aufmerksamkeit noch stärker auf das
Problem der inneren Organisation von Systemen, und machen darauf aufmerk-
sam, dass alles Denken über Systeme gleich welcher Art Beobachtungen darstel-
len. Die erkenntnistheoretische Position geht in einen operativen Konstruktivis-
mus über – gesehen wird, was gesehen werden will, auf der Basis eigener die
Beobachtung ermöglichender Unterscheidungen – und zugleich wird damit die
Grundlage für Luhmanns Beschreibung der modernen Gesellschaft als de-
zentrierte Gesellschaft gelegt. Aber auch dieser vorläufige Schritt in der Ent-
wicklung systemtheoretischen Denkens hat seine eigenen blinden Flecken, kann
nicht beobachten, wie er beobachtet. Das führt dazu, dass vor allem in kritischer
Auseinandersetzung mit Luhmanns Entwurf oder einigen seiner Konzepte weite-
re alternative systemtheoretische Ansätze bei Bühl, Bailey und Morin entstehen.
Die offene Zukunft Die Entwicklung der Systemtheorie ist noch nicht abgeschlossen, wenn-
systemtheoretischen
gleich eine Vielzahl von wichtigen Konzepten entwickelt wurde. Erst die zu-
Denkens
künftige Entwicklung wird zeigen, welche theorieimmanenten Entwicklungen
aufgenommen und weitergeführt werden. Und auch die Frage der Anwendbarkeit
systemtheoretischen Denkens wird nur in der Zukunft eine Antwort finden kön-
nen. Auch wenn beide Fragen am Ende offen bleiben müssen, systemtheoreti-
sches Denken ist ein offenes Theorieprojekt, in das es sich zu investieren lohnt.

7 Literatur
Baecker, Dirk (2005) (Hg.): Schlüsselwerke der Systemtheorie. Wiesbaden: VS Verlag
für Sozialwissenschaften.
Bailey, Kenneth D. (1994): Talcott Parsons, Social Entropy Theory, and Living Systems
Theory. In: Behavioral Science, 39 (1), S. 25-45.
Bailey, Kenneth D. (1997): The Autopoiesis of Social Systems: Assessing Luhmann’s
Theory of Self-Reference. In: System Research and Behavioral Science, 14 (2), S.
83-100.
Bailey, Kenneth D. (2001 [20062]): Systems Theory. In: Turner, Jonathan H. (Hg.):
Handbook of Sociological Theory. N.Y.: Springer Science + Business Media, 379-
401.
Baraldi, Claudio (1997 [19993]): Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien. In:
Ders. /Corsi, Giancarlo /Esposito, Elena: GLU. Glossar zu Niklas Luhmanns Theo-
rie sozialer Systeme. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 189-195.
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145ff., 157 Dilthey ,Wilhelm 23
Anderson, Nels 34 Dresher, Melvin 266
Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen 19, Dubiel, Helmut 139
57, 93 Durkheim, Émile 32, 37, 76, 86, 93f., 108,
Arrow, Kenneth 253 129f., 135, 170, 215, 250, 262, 299, 328,
Austin, John 165 371

Bailey, Kenneth D. 387-389 Elster, Jon 278


Barthes, Roland 296f., 303f. Esping-Andersen, Gosta 220
Batailles, Georges 321 Esser, Hartmut 242, 276f., 279
Becker, Gary 279f.
Becker, Howard S. 45, 67ff. Feigl, Herbert 255
Becker, Rolf 276 Ferguson, Adam 240
Benedict, Ruth 250 Ferrier, James 240
Benjamin, Walter 150, 156ff. Fichte, Johann Gottlieb 130, 134
Berger, Peter 23, 75, 85ff., 90ff., 93., 118 Fine, Alan .45f., 74
Bergmann, Jörg 106f. Foucault, Michel 181, 305-312
Bergson, Henri. 77f., 79 Freud, Sigmund 145, 162
Bloch, Ernst 143 Freyer, Hans 130, 144, 181ff.
Blumer, Herbert 18, 26, 37, 44f., 66ff. Friedman, Milton 282
Böhler, Dietrich 191f. Fromm, Erich 130, 139, 144ff., 155
Bourdieu, Pierre 262, 324ff., 327-332
Brown, Thomas 240 Garfinkel, Harold 93, 107
Brunkhorst, Hauke 139 Gehlen, Arnold 183, 190-199
Buber, Martin 156, 183 Giddens, Anthony 118, 181, 208, 258,
Buckley, Walter F. 348-352 325, 329
Bühl, Walter L. 383-387 Gigerenzer, Gerd 280, 283
Bühler, Karl 255 Glaser, Barney 72ff.
Burgess, Anthony 28 Goffman, Erving 17, 39, 65, 107ff.
Burke, Kenneth 70, 72 Gouldner, Alvin 17, 20, 237, 259, 301
Burnet, James (Lord Monboddo) 240 Graham, William 38
Gusfield, Joseph 22, 45, 60, 70, 72
Campbell, Ernest Q. 260
Carnap, Rudolf 255 Habermas, Jürgen 131, 165-180
Cicourel, Aaron 18, 96, 100f. Hardin, Garrett 268ff., 271, 273
Coleman, James S 249, 259ff. Hariou, Maurice 195
Cooley, Charles Horton 47, 56, 72, 90 Harsanyi, John C. 264
Coser, Lewis 225ff., 235 Hartman, Heinz 221
Hayeks von, Friedrich 255f.
Dahrendorf, Ralf 216f., 218f., 222ff., Hegel, Georg Friedrich Wilhelm 129f.,
230ff. 141, 158
Davis, Kingsley 221f. Heidegger, Martin 162
Derrida, Jacques 312-316 Heisenberg, Werner 255
Descartes, René 79, 174 Herder, Johann Gottfried 134, 192
400 Personenregister

Heritage, John 94, 97, 103f. Neumann, Franz 139


Hobbes, Thomas 93, 195 Nietzsche, Friedrich 154f., 192, 316
Homans, George 246
Home, Henry (Lord Kames) 240 Offe, Claus 139
Honneth, Axel 139, 180 Opp, Karl-Dieter 257f.
Horkheimer; Max 129f., 138ff., 140-144,
154, 156ff., 203ff. Pareto, Vilfredo 198
Hughes, Everett C. 42, 45, 69, 72, 74, Park, Robert E. 39
107, 109 Parson, Talcott 11f., 13ff., 16ff., 66, 76,
Hume, David 240, 279 93, 97, 124, 132, 136ff., 181, 184, 189,
Husserl, Edmund 6, 80, 96, 162, 358, 373 205, 213, 217, 221, 248f., 251f., 258,
345, 357ff., 364f., 387
James, William 48, 90, 116 Pawlow, Iwan P. 27
Peirce, Charles S. 25, 29, 53
Kahneman, Daniel 280 Plessner, Helmuth 86
Kant, Immanuel 130, 134, 154, 156, 159, Pollock, Friedrich 139
174 Popper, Karl Raimund 253-259
Kirchheimer, Otto 139, 156
Knorr-Cetina, Karin 105 Radcliff-Brown, Alfred 109
König, René 129f. Robertson, Roland 16
Kuhn, Thomas S. 223 Russell, Bertrand 255, 281

Landshut, Siegfried 144 Sacks, Harvey 95, 97, 103, 105


Latour, Bruno 105 Sahlins, Marshall 304f.
Lévi-Strauss, Claude 298-305, 315, 316, Saussure de, Ferdinand-Mongin 291-298,
324, 327 301, 304, 306ff., 315
Lindenberg, Siegwart 257 Savage, Leonard J. 245, 247, 282ff.
Lloyd,William Foster 269 Schegloff, Emmanuel 96, 105
Lorenz, Konrad 193 Scheler, Max 190
Löwenthal, Leo 139, 162 Schelling, Thomas 271ff.
Luckmann, Thomas 23, 76ff., 85, 92ff., Schelsky, Helmut 129, 131, 135, 138,
118ff. 183, 199ff.
Luhmann, Niklas 355-382 Schlick, Moritz 255
Lukacs, Georg (György) 143 Schmidt, Alfred 135, 180
Lyotard, Jean-François 317-320 Schopenhauer, Arthur 142, 192
Schrödinger, Erwin 255
Mannheim, Karl 218 Schumpeter, Joseph A. 253
Marcuse, Herbert 129, 133f., 162-165 Schütz, Alfred 23, 76-84
Marx, Karl 133, 144, 148, 149f., 158 Sennett, Richard 186
Mauss, Marcel 298f., 314, 321, 330 Shaw, Clifford 38
Mead, Georg Herbert 21, 45-59 Simmel, Georg 23, 26f., 39ff., 60, 69,
Merton, Robert K. 219, 234, 259 198, 129, 224, 234, 323
Millar, John 240 Simon, Herbert 278, 283
Miller, James G. 352-355 Small, Albion W. 25
Mills, C. Wright 216, 221, 224, 237 Smith, Adam 240
Morgenstern, Oskar 245, 264ff. Soeffner, Hans-Georg 77, 93
Morin, Edgar 389-391 Sorokins, Pitirim 250
Morris, Charles W. 53 Spencer, Herbert 37f., 342ff.
Spengler, Oswald 187
Nauck, Bernhard 274f. Stewart, Dugald 240
Negt, Oskar 139, 180 Strauss, Anselm 18, 23, 45, 49, 65, 72f.,
Neumann von, John 245f., 264f., 347f. 74
Personenregister 401

Tarskis, Alfred 255 Watkins, John 252


Thaler, Richard 280 Watson, John B. 27
Thomas, Dorothy 31 Weber, Max 23, 26, 43, 60, 77ff., 85, 129,
Thomas, William I. 25, 30f., 35, 38, 62, 170f., 201, 231, 256, 298, 372
78 Wellmer, Albrecht 139, 180
Timbergen, Nico 193 Whytes, William F. 41ff.
Tönnies, Ferdinand 37, 185 Willis, Paul 42
Trasher, Frederic 38 Wilson, Thomas 20
Turner, Ralph 21, 52 Wirth, Louis 22, 38
Tversky, Amos 280 Wittgenstein, Ludwig 170, 174, 356
Woolgar, Steve 105
Wallerstein, Immanuel 347 Znaniecki, Florian 30, 34ff.
Warner, W. Lloyd 42, 109 Zorbaugh, Harvey 38
Sachregister

„als-ob“-Theorien 282 empirische oder erklärende Theorie 317f.,


„satisficing“-Prinzip 283 281
Abduktion 29 Ensembles/Teams 108
Account, accountable 104f. Entropie 350, 388f.
Akteur 18-21, 32, 34, 45f., 59, 64, 68, Enttraditionalisierung 36
70f., 73, 89, 92-94, 104, 206, 226, 234, Ethnologie 15, 38, 195, 262f., 343
248f., 261, 324-330, 337, 364 Ethnomethoden .94, 98, 104
Allokation 221 Ethnomethodologie 18, 21, 24, 71, 93, 94-
Allopoietische Systeme 356f., 386 100, 103, 105-107, 110
Alter Ego 82, 111, 362, 365 Evolution 176, 205, 341, 342, 360, 369-
Anomie 36, 179 372, 384
Anthropologie 56, 134, 219 Evolutionstheorie 37, 342, 369, 372, 405
Äquilibrium 348, 349-351 Exzentrische Positionalität 56, 86
Arbeitskonsens 111f., 117
Atomismus 340 Falsifikationismus 255, 368
Autopoiesis 347, 355, 382-384, 386, 392 Feld 325-332
Feministische Theorie 98
Basisregeln 99-103 Footing 132
Behaviorismus 27f., 33, 44 Fremdverstehen 110
Beobachtung 38, 42, 45, 53, 96, 108, 112, Freudomarxismus 148
114, 241, 309, 344, 356, 368, 371, 372- Frühbürgerliche Gesellschaft 182
374, 376, 383
Game 57
Cartesianismus 79 Gefangenendilemma 265, 266-268, 270
Chicago School of Sociology 22-29, 39, Gemeingüter 268-271, 273
43 Generalisierte Andere 57f.
Cultural Studies 42, 75, 92, 118 Generalthese des Alter Ego 82
Geste 49-53, 64, 75, 129, 131
Darstellung (des Glückungsbedingungen (felicity conditi-
Selbst)/Vorstellung/Performance 113 ons) 110
Definition der Situation 30, 31, 38, 44, 62, Gouvernementalität 310
116 Grounded Theory 18, 72, 73f.
Dekonstruktion 314-316
Differenz 315f. Habitualisierung 88
Diskursuniversum 29, 54, 57 Habitus 325, 327-330, 332
Doing Gender .98, 105 Hermeneutik 25, 144
Dokumentarische Methode 104f. Heuristik 279
dominante Strategie 340-342 Holismus 250, 255, 340, 359
Dramatologischer Ansatz/dramaturgischer Homöostase 350, 352
Ansatz 128, 134
I 56, 58, 76
Einheitserzählung 407 Idealtypus 78, 242
Emergentismus 340 Identität, Ich-, personale, soziale 47-49,
Emergenz 340, 391 56f., 65, 115
Indexikalität 103f.
404 Sachregister

Individualismus/Individualisierung 33, methodologischer Individualismus 250,


198, 253 251-259
Institutionalisierung 32, 77, 200 Migration 33, 36
Interaktion 15, 18, 20, 22f., 38f., 49, 52f., Mikrostrukturelle Ansätze 75, 92, 118
57, 63-65, 67, 73, 101f., 110-112, 115, Mind 49f.
169, 174, 261, 346, 360f., 364, 384, 389 Moderne Evolutionsbiologie 342
Interaktionsordnung 24, 107-110, 112, Moralische Unternehmer 67
116f. Mythos 150, 152f., 296
Interaktionsrituale 110-112, 117
Interpretation 18f., 30, 33, 36, 50, 64, 81, Natürliche Weltanschauung 81
92, 95f., 103f., 131f., 217, 247, 314-316, Neo-Institutionalismus 75, 92f.
323f., 327, 329 nicht-individualistische Sozialwissenschaft
Interpretatives Paradigma 20 253
Inzestverbot 300f. Nicht-Zentrum der Struktur 313
normative Aussage 252
Kapital 185, 326, 330f. normative oder präskriptive Theorie 247f.,
Karrieremodell abweichenden Verhaltens 265, 282f.
67 normativer Individualismus 252
Klasse 133, 135, 147, 201f., 221, 231, Normatives Paradigma 20-22
235, 325, 326, 328 Normen 18-20, 21, 58, 84, 87, 94, 98,
Kompetente Mitglieder 104 179, 201, 217, 222, 226, 232, 249
Komplexität 19, 21, 30, 231, 342-246,
350, 370, 386, 389f., 391 Objektivierung 86, 88
Konsens, kognitiver 20 Objektivismus 325, 327-329, 332
Konstruktivismus 218, 235, 376-378, 380, ontologischer Individualismus 251-253
392 Organizismus 340
Kontingenz/doppelte Kontingenz 152, Orthodoxie 142
338, 363, 364f., 368, 374
Konversationsanalyse 96, 105f., 118 paradoxe Effekte 257f., 263f., 268, 273
Krisenexperiment 100, 102, 107 parole 293-295
Kritische Theorie 17, 138-140, 142-144, Phänomen, makro-soziales 20
166 Phänomenologie 76, 79, 81, 93
Kultur- und Sozialanthropologie 38, 298f. Philosophische Anthropologie 56, 190-
Kultur 26, 32, 42, 69f. 135, 137, 154, 163, 193
165, 179, 184f., 187, 191, 195, 231, 296, Play 57
299-302, 345 Poststrukturalismus 75, 181, 209, 291,
Kybernetik 338, 344f., 372, 389, 392 305f., 313
Pragmatismus 25-30, 37, 44, 64, 76, 80,
Labeling approach 18, 67, 69 86, 168
langue 293f. Pragmatistische Zeichentheorie 53
Lebensstile 327f. Praxis 11, 86, 104, 132, 136, 140-143,
Lebenswelt 22, 77, 82-84, 87, 99, 103, 153, 161, 165, 166f., 191, 219, 294,
171, 174-180, 189, 278 309f., 317f., 323f., 330
Legitimierung 88 Primäre Anpassung 114f.
Proto-Soziologie 80
Makrostrukturelle Theorieansätze 18, 66
Mängelwesen 86, 192-195 Rahmen/Rahmung 110, 115f.
Marginal Man 40f., 43, 45 rationale Handlungen 239, 242, 249, 257,
Maximierungsregel oder Optimierungsre- 270
gel 246, 271 Reduktionismus .342
Me 56, 58, 76 Reflexivität 104f., 116
Mechanizismus 340 Reifikation 251
Sachregister 405

Rekonstruktionsthese 256 Strukturelle Kopplung 359


Restriktionen 246, 351 Studies of Work 105
Ritual 59, 70, 108, 110-113, 117, 152, Subjektiver Sinn 78, 324
154f. Subjektivismus 197, 199f., 324, 325, 327-
Rolle 17-21, 24, 41, 52, 57f., 59, 70, 89, 329, 332
94, 114f., 147, 166, 204, 232 Subsinnwelt .91
Rollenspiel 21, 57f., 90, 92 Symbole 40, 49f., 53-55, 64
Rollenübernahme .21, 58 Symbolischer Interaktionismus 45
Symbolsystem 20, 50, 55
Sanktion 20, 68, 232, 249 System 15, 54f., 141, 159, 161, 174-179,
schottische Moralphilosophie 15, 240 185, 187, 189, 235, 262, 270, 281, 292-
Segregation, räumliche 40 297, 303, 310, 314, 320-324, 327, 329-
Sekundäre Anpassung 115 331, 338, 341, 344-348, 349, 361, 363-
Selbstorganisation 337, 346, 355, 356f., 365, 367f., 371, 379, 381-383, 386,
385 388f.
Selbstreferenz[ialität] 359, 363-365, 381 Systemtheorie, strukturfunktionalistische
Selbstzweck 143, 227 13, 17, 23, 191
Self 56 Systemtheorie 338, 339-343, 345, 348,
Semiologie 295f., 322 355, 357-359, 376, 382-385, 388-392
SEU-Theorie 244f., 247, 250, 261, 274,
276, 278, 280-284 Territorium des Selbst 111
Signifikant 294-297, 322 Theatermetapher 112
Signifikante Andere 57f., 90 Totale Institution 112, 114
Signifikante Symbole 49f., 52-54 Transformationsregeln .257f., 261, 277
Signifikat 294-297, 315, 322 Typen des Handelns 78, 170
Sinn 291-295, 297, 301-305, 311, 313f., Typisierung 81, 83f., 89, 101, 103, 203
324f., 331
Sinnkonstitution 0, 83f. Utilitarismus 27f. 44
Sinnkonstruktion 87 Utopie 14, 127, 142, 207, 213
Sozialbehaviorismus 33
Soziale Kontrolle 40 Vergemeinschaftung 36, 189, 205
Soziale Situation 107f., 117, 228 Vergesellschaftung 36, 39, 156, 185,
Soziale Ungleichheit 25, 221 205f., 224f., 228, 234
Sozialer Raum 326 Verstehende Soziologie (sinnverstehende
soziales Dilemma 268, 270f. Soziologie)...25, 43, 76f., 79, 88, 256
Soziales Handeln 55f., 78, 170, 174, 293, Verstehenstradition 23, 60
346 Vielheit 318f., 381
Sozialforschung, positivistische 17, 19 Volk 184f., 187-189, 205, 207
Sozialforschung, qualitative 22 Völkerpsychologie 25, 34
Sozialisation 18, 34, 44, 72f., 105, 118 Vollzugswirklichkeit 103f.
Sozialkonstruktivismus 77
Sozialphänomenologie 80 Wahnsinn/Normalität 67f., 99, 104, 306,
Soziobiologie .243f. 307, 310, 312, 390
Spieltheorie 263-268, 270, 345 Westliche Soziologie 18, 215
strategisches Handeln 170, 263-265, 268, Wissenssoziologie 16, 24, 76f., 85, 88,
273 91f., 94, 118, 208, 217, 358
Struktur ohne Zentrum 312 Wohnsegregation 271, 273
Struktur 15, 292-294, 297, 300, 302-304,
307, 312-315, 317, 325-327, 329f., 332 Zentrierte Interaktion/Nicht-zentrierte
Strukturalismus 13, 53, 76, 128, 291f., Interaktion 112
297f., 301f., 305f., 310-315, 320, 322,
324f., 328, 330, 390
Glossar

„als-ob“-Theorien: ‚as-if theories’; Theorien, an denen festgehalten wird, ob-


wohl sich ihre Annahmen als empirisch falsch erwiesen haben, weil sie dennoch
zu korrekten Vorhersagen führen. (282)

„satisficing“-Prinzip: auch Zufriedenheitsprinzip genannt, Prinzip, nach dem


jemand in einer Entscheidungssituation nur wenige Handlungsalternativen in
Betracht zieht und aufhört, weitere Alternativen zu betrachten, sobald er/sie auf
eine Handlungsalternative stößt, die den Zweck des Handelns erfüllt, ungeachtet
dessen, ob sich bei weiterer Überlegung eine Handlungsalternative gefunden
hätte, die diesen Zweck noch besser erfüllt. (283)

Abduktion: zunächst von Ch. S. Peirce und heute in der qualitativen Sozialfor-
schung betonte Vorgehensweise im Forschungsprozess, die im kreativen Schluss
von einem gegebenen Phänomen auf eine bis dahin unbekannte, also neue all-
gemeine Regel (im Unterschied zu Deduktion und Induktion, bei denen diese
Regel schon bekannt sein muss) besteht. (29)

Account, accountable: für die Ethnomethodologie die Darstellung und Erklä-


rung der Vernünftigkeit des Handelns durch die Handelnden; die Unterstellung,
dass gegebenenfalls auf Nachfrage eine Darstellung und Erklärung der Vernünf-
tigkeit geliefert werden kann. (104f.)

Akteur: lat. für „handelnde Person“; in der Soziologie wird der Begriff verwen-
det, um eine handelnde Einheit zu bezeichnen, bei der es sich um ein Individuum
oder um ein Kollektiv handeln kann. Dem Begriff liegt die Vorstellung eines
autonomen Individuums zugrunde, das sich im Rahmen bestimmter durch die
Umwelt definierter Bedingungen frei für oder gegen eine Handlung entscheiden
kann. (248f.)

Allokation: Allokationsproblem, Begriffe aus den Wirtschaftswissenschaften.


Mit Allokation wird dort die Verteilung der Produktionsfaktoren auf Wirt-
schaftsaktivitäten bezeichnet. Insbesondere die freie Preisbildung auf den Fak-
tormärkten soll für eine optimale Allokation der Produktionsfaktoren sorgen.
Allokationsprobleme treten immer dann auf, wenn das wirtschaftliche Potential
durch eine falsche, weil ineffiziente, Faktorallokation nicht ausgeschöpft wird.
Allokationsprobleme werden in der Volkswirtschaftlehre vor allem in der Preis-
theorie, aber auch beim Vergleich unterschiedlicher Wirtschaftssysteme (Markt-
wirtschaft, Zentralverwaltungswirtschaft, Kriegswirtschaft) behandelt. (221)
408 Glossar

Allopoietische Systeme: sind triviale Maschinen, weil sie nur die einfache Auf-
gabe der Produktion erfüllen können, aber allopoietische Systeme können sich
nicht selbst reproduzieren oder reparieren. (356f.)

Alter Ego: das Gegenüber des Ich in Interaktionen, die Existenz des oder der
Anderen, die ebenfalls als ein bzw. viele Ichs gedacht werden. (82)

Anomie: seit E. Durkheim Begriff für einen Zustand gesellschaftlicher Normauf-


lösung und Desorientierung über geltende Regeln, Werte bzw. Regellosigkeit.
(36)

Anthropologie: Lehre von der Natur des Menschen. Ansatzpunkte für eine sol-
che Lehre können sowohl in biologischen Handlungs- und Verhaltensdispositio-
nen (biologische Anthropologie), in früh- oder vorgeschichtlich entstandenen
Regeln des Handelns (historische Anthropologie) sowie in den jedermann zu-
gänglichen Erfahrungen der Lebenswelt (phänomenologische Anthropologie)
liegen. (219)

Äquilibrium: Gleichgewicht, Gleichgewichtszustand. (349)

Arbeitskonsens: Bezeichnung von E. Goffman für die in Interaktionen zunächst


eingebrachte Unterstellung und Bemühung, Normalität des Selbst und des Ge-
genüber zu unterstellen und Fehler oder Peinlichkeiten zu überspielen. (111f.)

Atomismus: in der Sozialforschung die Theorie, dass alle gesellschaftlichen


Phänomene wie Gruppen, Institutionen, soziale Schichten etc. als die Summe der
Aktivitäten von Individuen anzusehen seien. (340)

Autopoiesis: Ein lebendes System ist durch die Fähigkeit charakterisiert, die
Elemente, aus denen es besteht, selbst zu produzieren und zu reproduzieren und
dadurch seine Einheit zu definieren. (355)

Basisregeln: ethnomethodologischer Begriff für die (teilweise von A. Schütz


übernommenen) Regeln, welche der interaktiven Herstellung von Ordnung in
sozialen Handlungsvollzügen zugrunde liegen. (99)

Behaviorismus: philosophische und verhaltenswissenschaftliche Position, die


menschliches und tierisches Verhalten als Reiz-Reaktions-Mechanismus unter
Absehung von Denkprozessen analysiert. (27f.)

Beobachtung: beobachten zu können, muss eine Unterscheidung das Beobachte-


te vom Unbeobachteten trennen. (372)

Cartesianismus: auf R. Descartes zurückgehende philosophische Position, die


von einer absoluten Trennung zwischen menschlichem Denkvermögen und um-
gebender Welt ausgeht, um Schritt für Schritt die menschliche Fähigkeit zur
Welterkenntnis zu begründen. (79)
Glossar 409

Chicago School of Sociology: die Anfang des 20. Jahrhunderts an der Universi-
tät Chicago insbesondere von W. I. Thomas und R. Park entwickelte soziologi-
sche Perspektive insbesondere der Stadtforschung, in der Überlegungen des US-
amerikanischen Pragmatismus mit derjenigen der deutschsprachigen Verstehen-
den Soziologie verbunden wurden. (22)

Cultural Studies: Kulturwissenschaftliche Disziplin, die sich im Rückgriff auf


literaturwissenschaftliche und sozialwissenschaftliche Vorgehensweisen für die
Bedeutung von Populärkultur, Konsum und Massenmedien in Gegenwartsgesell-
schaften interessiert. (42)

Darstellung (des Selbst)/Vorstellung/Performance: nach E. Goffman sind wir


ständig gezwungen, unser Selbst aktiv darzustellen; wir versuchen dadurch, das
Bild der Anderen von uns zu beeinflussen. (113)

Definition der Situation: Begriff von W. I. Thomas für die Art und Weise, wie
Menschen, Gruppen, Kollektive im Rückgriff auf soziale Deutungsschemata eine
spezifische Situation deuten. (30)
Definitionsversuche utopischen Denkens setzen an dessen fehlendem empiri-
schen Bezug an. Insofern ist Utopie eine „die Realitätsbezüge ihrer Entwürfe
hinsichtlich der theoretischen Begründung und/ oder der praktischen Anwendung
bewusst oder unbewusst vernachlässigende Denkweise“ (Mittelstraß 2004; Bd.
4; 463).

Dekonstruktion: Dekonstruktion ist ein methodisches Verfahren der Textinter-


pretation. (314)
Der Begriff bezeichnet aber nicht nur die Literaturgattung des utopischen Staats-
romans, sondern steht, und das ist für die Soziologie wesentlich wichtiger, auch
für ein damit eng verbundenes Denken über Gesellschaften, das nach Maßstäben
für eine bewusste Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse sucht. Solche
Maßstäbe werden in Entwürfen einer für historisch möglich oder erreichbar ge-
haltenen Gesellschaftsordnung expliziert. Wichtige Impulse kommen aus der
griechischen Philosophie (Platons Politeia), der Annahme einer ursprünglichen
Gleichheit der Menschen (Vertragstheoretiker – vgl. Bd. 1; 13), der Aufklärung
(u.a. Kant), dem utopischen Sozialismus und Anarchismus (u.a. Fourier; Proud-
hon) sowie dem Marxismus. Marx, ansatzweise aber auch Saint- Simon und
Comte gingen davon aus, dass sich Zukunftsprognosen aus der Kenntnis von
Gesetzmäßigkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung anleiten lassen. Dies wird
heute insbesondere unter Rückgriff auf die Evolutionstheorie bestritten (z.B.
Luhmann). Danach ist jede neue Entwicklung prinzipiell zufällig. Daneben ist
kritisiert worden, dass Utopien nur Gesellschaften ohne sozialen Wandel entwer-
fen können (Dahrendorf). Ernst Bloch (Geist der Utopie; München 1918) hält
utopisches Denken für eine Konstante des menschlichen Geistes.

Differenz: Die Einheit von Temporisation, auf später verschieben, und Verräum-
lichung, nicht identisch sein. (315f.)
410 Glossar

Diskursuniversum (universe of discourse): In der pragmatistischen Tradition


Bezeichung für das gemeinsame Symbol, Sprach- bzw. Verständigungsuniver-
sum, das durch ein soziales Kollektiv erzeugt wird. (54)

Doing Gender: Aus der Ethnomethodologie entstandener Ansatz, der sich dafür
interessiert, wie Menschen im praktischen Handeln ihre Geschlechtszugehörig-
keit organisieren. (98)

Dokumentarische Methode: auf K. Mannheim zurückgehende, von der Ethno-


methodologie verallgemeinerte Annahme, dass die Orientierung unseres Handeln
dadurch erfolgt, dass wir Phänomene als ‚Beispiel für dieses oder jenes’, als
Dokument eines Musters deuten, einordnen und permanent justieren. (104f.)

dominante Strategie: Begriff aus der Spieltheorie; Strategie, die unabhängig


davon, was der andere tut, zum besten Ergebnis, d.h. zu einer größeren Auszah-
lung führt, als alle anderen Strategien. (340)

Dramatologischer Ansatz/dramaturgischer Ansatz: u.a. von R. Hitzler be-


nutzter Begriff zur Kennzeichnung des Ansatzes von Goffman. (128)

Einheitserzählung: Die Selbstbeschreibung der modernen Kultur als eines ge-


schlossenen und zusammenhängenden Komplexes von Ideen. (407)

Emergentismus: Theorie, nach der bestehende Phänomene nicht durch vorange-


gangene Phänomene prognostizierbar und nicht auf diese beziehbar sind. (340)

Emergenz: das Hervortreten von qualitativ neuen Eigenschaften auf den höheren
Ebenen eines Systems, die sich nicht aus den Eigenschaften der niedrigen Ebe-
nen ergeben, sondern aus der unterschiedlichen Qualität der höheren Ebene.
(340)

empirische oder erklärende Theorie: auch positive Theorie genannt; Theorie,


die sich auf tatsächlich beobachtete Handlungsentscheidungen oder Handlungen
bezieht. (317f.)

Ensembles/Teams: Bezeichnung von E. Goffman für die gemeinsame Leistung


von Personen bei der Aufführung einer bestimmten sozialen Situation. (108)

Entropie: in der Thermodynamik eigentlich eine Größe, die das Maß der Irre-
versibilität physikalischer Prozesse angibt, in der Informationstheorie ein Maß
der Ungewissheit, der Zufälligkeit (und damit auch der Ordnung) eines Systems,
in der Soziologie der Grad für soziale Ordnung. (358)

Enttraditionalisierung: gesellschaftlicher Prozess, in dem Traditionen ihre


Bedeutung für individuelles Handeln verlieren. (36)
Glossar 411

Ethnologie: interessiert sich für die Lebensweisen und Kulturen „fremder“ Völ-
ker. (38)

Ethnomethoden: die Methoden, durch die kompetente Mitglieder eines sozialen


Kollektivs soziale Ordnung im Handlungsvollzug herstellen und darstellen. (94)

Ethnomethodologie: Von H. Garfinkel u.a. entwickelte Theorie und For-


schungsrichtung, die sich für die Herstellung von sozialer Ordnung in alltägli-
chen Handlungsvollzügen interessiert. (94)

Evolution: allmählich fortschreitende Entwicklung. (342)

Evolutionstheorie: vor allem von Ch. Darwin formulierte Theorie, welche die
Entwicklung des Lebens auf der Erde durch Mechanismen der zufälligen Muta-
tion und der nicht gesteuerten Selektion von anpassungsfähigeren Organismen
erklärt. (37)

Exzentrische Positionalität: nach H. Plessner das menschliche Vermögen, sich


gleichsam von außen, reflexiv denkend auf den eigenen Körper und sich selbst in
der Welt zu beziehen. (86)

Falsifikationismus: Angesichts der Tatsache, dass die Richtigkeit einer Aussage


niemals endgültig beweisbar ist, erhebt der Falsifikationismus die Forderung,
dass jede wissenschaftliche Aussage so formuliert sein muss, dass sie an der
Wirklichkeit überprüft werden und sich ggf. als falsch erweisen kann; es handelt
sich also um ein Verfahren zur Feststellung der Falschheit einer Aussage. (255)

Feld: Das Feld ist der Zusammenhang aller objektiv eine Situation bestimmen-
den Faktoren. (325)

Feministische Theorien: Bezeichnung für von Wissenschaftlerinnen entwickel-


te Theoriepositionen, die sich kritisch mit unhinterfragten Geschlechterstereoty-
pen und Vernachlässigungen der Geschlechterdimension in sozial- und geistes-
wissenschaftlichen Analysen sowie Geschlechterungleichheiten in der Gesell-
schaft beschäftigen. (98)

Footing: Begriff von Goffman zur Bezeichnung des Prozesses der Verankerung
von gerade deswegen möglichen Handlungsweisen in konkreten Situationen.
(132)

Fremdverstehen: bezeichnet nach A. Schütz das Verstehen der Handlungswei-


ßen eines Alter Ego, dessen Bewusstsein mir nicht direkt zugänglich ist. (110)

Freudomarxismus: Bezeichnung für Versuche einer Synthese zwischen Mar-


xismus und Psychoanalyse. Unter den Mitgliedern der Frankfurter Schule waren
insbesondere Erich Fromm (nur in den 30er Jahren) und Herbert Marcuse „Freu-
domarxisten“. Psychoanalytiker (etwa im Umkreis des Frankfurter Sigmund-
412 Glossar

Freud-Instituts), die sich nicht nur für die Einzelschicksale sondern auch für
soziale Ursachen von Psychopathologien interessierten, versuchten eine Verbin-
dung zum Marxismus herzustellen. Psychische Gewaltverhältnisse sollten mit
sozialen und ökonomischen in Zusammenhang gebracht werden. Vergleichbares
gilt für Marxisten, die Kultur und Sozialisation nicht einfach als aus den ökono-
mischen Verhältnissen ableitbare Überbauphänomene ansehen, sondern sich für
die Eigendynamik psychischer Prozesse interessieren. Hier bietet dann die Psy-
choanalyse zusätzliches Erklärungspotential. (148)

Frühbürgerliche Gesellschaft: bezeichnet die durch die Entstehung des Bürger-


tums (bzw. der bürgerlichen Klasse) charakterisierte Phase der beginnenden
modernen Gesellschaft. Der Begriff wird auch als Unterscheidung gegenüber der
durch gemeinsame allgemeine Wertvorstellungen charakterisierten modernen
Massengesellschaft verwendet. Das frühe Bürgertum setzte sich aus drei Schich-
ten zusammen: dem bereits im Mittelalter entstandenen Stadtbürgertum, dem
wirtschafts- und dem Bildungsbürgertum. Das Stadtbürgertum bestand aus selb-
ständigen Handerkern und Kaufleuten, die Anteil an der städtischen Selbstver-
waltung hatten. Das Wirtschaftsbürgertum bildeten wohlhabende Direktoren
oder Eigentümer größerer Wirtschaftunternehmen, Verlage, Bergwerke, Han-
delshäuser usw. Zu den Bildungsbürgern zählten Ärzte, Rechtsanwälte, Beamte,
Professoren, Lehrer, Geistliche usw. (182)

Game: bei G. H. Mead Bezeichnung für Gesellschafts- bzw. Wettkampfspiele.


(57)

Gefangenendilemma: engl.: „prisoner’s dilemma“; Begriff aus der Spieltheorie;


Bezeichnung für ein nicht-kooperatives Zwei-Personen-Nicht-Nullsummen-
Spiel, das eine Form sozialer Dilemmata beschreibt. (266)

Gemeingüter: Güter, von deren Nutzung niemand ausgeschlossen ist oder aus-
geschlossen werden kann. (268)

Gemeinschaft: sozialer Zusammenschluss, der auf Gefühlsbeziehungen, Tradi-


tion usw. beruht. (37)

Generalisierte Andere: nach G. H. Mead die Verallgemeinerung der signifikan-


ten Bezugspersonen im Sozialisationsprozess hin zu einem allgemeinen sozialen
(gesellschaftlichen) Erwartungszusammenhang. (57f.)

Generalthese des Alter Ego: Nach A. Schütz die Annahme, dass es menschli-
che Gegenüber gibt, die „Menschen wie ich“ sind, d.h. die Welt in weitgehend
gleicher Weise erleben und erfahren. (82)

Gesellschaft: sozialer Zusammenschluss, der auf abstrakten Beziehungen (Geld,


Recht u.a.) beruht. (37)
Glossar 413

Geste: wahrnehmbare äußerliche Körperreaktion oder Laut; bei Tieren reflex-


bzw. instinkthaft, beim Menschen in der Regel sinnhaft motiviert. (49)

Glückungsbedingungen (felicity conditions): Begriff von E. Goffman zur Be-


zeichnung der Hintergrundbedingungen erfolgreicher individueller Situations-
bewältigung. (110)

Gouvernementalität: Mit diesem Kunstwort versucht Foucault eine Ausweitung


seiner Fragestellung einzufangen: Ist Gouvernementalität des Staates eine Tech-
nik der Herrschaft vergleichbar den „Absonderungstechniken für die Psychiat-
rie“, den „Disziplinartechniken für das Strafrechtssystem“? (310)

Grounded Theory: Ansatz innerhalb des Symbolischen Interaktionismus, der


von B. Glaser und A. Strauss begründet wurde. Ziel ist die Entwicklung von
Theorien für bestimmte gesellschaftliche Handlungsfelder und Interaktionspro-
zesse aus qualitativen Daten heraus. (73f.)

Habitualisierung: Verinnerlichung einer Art und Weise des Denkens und Tuns,
so dass sie zu selbstverständlicher Routine wird. (88)

Habitus: Ein Habitus ist ein System von Dispositionen, welches das Individuum
prägt. (327)

Handeln: nach M. Weber menschliches Verhalten, soweit es mit einem subjek-


tiven Sinn verbunden wird. (18)

Hermeneutik: Philosophische, in jüngerer Zeit auch sozialwissenschaftliche


Lehre von der Deutung sinnhafter Phänomene, d.h. aller sozialen Gebilde und
„Kulturerscheinungen“. (25)

Heuristik: auch als Daumenregel bezeichnet; Verfahrensregel, der zu folgen


einen Entscheidungs- oder Bewertungsprozess vereinfacht und daher abkürzt.
(279)

Holismus (Ganzheitslehre): die sozialwissenschaftliche Orientierung, die – aus-


gehend vom Satz, das Ganze sei mehr als die Summe seiner Teile – postuliert,
man könne Gebildeaussagen nicht atomistisch in ihre Teile auflösen, sondern nur
in ihrer Ganzheit analysieren.
manchmal auch als methodologischer Kollektivismus bezeichnet; Auffassung,
nach der gesellschaftliche Phänomene als Ganzheiten untersucht werden sollen,
denen eigene, von Individuen unabhängige Gesetzmäßigkeiten zugrunde liegen.
(340)

Homöostase (Fließgleichgewicht): der automatische, selbstregulierende Anpas-


sungsprozess, durch den ein System in der Lage ist, von außen einwirkende Stör-
faktoren auszugleichen und den vor Auftreten des Störfaktors bestehenden Zu-
stand wiederherzustellen. (350)
414 Glossar

I: Nach G. H. Mead neben dem „Me“ eine Komponente des „Self“, welche für
die individuellen kreativen, aktiven Elemente des Ich-Bewusstseins steht. (56)

Idealtypus: von M. Weber entwickeltes methodisches Werkzeug zur Analyse


sozialer Phänomene. (78)

Identität, Ich-, personale, soziale: E. Goffman unterscheidet zwischen zwei


sozialen Identitätsformen, die er als personale Identität (die Art und Weise, wie
Andere die Besonderheit des Individuums bestimmen, beispielsweise durch
einen Fingerabdruck) bzw. als soziale Identität (die Rolle des Individuums und
seine Passung in soziale Erwartungsstrukturen) bezeichnet. Die Ich-Identität ist
das Verhältnis des Individuums zu den Erfahrungen seines Lebenslaufs, seinem
„Charakter“ und seinem Körper. (47)

Indexikalität: die Bedeutung von sprachlichen Äußerungen ist an den konkreten


zeitlichen, räumlichen und situativen Kontext ihrer Äußerung gebunden; die
Ethnomethodologie verwendet den Begriff, um darauf hinzuweisen, dass die
Bedeutung von Handlungen im Rahmen der Situation erschlossen werden muss.
(103f.)

Individualismus/Individualisierung: seit E. Durkheim und G. Simmel bis hin


zu U. Beck Bezeichnung für die zunehmende soziale Bedeutung des einzelnen
Individuums in gesellschaftlichen Zusammenhängen. (33)

Institutionalisierung: Nach P. L. Berger und Th. Luckmann Prozess der „Auf-


dauerstellung“ und Sicherung der Weitergabe von Wissensvorräten. (77)

Interaktion: Bezeichnung für meist wechselseitig aufeinander bezogene Hand-


lungen und Kommunikationen zwischen gesellschaftlichen Akteuren (Individu-
en, Gruppen, kollektive Akteure). (18)

Interaktionsordnung: Bezeichnung von E. Goffman für die sozialen Strukturen


und Muster, welche die direkte Begegnung zwischen Menschen orientieren.
(107)

Interaktionsrituale: Bezeichnung von E. Goffman für die sozial geregelten


Strukturierungen von Interaktionsprozessen. (110)

Interpretation: im Interpretativen Paradigma das soziale Grundphänomen, dass


Individuen die Situationen und die Welt, der sie begegnen, nicht unvermittelt
wahrnehmen, sondern ihren Erlebnissen Bedeutungen bzw. Sinn zuschreiben
müssen. Die Welt ist nur durch solche Sinnzuschreibung erfahrbar. (18f.)

Interpretatives Paradigma: Sammelbezeichnung für soziologische Ansätze,


welche die Deutungsleistungen der handelnden und interagierenden menschli-
chen Akteure betonen und zum Ausgangspunkt soziologischer Analysen ma-
chen. (20)
Glossar 415

Inzestverbot: Das Inzestverbot ermöglicht den Übergang vom Natur- zum Kul-
turzustand des Menschen. Es regelt sexuelle Beziehungen zwischen nahen Ver-
wandten und schießt diese kategorisch aus. (300f.)

Kapital: Kapital ist eine Ressource des Handelns. (330f.)

Karrieremodell abweichenden Verhaltens: Im Symbolischen Interaktionismus


Bezeichnung für die unterschiedlichen Stufen der Abweichung innerhalb einer
Laufbahn von Individuen; Karrieren sind nicht zwangsläufig, sondern enthalten
auf jeder Stufe Ausstiegsoptionen. (67)

Klasse: Eine soziale Klasse wird von Bourdieu bestimmt durch die Zusammen-
setzung und den Umfang des verfügbaren ökonomischen und kulturellen Kapi-
tals. (326)

Kompetente Mitglieder: in der Ethnomethodologie die an den untersuchten


Handlungs- bzw. Interaktionsvollzügen beteiligten ’praktischen Akteure’ sozia-
ler Situationen. (104)

Komplexität: Gesamtheit aller Möglichkeiten, Merkmale. (342)

Konsens, kognitiver: die durch geteiltes Wissen bzw. Sprache vermittelte Über-
einstimmung der Mitglieder eines sozialen Kollektivs darüber, was als wirklich
gilt und wie spezifische Situationen beschaffen sind. (20)

Konstruktivismus: bezeichnet generell Theorierichtungen, die den Begriff der


Konstruktion in den Mittelpunkt stellen. So werden im Bereich der bildenden
Kunst Richtungen konstruktivistisch genannt, die Kunstwerken geometrische
Konstruktionen zugrunde legen. Wenn dagegen in der Soziologie von Konstruk-
tivismus die Rede ist, dann wird in der Regel damit die konstruktive Wissen-
schaftstheorie angesprochen. Hier besagt die Bezeichnung, dass die Gegenstände
(und Gegenstandsbereiche) der Wissenschaft als Konstruktionen, d.h. als Pro-
dukte zweckgerichteten menschlichen Handelns angesehen werden. Der Begriff
bezeichnet hier die wissenschaftstheoretische Position der Erlanger (und Kon-
stanzer) Schule und ist eng mit dem Werk von Kamlah und Lorenzen verknüpft.
Im engeren Sinn geht es bei der konstruktiven Wissenschaftstheorie um das
Programm der Rekonstruktion komplexer Wissenschaftssprachen, bei dem von
deren lebensweltlichen Fundamenten ausgegangen wird. (218)

Kontingenz/doppelte Kontingenz: die Bedingung unvollständiger Interdepen-


denz der Elemente eines Systems. (364f.)

Konversationsanalyse: Anwendung der Ethnomethodologie auf Kommunikati-


onsprozesse. (105f.)

Krisenexperiment: auf H. Garfinkel zurückgehende Bezeichnung für eine


ethnomethodologische Versuchsanordnung, welche Basisregeln der interaktiven
416 Glossar

Ordnungsherstellung bewusst missachtet, um ihren Geltungsgrad zu testen und


Versuche der Wiederherstellung von Ordnung zu beobachten. (100)

Kritische Theorie: von Th. W. Adorno, M. Horkheimer u.a. seit den 1930er
Jahren entwickelter soziologischer Ansatz, der im Anschluss an Marx auf eine
Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse abzielt, die nach theoretischen Maßstä-
ben ausgewiesene Fehlentwicklungen kritisiert und gegebenenfalls Möglichkei-
ten ihrer Überwindung diskutiert. (17)

Kultur- und Sozialanthropologie: interessiert sich in vergleichender Perspekti-


ve für das Gemeinsame und die Unterschiede zwischen menschlichen Kulturen
bzw. Gesellschaften. (38)

Kultur: Bezeichnung für die spezifische, sinnförmige, kollektiv geteilte, mehr


oder weniger integrierte Weisen des Denkens, Verstehens, Bewertens, Handelns
und Kommunizierens in einer Gesellschaft oder einem Kollektiv. (26)

Kybernetik: wissenschaftliche Forschungsrichtung, die vergleichende Betrach-


tungen über Gesetzmäßigkeiten im Ablauf von Steuerungs- und Regelungsvor-
gängen in Technik, Biologie und Soziologie anstellt. (344f.)

Labeling approach (Etikettierungsansatz): Ansatz innerhalb des Symboli-


schen Interaktionismus, der von H. S. Becker u.a. entwickelt wurde und sich vor
allem für abweichenden Verhaltens interessiert, das er als Ergebnis eines gesell-
schaftlichen Definitionsprozesses von Normalität und Abweichung begreift. (67)
langue: Sprache, langue, erfasst das Regelsystem der Zeichenverwendung.
(293f.)

Lebensstile: Lebensstile sind Bündel von Wertvorstellungen, Geschmackspräfe-


renzen, Konsumvorlieben, Gewohnheiten und Mustern der Lebensführung.
(327f.)

Lebenswelt: Bei E. Husserl das Gesamt der Erfahrungshorizonte des menschli-


chen Lebens; nach A. Schütz und Th. Luckmann die erlebbare und erfahrbare
Wirklichkeit des Menschen; die alltägliche Lebenswelt bildet den in der All-
tagseinstellung des gesunden Menschenverstandes von normalen Erwachsenen
als gegeben angenommenen Wirklichkeitsbereich. (82)

Legitimierung: Nach P. L. Berger und Th. Luckmann Prozesse der Rechtferti-


gung von institutionalisierten Wissensvorräten. (88)

Makrostruktureller Ansatz: im Gegensatz zur mikrostrukturellen Forschung


wird hier nach den Entwicklungen und Veränderungen auf der Ebene der Ge-
samtgesellschaft gefragt. (18)

Mängelwesen: Begriff von A. Gehlen zur Bezeichnung der anthropologischen


Verfasstheit des Menschen, der auf dessen geringe biologische Vorbestimmtheit,
Glossar 417

seine Umweltoffenheit und die Bedeutung sozialer Institutionen als Instinkter-


satz abzielt. (86)

Marginal Man: bei R. E. Park Bezeichnung für einen aus Migrationsprozessen


entstehenden neuen sozialen Menschentypus, der sich auf der Grenze zwischen
verschiedenen kulturellen bzw. Gruppenzugehörigkeiten bewegt. (40f.)

Maximierungsregel oder Optimierungsregel: In der Entscheidungstheorie:


Regel, nach der diejenige Handlungsalternative aus dem Set der wahrgenomme-
nen Handlungsalternativen ausgewählt wird, für die der subjektiv erwartete Nut-
zen am größten ist. (246)

Me: Nach G. H. Mead neben dem „I“ eine Komponente des „self“, der Blick,
den ich auf mich durch die Perspektive der Anderen einnehmen kann, also durch
die Art und Weise, wie ich sehe, wie Andere mich wahrnehmen und auf mich
reagieren. (56)

Mechanizismus: Richtung der Naturphilosophie, die Natur, Naturgeschehen


oder auch Leben und Verhalten rein mechanisch bzw. kausal erklärt. (340)

methodologischer Individualismus: Forderung, dass gesellschaftliche Phäno-


mene als unbeabsichtigte Folgen absichtsvollen Handelns individueller Akteure
identifiziert und erklärt werden sollen. (251)

Migration: Bezeichnung für Wanderungsprozesse von Menschen über die Gren-


zen von Nationalstaaten hinweg. (33)

Mikrostrukturelle Ansätze: interessieren sich für Phänomene sozialer Interak-


tion in kleinformatigen sozialen Situationen. (75)

Mind: Bezeichnung von G. H. Mead für die menschliche Bewusstseinstätigkeit


und Fähigkeit zum Symbolgebrauch. (49f.)

Moderne Evolutionsbiologie: Die moderne Evolutionsbiologie betreibt vor


allem Populationsgenetik. Sie versucht die Ursachen für Veränderungen in der
genetischen Ausstattung einer Population zu finden. Die klassische Evolutions-
biologie des 19. Jahrhunderts hatte sich dagegen für die Selektion von Merkma-
len einer Art interessiert und deren Ursache in der „natürlichen Auslese“ identi-
fiziert. Erst seit der Entwicklung der Biochemie kann auf einer Mikroebene die
Evolution der Proteine analysiert werden, die aus Ketten von Aminosäuren be-
stehen. Proteine werden danach unterschieden, aus welchen Typen von Amino-
säuren sie bestehen. Auf dieser Grundlage können Vergleiche zwischen unter-
schiedlichen Arten durchgeführt werden. Mit der Entwicklung der Molekularge-
netik und der Gentechnik ist es weiterhin möglich geworden, die Gene, die die
Proteinsynthese steuern, direkt zu analysieren. (342)
418 Glossar

Moralische Unternehmer: Im Symbolischen Interaktionismus Bezeichnung für


gesellschaftliche Akteure, die sich in „symbolischen Kreuzzügen“ für die Durch-
setzung oder Aufhebung bestimmter Normen und Werte engagieren. (67)

Mythos: (griech. Wort, Rede, Erzählung, Fabel) Bezeichnung für Welterklärun-


gen durch die Existenz und das Wirken numinöser Wesen (z.B. Götter) oder
Kräfte (z.B. Totemismus). Werden Mythen geglaubt, dann geben sie dem Leben
Sinn. Aus der Perspektive der modernen Wissenschaft sind Mythen naive und
vorwissenschaftliche Versuche der Welterklärung, die vielfach direkt der Legi-
timation von Herrschaft und tradierten sozialen Praktiken dienen. Mythologie
bezeichnet die theoretische Verarbeitung des Mythos. In der „Dialektik der Auf-
klärung“ kritisieren Horkheimer und Adorno in vergleichbarer Weise das mit
wissenschaftlichen Mitteln gewonnene Wissen. Dadurch gewinnen Mythen wie
Wissen und perspektivisch auch das Programm der Aufklärung eine durchgängi-
ge Ambivalenz. Sie enthalten sowohl wahre Erkenntnis wie durchschaubare
Legitimation von Herrschaft. Damit verschwimmt die Unterscheidung zwischen
Mythos, Wissen und Aufklärung. (150)

Natürliche Weltanschauung: Begriff der phänomenologischen Tradition für die


Art und Weise, mit der wir uns im normalen Alltagsleben auf die Welt beziehen
(im Unterschied zur wissenschaftlichen Weltanschauung). (81)

Neo-Institutionalismus: von J. Meyer u.a. entwickelter Ansatz, der an die sozi-


alkonstruktivistische Wissenssoziologie anschließt und die kulturelle Kompo-
nente institutioneller Phänomene und Prozesse betont. (92f.)

nicht-individualistische Sozialwissenschaft: Position, nach der es zwar zutrifft,


dass Menschen die einzigen realen Objekte in der sozialen Welt sind, aber es
dennoch möglich und sinnvoll ist, gesellschaftliche Phänomene ohne Rückgriff
auf individuelles Handeln zu erklären. (253)

Nicht-Zentrum der Struktur: Struktur erscheint bei Derrida als ein unab-
schließbarer Prozess des wechselseitigen Verweisungszusammenhangs von Zei-
chen auf andere Zeichen, und weil der Prozess kein Endee finden kann hat er
kein Zentrum (313)

normative Aussage: Aussage darüber, wie etwas sein sollte oder wie etwas
getan werden sollte. Eine normative Aussage setzt eine Richtschnur oder einen
Maßstab, der/dem entsprochen werden sollte. (252)

normative oder präskriptive Theorie: Theorie, die eine Norm oder einen
Handlungsstandard vorgibt, der oder dem entsprochen werden soll. (247f.)

normativer Individualismus: Behauptung, dass die Bedürfnisse und Wünsche


von Individuen gegenüber Kollektivinteressen Priorität haben und daher Präfe-
renzen der Individuen und nicht Repräsentanten von Kollektiven oder gar „der
Glossar 419

Staat“ über Dinge entscheiden sollten, die Individuen betreffen, oder diese Dinge
bewerten sollten. (252)

Normatives Paradigma: soziologische Ansätze, die Handeln durch starre Orien-


tierungen an Rollen- und Normvorgaben erklären (Bsp.: strukturfunktionalisti-
sche Systemtheorie). (20)

Normen: mehr oder weniger verbindliche und mit Sanktionen (Belohnun-


gen/Bestrafungen) verbundene Verhaltensregeln für situationsangemessene Ver-
haltensweisen, die das Verhalten der Individuen orientieren. (20)

Objektivierung: Nach P. L. Berger und Th. Luckmann Prozess der sozialen


Festigung zunächst situativ entstandenen Wissens. (88)

Objektivismus: Der Strukturalismus zielt auf den objektiven Sinn von Struktu-
ren, daher die Kurzbezeichnung Objektivismus. (325)

ontologischer Individualismus: Behauptung, dass die einzigen realen Objekte


in der sozialen Welt Individuen sind, während Kollektive oder Institutionen nur
in den Vorstellungen von Individuen existieren, also keine von ihnen unabhängi-
ge Realität haben. (251)

Organizismus: die biologisierend-organologische Analogie der Gesellschaft und


ihrer Funktionen mit einem Organismus. (340)

Orthodoxie: (griech. Rechtgläubigkeit) bezeichnet im Gegensatz zu Häresie


oder Ketzerei die Übereinstimmung mit der auf den diversen Konzilen fixierten
christlichen Glaubenslehre. Heute wird der Begriff auch sinngemäß auf nichtre-
ligiöse Sachverhalte angewendet. Orthodoxer Marxismus bedeutet beispielswei-
se ein Festhalten an der „reinen Lehre“ des historischen Materialismus, so wie er
von Marx und Engels entwickelt wurde. Bei der außerreligiösen Verwendung
des Begriffs bekommt er einen skeptisch – ironischen Akzent, da ein starres
Festhalten an Theorien immer dem Verdacht des Dogmatismus und des Reali-
tätsverlustes ausgesetzt ist. Neue Entwicklungen, neue Erkenntnisse sowie die
erfolgreiche Kritik auch nur an Teilen einer Theorie erfordern deren flexible
Weiterentwicklung bzw. die Entwicklung neuer leistungsfähigerer Theoriekon-
zepte. Ein starres, gegen jede Kritik resistentes Festhalten an einer Theorie ist
daher eine im Bereich der Wissenschaft unpraktikable Haltung. (142)

paradoxe Effekte: In der RCT: auf der gesellschaftlichen Ebene beobachtbare


unbeabsichtigte Folgen rationalen individuellen Handelns. (257f.)

parole: Sprechen, die Rede, parole, erfasst die individuelle Verwendung des
Regelsystems der Zeichenverwendung. (293)

Phänomen, makro-soziales: soziales Phänomen auf einer hohen gesellschaftli-


chen Abstraktionsebene. (20)
420 Glossar

Phänomenologie: vor allem von E. Husserl entwickelte philosophische Position,


welche die Intentionalität (Gerichtetheit auf einen Gegenstand) des Bewusstseins
und die darin eingebundene Bezugnahme auf Phänomene zum Ausgangspunkt
nimmt, um die Eigenschaften dieser Phänomene zu untersuchen. (76)

Philosophische Anthropologie: Philosophische Richtung, die sich in Auseinan-


dersetzung mit Erkenntnissen der Natur- und Sozialwissenschaften um eine Be-
stimmung grundlegender Wesensmerkmale des Menschen bemüht. (56)

Play: bei G. H. Mead Bezeichnung für das kindliche Rollenspiel. (57)

Poststrukturalismus: Bezeichnung für sehr unterschiedliche Theoriepositionen


(etwa von G. Deleuze, F. Guattari, J. Derrida, M. Foucault u.a.) in der französi-
schen Debatte, die seit Mitte der 1960er Jahre den Strukturalismus kritisieren
und sich in je unterschiedlicher Weise davon absetzen. (75)

Pragmatismus: philosophische Lehre, die Ende des 19. Jahrhunderts von Ch. S.
Pierce, W. James, J. Dewey u.a. entwickelt wurde. Sie betont die enge Verwick-
lung von Denken und Handeln sowie die menschliche Auseinandersetzung mit
der Welt im praktischen Tun. (25)

Pragmatistische Zeichentheorie: begründet von Ch. S. Peirce, betont im Unter-


schied zum Strukturalismus die Bedeutung des Zeichengebrauchs durch Zei-
chennutzer für die Analyse von Sinnzusammenhängen. (53)

Praxis: ein philosophischer Begriff, der die tätige Auseinandersetzung des Men-
schen mit der ihn umgebenden Wirklichkeit bezeichnet. Bei Aristoteles: Betrach-
tung der menschlichen Lebenspraxis unter dem Gesichtspunkt ihres Gelingens.
Das darauf bezogene Handeln gehört zu den Selbstzwecken (s. Selbstzweck). Im
Marxismus wird der Begriff vor allem im Sinne des Erzeugens einer gegenständ-
lichen Welt durch gesellschaftliche Arbeit gebraucht. Daran knüpft die Praxis-
philosophie an. Enge Beziehungen bestehen aber auch zu dem phänomenologi-
schen Begriff der Lebenswelt. (166f.)

Primäre Anpassung: nach E. Goffman Einhaltung der Anstaltsregeln durch


Insassen totaler Institutionen. (114)

Proto-Soziologie: Bezeichnung von Th. Luckmann für die Klärung von Voraus-
setzungen der soziologischen Perspektive. (80)

Rahmen/Rahmung: nach E. Goffman Organisationsprinzipien bzw. Deutungs-


schemata für unsere Wahrnehmung von Situationen und deren Wirklichkeitssta-
tus. (115f.)

rationale Handlungen: Handlungen, die insofern mit einer bestimmten Absicht


bzw. zweckgerichtet ausgeführt werden als sie kurz-, mittel- oder langfristig den
eigenen Zielen, Wünschen oder Bedürfnissen dienen sollen. (242)
Glossar 421

Reduktionismus: die auf der Annahme von Kausalitätsbeziehungen zwischen


verschiedenen Ebenen der Realität beruhende Einstellung, dass Aussagen einer
höheren Ebene durch Aussagen einer niederen Ebene begründet werden können,
in den Sozialwissenschaften der Versuch, Erkenntnisse und Hypothesen zum
Individual- und Kleingruppenverhalten zur Erklärung von Gruppen-, Organisati-
ons-, Kollektiv- und Gesellschaftsverhalten zu benutzen. (342)

Reflexivität: Annahme der Ethnomethodologie, dass die Methoden, durch die in


Interaktionen soziale Ordnung hergestellt wird, zugleich die Methoden sind,
durch sie als vernünftig oder begründbar erscheint bzw. darstellbar wird. (104f.)

Reifikation: Verdinglichung von abstrakten Begriffen; bei der Reifikation wer-


den abstrakte Begriffe behandelt, als seien sie konkrete Dinge und würden unab-
hängig von den individuellen Sprachakten und Denkkategorien existieren, die sie
hervorbringen. (251)

Rekonstruktionsthese: Behauptung, dass alle Kollektivbegriffe anhand von


Individualbegriffen darstellbar sind. (256)

Restriktionen: lat. für Einschränkungen oder Beschränkungen; in der RCT be-


zogen auf die Idee, dass bestimmte Handlungssituationen nur bestimmte Hand-
lungsmöglichkeiten erlauben, die Handlungsmöglichkeiten in jeder gegebenen
Handlungssituation also begrenzt sind. (246)

Ritual: konventionalisierte, symbolisch aufgeladene Regelsysteme oder Codes,


die menschliches Verhalten orientieren; sozial geregelte, strukturierte und sym-
bolisch aufgeladene systematische Abfolge von Handlungen (Bsp: Abendmahl
im christlichen Gottesdienst; religiöse Beerdigungszeremonien); auch als Be-
zeichnung für häufig wiederkehrende alltägliche Interaktionsvollzüge (Bsp. Be-
grüßung). (110)

Rolle: Bündel spezifischer und typisierter Verhaltenserwartungen, die an den


Inhaber einer bestimmten Position gerichtet sind. (17)

Rollenspiel (role making/role taking): Fähigkeit zur aktiven Gestaltung einer


eingenommenen Rolle. (21)

Rollenübernahme (taking the role of the other): Fähigkeit der Personen sich
in die Rolle des Gegenübers zu versetzen. (21)

Sanktion: die auf eine Normerfüllung bzw. eine Normverletzung im Handeln als
Belohnung oder Bestrafung folgende Reaktion Anderer. (20)

schottische Moralphilosophie: aufklärerische philosophische Richtung im 18.


und 19. Jahrhundert in Schottland, die sich u.a. mit Fragen der Psychologie und
der Erkenntnislehre auseinandersetzte sowie spezifische Vorstellungen vom
422 Glossar

geordneten Zusammenleben der Menschen entwickelte, die für die Soziologie


prägend gewesen sind. (240)

Segregation, räumliche: Bezeichnung für die Konzentration spezifischer Be-


völkerungsgruppen in spezifischen Wohnvierteln. (40)

Sekundäre Anpassung: nach E. Goffman Schaffung eines subversiven Neben-


bereichs in totalen Institutionen, in denen sich Insassen als individuelle Identitä-
ten darstellen. (115)

Selbstorganisation: Organisation als eine einschränkende Bedingung angesichts


unbegrenzter und ungeordneter Umweltbedingungen. (356f.)

Selbstreferenz[ialität]: der internen Bezug auf sich selbst. (359)

Selbstzweck: Bezeichnung für solche Zwecke, die nicht nur als Mittel, um be-
stimmte Ziele zu erreichen, verfolgt werden sollten, sondern um ihrer selbst
willen. Sie gelten in der Philosophie als eigentlicher Inhalt des guten Lebens.
Nach Aristoteles gehört hierzu die theoretische Betrachtung. Ansonsten gelten
die Muße, der Genuss, die künstlerische Gestaltung, die Reflexion vielfach als
Selbstzweck. Für Soziologen ist wichtig, dass Kant in seiner Moralphilosophie
Personen als „Zwecke an sich selbst“ (Grundl. Met. Sitten A 66) bezeichnet.
Diese Sichtweise prägt auch (beginnend mit der amerikanischen Verfassung) das
moderne Verständnis der Person und ihrer grundlegenden und unveräußerlichen
Rechte. Sowohl im Marxismus wie auch im Faschismus wird nicht dem einzel-
nen Individuum sondern nur einem Kollektivsubjekt (Faschismus: Volk; Mar-
xismus: Proletariat plus gesellschaftliche Arbeit) ein solcher Selbstzweck zuge-
sprochen. Das ermöglichte es, einzelne Menschen aber auch soziale Kategorien
von Menschen für den kollektiven Selbstzweck zu funktionalisieren und z.B.
deren Tod oder Leiden als Mittel zum Zweck zu kalkulieren oder in Kauf zu
nehmen. (143)

Self: Nach G. H. Mead das Gesamt des Selbst-Bewusstseins, die Identität, die
aus dem Zusammenspiel von „I“ und „me“ entsteht, durch ihre soziale Genese
eine "gesellschaftliche Struktur". (56)

Semiologie: Im Rahmen der Semiologie wird die zweistellige Relation zwischen


Signifikant und Signifikat analysiert. (295f.)

SEU-Theorie: für „subjective expected utility theory“ oder zu Deutsch: „Wert-


erwartungstheorie“ oder „Theorie des subjektiv erwarteten Nutzens“; normative
Entscheidungstheorie, die von L. J. Savage entwickelt wurde und in RC-
theoretischen Erklärungen gesellschaftlicher Phänomene meist den handlungs-
theoretischen Kern bilden. (280)

Signifikant: Signifikant bezeichnet das Lautbild, mit dem ein Begriff ausge-
drückt wird. (294)
Glossar 423

Signifikante Andere: sind nach G. H. Mead die wichtigsten Bezugspersonen der


frühen Kindheit (z.B. Mutter, Vater, Geschwister) anhand derer das Kind die
Kompetenz der Übernahme von Rollen erwirbt. (57f.)

Signifikante Symbole: sind nach G. H. Mead Symbole, die von mehreren oder
allen Mitgliedern einer sozialen Gruppe in gleicher Weise benutzt und verstan-
den werden. (49f.)

Signifikat: Signifikat bezeichnet den Begriff, das Konzept. (294)

Sinn: Im Strukturalismus ergibt sich Sinn nur aus der Relation zwischen Zei-
chen. (291)

Sinnkonstitution: Nach A. Schütz und Th. Luckmann Prozess des Aufbaus


Sinnzuweisungen im Einzelbewusstsein. (83f.)

Sinnkonstruktion: Nach P. L. Berger und Th. Luckmann sozialer Prozess der


Erzeugung und Objektivierung von gesellschaftlichen Wissens- bzw. Deutungs-
beständen. (87)

Sozialbehaviorismus: Selbstbezeichnung von G. H. Mead für seinen Ansatz, bei


dem im Unterschied zum klassischen Behaviorismus die Rolle der Deutungs-
kompetenzen und des Symbolgebrauchs für menschliches Verhalten betont wird.
(33)

Soziale Kontrolle: bei R. E. Park alle Versuche sozialer Kollektive, ihre Ent-
wicklung selbst zu gestalten; sonst eher Begriff für Formen der gesellschaftli-
chen Kontrolle von individuellen Verhaltensweisen. (40)

Soziale Situation: Bezeichnung von E. Goffman für die mehr oder weniger
flüchtige und zentrierte raum-zeitliche Kopräsenz mindestens zweier Personen.
(107f.)

Soziale Ungleichheit: bezieht sich auf die als soziales Problem angesehene un-
gleiche Verteilung von Ressourcen und Zugangschancen zu Positionen in einer
Gesellschaft. (25)

Sozialer Raum: Der soziale Raum ist durch das Volumen und die Struktur des
Kapitals bestimmt. (326)

soziales Dilemma: Situation, in der jedes Individuum aufgrund seines individu-


ell rationalen Handelns ein für sich und die anderen Beteiligten zusammen be-
trachtet schlechteres Ergebnis erzielt als möglich gewesen wäre. (268)

Soziales Handeln: nach M. Weber Handeln, das seinem subjektiven Sinn nach
auf das Handeln bzw. Verhalten Anderer bezogen ist. (78)
424 Glossar

Sozialforschung, positivistische: ein Typus der hypothesentestenden quantitati-


ven Sozialforschung, der sich an der Erkenntnistheorie des logischen Positivis-
mus orientiert und mit standardisierten Vorgehensweisen und Massendaten ar-
beitet. (17)

Sozialforschung, qualitative: eine Form der empirischen Forschung, die sich


auf nicht standardisierte und explorative Vorgehensweisen der Gegenstandser-
kundung stützt, um die Perspektiven und Rollen sozialer Akteure bei der Erzeu-
gung sozialer Phänomene zu erfassen. (22)

Sozialisation: Prozesse, in denen Individuen durch das Erlernen und Erfahren


von Wissen, Handlungsweisen, Kompetenzen des Symbolgebrauchs, Normen
und Werten ihr Selbstverständnis und ihre basalen Handlungsfähigkeiten in einer
Gesellschaft bzw. spezifische Handlungsfähigkeiten in gesellschaftlichen Teilbe-
reichen erwerben. (18)

Sozialkonstruktivismus: Bezeichnung für die wissenssoziologische Theorie von


P. L. Berger und Th. Luckmann, welche die Prozesse der sozialen Konstruktion
von Wissen als Grundlage gesellschaftlicher Wirklichkeit begreift und analysiert.
(77)

Sozialphänomenologie: von A. Schütz begründeter Anschluss an die Phänome-


nologie, in dem die Analyse der sozialen Dimension und Verfasstheit der
menschlichen Welteinbindung im Vordergrund steht (auch: Mundanphänomeno-
logie). (80)

Soziobiologie: widmet sich der systematischen Erforschung der biologischen


Grundlagen des Sozialverhaltens bei allen Arten und Organismen inklusive dem
Menschen. (243f.)

Spieltheorie: mathematische Analyse strategischen Handelns. (263)

strategisches Handeln: Handeln, das die möglichen Handlungsentscheidungen


anderer bei der eigenen Entscheidungsfindung in Rechnung stellt. (263)

Struktur ohne Zentrum: Der Strukturbegriff wird von Derrida mit der Meta-
pher des ortlosen Orts, des ortlosen Zentrums dekonstruiert. (312)

Struktur: Der Strukturbegriff des Strukturalismus erfasst die Beziehung zwi-


schen Zeichen als Struktur. (292)

Strukturalismus: vor allem in Frankreich entwickelte sprachwissenschaftliche


(F. de Saussure) und ethnologische (C. Lévy-Strauss) Perspektive, die Sprache
bzw. Kultur als emergente Systeme begreift, deren einzelne Bausteine sich nur
durch ihre Position bzw. Einbindung in die Struktur des jeweiligen Systems
erfassen lassen; Analysen zielen auf die allgemeine Struktur dieses Systems,
nicht auf die praktische Nutzung etwa im Sprechen und Handeln. (53)
Glossar 425

Strukturelle Kopplung: Systeme können ihre Umwelt nicht nur gemäß eigener
interner Strukturen verarbeiten, sondern können auch ausgewählte Strukturen
dieser Umwelt für sich nutzen. (359)

Studies of Work: Anwendung der Ethnomethodologie auf die Untersuchung


von beruflichen Arbeitsfeldern. (105)

Subjektiver Sinn: seit M. Weber Bezeichnung für den Sinn, den Menschen
selbst mit ihrem Handeln verbinden; Handelnde greifen dabei notwendigerweise
auf soziale Sinn- oder Deutungsangebote zurück. Insoweit handelt es sich, wie
häufig missverständlich angenommen wird, um einen „subjektiv erfundenen“
Sinn. (78)

Subjektivismus: Die verstehende Soziologie rekonstruiert den subjektiv gemein-


ten Sinn einer Handlung, daher die Kurzbezeichnung Subjektivismus. (325)

Subsinnwelt: nach A. Schütz, P. L. Berger und Th. Luckmann gesellschaftlicher


Teilbereich (etwa eine Organisation), in dem eine von der alltäglichen Lebens-
welt unterschiedene Sinnstrukturierung besteht. (91)

Symbole: im Symbolischen Interaktionsmus ganz allgemein alle Zeichen, die


Träger einer über sie selbst hinausweisenden Bedeutung sind. (40)

Symbolischer Interaktionismus: Auf dem Werk von G. H. Mead und der Chi-
cago School of Sociology aufbauende, vor allem von H. Blumer entwickelte
Theorieperspektive, die die Bedeutung des menschlichen Symbolgebrauchs und
der dadurch vermittelten menschlichen Interaktionen für den Aufbau der gesell-
schaftlichen Wirklichkeit hervorhebt. (45)

Symbolsystem: ein abgrenzbarer, mehr oder weniger konsistenter und koherän-


ter Zusammenhang von Symbolen, der durch ein Kollektiv (soziale Gruppe,
Gesellschaft) erzeugt und von ihm zur Verständigung genutzt wird. (50)

System: eine Menge von Elementen, zwischen denen bestimmte Beziehungen


bestehen. (349)

Systemtheorie, strukturfunktionalistische: die soziologische Theorie von T.


Parsons, die Strukturbildungen (Teilsysteme) in der Gesellschaft auf die Not-
wendigkeit der Erfüllung bestimmter Grundfunktionen der Gesellschaftserhal-
tung zurück führt. (17)

Systemtheorie: in der Soziologie die Analyse sozialer Phänomene als Systeme


in Analogie zu den Systemen der Kybernetik und der Informationstheorie. (339)

Territorium des Selbst: Begriff von E. Goffman für den Bereich eines Selbst
(Körper, Körperumfeld, Gegenstände, Räume), der von Anderen nur unter be-
sonderen Bedingungen betreten wird. (111)
426 Glossar

Theatermetapher: E. Goffmans Vergleich des sozialen Lebens mit den Vorstel-


lungen auf einer Theaterbühne. (112)

Totale Institution: E. Goffmans Bezeichung für eine Organisation, die alle Le-
bensvollzüge ihrer Insassen regelt (z.B. Gefängnis, Kloster). (112)

Transformationsregeln: Regeln, nach denen individuelle Handlungen in ein


gesellschaftliches Phänomen übertragen werden. (257f.)

Typen des Handelns: M. Weber unterscheidet idealtypisch zweckrationales


Handeln (seinem subjektiven Sinn nach an Zweck-Mittel-Beziehungen orien-
tiert), wertrationales Handeln (an Werten orientiert), affektuelles Handeln (an
momentanen Gefühlszuständen orientiert) und traditionales Handeln (an Routi-
nen und Traditionen orientiert). Konkretes Handeln entspricht selten diesen
Reinformen; es ist eher eine Mischung aus den genannten Typen. (78)

Typisierung: Nach A. Schütz erfolgt unsere Welterfahrung im Rückgriff auf


sozial typisierte Deutungsschemata, die wir auf unser Erleben beziehen. Typisie-
rung ist der entsprechende Prozess der Zuweisung einer Deutung zu einem Erle-
ben; bei P. L. Berger und Th. Luckmann auch als Begriff eingeführt, der die
Genese eines typisierten Deutungsschemas in Interaktionsprozessen beschreibt.
(83f.)

Utilitarismus: philosophische und ökonomische Lehre, die im Nutzenkalkül und


im Bestreben der Maximierung von Eigenvorteilen die Grundlage menschlichen
Verhaltens sieht. (27f.)

Utopie: Der Begriff geht auf den Engländer Thomas More (latinisiert: Morus)
(1478 – 1535) zurück, der einen fiktiven Bericht über ein ideales Gemeinwesen
verfasste, das er auf einer erfundenen Insel namens Utopia ansiedelte (De optimo
republicae statu, deque nova insula utopia; Löwen 1516). Seine Idee fand im 17.
und 18. Jh. zahlreiche Nachahmer. Im 20 Jh. sind vor allem negative Utopien
entworfen worden (z.B. G. Orwell: 1984). (127)

Vergemeinschaftung: nach Max Weber Bezeichnung für einen Prozess der


Beziehung zu Anderen, der auf Traditionen und gefühlter Zusammengehörigkeit
beruht. (36)

Vergesellschaftung: nach Max Weber Bezeichnung für einen Prozess der Be-
ziehung zu anderen, der auf der Verfolgung von Sachinteressen beruht; in der
Soziologie auch allgemein benutzt für Beziehungen zu Anderen, die durch abs-
trakte Mechanismen (beispielsweise das Geldmedium) hergestellt werden. (36)

Verstehende Soziologie (sinnverstehende Soziologie): seit M. Weber Bezeich-


nung für soziologische Ansätze, welche die Aufgabe der Soziologie in der Un-
tersuchung des „subjektiven Sinns“ sehen, den soziale Akteure mit ihrem Han-
deln verbinden. (25)
Glossar 427

Verstehenstradition: Teilbereich insbesondere der deutschen Wissenschafts-


entwicklung (Geisteswissenschaften) im 19. Jahrhundert, betonte Rolle der
Sinnhaftigkeit kultureller Phänomene, die über Prozesse des Verstehens und der
Deutung erschlossen werden müssen. Die entsprechende Lehre oder Kunst der
Auslegung wird als „Hermeneutik“ bezeichnet. Für die Soziologie wichtige
Überlegungen dazu wurden u.a. von W. Dilthey und M. Weber verfasst. (23)

Vielheit: Vielheit bezeichnet für Lyotard die Verfasstheit einer zerfallenen Ein-
heit der einen Vernunft nach der großen Einheitserzählung der Moderne. (318f.)

Volk: der Begriff kennzeichnet eine bestimmte Bevölkerung in Verbindung mit


einem Kulturraum. Er kommt in der Romantik auf und wird u. a. von Herder
geprägt. Mit dem Begriff werden meistens folgende Merkmale verbunden: Eine
erhebliche Bevölkerungszahl, eine gemeinsame Sprache, ein relativ geschlosse-
nes Siedlungsgebiet, eine politische Einheit und ein Bewusstsein der Zusam-
mengehörigkeit. (184f.)

Völkerpsychologie: von W. Wundt entwickelte psychologische Perspektive, die


sich nicht auf das Individuum richtet, sondern auf die sozialen Kontexte und
Prägungen seiner Denk- und Wahrnehmungsweisen; Vorläufer der Sozialpsy-
chologie. (25)

Vollzugswirklichkeit (doing, ongoing accomplishment): die Stabilität der sozia-


len Ordnung oder Wirklichkeit wird permanent im praktischen Tun der Gesell-
schaftsmitglieder hergestellt. (103f.)

Wahnsinn/Normalität: Wahnsinn kann nur durch Bezug zur Normalität defi-


niert werden, dadurch wird aber umgekehrt auch Normalität in Abgrenzung zum
Wahnsinn definiert. (307)

Westliche Soziologie: eine Bezeichnung, die Teil der Unterscheidung zwischen


einer weltanschaulich auf den Marxismus-Leninismus festgelegten östlichen,
marxistischen Soziologie auf der einen und eben einer westlichen Soziologie auf
der anderen Seite ist. Diese Unterscheidung ist Produkt des „kalten Kriegs“, also
des Ost- West- Gegensatzes zwischen 1947 und 1988. Sie bezeichnet zugleich
aber reale Unterschiede in den Entwicklungsbedingungen der Soziologie. Wäh-
rend die marxistische Soziologie weltanschaulich festgelegt war und auf eine
ideologische Funktion im Kampf zwischen dem fortschrittlichen und dem impe-
rialistischen Lager eingeschworen wurde, konnte sich die westliche Soziologie
im Rahmen eines autonomen Wissenschaftssystems relativ frei entwickeln. (215)

Wissenssoziologie: beschäftigt sich mit den sozialen Bedingungen der Bildung


und Entwicklung von Wissen. Wichtige Vorläufer sind: F. Bacon, A. Comte
(vgl. Bd.1), F. Nietzsche, W. Dilthey, K. Marx und F. Engels. Grundlegende
Ansätze wurden in Deutschland (M. Scheler, K. Mannheim) und Frankreich (E.
Durkheim, L. Lévi-Bruhl) gelegt. Eine bis heute gültige soziologische Grundlage
entwickeln P. Berger und T. Luckmann (Die gesellschaftliche Konstruktion der
428 Glossar

Wirklichkeit 1970). Während die französische Wissenssoziologie auf Interpreta-


tionen ethnologischer Materialien beruht (vgl. insbes. Durkheim 1912: Die Ele-
mentaren Formen des religiösen Lebens Frankfurt 1981; Lévi-Bruhl 1910: Das
Denken der Naturvölker, Wien 1921), knüpft die deutsche Wissenssoziologie an
Probleme des Marxismus an. Mit seiner Unterscheidung zwischen Real- und
Idealfaktoren versucht Scheler (Probleme einer Soziologie des Wissens 1924)
das Basis- Überbau- Theorem des Marxismus (vgl. Bd.1; 61: Sein bestimmt das
Bewusstsein) in eine flexiblere und damit realistischer Form zu bringen. Nach
Max Scheler bilden zwar die Realfaktoren notwendige Voraussetzungen für die
Idealfaktoren, aber sie determinieren sie nicht. Das objektiv Gegebene drückt
sich vielmehr in einer Vielfalt unterschiedlicher Wissensformen. Karl Mannheim
setzt am marxistischen Ideologiebegriff an. Aus der Aussage, dass das Sein das
Bewusstsein bestimme, folgt ein genereller Ideologieverdacht (vgl. den Begriff
des notwendig falschen Bewusstseins bei Marx). Diese Position radikalisiert
Mannheim unter Anknüpfung an Dilthey mit seinem Begriff der totalen Ideolo-
gie zu einer generellen Ideologievermutung. Danach gibt es nicht nur im All-
tagsdenken sondern auch in der Wissenschaft, zumindest im Bereich der Geistes-
und Sozialwissenschaften, kein Ideologiefreies Denken. Damit kann aber jedes
Wissen soziologisch erklärt werden. Dieser soziologische Analyseanspruch wird
später von Berger und Luckmann weiter verallgemeinert. Ihr Konzept der Wis-
senssoziologie beschäftigt sich „mit allem was in der Gesellschaft als Wissen
gilt“ (S.16) und will dessen gesellschaftliche Konstruktion erklären. Damit ver-
abschieden sie die Wissenssoziologie ganz explizit (S.15) von dem erkenntnis-
theoretischen Anspruch Mannheims. Denn Mannheim hatte ja mit seinem totalen
Ideologiebegriff letztlich die Gültigkeit jeder Erkenntnis relativiert. Damit hat er
die Möglichkeiten der Wissenssoziologie sicherlich überzogen, denn aus dem
durchaus plausiblen Nachweis der Standortgebundenheit des Denkens folgt ja
keineswegs, das dessen Ergebnisse ungültig wären. Eine auch heute noch le-
senswerte Einführung in die Wissenssoziologie geben Berger/ Luckmann 1970
in der Einleitung ihres Buches (S. 1-20). (208, 217)

Wohnsegregation: Räumliche Trennung von Bevölkerungsgruppen in Bezug


auf ihren Wohnort. (271)

Zentrierte Interaktion/Nicht-zentrierte Interaktion: Bei E. Goffman Begriff


für die bewusst vorgenommene und über längere Zeit aufrecht erhaltene Interak-
tionsbeziehung zwischen Personen bzw. für die zufällige, flüchtige und vorüber-
gehende Interaktion. (112)
Bildnachweise

Das interpretative Paradigma

William Isaac Thomas


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Robert Ezra Park


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Herbert Blumer
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Howard S. Becker
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Joseph R. Gusfield
privat

Anselm Strauss
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Peter L. Berger
Evangelische Akademie Loccum

Thomas Luckmann
Foto: Sulzer, Salzburger Hochschulwochen

Erving Goffman
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Gesellschaftskritische Theorieansätze

Max Horkheimer
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Theodor W. Adorno
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Herbert Marcuse
picture-alliance/dpa, Fotograf: dpa
430 Bildnachweise

Jürgen Habermas
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Arnold Gehlen
©Universitätsarchiv Leipzig

Helmut Schelsky
picture-alliance/dpa, Fotograf: dpa

Konflikttheorie

Lewis A. Coser
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Ralf Gustav Dahrendorf


©J. H. Darchinger: Quelle: Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit, Archiv
des Liberalismus

Die Theorie der Rationalen Wahl oder „Rational Choice“-Theorie (RCT)

Leonard Jimmie Savage


Quelle: The writing of Jimmie Leonrad Savage: A Memorial Selection. Ameri-
can Statistical Association/Institute of Mathematical Statistics, 1981

Sir Karl Raimund Popper


picture-alliance/KPA/TopFoto, Fotograf: KPA

James Samuel Coleman


©ASA

Strukturalismus/Poststrukturalismus

Ferdinand-Mongin de Saussure
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Claude Lévi-Strauss
picture-alliance/dpa, Fotograf: AFP

Michel Foucault
©Jerry Bauer

Jacques Derrida
©Suhrkamp Verlag
Bildnachweise 431

Jean-Francois Lyotard
Foto: Bracha L. Ettiger

Jean Baudrillard
©Prof. Hendrik Speck, European Graduate School

Pierre Bourdieu
©Suhrkamp Verlag

Soziologische Systemtheorie

Karl Ludwig von Bertalanffy


©Prof. Dr. M. Kawakatsu, Quelle: Homepage Dr. Faubel, Universität Hamburg

Niklas Luhmann
Foto: teutopress

Walter L. Bühl
privat

Kenneth D. Bailey
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Walter F. Buckley
privat

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