Beruflich Dokumente
Kultur Dokumente
GERMANISTISCHE SYMPOSIEN
BERICHTSBÄNDE
Herausgegeben von
Wilfried Barner
XXVII
Inhalt III
Herausgegeben
von Hartmut Böhme
Verlag J. B. Metzler
Stuttgart · Weimar
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
über <http://dnb.ddb.de> abrufbar.
Inhalt
I.
Repräsentationen diskursiver Räume
II.
Räume der Literatur
III.
Literarische Räume
IV.
Die Grenzen und das Fremde
Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 779
Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 783
Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 790
Einleitung: Raum – Bewegung – Topographie IX
Einleitung:
Raum – Bewegung – Topographie
HARTMUT BÖHME
Grenzen und Entgrenzungen, das eigene und das fremde Terrain; Konjunktu-
ren räumlicher Orientierungen, die dem literarischen Feld ›Richtungen‹ und
›Zentren‹ verleihen; Konzepte der Weltliteratur und der Globalisierung sowie
ihrer Komplemente: ›kleine Literaturen‹ und Regionalisierungen. Der Begriff
der ›Literatur‹ wird dabei weit gefaßt. Ihre Verflechtung mit kulturellen Prak-
tiken und Mentalitäten, mit Medien-, Wissenschafts- und Technikgeschichte,
mit sozialen und politischen Rahmenbedingungen spielt dabei eine wichtigere
Rolle als Fragen des literarischen Rangs, der ästhetischen Komplexität oder
der hermeneutischen Interpretierbarkeit.
Obwohl erst unlängst der topographical turn der Kulturwissenschaften,
basierend auf dem für die cultural studies nicht untypischen spatialen Den-
ken, das freilich häufiger mit einer historischen Kurzatmigkeit verbunden ist,
erklärt wurde, gilt für die Literaturwissenschaften, daß Untersuchungen zur
Räumlichkeit der Literatur und in der Literatur seit langem fest etabliert sind,
besonders in der Mediävistik und Frühneuzeit-Forschung.1 Gleichwohl gilt,
daß die Besetzung räumlicher Kategorien durch die rechtskonservative und
nationalsozialistische Geopolitik die Raumforschung nach 1945 mindestens
behindert, wenn nicht diskriminiert hat.2 Langfristig wirkungsvoller war für
die Geisteswissenschaften indes die um 1800 eingeleitete Ablösung topo-
logischer Wissensformen, wie sie im Tableau-Denken der Naturgeschichte
herrschte. Nachhaltig durchgesetzt wurden durch temporalisierende Wissens-
formen, welche die historischen, archäologischen und philologischen Wis-
senschaften formierten.3 Das hat auch dazu geführt, daß die Theorien der
4 Hier nur einige ausgewählte Hinweise: Simmel, Georg: »Soziologie des Raumes«. In:
ders.: Aufsätze und Abhandlungen 1901–1908 (Gesamtausgabe Bd. 7, hg. v. O. Ramm-
stedt) Frankfurt a.M. 1995, S. 132–183. – Führ, Eduard (Hg.): Bauen und Wohnen.
Martin Heideggers Grundlegung einer Phänomenologie der Architektur, Münster u.a.
2000. – Pahl, Jürgen: Architekturtheorie des 20. Jahrhunderts. Zeit-Räume, München
1999. – Giedion, Sigfried: Raum, Zeit, Architektur. Die Entstehung einer neuen Tradi-
tion, Ravensburg 1965. – Prigge, Walter: Zeit, Raum, Architektur. Zur Geschichte der
Räume, Aachen 1986. – Brüggemann, Heinz: Architekturen des Augenblicks. Raum-
Bilder und Bild-Räume einer urbanen Moderne in Literatur, Kunst und Architektur
des 20. Jahrhunderts, Hannover 2002. – Bourdieu, Pierre: »Physischer, sozialer und
angeeigneter physischer Raum.« In: Wentz, Maritn (Hg.): Stadt-Räume, Frankfurt a.M.
1991, S. 25–35. – Burckhardt, Martin: Metamorphosen von Raum und Zeit. Eine Ge-
schichte der Wahrnehmung, Frankfurt a.M. 1994. – Einen sehr guten Überblick bietet:
Löw, Martina: Raumsoziologie, Frankfurt a.M. 2001.
5 Frank, Erich: Plato und die sogenannten Pythagoreer, Halle 1923. – Burkert, Walter:
Weisheit und Wissenschaft. Studien zu Pythagoras, Philolaos und Platon, Nürnberg
1962. – Böhme, Gernot: »Symmetrie: Ein Anfang mit Platon.« In: Symmetrie. Katalog
der Ausstellung Mathildenhöhe; Bd. 1, Darmstadt 1986, S. 9–17.
XII Hartmut Böhme
Universum ist Raumklang.6 Noch bis ins 18. Jahrhundert konnte von Sphä-
renharmonie gesprochen werden. Mit symmetria und symphonia haben wir
die beiden Arten der Homologia, also jenen Logos, der räumliches Zusam-
menstimmen und Gleichmaß des Universums bestimmt. Im menschlichen
Raum-Maß stellt die Architektur jene Technik dar, die durch Gleichmaß und
Zusammenstimmung der Teile den Logos des Bauwerks herausstellt, seine
Raum-Konstruktion, die ebenso technisch wie ästhetisch ist. Dies mag genü-
gen, um daran zu erinnern, daß in Raumkonstruktionen zu denken natürlich
keine Erfindung des jüngst ausgerufenen topographical turn ist, sondern
geradezu der Beginn der Philosophie.
In den Geisteswissenschaften seit 1800 dominierten indes Modelle der Zeit
und Verzeitlichung. Erst in den letzten Jahren erstarkt wieder die Beschäfti-
gung mit dem Raum. Dies hängt sicher auch mit der kulturwissenschaftlichen
Wende der Geisteswissenschaften zusammen. Denn die Kulturgeschichte
beschäftigte sich immer ebenso mit Zeitregimes wie mit Raumordnungen.
Es ist auch hier so wie bei den vielen turns, die den Geisteswissenschaften
abgenötigt wurden: sie stellen weniger eine Wende zu etwas Neuem dar als
den Aufruf zur Erinnerung an verdrängtes oder vergessenes Wissen.
Die traditionelle Dominanz der Zeit über den Raum mag denen, die sich
mit den Raumkünsten, Architektur oder Stadt beschäftigen, seltsam erschei-
nen. Denn neben anderen raumzentrierten Praktiken – wie der Agrikultur,
dem Reisen, dem Verkehr, dem Krieg, dem Tanz, der Skulptur – war es seit
jeher besonders die Architektur, die vielleicht das Zentrum aller räumlichen
Praxen und Künste darstellt.7
Gleichwohl gilt, daß philosophisch der Raum wie ein unreiner Stiefbru-
der der Königin Zeit behandelt wurde, die am ehesten der göttlichen Sphäre
der Zahlen nahezukommen schien. Aber wir sahen schon am Beispiel der
Pythagoreer und Platons, daß dies nicht immer so war und jedenfalls nicht
am Anfang des philosophischen Denkens. Freilich ist wahr, daß nicht erst
im Christentum, sondern schon im Platonismus eine Abwertung von Körper
und Materie begann, mithin des räumlich Verkörperten. Dieses ist notwen-
dig mit jener Sphäre kontaminiert, welche in der europäischen Geschichte
mit dem Dunklen, Unreinen, Niedrigen und Unwahren assoziiert wurde: der
Materie, der Welt der Körper.
Jede Verkörperung – sei es eine solche eines Dinges, eines Lebewesens
oder einer Handlung – trägt zeiträumliche Indizes. Dagegen weisen die wahr-
haft edlen Objekte des Geistes allenfalls einen zeitlichen Index auf – wie etwa
die Ideen –, wenn sie nicht gleich am Zeitlosen selbst partizipieren, wie die
6 Nicklaus, Hans-Georg: Die Maschine des Himmels. Zur Kosmologie und Ästhetik des
Klangs, München 1994. – Hammerstein, Reinhold: Die Musik der Engel. Untersu-
chungen zur Musikanschauung des Mittelalters, Bern 1962.
7 Vgl. dazu Boudon, Philippe: Der architektonische Raum. Über das Verhältnis von
Bauen und Erkennen, Basel/Berlin/Boston 1991.
Einleitung: Raum – Bewegung – Topographie XIII
Zahl. Nur in dem Maß, wie das räumliche Universum an Musik und Zahl
partizipierte, ragte es über das Materielle hinaus ins Göttliche.
Natürlich wissen wir, daß diese Auffassung einem griechisch-christlichen
Vorurteil entspricht, das wahrhaft verkehrt ist. Denn damit wird die Tatsache
auf den Kopf gestellt, wonach jeder kulturelle Akt vor allem eine Form der
räumlichen Einbettung darstellt. Das Wohnen ist die erste Raumnahme,8 und
zuletzt geht es um die kulturelle Einbettung auf der Erde, auf der der Mensch
anders als die Tiere ein peregrinus, ein Unbehauster ist. Kultur – von lat.
colere – heißt darum ›das Anbauen‹, ein spatialisierender Akt, gleichgültig,
ob es sich um Pflanzen oder um Pflanzstädte, coloniae, handelt.9
Es ist der Überlegung wert, ob die Karriere der Digitaltechniken auch
damit zusammenhängt, daß der wachsenden Bedeutung der Raumkategorie
mit dem Virtuellen eine immaterielle Sphäre entgegengesetzt werden konnte,
die erneut einen Triumph der Zeit darzustellen scheint, aber auch einer vir-
tuellen Unsterblichkeit, wie Oliver Krüger jüngst gezeigt hat.10
Doch auch die digitale Welt kommt ohne Anleihen beim Raum nicht
aus – Cyberspace und Interface zeigen dies schon vom Wort her. Reine
Zeittechniken sind transhuman, sie operieren jenseits des Lebendigen. Man
scheitert an der schlichten Tatsache, daß man weder nur in der Zeit noch
nur im Zeitlosen leben kann. Für beides müßte man körperlos sein. Und im
Raumlosen wäre Leben eine bloße Chimäre.
Denn Leben – vom Einzeller bis zur sozialen Organisation – ist zuerst
eine selbstregulierte und dynamische Verkörperung im Raum. Das gilt auch
für die erste Raumkunst, die Architektur im weitesten Sinn. Nicht etwa, daß
Architektur damit anthropomorph verstanden würde, auch wenn es solche
Ansätze gibt. Ich erinnere an Passagen bei Vitruv, in denen dieses men-
sura-hominis-Denken11 vorherrscht. Man muß räumliche Verkörperung durch
8 Ich nehme im folgenden Bezug auf Heidegger, Martin: »Bauen Wohnen Denken.«
In: Vorträge und Aufsätze; 7. Aufl. Pfullingen 1994, S. 139–156. – Vgl. Führ, Eduard
(wie Anm.4). – Vgl. ferner Selle, Gert: Die eigenen vier Wände. Zur verborgenen
Geschichte des Wohnens, Frankfurt a.M. 1994.
9 Vgl. Niedermann, Joseph: Kultur. Werden und Wandlungen eines Begriffs und seiner
Ersatzbegriffe von Cicero bis Herder, Firenze 1941. – Böhme, Hartmut: »Vom Cultus
zur Kultur(wissenschaft). Zur historischen Semantik des Kulturbegriffs.« In: Glaser,
Renate/Luserke, Matthias (Hg.): Literaturwissenschaft – Kulturwissenschaft. Positio-
nen, Themen, Perspektiven, Opladen 1996, S. 48–69.
10 Krüger, Oliver: Virtualität und Unsterblichkeit. Die Visionen des Posthumanismus,
Freiburg im Breisgau 2004. – Historisch dazu: Wertheim, Margaret: Die Himmelstür
zum Cyberspace. Eine Geschichte des Raumes von Dante bis zum Internet, München/
Zürich 2002.
11 Reudenbach, Bruno: »In Mensuram Humani Corporis. Zur Herkunft der Auslegung
und Illustration von Vitruv III im 15. und 16. Jahrhundert.« In: Meier, Chr./Ruberg,
U. (Hg.): Text und Bild. Aspekte des Zusammenwirkens zweier Künste in Mittelalter
und früher Neuzeit, Wiesbaden 1980, S. 651–688.
XIV Hartmut Böhme
Wie wird Raum überhaupt thematisch? Und ist es sinnvoll, von einem Raum
zu sprechen? Sind es nicht immer viele Räume, in denen wir gleichzeitig
leben? Die Kulturwissenschaften sollten sich nicht von einem älteren Trend
der Physik anstecken lassen, einen homogenen, universellen Raum denken zu
müssen. Das hat sich schon in der Physik nicht bewährt, wie man am Schick-
sal des Newtonschen absoluten Raumes ablesen kann.12 Multidimensionalität
des Raumes kann in den Kulturwissenschaften nicht dasselbe bedeuten wie
die n-Dimensionalität in der Physik. Mit Kant den Raum als transzendentale
Form der Anschauung zu verstehen, kann die Mannigfaltigkeit kultureller
Räume auch nicht erfassen.13
Für die Kulturwissenschaften ist hingegen wichtig: Raum und Räumlich-
keit muß, um überhaupt gedacht werden zu können, erfahren werden. Dies
bedeutet: die Bewegungen, die wir mit unserem Körper und als Körper im
Raum vollziehen, erschließen erst das, was wir historisch, kulturell, indivi-
duell als Raum verstehen. Von daher erschließen wir auch, was Bewegung
fremder Körper im Raum ist. Schon diese Ausgangslage produziert eine Fülle
von Raum- und Bewegungskonzepten. Man denke nur an die Aristotelische
Definition der natürlichen Örter und natürlichen Bewegungen, die wir, auf-
gewachsen mit dem Newtonsche Trägheitsbegriff, kognitiv nicht mehr teilen
können. Bewegung kann aber doch vorläufig als eine Bewegung materieller
Körper im Raum bestimmt werden, für die Kraft aufgewendet werden muß.
Eben das gilt im Vakuum und unter Newtonschen Bedingungen nicht. Doch
unter den Bedingungen, denen wir als Körper auf dieser Erde unterliegen,
bedarf jede Bewegung im Raum einer Anstrengung, eines Aufwands an Kraft,
also Arbeit. ›Von selbst‹ bewegt sich nichts; und wenn die Kraft erschöpft ist,
die mich oder etwas in Bewegung hält, kommt der Körper mit Verzögerung,
aber unausweichlich zur Ruhe.
Ich gehe nun davon aus, daß diese recht triviale Erfahrung von Bewe-
gung uralt ist, also von Jägern in der Wildbeutergesellschaft ebenso gemacht
wurde wie von Aristoteles und uns, wenn wir uns von A nach B bewegen.14
12 Vgl. dazu Jammer, Max: Das Problem des Raumes. Die Entwicklung der Raumteorien,
Darmstadt 1980. – Koyré, Alexandre: Von der geschlossenen Welt zum unendlichen
Universum, Frankfurt a.M. 1980.
13 Zur Philosophie des Raums vgl. Ströker, Elisabeth: Philosophische Untersuchungen
zum Raum, Frankfurt a.M. 1965.
14 Es ist eine der Stärken der Anthropologie von Gehlen, daß er die elementaren anthro-
pologischen Bestimmungen vom bewegt-bewegenden Körper herleitet und begründet
(Gehlen, Arnold: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Textkriti-
sche Edition, hg. von Karl-Siegbert Rehberg, Frankfurt a.M. 1993; zuerst 1940). Vgl.
ferner auch: Bollnow, Otto Friedrich: Mensch und Raum; 7. Aufl. Stuttgart u.a. 1994.
XVI Hartmut Böhme
Letzteres kann auch mittels einer Maschine geschehen, ohne daß sich unsere
Begriffe ändern müßten: um Körper ›automobil‹ zu machen, benötigen wir
Kraft-Maschinen, die Energie in Bewegung umwandeln. Wir können uns
selbst als solche Kraft-Bewegungs-Umwandlungs-Maschinen verstehen. Nur
dadurch sind wir in der Lage, uns zu bewegen und Raum zu er-fahren.
Dieses naive Verständnis – das, wie gesagt, physikalisch unzutreffend ist
–, erweist sich als außerordentlich robust. Es läßt sich auch dann nicht auf
Newton ein, wenn dieser bekannt ist: denn wir machen im Gravitationsfeld
der Erde niemals die Erfahrung, daß wir, einmal in Bewegung, im Zustand
eben dieser Bewegung verharren, wenn keine andere Kraft auf uns einwirkt.
»Die Erde als Ur-Arche bewegt sich nicht«, sagt Edmund Husserl 1934.15
Unsere Körper sind mithin so strikt anti-newtonisch wie unsere Sinne anti-
kopernikanisch bleiben, auch wenn wir vom Heliozentrismus wissen: wir
›sehen‹ unter keinen Umständen, daß wir uns um die Sonne drehen. Wahr-
nehmungsästhetisch bleiben wir stets geozentrisch, denn das heißt: im mun-
dus sensibilis leben.
Diese eigentümliche Robustheit nicht-physikalischer Raum- und Bewe-
gungserfahrung läßt nun eine erste Bestimmung erkennen: Raum ist dieje-
nige Größe außer uns, durch die sich oder anderes zu bewegen »Mühe und
Arbeit« bedeutet. Die Dinge lasten. Wir selbst, als homo erectus, erfahren
in jedem Augenblick, daß wir unseren Leib ›aufrecht‹ halten und uns noch
mehr anstrengen müssen, wollen wir den Raum durchqueren. Dies eigentlich
ist der ›Grund‹ des Raumes. Raum ist dasjenige, das die Kompaktheit und
Trägheit, die Widerständigkeit und Schwere der Dinge und unserer selbst
erfahren läßt. Dies ist der Grund, warum ich dagegen argumentiere, Raum
als bloße Form der Anschauung zu konstruieren. Im Raume leben, heißt:
Schwere erfahren. ›Lage‹ und ›Lagerung‹ der Dinge ist die primäre Artiku-
lation des Raumes nach den verteilten Widerständigkeiten, mit denen träge
Körper sich der Bewegung entgegenstemmen. Die Alten nahmen das für
alles an, was nicht dem Himmel angehört: Steine, Berge, Pflanzen, Tiere
und Menschen. Sie alle zeigen ihre je spezifische Widerständigkeit, mit der
– Müller, Klaus E.: Die fünfte Dimension. Soziale Raumzeit und Geschichtsverständnis
in primoridalen Kulturen, Göttingen 1999. – Literaturwissenschaftliche Konsequenzen
aus der realräumlichen Bewegung für die Bewegung des Schreibens zieht Ette, Ott-
mar: Literatur in Bewegung. Raum und Dynamik grenzüberschreitenden Schreibens
in Europa und Amerika, Weilerswist 2001.
15 Als Notiz auf dem Umschlag zu der Abhandlung: Husserl, Edmund: Grundlegende
Untersuchungen zum phänomenologischen Ursprung der Räumlichkeit der Natur. In:
Farber, Marvin (Hg.): Philosophical Essays in Memory of Edmund Husserl. Cambridge,
MA, Harvard University Press 1940, 307–25. Die vollständige Notiz lautet: »Umsturz
der kopernikanischen Lehre in der gewöhnlichen weltanschaulichen Interpretation.
Die Ur-Arche Erde bewegt sich nicht. Grundlegende Untersuchungen zum phänome-
nologischen Ursprung der Räumlichkeit der Natur im ersten naturwissenschaftlichen
Sinne«. (Husserl-Archiv Leuven, Primordiale Konstitution, Signatur D 17)
Einleitung: Raum – Bewegung – Topographie XVII
erst erlernt werden; es entsteht durch das komplexe Wechselspiel von kinäs-
thetischen Erfahrungen bei Bewegungen, Tast- und Greifempfindungen und
dabei erworbenen semantischen Anreicherungen der visuellen Befunde.
Bahnungsräume sind Spuren- oder Indexräume. Kultur heißt: nicht im
amorphen Raum ungegliederter Widerständigkeit oder Glätte zu verharren,
sondern ›Räume‹ zu bilden und zu bauen, sowohl zum Zweck der Bewegung
(Verkehr, Kommunikation) wie der Ständigkeit (Ruhen, Lagern, Wohnen).
Beides sind Räume, die Handlungspotentialitäten codieren, sowohl deren
allgemeine Strukturen (Statik, Befestigung, Schutz versus Öffnung, Bahnung,
Bewegung) wie deren besondere räumliche Qualität für Handlungen (die
räumlichen Einbettungen von Aktionen wie beraten, essen, gebären, Rituale
begehen versus jagen, suchen, sammeln, tauschen, handeln etc.). Beides,
Bewegungsbahnungen wie Ständigkeiten, sind ›Bauwerke‹ (auch wenn sich
z.B. Pfade scheinbar von selbst ›machen‹).19 Kultur ist also zuerst die Ent-
wicklung von Topographien. Das gilt, auch wenn es noch keine ›Graphie‹
im Sinne von Schrift gibt. Auch der Pfad, das Haus, die Route und Routine
von Bewegungen, die Lage, der Speicher, der Acker, die Weide, der Platz etc.
… all dies sind Graphien des Raumes. Graphé ist die Einritzung, Kerbung,
das in Stein Gehauene und in den Stein Gehauene, das Eingegrabene, aber
auch das Bestimmte und Bezeichnete.20
Immer weisen Topographien viele Indexe (›Legenden‹) auf, die auf ver-
schiedene Dimensionen (›Schichten‹) des Raumes referieren und vom Kar-
tenkundigen in Geländebilder und Leiborientierungen übersetzt werden
können. Kulturelle Topographien sind Raumordnungen, in denen wir uns
zwar vorfinden und mit deren Hilfe wir uns ›orientieren‹, navigieren und
agieren. Doch kulturelle Topographien sind zugleich Effekte und Überset-
zungen anderer kultureller Topographien. Mittelalterliche mappae mundi z.B.
integrieren heilsgeschichtliche, mythisch-narrative, legendäre, geographische,
naturkundliche, itinerarische und ekphrastische Dimensionen in einer einzi-
gen Bild-Text-Fläche.
Topographien sind ebenso elementare wie evolutionär ausdifferenzierte
Kulturtechniken, durch welche Kulturen hervorgebracht werden. Topogra-
phien werden dabei abgesetzt von kulturellen Zeitordnungen, wie der Kalen-
daristik, den Weltchroniken, der Weltalterlehre, der Universalgeschichte, dem
Zyklus-Modell, dem Zeitpfeil, den Jahreszeiten, der Uhrenzeit, der Genealo-
gie, dem Lebensalter-Modell etc.. Welche Zeitordnungen in einer Kultur kon-
struiert und herrschend werden, charakterisiert eine Kultur im Unterschied zu
22 Vgl. außer den in Anm. 2 genannten Titeln auch Schmitt, Carl: Der Nomos der Erde
im Völkerrecht der Jus Publicum Europaeum, 3. Aufl., unveränd. Nachdr. d. 1950
ersch. 1. Aufl., Berlin 1988. – Ders.: »Nomos – Nahme – Name.« In: Der beständi-
ge Aufbruch. Festschrift für Erich Przywara, hg.v. Siegfried Behn, Nürnberg 1953,
S. 92–105. – Ders.: Gespräch über die Macht und den Zugang zum Machthaber. Ge-
spräch über den neuen Raum, Berlin 1994.
Einleitung: Raum – Bewegung – Topographie XXI
registers vorgenommen; ihnen allen danke ich herzlich. Herr Oliver Schütze
vom Metzler-Verlag hat in bewährter Professionalität die Produktion des
Bandes begleitet. Besonderer Dank aber gilt Yvonne Kult, die von Beginn
an bis zur Drucklegung mit unverwüstlicher Geduld alle organisatorischen
Probleme löste.
Einleitung 1
I.
REPRÄSENTATIONEN DISKURSIVER RÄUME
Einleitung 3
Einleitung
I.
›Topographie‹ meint das Beschreiben von Orten, aber auch das Be-Schreiben
in oder mit Orten. Orte sind sowohl Gegenstand als auch Medium topo-
graphischen Schreibens und Beschreibens. Die Kartographie ist die in der
Geschichte der Medien abendländischer Wissenskultur am weitesten speziali-
sierte und am höchsten ausdifferenzierte topographische Schreibweise. Doch
ist für die enorme Produktivität des Begriffs der ›Karte‹ (nicht erst) seit dem
sogenannten ›topographical turn‹ in den Kulturwissenschaften gerade das
Spiel der Bezüge zwischen den verschiedenen Sinnen des »Ortes« – als geo-
graphischer, rhetorischer, mnemotechnischer Ort – entscheidend. Die Beiträge
dieser Sektion buchstabieren in unterschiedlicher Weise und mit Bezug auf
ganz verschiedene historische Epochen (vom Mittelalter bis zur Gegenwart)
die verschiedenen Modi dieser Bezüge aus. Das breite Bedeutungsspektrum
des Begriffs ›Topographie‹ – als räumliche Metaphorik, als Verräumlichung
narrativer Verfahren, als topisch organisierte Schrift, als diagrammatische
Anordnung von Daten oder als kartographische Aufzeichnung und Interpre-
tation von Räumen und Geschichte(n) – wird dabei aus der Perspektive der
kartographischen Repräsentation im Spannungsfeld zwischen Ordnung und
Ortung thematisiert.
Ordnung und Ortung können als zwei Pole aufgefaßt werden, zwischen
denen die Karte literatur- und mediengeschichtlich verhandelt wird. Wenn
unter Ordnung die Fragen nach der Repräsentation diskursiver Räume, die
Beziehung zwischen Narration und »Weltbild«, verräumlichter Geschichts-
philosophie oder Heilsgeschichte fallen, so sammeln sich unter dem Stich-
wort Ortung Fragen der Orientierung, der Navigation, der kartographischen
Deixis, der Spaltung und »suture« von sujet d’énoncé und sujet d’énonciation
im Prozeß der realen oder imaginären Reise. Weniger steht dabei die Frage
nach dem Kartographischen der Literatur im Vordergrund als die nach der
Literarizität der Kartographie.
4 Bernhard Siegert
II.
Eine historische Typologie der Karte, die nicht in eins mit einer (unmöglichen)
chronologischen Abfolge zu setzen ist, könnte zum Teil die Dimensionalität
von kartographischen Repräsentationsformen als Unterscheidungskriterium
1 Nach Goodman sind Karten Diagramme eines hybriden Typs, bei dem sich analoge
und digitale Daten vermischen. Vgl. Goodman, Nelson: Sprachen der Kunst. Entwurf
einer Symboltheorie. Übers. v. Bernd Philippi. Frankfurt a.M. 1995, S. 163.
2 Vgl. Krausse, Joachim: »Informatie in één oogopslag. Over de geschiedenis van dia-
grammen/ Information at a glance. On the history of the diagram«. In: OASE. Tijd-
schrift voor architectuur, Nr. 48 (1998), S. 19.
3 Vgl. Aristoteles: Physik. In: ders., Philosophische Schriften. Hamburg 1995, Bd. 6, v,
3.
Einleitung 5
von historischen Kartentypen nutzen, zum Teil aber auch die verschiedenen
»Semiosphären«, die auf verschiedenen Kartentypen dominieren.
Antike Segelhandbücher (Periploi) und Itinerare wie die im Jahre 1508
von Konrad Peutinger aufgefundene und nach ihm benannte römische Stra-
ßenkarte, die Tabula Peutingeriana, basieren auf dem Prinzip der Liste und
stellen damit eindimensionale Kartentypen dar. Auch Pilgerkarten wie die
zum Heiligen Jahr 1500 von Erhard Etzlaub publizierte »Romweg-Karte«
sind im Prinzip Itinerarkarten.4 Der in Stationen und Tagesreisen unterteilte
Weg ist hier das die Lektüre und den Gebrauch strukturierende Prinzip. Im
Mittelmeerraum knüpfen ab dem späten 13. Jahrhundert die sogenannten Por-
tolane an die Tradition der Periploi an. Mit dem Begriff »Portolan« bezeichnet
man zunächst Küsten- und Reisebeschreibungen, die genaue Angaben über
Häfen, Ankerplätze und Entfernungen enthalten. Die italienischen und kata-
lanischen Portolankarten basieren sehr wahrscheinlich auf diesen Beschrei-
bungen. Sie entstanden aber erst um 1300. Mit wenigen Ausnahmen stellen
sie fast immer den Mittelmeerraum dar. Diese Karten lassen noch deutlich
die Logik der eindimensionalen Orientierungsmedien erkennen, markieren
aber bereits den Übergang von Ein- zu Zweidimensionalität, der auf die Ein-
führung des Kompasses in die Mittelmeerseefahrt zurückzuführen ist.5 Diese
planen Seekarten tragen alle ein Kompaßrosennetz, d.h. von einem beliebigen
Punkt der Karte geht ein Rhumbennetz in alle 16 (oder 32) Windrichtungen
aus und trifft am Rande auf ein kreisförmig angelegtes Kompaßrosensystem.6
Kulturtechnisch wird durch die Kopplung von Kompaß und Portolan-Karte
die Fläche – das Mittelmeer – eingeführt in das Mediendispositiv der gleich-
zeitig mit dem Kompaß und den Portolan-Karten in Italien aufkommenden
doppelten Buchführung. Die Portolan-Karten sind also nicht unabhängig von
der Entwicklung des ökonomischen Handelns zu sehen.
Einen ganz anderen Kartentyp des Mittelalters stellen die sogenannten
T-O-Karten dar.7 Zur geographischen Orientierung bieten diese Schemata nur
wenige Anhaltspunkte: der äußere Ring stellt den Okeanos dar, das ihm einge-
zeichnete T die Flüsse Don und Nil, während die obere Hälfte Asien und die
beiden unteren Viertel Europa und Afrika darstellen sollen. Die Topographie
dieses Schemas ist allerdings im wesentlichen keine geographische, sondern
eine symbolische: Das O bezeichnet den orbis, das T das Kreuz Christi,
4 Vgl. Krüger, Herbert: »Das Heilige Jahr 1500 und Erhard Etzlaubs Romweg-Karte«.
In: Erdkunde 4 (1950), H. 3/4, S. 137–141.
5 Vgl. Lane, Frederic C.: »The Economic Meaning of the Invention of the Compass«.
In: The American Historical Review 68 (1963), No. 3, S. 605–617.
6 Vgl. Granzow, Uwe: Quadrant, Kompass und Chronometer. Technische Implikationen
des euro-asiatischen Seehandels von 1500 bis 1800. Stuttgart 1986.
7 Vgl. Woodward, David: »Medieval Mappaemundi«. In: Harley, John B./Woodward,
David (Hg.): The History of Cartography. Vol. I: Cartography in Prehistoric, Ancient
and Medieval Europe and the Mediterranean. Chicago/London 1987, S. 286–370.
6 Bernhard Siegert
während die Dreiteilung der Welt den drei Söhnen Noahs zugeordnet wird.
Am Kreuzungspunkt des T, in der Mitte der Welt, liegt Jerusalem. Auch die
komplexen mittelalterlichen mappaemundi basieren auf diesem T-O-Schema;
es sind piktorale Karten, wo der Raum ein Geflecht oder Kalkül von Topoi
ist. Ihre Topographie ist eine Art »Örter-Schrift«, die kein geographisches
Wissen vermittelt, sondern heilsgeschichtliche Narrative verräumlicht.
Als die Portugiesen begannen, um Afrika herum nach Indien zu fah-
ren, gerieten sie in eine andere Welt und bekamen es mit den Dimensio-
nen des 3-D-Raumes zu tun. Da im Mittelmeer die Entfernungen zwischen
den verschiedenen Küsten nicht so groß sind, ist die Abweichung zwischen
gezeichnetem Kompaßstrich und Schiffskurs unbedeutend. Die Portolan-Kar-
ten konnten daher das Mittelmeer als eine ebene Oberfläche behandeln. Bei
der Übertragung dieser Darstellungsart auf den Atlantik und den Indischen
Ozean mußte man hingegen auf die Krümmung der Erdoberfläche Rücksicht
nehmen.8
Die Wiederentdeckung der Geographie von Claudius Ptolemäus, die
1406 erstmals aus dem Arabischen ins Lateinische übersetzt wurde, legte
die Grundlagen für die Projektionsmethoden der neuzeitlichen Kartographie,
die auf einem Netz aus Breiten- und Längengraden beruhen. 1569 präsen-
tierte Gerardus Mercator in Duisburg seine winkeltreue Zylinderprojektion in
Gestalt einer Weltkarte in achtzehn Blättern.9 Die analytische Eloquenz der
strengen euklidischen ratio von Punkt, Linie und Fläche errichtete eine objek-
tivistische Vision der Welt, die sich anschickte, die mythischen, literarischen
und theologischen Topoi dem homogenen euklidischen Raum unterzuordnen.
Mit der Auffassung der Längengrade als temporale Distanz ordnen eukli-
dische Karten jedoch die topischen Narrative auch einer chronometrischen
Zeit unter. Karten werden graphische Medien der Raum-Zeit-Koordinierung,
wenn geographische Längen nicht mehr als territoriale Distanzen, sondern als
Zeitdistanzen gelesen werden. Dann wird die Karte zugleich ein Diagramm,
dessen Ordinaten räumliche Distanz bezeichnen, deren Abszissen jedoch spa-
tiale Distanzen als temporale identifizieren, nicht nur metaphorisch, sondern
auch chronometrisch.
Für die kulturwissenschaftliche Analyse von Kartographien ist aus der
Kartographiegeschichte vor allem zu lernen, daß die neuzeitliche Karte euro-
päischen Typs nicht am Ende einer Evolution oder Stufenleiter von histori-
schen Kartentypen steht. Vielmehr konvergieren in ihr die Semiosphären des
Piktoralen der mappaemundi, der Benennung der Portolane und des eukli-
dischen Rasters der ptolemäischen Geographie. Damit konvergieren aber
zugleich auch verschiedene Kulturen der Karte.
III.
in ein neues Spiel der Zeichen eintreten.13 Die Techniken der Karte, die
kartographischen Verfahren, erzeugen allererst als ihr Korrelat ein Subjekt.
Ein solcher Ansatz, der medienhistorische und diskursanalytische Methoden
miteinander verbindet, sieht in der Karte also in gleich zweifacher Hinsicht
keine Repräsentation: weder im denotativen Sinne noch im Sinne einer Spie-
gelung der kulturellen Prädispositionen des Autorsubjekts. Stattdessen geht
es darum zu rekonstruieren, wie mit dem Wandel der kartographischen Ver-
fahren Ordnungen der Repräsentation eingerichtet und transformiert werden,
in deren Aufriß sich Körper, Zeichen, instrumentelle Techniken, geometrische
und analytische Codes und Subjekte konstellieren. Statt kulturelle Prädispo-
sitionen zu repräsentieren, liefert sie die Grundlage dafür. Das, womit im
hermeneutischen Ansatz Karten gedeutet werden, also das Interpretament,
ist im diskursanalytisch-medienhistorischen Ansatz das Interpretandum, also
das, was zu deuten aufgegeben ist. Repräsentation wird hier nicht voraus-
gesetzt und sozusagen vor die Klammer der Interpretation gesetzt, sondern
als ein historisches Datum genommen, das selbst ein Ereignis innerhalb der
Geschichte der kartographischen Ordnungen darstellt. Karten erscheinen so
als Quellen einer Geschichte der Repräsentation und nicht als Repräsentatio-
nen einer Geschichte der Intentionen und ihren kulturellen Bedingungen.
Ein dritter Ansatz, der zwischen dem hermeneutischen-kognitionstheore-
tischen und dem medienhistorisch-diskursanalytischen steht, wäre ein phäno-
menologisch-grammatologischer Ansatz, der an die Arts de faire Michel de
Certeaus anschließt.14 Räume sind für de Certeau bezogen auf das Handeln
eines leiblichen Subjekts. Die Bewegungen dieses Subjekts verweisen aber
nicht wie in der hermeneutischen Tradition auf die Intentionen eines kulturell
prädisponierten Bewußtseins, sondern auf eine Rhetorik – auf Figuren der
Rede, die sich in den stummen Praktiken realisieren. Die Phänomenologie de
Certeaus ist auf diese Weise grammatologisch gebrochen: Mögliches Handeln
schreibt sich immer schon in die Bewegung eines Textes ein, der unablässig
neu gewebt und wieder aufgeknüpft wird. Die phänomenologische Heran-
gehensweise verkennt zwar allzu leicht, daß das In-der-Welt-sein nicht von
einem sich selbst unmittelbar gegebenen leiblichen Dasein hervorgebracht
wird, sondern daß dieses Dasein sich selbst erst durch Kulturtechniken gege-
ben wird, an die es sich – so wie das Ich an den Spiegel – schon immer ver-
loren hat. Trotzdem: Übertragen auf die Kartographie macht dieser Ansatz
ein neues Forschungsfeld sichtbar: das konkrete Handeln mit Karten, die
konkreten Gesten, die von Karten herausgefordert werden und ihren per-
13 Vgl. die für diesen Ansatz exemplarische Studie von Schäffner, Wolfgang: »Schauplatz
der Topographie. Zur Repräsentation von Landschaft und Körper in den Niederlanden
(1550–1650)«. In: Müller, Jan-Dirk (Hg.): ›Aufführung‹ und ›Schrift‹ im Mittelalter und
Früher Neuzeit (= Germanistische Symposien, Berichtsbände XVII). Stuttgart/Weimar
1996, S. 596–618.
14 Vgl. Certeau, Michel de: Kunst des Handelns. Übers. v. Ronald Voullié. Berlin 1988.
Einleitung 9
formativen Kontext bilden, seien es die Gesten der Macht oder die Gesten
der Orientierung, als stummes Exerzitium einer symbolischen Ordnung zu
»lesen«. Karten wären dann historisch je und je Resultate eines Widerstreits
zwischen den Bedingungen, die eine Rhetorik bzw. Tropik des Handelns den
Möglichkeiten des Mediums auferlegt, und umgekehrt den Bedingungen, die
die jeweilige medientechnisch und diskursiv manifeste episteme den Mög-
lichkeiten einer Tropik des Handelns auferlegt.
IV.
15 Vgl. Cassirer, Ernst: Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil: Das my-
thische Denken. Darmstadt 61973, S. 105.
16 Vgl. Schäffner (Anm. 13), S. 597.
17 Weigel, Sigrid: »Zum ›topographical turn‹. Kartographie, Topographie und Raumkon-
zepte in den Kulturwissenschaften«. In: KulturPoetik. Zeitschrift für kulturgeschicht-
liche Literaturwissenschaft 2 (2002), S. 151–165, hier: S. 165.
10 Bernhard Siegert
Spur, wie de Certeau betont hat, Spur nicht-diskursiver Praktiken. Als solche
manifestieren sie »die (unersättliche) Eigenart des geographischen Systems,
Handeln in Lesbarkeit zu übertragen.«18
2. Mit oder auf Karten reisen, heißt ständig zwischen carte und par-
cours hin und her zu springen. Was dabei geschieht, läßt sich mit einem
Begriff von Jacques Lacan als »suture« beschreiben: als eine »Vernähung«
von Subjekt der Äußerung und Subjekt der Aussage. Im typischen Fall der
kartographischen Deixis, also im Fall der Geste des Fingers, der auf einen
Punkt der Karte zeigt, verbunden mit der Äußerung »wir sind hier«, wird die
Spaltung offensichtlich, welche Karten den Subjekten, die mit ihnen umge-
hen, antut. Das Subjekt spaltet sich von seiner Leiblichkeit und projiziert
sich in den Raum des parcours, um anschließend wieder in den Raum der
carte zurückgeworfen zu werden. Zum Oszillieren kommt das diskontinu-
ierliche Hinein- und Herausversetzen des Subjekts in die Karte bzw. vor die
Karte schließlich bei den interaktiven Karten wie sie im digitalen Zeitalter
entwickelt worden sind.
3. Karten sind widerstrebende Fügungen von analogen und digitalen Zei-
chen.19 Die analogen Zeichen machen sie operativ, die digitalen informativ.
Analoge Zeichen gelten in semiotischer Terminologie für »natürlich«, digitale
für »konventionell«. Die Karte des Bellmans in Lewis Carrolls The Hunting
of the Snark stellt in dieser Hinsicht den Grenzwert einer absolut operativen
und transkulturellen Karte dar. Da die Crew nicht nur Meridiane, sondern
auch »Nordpole«, Kaps und Inseln für konventionelle Zeichen erklärt, ist der
»perfect and absolute blank«, den der Bellman beschafft hat, eine für alle
verständliche, wenn auch nutzlose Karte.20
4. Die Karte ist aber auch eine widerstrebende Fügung verschiedener
»Semiosphären«. Die Karte bringt heterogene Orte zusammen: die von der
antiken Wissenschaft überlieferten Zeichen (die Geographie des Ptolemäus)
und die von den Segelhandbüchern des Mittelalters überlieferten Zeichen,
die aus der Praxis der Seeleute stammen.21 Boelhower hat im Anschluß an
die Überlegungen de Certeaus die Kategorien der kartographischen Zeichen
von zwei auf drei erweitert: das Ikon, das naming und die Linie bzw. das
Cerebrale Räume.
Internalisierte Topographie in Literatur und Kartographie
des 12./13. Jahrhunderts
(Hereford-Karte, ›Straßburger Alexander‹)
Die rhetorische Perspektive, in die Quintilian die topographia stellt, zeigt den
Begriff in einer Fluchtlinie mit anderen »bildgebenden Verfahren«1 sprachlich
hergestellter Evidenz.
›Locorum quoque dilucida et significans descriptio eidem uirtuti adsignatur a quibus-
dam, alii τοπογραφαν dicunt.‹2
Im System der ›Institutio oratoria‹ wird die topographia als Spezialfall der
Hypotypose behandelt. Sie gehört zu den Figuren, die die Form des Rede-
gegenstandes so in Worten ausprägen, daß es eher scheint, man könne die
Sache tatsächlich vor sich sehen, als daß man von ihr nur hörte. Unter der
Stilqualität (uirtus), von der im Zitat gesprochen wird, versteht Quintilian
entsprechend die sub oculos subiectio, ein Vor-Augen-Stellen, durch das auf
etwas Ungeschehenes beziehungsweise räumlich und zeitlich Unverortbares
hingewiesen wird, dies aber mit solcher Intensität, als habe es dennoch statt-
gefunden und sei dem Hörer vor seinem inneren Auge gegenwärtig.
Rüdiger Campe führt in seinen Überlegungen zum »Rahmen rhetorischer
Bildgebung«3 die Hypotypose als ein Kippphänomen vor: Sie ist zugleich
Figur und Prinzip rhetorischer Figuration. Dabei bewegt sie sich zwischen
sprachlicher Verbildlichung (Metapher, Analogie) und systematisch-episte-
mologischer Darstellung dessen, wie Verbildlichung überhaupt zu denken
sei. Während das metaphorische Vor-Augen-Stellen die Anschaulichkeit der
Bilder auf das Feld der Wortzeichen überträgt, aktualisiert der erweiterte
Begriff des Vor-Augen-Stellens die elementare Arbeit, die am Zeichen gelei-
stet werden muß, damit es für die Wirkung auf den Wahrnehmungsschema-
tismus des Hörers oder Lesers präpariert werden kann. Die Übertragung des
Bildes ins Zeichen kommt dabei im Zuge des Erzählens zur Evidenz (evi-
dentia), das Prinzip des Verbildlichungsprozesses dagegen mittels einer »von
vornherein gerahmte[n] Stelle erzählender Beschreibung«4 zur ekphrastischen
Darstellung (hypotyposis). Erzählung und Beschreibung unterscheiden sich
also keineswegs kategorial voneinander. Sie beziehen sich beide auf das
Vor-Augen-Stellen, nur auf unterschiedlichen Ebenen: Die narratio fügt dem
Zeichen energeia hinzu, die Fähigkeit und Dynamik, sich in der Imagina-
tion der Rezipienten zu verlebendigen; die descriptio erweitert das Erzählen
um enargeia, den in der detaillierten Beschreibung transparent gemachten,
erzählend entfalteten und rhetorisch intensivierten Prozeß der Wahrnehmung
selbst. Insofern gilt: »›Energeia‹ entstammt der Metapherntheorie, ›enargeia‹
gehört zur Erzähltheorie.«5
Wie speziell diese antiken, neuzeitlichen oder postmodernen Theoreme
zur Hypotypose und ihrer topographischen Spielart auch erscheinen mögen,
so elementar sind sie doch für das Konzept »Rhetorik« insgesamt. Sie sind
selbst dort am Werk, wo die expliziten Termini fehlen. Denn »Evidenzmangel
und Handlungszwang sind die Voraussetzungen der rhetorischen Situation.«6
Deshalb läßt sich zwar für die Schulpoetiken des 12. und 13. Jahrhunderts
feststellen, daß dort weder von topographia noch von evidentia, geschweige
denn von hypotyposis die Rede ist. Doch darf man daraus nicht den Schluß
ziehen, daß im Mittelalter eine Kenntnislücke in bezug auf diesen Figu-
renkomplex und seine grundlegende Bedeutung klafft. Im Gegenteil trägt
die mittelalterliche Rhetorik dem Problem künstlicher Evidenz systematisch
Rechnung, indem sie mit Blick auf ihre vorrangige Aufgabe, die Bearbeitung
vorgefundener Materien, Gedankenfiguren wie descriptio, imago, effictio oder
7 Vgl. die Aufstellung der Wort- und Gedankenfiguren bei Faral, Edmond: Les Arts Poé-
tiques du XIIe et du XIIIe Siècle. Recherches et Documents sur la Technique Littéraire
du Moyen Âge. ND der Ausg. Paris 1924. Genf/Paris 1982, S. 52–54.
8 Gallo, Ernest: The Poetria nova and its sources in early rhetorical doctrine. Den Haag
1971 (De proprietatibus litterarum; seria maior 10). Übersetzung: »An siebter Stelle
folgt die prägante Beschreibung in Worten / zum Zweck der Erweiterung (dilatatio)
des Werks. [...] / Die folgenden Beispiele sollen mit neuen Figuren variiert werden, /
damit unter vielgestaltigen Dingen Auge und Ohr sich ergehen.«
9 Grundlegend Worstbrock, Franz Josef: »Dilatatio materiae. Zur Poetik des ›Erec‹
Hartmanns von Aue«. In: Frühmittelalterliche Studien 19, 1985, S. 1–30 sowie ders.:
»Wiedererzählen und Übersetzen«. In: Haug, Walter (Hg.): Mittelalter und Frühe
Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze. Tübingen 1999 (Fortuna Vitrea; 16),
S. 128–142.
10 Man könnte auch sagen, daß unter der Leitdifferenz abbreviatio – dilatatio materiae
das Bewegungsprinzip der energeia (in bezug auf das Wort) und das Detaillierungs-
oder Gradierungsprinzip der enargeia (in Bezug auf das Bild) wieder zusammentreten
in der Intensivierung metaphorisch und narrativ angestoßener innerer Bildproduktion.
11 Vgl. zu diesem Konzept Scheuer, Hans Jürgen: »Bildintensität. Eine imaginationstheo-
retische Lektüre des Strickerschen Artus-Romans ›Daniel von dem Blühenden Tal‹«.
In: ZfdPh 124, H. 1 (2005), S. 23–46.
Cerebrale Räume 15
xion des Kartenbildes stammen aus dem 13. und 14. Jahrhundert: zum einen
aus den ›Otia imperialia‹ des englischen Klerikers Gervasius von Tilbury
(um 1152 – nach 1220), zum anderen aus dem Prolog zu ›De mappa mundi‹,
einer Schrift im Rahmen der Universalchronik ›Satyrica historia‹ des Vene-
zianers Paulinus Minorita (um 1270 – 1344).12 Aufschlußreich erscheinen
diese Zeugnisse dadurch, daß ihre Formulierungen sich in den rhetorischen
Diskurs um das Herstellen artifizieller Evidenz bruchlos einfügen. So recht-
fertigt Gervasius Emendationen einer Karte damit, daß der Kartenmaler dazu
verpflichtet sei, nur die reine und einfache Wahrheit abzubilden – wie nach
dem ›Decretum Gratiani‹ der Zeuge vor Gericht: pictor, ut alias testis.13
Die Herstellung der kartographischen pictura tritt damit in Analogie zum
Grundmotiv rhetorischer Produktion von Evidenz: zur Überzeugungskraft
des künstlichen Beweises im Gerichtsverfahren.
Paulinus Minorita äußert sich noch deutlicher, indem er in seiner Argu-
mentation von der pragmatischen auf die elementare wahrnehmungstheore-
tische Ebene überwechselt:
Sine mappa mundi ea, que dicuntur de filiis ac filiis filiorum Noe et que de IIIIor
monarchiis ceterisque regnis atque provinciis tam in divinis quam in humanis scrip-
turis, non tam difficile quam impossibile dixerim ymaginari aut mente posse conci-
pere.14
Die visuelle Präsenz einer Weltkarte sichert die Wirkung auf die Imagina-
tion des Betrachters (ymaginari) und prägt sich ihm als mentales Bild ein
beziehungsweise als aktualisiertes Gedächtnisbild in seiner Vorstellung aus,
so daß es geistig begriffen werden kann (mente posse concipere). Mappae
mundi als Realisierungen des Konzepts »Topographie« umfassen dabei nicht
nur die Lozierung von Orts-, Fluß-, Gebirgs- und Ländernamen in einer kar-
tographischen Raumprojektion, sondern von vornherein Welthistorie: die res
gestae von der Verbreitung des Menschengeschlechts nach der Sündflut und
der Aufteilung der Erde unter die drei Söhne Noahs bis zur Folge der vier
Weltreiche, die nach der Daniel-Apokalyse dem heilsgeschichtlichen Legiti-
mitätsmodell der translatio imperii zugrundeliegt. Gleich im Anschluß daran
kommt Paulinus daher auf die Doppelschichtigkeit des Mediums »Karte«
zu sprechen, wie sie teils von der raum-zeitlichen, teils von der wort-bildli-
12 Die Belege finden sich gesammelt und kommentiert bei van den Brincken, Anna-Doro-
thee: »›ut describeretur universus orbis‹. Zur Universalkartographie des Mittelalters«.
In: Zimmermann, Albert (Hg.): Methoden in Wissenschaft und Kunst des Mittelalters.
Berlin 1970 (Miscellanea Mediaevalia; 7), S. 249–278.
13 van den Brincken (Anm. 12), S. 259.
14 van den Brincken (Anm. 12), S. 261. Übersetzung: »Ohne Weltkarte – so möchte ich
behaupten – ist all das, was gesagt wird von den Kindern und Kindeskindern Noahs
und von den vier Weltreichen und den übrigen Königreichen und Provinzen sowohl
in den heiligen als auch in den menschlichen Schriften, nicht so sehr schwierig als
vielmehr unmöglich der Vorstellung zugänglich und mental erfaßbar.«
16 Hans Jürgen Scheuer
Wie Gervasius sieht auch Paulinus die größte Gefahr für die Beweiskraft
der topographischen Evidenz darin, daß die Kontur der pictura verändert
und dadurch der Prozeß der mentalen Vorstellung verfälscht oder gar aus-
gelöscht werden könnte. Während man Kartenlegenden also durchaus ver-
änderten Wissens- oder Gebrauchssituationen anpassen darf (z. B. durch
Übersetzung), sorgt die Verankerung der mittelalterlichen Kartographie im
Diskurs des Vor-Augen-Stellens und seiner wahrnehmungstheoretisch fun-
dierten Rücksicht auf Darstellbarkeit dafür, daß die descriptio orbis in ihrer
pikturalen Struktur äußerst konservativ behandelt wird. Unabhängig von der
beschriebenen Asymmetrie zwischen pictura und scriptura gilt jedoch, daß
die Karte weder in dem einen noch in dem anderen Element aufgeht. Sie
ist weder Abbild noch Schrift allein, sondern deren gemeinsamer medialer
Effekt, der aus der Verknüpfung von Bild- und Schriftmateria die Intensität
und Aktualität (actualitas) des sehend/lesend Wahrgenommenen hervorgehen
läßt: eine imago der Welt.
Die doppelte Kodierung mittelalterlicher Karten durch pictura und scrip-
tura zielt, wie das Paulinus-Zitat zeigte, nicht allein darauf, Örtlichkeiten und
Raumverhältnisse zu veranschaulichen. Der Begriff der »Universalkartogra-
phie« impliziert vielmehr eine Totalität nicht nur der Topographie, sondern
auch der Chronographie, soweit sie sich auf die Universalhistorie von den
ersten Dingen der Schöpfungsgeschichte bis zu den letzten Dingen der Heils-
geschichte bezieht.16 Zum Raum wird hier die Zeit und dadurch der Raum
dermaßen mit Heilsqualität ausgefüllt, daß es schon aus diesem Grund auf
mittelalterlichen mappae mundi keine weißen, insignifikanten und undeut-
baren Flecken geben kann.
Die gegen Ende des 13. Jahrhunderts entstandene Weltkarte von Here-
ford17, als deren Autor oder Auftraggeber sich Richard de Haldingham selbst
nennt, steht exemplarisch für dieses Phänomen. Denn erstens hat der Schrei-
ber der auf der Karte verzeichneten rund 1100 Legenden ihr den Titel einer
historia zuerkannt:
Tuz ki cest estorie ont / Ou oyront ou lirront ou veront, / Prient a Jhesu en deyte / De
Richard de Haldingham o de Lafford eyt pite, / Ki lat fet e compasse / Ki joie en cel
li seit done.18
18 Westrem (Anm. 17), S. 11. Übersetzung: »Alle, die diese historia vor sich haben, /
sie hören, lesen oder ansehen, / mögen zu Jesus in seiner Göttlichkeit beten, / daß er
Richards von Haldingham oder von Sleaford sich erbarme, / der sie machen und aus-
legen ließ, / damit ihm Freude im Himmelreich zuteil werde.« – Umgekehrt können
auch Schriftwerke wie das geo- und chronographische Kompendium des Honorius
Augustodunensis den Titel ›Imago mundi‹ tragen.
18 Hans Jürgen Scheuer
Abb. 1:
Die Weltkarte von Hereford.
Aus: Scott D. Westrem: The Hereford Map. A Transcription and Translation of the Legends
with Commentary. Turnhout 2001 (Terrarum Orbis; 1)
19 Englisch, Brigitte: Ordo orbis terrae. Die Weltsicht in den Mappae mundi des frühen
und hohen Mittelalters. Berlin 2002 (Orbis mediaevalis; 3), S. 649.
Cerebrale Räume 19
Denn der maiestas-Abbildung liegt auf Seiten des orbis terrarum am näch-
sten das ebenfalls kreisförmige irdische Paradies mit den Namen seiner vier
Flüsse und mit einer pictura des Sündenfalls. In Schrift und Bild präsent sind
zudem die paradis porte,20 mit denen es eine besondere memoriale Bewandt-
nis hat. Sie sind nämlich nicht Teil des biblischen Berichts, sondern bilden
den Kulminationspunkt der historia Alexandri Magni, die dem Kartenmaler
als Leitfaden für die »chronotopographische« Erschließung des gesamten
hinterasiatischen Raumes (inklusive der mirabilia mundi) dient. Kein anderer
Mensch, so erzählt der mittelalterliche Alexander-Roman variantenreich, ist
von Westen her über den Erdmittelpunkt Jerusalem hinaus weiter vorgedrun-
gen, und einzig die Pforten des Paradieses können seinem Eroberungsdrang
Einhalt gebieten. An sie klopft der heidnische Weltherrscher, ohne daß ihm
aufgetan wird. Der alt man, der den makedonischen Gesandten im ›Straßbur-
ger Alexander‹ den Zutritt verweigert und dem Herrscher statt des geforderten
Tributs einen Prüfstein zum Ermessen (proto-)christlicher Demut überreichen
läßt, erinnert an den Propheten Elias.21 Zusammen mit dem greisen Henoch
bewohnt dieser im ›Alexander‹ Ulrichs von Etzenbach den gotes garten (V.
24557). Dort soll Gott selbst die beiden als einzige Zeugen des Alten Testa-
ments noch vor ihrem leiblichen Tod aufgenommen haben, um sie nach der
Auslegungstradition der neutestamentlichen Apokalypse am Ende der Tage
als die zwei Gerechten gegen den Antichrist aufzubieten.22 Damit berühren
sich am denkwürdigen Ort der paradis porte Genesis und Johannes-Apo-
kalypse, erstes und letztes Buch des christlichen Bibelkanons als Ursprung
und Erfüllung der Weltgeschichte. In der Figur Alexanders des Großen und
seines iter ad paradisum aber spitzt sich dieses universale Heilsgeschehen
zu einer historia von unhintergehbarer Widersprüchlichkeit zu. Denn Alex-
ander präsentiert in seiner Person zum einen die Herrschaft über jene Welt,
die restlos dem Tod verfallen ist und die insofern in der Frage der Erlösung
vom Tod an die Grenzen ihrer bloßen Immanenz stößt. Er steht zum anderen
für eine Heilszugewandtheit, die ihn in eine historisch nie dagewesene Nähe
zum restitutionsbereiten, aber noch hinter Mauern zurückgehaltenen Paradies-
zustand bringt. Zwischen dem jenseits des Weltkreises wartenden maiestas-
Szenarium des Jüngsten Gerichts und Alexanders diesseitiger Exploration
der Grenzen weltlicher Herrschaft markieren die paradis porte der Hereford-
Karte also einen Ort, an dem sich Anzeichen heilsferner und heilsnaher Zeit
räumlich aufstauen, einander überlagern und auf kartographisch kleinstem
Raum eine derartige Bildintensität erzeugen, daß in Alexander sowohl die
imago des Erlösers wie die seines Gegenspielers, des Antichristus, präfiguriert
und raum-zeitlich präsent gemacht werden kann.
Damit bestätigt das Kartenwerk noch einmal unter dem Aspekt darge-
stellter Zeit die Verankerung der topographia im Wissenszusammenhang des
Vor-Augen-Stellens, wie ihn Quintilian terminologisch fixierte. Denn neben
der topographia kennt die ›Institutio oratoria‹ als weitere Form der Hypoty-
pose die tralatio temporum oder μετστασις, das heißt: mit der Beschrei-
bung des Raumes auch eine solche der Zeit. Deren Evidenz wird dadurch
gesteigert, daß sich die chronologische Reihenfolge eines Geschehens in der
Rede umstellen läßt. So ist es in der narratio nicht nur möglich, Vergangenes
zu erinnern, sondern auch Künftiges (quae futura sint) vorwegzunehmen, ja
sogar in der Zukunft abgeschlossene Geschehnisse (quae [...] futura fuerint)
im Sinne eines futurum exactum zu vergegenwärtigen.23 Was bei Quintilian
als Stilfigur technisch beschrieben wird, erscheint in der kartographischen
Imagination des Mittelalters geschichtstheologisch aufgeladen und bis zum
Äußersten gespannt. Die Imagination dessen, was dereinst gewesen sein
wird, evoziert in der Figur Alexanders ein Bild, das zwischen geschichtlicher
memoria und dem prophezeiten Durchbruch des messianischen Heils ange-
halten wird. Vor Augen steht so eine Kopfgeburt intellektueller Anschauung:
das Produkt aus dem imaginären Zusammenspiel von pictura und scriptura,
von topographia und tralatio temporum – Alexander in der Position zwischen
heilloser Weltimmanenz und geheimer Offenbarung.
II. Imago
Die Herleitung der topographia aus dem rhetorischen Diskurs über Hypoty-
pose und Evidenzherstellung hat sich mit Blick auf die Reflexion der Kar-
tographen und besonders auf die Weltkarte von Hereford für das Mittelalter
als gültiger Deutungsrahmen erwiesen. Die mittelalterliche Kartographie, die
mit Vorliebe aus der literarischen Alexandertradition schöpft, um die östliche
Hälfte des Weltkreises im Namen und in den Taten ihres Eroberers/Entdek-
kers vor Augen zu stellen, erlaubte es dabei, der historisch spezifischen Aus-
prägung der topographia näherzukommen. Sie gewinnt ihre volle Evidenz
innerhalb einer vierstelligen Konstellation von Abbild (pictura) und Schrift
(scriptura), apokalyptischer Geschichtstheologie (historia universalis) und
dem zeittypischen Verständnis von Wahrnehmung im Sinne einer Synthese
des inneren Bildes (imago). Gerade der zuletzt genannte Punkt liefert das
wesentliche Kriterium für die Rücksicht auf Darstellbarkeit einer imaginier-
ten Welttotalität, sei es in den mappae mundi, sei es in ihrer nach der Bibel
wichtigsten Quelle, der historia Alexandri Magni. Um die Mechanismen
des Vor-Augen-Stellens auf dieser elementaren wahrnehmungstheoretischen
Ebene genauer betrachten zu können, werde ich mich im Folgenden mit einer
Episode beschäftigen, die dem Weg Alexanders zum Paradies vorgeschaltet
ist, diesen aber schon in seinem Scheitern vorwegnimmt. Sie führt in der
literarischen Gestaltung der Straßburger Fassung von Lamprechts ›Alexan-
derlied‹ zu den »cerebralen Räumen« mittelalterlicher Hirnphysiologie.
Unmittelbar vor jener Zone, in der sich auf Alexanders iter ad paradisum
die widersprüchlichen Anzeichen des apokalyptischen Geschehens verdich-
ten, loziert die Hereford-Karte zwei Ereignisse, die von einer Konfusion im
Umsetzen der Alexander-historia zeugen. Knapp unterhalb der montes Yndie
und der von Drachen und Greifen bewohnten montes aurei, die wie Riegel
den direkten Durchgang zum irdischen Paradies versperren, wird zunächst
in einer syntaktisch und inhaltlich korrupten Legende ein rengnum Craphis
regine, qui alexandrum suscepit24 lokalisiert. Unweit davon und derselben
topographischen Linie des Ydaspis fluvius zugeordnet, findet sich außerdem
eine zweite, fast identisch lautende Legende: Inter Dedalios montes rengnum
Cleopatre regine, que alexandrum suscepit.25 Zwar bleiben beide Namen
– Craphis und Cleopatra – im gegebenen Zusammenhang unverständlich,
denn der erste findet sich nirgends sonst in der Alexander-Überlieferung,
der zweite aber gehört eigentlich zu einer Konkubine Philipps, des Vaters
von Alexander, und könnte auf eine Verwechslung mit Alexanders Geliebter
(Cleo-)Phyllis zurückgehen.26 Doch spricht eben diese Verwechslung zusam-
men mit dem Relativsatz que alexandrum suscepit eine hinreichend deutliche
Sprache: Beide Male dürfte es um ein – offenbar nicht eindeutig verortbares
– amouröses Verhältnis zwischen Alexander und einer exotischen Königin
gehen.27
Literarisch ausgestaltet findet sich diese Episode in einer Passage des
›Straßburger Alexander‹ (letztes Viertel des 12. Jhs.), die von rund 7000 Ver-
sen des Gesamttextes fast 1000 umfaßt. Sie ist in der Ich-Form eines Briefes
Alexanders an seinen Erzieher Aristoteles und seine Mutter Olympias in die
historia eingelegt und vereinigt angesichts ihrer Rahmung und ihres Umfangs
alle Merkmale erzählerischer enargeia in sich. Im Wesentlichen besteht sie
aus einer detaillierten Ortsbeschreibung, einer im wahrsten Sinne dilucida
et significans descriptio loci, da sie innerhalb des Alexanderlieds dessen
immanente Bildpoetik transparent macht.
Angesiedelt wird die Episode in der Erzählsukzession des Briefes nach
dem Erreichen des Ortes, dâ der werlt nabe stât /und der himel umbe gât
/alse umbe die ahsen daz rat (V. 5493–5495) und wo außerdem der Okeanos
mit seinen Meerwundern das Ende der Welt, ein östliches Finisterre, markiert.
In dieser Gegend liegt Meroves, mit dessen Herrscherin Candacia Alexander
zunächst über Boten und Gabentausch Kontakt aufnimmt. Sowohl der Name
des Landes als auch der seiner Herrscherin verweisen auf ein (eigentlich
numidisches oder äthiopisches) Reich, in dem Κανδκη synonym ist mit
dem Titel einer Regentin.28 Insofern verkörpert Candacia in gleicher Weise
das Konzept des Königtums wie Alexander. Wie dieser, der ihr Reich mit
listen zu erkunden gedenkt, wird auch sie als besonders listig charakteri-
siert, das heißt: mit der Königstugend der politischen Klugheit (prudentia) in
Verbindung gebracht.29 Was sie jedoch gegenüber Alexander in die stärkere
Position bringt, ist ein zweites Merkmal ihrer Herrschaft. Sie ist, wie Markus
Stock es prägnant formuliert hat, »die Herrin der Bilder«.30
Candacias Macht über die Bilder, die Kunstfertigkeit, mit der sie diese
herstellt, und die Souveränität, mit der sie diese in ihre Kalküle einbezieht,
lassen sich freilich nicht einfach unter dem Stichwort »höfische Repräsen-
tation« rubrizieren.31 Auf der Ebene der Handlung gehört das Verfügen über
das eigene Bild zwar zunächst noch zu den Privilegien des Herrschers. So
sendet Alexander, um sich bei seiner Ankunft der Königin vorzustellen, ihr
ein bilide wol gemâlet / nâh Amon mînen gote (V. 5532 f.). Doch wird der
damit verbundene repräsentative, politisch-theologische Anspruch des Absen-
ders durch Candacias Antwort sogleich unterlaufen, indem sie angesichts
des Götterbildes nachfragen läßt, ob Alexander wêre alsein andir man (»wie
sonst ein Mensch«, V. 5537) und ob ihm (als einem solchen) wêre undertân /
di werlt alle biz al dâ (V. 5538 f.). Beide Fragen bejaht Alexander: dô hiez
ir sagen jâ (V. 5540). Als Reaktion darauf wird der Gabentausch, der im
Sinne eines politischen Rituals dazu dient, die Äquivalenz von Gastgeber
und Gast festzustellen, in orientalischer Überfülle vollendet. Zu Candacias
Gegengeschenken gehören neben einer Vielzahl von Prunkstücken (darunter
hundrit guldîne gote, V. 5543, die offenbar das Bild des einen Gottes aufwie-
gen sollen) auch eine Goldkrone für Amon und für Alexander ein Einhorn,
von dem gesagt wird:
Di kuninginne rîche / sante mir ouh ein tier, / daz was edele unde hêr, / daz den car-
bunkel treget / und daz sih vor di magit leget. / Monosceros ist iz genant. / Der ist
luzzil in diz lant. / Dar zô ne frumet nehein jaget: / man sol iz vâhen mit einer magit. /
Sîn gehurne daz ist freisam, / dâ ne mac niwit vor bestân. (V. 5578–5588)
Das Arrangement der Gaben Candacias zeigt, daß es ihr nicht allein um
Selbstdarstellung geht, sondern in erster Linie um das Bild des Herrschers,
wie Alexander es verkörpert. Durch die Folge der Geschenke wird es mit
einem als Dingrätsel verschlüsselten Kommentar versehen. Als ein solcher
ανος gelesen, erscheint das Herrscherbild, das Candacia ihrem Gast anträgt,
von vornherein gespalten: in einen göttlichen Anteil, dem die Königin den
Salomonischen Reichtum und die Krone zuspricht, und in einen menschlichen
Anteil, in dem Alexander später sich selbst erkennen muß. Denn erstens liegt
die Signifikanz des ihm zugedachten Einhorns nicht nur in dessen Seltenheit
und Einzigartigkeit, sondern auch in der Eigenschaft, sich nicht fangen zu
lassen, es sei denn durch den Schoß einer magit, sprich: durch die minne-List
einer Frau. Genau dies aber wird Alexander in Candacias Palast widerfah-
ren.32 Zweitens geht die Bezwingung des Weltbezwingers einher mit einer
Bildnisbegegnung Alexanders. Er wird im Innersten des Palastes wieder auf
sein Porträt stoßen und konfrontiert mit einem Memento der Sterblichkeit,
die, wenn die Zeit gekommen ist, selbst den mächtigsten Potentaten einge-
holt haben wird.
Die Einsicht in die Gespaltenheit des Herrscherbildes zeigt sich in der
Folge einerseits an Alexanders Listhandeln, das die Differenz der »zwei Kör-
per des Königs« (Ernst Kantorowicz) zum Aufbau eines Inkognitos ausnutzt,
indem er seinen Amtskörper dem getreuen Tholomeus überläßt, während sein
kûscher lîb unter dem falschen Namen Antigonus in Candacias innersten
Machtbereich vordringt. Andererseits geht der Riß im Bild des Herrschers
nicht nur durch die Handlungs- und Symbolebene der Erzählung. Er setzt sich
vielmehr fort bis hinein in das Modell des Wahrnehmungsapparates, dessen
Grundstruktur die Lehre von den drei Hirnventrikeln und ihren Fakultäten
imaginatio – ratio – memoria bildet.33 Einsehbar wird diese Apparatur in
der Palastanlage von Meroves, deutbar im narrativ-imaginären Nachvollzug
ihrer Raumfluchten.
Nachdem sich Alexander als Antigonus an der Rückentführung der Braut
des Candaulus, eines Sohnes der Candacia, beteiligt hat, gelingt es ihm, von
seiner curiositas getrieben, sich als siegreicher Helfer des Prinzen und unter
dem Schutz des angenommenen Inkognitos Zugang zur Königsburg zu ver-
schaffen. Als Brautbefreier wird er von Candacia persönlich empfangen, die
ihn wie einen Sohn aufnimmt und in Alexander Gedanken an seine Mutter
wachruft: mir was in mînen gedanc / alsô wol ze mûte, / alsih mîne mûter /
gesêhe vor andren wîben (V. 5833–5858). Der griechische Gast durchläuft
nun in vier Zügen von einer Nacht zur nächsten eine Sequenz von acht ver-
schiedenen Räumen, die so ausgestattet sind, daß man in ihnen wesentliche
Merkmale der cerebralen Ventrikelstruktur wiedererkennen kann.34
Alexander‹«. In: ZfdA 118 (1989), S. 85–108, als strukturbildend für den ›Straßburger
Alexander‹ erkannt haben.
35 Vgl. die sogenannte »Badestube« auf Burg Runkelstein mit einer Arkadengalerie be-
lebter menschlicher und tierischer Memorialfiguren unter einer bemalten Balkendecke,
die einen bestirnten Nachthimmel mit den Gesichtern von Mond und Sonne darstellt
(Domanski, Kristina/Krenn, Margit: »Die profanen Wandmalereien im Westpalas«.
In: Schloß Runkelstein. Die Bilderburg. Hg. v. der Stadt Bozen unter Mitwirkung des
Südtiroler Kulturinstituts. Bozen 2000, S. 51–98, bes. S. 65–77, mit Abb. 42–98).
36 Vgl. Lindberg, David C.: Auge und Licht im Mittelalter. Die Entwicklung der Optik
von Alkindi bis Kepler, übers. v. Matthias Althoff, Frankfurt a.M. 1987, S. 23 f. Eine
Lindberg präzisierende und korrigierende Darstellung zur optischen Theorie der Seh-
strahlen in der Antike bietet Simon, Gérard: Der Blick, das Sein und die Erscheinung
in der antiken Optik. Mit einem Anhang: Die Wissenschaft vom Sehen und die Dar-
stellung des Sichtbaren. Aus d. Franz. v. Heinz Jatho. München 1992.
37 Camille (Anm. 33), S. 199 f. Im ›Welschen Gast‹ des Thomasin von Zerklaere heißt
es dazu, Imagination bringet di gedanch / Zer dinge getat, di man lang / Vor des
26 Hans Jürgen Scheuer
Das andere Artefakt ist das scône tier (V. 6002), ein Automaton von chi-
märischer Zusammengesetztheit.38 Es gleicht einem Hirsch, in dessen hyper-
trophem Gehörn Vögel wie in einem Baum sitzen. Es ist zudem Reittier eines
Jägers, den zwei Hunde begleiten. Wird sein über 24 Blasebälge betriebener
Mechanismus in Gang gesetzt, beginnen die Vögel zu singen, der Jäger in
sein Horn zu blasen, die Hunde zu laufen, und das hêrliche tier selbst erhebt
seine Stimme alsein pantier, / dem gêt under stunde / ein âdem ûz dem munde
/ sûzer den wîrouch (V. 6026–6029). Hinter dieser wunderlichen Erscheinung
steckt wiederum das spil der Königin mit den Prinzipien der Imagination: Der
pneumatische Antrieb des Automaten simuliert die Funktion des Pneumas
als eines Botenstoffs, der neben visio auch auditus und olfactus anregt und
Hör- und Geruchsreize zum sensus communis transportiert, wo jeder einzelne
Wahrnehmungseintrag zum selbstbewegten Phantasma synthetisiert wird.39
Komplettiert wird das Arrangement des Saales durch dessen Bewohner.
Zu dem zahlreichen ingesinde gehören 500 Jungfrauen, die in mi-parti-
geschnittene Gewänder, beide grûne unde rôt (V. 6053), gekleidet sind,
sowie getwerge, die Fellmäntel grâ unde bunt (V. 6069) tragen. Farbe und
Stofflichkeit der Kleidung verweisen auf eine heraldische Leitdifferenz: die
Unterscheidung von Tinkturen und Pelzwerk, die Erwähnung der zwergen-
haften Gestalten auf die ebenfalls heraldische Figur der mise en abîme, die
visuelle Einheiten durch Wiederholung, Verschachtelung und Miniaturisie-
rung in einem reduziert und potenziert.40 Indem die descriptio sich gedrängter
Strukturen der Heraldik bedient, trägt sie einem Grundproblem mittelalterli-
cher Optik Rechnung, das vergleichbar im Minnesang thematisiert wird: Wie
kann eine Figur von der Größe der Geliebten durch die kleine Öffnung des
Auges ins Innere des Sängers eindringen und dort die Herrschaft über dessen
niht gesehen hat (VII. Buch, V. 8805–8807; zitiert aus: Thomasin von Zerklaere:
Der Welsche Gast. Secondo il Cod. Pal. Germ. 389, Heidelberg, con le integrazioni
di Heinrich Rückert e le varianti del Membr. I 120, Gotha. A cura di Raffaele Di-
santo. Triest 2001 [Quaderni di Hesperides; 3], S. 144). Die Formulierung zeigt, daß
die topische Sonderung der Ventrikelfunktionen nicht bedeutet, daß im dynamischen
Prozeß der Wahrnehmung Sinnesreize, Erinnerungsbilder und Rationalität nicht stets
ineinandergreifen und zusammenwirken würden.
38 Vgl. Ernst, Ulrich: »Zauber – Technik – Imagination. Zur Darstellung von Automaten
in der Erzählliteratur des Mittelalters«. In: Grubmüller, Klaus/Stock, Markus (Hg.):
Automaten in Kunst und Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Wiesbaden
2003 (Wolfenbütteler Mittelalter-Studien; 17), S. 115–172, bes. S. 150.
39 Zum phantasmischen Pneuma vgl. Culianu, Joan P.: Eros und Magie in der Renais-
sance. Mit einem Geleitwort v. Mircea Eliade. Aus d. Franz. v. Ferdinand Leopold.
Frankfurt a.M./Leipzig 2001, S. 30–37.
40 Vgl. Fricke, Harald: »Potenzierung«. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissen-
schaft. Bd. III. Gemeinsam mit Georg Braungart, H. F., Klaus Grubmüller, Friedrich
Vollhardt u. Klaus Weimar hg. v. Jan-Dirk Müller. Berlin 2003, S. 144–147.
Cerebrale Räume 27
Wahrnehmung an sich ziehen?41 Die Antwort ergibt sich aus der Architektur
des Wahrnehmungsapparates. Man wird dort auf entsprechend kompakte,
komprimierte Bilder treffen: auf pupillae, »Püppchen«, oder wie im Palast
der Candacia eben auf Zwerge und auf kleinräumige, schroff kontrastierende
und daher einprägsame Farbraster, die miteinander die Tätigkeiten der Ima-
gination symbolisieren: Verdichten, Verkleinern und Verstetigen.
Die Attribute der einzelnen Räume wie die Geschehnisse in ihnen erlauben
wiederum eine klare Zuschreibung ihrer Funktion. In Rot getaucht soll nach
dem Rat der ›Rhetorica ad Herennium‹ alles gedacht werden, was sich dem
Gedächtnis unauslöschlich einprägen soll.42 Das so präparierte Gedächtnis-
bild wird dann, wie von Augustinus in den ›Confessiones‹ X,9 beschrieben,
41 Vgl. Reinmar: »Mîn ougen wurden liebes alse vol« (MF XLVI). In: Des Minnesangs
Frühling. Unter Benutzung der Ausg. v. Karl Lachmann u. Moriz Haupt, Friedrich Vogt
u. Carl von Kraus bearb. v. Hugo Moser u. Helmut Tervooren. Bd. I: Texte. 37., rev.
Aufl. Stuttgart 1982, S. 378 f. Zur Problematik im Kontext der Troubadour-Dichtung
und der italienischen Lyrik des dolce stil novo vgl. Culianu (Anm. 39), S. 37–52; zur
mittelalterlichen Poetik erotischer Phantasmen außerdem Agamben, Giorgio: Stanzas.
Word and Phantasm in Western Culture. Transl. by Ronald L. Martinez. Minneapolis
1993 (THL 69) (zuerst: Stanze. La parola e il fantasma nella cultura occidentale.
Turin 1977).
42 Vgl. Rhet. Her. III, 22 (Rhetorica ad Herennium. Lateinisch-deutsch. Hg. u. übers. v.
Theodor Nüßlein. Zürich/München 1994).
28 Hans Jürgen Scheuer
Obwohl Alexander wegen der Entdeckung seines Inkognitos und wegen sei-
nes völligen Ausgeliefertseins an Candacia in jähem Zorn aufbraust, ja, wie
von Sinnen erst sie, dann sich selbst mit Mord bedroht, läßt sich die Königin
davon nicht beirren und ruft ihn zur Vernunft:
Ne zurne nûwit helt gût / und habe manlîchen mût, / ih bin an dir inne / worden grôzer
sinne / unde grôzer wîsheit. / Ne lâ dir niwit wesen leit / daz ih dih alsus hân irvarn.
/ Dir ne scadet neheiner mûter barn. / Du ne salt den frowen neheine wîs drowen /
noh slân noh schelden. / Ih ne wil dih niwit melden. / Gehabe dih wol und wis frô.
(V. 6209–6221)
Sie unterstreicht ihren Vernunftappell, indem sie ihn in die dritte Zone als
Gipfelpunkt ihres Aufstiegs führt: in den königlichen slâfgadem (V. 6236).
Auch hier befindet sich über das Bett gespannt ein umbehanc (V. 6239), von
dem ein betörender Duft ausgeht. An diesem magisch bestrickenden Ort erhält
Alexander den Lohn für seinen schmerzhaften Erkenntnisprozeß:
Di kuninginne rîche / bescheinte mir ir willen. / Dô minnetih si stille. / Si sprah, dô
ih si gwan / ze wîbe, ih wêre ir man, / daz ih mîn trûren lieze stân, / mir ne wurde
argis niwit getân. (V. 6244–6250)
43 Aug. conf. X, 9, 16 (S. Aureli Augustini Confessionum Libri XIII. Ed. Martinus Sku-
tella. Editionum correctiorem curaverunt H. Jürgens et W. Schaub. Stuttgart 1981, S.
221).
Cerebrale Räume 29
Der folgende Abstieg Alexanders und Candacias hat zwei Stationen, die
noch einmal tiefer in den Widerspruch des Herrschertums eindringen. Die
erste Station ist an keine besonders ausgezeichnete Räumlichkeit gebunden.
Es geht einzig um den Handlungsschritt einer Reaffirmation des Inkognitos
Alexanders vor der Welt in Gestalt der beiden Söhne Candacias. Von ihnen
möchte der eine, Karacter, den gefangengesetzten »Antigonus« stellvertre-
tend töten, um den Tod seines Schwiegervaters, des Inderkönigs Porus, von
Alexanders Hand zu rächen, während der andere, Candaulus, den Gast wegen
der Rettung seiner indischen Braut, einer Tochter desselben Königs Porus, mit
seinem eigenen Leben zu verteidigen bereit ist. Durch das einvernehmliche
Festhalten Alexanders und Candacias am Decknamen »Antigonus« gelingt
es, die Familienkatastrophe abzuwenden und mit der Befriedung der feind-
lichen Brüder den Antagonismus stillzustellen: In der Figur des »geheimen
Alexander« koexistieren der Mörder und der Retter. Candacia bringt ihre
Anerkennung dieses gespaltenen Herrscher-Wesens dadurch zum Ausdruck,
daß sie Antigonus-Alexander ein weiteres Mal mit bedeutenden Gaben aus-
stattet: mit einem halsperc gut (V. 6369), einem gûten mantel (V. 6382) und
nicht zuletzt einer gûten crône (V. 6387), die nun nicht länger einem Gott,
sondern dem in die arcana imperii initiierten König gilt.
Derart bestätigt und legitimiert begibt sich Alexander im vollen könig-
lichen Habit in den letzten, den tiefst gelegenen Raum des Palastes: in eine
44 Zur Patho-Logik des amor heroicus vgl. Culianu (Anm. 39), S. 46–50.
30 Hans Jürgen Scheuer
cruft, die was alt (V. 6398). Wie von Candacia angekündigt, trifft er dort auf
eine Gemeinschaft von Göttern, die an einer Tafel zum Mahl zusammenge-
kommen sind. Besonderes Kennzeichen der versammelten Götter ist ihr ang-
steinflößender Blick: al ne mugit is nit gelouben, / in lûhten di ougen / alse
brinninde liehtfaz. / harte forhtih mih daz (V. 6407–6410). Dennoch befragt
Alexander eine Gottheit, die ihm als grôzer man auf einem hêrlîchen gesidele
erscheint (V. 6421–6423), nach dem genauen Zeitpunkt seines Todes.
Dô antworte mir der got / und sprah: ›Ih sage dir âne spot, / daz nehein erdische man
/ sînen tôt wizzen ne kann, / wandiz ne wêre ime niwit gût, / er ne wurde niemer
wol gemût. / Iz ne quême ime niwit rehte, / swanner dar ane dêhte. / Ime ne wêre
niwit deste baz, / wane alser sturbe al den tach; / wene ih sage dir ein dinc. / Daz
saltu wizzen jungelinc: / eine stat hâst gebûwet, / di hâstu wol vernûwet, / di heizet
Alexandria: / man sol dih noh begraben dâ.‹ (V. 6437–6452)
Der Stoff der historia Alexandri Magni behandelt – neben Geburt, Jugendge-
schichte und Tod – mindestens viererlei res gestae ihres Protagonisten:
– Alexanders Unterwerfung aller griechischen und kleinasiatischen Städte
oder Königreiche bis zur Eroberung der Weltherrschaft durch den Sieg
über Darius und das Perserreich;
– sein Vordringen nach Indien, das er sich nach der Niederlage des Porus
ebenfalls unterwerfen kann;
– die Expeditionen ins »hintere Indien«, auf denen Alexander nicht nur
rätselhaften Naturerscheinungen und Völkern begegnet, sondern auch alle
Dimensionen des Weltkreises der Höhe (Greifenflug), Tiefe (Taucherku-
gel) und Weite (Euphratfahrt) nach durchmißt;
– und schließlich den Vorstoß auf das irdische Paradies.
Vernunft, anders die höchste Einsicht. Die Sinne nämlich beurteilen die Gestalt, wie
sie in der zugrundeliegenden Materie besteht, die Vorstellungskraft aber die Gestalt
ohne die Materie; die Vernunft überschreitet auch diese und behandelt die Form selbst,
die den Einzelwesen innewohnt, unter dem Gesichtspunkt des Allgemeinen. Das Auge
der Intelligenz steht noch höher; denn nachdem sie den Umkreis des Universums über-
schritten hat, schaut sie jene einfache Form selbst mit der reinen Schärfe des Geistes.«
(Boethius: Trost der Philosophie. Consolatio Philosophiae. Lateinisch und deutsch.
Hg. u. übers. v. Ernst Gegenschatz/Olof Gigon. Düsseldorf 51998, S. 250–253).
32 Hans Jürgen Scheuer
In einer Bewegung vom Westen aus wird damit die Welt bis an ihr äußer-
stes östliches Ende geographisch aufgerollt und unter dem Zeichen irdi-
scher Herrschaft interpretiert. Mit dem Besuch bei Candacia und der Passage
durch die cerebralen Räume ihrer Palastanlage erhält diese Bewegung im
›Straßburger Alexander‹ eine wahrnehmungstheoretische Perspektive. Die
geographischen Extensionen werden umgewandelt in imaginäre Intensitäten
einer inneren Topographie. Alexanders Zug zum Paradies (inklusive seines
Scheiterns) wird präfiguriert in Alexanders Zug durch den eigenen Wahr-
nehmungsapparat. Wie läßt sich dieser Internalisierungsprozeß, betrachtet
durch den »Rahmen rhetorischer Bildgebung«, geschichtlich und ideologisch
einordnen? Um einer Antwort auf diese Frage näherzukommen, möchte ich
versuchen, einige motivische Aspekte mittelalterlicher politischer Theologie
an das imaginationstheoretische Paradigma zurückzubinden.
Schon der Kommentarexkurs Notkers von St. Gallen (950–1022) zur
zitierten Stelle aus Boethius’ ›Consolatio Philosophiae‹ versieht die dort aus-
geführte Wahrnehmungstheorie mit einem geschichtstheologischen Akzent.
Den heidnischen Denkern, so argumentiert er, ist die Teilhabe an der göttli-
chen intelligentia über den Gebrauch der ratio hinaus verwehrt. Aristoteles
habe sich nicht vorzustellen vermocht, daß ein Mangel (privatio) in einen
Gehalt (habitus) verwandelt werden könne. So seien die vorchristlichen Philo-
sophen zwar in der Lage, abstrakte Differenzierungen etwa auf den Gebieten
der Ethik oder der planenden Vernunft vorzunehmen (skéiden uerum únde
falsum . bonum únde malum . [...] únde fóne preteritis presentia . únde fóne
presentibus futura), doch nur in den Schranken einfacher Kausalitäten:
Gentiles philosophi nechóndôn nîeht fúrder fernémen . âne únz tára sie diu ratio
léita. Fóne díu uuóltôn sie . dáz tíu éinen díng uuârin ze glóubenne . díu mít ratione
gestérchet uuvrtîn . sús ketânero. Si hoc est . illud est . aut si hec sunt . illud erit.
Zwar verfügt aufgrund der Ankunft der celestis sapientia auch ein christlicher
Theologe noch längst nicht über ein sicheres Vorauswissen der Zukunft.
Doch kann er sich eines Ereignisses gewiß sein, das sich nicht aus weltlicher
46 Alle Zitate aus Notker der Deutsche: Boethius, ›De consolatione Philosophiae‹. Buch
IV/V. Hg. v. Petrus W. Tax. Tübingen 1990 (Die Werke Notkers des Deutschen; 3 /
ATB; 101), S. 254. Die überragende Bedeutung des intellectus als vierter, spiritueller
Kraft neben der menschlichen Ausstattung mit den drei ventrikulären Basisfunktionen
wird in volkssprachlicher Dichtung rund zweihundert Jahre später wieder aufgegriffen
von Thomasin von Zerklaere (Anm. 37): Intellectus sol wesen bot / Hinzen Engelen,
und hiz got (V. 8831 f.).
Cerebrale Räume 33
Immanenz und irdischer Kausalität ableiten läßt: Er verfügt über den Glauben
an die Auferstehung der Toten und an die Allmacht Gottes jenseits jeglicher
Bindung an Ursache-Wirkung- und an Wenn-Dann-Korrelationen. Damit ist
der Umkreis des Todes, wie er die descriptio orbis der Hereford-Karte umfan-
gen hält, wenn nicht durchbrochen, so doch auf ein Telos hin transzendiert:
auf das Ende der Geschichte und den Gerichtstag der Auferstehung, die sich
wie im Kartenbild mit der Welt zusammenschauen läßt.
Wegen dieser grundsätzlichen Aufgeschlossenheit gegenüber der Annahme,
daß Gott nichts unmöglich sei, selbst wenn es gegen die Regeln der mensch-
lichen Urteilskraft verstößt, existiert für die Christen auch innerweltlich die
Möglichkeit, Zeichen der verheißenen Erlösung wahrzunehmen. In seiner
›Chronica‹ (1143–1146) hat Otto von Freising, ein Onkel Friedrich Barba-
rossas, verschiedene Geschichtsmodelle so miteinander kombiniert, daß ihre
Überlagerung Gradmessungen zur apokalyptischen Intensität des Geschichts-
prozesses zuläßt. Im Sinne ihres Untertitels ›Historia de duabus civitatibus‹
geht die Chronik von Augustins universalhistorischem Dualismus zwischen
civitas terrena und civitas Dei aus. Innerhalb dieses Dualismus wird einerseits
die chronologische Entwicklung des Weltstaates nach der Abfolge der vier
Weltreiche als translatio imperii gedacht. Andererseits wird der Gottesstaat
nicht einfach über die Welt hereinbrechen, sondern in ihr antizipiert, so daß
Otto eine Zone der civitas permixta annimmt. In ihr gehen heilsgeschichtli-
che Progression und weltgeschichtliche Dekadenz überkreuz. In dem Maße,
in dem die gegenwärtigen politischen Verhältnisse sich verschlechtern, naht
die Erlösung. Das führt schließlich zu einer geschichtstheologischen Denk-
figur, nach der sich die Anzeichen der Heilsferne mit denen der Heilsnähe
derart verquicken und im Widerstreit steigern, daß der Druck apokalyptischer
Naherwartung bis zum äußersten anwächst.
Dieses gradualistische Modell der Weltgeschichte wird in ein topogra-
phisches System umgebrochen, in dessen Zentrum traditionsgemäß Jerusa-
lem steht. Doch entwickeln die Ränder der Ökumene eine heilsproduktive
Eigendynamik. Das Herandrängen des Heils läßt sich so kartographisch als
Bewegung von Osten nach Westen darstellen. Der Sog der translatio imperii
zieht dabei eine translatio scientiae nach sich: von Babylon über Ägypten
zu den Griechen und Römern, in deren westlichen Provinzen Gallia und
Hispania die Bewegung ihren Abschluß findet. Als Avantgarde derer, die
Zugang zu den Wissenschaften haben und um die bevorstehende Apokalypse
wissen, erscheinen die Mönche und unter diesen besonders die spanischen
Zisterzienser. Sie sehen dort, wo Christen, Muslime und Juden in der civitas
permixta Spaniens auf engstem Raum zusammenleben, betend und fastend
der Parousie des Messias entgegen.47
Mittelalters; 16), p. XI-LXII; zur Charakterisierung der civitas permixta vgl. Goetz,
Hans-Werner: Das Geschichtsbild Ottos von Freising. Ein Beitrag zur historischen
Vorstellungswelt und zur Geschichte des 12. Jahrhunderts. Köln/Wien 1984 (Beihefte
zum Archiv für Kulturgeschichte; 19).
48 Zarncke, Friedrich: Der Priester Johannes. 2 Teile in 1 Bd. ND d. Ausg. Leipzig
1876–79. Hildesheim/New York 1980. Zur komplexen Überlieferungsgeschichte des
Textes vgl. Wagner, Bettina: Die ›Epistola prebiteri Johannis, lateinisch und deutsch.
Überlieferung, Textgeschichte, Rezeption und Übertragungen im Mittelalter, mit bisher
unedierten Texten. Tübingen 2000 (Münchner Texte u. Untersuchungen; 115).
49 Otto von Freising, Chron. VII,33; Übersetzung Lammers (Anm. 47), S. 557: »Dort
hielt er sich einige Jahre auf und wartete auf Frost, aber infolge der milden Temperatur
kam keiner, und da sein Heer durch das ungewohnte Klima schwere Verluste erlitt,
sah er sich genötigt, in sein Land zurückzukehren.«
50 Vgl. Strobel, A.: Untersuchungen zum eschatologischen Verzögerungsproblem. Auf
Grund der spätjüdisch-urchristlichen Geschichte von Habakuk 2,2 ff. Leiden/Köln
1961 (Supplements to Novum testamentum; II).
51 Vgl. Möhring, Hannes: Der Weltkaiser der Endzeit. Entstehung, Wandel und Wirkung
einer tausendjährigen Weissagung, Stuttgart 2000 (Mittelalter-Forschungen; 3), S. 17:
»Außerdem schrieb Hieronymus in einem Brief an Aglasia und in seinem Jeremias-
Kommentar, daß die am Weltende zu erwartende Schreckensherrschaft des Antichrist
entsprechend 2 Thess. 2, 6–8 so lange hinausgezögert werde, so lange das römische
Reich als Katechon bestehe. Ähnliche Auffassungen waren bereits unter den Juden-
christen verbreitet und finden sich auch schon bei den Kirchenvätern weit vor Hie-
Cerebrale Räume 35
ronymus, nämlich etwa bei Hippolytos und Tertullianus, aber es war Hieronymus, der
maßgeblich die im Abendland während des Mittelalters herrschende Vorstellung vom
römischen Endreich prägte.«
52 Vgl. zur materiellen Differenz Ruberg, Uwe: »Mappae Mundi des Mittelalters im Zu-
sammenwirken von Text und Bild. Mit einem Beitrag zur Verbindung von Antikem und
Christlichem in der principium- und finis-Thematik auf der Ebstorfkarte«. In: Meier,
Christel u.a. (Hg.): Text und Bild. Aspekte des Zusammenwirkens zweier Künste in
Mittelalter und früher Neuzeit. Wiesbaden 1980, S. 550–592; zu den drei weiteren
Differenzen Kugler, Hartmut: »Der Alexanderroman und die literarische Universalgeo-
graphie«. In: Schöning, Udo (Hg.): Internationalität nationaler Literaturen. Beiträge
zum ersten Symposion des Göttinger Sonderforschungsbereiches 529. Göttingen 2000,
S. 102–120.
36 Hans Jürgen Scheuer
lich erscheinen diese Aspekte dem beschriebenen Riß nachgeordnet, der die
imago des Herrschers dekonstruiert in der Einheit seines politisch-theologi-
schen Widerspruchs. In diesem Zusammenhang ermöglicht die tralatio tem-
porum, Zeitverläufe zu simultaneisieren, die bald von überschießender, bald
von zurückgenommener Heilsqualität zeugen. Die topographia aber vermag
Orte vor Augen zu stellen, an denen – wie an den Paradiespforten oder im
Candacia-Palast – Christus- und Antichrist-Präfiguration beziehungsweise
ratio und intelligentia kohabitieren: in einer dilucida et signifi cans descrip-
tio loci, deren Realität in den Prozessen innerer Verbildlichung angelegt ist
und deren Intensität zwischen physiologischen Bild- und apokalyptischen
Geschichtsmodellen oszilliert.
Kosmographie und Topologie in der Natürlichen Magie der Frühen Neuzeit 37
1 Zur Chemiatrie bei Paracelsus und im Paracelsismus, vgl. Telle, Joachim: »Paracelsus
als Alchemiker«. In: Dopsch, Heinz/Framml, Peter F. (Hg.): Paracelsus und Salzburg
(Mitteilungen der Gesellschaft für die Salzburger Landeskunde, Erg.-Bd. 14). Salzburg
1994, S. 157–172.
2 Vgl. für Philipp von Zesen, Vf.: »Verborgene Kräfte und die Macht des Gestirns. Zur
Verschiebung alchemischer und astrologischer Gedankenfiguren im 16. und frühen
17. Jahrhundert und zur poetologischen Aneignung bei Philipp von Zesen«. Erscheint
in: Naumann, Ursula et al. (Hg.): Stoffe. Zur Geschichte und Theorie der Materialität.
Frankfurt a.M. 2005.
3 Ich orientiere mich an: Foucault, Michel: »Was ist ein Autor?«. In: ders.: Schriften
zur Literatur. Übers. von Michael Bischoff et al. Hg. von Daniel Defert et al. Frank-
furt a.M. 2003, S. 234–270. Dies als Ergänzung zu der grundlegenden Studie zum
Paracelsismus von Kühlmann, Wilhelm/Telle, Joachim: »Einleitung«. In: Dies. (Hg.):
Corpus paracelsisticum. Tübingen 2001ff., Bd. I, S. 1–39. Zur Funktion des Namens
»Paracelsus« im Paracelsismus, vgl. auch Pumfrey, Stephen: »The Spagyric Art«. In:
Grell/Ole Peter (Hg.): Paracelsus. The Man and his Reputation. His Ideas and their
Transformation. Leiden et al. 1998, S. 21–51, S. 52.
38 Maximilian Bergengruen
Frühen Neuzeit4 zurück, auf deren Basis sich zeigen läßt, daß die paracel-
sische und paracelsistische Textproduktion, insbesondere in der Frage der
Astrologie, über eine inventionelle Verwendung und Verschaltung spätantiker
und mittelalterlicher Topoi funktioniert. Das Besondere an dieser Form der
Topologie ist, daß sie äußerlich zur Sentenz neigt oder neigen kann, dabei
aber ihre ursprüngliche formale Funktion, bei einer vorgelegten Zweifelsfrage
zu einem Urteil zu kommen (Aristoteles, Topik 100a), beibehält – allerdings
weitgehend unter der Textoberfläche. Die sich wiederholenden bzw. sich zu
wiederholen scheinenden Formulierungen dienen also bei näherem Hinsehen
nicht nur der Weitergabe von traditionellem Wissen, sondern vielmehr dazu,
das eigene System weiterzuentwickeln, gegen andere abzuschließen und text-
und diskursinterne Verschiebungen vorzunehmen.
Diese topische Diskursanalyse läßt sich meines Erachtens auch auf die
Kosmographien, wie man sie als Illustrationen oder Titelbilder der Publika-
tionen vorfinden kann, übertragen, was einer Überführung von der metapho-
rischen auf die literale Ebene gleichkommt:5 Die argumentativen Orte finden
sich als Orte auf einer Karte wieder, die den Kosmos und seine emanative
Bewegung ausmißt. Die formale Darstellung dieser universalen Kartierung
wirkt auf den ersten Blick wie eine monotone Wiederholung traditioneller
Formgebung; unter der Bildoberfläche (oder sehr versteckt auf ihr) üben die
visuellen Topoi6 jedoch eine inventionelle Funktion für die gesamte Kosmo-
graphie aus, fungieren also ebenfalls als Schaltstellen des – in diesem Falle
graphisch dargestellten – gesamten Systems.
Natürlich werden die Topoi im Paracelsismus nicht nur innerhalb eines
Mediums, sondern auch untereinander verschaltet. Es soll gezeigt werden,
daß zwischen den graphischen und textuellen Topoi ein wechselseitiger Erklä-
rungszusammenhang besteht, wobei von der paracelsischen Metaphysik her
gesehen dem Text eine Präzedenz in diesem Prozeß eingeräumt wird, die
allerdings zugleich unterlaufen wird.
Diese topische Dynamik ist nicht mit Certeaus Differenz von Ort und
Raum zu verwechseln, die er bekanntlich gegen die neuzeitliche Karte und
7 Vgl. hierzu Certeau, Michel de: Die Kunst des Handelns. Berlin 1988, S. 217–226,
236ff., und als Kommentar: Brandstetter, Gabriele: »Wege und Karten. Kartographie als
Choreographie in Texten von Elias Canetti, Hugo von Hofmannsthal, Bruce Chatwin,
›Ungutstraum‹ und William Forsythe«. In: Neumann, Gerhard/Weigel, Siegrid (Hg.):
Lesbarkeit der Kultur. Literaturwissenschaft zwischen Kulturtechnik und Ethnographie.
München 2000, S. 465–484.
8 Paracelsus, Der grossenn Wundartzney / das Erst Buch [...]. Hg. von Udo Benzenhö-
fer. Hannover 1989 (= ND der Ausgabe Augsburg 1536); Paracelsus: Der grossenn
Wvndartzney / das Erst Buch [...]. Augsburg 1537. Die beiden Auflagen sind bis auf
wenige Ausnahmen (von denen eine im Folgenden wichtig sein wird) identisch. Vgl.
hierzu Karl Sudhoff, Versuch einer Kritik der Echtheit der paracelsischen Schriften.
Bd. I. Berlin 1894, S. 32. Alle anderen Paracelsus-Titel zitiere ich im Haupttext unter
der Sigle ›SW‹ nach: Paracelsus: Sämtliche Werke. Hg. von Karl Sudhoff. München
1929ff.
9 Vgl. hierzu Telle/Kühlmann (s. Anm. 3), S. 15.
10 Paracelsus hielt im Wintersemester 1527f. Vorlesungen an der Universität Basel über
Chirurgie und Wundarznei. Vgl. hierzu Schwabe, Hans: Der lange Weg der Chirur-
gie. Vom Wundarzt und Bader zur Chirurgie. Zürich 1986, S. 84. Zum Verhältnis der
Chirurgie zur Universität allgemein, vgl. Benzenhöfer, (s. Anm. 8), S. 1–7, S. 2.
11 Vgl. hierzu Sudhoff (s. Anm.8), I.10, S. V–XVI, S. XV und Benzenhöfer (s. Anm. 8),
S. 1–7, S. 6.
40 Maximilian Bergengruen
(Abb. 2). Ja der Editor ist in der Genrefrage noch strenger als der Autor selbst:
Das einzige Bild, das in den paracelsischen Ausgaben etwas aus dem Rahmen
fällt, eine in der ersten Auflage mit mehr, in der zweiten mit weniger Auf-
wand hergestellte Kosmographie (Abb. 3a und 3b), unterdrückt Bodenstein
in seiner Edition kommentarlos.12
Auf den ersten Blick ist nicht zu verstehen, warum. Es handelt sich in
beiden Editionen, Augsburg 1536 und Augsburg 1537, um eine traditionelle,
das Wissen der Antike und des Mittelalters reproduzierende Darstellung des
Kosmos. In der Mitte, d.h. in den innersten vier Kreisen, finden sich die Ele-
mente: (von innen nach außen) Erde, Wasser, Luft, Feuer, dann die sieben
Planeten: Mond, Merkur, Venus, Sonne, Mars, Jupiter, Saturn. Darüber die
Fixsterne und die Tierkreiszeichen (Abb. 3a) bzw. erst die Fixsterne und am
äußersten Rand die Tierkreiszeichen (Abb. 3b).
Die Frühe Neuzeit bezieht – wie schon das Mittelalter13 – ihr kosmolo-
gisches Ordnungswissen hauptsächlich aus Aristoteles’ De Caelo14 und Pto-
lemäus’ Tetrabiblos. Das gilt – trotz aller antiaristotelischen Gestik15 – auch
12 Paracelsus: Opvs Chyrvrgicvm. Wund und Artzney Buch. Hg. von Adam von Boden-
stein. Frankfurt a.M. 1566, S. 59 (wo die Graphik abgedruckt sein müßte). Das Gleiche
gilt für die weiteren Editionen dieses Buches durch Bodenstein und andere Paracel-
sisten, z.B. Paracelsus: Cheirvrgia. Warhafftiger Beschreibunge der Wundartney [...]
Der Erste Theil. Hg. von Adam von Bodenstein. Basel 1586, S. 46, sowie Paracelsus:
Chirvrgische Bücher und Schriften [...]. Hg. von Joachim Huser. Bd. I. Basel 1591,
S. 84, Paracelsus: Chirvrgische Bücher vnd Schrifften [...]. Bd. I. Straßburg 1605 und
Straßburg 1618, jeweils S. 31. Allerdings finden sich in diesen letzten beiden Editionen
überhaupt keine Illustrationen außer der bekannten Titelgraphik, auf der Paracelsus
zu sehen ist.
13 Vgl. zur Renaissance des Mittelalters im 12. Jahrhundert in Bezug auf die Kosmogra-
phie, Blume, Dieter: Regenten des Himmels. Astrologische Bilder in Mittelalter und
Renaissance. Berlin 2000, S. 18ff.
14 Ich arbeite mit der Ausgabe Aristoteles: Vom Himmel – Von der Seele – Von der Dicht-
kunst. Übers. und hg. von Olof Gigon. Zürich 1950. Zum Verhältnis von De Caelo
und Renaissance-Diagrammen, vgl. Heninger, S. K. Jr.: The Cosmographical Glass.
Renaissance Diagrams of the Universe. San Marino 1977, S. 36 u.ö. Zur Auseinan-
dersetzung der frühneuzeitlichen Astrologie mit Aristoteles, vgl., wenn auch etwas
allgemein, Reichel, Ute: Von Gestirnumbläuften, Talismanen und der Kunst Alchy-
mia. Die Rolle der Astrologen an den deutschen Fürstenhöfen des 16. Jahrhunderts.
Darmstadt 1996, S. 135ff. Auch für die Auseinandersetzung mit der hermetischen
Tradition, S. 124ff.; S. 144ff., gilt die obengenannte Einschränkung. Als generelle
Einführung in die Astrologie der Renaissance bieten sich an: Garin, Eugenio: Astrol-
ogy in the Renaissance. The Zodiac of Life. Übers. von Caroly Jackson/June Allen.
London et al. 1983 (S. 56ff. zur Rolle des Neoplatonismus/ Hermetismus), oder – in
der Kurzversion – Crafton, Anthony: Cardanos Kosmos. Die Welten und Werke eines
Renaissance-Astrologen. Übers. von Peter Knecht. Berlin 1999, S. 14ff.
15 Vgl. zur antiaristotelischen Geste der Alchemie im allgemeinen, Newman, William
R: »Alchemical and Baconian Views on the Art/Nature Division«. In: Debus, Allen
G./Walton, Michael T. (Hg.): Reading the Book of Nature. The Other Side of the Sci-
Kosmographie und Topologie in der Natürlichen Magie der Frühen Neuzeit 41
für Paracelsus und seine Graphik (insbesondere für Abb. 3a, die einer De
Caelo-Edition von Johann Eck aus dem Jahre 1519 entnommen ist):16 Auf
De Caelo läßt sich die Kugelform des Kosmos und damit des Himmels als
dessen äußerster Bereich (De Caelo 287b), die zentrale und ruhende Position
der Erde in diesem Kosmos sowie deren Kugelform (De Caelo 296b–297a)
beziehen; weiter die Anordnung der Elemente (De Caelo 269a; 287a), schließ-
lich die kreisförmige Bewegung der Himmelssphären, auf denen die ebenfalls
kugelförmigen Gestirne mitgeführt werden (De Caelo 289b–290a), sowie die
Differenzierung der Planeten von den Fixsternen (De Caelo 290a) und das
»Primum mobile« (De Caelo 285a).17
Die Reihenfolge der Planeten ist ein Rekurs auf Ptolemäus’ Tetrabiblos,
Kapitel I.4,18 ebenso die Kombination von Tierkreiszeichen und Fixsternen
(Tetrabiblos I.9). Eine dritte, für die Renaissance ebenfalls typische Quelle,
Platons Timaios,19 wird hingegen in der Wvndartzney (in beiden Auflagen)
negiert. Ansonsten hätte die in diesem Text dargestellte, gegenüber der ari-
stotelisch-ptolemäischen Tradition differierende, Anfangsreihenfolge der Pla-
neten – d.h. Mond, Sonne, » ωσϕóρος« (also Venus) und Merkur (Timaios
38d) – berücksichtigt werden müssen.20
Diese, anhand von Paracelsus vorgestellte, kosmographische Ordnung
findet sich bereits im Mittelalter, z.B. in einer Miniatur der Historienbibel
des Evert van Soudenbach, Utrecht um 1460 (Abb. 4): Auch hier die gleiche
Anordnung der Elemente21 sowie die aristotelisch-ptolemäische Reihenfolge
entific Revolution. Kirksville 1998, 81–90, und als Korrektur, insbesondere bezogen
auf den Paracelsismus, Vf.: »Expansion in die Natur. Zum Verhältnis von ars und
natura bei Paracelsus und im Paracelsismus«. Erscheint in: Süßmann, Johannes et al.
(Hg.): Expansionen in der Frühen Neuzeit. Frankfurt a.M. 2005.
16 Es handelt sich um die Ausgabe Aristoteles: Libri De Coelo IIII. Hg. und kommentiert
von Johannes Eck. Augsburg 1519. Vgl. zu dieser Graphik und der von Eck veran-
stalteten Ausgabe, Heninger: Cosmographical Glass (s. Anm. 14), S. 140ff.
17 Zum Verweis auf die pythagoräische Sphärenharmonie in Abb. 3a, vgl. Heninger:
Cosmographical Glass (s. Anm. 14), S. 72; 140ff.
18 Ich zitiere nach der Ausgabe Ptolemäus: Tetrabiblos (griechisch-englisch). Übers. und
hg. von F. E. Robbins. Cambridge et al. 1940.
19 Ich zitiere nach der Ausgabe Platon: Sämtliche Werke in zehn Bänden (griechisch-
deutsch). Übers. von Friedrich Schleiermacher et al. Hg. von Karlheinz Hülser. Frank-
furt a.M. 1991.
20 Vgl. hierzu auch Heninger, Cosmographical glass (s. Anm. 14), S. 68–73, die auch
die neoplatonische Nebenvariante der platonischen Reihenfolge, nämlich Mond, Son-
ne, Merkur, Venus (danach wie bei Plato und Aristoteles), rekonstruiert. Allgemein
zur Rolle Platons, Aristoteles’ und Ptolemäus’ in der Geschichte der Astrologie, vgl.
Gundel, Wilhelm/Gundel, Hans Georg: Astrologumena. Die astrologische Literatur in
der Antike und ihre Geschichte (Sudhoffs Archiv, Bh. 6). Wiesbaden 1966, S. 76–90;
202ff.; überblickshaft: Stuckrad, Kocku von: Geschichte der Astrologie. Von den An-
fängen bis zur Gegenwart. München 2003, S. 82ff.; 114ff.
21 So liest auch Mazal, Otto: Die Sternenwelt des Mittelalters. Graz 1993, S. 16.
42 Maximilian Bergengruen
schließlich (inmitten des unteren Kreises) die vier Elemente »Ignis«, »Aqua«,
»Aer« und »Terra«.
Die Kosmographien weisen trotz ihrer identischen Struktur natürlich auch
Unterschiede auf: Vergleicht man Fludds Darstellung des Universums (Abb.
6) mit der spätmittelalterlichen Miniatur (Abb. 4), fällt eine entscheidende
Differenz ins Auge: Die Kreise sind bei Fludd nicht abgeschlossen, sondern
miteinander durch ein aufziehbares Seil verbunden, dessen Anfang und Ende
natürlich Gott ist. Durch diese dynamische Verknüpfung der Sphären und
Elemente ist, so möchte ich argumentieren, die aristotelische Kosmologie mit
ihrer Vorstellung von der Abgeschlossenheit der Sphären als neuplatonisch
überformt markiert: Die Sphären sind bei Fludd Produkt und Produzenten
im kosmischen Emanationsprozeß, dessen Ursprung und Ende in der Idee
Gottes liegt.27
So zu denken, ist Pflichtprogramm für einen Neuplatoniker, für den alles,
also auch jede himmlische Sphäre oder jeder elementische Bereich, aus dem
» ν«, dem göttlichen Einen, oder einer vermittelnden Hypostase überge-
flossen ist und der davon ausgeht, daß jedes » περπλ ρες« (Übergeflos-
sene) auch dorthin zurückeilen will bzw. dies annährend schon erreicht hat
(» νεδραμε«; Plotin, Enn. V.2, 1f.).28 In den Worten Fludds: »Deus est omne
quod est. Ab eo procedunt omnia & iterum in eum revertuntur«.29
Auch Paracelsus’ Kosmographie aus der Wvndartzney von 1537 (Abb.
3b) weist, wie ich im Folgenden zeigen möchte, eine solche, wenn auch
unscheinbare Überformung der traditionellen Ordnung des Kosmos auf und
distinguiert sich damit sowohl vom Zierrat der anderen Bilder der Ausgabe
als auch vom klassischen Aristotelismus der 36er Abbildung. Gemeint ist
das umgekehrte ›T‹ im Zentrum der Kreise.
Daß das T umgekehrt ist, verdankt sich der theozentrischen Perspek-
tive der Darstellung: Aus der Sicht Gottes läßt sich der Buchstabe aufge-
richtet lesen.30 Durch diese eximierte metaphysische Positionierung wird
die Zugehörigkeit des hier zentral positionierten Zeichens zu den Litterae
mysticae hervorgehoben: Das lateinische T (bzw. das griechische Tau und
das hebräische Tav) wird, wie in der Forschung jüngst ausgeführt wurde,
seit der Patristik mit Bezug auf Ez. 9, 4 und Ex. 12, 13 als altestamentli-
ches Heilzeichen gelesen, das sich vom Neuen Testament her gesehen im
27 Vgl. hierzu auch Heninger, Cosmographical Glass (s. Anm. 14), S. 81ff.
28 Ich zitiere nach der Ausgabe Plotin: Schriften (griechisch-deutsch). Übers. von Richard
Harder. Hg. von Rudolf Beutler et al. Hamburg 1956ff.
29 Fludd, Robert: Anatomiae amphitheatrum effigie triplici, more et conditione varia
designatum. Frankfurt a.M. 1623, S. 314f.
30 Vgl. hierzu Weigel, Sigrid: »Die Richtung des Bildes. Zum Links-Rechts von Bilder-
zählungen und Bildbeschreibungen in kultur- und mediengeschichtlicher Perspektive«.
In: Zeitschrift für Kunstgeschichte 64 (2001), S. 449–474, S. 464ff.
44 Maximilian Bergengruen
sagen die elaborierte Form des einfacheren Systems der Tria prima in der
Wvndartzney-Graphik (Abb. 3b).
Auch Crolls Visualisierung der Tria prima ist hermetisch verschlüsselt,
gibt allerdings durch die Form ihrer Symbolik deutlich mehr Aufschluß über
das Denotat. Diese höhere Form der Offenheit spiegelt sich auch in der rest-
lichen Ordnung der Graphik wider: Während bei Paracelsus das T der Tria
prima zwar zentral, jedoch der, von der Darstellung der Planeten herrühren-
den, Kreisform eindeutig untergeordnet ist, organisieren Croll/Sadeler nicht
nur die drei Substanzen, sondern – bis auf die Fixsterne (unten) und die
Himmlischen Chöre (oben) – auch alle weiteren kosmologisch oder theolo-
gisch relevanten Elemente über das Dreieck, das sich ergibt, wenn man die
Ecken der T-Figur miteinander verbindet. Das heißt: Die drei Substanzen und
ihre Dreiecksform stellen, Croll rekurriert hier natürlich auf Cusanus’ Philo-
sophie der göttlichen Formen,33 neben dem Kreis das zweite entscheidende
Ordnungsprinzip in der graphischen Kosmologie dar.
Die Dominanz des Dreiecks ist in doppelter Hinsicht manifest, sind
doch die beiden Picturae in Crolls Graphik spiegelbildlich angeordnet und
bezeichnen die theologische (oben) und die irdische Anordnung der Metaphy-
sik.34 Dementsprechend fallen nicht nur die beiden Kreise (also Himmlische
Chöre einerseits und Fixsterne/Tierkreiszeichen andererseits), sondern auch
der durch die Tria prima geordnete elementische Bereich mit dem durch
die »Sancta[] Trivnita[s]« organisierten himmlischen zusammen: Göttliche
Dreifaltigkeit und elementische Dreiheit sind – gemäß der mittelalterlichen
Alchemie und auch des paracelsischen und paracelsistischen Verständnisses35
– deckungsgleich: Wie im Himmel, so auf Erden, heißt es in der Bibel der
Alchemie, der Tabula smaragdina (»quod est superius, est, sicut [id] quod
est inferius«)36 – das gilt auch bzw. sogar insbesondere für die Dreiheit und
deren graphische Form.
Die Aufwertung des Dreiecks als spezifisch paracelsische bzw. paracelsi-
stische Geste der Überformung der aristotelischen kreisförmigen Anordnung
des Kosmos in theologischer und naturwissenschaftlicher Hinsicht – denn
33 Für Cusanus ist »Triangulus« (Dreieck) wie »Circulus« (Kreis) eine »figura perfecta
unitatis«; Kues, Nicolaus von: De docta ignorantia – Die belehrte Unwissenheit (lt.-
dt.). Übers. und hg. von Paul Wilpert. Hamburg 1964, S. 52; 84.
34 Vgl. hierzu Vf.: »›Alles / was hierniden ist / das ist auch droben‹. Zur Funktion graphi-
scher Systemdarstellungen in Publikationen aus dem Bereich der natürlichen Magie«.
In: Enenkel, Karl A.E./Neuber, Wolfgang (Hg.): Cognition and the Book. Typologies of
Formal Organisation of Knowledge in the Printed Book of the Early Modern Period.
Leiden/Boston 2005 (= Intersections 4 [2004]), S. 433–454.
35 Diese Analogie wird vor allem durch das Buch der Heiligen Dreifaltigkeit vorgegeben.
Vgl. hierzu Anm. 32.
36 Ruska, Julius: Tabula smaragdina. Ein Beitrag zur Geschichte der hermetischen Li-
teratur. Heidelberg 1926, S. 2.
46 Maximilian Bergengruen
mia magna, SW I.12, 308); seinerseits ein, wenn auch kritischer, Rekurs
auf Luthers Interpretation von Joh. 3, 3: »Jch sage dir / Es sey denn / das
jemand von newen geborn werde / kann er das reich Gottes nicht sehen«.45
Die Neue Geburt, aus der die neue Kreatur hervorgeht – damit ist in erster
Linie die Taufe, also der Beginn des christlichen Lebens, gemeint. Aber da
dieses Sakrament bekanntlich für Luther »eyn furt, eyn bruck, eyn thur, eyn
schiff und tragbar, yn wilcher und durch wilch wir von disser welt faren
ynß ewige leben«,46 ist, handelt es sich bei der Neuen Geburt zugleich um
den noch zu vollendenden Erlösungsvorgang; ein Prozeß, der, wie Paracel-
sus ergänzt, sich durchaus vom Menschen beschleunigen läßt: Wer »glaub
und hör Christum«, der kann schon auf Erden »himlisch sein«, obwohl er
eigentlich »allein irdisch« ist (Paracelsus, Von dem seligen Leben, SW II.1,
75).47
Dieser beschleunigte Erlösungsvorgang, so läßt sich aus Dorns Graphik
ablesen, stellt allerdings den Zustand vor dem Fall nicht wieder her. Der
Kreis des Menschen um den Kreis Gottes, wie es Dorn in Anlehnung an
Ficino graphisch formuliert hatte, bleibt – das macht Abb. 13 deutlich – ein
unvollständiger und gebrochener Halbkreis. Der Mensch kann – zumindest
vor seinem Tod bzw. vor dem Jüngsten Gericht – nicht wieder das Abbild
Gottes werden, wie es in der Schöpfung ursprünglich einmal vorgesehen und
bis zum Fall der Fall war.
Aber – und das ist der Anschluss an Paracelsus’ häretische Vorstellung
vom himmlischen Menschen auf Erden – durch die alchemische Medizin
und Theologie ist es möglich, eine Art von Ersatz für den auf ewig verlo-
renen Status des Menschen vor dem Sündenfall zu schaffen; und das sind
45 Ich zitiere nach Luther, Martin: Die gantze Heilige Schrifft Deudsch. Hg. von Hans
Volz et al. Darmstadt 1972 (nach der Ausgabe Wittenberg 1545). Hervorhebung von
mir.
46 Luther, Martin: Werke. Kritische Gesamtausgabe (Weimarer Ausgabe). Weimar 1883ff.,
Bd. II, S. 753.
47 Diese argumentative Pointe, die Paracelsus’ Theologische Magie (Magia coelestis)
ausmacht (und von zeitgenössischen Theologien absetzt), entgeht meiner Ansicht nach
Goldammer, Kurt: »Paracelsische Eschatologie«. In: ders.: Paracelsus in neuen Hori-
zonten. Gesammelte Aufsätze. Hg. von Sepp Domandl. Wien 1986, S. 87–152, S. 112,
wenn er den Neuen Menschen und den Neuen Leib bei Paracelsus lediglich ins Jenseits
verlagert. Die paracelsische Theologie steht mittlerweile stärker im Zentrum der For-
schung. Als Beispiele seien genannt: Rudolph, Hartmut: »Hohenheim’s Anthropology
in the Light of his Writings on the Eucharist«. In: Grell, Ole Peter (Hg.): Paracel-
sus. The Man and his Reputation. His Ideas and their Transformation. Leiden et alt.
1998, S. 187–206; für den Paracelsismus: Gilly, Carlos: »›Theophrastia Sancta‹. Der
Paracelsismus als Religion im Streit mit den offiziellen Kirchen«. In: Telle, Joachim
(Hg.): Analecta Paracelsia. Studien zum Nachleben Theophrast von Hohenheims im
deutschen Kulturgebiet der frühen Neuzeit. Stuttgart 1994, S. 425–488.
Kosmographie und Topologie in der Natürlichen Magie der Frühen Neuzeit 49
die Tria prima, die metonymisch für die Arbeit des Alchemikers auf ihrer
Basis stehen.
Mit Blick auf Abb. 14 läßt sich davon sprechen, daß die alchemische Aus-
messung des göttlichen Kreises durch »Mercurius«, »Sulfur« und »Sol« eine
wesentlich adäquatere Entsprechung des mikrokosmischen Ternärs darstellt,
als es der prälaptische Mensch mit seiner die göttliche Kreisform lediglich
wiederholenden eigenen je gewesen ist. Adäquater deswegen, weil einerseits
das Dreieck den göttlichen Kreis berührt (während der mikrokosmische Kreis
weit davon entfernt war), andererseits weil damit die Arbeit des Menschen
eine eigenständige und identifizierbare Form (eben das Dreieck) bekommt,
die gegenüber der göttlichen Kreisform einen differenzierten Anspruch auf
die Teilhabe am kosmischen und theologischen Geschehen beanspruchen
kann.
Die Grundlage für dieses graphisch formulierte Ethos der Alchemie bil-
det die auch von Paracelsus aufgegriffene Lapis Christus-Parallele,48 d.h.
ein sich aus dem Mittelalter fortschreibendes Theorem, das besagt, daß das
alchemische Werk niemals nur rein naturwissenschaftlich, sondern immer
auch theologisch aufzufassen ist; genauer: daß die Transmutation eines ele-
mentischen Körpers zu seiner Ultima materia ein Analogon zur Transforma-
tion des Menschen in seine letzte Materie, d.h. zur, wie Paracelsus schreibt,
»clarifizirung« des »tötlichen leibs« (Paracelsus, Astronomia magna, SW
I.12, 327), darstellt. Ziel der Klarifizierung ist der »geistliche[] Leib«, den
der Mensch in Nachfolge des »erstling Christus« (1 Kor. 15, 44; 23) zur
Auslöschung der Sünden nach seinem Tod bzw. am Jüngsten Tag erlangt
– oder eben, das ist die alchemotheologische Wendung, annäherungsweise
auch davor.
48 Vgl. zur Lapis Christus-Parallele, Hoheisel, Carl: »Christus und der philosophische
Stein. Alchemie als über- und nichtchristlicher Heilsweg«. In: Meinel, Christoph (Hg.):
Die Alchemie in der europäischen Kultur- und Wissenschaftsgeschichte. Wiesbaden
1986, S. 61–84. Einen Überblick bietet Telle, Joachim: Art. »Alchemie II«. In: TRE
II, S. 199–227, S. 208f.
50 Maximilian Bergengruen
elementischer Welt (bzw. der drei Himmel) darzustellen, sondern darauf, sie
um ihr mittleres Element zu kürzen und damit auf provozierende Weise eine
Leerstelle des Siderischen zu markieren.
Während man bei Dorn die Wissens- und Formgeschichte der letzten 100
Jahre im Kopf haben muß, um dessen Betonung der Leerstelle des Sideri-
schen zu verstehen, wird die Provokation bei Croll/Sadeler (Abb. 7) beinahe
schon auf der Bildoberfläche vollzogen. Die beiden rufen, wie oben ausge-
führt, mit der unteren Pictura die aristotelische Kosmographie auf, indem
sie am äußersten Rand des Kreises die Tierkreiszeichen und die Fixsterne
anordnen. Nun müssten, entsprechend dem kollektiven aristotelischen For-
mengedächtnis der Frühen Neuzeit, weiter innen die Sphären der Planeten
eingezeichnet sein, also der Sterne, die die eigentliche Macht im Kosmos
ausüben – und genau die fehlen. An ihrer Stelle befinden sich, wie oben
hervorgehoben, die Tria prima als Metonymie für den magisch-alchemisch
arbeitenden Naturwissenschaftler, der auf der Basis dieser Substanzen die
Transmutation der Natur und seiner selbst vorantreibt.
Und dieser triadisch arbeitende Naturwissenschaftler spiegelt sich nicht
nur auf übernatürlicher Ebene in der Dreifaltigkeit wider, sondern schreibt
sich regelrecht in sein Spiegelbild ein: Zur Ordnung der »Sanctae Trivnita-
tis« werden nämlich nicht, wie man erwarten sollte, Gott-Vater, Gott-Sohn
und Heiliger Geist gezählt sondern »devs«, »messias« und – »homo«. Der
Mensch wird also, wenn er an der alchemotheologischen Arbeit der Basilica
Chymica mitarbeitet, quasi Teil der Heiligen Dreifaltigkeit.51
Diese von Anmaßung nicht ganz freie theologische Position stattet den
Homo alchemicus mit neuen Herrschaftsrechten im Kosmos aus: Die paracel-
sistischen Kosmographien zeigen nämlich deutlich eine Verschiebung inner-
halb einer universalen Machtkonstellation, genauer: im Bereich der Herrschaft
über den sublunaren oder elementischen Bereich des Kosmos. Während in
der paracelsischen Graphik die Souveränität eindeutig dem Gestirn zuge-
ordnet ist und der Mensch (zumindest der physische und verwundbare) wie
selbstverständlich mit unter diese Gewalt fällt, wird in den Graphiken der
Paracelsisten diametral dazu der magisch-alchemische Naturwissenschaft-
ler zum Herrscher der sublunaren Sphäre – die ja aus nichts anderem als
den Tria prima besteht – ausgerufen. Aus Systemgründen werden die Herr-
schaftsverhältnisse dabei nicht einfach umgedreht: Es macht kosmologisch
gesehen keinen Sinn, das Gestirn in den Herrschaftsraum der sublunaren
Sphäre einzuordnen, daher wird es in den Graphiken der Paracelsisten – wie
51 Der mystische Gedanke, daß der Mensch »in der neuen geburt [...] in die trinitet ein-
geleibt« wird, findet sich schon bei Paracelsus: De genealogia Christi, SW II.3, 75
und davor bei Tauler (Johannes Tauler: Predigten. 2 Bde. Übers. und hg. von Georg
Hofmann. Einsiedeln 31987, Bd. I, S. 200): »Aber seht zu, daß die heilige Dreifaltig-
keit in euch geboren werde«.
52 Maximilian Bergengruen
318; Barton, T.: Ancient Astrology. London/New York 21995, S. 75f.; Stuckrad, Kocku
von: Das Ringen um die Astrologie. Jüdische und christliche Beiräge zum antiken
Zeitverständnis. Berlin/New York 2000, S. 773f.
59 Albertus Magnus: Ausgewählte Texte. Hg. und übers. von Albert Fries. Darmstadt
42001, S. 98–102.
60 Zur Funktion und zur Verbreitung der drei Sentenzen in der Frühen Neuzeit, vgl. den
grundlegenden Aufsatz von Bauer, Barbara: »Sprüche in Prognostiken des 16. Jahr-
hunderts«. In: Haug, Walter/Wachinger, Burghart (Hg.): Kleinstformen der Literatur.
Tübingen 1994, S. 165–205. Bauer geht allerdings nicht auf den Paracelsismus ein
und paßt bei der Frage des Ursprungs und des Verteilers der Topoi (S. 173, FN 27).
Beides soll durch meine Forschungen ergänzt werden.
61 Vgl. hierzu auch Telle, Joachim/Kühlmann, Wilhelm: »Kommentar«. In: Corpus para-
celsisticum I (s. Anm. 3), S. 354.
Kosmographie und Topologie in der Natürlichen Magie der Frühen Neuzeit 55
62 Derrida, Jacques: »Außer dem Namen (Post-Scriptum)«. Übers. von Markus Sedlac-
zek. In: ders.: Über den Namen. Drei Essays. Hg. von Peter Engelmann. Wien 1993,
S. 65–121, S. 97.
63 Helmont, Johann Baptist van: Aufgang der Artzney-Kunst. Übers. von Christian Knorr
von Rosenroth. München 1971 (=ND der Ausgabe Sulzbach 1686), S. 1602. Hervor-
hebung von mir.
64 Helmont (s. Anm. 63), S. 1682.
65 Helmont (s. Anm. 63), S. 1611. Hervorhebung im Original.
56 Maximilian Bergengruen
»über den freyen Willen bey sich hat« – das kann van Helmont »nicht einmal
in seinem kleinsten Punct [...] zulassen«.66
Ähnlich hatte schon vor ihm Croll bemerkt, daß der durch die paracelsi-
sche Kombination mit der Impressio-Lehre determinierte albertinische Inkli-
nations-Topos nicht mehr für eine Theorie des Freien Willens zu gebrauchen
war, und ließ ihn – konsequenterweise in seiner Koppelung mit der Impres-
sio-Lehre – fallen. Ja noch mehr, Croll eliminiert den siderischen Einfluss
im Kosmos noch gründlicher als van Helmont, indem er die Inklinations-/
Impressionsfigur dem Vir sapiens-Topos unterordnet und so die Argumen-
tations- und Kausalitätsrichtung Paracelsus’ (und letztendlich auch Alberts)
umdreht: »Dann die eusserliche Gestirn können den Menschen zu einem
Ding weder neygen noch nöthigen [...] es incliniert oder neyget viel mehr
der Mensch das Gestirn / steckt daßelbige durch seine Magische Einbildung
an vnd bringt dardurch ganz schädliche vnd tödliche impressiones oder Ein-
truckungen zuwegen«.67
Das irdische Gestirn, den Archäus, hingegen belassen die Paracelsisten
– zumindest dem Anschein nach – in der Funktion, die ihm der Diskurs-
gründer zugeschrieben hatte. Ja sie weisen dem »Eygenen [...] Astro«68 bzw.
»eigen Himmels-Wesen in sich«69 oder »eigene[m] Stern«,70 wie sie es nen-
nen, sogar eine besonders prominente Rolle in ihrem System zu. Oswald
Croll betont, daß »alle Himmlische Astra vnd Gestirn« sich nicht nur im
»Firmament [...] sehen lassen«, sondern »auch in der Erden erschaffen, mit
jhren Geistern verborgen« sind.71
Was Autoren wie Croll oder van Helmont ihren Lesern aus diskurspoliti-
schen Gründen jedoch nur zwischen den Zeilen zu verstehen geben, ist, daß
eine metaphorische Erweiterung einer magischen Astronomie/Astrologie auf
die sublunare Sphäre – also das paracelsische Projekt, die »Astronomiam«
nicht nur auf das »Gestirn im Firmament« anzuwenden,72 – keinen Sinn mehr
macht, wenn die eigentliche Bedeutung, das siderische Gestirn, weitgehend
Am Text der Basilica Chymica, der sich Topos für Topos an der Titelgraphik
abarbeitet, läßt sich am deutlichsten ablesen, daß sich die topologische Struk-
tur der paracelsistischen Schriften auf die topographischen Vorlagen beziehen
läßt. Der in den paracelsistischen Graphiken vorgenommenen Eliminierung
der Planeten und kreisförmigen Sphären, die bei Paracelsus in einer eigen-
willigen Verwendung der aristotelisch-ptolemäischen Formensprache für den
Einfluß des Gestirns standen, entspricht auf der Ebene der paracelsistischen
Texte die Eliminierung des Inklinations-Topos aus der albertinischen Tradi-
tion, den Paracelsus (in einer ebenfalls sehr eigenwilligen Interpretation) für
eine Theorie des siderischen Einflusses aufgerufen hatte. Der formalen Domi-
nanz, die das bei Paracelsus noch unscheinbare Tria prima-T und der damit
metonymisch bezeichnete magisch-alchemisch arbeitende Wissenschaftler in
den paracelsistischen Graphiken bekommen, entspricht auf diskursiver Ebene
die Einführung eines bei Paracelsus nicht verwandten bzw. die Aufwertung
eines von ihm eher rezessiv verwandten albertinischen Topos: ›Astra sunt
signa, non causae‹ und ›vir sapiens dominatur astris‹.
Daß, wie es die Graphiken weiterhin nahe legen, der theologisch und
naturwissenschaftlich auf Basis der Tria prima arbeitende Alchemiker die
freiwerdende Machtposition des Gestirns seinem eigenen Herrschaftsraum
zuschlagen kann, wird auf textueller Ebene insbesondere durch den letzten
Topos reflektiert: Es ist nicht mehr, wie es bei Ficino und Paracelsus noch
hieß, das Gestirn, das den Menschen und die elementische Sphäre »regirt«
(s.o.), sondern der Mensch, der durch die erfahrene theologische Aufwertung
das Gestirn dominiert (»dominatur«; s.o.) – und zwar dadurch, daß er es aus
dem Herrschaftsraum des Kosmos verbannt.
Kosmographie und topologisch organisierter Diskurs stehen also im Para-
celsismus in einem wechselseitigen Erklärungszusammenhang: Ohne das
textlich gebundene Wissen ließen sich die diagrammatisch konzentrierten
und esoterisch angelegten Graphiken nicht verstehen, gleichzeitig sind sie
es, welche die inventionelle Verwendung der diskursiven Topoi vorgeben, da
sie durch ihre prominente Platzierung (als Titelgraphik wie bei Croll bzw.
Kapitel-Eingang wie bei Paracelsus und Dorn) und ihre Universalität (der
ganze Makrokosmos bzw. Mikrokosmos auf einen Blick) das textuelle Wissen
strukturieren und organisieren.
58 Maximilian Bergengruen
73 Vgl. hierzu, mit Rekurs auf Foucaults Ordnung der Dinge, Schäffner, Wolfgang:
»Schauplatz der Topographie. Zur Repräsentation von Landschaft und Körper in den
Niederlanden (1550–1650)«. In: Müller, Jan-Dirk (Hg.): ›Aufführung‹ und ›Schrift‹
in Mittelalter und Früher Neuzeit. Stuttgart/Weimar 1994, S. 596–616.
74 Vgl. hierzu Yates, Frances A.: Gedächtnis und Erinnern. Mnemonik von Aristoteles
bis Shakespeare. Berlin 31994, S. 232; 305, die aufgezeigt hat, daß die magischen
Kosmographien der Frühen Neuzeit mit dem gesamten Universum in einem flexiblen
Austausch stehen, dessen Wissen also unentwegt »anzapfen« (wie sie das nennt).
75 Croll (s. Anm. 67), S. 45.
76 Ficino (s. Anm. 56), S. 334.
Kosmographie und Topologie in der Natürlichen Magie der Frühen Neuzeit 59
Wenn Croll von den paracelsischen Texten als »Magische Wort«77 spricht,
dann greift er auf die sogenannte Logos-Theologie zurück, die auf der Prä-
misse aufbaut, daß der emanative Prozeß des Kosmos nicht nur aus dem
ungeteilten Einen, sondern genauer: aus dem »wort gottis«78 entsprungen
ist und zu ihm immer wieder zurückkehrt. Die biblischen Quellen für diese
christliche Umformung der Emanationstheorie sind Joh. 1, 1 – »Im Anfang
war das Wort / Vnd das Wort war bey Gott / vnd Gott war das Wort« – und
als dessen Quelle: 1 Mose 1, 3: »Vnd Gott sprach / Es werde Liecht / Vnd
es ward Liecht«.79
Schon Croll hatte darauf hingewiesen, daß jede Arznei »Zeichen deß
gezeichneten Worts« sein müsse, da eigentlich nur das »Wort Gottes« selbst
heile.80 Schließlich, so ergänzt der Paracelsist Joachim Tancke, sei das »gött-
lich Wort Fiat«81 Anfang und Grundlage aller emanativen Prozesse. Ähnlich
Böhme, der in De Signatura Rerum ausführt, daß der ganze emanative Pro-
zeß von »Gebährung« und »Wiedergebähren« seinen »ersten anfang[]« im
»verbo fiat« habe,82 und Fludd, der die Fabrikatur des Makrokosmos mit
dem »FIAT« beginnen läßt (Abb. 15).
Der magische Text geht also im Gemüt des Lesers oder Hörers an den
ersten Anfang einer christlich gedachten Emanation zurück; d.h. vor den
Abfall Luzifers und den Sündenfall. Er ist damit dem magischen Bild, das
lediglich eine virtuelle Einheit der Formen der »natur«, in die »Adam« nach
dem Sündenfall, also nachdem er »bös und guts« erkannt hatte, »fiel« (Para-
celsus, Astronomia magna, SW I.12, 172; Herv. von mir), präzedent.
Wenn Paracelsisten wie Fludd, Croll und Dorn den Kosmographien in
ihren Büchern eine für das Verständnis ihrer Systeme wichtige Position ein-
räumen, so handeln sie also in einem gewissen Sinne gegen ihre eigenen
metaphysischen Prämissen, denen gemäß das magische Wort in seiner Wie-
Abb. 1:
Die abgeschlagenen Hände.
Aus: Paracelsus: Der grossenn Wvndartzney / das Erst Buch [...]. Augsburg 15371
1 Diese Arbeit hätte nicht ohne den Altbestand der Universitätsbibliothek Basel und die
freundliche Unterstützung durch Dominique Hunger geschrieben und illustriert werden
können.
62 Maximilian Bergengruen
Abb. 2:
Eine etwas unangenehme Operation.
Aus: Paracelsus: Opvs Chyrvrgicvm. Wvnd und Artzney Buch.
Hg. von Adam von Bodenstein. Frankfurt a. M. 1566
Kosmographie und Topologie in der Natürlichen Magie der Frühen Neuzeit 63
Abb. 3a:
Der paracelsische Kosmos 1536.
Aus: Paracelsus, Der grossenn Wundartzney / das Erst Buch [...].
Hg. von Udo Benzenhöfer, Hannover 1989 (= ND der Ausgabe Augsburg 1536)
64 Maximilian Bergengruen
Abb. 3b:
Der paracelsische Kosmos 1537.
Aus: Paracelsus: Der grossenn Wvndartzney / das Erst Buch [...]. Augsburg 1537
Kosmographie und Topologie in der Natürlichen Magie der Frühen Neuzeit 65
Abb. 4:
Miniatur aus der Historienbibel des Evert van Soudenbach, Bd. I, um 1460.
Aus: Otto Mazal: Die Sternenwelt des Mittelalters. Graz 1993
66 Maximilian Bergengruen
Abb. 5:
Die Struktur des Makrokosmos.
Aus: Robert Fludd: Utriusque cosmi […] historia […].
Tomus Primus: De macrocosmi historia in duos tractatus diuisa. Frankfurt a. M. 1617
Kosmographie und Topologie in der Natürlichen Magie der Frühen Neuzeit 67
Abb. 6:
Die Harmonie zwischen Mensch und Universum.
Aus: Robert Fludd: Utriusque cosmi […] historia […].
Tomus Primus: De macrocosmi historia in duos tractatus diuisa. Frankfurt a. M. 1617
68 Maximilian Bergengruen
Abb. 7:
Titelgraphik der Basilica Chymica.
Aus: Oswald Croll: Basilica chymica […]. Frankfurt a. M. 1609
Kosmographie und Topologie in der Natürlichen Magie der Frühen Neuzeit 69
Abb. 8a:
Dreieck und Trinitas.
Aus: Robert Fludd: Utriusque cosmi […] historia […].
Tomus primus: De macrocosmi historia in duos tractatus diuisa. Frankfurt a. M. 1617
70 Maximilian Bergengruen
Abb. 8b:
Dreieck und Trinitas.
Aus: Robert Fludd: Utriusque cosmi […] historia […].
Tomus primus: De macrocosmi historia in duos tractatus diuisa. Frankfurt a. M. 1617
Kosmographie und Topologie in der Natürlichen Magie der Frühen Neuzeit 71
Abb. 9-14:
Aus: Gerhard Dorn: Monarchia Triadis, In Vnitate, Soli Deo Sacra.
In: ders.: Avrora Thesaurvsque Philosophorum […]. Basel 1577
72 Maximilian Bergengruen
Abb. 15:
Das göttliche Fiat. Aus: Robert Fludd: Utriusque cosmi […] historia […]. Tomus primus:
De macrocosmi historia in duos tractatus diuisa. Frankfurt a.M. 1617
Die Karte als imaginierter Ursprung 73
1 Vgl. stellvertretend Reichert, Dagmar (Hg.): Räumliches Denken. Zürich 1996, sowie
Schlögel, Karl: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geo-
politik. München 2004.
2 Zur systematischen Beschreibung dieser Dynamik auf der Basis einer differenztheore-
tischen Medienanthropologie, vgl. Verf./Doetsch, Hermann/Lüdeke, Roger (Hg.): Von
Pilgerwegen, Schriftspuren und Blickpunkten. Raumpraktiken in medienhistorischer
Perspektive. Würzburg 2004, darin insbesondere den Beitrag von Hermann Doetsch:
»Intervall. Überlegungen zu einer Theorie von Räumlichkeit und Medialität«, S. 23–
56.
3 Zur frühneuzeitlichen Konstitution eines »Weltbilds« vgl. Heidegger, Martin: »Die
Zeit des Weltbildes«. In: ders.: Holzwege. Frankfurt a.M. 61980, S. 73–110.
4 Vgl. speziell zu Reiseberichten als Modell der Wissensorganisation, welches mit-
telalterliche Kosmographien ablöst, Defert, Daniel: »Collections et nations au XVIe
siècle«. In: Duchet, Michèle (Hg.): L’Amérique de Théodore de Bry. Une collection
de voyages protestante du XVIe siècle. Quatre études d’iconographie. Paris 1987,
S. 47–67. Deferts Überlegungen verdanke ich wichtige Anregungen, selbst wenn ich
74 Jörg Dünne
den bei ihm im Vordergrund stehenden Gedanken der Formierung von Nationen zu-
gunsten medienhistorischer Reflexionen zurückstelle.
5 Vgl. dazu Weigel, Sigrid: »Zum ›topographical turn‹ – Kartographie, Topographie und
Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften«. In: KulturPoetik 2/2 (2002), S. 151–165,
hier S. 151f.
6 Vgl. Schäffner, Wolfgang: »Operationale Topographie – Repräsentationsräume in den
Niederlanden um 1600«. In: Rheinberger, Hans-Jörg u.a. (Hg.): Räume des Wissens
– Repräsentation, Codierung, Spur. Berlin 1997, S. 63–90.
7 Vgl. zum Spiel von Karte und Territorium Iser, Wolfgang: Das Fiktive und das Ima-
ginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt a.M. 1991, S. 426–430.
Im Gegensatz zu Iser geht es mir allerdings nicht um das Hervortreten einer an sich
überzeitlichen Dynamik des Imaginären in bestimmten, metaphorisch als Spiel von
Karte und Territorium zu bezeichnenden Strukturen von Fiktionalität, sondern um das
›materielle‹ Medium Karte als Auslöser konkreter, frühneuzeitlicher Techniken der
Imagination.
Die Karte als imaginierter Ursprung 75
I.
Im Jahr 1590, als der in Lüttich geborene, als Calvinist unter der spanischen
Regentschaft über Straßburg nach Frankfurt ausgewanderte Kupferstecher
und Verleger Theodor de Bry den ersten Band seiner Reisen in das Westliche
Indien publiziert, ist noch nicht abzusehen, daß sich die America-Sammlung,
wie sie meist genannt wird, zu der wohl bedeutendsten Reisesammlung im
ausgehenden 16. und beginnenden 17. Jahrhundert entwickeln wird. Nach
de Brys Tod im Jahr 1598 wird die Serie8 von seinem Sohn Johann Theodor
und seinem Schwiegersohn Matthäus Merian fortgeführt. Mit insgesamt 14
Bänden von 1590 bis 1630 sowie verschiedenen Neuauflagen und Zusam-
menfassungen stellt sie vergleichbare Unternehmungen wie zum Beispiel
Ramusios Navigationi et viaggi und auch Hakluyts Principall Navigations
schon rein quantitativ in den Schatten.9
Die enorme Popularität der Sammlung bereits unter Zeitgenossen rührt
dabei weniger von den Texten als vielmehr von den Kupferstichen aus der
Werkstatt der de Brys her; in ihrer Doppelung von Darstellung paradiesar-
tiger Szenen aus dem Leben der indigenen Bevölkerung, aus denen u.a. die
Vorstellung des ›guten Wilden‹ erwächst, sowie von Menschenopfern und
grausamen kannibalistischen Praktiken prägen sie das topische europäische
Amerikabild des 17. und noch des 18. Jahrhunderts maßgeblich mit. Überdies
hat ein Teil der Reiseberichte bzw. der Kupferstiche erheblich zur Verbreitung
der in protestantischen Kreisen begierig rezipierten antispanischen leyenda
negra beigetragen – vor allem Stiche der Bände IV-VI, die auf Girolamo
Benzonis La Historia del Mondo Nuovo basieren, leisten einer spanienkri-
tischen Historiographie Amerikas Vorschub.
Die Kupferstiche der de Brys wurden von der Forschung jedoch nicht nur
als Beitrag zu einer »politischen Ikonographie der Neuen Welt«10 verstanden,
sondern auch in ihrem Wert als ethnologisches Dokument untersucht – die
bedeutendste Monographie hierzu hat Bernadette Bucher11 vorgelegt, die die
8 Der America-Sammlung, die in den ersten Bänden noch in vier (Deutsch, Latein,
Englisch, Französisch) und später in zwei Sprachen (Deutsch, Latein) publiziert wird,
tritt ab 1597 eine weitere, 13-teilige Sammlung von Reisen in das Östliche Indien an
die Seite. Eine knappe Zusammenfassung der Entstehungsgeschichte der Reisen mit
weiterer Literatur findet sich bei Sievernich, Gereon (Hg.): America de Bry 1590–1634.
Amerika oder die Neue Welt. Die ›Entdeckung‹ eines Kontinents in 346 Kupferstichen.
Berlin/New York 1990, S. 436–440.
9 Vgl. den Überblick bei Böhme, Max: Die großen Reisesammlungen des 16. Jahrhun-
derts und ihre Bedeutung. Amsterdam 1962 [Reprint der Erstausgabe von 1904].
10 Vgl. den Titel des gleichlautenden Sammelbandes von López-Baralt, Mercedes (Hg.):
La iconografía política del nuevo mundo. Río Piedras 1990, sowie zum spezifisch
protestantischen Hintergrund der Unternehmung Lestringant, Frank: Le Huguenot et
le sauvage, Paris 1990, v.a. S. 149–182 (Kap. V).
11 Bucher, Bernadette: La sauvage aux seins pendants. Paris 1977.
76 Jörg Dünne
Stiche der Sammlung mit den Mitteln der strukturalen Mythenanalyse von
Claude Lévi-Strauss untersucht und so detaillierte semiotische Einzelbefunde
zur Struktur indigener Bräuche vorlegt, aber in ihrem ethnologischen Interesse
die Frage nach der ikonographischen Aneignung des Fremden aus europäischer
Perspektive weitgehend ausblendet. Dieser Problematik hat sich im Gefolge
des New Historicism inzwischen ein interdisziplinäres Baseler Forschungs-
projekt angenommen.12 All diese Ansätze verfahren jedoch in ihrer Analyse
eines Bildes der Neuen Welt weitgehend anthropozentrisch und widmen sich
Fragen der Konstitution geographischer Räume in ihrem medienhistorischen
Kontext, wenn überhaupt, eher am Rande. So wurde den Karten in der Samm-
lung, wenn man von dem meist quellenkundlich interessierten Zugriff von
Kartographiehistorikern absieht, bisher kaum Aufmerksamkeit entgegenge-
bracht – Beachtung fanden stattdessen zumeist nur die in dem kartogra-
phischen Setting auftretenden Darstellungen der Indianer bzw. der Eroberer.
In der Absicht, diese Lücke zu schließen, sollen zunächst kurz die medi-
enhistorischen Rahmenbedingungen der de Bryschen America-Sammlung in
Erinnerung gerufen werden: Die Folgen der Gutenberg-Galaxis für eine auf
Texten beruhende Schriftkultur sind inzwischen gut untersucht,13 nicht zuletzt
in ihren Implikationen für die skripturale bzw. typographische »Erfindung«
Amerikas.14 Insbesondere ermöglicht der Buchdruck eine Zirkulation von
Information, die der kritischen Standardisierung von Wissen ebenso Vorschub
leistet wie der dynamischen Integration von Neuem. Die Möglichkeit einer
Reisesammlung an sich ist bereits an den Buchdruck geknüpft, der disparate
Texte zusammenbringt und somit vergleichbar macht.
Eine besondere Rolle spielt in der typographischen Kultur der Frühen
Neuzeit die visuelle Information – und vor diesem Hintergrund leuchtet
unmittelbar ein, daß die America-Serie ihre große Beliebtheit vor allem den
zahlreichen, in dieser Qualität bisher ungekannten Kupferstichen von der
Neuen Welt verdankt, wobei sich die de Brys vor allem als findige Samm-
ler und versierte Bearbeiter bereits bestehenden Materials hervortun. Die
12 Der Titel des Projekts unter der Leitung der Historikerin Susanna Burghartz, das sich
vorwiegend auf die America-Serie konzentriert, lautet: »Translating Seen into Scene.
Identitätskonstruktion und Selbstrepräsentation in Eroberergeschichten über die ›Neue
Welt‹«. URL: http://www.hist.net/debry/ [08.11.2004].
13 Vgl. Eisenstein, Elizabeth L: The Printing Press as an Agent of Change. Cambridge
1980 – Giesecke, Michael: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit – Eine historische
Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnolo-
gien. Frankfurt a.M. 1998.
14 Die »Erfindung« Amerikas (die gegen die übliche Redeweise von der ›Entdeckung‹
gerichtete Formulierung stammt von O’Gorman, Edmundo: La invención de Amé-
rica, México D.F. 1956) ist nur durch mediale Dispositive überhaupt möglich. Zur
»Einschreibung« der Eroberer in eine orale Kultur vgl. Certeau, Michel de: L’écriture
de l’histoire. Paris 1975; zu den Folgen der Gutenberg-Galaxis vgl. die Beiträge in
Wenzel, Horst (Hg.): Gutenberg und die Neue Welt. München 1994.
Die Karte als imaginierter Ursprung 77
15 Vgl. stellvertretend Crary, Jonathan: Techniques of the Observer – On Vision and Mo-
dernity in the Nineteenth Century. Cambridge 1990, bzw. zur Kartographie Schäffner
(s. Anm. 5)
16 Skelton, Raleigh A. (Hg.): The Mariners Mirror. Amsterdam 1966 [Reprint der engli-
schen Ausgabe London 1588; vgl. zum folgenden die Einleitung von Skelton]. Bereits
die holländische Erstausgabe (De Spieghel de Zeevaerdt) von 1584/5 bei dem renom-
mierten Amsterdamer Verleger Plantin stößt nicht nur lokal, sondern auch international
auf große Nachfrage. 1586 erscheint deshalb eine lateinische und zwei Jahre später die
bereits erwähnte englische Fassung, die um Karten der englischen Küsten erweitert
wird. Von den insgesamt 45 Seekarten sind 17 signiert, darunter 10 von Theodor de
Bry. Die Stiche folgen in ihrer kartographischen Konzeption der Maßstabsgleichheit
und in ihrer Dekoration dem zu dieser Zeit bereits berühmten Theatrum orbis Terrarum
von Abraham Ortelius, das erstmals 1570 erscheint. Die Stecher arbeiten sowohl bei
Ortelius als auch bei Waghenaer in weitreichender Eigenverantwortung, was gute
kartographische Kenntnisse voraussetzt.
78 Jörg Dünne
17 Die schriftliche Dokumentation von Amerikareisen wird in Spanien bereits 1504 durch
die Einführung eines Bordschreibers angeordnet – vgl. dazu Siegert, Bernhard: Passage
des Digitalen. Zeichenpraktiken in den neuzeitlichen Wissenschaften 1500–1900. Ber-
lin 2003, S. 76. Zur Ausdifferenzierung der Aufzeichnung in skripturale und visuelle
Medien im Laufe des 16. Jahrhunderts vgl.: »Introduction«. In: Hulton, Paul/Quinn,
David Beers (Hg.): The American Drawings of John White, 1577–1590. 2 Bde. Chapel
Hill 1964, hier Bd. 1, S. 29–36. Zitiert wird dort u.a. die Anweisung, die Sir Richard
Hakluyt in seiner Korrespondenz zur Ausstattung der englischen Nordamerikareisen
gibt: »A skillful painter is also to be carried with you, which the Spaniards used
commonly in all their discoveries to bring the descriptions of all beasts, birds, fishes,
trees, townes, etc.« (ebd., S. 34). Zur Absicht Richard Hakluyts, de Bry durch eine
Publikation protestantischer Reiseberichte für seinen (zunächst erfolglosen) Versuch
einzuspannen, die englische Königin zu einem stärkeren kolonialen Engagement zu
bewegen, vgl. Lestringant (s. Anm. 10), v.a. S. 212.
18 Zur Einordnung de Brys in eine manieristische, via Étienne Delaune von der Schule
von Fontainebleau beeinflußten Strömung der Druckgraphik vgl. Hind, Arthur M.: A
History of Engraving & Etching. New York 31963, S. 124f.
Die Karte als imaginierter Ursprung 79
II.
19 Vgl. allgemein zur beglaubigenden ›Vorgängigkeit‹ des Bilds vor der Sprache Giesecke
(s. Anm. 13), S. 597–639, v.a. S. 624. Zum Realitätseffekt der Abbildungen in den
America-Bänden vgl. bereits Duchet, Michèle: »Le texte gravé de Théodore de Bry«.
In: dies.: L’Amérique de Théodore de Bry. Une collection de voyages protestante du
XVIe siècle. Quatre études d’iconographie. Paris 1987, S. 9–46, hier S. 37.
20 Die frühneuzeitliche Koexistenz von Schrift- und Bildmedien auf der Karte erfüllt
somit die Bedingungen einer medienimmanenten Intermedialität in ausgezeichneter
Weise. Vgl. hierzu grundlegend Paech, Joachim: »Intermedialität«. In: Albersmeier,
Franz-Josef (Hg.): Texte zur Theorie des Films. Stuttgart 42001, S. 447–475.
21 Meine Textgrundlage, aus der in Folge im laufenden Text zitiert wird, bildet ein Ex-
emplar der Sammlung unter dem fingierten Sammeltitel America in der UB München
(Sign.: 0014/W 2 Itin. 108(1), in dem die Bände I-VIII in ihrer deutschen Erstauflage
zusammengebunden sind. Angegeben werden dabei der Band in römischen Großbuch-
staben, darauf die Seitenangabe (falls vorhanden) in arabischen Ziffern bzw. die Num-
mer des Kupferstichs in kleinen römischen Ziffern (diese Angabe bezieht sich auch
auf den Bildtext). Zum Vergleich habe ich den Reprint der Bände I-V im Münchener
Kölbl Verlag von 1970 nach dem Original der Staats- und Stadtbibliothek Augsburg
herangezogen (dort entstammt der erste Band der zweiten Auflage von 1600; an eini-
gen Stellen ist außerdem die Seitenreihenfolge durcheinander und auch die Anordnung
der Karten variiert teilweise gegenüber dem Münchener Exemplar). Schließlich zitiere
ich die einbändige, ebenfalls unter dem Obertitel America laufende Zusammenfassung
der Reisen von 1617, für die als Autor Philipp Ziegler und als Herausgeber Johann
80 Jörg Dünne
Abb. 1:
»Americae pars, nunc Virginia dicta ...«
Theodor de Bry sowie Matthäus Merian genannt werden, ebenfalls nach dem Exemplar
der UB München (Sign. 0014/W 2 Itin. 92) mit der Sigle »Z« statt mit Bandangabe.
Eine Wiedergabe aller Kupferstiche der gesamten Serie findet sich, größtenteils in
kolorierter Fassung, bei Sievernich (s. Anm. 8).
22 In Band I des verwendeten Münchener Exemplars von 1590 ist die abgebildete Vir-
ginia-Karte allerdings nicht gefaltet, sondern mittig in den Band eingeheftet und wird
auch im Register der Kupferstiche des Bandes als erster Stich verzeichnet. In der
zweiten Auflage von 1600 ändert sich dies – die Karte ist dort, wie auch bei allen
Karten der anderen Bände, nicht Teil des Registers und bekommt zusätzlich durch
ihre Faltung einen paratextuellen Status.
Die Karte als imaginierter Ursprung 81
Im VI. Band findet sich schließlich als Variation der Kartendarstellung ein
ebenfalls separat eingeklebter und ausklappbarer Stich, auf dessen zwei-
dimensionaler Fläche ein Globus simuliert wird – auf der dem Betrachter
zugewandten Seite ist Amerika dargestellt. Um die Erdkugel herum stehen
die vier von de Bry immer wieder in Titelkupfern und anderswo dargestellten
›Entdecker‹ Kolumbus, Vespucci, Magellan und Pizarro, wobei alle bis auf
Kolumbus Navigationskarten in Händen halten. Diese emblematische Darstel-
lung weist der Kartographie eine besondere Funktion bei der Erschließung
Amerikas zu, wobei sich nicht nur die Navigatoren selbst mit Karten orien-
tieren, sondern der Leser kann mit Hilfe der Karten in de Brys Reisesamm-
lung dieselbe Aufgabe übernehmen: Er wird in die Lage versetzt, einen Weg
nachzuvollziehen, den andere Reisende vor ihm beschritten haben.
Der Hinweis auf den imaginierten Nachvollzug von Reisen auf Karten
ist ein gängiges, fast schon topisches Motiv in der geographischen Literatur
der Frühen Neuzeit. Besonders deutlich tritt er in den von Georg Braun her-
ausgegebenen Stadtansichten Frans Hogenbergs hervor, die Civitates orbis
terrarum, die als chorographisches, d.h. lokalgeographisches Pendant zu den
Weltkarten von Ortelius’ Theatrum konzipiert wurden. In Georg Brauns Vor-
wort zum dritten Band der insgesamt sechsbändigen Serie wird zunächst
Ortelius als Wegbereiter des imaginären Reisens auf der Landkarte gewürdigt,
bevor es über die eigenen chorographischen Abbildungen heißt:
Dann was möchte man doch lieblicheres sagen oder dencken können, dann daß einer
an einem sichern und von aller gefehrlichkeit freyem ort, daheim in seinem Hause,
die gestalt der gantzen Erden, darin wir wohnen, mit jren besonderen Landschafften,
Flüssen, und Bächen, unterscheiden, darzu mit Stätten und Flecken gantz zierlich
herauß gestrichen, in diesen Büchern beschawen, auch durch anschawen dieser Con-
trafeytungen und lesen der hinzu gethanen verzeichnissen, eben dasselbige erfahren
und erlehrnen kann, welches ander leut mit fernem und mühseligem reisen endlich
kaum haben können erlangen.23
23 Zitiert nach Büttner, Nils: Die Erfi ndung der Landschaft. Kosmographie und Land-
schaftskunst im Zeitalter Bruegels. Göttingen 2000, S. 18f. Büttners Studie liefert
weiteres Material zu diesem Topos der frühneuzeitlichen geographischen Literatur und
stellt auch die enge Verbindung zu Ortelius ausführlich heraus (vgl. S. 166–172).
82 Jörg Dünne
24 Vgl. zu der Tatsache, daß die Karte im Zeitalter der Atlanten sich nicht mehr selbst
genügt und ›verweisungsbedürftig‹ wird, d.h. nach Ergänzung durch Texte verlangt,
Jacob, Christian: L’empire des cartes. Approche théorique de la cartographie à travers
l’histoire. Paris 1992, S. 103.
25 Hinzu kommt nach dem Abbildungsteil noch ein weiterer Bericht von der vierten Reise,
in der sich die Franzosen an den Spaniern für die zuvor erlittene blutige Zerstörung
ihrer Siedlung rächen und unter dem Hauptmann Dominique de Gourgues ihrerseits
die neu errichteten spanischen Befestigungsanlagen stürmen. Vgl. dazu Lestringant
(s. Anm. 10), S. 156f.
Die Karte als imaginierter Ursprung 83
III.
Ausschnitt der Küste, an dem sich die Engländer um Landung bemühen, aber,
wie die Legende zur Abbildung erläutert, aufgrund der zahlreichen Untiefen
immer wieder scheitern (vgl. Abb. 2). Der Titel der im Register nach der
Übersichtskarte als zweiter Kupferstich geführten Abbildung lautet: »Von
der ankunfft der Engellender in Virginia«. Das Kartenbild zeigt dabei simul-
tan Szenen, die faktisch nacheinander stattgefunden haben, was Bernadette
Bucher als »rotative Methode« der Bilderzählung charakterisiert hat.31 Die
Erzählung wird innerhalb eines Bildes fortgesponnen zum Aufbau des Forts
Roanoke, das man auf einer Insel bereits erbaut sieht und zum Kontakt mit
den Indianern, die auf »Weidlingen«, d.h. Einbäumen, durch die Lagune
hinter den Untiefen paddeln. Im Verhältnis zum Text zeigt die Abildung
jedoch nicht nur etwas, was faktisch stattgefunden hat, sondern führt auch
vor Augen, was passieren könnte:32 Die Karte weist auf die Stellen mög-
Abb. 2:
»Von der ankunfft der Engellender in Virginia«
Abb. 3:
»Der Fürsten und Herrn in Virginia abcontrafeytung«
Abb. 4:
»Ein edel Weib von Pomeiooc«
Bei der analytischen Progression von der Gesamtheit zum Detail gibt es sogar
noch eine weitere Zwischenstufe: In beiden oben erläuterten Karten bzw.
kartenähnlichen Stichen (Abb. 1/2) finden sich auch indianische Siedlungen
verzeichnet, die in den Stichen xix (»Die Statt Pomeiooc«) und xx (»Die
Statt Secota«, vgl. Abb. 5) als detaillierte chorographische Ortsdarstellungen
wieder auftauchen. Der ›Stadtplan‹ von Secota weist eine besonders inten-
sive Verknüpfung von Legendentext und Bildelementen auf, da in den Stich
Großbuchstaben34 eingefügt sind, die in der beigefügten Legende erläutert
werden. Von diesen speziell hervorgehobenen Bildelementen aus lassen sich
wiederum neue ›Links‹ zu mindestens zwei weiteren Stichen legen, die beide
auch im Legendentext erwähnt werden: Ein Fest, bei dem die Indianer im
Kreis tanzen (im ›Stadtplan‹ rechts unten, markiert mit dem Goßbuchstaben
C), wird detailliert bereits zuvor, nämlich in Stich xviii dargestellt (»Wie die
in Virginia auff iren hohen Festen zu tantzen pflegen«), und das Leichenhaus
der Indianer, im Stadtplan ganz links unten mit dem Buchstaben A bezeich-
net, taucht in der Folge wieder als die insgesamt vorletzte Abbildung (xxii:
»Vom Begräbnis der großen Herren in Virginia«) auf.
34 Vgl. zur zunehmend engen Verknüpfung von Text und Bild als allgemeines Kennzei-
chen des frühneuzeitlichen typographischen Zeitalters Giesecke (s. Anm. 13), S. 626–
635.
Die Karte als imaginierter Ursprung 87
Abb. 5:
»Die Statt Secota«
enthält mit dem Versuch des Vordringens der Engländer an die Küste eine
potentiell ereignishafte Entfaltung narrativer Strukturen im geographischen
Raum35 – hier steht die englische Expedition im Mittelpunkt und hier wird
auch zum einzigen Mal der Stützpunkt der Engländer, das Fort Roanoke
Gegenstand der Abbildung, wenn auch schon nicht mehr des sie erläuternden
Textes. Dieser erste Stich samt Begleittext stellt also ansatzweise eine narra-
tive Ergänzung des von Harriot im ersten Teil des Bandes entfalteten deskrip-
tiven Tableaus dar.
Der Rest der Abbildungen folgt jedoch dieser angedeuteten narrativen
Tendenz nicht: Stattdessen erstellen diese weitgehend unabhängig vom Text
Thomas Harriots ein alternatives Tableau der indianischen Sitten, das sich
dadurch auszeichnet, daß fast alle der in Detailabbildungen dargestellten Sze-
nen aus dem Leben der Indianer in einen größeren, räumlich auf der Karte
lokalisierbaren Zusammenhang eingeordnet werden. Selbst wenn innerhalb
einzelner Abbildungen eine gewisse Sukzessivität gegeben ist,36 dominiert
doch insgesamt die deskriptive Bestandsaufnahme, die idealiter in ein geo-
graphisch strukturiertes Gesamt-Tableau münden würde, in dem alle Details
überblicksartig enthalten sind. Dieses Verfahren, das nach Michel Foucault
epistemologisch mit dem beginnenden Zeitalter der Repräsentation verknüpft
werden kann,37 läßt sich auch in eine Geschichte rhetorischer bzw. mnemo-
technischer Tradition einordnen: Die Karte erfüllt die Funktion einer Topik,
die mit einzelnen loci besetzt werden kann.38 Als die entscheidende Verände-
rung der Topik in der Frühen Neuzeit kann dabei gelten, daß nunmehr jede
35 Der Begriff »Ereignis« wird im Sinn von Jurij Lotman verwendet, der die Sujetkon-
stitution von Erzählungen auf der Grundlage eines Raummodells definiert, das hier
topographisch in Form einer kartographischen Fläche konkretisiert ist. Vgl. Lotman,
Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte. Aus dem Russischen übers. von Rolf-Dietrich
Keil. München 1972, S. 311–347.
36 Vgl. z.B. die Stadtplanbeschreibung von Secota, wo der Verfasser der Legende sich
bisweilen bemüht, das Nebeneinander auf dem Stadtplan durch ein Handlung sugge-
rierendes Nacheinander im Text zu dynamisieren: »Sie haben auch einen sonderlichen
Platz mit C gekennzeichnet/ auff welchem/ wann sie mit ihren Nachbawren allda zu-
sammen kommen/ ihre järliche hohe Fest (...) begehen. Darnach gehen sie auff einen
ort/ durch den Buchstaben D bedeutet/ und halten daselbst ihre Gastereyen.« (I, xx)
37 Vgl. Foucault, Michel: Les mots et les choses – Une archéologie des sciences humaines.
Paris 1966, v.a. S.60–91, sowie explizit zur Verknüpfung von Karte und Repräsentation
Marin, Louis: »Les voies de la carte«. In: Ausst.-Kat. Cartes et fi gures de la terre.
Paris 1980, S. 47–54.
38 Die Bedeutung der Topik bei der rhetorisch bzw. memorial bestimmten Raumkon-
stitution in frühneuzeitlichen Reiseberichten hat insbesondere Wolfgang Neuber her-
ausgearbeitet: Fremde Welt im europäischen Horizont. Zur Topik der deutschen Ame-
rika-Reiseberichte der Frühen Neuzeit. Berlin 1991; allerdings hebt seine Studie die
Verschiebungen der traditonellen rhetorischen Funktion der Topik nicht besonders
hervor. Vgl. zur Ersetzung der rhetorischen Topik durch die Methode im Rahmen der
ramistischen Dialektik die klassische Studie von Ong, Walter: Ramus, Method, and
Die Karte als imaginierter Ursprung 89
Disziplin ihre eigene Topik entwickelt, daß also nicht mehr eine allgemeine,
rhetorisch geregelte Vorgehensweise des Findens von Argumenten für alle
Wissenschaften taugt.39 Für die visuelle Organisation von reisebezogenen
Informationen, d.h. hier für die Beschreibung des Lebens der Indianer von
Virginia scheint es vor allem die Kartographie zu sein, die den geeigneten,
geographisch strukturierten Raum des Wissens anbietet, um alle aufzeich-
nenswerten indianischen Tätigkeiten präzise auf der zweidimensionalen
Matrix der amerikanischen Landschaft zu lokalisieren.
IV.
the Decay of Dialogue. From the Art of Discourse to the Art of Reason. Cambridge,
Mass. 1958.
39 Vgl. Giesecke (s. Anm. 13), S. 630–635.
40 Es ist anzunehmen, daß die bis auf eine Ausnahme heute nicht mehr erhaltenen Zeich-
nungen sowie auch der Reisebericht Le Moynes von seiner Florida-Reise bei dem
spanischen Überfall auf das französische Fort verlorengegangen sind und erst lange
danach, d.h. wohl in den späten 1580er Jahren, von ihm u.a. durch Rekurs auf frem-
de, bereits schriftlich aufgezeichnete bzw. im Druck verfügbare Quellen rekonstruiert
werden. Nicht erst de Bry, sondern auch der Augenzeuge Le Moyne selbst suppleiert
also seine eigene Augenzeugenschaft mit der Exteriorität visueller und textueller Me-
dien. Vgl. dazu einmal mehr Lestringant (s. Anm. 10), S. 183–202, sowie allgemein zu
Leben, historischem Kontext und Quellen für Karten und Bilder Le Moynes: »Intro-
duction«: In: Hulton, Paul (Hg.): The Work of Jacques Le Moyne de Morgues. A Hu-
guenot Artist in France, Florida and England. 2 Bde. London 1977, Bd. 1, S. 1–84.
90 Jörg Dünne
wie auch bereits bei Band I, ohne weiteres auf der Florida-Gesamtkarte ein-
ordnen. Diese trägt ihrerseits Hinweise auf narrative Ereignisse, wenn z.B.
der Punkt, wo die Schiffe der zweiten Expedition zuerst auf Land gestoßen
waren, mit den Worten »Laudonnierus hic appulit« bezeichnet wird.
Von besonderem Interesse ist der achte Stich, mit dem der Bericht von der
zweiten französischen Reise einsetzt, weil er eine Verbindung zur ersten Reise
herstellt, womit nun neben der räumlichen auch eine zeitliche Dimension in
die kartographische Repräsentation Einzug hält: In Stich vi wurde bereits
dargestellt, wie die Franzosen unter Ribault in dem von ihnen erkundeten
Gebiet eine Säule aufstellen, die ihre Landnahme markiert (vgl. Abb. 6).
Diese Säule als Insignie der Herrschaft ist als das am deutlichsten hervorge-
hobene Element des ganzen Stichs mit dem Großbuchstaben F markiert. Die
Abbildung dieser Säule wird nun in der ersten Abbildung, die eine Szene aus
der zweiten Reise unter René de Laudonnière illustriert, d.h. in Stich viii,
wieder aufgegriffen (vgl. Abb. 7).
Abb. 6:
»Wie der Frantzosen Oberster eine Seul/ daran das Wapen deß Königs
auß Frankreich/ auffrichten lassen«
Der letztgenannte Stich (Abb. 7) scheint auf den ersten Blick eher in eine
Serie zu passen, die die Sitten und Gebräuche der Indianer abbildet – die
scheinbar deskriptive Wiedergabe einer kultischen Szene verquickt sich hier
Die Karte als imaginierter Ursprung 91
Abb. 7:
»Wie die Wilden in Florida die Seul/ vom Obersten in seiner ersten Schiffahrt
auffgerichtet/ verehrt haben«
41 Dieselbe Szene findet sich in leicht veränderter Form auch in René de Laudonnières
Histoire notable de la Floride sitvée es Indes, Paris 1946 [Reprint der Ausgabe von
1586], S. 37f.
92 Jörg Dünne
Offensichtlich werden die Franzosen von dem Kult der Indianer, an dem
sie sogar selbst zur Mitwirkung aufgefordert werden, überrascht. Was die
Indianer in kultischer Verehrung überhöhen, ist die gängige Zeremonie der
Landnahme, die für die europäischen Eroberer die Verbindung zwischen der
auf Papier aufgezeichneten kartographischen Beschreibung und der vor Ort
und unter Zeugen auszuführenden Besetzung des entsprechenden Territoriums
herstellt. Die Überraschung der Franzosen rührt wohl daher, daß die Indianer
diese ihnen faktisch uneinsichtige Handlung nicht nur scheinbar anerkennen,
sondern sie sogar in einem religiösen Kontext fortsetzen und so den Europä-
ern ein idealisiertes Bild ihrer eigenen Kolonisierung widerspiegeln.42
Die kultische Verehrung der französischen Landmarke ist jedoch von den
kolonialgeschichtlichen Realitäten zu diesem Zeitpunkt längst bedroht – so
haben die Spanier unter Manrique de Rojas43 bereits 1564, d.h. unmittelbar
nach dem ersten französischen Kolonisierungsversuch, eine andere Säule
zusammen mit der Schleifung der ersten französischen Festung Charlesfort
wieder entfernt; die zweite Landmarke, unweit derer die Franzosen ihre zweite
Festung errichten, steht zu diesem Zeitpunkt noch, sie fällt aber schließlich
dem Angriff auf Fort Caroline im Jahr 1565 zum Opfer. Die Verehrung der
Säule durch die Indianer drückt also letztlich weniger die ›ethnologische‹
Schilderung eines indigenen Brauchs als den bedrohten Wunsch einer erfolg-
reichen Kolonisierung durch die Franzosen aus, der sich in der indianischen
Handlung spiegelt. Interessant ist dabei vor allem die Tatsache, daß sich
diese komplexe symbolische Interaktion von indigener Handlung und fran-
zösischem Begehren an einem markierten Punkt auf der Landkarte entzündet,
der gleichsam die Funktion eines Erinnerungszeichens für etwas übernimmt,
was auf den europäischen Landkarten der Zeit, in der die America-Sammlung
entsteht, schon längst nicht mehr existiert.44 Die ersten Stiche des zweiten
Bandes, und insbesondere die diskutierte Landmarke, schaffen eine Geogra-
phie der Erinnerung, die das amerikanische Paradies der protestantischen
Seefahrer von vornherein mit der Signatur des Vergangenen versieht.
Dieses Erinnerungszeichen funktioniert allerdings nur für Eingeweihte
bzw. wenn man auch den Text des Reiseberichts miteinbezieht: Im Bildteil
des Bandes bricht die narrative Sequenz der zweiten französischen Reise
42 Diese performative Szene eines Kulturkontakts verläuft somit gänzlich anders als das
›unilaterale‹ (und letztlich scheiternde) Ritual der Inbesitznahme, das Steven Green-
blatt bei Kolumbus analysiert: Wunderbare Besitztümer. Die Erfi ndung des Fremden:
Reisende und Entdecker. Aus dem Amerikan. übers. v. Robin Cackett. Berlin 1994,
S. 85–132, v.a. S. 91–98.
43 Vgl. Lorant (s. Anm. 32), S. 9f.
44 Auch auf der großen, den Band II einleitenden Florida-Karte (II, o.S.) finden sich an
der nordamerikanischen Küste keine Symbole für Landmarken – die in spanischer
Hand befindliche Karibik dagegen weist etliche solcher Markierungen auf.
Die Karte als imaginierter Ursprung 93
nach dem Bau des Fort Caroline (II, ix/x) ab.45 Die Darstellung geht für
die folgenden 30 Stiche wiederum in ein deskriptives Tableau indigener
Gebräuche über und bildet ein Pendant zu den entsprechenden Stichen des
ersten Teils. Der letzte Stich Nummer xlii, der den Bildteil und damit den
Band überhaupt abschließt, stellt allerdings insofern einen Sonderfall dar,
als mit ihm eine Rückkehr zur Narration erfolgt: In ihm wird ein Franzose
als Opfer eingeführt. Der Stich zeigt die Ermordung des Händlers Pierre
Cambie durch zwei Indianer (vgl. Abb. 8). Am Ende des Bildkommentars
folgt sogleich eine fast entschuldigende Rechtfertigung des Herausgebers
für die Aufnahme der Abbildung: »Diese Figur (auff daß sie die Ordnung
der vorher gehenden Historien nicht von einander theilet/ und also verstöret)
ist darumb auffs lezt hieher gesetzt. Sie wer auch gar auß gelassen worden/
woferrn der/ so den Außzug/ dieser gantzen Geschichte/ jrer keine Meldung
gethan hette.« (II, xlii)
Abb. 8:
»Welcher Gestalt Petrus Cambie/ ein Frantzoß/ umb sein Leben kommen«
45 Vgl. zu dieser Diskrepanz von Text und Bild Burghartz, Susanna: »Transformation
und Polysemie. Zur Dynamik zwischen Bild, Text und Kontext in den ›Americae‹
der de Bry«. In: Ilg, Ulrike (Hg.): Text- und Bildtraditionen in Reiseberichten des 16.
Jahrhunderts. Florenz 2004 [im Druck]; im Internet unter: http://www.hist.net/debry/
polysemie.htm [08.11.2004]; im folgenden zitiere ich nach den Seitenangaben der
unter genannter URL abrufbaren pdf-Version des Aufsatzes.
94 Jörg Dünne
Hier stößt das Bildprogramm, das in den ersten beiden Bänden in seiner
Gesamtheit deutlich auf Darstellung eines harmonischen Kontakts mit den
Indianern in einer paradiesischen Landschaft46 angelegt ist, an seine Gren-
zen – Narration im Sinne sujethafter Ordnungszerstörung hält Einzug in das
Tableau eines Goldenen Zeitalters. Metonymisch verweist dieses im Bild
unmittelbar bevorstehende Einbrechen von Gewalt (der Indianer hat mit dem
Beil ausgeholt, um dem Franzosen den Schädel zu spalten) für den Leser,
der den Text bzw. die historischen Zusammenhänge kennt, auf das spanische
Massaker an den Franzosen, das in den Stichen ansonsten gänzlich unthe-
matisiert bleibt und nur im Textteil ausführlich beschrieben wird. Wird bis
hierhin die visuelle Darstellung von Gewalt zugunsten der Hervorhebung des
Kontrasts zwischen dem friedfertigen, englisch und französisch geprägten
Nordamerika und dem konfliktreichen, von Spaniern und Portugiesen ero-
berten Südamerika in den Hintergrund gedrängt, so bricht sie sich in den
folgenden Bänden auch in den Stichen Bahn, vor allem mit Girolamo Ben-
zonis Historia, die über die Greueltaten der Spanier bei der Eroberung des
amerikanischen Kontinents berichtet.
V.
46 Vgl. dazu auch den Band I einleitenden Stich von Adam und Eva im (amerikanischen)
Paradies, das Hildegard Frübis als Entwurf eines protestantischen Gegenbilds zum
Europa der Religionskriege deutet: Die Wirklichkeit des Fremden: die Darstellung der
Neuen Welt im 16. Jahrhundert. Berlin 1995, S. 129f.
47 Ich lege den Supplementaritätsbegriff von Jacques Derrida zugrunde, den bereits
Michèle Duchet (s. Anm. 19, S. S. 31) benutzt, um das Verhältnis von Text- und
Bildteil zu beschreiben.
Die Karte als imaginierter Ursprung 95
aus den bereits publizierten Bänden ausgewählt; dabei werden die Reisen
auch erstmals in eine chronologische Anordnung gebracht. Ich kann hier an
Susanna Burghartz’ ausführliche Untersuchung der Veränderung der histo-
rischen Aussage des Bandes anschließen, die sich insbesondere daran fest-
macht, daß in der Zusammenfassung zwei neue Stiche auftauchen, die nun die
Bild-Erzählung auch auf das spanische Massaker und die französische Rache
ausdehnen.48 Daneben – und dies ist der für mich entscheidende Aspekt – hat
Burghartz auch bemerkt, daß der Text der Bildlegenden, der sich aus einer
kartographischen Matrix heraus entwickelt hat, nun nahezu vollständig an
die Stelle des ursprünglichen Textteils des Bandes mit seinem zusammen-
hängenden Bericht von Jacques Le Moyne tritt. Der Text der Fassung von
1617 ist also weitgehend eine Zusammenfassung der Bildlegenden, wobei
die zugehörigen Stiche teilweise sogar verschwinden. So wird von den bei-
den ursprünglichen Stichen, die sich mit der bereits weiter oben analysierten
Landmarke beschäftigen, nur der zweite (II, viii bzw. Z, 177) wiederverwen-
det, der zugehörige Text stammt allerdings weitgehend aus der Bildlegende
des ersten Stichs (II, vi), d.h. aus dem Kontext von Ribaults Reise. Das im
zweiten Stich Dargestellte wird nur mittels einer neu hinzugefügten narra-
tiven Prolepse, d.h. mit einem Vorgriff auf das, was bei der zweiten Reise
passieren wird, erwähnt: »[...] haben sie auß Befehl den Obersten auff einem
Bühel die Seul auffgerichtet/ welcher hernach der König Athore mit seinem
Volck im beysein des Herrn Laudonniere geopffert/ mit Kräntzen gezieret
und göttliche Ehr angethan.« (Z, 175)
Mit der Auslassung des Stichs vi tritt zwar die Kartographie auf Bildebene
in den Hintergrund, doch auf Textebene bleiben gerade die aus verschie-
denen Quellen kompilierten Aussagen bestehen, die aus der Erläuterung des
Kartenbildes entstanden waren. Man kann also behaupten, daß der dominant
narrative Text der Zusammenfassung von 1617 der textuell aktualisierte par-
cours einer Karte ist, die selbst nur noch spurhaft als Erzeugungsmatrix des
Textes erschließbar ist.
In gewisser Weise ist selbst die narrative Technik der Distanzierung, die
im Text von 1617 deutlich wird, ein kartographischer Effekt. Der Text der
Ausgabe formt konsequent alle homodiegetischen Berichte, darunter auch die
Erzählung Hans Stadens im dritten Band, die vielleicht am deutlichsten in der
ganzen America-Serie ein persönliches Schicksal zum Gegenstand des Erzäh-
lens macht, zu einer heterodiegetischen historiographischen Erzählung um.
Dabei macht sich der Erzähler jedoch letztlich nur die – nicht an handelnde
Personen gebundene – Überblicksperspektive zu eigen,49 die die Stiche mit
ihrer kartographischen Matrix immer schon vorgegeben hatten: Bereits im
zweiten Band waren die Franzosen in einigen Stichen nicht als Handelnde,
sondern in ihrer Beobachterposition erster Ordnung mit abgebildet worden
(vgl. II, xii/xvi/xviii/xxix/xxxii/xxxiv/xxxv); entsprechend taucht im dritten
Band auch der erzählende Hans Staden in den Stichen, die von seiner Reise
erzählen, als handelndes Objekt einer anderen Beobachtung auf. Die karto-
graphische Matrix konstituiert gewissermaßen eine entsubjektivierte Beo-
bachterperspektive zweiter Ordnung – der Kompilator folgt diesem Mandat
und formuliert seine Zusammenfassung aus einer kartographisch induzierten
Perspektive heraus.
Nicht nur im Hinblick auf das Erzählte, sondern auch bezüglich der Ver-
fahren seiner Präsentation zeigt sich die Karte also als Matrix des Textes; ihr
Verschwinden von der Oberfläche der Seite im Vergleich mit der Erstfassung
der Sammlung bedeutet letztlich nur, daß in den Text selbst nun eine ›karto-
graphische Schreibweise‹ eingegangen ist.
VI.
50 Vgl. zur Karte als deiktischer Zeigfläche Stockhammer, Robert: »›An dieser Stelle‹.
Kartographie und die Literatur der Moderne«. In: Poetica 33/3–4 (2001), S. 273–
306.
Die Karte als imaginierter Ursprung 97
tet, die Reisen auf Karten vollführen: »[...] porque los cortesanos, sin salir
de sus aposentos ni de los umbrales de la corte, se pasean por todo el mundo
mirando un mapa, sin costarles blanca, ni padecer calor ni frío, hambre ni
sed [...].«51 Auf der Figurenebene des Romans ist diese Aussage als Kritik
am Reisen mit dem Finger auf der Landkarte (und an der bloß imaginierten
Raumkonstitution im populären Ritterroman) zu verstehen, dem Don Quijote
das wirkliche Reisen und die tatsächlichen Kämpfe des echten fahrenden
Ritters (also seine eigenen) gegenüberstellt. Auf der Textebene zeigt sich
jedoch, daß Reisen – egal, ob imaginiert oder tatsächlich – in dieser Epoche
auf der Grundlage von Landkarten stattfindet. Don Qujotes Insistenz auf
rein körperlich erfahrenen Räumen verkennt, daß er sich selbst in einem
kartierbaren Raum befindet.52
Dies wirft abschließend wiederum die Frage auf, warum sich die fikti-
onale Literatur in der Frühen Neuzeit offenbar derselben kartographischen
Vorstellungstechniken zur Konstitution von Erzählräumen bedient wie auch
faktuale Texte. Dies könnte einmal damit zu tun haben, daß fiktionale Texte
als Legitimierungsstrategie zeitgenössische bürokratische Aufzeichnungs-
techniken einsetzen, wie Wolfgang Schäffner nachgewiesen hat.53 Es könnte
auch damit zusammenhängen, daß, wie angedeutet, Karten per se einen vir-
tuellen Als-ob-Raum eröffnen, der einen neuen, auch für literarische Texte
im engeren Sinn interessanten Fiktionsbegriff ins Spiel bringt.
Das obige Cervantes-Zitat wirft schließlich noch eine letzte Frage auf, die
hier ebenfalls nur noch gestellt, nicht aber beantwortet werden kann. Warum
beschränkt Don Quijote die Möglichkeit kartographischen Reisens hier auf
den Königshof? Im unmittelbaren Kontext des Romans hat sein Bericht über
den Hof die Funktion, eine komische Fallhöhe zu erzeugen, denn er berichtet
in dieser Situation seiner Nichte und seiner Haushälterin aus einer jenseits
ihrer Vorstellungskraft liegenden sozialen Welt. Allerdings scheint durch die
eigentümliche quijotische Doppelperspektive des Verrückten, der gleichzeitig
einen treffenden Blick auf die gesellschaftlichen Zustände seiner Zeit wirft,
eine durchaus ernstzunehmende Frage durch, die sich darauf bezieht, wer
51 Cervantes, Miguel de: Don Quijote de la Mancha. 2 Bde. Hg. Francisco Rico. Barcelo-
na 1998, Bd. 2, S. 672 [II, 6]. Deutsche Übersetzung von Ludwig Braunfels (München
161988, S. 586): »[...] Denn die Ritter vom Hof, ohne ihre Gemächer zu verlassen und
die Schwelle des Königshauses zu überschreiten, die spazieren auf einer Landkarte
durch die ganze Welt, und es kostet sie keinen Pfennig, und sie erdulden dabei nicht
Hitze noch Kälte, weder Hunger noch Durst [...]«.
52 Anderswo, in Kapitel 29 des zweiten Teils (Bd. 2, S. 867–874), ›navigiert‹ Don Quijote
dagegen nach allen Regeln der Kunst mit einem Boot auf dem Ebro, den er für den
Atlantik hält, und zeigt somit, daß er durchaus bereit ist, neuzeitliche Orientierungs-
techniken zu benutzen, solange sie sich in seine ritterliche Welt einbinden lassen.
53 Schäffner, Wolfgang: »Die Verwaltung der Endlichkeit. Zur Geburt des neuzeitlichen
Romans in Spanien.« In: Goebel, Eckart/Koppenfels, Martin von (Hg.): Die Endlichkeit
der Literatur. Berlin 2002, S. 1–12.
98 Jörg Dünne
54 Vgl. zum Beginn einer »política do sigilo« (Politik der Geheimhaltung) bei der portu-
giesischen und spanischen Krone zu Beginn des 16. Jahrhunderts Pinto, João Rocha:
A viagem: Memoria e espaço. A literatura portuguesa de viagens. Lissabon 1989,
hier S. 157. Zur in dieser Hinsicht exemplarischen Doppelfunktion von Juan López
de Velasco als Kosmograph und Zensor vgl. Schäffner (s. Anm. 52), S. 7f.
55 Vgl. hierzu Siegert (s. Anm. 17), S. 71–77.
Die Karte als imaginierter Ursprung 99
Technik. Zugleich auch eine Anekdote vom Raum: von der Wirksamkeit der
Landvermessung, aber auch von der Ohnmacht des Kartographen vor Ort:
Man weiß nicht, ob Niebuhr die Antwort seines Bedienten gebilligt hat,
jedenfalls scheint er den Ort, an dem er technisch so mächtig war, fluchtartig
verlassen zu haben. Für den Leser liegt die Ironie der Geschichte natürlich
darin, daß gerade der Aberglaube der anderen die Wirkung der europäischen
Technik präzise ausspricht: Gut dreißig Jahre später werden die französi-
schen Geographen der napoleonischen Ägypteninvasion – auf der Basis von
Niebuhrs Messungen und Berichten – Ägypten unter dem Schutz der Expe-
ditionstruppen viel genauer vermessen und tatsächlich ›alles über den Hau-
fen werfen‹, indem sie nicht nur Ägypten unterwerfen, sondern jenes neue
Verhältnis Europas zu seinem Anderen begründen, das man gemeinhin als
›Orientalismus‹ bezeichnet. Für Niebuhr – wie überhaupt für das 18. Jahrhun-
dert – ist der Orient dagegen noch nicht das schlechthin Andere; immerhin
versucht sein abschließender Kommentar, die Reaktion des arabischen Bauern
als etwas zu verstehen, das den Europäern nicht grundsätzlich fremd ist.2
Die königlich dänische Arabienexpedition von 1761 bis 1767 findet vor
der Ausbildung des eigentlichen Orientalismus statt, genauer: zwischen ver-
schiedenen ›Orientalismen‹. Denn sie geht aus einer älteren Formation der
Beschäftigung mit dem Orient hervor, die typisch für das 17. und 18. Jahr-
hundert ist: Ihr Initiator, der Theologe und Philologe Johann David Michae-
lis erhofft sich vor allem Aufschluß über biblische Altertümer und über die
altarabische Literatur. Die Expedition verläuft jedoch nicht in seinem Sinne:
Zwar erreichen die Teilnehmer über Konstantinopel und Ägypten den Jemen,
aber sie können am Roten Meer und auf dem Sinai keine Spuren der Israeli-
ten finden und fallen, kaum am Reiseziel angekommen, in kurzer Folge der
Malaria zum Opfer. Ausgerechnet der orientalistisch ungebildete Geograph
Niebuhr, der nicht einmal Hebräisch kann, überlebt, reist über Indien, Persien
und das Zweistromland zurück nach Europa und veröffentlicht seine mehr
an der Gegenwart als an der Vergangenheit interessierten Beobachtungen als
Beschreibung von Arabien (1772) und als Reisebeschreibung nach Arabien
und anderen umliegenden Ländern (1774, 1778 und posthum 1837).3
Gerade das Auseinanderklaffen von Reiseauftrag und Reiseergebnis macht
die Arabien-Expedition zu einer höchst geeigneten Versuchsanordnung, um
den theoretischen Nutzen von Raumkategorien zu erproben. Dabei wird sich
2 Zum Orientalismus des 18. Jahrhunderts und zugleich zur Kritik an Saids monolithi-
schem Orientalismus-Konzept vgl. Osterhammel, Jürgen: Die Entzauberung Asiens.
Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jahrhundert. München 1998.
3 Vgl. allgemein zur Arabienexepedition Rasmussen, Stig: Carsten Niebuhr und die Ara-
bische Reise 1761–1767. Ausstellung der königlichen Bibliothek Kopenhagen. Heide
1986; Wiedehöfer, Josef/Conermann, Stephan (Hg.): Carsten Niebuhr (1733–1815) und
seine Zeit. Stuttgart 2002; sowie den dokumentarischen Roman von Hansen, Thorkild:
Reise nach Arabien. Hamburg 1965.
102 Daniel Weidner
die Frage der Topographie besonders in drei Hinsichten als fruchtbar erwei-
sen: Erstens kann die Frage nach dem Ort des Orients die Alteritätshermeneu-
tik ersetzen, auf welche sich die ältere Orientalismus-Debatte in nicht selten
auswegloser Weise fixiert hat. Die Topographie des Anderen besteht nicht
nur in seiner Typisierung oder Beherrschung, sondern zunächst darin, reale
und imaginäre Räume zu entwerfen, in der Eigenes und Anderes, Fremdes
und Vertrautes allererst in Beziehung treten können. Zweitens kann das Bei-
spiel des Landvermessers Niebuhr zur Präzisierung und Spezifizierung der
Raumkategorien beitragen, denn die heute in den Kulturwissenschaften oft
inflationär gebrauchte Rede von kulturellen ›Räumen‹ und ›Topographien‹
bleibt unscharf, solange sie einer genaueren Vorstellung der spezifischen
medialen und materialen Bedingungen der Topographie im eigentlichen Sinne
entbehrt.4 Daher gilt es, die Topographien im Sinne der Aufzeichnungs- und
Speichertechniken des Raumes zu untersuchen: die Beschreibungen, Bilder,
Tabellen, Skizzen und natürlich insbesondere die Karten. Drittens schließlich
weist Niebuhrs Bericht, gerade wenn er von den Problemen der Vermessung
berichtet, darauf hin, daß die Konstruktion von Orten selbst verortet ist. Der
Reisebericht, der die verschiedenen Operationen der Raumkonstruktion – Rei-
sen, Notieren, Vermessen, Editieren – ebenso miteinander vereinigt wie die
verschiedenen Medien – Texte, Bilder, Karten – macht die Zweideutigkeit
von Topo-Graphie als Beschreibung und Beschriebenem besonders deutlich,
weil sich in ihm die Durchquerung des Raumes, die Begegnung mit dem
kulturell Anderen und die Inszenierung des Subjekts verbinden.
Um sowohl den konstruierten Raum als auch den Raum der Konstruk-
tion zu untersuchen, muß man alle drei Dimensionen des bereisten Raumes
berücksichtigen: den erwarteten und vorbereiteten Raum, der besonders durch
Michaelis‹ bibelwissenschaftliches Interesse bestimmt wird (I), die Strate-
gien und Techniken der Raumbewältigung und Erfassung vor Ort (II) und
schließlich die mediale Repräsentation des bereisten Orients in Niebuhrs
Reisetexten (III).
4 Die Probleme der Kartographie werden in der Forschung zur Reiseliteratur in der
Regel ignoriert, bezeichnenderweise verzichten die Neuausgaben von Niebuhrs Reise-
beschreibung durch Robert und Evamaria Grün (Berlin 1973; grob und unausgewiesen
bearbeitet) und Stig Rasmussen (Zürich 1992) auf alle kartographischen Erörterungen
Niebuhrs.
Carsten Niebuhr: Strategien des Wissens 103
wie viel Fragen aus der Geographie, Alterthümern und natürlichen Geschichte des
Morgenlandes, die sonderlich ein Erklärer der heil. Schrift beantwortet wünschen
möchte, noch übrig sind, welche nicht anders als von einem, der Palästinam und Ara-
bien sorgfältiger durchreiset, als bisher geschehen ist, beantwortet werden können. [...]
Die meisten Reisebeschreibungen reden blos von fabelhaften Überbleibseln des Altert-
hums, und von erdichteten heiligen Örtern, wodurch das wichtigste verdränget wird:
und selbst die besseren haben sich durch den Betrug der Morgenländer hintergehen
lassen, z.E. Shaw, in Absicht auf den Stein, aus welchem Moses Wasser hervorge-
bracht hat. Arabien hat fast niemand durchreiset, wenn man die Menge derer dagegen
hält, so größtentheils ein Aberglaube nach Palästina getrieben hat: und doch müßten
in diesem Lande, so nicht durch fremde Herrschaft oder Handel ausländische Sitten
bekommen hat, die alten Sitten aus dem Hause Abrahams, so fast alle Reisenden auch
an den Arabern in fremden Ländern erkennen, viel kenntlicher seyn, als bey ihren in
Palästina oder gar in der Barbarey herumschweifenden Horden.5
Michaelis will Unterstützung bei der Bibelauslegung, aber er will keine Alter-
tümer; er will etwas über Israel herausfinden, aber nicht in Palästina, sondern
in Arabien – in einer chiastischen Übertragung führt die Reise ins gegen-
wärtige Arabien in eine andere Zeit und einen anderen Raum: in das Israel
der Patriarchen. Die Arabienexpedition steht damit von vorneherein sowohl
in einer komplexen raum-zeitlichen Topographie als auch im Schnittpunkt
zweier verschiedener Episteme, der Geographie und der Exegese: Empiri-
sche Beobachtung der Wirklichkeit im fremden Land soll bei der Bibellek-
türe helfen. Der Proto-Orientalismus des 18. Jahrhunderts ist besonders in
Deutschland ein Unternehmen von Philologen, das mehr an Texten als an der
Welt und mehr an der Vergangenheit als an der Gegenwart interessiert ist;
vor allem ist es in hohem – in der Forschung noch keineswegs ausreichend
berücksichtigtem – Maße von theologischen und bibelkundlichen Interessen
bestimmt.
Der Umgang mit der Bibel, insbesondere mit dem Alten Testament, unter-
liegt im 17. und 18. Jahrhundert einem entscheidenden Wandel seiner sprach-
und kulturtheoretischen Voraussetzungen. Michaelis selbst hatte in seiner
Jugend noch die Verbalinspiration, d.h. die absolute Göttlichkeit des bibli-
schen Textes bis in die Vokalisierung hinein behauptet, sich aber dann bald der
historisch-genetischen Sprachbetrachtung zugewandt, die Hebräisch als eine
Sprache unter anderen verstand und vor allem auf deren ›Schwestersprache‹,
das Arabische, zurückgriff. Was rein auf der Basis des Bibeltextes nicht ver-
ständlich ist, soll durch Vergleich mit dem großen – freilich sehr viel jüngeren
– Korpus arabischer Literatur erklärt werden. Man solle daher, so Michaelis,
zunächst Arabisch lernen, von dort aus dann das Hebräische als lebendige
5 Michaelis, Johann David: »Von einer nützlichen Reise nach Palästina und Arabien«.
In: Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen 1753, S. 1241–1244, hier S. 1241f.
Vgl. insgesamt zu Michaelis’ Bedeutung für die Expedition: Hübner, Ulrich: »Johann
David Michaelis und die Arabien-Expedition 1761–1767«. In: Wiedehöfer/Conermann
(s. Anm. 3), S. 363–402.
104 Daniel Weidner
Sprache, und erst dann beginnen, die Bibel zu lesen: An die Stelle des müh-
samen Entzifferns der Andeutungen der Schrift tritt das schnelle Lesen, an
die Stelle des mehrfachen Schriftsinns tritt der Rekurs auf die Etymologie,
an die Stelle des oft esoterischen – und im wesentlichen jüdischen – Wissens
um die Geheimnisse der hebräischen Sprache tritt der Umweg nach Arabien.6
Dieser Umweg betrifft nicht nur die sprachlichen Hilfsmittel, sondern
soll es auch ermöglichen, den ›Geist‹ der mosaischen Gesetze aus ihrem
Kontext zu verstehen. Michaelis geht davon aus, daß diese Gesetze ältere
Sitten voraussetzen und korrigieren, deren Unkenntnis uns die mosaischen
Gesetze nicht nur grausam erscheinen läßt – während sie in Wirklichkeit das
größte politisch mögliche Maß an Milderung darstellten –, sondern oft auch
als widersprüchlich oder lückenhaft:
Hätten wir die Sitten der Araber nicht, so würden wir die Gesetze Mosis sehr sel-
ten aus einem ältern Herkommen erläutern können. Allein bey diesem abgesondert
lebenden, und selten unter ein fremdes Joch gebrachten, Volke haben sich die alten
Sitten so erhalten, daß man glaubt in der Hütte Abrahams zu seyn, wenn man eine
Beschreibung der herumziehenden Araber lieset. Reisebeschreibungen von Arabien,
und dem benachbarten Syrien, werden uns hier mehr Hülfe leisten, als man zum voraus
in einer so grossen Entfernung der Zeit zu hoffen wagen möchte.7
stian Cramer, den Zeichner Georg Wilhelm Bauernfeind und Carsten Niebuhr
als Geographen. Die Reisenden werden sorgfältig vorbereitet und mit drei
Instruktionen versehen: Die offizielle Instruktion des dänischen Königs betont
den wissenschaftlichen Zweck der Reise, schärft den Reisenden ein, täglich
ein ausführliches Reisetagebuch zu führen, und ermahnt sie, die mohamme-
danische Religion nicht anzugreifen und sich keine »Europäischen Freyheiten
gegen das Frauenzimmer« zu erlauben: »Die sämtlichen Reisenden haben
sich gegen die Einwohner Arabiens der grössten Höflichkeit zu befleissigen.«8
Eine zweite Instruktion durch die französische Academie des Inscriptions
et de belles lettres fragt insbesondere nach der islamischen Geschichte und
enthält bereits Ansätze einer Wissensarchitektonik – Geschichte, natürliche
Geographie, Religion und Sitte –, wenn sie auch noch weit von dem enzy-
klopädischen Raster entfernt ist, mit dem Volney die französische Ägyp-
tenexpedition ausstatten sollte.9 Die bei weitem ausführlichste Instruktion
erhalten die Reisenden allerdings in Gestalt eines von Michaelis zusam-
mengestellten Fragenkatalogs, der sehr genau dessen Erwartungen an die
Expedition widerspiegelt. Erwartungsgemäß bezieht sich der überwiegende
Teil der unsystematischen, sehr detaillierten und oft zu ganzen Essays aus-
gewachsenen Fragen auf die Bibel. Fast ein Viertel fragt explizit nach der
Bedeutung hebräischer Wortwurzeln, viele andere nach biblischen Realien,
etwa den Nahrungsmitteln der Israeliten in der Wüste – war das Manna wil-
der Honig, waren die rätselhaften ›Wachteln‹ eigentlich fliegende Fische? –,
nach den ägyptischen Plagen und nach Wundern, etwa nach dem Durchzug
durch das Rote Meer: Könne dieses durch Gezeiten ausgetrocknet werden,
gibt es vielleicht sogar eine Untiefe, welche die Israeliten bei ihrem Durch-
zug benutzt haben könnten? Auch scheinbar allgemeine Fragen zur Naturge-
schichte haben eigentlich einen exegetischen oder gar linguistischen Zweck:
Die Frage, ob sich das Korn im Orient wirklich hundertfach vermehre, hat
kein ökonomisches Interesse, sondern will das Gleichnis vom Sämann Matth.
13, 8 verstehen. So wird die Beobachtung des Orients selbst zur Lektüre, sie
8 »Die köngliche Instruktion für die Teilnehmer der Expedition«. In: Rasmussen (s. Anm.
3), S 59–78, hier S. 64. Aufgrund der gründlichen Vorbereitung und arbeitsteiligen
Durchführung ist die Reise auch als »erste Forschungsreise« bezeichnet worden, vgl.
Beck, Hanno: Große Reisende. Entdecker und Erforscher. München 1971, S. 92ff.
Missionarische Zwecke werden ausdrücklich verneint, imperiale oder kaufmännische
sind aus der Instruktion jedenfalls nicht ersichtlich. Trotzdem notiert Niebuhr immer
wieder – an den Dardanellen, am Nildelta, in Medina etc. – den Zustand der militä-
rischen Befestigungen und die Möglichkeiten, sie eventuell zu erobern.
9 Die Instruktion der französischen Akademie ist abgedruckt im Anhang zu Michaelis,
Johann David: Fragen an eine Gesellschaft gelehrter Männer, die auf Befehl Ihro
Majestät des Königs von Dänemark nach Arabien reiset, Frankfurt a.M. 1762. Zum
Beobachtungsprogramm Volneys vgl. Osterhammel (s. Anm. 2) S. 160ff, sowie Stagl,
Justin: Eine Geschichte der Neugier. Die Kunst des Reisens 1550–1800. Wien u.a.
2002. S. 305ff.
106 Daniel Weidner
sucht in der Wirklichkeit jene Wörter oder Phänomene, die im Text der Bibel
fehlen: »Die Naturgeschichte soll zwar billig mehr als ein bloßes Lexicon
über die Namen der Naturgeschenke seyn: allein die Anfangsgründe die-
ser Wissenschaften, die ich ihr Alphabeth nennen möchte, sind doch in der
Tath nur ein Wörterbuch, in eine gewisse Ordnung nach natürlichen Classen
gebracht, und mit Definitionen versehen.«10 Michaelis geht es also nicht um
eine umfassende enzyklopädische Erfassung des Orients und auch nicht um
ein mehr oder weniger diffuses ›Bild‹ des Orients, sondern um einen Text;
vom Horizont der Bibel her erhalten die Dinge ihre Bedeutsamkeit und die
scheinbar zusammenhanglosen Fragen ihre Kohärenz.
II
10 Michaelis (s. Anm. 9), unpag. Vorrede. Treffend nennt Michaelis seine Fragen auch
»das Register meiner Unwissenheit« (ebd.). Sein Frageneifer wird sogar zum Gegen-
stand von Nernardin de St. Pierres satirischem Roman La chaumière indienne (1790),
in der zwanzig Gelehrte mit je 3500 Fragen in die Welt reisen, um am Schluß festzu-
stellen, daß sie einfach zu viele Antworten auf diese Fragen haben.
11 Vgl. Pococke, Richard: A description of the East and Some Other Countries. 3 Bde.,
London 1743–45. Tatsächlich handelt es sich hier nur um nabatäische Inschriften aus
dem 1. bis 6. Jahrhundert nach Christi. Von der Exkursion zum Sinai ist auch der Be-
richt von Havens erhalten, Detlev Kraak spricht daher vom »natürlichem Versuchsauf-
bau« dieses Reiseabschnitts, vgl. »Der Abstecher von Suez auf die Sinaihalbinsel«.
In: Wiedehöfer/Conermann (s. Anm. 3), S. 121–154, hier S. 123.
Carsten Niebuhr: Strategien des Wissens 107
Frage nach dem Durchzug durch das Rote Meer zu untersuchen, allerdings
mit ziemlich negativem Ergebnis. Der Gezeitenunterschied betrage höchstens
3 ½ Fuß, ein Riff habe er nicht gefunden, und selbst wenn es eines gäbe,
könne man auf den scharfkantigen Korallen nicht laufen, der Ort des Durch-
zugs lasse sich ebenfalls nicht mehr bestimmen: »Wenn man den Nachrichten
der Araber an der Ostseite des Meerbusens glauben will, so sind die Kin-
der Israels jedes mal auf derjenigen Stelle durch das Rothemeer gegangen,
wo man sie deswegen fragt.«12 Vielleicht seien die Israeliten nördlich von
Suez, durch den äußersten Ausläufer des Roten Meeres gezogen – Niebuhr
skizziert hier sogleich einen Plan der Umgebung –, zum breiteren Meer
weiter südlich hätten sie sich wohl gar nicht erst hinführen lassen; er selbst
habe erlebt, »daß auch die Morgenländer sich auf ihren Reisen als vernünf-
tige Leute zeigen, die sich von ihren Karwanbaschi nicht blindlings führen
lassen«.13 Für Niebuhr, offensichtlich noch unter dem Eindruck der ersten
Karawanenreise von Kairo nach Suez, wird der Orient nicht biblisch, sondern
die Bibel orientalisch.
Bald wendet sich der Reisebericht daher auch von der Vergangenheit
der Gegenwart und den Schwierigkeiten der Reise zu: Es ist nicht leicht,
Führer zu finden, endlich angefangen, wird die Reise immer wieder durch
Verwandtschafts- und Höflichkeitsbesuche bei verschiedenen arabischen
Stämmen unterbrochen, die noch dazu alle bewirtet werden wollen. Niebuhr
ärgert sich zwar über die Verzögerungen, beginnt aber auch, die Gesetze der
Gastfreundschaft zu verstehen: »Denn wenn ein vornehmer Araber reiset, so
ißt gemeininglich die ganze Gesellschaft aus seiner Küche, und da wir viel
Geld bezahlten, so hielt man auch uns für reiche Leute.«14 Auch die Kartie-
rung erweist sich als schwierig:
Das schwerste dabey war die rechten Namen der Berge und Thäler zu erfahren, weil
die Araber sich vorgenommen zu haben schienen uns allezeit falsche Namen zu sagen;
denn sie konnten nicht begreifen, aus was vor Ursachen wir uns darum bekümmerten,
da sonst kein Reisender darnach gefragt hatte. Aber ich gewann das Zutrauen eines
Arabers aus unser Gesellschaft, theils durch kleine Geschenke, theils dadurch, daß
ich ihn bisweilen hinter mir auf dem Kameel sitzen ließ. Ich fragte ihn, so wohl auf
der Hin- als Zurückreise, und erhielt gemeiniglich dieselben Namen. Mein Reisege-
fährte wollte sich nicht erniedrigen sich mit diesen Bedouinen so gemein zu machen,
und erhielt daher bisweilen eine verkehrte oder gar unangenehme Antwort auf seine
Frage.15
Niebuhr hat inzwischen offensichtlich nicht nur ein wenig Arabisch gelernt,
sondern paßt sich auch den Verhältnissen an, ganz anders als von Haven, der
12 Niebuhr, Carsten: Beschreibung von Arabien. Aus eigenen Beobachtungen und im Lan-
de selbst gesammelten Nachrichten. Kopenhagen 1772, Nachdruck Graz 1769, S. 404.
13 Niebuhr (s. Anm.12), S. 406.
14 Niebuhr (s. Anm. 1), S. 225.
15 Niebuhr (s. Anm. 1), S. 226
108 Daniel Weidner
auf seiner kulturell und sozial distinguierten Position beharrt. Der Kartograph
ist auch inzwischen so vorsichtig, seine Instrumente nicht offen zu benutzen,
sondern behilft sich damit, seine Lage indirekt zu berechnen:
Die Direktion des Weges fand ich leicht nach einem kleinen Kompaß, ohne daß es
die Araber bemerkten, oder daß es einigen Argwohn erwecken konnte [...]. Ich zählte
täglich des Morgens und Abends in der Kühle, und des Nachmittags in der größten
Hitze meine eigene Schritte während einer halben Stunde, die ich bey der Karawane
zu Fuße gieng [...]. Nun brauchte ich weiter nichts als die Direktion des Weges und
die Zeit zu bemerken, welche wir nach einer jenen Gegend reiseten.16
Der Kartograph muß also auf seine Instrumente, selbst auf sein Reittier ver-
zichten, und seine leibliche Fortbewegung aufzeichnen, die nur auf kom-
plizierten Umwegen zu einer Karte werden kann. Nachdem sie die Ara-
ber endlich zu dem gesuchten ›Berg der Inschriften‹ geführt haben, sehen
die Reisenden weder hebräische Originalinschriften noch den von Pococke
beschriebenen Ort vor sich, sondern eine Reihe mit Hieroglyphen beschrifte-
ter Grabsteine, in denen Niebuhr sofort die biblischen ›Lustgräber‹ (Num. 11,
34) zu erkennen glaubt. Trotz der Enttäuschung beginnt er mit dem Kopieren
der Inschriften, aber das wird ihm von einem lokalen Scheich untersagt:
Jetzt aber versicherte er, daß er es mir nicht für 100 Speciestaler erlauben würde,
nur die Inschrift von einem einzigen Stein abzuschreiben, mit der gewöhnlichen Ent-
schuldigung, daß er es nicht zugeben könnte, daß Fremde die vergrabenen Schätze
von da abholten. Die Araber scheinen würklich zu glauben, daß die Europäer und
die Maggrebi, oder westlichen Araber, die vergrabenen Schätze finden, ja daß sie sie
durch gewisse Künste, wenn sie nur die Inschriften haben, nach ihrem Vaterlande
marschieren lassen können.17
als er seinen Bericht schreibt, weiß er aber bereits, daß dieser Aberglaube
nicht ganz ernst ist: »Allein dieß ist gemeinglich nur ein Vorwand um ein
gutes Trinkgeld zu erhalten [...]. Man muß ihre Sprache und Gedenkungsart
kennen, und sie auf eine bescheidende Manier vorbereiten, und wenn sie
sich einmal für die vergrabenen Schätze erklärt haben, sie auf eine höfliche
Art auf andere Gedanken zu bringen suchen.«20 Tatsächlich gelingt es ihm,
heimlich mit einem seiner Führer einig zu werden, der es ihm ermöglicht,
die Inschriften auf dem Rückblick zu kopieren.
Die Reaktionen der Reisenden wiederholen sich, als sie auf dem Rückweg
wirklich nabatäische Inschriften von allerdings minderer Qualität entdecken,
an denen sie auf dem Hinweg vorbeigeführt worden waren: Während von
Haven üble Absicht vermutet, wird Niebuhr langsam klar, daß die Araber
einfach nicht wissen, wonach die Europäer suchen, und daß Pocockes Ortsan-
gabe ›Dsjebel el Mokkateb‹ nicht weniger unzuverlässig ist als die, die sie
von ihren Führern hören. Als den Reisenden aufgrund eines falschen Emp-
fehlungsschreibens auch noch der Besuch des Sinaiklosters verwehrt wird, in
dem Michaelis zu recht alte Bibelmanuskripte vermutete, wird das Scheitern
der Exkursion offensichtlich, die mit mageren Ergebnissen – ein paar Skizzen
der Umgebung und einer von Niebuhr erstellten Wegkarte (s. Abb. 1) – nach
Suez zurückkehrt.
Dementsprechend wenig kann Michaelis später mit den Ergebnissen
anfangen; immerhin verweist er in seinem Kommentar zu Exodus 14 ausführ-
lich auf Niebuhr, freilich nicht, um grundsätzlich am biblischen Bericht zu
zweifeln, sondern um die unbestimmten Zeitangaben des biblischen Berichtes
zu präzisieren. Denn wenn man durch Niebuhrs Messungen die Verzögerung
der Gezeiten gegenüber den Mondphasen kenne, könne man berechnen, daß
Moses seinen Stab am 21. des Monats Nisan um 11 Uhr gegen das Meer
ausgestreckt habe...21
Offensichtlich decken sich die heimischen Erwartungen und die For-
schungsergebnisse nicht. Die so sorgsam vorbereiteten Strategien der Lektüre
funktionieren vor Ort nicht, vielleicht gerade deshalb, weil die Reisenden
nicht nur ein weiteres Mal die Orte der Legende wiederfinden wollen – die
ihnen die Araber gerne gezeigt hätten –, sondern etwas Neues wissen wollen:
Der gelehrte Orientalismus der Texte kommt in dem Moment an seine Grenze,
in dem er empirisch werden will. Man kann vermuten, daß Niebuhr gerade
Abb. 1:
Karte vom Sinai. Aus: C. Niebuhr: Beschreibung von Arabien. Aus eigenen Beobachtungen
und im Lande selbst gesammelten Nachrichten, Kopenhagen 1772
Carsten Niebuhr: Strategien des Wissens 111
Der türkische Kapitän segelt nach der Erfahrung von Konstantinopel nach
Alexandria und zeigt an Niebuhrs Belehrungen wenig Interesse: »Aber als
dieser sah, daß das observiren mit vieler Schwierigkeit verknüpft sey, und
daß man, um die Polhöhe zu finden, so gar rechnen müsse, glaubte er, daß
es besser sey bey der alten Gewohnheit zu bleiben.«26
In der Tat ist die Geographie ein mächtiges Dispositiv, das einen appara-
tiven Blick mit dem Verfahren verbindet, jedem Ort eine Position in einem
abstrakten Raum zu geben. Wieder hilft hier eine Unterscheidung von Michel
de Certeau: Während ein Raum ein »Geflecht von beweglichen Elementen«
ist, ein »Resultat von Aktivitäten, die ihm eine Richtung geben und ihn ver-
zeitlichen«, stellt ein Ort eine Ordnung nach »Koexistenzbedingungen« dar,
die eine »momentane Konstellation von festen Punkten« bildet und jeden
Punkt für sich identifizierbar macht.27 Als ›taktischer‹ Reisender bewegt sich
Niebuhr also ›räumlich‹, als Geograph bestimmt er seinen abstrakten ›Ort‹.
Allerdings darf man diesen Gegensatz nicht exklusiv verstehen. Rein auf
technischer Ebene gibt es für Niebuhr noch keinen homogenen mathematisch-
geometrischen Ortungsraum. Mit seinen Instrumenten – Niebuhr führt den
erwähnten Quadranten für Winkelmessungen in der Ebene und die Bestim-
mung der Ortszeit durch Sonnenbeobachtung, einen Spiegelsextanten für
die Messung von Gestirnshöhen und Distanzwinkeln und eine Taschenuhr
für astronomische Beobachtungen bei sich – kann er zwar topographische
Landschaftsaufnahmen machen und auch die geographische Breite ermitteln,
aber die Längenmessung ist Mitte des 18. Jahrhunderts bekanntlich noch ein
Problem. Weil der Längengrad keinen natürlichen Referenzpunkt hat – anders
als der Breitengrad, der sich auf die Erdachse bezieht –, kann man ihn nur
durch den Vergleich zweier Beobachtungen an Orten unterschiedlicher Länge
bestimmen. Niebuhr ist nicht im Besitz eines ausreichend genauen Chronome-
ters, der es erlaubt, die gemessene Ortszeit mit der ›mitgenommenen‹ Zeit des
Ausgangspunktes zu vergleichen und damit Beobachtungen an unterschied-
lichen Orten zu synchronisieren. Statt dessen verwendet er das von seinem
Lehrer, dem Göttinger Astronom Tobias Mayer, entscheidend verbesserte
System der Monddistanzen: Indem man bestimmte Sternbedeckungen durch
den Mond beobachtet, kann man anhand vorher errechneter Tabellen die
Abweichung der eigenen Ortszeit zu einer Bezugsposition feststellen. Die
Längenbestimmung findet also nicht in einem abstrakten und instrumentell
konstruierten Raum-Zeit-Kontinuum statt, sondern beruht immer noch auf
der ›natürlichen‹ Zeit des Mondes und setzt darüber hinaus komplizierte
Vorbereitungen und Berechnungen voraus. Tatsächlich wird sich Niebuhr
nach der Reise zunächst nicht trauen, seine Ergebnisse zu veröffentlichen, da
Mayer, der einzige, der seine Berechnungen hätte prüfen können, inzwischen
verstorben ist. Erst dreißig Jahre nach der Reisebeschreibung werden seine
Ergebnisse in einer Zeitschrift veröffentlicht, ihre erstaunliche Exaktheit hat
zu diesem Zeitpunkt nur noch historisches Interesse.28
Darüber hinaus verhindert – wie schon die Sinaiexpedition zeigt – das
Mißtrauen der Araber oft grundsätzlich den Gebrauch der Instrumente.
Auch in Kairo kann Niebuhr die Straßen nicht vermessen, sondern muß sie
abschreiten, wobei er immer wieder von den Einwohnern darauf hingewiesen
wird, daß er sich wohl verlaufen haben müsse und freundlich in das euro-
päische Viertel zurückbegleitet wird. Schließlich und vor allem kann sich
die Geographie auch deshalb nicht rein auf ihre Instrumente verlassen, weil
sie sich ja nicht nur für die Topographie interessiert, sondern auch für die
Ortsnamen. Die Namen von Orten, so de Certeau, »schaffen Nicht-Orte an
Orten, sie verwandeln sie in Passagen«,29 sie ›verräumlichen‹ die Geographie
gleichsam, indem sie verhindern, daß diese ein reines Distanzwissen wird,
und sie zwingen, sich mit dem local knowledge einzulassen. So kooperieren
Strategien und Taktiken, Orte und Räume durchdringen sich, exemplarisch
etwa auf der Weiterreise von Suez durch das Rote Meer: Wieder benutzen
die arabischen Seeleute keine Karten und Instrumente, sondern fahren am
Ufer entlang, »dabey glaubten sie viel geschickter und aufmerksamer zu seyn
als die europäischen Schiffer, weil diese allezeit die offene See suchen, sie
aber den Weg von Suez bis Dschidda nahe am Lande und zwischen vielen
Klippen finden können«.30 Währenddessen nimmt Niebuhr in seiner Kajüte
unbemerkt seine Messungen vor und zeichnet eine Karte von einer bis dahin
unbekannten Genauigkeit – mitsamt der Ankerplätze und der Riffe, die bisher
das Rote Meer tatsächlich für Europäer als schwer durchschiffbar erscheinen
ließen. Diese Karte veranlaßt später die East India Company, die Postroute
statt wie bisher um das Kap der guten Hoffnung über Suez zu verlegen – die
Abschöpfung des arabischen Wissens bereitet so die imperiale Durchdrin-
gung vor.
III
Bisher habe ich Niebuhrs Texte ›naiv‹ als bloße Quellen von Raumpraktiken
und -techniken herangezogen, obwohl sich bereits mehrfach abzeichnete, daß
sie nachträglich überarbeitet worden sind. Tatsächlich sind die Niebuhrschen
Räume nicht nur praktisch-technisch, sondern auch medial konstruiert. Zwar
28 Vgl. den Briefwechsel Niebuhrs mit dem Astronomen von Zach, abgedruckt als »C.
Niebuhrs astronomische Beobachtungen« im dritten Band von Niebuhrs Reisebeschrei-
bung nach Arabien und anderen umliegenden Ländern. Hamburg 1837, Nachdruck
Graz 1968.
29 de Certeau (s. Anm. 22), S. 199.
30 Niebuhr (s. Anm. 1), S. 257.
114 Daniel Weidner
sind Niebuhrs Texte auf den ersten Blick nicht im engeren Sinne literarisch
und von der neueren Forschung daher auch oft wegen ihrer »Schwere und
Farblosigkeit« bzw. ihrer »Abhängigkeit von den bloßen Fakten« kritisiert
worden.31 Aber solche Urteile setzen oft unausgesprochen die Norm der phi-
losophischen oder autobiographischen Reiseliteratur ebenso voraus wie einen
auf Subjektivität des Ausdrucks und ›dichterischer‹ Form beruhenden Lite-
raturbegriff. Das impliziert nicht nur die Unterordnung der anderen Medien
unter die ›poetisch‹ verstandene Sprache, sondern begrenzt auch das in der
Reiseliteratur breit verstreute Wissen auf die unterstellte Koinzidenz von
Selbst- und Fremderfahrung, d.h. letztlich auf ein hermeneutisch verengtes
Drama des Verstehens. Wie schon in der Frage des Orientalismus’ können
auch hier Raumkategorien öffnend wirken, indem sie den Reisebericht als
Wissensraum verstehen, der verschiedene literarische Verfahren, epistemische
Ansprüche und mediale Darstellungsweisen miteinander kombiniert, und
darüber hinaus das Verstehen selbst ›verräumlicht‹. Denn im ›inszenierten
Erfahrungsmodell‹ des Reiseberichtes ist nicht das reisende Subjekt das Zen-
trum, sondern der bereiste Raum und seine reale und imaginäre Topographie;
konstitutiv für seine Form ist weniger die Rückkehr zu sich durch die Entfer-
nung (also die kreisförmige Bahn der Reise), sondern das Problem, daß der
Bericht zugleich objektiv und anschaulich sein soll, daß der Leser zugleich
etwas wissen und ›dabei‹ sein will, so daß der Bericht zwischen der panora-
matischen Übersicht und der Mitsicht des reisenden Subjekts schwankt.32
Niebuhr hat zunächst große Bedenken, die Ergebnisse der Reise zu ver-
öffentlichen, weil er sich der Aufgabe wissenschaftlich und stilistisch nicht
gewachsen sieht. Mit einer gewissen Vorsicht halten sich seine Texte immer
an das Sichtbare, das er zwar begrenzt – er berichtet über antike Monumente
und arabische Volkskultur, ignoriert aber alle hochkulturellen Zeugnisse des
Islams33 –, aber genau und relativ frei von Verallgemeinerungen wieder-
gibt. Er spekuliert nicht über den ›Geist‹ der Araber und beginnt das heikle
Thema der Religion mit einer langen Aufzählung verschiedener Sekten statt
mit grundsätzlicher Kritik. Auch sonst ist er mit christlichen Urteilen ebenso
sparsam wie mit aufklärerischer Kritik an Rückständigkeit, Unvernünftigkeit
und Unfreiheit orientalischer Einrichtungen. »Ich habe diese Nation nicht so
schlimm gefunden. Wir Europäer urtheilen oft zu früh über die Sitten fremder
Nationen, ehe wir sie recht kennen lernen.«34 Der eigene Ort ist nicht der
stabile Maßstab zur Beurteilung des Anderen, sondern vielmehr ein Spiegel,
der das eigene Vorurteil zurückwirft: »Wenn ein Araber durch Europa reisete,
so würde auch er viele Schwierigkeiten bey den Gastwirthen, Postmeistern,
Postillionen und Zollbedienten antreffen; ja er würde vielleicht eben so große
Ursache finden, sich über die Habsucht der Europäer zu beschweren, als ein
Europäer über der Araber ihre.«35
In der Reisebeschreibung wird das europäische Vorurteil gegenüber den
Arabern als eigene Erfahrung inszeniert: Die ersten Begegnungen sind wenig
vielversprechend, Schritt für Schritt erzählt Niebuhr dann immer neue posi-
tive Erfahrungen – unter Arabern speisen, die Badehäuser besuchen etc. – bis
zum Höhepunkt am Reiseziel, im ›glücklichen Arabien‹, also im Jemen.36
Noch Niebuhrs sachlicher Bericht spiegelt die freudige Überraschung der
Reisenden über den interessierten und aufgeschlossenen Empfang ebenso
wieder wie den Genuß, frei und ungehindert in einem Land umherreisen und
forschen zu können, wo die Einwohner, sogar die Frauen, freundlich und frei
mit den Fremden reden. Nur wenige Wochen später nimmt diese glückliche
Zeit ihr Ende: In Mokka werden sie unfreundlich aufgenommen und unter
Bewachung gestellt; vor allem wird die Expedition zum Opfer der Malaria:
Von Haven erliegt ihr in Mokka, Forskal wenig später auf dem Weg nach
Sana, Bauernfeind und Cramer auf der überstürzten Weiterreise nach Indien.
So zeichnet sich im Bericht eine Topographie der Reise mit einem kurzen
Höhepunkt in der Ankunft im Jemen ab, der durch die melancholischen Vor-
ausdeutungen verstärkt wird, man habe es später nie wieder so gut gehabt.
wig zeigt auch, daß Niebuhr zur Abfassung seiner Landes- und Reisebeschreibung auf
existierende Literatur zurückgreift, zu dieser vgl. auch Hogarth, David George: The
Penetration of Arabia. New York 1904.
34 Niebuhr (s. Anm. 12), S. X
35 Niebuhr (s. Anm. 12), S. XIV.
36 Der mythische Name des ›glücklichen Arabien‹ spielt offensichtlich bei den Erwartun-
gen der Reisenden eine wichtige Rolle; Niebuhr spricht in seinen Reisenotizen bis zum
Erreichen Jemens vom glücklichen Arabien, danach nur noch von ›Jemen‹, Forskal
fragt zu Beginn seines Tagebuchs: »Warum heißt das Land ›Das glückliche Arabien‹
und warum sollte es von einem weither kommenden Schiff aufgesucht werden?«, vgl.
Hansen (s. Anm. 3), S. 64.
116 Daniel Weidner
Abb. 2:
Prospekt zu Hadie.
Aus: C. Niebuhr, Reisebeschreibung nach Arabien und anderen umliegenden Ländern,
Bd. I, Kopenhagen 1774
Carsten Niebuhr: Strategien des Wissens 117
Auch visuell erreicht der Bericht hier seinen Höhepunkt. Generell haben die
Bilder in Niebuhrs Texten verschiedene Funktionen: Neben illustrativen Gen-
reszenen – verschleierte Frauen, Tänzerinnen, sportliche Übungen –, sind sie
vornehmlich informativ, wie die Zeichnungen von Geräten, Münzen und Klei-
dungsstücken. Dem antiquarischen Interesse der Expedition entsprechend gibt
es zahlreiche Abbildungen von hieroglyphischen, altpersischen und altara-
bischen Inschriften – wobei freilich nicht ohne Ironie ist, daß sie nicht vom
Philologen von Haven entziffert, sondern vom Geographen Niebuhr lediglich
kopiert werden und so nur als stumme Monumente eines unzugänglichen
Orients im Reisebericht auftauchen. Schließlich gibt es zahlreiche Ansichten
von Landschaften, Städten oder Bauwerken, welche verschiedene Bildfunk-
tionen verbinden: Sie geben dem Leser zugleich orientalische Anschauung
und indizieren einen wirklichen Ort, aus dem die Ansicht gezeichnet worden
ist und an den sie den Leser versetzen. Eigentlich bildnerisch werden diese
Ansichten selten, bezeichnenderweise aber gerade im Jemen. Als die Rei-
senden die jemenitische Wüste verlassen und das Kaffeegebirge besuchen,
erfahren sie das erste Mal ›Landschaft‹: Man habe hier, so Niebuhr, einen
»außerordentlichen Prospekt« gehabt, den der Maler Bauernfeind als locus
amoenus zeichnet (s. Abb. 2), als natürliches Amphitheater aufeinanderfol-
gender Terrassen, in dessen Vordergrund verschiedene Gestalten entspannt
miteinander zu sprechen scheinen, zweifellos die so überraschend freundli-
chen Bergbewohner.37 Wie schon der Bericht von jener kurzen glücklichen
Zeit, so wird auch die Abbildung subjektiv: Man glaubt, den Blick zu emp-
finden, der dieses Bild hervorgebracht hat.
Auf der Rückreise, nach dem Tod des Zeichners Bauernfeind, zeichnet
Niebuhr nur noch technische und geographische Skizzen, Inschriftenkopien
und Ansichten von deutlich unterschiedenem Charakter: Hatte Bauernfeind
Städte und Landschaften noch in Seitenansicht oder mit leichter Aufsicht
gezeichnet und ihren Vordergrund mit orientalischen Figuren aufgefüllt, so
werden Niebuhrs Prospekte immer abstrakter, ihr Blickpunkt erhebt sich
mehr und mehr und die Zentralperspektive wird von einer Parallelprojektion
ersetzt. Es handelt sich also nicht mehr um wirkliche Ansichten von einem
realen Punkt des Raumes aus, sondern um schematisierende Übersichten aus
der Vogelschau. Solche ›Bilder‹ nähern sich mehr und mehr Karten an, mit
denen sie oft auch zusammen auf einer Tafel abgebildet sind (s. Abb. 3).
37 Niebuhr (s. Anm. 1), S. 356. Begleitet wird das Bild von einer anderen malerischen An-
sicht einer Berglandschaft und einer als besonders anmutig beschriebenen Frau. Auch
Michaelis betont die Ausnahmestellung dieser Bilder: »Wirklich diese Caffegebürge
sind der einzige eigentlich schöne Prospect, den man in der ganzen Reise abgezeichnet
findet, etwas romantisch schön: aber mit den schönen Prospecten Deutschlands, z.E.
mit denen die man zwischen Münden und Cassel hat, wüßte ich ihn nicht zu verglei-
chen.« Michaelis, Johann David: »Rezension von Niebuhrs Reisebeschreibung«. In:
Orientalische und exegetische Bibliothek 7 (1774). S. 1–54, hier S. 37.
118 Daniel Weidner
Abb. 3:
Grundriss und Prospekt der Stadt Kara Hissa.
Aus: C. Niebuhr, Reisebeschreibung nach Arabien und anderen umliegenden Ländern,
Bd. III, Hamburg 1837
Carsten Niebuhr: Strategien des Wissens 119
38 Zur Kritik der kartographischen Rhetorik der Transparenz und Widerspiegelung vgl.
Hartley, Brian: »Text and Contexts in the Interpretation of Early Maps« (1990). In:
ders.: The New Nature of Maps. Baltimore 2001, S. 33–49, bes. 35ff, sowie Wood,
Denis: The Power of Maps. New York/London, 1992, bes. S. 48ff. Wesentliche An-
regungen verdanke ich einem unveröffentlichten Text Robert Stockhammers («Ver-
zeichnungen«), der auch auf die Problematik von Hartleys Text-Metaphorik für Karten
eingeht.
39 Vgl. dazu al-Ankary, Khaled M. (Hg): La péninsule arabique dans les cartes euro-
péennes anciennes. Fin de XVe – début XIXe siècle. Paris 2001.
40 Niebuhr (s. Anm. 1), S. 71. Niebuhrs Vorgehen entspricht den 1717 von John Green
(The Construction of Maps and Globes) erhobenen Forderungen an den Reisenden,
seinen Weg genau aufzuzeichnen, statt nur bekannte Karten in Einzelheiten zu verbes-
sern, vgl. dazu Goss, John: The Mapmaker’s Art. A History of Cartography. Nachdruck
London 1994, S. 171f.
120 Daniel Weidner
Die Originalkarte existiert in zwei Varianten: Auf einer ist der Weg der Expe-
dition mit Tinte eingetragen, auf der anderen ist diese Spur getilgt, so daß
sich das Netz von Bewegungen im Raum in eine allgemeine, gleichmäßige
Fläche verwandelt, aus der die Perspektive der Aufnahme vollständig ver-
schwunden ist. Niebuhr verzichtet hier auf jeglichen Schmuck, und auch
die mythischen Namen arabia felix und arabia deserta – beide noch auf d’
Annvilles Karten – sind jetzt verschwunden. Dennoch ist dieser abstrakte
Ortungsraum nur eine Insel, umgeben von der Leere der nicht kartogra-
phierten Gegenden, die auf der Karte geschickt mit der Kartusche und einer
Tabelle von Breitenmessungen gefüllt wird. Es gibt bei Niebuhr keine Karte
von ganz Arabien, geschweige denn eine Übersichtskarte seiner Reise, wie sie
die modernen Neuausgaben des Reiseberichts stets enthalten. Seine Karten
41 Niebuhr (s. Anm. 1), S. 312f. Zum Übergang von Wegstrecken zu Karten vgl. de Cer-
teau (s. Anm. 22), S. 222ff. Zur Genauigkeit von Niebuhrs Karten vgl. Hopkins, I.W.
J.: »The maps of Carsten Niebuhr: 200 years after«. In: The Cartographic Journal.
4/4 (1967), S. 115–118.
Carsten Niebuhr: Strategien des Wissens 121
Abb. 4:
Karte vom Jemen.
Aus: C. Niebuhr: Beschreibung von Arabien. Aus eigenen Beobachtungen und im Lande
selbst gesammelten Nachrichten, Kopenhagen 1772
122 Daniel Weidner
stellen keine Gesamtheit dar, sondern nur einen bewußt gewählten Ausschnitt
und müssen daher notwendig Ränder enthalten, die aber unmarkiert gelassen
sind. In noch höherem Maße stellen die zahlreichen Detailkarten in Niebuhrs
Texten – Stadtpläne, Karten von Hafenplätzen, Umgebungskarten etc. – müh-
sam hergestellte Ausschnitte im weiten Raum des Unbekannten dar. Modern
gesprochen handelt es sich hier eher um thematische als um topograpische
Karten, mit zahllosen ikonischen Elementen, die für Bauwerke, Siedlungs-
struktur oder Bodenbedeckung stehen. Wie die Ansichten, aus denen sie ja oft
auch hervorgehen (s. Abb. 3) stehen sie zwischen der distanzierten Aufsicht,
der erklärenden Abbildung und der Evidenz, dabeigewesen zu sein. Freilich
ist diese letztere Evidenz in einer Karte nur unvollkommen darstellbar, weil
diese ja gerade auf dem Ausschluß des Subjekts und der Perspektive der
Aufnahme beruht. ›Perspektiviert‹ werden Karten erst durch Kommentare
zu ihrer Entstehung, wie etwa in der einleitend zitierten Anekdote.
Wie in vielen Reiseberichten haben die Anekdoten bei Niebuhr eine
wichtige Funktion: Weil sie zwischen Unvorhersehbarkeit und Erwartungs-
horizont, zwischen Einzigartigkeit und Regelhaftigkeit vermitteln, sind die
›typischen‹ oder ›repräsentativen‹ Anekdoten nach Stephen Greenblatt »das
wichtigste Medium zur Aufzeichnung des Unerwarteten und daher auch zur
Beschreibung der Begegnung mit der Differenz«.42 Bei genauerem Hinsehen
geht es in Niebuhrs Anekdoten aber meist nicht um den ›typischen‹ Orient,
sondern um den Blick der anderen: Es geht ihm weniger um den Aberglauben
der Araber, sondern darum, daß dieser manchmal nicht ganz ernst ist – die
Araber wollen schlicht Geld für die Inschriften – und manchmal nicht ganz
unbegründet – die Europäer haben schlicht viel Geld für nichts. In seinen
Anekdoten scheint es daher weniger um Repräsentation als um Reflexion
bzw. um die Konfrontation verschiedener Sichtweisen zu gehen. Das kann
durchaus komische Züge annehmen wie in folgender Geschichte über die
Ankunft im Jemen:
Wir fürchteten daß alles sehr genau durchgesucht werden würde, aber die Zollbedienten
waren sehr höflich. Da wir merkten, daß der Emir nur unsere Instrumente sehen, und
sich den Gebrauch davon erklären lassen wollte, so suchten wir alles hervor, wovon wir
glaubten, daß es ihm und den andern vornehmen Arabern, die sich auf dem Zollhause
versammelt hatten, angenehm zu sehen seyn könnte. Herr Forskal zeigte ihnen aller-
hand Kleinigkeiten unter einem Vergrößerungsglase. Er verlangte von den Bedienten,
daß sie ihm eine lebendige Laus bringen möchten. Diese schienen es anfänglich übel
zu nehmen, daß ein Europäer dergleichen Ungeziefer bei ihnen erwartete. Aber als er
versprach dafür einige Stüver zu bezahlen, so fand sich bald einer, der ihm eine ver-
schafte. Nichts erfreuete den Emir mehr, als diese Laus so vergrößert zu sehen. Alle
vornehme Anwesende betrachteten selbige, und zuletzt ward der Bediente gerufen,
welcher darauf schwur, daß er niemals eine so große arabische Laus gesehen hätte,
42 Greenblatt, Stephen: Wunderbare Besitztümer. Die Erfi ndung des Fremden: Reisende
und Entdecker. Berlin 1994, S. 11.
Carsten Niebuhr: Strategien des Wissens 123
und daß das Thier, welches unter dem Glase wäre, nothwendig eine europäische Laus
sein müßte.43
Wieder handelt es sich um eine Anekdote über die Macht und Magie der
europäischen Technik, aber anders als jene über die Vermessung Daraues
ist diese Geschichte im glücklichen Jemen frei von Angst und Gewalt. Hier
wird der andere nicht verspottet und die eigene Überlegenheit von vornher-
ein relativiert: Weil man nicht mehr wirklich weiß, ob die Schlußantwort des
Bedienten naiv oder schelmisch ist, kann man sich ihr Resultat kaum anders
vorstellen als harmonisches Gelächter, in dem sich die wechselseitige Furcht
vor dem Anderen auflöst. Solche Anekdoten sind weniger Gemeinplätze eines
europäischen Monologs über den Orient als mikrologische Handlungsräume.
Theoriegeschichtlich muß man hier hinter Greenblatt auf Kenneth Burkes
Theorie der representative anecdote zurückgreifen, bei der es weniger um
das Moment des Typischen als um das des Dramatischen geht: Anekdoten
erhellen symbolisches Verhalten, weil in ihnen die verschiedenen Akteure auf
einem Schauplatz komplexer Interaktionen versammelt sind.44 Das bedeu-
tet nicht nur, daß die Anekdote der privilegierte Ort ist, an dem auch die
Anderen – die Orientalen, die Bediensteten, die Frauen – zu Wort kom-
men, sondern auch, daß sie auch ein Modell des Verständnisses inszeniert
und den Fortschritt der ›Aufklärung‹ gleichsam en miniature ins Werk setzt.
Nicht jede dieser Szenen löst sich freilich so harmonisch auf wie die
Geschichte von der Laus. Ebenfalls im Jemen werden die Reisenden von
einem Scheich aus einer entfernten Provinz Kachtan besucht, der vorher
»viele wunderbare Sachen« von den Europäern gehört hat:
Als wir ihn nötigten mit uns zu essen, antwortete er in seiner Einfalt: behüte mich
Gott daß ich nicht mit Ungläubigen esse, die von keinem Gott wissen. Ich schrieb
den Namen seines Vaterlandes auf, und verlangte einige umständliche Namen von den
darinn befindlichen Dörfern und Städten. Was geht dich mein Vaterland an, sagte, er,
willst du etwa kommen und es einnehmen? Da wir bisher noch, so viel möglich, nach
europäischer Art lebten, so setzten ihn der Tisch, die Bänke, die vielen Teller, Löffel,
Messer und Gabel in Erstaunen. [....] Da wir, seiner Meynung nach , schon so viel
gegessen hatten, daß wir endlich einmal aufhören könnten, und er dennoch sah, daß
Herr von Haven ein ganzes Huhn aufschneiden wollte, faßte er ihn bey dem Arm,
und sagte: wie viel willst du denn essen? Hierauf entstand aufs neue ein Gelächter.
Der Kachtaner lief aus allen Kräften zu Hause hinaus [...] . Dieser Araber wird seinen
Freunden in der bergigen Gegend gewiß wunderbare Sachen von den Gebräuchen der
Europäer erzählt haben: man hat ihn ohne Zweifel auch eben so begierig angehört,
als manche Europäer diejenigen Reisenden, welche ihre Abentheuer erzählen, die sie
in fremden Ländern erlebt haben wollen.45
IV
Die Repräsentation der Ordnung des Wissens baut seit jeher auf Metaphern
des Raumes. Sie entwickelte sich in der westlichen Tradition seit der Antike
immer in Topologien, d.h. Verortungen von Wissen. Der historische Wandel
der Metaphern für die Ordnung des Weltwissens reflektiert einerseits und
prägt andererseits die Veränderung unserer Vorstellung vom System dieses
Wissens.1 Im Folgenden soll der Vermutung nachgespürt werden, ob ein
Wechsel in der Metaphorik des Wissens mit Veränderungen von Erzählmo-
dellen in der Literatur als Teil des Systems kulturellen Wissens korrespon-
diert. In diesem Sinne hätte eine topographische Literaturwissenschaft nicht
nur nach konkreten Räumen in der Literatur zu fragen2 oder der Bedeu-
tung ihrer geographischen Genese und Distribution,3 sondern nach den in
Literatur verhandelten Raum- und Landschaftsvorstellungen, sowie deren
Rückkoppelungseffekten auf den Wissensdiskurs. Eine solche Fragestellung
ist in den letzten Jahren vermehrt unter den Lemmata spatial oder topogra-
phical turn diskutiert worden.4 Karl Schlögl sieht bereits den Advent einer
topographischen Kulturwissenschaft als scientia universalis gekommen: »Es
deutet sich längst an, daß die Räumlichkeit und Verräumlichung mensch-
licher Geschichte zum Punkt der Reorganisation, zur Neu-Konfiguration der
alten Disziplinen [...] werden wird. Die Quellen des spatial turn sprudeln
reichlich, und der von ihnen gespeiste Strom ist mächtig – mächtiger als die
Dämme und Barrieren der Disziplinen.«5 Wo sich der Betrachtungswinkel
6 Sombart, Nicolaus: »Nachrichten aus Ascona. Auf dem Weg zu einer kulturwissen-
schaftlichen Hermeneutik«. In: Prigge, Walter (Hg.): Städtische Intellektuelle. Urbane
Milieus im 20. Jahrhundert. Frankfurt a.M. 1992, S. 107 f.
7 Vgl. Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Aus dem Französischen v. Ulrich
Köppen. Frankfurt a.M. 151999, S. 107 ff und S. 269 ff.
8 Pethes, Nicolas: »›In jenem elastischen Medium.‹ Der Topos der ›Prozessualität‹ in
der Rhetorik der Wissenschaften seit 1800 (Novalis, Goethe, Bernard)«. In: Fohrmann,
Jürgen (Hg.): Rhetorik. Figuration und Performanz. Stuttgart 2004, S. 145.
128 Matthias Buschmeier
I. Haushaltsauflösung
144. ENC[YCLOPAEDISTIK]. Die Einteilung der Mechanik in Statik und Bewegungs-
lehre, ist viel allgemeiner, als man glaubt – Es ist eine universell wissenschaftliche
Eintheilung.9
Die Aufteilung des Verstandes in seine Kategorien wird zur Kartographie und
zum Register des transzendentalen Wissensarchivs. In seiner Schrift Phy-
sische Geographie13 (1802) unterscheidet Kant zwei Arten von Klassifikati-
onssystemen: logische und physische Klassifikation. Ordnet erstere Begriffe
in einem System hierarchisch und wird so zur begrifflichen »Registratur des
9 Novalis: »Das allgemeine Brouillon«. In: ders.: Werke, Tagebücher, Briefe. Hg. v. Hans
Joachim Mähl u. Richard Samuel. Bd. 2 Darmstadt 1999, S. 501
10 Bei Foucault, Koselleck und Luhmann wird an diese Beobachtung der Wechsel von
statischen Raummodellen des Wissens hin zu einer konsequenten Temporalisierung
allen Wissens im 19. Jahrhundert festgemacht. Die Metapher der Karte aber scheint
mir sehr wohl noch an räumlichen Modellen festzuhalten, nicht aber mehr an der
Vorstellung einer Wissensarchitektonik. Die Karte ist medientechnisch die ideale Re-
präsentation, die Statik und Bewegung inkorporiert: Durch ihr statisches Feststellen
von Landschaft ermöglicht sie Bewegung im Raum.
11 Dazu Dierse, Ulrich: Enzyklopädie. Zur Geschichte eines philosophischen und wissen-
schaftlichen Begriffs. Archiv für Begriffsgeschichte. Supplementheft 2. Bonn 1977.
12 Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft. In: Akademie-Ausgabe, hg. v. d. Königlich
Preußischen Akademie der Wissenschaften. Bd. 4. Berlin, Leipzig 1911, S. 155. Im
folgenden mit der Sigle ›AA‹ zitiert.
13 Kant, Immanuel: Physische Geographie. In: AA, Bd. 9. Berlin, Leipzig 1923.
Ordnungen der ungesicherten Welt 129
Der heute fast inflationär genutzten Formel von der Kartierung des Wissens
aber liegt mit Blick auf den kartographischen Diskurs der Neuzeit eine Wende
zugrunde. Einer der ersten Atlanten Europas, der das geographische Wissen
der Zeit übersichtlich in einem Band versammelte, wird von seinem Heraus-
geber Abraham Ortelis Theatrum Orbis Terrarum (1570) betitelt, eine der
20 Braungart, Wolfgang: Die Kunst der Utopie. Vom Späthumanismus zur frühen Aufklä-
rung. Stuttgart 1989, S. 60 und Schmidt-Biggemann, Wilhelm: Topica Universalis.
Eine Modellgeschichte humanistischer und barocker Wissenschaft. Hamburg 1983.
21 Stichweh, Rudolf: Wissenschaft, Universität, Profession. Soziologische Analysen.
Frankfurt a.M. 1994, S. 88.
22 Bredekamp, Horst: Die Fenster der Monade. Gottfried Wilhelm Leibnitz’ Theater der
Natur und Kunst. Berlin 2004, S. 36.
23 Dabei läßt sich zeigen, daß einerseits der innere Gedächtnisraum als virtueller Thea-
terraum gedacht wurde, andererseits aber die »aus der Antike entlehnten merkpsycho-
logischen Grundannahmen der Mnemonik [...] auf die [...] architektonische Gestaltung
moderner real existierender Theaterräume« entscheidenden Einfluß gehabt haben und
so zeigen, daß »Theater und Mnemonik [...] von Anfang an einander verbunden und
für einander offen waren.« Berns, Jörg Jochen: »Nachwort«. In: ders. (Hg.): Gedächt-
nislehren und Gedächtniskünste in Antike und Frühmittelalter. Dokumentensammlung
mit Übersetzung, Kommentar, Nachwort. Tübingen 2003, S. 543 ff. Angesichts der
Konkretheit, die dem Theaterbegriff für das frühneuzeitliche Wissenssystem etwa in
der Ausgestaltung Anatomischer Theater als Ort einer neuen Wissensproduktion zu-
kommt, geht seine Bedeutung über eine bloße Metaphorizität hinaus. Für den Hinweis
danke ich Friedmar Apel und Wolfgang Braungart. So treibt die Kategorie des Spiels
die experimentelle Wissenschaft seit dem 17. Jahrhundert entscheidend voran (vgl.
Bredekamp (s. Anm. 22)).
24 Blumenberg, Hans: Säkularisierung und Selbstbehauptung. Frankfurt a.M. 1974,
S. 158.
Ordnungen der ungesicherten Welt 131
mehr finden kann. Die grundlegende Figur der unsicher gewordenen Welt
ist der Wechsel vom absoluten Raum und absoluter Zeit des Kosmos hin zu
einer »Phänomenalisierung von Raum und Zeit«25, d.h. einer konsequenten
Dynamisierung aller Weltverhältnisse des neuzeitlichen Menschen. Zeichnet
sich die absolute Ordnung, die im Verhältnis Erde-Kosmos immer vertikal
gedacht ist, dadurch aus, »daß sie (a) vorgegeben, daß sie (b) allumfassend,
daß sie (c) mehr oder weniger fest umgrenzt und (d) in ihren Grundzügen
repetitiv ist«26, so zerfällt diese unter der modernen Selbstgewißheit der Kon-
tingenz des Weltbezugs in Ordnungen, die »(a) wandelbar und (b) beschränkt
sind, (c) bewegliche Grenzen aufweisen und (d) grundlegende Innovationen
zulassen«.27
Gerät aber das Welttheater in der Theologie seiner Physik durcheinander,
und Logos und Kosmos korrellieren einander nicht mehr, dann kann das
Theater seine Legitimation nicht mehr aus der Selbstverständlichkeit einer
vollständigen und geordneten Welt beziehen. So stellt sich im System des
Wissens und damit auch an die Literatur die Frage, welche Metaphern und
Erzählmodelle für die »logische Verlegenheit«28, in die die neuzeitliche Wis-
sensepistemologie geraten war, einspringen können. Denn mit der Entrech-
tung des Teleologieprinzips war der Weg geebnet, die Welt und das Wissen
dynamisch und unabschließbar zu denken. Was Blumenberg in den Metaphern
der terra incognitia und der unvollendeten Welt als Reaktion auf den Verlust
transzendenter Ordnung ausmacht, wird kurze Zeit später in die Metapher
der Karte, die neben der Öffnung der Welt zugleich auch ein Orientierungs-
potenzial anzubieten weiß, sublimiert.29
Wenn Diderot und D’Alembert die Metaphorik des Wissensbaumes mit
der einer Karte vergleichen, dann folgen sie nur noch scheinbar der topo-
logischen Tradition der Systematisierung aller Wissensbestände nach Loci
(eines Hauses), die sich eigentlich schon Mitte des 17. Jahrhunderts erschöpft
hatte und als Ordnungssystem durch den Überfluß an Wissensstoff an ihr
Ende gekommen war.30 So beschreibt sich die Enzyklopädie selbst nicht
mehr nur als Wissensarchiv im Sinne größt möglicher Ansammlung und
Ordnung, sondern versteht sich als Itinerar um, »dans ce labyrinthe, de ne
point quitter la véritable route«.31
Weist D’Alembert aber mit seiner Idee von unterschiedlichen Projektions-
und Zentrierungsmaßstäben auf die prinzipielle Kontingenz der kartogra-
phischen Darstellung wie der Wissensorganisation hin, zu deren Beseitigung
sie eigentlich beitragen soll, so nutzt Diderot das Potential der Karten-Meta-
pher in der Möglichkeit ihrer performativen Auslegung.
Tous ces arbres particuliers seront soigneusement recueillis ; & pour présenter les
mêmes idées sous une image plus exacte, l’ordre encyclopédique général sera comme
une mappemonde où l’on ne rencontrera que grandes régions ; les ordres particulières
de royaumes, des provinces, de contrées ; le dictionnaire, comme l’histoire géogra-
phique & détaillée de tous les lieux, la topographie générale & raisonnée de ce que
nous connaissons dans le monde intelligible & dans le monde visible ; & les renvois
serviront d’itinéraires dans ces deux mondes, dont le visible peut être regardé comme
l’Ancien, & l’intelligible comme le Nouveau.32 [meine Hervorhebung]
Das eben noch im Bild des Baumes überwiegend statisch gedachte Archiv
des Wissens33 rückt nun als dynamisierte Form in die Funktion der Kar-
tographie ein: Sicherung des Geländes. Kartographie und Archiv werden
zu Ordnungsmechanismen des modernen Individuums für die »Navigation
durch eine unsichere Welt«34. So wird die Ordnung »des Archivs zugleich
eine topologische Kartierung von Welt«35 und das Archiv selbst dynamisch
gedacht, denn nun kann es nicht mehr darum gehen, »ein Muster der Ordnung
des Wissens in einer zunehmend vollständigen Enzyklopädie«36 vorzulegen,
sondern systematisch nach neuen Wegen zu suchen, die sich auf der Karte
des Wissens hinzufügen lassen.
D’Alembert und Diderot erkennen als Beobachter zweiter Ordnung ihres
Projekts, daß jedes Element des Wissens und dessen Darstellung von je spe-
zifischen Beobachterpositionen abhängt. Für die Enzyklopädie bedeutet dies
zugleich eine Vielzahl von Bezugspunkten, die die Stabilitität eines Wis-
sensgebäudes, wenn man an diesem Modell festhalten wollte, unweigerlich
bedrohte. In der Metapher der Karte, die den Wechsel der Bezugspunkte
zur Methode ihrer Darstellung macht, findet die neue Form der Wissens-
organisation ihre adäquate Form. Das ›Haus des Wissens‹ wird zum »Feld
des Wissens«.37
32 Diderot, Denis: »Encyclopédie«. In: ders.: Encyclopédie III. Edition critique et an-
notée, hg. v. John Lough und Jacques Proust. Œuvres Completes. Bd. 7. Paris 1976,
S. 216.
33 Vgl. Balke, Friedrich: »Die Enzyklopädie als Archiv des Wissens. Von Diderot zu
Hegel«. In: Theile, Gert (Hg.): Das Archiv der Goethezeit: Ordnung – Macht- Matrix.
München 2001, S. 45–62.
34 Scholz, Leander: Das Archiv der Klugheit. Strategien des Wissens um 1700. Tübingen
2002, S. 7.
35 Fohrmann, Jürgen: »›Archivprozesse‹ oder über den Umgang mit der Erforschung von
›Archiv‹«. In: Hedwig Pompe/Leander Scholz (Hg.): Archivprozesse. Die Kommuni-
kation der Aufbewahrung. Köln 2002, S. 19.
36 Stichweh (s. Anm. 21), S. 60.
37 Humboldt, Wilhelm von: »Ueber die Verschiedenartigkeit des menschlichen Sprach-
baus und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts«. In:
ders.: Sämtliche Werke, hg. v. Wolfgang Stahl, Bd. 5, [ohne Ort] 1999, S. 163.
Ordnungen der ungesicherten Welt 133
Räume zeichnen sich also a) durch Bewegung und b) durch Handlungen aus,
die in ihm sich vollziehen, und von denen er nicht abgelöst werden kann.
Die Bewegungen und Handlungen der Figuren zeichnen in den Raum eine
narrative Struktur ein, sowie die narrative Struktur der Erzählung sich durch
38 Siehe nochmals d’Alemberts Hinweis auf die kartographischen Verfahren, die genauso
»dépendra du point de vue« (s. Anm. 19) seien wie die Artikel der Enzyklopädie.
39 Turnbull, David: Maps are territories. Science is an Atlas. A portofolio of exhibits.
Chicago 1993, S. 25.
40 Vgl. Merleau-Ponty, Maurice: Phénoménologie de la Perception. Paris 1945, S. 281–
344.
41 Certeau, Michel de: Kunst des Handelns. Aus dem Französischen v. Ronald Voullié.
Berlin 1988, S. 217 f.
134 Matthias Buschmeier
Die Chronologie von Ereignissen aber sei nur interessant für die Geschichts-
schreiber. Zwar wird Zeit zu einer wichtigen Kategorie, aber eben nur als
Problematisierung einer sukzessiven Folge von Handlungselementen. In der
Zuweisung von Zeitlichkeit als Form der Historie und Räumlichkeit als kar-
tierte Landschaft zum Roman, wird dieser gattungstypisch von der Histo-
riographie geschieden. Die Karte kennt nur ein Nebeneinander, nur räum-
lich-relationale Verhältnisse. Die Innovation des Romans besteht nicht in
der Vorführung digressiver Erzähltechnik, die »ein beliebtes Stilmittel des
18. Jahrhunderts war«,54 sondern in der konsequenten Überlagerung von
Zeit- und Erzählebenen, die kaum mehr zeitlich-hierarchisch zu ordnen sind,
sondern sich auf der Textfläche kreuzen, parallellaufen oder sich ganz aus
dem Blick verlieren. Wenn Tristram nach vielen Abschweifungen zu dem
Punkt kommt »to get fairly into my work«55, versucht er, Ordnung in seinem
erzählten Chaos zu stiften. Es folgt ein Itinerar der Handlung.56
Abb. 1 und 2:
Laurence Sterne: Tristram Shandy. London 1991
Es ließe sich einwenden, daß es sich hier um Zeitlinien handele, stände dem
nicht ein philologischer Befund entgegen. Am Ende des Kapitels gibt Sterne
einen dezidierten Hinweis, daß hier Zeitverhältnisse durch Raumkonstella-
tionen dargestellt sind. Denn bevor Tristram (erfolglos) versucht, nun einer
kontinuierlichen Handlungslinie zu folgen, bringt er einen interessanten Ver-
gleich: »Pray can you tell me, – that is, without anger, before I write my chap-
ter upon straight lines – by what mistake – who told them so – or how it has
come to pass, that your men of wit and genius have all along confounded this
line, with the line of GRAVITATION?«57 Mit Newtons Gravitationsgesetz
jektion und Schrift bildet sie Landschaft nicht ab, sondern bezeichnet sie
lediglich.
Die Karte stellt gleichsam ein Doppelzeichen dar. Hält sie einerseits den
Rückbezug zum konkreten Landschaftsraum und mißt ihre Potenz an der
Fähigkeit, sich anhand der Projektion in ihm orientieren zu können, so ver-
weist sie durch Angabe von Maßstab und Verzeichnung der Projektionslinien
auf ihre Genese selbst und zeichnet sich so erst selbstbezüglich als Karte aus.
Führt das Verfahren in der Kartographie zu einer Landschaftsprojektion, die
paradoxerweise ein Zeichensystem entwirft, das zur Orientierung in der Welt
dient, aber als projizierte Repräsentation sich von dieser radikal abkoppelt, so
im Tristram Shandy zu einer ausufernden, kaum überschaubaren Erzählland-
schaft. Certeau sieht im Wandel der Repräsentationspraxis von Karten eine
durch Abstraktion bedingte Ausblendung aller narrativen Elemente, die stets
noch die Spur einer Erfahrungswirklichkeit mit sich führen. »Die Erzählungen
vom Raum heben im Gegensatz dazu die Aktivitäten hervor, die es erlauben,
den Raum an einem aufgezwungenen und nicht ›eigenen‹ Ort trotzdem zu
›verändern‹, [...] sie erzählen von Wegstrecken.«62
In Sternes Roman werden die Wegstrecke und die Erzählungen zu »Plain
stories«63. Tristram sagt:
I changed the mode of my travelling once more ; and after so precipitate and rattling
as I had run, I flattered my fancy with a course thinking of my mule, and that I should
traverse the rich plains of Languedoc upon his back, as slowly as foot could fall. There
is nothing more pleasing to a traveller ---- or more terrible to travel-writers, than a
large rich plain ; especially if it is without great rivers or bridges ; and presents noth-
ing to the eye, but one unvaried picture of plenty : for after they have once told you
that ‹tis delicious! or delightful! […] they have then a large plain upon their hands,
which they know not what to do with – and which is of little or no use to them but
to carry them to some town ; and that town, perhaps of little more, but a new place
to start from to the next plain --- and so on.64
65 Siehe auch die Geschichte Yoricks, die aufgrund gesicherter Quellenlage der »religious
preservation of these records I quote« und »founded upon authenticated facts« (ebd.,
S. 25) erzählt wird.
66 Warning, Rainer: »Fiktion und Wirklichkeit in Sternes ›Tristam Shandy‹ und Dide-
rots’ Jacques le fataliste‹«. In: Jauß, Hans Robert (Hg.): Nachahmung und Illusion.
München 21969, S. 100.
67 Lukács, Georg: Die Seele und die Form. Neuwied, Berlin 1971, S. 207.
68 Wunberg, Gotthart: »Mnemosyne. Literatur unter den Bedingungen der Moderne: ihre
technik- und sozialgeschichtliche Begründung«. In: Assmann, Aleida/Harth, Dietrich
(Hg.): Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung. Frankfurt a.M.
1993, S. 83.
69 Wunberg (s. Anm. 68), S. 85.
70 Wunberg (s. Anm. 68), S. 85.
Ordnungen der ungesicherten Welt 141
Grimm weist der Literatur nur noch antiquarischen Wert zu, dem sich der
Philologe als exakt verfahrender Historiker der Dichtung zuwendet. So wird
einerseits eine strikt chronologische Grenze eingezogen, um Wissen zu ord-
nen, und andererseits der Literatur ihre Fähigkeit zur Erfahrungsvermittlung
zu gegenwärtigen Zwecken abgesprochen.
In der um 1800 noch ungeklärten Position der Dichtung im neuen Wissens-
system versuchen Novalis und Friedrich Schlegel in ihrem Projekt einer
enzyklopädistischen Literatur, der Dichtung in ihrem besonderen Vermögen
der synoptischen Zusammenschau des Nebeneinander eine zentrale Stellung
71 Vgl. Koselleck, Reinhart: »Das achtzehnte Jahrhundert als Beginn der Neuzeit«. In:
Herzog, Reinhart (Hg.): Epochenschwelle und Epochenbewusstsein. München 1987,
S. 269–282.
72 Vgl. Weimar, Klaus: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende
des 19. Jahrhunderts. München 1989, S. 190–207.
73 aus: Grimm, Herman/Hinrichs, Gustav (Hg.): Briefwechsel zwischen Jacob und Wil-
helm Grimm aus der Jugendzeit. Weimar 21963, S. 101.
142 Matthias Buschmeier
Neumann sieht den Bezug zu Willem J. Blaeus »Seekarte« von 1600, die
Elefanten als ikonographische Illustrationen enthält.77 Diese Auswahl dürfte
allerdings recht willkürlich sein, gehörten doch ornamentale Verzierungen
mit Tieren bis ins 18. Jahrhundert zu den gängigen Kartenillustrationen.78
Wesentlich näher liegt der Bezug zu Jonathan Swifts On Poetry: a rhapsody
(1733):
So Geographers in Afric-Maps
With Savage-Pictures fill their Gaps;
And o’er unhabitable Downs
Place Elephants for want of Towns.79
die Seele, denn er sah einen sorgfältigen, reinlich gezeichneten Plan ungern
auf diese Weise verunstaltet.«86 Die Verzeichnung der Karte durch Eduard
zeichnet in ihr geographisch den Punkt ein, der zum eigentlichen Ort der
Katastrophe wird. Auf der synchronen Ebene der Erzählhandlung nimmt
die Szene symbolisch den Wendepunkt vorweg, an dem die Heiterkeit des
sozialen Spiels in eine Leidenschaft umschlägt, die alle rationalen Kalküle
hinfällig werden läßt.
Bekanntlich waren die Wahlverwandtschaften als Novelleneinlage für
die Wanderjahre87 geplant und die Erzählstruktur erinnert noch deutlich an
diese novellistische Herkunft. Im Titel findet sich bereits der Verweis auf
das reisende bzw. wandernde Subjekt, dessen bestimmende Existenzform
bereits in den Lehrjahren die des movens war. Die Bedingungen des Turmes
zwingen Wilhelm zum permanenten Weiterzug. Eine kurze Liste der Figuren
macht das Spannungsverhältnis zwischen Ruhe und Bewegung im Roman
deutlich: Wilhelm, Lenardo, Montan/Jarno, die pilgernde Törin, der Barbier,
der Geschirrfasser, Hilarie, der Maler, die schöne Witwe, der Abbé, der Welt-
bund der Auswanderer – sie alle sind permanent in Bewegung. Dem ist die
Gruppe der »Seßhaften« gegenübergestellt: Makarie und ihre Nichten, St.
Joseph, der Oheim, der Sammler, Susanne/Nachodine und Odoard.
Die Wanderjahre sind, wie die Forschung gezeigt hat, der Ort, an dem
Goethe explizit die Probleme gesellschaftlicher Modernisierung durch Spe-
zialisierung und Industrialisierung thematisiert.88 Desweiteren findet sich in
Formanalysen des Romans eine Tendenz, die formale Gewagtheit des Werkes
hervorzuheben. So entgeht manchem, daß die Wanderjahre sich in großem
Maße mit Formen konventionellen Erzählens auseinandersetzen. Wie schon
im Tristram Shandy, so führen auch die Wanderjahre die Problematik von
Erzählen und Roman explizit vor. »Wer etwa von einem Roman das Erzählen
einer Geschichte erwartet – und von den Wanderjahren dann eben das Wei-
ter-Erzählen der Lebensgeschichte Wilhelm Meisters aus den Lehrjahren –,
der wird schnell und bitter enttäuscht.«89 Trifft der Befund auf die Lebens-
geschichte Wilhelms zu, so geben die Novelleneinlagen des Romans, die
geradezu auf klassische Weise Erzählsituationen vorführen, zunächst einen
anderen Eindruck. Der erzählende Barbier von »Die neue Melusine« weist
intertextuell auf den Barbier von Bagdad aus 1001 Nacht und damit auf
den paradigmatischen Ort der Erzählkunst.90 Zugleich zeigt eine genauere
Untersuchung dieser konventionellen Erzählelemente, daß auch sie immer
wieder von der den ganzen Text strukturierenden Archivfiktion gebrochen
werden.91
Im dritten Kapitel des dritten Buchs tritt Wilhelm das erste Mal als Erzäh-
ler auf. Die Erzählung seiner Wundarztausbildung wird als klassische Erzähl-
situation eingeleitet: »Eines Abends also fing Wilhelm seine Erzählung an«
(WJ 322). Als autobiographischer Bericht beginnt die Erzählung in der Ich-
Form. Über die Exposition kommt Wilhelm aber nicht hinaus. Die wörtliche
Rede bricht ab. Das Erzählverhalten wechselt in die Er-Form. Im vierten
Kapitel übergibt nun Friedrich als »Kanzlei« (WJ 335) der Turmgesellschaft
Wilhelm ein Heft mit dem Notat seiner Erzählung. Die Er-Erzählung von
Wilhelms Ausbildung aber ist keineswegs das Notat Friedrichs. Warum sollte
Friedrich während seiner Aufzeichnung von der ersten in die dritte Person
wechseln? Die Eingangspassagen in Ich-Form sind die Notizen Friedrichs.
Danach handelt es sich um die Umgestaltung des Redakteurs. Offensicht-
liches Anzeichen dafür sind Wendungen wie »Nun tat unser Freund sein
Bestes« (WJ 327). Solche Wendungen, wie auch der pluralis majestatis, sind
sichere Kennzeichen der Erzählstimme des Redakteurs. Was als klassische
Erzählsituation beginnt, mündet in die Umformung des Redakteurs, der bald
aus Dokumenten seines Archivs zitiert, bald aber wieder die Erzählautorität
übernimmt. Die Tendenz, klassische Erzählung und Archivfiktion gegeneinan-
der zu arbeiten, nimmt sukzessive zu. Auch in »Lenardos Tagebuch« findet
sich eine komplizierte Struktur des Wechselverhältnisses von Erzählung und
Archivfiktion.
Lenardo wurde schon zu Beginn des Romans im Briefwechsel zwischen
Makarie und ihren Nichten als Reisender vorgestellt. Er hat Brabant, Paris
und London gesehen (vgl. WJ 73). Neben seiner kaufmännischen Ausbildung
aber hatte er schon immer einen »Trieb zum Technischen« (WJ 336) und zur
»unmittelbaren Handwerkskunst« (WJ 337). Das Tagebuch beginnt wieder
in Ich-Form. Tagebuch wie Brief zeichnen als Textart die Grenze zwischen
Schrift und Redekultur. Sie sind gleichsam Anrede, Erzählung in Schrift
gegossen. Beides wird im Tagebuch mit dem Motiv des Wanderns verbunden.
Als Wanderer und weit Hergereiste kommen Lenardo, St. Christoph und der
Garnträger in die Dörfer. Die soziale Funktion des Garnträgers besteht kei-
neswegs nur in seiner ökonomischen Tauschfunktion, sondern ausdrücklich
in jener erzählend-ratgebenden Funktion, die Benjamin als konstitutiv für
90 Vgl. Mommsen, Katharina: Goethe und 1001 Nacht. Berlin 1960, S. 131f. und 138f.
91 Vgl. Neuhaus, Volker: »Die Archivfiktion in Wilhelm Meisters Wanderjahren«. In:
Euphorion 62 (1968), S. 13–27.
Ordnungen der ungesicherten Welt 147
die Erzählkunst sieht.92 »Die Alten dagegen hielten gar mancherlei Fragen
bereit; vom Krieg wollte jedermann wissen« (WJ 340) und »Unser Mann
wurde dazwischen wegen manches Lebensfalles um Rat gefragt« (WJ 341).
Im nächsten Absatz aber schaltet Goethe unmittelbar eine jener Beschrei-
bungen in den Text ein, die Heinrich Meyer ihm von der Schweizer Textilpro-
duktion geliefert hatte. Der folgende kurze Editionsvermerk des Redakteurs
unterstreicht die Archivfiktion ein weiteres Mal: die Zeichnungen, von denen
das Tagebuch spricht, könne er leider hier nicht wiedergeben (WJ 341). Am
Ende der technischen Skizzen verfällt das Tagebuch in jenen erzählerischen
Ton, der den Leser hoffen läßt, den doch etwas trockenen Beschreibungen
entronnen zu sein. Nur aber um zwei Absätze später wieder ganz in den
technischen Details, diesmal der Webkunst,93 aufzugehen. Als Lenardo und
Begleiter aber zusammen bei einer Weberfamilie einkehren, »setzen [sie] sich
bald durch Scherz und Erzählung wieder in das alte Recht, welches Haus-
freunden gebührt« (WJ 348). Erneut wird deutlich, daß die alten Funktionen
der Reisenden, das Erzählen und Ratgeben, zwar erwähnt, aber nicht mehr
dargestellt werden.94 Wieder wird keine Erzählung, kein anregendes Gespräch
erzählt, sondern wieder folgt eine technische Beschreibung.
Keineswegs aber dürfte daraus vorschnell geschlossen werden, daß mit
der Archivfiktion, wie mit dem Maschinenwesen das Handwerk, die Erzähl-
tradition gleichsam ausgelöscht werde. Denn anders als im Tristram Shandy,
wo Erzählen weder auf der Ebene des Ich-Erzählers noch in den Binnenge-
schichten zu gelingen vermag, wird in den Wanderjahren weiterhin erzählt.
Zwischen die beiden Teile des Tagebuchs, das selbst schon die Spannung
von Rede und Schrift, Erzählung und Roman, vorführt, finden wir die Erzäh-
lungen »Die neue Melusine«, »Die gefährliche Wette« und »Nicht zu weit«,
die die Thematik von Archivfiktion und Erzähltradition wiederaufnehmen.
Das Ende des ersten Teils des Tagebuchs bezeichnet das Ende dessen
Manuskripts. Wilhelm und der Leser bekommen die Fortsetzung noch nicht
zu lesen. Der zweite Teil sei an Makarie gesandt und ist Wilhelm daher
nicht greifbar, bis in III.13 ein Paket mit dem Rest der Aufzeichnungen
Wilhelm erreicht.95 Die Post zwingt Wilhelm zur Pause. »Der Freund mußte
sich diese Unterbrechung gefallen lassen und sich bereiten, an einem gesel-
ligen Abend, in heiterer Unterhaltung, Vergnügen zu finden« (WJ 352). Am
Romantische Orientierungstechnik:
Kartographie und Dichtung um 1800
1 Novalis: Schriften, hg. von Paul Kluckhohn und Richard Samuel. Stuttgart 21960f.,
Bd. I, S.101. Im vorliegenden Beitrag wird Novalis durchgehend nach dieser Ausga-
be zitiert. Im folgenden abgekürzt als NS und zitiert mit Bandzahl in römischer und
Seitenangabe in arabischer Ziffer.
152 Chenxi Tang
Bemerkenswert ist zuerst, daß der Denker als Künstler apostrophiert und
das Denken, welches das Weltall mit Worten nachbildet, näherhin als Meß-
kunst bezeichnet wird. Dann wird neben den Denker ebenbürtig die Gestalt
des Kartographen gestellt. Einzelerscheinungen der Natur vermessend und
aufzeichnend, entwirft dieser eine Karte, die genauso wie das System des
Denkers den die Natur durchwaltenden Geist erfaßt und dem im irdischen
Leben herumirrenden Menschen Orientierung bietet. Indem die Kartogra-
phen den »lebendigen« Beweis der abstrakten Sätze des Denkers führen,
rücken sie ihre Kunst in die Nähe der Dichtung, die die Natur durch sinnliche
Bezugnahme erschließt und somit dem Menschen gleichermaßen ermöglicht,
»den richtigen Weg zu finden« (NS I, 87). Hier wird also der Philosophie,
der Kartographie, und der Dichtung sämtlich die Funktion der Orientierung
zugeschrieben.
Die Engführung von der Dichtung, Philosophie und Kartographie bei
Novalis ist weniger sonderbar, als es auf den ersten Blick erscheinen mag.
Wenn er auch trotz seines enzyklopädischen Interesses nur wenig zur Karto-
graphie Stellung nahm, war dieser romantischste aller romantischen Denker
und Dichter keinesfalls unwissend auf diesem Gebiet. An der Bergakademie
Romantische Orientierungstechnik: Kartographie und Dichtung um 1800 153
2 Vgl. »Novalis an den Vater in Weissenfels, den 1sten September, 1798«, NS IV,
259.
3 Im akademischen Jahr 1797/98, als Novalis in Freiberg studierte, las Johann F. Lempe
über Feldmeßkunst und Markscheidekunst. Siehe Schulz, Gerhard: »Die Berufslauf-
bahn Friedrich von Hardenbergs (Novalis)«. In: ders. (Hg.): Novalis. Darmstadt 21986,
S. 302.
4 In Hardenbergs Bücherverzeichnis findet sich Johann Friedrich W. Charpentiers Mi-
neralogische Geographie der Chursächsischen Lande (Leipzig 1778), ein Buch, das
eine farbige geologische Karte enthält: Petrographische Karte des Churfürstenthms
Sachsen und den incorporirten Lande.
5 In seinem Brief an Oppel vom Dezember 1799 stellte Hardenberg die Wichtigkeit der
Karten für die Landesuntersuchung fest und beklagte sich über den »Mangel an rich-
tigen Situationskarten«, wonach es unmöglich sei, »ein einzelnes Stück der Erdober-
fläche richtig zu bestimmen.« NS IV, 298. Folgerichtig sah er seine Aufgabe teilweise
darin, das Land richtig zu kartographieren. Ausführlich zu Hardenbergs Teilnahme an
der Landesuntersuchung Sachsens, siehe Schulz (s. Anm. 3), S. 315f.
6 Schulz (s. Anm. 3), S. 329f.
154 Chenxi Tang
Gemeinhin kann man räumliche Orientierung als die auf einem subjektiven
Unterscheidungsgrund beruhende Richtungsbestimmung begreifen. Als ein
»Gefühl eines Unterschiedes an meinem eigenen Subject« ist Orientierung
unmittelbar und leibgebunden.8 Jedoch ebenso wie sprachliche Kommuni-
kation durch das Medium der Schrift die unmittelbare orale Gegenwart zu
transzendieren vermag, kann räumliche Orientierung auch die Grenzen des
unmittelbaren, vertrauten Bereichs überschreiten, indem sie von einem beson-
deren Medium Gebrauch macht, nämlich der Karte. Die Karte ist ein System
mehr oder minder »geometrisch gebundener graphischer Zeichen aus einem
endlichen, mit vereinbarten Bedeutungen versehenen Zeichenvorrat«.9 Wie
die Schrift vergegenwärtigt die Karte das Abwesende und das nicht unmit-
telbar Verfügbare, und zwar besonders in Bezug auf Raumverhältnisse wie
etwa die Lage eines unbekannten Ortes oder die Struktur eines leibliche
Wahrnehmung übersteigenden Raumes. Orientiert man sich mittels einer
Karte in abwesenden Räumen, wird das subjektive Gefühl der rechten und
linken Seite keinesfalls außer Kraft gesetzt. Nur bezieht es sich dann nicht
auf die Ordnung des leiblich wahrgenommenen Raumes, sondern auf die
Ordnung der graphischen Zeichen, die auf tatsächliche Raumverhältnisse
hindeutet. So wie ein schriftlicher Text nur dann Sinn macht, wenn man ihn
7 Kant, Immanuel: »Was heißt: sich im Denken orientieren?«. In: Gesammelte Schriften,
Akademie Ausgabe. Berlin 1902f., Bd. 8, S. 134f..
8 Die Leibgebundenheit räumlicher Orientierung hat besonders Maurice Merleau-Ponty
herausgearbeitet: Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin 1966, S. 123f., 285f.
9 Hake, Günter/Grünreich, Dietmar/Meng, Liqiu: Kartographie: Visualisierung raum-
zeitlicher Informationen. Berlin 82002, S. 4.
Romantische Orientierungstechnik: Kartographie und Dichtung um 1800 155
lesen kann, erfordert die Karte eine Lesefähigkeit, die den Benutzer instand
setzt, aufgrund seines subjektiven Gefühls der linken und rechten Seite durch
die Karte hindurch das dargestellte Territorium zu imaginieren. Gelesen wird
nur das, was vorher geschrieben wurde. Dementsprechend geht der Karten-
benutzung das Kartieren voraus, das darin besteht, Raumverhältnisse nach
bestimmten Regeln und Verfahren graphisch auf einer Papierfläche festzuhal-
ten. Die Karte ist mithin als eine Kulturtechnik anzusehen, die oft effizienter
als die Schrift räumliche Daten aufzeichnet, speichert und bei Bedarf als
Orientierungshilfe abrufbar macht. Kulturgeschichtlich geht diese Technik
dem Schriftgebrauch voraus,10 und entwicklungpsychologisch enfaltet sie
sich parallel zum Erlernen von Lesen und Schreiben.11
In der Geschichte der Kartographie gelten die Dezennien um 1800 von
Beginn an als eine Umbruchszeit. Max Eckert, der Gründer der Kartographie
als Wissenschaft, spricht von einer »kartographische(n) Revolution am Ende
des 18. Jahrhunderts«, die dazu geführt habe, daß sich »von der Renaissance
an gerechnet (...) keine Karten so auffällig von denen der vorangehenden Jahr-
hunderte unterscheiden als die des 19. Jahrhunderts von ihren Vorgängern,
ganz gleich, ob sich dies auf die äußere Ausführung oder die innerliche Kor-
rektheit und Konstruktion bezieht.«12 Gewöhnlich werden diverse Leistun-
gen dieser Sattelzeit mit dem Begriff der Verwissenschaftlichung auf einen
gemeinsamen Nenner gebracht. Leo Bagrow, der Pionier der Kartographie-
geschichtsschreibung, führt seine Arbeit bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts,
weil »das äußere Bild der Karte, die ästhetische und kunsthandwerkliche
Seite in ihrer Bedeutung für den geistigen, kulturgeschichtlichen Gehalt, auf
den in diesem Werke besonderer Wert gelegt wurde, nun in den Hintergrund
zurück(tritt).« In den Vordergrund träten dagegen die speziellen Fragen, »wie
das Material, das als Grundlage für die Karte gedient hat, beschafft worden
war (topographische Aufnahme), wie dieses Material ausgewertet wurde (Pro-
jektion, Maßstab usw.) und was sich aus diesem Material in Einzelheiten
ergab (historisch-geographische Analyse.)«13
So unleugbar diese Verwissenschaftlichungsschübe auch sind, so wenig
machen sie das Wesen der tiefgreifenden Transformation der Kartographie
10 Die drei Teilbände des zweiten Bandes der von J. Brian Harley und David Woodward
herausgegebenen monumentalen History of Cartography (Chicago 1987f.), die sich
zum großen Teil mit schriftlosen Kulturen befassen, beweisen zur Genüge, daß die
Karte viel älter ist als die Schrift.
11 Kinder entwickeln normalerweise mit drei Jahren die Fertigkeit, einfache Karten in
unkomplizierten Situationen zu benutzen. In den folgenden fünf bis zehn Jahren wird
diese Fertigkeit dann gradweise verbessert. Vgl. Newcombe, Nora/Huttenlocher, Janel-
len: Making Space: The Development of Spatial Representation and Reasoning. Cam-
bridge/MA 2000, S. 145–177.
12 Eckert, Max: Die Kartenwissenschaft. Bd. 1. Berlin/Leipzig 1921. S. 441, 448.
13 Bagrow, Leo: Die Geschichte der Kartographie. Berlin 1951. S. 7.
156 Chenxi Tang
14 Der Fortschritt der Kartographie als Teil der geographischen Wissenschaft wurde ge-
meinhin in Entwürfen von Projektionsmethoden gesehen. Siehe Kästner, Abraham G.:
Uebersicht der Fortschritte verschiedener Theile der geographischen Wissenschaften
seit dem letzten Dritttheile des jetzigen Jahrhunderts bis 1790. Braunschweig 1795.
15 Franz, Johann M.: Homannische Vorschläge von der nöthigen Verbesserung der Welt-
beschreibungs-Wissenschaft. Nürnberg 1747. S. 22f.
16 Gatterer, Johann Ch.: »Versuch über die Landkarten«. In: Übersetzung der Algemei-
nen Welthistorie, die in England durch eine Geselschaft von Gelehrten ausgefertiget
worden. Bd. 32. Halle 1768. S. 5.
Romantische Orientierungstechnik: Kartographie und Dichtung um 1800 157
Kartograph d’Anville erläuterte, daß man zuerst nach einer gediegenen Pro-
jektionsmethode ein Kartennetz entwarf, dann die im geographischen Archiv
befindlichen Daten wie etwa historische Schriften und Reiseberichte, Karten
und Bilder sowie statistisches Zahlenmaterial nach bewährten Methoden der
historischen Quellenkritik prüfte, um sie schließlich in das schon entwor-
fene Kartennetz einzutragen.17 Aber schon zur Glanzzeit dieser cartographie
de cabinet,18 also um die Mitte des 18. Jahrhunderts, als d’Anville Karten
sämtlicher alter und neuer Länder kompilierte, wurde die erste auf einer tri-
gonometrisch-topographischen Landesaufnahme basierende Originalkarte,
Cassinis Carte géometrique de la France (1748–1794), veröffentlicht. Unter
der Einwirkung der Cassinischen Vermessung Frankreichs entstanden überall
in Europa auf flächendeckende Landesaufnahmen beruhende topographische
Kartenwerke. Die topographische Karte, die um 1600 in den Niederlanden
entstanden war,19 wurde um 1800 zur Vollendung gebracht20 und verdrängte
die auf Kartenprojektion und Bearbeitung vom geographischen Archiv aus-
gerichtete Universalkartographie.21
Im Gegensatz zur Universalkartographie, die sich mit dem von allerlei
schriftlichen, graphisch-bildlichen und numerischen Zeichen wimmelnden
geographischen Archiv herumschlägt, wendet sich die Topographie der Erd-
oberfläche selber zu, um die für den Karteninhalt in Betracht kommenden
Gegenstände und Merkmale zu identifizieren, ihre räumlichen Zusammen-
hänge meßtechnisch zu erfassen und sie schließlich konzeptartig auf Papier-
fläche aufzuzeichnen. Im späten 18. Jahrhundert waren allerdings strukturelle
Umwälzungen in der topographischen Geländedarstellung zu verzeichnen,
welche einer radikalen Subjektivierung gleichkamen. Dies kann besonders
gut am Beispiel des sächsischen Militärtopographen Johann Georg Lehmann,
dem das Verdienst zukommt, ein neues Paradigma in der Geländedarstellung
etabliert zu haben,22 gezeigt werden.
17 Siehe d’Anville, Jean-Baptiste B.: Considérations Générales sur l’études et les connois-
sances que demande la composition des ouvrages de Géographie. Paris 1777.
18 Monique Pelletier spricht von »La gloire de la cartographie de cabinet« im Zeitalter
der Aufklärung. Siehe dies.: Cartographie de la France et du Monde de la Renaissance
au Siècle des Lumières. Paris 2001, S. 92f.
19 Vgl. Schäffner, Wolfgang: »Operationale Topographie. Repräsentationsräume in den
Niederlanden um 1600«. In: Rheinberger, Hans-Jörg u.a. (Hg.): Räume des Wissen.
Berlin 1997, S. 63–90.
20 Der Kartographiehistoriker G. Alinhac spricht von »le perfectionnement de la carte
topographique« um 1800: Historique de la Cartographique. Paris 1986, S. 123f.
21 Vgl. Edney, Matthew: »Reconsidering Enlightenment Geography and Map Making:
Reconnaissance, Mapping, Archive«, in: Livingstone, David (Hg.): Geography and
Enlightenment. Chicago 1999, S. 165–198.
22 Zur Etablierung des Lehmannschen Paradigmas in der Geländedarstellung, siehe Pa-
pay, Gyula, »’Keine Wahrheit gedeiht ohne Widerspruch...’. Paradigmenwechsel in der
158 Chenxi Tang
»Eine topographische Charte oder einen Plan von einer Landstrecke auf-
nehmen,« schreibt Lehmann in seinem 1812 posthum veröffentlichten Buch
Die Lehre der Situations-Zeichnung, das als die Grundlage für den Unterricht
an der sächsischen Ritterakademie diente, » heißt: Die Entfernung der merk-
würdigen Gegenstände des Bodens von einander mittelbar und unmittelbar
ausmessen, dann aber das Bild der Unebenheiten auf einer Ebene, verhält-
nißmäßig kleiner, so darstellen, wie die Gegend bei senkrechter Ansicht und
Beleuchtung dem Auge erscheinen würde.«23 Die Ausmessung und unmit-
telbare graphische Abbildung des Geländes auf der Horizontalebene wurde
seit der Erfindung des Meßtisches von Prätorius um 1600 mathematisch
exakt. Das mathematisch fundierte Verfahren der differenzierten Wiedergabe
unebener Geländeformen aber ließ noch zwei Jahrhunderte auf sich warten,
bis Lehmann in den 1790er Jahren sogenannte Böschungsschraffen, also eine
Methode der Geländedarstellung bei »senkrechter Ansicht und Beleuchtung«,
erfand. So faßte zumindest Lehmann selber seine historische Bedeutung auf.24
Wichtig ist nicht nur die historische Tatsache, daß seine Methode im 19. Jahr-
hundert weite Verbreitung fand. Bei der Ausarbeitung seiner Methode ging
er auch weit über das rein Technische hinaus und formulierte eine höchst
bedeutsame Theorie der kartographischen Repräsentation.
Bei senkrechter Beleuchtung ist es klar, daß »Je schiefer eine Fläche
gegen den Lichtstral liegt, oder je größer der Böschungswinkel wird, je weni-
ger erleuchtet scheint sie dem Auge; je kleiner der Böschungswinkel wird,
je mehr scheint sie erleuchtet.« 25 Ebene Flächen erhielten das volle Licht,
müßten demnach weiß dargestellt werden, senkrechte Flächen erhielten kein
Licht, wären nach diesem Prinzip ganz schwarz wiederzugeben. Die schie-
fen Flächen werden durch Striche gezeichnet. Das Verhältnis von Strich-
stärke zum Zwischenraum der Schraffen, d.h. das Verhältnis von Schwarz
und Weiß in der Zeichnung sollte proportional zu verschiedenen Graden
von Böschungswinkeln sein. Lehmann ordnete auch mathematisch genau
den Steilheitsgraden von 0 bis 45 entsprechende Schwarzweiß-Verhältnisse
zu. (Als Militärkartograph ließ er größere Böschungswinkel außer acht, da
sie für militärische Bewegungen im Gelände uninteressant waren.) Die tat-
sächliche Entfernung der Orte auf einer solcherart gezeichneten schiefen
Fläche kann man bei zureichender mathematischer Kenntnis berechnen und
Schließlich ist es der Mensch, der die fertiggestellte Karte und das abge-
bildete Gelände miteinander vergleicht und sie zueinander in Beziehung setzt.
Mit dem richtig gezeichneten Plan »begibt man sich (...) auf den Boden,
und zwar auf die höchste Höhe, welche die weiteste Uebersicht gestattet;
vergleicht das Ansehen und die Entfernung aller Gegenstände und Terrain-
theile, so weit sie auf der Zeichnung abgebildet sind, mit ihrer wahren Größe,
Gestalt, Lage und Entfernung, und untersucht dabei die Ursachen der Täu-
schung, wenn dergleichen sich fände.«29 Die Signifikanz der Karte beruht
letztendlich auf der umfassenden Geländekenntnis des Subjektes.
Derweil soll es klar geworden sein, daß Lehmanns Geländedarstellungs-
methode ganz um die subjektive Erfahrung des Geländes kreist. Der Zeich-
ner scheint mehr Zeit im Gelände als im Zeichenbüro zu verbringen. Wenn
einzelne Kartenzeichen auf die subjektive Erfahrung von Objektmerkmalen,
graphische Zeichenkombinationen auf das kognitive Erfassen des Gelän-
des, und schließlich das Kartengebilde als ein Ganzes auf die empirische
Geländekenntnis zurückgeführt werden, entsteht eine vollständige Äquiva-
lenz von Karte und Territorium, die sich in der Fähigkeit des Topographen
manifestiert, in der Karte das Territorium und im Territorium die Karte zu
sehen. Eine solche Fähigkeit nennt Lehmann das Augenmaß. Damit ausge-
rüstet kann man einerseits durch jede Karte hindurch das von ihr dargestellte
Territorium imaginieren und andererseits jedes fremde Territorium leicht
wie eine Karte überblicken. Das Augenmaß, so Lehmann, läßt einen »schon
beim Anblick einer richtigen Generalcharte das topographische Detail des
Landes errathen, läßt ihn nach dem perspektiven Anblick einer Landschaft,
wo ein kleiner Gegenstand oft hundert andere und größere verdeckt, das
Ganze in der Einbildung von oben herab sehen; so daß das Land wie eine
Charte, und alle Dinge in ihrem richtigen Verhältnisse erscheinen.«30 Ein mit
Augenmaß bewaffneter Offizier »lernt den Krieg auf der Charte führen, wie
auf dem Boden, und auf dem Boden wie auf der Charte.«31 Mithin ist die
Geländedarstellung, die das Augenmaß ausbildet,32 eine »im Frieden wie im
Kriege« und für den »Regenten und Feldherrn« gleichermaßen lebensnotwen-
Zahlen der Strichverhältnisse wegzulassen. (...) Man kann heute einen Berg, oder eine
Gebirgstrecke scharf anblicken und auffassen, und die ganze Form stehet noch nach
Wochen und Monaten vor Augen.« (s. Anm. 23), S. 64.
29 Lehmann (s. Anm. 23), S. 72.
30 Lehmann (s. Anm. 23), S. 33f.
31 Lehmann (s. Anm. 23 ), S. 75.
32 Den Begriff des Augenmaßes, den Lehmann im Rahmen seiner Theorie der Böschungs-
schraffen entwickelt, überträgt er später auch auf die Meßtischaufnahme. Damit wird
der Meßtisch, der mit seiner Fähigkeit, das Gelände simultan auszumessen und ab-
zubilden, wie kaum andere Geräte den Anspruch auf objektive Raumrepräsentation
erheben darf, subjektiviert. Siehe Lehmann (s. Anm. 23 ), Bd.2, S. 17f.
Romantische Orientierungstechnik: Kartographie und Dichtung um 1800 161
Kartenaufnahme der Rheinlande durch Tranchot und v. Müffling (seit 1801) und die
Franziszeische Kartenaufnahme von Österreich (seit 1806).
36 Großmaßstäbliche Regionalkarten vor Cassini entbehren in der Regel einem passend
gewählten und maßstäblich dem topographischen Bildgefüge entsprechenden Gradnetz
und lassen sich deswegen gar nicht zusammenfügen. Vgl. hierzu im Hofe, Eduard:
»Beiträge zur Geschichte der topographischen Kartographie«. Internationales Jahrbuch
für Kartographie IV (1964), S. 149f.
Romantische Orientierungstechnik: Kartographie und Dichtung um 1800 163
diesem Blick kann man eben die ganze Natur »vollständig« kartographieren,
womit es möglich wird, »jedem Suchenden seinen Weg vorzuschreiben«.
Es braucht kaum noch angemerkt zu werden, daß die von Novalis, ja
auch von Lehmann anvisierte »vollständige Verzeichnung« des labyrinthi-
schen Erdraums, jene »große Naturkarte« des zukünftigen Geographen, für
immer im Imaginären bleiben muß. In der Wirklichkeit erfordert die Her-
stellung der Generalkarte eines Landes auf der Grundlage von topographi-
schen Aufnahmen ein hoch entwickeltes technisches Können. Die Herstel-
lung einer Weltkarte auf der Grundlage von Topographien, wie es um 1800
mancherorts vorgeschlagen wurde37, ließ sich zur damaligen Zeit gar nicht
verwirklichen. So wird bei Novalis die Einbildungskraft zum Fluchtpunkt
der vertrackten technischen Verfahren kartographischer Modellbildung und
Generalisierung, welche topographische Zeichnungen zum Gesamtbild des
Erdraumes zusammenfügen.
Als jeweils Leutnant (später Major) und Salinenassessor im Dienst des säch-
sischen Staates waren Lehmann und Novalis wahrscheinlich eher an dem
Gesamtbild ihres Landes als demjenigen des ganzen Erdraumes interessiert.
Tatsächlich diente die Kartographie als Orientierungstechnik vornehmlich
dazu, dem Staatsbürger zu helfen, das Staatsterritorium als ein Ganzes zu
imaginieren.
Seit jeher greifen kartographisches Wissen und Machtausübung untrenn-
bar ineinander. Im neuzeitlichen Staat wird allerdings der Konnex zwischen
Karte und Macht neu konfiguriert. Das Titelkupfer von Hobbes’ Leviathan
führt anschaulich vor, wie unzertrennlich der Souverän mit dem unter seiner
Hoheit stehenden Territorium verbunden ist. Die obere Hälfte des Bildes zeigt
den Oberkörper des Souveräns, und die untere Hälfte die Ansicht eines von
ihm beherrschten Gebietes. Der Staatskörper ist immer schon territorialisiert.
Thomas Burnet, Hobbes’ Zeitgenosse, schrieb im Jahr 1681:
Methinks every Prince should have such a Draught of his own Country and Dominions,
to see how the ground lies in the several parts of them, which highest, which lowest;
what respect they have to one another, and to the Sea; how the rivers flow, and why;
how the Mountains stand, how the Heaths, and how the Marches are plac’d. Such
a Map or Survey would be useful both in time of War and Peace, and many good
observations might be made by it, not only as to Natural History and Philosophy, but
also in order to the perfect improvement of a Country.38
Die Alphabetisierung um 1800 zeichnet sich dadurch aus, daß man nun-
mehr lesen lernt, »indem man schreiben lernt, und umgekehrt«, während
»früher Lesen und Schreiben separat gelernt (wurden).«47 Parallel dazu
wurde um 1800 das Kartenlesen durch das Kartenzeichnen beigebracht. In
Buch 3 seines pädagogischen Romans Emile kommt Rousseau auf den Geo-
graphieunterricht zu sprechen:
Seine beiden ersten geographischen Anhaltspunkte werden die Stadt sein, in der es
wohnt, und das Landhaus seines Vaters. Dann die dazwischenliegenden Orte. Hierauf
die Flüsse der Umgebung. Dann der Stand der Sonne und die Art und Weise, sich zu
orientieren. Das ist der Treffpunkt. Von all dem muß es sich selbst eine Karte machen,
die natürlich ganz einfach ist und anfangs nur zwei Gegenstände enthält, zu denen
es aber nach und nach die anderen nach ihrer Lage und Entfernung hinzufügt oder
abschätzt. Ihr seht schon, welchen Vorteil wir ihm dabei mit der Ausbildung seines
Augenmaßes verschafft haben.
Trotzdem werden wir ohne Zweifel das Kind ein wenig leiten müssen, aber wenig
und ohne daß es sich dessen bewußt wird. (...) Übrigens geht es nicht darum, daß es die
genaue Topographie seiner Heimat kennt, sondern um die Mittel, sie kennenzulernen.
Ob es die Landkarten im Kopf hat, ist unwichtig, wenn es nur richtig begreift, was
sie darstellen, und wenn es einen deutlichen Begriff von der Kunst hat, wie man sie
herstellt. Daraus allein seht ihr den Unterschied zwischen dem Wissen eurer Schüler
und der Unwissenheit meines Schülers. Sie kennen die Landkarten, aber meiner macht
sie. Damit haben wir auch einen neuen Zimmerschmuck.48
Unter dem Motto, »Setzt überhaupt niemals das Zeichen an die Stelle der
Sache, außer es ist unmöglich, sie zu zeigen«,49 rät Rousseau grundsätzlich
vom Gebrauch der Karten und Globen im Geographieunterricht ab50 und
schlägt stattdessen vor, dem Schüler seine Wohngegend zu zeigen. Dabei
wird er mit dem heimatlichen Raum vertraut gemacht und lernt insbeson-
dere, sich im Raum zu orientieren. Gleichwohl wird der Schüler nach dem
Gang durch seine Wohngegend aufgefordert, eine Karte davon zu zeichnen.
Der Karte wird offenbar die Funktion zugeschrieben, Raumkenntnisse und
Orientierungsvermögen zu festigen. Rousseau scheint die Karte genauso wie
die Schrift für ein notwendiges Supplement zu halten. Das, was im Geogra-
phieunterricht gelernt wird, so stellt sich heraus, ist überhaupt nicht das Tatsa-
chenwissen von der Erde, weder das von Landkarten und Globen vermittelte,
noch das auf dem Terrain unmittelbar erworbene. Gelernt wird vielmehr das
Wissen von der kartographischen Darstellung der Erde. Ehe der pädagogisch
inszenierte Spaziergang zu Ende geht, werden wahrgenommene Gegenstände
schon zu Kartenzeichen, während sich durch den Augenschein angenommene
47 Bosse, Heinrich: »›Die Schüler müßten selbst schreiben lernen‹ oder die Einrichtung
der Schiefertafel«. In: Boueke, Dietrich/Hopster, Norbert (Hg.): Schreiben – Schreiben
lernen. Tübingen 1985, S.164.
48 Rousseau, Jean-Jacques: Emile. Paderborn u.a. 101991, S. 163.
49 Rousseau (s. Anm. 48), S.162.
50 Siehe Rousseau (s. Anm. 48), S. 160.
Romantische Orientierungstechnik: Kartographie und Dichtung um 1800 167
Dadurch, daß der Lehrer seinen Schüler übt, selbst sich eine Karte von einem Lande
zu zeichnen. Am besten geschieht dis so. Der Lehrer zeichnet eine Karte an einer Tafel
vor, und macht dabei den Lehrling gleichsam auf gewisse Merkstäbe aufmerksam,
wozu vornehmlich der Lauf eines Flusses dienen kann. Darauf löscht er seine Zeich-
nung weg, und läßt den Lehrling unter seinem Beistande ein gleiches versuchen.53
aus und zeigt, wie man nach einem verjüngten Maaßstabe auf dem Papier eine Figur
zeichnet, die der großen Figur auf dem Felde ähnlich ist, der Maaßstab mag größer
oder kleiner angenommen werden. Man geht über zu der Aufstellung des Begriffs
Grundriß einer Gegend und spricht über die einfachsten Manieren der Feldmeßkunst
oder praktischen Geometrie.57
Wie der kartographische Diskurs seiner Zeit visiert das romantische Dich-
tungsprogramm des Novalis auch universale Orientierung an. Um dieses
Dichtungsprogramm zu verstehen, muß man aber zuerst einen kleinen
Umweg durch sein philosophisches Denken machen. Als ein signifikanter
Repräsentant der philosophischen Frühromantik nimmt Novalis’ Denken vom
»Sein« oder, wie Jacobi es nennt, »Ur-Seyn« seinen Ausgang. Wie Jacobi,
Schelling, Hölderlin und andere ihnen nahestehende Denker ist auch Novalis
davon überzeugt, daß sich das absolute Sein nicht durch die Reflexion oder
das Wissen vollständig begreifen läßt. Jedoch wie kein anderer charakteri-
siert er das Unvermögen der Reflexion als Seitenverkehrung. Reflexion heißt
ja Spiegelung, und beim Bespiegeln werden bekanntlich Rechts und Links
als Links und Rechts reflektiert. Diese für die Reflexion charakteristische
Ordnung nennt Novalis »ordo inversus«, wonach der reflektierende Mensch
»nicht (ist), was er vorstellt, und (...) nicht vorstellt, was er ist.« (NS II, 226)
Für Kant deutet das Phänomen seitenverkehrter Bespiegelung – »das Bild
einer rechten Hand (ist) in (dem Spiegel) jederzeit einer linke« – auf »die
Möglichkeit völlig ähnlicher und gleicher und doch incongruenter Räume«
hin61, angesichts derer er es als notwendig erachtet, die lediglich subjektiv
fühlbare Ausrichtung als ein philosophisches Problem eigens zu thematisie-
ren. Bei Novalis spielt es eine ebenso wichtige Rolle, indem er fortan an die
Stelle von idealistischer Philosophie des Selbstbewußtseins eine einzigartige
Philosophie der Richtungsbestimmung setzt. Die Reflexion, die das absolute
Sein zu erkennen trachtet, geht von dem Gefühl aus, dem das Sein durch die
»Urhandlung« gegeben wird. Jeder Akt der Reflexion verfehlt aber immer
das Gefühl aufgrund der Richtungs-Verkehrung. Durch die Reflexion zwei-
ter Ordnung wird zwar das Gefühl als Nicht-Wissen erkannt,62 doch dies
bedeutet beileibe noch nicht, daß das nicht-wissende Gefühl, in dem sich
das Sein offenbart, dadurch in Wissen verwandelt worden wäre. Vom Gefühl
ausgehend begibt sich die Philosophie auf die Suche nach dem absoluten
Sein. Diese Suche muß sich als unendlich-unabschließbar erweisen, denn als
der Standpunkt, von dem aus die Erkenntnis gewonnen wird, eilt das Gefühl
philosophischer Erkenntnis immer voraus.
Gerade dort, wo Philosophie an ihre Grenzen stößt, zeigt die Dichtung
ihre Stärke, indem sie die Grenzen der Philosophie durchbricht und das
sich der Reflexion ständig entziehende Sein, das in der Erkenntnis Nichtge-
genwärtige, gegenwärtig macht.63 Als die Darstellung des absoluten Seins,
dieses erkenntnismäßig schlechthin Undarstellbaren,64 ermöglicht die Dich-
tung eine unmittelbare Vertrautheit mit dem Sein, die eigentlich nur dem
Gefühl gegönnt ist. Während aber das Gefühl ein präreflexiver, gleichsam
unbewußter Zustand ist, wird die dichterische Vertrautheit mit dem Sein
durch symbolische Operationen erreicht. Mithin kann die Dichtung mit der
um 1800 entstandenen topographischen Kartographie verglichen werden, die
mittels bestimmter symbolischer Operationen eine unmittelbare Vertrautheit
mit dem Erdraum als solchem, d.h. eine universale Orientiertheit, zu erlangen
beansprucht. In der Tat folgt Novalis’ Konzeption von Dichtung der gleichen
Logik wie Lehmanns Konzeption von topographischer Kartographie.
Erstens inszeniert der Dichter ein unablässiges Zusammenspiel von
Gefühl und Reflexion, das Novalis als »Romantisierung« apostrophiert:
»Romantisiren ist nichts, als eine qualit(tative) Potenzierung. (...) Indem ich
dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnißvolles
Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen
unendlichen Schein gebe so romantisire ich es – Umgekehrt ist die Operation
für das Höhere, Unbekannte, Mystische, Unendliche – dies wird durch diese
Verknüpfung logarythmisiert – Es bekommt einen geläufigen Ausdruck.« (NS
II, 545) Das Gemeine, Gewöhnliche und Bekannte sind dem Zustand des
das Sein unbewußt offenbarenden Gefühls zuzurechnen, und »das Höhere,
Unbekannte, Mystische, Unendliche« der im Medium der Zeichen verfah-
renden Reflexion. Durch die Operation der Romantisierung, die das Gefühl
reflexiv erhöht und den Gedanken fühlbar macht (NS II,560), werden das
Sein und das das Sein immer verfehlende Zeichen, das »Nichtseyn« eben,
aufeinander bezogen und ineinander transformiert.
Zweitens setzt der Dichter eine kombinatorische Operation in Gang, die
das Sprachzeichen unabhängig vom Bezeichneten mit anderen Sprachzeichen
koppelt und somit ein selbstreferentielles Zeichensystem produziert, wel-
ches das in sich ruhende Sein symbolisch verdoppelt.65 Mithilfe einer wahr-
scheinlich nicht zufällig kartographischen Metaphorik bezeichnet Novalis das
selbstreferentielle System der Sprachzeichen als einen »zarten Maaßstab und
63 Novalis: »Die ganze Repraesentation beruht auf einem Gegenwärtig machen – des
Nicht Gegenwärtigen und so fort – (Wunderkraft der Fiction.)«. NS III, 421.
64 Novalis: »(Der poetische Sinn) stellt das Undarstellbare dar.« NS III, 685.
65 Vgl. Vogl, Joseph: Kalkül und Leidenschaft. München 2002, S. 264f.
172 Chenxi Tang
Grundriß der Dinge.« (NS II, 672) Stellen einzelne Zeichen das Sein immer
richtungsverkehrt dar und fallen daher oft der Unverständlichkeit anheim,
»dünkt uns« das Zeichensystem der Schrift als ein Ganzes, wie Novalis
am Anfang der »Lehrlinge zu Sais« sagt, »wunderbar verwandt mit echten
Geheimnissen (...), denn sie ist ein Akkord aus des Weltalls Symphonie.«
(NS I, 79) Durch die Koppelung der Zeichen zu einem selbstreferentiellen
System werden die Richtungsverkehrungen der Darstellungen gegenseitig
aufgehoben. Der Kombinatorik seiner Zeit folgend und sie weiterführend,
faßt Novalis das Dichten überhaupt als Zeichenkombination auf. Stichwort-
artig faßt er die kombinatorische Operation des Dichters folgendermaßen
zusammen: »Mannigfaltige combinirte Autorbewegungen oder Operationen
– Lesen – Beobachten – alles in Beziehung auf Selbstdenken – und schrei-
ben.« (NS III, 366)
Schließlich vergleicht und vermischt der Dichter sein Kunstwerk mit der
Natur oder dem Leben, so daß Kunst und Natur, Kunst und Leben ineinander
übergehen. Novalis meint, »Man versteht eine Sache am leichtesten, wenn
man sie repraesentirt sieht. So versteht man das Ich nur insofern es vom
N(icht)I(ch) repraesentiert wird. Das N(icht)I(ch) ist das Symbol des Ich,
und dient nur zum Selbstverständniß des Ich. So versteht das N(icht)I(ch)
umgekehrt, nur insofern es vom Ich repraesentirt wird, und dieses sein Sym-
bol wird.« (NS III, 246) Gemäß diesem Gedanken der Wechselrepräsentation
von Ich und Nicht-Ich werden bei Novalis die Poesie und die Natur bzw.
die Poesie und das gemeine Leben aufeinander abgebildet. Einerseits wird
der Poesie die ursprüngliche Natürlichkeit zugesprochen, und andererseits
werden die Natur und das Leben als poetisch apostrophiert. Dadurch wird
die Grenze zwischen Poesie und Natur sowie zwischen Poesie und Leben
durchlässig gemacht, ja sogar völlig verwischt.
Werden Zeichen und Bezeichnetes, Zeichenkombination und Kombination
der Natur- und Lebenserscheinungen, und schließlich Kunstwerk und Natur
bzw. Leben solcherart ineinander überführt, so entsteht eine vollkommene
Äquivalenz zwischen dem poetischen Zeichengebilde und der Welt, mit-
hin eine »absolute Darstellung«.66 Sie manifestiert sich in einer besonderen
Bewußtseinsform beim dichterischen Subjekt, die Novalis als ein »unmit-
telbares Bewußtseyn der ganzen Welt« (NS II, 562) bezeichnet. Es ist ein
Bewußtsein, welches das absolute Sein zu erfassen vermag. In immer neuen
Wendungen versucht Novalis, es zu präzisieren: »Der ächte Dichter ist all-
wissend – es ist eine wirckliche Welt im Kleinen.« (NS II, 592) »Poesie ist
wahrhafter Idealismus – Betrachtung der Welt, wie Betrachtung eines großen
Gemüths – Selbstbewußtsein des Universums.« (NS I, 335) Dieses durch die
Dichtung hervorgebrachte unmittelbare Bewußtsein ist nicht die ungegen-
66 Zur Poetik absoluter Darstellung bei Novalis, vgl. Götze, Martin: Ironie und absolute
Darstellung. Paderborn 2001, S. 254f.
Romantische Orientierungstechnik: Kartographie und Dichtung um 1800 173
67 Novalis spricht vom »roh(en)« vs. »gebildet(en) Zufall« sowie vom »roh(en)« vs.
»gebildet(en) Raum«. Siehe NS III, 304.
68 Hans-Joachim Mähl charakterisiert den im Heinrich von Ofterdingen geschilderten
Zustand universaler Orientiertheit als »die Auflösung der Zeit- und Raumstruktur«:
Die Idee des goldenen Zeitalters im Werk des Novalis. Heidelberg 1965, S. 406f.
174 Chenxi Tang
was einem solchen Vermögen zugrundeliegt, kann nichts anderes sein als die
Einbildungskraft, denn »die Einbildungskraft ist der wunderbare Sinn, der
uns alle Sinne ersetzen kann.« (NS II, 650).
Dabei ist das Gefühl universaler Orientiertheit ein gebildetes Gefühl, ein
Gefühl also, in dem das gesamte menschliche Wissen vereinigt und absorbiert
wird. Heinrichs Ankunft im Reich der Liebe und Poesie ist eine Bildungs-
reise vorausgegangen, auf der unterschiedliche Wissensformen angeeignet
und verarbeitet werden. Nachträglich faßt Klingsohr, der Meister der Poesie,
Heinrichs Weg zur Dichtung stichwortartig zusammen: »Das Land der Poesie,
das romantische Morgenland, hat Euch mit seiner süßen Wehmut begrüßt; der
Krieg hat Euch in seiner wilden Herrlichkeit angeredet, und die Natur und
Geschichte sind Euch unter der Gestalt eines Bergmanns und eines Einsied-
lers begegnet.« (NS I, 283) Der im Reich der Poesie angelangte Heinrich wird
nicht bloß zu einem Sylvester ebenbürtigen Philosophen, sondern ihm wird
auch von Letzterem die prophetische Fähigkeit bescheinigt, die Heilige Schrift
genauso wie das Weltall zu durchschauen. (NS I, 333f.) In den zahlreichen
Notizen im Umfeld des Romanfragments ist auch von Heinrichs »Gespräch
mit dem Kaiser über Regierung, Kaisertum etc.« (NS I, 340) sowie seinem
Gespräch über die »Arzneik(unde)« und seiner »medizinisch(en) Ansicht«
(NS I, 347) die Rede. Philosophie, Theologie, Jurisprudenz und Medizin: in
allen vier Universitätsfakultäten soll Heinrich sich auskennen. Als Dichter
wird es ihm aufgegeben, die Einheit aller Diskurse zu stiften.69 Überhaupt
sollen in Heinrich von Ofterdingen »allerhand Wissenschaften poetisiert
(werden), auch die Mathematik im Wettstreit.« (NS I, 343) Das ambitiöse
Vorhaben, das in dem Fragment gebliebenen Roman nicht realisiert wird,
entfaltet Novalis, mindestens in ersten Ansätzen, in seiner Materialsammlung
zur Enzyklopädistik. Die Vereinigung verschiedenartiger Wissenschaften zu
einer poetischen Totalwissenschaft ist natürlich nur unter Zuhilfenahme der
Einbildungskraft möglich.70 Mithin ist es die Einbildungskraft, die das durch
allerlei Wissenschaften erarbeitete Wissen von den Einzelaspekten der Welt
in das Gefühl universaler Orientiertheit verwandelt.
Als eine symbolische Praxis, die universale Orientiertheit ermöglicht,
weist die romantische Dichtung fast bis in alle Einzelheiten hinein gleiche
Strukturmerkmale auf wie die Kartographie um 1800. Lehmanns Theorie
zur Geländedarstellung findet ihr Pendant in Novalis’ Poetik der absoluten
Darstellung. Das topographische Augenmaß bei Lehmann, das die Differenz
zwischen Karte und Territorium zum Verschwinden bringt, ist strukturell
von dem poetisch erzeugten »unmittelbaren Bewußtsein der Welt«, jenem
69 Vgl. hierzu Kittler, Friedrich: »Heinrich von Ofterdingen als Nachrichtenfluß«. In:
Schulz (s. Anm. 3), S. 493f.
70 Zur imaginativen Vereinigung aller Wissenschaften zur poetischen Totalwissenschaft,
vgl. Barck, Karlheinz: Poesie und Imagination. Stuttgart 1993, S.79–115.
Romantische Orientierungstechnik: Kartographie und Dichtung um 1800 175
gebildeten Gefühl bei Novalis, kaum zu unterscheiden, wenn sich auch das
Letztere zugegebenermaßen gar nicht auf die Raumvorstellung beschränken
läßt. Dabei beruhen beide auf der Einbildungskraft. Liegt dem Augenmaß
ein hochkompliziertes mathematisches Wissen zugrunde, ist das gesamte
naturwissenschaftliche und nicht zuletzt auch mathematische Wissen in das
gebildete Gefühl des Dichters eingeflossen. Darüber hinaus ist auch eine
strukturelle Affinität im Hinblick auf das Verhältnis des Individuums zum
Staat festzustellen. Die Kartographie führt das Staatsterritorium in Form
eines Kartenwerks dem Individuum vor Augen, und kraft des im heimat-
lichen Gelände ausgebildeten Augenmaßes imaginiert das kartographisch
alphabetisierte Individuum das Staatsterritorium durch die Karte hindurch
als einen ihm unmittelbar vertrauten und eng verbundenen Raum, in dem er
sich ohne weiteres orientieren kann. Strukturell vergleichbar mit der karto-
graphisch vermittelten Bezugnahme des Individuums auf den Staat ist das
Novalis’sche Projekt des »poetischen Staates« (NS II, 468), das darauf abzielt,
den Staat mittels des dichterisch gebildeten Gefühls aufzubauen. »Unsre
Staaten sind nur Agglomerationen«, stellt Novalis schon in der Frühphase
seines Denkens fest. »Staaten im eigentlichen Sinne des Worts«, so spekuliert
er, »sind nur mittels einer sehr idealischen Einbildungskraft denkbar«. (NS
II, 290f.) Es gilt also, von dem »maschinistischen« Vernunftstaat der Auf-
klärung (NS II, 494) Abschied zu nehmen und stattdessen einen neuen Staat
durch die symbolische Praxis der Poesie zu gründen. Die Poesie bildet ja
das unmittelbare Gefühl vom absoluten Sein aus, das Differenzen zwischen
unterschiedlichen Vernunftkenntnissen und Handlungsweisen aufhebt und
dadurch »die höchste Sympathie und Coaktivität – die innigste, herrschlichste
Gemeinschaft wircklich« werden läßt. (NS II, 373) Der durch die Bande des
Gefühls zusammengehaltene Staat stellt ein »Macroanthropos« (NS III, 286)
dar, in dem das Individuum restlos aufgeht: »Der vollk(ommene) lebt ganz
im Staate.« (NS III, 273) Bei Novalis wird das poetisch ausgebildete Gefühl
als die Grundlage des Staates vielfach mit der Metaphorik des Staatskörpers
verknüpft.71 Durch das damit angestrebte Absorbieren des individuellen Kör-
pers in den Staatskörper wird die frühneuzeitliche Identifizierung des Körpers
des Königs mit dem Staatskörper sowie die damit verbundene transzendente
Herrschaftsbegründung aufgekündigt. Der König wird zum Menschen, wenn
auch einem »zum irdischen Fatum erhoben(en) Mensch(en)«, während alle
anderen Menschen »thronfähig« werden sollen. (NS II, 489) Wichtig dabei
ist es, daß »jeder Mensch ein Künstler« und der König »der Künstler der
Künstler« werden sollten, damit jenes poetische Gefühl hervorgebracht wird.
(NS II, 497) Als ein wahrhafter Künstler soll der Mensch kein »Buchstäbler«
sein. (NS II, 491) Doch um zum Geist, eben dem poetischen Gefühl, vorzu-
71 Vgl. hierzu Ethel Matalas Analyse der Novalis’schen Konzeption des Staatskörpers:
Der verfaßte Körper. Freiburg 1999, S. 131–172.
176 Chenxi Tang
dringen, muß man die Buchstaben der Poesie beherrschen. Eben darum macht
sich der Staat anheischig, Alphabetisierung im eigentlichen Sinne genauso
wie kartographische Alphabetisierung zu betreiben.
Erst wenn Novalis’ philosophisches Denken sowie seine dichterische Pra-
xis eingehend analysiert und der kartographische Diskurs seiner Zeit umfas-
send rekonstruiert wird, ist es möglich, das in »Die Lehrlinge zu Sais« ange-
sprochene Problem der Orientierung angemessen zu verstehen. Kartographie
und Dichtung haben unterschiedliche Ursprünge und gehen unterschiedliche
Wege. Aber um 1800 konvergieren sie und bilden gemeinsam eine Orien-
tierungstechnik aus, die jeden, wie weit er auch wandern mag, schließlich
wieder zu seiner Heimat, zu seinem Ursprung, zurückführen sollte.
Im Dickicht der Schritte 177
Kaum eine Dekade ist es her, daß die ›Stadt als Text‹ noch einen eigenen
Diskurs beschrieb. Essays und Sammelbände nahmen sich des urbanen Tex-
tes anhand vielfältiger Lektüren an.1 Ist die Stadt schon immer der Ort von
Schrift, Text und Archiv gewesen, insofern sie den Ort früher Textakkumu-
lation und -speicherung bezeichnet, dann integrierte dieser Diskurs nicht
nur medienhistorische Ansätze, wie sie vor allem mit den Forschungen zur
Oralität und Literalität aufgekommen sind. Die metaphorische Konzeption
der ›Stadt als Text‹ wurde vielmehr zu einem Sammelbecken, in dem sich
die hergebrachte Motiv- und Sujetgeschichte wiederfand2, die Semiotik ihren
universellen Anspruch auf die Zeichenhaftigkeit auch der materiellen Welt
anmeldete3 und erste performative Zugänge einen anderen, auf den aktuellen
Gebrauch bezogenen Begriff von Sprache und Textkultur erprobten4. Die
Lektüren der Stadt richteten sich damit auf die Stadt als Schriftspeicher,
ermittelten in der Stadt ein Palimpsest verschiedener Texte, die im Laufe
der Zeit über und in den urbanen Raum hinein geschrieben worden sind,
1 Butor, Michel: Die Stadt als Text. Graz 1992; Smuda, Manfred (Hg.): Die Großstadt
als Text. München 1992; sowie in kritischer Auseinandersetzung mit diesem Diskurs
Scherpe, Klaus R.: »Nonstop nach Nowhere City? Wandlungen der Symbolisierung
und Semiotik der Stadt in der Literatur der Moderne«. In: ders. (Hg.): Die Unwirklich-
keit der Städte. Großstadtdarstellungen zwischen Moderne und Postmoderne. Reinbek
bei Hamburg 1988, S. 129–152.
2 Vgl. hierzu grundlegend Klotz, Volker: Die erzählte Stadt. Ein Sujet als Herausfor-
derung des Romans von Lesage bis Döblin. München 1969.
3 Barthes, Roland: »Semiologie und Stadtplanung«. In: ders.: Das semiologische Aben-
teuer. Frankfurt a.M. 1988, S. 199–209 [»Sémiologie et urbanisme«. In: L’Architecture
d’aujourd’hui, Nr. 53 (1970/71)].
4 Certeau, Michel de: Kunst des Handelns. Berlin 1988 [L’Invention du quotidien, tome
I: Arts de faire]. Paris 1980].
178 Kirsten Wagner
oder erkundeten die Stadt als Sujet insbesondere des Romans, das mit der
zunehmenden Fragmentarisierung des urbanen Wahrnehmungsraumes an die
Grenzen seiner Repräsentation zu stoßen schien. Aus semiotischer Perspek-
tive zeigte sich die Stadt hingegen als ein »Reich der Signifikanten«. Rekla-
metafeln und Aufschriften, Verkehrszeichen und Straßenschilder verdichteten
sich hier zu einem hypertrophen, die Signifikate überwuchernden Textgewebe
aus Schrift- und Bildzeichen.
Sowohl Roland Barthes als auch Michel de Certeau setzten dabei die
Bewegungen durch die Stadt mit einer Lektüre gleich, so daß aus dem Gehen
ein Lesen wurde. Schon der Benjaminsche Flaneur, detektivischer Fährten-
sucher und Spurenleser, hatte auf seinen Wegen durch die Stadt deren Ver-
gangenheit zum Sprechen gebracht:
Den Flanierenden leitet die Straße in eine entschwundene Zeit. Ihm ist eine jede ab-
schüssig. Sie führt hinab, wenn nicht zu den Müttern, so doch in eine Vergangenheit,
die um so bannender sein kann als sie nicht seine eigene, private ist. [...] Ließe nicht
ein passionierender Film sich aus dem Stadtplan von Paris gewinnen? aus der Ent-
wicklung seiner verschiedenen Gestalten in zeitlicher Abfolge? aus der Verdichtung
einer jahrhundertelangen Bewegung von Straßen, Boulevards, Passagen, Plätzen im
Zeitraum einer halben Stunde? Und was anderes tut der Flaneur?5
Die kinetische wie kinematische Lektüre der Stadt ist hier noch auf die
Bedeutung des Gewesenen für eine Gegenwart gerichtet, die in diesem Gewe-
senen bereits angelegt ist und nur von ihm her zu Bewußtsein kommen kann.
Bei Barthes und de Certeau wird die Stadt dagegen einer strukturalen Lektüre
unterzogen. Der »Benutzer« und »Leser der Stadt« aktualisiert in seinem
Gehen das urbane Symbolsystem, und wenn er dieses System auch noch
entziffert, so liest und interpretiert er es doch nicht mehr auf einen tieferen
Sinn hin. Bedeutung ergibt sich lediglich aus den Beziehungen, die die im
urbanen Raum verteilten Elemente des Symbolsystems eingehen: »Die Stadt
ist eine Schrift; jemand, der sich in der Stadt bewegt, das heißt der Benutzer
der Stadt (was wir alle sind) ist eine Art Leser, der je nach seinen Verpflich-
tungen und seinen Fortbewegungen Fragmente der Äußerung entnimmt und
sie insgeheim aktualisiert.«6 Ähnlich dann Michel de Certeau, für den das
Gehen – analog dem Lesen und Sprechen7 – zugleich eine emanzipatorische
Überschreitung der räumlichen Ordnung bzw. des symbolischen Sprachsy-
5 Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk. Gesammelte Schriften. Bd. V.1. Frankfurt a.M.
1991, S. 524, 135.
6 Barthes (s. Anm. 3), S. 206.
7 Michel de Certeau greift hier die linguistische Unterscheidung von parole und langue
bzw. die von Performanz und Kompetenz auf und bezieht sie auf den Raum. Dem
Sprechakt (acte de parler) oder der Äußerung (énonciation) entspricht so der Akt
des Gehens (acte de marcher) und damit ein dynamischer Handlungsraum (espace),
während das grammatikalische und lexikalische System der Sprache einem System
aus Orten (lieu) korrespondiert.
Im Dickicht der Schritte 179
stems darstellt: »Wenn es also zunächst richtig ist, daß die räumliche Ord-
nung eine Reihe von Möglichkeiten [...] oder von Verboten [...] enthält, dann
aktualisiert der Gehende bestimmte dieser Möglichkeiten. Dadurch verhilft er
ihnen zur Existenz und verschafft ihnen eine Erscheinung. Aber er verändert
sie auch und erfindet neue Möglichkeiten [...].«8
Grundsätzlich blieb der Akt des Gehens jedoch ein Akt des Lesens, und
die Stadt erschien bis in die 1990er Jahre hinein als ein totaler Text, den es
zu navigieren galt. Seine literarische Verkörperung hat dieser Diskurs u.a.
in Paul Austers City of Glass gefunden, eine Hommage sowohl an Edgar
Allan Poe, Charles Baudelaire und Walter Benjamin wie auch an die Stadt
New York.9
Abb. 1a:
Aufgezeichnete Bewegungen durch den urbanen Raum.
City of Glass, Paul Auster, 1987
Abb. 1b–d:
Aufgezeichnete Bewegungen durch den urbanen Raum.
City of Glass, Paul Auster, 1987
Text und Handlung der City of Glass werden im Buch von schematischen
Karten begleitet, bei denen es sich um die Aufzeichnungen der von den Prot-
agonisten ausgeführten Bewegungen durch den Stadtraum handelt. Erst in
der kartographischen Notation ergeben sie ein lesbares Schriftbild10, nämlich
einen der beiden Urtexte des Urbanen11: den Turmbau zu Babel bzw. die
Stadt Babylon aus dem Alten Testament (Gen 11,1–9), die Sinnbild nicht nur
der menschlichen Ermächtigung über die Weltordnung ist, sondern grund-
legend für die kulturhistorische Verbindung von urbaner Gesellschaftsform
und Zeichengebrauch einsteht.
10 Und zwar die Buchstaben ›o‹, ›w‹ und ›e‹ des Wortes ›tower‹, so der Abbildung (1)
zu entnehmen.
11 Der sein Pendant im Himmlischen Jerusalem aus der Offenbarung des Johannes (Off.
21,9–22,5) findet.
182 Kirsten Wagner
Abb. 2:
The Legible City, Jeffrey Shaw und Dirk Groeneveld, Nagoya 1989
Im Dickicht der Schritte 183
Auch in der Medienkunst tauchte in den späten 1980er Jahren eine navigier-
bare und lesbare Stadt auf, die Legible City von Jeffrey Shaw und Dirk Gro-
eneveld. Die Popularität dieser Installation, die sich heute im Medienmuseum
Karlsruhe befindet und zu den Ikonen der computergestützten Medienkunst
zählt, ist wesentlich auf ihre Interaktivität zurückzuführen.12 So werden die
Betrachter der Legible City zu Akteuren. Sie steuern den auf eine große Lein-
wand projizierten Bildraum, bringen ihn mit ihren körperlichen Handlungen
hervor. Der Bildraum setzt sich aus dreidimensionalen Buchstaben, Wörtern,
Sätzen zusammen, die die Anlage und Gebäude dreier verschiedener Städte
repräsentieren: New York, Amsterdam und Karlsruhe. Eingabegerät ist ein
gegenüber der Leinwand stationär montiertes Fahrrad, über das die Rezipi-
enten in Echtzeit nicht nur die Geschwindigkeit der Bildprojektion festle-
gen, indem sie schneller oder langsamer in die Pedale treten, sondern auch
verschiedene Ansichten der visualisierten Zeichenstädte wählen können. Die
Legible City gestaltet sich als eine Fahrsimulation durch einen urbanen Bild-
und Textraum13, in dem die Grenzen zwischen Bild und Text insoweit aufge-
hoben sind, als die Schriftzeichen zu dreidimensionalen Bildgegenständen,
der Text zu einer visuellen Figur wird.14 Jeffrey Shaw und Dirk Groeneveld
bezeichnen die Legible City auch als einen »interaktiven Darstellungsraum
in der Form einer simulierten urbanen literarischen Landschaft, die mit dem
Fahrrad bereist werden kann.«15
Projektionsfläche und Fahrrad der Installation befinden sich in einem
abgedunkelten Raum, so daß Gesichtssinn und Aufmerksamkeit der Rezipi-
enten auf die Leinwand fokussiert sind. Die perspektivischen Ansichten der
Computergraphiken erzeugen darüber hinaus einen imaginären Tiefensog,
der die Rezipienten immer weiter in den Bildraum hinein zu führen scheint.
Zur Immersion in den Bildraum, worunter das selbst- und medienvergessene
12 Zur Legible City vgl. Shaw, Jeffrey: »Modalitäten einer interaktiven Kunstausübung«.
In: Kunstforum International. Bd. 103 (1989), S. 204–209; Shaw, Jeffrey: »Reisen in
virtuelle Realitäten. Ein Gespräch mit Florian Rötzer«. In: Kunstforum International.
Bd. 117 (1992), S. 286–303; Schwarz, Hans-Peter: Medien – Kunst – Geschichte. Me-
dienmuseum, Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe. München 1997;
Dinkla, Söke: Pioniere Interaktiver Kunst von 1970 bis heute: Myron Krueger, Jeffrey
Shaw, David Rokeby, Lynn Hershman, Grahame Weinbren, Ken Feingold. Ostfildern
1997, S. 97 ff.
13 Neben den Fahrsimulationen, die einen frühen Anwendungsbereich von Computergra-
phik und Virtual Reality-Systemen bezeichnen, hat die Legible City die Videospiele der
1980er Jahre zum Vorbild. Auch dort kamen Fahr- und Flugsimulationen zum Einsatz.
Auf die simulierten Autorennen der Spielindustrie als Vorbild hat Dirk Groeneveld
hingewiesen. Groeneveld, Dirk: »Die lesbare Stadt – The Legible City«. Unveröffentl.
Vortragsmanuskript, Internationaler Kongreß »Konfigurationen. Zwischen Kunst und
Medien« anläßlich der documenta X, Kassel 04.–07.09.1997.
14 Dinkla (s. Anm. 12).
15 Shaw (s. Anm. 12).
184 Kirsten Wagner
20 Vgl. Anm. 5.
21 Vgl. hierzu Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Repro-
duzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie. Frankfurt a.M. 1977.
22 »The texts that had to replace the buildings had to date from the time that the houses,
buildings were built. This means: in the oldest part of the town the oldest known texts
etc., the texts developed in time as did the real architecture. The texts had to reveal
new, ›unknown‹ aspects not only of the history of Amsterdam but also of certain areas,
districts.« Groeneveld 1997, (s. Anm. 13).
23 Zum kollektiven Gedächtnis und seinen räumlichen Rahmen vgl. Halbwachs, Maurice:
Les cadres sociaux de la mémoire. Paris 1925.
24 »The autonomous entity of the city’s oldest recordings could function as a Palimpsest,
an old stone, or slab of marble, on which new words are imprinted from the personal
memory of the visitor, the inhabitant.« Groeneveld 1997, (s. Anm. 13).
186 Kirsten Wagner
als Magazin, Lagerhaus oder Archiv.25 Sie findet sich bereits im Zusammen-
hang mit der antiken Gedächtniskunst, die auf der bildhaften Vorstellung
eines räumlichen Gedächtnissystems und dessen Navigation basiert.26 Der
verräumlichte Text der Stadt Amsterdam und die Möglichkeit, ihn während
der imaginären Fahrradtour zu vergegenwärtigen, stellen eine Verbindung zu
jener Gedächtniskunst her.27
Mit der Aspen Movie Map ist ein weiteres Projekt aus dem Bereich der neuen
Medien benannt, das sich auf die antike Gedächtniskunst bezieht. Es wurde in
den Jahren 1978–80 von der Architecture Machine Group am Massachusetts
Institute of Technology entwickelt und verfolgte zwei Ziele.28 Zum einen
sollte die Aspen Movie Map als räumliches Datenverwaltungssystem Einsatz
finden, dem »spatial data access« dienen. Zum anderen arbeitete die Archi-
tecture Machine Group mit diesem Projekt an einer »surrogate travel«.29 Ein
räumlich entfernter Ort sollte so dargestellt werden, daß für den Rezipienten
der Eindruck entsteht, sich direkt an diesem Ort zu befinden. Parallel zu der
Abb. 3:
Aspen Movie Map,
Architecture Machine
Group, MIT,
Cambridge/Mass.
1978–1980
188 Kirsten Wagner
Entwicklung der Virtual Reality-Systeme ging es auch mit der Aspen Movie
Map um die Erzeugung einer Präsenzempfindung an einem medial vermit-
telten Ort. Dazu wurde die Stadt Aspen mehrmals mit einem Auto abgefahren
und von Kameras aufgezeichnet. Das auf Videodisk gespeicherte Bildmate-
rial, mit dem eine komplette Ansicht der Straßen und Gebäude Aspens vorlag,
konnte in verschiedener Reihenfolge und Geschwindigkeit über berührungs-
empfindliche Monitore und Joysticks abgerufen werden.
Die Aspen Movie Map stellt wie die Legible City eine visualisierte Stadt
dar, die von den Rezipienten anhand verschiedener Eingabegeräte navigiert
werden kann. Beide Projekte sind als Fahrsimulation angelegt. Während bei
der Legible City eine imaginäre Fahrradfahrt den Bewegungsmodus durch
den Bildraum vorgibt, ist es im Fall der Aspen Movie Map eine imaginäre
Autofahrt. Die körperliche Steuerung der Fahrsimulation bzw. der entspre-
chenden Bildsequenzen durch die Eingabegeräte Fahrrad, Joystick und berüh-
rungsempfindlicher Monitor führt zu dem Eindruck, sich unmittelbar durch
den Bildraum zu bewegen. Der Effekt, der sich hier wie dort einstellt, ist
der der Immersion.30
Ein zentraler Unterschied besteht hingegen auf Darstellungsebene. Die
Stadt mit ihren Straßen und Gebäuden wird nicht mehr über Buchstaben
und Textfiguren repräsentiert, das visualisierte Aspen ist eine fotografische
Reproduktion der realen Stadt Aspen. Darüber hinaus ist die Aspen Movie
Map in einem vollkommen anderen Kontext entstanden. Die intendierte »sur-
rogate travel« sollte insbesondere dem Militär erlauben, sich in ein strategisch
relevantes Gebiet hineinzuversetzen und es wie seine konkrete Umgebung
erkunden zu können.31 In dieser Hinsicht läßt sich die Aspen Movie Map
auch der Raumaufklärung und den korrespondierenden Survey-Techniken
zuordnen.
Die Verräumlichung von Information, wie sie mit diesem Projekt zusätz-
lich angestrebt worden ist, bewegt sich ebenfalls in einem pragmatischen
Anwendungszusammenhang, dem der computergestützten Datenverwaltung.
Bereits in den frühen 1970er Jahren kamen auf diesem Gebiet hergebrachte
30 Zum Aspekt der Immersion in bezug auf die Aspen Movie Map vgl. Bolt, Richard: The
Human Interface. Where people and computers meet. Belmont/CA 1984, S. 69 ff.
31 Entsprechend ist die Aspen Movie Map im Zusammenhang mit der Ausstellung »Cartes
et Figures de la Terre«, Centre Georges Pompidou, Paris 1980, und dort der compu-
tergestützten Kartographie als »tactical mapping system« eingeführt worden: »TAC-
MAPS, une réalisation de l’Agence pour les Projets de Recherche Avancée de la
Défense des Etats-Unis, constitue un système exclusif de cartographie tactique qui
permet à un individu de simuler le trajet qu’il effectue dans une zone donnée d`après
la carte. [...] L’utilisateur peut ainsi obtenir une vision réaliste et détaillée des pers-
pectives du terrain, et y évoluer avant même d’y être allé.« Gambin, Marie-Thérèse:
»Carte Automatique«. In: Cartes et Figures de la Terre. Ausstellungskatalog, Centre
Georges Pompidou, Paris 1980, S. 322–328.
Im Dickicht der Schritte 189
einem Display, das am Fahrradlenker angebracht ist, bei der Aspen Movie
Map wurde sie entweder über die Bildsequenzen der Fahrsimulation projiziert
oder auf einem zweiten berührungsempfindlichen Monitor dargestellt.
Im Dickicht der Schritte 191
Abb. 4a-c:
Karten der Legible City (a) und der Aspen Movie Map (b-c)
Die bisher vorgestellten Text- und Bildräume sind damit durch zwei Modi
der Aneignung und Repräsentation von Räumen gekennzeichnet: (1.) der
körperlichen Bewegung durch den Raum, (2.) der symbolischen Darstellung
des Raumes oder einer räumlichen Anordnung anhand einer Karte oder eines
vergleichbaren Mediums, etwa eines Grundrisses oder Tableaus. Beide Modi
sollen hier mit den Begriffen der ›Wanderung‹ (fr. parcours, engl. tour, walk)
und der ›Karte‹ (fr. carte, engl. map) eingeführt werden. Als epistemologische
Begriffe haben Wanderung und Karte bereits in die unterschiedlichsten Dis-
ziplinen Eingang gefunden: in die Sprach- und Literaturwissenschaft, die
Geographie und Stadtplanung sowie aktuell in die Kognitionswissenschaften.
Dabei werden über die Disziplinengrenzen hinweg beide Begriffe vor allem
im Sinne einer mentalen Repräsentation von Raum verstanden. Ihre ent-
sprechende Spezifikation haben sie als »imaginary tour«35 und »imaginary
map«36 bzw. »cognitive map«37 erfahren. Die Metaphorizität dieser Begriffe,
über die das Gehirn zu einer Art Kommandoraum wurde, in dem eine Samm-
35 Linde, Charlotte/Labov, William: »Spatial Networks as a Site for the Study of Lan-
guage and Thought«. In: Language. No. 51 (1975), S. 924–939.
36 Trowbridge, C. C.: »On Fundamental Methods of Orientation and Imaginary Maps«.
In: Science. Vol. 38, No. 990 (1913), S. 888–897.
37 Tolman, Edward C.: »Cognitive Maps in Rats and Men«. In: ders.: Collected Papers
in Psychology. Los Angeles 1951, S. 241–264.
192 Kirsten Wagner
48 Dort benannt als »egocentric orientation system«, »fixed systems of reference« und
»coordinated system of reference«. Hart, Roger A./Moore, Gary T.: »The Development
of Spatial Cognition: A Review«. In: Downs, Roger M./Stea, David (Hg.): Image and
Environment. Cognitive Mapping and Spatial Behavior. Chicago 1973, S. 246–288. In
der aktuellen Forschung wird inzwischen von »relative/deictic«, »intrinsic« und »abso-
lute reference frames« gesprochen. Vgl. dazu im Überblick Tversky, Barbara: »Levels
and structure of spatial knowledge«. In: Kitchin, Rob/Freundschuh, Scott (Hg.): Cog-
nitive Mapping. Past, present and future. London/New York 2000, S. 24–43.
49 Zur entwicklungsgeschichtlichen Betrachtung räumlicher Kognition vgl. Piaget, Jean/
Inhelder, Bärbel: Die Entwicklung des räumlichen Denkens beim Kinde. Stuttgart 1975
[La représentation de l`espace chez l`enfant. Paris 1948]; Hart/Moore 1973 (s. Anm. 48).
50 Wenn dieses egozentrische Orientierungssystem immer wieder als ein dreidimen-
sionales Koordinatensystem beschrieben worden ist, dann liegt das vor allem an der
Verselbständigung dieses Koordinatensystems zu einer Denkfigur des Räumlichen
und seiner Übertragung auf den Leib. Tatsächlich bildet das, was an Axialität im Leib
angelegt ist, also dessen Vertikalität und Horizontalität, kein homogenes Koordina-
tensystem aus, in das sich die Umwelt systematisch einsortieren läßt. Vielmehr ist
hier von einem Aktionsradius und von Körperhaltungen auszugehen, die sich entlang
des Oben und Unten, Vorne und Hinten, Links und Rechts des Leibes organisieren.
Insofern ist der Begriff eines dreidimensionalen Koordinatensystems in bezug auf den
Leib vollkommen ungeeignet.
51 Vgl. hierzu auch Karl Bühlers Ausführungen zum egozentrischen Zeigfeld der Sprache.
Bühler, Karl: Sprachtheorie. Jena 1934.
196 Kirsten Wagner
systeme sein können, zeigt ein Überblick über die unterschiedlichen kultu-
rellen Praktiken. Sie umfassen die Orientierung anhand von Himmels- und
Windrichtungen, Sternen- und Planetenkonstellationen, Wasserströmungen,
See- und Landseiten, nutzen Wege und Pfade, landschaftliche Besonderheiten
wie etwa Felsformationen, die zu Landmarken bzw. Orientierungszeichen
werden, nehmen das eigene Heim als Zentrum und Referenzpunkt räumlicher
Navigation.52 Daß diese räumlichen Anordnungen und Konstellationen bedeu-
tungstragend sind und keine abstrakten Koordinaten darstellen, ist mehrfach
hervorgehoben worden. Sie erhalten Namen, bilden den Gegenstand von
Mythen und Erzählungen, was sie gleichzeitig zu Trägern des kollektiven
Wissens und Gedächtnisses macht, und selbst die modernen, säkularisierten
Gesellschaften bewegen und orientieren sich noch in mit Bedeutung gesät-
tigten Räumen.53
Das dritte Orientierungssystem, das Koordinatenreferenzsystem, hat eine
Formalisierung der anderen beiden Systeme sowie eine Abstraktion vom kon-
kreten Raum zur Voraussetzung.54 Über den egozentrischen und mit ortsfe-
sten Orientierungszeichen ausgestatteten Raum ist ein homogenes zwei- oder
dreidimensionales Raster gelegt, in das die Welt eingetragen wird und mit
dem sich die räumliche Lage jedes Gegenstandes anhand seiner Koordinaten
exakt bestimmen läßt. Sein Modell hat ein solches Raster bereits in den von
Hipparch, Strabo, Marinus und Ptolemäus auf Basis der Himmelsvermes-
sung eingeführten zweidimensionalen Gitternetzen aus Längen und Breiten
gefunden.55 Vervollkommnet wird es später durch das zwei- und dreidimen-
sionale homogene Koordinatensystem bzw. die analytische Geometrie von
René Descartes, die eine Computation der abgebildeten räumlichen Figuren
ermöglicht. Raster wie diese und deren mathematische, durch Instrumente
gestützte Berechnung bestimmen das neuzeitliche Vermessungswesen und
die neuzeitliche Kartographie. Wenn sie die Raumvorstellungen und -begriffe
auch nachhaltig geprägt und verändert haben, so spielen sie für die alltäg-
lichen räumlichen Praktiken offensichtlich nur eine untergeordnete Rolle.
Sowohl der Raum egozentrischer Orientierung als auch der an fixen Konstel-
52 Trowbridge (s. Anm. 36); Angyal, Andreas: »Über die Raumlage vorgestellter Örter«.
In: Archiv für die gesamte Psychologie. Bd. 78 (1931), S. 47–94; Lynch, Kevin: Das
Bild der Stadt. Braunschweig/Wiesbaden 1965, S. 143 ff. [The Image of the City,
Cambridge/Mass. 1960]; Bollnow (s. Anm. 41), S. 63 ff.
53 Worauf schon die Phänomenologie hinweist und auch Michel Foucault Bezug nimmt.
Foucault, Michel: »Andere Räume«. In: Barck, Karlheinz u.a. (Hg.): Aisthesis. Wahr-
nehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Leipzig 1990, S. 34–46 [»Des
espaces autres«. In: L’Architettura, chronache e storia. Bd. 8, Nr. 150 (1968)].
54 Hart/Moore (s. Anm. 48).
55 Zur antiken Astronomie und Geographie vgl. Brown, Lloyd A.: The Story of Maps.
Boston 1949; Harley, John Brian/Woodward, David (Hg.): The History of Cartography.
Vol. I : Cartography in Prehistoric, Ancient, and Medieval Europe and the Mediter-
ranean. Chicago/London 1987.
Im Dickicht der Schritte 197
lationen orientierte Raum werden selten als ein homogenes Ganzes erfahren.
Sie setzen sich vielmehr aus begrenzten Aktionsradien und ausgezeichneten
wie bedeutungstragenden Orten zusammen. In diesem Sinne ist der Raum
dieser beiden Orientierungssysteme ein topischer – oder mehr noch – ein
heterotopischer Raum.
Das Gehen als grundlegende Form der Erschließung und Aneignung von
Räumen erscheint als Bedingung und Voraussetzung für deren Repräsenta-
tion. Experimentelle Untersuchungen zur Raumkognition haben hierzu eben-
falls ergeben, daß mentale Raumrepräsentationen weder einfach angeboren
sind noch allein über den Gesichtssinn erworben werden. In Übereinstim-
mung mit der Erkenntnis, daß Raumwahrnehmung und -erfahrung multimodal
und kinästhetisch angelegt sind, bilden sich mentale Raumrepräsentationen
zunächst wesentlich über Bewegungen, Handlungen sowie Geräusche. Jean
Piaget und Bärbel Inhelder haben dies für die frühkindliche Entwicklungs-
phase gezeigt. Dementsprechend betonen sie, daß räumliche Vorstellungen
nicht aus einer Ansammlung von Wahrnehmungsbildern resultieren, sondern
vielmehr aus der Verinnerlichung von Bewegungs- und Handlungsabläufen
heraus entstehen.56
Ähnliches gilt für den Aufbau der sogenannten ›kognitiven Karten‹. Wenn
dort noch einmal zwischen »route maps« und »survey maps« unterschieden
wird57, dann kommt den route maps vor den survey maps Vorrang zu.58
Beim Gehen durch räumliche Anordnungen prägen sich die Schrittfolgen,
Wege und Gesichtseindrücke dem Leib ein. Als habituelle, verinnerlichte
Bewegungen stellen sie bereits eine Art der Repräsentation dar. Da es sich
bei der entsprechenden route map um eine Repräsentation handelt, die sich
über den gesamten Leib konstituiert und ihn zum Träger hat, greift der übli-
che Begriff der mentalen Repräsentation schon an dieser Stelle deutlich zu
kurz.59 Überhaupt sollte er durch einen Begriff ersetzt werden, der dem Leib
deutlicher Rechnung trägt. Auf den route maps bauen nun die survey maps
auf. Letztere sind dadurch gekennzeichnet, daß die Schrittfolgen und Wege
bereits in ein bildhaftes Schema der Orte und Objekte überführt sind, die
während des Gehens passiert worden sind. Vereinfacht gesagt, beschreibt der
Übergang von der route zur survey map einen Übergang von einer sequen-
tiellen Bewegung zu einer simultanen Konfiguration.
Einen solchen Übergang hat Michel de Certeau auch für die konkrete
kartographische Praxis festgestellt. Land- und Seekarten sind ihm zufolge
zunächst nicht mehr als aufgezeichnete Wege, Spuren von Bewegungen. In
ihnen bleibt das Gehen im Sinne einer Erwanderung des Raumes als Grund-
lage der kartographischen Praxis noch präsent. Dem entspricht die Bedeutung
der Itinerarien für die Kartographie60, ganz abgesehen davon, daß, um die
geographische Lage eines Ortes zu bestimmen, dieser zunächst aufgesucht,
bereist werden mußte. Die frühen Karten gehen nicht nur unmittelbar aus
Handlungen hervor, sie geben zugleich Anleitung für weitere Handlungen,
und sie orientieren denjenigen, der sie mit auf Reisen nimmt, und zwar
sowohl in bezug auf die räumliche Anordnung, die es zu durchqueren gilt,
wie auch hinsichtlich der dort herrschenden symbolischen Ordnung. So wer-
den die Namen, Mythen und Legenden, die den verzeichneten Orten, Wegen
und Richtungen anhaften, ebenfalls mit abgebildet, nicht selten in der Form
allegorischer Figuren:
Insbesondere wenn man die ›Karte‹ in ihrer heutigen geographischen Form nimmt,
hat es den Anschein, daß sie sich im Verlaufe der Periode, die durch die Geburt des
modernen wissenschaftlichen Diskurses gekennzeichnet ist (15.–17. Jahrhundert), lang-
sam von den Routen abgelöst hat, die die Bedingung ihrer Möglichkeit waren. Die
ersten mittelalterlichen Karten enthielten nur geradlinige Spuren von Wegstrecken
(Handlungsanweisungen, die sich vor allem an die Pilger richteten), die durch die
Aufzählung der zurückzulegenden Strecken (Städte, wo man vorbeigehen, anhalten,
verweilen oder beten sollte) und der Entfernung, die in Tagen oder Wegstunden an-
gegeben waren, ergänzt wurden. [...] Vom 15. bis zum 17. Jahrhundert verselbständigt
sich die Karte. [...] Wesentlich ist dabei die Beseitigung der Routen [...]. Die Kar-
te, dieser Gesamt-Schauplatz, auf dem die ursprünglich disparaten Elemente vereint
sind, um ein Bild vom ›Stand‹ des geographischen Wissens zu geben, verbirgt mit
ihren Voraussetzungen und Folgen, wie hinter den Kulissen des Theaters, diejenigen
Handlungen, deren Ergebnis oder deren künftige Möglichkeit sie ist. Sie allein bleibt
übrig. Die Beschreiber von Wegstrecken sind verschwunden.61
60 Dilke, O.A.W.: »Itineraries and Geographical Maps in the Early and Late Roman
Empires«. In: Harley/Woodward (s. Anm. 55), S. 234–257.
61 Certeau (s. Anm. 4), S. 223 ff.
62 Vgl. hierzu auch Cassirer, Ernst: »Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum«.
Vortrag auf dem Vierten Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft.
Hamburg 1930. In: Beilagenheft zur Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwis-
senschaft. Bd. 25 (1931), S. 21–36. In bezug auf Cassirers ebenfalls entwicklungsge-
schichtliche Argumentation bleibt jedoch anzumerken, daß selbst ein entsakralisierter
Raum nicht gänzlich der Bedeutung entbehrt.
Im Dickicht der Schritte 199
63 Dabei erfüllen sie freilich noch immer politische Funktionen, sind also bei weitem
nicht so neutral, wie es die zunehmend automatisierten, scheinbar objektiven Vermes-
sungsmethoden, Projektionsverfahren und Visualisierungstechniken suggerieren.
64 Linde/Labov (Anm. 35); Wenz, Karin: Raum, Raumsprache und Sprachräume. Zur
Textsemiotik der Raumbeschreibung. Tübingen 1997.
65 Vgl. hierzu Bühler (s. Anm. 51).
200 Kirsten Wagner
66 Ein Prinzip, mit dem auch die computer- und satellitengestützen Geographischen
Informationssysteme (GIS) arbeiten.
Im Dickicht der Schritte 201
der Gestirnsglaube verteilt sind.67 Über diese Gliederung gerät die am Stadt-
rand ihren Ausgang nehmende Wanderung gleichsam zu einem Aufstieg der
Erkenntnis von den angewandten zu den spekulativen Bereichen des Wissens.
Die Wanderung, so könnte auch gesagt werden, führt die Wissensgegen-
stände nicht nur in der ihnen gemäßen, bei Andreae und Campanella noch
metaphysisch begründeten Reihenfolge vor, sie ist – im Sinne der enkyklios
paideía – ein Bildungsweg, der ein universales Wissen zum Ziel hat. Den
historischen Wissensstädten liegt denn auch ein enzyklopädischer Entwurf
zugrunde, der aufgrund eines begrenzten Kanons noch in einer geschlossenen
geometrischen Form, einem quadratischen oder kreisrunden Stadtgrundriß68,
organisiert werden kann.
Die Wissensstädte oder besser Informationsstädte der Computermoderne,
wie die Aspen Movie Map, Xenia69 oder die City of News70, mögen viel-
leicht noch einen enzyklopädischen Anspruch haben. Angesichts der Ausdif-
ferenzierung des Wissens bei gleichzeitigem Autoritätsverlust metaphysisch
begründeter Weltordnungen läßt sich dieser jedoch kaum mehr einlösen. Das
ändert nichts an dem Prinzip der Wanderung, die Dinge in einer bestimm-
ten Reihenfolge nacheinander vor Augen zu führen, unabhängig davon, ob
die entsprechende Sequenz einer höheren Ordnung folgt oder lediglich der
natürlichen Ordnung der Dinge und ihres Erscheinens wie Wahrgenommen-
werdens entspricht. In dieser Funktion taucht die Wanderung auch noch bei
den Informationsstädten der Computermoderne auf.
Neben der Wanderung bestimmen Karten die historischen und aktuellen
Beispiele urbaner Wissensordnungen. Die Karten gehen aus der Bewegung
durch den Raum hervor. Mit der Wanderung entstehen von der räumlichen
Anordnung route maps, aus denen sich survey maps entwickeln. Die Leser
der literarischen Wissensstädte gewinnen über die egozentrische Perspektive
der Erzähler und Berichterstatter ein ›Bild‹ von dem urbanen Raum.71 Ob
67 Zur räumlichen Wissensorganisation in der Christianopolis und der Città del Sole
vgl. Wagner, Kirsten: »Wissensräume in der Computermoderne und ihre historischen
Vorbilder«. In: Sprache und Literatur. Bd. 35 (2004), S. 29–49.
68 Während der Christianopolis ein quadratischer Stadtplan zugrunde liegt, basiert die
Città del Sole auf einem kreisrunden, ringförmig angelegten Grundriß. Die geometri-
schen Grundformen von Kreis und Quadrat entsprechen nicht nur den Urformen des
Urbanen, sondern auch kosmologischen Ordnungsschemata.
69 Volkmann, Helmut: »Impressionen zum Leitbild ›Städte des Wissens als Stätten der
Begegnung‹ mit ersten Berichten aus Xenia, der Wissensstadt am Wege zur Informa-
tionsgesellschaft«. In: Grote, Claudia u.a. (Hg.): Kommunikationsnetze der Zukunft
– Leitbilder und Praxis. Berlin 1994, S. 27–45.
70 Die City of News wurde im Rahmen der Ars Electronica 1997 in Linz präsentiert.
Sparacino, Flavia u.a.: http://xenia.media.mit.edu/~flavia/Papers/CityOfNews.htm
(30.07.2004).
71 Im Falle der Christianopolis partizipieren die Leser über den Ich-Erzähler an der Wan-
derung durch den urbanen Raum. Die Città del Sole erschließt sich hingegen über den
202 Kirsten Wagner
Abb. 5:
Kartographische Ansichten der Christianopolis, Johann Valentin Andreae, 1619
Immer wieder schildert der Ich-Erzähler, wo er sich gerade befindet, auch for-
dert er die Leser direkt auf, mit ihm durch den Stadtraum zu gehen. Gebäude
und Wissensgegenstände werden detailliert geschildert. Darüber vergegen-
wärtigt der Ich-Erzähler ein für die Leser abwesendes Wahrnehmungsfeld,
das sie so gleichsam als ihre eigene Umgebung rezipieren.
Mit der Karte hingegen wird die unmittelbare Einbeziehung der Rezipien-
ten in eine konkrete oder fiktive Umgebung aufgehoben. Die nicht nur räum-
liche, sondern auch symbolische Distanz, die über die Karte zur Umgebung
aufgebaut wird, führt buchstäblich dazu, daß die Rezipienten aus einer Stadt
oder Landschaft heraustreten, um sie als Bild von oben zu sehen. Die Karte
verschafft Überblick, zum einen über die räumliche Anordnung, zum anderen
über den eigenen Standpunkt. Sie läßt das Labyrinthische, Undurchschaubare
und Unvorhersehbare des durchwanderten Raumes hinter sich. Dies ist auch
ihre Funktion bei der Aspen Movie Map und der Christianopolis.
Um sich zu orientieren und der eigenen Position habhaft zu werden,
wechseln die Rezipienten der Aspen Movie Map während der simulierten
Fahrt durch den Stadtraum immer wieder von der Feld- in die Vogelper-
spektive.75 Inwieweit mit jedem Perspektivenwechsel zugleich ein Illusi-
onsbruch einhergeht, wird an der Aspen Movie Map besonders deutlich. In
dem Moment, wo die Rezipienten die Fahrsimulation unterbrechen und ent-
sprechend die Feldperspektive verlassen, um die Karte zu betrachten, neh-
men sie den durchquerten Bildraum von außen wahr. Darüber treten auch
die Darstellungsmedien, die während der Fahrsimulation im Gebrauch zum
Verschwinden gekommen sind, wieder hervor. In dieser Hinsicht weist die
Distanz zur unmittelbaren Umgebung, die mit der Karte hergestellt wird, ein
medienreflexives Moment auf.
Die Leser der Christianopolis wechseln ebenfalls die Perspektiven. Die
Ankunft des schiffbrüchigen Ich-Erzählers auf der Insel Capharsalama wird
durch zwei kartographische Lage- und Ortsbeschreibungen gerahmt, eine der
Insel, auf der sich die Christenstadt befindet, und eine der Stadt selbst.76 Sie
leiten als »Ankunftsschemata« die darauffolgende und sich durch den gesam-
ten Text ziehende Wanderung ein, in deren Verlauf die einzelnen Gebäude
der Stadt abgeschritten und beschrieben werden; wobei die Wanderung oder
75 Richard Bolt hat das Verhältnis von Feld- und Vogelperspektive in bezug auf die As-
pen Movie Map als ein Verhältnis von »immersion« oder »involvement« auf der einen
Seite, »overview« oder »general orientation« auf der anderen beschrieben. In diesem
Zusammenhang hebt er zugleich hervor, daß sich beide Ebenen notwendig ergänzen.
Während mit der unmittelbaren Einbeziehung in eine Umgebung jedwede Distanz zu
dieser verloren geht und so ein Standort- wie Selbstverlust, kurz Orientierungslosig-
keit, droht, ermöglicht die Vogelperspektive zwar Orientierung, doch schließt sie jede
unmittelbare räumliche Erfahrung aus und führt zum Illusionsbruch. Bolt (s. Anm.
28).
76 Andreae (s. Anm. 33).
Im Dickicht der Schritte 205
aber die »erlebnismäßige Beschreibung nichts [anderes] ist als die konse-
quent perspektivierte und handlungsbezogene Ausformung des ›Ankunfts-
schemas‹.«77 In dieser Hinsicht fungiert die Karte als ein narratives Medium,
das die Erzählung organisiert. Sie ist zugleich Orientierungs- und Navigati-
onsmedium. Bevor die Leser in den urbanen Raum eintauchen, verschaffen
ihnen die Lage- und Ortsbeschreibungen einen ersten Überblick über die zu
durchquerende Stadt. Darüber hinaus können die Leser auf die beiden Kup-
ferstiche zurückgreifen und so auch während der Lektüre immer wieder auf
die kartographische Ebene wechseln. Wie bei der Aspen Movie Map kommt
es dabei zum Illusionsbruch, kurzfristig haben die Leser die räumliche Szene
verlassen und betrachten sie nun aus der Distanz. Sie sind vom Gehen zum
Sehen übergegangen.
IV. Rückblick
Begriffen, die über die historischen und Gattungsgrenzen hinweg einen Ver-
gleich zwischen Text- und Bildräumen erlauben. Ein solcher Vergleich setzt
eine Lektüre der Bewegungen und ihrer Aufzeichnungen voraus.
Diskussionsbericht 207
Diskussionsbericht
Die einzelnen Textvorlagen des ersten Tages besitzen – wie BERNHARD SIE-
GERT in seiner Einleitung bereits hervorgehoben hat – eine thematische Kohä-
renz, insofern sie allesamt um den Zusammenhang von Karten beziehungsweise
Kartographie und Literatur kreisen. Die Reihenfolge der einzelnen Refe-
rate orientierte sich daher weitestgehend an einer historischen Chronologie.
Der zentrale Diskussionspunkt in der Vorlage von HANS JÜRGEN SCHEUER
stellte die »Kippfigur« als Erkenntnismodell dar, die der Referent als seinen
primären Fund zu verdeutlichen verstand. Gegen die konventionelle Ansicht
innerhalb der Alexanderepikforschung, daß Candacia als Herrin der Bilder
gelte, betonte Scheuer, daß es sich hier um die Passage eines Herrschers
durch den eigenen Kopf handele. Alexander wandere durch sein eigenes
Wahrnehmungssystem. Er erscheint dabei als eine Präfiguration des Chri-
stus ebenso wie des Anti-Christus; er ist Vergifteter und christlich Sterben-
der, Retter und Mörder zugleich. Diese aporetische Konstellation läßt sich
indes nur verstehen, wenn man die Konzeption der Figur als ebensolches
Kippkalkül, als Figur der Gleichzeitigkeit begreift. Die Diskussion ergänzte
diese Dichotomie um weitere Unterscheidungen. So könnte man die Oppo-
sition ebenso als semiotischen Zusammenhang auffassen, mit dem sich nach
dem Zeichencharakter der Karte fragen lasse, etwa in welcher Richtung die
Hereford-Weltkarte zu lesen ist, ob durch die geometrische Form ein Rich-
tungssinn gegeben sei, und inwieweit die ars combinatoria eine bestimmte,
irreversible Lektürerichtung vorgebe. Es zeigte sich, daß im Detailsymbolis-
mus der Karte eine elementare Kraft der Zeichen wirkt. Den Ursprung der
Karte gilt es derweil in der Rhetorik zu suchen; die Karte ist immer schon
eine Topologie im Sinn der antiken Mnemotechnik und ihrer Zuordnung
von Bildern zu Orten, wobei es zu Unschärfen in dieser Überlagerung bzw.
Abbildungspraxis kommen kann. Sie unterliegt mithin einer starken Dif-
ferenzierung zwischen Text und Bild, wie bei Quintilian, der den Redner
anhält, mentale Bilder zu produzieren, die schließlich als Text entstehen.
Die visuelle Sinneserfassung ist eng gekoppelt an die Lesefähigkeit und
verschränkt sich im Aspekt der Topographie. Die Engführung von topologi-
208 Markus Krajewski
Als Hauptdiskussionspunkt bei der Vorlage von JÖRG DÜNNE erwies sich
das Verhältnis von Kartographie und Narration anhand der Darstellung der
Landnahme, der Ankunft der Europäer in der Fremde. Da dieser berühmte
first contact als einzige Szene offensichtlich narrativ funktioniert, steuert sie
die gesamte Lektüreform der Karte. Die Abfolge der Bilder ist ein Nachvoll-
zug durch Lesen, indem die Figuren den topisch angeordneten Raum bezeich-
nen. Sie verleiten dazu, lesend in den Raum einzudringen, wobei gerade der
Diskurs der Bilddeutungen und -traditionen, die Ikonographie, Berücksich-
tigung finden muß. Die Deutung hängt dabei eng mit dem Perspektivismus
in der Malerei zusammen, durch den der Leser in den Text hineingenommen
wird, um gleichzeitig zum Beobachter zweiter Ordnung zu werden. Die Karte
erscheint als ein Mischgenre, da sie Überblicksdarstellungen mit Szenen in
Ausschnitten vereint. Fraglich blieb allerdings, ob sich diese Ausschnittsver-
größerungen durch eine kinematographische Terminologie einfangen lassen.
Insbesondere die Narration der Karten, das Lesenkönnen durch die Seefahrer,
liefert das entscheidende Wissen, um gegenüber nautischen Schwierigkeiten
ebenso wie gegenüber der Begegnung mit dem Fremden gewappnet zu sein.
Wichtig bleibt aber auch, die Dinghaftigkeit der Karte selbst, das heißt die
kartographischen Verfahren, einzubeziehen, die – wie insbesondere noch
anhand verschiedener Virginia-Karten zu zeigen wäre – durch eine Prävalenz
der euklidischen Elemente das Ikonographische zu verdrängen versuchen.
Die Integration von Ikonotexten (Windrose, Epitaph, Zirkel, Maßstab) würde
ebenso dem instrumentellen Ansatz folgen, um neben Bild und Schrift auch
die Zahl zu berücksichtigen. Prinzipiell läßt sich hier das »Durchlässigwer-
den« der Grenze zwischen den mechanischen und freien Künsten beobachten
(Siegert), denn Kolumbus etwa bezieht sich einerseits auf ein ausgeprägtes
Kartenwissen, andererseits aber tritt er als Meister der praktischen Navigation
auf (»dead reckoning«). Dieses Verhältnis findet auch Eingang in stereotype
Bilder, in denen der Kapitän den momentanen Aufenthaltsort auf der Karte
bestimmt. Anhand dieses Topos wurden zudem die logischen Verwicklungen
bezüglich der Deixis, der Bestimmung der paradoxen »Ich bin hier«-Veror-
tung im Verweis auf die Karte diskutiert. Im Zusammenhang damit stand
auch die Frage, inwiefern man bei der Karte von einem »imaginierten
Ursprung« sprechen kann, der mit dem Verzicht auf seine ontogenetische
Komponente zugunsten des Begriffs der »Imaginationsmatrix« sekundär
bleibt. Die szenischen Darstellungen auf der Karte lassen sich als Vergleichs-
medium lesen, um anhand dessen kulturelle Ähnlichkeiten oder Unterschiede
(Menschenfresser-Szenen) im Blick der Europäer auf das Fremde festzustel-
len, wobei sich hier die ikonographische Tradition vom ›freundlichen Wilden‹
nahezu paradigmatisch ausmachen läßt.
Die Diskussion der Vorlage von DANIEL WEIDNER konzentrierte sich
vornehmlich auf zwei Punkte, zum einen auf die Raum-Zeit-Relationen in
dem Quelltext von Niebuhr, zum anderen auf das narratologische Verfahren.
Die für manche Diskutanten ungewöhnliche Praxis eines diskursanalytischen
210 Markus Krajewski
Zugriffs, mit dem sich ein wissenschaftlicher Autor wie Niebuhr als Quelle
lesen läßt, wurde als Chance auf ein neues analytisches Instrumentarium her-
vorgehoben; zudem fand der elegante Stil einer Verschränkung von Argument
und Anekdote Anerkennung – trotz rezeptionsästhetischer Schwierigkeiten
bei einigen wenigen, die sich jedoch mit dem Verweis auf die Analysekraft
derartiger narrativer Strategien ausräumen ließen. Hinsichtlich des Raum-
Zeit-Gefüges in der Quelle wurde hervorgehoben, daß sich die Expedition
auf der Suche nach einem vergangenem Raum befindet, wenn sie beauftragt
wird, nach den Leerstellen der Bibel zu suchen, etwa nach dem Manna
oder den Wachteln in der Wüste. Die Orientreise läßt sich demnach als eine
Form der praktischen Bibelexegese begreifen, als eine Differenz zwischen
dem Buch der Natur und der Bibel, die den Reisenden dazu anleitet, mit
den Erfahrungen des Orients vor Ort auch die Bibel selbst besser verste-
hen zu können. Dabei geht es jedoch weniger um eine Parallellektüre von
Bibel und Text als um den Kontext der Bibel. Die Reise gerät zur »allego-
rischen Rückseite« (Scheuer) einer kanonischen Bibellektüre. Ausgehend
von der Erkenntnis, daß sich »der« Orient hier als ein »anderer Anderer«
(Polaschegg) im Vergleich zur Neuen Welt erweist, wurde die Frage erör-
tert, inwieweit etwa Napoleons Ägyptenexpedition als Wendepunkt innerhalb
des Orientalismusdiskurses gelten kann, was sich insbesondere durch die
neuen meßtechnischen Verfahren stützen läßt, wenn unter Napoleon jene
Triangulationstechniken endlich beherrscht werden, die bei Niebuhr noch
problematisch blieben. Anhand der Frage nach einer eventuellen Sichtbar-
keit, mit welchen Techniken die Karte hergestellt wurde, stand zur Debatte,
inwieweit sich selbstreflexive Momente innerhalb von Karten feststellen
lassen. Könnte man in Analogie zu Paratexten von »Paratopien« (Böhme)
eines kartographischen Verfahrens sprechen? Erst spezifische Repräsentati-
onsformen einer Karte wie beispielsweise das Gradnetz erlauben es, Leer-
stellen zu belassen, an denen dann jene selbstreflexiven Aspekte einsetzen
können.
Im Zentrum der Diskussion der Vorlage von MATTHIAS BUSCHMEIER
stand neben der adäquaten Bestimmung einer sich wandelnden Metaphern-
geschichte um 1800 vor allem die Frage nach der Kontingenz von Karten
sowie einer Einordnung des vom Referenten angeführten spatial turn. Der
Unentschiedenheit innerhalb der Vorlage, inwieweit die Argumentationsli-
nie gegenüber den zitierten Autoren affirmativ oder ironisch zu lesen sei,
begegnete Buschmeier mit einem Plädoyer für eine kritische Haltung, die
das Neue in der Debatte als traditionelle Denkkategorien zu identifizieren
antritt. Hinsichtlich der von einer Karte prinzipiell offerierten Kontingenz
(hier auch als die Erzählung zentral organisierendes Instrument) wurde erör-
tert, wie diese räumliche Anordnung mit der speziellen Erzählkonstruktion
sowohl im Tristram Shandy (»selbstverständlich ein mittelalterlicher Roman«,
Scheuer), in der Insel Felsenburg als auch in den Wanderjahren in Konflikt
gerät. Der Kontingenzeffekt in Goethes Roman stellt sich, so der Befund
Diskussionsbericht 211
der Diskussion, weniger über das Motiv der Karte als vielmehr über die
Organisation von Makariens Archiv her, mit der Goethe die Novellenform
durch den Roman »bekämpft« (Siegert) und damit das Erzählen selbst als
überlegene, weil seinerseits bewegliche Strategie ausweist. Auch erscheint
der Begriff der »Karte« in der Vorlage mitunter als zu weit gefaßt, da der
operative Charakter von Karten aus dem Blick gerät, zudem die Kartographie
um 1800 immer schon in konkreten militärischen Nutzungszusammenhängen
steht. Inwieweit die Texte das Motiv der Bewegung auch mit den Leitmeta-
phern einfangen bzw. hier ein signifikanter Wandel festzustellen sei, wurde
vor allem anhand von ›Baum‹, ›Haus‹ und ›Theater‹ als epistemologische
Metaphern erörtert. Die tradierte Wissensordnung in Form der Topik löst
sich zugunsten von dynamischeren Organisationsmodellen wie ramistischen
Systemen ab, etwa wie in der Enzyklopädie. Gegen die These, daß ›Thea-
ter‹ als erkenntnistheoretischer Begriff um 1800 – spätestens mit Leibniz,
wo es das »größte barocke Lexikon« (Eybl) ebenso umfaßt wie Choreogra-
phie, Spiel und Experiment – einem fundamentalen Wandel der historischen
Semantik unterlegen ist, setzte der Referent, daß sich die epistemologische
Komponente vielmehr im Theaterbau zeigt.
Die Vorlage von CHENXI TANG wurde vor allem hinsichtlich des kar-
tographischen Diskurses der Romantik diskutiert. Zum einen ging es um
die Frage, inwieweit der zerstückelte Staatskörper immer schon kartiert ist
und seine Abbildung in zeitgenössischen kartographischen Verfahren findet,
wobei diese Tradition bis zu A. Bosses berühmtem Titelkupfer von Hobbes
Leviathan sowie als Idee einer kartographischen Alphabetisierung bis zu
Rousseau reicht. Bei Novalis scheinen sich die hergebrachten Raumdimen-
sionen zu verschieben; nicht mehr die Dichotomie von Oberfläche und Tiefe
dominiert die Aufmerksamkeit. Tiefe kann nunmehr auch oben oder innen
sein, sie wird »post-topisch« (Mülder-Bach), da sie nicht mehr gerichtet ist.
Im Gegensatz zu dieser avektoriellen Raumordnung läßt sich die Einbildungs-
kraft als gerichtete verstehen, mit deren Hilfe man den Blick ins Firmament
oder in den Abgrund des Meeres als Zeiten- oder Seelentiefe einfangen kann.
Nicht zuletzt weil sich die Topographie aus militärischen Kontexten zur Ver-
zeichnung des Tellurischen herleitet, gebührt neben Novalis vor allem H.
v. Kleist Beachtung, der das Schlachtfeld mithin als Landkarte auffaßt, um
es -- mithilfe des Augenmaßes als Grundaustattung des Partisanen -- unmit-
telbar in Gefühlswahrnehmung umzusetzen. Zum anderen wurde die (ver-
meintliche) Konvergenz von Kartographie und Dichtung kritisch diskutiert.
Während Novalis auf der Suche nach einer Verwirklichung des poetischen
Staates noch auf eine absolute Orientiertheit durch die Dichtung setzt, um
so die Sprache um ihrer selbst willen zu verwenden, ergibt sich als Effekt
mitunter eine absolute Orientierungslosigkeit. Lehmann hingegen setzt eher
auf eine Verhältnismäßigkeit von Karte und Gefühl, was als Leitverfahren
seiner Kartographie erscheint, aber auch vereinbar sei mit der romantischen
Poetologie. Die topographische Karte muß es einschließlich ihrer feinen Dif-
212 Markus Krajewski
II.
RÄUME DER LITERATUR
Einleitung 215
Einleitung
Im Anschluß an Edward Soja hat Sigrid Weigel jüngst betont, daß wir uns
derzeit in einer Situation befinden, in der sich die Aufmerksamkeit auf den
Raum wieder verstärkt und die Organisation unseres Wissens auf einer line-
1 Leibniz, G. W.: »Streitschriften zwischen Leibniz und Clarke«. In: ders.: Hauptschrif-
ten zur Grundlegung der Philosophie. Hg. von E. Cassirer. Bd. 1. Hamburg 3. Aufl.
1966 (1715/16), S. 120–241.
2 Husserl, Edmund: Ding und Raum. Vorlesungen 1907. Hg. von Ulrich Claesges. Den
Haag 1973 (Husserliana. Edmund Husserl. Gesammelte Werke. Bd. XVI).
3 Foucault, Michel: »Andere Räume«. (Des Espaces autres, 1967) Übers. von Walter
Seitter. In: Barck, Karlheinz u.a. (Hg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspek-
tiven einer anderen Ästhetik. Essais. Leipzig 1993, S. 32–46.
Einleitung 217
aren Zeitachse zurücktritt.4 Karl Schlögel spricht von einer Wiederkehr des
Raumes (»Im Raume lesen wir die Zeit«) und stützt damit den Fahnenbegriff
des spatial turn (topographical turn), der dem linguistic turn, dem iconic turn
und dem performative turn eine neue Leitkategorie hinzufügt.5 Die Reihung
könnte ebenso gut lauten new philology, new rhetorics, new historicism,
new topography. Innovationen und Wenden suggerieren eine Dynamik des
Faches, die der Dynamik der technischen Entwicklung in nichts nachzu-
stehen scheint. Die Beschleunigung der weltumspannenden Verkehrs- und
Datenströme lassen das Simultane des Erlebens stärker spürbar werden als
das Nacheinander der Erfahrungen, stimulieren eine verstärkte Aufmerk-
samkeit für die Hybridisierung der Kulturen und eine räumliche Nebenord-
nung unserer Gedächtniseinträge (spacing history), die wohl nicht zufällig
dem parallel processing der digitalen Datenverarbeitung entsprechen. Der
Nomade der Netzwerkgesellschaft überflügelt den alten Typ des Reisenden,
wird zum Inbegriff einer globalen Beweglichkeit, die Metropole zum Kno-
ten internationaler Daten- und Verkehrsströme.6 Der vernetzte Raum, der
die Bewegungsströme zunehmend in unser Bewußtsein rückt, hat allerdings
auch seine Vorformen in den Austauschbewegungen zwischen den zentralen
Orten früherer Kulturen. Die Boten und die Post,7 Signalfeuer und Nach-
richtenstafetten gehören zur Vorgeschichte des Internet. Netzmetaphern und
Modelle räumlicher Wissensorganisation finden sich in theologischen, in
literarischen, medizinischen und architektonischen Texten und Bildern. Die
alten Raum- und Zeitmodelle sind nicht außer Geltung gesetzt, werden jedoch
immer wieder überformt und überlagert.
8 Vgl. Bachelard, Gaston: Poetik des Raumes. (La Poétique de l’espace, 1957) Übers.
von Kurt Leonhard. Frankfurt a.M., Wien, Berlin 1975.
9 Bachelard (Anm. 8), S. 8f.
Einleitung 219
V. Andere Räume
samt. Was die Schrift dem diskursiven Fluß der Sprache entgegensetzt, ist
eine mis-en-page, die es ermöglicht, beim Schreiben mit dem Verschrifte-
ten ›handgreiflich‹ und ›begrifflich‹ umgehen zu können. In der Antike und
im Mittelalter wird das Schreiben mit der Hand ganz unproblematisch als
kulturelle Technik eingeordnet. Eine Fülle von Metaphern hält den Zusam-
menhang der Hand-Schrift als Technik der Verfügbarmachung mit ande-
ren hand-werklichen Techniken fest. Auf der metaphorischen Ebene wird
im Sinne einer Gegendetermination das Buch als Corpus, Schreiben und
Lesen mit Agrarmetaphern (cultivare), Architekturmetaphern oder Speise-
metaphern (ruminare) visualisiert. Hier wird eine doppelte Raumordnung
erkennbar, die der Materialität von Schrift und die ihrer metaphorischen
Vermittlung durch eine Sprache der Nähe, einer körperbezogenen Bewe-
gungsräumlichkeit. Ein Buch kehrt uns ›den Rücken‹ zu oder hat gar einen
›Stellvertreter‹, der auf seinem Platz steht und seine temporäre Abwesen-
heit anzeigt. Hier wird bereits die Kombination und Überlagerung verschie-
dener Raumkonzepte erkennbar, deren jeweilige Spannungsverhältnisse für
literarische Topographien und die Topographie von Literatur konstitutiv
erscheinen.
Hartmut Kugler geht aus von Jean Bodel, der um 1200 die wichtigsten
Gattungen der französischen Epik mit realgeographischen Bezeichnungen
markiert: die Matière de Bretagne (Artusroman), die Matière de Rome (Anti-
kenroman) und die Matière de France (Karlsepik). Die Handlungsräume der
Texte liegen, auf eine Europakarte projiziert, weitgehend überschneidungsfrei
nebeneinander. Sie behalten ihre realgeographischen Markierungen auch dann
noch bei, wenn die Texte in den deutschsprachigen Raum übertragen werden.
Die Erzähler hatten, so die These Kuglers, eine ›Karte im Kopf‹, ein topo-
graphisches Schema, das für eine relativ trennscharfe, räumliche Verortung
der verschiedenen Materien sorgte. Das gilt ähnlich für die germanische
Heldenepik, die im Anschluß an Bodel als Matière de Germanie bezeich-
net werden könnte. Sie besetzt einen eigenen Vorstellungsraum ›östlich des
Rheins‹. Die imaginären Topographien verweisen so auf einen real existie-
renden Raum, ergeben aber kein kohärentes Kartenbild. Die Kartierung bleibt
abhängig vom Telos des Erzählens. Wesentliche Teile des realgeographi-
schen Raumes können fehlen, wenn sie nicht von Bedeutung sind. Imaginäre
Karten, so die These, werden nicht durch kartographische Landvermessung
definiert, sondern durch Diskurspraktiken strukturiert.
Dem entspricht die These Daniel Fuldas, daß literarische Texte zwar auf
Räume bezogen sind, aber auch ihrerseits Räume eröffnen und modellie-
ren, Räume, die im Imaginationsspiel begehbar sind, ebenso wie kartierte
oder picturale Raumentwürfe. Referentialität und poietische Konstruktion
literarischer Topographien schließen sich auch hier nicht aus. Fulda zeigt
am Beispiel der Komödie, daß die literarische Konstruktion von Räumen
von den Spezifika der Gattung geprägt, aber mit einer kulturtopographi-
schen Binnendifferenzierung verbunden ist. Komödische Raumentwürfe
Einleitung 221
Typotopographie.
Stelle und Stellvertretung in Buch,
Bibliothek und Gelehrtenrepublik
Der Buchdruck sichert im 16. Jahrhundert Text durch Masse und ersetzt
darin das mittelalterliche Schreibsystem qualitätvoller Abschrift und sorg-
samer Aufbewahrung der Codices.1 Für die Verortung des Textes hatte dies
erhebliche Konsequenzen. Information bleibt nicht mehr wie ein Kettenbuch
an den Ort gebunden, um in der stets erneuerten Präsenz des Abschreibens
fortzuleben, sie gewinnt Beweglichkeit. Das beugt dem Verlust vor, denn
die räumliche Verteilung sichert den Text an mehreren Orten. Der somit
erreichte Anschein von Ubiquität erzeugt zugleich Ortlosigkeit, denn an vie-
len Orten muß nun aufgesucht werden, was vordem in der Bücherkammer
zuhanden und Teil verorteter Tradition war. Grundlage dieser Paradoxie ist
die Trennung zwischen Text und Textträger. Das neu etablierte System der
Typotopographie2 bestimmt die kulturellen Praktiken im Umgang mit dem
Buch bis ins Zeitalter der Aufklärung. Räumlich konzipierbar ist das gesamte
frühneuzeitliche Buchwesen: Es bietet aufeinander bezogene Raum-Ordnun-
gen des Textes im Buch, des Buchs in der Bibliothek, der Bibliothek am
jeweiligen Ort und schließlich der Vernetzungsformen und Verortungen der
Gelehrtenrepublik.
Dabei interessieren weniger die in der Forschung in unterschiedlichen
Modellen entfalteten Systemaspekte der einzelnen Räume, weshalb auch
nicht von Systemgrenzen im Sinne Luhmanns die Rede sein wird, als viel-
mehr deren Koppelung und deren undeutliche Ränder – die Abschluß- und
Anschlußverfahren von und an Texten und Körpern, Buchkörpern wie Men-
schenkörpern. Versucht wird, durch Beobachtung der an Übergängen topo-
1 Giesecke, Michael: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie
über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien. Frank-
furt a.M. 1991, S. 153. Bündig zu den medienhistorischen Umbrüchen Schmeiser,
Leonhard: Das Werk des Druckers. Untersuchungen zum Buch POLIPHILI HYPNERO-
TOMACHIA. Maria Enzersdorf 2003, S. 11ff.
2 Als »Topo-Typographie« (2003) bietet Franck Scurti (geb. 1965 in Lyon) eine aus
Stadtplanlinien gestaltete Typefont an (http://www.franckscurti.net).
Typotopographie 225
I. Text im Buch
3 An die technizistische Metaphorik von Stefan Rieger, der von den Zeichen (Buch-
stabenkombinatorik) zum Bezeichneten (Florilegien) übergeht und zurück, kann das
nicht anschließen. Meine Ausführungen versagen sich der Metonymie, die »Stellbarkeit
des Wissens« sei direkt an die »Stellbarkeit von Buchstaben« angeschlossen. Rieger,
Stefan: »In(ter)ventionen. Die Ordnung der Texte im Barock«. In: Text+Kritik, H.
154: Barock, red. v. Ingo Stöckmann. April 2002, S. 22–34, hier S. 26. Hier geht es
unter räumlichem wie semiotischem Aspekt um die Dar-Stellbarkeit des Wissens und
um die Platzhalterfunktionen der Stell-Vertretung. – Der Aspekt der Alltäglichkeit
des Umgangs mit den topographisch verankerten Informationen sowie die Frage nach
den Akteuren (nach dem Prozeßcharakter im räumlichen Rahmen) verbindet die hier
ausgebreiteten Überlegungen mit Michel de Certeau: Kunst des Handelns. A. d. Frz.
übers. von Ronald Voullié. Berlin 1988, S. 217f.
4 Illich, Ivan: Im Weinberg des Textes. Als das Schriftbild der Moderne entstand. Ein
Kommentar zu Hugos »Didascalicon«. Aus dem Englischen von Ylva Eriksson-Ku-
chenbuch. Frankfurt a.M. 1991 (Luchterhand Essay), S. 113, vgl. auch S. 30.
5 In den Glossenhandschriften hat sich ein ausgeklügeltes topographisches Anordnungs-
system zur Placierung von Bibeltext, Kommentar und Kommentar des Kommentars
herausgebildet. Vgl. Braun-Niehr, Beate: Ȇberblicksbeschreibung zu Codex 22 der
Kölner Dombibliothek (Lukasevangelium mit Glossen, 12. Jh.)«. In: Codices Electro-
nici Ecclesiae Coloniensis, http://www.ceec.uni-koeln.de.
226 Franz M. Eybl
Elementen, was der Buchdruck weiter verstärkt. Der Text wird von Anschluß-
systemen wie Kolumnentitel und Blatt- bzw. Seitenbezeichnungen verkettet,
die bereits im Mittelalter ausgebildet und im Druckzeitalter weiter differen-
ziert werden. Allesamt unterstreichen die Anschlußsysteme die Differenz von
Text und Medium: Die Kolumnentitel, indem sie über den aufgeschlagenen
Textabschnitt informieren und ihn zugleich im Gesamt des Textes verankern,
die Paginierung, indem sie die Seite zum Teil des Buchganzen macht.
Daneben bilden sich mit der Arbeitsteilung im Druckgewerbe herstel-
lungstechnische Anschlußsysteme. Unterhalb des fließenden Textes steht der
Kustos, ein beim Handsatz nützliches Anschlußwort (oder ein Teil davon) für
die erste Zeile der nächsten Seite, wiederum textbezogen.6 Und wiederum
medienbezogen fungiert die Bogensignatur als Bezeichnung der einzelnen
Seiten entsprechend ihrer Position in der Druckform. Sie wird im Zuge des
Setzens unter dem Satzspiegel in der Mitte angebracht und erleichtert dem
Buchbinder das richtige Zusammenlegen des zerschnittenen Bogens zum
jeweils gesetzten Format. Immer deutlicher besiedelt das lesergerichtete
Anschlußsystem den Kopf der Seite als Information über den Platz im Buch,
während die technischen Informationen für die Hersteller sich am Fuß der
Seite versammeln. Die Seite des frühneuzeitlichen Buches ist ein topogra-
phisches System, das die untergegangene mittelalterliche »Personalisierung
der Überlieferungsleistung«7 durch rezeptionssteuernde Vorkehrungen ersetzt
und als typotopographische Norm die Kulturtechnik des Lesens stabilisiert.
Auch in Bezug auf die Moderierung der Lektüre durch den Kommentar, also
auf die Erschließung des Textes, wird dieser neu relationiert. In der typogra-
phischen Topographie bleibt als einzige freie Fläche der Außenrand der Seite
zum Anbringen weiterer zum Text gehöriger, aber von ihm unterschiedener
Informationen: Fußnoten, die typo- bzw. topographisch mit Bogensignatur
und Kustos in Konflikt stehen, häufiger noch Marginalnoten, beides Instanzen
des Kommentars und damit der Kontextualisierung des Textes.8
Um die Performativität von Lektüre präsent zu halten, die in der Topo-
graphie des aufgeschlagenen Buches ihre Partitur hat, bezeichne ich diese
6 »Custos heisset ein Hüter/ und ist das erste Wort im anfang eines Blats oder Seiten/ so
zum Uberfluß unten am vorigen Blat oder Seiten allein stehet/ und gleichsam Schild-
wache hält.« Zeidler, Johann Gottfried: Buchbinder=Philosophie Oder Einleitung In
die Buchbinder Kunst. Halle 1708, Neudr. Hannover 1978, S. 19f.
7 Ehlich, Konrad: »Text und sprachliches Handeln. Die Entstehung von Texten aus dem
Bedürfnis der Überlieferung«. In: Assmann, Aleida/Assmann, Jan/Hardmeier, Christof
(Hg.): Schrift und Gedächtnis. München 1983 (Archäologie der literarischen Kommu-
nikation 1), S. 24–43, zit. S. 34.
8 Unter Umgehung des technischen Apparats beurteilt Gérard Genette die Phänomene
in bezug auf die Moderation der Lektüre, also in ihrer Bezüglichkeit auf den Text.
Genette, Gérard: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Aus dem Französi-
schen von Dieter Hornig. Frankfurt a.M./New York 1989, Studienausg. 1992.
Typotopographie 227
Mit dem Fortschreiten der Segmentierung des Textes differenzieren sich die
Apparate zum Anschluß und zur Erschließung der Parzellen. Der Lokalisie-
rungsapparat fungiert in beiden Richtungen, er weist dem Abschnitt seinen
Platz im Ganzen zu, und er ermöglicht den Zugriff vom Ganzen auf den
Abschnitt. Als Anschluß begleitet er die Sukzession von Text und Seite,
und er bietet Erschließung, indem er diese durchquert. Die medientechni-
sche Voraussetzung des Registers ist die Adressierbarkeit des segmentierten
Textes, wobei im Druckzeitalter der medialer Finde-Ort mit dem Segment in
neuartiger Korrektheit und Zielgenauigkeit korreliert.9 Register kombinieren
den Erschließungsapparat mit dem Lokalisierungsapparat, wenn die Infor-
mation über die bedeutende Sequenz doppelt erscheint: als Marginalnote
und als Registereintrag; das beiden gemeinsame Generierungsverfahren der
Exzerpierkunst wird noch in den Blick kommen. Verwiesen wird räumlich:
auf einen Ort, eine Stelle, einen locus.
Zusammen mit dem Erschließungsapparat sieht das Medium die Rückbin-
dung des gedruckten Textes an die Welt der Texte insgesamt vor, auch dort,
wo scheinbar nur der eine vorliegende Text erschlossen wird. Die bereits im
12. Jahrhundert erfundenen Register verweisen im Druckzeitalter vor allem
auf res, auctoritates und (als deren Inbegriff) liber librorum, sind Sach-,
Quellen- und Bibelregister und verorten den Text und seine Sequenzen mittels
der Koordinaten des liber naturae, der Offenbarung und der schriftlichen Tra-
dition (auctoritas). Die Register fungieren in doppelter Richtung als Vehikel
des Transits. Sie öffnen punktuelle Einstiege in den Text, sie weisen auf die
Verbindungsstellen des vorliegenden Textes mit der Welt der Texte und mit
deren biblischem Hauptbuch. Zusammen mit den Marginalien, denen oft der
Autoritätsnachweis obliegt, den Quellenauskünften und den Zitaten zeichnen
sie wie Karten die Routen der im Text vollzogenen Intertextualität. Für den
Leser geben sie das Buch zur Beweidung frei, indem sie als Pflückhilfe die
Suche nach Lesefrüchten unterstützen und entsprechend sequenzierte Pas-
sagen als Findeorte auszeichnen und anbieten. So problemlos und vielseitig
sie funktionieren, so problematisch ist ihr Status als Reisebegleiter des Text-
transfers, von der stets fraglichen Autorschaft an Registern und Marginalien
bis hin zu den »falschen« oder auch blinden Verweisen, mit denen die fran-
zösischen Enzyklopädisten das Ende der frühneuzeitlichen Verweissysteme
zelebrieren.10
Doch als Ergebnis der Exzerpierkunst wird immerhin das Florilegium
notorisch: eine Blütenlese nach akademischen Verfahrensregeln, die Dignität
leihen und den kunstgerecht verfahrenden Kompilator zum stellvertretenden
Leser machen.11
Erster externer Anschluß der Buchseite ist freilich der Körper der Lesen-
den, deren Wahrnehmung durch die Raumordnung der Typographie gesteuert
wird. Die typographische Gestaltung mit ihren Hervorhebungen, Typenwech-
seln, Leerräumen, Größen- und Durchschußverhältnissen bietet semantische
und performative Informationen: Sie parzelliert nicht nur, sondern verteilt
Bedeutsamkeit und reguliert die Lesegeschwindigkeit, schließt also an die
Textwelt und den Körper an.12 Illustrationen und typographischer Schmuck
unterbrechen als Elemente der Analogie die Decodierung von Sprache.
Absätze, Einzüge, unterschiedlicher Durchschuß steuern die Körperlichkeit
der Lektüre, indem sie Raum bieten: »Atemraum«, »breathing space«.13
10 »Nach wie vor bleibt die hinterhältige Verknüpfung von ›Cordelier‹ und ›Capuchon‹,
›Anthropophagie‹ und ›Eucharistie‹ ein Gemeinplatz der Diderot-Forschung.« Albert,
Claudia: »Imitation de la nature? Probleme der Darstellung in der Encyclopédie«.
In: ebd., S. 200–214, zit. S. 203. Die Abhandlung ist generell auskunftsreich zu den
intratextuellen und intertextuellen Verweissystemen.
11 Vogel, Sabine: »Der Leser und sein Stellvertreter. Sentenzensammlungen in Biblio-
theken des 16. Jahrhunderts«. In: Messerli, Alfred/Roger Chartier (Hg.): Lesen
und Schreiben in Europa 1500–1800. Vergleichende Perspektiven. Basel 2000,
S. 483–501; zu den gedruckten Sentenzensammlungen und ihrer Stellvertreterfunktion
S. 486–493.
12 »Typographische Buchgestaltung macht den gesamten Präsentationskörper Buch zum
komplexen Ausdruckszeichen konnotativer Art.« Wehde, Susanne: Typographische
Kultur. Eine zeichentheoretische und kulturgeschichtliche Studie zur Typographie
und ihrer Entwicklung. Tübingen 2000 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der
Literatur 69), S. 191. Vgl. im Einzelnen »Typographische Mündlichkeitsmerkmale«
S. 133–145; S. 107 zur typographischen Leere als ›aufgezeichnetes Schweigen‹ (Ivan
Illich) sowie S. 119ff. in Differenzierung des Begriffs »typographische Dispositive«
nach Chartier, Roger: Lesewelten. Buch und Lektüre in der frühen Neuzeit. Frankfurt
a. M./New York/Paris 1990 (Historische Studien 1), S. 8, S. 23 u.ö.
13 Chartier, Roger: The Order of Books: Readers, authors, and libraries in Europe be-
tween the 14th and 18th centuries. Stanford 1992 [L’ordre des livres, 1992], S. 11.
Typotopographie 229
Als Text im Medium (»gedruckter Text«) ist der erste Raum der Textveror-
tung beschrieben, als Text unter Texten (»Schrifttum«) der dritte angedeutet.
Dazwischen steht ein Zwischenbereich räumlicher Nachbarschaft, das Neben-
einander der Texte in den medialen Einheiten der gedruckten Bücher. Dabei
geht es nicht um die Relation von Text und Textmoderation durch paratex-
tuelle Vorkehrungen (Gérard Genette), sondern um jene Effekte, die durch
Textnachbarschaften beim Verschriftlichungs- und Speichervorgang mittels
Auswahl und Zusammenstellung, also anthologisch entstehen. Auch deshalb
wird hier von Texten anstelle von Peritexten die Rede sein.15
II.1 Einschlüsse
14 Dazu Eybl, Franz M.: »Vom Verzehr des Textes. Thesen zur Performanz des Erbau-
lichen«. In: Solbach, Andreas (Hg.): Das Erbauliche. Tübingen 2005, S. 95–112.
15 Mit Genette könnten je nach Fokus der Untersuchung die anderen Texte als Peritexte
angesprochen werden, während Erasmus für Seneca den Peritext abgäbe. Genette
erörtert diese Zusammenstellungen weder als Druck-, noch als Rezeptionsphänomen
(Anthologie). Genette (s. Anm. 8).
230 Franz M. Eybl
16 Die für das mittelalterliche Buch »so bezeichnenden Verfahren des selektierenden,
korrigierenden, kompilierenden, kommentierenden Kopierens sind genuin theoretische
Vorgänge, gewissermaßen technische Ausfällung der kriteriellen Funktion des Diskur-
ses des Wissens. Das Wissen des Mittelalters hat Buchform, das Buch des Mittelalters
ist Medium des Wissens par excellence.« Schmeiser (s. Anm. 1), S. 12. Vgl. auch
Neddermeyer, Uwe: Von der Handschrift zum gedruckten Buch. Schriftlichkeit und
Leseinteresse im Mittelalter und in der frühen Neuzeit[.] Quantitative und qualitative
Aspekte. 2 Bde. Wiesbaden 1998 (Buchwissenschaftliche Beiträge aus dem Deutschen
Bucharchiv München 61), S. 448.
17 Jardine, Lisa: Erasmus, Man of Letters. The Construction of Charisma in Print. Prin-
ceton 1993, S. 185; vgl. S. 184f. – Jardines Rede von »Verankerung« und »Topogra-
phie« verknüpft einmal mehr jene beiden antik-christlichen Leitallegorien räumlicher
Orientierung.
Typotopographie 231
II.2 Anschlüsse
Auf der Ebene des Buches markiert das typotopographische System vor
allem den Anschluß des abstrakten Textes ans Typographeum, an die Daten
seines Übertritts in die mediale Formation des Druckes. Die handwerkliche
Signierung, nach der Arbeit (Abschrift oder Druck) als Kolophon am Werk-
stück angebracht, wandert an den Anfang, mutiert zum Titelblatt und versucht
die Aufmerksamkeit der Leser als erstes zu erringen. Für die »wechselsei-
tige Identifizierung der Botschaften« im »Briefkasten des typographischen
Netzes« bot das Titelblatt die praktikabelsten Möglichkeiten, wobei erst
die »Normierung der Adressierung der verschiedenen Nachrichten« ermög-
lichte, »daß die Autoren unmißverständlich mit ihren Botschaften aneinan-
18 »[...] the work is stage-managed in its setting; the appended pieces of writing locate
it, intellectually, geographically, and ideologically, in ways which, I have argued, Er-
asmus himself is in a position to control.« Ebd., S. 187.
19 Vgl. Eybl, Franz M.: »Die Konstruktion des Autors durch den Druck: Grimmelshau-
sen«. In: Burgard, Peter J. (Hg.): Barock: Neue Sichtweisen einer Epoche. Wien/Köln/
Weimar 2001, S. 145–160.
232 Franz M. Eybl
20 Giesecke (s. Anm. 1), S. 420 und 424. – Giesecke klassifiziert die Angaben des Titel-
blatts nach ihren Signifikaten im drucktechnischen Informationssystem: Es informiert
über den Text (Inhalt, Nutzen, Praxis, Wahrheitsstatus), über die Zeit der Einspeisung
in den typographischen Kreislauf, über beteiligte Personen (Autor, Widmungsadressat,
Drucker, Hauptfigur) sowie über den Ort der Eingabe (Druckort, Ort des möglichen
Kaufs, Ort der Handlung). – Genette (s. Anm. 8) erörtert die Lektüresteuerung, wäh-
rend Chartier v.a. die Akteure in ihrer mehrfachen Brechung behandelt sieht. Chartier
(s. Anm. 13), Kap. 2: Figures of the Author, S. 25–59.
21 Foucault, Michel: »Was ist ein Autor?« [Qu’est-ce qu’un auteur? (1969)] In: ders.:
Schriften zur Literatur. Frankfurt a.M. 1988, S. 7–31. Kritische Einwände zur Ausle-
gung dieses Gründungstextes, insbesondere zum Funktionskonzept, unterbreitet Lauer,
Gerhard: »Offene und geschlossene Autorschaft. Medien, Recht und der Topos von
der Genese des Autors im 18. Jahrhundert«. In: Detering, Heinrich (Hg.): Autorschaft.
Positionen und Revisionen. DFG-Symposion 2001. Stuttgart 2002 (Germanistische
Symposien, Berichtsbände 24), S. 461–478.
22 Zedelmaier, Helmut: Bibliotheca universalis und Bibliotheca selecta. Das Problem
der Ordnung des gelehrten Wissens in der frühen Neuzeit. Köln/Weimar/Wien 1992
(Archiv für Kulturgeschichte, Beih. 33), S. 49.
23 Ebd., S. 28ff. zur Tradition der mittelalterlichen Bücherverzeichnung »unter den Be-
dingungen des Buchdrucks«, S. 36ff.
24 Vgl. Anm. 9. – Zur Auswirkung auf die Lektüre vgl. Zedelmaier, Helmut: »Lesetech-
niken. Die Praktiken der Lektüre in der Neuzeit«. In: Zedelmaier, Helmut/Mulsow,
Martin (Hg.): Die Praktiken der Gelehrsamkeit in der Frühen Neuzeit. Tübingen 2001
(Frühe Neuzeit 64), S. 11–30, zit. S. 23. Vgl. auch Schneider, Ulrich Johannes/Ze-
delmaier, Helmut: »Wissensapparate. Die Enzyklopädistik der Frühen Neuzeit«. In:
Dülmen, Richard van/Rauschenbach, Sina (Hg.): Macht des Wissens. Die Entstehung
der modernen Wissensgesellschaft. Köln/Weimar/Wien 2004, S. 349–363.
Typotopographie 233
durch das Alphabet, wobei das Ordnungsprinzip der Topik (in der Extrem-
form des Lullismus) die Anschlußmöglichkeit an die menschliche memoria
bewahrt, die in der Gelehrtenrepublik topisch trainiert wird. Das alphabe-
tische Ordnen dagegen untersteht als ausgelagerter mechanischer Speicher
allein dem Verschriftlichungsprinzip. Als Institution des Speichers fungiert
die Bibliothek, die einen spezifischen oder auch einen allgemeinen, freilich
nur mehr tendenziell einlösbaren Sammlungsanspruch erhebt und durchzu-
führen versucht.
Die Ordnungskonzepte bedienen dabei eine im europäischen Bildungs-
plan der respublica literaria verankerte Dekompositions- und Verwertungs-
kompetenz: Die Exzerpierkunst, die den Lesenden in der Textwelt nicht nur
orientiert, sondern sie auch als Kolonie bereisbar macht, deren Früchte er
seinem Speicher einverleiben kann.25 Das gesamteuropäisch entwickelte Ver-
fahren26 beruht auf der Zerlegbarkeit der Texte unter dem Aspekt der Veror-
tung der Teile (topos, locus) und ist in seiner historisch erzielten Raffinesse
direkt verbunden mit der Ausfaltung der frühneuzeitlichen typographischen
Raumordnung. Die Exzerpierkunst zerlegt fertige Texte, um sie zum Zwecke
eigener Textproduktion brauchbar zu machen und in den Raum der Textpro-
duktion zurückzuleiten, sie inszeniert ein unablässiges Recycling, das seine
Grundlage im geschichtsphilosophischen Stillstand des wissenschaftlichen
Horizonts hat, in der Stasis des Wissens und des wissenschaftlichen Verfah-
rens, ungeachtet aller neuen und immer neuen Bücher, auf deren Verfertigung
der Stand der Gelehrten verpflichtet war – sie könnten ja nützen. Die Utopie
der frühen Neuzeit besteht im wider den Augenschein fortgesetzten Glauben
an die Brauchbarkeit der Bücher, und zwar aller Bücher. Mit Plinius gesagt:
Kein Buch ist so schlecht, daß nicht etwas daraus zu lernen wäre.27
Die Technik des Exzerpierens bedeutete die Aufbereitung von Material
unter den Bedingungen potentieller Autorschaft. Die Arbeitslektüre, die sie
unterstützt, bot jedoch nur eine, wenngleich die wohl geläufigste Methode
gelehrten Lesens. Denn neben ihr treten zwei weitere charakteristische Lese-
25 Eine elaborierte Engführung von Eroberung und Exzerpierkunst, die im Zeichen des
Postkolonialismus interessante Spannungsverhältnisse freilegen könnte, steht noch
aus. »Antastbarkeit«, wie Aleida Assmann das Verfahren hemmungsloser Textverwer-
tung vor Etablierung geistigen Eigentums treffend charakterisiert hat, kennzeichnet
auch das Vorgehen der Europäer gegenüber den »Kolonisierten«. Assmann, Aleida:
»Schriftliche Folklore. Zur Entstehung und Funktion eines Überlieferungstyps«. In:
Assmann/Assmann/Hardmeier (s. Anm. 7), S. 175–193.
26 Vgl. Meinel, Christoph: »Enzyklopädie der Welt und Verzettelung des Wissens: Apo-
rien der Empirie bei Joachim Jungius«. In: Eybl/Harms (s. Anm. 9), S. 162–187; Grif-
fiths, Paul J.: Religious Reading. The Place of Reading in the Practice of Religion.
New York, Oxford 1999, zum »anthologischen« Lesen, S. 97–108.
27 »nullum esse librum tam malum, ut non aliqua parte prodesset«, Plinius d.J. Es ist
dies jene Stelle, die den Nutzen des Exzerpierens betont, die Lektüre also an die ge-
sellschaftliche Praxis des Gelehrtenstandes anbindet.
234 Franz M. Eybl
weisen auf. Der Humanismus entwickelte eine Methodik der Lektüre als
»Kunst des Dekodierens«,28 die den Text in historische Resonanzräume zu
stellen vermochte. Während der mittelalterliche Kommentar die erörterten
Texte »an das bestehende Lehrgebäude« bindet, knüpft der Humanist seine
Lektüre und Kommentartätigkeit »an ihren historischen Ort und ihre eigene
Zeit«.29 Die Befreiung der Lektüre aus den heuristischen Bedingungen der
»christlichen Codexkultur«30 bedeutete einen Anstoß für die Entwicklung
individuellen Lesens wie Schreibens.
Der Prozeß der energischen und durchgängigen Verchristlichung des All-
tagslebens (Jean Delumeau) im Zuge der Kirchenspaltung wiederum half zur
Entfaltung meditativen und erbaulichen Lesens als einer nun religiös indu-
zierten Zusatzkompetenz. Mit dem Intensivierungsschub religiöser Lektüre
vor allem der Bibel, den die Reformation bewirkt hatte, bildeten sich die kon-
fessionsübergreifende Faszination der Meditation und Erbaulichkeit heraus.
Die erbauliche Lektüre hat mitgeholfen, die Leserschaft mit der Konstruktion
imaginativer Innenräume vertraut zu machen. Es ist die säkularisierte Lektü-
rekompetenz, solche Entwürfe umstandslos zu generieren, die im Hinblick
auf die Texte die Einstürze der äußeren Welt in die innere bedingen (Jean
Paul) und im Hinblick auf das Medium die Steuerungsapparate des frühneu-
zeitlichen Buches obsolet machen wird.
III. Bibliotopographie
28 Grafton, Anthony: »Der Humanist als Leser«. In: Chartier, Roger/Cavallo, Guglielmo
(Hg.): Die Welt des Lesens. Von der Schriftrolle zum Bildschirm. Frankfurt a.M./Paris
1999, S. 263–312, zit. S. 293.
29 Grafton (s. Anm. 28), S. 268.
30 Lauer (s. Anm. 21), S. 473.
Typotopographie 235
31 Vgl. zuletzt die Vorträge der Tagung des Max-Planck-Instituts für Geschichte »Bi-
bliothek als Archiv. Bibliotheken, Kultur- und Wissenschaftsgeschichte«. Göttingen,
20.–22. März 2003.
32 Die Neu=eröffnete Bibliothec, Worinnen Der studirenden Jugend und anderen curi-
eusen Liebhabern guter Unterricht von Bibliothequen, nebenst bequemer Anleitung
dieselben anzulegen/ wohl zu unterhalten/ und nützlich zu gebrauchen/ an die Hand
gegeben wird. Welchen angefügt Die Vornehmsten Bibliothequen in Europa, Und
Was Reisende vornehmlich bey deren Besichtigung zu beobachten haben. Hamburg:
Benjamin Schiller 1704 (zuerst 1702), S. 219.
33 Kindermann, Udo: Kunstdenkmäler zwischen Antwerpen und Trient. Beschreibungen
und Bewertungen des Jesuiten Daniel Papebroch aus dem Jahre 1660. Erstedition,
Übersetzung, Kommentar. Köln 2002, zu Nürnberg: § 9ff., S. 168f. Der bedeutende
Historiograph Daniel Papebroch (Papenbroeck, 1628–1714) ist als Fachmann außer-
236 Franz M. Eybl
der Bibliothek mit dem Katalog, ihre Grenze mit der Benutzerordnung. Die
Systematik von Kasten und Saal weist dem Text Ort und Nachbarschaft zu
sowie eine Findemöglichkeit, doch sind mit der Aufstellung nur ungefähre
Lokalisierungen möglich.
Seit dem Mittelalter dient der Katalog als lokales Adreßverzeichnis der
Bücher.34 Er erweitert das individuelle (Bibliothekars-)Gedächtnis, das indes-
sen, und für die Privatbibliothek bis heute, oberster Maßstab der bewirtschaft-
baren Büchermenge bleibt. Oft genug auch in großen Bibliotheken, in denen
eine durchgehende Katalogisierung der Bestände oft erst im 20. Jahrhundert
annähernd erreicht war. Die skriptorale Auslagerung der Buchadressen bringt
»das einzige Buch hervor, das die Bibliothek selbst schreibt«.35
Mit dem Katalog und der Person des Bibliothekars bilden die technischen
und die menschlichen Anschlüsse ein Benutzungskomplement, ein dynami-
sches Element der Bibliotheksgrenze. Diese umschließt einen konkreten Ort
und eine abstrakte Menge, den Bestand. Nie befindet sich der Bestand zur
Gänze in der Bibliothek, er lagert in Nebenräumen, ist beim Buchbinder, liegt
noch beim Händler, wird als verborgt geführt, steht unauffindbar im falschen
Regal. »Bestand« ist eine virtuelle Größe, die letztlich einzig als Text des
Katalogs existiert. Demzufolge korrespondieren Erwerb und Katalogisierung
als Elemente der Eingabe mit Sicherung und Lektürebewirtschaftung als
Elemente der Ausgabe, sie sind bibliothekarische Schwellenelemente und
als solche anfällig für liminale Verunklarungen (von der Fehlkatalogisierung
bis zum Bücherschwund).
Doch ist die Richtung des Bestandes schon durch die Doppeldeutigkeit
des Wortes, das auch auf Sicherstellung gegen jedwedes Schrumpfen ver-
weist, vorgegeben: Er wächst. Daß die Hege der Bücherflut gelingt, das
zumindest suggeriert die frühmoderne Bibliothek mit dem Eindruck der
Geschlossenheit: Einmal eingelassen, sieht man keinen Ausgang mehr. Die
Zu- und Abgänge werden versteckt: die Wendeltreppen hinter Regalen, Archi-
tekturstücken und Statuen (Melk, Wiblingen, Zwettl), die Eingänge durch
36 Zu den Vexiertüren [ohne daß der Ausdruck fällt] Warncke, Carsten-Peter: »Bibliothek-
sideale. Denkmuster der architektonischen Gestaltung und abbildlichen Darstellung
frühneuzeitlicher Büchereien«. In: Warncke, Carsten-Peter (Hg.): Ikonographie der
Bibliotheken. Wiesbaden 1992, S. 159–197, zit. S. 165f., Anm. 24.
37 Becker, Regina: »Theorie und Praxis – zur Typologie in der Bibliotheksarchitektur des
17. und 18. Jahrhunderts«. In: ebd., S. 235–269, hier 237 bzw. 247. Diese Gestaltung
»degradiert zweifellos einerseits das einzelne Buch, hat aber andererseits eine eminent
dekorative Wirkung«. Warncke, ebd., S. 168.
38 Meinel (s. Anm. 26), S. 178.
39 Die Differenzierung beschreibt für München beispielhaft Kaltwasser, Franz Georg:
»Die gemeinsamen Wurzeln von Bibliothek und Museum im 16. Jahrhundert, darge-
238 Franz M. Eybl
riert die Bibliothek in Admont auf das »Universum«, einen (1865 verbrann-
ten) Tisch mit einer Darstellung der gesamten Welt inklusive eines Globus
im Zentrum. Für die adelige oder bürgerliche Gebrauchsbibliothek sind die
gleichen Formen der Auszierung wie in den Hof- und Klosterbibliotheken
selbstverständlich: die »Mathematischen Natürlichen Sachen oder Antiqui-
täten«, »Hermetischen Statuen« und Porträts, die »sinnreichen Uberschriff-
ten« sowie, als angewandte Emblematik, die »stummen Sinne=Bilder[…]/
womit Bibliothequen gleichfallß auffgeputzet werden können«.40 Mit dieser
Programmatik hat nicht der Abschluß das letzte Wort, sondern dessen Über-
windung. Die körperliche Aussperrung wird durch die argute Geisteskraft
überwunden, mit deren Hilfe die Buchtitel auf den Attrappen der Vexiertüren
als billige Scherzchen entzifferbar werden. Die dargestellten Himmelsszenen
indes öffnen den Raum ins Historische der Antike, der Bibel, der abendlän-
disch-heidnischen Theogonie. Sie setzen damit humanistische und erbauliche
Lektüren ins Bild und öffnen die Bibliothek illusionistisch, also räumlich,
ins Unendliche.
Pendant zur Kapelle«.42 Als Antithese zur Macht und ihrer Behausung in der
Südseite des Klosters mit seinen Fluchten für den kaiserlichen Hof reklamiert
hingegen die Melker Stiftsbibliothek das in der Bibliothek gespeicherte und
symbolisierte Wissen für das Monastische. Dort bildet der Bibliotheksraum
im nördlich gelegenen Konventtrakt ein exaktes Gegenstück zum Kaisersaal
des Repräsentationsflügels. Wissen und Macht flankieren den die Blickachse
dominierenden und alles überragenden Bau der Kirche. Auch in Altenburg
wurde gegenüber dem Kaisertrakt über der mysteriösen Krypta das große
Gehäuse der Bibliothek erbaut, das den wenig umfangreichen Beständen
einen unangemessen großen, und das heißt: einen übergroß symbolischen
Rahmen gibt.43
Den zeitgenössischen Akteuren, etwa dem reisenden Leser Papebroch,
war die Verortung der Bibliotheksräume lesbar. Man mag sich wundern, wenn
er etwa in der Würzburger Jesuitenbibliothek den »sehr schönen Blick auf
die Stadt« hervorstreicht und von der Bibliothek in Trient überhaupt nur die
Aussicht erwähnt. Er nimmt auf den Raum Bezug, in dem die Bibliothek als
Raum steht. Die Würzburger Bibliothek ist im Dachboden der Kirche unter-
gebracht, und als Jesuit registriert Papebroch präzise die Programmatik der
Aufstellung: über Chor und Hochaltar »stehen nur jesuitische Autoren«.44
Ungeachtet ihrer Verortung in der Semantik der baulichen Umgebung
kann auch die Bibliothek als architektonisches Zeichen durch Kopie trans-
feriert werden, natürlich unter Verlust dieser Bezüge bei Gewinn jenes Ver-
weiszusammenhangs, der das Objekt durch die Tatsache der translatio aus-
zeichnet. Die Admonter Bibliothek zitiert architektonisch das Projekt von
Klosterneuburg, und Friedrich II. der Große errichtet 1775 bis 1781 auf
dem Forum Friderizianum in Berlin die Königliche Bibliothek nach einem
am Michaelerplatz in Wien nicht ausgeführten Entwurf des Joseph Emanuel
Fischer von Erlach aus dem Jahr 1725.
sentativer Realität ist für die Bibliothek konstitutiv.«45 »Text« und »Buch«
sind endgültig auseinandergefallen, das neuzeitliche Wissen läßt sich nicht
mehr behausen. Das spielt in die Doppeldeutigkeit der Bezeichnung Biblio-
thek hinein, die, auf Bücher bezogen, einen konkreten Bestand meint, auf
Texte bezogen, deren virtuelle Gesamtheit. In den Kategorien des Räumlichen
stellt sich die (unter Anerkennung der Ablösbarkeit von »Text« stets mediale)
Frage nach der Verortbarkeit der Textmassen. Wer deren potentielle Verort-
barkeit utopisch nennt, hat im Wortsinn ihre prinzipielle Unverortbarkeit
postuliert. Ein »library without walls«46 bleibt in der Virtualität heimisch,
allerdings als höchst produktives Phantasma und Projekt.
Im Mittelalter überspannt der Begriff der »Bibliothek« Texte und Bücher
und bezeichnet den Begriff des Wissens überhaupt, indem Bibel und Biblio-
thek Synonyme bildeten.47 »Bibliothek« konnte sodann auch die Summe
der Bücher insgesamt im Sinne von »Schrifttum« heißen. Doch zwischen
Textmassen und Büchermassen klaffen je länger je tiefere Unvereinbarkeiten,
sodaß dem Begriff die selegierenden und segmentierenden Operationen der
Wissensorganisation zuwachsen.48 Die »Bibliothek« benötigt Ordnung, Aus-
wahl, Kanonisierung, wie zwischen dem Universalanspruch der »Bibliotheca
universalis« Conrad Gessners (1545) und dem Kanonisierungsanspruch der
»Bibliotheca selecta« Antonio Possevinos (1593) faßbar wird. Wird die Infor-
mation des Nötigen und Wichtigen nicht in einem abgeschlossenen Werk,
sondern kontinuierlich publiziert, so bezeichnet der Titel »Bibliothek« Peri-
odica und Zeitschriften.49
Die Doppelung von Verräumlichung und Utopie wird im Begriff der
»Bibliothek« zum Schlüsselbegriff der Wissensverwaltung: der eingegrenz-
ten Aufbewahrung und Dissemination im realen Gebäude, der daher nötigen
Der Ort des Lesers gegenüber dem Text erscheint in der Konzeption des
Räumlichen zwischen den Extremwerten der Stasis und der Bibliotheks-
reise. In seinem Gehäuse als Leser und Schreiber festgenagelt, zeichnet die
ikonologische Tradition den Kirchenvater Hieronymus. Er bietet dem Huma-
nismus eine Leitfigur nicht so sehr der Frömmigkeit als vielmehr der Philo-
logie, und zur Aura der Heiligkeit ist stärker noch die Aura der Autorschaft
getreten. Nach der Vita des Hieronymus modelliert Erasmus von Rotterdam
seine eigene literarische Vermittlungstätigkeit,51 und auf dem Titelblatt von
Luthers Bibelausgabe von 1542 prangt in zentraler Position Hieronymus mit
seiner Vulgata als typopogisches Vorbild des deutschen Übersetzers (wobei
die komplexe Allegorie des Titelblattes mit dem lutherischen Prinzip antial-
legorischer Bibellektüre im Streit liegt).
Der stillgestellte Körper des Lesenden, vor dem die Texte ihre Kopräsenz
entfalten, findet im neuzeitlichen Instrument des Bücherrades seine Allegorie.
Die Ablagebretter in der großen Trommel, eine Serie von herbeidrehbaren
Schreib- und Leseflächen, erlauben die Konsultation mehrerer Bücher zu Ver-
gleichszwecken.52 Vor dem stillsitzenden Körper drehen sich die Bücher, um
50 Chartier (s. Anm. 13). Der französische Titel, den Chartier anführt, ist bibliographisch
nicht verifizierbar und geht vielleicht auf Edgar Allan Poe zurück (E. A. Poe: »Pi-
nakidia«. In: The Southern Literary Messenger, August 1836, S. 573–582, zit. S. 582;
http://www.eapoe.org/works/misc/pnkdia.htm). Das freilich verweist auf ein weiteres
liminales Phänomen mit hohem Verunklarungsfaktor: die Zitierung. – Die Bibliothe-
ca Bibliothecarum erschien erstmals als Anhang der Nova Bibliotheca manuscriptum
librorum 1653, selbständig Paris 1664, Leipzig 1682.
51 Zur Geltung des Hieronymus als Bild humanistischer Autorschaft und zur ikonogra-
phischen Tradition des »Gehäuses« vgl. Jardine, (s. Anm. 17), Kap. 2, S. 55–82.
52 Jardine, Lisa/Grafton, Anthony: »›Studied for Action‹. How Gabriel Harvey Read His
Livy«. In: Past and Present 129 (Nov. 1990), S. 30–78, zit. S. 47f.
242 Franz M. Eybl
53 Nur als praeteritio sei auf die Zusammenhänge von Lektüreformen mit den Diszipli-
nierungsprozessen aufklärerischer Pädagogik hingewiesen, wie sie Michel Foucault
(Surveiller et punir) sowie Erich Schön beschrieben haben. Schön, Erich: Der Verlust
der Sinnlichkeit oder Die Verwandlungen des Lesers. Mentalitätswandel um 1800.
Stuttgart 1987 (Sprache und Geschichte 12).
54 Johann Alexander Brassicanus, Historiker, Handschriftensammler und Herausgeber,
sucht 1528 im Kloster Melk im kaiserlichen Auftrag systematisch nach druckwürdigen
Handschriften, und auf eigene Rechnung erweitert der Melanchthon-Gegner Matthias
Flacius Illyricus in europäischen Klosterbibliotheken seine exquisite, schließlich (1597)
nach Wolfenbüttel gegangene Manuskriptsammlung auf anrüchige Weise, was ihn
– zumindest in der Bibliotheksliteratur – zum Inbild des Bücherdiebs stempelte.
55 Vgl. Wegmann (s. Anm. 35), Kap. 7: »Hasard-Spielen«, zu Lessing und Wolfenbüttel,
S. 235–262.
Typotopographie 243
Der Forscher wechselt bei Anfrage die Rolle und wird zum hilfsbereiten
Amanuensis als persönliche Stellvertreter, der die Abschreibearbeit auf sich
nimmt. Die Repräsentanten des Lesers am anderen Ort erledigen Lektüre,
Abschrift und Exzerpt, vollführen also als Stellvertreter des Forschenden den
erforderlichen gelehrten Umgang mit dem Text.
Exakt am Akt der Lektüre setzt der Umbruch der Gelehrtenrepublik im
18. Jahrhundert ein, als eine neue Wissenstopographie gestiftet wird. Analog
der Entpersönlichung literarischer Traditionsweitergabe am Beginn der Früh-
neuzeit wird an ihrem Ende die Leserstellvertretung durch eine Verschiebung
der medialen Systeme entpersonalisiert, was im übrigen der zunehmenden
Distanz zwischen Autor und Lesepublikum genau parallel läuft. Als Stellver-
treter des Lesers etabliert sich der Rezensent – nicht mehr personalisiert, ja
nicht einmal persönlich belangbar, ist doch Anonymität ein Hauptkriterium
der wissenschaftlichen Rezensionszeitschrift. Er ist in diesem Punkt Par-
teigänger des anonymisierten Lesepublikums. Damit wurde das räumliche
Zusammensein von Leser und Buch im Akt des Lesens entbehrlich, und der
Effekt ist die Entkoppelung der Inhaltskenntnis von der Lektüre.56 Nun ver-
teilen die Kompilations- und Rezensionsorgane »das Wissen um, nach über-
allhin und in unablässiger Folge.« An die Stelle des Polyhistors und seiner
stellvertretenden Leser vor Ort »tritt ein kohärenter Raum des Wissens und
mit ihm die Wissenschaft als kooperatives Projekt.«57 Wissen ist erstmals
völlig entkörperlicht und enträumlicht. Die medienhistorischen Repräsenta-
tionsleistungen der Bücherwelt werden von den imaginativen Repräsentati-
onsleistungen des Individuums wie von den kommunikativen Vernetzungen
des Zeitschriftenzeitalters aufgezehrt und entbehrlich gemacht.
Um das Jahr 1200 macht der französische Dichter Jean Bodel im Kontext
seines Prologs zur Chanson des Saisnes eine weitreichende Aussage:1
Diese Dreiteilung wurde in der Forschung gern als Nukleus einer Litera-
turgeschichtsschreibung zitiert.2 Jean Bodel war freilich kein Literarhistori-
ker, er war ausübender Jongleur und dachte bei der Verwendung des Wor-
tes ›matière‹ wohl vor allem poetologisch an den Komplementärbegriff des
›sens‹. Der ›sens‹, der Sinn, die Bedeutung muß einem Stoff, der ›matière‹,
eingehaucht werden; und dafür eignen sich nicht alle Stoffe gleich gut. Es
gibt edle und weniger edle:
1 Jean Bodel: La Chanson des Saisnes. Edition critique, hg. v. Annette Brasseur, 2 Bde.,
Genf 1989. – Jean Bodel: La Chanson des Saxons. Traduit en Francais moderne par
Annette Brasseur (Traductions des Classiques francais du Moyen Âge Bd. 50, Paris
1992.
2 Jauss, Hans-Robert: Alterität und Modernität der mittelalterlichen Literatur. Gesam-
melte Aufsätze 1956–1976. 1977, hier bes. S. 314f. – Weddige, Hilkert: Einführung
in die germanistische Mediävistik, 2. Aufl., München 1992, S. 192f–195.
Zur kognitiven Kartierung mittelalterlicher Epik 245
Bodel etabliert dabei so etwas wie eine Werteskala von Erzählstoffen; eine
Bestimmung regionaler Eigenarten dürfte ihm wohl nicht in den Sinn gekom-
men sein.3 Gerade deswegen freilich ist es bemerkenswert, daß ihm Regio-
nalnamen, geographische Bezeichnungen, zur Kategorisierung von Literatur
geeignet erschienen sind. Die Einteilung entsprang nicht einer Augenblicks-
laune des französischen Jongleurs, sie hatte einen Grund in der Sache. Sie
erlaubt, so meine Ausgangshypothese, einen Einblick in die Binnengliederung
eines Repertoires mittelalterlicher Erzählepik.
Bodels Dreigliederung erscheint in gewisser Hinsicht plausibel, eine
Selbstverständlichkeit ist die Trias der Namen Bretagne – Rome – France
freilich nicht. Die Literaturgeschichten ziehen heute andere Kennzeichnungen
vor. Die ›Matière de Rome‹ findet sich unter der Bezeichnung des Antikenro-
mans, bei der ›Matière de France‹ denkt man vor allem an die in der Karo-
lingerzeit spielenden ›chansons de geste‹ mit ihren drei wichtigsten Gruppen,
den Königs-Gesten, den Guillaume-Gesten und den Empörer-Gesten. Was
davon in die deutsche Literatur übergegangen ist, wird hier meist unter der
Rubrik ›Heldenepik‹ geführt. Der Stoffbereich der ›Bretagne‹ hat hauptsäch-
lich unter ›Artusroman/Artusepik‹ seinen eigenen Titel gefunden; obwohl
›Matière de Bretagne‹ noch mehr umfaßt, besonders den Tristanstoff und
die sog. Feenmärchen.
Die heute geläufigen Bezeichnungen rücken also literarische Gattungen
oder historische bzw. pseudohistorische Personennamen als Richtgrößen in
den Vordergrund. Sie akzentuieren die Tatsache, daß für die Ausgestaltung
der einzelnen Stoffe jeweils eigene Gattungskonventionen und Formtraditio-
nen ausschlaggebend gewesen sind, Konventionen und Traditionen, die nicht
›kompatibel‹ und nicht aufeinander abgestimmt sein müssen. Die Gattungs-
differenzen werden bei meinem Kartierungsversuch nicht in Abrede gestellt,
aber ich meine sie beiseite setzen zu dürfen. Alle hier verhandelten epischen
Materien haben eine ursprünglich historische Qualität und damit auch einen
mehr oder weniger deutlich umrissenen Ort. Das eröffnet die Möglichkeit,
sie auf eine gemeinsame topographische Ebene der Betrachtung zu ziehen
und die ›Landkarte‹ als ein Hilfsmittel der Betrachtung einzusetzen. Deshalb
halte ich es für legitim, der Frage nachzugehen, was den hochmittelalterlichen
Jongleur bewogen hat, seine geographischen Bezeichnungen und Unterschei-
3 Jean Bodel (1165?–1210) war Berufsdichter (Jongleur) in Arras und am Hof des fran-
zösischen Königs Phillipp August II. Werke, die sich der Matière de Bretagne und
der Matière de Rome zurechnen ließen, gibt es von ihm nicht. Seine Chanson des
Saisnes ist keine ›klassisch‹ gestaltete Chanson de geste. Er verändert den Charakter
des Heldenepos, indem er die höfische Komponente des Minnedienstes einfügt. Zu
seinen lyrischen, epischen und dramatischen Dichtungen zählen das Jeu de Saint
Nicolas und neun Fabliaux u.a. Gombert et les deux clercs. – Ch. Foulon : L’Oeuvre
deJehan Bodel. Travaux de la faculté des lettres et sciences humaines de Rennes, série
1, Bd. 2, Rennes 1958.
246 Hartmut Kugler
Abb. 1:
Die europäische Landkarte als Distributionsschema
(Herstellung der Graphik: Franziska Fischer)
248 Hartmut Kugler
6 Hartmann von Aue: Iwein. Text der siebenten Ausgabe von G. F. Benecke, K. Lach-
mann und L. Wolff. Übersetzung und Anmerkungen von Thomas Cramer. 3. durch-
gesehene und ergänzte Auflage, Berlin 1981; das Zitat S. 179. – Chrestien de Troyes:
Yvain, übersetzt und eingeleitet von Inge Nolte-Hauff, München 1962 (Klassische
Texte des romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben, Bd. 2)
7 Die wichtigsten Schauplätze der Tristan-Erzählung liegen in Südwest-England, Irland
und der Irischen See. Einzelne Episoden greifen auf Norwegen (Ruals Suche nach dem
entführten Tristan) und aufs europäische Festland aus (Tristan in der ›Verbannung‹).
Diese ›Grenzüberschreitungen‹ sind in der vorliegenden Graphik nicht berücksichtigt.
8 Holzberg, Niklas: Der antike Roman: Eine Einführung. München u.a. 1986. – Lienert,
Elisabeth: Deutsche Antikenromane des Mittelalters. Berlin 2001. – Zur antiken Mate-
rie gehört auch der Alexanderroman. Er bildet einen eigenen verzweigten Stoffkomplex
und bleibt hier außer Betracht. Alexander der Große war auch in nichteuropäischen
Literaturen ein verbreiteter Romanstoff. Für die Epiker Lateineuropas war Alexander
so etwas wie ›unser Mann im Orient‹ und agierte vorwiegend auf dem asiatischen
Kontinent.
Zur kognitiven Kartierung mittelalterlicher Epik 249
sität bis hinauf nach Aachen und in den Grenzbereich der alten römischen
Provinz Gallia. Sie besetzt also in etwa den Horizont des (west)fränkischen
Reiches. Die karolingischen Recken Roland, Guillaume und Kollegen kämp-
fen sich vorwiegend im Raum dieseits und jenseits der Pyrenäen sowie der
südfranzösischen – v. a. provenzalischen – Küstenregion um Arles, Orange,
Nîmes durch ihre Geschichten.
Über Jean Bodels Trias hinaus habe ich noch einen vierten Stoffbereich in
die Karte aufgenommen: Die senkrechte Schraffur weist auf die Spielräume
der sog. ›Germanischen Heldendichtung‹ (v.a. Nibelungenlied, Kudrun, Diet-
richsepik). Hätte sich ein französischer Jongleur dafür interessiert, so hätte er
sie, im Anschluß an Bodels Nomenklatur, ›Matière de la Germanie‹ nennen
können. Ob deutschsprachige ›Heldenepiker‹ einen entsprechend kohärenten
Materien-Begriff hatten, ist ungewiß. Immerhin läßt sich eine Spruchstrophe
des Marner (ca. 1230–1270) beiziehen, die aufreiht, was vom Publikum im
Repertoire eines Epensängers erwartet wurde, und dabei fast ausschließlich
Sujets nennt, die der ›germanischen Materie‹ zuzuordnen sind: Dietrich von
Bern, König Rother, »der Riuzen sturm«, Heime und Wittich, Eckharts Not,
Kriemhild, Siegfried, »der Nibelunge hort«.12
Das Distributionsschema ist vorläufig und grob, doch als Ausgangsbasis
für die folgende Erörterung kann es genügen. Es veranschaulicht erstens
die Beobachtung, daß Bodels drei Materien ihre jeweils eigenen Spielräume
haben, die weitgehend getrennt nebeneinander zu liegen scheinen. Es enthält
zweitens die Beobachtung, daß die Spielräume der germanischen Helden-
dichtung, der ›Matière de la Germanie‹, im Distributionsschema der Karte
einen eigenen Bereich besetzen und das Gelände des französischen Reper-
toires nicht berühren. Daran knüpft meine Vermutung an, die mittelalterlichen
Epiker hätten sich bei der Organisation ihres Repertoires einer Topographie
bedient, die, auch wenn sie symbolischen Charakter hatte, der realgeographi-
schen Verteilung europäischer Räume und Landschaften in irgendeiner Weise
analog war. Die Erzähler hatten, so meine These, eine ›Karte im Kopf‹, ein
Organisationsschema, das besagte, daß nicht alles überall spielen konnte;
eine kognitive Karte, die für eine gewisse Trennschärfe zwischen den Mate-
rien sorgte. Indem Jean Bodel die idealgeographischen Bereiche Bretagne,
Rome, France voneinander schied, betrieb er in etwa das, was man heute
mental mapping oder mind mapping nennt, und er vertraute darauf, daß seine
Kollegen und seine Zuhörer dieses mind mapping mitvollziehen konnten.
Diese These will ich im Folgenden prüfen und modifizieren und in ihren
Konsequenzen bedenken.
12 Der Marner. Hg. v. Philipp Strauch (Quellen und Forschungen 14). Straßburg, London
1876; Neudruck mit Nachwort, Register und Literaturverzeichnis von Helmut Brackert
(Deutsche Neudrucke). Berlin 1965, Strophe XV,14 (S. 124–125).
Zur kognitiven Kartierung mittelalterlicher Epik 251
13 Literatur zur Theorie des Mental mapping und der kognitiven Kartographie: Trow-
bridge, C.C.: »On Fundamental Methods of Orientation an Imaginary Maps.« In: Sci-
ence, Vol. 38, No. 990 (1973), S. 888–897. – Tolman, Edward C.: »Cognitive Maps
in Rats and Men«. In: ders.: Collected Papers in Psychology. Los Angeles 1951,
S. 241–264. – Downs, Roger M./Stea, David: Kognitive Karten: Die Welt in unseren
Köpfen, 1982. – Wildbur, Peter/Burke, Michael: Information Graphics, 1998. – This-
sen, Frank: Screen Design Handbuch, 2000. – Watching the Brain in Action; http://
www.psc.edu/sience/Goddard/goddard.html – Belliveau J.W., Kennedy, D.N., McK-
instry, R.C.: »Functional mapping of the human visual cortex by magnetic resonance
imaging«. In: Science 1991, No. 254, S. 716–719.
14 Der Terminus der ›Mustererkennung‹ spielt seinerseits eine Hauptrolle in der kogni-
tionswissenschaftlichen Forschung. Er bezeichnet ein Teilgebiet der Informatik und
umschreibt Verfahren der »künstlichen Intelligenz«. Duda, Richard O./Hart, Peter
E./Stork/ David G.: Pattern classification. New York 2001. – Niemann, Heinrich:
Klassifi kation von Mustern. Heidelberg 1983.
15 Da es für den Terminus der ›Mind Map‹ im Deutschen nur unzulängliche Äquivalente
gibt (etwa ›Gedächtniskarte‹ oder ›Gedankenplan‹), bleibt er in der Regel unübersetzt.
– Kirckhoff, Mogens: Mind Mapping. Einführung in eine kreative Arbeitsmethode.
12. Aufl. Offenbach 1998. – Eipper, M.: Sehen, Erkennen, Wissen. Arbeitstechnik rund
um Mind Mapping. Renningen-Malsheim 1998.
Zur kognitiven Kartierung mittelalterlicher Epik 253
20 Hartmann von Aue: Erec, hg. von Albert Leitzmann, 6. Aufl. besorgt von Christoph
Cormeau und Kurt Gärtner, Tübingen 1985 (= ATB 39), V. 3490–3495). – Chrétien
de Troyes: Erec et Enide. Übersetzt und eingeleitet von Ingrid Kasten, München 1979
(Klassische Texte des romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben, Bd. 17),
V. 3119–3123.
21 Chrétien de Troyes: Der Percevalroman. Übersetzt und eingeleitet von Monica Schöler-
Beinhauer. München 1991 (Klassische Texte des Romanischen Mittelalters in zwei-
sprachigen Ausgaben, Bd. 23). – Wolfram von Eschenbach: Parzival, 6. Ausg. von
Karl Lachmann, bearb. V. Eduard Hartl. Berlin 1926.
256 Hartmut Kugler
»Anschevîn« führen. Das ist, wohl zu afrz. ›li Angevin‹ gehörend, eine klare
Zuweisung an die Region des Anjou. Das Königshaus Anjou-Plantagenet
regierte seit 1154 in Westfrankreich und England. »Nantes« hat Wolfram
allem Anschein nach aus eigenem Antrieb zur Artusresidenz in »Bertâne«
(144,8) ernannt und bekräftigt damit die assoziative Verortung der Materie
in der Bretagne. In Chrétiens Perceval stand der Name »Nantes« nicht, dort
hieß die Burg »Orcanie« (V. 9101 u.ö.).
Wolfram habe, so die Standard-Auskunft der Literaturforschung, dem
bei Chrétien noch weitgehend in der Ort- und Zeitlosigkeit einer imaginären
›Bretagne‹ belassenen Roman »erstmalig die reale Mittelmeer- und Kreuz-
zugswelt seiner Gegenwart« beigebracht (Kurt Ruh); und noch deutlicher: er
habe »die weltferne Traumlandschaft des Artusromans in eine europäische
Landkarte« umgewandelt (Helmut Rosenfeld).22
Das mag in der Tendenz richtig sein, doch hat es sowohl mit der »euro-
päischen Landkarte« als auch mit der »Kreuzzugswelt« seine sehr eigene
Bewandtnis. In der kognitiven Weltkarte des Parzival-Stoffes bleibt die Region
des Heiligen Landes, die auf vielen mittelalterlichen Mappae mundi das Bild-
zentrum ausmacht, gänzlich ausgespart. Die Weltgegend um Jerusalem wird
regelrecht übersprungen. Wolfram hat seinem von Chrétien übernommenen
›Waleisen‹ Parzival eine Vatergeschichte vorausgeschickt, die bis in die fer-
nen Regionen Indiens führt. In »Sibilje« (Sevilla 58,22) »ze Spâne« landet
Gahmuret auf seiner Schiffsreise, die ihn aus dem fernöstlichen »Zazamanc«
in den Westen zurückgeführt hat; wobei er das Kunststück fertigbringt, den
Vorderen Orient mitsamt dem Heiligen Land per Schiffsreise zu umgehen;
wie auch schon auf seiner Hinfahrt zum Sultan von »Baldac« (Bagdad), in
dessen Diensten er Ritterruhm erworben hatte.23
Im Handlungsraum von Wolframs Gral- und Artusrittern gibt es zwischen
der Bretagne und dem Orient sozusagen eine Direktverbindung. Sie läßt sich
in die gelehrt-klerikale Konstruktion einer Mappa mundi, eines Weltbildes,
welches sämtliche Weltregionen auf das Graviationszentrum Jerusalem ver-
pflichtet, nicht einzeichnen. Man kann darüber spekulieren, ob Wolfram von
der gelehrten Mappa mundi-Konstruktion bewußt abgesehen hat. Jedenfalls
ist die kognitive Karte seiner Artus- und Gralswelt mit der jerusalemzentrier-
ten Radkarte nicht zur Deckung zu bringen.
Soweit ich sehe, gilt das auch für die anderen Romane der Matière de
Bretagne. Selbst im französischen Lancelot-Graal-Zyklus bleibt die Differenz
22 Ruh, Kurt: Höfische Epik des deutschen Mittelalters. Bd. II, (Grundlagen der Ger-
manistik 25). Berlin 1980, S. 120 . – Rosenfeld, Helmut: »Die Namen in Wolframs
Parzival« . In: Wolfram Studien II. Berlin 1973, S. 37.
23 Kugler, Hartmut: »Zur literarischen Geographie des fernen Ostens im ›Parzival‹ und
›Jüngeren Titurel‹.« In: Dinkelacker, Wolfgang/Grenzmann, Ludger/Höver, Werner (Hg.):
Ja muz ich sunder riuwe sin. Festschrift für Karl Stackmann zum 15.Februar 1990. Göt-
tingen 1990, S.107–147.
Zur kognitiven Kartierung mittelalterlicher Epik 257
24 Kugler, Hartmut: »Nicht nach Jerusalem. Das Heilige Land als Leerstelle in der mit-
telhochdeutschen Epik der Kreuzfahrerzeit«. In: Bauer, Dieter/Herbers, Klaus/Jaspert,
Nikolas (Hg.): Jerusalem im Hoch- und Spätmittelalter. Frankfurt a.M./New York
2001, S. 407–422.
258 Hartmut Kugler
25 Die Chanson des Saisnes ist in zwei Redaktionen überliefert. Die Redaktion A bricht
nach 4337 Versen ab, die Redaktion L führt die Geschichte mit insgesamt 7838 Ver-
sen zum Ende. Nur der Text der Redaktion A wird Jean Bodel zugeschrieben. Die
Redaktion L weicht davon vielfach ab (der Sachsenherrscher heißt dort »Guiteclin«,
nicht »Guitechin«) und gilt als Werk eines schwächeren Überarbeiters und Fortsetzers.
Dazu A. Brasseur in ihrer Ausgabe (s. Anm. 1).
26 Einhard: Vita Karoli Magni. Hg. v. Reinhold Rau. (Freiherr v. Stein-Gedächtnisaus-
gabe Bd. 5) 1968, S. 157–211. – Widukind von Corvey, Rerum gestarum Saxoicarum
libri tres, hg. v. Bauer, Albert und Rau, Reinhold (Ausgewählte Quellen zur deutschen
Geschichte des Mittelalters 8), 4. Aufl. 1992, S. 1–183.
Zur kognitiven Kartierung mittelalterlicher Epik 259
degewinn, indem sie jenseits von Köln in den Wilden Osten zielt. Doch die
Sachsen, die dort hausen, unterscheiden sich in nichts von den Sarazenen des
Mittelmeerraums. Unter Guitechins Verbündeten befinden sich die Herrscher
der Nubier und der Alanen. Und allesamt sind sie Mohammedaner: »Sarrazins
ert li Saisnes et creoit en Mahon.« (V. 53)
Beim näheren Hinsehen bleibt die Rheingrenze der Matière de France
auch in Bodels Sachsen-Roman strikt erhalten: Köln ist die einzige auf real-
geographische Identifizierbarkeit angelegte Markierung. Die Stadt bildet
zugleich den äußersten Punkt des Vorstellungsraumes. Jenseits von Köln,
auf der rechten Rheinseite, spielt sich nichts ab. Die kognitive Karte des
Autors bietet für einen Kaiser Charlemagne an der Weser oder in Paderborn
keinen Platz. Er bleibt im Horizont der alten römischen Provinz Gallia, die
am linken Rheinufer endete.27 Die literarische Phantasie des französischen
Autors hat, als sie sich ihren Spielraum ausdachte, allem Anschein nach am
römischen Limes haltgemacht.
27 Der Rhein als Provinzgrenze zwischen der Gallia und der Germania war verbreitetes
Lehrbuchwissen Cf. Honorius Augustodunensis: Imago mundi., hg. v. V.I.J.Flint, I,
27: »«A flumine Rheno est Gallia Belgica, a civitate Belgis dicta.« (S. 62)
28 Im Gesamtrahmen des Kriegsgeschehens und Kriegführens Karls d. Großen war das
historische Substrat des Rolandsliedes, nämlich die Errichtung der spanischen Mark
(795) nach der Niederlage von Roncevalles (778) und dem Araberüberfall auf Nar-
bonne (793), eigentlich eher von marginaler Bedeutung. Viel breiteren Raum besetzten
die Sachsenkriege (772–804), die Eroberung des Langobardenreichs (773–774), die
Kriegszüge gegen die Slawen (789–812) und die Awaren (791–796).
260 Hartmut Kugler
det wurde. Die kognitive Kartierung der Karlsmaterie läßt den Bereich ›öst-
lich des Rheins‹, den Bereich der ›Germania‹, wenn man so will, unbesetzt.
Im Rolandslied des Pfaffen Konrad wie in der späteren Bearbeitung durch
den Stricker bleibt Karl auf den Handlungsradius beschränkt, den der fran-
zösische Text vorgegeben hat. Warum hat es zwar eine sprachliche Überset-
zung und Anpassung ans deutschsprachige Literaturverständnis gegeben, aber
keine Translozierung, keine Veränderung der Topographie? Die Vordenker
und Nachdichter der Stauferzeit, die Karl als Vorbildgestalt des Römischen
Kaisers neu ins Licht hoben, hätten doch eine gute Möglichkeit gehabt, mit
der Einbeziehung der Sachsenkriege ins ›Heroic Age‹ ihres Sacrum Impe-
rium sich die historisch-literarische Autorität der Karls-Gestalt zu sichern.
Es ist nicht geschehen. Die kognitive Kartierung der Materie war nicht frei
verfügbar und veränderbar. Die erzählräumlichen Topoi waren Bestandteil
des Stoffs. Die idealgeographischen Markierungen und Scheidelinien dienten
auch der Ordnung im Kopf des Erzählers. In dieser Ordnung war und blieb
die Karlsepik eine ›Matière de France‹, auch wenn sie von deutschsprachigen
Erzählern für ein deutschsprachiges Publikum hergerichtet wurde.
Für das Distributionsschema von Jean Bodels drei Materien scheint mit-
hin insgesamt zu gelten: Sie waren und blieben Stoffe aus dem Westen und
behielten auch in den deutschsprachigen Umarbeitungen das Gütesiegel
›Made in France‹ bei. Von hier aus gesehen erscheint es problematisch, daß
die deutsche Literaturgeschichtsschreibung das Rolandslied und das Nibelun-
genlied meist umstandslos unter dem gemeinsamen Obertitel der Heldenepik
zusammenstellt. Das Rolandslied gehörte einem anderen Stoffkreis an, es
war eine ins Deutsche transferierte und transformierte Matière de France,
eine chanson de geste.
des Nibelungenlieds nach Westen auszudehnen und sie westwärts über den
Rhein etwa nach Burgund und Savoyen zu führen. Dies ist nicht geschehen,
obwohl doch das realhistorische Substrat seinen Schatten auf jene Regionen
geworfen hatte. Bekanntlich waren die am Mittelrhein ansässigen Burgunden
im Jahr 436 von den Römern mit Hilfe hunnischer Hilfstruppen geschlagen
und dann, im Jahr 443, an die Saône und Rhône umgesiedelt worden.30 Das
besagt, daß das Nibelungenlied mit dem historischen Substrat des spätan-
tiken Burgunderreiches nur so lang in Berührung geblieben ist, wie dieses
am Rhein, in Worms, situiert war. Den Umzug der Burgunden in die ›France
profonde‹ hat die Erzählepik nicht mitvollzogen. Der Erzählfortgang änderte
die Himmelsrichtung, nahm dabei womöglich die Spuren anderer historischer
Substrate auf und wendete sich südostwärts die Donau hinunter bis ins Unga-
rische. Dort war, erzählgeographisch gesehen, sozusagen noch unbesiedeltes
Land. Es bestand keine Gefahr, daß dort den nibelungischen Recken etwa
ein Roland oder Charlemagne oder Artus in die Quere kommen könnte. Nur
ein anderer ›germanischer‹ Heldenstoff, die Dietrichsepik, war erzählgeogra-
phisch benachbart. Von daher erscheint es plausibel, daß Dietrich und Hil-
debrand eine Art Nachbarschaftshilfe geleistet haben und in den Schlußakt
des Nibelungenliedes eingetreten sind.
Es sieht fast so aus, als habe es die kognitive Kartierung der Nibelungen-
materie, der ›Matière de la Germanie‹, vermieden, es auf Überschneidungen
mit der kognitiven Karte der westlichen Materien (im besonderen der ›Matière
de France‹) ankommen zu lassen. Die Materien bleiben idealgeographisch
›entmischt‹, sie halten sich sozusagen in verschiedenen Raumzeitblasen auf.
Imaginäre Grenzlinie ist der Rhein. Das Nibelungenlied spielt ausschließlich
ins rechtsrheinische Gelände hinein. Obwohl Worms, genau genommen, auf
der linken Rheinseite liegt, gehen alle Bewegungen nach rechts hinüber, weg
vom Bereich der ›Matière de France‹.31
Die Geschichte von der Domestizierung der Sachsen, die Jean Bodel im
Rahmen der ›Matière de France‹ versuchte, hat bei den deutschsprachigen
Karlsepikern, so war festzustellen, keine Resonanz gefunden. Dazu ist nun
30 Das Nibelungenlied. Nach der Ausg. von Karl Bartsch hg. v. Helmut de Boor (Deut-
sche Klassiker des Mittelalters), 20. Aufl. Wiesbaden 1972.
31 Das mittellateinische ›Waltharius‹-Epos lässt seine Protagonisten, das vom hunni-
schen Hof entflohene Paar Walther und Hiltgunt, westwärts über den Rhein setzen
und nach einem nibelungischen Kampfgeschehen in den Vogesen nach Aquitanien
weiterziehen. – Für die gelehrt-lateinsprachige Bearbeitung ›germanischer‹ Materie
scheint demnach die Rheinlinie (die am Ober- und Niederrhein immer auch mehr oder
weniger deutlicher Sprachgrenzbereich war) weniger markant gewesen zu sein als für
die volkssprachige Dichtung. Der Waltharius hat, obwohl er mit Hagen und Gunther
zwei prominente Akteure aus dem Nibelungenbereich aufbieten kann, in der mhd.
Literatur kaum Spuren hinterlassen. – Waltharius. Hg. v. Karl Strecker; mit deutscher
Übersetzung von Peter Vossen. Berlin 1947. – Önnerfors, Alf: Das Waltharius-Epos.
Probleme und Hypothesen. Lund 1988.
262 Hartmut Kugler
Auf Räume sind literarische Texte in vielfältiger Weise bezogen, und sie
eröffnen, modellieren und modulieren ihrerseits Räume, im Imaginations-
spiel begehbare ebenso wie abstrakte oder metaphorische sowie jene realen
Räume, die sich aus der Perspektive des jeweiligen Textes in spezifischer
Weise darstellen. Charakteristisch für literarische Räumlichkeit scheint ihre
außerordentliche Spannweite zu sein: Indem sie die Grenze zwischen Realität
und Fiktion überbrückt, übertrifft sie noch die generelle Spannung zwischen
›Orten‹ und ›Worten‹, die jeder Topographie innewohnt. Referentialität und
poietische Konstruktivität literarischer Topographien schließen sich daher
nicht aus.1 So sind die Schauplätze einer Handlung weit seltener fiktiv als
die Figuren oder das Handlungsgeschehen, doch erfahren sie im literarischen
Text eine (zusätzliche) Semantisierung, die sie der Lebenswelt entreißt und
zur Funktion einer Spielwelt macht, nach Lotman zum Modell »anderer,
nichträumlicher Relationen des Textes«2 (mehr dazu in Abschnitt III.). Einen
Kartierungseffekt können literarische Texte aber auch ganz unabhängig von
dargestellten Orten haben, wenn sie interkulturelle Transferenzen erkennen
lassen, also die Abkunft beispielsweise ihrer Ästhetik von andernorts loka-
lisierbaren Schreibweisen oder Praktiken.
Nutzen möchte ich die komplexe Räumlichkeit des literarischen Diskur-
ses, um eine für die Entstehung der ›modernen‹ (im ›sattelzeitlichen‹ oder
3 Theaterjournale z.B. waren quasi per se Anwälte des ›gereinigten Geschmacks‹ und
maßen das Theaterleben bis in die 1790er Jahre an den Gottschedschen Normen, vgl.
Heßelmann, Peter: Gereinigtes Theater? Dramaturgie und Schaubühne im Spiegel
deutschsprachiger Theaterperiodika des 18. Jahrhunderts (1750–1800). Frankfurt a.M.
2002, S. 76–81, 102, 121f.
4 Vgl. Meyer, Reinhart (Hg.): Theater, Repräsentation und konfessionelle Polemik im
Zeitalter der Aufklärung. Regensburger Schauspiele im 18. Jahrhundert. Regensburg
1998, S. 88f., das Zitat S. 86; vgl. ders.: Bibliographia Dramatica et Dramaticorum.
Kommentierte Bibliographie der im ehemaligen deutschen Reichsgebiet gedruckten
und gespielten Dramen des 18. Jahrhunderts nebst deren Bearbeitungen und Über-
setzungen und ihrer Rezeption bis in die Gegenwart. Teil 1: 3 Bde. Teil 2: [bisher:]
22 Bde. Tübingen 1986–2004, T. 2, Bd. 12, S. XXXII–XXXV. Auf der Grundlage
einer umfassenden Registratur von Dramendrucken und Aufführungsbelegen stellt
Meyer fest, daß in den frühen 1740er Jahren »rund zwei Drittel aller Erstaufführungen
im Reich« in katholischen Gymnasien stattfanden (S. XXXII). Aufgeführt wurden in
der Regel lateinische Stücke. »Trotzdem finden an den katholischen Schulen mehr
deutschsprachige Aktionen statt, als den protestantischen Bürgern insgesamt vor Augen
kommen.« (S. XXXV)
5 In der Forschung werden die divergenten Entwicklungen in Nord- und Süddeutschland
selten aufeinander bezogen, vgl. v.a. Münz, Rudolf: Das »andere« Theater. Studien
über ein deutschsprachiges teatro dell’arte der Lessingzeit. Berlin 1979. Zur kirchli-
chen Kritik am Theater vgl. Haider-Pregler, Hilde: Des sittlichen Bürgers Abendschule.
Bildungsanspruch und Bildungsauftrag des Berufstheaters im 18. Jahrhundert. Wien/
München 1980, S. 69–134, bes. S. 103.
266 Daniel Fulda
weil die Wandertruppen – hier folgt sie Gottscheds Vorrede zum Sterbenden
Cato – »lauter schwülstige und mit Harlekins = Lustbarkeiten untermengte
Haupt = und Staats = Actionen, lauter unnatürliche Romanstreiche und Lie-
besverwirrungen, lauter pöbelhafte Fratzen und Zoten« präsentierten.6 Les-
sing wiederum habe »sich vorgenommen, ein Theater für die ganze Nation
zu schaffen«, das »frei von hemmendem ausländischem Einfluss sein« sollte.
Und tatsächlich habe sich »in weniger als zwanzig Jahren [...] aus provinziel-
ler Enge ein deutsches Theater [entwickelt], das den Vergleich mit Frankreich
und England nicht zu scheuen brauchte.«7
Auch wo es speziell um die Komödie geht, werden die komplexen Ver-
hältnisse des zweiten Jahrhundertdrittels in aller Regel nach dem Schema
›Reinigung durch Gottsched‹ und darauffolgender schrittweiser Ablösung von
dessen rigider Ausrichtung aller Komik auf moralisierende Satire (mit Johann
Elias Schlegel, Gellert und Lessing als kanonischen Autoren) strukturiert.8
Weitgehend bis völlig übergangen werden sowohl die ›unregelmäßige‹ Harle-
kinskomik, die die Gottschedsche Reform selbst von den norddeutschen Büh-
nen nicht vertreiben konnte, als auch das prinzipiell normierungsresistente
Spaßtheater Süddeutschlands.9 Am eklatantesten ist diese Ausblendung im
Fall der Wiener Volkskomödie,10 war das Theaterleben der Kaisermetropole
doch allen anderen deutschen Städten voraus, insofern das deutschsprachige
Schauspiel nur hier über eine feste Bühne verfügte – seit 1712, als der Hans-
wurstdarsteller Stranitzky das Kärntnertortheater bezog. Doch folgten die
Wiener Theaterpraktiken weder den ästhetisch-moralischen Programmen der
Aufklärung, noch lassen sie sich als ›Schritte zur Klassik‹ deuten. Deshalb
wurden sie bereits in der Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhun-
derts teils stillschweigend übergangen,11 teils ausdrücklich marginalisiert12.
Deutlich wird hier, daß die Zentrierung der deutschen Literaturgeschichte
auf Mittel- und Norddeutschland einem nationalgeschichtlichen Prinzip folgt,
welches auf die Herstellung »halbwegs kohärenter Reihen« abzielt13. Errei-
chen ließ sich dieses Ziel nur durch Ausschlüsse – in Gestalt von Abwertung
oder schlichtem Übergehen –, so daß sich die deutsche zur ›kleindeutschen‹
Literaturgeschichte verengte. Die gegenwärtige Literaturgeschichtsschreibung
wiederum ist desto stärker in dieser Tradition befangen, je weniger sie ihre
ganz ähnlichen Ausschlüsse reflektiert. Obwohl die Nation intentionell nicht
mehr als Telos der Literaturgeschichte fungiert, wurden die im Sinne dieses
Telos getroffenen Ausschlußentscheidungen bislang nicht revidiert.
Das gilt auch und gerade für systemtheoretisch informierte Ansätze, denen
die Literaturgeschichtsschreibung die stärksten Impulse der letzten Jahre ver-
dankt. Die wohl pointenreichste Darstellung, welche die deutsche Literatur
des 18. Jahrhunderts neuerdings gefunden hat, Karl Eibls Entstehung der
Poesie, geht auf das Wiener Volkstheater lediglich mit einem Verweis auf
dessen bis ins 19. Jahrhundert reichenden Spaßprimat ein,14 obwohl das
Drama die bevorzugt herangezogene Gattung abgibt. Zur ›Entstehung der
Poesie‹ als einem ausdifferenzierten Kunstsystem trugen die Wiener Steg-
reifspieler tatsächlich wenig bei. Ihre Kunst folgte zwar Konventionen, nicht
aber Regeln, die eine eigene, modellhafte Wirklichkeit konstituiert hätten;
sie erzeugte keine Illusion, trennte sich nicht vom breiten, ästhetisch nicht
vorgebildeten Publikum und betrieb keine Selbstreflexion qua Poetologie.
Einer finalisierten Literaturgeschichtsschreibung, die verfolgt, wie sich die
für die ›Moderne‹ typische Form literarischer Kommunikation herausbildete,
11 Vgl. Laube, Heinrich: Geschichte der deutschen Literatur. 4 Bde. Stuttgart o. J. [zuerst
1839–40].
12 Vgl. Gervinus, Georg Gottfried: Geschichte der deutschen Dichtung. 5 Bde. Leipzig
41853, Bd. 4, S. 350–357, bes. S. 351: »Nur leider das Beste fehlte: Bildung und
Bildungstrieb. Keine Verordnungen und keine Summen konnten diesen Erbfeind der
rein katholischen Theile von Deutschland tilgen, und so kam es, daß Hamburg und die
kleinen Höfe in Weimar, Gotha und Mannheim wohlthätiger für die deutsche Bühne mit
den kleinsten Mitteln wirkten, als Wien mit den ungeheuersten.« Koberstein, August:
Grundriß der Geschichte der deutschen Nationalliteratur. 5., umgearb. Aufl. von Karl
Bartsch. Leipzig 1872, Bd. 3,1, S. 40f.: »Nach dem siebenjährigen Kriege [...] öffnet
der katholische Süden, vornehmlich Wien [...], sich den Einflüssen der nord- und mit-
teldeutschen Dichtung und geht auf ihre Strebungen thätig mit ein, wenn gleich immer
noch weit hinter deren glänzenden Erfolgen mit den seinigen zurückbleibend.«
13 Fohrmann, Jürgen: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte. Entstehung und
Scheitern einer nationalen Poesiegeschichtsschreibung zwischen Humanismus und
Deutschem Kaiserreich. Stuttgart 1989, S. 145.
14 Vgl. Eibl, Karl: Die Entstehung der Poesie. Frankfurt a. M./Leipzig 1995, S. 57.
Komödienästhetik als Kulturtopographie 269
hat das Wiener Volkstheater wenig zu bieten. Überdies eignet ihm kaum lite-
raturgeschichtliche Dynamik, schon von den eigenen Voraussetzungen her:
Innovation steht nicht im Vordergrund, jedenfalls nicht im Sinne eines Stre-
bens nach ästhetischem oder gesellschaftlichem Fortschritt, wie Gottsched
und die Folgenden es an den Tag legten und wie die Literaturgeschichts-
schreibung es prämiert.
Was die Literarhistoriker des 19. Jahrhunderts nicht integrieren konnten
oder mochten, suchten sie dadurch auszuschließen, daß sie es als »fremdge-
steuert« auswiesen.15 In diesem Sinne schreibt Gervinus das Rangverhältnis
zwischen nord- und süddeutscher Dramatik wie folgt fest:
Als Gottsched die Wiedergeburt des Schauspiels unternahm, hatten in Wien Italiener
die Impresa des deutschen Theaters; und als jener seines Sieges sicher den Hanswurst
in Leipzig vertrieb, verpflanzte Weiskern nach Wien die Burlesken und Hanswurstiaden
zu Hunderten, aus allen Sprachen für den wiener Geschmack zubereitet.16
Immerhin deutet sich hier, trotz doppelt negativer Wertung, an, daß die deut-
sche Komödie des 18. Jahrhunderts zwei Zentren besaß, und daß ihr Verhält-
nis zu fremdnationalen Theaterkulturen sich nicht allein als Emanzipations-
geschichte schreiben läßt. Hier gilt es ›post-kleindeutsch‹ wieder anzusetzen:
mit einer kulturtopographischen Differenzierung innerhalb des deutschen
Sprachraums sowie mit einer Rekonstruktion des transnationalen Bezugssy-
stems komödienästhetischer Referenzen. Was die deutsche Rezeption fremd-
sprachiger Komödien(konzepte) angeht, liegt eine Reihe gründlicher Studien
vor, die die Rekonstruktion jenes Bezugssystems erheblich erleichtern: Wie
»wirkungsmächtig« die »italienische Formtradition« selbst in Norddeutsch-
land war, hat vor allem Walter Hinck herausgearbeitet.17 Die Rezeption des
französischen Lustspiels hat Michel Grimberg dokumentiert und analysiert.18
Bereits Hinck hat auch schon die methodisch entscheidende Blickwendung
vom ›Einfluß‹ (der die Ausgangskultur privilegiert) zur ›Rezeption‹ (deren
Rekonstruktion von der Empfängerkultur ausgeht) vollzogen.19 Auf den
Nord-Süd-Konflikt innerhalb des Reiches sind jene transnationalen Bezüge
bisher jedoch nicht bezogen worden. Vielmehr spielt die Wiener Gattungs-
variante auch in diesen Studien nur eine marginale Rolle.
Von der Gattung Komödie handelt der vorliegende Beitrag nicht bloß als
einem Exempel literarhistoriographischer Eliminierung kulturtopographischer
Differenzen. Vielmehr gehe ich davon aus, daß die literarische Konstruktion
von Räumen prinzipiell von Spezifika der jeweiligen Gattung geprägt ist.
Im Fall der Komödie lassen sich gattungsspezifische Raumbezüge wie folgt
unterscheiden bzw. korrelieren: (1.) Raumbezüge in der Form von Schauplatz-
angaben, (2.) als topographische Semantik des Plots oder Sujets, (3.) durch
Modellierung einer von der Lebenswelt und deren Normen abgesetzten Spiel-
welt sowie (4.) als markierte Herkünfte theaterästhetischer Entlehnungen.
Nicht weiter verfolgen werde ich, in welcher spezifischen Weise der komödi-
antische Schauspieler den Bühnenraum nutzt. Auch in diesem Punkt läßt sich
eine idealtypische Abgrenzung zu anderen Dramengattungen (der Tragödie
und ›Ausgleichsgattungen‹ wie dem ›Schauspiel‹) vornehmen, denn die dyna-
mische, körperbetonte Aktion besonders der Spaßmacher-Figuren markiert
den Bühnenraum, indem sie ihn durchmißt, als unabdingbare Voraussetzung
dramatischer Darstellung. Bei dieser Konstituierung von Räumen handelt es
sich indes um eine theaterästhetische Basisoperation, während kulturtopogra-
phische Markierungen erst durch die zuvor genannten Raumbezüge erfolgen.
1. Was die Lokalisierung der Handlung angeht, so finden wir referentiali-
sierbare Orte weit seltener als in der Tragödie oder in erzählenden Gattungen.
Wie exakt die Angaben einer Komödie zu ihrem Schauplatz auf die erfahr-
bare Welt bezogen sind, richtet sich überwiegend nach den poetologischen
Prinzipien und theaterästhetischen Konventionen der jeweiligen Epoche.20
Dabei fallen die Schauplatzangaben der Komödie (sei es im Paratext nach
den dramatis personae, in Gestalt von Kulissen- und Schauplatzwechseln
in oder zwischen den Akten oder eingeflochten in die Figurenrede, mitunter
auch indirekt durch Dialekt oder Kostüm) regelmäßig vager aus als die ent-
sprechenden Angaben in Tragödien desselben Autors oder derselben Epoche.
Beobachten läßt sich dies am dramatischen Œuvre von Gryphius21 ebenso
wie an Lessing22 oder Gerhart Hauptmann23. Nicht in einem mehr oder weni-
20 Vgl. Pfister, Manfred: Das Drama. Theorie und Analyse. München 51988, S. 345–
347.
21 Vgl. Schleier, Inge: »Die Vollendung des Schauspielers zum Emblem. Zu den ästheti-
schen Grundlagen der Theatersemiotik in der Gryphius-Zeit«. In: Daphnis 28 (1999),
S. 529–561, hier S. 539–543.
22 Unter Lessings Lustspielen beansprucht lediglich Minna von Barnhelm, an einem
realiter erfahrbaren – und überdies allgemein bekannten – Ort zu spielen. Lessings
Trauerspiele enthalten dagegen sämtlich direkte (z.B. Guastalla in Emilia Galotti) oder
indirekte (englische Namen in Miß Sara Sampson) Ortsangaben.
23 Dem naturalistischen Anspruch auf Wirklichkeitsdarstellung entsprechend, spielen
Hauptmanns Lustspiele nicht in einem beliebigen Irgendwo. Nach wie vor jedoch fällt
Komödienästhetik als Kulturtopographie 271
ger weit gefaßten ›Irgendwo‹ spielen lediglich solche Komödien, die für
einen bestimmten Aufführungsort produziert wurden (Paris als Wirkungs-
ort Molières, Leipzig als Wohnort von Autor und Zielpersonen der Schlam-
pampe-Pasquille Christian Reuters); Ähnliches gilt für die vielen Lokalpossen
des 19. Jahrhunderts. Gebrochen wird diese Regel erst von jenen Autoren
der literarischen Moderne, die die traditionellen Gattungen unter gezielter
Verletzung derer Konventionen aufgreifen.24
2. Der relativen Vagheit geographischer Bezüge entspricht die vergleichs-
weise geringe Rolle topographischer Ordnungen bei der Strukturierung und
Semantisierung der Handlung im Sinne Lotmans.25 Da in Komödien der
Schauplatz sowohl seltener wechselt als auch weniger signifikant ist als in
der Tragödie, drückt die Abfolge der Schauplätze kaum je die Antagonismen
und die daraus folgende Bewegung der Handlung aus. In Lohensteins Trau-
erspiel Sophonisbe beispielsweise stellen die beiden Schauplätze des ersten
Akts die Antagonisten an signifikant gegensätzlichen Orten vor – den Bela-
gerer Masanissa in seinem Zelt, die aufs äußerste bedrängte Sophonismus
in einem Tempel –, während der Schauplatzwechsel im zweiten Akt – vom
»innern Platz des Königlichen Palast« zu einem »Kercker« – den Fall des
Königs Syphax veranschaulicht. Dagegen haben die Schauplätze der Komödie
häufig nur die eine Anforderung zu erfüllen, daß sie das mehr oder weniger
zufällige Zusammentreffen unterschiedlicher Figuren ermöglichen (Straße,
Gasthaus, Salon).26
3. Eine spezifische Räumlichkeit ergibt sich hingegen aus der (mehr
oder weniger ausgeprägten, s. dazu VIII.) Gegenweltlichkeit der Komödie,
ihrer normsuspendierenden Feier regelwidrigen Verhaltens bei konventionell
gutem Ausgang: »Der bewußte Austritt aus den Zwängen der Alltagswelt,
die Schauplatzangabe in der Komödie Der Biberpelz vager aus (»irgendwo um Berlin«)
als in der Tragödie Einsame Menschen (»in einem Landhause zu Friedrichshagen bei
Berlin, dessen Garten an den Müggelsee stößt«).
24 So sind die Komödien Hugo von Hofmannsthals recht präzise lokalisiert. Seine »Sze-
nischen Vorschriften zu Elektra« lösen das Stück hingegen aus seinem bekannten grie-
chischen Schauplatz. In Interferenz mit der Ortsangabe Mykene erzeugt die geforderte
orientalisch-ägyptische Szenerie einen topographischen Schwebezustand.
25 Vgl. Lotman (s. Anm. 2), S. 327–340. Eine Ausnahme bilden die ›romantischen‹ Ko-
mödien Shakespeares (z.B. A Midsummer Night’s Dream), deren Schauplatzwechsel
den »Kontrast zwischen einem städtisch-höfischen Zivilisationsbereich einerseits und
der ›grünen Welt‹ eines Naturbereichs andererseits« akzentuieren (Pfister [s. Anm.
20], S. 342).
26 Repräsentativ für die traditionelle Komödie ist die Bestimmung Gottscheds: »Die
Verzierungen der Schaubühne stellen den Ort vor, wo die ganze Fabel gespielet wird;
gemeiniglich ein Bürgerhaus oder eine Gasse der Stadt, da man an beiden Seiten
verschiedene Häuser sieht.« Gottsched, Johann Christoph: »Versuch einer Critischen
Dichtkunst vor die Deutschen« [1730, Auszüge]. In: ders.: Schriften zur Literatur. Hg.
von Horst Steinmetz. Stuttgart 1972, S. 12–196, hier S. 195f.
272 Daniel Fulda
Diss. München 1965; einen Überblick gibt Meyer, Reinhart: »Das französische Theater
in Deutschland«. In: Sauder, Gerhard/Schlobach, Jochen (Hg.): Aufklärungen – Frank-
reich und Deutschland im 18. Jahrhundert. Heidelberg 1985, S. 145–166.
32 Vgl. Gustav Zechmeister: Die Wiener Theater nächst der Burg und nächst dem Kärnt-
nerthor von 1747 bis 1776 (Theatergeschichte Österreichs. Bd. 3: Wien. H. 2). Wien 1971.
33 So mehrfach in Lessings Übersetzung von Chassirons Refl exions sur le Comique-lar-
moyant (in: Lessing, Gotthold Ephraim: Werke. In Zus.arb. mit Karl Eibl [u.a.] hg.
von Herbert G. Göpfert. 8 Bde. Darmstadt 1996, Bd. 5, S. 16–36, hier S. 18 u. 369.
34 Vgl. Gottsched (s. Anm. 26), S. 181–186. Die neuzeitlichen Nationen, deren Komö-
dientraditionen Gottsched mustert, sind Italien, Frankreich, England und Deutschland.
Das Tragödienkapitel der Critischen Dichtkunst enthält keine nationalkulturelle Auf-
fächerung dieser Art.
35 Lessing (s. Anm. 33) Bd. 5, S. 325 (332. Brief, die neueste Literatur betreffend).
Lessing bespricht hier die Versuche über den Charakter und die Werke der besten
274 Daniel Fulda
italienischen Dichter von Johann Nikolaus Meinhard von 1763/64 und erkennt darin
eine »poetische Landkarte«, die zwar »dem ersten Ansehen nach ein Spiel des Witzes
zu sein« scheine, aber »im Grunde genommen mit aller Genauigkeit einer gesunden
Kritik aufgenommen« sei. Meinhard vergleicht die großen Literaturnationen Europas
psychotopographisch: »jemehr sich die Völker dem Süden nähern, mit desto leichterer
Nahrung sich ihre Seelen so wohl als ihre Körper befriedigen. Der Engländer braucht
ohne Zweifel die schwereste und die solideste. Seinem Geschmack ist vielleicht der
unsrige am ähnlichsten. Dem Franzosen ist diese Nahrung zu stark, er muß sie mit
Esprit verdünnen« usw. (Zitat aus Meinhard bei Lessing: ebd.).
36 Vgl. Neuber, Wolfgang: »Poetica confessionis cognitio. Erkenntnisfunktionale Ansät-
ze zu einer induktiven Poetik der Altwiener Volkskomödie.« In: Valentin, Jean-Marie
(Hg.): Das österreichische Volkstheater im europäischen Zusammenhang 1830–1880.
Akten des vom Centre de Recherches Germaniques veranstalteten Kolloquiums De-
zember 1984. Bern [u.a.] 1988, S. 13–31.
37 Um 1750 ist zeitweilig noch ein drittes Land im Spiel, nämlich Dänemark als Wir-
kungsraum Ludvig Holbergs. Holbergs Einfluß auf die deutsche Komödie hat jedoch
kaum ästhetische Bezüge auf sein Land zur Folge. Denn Dänemark interessiert nicht
als literarische oder kulturelle Referenz, sondern als Muster für die auch in Deutschland
angestrebte »Lokalisierung des Komödiengeschehens und -personals in der eigenen
Nation« sowie fürs Aufschließen zu den dominierenden Komödiennationen (Hinck [s.
Anm. 17], S. 199). Allenfalls eine nachgeordnete Rolle spielt im Untersuchungszeit-
raum die englische Referenz (vgl. Anm. 71) – worin sich die Komödie übrigens vom
Trauerspiel unterscheidet, das sich nach dem Muster nicht zuletzt englischer Stücke
zum ›bürgerlichen‹ wandelt.
Komödienästhetik als Kulturtopographie 275
38 Als Fallstudie vgl. Rudin, Bärbel: Venedig im Norden oder: Harlekin und die Buffoni-
sten. »Die Hochfürstl. Braunschw. Lüneb. Wolffenbüttelschen Teutschen Hof-Acteurs«
(1727–1732). Reichenbach i. V. 1997; als Überblick Hinck (s. Anm. 17), S. 76–78.
39 Vgl. Hinck (s. Anm. 17), S. 177–179, 198f., 212f., 251f., 262f., 274.
40 Vgl. Grimberg (s. Anm. 18), S. 87. Grimbergs Graphik weist Wien als Erscheinungsort
von 56 übersetzten Stücken in den 1760er Jahren aus. Im selben Zeitraum ist Leipzig
(oder Leipzig und Frankfurt) nur 28mal Verlagsort. Im Jahrzehnt davor haben Nord- und
Mitteldeutschland dagegen noch ein Übergewicht von über 85 Prozent Marktanteilen.
41 Vgl. Hinck (s. Anm. 17), S. 48, 142f.
42 Vgl. die Nachweise des Herausgebers in J[oseph] A[nton] Stranitzky [Zuschreibung
fraglich]: Ollapatrida des durchgetriebenen Fuchsmundi. Hg. von R[ichard] M[aria]
Werner. Wien 1886, sowie Grimberg (s. Anm. 18), S. 116–126.
43 Vgl. Maurer, Arnold E.: Carlo Goldoni. Seine Komödien und ihre Verbreitung im deut-
schen Sprachraum des 18. Jahrhunderts. Bonn 1982, S. 92f. Für die Jahre 1751–54
hat man elf verschiedene Goldonipremieren gezählt.
44 Hansen, Günther: Formen der Commedia dell’Arte in Deutschland. Hg. von Helmut
Asper. Emsdetten 1984, S. 5.
276 Daniel Fulda
schaft in Mailand, Florenz und Neapel gestützt war und in der Oper noch
unbestrittener zu künstlerischem Ausdruck kam als im Lustspiel). Goldonis
Anliegen freilich war es, die Commedia dell’arte gemäß den ›französischen‹
Prinzipien der Moralität und der Wahrscheinlichkeit zu reformieren!
Umso bezeichnender sind, angesichts solcher Ambivalenzen, die ver-
eindeutigenden Akzentuierungen, die die deutschen Rezipienten so oder so
vornehmen: In Wien wird Goldoni als Vertreter der Stegreiftradition und
Unterstützer des eigenen Komikprimats rezipiert, ja die Übersetzer verstär-
ken noch die entsprechenden Text- bzw. Spielelemente.45 In Nord- und Mit-
teldeutschland hingegen spielt man Goldoni als Reformautor, der sich an
der comédie larmoyante orientiert; hier suchen Übersetzer und Dramaturgen
die noch merklichen Rückstände der Commedia dell’arte zu tilgen.46 Die
Rezeption erfolgt – kann man daraus schließen – hier wie dort nach den
Vorgaben der jeweiligen »Leitkultur«47 (in comicis und darüber hinaus), im
Norden der französischen, im Süden der italienischen. Französische Stücke
aus dem Umkreis des Théâtre italien werden von einer österreichischen
Truppe ›reitalianisiert‹, dramaturgisch und indem die Figurennamen nicht
etwa verdeutscht, sondern durch die aus der Commedia dell’arte vertrauten
Columbina, Pantolpho und Anselmo ersetzt werden.48 Die Auswirkung des
jeweiligen Leitbildes auf die Wahrnehmung kann erheblich sein: Gottsched
beispielsweise lobt einmal ein Dutzend Lustspiele, weil »sie die Regeln der
Critik« erfüllen, obschon einige Harlekinstücke darunter sind – doch sind
es sämtlich französische Stücke!49 Zusammengefaßt: wo realiter Gemenge-
Situationen vorliegen, nimmt der literarische Diskurs Vereindeutigungen vor,
die eine klare Positiv- oder Negativ-Wertung ermöglichen.
Es handelt sich demnach um konstruierte und nationalkulturell50 homo-
genisierte ›Ausländer‹, auf die bezogen der Streit zwischen ›Reform-‹ und
nicht gab. Die Nation galt vielmehr als durch ihre – diskursiv homogenisierte – Kultur
konstituiert.
51 Methodisch liegt dem das Konzept der Kulturtransferforschung zugrunde, die ebenfalls
auf die Funktion von Fremdreferenzen in der Aufnahmekultur abhebt, vgl. Jurt, Joseph:
»Das wissenschaftliche Paradigma des Kulturtransfers«. In: Berger, Günter/Sick, Fran-
ziska (Hg.): Französisch-deutscher Kulturtransfer im Ancien Regime. Tübingen 2002,
S. 15–40. Beim hier gewählten Thema kommt zudem der regionalen Differenzierung
der eben nicht homogenen Nationalkulturen entscheidende Bedeutung zu; eine solche
Differenzierung fordert auch Middell, Matthias: »Kulturtransfer zwischen Sachsen und
Frankreich«. In: ebd., S. 39–57.
52 Gottsched, Johann Christoph: »Vorrede zum ›Sterbenden Cato‹«. In: ders. (s. Anm.
26), S. 197–211, hier S. 199.
278 Daniel Fulda
Die Italiener, wie sie fast durchgehend ein wollüstiges und weichliches Volk sind,
also haben auch ihre Poeten nichts als Roman-Streiche, Betrügereien der Diener und
unendlich viel abgeschmackte Narren-Possen in ihre Komödien gebracht. Harlekin
und Skaramuz sind die ewigen Haupt-Personen ihrer Schau-Bühne: und diese ahmen
nicht die Handlungen des gemeinen Lebens nach, sondern machen Streiche, die einem
nicht so arg träumen könnten. [...] Sie binden sich an keine Einheit der Handlung in
ihren Fabeln. Sie machen Parodien auf die ernsthaftesten Stücke, mitten zwischen
ihren anderen Szenen, und erfüllen alles mit Geistern, Zaubereien und Gespenstern.
[...] Und wenn man in dergleichen Komödien lachet, so ist es nicht über die Torheiten
der darin aufgeführten Personen, sondern über die närrischen Einfälle des Verfassers
solcher Spiele.53
Dagegen haben es »die Franzosen [...] wohl unstreitig, wie in der Tragödie,
also auch in der Komödie am höchsten gebracht. Molière hat seine Stücke
allezeit nach den Regeln und Exempeln der Alten eingerichtet« (es sei denn,
daß er sich, »die italienischen Narrenpossen nachzuahmen,« z.B. mit Les
Fourberies de Scapin, »gar zu tief heruntergelassen hat«).54 In Deutschland
wiederum könne man nur dann »etwas Gescheites vorstellen« sehen, wenn
es »aus Molièren entlehnt oder ganz übersetzet worden«.55 Für die einhei-
mischen Autoren, Schauspieler und Kunstrichter, die »das bisherige Chaos
abzuschaffen« streben, laute daher die Devise, »die deutsche Komödie auf
den Fuß der französischen zu setzen«.56
Gottsched etablierte die »französische Referenz« als »Langzeitphä-
nomen«: »Seine Parteigänger wie seine Gegner« beriefen sich das ganze
mittlere 18. Jahrhundert auf französische Modelle, um damit ihre eigenen
Komödienauffassungen zu legitimieren.57 Selbst ein Theaterpraktiker wie
Johann Christian Krüger, dessen Stücke keineswegs auf die zugkräftigen
Figuren und Handlungsmuster der Commedia dell’arte verzichteten, berief
sich auf »Paris«, als er den Harlekin verteidigte: Während »der verderbte
Geschmack der Italiänischen Bühne ein Ungeheuer hervorgebracht« habe, das
nur »durch Ausschweifungen« reize, hätten »Marivaux, de L‹Isle [Delisle],
Beauchamp[s], Allainval und andre witzige Köpfe in Frankreich« dem Har-
lekin »Natur und gute Eigenschaften« verliehen.58 Der ›italienischen Bühne‹
wird die typischste Figur der Commedia dell’arte hier nur im Sinne eines Gat-
tungsbegriffs, nicht aber kulturtopographisch zugeordnet, denn »die unschul-
digen Einfälle des Arlequin sind in des Marivaux und anderer Franzosen
Italiänischen Stücken allezeit so edel, als die witzigen Unterredungen ihrer
Ritter und Marquisinnen sind.«59 Den französischen Charakter des (seit 1716
Nouveau) Théâtre italien zu betonen heißt, sich eine legitimierte Referenz
zu verschaffen.
Gottscheds theatralisches Engagement war mehr als eine ›Reform‹, näm-
lich der Versuch einer Inbesitznahme: Was teils ein Spiel, teils ein Geschäft
mit dem Vergnügen war, sollte ein von Gelehrten gesteuertes Instrument der
Volkserziehung werden.60 Als Leipziger Professor stand Gottsched außer-
halb des Theaterbetriebs und konnte, abgesehen von zeitweiligen Bündnis-
sen mit einzelnen Wandertruppen, lediglich publizistisch, durch Regelwerke
und Stücksammlungen, Einfluß zu nehmen versuchen. Das Theaterleben in
Wien wurde dagegen erst in der zweiten Jahrhunderthälfte zum Gegenstand
regelnder Eingriffe nach ästhetischen Gesichtspunkten. Entwicklungsimpulse
gingen hier vor allem vom Auftreten neuer Darsteller des Hanswurstes (Stra-
nitzky, Prehauser) oder äquivalenter Figuren aus (der von Joseph Felix von
Kurz gespielte Bernardon, der Kasperl von Johann La Roche),61 kamen also
aus der schauspielerischen Praxis. Dementsprechend geringer ist die Bedeu-
tung diskursiver Positionsbestimmungen,62 auch im Modus kulturtopogra-
phischer Referenzen.
Hinzu kommt, daß das Misch-Prinzip des Wiener Bühnenspiels (Mischung
von Sozialsphären, theatralen Medien, Handlungsmustern und Schauplätzen)
einsinnige Referenzen kaum zuließ. Anschaulich vorgeführt finden wir dies in
einer pantomimischen Szene des Aufs neue begeisterten und belebten Bernar-
don von Kurz (1754). Qua Kostümwechsel verkörpert die Schauspielerin
hier sieben verschiedene »theatralische Charactere«: »Erstlich, ein Tambou-
rin. Zweytens, als Türkin. Drittens, als Barcarollin. Viertens, als Französin.
Fünftens, als Arlequinin. Sechstens, als Scaramutzin, Siebendens, als Hol-
länderin«.63 Immerhin verweisen die beiden Komödienfiguren dieser Reihe
– Harlekin und Scaramuccia/o – auf die Commedia dell’arte. Zudem führen
die Wiener Komödianten schon durch ihr Improvisationsspiel eine kulturto-
pographische Referenz mit. Durch Arien oder auch ein ganzes Zwischenspiel
in italienischer Sprache wird sie immer wieder innerdramatisch markiert64
zur vollen Entfaltung, denn der Österreicher, der das heimische Theater nach
norddeutschem Vorbild reformieren möchte, schaut nicht allein auf die beiden
obligatorischen ›Fremdreferenzen‹, sondern nimmt auch die innerdeutsche
Konkurrenz in den Blick. Da er das erstrebte Nationaltheater für Wien, die
»Hauptstadt Deutschlands«, reklamiert, ist Sonnenfels‹ Allianz mit ›Leip-
zig‹ allerdings von Spannungen zwischen der Anerkennung der ›fremden‹
ästhetischen Normen und eigenem Überlegenheitsgefühl geprägt. Schließ-
lich sei »Leipzig zwar ein ganz artiges Städtchen, aber nur ein Städtchen,
wo der Umgang ebenso klein und also wenig Stoff für Nationalschauspieler
vorhanden ist«.72
72 Ebd., S. 344 (IV,13 = »Ankündigung der neuen Direction des deutschen Theaters«),
101 (II,1). Wien, die größte deutsche Stadt, hatte damals gegen 200.000 Einwohner,
Leipzig nur ca. 25.000. Leipzig produzierte aber auch in der zweiten Hälfte des 18.
Jahrhunderts noch dreimal so viele Bücher wie Wien, vgl. Grimberg (s. Anm. 18),
S. 51.
73 Vgl. Nicolai, Friedrich: Gesammelte Werke. Hg. von Bernhard Fabian u. Marie-Luise
Spieckermann. Bd. 16. Hildesheim/Zürich/New York 1994, S. 560–641. Der Wien
gewidmete Band erschien 1784.
282 Daniel Fulda
Der Schauspiele giebt es in Wien viele, und sie sind für den größten Theil des dortigen
Publikums ein sehr wichtiger Gegenstand. Das Volk in Oestreich liebt den Genuß.
Ich habe schon einmal gesagt, daß es hauptsächlich Panem & Circenses ruft. In Wien
ruft es nur Circenses; denn das Schmausen findet sich daselbst doch genug, und die
gebackenen Hendel, die Cervelat= oder italiänische Salcicciottowürste, und Kipfel
sind bey jedem Schritte im Ueberflusse anzutreffen.74
Stranitzky wird einige Seiten später so vorgestellt, als habe der Begründer
der Wiener Volkskomödie die Hanswurstfigur sowie »eine Menge Scenen und
Entwürfe« unmittelbar »aus Italien« geholt.75 Den positiven Gegenpol würde
dann üblicherweise das französische Theater abgeben. Von Nicolai allerdings
wird es ebenfalls wenig geschätzt; vielmehr betrachtet er die französischen
Schauspieler in Wien als schädliche Konkurrenz der deutschen76. Das für die
Jahrhundertmitte typische kulturtopographische Schema tritt hier nur noch
punktuell in Funktion, nämlich wenn Marivaux und Delisle als »treflichste
Beyspiele« für die gebotene Domestizierung der lustigen Person angeführt
werden.77 Freilich braucht Nicolais Österreichkritik gar keine fremdnationale
Positivfolie, ist der Berliner doch mit der prinzipiellen Überzeugung einer all-
gemeinen Überlegenheit des protestantischen Norddeutschland angereist.78
Der komödienästhetischen Opponierung von Paris/Frankreich und Vene-
dig/Italien entzieht diese Autonomisierung der (nord-)deutschen Kultur und
Literatur ihre orientierende Funktion. Von daher – und weil andere Fremdre-
ferenzen: zunächst Shakespeare, in der Romantik dann Aristophanes hinzutre-
ten – steht Nicolai am Ende des von Gottsched eingeführten kulturtopogra-
phischen Ordnungsmusters. Seiner Bewertung der Wiener Volkskomödie war
gleichwohl eine lange Nachwirkung beschieden: Nicolais Fundamentalkritik
prädisponierte die nationale Literaturgeschichtsschreibung kleindeutschen
Zuschnitts, die die Beschreibung einer Reise denn auch gerne zitierte.79
Der ›Sieg‹ des norddeutschen Komödienkonzepts fand sogar vornehmlich
im ästhetischen und im literaturgeschichtlichen Diskurs statt. Auf den Wiener
Bühnen herrschten weiterhin, wenngleich um die gröbsten Unsittlichkeiten
beschnitten, Spaß und Phantastik. Der Vorhang des Leopoldstädter »Kasperl-
74 Nicolai (s. Anm. 73), S. 560. Auf die »Wollust« der Wiener rekurriert Nicolai wieder-
holt (vgl. S. 192, 630).
75 Nicolai (s. Anm. 73), S. 568–570.
76 Vgl. Nicolai (s. Anm. 73), S. 577, 581, 608.
77 Nicolai (s. Anm. 73), S. 614.
78 Vgl. Nicolai (s. Anm. 73), S. 565 Anm.
79 Vgl. Koberstein (s. Anm. 12), Bd. 3,1, S. 41 Anm. 8. Zur Polarisierung nicht nur der
beiden deutschen Mächte Preußen und Österreich, sondern auch ihrer literarischen
Kulturen in den 1770er und 1780er Jahren vgl. Franz M. Eybl: »Patriotismusdebatte
und Gelehrtenrepublik. Kulturwissenschaftliche Forschungsfelder im Problembereich
nationaler Identitätsbildung.« In: Klueting, Harm/Schmale, Wolfgang (Hg.): Das Reich
und seine Territorialstaaten im 17. und 18. Jahrhundert. Aspekte des Mit-, Neben- und
Gegeneinander. Münster 2004, S. 149–162.
Komödienästhetik als Kulturtopographie 283
theaters«, der Heimatbühne der neuen komischen Figur der 1780er Jahre,
faßt die Diskrepanz zwischen Diskurs und Praxis ins allegorische Bild: Auf
der linken Seite
sizt Hanswurst mit schwarzen Flor behangen, und betrauert seine Verbannung vom
Teater. Weiter in der Mitte des Vorhangs, tanzen die Karaktere des wälschen Teaters,
Skapin, Pierott, Harlekin und Doktore einen Reihen Tanz, aber an Hand und Füssen
mit Ketten gebunden [...]. Auf der rechten Seite sieht man den Parnas mit einem
Schlagbaum, den ein grämischer, pedantischer Kunstrichter mit einer großen Rute
bewacht, und jenen Spasmachern, den Eingang auf dem Parnas verweigert. Indessen
färt Kasperle von Talien [Thalia] begleitet oben in den Lüften auf einem geflügelten
Wagen, dem grämischen Kunstrichter zum Troz, den Parnas hinauf; was ihm denn
jeder gern vergönt, der billig ist, lebt, und leben läst.80
80 Schink, Johann Friedrich: Dramatische und andere Skizzen nebst Briefen über das
Theaterwesen zu Wien. Wien 1783, S. 127f., zit. nach Zeman, Herbert: »Die Alt-Wie-
ner Volkskomödie des 18. und frühen 19. Jahrhunderts – ein gattungsgeschichtlicher
Versuch.« In: ders. (Hg. unter Mitw. von Fritz Peter Knapp): Die österreichische
Literatur. Ihr Profi l von den Anfängen bis ins 18. Jahrhundert (1050–1750). Teil 2.
Graz 1986, S. 1299–1333, hier S. 1314.
81 Müller-Kampel, Beatrix: »Hanswurst, Bernardon, Kasperl. Österreichische Gegenent-
würfe zum norddeutsch-protestantischen Aufklärungsparadigma«. In: Schmidt-Deng-
ler, Wendelin/Sonnleitner, Johann/Zeyringer, Klaus (Hg.): Komik in der österreichi-
schen Literatur. Berlin 1996, S. 33–55, hier S. 48.
82 Diesem Befund einer strukturellen Unfähigkeit zur Offensive widerspricht der Un-
tertitel des Aufsatzes von Beatrice Müller-Kampel (vgl. Anm. 81), der das Wiener
Volkstheater als eine Folge von ›Gegenentwürfen zum norddeutsch-protestantischen
Aufklärungsparadigma‹ charakterisiert. Die planmäßige Opposition, die das impliziert,
weist der Aufsatz jedoch nicht nach.
83 Das ändert sich erst mit den Romantikern, die die »Masken der Commedia dell’arte
gerade als das [schätzten], als was Gottsched sie gesehen und verurteilt hatte: als Ge-
schöpfe ›einer unordentlichen Einbildungskraft‹, die ›kein Muster in der Natur haben‹,
284 Daniel Fulda
als Produkte einer ins Phantastische ausgreifenden Imagination« (Hinck [s. Anm. 17],
S. 390).
84 Die Abgrenzung von Josef Nadlers biologistischer Regionalisierung der Literatur-
geschichte kann aufgrund dieser konstruktivistischen Prämisse sehr knapp gehalten
werden: Während Nadler nicht nur eine räumliche, sondern eine ›Stammes‹-Gliederung
voraussetzt, rekonstruiere ich kulturtopographische Ordnungsmuster im ästhetisch-lite-
rarischen Diskurs. Als ausführlichere Nadler-Kritik – die den Verfasser aber »beinahe
schon ritualistisch anmute[t]« – vgl. Böhler, Michael: »Eindimensionale Literatur.
Zur Raumlosigkeit der Sozialgeschichte«. In: Huber, Martin/Lauer, Gerhard: Nach
der Sozialgeschichte. Konzepte für eine Literaturwissenschaft zwischen Historischer
Anthropologie, Kulturgeschichte und Medientheorie. Tübingen 2000, S. 129–153, hier
S. 139.
85 Certeau, Michel de: Kunst des Handelns. A. d. Frz. übers. von Ronald Voullié. Berlin
1988, S. 218 u. 217. Dieselben Begriffe verwendet Marc Augé, allerdings mit umge-
kehrter Zuordnung, weil espace das abstraktere Raumkonzept bezeichne: »Der Aus-
druck ›Raum‹ (espace) ist in sich abstrakter als der Ausdruck ›Ort‹ (lieu), der sich zu-
mindest auf ein Ereignis stützt (das stattgefunden hat – qui a eu lieu), auf einen Mythos
(einen Flurnamen – lieu-dit) oder auf eine Geschichte (einen Schauplatz der Geschichte
– haut lieu).« (Augé, Marc: Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethno-
logie der Einsamkeit. A. d. Frz. von Michael Bischoff. Frankfurt a. M. 1994, S. 98.)
86 Augé: ebd., S. 92; vgl. de Certeau (s. Anm. 85), S. 218: »Im Verhältnis zum Ort wäre
der Raum ein Wort, das ausgesprochen wird«.
Komödienästhetik als Kulturtopographie 285
Zuschreibungen, sofern sie von einem der anderen Orte aus erfolgten. Bei-
spielsweise darf die französische Referenz des Komödiendiskurses weder mit
einem Bild von Frankreich verwechselt werden, das ein Geograph entwerfen
würde, noch handelt es sich um eine vom außerliterarischen Raum unabhän-
gige Zuschreibung, zugespitzt: um ein katalogartiges Bündel ästhetischer
Optionen mit lediglich einem geographischen Namen als Chiffre. Denn der
legitimatorische Bezug etwa auf ›Paris‹ führt konstitutiv ein Wissen vom
ganzen Land mit sich, von seiner politischen und gesellschaftlichen Verfas-
sung, seiner zentralistischen Organisation usw.
Da es nicht um eine geographische Kartierung geht, ist es nur von nach-
geordneter Bedeutung, ob die komödienästhetische Referenz über die vier
Städtenamen, über andere Toponyme oder über indirekte Hinweise wie den
Gebrauch des Italienischen als zeitweilige Dramensprache erfolgt. Gleiches
Gewicht im Komödiendiskurs haben die vier Toponyme Venedig, Wien,
Paris und Leipzig ohnehin nicht: Während Paris’ metonymische Stellvertre-
terschaft für das französische Theater unbestritten war, konnte die Referenz
auf Leipzig durch Berlin87 oder Hamburg88 ersetzt werden. War die Tradition
des Stegreiftheaters gemeint, so fungierte das ganze Land Italien häufiger
als Referenzmarke als die einer Stadt Venedig, die ihre Vorzugsstellung als
Ursprungsort der Commedia dell’arte mit deren Ausbreitung einbüßte: Nach
Deutschland kam die Commedia dell’arte häufig über Paris – um dann je nach
Leitbild als ›italienisch‹ oder ›französisch‹ rezipiert zu werden! Maßgeblich
für das diskursive Gewicht des Städtenamens ist offensichtlich der Grad der
allgemeinkulturellen und – gesellschaftlichen Zentralisierung im jeweiligen
Land(esteil) – was im einzelnen zu untersuchen wieder eine Aufgabe der
Kulturtopographie wäre.
Raum als forschungsleitende Kategorie hat im skizzierten Gegenstands-
feld den Vorteil, daß er Situationen des Nebeneinanders als Regelfall ansetzt,
während temporale Ordnungsmuster nach vorher und nachher und damit
meist nach zurückgeblieben und fortschrittlich sortieren. Die geschichtliche
Perspektive ganz aufzugeben, fordern raumbezogene Betrachtungsweisen
jedoch nicht.89 Als Kategorie, die im Modus des Nebeneinanders denken läßt,
87 Vgl. die Briefstelle bei Lessing: »Wien mag sein wie es will, der deutschen Literatur
verspreche ich doch [die Ausgabe von Paul Rilla emendiert ›dort‹, D.F.] immer noch
mehr Glück, als in Eurem französierten Berlin« (Brief vom 25. 8. 1769 an Friedrich
Nicolai. In: Lessing, Gotthold Ephraim: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 11,1:
Briefe von und an Lessing. 1743–1770. Hg. von Helmuth Kiesel u. Mitw. von Georg
Braungart u. Klaus Fischer. Frankfurt a. M. 1987, S. 622).
88 Vgl. Nicolais wiederholte Referenzen auf das Hamburger Nationaltheaterprojekt, Les-
sings Hamburgische Dramaturgie sowie die vorbildlichen Hamburger Schauspieler
von Ekhof bis Schröder (Beschreibung einer Reise [s. Anm. 74], S. 581, 586, 589).
89 In der Geschichtswissenschaft hat der spatial turn bisher sogar weitere Resonanz ge-
funden als in den Philologien. Karl Schlögel hebt dabei, am Benjaminschen Flaneur
286 Daniel Fulda
könnte der Raum einen solchen Absolutheitsanspruch nur um den Preis des
Selbstwiderspruchs erheben. Zudem wäre es vorschnell, allein dem histo-
rischen Denken eine Neigung zu Ausschlüssen im Dienste teleologischer
Homogenisierung anzulasten. Im Gegenstandsbereich unserer Untersuchung,
dem Komödiendiskurs des 18. Jahrhunderts, war es vielmehr ein raumbilden-
des Diskursmuster, das als Ausschlußmechanismus funktionierte. Allein eine
literaturgeschichtliche Perspektive wiederum hat die Chance, die »Ungleich-
zeitigkeit«90 der divergierenden Komödienideale Nord- und Süddeutschlands
in den Blick zu bekommen. Mit dieser Ungleichzeitigkeit scheint die Durch-
schlagskraft des kulturtopographischen Diskurses aufs engste verflochten
zu sein: Zum einen ›wirkte‹ die Gegenüberstellung von französischer und
italienischer Referenz augenscheinlich deswegen, weil damit ein Moder-
nitätsgefälle ins Feld geführt wurde.91 Zum anderen nahm die kulturtopo-
graphische Strukturierung des Komödiendiskurses selbst Zuschreibungen
von Fortschrittlichkeit und Rückständigkeit vor. Dieser Wechselwirkung von
Raum- und Zeitkategorien wäre weiter nachzugehen.
Ebensowenig geboten ist der Verzicht auf Gattungen als Strukturbedin-
gungen literarischer Kommunikation. Das beschriebene mapping ergab sich
vielmehr erst durch den Konflikt verschiedener Gattungsvarianten: Kulturto-
pographisch gegeneinandergestellt wurden die komischen Bühnenspiele von
Venedig und Paris, Wien und Leipzig, weil ein gemeinsamer Gattungsname
sie verband. Gattungszusammenhänge scheinen mir überdies einen sinnvollen
Ansatzpunkt für methodisch ähnliche Untersuchungen in anderen Problembe-
reichen der Literaturgeschichte zu bieten. Kulturtopographische Diskursmu-
ster zu rekonstruieren könnte z.B. eine zentrale Frage in der Geschichte des
historischen Romans klären helfen. Diese gemeineuropäische Gattung wird
traditionell von einem Autor, Sir Walter Scott, hergeleitet. Dagegen hat Fabian
Lampart kürzlich »mehrfache Anfänge« der Gattung in vier verschiedenen
Ländern herausgearbeitet, nämlich – außer bei Scott – bei Alfred de Vigny,
bei Alessandro Manzoni sowie bei Achim von Arnim.92 Ob der historische
Roman sich als relativ geschlossene Gattung oder im Wechselspiel varian-
ter Poetiken entwickelte, dürfte nun wesentlich davon abhängen, wie die
ursprüngliche Diversivität im weiteren Gattungsdiskurs zur Geltung kam. Die
nationale Auffaltung jener ›Anfänge‹ legt diesbezüglich die Frage nahe, ob
etwa kulturtopographische Muster diesen Diskurs reguliert haben.93
92 Lampart, Fabian: Zeit und Geschichte. Die mehrfachen Anfänge des historischen Ro-
mans bei Scott, Arnim, Vigny und Manzoni. Würzburg 2002.
93 So spielen kulturtopographische Motive in Goethes Bemerkungen über Manzoni, Scott
sowie die Scott-Rezeption in Frankreich eine gewisse Rolle, vgl. Eckermanns Gesprä-
che mit Goethe vom 18. und 21. 7. 1827 und vom 9. 3. 1831.
94 Vorrede Gottlieb Konrad Pfeffels zu seiner Übersetzung von Dampierre de La Salles
Le Bienfait rendu ou Le Négociant (1770), zit. nach Grimberg (s. Anm. 18), S. 200.
288 Daniel Fulda
Komödie nach Deutschland, »so war meine vornehmste Absicht, der Regel
der Wahrscheinlichkeit getreu zu bleiben«.95 Für Übersetzungen folgt dar-
aus, wenn möglich »die Scene nach Deutschland zu verlegen«, und zwar
unter Beachtung nationalkultureller und -geographischer Besonderheiten.96
Idealerweise also überschneiden sich der theatralisch dargestellte Raum und
der Raum, in dem diese Darstellung stattfindet. Wohl läßt sich die angestrebte
Lokalisierung im Lebensraum der Zuschauer nicht immer als geographische
Nähe realisieren, etwa wenn die »Handlung einen Seestaat und Colonien
voraussetzt«; besser als eine Verlegung nach »Hamburg oder Lübeck« ist
dann ein Ausweichen nach England, damit der fiktionale Raum wenigstens
als der Realität entsprechend erscheint.97
In die ›eigene Welt‹ eingefügt – die eben nicht die gesamte Welt umfaßt,
sondern sozial und kulturell umgrenzte Räume – wird die Komödienhand-
lung zudem insofern, als sie zunehmend als handlungspraktisches Modell
des realen Lebens begriffen wird. Die Figuren verlieren ihre normativen
Freiräume, sie handeln psychologisch nachvollziehbar98 und gehen bürger-
lichen Berufen nach. Auf das eigene Leben soll das Publikum nicht nur
Gottscheds ›moralischen Satz‹ beziehen; eine offensichtliche Heterotopie
der dramatischen Handlungen, die ihn illustrieren, wird nicht mehr akzep-
tiert. Gattungsgeschichtlich führt diese Tendenz zum Aufgehen der (nord-
und mitteldeutschen) Komödie im ›bürgerlichen Schauspiel‹. Heterotopische
Gegenweltlichkeit eignet diesem Dramentyp nicht mehr.
Dagegen bleibt das Wiener Volkstheater von der doppelten Gegenweltlich-
keit einerseits des Normwidrigen, andererseits des über- oder unterweltlich
Phantastischen geprägt. Vom Fortleben der normativ lizensierten komischen
Figur war bereits die Rede. Von der nord- und mitteldeutschen, ja gemein-
europäischen Gattungsentwicklung trennte sich die Wiener Volkskomödie
zudem durch ihre Bühnengestaltung. Weit entfernt von der Indifferenz der
Straßen und Stuben, in denen die Komödie herkömmlich spielt (s. o. III.2.),
betreiben die Wiener Theater maximalen szenischen Aufwand: eine Wildnis,
Schiffe auf dem Meer, Festsäle, Feenschlösser und Höllengrotten, häufig
95 Vorrede zu seiner Übersetzung von Marivaux’ L’Isle des esclaves (1765), zit. nach
Grimberg (s. Anm. 18), S. 127. Den antiken Stoff in den Kostümen des Nouveau
Théâtre italien verlegt Pfeffel deshalb auf eine Indianerinsel, auf der ein englisches
Paar landet. Vgl. Grimberg: La Réception de la comédie française (s. Anm. 18),
S. 161–169.
96 Vorrede Pfeffels zu seiner Übersetzung von Marins Julie ou le Triomphe de l’amitié
(1767), zit. nach Grimberg (s. Anm. 18), S. 167, vgl. ebd., S. 170. In seiner Überset-
zung des Bienfait rendu läßt Pfeffel die Kaufmannsfigur daher aus Hamburg statt aus
Bordeaux kommen.
97 Vgl. Anm. 96, S. 167.
98 Auch in diesem Sinne ›verbessern‹ Pfeffels Übersetzungen ihre Vorlagen, vgl. Grim-
berg (s. Anm. 18), S. 200–202.
Komödienästhetik als Kulturtopographie 289
99 Vgl. Müller-Kampel (s. Anm. 61), S. 64–72. Vorbereitet ist der fleißige Einsatz von
Kulissentechnik und Bühnenmaschinerie in der ›phantastischen‹ Variante der Com-
media dell’arte, vgl. Hinck (s. Anm. 17), S. 19.
100 Vgl. Müller-Kampel (s. Anm. 81), S. 38.
290 Daniel Fulda
Restringierung von Figuren und Handlung ebenso wie mit der Einfügung der
Schauplätze in den Zuschauerhorizont.
Die Räume, die die Reformer schaffen, sind ›eng‹ – zumal im Vergleich
mit der weiten Welt der Wiener Volkskomödie, deren Schauplätze sogar
Über- und Unterwelt umfassen und die die Gegenweltlichkeit der Komödie
bewahrt.101 Wo aber die Welt so weit ist, daß die Maxime eines Leben-
und-leben-lassens gilt (erinnert sei an die Beschreibung des Leopoldstädter
Vorhangs), da besteht auch weniger Anlaß, kulturtopographische Referen-
zen zu agonalisieren. Insofern entsprechen komödische Raumentwürfe und
Positionierung auf der europäischen Literaturlandkarte einander – in Leipzig
ebenso wie, unter umgekehrten Vorzeichen, in Wien.
101 Auf die kulturelle, insbesondere konfessionelle Bedingtheit der mentalen Raumver-
engung in Norddeutschland und der räumlich weiteren Weltvorstellungen im Süden
kann ich hier nicht näher eingehen, vgl. dazu Verf.: Schau-Spiele des Geldes. Die
Komödie und die Entstehung der Marktgesellschaft von Shakespeare bis Lessing.
Tübingen 2005, S. 366–372.
Tragische Topographien. Zur deutschen Novellistik des 17. Jahrhunderts 291
Tragische Topographien
Zur deutschen Novellistik des 17. Jahrhunderts
im europäischen Kontext
(Camus, Harsdörffer, Rosset, Zeiller)
Der Weg ›nach Deutschland‹ führt weitgehend über ›Umwege‹, die jedoch
›kulturellen Hauptverkehrswegen‹ entsprechen dürften, hier von der Tos-
kana der Renaissance über das frühneuzeitliche Frankreich (mit Paris als
kulturellem Zentrum sowie Lyon und Paris als bedeutende Druckorte) zu
unterschiedlichen Regionen des zersplitterten deutschen Reichs – selbst die
Rezeption spanischer Novellen der Zeit scheinen nicht selten den Weg über
Frankreich genommen zu haben, z.B. über die Cervantes-Übersetzungen
François de Rossets. Insgesamt jedoch sind Orte und Ortswechsel selten
292 Ingo Breuer
konkret zu benennen, was nicht zuletzt aus der Heterogenität des Mate-
rials resultieren dürfte: Noch Boccaccios Decamerone enthielt ein weites
Spektrum von Kurzprosa mit mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Ele-
menten:1 mittelalterliche Schwänke, »das religiös-moralische Exemplum,
die Anekdote aus Troubadorvita oder Chronik, den märchenartigen Lai, das
derb-komische Fabliau usw.«, die Boccaccio durch eine Neugestaltung »für
eine anspruchsvollere Dichtung [...] verfügbar zu machen« versuchte, indem
er beispielsweise »das Ereignishafte, das Historische und die Wissensge-
halte« auf Kosten »des Primats der allegorischen und der exempelhaften
Bedeutung« aufwertete und in eine ›urbane‹ Konversation der ragione und
onestà einbettete.2 Hieraus dürfte sich auch die Vorbildfunktion für Baldas-
sare Castigliones Libro del Cortegiano erklären, der die Gesprächsform als
Muster ›höflicher‹ Konversation aufgriff, dem spätere Moralisten und Kon-
versationstheoretiker folgen,3 so daß – vereinfacht formuliert – die urbanità
Boccaccios zum Modell höfischer (und dann wieder auch bürgerlicher) con-
duite wird, sich also die Topographien der Geschichten zwischen Stadt und
Hof sowie zwischen Natur- und Kulturraum mehrfach verschieben:4 Im 17.
Jahrhundert entsteht aus Boccaccios ländlichem Geschichtenerzählen eine
(›Salon‹-) Kultur der ›Gesprächsspiele‹, in der z.B. zeitgleich bei Charles
Sorel und Georg Philipp Harsdörffer die ›Novelle‹ mit Bildprogrammen,
Raum- und Wissensordnungen kontextualisiert wird.
Dem zur Seite stehen weitere bisher kaum in der germanistischen For-
schung berücksichtigte ›Ortswechsel‹ der novelle, die sich ebenfalls den
›Gesprächsspielen‹ annähern können: Matteo Bandello verzichtete bei sei-
1 Vgl. hierzu und zum folgenden Stillers, Rainer: »Trecento«. In: Kapp, Volker (Hg.):
Italienische Literaturgeschichte. Stuttgart/Weimar 1992, S. 30–87, zu Boccaccio S. 70–
83. Gerade diese mittelalterlichen Schwänke wurden u.a. wegen ihrer ›Sinnenfülle‹
und Kleruskritik lange Zeit fälschlicherweise als ›modern‹ angesehen (vgl. S. 79).
2 Stillers (s. Anm. 1), Zitate S. 80, 82. – Zu ›Wegen‹ der Novellistik vgl. Haslinger,
Adolf: »Vom Humanismus zum Barock«. In: Polheim, Karl Konrad (Hg.): Handbuch
der deutschen Erzählung. Düsseldorf 1981, S. 37–55, 560–564. Er unterscheidet im
Gefolge von Boccaccio und Bandello eine »Weiterführung der deutschen Exempel- und
Schwankliteratur«, eine »Übernahme der europäischen Erzähl- und Novellenliteratur
der Renaissance« und eine »Aufnahme der erzählerischen Kleinform (Erzählung, No-
velle) in die erzählerischen Großformen (Roman, Novellenzyklus)« (S. 40).
3 Vgl. exemplarisch Kapp, Volker: »Cinquecento«. In: ders. (s. Anm. 1), S. 116–173,
hier S. 169; Hinz, Manfred: Rhetorische Strategien des Hofmannes. Studien zu den
italienischen Hofmannstraktaten des 16. und 17. Jahrhunderts. Stuttgart 1992, S. 197,
200, 310–312, 323, 365.
4 Das Decamerone diente auch als Steinbruch für Geschichten, z.B. für die Schwank-
sammlungen, die eher im ›Bürgerlichen‹ anzusiedeln sein dürften. Gerade diese Ver-
wertung von Boccaccios Werk begründete dessen Ruf als ›obszön‹. Vgl. hierzu Hirdt,
Willi: »Boccaccio und die deutsche Kurzprosa des 16. Jahrhunderts«. In: Polheim (s.
Anm. 2), S. 28–36, 559f.
Tragische Topographien. Zur deutschen Novellistik des 17. Jahrhunderts 293
aber mit dem Andern Theil/ [...] vermehrt worden/ Durch MARTINVM ZEILLERVM
Styrum. Linz 1624; [Diess.:] Franc. D. Rosset THEATRVM TRAGICVM oder Wun-
derlich vnd Traurige Geschichten. IIII. Editio. [...] Vermehrt durch Martin Zeillerum
Styrum. Tübingen 1634; [Diess.:] Herrn Frantzen von Rosset Wünderlich vmd trawrige
Geschichten. Durch Martin Zeillern auss dem Frantzösischen verteütscht vnd sonsten
vilfaltig vermehrt, der sibende Nachtruck. Ulm 1655; zur Druckgeschichte vgl. darin
die »Dedication« des Verlegers Johann Görlin auf S. iir–vijr. – Bibliographisch nach-
weisbar waren mir bisher Ausgaben mit Verlagsorten in Linz (11622, 21624*, 1634),
Tübingen (31628, 41634*), Danzig (51628, 51640), Rostock (51639), Köln (1647) und
Ulm (61648, 71655*, 81672). Angaben mit Auflage (laut Angabe im Band); Nachweise
per Autopsie (Asterisk) bzw. nach KVK und VD17. Angeblich existierten sogar 23
Ausgaben; vgl. Faber du Faur, Curt: German Baroque Literature. Vol. I. New Haven
1958, S. 179.
12 Harsdörffer, Georg Philipp: Der Grosse Schau-Platz jämmerlicher Mord-Geschichte.
Reprint der Ausgabe Hamburg 1656. Hildesheim, New York 1975. Weitere Ausgaben:
Hamburg 1649/1650 und 1650–1652 (jeweils in 4 Lieferungen), 1662, 1666, 1678
sowie Frankfurt am Main/Hamburg 1693 und 1713. Angaben nach Dünnhaupt: Perso-
nalbibliographien (s. Anm. 7), Teil 3, S. 1999–2005. Dieser Titel wird im folgenden
mit der Sigle JMG (mit Angabe des Teils) nachgewiesen.
13 Vgl. Schenda, Rudolf: »Jämmerliche Mordgeschichte. Harsdörffer, Huber, Zeiller
und französische Tragica des 16. und 17. Jahrhunderts«. In: Kramer, Karl u.a. (Hg.):
Volkskultur – Geschichte – Region. Festschrift für Wolfgang Brückner zum 60. Ge-
burtstag. Würzburg 21992, S. 530–551; Ders.: »Mordgeschichten«. In: Enzyklopädie
des Märchens. Hg. von Brednich, Rolf Wilhelm u.a., Band 9, Berlin/New York 1999,
Sp. 879–893. In diesem Nachschlagewerk finden sich auch Artikel über viele der
hier besprochenen Autoren. – In der germanistischen Forschung hat diese Gattung
wenig Aufmerksamkeit gefunden. Vgl. jedoch Lugowski, Clemens: Wirklichkeit und
Dichtung. Untersuchung zur Wirklichkeitsauffassung Heinrich von Kleists. Frankfurt
a.M. 1936, S. 26–32 (zu Rosset); Wiedemann, Conrad: »Vorspiel der Anthologie. Kon-
struktive, repräsentative und anthologische Sammelformen in der deutschen Literatur
des 17. Jahrhunderts«. In: Bark, Joachim/Pforte, Dietger (Hg.): Die deutschsprachige
Anthologie. Bd. 2: Studien zu ihrer Geschichte und Wirkungsform. Frankfurt a.M 1969,
S. 1–47, v.a. S. 19–33; Brückner, Wolfgang: »Historien und Historie. Erzählliteratur des
16. und 17. Jahrhunderts als Forschungsaufgabe«. In: Ders. (Hg.): Volkserzählung und
Reformation. Ein Handbuch zur Tradierung und Funktion von Erzählstoffen und Er-
zählliteratur im Protestantismus. Berlin 1974, S. 13–123; Kühlmann, Wilhelm: »Lek-
türe für Bürger: Eigenart und Vermittlungsfunktion der polyhistorischen Reihenwerke
Martin Zeillers (1589–1661)«. In: Brückner, Wolfgang u.a. (Hg.): Literatur und Volk
im 17. Jahrhundert. Probleme populärer Kultur in Deutschland. 2 Bde. Wiesbaden
1985, Bd. 2, S. 917–942; Theiss, Winfried: »Nur die Narren und Halßstarrigen die
Rechtsgelehrte ernehren ... Zur Soziologie der Figuren und Normen in G. Ph. Hars-
dörffers Schauplatz-Anthologien von 1650«. In: Ebd., S. 899–916; siehe v.a. auch die
»Beiträge zum Wolfenbüttler Arbeitsgespräch Barocke Erzählsammlungen« in: Sim-
pliciana 1999, S. 11–258. – In der Grimmelshausenforschung sind diese Werke seit
längerem bekannt; vgl. Weydt (s. Anm. 7), v.a. S. 47–187, 432–440; Battafarano, Italo
Michele: »Paolo Grillando, François de Rosset, Martin Zeiller, Grimmelshausen: Die
Tragische Topographien. Zur deutschen Novellistik des 17. Jahrhunderts 295
24 Genaue Angaben auch zum folgenden in Anm. 7, 11, 12, 14. – Ein unauthorisierter
Druck von Zeillers Bearbeitung von Rossets Histoires tragiques erschien 1647 in der
streng katholischen Reichsstadt Köln mit einem starken Bürgertum und einem Umland,
in dem der Protestantismus noch recht verbreitet war. Als Standorte heute verbliebe-
ner Exemplare sind die Landesbibliothek Gotha und die Bayrische Staatsbibliothek
nachweisbar.
25 Vgl. Brunner, Walter: Martin Zeiller 1589–1661. Ein Gelehrtenleben. Graz 1990,
S. 46–71. Zur Druckgeschichte vgl. Johann Görlins »Dedication« in der Ausgabe von
1655 (s. Anm.11), hier S. ):(iiijr–vr. Der laut Görlin unauthorisierte Druck im prote-
stantischen Danzig durch den umtriebigen Verleger und Buchhändler Andreas Hünefeld
erschien 1628 und 1640.
26 Die französische und deutsche Version von Rossets Text ist u.a. in Halle, Stuttgart
und Weimar nachweisbar. – Das deutschsprachige Exemplar in der germanistischen
Institutsbibliothek der Universität zu Köln war zuvor im Besitz von »Ioannes Georgius
Liber. Baro a Pichelstorff et Altenbvrg«; Altenburg lag im Herzogtum Berg mit einem
protestantischen Bevölkerungsanteil von über einem Drittel. Das französischsprachi-
ge Exemplar in der Stadt- und Universitätsbibliothek Köln stammt hingegen aus der
Kölner Bibliothek des Jesuitenordens.
298 Ingo Breuer
figen Raum- und Wissensordnungen, Text- und Bildsystemen als erste, z.T.
bereits explizite Versuche einer ›Poetik der Novelle‹. Dabei legte gerade das
partielle Scheitern solcher Versuche den Grundstein für eine Loslösung von
naturkundlichen und religiösen Begründungszusammenhängen.27
François de Rosset leitete die 15. Geschichte seiner Histoires tragiques mit
dem Hinweis auf das Erscheinen von Monstrositäten und göttlichen Wunder-
zeichen in Frankreich ein: »Est-il possible que ce siècle soit si maudit et si
exécrable, qu’il produise des monstres que l’Afrique aurait honte d’avouer?
Je crois que c’est l’égout des autres siècles et l’infâme théâtre où tous les
vices jouent leur personnage et où les fureurs exercent leur plus grande for-
cenerie. O France! autrefois mère de pieté et de religion, et maintenant de
tant d’horreur et de prodiges!«28 Zur folgenden Geschichte vermerkt Rosset
analog: »Voici une histoire non moins véritable qu’horrible et exécrable.
Elle se présente sur le théâtre, au grand déshonneur des chrétiens, parmi
lesquels on trouve des monstres qui donnent sujet à ma plume de la décrire
en cette sorte.«29 Und bereits in der 7. Geschichte heißt es: »Il ne faut plus
aller en Afrique pour y voir quelque nouveau monstre. Notre Europe n’en
produit que trop aujourd’hui.«30 Für Rosset werden Frankreich und Europa
und damit seine Histoires tragiques über die dortigen Ereignisse zu einer
Kuriositätensammlung und Wunderkammer31 mit Monstrositäten, wie sie den
zeitgenössischen Vorstellungen zufolge vor allem in fernen Ländern Ameri-
kas, Asiens und Afrikas vermutet werden.
27 ›Novellen‹ können selbstverständlich weiterhin eine enge Verbindung z.B. mit den
Naturwissenschaften behalten; für zwei Beispiele der frühen Moderne vgl. Breuer,
Ingo/Kassung, Christian: »Poetologie und Epistemologie in Robert Musils Die Amsel«.
In Busch, Walter/Breuer, Ingo/Kassung, Christian (Hg.): Robert Musils Die Amsel.
Kritische Lektüren, Materialien aus dem Nachlaß. Wien 2000, S. 95–130; Breuer, In-
go: »Kafkas Versicherungen. Wahrscheinlichkeit, Kontingenz und Kalkül im Bericht
für eine Akademie«. In: Franz Kafkas Der Landarzt. Studien und Lektüren. Hg. von
Elmar Locher u.a. Bozen, Innsbruck, Wien 2004 (im Druck).
28 Rosset (s. Anm. 12), S. 338 (Histoire XV).
29 Rosset (s. Anm. 12), 353 (Histoire XVI).
30 Rosset (s. Anm. 12), S. 207 (Histoire VII).
31 Vgl. auch: Ferraris, Francesca: »Exotismus und Intertextualität. Die Literarische Ku-
riositätensammlung«. In: Kühlmann, Wilhelm/Neuber, Wolfgang (Hg.): Intertextualität
in der Frühen Neuzeit. Studien zu ihren theoretischen und praktischen Perspektiven.
Frankfurt a.M. u.a. 1994, S. 465–484.
Tragische Topographien. Zur deutschen Novellistik des 17. Jahrhunderts 299
gemacht werden. In der Analogisierung der Religion mit der Naturkunde und
mit Wunderkammern erhält die Erzählsammlung selbst eine räumliche Qua-
lität: als ›moralische Geisterbahn‹, die zu durchqueren ist, um die äußeren
Schreckbilder in innere Gedächtnisbilder zu transformieren.
In der deutschen Übertragung Rossets verschiebt sich die Raumkonzep-
tion leicht: Martin Zeiller übersetzt die Passagen, in denen von Monstern die
Rede ist, nicht; stattdessen erscheinen mehrere Auflagen unter dem ›Zweit-
Titel‹ Theatrum Tragicum49 (was für die Titelgebung von Harsdörffers beiden
Schauplatz-Sammlungen von Einfluß gewesen sein dürfte50) und verspricht
beispielsweise die Tübinger Ausgabe von 1634 im Untertitel »Wunderlich vnd
Traurige Geschichten«.51 Wie im wenig später erscheinenden, höchst erfolg-
reichen Theatrum Europäum der Begriff ›theatrum‹ mit einem Bedeutungs-
spektrum zwischen theatrum mundi und Wunderkammer operiert wurde,52 so
ist bereits in der gesamten Frühen Neuzeit göttlicher Schöpfungsraum und
naturkundlicher Lehrraum in direkter Verbindung zueinander und zur ›Kunst‹
gesehen worden: In Tommaso Campanellas Città del sole sind die Mauern
der Stadt »innen und außen, unten und oben mit herrlichen Gemälden« ver-
sehen, die »alle Wissenschaften in fabelhafter Anordnung wiedergeben«: von
einer »genaue[n] und vollständige[n] Beschreibung der Erde« und »Darstel-
lung jeder einzelnen Gegend« bis hin zu Bildern von »alle[n] mechanischen
Künste[n]«.53 Entsprechend beschreibt Francis Bacon über hundert Jahre
später in Nova Atlantis eine »Haus Salomos« oder »Kollegium der Werke
der sechs Tage« genannte ›Gesellschaft‹, die der »Erforschung und Betrach-
tung der Werke und Geschöpfe Gottes« diene.54 Georg Philipp Harsdörffer
49 So zu Zeillers Lebzeiten z.B. die authorisierten Ausgaben Tübingen 1628 und 1634
sowie Rostock 1639, sowie die laut dem Verleger Johann Görlin unauthorisierten
Drucke Danzig 1640 und Köln 1647, während die ersten durch Zeiller authorisierten
Ausgaben aus Ulm und Linz weitgehend den französischen Originaltitel übersetzen
(vgl. hierzu Anm. 13). Angaben nach VD17 und KVK sowie Johann Görlins »De-
dication« in der Ausgabe von 1655 (s. Anm. 13), hier S. ):(vr–v. – Der Verleger sah
zudem die Übertragung der Histoires tragiques u.a. als populäres (weil wesentlich
kostengünstigeres) Gegenstück zum Theatrum Europäum, das er den »tewre[n] Bü-
cher« mit »Traur-Geschichten« zurechnet; vgl. S. ):(iiiv.
50 So findet sich am Anfang von Harsdörffers Grossem Schau-Platz jämmerlicher
Mord-Geschichte von 1656 auch ein kurzes »Sendschreiben« Martin Zeillers (JMG,
S. 1f.).
51 Rosset/Zeiller (s. Anm. 11).
52 Vgl. Schramm, Helmar: »Kunstkammer – Laboratorium – Bühne im Theatrum Eu-
ropaeum. Zum Wandel des performativen Raums im 17. Jahrhundert«. In: ders. u.a.
(Hg.): Kunstkammer, Laboratorium, Bühne. Schauplätze des Wissens im 17. Jahrhun-
dert. Berlin/New York 2003, S. 10–34.
53 Campanella, Tommaso: »Sonnenstaat«. In: Heinisch, Klaus J. (Hg.): Der utopische
Staat. Reinbek 1960, S. 111–169, hier S. 120–122.
54 Bacon, Francis: »Neu-Atlantis«. In: Heinisch (s. Anm. 53), S. 171–215, hier S. 193f.
Tragische Topographien. Zur deutschen Novellistik des 17. Jahrhunderts 303
Saal mit Taffelen oder Tapeten auff das köstlichste oder Kunstreichste zu
bezieren?«61 Der erfahrene Hofmann Vespasian macht darauf aufmerksam,
daß dies von »Ort« sowie »Begebenheit und Zeit« abhänge und empfiehlt für
Hochzeiten zum Beispiel »Lebenslauff/ und tapffere Thaten/ Ehrengedächt-
nuß der Voreltern/ etc.«; man könne jedoch auch »allerley Historien [...] abbil-
den«,62 worauf der vielgereiste und belesene Student Reymund ergänzt:
Ich verstehe solchen Nutzen anderer Gestalt: Wann man nemlich eines Fürsten Land-
schafft durch Geometrische juste Abmessung in Grund legte/ und (wie man sonsten
Landtafel oder Landkarten macht/) solche geneete oder gewirckte Landteppich ver-
fertigen liesse. In dem ersten Tapet solte seyn der gantze Begriff deß Lands/ mit den
angrentzenden Herrschafften/ nach dem verjüngten Maaßstab fürgebildet/ aber ohne
Mühe zu ersehen/ und ins Gedächtnuß zu fassen/ wie weit sich das Gebiet erstrecket/
was für Flüß/ Wälder/ Marckungen/ Brücken/ Berg/ Weg/ etc. sich hier und dar be-
finden/ wie ferne/ wie nahe ein Stadt und Dorff ab- oder angelegen/ und in Summa
aller der Nutzen könte daraus gezogen werden/ welcher sonst bey den Landtafeln zu
suchen. [...]
Diesem nach möchte man auch die uns sonst unbekannten Ort/ der andern Welt leicht-
lich bekant machen/ und die schönen Inseln/ die reichen Bergwerck/ die ungewöhnli-
chen Thiere/ die wundersamen Früchte und Gewächse/ ja die gefährlichsten Schiffar-
ten/ ihre Häfen/ Anfuhrten/ Sandbänck/ etc. ohne Gefahr ein- und fürbilden.63
Indem »ein junger Fürst« nicht mit den ihm »offt verhasten Büchern unter-
wiesen«, sondern »durch dergleichen Landgemähl« in der »Weltkundigung
wie mit der Geographischen Spielkarten mit Lust/ ohn einige Arbeit [...]
unterwiesen« würde, müßte er die Geographie »stettig für Augen schwebend
[...] unfehlbar bemercken«, also in sein Gedächtnis fassen.64 Vespasian bestä-
tigt, daß dies ein »wohlbedachter Fürschlag« sei: »Das wir ohne Unterlaß
für Augen haben/ lencket sich unvermerckt tieff in unser Angedencken/ und
sondert uns auch vielmal von bösen und müssigen Gedancken ab«.65 Dieses
geometrisch-topographische (und zugleich anti-melancholische) Lehrpro-
gramm umfaßt sowohl das eigene Herrschaftsgebiet (u.a. als Vorbereitung sei-
ner Herrschaftsübernahme)66 als auch die Entdeckungen der Frühen Neuzeit,
bei denen zwei Aspekte hervorgehoben werden: Neben der ökonomischen
Dimension profitabler natürlicher Ressourcen und effizienter Schiffahrts-
wege steht das der curiositas, indem die »ungewöhnlichen Thiere« und »die
Mnemotechnik vom späten Mittelalter bis zum Beginn der Moderne. Wien u.a. 2000,
S. 67–88, hier v.a. S. 79–81.
61 Harsdörffer: FZG II, S. 107 (LXV §1). Kursivierung im Original in Fettdruck.
62 Harsdörffer: FZG II, S. 108f. (LXV §4).
63 Harsdörffer: FZG II, S. 110f. (LXV §8).
64 Harsdörffer: FZG II, S. 111 (LXV §8).
65 Harsdörffer: FZG II, S. 112 (LXV §9).
66 Das wohl bekannteste Beispiel eines derartigen topographischen Bildersaals stellt wohl
die päpstliche ›Galleria delle Carte Geografiche‹ dar, die 1580 unter Papst Gregor XIII.
begonnen wurde.
Tragische Topographien. Zur deutschen Novellistik des 17. Jahrhunderts 305
67 Vgl. grundsätzlich Daston, Lorraine/Park, Katharine: Wunder und die Ordnung der
Natur 1150–1750. Berlin 2002; Bredekamp, Horst: Antikensehnsucht und Maschi-
nenglauben. Die Geschichte der Kunstkammer und die Zukunft der Kunstgeschichte.
Berlin 1993.
68 Harsdörffer: FZG II, S. 114 (LXV §15 und §11).
69 Harsdörffer: FZG II, S. 116 (LXV §16). Vgl. auch FZG II, S. 109 (LXV §4), wo
Vespasian als Gegenstand »einen einigen kurtzen historischen Verlauff« und die Ab-
bildung von »allerley Historien«, die in »würcklichen Handlungen/ (und nicht etwan
in zierlichen Worten bestehen/)« fordert.
70 Harsdörffer: FZG II, S. 117 (LXV §17). »Mähr« hat hier keine ›fiktionale‹ Bedeu-
tung.
71 Harsdörffer: LLG II, S. 183.
72 Harsdörffer: JMG, S. ):(viir.
306 Ingo Breuer
für Augen schweben« Und: »Warum sol ein Mahler die Gestalt des Men-
schen von einem entfernten Bilde absehen/ wann er viel lebendige Personen
in der nähe hat«.73 Das oben angesprochene ›Näherrücken‹ der Geschichten
dient also dazu, den Bilder- und Gedächtnisraum dem Erfahrungsraum anzu-
gleichen, womit einer Krise des Wissens und des Gedächtnisses Ausdruck
verliehen wird, auf die noch zurückzukommen sein wird.
Entsprechend folgen nun in den Frauenzimmer Gesprächspielen fünf
kurze Geschichten als Exemplifikationen dieser Programmatik: Die Anwalt-
schafft des Eheverlöbnus, Die verständige Mutter und Die bejammerten
Augen; hinzu kommen eine (ihrer »unnöthige[n] Weitläuffigkeit« benom-
mene) Kurz-Fassung von Cervantes‹ Novelle La fuerza de la sangue mit
dem Titel Die Geblütsregung sowie eine Erzählung aus 1001 Nacht mit dem
Titel Eines Wachenden Traum,74 anhand derer das Bildprogramm in der Folge
ausführlich ›vorgestellt‹ wird: »Diese kurtze erzehlte Historien alle/ könten
mit mahlerischen Umbständen durch eine künstliche Hand fürgebildet/ und
nachmals in wenig oder viel Tafel oder Teppich verfasset werden«,75 so daß in
einem ›Gesprächsspiel‹ exemplarisch aus der kurzen Erzählung vom träumen-
den Bauern eine Folge von sechs imaginären Bildbeschreibungen entwickelt
wird, wobei diese Geschichte »ein Abriß seyn könte/ nach welchem auch alle
andere gleicher Gestalt zu entwerffen wären«.76 Was dem Leser tatsächlich
als Serie von sechs Kupferstichen ›vor Augen‹ geführt wird, bittet Julia, sich
jeweils »als hier für Augen hangende Gemähl oder Gewirck fürzubilden«77,
zu beschreiben und kommentieren.78 Damit stellen die fünf Kurz-Novel-
len weder ›autonome literarische Werke‹ noch pure Exempla dar79, sondern
Rohfassungen, aus denen Bilderfolgen und Bildbeschreibungen entwickelt
werden sollen, die nichts anderes als ›vollständige‹ Novellen sein sollen. Die
beiden Schauplatz-Sammlungen mit ihren recht kurzen Erzählungen bieten
folglich die Roh-Stoffe und den »Spielvorrath«80 für Gesprächsspiele und
81 Eine erste Ausgestaltung ist dort z.T. schon vorgenommen, wie die wesentlich aus-
führlichere Version von Cervantes‹ La fuerza de la sangue im Großen Schauplatz lust-
und lehrreicher Geschichte nahelegt, die gleichwohl viel kürzer ist als das Original;
vgl. Harsdörffer: LLG II, S. 124–128. Vgl. auch Rötzer, Hans Gerd: »Die Rezeption
der Novelas Ejemplares bei Harsdörffer«. In: Chloe. Beihefte zum Daphnis 9 (1990),
S. 365–383.
82 Harsdörffer: FZG II, S. 146 (LXV §69): »und ordnet man solche Gemähl [...]/ wie
man zu schreiben pfleget«.
83 Vgl. Vernet (s. Anm. 34), S. 4. Zur Romankritik siehe unten.
84 Harsdörffer: FZG II, S. 150–153 (LXV §49–55), hier S. 151f. (§49, 51).
308 Ingo Breuer
schein, der ihn gerade erst getrogen hatte: »ja/ als man ihme die Warheit
gesagt/ solche ihm nicht wollen einreden lassen/ biß der Fürst ihm alle und
jede Person/ Kleider/ Gemächer/ etc. fürgewiesen hatte«.85 Nicht die religi-
öse Schein-Sein-Problematik und Traummotive prägen jedoch Harsdörffers
Werke, sondern Augen und optische Werkzeuge als Evidenzmetaphorik – so
auch seine letzte Erzählsammlung Geschichtspiegel, die einen umfangreichen
Anhang zur »Seh- und Spiegel-Kunst« enthält,86 wie auch der Leser auf dem
Frontispiz von Camus’ Amphitheatre sanglant eine Dame betrachten kann, die
sich im Spiegel betrachtet.87 Der vordergründig ein mimetisches Programm
signalisierende Spiegel wird bei Harsdörffer erstens auch zu einem Medium
optischer Täuschungen, wiewohl er die ›Tricks‹ ausführlich beschreibt und
damit ›Evidenz‹ zu restituieren versucht; und zweitens führt die Exposition
des Spiegels und der (Wider-) Spiegelungen – auch in der Geschichte vom
träumenden Handwerker – zu einer Beobachtung von Beobachtungen: »Der
Blick selbst wird zum Gegenstand des Blicks und die Bilder, die repräsen-
tieren, werden ihrerseits zu Objekten der Repräsentation.«88 Dabei wird der
erzählte ›Schauplatz‹ von einer Theaterbühne oder Wunderkammer potentiell
zu einer laterna magica, also einem frühneuzeitlichen ›Kino‹ mit optischen
Täuschungen, in denen Bild- in Textfolgen transformiert werden.89 Hieraus
ergibt sich der paradoxe Befund, daß mit dem sozialen und regionalen Näher-
rücken der Geschichten und mit der akribischen Aufklärung der ›optischen
Täuschungen‹ implizit eine Verunsicherung der Wahrnehmung, des Wissens
und des Gedächtnisses dargestellt wird,90 die wohl nicht zuletzt der idola-
Lehre Francis Bacons, den Harsdörffer regelmäßig zitiert, verpflichtet ist.
Präsentiert werden damit in Harsdörffers Schauplätzen nicht so sehr tragi-
sche Vorfälle ›an sich‹, sondern vielmehr Material für die in den Frauenzim-
mer-Gesprächspielen »erlernten Verfahrensweisen der Sinnfindung«91 durch
eine ›imaginierende Bildbeschreibung‹, bei der die vermeintliche historia
selbst zur partiellen Täuschung wird: Die wohl ernst gemeinte Forderung
nach der Darstellung von »würcklichen Handlungen« verliert an Substanz,
wenn z.B. bei Rosset Namen verschwiegen und Schauplätze geändert wer-
den oder bei Harsdörffer in der Langfassung vom träumenden Handwerker
ein »Fürst« sein Spiel mit dem »Bidner« treibt, während in der Kurzfassung
»Philip Hertzog zu Burgund/ (beygenand der Gütige/)« den »Handwercks-
mann« betrügt,92 so daß eine Transformation vom historisch realen Gesche-
hen93 zur modellhaften Handlung erfolgt. Eine solche ›Fiktionalisierung‹
wird noch verstärkt durch die Tatsache, daß die in der Kurzfassung fehlen-
den Details im Akt einer imaginierenden Ekphrasis neu erfunden werden
(müssen).
Gerade die Anpassung des historischen Rohstoffs an bestehende Topoi
und die Ausschmückung einer Geschichte zum mnemotechnisch praktikab-
len Bildersaal geht paradoxerweise einher mit einer ›Entwirklichung‹ und
›Fiktionalisierung‹ der Historia. Bei der geläufigen Anbindung des histori-
schen Einzelfalls an konventionelle Topoi94 beläßt es Martin Zeiller nicht bei
einer Übersetzung, sondern fügt zu jeder histoire neben moralisch-religiösen
und naturkundlichen Erklärungen eine Reihe weiterer analoger Geschichten
aus der Antike und der Bibel hinzu.95 Das gleiche Phänomen zeigt sich
bei Harsdörffer, der eine ganze Serie von Geschichten- und Novellenserien
herausgibt, bei denen die ›Haupterzählung‹ durch weitere ›Untererzählun-
gen‹96 und zudem durch Rätsel, Casualpoesie und dergleichen ergänzt wird.
92 Harsdörffer: FZG II, S. 130 (LXV §26); FZG II, S. 139 (LXV §29, §32) u.ö.
93 Die Zuschreibung der Herrscherfigur zu Philipp dem Guten von Burgund geht auf
Ludovicus Vives zurück, bei dem jedoch keine Berufsbezeichnung für die niedere
Figur vorzuliegen scheint, während es in der Quelle des Stoffs (1001 Nacht) um einen
Kalifen und einen Kaufmann geht. Vgl. Frenzel (s. Anm. 74), S. 83.
94 Vgl. Poli, Sergio: »Violence et mythe dans l’histoire tragique«. In: Debaisieux, Mar-
tine/Verdier, Gabrielle (Hg.): Violence et fiction jusqu’à la Révolution. Tübingen 1998,
S. 55–62; Ders.: Histoire(s) tragique(s) (s. Anm. 27) mit einer umfangreichen kom-
mentierten Zusammenstellung dieser Topoi.
95 Rosset/Zeiller (s. Anm. 13), S. ):(iijr (Vorrede): »Vnd damit die Leser ihnen solche
Historien desto mehr zu nutz machen köndten; habe ich am Ende einer jeden etliche
Moralia vnd Lehrpuncten/ neben andern hierzue tauglichen alten vnnd newen Exem-
peln gesetzt [...]«. In der 4. Auflage heißt es: »Und obwoln auß solchen wunderlichen/
schröcklich vnd traurigen Exempeln Jung vnd Alte/ Hohen vnd Niedernstands Per-
sohnen/ beederley Geschlechts/ vilerley schöne und nutzliche Lehren zumerken und
zubehalten; wie die von mir mit einer kleinern Schrifft zu Ende einer jeden Histori
hinzugesetzten Moralien vnd Erinnerungen zu erkennen geben [...].« Rosset/Zeiller (s.
Anm. 13), S. ):( iiijr–v. – Dieses Verfahren der nachgesetzten Parallelgeschichten findet
sich z.B. wieder in: [Gregersdorf, George Christoph von?]: »Jüngst-erbawete Schäffe-
rey/ Oder Keusche Liebes-Beschreibung/ Von der Verliebten Nimfen AMOENA, Vnd
dem Lobwuerdigen Schäffer Amandus [...]« (Leipzig 1632). In: Kaczerowsky, Klaus
(Hg.): Schäferromane des Barock. Reinbek 1970, S. 7–96.
96 Vgl. Weydt (s. Anm. 7), S. 59f., Übersicht S. 60. In Harsdörffers Erzählwerken und
den Frauenzimmer-Gesprächspielen würden laut den Kapitelüberschriften insgesamt
1000 Geschichten angekündigt, tatsächlich seien es aber ca. 1400.
310 Ingo Breuer
Mit dieser Inflation der Erzählungen geht jedoch eine Inflation der Memo-
ria-Bilder notwendig einher, die der Bildersaal mit seinen wohlgeordneten
Topoi gerade sichern sollte: Die mentale Gedächtniskammer wird trotz der
Zähmungsversuche durch eine Raum-Ordnung zur unüberschaubaren Rum-
pelkammer, die gerade das nicht mehr gewährleistet, was mit der Produktion
von Geschichten als erzählten Bildern angestrebt war: die Merkfähigkeit. Mit
der Inflation innerer und äußerer Bilder sowie der Reflexion über den Text-
und Bildraum als Täuschung treten diese auseinander und verlieren tenden-
ziell ihr Sinnzentrum:97 Der Bildersaal wird zum Spiegelkabinett, die zuvor
geometrisch erschlossene Landschaft zum undurchdringlichen Urwald, das
erklär- und daher memorierbare Faktum zur Fiktion. Der geometrischen und
perspektivischen Täuschung folgt die Ent-Täuschung, so daß in Harsdörffers
Frauenzimmer-Gesprächspielen die ›Spielenden‹ zwar ebenso unablässig wie
ihr Autor mit der Produktion immer neuer Geschichten und Novellen beschäf-
tigt sind, die ›Lehre‹ jedoch in einem multiperspektivischen Gesprächsspiel
ebenso mehrfach gebrochen wird wie das Licht in den dort geschilderten
optischen Experimenten. Als Fixpunkt zur Domestizierung der Außenwelt
erscheint, angelehnt an Boccaccio, nur noch die urbanità der civil conver-
sazione als ›Gesprächsspiel‹, als ›Kunst‹ und ›Erzählung‹.
Die anfängliche Aussage, daß es keinen ›Raum‹ für eine frühe Novelli-
stik gegeben habe, wäre nun dahingehend zu präzisieren, daß der ›Ort‹ der
›Novelle‹ in der Frühen Neuzeit im Sinne heutiger Gattungskategorien nicht
präzise bestimmbar ist. Hieraus ergibt sich jedoch keine (gelegentlich sozi-
alromantische) Positionierung solcher Werke als ›literarische Heterotopien‹,
sondern ein Sonderstatus jenseits ›des Romans‹. Als zentral darf die Beto-
nung der historia im Gegensatz zur fabula, die dem Roman zugerechnet
wird, angesehen werden.98 Bereits Margarete von Navarra wollte mit ihrem
Heptameron im Gegensatz zu Boccaccio »nur Novellen, die auf wirklichen
Ereignissen beruhten«, bieten: »[...] jeder soll eine Geschichte erzählen, die
er selbst erlebt oder von einem glaubwürdigen Menschen gehört hat«;99 und
97 Vgl. auch aus anderer Perspektive einen ähnlichen Befund bei Berns (s. Anm. 89), v.a.
S. 127, 132f. zum Bedeutungsverlust und zur ›Dezentrierung‹ der ›inneren Bilder‹.
98 Vgl. die Beiträge zu »Fabula und Historia in der Frühen Neuzeit« in: Simpliciana
1998, S. 11–282.
99 Navarra, Margarete von: Das Heptameron. Übersetzer: Alfred Semerau. München
1960, S. 18. Vgl. hierzu auch: Hausmann, Frank-Rutger: »Die Literatur der Renais-
sance«. In: Grimm, Jürgen (Hg.): Französische Literaturgeschichte. Stuttgart 1994,
S. 100–135, hier S. 124–128, v.a. S. 125. – Auch die »deutschen Schwankautoren«
Tragische Topographien. Zur deutschen Novellistik des 17. Jahrhunderts 311
waren bei ihrer Novellenrezeption und -produktion »sehr viel stärker dem inhaltlichen
factum als dem formbedachten dictum zugewandt«; Hirdt (s. Anm. 8), S. 32f.
100 Vgl. Berns, Jörg Jochen: »Zeitung und Historia: Die historiographischen Konzepte
der Zeitungstheoretiker des 17. Jahrhunderts«. In: Daphnis 12 (1983), H. 1, S. 87–
110; Krebs, Jean-Daniel: »Journalismus und Novelle«. In: Wolfenbütteler Barock-
Nachrichten 14 (1987), H. 1, S. 6ff.; Ders.: »Deutsche Barocknovelle zwischen Mo-
rallehre und Information: Georg Philipp Harsdörffer und Théophraste Renaudot«. In:
Modern Language Notes 103 (1988), No. 3, S. 478–503. – Einen extremen Fall stellt
eine deutsche Decamerone-Übersetzung von 1561 dar, in der der Begriff ›Novelle‹
mit ›newe Zeitung‹ übersetzt wird; vgl. den Kommentar zu Katalog-Nr. 187 in: Berns,
Jörg Jochen (Hg.): Erzählte Welt (s. Anm. 3), S. 149 (Titelbild S. 148) zu: Cento
Nouella Johannis Bocatij. Das ist Hundert Newer Historien [...]. Straßburg 1561.
Noch in Johann Heinrich Zedlers Grossem vollständigem Universal-Lexikon Aller
Wissenschaften und Künste (Nachdruck Graz 1961) findet sich unter dem Stichwort
»Novellen« (neben der primären, juristischen Begriffsverwendung) ein Verweis auf
das Stichwort »Zeitung« (vgl. Band 24, Sp. 1507–1513).
101 Vgl. Lever, Maurice: »De l’information à la nouvelle: Les ›canards‹ et les ›histoires
tragiques‹ de François de Rosset«. In: Revue d’Histoire Littéraire de la France 79
(1979), No. 4, S. 577–593; ders.: Canards sanglants. Naissance du fait divers. Paris
1993.
102 Vgl. Vernet (s. Anm.34), S. 4. Zur Romankritik siehe unten.
103 Rosset (s. Anm.10), S. 35 (»Au Lecteur«). Selbstverständlich dienten solche Hinweise
auch als Werbebotschaft (wie auch die Verweise auf ›Neuheit‹ und ›Neuigkeiten‹).
104 Harsdörffer: FZG VI, S. 159, 164.
312 Ingo Breuer
tralperspektive‹ in der Malerei bezieht, kann ebenso wie die Abkehr von der
Ständeklausel und die Betonung der historia als ein Vorbote der ›Querelle
des anciens et des modernes‹ gewertet werden und begleitet im vorliegenden
Fall die Entstehung sowohl der ›novel‹ als auch der ›Novelle‹.
Wenn Johan Barclay (in der Übersetzung von Martin Opitz) für seinem
›fabulösen‹ Roman Argenis ankündigt, daß er die Gemüter der Leser »mit
beschawung vieler sachen/ gleichsam als mit einer gemahlten Landschafft/
sättigen« will, und eine »newe Art zu schreiben« verspricht,105 so läßt sich
zugleich der Diskussionskontext und die Konkurrenzsituation für die Novel-
listik erahnen: Tatsächlich grenzte 1660 Charles Sorel in seiner Bibliothèque
Françoise als erster Novellenpoetik106 die »fables et allegories« und »romans
de chevaleries et de bergeries« als »histoires fabuleuses« deutlich von den
»romans heroiques« und »romans parfait« (zu denen er auch Barclays Arge-
nis zählt) sowie schließlich von den »nouvelles« ab, wobei die ersten »vray-
semblables«, die zweiten, deren »nouveauté« er lobt, sogar »vrayes non pas
seulement vraysemblables« seien.107 Die »nouvelles« jedoch präsentierten
»les humeur des personnes comme elles sont«, böten »une naive peinture de
leur condition« und seien vergleichbar mit »histoires veritables de quelques
accidens particuliers«: Sie erzählten »des choses arrivées depuis peu, autre-
ment il n’y auroit pas de raison de les appeler des nouvelles«.108 Entsprechend
wimmelt es bei Rosset, Camus, Zeiller und Harsdörffer von Beteuerungen der
Faktizität und Neuheit, die nicht nur als Vermeidung des platonischen Lügen-
vorwurfs, sondern auch als Versuche einer ›Überbietung‹ des Romans durch
imaginierende Ekphrasis und Kartographisierung von Erfahrungswissen in
einer stetigen Perfektionierung der optischen und geometrischen, aber auch
der erzählerischen Täuschungen zu werten sind. Mit der Perfektionierung
der mit Worten »gemahlten Landschafft« und der erzählten ›fiktiven‹ Bilder
verlieren diese aber den Status von Exempla und Topoi für die Memoria:
›Aus Versehen‹ entsteht ein ›Sich-Versehen‹ in diese Bilder und Texte, d.h.
eine Autonomisierung der äußeren Bilder gegenüber dem inneren Gedächt-
nissaal,109 wobei die hier vorgestellten Texte den Umbruch markieren.
105 Zitiert nach: Steinecke, Hartmut/Wahrenburg, Fritz (Hg.): Romantheorie. Texte vom
Barock bis zur Gegenwart. Stuttgart 1999, S. 40f.
106 Sorel, Charles: Bibliothèque Françoise [...]. Paris 1660. Dieser Text bietet meines
Wissens die einzige explizite Novellentheorie im 17. Jahrhundert, der Harsdörffers
Gesprächspiele als implizite zur Seite stehen.
107 Sorel (s. Anm. 106), S. S. 148–179, Zitate S. 156, 162f.
108 Sorel (s. Anm. 106), S. 158, 160, 162.
109 Vgl. Berns (s. Anm. 89).
Friedrich Schlegel: Eine ›Große Karte‹ Europas 313
1 Schlegel, Friedrich: »Briefe auf einer Reise«. In: ders.: Kritische Friedrich-Schlegel-
Ausgabe. Hg. von Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jaques Anstett und Hans
Eichner, Bd. IV, Paderborn, München, Wien, Zürich 1959, S. 156. Alle Schlegel-Zitate
künftig unter der Sigle KFSA mit Band- und Seitenzahl nach dieser Ausgabe. Auf-
einanderfolgende Zitate aus dem gleichen Text werden direkt hinter dem Zitat unter
Angabe der Seitenzahl belegt.
2 Schlegel, Friedrich: Gemäldebeschreibungen aus Paris und den Niederlanden. KFSA
IV, S. 79.
314 Meike Steiger
3 Sombart, Nicolaus: »Nachrichten aus Ascona. Auf dem Wege zu einer kulturwissen-
schaftlichen Hermeneutik.« In: Prigge, Walter (Hg.): Städtische Intellektuelle. Urbane
Milieus im 20. Jahrhundert. Frankfurt a.M. 1992, S. 107–117, hier S. 107.
4 Schlögel, Karl: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geo-
politik. München/Wien 2003, S. 51. Die Zusammenführung von Friedrich Schlegels
Kartierung Europas um 1800 und topographischer Methode geschieht hier nicht zufäl-
lig. Autoren des topographischen Ansatzes beziehen sich, wenn sie wie Karl Schlögel
ihr Vorgehen auch historisch herleiten, auf im 18. Jahrhundert dominierende Ord-
nungskonzepte. ›Landkarte‹, ›map‹, ›mappemonde‹ oder ›mappae‹ werden während
des 18. Jahrhunderts zu geflügelten Worten wissenschaftstheoretischer Programm-
schriften. Ob Albrecht von Haller den ›Theoretiker der Natur‹ mit einem ›Landver-
messer‹ vergleicht, der eine ›Karte‹ anlegt, ob Carl von Linné ›mappae naturae‹ oder
Ephraim Chambers eine ›map of knowledge‹ anvisieren oder ob wohl am berühmtesten
D’Alembert in seinem Discours préliminaire de l’Encyclopédie von dieser als einer
›mappemonde‹ aller Wissenschaften spricht, immer wird versucht, der projektierten
Ordnung einen anschaulichen Begriff beizulegen. Mit der topographischen Metho-
de ist diese historische Semantik zum Theoriebegriff avanciert: ›Mental maps‹ oder
›maps of meaning‹ sind nicht zeitlich, sondern räumlich konstruiert. Unterschieden
ist der topographische Ansatz damit historisch im wesentlichen vom Historismus des
19. Jahrhunderts. Friedrich Schlegel besetzt um 1800 genau die Schwelle zwischen
diesen zwei wissenschaftsgeschichtlichen Ordnungsmodellen.
Friedrich Schlegel: Eine ›Große Karte‹ Europas 315
5 Mit dieser theoretischen Figur – der Substituierung einer ersten sinnlichen Unmit-
telbarkeit durch eine zweite vermittelte Unmittelbarkeit – beziehe ich mich auf die
Arbeit von Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18.
Jahrhunderts. München 1999, der zeigt, wie die ›Verschließung‹ des Menschen gegen-
über der Welt gerade zu einer gesteigerten, empfindsamen Unmittelbarkeit führt. – An
dieser Stelle möchte ich Steffen Martus herzlich für die stets anregenden Gespräche
über dieses und verwandte Themen danken.
6 Schlegel, Friedrich: Versuch über den Begriff des Republikanismus. In: KFSA VII, S.
15. Peter Schnyder: »Politik und Sprache in der Frühromantik. Zu Friedrich Schle-
gels Rezeption der Französischen Revolution.« In: Athenäum. Jahrbuch für Romantik
(2000), S. 39–66, hat herausgearbeitet, wie sich die kommunikationstheoretischen
Konzepte bei Schlegel mit dem Projekt einer politischen Gemeinschaft verbinden.
7 Schlegel, Friedrich: Gespräch über die Poesie. In: KFSA II, S. 312.
8 Schierbaum, Martin: Friedrich von Hardenbergs poetisierte Rhetorik. Politische Ästhe-
tik der Frühromantik. Paderborn u.a. 2002, zeigt in seiner Interpretation von Glauben
und Liebe, daß Novalis elaborierte zeichentheoretische Konzepte als Antwort auf das
Problem entwickelt, wie der funktionale Zusammenhalt des Gesellschaftskörpers nach
der Auflösung stratifikatorischer Bindungen gesichert werden kann. – Der ungleich be-
kanntere Versuch Novalis’, einen politischen Mythos zu etablieren, geschieht natürlich
mit Die Christenheit oder Europa. Vgl. zu Novalis im besonderen und zu politischen
316 Meike Steiger
Schöneres hab‹ ich in Deutschland nichts gesehen, als diese Burg [Wartburg; M.S.] auf
einem einzelnen, ehedem ganz waldumkränzten Berge [...]. Der Anblick des Abends
ward noch durch ein heraufsteigendes Gewitter verschönt, vielleicht auch durch den
Ruhm des Namens und durch die Erinnerung an die Zeiten, da die Poesie hier in voller
Blüte stand [...]. Nur der Rhein hat noch einen gleichen Eindruck auf mich machen
können. Aber weder von der einen noch von dem andern wirst Du eine geographische
Beschreibung von mir erwarten, die auch wohl überflüssig wäre. Ich kann nur von den
Betrachtungen und von den Erfindungen reden, die sie mir erregt haben (57f.).10
Die »Erinnerungen« an das auf der Reise Gesehene verwandeln sich hin-
terrücks zu jenen »Erinnerungen«, die das sinnlich Gegebene im Wahrneh-
menden »erregt« haben. Von einer Gedächtnisleistung schwenkt der Text zu
»Betrachtungen« und »Erfindungen«, also zu einer Gedanken- und Imagi-
nationsleistung um. Der konkrete Ort, die Landschaft werden zum Anlaß
genommen, um über bestimmte Vorstellungsbilder zu »reden«. Ermöglicht
wird dieses schnelle Hinweggehen über das Gegebene, weil das Sichtbare als
ein nicht vollständig Vorhandenes dargestellt wird. Die wiederholte Vokabel
»ehedem« macht das Präsente zum defizitären Modus eines Anderen, das nur
noch die »Erinnerung« vergegenwärtigen kann. Schlegel wechselt zur Ima-
gination dieses faktisch nicht gegebenen Ganzen in die sinnlichste Gattung
sprachlicher Vergegenwärtigung, ins Gedicht.11
10 Der erklärte Verzicht auf eine konkrete »geographische Beschreibung« der Rhein-
landschaft ist wohl auch als kritische Referenz auf Georg Forsters Ansichten vom
Niederrhein zu lesen, der dort eine detaillierte geographisch-geologische Verortung
des Rheintals um Koblenz vornimmt. Wie hier im Zitat die konkrete Beschreibung
des Gegebenen ausbleibt, so ist auch Schlegels übrige Beschreibung des Flußlaufs an
Allgemeinheit kaum zu überbieten: »Wie er durch Felsen mit Riesenkraft in unge-
heuerm Sturz herabfällt, dann mächtig seine breiten Wogen durch die fruchtreichsten
Niederungen wälzt, um sich endlich in das flachere Land zu verlieren, so ist er das
nur zu treue Bild unsers Vaterlandes, unsrer Geschichte und unsers Charakters« (63).
Daß der Rhein im Gebirge entspringt und dann durch fruchtbare Ebenen fließt, gilt
wohl nicht nur für ihn, sondern für alle Flüsse. Für diese Schilderung muß man den
Rhein nicht gesehen haben, wie Schlegel im übrigen auf seinem Weg ja auch nicht
den gesamten Flußlauf des Rheins entlang gereist ist, sondern sich vielmehr nur aus
dem poetischen Repertoire der Fluß-Topologie bedient.
11 Ebenso arbeitet Novalis in seine Sammlung Glauben und Liebe Gedichte ein, die
bestimmte Verkörperungen des Herrscherpaars anschaulich machen.
318 Meike Steiger
Würde Schlegel eine Nation längere Zeit bis ins Kleinste beobachten, dann,
so seine Argumentation, käme er nicht umhin, einzelne »lebendige Men-
schen« mit emotionaler Anteilnahme »zu betrachten«. So aber könnte er sie
nicht mehr als »Nation« (S. 66), eben als vom Einzelnen abstrahiertes Kol-
lektiv »charakterisieren«. Öffnete sich Schlegel gegenüber den Individuen,
dann könnte er sie nicht als Gemeinschaft beschreiben. Legitimiert wird
damit im Text, daß Schlegel eine Nationalcharakteristik der Franzosen als
»Fremder« nach dem »ersten Eindruck« gibt. Nur indem man sich gegenüber
den einzelnen Mitgliedern des anonymen Gesellschaftskörpers verschließt,
so ließe sich das Konzept resümieren, kann man ihn als Ganzen sprachlich
fixieren.
Friedrich Schlegel: Eine ›Große Karte‹ Europas 319
Fällt der »erste Eindruck«, den die Franzosen auf ihn machen, in dem
»Bemerkungen« überschriebenen Teil der Reise nach Frankreich noch recht
positiv aus, so zeigt sich Schlegel im letzten Abschnitt »Betrachtungen« als
strenger Kritiker seiner Zeit. Ȇberall finden wir jetzt eine enorme Masse
von Plattheit, die recht ausgebildet, und durchgebildet ist, und sich mehr oder
weniger selbst in alle Künste und Wissenschaften eingeschlichen hat. [...]
Gegen diese europäische Gleichheit verschwindet in der Tat jeder National-
unterschied [...]« (S. 71f.). Hier ist es der kritische Standpunkt, der gegen-
über jeder konkreten Beobachtung immunisiert. Die Allgemeinheit der Kritik
eliminiert bei Schlegel alle Differenzen. Gegen Ende bekennt sich der Text
dann offensiv, um mögliche kritische Einwände im vorhinein zu blockieren,
zu seiner Tendenz zur Verallgemeinerung.
[...] Paris – welches man hier bisweilen la capitale de l’Univers nennt – [liegt] recht
eigentlich in der Mitte, wenigsten von Europa. [...] Ein solcher Mittelpunkt ist gerade
der Ort, der zu den allgemeinsten Reflexionen einlädt [...]. Ich darf mir also schon
erlauben fortzufahren, wie ich einmal angefangen habe, und Dir noch einige Ideen
über unsern Weltteil und unsre Zeit mitzuteilen, an denen Du nur das nicht tadeln
mußt, daß sie ganz allgemein sein werden, denn es sollten eben nur die allgemeinsten
sein (S. 72f.).
Die Textbewegung der Reise nach Frankreich bis zu diesem Ende zusam-
menfassend sind verschiedene Strategien der Abschließung gegenüber den
auf der Reise besuchten Landschaften, Städten, Orten, Architekturen, Men-
schen zu beobachten. Der Text stellt das sinnlich Gegebene als defizitär dar,
entweder weil es nicht mehr das ist, was es einmal war, oder weil es, so wie
es ist, schlecht ist. Durch diese zeit- und kulturkritische Perspektive wird die
im Textverlauf sich vollziehende Abwendung vom Faktischen legitimiert und
sprachlich ein Raum des Imaginären eröffnet. Ein Reflexions- und Emotions-
raum, eine mental map von ›Europa‹ entsteht performativ, nicht indem kon-
320 Meike Steiger
Das archivarische Beschreiben der Gemälde wird nicht nur aus wirkungsäs-
thetischen Gründen unterlassen, sondern auch, weil das Fragmentarische der
Phänomene eine vollständige Erfassung nicht zuläßt. Wie bei den Burgen
am Rhein hat die Geschichte Lücken gerissen, die Malerei ist ebenso nur
noch als »Ruine« vorhanden. Außerdem ist die »zerstreute« Präsentation der
europäischen Kunst in verschiedenen Museen unvollständig, weil jeweils
nationale oder gattungsgeschichtliche Zusammenhänge auseinandergerissen
sind. Insbesondere die deutsche Kunst ist zudem darin Fragment, daß sie als
gewußte und geschriebene Geschichte nicht gegenwärtig, eben »unbekannt«
ist. 15 Nach Schlegel »hindert« diese mehrfache Fragmenthaftigkeit der Phä-
nomene allerdings nicht, ihre »Einheit« und »Idee« oder ihr »Ganzes« zu
denken. Aus meiner Perspektive auf das Verfahren von Schlegels Texten ist
der Funktionszusammenhang von realem Fragment und geistiger Einheit
anders zu bestimmen. Gerade die Unvollkommenheit der gegebenen Phä-
nomene macht es möglich, daß die Einbildungskraft zu einer allgemeinen
Darstellung gelangt. Kurz: Sinnliche Fragmentarität ist nicht Hinderungs-,
sondern Ermöglichungsgrund von begrifflicher Allgemeinheit und gedankli-
cher Einheit. Wer sich wie Schlegel lückenhafte Phänomene zur Beschreibung
auswählt oder sie als solche ausgibt, eröffnet damit der Imaginationstätig-
keit einen legitimen Spielraum. Die Gemäldebeschreibungen schließen dann
erneut, wie schon Schlegels Reise nach Frankreich, mit einer Defizitdiagnose
für die eigene Gegenwart und zugleich mit der Vision einer Restauration
religiöser Malerei, die sich an verschiedenen, nicht nur kunst- sondern auch
literarästhetischen Traditionen des europäischen Abendlandes orientiert.
Die sich im »Zweiten« und »Dritten Nachtrag alter Gemälde« vollzie-
hende Interessenverschiebung Schlegels hin zur sogenannten »altdeutschen«
Kunst verdankt sich seiner in Paris beginnenden Freundschaft mit den Brü-
dern Melchior und Sulpiz Boisserée. Erst das durch die Boisserées vermittelte
Interesse an der Gotik macht die existierenden Zeugnisse dieses Baustils zu
sichtbaren Fakten für Schlegel, an denen er bis dahin blind vorbeigereist ist
und denen er jetzt auf zwei weiteren Reisen im Jahr 1804 seine ganze Auf-
merksamkeit zuwendet.16
für altdeutsche Malerei und religiöse Sujets sowie zur Entgegenstellung zur Kunst-
theorie Goethes vgl. Osterkamp, Ernst: Im Buchstabenbilde. Studien zum Verfahren
Goethischer Bildbeschreibungen. Stuttgart 1991, S. 232–241.
15 In den Zusätzen zur Ausgabe dieses Textes von 1823 spitzt Schlegel den Gedanken
der Fragmentarität noch zu: »Die christliche Kunst ist auch außerdem schon an sich
selbst ein Bruchstück geblieben und eigentlich nie vollendet worden [...]« (80). Hier
ist die Unvollständigkeit nicht mehr Produkt der Überlieferung, sondern liegt in den
Dingen selbst.
16 Vgl. dazu auch Bisky, Jens: Poesie der Baukunst. Architekturästhetik von Winckelmann
bis Boisserée. Weimar 2000. »Wir wissen, daß erst ein Hinweis der Brüder Melchior
und Sulpiz ihrem Pariser Lehrer die Augen für die Baukunst des Mittelalters geöffnet
322 Meike Steiger
Von dieser Seite ist die Gegend um Paris noch am einsamsten. Sie hat etwas Unfrucht-
bares und Trauriges, was doch nicht ohne Reiz ist; man fühlt sich zu einer stillen
Schwermut gestimmt. Aber sehr verändert und verstärkt wird dies Gefühl, wenn man
nun wirklich an die Ruinen des alten Münsters [St. Denis] gelangt. Was sich ohne
allzu große Mühe zerstören ließ, ist zerstört; nur die nackten Mauern sind geblieben
und die gewaltigen Säulen und Bogen. [...] Der Anblick dieser Trümmer hob unsre
Gedanken weit weg [...]. 17
Der »Anblick«, die sinnliche Wahrnehmung des Ortes und seiner Architek-
tur lenkt, obwohl Schlegel und seine Begleiter davon stimmungshaft beein-
druckt sind, unmittelbar »weg« vom Gegebenen und wird zum Anlaß, sich
in »Gedanken« zu ergehen. Den Höhepunkt der Briefe auf einer Reise durch
die Niederlande, Rheingegenden, die Schweiz, und einen Teil von Frankreich
bildet die Beschreibung des Kölner Doms, der als Bauruine verfällt.
Abb. 1:
Der unvollendete Kölner Dom um 1828. Gemälde von Johann Heinrich Hintze
hat« (217). Nach dieser anschaulichen Metaphorik Biskys waren es also offenbar nicht
die Gebäude selbst, die Schlegels Sinne zuerst in ihren Bann gezogen haben, sondern
erst die sprachliche Vermittlung hat seine »Augen« für die sinnliche Wahrnehmung
geöffnet. Karl Schlögels eingangs zitiertem topographischen Diktum ›Der Raum ist
– auch ohne uns‹ ist somit zu entgegnen, daß die gotischen Kathedralen natürlich auch
ohne Schlegel existieren, aber durch und für ihn erst zum Faktum werden, als er sie
durch die Vermittlung seiner Freunde zuerst wahrnimmt und in seinen Reisebeschrei-
bungen sprachlich zu fixieren versucht.
17 Schlegel, Friedrich: Briefe auf einer Reise durch die Niederlande, Rheingegenden, die
Schweiz und einen Teil von Frankreich. In: KFSA IV, S. 157.
Friedrich Schlegel: Eine ›Große Karte‹ Europas 323
18 Bisky macht darauf aufmerksam, in welch gravierender Weise Schlegels Vision des
Kölner Doms von dem ehemals Geplanten abweicht. »Dass Friedrich Schlegel eine
Kuppel über der Vierung annahm, zeigt, wie gering seine Kenntnisse damals waren«,
Bisky (s. Anm. 1) S. 223.
19 Bisky bemerkt ebenfalls die Diskrepanz zwischen konkreter Anschauung und Verall-
gemeinerung in den Reiseschriften Schlegels: »Das konfliktreiche Nebeneinander von
Anschauung und projizierender Wahrnehmung, von Historisierung und Vergegenwärti-
gung, von Interesse am Partikularen und dem Wunsch nach Einheit bestimmt die Rei-
sebriefe«, Bisky (s. Anm. 16) S. 218. Und: »Die Verbindung zwischen Wahrnehmung
und Verallgemeinerung ist nur lose geknüpft, ein Einfall muß vermitteln« (221).
324 Meike Steiger
GANZEN notwendig, welches uns sonst nur wie ein Chaos erscheinen würde, in dem
wir uns ohne einen bestimmten geordneten Begriff gänzlich verlieren und verirren
würden.20
Hier ist es nicht länger der Mangel, sondern die Überfülle, die die »Idee des
Ganzen notwendig« macht. Das sprunghafte Anwachsen des Schrifttums
während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, so Schlegels Argument,
kann nicht mehr vollständig archivarisch dokumentiert werden, es muß nicht
nur eine Auswahl getroffen werden, sondern eine vom konkreten Einzelnen
abstrahierende allgemeine Charakterisierung der neueren Literatur wird zur
Orientierung gebraucht. 21 Die aufgrund der Vielzahl der gegebenen Phä-
nomene sich einstellende Unüberschaubarkeit legitimiert, daß allgemeine
Begriffe zu ihrer Beschreibung benutzt werden. Während in den Paris/Kölner
Vorlesungen von 1803/04 das Konzept einer europäischen Kultureinheit, die
oben programmatisch geforderte Ganzheit der Darstellung leitet, verschiebt
sich bei Schlegel nach dem Übertritt zum Katholizismus und dem Eintritt in
österreichischen Staatsdienst bekanntermaßen die Perspektive. Literatur gilt
ihm nun, wie er einleitend in der Wiener Geschichte der alten und neuen
Literatur von 1812 definiert, als »Inbegriff des intellektuellen Lebens einer
Nation«.22 Mittelalterliche Dichtung fungiert dabei als Kernstück der deut-
schen Nationalliteratur. »Es ist mit alten Gedichten, wie mit alten Gemälden,
oder andern Werken der bildenden Kunst; wenn sie zuerst, wie so häufig,
verstümmelt und mit dem Rost der Zeiten bedeckt, ans Licht kommen, ahndet
man oft ihren wahren Gehalt, und hohe Vortrefflichkeit nicht, die wenn sie
erst gereinigt, wieder hergestellt, und dem Sinne zugänglich gemacht wor-
den sind, sich jedem klar vor Augen stellt« (S. 202). Wie in der bildenden
Kunst und der Architektur favorisiert Schlegel auch innerhalb der Literatur
die nur »verstümmelt« überlieferte Dichtung des Mittelalters. So widmet er
dem erst 1755 wiederentdeckten und im gleichen Jahr von Johann Jakob
Bodmer teilweise, 1782 ganz herausgegebenen Nibelungenlied eine ausführ-
liche würdigende Interpretation. In diesem Fall wie auch bei den ebenfalls
von Bodmer zuerst und dann von Tieck 1803 herausgegebenen deutschen
Minneliedern rücken solche Phänomene ins Zentrum der literargeschicht-
lichen Darstellung Schlegels, die wenig bekannt und daher kaum gedeutet
20 Schlegel, Friedrich: Geschichte der europäischen Literatur. In: KFSA XI, S. 4–5.
21 Vgl. zu dieser Umstellung vom Paradigma der ›Vollständigkeit‹ zur »Idee des Ganzen«
im wissenschaftsgeschichtlichen Kontext auch Pabst, Stephan: »Vollständigkeit und
Totalität. Die Allgemeine-Literatur-Zeitung und die Ordnung des Wissens um 1800.«
In: Matuschek, Stefan (Hg.): Organisation der Kritik. Die »Allgemeine-Literatur-Zei-
tung« in Jena 1785–1803. Heidelberg 2004, S. 55–76.
22 Schlegel, Friedrich: Geschichte der alten und neuen Literatur. In: KFSA VI, S. 7.
Vgl. zu diesem Konzeptwechsel Matuschek, Stefan: »Poesie der Erinnerung. Fried-
rich Schlegels Wiener Literaturgeschichte.« In: Oesterle, Günter (Hg.): Erinnern und
Vergessen in der europäischen Romantik. Würzburg 2001, S. 193–205.
Friedrich Schlegel: Eine ›Große Karte‹ Europas 325
worden sind. Die noch unvollkommene Editionslage und die fehlende Deu-
tungstradition machen diese Texte allerdings zum idealen Imaginationsraum
für Schlegels nationale Projekte. Diese »Heldengedichte« sind es, die Schle-
gel zur »Nationalsaga« ausruft, um so für die politische Gemeinschaft der
Deutschen »Nationalgefühle« (S. 201) zu wecken und zu binden. Schlegels
hier ausgesprochenes Projekt ist es, einen imaginären Emotionsraum für ein
Kollektiv zu schaffen, das faktisch körperlich nie als solches gemeinsam
versammelt ist: die ›Nation‹. 23
Zusammenfassend bestechen Schlegels Reise- und Kunstbeschreibungen
sowie seine Literaturgeschichten durch ihren doppelt innovativen Charakter.
Einmal machen sie die in dieser Zeit nicht wahrgenommenen Phänomene
der Architektur, bildenden Kunst und Literatur des Mittelalters zu bekannten
Fakten. Zugleich sind in Schlegels Texten methodisch neue Strategien der
Abschließung gegenüber den sinnlich gegebenen Phänomenen zu beobachten.
Neben die ›Entdeckung‹ faktischer Orte, Architekturen und Künste tritt die
›Erfindung‹ imaginärer Räume. Was zunächst als Widerspruch Schlegelscher
Texte, als Spannung erscheint, läßt sich, das habe ich zu zeigen versucht,
anders perspektiviert als Bedingungsverhältnis ausweisen. Schlegel ›entdeckt‹
oder konstruiert genau solche Fakten, die das Absehen, die Abstraktion vom
Konkreten zugunsten eines Allgemeinen notwendig machen und legitimieren:
das Unvollständige, das Unzugängliche, das Verstreute, das Unbekannte, die
unüberschaubare Fülle etc. Das Fragmentarische der selektierten sinnlichen
Phänomene sowie ins biographische und soziogenetische gewendet das Aus-
einanderbrechen der Jenaer face-to-face Gemeinschaft führen Schlegel über
den Einsatz der Einbildungskraft zu einem neuen Ganzen, einer mental map,
die nicht nur Orte, Architekturen und Künste ordnend verzeichnet, sondern
durch ihren imaginären Anteil zugleich einen Reflexions- und Emotionsraum
für den Gesellschaftskörper bereitstellt.24
Räume und Orte, davon war ich mit dem topographischen Ansatz aus-
gegangen, lassen sich nicht erzählen, nicht in ein historisches Narrativ ein-
passen. Der Tendenz des topographischen Ansatzes zur Naturalisierung des
Raumes allerdings widersprechen die Ergebnisse meiner Schlegel-Interpre-
tation. »Bevor wir wahrnehmen, was sich bewegt und was sich entwickelt,
nehmen wir wahr, was ist. Wir sind in dieser Welt, die uns umgibt und die
uns hält, ohne dass wir etwas dazu tun müßten [...].«25 Daß die stets selek-
tierende und damit aus- und eingrenzende Wahrnehmung sowie die Kartie-
rung von Orten und Räumen sehr wohl etwas hinzutun und erst mit dieser
imaginären Dimension den ›Halt‹ einer Gemeinschaft ermöglichen, war mir
dabei weniger wichtig zu zeigen, als wie diese Abstraktion vom Konkreten
verfährt, welche konzeptuellen und methodischen Verfahren dazu entwickelt
werden. Während das historische Narrativ in seiner professionellen Spiel-
art als Geschichtswissenschaft sich inzwischen selber in Hinsicht auf seine
Darstellungsverfahren, die ›Großen Erzählungen‹, reflektiert, ist der Gewinn
der topographischen Methode, wie sie in meinem Aufsatz zum Zuge kommt,
die Analyse der Abstraktionsleistungen von ›Großen Karten‹. Wie ›master
maps‹ konstruiert sind, wie sie vom Konkreten zum Allgemeinen, vom sinn-
lich Gegebenen zum Imaginären gelangen, daß hat meine Interpretation am
Beispiel von Schlegels Texten zeigen wollen.
Friedrich Schlegels Bemühungen, seinem europäischen Projekt institutio-
nell ein Fundament zu geben, sind gescheitert. Das Vorhaben, eine »Académie
Allemande« in Paris zu gründen, worüber er mit dem französischen Erzie-
hungsminister verhandelt und eine schriftliche Darlegung vorlegt, gelingt
nicht.26 Seine nationalen Imaginationen hingegen haben nicht nur Emoti-
onsräume des politischen Kollektivs geschaffen, sondern ebenso betret- und
besichtigbare Orte. »Man darf [...] überhaupt wohl nicht eher neue Hoff-
nungen für die Kunst in Deutschland hegen, als bis ein kunstliebender und
deutsch gesinnter Fürst alle noch vorhandnen [...] Denkmale des deutschen
Kunstgeistes so viel als möglich in eine Sammlung altdeutscher Gemälde zu
vereinigen suchen wird [...].«27 Was sich 1804 in den Gemäldebeschreibungen
noch als Wunsch artikuliert, ist zum Zeitpunkt der Neuausgabe des Textes
1823 wahr geworden, wie Schlegel in einer Anmerkung hinzufügt.
Dieser Wunsch ist seitdem durch die Boisseréesche Sammlung auf eine Weise in
Erfüllung gegangen, die alle Erwartung, welche man von der damals noch so wenig
erkannten Herrlichkeit der altdeutschen Kunst fassen mochte, weit übertroffen hat.
Aber nicht bloß durch den Reichtum an den seltensten Meisterwerken mannichfacher
Art, sondern eben so sehr auch durch die geschichtliche Ordnung und Vollständigkeit,
durch den richtigen Sinn und künstlerischen Verstand, mit welchem dieses meisterhafte
Kunst-Ganze altdeutscher Art zusammengebracht worden, verdient es als ein Vorbild
für alle ähnlichen Unternehmungen betrachtet zu werden [...] (S. 120f.).
* Ich danke den Kolleginnen und Kollegen des DFG-Symposions »Topographien der
Literatur – Deutsche Literatur im transnationalen Kontext« vom Oktober 2004 in
Blankensee für ihren Kommentar und ihre Kritik einer früheren Version dieses Papiers.
Besonderer Dank gilt Kyung-Ho Cha, Berlin, und Daniel Fulda, Köln, für wertvolle
Einzelhinweise.
1 Soja, Edward W.: Postmodern Geographies. The Reassertion of Space in Critical
Social Theory. Chicago 1989, S. 1.
2 Ebd.
3 Schlögel, Karl: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geo-
politik. München 2003, S. 47.
Im Konflikt der Topographien 329
Zögern vieler Wissenschaftler aus dem Spektrum der Jewish Studies »to
venture beyond their own intellectual province«15. Gewichtiger jedoch scheint
eine andere Kategorie handfester Vorbehalte zu sein, die einer Einbeziehung
des ›jüdischen Falls‹ in die postkolonialistische Perspektive entgegenste-
hen:
the widespread impression of scholars outside of Jewish studies that the Jewish histo-
rical and cultural experience is part and parcel of a white Eurocentric majority culture.
To many, the Jews neither look different nor, in most cases, speak a different language
from the majority culture. Further, both in Central and Western Europe prior to World
War II and in the contemporary United States, Jews achieved a level of affluence that
qualified them to be counted among the most economically privileged members of
society. Consequently, they are viewed as not sufficiently different from, or oppressed
by, the mainstream to warrant inclusion as a diaspora or transnational group, which
becomes in the postcolonial lexicon an unmistakably political designation.16
Reserven dieser Art scheinen eher ideologisch als theoretisch motiviert; doch
J. Hillis Miller hat gezeigt, daß sich auch grundsätzliche Vorbehalte gegen
jede Übertragung von Theorie ins Feld führen lassen. In seiner intensiven
Auseinandersetzung mit verschiedenen topographischen Diskursen hat er
auf die charakteristischen Bindungen aller Theorie an ihren Herkunftsraum
aufmerksam gemacht: »Though theory might seem to be as impersonal and
universal as any technological innovation, in fact it grows from one parti-
cular place, time, culture, and language. It remains tied to that place and
language.«17 Diese Bindung äußert sich vor allem in zweifacher Hinsicht.
»One is the untranslatability of the conceptual words that form the core of
the given theory.«18 Als Beispiele führt Miller u.a. die Worte »allegory«
und »Erscheinung«19 an und stellt fest: »Each of these words has a long
history within Western culture and cannot easily be detached from that his-
tory. […] conceptual words […] carry with them a silent history«.20 Der
zweite Aspekt, der die Übersetzbarkeit von Theorie beeinträchtigen muß,
sind die in den Texten selbst angeführten Beispiele: »There is no work of
theory without examples. The examples are essential to the theory. The theory
cannot be fully understood without these examples.«21 Miller begreift alle
Theorie als »a complex relation to reading and to a given nation’s cultural
projects«22 und zieht den Schluß: »When theory travels it is disfigured, defor-
med«23; jede ihrer Übertragungen sei daher gezeichnet von »essential dis-
tortion«24.
Diese Einwände scheinen besonders augenfällig in Hinblick auf eine
Anwendung postkolonialistischer Theoriearbeit auf die jüdische Geschichte.
Und dennoch hat David N. Myers, der moderne jüdische Geschichte und
Philosophie am Center of Jewish Studies der University of California in
Los Angeles unterrichtet, nachhaltig für eine solche Anwendung plädiert.
In seinem 1997 erschienenen Aufsatz unter dem Titel »›The Blessing of
Assimilation‹ Reconsidered: An Inquiry into Jewish Cultural Studies« heißt
es: »New insights drawn from the ever-malleable field of cultural studies,
particularly those focused on diaspora and transnational communities, offer
both novel and fertile grounds for rethinking the phenomenon of assimila-
tion.«25 Myers‹ Ausführungen legen erneut offen, daß in der Diskussion post-
kolonialistischer Theorie stets der für sie konstitutive topographische Diskurs
mitverhandelt wird – etwa, wenn er das »common interest« von Autoren und
Wissenschaftlern wie Salman Rushdie, Toni Morrison, Edward Said, Gayatri
Spivak und Homi Bhabha »in the interstitial, the space that exists between
(and renders problematic) fixed cultural boundaries«26 vermerkt, oder wenn
er darauf aufmerksam macht, daß die »contributors to this new discourse«
– gleich, ob sie über Chinesen, Inder, Afrikaner oder die Bevölkerung der
Karibik schreiben – eine gemeinsame Sprache teilen: »they speak of the
process of cultural formation in terms of diaspora or transnational communi-
ties.«27 Myers sucht seinem Plädoyer durch den Hinweis auf verschiedenar-
tige Vorgänger Nachdruck zu verleihen. Nicht nur erkennt er in dem in seinem
Aufsatztitel genannten, bereits 1966 gehaltenen Vortrag Gerson Cohens einen
Begriff der Assimilation und Akkulturation, der dem der postkolonialistischen
Autoren sehr nahe kommt28; zugleich führt er Jonathan und Daniel Boyarin
an, die in ihrem 1993 im »Critical Inquiry« erschienenen Artikel »Diaspora:
Generation and the Ground of Jewish Identity« ihrerseits eine Bestimmung
der kulturellen Identität in der Diaspora vorgenommen haben, die gleichfalls
eng mit der postkolonialistischen Auffassung der Diaspora korrespondiert.29
Darüber hinaus verweist er auf das Beispiel von Paul Gilroys Black Atlantic;
das Standardwerk der postkolonialistischen Theoriebildung enthält einen aus-
führlichen Vergleich historischer jüdischer Erfahrungen mit den Erfahrungen
von Afro-Amerikanern im Zeitalter von Kolonialismus und Postkolonialis-
mus.30 Gilroy, so Myers, »calls attention to a process of black cultural forma-
tion that is analogous to the process of Jewish assimilation […]; moreover,
he makes explicit the virtues of comparing the historical experiences of Jews
and blacks. Such a comparative perspective can produce, as it does in Gil-
roy’s book, a genuinely humanizing effect.«31 Mit Blick auf die spezifisch
US-amerikanische Konstellation ruft Myers schließlich auf zur »integration
of the Jewish experience into the unfolding narrative of multicultural identity
formation in the United States.«32
Die deutliche Reserve, die einem solchen Aufruf unverändert entgegen-
stand, wird beispielsweise deutlich in einem etwa zeitgleich erschienenen
Aufsatz Todd Herzogs über »Hybrids and Mischlinge: Translating Anglo-
American Cultural Theory into German«. Sie kommt nicht zum geringsten
in seiner theoretischen Unschärfe zum Ausdruck. Der postkolonialistische
Schlüsselbegriff der Hybridität, dessen Kritik im Mittelpunkt des Aufsatzes
steht, ist seinerseits untrennbar an den topographischen Diskurs der postko-
lonialistischen Theorie geknüpft: Das »border crossing« bildet, wie Herzog
zurecht schreibt, »the locus classicus of a hybrid identity«33; erst im Zwi-
schenraum, den »space[s] of negotiation«34, in der Liminalität35 kann Hybri-
dität entstehen und erworben werden. Unter Verweis auf Beispiele deutsch-
sprachiger Literatur von Juden nach 1989/90 sucht Herzog nachzuweisen, in
welchem Maß »the celebration of migration« – »a chestnut of postcolonial
theory«36 – von den historischen und aktuellen Erfahrungen von Juden in
Mitteleuropa konterkariert wird: »The positive nature of migration, exile,
and cultural hybridity so celebrated in postcolonial theory is nowhere to
be found«37; im Gegenteil, die Anstrengung, »the notion of the ›wandering
Jew‹« umzuwidmen »in a positive position«, Jüdisch-Sein zu begreifen als
»›a form of historical and racial in-betweenness‹«38 würden ausgebremst
durch die Beharrlichkeit der älteren Begriffe in der kulturellen Erinnerung
Ausgang von textuellen Zeugnissen aus dem Archiv, in denen selbst topo-
graphische Diskursivität unmittelbar zum Ausdruck kommt, mithin Nutzen
im ›Gebrauch‹ der geschichtlich Handelnden einst erwiesen zu haben schien.
Eine behutsame synchrone Lektüre solcher einst geübter historischer topo-
graphischer Diskursivität und des topographischen Diskurses der Cultural
Studies mag dazu beitragen, den Blick auf die Möglichkeiten und Grenzen
des letzteren, seine Produktivität im Kontext jüdischer (Kultur-)Geschichte
zu schärfen.
II
Eine jüdische Topographik hat es seit altersher gegeben – ihr ›Grundbuch‹ ist
die Heilige Schrift. Unter Bezug auf W. D. Davies’ The Territorial Dimen-
sion of Judaism stellen Daniel und Jonathan Boyarin fest: »There are two
diametrically opposed moments in the Jewish discourse of the Land. On the
one hand, it is crucial to recognize that the Jewish conception of the Land
of Israel is similar to the discourse of the Land of many (if not all) ›indig-
enous‹ peoples of the world. Somehow the Jews have managed to retain
sense of being rooted somewhere in the world through twenty centuries of
exile from that someplace (organic metaphors are not out of place in this
discourse, for they are used within the tradition itself).«43 Kritisch weisen die
Boyarins auf den Widerspruch zwischen einer Denunziation dieser Bindung
der Juden an ihr Land als »regressive«, während gleichzeitig »the attachment
of native Americans or Australians to their particular rocks, trees, and deserts
is celebrated as an organic connection to the Earth that ›we‹ have lost.«44
Doch zielen die Autoren im Kern ihrer Ausführungen nicht auf eine Gleich-
gewichtung des Anspruchs der Juden auf ihr Land mit den entsprechenden
Forderungen der amerikanischen und australischen Ureinwohner, sondern
auf eine grundlegende Kritik von »indigenousness« (Eingeborensein) und
»autochthony« (Ureinwohnerschaft). Dazu berufen sie sich auf das zweite
Moment des topographischen Diskurses in der Bibel.
On the other hand, the biblical story is not one of autochthony but one of always al-
ready coming from somewhere else. […] the concept of a divine promise to give this
land that is the land of Others to His People Israel is the sign of a bad conscience for
having deprived the Others of their Land […]. Thus, at the same time that one vitally
important strain of expression within biblical religion promotes a sense of organic,
›natural‹ connectedness between this People and this Land – a settlement in the Land
– in another sense or in a counterstrain, Israelite and Jewish religion is perpetually
an unsettlement of the very notion of autochthony. – Traditional Jewish attachment
Zu den spektakulärsten unter den frühen Zeugnissen aus der Geschichte deut-
scher Sprachkultur von Juden zählte seit seiner Erstveröffentlichung 1754
Lessings Drama Die Juden. Lange galt es »als der erste Versuch in Deutsch-
land, Juden positiv darzustellen.«64 Nachdem ein Unbekannter einen Baron
während eines Überfalls durch zwei vermeintlich jüdische Räuber zu Hilfe
gekommen war und den Baron hatte retten können, ist es für den letzteren
eine Ehrensache gewesen, seinen Retter auf sein Anwesen einzuladen. Wäh-
rend sich dem Zuschauer rasch offenbart, daß ein Vogt und ein Schulze, die
im Dienst des Barons stehen, für den versuchten Raubzug verantwortlich sind
und unter Zuhilfenahme künstlicher Bärte eine falsche Spur hatten legen wol-
len, entspinnt sich die obligatorische Romanze zwischen dem Unbekannten
und der Tochter des Barons. Erst im vorletzten Auftritt des Stückes, da sich
der Baron schon an der Aussicht darüber freut, die edle Tat seines Retters
durch die Heirat mit seiner Tochter angemessen vergelten zu können, offen-
bart dieser: »›Ich bin Jude.‹« – »›grausamer Zufall‹« für den Baron, Beispiel
eines Falles, »›wo uns der Himmel selbst verhindert, dankbar zu sein‹«65.
Sander Gilman hat in seinem Kommentar zu Lessings Juden auf die kon-
stitutive Bedeutung hingewiesen, die der Sprache im nichtjüdischen Bild vom
Juden zukommt. Das Drama versammelt die wichtigsten der antijüdischen
Stereotype. Ihren unter den ›einfachen Leuten‹ vorherrschenden Modus arti-
kuliert der Vogt, wenn er feststellt, daß die Juden »›ein Volk [sind], das der
liebe Gott verflucht hat‹« und ohne Ausnahme »›Betrüger, Diebe und Stra-
ßenräuber‹«66. Die Anschauungen des Barons sind dagegen etwas elaborier-
ter. Seine Gleichsetzung von »Handelschaft« mit »Betrügerei«, zu der seiner
Auffassung nach das Volk der Juden »gemacht« sei, könnte von ferne auf
eine Vulgärversion der Milieutheorie deuten, derzufolge die Abdrängung der
Juden auf bestimmte Berufsfelder ihrer moralischen Ausbildung abträglich
gewesen sei. ›Wissenschaftlich‹, mithin in Einklang mit dem vorherrschenden
Diskurs der Aufklärung und in diesem Sinne ›modern‹ gibt sich des Barons
Bild vom Juden jedoch endgültig im Ausdruck der Überzeugung, daß »das
Tückische, das Ungewissenhafte, das Eigennützige, Betrug und Meineid« sich
in »ihre[r] Gesichtsbildung« ausdrücken müsse. Kaum hat er dies gegenüber
seinem Retter zum Ausdruck gebracht, wendet sich dieser von ihm ab und
64 Gilman, Sander L.: Jüdischer Selbsthaß – Antisemitismus und die verborgene Sprache
der Juden. Frankfurt a.M. 1993, S. 80. Ein noch früherer Versuch ist Christian Fürch-
tegott Gellerts 1747/48 erschienener Roman Das Leben der schwedischen Gräfin von
G…, der bereits unter diesem Aspekt in der berühmten Kritik von J. D. Michaelis an
Lessings Juden erwähnt wird.
65 Lessing, Gotthold Ephraim: »Die Juden«. In: ders.: Dramen. Mit einem Nachwort
herausgegeben von Kurt Wölfel. Frankfurt a.M. 1998, S. 109–149, hier S. 147.
66 Lessing (s. Anm. 65), S. 114.
Im Konflikt der Topographien 339
sagt: »‹Wie ich höre, mein Herr, so sind Sie ein großer Kenner der Physio-
gnomie; und ich besorge – › DER BARON: »›O! Sie kränken mich. Wie können
Sie auf dergleichen Verdacht kommen? Ohne ein Kenner der Physiognomie
zu sein, muß ich Ihnen sagen, dass ich nie eine so aufrichtige, großmütige
und gefällige Miene gefunden habe, als die Ihrige.‹«67 Die Passage illustriert
die folgende Beobachtung Gilmans am Bild des Juden in Lessings Drama,
eine Beobachtung, die auch darüber hinaus gehende Geltung beanspruchen
kann: »Fällt erst einmal der Unterschied in der Sprache weg, fallen auch alle
anderen Unterscheidungsmerkmale, einschließlich der Physiognomie, weg.«68
Dieser Antizipation einer Sprache der Juden, die ununterscheidbar ist von
jener der Nichtjuden, durch Lessing kommt umso größere Bedeutung zu, als
zum Zeitpunkt von Niederschrift69 wie Veröffentlichung nach einer modernen
Schätzung die moderne jüdische Bildungselite in deutschen Territorien wahr-
scheinlich aus nicht mehr als »einige[n] Dutzend«70 Menschen bestand.
Topographische Diskursivität artikuliert sich jedoch in Lessings Juden
vorzüglich an anderer Stelle: Die Figur des Unbekannten, der sich zuletzt als
Jude zu erkennen gibt, firmiert fortlaufend als DER REISENDE. Solcher Kenn-
zeichnung mußte Gewicht vor allem dadurch zuwachsen, daß die Rezeption
zeitgenössischer Dramen häufig von der Lektüre – statt von Inszenierungen
– ihren Ausgang nahm.71 Am Beispiel der beiden Protagonisten von Lessings
Drama – DEM REISENDEN und DEM BARON – erweist das von Paul Gilroy
eingeführte Homonym »roots/ routes«72 geradezu paradigmatische Evidenz.
»[…] ›root‹ connotes a search for ultimate origins and fixed identity. By
contrast, ›route‹ conveys a sense of passage, of ceaseless and agitated move-
ment, of dynamic creativity.«73 In den Bezeichnungen DES REISENDEN und
DES BARONS sind diese Attribute nahezu idealtypisch symbolisiert. Der Titel
des Barons bezeichnet einen Adelsrang, d.h. einen Stand, dessen Selbstver-
ständnis und Bestimmung zum einen auf einer nachweislichen Genealogie,
mithin einer den konkreten Körpern eingeschriebenen Herkunft beruhte, zum
andern auf einer, in der Regel durch das Erbrecht mit dieser Genealogie ver-
knüpften Beziehung zu einem genau bestimmten Stück Land, auf dem der
Baron ›seit altersher‹ sein ›Stammhaus‹ hatte. Ein Baron ›ohne Land‹ war
gemeinhin nur denkbar als kurioser Sonderfall74 oder als Krisensymptom der
Einrichtung des Adels schlechthin. Die Topographie des Barons kennt ein
eindeutiges Zentrum – seine eigenen Liegenschaften, in der Regel mit dem
Stammhaus und damit dem eigenen Geburtsort versehen; jenseits der Gren-
zen des eigenen Landes strukturieren die je spezifischen lebensweltlichen
Erfordernisse den Raum: etwa die Entfernung zur Residenz des Landesherrn
oder den Sitzen politischer oder wirtschaftlicher Partner oder Gegner. Die
Bezeichnung DER REISENDE kennt keine vergleichbar traditionsgebundene
Bestimmung. Das bezeichnete Subjekt wird durch nichts bestimmt als durch
seine Bewegung durch den Raum; ja, die Bewegung, durch die Raum selbst
erst eigentlich erfahrbar wird, erhält unweigerlich das Gewicht einer das
Subjekt charakterisierenden, distinktiven Eigenschaft. Weniger vielleicht die
Erfahrung des Reisens an sich als eher die der Migration, einer überlieferten
und einer aktualisierten Erfahrung des Exils75, scheint entscheidend zu sein
für die Reserve DES REISENDEN gegenüber jedwedem »‹allgemeine[n] Urteil
über ganze Völker – Sie werden meine Freiheit nicht übel nehmen. – Ich
sollte glauben, dass es unter allen Nationen gute und böse Seelen geben
könne.‹«76 Solche Einsichten mögen sich einem Gast verschiedener Völker,
einem Hilfesuchenden zumal durchaus eindrücklicher eröffnen als einem Feu-
dalherrn, dessen Haftung am Boden seiner Herkunft – ›Verwurzelung‹ – in
der lebensweltlichen Praxis stets auch Immobilität bedeutete.
Doch einer solchen Lektüre des Begriffs und der Figur DES REISENDEN –
als symbolische Markierung von Raum- (und Zwischenraum-)Erfahrung
als Geburtsort »einer interkulturellen und transnationalen Gegenkultur der
Moderne«77 – stehen andere Aspekte entgegen. Die dramaturgisch ausge-
schriebene explizite Gegenüberstellung DES REISENDEN zum BARON mag zwar
zum einen mit allem Nachdruck ihre Differenz zueinander unterstreichen;
zugleich jedoch reißt sie die Option einer Analogie auf, in der die genealo-
gische Bestimmung DES BARONS durchaus nahe legen könnte, die Bewegung
des Reisens als vergleichbar genetische Disposition DES REISENDEN aufzu-
fassen. Dieser Aspekt weist schon auf die prekärste Komponente, die jedem
Bild des Juden als »Reisendem« in der Mitte des 18. Jahrhunderts anhaften
mußte: ihre zwingende Korrespondenz zur epidemischen Figur des »wan-
dernden Juden«, den antijüdischen Ausformungen der Ahasver-Legende78.
es sehr ungern sehen, wenn […] die jüdisch-deutsche Mundart und die Vermischung
des Hebräischen mit dem Deutschen durch die Gesetze autorisiert würden. Ich fürchte,
dieser Jargon hat nicht wenig zur Unsittlichkeit des gemeinen Mannes beigetragen;
und verspreche mir sehr gute Wirkung von dem unter meinen Brüdern seit einiger Zeit
aufkommenden Gebrauch der reinen deutschen Mundart. Wie würde es mich kränken,
wenn die Landesgesetze selbst jenem Missbrauche beider Sprachen gleichsam das
Wort redeten! – Lieber mag Herr Fränkel sich die Mühe geben, die ganze Warnung
in reines Hebräisch zu setzen, damit sie, nach Beschaffenheit der Umstände, rein
deutsch, oder rein hebräisch, oder auch in beiden Sprachen abgelesen werden könne.
Nur keine Vermischung der Sprachen!85
85 Moses Mendelssohn an Ernst Ferdinand Klein, 29. August 1782. In: JubA. Bd. 13, S.
80.
86 Vgl. zuletzt Schatz, Andrea: »Entfernte Wörter. Reinheit und Vermischung in den
Sprachen der Berliner Maskilim«. In: Brocke, Michael/Pomerance, Audrey/Schatz,
Andrea (Hg.): Neuer Anbruch. Zur deutsch-jüdischen Geschichte und Kultur. Berlin
2001, S. 243–261.
87 Einführend Battenberg, Friedrich: Das Europäische Zeitalter der Juden. Darmstadt
1990. Teilband II: Von 1650 bis 1945, S. 65ff.
88 Vgl. Altmann (s. Anm. 83), S. 377.
Im Konflikt der Topographien 343
und damit eines konstitutiven Anliegens der Haskala zu nutzen suchte. Noch
war nicht erkennbar, daß diese neue Topographie, deren konzeptuelle, aber
auch lebenswirkliche Integrität als ein jüdisches Projekt 1782 noch unange-
tastet schien, binnen kürzester Zeit zur willkommenen Anschlußstelle, zu
einer neuen Plattform der radikalen Forderung von Seiten der nichtjüdischen
Mehrheitsgesellschaft nach rißloser Assimilation werden sollte – mit Aussicht
auf eine vollkommene gesellschaftliche und kulturelle Integration.
Die Passage wirft ein Schlaglicht auf die fundamentalen Veränderungen, die
seit Mendelssohns Brief an Klein stattgefunden hatten. Heine, dessen Mut-
tersprache Westjiddisch war, gehörte zur ersten Generation deutscher Juden,
die zu staatlichen Schulen, bald darauf auch zu den Universitäten zugelassen
wurde. In seinem Beitrag für den Rheinisch-Westfälischen Anzeiger spricht
er ganz selbstverständlich ein nichtjüdisches Publikum an; ein von den histo-
rischen Bedingungen isolierter Blick auf das Dokument könnte den Ein-
druck hervorrufen, der junge deutschsprachige Jude habe ›wie jeder andere‹
an einem öffentlichen Diskurs über literarische Fragen in Deutschland teil
– Beispiel jener kulturellen Unsichtbarkeit jüdischer Identität, auf die das Pro-
jekt der Emanzipation der Juden als Assimilation, wie sie die nichtjüdischen
Aufklärer verstanden, zielte. Heines Text blockiert solche Lesart – durch
eine Figur, in der sich sein Bekenntnis als Jude zur deutschen Sprache, zum
»deutschen Wort«, mit dem topographischen Diskurs der historischen Stunde
paradigmatisch kreuzt.
Der Textaufbau der Passage verdient genauere Beachtung. Zum Zeitpunkt,
da der Verfasser vom »deutschen Wort« als »unser[em] heiligste[n] Gut«
spricht, hat er sich noch nicht als jemand, dem »ein Vaterland verweiger[t]«
wird, zu erkennen gegeben – während die Lesenden in dem aufgerufenen
Wir, der diskursiven Konvention nach, noch ganz an ihr eigenes, homogenes
95 Heine, Heinrich: »Die Romantik«. In: ders.: Sämtliche Schriften. Hg. von Klaus Brieg-
leb. München 1997. Bd. 1, S. 399–401, hier S. 399.
Im Konflikt der Topographien 345
Kollektiv der Deutschen denken müssen, weiß der Verfasser über dieses von
ihm an dieser Stelle benutzte Wir schon mehr. Es folgen Signalformeln, die
die politische Aufladung deutscher Sprachlichkeit seit Beginn des 19. Jahr-
hunderts zum Ausdruck bringen und die bereits das Projekt einer Umwand-
lung der Verbreitungstopographie deutscher Sprache in ein Kartierungsprojekt
politischer Grenzen antizipieren: Sprache als »Grenzstein Deutschlands, den
kein schlauer Nachbar verrücken kann, ein Freiheitswecker, dem kein fremder
Gewaltiger die Zunge lähmen kann, eine Oriflamme in dem Kampfe für das
Vaterland«. Zwar war die Definition Deutschlands durch seine Sprachgren-
zen durchaus nicht neu. Bereits 1539 war sich Sebastian Franck »gewiß, daß
Germania Teutschland sich allweg so weit hat erstreckt, so weit teutsch zung
ist gangen«96. Neu jedoch war zum einen die ausdrückliche Verschränkung
der Sprachlichkeit in eine Vorstellung des Eingeborenseins (und damit einer
signifikanten Verbindung zum Boden), zum zweiten die Verwandlung dieser
Perspektive in ein explizites politisches Projekt. Dieser Prozeß ist recht gut
ablesbar in den Definitionen der Begriffe »Nation« und »Vaterland« in Ade-
lungs Grammatisch-kritischem Wörterbuch zu Beginn des Jahrhunderts. In
einer älteren, von Adelung 1808 noch mit aufgeführten Bedeutung bezeich-
net ›Nation‹ »einerley Mundart redende Einwohner einer Provinz«. In der
aktuellen Bedeutung steht ›Nation‹ jedoch für die »eingeborenen Einwohner
eines Landes, sofern sie einen gemeinschaftlichen Ursprung haben, und eine
gemeinschaftliche Sprache sprechen, sie mögen übrigens einen einzigen Staat
ausmachen, oder in mehrere verteilet sein.«97 Der zunächst einzige – sprach-
liche – Parameter ist nun ergänzt durch die Begriffe des Eingeborenseins und
des Ursprungs, die zudem an die erste Stelle gerückt sind; der angefügte
Verweis darauf, daß die sprachliche Topographie nicht zusammenfällt mit
der politischen (»Staat«), läßt offen, ob hier einem verbreiteten Fehlurteil
in der Leserschaft begegnet oder aber ein bedauerter Widerspruch zwischen
Idee und Wirklichkeit markiert werden soll. Im Adelungschen Eintrag zum
Stichwort »Vaterland« kommt Sprache nicht mehr vor. »Vaterland« bezeich-
net »das Land des Vaters oder dasjenige Land, in welchem der Vater einhei-
misch ist oder gewesen, d.i. dasjenige Land, in welchem jemand geboren und
erzogen worden. In seinem Vaterlande sterben. Die Liebe zum Vaterlande.«98
Im Wort Vaterland sind genealogischer und topographischer Diskurs unlöslich
96 Hier zitiert nach Giesecke, Michael: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit – Eine
historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunika-
tionstechnologien. Frankfurt a.M. 1998, S. 496. Giesecke betont die Bedeutung der
Erfindung des Buchdrucks in der Genese des Projekts einer (nationalen) Sprachge-
meinschaft.
97 Adelung, Johann Christoph: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen
Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der
oberdeutschen. Wien 1808.
98 Ausgabe 1811.
346 Stephan Braese
ineinander verschränkt: Das Vaterland wird über die Abstammung, nicht die
Sprache, bestimmt. Jedoch nicht diese deutliche Trennung zwischen Sprache
und Abstammung, sondern, im Gegenteil: die Vorstellung ihres Ineinander-
aufgehens ist charakteristisch für die ideologische Arbeit der Anwälte eines
nationalstaatlichen Projekts Deutschland in den Jahren nach den Befreiungs-
kriegen.99 Genau in diese Vorstellungswelt spricht auch Heine, wenn er ein
durch den »Grenzstein« Sprache definiertes Territorium ganz selbstverständ-
lich als »Vaterland« bezeichnet. Der Projekt-, d.h. der zukunftsgerichtete Cha-
rakter dieses Unternehmens, zugleich seine unmittelbar politische Virulenz,
kommen schließlich unmißverständlich zum Ausdruck in den Formulierungen
vom »Freiheitswecker« und vom »Kampfe«.
Erst ganz am Ende dieses Satzes, der mit der Rede von »unser[em]
heiligste[n] Gut« eingesetzt hatte, gibt der Verfasser zweierlei über sich zu
erkennen: zum einen, daß jene Deutschen, die für sich den Anspruch auf ein
Vaterland erheben, ihm keines zuerkennen; zum andern, daß er eben dieses
selbe Vaterland auch als sein Vaterland erfährt: »ein Vaterland selbst dem-
jenigen, dem Torheit und Arglist ein Vaterland verweigern«. Die in dieser
Formulierung denkbar diskret artikulierte Erfahrung der Ausstoßung, genauer:
der niemals erfolgten Zulassung zur deutschen Mehrheitsgesellschaft, legt
offen, daß die in der nationalistischen Ideologie weithin propagierte Identifi-
zierung von Sprache und ›Abstammung‹ in Hinblick auf Juden nie Gültigkeit
erlangt hatte.100
Diese Erfahrung findet sechs Jahre später Ausdruck in einer sprechenden
Variante des Begriffs »Vaterland«. Im Manuskript einer geplanten Fortsetzung
der Harzreise heißt es:
Was verdankt man nicht alles den Juden! Daß man ihnen das Christentum selbst ver-
dankt, will ich nicht erwähnen, da noch wenig Gebrauch davon gemacht worden ist.
Aber die Erfindung der Wechsel, des Agio und des Kreuzes! Ist man ihnen nicht den
größten Dank schuldig? Und doch will ihr deutsches Stiefvaterland ihnen nicht mal
gewähren statt des Handels mit alten Hosen auch mal zur Abwechslung königlich
preußische Referendarien oder Advokaten zu werden!101
99 Beispielhaft dafür etwa die Arbeit der Grimm-Brüder oder auch das Selbstverständ-
nis der Mundart-Autoren dieser Zeit. Vgl. auch Braese, Stephan: »Hebels letzter
Kalender«. In: ZfdPh, 120. Band (2001) H. 4, S. 502–526, bes. S. 505ff.
100 Vgl. dazu Braese, Stephan: »›…wenigstens Menschen-Gestalt‹. Georg Christoph
Lichtenbergs Kritik der Konversion«. In: literatur für leser. 26. Jg. (2003) H. 3, S.
129–144.
101 Heine, Heinrich: »Aus dem Manuskript einer geplanten Fortsetzung der ›Harzreise‹».
In: ders.: Sämtliche Schriften. Herausgegeben von Klaus Briegleb. München 1997.
Bd. 2, S. 609–615, hier S. 609.
Im Konflikt der Topographien 347
mich. In den Häusern, wo ich Kinder unterrichtete und für die Stunde 10 Sil-
berkreuzer, nach jetzigem Gelde 16 ½ Kreuzer, erhielt, sah man mich völlig
ehrerbietig und verwundert an, ohne übrigens das Unterrichtsgeld respektvoll
zu erhöhen. Ich bekam Einladungen in mir völlig unbekannte Häuser zum
Diner, Karten zu Bällen und manche fesche Wienerin rühmte sich dessen
gerne, mit dem jungen Dichter getanzt zu haben. – Naive Zeiten das!«102 Das
Buch machte Frankl, so William O. McCagg, zu einem »velveteen boy of the
1830s, an Austrian Wordsworth, as it were, if not quite a Byron.«103
McCaggs Charakterisierung deutet schon an, daß dieser Erfolg Frankls
gerade auch in der »second society«104 kaum möglich gewesen wäre, hätte
er den Anschauungen, die die Partei der Reaktion um Metternich bestimmte,
ungebrochenen poetischen Ausdruck verliehen. Die oppositionellen Strö-
mungen hatten auch Frankl erreicht. Der Aufstand der Polen 1830, von dem
der Metternich-Apparat jegliche Nachricht in Österreich zu unterdrücken
versuchte, verleitete ihn zur Abfassung eines solidarischen Gedichts;105 den
Aufstand und die Juli-Revolution erinnert Frankl als jene Ereignisse, die
»auch die Geister in Österreich in eine elektrische Spannung« versetzt hat-
ten: »Eine Morgenlerche stieg singend empor und es überkam die Ostlande
wie eine Frühlingsahnung. ›Darf ich so frei sein, frei zu sein?‹ fragte die in
den Salon des Fürsten Metternich eintretende Freiheit«106. Der junge Dichter
nutzt geschickt die Möglichkeiten, im Verlauf seiner kurzen Audienzen den
Kaiser kritisch auf die Zensur, die das Ansehen in Wien erschienener Bücher
in In- und Ausland schädige, sowie den Thronfolger auf sein Judentum, das
die vom Fürsten vorgeschlagene Hochschullaufbahn verbiete, hinzuweisen
– »‹Ah so!‹ meinte der Kronprinz. ›So studieren S’ halt weiter Medizin und
wenn Sie wieder was Schön’s gedicht’ haben, so bringen S’ mir’s.‹ Er neigte
freundlich sein Haupt und ich war entlassen.«107
Eine Zensur-Episode aus der Vorgeschichte des Habsburgliedes gibt einen
Hinweis darauf, wie Frankl in der Feier des Herrscherhauses neues, liberales
Ideengut als Konterbande auf den Weg zu bringen suchte. In seinen nachge-
lassenen Erinnerungen notierte Frankl: »In der Reihe der österreichischen
Regenten, die ich in meinem ›Das Habsburglied‹ genannten Balladenbuche
vorführte, widmete ich, selbstverständlich, als dem glänzend sympathische-
sten Kaiser, Josef II. ein Gedicht, in welchem ich sein Geschick schilderte,
102 Frankl, Ludwig August: Erinnerungen. Herausgegeben von Stefan Hock. Prag 1910,
S. 166.
103 McCagg (s. Anm. 90), S. 93.
104 McCagg (s. Anm. 90), S. 93.
105 Vgl. Frankl (s. Anm. 102), S. 90f.
106 Frankl (s. Anm. 102), S. 256f.
107 Frankl (s. Anm. 102), S. 166; zur Begegnung mit dem Kaiser vgl. Frankl (s. Anm.
102), S. 141.
Im Konflikt der Topographien 349
als das eines tragischen Fürsten.– Der Zensor strich das Gedicht.«108 Dieses
»Tragische« Josefs hatte Frankl im Scheitern der Reformpolitik des Habsbur-
gers markiert. Im inkriminierten Gedicht deuten Vorahnungen an der Wiege
des Neugeborenen auf sein Schicksal voraus: »[…] kommen wird die Zeit,/
Wo dich aus Schöpfungsträumen aufschreckt die Wirklichkeit.// Wer will
auch Gärten pflanzen in’s kalte Gletscherreich?/ Wer will die Saat aussäen,
wenn nicht der Boden weich?/ Und wenn für deine Liebe dich einst die Mit-
welt haßt,/ Wenn eisige Herzen schlagen, die du mit Gluth umfasst;// Die,
denen du, die Freiheit des Menschen wiedergabst,/ Die Du in Hungersnöten
mit Speise freundlich labst;/ Wenn Wahnesdunkel nachtet schwer um der
Wahrheit Licht,/ Wenn blutend in dem Busen dein großes Herz einst bricht
[…]«.109 Wies die Forderung von der »Freiheit des Menschen« auf Josefs
Abschaffung der Leibeigenschaft, so barg der Begriff doch eine merklich
universellere Bedeutung; und war in der Wendung vom »Wahnesdunkel«
und der »Wahrheit Licht« angespielt auf Josefs Bemühungen, den Einfluß
der Kirche einzudämmen und aufgeklärtem Denken zum Durchbruch zu
verhelfen, so wurde auch hier kein nur historisches Problem berührt. Die
Zensoren hatten zurecht in Frankls Josef II. die Chiffre einer Reformpolitik
erkannt, deren Einlösung auch rund 40 Jahre nach dem Tod des Kaisers fast
unvermindert noch ausstand. Expliziter als in der Sammlung von 1832 hat
Frankl dieses Profil Josefs in einer Jahrzehnte später erschienenen Ballade
gekennzeichnet: Konfrontiert mit der Nachricht von »Rebellion«110, verweist
der Kaiser zunächst – deutlicher als in den Versen von 1832 – auf die von ihm
durchgeführte Abschaffung der Leibeigenschaft (»Der Bauer war leibeig’ner
Knecht«) und die Zurückdrängung der Macht der Kirche (»Die dumpfen
Klöster sind nicht mehr«) und zieht die Summe: »Des Geistes Fesseln sind
gesprengt,/ Frei ist, was Jeder glaubt und denkt./ Der Wahlspruch meines
Lebens heißt: Deutsche Cultur durch freien Geist!/ Und Rebellion?«111
Sein Kanzler gibt folgende Deutung der Zusammenhänge: »Dein Volk nicht
schmähe, das ist gut,/ Verführt nur; heimlich schürt die Gluth/ Der Adel, der
dir grollt, dir feind,/ Sich mit der dunklen Macht vereint.«112 Diese dunkle
Macht ist jedoch die der Kirche, die der Mönche: »Sie lehren rings: Das freie
Wort,/ Es ist der gläub‹gen Seelen Mord.«113 Josefs Tragik verdichtet sich in
der ›realpolitischen‹ Erfordernis, seine Reformpolitik selbst zu widerrufen:
»Was plötzlich inne hält sein Stift?/ Nicht wieder soll in Wort und Schrift/
Frei der Gedanke fortan sein – / Er unterschreibt auch dies mit Pein.«114
Noch einmal beschwört Josef seine politische Vision – eine Vision, die gegen
die geschichtlich waltenden Mächte nicht durchsetzbar zu sein schien: »Es
sollte sein Ein Oesterreich,/ Dem keines auf dem Erdreich gleich;/ Es sollt’
allein Geist der Cultur/ Durchglüh’n es und zusammenhalten – / Ihr woll’t,
so gehet unter nur,/ Das Reich zerrissen und gespalten!«115
Die Verse präzisieren nicht nur das Skandalon, das Josef II. für die Zen-
sur der Metternich-Ära verkörpert hatte116, sondern zugleich die eklatant
politische Bedeutung des Namens »Habsburg« als topographischer Begriff.
Josefs Reformpolitik ist in Frankls Lektüre eine signifikante Reichsidee
eingelagert. Zwar hat sich der historisch gebildete Verfasser schwerlich
über die Entstehungsgeschichte des Habsburger-Reiches und ihrer Motive
getäuscht. Im Josef-Gedicht jedoch heißt es, »es sollt’ allein Geist der Cul-
tur/ Durchglüh’n es und zusammenhalten« – ein »Geist der Cultur«, der an
anderer Stelle präzisiert wird als »Deutsche Cultur durch freien Geist«117.
Damit war jener »Germanism«118 in Frankls Balladen-Ton zum Ausdruck
gebracht, der gegen Ende des 18. Jahrhunderts in Mitteleuropa die deutsche
Sprache als ein genuin europäisches Idiom hatte wahrnehmen lassen und
dadurch entscheidend zu ihrer Verbreitung beigetragen hatte. Gerade vielen
Juden war das Deutsche in diesen Jahrzehnten als eine Sprache begegnet,
die ihre jüdische Integrität nicht beeinträchtigte.119 Anfang der 1830er Jahre
hat sich die Lage entscheidend geändert. Der aufkeimende und sich zügig
beschleunigende Nationalismus stellte mit der Legitimation des Vielvölker-
staates zugleich auch die konkrete Grundlage und pragmatische Verwirkli-
chung jenes staatlichen und gesellschaftlichen Gefüges infrage, für das die
Verknüpfung von Sprache, Ethnie und Boden (Grenze) nie konstitutiv hatte
sein können. Frankls Habsburglied feiert in der Geschichte des europäischen
Herrschergeschlechts vor allem eine historische, aber auch eine zeitgenössi-
sche politische Topographie, auf deren transnationale Verfasstheit die Juden
in besonderer Weise angewiesen waren. Der Nationalismus der historischen
Stunde verdeutlichte bereits, daß gerade die deutsche Sprache aus einem Aus-
druck der kulturellen Zugehörigkeit in eine Kennung politischer, schließlich
deutsch-ethnischer Teilhabe umgewidmet zu werden drohte. Für Frankl stand
»Habsburg« nicht nur für eine Staatsform, in der der Geltungsanspruch des
lich einen persönlichen Brief an den Kaiser geschrieben und ihm mitgeteilt, dass die
Juden schon wegen der Sprache die natürlichen Verbündeten des Deutschen Reiches
seien.‹ – ›Es ist nur schade‹, sagte meine Mutter, ›daß Hitler das nicht weiß.‹ – Und
der ältere Herr nickte und sagte: ›Ja, der Hitler, der ist eben ein Dummkopf.‹121
Die Episode ist lesbar als ein Epilog auf jene ›Habsburger‹ Topographie,
wie Frankls Habsburglied sie 1832 beschworen hatte. Die historiographi-
sche Retrospektive, die hier konstruiert wird, ist dabei mehrfach gestuft. Das
Erzähler-Ich erinnert ein Gespräch von 1938; in dieses Gespräch wird eine
Erinnerung aus dem Ersten Weltkrieg eingebracht; das Gespräch selbst wird
durch den Ich-Erzähler nach der Zäsur 1945 wiedergegeben. Die geschicht-
lichen Stufen funktionieren wie eine Raffung der Phasen jener säkularen
Katastrophe, die mit den europäischen Juden auch ihre deutsche Sprachkul-
tur heimgesucht hat. Jene »älteren Herren«, die sich 1938 zu den Besuchern
aus Deutschland setzen, mochten noch für jene gelebte Erfahrung deutscher
Sprachkultur von Juden in einem transnationalen Staat stehen, wie sie Frankl
einst im Habsburger-Reich gewährleistet gewesen zu sein schien und die – mit
mancherlei Friktionen – zunächst bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges
möglich gewesen war. Der Zusammenbruch Österreich-Ungarns bereitet die-
ser grundlegenden Kondition ein Ende. Dieses Ende und die Bedingungen
einer ›neuen‹ Ära sind in der Anekdote nicht dadurch markiert, daß der
Deutschsprachigkeit der Juden Fungibilität im Kalkül der Machthabenden
vor allem als Agenten der Germanisierung zukommt – das hatte schon seit
den Toleranzpatenten Josefs II. gegolten122 und als ambivalente Herausfor-
derung die Entfaltung deutscher Sprachkultur von Juden dauerhaft begleitet.
Das Ende der K.u.k.-Ära gibt sich vielmehr darin zu erkennen, wie sich im
Vorschlag des Offiziers eine Germanisierungsvorstellung im Stil des 19. Jahr-
hunderts mit dem unerschütterten Glauben an die personale Unmittelbarkeit
des Einzelnen zum Monarchen mischen, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts
nur noch anachronistisch sind. Zum Zeitpunkt, da einer der älteren Herren
vom Brief dieses Offiziers berichtet – 1938 –, ist bereits eine wiederum neue
Stufe der historischen Entwicklung erreicht; zum Ergehen der Juden und ihrer
deutschen Sprachkultur in der seit 1914/18 verstrichenen Zeit erfolgen kei-
nerlei Angaben. Der Anachronismus des Offiziers aus dem Ersten Weltkrieg
wird um eine weitere Drehung gesteigert, indem es der »Dummheit« Hitlers
angelastet wird, von den Einsichten des Offiziers – einem ›grundlegenden‹
Wissen um die Juden in Mittel- und Ostmitteleuropa – abgeschnitten zu
sein. Während im Bukowiner Kaffeehaus 1938 noch die Sprachkultur als
121 Hilsenrath, Edgar: Die Abenteuer des Ruben Jablonski – Ein autobiographischer
Roman. München/Zürich 1997, S. 37.
122 Vgl. zu diesem Sachverhalt den Beitrag von Sadowski, Dirk: »Maskilisches Bil-
dungsideal und josephinische Erziehungspolitik – Herz Homberg und die jüdisch-
deutschen Schulen in Galizien 1787–1806«. In: Diner, Dan (Hg.): Leipziger Beiträge
zur jüdischen Geschichte und Kultur. Bd. I (2003), S. 145–168.
Im Konflikt der Topographien 353
politischer Parameter firmiert, bestimmt längst das Kriterium der ›Rasse‹ die
Europa-Karte des NS-Regimes. Das weiß nicht nur der Ich-Erzähler, sondern
auch das Lesepublikum des Romans. Von hier aus erscheinen die Figuren der
Szene von 1938 rettungslos verloren – unfähig, die neue Topographie und
die ihr inhärente »Macht symbolischer Konstruktionen«123, die sich katastro-
phisch auswirken sollten, zu erfassen. Der Sarkasmus, mit dem Hilsenrath
diese Szene gestaltet, mildert nichts von dieser Katastrophe; im Gegenteil:
Erst in solcher Rückblendung in die Vergangenheit – einschließlich ihrer
Modi des Gedenkens – zeichnet sich die Dimension des Verlustes ab.
III
3 Bachtin, Michail: »Formen der Zeit und des Chronotopos im Roman«. In: ders.: For-
men der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik. Frankfurt a.M. 1989,
S. 7–209, hier S. 8.
358 Reinhold Görling
genug / Ein Hafen war, / Um als Sohn und Vater zugleich in Ihm / Sich
hochzeitlich zu stürzen.«4
Nicht ganz unähnlich ist das dem Prozeß, welcher zur Herausbildung
des neuzeitlichen Romans führt. Folgte der Chronotopos des Ritterromans
noch stark dem des abenteuerlichen Prüfungsromans, bei dem die Abenteuer
zeitlich und räumlich durch Zufall oder Wunder miteinander verknüpft sind
und Reisen, für die damals Wochen oder Monate benötigt wurden, in der
Geschwindigkeit von Überschallflugzeugen bewältigt werden können, so
war Cervantes‹ Don Quijote, der sich in der Perspektive seines Haupthelden
durchaus in diesem wunderlichen Chronotopos realisiert, zugleich der erste
Roman, dessen Reiseerzählung konsequent auf einer Landkarte Spaniens
nachgezeichnet werden kann. Vielleicht läßt sich für den neuzeitlichen Roman
überhaupt sagen, daß in ihm verschiedene Chronotopien in Bezug gesetzt
werden. Für Rabelais‹ Gargantua und Pantagruel, Bachtins Hauptzeugen
bei der Herausbildung des modernen Romans, gilt das ganz sicher. Es ist
dem karnevalesken Chronotopos eigen, daß er herrschende topographische
Bestimmungen wie Oben und Unten oder Innen und Außen verkehrt, daß er
die Grenze zwischen dem Körper und der Welt durchlässig macht und daß
er den linearen Konzepten von Zeit die Vorstellung eines offenen Ganzen
und eines qualitativen Werdens gegenüberstellt. Es ist Bachtins Begriff des
Lachens, in dem diese topographische Leistung des Romans in ihrer Komple-
xität aufgehoben ist: Das Lachen schafft eine »Kontaktzone« im räumlichen
wie im zeitlichen Sinne: Es macht nicht nur die Grenzen zwischen mir und
dem anderen durchlässig, es führt dazu, daß »das darstellende Autorwort
[...] auf einer Ebene mit dem dargestellten Wort des Helden« liegt, wie es
in der Arbeit »Epos und Roman. Zur Methodologie der Romanforschung«
von 1941 heißt, so daß das darstellende und das dargestellte Wort »dialo-
gische Wechselbeziehungen und hybride Verbindungen« eingehen müssen
(S. 237).5 Diese Ebene bezeichnet Bachtin bekanntlich mit einem eigenen
topografischen Begriff, dem Neologismus vnenakhodimost’, also der Außer-
sich-Befindlichkeit oder Exotopie, wie es Tzvetan Todorov mit einer eigenen,
auf griechische Wurzeln rekurrierenden Wortneuschöpfung übersetzt hat.6 Die
Exotopie hat selbstverständlich auch eine zeitliche Dimension, sie bringt die
Gestalt des Menschen und das Geschehen »in die Zone des Kontakts mit dem
unabgeschlossenen Ereignis der Gegenwart (und somit auch der Zukunft)«.7
In dieser Kontaktzone bzw. Exotopie liegt für Bachtin die wichtigste Dif-
ferenz zwischen dem Genre des Epos und dem des Romans, und es ist das
Lachen, das für Bachtin ein zentrales Mittel in der historischen Entfaltung
dieses neuen Ortes darstellte. »Das Lachen zerstörte die epische Distanz [...]
der Mensch hörte auf, mit sich selbst identisch zu sein, und folglich schöpfte
ihn das Sujet nicht mehr restlos aus.« (S. 246)
Schon in der erwähnten Arbeit von 1937/38 münden Bachtins Überlegun-
gen in eine Analyse des Romans von Rabelais, aber es ist das 1965 erschie-
nene berühmte Buch über Rabelais und seine Welt, in dem der dialogische
Chronotopos des Karnevalesken weiter entfaltet und differenziert wird. In
der erst 1973, also zwei Jahre vor seinem Tod, angefügten Schlussbemerkung
zur Untersuchung über den Chronotopos des Romans erweitert Bachtin seine
Überlegungen um einen für das Problem einer topologischen Gattungstheorie
wichtigen Aspekt. Hier besteht er nämlich darauf, »zwischen der darstellen-
den realen Welt und der im Werk dargestellten Welt« (S. 204) methodologisch
scharf zu unterscheiden. Wohl stünden der erschaffende Chronotopos und
die erschaffenen Chronotopoi »in ständiger Wechselwirkung« (S. 204), es
fände »ein ununterbrochener Austausch statt, ähnlich dem ununterbrochenen
Stoffwechsel, der sich zwischen einem lebendigen Organismus und seiner
Umwelt abspielt« (S. 204f.), doch würden diese verschiedenen Chronotopoi
niemals miteinander verschmelzen (S. 206). »Dieser Austauschprozeß«, heißt
es weiter, »ist natürlich selbst chronotopisch [...] Man kann sogar von einem
besonderen schöpferischen Chronotopos sprechen, in dem dieser Austausch
zwischen Leben und Werk vor sich geht und in dem sich das besondere
Leben des Werkes abspielt.« (S. 205)
Um diesen Gedanken, der ja auf die These eines Chronotopos oder auch
Genre der Literatur und eines Chronotopos oder auch Genre jedes einzel-
nen Werkes hinausläuft, genauer nachzuvollziehen, ist es hilfreich, auch auf
eine weitere, dem Problem der Gattung explizit gewidmete Untersuchung
Bachtins einzugehen, die in der ersten Hälfte der 1950er Jahre entstanden
ist und in der englischen Übersetzung den Titel »The Problem of Speech
Genres« (Problema rechevykh zhanrov) trägt. Die Genre der Rede werden
hier als die Herstellung einer räumlichen Beziehung, als topologische Pro-
duktion vorgestellt. Möglich wird das durch eine Unterscheidung zwischen
Sprache als System und den Formen der Äußerung, den Gattungen, die für
Bachtin gerade nicht linguistisch bestimmbar sind. Letztere sind zentraler Teil
der Kommunikation und darin, wie man heute vielleicht ergänzen könnte,
eher einer Medien- als einer Sprachtheorie angehörig. Kommunikation ist
die Herstellung eines räumlichen Verhältnisses. Sie wird von Bachtin aber
gerade nicht als eine Sender-Empfänger-Relation gedacht, also von einem
schon vorausgesetzten Raum her, in dem zwei Positionen bestimmbar sind,
sondern von ihrer Mitte her, eben dem Medium. Das verändert das topologi-
sche Verständnis weitgehend. Der Raum der Kommunikation ist nicht mehr
ein begrenzter Behälter, sondern eine immer spezifische Produktion eines
360 Reinhold Görling
Ortes. Mit dem Begriff des Ortes meine ich, unter Aufnahme der vielfälti-
gen Argumentation von Edward S. Casey,8 ein oft hoch komplexes Gefüge
von Relationen oder Konstellationen. In Bachtins Worten: Gattungen des
Sprechens sind Organisatoren unserer Rede, »generic forms in which we
cast our speech«, und sie sind von den sprachlichen Formen grundlegend
unterschieden.9 Ihre Leistung besteht darin, die Worte und Sätze, die wir in
der Sprache bilden, zu Äußerungen zu machen, durch sie wird die Rede zu
einer »expression of the position of someone speaking individually in a con-
crete situation of speech communication.« (S. 84) Diese konkrete Situation
ist für Bachtin eine Relation, eine Beziehung des Sprechers zu sich selbst
und zu anderen. Dieser andere oder Adressat ist nicht nur der einzelne, an
den sich die Rede unmittelbar richtet, sondern jeder frühere und jeder noch
kommende Teilnehmer einer letztlich weder räumlich noch zeitlich begrenz-
baren Kette der Kommunikation. »Any concrete utterance is a link in the
chain of speech communication of a particular sphere. [...] Each utterance
is filled with echoes and reverberations of other utterances to which it is
related by the communality of the sphere of speech communication.« (S. 91)
Die Herstellung einer Räumlichkeit, die Produktion des Ortes beruht dem-
nach auf dem dialogischen Charakter jeder Äußerung. »The utterance is
filled with dialogic overtones, and they must be taken into account in order
to understand fully the style of the utterance.« (S. 92) Deshalb zeige auch
jedes genauere Studium einer Äußerung »many half-concealed or completely
concealed words of others with varying degrees of foreigness.« (S. 93) Auch
wenn jede Äußerung durch einen Anfang und ein Ende bestimmt ist, so sind
die Grenzen zwischen der aktuellen Äußerung eines Autors und der früherer
und kommender Äußerungen anderer Autoren vollständig durchlässig. Wenn
Bachtin mehrfach sagt, eine Äußerung sei ein »link in the chain of speech
communication« oder auch »speech communion«, so ist dies gerade nicht im
Sinne einer linearen Abfolge zu verstehen, sondern als ein komplexes und
vielfältiges Beziehungsgeflecht. Es ist übrigens genau dieses Verständnis von
Kultur, das Stephen Greenblatt bei Bachtin und der sich auf ihn beziehenden
Theorie der Intertextualität aufgegriffen und zum Kerngedanken seines New
Historicism und des ihn bestimmenden Konzepts der Zirkulation sozialer
Energie gemacht hat. So ist es nur folgerichtig, wenn Greenblatt 1982 in
der Einleitung zu einer von ihm herausgegebenen Sondernummer der Zeit-
8 Casey, Edward S.: The Fate of Place: A Philosophical History. Berkeley 1997. Siehe
ausführlicher dazu meinen Aufsatz: »Emplacements«. In: Borsò, Vittoria und Reinhold
Görling (Hg.): Kulturelle Topografien. Stuttgart 2004, S. 43–65.
9 Bakhtin, M.M.: »The Problem of Speech Genres«. In: ders.: Speech Genres and Other
Late Essays. Austin 1986, S.60–102, hier S. 79. In der Herausarbeitung der topologi-
schen Implikationen dieses Essays von Bachtin stütze ich mich auf: Holloway, Julian
and James Kneale: »Michail Bakhtin – dialogics of space«. In: Mike Crank und Nigel
Thrift: Thinking Space. London 2000, S. 71–88.
Raum und Gattung. Topologie des Romans 361
schrift Genre das Studium der Gattungen mit dem Studium der »poetics of
culture« gleichsetzt.10
Die Reichweite der Überlegung Bachtins läßt sich vielleicht besser
erfassen, wenn man sie einer anderen profilierten, jedoch klassifikatorisch
arbeitenden Theorie der Gattung gegenüberstellt, der von Gerard Genette.
In seinem ursprünglich 1977 unter dem Titel »Genres, ›Types‹, Modes«
erschienenen Essay rekurriert Genette wohl auf Bachtins »poetics« als »the
immutable foundation of the theory of genres«, fügt aber hinzu, diese sei
»so deeply buried that we no longer discern it.«11 Tatsächlich scheint Genet-
tes Unterscheidung zwischen den Modi der Literatur und den Genre an die
Bachtinsche zwischen Sprache als System und den Gattungen des Sprechens
angelehnt. Eine Tradition der Fehllektüre von Plato aufzeigend und kritisie-
rend, bestimmt Genette das Dramatische, das Epische und das Lyrische als
Modi der Literatur, die eine Frage der Linguistik, oder genauer, der Pragmatik
seien (64), wovon er den Begriff des Genre deutlich abgrenzen und als eigene
literarische Kategorie bestimmen möchte. Doch verbleibt Genette gerade
dabei im Klassifikatorischen. Der Versuch, ein klassifizierendes Prinzip selbst
zu klassifizieren, führt zu einem »klassifikatorischen Taumel«, wie Jacques
Derrida in seiner Kritik an dem Aufsatz Genettes formuliert.12 Der translin-
guistische und transliterarische Charakter, den das Genre bei Bachtin erhält,
bleibt bei Genette unberücksichtigt. Er ist es aber, durch den das Genre als
spezifische Produktion, nämlich als die des Ortes, verstehbar wird.
Es ist ein anderer, früherer Aufsatz Genettes, der sich vom klassifikatori-
schen Prinzip löst und der uns bei der Frage nach einer Topologie der Gattung
weiterhelfen kann. In »La littérature et l’espace« aus den 1960er Jahren ist
Genette der Frage nach der Räumlichkeit von Literatur in höchst anregender
und vielschichtiger Weise nachgegangen. Die Architektur, so beginnt Genette
seine Überlegungen, sei eine Kunst, die nicht vom Raum spreche, sondern es
sei der Raum, der in ihr und von ihr spreche. Gibt es, so fährt er fragend fort,
auch in der Literatur eine Räumlichkeit, die aktiv und nicht passiv, bedeutsam
und nicht bedeutend (siginifiante et non signifiée), eine Räumlichkeit, die für
die Literatur charakteristisch (représentative) ist? Genette selbst führt für
diese der Literatur eigene Räumlichkeit vier Felder an: Zum ersten sei die
Sprache selbst räumlich, sie stelle ein System differentieller Beziehungen her,
in dem jedes Element seine Qualität dadurch bekomme, daß es zu anderen
in einer Relation stehe. Zum zweiten verweist Genette auf die Verräumli-
chung, die im Graphismus der Schrift eine visuelle Dimension bekomme,
ohne die aber Sprache überhaupt nicht möglich wäre, weil es in ihr immer
10 Greenblatt, Stephen: »Introduction«. In: ders. (Hg.): The Forms of Power and the
Power of Forms in the English Renaissance. Oklahoma 1982, S. 1–4, hier S. 4.
11 Genette, Gerard: The Architext. An Introduction. Berkeley 1992, S. 4.
12 Derrida, Jacques: »Das Gesetz der Gattung«. In: ders.: Gestade. Wien 1994, 245–84,
hier S. 254.
362 Reinhold Görling
ein Moment der Wiederholung und damit der Fixierung oder Einschreibung
geben muß. Der dritte Bereich, den Genette anführt, sind die Redefiguren und
Stile. Der Begriff der Figur bezieht sich ja auf eine räumliche Erscheinung
ebenso wie auf die Tropen der Sprache. Daß jeder Ausdruck in der Differenz
und Spannung zwischen wörtlicher und metaphorischer Rede sich vollziehe
und von daher nicht aufhöre, sich zu verdoppeln, rechnet Genette zum Stil.
Diesen wiederum bezeichnet Genette als »spatialité sémantique du discours
littéraire«.13 Die vierte Weise der Räumlichkeit von Literatur schließlich habe
ihr Symbol in der Bibliothek. Die Literatur sei ein Reich der Gleichzeitigkeit
mit ihren »effets de convergence et de rétroaction« (S. 48).
Während das erste Feld auf eine binäre Systematik der Ausdehnung ver-
weist, erinnert das zweite an die Bestimmung der Spur, wie sie vor allem
von Jacques Derrida in den 1960er Jahren entwickelt worden ist: sie wird
von ihm bestimmt als primäre Spatialisierung der Zeit und ebensolche Tem-
poralisierung des Raumes.14 Den Spielraum zwischen wörtlicher Denotation
und übertragener Konnotation hat bekanntlich Paul de Man zu einer seiner
zentralen Bestimmungen der Literarizität gemacht.15 Genettes vierte Weise
der Räumlichkeit nun spielt deutlich auf den Aspekt des Dialogischen an,
wie ihn Bachtin entfaltet.
Zwei topologische Modelle lassen sich an diese Vorstellung Bachtins,
die Äußerung sei ein Glied oder eine Verknüpfung in einer Kette des Aktes
sprachlicher Verbindung oder Kommunikation, anschließen. Das erste wird
von Bachtin nicht ausdrücklich aufgeführt, es läßt sich aber wohl mit seinen
Explikationen verbinden. Es geht aus von der Betonung des Lückenhaften der
Verknüpfung, des Kontingenten sowohl im Sinne des Anschlusses wie auch
in dem des Zufälligen. In je spezifischer Weise haben Homi K. Bhabha und
Giorgio Agamben ihre Theorie der Artikulation mit diesem Zwischenraum
verbunden. Der Begriff der Artikulation, der gerade von Bhabha oft benutzt
wird, bezieht sich sehr direkt auf die topologische Vorstellung der Kette.
Artikulieren bedeutet sowohl das Gliedern wie das Binden. In der Linguistik
spricht man zum Beispiel von einer Artikulationsschwäche, wenn es nicht
gelingt, die Phoneme zu differenzieren, wie es bei extremem Nuscheln der
Fall ist, oder wenn die Glieder nicht syntaktisch miteinander verbunden wer-
den. In der Anatomie nennt man all das artikular, was die Gelenke betrifft.
13 Genette, Gerard: »La littérature et l’espace«. In: ders.: Figures II. Paris 1969, S. 43–48,
hier S. 47.
14 Siehe dazu vor allem die schon klassiche Arbeit Derridas zu Freud: »Freud und der
Schauplatz der Schrift«. In: des.: Die Schrift und die Differenz. Frankfurt a.M. 1972,
S. 302–350. Zur Frage des Graphismus natürlich auch: Derrida, Jacques: Grammato-
logie. Frankfurt a.M. 1983.
15 de Man, Paul: »Metapher«. In: ders.: Die Ideologie des Ästhetischen. Frankfurt a.M.
1993, S. 231–264.
Raum und Gattung. Topologie des Romans 363
Bhabha bezieht sich explizit auf Bachtins Theorie des Genre, um von
hier aus den Zwischenraum, »the intersubjective space between agentes«
zu bestimmen, in dem und durch den in der postkolonialen Situation das
Subjekt als handelnder Agent der Geschichte wiederkehrt.16 Es ist ein »third
locus« des intersubjektiven Bereichs (S. 191), der für Bhabha durch ein
»time-lag«, eine zeitliche Unterbrechung der Repräsentation gekennzeichnet
ist. Weil jede Äußerung auf frühere antwortet, weil sie in jedem Wort ein
Echo fremder Sprache aufnimmt, findet in ihr ein »process of reinscription
and negotiation« statt (S. 191). Von zentraler Bedeutung ist dabei, wie schon
bei Bachtin selbst, die Hybridität der Artikulation. Denn sie erlaubt es selbst
in der postkolonialen, durch die Erfahrung der Gewalt geprägten Situation,
die binäre Logik subalternen Bewußtseins zu öffnen. Eine strukturell ganz
ähnliche Argumentation, um den »Third Space of enunciation« aufzuzeigen,
bemüht Bhabha mit impliziten Bezug auf Émile Benvenistes Unterscheidung
zwischen dem sujet d’énoncé und dem sujet d’énonciation. Allerdings ist
hier der Third Space nicht im Genre als intersubjektivem Raum bestimmt,
sondern im Zwischenraum, der sich durch die nicht einholbare Differenz
zwischen dem Subjekt der Aussage und dem Subjekt der Äußerung auftut.
Das Subjekt der Äußerung, so Bhabha, »is not represented in the statement
but [...] the acknowledgement of its discoursive embeddedness and address,
its cultural positionality, its reference to a present time and a specific space.«
Jede Produktion von Bedeutung, so Bhabha weiter, »requires that these two
places be mobilized in the passage through a Third Space, which represents
both the general conditions of language and the specific implication of the
utterance in a performative and institutional strategy of which it cannot ›in
itself‹ be conscious.«17
In der Tat erinnert Benvenistes Differenz zwischen dem sujet d’énoncé
und dem sujet d’énonciation, oder zwischen Semiotik und Semantik in
einigen ihrer Bestimmungen an Bachtins zwischen Sprache als System und
Gattung. Die Welt der Zeichen, so Benveniste, »est close. Du signe à la
phrase il n’y a pas transition, ni par syntagmation ni autrement. Un hiatus
les sépare.«18 Mit anderen Worten, das Stattfinden der Sprache, der erschaf-
fende Chronotops des Sprechens, hat mit Sprache als System von Zeichen
allerhöchstens indirekt zu tun. Um diese Dimension der Bedeutung, dieses
Stattfinden der Sprache, das er dem Bereich des Diskurses zurechnet, näher
zu verstehen, fordert Benveniste eine doppelte Analyse, eine »analyse intra-
linguistique«, die er Semantik nennt, und eine translinguistische Analyse der
Texte und Werke »par l’élaboration d’une métasémantique qui se construira
16 Bhabha, Homi K.: »The Postcolonial and the Postmodern. The Question of Agency«.
In: ders.: The Location of Culture. London 1994, S. 171–197, hier S. 188.
17 Bhabha: »The Commitment to Theory«. In: ders. (s. Anm 16), S. 19–39, hier S. 36.
18 Benveniste, Émile: »Sémiologie de la langue«. In: ders.: Problèmes de la linguistique
génerale, Bd. 2. Paris 1974, S. 43–66, hier S. 65.
364 Reinhold Görling
sur la sémantique de l’énonciation.« (S. 66) Es ist nun genau diese Stelle,
an der Giorgio Agambens Theorie der Weise, wie wir in der Sprache sind,
ansetzt. Er verweist dabei zunächst auf eine Aporie in der zitierten Forderung
Benvenistes. »If enunciation, as we know, does not refer to the text of what
is uttered but to its taking place, if it is nothing other than language’s pure
reference to itself as actual discourse, in what sense is it possible to speak of
a ›semantics‹ of enunciation?«19 Das Stattfinden der Sprache verweise aber,
so Agamben, gerade auf eine nicht-semantische Dimension. Das Äußern, die
énunciation, sei das Ereignis der Sprache als solcher. »Like the philospher’s
concept of Being, enunciation is what is most unique and concrete, since it
refers to the absolutely singular and unrepeatable event of discourse in act; but
at the same time, it is what is most vacuous and generic, since it is repeated
without its ever being possible to assign it any lexical reality.« (S. 138) Es
ist deshalb ein Außerhalb der Sprache, wie Agamben sagt, und er führt sein
Argument mithilfe des Begriffs des Archivs fort, wie ihn Michel Foucault in
seinem Text Archäologie des Wissens entfaltet hat. Das Archiv, so Foucault,
ist das »System der Diskursivität und die Aussagemöglichkeiten und -unmög-
lichkeiten, die es ermöglicht«20. Es ist aber nicht einfach ein Speicher, »das
Archiv ist auch das, was bewirkt, daß all diese gesagten Dinge sich nicht bis
ins Unendliche in einer amorphen Vielzahl anhäufen, [...] sondern daß sie
sich in distinktiven Figuren anordnen, sich aufgrund vielfältiger Beziehungen
miteinander verbinden, gemäß spezifischer Regelmäßigkeiten sich behaupten
oder verfließen« (S. 187).
Dieses »allgemeine System der Formation und der Transformation der
Aussagen« (S. 188) ist, jedenfalls in seinen Funktionen, dem Gesamt der
speech genre Bachtins sehr nahe, mit der wichtigen Differenz allerdings,
daß es, auf den ersten Blick, ohne das Subjekt und vor allem ohne Inter-
subjektivität auszukommen scheint. Doch auch diese Differenz gilt nur ein-
geschränkt. Wie Bachtins Begriff der Dialogizität gerade darauf abzielt, die
fremden Stimmen der eigenen Rede, die Exotopie des Subjekts der Aussage
zu erweisen, so löst sich Foucaults Begriff der Archäologie vom Subjekt nur
insoweit, das es als das mit sich selbst Identische des kartesianischen Cogito
gedacht ist, indem sie »das Andere und das Außen [im Subjekt] aufbrechen«
läßt (S. 190). Die Dimension des Agenten, die Bhabha bei Bachtin zumindest
angedeutet findet, bleibt in der Foucaultschen Relation zwischen dem Archiv
und dem Stattfinden der Aussage allerdings unausgeführt. Das Archiv ist eine
Raum-Zeit, die »Materialität der Aussage« (S. 147), wie es an einer früheren,
auf den Begriff des Archivs hinleitenden Stelle von Foucaults Untersuchung
heißt, aber das Subjekt hat in dieser Raum-Zeit keinen Ort. Die Beziehung
19 Agamben, Giorgio: Remnants of Auschwitz. The Witness and the Archive. New York
1999, S. 137f.
20 Foucault, Michel: Archäologie des Wissens. Frankfurt a.M. 1973, S. 187.
Raum und Gattung. Topologie des Romans 365
zwischen der Äußerung und dem Archiv ist die zwischen dem Ereignis, das
sich nicht wiederholt, und einer wiederholbaren Materialität (S. 149), oder,
wie Agamben es formuliert, zwischen dem Gesagten und dem Nicht-Gesag-
ten. Agamben versucht deshalb, Foucaults Entwurf zu ergänzen und der von
ihm erarbeiteten Relation zwischen dem Archiv und dem Stattfinden der
Sprache eine weitere daneben zu stellen, indem er die Beziehung zwischen
dem Diskurs und seinem Stattfinden auf die zwischen der Sprache als System
(langue) und dem Sprechakt, dem Stattfinden der Rede verschiebt. Die Lücke,
die sich in dieser Relation auftue, sei nicht mehr die zwischen dem Gesag-
ten und dem Nicht-Gesagten, sondern die zwischen dem Sagbaren und dem
Nicht-Sagbaren in jeder Sprache, »that is between a potentiality of speech
and its existence, between a possibilty and an impossibility of speech.«21 Es
ist für Agamben genau diese Lücke, in der das Subjekt seinen Ort hat, eine
Lücke, die er als Zeugenschaft qualifiziert. »Precisely because testimony is
the relation between a possibility of speech and its taking place, it can exist
only through a relation to an impossibility of speech – that is, only as con-
tingency, as a capacity not to be.« (S. 145)
Agambens philosophisches Argument bestimmt den Menschen deshalb
als sprechendes Wesen, weil es ihm möglich ist, nicht zu sprechen, keine
Sprache zu haben, »because it [the human being] is capable of its own in-
fancy.« (S. 146) Möglichkeit und Kontingenz sind demzufolge die Operato-
ren der Subjektivierung, Unmöglichkeit und Notwendigkeit die Operatoren
der Desubjektivierung. Die beiden ersten Operatoren bringen das Subjekt in
Berührung mit dem Realen, machen die Welt zu seiner, die beiden folgenden
desubjektivieren, machen das Subjekt zu einer Funktion der Sprache. Auch
bei Bachtin und Bhabha hatte das Subjekt seinen Ort in einer Lücke, aber
die Kontingenz, die die Äußerung als Glied in der Kette der Kommunikation
bedeutet, bestimmte sich hier aus der Dialogizität und Intersubjektivität. Jede
Äußerung ist hier kontingente, also ebenso anschließende, ja, der zentralen
Bedeutung des lateinischen contingere folgend, berührende, wie sich nicht
notwendig ereignende, deswegen auch verhandelnde Beziehung zum anderen,
während bei Agamben sich eben diese Lücke als Ort des Subjekt zwischen
dem Realen und der Sprache auftut. Beide Konzepte aber verhalten sich eher
im Verhältnis der Ergänzung als in dem des Widerspruchs zueinander. Wäh-
rend es bei Bachtin und auch noch bei Bhabha, der ja explizit danach fragt,
wie Neues in die Welt komme, unklar bleibt, wie sich die Berührung des
Subjekts nicht nur mit dem anderen und seinen Äußerungen, sondern auch
mit dem Realen vollzieht, tritt der kommunikative oder intersubjektive Akt
bei Agamben in den Hintergrund. Dies ist verwunderlich, entsteht doch für
Agamben die Frage der Zeugenschaft vor dem Hintergrund der Verpflichtung
des Zeugen, für die zu sprechen, die es nicht mehr können. Doch Agambens
22 »Tout autre est tout autre«: Derrida, Jacques: »Donner la mort«. In: ders.: Donner la
mort. Paris 1992, S. 11–108, hier S. 79.
23 Bachtin (s. Anm. 9), S. 93.
24 Leibniz, Gottfreid Wilhelm: »Die Prinzipien der Philosophie oder die Monadologie«.
In: ders.: Kleine Schriften zur Metaphysik. Darmstadt 1985, S. 439–484, hier S. 441.
Raum und Gattung. Topologie des Romans 367
beendet sei, antwortet Ginés: »Como puede estar acabado, si aún no esta
acabada mi vida.«
Knapp 50 Jahre liegen zwischen dem Erscheinen des ersten Bandes von
Cervantes’ Roman und der anonymen Publikation des Lazarillo de Tormes
im Jahre 1554. Bachtin versteht den Schelmenroman als eine Verbindung
zwischen dem Chronotopos des abenteuerlichen Alltagsromans und der Figur
des Narren oder Tölpes, der wohl zuvor im Theater seinen Platz hatte, mit
seinem Eintritt in den Roman aber ein neues Genre und einen neuen Chro-
notopos bildete. Neben dem karnevalesken ist, so Bachtin, der pikareske der
zweite Chronotopos, durch den der neuzeitliche Roman sich herausbildet.
Während der karnevaleske Chronotopos »in der Epoche der Renaissance zur
Erschließung des ganzheitlichen äußeren Menschen diente«, sei mit dem des
Schelmenromans »der innere Mensch die reine, ›natürliche‹ Subjektivität
– [...] erschlossen worden, da für ihn eine adäquate, direkte [...] Lebensform
nicht zu finden war.« (S. 98) Dies bedeutet gerade nicht, daß der Pikaro eine
Innerlichkeit besitze. Im Gegenteil, der Pikaro ist ein Mensch ohne Geheimnis
und ohne Entwicklung, der Platz, von dem aus er seine Geschichte, zumeist
in Ich-Form, erzählt, ist leer, er hat keine Genealogie. Sein Ursprung ist der
Zwischenraum, auch im buchstäblichen Sinne, ist doch Lazarillo »dentro del
río Tormes« geboren.32 Die Figur des Pikaro hat keinen Platz, keinen Ort,
den er besetzen, den er sein eigen nennen könnte, seine Erzählung ist eine
Reihung, die, wie schon Ginés del Pasamonte sagt, nicht abgeschlossen sein
kann. Seine Erzählung der Ereignisse oder das Ereignis seiner Erzählung ist
eine Falte, gleichsam in zum Karnevalesken umgedrehter Richtung. Franz
Kafkas Helden, um nur ein weiteres Beispiel anzuführen, am deutlichsten sein
Karl Roßmann, sind nicht nur hierin Neueinschreibungen des Pikaresken.
»Yo por bien tengo que las cosas tan señaladas, y por ventura nunca
oídas ni vistas, vengan a noticia de muchos y no se entierren en la sepul-
tura del olvido« (S. 3), mit diesen die Zeugenschaft für sich reklamierenden
Worten beginnt der Prolog zum Lazarillo. Es ist dieser Chronotopos einer
Ich-Erzählung ohne Innerlichkeit, der es dem Roman erlaubt, zur Darstellung
des Neuen, des Schreckenerregenden, des Inkommensurablen vorzudringen,
ja, zur Darstellung dessen, was das Subjekt negiert. Meine eigene Wiederbe-
schäftigung mit dem pikaresken Roman begann damit, daß mir in der Lek-
türe von Imre Kertész’ Sorstalanság (Schicksalslosigkeit), dem im deutschen
Buchtitel Roman eines Schicksalslosen die Gattungsbezeichnung beigegeben
ist, die Äußerungen Lazarillos wie ein gar nicht fernes Echo widerzuhallen
schienen.33 Auschwitz hatte kein Außen, wie es auch danach trachtete, das
innere Außen, die Innerlichkeit des Subjekts zu zerstören. Beides sind wich-
tige Elemente des Traumas, das den Deportierten zugefügt wurde und das ja
zugleich als der Grund für die immer wieder betonte Nichtrepräsentierbarkeit
der Shoah angeführt wird. Traumatische Erfahrungen sind solche, die vom
Subjekt nicht aufgenommen werden können, die es nicht kontextualisieren,
nicht erzählen kann, die kein Außen zulassen und die sich zugleich in sein
Gedächtnis und seinen Körper einschreiben. Die traumatische Zufügung von
Gewalt ist eine kulturelle Grenzhandlung, weil sie den anderen zu einem
reinen Objekt macht, zum jeder kulturellen Eigenschaft entkleideten Leben,
um an Georgio Agamben anzuknüpfen. Sie läßt keine Faltung zu, zerstört den
Ort, enteignet das Subjekt selbst des eigenen Körpers. Es wird zu »sterblichen
Überresten«34, wie Kertész an einer Stelle sagt. Sein literarisches Verfahren
hat Kertész in einer Notiz vom April 1971 so festgehalten: »Was die Sprache
angeht: Die Totalität grenzt den Menschen sogar aus seinem eigenen inneren
Leben aus, das ist immer zu beachten.«35 Kertész’ literarische Konstruktion
der Perspektive eines sensiblen, verletzlichen, ja zarten Subjekts ohne Inner-
lichkeit vermag die Erfahrung einer Gewalt darzustellen, die danach trachtet,
das Subjekt zu zerstören. Was ihn rettet, ist nicht die Innerlichkeit, sondern
eher etwas, was eine Monade charakterisiert: daß das Subjekt von seiner
Wahrnehmung nicht läßt, einschließlich seiner Selbstwahrnehmung, die ja aus
dem Wahrnehmenden, dem Wahrgenommenen und dem Bild entsteht. Würde
diese Bewegung an einer Stelle zum Stillstand kommen, würde das Subjekt
beginnen, sich mit der Negation zu identifizierenden, es wäre verloren. Das
weiß Kertész’ Erzähler wie vor ihm schon Lararillo, Karl und viele andere.
34 Kertész, Imre: Roman eines Schicksalslosen. Reinbek bei Hamburg 1998, S. 203.
35 Kertész, Imre: Galeerentagebuch. Berlin 1993, S. 30.
Topographien der Weltliteratur 371
Die Organisation von Wissen hat sich selbst vielfach als Abbildung oder
aber als Herstellung einer räumlichen Struktur interpretiert. Der Gedanke,
daß die Ordnung des Wissens sich als die eines Raumes auffassen läßt, liegt
unter anderem jener berühmten Bemerkung Kants aus der Kritik der reinen
Vernunft zugrunde, derzufolge das eigene kritische Unternehmen eine Reise
durch das »Land des reinen Verstandes« gewesen sei, in deren Verlauf die
»jedem Dinge« angemessene Stelle bestimmt worden sei. Mit einer weit-
läufig ausgesponnenen Wendung stellt sich der Kritiker des Verstandes, des-
sen bahnbrechender Hypothese zufolge sich die Gegenstände der Erkenntnis
nach den ›Begriffen‹ des erkennenden Subjekts richten und nicht umgekehrt,
als Kartograph dar.1 Abgestimmt auf das Modell vom ›Raum‹ des Wissens
erscheint die Erfassung, Verzeichnung und Speicherung von Wissen als ein
topographisches Verfahren. Die topographische Darstellung von Räumen ver-
weist als ein Spezialfall auf das Problem von Darstellung überhaupt. In der
Moderne tritt an die Stelle einer sich als ontologisch fundiert begreifenden
Abbildung von Welt ein neues Selbstverständnis der Erkenntnis. Das Inter-
esse konzentriert sich nunmehr auf Prozesse und Formen der Darstellung
von Wissen – einer Darstellung, welche die Idee der Vermittelbarkeit des
Gegenstandes an eine dritte Instanz impliziert. Mit jedem Prozeß der Dar-
stellung wird zwar etwas Darzustellendes als gegeben suggeriert, doch erst
durch diesen Prozeß konstituiert es sich als etwas, das gewußt, kommuni-
ziert und verhandelt werden kann. Die Modalitäten der Darstellung sind also
konstitutiv für den jeweiligen Gegenstand. Unvermittelte und selbstevidente
Wirklichkeiten sind nach Kant und Nietzsche nicht einmal mehr denkbar.
Prägend für die Moderne ist vor allem das Bewußtsein von der Pluralität
2 Brunkhorst, Martin: »Fugard, Soyinka und die attische Tragödie«. In: Schmeling, Man-
fred (Hg.): Weltliteratur heute. Konzepte und Perspektiven. Würzburg 1995, S. 33.
3 Vgl. dazu: Maresch, Rudolf/Werber, Niels: »Permanenzen des Raums«. In: dies. (Hg.):
Raum, Wissen, Macht. Frankfurt a.M. 2002, S. 13f.
Topographien der Weltliteratur 373
4 Vgl. Borges, Jorge Luis: La Biblioteca de Babel. In: ders.: Obras Completas. Barcelo-
na 1989. Bd. 1 (1923–1949). Andere Beispiele für diese Verknüpfung beider Themen
wären zu nennen, so Musils Bibliothekskapitel im Mann ohne Eigenschaften und
Canettis Blendung.
5 Und dabei ist die Analogie von Welt und Schrift bei Borges sogar zur Identitätsbezie-
hung geworden; es gibt kein Universum außerhalb der Bibliothek. Das Projekt einer
Kartierung der Bibliothek wird im Zeichen der (bei Borges negativ beantworteten)
Frage nach einer herstellbaren Ordnung der Dinge zum Pilotprojekt, an dem sich die
374 Monika Schmitz-Emans
Für die traditionelle Modellierung der Weltliteratur ist das Buch die prägende
Darstellungsform; auch hier sind jedoch unterschiedliche Gestaltungsformen
denkbar, deren Spektrum von der Anthologie bis zur historiographischen
Übersicht reicht, wobei die Anthologisten wiederum sowohl mit dem Problem
der Vielsprachigkeit als auch hinsichtlich der Kommentierungspraxis unter-
schiedlich verfahren. Einzelne aus umfangreichen Beständen herausgegriffene
Beispiele literaturwissenschaftlicher und literaturvermittelnder Darstellung
von Weltliteratur sollen exemplarisch sowohl die mit der Darstellung verbun-
dene Strukturierung des Gegenstandes als auch die wechselnden diskursiven
Grundlagen des kartographischen Verfahrens illustrieren.
Möglichkeit von Kartierung überhaupt beweisen müßte. Aber ein solches Unterfangen
erscheint aussichtslos.
6 Eco, Umberto: Der Name der Rose. München/Wien 1983.
Topographien der Weltliteratur 375
Dichtung wird hier auf der Basis eines bipolaren Raum-Konzepts konstruiert.
Einander scharf gegenübergestellt wird ein Bezirk zeitloser Ideen und Ideale
einerseits, ein Bezirk der leidvollen, ›problem‹-belasteten Erfahrungen ande-
rerseits. Weltliterarische Werke lassen sich Glaser zufolge daran erkennen,
daß sie sich aus jenem Raum in diesen hinüberbewegen; das Bild der vom
Parnaß absteigenden Musen, aber auch das eines Messias, der ›abgestiegen‹
ist zur Hölle, wird assoziativ heraufbeschworen. Auch und gerade die histo-
rische Zeit, zu der die Werke der Weltliteratur in eine Beziehung treten, wird
im räumlichen Bild charakterisiert: Die Gegenwart ist durch eine Schwelle
von der Vergangenheit geschieden. Insofern die Gegenwart selbst mit ihren
existenziellen Fragen und Problemen als ein Raum gedacht wird, gestaltet
sich das Porträt der Gegenwartswelt als Topo-Graphie ihrer Probleme. Die
Metaphorik von Raum und Weg bleibt leitend bei Glaser, auch wo es um
das eigene Tun geht.
Einem thematischen Strukturierungsprinzip folgt auch der Band Weltli-
teratur unserer Zeit von Georg Ried, ein »Wegweiser durch die Fülle« der
Gegenwartsliteratur zur Erleichterung der »Orientierung« (Vorwort).8 In der
ersten Auflage gliedert sich die Darstellung in vier ›Leitkapitel‹: »Frage an
die Zeit«, »Vor dem Unbewältigten«, »Gärende Welten«, und »Antwort aus
Erbe und Glauben«; die zweite Auflage gliedert sich schon anders: »Auf
neuen Wegen«, »Diagnose und Kritik«, »Sein und Sinn«, »Absurdes Thea-
ter«, »Unrecht und Not«, »Krieg und ›Frieden‹«, »Geist und Humanität«,
»Natur und Zeit«, »Phantasie und Humor«, »Welt und Gott«, »Weltrevolu-
tion«, »Ferne Welten«. Diese ›Problem‹-Namen ersetzen partiell konventio-
nelle Bezeichnungen geographischer Räume: Unter »Weltrevolution« abge-
handelt wird etwa die Literatur der UDSSR (»Sowjetrussland«), Polens,
9 Vgl. etwa: Wilpert, Gero v./Ivask, Ivar (Hg.): Moderne Weltliteratur. Die Gegenwarts-
literaturen Europas und Amerikas. Stuttgart 1972. Noch steht hier der Begriff der
Nationalliteratur im Zentrum.
10 Mühlmann, Wilhelm E.: Pfade in die Weltliteratur. Königstein/Ts 1984. Das Buch
gliedert sich in ›Zugänge‹.
11 Vgl. etwa: Schütz, Hans Lothar/Fenner, Marlott Linka (Hg.): Welt-Literatur heute.
Eine aktuelle Bestandsaufnahme. München 1982.
378 Monika Schmitz-Emans
12 Enzensberger, Hans Magnus (Hg.): Museum der modernen Poesie. 2 Bde. Frankfurt
a.M. 1980 [zuerst 1960]. Zur Genese von »Nationalliteratur«, vgl. S. 17f.
13 Sartorius, Joachim (Hg.): Atlas der neuen Poesie. Reinbek 1996.
14 Harald Hartung nennt das Museum die »wichtigste und folgenreichste Lyrikantholo-
gie der deutschen Nachkriegsära« (Hartung, Harald (Hg.): Luftfracht. Internationale
Poesie 1940 bis 1990. Frankfurt a.M. 1991, S. 9).
15 Vgl. Enzensberger (s. Anm. 12), S. 782.
Topographien der Weltliteratur 379
welchen Weg durch die Mappen der Leser wählt; daß die lineare Reise durch
das Buch in Neuseeland und Australien beginnt, ist nicht zwingend. Die topo-
graphische Gliederung des Atlas versteht sich explizit als kontingente Gliede-
rung, nicht als Suggestion einer stabilen globalen Ordnung von Dichtung und
Kulturen. Wie relativ Ordnungsmuster sind, wird zum einen durch Hinweise
auf die jeweils hinter den Texten stehenden Lebensgeschichten nachdrück-
lich betont,21 zum anderen durch die Erinnerung daran, daß das Netz der
Längengrade als geographische Struktur selbst ein imaginäres Netz ist. »Die
Längengrade sind ein Einteilungsprinzip, doch selbst zu einem beträchtlichen
Teil imaginär. Denn in den Lebensläufen der Protagonisten spiegeln sich die
Zeitläufe. Die chinesischen Dichter dieses Atlas leben nicht in China. Gu
Cheng, von den Erfahrungen des Exils zerrüttet, tötete 1994 sich und seine
Frau in Neuseeland.« (ebd., S. 12) Auch gesteht Sartorius nachdrücklich
ein, daß die Auswahl der Autoren durch subjektive Vorlieben geleitet wurde
und die Struktur der Anthologie einem kontingenten Muster folgt. Wie rela-
tiv alle Ordnungsmuster sind, wird nachdrücklich betont. Darum sollen die
Dichtungen explizit nicht zur Illustration übergeordneter Ordnungsmuster
herangezogen werden, sondern jeweils für sich selbst sprechen. Der Atlas
hilft nur dabei, einen Weg zu ihnen zu finden. »Der ›Atlas‹ geht nach Ländern
vor. Er fängt in Neuseeland und Australien an, geht über Japan, China, den
Nahen Osten, den Maghreb und Europa nach Afrika, Lateinamerika und [in]
die USA. Innerhalb dieser geographischen Blöcke stellt sich jeder Poet, jede
Poetin vor, für sich. Ihre Verse sind nie, und auch nicht in diesem ›Atlas‹,
Information.« (ebd., S. 12) Wie abstrakt topographische Einteilungen und
Grenzziehungen sind, belegt schon die Erinnerung an globale Migrations-
prozesse. Zu den signifikanten Eigenschaften des Atlas gehört seine Viel-
sprachigkeit: Die Gedichte sind jeweils im Original und in einer deutschen
Übersetzung abgedruckt; bei den Originalen natürlich auch in den jeweiligen
Schriftsystemen. Der genaue Blick auf die Konstruktion des Atlas zeigt, daß
die Längengrade nur ein grobes Raster sind, in das sich die Poesie eines dicht
besiedelten Kontinents wie Europa nicht einspannen läßt. Die Mappen 3, 4,
und 5 beschreiben jeweils Wege durch mittel- und westeuropäische Länder,
die dabei teilweise mehrfach durchschritten werden.22 Ein topographisches
Gleichnis wird auch dort verwendet, wo es um das grundsätzlich nicht karto-
graphisch erfaßbare Moment lyrischer Texte geht. Für das Inkommensurable,
das Sartorius als konstitutiv für die einzelne poetische Artikulation begreift,
wählt er das Gleichnis einer vertikalen Raumbeziehung: Dichtung beweise,
»daß hinter der geläufigen Sprache eine Sprache ist, die das Vergangene neu
formieren kann [...]. Als gebe es ein Hinterland, oder besser: eine Tiefsee
der Sprache, in der der Lyriker, in der Taucherglocke der Kunstform, noch
hinabtauchen kann.« (ebd., S. 15) Die Dichter-Biographien, die jeweils im
Anhang zu jeder Mappe geliefert werden, sind für das Konzept der Antho-
logie ebenso tragend wie die Texte selbst. Jeder einzelne Dichter erscheint
als eine Art Schnittpunkt globaler Verbindungslinien. Den Hintergrund dieser
Individualbiographien bilden übergreifende historische Prozesse: die Besied-
lung Australiens durch europäische Auswanderer (aus der Familiengeschichte
von les Murray), die chinesische Kulturrevolution (vgl. die Texte zu Yang
Lian, Gu Cheng, Bei Dao), die Geschichte Schwarzafrikas (vgl. die Texte zu
Kofi Nyidevu Awoonor, Tchicaya U Tam’si). Außerdem: In vielen Gedichten
spielen Raumerfahrungen, Karten und Kartierungsversuche eine thematisch
zentrale Rolle.23
In seiner gleichnamigen Anthologie von 1991 charakterisiert Harald Har-
tung die Poesie als ›Luftfracht‹.24 In der Makrostruktur folgt Hartungs Band
einem chronologischen Darstellungsprinzip, er ist nach Dezennien gegliedert.
Die metaphorische Charakteristik der dargebotenen Texte als Luftfrachtstücke
suggeriert ähnlich wie Sartorius’ Hinweis auf die mit Lyrik beschrifteten
Subway-Waggons, das Buch selbst sei ein Transportvehikel, ein Raum, der
sich selbst durch einen größeren Raum bewegt. Dies signalisiert einerseits die
Unverzichtbarkeit räumlicher Konzepte, andererseits eine dezidierte Abkehr
von der Leitmetapher der Karte. Als Zielort des Transports wird Deutsch-
land angegeben; das Deutsche ist ja Zielsprache der Übersetzungen. Darzu-
stellen ist die Lyrik einer globalisierten, postkolonialen literarischen Welt;
Hartung greift Enzensbergers Formel von einer ›poetischen Weltsprache‹
modifizierend auf. Gerade die Luftfracht-Metapher deutet an, daß die Text-
Konstellationen, welche den poetischen Raum jeweils konstituieren, sich aus
Bewegungsvorgängen heraus ergeben.
23 Vgl. etwa Murray, Les: »Immigrant Voyage« (In: Sartorius [s. Anm. 13], S. 24ff.),
Hiromi, Ito: »Vaters Gebärmutter oder Eine Landkarte« (ebd., S. 57ff.), Bishop, Eli-
zabeth: »The Map« (ebd., S. 313), »Questions of Travel« (ebd., S. 314f.). Hybrid-
kulturell geprägte Texte sind Cees Nootebooms Gedichte: »Basho I – IV« (170f.), die
der europäischen Mappe zugeordnet sind, aber eine lyrische Form Japans imitieren.
24 Vgl. Hartung (s. Anm. 14).
382 Monika Schmitz-Emans
phien – so anläßlich der Themen ›Raum und Leere‹, ›Reise‹, ›Migration und
Exil‹, ›Verortung und Globalisierung‹. Sartorius bildet alle Weltteile ab und
betont im Vorwort die rezente Internationalisierung der Lyrik.
Die genannten Beispiele illustrieren, inwiefern der Entwurf einer weltli-
terarischen Topographie selbst ein poetisches Projekt ist: Die Anthologisten
sind ›Erfinder‹ der Poesie. Die Orientierung an geographischen Strukturen
signalisiert den konstruktiven Charakter solcher Kartierung der poetischen
›Welt‹. Die Anordnung der Texte selbst eröffnet jeweils einen spezifischen
›Raum‹ für die Dichtung.
2. Ästhetische Kommunikation vollzieht sich abgekoppelt von ›natürli-
chen‹ räumlichen Gegebenheiten. Durch ihre schriftliche Form löst sie sich
aus jedem spezifischen situativen Kommunikationskontext und von jedem
spezifischen Ort. Aber poetische Kommunikation schafft sich zugleich ihre
eigenen Räume. Deren Modellierung in Gestalt einer buchförmigen Text-
sammlung impliziert Reflexionen über die Spezifität des literarischen Rau-
mes. Als Konsequenz des linguistic turns in der jüngeren Poetik ist der Raum
poetischer Kommunikation insbesondere als multilingualer Raum interpretiert
worden. Durch den postkolonialen Diskurs hat das Interesse am Raum der
poetischen Kommunikation neue Dimensionen angenommen. Im Zeitalter
der Exilanten und Migranten kann es weniger denn je darum gehen, einen
statischen Raum der ›Weltkulturen‹ zu modellieren. Die Welt selbst ist zum
Mobile geworden.
3. Schwierig ist eine Kartierung der Poesie dieser globalisierten Welt
schon darum, weil die Dichter sich geographisch und kulturell oft nicht ein-
deutig verorten lassen. Exilerfahrungen, Migrationen und Hybridisierungs-
prozesse bilden oft den Hintergrund poetischen Schreibens. Eine Reaktion
auf die Diffusität des globalen Territoriums liegt in Versuchen, die Poesie
über allgemeine Prinzipien zu definieren, also eine Einheit ›der‹ Poesie trotz
aller Zersplitterung zu postulieren, welche in einer Grundhaltung der Dichter,
einer Art poetischem Kernprojekt liegt. Sartorius unternimmt Ansätze hierzu
– wobei er über die Dichtungen der Moderne spricht.
4. ›Weltliteratur‹ ist eine Konstruktion – und das heißt nicht zuletzt: eine
medial-gestützte, durch das Medium ihrer Darstellung geprägte Konstruktion.
Das Wissen darum kommt darin zum Ausdruck, daß bei Enzensberger, Sar-
torius und Hartung jeweils der Name eines anderen Mediums metaphorisch
für die Medialität der eigenen Darstellungsform steht. Je nach gewähltem
Vergleichs-Medium stellt sich die Beziehung zur Zeitlichkeit different dar: In
einem ›Museum‹ werden die Exponate der Zeit entrückt, die ›Luftfracht‹ wird
in regelmäßigen Zeitintervallen (dezennienweise) transportiert; der ›Atlas‹
legt einen Schnitt in die Zeit und stellt ›Gegenwart‹ synchron dar.
384 Monika Schmitz-Emans
Räume werden durch ihre Darstellung erzeugt; sie sind, anders gesagt, Pro-
dukte ihrer medialen Konkretisierung. Die Ausbreitung und wachsende prak-
tische Bedeutung der elektronischen Medien hat zu Erweiterungen bzw. zu
Modifikationen des Raumbegriffs geführt.25 Beobachtet man die ästhetischen
Praktiken und ihre (Selbst-)Beschreibungen im Zeitalter des Internet, so fällt
eine Dominanz von Raum-Konzepten und topographischen Metaphern auf.
Vokabeln wie ›Landschaft‹ und ›Karte‹, aber auch ›Nomadismus‹ und ›map-
ping‹ deuten darauf hin. Dabei ist nicht von konkreten Landschaften und
Räumen die Rede, sondern von virtuellen. Diese wiederum werden jedoch in
einer Weise imaginiert und dargestellt (bzw. durch ihre Darstellung erzeugt),
welche sich an Prinzipien der Darstellung des realen Raumes durch geo-
metrische Verfahrensweisen orientiert.26 Uwe Wirth hat bemerkt, »daß sich
der Mythos der Literatur im Internet aus wörtlich genommenen Metaphern
postmoderner Literaturtheorien speist«, und verweist in diesem Zusammen-
hang auf die »Idee vom Hypertext als einer rhizomatisch vernetzten Karte«
(Wirth: »Literatur im Internet«, S. 321). Tatsächlich gehört das Rhizom zu
den beliebtesten Modellen der rezenten literarischen Kultur.27 Und er weist zu
Recht darauf hin, daß die Borgessche Bibliothek von Babel für die (Selbst-)
Darstellung des Internets die Funktion einer Leitmetapher übernommen hat
(Wirth, »Literatur im Internet«, S. 322).
Enzensbergers – in Buchform kaum realisierbare – Idee zu einem Mobile
verschieden arrangierbarer Textelemente antizipiert Darstellungsmöglichkei-
ten, die das Medium des elektronischen Hypertextes mittlerweile bietet.28 Im
(...) Literatur« (Dieter E. Zimmer: Die Bibliothek der Zukunft. Text und Schrift in den
Zeiten des Internet. Hamburg 2000, S. 47). 1971 begann der damalige Student Michael
Hart, nachdem er Zugang zum Großrechner der Universität Illinois erhalten hatte,
englischsprachige Texte ins Netz zu stellen. Bis 2001 waren auf der Basis von »Spen-
den«-Beiträgen vieler Mitarbeiter zweitausend Texte in e-Texte verwandelt worden.
Mittlerweile gibt es andere, vergleichbare Projekte: das Project Runeberg in Skandi-
navien, das Projekt Athena aus der französischen Schweiz, das Projekt Gutenberg-DE
aus Deutschland. Letzteres wurde 1994 von Gunter Hille begründet; Zimmer zählt im
Jahr 2000 150.000 Seiten Text (S. 48); daß es in dieser Sammlung deutschsprachiger
Literatur Schwerpunktbildungen gibt, ist bekannt. Wie das amerikanische Vorbild, so
ist auch das deutsche Projekt Gutenberg ein kollektives Unternehmen, getragen von
Privatpersonen. Das Project Bartleby ist an der New Yorker Columbia University an-
gesiedelt. Hier werden ausgewählte Texte professionell ediert. Das Anthologienwesen
hat im Zeitalter des Internet neuen Aufschwung erhalten. Die Perseus Digital Library
stellt eine umfangreiche Sammlung griechischer und römischer Klassiker ins Netz.
Bibliophile Kostbarkeiten wie das einzige überlieferte Beowulf-Manuskript und die
Magna Charta sind von der British Library in Web-Texte verwandelt worden. Vom
Bildschirm aus öffnen sich Türen in eine riesige Bibliothek.
29 Vgl. Gabriel, Norbert: Kulturwissenschaften und neue Medien. Wissensvermittlung im
digitalen Zeitalter. Darmstadt 1997, S. 56–57.
386 Monika Schmitz-Emans
30 Vgl. Münker, Stefan: Als die Wörter laufen lernten. Dichten jenseits der Gutenberg-
Galaxis. 1997 [http://www.heise.de/tp/deutsch/inhalt/buch/2128/html].
31 Jorge Luis Borges hatte die Welt im Gleichnis einer – allerdings unermeßlich großen
– Bibliothek beschrieben. Bei Idensen und Krohn (Idensen, Heiko/Krohn, Wolfgang:
Die imaginäre Bibliothek. 1990 [http://www.hyperdis.de/pool/]) wird darauf in Form
eines verfremdenden Zitats Bezug genommen.
Topographien der Weltliteratur 387
Repräsentativ für das Gesamtprojekt ist die Startseite noch aus zwei weite-
ren Gründen: Erstens enthält sie Zitate, die als solche identifizierbar sind und
in dieser Eigenschaft intertextuelle ›Links‹ zu Texten außerhalb des Hyper-
textes bilden. Zweitens sind in die Startseite auf exemplarische Weise topo-
graphische Konzepte integriert: Mit der Bibliothek selbst geht es um einen
Raum des Lesens. Die zu Links gemachten Wörter sind ›Absprungsorte‹ auf
dem Weg in jene anderen Räume, wie beispielsweise das Wort »Absprungs-
ort« selbst. Mit dem Strukturmodell der Verschachtelung ist ebenfalls ein
topologisches Modell aufgerufen, auch wenn, anders als bei Borges, hier
von verschachtelten Bildschirmen die Rede ist.
Während Bücher konkret und materiell räumliche Objekte sind, kon-
stituieren Hypertexte virtuelle Räume. Gerade in dieser Eigenschaft kor-
respondieren sie mit dem ›Raum‹ einer Weltliteratur, an der vor allem ihre
intertextuelle Vernetzung in den Blick genommen wird. Die Imaginäre Biblio-
thek demonstriert die medienspezifischen Möglichkeiten des Hypertextes zur
Gestaltung eines solchen virtuellen literarischen ›Raumes‹. Sie besteht aus
einem Netz von ein-seitigen, auf komplexe Weise miteinander verknüpften
und in unterschiedlichsten Folgen abrufbaren Dokumenten, welche entweder
Texte oder im oben skizzierten Sinn sprach- und textbezogene graphische
Elemente oder beides enthalten. Nicht nur ihr Aufbau, sondern auch die
Inhalte der Einzelseiten zielen auf eine Selbst-Darstellung hypertextuellen
Lesens ab. Dementsprechend thematisiert bereits die Startseite das Lesbare
und die medialen Voraussetzungen von Lektüren.
Das Inhaltsverzeichnis listet die einzelnen Themen und Subthemen des
Projekts auf und fungiert als ›Legende‹.32 Diverse Subnetze innerhalb des
Hypertextes sind literarischen Autoren gewidmet. So ergibt sich etwa von
einer namenlose Seite, die das Bild eines Spinnennetzes zeigt, ein Link zu
»Proust«. ›Dahinter‹ öffnet sich u.a. eine faksimilierte Seite aus dem Typo-
skript zur Recherche, versehen mit handschriftlichen Korrekturen. Einer der
von hier aus weiterführenden Links ist das Stichwort »Paperassen«; hinter
ihm steckt die visuelle Darstellung gefalteter und gebogener, also räumlich
wirkender Papierblätter.33 Das Stichwort »Paperassen« verweist wiederum auf
den Proustschen Roman selbst. An dessen Ende vergleicht der Erzähler sein
Werk mit dem Bau einer Kathedrale und dem Zusammennähen eines Klei-
des, und er erinnert sich an den Ausdruck, den Francoise benutzte, um seine
Zettel zu charakterisieren: »Paperassen« (Proust 13, S. 498). Die Hoffnung,
aus dem Angesammelten Zusammenhänge herzustellen, kleidet sich wenig
32 Als das erste dieser Themen wird »Das Labyrinth der Bibliothek (Verirrungen des
Lesers)« genannt, wiederum wird also ein topographisches Konzept herbeizitiert, das
von vielen Autoren, darunter Borges, in eine Beziehung zu Lektüreprozessen gesetzt
worden ist.
33 Die Bilder der Imaginären Bibliothek sind u.a. Katalogen und anderen Kompendien
aus dem Bereich der Buchobjekt-Kunst entnommen.
388 Monika Schmitz-Emans
35 Viele andere Zitate illustrieren die Zitiertechnik der Bibliotheks-Designer in ihrer me-
dienreflexiven Funktion: Ein verschlüsselter intertextueller Hinweis findet sich unter
dem Titel »Eine Empfehlung an den Leser« (http://www.hyperdis.de/pool/129_574.
htm). Das 36. Kapitel, von dem hier die Rede ist, ist Kapitel 36 aus Buch 3 von Law-
rence Sternes Tristram Shandy; dieses Kapitel endet mit einer marmorierten Seite.
Die ebenfalls erwähnte ›Schwarze Seite‹ hat Sterne in Buch 1, Kapitel 12, desselben
Romans untergebracht.
36 Die Autoren der zitierten Texte werden oft nicht namentlich genannt, da die Institu-
tion ›Literatur‹ das Kernthema ist. Gerade mit der Strukturierung dieses Hypertextes
erfolgt eine Anknüpfung an den ursprünglichen Sinn von ›Lesen‹, ›legein‹, das auch
in ›Blütenlese‹ bzw. ›Anthologie‹ steckt: ›Lesen‹ ist (Auf-)Sammeln von Einzelstük-
ken.
390 Monika Schmitz-Emans
37 Wichtige virtuelle Bibliotheken sind etwa das »Projekt Gutenberg«, das »Electronic
Text Center« an der University of Viginia und das »Project Bartleby« der Columbia
University.
38 Das Internet als offenes System unterliegt anders als jedes Buch im Nutzungsprozeß
der Veränderung; es ›lernt‹. Vgl. Gabriel (s. Anm. 29), S. 81f.
39 Vgl. dazu: Gabriel: Kulturwissenschaften und neue Medien (s. Anm. 29), S. 122.
Topographien der Weltliteratur 391
Zumindest in einer Hinsicht hat sich mit der Verbreitung des Internets
hinsichtlich der Begegnung von Lesern mit der ›Weltliteratur‹ etwas Ent-
scheidendes geändert: War zuvor die Bibliothek der Raum, dessen Vorstellung
man mit dem Konzept der Weltliteratur assoziierte, so erscheint es mittler-
weile denkbar, diesen durch den virtuellen Raum des World Wide Web zu
ersetzen und die weltliterarischen Bestände über den Bildschirm am eigenen
Arbeitsplatz abzurufen. Eine unübersehbare Fülle von Websites machen es
heute möglich, sich surfend durch weltliterarische Teilräume zu bewegen.
Dabei kann über wenige Schritte scheinbar Entlegenes in eine Beziehung
zueinander gerückt werden. Eine entsprechende Such- und Lesebewegung
führt zu einer Relativierung von Abgrenzungen verschiedener Art: von Epo-
chen-, Gattungs- und kulturellen Grenzen, aber auch von Textgrenzen. Das
einzelne Dokument wird zum Durchgangsort auf dem Weg zu unermeßlich
vielen anderen.
Der Preis für die Fülle neuer (virtueller) Lese-Räume, die sich dem Web-
Benutzer erschließt, nicht zuletzt, weil das Internet als Publikationsforum
vieler Gegenwartsautoren die alltägliche Schreibproduktion partiell sogar in
Echtzeit darstellt, ist die nur begrenzte Tragfähigkeit aller Karten, Atlanten
und Museums-Kataloge. Statt klare und verbindliche Hinweise durch die
Welten der Texte zu geben, bedürfen die Hypertexte des World Wide Web
ihrerseits der Legenden. Michel Butor hat 1974 den zu dieser Diagnose
passenden Vorschlag zur Begründung einer neuen Wissenschaft der »Itero-
logie« gemacht: »Je propose une nouvelle science (elles poussent comme
des champignons ces années-ci, on en récolte à l’ombre de toutes les sor-
bonnes; quelques-unes parmi la moisson finiront bien par porter fruit), étroi-
tement liée à la littérature, celle des déplacements humains, que je m’amuse
à nommer itérologie pour qu’il y ait déplacement dans le mot même.«40 Die
Weniger denn je ist heute der Poesie ihr Paß abzuverlangen; sie ist keine Angelegen-
heit der Fremdenpolizei. Solche biographischen Einzelheiten verdienen es, erwähnt zu
werden, weil sie übers Äußerliche hinausweisen und als Beleg dafür dienen können,
wie wenig mit der Vorstellung für sich stehender Nationalliteraturen im Angesicht der
modernen Poesie auszurichten ist.« (ebd., S. 17)
Diskussionsbericht 393
Diskussionsbericht
Intensiver noch als die übrigen Sektionen widmete sich die Sektion II ›Räume
der Literatur‹ denjenigen Fragen, die der Untertitel der Tagung ›Deutsche
Literatur im transnationalen Kontext‹ impliziert. Wie situiert sich Literatur
in kulturellen Räumen, auf der Buchseite, in Architekturen, in Medien, in
Gesellschaften, an imaginären Orten, in den Räumen, die sie selbst entwirft
und auf den konstruierten Karten, die zu ihrer Klassifizierung entworfen
worden sind?
Der erste Raum der Literatur ist die Seite, in diesem Sinne beschreibt der
Beitrag FRANZ EYBLS Typotopographien. Raumkonzepte von Buch, Biblio-
thek und Gelehrtenrepublik das Buchwesen als Raumordnung und diskutiert
Lagebedingungen von Texten – von der Buchseite bis zur Verortung innerhalb
der Gelehrtenrepublik – vom Beginn der Neuzeit bis ins 18. Jahrhundert. Die
Frage danach, welche Formen der Navigation diese Räume erlauben, inwie-
weit sie Zugriffe auf den Text beschleunigen oder verlangsamen können,
leitete die Diskussion ein und erlaubte einen Seitenblick auf die Metaphorik
von Lektüre, in den Begriffsfeldern des Sammelns, der Jagd und der Beute
(Siegert, Wenzel). Gerade diejenigen Markierungen auf der Seite, die einen
solchen gezielten Zugriff erlauben, legten es nahe, die Kategorien von Ort
und Raum um den Begriff der ›Stelle‹ zu ergänzen (Wagner-Egelhaaf).
Insbesondere problematisiert wurde jedoch der Vorschlag, die Buchkul-
tur als eine Systematik von miteinander kommunizierenden und ineinander
greifenden ›Räumen‹ zu beschreiben. Damit stand schon am Beginn der Sek-
tion die Frage nach dynamischen und statischen Raumkonzepten erneut zur
Debatte und somit auch das Problem der Anschlußfähigkeit unterschiedlich
entworfener Räume untereinander (Wagner). Daran anschließend wurde die
Gegenthese formuliert, daß Typotopographien gerade nicht als ineinander-
greifende Raumkonzepte mit einander je vertretenden Aktanten beschrieben
werden könnten, sondern daß jede Raumordnung von der nächsten durch
einen Hiatus abgegrenzt vorliege, der nur in der Form des ›Sprungs‹ zu
überwinden sei. Nur der Nicht-Leser mache einen guten Bibliothekar, doch
nur der Leser konstituiere die Gelehrtenrepublik (Böhme). Schon an dieser
394 Christina Lechtermann
Stelle klang damit an, was sich als ›Schwachstelle‹ der Beschreibungsform
›Topographie‹ erweisen sollte, daß nämlich die Raummetapher, wo sie an den
kontinuierlichen, mathematischen Behälterraum anknüpft, bzw. wo sie sich
generell nur einem Raumentwurf verpflichtet und nicht die Gleichzeitigkeit
mehrerer distinkter Raumkonzepte mitdenkt, eine Kohärenz und Kontinuität
nahezulegen scheint, die nicht notwendig den Phänomenen entspricht, die
damit beschrieben werden sollen.1
Setzte die Sektion bei den materiell greifbaren Räumen von Literatur ein,
so widmete sich der größte Teil der Vorträge der Verortung von Literatur
und Kultur auf den imaginären und graphisch aktualisierten ›Spielfeldern‹
konstruierter Karten. Zwei unterschiedliche methodische Zugriffsweisen
dominierten die verschiedenen Vorlagen. Zum einen wurden Modelle histo-
risch unterschiedlicher Selbstverortung von Literatur und Kultur vorgestellt;
zum anderen wurde die Karte erprobt als Möglichkeit einer Reformulierung
wissenschaftlicher Literatur- und Kulturgeschichtsschreibung. Die Spannung
zwischen den Räumen, die Literatur narrativ entwirft, und den Räumen, in
denen sie, innerhalb bestimmter Diskurse, verortet wird bzw. wurde, öffnete
– quer über die Beiträge hinweg – in den Diskussionen das methodische
Problem der ›Gleichzeitigkeit‹ verschiedener Raumkonzepte. Immer erneut
war zu fragen, ob das innerhalb des jeweiligen literarischen bzw. kulturel-
len Systems evozierte Raumkonzept auch die Zugriffsweisen der Analyse
anleiten dürfe, oder ob seine Metaphorizität nicht gerade als ganz eigene
Raumordnung zu beobachten sei. Parallel zu der Frage also, wie es möglich
ist, im Rahmen der Rezeption von Literatur zugleich hier und dort zu sein,
stand im Horizont der Diskussionen immer auch die Frage, ob es einem
analytischen Zugriff gelingen kann, bzw. überhaupt gelingen darf, diesen
›Sprung‹ zu vollziehen (Böhme).
Der Beitrag von HARTMUT KUGLER Zur kognitiven Kartierung mittel-
alterlicher Epik. Jean Bodels ›drei Materien‹ und die ›Matière de la Ger-
manie‹, der die Karte als Distributionsschema mittelalterlicher Stoffbereiche
erprobte und uns zeigte, inwieweit räumliche Zuordnungen der jeweiligen
matière nicht nur als gattungsprägend verstanden werden können, sondern
auch in ihrer überregionalen Aktualisierung erhalten bleiben, eröffnete die
Diskussion um die historische Bedingtheit und die je unterschiedlichen medi-
alen Bedingungen von topographischen Konstruktionen. Während die These
von der relativen Geschlossenheit der stoff-räumlichen Systeme mit dem
Hinweis auf die Grenzüberschreitungen im ›Tristan‹ modifiziert wurde (Wen-
zel), blieben besonders zwei Aspekte für die noch folgenden Diskussionen
der Sektion bestimmend (vgl. v.a. die Beiträge von Fulda und Breuer). Zum
einen wurde die Verbindung von geographischer Referenz und spezifischer
2 Hartmut Kugler verwies diesbezüglich auf die Arbeiten des Erlanger Graduiertenkolleg
516: »Kulturtransfer im europäischen Mittelalter«.
396 Christina Lechtermann
Blick auf das Fragment durch den Text erst ermöglicht und initiiert werde.
Jede imaginative Vervollständigung geschehe damit auf der Basis eines selbst
schon textuell erzeugten Fragments (Mülder-Bach). Darüber hinaus sei zu
betonen, daß auch die Reduktion phänomenaler Fülle im Moment der Wahr-
nehmung selbst nicht als Verschließung, sondern als imaginäre Konstruktion
von Einheit zu beschreiben sei (Martyn). Dementsprechend seien ›realer‹
und imaginärer Raum immer als ein Relationsverhältnis zu denken, in dem
beide Pole durch narrative Strategien konstruiert seien (Steiger). Das hier
vorgestellte Modell von ›Teil und Ganzem‹ sei insofern als Textstrategie zu
verstehen (Bergengruen) und historisch in den Rahmen einer epistemologi-
schen Umstellung für die Zeit um 1800 einzuordnen, die eine neue Aufmerk-
samkeit für das Fragment, für das Fossil oder den Knochensplitter verbindet,
mit deren Rekonstruktion innerhalb wissenschaftlicher Disziplinen, und somit
die Einbildungskraft nunmehr in den Dienst der Vernunft stellte (Böhme).
Bietet Schlegels Entwurf einer Karte als imaginärer und emotionaler
Raum der Nation ein Beispiel für die Verortung von Literatur und Kultur in
den Diskursen um 1800, so untersucht der Beitrag von MONIKA SCHMITZ-
EMANS Topographien der Weltliteratur: ›Museum‹, ›Atlas‹, ›Luftfracht‹ und
›Imaginäre Bibliothek‹ Formen der Verortung von Weltliteratur in aktuel-
len Anthologien. Der Anspruch dieser Sammlungen auf Repräsentativität
wurde in der Diskussion des Beitrags deutlich zurückgewiesen. Die Ent-
würfe der Anthologien böten lediglich ein Konstrukt, das, wenngleich es
nicht mehr auf ›das Nationale‹ ziele, jedoch nichtsdestoweniger immer noch
eine ›deutsche Weltbibliothek‹ entwerfe, in der die Betonung der Hybridität
und Mobilität von Autoren und Texten lediglich als Phantasma gelten könne
(Polaschegg). Damit wurde der Behauptung der Selbstreflexivität jener topo-
graphisch organisierten Anthologien, die ihre Auswahlkriterien explizieren
(Breuer), entgegengehalten, dass gerade bei den Metaphern des Raums diese
Reflexivität aussetzt. Die Veranschlagung einer Räumlichkeit nicht nur für
die ›Gutenberggalaxis‹ sondern gleichfalls für Internet und Hypertext stelle
als Suggestion immer schon eine Wirklichkeit her, deren Geltungsweite erst
noch zu prüfen sei (Wagner). Eine zeichentheoretische Differenzierung zwi-
schen Narration (Literaturgeschichte), Präsentation (Anthologie) und virtu-
eller Kopräsenz (online-Datenbanken) müsse in Rechnung gestellt werden
(Eybl).
Bezüglich der Präsentation der Texte wurde auf die unterschiedlichen
medialen Realisierungen der verschiedenen Darstellungsformen verwiesen.
Ob eine Sammlung von Literatur im digitalen Medium und ›auf der Höhe‹
seiner Möglichkeiten, Sound, Bild und Text zu verbinden, (noch) Weltlitera-
tur oder (schon) ›Weltkunst‹ sei, bliebe dabei zu fragen (Werber). Besonders
jedoch wurde in Zweifel gezogen, ob digitale Datenbanken überhaupt in der
Lage seien, ein Bild der ›Weltliteratur‹ zu entwerfen. Geschmack, Zensur,
Identitätsbildung entfielen, wo lediglich zuverlässig ediert, nicht aber geord-
net und verortet werde (Böhme).
398 Christina Lechtermann
Die Diskussion von STEPHAN BRAESES Vorlage Im Konfl ikt der Topo-
graphien: Deutsche Sprachkultur von Juden in Europa, die für eine grund-
sätzliche Skepsis gegenüber dem ›spatial‹ bzw. ›topographical turn‹ in der
Theoriebildung der postcolonial und cultural studies plädierte, stellte die
Karte als ›Gewaltverhältnis‹ und die topographische Ordnung von Wissen als
Akt der Macht erneut in den Mittelpunkt. War am Vormittag, im Anschluß
an Hartmut Kuglers Vorlage (s.o.), schon die begriffsgeschichtliche Dimen-
sion der Rede vom ›mental mapping‹ thematisiert und ihre Erfindung als
›psychologisches Verfahren einer zivilisierten Militärwissenschaft‹ proble-
matisiert worden (Siegert), so konnten nun aus anderer Richtung die (histori-
schen) Implikationen topographischer Diskursivität hinterfragt werden. Zen-
tral wurde dabei einerseits die Frage, ob und inwieweit Widerstand dagegen
etabliert werden kann, daß Topographien erstellt werden (Martyn), die z.B.
als Lob der Stabilität und Ortsverbundenheit implizit oder explizit Formen
des Nomadischen stigmatisieren (Honold) oder auch nur als wissenschaftli-
cher Modus der Darstellung vorfindliche Raumordnungen einer Gemeinschaft
überschreiben. Hier wurde auf Formen der Travestie verwiesen, die gerade
in der Begriffswiederholung, in der zitathaften Aneignung der ›Gastspra-
che‹, das je gewalthafte topographische System desavouieren können (Cha).
Andererseits geriet das Spannungsverhältnis zwischen topographischer und
sprachlicher Identität in den Blick – und damit Fragen danach, inwieweit
sich etwa die Diaspora, z.B. in Form spezifischer Schimpfwörter, der Sprache
einschreibt (Siegert, Wenzel).
Die Vorlage von REINHOLD GÖRLING, der unter dem Titel Raum und
Gattung. Topologie des Romans die ›Monade‹ und die ›Falte‹ als topologische
Modelle diskutierte und am pikaresken Roman exemplifizierte, führte die
Diskussion zunächst zu der Frage nach den ›großen Linien‹ in der Geschichte
der Raumentwürfe, speziell dazu, ob Leibnitz hier eher in platonischer oder
aristotelischer Traditionslinie zu denken sei, und wie sich eine solche zur
Tradition euklidischer Raumkonzepte verhalte (Kugler). Der Hauptakzent
der Besprechung jedoch lag auf der dynamischen, dialogischen Produktion
von Raumverhältnissen, wie sie an Hand von Bachtins Modell vorgestellt
worden waren, im Vergleich zu den ›Archivordnungen‹ Foucaults (Bergen-
gruen). Dabei wurde auf die Problematik verwiesen, daß das hiermit vorge-
legte Konzept des Subjekts – allein als Knotenpunkt von Beziehungen, also
nur innerhalb des von ihm hergestellten Raumes und ohne die Gleichzeitigkeit
eines ›gegebenen‹ Raumes – schwer denkbar sei, da es nicht allein als meta-
physische, sondern zugleich als rechtspolitische Konstruktion gedacht wer-
den müsse und letzteres so nicht zu garantieren sei (Mülder-Bach). Darüber
hinaus wurde grundsätzlich in Frage gestellt, ob der Ansatzpunkt ›Subjekt‹
geeignet gewählt sei, um den Roman als eine bestimmte Art von ›Raum-
schrift‹ zu analysieren. Neben dem Behälter- und dem Beziehungsraum sei
auch der Richtungs- und der choreographische Raum in Betracht zu ziehen,
welche beide nicht notwendig eine Figur voraussetzen, die schon ›Subjekt‹
Diskussionsbericht 399
III.
LITERARISCHE RÄUME
Einleitung 403
Einleitung
von Räumen – Inseln und Berge, Krypten und Höhlen, Tunnel und Dämme,
Städte und Passagen –, sondern auch um heterogene Raumkonzepte: um
Topologien des Wissens und Gedächtnisses, topographische Modelle von
Zeit und Geschichte, geopolitische Konzepte von Land und Meer, um Rich-
tungsräume, Bahnen und Strömungen, um glatte und gekerbte Räume, um
Rhizome und Netzwerkstrukturen.
So wenig sich diese Räume und Raumkonzepte noch dem Singular einer
ontologischen Kategorie oder einer kantisch gedachten Anschauungsform
subsumieren lassen, so wenig zielt ihre Erkundung auf eine Theorie des litera-
rischen Raums in Anlehnung etwa an Bachtins Konzept des Chronotopos oder
Lotmans Beobachtungen zur räumlichen Codierung kultureller Semantiken.
Zwar umfassen diese Raumtheorien eine Vielzahl topographischer Bedeu-
tungsfiguren. Ihr leitendes Interesse gilt jedoch der Beschreibung wieder-
kehrender räumlicher Codes und Semiosphären als konstitutives Moment
literarischer Mimesis. In den Beiträgen dieser Sektion geht es dagegen vor
allem um Wechselbeziehungen zwischen den imaginären und symbolischen
Räumen der Literatur, den kulturellen Topographien des Wissens, den mate-
riellen Räumen der Geschichte, Geographie und Geologie sowie den tech-
nischen Medien und symbolischen Praktiken der Bearbeitung des Raums.
Daß dabei die literarische Gestaltung subjektiver Raumerfahrungen sowie
das Verhältnis von Raummodellen, poetischen Verfahren der Figuration und
literarischen Genres – mit einer gewichtigen Ausnahme beschäftigen sich
die Beiträge dieser Sektion ausschließlich mit erzählerischer Literatur und
kritischer Prosa – in den Hintergrund tritt, entspricht den Themenvorschlägen,
unter denen auszuwählen war.
Nicht nur aus Gründen der Chronologie wurde die Sektion mit einem
Beitrag von Christian Moser eröffnet, der, ausgehend von der Odyssee, an
drei markanten historischen Stationen untersucht, welche Mythen des Kultur-
prozesses sich mit dem Topos der Insel verbinden und wie in diesen Mythen
die Opposition von Natur und Kultur über den Gegensatz von Festland und
Insel sowie von geschlossener und offener Inselform verhandelt wird. Indem
Moser am Beispiel der Insel nach der topographischen Produktion von Kul-
turmodellen fragt, thematisiert er ein übergreifendes Problem, das in den
folgenden Beiträgen unter anderen Gesichtspunkten wiederkehrt. Es gewinnt
dort eine zusätzliche Dimension, wo die literarische Bearbeitung kultureller
Prozesse reflexiv wird. Ein herausragendes Beispiel solcher Reflexion ist
die Lyrik Hölderlins, deren kulturgeographischen Markierungen Alexander
Honold am Beispiel der Elegie »Der Wanderer« und der späten Hymne »Die
Wanderung« nachgeht. In der poetischen Engführung verschiedener zeitge-
nössischer Wissensformen gestaltet Hölderlin den Modus des Wanderns zu
einer Aktionsform aus, über die naturgegebene Richtungen, Bewegungen und
Züge – von Strömen und Gebirgen, Gestirnen und Vögeln – und kulturelle
Prozesse individueller und kollektiver Migration so verschränkt werden, daß
nicht nur der Kultur eine naturgeschichtliche, sondern umgekehrt auch der
Einleitung 405
I.
1 Die Wurzeln dieses eurozentrischen Weltbilds liegen, wie James Romm argumentiert,
im archaischen Zeitalter Griechenlands. Homer und Hesiod konzipieren die Welt als
eine begrenzte Landmasse, die vom (seinerseits unbegrenzten und formlosen) Okeanos
umflossen wird. Die Ränder dieser Landmasse (und das gilt erst recht für die Inseln,
die noch jenseits des Randes im Okeanos situiert sind) werden von wilden, primitiven
Völkern bewohnt, wohingegen ihr Zentrum (das griechische Festland) den Gipfelpunkt
der Kulturentwicklung markiert. Vgl. Romm, James S.: The Edges of the Earth in
Ancient Thought. Geography, Exploration, and Fiction. Princeton 1992, S. 9–44.
Archipele der Erinnerung: Die Insel als Topos der Kulturisation 409
nach auf der Insel lähmende Stagnation. Die geopolitischen und kulturellen
Grenzen des Festlands unterliegen einem geschichtlichen Wandel. Die natür-
liche Grenze des Meeres hingegen, welche die Insel umgibt, scheint gegen
derartige Veränderungen resistent zu sein. Sie schützt die Insel gegen äußere
Einflüsse, so daß sie einen ursprünglichen Zustand zu bewahren und sich als
Fluchtraum zu etablieren vermag. Die Insel bildet somit aus europäischer
Sicht einen Winkel der Vergessenheit: »islands are places out of time«.2
Die Vorstellung der Begrenztheit ist auch in der zweiten Opposition ent-
halten, die den Status der Insel bestimmt: der Opposition zwischen Land und
Meer, zwischen dem Festen und dem Flüssigen, dem Formlosen und der klar
definierten Gestalt.3 Dieser Gegensatz liegt zwar auch dem Begriff des Kon-
tinents zugrunde, prägt aber in einem sehr viel stärkeren Maße die okziden-
tale Vorstellung vom insularen Raum. Denn aufgrund seiner schieren Größe
kann der Kontinent selbst das Ansehen eines unüberschaubaren ›Landmeeres‹
gewinnen. Der beschränkte, ganz von Wasser umgebene Raum der Insel dage-
gen bringt den Gegensatz zwischen dem Festen und dem Flüssigen beson-
ders deutlich zur Anschauung. Inmitten der unermeßlichen Wasserwüste, in
der sich der Blick verliert, scheint sie dem Auge einen festen Anhaltspunkt
geben zu können. Umgeben vom bedrohlichen, stets bewegten und wandel-
baren Element des Flüssigen, verheißt sie Orientierung, Sicherheit und Sta-
bilität. Sie erscheint somit als der Inbegriff eines deutlich markierten Ortes.
Das Meer fungiert einerseits als Hindernis, als Schutzwall, der die Insel vor
Übergriffen bewahrt. Es verleiht ihr andererseits eine scharfe Kontur, die sie
greifbar und beherrschbar erscheinen läßt. Wirken die Landmassen des Kon-
tinents unübersichtlich und undurchdringbar, so läßt sich die Insel mit einem
Blick erfassen.4 Inseln erscheinen als natürliche Festungen, aber auch als
natürliche Kolonien, die nur darauf warten, in Besitz genommen zu werden.5
2 Edmond, Rod/Smith, Vanessa: »Editor’s Introduction«. In: dies. (Hg.): Islands in His-
tory and Representation. London/New York 2003, S. 1–18, hier: S. 8.
3 Auch die sinnstiftende Funktion des Gegensatzes zwischen Land und Meer läßt sich
auf das Weltbild des antiken Griechenland zurückführen. Das als unbegrenzt, chaotisch
und formlos (apeiron) gedachte Weltmeer steht demnach dem klar umgrenzten und
in sich differenzierten Festland gegenüber, das wie eine gewaltige Insel im Okeanos
schwimmt. Vgl. Romm (s. Anm. 1), S. 20–26.
4 Vgl. Lestringant, Frank: »Insulaires«. In: Cartes et fi gures de la terre (Ausstellungs-
katalog des Centre Georges-Pompidou). Paris 1980, S. 470: »Au contraire des masses
continentales, où subsistent assez tard de larges ›terrae incognitae‹ – lacunes impé-
nétrables, que le cartographe ne saurait réduire que par les ruses de la nomination
et l’imprécision du tracé –, l’île apparaît d’emblée transparente au discours que l’on
tient d’elle. Elle se donne immédiatement comme un objet de connaissance aux limites
définies et à l’espace de part en part mésurable.«
5 Vgl. Edmond/Smith: »Editor’s Introduction« (s. Anm. 2), S. 1: »[I]slands seem to be
natural colonies. This is not just because of the desire to possess what is paradisal or
utopian, but because islands, unlike continents, look like property.«
410 Christian Moser
Die Attribute der Begrenztheit und der Statik, die der Insel im westlichen
Denken zugeschrieben werden, erleichtern nicht nur den kolonialen, son-
dern auch den intellektuellen Zugriff. Inseln stehen in dem Ruf, besonders
dankbare Erkenntnisobjekte zu sein. Mehr noch: Sie erfüllen die heuristische
Funktion von Erkenntnisinstrumenten. Der limitierte Raum der Insel ver-
heißt die Möglichkeit, komplexe Phänomene zu isolieren, überschaubar und
beherrschbar zu machen. Die Insel erscheint als ein ideales Experimentierfeld.
Das gilt für gesellschaftspolitische Versuchsanordnungen, die Sozialtheoreti-
ker und Utopisten – von Thomas Morus bis Aldous Huxley – bevorzugt auf
imaginären Inseln anzusiedeln pflegen.6 Das gilt aber auch für den Bereich
der Naturgeschichte und der Biologie: Charles Darwin etwa erkennt in dem
Archipel der Galapagos-Inseln, den er im Rahmen seiner Weltumsegelung
1835 besucht, »a little world within itself«.7 Abgeschnitten von den großen
Vererbungslinien, die sich auf dem Kontinent ausprägen, schlägt der evo-
lutionäre Prozeß in dieser abgeschlossenen Inselwelt einen Sonderweg ein,
der seine Gesetzmäßigkeiten um so deutlicher sichtbar macht. Die Entwick-
lung der insularen Flora und Fauna markiert ein natürliches Experiment der
Evolution.8
Als ideales Erkenntnisterrain gilt die Insel schließlich auch den Diszipli-
nen der Anthropologie und der Ethnologie. Sie wenden sich den Inselkulturen
zunächst deswegen mit besonderer Vorliebe zu, weil sie es in erster Linie mit
sogenannten archaischen Gesellschaften zu tun haben, die sie im vermeint-
lich rückständigen, vom globalen Fortschritt abgekoppelten Inselmilieu zu
finden hoffen. Die Insel erlaubt es zudem, Ethnien und Kulturen als isolierte
Objekte, in ihrer unvermischten und ursprünglichen ›Reinheit‹ zu studie-
ren. Vor allem aber bietet sie den geeigneten Rahmen, um Gesellschaften,
wie von Marcel Mauss und Bronislaw Malinowski gefordert, als kulturelle
Totalitäten zu erforschen.9 »Für den Ethnologen,« zu dieser Schlußfolgerung
6 Vgl. Morus, Thomas: Utopia (1516). In: The Complete Works of St. Thomas More. Bd.
4. Hg. v. Edward Surtz u. J. H. Hexter. New Haven u. London 1965; Huxley, Aldous:
Island. New York 1962.
7 Darwin, Charles: Voyage of the Beagle (1839). With an Introduction by H. James Birx.
New York 2000, S. 400.
8 Zu den Besonderheiten, die den evolutionären Prozeß in der Inselumgebung kennzeich-
nen, vgl. Darwin, Charles: The Origin of Species. Hg. v. J. W. Burrow. Harmondsworth
1985, S. 378–392. – Zum gegenwärtigen Stand der evolutionsbiologischen Inselfor-
schung vgl. Gran, Peter (Hg.):, Evolution on Islands. Oxford 1997.
9 Mauss, Marcel: Die Gabe. Form und Funktion des Austausches in archaischen Ge-
sellschaften. Übersetzt v. Eva Moldenhauer. Frankfurt a.M. 1990, S. 17f. Die Gesell-
schaften, die Mauss in seiner klassischen Studie über den Gabentausch untersucht,
sind größtenteils Inselkulturen. Insbesondere stützt er sich auf Bronislaw Malinowkis
Forschungen zur Kultur der Trobriand-Inseln. Malinowski selbst schreibt im Vorwort zu
seinem Trobriand-Werk: »One of the first conditions of acceptable Ethnographic work
certainly is that it should deal with the totality of all social, cultural and psychological
Archipele der Erinnerung: Die Insel als Topos der Kulturisation 411
gelangt Marc Augé, »[...] wäre es ideal, wenn jede Ethnie eine Insel wäre,
die zwar mit anderen Inseln in Verbindung stünde, sich aber von jeder ande-
ren unterschiede«.10
Die sich innerhalb der Ethnologie abzeichnende Tendenz, der Erforschung
von Inselkulturen eine Modellfunktion zuzuerkennen, ist in der neueren Kul-
turanthropologie in die Kritik geraten. Clifford Geertz etwa kanzelt diese
Verfahrensweise despektierlich als »the Easter-Island-is-a-testing-case ›natu-
ral experiment‹ model« ab.11 Der Ethnologe erliege dabei der Illusion, daß
die Natur ihm einen Teil seiner Arbeit abnehme, indem sie ihm ein säuber-
lich limitiertes Experimentierfeld präsentiere. Er werde so dazu verleitet,
die Gegebenheiten lediglich zu beobachten, anstatt das zu tun, worauf es
eigentlich ankomme: die kulturellen Praktiken als Elemente eines übergrei-
fenden Bedeutungszusammenhanges zu interpretieren.12 Marc Augé zielt mit
seiner Kritik in eine ähnliche Richtung. Er behandelt die Inselethnographie
im Kontext seiner Bemühungen, die Konzeption des anthropologischen Orts
zu entwickeln. Obwohl die Klassiker der Ethnographie von Malinowski bis
Margaret Mead dies nahezulegen scheinen, ist er nicht dazu bereit, der Insel
dabei einen herausgehobenen Status zuzuerkennen und sie als das Paradigma
des anthropologischen Orts zu kennzeichnen. Denn der anthropologische Ort
gilt ihm als das Resultat einer kulturellen »›Bearbeitung‹ des Raumes«, einer
»konkreten und symbolischen Konstruktion«.13 Er wird mittels sozialer und
kultureller Praktiken hergestellt; er ist keine natürliche Gegebenheit, sondern
aspects of the community, for they are so interwoven that not one can be understood
without taking into consideration all the others.« (Malinowski, B.: Argonauts of the
Western Pacific. An Account of Native Enterprise and Adventure in the Archipelagoes
of Melanesian New Guinea (1921). Long Grove 1992, S. xvi.) – Man könnte gegen
die Erwähnung von Mauss und Malinowski in diesem Kontext einwenden, daß sie
spezifische Formen des intertribalen Handels und Tauschs untersuchen – Praktiken
also, die gerade darauf abzielen, den begrenzten Raum der Insel zu überschreiten,
die das Meer mithin nicht als Schranke, sondern als Verbindungsweg auffassen. Dem
ist entgegenzuhalten, daß der kula bzw. der Gabentausch von Malinowski und Mauss
als Beispiele einer spezifisch archaischen Ökonomie beschrieben werden, die in einer
scharfen Opposition zum kapitalistischen Warenverkehr der westlichen Welt steht. Die
archaische Gabenwirtschaft hat ihrer Ansicht nach nur im abgelegenen Inselmilieu
(etwa des Pazifik) überleben können. Sie ist als ein Relikt der Vergangenheit an den
der Zeit und den (kapitalistischen) Warenströmen enthobenen, abgegrenzten Raum
der Insel gekoppelt.
10 Augé, Marc: Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsam-
keit. Aus dem Französischen v. Michael Bischoff. Frankfurt a.M. 1994, S. 62.
11 Geertz, Clifford: »Thick Description«. In: ders.: The Interpretation of Cultures. Se-
lected Essays. London 1993 (1New York 1973), S. 3–30, hier: S. 21.
12 Geertz (s. Anm. 11), S. 21.
13 Augé (s. Anm. 10), S. 63.
412 Christian Moser
ein soziales Artefakt.14 Als solches läßt er Rückschlüsse auf die Struktur
der Gesellschaft zu, die ihn hervorgebracht hat. Er ist das Ergebnis symbo-
lischer Praktiken und somit einer Entzifferung zugänglich. Der begrenzte
Raum der Insel hingegen ist laut Augé in erster Linie ein Naturprodukt. Er
verdankt seine Form nicht einer symbolischen Bearbeitung. Folglich gilt er
Augé als unlesbar.
Ist er das wirklich? Die von Geertz und Augé geäußerte Kritik bleibt auf
halbem Wege stehen. Denn die Attribute der Marginalität, Begrenztheit und
inneren Homogeneität sind der Insel gerade nicht von Natur aus zu eigen, sie
werden ihr vielmehr durch einen bestimmten Diskurs zugewiesen, sind also
das Produkt einer symbolischen Praxis. Andere Inselvorstellungen sind nicht
nur denkbar, sondern lassen sich auch in einer Vielzahl von Varianten ausfin-
dig machen. »The notion of the continent has recently been challenged,« so
erklärt John R. Gillis, »and it is possible to see that the idea of the island is
also a construction, variable by time as well as by culture.«15 Die Bewohner
Polynesiens etwa erfahren das Meer nicht als schützende oder beengende
Grenze, sondern als ein entgrenzendes und verbindendes Medium, das die
Insel in ein komplexes Netzwerk unterschiedlicher Kulturen einbindet und
nach außen hin öffnet.16
Doch nicht nur in außereuropäischen Kulturen, auch innerhalb der kul-
turellen Überlieferung des Okzidents kann man Alternativen zur dominanten
Konzeption der Insel als einer fixen Lokalität und eines scharf abgegrenzten
Raums ausmachen. Von der Antike bis in die Frühe Neuzeit ist etwa die Vor-
stellung verbreitet, daß die Insel ein schwankendes Gebilde markiert, ohne
stabile Form und ohne festen Ort. Inseln werden oft als schwimmend darge-
stellt – anders als das kontinentale Land sind sie nicht fest im Boden veran-
kert.17 Sie haben etwas von dem Element, in dem sie sich befinden: Sie sind
flüchtig, flüssig und unstet wie das Meer selbst, grenzen sich diesem gegen-
14 Zur gesellschaftlichen Produktion des Raumes vgl. auch das Grundlagenwerk von
Lefebvre, Henri: La production de l’espace. Paris 1974.
15 Gillis, John R.: »Taking History Offshore: Atlantic Islands in European Minds, 1400–
1800«. In: Edmond/Smith (s. Anm. 2), S. 19–31, hier: S. 19.
16 Davon, daß der kulturell kodierte Raum der Insel in Ozeanien und in der Karibik ganz
anderen Konstruktionsprinzipien verpflichtet ist als in Europa, legen die Beiträge zu
zwei neueren Sammelbänden Zeugnis ab: Edmond/Smith (s. Anm. 2); Brinklow, Lau-
rie/Ledwell, Frank/Ledwell, Jane (Hg.): Message in a Bottle. The Literature of Small
Islands. Charlottetown 2000.
17 Vgl. etwa Homer: Die Odyssee. Deutsch v. Wolfgang Schadewaldt. Zürich/Stuttgart
1966, S. 166 (X. Gesang, V. 1–5: schwimmende Insel des Aeolus); Publius Ovidus
Naso: Metamorphosen. Übersetzt u. hg. v. Hermann Breitenbach. Stuttgart 1990, S. 491
(XV. Buch, V. 334–37: ehemals schwimmende Insel Ortygië = Delos); C. Plinius
Secundus: Naturalis Historiae Libri XXXVII. Bd. 1. Hg. v. Karl Mayhoff. Stuttgart
1968, S. 209f. (II.94f.: diverse Beispiele für schwimmende Inseln und schwankendes
Land). – Zum Vorstellungskomplex von der Insel als einem »objet inconstant« vgl.
Archipele der Erinnerung: Die Insel als Topos der Kulturisation 413
über also nicht ab, sondern öffnen sich ihm.18 Nicht nur die Gestalt der Insel
erscheint wandelbar, Inseln sind auch häufig Stätten der Verwandlung, wo
die Besucher einer Metamorphose oder Verzauberung unterzogen werden.19
Die Figuration der offenen, beweglichen und hybriden Insel bildet somit
innerhalb der europäischen Überlieferung einen Gegenpol zur beherrschenden
Konzeption des geschlossenen, eindeutig lokalisierbaren Inselraums – zur
Insel als Ort. Die Vorstellung der insularen Begrenztheit erweist sich als ein
kulturelles Konstrukt. Dem Kulturhistoriker stellt sich daher die Aufgabe,
dieses Konstrukt und sein Gegenmodell genealogisch herzuleiten und die
verschiedenen Funktionen aufzuzeigen, die sie in wechselnden historischen
wie auch diskursiven Kontexten erfüllen. Dies kann hier nicht erschöpfend,
sondern nur in exemplarischer Form geschehen. An drei Beispielen, die
auf jeweils unterschiedliche historische Formationen verweisen, soll eine
der Funktionen sichtbar gemacht werden, die dem Gegensatz zwischen der
geschlossenen und der offenen Inselfiguration im europäischen Denken
zukommt. Dabei handelt es sich allerdings um eine für das Selbstverständnis
der abendländischen Kultur ganz entscheidende Funktion. Denn der Gegen-
satz zwischen dem offenen und dem geschlossenen Inselraum läßt sich auf
die grundlegende Opposition zwischen Natur und Kultur beziehen. Hinter
diesen antithetischen Insel-Phantasmen verbirgt sich ein spezifischer Mythos
der Kulturisation. Den Veränderungen, denen dieser Mythos in der Antike, in
der Renaissance und im 18. Jahrhundert unterworfen ist, soll im folgenden
nachgegangen werden.
II.
Lestringant, Frank: Le livre des îles. Atlas et récits insulaires de la Genèse à Jules
Verne. Genève 2002, S. 24–28.
18 Vgl. Lestringant (s. Anm. 4), S. 470; ders.: »Fortunes de la singularité à la Renaissance:
le genre de l‹‹Isolario‹«. In: Studi francesi 28 (1984), S. 415–436, hier: S. 436.
19 Vgl. Moureau, François: »Préface: L’île, teritoire mythique«. In: ders. (Hg.): L’île,
territoire mythique. Paris 1989, S. 7f.
20 Moss, Roger: »Derek Walcott’s Omeros. Representing St Lucia, re-presenting Homer«.
In: Edmond/Smith (s. Anm. 2), S. 146–161, hier: S. 146.
414 Christian Moser
der alten Griechen sei die Fremdheit, die mit dem insularen Raum assoziiert
werde, «son altérité”.21 Die Inselwelt sei von bedrohlichen, unberechenbaren
Wesen bewohnt. Der epische Held müsse sich dieser Fremdheit aussetzen, um
zu sich selbst zu finden: »L’île n’est donc qu’un lieu de passage nécessaire
pour accéder à un au-delà qui n’est autre, parfois, que le retour vers la patrie,
la reconquête de soi«.22 Wenn die Insel das wandelbare und unstete Fremde
bezeichnet, das Odysseus durchfahren muß, um das Eigene in Gestalt einer
stabilen Identität zu befestigen, dann steht dieses Eigene in Analogie zum
griechischen Festland. Moss und Peyras sehen in der Odyssee somit einen
Gegensatz zwischen der kontinentalen Heimat-Kultur und der sinnlich-ver-
führerischen oder bedrohlich-wilden Insel-Natur angelegt. Dieser Gegensatz
bedeutet laut Moss eine Weichenstellung, die das abendländische Verhältnis
zur Inselwelt bis in die Neuzeit hinein prägt. Er unterwerfe alle künftig noch
zu entdeckenden Inseln einer diskursiven Prä-Kolonialisierung.23
Eine diskursive Prä-Kolonialisierung der Insel findet in der Odyssee tat-
sächlich statt. Doch bedient sie sich nicht der Opposition zwischen heimat-
licher Festlandkultur und randständiger Inselnatur. Ithaka, die Heimat, der
Odysseus auf seiner Irrfahrt zustrebt, ist ja selbst eine Insel. Die Antithese
von Natur und Kultur läßt sich im homerischen Epos gerade nicht auf den
Gegensatz zwischen Insel und Festland abbilden. Vielmehr tauchen in der
Odyssee sowohl wilde als auch zivilisierte Inseln auf. Zudem ist die Heima-
tinsel Ithaka kaum dazu geeignet, die zivilisierte Beherrschung der Natur zu
exemplifizieren: Ihr Thron ist verwaist und ihre Königin wird von lüsternen
Freiern bedrängt; die Insel ist von Anarchie bedroht. Das Muster einer geord-
neten Inselsozietät findet Odysseus dagegen ausgerechnet in der fernsten
Fremde – auf Scheria, der Heimat der Phäaken, die von sich selbst behaup-
ten, »weitab in dem vielflutenden Meer, zuäußerst« zu wohnen (VI.205).24
Scheria, dem paradigmatischen Ort zivilisierter Ordnung, wird in der Odyssee
eine genauso exzentrische Lage zugewiesen wie der verzauberten Insel der
Kirke oder dem barbarischen Land der Kyklopen. Die Insel der Phäaken hat
somit einen utopischen Anstrich – sie wird als das ideale Gemeinwesen der
Zukunft markiert.25
Scheria ist die letzte Station, die Odysseus auf seiner Irrfahrt besucht.
Sie stellt sozusagen das Sprungbrett für seine Rückkehr nach Ithaka dar.
Obwohl der Held nur wenige Tage auf der Insel verweilt, wird sie mit auf-
fälliger Gründlichkeit beschrieben. Die Insel ist von schroffen Felsklippen
umgeben, so daß es dem schiffbrüchigen Odysseus nur mit Mühe gelingt,
einen Zugang zu ihr finden (V.404–438). Dieser natürliche Schutzwall wird
durch eine Mauer ergänzt, welche die Stadt der Phäaken umgibt (VI.9). Die
geographische Abgeschiedenheit, die dreifache Umhegung durch das Meer,
die Klippen und die Mauer: Die Phäaken scheinen ganz darauf bedacht zu
sein, sich gegenüber der Außenwelt abzuschotten. Doch es gibt zugleich
auch die Gegentendenz der Öffnung. Die Insel hat nämlich nicht nur einen,
sondern gleich mehrere Häfen (VI.263). Die Phäaken werden zudem als
Meister in der Kunst des Schiffbaus charakterisiert. Ihre Fahrzeuge sind
Wunderwerke der Technik, denn sie bedürfen keines Steuermanns, vielmehr
befördern sie ihre Passagiere von selbst in Blitzesschnelle an jeden belie-
bigen Ort der Welt (VIII.557–563). Scheria wird somit ein Merkmal zuge-
schrieben, das auch für die utopischen Inseln der Renaissance kennzeich-
nend ist. Fremden ist sie schwer zugänglich, während die Außenwelt ihr
jederzeit offen steht. Der auf magische Weise beschleunigte Schiffsverkehr
erlaubt die intensive Kommunikation mit den Nachbarn, den ungehinderten
Austausch von Gütern und Nachrichten. Zugleich bietet die isolierte Lage
aber die Möglichkeit, diese Zirkulation unter strenger Kontrolle zu halten,
so daß nichts Schädliches in die Insel eindringen kann. Dementsprechend
zeigt sie in ihrem Inneren das Bild einer harmonischen Ordnung. Die Stadt
ist klar strukturiert. Sie besitzt solide Häuser, Markt- und Versammlungs-
plätze sowie einen prächtigen Königspalast mit einem Garten, in dem ein
ewiger Frühling herrscht (VII.43–46, 112–132). Die Bürger arbeiten für den
Wohlstand der Insel – die Frauen als kunstfertige Weberinnen, die Männer
im Schiffsbau. Waffen, darauf wird explizit hingewiesen, werden auf Sche-
ria nicht hergestellt (VI.270). Die aristokratische Herrenschicht kann sich
dem gepflegten Müßiggang um so mehr hingeben, als sie der eigentlichen
Aufgabe des Adels, der Kriegsführung, enthoben ist. Die jungen Männer
üben sich im athletischen Wettkampf, sind aber keine guten Faustkämpfer
oder Ringer, vernachlässigen also die kriegerischen Disziplinen (VIII.246).
Der Hof ist ständig in Feststimmung. Er vergnügt sich an den Darbietungen
der Kunst, am Tanz und am Vortrag des Dichters (VIII.240–255). Tätiges
Volk und müßiger Adel sind zwar deutlich voneinander geschieden, bilden
jedoch keinen unversöhnlichen Gegensatz. Die jungen Herren veranstalten
und Roman. München 1988, S. 109f.) sieht in der Schilderung der Phäakengesellschaft
im Gegensatz zu Finley keine politische Utopie, sondern ein religiös geprägtes Bild,
das »eschatologische[…] Züge« aufweist. Dieses Bild ist seiner Ansicht nach dunkel
grundiert: Die Phäaken sind ursprünglich »Graumänner« – Angehörige des Totenreichs.
(Ich danke Hans Jürgen Scheuer für den Hinweis auf Hölschers Phäaken-Deutung.)
416 Christian Moser
Insel zu, um zu erkunden, welche Ressourcen sie zum Überleben bietet und
wie er sie sich zunutze machen kann.27 Der Blick nimmt die Insel in Besitz.28
Auch Odysseus gelangt auf dem Hügel zur Einsicht, daß er sich auf einer
Insel befindet: »Denn ich sah, auf einen schroffen Ausguck hinaufgestiegen,
eine Insel, die rings ein unendliches Meer umgibt. Sie selber liegt flach da«
(X.194–196). Doch dieser Blick nimmt das Land nicht in Besitz, er enteignet
vielmehr den Betrachter. Er potenziert die Desorientierung, unter der Odys-
seus leidet: »Freunde! Wir wissen ja nicht, wo das Dunkel ist, und nicht, wo
Morgen, auch nicht, wo Helios [...] unter die Erde geht und wo er wieder her-
aufkommt.« (X.190–192) Nach der Gipfelschau weiß Odysseus noch weniger
als vorher, wo er sich befindet. Aia ist auf eigentümliche Weise ortlos. Im
Gegensatz zu Scheria, das sich schroff aus dem Meer erhebt, schmiegt sich
die Insel Kirkes flach dem Wasserspiegel an, als wolle sie sich in das flüssige
Element auflösen. Die Grenzen der Insel verschwimmen. Wie die Zauberin
die Gefährten des Odysseus ihrer menschlichen Gestalt beraubt, so ist auch
ihre Insel im Übergang zum Amorphen begriffen. Aia steht im Zeichen einer
weiblich konnotierten Öffnung, Entgrenzung und Auflösung.
Zwar steht auch die Ankunft bei den Phäaken für Odysseus im Zeichen
der Begegnung mit einer Frau: Die Königstochter Nausikaa liest den Schiff-
brüchigen am Strand auf. Doch Nausikaa tritt nicht als Verführerin auf, die
ein regressives Verlangen wachruft, sondern als gesittete Jungfrau, welche
die sozialen Werte des Anstands repräsentiert (VI.285). Obwohl sie nach
einem Bräutigam Ausschau hält, macht sie Odysseus gegenüber keinerlei
Avancen. Im Gegenteil, sie weigert sich, mit dem Geretteten zusammen durch
die Stadt zu gehen, und stellt somit die gesellschaftlichen Normen über ihre
persönlichen Wünsche. Wo Kirke und Kalypso sich aktiv um die Männer
bemühen, nach denen sie begehren, da verhält sich Nausikaa passiv, indem
sie ihrem Vater die Wahl des Bräutigams überläßt. Dem offenen Körper
der mütterlichen Hetären steht der geschlossene Leib der Jungfrau genauso
gegenüber wie der offenen Gestalt von Aia die geschlossene Gestalt von
Scheria. Anders als in neuzeitlichen Bearbeitungen des Stoffes – etwa in
Goethes Nausikaa-Fragment29 – ist Scheria in der homerischen Odyssee nicht
der Ort eines letzten amourösen Abenteuers, das den Irrenden von seinem
Reiseziel ablenkt und mit dem Vergessen bedroht. Im Gegenteil, die Insel der
Phäaken ist ein Ort schmerzlichen und heilsamen Eingedenkens. Während
des Gastmahls, das Alkinoos zu Ehren des Schiffbrüchigen gibt, verkündet
27 Vgl. Defoe, Daniel: Robinson Crusoe. An Authoritative Text, Contexts, Criticism. Hg.
v. Michael Shinagel. New York/London 21994, S. 40.
28 Zum Szenario der okularen Inbesitznahme (»the monarch of all I survey scene«) in
seiner imperialistischen Variante vgl. Pratt, Mary Louise: Imperial Eyes. Travel Writ-
ing and Transculturation. London/New York 1992, S. 201–208.
29 Vgl. Goethe, Johann Wolfgang von: Nausikaa. In: ders.: Werke. Hamburger Ausgabe.
Hg. v. Erich Trunz. Bd. 5. München 91981, S. 68–72.
418 Christian Moser
30 Die mnemonische Architektur des Archipels steht hier im Dienste einer totalisieren-
den Erinnerung, die das Erinnerungssubjekt zugleich mit dem Ursprung und mit dem
Telos seiner selbst vermittelt. Der totalisierende Charakter des von Odysseus vor-
getragenen Berichts veranlaßt F. Lestringant dazu, diesen als ein »faux paradigme
de l’Insulaire-récit«, genauer: der archipelagischen Erzählung zu charakterisieren.
Die ›eigentliche‹ archipelagische Erzählung – etwa die Wahren Geschichten des Lu-
kian von Samasota oder der Quart Livre des Rabelais’schen Pantagruel – sei durch
»l’absence de liaison forte d’une étape à la suivante« und durch ihre rhizomatische
Struktur gekennzeichnet, wohingegen die Odyssee die einsinnige, gerichtete Bewegung
einer Rückkehr zum Ursprung nachvollziehe. (Vgl. Lestringant: Le livre des îles [s.
Anm. 17], S. 222ff.) Dem ist entgegenzuhalten, daß im Hinblick auf den abendlän-
dischen Inseldiskurs nicht von wahren und falschen, sondern nur von verschiedenen
narrativen Paradigmen die Rede sein kann, die an unterschiedliche Inselfigurationen
und insulare Raumordnungen gekoppelt sind. In diesem Sinne kann man feststellen,
daß die totalisierende Erzählung des Odysseus mit dem Versuch einhergeht, die Insel
als einen geschlossenen und limitierten Raum zu konstruieren. Es wäre zu prüfen, ob
die ›rhizomatische‹ Inselerzählung, von der Lestringant handelt, das Konstrukt eines
offenen, hybriden Inselraums impliziert.
Archipele der Erinnerung: Die Insel als Topos der Kulturisation 419
31 M. I. Finley weist darauf hin, daß die Gesellschaftsform der polis zur Entstehungszeit
der Odyssee in Griechenland bereits verbreitet war. Vgl. Finley (s. Anm. 25), S. 35.
420 Christian Moser
32 Bezeichnenderweise lehnen die Kyklopen die Autorität des Vatergottes Zeus explizit
ab (IX.275f.). Vgl. dazu auch Buchan, Mark: »Food for Thought: Achilles and the Cy-
clops«. In: Guest, Kristen (Hg.): Eating Their Words. Cannibalism and the Boundaries
of Cultural Identity. Albany 2001, S. 11–34, hier: S. 17–23. – Gerhard Baudy (»Der
kannibalische Hirte. Ein Topos der antiken Ethnographie in kulturanthropologischer
Deutung«. In: Keck, Annette/Kording, Inka/Prochaska, Anja [Hg.]: Verschlungene
Grenzen. Anthropophagie in Literatur und Kulturwissenschaften. Tübingen 1999,
S. 221–242) sieht in Polyphem den Repräsentanten eines nomadisierenden Hirten-
volkes. Die Kyklopen seien in der Odyssee zwar als Wilde gekennzeichnet, hätten aber
im dreigliedrigen Schema der Kulturentwicklung, dem ein spezifisches Raumschema
korrespondiere, nicht die unterste Stufe inne. Diese werde im Weltbild des archaischen
Griechenland vielmehr von noch primitiveren Völkern eingenommen: »Jenseits der
wilden Nomadenregion, an den äußersten Rändern der Erde, siedelte die Phantasie wie-
derum märchenhafte Völker an, die nicht einmal Weidewirtschaft kannten, sondern als
glückselige Sammler vegetabilischer Nahrung noch wie im goldenen Zeitalter lebten.«
(ebd., S. 229) Die eindeutige Zuordnung der Kyklopen zu den Hirtenvölkern erscheint
mir problematisch. Die Kyklopen der Odyssee betreiben zwar Weidewirtschaft, sind
aber keine Nomaden. Zudem werden sie zugleich auch als Sammler charakterisiert, die
von einer freigiebigen Natur profitieren: »[Da] wächst alles ungesät und ungepflügt:
Weizen und Gerste und Reben, die einen Wein von großen Trauben tragen, und der
Regen des Zeus mehret es ihnen.« (IX.109–111)
Archipele der Erinnerung: Die Insel als Topos der Kulturisation 421
mand«), entgeht er der Vernichtung (IX.366). Das Zeichen und die bezeich-
nete Sache treten auseinander. Polyphem fällt auf die Täuschung herein, weil
er zwischen dem Namen und der Sache nicht unterscheiden kann; Odysseus
rettet sein Selbst, weil er dieses durch ein Zeichen substituiert und zwischen
Name und Sache differenziert.33 Das Sprachzeichen verbindet das Selbst mit
dem anderen und hält ihn zugleich auf Distanz. Diese Verkoppelung von
Distanz und Nähe verweist auf die Lage von Scheria – ihre Abgeschieden-
heit und Begrenztheit zum einen, die intensive Verbindung zum anderen, die
sie mittels der Zauberschiffe zur hellenischen Welt unterhält. Auf Scheria
werden zwischen dem Gast und dem Gastgeber nicht die Körper, sondern
die Wörter ausgetauscht. An die Stelle des kannibalischen Schlachtfests tritt
das kultivierte Symposion, bei dem die Parteien sich wechselseitig mit ihren
Geschichten regalieren. Scheria wird zur Chiffre einer idealen Sozietät, die
Zusammengehörigkeit nicht durch gemeinsam unternommene Waffengänge,
sondern durch das Medium der Sprache zu stiften versteht: Man beteiligt
sich nicht am Trojanischen Krieg, vielmehr erzählt man davon und läßt sich
darüber berichten. Das Wort ersetzt das Schwert als Verteidigungsinstrument.
Die Einwohner von Scheria begegnen im listigen Odysseus mithin einer ver-
wandten Seele. Beide, die kollektive Identität der Phäaken-Gesellschaft und
die individuelle Identität des epischen Helden, kann man in diesem Sinne
als insular bezeichnen.
III.
Die europäischen ›Entdecker‹ hielten Amerika zunächst nicht für einen Kon-
tinent, sondern für eine Insel oder einen Archipel. Diesem Irrtum mögen
diffuse Ängste und Wünsche zugrundegelegen haben: die Furcht vor dem
Unbekannten und Unüberschaubaren, das in Gestalt handlicher Inseln effekti-
ver unter Kontrolle gebracht werden kann. Inseln lassen sich nicht nur leichter
kolonisieren als das Festland, sondern auch leichter beschreiben: »fragmenter
le réel pour mieux le définir, le décrire et, en définitive, le posséder«, so lautet
in diesem Fall die Devise.34 Anders als die unbegrenzte Landmasse des Kon-
tinents ist die Agglomeration von Inseln einer topologischen Aufbereitung
zugänglich. Diese Funktion übernimmt in der Renaissance das Genre des
Insulariums. Das Insularium ist ein Atlas, der sich ausschließlich aus Kar-
ten und Beschreibungen von Inseln zusammensetzt.35 Zu den bedeutendsten
36 Vgl. Bordone, Benedetto: Libro [...] de tutte l’isole del mondo. Venedig 1528 (Na-
chdruck Amsterdam 1966); Thevet, André: Le Grand insulaire et pilotage (2 Bde., ca.
1586, Bibliothèque Nationale de Paris, manuscrit français 15452–15453; ein Auszug
– enthaltend die Beschreibungen von »Isle de Haity ou espagnole«, »Isle beata« und
»Isles du chef de la captive« – ist abgedruckt in Schefer, Charles (Hg.): Le Discours
de la Navigation de Jean et Raoul Parmentier de Dieppe. Voyage à Sumatra en 1529,
Description de l’isle de Sainct-Domingo, et autres texte. Paris 1883 [Nachdruck Am-
sterdam 1971], S. 155–181); Coronelli, Vincenzo: Isolario, descrittione geografi co-
historica di tutte l’isole. Venedig 1696.
37 Lestringant (s. Anm. 18), S. 435f.
38 Zu dieser Verfahrensweise der ›kannibalischen Lektüre‹ und ihrer antiken Vorge-
schichte vgl. Moser, Christian: Buchgestützte Subjektivität. Literarische Formen der
Selbstsorge und der Selbsthermeneutik von Platon bis Montaigne. Tübingen 2005 (im
Druck).
39 Montaigne, Michel de: Essais. In: ders.: Œuvres complètes. Hg. v. Albert Thibaudet
u. Maurice Rat. Paris 1962, S. 139.
Archipele der Erinnerung: Die Insel als Topos der Kulturisation 423
Die topologische Ordnung, die den Kontinent des Wissens in einen unüber-
schaubaren Archipel disparater Einsichten zersplittert, gewinnt somit das
Ansehen eines Gefängnisses, aus dem es kein Entrinnen gibt. Kennzeichnend
für die Literatur der Frühen Neuzeit ist aber nicht nur das Bemühen, diese
Situation durch einen spielerischen Umgang mit dem fragmentierten Wissen
zu erleichtern – durch ein experimentell oder satirisch gefärbtes ›Inselhüp-
fen‹ gewissermaßen, wie es Montaigne in seinen Essais oder Rabelais im
Quart Livre seines Pantagruel betreibt.43 Ebenso charakteristisch sind die
großen Ausbruchsversuche – das Bestreben, einen radikalen Neuanfang zu
inszenieren und ganz anders oder etwas ganz Anderes zu denken. Bezeich-
nenderweise spielt aber auch dabei die Figuration der Insel eine bedeutende
Rolle. Ein anschauliches Beispiel dafür liefert Thomas Morus’ Utopia. Morus
unternimmt den Versuch, eine vollkommen neue Gesellschaftsordnung zu
konzipieren, und er siedelt dieses Experiment auf einer fiktiven Insel an. Es
wäre also zu untersuchen, ob diese Insel tatsächlich einen ganz anderen, nicht
mehr topologisch strukturierten Ort darstellt, der es zugleich ermöglicht, den
Vorgang der Kulturisation neu zu denken.
Die Problematik des Neubeginns wird im ersten Buch der Utopia einge-
hend erörtert. Ein gewisser Hythlodeus, der, wie sogleich vermeldet wird, die
Neue Welt nicht als ein tumber Palinurus, sondern als ein aufmerksamer und
kluger Odysseus (»non ut Palinurus, sed ut Vlysses«) bereist hat und dabei
auf die bislang unbekannte Insel Utopia gestoßen ist, unterzieht zunächst
die Mängel der englischen Gesellschaftsordnung einer scharfsinnigen Ana-
lyse.44 Morus und Petrus Aegidius, die Gesprächspartner des Weltreisenden,
sind von seiner Analyse derart beeindruckt, daß sie ihn dazu auffordern,
sein profundes Wissen der Allgemeinheit zugute kommen zu lassen und als
Berater in fürstliche Dienste zu treten (S. 54, 86). Hythlodeus lehnt dieses
Ansinnen kategorisch ab. Kein europäischer Fürst, so erklärt er, würde sich
je dazu durchringen können, die weitreichenden Verbesserungsvorschläge
in die Tat umzusetzen, die er zu unterbreiten gedächte. Denn eine wirkliche
Verbesserung könne nur dann eintreten, wenn das Gemeinwesen von Grund
auf reformiert werde. Einzelne Veränderungen bewirken demnach nichts, das
Ganze muß neu konzipiert werden. Hythlodeus bedient sich eines Arguments,
das hundert Jahre später im Kontext der cartesischen Selbstreform wieder
auftauchen wird: In Nationen, die sich nur nach und nach zivilisiert und sich
ihre Gesetze nur in dem Maße gegeben haben, wie die Umstände dies erfor-
derten, herrschen demnach keine so geordneten Zustände wie in solchen, die
vom Anfang ihrer Vereinigung an die Verfassung eines weisen Gesetzgebers
befolgt haben.45 Hythlodeus will kein Berater, sondern ein solcher Gesetz-
geber sein, dem die Möglichkeit gegeben ist, einen absoluten Neuanfang zu
setzen. Morus wirft ihm daraufhin dogmatischen Starrsinn vor. Als wahrhaft
weise sei nicht derjenige anzusehen, der abstrakte Idealvorstellungen entwik-
kele, sondern derjenige, der diese Vorstellungen den Gegebenheiten anzupas-
sen vermöge, der Rücksicht auf die bestehenden Verhältnisse nehme und die
notwendigen Veränderungen auf einem indirekten Wege (»obliquo ductu«,
S. 98) einzuleiten verstehe. Doch Hythlodeus hält daran fest: Veränderungen
zum Besseren seien in Europa nicht möglich, weil der Staatsmann hier nicht
die Freiheit habe, sich über das Bestehende hinwegzusetzen.
Wie aber sieht es außerhalb Europas aus? Die Diskussion zwischen
Hythlodeus und Morus legt diese Frage nahe, und tatsächlich richten die
Gesprächsteilnehmer ihre Aufmerksamkeit im zweiten Buch der Utopia
ganz auf die Neue Welt. Hythlodeus insinuiert, daß der weise Staatsmann
in Amerika jenen Freiraum der Gestaltung finden kann, den ihm die alte Welt
verwehrt. Dabei geht er freilich von der Voraussetzung aus, daß es so etwas
wie ›bestehende Verhältnisse‹ in der Neuen Welt gar nicht gibt. Amerika ist
in seinen Augen eine tabula rasa; er sieht die dort lebenden Menschen nicht
als Angehörige fremder Kulturen an, die ihre eigene Geschichte besitzen,
sondern als kultur- und geschichtslose Wilde. Hythlodeus befindet sich somit
ganz auf einer Linie mit dem Entdecker Amerigo Vespucci. Morus stellt eine
enge Beziehung zwischen der fiktiven Figur des Hythlodeus und der histo-
rischen Persönlichkeit Vespuccis her, indem er behauptet, daß ersterer den
Entdecker auf seiner vierten Weltumseglung begleitet habe (S. 21, 51). In
seiner Reisebeschreibung Mundus Novus, die 1507 publiziert wurde und in
ganz Europa für Aufsehen sorgte, berichtet Vespucci, daß die amerikanischen
Indianer weder Gesetze noch Eigentum besäßen, keinen Handel trieben und
die freie Liebe praktizierten, kurz: daß sie in einem vor-gesellschaftlichen
Zustand verharrten, wie er im Goldenen Zeitalter geherrscht habe.46 Die-
ses Bild eines ursprünglichen Naturzustandes steht in einem diametralen
Gegensatz zu der Beschreibung von Utopia, die Hythlodeus vorlegt. Utopia
zeichnet sich ja gerade durch einen extrem hohen Grad an Gesittung aus.
Doch hat sie diesen allein der Tatsache zu verdanken, daß ein weiser Gesetz-
geber namens Utopus dem rohen Haufen (»rudem atque agrestem turbam«,
S. 112), der die Halbinsel Abraxa bevölkert hatte, gewaltsam überrumpelte
und mit einem Schlag aus dem Zustand der Wildheit in denjenigen der Kultur
katapultierte. Utopus ist den europäischen Kolonisatoren zuvorgekommen,
genauer: er hat ihnen beispielhaft vorgemacht, wie man das Rohmaterial einer
45 Descartes, René: Discours de la méthode. In: ders.: Œuvres et lettres. Hg. v. André
Bridoux. Paris 1953, S. 125–179, hier: S. 133.
46 Der Text ist auszugsweise abgedruckt in Thomas Morus: Utopia. A Revised Trans-
lation, Backgrounds, Criticism. Hg. v. Robert M. Adams. New York/London 21992,
S. 104–107.
426 Christian Moser
ist und äußert daher die Vermutung, daß die Abraxer ursprünglich von den
Griechen abstammen (S. 180). Diese Verwandtschaft erklärt denn auch,
warum die Utopier sich die griechische Literatur und Wissenschaft sowie
die Errungenschaften europäischer Technologie, mit denen Hythlodeus sie
bei seinem Besuch bekannt macht, so erstaunlich schnell anzueignen ver-
mögen (ebd.). Es drängt sich somit die Vermutung auf, daß die Abraxer die
durch Utopus aufoktroyierte Kultur nur deshalb so problemlos übernehmen,
weil sie bereits kultiviert sind und das utopische Gesetzeswerk sie an ihre
griechische Erbschaft erinnert.47 Das ganz Neue, das Utopus zur Geltung
bringen will, erweist sich als das Uralte. Folglich ist der Einschnitt, den der
Gesetzgeber durch die Abtrennung der Insel vom Festland vollzieht, weniger
traumatisch, als es zunächst erscheinen mag. Die Autonomie dieses Gebil-
des steht zudem in Frage. Tatsächlich ist die Form des neu geschaffenen
Landes ein verräterischer Indikator für den Mangel an Autonomie und für
das Scheitern des vom Gesetzgeber unternommenen Versuchs, der Insel sein
väterliches Siegel aufzuprägen.48 Utopia war ursprünglich eine Halbinsel
– eine hybride Formation mithin, nicht ganz Festland, aber auch nicht ganz
Insel; eine das Meer umarmende Landzunge, die ihrerseits vom Meer umarmt
wurde. Die Durchtrennung des Isthmus sollte für eindeutige Verhältnisse
sorgen und eine klare Unterscheidung sowohl zwischen Insel und Festland
als auch zwischen Insel und Meer etablieren. Doch die neue Insel hat, wie
Hythlodeus darlegt, die Form eines zunehmenden Mondes (S. 110): Zwei
Landarme beschirmen wie die Hörner der Mondsichel eine große Bucht, die
als Hafen dient. Auch die Insel Utopia tendiert also dazu, das flüssige Ele-
ment zu umarmen und sich mit ihm zu vermischen. Die große Bucht verleiht
der Insel zudem das Ansehen eines mütterlichen Schoßes (»alvu[s]«, ebd.).
Der im Zeichen des väterlichen Gesetzes stehende Versuch, die Insel vom
offenen Körper der Mutter-Natur zu lösen und in sich einzuschließen, führt
mithin doch wieder nur zum mütterlichen Körper zurück. Der Versuch der
Abnabelung mißlingt.
Einen mütterlichen Charakter besitzt der Inselstaat Utopia auch noch in
einer anderen Hinsicht: Er hält seine Bewohner im Zustand der Unmündigkeit
und der kindlichen Abhängigkeit gefangen. Auf Utopia gibt es keine indivi-
duellen Freiheiten, keine Unterscheidung zwischen Mein und Dein, sondern
nur einen großen Kollektivkörper.49 Utopia als ganzes ist ein insulares Kollek-
tivsubjekt, doch innerhalb des Staates gibt es keine insularen Subjekte – die
47 Eine ähnliche Beobachtung macht Marin, Louis: Utopiques: Jeux d’espaces. Paris
1973, S. 74f.
48 Zur äußeren Gestalt der Insel Utopia vgl. die vorzügliche Analyse von Marin (s. Anm.
47), S. 133–148.
49 Vgl. dazu Greenblatt, Stephen: »At the Table of the Great: More’s Self-Fashioning and
Self-Cancellation«. In: ders.: Renaissance Self-Fashioning. From More to Shakespeare.
Princeton 1980, S. 11–73, hier: S. 38–45.
428 Christian Moser
IV.
Utopus schreckt nicht davor zurück, Gewalt anzuwenden, um die Abraxer aus
dem Natur- in den Kulturzustand zu überführen. Utopia selbst ist eine Koloni-
almacht. Sie überzieht minder entwickelte benachbarte Völker mit Krieg, um
sich in den Besitz brachliegender Landstriche zu bringen und diese zu kul-
tivieren. Die Kulturisation wird in Utopia als gewaltsame Unterwerfung der
Natur konzipiert, wenngleich dieses Konzept am Ende als ineffektiv entlarvt
wird. Im 18. Jahrhundert ersetzt ein neues Paradigma das Modell der repres-
siven Kulturisation. ›Naturvölker‹ sollen nun nicht mit den gewaltsamen
Mitteln des Krieges, sondern durch das (vorgeblich) friedliche Instrument
des kommerziellen Handels und des geistigen Austauschs zur (europäischen)
Kultur geführt werden. An die Stelle der offenen Gewaltanwendung tritt die
schleichende Eroberung durch Warenverkehr und Zirkulation, die Infiltration
der ›primitiven‹ Kultur durch westliche Güter. Angesichts der schockierenden
kannibalischen Bräuche der neuseeländischen Ureinwohner etwa setzt der
englische ›Entdecker’ James Cook seine Hoffnungen in die zivilisierende
Kraft des maritimen Welthandels:
This custom of eating their enemies slain in battle [...] has, undoubtedly, been handed
down to them from the earliest times; and we know it is not an easy matter to wean a
nation from their ancient customs, let them be ever so inhuman and savage; especially
if that nation has no manner of connexion or commerce with strangers. For it is by
this that the greatest part of the human race has been civilized; an advantage which
50 Hythlodeus berichtet, daß die Abraxer vor ihrer Unterwerfung durch Utopus unter-
einander zerstritten waren. Derartige Konflikte, die auf die Unterschiede zwischen
Individuen verweisen, kommen auf Utopia nicht mehr vor. (S. 218f.)
51 Marin (s. Anm. 47), S. 138.
Archipele der Erinnerung: Die Insel als Topos der Kulturisation 429
the New Zealanders, from their situation, never had. An intercourse with foreigners
would reform their manners, and polish their savage minds [...].52
Cook führt den barbarischen Zustand der Neuseeländer auf ihre isolierte
Lage, d.h. auf die Tatsache zurück, daß es sich dabei um eine Inselkultur
handelt. Der Anstoß dazu, sie aus ihrer beschränkten Situation zu befreien
und am zivilisatorischen Fortschritt teilhaben zu lassen, geht laut Cook aber
seinerseits von einer Inselkultur aus, nämlich von der englischen Nation. Insu-
larität steht nun nicht mehr nur für Isolation und Rückständigkeit, sondern
auch für Offenheit, vielseitige Verbindungen, Forschergeist und koloniale
Expansion. Eine insulare Macht scheint besser als jede andere dazu geeignet
zu sein, das Zentrum eines Netzwerks internationaler Handelsbeziehungen
zu bilden und als Schaltstelle des maritimen Weltverkehrs zu fungieren. In
diesem Sinne reklamiert der englische Schriftsteller Henry James Pye für sein
Heimatland das Verdienst, einen entscheidenden Beitrag zur Verbreitung der
Kultur geleistet zu haben. Dem englischen Handelsgeist sei es zu verdanken,
daß das Meer, ursprünglich ein unüberwindliches Hindernis, sich in ein ver-
bindendes Medium und ein Instrument der Zivilisation verwandelt habe:
Der Paradigmenwechsel, der sich bei Cook und Pye bemerkbar macht, impli-
ziert eine Verschiebung der Gewichte innerhalb des Gegensatzes zwischen
der offenen und der geschlossenen Inselfiguration. Er führt zudem dazu, daß
die Insel als exemplarischer Topos der Kulturisation eine weitere Aufwertung
erfährt. Die neue Rolle, die der Insel als Katalysator der Zirkulation zuge-
wiesen wird, läßt sich besonders gut anhand des Griechenland-Kapitels aus
Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784–1791)
demonstrieren. Dieser Text führt nur scheinbar in die ferne Vergangenheit
zurück, denn Herder zieht explizit eine Parallele zwischen dem antiken Grie-
chenland und der maritimen Kolonialmacht England.54
52 Cook, James: A Voyage towards the South Pole, and round the World. Performed in
His Majesty’s Ships the RESOLUTION and ADVENTURE, In the Years 1772, 1773,
1774, and 1775. London 1777. Bd. 1, S. 245.
53 Pye, Henry James: Naucratia, or Naval Dominion (1798). Zit. nach Markman, Ellis:
»‹The cane-land isles‹. Commerce and Empire in Late Eighteenth-Century Georgic
and Pastoral Poetry«. In: Edmond/Smith (s. Anm. 2), S.43–62, hier: S. 43.
54 Herder, Johann Gottfried: »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit«.
In: ders.: Werke in zehn Bänden. Bd. 6. Hg. v. Martin Bollacher. Frankfurt a.M. 1989,
430 Christian Moser
Herder erklärt den hohen Grad an Kultur, den Griechenland in der Antike
erlangt habe, dadurch, daß es sich dabei um »ein Meerumgebenes Busen- und
Küstenland oder gar ein[en] Sund von Inseln« gehandelt habe (S. 515). Gün-
stig habe sich zunächst einmal seine zentrale geographische Lage ausgewirkt.
Sie hatte zur Folge, daß es »aus mehreren Erdstrichen nicht nur Bewohner,
sondern auch gar bald Keime der Kultur empfangen konnte« (S. 515). Die
zentrale Lage ermöglichte es Griechenland, an der allgemeinen Zirkulation
der merkantilen und kulturellen Güter zu partizipieren. Wichtiger noch als die
geographische Zentralstellung war jedoch die Tatsache, daß das Land keinen
monolithischen kontinentalen Block darstellte, sondern aus einer Vielzahl von
Inseln bestand. Denn die innere Differenzierung des Landes erlaubte eine
»innere Zirkulation der Ideen« (S. 516). Griechenland war nach außen hin
offen – bereit, fremde Anregungen aufzunehmen. Aber es war als archipelagi-
sches Land zugleich auch innerlich offen – bereit, das von außen Aufgenom-
mene in seinem Inneren zirkulieren zu lassen. Der Erfolg der griechischen
Kultur ist also nicht darauf zurückzuführen, daß sie sich das Fremde bloß
angeeignet, es sich assimiliert und inkorporiert hat. Ihr Aufstieg ist vielmehr
darin begründet, daß sie es verstand, das Importierte auch innerlich weiter-
zutauschen und in Bewegung zu halten, anstatt es in ein statisches Besitztum
zu überführen. Das unterscheidet Griechenland laut Herder von den Hoch-
kulturen des Festlands, von China etwa oder Ägypten. Dort nahm man die
Aufklärung zwar schon sehr früh an, machte sie aber »durch eherne Gesetze
um so fester« ( S. 516). Man fixierte die neuen Ideen und fesselte sich somit
an sie. Dies, so Herder, hatte die Herausbildung eines »beschränkte[n] Idio-
tismus« zur Folge (S. 516). Kennzeichnend für Inselkulturen wie das antike
Griechenland ist hingegen »jene nützliche Vielseitigkeit [...], die nur durch
tätige Konkurrenz mit andern Nationen erlangt werden« kann (S. 516). Diese
Flexibilität charakterisiert die Inselkultur als Ganze, sie ist aber auch den ihr
angehörenden Individuen zu eigen. Im Kontrast dazu sind die Angehörigen
der kontinentalen Kultur auf bestimmte Tätigkeitsbereiche festgelegt: Der
Hirte bleibt immer Hirte, der Bauer bleibt immer Bauer – »wie Pflanzen, an
einen engen Boden befestigt« (S. 517).
Der Vergleich mit der Pflanze, den Herder in diesem Zusammenhang
anstellt, ist signifikant. An anderer Stelle bezeichnet er den Kannibalen als
eine »Muscipula«, eine fleischfressende Pflanze (S. 262). Der Kannibale wird
somit als der prototypische Festlandbewohner markiert. Er verspeist seines-
gleichen, ernährt sich folglich von Eigenem, anstatt, wie der Inselbewohner,
Fremdes in sich aufzunehmen und zirkulieren zu lassen. Der Kannibale, der
Hirte, der Bauer: Sie alle sind mit dem heimatlichen Boden verwachsen,
während der Inselbewohner sich durch seine Mobilität auszeichnet. Er löst
S. 517. – Der Nachweise der Zitate aus dieser Ausgabe erfolgt fortan parenthetisch
im fortlaufenden Text.
Archipele der Erinnerung: Die Insel als Topos der Kulturisation 431
sich vom Boden, und diese Loslösung ist verbunden mit dem Schritt vom
Ackerbau zum Händlerdasein, von der geschlossenen Wirtschaft des Hau-
ses, die konsumiert, was sie produziert, zur merkantilen Verwertung von
Überschüssen und zur Geldwirtschaft, vom kannibalischen Krieg zum öko-
nomischen Konkurrenzkampf. Höhere Kultur entsteht laut Herder in dem
Moment, in dem ein Volk sich von der mütterlich-kontinentalen Erde trennt
und den kolonisierenden Sprung auf die Insel wagt. Das gilt auch und gerade
für die Griechen. Denn als die ursprüngliche Heimat der griechischen Völker
identifiziert Herder das kleinasiatische Festland: »Klein-Asien also ist die
Mutter Griechenlandes sowohl in seiner Anpflanzung als den Hauptzügen
seiner frühesten Bildung« (S. 520). Die Griechen vollzogen den Schritt zur
Kultur, als sie sich von ihrer kontinentalen Mutter unabhängig machten.
Dieser Schritt fiel ihnen jedoch nicht schwer. Eine fürsorgliche Natur hatte
ihnen den Weg dazu bereitet:
Durch eine kleine Meerenge war Thracien von Klein-Asien getrennt und dieses Na-
tionenreiche, fruchtbare Land längst seiner westlichen Küste durch einen Inselvollen
Sund mit Griechenland verbunden. Der Hellespont, könnte man sagen, war nur dazu
durchbrochen und das Ägäische Meer mit seinen Inseln zwischengeworfen, damit der
Übergang eine leichte Mühe und in dem Busenreichen Griechenlande, eine beständige
Wanderung und Zirkulation würde. (S. 518)
Thrakien und die Inseln der Ägäis sind vom mütterlichen Festland getrennt,
aber nur durch eine kleine Meerenge. Der Schritt in die Selbständigkeit kostet
Mühe, aber nur ein leichte. Anders als in Utopia stellt der Übergang von der
Natur zur Kultur keinen gewaltsamen Einschnitt dar. Es handelt sich viel-
mehr um einen gleitenden Übergang.55 Die Loslösung ist zugleich auch ein
In-Verbindung-bleiben. Diese rudimentäre Verbindung ist notwendig. Denn
ohne sie würde Griechenland aufgrund seiner internen Differenzierung und
der unablässigen Zirkulation seine kulturelle Einheit verlieren. Laut Herder
dürfen die Griechen die Nabelschnur, die sie mit dem Mutterland verknüpft,
nicht ganz durchtrennen. Diese Nabelschnur ist die Sprache. Das Viel-Völ-
ker-Gemisch der Griechen fällt keiner totalen Dispersion zum Opfer, weil
es »eine so schöne Halbinsel des großen festen Landes sich nahe zur Seite
[hat], auf welcher die meisten Völker nicht nur Eines Stammes, sondern
auch von früher Kultur« sind. Dadurch bekommt »ihre Sprache jene Origi-
nalität und Einheit, die sie als ein Gemisch vieler Zungen nie würde erhalten
haben« (S. 519f.). Auch Herders griechische Inselwelt ist also ein Archipel
der Erinnerung – der durch die Sprache bewahrten Erinnerung an den müt-
terlich-kontinentalen Ursprung der Kultur.
Ströme, Züge, Richtungen. Wandern und Wanderungen bei Hölderlin 433
I.
1 Zitiert wird nach folgender Ausgabe: Hölderlin, Friedrich: Sämtliche Werke und Briefe,
hg. von Michael Knaupp. 3 Bde. München 1992, 1993 (Bd. III); im Haupttext mit
Sigle MA, Band- und Seitenzahl nachgewiesen.
434 Alexander Honold
was die Kräfte der Geologie und der Erosion als gestaltende Mächte in die
Landschaft eingeschrieben haben.
Das Georelief Mitteleuropas, wie es sich beim Kartenstudium oder
im Ausblick von Berghöhen darbietet, ist geprägt durch bestimmte, leicht
erkennbare Grundzüge: den Verlauf großer Ströme, die Höhenkammli-
nien der Gebirge, die Küstenlinien. Für die kulturgeographische Mobili-
tät bedeuten die Relief-Züge des Landschaftsbildes entweder Hemmnisse
oder Förderung; dasselbe gilt auch für die über Land und Meer wehenden
Winde wie auch für die Wasserströmungen der Ozeane. Strom und Wande-
rung korrespondieren einander in Hölderlins später Hymnik als objektive
(natürliche) und subjektive (kulturelle) Prozesse der Migration. Der Weg
eines Flusses, die Richtung eines Windes bilden als stationäre, sich auf ein
und derselben Ortsstelle perpetuierende Wanderungsprozesse die Vektoria-
lität und Dynamik von geschichtlichen Expansionswegen und -richtungen
ab. Diese ›Züge‹ haben eine eminent graphische Qualität, sie erscheinen
als Schneisen, Falten, Kerben. Die gezogenen (oder zu ziehenden) Linien
konstituieren die Landschaft als einen tiefendimensional lesbaren, von sedi-
mentierter ›Geschichte‹ erfüllten Text, der wiederum an diesen Linien ent-
langfahrend als dramatisches bzw. narratives Geschehen dargestellt bzw.
re-inszeniert werden kann. Zu fragen ist also einerseits nach den topologi-
schen Ordnungen, die dem dichterischen Entwurf kulturgeographisch erfüll-
ter Räume jeweils abzulesen sind, zum anderen nach den daraus wiederum
abzuleitenden Darstellungsverfahren und -formen. Gibt es hier besondere
Affinitäten zwischen bestimmten Raumkonzepten und ästhetisch-poetischen
Figurationen?
»Der Wanderer« und »Die Wanderung«: mit diesen beiden fast gleichlau-
tenden Gedichttiteln hat Hölderlin die Reihe seiner Elegien und später die
freie Hymnik eröffnet. Daß er das Motiv zweimal – ein paar Jahre vor und
kurz nach 1800 – an entscheidender Stelle seines poetischen Weges einsetzt,
hat programmatische Bedeutung. Beide Male werden moderne Formen der
Migration mit den Reisemythen und Weltmodellen der Antike überblendet.
Zwischen Gegenwart und Vorgeschichte öffnen sich Korrespondenzen, die
das Wandern als eine elementare Kulturform profilieren, aus unvordenklichen
Zeiten stammend und doch von höchster Aktualität. »Die Wanderung«, »Der
Ister« und andere Gedichte nach 1800 befassen sich mit den Wanderungs-
prozessen, die sich von Mitteleuropa aus gesehen in der Südost-Richtung
erstreckten: aus (bzw. nach) Indien, Babylon, Ägypten, der griechischen
Antike; ferner die Siedlungsinitiativen mitteleuropäischer Kolonisten im
südosteuropäischen Donauraum. Das zweite große Paradigma, besonders in
»Andenken« gestaltet, ist sodann die Südwest-Richtung, die mit der kolo-
nialen Expansion nach Mittel- und Südamerika beschritten worden war. In
beiden Richtungen bildeten sich Ströme respektive Strömungen heraus, die
unter wechselnden Vorzeichen Prozesse der Verschiebung, der Migration und
der Kommunikation in Gang setzten und dadurch die Kulturgeschichte Mit-
436 Alexander Honold
II.
Anfang des Jahres 1794 schreibt Hölderlin, soeben aus dem Tübinger Stu-
dentenleben in die pädagogische Provinz seiner ersten Hofmeisterstelle im
fränkischen Waltershausen geraten, einen Brief an seine Großmutter. »Das
Örtchen, wo ich für jezt lebe, ist zwar etwas entfernt von Städten und ihren
Neuigkeiten und Torheiten, aber seine Lage ist ser angenem«. Der Maßstab,
mit dem er die ihn umgebende Landschaft kartographiert, ist durch Wegstrek-
ken und Geschwindigkeiten eines wackeren Fußwanderers bestimmt: »wenn
ich ausfliegen will, habe ich nordwärts 5 Stunden von hier im Sächsischen
– Meiningen, im Würzburgischen 8 Stunden von hier Schweinfurt u.s.w.
Gotha liegt ungefähr eine Tagreise von hier, jenseits der Thüringer Gebirge,
die hier einen ser schönen Prospect geben.« (MA II, 520; im Original: Mei-
nungen) Die Taxierung verrät den geographisch geschulten Blick und dahinter
eine kaum bezwungene Reiselust. In alle Himmelsrichtungen verschickt der
junge Hauslehrer Peilungen seiner Lage, doch übergeht er den eigentlichen
Fluchtpunkt, um dessentwillen er die Stelle in Waltershausen angenommen
hatte, mit Stillschweigen: Jena und Weimar, die Doppelresidenz der Dios-
kuren Schiller und Goethe. Da er ›sein‹ Waltershausen mit einer thüringi-
schen Ortschaft gleichen Namens verwechselt hatte, war Hölderlin in dem
Trugschluß angereist, den Schlüsselfiguren der deutschen Literatur näher zu
sein, als es in Wirklichkeit der Fall war.3 Aber das war zum wenigsten ein
geographisches Problem.
Die kleinen Ausflüge und größeren Exkursionen, die Hölderlin unter-
nimmt, werden in den Briefen zum Anlaß, Richtungen und Entfernungen zu
thematisieren. Der Reisende sucht mit ihrer Hilfe ein Netz topographischer
Beziehungen zu knüpfen: zu den Landmarken der Berge und Flüsse, zu den
in diesem Teil Deutschlands dichtgedrängten unterschiedlichen Volksarten,
Dialekten und Regionen, aber auch zu den wichtigsten Umschlagplätzen
des literarischen Lebens. Das Wandern, sei es in schriftlicher oder pragma-
tischer Weise ausgeübt, ist für Hölderlin auch eine Form der Kommunikation
3 »Die erste Enttäuschung mußte Hölderlin dadurch erfahren, daß er sich […] in der
Geographie geirrt hatte. Bei Waltershausen handelte es sich um den kleinen fränkischen
Ort im Grabfeld am Fuße der Rhön, 25 km südlich von Meiningen, nicht aber um
das thüringische Waltershausen bei Gotha. So war Hölderlin viel weiter von Schiller
entfernt als erhofft.« (Gaier, Ulrich, et al.: Hölderlin Texturen, Bd. 2: Das »Jenaische
Project«. Das Wintersemester 1794/95 mit Vorbereitung und Nachlese. Tübingen 1995,
S. 20).
Ströme, Züge, Richtungen. Wandern und Wanderungen bei Hölderlin 437
mit abwesenden Freunden oder Vorbildern. »Neulich machte ich eine kleine
Exkursion übers Rhöngebirge hinein ins Fulder Land«, schreibt Hölderlin
an den ehemaligen Kommilitonen Hegel, den es, ebenfalls als Hauslehrer,
nach Bern verschlagen hat, worum ihn Hölderlin offenbar beneidet. Über
seinen Ausflug berichtet Hölderlin dem Freund das folgende: »Man glaubt
auf den Schweizerbergen zu sein, den kolossalischen Höhen, und reizenden
fruchtbaren Thälern nach, wo die zerstreuten Häuserchen am Fuße der Berge,
im Schatten der Tannen, unter Heerden, und Bächen liegen. […] Die Berg-
bewohner sind, wie überall, etwas barsch, und einfältig. Übrigens möchten
sie manche gute Seite haben, die unsere Kultur vertilgt hat.« Die Reiseein-
drücke erinnern nur deshalb an die Schweiz, weil ihr Autor sich an diesen
Topos erinnert fühlen möchte. Tatsächlich läßt er den Freund zu Beginn des
Briefes wissen: »Deine Seen und Alpen möchte ich wol zuweilen um mich
haben.« (10. 7. 1794, MA II, 540f.)
Aber nicht nur ihrer Naturschönheiten wegen wird die Schweiz hier ins
Spiel gebracht, sondern als politische und philosophische Chiffre; sie ist,
jedenfalls zwischen den beiden Briefpartnern, ein Synonym für Republika-
nismus und für die Kulturphilosophie Rousseaus. Mit Rousseau verbindet
sich die ästhetische Faszination für das Hochgebirge als Landschaftsraum
und Gegenstand kulturellen Wissens. Als innereuropäische Fremde sind die
Alpen erst im 18. Jahrhundert ›entdeckt‹ worden. Seit alters her galten hohe
Gebirge als Grenzregionen, als unwirtliche und häßliche Gebilde, die zu mei-
den waren. Die von Livius geprägte Wendung von der Häßlichkeit der Alpen
(foeditas alpium ) ist charakteristischer Ausdruck eines von der Antike weiter-
vererbten Vorbehalts, dem die Bergwelt als monströses Ärgernis erschien.
Wie sonst allenfalls noch die Meeresküsten eignet sich aber die Topo-
graphie des Hochgebirges dafür, den einsamen Wanderer in eine exponierte
Situation zu versetzen. Unter dem (zu harmlos klingenden) Titel »Der Spa-
ziergang« ist bei Schiller die folgende Gefahrenstelle beschrieben:
Endlos unter mir seh ich den Äther, über mir endlos,
Blicke mit Schwindeln hinauf, blicke mit Schaudern hinab,
Aber zwischen der ewigen Höh und der ewigen Tiefe
Trägt ein geländerter Steig sicher den Wandrer dahin.
(Schiller, »Der Spaziergang«, v. 33–36)4
Zwischen der Metaphysik des Erhabenen und der Dämonologie des Abgrunds
bewegt sich der feste Tritt des Wanderers auf dem schmalen Grund tapfe-
rer moralischer Selbstertüchtigung. Gegen die Verlockungen durch die ver-
tikalen Mächte der Transzendenz, hier nicht von ungefähr als Schwindel
bezeichnet, hilft bereits ein stabiles Geländer. Weniger leicht wird sich der
Höhenschwindel oder Tiefenrausch jedoch dann bezwingen lassen, wenn er
4 Schiller, Friedrich: Der Spaziergang. In: Sämtliche Werke. Hg. von Gerhard Fricke
und Herbert G. Göpfert. Darmstadt 81987, Bd. 1, S. 229.
438 Alexander Honold
nicht mehr – wie bei Kant oder Schiller – einer Topographie der Sittlichkeit
eingeschrieben wird, sondern als rein ästhetisches Phänomen ohne jegliche
Absichten sich meldet. Denn es ist der sinnlose Schwindel, der die Sinne
am stärksten affiziert.
Daß die Verschärfung des Spazierengehens zur Gratwanderung Ende des
18. Jahrhunderts längst kein bloßes Denkbild mehr war, sondern leibhaftige
Erfahrung, daran hatten die abenteuerlichen, ausgedehnten Fußwanderungen
Jean-Jacques Rousseaus entscheidenden Anteil. In den oft melodramatischen
Schilderungen seiner Streifzüge durch die Savoyer Alpen malte Rousseau
mit Vorliebe solche Szenen aus, bei denen er von hohen Felswänden herab-
stürzende Wasserfälle betrachtete oder versonnen in tiefe Schluchten blickte.
»Ich brauche Gießbäche, Felsen, Tannen, dunkle Wälder, Berge, bergauf und
bergab holpernde Wege, Abgründe neben mir, daß ich Angst bekomme«,
schreibt Rousseau in seinen Bekenntnissen.5
Von schwindelerregenden Ausblicken wurde Magister Hölderlin bei sei-
nen Fußmärschen durch die deutschen Mittelgebirge wohl eher nicht heim-
gesucht. Aber als poetisches Motiv ist Rousseaus Vorliebe für die Ästhetik
des Abgrunds bei Hölderlin durchaus präsent. In der ersten Fassung seiner
Ode »Muth des Dichters« wird dem Poeten dieser Mut zugesprochen ange-
sichts einer Situation, die der alpinen Gratwanderung Rousseaus gleichkommt.
»Drum so wandle nur wehrlos / Fort durchs Leben und sorge nicht!« heißt
es da, und weiter: »Denn wie drunten im Thal oder am steigenden / Pfad an
schäumender Kluft oder in schweigender / Wolke droben ein muth’ger / Alpen-
wandrer, so gehn auch wir // Wir die Dichter des Volks jeglichen Lebenspfad,
/ Böses kennen wir nicht, nimmer siehet den Tod / Unser Auge« (MA I, 240f).
»So wandle nur wehrlos« – das ist die Aufforderung zur Lebensweise des
Wanderers, der sich ungeschützt allem aussetzt, was da kommen möge.
Auf Wanderschaft zu sein, das war eine Existenzform. In manchen Beru-
fen bedeutete sie ein übliches Durchgangsstadium vor der ständigen Nieder-
lassung. Für Hölderlin jedoch stand hinter den temporären Wanderschaften
eine Lebensentscheidung, die gewissen Mut erforderte. Seit er den sicheren
Hort einer württembergischen Pfarrstelle mit dem Provisorium des Hausleh-
rers vertauscht hatte, war er zum Arbeitsmigranten geworden. Die gewaltig-
sten seiner großen Fußmärsche unternahm Hölderlin, um in weitentfernten
Gegenden immer wieder eine neue Hofmeister-Stellung anzutreten. Der vie-
lerorts übliche Wechsel des Dienstpersonals zum Jahresbeginn brachte es mit
sich, daß diese weiten Strecken meist in der unangenehmsten Jahres- und
Reisezeit bewältigt werden mußten. Ende Dezember 1793 reist Hölderlin
nach Waltershausen, zum Jahreswechsel 1795/96 dann von Nürtingen nach
Frankfurt, im Winter 1801 muß er für eine neue Stellung nach Hauptwil in
die Ostschweiz. Da er kaum Geld hat, ist es für ihn selbstverständlich, jenes
Beförderungsmittel zu wählen, das nichts kostet; doch die Zeit des Unter-
wegsseins scheint er, trotz beachtlicher Wegstrecken von mehr als 30 km pro
Tag, genossen zu haben. Am Zielort angekommen, hält der Kontrakt aber fast
jedesmal nur wenige Monate. Die abenteuerlichste Anreise hatte Hölderlin für
seine letzte Hofmeisterposition zu absolvieren, die ihm in Bordeaux angebo-
ten wurde. Da ging es im Winter 1801 auf 02 durch das von den Wirren der
Revolution durcheinandergewirbelte Frankreich, noch dazu durch die ohnehin
nur schwer passierbaren Ausläufer des Zentralmassivs. So läßt sich denken,
daß man ihn in Nürtingen nicht ohne Besorgnis hatte ziehen lassen.
Nach der Ankunft in Bordeaux berichtete Hölderlin seiner Mutter: »Ich
kann für jezt nur wenig schreiben; diesen Morgen bin ich angekommen, und
meine Aufmerksamkeit ist noch zu sehr auf meine neue Lage gerichtet, um
mit Ruhe Ihnen einiges Interessante von der überstandenen Reise zu sagen.
Überdiß hab’ ich so viel erfahren, daß ich kaum noch reden kann davon.«
Ein paar Andeutungen immerhin gibt er: »Diese lezten Tage bin ich schon
in Einem schönen Frühlinge gewandert, aber kurz zuvor, auf den gefürchte-
ten überschneiten Höhen der Auvergne, in Sturm und Wildniß, in eiskalter
Nacht und die geladene Pistole neben mir im rauhen Bette – da hab’ ich
auch ein Gebet gebetet, das bis jezt das beste war in meinem Leben und
das ich nie vergessen werde.« (28. Januar 1802; MA II, 916) Anders als in
der Ode über den Mut des Dichters gefordert, trat dieser seinem Abenteuer
also durchaus nicht wehrlos entgegen. Indem er aber dessen Gefährlichkeit
in unziemlicher Weise hervorhebt – man bedenke, der Brief ist an die Mutter
gerichtet –, sucht Hölderlin eine für sie noch schlimmere Sorge zu zerstreuen,
den Verdacht nämlich, ihr Sohn erlebe diese verwegene Reise womöglich
als eine Befreiung.
Dieser Eindruck aber war auch schon aus früheren Reisebriefen Hölder-
lins zu gewinnen, denn bereits nach dem Antritt der Stellung in Waltershausen
zeichnet sich ein Kräftespiel von Bindungs- und Entgrenzungstendenzen ab.
Der verehrte Meister Rousseau war auch in dieser Hinsicht ein Vorbild, in
dessen Lebenskurven die Ambivalenz von zentrifugalen und zentripetalen
Impulsen, von Fluchtgedanken und Heimatsehnsucht der bestimmende Fak-
tor gewesen war. Die kleine Welt, in die Hölderlin sich begibt, wird flugs zu
einem Mittelpunkt weitausgreifender Projektionen.
Hölderlin nutzt, als er zum ersten Mal für längere Zeit fern der schwäbi-
schen Heimat lebt, die Erkundung fremder Regionen auch für eine Einübung
in den rousseauistischen Blick, wenn er etwa die »glüklichen Menschen in
den Thälern des Thüringer Walds« preist, die er bei der dann doch noch
erfolgten Weiterreise nach Jena gefunden haben will. (17.11. 1794 an die
Mutter) Mit welcher inszenatorischen Energie Hölderlin diese Reiseerinne-
rung aufbereitet, schon das allein läßt die vorausgegangene Rousseau-Lek-
türe erahnen. Ein »königlicher Anblik« sei es, teilt Hölderlin seiner Mutter
mit, den man »auf der Höhe des Thüringer Waldes« genieße; dort sehe man
440 Alexander Honold
»hinter sich einen großen Theil von Franken, mit seinen Bergen und Wäldern,
vor sich die großen Ebenen von Sachsen […], und in der dunkeln Ferne das
Harzgebirge.« (MA II, 554f.) Das Naturerlebnis der Wanderung ist, indem
es solche Sichtschneisen in Vergangenheit und Zukunft eröffnet, stets nur
Vorschein und Versprechen weiterer Wanderungen und Ziele, niemals bietet
es sich als schon erreichtes Glück. Dieses Kontiguitätsprinzip des Wanderns
hat Rousseau in seinen Bekenntnissen zu einem Stilprinzip der textuellen
Verknüpfung gemacht, bei dem mit jeder neuen Wendung des Weges die
Dinge in ein anderes, überraschendes Licht treten können.
III.
Hölderlins Wanderung ist ein Grenzgang; ihre Energie ist nicht auf Erlebnis-
substanz gerichtet, sondern auf Relationen. Wandern ist eine metonymische
Operation.6 Überall, wo sie Nachbarschaften vorfindet – und wo gibt es die
nicht? –, wird sie von diesen dazu angestachelt, immer noch ein Stück wei-
ter zu gehen. Mit der Kartographie hat dieses Verfahren gemein, extensive
horizontale Verbindungslinien herzustellen, sich in der Fläche auszubrei-
ten, an Flußläufen, Gebirgszügen und anderen natürlichen Anhaltspunkten
entlangführend. Neben der Methode des Grenzgangs borgt sich Hölderlin
aus der Kartographie weiterhin das Prinzip der Vogelschau, für die – denn
schließlich sind wir im mittleren Deutschland – auch die Besteigung eines
Bergrückens von relativ bescheidener Höhe genügt. »Lezten Sonntag war
ich auf dem Gleichberge, der sich eine Stunde von Römhild über die weite
Ebene erhebt,« teilt Hölderlin Karl Gok im August 1794 mit. »Ich hatte gegen
Osten das Fichtelgebirge (an der Gränze von Franken und Böhmen), gegen
Westen das Rhöngebirge, das die Gränze von Franken und Hessen, gegen
Norden den Thüringer Wald, der die Gränze von Franken und Thüringen
macht, gegen mein liebes Schwaben hinein, südwestlich, den Staigerwald
zum Ende meines Horizonts. So studirt’ ich am liebsten die Geographie der
beiden Halbkugeln, wenn es sein könnte!« (21.8. 1794, MA II, 545f.)
Die notorische Häufung, mit der das Wort »Gränze« diese Beschreibung
durchzieht, macht den, der es benutzt, zu ihrem ›second maker‹, zu einem
nachgestaltenden Landvermesser. Auf engstem Raume und mit einem Blick
6 Eckhard Lobsien hat die Besonderheit pittoresker Reisebilder darin erkannt, daß »sie
im puren Nebeneinander des Unähnlichen bereits Kontiguitätsverhältnisse vorstellen:
etwa einen verfallenen Turm in einer bukolischen Landschaft.« (»Landschaft als Zei-
chen. Zur Semiotik des Schönen, Erhabenen und Pittoresken.« In: Smuda, Manfred
(Hg.): Landschaft. Frankfurt a.M. 1986, S. 159–177, hier S. 168.) Dies erklärt die
strukturelle Affinität des Pittoresken zur Praxis des Reisens: Landschaft wird »als eine
Kontiguitätsfolge« rezipiert (Lobsien, S. 172).
Ströme, Züge, Richtungen. Wandern und Wanderungen bei Hölderlin 441
7 Rousseau, Jean-Jacques: Julie oder Die neue Heloïse (1761). Übersetzt von Johann
Gottfried Gellius, überarbeitet von Dietrich Leube. München 1978, S. 76.
442 Alexander Honold
Der Wanderer.
Einsam stand ich und sah in die Afrikanischen dürren
Ebnen hinaus; vom Olymp reegnete Feuer herab.
Fernhin schlich das haagre Gebirg, wie ein wandernd Gerippe
Hohl und einsam und kahl blikt’ aus der Höhe sein Haupt.
Ach! hier sprang, wie ein sprudelnder Quell, der unendliche Wald nicht
In die tönende Luft üppig und herrlich empor.
Hier frolokten die Jünglinge nicht, die stürzenden Bäche
Ins jungfräuliche Thal hoffend und liebend herab.
[…]
Keiner Heerde vergieng am plätschernden Brunnen der Mittag,
Und den Hirten entlief nirgends das lustige Roß.
[…]
Nicht um Wasser rief ich dich an, Natur! in der Wüste,
Wasser bewahrte mir treulich das fromme Kameel.
Um der Haine Gesang, um Gestalten und Farben des Lebens,
Bat ich vom heiligen Vaterlandsboden verwöhnt.
Schönheit wollt’ ich, es gab die Natur mir Scherze zur Antwort,
Schönheit – aber sie gab fast mir Entsezen dafür. –
(1. Fassung. MA I, 178, aus v. 1–20)
9 »Freilich ist die afrikanische Wüste und der Nordpol weder durch sinnliches noch
durch inneres Anschauen gemalt, vielmehr sind sie beide durch Negationen dargestellt,
da sie denn nicht, wie die Absicht doch ist, mit dem hinteren deutsch-lieblichen Bil-
de genugsam kontrastieren.« (Goethe an Schiller, 18. Juni 1797, zit. nach Hölderlin:
Gedichte, hg. von Jochen Schmidt. Frankfurt a.M. 1992.)
444 Alexander Honold
die Sonne nicht untergeht und zur Wintersonnenwende nicht auf. Korrespon-
dierend dazu ist auch die Wüstenregion nicht allein durch ihre vegetative
Kärglichkeit gekennzeichnet, sondern ebenfalls durch den astronomisch vor-
gegebenen Einfallswinkel der Sonnenstrahlen, die »mittags« im Zenit steht,
wie das Gedicht andeutet. Impliziert ist also ein Bereich geographischer
Breite, der sich vom Äquator südlich und nördlich in einem Gürtel bis zu
jeweils 23,5° erstreckt; soweit reicht die maximale Deklination des Zenit-
standes der Sonne. In der Wanderer-Elegie hat Hölderlin demnach seinen
Tropic of Cancer beschrieben. An den Wendekreisen des Krebses und des
Steinbocks erreicht die Sonne ihren Zenitstand jeweils am Tag der Som-
mersonnenwende, um nach dieser Klimax dann wieder umzukehren. Daher
rührt die Bezeichnung Tropen (gr. für Wendungen), die sowohl im rheto-
rischen als im geographischen Gebrauch auf ein und dieselbe Denkfigur
zurückgeht.
Die Tropen sind nicht nur traurig (wie Lévi-Strauss glaubte), sie sind auch
das Terrain der (zumindest aus eurozentrischer Sicht) Geschichtslosigkeit.
Der rationale Kern dieses Stereotyps liegt in der Tatsache begründet, daß es
innerhalb dieses äquatorialen Gürtels zwischen den Wendekreisen zwar den
Wechsel von Regen- und Trockenzeiten gibt, aber keine Jahreszeiten – also
auch keinen periodischen Wechsel von Wachstums- und Stillstandsperioden.
So hat auch das tropische Holz keine Maserung, denn ihm fehlen die Jah-
resringe, die erst durch die alternierende Folge von Sommer und Winter
entstehen. – Sind die Tropen geschichtslos, so die Polregionen andererseits
leblos, kinderlos; dort verharrt die Mutter Erde »in langsamer Zeit«. Übrig
bleibt der geographische Bereich zwischen dem 23. und dem 66. Breiten-
grad, in dem sich ein moderates Wechselspiel von mal mehr, mal weniger
Sonne entwickeln kann, und mit ihm die Pluralisierung der naturalen Witte-
rungsbedingungen zu den sogenannten Jahreszeiten. Der saisonale Zyklus der
gemäßigten Breiten, der für eine fruchtbare Vermittlung der Extreme steht:
das ist es, worauf Hölderlins Wanderer zusteuert.
[…]
Darum kehr’ ich zurük an den Rhein, in die glükliche Heimath,
Und es wehen, wie einst, zärtliche Lüfte mich an.
(MA I, 179, v. 41f.)
IV.
Wind- und Wasserströmungen sind gleichsam Migrationen, die auf der Stelle
treten.
Phänomene wie der Nordost-Passat (den das Gedicht »Andenken« preist11)
oder die nach Osten fließende Donau sind geographische Vektoren, die
zugleich einen kulturellen Richtungssinn signalisieren. Der Nordostwind tut
dies, indem er von Hölderlins Heimat in gerader Luftlinie in das südwestliche
Frankreich führt, und von der Gironde-Mündung bei Bordeaux in Verlänge-
rung weiter bis zu den westindischen Inseln die Reiseroute der Amerikafahrer
markiert. Der Donaulauf wiederum ist richtungsweisend (vgl. »Der Ister«),
indem er den dazu spiegelbildlichen Weg nach Südosten einschlägt, die für
Hölderlins kulturelle Orientierung maßgeblichen Bezugspunkte Griechenland
und Kleinasien ansteuert, weit darüber hinaus aber auch den Kaukasus und
selbst Indien noch im Visier hat. Wiederum zeigt sich Hölderlins Arbeits-
weise als hochgradig kalkuliert; denn wie »Der Wanderer« die geographische
Dimension des Themas in Nord-Süd-Richtung bis zu den dabei erreichbaren
Grenzen führte, so thematisiert »Die Wanderung« die kulturgeschichtlichen
Verschiebungen entlang der Ost-West-Achse.12
Die Hymne beginnt, womit »Der Wanderer« endete, nämlich mit dem
Lobpreis auf die heimatlichen Gefilde und ihre landschaftliche Wohltempe-
riertheit. Sie ist hier bestimmt durch die rechte Distanz vom mitteleuropä-
ischen Wasserreservoir der alpinen Gletscher, die Hölderlin als eine Art Wet-
terwerkstatt zum »Herd des Hauses« erklärt. Wie auf der anderen, südlichen
Alpenseite die Lombardei, so hält Schwaben auf der nordwärts gelegenen
Seite den ›richtigen‹ Abstand vom Hochgebirgskamm der Alpen, um von den
dort entspringenden Flüssen vital, aber nicht mehr vehement durchströmt und
versorgt zu werden. Dennoch wird gerade dieser Landstrich zum Ausgang
einer epochalen, kollektiven Wanderung.
Die Wanderung.
Glükseelig Suevien, meine Mutter,
Auch du, der glänzenderen, der Schwester
Lombarda drüben gleich,
Von hundert Bächen durchflossen!
[…]
Und Alpengebirge der Schweiz auch überschattet
Benachbartes dich; denn nah dem Heerde des Hauses
Wohnst du […]
[…] Darum ist
Dir angeboren die Treue. Schwer verläßt,
Was nahe dem Ursprung wohnet, den Ort.
Und deine Kinder, die Städte,
11 »Der Nordost wehet, / Der liebste unter den Winden / Mir, weil er feurigen Geist /
Und gute Fahrt verheißet den Schiffern.« (Andenken. MA I, 473, v. 1–4)
12 Auf dieses Entsprechungsverhältnis weist auch Mottel (s. Anm. 10), S. 135, hin.
448 Alexander Honold
Am weithindämmernden See,
An Nekars Weiden, am Rheine
Sie alle meinen, es wäre
Sonst nirgend besser zu wohnen.
(MA I, 336f., v. 1–9; 17–24)
Wollte der Dichter sich dieser Meinung umstandslos anschließen, dann könnte
hier bereits Schluß sein, die Hymne jedoch fährt fort:
Ein bemerkenswerter Begriff von dichterischer Freiheit ist es, den Hölderlin
in dieser Passage entfaltet. Frei wie die Schwalben sollen sie sein, die Dich-
ter,13 d.h., sich am Vogelflug und vor allem am Vogelzug ein Beispiel neh-
mend. Die Fortbewegungsart der Vögel verheißt freie Sicht, über die Land-
striche hin, weder von Flüssen noch Gebirgen gehemmt. Der unbeschränkte
Aufbruch, die Bewegung überallhin, solche Bildvorstellungen sind eine Para-
phrase des Begriffes Freiheit: »Und verstehe die Freiheit, / Aufzubrechen,
wohin er will.« (»Lebenslauf«, 2. Fassung, MA I, 325, v. 15f.) Was diese
Freiheitssymbolik im Falle der Zugvögel besonders faszinierend erscheinen
läßt, ist deren regelmäßige, jahreszeitlich induzierte Wanderung über Tau-
sende von Kilometern hin.14 Ein Extrembeispiel der von Hölderlin genannten
Art bildet etwa die Küstenseeschwalbe. Ihre Zugbahnen verlaufen entlang der
amerikanischen oder westafrikanischen Küstenlinien von den Polarregionen
Kanadas und Grönlands bis Südafrika und Feuerland; in jedem Jahr legen
sie dabei eine Strecke von mehr als 18.000 km zurück. Einzelne Schwal-
benarten vollbringen also in concreto, was die Elegie »Der Wanderer« nur
abstrakt zu formulieren vermochte: Sie durchmessen den gesamten Bereich
der Klimazonen und kontinentalen Landmassen. Diese enorme geographische
Spanne erfordert ein höchst präzises Orientierungsvermögen. Daß Hölderlin
unter den Zugvögeln ausgerechnet die Schwalben anführt, hängt vielleicht
auch damit zusammen, daß sie zu den meistverbreiteten Singvögeln zählen
und weltweit anzutreffen sind. Ihre grenzenlose Freiheit ist gepaart mit der
Der Grund für den Zug der Vögel ist derselbe, den bereits die »Wanderer«-
Elegie in den Blick faßte, die jahreszeitliche Schwingungskurve der Sonnen-
einstrahlung und die daraus resultierenden Schwankungen der Tageslänge
und Temperatur. Der vegetative Zyklus reagiert auf diese Amplituden durch
alternierende biologische Phasen bei gleichzeitiger Ortsgebundenheit, wäh-
rend die Vögel diesen Rhythmus abbilden, indem sie der Sonnendeklination
nachreisen, im saisonalen Zyklus ein Doppelleben führen zwischen Brut- und
Winterplätzen. Sie haben eine innere Uhr im physiologischen Sinne, deren
hormonelle Steuerung zum Beispiel rechtzeitig vor dem großen Abflug unter
dem Gefieder eine Fettschicht anwachsen läßt, die den Vögeln unterwegs als
Energievorrat dient. Manche Arten nutzen außerdem externe Informationen
wie die Veränderung der Tageslichtdauer oder der Temperatur, um zu erken-
nen, wann es Zeit zum Aufbruch und wann zur Rückkehr ist.
Auch unterwegs richten die Vögel ihre Reiseroute hauptsächlich am Son-
nenstand aus, bei Nacht an den Gestirnen. Dabei folgen sie mit ihrer Rou-
tenplanung denselben Prinzipien, die seit der Antike schon die Nautik und
seit dem aviatischen Zeitalter auch die Luftfahrt bevorzugt: das Navigieren
entlang markanter topographischer Bezugspunkte, also vor allem den Küsten-
linien, Gebirgszügen und Flußläufen; nicht minder wichtig ist für die Strek-
kenführung zudem die Beachtung der Wind- und Wasserströmungen. Für die
Vogelfluglinien über Europa gibt es bestimmte Landmarken und Korridore,
wo sich die Züge verdichten und daher auch besonders gut zu beobachten
sind: die Südspitzen Skandinaviens, die Küsten beiderseits des Ärmelkanals,
der Mündungstrichter der Gironde, die Burgundische Pforte, die Camargue
mit dem Rhônedelta, in Südosteuropa der Bosporus mit den Dardanellen
und die Donaumündung.
Daß sich Hölderlin mit diesen Formen biologischer Migration beschäftigt
hat, ist abzulesen an der wiederholten poetischen Thematisierung des Vogel-
zugs, mehrfach auch in Verbindung mit Windrichtungen und Strömungslinien.
Einige Merkmale, wie die Besonderheiten des Zeitsinns und Orientierungs-
vermögens, werden gemäß dem topischen Vergleich zwischen Schwalbenzug
und dichterischer Freiheit auf das sprechende Subjekt der Hymne übertragen.
Im unmittelbaren Anschluß an die Anrufung der Schwalbe fährt das lyrische
Ich fort:
450 Alexander Honold
Der Vergleich wird hier dahingehend erweitert, daß der Dichter nicht nur
ähnlich vitale Gründe hat, sich aus seiner Heimat gen’ Südosten hinweg-
zuheben, sondern sich bei seiner vorgestellten Flugreise auch vergleichba-
rer Orientierungshilfen zu bedienen weiß. Wie die Zugvögel lernt er, »auch
unter den Sternen« seinen Weg zu finden, wie sie orientiert er sich an mar-
kanten Punkten der Küstenlinie, an Inseln und Berggipfeln, und die Beach-
tung der Mündungen der Ströme verdankt sich dem Verfahren des topogra-
phischen Entlangtastens, das, wo möglich, dem Lauf der großen Ströme
folgt.
Noch präziser hat Hölderlin in einem Fragment des Homburger Foliohefts
diese Navigationskunst der Zugvögel durchleuchtet und als vorbildhaft her-
ausgestellt.15 Der Titel dieses Gedichtfragments lautet »Das Nächste Beste«,
er ist auch die bündigste Formel für das beschriebene Verfahren selbst. Der
Fußwanderer kann im Grunde ebenso vorgehen wie die Zugvögel, denn ihr
Geheimnis zur Bewältigung derartiger Langdistanzen ist denkbar einfach:
Die Gesamtstrecke und Generalrichtung wird in eine Vielzahl kleiner und
kleinster Wegsegmente und Peilungsmanöver zerlegt. Die Fähigkeit, Kurs zu
halten, ist keiner einmaligen oder homogenen Leistung geschuldet, sie ist die
Resultante aus unendlich feinen Extrapolierungen. Das erste Ziel ist, wenn
man ankommen will, immer »Das Nächste Beste«. »Drum wie die Staaren
[...] in liebenswürdiger Fremde« zwar den direkten Weg nehmen, wenn es
sie heimwärts zieht (»Sie spüren nemlich die Heimath«), so folgen sie dabei
in erster Linie dem pragmatischen Sinn für das Nächstliegende.
Über die geographische Linie des Stromes schiebt sich eine kulturgeschicht-
liche Erzählung von deutschen, oder gar wohl: von schwäbischen Kolonisten,
die »fortgezogen« sind oder wurden von den Wellen der Donau, also ihrer
Fließrichtung folgend nach Südosteuropa und zur Schwarzmeerküste wan-
16 »Das Nächste Beste«. Homburger Folioheft, p. 73/74. Vgl. zu diesem Gedicht die
ausgezeichnete und detaillierte Kommentierung durch Dieter Burdorf: Hölderlins späte
Gedichtfragmente: »Unendlicher Deutung voll«. Stuttgart 1993.
17 Schon Johann Andreas Naumann äußerte 1795 die Vermutung, »die Windrichtung
würde den Vogelflug orientieren, […] die Bewegung gegen den Wind würde den Zug-
vogel zwar anstrengen, er bevorzugt aber die Flugrichtung gegen den Wind gegenüber
dem Fliegen mit dem Winde.« Naumann weist auch auf Landmarken wie Ströme und
Meeresküsten hin. Mottel (s. Anm. 10), S. 172.
452 Alexander Honold
18 Vgl. Müller, Ernst: Hölderlin. Studien zur Geschichte seines Geistes. Stuttgart, Berlin
1944, S. 496.
19 Dies waren u.a. die nahe der Hauptstadt Tiflis gelegenen Ortschaften Marienfeld, Pe-
tersdorf, Neu-Tiflis und Alexandersdorf, die vor allem vom Wein- und Getreideanbau
lebten. Zu dieser Auswanderungsbewegung legte der Geograph und Reisejournalist
Moritz Wagner Mitte des 19. Jahrhunderts eine Untersuchung vor, auf der seine spätere
Theorie kultureller Migrationsprozesse basierte, die wiederum in Friedrich Ratzels
Grundlegung einer »Politischen Geographie« Eingang fand. Wagner stellt fest: »Die
meisten deutschen Ansiedlungen in Georgien wurden in den Jahren 1818 und 1819
gegründet. […] Von Ismael zogen sie nach Odessa und nach den Steppen Südruß-
lands [...]. Viele, die Anfangs aus Reisemüdigkeit zurückgeblieben, entschlossen sich
später in Folge der ersten Mißernten im trocknen Steppenboden zur Fortsetzung ihrer
Wanderung über die kaukasischen Berge. Ein großer Theil der in verschiedenen Zügen
ankommenden Colonisten hatte die Heimath Würtemberg [sic] aus religiöser Schwär-
merei verlassen. Es waren die sogenannten Separatisten, welche behaupteten, daß im
Vaterlande der religiöse Sinn und die alte Gottesfurcht von Jahr zu Jahr abnehme und
weltliche Genußsucht und religiöse Gleichgültigkeit an ihre Stelle getreten. Einige
von den älteren Dorfleuten [...] wußten mit ihrer Schwärmerei und Auswanderungs-
lust nach dem Orient, um dort näher bei Jerusalem und dem heiligen Grabe zu sein,
Tausende ihrer beschränkten Landsleute anzustecken. Das nüchterne Elend der langen
und höchst mühseligen Reise hatte viele von ihrer Ueberspannung curirt, andere aber
noch exaltierter und hartnäckiger gemacht.« Wagner, Moritz: Reise nach Kolchis und
nach den deutschen Colonien jenseits des Kaukasus. Leipzig 1850, S. 67–69.
20 Vgl. Hölderlin: Sämtliche Werke. Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe. Hg. von Friedrich
Beißner und Adolf Beck. 8 in 15 Bdn. Stuttgart 1943–85. Bd. II.2, S. 717.
21 So zuletzt Mottel, der auf den in Suevien ansässigen germanischen Stamm der Kim-
merer hinweist, deren Wanderung ans Schwarze Meer bei Poseidonios und Strabo
überliefert ist. Mottel (s. Anm. 10), S. 143).
22 Moritz Wagner benennt als Vorbild der Auswanderer des 19. Jahrhunderts die »Pas-
sagiere der Argo, jene abenteuernden Helden mit Schwert und Lyra, welche in grauer
Vorzeit über den sturmvollen Pontus dem transkaukasischen Zauberlande zusteuerten«
Wagner (s. Anm. 19), S. 1f.
Ströme, Züge, Richtungen. Wandern und Wanderungen bei Hölderlin 453
23 Vöhler, Martin: »Danken möcht’ ich, aber wofür?« Zur Tradition und Komposition
von Hölderlins Hymnik. München 1997, S. 189.
454 Alexander Honold
24 »Entscheidend bei alledem ist, daß Hölderlin bei der Konstitution seiner ›Nomado-
logie‹ aus den antiken Quellen und aus dem populären zeitgenössischen Diskurs den
Zusammenhang zwischen der Geographie des Schwarzmeerraums, den protogermani-
schen bzw. protohellenischen Wanderungsbewegungen und kollektiven Sexualpraktiken
gekannt haben muß und diesen für die Konstitution seiner mythopoetischen Erdkarte
nutzbar gemacht hat.« Mottel (s. Anm. 10), S. 144.
Ströme, Züge, Richtungen. Wandern und Wanderungen bei Hölderlin 455
dern, im strikten Sinne des Wortes, ein Präzedenzfall – ein Beispiel, das
späteren Nachahmern vorausgewandert ist.
1 Galler, Margret: »Demaskierung der Macht«. In: Orbis Liguarum 2 (1995), S. 99–104,
S. 99.
2 Hubrich, Peter Heinz: Gustav Freytags ›Deutsche Ideologie‹. Kronberg Taunus 1974,
S. 41f.
3 Hubrich (s. Anm. 2), S. 1.
4 Hubrich (s. Anm. 2), S. 168.
Geopolitiken der Literatur. Gustav Freytags Soll und Haben 457
Zwei Details, denen ich exemplarisch nachgehen werde, sind die Schilde-
rung jenes »Bodens«, den der junge Anton Wohlfahrt auf seinem Weg von
Ostrau nach Breslau erblickt,10 und jener »Wüste«, die er als Gutsverwalter
in Polen kennenlernt.11 Sowohl die geographische Darstellung des jeweili-
gen Raumes als auch die Erfahrung des Raumes durch den Protagonisten
ist völlig unterschiedlich:
Es war ein lachender Sommertag, auf den Wiesen klirrte die Sense des Schnitters am
Wetzstein [...] Kleine Bäche von Erlen und Weidengruppen eingefaßt durchrannen
lustig die Landschaft, jeder Bach bildete ein Wiesental, das auf beiden Seiten von
üppigen Getreidefeldern begrenzt wurde. Von allen Seiten stiegen die hellen Glok-
kentürme der Kirchen aus dem Boden auf, Mittelpunkt einer Gruppe von braunen und
roten Dächern, die mit einem Kranz von Gehölz umgeben waren. Bei vielen Dörfern
konnte man an der stattlichen Baumallee und dem Dach eines großen Gebäudes den
Rittersitz erkennen, welcher neben den Dorfhäusern lag, wie der Schäferhund neben
der wolligen Herde.12
Die klaren Unterscheidungen zwischen Wald und Kiesweg, Allee und Feld,
die Anzeichen von Pflege und Schmuck des ganzen schlesischen Rittersitzes
der Rothsattel – all dies scheint selbstverständlich zu sein und fällt erst im
Kontrast auf zu jener Raumerfahrung, die Anton Wohlfahrt und Karl Sturm
auf ihrem Weg zum polnischen Gut der Rothsattel machen:
10 Freytag, Gustav: Soll und Haben [Leipzig 1855]. München 1953, S. 10f.
11 Freytag (s. Anm. 10), S. 410f.
12 Freytag (s. Anm. 10), S. 10f.
13 Freytag (s. Anm. 10), S. 11.
Geopolitiken der Literatur. Gustav Freytags Soll und Haben 459
Der Wind fegte mit seinem riesigen Besen Sand und Strohhalme über die Stoppelfelder,
die Straße war ein breiter Feldweg, ohne Gräben und Baumreihen, die Pferde wateten
bald durch ausgefahrene Wasserpfützen, bald durch tiefen Sand. Gelber Sand glänzte
zwischen dem dürftigen Grün der Äcker überall, wo eine Feldmaus den Eingang zu
ihrer Grube angelegt, oder wo der emsige Maulwurf nach Kräften gearbeitet hatte,
die Ebene durch kleine Hügelketten zu unterbrechen. In den Senkungen des Bodens
stand schlammiges Wasser; an solchen Stellen streckten die ausgehöhlten Stämme
alter Weiden ihre verkrüppelten Arme in die Luft, ihre Ruten peitschten einander im
Wind, und die welken Blätter flatterten herunter in das trübe Wasser. [...] Kein Haus
war zusehen [...], und kein Fuhrwerk.14
Während Anton auf dem preußischen Grund und Boden ringsum die Melo-
die der Arbeit vernimmt und allenthalben auf Kultur und Ordnung, auf
Pflege und Differenzierung trifft, ist in Polen der Übergang zwischen Straße
und Acker, Erde und Wasser fließend. Die Bäche sind nicht klar, sondern
»trüb«, morastartig.15 Statt auf Felder und Weiden treffen Anton und Karl
auf »Stoppelland«, statt auf ein Ensemble von Kirche, Dorf und Gut stoßen
sie auf einen Haufen »Lehmhütten«. Ohne Zeichen einer Aneignung und
Kultivierung des Raumes durch Generationen zu finden, erblicken sie nichts
als Provisorien. »Um das Dorf war manches nicht zu finden, was auch die
ärmlichsten Bauernhäuser seiner Heimat schmückte, kein Haufe von Obst-
bäumen hinter den Scheuern, kein umzäunter Garten, keine Linde auf dem
Dorfplatz, einförmig und kahl standen die schmutzigen Hütten nebeneinan-
der.«16 Es geht hier nicht einfach um den Gegensatz von deutscher Sauberkeit
und polnischem Schmutz,17 die Differenzen sind weitaus komplexer. Man
wird sehen: Das Spannungsfeld, das Freytag zwischen den metaphorischen
Antipoden Land und Meer ausbaut, nimmt den geopolitischen Diskurs des
20. Jahrhunderts von Haushofer und Schmitt bis Deleuze und Guattari mit
allen Implikationen vorweg.
Im europäischen Völkerrecht des 19. Jahrhunderts, schreibt Schmitt, sei
es selbstverständlich, daß auf der anderen Seite einer Staatsgrenze nicht eine
»friedlose Unordnung« eines »herrenlosen« Bodens zu finden sei, sondern
Recht und Ordnung des Nachbarstaates. In Soll und Haben dagegen trennt
die von preußischem Militär gesicherte Grenze zu Polen »eine befriedete Ord-
nung« von ihrem Gegenteil: dem »Chaos«.18 Wenn Anton sich in Polen auf
etwas beruft, was »stärker ist als die Gewalt, nämlich [...] Recht und Gesetz«,
dann hält man ihm zunächst nur den »Lauf einer Doppelflinte« entgegen.19
Polen muß ganz ohne Ruhe, Sicherheit und Ordnung auskommen und kennt
keine staatliche Organisation. Die »Polizei muß dort mangelhaft sein«, erfah-
ren wir aus berufenem Händlermund über das polnische Gebiet.20 Tatsächlich
ist sogar für Anton die »oberste Polizei« von den niedrigsten Dieben kaum
zu unterscheiden.21 In Polen agieren räuberische Banden, die umherziehen
wie Nomaden »in einem Raum ohne Grenzen und Einfriedung«.22
Polen erscheint in Freytags Darstellung als »glatter Raum«,23 wie Deleuze
und Guattari eine Gegend ohne »Grenzen und Einfriedung« nennen.24 Für
Schmitt wäre dieser Raum ohne »Spur« und ohne »feste Linien« ein »Meer«.
Das gleichsam maritime Polen weist bei Freytag jedenfalls weder »Ordnung
noch Ortung« auf.25 Polen ist keine »polis« und hat keine »Polizei«, keine
»Ordnung« und keine »Verwaltung«, denn dazu wäre eine spezifische Bin-
dung des Volkes an den von ihm bewohnten und geprägten Raum notwendig,
die Virilio dagegen am germanischen Wortstamm »buan« als Einheit von Sein
und Wohnen nachzuweisen sucht.26 »Der Raum der Seßhaftigkeit«, heißt
es in den Tausend Plateaus, »wird durch Mauern, Einfriedungen und Wege
zwischen den Einfriedungen eingekerbt, während der nomadische Raum glatt
ist«.27 Meer, Wüste, Steppe und Eis dagegen sind glatter Raum28 ohne Hegun-
gen, Grenzen und Kerbungen und daher so frei wie gesetzlos.29 Die polnische
Gegend sei eine »Wüstenei«, meint Karl, ja eine »Wüste«, bestätigt Anton.
Es sei eine Gegend, »wo der Sand unter den Beinen wegläuft wie Wasser«,
wo das »Land [...] nicht fest genug« ist.30 Die »leere Ebene« mit ein paar
»Sandhügeln« um das Gut herum visualisiert der Erzähler als »Dünen der
öden Wasserflut«.31 Im Vergleich zum preußischen Land erscheint Polen als
Meer – mit allen geopolitischen Implikationen.32 Während die aufständi-
schen Polen deutsche Plätze berennen und überall Unordnung gegen Ord-
nung, Meuten gegen Formationen antreten, imaginiert auch Antons Freund
Fink die Verwandlung festen Landes in aufgewühlte See. Seine Begleiterin
Lenore möge sich vorstellen, wie alles im Sturm untergehe: »das Haus ist
verschwunden, an der Stelle befindet sich ein Loch, ein Strom, ein Haufe
herangespülter Felsen. Vielleicht fängt dann auch die Erde an ein wenig zu
beben und schlägt Wellen, wie das Meer im Sturme.«33 Die Landschaftsdar-
stellungen werden von Freytag durchgängig politisiert, und gleichgültig, ob
die doch sehr unterschiedlichen Protagonisten ihre Raumerfahrung beschrei-
ben oder der Erzähler Räume darstellt, strukturiert die Differenz von Land
und Meer den literarischen Raum.
Anders als in Polen hat in Preußen eine germanische Raumnahme statt-
gefunden, die ein festes Verhältnis zwischen Ordnung und Ortung, Volk und
Raum gestiftet hat.34 Der von Freytag geschilderte Kampf um Raum und der
Kampf ums Dasein,35 haben zum selben Ergebnis geführt:
Wer immer in den gebahnten Wegen des Lebens fortgegangen ist, begrenzt durch
das Gesetz, bestimmt durch Ordnung, Sitte und Form, welche in seiner Heimat als
tausendjährige Gewohnheit von Geschlecht zu Geschlecht vererbt worden, und wer
plötzlich als einzelner unter Fremde geworfen wird, wo das Gesetz seine Rechte nur
unvollkommen zu schützen vermag, und wo er durch eigene Kraft die Berechtigung zu
leben sich alle Tage erkämpfen muß; der erst erkennt den Segen der heiligen Kreise,
welche um jeden einzelnen Menschen Tausende der Mitlebenden bilden, die Familie,
seine Arbeitsgenossen, sein Volksstamm, sein Staat.36
Auf der slawischen Seite der Grenze befindet sich dagegen die in jedem Sinne
unordentliche »polnische Wirtschaft«.37 Es entspricht der Logik der seman-
tischen Konfiguration des Romans, daß Fink Polen eine »slawische Sahara«
nennt.38 Diese Wüste ist unbegrenzter, kulturloser, ungehegter Raum wie
Schmitts Meer, und wohin sie kommt, da werden bestehende Raumordnungen
verwüstet. Alles Slawische erweist sich als Vektor der Deterritorialisierung.39
Polen befindet sich in Freytags Roman bekanntlich im Aufstand. Das dritte
Buch des Romans setzt ein mit der ›Revolution in Polen‹ und ihren Konse-
quenzen für Handel und Staat:
Ein böses Jahr kam über das Land, ein plötzlicher Kriegslärm alarmierte die deut-
schen Grenzländer im Osten, darunter auch unsere Provinz. [...] Der Verkehr stockte,
die Werte der Güter und Waren fielen, jeder suchte das Seine zu retten und an sich
zu ziehen, viele Kapitalien wurden gekündigt, große Summen, welche in kaufmänni-
schen Unternehmungen angelegt waren, kamen in Gefahr. [...] Hunderte von Bändern
wurden zerschnitten, welche die Menschen zu gegenseitigem Nutzen durch lange Zeit
verbunden hatten. Jede einzelne Existenz wurde unsicherer, isolierter, ärmer.40
Die Zivilisation lebt nur im und durch den Handel, der Krieg hemmt den
Verkehr, daher ist er lästig und unbequem. Schröter erklärt Anton, »daß
uns der Kriegsapparat nichts angeht.«44 Er will nur die gesperrte Grenzen
überqueren, um die unterbrochene Zirkulation seiner Waren und Gelder wie-
der aufleben zu lassen. Doch der kommandierende Offizier der preußischen
Einheit erklärt Schröter, ihm sei die »Absperrung des empörten Landes als
der nächste Zweck unserer Aufstellung angegeben«.45 Den Großteil seiner
Waren vermutet Schröter aber hinter der geschlossenen Grenze, in der »insur-
gierten Hauptstadt« Krakau. Er will dort seine Investitionen schützen, doch
der Rittmeister will ihm nicht gestatten, »die Grenze zu passieren«.46 Die
Szene thematisiert das problematische Verhältnis zwischen Nationalstaat und
Welthandel, von klassischer Souveränität und Kapital, wie Hardt und Negri
es im Anschluß an Deleuze und Guattari als Differenz von Imperium und
41 Arndt am 19. Juni 1849 in der »Deutschen Zeitung«, in: Arndt, Ernst Moritz: Arndts
Werke. Kleine Schriften III. In: Steffens, Wilhelm (Hg.): Arndts Werke. 12 Bde., Bd. 10,
Berlin/Leipzig/Wien/Stuttgart o.J., S. 138.
42 Arndt (s. Anm. 41), S. 127.
43 Freytag (s. Anm. 10), S. 281.
44 Freytag (s. Anm. 10), S. 276.
45 Freytag (s. Anm. 10), S. 280.
46 Freytag (s. Anm. 10), S. 280.
Geopolitiken der Literatur. Gustav Freytags Soll und Haben 463
47 Vgl. auch Balke, Friedrich: Der Staat nach seinem Ende. Die Versuchung Carl Schmitts.
München 1996, S. 369.
48 Deleuze/Guattari (s. Anm. 22), S. 494.
49 Vgl. Naumann, Friedrich: Mitteleuropa. Berlin 1915; Schmitt, Carl: Völkerrechtli-
che Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte [1941]. Berlin
1991.
50 Vgl. Willke, Helmut: Atopia. Studien zur atopischen Gesellschaft. Frankfurt a.M. 2001
– Bolz, Norbert: Weltkommunikation. München 2001 – Virilio, Paul: Information und
Apokalypse. Die Strategie der Täuschung. Wien 2000 sowie die bereits zitierten Texte
von Virilio, Hardt und Negri, Deleuze und Guattari.
51 Willke (s. Anm. 50), S. 36, 86, 122, S. 175.
52 Willke (s. Anm. 50), S. 189, S. 175.
53 Suttner, Bertha von: »Der Frieden in 100 Jahren«. In: Brehmer, Arthur (Hg.): Die Welt
in 100 Jahren. Berlin 1910, S. 79–87, S. 87.
54 Naumann (s. Anm. 49), S. 7.
464 Niels Werber
Dieses Netz, das der Handel über Land und Meer hinweg spinnt, so daß jeder
einzelne mit der ganzen Welt verbunden wird, besteht in Soll und Haben
aus Medien wie Telegraphen, Eisenbahnen und Dampfschiffen, die Geld,
Frachtbriefe, Terminkontrakte und natürlich Waren zirkulieren lassen. Rit-
ters globale Einheit der Menschheit breitet sich vor Antons Augen in einem
Warenlager aus.
Fast alle Länder der Erde, alle Rassen des Menschengeschlechts hatten gearbeitet und
eingesammelt, um Nützliches und Wertvolles vor den Augen unseres Helden zusam-
menzutürmen.
Der Gegensatz zwischen Land und Meer wird hier aufgehoben, insofern
Anton in diesen Bildern keine »Geschichte des Kampfes von Seemäch-
ten gegen Landmächte und von Landmächten gegen Seemächte« zu sehen
vermag wie Schmitt,62 sondern nur Medien des Weltverkehrs, der sich der
schnellen Schiffe genauso gern bedient wie der Eisenbahnen. Der Welthan-
del der Firma setzt sich dank dieser Verkehrsmittel über Land und Meer
hinweg.63 Die geopolitische Differenz von Land und Meer wird von den
Händlern medientechnisch neutralisiert. Die Bindung von Personen, Gütern
und Räumen werden entfesselt. Die Ökonomie gerät damit in Konflikt mit
den »Grenzziehungen« der souveränen Staaten. Man hat dies als Konflikt
der zentripetalen und zentrifugalen Kräfte von Bürgertum und Adel beschrie-
ben.64 Hardt und Negri sehen darin einen Streit zwischen dem Imperialismus
der Territorialstaaten und der Weltökonomie des Empire:
Obwohl der Imperialismus dem Kapital Wege und Mittel bereitstellte, neue Territo-
rien zu durchdringen und die kapitalistische Produktionsweise auszuweiten, schuf
und sicherte er zugleich doch rigide Grenzen zwischen den verschiedenen globalen
Räumen, rigorose Vorstellungen des Innen und Außen, die tatsächlich den freien Fluß
des Kapitals, der Arbeitskraft wie der Waren blockierte – und so schließlich die volle
Entfaltung des Weltmarkts drosselte.
Der Imperialismus ist eine Maschine globaler Einkerbung, Kanalisierung, Kodierung
und Territorialisierung der Kapitalströme, die bestimmte Ströme blockiert und andere
möglich macht. Der Weltmarkt braucht den glatten Raum unkodierter und deterrito-
rialisierter Ströme.65
Freytag macht diesen Widerstreit nicht nur an der Figur Schröters sichtbar,
der unbedingt eine »Ausnahme« erwirken will, um die Grenze zu passie-
ren,66 er führt auch vor, wie die deterritorialisierende Kraft des Kapitalismus
wieder an das Projekt des Nationalstaates anzukoppeln ist: Die Grenze, die
den Strömen im Weg steht, muß eben verschoben werden. Im letzten Buch
des Romans wird es darum gehen, die Maschen im Netz des Weltverkehrs
zu reterritorialisieren. Zu diesem Zweck wird Preußen mobil machen. Wenn
preußisches Militär in Polen einrückt, um die Ostkolonisation eines Deut-
schen Reiches voranzutreiben, dann wird der Souverän selbst mobilisiert und
zu einer Macht, die alte Raumordnungen und Grenzen auflöst. Legitimiert
wird diese Raumnahme in Soll und Haben durch die suggestive Schilde-
rung dieses Raums als barbarische Wüste ohne staatliche Ordnung. Genau
dieses literarische Bild kann dann von der geopolitischen Kommunikation
aufgegriffen werden, ohne daß dabei auch die jeder Kunst eigentümliche
Kontingenz importiert würde. Von der »unwahrscheinlichen Evidenz« lite-
rarischer Formgebung findet sich in der Geopolitik allein die Evidenz.67 Die
geopolitische Kommunikation findet so ihre »Begründung in Entscheidun-
gen ästhetischer Natur«.68 Dies mag semantischer Politik genügen und das
literarische Bild des slawischen Raums kann geopolitisch Karriere machen
– zumindest so lange, bis ihre Evidenzen jenseits der Kommunikation im
Feld überprüft werden.
An ein Meer ohne Ufer glaubt Schröter nicht. Soll und Haben macht mit
allen Mitteln literarischer Suggestion begreiflich, daß die »deutschen Städte
auf altem Slawengrund« wie Karawansereien in der Wüste als »Knoten eines
festen Netzes« fungieren, »welches der Deutsche über den Slawen gelegt
hat«.69 Es ist ein Netz in glattem Raum, dessen Knoten von Stadtstaaten
gebildet werden.70 Wachtürme und Tore schützen diese Städte, »Zöllner«
und »Wächter« kontrollieren den Verkehr der Waren und Personen.71 Der
Weltverkehr wird wortwörtlich als »Netzwerk« bezeichnet,72 aber die Kno-
tenpunkte des Netzes in Polen sind Enklaven mit Festungscharakter, exter-
ritoriale Zonen eigenen Rechts. Ein solcher deutscher Hof in Polen ist »ein
Raum von mehreren Morgen Ausdehnung, wie sie häufig bei den Herbergen
des östlichen Europas zu finden sind, welche an großen Verkehrsstraßen lie-
gen und wie die Karawansereien des Morgenlandes bestimmt sind, großen
Wagentransporten und einer schnell zusammenströmenden Menge [...] Schutz
zu geben.«73 Die Bildlichkeit erweist sich hier wieder als bester Beleg für
unsere These, denn immer wieder werden die Handels- und Geleitzüge in
den Osten Karawanen genannt, wie es sich für Expeditionen in den glatten
Raum der wüsten Nomaden gehört. In Polen lauern entsprechend alle Gefah-
ren der Deterritorialisierung und der nomadischen Kriegsmaschine. Walther
Darré hat 1933 die Slawen als parasitäre »Nomadenvölker« bezeichnet, die
von gewaltsam »erpreßten Abgaben« leben,74 ganz so, wie Schröter die pol-
nische Adelsschicht beschreibt, die ihre leibeigenen »Krakusen« mit nack-
ter Gewalt und »durch den Druck der rohen Masse« aussaugen. Nicht die
stereotype Schilderung eines Juden interessiert den nationalsozialistischen
Spitzenfunktionär, sondern die Differenz von glattem und gekerbtem Raum,
von Staatsapparat und Nomaden. Polen könne gar kein Staat sein, denn die
Polen seien Nomaden, behauptet Darré. »Das heißt, sie haben keine Kultur«,
Polen sei kein »Staat«, schlußfolgert Schröter.75 Während Freytags Entwurf
des Welthandels als Netzwerk solch ungefährliche Ausschreibungen wie die
der Tausend Plateaus oder des Empire vorweggenommen hat, macht ihn
seine Schilderung Polens als Wüste zum Avantgardisten einer furchtbaren
politischen Semantik. Nicht nur der Freytag-Leser Darré76 kann im Osten nur
Wüsten und Nomaden sehen. Adolf Hitler hat 1937 vom östlichen Mitteleu-
ropa als einem »volklosen Raum« gesprochen und hinzugefügt, er sei eine
»Art Wüste«.77 Auch für Hitler ist die slawische Sahara ein glatter Raum, der
in eine Raumordnung überführt werden soll, wozu freilich die »Augenblicks-
grenzen« Deutschlands erst einmal aufgehoben werden müssen.78 Die Völker
und Nationen in diesem Raum sind eben deswegen leicht »hinwegzufegen«,
weil sie sich den Raum nie angeeignet haben. Sie sind wurzellos wie der
ewige Jude, dem als »Fremden« die »organische Verbindung« mit dem Boden
vor Ort stets fehle.79 Dieser absurden wie militärisch folgenreichen Unter-
scheidung germanischer Verwurzelung und slawisch-jüdischen Nomadentums
hat Soll und Haben eine Evidenz verliehen, von der die politische Semantik
zu profitieren vermag. Der Roman wird nach 1933 auch von NS-Organisatio-
nen herausgegeben und ihren Mitgliedern geschenkt; wie sich Christa Wolfs
Nelly erinnert, stand in den Bücherregalen der späten 1930er Jahre Soll und
Haben gleich neben Hans Grimms Volk ohne Raum, beide Bücher dienten
der »Nationalsozialistischen Bildung und Erziehung«. Mit Erfolg.80 Ich sehe
darin ein Indiz für eine Linie, die von Schröters Ausführungen an der pol-
nischen Grenze bis zum Zweiten Weltkrieg zu ziehen ist, ja bis zu Dehios
These von der »meerhaften Weite der eurasischen Tiefebene« aus dem Jahre
1948, welche jede echte »Macht« geradezu »magnetisch« anziehe.81
Kein im ersten Buch des Romans eingeschlagener Nagel ohne Jacke, die
später daran aufgehängt werde, meinte Fontane. Dies bedeutete: Kein festes
Land, das nicht untergeht, keine Wüste, die nicht kultiviert, kein Sumpf,
der nicht trockengelegt würde. Tatsächlich wird der Boden des schlesischen
Rittergutes von jüdischen Händlern deterritorialisiert; und die Wüste der sla-
wischen Sahara wird von einem deutschen Heldengeschlecht kolonisiert. Soll
und Haben inszeniert nicht nur einen grundsätzlichen Gegensatz zwischen
preußischem Land und polnischem Meer, sondern beschreibt auch Dynami-
ken der Auflösung und Aneignung: die Mobilmachung des Bodens und die
Reterritorialisierung der Wüste.
Mit der Mobilisierung meine ich jene Strategie, mit der Ehrenthal und
Itzig die feste Verbindung der Familie des Barons von Rothsattel mit ihrem
Landgut auflösen. Die Rothsattels wohnen seit dem dreißigjährigen Krieg auf
dem wohlbestellten und schuldenfreien Gut, sind mit ihm auf das Engste ver-
bunden. »Stattlich« und »sicher« wirkt alles,82 was der junge Anton auf dem
Boden der Rothsattel sieht. Es scheint undenkbar, diese feste Verbindung zu
kappen. »Jeder Fußtritt des Bodens«, schwärmt die Baronin, gehört in weitem
Umkreis der Familie.83 Der adelige Gutsbesitz wird für Anton zur Allegorie
fester Ortung und Ordnung. »So fest, so edel!«, ruft er aus.84 Nach dieser
Einschätzung des altadeligen Territoriums trifft Anton auf den Juden Veitel
Itzig, dessen erste Worte den festen Boden sogleich verflüssigen, nämlich in
Geld transformieren.85 Für ihn ist es weder edel noch fest, sondern eine Ware.
Soll und Haben setzt Vererbung gegen Verkauf. In Aufsätzen und Reden aus
den Jahren 1933 und 34 hat der Reichsführer der deutschen Bauernschaft
Walther Darré Gustav Freytags Soll und Haben für die Klarheit gelobt, mit
der dort »jüdisch-nomadisches und germanisch-bäuerliches Denken« unter-
schieden werde.86 Deutscher »Grund und Boden«, erläutert Darré, sei »keine
frei veräußerbare Ware«, sondern Erbe der Blutsverwandten.87 Dagegen ver-
möge »ein jüdisches Nomadenrecht in dieser Scholle nichts anderes zu sehen
als eine Ware«, mit der man »gewinnbringend« an der »Börse« handelt.88
Für die geopolitische wie biopolitische Ordnung des Dritten Reiches sei es
entscheidend, »daß der Hof und Acker kein für die Zwecke einer Generation
beliebig verfügbares Kapital, sondern ein Erbe ist«.89 Der »Erbhof ist grund-
sätzlich unveräußerlich und unbelastbar«, zitiert Darré das Reichserbhofge-
setz.90 Der Baron, der sein Erbe belastet und so veräußerbar macht, wäre ein
Verbrecher. Darré beruft sich außer auf Freytag auf Ernst Moritz Arndt, der
1820 an der leicht gewordenen Veräußerbarkeit von »Hufen und Höfen« im
Lande kritisiert, nun werde »selbst das Festeste beweglich und flüchtig« und
jeder tradierten »Ordnung« drohe ihre »Auflösung«,91 eine Bildlichkeit, die
auch Freytag benutzt. »In dem Boden der Erde, worauf der Adel begründet
sein soll, steht das Feste«, schreibt Arndt,92 dieser Boden sei »die eigentlich
bindende und fesselnde Gewalt des Staatsbürgers«.93 Staat und Bürger sind
für Arndt durch Territorialisierung verbunden. Dies galt zumal für »dem auf
unverrücklichem Landbesitz gegründeten Adel«.94
»Es kann dir das alles aneignen; es kann das alles kaufen; es ist das
wahre Vermögen«, hat Karl Marx 1844 über das Geld geschrieben.95 Dies
gilt auch für den Boden. »Du mußt alles, was dein ist, feil, d.h. nützlich
machen«,96 lautet der kapitalistische Auftrag, der dem Baron von jüdischen
Spekulanten souffliert werden wird.97 Damit wird die ›unverrückliche‹ Ver-
bindung der Rothsattel mit ihrem Familiengut mobilisiert. Wenn die deutsche
Geopolitik Volk und Raum als organische Einheit zu sehen beliebt, dann
können wir Itzigs Programm als das genaue Gegenteil bestimmen. Damit
generiert die geopolitische Differenz des Romans ein Stereotyp, das den
Juden und Kapitalisten im Bild des Plutokraten verschmilzt. Daß Veitel, der
zu Beginn des Romans noch als jüdisches Klischee mit krummer Satzstel-
lung und schlechter Haltung geschildert wird, am Ende des Romans von
Anton nicht auf den ersten Blick zu unterscheiden ist, weil bei beiden »ein
vieljähriger vorsichtiger Verkehr mit Menschen und den Interessen des Han-
dels einiges Gleichartiges gegeben« hat,98 ist ein integraler Teil des neuen
Stereotyps. Veitel ist kein »Mann im Kaftan«99 mit »schwarzen Locken«
und »abscheulichem Deutsch«,100 wie Tinkeles, sondern ein Agent mit juri-
stischer Schulung, geschäftsmäßigem Auftritt, »nur noch wenig von einem
eleganten Herrn verschieden.« Er »hatte sich auffallend verändert«, kämmt
sein Haar mit Pomade glatt und trägt gut sitzende schwarze Anzüge,101 war
»ganz Gentleman«.102 Er ist keine »Judenfratze«, keine Stürmer-»Karikatur«,
wie Hans Mayer in der FAZ schrieb. Wie Frank Böckelmann gezeigt hat, ist
jedoch für den verheerenden Antisemitismus im Dritten Reich entscheidend
gewesen, daß die »Juden« nicht als »Träger von jüdischen Nasen, Augen und
Ohren« zu erkennen waren, sondern jeder sich oder den anderen für »jüdisch
kontaminiert« halten konnte.103 Viel wichtiger als Locken und Kaftan ist
also, daß Freytags Erzähler keinen Zweifel daran aufkommen läßt, daß die
Assimilation des Juden Itzig nur der Tarnung dient. Hinter der Fassade des
Geschäftsmanns verbirgt sich das »Böse«.104 Er ist es schon, als er Anton
das Gut des Barons anpreist.
Als Anton mit lebhaftem Interesse zuhörte und dies durch seine Fragen verriet, sagte
Itzig endlich: ›Wenn du willst haben das Gut von diesem Baron, ich will dir’s kau-
fen.‹
›Ich danke‹, antwortete Anton kalt; ›er würde es nicht verkaufen, hast du mir eben
gesagt.‹
›Wenn einer nicht will verkaufen, muß man ihn dazu zwingen‹, rief Itzig.
Karl Marx spricht von der »Fähigkeit des Kapitalisten«, dem »Kapital« eine
solche »Richtung zu geben«, daß es den anderen »zwingt [...] sich allen
Forderungen dieses Kapitalisten zu unterwerfen.«105 Itzig erklärt Anton, es
gebe ein »Rezept, durch das man kann zwingen einen jeden, von dem man
etwas will, auch wenn er nicht will.« Diese Formel habe »Rothschild« zu
Gebote gestanden und sei nun in »Papieren geschrieben«. Er werde sie fin-
den, und »wenn du haben willst das Gut des Barons, und seine Pferde und
Kühe und seinen bunten Vogel, und den Backfisch, seine Tochter, so will
ich dir’s schaffen«.106 Was hier noch nach Märchen klingt, wird zu einem
ernsthaften Plan, wenn Itzig erst beim Advokaten Hippus gelernt hat, mit
Verträgen und Hypotheken genauso virtuos umzugehen wie mit Vertrags- oder
Schuldrecht. Daß Itzig den Namen Rothschilds nennt, ist in diesem Zusam-
menhang einer Mobilisierung des Bodens besonders aufschlußreich. Über
die Rolle des jüdischen Bankhauses in der Auflösung aller Raumordnungen
schreibt nämlich Heinrich Heine:
Da kam Rothschild und zerstörte die Oberherrschaft des Bodens, indem er das Staats-
papierensystem zur höchsten Macht emporhob, dadurch die großen Besitztümer und
Einkünfte mobilisierte und gleichsam das Geld mit den ehemaligen Vorrechten des
Bodens belehnte. Er stiftete freilich dadurch eine neue Aristokratie, aber diese, be-
ruhend auf dem unzuverlässigsten Elemente, auf dem Gelde, kann nimmermehr so
nachhaltig mißwirken wie die ehemalige Aristokratie, die im Boden, in der Erde selber,
wurzelte. Geld ist flüssiger als Wasser.107
Heine schildert hier nicht nur die Rolle »des« Juden an der Verwandlung des
Bodens in Kapital, sondern verbildlicht diesen Prozeß mit der in Soll und
Haben kurrenten Metaphorik von Land und Meer. Der Boden wird mobili-
siert, die alten Wurzeln werden gekappt, die Relation von Eigentümer und
Besitz wird verflüssigt. Itzigs These, daß es eine Zauberformel gebe, um alles
in eine Ware zu verwandeln, wird sich bewahrheiten. »Es kann dir das alles
aneignen«, schrieb Marx über das Geld, es kann den anderen »zwingen«.
Wie schon bei Heine und Marx das Jüdische exemplarisch die Welt des
modernen »Geldsystems«108 repräsentiert, so läßt auch Freytag einen Juden
diese Position vertreten und setzt Rothschild gegen Rothsattel.
Nachdem Itzig bereits angedeutet hat, daß Boden und Herkunft mit Geld
und Papieren mobilisiert werden kann, beginnt die Geschichte der Deterrito-
Genau dies steht dem Baron bevor. Genau diese Auflösung der Raumordnung
perhorresziert Darré. Und wieder ist es die Metapher des Meeres, mit der
Freytag die Deterritorialisierung semantisiert. Am selben Tag, an dem der
junge Veitel behauptet, mit ›Papieren‹ das Landgut von seinen Herren lösen
zu können, zeigt Ehrenthal den Weg dazu auf: das Gut muß in Pfandbriefe
verwandelt werden. Wer diese Papiere hat, wird das Gut besitzen. Es trifft
sich, daß Veitel Itzig ausgerechnet bei Ehrenthal ›das Geschäft‹ lernen soll.
Der Soziologie Georg Simmel hat die geringe »Zirkulationsfähigkeit von
Grund und Boden mit der des Geldes« verglichen und anhand dieser Diffe-
renz die Epoche der Moderne und des Geldes von der älteren Epoche des
Grundbesitzes unterschieden.120
Solange die Gentilverfassung bestand, war ohne weiteres eine unerschütterte Verbin-
dung des Einzelnen mit dem Grund und Boden gegeben. [...] Die Geldwirtschaft trieb
den Boden und den Eigentümer als Person so weit auseinander, daß eine Beschränkung
des vollen Eigen, wie sie in der Hypothek lag, nicht mehr wie früher als eine Dete-
riorierung des Eigentümers empfunden wurde. Die Hypothezierung und der Verkauf
erscheinen nur als die äußersten und allerdings erst durch das Geld möglichen Folgen
jener Trennung zwischen der Person und dem Grund und Boden.121
Was Simmel Deteriorierung nennt, könnte man mit Heine Mobilisierung und
mit Deleuze und Guattari Deterritorialisierung nennen: Die feste, dauerhafte
Bindung des Landes an den Eigentümer, Schmitts »Nomos«, wird monetär
verflüssigt. Ausgestattet mit einem gegen »Hypothezierung« geliehenen Kapi-
tal, investiert der Baron in moderne Fabrikanlagen und einen hochspekula-
tiven Immobilienfond in Polen.122 Sein ererbter Grundbesitz aber wird han-
delbar, denn die Hypothekenscheine gehen »von einer Hand in die andere«,
so daß die »gegenwärtigen Besitzer« unbekannt sind.123 Nur wenige Jahre,
nachdem Anton begeistert das Gut als Muster von Heimat wahrgenommen
hat, überblickt ein ruinierter Baron das Erbe seiner Väter. Während seine halb
errichtete Zuckerrübenfabrik weiter geliehenes Geld verbrennt,124 liest der
Baron in der Zeitung von der Zwangsversteigerung genau der »polnischen
Herrschaft«, in die er mit großen Summen investiert ist.
Wie ein Blitzstrahl traf den Freiherrn die Nachricht. Wenn er sein eigenes Gut belastet
hatte, war ihm die Summe, die auf fremdem Grund ruhte, als die letzte Grundlage
seines Wohlstandes erschienen. [...] Jetzt war auch diese Summe gefährdet, die letzte
Sicherheit war verschwunden, alles um ihn wankte.125
Der Boden bewegt sich, der Baron wankt. Grund und Grundlage, Gut und
Güter sind gefährdet. Bezeichnenderweise erlebt der Baron diese Deterrito-
rialisierung als Überflutung:
das Schloß war ausgestorben, wüst, wie ein Bau aus uralter Zeit, durch geisterhaftes
Licht beleuchtet; – noch wenig Augenblicke, und es mußte verschwinden in dem Bo-
den. Dann konnte das Wasser darüber hinfluten, und die Leute konnten sich erzählen,
daß hier einst ein schönes Schloß war, in dem ein stolzer Baron lebte, das sei aber
lange, lange her.
Der Baron sieht ein »gefallenes Haus, eine untergegangene Familie!«126 Ein
deutsches Rittergut verwandelt sich in ein Meer. »Welle um Welle schlug über
das Haupt des Ertrinkenden.«127 Was Heine, Marx und Simmel als genuin
moderne Differenzierung von Boden und Eigentümer beschrieben haben, wird
bei Freytag zur Überflutung ehemals festen Bodens – und diese Bildlichkeit
macht Karriere. Mitten in Preußen führen moderne Finanzinstrumente in der
Hand jüdischer Experten zu polnischen Verhältnissen. Eine Bonner Disserta-
tion aus dem Jahre 1934 hat den antisemitischen »Instinkt« gelobt, den der
Soll und Haben macht keineswegs Front gegen die Zirkulation von Geld und
Gütern, im Gegenteil, es finden sich zahlreiche »freihändlerisch-liberale«
Passagen.130 Es ist Schröter vorbehalten, ausdrücklich für eine Auflösung
ererbter Bindungen von Blut und Boden einzutreten:
Wo die Kraft aufhört in der Familie oder im einzelnen, da soll auch das Vermögen
aufhören, das Geld soll frei dahinrollen in andere Hände, und die Pflugschar soll über-
gehn in eine andere Hand, welche sie besser zu führen weiß. Und die Familie, welche
im Genusse erschlafft, soll wieder heruntersinken auf den Grund des Volkslebens, um
frisch aufsteigender Kraft Raum zu machen. Jeden, der auf Kosten der freien Bewegung
anderer für sich und seine Nachkommen ein ewiges Privilegium sucht, betrachte ich
als einen Gegner der gesunden Entwicklung unseres Staats.131
Nichts habe auf Dauer Bestand in der »großen Flut der Kapitalien«, was
nicht täglich erhalten und neu erarbeitet werde. Den Untergang Rothsattels
sieht Schröter als Beweis dafür, daß dieser gegen »einen großen Grundsatz
unseres Lebens gesündigt« habe. Die Familie sei schwach und gehe nun
unweigerlich unter. Ihm zu helfen, sei »ungesund«. Schröter argumentiert
hier sozialdarwinistisch.132 »Sehr viele unserer alten eingesessenen Fami-
lien sind dem Untergange verfallen, und es wird kein Unglück für den Staat
sein, wenn sie untergehen«, denn sie leisten nichts, sondern konsumieren
nur.133 »Staat« und »Leben« werden hier integriert in einer »völkischen«
Biopolitik.134 Außerhalb seines »geschützten Milieus« sei der Adel nicht
überlebensfähig, und es sei kein »Unglück, wenn degenerierte Familien bald
untergehen«, referiert Laaths Schröters Position.135 Dieser Widerstreit zwi-
schen der antisemitischen Semantisierung der Loslösung des Landgutes von
Aus der Sicht der Händler Wohlfahrt und Schröter haben die Polen versäumt,
eine soziale, politische, rechtliche und ökonomische Ordnung zu errichten,
die sich mit der deutschen messen könnte. Polen könne nicht den geringsten
Anspruch machen, aus eigener Kraft einen »zivilisierten Staat« zu bilden, es
sei immer ein glatter Raum geblieben. Schröter führt diese zivilisatorische
Insuffizienz umstandslos auf ›völkische‹ Mängel zurück. Er behauptet: »Es
gibt keine Rasse, welche so wenig das Zeug hat, vorwärtszukommen, und
sich durch ihre Kapitalien Menschlichkeit und Bildung zu erwerben, als die
slawische.« Das Äußerste, wozu die Slawen fähig seien, sei die »halbe Bar-
barei der privilegierten Freien und der leibeigenen Arbeiter«.136 Der Barbar
kennt weder Polis noch Polizei.137 Es gibt keine Bürger, also auch keinen
Staat. Die slawische Sahara haben sich die nomadischen Polen nie aneignen
können. Die deutschen Kolonisten dagegen schon:
›Sie haben Gräben gezogen durch das Moor, haben Menschen hingepflanzt in leeres
Gebiet und haben sich ein Geschlecht gezogen, hart, arbeitsam, begehrlich, wie sie
selbst waren. Sie haben einen Staat gebildet aus verkommenen oder zertrümmerten
Stämmen, sie haben mit großem Sinn ihr Haus als Mittelpunkt für viele Millionen
gesetzt und haben aus dem Brei unzähliger nichtiger Souveränitäten eine lebendige
Macht geschaffen.‹138
Fink will nun selbst die ›slawische Sahara‹ germanisieren. Zu diesem Zweck
rekrutiert er deutsche Arbeitssoldaten, hochdisziplinierte Kader, die mit Spa-
ten und Gewehren umzugehen verstehen und uniformiert auftreten wie sonst
nur ein Arbeitsdienst, und beginnt, mit dieser »Armee«140 einen gepachteten
Teil des Gutes urbar und wehrhaft zu machen.141 Wer in Polen siedelt, und
nun klingt Freytag völlig wie Darré, wird »mit der Pfl ugschar in der Hand
hier ein deutscher Soldat sein, der den Grenzstein unserer Sprache und Sitte
weiter hinausrückt gegen unsere Feinde,« immer weiter in Richtung Osten:
»Er wies mit der Hand nach Morgen«142 und gibt so mit einer Geste den
Arbeitssoldaten zeitliche und räumliche Orientierung. Es ist völlig unver-
ständlich, wie man in solchen Formulierungen den Versuch einer »Entwick-
lungshilfe im Sinne einer Assimilierung der Polen an das deutsche Ideal«
sehen kann.143 Es ist keine gemeinsame, sondern exklusiv eine deutsche
Zukunft, die in der Ostkolonisation gesucht wird. Ein Echo dieser Botschaft
Antons liest sich so: Das »neue Reich« werde in »Marsch« gesetzt, »um mit
dem deutschen Schwert dem deutschen Pflug die Scholle« zu geben.144 Sol-
che geopolitischen Formeln verdanken ihre Suggestivität den Fernwirkungen
der deutschen Literatur, weniger den geographischen Wissenschaften.
Fink heiratet Lenore von Rothsattel, ihre Mutter stirbt, der blinde, halb
rührselige, halb senile Baron wird ihr nachfolgen. Der degenerierte Adel,
dessen einzige Sorge es war, zu repräsentieren, ohne zu arbeiten,145 stirbt aus.
Eine neue Generation »von bester Tüchtigkeit« übernimmt die Führung,146
verjagt die »bewaffneten Polacken«,147 entwässert die Sümpfe, zieht Gräben,
bepflanzt die Öde und kanalisiert die Wildbäche.148 Fritz von Fink macht aus
der polnischen »Wüste Wasser und grüne Wiesen«.149 Nachdem das erste
Gut »in Ordnung« gebracht ist, expandiert Fink und erwirbt neuen »mächti-
gen Boden«.150 Über seine Nachbarn bemerkt er: »In dem polnischem Loch
daneben, das sie dort Kreisstadt nennen, fuhr das Schachervolk wie Ameisen
durcheinander, als es erfuhr, daß von jetzt unser Sporn täglich über ihren
Markt klirren soll.«151 Die Raumnahme im Namen eines kommenden Rei-
ches, die Anton eingefordert hat, beginnt. In »der Ostfrage«, schreibt Laaths
über Soll und Haben, rede Freytag »ausschließlich« als »der selbstbewußte,
kampfbereite, nationale Deutsche. Freytags Haltung gegen Polen ist vielleicht
der erfreulichste Teil seines vaterländischen Wollens, weil es hier rein und
ungemindert in Erscheinung tritt.«152 Was hier laut völkischer Expertise ›rein‹
in Erscheinung tritt, ist jene Kombination geopolitischer und biopolitischer
Programme, die die Eroberungs- und Rassepolitik des Nationalsozialismus
auszeichnet. Die slawische Wüste wartet auf die deutschen »Kulturbegrün-
der«,153 die Polen als Nomaden dieser Wüste sind rassisch minderwertig und
müssen als »Urwidersacher« des deutsches Volkes verdrängt werden.154 Mir
scheint, daß sich der Nationalsozialismus hier nicht zu Unrecht eine Tradi-
tionslinie erfindet, die von Soll und Haben zum »Staatsgedanken von Blut
und Boden« führt.155 Denn der vom adeligen Dandy zum Konquistador ver-
wandelte Fink versteht seinen Auftrag geopolitisch und biopolitisch: »Sein
Leben wird ein unaufhörlicher siegreicher Kampf sein [...]; und aus dem
Slawenschloß wird eine Schar kraftvoller Knaben herausspringen, und ein
neues deutsches Geschlecht, dauerhaft an Leib und Seele, wird sich über das
Land verbreiten, ein Geschlecht von Kolonisten und Eroberern.«156 Lebens-
raum bekommt ein Volk eben nicht »vom Himmel geschenkt«, es muß ihn
»durch Lebenseinsatz erkämpfen«. Erst das »siegreiche Schwert«157 mache
den wüsten »Raum im Osten« zu »Grund und Boden, auf dem dereinst
deutsche Bauerngeschlechter kraftvolle Söhne zeugen können.«158 Fink ist
ganz zum Agenten der Territorialisierung geworden, seine Nachkommen wer-
den die Raumnahme der Ostkolonisation fortsetzen und in eine dynamische
Bewegung überführen, die historisch erst am 5. Dezember 1941 vor Moskau
zum Stillstand kommt. Die skizzierte semantische Konfiguration literarischer
Räume wird dagegen noch weitere Texte organisieren.
Obwohl alle technischen Probleme als lösbar gelten, schließt die Online-
Zusammenfassung der Sendung mit einer zentralen Ungewißheit, an der der
Traum des beschleunigten interkontinentalen Reisens zu scheitern droht: »Die
schwierigste Frage ist: Wer finanziert ein solches Jahrtausendprojekt?«1
Auf der Suche nach der Urheberschaft der Vision hätte nun nicht primär
das MIT als Quelle bemüht werden müssen, denn die Wurzeln des Projekts
Transatlantik-Tunnel liegen weniger dort als in Bernhard Kellermanns inter-
nationalem Bestseller Der Tunnel (1913). Sowohl der Plan zum Bau eines
Tunnels im Atlantik als auch das Wissen um seine alleinige Gefährdung durch
Finanzierungsfragen sind eng mit dem Diskurs der literarischen Moderne
verbunden, wenn auch Daten, wie die Reisegeschwindigkeit etwa, verändert
wurden. Auch dieser Ursprung ist natürlich selbst ein Konglomerat aus ver-
schiedenen Diskursen, beobachtet durch die Literatur. Diese Beobachtungen
umschließen sowohl technische Utopien des 19. Jahrhunderts, wie den in
1 http://www.weltderwunder.de/archiv/2004/04wdw/Technik/Hightech/TransatlantikTun-
nel/ (26.07.04)
480 Torsten Hahn
I. Tunnel
2 Eine der wenigen Interpretationen des Romans liefert; Segeberg, Harro: Literarische
Technik-Bilder. Studien zum Verhältnis von Technik- und Literaturgeschichte im 19.
und frühen 20. Jahrhundert. Tübingen 1987, S. 173–208.
Tunnel und Damm als Medien des Weltverkehrs 481
Der Tunnel sollte hundert Kilometer südlich von New York von der Küste New Jer-
seys ausgehen, die Bermudas und Azoren und Nordspanien berühren und an der bis-
kayischen Küste Frankreichs emporsteigen. Die beiden ozeanischen Stationen, die
Bermudas und Azoren, waren vom technischen Standpunkt aus unentbehrlich. Denn
mit ihnen, zusammen mit der amerikanischen und den zwei europäischen, waren fünf
Angriffsstellen für die Tunnelstollen gegeben. Ferner waren die ozeanischen Statio-
nen für die Rentabilität des Tunnels von größter Bedeutung. Die Bermudas würden
den gesamten Personenverkehr und die Post des mexikanischen Beckens, Westindi-
ens, Zentralamerikas und des Panamakanals aufsaugen. Die Azoren den gesamten
Verkehr Südamerikas und Afrikas an sich reißen. Die ozeanischen Stationen würden
Angelpunkte des Weltverkehrs werden von der Bedeutung New Yorks und Londons.
Es war ohne jeden Kommentar einleuchtend, welche Rolle die amerikanische und die
europäischen Stationen in Zukunft auf dem Erdball spielen würden!3
Der Tunnel wird die Verteilung von Zentren auf dem Globus revolutionie-
ren, besonders die Bermudas und die Azoren werden zu Schaltstellen des
Weltverkehrs.4 Was hier modifiziert wird, ist – in der Sprache der Geopoli-
tik – das Vorzeichen der »geophysische[n] Lage«5 der Regionen. Einerseits
werden Regionen mit zuvor sekundärer beziehungsweise erst aufstrebender
Lage zu Zentren des Weltverkehrs erklärt, andererseits wird durch den Ver-
kehr die Möglichkeit zu neuer Unionsbildung geschaffen. Allans Projekt soll
»eine neue Epoche in den Beziehungen zwischen der Alten und Neuen Welt«
(S. 34) eröffnen, und zudem »Amerika und Europa verbrüdern«, um »zwei
Welten, zwei Kulturen« (S. 251) zu vermitteln. Die Erfindung des Ingenieurs
entscheidet also, einmal ausgeführt, autonom den politischen Konflikt, der in
den Spannungsbegriffen Isolationismus und Internationalismus sedimentiert
ist und die politische Kultur der USA vom Ende des 19. Jahrhunderts bis
zum Ende des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts bestimmt.
Diese Problematik kann der Roman aber ebenso ignorieren wie die Folge-
kosten für das British Empire, das sich, in der wirklichen Welt, aufgrund von
Risikokommunikation dem Tunnel unter dem Ärmelkanal lange widersetzt
3 Kellermann, Bernhard: Der Tunnel. Frankfurt a.M. 1913, S. 57. Zitate aus dieser Aus-
gabe werden im Folgenden direkt im Text nachgewiesen.
4 Die Erscheinungsweise des Globus überhaupt wird sich ändern, denn Mac Allans
Projekt impliziert auch Neulandgewinnung gigantischen Ausmaßes: »Täglich spien
die Stollen viertausend Waggons Gestein nach Azora und dreitausend Waggons nach
Bermuda aus. Enorme Terrains waren geschaffen worden. Klippen, Sandbänke, Un-
tiefen, Inseln zu einem Kontinent zusammengeschweißt. Es war vollkommen neues
Land, das Allan geschaffen hatte.« (S. 385)
5 Vgl. dazu Hennig, Richard/Körholz, Leo: Einführung in die Geopolitik. Leipzig/Ber-
lin 1933, S. 66: »Unter der geophysischen Lage versteht man in der Geopolitik die
zufällige Gunst oder Ungunst der Lage eines Landes zu den beherrschenden Haupt-
verkehrslinien des Zeitalters. Diese Lage ist deshalb von größter politischer Bedeu-
tung, weil der erhöhte Anteil am Welthandel und Verkehr, den eine gute geophysische
Lage bedingt, dem betreffenden Lande naturgemäß materielle Güter und Reichtümer
zuführt [...].«
482 Torsten Hahn
6 So ruft die geplante Verbindung Europas und Afrikas durch einen Tunnel bei Gibraltar
bereits im Vorfeld eine Diskussion sowohl um die Finanzierbarkeit als auch um die
wahrscheinliche politische Blockade hervor, da eine solche Landverbindung vehement
die Interessen des Empire stören würde. Vgl. dazu Hummel, Hans/Siewert, Wulf:
Der Mittelmeerraum. Zur Geopolitik eines maritimen Grossraumes. Heidelberg/Berlin
1936, S. 158f. Diese Pläne werden auch Kellermann bekannt. Dieser publiziert 1943
einen Aufsatz mit dem Titel »Phantastische Verkehrswege«, der sowohl dieses Projekt
der Untertunnelung einer strategisch wichtigen Meerstraße als auch die eines Tunnels
unter der Straße von Korea enthält. Vgl. dazu Kellermann, Bernhard: »Phantastische
Verkehrswege«. In: Velhagen und Klasings Monatshefte 58 (1943/44), S. 25–30. Auf
die Publikation verweist Segeberg (s. Anm. 2), S. 201.
7 Vgl. zur Verhinderung des schon Anfang des 19. Jahrhunderts diskutierten und schließ-
lich 1994 von Queen Elizabeth und Präsident Mitterand offiziell unter dem Namen
Eurotunnel eröffneten Tunnels, Wilson, Keith: Channel Tunnel Visions. Dreams and
Nightmares. London/Rio Grande 1994. Dort finden sich auch eine auf ca. 1801 da-
tierende Karikatur zu britischen Ängsten vor einer Invasion durch den untertunnelten
Kanal.
8 Diese Kabel sind um 1913 zu noch mehr als 50 Prozent in britischer Hand, wenn in
der Zeit bis 1914 andere Nationen auch substantiell aufgeholt haben. Vgl. dazu zusam-
menfassend Boyce, Robert: »Submarine Cables as a Factor in Britain’s Ascendency
as a World Power, 1850–1914«. In: North, Michael (Hg.): Kommunikationsrevolu-
tionen. Die neuen Medien des 16. und 19. Jahrhunderts. Köln/Weimar/Wien 22001,
S. 81–99.
Tunnel und Damm als Medien des Weltverkehrs 483
von Seekabeln eingeschlagen hatte. Vor allem die Azoren drohten ein neues
Kommunikationszentrum im Weltverkehr zu werden, was – so die Sicht der
Behörde – den Rang Londons gefährdete. Um 1900 hat Deutschland sich
dann gerade die Kommunikationslinie über die Azoren gesichert.9 Tatsächlich
ist auch das erste, was den neuen Tunnel des Romans via Azoren passiert,
die »submarine pneumatische Expreßpost« (S. 394).
Politik im Sinne von Kämpfen um Macht und Hegemonie ist aber keine
Sphäre, die innerhalb der Literatur der Technik etwas entgegenzusetzen hätte.
In der fiktiven Welt interessieren Staaten und Regierungen nur als poten-
tielle Geldgeber, die sich – aus Gründen der Sparsamkeit – auch für das
Nicht-Investieren entscheiden können, und insofern auf kontingenter Basis
operieren. Dieser Kontingenz soll durch Zwang begegnet werden. Im Sinne
dieses Ausschließlichkeitsanspruchs der Ökonomie ist dem Roman also die
Perspektive, mit der er Amerika beschreibt, »wo alles Busineß war und nur
Busineß [sic!]« (S. 35), selbst eigen. Wirtschaft und Verkehr sind zentrale
Momente, die die Politik längst überholt haben, diese kann nur noch die
Effekte zeremoniell beglaubigen, die die Verkehrstechnik geschaffen hat – ein
typisch geopolitischer Gedanke erscheint hier als literarische Kommunika-
tion.10 Kellermanns Roman ist also ein durchaus ›geopolitisiertes‹ Exemplar
der Gattung.
Der Atlantik-Tunnel bedarf nun so immenser Summen, daß der Busi-
ness-Gedanke seine volle Überlegenheit über die Politik ausspielen muß.
Zur Verwirklichung seines Ziels faßt Mac Allan den Plan, auf den globalen
Aktienhandel zurückzugreifen: Dann würden »[d]ie einzelnen Regierungen
[...] gezwungen sein, ihre Zustimmung zum Tunnelbau zu erteilen, ja er, Mac
Allan, würde sie zwingen, die Papiere des Tunnel-Syndikats an ihren Bör-
sen zuzulassen – wenn anders sie nicht gesonnen waren, ihre Industrien um
Tausende von Millionen zu schädigen.« (S. 57) Der Plan läuft also über die
Störung der Systemautonomie. Zu diesem Zweck mobilisiert Allan zunächst
die »Häuptlinge des Kapitals« (S. 48), um dann auf den Inklusionssog der
Börse zu setzen. Die auf dem Dach eines Hotels in New York versammelten
wirtschaftlichen Potentaten gilt es zunächst zu überzeugen, damit genügend
Grundkapital vorhanden ist. Dabei kommt es zu einer Beschreibung, die
eben jene Kopplung von Systemkommunikation mit der Form der Kunst
vorführt, die später zum Erfolgskonzept der Geopolitik werden soll. Der
Roman ist also insofern der politischen Wissenschaft vom Raum voraus, in
ihm sind bereits die Möglichkeiten präsent, die die geopolitische Diskussion
bestimmen werden.11 Daß der Roman hier vorgreifen kann bzw. ein Modell
von partieller Systemstörung und Hyper-Inklusion durch Ästhetisierung der
Systemkommunikation vorlegt, das Karriere machen wird, liegt nicht daran,
daß der Literatur prophetische oder visionäre Gaben zukommen würden.12
Seine Vermittlung erfährt das Modell über ein Diskurssegment, das selbst
ein Dauergrenzgänger zwischen Wissenschaft und Fiktion ist, und das auf
Popularisierung der ›ernsten‹13 Systemkommunikation drängt: die Masse.
Dieser werden eigene Rezeptionsweisen zugesprochen, die sich gerade über
die kartographische Darstellung der Welt in der Welt ansteuern lassen, was
im Folgenden dargestellt werden soll. Zu diesem Zweck ist aber zunächst
die funktionale Dimension von Kunst im Roman zu klären.
Den wesentliche Teil der Überzeugungsarbeit kann Mac Allan weder
wissenschaftlichen noch ökonomischen Ausführungen überlassen; die »Gut-
achten von Ingenieuren, Geologen, Ozeanographen, Statistikern, Finanzgrö-
ßen aus New York, Boston, Paris, London, Berlin« (S. 61) werden erst am
Schluß zusammengedrängt verlesen, als die eigentliche Schwierigkeit bereits
überwunden ist. Dies resultiert aus einer Uneindeutigkeit des geforderten
Kommunikationstyps, denn während wirtschaftszentrierte Kommunikation ja
weder erbauend/nicht-erbauend, gläubig/ungläubig, weder wahr/falsch noch
im Normalfall stimmig/nichtstimmig beziehungsweise interessant/langweilig
11 Die geschichtlichen Vorgriffe des Romans, d.h. die Beschreibungen, die kurze Zeit
nach seinem Erscheinen die Grenze von aktuell/potentiell kreuzen, beschreibt Segeberg
hinsichtlich des Fordismus, der Stoßtrupp-Organisation der Arbeiter, die eine Unter-
scheidung von Massenheer und Elite einführt, die im Zweiten Weltkrieg zentral wird,
und der Inszenierung eines Ingenieur-Typus, der in der Technik-Debatte bestimmend
wird. Vgl. Segeberg (s. Anm. 2), S. 192–194, S. 198 u. S. 204f.
12 Was Literatur gerade in bezug auf politische Szenarien immer wieder zugeschrieben
wird. Vgl. für eine Analyse des Phänomens, die auch auf den Import kunstförmiger
Kommunikation in politisch-militärische Systemzusammenhänge eingeht: Pethes, Ni-
colas: »›Thinking Ahead‹. Fiction as Prediction in Popular Scripts on Political Sce-
narios«. In: Soziale Systeme 9, H. 2 (2003), S. 272–284.
13 Luhmanns Beobachtungsperspektive favorisiert die »ernste, bewahrenswerte Kom-
munikation« (Luhmann, Niklas: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur
Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Bd. 1. Frankfurt a.M. 1980, S. 19);
im Gegensatz dazu soll in vorliegendem Aufsatz die andere Seite dieser ›seriösen‹
Kommunikation untersucht werden.
Tunnel und Damm als Medien des Weltverkehrs 485
Damit die Codierung der Kunst samt ihrer Funktion innerhalb der nach
Funktionssystemen ausdifferenzierten Gesellschaft zum Kopplungsfavoriten
ökonomischer Kommunikation werden kann, muß das, was generell unter
diesem Code läuft, entdifferenziert werden. Dies unternimmt der Roman dann
auch. So beginnt die Erzählung mit einem Konzert, allerdings ist dieses nur
Beiwerk: Sowohl Mac Allan als auch die weiteren Besucher nutzen es nur
als einen Ort der Zusammenkunft, der den Abschluß von Geschäften ermög-
licht oder Repräsentationspflichten folgt. In den Logen wird vor allem an
der Unterscheidung kaufen/nicht-kaufen orientierte Kommunikation gepflegt.
Während des Adagio tönt es aus der Loge neben Mac Allan: »›... zwan-
zig Prozent Dividende, Mann! Es ist ein Geschäft, wie es glänzender ...‹«
(S. 14). Das Erscheinen des Bankiers Lloyd, »dem mächtigsten Mann der
Vereinigten Staaten und einem der reichsten Männer der Welt« (S. 11), der
Mac Allans erster Partner wird und der weitere Investoren anlockt, erzeugt
einen sofortigen Bruch der »Hypnose der Musik« (S. 27) zugunsten eines
Stimmengewirrs über Spekulation, Diamanten, Camps und Erfolgsgeschich-
ten (S. 28f.), dem sich ankündigenden neuen Medium des Interessanten. Es
ist eben alles Business.
Zumindest die an Aufführung gebundene Kunst – in diesem Falle das
Konzert – fällt damit hinter den Bruch zurück, der das 18. Jahrhundert kenn-
zeichnet und unter dem Stichwort der Autonomisierung des Kunstsystems
angeschrieben wird. Sie ist hier Anlaß zu wirtschaftlichen Unterhandlungen,
d.h. ein Ort der Bildung von anderweitig interessierten Interaktionssystemen,
was die Grenzen von System und Umwelt verwischt. Der global agierende
Mensch, hier im Ingenieur Mac Allan verkörpert, hat »gar kein Verständnis«
(S. 11) für die Musik, was ihn interessiert, ist höchstens die »maschinelle
14 In diesem Fall den Systemen Religion, Wissenschaft und Kunst. Die binäre Codierung
der Kunst ist dabei bekanntlich insofern ein besonderer Fall, als hier mehrere Vor-
schläge konkurrieren. Vgl. zu stimmig/nichtstimmig Luhmann, Niklas: Die Kunst der
Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1995, S. 190f. und S. 366; vgl. zu interessant/langweilig
Plumpe, Gerhard/Werber, Niels: »Literatur ist codierbar. Aspekte einer systemtheore-
tischen Literaturwissenschaft«. In: Schmidt, Siegfried J. (Hg.): Literaturwissenschaft
und Systemtheorie. Positionen, Kontroversen, Perspektiven. Opladen 1993, S. 9–43.
486 Torsten Hahn
Exaktheit, mit der das Orchester arbeitete.« 15 (S. 13) Diese Entdifferenzie-
rung der Kunst im Sinne autonomer Kommunikation dient nicht nur der
Charakterisierung der modernen Ingenieursnatur, sondern läßt kunstförmige
Kommunikation zu einer Transversale werden, die alle anderen Systeme
– hier die Wirtschaft der Gesellschaft – passieren kann.
Den dramaturgischen Höhepunkt der ästhetischen Inszenierung vor kapi-
talstarkem Publikum auf dem Hoteldach, der der oben wiedergegeben Ein-
schätzung, daß Mac Allans Projekt interessant sei, vorausgeht, besetzt ein
höchst unscheinbarer Akt.
Allan [zog] ein Stück Kreide aus der weiten Hosentasche und warf zwei Linien auf
die Tafel, die hinter ihm stand. Das sei Amerika und das sei Europa! Er verpflichte
sich, im Zeitraum von fünfzehn Jahren einen submarinen Tunnel zu bauen, der die
beiden Kontinente verbinde, und Züge in vierundzwanzig Stunden von Amerika nach
Europa zu rennen! Das sei sein Projekt. (S. 55)
Zwei Linien und eine dunkle Tafel also, die keinen weiteren Strich auf-
weist, sondern durch ihre Grundfarbe die Lücke offenkundig werden läßt,
die Kontinente und Kulturen trennt. Hier von einer Karte zu sprechen, die
um kunstförmige Kommunikation bereichert ist, mag auf den ersten Blick
als haltlose Übertreibung erscheinen. Diese Form der Darstellung entspricht
aber eben genau der Repräsentation des Globalen, die die Geopolitik in den
Zwanziger Jahren als »Suggestivkarte« favorisieren wird, wenn auch bereits
in einer so radikal formalisierten Variante, die, so könnte man sagen, die
Moderne der Klassik dieses Kartentyps vorausgehen läßt. Im Rahmen der
geopolitischen Kommunikation soll diese Art von Karte, so ein Beitrag zum
Thema im Rahmen der Zeitschrift für Geopolitik von 1935, also über zwanzig
Jahre nach Kellermanns Tunnel, »ihre Aufgabe in der Gestaltung einer ins
Schlagwortartige übersetzenden Abstraktion suchen [...].«16 Weiterhin läßt
sich der »Weg zur Verwirklichung der ›suggestiven‹ Karte‹« durch folgen-
den Satz bestimmen: »Konzentration des Ausdrucks durch weise Beschrän-
kung und künstlerische Formgebung!«17 Durch nichts anderes überzeugt
die Karte des Romans, wenn auch die Radikalität ihres Ausdrucks wahr-
scheinlich inkongruent zum Kunstverständnis des zitierten A. Hillen Ziegfeld
ist.
Ebensolche Gedanken formuliert aber auch der Neugründer deutscher
Geopolitik Karl Haushofer, was zeigt, welchen zentralen Stellenwert die
Problematik innerhalb der geopolitischen Kommunikation einnimmt. Der
Roman geht hier den Lehren Haushofers voraus; Haushofers Übernahme des
15 Vgl. zur Beobachtung der Kunst im Roman Segeberg (s. Anm. 2), S. 187f.
16 Ziegfeld, A. Hillen: »Kartengestaltung – ein Sport oder eine Waffe?«. In: Zeitschrift
für Geopolitik 12, H. 4 (1935), S. 243–247, hier S. 244.
17 Ziegfeld (s. Anm. 16), S. 245.
Tunnel und Damm als Medien des Weltverkehrs 487
Codes der Kunst, der für die Geopolitik überhaupt verbindlich sein soll,18
ist nur der Klartext einer Revolutionierung der Formensprache, die zunächst
literarisch festgeschrieben wird. Auch Haushofer reklamiert in aller Deutlich-
keit die Codierung der Kunst für sein Unternehmen, wenn er eine »gewisse
Flüssigkeit der Darstellung [...], sobald Massenwirkung angestrebt wird«, für
unumgehbar erklärt. Denn: »Wissenschaftliche Geopolitik mag hie und da
schwer lesbar sein, wenn sie den Gehalt von Seiten auf Zeilen zusammen-
drängen und im Telegrammstil fassen muß; aber sie darf nie langweilig sein
wie rein wissenschaftliche Bücher, weil sie sonst die Machtmenschen, auf die
es für ihre Praxis ankommt, nicht erreicht und fesselt.«19 Auch hier also der
Bezug auf die Codierung der Kunst, die den wissenschaftlichen Charakter,
dem die Karte verpflichtet sein soll, das heißt die Form wahr/falsch, unter-
läuft. Die Frage nach der wissenschaftlichen Genauigkeit, die das problema-
tische Verhältnis des für die Geopolitik zentralen Mediums ›Suggestivkarte‹
zur Objektivität, der ja gerade die Geographie als Wissenschaft verpflichtet
sein soll, impliziert, wird durch Verweis auf die zu bewältigende Kontingenz
geklärt: »[D]er Kartenzeichner muß ja immer ›auswählen‹, bei jedem Strich
und jedem Farbenton Zufälligkeiten überwinden [...].«20 Dies entspricht nun,
folgt man Niklas Luhmanns Ausführungen zur Kunst der Gesellschaft, der
Systemprogrammatik exakt. Aus kontingenten Entscheidungen entsteht ein
notwendig beziehungsweise natürlich scheinendes Gefüge; es ist erst die
Beobachtung zweiter Ordnung, die die Unwahrscheinlichkeit wieder her-
vorhebt.21 Eine auf Wirkung verpflichtete Kunst, so läßt sich jetzt sagen,
ist hier mehr als ein Kopplungsfavorit, sie wirkt im Sinne eines symbolisch
generalisierten Kommunikationsmediums, das die Unwahrscheinlichkeit der
Anschlußkommunikation beziehungsweise die Unwahrscheinlichkeit, daß
kontingente Unterscheidungen übernommen werden, reduziert – im Roman
allerdings zugunsten ökonomischer Kommunikation.
18 Haushofer läßt keinen Zweifel daran, daß Geopolitik eine Chimäre zweier Kommu-
nikationsformen ist: »Das Ziel, dem die Geopolitik zustrebt, ist allerdings ebensosehr
Kunst wie Wissenschaft, zum mindesten Kunsthandwerk.« Haushofer, Karl: Geopo-
litik des Pazifi schen Ozeans. Studien über die Wechselbeziehungen zwischen Geogra-
phie und Geschichte. 3. erg. Auflage. Heidelberg/Berlin 1938, S. 13. Geopolitik soll
eine ›third culture‹ sein, welche die strikte Unterscheidung von Geist und Technik
vermittelt. Ihre Daseinsberechtigung erfährt die der »nun einmal doppelgesichtigen
Wissenschaft der Erdkunde« verpflichtete Geopolitik »an der Fuge zwischen Natur-
und Geisteswissenschaften, die sie überbrückt.« Ebd., S. 14.
19 Haushofer, Karl: »Grundlagen, Wesen und Ziele der Geopolitik« [1927]. In: Haushofer,
Karl/Obst, Erich/Lautensach, Hermann/Maul, Otto: Bausteine zur Geopolitik. Berlin:
1928, S. 29–48, hier S. 38.
20 Haushofer, Karl: »Die suggestive Karte«. In: Haushofer, Karl u.a. (s. Anm. 19), S. 343–
348, hier S. 346.
21 Vgl. dazu Luhmann (s. Anm. 14), S. 103f.
488 Torsten Hahn
All dies wird nötig, da die Zeit von einem Phantasma des Sozialen
beherrscht ist: der Masse. Es sind wiederum Haushofer und der Roman,
die dies verkünden. Erster endet seinen Aufsatz »Die suggestive Karte« mit
einem Aufruf: »Wenn die Masse schon einmal zur Vorherrschaft gelangt ist:
– ›Let us educate our masters!‹ sagt der Brite.«22 Letzterer nutzt die globale
Masse für sein Projekt, die Neutralisierung von Systemgrenzen zugunsten
technischer Großprojekte darzustellen. Denn worum es letztlich geht, ist die
Anziehung des »Geld[es] der ganzen Welt« (S. 58). Was auch gelingt: »Zuerst
floß das Geld des ›kleinen Mannes‹ nur spärlich, dann aber in Strömen.«
(S. 121) Das Volk kauft Aktien und Shares – und dies wie hypnotisiert, was
seine Transformation in die Masse anzeigt – wie ja auch die wirtschaftli-
chen masters von der fesselnden Darstellungstechnik überzeugt werden und
insofern der Wirkung eines Kommunikationsmediums, also einer suggestiven
Adressierung erliegen und d.h.: selbst Masse sind. Die Ausgabe der »›Tun-
nel-Shares‹« wird zum Tumult:
An manchen Tagen war der Andrang so groß, daß die Beamten gar nicht die Zeit hat-
ten, das einkassierte Geld zu ordnen. [...] Die Beamten warfen das Geld einfach hinter
sich auf den Boden. Sie wateten bis an die Knöchel im Geld, und unaufhörlich waren
Diener beschäftigt, das Geld in Waschkörben wegzuschleppen. Diese Flut von Geld,
die nicht abnahm, sondern stetig wuchs, zauberte einen Glanz wahnsinniger Gier in
die Augen der Köpfe, die sich in die Schalter zwängten. Eine Handvoll – soviel als
sie mit einer Hand packen konnten! [...] Schwindlig im Hirn wie nach Ausschwei-
fungen gingen sie weg, berauscht von Träumen, Fieber in den Augen; wie Millionäre.
(S. 122f.)
An dieser Stelle zeigt sich, was Vollinklusion und den Universalismus sozialer
Systeme ausmacht und inwiefern sich ein Funktionselement in der ›Wirtschaft
der Literatur‹ ausprägt, das zur Systembeschreibung relevant werden wird.
Zur Bestimmung dieses Funktionselements hat Urs Stäheli vorgeschlagen,
den Begriff des Populären (the Popular) in die Systemtheorie einzuführen:
Am Beispiel der auf die Börse fokussierten Kommunikation läßt sich, auch
für den Umbruch vom 19. zum 20. Jahrhundert, zeigen, wie Inklusion im
Wirtschaftssystem auf zwei Modi des Populären angewiesen ist: »seduction
and ›undue‹ over-universalization‹«23 Dieser Zug erzeugt zugleich eine Über-
S. 283. Vgl. auch S. 280: »[T]he popular semantics does not directly correspond to
functional differentiation; rather, it indicates the possibility of dedifferentiation.«
24 Vgl. Stäheli (s. Anm. 23), S. 116f.
25 Vgl. Stäheli (s. Anm. 23), S. 293: »The Popular […] is marked by its fascination by an
›Other‹ of the system which is constructed as ›prior‹ to the system, like masses which
have to be worked on by the techniques of mass psychology. The masses, imagined as
a failure to make a difference, have to become a difference in the political system.«
490 Torsten Hahn
gewaltiger als alle Epen des Altertums.«26 (S. 173) Kulminationspunkt des
Populären ist dann aber Mac Allan: er ist »populär« (S. 184), da sich über
ihn Geschichten erzählen lassen und er selbst jenes ›Singen und Sagen‹
stimuliert, das die Hervorbringung des Epos kennzeichnen soll.27 Und auch
im weiteren Verlauf konzentriert Mac Allan mehr und mehr »Popularität«
(S. 184) auf sich.
Die Funktionsstelle des Populären erzeugt nun aber ebensoviel destrukti-
ves Potential wie erwünschte Effekte. Denn die Vollinklusion ruft die Masse
auf den Plan, die diskursiv eben auch als impulsiv und unberechenbar vorge-
formt ist. Den Effekten, die von diesen Zügen hervorgebracht werden, droht
Mac Allans Projekt zunächst zu erliegen. Es ist wenig verwunderlich, daß
die Romanhandlung von der Darstellung des Inklusionssoges der Börse zur
Beschreibung von »Massenwahnsinn« (S. 224) und »Massenangst« (S. 247)
wechselt, die schließlich den Zusammenbruch des Marktes zur Folge haben.
Aus der erwünschten massenhaften Spekulation war »Spekulationswut«
(S. 314) geworden, die Vollinklusion rächt sich auf dem Höhepunkt der Krise:
Der globale »Finanzkörper« ist der sich epidemisch über die Kontinente ver-
breitenden »Panik« (S. 314) nicht gewachsen. Das Beschreibungsvokabular
von Mob und Massenhysterie entspricht den späteren Beobachtungen des
Crashs von 1929. Die Beschreibungsform dieses »›horror of inclusion‹«,28
der das System seine Rationalität verlieren läßt, stand aber bereits vorher
– zumindest als literarische Fremdbeschreibung – bereit.
Als die Arbeiten am Tunnel dann wieder aufgenommen werden, das »Geld
des Volkes« erst langsam, dann wieder schneller zurückkommt, und die »Tun-
nelaktien« wieder »um zwanzig Prozent« (S. 383) steigen, tritt ein anderes
Moment hinzu, das in den geopolitischen Gegensatz von Land und Meer
eingreift und die strikte Opposition auflöst: der Luftverkehr. Dieser beginnt,
sich zu einem eigenen Luftverkehrsnetz auszubilden. So liegt der Plan, »eine
regelmäßige Luftschiffverbindung ein[zu]richten« (S. 360) in Deutschland
26 Schließlich, als ›man‹ »exaltiert und sogar poetisch« wird, wird Mac Allan selbst
bescheinigt, »das Epos vom Eisen und der Elektrizität gedichtet« zu haben (S. 398).
Vgl. zum Ende des Epos die Einschätzung bei Hegel, Georg W.F.: Vorlesungen über
die Ästhetik III. Werke Bd. 15. Frankfurt a.M. 1986, S. 341. Vgl. zu Marx Rede vom
Ende des Epos Marx, Karl: »Einleitung zur Kritik der Politischen Ökonomie«. In:
ders./Friedrich Engels: Werke. Bd. 13. Berlin 1978, S. 615–642, hier S. 641. Vgl.
zum Epos im Rahmen der Modernisierung Christians, Heiko: Der Traum vom Epos.
Romankritik und politische Poetik in Deutschland (1750–2000). Freiburg i.Br. 2004.
27 Gerade das »Singen und Sagen« bestimmt Marx als verlorene Grundlage des Epos;
vgl. Marx, Einleitung (s. Anm. 26), S. 641: »Hört das Singen und Sagen [...] mit dem
Preßbengel nicht notwendig auf [...]?« Ein Held des Industriezeitalters wie Mac Allan
ruft aber gerade »Volkssänger« (S. 102) hervor, die sein Leben und seine Taten be-
singen, wie auch in den Arbeitsmannschaften, den »Rotten« (S. 183), ein »Lied vom
Mac« (S. 183) entsteht.
28 Stäheli (s. Anm. 23), S. 115. Zu Epidemie und Ansteckung S. 120f.
Tunnel und Damm als Medien des Weltverkehrs 491
29 Z.B. empfängt Mac Allans späterer Konkurrent »täglich ungezählte drahtlose Tele-
gramme, die durch die Luft gehen« (S. 286).
30 Der ›Luftraum‹ ist vor allem eine ›Glättung‹ der Karte; Differenzen, die zuvor ent-
scheidend waren, verlieren durch die Hinzufügung der dritten Dimension an Wich-
tigkeit. Vgl. für die Geopolitik etwa Siewert, Wulf: »Flugzeug und Erdraum«. In:
Zeitschrift für Geopolitik 12, H. 8 (1935), S. 508–516, hier S. 508: »Mit der Erfindung
des Flugzeugs ist ein neues Element in die Geschichte der Menschheit einbezogen
worden, das nicht ohne umwälzenden Einfluß auf unsere Raum- und Zeitvorstellung
blieb. Die veränderte Raumvorstellung kommt schon in dem Wort ›Luftraum‹ zum
Ausdruck, das noch nicht lange zu unserem Sprachschatz gehört und das zu einem
flächenhaften Erdraum gehörige Luftgebiet bezeichnet. Das ist also ein Übergehen zur
dritten Dimension und zur plastischen Raumvorstellung.« Zur ›Glättung‹ der Karte
s. S. 510: »Gerade über langen Strecken zeigen Luftschiff und Flieger ihre große
Überlegenheit über den Erdenverkehr. [...] Wüsten, die meistens Landeplätze bieten,
sind heute ebenfalls kein Hindernis mehr. Die Sahara wird ebenso überflogen wie die
Kalahari.« Vgl. dazu auch die Beobachtungen bei Schmitt, Carl: Land und Meer. Eine
weltgeschichtliche Betrachtung [1942]. Stuttgart 2001, S. 104f.
492 Torsten Hahn
wenn die Stollen alle doppelt ausgebaut sein werden, achtzig bis hunderttausend [sic!].
In hundert Jahren wird der Tunnel den Verkehr nicht mehr bewältigen können. Es wird
die Aufgabe des Syndikats sein, bis dahin Parallelstollen zu bauen, die relativ leicht
und billig herzustellen sein werden. (S. 394f.)
Dem globalen Verkehr von Waren und Nachrichten fügt der Roman das trans-
portable Volk hinzu. Was hier als demokratische Variante ausgegeben wird, ist
tatsächlich jener unauflösbaren Verbindung von Verkehrstechnik und Kapita-
lismus geschuldet, die Allans Handeln bestimmt. Denn das Volk/die Masse ist
tatsächlich von nur geringem Wert, an den Arbeitern interessiert die Leistung,
d.h. sie werden im Zuge einer »bis ins minimale gehende[n] Arbeitsteilung«
als einzelne »Funktionen« erfaßt, die dann »jahraus, jahrein«31 (S. 159) zu
verrichten sind. Das Volk ist dabei zudem immer schon als potentiell aufstän-
dische Masse bestimmt, die nur durch Gewalt niedergehalten werden kann
– und ersetzbar ist. So zeigt sich bei der »Katastrophe« im Stollen, »daß
alle Ingenieure mit Revolvern ausgerüstet« sind (S. 202), und nicht zögern,
mit diesen auf Meutereien der Arbeitsmannschaften, die schon aufgrund der
Arbeitsleistung wahrscheinlich sind, zu reagieren.
Das Volk ist die potentielle Masse und diese ist ein Unsicherheitsfaktor;
der »Einwanderer«, dem der Tunnel gehören soll, ist eine leicht ersetzbare
Größe. Die Massen von geringem Wert sollen vor allem beweglich sein:
Dies verweist auf die Bestimmung des Verkehrs und seiner Medien, die Paul
Virilio zum Kern der »dromokratische[n] Gesellschaft« erklärt hat. Es geht
dabei um die Ausdehnung des Kolonialismus auf die gesamte Gesellschaft.
Der Sklave aus den Kolonien interessiert in erster Linie als »ein Gut, das
fortbewegt werden kann, seine legale Existenz war einzig und allein eine
Funktion seiner Eigenschaft zur Beweglichkeit und seiner Eigenschaft zum
Transport.«32 Die »Botschaft« des Mediums ist innerhalb der Raumrevolu-
tion durch Beschleunigung sekundär, was interessiert ist das »Vehikel«33.
Es ist, so Virilio zur Verallgemeinerung der kolonialistischen Praxis in der
modernen Gesellschaft, »nicht der Konsumartikel, der den Markt« schafft,
»sondern der Vektor seiner Liefermöglichkeit«34.
Mit diesem Gefälle von Wertigkeiten und der Vorherrschaft des Vektors,
der sich auf Karten eintragen läßt, schreibt sich zugleich eine strukturelle
Potentialisierung in die Karte des Weltverkehrs ein. Aus dieser Potentialisie-
rung resultiert aber auch ein Funktionsmoment von Literatur, die ja gerade
auf der Unterscheidung aktuell/potentiell aufbaut und folgerichtig sich selbst
– beziehungsweise ihre Kommunikationsform – zum Agenten dieses Prozes-
35 Vgl. zur Bestimmung von Kunst als Verschärfung der sinnstiftenden Form aktuell/po-
tentiell zwecks Hervorbringung möglicher Welten mit eigener Ordnung Luhmann (s.
Anm. 14), S. 236. Dies ist keine auf die Systemtheorie begrenzte oder dieser zuzurech-
nende Definition des Kunstwerks und besonders des Romans, der wohl im Hintergrund
dieser Formulierungen steht. Hans Blumenberg hatte dies bereits 1964 mit Bezug
auf den Roman, der sich durch »Welthaftigkeit als formale Totalstruktur« bestimmt,
präzise gefaßt und als ontologisches Problem behandelt: »Thema der Kunst wird in
letzter Konsequenz der formale Wirklichkeitsausweis selbst, nicht der materiale Gehalt,
der sich mit diesem Ausweis präsentiert.« Blumenberg, Hans: »Wirklichkeitsbegriff
und Möglichkeit des Romans« [1964]. In: ders.: Ästhetische und metaphorologische
Schriften. Hg. v. Anselm Haverkamp. Frankfurt a.M. 2001, S. 47–73, hier S. 72 und
S. 64.
36 Marx, Karl/Engels, Friedrich: »Manifest der Kommunistischen Partei«. In: dies.: Wer-
ke. Bd. 4. Berlin 1980, S. 459–493, hier S. 466; vgl. zur Begründung ebd., S. 462–
466.
37 Schlögel, Karl: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geo-
politik. München 2003, S. 211.
38 Schlögel (s. Anm. 37), S. 217.
39 Schlögel (s. Anm. 37), S. 218.
40 Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1997, S. 352.
494 Torsten Hahn
II. Damm
41 Die Genealogie der Idee der Sahara-Bewässerung, die in das 19. Jahrhundert zurück-
reicht, liefert Sörgel, Herman: Atlantropa. Zürich/München 1932, S. 42f. Zitate aus
dieser Ausgabe werden im Folgenden direkt im Text nachgewiesen.
42 Sörgel, Herman: Mittelmeer-Senkung. Sahara-Bewässerung (Panropa Projekt). Leipzig
1929, S. 8.
Tunnel und Damm als Medien des Weltverkehrs 495
Diese Nachträglichkeit wird noch weiter kommentiert, wobei sich Tunnel als
minderwertige Medien ausweisen, wenn es um die »kommende Verbindung
zwischen Europa und Afrika bei Gibraltar« geht. Denn
[d]ort wird nach dem Projekt des Spaniers [sic!] Jevenois ein Tunnel von Tarifa nach
Tanger vorbereitet. Bei der Austauschbedürftigkeit der beiden Erdteile Europa und
Afrika [...] wird der Tunnel sehr bald schon nicht mehr genügen. Das heißt: ist einmal
die Bresche geschlagen für den europäisch-afrikanischen Transitverkehr, dann wird
rasch ein so großer Handelsaustausch einsetzen, daß der Tunnel allein die Frequenz
nicht bewältigen kann. Wenn der Gibraltartunnel Spanien und Marokko vereint, wird
durch den kleinen Spalt Europa-Afrika bald ein mächtiger Strom nachdrängen, den
nur ein Damm aufnehmen kann. Der Gibraltardamm wäre somit schon aus verkehrs-
technischen Gründen nicht nur notwendig, sondern natürlich auch höchst rentabel.
Wird aber der Damm aus reinen Handels- und Geschäftsberechnungen gebaut, dann ist
zugleich das technisch wesentlichste Werk des Atlantropaprojektes ausgeführt. (S. 89)
Literatur soll also am anderen Ende der Ideen-Skala stehen. Gleichwohl stellt
sich auch hier wiederum die Frage nach den »Finanzierungsmöglichkeiten«,
wobei das Projekt im Gegensatz zum Atlantik-Tunnel eben nicht im Sinne
einer »›Aktiengesellschaft‹« funktionieren soll. Was Sörgel vorschwebt ist,
ganz im Sinne der Geopolitik, ein Zugriff auf »politische Macht« durch die
Gründung der »übernationale[n] Atlantropa-Verständigungspartei«, denn:
»Ohne Partei keine Macht.« (S. 137)
Und dazu setzt er die Strategien der Popularisierung in Gang, wie er auch
die Möglichkeiten, die oben der Literatur zugesprochen wurden, reklamiert.
Das Populäre ist ein grundsätzlicher Faktor, so sei gerade die Paneuropa-
Union Coudenhove-Kalergis daran gescheitert, daß sie es »[i]n den breiteren
Volksmassen [...] leider nicht verstanden [hat], populär zu werden.« (S. 112)
Ganz im Gegensatz dazu versucht Sörgel, selbst eine Kommunikationsform
zu entwickeln, die sowohl wissenschaftlich als auch populär ist. Daß er dabei
eine Aufweichung von Systemgrenzen übernimmt, die von der Literatur aus-
gearbeitet und von der Geopolitik im Sinne Haushofers im politischen System
etabliert wird, bemerkt er nicht. Denn was er braucht, ist, ganz im Sinne
der Geopolitik, eine interessante Darstellungsweise, wenn ȟberzeugend auf
größere Massen« eingewirkt werden soll: Dies soll dann gerade durch »Ver-
filmung des Projektes, sowohl im Spiel- wie auch im Kulturfilm« (S. 134)
geschehen. Vornehmlich sind es aber die Texte selbst, die gängige geopoli-
tische Werke an fiktiven Karten und Bebilderung noch übertreffen, die das
Projekt interessant machen sollen.
Was Sörgel bei der Beschreibung und kartographischen Arbeit an Atlan-
tropa auffällt, ist die Möglichkeit zum geopolitischen Aktivismus, der der
oben skizzierten ›Weltliteratur‹ unter den Bedingungen einer komplett zur
Disposition stehenden Unterscheidung aktuell/potentiell entspricht:
Die Erkenntnisse der Geopolitik wurden zwar bisher mehr im passiven Sinn ausge-
münzt: weil die geographischen Voraussetzungen so beschaffen sind, müssen sich
diese und jene politischen Konsequenzen einstellen. Der Mensch kann aber mit Hilfe
der heutigen Technik zweifellos auch aktiv die geographischen Gegebenheiten ändern,
um umgekehrt ein schon vorher gefaßtes politisches Wunschbild zu verwirklichen.
Es ist etwas merkwürdig Universales um die Geopolitik im Bunde mit der Technik.
(S. 142)
Tunnel und Damm als Medien des Weltverkehrs 497
Das ›merkwürdig Universale‹ ist jene Form der Präsentation der »Einheit in
der Einheit«45 bzw. der möglichen Welt in der aktuellen, die eine Funktion
der Kunst ist. Wenn diese Funktion der Kunst in die Wissenschaft eingebaut
wird, resultiert daraus ein tatsächlich mehr als merkwürdiger, nämlich ästhe-
tischer Zug, für den die Karte der Welt selbst schließlich ein weißes Blatt
oder eine leere Leinwand ist, die kontingent erzeugten Formen Raum gibt.
Wenn es schon keine Grenzen gibt, dann wenigstens Einflüsse: Die Pro-
jekte sind eine Radikalisierung und Aktualisierung des Dämme und Kanäle
ziehenden Neulandprojektes des Faust II – den auch Sörgel pflichtgemäß
herbeizitiert – auf der Tabula rasa kolonialistischer Karten.46
Gerade die Literatur wird sich, trotz Sörgels Verdikt über sie, als willi-
ger Bündnispartner erweisen. Sörgels Projekt stimuliert die Produktion von
Romanen, die sich explizit auf ihn oder das Atlantropa-Projekt beziehen, so
unter anderem John Knittels Amadeus (1939), Georg Güntsches Panropa
(1930) und Titus Taeschners Eurofrika – die Macht der Zukunft (1938).47
Zwischen Sörgel und den Autoren von populärer Literatur herrscht ein reger
Buchstabenverkehr: Güntsches Roman steuert der Architekt ein Geleitwort
bei, der Erfolgsautor Knittel verfaßt das Vorwort zu Sörgels Atlantropa.
Wesenzüge eines Projekts (1948).48 Seinem Roman läßt Knittel ein Vorwort
vorausgehen, das Urheberrechte klärt: »Der Verfasser hat mit Erlaubnis von
Herman Soergel die Idee des ›Atlantropa-Planes‹ an der Hauptperson des hier
vorliegenden Buches aufgezeigt. Wie weit es ihm gelungen ist, seine Mit-
menschen von der Ausführbarkeit dieses Atlantropa-Projektes zu überzeugen,
mag der Leser selbst beurteilen und entscheiden.«49 Der ›didaktische‹ Roman
einen Leser, in dessen Leben die Literatur nicht nur zur Unterhaltung oder zum Zeit-
vertreib diente. Hier lebte offensichtlich jemand, der Ideen und Methoden studierte,
die nicht nur für ihn selbst gewinnbringend waren, sondern der ganzen Menschheit
zugute kamen.56
56 Ebd., S. 23f. Die Übernahme beziehungsweise Transformation der Kunst und der
Literatur, die ihre Funktion zu unterhalten verliert, wiederholt sich in den mit dem
Projekt verbundenen Romanen immer wieder und wird durch verschiedene Motive in
Szene gesetzt. In Georg Güntsches Panropa dient der Produktionsort selbst zur Insze-
nierung der Entdifferenzierung, die aber auch immer den Transfer ästhetischer Anteile
ankündigt. Der Ingenieur Maurus, der hier den Gibraltardamm baut, plant in einem
»Atelier – diese Bezeichnung hatte sich für den Arbeitsraum des Ingenieurs erhalten,
seit Walter Kollo, der allzeit mundflinke Wiener, beim Anblick des glasüberdachten,
saalartigen Raumes mit dem grellen Oberlicht behauptet hatte, das sei ein Atelier, ei-
ne Malbude, nichts für einen Großen im Reiche der Kubikwurzeln und unbekannten
Größen. Maurus mietete dennoch, weil gerade die Helligkeit, die hohe und ungestörte
Lage ihm zusagten.« Güntsche (s. Anm. 44), S. 9.
57 Knittel (s. Anm. 49), S. 121.
58 Knittel (s. Anm. 49), S. 291.
59 Knittel (s. Anm. 49), S. 343.
60 Virilio (s. Anm. 32), S. 130f.
500 Torsten Hahn
Ich denke, daß sich aus dem bisher Gesagten eine spezifische Lesart der
Rolle solcher geopolitischer Phantasien ableiten läßt. Diese sind keine par-
tiellen Verwechslungen von Kommunikationsformen, die sich zufällig oder
in Form eines Unfalls ereigneten. Sondern das, was hier adressiert ist und
den Unmut des Staatsrechtlers erregt, ist das Populäre, das die raumrevolu-
tionäre Kommunikation bis zum Zweiten Weltkrieg bestimmt, antreibt sowie
definiert und das Schmitt sich nun auszuschließen anschickt, indem er ihm
wieder feste Systemgrenzen zuweist. Nur ist die bloße Markierung dieser
Kommunikation als phantastisch nicht ausreichend, und dies gerade weil ihre
Übertreibungen und interessanten Formbildungen keine Marginalien sondern
Strukturmomente der sich immer wieder ankündigenden Raumrevolution und
ihres Schattens, der Totalinklusion, sind.
61 Schmitt, Carl: Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum
[1950]. Berlin 1988, Vorwort (S. 5).
›Kryptopische‹ Zeit-Räume 501
›Kryptopische‹ Zeit-Räume
Unterirdische und außerirdische Topographien
als Reservate von Temporalität
Welchem Geheimnis sind Heinrich von Ofterdingen und der alte Bergmann
auf der Spur, als sie jene unterirdischen Höhlen betreten, die Novalis ins
Zentrum von Heinrichs poetischer Initiationsreise stellt? Es sind nicht, wie
im Anschluß an Die Lehrlinge zu Sais (1797–1799) zu vermuten wäre, die
»verborgenen Schatzkammern der Natur«2 oder gar der »König der Metalle«,3
die bei der Erkundung des Erdinneren eine Rolle spielen. Denn diese geraten
nach der Begegnung mit dem Eremiten eher in den metaphorischen Hinter-
grund des Geschehens. Was Heinrich und sein Mentor in der »Verschlungen-
heit der Gänge«4 hingegen entdecken, ist die Komplexität von Zeitabläufen
und Zeitmodellen. In ihren Gesprächen über »die geheime Verkettung des
Ehemaligen und Künftigen«5 skizzieren sie nicht nur den Idealtypus einer
organizistischen, von Wissen und Intuition, von Kultur und Natur gleicherma-
ßen geprägten Poesie, sie entwerfen zugleich ein aus den drei ›klassischen‹
Zeitmodi Kontinuum, Inversion und Stillstand zusammengesetztes Bild von
Zeit und Geschichte, das sich als wegweisend für die theoretische und ästhe-
1 Burnet, Thomas: The Sacred Theory of the Earth. Illinois 1965, S. 94.
2 Novalis: Heinrich von Ofterdingen. In: Werke, hg. von Gerhard Schulz. München
21981, S. 129–290, hier: S. 180.
6 Der Anfang der Szene erinnert stark an Reisebeschreibungen aus der Frühzeit der
Speleologie, in der sich die Forscher häufig mit dem Mißtrauen und Aberglauben der
einheimischen Bevölkerung konfrontiert sahen. Vgl. z.B. August Kopischs Bericht
über seine Entdeckung der Blauen Grotte auf der Insel Capri (1838). Weitere Bei-
spiele finden sich in Ausschnitten in: Emslander, Fritz (Hg.): Reise ins unterirdische
Italien. Grotten und Höhlen in der Goethezeit. Ausstellungskatalog. Karlsruhe 2002,
S. 93–99, 132–135, 146–153, 165–169 u. 192–198.
7 Novalis (s. Anm. 2), S. 192.
8 Vgl. die von Hohenzollern erwähnten »alten Sagen von einem Riesenvolke« (ebd.,
S. 201). In Die Lehrlinge zu Sais spricht Novalis von einem »verlorengegangenen Ur-
volk[ ], dessen entartete und verwilderten Reste die heutige Menschheit zu sein schie-
ne, dessen hoher Bildung sie noch die wichtigsten und unentbehrlichsten Kenntnisse
und Werkzeuge zu danken hat« (Novalis: Die Lehrlinge zu Sais. In: Werke, hg. von
Gerhard Schulz, München 21981, S. 95–128, hier: S. 124). Zum antiken Atlantis-My-
thos vgl. Platon: Timaios (21b–24e, 25d) und Kritias (108e, 113c–121c), Aristoteles:
Meteorologie (352a/b), Lukrez: De rerum natura (V, 396ff.). In der Literatur des 19.
Jahrhunderts erscheint das Atlantismotiv dann häufig gekoppelt an Georges Cuviers
Kataklysmentheorie. So verlegt Bulwer-Lytton, der Autor des Science-fiction-Romans
The coming race (1871), den Ursprung seiner ›Vril-ya‹-Riesen nach Atlantis: Durch
eine Naturkatastrophe sei »der Teil der oberen Welt, in dem die Vorfahren dieser
Rasse siedelten, überschwemmt worden. […] Eine Schar dieser unglücklichen, von
der Sintflut heimgesuchten Rasse hatte in den Höhlen höhergelegener Felsen vor den
anschwellenden Wassern Zuflucht genommen, und bei den Streifzügen durch das
Höhlensystem verloren sie die Oberwelt auf immer.« (Bulwer-Lytton, Edward: Das
kommende Geschlecht. Roman. München 1999, S. 37f.) Beweis für die vorsintflutli-
che Zivilisation seien jene »in den tiefsten Abgründen des Erdinneren« verborgenen
»riesige[n] Städte, deren Ruinen für die Kultur von Geschlechtern Zeugnis ablegten,
die vor Noahs Zeit blühten.« (ebd., S. 38). Zum Atlantis-Mythos vgl. auch Punkt IV.
9 Angeregt wurde das Gedicht durch die 1796 wieder aufgenommenen Grabungen, über
die bereits Winckelmann in seinem Herculanischem Sendschreiben berichtet hatte.
Der Anfang lautet: »Welches Wunder begibt sich? Wir flehten um trinkbare Quellen,
/ Erde! dich an, und was sendet dein Schoß uns herauf! / Lebt es im Abgrund auch?
Wohnt unter der Lava verborgen / Noch ein neues Geschlecht? Kehrt das entfloh-
ne zurück?« (Schiller, Friedrich: Sämtliche Werke. Darmstadt 81987, S. 234ff., hier:
S. 234). Vgl. auch die folgenden Verse aus der im selben Jahr publizierten ›Klage der
Ceres‹: »Führt der gleiche Tanz der Horen / Freudig nun den Lenz zurück, / Wird das
Tote neu geboren / Von der Sonne Lebensblick!« (ebd., S. 190–194, hier: 193). Die
eigentümliche Verquickung von mythologischer Wiedergeburt und Archäologie wird
um 1800 zu einem literarischen Topos.
10 Es steht zu vermuten, daß Edward Bulwer-Lytton (The coming race) direkt oder über
›Kryptopische‹ Zeit-Räume 503
… wäre es möglich, daß unter unseren Füßen eine eigene Welt in einem ungeheuern
Leben sich bewegte? daß unerhörte Geburten in den Festen der Erde ihr Wesen trieben,
die das innere Feuer des dunkeln Schoßes zu riesenmäßigen11 und geistesgewaltigen
Gestalten auftriebe? Könnten dereinst diese schauerlichen Fremden, von der eindrin-
genden Kälte hervorgetrieben, unter uns erscheinen, während vielleicht zu gleicher
Zeit himmlische Gäste, lebendige, redende Kräfte der Gestirne über unseren Häuptern
sichtbar würden?,12
bis hin zur Begegnung mit Friedrich von Hohenzollern, von dem es aus-
drücklich heißt: »Er sah weder alt noch jung aus, keine Spuren der Zeit
bemerkte man an ihm.«13 Der Eremit besitzt Bücher, eine Zither und eine
Ritterrüstung, sein Tisch besteht aus einer grabmalartigen Steinplatte, deren
Inschrift von einer Rückkehr ins »Vaterland«14 berichtet. Schließlich liest
Heinrich in einem in »provenzalischer Sprache«15 geschriebenen Buch seine
eigene Lebensgeschichte, wobei er sich mit rätselhaften Bildern der Zukunft
konfrontiert sieht.
Der Besuch im Erdinnern scheint das gewöhnliche Zeitgefüge aus den
Angeln zu heben: Während der mittelalterliche Eremit in einer Art mystischen
Zeitlücke lebt, die selbst historische Prozesse reversibel erscheinen läßt, wird
der chronologische Ablauf der Zeit – retrospektiv – im geologisch-paläonto-
logischen Zeitraffer erkennbar. Entsprechend anspruchsvoll klingt Hohenzol-
lerns geschichtsphilosophisches Credo: »Indes nur dem, welchem die ganze
Vorzeit gegenwärtig ist, mag es gelingen, die einfache Regel der Geschichte
zu entdecken«,16 eine Maxime, die sich Heinrich zu Herzen nimmt, und die
es ihm selbst schließlich gestattet, sein Publikum mit einem »herrliche[n]
Gesang« vom »Ende der Trübsale, der Verjüngung der Natur und der Wie-
derkehr eines ewigen goldenen Zeitalters«17 zu bewegen. Symptomatisch
18 Novalis (s. Anm. 2), S. 267. Vgl. auch das zweite Bergmannslied, in dem das Meer
die befreiten Recken von Atlantis »in der Heimat Schoß« (S. 189) zurückträgt.
19 Herbert Uerlings spricht zwar auch von »proto-psychoanalytische[n] Darstellungen
von Reifungskrisen« (Uerlings, Herbert: »Novalis in Freiberg. Die Romantisierung des
Bergbaus. Mit einem Blick auf Tiecks ›Runenberg‹ und E.T.A. Hoffmanns ›Bergwerke
zu Falun‹«. In: Aurora 56 (1996), S. 57–77, hier: S. 67), unterstreicht allerdings das
– im Gegensatz zu Tieck und Hoffmann – bei Novalis klar patrilinear strukturierte
Initiationserlebnis (vgl. ebd., S. 68).
20 In der französischen Phantastik entwickelt sich zur selben Zeit eine aus dem tradi-
tionellen Höllen- und Teufelsmotiv stammende männlich-technizistische Motivlinie;
man denke u.a. an Jean-Baptiste Cousin de Grainvilles Le dernier homme (1805),
in dem ein mit allen Attributen des späteren ›savant fou‹ ausgestatteter Erdgeist mit
Feuer, Rohstoffen und Maschinen in einem unterirdischen Laboratorium hantiert und
experimentiert.
21 Vgl. Bredekamp, Horst: »Die Erde als Lebewesen«. In: Kritische Berichte 9 (1981),
H.4/5, S. 5–37.
22 Vermutlich in Anlehnung an Ludwig Bechsteins Sagenschatz des Thüringer Landes
(1835) siedelt Richard Wagner die Handlung von Tannhäuser und der Sängerkrieg auf
Wartburg in dem in der Nähe der Wartburg gelegenen Hörselberg an. Der Hörselberg
ist aber auch Sitz der Frau Holle, einer Gestalt, die mit ihrer märchenhaft mytho-
logischen Fusion von unten und oben, von Unterwelt und Paradies (man springt in
einen Brunnen und gelangt in einen Garten über den Wolken) auf eine Verbindung
zum keltischen Sagenkreis, zur antiken Sibylla und zum Kybele-Mythos verweist.
Eine weitere Verbindung besteht zur »fossiure a la gent amant«, der »fossiure in dem
steine«, die Tristan und Isolt in Gottfried von Straßburgs Tristan-Fragment (um 1205)
als »minnenden hol«, als Minnegrotte dient (vgl. Verse 16700, 16925 u. 16701) und
deren ausführliche Beschreibung Gottfried als retardierendes Moment in die Handlung
einbaut.
›Kryptopische‹ Zeit-Räume 505
zunächst ebenso verborgen wie die Einsicht in die Kräfte der natura naturans.
Erst bei seiner »Initiation ins unterirdische Reich«,23 erfahre Ofterdingen, so
Hartmut Böhme in seiner Deutung des Kapitels, »das Arkanwissen um die
Leiblichkeit der Erde«.24 Denn Novalis habe »sowohl das Deutungsmuster,
in welchem das Berginnere zur Offenbarung der mächtigen Mutternatur mit
ihren uterinen Höhlungen […erscheine] wie auch das Deutungsmuster des
Montanbaus als gynäkomorphe Technik dem hermetischen Schrifttum der
Alchemie entnommen.«25
Nicht zufällig ist der Ort, an dem solche Überlegungen angestellt werden, eine
im Erdinneren verborgene Höhle. Höhlen sind – spätestens seit Platon – als
Orte der Erkenntnis fest im topologischen Bewußtsein verankert. Hans Blu-
menberg hat in diesem Zusammenhang den Begriff der »anthropologische[n]
Zeitraumtiefe«26 geprägt. Die Vorstellung einer cavernalen Kulturisation, d.h.
einer aus den topologischen Strukturen der Höhle und damit gewisserma-
ßen als siedlungstechnisches Epiphänomen entstehenden Kultur, basierend
auf dem – matriarchalischen – Schutz der Schwachen, der Möglichkeit von
Tiefschlaf und Traum und der Ausdifferenzierung kultischer und künstle-
rischer Praktiken, führt zu einer gedanklichen Assoziation von Höhle und
Geschichtsbewußtsein.27 Im Schutz der Höhle entwickele sich – das wäre
die phylogenetische Seite der Blumenbergschen Theorie – das kollektive
Gedächtnis. Analog zur historischen Memoria formiere sich – ontogene-
tisch verbunden mit der Höhle des Mutterleibs28 – die Erinnerung an die
eigene Herkunft. Doch ist die der Höhle zugewiesene ›Zeitraumtiefe‹ doppelt
kodiert. Neben der Ausbildung einer – sich im Schutz der Höhle entfaltenden
– Kulturgeschichte gestatte, so Blumenberg, der Rückzug in den Innenraum
die Rückkehr in die Vergangenheit:
23 Böhme, Hartmut: »Geheime Macht im Schoß der Erde. Das Symbolfeld des Bergbaus
zwischen Sozialgeschichte und Psychohistorie«. In ders.: Natur und Subjekt. Frankfurt
a.M. 1988, S. 67–144, hier: S. 73.
24 Ebd., vgl. auch die Ausführungen über die große Mutter in De’ corpi marini… (1721)
des italienischen Geologen Antonio Vallisnieri.
25 Böhme (s. Anm.) 23, S. 73.
26 Blumenberg, Hans: Höhlenausgänge. Frankfurt a. M. 1996, S. 25.
27 Blumenberg (s. Anm.26), S. 25f. und 805f.
28 Blumenberg bezieht sich hier u.a. auf Sándor Ferenczis psychoanalytischen Versuch
einer Genitaltheorie (1924), der den Geschlechtsakt – beim Mann… – als symbolische
»Rückkehr zum Ursprung« und die Psychoanalyse als »theoretische Auffüllung des
faustischen Abstiegs zu den Müttern« (ebd., S. 68.) interpretiert. Vgl. Blumenberg (s.
Anm.26), S. 539f.
506 Sabine Haupt
Der Weg aus der Höhle heraus hatte seine Gegenrichtung schon bei den Griechen […].
Sie kannten die Rückwendungen auf dem Weg in die Höhlen hinein, zu den Mysteri-
en, den Einweihungsriten, den orphischen Kulten. [… die Höhlen] sind Zufluchtsorte
für das Überwundene, für die Weisheit der Geheimnisse statt für die Wissenschaft
der Erkenntnisse. Zwar gibt es in der Geschichte die Wiederholung nicht; aber die
Richtungswechsel aus Enttäuschung oder Überdruß am allzu Verheißungsvollen lassen
Erinnerungen wach werden an das, was doch so abstoßend nicht gewesen sein konnte,
wenn man es so lange ertragen hatte.29
Was den Text von Novalis nun in besonderer Weise auszeichnet, ist die Offen-
heit seines Zeitgefüges bzw., auf rein inhaltlicher Ebene, die Vielfältigkeit
der alludierten Zeitdiskurse. Im Höhlenkapitel des Heinrich von Ofterdingen
lassen sich nämlich, wie bereits angedeutet, drei unterschiedliche Zeitmodi
nachweisen, was u.a. als ein weiteres Indiz dafür zu werten ist, daß es sich
bei diesem Text um ein Werk des ideengeschichtlichen Übergangs, oder vor-
sichtiger formuliert, um einen Text handelt, in dem sich verschiedene mit
Roman des Thomas d’Angleterre oder an Lancelots Rettung der Königin Guinière in
Chrétiens de Troyes Chevalier de la charrette.
32 Vgl. u.a. Kondylis, Panajotis: Konservativismus. Geschichtlicher Gehalt und Unter-
gang. Stuttgart 1986; sowie meine eigene Arbeit zum Paradigma der romantischen
Wiederholung: Es kehret alles wieder«. Zur Poetik literarischer Wiederholungen in der
deutschen Romantik und Restaurationszeit: Tieck, Hoffmann, Eichendorff. Würzburg
2002, bes. S. 178–203 u. 631–643.
33 Vgl. Punkt IV, bes. Anm. 114.
508 Sabine Haupt
dem Motiv des Erdinneren assoziierte Zeitmodelle und Zeitdiskurse des 18.
und 19. Jahrhunderts überlappen.
Am auffälligsten und in der – zumal älteren – Novalis-Rezeption meist
als Zeichen einer ›mystischen‹ oder ›romantischen Ewigkeitssehnsucht‹ inter-
pretiert ist die aus Mythos34 und Märchen überlieferte Zeitenthobenheit bzw.
Zeitdehnung im Erdinneren.35 Man denke in diesem Zusammenhang an zahl-
reiche Sagen und Volksmärchen unterschiedlicher Kulturkreise, in denen Dra-
chen, Riesen oder Zwerge bzw. Gnome und andere Erd- und Elementargeister
einen Schatz bewachen, und sich – bis in alle Ewigkeit – allein dieser Aufgabe
zu widmen scheinen. In denselben Kontext gehören die zahlreichen direkt
oder indirekt auf den Mythos des schlafenden Epimenides zurückgehenden
Märchen der Romantik, in denen im Berg die Zeit stehen bleibt, während
der Held, wie in Ludwig Tiecks Der Runenberg (1804), in Grimms Der Hirt
auf dem Kyffhäuser (1816) oder Washington Irvings Rip van Winkle (1819)
in einen Jahre bis Jahrzehnte dauernden Schlaf versinkt oder, wie in den an
die von Schubert überlieferte Falun-Anekdote anknüpfenden Erzählungen
Unverhofftes Wiedersehen von Johann Peter Hebel (1811), Die Bergwerke
zu Falun von E.T.A. Hoffmann (1819) und Treue Liebe (1828) von Fried-
rich Hebbel, als vollkommen konservierter Leichnam die Zeit überdauert.
Ähnliches gilt auch schon für Giacomo Girolamo Casanovas phantastischen
Roman Icosameron… (1788), in dem ein Geschwisterpaar nach 80 Jahren im
Erdinneren als Jugendliche an der Erdoberfläche erscheint. In diesen Texten
fungiert das Erdinnere als Hort durativer, ja zeitloser Vorgänge. Entsprechend
schildert die literarische Kryptopie die Versenkung in die Wunder von Natur
und Kunst als Stillstand der Zeit, oder in den Worten des Einsiedlers, als
totalisierender, der Zeitmessung enthobener Moment: »Jene lange Zahl von
Tagen / Dünkt mir nur ein Augenblick«.36
34 ›Mythos‹ nicht im Sinne einer Dichotomie zu ›Logos‹ oder als transhistorische Gat-
tungsbezeichnung, eher im Sinne einer synkretistischen ›Denkgewohnheit‹ (vgl. Grae-
venitz, Gerhart von: Mythos. Zur Geschichte einer Denkgewohnheit. Stuttgart 1987)
oder eines (überlieferten) Systems von kulturellen Symbolen. Zum anthropologischen
Mythos-Begriff vgl. Robert A. Segal (Hg.): Ritual and Myth: Robertson Smith, Frazer,
Hooke, and Harrison. New York/London 1996.
35 Vgl. auch: Kemp, Wolfgang: »Die Höhle der Ewigkeit«. In: Zeitschrift für Kunstge-
schichte 32 (1969), S. 133–152. Mit Michel Foucault ließe sich hier auch von ›He-
terochronie‹ sprechen, d.h. von einer ›Heterotopie‹, die – Foucault selbst nennt als
Beispiel den Friedhof – einen radikalen Bruch mit dem herkömmlichen Zeitgefüge im-
pliziert – dies freilich unter der nicht unerheblichen Einschränkung, daß Heterotopien
streng genommen, d.h. im Sinne Foucaults, im Gegensatz zu Utopien keine fiktionalen,
sondern reale Orte bezeichnen. Vgl. Foucault, Michel: »Des espaces autres«. 1967.
In: Architecture, Mouvement, Continuité 5 (Okt. 1984), S. 46–49 (dt. Übersetzung:
Barck, Karlheinz u.a. (Hg.): »Andere Räume«. In: Aisthesis. Wahrnehmung heute oder
Perspektiven einer anderen Ästhetik. Leipzig 72002, S. 34–46).
36 Novalis (s. Anm. 2), S. 194.
›Kryptopische‹ Zeit-Räume 509
Der zweite Zeitmodus steht in engem Zusammenhang mit der aus den
geognostischen Lehren des 17. und 18. Jahrhundert stammenden und im
Laufe des 19. Jahrhunderts allmählich auch in die Biologie37 integrierten
Idee einer ›Naturgeschichte‹. Im Gegensatz zum durativen oder iterativen
Zeitmodus definiert dieses – je nach Kontext – (natur-)wissenschaftliche
und/oder aufgeklärte Zeitverständnis die Zeit als irreversibles Kontinuum,
als lineare Evolution bzw. als geschichtlichen Fortschritt.38 Unter diesem
Blickwinkel sind »Die mächtigen Geschichten / Der längst verfloßnen Zeit«39
endgültig vergangen und können – außer in der Vermittlung durch die erin-
nernde Narration – nicht zurückkehren. Daß eine beliebige Sukzession von
Ereignissen durch die Verbindung mit bestimmten Erzählstrukturen als qua-
litatives Abstraktum, als ›Geschichte‹ faßbar wird, ist jedoch keineswegs
selbstverständlich. Erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verdichtet
sich ›Geschichte‹ zu einem abstrakten Kollektivsingular, welcher die alte
›Historie‹, die sich als historia magistra vitae einer »immer gleichbleibenden
Natur und ihrer Wiederholbarkeit eingebunden wußte«,40 verdrängt und durch
den Gedanken eines evolutiven, nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten voran-
schreitenden Prozesses ersetzt.41 Gegen Ende des 18. Jahrhunderts scheinen
die Suche nach einem geschichtshermeneutischen Generalschlüssel sowie die
Auseinandersetzung um ein universelles geschichtsphilosophisches Paradigma
vorerst zugunsten des ›Fortschritts‹42 entschieden, ein Begriff, der schon bald
aus seinem politischen und philosophischen Kontext auf andere Bereiche,
schließlich auf das gesamte kosmische Geschehen übertragen wird.
Dieser Objektivierung und Naturalisierung der Geschichte entspricht –
sozusagen als komplementäre Gegenbewegung – eine in den Naturwissen-
schaften bzw. in der Natur- und Wissenschaftsphilosophie43 etwa zur selben
Zeit stattfindende Historisierung der Natur.44 Dem Versuch, »die Geschichte
[…] durch ihre ›Vergangenheit‹ zu bestimmen, und zwar durch eine Vergan-
genheit, die keine politisch geschichtliche ist: die Natur«,45 korrespondiert auf
der Gegenseite das Bestreben, »die Natur selbst ›als Ich‹ d.h. ›als Geschichte‹
nachzuweisen«.46 Welt- und Naturgeschichte erscheinen als organisch-vitale
Einheit – ein gegen das mechanistisch quantifizierende Naturverständnis des
Rationalismus gerichtetes Postulat, für das 1794 schon Alexander von Hum-
boldt mit seinen Aphorismen aus der chemischen Physiologie der Pfl anzen
plädierte und das wenige Jahre darauf von Schellings »spekulativer Physik«
auf die philosophische Formel gebracht wurde: »Die Natur soll der sichtbare
Geist, der Geist die unsichtbare Natur sein«.47
Damit solche Abläufe aber nicht philosophische Spekulation bleiben,
sondern sinnlich faßbar werden, damit Zeit ›lesbar‹ und nicht nur meßbar
wird, bedarf es Methoden der räumlich-bildhaften und/oder mentalen Ver-
anschaulichung, wie sie u.a. die sich um 1800 zu Einzeldisziplinen entwik-
kelnde Naturwissenschaft zur Verfügung stellt.48 Geologie, Paläontologie
und Archäologie entziffern die in den Gesteinsschichtungen konservierte
42 Zu den historisch soziologischen Grundlagen des Begriffs: vgl. Hahn, Alois: »Sozio-
logische Aspekte des Fortschrittsglaubens«. In: Gumbrecht, Hans Ulrich u.a. (Hg.):
Epochenschwellen und Epochenstrukturen im Diskurs der Literatur- und Sprachhi-
storie. Frankfurt a.M.1985, S. 53–72.
43 Vgl. Kant, Immanuel: Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels […]
(1755) und ders.: Physische Geographie (1802).
44 Vgl. Lepenies, Wolf: Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstver-
ständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts. München 1976.
45 Marquard, Odo: Transzendentaler Idealismus, romantische Naturphilosophie, Psy-
choanalyse. Köln 1987. S. 157.
46 Marquard (s. Anm. 45), S. 159.
47 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: Ideen zu einer Philosophie der Natur, als künftige
Grundlage eines allgemeinen Natursystems. Leipzig 1797 (zit. n. Rommel, Gabriele:
»Romantik und Naturwissenschaft«. In: Schanze, Helmut (Hg.): Romantik-Handbuch.
Zeit, literarische Formen, Künste und Wissenschaften, romantische Lebensläufe. Tü-
bingen 1994, S. 605–614, hier: S. 605).
48 Trotz seiner grundsätzlichen Einwände gegen simplifizierende Dichotomien zeigt
Gould am Beispiel der geognostischen Theorien von Thomas Burnet, James Hutton
und Charles Lyell den Übergang bzw. das Zusammenspiel von zyklischer und ›sagit-
taler‹ Zeit, vgl. Gould (s. Anm. 38). Zur Entwicklung des geologischen Zeitbegriffs
vgl. auch: Oldroyd, David R.: Thinking about the Earth. A History of Ideas in Geo-
logy. London 1996.
›Kryptopische‹ Zeit-Räume 511
Zeit: Natur mutiert zum Archiv: »Die Landschaft ist nicht mehr Natur allein,
sondern Schauplatz des Gewesenen«,49 schreibt Alexander Honold über den
neuen archäologischen Blick der Griechenlandreisenden des 18. Jahrhunderts.
Die – säkularisierte – Vergangenheit des Menschen, aber auch die geheime
»Chiffrenschrift« der Natur, jene »Wunderschrift« und vermeintlichen »Kon-
junkturen des Zufalls«,50 in denen die romantische Naturphilosophie eine
unbekannte Natur- bzw. Urkraft am Werk sieht, werden nach und nach wis-
senschaftlich entschlüsselt. Man bemüht sich um ein genaueres, und das
heißt in den meisten Fällen, um ein neues nicht-theologisches Verständnis
der erdgeschichtlichen und historischen Dynamik. Diese veränderte Sicht gilt
nicht nur für die Naturwissenschaft im engeren Sinn, sondern auch für eine
ganze Reihe von Literaten, die sich wie Goethe,51 Alexander von Humboldt52
49 Honold, Alexander: Nach Olympia. Hölderlin und die Erfi ndung der Antike. Berlin
2002, S. 33.
50 Novalis: »Die Lehrlinge zu Sais«. In: Werke, hg. von Gerhard Schulz, München 21981,
S. 95–128, hier: S. 95.
51 Seit 1775 beschäftigte sich Goethe als Verwaltungsbeamter in Weimar mit Bergbau und
Mineralogie. 1781 entsteht der Plan zu einem Roman mit dem Titel »Über das Weltall«.
Fragmente aus diesem Textkonvolut sind u.a. die Schrift Über den Granit und das
Gedicht »Über die Metamorphose der Tiere«. Neben seinen Schriften zur Geologie und
Mineralogie finden sich auch im Romanwerk etliche Passagen mit geologischer The-
matik, z.B. die ausführlichen Erörterungen der verschiedenen Erdentstehungstheorien
des 18. Jahrhunderts in Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden (2. Fass.
1829, II/9). Vgl. Böhme, Hartmut: »Lebendige Natur. Wissenschaftskritik, Naturfor-
schung und allegorische Hermeneutik bei Goethe«. In: DVjs 60 (1986), S. 249–272;
sowie: Engelhardt, Wolf v.: »Goethe und die Geologie«. In: Schnitzler, Günter u.a.
(Hg.): Ein unteilbares Ganzes. Goethe: Kunst und Wissenschaft. Freiburg i. Br. 1997,
S. 245–273; und ders.: Goethe im Gespräch mit der Erde. Landschaft, Gesteine, Mi-
neralien und Erdgeschichte in seinem Leben und Werk. Weimar 2003.
52 Alexander v. Humboldt studierte ab 1791 an der Bergakademie Freiberg. Schon im
März 1792 trat er eine Stelle als Bergassessor beim Berg- und Hüttendepartement in
Berlin an. Prägend für seine geologischen Ansichten war besonders die Begegnung
mit Johann Sebastian Claiß, der seit 1782 als Salinen-Oberkommissar in Bayern für
den Ausbau der Salinen Reichenhall und Traunstein verantwortlich war. 1795 traf
Humboldt in Genf dann auch mit den Geologen und Alpenerforschern Horace Bénédict
und Nicolas Théodor de Saussure zusammen, die er wie andere Genfer Naturforscher
bereits aus ihren Werken kannte (vgl. Beck, Hanno: Alexander von Humboldt. Bd. 1:
Von der Bildungsreise zur Forschungsreise 1769–1804. Wiesbaden 1959, darin das
Kap. »Alexander von Humboldt als Bergmann«, ebd., S. 46–83). Mit seinen Erklä-
rungen über das ›Streichen und Fallen‹ der Urgebirgsschichten schloß Humboldt sich
uniformitaristischen Konzepten an, die von der Universalität und Vergleichbarkeit der
Ablagerungsepochen ausgehen und sich im 19. Jahrhundert gegenüber Cuviers Kata-
klysmentheorie durchsetzen. 1793 erschienen seine Florae Fribergensis specimen, in
denen er eine Aufteilung der geographisch-geologischen Disziplinen in Erdgeschichte,
Erdkunde und Systematik vornahm. Beachtung fand das Werk aber »vor allem we-
gen der erstmals im Sinne Linnés bearbeiteten 258 ›unterirdischen kryptogamischen
512 Sabine Haupt
Pflanzen‹«. (ebd., S. 62). Suchte Goethe in der Geologie vor allem nach symbolhaf-
ten Artikulationen für die von ihm postulierte idealistische Weltharmonie, so ging es
Humboldt um deren wissenschaftlich empirische Begründung. Goethe stand in den
Jahren 1798–1803 dagegen dem von Schellings Naturphilosophie geprägten Kreis der
Jenaer Frühromantik nahe.
53 Bevor Novalis zum Bergassessor befördert wurde, studierte er von 1797 bis 1799 an
der Bergakademie Freiberg, einer der weltweit ersten technischen Hochschulen, die
von Studenten aus der ganzen Welt besucht wurde. In der Auseinandersetzung mit den
in Freiberg gelehrten Naturwissenschaften Geologie, Mineralogie und Chemie entstand
Hardenbergs spezifische, seine philosophischen Fragmente wie poetischen Werke glei-
chermaßen prägende Naturphilosophie, ein Ensemble von Vorstellungen, in denen sich
auch die nicht nur für die Montanwissenschaften, sondern für die gesamte Wissens-
kultur um 1800 prägende Konfrontation zwischen einem älteren religiösen Naturver-
ständnis und einer modernen, säkularisierten Auffassung von empirischer Wissenschaft
artikuliert. Heinrich von Ofterdingens Initiationsreise ins Berginnere reflektiert – an-
ders als Fausts Gang in ein rein mythologisches Erdinneres – genau die fundamentale
Ambi- bzw. Polyvalenz, mit der Novalis seine Erfahrungen im Bergbau literarisch
verarbeitet. Bei diesem Konflikt von exoterischer und esoterischer Berginspektion
übernimmt die Poesie, wie Hartmut Böhme betont, die Rolle einer Statthalterin der
mystisch-esoterischen Tradition: »Der hermetische Montan-Diskurs bei Novalis hat
also doppelte Funktion. Sie ergibt sich aus dem Verhältnis zur aufgeklärten Bergbau-
wissenschaft einerseits und den Verdrängungsleistungen des avancierten Technologen
Hardenberg andererseits. In der Kunst findet die verlorene, im Wissenschaftsprozeß
ausgegrenzte Naturphilosophie […] ihren Ort der Erinnerung.« (Böhme (s. Anm. 23),
S. 76f.). Vgl. Schulz, Gerhard: »Die Berufslaufbahn Friedrich von Hardenbergs (Nova-
lis)«. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 7 (1963), S. 253–312; und ders.:
Die Berufstätigkeit Friedrich von Hardenbergs (Novalis) und ihre Bedeutung für seine
Dichtung und Gedankenwelt. Univ. Diss. (Masch.), Leipzig 1958 (zur Symbolik des
Bergwerks und der Höhle vgl. ebd., S. 133–182); Blumenberg, Hans: Die Lesbarkeit
der Welt. Frankfurt a.M. 1981; Böhme, Hartmut: »Montan-Bau und Berg-Geheimnis.
Zum Verhältnis von Bergbauwissenschaft und hermetischer Naturästhetik bei Novalis«.
In: Jamme, Christoph/Kurz, Gerhard (Hg.): Idealismus und Aufklärung. Kontinuität
und Kritik der Aufklärung in Philosophie und Poesie um 1800. Stuttgart 1988, S. 59–
79; Uerlings, Herbert: »Novalis in Freiberg. Die Romantisierung des Bergbaus. Mit
einem Blick auf Tiecks ›Runenberg‹ und E.T.A. Hoffmanns ›Bergwerke zu Falun‹«.
In: Aurora 56 (1996), S. 57–77; Bark, Irene: Konstruktive Rezeption der Mineralogie
bei Novalis. Tübingen 1999, S. 25–66; sowie Daiber, Jürgen: Experimentalphysik des
Geistes. Novalis und das romantische Experiment. Göttingen 2001.
54 Zum Thema Literatur und Geologie vgl. die Arbeiten von Gold, Helmut: Erkenntnisse
unter Tage. Bergbaumotive in der Literatur der Romantik. Opladen 1990; Ziolkow-
ski, Theodore: Das Amt der Poeten. Die deutsche Romantik und ihre Institutionen.
Stuttgart 1992 (Ziolkowski verweist besonders auf den metaphorische Bedeutung des
Bergwerks als ›Bild der Seele‹), sowie zuletzt die Dissertation von Haberkorn, Mi-
chaela: Naturhistoriker und Zeitenseher. Geologie und Poesie um 1800. Der Kreis
um Abraham Gottlob Werner. Frankfurt a.M. u.a. 2004. Zum Thema Literatur und
Archäologie vgl. neben der Studie von Alexander Honold (s. Anm. 49) auch Korte,
Barbara: »Archäologie in der viktorianischen Literatur. Faszination und Schrecken
›Kryptopische‹ Zeit-Räume 513
der ›tiefen‹ Zeit«. In: Middeke, Martin (Hg.): Zeit und Roman. Zeiterfahrung im hi-
storischen Wandel und ästhetischer Paradigmenwechsel vom 16. Jahrhundert bis zur
Postmoderne. Würzburg 2002, S. 111–132.
55 Der These der Neptunisten, die Welt sei aus Wasser entstanden – dies gelte auch für
Mineralien wie den Basalt – widersprachen die von Werners ältestem Schüler Karl
Wilhelm Voigt geführten Vulkanisten, die einen vulkanischen Ursprung des Basalts
postulierten. Die Kontroverse erreichte ihren Höhepunkt in den Jahren 1788/9.
56 Schubert, Gotthilf Heinrich: Das Weltgebäude, die Erde, und die Zeiten des Menschen
auf der Erde. Erlangen 1852, S. 3, zit. nach Michaela Haberkorn (s. Anm. 54), S. 282).
Vgl. auch auf die Arbeiten zur geologischen Entdeckung der Tiefenzeit von McPhee,
John: Basin and Range (1980); Rossi, Paolo: I segni del tempo. Storia della terra e
storia delle nazioni da Hooke a Vico (1979) und Gould (s. Anm. 38).
57 Vgl. Buffon, Georges-Louis Leclerc de: Epoques de la nature (1778). Vgl. hierzu
auch die Studie von Gillispie aus dem Jahr 1951: Genesis and Geology. A Study in
the Relations of Scientifi c Thoughts, Natural Theology, and Social Opinion in Great
Britain, 1790–1850. Neuauflag. Cambridge, Mass./London 1996.
58 Schubert, Gotthilf Heinrich: Allgemeine Naturgeschichte, oder Andeutungen zur Ge-
schichte und Physiognomik der Natur. Erlangen 1826, S. 2, zit. nach Haberkorn (s.
Anm. 54), S. 281.
59 Vgl. ebd., S. 202f. Die auf Dante und Kircher zurückgehende, zunächst theologisch
kabbalistisch inspirierte und schließlich in der Geognostik diskutierte Vorstellung ei-
nes hohlen oder löchrigen Erdinnenraums (vgl. z.B. die höchst einflußreiche Theorie
vom unterirdischen – und für die Sintflut verantwortlichen – Ur-Ozean in Thomas
514 Sabine Haupt
Burnets Telluris Theoria Sacra (1681, dtsch. Übers. 1698) oder Anton Lazzaro Moro:
De’ crostacei e degli altri corpi marini… von 1740, dtsch. Übers. 1751), bildet die
Grundlage zahlreicher literarischer Spekulationen über die Beschaffenheit des Erdin-
neren. Hervorzuheben sind hier vor allem Ludvig Holbergs Niels Klims unterirdische
Reise (1741), Robert Paltocks Life and Adventures of Peter Wilkins (1750), Giacomo
Girolamo Casanova de Seingalts Icosameron…(1788), John Cleve Symmes’ und Ja-
mes McBrides Symmes’ Theory of Concentric Spheres (1826), Jules Vernes Voyage
au centre de la terre (1864), Edward Bulwer-Lyttons The coming race (1871), J.-H.
Rosny Aînés La contrée prodigieuse des cavernes (1895), Edgar Rice Burroughs At the
Earth’s Core (1914) und Maurice Champagnes La cité des premiers hommes (1928).
Als ›realistischer‹ S.-F.-Autor beschäftigte Verne sich – ausgehend von Berechnungen
Buffons, Cordiers, Babbages, vor allem aber von Thomsons Abkühlungstheorie – auch
mit den unterschiedlichen Berechnungen der Erdtemperatur, einer Größe, von der die
Plausibilität seiner literarischen Phantasie abhing.
60 Im historischen Roman des 19. Jahrhunderts gibt es zahlreiche Versuche, die schrift-
lose Frühgeschichte des Menschen imaginativ zu rekonstruieren. Dabei entsteht auch
eine Reihe von Werken, die das neue archäologische Wissen über antik-pompejanische
und ägyptische Phantasien hinaus bis in die Urzeit des Menschen ausdehnen. Vgl. in
diesem Kontext vor allem die Romane von J.-H. Rosny Aîné Vamireh (1891), Eyrimah
(1895), Nomaï, amours lacustres (1897) sowie der inzwischen auch verfilmte Roman
La guerre du feu (1911). Im deutschen Sprachraum wäre in diesem Zusammenhang der
›Jugend-Bestsellerroman‹ Rulaman von David Friedrich Weinland aus dem Jahr 1875
zu erwähnen, der – gestützt auf zahlreiche, der Erstausgabe beigelegte archäologische
und paläontologische Zeichnungen – mit dem Anspruch auftritt, aus »Knochen und
Rentiergeweihe[n], Feuersteine[n] und Tonscherben, d[en] Waffen und Gerätschaften
der Höhlenmenschen« so genaue Schlüsse ziehen zu können, daß seine literarische
Darstellung der Steinzeit auf der Kenntnis von »Urkunden« beruhe, die »so deutlich
geschrieben wie die Bücher und vielleicht untrüglicher als sie« seien (Weinland, David
Friedrich: Rulaman. Reutlingen 2003, S. 28).
61 Haberkorn (s. Anm. 54), S. 60.
62 Ebd.. Mit der Literarisierung der Tiefenzeit bei Lichtenberg, Nietzsche, Stifter und
Droste-Hülshoff befaßt sich Georg Braungart in: »Apokalypse in der Urzeit. Die Ent-
deckung der Tiefenzeit in der Geologie um 1800 und ihre literarischen Nachbeben«. In:
Leinsle, Ulrich G./Mecke, Jochen (Hg.): Zeit, Zeitenwechsel, Endzeit. Zeit im Wandel
der Zeiten, Kulturen, Techniken und Disziplinen. Regensburg 2000, S. 107–120.
›Kryptopische‹ Zeit-Räume 515
terre (1864), in dem die Reise des Geologen Lidenbrock ins Erdinnere als
Zeitreise inszeniert wird. Hier, im Untergrund – aber auch in der literarischen
Darstellung! – wird die Erdgeschichte zu einem sinnlichen Erlebnis: »Doch
meine Phantasie macht mir die wunderbaren Hypothesen der Paläontologie
lebendig. […] Jahrhunderte vergehen wie Tage! Ich schreite im Geist die
ganze Erdgeschichte zurück.«63 Im Grunde antwortet Verne hier in ebenso
schlichter wie überzeugender Weise auf die Kritik Goethes, der 1831 die
mangelnde Anschaulichkeit der neuen faktenorientierten Wissenschaft kri-
tisiert hatte:
Im ganzen denkt kein Mensch daß wir als sehr beschränkte schwache Personen uns ums
Ungeheure beschäftigen ohne zu fragen, wie man ihm gewachsen sei? Denn was ist
die ganze Heberei der Gebirge zuletzt als ein mechanisches Mittel ohne dem Verstand
irgend eine Möglichkeit, der Einbildungskraft64 irgend eine Tulichkeit zu verleihen.
Es sind bloß Worte, schlechte Worte, die weder Begriff noch Bild geben.65
63 Verne (s. Anm. 11), S. 273f. Auf ihrer Reise begegnen die Forscher nicht nur »Urge-
stein« (ebd., S. 161), »vorsintflutlichen Pflanzen« (ebd., S. 256) und Knochen, sondern
auch lebenden Fossilien, einem blinden »Pterichty« (ebd., S. 272), einem »Ichthyosau-
rus« (ebd., S. 285) und einer Gruppen von »Quartärmenschen« (ebd., S. 323). Schon
Thomas Burnet hatte in seiner Telluris Theoria Sacra über die Existenz von unterir-
dischen Monstern spekuliert.
64 Wie stark die kollektive Einbildungskraft in den anschließenden Jahrzehnten dann
von archäologischen und kryptopischen Modellen affiziert wurde, zeigt deren An-
verwandlung in der Psychoanalyse. Blumenberg zitiert ausführlich aus einem Traum
C.G. Jungs, in dem die »Kontamination von psychischer Individualgeschichte und
Gattungsgeschichte« (Blumenberg [s. Anm. 26], S. 694) ganz evident wird. Der Traum-
bericht schildert einen Abstieg vom Obergeschoß in den Keller, wobei die Treppe
sukzessive an Rokokomöbeln, mittelalterlicher Dunkelheit und römischem Mörtel
vorbeiführt, bis der Träumer schließlich unter dem Keller eine »niedrige Felshöhle«
mit den »Überreste[n] einer primitiven Kultur« (ebd.) entdeckt. Blumenberg sieht in
Jungs Traumbericht den Beginn seiner Ablösung von Freud: »Das Unbewußte ist der
Fundus des Archaischen, nicht nur des Infantilen« (ebd., S. 695). Jung öffnet hier
gewissermaßen die zu Ofterdingen komplementäre ›Tapetentür‹: Sein Weg führt nach
unten.
65 Goethe, Johann Wolfgang v.: »Geologische Probleme und Versuch ihrer Auflösung«.
Februar 1831. In: Die Schriften zur Naturwissenschaft, hg. von K. Lothar Wolf u.a.,
1. Abteilung, Bd. 11: Aufsätze, Fragmente, Studien. Weimar 1970, S. 316–319, hier:
S. 316.
516 Sabine Haupt
66 Schlegel, Friedrich: »Die Griechen und Römer. Historische und kritische Versuche
über das Klassische Altertum« (1797). In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Bd.
1, hg. von Ernst Behler. München u.a. 1985. S. 203–367, hier: S. 361ff. In seiner
Vorlesung Propädeutik und Logik von 1805–1806 heißt es dazu analog: Das »ontolo-
gische Gesetz des Werdens, welches sich bezieht auf die Tätigkeit und Entwicklung
der Wesen […] kann das ›Gesetz des ewigen Kreislaufes‹ genannt werden« (In: Kri-
tische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Bd. 13, hg. von Jean-Jacques Anstett. München
u.a. 1964. S. 283).
67 Novalis (s. Anm. 2), S. 204.
68 Sorg, Klaus-Dieter: Gebrochene Teleologie. Studien zum Bildungsroman von Goethe
bis Thomas Mann. Heidelberg 1983, S. 38.
69 Zur kryptopischen Wiedergeburtsthematik vgl. auch die komparatistischen Analysen
in: Gaillard, Aurélia (Hg.): L’imaginaire du souterrain. Paris 1998.
70 Vgl. hierzu meine Studie »Es kehret alles wieder« (s. Anm. 32).
71 Novalis: »Aus dem »Allgemeinen Brouillon«« (1798–1799). In: Werke. Studienaus-
gabe, hg. von Gerhard Schulz. München 21981, S. 429–498, Nr. 31, S. 456.
72 Novalis (s. Anm. 71), Nr. 92, S. 477.
›Kryptopische‹ Zeit-Räume 517
wortliche, phil[osophische] Frage; warum fragt [man] nicht auch – verändert sich das
Menschengeschlecht? Diese Frage ist höher – aus der Veränderung läßt sich erst ein
Schluß auf die Verbesserung oder Verschlimmerung ziehn.) […].73
diskret anklingen läßt und mit einer Aura von Märchenhaftigkeit umgibt,
formuliert Friedrich Schlegel wenige Jahre später dann als manifesten politi-
schen Wunsch. Bereits 1803 träumt er davon, daß »der schlummernde Löwe
[gemeint sind das hochmittelalterliche Kaisertum77 und die Adelsgeschlechter
der Welfen und Staufer] noch einmal erwachen« möge, »damit die künftige
Weltgeschichte noch voll sein [werde] von den Taten der Deutschen«, denn
»unter den welterobernden Nationen der Vergangenheit, nahmen die Deut-
schen eine der ersten Stellen ein«.78
Wenn also die Vorstellungen von Zeit und Geschichte seit dem 18. Jahr-
hundert immer stärker in den Sog der allgemeinen ideen- und mentalitäten-
geschichtlichen Säkularisierung geraten und neue, zum Teil bereits auf empi-
rischen Forschungen beruhende Zeitmodelle, insbesondere aus dem Bereich
der Geologie, die Ablösung vom mosaischen Zeithorizont beschleunigen,
sind andere Zeitkonzepte damit keineswegs ad acta gelegt. Zahlreiche Werke
der europäischen Romantik und Restaurationszeit, später des Fin de Siècle,
der sogenannten Dekadenzdichtung und Neuromantik, vertreten dezidiert
gegenaufklärerische Zeit- und Geschichtsmodelle. Diese für die Literatur
der Moderne auch erzähltheoretisch konstitutive, zum Teil durchaus konflikt-
trächtige Komplexität der Zeitvorstellungen wird in den zitierten Passagen
aus Heinrich von Ofterdingen vorweggenommen. Man kann die in diesem
Text verwendete chronotopische Konstellation daher als eine Art motivge-
schichtlichen Keim betrachten, in dem sich eine ganze Reihe kommender
Entwicklungen bereits in nuce abzeichnen.
dessen »Weissagekunst […] aus dem Gegenwärtigen das Zukünftige« erkennt« (ebd.,
S. 461). Und auch hier gibt es in den Figuren Makarie und Jarno-Montan die vertikale
Polarität von Außer- und Unterirdischem.
83 Vgl. Francis Godwins The Man in the Moon… (1648), Cyrano de Bergeracs L’autre
Monde ou les Etats et Empires de la lune (1657), in dem Erde und Mond, je nach
Perspektive, die Plätze vertauschen, oder Voltaires Micromégas… (1752), in dem Gi-
ganten vom Saturn und von Sirius die Erde besuchen.
84 Bei den unterirdischen und extraterrestrischen Reisen des 17. und 18. Jahrhunderts
überwiegen die utopischen Aspekte: der unbekannte Ort, ob unterirdisch, insularisch,
außerirdisch oder auf fremden Kontinenten angesiedelt, dient stets der imaginären
Entwicklung ›möglicher Welten‹ und nicht der kryptopischen Evokation von Vergan-
genheit bzw. von ›vollendeter Zukunft‹.
85 Neueste Berichte vom Cap der guten Hoffnung über Sir John Herschels höchst merk-
würdige astronomischen Entdeckungen den Mond und seine Bewohner betreffend.
Hamburg 1836, S. 89. Edgar Allan Poe, der mit seiner eigenen, kurz zuvor erschie-
nenen Erzählung einer Mondreise, Hans Phaal, a Tale (1835), in eine gewisse Kon-
kurrenzsituation zu Locke geriet, unterzog dessen Bericht in einer Nachbemerkung
zu Hans Phaal aus dem Jahr 1840 einer detaillierten Kritik, die eine ganze Reihe von
wissenschaftlichen und erzählerischen Ungereimtheiten zusammenstellt.
86 S. Anm. 85, S. 90.
87 S. Anm. 85, S. 92.
88 S. Anm. 85, S. 105.
›Kryptopische‹ Zeit-Räume 521
Nachahmer. Nachdem die These einer Pluralität der Welten,89 die Frage nach
der möglichen Besiedlung des Mars90 sowie – im Zeitalter des Kolonialis-
mus und Imperialismus gewissermaßen als negative Selbst-Projektion – nach
der eventuellen Aggressivität der Marsianer91 gestellt und in der französi-
schen und angelsächsischen Literatur bereits diskutiert waren, findet sich in
einem der ersten deutschen Science-fiction-Romane, in Kurd Laßwitz Auf
zwei Planeten (1897), der von großem technologischem Optimismus getra-
gene Entwurf einer sowohl technisch wie ethisch avancierten außerirdischen
Zivilisation, die als Kulturstifterin schließlich sogar vorübergehend die Erde
kolonialisiert, da sie mit ihrer »gewaltige[n] Überlegenheit des Geistes«92 zu
einer »Höhe der Entwicklung gelangt« sei, »die uns Menschen als fernes Ideal
89 In dem Roman-Essay Lumen (1866–1887) und der Studie Les mondes imaginaires
et les mondes réels. Voyage pittoresque dans le ciel (1868), die eine Fülle von Lite-
ratur vorstellt und aufbereitet, entwirft der einflußreiche französische Astronom und
Okkultist Camille Flammarion die Grundzüge eines neuen, zwischen Naturwissen-
schaft, Esoterik und Spiritismus stehenden Diskurses, der sodann, auch in seinem
eigenen Werk (vgl. z.B. Stella von 1897), in die frühe Science-fiction eingeht. In
zahlreichen Schriften, vor allem in La pluralité des mondes habités, au point de vue
de l’astronomie, de la physiologie et de la philosophie naturelle (1873), bezieht er
sich auf den von Thomas Dick im frühen 19. Jahrhundert propagierten sogenannten
›Pluralismus‹ und damit indirekt auf Immanuel Kants Allgemeine Naturgeschichte
und Theorie des Himmels (1755), die mit Überlegungen über die ›Bewohner der
Gestirne‹ endet und die Entstehung des Alls allein aus der Materie und ihren Kräften
erklärt. Außerdem berief Flammarion sich auf die okkultistischen und astronomischen
Schriften und Briefstellen bei Victor Hugo sowie auf dessen Légende des Siècles
(1859).
90 Ende des 19. Jahrhunderts entwarf der exzentrische amerikanische Diplomat Percival
Lowell in mehreren Publikationen (u.a. Mars, 1895) ein detailliertes Szenario für
das Leben auf dem Mars. Inspiriert wurde er durch den italienischen Astronomen
Giovanni Schiaparelli, der den Mars durch ein Teleskop beobachtete und dabei – wie
andere vor ihm – Furchen entdeckt hatte, die er ›canali‹ (Furchen, Rinnen, Kanäle)
nannte. Sein 1878 veröffentlichter Mars-Atlas wurde zu einer Weltsensation. Den
Begriff ›canali‹ übersetzte man mit dem konnotativ engeren ›canals‹. Lowell ging
davon aus, daß nur intelligente Marsbewohner solche gigantischen Bewässerungska-
näle angelegt haben konnten. Man nahm an, daß mit diesem Bewässerungssystem das
Wasser der vereisten Polkappen in die Wüstengegenden am Äquator umgeleitet wurde.
Lowells Thesen regten ganze Generationen von Science-fiction-Autoren zu immer
neuen Mars-Chroniken an. Zur Kulturgeschichte der Marsbegeisterung und Marslite-
ratur im späten 19. Jahrhunderts vgl. Lagrange, Pierre: Le guide du touriste spatial.
Sur mars. Paris 2003; sowie: Asimov, Isaac: Extraterrestrial Civilizations. New York
1979.
91 Vgl. zuerst Wells, Herbert George The war of the worlds (1897).
92 Lasswitz, Kurd: Auf zwei Planeten. (Ost-)Berlin 1984, S. 45. In Jules Vernes Autour de
la lune (1869) ist dieser Zeitvorsprung allerdings so groß, daß die Mondbevölkerung
bereits wieder ausgestorben ist.
522 Sabine Haupt
93 Lasswitz, Kurd (s. Anm. 92), S. 70. Die Marsianer sind sogar zeitweise der Ansicht,
»daß die menschliche Rasse überhaupt nicht kulturfähig« (ebd., S. 629) sei.
94 Lasswitz (s. Anm. 92), S. 107.
95 An Lowells Marstheorie anknüpfende außerirdische Zukunftsvisionen bieten auch
Ferdinand Kringels (d.i. Waldemar Schilling) Von der Erde zum Mars (1905) und
Albert Daibers Die Weltensegler. Drei Jahre auf dem Mars (1910).
96 Im Gegensatz zur stark satirisch und gesellschaftskritisch ausgerichteten sowjetischen
Science-fiction (Die Marsbevölkerung in Alexej Tolstojs Aelita, 1923, steht z.B. un-
mittelbar vor einer proletarischen Revolution) oder zu Werken des Physiologen und
Psychophysikers Gustav Theodor Fechner (Professor Schleiden und der Mond, 1856)
und seines Schülers Kurd Laßwitz, deren Mond- und Marsbewohner den Erdenbürgern
recht ähnlich sind, entwickeln französische Science-fiction-Autoren wie Flammarion
oder J.-H. Rosny Aîné (z.B. in Les autres vies et les autres mondes, 1924) Vorstellungen
einer »diversité infinie: Ainsi, chaque monde est habité par des races essentiellement
différentes.« (Flammarion, Camille: Lumen. Paris o. J. [1866–1887] S. 239). Rosny
Aîné beschreibt nicht nur phantastische außerirdische Landschaften (in: Les terres du
ciel, 1877 u. 1884), sondern erfindet mit seinen Les Xipéhuz (1887), mineralischen
Intelligenzen, die völlig anders denken und kommunizieren als Menschen, eine Alter-
native zum naiven Anthropomorphismus. Hier kommt nun das vollkommen Andere,
Unvorstellbare zum Zug.
97 Dramaturgisch überflüssig wird sie bereits durch die literarischen Erfindung der tech-
nisch gestützten Zeitreise in Wells The time machine (1888–1895).
98 Flammarion veröffentlicht 1876 eine Karte des Mars, die – noch vor Schiaparellis
Atlas – für Aufsehen sorgte.
›Kryptopische‹ Zeit-Räume 523
99 Strindberg, August: »Das Seufzen der Steine«. In: Jardin des plantes (1896) In: ders.:
Verwirrte Sinneseindrücke. Schriften zu Malerei, Photographie und Naturwissen-
schaften, hg. von Thomas Fechner-Smarsly. Amsterdam/Dresden 1998, S. 141–174,
hier: S. 169f.
100 Selbst bei Laßwitz findet sich diese regressive Gegenrichtung: In den Händen der
Marsianerinnen verbringen die Erdlinge »ihre Tage wie in einem köstlichen Mär-
chen« (Auf zwei Planeten [s. Anm. 92], S. 103). Wie Zee, die junge ›Gy‹ mit dem
»Sternenglanz auf ihrer Stirn« (Das kommende Geschlecht, s. Anm. 8, S. 182) aus
Bulwer-Lyttons The coming Race, besitzt auch die Marsianerin La hypnotisch-mag-
netische Fähigkeiten (vgl. Auf zwei Planeten, Kap. 6.: »In der Pflege der Fee«, s.
Anm. 92, S. 51–60). In Deutschland war das Werk Bulwer-Lyttons bis in die 1880er
Jahre in mehreren Gesamtausgaben erhältlich.
101 Bulwer-Lytton (s. Anm. 8), S. 12f.
102 Bulwer-Lytton (s. Anm. 8), S. 12.
103 Da Bulwer-Lytton weder viel vom technischen Fortschritt, noch von der Demokratie
und schon gar nichts von der Emanzipation der Frau hielt, werden den – nach Bach-
ofens Vorstellungen eines ›chtonischen‹ Matriarchats und wohlgemerkt als Dystopie
konzipierten – ›Vril-ya‹ größere kulturelle und literarische Leistungen vorenthalten…
(vgl. Kap. 16 u. 17). Vgl. Bachofen, Johann Jakob: Das Mutterrecht. Eine Unter-
suchung über Gynaikratie der alten Welt nach der religiösen und rechtlichen Natur
(1861).
104 Bulwer-Lytton (s. Anm. 8), S. 78.
524 Sabine Haupt
spielt die kryptopische Vorstellung eines unter dem grönländischen Eis von ›Thu-
le‹ verborgenen Eingangs ins unterirdische Atlantis, aus dessen Wiedergeburt eine
›neue Ordnung für Europa‹ entstünde, noch immer eine gewisse Rolle. Vgl. Betha,
Ernst: Die Erde und unsere Ahnen. Berlin 1913; Wieland, Hermann: Atlantis, Edda
und die Bibel. Weißenburg 1925; und aus kritischer Perspektive: Heller, Friedrich
Paul/Maegerle, Anton: Thule. Vom völkischen Okkultismus bis zur Neuen Rechten.
Stuttgart 1995; Kater, Michael H.: Das Ahnenerbe der SS 1935–1945. Ein Beitrag
zur Kulturkritik des Dritten Reiches. München 21997; Goodrick-Clarke, Nicholas:
The Occult Roots of Nazism. Secret Aryan Cults and their Infl uence on Nazi Ideo-
logy. The Ariosophists of Austria and Germany, 1890–1935. Neuaufl. London 2004;
sowie diverse im rechtsextremen Arun-Verlag in Engerda erschienene Schriften zu
Himmlers ›Mythenforschern‹ Karl Maria Wiligut und Otto Rahn, Publikationen die
auch von revisionistischen Lehren über einen im Innern des Südpols seiner Wieder-
kehr harrenden Adolf Hitler zu berichten wissen…
115 Delmont, Joseph: Die Stadt unter dem Meere. Leipzig 1925, S. 422. Das Buch stand
übrigens auf der »Liste der auszusondernden Literatur« hg. vom Ministerium für
Volksbildung der DDR (3. Nachtrag, Berlin 1953).
116 Delmont (s. Anm. 115), S. 34.
117 Delmont (s. Anm. 115), S. 430.
118 Wells, H. G.: Die ersten Menschen auf dem Mond. Roman. München 1996,
S. 173.
119 Wells (s. Anm. 118), S. 201. Die letzten Kapitel des Romans präsentieren eine »Na-
turgeschichte der Seleniten«, die stark an die satirisch getönten ›ethnologischen‹
›Kryptopische‹ Zeit-Räume 527
neues literarisches Motiv: das der unterirdischen Stadt. Und es sind in der
Tat die unterirdischen Städte, als Teil des Technisch-Unterirdischen,120 die im
späten 19. Jahrhundert ›karfunkelnde‹ Erdhöhlen und katabatische Grotten
als kryptopische Zeit-Räume allmählich verdrängen.
Von den Nekropolen und Katakomben der Antike über die unterirdi-
schen Städte des frühen Christentums bis zu den Kanalisationen und U-
Bahn-Schächten der modernen Metropolen: Der subterrane Urbanismus hat
eine Fülle von profanen und sakralen Bauten hervorgebracht. Entsprechend
vielfältig gestaltet sich das Thema in der Literatur des 19. und frühen 20. Jahr-
hunderts.121 Zu unterscheiden wären vier Varianten: 1. die durch archäologi-
sche Funde inspirierte Entdeckung einer toten, aber völlig erhaltenen antiken
Stadt, wobei Werke wie Edward Bulwer-Lyttons historischer Roman The
Last Days of Pompeii (1834) von phantastischen Science-fiction-Texten wie
Louis-Claude de Saint-Martins Le crocodile (1899) oder H.P. Lovecrafts The
Nameless City (1938) zu differenzieren sind; 2. die Wohnstätte eines archa-
ischen Volks, das wie in Maurice Champagnes Verne/Bulwer-Kompilation
La Cité des premiers hommes (1928) die guten vorsintflutlichen »coutumes
primitives«122 zwar weiterhin pflegt, dem wissenschaftlichen Erkenntnisstand
der Erdoberfläche aber um gut 100 Jahre vorauseilt;123 3. die postapoka-
lyptische menschliche Wohnstätte wie das überflutete London in Richard
Jefferies After London (1885), die Unterwasserstadt ›Mariana‹ aus Felix
Berichte erinnert, die Edward Bulwer-Lyttons Erzähler in The coming Race über die
Bewohner des Erdinneren anfertigt.
120 Neben dem Motiv der unterirdischen Stadt und dem des Bergwerks, das auch im
20. Jahrhundert noch eine gewisse Rolle spielt (vgl. z.B. Günter Grass’ Hundejahre,
1963, oder Hermann Burgers Die Künstliche Mutter, 1982), entwickelt sich der Tun-
nel zu einem z.T. kryptopisch verwendeten Motiv des Technisch-Unterirdischen (vgl.
Bernhard Kellermanns Der Tunnel, 1913, oder Luigi Mottas Il tunnel sottomarino,
1914).
121 Vgl. eventuell auch: LeBlanc, Thomas (Hg.): Die phantastische Stadt. Wetzlarer
Schriftenreihe der Phantastischen Bibliothek (noch nicht erschienen).
122 Champagne, Maurice: La Cité des premiers hommes. Paris o.J. [1928], S. 155. Der
Name der Stadt ist ›Noah‹… (ebd., S. 162). Die unterirdische ›ville féerique‹, die
der Protagonist in Maurice Renards La rumeur dans la montagne (1921, in ders.:
Romans et contes fantastiques. Paris 1990, S. 809–821, hier S. 814) nur akustisch
wahrnimmt, ist hingegen eine Erinnerung an ein Märchenbuch aus seiner Kind-
heit.
123 Zu diesem Typus gehört auch Maurice Champagnes Les sondeurs d’abîmes (1911).
Nicht die geheimnisvolle Stadt Lhassa sei die heilige Stadt des Buddhismus. Die
wirkliche ›ville mystérieuse‹ entdecken Ingenieure versteckt in den Tiefen des Hi-
malaya, »formée de plus de soixante terrasses immenses« (Champagne, Maurice:
Les sondeurs d’abîmes. Paris 1951, S. 218). Vgl. die in okkultistischen Kreisen kol-
portierte Sage von der unterirdischen Stadt ›Agartha‹ oder ›Agart/ia‹, der ›inneren
Welt‹ der indischen Mythologie, z.B. in: Ossendowski, Ferdinand: Tiere, Menschen
und Götter. Frankfurt a.M. 1923.
528 Sabine Haupt
124 Die Übersetzung des rumänischen Originals lautet Die Unterwasserstädte (München
1977).
125 Harbou, Thea von: Metropolis. Hg. v. Herbert W. Franke. Frankfurt a.M. u.a. 1984, S. 165.
126 Ebd., S. 61.
127 Die beiden Findelkinder Candine und Marjolin fühlen sich in den Tunneln der Pariser
Eisenbahn wie »séparés du monde, avec le continu piétinement de Paris, en haut,
sur le carreau.« (Zola, Emile: Le ventre de Paris. Paris 2002, S. 260).
128 Benjamin, Walter: »Antikisches Paris, Katakomben, Demolitions, Untergang von
Paris«. In: Gesammelte Schriften. Bd. V,1, hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt a.M.
1991, S. 133–155, hier: S. 135. Vgl. auch folgende Bemerkung zum ›archäologi-
schen‹ Erinnerungsprozeß: »Die Sprache hat es unmißverständlich bedeutet, daß das
Gedächtnis nicht ein Instrument für die Erkundung des Vergangnen ist, vielmehr das
Medium. Es ist das Medium der Erlebten wie das Erdreich das Medium ist, in dem
die alten Städte verschüttet liegen. Wer sich der eignen verschütteten Vergangenheit
zu nähern trachtet, muß sich verhalten wie ein Mann, der gräbt.« (Walter Benjamin:
»Ausgraben und Erinnern«. In: Gesammelte Schriften. Bd. IV,1, hg. von Tillman
Rexroth. Frankfurt a.M. 1991, S. 305–438, hier: S. 400).
129 Benjamin (s. Anm. 128), S. 137. Vgl. auch: Wismann, Heinz (Hg.): Walter Benjamin
et Paris. Paris 1986.
›Kryptopische‹ Zeit-Räume 529
Hugos Les misérables (1862), einem Werk, in dem auf geradezu prototypische
Weise die Möglichkeiten und Grenzen der städtischen Kryptopie vorgeführt
werden. In einem von Benjamin nicht genannten Kapitel des Romans trifft
Hugo eine wesentliche historische Differenzierung. Er unterscheidet nämlich
den alten, ›geheimnisvollen‹ Untergrund von Paris130 von dem in den ersten
Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts hygienisch modernisierten. Was in den alten
Kloaken des ›anderen Paris‹, dem, so Hugo, »intestin de l Léviathan«,131 nur
sehr langsam ›verdaut‹ wurde und daher als kryptopisches Reservat von an
der Oberfläche verschwundener städtischer Vergangenheit dienen konnte,132
geht im modernen Untergrund endgültig verloren: »Aujourd hui l égout est
propre, froid, droit, correct.«133 Was, so Benjamin, »Jahrhunderte hindurch«
gewissermaßen organisch »gewachsen« ist, wird nun saniert und in seinen
Verdauungsprozessen technisch beschleunigt.
Mit dieser Form der Vergangenheitshygiene wird auch die Waldnym-
phe aus Hans Christian Andersens Dryaden (1868) konfrontiert, als sie zur
Pariser Weltausstellung von 1867 reist. Bei ihrer touristischen Besichtigung
der frisch renovierten Stadtkanalisation, von der es heißt, sie sei ein wah-
res »Wunderwerk der Neuzeit«,134 begegnet sie einem anderen Naturwesen:
einem »alte[n] große[n] Rattenvater mit abgebissenem Schwanz«,135 der den
Verlust der »romantische[n] Zeit«136 beklagt. Seit der Modernisierung der
Kloaken vermisse er die »schönen Zeiten unserer Urgroßväter und Urgroß-
mütter. Damals war es eine große Sache, hier herunterzukommen. Das war
ein Rattennest, ganz anders als Paris! […] Die Zeit der Romantik ist dahin,
130 Das Motiv des schauerromantischen, auch an Kryptopien der angelsächsischen ›Go-
thic novel’ (z.B. in Horace Walpoles The Castle of Otranto (1765), William Beckfords
The History of Caliph Vathek (1786), Sophia Lees The recess (1783) oder, in deren
Nachfolge, Jan Potockis Le manuscrit trouvé à Saragosse, (1805–1815)) anknüpfen-
den unterirdischen Paris, Satans ›demeure souterraine’, so Baudelaire in Le joueur
généreux (Le spleen de Paris, 1869, XXIX), durchzieht die gesamte französische
Literatur des 19. Jahrhunderts bis hin zu Gaston Lerouxs populärem Paris-Krimi
Le fantôme de l’Opéra (1910) und wird von dort in die deutsche Literatur (re-)im-
portiert, die um 1900 das unterirdische Wien, Prag oder Berlin entdeckt (vgl. z.B.
Gustav Meyrinks Der Golem, 1915).
131 Hugo, Victor: Les misérables. Lausanne 1957, S. 953.
132 »L’égout, dans l’ancien Paris, est le rendez-vous de tous les épuisements et de tous les
essais. […] L’égout, c’est la conscience de la ville. Tout y converge, et s’y confronte.
[…] Ce pêle-mêle est une confession. Là, plus de fausse apparence, aucun plâtrage
possible.« (ebd., S. 956f.).
133 Ebd., S. 962. Vgl. Combes, Claudette: Paris dans ›Les Misérables‹. Nantes 1981; und
Diaz, José Luis (Hg.): Victor Hugo ›Les Misérables‹: ›La preuve par les abîmes‹.
Paris 1994.
134 Andersen, Hans Christian: »Die Dryade«. In: Märchen. Bd. 3. Frankfurt a.M. 1975,
S. 197–223, hier: S. 212.
135 Andersen (s. Anm. 134), S. 214.
136 Andersen (s. Anm. 134), S. 214.
530 Sabine Haupt
auch in unserem Rattenneste, wir haben hier unten frische Luft und Petroleum
bekommen.«137 Die sauberen Paradiese der urbanen Technik machen jedoch
nicht nur den Ratten zu schaffen, auch die Waldnymphe hat bald genug von
der neuen Zeit und löst sich in Wasserdunst auf. Hugos Beschreibung des
Pariser Untergrunds, bei der das Verstreichen von Zeit und Historie als Sedi-
mentierungsprozeß faßbar wird, der mit seinen Ablagerungen die Kanalwege
verstopft und im Zuge moderner Hygienemaßnahmen schließlich aus dem
Blickfeld verschwindet, beinhaltet eine – bei Andersen selbstironisch nuan-
cierte – melancholische Perspektive, die zwar nicht den irreversiblen Zeitver-
lauf in Frage stellt, wohl aber die Entsorgung der städtischen Memoria.
Daß sich jedoch auch in der Moderne die unterirdische Stadt noch als
kryptopisches Dispositiv eignet, zeigt ein Blick auf Gerhard Roths Essay
Die zweite Stadt (1990). Analog zum alten Paris dient hier der – trotz Sanie-
rungen weiterhin heterotopisch wirkende – Wiener Untergrund als Refu-
gium für das Unabgegoltene und Untote der Stadtgeschichte. Hier hausen
die Gespenster der kollektiven Verdrängung, die in Roths Beobachtungen
nicht etwa beschworen und zur Wiedergeburt animiert, sondern als imma-
terielle Bestandteile eines Archivs interpretiert werden. Das Geheimnis des
Wiener Untergrunds besteht in der Gegenwärtigkeit von Vergangenheit: »Tag
und Nacht fließt der Kloakenfluß unter der Erde, unter der sich die zweite
Stadt verbirgt. Doch Tag und Nacht sind in Wien nur scheinbar voneinan-
der getrennt. Über ein letztes nicht durchschaubares System ist es möglich,
daß sie hier stetig ineinander übergehen«.138 Dieses »nicht durchschaubare
System«, ein Erbstück aus Romantik und Restauration, spült den »Kultur-
schutt unserer Vorfahren«139 wieder nach oben. Was in jenem »sagenumwobe-
nen Labyrinth« aus »Zysternen und Magazine[n]«,140 unterirdischen Archiven
der Nationalbibliothek, Kapuzinergruft, Katakomben, Kanalisationen und
Bergwerks-Stollen lagert, wird bei Roth zum – literarisch rekonstruierbaren
– Indiz für die historischen Schattenseiten der Stadt, für die in den Gängen
des ›Grauen Hauses‹ oder in den Schaukästen des Heeresgeschichtlichen
Museums ausgesparten Ereignisse der Vergangenheit. Im Gegensatz zum
schauerromantischen Dekorum trivialer Stadtmystifikationen wie Gustav
Meyrinks Der Golem (1915) richtet Roth, wie 100 Jahre zuvor bereits Hugo
und Zola, seine Aufmerksamkeit auf das Unsichtbare der Stadtgeschichte.
Auch in seinem kryptopischen Setting wird der unterirdische Raum zur nar-
rativen Projektionsfläche einer an der Oberfläche spurlos verschwundenen
Vergangenheit.
Abb. 1:
Zeichnung der Tulkahöhle (1876) von Anna Weinland,
der Gattin von David Friedrich Weinland, Autor des Romans Rulaman (1878).
Aus: Frank Brunecker (Hg.): Rulaman, der Steinzeitheld.
Ausstellungskatalog. Tübingen/Berlin 2003
532 Sabine Haupt
Abb. 2:
Giovanni Battista Piranesi: Prospettivo dello stesso Delubro (1762–64).
Aus: Corinna Höper (Hg.): Giovanni Battista Piranesi. Die poetische Wahrheit.
Ausstellungskatalog. Ostfildern-Ruit 1999
›Kryptopische‹ Zeit-Räume 533
Abb. 3:
Christoph Heinrich Kiep: Lord und Lady Hamilton
bei der Freilegung eines antiken Grabes bei Nola (1791).
Aus: Fritz Emslander (Hg.): Reise ins unterirdische Italien.
Grotten und Höhlen in der Goethezeit. Ausstellungskatalog. Karlsruhe 2002
534 Sabine Haupt
Abb. 4:
Louis Mayer: Nebelhöhle, Tropfsteinhöhle (vor 1837).
Aus: Fritz Emslander (Hg.): Reise ins unterirdische Italien.
Grotten und Höhlen in der Goethezeit. Ausstellungskatalog. Karlsruhe 2002
›Kryptopische‹ Zeit-Räume 535
Abb. 5:
Schallplattencover zum Roman Reise zum Mittelpunkt der Erde von Jules Verne.
Aus: Eric Weissenberg: Jules Verne, un univers fabuleux.
Ausstellungskatalog. Lausanne 2004
536 Claudia Öhlschläger
Es scheint mir nicht, sagte Austerlitz, dass wir die Gesetze verstehen, unter denen sich
die Wiederkunft der Vergangenheit vollzieht, doch ist es mir immer mehr, als gäbe
es überhaupt keine Zeit, sondern nur verschiedene, nach einer höheren Stereometrie
ineinander verschachtelte Räume [...].1
Dieser Beitrag widmet sich der topographischen Struktur von W.G. Sebalds
poetischer Transformation historischen Wissens. Wenn hier von ›Topogra-
phie‹ die Rede ist, dann deshalb, weil Sebalds Texte in prominenter Weise
Verfahren entwickeln, die das Verhältnis von Wissen, Zeit und Raum im
Kontinuum des Textes gestalten.2 Dies zeigt die Bewegung des Erzählers
durch Räume, Gebäude und Landschaften, an die sich individuelle und kol-
lektive Geschichten knüpfen. Seine Arbeit an der Rekonstruktion dieser
Geschichten, in die er zuweilen die betroffenen Zeugen einbezieht, schöpft
aus dem kulturellen und historischen Wissensfundus der Jahrhunderte. Dabei
zeigt sich, daß die Organisation von Wissen die lineare Dimension zeitlicher
Entwicklung durchmißt, daß aber Gesetze der Temporalität in erzähltech-
nischer wie in semantischer Hinsicht mit räumlichen Mustern kollidieren.
Sebalds literarische Texte sind nicht linear/chronologisch ausgerichtet, auf ein
bestimmtes Problem hin fokussiert, dessen Bewältigung es einzulösen gelte,
sondern eröffnen intertextuelle und intermediale Fluchtlinien. Ereignisse,
Erinnerungsbruchstücke, Vorstellungsbilder, Bild- und Schriftdokumente bil-
1 Sebald, W.G.: Austerlitz. München 2001, S. 265. Im Text fortan mit <A> und Sei-
tenzahl zitiert.
2 Weigel, Sigrid: »Zum ›topographical turn‹. Kartographie, Topographie und Raumkon-
zepte in den Kulturwissenschaften«. In: KulturPoetik Bd. 2,2 (2002), S. 151–165, hier
S. 157.
Die Bahn des korsischen Kometen 537
den ein Netzwerk, das dieser Literatur ihr offenes Gepräge gibt.3 Die Ver-
netzung von Wissensbeständen, die Entgrenzung des literarischen Textes auf
ein Universum von Texten, Bildern und Kontexten hin, bringt eine räumliche
Dimension ins Spiel, welche die Ebene der poetischen Repräsentation von
Wissen bzw. ihre narrative Entfaltung betrifft.
Eine andere, semantische Dimension des Räumlichen ist dort zu finden,
wo sich in Sebalds Texten Wissen an die Orte seiner Genese gebunden zeigt,4
also dort, wo beispielsweise in Austerlitz am Ort nationalsozialistischer Ver-
brechen, wie dem belgischen Fort Breendonk, grundsätzliche Überlegun-
gen über das Verhältnis von Architektur und Gewalt angestellt werden. Die
Suche des Ich-Erzählers nach den verlorenen Spuren des Protagonisten führt
in Austerlitz mehrmals über das Studium der Gebäude, hegen doch beide,
Austerlitz und der Erzähler, ein Interesse für »baugeschichtliche Dinge«.
(A, S. 12) Austerlitz plant eine Studie über die »Familienähnlichkeiten«,
die zwischen Gebäuden mit öffentlicher Funktion, wie Bahnhöfe, Justizpa-
last, Gefängnissen oder Bibliotheken bestünden. (A, S. 48) Als ein bauge-
schichtliches Symbol nackter Gewalt erscheint das ehemalige Auffang- und
Straflager der Deutschen, Breendonk, das bis zum August 1944 bestand und
von der es im Text heißt, daß sie eine »einzige monolithische Ausgeburt der
Hässlichkeit und der blinden Gewalt« sei.
Auch als ich später den symmetrischen Grundriß des Forts studierte, mit den Auswüch-
sen seiner Glieder und Scheren, mit den an der Stirnseite des Haupttrakts gleich Augen
hervortretenden halbrunden Bollwerken und dem Stummelfortsatz am Hinterleib, da
konnte ich in ihm, trotz seiner nun offenbaren rationalen Struktur, allenfalls das Sche-
ma irgendeines krebsartigen Wesens, nicht aber dasjenige eines vom menschlichen
Verstand entworfenen Bauwerks erkennen. (A, S. 31f.)
Blind ist diese räumlich manifest gewordene Gewalt nicht zuletzt deshalb,
weil sie formlos ist, weil sie mit den Maßstäben der Zivilisation nicht entzif-
fert werden kann und sich trotzdem in die logische Konsequenz des zivilisato-
rischen Rationalismus einfügt. Breendonk nähert sich in seiner Formlosigkeit
organischen Gebilden an, wobei die Grenzen zwischen belebt und unbelebt,
zwischen organisch und anorganisch, zwischen animalisch und menschlich
zerfließen. Das Monströse verschafft sich hier als etwas, das Grenzen tilgt,
Raum. »Ausbuchtungen« und »Kehlen«, »Schwären« und »Schlieren«, »Glie-
der« und »Scheren«, »Augen« und »Hinterleib« – die Festung präsentiert
sich als eine Schrecken erregende Ausgeburt des Kriegshandwerks, als eine
»Aberration« des zivilisatorischen Fortschritts, der sich hier in seiner »furcht-
erregenden Primitivität« (A, S. 32) zu erkennen gibt.5
Abb. 1:
Festung Breendonk. Aus: W.G. Sebald: Austerlitz. München/Wien 2004
Sowohl die semantische als auch die strukturelle Dimension des Räumlichen
ist mit der von Sebald in den Vordergrund gestellten Thematik des Erinnerns
verbunden. Ein abschüssiger Gang in der Festung Breendonk führt in eine
Kasematte, deren Untiefen beim Erzähler Erinnerungsbilder hervorrufen,
Eindrücke aus seiner Kindheit, die Übelkeit verursachen. Der Gang durch
die Festung wird zu einem Gang durch die Erinnerung an die eigene und an
die fremde Geschichte.
Genau kann niemand erklären, was in uns geschieht, wenn die Türe aufgerissen wird,
hinter der die Schrecken der Kindheit verborgen sind. Aber ich weiß noch, daß mir
damals in der Kasematte von Breendonk ein ekelhafter Schmierseifengeruch in die
5 Paul Virilio hat in seinem Band Bunker-Archäologie wichtige Hinweise bezüglich des
Verhältnisses von Bunkerarchitektur und Gewaltförmigkeit gegeben. Virilio entziffert
an den von ihm selbst photographierten Bunkern am Atlantikwall aus dem Zweiten
Weltkrieg die Monströsität dieser massiven Betonarchitekturen, deren gleichsam orga-
nischer Charakter daraufhin angelegt sei, sie in die Natur zu integrieren, sie gleichsam
der Natur mimetisch anzugleichen. Virilio, Paul: Bunker-Archäologie. München 1992.
Die Bahn des korsischen Kometen 539
Nase stieg, daß dieser Geruch sich, an einer irren Stelle in meinem Kopf, mit dem mir
immer zuwider gewesenen und vom Vater mit Vorliebe gebrauchten Wort »Wurzel-
bürste« verband, daß ein schwarzes Gestrichel mir vor den Augen zu zittern begann
und ich gezwungen war, mit der Stirn mich anzulehnen an die von bläulichen Flecken
unterlaufene, griesige und, wie mir vorkam, von kalten Schweißperlen überzogene
Wand. Es war nicht so, daß mit der Übelkeit eine Ahnung in mir aufstieg von der Art
der sogenannten verschärften Verhöre, die um die Zeit meiner Geburt an diesem Ort
durchgeführt wurden, denn erst ein paar Jahre später las ich bei Jean Améry von der
furchtbaren Körpernähe zwischen den Peinigern und den Gepeinigten, von der von ihm
in Breendonk ausgestandenen Folter, in welcher man ihn, an seinen auf den Rücken
gefesselten Händen, in die Höhe gezogen hatte, so daß ihm mit einem, wie er sagt,
bis zu dieser Stunde des Aufschreibens nicht vergessenen Krachen und Splittern die
Kugeln aus den Pfannen der Schultergelenke sprangen und er mit ausgerenkten, von
hinten in die Höhe gerissenen und über den Kopf verdreht geschlossenen Armen in
der Leere hing [...]. (A, S. 37f.)
Die Annäherung an die Tortur, die Jean Améry in den Räumen der Festung
Breendonk erlitt, erfolgt als Gang durch verschiedene Bild- und Erinnerungs-
schichten, wobei eine chronologische Ordnung zugunsten der diskontinuierli-
chen Abfolge von Eindrücken aufgegeben wird. Der Erzähler inszeniert hier
eine Art proustsche mémoire involontaire: ein ekelhafter Schmierseifengeruch
ruft unwillkürlich die Erinnerung an das Wort »Wurzelbürste« und den Vater
hervor, und an dieses Wort, mit dem sich ein ganzer Bedeutungshorizont von
autoritärer Gewalt bis hin zu Reinigungsphantasmen verbindet, an dieses
Übelkeit verursachende Wort knüpft sich die Ahnung der in diesen Räumen
stattgefundenen Folterprozesse. Die sich in körperlichen Affekten artikulie-
rende Ahnung bestätigt sich gleichsam nachträglich, und zwar in der Lektüre
von Jean Amérys autobiographischem Essay »Die Tortur«, aus dem der Erzäh-
ler fast wortwörtlich zitiert. Der Hinweis darauf, daß sich die Folter zur Zeit
seiner Geburt ereignet habe, bestätigt noch einmal mehr, daß hier versucht
wird, körperlich erlittenen Schmerz in den Schreibprozeß desjenigen, der ihn
zu erinnern und schriftlich zu fixieren versucht, einzubringen. Neben dem
Konzept der mémoire involontaire wird hier aber ebenso Walter Benjamins
archäologisches Gedächtnismodell wirksam, das dieser in seinem Denkbild
»Ausgraben und Erinnern« skizziert hat. Der Prozeß des Grabens, der Prozeß
der Freilegung verschiedener Erinnerungsschichten, erhält hier die gleiche
Bedeutung wie das ausgegrabene Objekt der Geschichte. Benjamin schreibt:
So müssen wahrhafte Erinnerungen viel weniger berichtend verfahren als genau den
Ort bezeichnen, an dem der Forscher ihrer habhaft wurde. Im strengsten Sinne episch
und rhapsodisch muß daher wirkliche Erinnerung ein Bild zugleich von dem der sich
erinnert geben, wie ein guter archäologischer Bericht nicht nur die Schichten angeben
muß, aus denen seine Fundobjekte stammen, sondern jene andern vor allem, welche
vorher zu durchstoßen waren.6
6 Benjamin, Walter: »Ausgraben und Erinnern«. In: Ders.: Denkbilder. Frankfurt a.M.
1994, S. 100f.
540 Claudia Öhlschläger
Lenkt man den Blick auf die strukturelle Dimension des Räumlichen in
Sebalds Texten und ihre memoriale Organisation, so präsentiert sich hier
ein literarischer Gedächtnisraum, in dem verschiedene Texte zueinander in
einen Dialog treten, der eigene Text sich mit der Textur anderer verwebt.
Erinnert werden im Zitat und der zitathaften Umschrift nicht nur andere
Texte, sondern auch mediale und diskursive Prozesse der Vermittlung und
Lesbarkeit von Erinnerung. Daraus folgt, daß nicht nur zu erinnernde Inhalte,
sondern die Art ihrer Repräsentation und die daraus resultierende Bedeu-
tung von Erinnerungsträgern Gegenstand Sebaldscher Erzählungen bilden.
Das Netzwerkgefüge Sebaldscher Texte kennzeichnet zwei Verlaufsrichtun-
gen: Einerseits gibt es eine vertikale Bewegung der Lesbarkeit von Wissen,
die man mit Sebalds oben schon angedeutetem archäologischem Zugriff auf
die Vergangenheit in Zusammenhang bringen kann. Er lehnt sich hier an
Gedächtniskonzepte des frühen 20. Jahrhunderts an: An Freuds topologi-
sches Gedächtnismodell, demzufolge sich Erinnerungsspuren in verschiede-
nen Systemen des psychischen Apparates deponieren,7 aber auch an Walter
Benjamins Grabungs- und Schichtenmodell, demzufolge die archäologische
Tätigkeit des Grabens und steten Umgrabens mindestens so wichtig ist wie
das ausgegrabene Fundstück.
Wer sich der eignen verschütteten Vergangenheit zu nähern trachtet, muß sich verhal-
ten wie ein Mann, der gräbt. Vor allem darf er sich nicht scheuen, immer wieder auf
einen und denselben Sachverhalt zurückzukommen – ihn auszustreuen wie man Erde
ausstreut, ihn umzuwühlen, wie man Erdreich umwühlt. Denn »Sachverhalte« sind
nicht mehr als Schichten, die erst der sorgsamten Durchforschung das ausliefern, um
dessentwillen sich die Grabung lohnt.8
9 Warburg, Aby »Der Bilderatlas Mnemosyne«. Hg. von Martin Warnke unter Mitarbeit
von Claudia Brink. Gesammelte Schriften II.1. Berlin 2000. Vgl. zu diesem Komplex
Öhlschläger, Claudia: »W.G. Sebald – Matthias Grünewald«. In: Fliedl, Konstanze
(Hg.): Kunst im Text. Basel/Frankfurt a.M.
10 Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Rhizom. Berlin 1977, S. 11.
11 Deleuze/Guattari (s. Anm. 10), S. 22f.
542 Claudia Öhlschläger
16 Rainer Warning hat diese Tendenz zur Spatialisierung in der Literatur der europäischen
Moderne unter dem Stichwort »Erzählen im Paradigma« unter Bezugnahme auf Fou-
caults Heterotopie-Modell entwickelt. Warning, Rainer: »Erzählen im Paradigma.
Kontingenzbewältigung und Kontingenzexposition«. In: Romanistisches Jahrbuch
Bd. 52 2002, S. 176–209. Ders.: »Pariser Heterotopien. Der Zeitungsverkäufer am
Luxembourg in Rilkes ›Malte Laurids Brigge‹.« München 2003 (Sitzungsberichte
der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-Historische Klasse,
Jahrgang 2003, Heft 1, 36 Seiten).
17 Warning (s. Anm. 16), S. 7f. Foucault entwickelt diese imaginäre Qualität am Beispiel
des Spiegels, von dem es heißt, daß ich mich dort sehe, wo ich nicht bin. Ders. (s.
Anm. 4), S. 39.
18 Foucault (s. Anm. 4), S.76.
19 Warning (s. Anm. 16), S. 8. Foucault (s. Anm. 4).
20 Warning (s. Anm. 16), S. 8.
544 Claudia Öhlschläger
war und wodurch die unendliche Bewegung des Diskurses begründet und begrenzt
wurde. Künftig wird die Sprache ohne Anfang, ohne Endpunkt und ohne Verheißung
wachsen. Die Bahn des nichtigen und fundamentalen Raumes zeichnet von Tag zu
Tag den Text der Literatur.21
Verfahren der Produktion von literarischer Opazität finden sich in Bezug auf
die Rekonstruktion der ›Bahn des korsischen Kometen‹ beispielsweise dort,
wo es um die Wirkkraft von Mythen und Anekdoten geht, die sich an die
Figur Napoleons heften. Vielleicht ließe sich sagen, daß gerade die Anekdote
in ihrer Eigenschaft, an ein historisches Substrat gebunden zu sein, sich aber
mittels einer pointierten und fiktionalen Überspitzung des darzustellenden
Sachverhalts aus dem historischen Diskurs auszugliedern, ein Paradebei-
spiel für die Konterdiskursivität von Literatur darstellt. Anekdoten, und hier
beziehe ich mich auf eine kulturwissenschaftliche Theorie des Anglisten Joel
Fineman, bringen in den sukzessiven Verlauf von Geschichte mit Anfang,
Mitte und Ende eine Öffnung hinein, in der die Phantasie, die Fiktion sie-
delt. Sie können im Hinblick auf ihre pointierte Ausrichtung als Einbruch
des Kontingenten in ein System der Geschlossenheit und der Kontinuität
betrachtet werden.22 Fineman nutzt das Homonym »the whole« (Das Ganze)/
»the hole« (Loch), um die doppelte Funktion des anekdotischen Gebildes
zu demonstrieren: Die Anekdote reißt eine Öffnung ins Ganze, ohne ihre
Beziehung zu ihm aufzugeben. Finemans Anekdotentheorie verdeutlicht, daß
sich historische oder zeitgenössische Realität im Prozeß des mit Fiktionen
angereicherten Sprechens und Erzählens transformiert. Die Anekdote pro-
duziert auf dem Weg der Übermittlung des historischen Substrats eine Art
imaginäres Potential, sei es auf der Ebene der Sprechsituation, sei es auf der
Ebene des Mediums Sprache selbst.
An Sebalds Prosastück »Kleine Exkursion nach Ajaccio«23, in dem das
Anekdotische im Vordergrund steht, läßt sich sehr genau zeigen, inwiefern
historische Zeit in einen Zeitraum des Imaginären hinübertritt. Bei seinem
Besuch des Musée Fesch in Ajaccio stößt der Erzähler auf eine Sammlung
napoleonischer Memorabilien und Devotionalien: Darunter befinden sich mit
24 Fuchs, Anne: Die Schmerzensspuren der Geschichte. Zur Poetik der Erinnerung in
W.G. Sebalds Prosa. Köln/Weimar/Wien 2004, S. 190: »Die Flucht des Gedächtnisses
in solch eifersüchtig bewachte Gedächtnisorte bewirkt also gerade nicht die inten-
dierte Resakralisierung der Geschichte, sondern vielmehr eine ironische Brechung
der Perspektive. So ist der von den Motten zerfressene Uniformrock ein äußerst un-
taugliches Instrument, an die Größe des Napoleonischen Zeitalters zu erinnern. Ihr
zerfallener Zustand macht sie vielmehr zum Sinnbild der Vergeblichkeit der heroischen
Geschichtsfabel.«
25 Fuchs (s. Anm. 24), S. 183f.
546 Claudia Öhlschläger
Die Einsicht des Erzählers, daß sich der »Verlauf der Geschichte« nach
»irgendeinem, von keiner Logik zu entschlüsselndem Gesetz« entwickelt und
seine Richtung oft »im entscheidenden Moment unwägbarer Winzigkeiten«
verändert (CS, S. 17), daß also der Verlauf der Geschichte von Kontingenzen
bestimmt ist, berührt die Struktur der Geschichtsrezeption, die von imaginä-
ren Momenten durchzogen bleibt. Wenn die »genaueste Wissenschaft von der
Vergangenheit« kaum näher an die von keiner Vorstellungskraft zu erfassende
Wahrheit heran reicht« (CS, S. 17), so weist diese doppelte Negation auf eine
grundsätzliche Wahrnehmungs- und Erkenntniskritik, was den Umgang mit
historischem Material anbelangt. Keine Vorstellungskraft reicht jemals aus,
um der historischen Wahrheit nahe zu kommen; und doch impliziert jede
Annäherung an historische Wahrheit die imaginäre Verarbeitung historischer
Episteme. In dieser Perspektive übt Sebalds Prosatext »Kleine Exkursion nach
Ajaccio« zwar eine Distanznahme gegenüber historiographischen Diskursen,
die, wie Fuchs dies formuliert, einer »romantischen Geschichtsallegorese«
zuarbeiten.26 Gleichzeitig aber zeigt er durch die Inanspruchnahme und das
ironische Spiel mit anekdotischen Elementen die literarische Konterdiskur-
sivität insofern, als das Was des Erzählten gegenüber dem Wie in den Hin-
tergrund tritt. Die sprachliche Ebene der Vermittlung wird für vermittelte
Inhalte immer weniger durchlässig, oder anders gesagt: Sprache und damit
der mediale Modus von Geschichtsreflexion wird zum markierten Bestandteil
der Bedeutungsproduktion.
Die imaginäre Dimension der Geschichtsreflexion kann weiterhin an einer
Passage aus dem V. Kapitel der Ringe des Saturn verdeutlicht werden, in der
der Erzähler von seinem Besuch des Schlachtfelds bei Waterloo berichtet. Er
sieht sich einem in einer Kuppelrotunde untergebrachten Panorama gegen-
über, »in dem man von einer im Zentrum sich erhebenden Aussichtsplattform
die Schlacht [...] in alle Himmelsrichtungen übersehen kann.« (RS, S. 151)
Die Übersicht auf die naturgetreu nachgebildete Schlachtschauspiel verwehrt
jedoch den Zugang zu dem, was sich tatsächlich abgespielt hat. Die »Kunst
der Repräsentation der Geschichte«, so heißt es, beruhe auf einer »Fälschung
der Perspektive«. (RS, S. 152) Die Position des historischen Überblicks, für
den das Panorama als eine der bedeutendsten optischen Präsentationsfor-
men des 19. Jahrhunderts einsteht,27 wird in Frage gestellt zugunsten der
Einbildungskraft des Betrachters, in der Historie sich über die imaginäre
Freisetzung von Affektwerten belebt.
Ich habe an jenem Nachmittag im Panorama noch ein paar Blechmünzen in einen Ka-
sten gesteckt und mir die Beschreibung der Schlacht auf Flämisch angehört. Verstanden
habe ich von den verschiedenen Vorgängen höchstens die Hälfte. [...] Ein deutliches
Bild ergab sich nicht. Weder damals noch heute. Erst als ich die Augen schloß, sah ich,
daran erinnere ich mich genau, eine Kanonenkugel, die auf schräger Bahn eine Reihe
von Pappeln durchquerte, daß die grünen Zweige zerfetzt durch die Luft flogen. Und
dann sah ich noch Fabrizio, den jungen Helden Stendhals, blaß und mit glühenden
Augen in der Schlacht herumirren und einen vom Pferd gestürzten Obristen, wie er
sich gerade wieder aufrafft und zu seinem Sergeanten sagt: Ich spüre nichts als nur
die alte Wunde in meiner rechten Hand. (RS, S. 152f.)
Der Verlust des Sehvermögens bildet die Voraussetzung für eine inwendige
Perspektivierung des Kampfgeschehens und dessen empathetischer Rekon-
struktion. Und doch stellt Sebald der gefälschten Übersicht die Einfühlung
nicht als authentischere Zugangsweise gegenüber. Vielmehr wird gezeigt, daß
die Möglichkeit zur Täuschung durchaus eine Steigerung der imaginativen
Memorialkraft bewirkt. Und diese imaginative Memorialkraft erhält nicht nur
auf der Ebene sprachlicher Mittel, wie Konnotationen, Mehrfachcodierun-
gen, Rhetorik etc. eine Präsenz, sondern zusätzlich durch die Photographien,
die dem Imaginären im Text buchstäblich Raum geben, indem sie ihm eine
Form geben.
Ein weiteres Beispiel für Sebalds poetische Arbeit an der Transformation
historischen Materials in poetische Imaginationsräume findet sich in Auster-
litz. Dort nämlich, wo der Protagonist die Bedeutung seines Namens von
seinem Geschichtslehrer André Hilary erfährt, der ihm Geschichte buchstäb-
lich ›von unten‹ vermittelt. André Hilary, ein Napoleonbegeisterter, konnte,
so berichtet Austerlitz, »die Bahn, die der von ihm so genannte korsische
Komet über den Himmel gezogen hatte, von ihrem Anbeginn bis zu ihrem
Erlöschen im Südatlantischen Ozean mit sämtlichen der von ihr durchquerten
Konstellationen und von ihr illuminierten Ereignisse und Personen an jedem
beliebigen Punkt der Aszendenz oder des Niedergangs ohne die geringste
Vorbereitung sich vergegenwärtigen, nicht anders, als sei er selber dabeige-
wesen.« (A, S. 101f.) Hilary verfügt, wie es heißt, über die Gabe eines sou-
veränen Betrachterblicks, der die Schachzüge Napoleons und seiner Gegner
»mit der kalten Intelligenz eines unparteiischen Strategen« zu analysieren
vermag; eingeprägt aber habe sich insbesondere das, was der Geschichtsleh-
rer wegen eines Bandscheibenleidens auf dem Rücken am Fußboden liegend
vorgetragen hat. (A, S. 102) Und dann folgt ein detailliertes Referat der
Beschreibung des Schlachtfeldes von Austerlitz, wie sie Hilary geliefert hat,
eine mit theatralen Vorstellungsbildern angereicherte Vergegenwärtigung des
Kampfgeschehens,28 die ganz auf Einfühlung, nicht aber auf die Erzeugung
von Authentizität abgestellt ist.
28 Anne Fuchs sieht auch hier in Anlehnung an eine Typologie von Hayden White die
romantische Geschichtsallegorese am Werk. Fuchs (s. Anm. 24), S. 187.
548 Claudia Öhlschläger
Unsere Beschäftigung mit der Geschichte, so habe Hilarys These gelautet, sei eine
Beschäftigung mit immer schon vorgefertigten, in das Innere unserer Köpfe gravierten
Bildern, auf die wir andauernd starrten, während die Wahrheit irgendwoanders, in ei-
nem von keinem Menschen noch entdeckten Abseits liegt. Auch mir, setzte Austerlitz
hinzu, ist von der Dreikaiserschlacht, trotz der zahlreichen Beschreibungen, die ich
von ihr gelesen habe, nur das Bild vom Untergang der Alliierten in Erinnerung ge-
blieben. Jeder Versuch, den Ablauf des sogenannten Kampfgeschehens zu begreifen,
geht unweigerlich über in diese eine Szene, in welcher die Scharen der russischen und
österreichischen Soldaten zu Fuß und zu Pferde auf den gefrorenen Satschener Weiher
fliehen. Ich sehe Kanonenkugeln eine Ewigkeit lang stillstehen in der Luft, sehe andere
einschlagen in das Eis, sehe die Unglücklichen mit hochgerissenen Armen von den
kippenden Schollen gleiten, und sehe sie, seltsamerweise, nicht mit meinen eigenen
Augen, sondern mit denen des kurzsichtigen Marschalls Davout [...]. (A, 105f.)
29 Mit Blick auf die Thematisierung von Medialität in der zeitgenössischen Kunst Vogel,
Juliane: »Horizontal/Vertikal. Bild und Schrift zwischen den Achsen«. In: Neumann,
Gerhard/Öhlschläger, Claudia (Hg.): Inszenierungen in Schrift und Bild. Bielefeld
2004, S. 205–225.
30 Sebald, W.G.: Luftkrieg und Literatur. Mit einem Essay zu Alfred Andersch. München
1999. Im Text fortan mit <LL> und Seitenzahl zitiert.
Die Bahn des korsischen Kometen 549
33 Atze, Marcel: »Koinzidenz und Intertextualität. Der Einsatz von Prätexten in W.G.
Sebalds Erzählung ›All’Estero‹«. In: Loquai, Franz (Hg.): W.G. Sebald. Eggingen
1997, S. 151–175.
34 Deleuze/Guattari (s. Anm. 10), S. 34.
Die Bahn des korsischen Kometen 551
Mit beiden Blickrichtungen verbindet sich die Skepsis, daß jede Erkenntnis
umgeben sei von einem »undurchdringlichen Dunkel. Was wir wahrnehmen,
sind nur vereinzelte Lichter im Abgrund des Unwissens, in dem von tiefen
Schatten durchwogten Gebäude der Welt. Wir studieren die Ordnung der Dinge,
aber was angelegt ist in ihr, sagt Browne, erfassen wir nicht.« (RS, S. 30)
Die Figur Napoleons und seine intertextuelle Dimensionierung in Sebalds
literarischem Werk führt zu einem Organisationsmuster, an dem sich das
Doppelspiel von systematischer Wissensorganisation und ihrer ständigen
Metamorphose durch immer neue Verknüpfungsmöglichkeiten noch einmal
genauer in den Blick nehmen läßt. Es handelt sich um die Kristallisation,
um einen chemischen Vorgang also, der den Zeitpunkt markiert, an dem ein
Stoff kristallisiert, man könnte auch sagen, sich verästelt. Kristalline Formen
weisen eine isomorphe, eine regelmäßige Struktur auf, eine Struktur, auf die
Sebald in den Ringen des Saturn im Zusammenhang mit Thomas Browne,
dem englischen Arzt, zu sprechen kommt. Dieser habe an der lebendigen und
der toten Materie die Struktur des »Quincunx« entdeckt, »das gebildet wird
von den Eckpunkten eines regelmäßigen Vierecks und dem Punkt, an dem
dessen Diagonalen sich überschneiden.« (RS, S. 31) Auch in kristallinischen
Stoffen, deren Moleküle in Kristallgittern regelmäßig angeordnet sind, »geo-
35 Sebald, W.G.: Die Ausgewanderten. Vier lange Erzählungen. Frankfurt a.M. 82002,
S. 44. Im Text fortan mit <DA> und Seitenzahl zitiert.
552 Claudia Öhlschläger
gen Supplements: einem Gipsabdruck ihrer linken Hand, die auf Stendhals
Schreibtischplatte liegt: »Diese Hand bedeutet ihm nun beinahe ebensoviel,
wie Métilde ihm je hätte bedeuten können. Insbesondere ist es die leichte
Krümmung des Ringfingers, die ihm Emotionen von einer Heftigkeit verur-
sacht, wie er sie bisher noch nicht erfahren hat.« (SG, S. 26) Die Intensität
des Liebesgefühls entfaltet sich weniger an der realen Person, sondern gemäß
dem Vorgang der Denaturalisierung bei der Kristallisation (»Aufhebungen
der Natur«; DA, S. 344), an einem künstlichen Supplement.
Abb. 2:
Gipsabdruck von Métildes Hand.
Aus: W.G. Sebald: Schwindel. Gefühle. Frankfurt a. M. 42002
Stendhal entwickelt in seinem Essay über die Liebe (De l’amour 1822), in
dem er seine unglücklichen Liebesbeziehungen bearbeitet, die Theorie von
der kompensatorischen Leistung eines großen Gefühls, das dem Vorgang der
Kristallisation gleiche.
In den Salzbergwerken von Salzburg wirft man in die verlassenen Tiefen des Stollens
einen winterlichen kahlen Baumzweig; zwei oder drei Monate später zieht man ihn
wieder heraus, bedeckt mit glitzernden Kristallen: die kleinsten Ästchen, nicht dicker
als eine Meisenkralle, sind besetzt mit einer Unzahl beweglicher, blendender Diaman-
ten; man kann den ursprünglichen Zweig nicht wiedererkennen. Was ich Kristallisati-
on nenne, ist die geistige Tätigkeit, die an allem, was sich darbietet, die Entdeckung
macht, daß das geliebte Wesen neue Vorzüge hat.40
40 Stendhal: Über die Liebe. Essay. Deutsch von Franz Hessel. Mit Fragmenten, einem
Anhang aus dem Nachlaß des Autors und einer Anmerkung von Franz Blei. Zürich
1981, S. 33f. Im Text fortan mit <StL> und Seitenzahl zitiert.
554 Claudia Öhlschläger
Die Kristallisation läßt sich als Gleichnis verstehen für die Einbildungskraft
des Liebenden, für den Schmuck, mit dem er das geliebte Objekt belegt,
um seine Gedanken und Gefühle bekräftigt zu sehen. Es handelt sich hier-
bei um einen produktiven Prozeß, der vergleichbar ist dem Wachsen von
Salzkristallen an einem in die Salzburger Salinen versenkten Zweig. Auch
die Liebe wächst: Der Liebende entdeckt immer neue Vorzüge des geliebten
Gegenübers, um das spannungsreiche Spiel von Bewahrheitung und Selbst-
täuschung bzw. Illusionsbildung aufrecht zu erhalten, und mit jedem Tag
entfaltet sich eine neue Blüte.
Du willst die Geliebte zärtlich, sie ist zärtlich; hernach willst du sie stolz wie die
Emilie des Corneille, und obgleich diese Eigenschaften wahrscheinlich unvereinbar
sind, erscheint sie augenblicklich mit einer römischen Seele. Das ist die moralische
Ursache, warum die Liebe die stärkste der Leidenschaften ist. Bei den andern Lei-
denschaften müssen sich die Wünsche den kalten Wirklichkeiten anpassen; hier sind
es die Wirklichkeiten, die sich eiligst nach den Wünschen formen [...]. (StL, 56f.)
Wenn die Liebe die Wirklichkeit nach den Wünschen formt, so zerfließt
der Maßstab des Realen. Es ist exakt diese Entgrenzung von Realität und
Imagination, von Wahrheit und Täuschung aus dem Akt der Wahrnehmung
heraus, der für Sebalds poetologischen Umgang mit historischem Wissen
bedeutsam wird. Ein Zweig, der, »von Tausenden von Kristallen« überzogen,
Mme Métilde Gherardi bei einem gemeinsamen Besuch der unterirdischen
Galerien des Halleiner Salzbergwerks als Geschenk übergeben wird, avan-
ciert hier zum Sinnbild jener Liebe, die Stendhal in einem zunächst nicht
veröffentlichten Entwurf von De l’amour unter anderen personalen Vorzei-
chen erzählt. Während Stendhal in der Fassung von 1822 die Vorstellung von
der Kristallisation nur in wenigen Zeilen verhandelt, erzählt dieser Entwurf
mit dem Titel »Le rameau de Salzbourg« von einem autobiographischen
Erlebnis mit Mme Gherardi im Kreis einer italienischen Gesellschaft, die
das Halleiner Bergwerk besichtigt. Aus dem Augenblick einer verliebten
Geste, die ein bayerischer Offizier Mme Gherardi entgegenbringt, entwik-
kelt der Erzähler das Gleichnis von der Liebe als Kristallisation, womit die
Bedeutung des von Sebald ausgespielten Arguments der Wahrnehmung in
den Vordergrund tritt:
Die Wirkung Ihrer edlen italienischen Züge, Ihrer Augen, derengleichen er noch nie
gesehen, auf diesen jungen Mann ist genau wie die, welche die Kristallisation auf den
kleinen Hagebuchenzweig da in Ihrer Hand, der Ihnen so reizend scheint, ausgeübt
hat. Entblättert und kahl, war er sicher nichts weniger als blendend. Die Salzkristal-
le haben seine schwärzlichen Ästchen mit glänzenden Diamanten in solcher Menge
bedeckt, daß man nur noch an wenigen Stellen den Zweig sieht, wie er wirklich ist.
(StL, 393)
Während sich dieses »etwas seltsame Bild« der Kristallisation bei Stendhal
der Phantasie der Frau Gherardi einprägt und diese von der Theorie einer
Wechselwirkung von Blick, Imagination und Begehren angetan ist, wird in
Sebalds intertextueller Verarbeitung des Ereignisses die illusionsbildende
Die Bahn des korsischen Kometen 555
Allein die Vermutung, daß die Wirklichkeit die Einbildung einholen und
die Illusionskraft der Liebe zerstören könnte, löst Schrecken aus. Die Liebe
erweist sich als eine »Chimäre«, als ein autoreferentielles System,41 das sich
von der geliebten Person löst und sich aus sich selbst heraus zu generieren
beginnt. Der diesbezüglich berühmt gewordene Aphorismus Stendhals lautet:
»L’amour est la seule passion qui se paye d’une monnaie qu´elle fabrique
elle-même«.42 Sebald greift ihn auf und spitzt ihn auf eine andere Problematik
hin zu: »In dem Maße, in dem wir die Natur nur in einem anderen Körper
noch suchten, kämen wir ab von ihr, denn die Liebe sei eine Leidenschaft,
die ihre Schulden in einer von ihr selbst erfundenen Währung begleiche, ein
Scheingeschäft also, das man zu seinem Glück ebenso wenig brauche, wie
den Apparat zum Zuschneiden der Federkiele, den er, Beyle, sich in Modena
gekauft habe.« (SG, S. 29) Zwischen der Regelmäßigkeit, mit der die Liebe
jeden Tag eine anders gestaltete Blüte hervortreiben kann, und der potenti-
ellen Unendlichkeit ihrer illusionären Ausschmückung bewegt sich auch die
Tätigkeit des Schreibenden. Darauf deuten die Federkiele hin. Sebald fokus-
siert einen Zusammenhang, der in Stendhals Liebestheorie angelegt ist: eine
Art Bedingungsverhältnis zwischen Liebe und literarischer Produktion. Denn
aus der Erfahrung unglücklich verlaufender Liebesgeschichten wurde auch im
Fall des historischen Stendhal Literatur. Ein wirklicher Durchbruch als Literat
gelang ihm erst mit der Schrift De l’amour, die er, so schreibt Sebald, »im
Frühjahr 1820 als eine Art Resumé der so hoffnungsvollen wie unglücklichen
Zeit verfaßte, die dieser Arbeit vorangegangen war.« (SG, S. 23)
Aus unglücklichen Liebesgeschichten erwachsen nicht nur Schreibakte;
diese sind ihrerseits von der Illusions- und Imaginationskraft der Kristalli-
sation geprägt. Nimmt man das Argument des »Scheingeschäfts« ernst, so
hat sich auch das Schreiben stets mit den Folgen seiner Autoreferentialität
Abb. 3:
Kristallisierter Zweig. Aus: W.G. Sebald: Die Ausgewanderten.
Vier lange Erzählungen. Frankfurt a. M. 82002
Von hier aus gesehen ließe sich festhalten, daß Sebald mit seinen Bildern
etwas zu zeigen vorgibt, was er seinen Lesern dann doch vorenthält. Die
Die Bahn des korsischen Kometen 557
IV. Ausblick
Nimmt man die Kristallisation mit Stendhal als Verwandlung von Natur in
Kultur, von Natur in Kunst, und im Horizont von Sebalds Akzentuierung als
Gleichnis für die Dopplung von »Nachahmung« und »Aufhebung« der Natur
(DA, S. 344),43 so hat man es mit einem Muster zu tun, das Grundsätzliches
aussagt über die poetische Organisation von historischem Wissen in Sebalds
Texten. Sebald verfolgt dabei einen doppelten Weg. Wenn es in »Beyle oder
das merckwürdige Faktum der Liebe« heißt, daß der langwierige Prozeß der
Kristallisation eine Allegorie zu sein schien »für das Wachstum der Liebe in
den Salzbergwerken unserer Seelen« (SG, S. 31), und bei Stendhal von den
verlassenen Tiefen des Salzburger Salzbergwerks die Rede ist, in denen sich
ein abgestorbener Ast zu einem neuen Stück Natur veredelt, so wird deutlich,
daß die Kristallisation ein Sinnbild ist für das zu Beginn des Beitrags ange-
führte Argument der Tiefenstruktur, für das Hinuntertauchen in die Schich-
ten vergangener Formationen, für die genealogische Forschung gleichsam,
aus der heraus Sebalds Erzähler seine Rekonstruktionen von historischen
Ereignissen entwickelt. Auf der anderen Seite steht die Kristallisation für
dynamische Prozesse der Illusionsbildung wie für Prozesse der Verästelung
und der Ausdehnung von Sinn, in deren Folge sich Natur denaturalisiert,
man könnte auch sagen mortifiziert. Im Prozeß der illusionsbildenden Über-
43 Die Metapher des Kristalls, darauf wurde in der Forschung mehrfach hingewiesen,
suggeriert eine ›natürliche‹ Koinzidenz von Organischem und Anorganischem, die auf
Kunstwerk und Künstler appliziert wird. Transparenz, Regelmäßigkeit, Gesetzmäßig-
keit, Stabilität sind dem Kristall zugesprochene Eigenschaften, die es erlauben, ihn
für ein (romantisches) Symbol natürlicher Organisation zu nehmen, in der das Gesetz
der Natur, des Kunstwerks und des Subjekts in einem Spiegelkabinett der Selbstrefe-
rentialität lesbar wird. Prange, Regine: Das Kristalline als Kunstsymbol. Bruno Taut
und Paul Klee. Hildesheim/Zürich/New York 1991, hier S. 2; dies.: »Das Kristalline.
In: Vitali, Christoph (Hg): Ernste Spiele. Der Geist der Romantik in der deutschen
Kunst 1790–1990. Bonn 1995, S. 608–615. Beil, Ulrich: Die Wiederkehr des Absoluten.
Studien zur Symbolik des Kristallinen und Metallischen in der deutschen Literatur der
Jahrhundertwende. Frankfurt a.M. 1988.
558 Claudia Öhlschläger
1 Für die Unterstützung dieser Forschungsarbeit danke ich dem Deutschen Akademi-
schen Austauschdienst (DAAD) und dem Conselho Nacional de Desenvolvimento
Científico e Tecnológico (CNPq); für die Gespräche über die Arbeit Klaus Scherpe,
Michael Werner und ganz besonders Eberhard Lämmert.
2 Die Ausgabe der Gesammelten Schriften von Walter Benjamin, Hg. Tiedemann, Rolf/
Schweppenhäuser, Hermann, 7 Bände und 2 Supplementbände, Frankfurt a.M. 1972–
1989, wird im folgenden mit der Sigle GS und der Bandnummer zitiert.
3 GS IV/1, S. 32–33.
4 GS V/1,2. Das Passagen-Werk. Hg. Tiedemann, Rolf. Frankfurt a.M. 1982. Für die
Bezeichnung »Passagen-Werk« findet sich bei Benjamin kein Beleg.
560 Willi Bolle
das Thema, mit dem Benjamin ab 1935 im offiziellen Programm des New
Yorker Instituts für Sozialforschung figurierte.5 Zum anderen werden damit
die materiellen und ideellen Ordnungen des Wissens bezeichnet,6 die er in
Gestalt von Entwürfen, Materialsammlungen, Exzerpten, Aufzeichnungen,
Gliederungsschemata usw. vorgenommen hat, um sich seines Gegenstands
als Geschichtsschreiber zu bemächtigen. Beide topographischen Domänen
– das Dargestellte und das Darstellende – sind eng miteinander verwoben,
und in dieser Verflechtung sollen sie hier auch vorgestellt werden.
Die erste Stufe von Benjamins Arbeit am Passagenprojekt ist eine Samm-
lung von 408 Fragmenten, in den Jahren 1927–1929 zusammengestellt unter
dem Titel »Pariser Passagen <I>«.7 Richten wir hier unsere Aufmerksamkeit
auf das wissenstopographisch Relevante, nämlich auf die Begriffe und Ord-
nungsvorstellungen, die diesem ersten, von Benjamin organisierten Wissens-
fundus zu Grunde liegen und die alle späteren Ordnungen – insbesondere
die Hauptsammlung von »Aufzeichnungen und Materialien« – entscheidend
prägen und mitbestimmen. Das Modell dieser ersten Ordnung sind die Frag-
ment-Sammlungen der Frühromantiker Friedrich Schlegel und Novalis, deren
Werk Benjamin in seiner Dissertation studiert hatte. Mit der Aufwertung des
Fragments im Sinne eines »konstruktiven Fragmentarismus« 8 stützt sich
Benjamin auf einen der ästhetischen Grundbegriffe der Moderne.9
Die Fragment-Sammlung von 1927–1929 wurde übertragen in einen sehr
viel größeren Fundus von »Aufzeichnungen und Materialien«, der ab 1934
die Grundlage von Benjamins Passagen-Forschungen bildete. Bei diesem
Wissensfundus, der vom Autor bis 1940 kontinuierlich erweitert wurde und
schließlich 910 Seiten umfaßte,10 handelt es sich um ein in 36 thematische
Konvolute gegliedertes Archiv von mehr als 3.500 Fragmenten bzw. Text-Pas-
sagen. Diese aus Exzerpten und Zitaten, Notizen und Reflexionen bestehende
Datenbank wurde auf der Grundlage einer Bibliographie bzw. Quellen-Samm-
lung von mehr als 850 Titeln erstellt,11 die eine eigene Untersuchung wert
wäre. Mit der strategischen Verwendung des Titelwortes »Passage(n)« kommt
der Doppelcharakter von Benjamins topographischem Ansatz zum Ausdruck:
zum einen sind die Pariser Galerien als urbanistisch-architektonische Orte
gemeint, die der Ware, dem Konsum und dem Vergnügen gewidmet sind;
zum anderen ist es die Konstellation von Tausenden von Text-Bausteinen,
mit denen versucht wird, die Ordnung der Stadt in die Syntax eines histo-
riographischen Textes zu übersetzen.
Sollte diese Wissensordnung die Form eines Buches annehmen? Es gibt
gute Gründe dafür, diese Frage für eine gewisse Zeit (bis zum Projekt des
Baudelaire-Buches 1938) zu bejahen, endgültig aber doch zu verneinen.12
Auf jeden Fall ist es philologisch genauer – anstatt über ein nicht zustande
gekommenes Passagen-›Buch‹ zu spekulieren –, von dem Fragmentenfundus
der Passagen als »working lexicon«13, Archiv, Zettelkasten, »Hypertext«14
oder Baukasten zu sprechen. Jede dieser Bezeichnungen hat besondere Kon-
notationen und beleuchtet spezifische Aspekte des Textes. Ein Lexikon ist
die Materialiensammlung insofern, als die Konvolute alphabetisch geglie-
dert sind; andererseits ist sie irgendwie auch die Parodie eines Lexikons, da
einige Buchstaben fehlen und unter demselben Buchstaben oft Heterogenes
versammelt ist. Die Bezeichnungen ›Archiv‹ und ›Zettelkasten‹ legen nahe,
daß es sich zwar um geordnet gespeicherte, aber auch um lediglich provi-
sorische Informationen handelt, die bereitstehen für weiter zu entwickelnde
wissenschaftliche und intellektuelle Operationen. Das Vorhandensein von
Hypertext-Elementen, die fortlaufende Erweiterung und das ständige Bauen
sowie die essentielle Mobilität der Archive verleihen dieser Wissensordnung
einen Baustellen- bzw. Baukastencharakter.
Diese Überlegungen werfen also die grundsätzliche Frage auf, ob das Frag-
mentenarchiv der Passagen – in dem sich das von Benjamin über die Haupt-
stadt des 19. Jahrhunderts zusammengetragene Wissen konzentriert – nur in
Funktion anderer, aus seinen Materialien zu konstruierender Texte existiert
oder ob es eine selbständige Funktion besitzt. Als Hypertext, so kann man
sagen, genügt das Archiv sich selbst: es ist ein als räumlicher Text angeleg-
11 GS V/2, S. 1277–1323.
12 Vgl. Eiland, Howard/McLaughlin, Kevin: »Translators’ Foreword«. In: Benjamin,
Walter: The Arcades Project. Cambridge/Mass. 1999, S. XI: »At any rate, it seems
undeniable that despite the informal, espistolary announcements of a »book« in the
works, an eigentlichen Buch, the research project had become an end in itself.«
13 Buck-Morss, Susan: The Dialectics of Seeing. Walter Benjamin and the Arcades
Project. Cambridge/Mass. 1989, S. 207.
14 Bolle, Willi: »Die Metropole als Hypertext. Zur netzhaften Essayistik in Walter Ben-
jamins Passagen-Projekt«. In: German Politics and Society, Issue 74, Vol. 23, No. 1
(Spring 2005), S. 88–101.
562 Willi Bolle
Die Gliederung des Exposés, mit der Parallelsetzung von je einer histori-
schen Persönlichkeit und einem Merkmal der Stadt Paris, ist eindeutig topo-
graphisch geprägt: »Fourier oder die Passagen«, »Daguerre oder die Panora-
men«, »Grandville oder die Weltausstellungen«, »Louis-Philippe oder das
Interieur«, »Baudelaire oder die Straßen von Paris«, »Haussmann oder die
Barrikaden«. Im Vordergrund steht die Stadtgeschichte mit Paris als Protago-
nist. Die Einzelheiten der dargestellten Topographie, also das Thema Paris,
müssen hier allerdings im Hintergrund verbleiben zugunsten der methodolo-
gischen Fragen der Topographie der Darstellung, d.h. der Art und Weise der
Wissensorganisation. Als erstes läßt sich feststellen, daß Benjamin mit diesen
sechs Textblöcken nicht nur ein Sechstel seiner 36 Materialien-Konvolute,
sondern ausschließlich topographische Elemente aufgerufen hat: »A Passagen
[...]«, »Q Panorama«, »G Ausstellungswesen [...]«, »I das Interieur [...]«, »P
die Straßen von Paris« und »E Haussmannisierung, Barrikadenkämpfe«.
Diese Reihenfolge der Konvolute muß in einem Kommentar nicht unbe-
dingt orthodox nachvollzogen werden. Methodologisch ergiebiger scheint
mir, aus Benjamins Exposé – mit seinen an Filmeinstellungen und -sequen-
zen erinnernden Sätzen und Abschnitten – das Verfahren der Montage her-
auszulesen und damit das Prinzip, daß die Konvolute mit ihren Fragmenten
auch in anderer, freier Reihenfolge, angeordnet werden können. Damit errei-
chen wir nicht nur ein flexibleres Verständnis der Topographie von Paris,
sondern vor allem die Einsicht in den ganz und gar unlinearen, hypertext-
haften Charakter von Benjamins Geschichtsschreibung. In der Tat begleitet
die topographische, netzartige Form der Materialsammlung den im Exposé
in der Zeit entwickelten Geschichtsdiskurs auf Schritt und Tritt, und die-
ser erhellt seinerseits wie ein Kommentar den Sinn jener Sammlung. Bei
diesem Umgang mit den Texten geht es mir nicht in erster Linie darum,
im einzelnen empirisch nachzuvollziehen, »wie es« mit der Entstehung des
Passagenprojekts »eigentlich gewesen« ist, sondern vielmehr zu erkennen,
welche Form von Wissensorganisation Benjamin in Bewegung gesetzt hat.
Die von ihm im Exposé skizzierte methodologische Vorgabe – wie das Netz
einer polyphonen Geschichtsschreibung funktioniert – soll hier theoretisch
und didaktisch ausgewertet werden.
Nach dieser Prämisse lassen sich die genannten sechs Konvolute auch in
einer anderen Reihenfolge anordnen, zum Beispiel wie folgt: »Q Panorama«,
insbesondere Panorama von Paris, als erste Annäherung an die Stadt; »P
die Straßen von Paris«, unterstützt durch einen Stadtplan; »I das Interieur
[...]«; »A Passagen [...]«, als Synthese bzw. Überblendung von Straße und
Interieur; »E Haussmannisierung und Barrikaden[...]« als Schauplatz sozialer
Konflikte; »G Ausstellungswesen [Weltausstellungen]«, mit Paris als Welt-
Metropole, Zentrum eines kolonialen Imperiums. Die derart topographisch
fundierte Stadtgeschichte könnte durch sechs weitere, ebenfalls topographi-
sche Konvolute noch bereichert werden: »C antikisches Paris [...]«; »l die
Seine, ältestes Paris«; »T Beleuchtungsarten«; »R Spiegel«; »M der Flaneur«
564 Willi Bolle
und damit verbunden »m Müßiggang«. Wie wir sehen, sind 12 von 36, also
ein Drittel von Benjamins thematischen Konvoluten, topographischer Art; von
daher rechtfertigt sich die Benennung der hier erörterten Wissensordnung als
topographische. Der Flaneur wird dabei als eine Art Sondierungsfigur einge-
setzt, um die Kartographie, den Raum und die Geschichte der Stadt Paris zu
erschließen. Die topographische Wissensordnung ist dermaßen vielfältig und
komplex, daß damit gleichzeitig alle anderen Arten von Geschichte berührt
werden; z.B. die »Wirtschaftsgeschichte« (g) oder die »Sektengeschichte«
(p), um zwei von Benjamin angelegte Konvolute zu nennen. Auf der Grund-
lage seiner Wissenssammlung läßt sich somit ein komplexes historiographi-
sches Netzwerk identifizieren, das hier in seinen wesentlichen Teilen kurz
beschrieben werden soll.
18 Statt auf den »Kausalzusammenhang zwischen Wirtschaft und Kultur«, wie bei Marx,
kommt es Benjamin auf den »Ausdruckszusammenhang« an; s. GS V/1, S. 573f.
[N1a,6].
Metropole & Megastadt 565
19 Siehe GS V/1, S. 495f. [K2,5]: »Zur Lehre vom ideologischen Überbau. [...]«.
566 Willi Bolle
topographische Geschichte,
Stadtgeschichte: Konvolute: A, Q, G, I, P, E + C, l, T, R, M, m
politische Geschichte: (E), a, V, k
Wirtschaftsgeschichte: g, Z
Technikgeschichte: F, r, U
Sozialgeschichte (U), W, p, X:
allgemeine Anthropologie: B, (S), O, D
Kunstgeschichte: S, Y
Mediengeschichte: i, b
Literaturgeschichte: d
neue Ästhetik, Wahrnehmungsgeschichte: L, K
Reflexionen zur Geschichtsschreibung H, (K), N
Kern des Modellbuchs der Passagenarbeit J (insgesamt 33 Konvolute).
(N.B.: Dazu kommen die beiden Konvolute zur Methode (N, H) sowie das Konvolut
»J Baudelaire«, das in Teil II dieser Studie ausführlich kommentiert wird.)
Wie man sieht, handelt sich um eine polyphone bzw. simultane Form der
Geschichtsschreibung, mit der wie in einem Gewebe das Gleichzeitige und
das Ineinandergreifen der verschiedenen historischen Einzelelemente darstell-
bar gemacht wird. Freilich wird mit diesem Schema – mit diesem Netz, das
dazu dient, ein anderes Netz zu beobachten – eine Reduktion im Maßstab
von etwa 1:1.000 vorgenommen; es ist eine Synopsis der 910 Seiten der
»Aufzeichnungen und Materialien« unter dem Aspekt der Modalitäten der
Geschichtsschreibung.
In dem Maß, in dem man dieses großmaschige Netz verfeinert und es be-
nutzt, um auf der Mikroebene der 3.500 Fragmente die für jede Art von Ge-
schichtsschreibung am meisten charakteristischen Passagen herauszufiltern,
bekommt man einen detaillierten Einblick in die Sozialgeschichte der Stadt
Paris im 19. Jahrhundert. Mit der Materialsammlung ging es Benjamin zwei-
felsohne darum – das sollte hier mit Hilfe des Exposés von 1935 gezeigt
werden –, ein Repertoire und Archiv zu diesem historischen Gegenstand
zusammenzustellen. Allerdings werden die Sachverhalte von ihm nicht immer
didaktisch und allgemein verständlich präsentiert. Wer mit Hilfe Benjamins die
französische Geschichte des 19. Jahrhunderts oder auch nur des Second Empi-
res kennenlernen will, darf sich mit der Passagenarbeit allein nicht begnügen,
sondern muß auch andere Quellen heranziehen. Eine sehr nützliche Hilfe zur
besseren Erschließung des in den Passagen zusammengetragenen Repertoires
bietet der »Guide to Names and Terms« der englischsprachigen Ausgabe.21
In diesem Zusammenhang muß betont werden, daß der Vergleich von
Benjamins Methoden und Ergebnissen als Geschichtsschreiber mit denen
anderer historischer Studien unerläßlich ist und zwar von beiden Seiten.
Typisch für diesen z.Zt. noch weitgehend fehlenden Dialog ist einerseits die
kuriose Tatsache, daß im Dictionnaire du Second Empire (1995) unter dem
Stichwort »Baudelaire« Benjamins Studie »Das Paris des Second Empire
bei Baudelaire« überhaupt nicht erwähnt wird.22 Andererseits läßt sich bei
nicht wenigen Benjamin-Forschern eine Haltung narzißtischer Abkapselung,
ein selbstgenügsames Sich-Einspinnen in seine idiosynkratische Terminolo-
gie beobachten. Bleibt der Dialog mit anderen Geschichtsschreibern aus, so
wird nicht nur das Vorurteil bestärkt, daß Benjamin ›eigentlich kein richtiger
Historiker‹ war, sondern es fehlen die Maßstäbe um zu beurteilen, was er
als Geschichtsschreiber effektiv geleistet hat. Es ist an der Zeit, endlich das
zu leisten, was Rolf Tiedemann, der Herausgeber des Passagen-Werks, aus-
drücklich »nicht beabsichtigt«, nämlich »in die Diskussion der theoretischen
Fragen einzutreten, die das Passagen-Werk in Fülle stellt«.23
Eines dieser theoretischen Probleme, dem sich die vorliegende Studie von
Anfang bis Ende widmet, ist die Frage, ob und wie ein Netz zu erzählen sei.
Es handelt sich um die Herausforderung, das Netz von historischen Gleichzei-
tigkeiten, das Benjamin mit dem Wissensfundus seiner Passagen aufgespannt
hat, in einem Diskurs in zeitlicher Folge so zu entwickeln, daß schließlich
ein »Erwachen« aus jenen beiden Epochen erfolgt: aus dem Second Empire
Baudelaires und aus der von Benjamin dargestellten Zeit zwischen den zwei
Weltkriegen.
auf die Dekonstruktion des Wissens, das von der bürgerlichen Gesellschaft
und Geschichtsschreibung als Kultur-›Besitz‹ in Anspruch genommen zu
werden pflegt.
Eine totale Umwälzung der im Exposé von 1935 entworfenen proviso-
rischen Ordnung, der nach Benjamins eigener Aussage »das konstruktive
Moment [fehlte]«,24 erfolgte mit dem Bauplan des Modellbuchs, der 1981
in der Bibliothèque Nationale in Paris wiedergefunden wurde. Unter dem
Titel Baudelaire, ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus war ein Werk
aus drei Teilen geplant: I. »Baudelaire als Allegoriker«, II. »Das Paris des
Second Empire bei Baudelaire«, III. »Die Ware als poetischer Gegenstand«.25
In Funktion dieses Projekts hat Benjamin sein gesamtes Materialien-Archiv
neu gelesen und neu geordnet. Von den mehr als 3.500 Fragmenten hat er
1.745, also etwa die Hälfte, ausgewählt, wobei besonders relevant ist, daß er
diese Fragmente resümiert.26 Dieses Faktum wurde vom Herausgeber Rolf
Tiedemann allerdings vollkommen unterbewertet: für ihn sind die Resümees
qualitativ nicht mehr als »Regestenverzeichnisse«; quantitativ hat er sich
auf den Abdruck von weniger als 2 Prozent der Resümees beschränkt. 27 Da
Benjamins Fragment-Resümees eine unersetzliche Orientierungshilfe bilden
– der Leser wird vom Autor selbst durch die Topographie des Passagenpro-
jekts geführt, z.T. mit Formulierungen, die sich nur an dieser Stelle finden
– soll in diesem Aufsatz ausgiebig von ihnen Gebrauch gemacht werden.28
Thematisch hat Benjamin eine Eingrenzung des »19. Jahrhunderts« auf das
»Second Empire« vorgenommen und statt einer überblickshaften, ›allwis-
senden‹ Darstellungsweise die Perspektive in ein Subjekt – Baudelaire, als
exemplarischer Dichter der Moderne – hineinverlegt. Die moderne Metropole
wird nunmehr mit den poetischen Kategorien Baudelaires wahrgenommen,
aus denen der Autor des Passagenprojekts Kategorien der Geschichtsschrei-
bung entwickelt.
Da das geplante Buch als Ganzes nicht zustande gekommen ist – nur Teil
II wurde effektiv abgeschlossen –, soll hier anstelle der Teilniederschrift der
Bauplan des Buches analysiert werden. Mit diesem Bauplan tritt die Ordnung
des Passagen-Archivs nach 36 thematischen Materialsammlungs-Kategorien
(Konvoluten) in den Hintergrund zugunsten von 30 theoretisch elaborierte-
ren, ›konstruktiven‹ Kategorien, deren Konstellation wir uns als mögliche
Gliederung des Buches etwa so vor Augen stellen können:
Die Reihenfolge dieser Kategorien ist nur für den tatsächlich abgeschlossenen
Teil II nachweisbar, für die anderen beiden Teile muß sie konjekturell bleiben.
In unserem Zusammenhang ist das allerdings sekundär, da keine Rekonstruk-
tion dessen beabsichtigt ist, ›was Benjamin wohl geschrieben haben könnte‹,
sondern eine Auseinandersetzung mit der von ihm hergestellten Spannung
zwischen linearer und netzhafter Geschichtsschreibung.
Obwohl der Bauplan nicht die letzte Textualisierungsstufe darstellt, darf er
dennoch als »die avancierteste Strukturierung« des Passagenprojekts29 ange-
sehen werden. Nicht nur, weil Benjamin damit und nur damit »das umfang-
reiche Ganze in allen Teilen klar vor [sich] sehen [konnte], bevor [er sich] an
die Niederschrift [...] machte«,30 sondern auch deshalb, weil die heutige elek-
tronische Schriftkultur uns dazu veranlaßt, den nicht sequentiellen, mobilen
Hypertext mit seinen mannigfaltigen Kombinationsmöglichkeiten gegenüber
dem linearen, ein für allemal fixierten Text aufzuwerten.31 Mit dem Bauplan
29 Espagne, Michel/Werner, Michael: »Ce que taisent les manuscrits: les fiches de Walter
Benjamin et le mythe des ›Passages‹«. In: Didier, Béatrice/Neefs, Jacques (Hg.): Pen-
ser, classer, écrire. De Pascal à Pérec. Vincennes 1990, S. 105–118, hier: S. 107.
30 Brief an Theodor und Gretel Adorno vom 28.8.1938. In: GS I/3, S. 1087.
31 Die Hypertext-Strukturen von Benjamins Passagenprojekt treten besonders deutlich
hervor, wenn man den Bauplan aus der Perspektive des darin verwendeten Farbsiglen-
systems studiert: siehe Abbildung und als Erläuterung dazu Bolle, Willi (Anm. 14)
Metropole & Megastadt 571
hat Benjamin, wie drei Jahre zuvor im Exposé, wiederum ein Wissensnetz
eingerichtet, um den großen Materialienfundus zu beobachten und zu struktu-
rieren – aber ein ganz und gar neues Netz: »N1a,1 das Stahlgerüst der mate-
rialistischen Geschichtsschreibung« (Ms. Nr. 460), wie es emblematisch von
dem ›Eisennetz‹ des Eiffelturms gebildet wird. Vor dem Hintergrund dieses
Netzes möchte ich hier drei Vektoren analysieren, die den Diskurs der mit
dem Modellbuch angestrebten Wissensordnung methodologisch prägen: den
»Abdruck Baudelaires im 19. Jahrhundert«, Baudelaires Poetik der Destruk-
tion und Benjamins dekonstruktive Geschichtsschreibung.
»J51a,5 unberührter Abdruck Baudelaires im neunzehnten Jahrhundert«
(Ms. Nr. 440), so lautet Benjamins Resümee eines Fragments, das für die
Kategorie der »Rettung« – und damit für seine Konzeption der »rettenden
Kritik« – methodologisch besonders relevant ist. »Was ich vorhabe ist, Bau-
delaire zu zeigen, wie er ins neunzehnte Jahrhundert eingebettet liegt. Der
Abdruck, den er darin hinterlassen hat, muß [...] hervortreten [...]«, so wird
das Resümee im Volltext des Fragments näher erklärt. »Rettung« ist zusam-
men mit »Rezeption« und »Tradition« eine der methodologischen Rahmen-
Kategorien des Modellbuches. Mit der »Rettung« Baudelaires als einer der
»großen Figuren des Bürgertums« [J77,1] versteht sich Benjamins Studie als
Modell einer kritischen Geschichtsschreibung im Gegensatz zur bürgerlichen
Art der Überlieferung und Traditionsbildung.
Wie sieht der Abdruck Baudelaires im 19. Jahrhundert im einzelnen aus?
Der größte Teil der Belege findet sich in den zum mittleren Teil des Modell-
buches gehörenden Kategorien: von »Rebell und Spitzel« über »literarischer
Markt« und »der Flaneur und die Masse« bis zu »der Heros« und »Pariser
Antike«. Die topographische Methode wird hier deutlich verfeinert, ›von
innen heraus‹ neu konzipiert, gelangt damit aber auch an ihre Grenze. Das
zeigt u.a. die Unmöglichkeit, die Befunde zu Baudelaires gesellschaftlichem
Standort und seinem literarischen Feld, d.h. zu seinem gesellschaftlich-ideo-
logischen Kontext, strikt abzugrenzen gegenüber seiner Poetik und seinen
künstlerischen Voraussetzungen, die im einleitenden Teil des Modellbuches
vorgestellt werden sollten. Anhand einer kleinen Auswahl von Fragmenten
bzw. deren Resümees werden wir sehen, wie diese Elemente ineinander-
greifen und wie das äußere topographische Wissensnetz durch eine stärker
poetisch und theoretisch geprägte Wissensordnung ersetzt wird.
Abb. 1:
Die konstruktiven Kategorien des Passagen-Modells in Form von Farbsiglen
Durch die Formen und Farben entstehen andere Arten von links zwischen
den Kategorien, die die verbal hergestellten linearen Zusammenhänge netz-
artig überlagern.
Metropole & Megastadt 573
sen noch seine poetische Aufgabe aus den Augen. Wenn er z.B. Gautier mit
den Worten kritisiert: »il ne fait qu’enfiler et perler des mots en manière de
colliers d’osages« [J7a,5], so bescheinigt dieser ihm umgekehrt ausdrücklich
die Qualität der »J25a,3 Ausschaltung der Rhetorik« (Ms. Nr. 462): »Autant
que possible, il [Baudelaire] bannissait de la poésie l’éloquence« [25a,3].
Die poetische Aufgabe, die Baudelaire sich gestellt hat, wird von Benjamin
in zwei Fragment-Resümees prägnant definiert: »J51a,7 Aufgabe des Heros:
der Moderne Gestalt geben« und »M10a,2 eine Prosa [schaffen] nach dem
Bilde der großen Stadt (spleen de Paris)« (beide Ms. Nr. 455). Im Original-
Zitat des Fragments [M10a,2] – »C’est surtout de la fréquentation des villes
énormes [...] que naît cet idéal obsédant« – wäre das entscheidende Wort, wie
Benjamin es anderer Stelle getan hat, besser mit ›Riesenstädte‹, im Vorgriff
auf die ›Megastädte‹ unserer Zeit, zu übersetzen.
»Baudelaire schrieb gewisse seiner Gedichte um andere, vor ihm gedich-
tete zu zerstören« [J59a,3]. Wie diese Passage zeigt, sind Baudelaires strate-
gische Abgrenzungen gegenüber den Berufskollegen im Bereich des Über-
gangs von der Bestimmung seines literarischen Feldes zur Definition seiner
Poetik der Destruktion zu verorten. In diesen Zusammenhang gehört auch die
Distanz des Dichters gegenüber bestimmten literarischen Konventionen. Von
der Kritik an der Natur-Verehrung der Romantiker: »J24a,1 impudence de la
nature florissante«, »J69,1 Entweihung der Wolken«, »J25,3 [...] Abneigung
gegen den blauen Himmel«, »J21a,7 sternenlose Nacht des ›balcon‹« (Ms.
Nr. 462, 462, 454, 434); über »J32a,5 Invektive[n] gegen den Amor« und
»J48a,1 [...] gegen die Mythologie [der] école païenne«, »J56a,12 Verzicht
auf den Zauber der Ferne« (Ms. Nr. 465, 465, 435); Erklärungen »J5a,2
[...] gegen l’art pour l’art«, »J66a,1 [...] gegen progrès«, »J40,2 gegen den
Begriff der avantgarde« (Ms. Nr. 443, 454, 439); bis zur Ablehnung der
Gelegenheitsdichtung (»J37,7 refus de l’occasion«) zugunsten einer poeti-
schen »Aufgabe« (Ms. Nr. 455) – mit diesem Block von Stellungnahmen,
alle negativer Art, läßt sich von den poetischen Verfahren her der Standort
Baudelaires im Literaturbetrieb seiner Zeit kompakt umreißen.
Baudelaires Poetik der Destruktion liegt, Benjamin zufolge, in seiner
»sensitiven Anlage« begründet, eine Kategorie, die zusammen mit »Melan-
cholie«, »Allegorie« und »ästhetische Passion« in Teil I des geplanten Buches
(»Baudelaire als Allegoriker«) eine zentrale Rolle spielen sollte. Ganz all-
gemein gesagt zielt Baudelaires Poesie darauf, in radikaler Form die Sen-
sibilität der Moderne zum Ausdruck zu bringen (vgl. [J33a,3]). Unter den
Facetten des ›Dagegen‹-Seins und der Revolte läßt sich als Grundstimmung
und Quelle seiner Poesie die ›Melancholie‹ erkennen (vgl. [J8a,2]). Ihre spe-
zifisch moderne, urbane Form ist der ›Ennui‹. Wie der Dichter in einem Brief
an seine Mutter schreibt, »J46a,5 langweilt [er] sich in Paris wie noch nie
jemand auf der Welt« (Ms. Nr. 453). Als »D5,4 erster Lyriker des schlech-
ten Wetters« (Ms. Nr. 453) evoziert er die »J72,4 brumes et pluies [...]«,
den »J6,2 ennui apparaissant comme un soleil pâle« und die »J2a,6 coupole
Metropole & Megastadt 575
37 «Entwickeln« im Sinne des von Benjamin zitierten André Monglond: »Le passé a
laissé de lui-même dans les textes littéraires des images comparables à celles que la
lumière imprime sur une plaque sensible. Seul l’avenir possède des révélateurs assez
actifs pour fouiller parfaitement de tels clichés.« GS V/1, S. 603f. [N15a,1].
578 Willi Bolle
III. Sollen arm und reich die gleiche Luft atmen? oder:
Welches ist die Hauptstadt des 21. Jahrhunderts?
Der Artikel, der am 1. Januar 2000 in der New York Times über die Megastadt
São Paulo erschienen ist,39 liest sich wie ein Kommentar zu Bertolt Brechts
»Über den Einzug der Menschheit in die großen Städte zu Beginn des drit-
ten Jahrtausends«. Als Herausgeber der demnächst erscheinenden brasiliani-
schen Fassung des Passagen-Werks stellt sich für den Verfasser dieser Stu-
die insbesondere auch die Frage der Verwertung von Benjamins Œuvre im
lateinamerikanischen Kontext. Inwiefern können Benjamins Kategorien der
Beschreibung einer europäischen Metropole – Paris als »Hauptstadt des 19.
Jahrhunderts« – zur Erfassung von Megacities der Dritten Welt wie z.B. São
Paulo dienen, und inwieweit sind neue Kategorien zu erfinden? Methodo-
logisch gesehen geht es dabei um Aspekte des kulturellen Transfers40 oder
genauer, um eine Verfeinerung dieses Ansatzes im Sinne einer histoire croi-
38 Wenn auch der von Rolf Tiedemann gewählte Titel Das Passagen-Werk irreführend
ist, so kommt ihm als Herausgeber doch das große Verdienst zu, Benjamins Passagen-
Baukasten veröffentlicht zu haben.
39 Cohen, Roger: »Audis and Cell Phones, Poverty and Fear«. In: The New York Times,
1. Januar 2000, S. 28 (Heft »Visions«, Rubrik »Cities«).
40 Espagne, Michel/Werner, Michael (Hg.): Transferts. Les relations interculturelles dans
l’espace franco-allemand (XVIIIe et XIXe siècle). Paris 1988; s. darin besonders dies.:
»Deutsch-französischer Kulturtransfer als Forschungsgegenstand. Eine Problemskizze«
(S. 11–34).
Metropole & Megastadt 579
sée.41 Während der Kulturtransfer meist nur in einer Richtung studiert wird,
ist die neuere Methode explizit als »Blickwechsel«42 zwischen den Kulturen
angelegt. In diesem Sinne ist der dritte und abschließende Teil dieser Studie
einer Reflexion über die Begriffe ›Metropole‹ und ›Megastadt‹ in ihrer wech-
selseitigen Beziehung gewidmet. Das &-Zeichen im Titel, das üblicherweise
nur in Firmennamen verwendet wird, verweist darauf, daß es sich um eine
Beziehung im globalen Wirtschaftszusammenhang handelt.43 Die Intention
dieses Aufsatzes besteht darin, mittels einer Aktualisierung von Benjamins
Idee der Metropole monadologisch das »Bild der Welt in seiner Verkürzung
zu zeichnen«44 oder zumindest zu skizzieren.
Ein philologischer Blick auf das Wort ›Metropole‹ ist allein schon des-
halb notwendig, weil es in unseren Tagen ganz und gar inflationär verwen-
det wird. Jeder Radiohörer kann darauf die Probe machen, wie im täglichen
Wetterbericht mit ziemlicher Häufigkeit von ›Metropolen‹ wie Braunschweig,
Magdeburg, Lübeck und Flensburg die Rede ist, selbst Sylt wurde einmal
genannt – ein Zeichen, daß die Bedeutung des Wortes völlig ausgeblichen
wird. In dieser Situation ist es geradezu eine Verpflichtung, sich über die
in den Wörterbüchern festgelegte Sprachnorm zu informieren, und darüber
hinaus ist es lehrreich, sich auf den semantischen Werdegang des Wortes bis
zurück zu seiner ursprünglichen Bedeutung zu besinnen.
»Metropole« wird in der Brockhaus Enzyklopädie (1998) und in Meyers
neuem Lexikon (1994) definiert als »Hauptstadt mit weltstädtischem Charak-
ter«. Daneben existiert das Wort »Metropolis«, in der von den alten Griechen
entlehnten Bedeutung »die ›Mutterstadt‹, im Gegensatz zu den von ihr ausgehen-
den ›Tochter‹- bzw. Kolonial-Städten«. Anhand von Kluges Etymologischem
Wörterbuch (1995) läßt sich nicht nur der Ursprung aus griechisch méter »Mut-
ter, Erzeugerin« und pólis »Stadt« ergänzen, sondern auch die für die Wortge-
schichte wichtige Information, daß es sich sowohl um eine Stadt als auch um
einen Staat, das »Mutterland«, handeln kann. Von diesem Aspekt ist auch im gro-
ßen Duden-Wörterbuch (1999) die Rede: »(früher) Mutterland (von Kolonien)«.
Dieser von dem deutschen Wörterbuch einer ›früheren‹ Epoche zuge-
schriebene Wortgebrauch ist in einem Land wie Frankreich, das zu den großen
Kolonialmächten gehörte, bis heute viel stärker präsent. In den meisten franzö-
sischen Wörterbüchern, wie im Trésor de la langue française (1994), steht die
Bedeutung der »cité-mère, considérée par rapport aux colonies qu’elle a fon-
dées et qui dépendent d’elle« an erster Stelle vor der Bedeutung »ville princi-
pale d’un pays, d’une province ou d’une région« bzw. »ville dont le rayonne-
ment et l’influence lui font jouer le rôle de capitale«. Im Grand Dictionnaire
universel (Hg. Pierre Larousse, 1865–1890) findet sich unter »Métropole« ein
aufschlußreicher historischer Abriß, der sich wie folgt zusammenfassen läßt:
Im alten Griechenland, wo die meisten Kolonien Gründungen der mère-
patrie waren, hatten sie zwar »die Pflichten einer Tochter gegenüber der Mut-
ter«, waren aber ansonsten unabhängig, ganz im Gegensatz zu den römischen
Kolonien. Diese wurden gegründet, um den Machtbereich Roms zu erweitern,
andere Völker und Länder zu unterwerfen, zu beherrschen und in Abhän-
gigkeit zu halten. Auf der Höhe der Macht existierte in jenem Imperium die
Metropole, ungeachtet ihrer Filialen, den ›Metropolen zweiten oder dritten
Grades‹, streng genommen nur im Singular. Man muß von der römischen
Geschichte bis zur Entdeckung und Eroberung Amerikas fortschreiten, so
fährt der Text fort, um eine Metropole »im wahren Sinne des Wortes« wieder-
zufinden. Portugal und Spanien haben im 16. Jahrhundert die Grundlagen für
das moderne Kolonialsystem geschaffen. Das System bestand darin, die Kolo-
nien als kommerzielle Unternehmungen zu betrachten, die das Mutterland
nach seinem Gutdünken und zu seinem exklusiven Profit ausbeuten konnte.
In diese Zeit, so wäre hinzuzufügen, fällt in Lateinamerika die Gründung von
strategischen Filialen wie Mexiko-Stadt, Buenos Aires und São Paulo, die
sich ab Mitte des 20. Jahrhunderts explosionsartig zu Megastädten entwik-
keln sollten. Von allen modernen Metropolen, so lautet die Bilanz des Grand
Dictionnaire universel, habe England die besten Ergebnisse erzielt.
Mit dieser Skizze der antiken Metropole und der Anfänge der modernen
Metropole sind wir bei ihren beiden Hauptvertreterinnen im 19. Jahrhundert,
London und Paris, angelangt. Beide Städte, die miteinander rivalisierten und
in denen ab 1851 wechselweise die großen Weltausstellungen stattfanden,
waren in der Ära des Kapitals und zu Beginn des Imperialen Zeitalters45
die einzigen ›echten‹, universalen Metropolen. Zur Zeit des Second Empire
spielte die Kolonialpolitik – wie Walter Benjamin in einer Reihe von Frag-
menten des Passagenprojekts zeigt – eine entscheidende Rolle für das Selbst-
verständnis der Hauptstadt Paris und des französischen Staates als ›Metro-
pole‹. Begründet durch Napoleon I., war diese Expansionspolitik intensiv
schon unter der Julimonarchie betrieben worden. Besonders aufschlußreich
ist das Passagen-Fragment »d4,1 Dumas geplante Alger-Expedition« (Ms.
Nr. 434). Darin heißt es:
45 Vgl. Hobsbawm, Eric: The Age of Capital 1848–1875. London 1976; und ders.: The
Age of Empire 1875–1914. London 1987.
Metropole & Megastadt 581
Dumas père. ›En septembre 1846, le ministre Salvandy lui proposa de partir pour
l’Algérie et d’écrire un livre sur la colonie [...] Dumas [...] qui était lu au bas mot par
cinq millions de français, donnerait bien à 50 ou 60.000 mille d’entre eux le goût de
coloniser.‹
Im Sinne einer histoire croisée soll hier auch der Gegenblick dazu dargestellt
werden. Einhundertundfünfzehn Jahre nach dem von dem Erfolgsschriftstel-
ler Alexandre Dumas vorgelegten Buchprojekt über Algerien erschien eine
aus der dortigen Perspektive verfaßte Schrift, an der sich ablesen läßt, was
der seinerzeit von der französischen Regierung vertretene goût de coloniser
für die Kolonisierten bedeutete. Es handelt sich um das von Frantz Fanon
verfaßte Buch Les damnés de la terre (1961), eine aus der Perspektive des
algerischen Freiheitskampfes verfaßte grundlegende Schrift zur Kolonisie-
rung und Entkolonisierung der von den Metropolen beherrschten Länder der
Dritten Welt. Die oben untersuchte Semantik des Wortes Metropole wird von
dem Psychiater Fanon sehr präzise aktualisiert in einer politischen Aufladung,
die gleichsam das Röntgenbild zu den in den Wörterbüchern registrierten
Bedeutungen liefert: »La mère coloniale défend l’enfant contre lui-même,
contre son moi, contre sa physiologie, sa biologie, son malheur ontologi-
que.«46 Hier tritt der ursprüngliche Sinn von griechisch metrópolis als Urbs
ex qua coloniae deductae sunt,47 d.h. als Verhältnis der ›Mutter‹ (Stadt oder
Staat) zu dem von ihr abhängigen ›Kind‹, mit aller Deutlichkeit zu Tage.
In diesem Falle wird das Kind von der Mutter jedoch nicht gegen äußere
Bedrohungen, sondern gegen seine eigenen vermeintlich pathologischen und
selbstverschuldeten Veranlagungen ›beschützt‹:
Sur le plan de l’inconscient, le colonialisme ne cherchait donc pas à être perçu par
l’indigène comme une mère douce et bienveillante qui protège l’enfant d’un environ-
nement hostile, mais bien sous la forme d’une mère qui, sans cesse, empêche l’enfant
fondamentalement pervers de réussir son suicide, de donner libre cours à ses instincts
maléfiques.48
Die Metropole sieht sich also in der Rolle einer Schutzmacht, die das im
Zustand des Bösen und der Unmündigkeit verharrende ›Kind‹ auf unabseh-
bare Zeit gegen sich selbst verteidigen muß. Allerdings kann das Perverse
und Pathologische, wie Fanon in der Erwiderung des Blicks zeigt, genau so
auf der Gegenseite in der Gestalt der Metropole »als unerbittliche und blut-
gierige Stiefmutter«49 verortet werden.
Statt nun dem ›globalen Haß‹ und dem Aufeinanderprallen der Kulturen
Vorschub zu leisten, zielen Fanons Bemühungen darauf ab, über den Konflikt
auf beiden Seiten mit Hilfe eines differenzierten Bewußtmachungsprozes-
46 Fanon, Frantz: Les damnés de la terre. Paris 2002, S. 201 (1. Auflage: 1961).
47 Stephanus: Thesaurus graecae linguae. Band VI. Graz 1954, Stichwort metrópolis.
48 Fanon (s. Anm. 46), S. 201.
49 Fanon (s. Anm. 46), S. 139.
582 Willi Bolle
50 Cherki, Alice: »Préface à l’édition de 2002«. In: Fanon (s. Anm. 46), S. 14.
51 Zu Benjamins Begriff des »Entwickelns« von Texten aus der Vergangenheit, (s. Anm.
37).
52 Fanon (s. Anm. 46), S. 110f.
53 Vgl. Bolle, Willi: Physiognomik der modernen Metropole. Köln/Weimar/Wien 1994,
S. 379–382.
Metropole & Megastadt 583
Diese Feststellung läßt sich so interpretieren, daß in den Strukturen der Mega-
städte der Bauplan der Metropolen mit ihren gut funktionierenden Netzwerken
durchaus enthalten ist, meist aber in höchst problematischer Form. Von den
Netzen der Megastädte der Dritten Welt – die ohnehin nur Metropolen dritten
Ranges sind – werden viel höhere Leistungen bei viel geringeren öffentli-
chen Investitionsmöglichkeiten verlangt. Man vergleiche etwa das S- und U-
Bahn-Netz der 4 Millionen-Stadt Berlin mit dem der 18 Millionen-Stadt São
Paulo, dessen Kapazität im umgekehrten Verhältnis zur Einwohnerzahl steht.
So können die Megastädte nur am Rande des Chaos existieren; andererseits
werfen sie wie in einem Zerrspiegel das Bild der Metropolen kritisch zurück.
Es ist nun an der Zeit, daß wir, analog zu den Begriffsbestimmungen zur
»Metropole« nochmals einen kleinen Rundgang durch die Lexika machen, um
die wichtigsten Bedeutungen des Wortes »Megastadt« bzw. »Megacity« oder
»Megalopolis« zu erfassen. Im Meyer (1994) und Brockhaus (1998) finden
sich unter den ersten beiden Wörtern keine Einträge, nur unter »Megalopo-
lis«. Diese moderne Bezeichnung für ein »[riesiges] städtisches Ballungs-
gebiet« ist aus dem griechischen megalópolis »große Stadt« entlehnt. Eine
Stadt dieses Namens wurde, wie man in der Encyclopaedia Britannica (2003)
nachschlagen kann, 371–368 v. Chr. auf der Peloponnes in Arkadien als
Gegenpol gegen Sparta gegründet. An den Ufern des Flusses Helikon gelegen
und durch Zusammenlegen der Bewohner aus Dutzenden von umliegenden
Dörfern bevölkert, machte Megalopolis ihrem Namen Ehre, indem sie über
nach damaligen Maßstäben »grandiose Ausmaße« verfügte.55
Die moderne, aktuelle Bedeutung von »Megalopolis« wurde 1961 von
dem Geographen Jean Gottmann geprägt als Bezeichnung für »die fast 1000
km lange Verstädterungszone an der Nordost-Küste der USA, von Boston
über New York, Philadelphia, Baltimore bis Washington reichend, mit über
20% (1970 über 40 Millionen Einwohner) der Bevölkerung der USA auf
etwa drei Prozent der Gesamtfläche«.56 Wie die Definitionen und Beispiele
Seabord of the United States. New York 1961. An diese Tradition knüpft der von L.J.
Sharpe herausgegebene Sammelband The Government of World Cities. The Future of
the Metro Model, Chichester/New York u.a. 1995 an.
57 Jahrbuch 2004. Die Welt in Zahlen, Daten, Analysen. München 2004, S. 500f.
58 Siehe insbesondere Mongin, Olivier: »La mondialisation et les métamorphoses de
l’urbain. Mégacités, ›villes globales‹ et métropoles«. In: Esprit, März-April 2004,
S. 175–198; und Davis, Mike: »Planet of Slums«. In: New Left Review 26, März-April
2004, S. 5–34.
Metropole & Megastadt 585
Wahnsinnsstadt São Paulo59 entstanden ist, wurde der zweite Aspekt betont,
vor allem auch deshalb, weil die Menschheit als Ganzes und nicht nur ihr
privilegierter Teil den Horizont dieser Dichter bildet.
»[S]ollen arm und reich die gleiche Luft atmen? [...]« so lautet Benjamins
Resümee des Passagen-Fragments [p5a,2] (Ms. Nr. 434). Er bezieht sich auf
eine Stelle aus dem Aphorismus »Pauvres, riches« von LJB de Tourreil, der
die Reichen anredet und ihnen von den Armen spricht:
Et d’ailleurs, si vous ne voulez point les élever jusqu’à vous et dédaignez de vous mêler
à eux, pourquoi donc respirez-vous le même air, habitez-vous la même atmosphère?
Pour ne point respirer et vous assimiler leur émanation ... il vous faut sortir de ce
monde, respirer un autre air, vivre dans une autre atmosphère.
Ebenso datiert wie die obige Frage ist die Spekulation, welches wohl die
Hauptstadt des 21. Jahrhunderts sein könne. Wenn man beabsichtigt, Benja-
mins Formulierung von der »Hauptstadt des 19. Jahrhunderts« zu aktualisie-
ren, sollte man anstatt einer mehr oder weniger mechanischen Nachahmung
vielleicht besser versuchen, seine Formulierung historisch zu verorten. Der
Autor des Passagenprojekts gebrauchte den Hauptstadt- bzw. Metropolen-
begriff zwar in bezug auf die Epoche des beginnenden Imperialismus, aber
aus der Perspektive des heraufziehenden Zweiten Weltkriegs, in dem der
imperiale Wahn von Germania als der Welthauptstadt mit Millionen von
Menschenleben bezahlt wurde und schließlich scheitern sollte. Gerade von
der deutschen Geschichtserfahrung her können wir zu dem Schluß gelangen,
daß im 21. Jahrhundert, im Zeitalter weltweiter Emanzipationsbewegungen,
der Begriff einer Welt-Metropole höchst fragwürdig geworden ist. Die Alter-
native dazu hat Benjamin mit dem Motto zu seinem Paris/Baudelaire-Auf-
satz treffend formuliert: »Une capitale n’est pas absolument nécessaire à
l’homme«.60
59 Andrade, Mário de: Paulicéia desvairada. In: ders.: Poesias completas, hg. von Manfio,
Diléa Zanotto. Belo Horizonte/São Paulo 1987, S. 55–115. (Erstausgabe: São Paulo
1922).
60 GS I/2, S. 512.
586 Cornelia Zumbusch
Diskussionsbericht
sinns kenntlich. Das Verhältnis von Raumsinn und Zeitsinn prägt auch den
Zusammenhang von Topographie und Rhetorik. Die Verbindung des Motivs
der Wanderung mit der Rede vom Versfuß als Ordnungselement der Lyrik
bewegt sich zwar selbst im Bereich der Tropen. Allerdings läßt sich ein
Begriff des Rhythmus stark machen, demzufolge über Bewegung nichtnar-
rative Räume geschaffen werden: Rhythmisierung, verstanden als Artikula-
tion, produziert Differenzen, die Bewegung gliedern und damit Räumlich-
keit hervorbringen. So erzeugt der Rhythmus einen sprachlich erfahrbaren
Raum, ohne deskriptive Verfahren in Anspruch zu nehmen. Von hier aus
läßt sich Lyrik als geronnene Zeit beschreiben. Eine solche Zeitarchitektur
des Gedichts manifestiert sich einerseits in der Form der Oralität, also am
Sprechen von Gedichten. Andererseits läßt sich die typographische Anord-
nung der Verse, die »Wie Wasser von Stufe zu Stufe herab« graphisch einer
Kaskade gleichen, auch als ein temporal gefaßtes »Von Stunde zu Stunde«
lesen. Damit setzt das Gedicht ein Zeitmaß ein, das mit jeder Lektüre neu
erfahren wird. Die Frage nach dem sprachlich erzeugten Raum mündet so
in eine raumzeitliche Ordnungsfigur.
Einen Beitrag zur geopolitischen Dimension von Raummodellen, ver-
bunden mit der Frage, wie Literatur politische Handlungsräume eröffnet,
bot die Vorlage von NIELS WERBER. In der Diskussion wurde zunächst die
dreifache Koppelung des literarischen Textes mit dem kontaminierten Bereich
geopolitischer Raumideologien sowie mit Raumtheorien der Gegenwart auf-
gegriffen. Gegen den Einwand, daß die Herkunft der Begriffe des ›glatten‹
und des ›gekerbten‹ Raumes aus einem ästhetischen Kontext gekappt werde,
wurde festgehalten, daß etwa das Interesse an der Nomadologie bei Deleuze/
Guattari nicht harmlos sei. Derartige Untertöne lassen sich erst durch ihre
Konstellierung mit dezidiert geopolitischen Texten heraushören. Auch das
Konzept des Netzwerks ist keineswegs unkontaminiert. Der Netzwerkgedanke
entwickelt sich zuerst in der Biologie, wird im 19. Jahrhundert aber bereits
für die optische Telegrafie eingesetzt. Mit diesem Kommunikationsaspekt
bietet die Vernetzung früh ein Modell für Modernisierungstechniken. Zuletzt
ist auch der Generalplan Ost vom Netzgedanken durchsetzt, so daß scheinbar
demokratische Netzwerktechniken Herrschaftssysteme etablieren helfen, die
ganze Kontinente erfassen.
Das Verhältnis von Raum und Macht führte auf die mögliche Störfunktion
literarischer Räume, also zur Frage, inwieweit sich der Roman nicht nur als
affirmative Vorwegnahme geopolitischer Konzepte lesen läßt, sondern diese
auch zu unterlaufen imstande ist. Freytags Roman zeigt den Widerstreit von
Raumkonzepten, etwa wenn in Schröters Versuch, die Grenzschließung im
Verweis auf den ungestörten Handelsfluß zu umgehen, das geschlossene, ter-
ritoriale Raumkonzept des preußischen Staates an die Vorstellung von einer
Zirkulation der Güter und des Geldes stößt. Auch das Ende des Romans mit
seinem »und wieder rollt das Gold« zeigt, daß der Text nicht nur Gegensätze
aufbaut, sondern ein komplexes Ineinander-Verworbensein von Zirkulation
Diskussionsbericht 589
und Statik vorführt. Mit Hardt/Negri läßt sich diese Aufhebung von Grenzen
im Zeichen des Handels als Gegenthese zu Marx lesen, weil sie gerade die
Friktionen von Kapitalismus und Imperialismus aufzeigt.
Damit rückte schließlich das Verhältnis der herausgearbeiteten Raum-
konzepte zur narrativen Ordnung, also die möglichen Korrespondenzen oder
Kontraste zwischen narrativer Technik und komplizierter Raumordnung, in
den Mittelpunkt. Mit der Aufmerksamkeit auf die narrative Anordnung lassen
sich die Akzente der Deutung stärker auf Friktionen statt auf das reibungs-
lose Funktionieren der Konzepte legen. Wenn sich der Roman als Geschichte
des Scheiterns seines territorial gefaßten Nationalstaats lesen läßt, so kann
er womöglich auch als Dekonstruktion und nicht nur als Konstruktion eines
ideologischen Schemas gelten. Dabei verdankt Soll und Haben seinen Schluß
nur der Gattung des Romans, das in einer Doppelhochzeit ein Ende setzt, das
sonst kaum abzusehen wäre. Der Zusammenhang von literarischer Gattung
und Raumordnung wäre also in der Integrationsleistung der Romangattung
für widerstrebige Raumkonzepte zu sehen.
In der Diskussion der Vorlage von TORSTEN HAHN konzentrierte sich
die Frage nach dem Verhältnis von Literatur und geopolitischen Konzepten
stärker auf den möglichen Handlungsdruck, den Literatur erzeugt. Literatur,
so die vorgelegte These, bildet Diskursformationen nicht nur ab und kom-
mentiert sie, sondern beschleunigt das raumrevolutionierende Möglichkeits-
denken. Sie wirkt so einerseits als Katalysator, indem sie Möglichkeitsspiel-
räume eröffnet, andererseits treibt sie den ästhetischen Grundzug politischer
oder technischer Diskursformen hervor. In der systemtheoretischen Beschrei-
bung stellt sich dies als Überschreiten von Systemgrenzen durch den Import
systemfremder Kommunikation aus der Literatur in die Politik dar. Mit dieser
Beschreibung, so wurde in der Diskussion hervorgehoben, zeichnen sich neue
Möglichkeiten einer systemtheoretischen Literaturwissenschaft jenseits der
Beschreibung von Literatur als autopoetischem System ab. Werden statt der
Grenzen des Systems die Übergänge untersucht, so läßt sich das Verhältnis
zwischen Literatur und anderen Systemen über die Begriffe der Suggestion,
des Populären oder des Interessanten anders als innerhalb enger kausaler
Beziehungen erfassen.
Neben der methodologischen Ausrichtung auf die Systemtheorie wurde
vor allem das Verhältnis von literarischer Fiktion und politischer Handlungs-
anweisung diskutiert. Zunächst, so eine Anregung, ließe sich der antizipato-
rische Charakter der Literatur an eine um 1900 verbreitete Projektemacherei
anschließen. Vor diesem Hintergrund sind Sörgels Alantropa und Kellermanns
Der Tunnel als Nachwehen einer noch einzuführenden Gattung der ›Projekt-
prosa‹ zu begreifen, die bereits um 1900 Konjunktur hat. Auch wurde der Plot
des Romans genauer betrachtet. Kellermanns Roman endet mit dem größten
anzunehmenden Unfall, nämlich der Verschüttung des Bergwerks und dem
Scheitern des Projekts. Von diesem Ende einer Katastrophenphantasie aus
wird die Vorstellung von Literatur als Exponentin von Möglichkeiten, die
590 Cornelia Zumbusch
den. Dennoch blieb die Frage offen, ob urbane Recherche und historische
Erinnerungsarbeit nicht unterschiedlichen Prinzipien gehorchen, so daß sich
Metropole und Megastadt nicht aufeinander beziehen lassen, ohne daß sich
die Untersuchungsverfahren ändern müssen. Mit einer Ästhetik der Metropole
sei angesichts der Wachstumsprozesse von Megastädten ohnehin vorsichtig
umzugehen; ebenso mit einem Netzwerkbegriff, der außer Acht läßt, daß in
Megastädten ganze Bezirke eben nicht vernetzt sind, da ihnen Infrastrukturen
der Versorgung und Entsorgung fehlen.
Einleitung 595
IV.
DIE GRENZEN UND DAS FREMDE
Einleitung 597
Einleitung
1 Eder, Klaus: »Das Paradox der »Kultur«. Jenseits einer Konsensustheorie der Kultur«.
In: Paragrana 3 (1994), H.1, S. 148–173.
Einleitung 599
2 Vgl. dazu Böhme, Hartmut: »Goethe und Alexander von Humboldt. Exoterik und
Esoterik einer Beziehung«. In: Osterkamp, Ernst (Hg.): Wechselwirkungen. Kunst
und Wissenschaft zwischen Berlin und Weimar im Zeichen Goethes. Bern u.a. 2002,
S. 167–193.
600 Hartmut Böhme
Mit der Geschichte des Kolonialismus, von der die übrigen Beiträge
überwiegend handeln, sind spätestens seit dem 17. Jahrhundert Probleme
der Anthropologie verbunden. Hier eröffnen die Fragen der Grenze, des
Abgrunds, der Differenz, des Übergangs oder gar der bis an die Unentscheid-
barkeit reichende Ähnlichkeit zwischen Affe und Mensch einen geradezu
paradigmatischen Schauplatz, mit dem sich Virginia Richter beschäftigt. Das
Alter nicht nur dieser Diskussion macht, nebenher gesagt, deutlich, daß man
die »Erfindung des Menschen«3 und seine Verwissenschaftlichung nicht wie
Foucault erst ins 19. Jahrhundert situieren darf, wie überhaupt den epocha-
len Großeinteilungen Foucaults mit mehr Skepsis begegnet werden muß: sie
haben sich in ihren Grenzziehungen auf entscheidenden Feldern des Wissens
nicht bewährt. Die im Rahmen der Naturgeschichte, aber auch der verglei-
chenden Anatomie begonnene Diskussion über die Iuxtaposition von Affe
und Mensch ist exemplarisch für topisch-räumliche Wissensfiguren, die im
naturgeschichtlichen Tableau ohnehin, doch auch in weiteren Raummetaphern
wirksam waren, z.B. die Metapher chain of beeing, der Auf- oder Abstieg
einer Abstammungslinie, die Ein- oder Ausgrenzung einer Art in oder aus
einer Klasse (gehören die Primaten hierhin oder dorthin?), die Situierung von
biologischen Entitäten oben oder unten, an der pyramidalen Spitze oder am
Ursprung, die Baumstruktur der Evolution, die mit ihr verbundenen binä-
ren Verzweigungen, das Raumbild evolutionärer Ausdifferenzierung versus
das Bild stabil magazinierter Arten (Arche Noah) etc. Zwar kommen diese
Raumfiguren bei Virginia Richter vor, doch konzentriert sie sich auf die dabei
erzeugten Semantiken, nicht eigentlich auf die Raumverfahren und topogra-
hischen Wissensformen, die der Bedeutungserzeugung vorausgehen.
Eva-Maria Siegel stellt mit Georg Forster und Alexander von Humboldt
eine aufschlußreiche Konstellation her: die wissenschaftliche Expedition als
aufklärerische Alternative zum frühneuzeitlichen kolonialen Kriegs- und Beu-
tezug. Die jeweils zentralen Grundgesten der Eroberung, der Entdeckung und
der Vermessung enthalten eminent spatiale Dimensionen, die zur Bildung von
historischen Typen »kultureller Raumordnungen« führen können. Kyung-
Ho Cha hat mit dem geographischen Null-Zeichen des Äquators, das keine
materielle Referenz zu haben scheint, einen vom 16. bis zum 18. Jahrhundert
reichenden Diskurs zum Thema rekonstruiert. Dabei tritt das schon antike
Projekt der um einen unbewohnbaren Mittelkranz symmetrisch zonierten
Kartierung des mundus nunmehr in die Epoche kolonialer, wissenschaftlicher,
aber auch imaginativ-utopischer Raumordnungen. Die kultur- und wissens-
3 Dülmen, Richard van (Hg.): Erfindung des Menschen. Schöpfungsträume und Körper-
bilder 1500–2000. Köln 1998. – Muchembled, Robert: Die Erfi ndung des modernen
Menschen. Gefühlsdifferenzierung und kollektive Verhaltensweisen im Zeitalter des
Absolutismus. Reinbek bei Hamburg 1990. – Assmann, Jan (Hg.): Die Erfi ndung des
inneren Menschen. Studien zur religiösen Anthropologie. Gütersloh 1993.
602 Hartmut Böhme
4 Clifford, James/Marcus, George (Hg.): Writing Culture: The Poetics and Politics of
Ethnography. Berkeley 1986. – Todorov, Tzvetan: »›Race‹, Writing, and Culture«.
In: Gates, H.L. Jr. (Hg.): »Race«, Writing, and Difference. Chicago/London 1986,
S. 370–380. – Kadir, Djelal: The Other Writing: Postcolonial Essays in Latin Ameri-
ca’s Writing Culture. West Lafayette 1993. – Berg, Eberhard/Fuchs, Martin (Hg.):
Kultur, soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation. Frankfurt
a.M. 1993. – Bhabha, Homi K.: The Location of Culture. London 1994. – Geertz,
Clifford: Die künstlichen Wilden. Der Anthropologe als Schriftsteller. Frankfurt a.M.
1994. – James, Allison et. al. (eds.): After Writing Culture. Epistemology and Praxis
in Contemporary Anthropology. London 1996. – Bachmann-Medick, Doris (Hg.): Kul-
tur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft. Frankfurt a.M.
1996. – Geertz, Clifford: Spurenlesen. Der Ethnologe und das Entgleiten der Fakten.
München 1997.– Csáky, Moritz/Reichenberger, Richard (Hg.): Literatur als Text der
Kultur. Wien 1999.– Macho, Thomas: »›Kultur ist eine Ordensregel.‹ Zur Frage nach
der Lesbarkeit von Kulturen als Texten«. In: Musner, Lutz/Wunberg, Gotthart (Hg.):
Kulturwissenschaften: Forschung – Praxis – Positionen. Wien 2002, S. 27–45. – Schle-
sier, Renate: »Idol und Gewebe. Kultur als Bild und Text«. In: Schwindt, Jürgen P.
(Hg.): Klassische Philologie ›inter disciplinas‹. Aktuelle Konzepte zu Gegenstand und
Methode eines Grundlagenfaches. Heidelberg 2002, S. 1–25.
›Blurred copies of himself‹ 603
Der Mensch, dessen DNA zu 98% mit der des Bonobo und des gemeinen
Chimpansen identisch ist, würde, so Diamonds Annahme, von einem außer-
irdischen Zoologen, also einem neutralen Beobachter, ohne weiteres als eine
dritte Chimpansenart klassifiziert werden. ›Nur‹ die kulturellen Eigenschaf-
ten, hier Kleidung und Sprache, unterscheiden demnach den Menschen vom
Affen. Ein ähnliches Gedankenspiel, allerdings mit umgekehrtem Vorzeichen,
steht im Mittelpunkt von Will Selfs Roman Great Apes: Der Künstler Simon
Dykes erwacht nach einem Drogenrausch in einer Welt, in der die Affen die
Stellung des Menschen eingenommen haben. Die Art Homo (nicht mehr
sapiens) existiert nur noch als exotisches Tier im Zoo oder als bedrohte Spe-
zies in afrikanischen Reservaten. Die Menschen sind wild und nackt, wäh-
rend die Affen nun mit den Attributen kultureller Überlegenheit ausgestattet
sind:
Simon goggled at the ape who stood in front of him with wiggling fingers. An ape
half-dressed in tweed jacket, Viyella shirt, and hank-of-mohair tie; an ape who had
bifocals hanging on a chain around his thick neck. He couldn’t prevent himself from
1 Diamond, Jared: The Third Chimpanzee. The Evolution and Future of the Human
Animal. New York 1992, S. 2.
604 Virginia Richter
guffawing, clacking his big canines together. What could possibly be more disturbing
than this?2
Aus der Sicht Simons, der sich sein menschliches Bewußtsein bewahrt hat
– oder, aus Sicht seiner äffischen Ärzte, an einer Psychose leidet, die ihn glau-
ben läßt, er sei ein Mensch – ist der bekleidete Affe eine zugleich lächerliche
und bedrohliche Karikatur des Menschen. Die Kleidung ist in Selfs Roman
das Signum von Kultur, sie ist das sichtbare Zeichen, das die dominante
Spezies, die Affen, von seinen ähnlichen, aber minderwertigen Verwandten,
den Menschen, unterscheidet – stärker noch als die Sprache: Wie in ›unserer‹
Welt sind die Affen aufgrund der Struktur ihres Kehlkopfs nicht in der Lage,
sich in einer Lautsprache zu artikulieren, vielmehr verständigen sie sich per
Zeichensprache und körperlicher Berührung. Die menschliche Fähigkeit zu
sprechen hingegen resultierte in der Romanwelt entwicklungsgeschichtlich
nicht in einer überlegenen Sozialstruktur, sondern in der Isolation des Ein-
zelnen.
In beiden Texten fungiert der Affe als ein Topos, anhand dessen das
eigentlich Menschliche verhandelt wird, das, was den Menschen ausmacht
und von anderen Lebewesen unterscheidet.3 Aufgrund seiner gleichzeitigen
Ähnlichkeit und Differenz, seiner Nähe zum Menschen und seinem Verhaftet-
sein im Tierischen, erfüllt der Affe eine ambivalente Funktion als Grenzfigur:
als Hüter der Grenze, der den Unterschied, die Bruchstelle zwischen Mensch
und Tier, Kultur und Natur markiert, und zugleich als Denkfigur des Orts,
an dem dieser Unterschied verschwimmt und die Abgrenzung nicht mehr
möglich ist. Der Affe personifiziert somit eine ›symbolische Kontaktzone‹,4
einen Ort, an dem sich verschiedene Topographien kreuzen. Dies soll sowohl
in einem konkret geographischen wie in einem übertragenen Sinn verstanden
werden: Als exotisches Tier steht der Affe für den Kulturaustausch zwischen
Europa und anderen Regionen, der schon seit der Antike besteht, aber mit den
im 15. Jahrhundert beginnenden Entdeckungsreisen um neue Gebiete erwei-
tert und in seiner ›befremdenden‹ Wirkung entscheidend potenziert wird.
Der Affe ist hier ganz konkret Importware, zoologischer Untersuchungsge-
genstand, exotistisches Wertobjekt und schließlich, im Zoo, im Zirkus und
in der Menagerie, Teil einer globalisierten Unterhaltungsindustrie. Der Affe
ist aber zugleich auch eine Metapher für den Fremden, den Wilden, den
Sünder und Frevler, den Künstler oder den Menschen an sich. In der Figur
des Affen überschneiden sich also auch Topographien anderer Art, ›Land-
schaftsbeschreibungen‹ aus Sicht der Kunst und Literatur, der Religion, der
Wissenschaft. Die eigentliche Frage ›Was ist der Mensch?‹, auf die der Affe
eine Antwort geben soll, erfährt im Zuge des Kulturaustauschs zwischen
geographisch entfernten Regionen, aber auch zwischen den verschiedenen
Diskursen zahlreiche historische Wandlungen.
Spätestens seit Michel Foucaults Reflexionen über den Menschen wissen
wir nicht nur, dass dieser eine »junge Erfindung«5 ist, sondern auch, dass er
durch Ausschlußverfahren – z. B. durch den Ausschluß von ›Wahnsinnigen‹
aus der Gesellschaft – konstituiert wird. Mit anderen Worten, der Mensch
wird erst zum Menschen, indem er ein ›Anderes‹ als nicht-menschlich von
sich unterscheiden kann, also durch eine Denkfigur, die auf einer binären
Opposition beruht. Das Interesse der Literatur- und Kulturwissenschaft rich-
tet sich in jüngerer Zeit jedoch gerade auf solche Figuren, die die digitale
Logik des Binären – die Beschränkung der Möglichkeiten auf Mensch/Nicht-
Mensch – durch ihre Unbestimmbarkeit durchbrechen. Der Affe fungiert
als eine solche ›Figur des Dritten‹: »nicht Lösungs-, sondern Strategiefigur,
Möglichkeit der Artikulation von Widerständigem an den Grenzen des Den-
kens in Dualismen, die es ausstellt und durchkreuzt, nicht überwindet«.6 Die
Antwort, die der Affe auf die Frage nach dem Wesen des Menschen gibt, ist
also keine beruhigende Bestätigung von dessen Identität, sondern ein bestän-
diger Verweis auf die unlösbare Problematik der Abgrenzung, auf jene Stelle,
an der die Ausschlußmechanismen gerade nicht funktionieren.
Laut Horst W. Janson ist der Affe nicht erst seit der Evolutionslehre
ein ›Problem‹. Bereits die Naturphilosophen der Antike und des Mittelalters
beschäftigte die Ähnlichkeit zwischen Mensch und Affe, wobei sich jedoch
eine Art ›Arbeitsteilung‹ beschreiben läßt: Während die antiken Autoren in
erster Linie an der zoologischen Beschreibung, also am Affen als Tier, an
seiner Anatomie, Taxonomie und Lebenswelt, interessiert waren, richtete sich
der Blick im Mittelalter verstärkt auf seine Psychologie und kulturelle Sym-
5 Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Übers. von Ulrich Köppen. Frankfurt a.M.
91990, S. 462.
6 Breger, Claudia/Döring, Tobias, »Einleitung«. In: dies. (Hg.): Figuren der/des Drit-
ten. Erkundungen kultureller Zwischenräume. Amsterdam/Atlanta 1998, S. 1–18, hier
S. 3.
606 Virginia Richter
bolik. In die antike Kosmologie, mit ihrer Vielzahl von hybriden Wesen, ließ
sich der Affe laut Janson ohne tiefgreifende Konflikte integrieren; erst mit der
Verbreitung des Christentums und seiner einzigartigen Beziehung zwischen
Mensch und Gott wird das menschenähnliche Tier zur Irritation:
Thus the question that was to receive its ultimate answer in the evolutionary theories
of Darwin and his modern successors, could not arise until the advent of Christianity.
Christian thought, based on the scriptural revelation of an all-wise and all-powerful
Divine Creator who had made man in His own image and held out the promise of
eternal life if His commands were obeyed, was soon faced with the task of establishing
criteria by which man, i.e. the descendants of Adam, could be differentiated from his
›poor relations‹ of similitudines such as the hybrid races and the apes.7
Das Christentum wirft die Frage der Ebenbildlichkeit Gottes auf; der Affe,
als Karikatur des Menschen, stört die Exklusivität dieser Beziehung und
verweist zugleich darauf, daß der gefallene Mensch selbst nur ein verzerrtes,
unvollkommenes Abbild ist. Die Problematik des Affen erhält in der Frühen
Neuzeit mit den großen Entdeckungsreisen, aber auch mit einem neube-
stimmten wissenschaftlichen Blick auf die Natur, eine neue Dimension. In
der Folge kommt es zu einer verstärkten Biologisierung sowohl des Affen
wie des Menschen und zum Problem ihrer biologischen Klassifikation – nicht
erst mit Darwin: Bereits Carl von Linné ordnet in der zehnten Auflage seines
Systema Naturae (1758) die Art Homo sapiens der Klasse Mammalia und
der Ordnung Primates zu und zeigt damit, daß der Mensch aus Sicht der
Naturphilosophie als Tier zu betrachten sei.8
Die Biologisierung des Menschen wird im 19. Jahrhundert mit der Aus-
formulierung der Evolutionstheorie durch Charles Darwin, insbesondere mit
seinem Postulat einer engen abstammungsgeschichtlichen Verwandtschaft
zwischen Menschen und Affen, auf die Spitze getrieben. In der Debatte
über die Evolutionstheorie, die auf die Publikation von Darwins Origin of
Species (1859) folgt, werden Affen sowohl von den Befürwortern wie auch
von den Gegnern als Beispiele herangezogen, um, je nachdem, entweder die
7 Janson, Horst W.: Apes and Ape Lore in the Middle Ages and the Renaissance. London
1952, S. 74.
8 Während Linné die neue Kategorie der Säugetiere (anstelle etwa des bis dahin ge-
bräuchlichen Quadrupeda) einführt, um den Menschen taxonomisch reibungslos ins
Tierreich einordnen zu können, soll ihn die Bezeichnung Homo sapiens wieder ab-
grenzen, auch von seinem nächsten Verwandten, Homo troglodytes (dem Chimpansen):
»From a historical point of view, however, the choice of the term sapiens is highly
significant. ›Man‹ had traditionally been distinguished from animals by his reason;
the medieval apposition, animal rationale, proclaimed his uniqueness. Thus, within
Linnaean terminology, a female characteristic (the lactating mamma) ties humans to
brutes, while a traditionally male characteristic (reason) marks our separateness.«
Schiebinger, Londa: Nature’s Body. Gender in the Making of Modern Science. Boston
1993, S. 55.
›Blurred copies of himself‹ 607
9 Zu den wichtigsten Unterstützern Darwins zählt der Biologe Thomas Henry Huxley,
der seine Bestimmung der Stellung des Menschen – nämlich nicht mehr als von der
Natur getrennte Sonderschöpfung, sondern als Teil der Natur, taxonomisch gesehen,
wie bei Linné, als einer der Primaten – auf einen detaillierten anatomischen, em-
bryologischen, aber auch kulturhistorischen Vergleich mit Menschenaffen stützt. Die
dezidierte Gegenposition nimmt der Anatom Richard Owen ein, der den Menschen
als eigene Ordnung (Bimana) betrachtet, während nur die großen Affenarten zur Ord-
nung der Primaten zählen. Vgl. Huxley, Thomas Henry: Evidence as to Man’s Place
in Nature. London 1863 – Owen, Richard: Memoir on the Gorilla. London 1865.
10 Nach Bhabha, Homi K.: The Location of Culture. London/New York 1994, bes. S. 36–
39; vgl. auch Bachmann-Medick, Doris: »Dritter Raum. Annäherung an ein Medium
kultureller Übersetzung und Kartierung«, in Breger/Döring (s. Anm. 6), S. 19–36.
608 Virginia Richter
Das Verhältnis von Mensch und Affe in der Frühen Neuzeit wird von drei
Momenten bestimmt: der humanistischen Neubestimmung des Bildes vom
Menschen, der Entstehung einer neuen, empirischen Naturphilosophie und
den großen Entdeckungsreisen. Im Humanismus wird nicht nur der Mensch
von anderen Gruppen – Tieren, aber auch Dämonen – geschieden, sondern ein
spezifischer Code des Menschseins entwickelt, der vor allem auf der Pflege
13 Vgl. Stewart, Alan: »Humanity at a Price: Erasmus, Budé, and the Poverty of Philol-
ogy«. In: Fudge, Erica/Gilbert, Ruth/Wiseman, Susan (Hg.): At the Borders of the Hu-
man. Beasts, Bodies and Natural Philosophy in the Early Modern Period. Basingstoke
22002, S. 9–25, hier S. 9.
Tier von den ›primitiven‹ Völkern oder von den Affen besetzt? Und wie
stabil ist diese Schnittstelle – befinden sich Europäer in jedem Fall auf der
›sicheren Seite‹? Ein Teil dieser Problematik wird in der bekannten Schrift
des englischen Anatomen Edward Tyson erkennbar.
Tysons Orang-Outang, sive Homo Sylvestris: or, the Anatomy of a Pigmy
(1699) ist die erste anatomische Untersuchung eines Menschenaffen im syste-
matischen Vergleich mit dem Menschen. Seine Titelgebung ist symptomatisch
für die Kategorienkonfusion, die das Verhältnis zwischen Affe und Mensch
in der Neuzeit prägt: Bei dem sezierten Tier handelt es sich weder um einen
Orang-Utan, noch um einen ›Pygmäen‹, sondern um einen Schimpansen.
Tysons von Bacons wissenschaftspolitischem Programm geprägte Untersu-
chung steht zugleich auch im Bann des aristotelischen Natursystems, insbe-
sondere der Kette der Seinswesen; der anatomische Vergleich soll die Inte-
grität dieser fein abgestuften, lückenlosen Kette belegen: »By viewing the
same Parts of all these together, we may better observe Nature’s Gradation
in the Formation of Animal Bodies, and the Transitions made from one to
another.«16 Die Vollständigkeit der Kette offenbart die Vollkommenheit von
Gottes Schöpfung. Traditionell nimmt der Mensch aufgrund seiner Doppel-
natur – seines tierischen, der Sünde verfallenen Körpers und seiner unsterbli-
chen Seele – auf der Great Chain of Being eine Sonderstellung ein: Er besetzt
den Übergangspunkt zwischen Tierwelt und dem Reich der höheren Wesen,
der Engel.17 Diese systematisch entscheidende Stelle wird nun von Tyson,
in Bezugnahme auf die traditionellen auctores, dem Affen zugewiesen; der
Mensch wird von seiner Funktion als Bindeglied entlastet:
This Climax or Gradation can’t but be taken notice of, by any that are curious in ob-
serving the Wonders of the Creation; and the more he observes it, the more venerable
Idea’s ’twill give him of the great Creator; and it would be the Perfection of Natural
History, could it be attained, to enumerate and remark all the different Species, and
their Gradual Perfections from one to another. Thus in the Ape and Monkey-kind,
Aristotle’s Cebus I look upon to be a degree above his Cynocephalus; and his Pithecus
or Ape above his Cebus, and our Pigmie a higher degree above any of them, we yet
know, and more resembling a Man: But at the same time I take him to be wholly a
Brute, tho’ in the formation of the Body, and in the Sensitive or Brutal Soul, it may be,
more resembling a Man, than any other Animal; for that in this Chain of the Creation,
as an intermediate Link between an Ape and a Man, I would place our Pygmie.18
Tysons Text besetzt damit selbst eine Schnittstelle zwischen zwei konkur-
rierenden kulturellen Topographien: der Welt der antiken Reisebeschreibung
und der aristotelischen Naturkunde einerseits und der ›Neuen Welt‹ des empi-
16 Tyson, Edward: Orang-Outang, sive Homo Sylvestris: or, the Anatomy of a Pigmy.
Hg. von Ashley Montague. London 1966, o.P.
17 S. dazu die grundlegende Untersuchung von Lovejoy, Arthur O.: The Great Chain of
Being. A Study of the History of an Idea. Cambridge, Mass. 1957.
18 Tyson (s. Anm. 16), S. 5.
›Blurred copies of himself‹ 611
19 Swift, Jonathan: Gulliver’s Travels. Hg. von Peter Dixon/John Chalker. Harmondsworth
1967, S. 269f. Seitenangaben im folgenden mit der Sigle GT im Text.
612 Virginia Richter
hinten‹ durchlässig. Erst mit der Entstehung eines historischen, ›nach vorne‹
dynamischen Weltbilds21 wird die Vorstellung eines ›Aufstiegs‹ vom Affen
zum Menschen denkbar. Diese Denkmöglichkeit entsteht ansatzweise in den
(proto-)evolutionären Naturgeschichten eines Buffon und eines Lamarck. In
der Literatur des frühen 19. Jahrhunderts wird sie in der Figur des zivilisier-
ten Affen geradezu begierig aufgenommen.
Wie in so vieler Hinsicht, ist die Zeit um 1800 auch für die Beziehung von
Mensch und Affe eine Umbruchzeit. Verschiedene Tendenzen führen dazu,
daß die ambivalente Funktion des Affen, den Menschen zu spiegeln und
zugleich seine Identität zu unterminieren, eine neue Verschärfung erfährt.
Neben der allmählichen Ablösung der Naturphilosophie durch die moderne
Naturwissenschaft und der Ausweitung der überseeischen Handelsbeziehun-
gen, zu denen nun auch der regelmäßige Tierimport zählt, verändert vor allem
die beginnende Industrialisierung das Zusammenleben mit Tieren, oder führt
vielmehr auch hier zu einer Ausdifferenzierung der Sphären. Der Anteil der
in der Landwirtschaft tätigen Bevölkerung geht im Lauf des 19. Jahrhun-
derts stetig zurück, und damit auch die Zahl der Menschen, die alltäglichen
Umgang mit Tieren pflegen.22 In der industrialisierten Großstadt taucht das
Tier vor allem in zwei Funktionen auf: als Haustier und als Exponat im
Zoo.23 Gleichzeitig läßt sich in der abendländischen Literatur beobachten,
daß der Affe in bisher nicht dagewesener Häufigkeit auftritt oder sogar zum
wichtigsten Protagonisten literarischer Texte wird. Dabei läßt er sich grob
in zwei Gruppen aufteilen, deren Traditionslinien auf den edlen Wilden der
Aufklärung einerseits, auf den tierischen, ungezügelten Affen – etwa Swifts
Yahoos – andererseits zurückgehen. Dies entspricht wiederum der zeitgenös-
sischen Aufspaltung in domestizierte Gefährten des Menschen und wilde,
gefährliche Tiere, die sich nur im Käfig eines Zoos mit Genuß betrachten
lassen. Der Affe erscheint also in Erzählungen der Romantik entweder als
ein Simulacrum des Menschen, als geradezu überperfekte Verkörperung der
Zivilisation oder als unkontrollierbare Quelle der Gewalt, die diese Zivili-
sation bedroht. Stellvertetend für diese beiden Richtungen seien hier E.T.A.
Hoffmans Nachricht von einem gebildeten jungen Mann (1814) und Edgar
Allen Poes The Murders in the Rue Morgue (1841) genannt.24
Die Hauptfigur von Hoffmanns Erzählung ist Milo, »ein Affe [...], der
im Hause des Kommerzienrats sprechen, lesen, schreiben, musizieren u.s.w.
lernte« (NM, S. 418). Der Text besteht im Wesentlichen aus einem Brief
Milos »an seine Freundin, Pipi, in Nord-Amerika« (NM, S. 419), in dem er
seinem Aufstieg zum Beherrscher der lokalen Kunstszene schildert. Ohne
Anstrengung, allein durch das Nachahmen »witziger, geistreicher Men-
schen« wird Milo zum Künstler und Kunstkritiker: »Ich hatte ihre Mienen
und Geberden genau abgesehen, die ich geschickt nachzuahmen wußte; dies
und meine anständige Kleidung, mit der mich mein damaliger Prinzipal verse-
hen, öffnete mir nicht allein jederzeit die Türe, sondern ich galt allgemein für
einen jungen Mann von feinem Weltton.« (NM, S. 422f.). Das sinnentleerte
Sprechen ersetzt Wissen und Denken. Kultur erscheint als hohle Form, die
sich ›jeder Affe‹ mühelos überstreifen kann; Voraussetzung ist lediglich die
Verfügbarkeit bestimmter kultureller Insignien, wie eben der Kleidung, der
Sprache und der Mimik:
24 Hoffmann, E.T.A.: »Nachricht von einem gebildeten jungen Mann«. In: ders.: Fanta-
siestücke in Callot’s Manier. Werke 1814 (= Sämtliche Werke, Bd. 2/1). 6. Bde. Hg. von
Hartmut Steinecke u.a. Frankfurt a.M. 1993, S. 418–428; Seitenangaben im folgenden
mit der Sigle NM im Text. Poe, Edgar Allen: »The Murders in the Rue Morgue«. In:
ders., Tales of Mystery and Imagination. Hg. von Graham Clarke. London/Melbourne
1984, S. 411–444; Seitenangaben im folgenden mit der Sigle RM im Text. Ein wei-
teres Beispiel für den domestizierten Affen ist Thomas Love Peacocks Satire Melin-
court (1817), in der der äußerst höfliche, zvilisierte Sir Oran Haut-ton sogar für das
britische Parlament kandidiert. Gefährliche, mörderische Affen treten beispielsweise
in Sir Walter Scotts Kreuzfahrerroman Count Robert of Paris (1831) und, besonders
verstörend, in Gustave Flauberts früher Erzählung »Quidquid volueris« (1837) auf.
Eine ausführliche Übersicht über Affen in der Literatur findet sich in Gerigk, Horst-
Jürgen: Der Mensch als Affe in der deutschen, französischen, russischen, englischen
und amerikanischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Hürtgenwald 1989.
›Blurred copies of himself‹ 615
Mein glückliches Mienenspiel gab meinen Worten Gewicht, und in dem Spiegel habe
ich gesehen, wie schön meine von Natur etwas gerunzelte Stirn sich ausnimmt, wenn
ich diesem oder jenem Dichter, den ich nicht verstehe, weshalb er denn unmöglich was
taugen kann, Tiefe des Gemüts rein abspreche. Überhaupt ist die innere Überzeugung
der höchsten Kultur der Richterstuhl, dem ich bequem jedes Werk der Wissenschaft
und Kunst unterwerfe, und das Urteil infallibel, weil es aus dem Innern von selbst,
wie ein Orakel, entsprießt. (NM, S. 424)
Wie bei Swift besteht der Unterschied zwischen Affe und Mensch – und
damit die Möglichkeit eines Übergangs vom einen zum anderen – im Anlegen
äußerer Kulturzeichen wie der Kleidung. Auch die Sprache verkommt hier zu
einem beweglichen, leeren Zeichen, da in ihrem Überschuß – dem Plappern
des Affen – vor allem dessen innere Hohlheit zum Ausdruck kommt. Der Affe
fungiert hier als eine Allegorie der aristotelischen Mimesis, allerdings, wie
Gerhard Neumann argumentiert hat, als eine Allegorie, die die mimetische
Potenz des Menschen gerade in Frage stellt: Der Affe ist der »Inszenator des
Zweifels an menschlichem Schöpfertum und menschlicher Authentizität«.25
Während der Blick des Hundes das menschliche Subjekt in seiner Selbsti-
dentität bestätigt, subvertiert der Blick des Affen die menschliche Identität:
Der Affe dagegen erweist sich (mit zunehmender Verschärfung in der Argumentation)
als der erklärte Gegenspieler der Kultur, als deren extrem befremdliches Andere. Ein
doppelter Schock in der Geschichte seiner künstlerischen wie epistemischen Reprä-
sentation bezeugt ihn als ›natürliche‹ Figur gerade der Infragestellung des Menschen
und seiner Kulturleistungen. Er erscheint als personifizierter Zweifel, als Figuration der
bangen Frage, wo denn der Affe endet und wo der Mensch beginnt, wo die Naturfor-
mel in die Kultur umschlägt. In seinem Blick kommt die Dubiosität des mimetischen
Vermögens selbst, das den Menschen zum Menschen macht, allererst zu Bewußtsein:
Ähnlichkeit und bedrohliches Andere zugleich, das unlösbare Oszillieren zwischen
Mimesis und Simulation, zwischen Faktum und ›fake‹. Der Affe ist der Inszenator
menschlicher Identitätsdiffusion, der Figurant der Ununterschiedbarkeit von Maske
und Spiegel, Beglaubigung und Dissimulation. (ebd., S. 109f.)
Hoffmanns »Nachricht« vom Affen als Künstler ist mehr als eine Satire auf
den Kunstbetrieb, in dem zwischen »Faktum und ›fake‹« nicht mehr unter-
schieden werden kann. Der zivilisierte Affe stellt auch die Frage nach der
menschlichen Freiheit, und damit nach dem Wert des ›Aufstiegs‹ zum Men-
schen: »Hat diese Gefangenschaft uns nicht die größte Freiheit gegeben? Ist
etwas herrlicher, als die Ausbildung des Geistes, die uns unter den Menschen
geworden?« (NM S. 421) Der Kulturgewinn baut, in einer Vorwegnahme
Freuds, auf Triebverzicht auf; die Possen des Affen, die Reste seiner ungebän-
digten Affennatur, sind in der feinen Gesellschaft peinlich. In die Erzählung
von der Menschwerdung des Affens, die nach der Evolutionstheorie auch als
25 Neumann, Gerhard: »Der Blick des Anderen. Zum Motiv des Hundes und des Affen
in der Literatur«. In: Wilfried Barner/Walter Müller-Seidel/Ulrich Ott (Hg.): Jahrbuch
der Deutschen Schillergesellschaft. Stuttgart 1996, S. 87–122, hier S. 99.
616 Virginia Richter
die Geschichte der Spezies gelesen wird, ist auch schon in der Romantik ein
kulturkritisches Moment eingebaut. Die Rationalität, die in Gulliver’s Travels
zwar dem äffischen Menschen abgesprochen wird, als höchste menschliche
Eigenschaft aber in ihrer Hochschätzung ungebrochen ist, rettet im 19. Jahr-
hundert die menschgewordenen Affen auch nicht mehr.
Die Kritik am ›Zivilisationsprozeß‹, der im kolonialen Kontakt den ›pri-
mitiven‹ Völkern aufgezwungen wird, ist in Poes Erzählung noch deutli-
cher als bei Hoffmann. Der Affe, der Mensch zu werden versucht, wird
hier als exotischer Fremder, als ›Wilder‹ inszeniert. Der Doppelmord in der
Rue Morgue zeichnet sich durch seine exzessive Gewalttätigkeit und seine
unzureichende Motivation aus. Die beiden Opfer wurden brutal verstümmelt,
die erhebliche Geldsumme, die sie bei sich hatten, wurde jedoch unangeta-
stet liegengelassen. Mme. L’Espanayes Leiche wird im Hinterhof gefunden,
»with her throat so entirely cut that, upon an attempt to raise her, the head
fell off. The body, as well as the head, was fearfully mutilated – the former
so much so as scarcely to retain any semblance of humanity« (RM, S. 420).
Den Leichnam ihrer Tochter entdeckt man nach langer Suche, kopfunter in
den Kamin gestopft. Die ungewöhnliche Brutalität des Mordes ist für Poes
Meisterdetektiv C. Auguste Dupin der erste Hinweis auf den ungewöhnli-
chen Täter. Weitere, von der regulären Polizei übersehene Hinweise sind die
merkwürdige Stimme des Täters, die Zeugen aus verschiedenen Ländern als
die eines Fremden, emphatisch nicht als die eines Landsmannes, beschreiben,
sowie die Unzugänglichkeit des Tatorts, ein im obersten Stockwerk gelege-
nes, von innen abgeschlossenes Zimmer. Dupin leitet daraus folgendes Bild
des Täters ab:
If now, in addition to all these things, you have properly reflected upon the odd disorder
of the chamber, we have gone so far as to combine the ideas of an agility astounding,
a strength superhuman, a ferocity brutal, a butchery without motive, a grotesquerie in
horror absolutely alien from humanity, and a voice foreign in tone to the ears of men
of many nations, and devoid of all distinct or intelligible syllabification. What result,
then, has ensued? What impression have I made upon your fancy? (RM, S. 436)
Der Mörder ist ein entflohener Orang-Utan, der vor kurzem von einem See-
mann aus Borneo mitgebracht worden war. Der Text ruft also den zu diesem
Zeitpunkt bereits global gewordenen Handel mit exotischen Tieren auf. Der
Ostasienhandel ist eine der wichtigsten Quellen für exotische Produkte, von
Tee und Gewürzen bis zu Tieren und auch Menschen, die zu ›wissenschaft-
lichen‹ oder Unterhaltungszwecken – der Zoo ist eine Schnittstelle zwischen
einem zoologischen Mikrokosmos und einem öffentlichen Spektaktel – ein-
geführt werden. Der Orang-Utan ist dazu bestimmt, im Jardin des Plantes
gezeigt zu werden. Er ist jedoch nicht nur ein Ausstellungsobjekt, sondern
selbst ein Beobachter, der seinen Blick auf den Menschen richtet. Wie Hoff-
mans Milo, beobachtet er und imitiert – seine Bemühungen resultieren jedoch
nicht in einer perfekten Simulation menschlichen Verhaltens. Sein Versuch,
sich in Nachahmung seines Herrn zu rasieren, ist der Beginn der Katastrophe;
›Blurred copies of himself‹ 617
dabei ist es signifikant, dass der Affe nicht irgendein beliebiges Verhalten
imitiert, sondern gerade die Rasur – also den Versuch macht, seine Behaa-
rung, das Zeichen des Tieres, zu entfernen:
Razor in hand, and fully lathered, it was sitting before a looking-glass, attempting
the operation of shaving, in which it had no doubt previously watched its master
through the keyhole of the closet. Terrified at the sight of so dangerous a weapon in
the possession of an animal so ferocious, and so well able to use it, the man, for some
moments, was at a loss what to do. He had been accustomed, however, to quiet the
creature, even in its fiercest moods, by the use of a whip, and to this he now resorted.
(RM, S. 442)
27 Darwin, Charles, The Descent of Man. Hg. von H. James Birx. Amherst, NY, 1998,
S. 41.
28 Huxley (s. Anm. 9), S. 57.
›Blurred copies of himself‹ 619
consequences, for all who are acquainted with the recent progress of the anatomical
and physiological sciences. (ebd., S. 59)
Wie in den früheren Epochen, in denen der Affe auf neue Weise in den Blick
genommen wurde, erhalten auch jetzt die wissenschaftlichen Debatten neue
Nahrung durch eine Veränderung der realen Topographie, also durch die
Erforschung neuer Gebiete. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts steht
Zentralafrika im Mittelpunkt des Interesses. Forschungsreisende wie David
Livingston, Henry Morton Stanley oder Richard Burton dringen erstmals in
das Innere des Landes ein und berichten über geographische Gegebenhei-
ten und Rohstoffvorkommen, über afrikanische Völker und ihre Sitten, über
Flora und Fauna. Etwa zeitgleich mit Darwins erster Veröffentlichung sei-
ner Theorie der Entstehung der Arten durch natürliche Auswahl findet eine
der wichtigsten dieser Reisen statt, die Expedition des Franko-Amerikaners
Paul Du Chaillu. Du Chaillu bereist von Gabun aus bis dahin unerschlos-
sene Gebiete in Äquatorialafrika und kommt dabei mit einer noch geradezu
mystischen Art, den Gorillas, in Berührung. Die Gorillas faszinieren durch
ihre Mischung aus Wildheit und Menschenähnlichkeit:
The face of this gorilla was intensely black. The vast chest, which proved his great
power, was bare, and covered with a parchment-like skin. Its body was covered with
grey hair. Though there are sufficient points of diversity between this animal and man,
I never kill one without having a sickening realization of the horrid human likeness
of the beast. This was particularly the case today, when the animal approached us
in its fierce way, walking on its hind legs, and facing us as few animals dare face a
man.29
Du Chaillus Informationen über das Verhalten der Gorillas und die von ihm
nach London gebrachten Exemplare geben der Debatte über die biologische
Verwandtschaft von Mensch und Affe, die in der ersten Hälfte der 1860er
Jahre vor allem zwischen Huxley und Owen ausgetragen wird, neue Nah-
rung. Signifikant ist Du Chaillus Bericht aber auch, weil er die Frage nach
den ethischen Konsequenzen aus der Menschenähnlichkeit der Affen stellt.
Der Gorilla ist keine Jagdbeute wie jede andere. Der Gorilla ist wie ein
Mensch, seine Tötung ist wie Mord, das Essen von Affenfleisch ist wie
Kannibalismus. Die Gorillajagd wird von Du Chaillu als extremer Sittenver-
stoß und zugleich, gerade deswegen, als größter Lustgewinn beschrieben: »I
protest I felt almost like a murderer when I saw the gorillas this first time.«
(ebd., S. 60) – »My heart beat till I feared its loud pulsations would alarm
the gorilla, and my feelings were really excited to a painful degree.« (ebd.,
S. 58) Angst und Lust sind hier ununterscheidbar gemischt. In Explorations
29 Du Chaillu, Paul B.: Explorations and Adventures in Equatorial Africa, with Accounts
of the Manners and Customs of the People, and of the Chace of the Gorilla, Croco-
dile, Leopard, Elephant, Hippopotamus and other Animals. Hg. von L. Stanley Jast.
London 1945, S. 277.
620 Virginia Richter
30 In meiner Habilitationsschrift fasse ich diese Ängste unter dem Begriff anthropological
anxiety zusammen; s. Richter, Virginia: »Missing Links: Anthropological Anxiety in
British Imperial Discovery Fiction 1870–1930.« Habilitation München (im Entstehen).
Vgl. dazu auch den Aufsatz von Susan Bernstein, die eine »anxiety of simianation«
– die Angst vor der Affenwerdung bzw. Degeneration – von der »anxiety of assimi-
lation« – die Angst vor dem Verlust des europäischen Selbst und der Anpassung an
die ›Eingeborenen‹ in der kolonialen Kontaktzone – unterscheidet. Bernstein, Susan:
»Ape Anxiety: Sensation Fiction, Evolution, and the Genre Question.« In: Journal of
Victorian Culture 6.2 (2001), S. 250–271.
31 Eine der besten Untersuchungen zu diesem Genre ist nach wie vor Brantlinger, Pa-
trick: Rule of Darkness. British Literature and Imperialism, 1830–1914. Ithaca/London
1988.
›Blurred copies of himself‹ 621
Tarzan ist bekanntlich der Sohn eines englischen Lords, der nach dem Tod
seiner Eltern in Afrika von Menschenaffen aufgezogen wird. Sein biologi-
sches Erbe ist also das eines Gentleman, durch Erziehung ist er ein Affe. Die
Handlung des ersten Bandes in Burroughs‹ äußerst erfolgreicher Romanserie
besteht vor allem darin, daß sich Tarzan die entwicklungsgeschichtlichen Stu-
fen hocharbeiten muß, um über die Stadien Affe, Urmensch, primitiver Jäger,
›Mann‹, weißer Mann schließlich die Krone des evolutionären Stammbaums
zu erklimmen, eben das Stadium des kultivierten Gentleman. Als Differenzie-
rungsmerkmale, die ihn schrittweise von den Affen unterscheiden, erwirbt er
Kulturtechniken und Kultursymbole wie Werkzeuggebrauch, Kleidung, Lesen
und erst zum Schluß die gesprochene Sprache. Er lernt zu unterscheiden:
zwischen Affe und Mensch, zwischen Rassen, schließlich zwischen Mann
und Frau. Tarzans Entwicklung repräsentiert also einerseits eine teleologische,
stetig nach oben weisende Fortschrittslinie:
Squatting upon his haunches on the table top in the cabin his father had built – his
smooth, brown, naked little body bent over the book which rested in his strong slender
hands, and his great shock of long, black hair falling about his well shaped head and
bright, intelligent eyes – Tarzan of the Apes, little primitive man, presented a picture
filled, at once, with pathos and with promise – an allegorical figure of the primordial
groping through the black night of ignorance toward the light of learning.32
Zugleich aber steht das Dasein als Affe für ein Leben ohne Zwang, ohne
Gesetz, ohne Triebunterdrückung. In den folgenden Bänden der Serie oszil-
liert der Held ständig zwischen der Position des zivilisierten Lord Greystoke
und des wilden, freien Tarzan of the Apes. Der Affe als das Ebenbild des
Menschen hat in diesen Texten seinen Schrecken verloren; auch die Gefahr
des biologischen Rückfalls ist nur unter bestimmten Bedingungen bedrohlich.
In den Tarzan-Romanen werden zwei Formen der Regression entworfen. Zum
einen wird eine ›gute Regression‹ dargestellt, also das Abstreifen der Fesseln
der Zivilisation, die Rückkehr zur Freiheit des Dschungels. Zu Beginn des
zweiten Bandes, The Return of Tarzan (1913), führt Monsieur Jean Tarzan
eine kultiviertes Leben in Paris. Verschiedene Abenteuer bringen ihn wieder
nach Afrika zurück, wo er in kürzester Zeit zu einem »savage among sava-
ges«33 wird. Er lebt mit einem Stamm afrikanischer Jäger zusammen, geht
mit ihnen auf Großwildjagd und nimmt an ihren wilden Riten teil: »‹How
quickly have I fallen!‹ thought Tarzan; but in his heart he did not consider it
a fall – rather, he pitied the poor creatures of Paris, penned up like prisoners
in their silly clothes, and watched by policemen all their poor lives, that they
might do nothing that was not entirely artificial and tiresome.« (RT, S. 131)
Tarzans Rebarbarisierung, sein Rückfall auf der Evolutionsleiter, wird von
ihm als Befreiung aus dem Unbehagen der Kultur erlebt: »he was a primitive
man to the fullest now; revelling in the freedom of the fierce, wild life he
loved« (RT, S. 149). Dieser regressiven Freiheit wird jedoch eine ›schlechte
Regression‹ gegenübergestellt – der Rückfall in den Kannibalismus. In einer
Nebenhandlung wird eine Gruppe von Schiffbrüchigen vor die Wahl gestellt,
zu Kannibalen zu werden oder jämmerlich umzukommen. Der Kannibalis-
mus wird hier – obwohl Notkannibalismus unter gewissen Bedingungen als
ethisch vertretbar gelten kann – als Prüfstein der Menschlichkeit inszeniert.
Wahre menschliche Kultur zeigt sich darin, gerade dieser Versuchung zu
widerstehen, wer ihr verfällt, wird zum Tier, wie einer der Seeleute, der vor
Hunger wahnsinnig wird: »Like a wild beast his teeth sought the throat of
his intended prey« (RT, S. 154). Das Tier im Menschen erhält somit in Bur-
roughs’ Darstellung der Regression ein Doppelgesicht: es fungiert als Figur
der Freiheit und Figur der Verworfenheit.
Der Affe als satirische Figur, die eingesetzt wird, um die menschliche
Gesellschaft zu kritisieren, hat, wie wir am Beispiel von Swift und Hoff-
mann gesehen haben, eine lange Tradition. In diesen Texten wird der Affe
als Abbild, als Karikatur hergenommen, um etwas über den Menschen aus-
zusagen. Nach einer These von Margot Norris kommt es in der Zeit um
1900, beginnend mit Darwin und Nietzsche, zu einer Verschiebung von dieser
anthropomorphen zu einer ›biozentrischen‹ oder ›theriomorphen‹ (›tierför-
migen‹) Sichtweise. Während traditionell das Tier als Mangelwesen – man-
gelnd an Sprache, Verstand, Kultur – dargestellt wird, erhält es laut Norris
an der Schwelle zur Moderne den Status eines ›Plenums‹, wohingegen der
Kulturmensch durch Mangel konstitutiert ist. In einer trivialisierten Form läßt
sich diese Verschiebung schon bei Tarzan beobachten, auch wenn hier von
einer theriozentrischen Perspektive nicht wirklich die Rede sein kann. Da
Literatur nicht von menschlicher Sprache zu lösen ist, ist das Heraustreten
aus einer anthropozentrischen Repräsentationslogik so gut wie unmöglich;
experimentelle Schreibweisen der Moderne, wie z.B. die écriture automati-
que der Surrealisten, streben jedoch nach einer Überschreitung dieser Logik.
Zu den wichtigsten Repräsentanten eines ›biozentrischen Schreibens‹ zählt
Norris Franz Kafka:
Kafka’s last works have some of the self-referentiality of abstract painting, but for
philosophical rather than formal ends that have to do with the ontology of the beast.
The animal narrator enables the virtual voiding of representation from the work, the
deletion of all human features and cultural references except those the narration itself
will prove spurious. But the result is not merely a simulacrum of animal consciousness
with its necessarily anthropomorphic configuration. Instead, the narration constitutes
a bestial gesture that marks the trajectory from signification to its obliteration, from
remembering to forgetting.34
34 Norris, Margot: Beasts of the Modern Imagination. Darwin, Nietzsche, Kafka, Ernst,
& Lawrence. Baltimore/London 1985, S. 118f.
›Blurred copies of himself‹ 623
Kafkas Rotpeter konstituiert sich als Mensch durch drei mimetische Akte:
die Imitation der Seeleute während seines Transports, die Imitation der Varie-
tékünstler und die Imitation der akademischen Rede, die zugleich auch die
Erzählung konstituiert. Diese drei mimetischen Handlungen schaffen dem
Affen jeweils einen ›Ausweg‹ ins Menschentum, der jedoch auf einer Auf-
gabe seiner Freiheit und dem Verlust der Erinnerung an das Affentum auf-
gebaut ist. Auch Rotpeter rekapituliert damit die Evolutionsgeschichte vom
Affen zum Menschen:
Diese Fortschritte! Dieses Eindringen der Wissenschaften von allen Seiten ins erwa-
chende Hirn! Ich leugne nicht: es beglückte mich. Ich gestehe aber auch ein: ich über-
schätzte es nicht, schon damals nicht, wieviel weniger heute. Durch eine Anstrengung,
die sich bisher auf der Erde nicht wiederholt hat, habe ich die Durchschnittsbildung
eines Europäers erreicht. Das wäre an sich vielleicht gar nichts, ist aber insofern
doch etwas, als es mir aus dem Käfig half und mir diesen besonderen Ausweg, diesen
Menschenausweg verschaffte. Es gibt eine ausgezeichnete deutsche Redensart: sich
in die Büsche schlagen; das habe ich getan, ich habe mich in die Büsche geschlagen.
Ich hatte keinen anderen Weg, immer vorausgesetzt, dass nicht die Freiheit zu wählen
war.35
Die Erzählung des Affen könnte man im Grunde als eine Parodie auf den
großen phylogenetischen Bildungsroman, den Aufstieg des Affen zum Men-
schen, lesen. Eine Sinnstiftung ist mit dem Kompromiß des ›Auswegs‹ nicht
mehr verbunden und wird vom Sprecher des Berichts auch explizit verwei-
gert: »ich berichte nur, auch Ihnen, hohe Herren von der Akademie, habe ich
nur berichtet« (BA, S. 147). Wie Gerhard Neumann anmerkt, hat der Affe
den Menschen nicht mehr im Blick:
Die Akademie, an die er sein Wort richtet, bleibt ohne Physiognomie, stumm und un-
sichtbar. Der rhetorische Akt des Affen, der ein Akt der Selbstgestaltung ist, entfaltet
und projiziert sich ins Leere. Die Maske des Menschen, die er simuliert, dient ihm
nur noch dazu, jene Affenwahrheit zu verbergen, die sich menschlichem Vorstellen
entzieht und alle menschliche Freiheit zum ›Gelächter des Affentums‹ werden läßt.
[...] Was bleibt, ist die Maske, hinter dem der Blick des anderen sich bewahrt, das
Tiergesicht, in dem das menschliche Antlitz erlischt.36
Kafka eröffnet damit eine Sichtweise, die im Lauf des 20. Jahrhunderts
viel stärker noch als die Literatur die Philosophie, besonders die ›ande-
ren Denker‹ von Bataille bis Agamben, ergreifen wird. Gegen die ›große
Erzählung‹ vom Aufstieg und der Überlegenheit des Menschen wird eine
›kleine Literatur‹ gesetzt, in der es eben nicht mehr um die Affirmation
des menschlichen Subjekts geht. Eine Topographie, in der der Mensch als
master of the universe auf seinem Feldherrnhügel steht und auf die Tier-
35 Kafka, Franz: »Bericht an eine Akademie«. In: ders., Erzählungen. Frankfurt a.M.
1983, S. 139–147, hier S. 146f.; Seitenangaben im folgenden mit der Sigle BA im Text.
36 Neumann (s. Anm. 25), S. 116.
624 Virginia Richter
welt herabblickt, wird bei Kafka durch eine Poetik der Deterritorialisierung
ersetzt.37
Um 2000: Der Affe hat Konjunktur. Die Fülle der Publikationen über
Tiere im allgemeinen und Affen im besonderen aus der Hand von Primatolo-
gen, Anthropologen, Kulturwissenschaftlern und Schriftstellern ist kaum noch
zu überblicken.38 Der Affe funktioniert zweifellos nicht mehr als einfache
Metapher für ›das Andere‹ des Menschen. Er ist womöglich keine Grenzfigur
mehr; zumindest aus Sicht vieler Primatologen wie Frans de Waal oder der
Unterstützer des Great Ape Project, die garantierte Mindestrechte für Men-
schenaffen fordern, gehört er nun ›zu uns‹. Das Interesse richtet sich nun
offenkundig auf zoë, das nackte Leben, also etwa die Frage, wo das Leben
im Embryo beginnt oder im Komapatienten endet. Diese Grenze ist, wie der
Philosoph Giorgio Agamben sagt, in den Menschen selbst verlagert worden.
Die Frage aller Fragen lautet nun: »Was ist der Mensch, wenn er stets der
Ort – und zugleich das Ergebnis – von unablässigen Teilungen und Zäsuren
ist? Diese Teilungen zu untersuchen, sich zu fragen, auf welche Weise der
Mensch – im Menschen – vom Nichtmenschen und das Animalische vom
Humanen abgetrennt worden ist, drängt mehr, als zu den großen Fragen, den
sogenannten menschlichen Werten und Menschenrechten, Stellung zu bezie-
hen.«39 Wenn der große Paradigmenwechsel der Moderne in dem Versuch
bestand, das Tier theriomorph zu denken, liegt er nun vielleicht darin, einen
Begriff vom Menschen zu entwickeln, der nicht mehr auf der Abspaltung
des Animalischen, sondern auf seiner Akzeptanz beruht.
37 Dazu s. Deleuze, Gilles/Guattari, Felix: Kafka. Für eine kleine Literatur. Übers. von
Burkhart Kroeber. Frankfurt a.M. 1976, S. 50.
38 Hier trotzdem eine kleine Auswahl: Baker, Steve: Picturing the Beast. Animals, Iden-
tity, and Representation. Urbana/Chicago 22001 – Böhme, Hartmut u.a. (Hg.): (s. Anm.
22) – Cavalieri, Paola/Singer, Peter (Hg.): The Great Ape Project. Equality beyond
Humanity. New York 1993 – Coetzee, J.M.: The Lives of Animals. Princeton 1999
– Fudge, Erica: Perceiving Animals. Humans and Beasts in Early Modern English
Culture. Basingstoke 2000 – Ham, Jennifer/Senior, Matthew (Hg.): Animal Acts. Con-
fi guring the Human in Western History. New York 1997 – Haraway, Donna: Primate
Visions. Gender, Race, and Nature in the World of Modern Science. New York/London:
Routledge, 1989 – Strum, Shirley C./Fedigan, Linda Marie (Hg.): Primate Encounters.
Models of Science, Gender, and Society. Chicago 2000 – de Waal, Frans: The Ape and
the Sushi Master. Cultural Refl ections by a Primatologist. London 2001.
39 Agamben, Giorgio: Das Offene. Der Mensch und das Tier. Übers. von Davide Giuriato.
Frankfurt a.M. 2003, S. 26.
Topographie des Tausches, Topographie des Instruments 625
ein solches «Archiv« an Bildern. Es beginnt «in den Köpfen der Europäer
abzuschnurren« in genau dem Augenblick, in dem «ihre Welt mit dem Ande-
ren kollidiert«.4 Der Versuch, das Vertraute im Fremden wiederzufinden und
zu offenbaren, hat bei Greenblatt und anderen zur «Untersuchung« jener
«Repräsentationspraktiken«5 geführt, die in die Fremde mitgenommen wer-
den – von denen, die vorhatten, ihren Landsleuten daheim zu beschreiben,
was sie dort sahen und taten. Ein solches Vorhaben bedarf jedoch der Erör-
terung der sich verändernden Bedingungen, unter denen vor allem die damit
verbundenen Formen des Sehens praktiziert werden. Denn »der Raum selbst
hat in der abendländischen Erfahrung eine Geschichte«; und wenn Foucault
davon spricht, daß es unmöglich sei, »diese schicksalhafte Kreuzung der Zeit
mit dem Raum zu verkennen«6, dann kann Topographie nicht allein als eine
horizontale Anordnung von Zeichen gelesen werden. Vielmehr ist sie dann
Darstellung der Raumerschließung als terrestrische oder nautische Sukzes-
sion und hermeneutische Bewegung zugleich – eine Bewegung, die immer
erst nachträglich zu einem Arsenal an Zeichen zusammengefaßt wird. Um
1800 zeichnet sich diese Form der Topographie unter anderem dadurch aus,
daß es keinen festen Beobachterstandpunkt mehr gibt, der als lineare ›große
Erzählung‹ durchgehalten werden kann. Das Unsicherwerden der Normen
übersetzt sich sowohl in ein Changieren der jeweils eigenen Position als auch
in die Wiedergabe immer wieder veränderter Blickwinkel und erweiterter
Horizonte. Viele Ansichten, so läßt sich vorausschicken, kommen demnach
›der Wahrheit‹ näher.7
4 Greenblatt, Stephen: Wunderbare Besitztümer, Die Erfi ndung des Fremden: Reisende
und Entdecker. Berlin 1994, S. [7].
5 Greenblatt (s. Anm. 4), S. 17.
6 Foucault, Michel: »Andere Räume«, in: Barck, Karlheinz u.a. (Hg.). Aisthesis, Wahr-
nehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Essais. Leipzig 1991,
S. 34.
7 Zum Wahrheitsbegriff in einem vergleichbaren Sinne siehe die auf die Schiffsmetapho-
rik zurückgreifende Beschreibung in Kant, Immanuel: »Kritik der reinen Vernunft«.
Bd. 1. In ders.: Werkausgabe, Bd. III. Hg. von Wilhelm Weischedel (3. Aufl.) Frankfurt
a.M. 1977, S. 267f.: »Es ist das Land der Wahrheit, umgeben von einem weiten und
stürmischen Ozeane, dem eigentlichen Sitz des Scheins, wo manche Nebelbank, und
manches bald wegschmelzende Eis neue Länder lügt, und indem es den auf Entdek-
kungen herumschwärmenden Seefahrer unaufhörlich mit leeren Hoffnungen täuscht,
ihn in Abenteuer verflechtet, von denen er niemals ablassen, und sie dennoch auch
niemals zu Ende bringen kann.«
628 Eva-Maria Siegel
8 Forster, Georg: Reise um die Welt. Hg. und mit e. Nachw. von Gerhard Steiner. Frank-
furt a.M. 1983, S. 13.
9 Forster, Georg: »Der Brodbaum«. In: Georg Forsters Werke, Sämtliche Schriften, Ta-
gebücher, Briefe. Schriften zur Naturkunde. Erster Teil. Bearb. von Klaus-Georg Popp.
Berlin 2003, S. 63.
10 Vgl. dazu die informative Studie: Köhler, Thomas: »Die Forstersche Vermittlung der
Fremderfahrung zwischen europäischer Normenverhaftung, Zivilisationskritik und
Aufklärungsideal, Georg Forsters Reise um die Welt und Johann Reinhold Forsters
Beobachtungen als komplementäre Verarbeitungen einer ›philosophischen Reise‹ in
die Südsee«, in: Georg-Forster-Studien IX (1994), S. 55.
Topographie des Tausches, Topographie des Instruments 629
renzpunkte. Insbesondere Tahiti, das Forster in den Jahren 1772 bis 1775
zweimal besuchte, hat Orte aufzuweisen, die, wie er im Nachhinein bemerkt,
»eine der schönsten Gegenden« sind, »die ich in meinem Leben gesehen«.11
Und doch stehen bei ihrer Beschreibung weniger die Landschaften selbst im
Mittelpunkt als vielmehr Techniken der Beobachtung und Aufzeichnungen
kultureller Begegnung. Die Reise selbst ist spektakulär: James Cook, der vom
britischen König den Befehl erhielt, auf seiner zweiten Reise die Sommer-
monate für Entdeckungen gegen den Südpol hin zu nutzen, war es gestattet
worden, in den Wintermonaten bei stürmischem Wetter zu den Wendezirkeln
zurückzukehren, um die Lage der ehemals entdeckten Inseln vermittels neuer
astronomischer Berechungen exakt zu bestimmen. Da er am Südpol kein
großes, festes Land vorfand, wie vermutet, fuhr er ostwärts, bis er die Erd-
kugel umsegelt hatte. »Unter allen Reisen um die Welt«, berichtet der junge
Forster stolz, »ist die unsrige auch würklich die erste, die von Westen nach
Osten gerichtet worden.«12 Die zurückgelegte Entfernung betrug mehr als
300.000 km. Das entspricht drei Vierteln der größten Entfernung der Erde
vom Mond. An Bord der beiden Schiffe befanden sich zu Beginn der Reise
118 Mann. Ihre Fracht enthielt nebst Netzen und Geräten zur Fischerei, deut-
schem Sauerkraut und Bier, Medikamenten, Zitronensaft, Trinkwasser und
Mischungen aus Schießpulver und Essig zum Räuchern der Schlafkammern
auch, wie Forster vermerkt, »allerley grobe Tücher, Eisengeräth und andre
Waaren« sowie »etliche hundert verguldete Schaumünzen, mit dem Brust-
bilde des Königs, ausgeprägt, um zum Denkmal der Reise unter die Wilden
vertheilt zu werden.«13
Wie sehr allein die Bezeichnungskraft einer Benennung der Inselbe-
wohner als ›Wilde‹ – die Forster nur in seiner Einleitung gebraucht – eine
bestimmte Erwartungshaltung in sich trägt, zeigt ein Blick in ethnographische
Untersuchungen: »Das Wort ›Wilder‹«, schreibt Malinowski,
welche Bedeutung man auch immer ursprünglich mit ihm verbunden haben mag, ist
verknüpft mit Vorstellungen von grenzenloser Freiheit, von Regellosigkeit und von
etwas höchst Wunderlichem. Im populären Verständnis stellen wir uns vor, dass die
Eingeborenen mehr oder weniger nach Lust und Laune am Busen der Natur leben, als
Opfer abnormer, phantasmagorischer Glaubensvorstellungen und Auffassungen.14
Insbesondere die beiden Kapitel über Tahiti haben unter dieser Maßgabe
nicht wenig zum Mythenarchiv der ›Glückseligen Inseln‹ beigetragen. Die
besondere Rolle, die Topographien des Tausches und der Gabe sowie die spe-
zifische Verknüpfung von Personen- und Sachrecht dabei spielen, haben viele
der Interpreten solcher und anderer europäischer Reiseberichte allerdings
ausgeblendet.15 Zudem kommen wissenschaftliche Untersuchungen zu dem
Schluß, daß in der »Völkerbeurteilung« Georg Forsters »Zivilisationskritik,
die Relativität des Glücks und das Prinzip natürlicher Gleichheit […] letzten
Endes hinter der Überzeugung eines europäischen Aufklärungsideals und vor
allem hinter dem Kulturfortschrittsglauben zurückstehen.«16 Die Lebens- und
Kulturwelt der Südsee wird keineswegs gegenüber der Europas als gleichwer-
tig anerkannt. Vielmehr wird sie als Kontrastfolie zu einer Welt vorgeführt,
in der Zivilisationsprozesse und Welthandel Maß und Tempo einer Entwick-
lung regulieren und steuern. Auch das ursprünglich vermutete Arkadien im
Naturzustand erweist sich nicht frei von Tauschverhältnissen. Und doch sind
es die »juridischen und ökonomischen Verfahren«, die die Begegnung mit
der fremden Kultur bestimmen«.17 Ganz gleich, ob es sich um Präsente als
Kreuzungspunkte von Repräsentation und Präsenz, um die Begrenztheit des
Warenaufkommens auf Reisen oder um interkulturelle Tauschakte handelt
– ihr Gelingen oder Mißlingen ist nicht selten von konträren Auffassungen
der Besitz- und Eigentumsverhältnisse abhängig.
Doch zunächst soll festgehalten werden: Ebenso komplexe wie kom-
plizierte Tauschverhältnisse bestimmen die kulturellen Räume, auf die die
europäischen Schiffsreisenden treffen, und sie ordnen sich in deren Augen
zu einer Topographie, die am Ausgang des 18. Jahrhunderts sowohl die erd-
geschichtliche Kunde als auch das Wissen über Flora und Fauna, die Kon-
solidierung ökonomischen Wachstums ebenso wie den kulturellen Austausch
umgreift. Forsters ausgedehnte Wanderungen durch die Täler und Gebirge
der polynesischen Insel bieten auf dieser Grundlage Anlässe genug für die
15 Vgl. dazu zuletzt Horwitz, Tony: Cook, Die Entdeckung eines Entdeckers. Hamburg
2004, v.a. S. 67–116. (Tony Horwitz: Blue Latitudes: Boldly Going Where Captain
Cook Has Gone Before. New York 2002) Der amerikanische Autor geht den Spuren
von Cooks Reisen bevorzugt unter der Prämisse nach, »das Fernglas um(zu)drehen«
und nach dem Exotismus der Engländer für die Eingeborenen zu fragen: »Was hatten
die pazifischen Völker in den bleichgesichtigen Fremden, die übers Meer gekommen
waren, gesehen und wie erinnerten sich ihre Nachfahren an Cook?«, S. 17.
16 Köhler (s. Anm. 10), S. 77.
17 Despoix, Philippe: »Benennung und Tausch, Zur Semantisierung des Unbekannten in
Reiseberichten der 1770er Jahre«. In: Baxmann, Inge/Franz, Michael/Schäffner, Wolf-
gang (Hg.): Das Laokoon-Paradigma, Zeichenregime im 18. Jahrhundert. Berlin 2000,
S. 155. Despoix untersucht die großen britischen und französischen Forschungsreisen
der 1760er und 1770er Jahre von Bougainville und Cook und erwähnt Forster nur ab-
schließend und eher am Rande. Wesentlich für den hier untersuchten Zusammenhang
ist aber der Hinweis, daß es sich keineswegs um »zeichenfreie Räume« handelt, die
aufgesucht werden, sondern um Reisen ins »Zentrum von Zeichenprozessen«, ebd.
Topographie des Tausches, Topographie des Instruments 631
Vielfach wird zum Kriterium der Beurteilung durch den Europäer die indi-
viduelle Kategorie des Fleißes, etwa wenn Forster über die Weckung von
Bedürfnissen nachdenkt, die als Antriebsmomente positiver Veränderungen
gelten. Gleichzeitig aber und nicht unabhängig davon bietet diese Beobach-
tungsperspektive Gelegenheit für das Erstaunen über unvermutete Sprengun-
gen der Grenzen zwischen den beiden einander so fremden Kulturen. So trifft
Forster bereits während seines ersten Besuchs auf Tahiti einen von seiner
Frau gefütterten Eingeborenen an, dessen wohlgenährte Lethargie zunächst all
seinen hochgespannten Erwartungen an Zivilisations- und Gleichheitsideale
widerspricht. An anderer Stelle nennt er ihn den »Fresser«:
›Wir hatten uns bis dahin‹, schreibt er, ›mit der angenehmen Hoffnung geschmeichelt,
dass wir doch endlich einen kleinen Winkel der Erde ausfündig gemacht, wo eine ganze
Nation einen Grad der Civilisation zu erreichen und dabey doch eine gewisse frugale
Gleichheit unter sich zu erhalten gewußt habe, dergestalt, dass alle Stände mehr oder
minder, gleiche Kost, gleiche Vergnügungen, gleiche Arbeit und Ruhe mit einander
gemein hätten. Aber wie verschwand diese schöne Einbildung beym Anblick des trägen
Wollüstlings, der sein Leben in der üppigsten Unthätigkeit ohne allen Nutzen für die
menschliche Gesellschaft, eben so schlecht hinbrachte, als jene privilegirten Schmarot-
zer in gesitteten Ländern, die sich mit dem Fette und Überflusse des Landes mästen,
indeß der fleißigere Bürger desselben im Schweiß seines Angesichts darben muß.‹19
Ludwig Uhlig hat diese Szene im Kontext der polynesischen Kultur damit
erklärt, dass der Mann »besonders strengen Taburegeln unterlag«, die ihm
unter anderem verboten, »seine Speise mit der Hand zu berühren« und die
Gesetze der Gastfreundschaft zu achten. 20 Wie auch immer Forster diese
ten unter dieser Prämisse, gewinnt man eine Ahnung, an welchem Punkt die
Vorstellungen von Eigentum und Besitz zwangsläufig in Konflikt geraten
mußten: ›Tausch‹ ist nicht gleich ›Tausch‹ und noch heute macht die tahi-
tinische Sprache kaum einen Unterschied zwischen »geben« und »leihen«.
So spiegelt das Wort heroa differente Vorstellungen von Eigentum, denn es
bedeutet soviel wie »Vielleicht gebe ich es dir zurück, vielleicht auch nicht.
Ich weiß es noch nicht.«25 Was für die Bewohner der Insel Dinge zum Leihen
sind, ist für die Besucher aber schlichtweg Diebstahl.
Bei aller schwelgerischen Verehrung geht Forsters Liebe zu Tahiti daher
nie soweit, daß er sich dem vor allem von Bougainvilles Schilderungen auf-
gebauten Mythos Tahitis als existierendem Elysium der Südsee wirklich hin-
gegeben hätte. Das zeigt sich besonders deutlich an seiner Bewertung der
Auswirkungen jener Referenzgröße, die als Inbegriff des Luxus auf Seiten
der Eingeborenen gilt – wie alles, was auf der Insel selbst nicht wächst und
gedeiht. Einerseits avancieren die roten Papageienfedern, die die Europäer
von anderen Inseln mitbringen, zum herausragenden Objekt der Begierde.26
Andererseits kommt ihnen hinsichtlich der vermeintlichen Promiskuität der
weiblichen Inselbewohner und der durch das Verhalten der Matrosen geför-
derten prostitutionsähnlichen Verhältnisse ein eher negativer Stellenwert zu.
Deutlich gibt Forster seiner Überzeugung Ausdruck, daß die Gier nach Din-
gen – seien es Federn, Nägel oder andere werkzeugähnliche Gegenstände
– Sitte und Moral in der Südsee künstlich verderbe. Hinter dem eigenartig
anmutenden Verhalten der Südseebewohner sucht sein Bericht nach einer
regelhaften Struktur, nach jener Topographie, die eine befriedigende Erklä-
rung zu bieten vermag. Vor allem die Federn, soviel ist sicher, scheinen ein
Glied in der Kette jener genau festgelegten Formen des Tauschhandels zu
sein, die sich zwischen den verschiedenen Stämmen entlang bestimmter Han-
delsrouten entfalten. Der Tauschhandel der Europäer greift insofern zwangs-
läufig in jenen ebenso intertribalen wie zirkulären Tauschhandel ein, der sich
verstrickt zeigt in ein ganzes Netz von Pflichten, Funktionen und Privilegien,
wie sie einer entwickelten Stammesgemeinschafts- und Verwandtschaftsor-
ganisation im Pazifik zu jener Zeit entsprachen.27 Setzt man Malinowskis
»schuftenden Weißen« heuristisch mit den auf Cooks Schiffen hart arbei-
tenden Matrosen gleich, läßt sich auf jene Passagen in Forsters Werk, die
diesen Handel thematisieren, eine der kulturrelativistischen Bemerkungen
des vergleichenden Ethnologen über den von ihm untersuchten Ringtausch
des Kula beziehen. »In beiden Fällen«, führt Malinowski aus, »bringt der
konventionelle, einem Gegenstand beigemessene Wert Macht, Ruhm und
die Freude an seiner Vermehrung mit sich. Im Falle des weißen Mannes ist
dies zwar unendlich komplexer und indirekter, unterscheidet sich aber nicht
wesentlich von dem der Eingeborenen.«28
Von einem kulturrelativistischen Denken in diesem Sinne ist die Reise
um die Welt weit entfernt und doch finden sich in Forsters Beschreibung
Hinweise genug auf Beiträge zu einer Erklärung, die auf das Mißverhältnis
zwischen den Formen der Gabe als einer ringförmigen Bewegung aus Sachen,
Werten, Verträgen und Menschen und einer auf Tauschwirtschaft basierenden
einsetzenden modernen Industriegesellschaft aus ist.29 In beiden Fällen mag
angehäufter Reichtum – so etwa die Akkumulation von Lebensmitteln, die
zugleich die Zurschaustellung von Wohlstand kennzeichnet – der Kontrolle
über andere Menschen dienen. Die zugrunde liegenden Interessen erscheinen
dennoch verschieden und sie prägen die Wahrnehmung des jeweils anderen
in hohem Maße. Der Strom von Gaben, der sich in Form von Geschenken
und Gegengeschenken entäußert, stößt auf ein Kauf- und Verkaufssystem,
in dem »die alten Prinzipien« des Geben und Nehmens und der Gastfrei-
heit der »Härte, der Abstraktion und der Unendlichkeit« der europäischen
Gesetzbücher entgegenzuwirken suchen.30 Forsters Bericht über seine Reise
auf den Cookschen Schiffen und den immer wieder durch neue Seefahrten
unterbrochenen Aufenthalten auf den Archipelen der Südsee berührt inso-
fern gleichzeitig juristische, wirtschaftliche und religiöse, aber auch ästhe-
tische Phänomene. Das gilt vor allem dann, wenn er auf die wechselseitig
vollführten Tänze zu sprechen kommt, auf die Gesänge und Schaufeste, auf
die dramatischen Vorführungen, die zwischen verfeindeten oder verbündeten
Stämmen stattfinden. Wie nahe etwa kollektive Ächtung und Fest beieinan-
der liegen, zeigt eine Episode im 17. Hauptstück, das den zweiten Aufent-
halt auf den Societäts-Inseln beschreibt. Eines der tahitianischen Mädchen,
erzählt Forster, nutzte die Gelegenheit, mit Hilfe der europäischen Schiffe auf
ihre Heimatinsel Raietea zurückzukehren. Als blinde Passagierin versteckt,
schlüpft sie während der Überfahrt in »eines Offiziers Kleider« und gefällt
sich nach seinen Worten »in dieser Tracht so wohl, daß sie solche gar nicht
wieder ablegen wollte.«31 Während auf Tahiti die weiblichen Mitglieder der
Gesellschaft in Gegenwart der Männer am Mahl nicht teilnehmen dürfen,
speist sie in der Offiziersmesse und zeigt, wie Forster anmerkt, ȟberhaupt
[…] viel gesunde Vernunft.« Bei ihrer Ankunft auf einer der Inseln wird
sie überfallen, die europäische Kleidung mit Gewalt entwendet. Der kollek-
tive Spott ist ihr sicher: Auf einem der Tanzfeste ihres Stammes wird ihre
Geschichte in ein Tanzritual übersetzt, das sie der Ächtung der Gemeinschaft
ihres Clans preisgibt. Die europäischen Kleider mögen ihre Persönlichkeit
verändert haben; als ›Person‹ aber bleibt sie Besitz der elementaren ver-
wandtschaftlichen Struktur.
Der Handel mit Federn und Nahrungsmitteln wie auch der allgegenwär-
tige Frauentausch zeigen, daß er im Falle der Inselbewohner nicht als einfa-
cher Austausch von Gütern, Reichtümern und Produkten im Rahmen eines
zwischen Individuen abgeschlossenen Vertrages funktioniert, sondern sich
um das dreht, was Mauss ein kollektives »System der totalen Leistungen«32
genannt hat. Diese Topographie beginnt sich um 1800 mit der Topographie
der Verkehrswege zu überkreuzen, die die Wirtschafts- und Rechtsordnun-
gen der europäischen Moderne mit ihren Kriterien des Utilitarismus und des
Gewinns in die archaischen Formen des Austauschs hineintragen.33 Daß dies,
wenn auch in Einzelfällen, ebenso in die umgekehrte Richtung funktioniert,
zeigen zwei Episoden. Die erste nimmt auf den Bericht des französischen
Seefahrers Bougainville Bezug, dessen Schriften Georg Forster in London vor
Antritt seiner Reise ins Englische übersetzte. In einer Fußnote wird berichtet:
Als der Herr von Bougainville im April 1768 hier vor Anker lag«, so Forster, »ent-
deckten die Tahitier, bloß am Gange, dass der Bediente des Herrn Commerson (eines
Naturforschers, der mit auf dem Schiff war) eine verkleidete Frauensperson seyn
müsse, welches, während der ganzen Reise, niemand an Bord gewahr worden war.
Diese Person war durch frühe Unglücksfälle zur Verläugnung ihres Geschlechts be-
wogen worden, hatte schon in Paris als Livree-Bediente gedient, und war alsdann,
aus Neugier, mit zu Schiffe gegangen, weil sie gehört, dass diese Reise um die Welt
gehen solle. Herr von Bougainville giebt ihr das Zeugniß, sie habe sich, sowohl vor
als auch nach ihrer Entdeckung, überall untadelhaft aufgeführt, und sey damals 27
Jahr alt gewesen.34
Innerhalb einer Kultur, in der »alles spricht«35, ist es die Körpersprache, auf
die sich die besondere Aufmerksamkeit richtet. Diese Fokussierung führt
vor, wie sehr das Staunen der Bewohner Tahitis dem in ihren Augen außer-
gewöhnlichen Umstand gilt, unter all den Männern nur eine einzige Frau an
Bord vorzufinden. Die zweite Episode verweist darauf, daß der Weg zurück
in einen vorgeblich glücklichen Naturzustand versperrt bleibt. Auch wenn
auch das »glückliche Leben, die gesunde Nahrung und die einfache Tracht«
im interkulturellen Austausch verlockend erscheinen mögen gegenüber »der
beständigen Unruhe, den ekelhaften Speisen und den groben engen Kleidun-
gen europäischer Seeleute«36, ist das Gefälle der Tauschverhältnisse nicht zu
umgehen. Was zu den herausragendsten Passagen in Forsters Bericht über
den Aufenthalt auf Tahiti zählt, ist dennoch ein Sprung ins Wasser. Als der
Abschied von der Insel beendet, die Kanonen abgefeuert, der Anker vor Tahiti
gelichtet ist und die Segel gesetzt sind, versucht einer der Seeleute
sich diese unruhigen Augenblicke zu Nutze zu machen, um unbemerkt nach der Insel
zu entwischen. Man ward ihn aber gewahr, als er dernach hinschwamm und sah zu-
gleich einige Canots herbeyrudern, die ihn vermutlich aufnehmen wollten; der Cap-
tain ließ ihm also gleich durch eins von unsern Booten nachsetzen, ihn mit Gewalt
zurückbringen und ihn zur Strafe für diesen Versuch vierzehn Tage lang in Ketten
legen. Allem Anschein nach, war die Sache zwischen ihm und den Insulanern förmlich
verabredet; denn sie hätten vielleicht eben so viel Nutzen davon gehabt, einen Europäer
unter sich zu behalten, als dieser gefunden haben würde, unter ihnen zu bleiben.37
– samt der »Errichtung eines auf Eisengegenständen – vor allem Nägeln – beruhen-
den Marktsystems« zu gewinnen und vor allem der Bekämpfung der Diebstähle der
Inselbewohner dienen sollte, nur wenig Wirkung zeitigte.
45 Humboldt, Alexander von: Voyage aux Régions équinoxiales du Nouveau Continent,
fait en 1799, 1800, 1801, 1802, 1803 et 1804, par Aimé Bonpland. Paris 1805–1834,
30 Bde. Neu erschienen als: Humboldt, Alexander von: Reise in die Äquinoktial-Ge-
genden des Neuen Kontinents. Hg. von Ottmar Ette. Mit Anm. zum Text, e. Nachw.
u. zahlr. Abb. sowie e. farbigen Bildteil. 2 Bde. Frankfurt a.M. 1991.
46 Humboldt, Alexander von: Die Wiederentdeckung der Neuen Welt, Erstmals zusam-
mengestellt aus dem unvollendeten Reisebericht und den Reisetagebüchern. Hg. von
Paul Kanut Schäfer. Berlin 1989. Aufgrund der stärkeren Präsenz der Tagebuchauf-
zeichnungen wird in der Regel aus dem Text dieser kompilatorischen Ausgabe zitiert,
deren Titel nicht von Humboldt stammt. Vgl. zur Publikationsgeschichte und zu den
Vor- und Nachteilen der Schäferschen Ausgabe Holdenried, Michaela: Künstliche Hori-
zonte, Alterität in literarischen Repräsentationen Südamerikas. Berlin 2004, S. 244.
47 Böhme, Hartmut: »Ästhetische Wissenschaft, Aporien der Forschung im Werk Alex-
ander von Humboldts«, in: Ette, Ottmar/Hermanns, Ute/Scherer, Bernd M./Suckow,
Topographie des Tausches, Topographie des Instruments 639
Christian (Hg.): Alexander von Humboldt – Aufbruch in die Moderne. Berlin 2001,
S. 17 (Hv. ebd.).
48 Annette Graczyk deutet das »Naturgemälde« in ihrer Habilitationsschrift im Zeichen
des Tableaus als »Antwort auf den Erfahrungsdruck und die Ausweitung des Wis-
sens um 1800« und zeigt den Übergang zum »Kosmos« als Konstruktionsweise eines
»Weltbildes« auf, vgl. Graczyk, Annette: Das literarische Tableau zwischen Kunst und
Wissenschaft. München 2004, S. 267. Zum Naturgemälde vgl. ebenso Böhme (s. Anm.
47) sowie Siegel, Eva-Maria: »Repräsentation und Augenschein. Die Wahrnehmung
des Fremden um 1800 am Beispiel der Reiseberichte und -tagebücher Alexander von
Humboldts«, in: HiN. Alexander von Humboldt im Netz. International Review for
Humboldtian Studies/ Revista Internacional de Estudios Humboldtianos/ Internationale
Zeitschrift für Humboldt-Studien IV, 7 (2003). Hg. von Ottmar Ette und Ingo Schwarz
i.A. der Alexander von Humboldt Arbeitsstelle/ Akademie der Wissenschaften Berlin
Brandenburg und der Universität Potsdam.
49 Vgl. dazu als theoretischen und forschungsgeschichtlichen Überblick Böhme, Hart-
mut: »Netzwerke. Zur Theorie und Geschichte einer Konstruktion«, (Einführung) in:
Barkhoff, Jürgen/Böhme, Hartmut/Riou, Jeanne (Hg.). Netzwerke, Eine Kulturtechnik
der Moderne. Köln/Weimar/Wien 2004, S. 17–36, Zitat S. 17 sowie Alexander von
Humboldt, Netzwerke des Wissens. Haus der Kulturen der Welt. Berlin 6. Juni – 15.
August 1999/ Kunst- und Ausstellungshalle der BRD. Bonn 15. September – 9. Januar
2000 in Kooperation mit dem Goethe-Institut. Ausstellungskatalog Bonn 1999.
640 Eva-Maria Siegel
Den Zwischenraum von Präsenz und Repräsentation, den Forster hier eher
verschleiert als hervorhebt, füllt in Alexander von Humboldts Aufzeichnun-
gen die Wahrnehmung der geographisch-räumlichen Dimension durch das
Instrument. Erst die Kraft der Benennung wird in Humboldts Falle nach-
träglich zu jenem anerkennenden Vermögen, das dem empirisch befragten
Raum Bedeutung verschafft.52 Doch zielt das Instrument bereits im Vor-
50 Vgl. z. B. Forster, Georg: Ansichten vom Niederrhein, von Brabant, Flandern, Hol-
land, England und Frankreich im April, Mai und Junius 1790, in: ders.: Werke in vier
Bänden. Hg. von Gerhard Steiner. 2. Bd. Frankfurt a.M. 1969, S. 379ff.
51 Forster, Georg: Werke in vier Bänden. Hg. von Gerhard Steiner. 4. Bd. (Briefe) Frank-
furt a.M. 1970, S. 583. Zu seiner Auseinandersetzung mit Kant in dieser Frage vgl.
Gnéba, Kokora Michel: »Die Auseinandersetzung zwischen Georg Forster und Im-
manuel Kant über die Frage der Menschenrassen«. In: Welfengarten, Jahrbuch für
Essayismus. Hg. von Leo Kreuzer und Jürgen Peters, 11 (2001), S. 50f.
52 Vgl. Bertaux, Pierre: »Vorwort«, in: Hein, Hagen-Wolfgang (Hg.): Alexander von
Humboldt, Leben und Werk. Frankfurt a.M. 1985, S. 8: »Sein Name ist als Bezeich-
nung von Ortschaften, Bergen Flüssen, Gletschern, Straßen, als Meeresströmung auf
fünf Kontinenten und auf der Antarktis bezeugt. Humboldt Beach, Humboldt Bay,
Humboldt Channel, Humboldt River, Sierra Humboldt, Pico Humboldt gibt es in
Topographie des Tausches, Topographie des Instruments 641
der ganzen Welt. Auf dem Mond gibt es ein Mare Humboldt. 1858 erhielt, sich auf
Humboldts Vornamen beziehend, ein Planetoid den Namen Alexandra.«
53 Schäffner, Wolfgang: »Verwaltung der Kultur, Alexander von Humboldts Medien
(1799–1834)«. In: Rieger, Stefan/Schahadat, Schamma/Weinberg, Manfred (Hg.):
Interkulturalität zwischen Inszenierung und Archiv. Tübingen 1999 (Literatur und
Anthropologie; 6), S. 352.
54 Humboldt (s. Anm. 45), S. 13.
55 Zur Aufstellung dieses Instrumentariums, über das Humboldt im ersten Band seiner
Reise in die Äquinoktial-Gegenden des Neuen Kontinents sowie in einer Rede, ge-
halten 1829 vor der außerordentlichen Versammlung der Kaiserlichen Akademie der
Wissenschaften von Sankt Petersburg, Zeugnis gibt, vgl. Ochoa, Jaime Labastida:
Ein Arbeitstag Alexander von Humboldts. In: Ette (s. Anm. 47), S. 162: »Unter den
rund 50 Geräten ragen heraus: die Längenuhr von Louis Berthoud; drei Teleskope
unterschiedlicher Größe, hergestellt von Dollond, Caroché und Köhler; ein Sextant
von Ramsden; ein Repetitionsspiegelkreis von Le Noir; ein Inklinometer und ein De-
klinatorium, ebenfalls von Le Noir hergestellt; zwei Barometer; Thermometer nach
Paul, Ramsden, Megnié und Fortin; ein invariables Pendel; Hygrometer nach De Luc
und Saussure; ein Cyanometer nach Paul; eine Thermosonde nach Dumotiez; ein
Mikroskop nach Hofmann sowie eine Reihe von Reagenzien und Behältern.« Vgl.
dazu auch Bitterli, Urs: Die Entdeckung Amerikas, Von Kolumbus bis Alexander von
Humboldt. München 1991; Botting, Douglas: Alexander von Humboldt, Biographie
eines großen Forschungsreisenden. München 20016, S. 80.
56 Zur Auseinandersetzung um die von Mary Louise Pratts These seit 1992 ausgelöste
Debatte von den »imperial eys« und der Wiedererfindung Lateinamerikas als »primal
nature« vgl. Schäffner (s. Anm. 1) sowie als kritische Stellungnahme ausführlicher
Holdenried (s. Anm. 46), S. 245ff.
642 Eva-Maria Siegel
die Erweiterung der Sinne durch Messungen aller Art, verbunden mit einer
»romantischen Medialisierung der Natur«57, zu einer Absenz der anthropo-
logischen Dimension und ihrer Wahrnehmungsmodi geführt hat. Bereits in
die Perspektivierung des Gesehenen sind sie untrennbar eingetragen. Das soll
im folgenden exemplarisch an zwei Beispielen gezeigt werden. Geht es zum
einen um das Ausmaß der Phantasie, das dazu notwendig ist, die Faszination
unmittelbarer Aufzeichnung in die nachträgliche Erinnerung an den optischen
Eindruck zu überführen, steht zum zweiten die Vielfalt der aufgesuchten und
wiedergegebenen Perspektiven selbst zur Debatte.
Die Beobachtung und Aufzeichnung der ›Sprache der Natur‹ und ihre
Befragung durch das Instrument läßt den Bergbauingenieur und Vermessungs-
techniker Alexander von Humboldt als Verfasser von Wissenschaftsprosa in
vielerlei Hinsicht auf weitgehend unbekanntes Gelände vordringen. In der
Natur liest er wie in einer Schrift: Zeichen, die sich zu Texten zusammen-
fügen. Geologisches, Mineralogisches, Metereologisches, Pflanzen, Tiere,
Menschen – alle Mannigfaltigkeit der Welt wird detailliert erfaßt, um alles
mit allem zu verbinden. Nicht allein jene Wunder sind festzuhalten, die
Humboldt zwischen Juli 1799 und November 1800 den Orinoko entlang
führen, deren Ansicht ihn auf der Reise durch die Anden im März 1801 bis
Februar 1803 beschäftigt oder die den einjährigen Aufenthalt in Mexiko
bis zum Hochsommer 1804 zu einem Höhepunkt der Reise werden lassen.
Die Grenzen des Kontinents verläßt er mit einer anschließenden Überfahrt
nach Kuba sowie einem Abstecher in die Vereinigten Staaten, wo ihn Präsi-
dent Jefferson empfängt. Das Ziel all dieser Reisen ist ein doppeltes: »Ich
wollte die Länder, die ich besuchte, einer allgemeinen Kenntnis zuführen;
und ich wollte Tatsachen zur Erweiterung einer Wissenschaft sammeln, die
noch kaum skizziert ist und ziemlich unbestimmt bald Physik der Welt, bald
Theorie der Erde, bald Physikalische Geographie genannt wird.«58 Die Unbe-
stimmbarkeit der Bezeichnung des Wissenschaftsgebietes läßt auf exakt jene
Grenzüberschreitungen schließen, die Humboldts topographische Beschrei-
bungen niemals aus den Augen zu verlieren scheinen. In der Niederschrift der
Erlebnisse sind ebenso die Potenzen der Schrift wie des Bildes auszuloten.
Sondierungen sind vorzunehmen, die in Form aisthetisch verschriftlichter
Materialität die Chancen auf eine technische und ästhetische Einrichtung
der Welt zugleich ausloten.
Humboldt befindet sich dabei in einer einzigartigen Position. Die spa-
nisch-amerikanischen Kolonien, zu denen er sich gemeinsam mit dem Bota-
niker Bonpland auf den Weg macht, bedecken ein ungeheures Territorium
der Erde. Von Kalifornien bis Cap Horn, schließen sie um 1800 neben den
meisten West-Indischen Inseln ganz Mittel- und Südamerika ein sowie fast ein
Drittel des heutigen Territoriums der Vereinigten Staaten. Mit Ausnahme von
Brasilien, Patagonien und Tierra del Fuego steht das ungeheure Weltreich, in
Königreiche aufgegliedert und durch ein Vizekönigtum verwaltet, unter der
direkten Herrschaft der spanischen Regierung in Madrid und ist fast völlig
von der übrigen Welt abgeschlossen. Humboldt erreicht den Zugang durch
einen Coup: Als er im März 1799 dem König und der Königin von Spanien
am Hof von Aranjuez durch Vermittlung des sächsischen Gesandten Baron
Phillip von Forell vorgestellt wird, nutzt er die Gelegenheit, um formell
ein Memorandum über die Vorteile seiner Reise für die spanische Regie-
rung zu übergeben.59 Er und sein Begleiter Bonbland erhalten je zwei Pässe,
die ihnen die Unterstützung jedes Vizekönigs und jedes Magistratsbeamten
sichern und Zugang zu jedem gewünschten Ort gewähren. »Für Humboldt,
den Protestanten«, vermerkt Douglas Botting, »bedeuteten sie ebensoviel wie
Empfehlungsbriefe Seiner Katholischen Majestät persönlich.«60
Die Privatreise der beiden Wissenschaftler bedarf allerdings zunächst der
Inanspruchnahme eines Vorwissens, das die Grenzen der Auffassungs- und
Wahrnehmungsfähigkeit der Reisenden ebenso prägt wie ihres Vermögens zur
Weitergabe; das den Charakter des Berichteten insofern verwandelt, als es auf
anderen technischen oder genauer gesagt: medialen Standards beruht. Stärker
als seine Nachfolger in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – Darwin
etwa und Haeckel – ist sich Humboldt über eins im Klaren: Was Betrachter
so alles in Naturformen »hineinträumen«61, erweist sich leicht von einer
Beschaffenheit, die dem Sehvermögen der »Wissenschaft der Steuerleute«
auf hoher See gleichgestellt ist. »Da unser Steuermann sieht, was er glaubt«,
führt er anläßlich der Überfahrt nach Acapulco aus, »sieht er alles, was das
Rezept ihm ankündigt.« 62 Das Rezept, von dem die Rede ist, stützt sich
auf Instrumentarien, hergestellt von Erbauern, die niemals in diesen Breiten
waren. Humboldts überrechnet seine Distanzen mit Hilfe des moderneren
Chronometers und findet dennoch keinen Irrtum. In die Leerstelle, die die
mangelnde Exaktheit bisheriger Instrumente und die Ungenauigkeit der See-
karten hinterläßt, springt die unmittelbare Naturbeobachtung der Seefahrer
ein: »Ein Fisch irritiert sie, er bestimmt ihnen die Länge, sie ändern den
Kurs und verlängern ihre Reise um drei bis vier Wochen.« Die Natur selbst
lehrt die Beobachtungsgabe, der Ausschließlichkeit der Datenmessung zu
mißtrauen.
Um aus der Fülle der anschaulichen Welt einzelne Aspekte hervorzuhe-
ben, erfährt der visuelle Prozeß aber nicht nur in der Beobachtung, sondern
auch in der Benennung von Städten und Pflanzen nicht selten eine Stereoty-
59 Zum Hergang und den Bedingungen der Reise Botting (s. Anm. 55), S. 77f.
60 Botting (s. Anm. 55), S. 78.
61 Humboldt (s. Anm. 46), S. 384.
62 Humboldt (s. Anm. 46), S. 358.
644 Eva-Maria Siegel
pisierung. Gesehen wird auch an Land, wie Humboldt weiß, in aller Regel
das, was vorher gelernt worden ist:
Die Europäer haben überall Pflaumen, Kirschen, Oliven, Äpfel gefunden. Die entfern-
te Ähnlichkeit der Tropenpflanzen mit den Gewächsen des Vaterlandes haben sie
aufgefaßt. Der Däne sieht überall Birken, Tannen, Weiden und Eichen, der Spanier
Oliven und Johannisbrot, jedem schwebt allgegenwärtig das Bild seiner Heimat vor.
Um die Phantasie mit angenehmen Träumen zu füllen, gibt der Ankömmling dem
neuen Wohnort den Namen seiner Vaterstadt, Flüsse, Seen und Berge, alles umher
wird mit vaterländischen Namen begrüßt. [...] So haben die Abkömmlinge jener Völ-
ker, die einst die Welt durch ihre Eroberungen in Erstaunen setzten, Spanier und
Portugiesen, den Vorzug, in beiden Indien nicht nur Sprache und Mitbürger, sondern
auch Erinnerungen an die Produkte und kleinsten Lokalverhältnisse ihres Vaterlandes
zu finden.63
Die Fülle der wahrgenommenen Objekte ist demzufolge als jene Grenzbe-
stimmung zu betrachten, an deren Schwelle sich im Sichtbaren leicht der
blinde Fleck der Einbildungskraft einnistet. Zu jeder visuellen Konfigura-
tion, zu jeder optischen Präsenz gehörend, erweist er sich nur allzu häufig
als unvermeidliche Folge der Naturbeobachtung selbst und schließt noch
die empirische Befragung natürlicher Phänomene mit ein. Repräsentationen
versunkener europäischer Wissensbestände gestalteten vor Humboldts Nie-
derschrift seiner Forschungsergebnisse jenen globalen Bezugsrahmen aus,
in dem das Innere von Spanisch-Amerika über weite Gebiete terra inco-
gnita geblieben war; ein Land, das seit der Expedition des Franzosen La
Condamine im Jahre 1735 kein einziger ausländischer Wissenschaftler mehr
betreten hatte.
Die Unternehmung, physikalische Kenntnisse über die Erdoberfläche »als
einen vielseitigen Körper mit verschieden geneigten Flächen« zusammen-
zutragen, um zuvorderst jene Fehler der Karten zu korrigieren, die »schon
bei einem Blick« 64 ins Auge fallen, entbindet allerdings auch einen küh-
len Betrachter wie Humboldt nicht gänzlich von der Euphorie des ersten
Entwurfs. »Je gewaltiger und großartiger die Natur in den von ungeheuren
Strömen durchzogenen Wäldern« des Orinoko erscheint, vermerkte er in
seinen Tagebüchern, »desto strenger muß man bei den Naturschilderungen
an der Einfachheit festhalten«65, die das vornehmste Verdienst der ersten
Modellierung sei. Die Lust, die dabei die Empfindungen auslöst, beruhe aber
nicht allein auf dem »Interesse des Naturforschers«. Daneben ist sie, wie sich
ausdrücklich vermerkt findet, »auf eine Empfindung« zurückzuführen, »die
allen im Schoße der Kultur aufgewachsenen Menschen gemein« sei. »Es
como en el paraíso«, zitiert er einen Indianer, der während der Fahrt auf dem
Orinoko als Steuermann fungiert – Es ist wie im Paradies. Alles scheint an
einen Urzustand der Welt zu erinnern, »dessen Unschuld und Glück uralte
ehrwürdige Überlieferungen allen Völkern vor Augen stellen.« 66 Das Glück
erweist sich gebunden an eine Unberührtheit der Natur, die, wenn auch nur
scheinbar, nur im Auge des Betrachters, das »Goldene Zeitalter« der Mythen
wieder herbeizurufen vermag. Neben dem räumlich gefaßten Datenmaterial
der Kartographie spielt insofern die »Familienähnlichkeit« aller »kosmo-
gonischen Überlieferungen« eine bislang unterschätzte Rolle in Humboldts
Beschreibungen – jene Topographie der Mythen, die die »alten Sagen des
Menschengeschlechts, die wir gleich Trümmern eines großen Schiffbruchs
über den Erdball verstreut finden, für die Geschichtsphilosophie von höch-
ster Bedeutung« 67 erscheinen lassen. Sie stellen die Lesbarkeit der Zeichen
einer fremden Kultur erst her, bilden die hermeneutische Konnexion zu jener
Vielfalt der Wahrnehmung, die nicht in einer Kartographie der Orte und
ihrer Vermessung sowie in der enzyklopädischen Kombinatorik von Daten
aufgeht.
Daß mit solcher Art Wechsel von der Perspektive der Naturforschung zur
Empathie des Augenblicks zugleich auch eine Vervielfältigung der Sichtach-
sen im Zuge räumlicher Bewegung verbunden ist, zeigt eine mikrologische
Studie von Textpassagen, in denen sich wissenschaftliche Vermessungsverfah-
ren, Empirie der Wahrnehmung und Naturempfindung überkreuzen. Kurz vor
seiner Reise an den Orinoko, während seines zweimonatigen Aufenthalts in
Caracas, trat Humboldt zu seiner ersten Bergexkursion in Südamerika an, die
auf den Gipfel der Silla führte.68 Die Darstellung des Weges hin zum Gebirgs-
kamm kann als paradigmatisch für die zahlreichen Aufstiegsbeschreibungen
gelten, die alle hin zu Ausblickspunkten führen. Es fällt der Blick auf dem
schmalen Fußpfad zunächst zu beiden Seiten der Täler nieder. Bald erzwingt
die Steilheit des Anstiegs eine veränderte Körperhaltung der Gehenden. Der
dichte, kurze Rasen gerät ins Blickfeld, während der Himmel anfängt sich zu
bedecken und Nebel aufkommt. Da Humboldt und sein Begleiter fürchten,
daß die in der Stadt gemieteten Führer sich diesen Umstand zunutze machen,
lassen sie »diejenigen, die die unentbehrlichen Instrumente« tragen, vorange-
hen. Wo die Beine versagen, hilft man mit den Händen nach; wo der Hang
des Berges sanfter wird, werden »mit unsäglicher Lust« die Gewächse der
Region untersucht. Bald sinkt das Thermometer unter elf Grad, das dichte
Gewölk läßt nur die Ausrichtung des Aufstiegs nach der Kompaßnadel zu.
Das birgt die Gefahr in sich, an den Rand einer ungeheuren Felswand zu
geraten, die fast sechstausend Fuß tief zum Meer abfällt. Sorgfältig werden
gleichwohl die Gesteinsformationen verzeichnet: Gneis, Granit, »lange pris-
matische Blöcke«, die »schief aus dem Boden hervor(ragen)«. Erst auf dem
Gipfel, 8100 Fuß über dem Meeresspiegel, kann von einem Genuß über »die
ungemein weite Aussicht« auf das Tal die Rede sein: »Die westliche, abge-
rundete Spitze der Silla entzog uns die Aussicht auf die Stadt, deutlich aber
sahen wir die ihr zunächst liegenden Häuser, Dörfer, die Kaffeepflanzungen
und den Lauf des Guaire, eines silberglänzenden Wasserfaden.«69
Zwar stellt die beschreibende Darstellung die körperlichen Mühen des
Aufstiegs nicht explizit in den Mittelpunkt. Sie macht sie aber über den
Wechsel der Beobachtungsperspektiven anhand der Sukzession des Weges
transparent. Die Gleichzeitigkeit der Beobachtung, die ihre Aufmerksamkeit
zwischen der »Inklination der Magnetnadel« und scheinbar nebensächlichen
Details wie den herbeischwärmenden »haarigen Bienen« teilt, die – »etwas
kleiner als die Honigbienen des nördlichen Europas« – sich dem Betrach-
ter auf die Hände setzen, belegt, daß der Blick auf das Instrument und die
kontemplative Betrachtung natürlicher Phänomene sich nicht ausschließen.
Geodäsie und Topographie, Vermessung, Darstellung und Beschreibung von
Gelände, Orten, Landschaften, Flora und Fauna gehen zwanglos ineinander
über. Hinzu kommt, daß das Resultat der Höhenmessung, dem der beschwer-
liche Bergaufstieg galt, in den Augen der Einwohner von Caracas keines-
wegs zufriedenstellend war. Die Silla erwies sich nicht einmal so hoch wie
der höchste Pyrenäengipfel. Humboldt knüpft daran einen transnationalen
Bezug, der im vorliegenden Falle der »nationalen Vorliebe« in einem Lande
Rechnung trägt, »wo von Denkmälern der Kunst keine Rede ist« und die sich
daher »an Naturdenkmale hängt.«70 Der Erfahrungsbezug des Naturforschers
ergänzt sich hier gleichsam um ein mentales Bild, das an die Vorstellungskraft
und damit vielleicht auch an eine nationale Stereotypie seiner europäischen
Leserschaft appelliert.
Wesentlicher aber ist, daß auf den Körper als authentifizierende Erfah-
rungswelt verwiesen wird. Seine Strapazen vor allem legen Zeugnis ab von
der Existenz der Neuen Welt. Nicht allein die Technik, die Naturwissenschaft
und die Meßverfahren mit den ihnen entsprechenden Darstellungsformen, sei
es das Diagramm oder das Naturgemälde, beglaubigen die aufgesuchte Topo-
graphie. Es ist die leibliche Anwesenheit, die evident, offenkundig, klar und
augenscheinlich macht, daß der Blick durch die technische Apparatur immer
noch die Steuerungsmöglichkeit durch einen menschlichen Bewegungsappa-
rat voraussetzt. Das Instrument wird in Humboldts Reiseaufzeichnungen über
Die Wiederentdeckung der Neuen Welt, wie der Tausch in Forsters Reise um
die Welt, nicht zum Maß der Empfindung, die ein Wissensobjekt von sich
aus hervorrufen kann. Beide Topographien treffen sich vielmehr in der Her-
stellung räumlicher Bezüge zwischen Ideen und Praktiken am Schnittpunkt
I. Aufriß
Du, der nie gewagt zu fliegen
Nach dem Orient, wie wir,
Laß dies Büchlein, laß es liegen,
Denn Geheimnis ist es dir.1
1 Platen, August von: »Ghaselen. 1. Sammlung«. In: ders.: Werke. Bd. I: Lyrik. Nach
der Ausgabe letzter Hand und der historisch-kritischen Ausgabe mit Anm., Bibliogr.
u. e. Nachw. hrsg. v. Jürgen Link, Zeittafel von Kurt Wölfel. München 1982, S. 242.
Im folgenden zitiert als: Platen W mit Band- und Seitenangabe.
2 Zur Geschichte und Gestalt des Ghasel vgl. Bausani, A.: »Ghazal«. In: The Encyclo-
paedia of Islam. New Edition. Lewis, B./Pellat, Ch./Schacht, J. (Hg.). Bd. 2. Leiden/
London 1965, S. 1028–1036; Bürgel, Johann Christoph: »Ghasel«. In: Reallexikon
der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 1. Fricke, Harald/ Grubmüller, Klaus/Müller,
Jan-Dirk/Weimar, Klaus (Hg.). Berlin/New York 1997, S. 722–724.
Der Flug in die Fremde – der Flug in die Dichtung 649
3 Art. »Orient«. In: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Bd. 7. Bearb.
v. Dr. Matthias Lexer. Leipzig 1889, Sp. 1345f.
4 Debatin, Bernhard: Die Rationalität der Metapher. Eine sprachphilosophische und
kommunikationstheoretische Untersuchung. Berlin/New York 1995.
650 Andrea Polaschegg
Hugo von Hofmannsthal, Bruce Chatwin, ›Ungutstraum‹ und William Forsythe«. In:
Neumann, Gerhard/Weigel, Sigrid (Hg.): Lesbarkeit der Kultur. Literaturwissenschaft
zwischen Kulturtechnik und Ethnographie. München 2000, S. 465–484.
8 Bohnenkamp, Anne: »Goethes poetische Orientreise«. In: Goethe-Jahrbuch 120 (2003),
S. 144–156.
9 Golz, Jochen (Hg.): Goethes Morgenlandfahrten, West-östliche Begegnungen. Frankfurt
a.M. 1999.
10 Ilerli, Esin: Goethes »West-östlicher Divan« als imaginäre Orient-Reise. Sinn und
Funktion. Frankfurt a.M./Bern 1982.
11 Goethe, Johann Wolfgang: West-östlicher Divan. Hg. v. Hendrik Birus. 2 Teile (= ders.:
Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche. Vierzig Bände. I. Abt., Bd. 3/1
u. 3/2). Frankfurt a.M. 1994, Bd. 3.1, S. 12. Im folgenden zitiert als: Goethe FA mit
Abteilungs-, Band- und Seitenzahl.
12 Goethe (s. Anm. 11), FA I 3.1, S. 12.
13 Goethe (s. Anm. 11), FA I 3.1, S. 77.
14 Eine explizite Gleichsetzung unternimmt Marlene Lohner, indem sie – ohne Rückhalt
in Goethes Text – die Karawane als »das Transportmittel ins ›Land der Dichtung‹, in
den ›reinen Osten‹« ausmacht. Vgl. Lohner, Marlene: Goethes Caravanen. Verkörpe-
rungen der Phantasie im Spätwerk Goethes. Frankfurt a.M. u.a. 2001, S. 25–40, i.b.
S. 30.
652 Andrea Polaschegg
dagegen zeigt ein anderes und noch dazu höchst seltsames Bild, denn die
entscheidenden Verse lauten:
Der Dichter betrachtet sich als einen Reisenden. Schon ist er im Orient angelangt. Er
freut sich an Sitten und Gebräuchen, an Gegenständen, religiösen Gesinnungen und
Meinungen, ja er lehnt den Verdacht nicht ab, dass er selbst ein Muselmann sey.15
Die Wegstrecke, die der Autor in seiner Rolle als »Reisender« zwischen
Abend- und Morgenland eigentlich zurücklegen müßte, ist hier auf den Punkt
zwischen zwei Sätzen geschrumpft. Bevor der Dichter sich überhaupt auf
den Weg nach Osten gemacht hat, ist er »schon [...] im Orient angelangt«,
und erst dort werden Pfade beschritten, Strecken zurückgelegt und Räume
durchmessen auf Kamelen, Maultieren oder zu Fuß. Goethes Reise in den
Orient präsentiert sich somit als Reise ohne Weg, als eleganter Hüpfer über
eine Satzgrenze hinweg, der für die Konzeption der Gedichtsammlung als
West-östlicher Divan gleichwohl die Dimension eines kategorialen Sprungs
hat. Denn analog zu Platens Mottogedicht verbindet Goethe in den Paratexten
zu seiner Gedichtsammlung diese seltsame Art des Zugangs zum Orient nicht
allein mit der eigenen Autorschaft, sondern formuliert sie auch als Bedin-
gung für das Verständnis seiner Dichtung. So lautet das bekannte Motto des
Kommentars zu Besserem Verständnis des West-östlichen Divan:
Eine Antwort auf die drängende Frage nach Lage und Verlauf dieses anemp-
fohlenen Weges in den Orient zu Zwecken des Verstehens von Dichter und
Dichtung bleibt Goethe seinen Lesern schuldig und setzt rhetorisch eine
Leerstelle an eben jenen Übergang zwischen Abend- und Morgenland,
den August von Platen – nicht minder geheimnisvoll als sein dichterisches
15 Morgenblatt für gebildete Stände v. 24. Februar 1816. In: Goethe (s. Anm. 11), FA I
3.1, S. 549.
16 Goethe (s. Anm. 11), FA I 3.1, S. 137.
17 Goethe (s. Anm. 11), FA I 3.1, S. 266.
Der Flug in die Fremde – der Flug in die Dichtung 653
Vorbild18 – mit der Metaphorik des Fliegens füllt. Doch trotz der deutlichen
Unterschiede in ihrer bildlichen Umsetzung haben Goethes Hüpfer und Pla-
tens Flug in den Orient als Bewegungsfiguren ein entscheidendes gemein-
sames Merkmal, dem im folgenden genauer nachgegangen werden soll: Als
Weisen zur Überbrückung einer Distanz fehlt es sowohl dem Sprung als
auch dem Flug zu einem fernen Ort an einer erfahrbaren Sukzession beim
Durchmessen des Raums. Wie ein kleiner Exkurs in die Flugerfahrungen
des frühen 19. Jahrhunderts zeigen wird, kann nämlich die Erfahrung einer
Bewegung durch den Luftraum das abstrakte Wissen, dabei den Abstand zum
Zielort kontinuierlich zu verringern, nicht einholen.
Es wurde viel geflogen um 1800; in der Literatur zumal, aber nicht minder
eifrig in der Presse, in öffentlichen Reden, in Briefen und wissenschaftlichen
Texten. Wie Jürgen Link bereits vor geraumer Zeit aufgezeigt hat, läßt sich
in den Jahrzehnten des ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhunderts eine
bemerkenswert breite Streuung und signifikante Dichte der Flug-Symbolik
quer durch alle Diskurse verzeichnen.19 Anstoß und Beschleuniger – wiewohl
keineswegs einzige Ursache – dieser Omnipräsenz des Fliegens in Rede und
Text der Zeit war zweifellos die technikgeschichtliche Entwicklung. Denn in
den Jahren nach dem ersten Aufstieg der Montgolfiere 1783 hatte sich die
Ballonfahrt auch in den deutschen Staaten von einem singulären Ereignis zu
einer wiederholbaren und äußerst populären Sensation gewandelt, für deren
Augenzeugenschaft man weite Anreisen auf sich nahm und deren Beschrei-
bungen ein übriges dazu beitrugen, die Luftreise binnen kürzester Zeit zum
festen Bestandteil des elementaren Wissens zu machen.20 Die Omnipräsenz
von Ballon-Fahrten in der Diskursfiguration um 1800 und das Maß ihrer
Sensation läßt sich noch an der Flut von Adjektiven in Goethes Rückschau
auf diese Jahre ablesen, wo es heißt:
18 Vgl. dazu das Widmungsgedicht an Goethe, das Platen auf sein oben zitiertes Motto
zur ersten Ghaselen-Sammlung folgen läßt. Platen (s. Anm. 1), W I, S. 249f.
19 Link, Jürgen: »›Einfluß des Fliegens! – Auf den Stil selbst!‹. Diskursanalyse des Bal-
lonsymbols«. In: ders./Wulf Wülfing (Hg.): Bewegung und Stillstand in Metaphern
und Mythen. Fallstudien zum Verhältnis von elementarem Wissen und Literatur im
19. Jahrhundert. Stuttgart 1984, S. 149–163. Vgl. dazu auch ders.: »Literaturanalyse
als Interdiskursanalyse. Am Beispiel literarischer Symbolik in der Kollektivsymbolik«.
In: Fohrmann, Jürgen/Harro Müller (Hg.): Diskurstheorien und Literaturwissenschaft.
Frankfurt a.M. 1988, S. 284–307.
20 Zu diesem diskursiven Transformationsprozeß genauer: Link, Jürgen: Elementare Li-
teratur und generative Diskursanalyse. München 1983, S. 48–72.
654 Andrea Polaschegg
Wer die Entdeckung der Luftballone miterlebt hat, wird ein Zeugnis geben, welche
Weltbewegung daraus entstand, welcher Anteil die Luftschiffer begleitet, welche Sehn-
sucht in soviel tausend Gemütern hervordrang, an solchen längst vorausgesetzten,
vorausgesagten, immer geglaubten und immer unglaublichen, gefahrvollen Wande-
rungen teilzunehmen, wie frisch und umständlich jeder einzelne glückliche Versuch
die Zeitungen füllte, zu Tagesheften und Kupfern Anlaß gab, welchen zarten Anteil
man an den unglücklichen Opfern solcher Versuche genommen. Dies ist unmöglich
selbst in der Erinnerung wiederherzustellen, so wenig, als wie lebhaft man sich für
einen vor dreißig Jahren ausgebrochenen, höchst bedeutenden Krieg interessierte.21
21 Goethe, Johann Wolfgang: Maximen und Reflexionen. In: ders.: Werke. Hamburger
Ausgabe in 14 Bänden. Bd. 12. München 2000, S. 391.
22 Vgl. die zahlreichen Beispiele in Link: »Einfluß des Fliegens!« (s. Anm. 19).
23 (s. Anm. 19), S. 150.
24 Heinz Ohff datiert die Ballonfahrt auf den Oktober 1816 (vgl. Heinz Ohff: Der
grüne Fürst. Das abenteuerliche Leben des Hermann Pückler-Muskau. München
Der Flug in die Fremde – der Flug in die Dichtung 655
Halb Berlin hatte sich auf Plätzen und Straßen versammelt, und mitten aus der bun-
ten Menge erhoben wir uns, sobald ich die Gondel bestiegen, langsam gen Himmel.
[...] Nichts Schöneres kann man sich denken, als den Anblick, wie nach und nach
die Menschenmenge, die Straßen, die Häuser, endlich die höchsten Thürme immer
kleiner und kleiner wurden, der frühere Lärm erst in ein leises Gemurmel, zuletzt in
lautloses Schweigen überging, und endlich das Ganze der verlass’nen Erde gleich
einem Pfyffer’schen Relief sich unter uns ausbreitete [...].25
Dieser sukzessive Aufstieg in die Höhe, der zugleich in die Stille führt, dieser
sich eröffnende Blick auf »das Ganze der verlass’nen Erde«, der unmittelbar
in eine kontemplative Kunstbetrachtung umschlägt – mit dieser Kombination
aus Langsamkeit und Ruhe erweist sich die Luftfahrt im Ballon als technisch
generierter Kontrapunkt zu dem, was im Anschluß an Goethe dem »velozi-
ferischen Zeitalter« gerade in Anbetracht der zunehmenden Technisierung
an Beschleunigung zugesprochen wird.26 Nun bewegte sich der Ballon aber
nicht ausschließlich in vertikaler Richtung, sondern machte tatsächlich auch
horizontale »Fahrt«; eine Fahrt allerdings, der wiederum alle Attribute des
Temporeichtums fehlen. Denn über den Wolken, die »wie ein von Sturm
bewegtes, wogendes Meer, sich über und durch einander wälzten, und die
Erde bald gänzlich [dem] Blick entzogen«27 vollzieht sich die Reise in einem
in mehrfacher Hinsicht über-irdischen Raum, in welchem die Wahrnehmung
von Bewegung und Geschwindigkeit durch einen Mangel an topographischen
Referenzpunkten sowie – interessant genug – durch das gänzliche Fehlen von
Geräuschen aufgehoben wird:
Höchst seltsam ist auch das Gefühl totaler Einsamkeit in diesen, von allem Irdischen
scheinbar abgezogenen, Regionen. Man könnte sich fast schon auf dem Wege hinüber
glauben, als eine Seele, die zum Jenseits aufflöge. Die Natur ist hier ganz lautlos,
selbst den Wind bemerkt man nicht, da man ihm keinen Widerstand leistet, und mit
dem leisesten Hauche fortgeweht wird.28
Mit diesem Bild des Gefährts, das »mit dem leisesten Hauche fortgeweht
wird«, hat Pückler-Muskau den zweiten wichtigen Aspekt der Ballonfahrt auf
den Begriff gebracht: den Umstand nämlich, daß Ballons keine Transport-
mittel im strengen Sinne waren. Diese Gefährte besaßen keine Steuerung, sie
waren den Winden und Luftströmungen ausgesetzt, wurden von ihnen bewegt
und getrieben, und entsprechend konnte man mit einem Ballon auch keine
81999, S. 81), während der Fürst selbst rückblickend den September 1817 angibt. Vgl.
Hermann Fürst von Pückler-Muskau: Tutti Frutti. Aus den Papieren des Verstorbenen.
Erster Band. Stuttgart 21834, S. 311.
25 Pückler-Muskau (s. Anm. 24), I, S. 312f
26 Vgl. dazu jüngst noch den Essay von Manfred Osten: ›Alles veloziferisch‹ oder Goethes
Entdeckung der Langsamkeit. Zur Modernität eines Klassikers im 21. Jahrhundert.
Frankfurt a.M. 2003.
27 Pückler-Muskau (s. Anm. 24), I, S. 315.
28 Pückler-Muskau (s. Anm. 24), I, S. 315f.
656 Andrea Polaschegg
der vierte wichtige Aspekt der Ballonfahrt – durch ihre Wiederholungen als
Massenspektakel gerade nicht aufgehoben, sondern institutionalisiert wurde.
Der hauptsächliche Reiz der Luftreise in der Gondel jedoch, das Verspre-
chen absoluter Freiheit, formierte sich auf der Schnittstelle aller vier Aspekte
– der vertikalen Bewegung vom Erdboden weg und fehlenden Sukzession im
Durchmessen des Luftraums, der mangelnden Beherrschbarkeit von Rich-
tung und Ziel des Gefährts, der drohenden Gefahr durch Kontingenz und
Bodenlosigkeit und des Charakters einer »nicht normalen Fahrt«. Und so
wie das Ballon-Symbol um 1800 in verschiedenen Diskursen Verwendung
fand, war auch das Moment der Freiheit über den Wolken’ als politische,
philosophische, erotische oder gesellschaftliche kodierbar.
In keinem Kontext aber erwies sich der Konnex von Flug und Freiheit
in jenen Jahren als so stabil wie auf dem Feld der Poesie – oder genauer:
der Poetologie. Gestützt wurde sie nicht nur von den poetischen Konzepten
selbst, sondern auch von anderen Flugobjekten, die das Arsenal literarischer,
biblischer und mythologischer Figuren neben dem unbelebten Ballon bereit-
hielt, und von denen zumindest eines den Status einer Allegorie der Poesie
selbst für sich beanspruchen konnte:
»Pegasus in der Dienstbarkeit«33 war eine Ballade überschrieben, die
Friedrich Schiller im Musenalmanach für das Jahr 1796 veröffentlichte und
der er vier Jahre später neben zwei abgewandelten Schlußversen auch den
bis heute weit bekannteren Titel »Pegasus im Joche«34 gab. Schauplatz der
Handlung ist zunächst ein Pferdemarkt, auf dem das titelgebende Musenroß
von einem »hungrige[n] Poet[en]« an den Bauern Hans verkauft und von
seinem neuen Besitzer vor einen Postwagen gespannt wird. Doch nachdem
der Hippogryph mitsamt der Kutsche – dem eigentlichen Zwecke wenig
dienlich und weder dem Gefährt noch seinen Insassen zum Heil – »der Räder
sichre[r] Spur« verläßt, in ungeheurer Geschwindigkeit, »[d]en Blick den
Wolken zugekehrt«, quer durch die Landschaft jagt und »auf eines Berges
steile[n] Gipfel« gerade noch zum Stehen kommt, wird Pegasus vom prag-
matischen Landmann auf den Boden der Agrikultur zurückgeholt und neben
einen Ochsen vor den Pflug gespannt. Da kommt ein Jüngling des Weges,
»flink und wohlgemuth« und durch seine Accessoires ebenso deutlich als
Allegorie des Dichter-Jünglings ausgewiesen35 wie der Bauer durch seinen
Vornamen Hans als Allegorie der schlichten Normalität. Mit dem Versprechen
»Gieb acht, du sollst ein Wunder schau’n!« verführt der Jüngling den Land-
mann schließlich dazu, das geflügelte Roß auszuspannen. Und die Einhaltung
dieses Versprechens verfolgen die Leser der Ballade dann gemeinsam mit
dem Bauern Hans aus dessen bodenständiger Perspektive:
So wie die gesamte Ballade ihre Dynamik aus der Spannung zwischen dem
Aufstiegswillen des Musenrosses und den menschlichen Erdungsversuchen
gewinnt, ist auch die Topik des Fluges an ihrem Ende ausschließlich von einer
vertikalen Bewegung bestimmt. Der letzte Vers enthält die luftige Richtung-
sangabe, Pegasus »entschwebt [...] zu den blauen Höhen«, und so erscheint
der Aufstieg vom Erdboden selbst als Telos des Willens zur Freiheit. Der
poetische Flug ist hier nicht Weg sondern Ziel, die entscheidende Bewegung
– analog zur Faszination der Ballonfahrt – eine Fahrt in den Luftraum und
keine Reise durch ihn hindurch zu einem anderen terrestrischen Ort.
Allerdings hat das antike Musenroß in der Literatur des späten 18. und
frühen 19. Jahrhunderts einen größeren Bewegungsradius als Schiller ihn sei-
nem Pegasus einräumt. Denn mit dem mythischen Hippogryphen besaßen die
zeitgenössischen Autoren ein aeronautisches Vehikel, das ihnen tatsächlich
erlaubte, sich durch die Luft zu bestimmten Orten zu begeben – und zwar zu
Orten, die sich auf terrestrischem Wege nicht erreichen ließen. Bereits 1780
hatte Christoph Martin Wieland sein Versepos Oberon mit einem Luftritt
beginnen lassen, dessen Zielgerichtetheit unübersehbar ist:
36 Schiller (s. Anm. 34), NA II.1, S. 115. Ein Blick auf die erste Fassung des Gedichts
läßt Schillers Bemühung um größere sprachliche Eleganz als wahrscheinlichste Ur-
sache für die Veränderung erscheinen. Die letzten vier Verse lauteten ursprünglich:
»Entrollt mit einem mal in majestätschen Wogen/ Der Schwingen Pracht, schießt
brausend himmelan,/ Und eh der Blick ihm folgen kann,/ Verschwindet es am fernen
Aetherbogen.//« (Schiller (s. Anm.33), NA I, S. 232).
Der Flug in die Fremde – der Flug in die Dichtung 659
Da sah ich [...] viele liebe und gute Leutchen mit Lorbeerkränzen geschmückt, die
ein geflügeltes Roß, nachdem sie ihm die Flügel gebunden, an einer Leine nach dem
Takte ihrer Peitsche im Kreise herumtrieben. Sie nannten sich Dichter, und das Pferd
nannten sie Pegasus, und ihr Treiben die Kunst; statt das Pferd zu reiten, wollten sie
es zureiten, damit sie es besser führen könnten [...].41
Doch das Pferd reißt sich von der Trense los und läuft zum Dichter-Ich,
um ihm mitzuteilen, der wahre Pegasus sei schon lange »zu seinem Urquell
heimgekehrt«42 und es selbst in Wahrheit gar kein Pferd, sondern ein ver-
wandelter Dichter. Die Ursache dieser seltsamen Transformation legt das Roß
seinem Zuhörer in einer recht abenteuerlichen Melange aus poetologischen,
eschatologischen, epistemologischen und physikalischen Erklärungen dar
und spricht:
wisse aber in ewiger Verwandlung und Vergeltung, wird jeder, der den Pegasus zureitet,
als Pegasus wieder selbst zugeritten, wer erst Dichter war, wird nachher Begeisterung
(denn so heißt das Flügelpferd auf Deutsch) eines dritten, und nur die wenigen, die sich
der Begeisterung frei überlassen haben, ohne sie beherrschen zu wollen, die bleiben
unverwandelt, und kommen ohne ein solches Leiden zum Urquell des höheren Lichtes,
das eben so die Theorie einer anderen Welt ist, wie unser Licht, ohne von einer Theorie
erfaßt zu werden, die Theorie aller unserer Naturerscheinungen aufschließt.43
Zunächst will die »freie Natursprache«44 des Tieres beim Zuhörer nicht ver-
fangen, doch seiner List, das Ganze in »gereimten Oktaven« noch einmal
zu präsentieren, erliegt das Dichter-Ich schließlich und schwingt sich auf
den Rücken des Hippogryphen. Im Unterschied zu Schillers Jüngling ist es
jedoch nicht »des Meisters sichre Hand«, die den Luftritt ermöglicht, sondern
gerade die gänzliche Unfähigkeit des Reiters als Reiter:
ohne dass ich den Weg kannte, ohne das Reiten gelernt zu haben, riß mich das Roß,
an welchem ich mit Armen und Beinen, wie ein Wolf klebte, während ich mich mit
dem Munde in der Mähne verbiß, nach dem Gebirge, das ich aus der Ebene für Ne-
belwolken gehalten hatte [...], da war an Führung nicht zu denken, es war mein Glück,
dass ich nicht reiten konnte und wollte.45
Ziel der Luftreise ist die »Höhe, wo die Arche Noahs stehen geblieben«, also
der Berg des Ursprungs von Geschichte und Genealogie. Und just an diesem
Ort erlauscht der Dichter jene »märchenhaften Geschichten«46, die er seinen
Lesern auf den folgenden Seiten dartun will in der Hoffnung, auch sie »in
die wunderbaren Klüfte [zu] locken«. Als Quelle dieser Geschichten dient
ein Zigeuner auf dem Ararat – eine Figur also, die durch ihre topische Ort-
und Zeitlosigkeit für diese Mediatorenrolle prädestiniert ist.47
Wie das »alte romantische Land«, das Wieland auf seinem Hippogryphen
erreicht, ist also auch das Ziel von Arnims Luftritt ein Raum in der Vergan-
genheit und zugleich das Reich der Poesie, zugänglich allein für den, der
den Pegasus nicht lenkt, sondern den Flug sich ereignen läßt. Die Kontin-
genz des Fluges ist somit nicht allein als eine Fährnis der Reise aufgerufen,
sondern als Bedingung der Möglichkeit einer Ankunft in Vergangenheit und
Dichtung, im (vor)geschichtlich Gegebenen und poetisch Gemachten. Jeder
Dichter – einschließlich des sprechenden Dichter-Ichs – durchläuft in Arnims
allegorischer Fabel die Transformation zum Pegasus. Und so hat der bestellte
Leser allen Grund, dem Orientierungssinn seines geflügelten Dichter-Pferdes
zu vertrauen, wenn es ihn – in der Form eben jener »gedichteten Oktaven«,
die ihre Verführungskünste bereits am Dichter-Ich unter Beweis gestellt hatten
und die der eifrige Leser romantischer Stanzen unmittelbar mit Arnim selbst
verbinden konnte48 – auffordert:
Doch der luftige »Wunderweg« ins Land der Dichtung und der Vorvergan-
genheit selbst – daran läßt Arnim keinen Zweifel – ist nicht der Dichter,
sondern seine Dichtung. Denn »in die wunderbaren Klüfte locken« will der
Autor seine Leser »(wie die Vorzeit) mit [s]einem Werke, nicht als Dichter
mit [s]einem gegenwärtigen Wirken«50. Die autorlosen Texte der »Vorzeit«
dienen hier also zum Vorbild für eine Werkpoetik, die den Autor als gegen-
wärtige Person hinter seine textgewordene Dichtung zurücktreten läßt, seine
situationsgebundene Rede in dauerhafte Schrift verwandelt und ihn somit
als Autor im modernen Sinne überhaupt erst hervorbringt. Die metrische
Transformation, die des Pegasus’ »freie Natursprache in die Kunstsprache«
47 Claudia Breger liest den Zigeuner an dieser Stelle als konstitutives Element für Arnims
Konzept von Naturpoesie. Vgl. Breger, Claudia: Ortlosigkeit des Fremden. »Zigeune-
rinnen« und »Zigeuner« in der deutschsprachigen Literatur um 1800. Köln/Weimar/
Wien 1998, S. 265ff.
48 Vgl. dazu den Kommentar Renate Moerings in: Arnim (s. Anm. 39), W III, S. 1300.
49 Arnim (s. Anm. 39), W III, S. 620.
50 Arnim (s. Anm. 39), W III, S. 619. Hervorh. i. O.
662 Andrea Polaschegg
seine Abbassiden in Dienst nahm. Am Anfang des Epos steht – der Vorlage
aus Tausendundeiner Nacht entsprechend56 – zunächst ein fliegendes Eben-
holzpferd, das als Wirklichkeit gewordener Pegasus eingeführt wird.57 Und
wie der Pegasus Arnims bringt auch dieses hölzerne Wunderwerk seinen
als poetische Existenz konnotierten Reiter nur deshalb zum Ziel, weil der
Jüngling den Steuerungsmechanismus des Pferdes nicht kennt. Während der
junge Abbasidenprinz Amin sich zu Beginn der aus reiner Neugierde begon-
nenen Luftreise »[s]eines flüchtigen Rosses wilder Laune« noch »[w]illig
überläßt«58, ändert sich seine Gefühlslage schlagartig, als er die gänzliche
Fruchtlosigkeit seiner Steuerungsbemühungen erkennen muß:
56 »Die Geschichte vom Ebenholzpferd«. In: Die Erzählungen aus den tausendundein
Nächten. Vollständige deutsche Ausgabe in sechs Bänden zum ersten Mal nach dem
arabischen Urtext der Calcuttaer Ausgabe aus dem Jahre 1839 übertragen von Enno
Littmann. Frankfurt a.M. 1988, Bd. III, S. 350–385. Diese Ausgabe wird im folgenden
zitiert als Littmann: Tausendundeine Nacht mit Band- und Seitenzahl.
57 »Mehr als Trojas Pferd, wiewohl’s ein großes/ Reich zerstörte, schätz ich diesen Rap-
pen,/ Den ein Magier durch Magie gebildet. Wenn du je von Hippogryphen hörtest,/
Die verschmähn, der Erde Grund zu stampfen,/ Flatternd aber durch den Äther schwe-
ben;/ Wenn du’s je für eine Fabel hieltest:/ Bilden kann ich aus der Fabel Wahrheit.«
Platen (s. Anm. 1), W 1, S. 607.
58 Platen (s. Anm. 1), W 1, S. 622.
59 Platen (s. Anm. 1), W 1, S. 623.
Der Flug in die Fremde – der Flug in die Dichtung 665
entlehnt ist60, bindet sich der Prinz an die Krallen des fliegenden Riesen und
wird auf diese Weise in das »Tal der Diamanten« getragen, in das man auf
anderem Wege nicht gelangt.61 Motivgeschichtlich konnte der Roc in der
deutschen Literatur weit größere Erfolge feiern als das Ebenholzpferd.62 Wie
vertraut der gefiederte Riese aus dem Morgenland in seiner Vehikel-Funktion
den deutschen Lesern des frühen 19. Jahrhunderts war, belegt die bereits
zitierte autobiographische Schilderung der Ballonfahrt Pückler-Muskaus.
Denn um seinem Lesepublikum die Fahrt über den Wolken anschaulich zu
machen, greift er just auf einen Vergleich mit dem Vogel aus Tausendundei-
ner Nacht zurück und formuliert:
Nur um sich selbst drehte zuweilen die kleine Wiege mit ihrem colossalen Ball sich,
gleich einem Vogel Rock, der sich im blauen Äther schaukelt.63
Auf motivgeschichtlicher Ebene hatten sich das Fliegen und der Orient also
um 1800 bereits zu einer recht stabilen assoziativen Kopplung zusammen-
gefügt, zum Dispositiv einer nicht-normalen Fahrt morgenländischer Prove-
nienz. Für den hier zur Verhandlung stehenden Zusammenhang weitaus ent-
scheidender ist jedoch der Umstand, daß das Morgenland auf der Wende vom
18. zum 19. Jahrhundert in den Augen deutscher Rezipienten selbst an einen
Ort rückte, der – anders als noch während der Frühen Neuzeit – nur mehr auf
nicht-normalem Wege zu erreichen war. Dieser Ortswechsel des Orients um
1800, der mit einem kategorialen Wechsel seines konzeptionellen Charakters
einher ging, lag paradoxer Weise zunächst einmal in einer Kontinuität begrün-
det; nämlich in der besagten Konnotation des Morgenlandes mit der historia.
Denn als historisch wurde der Orient auch im 19. Jahrhundert noch begriffen.
Nur hatte sich im Laufe des 18. Jahrhunderts die Größe ›Geschichte‹ fun-
damental gewandelt, indem sie einerseits zu einem universellen und sowohl
alle Lebensbereiche durchdringenden wie alle Denkformen strukturierenden
Prinzip avancierte64, andererseits ihre zuvor normative Autorität der »magi-
60 Die Geschichte mit dem Rock findet sich in der »Zweiten Reise Sindbads des See-
fahrers«. Vgl. Littmann (s. Anm. 56), Bd. V, S. 117–120.
61 »Doch der Ort, wohin der Vogel trug ihn,/ War das tiefe Tal der Diamanten,/ Durch
der Felsenwände jähen Abfall/ Unzugänglich jedem Erdensohne.« Littmann (s. Anm.
56), Bd. V, S. 664.
62 Die ausführlichste literarische Verarbeitung des Roc findet sich in einem apokryphen
Text aus der Feder des Kronprinzen Friedrich Wilhelm von Preußen aus den Jahren
1816/17, der 1997 als »Roman« ediert und publiziert worden ist. Vgl. Friedrich Wil-
helm IV.: Die Königin von Borneo. Ein Roman. Hg. v. Frank-Lothar Kroll. Berlin
1997.
63 Pückler-Muskau (s. Anm. 24), S. 315f.
64 Nipperdey, Thomas: Deutsche Geschichte 1800–1866. Bürgerwelt und starker Staat.
München 1994, S. 498ff.; Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie
der Humanwissenschaften. Frankfurt a.M. 121994, i.b. S. 269–274.
666 Andrea Polaschegg
65 Koselleck, Reinhard: »Historia Magistra Vitae. Über die Auflösung des Topos im
Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte«. In: ders. (Hg.): Vergangene Zukunft. Zur
Semantik geschichtlicher Zeichen. Frankfurt a.M. 31984, S. 38–66; ders.: »Geschichte,
Geschichten und formale Zeitstrukturen«. In: ders./ Stempel, Wolf-Dieter (Hg.):Ges-
chichte – Ereignis und Erzählung. München 1973, S. 211–222.
66 Vgl. dazu: Weidner, Daniel: »›Menschliche, heilige Sprache‹. Das Hebräische bei
Michaelis und Herder«. In: Monatshefte für deutschsprachige Literatur und Kultur
95 (2003), H. 2, S. 171–206; sowie den Beitrag Daniel Weidners im vorliegenden
Band.
67 Eine zusammenfassende Darstellung der Genese der deutschen Orientalistik existiert
bislang nicht. Schlaglichter werfen: Bourel, Dominique: »Die deutsche Orientalistik
im 18. Jahrhundert. Von der Mission zur Wissenschaft«. In: H. Reventlow/W. Span/J.
Woodbridge (Hg.): Historische Kritik und biblischer Kanon in der deutschen Aufklä-
Der Flug in die Fremde – der Flug in die Dichtung 667
Und auch der Fokus der Beschäftigung mit Indien und dem Sanskrit,
die vor allem von Gelehrten wie August Wilhelm und Friedrich Schlegel,
Friedrich Creuzer und Johann Arnold Kanne aus der Altertumswissenschaft
heraus betrieben wurde, lag auf dem (vor)geschichtlichen Morgenland.68 Auf
dem Schnittpunkt dieser beiden wissenschaftlichen Strömungen, der Frühori-
entalistik theologisch-hermeneutischer Provenienz und einer altertumskund-
lichen Proto-Indologie, formierte sich der Orient innerhalb der deutschen
Diskurse als Ursprungsland par excellence, als Herkunftsort der Sprache(n)
und Poesie ebenso wie der drei großen Offenbarungsreligionen. Dieses Kon-
zept des Morgenlandes als Urstromtal der Kultur69 und damit als Raum in
der vergangenen Zeit wurde sowohl durch die wissenschaftlichen Verfahren
der orientkundlichen Forschung gestützt als auch durch den Charakter der
publizierten Übersetzungen. Denn die übersetzten Texte stammten ebenfalls
sämtlich aus (prä)historischer Zeit und waren literarischer Provenienz. Und
anders als die Übersetzungen der Tausendundeinen Nacht während des 18.
Jahrhunderts und die Inszenierung orientalischer Herrscher auf der barocken
Bühne, die auf eine möglichst bruchlose Kommensurabilität des Textes für
das westeuropäische Publikum abzielten und nicht selten in Übersetzungen
von Übersetzungen bestanden70, war den Übersetzern orientalischer Literatur
auf der Wende zum 19. Jahrhundert vor allem daran gelegen, die spezifische
Form der morgenländischen Poesie zu erhalten und sie auch der deutschen
Leserschaft erfahrbar zu machen. Gestützt von den philologischen Institu-
tionen der Annotation und des Kommentars, gerannen diese Übertragungen
historischer Poesie des Orients ins Deutsche zur ästhetisch erlebbaren Syn-
ekdoche eines historischen Kulturraums, der sich dem unmittelbaren Zugriff
rung. Wiesbaden 1988, S. 113–126; Fück, Johann: Die arabischen Studien in Europa
bis in den Anfang des 20. Jahrhunderts. Leipzig 1955; Preißler, Holger: »Die Anfänge
der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft«. In: Zeitschrift der Deutschen Mor-
genländischen Gesellschaft 145 (1995), S. 241–327.
68 Auch zu diesem Feld existiert keine umfassende wissenschaftsgeschichtliche Darstel-
lung. Zu August Wilhelm Schlegel vgl. Bhatti, Anil: »August Wilhelm Schlegels In-
dienrezeption und der Kolonialismus«. In: Lehmann, Jürgen (Hg.): Konfl ikt – Grenze
– Dialog. Kulturkontrastive und interdisziplinäre Textzugänge. Festschrift für Horst
Turk zum 60. Geburtstag. Frankfurt a.M. 1997, S. 185–205; zu Kanne vgl. Willer,
Stefan: »›übersetzt: ohne Ende‹. Zur Rhetorik der Etymologie bei Johann Arnold
Kanne«. In: Jäger, Stephan/ ders. (Hg.): Das Denken der Sprache und die Performanz
des Literarischen um 1800. Würzburg 2000, S. 113–129; zu Creuzer nach wie vor:
Howald, Ernst (Hg.): Der Kampf um Creuzers Symbolik. Eine Auswahl von Doku-
menten. Tübingen 1926.
69 Vgl. dazu die Beiträge in: Gessinger, Joachim/ Rahden, Wolfert von (Hg.): Theorien
vom Ursprung der Sprache. Bd. 2. Berlin/New York 1989.
70 Noch in den Jahren 1781–85 verfaßte Johann Heinrich Voß eine deutsche Übersetzung
der Tausendundeinen Nacht aus der Gallandschen Übertragung. Vgl. Wieckenberg,
Ernst-Peter: Johann Heinrich Voß und »Tausend und eine Nacht«. Würzburg 2002
668 Andrea Polaschegg
71 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: Hermeneutik und Kritik. Hrsg. und eingel. v.
Manfred Frank. Frankfurt a.M. 61995, S. 309.
72 Schleiermacher (s. Anm. 71),S. 325.
73 Kluge. Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Bearbeitet von Elmar See-
bold. 23., erw. Aufl. Berlin/New York 1995, S. 285; vgl. auch: Deutsches Wörterbuch
von Jacob und Wilhelm Grimm. Band 4. Bearb. v. Jacob Grimm, Karl Weigand und
Rudolf Hildebrand. Leipzig 1878, Sp. 125–129.
Der Flug in die Fremde – der Flug in die Dichtung 669
I. Seetaufe
Die Schiffenden zur See pflegen das Te Deum laudamus unter dem Schalle derer
Trompeten und Paucken und dem Knalle derer Canonen anzustimmen, wenn sie durch
die Linie [d.i. der Äquator] schiffen, Auch werden alle diejenigen getauft, welche
die Linie das erstemal paßiren, und müssen schwören, dass sie diesen Gebrauch bey
andern wieder in acht nehmen wollen, wenn sie künftig noch einmal an dieselbe
kommen sollten.1
Daß Seefahrer den Umgang mit den hohen Dingen auch fern der Heimat
pflegen, verwundert weniger als der Anlaß des Schauspiels: die Überquerung
des Äquators. Vergegenwärtigt man sich den schweißtreibenden Aufwand,
der unter der unbarmherzigen Tropensonne betrieben wird, so entbehrt die
Szene nicht einer gewissen Komik: Unter dem Getöse der Kanonen und Pau-
ken wandeln als Meeresgötter kostümierte Seefahrer übers Deck und rufen,
während sie die Neulinge in den Wassertrögen ›taufen‹, das Gotteslob aufs
stille Meer – und das alles nur, weil man den Äquator überquerte.
Über den Ursprung der karnevalesken Zeremonie klärt Zedlers volumi-
nöses Gelehrtenlexikon seinen Leser leider nicht auf. Zwischen 1471 und
1473, genaueres weiß man nicht, wird der Äquator zum ersten Mal über-
quert.2 Dem Historiker Günther Hamann zufolge handelte es sich um ein
»wahrhaft säkulares Ereignis der Wissenschaftsgeschichte«3, bei dem die
»altvererbten Vorurteile und Psychosen«4, welche den Seefahrer, sobald er
sich der ›Linie‹ näherte, für gewöhnlich heimsuchten, mit einem Schlage
überwunden wurden. Allzu gerne möchte man in dem Bordbuch des Kapi-
täns nachlesen, wie sich die bis dahin unbekannte südliche Hemisphäre dem
europäischen Blick darbot, doch tappt man erneut im Dunklen, in das sich
der unbekannte Held und alles, was sich an jenem Tag der Überlieferung
empfahl, zurückziehen.5
Mit der Seetaufe, so viel steht wenigstens fest, werden von jeher sym-
bolische Grenzen markiert. Sie ist ein Überbleibsel vergangener Zeiten, als
die Überquerung des Äquators noch einem Vorstoß ins Unbekannte gleich-
kam. Ähnliche Taufrituale sind von der Straße von Gibralta (den ehemals
›Säulen des Herakles‹) und dem Polarkreis bekannt, die ebenfalls an den
Rändern der bekannten Welt lagen.6 Man kann davon ausgehen, daß sich im
Seemannsbrauch die alte topographische Auszeichnung überlebt hat, welche
den Äquator als den (südlichen) Weltrand auswies. Die Gebiete am Äquator
repräsentierten im großen und ganzen terrae incognitae und gaben damit
eine ideale Projektionsfläche für die europäische Phantasie ab.
Bei der vorliegenden ›Kleinen Geschichte des Äquators‹ handelt es sich
um den Versuch, der historischen Strategie der topographischen Auszeich-
nung nachzugehen, welche die Lage, Bedeutung und Funktion des Äquators
im europäischen Weltbild bestimmte. Zwei Ziele hat sie sich gesetzt: Zum
einen geht es ihr um den Wandel der projizierten imaginären Topographien
und zum anderen um die ›Verschiebung‹ des Äquators vom Weltrand in die
Weltmitte auf der Schwelle zur Neuzeit. In den Vorstellungen vom ›Weltrand‹
und der ›Weltmitte‹ meldet sich die topographische Auszeichnung zu Wort.
Unterschiedliche Imaginationspotentiale freisetzend, repräsentieren sie beide
Maximalwerte, denen ihre Einzigartigkeit gemeinsam ist, d.h. sie können nur
einmal überschritten werden, da es keine vergleichbare Grenzmarkierung
nach ihnen geben kann. Der Unterschied besteht in ihrer divergierenden
kulturellen Kodifizierung. Wohingegen man mit dem mythischen ›Weltrand‹
einen unheimlichen Raum der Abweichung fern vom Zentrum versteht, wo
Monster in einer für Menschen unbewohnbaren Region leben7, entspringt die
5 Hamann (s. Anm. 2), S. 96. Hamann leitet den Namen des besagten Kapitäns Lopo
Goncalves aus dem Ortsnamen Cabo de Lopo Gonçalves ab. Auf einer handschriftli-
chen Portulankarte ist dieser Hafen unmittelbar südlich des Äquators eingetragen und
trägt wahrscheinlich den Namen seines Gründers. Das ist natürlich reine Spekulation.
6 Lydenberg, Harry Miller: »Introduction«. In: ders.: Crossing the Line. Tales of the
Ceremony During Four Centuries. New York 1957, S. 3–13, hier: S. 6 – Mack, Wil-
liam P./Royal W. Connell: Naval Ceremonies, Customs, and Traditions. Annapolis
51980, S. 184–193 – Henningsen, Henning: Crossing the Equator. Sailors’ Baptism
Erdrandes«. In: Münkler, Herfried (Hg.): Die Herausforderung durch das Fremde. Ber-
lin 1998, S.701–777 – Perrig, Alexander: »Erdrandsiedler oder die schrecklichen Nach-
kommen Chams. Aspekte der mittelalterlichen Völkerkunde«. In: Koeber, Thomas/ Pik-
kerodt, Gerhart (Hg.): Die andere Welt. Studien zum Exotismus. Frankfurt a.M. 1987,
S. 31–87. – Williams, David: Deformed Discourse. The function of the Monster in Medi-
aeval Thought and Literature. Exeter 1996. Einen Überblick bietet Müller, Ulrich/Wun-
derlich, Werner (Hg.): Dämonen, Monster, Fabelwesen. St. Gallen 1999. Zur Weltrand-
vorstellung vgl. auch Koschorke, Albrecht: Die Geschichte des Horizonts. Grenze und
Grenzüberschreitung in literarischen Landschaftsbildern. Frankfurt a.M. 1990, S. 11–48.
8 Vgl. Miller, Joseph Hillis: Topographies. Stanford 1995, S. 3f.
9 Michel de Certeau unterscheidet den Ort vom Raum. Ich handhabe beide ihrem all-
gemeinen Sinn nach und verwende also nicht seine Unterscheidung. Certeau, Michel
de: Kunst des Handelns. Berlin 1988, S. 217. f.
10 Zum Heterotopie-Begriff vgl. Foucault, Michel: »Andere Räume«. In: Barck, Karl-
heinz (Hg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik.
Essais. Leipzig 1998, S. 34–46.
11 Foucault, Michel: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter
der Vernunft. Frankfurt a.M. 1996, S. 9. Foucault spricht hier vom Orient.
676 Kung-Ho Cha
Nachdem der Äquator lange Zeit die symbolische Grenze der Ökumene im
Süden und damit die geographische Grenze des abendländischen Wissens
eröffnet, wird er im 18. Jahrhundert mit der Idee des Ursprungs in Verbin-
dung gebracht, d.h. einem in der Vorgeschichte existierenden Ort, von dem
einst alles Leben ausging. Erst nach der Entdeckung der Erdumdrehung, die
erst in der Frühen Neuzeit denkbar wird12, kann dem Äquator seine neue
Rolle im modernen Weltbilde zukommen. Diese Entwicklung erklärt sich
aus der fortschreitenden Säkularisierung und der damit eng zusammenhän-
genden Verwissenschaftlichung des Wissens. Nachdem in der Antike und im
Mittelalter Kosmologie und Theologie dem Äquator die Rolle des Weltrands
zuschrieben, bestimmt nun die Naturwissenschaft die Gestalt der Erde, was
sich auch auf die Topographie der Äquatorialgegend auswirkt. Die sogenannte
Huygens-Newton-Hypothese, nach der die Erde am Äquator höher sei als an
den Polen, verleitet einige Kulturphilosophen dazu, das höchste Gebirge der
Erde am Äquator zu vermuten. Es entspannt sich eine Diskussion um den
Ursprung des Lebens, an der sich Kant und Herder beteiligen, die dabei auf
Linnés topographische Auszeichnung des Äquators als einstigem Standort
des Irdischen Paradieses Bezug nehmen.
Dies ist eine von vielen möglichen Geschichten, die man über den Äqua-
tor schreiben könnte. Ihre drei (diskontinuierlichen) Episoden – Weltrand
(Morus, Kolumbus), Weltmitte (Herder, Kant, Linné, Newton), Unter dem
Äquator allein ... (Humboldt) – sind Teile einer exemplarischen Diskursge-
schichte, deren einzige verbindliche Vorgabe, bei allen Unterschieden hin-
sichtlich der Handlungen ihrer Subjekte, die Einheit des Ortes ist: der Äquator.
To be sure, under the equator and on both sides of the line nearly as far as the sun’s
orbit extends, there lie waste deserts scorched with continual heat. A gloomy and
dismal region looms in all directions without cultivation or attractiveness, inhabited
by wild beasts and snakes or, indeed, men no less savage and harmful than are the
beasts.13
Reisende am Äquator rechnen muß. Daß aber weder die gefährlichen Tiere
noch die Wilden, welche die einzigen sind, die in den wenig einladenden
Wüstenregionen zu überleben verstehen, den langjährigen Gefährten Amerigo
Vespuccis zur Umkehr bewegen konnten, hebt seinen Wagemut hervor, der
sich am Ende auszahlt: Jenseits des Äquators entdeckt der reisende Philosoph
Raphael den Inselstaat Utopia.14
Weniger glimpflich davon gekommen sind Schelmuffsky und sein
Gefährte, die in Christian Reuters Schelmuffsky Curiose und sehr gefährli-
che Reisebeschreibung zu Wasser und Lande (1696) auf dem Seeweg nach
Indien die »Linie« zu passieren haben. Einer von beiden findet am Äquator
seine letzte Ruhestätte.
Wie wir nun von den gelübberten Meere vorbey waren, kamen wir unter die Linie.
Ey Sapperment! was war da vor Hitze! Die Sonne brante uns alle mit einander bald
Kohl-Raben-schwartz. Mein Hr. Br. Graf, der war nun ein corpulenter dicker Herre,
der wurde unter der Linie von der grausamen Hitze kranck, legte sich hin und starb
der Tebel hohlmer, ehe wir uns solches versahen. Sapperment! wie ging mirs so na-
he, dass der Kerl da sterben muste und war mein bester Reise-Gefehrte. Allein was
kunte ich thun? Todt war er einmahl, und wenn ich mich auch noch so sehre über
ihn gegrämet, ich hätte ihn doch nicht wieder bekommen. Ich war aber her und bund
ihn nach Schiffs-Gewonheit sehr artig auf ein Bret, steckte ihn 2 Ducatons in seine
schwartz-samtne Hosen und schickte ihn damit auf den Wasser fort. Wo derselbe nun
mag begraben liegen, dasselbe kan ich der Tebel hohlmer keinen Menschen sagen.15
Ob über Land oder Meer: Mit der Überquerung des Äquators nimmt man,
zu mindestens in der fiktiven Welt der Literatur, kein geringes Wagnis auf
sich. Im Gegensatz zu Reuters Schelmenroman handelt es sich bei der Land-
schaftsbeschreibung in Utopia um keine rein literarische Fiktion. Wie viele
andere humanistische Gelehrte seiner Zeit betreibt Morus das Studium der
Geographie zum reinen Vergnügen.16 Die Topographie der Äquatorialgegend
basiert auf dem fünften Kapitel von Martin Waldseemüllers Cosmographiae
14 Zur Wüste vgl. Lindemann, Uwe: Die Wüste. Terra incognita – Erlebnis – Symbol.
Eine Genealogie der abendländischen Wüstenvorstellungen in der Literatur von der
Antike bis zur Gegenwart. Heidelberg 2000, bes. S. 55–61. Lindemann schlägt die
Wüste der geographischen Region der Utopie zu. In Morus Utopia erfüllt die Wüste
allerdings eine Grenzfunktion, weshalb sie vom eigentlichen Territorium Utopias zu
unterscheiden ist.
15 Reuter, Christian: Schelmuffsky Curiose und sehr gefährliche Reisebeschreibung zu
Wasser und Lande, 2., verbesserte Auflage. Tübingen 1956, S. 59.
16 Vgl. Greenblatt, Stephen: Renaissance Self-Fashioning. From More to Shakespeare.
Chicago/London 1980, S.24. Zu Morus geographischen Kenntnissen vgl. Parks, G.
B.: »More’s Utopia and Geography.« In: Journal of English and German Philology
37 (1938), S. 224–236; Lakowski, Romuald Ian: »Geography and the More Circle.
John Rastell, Thomas More and the ›New World‹«. In: Renaissance Forum, vol. 4,
1999, S. 1–20.
678 Kung-Ho Cha
introductio (1507). Darin wird Ovid als antike Autorität herangezogen17, der
in den Metamorphosen18 behauptet, daß die zona torrida, d.i. der sich südlich
und nördlich des Äquators erstreckende mittlere Weltgürtel, aufgrund ihrer
Hitze unbewohnbar sei. Diese Fünf-Zonen-Einteilung geht auf Aristoteles
zurück, der sich zur Abgrenzung der Zonen der kosmischen, d.h. durch den
jährlichen Lauf der Sonne bedingten Erdparallelkreise zum Äquator bedient.
Von den fünf Klimazonen seien nur die beiden gemäßigten bewohnbar, wäh-
rend die Pole und der ›mittlere Weltgürtel‹ aufgrund ihrer Kälte bzw. Hitze für
eine menschliche Besiedlung gänzlich ungeeignet seien.19 Es gab nur wenige
Gegenstimmen, die sich für die mittlere Zone als potentiellen Lebensraum
aussprachen. Wenn die zona torrida bewohnbar sei, dann müsse dies am
Äquator sein, wo man mit einem gemäßigten Klima rechnen könne. Nach
der Meinung Ibn Sins (alias Avicenna), die von Ibn Tufail referiert und die
von Roger Bacon20 ebenfalls geteilt wird, herrscht dort ein besonders aus-
geglichenes Klima, weil die Sonne am Äquator nicht stehenbleibt und ihr
täglicher wie jährlicher Umlauf sogar schneller erfolgt als in anderen Breiten.
Trotz der ungünstigen Sonnenposition gleichen die gleichlangen Tag- und
Nachtzeiten die starke Erhitzung aus. Al-Biruni tat Ibn Sins Spekulation als
bloßes Hirngespinst ab 21, doch bereits vor ihm vertraten Poseidonios in seiner
Schrift Über den Ozean22 und Polybios in dem nur über Strabo bekannten
Werk Die bewohnte Welt unter dem Äquator23 eine ähnliche Ansicht.24
Eine Zuspitzung erfährt die Diskussion der Summa Theologica. Sich
weder endgültig für oder gegen Aristoteles bzw. Ibn Sin entscheiden kön-
nend, hält Thomas von Aquin die Antwort in der Schwebe:
Diejenigen, welche behaupten, das Paradies liege unter dem Äquator, glauben, dort sei
die klimatisch am meisten gemäßigte Gegend, weil Tag und Nacht stets die gleiche
Dauer haben, und weil die Sonne sich nie so weit von ihnen entfernt, dass es dort
übermäßig kalt werden könnte; auch ist es dort, wie sie sagen, nicht übermäßig warm,
weil die Sonne, wenngleich sie senkrecht über ihnen steht, doch nicht lange in dieser
Stellung bleibt. – Aristoteles sagt aber ausdrücklich, jene Gegend sei wegen der Hitze
unbewohnbar; das ist wohl wahrscheinlicher, weil auch jene Gegenden, über welche
die Sonne niemals senkrecht geht, bei Sonnennähe überheiß sind. – Wie es sich aber
auch damit verhalten mag, man muß glauben, dass das Paradies in einer Gegend mit
durchaus gemäßigtem Klima lag, entweder unter dem Äquator oder anderswo.25
Ein weiterer Umstand ist hier von Interesse. Mit der Verortung des irdischen
Paradieses am Weltrand gibt er, indem er die geographische Entfernung in
Analogie zur metaphysischen Distanz zwischen irdischem Paradies und Welt
setzt, indirekt die mentale Ferne zwischen ›Europa‹ und dem Äquator kund:
Die Wegstrecke, die man zum Äquator zurücklegen müßte, entspricht der Dif-
ferenz von Welt und Irdischem Paradies. Weder Waldseemüller noch Vespucci
dürften mit Thomas‹ topographischen Auszeichnung vertraut gewesen sein,
da sie Ovids bzw. Aristoteles’ Klimatheorie folgen. Im auffälligen Gegensatz
zu der aristotelischen Klimatheorie stehen die Landschaftsbeschreibungen in
den Quattuor Americi Vesputii Navigationes, die der Cosmographiae beige-
fügt sind.26 Bereits in seinem viel übersetzten Mundus Novus (1502/1503)
zeigt sich Vespucci verzaubert von der Pracht der tropischen Natur, und
er preist ihr »Klima, das gemäßigter und angenehmer ist als in irgendei-
ner anderen uns bekannten Weltgegend.«27 In seiner leichten Korrektur, die
Waldseemüller, dem die Diskrepanz zwischen antiker Kosmographie und
neuzeitlichem Reisebericht aufgefallen sein muß, am antiken Diktum von der
menschenleeren zona torrida vornimmt, wird der Druck, den die Quattuor
Americi Vesputii Navigationes auf das tradierte Weltbild ausübt, spürbar.
Wenn er die zona torrida eine regio inhabitabilis nenne, so Waldseemüller,
dann beabsichtige er nicht damit zu sagen, daß sie unbewohnbar sei, sondern
lediglich, dass Menschen nur unter großen Schwierigkeiten dort leben könn-
ten.28 Die Autorität der Antike, von Waldseemüller, wenn auch mit leichten
Einschränkungen, noch anerkannt, wird also von Vespucci in Frage gestellt.
Für den Wandel der antiken zona torrida zum locus amoenus der Neuzeit29
25 Thomas von Aquin: Summa Theologica, q. 102.2. ad 4. Diese Vorstellung findet sich
auch in Pierre d’Aillys Imago Mundi. Paris 1930, S. 198. Auf seiner Irrfahrt fand
der Heilige Brandanus das Paradies ebenfalls am Äquator. Zur Legende des Heiligen
Brandanus und Thomas Paradiesvorstellung im Kontext der mittelalterlichen Geogra-
phie vgl. Delumeau, Jean: Une Histoire Du Paradis. Librairie Arthème Fayard 1992,
S. 59–97, 138.
26 Vgl. Waldseemüller (s. Anm. 17): »Tertia Navigatio«, S.87–97, bes. 87.
27 Wallisch, Robert (Hg.): Der Mundus Novus des Amerigo Vespucci. Text und Überset-
zung. Wien 2002, S.13.
28 Vgl. Waldseemüller (s. Anm. 17), 5. Kapitel, bes. S.19.
29 Zum loecus amoenus in den neuzeitlichen Reiseberichten vgl. Gewecke, Frauke: Wie
die neue Welt in die alte kam. Stuttgart 1986, S. 91.
680 Kung-Ho Cha
steht paradigmatisch das folgende Zitat aus den Acht Dekaden über die Neue
Welt von Pietro Martyr, der drei Jahrzehnte später die antike Klimatheorie
emphatisch für überholt erklären wird: »Nach Süden muß man fahren wegen
der großen Schätze am Äquator, nach Süden muß man fahren, wenn man
Reichtum sucht, nicht in den kalten Norden.«30
Vor den Fahrten Kolumbus und Vespuccis besteht lange Zeit Unklarheit
über die Topographie des südlichen Weltrands, wohin zuvor niemand, viel-
leicht mit einer allerdings unbeachteten Ausnahme, gereist war.31 Der Phan-
tasie sind dabei keine Grenzen gesetzt. Eine Alternative zur Wüste bietet die
Vermutung Isidors von Sevilla (7. Jh.), der von einem Ozean entlang des
Äquators ausgeht32, eine Annahme, die sich bis auf Krates von Mallos im 2.
Jh. v. Chr. zurückverfolgen läßt.33 Krates geht von vier Inselkontinenten aus,
die durch zwei sich kreuzende, durch die Pole bzw. parallel zum Äquator ver-
laufende Ozeanringe voneinander getrennt sind. In seinem, auf dem Ähnlich-
keitsdenken beruhenden Weltbild kommt dem Äquatorialozean offensichtlich
die Funktion zu, die Welt an ihrer Längsachse in zwei spiegelsymmetrische
Hälften zu teilen. Auf diese Weise wird das harmonische Gleichgewicht der
vier über den Globus verteilten Kontinente garantiert. Krates Lehre bietet
erstmals Raum für die Annahme von Antipoden, die den Antökenkontinent
(auf der anderen Seite des Äquatorialozeans) bewohnen. Sein Weltbild ist für
das christliche Mittelalter, dem die logische Kohärenz seiner Spekulationen
ohne weiteres einleuchten dürfte, alles andere als unproblematisch.
Der vierte Kontinent, die terra australis incognita, steht im Zentrum des
Antipodenstreits34, bei dem es um nichts Geringeres als die Legitimation
des christlichen Weltbildes geht. Da in der Bibel nirgends die Abkunft der
Antipoden von Noah bezeugt ist, sind sie für Augustinus bloße Fabelwesen,
und der bloße Gedanke an sie ist einzig der Verwerfung wert.35 Gemäß der
30 Anghiera, Pietro Martyr von: Acht Dekaden über die Neue Welt, 2 Bde. Darmstadt
1972, II, S. 333.
31 Bekannt geworden ist nur eine vom Pharao ausgesandte Expedition, die, wie Ptolemäus
berichtet, nur zum Äquator vorstieß, aber nicht über ihn hinaus. Bacon (s. Anm. 20),
S. 316.
32 Zum Äquatorialozean in der mittelalterlichen Kosmographie vgl. Simek, Rudolf: Er-
de und Kosmos im Mittelalter. Das Weltbild vor Kolumbus. München 1992, S. 134
– Lindberg, David C.: Von Babylon bis Bestiarum. Die Anfänge des abendländischen
Wissens. Stuttgart/Weimar 1994, S. 265.
33 Zum Äquatorialozean bei Krates von Mallos vgl. Mette, Hans Joachim: spairopoiia.
Untersuchungen zur Kosmologie des Krates von Pergamon. München 1936, S.69.
34 Zum Antipodenstreits vgl. von den Brincken, Anna-Dorothee: Fines Terrae. Die Enden
der Erde und der vierte Kontinent auf mittelalterlichen Weltkarten. Hannover 1992,
S. 193–201; Simek (s. Anm. 32), S. 64–84.
35 Augustinus: Vom Gottesstaat. München 1978, II. S. 296f. Zu Augustinus Schlüssel-
position im mittelalterlichen Diskurs um Heiden und Monster vgl. Neumann, Josef
N.: »Der mißgebildete Mensch. Gesellschaftliche Verhaltensweisen und moralische
Der Äquator – Weltrand und Weltmitte 681
Bewertung von der Antike bis zur frühen Neuzeit«. In: Hagner, Michael (Hg.): Der
falsche Körper. Beiträge zu einer Geschichte der Monströsitäten. Göttingen 1995,
S. 21–44.
36 Der Hereford-Weltkarte liegen drei Kompilationen der Mirabilia-Literatur zugrunde:
Isidors von Sevilla De natura rerum, Plinius Naturalis historia und Solinus collectanea
rerum. Westrem, Scott D.: The Hereford Map. A Transcription of the Legends with
commentary. Turnhout 2001, S. 374–387. Zu den am Weltrand lebenden monströsen
Völkern vgl. hierin Anm.7.
682 Kung-Ho Cha
Abb. 1:
Die Weltkarte von Hereford: Beilage aus Scott D. Westrem: The Hereford Map.
A Transcription ans Translation of the Legends with Commentary. Turnhout 2001
37 Bacon (s. Anm. 20), S. 320: »Since, then, there is a very great advantage in knowing
the places in the world, the other description must be presented. For the things of the
Der Äquator – Weltrand und Weltmitte 683
Die Kreatur unterliegt der Verortung durch die Welt wie der Spiegel durch
die Gegenstände charakterisiert wird, die er reflektiert.38 Die topographische
Auszeichnung ist Teil des christlichen Diskurses, der über den Status seiner
Bewohner urteilt, indem die Kreatur über seinen Ort definiert wird.39 Zwar
wird das Monster als ein Teil der Schöpfung angesehen, doch gilt es als ein
unheilvoller Bote, der eine Warnung Gottes an den Menschen überbringt
oder auf eine bereits begangene Sünde hinweist.40 Die illustrative Aneinan-
derreihung monströser Wesen gleicht ihrer Funktion nach einem symboli-
schen Quarantänierungswall, errichtet zwischen der christlichen Ökumene
und ihrem heidnischen Spiegelbild, um den Blick abzuschrecken und die
Neugierde davon abzuhalten, sich weiter in den unbekannten Raum vorzu-
wagen, der aus dem Rahmen der biblischen Schöpfungsgeschichte fällt.
Obwohl auszuschließen ist, daß Morus Kenntnis von der Hereford-Karte
besaß, lohnt der strukturelle Vergleich zwischen der mappa mundi und seiner
imaginären Weltkarte, wie er sie in Utopia entwirft. Morus hat alles getan,
um seinen Leser über die genaue Lage Utopias im Unklaren zu lassen. Den
einzigen Anhaltspunkt gewinnt man aus der Bemerkung Raphaels, Utopia
liege so weit südlich vom Äquator wie Europa nördlich von ihm.41 Von der
Peripherie der Ökumene in die Weltmitte wandernd, erscheint der Äquator
nun zwischen Utopia und Europa und positioniert beide in einem Analogie-
verhältnis, das, mit Foucault gesprochen, typisch für das in Ähnlichkeits-
relationen denkende 16. Jahrhundert ist.42 Morus menippische Satire43, die
bekanntlich keinen neuen Kontinent beschreibt, sondern England ins Faden-
kreuz des Spottes nimmt, steht als literarische Fiktion zweifellos auf einer
anderen Ebene als Vespuccis Reisebericht. Nichtsdestotrotz dokumentieren
beide Texte den Wandel des Weltbildes. Daß ein neuzeitlicher Autor wie
world cannot be known except through a knowledge of the places in which they are
contained. For place is the beginning of the generation of things, as Porphyry says;
because in accordance with the diversity of places is the diversity of things; and not
only is this true in the things of nature, but in those of morals and of the sciences«
38 Foucault spricht vom mittelalterlichen »Ortungsraum«, der in ein »hierachisiertes
Ensemble von Orten« eingelassen ist. Nach Blumenberg verliert die topographische
Auszeichnung, d.i. die Ableitung der Kreatur von ihrem Ort, in der Frühen Neuzeit,
mit Kopernikus an Bedeutung, da sich nun die Kreatur von ihrem Standort loslöst.
Foucault (s. Anm. 10) S. 35f; Blumenberg, Hans: Die Genesis der Kopernikanischen
Welt. Frankfurt a.M. 21985, S. 237–246, hier: S. 244.
39 Vgl. Bacon (s. Anm. 20), S. 308.
40 Vgl. Daston, Lorraine/Park, Katherine: Wonders and the Order of Nature 1150–1750.
New York 1998, S. 173f.
41 More (s. Anm. 13), S. 196.
42 Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaf-
ten. Frankfurt a.M. 1974, S. 46–60.
43 Vgl. Wooden, W.W.: Sir Thomas More. Satirist. A Study of the Utopia as Menippean
Satire. Vanderbilt 1971.
684 Kung-Ho Cha
44 Zur Frage hinsichtlich des Heidentums der Utopier, die hier nicht diskutiert werden
kann, vgl. den klassischen Aufsatz in der Yale-Edition. Hexter, J.H.: »Introduction,
Part I«. In: More (s. Anm. 17), S. XV-CXXIV. Zur Diskussion um Morus als mit-
telalterlichen oder neuzeitlichen Autor vgl. Duhamel, P.A.: »Medievalism of More’s
Utopia«. In: Studies of Philology 52, S. 99–122 und Skinner, Quentin: The Foundation
of Modern Political Thought. The Renaissance. Cambridge u.a. 1978, S. 255–262, I,
bes. S. 256.
45 Vgl. Blumenberg, Hans: Die Lesbarkeit der Welt. Frankfurt a.M. 1981, S. 23.
Der Äquator – Weltrand und Weltmitte 685
46 Vgl. Blumenberg, Hans: Die Legitimität der Neuzeit. Frankfurt a.M. 1996, S. 358–
376.
47 More (s. Anm. 13), S. 49.
48 Dante: Die göttliche Komödie. Stuttgart 2001. S. 100–103. Zur Odysseusfigur als Per-
sonifikation der curiositas und Dantes Kritik vgl. Blumenberg (s. Anm. 46), S. 394–
397.
49 Natürlich irrte hier Kolumbus, denn die Mündung des Orinoko liegt nicht am Äqua-
tor. Zahlreiche Portulan-Karten, wie z.B. die Weltkarte von Battista Agnese aus dem
Jahre 1543, legen jedoch seine Mündung an den Äquator. De La Roncierè, Monique/
du Jourdin, Michel Mollat: Portulane. Seekarten vom 13. bis zum 17. Jahrhundert.
München 1984, S. 225.
686 Kung-Ho Cha
sich, daß das irdische Paradies am Äquator liegt.50 Er glaubt ferner, daß die
Erde dort ihren höchsten Punkt aufweise, weil das Irdische Paradies von allen
Orten dem Himmel am nächsten sein müsse.51 Als er sich dann in seiner
unmittelbaren Nähe wähnt, scheut er jedoch demütig die Überquerung der
linea equinoctia:52 Denn keinem Menschen sei es gestattet, das Paradies zu
betreten.53
Ich glaube, dass ich ein noch milderes Klima [...] antreffen würde, wenn ich unter
dem Äquator [linea equinoctial] durchführe bis zu dem höchsten Punkt, von dem ich
gesprochen habe. Und das nicht nur, weil ich glaube, dass sich an diesem höchstge-
legenen Punkt Wasser befindet, so dass er schiffbar ist, sondern weil ich überzeugt
bin, dass dort das irdische Paradies liegt, zu dem niemand gelangen kann.54
50 d’Ailly, Pierre: Imago Mundi. Paris 1930, S. 198 : » paradisus terrestris ib [sub equi-
noxiali] est. » – so Kolumbus Randnotiz.
51 Christoph Kolumbus. Dokumente seines Lebens und seiner Reise. 2 Bde. Leipzig 1991,
II, S. 125. Zu Kolumbus’ Paradiesvorstellung vgl. Gewecke (s. Anm. 29), S. 64–98
– Morison, Samuel Eliot: Admiral of the Ocean Sea. A Life of Christopher Columbus.
Boston 1942, S. 557 – Delumeau (s. Anm. 24), S. 79f. Zu Kolumbus Kartenkenntnissen
vgl. Taylor, E. G. R.: »Columbus and the World-Map«. In: Jane, Cecil (Hg.): The Select
Documents Illustrating the Four Voyages of Columbus, 2 Bde., Nendeln/Liechtenstein
1967, II, S. LXXVI-LXXXIV.
52 Jane (s. Anm. 51) II, S. 37.
53 Kolumbus (s. Anm. 51), II, S. 124.
54 Kolumbus (s. Anm. 51), S. 128 [Hv. v. K. C.]. Vgl. Jane (s. Anm. 51), S. 37.
55 Todorov, Tzvetan: Die Eroberung Amerikas. Das Problem des Anderen. Frankfurt a.M.
1985, S. 26.
56 Zu einer anderen Interpretation kommt Stephan Greenblatt. Mit seiner ›Rhetorik des
Wunderbaren‹ beabsichtige Kolumbus, das eigene Unternehmen mit einer religiösen,
ehrfurchtgebietenden Aura zu umgeben, um so der öffentlichen Kritik entgehen zu
können. Vgl. Greenblatt, Stephan J.: Marvellous Possessions. The Wonder of the New
World. Oxford 1991, S. 78f.
Der Äquator – Weltrand und Weltmitte 687
Plötzlich findet sich der »Sohn des Nordens« auf einem »fremden Erdteil«
wieder. Sein Blick irrt umher, und in das Staunen mischt sich ein leiser,
aber unüberhörbarer Schrecken. Die admiratio wird von einer Verlusterfah-
rung überschattet, in der sich der junge Naturforscher von der göttlichen
Schöpfung, die ihn abstößt, entfremdet. Das Staunen, einst für Aristoteles
der Anfang aller Philosophie, erfährt gegen Mitte des 18. Jahrhunderts eine
Abwertung, da es, wie der Fall Linné exemplarisch zeigt, einen Störfaktor
für die wissenschaftliche Aufmerksamkeit darstellt.58 Die chaotische Natur
der Tropen, die auf den ersten Blick keine Ähnlichkeit mit der europäischen
Natur aufzuweisen scheint, erschüttert für einen kurzen Augenblick seinen
Glauben an das Systema natura und dessen Integrationsfähigkeit.59 Unge-
57 Linné, Carl von: »Dedicatio« In: ders.: Hortus Cliffortianus. Amsterdam 1737, o.
S. [Hv. v. K. C.]
58 Vgl. Daston, Lorraine: Wunder, Beweise und Tatsachen. Zur Geschichte der Rationa-
lität. Frankfurt a.M. 2001, bes. S.92–94.
59 Daß der verstärkte Zustrom exotischer Pflanzen einen »Erfahrungsdruck« (16f.) auf das
›Natürliche System‹ Linnés ausübte, darauf hat bereits Wolf Lepenies hingewiesen.
Zuletzt kritisierte Staffan Müller-Wille die zuvor angeführten Thesen vom Erfahrungs-
druck. Linné habe sich nie dem Anspruch einer totalen Repräsentation hingegeben,
sondern habe Einschränkungen in Kauf genommen und vorab eingeplant. Siehe dazu
meinen Kommentar in Anmerk. 90 und S. 20f. Vgl. Lepenies, Wolf: Das Ende der
Naturgeschichte. Der Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaf-
ten des 18. und 19. Jahrhunderts. Frankfurt a.M. 1978, S. 16, (41f); Müller-Wille,
Staffan: Botanik und weltweiter Handel. Zur Begründung eines natürlichen Systems
der Pfl anzen durch Carl von Linné (1707–78). Berlin 1999, S. 45–51; Zur »Klassifi-
kationswut«, mit welcher sich im 18. Jahrhundert die europäischen Botaniker auf die
Tropen stürzen vgl. außerdem Bitterli, Urs: Die Entdeckung Amerikas. Von Kolumbus
bis Alexander von Humboldt. München 1991, S. 409.
688 Kung-Ho Cha
achtet der pekuniären Einschränkungen, steht nicht die Natur und auch nicht
das ›Natürliche System‹, sondern der Mensch aufgrund seiner existentiellen
Endlichkeit der kohärenten Identität von (empirischer) Natur und (epistemi-
schen) System im Wege. Ständig ist der eifrige Sammler Linné dem Gefühl
ausgesetzt, mit dem »Kopf an die Grenzen der Erde zu stoßen«.
Ich habe gesagt, dass Botanik äußerst schwer ist, insbesondere in Hinsicht auf exotische
Pflanzen. Sie ist aber auch äußerst kostspielig, denn die Erde bringt nicht überall alles
hervor und die verschiedenen Familien der Pflanzen sind über alle Welt verstreut. Zu
den weit entfernten indischen Ländern zu eilen, sich den Kopf an den Grenzen der
Erde zu stoßen, die nicht untergehende Sonne zu sehen, dies ist alles nicht für das
Leben oder die Geldbörse eines einzigen Botanikers [erreichbar] und seine Kräfte
werden in diesen Unternehmungen versiegen.60
Und später schreibt er in der Philosophia botanica: »Es ist wegen des Mangels
der noch nicht entdeckten [Pflanzen], daß es an einer natürlichen Methode
fehlt, welche eine Kenntnis der meisten [Pflanzen] vervollkommnen würde.«61
In der Tiefen seiner Ohnmachtserfahrung liegt die mit Angst besetzte Ahnung,
das sich die Beherrschung der Natur, der er sein System aufzwingen will, als
ein bloßer Traum herausstellen könnte. Vor diesem Hintergrund betrachtet,
kommt der Akt der Klassifikation einer kompensatorischen Gegenreaktion
gleich, die von einer übermächtigen Wirklichkeit auf den Plan gerufen wurde.
Der Absolutismus der Wirklichkeit, den nach Hans Blumenberg zu verspü-
ren bedeutet, die Bedingungen der Erkenntnis nicht annähernd in der Hand
zu haben und, was wichtiger ist, nicht einmal in seiner Hand zu glauben,62
macht den beunruhigenden Kern von Linnés Grenzerfahrung aus, welche
die taxonomische Ordnung zu kalmieren beabsichtigt. Eine Möglichkeit,
den Absolutismus der Wirklichkeit zu depotenzieren, liefert der Mythos, auf
den Linné neun Jahre später in seiner 1744 veröffentlichen Oratio de Tellu-
ris habitabilis incremento zurückgreift. Darin entwirft er eine im biblischen
Paradiesmythos ihren Anfang findende physiko-theologische Naturgeschichte.
Am Ende der Abhandlung faßt er deren Kerngedanken wie folgt zusammen:
Ich bin in Gedanken zurück gegangen und habe die Grade der Generationen bey den
Thieren und Pflanzen berechnet, und bemerkt, dass sie bis auf eins abnehmen, wel-
ches von den Händen des Schöpfers gebildet wurde. [...] so glaube ich, es wird mir
niemand aufbürden, dass ich ohne Gründe behaupte: es ist nur eine einzige Pfl anze
von jeder Gattung und jedem Geschlecht (sexus) erschaffen worden. Und so wird der
Garten des Paradieses zum anmuthigsten, den man sich vorstellen kann; so wird der
unaussprechliche Ruhm des Schöpfers mehr verherrlicht als verdunkelt.63
60 Linné (s. Anm. 57), o. S. [Hv. v. K. C.]. Zit. aus Müller-Wille (s. Anm. 58), S. 316.
61 Linné, Carl von: Philosophia botanica. Stockholm 1751, §77, S. 36; Müller-Wille (s.
Anm. 58), S. 94.
62 Zum Absolutismus der Wirklichkeit vgl. Blumenberg, Hans: Die Arbeit am Mythos.
Frankfurt a.M. 1996, S.9.
63 Linnaeus, Caroli: Oratio De Telluris Habitabilis Incremento. Haak 1744. S. 33. Der
Der Äquator – Weltrand und Weltmitte 689
Linné ist sich vermutlich bewußt, daß es sich um eine bloße mathematische
Ableitung handelt, von dessen Evidenz er »ohne Gründe«, d.h. ohne den
empirischen Nachweis erbringen zu können, überzeugt ist.64 Unschwer läßt
sich in seiner Paradieslandschaft sein epistemologisches Wunschdenken wie-
dererkennen, das in einer erträumten Natur Gestalt annimmt. Die Anmut der
Natur resultiert aus den klar erkennbaren Unterschieden der Lebewesen, um
die es ihm in erster Linie geht. Linnés Arbeit am Mythos setzt die Genesis
fort, deren Erbe seine Naturwissenschaft anzutreten bereit ist. Für ihn ist das
biblische Paradies aber keineswegs die bloße Metapher der idealen Naturord-
nung. Die Insel existierte, und er glaubt sogar, ihre einstige Lage angeben
zu können: am Äquator.
Ich muß nun auch die Art und Weise zeigen, wie alle Gewächse auf einem kleinen
Erdstriche ihren dienlichen Boden, und die Thiere das Clima, welches sie verlangen,
haben finden können. Wenn man annimmt, dass das Paradies unter der Mittagslinie
[sub ipso Aequatore] gelegen habe: so wird man dies leicht begreifen können. Man
darf voraussetzen, dass ein sehr hoher Berg die anmuthigen Felder geziert habe; denn
je höher ein Berg sein Haupt in die mittlere Gegend der Athmosphäre erhebt, desto
größerer Kälte ist er ausgesetzt.65
Weshalb seine Zuhörer allerdings »leicht begreifen können«, daß alles Leben
von dieser Paradiesinsel sub ipse Aequatore seinen Anfang nahm, führt Linné
nicht aus. Im direkten Bezug zu Linnés naturgeschichtlicher Paradiesvorstel-
lung geht Immanuel Kant in seinen Vorlesungen zur Physischen Geographie
davon aus, daß die Ursache für die Entstehung des Bergmassivs in der Zen-
trifugalkraft zu suchen sei, die aufgrund der am Äquator abgeschwächten
Gravitation am stärksten auf die Erdschichten einwirkte.66 Die von Kant als
etablierte naturwissenschaftliche Tatsache übernommene These hatte noch
Jahrzehnte zuvor in den Pariser Salons für Furore gesorgt. Jean Richer, der
im Auftrage der Académie des Sciences 1672 nach Cayenne (Guyana) reiste,
machte die Beobachtung, daß Pendeluhren am Äquator langsamer laufen als
in Paris. Daraufhin schloß Christiaan Huygens, sich auf Newtons Gravita-
Text folgt der deutschen Übersetzung aus: Linné, Carl von: »Von der bewohnten Erde.
Eine Rede«. In ders.: Des Ritters Carl von Linnè auserlesene Abhandlungen aus der
Naturgeschichte, Physik und Arzneywissenschaften. Leipzig 1776, S. 268–287, hier:
S. 287.
64 Zu Linnés Versuch, die Varietäten auf die Art zurückzuführen vgl. Müller-Wille, Staf-
fan: »›Varietäten auf ihre Art zurückführen‹. Zu Carl von Linnés Stellung in der Vor-
geschichte der Genetik«. In: Biosciences 117 (1998), S. 346–376.
65 Linné, Carl von (s. Anm. 63), S. 275.
66 Vgl. Kant, Immanuel: Physische Geographie. In: Königliche Preußische Akademie
der Wissenschaften (Hg.): Kants Gesammelte Schriften. Berlin 1904, IX, S. 151–436,
hier: S. 169. Vielleicht steckt dahinter auch der schon bei Eratosthenes und Ptolemäus
zu findende Mythos vom Mondgebirge in der Nähe des Äquators, wo die Quelle des
Nils liegen soll.
690 Kung-Ho Cha
tionsgesetz berufend, daß die Erde an den Polen verflacht und nicht gerun-
det sein müsse, weil die Gravitation von den Polen zum Äquator abnehme.
Issac Newton stimmte dem zu. Die Huygens-Newton-Hypothese kursierte
in den an naturwissenschaftlichen Neuerungen interessierten Pariser Salons,
in denen sie allerdings im Zentrum des kultivierten Klatsches stand. Sie
rief aber auch den Widerstand ernsthafter Wissenschaftler, wie etwa den
des italienisch-französischen Astronomen Jean-Dominique Cassini auf den
Plan, der diese Idee als geradezu grotesk abtat. Schließlich entsandte der
französische König zwei weitere geoodätisch-geographische Expedition,
die Newton und Huygens Recht gaben.67 Literarisch verarbeitet wird diese
Auseinandersetzung in Voltaires Micromégas (1752). Voltaire macht sich in
seiner Science-Fiction-Satire über Maupertius, Clairaut, LeMonnier und Cel-
sius lustig, die sich auf eine wissenschaftliche Polarkreisexpedition begeben,
um auf königlichem Geheiß die umstrittene Huygens-Newton-Hypothese
zu überprüfen. Den Rang einer wissenschaftlichen Tatsache erlangte sie in
Newtons Philosophia naturalis principia mathematica (1687), in der es heißt,
daß »die Erde am Äquator um einen Überschuß von etwa siebzehn Meilen
höher [ist] als an den Polen«.68 Johann Gottfried Herder zeigt sich nichts-
destotrotz skeptisch gegenüber der mathematischen Beweisführungen, selbst
wenn sie von Newton stammt.
Aus dem Umschwang einer Kugel sind diese ältesten Gebürgketten nicht zu erklären:
sie sind nicht in der Gegend des Äquators, wo der Kugelumschwung am größten war;
sie laufen demselben auch nicht einmal parallel, vielmehr geht die Amerikanische
Bergreihe gerade durch den Äquator. Wir dürfen also von diesen mathematischen
Bezirken hier kein Licht fodern: da überhaupt auch die höchsten Berge und Bergreihe
gegen die Masse der Kugel in ihrer Bewegung ein unbedeutendes Nichts sind. Ich halte
es also auch nicht für gut, in Namen der Gebürgeketten Ähnlichkeit mit dem Äquator
und den Meridian zu substituieren, da zwischen beiden kein wahrer Zusammenhang
statt findet und die Begriffe damit eher irre geführt würden.69
Gegen jene ins Feld ziehend, die dort den Ursprung der menschlichen Zivi-
lisation verorten, führt er als weiteres Gegenargument die widrigen klimati-
schen Bedingungen an, die alles andere als günstig gewesen seien.
Wäre der Äquator und die größeste Bewegung der Erde unter ihm an der Entstehung
der Berge Ursach, so hätte sich das feste Land auch in seiner größten Breite unter
ihm fortstrecken und den heißen Weltgürtel einnehmen müssen, den jetzt größtenteils
das Meer kühlet. Hier wäre also der Mittelpunkt des menschlichen Geschlechts ge-
67 Vgl. Landes, David S.: Revolution in Time. Clocks and the Making of the Modern
World. Cambridge, Mass./London 1983, S. 160f.
68 Newton, Isaac: Mathematische Grundlagen der Naturphilosophie. Hamburg 1988,
S. 214.
69 Herder, Johann Gottfried: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. In:
Bollacher, Martin (Hg.): Johann Gottfried Herder. Werke in zehn Bänden. Frankfurt
a.M. 1989, VI, S. 42.
Der Äquator – Weltrand und Weltmitte 691
wesen, gerade in der trägsten Gegend für körperliche und Seelenkräfte, wenn anders
die jetzige Beschaffenheit der gesamten Erdnatur noch stattfinden sollte. Unter dem
Brande der Sonne, den heftigsten Explosionen der elektrischen Materie, der Winde
und allen kontrastierenden Abwechselungen der Witterung hätte unser Geschlecht seine
Geburts- und erste Bildungsstätte nehmen und sich sodann in die kalte Südzone, die
dicht an den heißen Erdstrich grenzt, sowie in die nordlichen Gegenden verbreiten
müssen; der Vater der Welt wählte unserm Ursprunge eine bessere Bildungsstätte. In
den gemäßigten Erdstrich rückte er den Hauptstamm der Gebürge der Alten Welt, an
dessen Fuß die wohlgebildetsten Menschenvölker wohnen.70
Der »höchste Berg in der Mitte«71 ist nach Herder auf der Nordhalbkugel zu
plazieren, und zwar in Tibet. Nach dieser Korrektur folgt eine zweite. Man
dürfe grundgenommen nicht von einem einzelnen Berg ausgehen, sondern
von mehren zusammenhängenden Gebirgen, die zusammen ein natürliches
»Amphitheater« bilden, wo die gesamte Schöpfung zur Schau gestellt wurde.
»Der Berg, den Linneeus sich als das Gebürge der Schöpfung gedacht hat,
ist in der Natur; nur nicht als Berg, sondern als ein weites Amphitheater, ein
Stern von Gebürgen, die ihre Arme in mancherlei Klimate verteilen.«72
Der Mythos der Weltmitte ist, obwohl Herder das Paradies weg vom
Äquator ›zurück‹ in den Osten, d.h. nach Asien versetzt, bei beiden gegen-
wärtig. Herder spricht daher nicht zufällig vom »höchsten Berg in der Mitte«.
Der bei Herder und Linné zitierte Paradiesmythos weist eine starke Bin-
dung zur Idee der Weltmitte auf, doch ist die topographische Auszeichnung
unterschiedlich motiviert. Während Herder den christlichen Paradiesmythos
mit seiner traditionellen Ost-Orientierung zitiert, geht Linnés topographische
Auszeichnung zurück auf Newtons Gravitationslehre. Doch nur auf den ersten
Blick liegen Linnés Lozierung primär naturwissenschaftliche und nicht mehr
religiöse Motive zugrunde. Obwohl letztendlich unklar bleiben muß, ob Linné
von Thomas von Aquins Standortbestimmung des irdischen Paradieses am
Äquator wußte, so ist die Nähe zum Paradiesmythos der Weltmitte, des locus
congruens homini73, wo, in den Worten Hans Blumenberg, das »zwanglose
Einverständnis der Natur mit dem Menschen«74 herrschte, nicht von der
Hand zu weisen. Aus diesem Grund ist der Mythos der Weltmitte als ein im
Kern der Linnéschen Naturwissenschaft eingefaßtes Säkularisat aufzufassen.
Auf der Ebene der episteme muß die Vorstellung eines paradiesischen locus
congruens homini von besonderer Attraktivität für den Naturforscher gewe-
sen sein. Im modernen Weltbild besetzt der Äquator die Stelle der (säkula-
75 Blumenberg macht diese Denkfigur zuerst bei Francis Bacon fest. Nach Lorraine
Daston war es die wissenschaftliche Aufmerksamkeit, die Linné einen Vorgeschmack
auf das irdische Paradies gab. Vgl. Blumenberg (s. Anm. 30), S. 239; Daston, Lor-
raine: Eine kurze Geschichte der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit. München 2000,
S. 39.
76 Zum Berg in der Aufklärung vgl. Broc, Numa: Les Montagnes au Siècle des Lu-
mières. Perception et représentation. Paris 1991, S. 173–196. Zur Klimatheorie im
18. Jahrhundert vgl. Broc, Numa: La Géographie des philosophes. Paris 1975, bes.
S. 493; Fink, Gonthier-Louis: Von Winckelmann bis Herder. Die deutsche Klimatheo-
rie in europäischer Perspektive. In: Sauder, Gerhard (Hg.): Johann Gottfried Herder.
1744–1803. Hamburg 1987, S. 156–176.
77 Zur mittelalterlichen Paradiesvorstellung vgl. Grimm, Reinhold: Paradisus Coelestis.
Paradisus Terrestris. München 1977.
78 Zur »wissenschaftlichen Emotion« vgl. Daston, Lorraine: (s. Anm. 58), bes. S. 77–
116.
Der Äquator – Weltrand und Weltmitte 693
altypischer Weise realisiert. Der Berg stellt gleich dem Botanischen Garten
eine »universalisierende Heterotopie«79 dar, d.h. einen imaginären Raum des
Wissens, in dem sich das Paradigma der totalen Sichtbarkeit vollends entfal-
ten kann. In Herders theatron-Metapher vom »Amphitheater« (als einem ›Ort
des Sehens‹) kommt diese Vorstellung erneut zur Sprache. Dass der Paradies-
garten den Botanischen Gärten (mit ihren »künstlich angelegten Bergen«)80,
die noch dazu den verräterischen Namen »paradisi«81 tragen dürfen, stark
ähnelt, überrascht nicht.
Nach Foucault kommt Botanischen Gärten, Naturalienkabinetten und
Museen eine herausragende Bedeutung für den Zeitraum vom 16. bis zum
18. Jahrhundert zu, weil sich in ihnen der klassische Repräsentationsge-
danke, der auf der Sichtbarkeit des Wissens (im Sinne der antiken theoria)
beruht, verwirklicht.82 In diesen Heterotopien des Wissens ist das Aufgehen
der erschöpfenden Beschreibung der Dinge in einen Raum totaler Sichtbarkeit
gewährleistet: Alles, was in den Blick fällt, kann auch benannt werden.83 Die
episteme der klassischen Repräsentation bildet sich auf einem tableau ab,
auf dem sich die Kommunikation der Wörter mit den Dingen reibungslos
vollzieht. Auf diesem tableau überschneidet sich die Semiotik mit der Her-
meneutik des Denkens, weil die Ordnung im Geiste (natura naturata) nichts
anderes als die Wiederholung (Re-Präsentation) der natürlichen Ordnung
(natura naturans) sein kann.84 Mit anderen Worten: Der Berg am Äquator
ist das tableau und gewährt dem klassifizierenden Blick die gewünschte
Totalperspektive auf sämtliche Lebensformen der Erde.85
Linnés Selbstverständnis als »zweiter Adam«86 fügt sich nahtlos in den
Reigen mythologischer Übertreibungen und Selbststilisierungen ein. Die
Handlung Adams, den Geschöpfen ihren Namen zu verleihen, wird zur mythi-
87 Müller-Wille (s. Anm. 59), S. 96: »Das Natürliche System. Linnés ist eine ›Weltkar-
te‹ des Pflanzenreichs, welche von der raum-zeitlichen Differenzierung der pflanzli-
chen Wirklichkeit vollständig abstrahiert.« Müller-Wille übernimmt die Metapher der
Weltkarte von Elis Malmeström. Malmeström, Elis: Von Linnés religiösa åskådning.
Stockholm 1926, S. 132f.
88 Müller-Wille (s. Anm. 59), S. 97.
89 Linné (s. Anm. 61), §155, S. 98; Müller-Wille (s. Anm. 59), S. 90.
90 Linné (s. Anm. 61). Die Karte in Praelectiones in Ordines naturales plantarum (1792)
wurde posthum von Giseke angefertigt.
Der Äquator – Weltrand und Weltmitte 695
Mit anderen Worten: Mit der räumlichen Reduktion auf einen klar begrenzten
Raum ergibt sich eine Karte ohne weißen Flecken. Wenn die weiß gebliebe-
nen Flecken die Differenz zwischen der Karte des ›Natürlichen Systems‹ und
ihrem Territorium markieren und so den auf der Endlichkeit der menschlichen
Existenz beruhenden eingeschränkten Wissenshorizont auf dem Papier ein-
tragen, so manifestiert sich im utopischen ›Gegenort‹ der Insel das Wunsch-
denken des »Kartographen der Pflanzenwelt«, Karte und Territorium ohne
Differenz zusammenfallen zu lassen, bis das ›Natürliche System‹ nicht mehr
von der Natur zu unterscheiden ist.91
Nichtsdestotrotz ist in das Bild der »Insel, auf der sonst vom Ocean
bedeckten Erde«92 der horror vacui eingegangen. Insel und Meer sind als
»absolute Metaphern«93 zu entziffern, in denen die Reste der Phantasie, denen
sich der Begriff vergeblich zu entledigen versucht, eingelagert sind. In der
Raumdarstellung stößt man erneut auf die mythische Urerfahrung mit dem
Chaos, wie sie in der Unverhältnismäßigkeit von Insel und Meer poetisch
umgesetzt wird. Im Kontrast beider ist die Beziehung wiedergegeben, welche
die Botanischen Gärten zur Welt unterhalten: die Paradiesinsel symbolisiert
eine gefährdete Ordnung, die ringsum von dem unbestimmten als auch unbe-
stimmbaren Raum des schweigenden Ozeans umgeben ist. Das Meer gibt
die Negativfolie zu der Insel, dem kleinen Erdstriche94, ab, die eine nichtige
Markierung auf der unendlichen Ozeanoberfläche abgibt. Die Insel ist ein
Raum der Fülle, während das Meer, das aufgrund seiner Gestaltlosigkeit von
jeher die mythische Metapher für das Undarstellbare war95, einem Raum der
Leere gleicht. In diesem Fall wäre Linnés Karte der Pflanzenwelt nicht mehr
deckungsgleich mit der Welt, und wäre sie es doch, so würde sich auf der
neuen Weltkarte die Übermacht der ›weißen Flecken‹ geradezu bedrohlich
gegenüber dem bekannten Gebiet der Insel ausmachen – bedrohlich deshalb,
weil das Unwissen augenscheinlich über das Wissen dominiert. Das aus dem
Weltmeer selbstbewußt hervorragende insulare Ideenparadies steht dagegen
91 Zu einem ganz anderen Schluß kommt Müller-Wille. Er geht davon aus, daß die weißen
Flecken auf der Karte eingeplant seien und damit keine Grenzen des Wissens bei Linné
markieren können. Müller-Wille verkennt jedoch, daß der Anspruch nach vollständiger
Abdeckung, ja Identität von Karte und Territorium, von der Karten-Metapher nicht
abzulösen ist, da sie ihrer Grundintention entspricht. Die Kartenstruktur mag zwar,
wie Müller-Wille ausführt, wegen der weißen Flecken nicht zusammenbrechen, doch
widerspricht es der Idee der Karte und ihrer Metapher, dieselbigen zu akzeptieren oder
gar einzuplanen. Müller-Wille (s. Anm. 59), S. 89–90.
92 Linné (s. Anm. 61), S. 270.
93 Zur absoluten Metapher vgl. Blumenberg, Hans: Paradigmen zu einer Metaphorolo-
gie. Frankfurt a.M. 1998, S. 10. Zur Metaphorizität und poetischen Aneignung von
Wissen in den Naturwissenschaften vgl. Vogl, Joseph (Hg.): Poetologien des Wissens
um 1800. München 1999.
94 Linné (s. Anm. 61), S. 275.
95 Blumenberg (s. Anm. 62), S. 38.
696 Kung-Ho Cha
für das rückversichernde Gefühl, welches das Fundament von Linnés Reprä-
sentationsgedanken ist, nämlich die Gewißheit, daß dem Chaos immer ein
transparenter Raum der Ordnung gegenübersteht und Erkenntnis entgegen
den Widerständen der Wirklichkeit möglich ist.
Von Linné über Kant zu Herder läßt sich die Spur des Äquators bis zu
Alexander von Humboldt verfolgen. Er genoß den Vorzug, die südamerika-
nischen Äquatorialgegenden auf seiner Forschungsreise von 1799 bis 1804
mit eigenen Augen gesehen zu haben. Der letztzitierte Abschnitt steht jedoch
nicht in seiner mehrbändigen Reise in die Aequinoctial-Gegenden des neuen
Continents, sondern in den Ansichten der Natur, seinem, wie er selbst sagte,
Lieblingswerk. Man beachte die topographische Auszeichnung, die den Äqua-
tor unter allen anderen Regionen hervorhebt: »Unter dem Äquator allein ...«.
Der Chimborazo galt zu Humboldts Zeiten als der höchste Berg der Welt. Wie
der Äquatorialberg Linné, so verführen die »Thäler und hohe[n] Gebirge«
Humboldt zu der Überzeugung, daß sich am Äquator sämtliche Lebensformen
der Erde befinden. Herders theatron-Metapher eines natürlichen »Amphi-
theaters« zeigt eine starke Ähnlichkeit zu Humboldts Ideenparadies auf. In
der historischen Zusammenschau scheint es so, als ob die einst imaginären
Topographie endlich Wirklichkeit würde. So wundert es nicht, daß Sehnsucht
anklingt, wenn Humboldt sich dem Wunsch anheimgibt, auf den Schwingen
der Einbildungskraft zum Äquator zu reisen und kraft seiner Sprache in das
Zentrum der Welt zurückzukehren.
Die krankenden Gewächse, welche unsere Treibhäuser einschließen, gewähren nur
ein schwaches Bild von der Majestät der Tropenvegetation. Aber in der Ausbildung
unserer Sprache, in der glühenden Phantasie des Dichters, in der darstellenden Kunst
der Maler ist eine reiche Quelle des Ersatzes geöffnet. Aus ihr schöpft unsere Ein-
96 Humboldt, Alexander von: Ansichten der Natur. In: Beck, Hanno (Hg.): Alexander
von Humboldt. Studienausgabe. Darmstadt 1987, V, S. 293,
Der Äquator – Weltrand und Weltmitte 697
bildungskraft die lebendigen Bilder einer exotischen Natur. Im kalten Norden, in der
öden Heide kann der einsame Mensch sich aneignen, was in den fernsten Erdstrichen
erforscht wird, und so in seinem Innern eine Welt sich schaffen, welche das Werk
seines Geistes, frei und unvergänglich wie dieser ist.97
I.
Situationen und Personen, von denen Hubert Fichte unter vielen anderen
berichtet, sind: »Mãe Doca, die Priesterin aus Maranhão gilt als Gründerin
des Kultes der Batuques in Belém. Sie kam in der letzten Phase des Kau-
tschukbooms – vor 60, 70 Jahren.« Vielleicht aber auch erst »zur Zeit der
Rezession, als auch die anderen alten Afrikanerinnen an zu wandern fingen«.
Es gibt hier eine »Nachhut der französischen und englischen Unternehmen
[...], die zur Zeit des Gummibooms gekommen waren und weiter blieben.
[...] aber richtig begann es erst in den 40er Jahren durch die Arbeiter und
Unternehmer, die während des Krieges aus dem Süden kamen.«1
Auf dem Marktplatz von Marrakesch finden sich:
In Santa Cruz:
Zu Gisèle Binon-Cossard.
Zum Candomblétempel einer französischen Intellektuellen.
Santa Cruz, hoch kühl
Der Tempel sehr ordentlich.
Fast schweizerisch
Gepflegter Garten.3
1 Fichte, Hubert: Explosion. Roman der Ethnologie. Die Geschichte der Empfindlichkeit,
Bd. VII. Frankfurt a.M. 1993, S. 515 f.
2 Fichte, Hubert: Der Platz der Gehenkten. Die Geschichte der Empfindlichkeit, Bd. VI.
Frankfurt a.M. 1989, S. 121.
3 Fichte (s. Anm. 1), S. 441.
Kulturtopographie: Zur Literatur Hubert Fichtes 699
4 So jedoch Teichert, Torsten: Herzschlag außen. Die poetische Konstruktion des Frem-
den und des Eigenen im Werk von Hubert Fichte. Frankfurt a.M. 1987 sowie Braun,
Peter/Weinberg, Manfred (Hg): Ethno/Graphie. Reiseformen des Wissens. Tübingen
2002. Die spezifische Postmodernität Fichtes ist diskutiert in: Karpenstein-Eßbach,
Christa: »Die Aufhebung des Romans in der Möglichkeit eines Ausgangs der Moderne:
Hubert Fichte und Paul Wühr«. In: Alber, Jan/ Fludernik, Monika (Hg): Moderne/Post-
moderne. Trier 2003.
5 Fichte, Hubert: Hubert Fichte – Jean Genet. Fotos von Leonore Mau, hg. v. Bernhard
Albers. Aachen 1992, S. 24.
6 Fichte, Hubert: Hotel Garni. Die Geschichte der Empfindlichkeit, Bd. I. Frankfurt a.M.
1987, S. 10.
7 Fichte (s. Anm. 6), S. 10
8 Zu Parallelisierbarkeiten von Fichtes Reisen und der Entstehung seines Werks s. Ti-
ling, Johann Nikolaus: Hauchbilder der Erinnerung. Biographische Spuren und die
Entwicklung literarischer Motive im Werk Hubert Fichtes. Berlin 1996.
700 Christa Karpenstein-Eßbach
Mit der Metapher der Explosion wird das Zerknallen eines Gemisches – im
Fall des Verbrennungsmotors von Treibstoff und Luft – bezeichnet. Stellt man
ihr jene vom Zusammenprall gegenüber, wie sie Samuel Huntington im Titel
seines Buches Clash of civilisations verwendet hat und die die Konfrontation,
in der deutschen Übersetzung den »Kampf« kompakter Entitäten aufruft, so
referiert die Rede von Explosion nicht auf eine Mechanik der Kräfte, son-
12 S. hierzu Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit. Bd. 1.
Frankfurt a.M. 1977, bes. S. 159ff; Stingelin, Martin (Hg): Biopolitik und Rassismus.
Frankfurt a.M. 2003 sowie Agamben, Giorgio: Homo sacer. Die souveräne Macht und
das nackte Leben (1995). Frankfurt a.M. 2002.
13 Hier besonders instruktiv: Waldenfels, Bernhard: Topographie des Fremden. Studien
zur Phänomenologie des Fremden I. Frankfurt a.M. 1997 sowie ders.: Der Stachel
des Fremden. Frankfurt a.M. 1990, bes. S. 28 ff; Schütze, Jochen K.: Vom Fremden.
Wien 2000, mit der Feststellung, daß sich »unter der Bezeichnung Globalismus eine
Epoche an(bahnt), in der die Dimension des Fremden endgültig ausstirbt. Die Theorie
leistet nicht mehr als ihren Niedergang zu beschreiben.« (S. 93).
702 Christa Karpenstein-Eßbach
in einer Welt, von der Lévi-Strauss noch behaupten konnte, sie habe »La Fin
des Voyages« erreicht.14
Vieles vom weiteren Verlauf und den Ausarbeitungen und Polemiken
der hier nur kurz umrissenen Diskussionslinien konnte der 1985 gestorbene
Fichte nicht mehr zur Kenntnis nehmen. Sie stellen jedoch für uns den Hin-
tergrund für die Erschließung eines literarischen Werkes dar, dessen welt-
haltige Topographie einen ethnologischen Blick auf die Bedingungen der
Diskurse und Erfahrungen von Fremdheit zu werfen erlaubt – im Sinne einer
»Ethnologie der Ethnologie«.15 Denn Fichte beschreibt keinen Fiktionsraum
des Fremden, sondern reist Fiktionsräumen nach, um dort ein ungeahntes
Fiktionspotential zu entdecken.16 Auf drei Ebenen soll im folgenden Fichtes
Kulturtopographie expliziert werden: im Hinblick auf die Bedeutung von
Migration und Tourismus für kulturelle Konstitutionen und Beziehungen zum
Raum; als Frage nach dem Verhältnis von Literatur und kulturgeographischer
und ethnographischer Wissenschaft; schließlich im Hinblick auf Fragen der
Auslegung und der literarischen Repräsentation der bereisten und erforsch-
ten Räume.
II.
14 Lévi-Strauss, Claude: Traurige Tropen. Frankfurt a.M. 1981, S. 9. Nach wie vor zen-
tral für die Diskussion der ethnologischen Forschung Devereux, Georges: Angst und
Methode in den Verhaltenswissenschaften. München 1967. Zur Migrationsforschung:
Hornstein, Caroline S.: Grenzgänger. Problematik interkultureller Verständigung.
Frankfurt a.M./Basel 2003. Zur Hermeneutik Kämpf, Heike: Die Exzentrizität des
Verstehens. Zur Debatte um die Verstehbarkeit des Fremden zwischen Hermeneutik
und Ethnologie. Berlin 2003.
15 Fichte (s. Anm. 1), S. 314.
16 Hierzu Simo, David: Interkulturalität und ästhetische Erfahrung. Untersuchungen zum
Werk Hubert Fichtes. Stuttgart/Weimar 1993.
17 Cassirer, Ernst: »Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum«. In: Ritter, Alex-
ander (Hg.): Landschaft und Raum in der Erzählkunst. Darmstadt 1975, S. 19.
Kulturtopographie: Zur Literatur Hubert Fichtes 703
sionen oder Zuschreibungen eines Sinns allererst gewinnen, etwa als erlebter
oder ästhetisierter Raum. Wenn Cassirer deshalb durchaus zurecht betont:
»Die Sinnfunktion ist das primäre und bestimmende, die Raumstruktur das
sekundäre und abhängige Moment«18, so ist im Hinblick auf Fichtes Lite-
ratur jedoch festzustellen, daß diese Dimension des Sinns vor der Vielheit
des räumlichen Beisammens von Phänomenen zurückweicht und sich jene
Positionen des primären und des sekundären Moments deplazieren, wenn
nicht austauschen. Der Raum der Fichteschen Literatur kennt kein Narrativ,
von dem aus seine Elemente und Relationen in eine sinnhafte Sukzessions-
oder Zusammenhangslogik integriert werden könnten. Umgekehrt formuliert:
es gibt für das interpretative Vorgehen keine Möglichkeit, an einer mit guten
Gründen auszuzeichnenden Stelle anzusetzen, um die sich wie in konzentri-
schen Kreisen die weiteren Explikationen lagern könnten. Deshalb gilt für
die beiden folgenden illustrierenden Beispiele, daß die Wahl auch auf andere
hätte fallen können. Ein Raum ohne sinnstiftendes Narrativ bleibt – nicht nur
für den Interpreten – bedrohlich. In Explosion findet sich die Szene einer
Taxifahrt zu den Favelas.
Während der Stadtplan nur für mögliche Orientierung im Raum steht, ohne
mit einer weiteren Bedeutungszuweisung verbunden zu sein, wird die Sinn-
funktion eines räumlichen Phänomens mit dem polizeilichen Blick verbun-
den, der eine ganz andere Lesbarkeit des Raumes anvisiert. Im Anschluß an
diese Fahrt wird das Ensemble dessen, was sich in der Favela findet, auf-
gelistet. In Der Platz der Gehenkten findet sich die folgende Beschreibung,
die, wie andere auch, den Marktplatz in Marrakesch betrifft:
Der Junge trägt fünf Widderköpfe in der rechten Hand an den Hörnern.
Zwei in der linken.
Er befestigt die Widderköpfe an seinem Fahrrad.
Einen bindet er an die Klingel.
Drei an den Gepäckträger, zwei an die Stange.
Den letzten Widderkopf befestigt er an der Fahrradlampe. (S. 48)
19 So Simmel, Georg: »Der Begriff und die Tragödie der Kultur«. In: ders.: Gesamtaus-
gabe. Bd. 14: Hauptprobleme der Philosophie. Philosophische Kultur, Frankfurt a.M.
1996 sowie Gehlen, Arnold: »Über kulturelle Kristallisation«. In: Welsch, Wolfgang
(Hg): Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion, Weinheim
1988.
20 Deleuze, Gilles: Das Zeit-Bild. Kino 2. Frankfurt a.M. 1997, S. 96 ff. Das Kristallbild
»besteht in der unteilbaren Einheit eines aktuellen und ›seines‹ virtuellen Bildes«
(108), es verdoppelt das Aktuelle im Virtuellen, weshalb Vergangenheit und Gegenwart
»koexistieren«.
21 S. Hauser-Schäublin, Brigitta/Dickhardt, Michael (Hg): Kulturelle Räume – räumli-
che Kultur. Zur Neubestimmung des Verhältnisses zweier fundamentaler Kategorien
menschlicher Praxis. Münster/Hamburg/London 2003; dort programmatisch instruk-
tiv Werlen, Benno: »Kulturelle Räumlichkeit: Bedingung, Element und Medium der
Praxis«. Zu technischen und ästhetischen Raumstrukturierungen s. Kaufmann, Stefan
Kulturtopographie: Zur Literatur Hubert Fichtes 705
im Raum voraus, sie sind nicht seßhaft oder können es nicht bleiben. Anläß-
lich der Fischer von Dangriga/Belize notiert der Forschungsbericht:
Frank sah hoch hinauf, als wollte er sie an die Wolken malen, die heiligen Inseln, St.
Vincent, Afrika, die Götterhummer, die durchlauchten Makrelen.
– Rudern sie ihre ganze Geschichte ab? dachte Jäcki, die nach Dangriga Verschleppten
zu den Fischgründen der nach St. Vincent Verschleppten, zu den Afrikanern, die sich
mit den störrischen Menschenfressern paarten? Dahomey, Mali, Äthiopien.22
Über den Plan, »ein Herbarium anzulegen« (S. 321), heißt es später:
Es sollte die Geschichte der Kräuter werden.
Die Bewegungen der Kräuter.
(Hg): Ordnungen der Landschaft. Natur und Raum technisch und symbolisch entwer-
fen. Würzburg 2002.
22 Fichte, Hubert: Forschungsbericht. Die Geschichte der Empfindlichkeit, Bd. XV. Frank-
furt 1989, S. 49.
23 Fichte (s. Anm. 1), S. 152.
24 Fichte (S. Anm. 2), S. 66.
25 Fichte (s. Anm. 22), S. 47.
26 Fichte (s. Anm. 1), S. 348.
706 Christa Karpenstein-Eßbach
Und es wurden doch wieder nur die Bewegungen von Menschen den Amazonas hin-
unter.
Endlich die Bewegungen von Fingern auf Papier.
Die Spuren der Tinte.
Lettern. (S. 527)
und interner Grenzen zu sprechen« ist, mit der auch eine »reflexive Ethni-
sierung« einhergehen kann.39 In »the age of migration«, so die Diagnose,
findet sich »the formation of ethnic minorities«, und zugleich ist es »part
of the migrant condition to develop multiple identities«.40 Bewegung als
»Grundzug des menschlichen Wesens« ist in der Migrationsforschung zur
drängenden Frage nach Klassifikationen und Ordnungen angesichts kultu-
reller Vermischung geworden. Dabei ist – unterhalb der Ebene der zahlrei-
chen empirischen Untersuchungen – nicht nur strittig, ob im Hinblick auf
die Struktur der europäischen Industriestaaten eine Veränderung »von einer
monokulturellen Struktur zu einer multikulturellen« festzustellen ist41, son-
dern strittig ist zudem, ob global eher von Vereinheitlichungs- oder Synkre-
tisierungsprozessen zu sprechen ist.42
Im Blick auf die Migrationsforschung lassen sich zwei für ihre Fragestel-
lungen zentrale Gesichtspunkte herausfiltern. Der erste betrifft Neufassungen
des Raumkonzepts. Dabei wird unterschieden zwischen einem Flächenraum
mit seiner »physikalisch-geometrischen Extension und Lagerelation von Ele-
menten« und einem Sozialraum, der »sich auf in und durch menschliche
Aktivitäten strukturierte Lagerelationen von Elementen« bezieht.43 Migration
ist zu verstehen als die Entkoppelung von Flächen- und Sozialraum und als
»Verdichtung neuer plurilokaler und transnationaler sozialer Verflechtungs-
beziehungen, die quer zu traditionellen mono-lokalen Sozialräumen verlau-
fen.«44 Der Raum der Migration wird gerade nicht mit einer Vorstellung
verbunden, wonach es sich um eine gleichsam konzentrische Erweiterung
oder Ausdehnung von Sozialräumen auf einer Fläche handeln würde. Die
Differenz zwischen Herkunftsort und Lebensort45 wird konstituierend – als
neuer Sozialraum – in das topologische Konzept aufgenommen. Zum zweiten
handelt es sich um das Problem der Konturierung des Bereichs des Frem-
39 Bös, Mathias: Migration als Problem offener Gesellschaften. Globalisierung und so-
zialer Wandel in Westeuropa und in Nordamerika. Opladen 1997, S. 189 u. 196.
40 Castles, Stephen/Miller, Mark J.: The Age of Migration. International Population Move-
ments in the Modern World. London 1993, S. 18 u. 274.
41 Seifert, Wolfgang: Geschlossene Grenzen – offene Gesellschaften? Migrations- und
Integrationsprozesse in westlichen Industrienationen. Frankfurt a.M. 2000, S. 55.
42 Wimmer, Andreas: »Gleichschaltung ohne Grenzen? Isomorphisierung und Heteromor-
phisierung in einer verflochtenen Welt. In: Hauser-Schäublin/Braukämper (s. Anm. 36),
S. 77f. Zur Forschungsdebatte s. auch die entsprechenden Sektionsbeiträge in: Akten
des Freiburger Kongresses für Soziologie 1998 Grenzenlose Gesellschaft?, Teil 1 und
2, hg. v. C. Honegger, S. Hradil, F. Traxler. Opladen 1999 – Bade, Klaus J./Bommes,
Michael (Hg): Migrationsreport 2004 Frankfurt a.M. 2004.
43 Pries, Ludger: »Die Neuschneidung des Verhältnisses von Sozialraum und Flächen-
raum«. In: Honegger/Hradil/Traxler (s. Anm. 42), Teil 2, S. 441 u. S. 443.
44 Pries: »Die Neuschneidung des Verhältnisses von Sozialraum und Flächenraum«.
(s. Anm. 43), S. 448f.
45 Waldenfels, Bernhard: In den Netzen der Lebenswelt. Frankfurt a.M. 1985.
Kulturtopographie: Zur Literatur Hubert Fichtes 709
III.
Es ist diese neue transnationale Mobilität des 20. Jahrhunderts, von der Fich-
tes Literatur handelt und die von ihm auch immer wieder im Dialog mit der
Wissenschaft reflektiert wird. Aber es sind charakteristischerweise nicht die
neuesten Forschungen und die gerade aktuellen Diskussionen seiner Gegen-
wart, die unbedingt im Zentrum seiner Auseinandersetzung stehen. Fichtes
Dialogpartner kommen aus älteren Traditionsbeständen der Wissenschaft,
deren Vertreter sich als Forschungsreisende verstanden und denen Fichte
sich verbunden sieht.
49 Fichte, Hubert: »Mein Freund Herodot«. In: Fichte, Hubert: Homosexualität und Lite-
ratur 1. Polemiken. Die Geschichte der Empfindlichkeit. Paralipomena 1. Frankfurt a.M.
1987; S. 391 u. 389.
Kulturtopographie: Zur Literatur Hubert Fichtes 711
60 Die Debatte ist älter als die gegenwärtige um Ethnologie im Zeichen des cultural turn,
vgl.: Leclerc, Gérard: Anthropologie und Kolonialismus. Paris 1972, dt. 1973 sowie
Kramer, Fritz: Verkehrte Welten. Zur imaginären Ethnographie des 19. Jahrhunderts.
Frankfurt a.M. 1977.
61 Fichte, Hubert: »Vaudoueske Blutbaeder. Mischreligioese Helden. Anmerkungen zu
Daniel Casper von Lohensteins Agrippina.« In: Fichte (s. Anm. 49), S.192, 142,
187.
62 Fichte, Hubert: »Ach des Achs! Anmerkungen zu Daniel Casper von Lohensteins
Türkischem Trauerspiel Ibrahim Bassa«. In: Fichte (s. Anm. 49), S. 214 ff.
63 Fichte (s. Anm. 58), S. 334.
Kulturtopographie: Zur Literatur Hubert Fichtes 715
Allegorie ist – wie der Vergleich – eine ganz unpoetische Ausdrucksform; sie
greift auf etwas hinter der Sprache Liegendes zurück, sie erklärt, sie staffiert
aus, sie ist synthetisch, ideenhaft.«67 Lohenstein aber »zerbricht die Trans-
portmittel seiner Metaphern.«68 Damit steht der barocke Dichter mit seiner
poetischen Praxis dem wissenschaftlichen Verfahren und dem Erkenntnis-
potential der Literatur im Sinne der nachstellenden Kulturtopographie näher
als der Wissenschaftler Lévi-Strauss, der nicht nur eine unpoetische Sprache
spricht, sondern zudem das wissenschaftlich für Fichte nicht akzeptable Ver-
fahren der Synthetisierung verwendet.
IV.
Die Holzhäuser standen auf mannshohen Stelzen. Familien saßen am Feuer darunter
und aßen.
ethnologischen und werkbiographischen Resonanzen, die sich auch schon vor der
Geschichte der Empfi ndlichkeit finden. In ihnen zeigt sich der Zusammenbruch von
autobiographischen und Identitätskonzepten, wobei Fichte zugleich darauf ziele, »das
Subjektive dennoch zu retten«. (S. 28)
73 Fichte (s. Anm. 2), S. 85.
74 Fisch, Michael: Verwörterung der Welt. Über die Bedeutung des Reisens für Leben
und Werk von Hubert Fichte. Orte – Zeiten – Begriffe. Aachen 2000 behauptet, »dass
Flucht Hubert Fichte zur Reise zwingt und seine Reisebewegungen deshalb Flucht-
bewegungen sind« (S. 9) – eine These, die eher als zu Fichtes Literatur zu den Über-
zeugungen älterer Tourismusforschung paßt.
75 Bei Carp (s. Anm. 56) eine luzide Untersuchung der Beziehungen zwischen Wissen-
schaft und Literatur in Explosion, die entsprechend auch die »Grenzen der Literatur-
wissenschaft (überschreitet)«. (S. 133).
76 Fichte (s. Anm. 62), S. 196.
77 Fichte (s. Anm. 53), S. 287.
718 Christa Karpenstein-Eßbach
Die Bemalung der Häuser glomm im Feuerschein auf. Es waren milchige Farben.
Braun.
In der Stadt ein Polizeiposten, eine Christusfigur, eine Bank, ein Tempel der Adven-
tisten, eine zweite Bank, Bars und das chinesische Restaurant. Es gab Hühnersuppe
und gebratenes Huhn. (S. 10)
Die einzelnen Phänomene werden hier in der Reihe genannt, in der sie für
die durch Dangriga Gehenden gerade auftauchen – den Stationen touristischer
Rundgänge vergleichbar, aber hier ein Stück weit kontingenter. In Der Platz
der Gehenkten stehen die folgenden Beobachtungen von Menschen und ihrem
Verhalten auf jeweils eigenen Seiten hintereinander:
wir so oder so reagieren können. Je mehr Fehler wir begehen, desto aufschlußreicher
wird die Situation. Je heftiger wir uns anbiedern, desto gründlicher verkleistern wir
sie. (S. 23)
– Der Kulthelfer deckt die Körbe, Baljen, Kartons in der Mitte des Tempels auf.
– Ein Happening.
– Nach der Altarassemblage – ein Happening.
– Aus den verschiedenartigen Behältern, vor den bunten Tüchern, stechen, zacken
sich bleich, eckig, schalig hundert Blätter, Laiber Cassavabrot hervor.
– Dicke Hostien.
– Die kleine greise Schwarze Karibin tritt in ihren Tennisschuhen an die Behälter
heran, zieht an einer dreieckigen Zigarre, krümmt sich über den Broten zusammen
und pafft den Rauch über die bleichen Laiber, krebst zum nächsten Behälter, krümmt
sich, pafft, pafft, krebst, krümmt sich im Kreise herum.
– Da soll man ruhig mal in die vollen gehen.
– Perioden.
– Heftige Verben.
– Heftig.
– Der Kulthelfer deckt die Brote wieder zu und verstaut sie oben in dem Zwischen-
stock unter dem Wellblech.
– Die Greisinnen tanzen wie vorher.79
Nicht einmal im abgegrenzten Bezirk des Heiligen wird ein kohärenter Sinn-
zusammenhang seiner Elemente hergestellt. Um den Candomblé zu erfor-
schen, hält es Jäcki, wie seine Ethnologen-Vorgänger auch, für nötig, ein
Herbarium mit den heiligen Kräutern anzulegen.
Jäcki konstatierte, dass es nicht ein Einweihungsgetränk Abó gab mit 17, 21 oder 41
verschiedenen Kräutern, sondern zig.
Welches war das wichtige?
Das für Xango?
Es gab einen Abó für die Waffen, einen für den Himmel, für das Wasser, einen für
die Erde.
Für Oxala, Logum Edé, Nanã, Omolu, für Lazarus, den Heiligen Georg, für Santa
Barbara.
Es war kein Ende abzusehen.
Und dann sagten die heiligen Mütter und die heiligen Väter – die kessen Väter und
Schwestern frech:
Wir wissen gar nicht, von was Sie reden.80
All die gesammelten Blätter – die zweifach, als Pflanzen- und Papierblatt,
zu verstehen sind – erweisen sich als ein »Irrgarten aus Märkten, Dialek-
ten, Stämmen, Zeit« (S. 322), für deren Aufzeichnung der Schriftsteller
Jäcki von Irma »einen Packen von 50 Karteikarten« als Geschenk erhält
(S. 328). Daß es unmöglich ist, »aus dem Filz von Handlungen, Gesten,
Vorstellungen, Wörtern, Betonungen, Eindrücken eine ganze Zeremonie zu
beschreiben«81, zeigt sich auf der Ebene der literarischen Repräsentation
des Materials: Sammlungen, Listen werden angelegt, Details stehen schroff
nebeneinander, der Zeilenumbruch erfolgt häufig am Ende eines Satzes oder
Satzpartikels, die Aussagen anderer Personen werden von keinem Kommentar
eingeführt oder begleitet und sind in den mit Spiegelstrichen gekennzeich-
neten Dialogteilen nicht einmal immer eindeutig einer Person zuzuordnen.
Diese Darstellungsweise zerbricht jedes Verständnis von kulturellen Praktiken
im Sinne kompakter Entitäten und ermöglicht stattdessen einen Modus des
Wissens, das allein in der Literatur gegeben werden kann.
Im Hinblick auf die Literatur aber stellt sich das Problem, wie angesichts
des radikalen Empirismus eine Begrenzung der Fülle des Materials in einer
kompositorischen Ordnung möglich sein kann, denn diese Kulturtopogra-
phie mit ihrer flächigen Anordnung ist aus sich heraus nicht beendbar. Drei
Lösungen sind schließlich beispielhaft zu skizzieren; sie liegen auf der Ebene
der Beherrschung der Materialfülle durch Form. Der Roman Forschungsbe-
richt erinnert an die Form des Tagebuchs, wenn in elf Kapiteln über jeweils
einen Tag der Forschungsreise vom 4. bis 14. Februar 1980 berichtet wird.
Eine (fiktive) Zeitspanne wird zur Materialgrenze. Der lineare Zeitverlauf
wird jedoch zirkulär gebogen, wenn am Ende – » – Ich freue mich auf das
Essen, sagte ich. – Sagte ich? – Das würde ich nie sagen.« – auf den Anfang
rekurriert wird: »- Ich freue mich auf das Essen, sagte Jäcki.« (S. 151 u.
S. 7) Der Text schließt sich über sich, nicht aber über seinen Gegenständen.
In Explosion, dem Roman der Ethnologie, findet sich die Figur der Wie-
derholung: die drei Teile berichten von den drei Brasilienreisen des Paares
Irma und Jäcki, wobei Themen, Personen und Forschungsobjekte aus neuen
Perspektiven wieder aufgenommen, erinnert und modifiziert werden. Dabei
wird auch das eigene ethnographische Verhalten zum Gegenstand des ethno-
logischen Blicks, und diese Brechung der primären Datenerhebung gewinnt
die Funktion der Steuerung gegenüber den Datenmengen. In Der Platz der
Gehenkten fungiert die Textlänge selbst als Mittel kompositorischer Ord-
nung, wenn sie nach rein mathematischen Gesichtspunkten bestimmt wird:
hier finden sich, jeweils mit einer neuen Seite beginnend, siebzehn mal eine
Zeile, zwei mal zwei Zeilen, drei mal drei Zeilen usw. bis hin zu siebzehn
mal siebzehn Zeilen.82
Alle diese Verfahrensweisen sind insofern willkürlich, als sie sich nicht
einer vermeintlichen Logik des Materials selbst verdanken. Sie verdanken
sich allerdings einer Logik des Denkens, das die Kulturtopographie den Ord-
nungen des Sinns und die Elemente des Raumes ihrer Synthetisierung ent-
zieht. Wenn vom Karteikartenformat zum DIN A4-Format gewechselt wird,
so handelt es sich auf diesen Blättern um literarische Formatierungen, die
als solche nicht zwingend, aber möglich sind. Genau darin unterscheiden sie
sich von den Riten, die der Ethnologe erforschen will. Während die am Ritus
Teilnehmenden vom zwingenden Charakter seiner Formen überzeugt sein
müssen, kann der Schriftsteller einen solchen fundamentalen Status kultu-
reller Praktiken distanzieren – oder eben: deessentialisieren –, um sich nicht
»dem Ritus um die Riten zu unterwerfen«, um »Riten aufzulösen«.83 Wenn
die Entdeckung gilt: »Das Allerheiligste ist leer«84, dann kann die Aufgabe
des Ethno-Literaten nicht sein, Riten schreibend zu konstituieren.85 Dies wäre
82 Das Verfahren bezieht sich auf den Koran: während dessen heilige Suren nach dem
Prinzip der absteigenden Länge geordnet sind, gibt der literarische Text der profanen
Empirie zunehmenden Raum.
83 Fichte (s. Anm. 1), S. 557 u. 426.
84 Fichte (s. Anm. 1), S. 709 u. 711.
85 Dies allerdings gilt für die Mythologica von Lévi-Strauss, der schriftlose Völker als
Wiedergutmachung literarisiert; »er ist der Schüler und Zeuge der Wilden, der zu sein
722 Christa Karpenstein-Eßbach
allenfalls eine Literatur der Fiktion, wie Jäcki im Hinblick auf den Roman
Forschungsbericht erklärt: »Ich schreibe dir einen schöneren Dugu-Ritus,
als sie ihn je aufführen. Ich brauche ganz wenig, fast nichts. Keine Kamera,
keine Dunkelkammer und den Stern. Ein bißchen Schmutz und einige Orna-
mente, die ich auf das Papier übertrage.« (S. 36) Dass ein solcher Roman
in Fichtes Augen »scheitern« muß, weil er Fiktion und nicht Welt zu lesen
gibt, ist nur konsequent.
Fichtes Werk läßt sich – weniger von seinen Themen, wohl aber von sei-
ner literarischen Gestaltungsweise her – in die Nähe neuer ästhetischer Praxen
rücken, die seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Film zu finden
sind. Die Entfesselung von Details und Redeweisen ohne Synthetisierungen
oder Vereindeutigungen, die topographische Anordnung des Nebeneinanders
von Elementen im Raum, das Aufsprengen von auf ein Ziel zulaufenden nar-
rativen Sequenzen durch Vielheiten und Mischungen – alle diese Momente
von Fichtes Literatur werden von Gilles Deleuze als Charakteristika eines
»neue[n] Bildtypus [...] außerhalb Hollywoods«86 untersucht. Anders als das
»Bewegungs-Bild« des Kinos der Aktion, das von einer senso-motorischen
Verkettung von Handlungen zu einem Ganzen lebt, verweist das neue »Zeit-
Bild«, das als eine Art von »kristallinen Zuständen« in rein optischen und
akustischen Situationen zu verstehen ist87, »nicht mehr auf eine umgreifende
oder synthetische, sondern auf eine partikularisierende Situation«; in die-
sem neuen Kino »ist die Weltenlinie oder Fiber des Universums, die für die
Kontinuität der Ereignisse sorgte beziehungsweise die Übergänge zwischen
den Raumabschnitten garantierte, gerissen. [...] Verkettungen, Übergänge
oder Verbindungen werden absichtlich schwach gehalten.« (1, S. 277) Im
Gegenzug werden »die Gegenstände und Milieus [...] zu einer autonomen
materiellen Realität, die ihnen einen eigenständigen Wert verleiht.« (2, S. 15)
Vergleichbar mit Fichtes Literatur des Profanen, die sich dem Ritus um den
Ritus entzieht, kennt dieses Kino »nichtige Erlebnisse«, und der ars com-
binatoria analog gibt es in ihm »auch kein magisches Zentrum mehr«. (1,
S. 278ff.) Mit diesem Bildtypus tritt eine neue Form von Mobilität zutage,
die sich vom Bewegungs-Bild der zielgerichteten senso-motorischen Aktion
unterscheidet: »die Fahrt, das Herumstreifen (balade) und das ständige Hin
und Her [...] Das ist tatsächlich das Eindeutigste an der modernen Wan-
derung: sie findet im beliebigen Raum statt«. (1, S. 278) Was sich hier im
Kino manifestiert, ist ein neues topologisches Bewußtsein in der zweiten
Hälfte des 20. Jahrhunderts, das sich nicht mehr auf konsistente raumzeitliche
Zusammenhänge stützen kann, weil die sie synthetisierenden Kräfte abhanden
er sich wünscht. Dass sie sterben, erlaubt ihm, für sie zu sprechen.« Paul, Axel T.:
FremdWorte. Etappen der strukturalen Anthropologie. Frankfurt a.M./New York 1996,
S. 218.
86 Deleuze, Gilles: Das Bewegungs-Bild. Kino 1. Frankfurt a.M. 1997, S. 277.
87 Deleuze (s. Anm. 20), S. 112 f.
Kulturtopographie: Zur Literatur Hubert Fichtes 723
gekommen sind. Deleuze sieht diesen Bildtypus vor allem im Kino der Drit-
ten Welt gegeben, da hier »das Volk fehlt«, in dem eine Pluralität »zu einer
Einheit verschmilzt«. (2, S. 278f.) In Fichtes Literatur ist es die Kultur, die
fehlt, um solche Einheiten als Ganzheiten bilden zu können. Die Abwesen-
heit des Volkes à la française bei Deleuze und die Abwesenheit der Kultur
in der deutschen Literatur eines Fichte, sie verweisen auf die neue Mobilität
zwischen Tourismus und Migration. Sie stellt sich in formaler Hinsicht als
Auflösung räumlicher Sinnordnungen dar. Es handelt sich um das Paradox
dystopischer Kulturtopographie.
724 David Martyn
Die folgenden Überlegungen gehen von einer Beobachtung aus, die für das
Verständnis der räumlichen Aspekte von ›kultureller Differenz‹ aufschluß-
reich zu sein verspricht. Es handelt sich um das Verhältnis der Metapher
zum Raum. Metaphern haben mit Fremdartigkeit zu tun: An die Stelle eines
vertrauten Ausdrucks tritt ein unüblicher Ausdruck, der als mehr oder weniger
›weit hergeholt‹ gelten kann. Dieses ›mehr oder weniger weit her‹ weist auf
einen Raum hin, den die Metapher – als ›Übertragung‹ – zu durchschrei-
ten scheint. Bedenkt man aber, daß Metaphern die Verhältnisse, auf die sie
hinweisen, letztlich selber produzieren, wie in der Forschungsliteratur zur
Metapher häufig betont wird, dann ließe sich mit gleichem Recht behaup-
ten, daß die Metapher nicht so sehr einen bereits vorher existierenden Raum
durchquert als ihn allererst eröffnet. Sie erscheint als Metapher nur dank der
Raumvorstellungen, die sie selbst produziert. Nun sind Metaphern häufig
›kulturspezifisch‹ oder geben vor, es zu sein. Der Raum, den sie schaffen, ist
kulturell kodiert. So liegt der Schluß nahe, daß Metaphern mit der Konstruk-
tion kulturtopographischer Verortungen zusammenhängen können. Im folgen-
den versuche ich nachzuweisen, daß die Metapher und die Kulturtopographie
sich gegenseitig im Sinne einer doppelten Fiktion bedingen: Der Wunsch
nach kulturtopographischer Orientierung und der Wunsch nach metaphori-
scher Sprache erweisen sich als zwei Aspekte ein und desselben Phänomens.
Diesen Konnex machen die deutschsprachigen Texte der drei Gegenwarts-
autoren deutlich, die in meinem Titel genannt sind. Alle drei sind ›Zweitspra-
chenautoren‹; sie sind im Erwachsenenalter nach Deutschland migriert, und
das Deutsch, das sie schreiben, haben sie erst als Erwachsene erlernt. Dies
ist kein nebensächlicher Umstand. Die Texte von Özdamar, Alafenisch und
Tawada – wie sich im zweiten Teil meines Beitrags zeigen wird – zeugen
von einer besonderen Sensibilität für die unterschwellige, Muttersprachlern
meist unsichtbare kulturtopographische Funktion metaphorischer Idiomatik.
Diese wird sowohl sichtbar gemacht als auch unterlaufen. Deutlich wird,
inwiefern die Metapher einen kulturtopographischen Herrschaftsanspruch
begründet, dem die Texte auf je eigene Weise begegnen.
»Schiffe der Wüste«, »Schiffe des Meeres« 725
I.
Bereits bei Aristoteles steht die ›Fremdheit‹ der Metapher in einem eigen-
tümlichen Verhältnis zur topographischen Distanz im Sinne verschiedener
›Kulturräume‹. Es zeigt sich in der begrifflichen Nähe der Metapher zur
›Glosse‹ oder zum Dialektausdruck.
In seiner Poetik teilt Aristoteles die Nomen allgemein in »übliche« und
»nicht übliche« oder »fremdartige« (xenikon)1 Ausdrücke; Hauptvertreter
der letzten sind die Metapher und die Glosse.2 Als Dialektausdruck ist die
Glosse eindeutig eine Funktion topographischer Verortung; sie ist abhängig
von dem Ort, an dem sie verwendet wird. »Offensichtlich kann also dasselbe
Wort sowohl üblicher Ausdruck als auch Glosse sein, aber nicht bei denselben
Leuten; denn sigynon [Speer] ist bei den Kypriern ein üblicher Ausdruck,
bei uns eine Glosse.«3 Die Glosse ist das Wort der ›Anderen‹4, der Nicht-
Athener oder der Ausländer; wenn man in lauter Glossen spräche, wäre das
Ergebnis »ein Barbarismus«5, d.h. die Redeweise eines Nicht-Griechen, der
nur mangelhaft Griechisch spricht.6 Inwiefern auch die Metapher mit dieser
Art kulturtopographischer Fremdheit verbunden ist, geht aus der Poetik nicht
deutlich hervor;7 in der Rhetorik aber sind die Formulierungen eindeutiger.
Hier wird die Metapher als Mittel gepriesen, der Rede einen »fremden Ton«
zu geben und sie dadurch angenehmer zu machen: »Die Menschen erleben
ja hinsichtlich des sprachlichen Ausdrucks dasselbe wie im Umgang mit
Freunden und Mitbürgern. Daher ist es nötig, der Sprache einen fremden Ton
zu geben, denn man bewundert das, was entfernt ist.«8
1 Aristoteles: Poetik. Übersetzt und hg. v. Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1994, S. 71 (1458a).
2 Aristoteles (s. Anm. 1), S. 71–73 (1458a).
3 Aristoteles (s. Anm. 1), S. 67 (1457b).
4 »Als üblichen Ausdruck bezeichne ich das Wort, das ein jeder selbst gebraucht, als
Glosse dasjenige, das andere gebrauchen.« Ebd.
5 Aristoteles (s. Anm. 1), S. 73 (1458a).
6 Vgl. die Erläuterung von Manfred Fuhrmann, (s. Anm. 1), S. 130.
7 Was sich an der Uneinigkeit darüber zeigt, inwiefern der Begriff der ›Fremdartigkeit‹
bei Aristoteles etwas anderes meint als ›Uneigentlichkeit‹ im Sinne der proprium/im-
proprium-Unterscheidung der lateinischen Rhetorik. Im Anschluß an Paul Ricoeur ver-
sucht Marie-Cécile Bertau nachzuweisen, daß der aristotelische Begriff eine räumliche
Bestimmung enthält, die ihn vom späteren verbum improprium unterscheidet: »Die ari-
stotelische Eigentlichkeit entspricht dem einheimischen, üblichen Sprachgebrauch, sie
transportiert keine Wertung im Sinne eines Richtigen oder Wahren, sondern lediglich
eine Andersartigkeit, eine örtliche Unterschiedenheit, die eine sprachliche ist (die Athe-
ner sprechen anders als die Kyprier).« Bertau, Marie-Cécile: Sprachspiel Metapher.
Denkweisen und kommunikative Funktion einer rhetorischen Figur. Opladen 1996,
S. 100 f.; Hvh. D.M. Vgl. auch Ricoeur, Paul: La métaphore vive. Paris 1975, S. 27 f.
8 Aristoteles: Rhetorik. Übersetzt und hg. v. Gernot Krapinger. Stuttgart 1999, S. 155
(1404b).
726 David Martyn
Die besondere Leistung der Metapher bei der Erzeugung dieses Tons liegt
nun – paradoxerweise – in ihrer Üblichkeit. Im Gegensatz zur Glosse, die
für Prosareden ein allzu auffälliges Kunstmittel darstellt, macht die Meta-
pher »einen natürlichen Eindruck«. »Alle unterhalten sich ja in Metaphern
und mittels Ausdrücken mit eigentümlicher und vorherrschender Bedeutung.
Es ist daher klar, daß sich unbemerkt ein fremdartiger Ton einstellen wird,
wenn sich jemand gut darauf versteht«.9 Die Formulierung ist paradox. Was
ist ein ›unbemerkter‹ Ton? Gemeint ist natürlich zunächst, daß die Metapher
als Kunstmittel Fremdartigkeit erzeugt, ohne ihre Künstlichkeit zu zeigen.
Mit ihr kann der Redner »unauffällig ans Werk gehen«10. Tatsächlich aber
handelt es sich bei dem ›fremdartigen Ton‹ um einen rhetorischen Effekt, und
gerade als Effekt muß sich dieser bemerkbar machen, wenn er seine Wirkung
entfalten soll. Die Metapher – hierin liegt ihr Unterschied zur Glosse – ist
fremd und nichtfremd zugleich: fremd, denn sie erzeugt den ›fremdartigen
Ton‹; nichtfremd, denn »[a]lle unterhalten sich ja in Metaphern«. Sie ist
gleichsam der unsrige Fremde.
Die paradoxe Fremdheit, die in Aristoteles’ Ausführungen zur Metapher
begegnet, ist vielleicht das früheste Symptom eines unlösbaren Problems,
das alle Metapherntheorien heimsucht: das der Eingrenzung und damit der
Verortung ihres Gegenstands. Wie jede rhetorische Figur wird die Metapher
als ›Abweichung‹ vom ›normalen‹ Sprachgebrauch angesehen11; zugleich
aber wird immer wieder konzediert, daß die Metapher nicht nur normal, ja
nicht nur allgegenwärtig, sondern das generelle Prinzip der Sprache selbst sei.
»[M]etaphor is the omnipresent principle of language«12, stellt I.A. Richards
in seinen berühmten Vorlesungen zur Rhetorik fest. »[W]e can find no word
or description for any of the intellectual operations which, if its history be
known, is not seen to have been taken, by metaphor, from a description of
some physical happening.«13 Diese Einsicht hindert Richards allerdings nicht
daran, so fortzufahren, als könne man von Metaphern als von einem ›Objekt‹,
und das heißt: als Gegenstand einer nichtmetaphorischen Sprache sprechen.
Anders geht Paul de Man vor, der in »The Epistemology of Metaphor« das
antirhetorische 18. Jahrhundert auf seine Theorie der Sprache hin befragt. Er
kommt zu dem Ergebnis, daß selbst die konsequentesten Befürworter einer
nichtmetaphorischen Sprache – nämlich Locke, Condillac und Kant – es nicht
schaffen, die Figuralität der Sprache einzugrenzen: »In all three instances, we
started out from a relatively self-assured attempt to control tropes by merely
acknowledging their existence and circumscribing their impact. [...] But, in
each case, it turns out to be impossible to maintain a clear line of distinction
between rhetoric, abstraction, symbol, and all other forms of language.«14
»Nihil non figuratum est«, hatte bereits Quintilian festgestellt.15 Aber wenn
die Metapher als Gegenstand gar nicht eingegrenzt werden kann, wenn alles
Metapher ist, dann wird der Begriff der Metapher nutzlos.
Versuche, mit diesem Problem umzugehen, sind gerade in ihrer Unzu-
länglichkeit für die Frage der topographischen Dimension von Metaphern
aufschlußreich. Ein solcher Versuch liegt in Marie-Cécile Bertaus einsich-
tiger Studie zur Metapher vor.16 Diese Arbeit verdient in unserem Zusam-
menhang auch deshalb besondere Aufmerksamkeit, weil der Begriff des
Raums im Zentrum der Analyse steht.17 Ausgehend von der Feststellung,
daß Beschreibungen der Metapher immer schon auf räumliche Vorstellungen
– wie Bewegung, Entfernung, das ›Näherbringen‹ des Vor-Augen-Führens
usw. – rekurrierten, schlägt Bertau vor, die Metapher als die Entstehung eines
besonderen Raumes zu begreifen: »Es sind die Bewegungen der Metapher,
welche nicht nur ihrer Art und ihren Orten nach unterschieden werden kön-
nen, sondern die Orte auch definieren, so daß eine bestimmte Art von Raum
entsteht: der metaphorische Raum.«18 Die Frage nach der Differenz zwischen
metaphorischer und nichtmetaphorischer Sprache versucht sie folglich durch
die Vorstellung von zwei getrennten Räumen zu lösen, dem metaphorischen
Raum und dem »Normalraum«19. Diese Unterscheidung, wie Bertau selbst
betont, ist nicht unproblematisch.20 Denn alles Sprechen ist schließlich ein
Spiel mit Erwartungen, das mehr oder weniger von der Norm abweicht: »In
diesem Sinn ist alles Sprechen eine Abweichung vom Normalraum«.21 Bertau
hält aber trotzdem an dem Begriff der Metapher als »etwas Besonderem«
fest, zumindest insofern, als die Metapher den Prozeß der Raumerzeugung,
der allem Sprechen innewohnt, besonders deutlich exemplifiziert: »[I]n ihr
Sympathie für das Schicksal der Armen Europas zu erwecken, werden sie
mit den Sklaven Amerikas verglichen.
Zwei Beobachtungen drängen sich anhand dieses letzten Beispiels auf.
Zum einen zeigt es, daß der Metapher eine unausgesprochene Wertung der
beiden kulturellen Räume, die in ihr aufeinander treffen, innewohnen kann.
Das Epigramm besagt im wesentlichen: Es ist skandalös, daß jetzt bei uns
amerikanische Verhältnisse herrschen. So steht das aufgeklärte Europa,
Geburtsort der Erklärung der Menschenrechte, einem Amerika gegenüber,
das mit der rückständigen Institution der Sklaverei konnotiert ist. Natürlich
heißt dies nicht, daß in dem Kulturraum ›Europa‹ Amerika immer nur für
das Rückständige steht – gerade im Frankreich des späten 18. Jahrhunderts
repräsentiert Amerika eher Demokratie und Fortschritt. In dieser Metapher
aber hat Amerika diesen Wert – was zur zweiten Beobachtung führt, näm-
lich: Die Metapher referiert nicht nur eine kulturräumliche Unterscheidung,
sondern sie erzeugt sie auch. In gewisser Hinsicht legt bereits Blacks ›inter-
action view‹, die er im Anschluß an Richards entwickelt, diesen Schluß nahe.
Im Gegensatz zu einer Theorie, die in der Metapher einen Vergleich zweier
schon vorher konstituierter Bedeutungen sieht, besagt die Interaktionstheorie,
so Black mit Bezug auf dieses Beispiel, »daß unsere ›Vorstellungen‹ von den
Armen Europas und von amerikanischen Negern ›in einem gegenseitigen
aktiven Zusammenhang stehen‹ und ›zusammenwirken‹, um eine Bedeutung
hervorzubringen, die ein Resultat dieser Interaktion darstellt.«26 Die Bedeu-
tung einer Metapher ist ihr Erzeugnis. Das bedeutet – obwohl Black, der an
der kulturellen Implikationen von Metaphern nicht interessiert ist, diesen
Schluß nicht zieht –, daß Kulturtopographie das Produkt metaphorischen
Sprachgebrauchs sein kann.
Wenn Metaphern kulturtopographische Vorstellungen erzeugen können,
dann haben sie auch Anteil an der diskursiven Macht, so ließe sich argumen-
tieren, die der Repräsentation fremder ›Kulturen‹ tendenziell innewohnt.27
Metaphern sind in der Tat alles andere als unschuldig. Man bedenke etwa
die Wirkung einer topographischen Metapher, auf die Niels Werber in seiner
aufschlußreichen Analyse von Gustav Freytags Soll und Haben aufmerksam
macht: »slawische Sahara« als Bezeichnung für Polen.28 Hier werden zwei
Räume aufeinander projiziert – der Kolonialraum Afrika auf das benachbarte
europäische Land Polen – aus der Sicht des deutschen Kulturraumes. Das
II.
Was passiert nun, wenn Autoren, die von ›weit her‹ kommen, dieser Art der
Topographieerzeugung begegnen? Wenn sie auf Metaphern stoßen, die den
Raum, aus dem sie kommen, nicht nur benennen, sondern diskursiv ›konstru-
ieren‹? Wenn sie in einer Sprache schreiben, deren Metaphorik eine kultur-
topographische Perspektive enthält, die nicht nur nicht die ihrige ist, sondern
sich gerade auf sie richtet? So daß sie sich – immer schon – als bereits von
der Sprache konstituierte Objekte in dieser Sprache vorfinden? Drei Beispiele
sollen einen Einblick in verschiedene Strategien des Umgangs mit metapho-
rischer Topographik gewähren, die Zweitsprachenautoren verwenden.
Die wohl bekannteste germanophone Zweitsprachenautorin ist Emine
Sevgi Özdamar, die zuerst 1965, im Alter von 19 Jahren, nach Berlin kam
und seit 1976 eine Regie- und Schauspielkarriere in Deutschland und Frank-
reich verfolgte. Erste Theaterstücke schrieb sie Anfang der 80er Jahre; der
literarische Durchbruch gelang ihr 1991, als sie mit einem Auszug aus ihrem
Roman Das Leben ist eine Karawanserei hat zwei Türen aus einer kam ich
rein aus der anderen ging ich raus den Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in
Klagenfurt gewann.
In ihren Prosatexten verwendet Özdamar ein stilistisches Verfahren, mit
dem sie Redewendungen und Idiome aus dem Türkischen wörtlich ins Deut-
sche übersetzt. Das Ergebnis ist eine Sprache, die in ungewöhnlichem, ja
befremdlichem Maße ›bildreich‹ ist. Die ersten drei Sätze ihrer Erzählung
»Mutterzunge« veranschaulichen das Verfahren:
Als Bezeichnung für ›Sprache‹ stellt das Wort ›Zunge‹ im Deutschen der
Gegenwart eine Metapher dar.40 Der ›fremde Ton‹, den Özdamar durch sol-
che ›Übersetzungen‹ aus dem Türkischen erzeugt, fällt jedem Leser unmit-
telbar auf. In ihrer ganzen Reichweite erschließt sich die Bedeutung dieses
Verfahrens aber nur Lesern, die beider Sprachen mächtig sind. In bezug auf
diese Textstelle weist Kader Konuk darauf hin, daß ›gedrehte Zunge‹ auf das
türkische Verb çevirmek anspielt, das ›drehen‹, ›wenden‹, ›übertragen‹ und
›übersetzen‹ bedeuten kann. Zurückübersetzt ins Türkische heißt ›gedrehte
Zunge‹ demzufolge ›übersetzte Sprache‹. Der Passus sei als Anspielung auf
die Tatsache zu lesen, daß die Sprache, die die Erzählerin in Berlin spricht,
nicht ihre Muttersprache ist.41 Die vielschichtigen translingualen Konnota-
tionen dieses Textanfangs sind aber damit nicht ausgelotet. Das Wort nil,
›Zunge‹, das im Türkischen der Gegenwart ›Sprache‹ bedeutet, wird erst
seit etwa Mitte des 20. Jahrhunderts in diesem Sinne verwendet. Der neue
Gebrauch geht auf Atatürks Sprachreform zurück, mit der arabische Wörter
aus dem Türkischen verbannt und durch ›reine‹ türkische Lexeme ersetzt
wurden. Das alte arabisch-türkische Wort für Sprache, lisan, wurde verdrängt
und der metaphorische Gebrauch von nil im Sinne von ›Sprache‹ eingeführt.42
Nun handeln die beiden zusammenhängenden Erzählungen »Mutterzunge«
und »Großvaterzunge« gerade von dem Verlust der Sprache des Großva-
ters der Erzählerin, der ein mit arabischen Lexemen durchsetztes Türkisch
sprach, wie es vor der kemalistischen Sprachreform noch existierte. Um
diese ›Großvaterzunge‹ wiederzufinden, entschließt sich die Erzählerin, bei
einem Berliner Korangelehrten Arabischunterricht zu nehmen. Es liegt also
nahe, in der ›gedrehten Zunge‹ auch eine Anspielung auf das durch Atatürk
39 Özdamar, Emine Sevgi: »Mutterzunge«. In: dies.: Mutterzunge (1990). Köln 1998,
S. 9–14, hier S. 9.
40 Vgl. Paul, Hermann: Deutsches Wörterbuch. Bearbeitet von Helmut Henne und Georg
Objartel. Tübingen 91992, S. 1088, Artikel ›Zunge‹: Gebrauch im Sinne der Sprache
eines Volkes »nur noch altertümelnd oder iron[isch]«.
41 Vgl. Konuk, Kader: »Das Leben ist eine Karawanserei. Heim-at bei Emine Sevgi
Özdamar«. In: Ecker, Gisela (Hg.): Kein Land in Sicht. Heimat – weiblich?. München
1997, S. 143–158, hier S. 146. Allerdings sind andere translinguale Deutungen auch
möglich: » ›Zunge drehen‹ (turning or twisting the tongue) is a literal translation of
the Turkish idiom dili dönmek, often used in the negative as dilim dönmüyor (I can-
not say or pronounce). The narrator refers to herself as one with a ›twisted tongue‹
[gedrehten Zunge], a person capable of mastering difficult sounds.« Seyhan, Azade:
Writing Outside the Nation. Princeton 2001, S. 118.
42 Die Informationen über diese Zusammenhänge verdanke ich Frau Prof. Dr. Nuket
Esen der Boǧaziçi Üniversitesi, Istanbul.
»Schiffe der Wüste«, »Schiffe des Meeres« 733
veränderte Türkisch zu sehen. Das Türkisch der Gegenwart ist eine ›ver-
drehte‹ Sprache, die in dem Wort für Sprache, das auch ›Zunge‹ heißt, selbst
exemplifiziert wird.
Wie lassen sich nun die kulturtopographischen Parameter solcher ›Meta-
phern‹ wie ›gedrehte Zunge‹ am besten beschreiben? Kader Konuk sieht in
ihnen eine Art Migration von Sprachbildern. Konuks Ausführungen, in denen
viele Beispiele solcher ›Metaphern‹ aus Özdamars Prosa angeführt und vor
dem Hintergrund ihrer türkischen Erstsprache aufgelöst werden, sind es wert,
in unserem Kontext ausführlich zitiert zu werden:
Wenn sich bei Özdamar Frauen vom ›Schicksalsengel einen seiner Tage klauen‹ und
sich auf den ›Mösenplaneten‹ – ins Frauenbad – begeben, um sich zu waschen und
das Gemeinsame zu genießen, wenn sie sich trotz ›teigverschmierter Hand‹ in Männe-
rangelegenheiten einmischen, wenn von Frauen erzählt wird, die ihre ›Augen draußen‹
haben und Ehebruch begehen, wenn Mütter Angst haben, daß ihre Töchter ›zu Hause
auf ihrem Kopf bleiben‹ werden, weil sie mißbraucht wurden und deshalb nicht ge-
heiratet werden, oder wenn das Kismet der Familie durch den Einfluß amerikanischer
Comics einen ›Knoten‹ bekommt und die Hexenkunst verrückter Frauen aus ›seelen-
losen Gassen‹ zu Hilfe gerufen wird, wenn der Großmutter vor dem Erzählen einer
ihrer vielen Geschichten die ›Zunge eingetrocknet‹ ist und sich erst durch ein Glas
Wasser der Enkelin lösen kann, wenn Neuschnee ›wie ein nicht angefaßtes Mädchen‹
aussieht, wenn vor Erregung die ›Schachteln klopfen‹ und abgekühlt werden müssen,
dann werden ungeahnte Bilder aus den Zwischenwelten von Sprachen entfesselt. Diese
Bilder sind mit der Sprache Özdamars eingewandert, sie sind mit ihrer Zunge migriert
und haben sich verändert: Die Erzählerin in Großvater Zunge sagt: »Bis diese Wörter
aus deinem Land aufgestanden und zu meinem Land gelaufen sind, haben sie sich
unterwegs etwas geändert.« Der Roman wirkt wie ein schier unerschöpflicher Wörter-
und Bilderrausch. Die Sprache Özdamars evoziert das Bild einer nicht enden wollenden
Karawane aus Metaphern.43
Die ›Bilder‹, die hier aufgeführt werden, sind nicht topographisch nach dem
Muster von ›Chinaapfel‹; aber sie sind ›weit hergeholt‹ auf eine Weise, gegen
die sich die topographische Metapher geradezu häuslich ausnimmt. Man
wäre geneigt zu sagen, daß man es bei den topographischen Metaphern des
Typs ›Chinaapfel‹ mit einer bloß konstruierten Fremde zu tun habe, während
hier eine ›echte‹ Fremde zum Ausdruck kommt. Özdamars ›Metaphern‹,
so scheint es, sind nicht die ›konstruierten‹ Fremdbilder des europäischen
Kulturdiskurses, sie sind wahrhaft Importware. Das hieße, sie sind ›Übertra-
gungen‹ im wörtlichen Sinne des Wortes, wirkliche ›Metaphern‹, während
›Apfelsine‹ oder ›Neger Europas‹ lediglich im übertragenen Sinne ›Meta-
phern‹ sind. Man könnte allerdings auch sagen: Es sind nicht Metaphern,
sondern Glossen: »das Wort, [...] das andere gebrauchen«44.
Bei genauerem Hinsehen aber erweisen sich beide Charakterisierungen
als nicht ganz zutreffend. Denn die Bilder, die Özdamar »in die deutschspra-
45 Wierschke, Annette: »Auf den Schnittstellen kultureller Grenzen tanzend. Aysel Özakin
und Emine Sevgi Özdamar«. In: Fischer, Sabine und McGowan, Moray (Hg.): Denn
du tanzt auf einem Seil. Positionen deutschsprachiger MigrantInnenliteratur. Tübingen
1997, S. 179–194, hier S. 186.
46 Es handelt sich linguistisch gesehen um das gleiche Phänomen, das bei sogenannten
›Entlehnungen‹ zu beobachten ist. Da jede ›Entlehnung‹ zugleich die Struktur der
entleihenden Sprache und damit ihre Identität verändert, wird der Begriff der ›In-
terferenz‹ dem Sachverhalt gerechter. Vgl. Weinreich, Uriel: Languages in Contact.
Findings and Problems. Den Haag 21963, S. 1.
47 Ozil, Seyda: »Einige Bemerkungen über den Roman Das Leben ist eine Karawanserei
von Emine Sevgi Özdamar«. In: Diyalog 1 (1994), S. 128–129, hier S. 128. Den Hin-
weis auf diesen Text verdanke ich einer Studentin aus einem meiner Bonner Seminare,
Sultan Topal.
48 Vgl. Wierschke, Annette: Schreiben als Selbstbehauptung. Kulturkonflikt und Identität
in den Werken von Aysel Özakin, Alev Tekinay und Emine Sevgi Özdamar. Mit Inter-
views. Frankfurt a.M. 1996, S. 259.
»Schiffe der Wüste«, »Schiffe des Meeres« 735
so meint man zunächst, dem Orient. Der Schein aber – soviel sei vorweg
gesagt – trügt.52 Dieser ›Trug‹ ist es, der eine scheinbar orientalisierende
Sprache in ein subtiles Spiel mit topographischen Verortungen verwandelt.
Über die Tendenz ›orientalischer‹ Dichter zu überspannten Gleichnissen
schreibt Goethe, daß »dem Orientalen bei allem alles einfällt, so daß er,
übers Kreuz das Fernste zu verknüpfen gewohnt, durch die geringste Buch-
staben- und Silbenbiegung Widersprechendes auseinander herzuleiten kein
Bedenken trägt.«53 Speziell im Falle der Araber führt er diese Tendenz auf
die Allgegenwärtigkeit der drei »Urtropen« Kamel, Pferd und Schaf zurück.
Mit diesen drei Tiermetaphern gewappnet, hat der Araber eine Art universelle
Vergleichsbasis, auf der er die entferntesten Dinge miteinander in Beziehung
setzen kann.
[N]un ist der Araber mit Kamel und Pferd so innig verwandt als Leib mit Seele, ihm
kann nichts begegnen, was nicht auch diese Geschöpfe zugleich ergriffe und ihr Wesen
und Wirken mit dem seinigen lebendig verbände. [...] Wer nun also, von den ersten
notwendigen Urtropen ausgehend, die freieren und kühneren bezeichnete, bis er end-
lich zu den gewagtesten, willkürlichsten, ja zuletzt ungeschickten, konventionellen und
abgeschmackten gelangte, der hätte sich von den Hauptmomenten der orientalischen
Dichtkunst eine freie Übersicht verschafft.54
52 Die Literatur deutsch-arabischer Autoren wie Alafenisch und vor allem Rafik Schami
wird häufig voreilig als orientalische Folklore im Stile der 1001 Nacht aufgefaßt. Vgl.
Khalil, Imam O.: »Zur Rezeption arabischer Autoren in Deutschland«. In: Fischer (s.
Anm. 45), S. 116–131, hier S. 120. Die Unangemessenheit dieser Auffassung kann
Khalil bereits auf der Inhaltsebene überzeugend aufzeigen: Khalil, Iman: »Orient-Okzi-
dent-Stereotype im Werk arabischer Autoren«. In: Howard, Mary (Hg.): Interkulturelle
Konfi gurationen. Zur deutschsprachigen Erzählliteratur von Autoren nichtdeutscher
Herkunft. München 1997, S. 77–93. – In dem wohl umfangreichsten literaturwis-
senschaftlichen Beitrag zu Alafenisch, der bisher erschienen ist, argumentiert Nina
Berman, daß sowohl orientalische als auch deutsche literarische Traditionen in das
Werk von Alafenisch eingegangen seien. Wenn Alafenisch orientalistische Stereoty-
pen nachahme, dann nur im Dienste einer politisch-ideologischen Parteinahme für die
Beduinen. Berman, Nina: »German and Middle Eastern Literary Traditions in a Novel
by Salim Alafenisch. Thoughts on a Germanophone Beduin Author from the Negev«.
In: German Quarterly 71 (1998), S. 271–283.
53 Goethe, Johann Wolfgang von: »West-östlicher Divan«. In: ders.: Werke. Hamburger
Ausgabe. Bd. 2: Gedichte und Epen II. Hg. v. Erich Trunz. München 151998, S. 5–270,
hier S. 179.
54 Goethe (s. Anm. 53), S. 179.
55 Goethe (s. Anm. 53), S. 162.
»Schiffe der Wüste«, »Schiffe des Meeres« 737
56 Alafenisch, Salim: Die acht Frauen des Großvaters. Zürich 41997, S. 15.
57 In einem Gespräch mit dem Beiträger am 24.07.03 in Heidelberg.
58 Alafenisch (s. Anm. 56), S. 92.
59 »Aische und Fatima standen wie gebannt. Ihre Füße waren wie Zeltpflöcke im Herzen
der Erde.« Alafenisch (s. Anm. 56), S. 59.
60 Alafenisch (s. Anm. 56), S. 92.
61 Alafenisch (s. Anm. 56), S. 111.
62 Alafenisch (s. Anm. 56), S. 44.
738 David Martyn
Dies bedeutet, daß der Begriff der Metapher selbst hinfällig wird – ein
Schluß, zu dem die eigentümliche Verwirrung des metaphorischen Raumes
in Alafenischs Roman an manchen Stellen herausfordert. Als der Vater einer
Braut – der dritten des ›Großvaters‹ – entgegen allen Bräuchen ein Stück
Land als Brautgabe für seine Tochter haben will, entrüstet sich ein alter
Beduine über die Unerhörtheit dieser Forderung wie folgt:
›Land, Land! Alle wollen Land! [...] Die Türken wollen Land, die Engländer wollen
Land!‹ Er holte tief Luft. ›Die Juden suchen Land. Tagtäglich bringen die Schiffe des
Meeres Juden ins Land. Und die Väter wollen auch Land! Unser Land vermehrt sich
doch nicht wie eine Ziegenherde. Was sind das für schlechte Zeiten: die Kamele, die
Schiffe der Wüste, werden nicht als Brautgabe genommen!‹66
Neben »Schiffe der Wüste« – »Schiffe des Meeres«. Die zweite Formulie-
rung ist keine einfache Umkehrung der ersten, wie man sie rein logischer-
weise von einem Beduinen erwarten müßte. Das hätte nämlich ›Kamele des
Meeres‹ ergeben: eine Metapher, deren Lächerlichkeit – sie evoziert am ehe-
sten vielleicht das Bild eines ertrinkenden Tieres – von der Schwierigkeit
zeugt, sich gegen die eurozentrische Topographie der deutschen Metaphorik
aufzulehnen. Eine wirklich ›fremde‹ Metapher wäre keine. Stattdessen nur
»Schiffe des Meeres«: eine seltsame Formulierung, die die ›wörtliche‹ oder
›übliche‹ Bedeutung von ›Schiff‹ wie eine Metapher behandelt. Insofern ist
sie weder Metapher noch ›üblicher Ausdruck‹. In einem Kontext, in dem
›Schiff‹ als »Schiff des Meeres« umschrieben werden muß – in dem die
›wörtliche‹ Bedeutung nur noch als ›Übertragung‹ zustande kommt –, gibt es
kein Wort mehr, das sich seiner Üblichkeit und Vertrautheit sicher sein kann.
Hier sind alle Bedeutungen gleichermaßen ›fremd‹ und ›vertraut‹, ›nah‹ und
›fern‹, ›wörtlich‹ und ›übertragen‹. So fällt der metaphorische Raum in sich
zusammen – und mit ihm die topographische Ordnung, die er begründete.
Der deutschsprachige Leser, den Alafenisch auf so gastfreundliche Weise
in einen ›orientalischen‹ Sprachraum eingeladen hatte, findet sich mit der
›Fremdheit‹ seiner eigenen Sprache konfrontiert.
Freilich besteht auch hier die Gefahr, daß der Leser diese ›Fremdheit‹ als
die eigene nicht erkennt und die exotischen Bilder für bare Münze nimmt.
Will man die Kulturtopographie idiomatischer Metaphorik unterlaufen, hat
man offenbar mit der Schwierigkeit zu kämpfen, daß der Akt des Lesens
selbst dazu tendiert, topographische Verortungen herzustellen. Mit de Man
könnte man sagen: Das Lesen ist ein ständiges Unterscheiden zwischen wört-
lichen und übertragenen Bedeutungen, zwischen einem ›nah‹ und ›fern‹ der
66 Alafenisch (s. Anm. 56), S. 86. Es handelt sich um die einzige Anspielung im Roman
auf die zionistische Einwanderung, die zum Untergang der von Alafenisch dargestellten
nomadischen Lebensweise der Beduinen führen wird; der Passus wird somit auch auf
inhaltlicher Ebene als zentral markiert.
740 David Martyn
Wörter,67 das sich eine topographische Ordnung auch dort schafft, wo der
Text keine fest Grundlage dafür bietet. Dies würde bedeuten, daß jeder Text
kulturtopographische Verortungen letztlich schafft oder affirmiert – sofern
er lesbar ist. Gerade im Hinblick auf dieses Problem verdienen die kurzen
Prosatexte von Yoko Tawada besondere Aufmerksamkeit. Diese Texte, die
man vielleicht am ehesten als Essays mit erzählerischem Gehalt bezeichnen
könnte, stellen eine Art Manifest für die Unlesbarkeit dar. Im Zentrum steht
dabei eine zum Teil explizite Kritik der Metapher. Tawadas Projekt kann
insgesamt als die Suche nach einer Sprache aufgefaßt werden, die sich nicht
wie eine Metapher ›entziffern‹ läßt, sondern in ihrer leiblichen Fülle erlebt
wird. Dieses ›Erleben‹ stellt einen Umgang mit Texten dar – ein ›Lesen‹
anderer Art –, der ohne Topographieherstellung auskommt. Das Lesen selbst,
wie ich jetzt zeigen möchte, wird zu einer Übung in der Demontage kultur-
topographischer Ordnungen.
Tawadas Plädoyer für die Unlesbarkeit präsentiert sich vielleicht am deut-
lichsten in einem kurzen Text mit dem Titel »Das Fremde aus der Dose«, der
zuerst 1992 als eigenständige Veröffentlichung erschien und später in etwas
veränderter Form in der Anthologie Talisman wiederaufgelegt wurde. Die
Geschichte spielt in Hamburg, wohl einige Wochen nach Tawadas Ankunft
aus Tokio. Im Mittelpunkt steht die Begegnung mit einer analphabetischen
Frau namens Sascha. Dabei spielt Saschas Unfähigkeit, Schriftzeichen zu
lesen und zu schreiben, nur eine untergeordnete Rolle; stattdessen konzen-
triert sich die Erzählerin auf eine andere, vielleicht noch seltenere Eigenschaft
von Sascha, die sie hoch zu schätzen weiß. Sascha versucht nämlich nie,
Tawadas Gesichtsausdruck auf eine Bedeutung hin zu ›lesen‹:
Ich wußte sofort, daß sie nicht lesen konnte. Sie blickte mich jedes Mal an, wenn sie
mich sah, intensiv und interessiert, aber sie versuchte dabei niemals, etwas aus meinem
Gesicht herauszulesen. Damals erlebte ich oft, daß Menschen unruhig werden, wenn
sie mein Gesicht nicht lesen können wie einen Text.
Es ist merkwürdig, daß ein fremder Gesichtsausdruck oft mit einer Maske verglichen
wird. Liegt diesem Vergleich der Wunsch zugrunde, hinter dem fremden Gesicht ein
bekanntes zu entdecken?
Sascha konnte jede Art Unlesbarkeit mit Ruhe akzeptieren. Sie wollte nichts ›lesen‹,
sondern alles genau beobachten.68
67 »Paradoxically, the figure literalizes its referent and deprives it of its para-figural
status. The figure dis-figures [...]. Metaphor overlooks the fictional, textual element
in the nature of the entity it connotes. It assumes a world in which intra- and extra-
textual events, literal and figural forms of language, can be distinguished, a world in
which the literal and the figural are properties that can be isolated and, consequently,
exchanged and substituted for each other. This is an error, although it can be said that
no language would be possible without this error.« De Man (s. Anm.30), S. 151 f.
68 Tawada, Yoko: Das Fremde aus der Dose. Graz / Wien 1992; Zitat: Tawada (s.
Anm. 37), S. 40.
»Schiffe der Wüste«, »Schiffe des Meeres« 741
Es sind zwei Haltungen, denen Tawada in Hamburg begegnet. Die eine ver-
langt Lesbarkeit: Man wird unruhig, wenn man ihren Gesichtsausdruck nicht
entziffern kann. Man fordert sie zu einer Reaktion auf, die, ob positiv oder
negativ, eindeutig sein muß – denn nur das Ausbleiben einer Reaktion sei
»nicht erlaubt«69. Man verlangt, »hinter dem fremden Gesicht ein bekanntes
zu entdecken«, oder mit anderen Worten: jede ›Fremdartigkeit‹ in eine Ver-
trautheit zu übersetzen. Diese Haltung ist somit grundsätzlich metaphorischer
Natur. Sie wiederholt die Struktur, die wir für die Metapher als konstitutiv
identifiziert haben: Für sie ist der ›Fremde‹ kein wirklicher ›Fremder‹, son-
dern immer nur ein Vertrauter in fremdem Gewand.
Die andere Haltung verkörpert die analphabetische Frau. Nicht nur erträgt
sie »mit Ruhe« jede Art Unlesbarkeit, sondern ihre Erfahrung der Welt ist
auf besondere Weise sinnlich; sie sieht »intensiv und interessiert« Tawadas
Gesicht an, anstatt es als Zeichen zu behandeln, das es möglichst schnell zu
›lesen‹ gilt. Sie läßt sich auf die Körperlichkeit der Dinge ein – auch wenn es
sich um Dinge handelt wie etwa Gesichtsausdrücke, die ›Zeichen‹ sind.70 Als
Tawada ihr beibringt, das chinesische Ideogramm für ›Drache‹ zu erkennen,
das auf dem Schild eines chinesischen Restaurants steht, blickt sie lange auf
das golden und grün leuchtende Zeichen und meint, einen ›richtigen‹ Drachen
in ihm zu erkennen.71 Sie nimmt das Schriftzeichen als Körper wahr.
Nun gehen diese beiden Haltungen mit zwei gegensätzlichen Handlungs-
weisen gegenüber kulturtopographischer Verortung einher. Sascha und Sonja
– so der Name von Saschas gleichfalls analphabetischer Mitbewohnerin –
zeichnen sich nämlich im Vergleich zu den anderen Einwohnern Hamburgs
auch dadurch aus, daß sie keine Fragen über Tawadas ›kulturelle Differenz‹
stellen:
Es gab Fragen, die Sascha und Sonja mir nie gestellt haben, obwohl ich sonst überall
solchen Fragen begegnete: diese Fragen fangen an mit ›Stimmt es, daß die Japaner …‹
Das heißt, die meisten Menschen wollten wissen, ob das, was sie in einer Zeitung oder
Zeitschrift gelesen haben, wahr oder falsch ist. Fragen, die mit ›Ist es in Japan auch
so, daß …‹ anfangen, wurden mir auch oft gestellt. Ich konnte sie nicht beantworten.
Jeder Versuch, den Unterschied zwischen zwei Kulturen zu beschreiben, mißlang mir:
Der Unterschied wurde direkt auf meine Haut aufgetragen wie eine fremde Schrift,
die ich zwar spüren, aber nicht lesen konnte.72
III.
Alle angeführten Texte der drei Autoren widersetzen sich den topographi-
schen Vorstellungen, die die Metaphorik des Deutschen so bereitwillig anbie-
tet. Das jedoch mit je eigenen Mitteln. Durch ihre wörtlichen Übersetzungen
aus dem Türkischen schafft Özdamar ›Metaphern‹, die sehr ›weit her‹-geholt
anmuten; in Wirklichkeit kommen sie aber von keinem anderen ›Ort‹, sondern
sie entstehen erst durch den Vorgang der ›Übersetzung‹. Der metaphorische
Raum, den sie eröffnen, ist nicht verortbar. Alafenisch schlägt in gewisser
Hinsicht den umgekehrten Weg ein: Er bietet Metaphern, die wie wörtliche
Übersetzungen aus dem Arabischen aussehen, während sie in Wirklichkeit
deutsche Metaphern sind, wenn auch in fremdem Gewand. Der ›orientali-
sche‹ Raum, in den er seinen Leser einlädt, entpuppt sich als ein einheimi-
scher, und der Leser, der in ein exotisches Land zu reisen meinte, hat sich in
Wirklichkeit vom Ort der deutschen Idiomatik nicht wegbewegt. Schließlich
zwingt Tawada ihren Leser zu einem langsameren, sinnlicheren Lesen, das
ihn zum Körper des Textes zurückholt; anstatt wie sonst in eine vertraute
Fremde transportiert zu werden, wird er mit der Fremdartigkeit seiner eigenen
Sprache, auch oder gerade in ihrer ›Üblichkeit‹, konfrontiert.
Bei allen diesen Versuchen fällt aber auch auf, wie schwierig es ist, sich
der verortenden Funktion von Metaphern zu widersetzen. Özdamars Texte
werden für ihre ästhetische ›Fremdartigkeit‹ gerühmt und gerade dadurch
ihrer entortenden Kraft beraubt; Alafenischs Metaphernschwindel bleibt
unentdeckt; Tawadas Versuch einer Entmetaphorisierung der Sprache schafft
zum Teil selbst wieder Metaphern. Die topographische Macht der Metapher
ist fast unbezwingbar. Wenn den Autoren eine Unterminierung kulturtopo-
graphischer Konstrukte gelingt, dann durch Formen der Sprache, die den
Begriff der Metapher aus den Angeln heben: Özdamars »Zunge«, Alafenischs
»Schiffe des Meeres«, Tawadas »es« sind weder Metaphern noch übliche
Ausdrücke. Eine Sprache, die keine Unterscheidung zwischen ›üblich‹ und
›unüblich‹, ›vertraut‹ und ›fremd‹, ›nah‹ und ›fern‹ erlaubt, schafft keine
Topographie und läßt auch keine zu. Man kann sich von ihr nicht forttragen
lassen. Im Gegenzug wird der Ort entrückt, an dem man sich zu befinden
glaubte.
Verortungen 745
Verortungen.
Räume und Orte in der transkulturellen
Theoriedebatte und in der neuen
türkisch-deutschen Literatur
Für Mama hörte Europa südlich der Alpen auf. Alles darüber war für sie zu nordisch
und zu kühl. Baba ging in Opposition. Für ihn begann Europa nördlich der Alpen.
Er mochte die Ordnung und Sicherheit auf deutschen Autobahnen. [...]. Über dieses
Thema gerieten meine Eltern sich oft in die Haare, und meistens endete es in der
Grundsatzfrage: Wo sollen wir leben? In Berlin oder in Istanbul? Meine Eltern waren
ein Nord-Süd-Gefälle.1
3 Nach Descartes bezeichnet der Ort die bestimmte Lage (vgl. René Descartes: Die
Prinzipien der Philosophie, Philosophische Werke, 3. Abt., mit einem Anhang v. Ar-
tur Buchenau. Leipzig 31908, S. 37). De Certeau beschreibt den Ort als momentane
Konstellation von festen Punkten, die durch das Gesetz des Eigenen bestimmt ist (vgl.
Certeau, Michel de: Kunst des Handelns. Berlin 1988, S. 218).
4 Descartes (s. Anm. 3), S. 37, sieht im Raum Größe und Gestalt bezeichnet, während
de Certeau (s. Anm. 3), S. 218, den Raum als ein Geflecht von beweglichen Ele-
menten bestimmt, das sich mit einer Geschichte verbindet (S. 219). Das Moment der
›Geschichte‹ schließt an den oben betonten Bedeutungsaspekt an. Orte identifizieren,
Räume aktualisieren, führt de Certeau weiter aus (vgl. S. 220).
5 Vgl. Thales: »Das Größte ist der Ort (τπος), denn er gibt allem R. (χωρε)« (zit. n.
Zekl, H.G. u.a.: »Raum«. In: Gründer, Karlfried/Ritter, Joachim (Hg.): Historisches
Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8, Basel 1992, S. 67–111, S. 68.
Verortungen 747
6 Vgl. überblicksartig, aber inzwischen nicht mehr auf dem aktuellen Stand, Şölçün,
Sargut: »Literatur der türkischen Minderheit«. In: Chiellino, Carmine (Hg.): Interkultu-
relle Literatur in Deutschland. Ein Handbuch. Stuttgart/Weimar 2000, S. 135–152.
7 Vgl. die ZEIT-Serie »Türken in Deutschland«, DIE ZEIT Nr. 35–37 (August/September
2003) oder den Artikel von Dietz, Georg: »Der Halbmond ist aufgegangen. Avantgarde
der Widersprüche: Warum die deutschen Türken nicht nur unsere Wirtschaft retten
können, sondern auch unsere Kultur«. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
Nr. 24 (22. Juni 2003), S. 19.
8 Lau, Jörg: »Die Türken sind da. Die Deutschen streiten über den EU-Beitritt der Tür-
kei. Doch bei uns haben die Türken längst ihren Platz erobert. Sie holen Filmpreise
und Sportmedaillen für die neue Heimat. Die SPD wirbt um sie, die CDU ignoriert
ihre potenziellen Wähler«. In: DIE ZEIT Nr. 10 (26. Februar 2004), S. 3.
748 Martina Wagner-Egelhaaf
Süddeutschen Zeitung: »Exil der Väter, Heimat der Söhne. Wie die türkischen
Einwanderer zwischen Istanbul und München pendeln und so beide Länder
zu einem gemeinsamen Raum verbinden«.9 Im Hinblick auf die Literatur
scheinen Faszination und Irritation darin zu bestehen, daß wir es zweifellos
mit deutscher, d.h. deutschsprachiger Literatur zu tun haben, ihre Autoren
und Autorinnen aber, selbst wenn sie sich einbürgern lassen haben, einen
nicht-deutschen Hintergrund mitbringen. Wenn sich die kulturelle Differenz
dann in die Sprache, d.h. in das Medium der sog. ›deutschen Literatur‹
einträgt – und das tut sie (zu denken ist nur an die sprachexperimentellen
Texte Emine Sevgi Özdamars oder an Feridun Zaimoglu, den Propagator
der ›Kanak Sprak‹), dann ist plötzlich auch nicht mehr so ganz klar, ob das
noch und was eigentlich ›deutsche Literatur‹ sein soll.10 Nationalliterarische
Konzepte stehen plötzlich in Frage. »Als ›Zusatz‹ zur ›deutschen‹ Literatur
wären diese Texte nur dann sinnvoll zu begreifen,« schreibt Hansjörg Bay,
»wenn dieser Zusatz im Sinne eines ›supplements‹ verstanden würde, das
eben dies nationalisierende Konzept aus der Fassung brächte.«11
I. Theoretische Räume
Den Begriff der ›Transkulturalität‹ hat Wolfgang Welsch (zumindest für den
deutschsprachigen Bereich) in die kulturwissenschaftliche Theoriedebatte
eingeführt.12 Welsch setzt ihn gegen das »traditionelle Konzept der Einzel-
kulturen«13, das er auf Herder zurückführt. Dieses Herdersche Kulturkon-
zept sei geprägt durch »soziale Homogenisierung, ethnische Fundierung und
interkulturelle Abgrenzung«14. Gegen diese drei bestimmenden Merkmale
formuliert Welsch drei Einwände: Zum einen seien moderne Gesellschaften
keineswegs sozial homogen, sondern in sich differenziert, und zwar »verti-
9 Schiffauer, Werner: »Exil der Väter, Heimat der Söhne. Wie die türkischen Einwanderer
zwischen Istanbul und München pendeln und so beide Länder zu einem gemeinsamen
Raum verbinden«. In: SZ Nr. 191 (21. August 2003), S. 13.
10 Filme arbeiten hier z.T. mit gezielten Umbesetzungen, d.h. Türken (Ausländer) werden
von Deutschen gespielt und umgekehrt (vgl. z.B. Kanak Attack von Lars Becker [2000]
oder Angst isst Seele auf von Shahbaz Noshir [2003]). Auf diese Weise reflektiert
das Medium die Thematik, und der politische Bezug wird durch das Hineinragen des
Dargestellten in die filmäußere Welt deutlich gemacht.
11 Bay, Hansjörg: »Der verrückte Blick. Schreibweisen der Migration in Özdamars Ka-
rawanserei-Roman«. In: Sprache und Literatur 30 (1999), S. 29–46, S. 29.
12 Vgl. Welsch, Wolfgang: »Transkulturalität. Zur veränderten Verfassung heutiger Kul-
turen«. In: Schneider, Irmela/Thomsen, Christian W. (Hg.): Hybridkultur. Medien,
Netze, Künste. Köln 1997, S. 67–90.
13 Vgl. Welsch (s. Anm. 12), S. 67.
14 Vgl. Welsch (s. Anm. 12), S. 68.
Verortungen 749
15 Welsch (s. Anm. 12), S. 68; vgl. dazu Herder, Johann Gottfried: Auch eine Philoso-
phie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. Nachwort v. Hans-Georg Gadamer,
Frankfurt a.M. 1967, S. 45.
16 Welsch (s. Anm. 12), S. 69.
17 Welsch (s. Anm. 12), S. 69.
18 Welsch (s. Anm. 12), S. 71.
19 Bereits das Ludwig Wittgensteins Vermischten Bemerkungen entnommene Motto von
Welschs Aufsatz reflektiert die topographische Dimension der verhandelten Kultur-
konzepte: »Wenn wir an die Zukunft der Welt denken, so meinen wir immer den Ort,
wo sie sein wird, wenn sie so weiter läuft, wie wir sie jetzt laufen sehen, und denken
nicht, dass sie nicht gerade läuft, sondern in einer Kurve, und ihre Richtung sich
konstant ändert« (Welsch [s. Anm. 12], S. 67). Vgl. Wittgenstein, Ludwig: Vermischte
Bemerkungen. Eine Auswahl aus dem Nachlaß. Hg. v. Georg Henrik von Wright unter
Mitarbeit von Heikki Nyman. Neubearbeitung des Textes durch Alois Pichler. Frankfurt
a.M. 1994, S. 24 (die Version des Zitats in dieser Ausgabe weicht in Interpunktion
und Schreibweise von der bei Welsch wiedergegebenen ab).
20 Welsch selbst definiert das ›Trans-‹ folgendermaßen: »Während ›trans‹ also im Blick
auf den Mischungscharakter der kulturellen Determinanten den Sinn von ›transversal‹
hat, besitzt es im Blick auf die Zukunft und im Vergleich mit der früheren Verfassung
der Kulturen den Sinn von ›jenseits‹.« (Welsch [s. Anm. 12], S. 83, Anm. 15). Vgl.
»trans..., Trans...«. In: Duden Fremdwörterbuch, 7., neu bearbeitete und erweiterte
Auflage, hg. v. der Dudenredaktion, Duden Bd. 5. Mannheim/Leipzig/Wien/Zürich
2001, S. 1005: »hindurch, quer durch, hinüber, über...hin(aus)«.
750 Martina Wagner-Egelhaaf
29 Vgl. auch Hall, Stuart: »Cultural Identity and Cinematic Representation«. In: Frame-
work 36 (1986), S. 68–81, S. 74.
30 Hall (s. Anm. 24), S. 51 (Hervorhebungen M.W.-E.).
31 Hall (s. Anm. 24), S. 52 (Hervorhebungen M.W.-E.).
32 Hall (s. Anm. 24), S. 44 (Hervorhebungen M.W.-E.).
33 Hall (s. Anm. 24), S. 49.
34 Hall (s. Anm. 29), S. 72f.
35 Vgl. Hall (s. Anm. 24), S. 57.
Verortungen 753
von woher etwas sein Wesen beginnt«45, ein Ort des Neuen.46 Dieser Ort des
Hier und Jetzt ist als sehr konkreter Ort des Alltags gedacht, der aber, weil er
die Differenz des darüber Hinausgehenden bereits in sich aufgenommen hat,
»die Welt-im-Heim«47 figuriert. Bhabha politisiert Freudsche Kategorien,48
wenn er auf »die Unheimlichkeit (unhomeliness)«49 im Heim setzt, auf ein
Potential, das jede politisch notwendige Fokussierung auf das Heimische
immer schon über sich hinaus, in die Welt führt. Auf andere Weise als bei
Hall ist Homi Bhabhas Ort des Hier und Jetzt nicht statisch gedacht, sondern
auf ursprüngliche Weise immer schon über sich hinaus geführt.
Auch Helmbrecht Breinig, Jürgen Gebhardt und Klaus Lösch siedeln ihr
Konzept der Transdifferentialität im Koordinatenkreuz der aktuellen Globa-
lisierungsdebatte an, die »globalization« und »localization«50, das Globale
und das Lokale, einander entgegensetzt und zugleich aufeinander bezieht.51
Globalität und Lokalität erscheinen (wie bei Welsch) nicht als einander aus-
schließende Oppositionen, vielmehr wird beobachtet, wie sich das Globale,
etwa in Gestalt multinationaler Konzerne, lokal verortet, oder aber es wird
(wie bei Hall) versucht, das Lokale als Gegenstrategie gegen globale Homo-
genisierungstendenzen zu entwerfen. Das Konzept der Transdifferentialität,
das auch dem Erlanger Graduiertenkolleg Kulturhermeneutik zugrunde liegt,
geht von »locations of cultural pluralism«52 aus, grenzt sich aber sowohl von
Welschs Transkulturalitäts- als auch von Bhabhas Hybriditätsthese ab. Welsch
wird vorgeworfen, über der Diagnose allumfassender Diversität jegliches Dif-
ferenzbewußtsein zu löschen, während an Bhabhas Kategorie der Hybridität
zu weitgetriebene Dekonstruktion und eingeschränkte historisch-politische
Validität kritisiert wird.53 Der Ansatz der Transdifferentialität beansprucht
also – dies läßt sich aus der Kritik vergleichbarer Konzepte folgern –, kon-
krete kulturelle Verhältnisse in ihrer je spezifischen Differenzstruktur und
den sie bestimmenden Machtbedingungen beschreiben zu können. Trans-
differentialität setzt dem Prinzip der hybriden Vermischung dasjenige der
Simultaneität oftmals gegenläufiger Positionen, Loyalitäten, Affiliationen und
Teilhaben entgegen. In Kategorien der Räumlichkeit gedacht, bestehen lokale,
Und dann kam er auf mich zu, legte seine fette Wursthand auf meine Schulter und
flüsterte vertraulich: ›Sag mal, so unter uns, wie ist es denn?‹
›Was?‹
›Na, so zwischen den Kulturen, Sprachen hin- und hergerissen zu sein. Das muß hart
sein. Andere Werte, Vorstellungen, Traditionen...‹
Ich blickte kurz zu Cora. Sie hob die Augenbraue. Mir war dieser plötzlich verständ-
nisvolle Ton in Wolfs Stimme zuwider. Ich lehnte mich ein Stück zurück, um von
seiner Zigarrenfahne Abstand zu halten. Dann sagte ich:
›Ist echt schwer. So hin und her, weeste ... Ick sag’s dir...‹ Was wollte er eigentlich?
Einen Schauspieler oder eine soziologische Studie? Ich hatte gleich gecheckt, was
Wolf wollte. Er suchte so einen Spielotheken-Türken mit Cowboystiefeln. Und den
spielte ich ihm jetzt vor. [...]
Ich glaube, Wolf hatte die irrige Idee von zwei Kulturen, die aufeinanderprallen. Und
so einer wie ich mußte ja dazwischen zerrieben werden.
Eigentlich hatte ich alles von beidem. Von Ost und West, von deutsch und türkisch,
von hier und da. Aber das konnten Leute wie Wolf nicht verstehen oder wollten es
nicht verstehen. Sie sahen in mir immer einen Problemfall. Jemanden, der zwischen
den Kulturen hin- und hergerissen war, jemanden, der nicht dazugehörte. Piss off! Ich
war so, wie ich war. Die anderen versuchten mir Probleme einzureden, die ich nicht
hatte. Sie konnten mit so einem wie mir nicht umgehen. Ich paßte nicht in ihr Bild,
57 Vgl. Anm. 6.
58 Vgl. Terkessidis, Mark: »Kabarett und Satire deutsch-türkischer Autoren«. In: Chiellino
(s. Anm. 6), S. 294–301.
758 Martina Wagner-Egelhaaf
und sie konnten mich nicht einordnen. Ich war wie ein Flummiball, sprang zwischen
Osten und Westen hin und her, ha.
Der in Berlin geborene Protagonist Hasan, der seine Schulzeit in Istanbul ver-
bracht hat und im Jahr des Mauerfalls 1989 wieder nach Berlin zurückgekehrt
ist, versucht in der zitierten Passage, eine Filmrolle zu erhalten. Deswegen
gibt er dem Filmregisseur Wolf die Antwort, die dieser gerne hören möchte,
nämlich, daß es »echt schwer« sei so zwischen den Kulturen... Bezeichnen-
derweise geht es bei der Rolle, um die sich Hasan bemüht, um eine typische
Türkenrolle in einem typischen Türkenfilm, in dem Hasan einen typischen
türkischen Dealer spielen soll. Und um die Rolle zu erhalten, spielt er dem
deutschen Regisseur die Rolle vor, die ihm, dem Türken, im Film zugedacht
ist. Läßt sich Hasans Reflexion am Ende der Passage als Transkulturalitäts-
plädoyer im Sinne von Welsch lesen, als Abweisung des Herderschen Bilds
der inselhaft gegeneinander abgeschlossenen Kulturen, so verweist sein Spiel
mit der Türkenklischeerolle auf Halls Befund, kulturelle Identität könne sich
nur innerhalb des bereits Repräsentierten vollziehen. Hasan will die Film-
rolle, deshalb spielt er dem deutschen Regisseur seine Vorstellung des Tür-
ken, der für die Rolle geeignet ist, vor, aber er weiß, was er tut und daß er
es tut. Sein Satz »Ich war so, wie ich war.« ist als trotzige Positionierung
zu lesen, die eine Setzung vornimmt, ohne das Gesetzte qualifizieren oder
klassifizieren zu wollen bzw. zu können.59 Auch wenn Werner Schiffauers
SZ-Artikel ein Pendeln türkischer Migranten und Migrantinnen »zwischen
Istanbul und München« 60 vor Augen stellt oder Fatih Akin im Gespräch
mit Volker Panzer, der ihn auf seine türkisch-deutsche Identität festlegen
möchte, mit Entschiedenheit behauptet, er sei ein deutscher Regisseur,61 wird
deutlich, daß erst der kategorisierende Zugriff das Phänomen des Türkisch-
Deutschen schafft. Mit anderen Worten: Die ›türkisch-deutsche Literatur‹ ist
nicht per se türkisch-deutsche Literatur, sondern nur, wenn sie als solche in
den – (literatur)politischen – Blick genommen, d.h. verortet wird. Andere
Fragestellungen und Analysekategorien machen dieses Etikett entbehrlich.
Dessen ungeachtet nehmen die Texte ihrerseits Verortungen vor, indem sie
ihre sehr konkreten Schauplätze benennen. Bei Özdamar sind das verschie-
dene Orte in der Türkei, Istanbul, Malatya in Anatolien, Bursa, Ankara, dann
Berlin, Paris, Kopenhagen u.a.; der Schauplatz von Karas Roman ist in erster
Linie Berlin, aber auch Istanbul, Feridun Zaimoglus Roman Abschaum spielt
59 Zu dieser Problematik und zur »Fragwürdigkeit [...] literarische Texte nach der Her-
kunft ihrer Autoren« zu sortieren, vgl. auch Bay (s. Anm. 11), S. 29, S. 30.
60 Vgl. Wierschke, Annette: »Auf den Schnittstellen kultureller Grenzen tanzend. Aysel
Özakin und Emine Sevgi Özdamar«. In: Fischer, Sabine/McGowan, Moray (Hg.):
Denn du tanzt auf einem Seil. Positionen deutschsprachiger MigrantInnenliteratur.
Tübingen 1997, S. 179–194, S. 183.
61 Kara (s. Anm. 1), S. 221–224.
Verortungen 759
in Kiel und Istanbul, andere Orte werden genannt, wie z.B. Adana, German
Amok (2002) desselben Autors handelt in Berlin und im brandenburgischen
Treptin. Diese Orte sind, wie oben ausgeführt,62 Punkte im Raum, Bezeich-
nungen, die Setzungen vornehmen und einen imaginären Raum zwischen
sich eröffnen. Dieser imaginäre Bedeutungsraum der Texte wird dadurch
hergestellt, daß die scheinbar eindeutigen Ortsmarkierungen, die mit Hall
als Unterbrechungen der unendlichen Bedeutungsdifferenzierung, mithin als
Positionierung gelesen werden können, aufeinander bezogen werden. An sei-
nen Rändern und Grenzen bleibt er immer unscharf, d.h. unbestimmt.
Bereits die Titel von Emine Sevgi Özdamars autofiktionalen Texten63
figurieren Räumlichkeit. Das Leben ist eine Karawanserei hat zwei Türen
aus einer kam ich rein aus der anderen ging ich raus verwendet das Bild
der Karawanserei, also einer vorübergehenden Unterkunft für Reisegesell-
schaften, Kaufmanns- oder Pilgerzüge in den Wüstengebieten Asiens und
Afrikas.64 Auf der einen Seite werden damit Bewegung und Transgression,
auf der anderen Seite wird das Moment angehaltener Bewegung betont. Reise
und Bewegung beschreiben tatsächlich zu einem guten Teil die Handlung des
Textes, an dessen Anfang und Ende jeweils eine Zugfahrt steht. Zu Beginn
des Romans berichtet die Ich-Erzählerin wie sie, noch als Fötus im Bauch
ihrer Mutter, in einem Zugabteil in den anatolischen Herkunftsort der Mut-
ter fährt, um dort geboren zu werden; das Ende des Romans zeigt sie in
den 1960er Jahren mit anderen jungen Gastarbeiterinnen auf der Fahrt nach
Deutschland. Auch im Roman selbst werden ständige Ortsveränderungen
geschildert.65 Die Brücke vom Goldenen Horn von 1998 setzt da ein, wo
62 Zum Topos des türkischen Dealers vgl. etwa den Film Dealer von Thomas Arslan
(1999) oder Anam – meine Mutter von Buket Alakus (2001).
63 Daß der Roman mit den gängigen kulturwissenschaftlichen bzw. postkolonialen Kate-
gorien rechnet und sich doch darunter wegduckt, macht die folgende Passage deutlich:
»Daraufhin begann eine lange Ausführung, Diskussion, Debatte über Islam, Frauen,
Ost, West, Orient, Okzident. [...] Ich hielt mich da raus. Kazim, Leyla und Sukjeet
waren in ihrem Element. In einem Kauderwelsch aus Deutsch, Englisch und Türkisch
nahmen die Erläuterungen, Ausführungen, Erklärungen kein Ende. Dabei fielen Na-
men wie Salman Rushdie, Edward Said, Malcom X, Prophet Mohammed, Mevlana
und Alice Walker. Leyla legte sich ins Zeug. Sie hatte die volle Ahnung von diesen
Themen. Um so besser, dachte ich, brauche ich mich nicht um Small talk zu bemü-
hen« (Kara [s. Anm. 1], S. 263). Die gängigen kulturwissenschaftlichen Theoreme
erscheinen hier als Versatzstücke, mit denen ebenso ironisch umgegangen wird wie
mit den Klischees, etwa mit dem Bild vom Türken als messerstechendem Dealer und
der Türkin als exotischer Schönheit, mit denen sie sich üblicherweise kritisch ausein-
andersetzen.
64 Vgl. Anm. 9.
65 Vgl. ZDF-Nachtstudio Die Döner-Connection. Deutsch-Türken stürmen den Kultur-
betrieb (7. 3. 2004), Cem Özdemir, Fatih Akin, Feridun Zaimoglu, Türkiz Talay im
Gespräch mit Volker Panzer.
760 Martina Wagner-Egelhaaf
Das Leben ist eine Karawanserei aufhört: Die Protagonistin ist in Berlin
angekommen und versucht, ihr Leben als Gastarbeiterin einzurichten. In der
unruhigen 68er Zeit kehrt sie nach Istanbul zurück, um dort die Schauspiel-
schule zu besuchen. Sie wird empfangen als eine, die »Europa gesehen«66
hat. Istanbul erscheint als Ort und Raum der Grenze zwischen Europa und
Asien. Täglich pendelt die Ich-Erzählerin per Schiff zwischen dem Eltern-
haus im asiatischen Teil Istanbuls und ihren intellektuellen Freunden, die
bezeichnenderweise im europäischen Teil der Stadt wohnen.67 Nach dem
Militärputsch in der Türkei verläßt sie das Land wieder in Richtung Deutsch-
land; aus dem Zug fällt ihr Blick auf den Neubau der Brücke vom Golde-
nen Horn, jener sechs Kilometer langen Meeresbucht im europäischen Teil
Istanbuls. Das titelgebende Bild der Brücke vom Goldenen Horn visualisiert
also nicht etwa eine transkulturalistische Verbindung von Asien und Europa,
vielmehr scheint es eher eine innereuropäische Zusammengehörigkeit ins
Bild zu setzen, während für die Verbindung nach Asien nur der schwan-
kende Wasserweg bleibt. Der bislang letzte Band der autofiktionalen Reihe
Seltsame Sterne starren zur Erde. Wedding – Pankow 1976/77 aus dem Jahr
2003 zeigt die Erzählerin wieder in Berlin und diesmal pendelnd zwischen
dem Westen und dem Osten der geteilten Stadt. Sie wohnt in einer Wohnge-
meinschaft im Wedding, arbeitet aber an der Ostberliner Volksbühne bei dem
Brecht-Schüler Benno Besson. Die Bereiche, die einander gegenübergestellt
werden, zeichnen sich durch vielfältige Binnendifferenzierungen aus, so daß
sich kaum von homogenen Räumen sprechen läßt. Das sich durch Özdamars
Texte ziehende Pendeln zwischen den Welten, zwischen Istanbul und Berlin,
zwischen dem asiatischen und dem europäischen Teil Istanbuls, zwischen
West- und Ostberlin, folgt nicht so sehr einer Ästhetik des Zwischenraums,
denn die Protagonistin kommt ja an den Zielen ihrer Reisen an, sondern
läßt gleichsam transdifferentiell am einen Ort immer auch die anderen Orte
mitdenken. Das eigentümliche Schweben mancher Örtlichkeiten, das gerade
dem Karawanserei-Roman bisweilen etwas Unwirklich-Märchenhaftes gibt,68
läßt sich damit erklären. Das Pendeln zwischen Berlin-West und Berlin-Ost
in Seltsame Sterne starren zur Erde, das ebenso sehr eine Differenz markiert
wie es Verbindung herstellt, läßt die türkische Protagonistin und Erzählerin
als eine Figur des Dritten erscheinen, über die gleichsam die deutsche Bin-
nendifferenz ins Werk gesetzt wird. In allen drei Romanen fällt dabei auf,
66 Vgl. S. 2.
67 Zum Begriff der Autofiktion vgl. Gronemann, Claudia: »‹Autofiction‹ und das Ich in
der Signifikantenkette. Zur literarischen Konstitution des autobiographischen Subjekts
bei Serge Doubrovsky«. In: Poetica 31/1–2 (1999), S. 237–262.
68 Zum Titel vgl. auch Müller, Regula: »›Ich war Mädchen, war ich Sultanin‹. Weitgeöff-
nete Augen betrachten türkische Frauengeschichte(n). Zum Karawanserei-Roman von
Emine Sevgi Özdamar«. In: Fischer/McGowan (Hg.): MigrantInnenliteratur (s. Anm.
60), S. 132–149, S. 135f.
Verortungen 761
daß nicht so sehr das Innenleben der Protagonistin im Mittelpunkt steht, ja,
daß ein solches kaum vom erzählten Außen abtrennbar scheint. Vielmehr
fungiert die Hauptfigur als eine Art Reflektor, der mit staunenden Augen
wahr- und aufnimmt, in einer Art, die das Innenleben der Figur als durch-
zogen vom Außen erscheinen läßt. Das Moment des Grotesken, wie es sich
etwa in der Erzählperspektive des aus dem schwangeren Leib sprechenden
Fötus im Karawanserei-Roman zeigt, erinnert dabei an die Tradition des
pikarischen Romans wie sie beispielsweise im 20. Jahrhundert von Grass’
Blechtrommel aufgenommen wird.
Die sprachlichen Eigentümlichkeiten von Özdamars Texten sind von
der Forschung, namentlich in Bezug auf den Karawanserei-Roman einge-
hend beschrieben und als sprachliche Verfremdungstechniken gelesen wor-
den. Dazu gehört etwa der Einsatz von fäkalsprachlichen Ausdrücken,69 die
Verwendung türkischer und arabischer Wörter und Sätze,70 die befremdlich
wirkende Übersetzung türkischer Redewendungen ins Deutsche,71 Aggluti-
nierungen entsprechend dem Türkischen,72 Sprachverstöße etc.73 Bay hat von
»Schreibweisen der Migration in Özdamars Karawanserei-Roman« gespro-
chen und die im Text beschriebenen Reisen und Bewegungen als Figura-
tion sprachlicher Übersetzung gelesen,74 also als sprachliche Akte, in denen
gleichwohl Räumlichkeit im Sinne von ›Über-Setzung‹ impliziert ist. Ent-
sprechend faßt auch die Erzählerin die Karawanen-Metapher sprachlich:
Großmutter sprach diese arabischen Wörter, die wie eine Kamelkarawane hinterein-
ander liefen, in meine Augen guckend, in ihrem Kapadokia-Dorfdialekt. Die Kamel-
69 Vgl. Konuk, Kader: »Emine Sevgi Özdamars Sprachräume«. In: ders.: Identitäten im
Prozeß. Literatur von Autorinnen aus und in der Türkei in deutscher, englischer und
türkischer Sprache. Essen 2001, S. 83–109, S. 84; vgl. auch Bay (s. Anm. 11), S. 31,
S. 35.
70 Özdamar, Emine Sevgi: Die Brücke vom Goldenen Horn. Köln 1998, S. 107, S. 176;
vgl. S. 180, S. 221, S. 249f., S. 276 u.ö.
71 Vgl. Özdamar (s. Anm. 70), S. 193: »Das Schiff befand sich gerade in der Mitte zwi-
schen dem asiatischen und europäischen Istanbul.« Vgl. auch S. 206 und insbes. S. 293:
»Ich fuhr weiter jeden Tag mit dem Schiff von der asiatischen Seite von Istanbul zur
europäischen Seite.«
72 Vgl. etwa Özdamar, Emine Sevgi: Das Leben ist eine Karawanserei hat zwei Türen
aus einer kam ich rein aus der anderen ging ich raus. Köln 1992, S. 283: »Als ich
morgens aus dem Bett aufstand, wußte ich nicht, wo wir waren. Meine Mutter und
Großmutter standen nicht mehr wie in Bursa [Hervorhebung M.W.E.] vor dem Fenster
wie zwei Vögel, die nicht wußten, ob sie jetzt nach rechts oder links fliegen sollten.
[...] Ich sah draußen die Steppe und einen langen Hügel, die Steppenhitze saß den
ganzen Tag still in den Zimmern.«
73 Vgl. z.B. Özdamar (s. Anm. 72), S. 69: »‹eine Hand voller Scheiße.‹«
74 Vgl. das sich durch den Karawanserei-Roman (s. Anm. 72) ziehende »Bismillâhirah-
manirrahim« (S. 55 u.ö.) oder das brüderlich-schwesterliche »Tamam mı?«–»Tamam«
(S. 324).
762 Martina Wagner-Egelhaaf
karawane sammelte sich in meinem Mund, ich sprach die Gebete mit Großmutter, so
hatten wir zwei Kamelkarawanen, ihre Kamele, die größer waren als meine, nahmen
meine vor ihre Beine und brachten meinen Kamelen das Laufen bei. Beim Sitzen
wackelten wir auch wie Kamele, und ich sprach:
›Bismillâhirahmanirrahim
Elhamdü lillâhirabbil âlemin.
Errahmanirrahim, Mâlüki yevmiddin. Iyyakenà’büdü ve iyyake nestè’in. Ihdinessıratel
müstekıym; Siratellezine en’amte aleyhim gayril mağdubi aleyhim veleddâllin, Amin.
Bismillâhirramanirrahim
Kül hûvallahü ehad. Allahüssamed. Lem yelid velem yüled. Velem yekûn lehu küfüven
ehad. Amin.‹
Ich wußte nicht, was diese Wörter sagten, vielleicht Großmutter Ayçe auch nicht.75
Sowohl Bay als auch Konuk weisen darauf hin, dass Özdamars sprachliche
»Durch- und Unterwanderungen« einen »Zusammenhang von Nationalisie-
rungsprozessen und Literatur«76 reflektieren und dabei das »Phantasma einer
einheitlichen Nationalliteratur und -kultur«77, wie es dem Herderschen Kugel-
modell zugrundeliegt, angreifen. In diesem Zusammenhang ist die Migrati-
onsbewegung der Özdamarschen Romane auch als Hineinschreiben in die
deutsche resp. europäische Literatur bzw. Aneignung derselben zu lesen.
Waren es im Karawanserei-Roman in erster Linie türkische Autoren, die der
topographischen Wahrnehmung als Muster dienten,78 sind es in Die Brücke
vom Goldenen Horn vornehmlich europäische Autoren und Filmemacher,
die zitiert und zur Folie der kulturellen Selbstverortung werden. Im Berli-
ner Wohnheim wird Oscar Wildes Bildnis des Dorian Gray gelesen, später
kommen Tschechow, Dostojewski, Gorki, Jack London, Tolstoi, Joyce, Sartre
und Rosa Luxemburg79 hinzu; im türkischen Arbeiterverein lernt die Ich-
Erzählerin Baudelaire80 kennen, Brecht81 und Kafka82 werden zunehmend
wichtig. Von Shakespeare83 ist immer wieder die Rede; Gorki84, Camus85,
75 Z.B. ›Würmer ausschütteln gehen‹ (vgl. Özdamar [s. Anm. 72], S. 114. Vgl. dazu
differenzierenden auch den Beitrag von David Martyn in diesem Band.
76 Vgl. »Mösenplanet« (Özdamar [s. Anm 72], S. 50), »Schicksalengel« (ebd. S. 51).
77 Vgl. Wierschke (s. Anm. 60), S. 187ff.; Müller (s. Anm. 68), S. 142f.; Konuk (s. Anm.
69), S. 91ff.; Bay (s. Anm. 11), S. 40ff.
78 Vgl. Bay (s. Anm. 11), S. 40.
79 Özdamar (s. Anm. 72), S. 55.
80 Konuk (s. Anm. 69), S. 85.
81 Bay (s. Anm. 11), S. 29.
82 »Als wir durch Izmit fuhren, stand an der Kurve ein Schild, Sätze von einem Dichter:
›Wenn du nach Izmit reinkommst,/wirst du das Meer sehen,/erstaune dich nicht.‹ Dann
habe ich wieder das Meer gesehen.« Özdamar (s. Anm. 72), S. 367.
83 Vgl. Özdamar (s. Anm. 70), S. 34.
84 Vgl. Özdamar (s. Anm. 70), S. 36; zu Tschechow vgl. auch S. 65; zu Sartre vgl. S. 202
und S. 286.
85 Vgl. Özdamar (s. Anm. 70), S. 53.
Verortungen 763
mer noch: Come on und so, was weiß ich. Er macht Sprüche. Den nächsten kriegt
er aufn Schädel. Der Typ rappelt sich wieder zusammen und bringt sein Spruch von
wegen: fuck you! Okay, du willst, du meinst, du kannst dein Maul hier aufreißen,
gut, wir stopfen dir das Maul, bis du aufhörst, irgendwas zu sagen. Der Nigger will
sich nicht geschlagen geben, amına koyum.«
102 Serres, Michel: Der Parasit. Übers. v. Michael Bischoff, Frankfurt a.M. 1981, S. 14.
103 Vgl. Zaimoglu (s. Anm. 103), S. 50.
104 Zaimoglu (s. Anm. 103), S. 38.
105 Zaimoglu (s. Anm. 103), S. 219.
106 Zaimoglu (s. Anm. 103), S. 134.
766 Martina Wagner-Egelhaaf
Baba, mein Vater, blieb in Berlin. Er hatte dort ein Reisebüro. Und wir pendelten all
die Jahre zwischen Istanbul-Berlin-Istanbul hin und her.
Meine Eltern konnten damals noch nicht ahnen, daß uns Jahre später die Leute Ka-
nacken hier und Almancis dort nennen würden. Kanacke her, Almanci hin. Egal, ich
war, wie ich war.110
107 Zaimoglu (s. Anm. 103), S. 114; vgl. auch ebd. S. 252.
108 Zaimoglu (s. Anm. 103), S. 161.
109 Zaimoglu (s. Anm. 103), S. 212.
110 Kara (s. Anm. 1), S. 5.
Verortungen 767
[...] ich wollte mich nicht festlegen, nicht anbinden, nicht seßhaft sein. Der Nomade
in mir trieb mich zu neuen Orten, Plätzen, Städten und Straßen. Ich wollte weiter
nach Westen, nach London, New York, San Francisco oder nach Osten? Nach Tokio,
Teheran, Taschkent. Flughäfen, Bahnhöfe, Hotelzimmer. Nicht hier, nicht da, einfach
fort sein. Ja, das wollte ich, hey, ho, let’s go!
Am Potsdamer Platz blieb ich stehen, zündete eine weitere Gitanes an und schaute
in den Nachthimmel. Über mir die Lichter von Kränen und Baustellen, unter mir die
Trümmer vom Weltkrieg. In mir wühlte und drängte sich diese Stadt, diese flache
Stadt, die ich zugleich liebte und haßte.
Von weitem hörte ich Raketenschüsse. Sie kamen aus der Richtung vom Reichstag.
Und ich wußte: In diesem Moment wurde die Freiheitsglocke geläutet und die Flagge
gehißt. Und aus zwei deutschen Staaten wurde um Mitternacht wieder ein Deutsch-
land. Ich wärmte mich an der Kippe und wußte plötzlich, wo es langgeht in meinem
Leben... Ha!114
111 Diesen treffenden Ausdruck brachte Hartmut Böhme auf dem Symposion in die
Diskussion.
112 Kara (s. Anm. 1), S. 252.
113 In der Formulierung »Es war alles transit in unserem Leben« (Kara [s. Anm. 1],
S. 17) überlagert sich die türkisch-deutsche Pendleridentität von Hasans Familie auf
sprechende Weise mit einem Begriff des innerdeutschen Grenzverkehrs.
114 Kara (s. Anm. 1), S. 382.
115 Vgl. S. 8.
768 Martina Wagner-Egelhaaf
Diskussionsbericht
1 Ulrich Schmidels Reise nach Süd-Amerika in den Jahren 1534 bis 1554. Nach der
Münchner Handschrift, hg. von Valentin Langmantel, Tübingen 1889
772 Rebekka Ladewig
einen Raum der Gegenwart, der sich in einer kontinuierlichen Bewegung er-
fahren läßt, im technikgeschichtlichen Zusammenhang mit der Entwicklung
des Orient-Express’ diskutiert; an die Stelle des metaphorischen Fluges, der
um 1800 im Ballon-Motiv Konjunktur hat, tritt hier mit der im Zug zurück-
gelegten terrestrischen Wegstrecke eine metonymische Bewegung, die den
Orient mit einer sukzessiven Erfahrung verbinde (Siegert; Polaschegg).
KYUNG-HO CHA legte mit seinem Beitrag über den als ›Weltrand‹, ›Ide-
enparadies‹ und ›Kolonialismus‹ konfigurierten Äquator eine ›heterotopolo-
gische Diskursgeschichte‹ vor, die von den Begegnungen des europäischen
Denkens mit der südlichen Hemisphäre erzählte. Gegenüber der in diesem
Band veröffentlichten Textfassung enthielt die Tagungsvorlage folglich einen
dritten Teil, der mit dem Kolonialismus des 19. Jahrhunderts Äquatorialafrika
als Lebensraum (für ›den Europäer‹) und die damit verbundenen Diskurs-
formation des sog. ›Tropenkollers‹ als europäisches Phantasma darstellte;
der um 1885 gesetzte Schnitt eröffnete ein drittes Untersuchungsfeld, das
die Diskursgeschichte epochenspezifischer Raumerfahrungen entlang der
von Foucault zugrundegelegten epistemischen Transformationen komplet-
tierte. Deren Korrelierung mit der Heterotopie-Typologie Foucaults (die bis
zur Frühen Neuzeit an der Peripherie der christlichen Ökumene verortete
Äquatorialgegend wurde dabei als Krisenheterotopie beschrieben; der Mitte
des 18. Jahrhunderts bei Linné mit einer Paradiesvorstellung verbundene
Äquatorialberg in der Weltmitte als Universalheterotopie; schließlich der
von Nietzsche geprägte und in diversen literarischen Vorlagen nachgewie-
sene topos des ›tropischen Menschen‹ als Abweichungsheterotopie) wurde
in der Diskussion kontrovers aufgenommen: Zum einen wurde im Sinne
der Selbstkritik Foucaults ein diskursanalytischer Ansatz infrage gestellt,
der mit der Bestimmung epochaler Abgrenzungskriterien immer auch die
Gefahr einer Totalisierung von Denkmustern birgt (Bergengruen; Tang); die
Kombinatorik der Foucaultschen epistemen mit spezifischen Heterotopiety-
pen dagegen wurde als methodisch originelles und produktives Unterneh-
men hervorgehoben (Siegert; Dünne). Der dabei entstehende Widerspruch
zwischen dem als geographische Linie gedachten Äquator und dem Konzept
der Heterotopie als ›Ort‹, ›Zone‹ oder ›anderer Raum‹ wurde im folgenden
durch die Akzentuierung der hetero/topographischen Dimensionen des Äqua-
tors sowohl in räumlich-geographischer als auch in systematischer Hinsicht
geglättet: So wurde darauf hingewiesen, daß in der frühen portugiesischen
Navigation nicht die Überquerung des Äquators selbst (vgl. ›Äquatortaufe‹),
sondern der Eintritt in die ›zona torrida‹, in die tropische, äquatornahe Zone
als Grenzritus inszeniert wurde (Dünne); darüber hinaus verbinde sich mit
dem Äquator das heterotopische Motiv (par excellence) des Spiegels bzw.
einer Spiegelachse, die im 18. Jahrhundert den karnevalesken topos der ›ver-
kehrten Welt‹ aufrief (Siegert).
Einen der zentralen Diskussionspunkte des Beitrages von CHRISTA KAR-
PENSTEIN-ESSBACH bildete die um die Problemkonfiguration von Migration,
Diskussionsbericht 775
erörtert wurde. Nicht nur die Kopplung von Tragik und Komik, vor allem
die pikaresken Züge der als ›Organon gesellschaftlicher Einflüsse‹ (Braese)
gezeichneten Protagonisten in vielen der behandelten Romane und Filme,
legten nahe, hinsichtlich der deutsch-türkischen Gegenwartsliteratur von
einem ›postkolonialen revival des Picaro‹ zu sprechen (Wagner-Egelhaaf).
Einer befürchteten Aufweichung des historisch fixierten Gattungsbegriffes,
die mit einer Dekontextualisierung der picaro-Figur aus dem zeitgenössischen
Kontext (der Inquisition) des 16. Jahrhunderts vorgenommen würde (Siegert),
wurde die erkenntnisleitende Funktion entgegengehalten, die mit der pika-
resken Typisierung der Romane bzw. Romanhelden vorgenommen werden
könne. So wurde abschließend angeregt, neben der (tendenziell inflationär
angewendeten) Kulturdifferenzdebatte mit der pikaresken Lesart der Romane
ein neues Instrumentarium zu entwickeln, das gerade den Kippmomenten,
der Gewalt und der Sprachlosigkeit gerecht würde (Polaschegg).
Abbildungsverzeichnis 779
Abbildungsverzeichnis
Personenregister
Laaths, Erwin 457, 475, 478 Malinowski, Bronislaw 410f., 629, 633f.
Labbé, Philippe 241 Man, Paul de 362, 726, 730, 739
Lacan, Jacques 10 Manutius, Aldus 230
Lamarck, Jean Baptiste 613 Manzoni, Alessandro 287
Lamartine, Alphonse de 573 Maria Theresia 336
Lampart, Fabian 287 Martyr, Pietro 680
Lamprecht, Pfaffe 21 Marx, Karl 469, 471ff., 489, 493, 565,
Lang, Fritz 575 576
Lasker-Schüler, Else 763 Mau, Leonore 700
Laßwitz, Kurd 521 Mauss, Marcel 410, 635, 637
Lau, Jörg 747 Mayer, Hans 456, 470
Laudonnière, René de 77, 82, 89f., 95 Mayer, Tobias 112f.
Le Bon, Gustave 489 McCagg, William O. 348
Le Moyne, Jacques 77f., 82, 89, 95, 99 Mead, Margaret 411
Le Vavasseur, Gustave 573 Meder, Michael 297
Lehmann, Johann Georg 157ff., 171, 174 Meier, Heinrich 147
Leibniz, Gottfried Wilhelm 130, 215f., Mendelssohn, Moses 222, 341ff.
222, 367f. Mercator, Gerardus 6
Lenné, Peter Joseph XXII Merian, Matthäus 75
Lessing, Gotthold Ephraim 221f., 231, Merleau-Ponty, Maurice 133, 216
242, 266f., 270, 273, 275, 280, 338f., Merz, Friedrich 747
341 Mescha, Dora 711
Lever, Sir Ashton 637 Metternich, Fürst von 348
Lévinas, Emmanuel 366 Meyrink, Gustav 530
Lévi-Strauss, Claude 76, 445, 702, 713f., Michaelis, Johann David 101, 103ff.,
716, 718 109, 666
Lewin, Kurt 194 Millar, John 632
Lian, Yang 381 Miller, J. Hillis 330
Link, Jürgen 653, 656 Moldenhauer, Eva 713
Linné, Carl von 602, 606, 676, 687ff., Molière (= Jean-Baptiste Poquelin) 271,
691ff. 277f.
Livingston, David 619 Monmouth, Geoffrey von 253
Livius 437 Montaigne, Michel de 422ff.
Locke, John 726f. Moretti, Franco 253
Locke, Richard Adams 520 Morgenstern, Christian 388
Lohenstein, Daniel Caspar von 271, Morrison, Toni 331
714f. Morus, Thomas 410, 424ff., 602, 676ff.
London, Jack 762 Moser, Christian 404
Lorca, Federico García 763 Moss, Roger 413f.
Lösch, Klaus 754ff. Mühlmann, Wilhelm E. 222, 377
Lotman, Jurij M. 264, 271, 289, 404 Murray, Les 381
Louis XIII. 299 Musil, Robert 372, 406
Louis XIV 164 Myers, David N. 329, 331f.
Lovecraft, H. P. 527
Lowth, Robert 666 Napoleon 320, 536-558, 580
Luhmann, Niklas 224, 316, 487, 493 Narciss, Georg Adolf 375
Lullus, Raimundus 389 Naumann, Friedrich 463
Luther, Martin 48, 241 Navarra, Margarete von 310
Luxemburg, Rosa 762 Negri, Antonio 462, 465
Neumann, Gerhard 142, 615, 623
Magellan, Ferdinand 81 Newton, Isaac XVI, 137, 215f., 676,
Mähl, Hans-Joachim 517 687ff.
Malingre, Claude 295 Nicolai, Friedrich 281f.
788 Personenregister
Autorenverzeichnis
Prof. Dr. Willi Bolle, Universidade de São Paolo, Departamento de Letras Moder-
nas FFLCH, Av. Luciano Gualberto, 403, 05508-040, São Paulo, (willibolle@
yahoo.com).
Prof. Dr. Stephan Braese, Technische Universität Berlin, Institut für Literaturwis-
senschaft, Straße des 17. Juni 135, 10623 Berlin, (stephanBraese@aol.com).
Dr. Ingo Breuer, Universität zu Köln, Institut für deutsche Sprache und Literatur,
Albertus-Magnus-Platz, 50931 Köln, (ingo.breuer@uni-koeln.de).
Prof. Dr. Franz Eybl, Universität Wien, Institut für Germanistik, Dr. Karl-Lueger-
Ring 1, A-1010 Wien, (franz.eybl@univie.ac.at).
PD Dr. Daniel Fulda, Universität zu Köln, Institut für deutsche Sprache und
Literatur, Albertus-Magnus-Platz, 50923 Köln, (D.Fulda@uni-koeln.de).
Dr. Torsten Hahn, Universität zu Köln, Institut für deutsche Sprache und Literatur,
Albertus-Magnus-Platz, 50923 Köln, (torsten.hahn@uni-koeln.de).
PD Dr. Sabine Haupt, Universität Freiburg, Institut für Allgemeine und Verglei-
chende Literaturwissenschaft, Dept. für Germanistik 20, Av. de l’Europe, CH-
1700 Fribourg, (sabine.haupt@unifr.ch).
Prof. Dr. David Martyn, Macalester College, German Studies, 1600 Grand Ave-
nue, St. Paul, MN 55105, (martyn@Macalester.edu).
PD Dr. Hans Jürgen Scheuer, Universität Stuttgart, Institut für Allgemeine und
Vergleichende Literaturwissenschaft, Abt. Germanistische Mediävistik, Kepler-
straße 17, 70174 Stuttgart, (hans.scheuer@ilw.uni-stuttgart.de).
PD Dr. Eva-Maria Siegel, Universität Köln, Institut für deutsche Sprache und
Literatur, Albertus-Magnus-Platz, 50923 Köln, (Eva-Maria.Siegel@uni-koeln.
de).