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Gesetzesauslegung
im Strafrecht
Eine Analyse der höchstrichterlichen
Rechtsprechung
Von
Eric Simon
asdfghjk
Duncker & Humblot · Berlin
ERIC SIMON
Gesetzesauslegung im Strafrecht
Strafrechtliche Abhandlungen · Neue Folge
Begründet von Dr. Eberhard Schmidhäuser (†)
em. ord. Prof. der Rechte an der Universität Hamburg
Band 161
Gesetzesauslegung
im Strafrecht
Eine Analyse der höchstrichterlichen
Rechtsprechung
Von
Eric Simon
asdfghjk
Duncker & Humblot · Berlin
Zur Aufnahme in die Reihe empfohlen von
Professor Dr. Michael Hettinger, Mainz
Vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2004 von der rechts- und wirt-
schaftswissenschaftlichen Fakultät der Johannes Gutenberg-Universität Mainz
als Dissertation angenommen. Später ergangene Rechtsprechung konnte bis Ok-
tober 2004 berücksichtigt werden.
Herzlich danken möchte ich meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Michael
Hettinger, der mir bei meiner Reise ins Ungewisse großes Vertrauen schenkte
und viel Geduld bewies. Er hat die Arbeit durch zahlreiche Gespräche und
fachlichen Rat gefördert, mir aber auch durch freundlichen Zuspruch über
manch schwierige Phase hinweggeholfen. An die langjährige Tätigkeit als Mit-
arbeiter an seinem Lehrstuhl in Mainz werde ich nur mit Wehmut zurückdenken
können.
Dank schulde ich außerdem Herrn Prof. Dr. Jan Zopfs, der die Mühe der
Zweitkorrektur schnell und während des Vorlesungsbetriebes bewältigte, was
ich angesichts des Umfanges der Arbeit nicht erwarten konnte. Weiterhin danke
ich den Herren Prof. Dr. Ernst-Walter Hanack und Prof. Dr. Justus Krümpel-
mann für die vielen unterstützenden Worte, der Lang-Hinrichsen-Stiftung für
den großzügigen Druckkostenzuschuß und schließlich Herrn Prof. Dr. Friedrich-
Christian Schroeder für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe „Strafrechtliche
Abhandlungen“.
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 612
Entscheidungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 641
Gesetzesverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 656
Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 663
Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 670
I. Einleitung/Auswahl des Materials
Das Verfahren der Praxis bei der Anwendung des Gesetzes genießt kein ho-
hes Ansehen. Aus der Wissenschaft wird der Vorwurf der Beliebigkeit erhoben
oder sogar das Scheitern der Methodenlehre selbst konstatiert. Aber auch in der
Öffentlichkeit wird seit jeher der Umgang der Juristen mit dem Gesetz argwöh-
nisch betrachtet und der Verdacht gehegt, daß Juristen ihr methodisches Instru-
mentarium zur Begründung jedes nur erwünschten Ergebnisses nutzen können.1
Vorliegende Untersuchung geht davon aus, daß die kritische Beurteilung der
Praxis zunächst einer ausreichenden und repräsentativen Beschreibung der tat-
sächlichen Verfahrensweise bedarf und der Vorwurf des Scheiterns häufig ohne
genügende Grundlage erfolgt.2 Jedenfalls für das Gebiet des Strafrechts soll hier
Abhilfe geschaffen werden, indem die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes
in Strafsachen auf methodologische Fragestellungen hin geprüft und das um-
fangreiche Material unter diesem Gesichtspunkt systematisch zu einer Art Dog-
matik der Auslegungspraxis aufbereitet wird.
Bei einer Untersuchung der Rechtsprechung ist ein realistischer Maßstab zu-
grunde zu legen. Von ihr kann nicht erwartet werden, daß sie eine selbst ausge-
arbeitete und widerspruchsfreie „Theorie der Praxis“ vorweist. Freilich ist sie
„Anwendungsinstanz wissenschaftlich produzierter Methoden“3 und bedient
sich der in der Methodenlehre geläufigen Argumente. Deshalb muß die Praxis,
auch wenn sie sich selbst nicht als „angewandte Methodenlehre“ versteht,4 sich
1 Aus der Diskussion in der Tagespresse siehe z. B. Bohl, F.A.Z. 13.2.1999, S. 13:
blems selbst geht, nicht um den methodischen Weg, der zu den unterschiedlichen An-
sichten geführt hat; näher unten VII 1 c.
2. Gang der Darstellung/Orientierung am „Auslegungskanon‘‘ 17
12 Z. B. BGHSt 6, 394 (396): „Aber durch den Wortlaut ist die Auslegung der Be-
stimmung nicht begrenzt; es kommt vielmehr auf den Sinn und Zweck an, den der
Gesetzgeber – nach ihrer Stellung im Gesetz – erkennbar verfolgt hat.“
13 Unbedingt lesenswert z. B. OGHSt 3, 44; DOG NJW 1950, 652; RGSt 12, 371.
14 Gerade Rechtsprechungsabweichungen ermöglichen eine genauere Sicht auf die
tion der Rechtsfragen bei den Revisionsgerichten gibt.16 Ferner gehört dazu das
schwierige Verhältnis der Normexegese zu den Präjudizien, denen mit dem
„Altern der großen Kodifikationen“17 zunehmendes Gewicht zukommt und die
Rechtsanwendung in Richtung „case law“ treibt18. Besonders drastisch kommt
diese Entwicklung bei Normen zum Ausdruck, die zum Urbestand des StGB
gehören und schon damals in ihrer Fassung verunglückt waren.
Finden (fanden je) die klassischen Auslegungskriterien z. B. auf § 263 I StGB An-
wendung oder mußten nicht erst Theorie und Praxis einen adäquaten und handhab-
baren Tatbestand konstruieren? So nimmt es nicht Wunder, daß keine der zahlrei-
chen zu § 263 I StGB ergangenen Entscheidungen des BGH für vorliegende Arbeit
von besonderem Interesse ist. Auch weitere, grundlegende Vorschriften des StGB
wecken Zweifel, ob die Normkonkretisierung stets durch „Auslegung“ erfolgt, etwa
bei den §§ 185, 193, welche die Praxis aufgrund verfassungsrechtlicher Implikatio-
nen eher einem Verfahren der „Abwägung“ unterzieht.19 Damit soll nicht der Wert-
losigkeit des methodologischen Instrumentariums das Wort geredet, sondern auf
Konstellationen hingewiesen werden, die unter Umständen nach anderen, gesondert
zu untersuchenden Regeln zu behandeln sind.
Eine weitere Einschränkung des Untersuchungsgegenstandes, die nicht beab-
sichtigt war, zeichnete sich im Lauf der Untersuchung immer deutlicher ab:
Ganz überwiegend wird es um die Auslegung von Vorschriften gehen, deren
Abstraktionsgrad im wesentlichen von geringerer Art ist. D.h., daß die Normen
des StGB-BT, des Nebenstrafrechts, des Strafverfahrensrechts und diejenigen
Vorschriften des StGB-AT, deren Regelungsgehalt im Gesetz sehr konkret aus-
formuliert ist (Einziehung, Entziehung der Fahrerlaubnis u. ä.), häufiger Gegen-
stand der Betrachtung sein werden als die „ganz allgemeinen“ Normen des
StGB-AT.20 Bei diesen ganz allgemeinen Fragen wie z. B. den Voraussetzungen
des fahrlässigen Delikts und des Unterlassungsdelikts, der Kausalität, von Täter-
schaft und Teilnahme, der Irrtumslehre, möglicherweise sogar dem Deliktsauf-
bau insgesamt tritt die Tätigkeit der Normexegese mit ihren hermeneutischen
Verstrickungen zugunsten einer allgemeinen Strafrechtslehre, wenn man so will,
(288).
18 Vgl. Raisch, Vom Nutzen, S. 65 ff.; siehe auch Luhmann, Recht der Gesellschaft,
ist, wie viele Konflikte zwischen Wortlaut und Billigkeitserwägungen in der BGH-
Rechtsprechung zum AT doch zu finden sind.
20 I. Einleitung/Auswahl des Materials
hinter einer „Arbeit am System“21 zurück. Das schließt nicht aus, daß auch in
diesen Fragen einmal Norminterpretation im klassischen Sinn betrieben werden
kann22, daß etwa bei der Anwendung von § 25 II StGB23 oder von §§ 16, 17
StGB24 die Entstehungsgeschichte der Norm befragt wird. Aber im ganzen ge-
sehen sind diese Fälle marginal, und es ist kein Zufall, wenn in diesem Bereich
(z. B. bei § 13 StGB) Fragen der juristischen Logik und Auslegungslehre nur
eine geringe Rolle spielen25, aber statt dessen das verfassungsrechtliche Be-
stimmtheitsgebot an Bedeutung gewinnt.
Von einer statistischen Auswertung der amtlichen Sammlung wurde nur zu-
rückhaltend Gebrauch gemacht. Sicher kommt in der tatsächlichen Verwendung
bestimmter Auslegungskriterien eine gewisse Wertschätzung des Gerichts ge-
genüber dem jeweiligen Kriterium zum Ausdruck.26 Doch kann daraus ohne
eine qualitative Urteilsanalyse nichts Grundsätzliches, etwa zum Rang des Kri-
teriums innerhalb des Kanons, geschlossen werden. Daß z. B. der Argumentation
aus der Entstehungsgeschichte bei jüngeren Gesetzen größere Bedeutung zu-
kommt, ist keine überraschende Einsicht und erklärt zudem den normativen
Rang dieser Methode im Kanon noch nicht.27 Viel interessanter ist in diesem
Zusammenhang, ob der BGH sich in der Lage sieht, auch bei einem aktuellen
Gesetz den in den Materialien zum Ausdruck gekommenen „Willen des Gesetz-
gebers“ beiseite zu schieben (und wie er das bewerkstelligen würde). Wenn ja,
könnte das für die These von Naucke sprechen, wonach die Praxis die subjek-
tive Auslegung nur nutzt, wenn sie das zuvor bereits gefundene (richtige) Er-
gebnis am besten „formulierbar macht“.28 Eine statistische Auswertung29 würde
auch an Phänomenen wie BGHSt 18, 156 (159) vorübergehen, wo der BGH
dem Argument Entstehungsgeschichte generell und apodiktisch jeden Wert ab-
spricht, dann aber seitenweise Ausführungen zu dieser (irrelevanten?!) Frage
folgen läßt. Einzelheiten sollen hier aber nicht vorweggenommen werden.
recht. Ihr Gebrauch und ihre Wertschätzung im Wandel unseres Jahrhunderts, 1982.
27 Eingehend unten IV 1 a (dort insbesondere Fn. 16 und der dazugehörige Text).
28 Naucke, in: FS für Engisch, S. 279; siehe auch Wassermann, DRiZ 1986, 201
(204): „Im Zweifelsfall entscheidet oft, welcher Urteilsinhalt sich am leichtesten be-
gründen läßt.“
29 Siehe z. B. Raisch, Vom Nutzen, S. 39–41 und 88–92 (m. E. wenig aussagekräftig).
3. Auswahl des Materials/Eingrenzungen 21
Erwähnt sei, daß auf die CD-ROM-Version von „BGHSt“ (Band 1–44) zurückgegrif-
fen wurde, aber nicht um ernsthaft Statistik im o. g. Sinn zu betreiben. So wird es
kaum hilfreich sein, dort nach Stichworten wie „Auslegung“ (2064 Mal), „Entste-
hungsgeschichte“ (451 Mal, gleichmäßig über die amtliche Sammlung verteilt) oder
„Sinn und Zweck“ (409 Mal) zu suchen. Gleichwohl soll der Wert solcher Recher-
chen nicht ganz in Abrede gestellt werden.30 So könnte aus der Tatsache, daß der
Ausdruck „Wesen“ in den Bänden 1–22 der amtlichen Sammlung 279 Mal auf-
taucht, während das in den Bänden 23–44 nur 85 Mal der Fall ist, natürlich Hypo-
thesen gefolgert werden. Durchaus weiterführend ist diese Art der Auswertung vor
allem bei selten verwendeten Argumentationsmustern, bei denen Zweifel bestehen,
ob es sich dabei um Unikate handeln könnte, z. B. der Auslegungsgrundsatz, wo-
nach Vorschriften zur Unterbrechung der Verjährung „loyal zu handhaben sind“31.
Als relevant für vorliegende Arbeit erwiesen sich ca. 500 Entscheidungen,
wovon etwa 100 methodologisch besonders interessant sind. Noch geringer ist
der Anteil der „Lehrstücke“ zur Methodenlehre oder derjenigen Entscheidun-
gen, in denen der BGH sich explizit zu Methodenaussagen hinreißen läßt. Nur
ein hinreichend großes, qualitativ ausgewertetes Datenmaterial läßt vom hier
vertretenen Standpunkt aus generalisierende Betrachtungen zu einer „Methode
der Praxis“ zu. Wer aus der Analyse nur weniger Entscheidungen den Vorwurf
der Beliebigkeit, Methodenwillkür und Irrationalität erheben will32, muß sich
die Frage gefallen lassen, ob die Praxis in der ganz überwiegenden Zahl von
Fällen nicht doch zu methodisch einwandfrei begründeten Lösungen gelangt.33
Zu Wort kommen hier nicht nur die Strafsenate des BGH, sondern auch die
zahlreichen Verfasser von Entscheidungsanmerkungen. Nicht interessieren soll,
ob diese Autoren gegenüber dem BGH die besseren Fallösungen anbieten kön-
nen, sondern ob sie überhaupt die methodologischen Gesichtspunkte aufgreifen
und dem Gericht in dieser Hinsicht handwerkliche Mängel nachweisen können.
Vorweggenommen sei die wenig überraschende Feststellung, daß die Bereit-
schaft, Fragen der Methodik zu reflektieren, stark von den persönlichen Neigun-
gen des jeweiligen Autors abhängt: Wer besonderes Interesse an der Rechtstheo-
rie hat, wird etwa die Entscheidung des Großen Senats für Strafsachen zur
„Rechtsfolgenlösung“ bei § 211 StGB (BGHSt GS 30, 105) eben unter diesen
Aspekten erörtern34, wem mehr an rein dogmatischen Fragen oder an den Fol-
gen der Entscheidung für die weitere Praxis liegt, wird dazu Stellung nehmen35.
fühls bei der Gesetzesanwendung und – fast ausschließlich auf BGHSt 1, 1 rekurrie-
rend – Kaufmann, Verfahren der Rechtsgewinnung.
33 Eine Verzerrung liegt freilich bereits in der Beschränkung auf Entscheidungen
der Revisionsgerichte.
34 Z. B. Bruns, JR 1981, 358; Köhler, JuS 1984, 762.
35 Lackner, NStZ 1981, 348; kriminalpolitisch-soziologisch Frommel, StV 1982, 533.
22 I. Einleitung/Auswahl des Materials
Nichts anderes wird für die Strafsenate des BGH gelten, in denen die Sensibili-
tät für Methodenfragen nicht zuletzt von der Zusammensetzung des Senats36,
von den Fähigkeiten oder Interessen des Berichterstatters, von Persönlichkeit
und Einfluß des Vorsitzenden abhängen dürfte.
Die Untersuchung spiegelt in gewisser Hinsicht eine Art Auslegungsge-
schichte der letzten 50 Jahre wider, ohne den schwerlich erfüllbaren Anspruch
zu verfolgen, genau abgrenzbare Epochen herauszuarbeiten.37 Allenfalls in ein-
zelnen Aspekten wird man verläßliche Entwicklungslinien aufzeigen können,
wie etwa in der Frage, ob der Wortlaut stets als Grenze der Auslegung aner-
kannt wurde oder wie sich die Rechtsprechung explizit über den Wert histori-
scher Auslegung äußert.38 Die Erörterung von Entscheidungen zu nicht mehr
aktuellen Rechtsfragen ermöglicht es darüber hinaus, Schlüsse über das Koope-
rationsverhältnis von Rechtsprechung und Gesetzgeber zu ziehen, insbesondere
zu prüfen, ob der Gesetzgeber seiner „Produktbeobachtungspflicht“39 genügt,
indem er den Umgang der Praxis mit dem Gesetz verfolgt und entsprechende
Konsequenzen daraus zieht. Deshalb werden gesetzgeberische Reaktionen auf
Auslegungsprobleme des öfteren dokumentiert. In ihnen zeigt sich nicht nur kri-
minalpolitischer Aktionismus (Schließung von „Strafbarkeitslücken“), sondern
auch der Wille und die – nach wohl schon herrschender Auffassung: nachlas-
sende – Fähigkeit zur Pflege der strafrechtlichen Kodifikationen.
4. Formale Aspekte
Loos (in: FS für Wassermann, S. 123) sein, eine Geschichte der Auslegungszielbestim-
mung zu schreiben; vgl. insoweit allerdings Ogorek, Richterkönig oder Subsumtions-
automat, S. 158 ff.
39 W. Meyer, in: von Münch/Kunig, GG, Bd. 3, Art. 97, Rn. 23.
II. Methodologische Vorbemerkungen
Vorliegende Arbeit stellt der Rechtsprechung kein eigenes Modell der Rechts-
anwendung entgegen, sondern versucht, sie an den gängigen Lehren zu messen.
Die folgenden Vorbemerkungen sollen einige begriffliche und inhaltliche Klar-
stellungen auf dem sehr umstrittenen Gebiet der Methodenlehre erreichen, um
der weiteren Darstellung einen Rahmen zu geben und sie von rechtstheore-
tischen Grundfragen zu entlasten. Darüber hinaus dient der Vorspann1 dazu,
Möglichkeiten und Grenzen einer Argumentationsanalyse aufzuzeigen.
Grundlage der Methodenlehre ist nach wie vor trotz seines „ehrwürdigen Al-
ters“2 der allerdings viel gescholtene „Kanon“ mit seinen Kriterien der gramma-
tikalischen (semantischen), entstehungsgeschichtlichen (historischen), systema-
tischen (logisch-juristischen) und teleologischen Auslegung. Zusammen dienen
diese Kriterien einerseits – stellt man eine abstrakte Normexegese in den Vor-
dergrund – dazu, Sinn und Bedeutung der Vorschrift zu erfassen, also die
Rechtstexte zu verstehen.3 Gerät dagegen die Fallanwendung in den Blickpunkt,
ist es Ziel der Interpretation, die Anwendung der Norm durch eine Konkretisie-
rung ihres Inhalts vorzubereiten4, bis eine Übereinstimmung mit oder eine Dif-
ferenz zu dem ermittelten Sachverhalt festgestellt werden kann. In diesem Ge-
perdey, Allgemeiner Teil, S. 198: „Ziel der Auslegung ist die Klarstellung des maßge-
benden Sinnes eines Rechtssatzes“.
4 Coing, Methodenlehre, S. 37: Auslegung des Gesetzes dient seiner Anwendung.
Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 335: „Aufgabe des Auslegens ist die Konkretisie-
rung des Gesetzes im jeweiligen Fall.“ Bezeichnend der Titel der Schrift „Auslegung
als Normkonkretisierung“ von C. Seiler.
24 II. Methodologische Vorbemerkungen
2. Rangordnung
Als weitere ungeklärte Frage der Gesetzesanwendung stellt sich die nach der
Rangordnung der Kriterien innerhalb des Kanons. Dieser Aspekt ist mit dem
überwunden werden.
6 Christensen/Kudlich, JuS 2002, 144 f. und Theorie richterlichen Begründens,
zuvor behandelten eng verwoben und vielleicht gar nicht davon zu unterschei-
den.12 Die Anhänger einer (strengen) subjektiven Theorie werden ohne viel Ar-
gumentationsaufwand zu stimmigen Lösungen gelangen,13 während Vertreter
von gemäßigten Varianten beider Theorien Erhebliches leisten müssen. Hierzu
ergangene Äußerungen der Rechtsprechung kommen eingehend zu Wort. Das
Problem der Rangfolge ist selbstverständlich zentraler Gesichtspunkt jeder Me-
thodenlehre und gerade hier zeigt sich, wie Rechtstheorie in Kontakt mit dem
Verfassungsrecht gerät. Zentrale Frage ist insofern, ob die methodenrechtlich
relevanten Normen des Grundgesetzes (Art. 20 III, 97 I, 103 II, u. U. Art. 3)
gewisse Vorrangregeln vorgeben.14 Bereits hier sei auf die Schwierigkeiten und
Grenzen hingewiesen, aus der Verfassung, deren Normen ihrerseits der Ausle-
gung mit allen damit verbundenen Fragen unterliegen, methodologisch Binden-
des herzuleiten.15
Was wäre etwa, wenn es in den Gesetzesmaterialien zu Art. 20 III GG hieße, die
Bindung an das Gesetz umfasse zugleich eine Bindung an den sich aus den Materia-
lien ergebenden Gesetzesinhalt bzw. an den historischen Willen des Gesetzgebers?16
Die Rechtsprechung würde dieses Paradox wahrscheinlich ganz kühl mit der soge-
nannten Andeutungstheorie17 beiseite schieben – die Auffassung des Parlamentari-
schen Rates hätte insoweit keinen Ausdruck im Gesetzestext gefunden! –, doch
würde die genannte Konstellation gerade die Frage nach der Zulässigkeit der „An-
deutungstheorie“ aufwerfen. – Oder als weiteres Beispiel: Muß aus der Fassung des
Art. 97 I GG (Bindung an das „Gesetz“ statt an den „Willen des Gesetzgebers“)
nicht der Gegenschluß gezogen werden, daß außerhalb liegende Faktoren wie die
StGB, § 1, Rn. 117 und 121) ist die subjektiv-historische Auslegung im Strafrecht
zwar grundsätzlich zu begrüßen, doch tauge sie aufgrund eigener Friktionen nicht als
„Meta-Theorie“.
14 Näher Hoerster, JuS 1985, 665 (667 f.); Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 812; Koch/
genstand richterlicher Interpretation; Stern, NJW 1958, 695 (r. Sp.): Ohne petitio prin-
cipii ist aus dem positiven Recht hierfür nichts zu gewinnen; Bydlinski, in: Festgabe
50 Jahre BGH, Bd. I, S. 5: „fruchtlose Gewohnheit“; anders z. B. Christensen, Was
heißt Gesetzesbindung, S. 219 ff. und Hoerster, JuS 1985, 665 (667 f.): Der Inhalt von
Art. 97 I GG sei ohne Regreß bestimmbar und bestehe in der Maßgeblichkeit des Ge-
sagten statt des Gewollten. Zur Paradoxie bei der Auslegung von gesetzlichen Aus-
legungsregeln siehe Engisch, Einführung, S. 117.
16 Wäre z. B. die Aussage in BVerfGE 1, 299 (312) – „Maßgebend für die Auslegung
einer Gesetzesvorschrift ist der in dieser zum Ausdruck kommende objektivierte Wille
des Gesetzgebers, so wie er sich aus dem Wortlaut der Gesetzesbestimmung und dem
Sinnzusammenhang ergibt, in diese hineingestellt ist. Nicht entscheidend ist dagegen
die subjektive Vorstellung der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organe oder ein-
zelner ihrer Mitglieder über die Bedeutung der Bestimmung.“ – damit zu vereinbaren?
17 Vgl. die soeben zitierte Passage aus BVerfGE 1, 299 (312).
26 II. Methodologische Vorbemerkungen
Materialien eben keine Berücksichtigung finden dürfen?18 Und sind die Materialien
überhaupt außerhalb des „Gesetzes“ liegende Gesichtspunkte?
Gleichwohl soll der Einfluß des Verfassungsrechts auf die juristische Metho-
denlehre hier keineswegs negiert werden. Gerade aus den Gesichtspunkten der
Gewaltenteilung und der Gesetzesbindung der Judikative sollten auch für eine
(strafrechtliche) Methodenlehre einige Konsequenzen folgen, nämlich in erster
Linie, daß im Mittelpunkt der Rechtsanwendung der Nachvollzug einer gesetz-
geberischen (fremden!) Wertung oder – hermeneutisch formuliert19 – die Suche
nach den Antworten stehen muß, die der Gesetzgeber einer rechtspolitischen
Frage beigelegt hat. Damit ist hier noch keine Vorentscheidung für eine „sub-
jektive Theorie“ der Auslegung gefallen, die sich erst an problematischen und
später erörterten Konstellationen bewähren muß, sondern nur vorsichtig eine
erste Vorrangregel angedeutet: Die feststellbare20 Wertung des Gesetzgebers
darf nicht durch eine andere (richterliche!) ersetzt werden.
3. Auslegung/Rechtsfortbildung
Nutzen, S. 32): „Die verfassungsrechtliche Bindung an das Gesetz läßt die Heranzie-
hung von Materialien als legitim erscheinen.“
19 Vgl. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 375 ff.; Marquard, in: Abschied vom
Prinzipiellen, S. 118.
20 Kriterien hierfür bedürfen ebenfalls einer näheren Betrachtung.
21 Dagegen z. B. Hassemer, in: Strafen im Rechtsstaat, S. 29 und AK-StGB, § 1,
Rn. 95 m. w. N., der Art. 103 II GG auf andere Weise Geltung verschaffen will, und
Kaufmann, zuletzt in „Verfahren der Rechtsgewinnung“, S. 8 f. und passim.
22 Schon gar nicht die Lehren, die dem Normtext jede Bindungskraft absprechen,
z. B. Grasnick, GA 2000, 153 (156 f.): Gesetze seien lediglich „Topoi“ im Rahmen
juristischer Argumentation.
23 Aus sprachwissenschaftlicher Sicht als eher „eher oberflächliche Einsicht“ be-
S. 146: „Läßt sich juristische Tätigkeit überhaupt mit hermeneutischen Kriterien mes-
sen? Daraus folgt die Frage, ob der Begriff der Analogie in sprachwissenschaftlichem
Sinne mit derselben Bedeutung verwendet wird, wie der Begriff der Analogie im
4. Nachbarwissenschaften 27
4. Nachbarwissenschaften
Schon die Bezeichnungen der Einzelkriterien machen deutlich, daß der Ka-
non vielfältige Bezüge zu Nachbarwissenschaften eröffnet. Sprachwissenschaf-
ten, Geschichtswissenschaften, Soziologie, Logik, Hermeneutik, Wissenschafts-
theorie, sogar Philosophie im allgemeinen weisen zahlreiche analoge Fragestel-
lungen auf, denen sich auch Juristen nicht vollständig zu entziehen vermögen.
Und weitergehend haben verschiedene Strömungen entweder von außen oder
durch ihre Rezipienten innerhalb der Jurisprudenz die traditionelle juristische
Methodenlehre z. T. grundsätzlich in Frage gestellt. Ungeachtet dessen hat sich
vor allem die juristische Praxis demgegenüber als hinreichend resistent erwie-
sen28 und an Bewährtem festgehalten. Die Praxis tut gut daran, auf diesem kon-
verstanden, z. B. Mayer, Strafrecht, S. 121; BGHSt GS 2, 194 (203); anders als hier
auch Kaufmann, Verfahren der Rechtsgewinnung, S. 12.
26 Siehe Franke, in: LR-StPO25, § 132 GVG, Rn. 36.
27 Vgl. das Zitat in Kap. I, Fn. 12!
28 II. Methodologische Vorbemerkungen
merkwürdig, daß gerade ein methodologischer Avantgardist wie Grasnick auf diesen
Satz rekurriert, vgl. JR 1998, 179 (181) – offenbar hält Grasnick den Beweis für die
Überlegenheit und Durchführbarkeit eines neuen Konzepts für erbracht.
31 Wer die neuen Autoritäten der Methodenlehre sind, kann nachgelesen werden bei
S. 48, Fn. 84) hinsichtlich der methodologischen Vorstellungen von Lüderssen: „sur-
realistische Interpretationstheorie“!
33 So Rüthers (Rechtstheorie, Rn. 158) für die Hermeneutik. Daß Juristen den Re-
kurs auf sprachwissenschaftliche Erkenntnisse scheuen, wird nach Lektüre des entspre-
chenden Kapitels bei Koch/Rüßmann (Begründungslehre, § 16) verständlich; die Auto-
ren erbitten sich selbst vom geneigten Leser Durchhaltevermögen! (Vgl. a. a. O.,
S. 133.) Keinen für die Jurisprudenz verwertbaren Zustand der Sprachphilosophie, ins-
besondere der Pragmatik sieht Hilgendorf, Argumentation, S. 55.
34 Interessant für das wechselseitige Verhältnis von Linguistik und Jurisprudenz
(beschäftigen Juristen sich mit der Linguistik oder Linguisten mit der Juristerei?)
Busse, Juristische Semantik, S. 14 ff. Wegen der Eigenheiten der Rechtswissenschaft
skeptisch zum Nutzen linguistischer Erkenntnisse Wank, Begriffsbildung, S. 10 ff.
Zum problematischen Rekurs der juristischen Methodik auf Wittgenstein siehe Ladeur,
ARSP 1991, 176 (187); zum Ganzen Bydlinski, Methodenlehre, S. 303, Fn. 241.
5. Syllogismus/Subsumtion 29
5. Syllogismus/Subsumtion
Das Interesse vorliegender Studie gilt der Frage, wie die Rechtsprechung die
als relevant erkannten Normtexte zubereitet, bis der „Subsumtionsschluß“ ge-
lingt oder scheitert. Keiner Betrachtung unterzogen werden Probleme, die mit
dem Auffinden des maßgeblichen Rechtssatzes verbunden sind35, zumal das
überschaubare Rechtsgebiet des Strafrechts in dieser Hinsicht zu vergleichs-
weise geringen Schwierigkeiten führt36. Nicht untersucht wird auch die nähere
Struktur des formal-logischen Syllogismus („modus barbara“) und sein Verhält-
nis zur „Subsumtion“ im engeren Sinn. Gegner eines „positivistischen“ Rechts-
gewinnungsverfahrens verzerren noch heute den „Justizsyllogismus“ karikatur-
haft, indem sie der traditionellen Lehre den Anspruch andichten, sie könne die
maßgeblichen Obersätze in einem logisch-deduktiven Verfahren gewinnen, das
zu einer einzig vertretbaren (zwingenden) Lösung führe. Ob ein solches Modell
überhaupt je propagiert wurde37, kann der rechtshistorischen Forschung überlas-
sen bleiben; jedenfalls wird man es heute nirgends finden. Die „Gegner“ führen
insofern ein Scheingefecht gegen ein selbst konstruiertes, „positivistisches“
Phantom38 – der alte Trick, eine Sache schlecht oder falsch darzustellen, um
ihre Leistungsfähigkeit zu bestreiten39 und um die eigene Auffassung von ei-
nem unvorteilhaft gezeichneten „Feindbild“ abzugrenzen. Allenfalls ein perfek-
tes „begriffsjuristisches“ System könnte dem gezeichneten Bild entsprechen und
selbst dann müßte man außer acht lassen, daß die logische Ableitung aus Be-
griffen deren Konstruktion notwendig voraussetzt.40 In vorliegender Arbeit wird
35 Nach Luhmann (Recht der Gesellschaft, S. 339) liegt darin ein zentrales Moment
fachlichen Könnens, und auch Engisch (Einführung, S. 73, Fn. 3) sieht in der Auswahl
der zu gewinnenden Rechtssätze ein Problem; anders offenbar Bydlinski, Methoden-
lehre, S. 392 ff.
36 Als Gegenbeispiel kann die Entscheidung BGHSt GS 42, 113 genannt werden, in
welcher der Große Strafsenat überraschenderweise (vgl. die Anm. von Kirsch, wistra
1996, 267 f.) dem Einigungsvertrag eine Regelung entnimmt, die den Vorinstanzen
und dem vorlegenden Senat entgangen war.
37 Zweifelnd, ob ein solches Leitbild tatsächlich im 19. Jahrhundert herrschend war,
lehre . . . überholt“; Engisch, ZStW 1978, 658 ff. (666): „Zerrbild“; beide in Rezensio-
nen zu F. Müllers „Juristischer Methodenlehre“; klarstellend aus Sicht der „Struktu-
rierenden Rechtslehre“ Laudenklos, KritJ 1997, 142 (144, Fn. 9). Ein völlig schiefes
Bild der gängigen Methodenlehre zeichnet Kaufmann, Verfahren der Rechtsgewin-
nung, u. a. S. 12, 13, 29. Zu unhaltbaren Zuschreibungen von Meinungen in diesem
Bereich siehe auch Hilgendorf, Argumentation, S. 56 ff.
39 Vgl. (in einem anderen Zusammenhang) Scheuerle, AcP 1972, 396 (443).
30 II. Methodologische Vorbemerkungen
vgl. unten II 7.
44 Zwischen BGHSt 25, 24 (28) und 43, 195 (198), taucht der Begriff in verschie-
6. Vorverständnis/Apokryphe Gründe
Eher von Bedeutung ist, ob der Kanon überhaupt als Methode der „Rechts-
findung“ angesehen werden kann oder ob er – ein seit der Freirechtsschule im-
mer wieder erhobener Vorwurf – von der Praxis lediglich herangezogen wird,
um einem auf anderem Weg (Rechtsgefühl, Vorverständnis, Vorurteil etc.) ge-
fundenen Ergebnis nur nachträglich den Anschein der Gesetzesübereinstim-
mung zu geben. Der Gegensatz zwischen Rechtsfindung und Rechtfertigung48
der Entscheidung entspricht der ebenfalls geläufigen Differenzierung zwischen
den Ebenen der Herstellung und der Darstellung49 eines Urteils. Andere spre-
chen insoweit vom Widerstreit zwischen kausalem und finalem Denken50 in der
Jurisprudenz, von „offiziellen“ und „apokryphen“ Gründen51. Wäre der Kanon
nicht in der Lage, die „wahren Gründe“ einer rationalen Entscheidungsfindung
abzubilden, wäre das Unternehmen einer Urteilsanalyse in der Tat in Frage ge-
stellt. Doch so weit muß selbst ein skeptischer Ansatz nicht führen. Daß die
Ebene der Herstellung von derjenigen der Darstellung zu unterscheiden ist,
wird hier vorausgesetzt. Ein erfahrener Praktiker wird nicht bei jeder Rechtsan-
wendung das gesamte Arsenal der Methodenlehre heranziehen müssen, sondern
auf sein geschultes und in der Praxis erweitertes Vorwissen52 zurückgreifen. Ein
Widerspruch zum Postulat rationaler Rechtserkenntnis besteht insoweit nicht,
wenn dem Richter bewußt ist, daß er sein vorgefundenes Ergebnis im Zweifels-
fall auf die Übereinstimmung mit dem Gesetz prüfen, eventuell revidieren und
die Übereinstimmung in der Darstellungsphase auch argumentativ begründen
muß.53 Spätestens hier wird er sich unter dem Druck revisionsrichterlicher Prü-
fung oder wissenschaftlicher Diskussion der überkommenen Techniken der Me-
S. 65 ff.
51 Barton, Die Revisionsrechtsprechung des BGH, S. 261.
52 Komplexer ist der Begriff des Vorverständnisses bei Esser, Vorverständnis und
Methodenwahl in der Rechtsfindung, S. 133 ff. (137). Nicht verwunderlich, daß Esser
später zu Klarstellungen gezwungen war (JZ 1975, 555: „Vorurteil im schlechten
Sinne und Vorverständnis bleiben zweierlei.“); siehe auch Kramer, Juristische Metho-
denlehre, S. 222 und Looschelders/Roth, Methodik, S. 71 ff.
53 Kramer, Juristische Methodenlehre, S. 223; Zippelius, JZ 1999, 112 (114, r. Sp.);
Zöllner, in: Tübingen-FS, S. 145 ff. Kaufmann, Verfahren der Rechtsgewinnung, S. 57:
Vorverständnis und Rechtsgefühl müssen offen sein für nötige Korrekturen.
32 II. Methodologische Vorbemerkungen
54 Mayer, Strafrecht, S. 117: „Es ist eine jedem Juristen geläufige Erscheinung, daß
man die richtige Entscheidung oft schneller findet, als die richtige Begründung.“
S. 118: „Einen Instinkt ohne Verstand gibt es nicht.“
55 Siehe Engisch, Einführung, S. 54, Fn. 16; Neumann, Juristische Argumentations-
kritischen Rationalismus die Methoden der Auslegung als Kriterien der Falsifikation
juristische Hypothesen auffaßt; ähnlich auch Loos, in: AK-StPO, Einl. III, Rn. 2.
6. Vorverständnis/Apokryphe Gründe 33
59 Vgl. Luhmann, Recht der Gesellschaft, S. 365. Auf dieser Grundlage propagiert
Adomeit (JZ 1980, 343 ff.) eine alternative Methode, die den Wert dogmatischer Aus-
sagen nach dem Grad ihrer Akzeptanz in einer (zufällig ausgewählten) Gruppe von
Juristen bemißt („Zertitätstheorie“). Bei großer Akzeptanz wäre der nötige Begrün-
dungsaufwand (einer Entscheidung, einer Klageschrift, eines Plädoyers) entsprechend
gering, bei zu erwartenden Zweifeln der Aufwand höher (S. 345).
60 Koch/Rüßmann, Begründungslehre, S. 116.
61 Esser, JZ 1975, 555 (557, r. Sp.). Das Anliegen Essers bestand eben nicht darin,
stanzen, die im Ergebnis als zutreffend (gerecht) erachtet werden, nur ungern aus rein
formalen Gründen (vgl. § 338 StPO) als rechtsfehlerhaft aufgehoben werden, zumal
wenn die Vorinstanz umfangreiche Beweisaufnahmen anstellen mußte oder Zeugen im
sensiblen Bereich des Sexualstrafrechts zu befragen waren; siehe z. B. BGHSt 45, 117
(unten Fall 356) und zum Ganzen Barton, Die Revisionsrechtsprechung des BGH,
S. 261 ff., mit dem Ausspruch eines ehemaligen Bundesrichters (S. 262): „Ein gold-
richtiges Urteil wird man doch nicht aufheben.“
63 Schlink, Der Staat 1980, 73 (89), der auch insofern Einsichten des Kritischen
Rationalismus heranzieht.
64 Honsell, Historische Argumente im Zivilrecht, S. 13.
65 Vgl. Kaufmann, Verfahren der Rechtsgewinnung, S. 57 f.
66 Loos, in: FS für Wassermann, S. 131. Siehe auch schon Bruns, GA 1955, 120 f.,
eher gestaltend: „objektiv“ –, so faszinierend sie erscheint, kann anhand der Urteils-
texte nicht überprüft werden. Entsprechende Studien mit anderen Fragestellungen
und anderen Untersuchungsmethoden gehören in den Bereich der Richterpsycholo-
gie oder Richtersoziologie.67 Nur nebenbei sei erwähnt, daß gerade Richterbefragun-
gen methodisch außerordentlich viele Verzerrungseffekte provozieren: Wie können
Richter dazu bewegt werden, ihre „wahren“ Gründe offenzulegen, ohne daß die Ten-
denz der Befragung zu deutlich offenbar wird? Interessant sind in diesem Zusam-
menhang freiwillige Stellungnahmen von Richtern zu vergangenen Verfahren, wie
das beeindruckende Bekenntnis des ehemaligen Richters am Reichsgericht Hartung
zu einem höchst umstrittenen Fall (RGSt 74, 84) zeigt, in dem Dogmatik sehr zu-
gunsten der Einzelfallgerechtigkeit zurücktreten mußte.68 Aber solche Äußerungen
sind aufgrund des Beratungsgeheimnisses selten und wohl auch nicht zuverlässig
genug, als daß sie generalisierbar wären.
Vorliegend kann nur untersucht werden, ob (aus Sicht der Rechtsprechung)
Verfassungsrecht und juristische Methodenlehre einen so weiten Spielraum
eröffnen, daß dermaßen persönlichkeitsabhängige Faktoren Einfluß gewinnen
können.
Die bisherigen Ausführungen lassen womöglich eine gewisse Nähe zu einer
sich in bewußter Abgrenzung zur traditionellen Methodenlehre entwickelnden
„Argumentationstheorie“ vermuten, die sich ebenfalls bemüht, Kriterien und
Regeln einer rationalen Entscheidungsbegründung zu entwickeln, ohne das Po-
stulat der Gesetzesbindung ganz aufzugeben.69 Vielleicht um selbst an Kontur
zu gewinnen, zeichnen auch diese (oft weiterführenden) Ansätze teilweise ein
verzerrtes Bild der gängigen Methodenlehre als „Subsumtionsideologie“, die ei-
nem strengen Gesetzesdeterminismus – das Gesetz gibt nur ein Ergebnis vor –
das Wort rede.70 Insoweit kann auf bereits Gesagtes verwiesen werden. Aber
davon abgesehen dürfte durch eine verstärkte Hinwendung zur Begründungs-
ebene71 die Verbindung zur herkömmlichen Lehre nicht abgebrochen sein.72
7. Forensischer Begründungsstil
Ein Teil der Mißverständnisse gegenüber dem beinah zum Feindbild avancier-
ten juristischen Syllogismus hat womöglich auch ein wenig mit den Besonder-
heiten des forensischen Begründungsstils zu tun. In der Tat vermitteln die Be-
gründungen revisionsgerichtlicher Urteile häufig den Eindruck, als sei das „ge-
fundene“ Ergebnis das einzig denkbare, obwohl das aufgeworfene Sachproblem
in der Rechtswissenschaft seit langem und heftig umstritten sein kann. Selbst in
den „unentscheidbaren Fällen“ („hard cases“), in denen die Rechtsdogmatik sich
anders als der unter Entscheidungszwang stehende Richter73 zurückhalten darf,
wird die Entscheidungsbegründung bestehenden Zweifel nicht den ihnen sach-
lich gebührenden Rang einräumen74. Die Begründung wird sogar die mit
ebenso guten Argumenten vertretbare Gegenauffassung als „unrichtig“ oder –
falls von der (irrenden) Vorinstanz befolgt – als „Verletzung des Gesetzes“
i. S. von § 337 StPO zurückweisen (müssen), während die gleichen Bundesrich-
ter die von ihnen abgelehnte Meinung in einem Aufsatz, Gutachten oder als
Prüfer in den juristischen Staatsprüfungen zumindest als „vertretbar“75 bezeich-
nen würden. Die besondere Schärfe bei der Zurückweisung der unterlegenen
Meinung entspricht folglich nicht nur einer juristischen Logik, die für gleichmä-
ßige Rechtsanwendung zu sorgen hat76, sondern einer (stilistischen) Forderung
des Revisionsrechts77, vielleicht der Gerichtsorganisation generell, welche die
Autorität eines Obergerichts fördern will78. Die Urteile sollen so gegen mögli-
che Einwände immunisiert werden79, wenngleich die Gerichte hin und wieder
auch vorsichtiger formulieren:
73 Luhmann, Recht der Gesellschaft, S. 312: „Die an sich endlose Interpretation der
um das Urteil nicht selbst in Frage zu stellen, vgl. Honsell, Historische Argumente im
Zivilrecht, S. 11, mit Nachweisen. Nach dem Motto „Ich liebe keine Gegenargumente.
Sie sind manchmal so überzeugend“ (O. Wilde). Die Ambivalenz macht Eser in einer
Anm. (JZ 1973, 171 [173]) deutlich: „Indes, ,forsches Abschmettern‘ gegenteiliger
Standpunkte, das dem einen als hoheitsvoll-selbstherrliches Judizieren imponieren
mag, kann dem anderen als Mangel von Gegengründen erscheinen.“
75 Je nach verlangter oder bevorzugter Rhetorik, im Aufsatz evtl. scharf, in der
Staatsprüfung großzügig. Mit der Bewertung der Gegenauffassung als „richtig“ werden
die Richter sich freilich schwertun, und von der „Wahrheit“ werden sie in keinem Fall
sprechen. Vgl. zu den Maßstäben Wahrheit, Richtigkeit und Vertretbarkeit Engisch,
Wahrheit und Richtigkeit; Adomeit, JZ 1980, 343 ff.
76 Vgl. Zippelius, Methodenlehre, S. 104: Die Aufgabe der Obergerichte, Ausle-
Fn. 813) kritisierte Äußerung des schweizerischen Bundesgerichts – „Richtig ist stets
nur eine Auslegung“ – gerechtfertigt werden.
78 Zur Begünstigung des autoritativen Stils durch das Rechtssystem siehe Luhmann,
So z. B. BGHSt 11, 365 (371): „Der Bundesfinanzhof ist in seinem Gutachten vom
13. Februar 1955 (BFH 60, 220) zu dem Ergebnis gekommen, nach dem Wortlaut
des Gesetzes sei es erlaubt, in Bayern obergäriges Bier zu vertreiben, das außerhalb
des Landes unter Verwendung von Zucker hergestellt worden ist. Diese Auslegung
ist möglich. Sie haftet jedoch nach Auffassung des erkennenden Senats zu sehr am
Worte und berücksichtigt zu wenig Sinn und Zweck des Gesetzes . . .“. – Oder
BGHSt 17, 267 (272): „Diese Betrachtungsweise [des vorlegenden OLG] entspricht
zwar anerkannten Regeln der Auslegung; sie führt aber nur dann zu richtigen Ergeb-
nissen, wenn der Zweck der auszulegenden Rechtsnorm in seiner Gesamtheit richtig
erfaßt wird.“ Dem werde das OLG nicht gerecht.80
Im Einzelfall kann das Rechtsystem sogar einen anderen Maßstab festlegen,
etwa bei der Frage der Gerichtszuständigkeit, wo nicht überzeugende, aber im-
merhin vertretbare Annahmen der Vorinstanz keiner Beanstandung unterliegen,
vielmehr nur auf Willkürlichkeit oder grobe Fehler untersucht werden.
So liegt es etwa bei den „fehlerhaften“, aber dennoch „wirksamen“ Verweisungen
gemäß § 270 StPO.81 Instruktiv aber auch BGHSt 12, 227 (233 f.) zur Geschäftsver-
teilung beim LG (nach altem Recht): „Sonach hat den Beschluß ein Präsidium ge-
faßt, das nicht vorschriftsmäßig gebildet war. Dennoch ist er nicht null und nichtig.
Eine solche Folge mag angenommen werden müssen, wenn der Gesetzesverstoß klar
zutage liegt. So steht es hier nicht. Die Vorschrift des § 64 Abs. 3 GVG ist nicht
eindeutig. Sie wird auch offenbar nicht einheitlich gehandhabt. Die Auslegung, die
ihr das Präsidium des Landgerichts S. gegeben hat, ist rechtlich möglich und nicht
ohne vernünftigen Sinn. Müßten jedoch in einem solchen Zweifelsfalle, wenn der
Bundesgerichtshof die Rechtsauffassung des landgerichtlichen Präsidiums nicht bil-
ligt, dessen Beschlüsse als ungültig und die auf ihnen beruhende Besetzung der
Kammern als gesetzwidrig angesehen werden, so könnte die geordnete Rechtspflege
schwer gestört und die Rechtssicherheit erheblich beeinträchtigt werden.“
Einen weiteren Grund für die spezifische Rhetorik der Gerichtsentscheidun-
gen ist psychologischer Art. Ein revisionsgerichtliches Urteil ist zum einen
zwar wissenschaftlich orientiert und wird seinerseits als Diskussionsbeitrag in
der Jurisprudenz zur Kenntnis genommen; zum anderen richtet es sich aber an
einen Adressaten, dem gerade im Strafrecht unter Umständen schwerwiegende
Konsequenzen auferlegt werden müssen. Es ist fraglich, ob dem Betroffenen
ein zweifelnder, übermäßig reflektierender Urteilsstil zugemutet werden kann,
der einer womöglich zum Freispruch führenden Gegenauffassung „Vertretbar-
keit“ bescheinigt.82 Freilich wird in der Literatur auf eine insoweit bestehende
79 Weit stärker ist diese Tendenz in Urteilen französischer Gerichte, vgl. dazu und
dung hat – erfreulich offen eingestandene – Schwierigkeiten, ihr Ergebnis aus dem
einfachen Gesetzesrecht abzuleiten . . .“.
81 Vgl. Engelhardt, in: KK-StPO, § 270, Rn. 26, 33 und zuletzt BGHSt 47, 16. An-
falls ambivalente Thematik des „dissenting vote“ hinweist. Im Strafrecht wird man
sich nur schwerlich mit der Einführung dieser Institution anfreunden können. Die Be-
sonderheiten dieses Rechtsgebiets übersieht Lamprecht (S.Z. Nr. 154 vom 7./8. Juli
2001, S. I) in seinem Plädoyer für die Einführung der dissenting votes in allen Ge-
richtszweigen.
84 Der 45. Band enthält sogar nur noch 43 Entscheidungen! Statistische Auswertun-
gen müßten diese Entwicklung berücksichtigen; vgl. in Kap. I den Text nach Fn. 30.
85 Im 39. Band nehmen allein fünf Entscheidungen zu diesem Thema (BGHSt 39,
1, 54, 168, 260, 353) zusammen mehr als 120 Seiten ein. Allerdings hatte die Nach-
kriegsrechtsprechung ebenfalls schwierige und grundlegende Fragen zu klären. Siehe
auch Barton, StraFo 1998, 325 (329, Fn. 27), der eine allgemeine Tendenz zur Aus-
führlichkeit einiger weniger Entscheidungen feststellt.
86 Die Bände der amtlichen Sammlung enthalten recht konstant je Seite höchstens
253, wo (ab S. 255) eine mustergültige, aber weitgehend nicht notwendige Normexe-
gese zu §§ 177, 179 StGB vollführt wird. Ausschweifend auch BGHSt 8, 8–16 mit
dem Selbsteingeständnis (S. 13): „Das alles sind freilich allgemeine Erwägungen, die
nicht unmittelbar auf den hier vorliegenden Fall angewendet werden können.“
88 Heusinger, Rechtsfindung und Rechtsfortbildung, S. 35.
89 Krit. zum „theoretisierenden Begründungsstil“ der Revisionsgerichte und zu den
Folgen auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts Röhricht, ZGR 1999, 445 (459–462,
476 ff.).
90 Gegen „Belegexzesse“ wendet sich vor allem Schneider, Logik, S. 170 ff.
38 II. Methodologische Vorbemerkungen
halb nur spekuliert werden. Häufig erwecken die Urteilsgründe den Eindruck
der Umständlichkeit92, und keineswegs führt mehr Umfang zu größerer Klarheit
in der Sachfrage93. Schon in den 1950er Jahren hat Jescheck in einem Vergleich
zum (bestimmteren) Stil des RG darauf hingewiesen, daß der BGH das Für und
Wider von Rechtsfragen breiter erörtere als unbedingt nötig und vielfach Ent-
scheidungen „auf Vorrat“ treffe94, daß Entscheidungen zuweilen den Charakter
von Dissertationen annähmen95.
Eine häufig mißachtete Vorschrift ist § 13 I der Geschäftsordnung des BGH96, nach
der die Entscheidungsgründe „klar und möglichst kurz abzufassen“ sind und sich
„auf das Wesentliche und auf den Gegenstand“ zu beschränken haben. Wohl ohne
Unterschied in der Sache, aber noch schärfer formulierte die Geschäftsordnung des
Reichsgerichts (§ 18), die für die Abfassung der Entscheidungsgründe „bündige
Kürze unter strenger Beschränkung auf den Gegenstand“ verlangte.97
Denkbar, aber wenig plausibel erscheint die Erklärung, die Strafsenate ließen
sich lieber Weitschweifigkeit als mangelnde Reflexion vorwerfen. Es ist aber
überhaupt unklar, inwieweit antizipierte Kritik der Wissenschaft die Abfassung
des Urteils beeinflussen kann. Insgesamt wird man die Entwicklung nicht begrü-
ßen können, und ein kulturpessimistischer Standpunkt mag darin sogar ein Sym-
ptom einer überdifferenzierten rechtswissenschaftlichen Spätzeit erkennen98.
amtlichen Sammlung insgesamt allerdings wohlwollend gegenüber dem Stil des BGH
äußert; vgl. auch GA 1956, 97. Esser (Juristisches Argumentieren im Wandel, S. 9)
sieht eine Annäherung der Revisionsgerichte an die Praxis des BVerfG.
95 Jescheck, GA 1958, 1 (2): Gleichwohl sei die Sprache des BGH in Band 8 und 9
bestimmter, die Zitate seien seltener geworden. Zum Stil des RG siehe (allerdings arg
pathetisch) Weinkauff, DRiZ 1954, 251 ff.
96 Bundesanzeiger Nr. 83, 1952, S. 9.
97 Reichszentralblatt 1880, S. 193; siehe auch Dölle, Vom Stil der Rechtssprache,
S. 46.
98 Rieß, GA 2003, 500 (501).
8. Methodensynkretismus 39
8. Methodensynkretismus
110
100
Anzahl Entscheidungen
90
80
70
60
50
40
30
1 4 7 10 13 16 19 22 25 28 31 34 37 40 43 46
Band BGHSt
99 So Bydlinski, in: Festgabe 50 Jahre BGH, Bd. I, S. 38; für ein „Recht der Me-
thode“ mit Vorschlag auch Gern, VA 1989, 415 (430 ff.); anders z. B. Esser, Vorver-
ständnis, S. 124 und Grimm, in: FS für Coing, S. 469, dem zufolge alle Versuche, die
Methode der Normanwendung ihrerseits zu normieren, gescheitert seien.
100 In einem anderen Sinn versteht das schweizerische Bundesgericht (BG) den
ten als vor ca. 30 Jahren – vielleicht auch Ergebnis eines realistischeren Stand-
punkts hinsichtlich des eigenen Erkenntnisvermögens in diesen Dingen. Metho-
dologische Widersprüche lassen sich im übrigen ebenso bei großen Stimmen
der Wissenschaft nachweisen.101 Keineswegs gefolgt werden kann demgegen-
über der Auffassung, der „Methodensynkretismus“ sei geradezu Ausdruck sach-
gerechten Vorgehens.102
101 Siehe Scheuerle, AcP 1967, 305 (347) und Zimmermann, NJW 1954, 1628
1. Vorüberlegungen/Terminologisches
1 Der philosophische Streit um den „Begriff“ muß hier nicht aufgenommen werden,
vgl. dazu Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 32; Engisch, Logische Studien, S. 24.
42 III. Wortlaut und Wortsinn
2 Näher zur Begrifflichkeit Busse, SuL 1998, 24 (29 f.) und Koch/Rüßmann, Be-
denlehre, S. 44 ff.), führt nur auf die Fragwürdigkeit der Differenzierung zwischen
normativen und deskriptiven Merkmalen zurück (z. B.: „Mensch“).
5 Vgl. Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 166 ff.; Kramer, Methodenlehre, S. 45; Loos, in:
daten“ kennt. Um andere Fragen geht es auch, wenn der maßgebliche Sprachgebrauch
(Alltags-/Fachsprache) ermittelt werden soll.
8 Siehe Kramer, Methodenlehre, S. 46.
9 Nach Wank (Begriffsbildung, S. 25) hilft insofern auch die Sprachphilosophie
nicht weiter.
2. Zur Dichotomie Wortlaut/Wortsinn 43
den zudem durch die Verknüpfung mit den nicht minder schwierigen Problemen
des Rechts potenziert.10 Es ist deshalb nicht überraschend, wenn Juristen sich
nicht mit der Verwertung linguistischer Erkenntnisse beschäftigen, sondern sich
Spielraum verschaffen und ihrem Sprachgefühl freien Lauf lassen. Davon zeu-
gen zahlreiche Grenzfälle der Rechtsprechung, aber auch in Urteilsanmerkun-
gen sind detaillierte Sprachanalysen selten. Realistisch betrachtet wird man hier
nur in begrenztem Umfang Verbesserungen erreichen können.
sinn die Rede. Die These von Wank (Begriffsbildung, S. 19), wonach man „früher“
von Wortlaut sprach, heute dagegen von Wortsinn, findet jedenfalls in der Rechtspre-
chung des BGH (in Strafsachen) keine Bestätigung.
12 Z. B. BGHSt 1, 209 (210); 24, 143 (148); 42, 294 (295).
13 Z. B. BGHSt 14, 38 (43); 28, 129 (132); 34, 218 (220).
14 Z. B. BGHSt 26, 176 (181); 32, 335 (338); 43, 366 (369).
44 III. Wortlaut und Wortsinn
tagssprache ankommen muß, aber auch die Grenze einer „noch möglichen“
fachsprachlichen Bedeutung ist denkbar.15 Kommen sprachlich mehrere Alterna-
tiven im Rahmen des „Wortlauts“, der lediglich den (unveränderlichen) semanti-
schen Rahmen abgibt16, in Betracht, muß der maßgebliche „Wortsinn“ mit Hilfe
der übrigen Auslegungskriterien ermittelt werden17. Insofern unterscheidet der
BGH selbstverständlich zwischen Wortsinn und Normsinn (Normzweck).18 Oft
wird die Sprache die zutreffende Wortbedeutung vorgeben („dafür spricht schon
der Wortlaut“), aber letztlich doch viele Zweifelsfragen offenlassen. Abschlie-
ßend zur Illustration folgender
Fall 1 (BGHSt 41, 285): Der Täter wollte ein Kind zum Telefonsex zwingen, indem
er die Entführung eines Elternteils vorspiegelte. Fraglich war die Anwendung von
§ 176 V Nr. 2 StGB a. F., wonach die Bestrafung voraussetzte, daß das Kind die
sexuellen Handlungen „vor“ dem Täter vornimmt. Der BGH stellt kriminalpoliti-
sche hinter sprachlichen Erwägungen zurück und verlangt eine visuelle Wahrneh-
mung der sexuellen Handlungen durch den Täter. Die Auslegung finde hier „ihre
Grenze im Wortsinn, wie er sich aus dem Gesetzeswortlaut und aus dem Sinnzusam-
menhang des Gesetzes ergibt“ (a. a. O., S. 286). Zwar verbiete die Wortwahl in
§ 176 StGB a. F. die Subsumtion „noch nicht sicher“, doch spreche die Begriffsbe-
stimmung in § 184c Nr. 2 StGB dagegen („sexuelle Handlungen vor einem anderen
[sind] nur solche, die vor einem anderen vorgenommen werden, der den Vorgang
wahrnimmt“). In die gleiche Richtung wiesen die Gesetzesmaterialien (S. 287).
Der BGH differenziert hier präzise zwischen Gesetzeswortlaut und Wortsinn
und zieht darüber hinaus weitere Kriterien (Systematik und Entstehungsge-
schichte) zur Bedeutungsfeststellung heran. Ob das systematische Argument
überzeugt, spielt in diesem Zusammenhang dagegen keine Rolle.19
3. Zur Bedeutungsfeststellung
a) Gesetzliche Definitionen
Erstes Hilfsmittel zur Feststellung der Wortbedeutung ist das betreffende Ge-
setz selbst, namentlich die dort enthaltenen Legaldefinitionen.20 Viel zu erwar-
ten ist insoweit freilich nicht, denn bei allen Perfektionsbestrebungen ist dem
Dilemma, daß gesetzliche Definitionen weitere Definitionen provozieren21 und
zudem zu einer unter Umständen unerwünschten Einengung richterlicher Ent-
scheidungsfreiheit führen, nicht zu entkommen. Der Gesetzgeber des StGB hat
jedenfalls vom Mittel der Legaldefinition nur zurückhaltend Gebrauch gemacht
(vgl. insbesondere §§ 11, 12) und viele Fragen der Praxis überlassen. Weiterge-
hende Tendenzen im E 1962 konnten sich nicht durchsetzen.22 Vielfach „hinkt“
der Gesetzgeber der Entwicklung stark hinterher, kodifiziert oftmals nur den
erreichten Stand der Strafrechtswissenschaft und Rechtsprechung wie z. B. beim
1974 durch das EGStGB geregelten Amtsträgerbegriff.23 Gerade der Amtsträ-
gerbegriff des § 11 I Nr. 2 StGB zeigt jedoch, daß Definitionen wenig nutzen,
wenn sie lediglich den unstrittigen status quo wiedergeben, anstatt Problemfra-
gen zu klären.24 Von einem rechtsevolutionären Standpunkt aus wird man diese
Handhabung kaum akzeptieren und sich ein wenig mehr Initiative des Gesetzge-
bers wünschen; auch die Praxis übt vereinzelt Kritik an dieser gesetzgeberi-
schen Untätigkeit.25 Für den Bereich des StGB-AT etwa ist nicht einzusehen,
weshalb so grundlegende Rechtsfiguren wie der Erlaubnistatumstandsirrtum
oder die actio libera in causa sowie die Voraussetzungen des Unterlassungs-
delikts (Garantenstellung) nicht geregelt sind, zumal dafür nicht nur ästhetische
Gründe (Kodifikationspflege), sondern auch konkret rechtsstaatliche Aspekte
sprechen. Auf der anderen Seite wird hier nicht übersehen, daß neu eingeführte
oder geänderte Definitionen ihrerseits in die Mühlen der Auslegung geraten und
ihr Ziel nicht stets erreichen.26
Gesetzen, die Aufschluß über die Begriffsbedeutung geben; siehe z. B. BGHSt 26, 12
(15), wo eine im Waffenrecht enthaltene Formulierung („Ausübung tatsächlicher Ge-
walt“) mit Hilfe des BGB erklärt wird. Zu Problemen, die aus dem Transfer des zivil-
rechtlichen Sachbegriffs ins Strafrecht entstehen können, siehe unten S. 114.
21 Krit. deshalb Noll, JZ 1963, 297 (299, r. Sp.): Jedes Definieren führt ins Unend-
liche.
22 Siehe die eingehende und krit. Erörterung von Stratenwerth, ZStW 1964, 669 ff.
BGBl. I, S. 2038) eine Zweifelsfrage geklärt; krit. Wolters, JuS 1998, 1100 (1104).
25 Z. B. in BGHSt 33, 252 (258): Gesetzgeber hätte Anlaß zu einer Definition ge-
habt!
46 III. Wortlaut und Wortsinn
Beispielhaft kann in diesem Zusammenhang auf den Streit um den Begriff der
„Gemeingefahr“ und der damit verbundenen Frage, ob dafür auch die Gefährdung
einer bestimmten (ausgewählten) Person genügt, hingewiesen werden. Der Gesetz-
geber hat zur Problemklärung einige Ansätze unternommen, es jedoch nicht „ge-
schafft“, der Praxis eindeutige Vorgaben zu machen.27 Noch eindrucksvoller ist die
durch das 2. StrRG eingeführte Legaldefinition der „Beteiligung“ in § 28 II StGB,
die gerade dann nicht „paßt“ oder weiterhilft, wenn es auf sie ankäme, und deshalb
zu vielen Auslegungskunststücken zwingt. Nach Ansicht von Schroeder gilt diese
„irreführende“ Legaldefinition sogar in keinem Fall, in dem das StGB den Begriff
der Beteiligten verwendet!28 Als widersprüchlich erscheint es z. B., wenn der Ge-
setzgeber des 6. StrRG in § 224 I Nr. 4 StGB formuliert „mit einem anderen Betei-
ligten gemeinschaftlich“, und damit zwei Fachbegriffe der Beteiligungslehre (§§ 25
II, 28 II) in mißverständlicher Weise kombiniert.29
Es bleibt noch anzumerken, daß Schwierigkeiten nicht nur auftreten, wenn
Definitionen von vornherein fehlen oder Auslegungsschwierigkeiten bereiten,
vielmehr auch dann, wenn bislang existierende Begriffsbestimmungen beseitigt
werden. Im günstigsten Fall – bei einem sorgfältig vorgehenden Gesetzgeber –
kann die dann entstehende „Lücke“ durch den Rückgriff auf ein anderes (all-
gemeineres) Gesetz geschlossen werden.30
Völlig übersehen hat der Gesetzgeber des 6. StrRG (1998), daß die Streichung des
in seiner Zielsetzung als überholt angesehenen § 217 StGB a. F. (Kindstötung) der
Strafrechtsanwendung eine Definition entzogen hat. Die Grenzlinie zwischen
„Mensch“ (§§ 211 ff., 222 StGB) und „Embryo“ (§ 218 StGB) – bislang zumindest
mittelbar aus § 217 a. F. hergeleitet – bedarf nunmehr einer neuen Legitimation.31
Der Gesetzgeber hätte die Aufhebung der Norm en passant mit der Einfügung einer
längst überfälligen Definition dieser existentiellen Frage verbinden sollen.
In anderen Konstellationen können Streichungen oder in den Gesetzesmate-
rialien dokumentierte Diskussionen um die Einführung gesetzlicher Definitio-
nen es erforderlich machen, die Motive für dieses gesetzgeberische Verhalten
zu ergründen.32 Damit verbundene Schwierigkeiten gehören jedoch zum Pro-
blemkreis „Entstehungsgeschichte“.
26 So will Haft (in: FS für Lenckner, S. 81 ff.) gerade anhand der gesetzlichen Defi-
b) Eindeutigkeiten
33 Vgl. BGHSt 7, 240 (244): „Daß damit die Grenzen vertretbarer Auslegung über-
im Zivilrecht, S. 177) sieht in der Feststellung der Eindeutigkeit durch den BGH einen
auf das erwünschte Ergebnis hinzielenden Akt der Dezision; damit wird das Phänomen
der Evidenz m. E. nicht zureichend erfaßt.
35 Außerdem lesenswert: BGHSt 4, 316 (319); 6, 312 (314); 7, 198 (200); 10, 46
gründe sind „persönliche Umstände“ (Fall 7), die Konjunktion „und“ bedingt
ein Verhältnis der Kumulation, nicht der Alternation (Fall 8), unter eine „zeitige
Freiheitsstrafe“ fällt nicht die lebenslange Strafe (Fall 9), das „Eindringen in
den Körper“ sagt nicht, welcher Körper gemeint ist (Fall 10), und der Versiche-
rungsbetrug ist sogar regelmäßig die Straftat, die durch eine Brandstiftung „er-
möglicht“ werden soll (Fall 11). Daß die genannten Fälle dennoch in der amt-
lichen Sammlung erscheinen und der BGH sich recht eingehend mit ihnen aus-
einandersetzt, liegt oftmals an der unbefriedigenden Gesetzesfassung sowie
unerwünschten Folgen, die Vorinstanzen und Literaturstimmen zu Gesetzeskor-
rekturen veranlassen. Besonders deutlich ist diese Tendenz bei § 243 StGB a. F.,
dessen kasuistische und veraltete Fassung zu einigen Ungereimtheiten geführt
hatte (vgl. Fall 2 und Fall 5)37, und in Fall 3, wo der Gesetzgeber zwei Normen
des GVG nicht aufeinander abgestimmt und dadurch absolute Revisionsgründe
provoziert hatte; ebenso liegt es in Fall 9, in dem ein Schluß a minore ad maius
– Wenn schon eine zeitige Freiheitsstrafe genügt, weshalb dann nicht auch eine
lebenslange? – den GBA zu einer trickreichen Interpretation greifen ließ, und in
Fall 7, in dem die Einordnung der niedrigen Beweggründe als „besondere per-
sönliche Merkmale“ zu unbefriedigenden Folgen bei der Frage der Verjährung
führte. Im Fall 11 geht es um eine geforderte Restriktion (Reduktion) eines an-
geblich zu weit geratenen Tatbestandes (§ 306b II Nr. 2 StGB), während der
umfassende Wortlaut selbst keinen Anhaltspunkt für eine Einschränkung bietet.
Schwieriger wird es in folgenden Beispielen, in denen die Evidenzbehauptung
des BGH auf schwächeren Füßen steht:
Fall 12 (BGHSt 6, 25): 1953 fügte der Gesetzgeber den §§ 49 StVO, 71 StVZO
a. F. (damals Strafbestimmungen!) eine Subsidiaritätsklausel an, wonach diese Be-
stimmungen nur anzuwenden seien, „wenn die Tat nicht nach anderen Vorschriften
mit schwererer Strafe bedroht ist“. Das BayObLG (DAR 1954, 49) erkennt unter
Berufung auf die amtliche Begründung darin keine Rechtsänderung, sondern nur
eine Klarstellung und beschränkt die Anwendbarkeit auf Fälle der Gesetzeseinheit.
Anders der BGH: Wie schon der klare Wortlaut ergebe, umfasse der Zusatz auch
Fälle der Tateinheit (S. 26).
Fall 13 (BGHSt 6, 248): Kann wegen Beihilfe zum räuberischen Diebstahl bestraft
werden, wer selbst nicht im Besitz der Beute ist? (§ 252 StGB: „. . . um sich im
Besitz des gestohlenen Gutes zu erhalten . . .“) Nach Auffassung des BGH nicht,
denn die Absicht, einem anderen den Besitz zu erhalten, falle nicht unter den klaren
Wortlaut der Norm (S. 250). Anders Kohlrausch/Lange (StGB41, S. 496): Es sei eine
sprachliche Konsequenz, keine Analogie, bei Beteiligung mehrerer das „sich“ sinn-
gemäß auf alle zu beziehen.
Fall 14 (BGHSt 42, 158): Kann der Täter noch vom versuchten Raub (§§ 249, 22
StGB) zurücktreten, wenn bereits die schwere Folge des qualifizierten Tatbestandes
(Tod eines Menschen gemäß § 251 StGB) eingetreten ist? Der BGH bejaht das u. a.
mit dem Hinweis auf den eindeutigen Wortlaut des § 24 I StGB (S. 160). Der Rück-
37 Von BGH NJW 2001, 3205 (zu § 244 I Nr. 3 StGB) noch einmal referiert.
3. Zur Bedeutungsfeststellung 51
tritt vom nur versuchten Grunddelikt sei jederzeit möglich und entziehe der Qualifi-
kation den erforderlichen Anknüpfungspunkt.
Die Schwierigkeiten in den Fällen 12–14 resultieren daraus, daß die Interpre-
tation des Gesetzestextes ohne Berücksichtigung dogmatischer Zusammenhänge
„in der Luft hängt“. In § 252 StGB heißt es zwar „sich im Besitz der Beute zu
erhalten“ (Fall 13), doch in einer Konstellation von Täterschaft und Teilnahme
ist ohne Heranziehung der allgemeinen Vorschriften noch keine sinnvolle Aus-
sage über den sprachlichen Gehalt der Regelung möglich.38 Die vollständige
Textgrundlage ist allein durch die Vorschrift aus dem StGB-BT eben noch nicht
hergestellt, so daß die Behauptung eines „klaren Wortlauts“ als voreilig er-
scheint. Ähnlich liegt es in Fall 14 (Rücktritt vom erfolgsqualifizierten Ver-
such), wo die Argumentation des BGH auf dogmatisch näher zu begründenden
Voraussetzungen (Verhältnis von Grunddelikt zur Qualifikation) beruht. Gerade
die Tatsache, daß der BGH seine Lösung näher erläutern muß, stellt das Ein-
deutigkeitsurteil in Frage. Aus dem allgemein gehaltenen Wortlaut des § 24
StGB folgt so leicht nichts Eindeutiges!39 Weniger Bedenken erweckt insofern
Fall 12 (Subsidiaritätsklausel), aber auch nur bei Unterstellung eines Lesers,
dem die strafrechtliche Konkurrenzlehre geläufig ist; nur dieser wird dem Tat-
begriff ohne weiteres die Fälle der Tateinheit zurechnen.40 Aus den letztgenann-
ten Beispielen wird nebenbei deutlich, daß die Feststellung der Eindeutigkeit
nicht davon abhängt, ob der „natürliche“ oder aber der fachspezifische Sprach-
gebrauch maßgebend ist; in beiden Konstellationen hält der BGH sprachlich
klare Ergebnisse für möglich. Im Bereich der Fachsprache wird zwar nur der
kundige Leser die Eindeutigkeit nachvollziehen können, aber juristische
(„mittelbare“) Evidenz existiert eben nicht voraussetzungslos, sondern hängt
von Erfahrung und Rechtsgefühl ab.41 Problematisch ist das folgende Beispiel
(Fall 15), bei dem es um grundlegende Aspekte der gesetzlichen Regelungstech-
nik für Strafschärfungen geht:
Fall 15 (BGHSt 5, 211): Jagdvergehen wurden gemäß § 292 II StGB a. F. „in be-
sonders schweren Fällen“ verschärft bestraft, „insbesondere wenn die Tat zur Nacht-
zeit, in der Schonzeit, unter Anwendung von Schlingen oder . . . begangen wird“.
38 Ähnlich in BGHSt 27, 56: Setzt das „Beisichführen“ einer Waffe eigenhändiges
Verhalten voraus oder genügt das Mitführen der Waffe durch einen Beteiligten? Laut
BGH spricht „bereits der Wortlaut“ für das Erfordernis der Eigenhändigkeit (näher
unten Fall 125).
39 Dazu, warum die Entscheidung gleichwohl (auch in sprachlicher Hinsicht) zu-
trifft, siehe unten Fall 104; nur auf Evidenz kann sie sich nicht berufen. Die Anmer-
kungen sind in diesem Punkt freilich überwiegend ablehnend (vgl. a. a. O.).
40 Womöglich kann man aber gerade umgekehrt sagen, daß nur der strafrechtlich
Kann der Richter von der Anwendung dieser Strafschärfung absehen, obwohl der
Täter Schlingen angewandt hat? Der BGH sieht in Anbetracht des „klaren und ein-
deutigen Wortlauts“ (S. 214) hierfür anders als das OLG Koblenz (JZ 1953, 278)
keine Möglichkeit. – Die maßgeblichen Vorschriften lauten:
§ 292 II StGB a. F.: „In besonders schweren Fällen, insbesondere wenn die Tat zur
Nachtzeit, in der Schonzeit, unter Anwendung von Schlingen oder . . . begangen
wird, ist auf . . . zu erkennen.“
§§ 263 IV, 266 II StGB i. d. F. bis zum 3. StÄG 1953: „In besonders schweren
Fällen tritt an die Stelle . . . Ein besonders schwerer Fall liegt insbesondere dann vor,
wenn . . .“.
§ 243 I StGB g. F.: „In besonders schweren Fällen wird der Diebstahl mit . . . be-
straft. Ein besonders schwerer Fall liegt in der Regel vor, wenn der Täter . . .“.
Die isolierte Lektüre des § 292 II StGB a. F. legt die Charakterisierung der
Norm als zwingend durchaus nahe, was auch das OLG Koblenz (JZ 1953, 278)
eingesteht. Das gleiche Gericht bringt unmittelbar im Anschluß jedoch ein ge-
wichtiges Gegenargument: Der Gesetzgeber wolle mit der beispielhaften Auf-
zählung die richterliche Bewertungsfreiheit nicht einschränken, sondern nur An-
haltspunkte für das Vorliegen eines schweren Falles formulieren; diese Rege-
lungstechnik werde im Strafrecht allgemein so gedeutet. Ebenso habe das RG
für die §§ 263 IV, 266 II StGB (a. F.) entschieden, deren Wortlaut (siehe oben)
keine relevante Differenz gegenüber § 292 II StGB (a. F.) aufwiesen (S. 279).
Ähnlich argumentiert Maurach (JZ 1953, 279 f.), demzufolge der Wortlaut nur
auf den ersten Blick ein beachtliches Hindernis darstelle, welches das RG nicht
davon habe abhalten können, das zutreffende Ergebnis zu finden.42 Demgegen-
über sieht der BGH sich, ohne auf die §§ 263, 266 StGB (a. F.) einzugehen, in
Anbetracht der Entstehungsgeschichte nicht in der Lage, die Norm gegen ihren
„klaren und eindeutigen Wortlaut auszulegen“.43
Mit dem Wissen um die spätere Entwicklung, die zur Umgestaltung von qua-
lifizierten Tatbeständen zu benannten, aber nicht zwingend anzuwendenden
Strafzumessungsgründen („Regelbeispielstechnik“) führte,44 wird die Thematik
durchsichtiger. Der heutige § 243 I StGB (siehe oben) als Paradebeispiel dieser
Regelungstechnik bringt durch die Formulierung „in der Regel“ zum Ausdruck,
daß den genannten Beispielen nur indizielle Bedeutung zukommt, mit anderen
Worten: Der erhöhte Strafrahmen kann, muß aber trotz Vorliegens eines Bei-
spiels nicht angewandt werden. § 292 II StGB a. F. sträubt sich sprachlich gegen
42 Aus den vom OLG Koblenz und von Maurach zitierten Entscheidungen des RG
folgt dies freilich nur indirekt; eine Auseinandersetzung mit der Frage, ob der Wortlaut
ein Hindernis darstellt, findet sich dort nicht.
43 BGHSt 5, 211 (214); dem BGH im Ergebnis, nicht aber in der (formalen!) Be-
gründung zust. Kohlrausch/Lange, StGB41, S. 58. Abl. dagegen unter Hinweis auf
mögliche ungerechte Ergebnisse, aber ohne Problematisierung des Wortlauts Jescheck,
GA 1955, 97 (102 f.).
44 Eingehend dazu Maiwald, NStZ 1984, 433 ff.
3. Zur Bedeutungsfeststellung 53
diese Interpretation. Vor allem der Vergleich zu §§ 263 IV, 266 II StGB a. F.
zeigt, daß aus einer sprachlich geringfügigen Abweichung („in der Regel“ statt
„insbesondere“) ein wesentlicher Unterschied von dogmatisch großer Tragweite
folgt.45 Bei genauer Lektüre des Gesetzestextes wird man der Einschätzung des
BGH, der Wortlaut sei „klar und eindeutig“, somit wohl zustimmen können,
jedoch nur wenn man die dogmatischen Hintergründe, also die Frage nach dem
Charakter der Bestimmung dabei zunächst ausklammert. Der Verzicht des BGH
auf einen Vergleich mit der Auslegung der ähnlich gestalteten §§ 263 IV, 266 II
StGB a. F. muß allerdings als Kunstfehler in der Begründung gesehen werden.
Dies auch deshalb, weil die Erörterung der Entstehungsgeschichte, auf die der
BGH sich neben dem Wortlaut maßgeblich beruft, wenig überzeugend erfolgt.46
Daß der BGH offenbar kein Bedürfnis für eine Innovation in dieser Rechtsfrage
erkennt, kann ihm nicht angelastet werden, die fehlende Auseinandersetzung mit
ernsten Gegenargumenten dagegen schon.
Fall 16 (BGHSt 9, 338): Gemäß § 108a i. V. m. § 108d StGB a. F. wurde u. a. be-
straft, wer „durch Täuschung bewirkt, daß jemand“ beim Unterschreiben eines
Wahlvorschlages „über den Inhalt seiner Erklärung irrt“. Im zu beurteilenden Fall
wußten die Opfer infolge der Täuschung nicht einmal, daß sie überhaupt einen
Wahlvorschlag unterschrieben. Der BGH sieht darin kein Hindernis: Schon aus dem
eindeutigen Wortlaut folge, daß jeder durch Täuschung bewirkte Erklärungsirrtum
erfaßt sei (S. 339).47
Fall 17 (BGHSt 39, 36): Der Angeklagte lockte eine Prostituierte auf ein einsames
Gelände, bedrohte sie mit einem Messer, worauf sie ihm Geld aushändigte. An-
schließend zwang er sein Opfer unter Ausnutzung der Situation zur Duldung des
Geschlechtsverkehrs. In Betracht kam u. a. § 239a StGB.48 Dazu müßte der Ange-
klagte „. . . sich eines anderen bemächtigen, um die Sorge des Opfers um sein Wohl
. . . zu einer Erpressung (§ 253) auszunutzen“. Nach Ansicht des BGH „könnten“ auf
diesen Sachverhalt die §§ 239a, 239b StGB „nach ihrem eindeutigen Wortlaut“ An-
wendung finden (S. 38). Allerdings sei eine einschränkende Auslegung notwendig.
Fall 18 (BGHSt 27, 160): „Verschafft“ sich jemand eine Sache, wenn er lediglich
Pfandscheine erwirbt, um die gestohlenen Sachen später auszulösen (§ 259 I StGB)?
Nach Erörterung zivilrechtlicher Vorfragen verneint der BGH einen Verstoß gegen
das Analogieverbot: Gemäß Wortlaut und Sinn des § 259 StGB könne ohne weiteres
davon ausgegangen werden, daß der Gesetzgeber auch diese Konstellation habe er-
fassen wollen (S. 165).
Fall 19 (BGHSt 27, 45): Setzt Hehlerei in Form des „Absetzens“ voraus, daß es
tatsächlich zum Absatz gekommen ist?49 Anders als der 2. Strafsenat (NJW 1976,
1698) hält der 4. Strafsenat diese Folgerung sprachlich nicht für zwingend (S. 50).
45 Nach dem Bekunden Jeschecks (oben Fn. 43) hat die Große Strafrechtskommis-
sion gerade unter dem Eindruck von BGHSt 5, 211 diese Formulierungsänderung vor-
geschlagen.
46 Dazu unten Fall 194.
47 Dezentes „zw.“ bei Schwarz/Dreher, StGB29, § 108a, Anm. 1a.
48 Die Norm wurde durch das 6. StrRG 1998 redaktionell geringfügig geändert.
54 III. Wortlaut und Wortsinn
Unter „absetzt“ lasse sich ohne weiteres ebenso (nur) das bloße Tätigwerden beim
Absetzen verstehen. Die Formulierung „ohne weiteres“ gebrauchte zuvor bereits
D. Meyer in MDR 1975, 721 (722).
In den verbleibenden Fällen überzeugen noch am ehesten die Ausführungen
in Fall 16 (Wählertäuschung), aber auch dort hinterläßt die Evidenzbehauptung
ein gewisses Unbehagen; angemessener erscheint eher die Auffassung, der
Wortlaut lege diese Auslegung nahe. In Fall 17 (erpresserischer Menschenraub)
verwirrt zunächst die einleitende Aussage, die §§ 239a, 239b StGB „könnten“
nach ihrem „eindeutigen“ Wortlaut für den zu beurteilenden Sachverhalt An-
wendung finden. Die Möglichkeitsform paßt nicht recht zur angeblichen Ein-
deutigkeit. Daß die Bedeutung des Normtextes zudem nicht so klar ist wie vom
1. Strafsenat behauptet, hat später der Große Strafsenat unter genauerer Analyse
der Normstruktur in BGHSt 40, 350 dargelegt.50 Schon die verschachtelte For-
mulierung beider Bestimmungen läßt an der Möglichkeit zweifeln, evidente
Aussagen über den Anwendungsbereich der Vorschriften zu gewinnen. Auch im
Fall 18 („sich verschaffen“ einer Sache durch Erwerb eines Pfandscheins) wirkt
die Behauptung, die Subsumtion sei nach Sinn und Wortlaut des § 259 StGB
„ohne weiteres“ möglich, nach ausführlicher (und notwendiger!) Erörterung zi-
vilrechtlicher Vorfragen wenig überzeugend.51 Geradezu ärgerlich ist der apo-
diktische Umgang mit dem Wortlaut in Fall 19 („Absetzen“ in § 259 nur bei
erfolgreicher Veräußerung?). Während der 2. Strafsenat (NJW 1976, 1698 f.)
den „eindeutigen“ Gesetzeswortlaut des § 259 StGB dahin versteht, daß es zum
Absatz der Ware kommen muß,52 und in der gegenteiligen Auffassung einen
Verstoß gegen das Analogieverbot erkennt, hält es der 4. Strafsenat sprachlich
„ohne weiteres“ für zulässig, bloße Absatzbemühungen ebenfalls unter die
Norm zu fassen. Zu beanstanden ist insofern nicht das Ergebnis, sondern der
eklatante Begründungsmangel. Nachdem der 2. Strafsenat seine Meinung zur
sprachlichen Bedeutung sogar näher dargelegt hatte und ein Verstoß gegen das
Analogieverbot im Raum stand, mußte der 4. Strafsenat seine Auffassung näher
erläutern, denn nach der gegenläufigen Vorentscheidung des 2. Strafsenats war
kein Raum mehr für ein Evidenzurteil. Unverständlich ist aber auch das Verhal-
ten des 2. Strafsenats, der im Anfrageverfahren von der seinerseits behaupteten
Evidenz abrückte53 und dem 4. Strafsenat offenbar zutraute, die Verletzung von
Art. 103 II GG argumentativ zu widerlegen.
49 Zum gleichen Problem bei der „Absatzhilfe“ siehe BGHSt 26, 358 (unten Fall
80).
50 In Anbetracht des s. E. klaren Wortlauts nahm der 1. Strafsenat folglich eine te-
leologische Reduktion vor, während der Große Strafsenat die Bestimmungen „nur“
einschränkend auslegt.
51 Vgl. weiter zu BGHSt 27, 160 unten Fall 81.
52 Ebenso bereits Küper, JuS 1975, 633 (635): „An diesem sprachlichen Befund ist
Nach der Analyse einzelner Evidenzbehauptungen des BGH bleibt noch eine
eigentümliche Konstellation zu behandeln, die sich dadurch auszeichnet, daß
bislang für selbstverständlich gehaltene sprachliche Annahmen plötzlich be-
zweifelt werden und sich Versuche ihrer rationalen Begründung als erstaunlich
schwierig erweisen. Anwendungsbeispiele hierfür sind die im StGB bevorzugte
Verwendung des männlichen Geschlechts bei der Bezeichnung von Tätern
(§ 339: ein Richter, ein anderer Amtsträger, § 227: der Täter, § 142: ein Unfall-
beteiligter usf.54) und der Gebrauch des Plurals (§ 306 I Nr. 1: Wer fremde Ge-
bäude oder Hütten in Brand setzt, § 315b I Nr. 2: Wer Hindernisse bereitet,
§§ 174 ff.: sexuelle Handlungen usf.55). In den genannten Fällen herrscht
(wohl) Einigkeit, daß selbstverständlich auch Richter- und Amtsträgerinnen
oder eine Unfallbeteiligte sich strafbar machen können und daß es für die Ver-
wirklichung der jeweiligen Tatbestände genügt, nur ein Gebäude in Brand zu
setzen oder nur ein Hindernis zu bereiten. Das folgt nicht aus spezifisch juristi-
schen Erwägungen, sondern aus sprachlichen Gründen.
Daß auch Amtsträgerinnen Täter (Täterinnen) eines Amtsdelikts sein können, ergibt
sich demgemäß nicht erst daraus, daß eine Differenzierung nach dem Geschlecht
willkürlich wäre56, sondern daraus, daß die grammatikalische Verwendung des
männlichen Genus nicht zugleich eine Beschränkung auf das natürliche Geschlecht
zur Folge hat (generisches Maskulin57). Beginnt jedoch der Gesetzgeber damit, diese
Selbstverständlichkeit an einzelnen Stellen des Gesetzes durch die Verwendung bei-
der Geschlechtsformen in Frage zu stellen, muß er mit unerwünschten Auswirkun-
gen bei der Auslegung anderer Normen (Umkehrschlüsse!) rechnen.58
Aufgrund abweichender Auffassungen in der Literatur sah der BGH sich den-
noch veranlaßt, auf die Thematik der Pluralverwendung näher einzugehen:
Fall 20 (BGHSt 46, 146 – „Fälschung von Zahlungskarten“): Der Täter hatte zur
Täuschung im Rechtsverkehr mehrfach eine EC-Karte manipuliert. In § 152a I Nr. 1
StGB heißt es jedoch „Wer . . . Zahlungskarten . . . nachmacht oder verfälscht“. Der
BGH sieht im Wortlaut der Vorschrift kein Problem: Der Sprachgebrauch des Geset-
zes sei nicht in dem Sinn eindeutig, daß aus der Verwendung des Plurals begrifflich
zwingend gefolgert werden müsse, das Gesetz verlange zur Tatverwirklichung wirk-
war, ist mit dem „horror pleni“ sicherlich nicht ausreichend erklärt. Vgl. jedoch die
Ausführungen zum forensischen Begründungsstil oben II 7.
54 Zu den fragwürdigen Bemühungen des Gesetzgebers des 6. StrRG, vermehrt ge-
(150).
56 Vgl. aber Jakobs, Strafrecht AT, 4/38.
57 Siehe im „Handbuch der Rechtsförmlichkeit“, Rn. 92 und Walter, Stilkunde,
S. 205 ff.
58 Walter, Stilkunde, S. 206 f.; zu optimistisch das „Handbuch der Rechtsförmlich-
lich eine Mehrzahl an Tatobjekten (S. 150). Das werde durch viele Vorschriften des
StGB (u. a. §§ 174 ff., 306) belegt. Der Gesetzgeber habe nur vereinzelt ältere Vor-
schriften auf den Singular umgestellt, ohne damit Veränderungen bezweckt zu haben
(S. 150 f.). Die Rechtsprechung habe es wiederholt abgelehnt aus der gesetzlichen
Verwendung des Plurals begriffliche Folgerungen zu ziehen (S. 151). – Es ist frag-
lich, ob der BGH die Sache genau trifft, denn die ubiquitäre Verwendung des Plurals
besagt womöglich nur, daß sich die Frage auch bei anderen Tatbeständen stellt. Die
sprachlichen Bedenken sind damit noch nicht vollständig ausgeräumt. Die Lösung
liegt wohl darin, daß Gesetze als typisierende und generalisierende Beschreibungen
von Lebenssachverhalten zur Verwendung des Plurals neigen. Das ist keine sprach-
widrige Vereinfachung, sondern entspricht auch alltagssprachlichem Usus. Nicht ein-
mal unpräzise oder mißverständlich ist deshalb die Aussage „Das Mitbringen (oder
Halten) von Haustieren ist verboten!“. Kein ernsthafter Teilnehmer der Sprachge-
meinschaft würde hier das Mitbringen nur eines Tieres als erlaubt ansehen, ohne
sich der darin liegenden Rabulistik bewußt zu sein. Da das Gesetz sich zumindest
auch an den Bürger wendet, ist nicht ersichtlich, weshalb es nicht ebenso formuliert
werden kann.59 Bezogen auf § 152a folgt aus dem Gesagten allerdings nur, daß der
Wortlaut der Erfassung eines Einzelfalls jedenfalls nicht entgegensteht.60 Andere als
sprachliche Gründe könnten freilich dafür sprechen, die Vorschrift enger zu verste-
hen.61
Der Fall zeigt, wie schwer es sein kann, bislang als selbstverständlich Vor-
ausgesetztes vernünftig zu begründen, wenn man sich nicht darauf beschränken
will, anderslautende Äußerungen als „abwegig“ oder „fernliegend“ zu bezeich-
nen.62 Immer wieder werden in der Literatur überraschende Versuche unternom-
men, Konsense und Evidenzen zu beseitigen,63 etwa wenn entgegen einhelliger
Auffassung Körperteile des Täters als gefährliche „Werkzeuge“ gemäß § 224 I
Nr. 2 StGB betrachtet werden.64 Die Rechtsprechung wird sich nur selten mit
solchen Ansichten auseinandersetzen, aber wenn sie es doch einmal tut und da-
59 Zu Unrecht führt Schlehofer (wie Fn. 55) die Pluralverwendung als Beispiel für
seine (sonst zutreffende) These an, daß der natürliche Wortsinn entgegen vieler Äuße-
rungen im Strafrecht nicht maßgebliche Schranke der Auslegung sei. Gerade der All-
tagssprachgebrauch spricht hier für die Auffassung des BGH.
60 Anders aber Rudolphi, in: SK-StGB, § 152a, Stand: 2/1999, Rn. 6; Puppe, in:
NK-StGB, § 152a, Stand: 8/2000, Rn. 22 und wohl auch Ruß, in: LK-StGB11, § 152a,
Rn. 4 – alle ohne nähere Analyse der sprachlichen Möglichkeiten.
61 Wie z. B. – so Puppe, JZ 2001, 471 (472, r. Sp.) – die Vorverlagerung der Straf-
§ 823 I BGB genannt werden: Die Vorschrift verlangt zwar eine Verletzung des „Ei-
gentums“, aber niemand zweifelt daran, daß darunter auch die Beschädigung einer
Sache fällt, obwohl dadurch nicht das Eigentumsrecht, sondern der Gegenstand, auf
den es sich bezieht, beeinträchtigt wird.
63 Nach Auffassung von Honsell (Historische Argumente, S. 7) hat die Bereitschaft
zu zweifeln zugenommen.
64 So Hilgendorf, ZStW 2000, 811 (822 ff.), dem allerdings insofern zuzustimmen
ist, als Rechtsprechung und Lehre den Begriff des gefährlichen Werkzeugs allenthal-
ben aufgeweicht haben. Das spricht aber nicht dafür, diesen Irrweg bis zum bitteren
3. Zur Bedeutungsfeststellung 57
bei erheblichen Begründungsaufwand betreiben muß, zeigt das, auf welch brü-
chigem Boden Evidenzen stehen können. „Alles, was viel bedacht wird, wird
bedenklich.“65
Abschließend bleibt festzuhalten: Fälle der sprachlichen Eindeutigkeit sind
selten66, zumal wenn der Streit um die Normbedeutung beim höchsten Strafge-
richt angelangt ist. Ihre Behauptung durch den BGH erweckt oftmals Unbeha-
gen, vor allem dann, wenn der Inhalt der Regelung sich erst bei Betrachtung
des gesetzlichen Kontexts oder dogmatischer Vorfragen erschließt. Dennoch
kann im allgemeinen nicht ausgeschlossen werden, daß die an die Norm heran-
getragenen Auslegungshypothesen bereits auf sprachlicher Ebene recht eindeu-
tig bestätigt oder verworfen können werden.67 Insoweit kann der unter anderem
von Larenz68 vertretenen These, die Eindeutigkeit sei erst Ergebnis des Ausle-
gungsvorgangs, nicht ohne Einschränkung gefolgt werden. Der weitere Ausle-
gungsprozeß (dazu sogleich) trägt vielmehr dazu bei, die Eindeutigkeit zu bestä-
tigen oder einen Konflikt zwischen den Kriterien festzustellen und aufzulösen
oder aber eine Rechtsfortbildung vorzubereiten. Der eigentliche Sinn von Evi-
denzen liegt eher darin, rechtliche Zweifelsfragen erst gar nicht aufkommen zu
lassen und dadurch Gerichtsverfahren zu vermeiden! Als überraschend schwie-
rig kann es sich erweisen, Selbstverständliches rational zu begründen, wenn es
einmal Gegenstand des Nachdenkens wurde.
Ende zu führen! Für die ganz h. M. statt aller Krey, Studien, S. 158: „Beim besten
Willen“ sprachlich nicht möglich.
65 Nietzsche, Zarathustra, 1. Teil, Von den Fliegen des Marktes.
66 Larenz, Methodenlehre, S. 343; Kramer, Methodenlehre, S. 62; Engisch, Einfüh-
Fraglich ist allerdings, ob die übrigen canones womöglich schon beim Entwurf der
Auslegungshypothesen eine Rolle spielen, denn letztlich basiert das gesamte Vorwis-
sen bereits auf früheren Interpretationen.
69 Dagegen wohl die ganz überwiegende Meinung, siehe z. B. Larenz, Methoden-
lehre, S. 343; Kramer, Methodenlehre, S. 62 (Fn. 138). Nach Hensche (ARSP 2001,
373 [390]) soll die These schon aus „logischen“ Gründen unhaltbar sein. Coing (Me-
thodenlehre, S. 30) möchte dahingehend einschränken, daß der klare Wortsinn Aus-
gangspunkt der Auslegung ist und für die Behauptung eines gegenteiligen Textsinns
Beweis erbracht werden muß.
58 III. Wortlaut und Wortsinn
oben aufgeführten Fällen belegt werden, daß die Praxis dieser Doktrin keines-
wegs folgt. Der BGH sieht sich jedenfalls nicht gehindert, trotz Eindeutigkeit
der semantischen Interpretation umfangreiche Untersuchungen zur Entstehungs-
geschichte vorzunehmen, den Normzweck zu erforschen und das Ergebnis mit
Folgeerwägungen zu kontrollieren. Die Gründe für diese Vorgehensweise sind
unterschiedlich. So wird etwa ein (womöglich) vom Wortlaut abweichender
Wille des Gesetzgebers nicht von vornherein außer Betracht gelassen, sondern
eher mit der „Andeutungstheorie“ – der Wille hat im Gesetz keinen Ausdruck
gefunden – beiseite geschoben70, d.h. mit einer Rangfolgeregel überspielt. Das
bietet dem BGH nicht zuletzt Gelegenheit, auf Gesetzesmängel hinzuweisen.
Daneben dient die Heranziehung der übrigen Auslegungskriterien natürlich
dazu, die Überzeugungskraft des Urteils zu erhöhen, Zweifel an der Eindeutig-
keit durch zusätzliche Argumente zu zerstreuen.71 Weiter bleiben die Fälle, in
denen eine Reduktion eines eindeutigen, aber zu weiten Wortlauts im Raum
steht.72 Für eine solche Reduktion können sowohl entstehungsgeschichtliche als
auch teleologische Argumente sprechen. Obwohl die Auslegung in solchen Fäl-
len ihren Fortgang zu nehmen scheint, befindet sich der Rechtsanwender hier
schon im Bereich der Rechtsfortbildung bzw. Gesetzeskorrektur oder wenig-
stens auf dem Weg dorthin.73 Und schließlich muß der BGH auch den im Ver-
fahren vorgetragenen Argumenten Rechnung tragen und Auffassungen von Vor-
instanzen oder vorlegenden Gerichten berücksichtigen. Insgesamt läßt sich die
Praxis des BGH dahingehend zusammenfassen, daß dem Wortlaut eindeutig zu-
widerlaufende Kriterien zwar erörtert werden, den klaren Wortlaut jedoch – je-
denfalls im Wege der Auslegung – nicht überwinden können. Gleichwohl darf
nicht verschwiegen werden, daß der BGH hin und wieder dennoch den Ausle-
gungsgrundsatz postuliert, nur bei zweifelhaftem Wortlaut müsse auf Entste-
hungsgeschichte sowie Sinn und Zweck der Vorschrift zurückgegriffen wer-
den:74
„Andeutungstheorie“ vgl. H. und K. Clauß, JZ 1961, 660 (662); die Autoren sehen
den Inhalt der Doktrin in Abhängigkeit zum Streit zwischen „objektiver“ und „sub-
jektiver“ Auslegungstheorie und verlangen (vermittelnd) für das Urteil der Eindeutig-
keit die Übereinstimmung von sprachlichem Ausdruck und gesetzgeberischem Willen
(S. 663). Die Dinge werden durch die Integration weiterer Auslegungselemente jedoch
unnötig verkompliziert.
71 Mit der Entstehungsgeschichte wird das Wortlautargument z. B. in Fall 5 und Fall
der Tat den Vorgang der „Auslegung“ in dieser Phase für beendet erklären.
74 Zu entsprechenden Äußerungen des schweizerischen Bundesgerichts siehe Kra-
mer, Methodenlehre, S. 62 (Fn. 138). Wie der BGH auch schon das RG in RGSt 1,
246 (248): „Solcher unzweideutigen Fassung des Gesetzes gegenüber mangelt dem
Unternehmen einer logischen und geschichtlichen Auslegung des § 245 jeder rechtfer-
tigender Anlaß.“
3. Zur Bedeutungsfeststellung 59
„Da der Gesetzeswortlaut nicht eindeutig ist, müssen auch die Entstehungsge-
schichte sowie Sinn und Zweck der Strafbestimmung bei der Auslegung mit heran-
gezogen werden.“ (BGHSt 11, 47 [49])
„Die Begründung des Gesetzes kann hier zur Auslegung herangezogen werden, weil
der Wortlaut bezüglich der hier zu entscheidenden Frage nicht eindeutig ist, . . .“.
(BGHSt 25, 374 [379])
„Läßt aber, wie hier, der vom Gesetzgeber verwendete Wortlaut mehrere Ausle-
gungsmöglichkeiten zu, so ist zur Auslegung der gesetzgeberische Wille mit heran-
zuziehen . . .“. (BGHSt 27, 45 [50])
„Gibt der Wortlaut des Gesetzes danach keinen eindeutigen Aufschluß, so ist zur
Erforschung von Sinn und Zweck der gesetzlichen Neufassung auf die Gesetzesma-
terialien zurückzugreifen.“ (BGHSt 32, 1 [4])
„Der Begriff der ,sonstigen Stelle‘ ist allerdings nicht eindeutig; er bedarf der Aus-
legung.“ (BGHSt 43, 370 [375])
Die Äußerungen sprechen dafür, daß der BGH zumindest theoretisch der
„sens-clair-doctrine“ folgt.75 Die oben zum Thema „Eindeutigkeit“ untersuchten
Fälle belegen jedoch die gegenteilige Praxis, die sehr wohl weitere Kriterien
des Kanons heranzieht (heranziehen muß) und ihre Entscheidungen intensiv be-
gründet. Liegt also ein „venire contra factum proprium“, ein Handeln gegen
eine selbst behauptete Regel vor? Gerettet werden kann die Regel nur, wenn
man differenziert: Trotz eindeutigen Wortlauts sind aus den oben genannten
Gründen, etwa zur Rechtfertigung einer Rechtsfortbildung, die weiteren cano-
nes zu prüfen, doch in normativer Hinsicht können sie auf das Ergebnis der
Auslegung keinen Einfluß mehr nehmen.76 Die Auslegung im technischen Sinn
ist beendet. Unabhängig davon, ob dieser (juristische77) Erklärungsversuch für
die Vorgehensweise des BGH überzeugt, sollte die Auslegungsmaxime (sens-
clair-doctrine) aufgegeben werden. Sie erzeugt zumindest Mißverständnisse78
75 Die Äußerung aus BGHSt 32, 1 (4) kann darüber hinaus fruchtbar gemacht wer-
den für die Frage, was Ziel der Auslegung ist – Feststellung des maßgeblichen Wort-
sinns oder Ermittlung des Normsinns; vgl. dazu oben Fn. 17.
76 Die These, daß gegen den eindeutigen Wortlaut keine anderen Auslegungskrite-
rien ins Feld geführt werden dürfen, hält Engisch (Einführung, S. 90 [Fn. 31]) immer-
hin für „diskutabel“. Für einen „Vorrang“ des eindeutigen Wortlauts Gern, VA 1989,
415 (436).
77 Säcker (in: MüKo-BGB, Einl., Rn. 97) sieht eine psychologische Erklärung für
die im übrigen unhaltbare Doktrin darin, daß die Praxis mit diesem bequemen Formal-
argument „Sinnverdrehungen“ entgegentreten könne.
78 Zwei der von Rüthers (Rechtstheorie, Rn. 732) gegen die „sens-clair-doctrine“
vorgebrachten Argumente sind m. E. nicht überzeugend: Zum einen könne der Wandel
des Umfelds zu einer veränderten Interpretation der Norm führen, zum anderen könn-
ten die eindeutigen Normen in Widerspruch zu höherrangigem Recht stehen. Beide
Probleme widersprechen der Doktrin nicht. Im ersten Fall ist die Eindeutigkeit ledig-
lich verlorengegangen, und es stellt sich allein die Frage nach dem maßgeblichen
Sprachgebrauch. Das zweite Argument behandelt eine Konkurrenzfrage und hat mit
dem sprachlichen Gehalt nichts zu tun: Eine eindeutige Norm kann z. B. durch eine
andere, ebenfalls klare Regelung verdrängt werden. Auch das von Jescheck/Weigend
60 III. Wortlaut und Wortsinn
und ist praktisch irrelevant. Fälle, in denen angesichts des eindeutigen Wortlauts
die Prüfung unmittelbar zu Ende ist, gelangen nicht zum BGH!
fen. Der Leitsatz lautet: „Die Unterbringung . . . gemäß § 81 StPO kann als Unter-
suchungshaft auf die erkannte Strafe angerechnet werden.“
Das Ergebnis der Entscheidung unterliegt keinem Zweifel, die Begründung
hinsichtlich des sprachlichen Kriteriums dagegen schon. Das Gericht geht selbst
davon aus, daß § 60 StGB mit „einstweiliger Unterbringung“ die Maßnahme
gemäß § 126a StPO meint. „Schon aus dem Wortlaut“ des § 60 StGB kann
demnach die Anrechnung bei § 81 StPO nicht folgen. Daß beide Maßnahmen
sich im Vollzug kaum unterscheiden, spricht zwar für ihre inhaltliche, nicht
aber für ihre sprachliche Gleichbehandlung! Weshalb laut Leitsatz die Anrech-
nung „als Untersuchungshaft“ erfolgt, ist nicht verständlich und deckt sich nicht
mit den Entscheidungsgründen. Eine solche Auslegung wäre zwar möglich ge-
wesen, weil das gegenüber der StPO ältere StGB das Wort „Untersuchungshaft“
nicht im technischen Sinn der jüngeren StPO verwendete80, doch hat sich der
BGH für diesen Weg, bei dem das Ergebnis sich freilich ebensowenig „schon
aus dem Wortlaut“ ergeben hätte, nicht entschieden. Die Kontrolle der Begrün-
dung mit einem einfachen syllogistischen Schluß hätte den richtigen Weg ge-
wiesen.81
Fall 22 (BGHSt 10, 28): Der Täter fuhr ohne Fahrerlaubnis (strafbar gemäß § 24
StVG a. F. und § 21 StVG g. F.). Durfte deshalb das benutzte Fahrzeug eingezogen
werden? Dazu hätte es als Gegenstand „zur Begehung“ eines vorsätzlichen Verbre-
chens oder Vergehens „gebraucht oder bestimmt“ sein müssen (§ 40 StGB a. F.).
Das OLG Hamburg hat die Frage bejaht, denn der Täter verwende das Fahrzeug als
Instrument seiner strafbaren, gegen die Sicherheit des Verkehrs gerichteten Hand-
lung. Der BGH widerspricht: „Schon der Wortlaut“ lasse deutlich erkennen, daß nur
Gegenstände gemeint sein können, die dem Täter „als Mittel zur Verwirklichung
eines gegen die Strafrechtsordnung verstoßenden Planes dienen sollen“ (S. 29). An
dieser Absicht fehle es, wenn nur ein gegen die Nutzung des Gegenstandes gerichte-
tes Verbot verletzt würde (S. 30). Hier komme es dem Täter nicht auf die Gefähr-
dung des Straßenverkehrs, sondern nur auf die Nutzung des Fahrzeugs an.
Spricht der Wortlaut hier wirklich schon deutlich für die Ansicht des BGH,
oder legt der Gesetzestext bei erster Betrachtung nicht eher ein weitergehendes
Verständnis nahe? Die Begründung des OLG Hamburg leuchtet nicht minder
ein, denn daß es dem Täter auf die Gefährdung des Straßenverkehrs gerade an-
kommen muß (Absicht im technischen Sinn), ergibt sich aus dem Gesetzestext
nicht. Zur Stützung seiner Argumentation zieht der BGH in der weiteren Be-
gründung zu Recht das Waffenrecht als Vergleich heran. Beim unerlaubten Waf-
fenbesitz sträubt das Sprachempfinden sich in der Tat dagegen, von einem
„Gebrauch“ der Waffe zur Tatbegehung zu sprechen.82 Anders sieht es aber
schon beim Benutzen der Schußwaffe aus, selbst wenn man dabei nur auf das
Waffendelikt abstellt. Gebraucht dann der Täter nicht doch die Waffe zur Bege-
hung einer Straftat? Und liegt der oben genannte Fall nicht eher wie der hier
zuletzt geschilderte? Für die Entscheidung des BGH mögen andere Aspekte
sprechen, nicht aber „schon“ die grammatikalische Auslegung.83
Fall 23 (BGHSt 26, 176): Gemäß § 113 II Nr. 2 StGB84 liegt in der Regel ein be-
sonders schwerer Fall des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte vor, wenn der
Täter den Angegriffenen in die Gefahr des Todes bringt. Ist diese Todesgefahr eine
„besondere Folge der Tat“ i. S. von § 18 StGB mit der Konsequenz, daß insoweit
Fahrlässigkeit des Täters genügte? Der BGH hält es „schon sprachlich“ nicht für
möglich, die Herbeiführung einer Gefahr als Folge einer Tat zu bezeichnen (S. 181).
Notwendig sei eine feststellbare Veränderung in der Außenwelt. Eine Gefahr sei
lediglich „Vorstufe“ einer Folge.
Der sprachliche Fehlgriff des BGH dürfte hier am deutlichsten zutage liegen.
Aus dem Normtext ist nichts dafür ersichtlich, als „Folge“ der Tat nur eine
(sinnlich wahrnehmbare) Veränderung in der Außenwelt aufzufassen. Folge
eines Verhaltens kann auch ein Gefahrzustand für ein Rechtsgut sein. So wird
man z. B. die Mitteilung, infolge einer Brandstiftung seien Menschen in (Le-
bens-)Gefahr geraten, kaum als sprachwidrig ansehen können. Die Unrichtigkeit
der semantischen „Auslegung“ des BGH wird im Schrifttum denn auch ein-
hellig konstatiert und mit vielen beispielhaften, z. T. dem gesetzlichen Sprachge-
brauch entnommenen Formulierungen widerlegt.85 Gegen die Anwendung des
§ 18 StGB sprachen andere, nicht aber „schon sprachliche“ Gründe.
Fall 24 (BGHSt 28, 129): Wegen „Unfallflucht“ wird gemäß § 142 II Nr. 2 StGB
auch der Unfallbeteiligte bestraft, der sich zwar „berechtigt oder entschuldigt“ vom
Unfallort entfernt hat, aber nicht nachträglich die Feststellungen zugunsten des Ge-
schädigten ermöglicht. Fällt darunter auch derjenige, der in Unkenntnis des Unfalls
(ohne Vorsatz) davonfährt, aber kurz später Kenntnis vom Unfall erlangt? Dagegen
sprechen könnte eine „formal-dogmatische“ Betrachtung, die zwischen Vorsatz und
Schuld streng differenziert. Dementsprechend sieht das vorlegende BayObLG in der
Anwendung des § 142 II StGB auf den genannten Sachverhalt einen Verstoß gegen
das Analogieverbot. Anders der BGH: Die Verpflichtung treffe denjenigen, der sich
„ohne strafbaren Verstoß“ gegen § 142 I StGB vom Unfallort entfernt (S. 130).
„Dabei ist das nicht vorsätzliche Sich-Entfernen dem ,berechtigten‘ . . . oder dem
Gegen die Vergleichbarkeit mit den Waffengesetzen LG Düsseldorf MDR 1954, 311.
83 Ebenso LG Düsseldorf MDR 1954, 311. Zur Wortauslegung in dieser Frage siehe
auch die instruktive Anm. von Hoffmann-Walldorf, NJW 1954, 1147 zu OLG Frank-
furt NJW 1954, 652. Gülde (JW 1937, 170) sieht in der h. M. zutreffend eine Ein-
schränkung des Begriffs „gebrauchen“.
84 Die Vorschrift wurde durch das 6. StrRG 1998 nur redaktionell geändert.
85 Backmann, MDR 1976, 969 (970 f.); Blei, JA 1975, 804 (805); Küper, NJW
,entschuldigten‘ . . . gleichzusetzen“ (S. 132). Das ergebe sich schon aus dem Wort-
sinn. „In der Rechtssprache finden die Worte ,berechtigt‘ und ,entschuldigt‘ auch in
bezug auf tatbestandsmäßig nicht vorsätzliche Verhaltensweisen Anwendung.“
Die Problematik resultiert aus einer zumindest ungeschickten Formulierung
durch den Gesetzgeber. Dem Strafrechtsdogmatiker „fehlt etwas“, wenn nur von
Rechtfertigung und Entschuldigung die Rede ist, und der BGH formuliert
selbst, wie die Norm zutreffend lauten müßte („ohne strafbaren Verstoß gegen
§ 142 I StGB“). Dennoch kann man die Ablehnung des engen „formal-dogmati-
schen“ Begriffsverständnisses durch den BGH billigen.86 Leider schwächt der
Senat seine Begründung selbst durch fragwürdige Annahmen im Bereich des
Wortlautkriteriums: Zum einen weckt das „Gleichsetzen“ der Fallgruppen un-
willkürlich den Verdacht der Analogie; denn ein Gleichsetzen spricht dafür, daß
die Merkmale des Begriffs (der entsprechenden Definition) eben nicht erfüllt
sind, sondern lediglich Ähnlichkeit vorliegt.87 Gemessen an der weiteren Ent-
scheidungsbegründung war ein solches Vorgehen zudem gar nicht nötig. Eben-
sowenig überzeugt zum anderen die Tendenzanzeige („schon aus dem Wort-
sinn“), weil ein abweichendes, streng dogmatisches Begriffsverständnis durch-
aus nahelag und der Widerlegung bedurfte.
Die Fälle sollten belegen, daß die behauptete Tendenzanzeige nicht immer so
sicher ist, wie es die Formulierungen des BGH suggerieren. Insoweit gilt nichts
anderes als bei den „echten“ Evidenzen. Hier wie dort neigt der BGH dazu,
seine Entscheidungen intensiv mit weiteren Argumenten zu stützen, obwohl
doch das sprachliche Kriterium die Lösung weitgehend vorzeichnen soll. Mit
den Beispielen soll hingegen nicht belegt werden, daß die Argumentationsfigur
„schon der Wortlaut“ generell nicht überzeugt, gar direkt auf fehlerhaftes Vor-
gehen hinweist und dem kritischen Leser stets Warnsignal sein sollte. Weitere
insoweit einschlägige und analysierte Entscheidungen bieten in der Regel unter
diesem Gesichtspunkt weniger Angriffsfläche, sind aber ebenfalls nicht durch-
weg überzeugend.88
86 Eingehend Küper, in: Heidelberg-FS, S. 460 ff. und unten Fall 61.
87 Näher unten III 7 i.
88 Die Argumentationsfigur taucht in folgenden Entscheidungen von methodologi-
schem Interesse auf (Anmerkungen sind nachgewiesen, wenn sie gerade die Wortlaut-
auslegung kritisieren): BGHSt 1, 334 (335); 4, 36 (41); GS 14, 38 (43); 14, 68 (70,
zweifelhaft!); 24, 143 (148); 26, 106 (108); 27, 56 (ähnlich oben Fall 13); 27, 120
(123); 29, 73 (75); 29, 300 (303); 31, 163 (167); 32, 104 (108); 35, 390 (393); 38, 78
(79); 38, 281 (282) mit Anm. Otto, JZ 1992, 1139; 42, 291 (293); 42, 294 (295) mit
Anm. Eisenberg, NStZ 1998, 53; 45, 253 (258).
64 III. Wortlaut und Wortsinn
21, 334 (339); 22, 14 (16); 24, 352 (355); 30, 15 (16 f.); 35, 390 (393).
91 BGHSt 28, 224 (227); 29, 204 (206); 30, 15 (17); 31, 317 (319); 38, 78 (79); 44,
347 (349).
92 BGHSt 35, 390 (393).
93 Brockhaus/Wahrig in BGHSt 31, 317 (319); 43, 346 (348); Wahrig in BGHSt 44,
347 (349).
94 BGHSt 14, 223 (227); 23, 286 (287).
95 BGHSt 30, 15 (16).
96 BGHSt 22, 14 (16).
97 BGHSt 44, 347 (349).
98 BGHSt 31, 317 (319); 39, 330 (334); GS 40, 350 (356); 41, 219 (220); 41, 348
36, 262 (265): „HIV“; 43, 346 (347, 353, 355): „Strahlen“, „Strahlenschäden“.
3. Zur Bedeutungsfeststellung 65
wenn sie nach Art ihrer Aufbewahrung einem Unbefangenen zwar als käuflich er-
66 III. Wortlaut und Wortsinn
– erreicht ist, sind vier Seiten Urteilstext entstanden! Keinen Erkenntnisgewinn erge-
ben auch die etymologischen Forschungen im folgenden
Fall 26 (BGH StV 2000, 315 [Anfragebeschluß 4. Senat]; NJW 2000, 2907 [Erwi-
derung 1. Senat]; JR 2001, 73 [Vorlagebeschluß 4. Senat] – „Zweierbande“): Setzt
der Begriff der „Bande“ eine Mindestanzahl von drei Beteiligten voraus? Der 4.
Strafsenat bejaht das und sieht in der gegenteiligen Ansicht der ständigen Rechtspre-
chung (zwei Mitglieder ausreichend) eine Überschreitung der Wortlautgrenze (S. 317,
r. Sp.).107 Der 4. Senat beschäftigt sich eingehend mit dem Wortlaut und greift dabei
weit in die Vergangenheit zurück. Jedoch belegen die angegebenen Fundstellen kei-
nen eindeutig gegenteiligen Sprachgebrauch, zumal unklar bleibt, wessen Sprachge-
brauch überhaupt maßgeblich sein soll. Und vor allem: Wie verhält sich dieser (an-
gebliche) Sprachgebrauch zur überkommenen Rechtsprechung? Diese Schwäche in
der Entscheidungsbegründung hat der 1. Strafsenat im Anfrageverfahren dann auch
konsequent offengelegt: Der 4. Senat lasse außer acht, „daß in den letzten Jahrzehn-
ten der Bedeutungsgehalt gerade auch durch die Rechtspraxis und die Rechtssprache
entscheidend mitgeprägt worden ist. Schon das RG . . .“.108
Trotz dieses Beispiels fällt auf, daß der BGH gerade dann selten auf Wörter-
bücher zugreift, wenn sich die Frage nach der Reichweite des Wortlauts, also
den sprachlichen Grenzen einer noch möglichen Gesetzesauslegung stellt. Ge-
rade hier würde sich dieses Hilfsmittel anbieten. Vor allem in Anbetracht der
h. M., die aus Art. 103 II GG als maßgebliche Schranke den Wortsinn aus Sicht
des Bürgers folgert109, muß diese Abstinenz verwundern. Andererseits wird
kaum zu erwarten sein, daß die Wörterbücher im Bereich des Begriffshofs nen-
nenswert zur Klärung oder zur Eingrenzung beitragen können. Eher werden sie
eine extensive Auslegung rechtfertigen: Irgendeine der im Lexikon aufgeführten
Wortbedeutungen wird schon (noch) passen!110 Zur Verdeutlichung dieser Pra-
xis folgende Beispiele zum Wort „Verlassen“:
Fall 27 (BGHSt 22, 14): Wegen Fahnenflucht wird u. a. bestraft, wer eigenmächtig
seine Truppe „verläßt“ (§ 16 I WStG). Trifft das auch auf einen Soldaten zu, der
sich in seinem Urlaub durch bestimmte Verhaltensweisen von der Truppe abwendet?
Um zu begründen, daß das Merkmal „verläßt“ keine räumliche Entfernung von der
Truppe voraussetzt, greift der BGH auch auf Wörterbücher zurück und argumentiert
scheinen, es jedoch an der Verkaufsabsicht seitens des Verkäufers mangelt? Daß die
objektiven Voraussetzungen des Begriffs nicht streitig sind, sagt der BGH selbst
(a. a. O., S. 290).
107 Der Große Strafsenat hat sich dieser Auffassung im Ergebnis angeschlossen,
hinsichtlich des Wortlauts aber ohne Begründung festgestellt, daß dieser beide Ansich-
ten erlaube, vgl. BGHSt GS 46, 321 (328 f.).
108 BGH NJW 2000, 2907 (2908, l. Sp.). Zutreffend ist allerdings auch, daß inso-
111 Die Frage ist seit dem 6. StrRG 1998 geklärt: „in einer hilflosen Lage im Stich
112 Eine weitergehende methodologische Regel ist dadurch nicht begründet; vgl.
deres sagt als das zu Definierende hergibt. Vgl. im einzelnen zum korrekten Definie-
ren Gast, Rhetorik, Rn. 194 ff. (insbesondere Rn. 197).
114 Anders allerdings BGH StV 2000, 315 (oben Fall 26) und BGHSt 29, 204 (206):
intensiv Wörterbücher und Lexika heran, um zu belegen, daß sowohl gesetzes- als
auch alltagssprachlich kein einheitliches Verständnis des in Frage stehenden Aus-
drucks feststellbar ist.
3. Zur Bedeutungsfeststellung 69
116 Daß man auch ein Sprachungetüm lesbar machen kann, zeigt Haft (Strafrecht
BT, S. 223 f.) anschaulich am Beispiel des syntaktisch verunglückten § 266 StGB.
117 Seit dem 6. StrRG 1998 ist die Frage durch § 224 I Nr. 2 StGB („mittels einer
Waffe oder eines anderen gefährlichen Werkzeugs“) eindeutig im Sinn des BGH ge-
klärt.
118 Ebenso Frank, RStGB, § 223a, Anm. II 1; Olshausen, RStGB, § 223a, Anm. 3a
und BGH NJW 1978, 1206: „Indessen nennt § 223a StGB das gefährliche Werkzeug
nur als Beispiel für eine Waffe.“
119 Daß der Gesetzestext inhaltlich mißlungen ist (vgl. Hälschner, Strafrecht II/1,
für zwingend, läßt die Frage ihres Gewichtes gegenüber einer entgegenstehenden ge-
genwartsbezogenen teleologischen Interpretation jedoch mit der Begründung dahinste-
hen, daß vorliegend die analoge Anwendung des § 86 StGB zulässig sei (JZ 1964, 529
[536 f.]).
121 Die geltende Fassung des § 146 StGB weicht nur in der Mindeststrafe (ein Jahr)
ab.
122 Schon gegen diese Wortlautauslegung sprechen gewichtige Gründe.
72 III. Wortlaut und Wortsinn
gerade die zweite Alternative trifft auf den vorliegenden Sachverhalt zu. Da §§ 146
I Nr. 3 und 147 eben diese Alternative nicht enthalten, liegt eigentlich der Umkehr-
schluß nahe, daß der Gesetzgeber bewußt auf die Erfassung dieser Situation verzich-
tet hat. § 147 I müßte konsequent lauten: „falsches Geld in Verkehr bringt oder ein
solches Inverkehrbringen ermöglicht“. Daß § 146 I Nr. 1 die Unterscheidung im
subjektiven Tatbestand trifft, ist ohne Belang. Der BGH überwindet diese sprach-
lich-systematische Erwägung jedoch mit Argumenten aus der Entstehungsge-
schichte: Der Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens verbiete es, die Gleichstellung
in § 146 I Nr. 1 als „argumentum e contrario“ für die Auslegung des § 147 zu nut-
zen (S. 314). Der Gesetzgeber habe in § 146 I Nr. 1 nur (klarstellend!) der denkba-
ren Auslegung vorbeugen wollen, „das Gesetz wolle die Weitergabe an Eingeweihte
nicht erfassen“, dabei jedoch versäumt, die §§ 146 I Nr. 3, 147 unmißverständlich
mit diesem Ziel in Einklang zu bringen.
Der BGH greift dem Gesetzgeber durch eine subjektiv-historische Auslegung
„unter die Arme“ und reduziert das Problem auf ein gesetzgeberisches Verse-
hen. Freilich ist diese Vorgehensweise angesichts des Wortlauts zweifelhaft. Der
Gesetzgeber mag durch die Formulierung keine Einschränkung bezweckt haben,
die Einschränkung zudem nicht sinnvoll sein, doch bei „objektiver“ Lesart führt
kein Weg an der gegenteiligen Auslegung vorbei. Vor allem wäre zu diskutie-
ren, ob der Überwindung der sprachlich-systematischen Ebene das Analogiever-
bot entgegensteht, insbesondere ob die zur Ermittlung der maßgeblichen Wort-
bedeutung herangezogene Systematik an der Reichweite dieses Verbots partizi-
piert.123 Daß der BGH die ausdifferenzierte Begrifflichkeit des Gesetzes sonst
ernster nimmt, soll im folgenden Abschnitt belegt werden. Zuvor jedoch ein
Beispiel für die Ansicht des BGH, daß der Kontext den allgemeinen Sprachge-
brauch ausstechen kann. Freilich bleibt die Entscheidungsbegründung den Be-
weis dafür schuldig und „springt“ unmittelbar in die Entstehungsgeschichte:
Fall 35 (BGHSt 31, 317): Setzt das „Ausüben“ einer geheimdienstlichen Tätigkeit
i. S. von § 99 StGB eine dauerhafte Betätigung voraus oder genügt unter Umständen
das einmalige Tätigwerden? Unter Hinweis auf Wörterbücher und auf eine Stimme
aus dem Schrifttum konstatiert der BGH, daß dem Begriff des „Ausübens“ nach dem
Sprachgebrauch im allgemeinen ein Element der Dauer eigen sei (S. 318). Darauf
soll es im vorliegenden Fall jedoch nicht ankommen, denn: „In dem Zusammen-
hang, in welchem das Wort hier verwendet ist, führt sein Sprachsinn aber nicht not-
wendig zu der Folgerung, daß eine nicht dauerhaft ausgeübte geheimdienstliche Tä-
tigkeit von dem Straftatbestand nicht erfaßt werde. Nichts in den Gesetzesmaterialien
spricht dafür, daß der Gesetzgeber eine derartige Einengung gewollt habe . . .“. Wes-
halb der Kontext hier ein abweichendes Begriffsverständnis erlaubt, verrät der BGH
leider nicht.
Fall 36 (BGHSt 27, 56; 42, 368; GS 48, 189; NJW 2002, 1437 – „Eigenhändig-
keit“): Die häufig anzutreffende Problematik, ob Straferschwerungsgründe in eige-
ner Person erfüllt werden müssen oder ob bei Mittätern eine Zurechnung über § 25
II StGB möglich ist, beantwortet BGHSt 27, 56 für das Beisichführen einer Schu-
ßwaffe gemäß § 125a 2 Nr. 2 StGB im ersteren Sinn. Der Gesetzgeber formuliere
in anderen Vorschriften des Strafrechts „wenn der Täter oder ein anderer Beteiligter
eine Waffe bei sich führt“.126 Diesen Umkehrschluß befürwortet ebenfalls BGHSt
42, 368 (371) für das Mitsichführen einer Schußwaffe gemäß § 30a II Nr. 2 BtMG:
Hätte der Gesetzgeber anderes gewollt, hätte er auch in § 30a BtMG eine entspre-
chende Klarstellung vornehmen können.127 Auf die Vorlage des 3. Senats hat der
Große Strafsenat das systematische Argument jedoch überzeugend zurückgewiesen:
Aus dem unterschiedlichen Wortlaut der Vorschriften folge nichts, weil die Formu-
lierung „ein anderer Beteiligter“ über § 25 II StGB hinaus auch noch Anstifter und
Gehilfen erfasse, also über die Wirkung von § 25 II hinausgehe (S. 194). Im Vorla-
gebeschluß hatte der 3. Senat noch allgemeiner darauf hingewiesen, daß der Gesetz-
geber bei der Umschreibung straferschwerender Umstände keinem einheitlichen
Sprachgebrauch folge, und dem Vergleich mit ähnlichen Vorschriften somit die
Grundlage fehle (S. 1439, r. Sp.).
BGHSt 42, 368 (370) enthält allerdings eine weitere Steigerung seiner begrifflich-
systematischen Argumentation, auf die der Große Senat sich aber nicht einläßt: Die
Formulierung „oder ein anderer Beteiligter“ wäre in diesem Umfang nicht nötig,
wenn für Mittäter schon § 25 II StGB die Zurechnung eröffnen würde. Sie müßte
sich konsequent auf Teilnehmer (Anstifter und Gehilfen) beschränken! Dafür nennt
der Senat aber keine gesetzlichen Vorbilder, die derart subtil differenzieren und et-
waige Gegenschlüsse erlauben würden. Im Vorlagebeschluß verweist der 3. Senat
(S. 1440, l. Sp.) allerdings auf den s. E. deutlicheren § 243 I Nr. 5 StGB i. d. F. bis
zum 1. StrRG, wo es in der Qualifikation des Beisichführens einer Waffe noch ein-
mal abweichend heißt „der Dieb oder einer der Teilnehmer am Diebstahl“; für Mit-
täter erfolgte die Zurechnung nach den allgemeinen Regeln. In der gegenwärtigen
Strafrechtsordnung findet sich diese Formulierung – soweit ersichtlich – jedoch
nicht mehr und kann demgemäß nicht als Grundlage für systematische Folgerungen
dienen.128
Der BGH vertraut in aller Regel auf die begriffliche Folgerichtigkeit des Ge-
setzes und arbeitet dabei insbesondere mit Umkehrschlüssen: Eine andere For-
mulierung, zumal eine umständliche Ausdrucksweise129 spricht mit hoher Wahr-
scheinlichkeit für einen anderen Inhalt der Vorschrift.130 Die damit verbundene
126 Vgl. §§ 244 I Nr. 1, 2, 250 I Nr. 1, 2 StGB i. d. F. bis 1998 und §§ 244 I Nr. 1,
(NJW 2002, 3116): Die Wendung in § 30a BtMG setze sich systematisch von der
Formulierung „oder ein anderer Beteiligter“ ab.
128 Siehe auch Altenhain, NStZ 2003, 437 (r. Sp.).
129 BGHSt 18, 156 (158): Es sei unwahrscheinlich, daß der Gesetzgeber eine um-
ständliche Ausdrucksweise benutzt hat, wenn er eine längst gebräuchliche und kürzere
Fassung hätte wählen können.
130 Noch „retten“ kann sich der BGH in BGHSt 42, 294, wo der Begriff „Ver-
handlung“ i. S. von StPO und JGG zur Debatte stand: Ist die Urteilsverkündung davon
3. Zur Bedeutungsfeststellung 75
Wertersatz] kann dem Gesetzgeber bei Erlaß des StFrG 1954 nicht entgangen sein.“
132 BGH StV 2000, 315 (317, r. Sp.), unter Berufung auf Dreher. Dazu, daß diese
nige durch solche Umstände an der Tat gehindert worden, der von seinem Verge-
waltigungsopfer abläßt, weil er es als persönlich bekannt wiedererkennt? Der BGH
bejaht das. Die gegenläufige (großzügigere) Ansicht im Schrifttum laufe darauf hin-
aus, den Rücktritt nur dann auszuschließen, wenn dem Täter aufgrund der eingetre-
tenen Umstände überhaupt kein Entscheidungsspielraum mehr bleibe (S. 50). Dann
aber würde das Gesetz nicht von „gehindert worden“ sprechen, sondern verlangen,
daß die Ausführung der Tat „unmöglich geworden ist“ (S. 51).134 – Der Senat hat
nur insoweit recht, als die Gegenmeinung in der von ihm vorgeschlagenen Formulie-
rung eine bessere Stütze fände; aber vereinbar mit dem damaligen Wortlaut waren
beide Ansichten.
Derartige Argumentationsmuster135 sind generell fragwürdig, weil der Ge-
setzgeber durch genauere Formulierung seiner Gesetzestexte die Entstehung von
Interpretationsproblemen zwar oft vermeiden könnte, es aber – aus welchen
Gründen auch immer, vielleicht nur aus Versehen – nicht getan hat. Deshalb
sind Anhaltspunkte notwendig, ob sich die Gesetzesverfasser ihrer Möglichkei-
ten bewußt waren. Allein weil eine bessere Regelung hätte getroffen werden
können, folgt noch nichts Zwingendes für die Auslegung der geltenden Fas-
sung! So sagt das RG in zugespitzter Form:
„Die Beachtung oder Nichtbeachtung solcher sprachlichen Feinheiten [durch den
Gesetzgeber] hängt mehr oder weniger von Zufällen ab und läßt keinen zuverlässi-
gen Schluß auf die Bedeutung einer Bestimmung zu.“136
Und auch BGHSt 31, 317 (oben Fall 35, „Ausüben“ einer geheimdienstlichen
Tätigkeit) erkennt das an: Jedenfalls sei es nicht angängig, aus dem Umstand,
daß der Gesetzgeber nicht eine andere, denkbare Fassungen gewählt hat, „auf
eine so weitgehende Einschränkung des Tatbestandes zu schließen“ (S. 319).
Gleichwohl verweisen die Senate insgesamt gerne darauf, daß der Gesetzge-
ber bei anderer Intention den Text anders verfaßt hätte, oftmals mit der Bemer-
kung, daß eine entsprechende Klarstellung des Wortlauts sogar leicht oder ein-
fach hätte vorgenommen werden können.137 Das Argument dient dann nicht nur
dazu, der Gegenauffassung den Boden zu entziehen, sondern bringt zudem Miß-
fallen gegenüber der gesetzgeberischen Sorglosigkeit zum Ausdruck.138 Eindeu-
tige Ausgestaltungen des Gesetzes werden insbesondere dann verlangt, wenn es
um die Anwendung von Strafschärfungen geht.139 Zuweilen wird die Argumen-
tationsfigur auch genutzt, um im Schrifttum oder anderweitig vorgebrachte Re-
ein Wort möglich; 27, 120 (123) = oben Fall 29; 44, 145 (152).
138 Besonders deutlich in BGHSt 25, 97 (98).
139 BGHSt 28, 48 (52): Eine derartige Verschärfung wäre im Gesetz „unzweideutig
BGH ebenfalls mitteilt, wie die unsauber formulierte Norm (§ 142 II StGB) richtig zu
lesen ist!
78 III. Wortlaut und Wortsinn
deln. Deshalb läßt der BGH einen Hinweis auf die genannten Normen des StGB-AT
zur Begründung der Versuchsstrafbarkeit nicht genügen, muß im Anschluß dann
aber einige „Klimmzüge“ unternehmen um dieses Ergebnis dann auf anderem Weg
zu erreichen, insbesondere, um einen Verstoß gegen das Analogieverbot auszuräu-
men.143
Fall 41 (BGHSt GS 39, 100): § 251 StGB a. F. lautete: „Verursacht der Täter durch
den Raub . . . leichtfertig den Tod eines anderen, so . . .“. War die Norm auch bei
vorsätzlichem Handeln des Täters anwendbar? Der Große Senat bejaht das, obwohl
der Wortlaut § 251 StGB „für sich betrachtet“ diese Auffassung nicht stütze (S. 103).
Doch sei zu berücksichtigen, „daß die Vorschriften des Besonderen Teils des Straf-
gesetzbuches nicht isoliert von den Regelungen des Allgemeinen Teils angewendet
werden können.“ Dessen § 18 bestimmt für erfolgsqualifizierte Delikte wie z. B.
§ 251, daß dem Täter hinsichtlich des Taterfolgs „wenigstens Fahrlässigkeit“ zur
Last fallen muß.144
Ungenutzt läßt der BGH die Möglichkeit, die anzuwendende Norm durch
Rückgriff auf eine allgemeinere Vorschrift zu „erweitern“, z. B.145 in
Fall 42 (BGHSt 45, 46): Gemäß § 118 III BRAO ist das Anwaltsgericht an tatsäch-
liche Feststellungen eines strafgerichtlichen „Urteils“ gebunden. § 410 III StPO
stellt den Strafbefehl, gegen den kein Einspruch erhoben wird, einem rechtskräftigen
Urteil gleich. Ist das Anwaltsgericht auch an die dem Strafbefehl zugrundeliegenden
Feststellungen gebunden? Der Wortlaut des § 118 III BRAO spricht nach Ansicht
des BGH dagegen (natürlich!) und auch aus § 410 StPO lasse sich für eine Bindung
nichts entnehmen (S. 47). Sinn und Zweck der Bindungswirkung sprächen ebenfalls
gegen eine Erstreckung auf den Strafbefehl (S. 48).
Die entscheidenden Normtexte dürften beide Lösungen zulassen. Daß sich
aus § 410 III StPO jedoch für eine Bindungswirkung gar nichts ergebe, will
nicht recht einleuchten, denn die StPO müßte für die rechtliche Behandlung der
beiden Entscheidungsarten eigentlich das leitende Gesetz sein.
Das folgende abschließende Beispiel soll Möglichkeiten und Grenzen des Zu-
sammenspiels von Normen aus dem StGB-AT und dem StGB-BT illustrieren.
Der BGH erliegt – anders als einige Stimmen aus der Literatur – nicht der Ver-
suchung, eine womöglich unbefriedigende Gesetzesfassung durch einen inter-
pretatorischen Kunstgriff zu korrigieren:
Fall 43 (BGHSt 27, 52 – „Leihbücherei“): Gemäß § 184 I Nr. 3 StGB i. d. F. des 4.
StrRG) wurde bestraft, wer „pornographische Schriften, Ton- und Bildträger, Abbil-
dungen oder Darstellungen . . . im Einzelhandel außerhalb von Geschäftsräumen,
143 Ob das gelungen ist, muß bezweifelt werden; vgl. dazu unten Fall 68.
144 Im weiteren muß der Große Senat freilich begründen, weshalb § 251 StGB (a. F.)
in Anbetracht seiner abweichenden Voraussetzungen gegenüber § 18 StGB keine Spe-
zialregelung darstellt. Das 6. StrRG hat die Problematik 1998 entsprechend BGHSt 39,
100 gesetzlich sanktioniert („wenigstens leichtfertig“).
145 Weiteres Beispiel ist BGHSt 6, 248 (siehe oben Fall 13 mit der Kritik von
Lange).
3. Zur Bedeutungsfeststellung 79
Kiosken oder anderen Verkaufsstellen, die der Kunde nicht zu betreten pflegt, im
Versandhandel oder in gewerblichen Leihbüchereien oder Lesezirkeln einem anderen
anbietet oder überläßt“. Durch das EGStGB wurde die Gesetzesfassung hinsichtlich
der Tatobjekte vereinfacht, indem nur noch das Wort „Schriften“ auftauchte und in-
sofern auf die Legaldefinition in § 11 III StGB verwiesen wurde. Nach dieser Be-
stimmung stehen Bild- und Tonträger den Schriften gleich. Der BGH mußte über
die Frage entscheiden, ob § 184 I Nr. 3 StGB (a. F.) den Verleih von Pornofilmen in
spezialisierten Videotheken erfaßt. Das vorlegende OLG wollte das unter Hinweis
auf die Gleichstellungsklausel des § 11 III StGB (a. F.) bejahen: Ein Filmverleih sei
zwar nach dem klaren Wortsinn keine „Leihbücherei“, doch strahle die Gleichstel-
lung in § 11 III StGB auch auf den Begriff der Leihbücherei aus, deren „Inhalt sich
nach den in jener Klausel den Schriften gleichgestellten Gegenständen be-
stimme“.146 Kurzum: Wenn Bild- und Tonträger wie Schriften zu behandeln sind,
weshalb dann nicht auch Videotheken wie Leihbüchereien? Der BGH erteilt dieser
Argumentation jedoch unter Berufung auf den Wortlaut147 eine deutliche Absage.
Die sprachliche Vereinfachung durch das EGStGB („Schriften“) diene allein der
Entlastung des Gesetzestextes, beabsichtige hingegen keine inhaltliche Änderung
(S. 54 f.). Eine Schließung der Gesetzeslücke habe der Gesetzgeber zwar erwogen,
aber letztlich nicht vollzogen.
Der Fall liegt eigentlich so klar, daß er auch als Beispiel zur Evidenz hätte
aufgeführt werden können, was den BGH übrigens auch hier nicht davon ab-
hält, seine Entscheidung intensiv zu begründen. Die vom OLG behauptete
Rückkoppelung („Ausstrahlungswirkung“) der Gleichstellung von Tatobjekten
in § 11 III StGB auf die Art des Vertriebs findet im Gesetz schlicht keinen
Anhaltspunkt, weder in der speziellen noch in der allgemeinen Norm. Die
Gleichbehandlung von Filmen mit „Schriften“ macht aus Videotheken keine
„Leihbüchereien“, mag ein anderes Ergebnis inhaltlich auch noch so angemes-
sen oder wünschenswert sein.148 Dennoch mangelt es nicht an Versuchen, die
Verweisung auf § 11 III StGB zu einer Überspielung des Wortlauts zu nutzen:
„Ebenso gut könnte nämlich umgekehrt angesichts des umfassenden Tatobjekts der
Ausdruck ,in gewerblichen Leihbüchereien‘ eine etwas unpräzise Ausdrucksweise
des Gesetzes sein, die aus den den Tatobjekten zugeordneten Begehungsweisen le-
diglich die häufigste herausgreift. Dies ist um so eher möglich, als § 184 nur von
,Schriften‘ spricht und die Einbeziehung von Bild- und Tonträgern durch die Ver-
weisung auf § 11 Abs. 3 erzielt, so daß diese Erweiterung auch bei dem Begriff der
,Leihbücherei‘ hinzuzudenken wäre. Eine solche Auslegung würde sich noch im
Rahmen des Wortsinnes halten.“149
146 So die Wiedergabe der Argumentation des OLG durch den BGH auf S. 54.
147 Insoweit krit., im Ergebnis aber zust. Blei, JA 1977, 190 (191), der angesichts
von BGHSt 27, 45 (oben Fall 19) an der Stabilität der Wortlautgrenze zweifelt. Wie
der BGH: Krey, Studien, S. 167.
148 Der Gesetzgeber hat die Lücke 1985 mit Einführung des § 184 I Nr. 3a StGB
149 Schroeder, JR 1977, 231 (232, l. Sp.), der konsequent die Evidenz der BGH-Lö-
sung bestreitet und das dort benutzte Wort „zweifellos“ sogar als Indiz für die Über-
deckung einer Argumentationsschwäche ansieht (S. 232, r. Sp.). Im Ergebnis ebenso
Dreher, StGB37, § 184, Rn. 19.
150 Schwinge, Teleologische Begriffsbildung im Strafrecht, 1930.
151 Siehe auch BGHSt 12, 48 (49): „Diese Zweckbestimmung [durch die StVO]
muß bei der Auslegung des Begriffs ,Gegenstände‘ in erster Linie berücksichtigt wer-
den.“ Viele Beispiele aus der Praxis des RG bringt Schwinge, Teleologische Begriffs-
bildung, S. 33 ff. („seit langem Übung“).
152 Z. B. BGHSt 3, 300 („Gebäude“); 4, 107 („Absicht“); 4, 202 („Verletzter“); 6,
Wortsinns an, so könnten letztlich alle übrigen Hilfsmittel bereits beim Wortlautkrite-
3. Zur Bedeutungsfeststellung 81
Fall 44 (BGHSt 6, 107): Ist ein mit Wänden und Dach versehener Rohbau (ohne
Türen, Fenster und Fußböden) bereits ein „Gebäude“ i. S. des Brandstrafrechts? Der
BGH bejaht das und gibt dem Ausdruck damit in § 308 StGB (a. F.) einen anderen
Inhalt als beim schweren Diebstahl gemäß § 243 I Nr. 2 StGB (a. F.). Während es
bei § 243 (a. F.) darauf ankomme, Unbefugten den Zutritt zu verwehren, um im Ge-
bäude untergebrachte Gegenstände besonders zu schützen, gehe es bei § 308 (a. F.)
um den Schutz vor Angriffen auf Sachen von besonderem Wert oder besonderer
Bedeutung (S. 108). Ob diese Sachen (Gebäude) leicht zugänglich sind, sei für das
Recht der Brandstiftung mithin irrelevant, so daß hier der allgemeine Sprachge-
brauch zugrunde gelegt werden könne.
Fall 45 (BGHSt 44, 175): Seit dem 6. StrRG wird eine Brandstiftung als besonders
schwer angesehen, wenn sie die Gesundheitsgefährdung einer großen Zahl von Men-
schen verursacht (§ 306b I StGB). Der BGH zählt auf, an welchen Stellen der „un-
bestimmte Rechtsbegriff“ der Gesundheitsschädigung „einer großen Zahl von Men-
schen“ im Gesetz verwendet wird (S. 177). Aus Systematik, Strafdrohung und der
Art der geschützten Tatobjekte folgert der BGH in „tatbestandsspezifischer Ausle-
gung“, daß jedenfalls bei 14 betroffenen Bewohnern eines mittelgroßen Hauses die
Zahl der Gefährdeten groß sei (S. 178).
Gegen den Ausgangspunkt beider Entscheidungen ist nichts einzuwenden.
Freilich gewinnt im zweiten Beispiel der „unbestimmte Rechtsbegriff“ auch
durch Erwägungen zur Systematik und zum Schutzzweck nicht sonderlich an
Kontur, was allerdings eine Frage des Bestimmtheitsgebots ist.
Der Vorrang des teleologischen Elements bei der Feststellung der maßgeb-
lichen Wortbedeutung kann im Einzelfall jedoch zugunsten einer Begriffsausle-
gung zurücktreten, insbesondere wenn der Schutzzweck der Norm nicht hinrei-
chend konkret ist, um eine Zweifelsfrage zu entscheiden:
Fall 46 (BGHSt 9, 44): Liegt auch dann eine „unechte“ Urkunde i. S. des § 267
StGB vor, wenn der berechtigte Aussteller lediglich ein falsches Ausstellungsdatum
vermerkt, die Urkunde z. B. rückdatiert? Der BGH ist der Ansicht, daß Sinn und
Zweck der Norm nichts zur Beantwortung der Frage zu leisten vermögen (S. 45).
Entscheidend sei der allgemeine Sprachgebrauch, wonach es (nur) darauf ankomme,
ob über die Person des Ausstellers getäuscht werden soll.
Der Schutzzweck der Norm deckt offensichtlich beide Ergebnisse, denn der
Rechtsverkehr verdient auch Schutz vor Rückdatierungen u. ä. mißbräuchlichen
Verhaltensweisen mit Urkunden. Der BGH scheint dementsprechend „froh“ zu
sein, statt mit diffusen Schutzzweckerwägungen arbeiten zu müssen, auf eine
bewährte und die Frage eindeutig beantwortende Definition des Urkunden-
begriffs zurückgreifen zu können.154 Insoweit liegt kein Rückfall in eine „Be-
rium abgehandelt werden; eine solche Konzeption klingt in der Schrift von Schwinge
(Teleologische Begriffsbildung) an, der dort etwa auch Fälle teleologischer Reduktion
behandelt (S. 43 ff.). Siehe auch Zippelius, Methodenlehre, S. 48 ff.: Auslegung als
argumentative Bestimmung der „zutreffenden“ Wortbedeutung. Zum hier vertretenen
Standpunkt vgl. das zur systematischen Auslegung Ausgeführte (siehe oben III 3 f).
82 III. Wortlaut und Wortsinn
a) Ausgangspunkt
Als weiteres Problem im Rahmen der Wortauslegung taucht die Frage nach
dem Verhältnis von juristisch-fachsprachlicher zur alltagssprachlichen Wortbe-
deutung auf. Da die Gesetzessprache sich weitgehend der Alltagssprache be-
dient, hat die Thematik erhebliche Relevanz. In der Literatur zur Methoden-
lehre wird in dieser Situation ganz überwiegend, aber mit unterschiedlichen
Gründen ein Vorrang der juristischen vor der alltagssprachlichen Verwendungs-
weise angenommen.157 Doch ungeachtet dieser klaren Vorrangregel muß man
nicht lange suchen, um auf Unklarheiten und Schwierigkeiten zu stoßen. Bereits
die theoretische Herleitung dieser Regel läßt Zweifel aufkommen, ob diese
„naturgemäße Spannung“158 ohne weiteres auflösbar ist. Nach Bydlinski soll die
juristische Fachsprache in Rechtsgebieten entscheidend sein, die über eine be-
sondere Rechtstechnik verfügen, was im klassischen Bereich des Justizrechts,
einschließlich des Strafrechts der Fall sei.159 Anders liege es dort, wo vom Norm-
adressaten unvermittelt Normbeachtung erwartet wird, wie etwa im Straßen-
verkehrsrecht. Doch gerade das Beispiel des Straßenverkehrsrechts führt direkt
zur Frage, weshalb im Strafrecht, das den Bürger am einschneidendsten trifft,
muß bezweifelt werden. In BGHSt 24, 140 (Fotokopie als Urkunde?) schreibt das Ge-
richt den überkommenen Urkundenbegriff sogar zwingend fest und sieht in Abwei-
chungen davon (zulasten des Täters) eine unzulässige Rechtsfortbildung (S. 142). Zur
Klärung der Frage müßte die ursprüngliche Entstehung des Urkundenbegriffs – das
Zustandekommen seiner Definition – untersucht werden; unter Umständen sind dabei
doch teleologische Gesichtspunkte eingeflossen.
155 Siehe BGHSt 10, 375 = unten Fall 57.
156 BGHSt 20, 248 (250).
157 Z. B. Brugger, AöR 1994, 1 (22); Bydlinski, Methodenlehre, S. 439; Koch/Rüß-
nicht ebenfalls das alltägliche Wortverständnis maßgeblich sein soll. Auch die
Begründung von Rüthers, der aufgrund der Gesetzesbindung des Richters im
Zweifel dem fachsprachlichen Gebrauch den Vorrang zuspricht160, führt inso-
weit nicht weiter. Denn Art. 20 III, 97 GG mögen diese These zwar stützen,
doch bliebe zu klären, ob nicht Art. 103 II GG für den Bereich des Strafrechts
der Fachsprache Grenzen setzt. Es ist zumindest fraglich, ob den Interessen des
Bürgers durch das Bestimmtheitsgebot ausreichend Rechnung getragen wird,
denn sonderlich hohe Anforderungen an die Verständlichkeit der Gesetzesspra-
che werden daraus nicht gefolgert, oder ob Art. 103 II GG darüber hinaus auch
den Richter im Rahmen der Auslegung161 zu einer alltagssprachlichen Interpre-
tation drängt. Konsequent am Adressaten des Gesetzes orientiert162 schlägt des-
halb z. B. Loos eine Differenzierung zwischen Verfahrensrecht und materiellem
Recht vor: Nur im Verfahrensrecht sei der technisch-juristische Sprachgebrauch
zu bevorzugen.163 Looschelders/Roth votieren demgegenüber dafür, den allge-
meinen Sprachgebrauch generell zum Ausgangspunkt zu nehmen und für eine
spezielle Wortverwendung Anhaltspunkte zu verlangen.164 Der Praxis am näch-
sten dürfte der Ansatz von Kramer kommen, wonach bei fachsprachlich ver-
wendeten Ausdrücken stets der professionelle Sprachgebrauch vorrangig sei,
während landläufig gebräuchliche Wörter grundsätzlich nach dem allgemeinen
Sprachgebrauch zu bestimmen seien, wenn sie nicht fachjuristisch geprägt
sind.165 Nicht weniger großzügig will Neumann die Entscheidung von der „je-
weiligen Anwendungssituation“ abhängig machen: Ist der Rückgriff auf juristi-
sche Regelkenntnis notwendig, liege ein Begriff der juristischen Fachsprache
vor, werde zur Bedeutungsermittlung auf die allgemeinen Sprachregeln zurück-
gegriffen, handele es sich um einen umgangssprachlichen Begriff.166 Durch
diese weitgehend pragmatischen Standpunkte rückt die rechtstheoretische
Grundproblematik leicht in den Hintergrund. Sie wird vor allem bei der Frage
nach dem „möglichen Wortsinn“ als Auslegungsgrenze virulent und dort noch-
mals aufgegriffen (unten III 7 b). Die Praxis hält sich nicht lange mit theore-
tischen Erwägungen zu diesem Themenkreis auf. Regelmäßigkeiten sind nur
schwer erkennbar, so daß eine systematische Aufbereitung des Materials
Schwierigkeiten bereitet. Vom grundsätzlichen Vorrang der Fach- vor der Um-
gangssprache dürfte freilich auch der BGH ausgehen.
Betroffensein des Bürgers durch das Recht einen nur eingeschränkten Anspruch der
Juristenzunft auf eine Fachsprache (ZRP-Rechtsgespräch ZRP 2001, 229 [230]).
163 Loos, in: AK-StPO, Einl. III, Rn. 11.
164 Looschelders/Roth, Methodik, S. 146.
165 Kramer, Methodenlehre, S. 49 und 63.
166 Neumann, in: Rechtskultur als Sprachkultur, S. 113.
84 III. Wortlaut und Wortsinn
b) Konstellationen
Die Frage nach dem Verhältnis von Fach- zur Alltagssprache kann sich in
mehreren Variationen stellen. Probleme entstehen dabei nur, wenn einem Aus-
druck sowohl eine umgangs- als auch eine fachsprachliche Bedeutung zukom-
men kann, die voneinander abweichen (Homonym), wenn also eine „Sprachspal-
tung“167 zwischen Fach- und Umgangssprache in Betracht kommt. Da Gesetzes-
texte weitgehend auf der Alltagssprache basieren, muß der Rechtsanwender
häufig diese Möglichkeit eines divergierenden (inkonsistenten) Sprachgebrauchs
erwägen.168 Selten geht es demgegenüber um die Auslegung eines rein juristi-
schen Fachbegriffs, dem als „Fremdwort“ jeder Bezug zur Alltagssprache
fehlt.169 In der Theoriesprache (Dogmatik) sind solche juristischen Begriffskon-
struktionen zwar zahlreich, nicht aber in der Gesetzessprache170, da der Gesetz-
geber naturgemäß und aufgrund des Bestimmtheitsgebotes um Verständlichkeit
bemüht sein muß171. Deshalb sprechen Schrifttum und Praxis, nicht aber der
Gesetzgeber z. B. von „mittelbarer Täterschaft“, „Realkonkurrenz“, „Garanten-
stellung“, „dolus generalis“ oder „Erlaubnistatumstandsirrtum“.
Häufiger ist die Konstellation, daß zwar sowohl eine umgangs- als auch eine
fachsprachliche Bedeutung denkbar ist, jedoch aufgrund des Kontextes oder an-
derer Gründe von vornherein klar ist, welcher Sprachgebrauch maßgebend ist.
Gerade bei strafrechtlichen, dogmatisch ausdifferenzierten Fachbegriffen (z. B.
„Vorsatz“, „Absicht“) sollte die Praxis keine Probleme haben, tut sich zuweilen
aber dennoch schwer:
So liegt es z. B. in BGHSt 2, 393: Was ein „Verbrechen“ i. S. von § 1 StGB a. F. ist,
richtet sich nach Ansicht des BGH nach dem Sinn, den die Sprache des StGB mit
diesem Begriff verbindet (S. 395). — Ähnliches müßte eigentlich für den Begriff
der „Absicht“ gelten, doch gibt nach Ansicht von BGHSt 18, 246 (249) weder seine
Verwendung im Sprachgebrauch noch seine Anwendung im Gesetz Klarheit über die
Bedeutung. — Den Ausdruck „Haft“ in § 140 I Nr. 5 StPO a. F. versteht nach An-
sicht von BGHSt 3, 334 sowohl der allgemeine Sprachgebrauch als auch das Gesetz
umfassend im Sinn von Untersuchungshaft und Strafhaft, es sei denn, aus dem Zu-
sammenhang folge etwas anderes (S. 335). Demgegenüber verweist der Große Senat
in BGHSt 4, 308 darauf, daß die Wortlautauslegung zu keinem eindeutigen Ergeb-
nis führe; die „allgemeine Gesetzessprache“ verwende den Begriff der Haft mal
167 Näher dazu mit Beispielen aus dem Zivilrecht Schwab, in: FS für Rolland,
S. 347 f.
168 Erstaunt darüber, wie oft gemeinsprachliche Ausdrücke sich als juristisch ge-
Recht, S. 4) konstatierte „Fremdwortarmut“ der „Rechtssprache“ trifft nur auf die Ge-
setzessprache zu.
171 Handbuch der Rechtsförmlichkeit, Rn. 46; Wimmer, SuL 1998, 8 (16).
4. Was ist entscheidend: Alltagssprache oder Fachsprache? 85
weit, mal eng (S. 309).172 Einen etwaigen allgemeinen Sprachgebrauch läßt der
Große Senat hingegen zu Recht von vornherein außer Betracht. — Eine Fahrerlaub-
nis konnte gemäß § 42m I StGB a. F. auch bei einem auf fehlender Zurechnungs-
fähigkeit beruhenden Freispruch entzogen werden. BGHSt 14, 68 sieht sowohl den
Fall der erwiesenen als auch den der bloß zugunsten des Täters unterstellten Unzu-
rechnungsfähigkeit als von der Norm erfaßt an. In der Rechtssprache sei es allge-
mein üblich, beide Fälle kurz unter den Begriff des „Freispruchs wegen Zurech-
nungsunfähigkeit“ zusammenzufassen (S. 71).173 Belegt wird dieses „übliche“ Ver-
ständnis allerdings nicht. — Ein echter Fall von Mehrdeutigkeit liegt BGHSt 9, 67
zugrunde. Der Ausdruck „Übertretung“ mußte nicht immer im technischen Sinn als
dritte Kategorie neben „Verbrechen“ und „Vergehen“ gemeint sein (§ 1 StGB
a. F.),174 sondern konnte synonym zu „Überschreitung“ verstanden werden, wie etwa
in § 151 GewO a. F.: „Sind bei der Ausübung des Gewerbes polizeiliche Vorschrif-
ten von Personen übertreten worden, welche der Gewerbetreibende zur Leitung des
Betriebs . . . bestellt hatte, so trifft die Strafe diese letzteren. Der Gewerbetreibende
ist neben denselben strafbar, wenn die Übertretung mit seinem Vorwissen begangen
ist . . .“. Ein juristisch-technisches Wortverständnis liegt hier – anders als oben beim
Ausdruck „Verbrechen“ (BGHSt 2, 393) – in der Tat fern.
Merkwürdig mutet der Rückgriff auf den allgemeinen Sprachgebrauch an,
wenn offensichtlich Ausdrücke der juristischen Fachsprache zur Debatte stehen,
der BGH aber seine Lösung dennoch auf den allgemeinen Sprachgebrauch
stützt:
Schon im oben genannten Beispiel zum Begriff „Haft“ (BGHSt 3, 334; GS 4, 308)
kann der Hinweis auf den landläufigen Sprachgebrauch die Argumentation nicht
fördern. — Im ebenfalls bereits behandelten Fall 46 (BGHSt 9, 44) verwundert, daß
der BGH nach so langer dogmatischer Vorarbeit bei der Interpretation des Urkun-
denbegriffs zur Begründung eines engeren Begriffsverständnisses noch immer auf
den allgemeinen Sprachgebrauch abstellt. Man muß im Rückblick bezweifeln, ob es
dem Gericht damit wirklich ernst war, denn gerade der strafrechtliche Urkundenbe-
griff hat sich weit vom Alltagsverständnis emanzipiert.175 Tatsächlich ist der BGH
nicht diesem Verständnis, sondern der in Rechtsprechung und Lehre entwickelten
Definition gefolgt. — Zu erwähnen sind weiterhin Fall 34 (BGHSt 29, 311: Inver-
kehrbringen von Falschgeld „als echt“ durch Übergabe an einen eingeweihten Mit-
telsmann?), wo der allgemeine Sprachgebrauch für eine (zu) weitgehende Auslegung
instrumentalisiert wird,176 und BGHSt 39, 330, wo die Einschränkung der §§ 239a,
239b StGB unter anderem aus der gesetzlichen Überschrift „Geiselnahme“ hergelei-
tet wird: „Der Begriff der Geiselnahme umfaßt von jeher solche Fallgestaltungen, in
172 Die Problematik ist seit dem StPÄG vom 19.12.1964 (BGBl. I, S. 1067) geklärt.
173 Der Gesetzgeber hat die Norm im 2. Gesetz zur Sicherung des Straßenverkehrs
vom 26.11.1964 in diesem Sinn neuformuliert („weil seine Zurechnungsunfähigkeit
nicht erwiesen oder nicht auszuschließen ist“).
174 Der Gesetzgeber hat diese Dreiteilung im 2. StrRG abgeschafft.
175 Kein Wunder, daß § 267 StGB als Musterbeispiel etwaiger „Subsumtionsirrtü-
mer“ herhalten muß; vgl. z. B. Roxin, Strafrecht AT I, § 12, Rn. 91. Näher dazu unten
III 7 b.
176 Näher unten Fall 67.
86 III. Wortlaut und Wortsinn
denen das Opfer fremder Gewalt unterstellt und festgehalten wird, um durch Bedro-
hung eine Forderung gegen Dritte durchzusetzen (vgl. Brockhaus . . . und Meyers
Enzyklopädisches Lexikon . . ., je zum Stichwort ,Geiselnahme‘)“.177 Gerade die
Heranziehung des überkommenen alltäglichen Sprachgebrauchs durch BGHSt 39,
330 wirkt nicht überzeugend, da fraglich war, ob der Gesetzgeber durch die Neufas-
sung der Normen vom gängigen Bild der Geiselnahmen abgerückt sein könnte, wo-
für Wortlaut und Struktur der §§ 239a, 239b StGB sprechen.178
Noch problematischer als die Flucht in den allgemeinen Sprachgebrauch ist
freilich die umgekehrte Situation, in der bei typischen Begriffen des Alltags
fast gewaltsam auf eine (angebliche) fachsprachliche Bedeutung ausgewichen
wird. Insofern sollte die Rechtsprechung deutlichere Anhaltspunkte für einen
unter Umständen abweichenden juristischen Wortgebrauch verlangen als im fol-
genden
Fall 47 (BGHSt 23, 331), in dem das Gericht ähnlich wie in BGHSt 14, 68 gegen
einen (angeblich nicht relevanten) allgemeinen Sprachgebrauch argumentiert: Ein
Angeklagter soll auch dann gemäß § 329 I StPO „nicht erschienen“ sein, wenn er
zwar körperlich anwesend, aber wegen Trunkenheit nicht verhandlungsfähig ist. Das
ergebe sich aus dem Sprachgebrauch, wie er sich im Strafverfahrensrecht herausge-
bildet habe (S. 334). Im Strafprozeßrecht sei es ganz allgemein anerkannt, daß alle
an der Verhandlung Beteiligten nicht nur körperlich anwesend, sondern jedenfalls
auch verhandlungsfähig sein müssen. „Wer in verhandlungsunfähigem Zustand auf-
tritt, wird gemeinhin als nicht erschienen behandelt [Nachweise]. Danach ist es mit
der Wortfassung des § 329 Abs. 1 StPO durchaus vereinbar, einen Angeklagten auch
dann als ,nicht erschienen‘ anzusehen, wenn er in der Berufungsverhandlung schuld-
haft betrunken und dadurch verhandlungsunfähig auftritt. Ihn bei solchem Verhalten
einem schuldhaft ausgebliebenen Berufungsführer mit den sich daraus ergebenden
gesetzlichen Folgen gleichzustellen,179 wird auch dem Sinn und Zweck der Vor-
schrift gerecht.“
Fall 47 zeigt, wie die Behauptung eines fachsprachlichen Wortgebrauchs der
Überwindung des Wortlauts dient. Der BGH entwickelt ein Lehrbeispiel für
eine juristische Fiktion (anwesend, aber verhandlungsunfähig = nicht erschie-
nen), für die es im Gesetz näherer Anhaltspunkte, wenn nicht sogar einer Defi-
nition bedürfte.180 Und § 329 I StPO liefert ein weiteres sprachliches Argument
gegen diese, dem alltäglichen Verständnis widersprechende Interpretation, denn
177 BGHSt 39, 330 (334). Der 1. Senat bringt dieses Argument allerdings nur unter-
stützend für seine bereits in BGHSt 39, 36 entwickelte teleologische Reduktion der
§§ 239a, 239b StGB.
178 In diesem Sinn dann der Große Senat in BGHSt GS 40, 350.
179 Von einer „Gleichstellung“ spricht auch das OLG Frankfurt NJW 1968, 217
(r. Sp. unter 3.) und sieht die Subsumtion unter § 329 StPO als mit Wortlaut und Sinn
vereinbar an (r. Sp. oben). Eb. Schmidt (JR 1969, 270) wertet die Vorgehensweise des
OLG Frankfurt als entsprechende Anwendung des § 329 StPO.
180 Es liegt ein geradezu klassischer Fall vor, in dem eine solche gesetzliche Fiktion
zu erwarten wäre: Eine gesetzgeberische Gleichstellung von Fällen, die in der Wirk-
lichkeit differieren.
4. Was ist entscheidend: Alltagssprache oder Fachsprache? 87
danach kann der Betroffene sein „Ausbleiben“ entschuldigen. Für einen inkonsi-
stenten Sprachgebrauch – Laie auf der einen, Gesetzgeber auf der anderen Seite
– ist nichts ersichtlich. Das Verstehen der Wörter im übertragenen Sinn kann so
weit nicht getrieben werden; andernfalls wird man z. B. auch nichts dagegen
einwenden können, ein unerlaubtes Entfernen vom Unfallort (§ 142 StGB) auch
ohne Ortsveränderung für möglich zu halten181 oder sogar boshafte nächtliche
Telefonanrufe als „Eindringen“ in eine Wohnung (§ 123 StGB) aufzufassen182.
„Im Rechtssinne“183 mögen beide Fallgruppen (anwesend, aber verhandlungsun-
fähig und „nicht erschienen“) gleich zu behandeln sein, doch methodologisch ist
dieses Ergebnis nur mit einer Analogie zu bewerkstelligen184. Daß auch der
BGH der Annahme einer Analogie nicht fern steht, zeigt die Formulierung vom
„Gleichstellen“ (siehe oben). Den Weg der entsprechenden Anwendung sah der
BGH wohl als mit seinem Grundverständnis vom Charakter des § 329 StPO als
einer Analogie nicht zugänglichen Ausnahmevorschrift unvereinbar an.185
Das BVerfG hat in einem vergleichbaren Fall, der im Geltungsbereich des Analogie-
verbots spielte, die ähnliche Argumentation eines OLG abgelehnt: Seiner Pflicht zur
Übernahme des Ehrenamts als Wahlhelfer „entzieht“ sich nicht, wer zwar erscheint,
aber durch unkorrektes (politisches) Verhalten den Wahlvorsteher zum Ausschluß
zwingt. (BVerfGE 71, 108 [111, 121])
Die Situation, daß bei Alltagsbegriffen die Fachsprache einen über die Um-
gangssprache hinausgehenden Wortgebrauch rechtfertigen muß, taucht freilich
nicht häufig auf. Abgesehen von der Frage nach der Vereinbarkeit dieser Vorge-
hensweise mit dem Analogieverbot186 bzw. mit dem möglichen Wortsinn als
Grenze jeder (teleologischen) Auslegung erweckt sie auch sonst Bedenken.
Nicht zuletzt hier findet der Verdacht des Laien gegen die Juristen und ihre
Sprache eine Grundlage.187 Die juristische Fachsprache ist für den Laien schon
allgemein so gefährlich, weil sie anders als die meisten anderen Fachsprachen auf
gemeinsprachlichen Ausdrücken basiert und dadurch das Mißverstehen der Texte
181 Zum „Verlassen“ der Truppe ohne räumliche Entfernung siehe bereits Fall 27
befördert.188 Dieser Effekt wird verstärkt, wenn die juristische Terminologie nicht
nur „enger“ als der umgangssprachliche Gebrauch ist, sondern über diesen hin-
ausgeht oder gar konträr dazu liegt.189 Man wird der Rechtsprechung des BGH
allerdings zugute halten dürfen, daß sie in aller Regel davon absieht, eine abwei-
chende fachsprachliche Verwendungsweise „künstlich“ zu konstruieren:
In BGHSt 18, 242 war zu entscheiden, ob ein „Erwerb von Waren“ i. S. von § 136
Allgemeiner Zollordnung (a. F.) durch Diebstahl erfolgen kann. Der BGH geht da-
von aus, daß dies nach allgemeinem Sprachgebrauch nicht der Fall sei (S. 245).
Aber: Die Begriffe des Zollgesetzes seien aus diesem selbst zu bestimmen und
könnten in einem anderen, weiteren Sinn verstanden werden (S. 244). Für einen sol-
chen abweichenden Sprachgebrauch des Gesetzes findet der BGH dann jedoch keine
Anhaltspunkte. In gewissem Maß formuliert er sogar eine Vermutung, wonach bei
Wörtern der Umgangssprache der Gesetzgeber gerade diese Bedeutung zugrunde
gelegt haben dürfte: „Hätte der Gesetzgeber auch die diebische Besitzverlangung . . .
unter Strafe stellen wollen, so wäre es unerfindlich, weshalb er dafür Begriffe ver-
wendet hätte190, die nach dem allgemeinen Sprachgebrauch in der Regel einen
rechtsgeschäftlichen Erwerb bezeichnen“191. — Noch stärker in diese Richtung ten-
diert BGHSt 14, 55 bei der Auslegung des Begriffs „Empfehlung“ im Kartellrecht:
„Wie jedes Gesetzesverständnis“ sei auch im GWB von der Wortbedeutung des all-
gemeinen Sprachgebrauchs192 auszugehen (S. 57). — BGHSt 22, 235 hält in der
Frage, ob eine Hauswand ein gefährliches Werkzeug i. S. von § 223a StGB (a. F.)
sein kann, das natürliche (engere) Sprachempfinden für entscheidend. Es wehre sich
gegen ein weiteres, in der Literatur teilweise vertretenes Verständnis (S. 236). Wie
die gegenteilige Auffassung gerechtfertigt werden könnte – etwa durch die Behaup-
tung eines abweichenden juristischen Werkzeugbegriffs – ist der Begründung des
BGH nicht zu entnehmen. — Als weiteres Beispiel für die Ausweitung eines land-
läufig enger verstandenen Begriffs kann der oben bereits erörterte Fall 35 (BGHSt
31, 317) genannt werden, in dem der BGH den Ausdruck „Ausüben“ unter Beru-
fung auf den besonderen gesetzlichen Kontext abweichend vom alltäglichen Sprach-
gebrauch bestimmt. Die Entscheidung mag im Ergebnis vertretbar sein, leidet je-
doch in diesem maßgeblichen Punkt an einer unzureichenden Begründung (siehe
Fall 35). — Aufgeführt werden kann außerdem BGHSt 45, 131 mit der Frage, ob
das „Eindringen“ in den Körper i. S. von § 176a StGB einen entgegenstehenden
Willen des Betroffenen voraussetzt. Die bejahende Auffassung rekurriert auf die
188 Ermert, in: Recht und Sprache, S. 12; Busse, SuL 1998, 24 (37 und 44).
189 Zumindest in Hinblick auf den Bestimmtheitsgrundsatz ist es auch nicht völlig
unbedenklich, wenn der Gesetzgebers in einer Legaldefinition über den allgemeinen
Sprachgebrauch hinausgeht; siehe z. B. BGHSt 11, 304 (308) zum Begriff der „Krank-
heit“ in der Arzneimittelverordnung.
190 Zu dieser Argumentationsfigur bereits oben III 3 g.
191 Ob das Verständnis des Erwerbs als rechtsgeschäftlich wirklich dem allgemeinen
die er aber mit Hilfe eines Wörterbuchs ermittelt. Vom „gewöhnlichen Sprachge-
brauch“ geht BGHSt 9, 140 (141) bei Beantwortung der Frage aus, ob ein „Windfang“
bereits zu einer von § 166 StGB (a. F.) geschützten „Kirche“ gehört.
4. Was ist entscheidend: Alltagssprache oder Fachsprache? 89
parallele und allgemein anerkannte Auslegung dieses Begriffs in den §§ 123 und
243 StGB sowie auf den allgemeinen Sprachgebrauch, findet damit beim BGH je-
doch kein Gehör. Das Gericht weist auf die Besonderheiten im Sexualstrafrecht hin
(belegt an §§ 177, 179 StGB) und bezieht zum Argument „allgemeiner Sprachge-
brauch“ keine Stellung.193 In einer zu Fall 35 („Ausüben“) parallel liegenden Kon-
stellation argumentiert der BGH wieder näher am allgemeinen Sprachgebrauch:
Fall 48 (BGHSt 1, 293) Setzt das „Unzuchttreiben“ i. S. von § 175 (a. F.) ein Han-
deln von gewisser Dauer voraus oder genügt bereits ein Griff an das Geschlechtsteil
eines anderen Mannes? Der BGH vertritt die engere Auffassung: „Der Ausdruck
,Treiben‘ bedeutet nach dem Sprachgebrauch des Lebens eine Betätigung von einer
gewissen Anspannung und Dauer. Dies zeigen z. B. die Redewendungen Sport trei-
ben, Unfug treiben, Ehebruch treiben, Handel treiben“ (S. 295). Eine andere Auffas-
sung würde dem Wortlaut des § 175 (a. F.) Zwang antun (S. 296). Gleichwohl prüft
das Gericht noch, ob sich aus einem Vergleich mit benachbarten Normen ein ande-
res Verständnis ergeben könnte, lehnt das aber letztlich ab (S. 295 f.). Die unter-
schiedliche Argumentation in Fall 35 und Fall 48 könnte auf einer kriminalpoliti-
schen Folgeerwägung beruhen: Während in BGHSt 31, 317 ein engeres Verständnis
zu „schwerwiegenden Lücken“ führen würde (S. 320), werden in BGHSt 1, 293
etwaige Strafbarkeitslücken durch die Versuchsstrafbarkeit aufgefangen (S. 297).
Der Spielraum der Rechtsprechung wird zusätzlich erweitert, wenn neben
landläufigem oder juristischem noch ein technischer Sprachgebrauch, etwa aus
dem naturwissenschaftlichem Bereich in Frage kommt. Dennoch belegen die
beiden folgenden Beispiele das Bemühen des BGH, eine Subsumtion entgegen
dem allgemeinen Sprachgebrauch zu vermeiden.
Fall 49 (BGHSt 30, 15): Empfängt ein im Auto mitgeführtes Radarwarngerät
„Nachrichten“ i. S. des Fernmeldeanlagegesetzes (FAG)? In einer bemerkenswert in-
tensiven Wortauslegung erläutert der Senat den im FAG nicht näher bestimmten
Ausdruck „Nachricht“ zunächst nach dem allgemeinen Sprachgebrauch. Die daran
orientierten Definitionen gingen davon aus, daß ein Absender einen Empfänger von
etwas in Kenntnis setzen will (S. 17). Weil diese Definitionen einer Anwendung der
Norm entgegenstehen würden, beeilt der BGH sich, die Eindeutigkeit zu relativie-
ren, indem er auf den Unterschied zwischen „Nachricht“ und „Mitteilung“ hinweist.
Bei Nachrichten werde eher die Empfänger-, bei Mitteilungen eher die Absender-
seite betont.194 Wesentlich weiter sei das technische Begriffsverständnis, wonach ir-
gend etwas von einer Quelle Ausgehendes genüge. Der Gesetzgeber habe um diesen
unterschiedlichen Sprachgebrauch gewußt, aber dennoch von einer Eingrenzung ab-
gesehen (S. 18). Der Zweck des Gesetzes spreche eher für ein umfassendes Ver-
ständnis, das allerdings nicht ganz so weit reiche wie das technische (S. 19 f.).
193 Die Folgerung aus dem allgemeinen Sprachgebrauch erscheint allerdings in der
Tat wenig zwingend, vgl. Duden, Großes Wörterbuch, Bd. 2, zum Stichwort „Eindrin-
gen“: „Sich einen Weg bahnend in etwas dringen, hineingelangen“.
194 Die Ausführungen des BGH hierzu bleiben bewußt unklar (S. 17): „Es kann
allerdings zweifelhaft sein, ob sich darin bereits die alltägliche Bedeutung des Wortes
,Nachricht‘ erschöpft (vgl. dazu Grimm a. a. O. Sp. 103).“
90 III. Wortlaut und Wortsinn
Fall 50 (BGHSt 24, 136): Ist eine Gaspistole eine „Schußwaffe“ gemäß § 244 I
StGB (a. F.195)? Der BGH beginnt schulmäßig (S. 138): „Was als Schußwaffe zu
gelten hat, wird im Strafgesetzbuch nicht erläutert, auch die Begründung zur Neu-
fassung des § 244 StGB gibt hierzu keine Auskunft.“ Das Bundeswaffengesetz von
1968 und das Landesrecht könnten nicht zugrunde gelegt werden, da sie den Schu-
ßwaffenbegriff nur für ihren Anwendungsbereich regelten. „Gleichwohl muß der In-
halt dieses Rechtsbegriffs196 – auch unter Berücksichtigung seiner Wandelbarkeit je
nach dem Fortschritt der Waffentechnik . . . – in Anlehnung an die in den Waffen-
gesetzen enthaltenen Grundvorstellungen über eine Schußwaffe und im Einklang
mit dem allgemeinen Sprachgebrauch gefunden werden.197 Dabei kann an die in
langer Rechtsentwicklung erarbeiteten Merkmale für die Schußwaffeneigenschaft ei-
ner Waffe angeknüpft werden“. – Was der allgemeine Sprachgebrauch unter „Schu-
ßwaffe“ versteht, teilt der BGH in diesen ohnehin recht dunklen, letztlich alle
Sprachgebräuche integrierenden Ausführungen leider nicht mit. Anscheinend
möchte der Senat sich Spielraum offenlassen, um den sich wandelnden Verhältnis-
sen Rechnung tragen zu können (dazu sogleich BGHSt 1, 1).
Freilich bleibt auch in solchen Fällen der Vorrang der juristischen (straf-
rechtlichen) Fachsprache vor einem außerjuristisch technischen Sprachgebrauch
gewahrt:
Fall 51 (BGHSt 1, 1 – „Salzsäure“): Kann auch ein chemisches Angriffsmittel
(Salzsäure) eine „Waffe“ i. S. von §§ 223a, 250 I Nr. 2 StGB (a. F.) sein oder ist
eine mechanische Einwirkung zu verlangen? Der BGH hält einen an der techni-
schen Entwicklung angelehnten Sprachgebrauch der Allgemeinheit für maßgeblich,
der dem Wandel der Zeiten unterworfen sei (S. 2).198 Ein davon abweichendes straf-
rechtliches Begriffsverständnis sei hier nicht ersichtlich, wäre nach Ansicht des
BGH allerdings vorrangig (S. 3): „Es könnte nur zu fragen sein, ob dieser Wandel
in der technischen und in der allgemeinen Betrachtung keine Schlüsse für die straf-
rechtliche Bestimmung des Waffenbegriffs erlaube, weil der Inhalt strafrechtlicher
Begriffe aus dem Strafgesetz selbst zu entnehmen ist.“
Abschließend zu erwähnen bleibt der „Normalfall“, in dem die Rechtspre-
chung von einem weiten Alltagsbegriff ausgeht und die übrigen Auslegungsele-
mente dazu nutzt, um entweder eine im Begriffshof liegende Bedeutung auszu-
195 Absatz 1 i. d. F. vom 1. StrRG (1969) bis zum 6. StrRG (1998). Mit „Neufas-
als „Rechtsbegriffe“ ansehen müssen, so etwa auch in BGHSt 6, 107 (Fall 44), wo der
BGH den Ausdruck „Gebäude“ – wenigstens für das Brandstrafrecht – dem allgemei-
nen Sprachgebrauch entsprechend versteht. Aber ganz abgesehen von der umstrittenen
Differenzierung zwischen deskriptiven und normativen Begriffen, bleibt die Frage, ob
ein „Rechtsbegriff“ überhaupt alltagssprachlich bestimmt werden kann. Mit einer
besonderen „Schärfe“ der juristischen Fachsprache, die u. a. Binding betonte (vgl. En-
gisch, Einführung, S. 93 f.), wäre es dann nicht weit her.
197 Im Ergebnis ähnlich, aber wesentlich klarer Heimann-Trosien, in: LK-StGB9,
§ 244, Rn. 3: „Im übrigen sollte man aber die Begriffsbestimmung von § 1 BWaffG
übernehmen, die . . . dem üblichen Sprachgebrauch am nächsten kommt.“
198 Näher dazu unten III 7 d und e (Porosität und Bedeutungswandel).
4. Was ist entscheidend: Alltagssprache oder Fachsprache? 91
199 Vgl. Krey, Studien, S. 160: Einengung des weiten Rahmens als „vornehmste
geber hat den Begriff des ,Glücksspiels‘ nicht definiert. Er geht also [?] von einer
typischen, allgemein bekannten und daher nicht umschreibungsbedürftigen Erschei-
nung des täglichen Lebens aus.“ Im Anschluß legt der Senat gleichwohl die ausgiebi-
gen Anstrengungen der Rechtsprechung dar, den Begriff des Glücksspiels näher zu
konkretisieren.
201 Die Frage ist in Hinblick auf die Wortlautgrenze nicht nur akademischer Natur;
202 Vgl. zur „König-Midas-Metapher“ von Kelsen: Paeffgen, in: FS für Grünwald,
träglich wieder den Boden entzieht, indem sie plötzlich einen engeren Bandenbegriff
postuliert; vgl. oben Fall 26.
204 Brugger, AöR 1994, 1 (23).
5. Vorstellungen des Gesetzgebers 93
Verwendet das Gesetz Begriffe der Alltagssprache, wird regelmäßig auch die
Interpretation an dieses Verständnis anknüpfen. Ausnahmen, in denen nach
nicht immer überzeugender Ansicht des BGH die Fachsprache landläufige Be-
griffe „umwidmet“, wurden bereits erörtert (oben ab Fall 47). Leicht fällt die
Argumentation, wenn die Gesetzgebungsorgane in den Materialien ausdrücklich
an den allgemeinen Sprachgebrauch anknüpfen, insoweit also Kongruenz vor-
liegt wie im folgenden Beispiel:
Fall 52 (BGHSt GS 1, 158): Kann ein Wohnwagen, in den ein Dieb einsteigt, als
„umschlossener Raum“ i. S. von § 243 I Nr. 2 StGB (a. F.) aufgefaßt werden oder
muß eine feste Verbindung zur Erdoberfläche gegeben sein? Nach Ansicht des Gro-
ßen Senats haben die Gesetzesmotive für die in § 243 StGB (a. F.) gebrauchten Be-
griffe „Gebäude“, „Behältnis“ und „umschlossener Raum“ ausdrücklich den allge-
meinen Sprachgebrauch für maßgeblich erklärt (S. 163): „Der Entwurf hat es nicht
für erforderlich gehalten, eine Reihe von Begriffen zu definieren, wie dies das Preu-
ßische Gesetzbuch allerdings getan, welche aber, wie beispielsweise die von ,um-
schlossenen Räumen‘, ,falschen Schlüsseln‘, von ,Einsteigen‘ und ,Einbrechen‘, dem
gemeinen Leben angehören und ohne gesetzgeberische Erklärungen dem Verständ-
nisse des Laien zugänglich und einander daher in Schwurgerichten auch ohne ge-
setzliche Erklärung werden richtig aufgefaßt und gehandhabt werden.“
Doch schon der nächste, denkwürdige Fall zeigt die Schwierigkeiten subjek-
tiv-historischer Auslegung bei der Ermittlung der maßgeblichen Definition und
die Hürden, die dem „gesetzgeberischen Willen“ durch die Praxis in den Weg
gelegt werden können.
Fall 53 (BGHSt 6, 100; 11, 199; 15, 138 – „Gemeingefahr“): Der 1952 eingeführte,
bis 1964 geltende § 315a StGB stellt Straßenverkehrsgefährdungen unter Strafe, aus
denen eine „Gemeingefahr“ resultiert. Hinsichtlich der Gemeingefahr verwies die
Norm auf die Legaldefinition des § 315 III (a. F.), welche die Herbeiführung einer
„Gefahr für Leib oder Leben, sei es auch nur eines einzelnen Menschen . . .“ ver-
langte. In BGHSt 11, 199 ging es um die Frage, ob die Gefährdung der Insassen
des vom Täter gelenkten Fahrzeugs hierzu genügt, während BGHSt 15, 138 ent-
scheiden mußte, ob das gezielte Zufahren auf eine bestimmte Person eine Gemein-
gefahr begründet. BGHSt 6, 100 hatte aus der Legaldefinition den naheliegenden
Schluß gezogen, daß auch Fahrzeuginsassen, die nicht Teilnehmer der Tat sind, er-
faßt sind. Anders jedoch BGHSt 11, 199:206 Der Wortlaut gebe Anlaß zu Mißdeu-
tungen (S. 201), rechtfertige nur auf den ersten Blick eine Auffassung i. S. von
BGHSt 6, 100 und stehe einer sinngemäßen Auslegung nicht entgegen (S. 203).
Aus der Entstehungsgeschichte folge lediglich, daß die Gefährdung einer einzelnen
Person ausreichen kann (S. 202). Dem Begriff der Gemeingefahr sei jedoch das
Merkmal der „Unbestimmtheit“ des Personenkreises eigen, weshalb auch Verwandte
und Bekannte des Täters nicht dem Schutzbereich der Norm unterfielen. Gegentei-
lige Anhaltspunkte aus der Entstehungsgeschichte, auf die Hartung207 in einer ener-
gischen Kritik an BGHSt 11, 199 hingewiesen hat, hält BGHSt 15, 138 (141 f.) für
irrelevant: Aus Hartungs Ansicht ergäbe sich höchstens, „daß der Gesetzgeber sich
über die wahre, dem allgemeinen Sprachgebrauch entsprechende Bedeutung dieses
Merkmals geirrt haben könnte. Auf diese Bedeutung hatte u. a. noch die Begrün-
dung . . . zum Entwurf der Reichsratsvorlage von 1925 ausdrücklich mit den Worten
hingewiesen: ,Die Voraussetzung einer Gefahr für Menschenleben ist erfüllt, wenn
die Gefahr besteht, daß ein Mensch sein Leben verliert. Eine Mehrheit gefährdeter
Personen wird nicht gefordert; doch darf die gefährdete Person nicht individuell be-
stimmt sein‘.208 Ein etwaiger Irrtum des Gesetzgebers würde aber den Richter nicht
dazu berechtigen, den wirklichen – allgemein enger verstandenen – Sinn der im Ge-
setz gebrauchten Fassung außer acht zu lassen und nur den . . . Willen des Gesetz-
gebers zugrunde zu legen, wie Hartung meint. Nicht zustimmen kann der Senat der
Ansicht des Bayerischen Obersten Landesgerichts, daß die Begriffsbestimmung in
§ 315 Abs. 3 StGB nach ihrer Wortfassung eindeutig und unmißverständlich sei.
Der Vorlegungsbeschluß schränkt diese Annahme selbst durch den Hinweis ein, daß
der Wortlaut ,erheblich über das hinausgeht, was gemeinhin als Gemeingefahr be-
zeichnet wird, und daß er von dem damals überkommenen Begriff der Gemeinge-
fahr und vom allgemeinen Sprachgebrauch abwich‘.209 Gebraucht der Gesetzgeber
jedoch einen in der Rechtssprache feststehenden Begriff, wie den der Gemeingefahr,
in einem von seiner allgemein anerkannten Bedeutung abweichenden Sinn, so kann
die Auslegung dies nur berücksichtigen, soweit es in dem Gesetz zweifelsfrei zum
Ausdruck gekommen ist. Das ist aber entgegen der Annahme des Vorlegungsbe-
schlusses hier gerade nicht der Fall. Die gesetzliche Begriffsbestimmung bezeichnet
als Gemeingefahr allgemein eine ,Gefahr für Leib oder Leben oder bedeutende
Sachwerte. . .‘ und fügt hinzu, daß auch die Gefährdung eines einzelnen Menschen
genügt. Sie sagt aber nichts darüber, ob darunter – abweichend von dem herkömm-
lichen Begriff der Gemeingefahr – auch ein von dem Täter als Angriffsziel ausge-
206 Eine Vorlage zum Großen Senat war nach Einführung der speziellen Zuständig-
keit des 4. Senats für Verkehrsstrafsachen nicht mehr notwendig; krit. dazu – gerade in
Hinblick auf BGHSt 11, 199 – Hartung, JZ 1958, 444 (445, r. Sp.).
207 Hartung, NJW 1960, 1417 (1418 f.); abl. auch Jescheck, GA 1959, 65 (80).
208 Der BGH verschweigt allerdings, daß der E 1925 den Begriff „Gemeingefahr“
noch anders definierte („Gefahr für Menschenleben oder in bedeutendem Umfange für
fremdes Eigentum“) und nicht Gesetz wurde. Der Gesetzgeber von 1935 (Einführung
des § 315 III StGB) hat auf das in der Begründung zum E 1925 vertretene Begriffs-
verständnis gar keinen Bezug genommen. Ausführlich zum ganzen Hartung, NJW
1960, 1417 (1418 f.) und NJW 1961, 131 f. (Anm. zu BGHSt 15, 138).
209 Das ist ein schwacher Einwand gegen das BayObLG, denn auch ein vom allge-
wählter, individuell bestimmter Mensch . . . verstanden werden soll, was in der Be-
gründung zum Gesetzentwurf von 1925 . . . ausdrücklich verneint worden war“.
Dem Willen des historischen Gesetzgebers werden kaum überwindbare Hür-
den gesetzt, indem der BGH „sein“ Begriffsverständnis selbst für den Fall po-
stuliert, daß der Gesetzgeber von einem weiten Begriff der Gemeingefahr aus-
gegangen wäre – was nach Ansicht des vorlegenden Gerichts durch den Wort-
laut sogar eindeutig und unmißverständlich belegt ist. Die Modifizierung eines
in der Rechtssprache feststehenden Begriffs210 müsse der Gesetzgeber „zwei-
felsfrei“ zum Ausdruck bringen. Im Ergebnis verlangt der BGH somit für die
Durchsetzung des (hier unterstellten) gesetzgeberischen Willens eine eindeutige
Klarstellung und geht damit über die ansonsten aus der „Andeutungstheorie“
resultierenden Anforderungen, wonach der gesetzgeberische Wille zumindest ei-
nen Anhalt im Text gefunden haben muß (vgl. unten IV 3), weit hinaus.
In den Verantwortungsbereich des Gesetzgebers, freilich durch den BGH ge-
fördert, fällt folgende Sprachverwirrung, die in BGHSt 27, 45 (oben Fall 19)
ihren Höhepunkt fand. Der Streit um des Merkmal „Absetzen“ in § 259 StGB
(erfolgreicher Absatz notwendig?) hat seine Wurzeln u. a. in einer Änderung der
Abgabenordnung:
Fall 54 (BGHSt 23, 36; 27, 45): Bis 1939 konnte Steuerhehlerei sowohl durch das
„Absetzen“ von Erzeugnissen als auch durch das „Mitwirken zum Absatz“ begangen
werden (§ 403 AO a. F.). Der Gesetzgeber beschränkte 1939 den Wortlaut jedoch auf
die Tathandlung des „Absetzens“. Im Gegensatz zu unveröffentlichten Entscheidun-
gen des BGH, die das „Mitwirken zum Absatz“ vom Merkmal des „Absetzens“ als
mitumfaßt ansahen, schließt BGHSt 23, 36 aus dieser Gesetzesänderung auf eine
Einschränkung des Tatbestandes, auch wenn das den Absichten des Gesetzgebers
nicht entspreche (S. 38). Unter „Mitwirken zum Absatz“ falle jede, auch untergeord-
nete Förderung, während das „Absetzen“ die selbständige Verfügungsgewalt des
Handelnden über die Sache und eine erfolgreiche Übertragung der Verfügungsge-
walt voraussetze. Ebenso hätten es die Verfasser des E 1962 gesehen und deshalb
aus guten Grund im Tatbestand der Hehlerei die Absatzhilfe als eigenständige Alter-
native beibehalten.211
Stand in BGHSt 23, 36 noch die Frage der selbständigen Verfügungsgewalt, an der
es im konkreten Fall gefehlt hatte, im Vordergrund, geriet in BGHSt 27, 45 der wei-
tere Teil der oben wiedergegebenen Definition ins Blickfeld, nämlich die Proble-
matik, ob die Übertragung der Verfügungsgewalt begriffsnotwendig erfolgreich sein
muß. BGHSt 23, 36 hatte diese Thematik nicht zu behandeln, mit der genannten
210 Nach den sich widersprechenden Entscheidungen BGHSt 6, 100 und 11, 199
wird man kaum von einem in diesem Sinn feststehenden Begriff ausgehen dürfen.
Daß die Definition in § 315 III StGB (a. F.) dem allgemeinen Sprachgebrauch zuwi-
derläuft (so das vorlegende Gericht) und in gewisser Weise in sich selbst widersprüch-
lich oder wenigstens unglücklich gewählt ist (vgl. Horn, JZ 1964, 646 [647, Fn. 8]),
kann man schwerlich bezweifeln. Gegenüber dem allgemeinen Sprachgebrauch ist die
gesetzliche Definition aber in jedem Fall vorrangig.
211 Daß aus dieser Formulierung des E 1962 jedoch andere Probleme folgten
212 Ein Rückgriff auf die Alternative „Absatzhilfe“ kam wegen der Selbständigkeit
deutige Wortlaut setzt den Absatzerfolg voraus!) siehe NJW 1976, 1698 (1699) und
Fn. 53 sowie den dazugehörigen Text.
214 Fezer, NJW 1975, 1982: Die beabsichtigte Klarstellung hat zu einer Unklarheit
216 Zur Terminologie siehe bereits oben III 1 und die Nachweise in Fn. 2 und 3.
217 Z. B. in BGHSt 42, 306 (308).
98 III. Wortlaut und Wortsinn
bei gemein- als auch bei fachsprachlichen Begriffen denkbar, setzt teilweise
allerdings erhebliches dogmatisches Vorwissen voraus; wie brüchig der Boden
der Evidenz sein kann, zeigt sich aber, wenn bislang Selbstverständliches plötz-
lich begründet werden muß. Die Rechtsprechung ist weitgehend der Ansicht,
eine bereits sprachlich eindeutige Norm bedürfe keiner weiteren Auslegung (III
3 c). Aus vielerlei Gründen erörtert der BGH dennoch häufig zusätzliche Aus-
legungskriterien; einen Widerspruch zur Eindeutigkeitsregel muß man darin
nicht sehen. Als ähnlich angreifbar wie die Evidenzbehauptung „eindeutig“
kann sich die oftmals anzutreffende Tendenzanzeige erweisen, „schon der Wort-
laut“ lege eine bestimmte Interpretation nahe (III 3 d). Die Senate bedienen
sich dieser Argumentation auch in sprachlichen Zweifelsfällen und wecken da-
mit den Verdacht, inhaltliche Begründungsprobleme überdecken zu wollen.
Orientierung bei der Ermittlung der alltagssprachlichen Bedeutung bieten Wör-
terbücher und Lexika, auf die der BGH insgesamt gesehen aber nur selten zu-
rückgreift (III 3 e). Eine Gefahr besteht insoweit darin, extensive und in Hin-
blick auf Art. 103 II GG bedenkliche Wortinterpretationen zu rechtfertigen.
Wichtige Hilfsmittel zur Bedeutungsermittlung sind Syntax und Kontext der
Norm (III 3 f). Bereits einfache Satzstrukturen bereiten zum Teil erhebliche
Schwierigkeiten. Objektiv-systematisch angezeigte Gegenschlüsse können mit
dem Willen des Gesetzgebers in Konflikt geraten. Mit dem Hinweis darauf, daß
der Gesetzgeber sonst anders formuliert oder formulieren würde, nutzen die Se-
nate häufig ein weiteres systematisches Argumentationsmuster (III 3 g). Dabei
wird dem Gesetzgeber mitunter ein zu hohes Maß an stringenter Begriffsver-
wendung unterstellt. Besondere Schwierigkeiten der Wortauslegung entstehen,
wenn der fallentscheidende Normtext sich erst aus verschiedenen, unter Um-
ständen nicht miteinander abgestimmten Normen zusammensetzt (III 3 h). Un-
mittelbaren Einfluß auf die sprachliche Auslegung hat die teleologische Be-
griffsbildung (III 3 i). Schwierige Fragen bietet der Themenkomplex Alltags-
sprache/Fachsprache (III 4). Aus der Tatsache, daß Gesetzestexte sich stets der
Alltagssprache bedienen, ergeben sich erhebliche Friktionen, insbesondere wenn
ein Begriff sowohl gemein- als auch fachsprachlich verstanden werden kann
(„Sprachspaltung“). Einerseits bestehen Tendenzen zur Flucht aus der Fach- in
die Alltagssprache, andererseits zur Verbiegung von typischen Alltagsbegriffen
durch eine angebliche fachsprachliche Bedeutung (III 4 b). Vorrangig ist die
(feststellbare) juristische Fachsprache. Maßgeblichen Einfluß auf die Feststel-
lung der Wortbedeutung hat die Entstehungsgeschichte (III 5), die zum einen
unmittelbar Aufschluß über die sprachlichen Vorstellungen der Gesetzesverfas-
ser gibt (III 5 a) oder etwa durch die in den Gesetzesmaterialien genannten An-
wendungsbeispiele der Norm Schlußfolgerungen auf die Intension zuläßt (III 5
b). Ob die Vorstellungen der Gesetzesverfasser bindend sind, wird an anderer
Stelle untersucht (unten IV).
100 III. Wortlaut und Wortsinn
7. An der Wortlautgrenze
Stand bislang die Frage im Zentrum, auf welche Weise die Bedeutung der
Gesetzesausdrücke ermittelt werden kann, geht es nunmehr um den Grenzbe-
reich von Auslegung und Rechtsfortbildung. Zu differenzieren ist insoweit zwi-
schen den theoretischen Vorfragen, die das Grenzkriterium des „möglichen Wort-
sinns“ aufwirft (7 a–f), und dem tatsächlichen Umgang des BGH mit diesem
Kriterium (7 g). Bei den Vorfragen ist etwa zu prüfen, ob der mögliche Wortsinn
von den Senaten überhaupt als maßgebliche Trennlinie anerkannt wird, ob die
Wortsinngrenze alltags- oder fachsprachlich bestimmt wird und ob sie dem Wan-
del technischer und sozialer Umstände Rechnung tragen kann. Nach Klärung der
Vorfragen ist zu untersuchen, wie der BGH in strittigen Einzelfällen argumen-
tiert. Dabei werden viele aus den Lehrbüchern und Kommentaren bekannte und
oft malträtierte Beispiele auftauchen; ob es sich dabei – wie häufig behauptet –
wirklich um „Sündenfälle“ handelt, die an der Tauglichkeit des Abgrenzungskri-
teriums grundsätzlich zweifeln lassen, bedarf näherer Prüfung.
Der BGH geht implizit und explizit vom möglichen Wortsinn als entscheiden-
der Grenze zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung aus. Schon im ersten
Band der amtlichen Sammlungen finden sich entsprechende Bekenntnisse, wenn
etwa der Große Strafsenat eine Auslegung nach dem Zweck der Vorschrift nur
soweit zuläßt, wie es der Wortlaut gestatte (BGHSt GS 1, 158 [166]). Das
„sprachlich Mögliche“ als Grenze der Gesetzesinterpretation wird ausdrücklich
festgehalten in BGHSt 3, 300 und 4, 144 (vgl. oben S. 80). Unmißverständlich
formuliert der BGH unter anderem in folgenden Entscheidungen:
„Diese zutreffenden und zu billigenden rechtspolitischen Erwägungen können und
müssen dann bei der Auslegung des Gesetzes berücksichtigt werden, wenn sein
Wortlaut dies gestattet.“ (BGHSt 8, 343 [345]) Ähnlich BGHSt 13, 287 (289): Dem
Strafrichter sei es „schon ganz allgemein verwehrt“, „sich mit rechtspolitischen Er-
wägungen über den Wortlaut des Gesetzes hinwegzusetzen“.
„Die Auslegung einer strafrechtlichen Norm findet ihre Grenze im möglichen Wort-
sinn. Jenseits dieser Grenze beginnt die Analogie, die nur zugunsten eines Beschul-
digten zulässig ist. Das folgt aus dem Gesetzlichkeitsprinzip (Art. 103 Abs. 2 GG;
§ 1 StGB).“ (BGHSt 37, 226 [230])220
Pathetisch und nicht ganz so deutlich: „denn es ist nicht toter Buchstabe, sondern
lebendig sich entwickelnder Geist, der mit den Lebensverhältnissen fortschreiten
und ihnen sinnvoll angepaßt weitergelten will, solange dies nicht die Form sprengt,
in die er gegossen ist“. (BGHSt 10, 157 [160])
220 Ebenso z. B. BGHSt 39, 112 (114): dort als „ständige Rechtsprechung“ bezeich-
net; 40, 272 (279); 41, 285 (286); 43, 237 (238); 48, 354 (357).
7. An der Wortlautgrenze 101
Das Gericht befindet sich damit im Einklang mit Äußerungen des BVerfG221
und den weitaus überwiegenden Stimmen in der Literatur222. Diese Begrenzung
staatlicher Macht wird als rechtsstaatliche Errungenschaft anerkannt, die in
Art. 103 II GG (§ 1 StGB) ihr positivrechtliches Fundament mit grundrechts-
gleicher Wirkung gefunden hat. Der Bürger soll als letztlich Betroffener vor un-
vorhersehbaren (richterlichen) Entscheidungen geschützt werden.223 Erkennen
kann er den Bereich strafbaren Handelns im Ergebnis nur anhand des geschrie-
benen Textes.224 Daß die Grenzziehung gerade auf sprachlicher Ebene erfolgt,
nicht aber nach rein juristischen Kriterien, ist eine Konsequenz der adressaten-
bezogenen Verständnisses von Art. 103 II GG. Ob dieses Bild eines sich stets
informierenden Bürgers ein realitätsnahes ist,225 spielt für die Interpretation des
Art. 103 II GG keine Rolle. Das Ziel der Norm mag idealistisch oder gar naiv
sein, doch bindend ist es allemal und überlegene Konzeptionen sind nicht er-
sichtlich. Der BGH hat eine nähere rechtstheoretische bzw. verfassungsrechtli-
che Herleitung des Wortlautkriteriums allerdings nie unternommen.
BGHSt 18, 136 (139 f.) betont zwar die grundrechtliche Fundierung des Analogie-
verbots, folgert daraus aber nur recht allgemein, daß die Strafdrohung „im positiven
Strafgesetz festgelegt“ sein müsse und die Verhängung „nicht ausdrücklich vorgese-
hene[r] Haupt- und Nebenstrafen“ unzulässig sei.
Bereits in den theoretischen Vorbemerkungen wurde erwähnt, daß die Sache
nicht immer so klar lag und das höchste Strafgericht mitunter das semantische
Grenzkriterium – bewußt oder unbewußt – in Frage gestellt hat. Die betreffen-
den Entscheidungen mögen in rechtstheoretischer Hinsicht überholt sein, lohnen
aber noch immer der Betrachtung.
Fall 55 (BGHSt 6, 394 – Zuchtmittel als „Strafe“?): Der Entzug der Fahrerlaubnis
gemäß § 42m StGB a. F. setzte eine Verurteilung des Fahrzeugführers zu einer
221 BVerfGE 105, 135 (157); 92, 1 (12); 82, 236 (269); 73, 206 (235); 71, 108
dung“ des Gesetzgebers vor judikativen Übergriffen schützen soll, also eine Kompe-
tenzabgrenzung sichert (z. B. Looschelders/Roth, Methodik, S. 295), spielt hier keine
Rolle, und vermag angesichts der diesen Aspekt bereits erfassenden Art. 20 III, 97 I
GG auch kaum zu überzeugen. Auch das BVerfG stellt vorrangig auf den Gedanken
des Vertrauensschutzes ab, vgl. BVerfGE 64, 389 (394) und Jähnke, in: BGH-FS,
S. 399.
224 Näher Lackner, in: Heidelberg-FS, S. 56. Nicht überzeugend ist allerdings die
226 Diesen Weg schlägt Zimmermann, NJW 1956, 1262 (l. Sp.) vor: Bestimmung
des Worts „Strafe“ nach Sinn und Zweck des § 42m StGB (a. F.). Weil das ältere
StGB auf die Terminologie des JGG nicht abgestimmt sei, plädiert auch Potrykus
(MDR 1955, 72) für einen weiten Begriff von „Strafe“.
227 In diesem Sinn hat der Gesetzgeber die Norm im 2. Gesetz zur Sicherung des
231 Als ausdrückliches Abrücken von der Wortlautgrenze wird die Entscheidung
auch von Jescheck (GA 1956, 97 [98]) und Roxin (Strafrecht AT I, § 5, Rn. 34, Fn. 51)
gedeutet.
232 Ähnlich wie BGHSt 6, 394 und ebenfalls zu § 42m StGB a. F. allerdings BGHSt
GS 10, 94 (unten Fall 83): Da der Gesetzgeber die Problematik nicht bedacht hat,
komme der „bloßen Wortfassung“ keine maßgebliche Rolle zu (S. 96 f.).
233 Die Anwendbarkeit des Analogieverbots auf Nebenstrafen und -folgen sowie
Maßregeln ohne Strafcharakter (wie z. B. § 42m StGB a. F.) ist nicht zweifelhaft; aus-
drücklich: BGHSt 18, 136 (140).
104 III. Wortlaut und Wortsinn
234 Sie taucht später nochmals in anderem Zusammenhang auf, vgl. BGHSt 47, 249
(251) und BGH NJW 2002, 765 (unten in Kap. V den Text vor Fn. 79).
235 Als Absage an das Grenzkriterium „Wortlaut“ deutet die Entscheidung z. B. Bin-
dokat, JZ 1969, 541 (542, l. Sp.). Vgl. die Formulierung aus BGHSt 8, 66 auch mit
den Ausführungen aus BGHSt 18, 136 (oben vor Fall 55).
236 Die oben wiedergegebene Formulierung aus BGHSt 8, 66 (70) greift der Ge-
richtshof in BGHSt 15, 118 (122) nochmals auf: „Diese Rechtsprechung enthält keine
unzulässige Analogie; denn sie wendet das Strafgesetz lediglich nach dem ihm inne-
wohnenden Sinn und Zweck an, dehnt es aber nicht auf solche Verhaltensweisen aus,
für die es nach dem erkennbaren Gesetzeswillen nicht gelten soll (vgl. BGHSt 8, 68
[richtig: 66, E. S.], 70 zu IV).“ Ein klares Bekenntnis zur Wortlautgrenze wird man
auch dieser, im Vergleich zu BGHSt 8, 66 (70) zwar weniger kryptisch, aber letztlich
zu allgemein gehaltenen Formulierung nicht entnehmen können.
237 Die (Nicht-)Begründung durch den BGH wird von Hassemer (in: AK-StGB, § 1,
Rn. 91) plastisch „Argumentation durch Unterlassen“ genannt. Das höchste Straf-
7. An der Wortlautgrenze 105
laut (mögliche Wortsinn) begrenze die Auslegung (zumindest hier) nicht,238 wi-
derspricht der vom BGH – mit Ausnahme von BGHSt 6, 394 – selbst in vielen
Äußerungen vertretenen methodologischen Konzeption. Nur unter diesem
Aspekt ist BGHSt 10, 375 überhaupt kritisierbar, während die Wortlautüber-
schreitung selbst außer Frage steht und vom Senat ja auch nicht kaschiert wird.
Vereinzelt wird der Versuch unternommen, die Entscheidung unter Hinweis auf
die Änderung der tatsächlichen Verhältnisse als zulässige Gesetzeskorrektur aus-
zuweisen.239 Betrachtet man jedoch als zentrales Anliegen des Art. 103 II GG
den Schutz des Normadressaten vor unvorhersehbarer Rechtsanwendung und als
Maßstab für die Erkennbarkeit des Regelungsbereichs den möglichen Wortsinn,
dann bleibt ein solcher Rechtfertigungsversuch unhaltbar. Vom Bürger kann
nicht erwartet werden, den Anwendungsbereich der Norm den realen Verhält-
nissen entsprechend weiterzuentwickeln, wenn es hierfür am sprachlichen Rah-
men fehlt. Die Problematik wird unter dem Stichwort Porosität nochmals aufge-
griffen und näher behandelt (unten III 7 d).
Eine weitere Entscheidung soll zum Ausgangspunkt zurückführen und die
Frage nach alternativen Abgrenzungskriterien zwischen der Rechtsanwendung
secundum und praeter legem aufwerfen.
Fall 58 (BGHSt 28, 48): Die Angeklagten hatten ihre Aufsichtspflichten als Dienst-
vorgesetzte im Bereich militärischer Geldverwaltung verletzt, was zu einem erheb-
lichen finanziellen Schaden führte. Dieses Verhalten war ohne weiteres vom Wort-
laut der einschlägigen Bestimmungen (§ 41 i.V. m. § 2 WStG) erfaßt, denn die von
§ 41 WStG vorausgesetzte „schwere Folge“ der Pflichtverletzung besteht nach der
Begriffsbestimmung des § 2 Nr. 3 auch in einer Gefahr für Sachen (hier: Geld-
scheine) von bedeutendem Wert. Jedoch folgert der BGH aus dem Zusammenhang
mit den übrigen in § 2 Nr. 3 genannten Folgen (Gefahr für die Sicherheit, Gefahr
für die Schlagkraft der Truppe usf.), daß zwischen dem Verhalten der Täter und den
Tatfolgen ein militärischer Bezug bestehen müsse, woran es im Bereich der Geldver-
waltung fehle (S. 51). Eine derart verschärfte Verantwortung habe der Gesetzgeber
nicht eindeutig zum Ausdruck gebracht,240 und auch die Entstehungsgeschichte
spreche nicht für eine solche Ausdehnung (S. 52). Nach alledem führe „die mög-
liche Auslegung der §§ . . . nicht über die aus Sinn und Zweck dieser Vorschriften
folgende natürliche Anwendungsgrenze hinweg“ (S. 52 f.).
gericht habe gar nicht bemerkt, „über welches Eis es da gerutscht ist“ (ders., in: Stra-
fen im Rechtsstaat, S. 30).
238 Die Entscheidung kann letztlich nur in diesem Sinn gedeutet werden; ebenso
Die abschließende Formulierung des BGH bleibt rätselhaft. Wie kann eine
einschränkende (systematisch-teleologische) Auslegung sich über eine Anwen-
dungsgrenze hinwegsetzen, die sich doch gerade aus Sinn und Zweck ergeben
soll? Aber ganz abgesehen von dieser Ungereimtheit interessiert hier lediglich,
ob Sinn und Zweck wirklich eine („natürliche“) Anwendungsgrenze – womög-
lich neben dem Wortlaut – konstituieren. Neben den oben vorgestellten Ent-
scheidungen finden sich auch vereinzelt Stimmen in der Literatur, die ein an
Sinn und Zweck, an der ratio legis241 oder an der Wertentscheidung des Gesetz-
gebers orientiertes Modell vertreten242. Diesen Ansichten ist zuzugeben, daß
aus rechtstheoretischer Perspektive die Abgrenzung zwischen Auslegung und
Rechtsfortbildung, zumal wenn darin ein Aspekt der Kompetenzzuweisung zwi-
schen den Staatsgewalten gesehen wird, nicht zwingend am Merkmal des mög-
lichen Wortsinns festgemacht werden muß. Darüber hinaus wäre ein die Wert-
entscheidung des Gesetzgebers als maßgebliches Kriterium zugrundelegendes
System auch juristisch durchführbar243 – freilich kaum trennscharf244. Jedoch
soll die h. M. zum Grenzkriterium hier nicht weiter in Frage gestellt werden;
das Verfassungsrecht – in seiner gegenwärtig herrschenden und verfassungsge-
richtlich sanktionierten Deutung – oktroyiert der Methodologie bestimmte Vor-
gaben, darunter auch die aus dem Betroffensein des Bürgers gefolgerte Wort-
lautgrenze.
Weiter bleiben Entscheidungen vorzustellen, welche die Grenzlinie des Ana-
logieverbots nicht wie BGHSt 6, 394 und 10, 375 nach Sinn und Zweck, son-
dern nach den Vorstellungen des historischen Gesetzgebers bestimmen. Daß die
Vorstellungen des Gesetzgebers bei der Auslegung eine Rolle spielen, ist selbst-
verständlich; hier geht es nur darum, ob sie dem Rechtsanwender eine aus
Grundsatz „keine Strafe ohne Gesetz“ verbiete nur, „über den dem Gesetz bei richti-
ger Auslegung zukommenden Sinn hinauszugehen“. Von außen betrachtet ist dieser
Standpunkt vor allem deshalb merkwürdig, weil Art. 1 des schweiz. StGB weit eher
als Art. 103 II GG auf die Maßgeblichkeit einer sprachlichen Grenze hindeutet:
„Strafbar ist nur, wer eine Tat begeht, die das Gesetz ausdrücklich mit Strafe be-
droht.“
242 Stratenwerth, Strafrecht AT I, § 3, Rn. 31 (wahrer Sinn des Gesetzes); Schmid-
häuser, Strafrecht AT, 5/42 („Auslegungstatbestand“ als Ergebnis der Auslegung ist
maßgeblich, nicht der „Wortlauttatbestand“); Hanack, NStZ 1986, 263 (abl. Anm. zu
BVerfGE 71, 108). Über das noch weiter abweichende Modell von Jakobs (Strafrecht
AT, 4/33 ff.), der nicht von Analogie-, sondern von „Generalisierungsverbot“ spricht,
soll hier nicht berichtet werden.
243 Bydlinski, Methodenlehre, S. 469. Dagegen halten Jescheck/Weigend (Strafrecht
245 Es folgt ein Gedankensprung, denn der BGH kommt auf den von ihm soeben
für sprechen der allgemeine Sprachgebrauch und die (weite) Interpretation des
RG. Dagegen spricht nach Ansicht des BGH die Tatsache, daß der historische
Gesetzgeber bei Verwendung des Ausdrucks nicht an Tankbehälter für chemi-
sche Produkte dachte. Aber kann die Vorstellung des Gesetzgebers wirklich
eine derart weitreichende und vom Analogieverbot sanktionierte Einschränkung
des Anwendungsbereichs bewirken?246 Schon oben (III 5 b) wurde – jedenfalls
für die Auslegung auf Wortlautebene – aufgezeigt, daß die Aufzählung von An-
wendungsbeispielen in den Gesetzesmaterialien keineswegs die Normanwen-
dung auf die genannten Fälle beschränkt, sondern lediglich Anhaltspunkte und
Hilfe für die Herausarbeitung der Begriffsbedeutung (Intension) liefern. Und ist
die Intension des Begriffs erst einmal ermittelt, ist die Normanwendung auch
nicht auf bereits bekannte Fälle beschränkt, sondern es kommt darauf an, ob
die gesetzliche Abstrahierung und ihre Definition den neu auftretenden Fall er-
faßt oder nicht. Der Ausdruck „Magazin“ enthält insoweit keine Merkmale, die
es ausschließen, einen Tankbehälter für chemische Produkte darunter zu subsu-
mieren. Ebensowenig wäre die Subsumtion einer Laserwaffe unter den gesetzli-
chen Ausdruck „gefährliches Werkzeug“ schon deshalb ausgeschlossen, weil der
historische Gesetzgeber sich einen solchen Fall nicht vorgestellt hat oder sich
hat vorstellen können (näher unten III 7 d). Selbst die Deutung der Entschei-
dung als extremes Beispiel einer subjektiv-historischen Auslegungstheorie247
verleiht ihr noch keine Überzeugungskraft: Dazu wäre zunächst zu klären, ob
der Wille des Gesetzgebers wirklich starr an die damaligen tatsächlichen Um-
stände gebunden ist oder ob dieser „Wille“ nicht vielmehr – im Rahmen des
sprachlich Möglichen – nach einer fortwährenden Anpassung verlangt, um
seine Reichweite wenigstens zu erhalten (näher unten IV 5). Keinesfalls aber
kann der BGH sich auf das strafrechtliche Analogieverbot berufen. Für seine
Interpretation des Begriffs „Magazin“ mögen verschiedene Gründe sprechen,
womöglich auch die (nicht mitgeteilte) Entstehungsgeschichte, aber diese
Gründe fallen nicht in den Themenkreis „Analogieverbot“, sondern werfen al-
lenfalls die davon zu trennende Frage nach der Bindung an die Vorstellungen
des historischen Gesetzgebers auf.248 Konsequent i. S. einer subjektiven Ausle-
gungstheorie könnte der BGH seine Entscheidung wie folgt begründen:
legungstheorie.
248 Th. Schmidt (JuS 1996, 366) sieht – unzutreffend! – in der Entscheidung ein
Beispiel für die begrüßenswerte Tendenz der neueren Rechtsprechung, „die Anwen-
dung der Strafgesetze intensiver als bisher an Art. 103 II GG zu messen“. Richtig
dagegen Otto, JK 1996, StGB § 1/15, der die Ausführungen des BGH in den Problem-
bereich „subjektive/objektive Theorie“ einordnet, was allenfalls mittelbar mit Art. 103
II GG zu tun hat.
7. An der Wortlautgrenze 109
(1) Der Wortsinn läßt die Subsumtion (nach allgemeinem Sprachgebrauch) zwar zu.
(2) Und auch das RG hat teilweise eine weite Auslegung vertreten. (3) Jedoch hat
der Gesetzgeber eine andere Begriffsbedeutung zugrunde gelegt (durch Menschen
betretbare Räumlichkeit), wofür folgende Äußerungen in den Gesetzesmaterialien
. . . oder ein Vergleich mit den dort genannten Anwendungsbeispielen sprechen.
(4) Die Veränderung der tatsächlichen Umstände (die Entwicklung von Tankbehäl-
tern für chemische Produkte) vermag an diesem Begriffsverständnis nichts zu än-
dern249, denn die Rechtsprechung ist an die Wertentscheidung des Gesetzgebers ge-
bunden (Art. 20 III, 97 I GG). (5) Der Gesetzgeber muß die Anpassung seiner Ge-
setze an tatsächliche Veränderungen selbst vornehmen.
Bedenkenswert bleibt allenfalls, ob aus der Gesetzesbindung des Richters
(Art. 20 III, 97 I GG), also aus dem staatstheoretisch fundierten Grundsatz der
Gewaltenteilung eine zusätzliche Grenze der Auslegung herzuleiten ist. So will
etwa Krey nicht nur in einer Wortlautüberschreitung, sondern auch in einem
Verfehlen oder Verfälschen des gesetzgeberischen Regelungszwecks einen Ver-
stoß gegen Art. 103 II GG sehen.250 Die Auswirkungen dieser Auffassung sind
weitreichend, denn folgerichtig müßte jede in subjektiv-teleologischer Hinsicht
unzutreffende Interpretation als Verfassungsverstoß einzuordnen sein – eine
Konsequenz, die ganz offensichtlich Unbehagen weckt. Gleichwohl ist eine
dem Grundsatz der Gewaltenteilung zu entnehmende Grenze richterlicher
Rechtsanwendung i. S. eines unbedingten Vorrangs der gesetzgeberischen vor
der richterlichen Wertentscheidung zu bejahen. Sie folgt jedoch nicht aus dem
Grundrecht des Art. 103 II GG, sondern aus Art. 20 III, 97 I GG. Sie hat vor
allem nicht zur Folge, daß jeder Fehler bei der Anwendung der Auslegungskrite-
rien bzw. bei der Ermittlung der gesetzgeberischen Wertentscheidung als Verfas-
sungsverstoß anzusehen wäre. Vielmehr kann nur eine Willkürkontrolle stattfin-
den, die darauf achtet, daß ein eindeutig feststellbares251 legislatives Programm
nicht durch ein judikatives ersetzt wird. Ein weitergehender Kontrollmaßstab
würde den Unterschied zwischen Verfassungs- und Fachgerichtsbarkeit endgül-
tig beseitigen.
Auch in der Rechtsprechung des BVerfG finden sich Äußerungen, die aus
Art. 103 II GG in seiner Ausprägung als Analogieverbot neben dem möglichen
249 Auch diese Begründung sollte jedoch nicht auf das unbrauchbare und zu
schlichte Argument zurückgreifen, der Gesetzgeber habe an diesen Fall nicht gedacht!
Damit würde man dem Argumentationsniveau einer ernsthaft betriebenen historischer
Auslegung kaum gerecht. Eingehend dazu unten IV 5 a.
250 Krey, Strafrecht AT I, Rn. 104 und Studien, S. 204–214; Nolte, in: von Man-
goldt/Klein/Starck, GG, Art. 103 II, Rn. 159. Warum gerade Art. 103 II GG als
Grundrecht (statt Art. 20 III, 97 I) das gesetzgeberische Ziel vor richterlichen Über-
griffen schützen soll, ist m. E. nicht überzeugend dargetan, vor allem nicht mit Erwä-
gungen zum Demokratieprinzip.
251 Krey (Studien, S. 214) verlangt, daß die rechtspolitische Wertentscheidung des
252 Zum Einfluß des Bestimmtheitsgebots und der Grundrechte auf die Auslegung
2000, 2660 m. w. N., wonach die Kontrolle der Rechtsanwendung durch das BVerfG
beschränkt ist auf Verstöße gegen das Willkürverbot und auf Auslegungsfehler, die auf
einer unrichtigen Anschauung von Grundrechten beruhen. Nach BVerfG StV 2003,
553 (554) verstößt eine willkürliche, d.h. „unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich
vertretbare“ Auslegung gegen Art. 3 I GG.
254 Welche groben Fehler dem BVerfG bei dieser „einfachgesetzlichen“ Auslegung
unterlaufen sind, wird von Küper (JuS 1996, 783 ff.) eingehend dargelegt und stimmt
sehr nachdenklich.
255 BGHSt 40, 272 hat die Wortlautschranke auch bei der Aufarbeitung des DDR-
Unrechts zum Ansatz gebracht: Eine Rechtsbeugung durch Richter und Staatsanwälte
der DDR liege u. a. vor, wenn „die Grenzen zulässiger Auslegung augenfällig über-
schritten“ wurden (S. 279). Insoweit gelte grundsätzlich nichts anderes als bei der
Rechtsanwendung in der Bundesrepublik und mithin auch die Grenze des möglichen
Wortsinns. Freilich schränkt der Senat sodann seinen Ausgangspunkt ein und berück-
sichtigt zugunsten der Täter „bei der wertenden Subsumtion“ (S. 279) und bei der Be-
stimmung der Wortlautgrenze (S. 282) gleichwohl die Wertvorstellungen der DDR
(abl. dazu z. B. Spendel, JR 1995, 214 [215, l. Sp.]: „überraschender Gedanken-
bruch“). BGHSt 41, 247 (260) erklärt demgegenüber unmittelbar (und ehrlich) die
Auslegungsmethoden der DDR für maßgeblich, so daß eine Rechtsbeugung erst bei
„grotesker Entfernung“ vom Gesetzeswortlaut in Frage komme (S. 261). Die Thematik
7. An der Wortlautgrenze 111
b) Alltagssprache/(juristische) Fachsprache
kann hier nicht weiter vertieft werden; sie ist nicht vorrangig methodologischer Natur
und setzt zudem eine nähere Auseinandersetzung mit der Interpretation des Tatbestan-
des der Rechtsbeugung durch den BGH voraus. Näher und krit. zur Rechtsprechung
des BGH zu den Justizverbrechen in der DDR Schroeder, NJW 1999, 89 und Spendel,
JZ 1995, 375.
256 Lackner, in: Heidelberg-FS, S. 55. – Schlehofer (JuS 1992, 572 [574]) wendet
259 Vgl. zur Problematik auch Hassemer, Strafen im Rechtsstaat, S. 26, der die h. M.
nemann, in: FS für Bockelmann, S. 124; ähnlich, aber mit wesentlicher Einschränkung
Weber, in: Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht AT, § 9, Rn. 84: Natürliche Wortbedeu-
tung, falls es sich nicht um Rechtsbegriffe handelt.
261 Auf die Widersprüchlichkeit der h. M. weist Wank hin (Auslegung, S. 50–52).
(gesetzlichen Fiktionen) zu empfehlen, vgl. z. B. BGHSt 43, 336 (338): Der im AMG
7. An der Wortlautgrenze 113
schenden Ansicht bewiesen werden. Die bisher erörterten Fälle eignen sich nur
zum Teil zur Verdeutlichung der Problematik:
BGHSt 23, 331 (oben Fall 47: Ist ein anwesender, aber verhandlungsunfähiger An-
geklagter „nicht erschienen“?) würde die Situation zwar exakt treffen, doch spielt er
nicht im Gebiet des materiellen Strafrechts und damit (jedenfalls nach h. M.) außer-
halb des Anwendungsbereichs von Art. 103 II GG. Allerdings hat BVerfGE 71, 108
(121) in einer vergleichbaren Situation die Argumentation eines Strafgerichts konse-
quent als unvereinbar mit dem möglichen Wortsinn angesehen: Aus Sicht des Bür-
gers „entzieht“ sich ein Wahlhelfer nicht seiner Pflicht, wenn er aufgrund seines
Verhaltens vom Wahlvorstand von der Pflicht entbunden wird. — In BGHSt 18, 242
(oben S. 88) hält der Senat eine Überschreitung des allgemeinen Sprachgebrauchs
zumindest theoretisch für zulässig: Dieser spreche vorliegend zwar dagegen, in ei-
nem Diebstahl einen „Erwerb von Waren“ zu sehen, jedoch seien die Begriffe des
Zollgesetzes aus diesem selbst und womöglich in einem weiteren Sinn zu verstehen
(S. 244 f.). Hier sei dafür aber nichts ersichtlich. — Ähnlich argumentiert BGHSt
28, 147 (148): Der allgemeine Sprachgebrauch verlange für den Begriff der „Ver-
einigung“ eine größere Anzahl von Personen; eine andere Meinung des Gesetzge-
bers sei nicht erkennbar. Dürfte eine solche Meinung sich angesichts der Wortlaut-
grenze aber durchsetzen? Kaum mit dem allgemeinen Sprachgebrauch zu vereinba-
ren dürfte folgende Auslegung des BGH sein:
Fall 60 (BGHSt 12, 48 – „Ölspur“): Gemäß § 41 StVO a. F. war es verboten, „Ge-
genstände auf Straßen zu bringen oder liegen zu lassen, wenn dadurch der Verkehr
gefährdet“ wird. Der Senat ist der Ansicht, daß die Norm auch beim Hinterlassen
einer Ölspur erfüllt ist. Gegen diese zweckorientierte Auslegung bestünden keine
„durchgreifenden sprachlichen Bedenken“ (S. 49). Es sei unbestritten, daß der an
mehreren Stellen im StGB benutzte Ausdruck „Gegenstände“ auch flüssige Körper
umfasse.
Gutes Anschauungsmaterial für die Problematik bieten die Gesetzesausdrücke
„Urkunde“ und „Sache“. Vor allem die Dogmatik des Urkundenbegriffs bietet
reihenweise Beispiele für eine gegen die Alltagssprache verstoßende Begriffs-
bildung:
Unabhängig davon, wie das umgangssprachliche Verständnis dieses Ausdrucks im
einzelnen aussehen mag, dürften jedenfalls folgende Fälle einer „zusammengesetz-
ten Urkunde“ nicht mehr damit zu vereinbaren sein: Das amtliche KFZ-Kennzeichen
(BGHSt 16, 94), die Fabriknummer auf dem Rahmen eines Kraftfahrzeugs (BGHSt
9, 233), ein Verkehrsschild (nach OLG Köln NJW 1999, 1042 keine Urkunde, aller-
dings ohne Hinweis auf einen etwaig entgegenstehenden Wortlaut), ein Preisschild
in Verbindung mit der Ware (OLG Hamm NJW 1968, 1894); auch das beliebte Bei-
spiel des Bierdeckels, auf dem der Wirt die verzehrten Getränke durch Striche mar-
kiert (RG DStZ 1916, 78), wird man in diesem Zusammenhang anführen müssen263.
für die These, der „natürliche Wortsinn“ sei nicht stets Grenze der Auslegung; ebenso
Wank, Auslegung, S. 52.
114 III. Wortlaut und Wortsinn
In keinem der genannten Fälle wurde ein Verstoß gegen einen „möglichen Wort-
sinn“ auch nur erwogen.264 Merkwürdigerweise sieht der BGH in BGHSt 9, 44
(oben Fall 46) demgegenüber die Umgangssprache als unüberwindliche Hürde,
wenn der (grundsätzlich berechtigte) Aussteller ein Schriftstück mit einem falschen
Datum versieht (rückdatiert). In dieser „schriftlichen Lüge“ könne nach allgemeinem
Sprachgebrauch keine „unechte Urkunde“ gesehen werden.265
Die Beispiele dürften belegen, daß der BGH in Wirklichkeit mit einem dog-
matisch ausdifferenzierten Urkundenbegriff, also mit einem Fachterminus ope-
riert, dessen Verhältnis zum umgangssprachlichen Verständnis nicht die gering-
ste Rolle spielt; die Perspektive des betroffenen Bürgers bleibt von vornherein
außer Betracht. Der Urkundenbegriff belegt, wie eine juristische Begriffsbil-
dung – weitgehend unbemerkt266 – über den Rahmen der alltäglichen Wortbe-
deutung weit hinausgehen kann.
Ein weiteres, auf den ersten Blick womöglich überraschendes Beispiel ist die Frage-
stellung, ob ein Tier taugliches Tatobjekt eines Diebstahls oder einer Sachbeschädi-
gung sein kann. Bis 1990 war die Sachlage unstreitig: Ein Tier wurde einhellig als
„Sache“ i. S. von §§ 242, 303 StGB angesehen. Wenn überhaupt Begründungen da-
für gegeben wurden, erschien ein Hinweis auf die Legaldefinition des § 90 BGB
(körperliche Gegenstände)267 oder auf einen eigenständigen strafrechtlichen Sachbe-
griff als ausreichend; die Gerichte hielten dieses Ergebnis für selbstverständlich268.
Merkwürdigerweise hat erst der Gesetzgeber 1990 durch eine besondere Regelung
die alte Gewißheit – jedenfalls nach Ansicht findiger Exegeten – ohne Absicht er-
schüttert. Gemäß § 90a BGB n. F. sind „Tiere keine Sachen“ (Satz 1), aber „auf sie
sind die für Sachen geltenden Vorschriften entsprechend anzuwenden“ (Satz 3).
Plötzlich stand die Frage nach dem strafrechtlichen Analogieverbot im Raum. Stark
vereinfacht ergeben sich nunmehr zwei Lösungsansätze:269 Die Analogie in § 90a
Satz 3 BGB ist eine gesetzlich angeordnete und damit der Schutzbereich von
Art. 103 II GG nicht betroffen, oder aber das (ältere!) StGB kennt einen eigenen
Sachbegriff270, der Tiere seit jeher umfaßt271. Aber wie kommt es, daß die Thema-
264 Anders aber z. B. Bindokat, JZ 1969, 541 (545, r. Sp.) für die sog. Beweiszei-
chen: Nach dem Sprachgebrauch seien unter Urkunden nur Schriftstücke, nicht aber
Zeichen zu verstehen.
265 Sehr viele Laien dürften gerade dies anders beurteilen!
266 Die Anhänger der „natürlichen Wortbedeutung“ als Auslegungsgrenze (vgl. oben
Fn. 260) bringen leider nicht die passenden Testfälle, die ihre Konzeption auf den
Prüfstand stellen würden.
267 Nachweise bei Küper, JZ 1993, 435 (436, l. Sp.).
268 Nach RGSt 37, 411 kann das „Kitzligmachen“ eines Pferdes (bei besonderen
auf die Gesetzesmotive zum preußischen StGB: Nicht der zivilrechtliche, sondern der
natürliche Begriff der Sache sei entscheidend; ebenso RGSt 32, 165 (179): „. . . in der
7. An der Wortlautgrenze 115
tik vor 1990 überhaupt nicht problematisiert wurde272, obgleich in der Alltagsspra-
che doch wohl niemand das „Kitzligmachen“ eines Pferdes (mit nachteiligen Folgen
für dessen Nervensystem) als „Sachbeschädigung“ auffassen wird273. Gerade wer
bei der Ermittlung der Wortbedeutung auf den Gebrauch im „gewöhnlichen Leben“
oder auf den „natürlichen“ Wortsinn abstellen will, müßte zu dieser Frage Stellung
beziehen.274 Selbst wenn in vergangenen Zeiten ein dahingehender Sprachgebrauch
bestanden haben sollte, wäre ein etwaiger, womöglich durch § 90a BGB geförderter
Sprachwandel zu prüfen, denn die h. M. stellt hinsichtlich der Wortlautgrenze auf
das gegenwärtige Verständnis ab!275 Nach umgangssprachlichem Verständnis berei-
tet zudem nicht nur der Sachbegriff Schwierigkeiten, vielmehr sind auch die Tat-
handlungen in § 303 StGB (Beschädigen oder Zerstören) auf Tiere offensichtlich
nicht zugeschnitten. Wer die Subsumtion unter den Sachbegriff aufgrund der gesetz-
lich angeordneten und damit zulässigen Analogie gelingen läßt, müßte sich konse-
quent mit dieser Frage auseinandersetzen und prüfen, ob ein Tier „zerstört“ oder
„beschädigt“ werden kann.276 Zur Rechtfertigung einer derart sprachwidrigen An-
nahme277 wäre darzulegen, wie die Analogie aus § 90a BGB sich auch auf die Tat-
Seit dem 18. StÄG von 1980 kann unterstützend auch auf § 325 I Nr. 1 StGB („Tiere,
Pflanzen oder andere Sachen“) verwiesen werden, der den Sprachgebrauch allerdings
nur für den Bereich der Umweltdelikte festlegen kann. Daß ein solcher strafrechtlicher
Sachbegriff im übrigen gegen die rechtspolitische Zielsetzung des § 90a BGB (Tiere
sind keine Sachen!) verstößt, versteht sich von selbst; diesen – wenn auch zulässigen –
Widerspruch gegen die „Einheit der Rechtsordnung“ (der Rechtsbegriffe) sollte der
Gesetzgeber nicht nur aus norm-ästhetischen Gesichtspunkten beseitigen.
272 Vgl. allerdings E. Wolf, in: Festgabe für das Reichsgericht, Bd. V, S. 48: Viele
Menschen begriffen nicht ohne weiteres Tiere als „Sachen“, weil sie (tote) Sachen in
einen Gegensatz zu allem Lebendigen setzten. S. 49 f.: Ein fliegender Vogel würde im
täglichen Leben nicht als Sache bezeichnet. E. Wolf selbst stellt beim Sachbegriff auf
eine Zweckbeziehung zum Menschen ab; an einer solchen Zweckbeziehung und damit
an der Sachqualität fehle es z. B. bei wilden Tieren (S. 65).
273 Vgl. auch Maurach, Strafrecht AT, S. 102: Es sei zumindest zweifelhaft, ob ein
Hundeliebhaber sein Tier als Sache ansehen würde. – Für denjenigen, der in den ge-
nannten Beispielen (Pferd, Hund) sprachlich keine Bedenken sieht, sind obige Ausfüh-
rungen natürlich hinfällig. Aber die Suche nach anderem, u. U. besser treffenden An-
schauungsmaterial wäre nicht schwierig. Beispiele zu § 185 StGB bringt Wimmer, SuL
1998, 8 (16).
274 Siehe in diesem Zusammenhang Heimann-Trosien, in: LK-StGB9, vor § 242,
Beschädigen in Betracht, wenn die Einwirkung „in bezug auf einen Menschen als
,Gesundheitsschädigung‘ iSd § 223 StGB zu qualifizieren wäre“, ist das zwar das
sachlich erwünschte Ergebnis; es fehlt aber die nötige methodische Begründung.
116 III. Wortlaut und Wortsinn
handlungen des § 303 StGB soll erstrecken können278. Eine solche Lösung mag mit
einigem Argumentationsaufwand dogmatisch begründbar sein; sie ist allerdings we-
der dogmatisch „schön“ noch für den Gesetzesadressaten transparent.
Als sprachwidrige Subsumtion im Bereich des § 303 StGB wird man – jedenfalls bei
„natürlicher“ Betrachtung – auch die Praxis der Gerichte bezeichnen müssen, das
Herauslassen von Luft aus Auto- und sogar Fahrradreifen als „Beschädigen“ einer
Sache aufzufassen (vgl. BGHSt 13, 207 und BayObLG NJW 1987, 3271). Das
OLG Düsseldorf hat hingegen seine gegenteilige Auffassung (NJW 1957, 1246)
auch auf „den“ – gemeint ist der allgemeine – Sprachgebrauch gestützt, ohne daß
dieses Argument später vom BGH, vom BayObLG sowie den Anmerkungsverfas-
sern279 auch nur aufgegriffen worden wäre. Das mangelnde Problembewußtsein ent-
spricht eigentlich nicht der Bedeutung des dahinterstehenden Arguments (Art. 103 II
GG!).
Im Ergebnis gilt: Sowohl Sach- als auch Urkundenbegriff sind juristische
Terme.280 Ihr Gebrauch in der Rechtsanwendung geht über ihren umgangs-
sprachlichen Begriffshof teilweise hinaus. Die dargestellten Fälle belegen, daß
die Praxis sich – in Widerspruch zum Standpunkt der herrschenden Ansicht,
aber in der Sache zu Recht – in der juristischen Begriffsbildung nicht an eine
alltagssprachliche Konvention gebunden fühlt. Selbst wenn dadurch Erkennbar-
keit und Vorhersehbarkeit des Strafbarkeitsbereichs für einen ideal gedachten,
normlesenden Bürger notwendig leiden, liegt darin kein Verstoß gegen das Ana-
logieverbot.281 Auch im Grenzbereich möglicher Gesetzesauslegung gilt der be-
reits festgestellte (oben III 4) Vorrang der Fach- vor der Umgangssprache.282
Eine Umkehrung dieses Verhältnisses nur für den Bereich der Wortlautgrenze
wäre theoretisch fragwürdig, kaum praktikabel und beim erreichten Stand der
Gesetzgebungstechnik283 illusorisch. Der mögliche Wortsinn ist nur dann aus
277 Anders aber Preisendanz, StGB, § 303, Anm. 3, der „Zerstören“ als völlige Auf-
hebung der Gebrauchsfähigkeit definiert und als Beispiel hierfür gerade das Vergiften
eines (gebrauchsfähigen?!) Hundes anführt! Der Verstoß gegen die Alltagssprache wird
durch ein umgekehrtes Beispiel belegt, das der „Hohlspiegel“ (Der Spiegel, 7.1.2002,
S. 182) aus den „Kieler Nachrichten“ präsentiert: „Der entgegenkommende PKW
mußte ausweichen, stürzte eine Böschung hinunter und wurde schwer verletzt.“ Für
den Laien kurios ist es sicherlich auch, wenn eine überfahrene Leiche als „beschädigte
Sache“ bezeichnet wird (AG Rosenheim NStZ 2003, 318 in anderem Zusammenhang).
278 Vgl. Küper, JZ 1993, 435 (439, l. Sp.): Die Analogie setze sich wie ein Virus
fort.
279 Klug, JZ 1960, 226; Behm, NStZ 1988, 275; Geerds, JR 1988, 218.
280 Ebenso Neumann, in: Rechtskultur als Sprachkultur, S. 115.
281 Ähnliche Fragen tauchen auch beim Bestimmtheitsgebot auf, das der richter-
StGB, § 1, Rn. 68: Der juristische Sprachgebrauch sei zwar maßgebend, müsse sich
aber im Rahmen der alltagssprachlichen Bedeutung halten.
283 Besserung ist nicht zu erwarten, auch wenn das „Handbuch der Rechtsförmlich-
keit“ (Rn. 46) dazu anhält, Abweichungen von der Gemeinsprache durch Begriffsbe-
7. An der Wortlautgrenze 117
Sicht des Bürgers zu bestimmen, wenn das Gesetz selbst auf die umgangs-
sprachliche Bedeutung der Begriffe rekurriert: In diesem Fall darf kein darüber
hinausgehender Fachterminus „konstruiert“ werden. Für den Bürger ist diese
Situation auch rechtlich hinnehmbar, denn zum einen muß er die Möglichkeit
einer fachsprachlichen Verwendungsweise einkalkulieren und zum anderen hat
auch die juristische Begriffsbildung Grenzen einzuhalten (dazu sogleich). Dem-
gegenüber ist der Standpunkt des BVerfG (E 71, 108) und des überwiegenden
Schrifttums realitätsfern, versehentlich zu weit formuliert, oder er leidet wenig-
stens an einem Vollzugsdefizit284. Solange das BVerfG mit seinem methodi-
schen Standpunkt nicht ernst macht, sollte er auch nicht fatalistisch unter Hin-
weis auf § 31 BVerfGG hingenommen werden.285
Schwierig zu beurteilen ist, welche Position der BGH zu dieser Thematik einnimmt.
Ein explizites Bekenntnis i. S. von BVerfGE 71, 108 existiert – soweit ersichtlich –
nicht; die oben vorgestellten impliziten Äußerungen (BGHSt 12, 48; 18, 242; 28,
147) lassen eine Generalisierung kaum zu. Es ist allerdings wenig wahrscheinlich,
daß der BGH insoweit vom BVerfG abweichen würde. Voreilig auf die Seite der
h. M. zieht den BGH jedoch, wer als Beleg auf Urteile verweist, in denen das Ge-
richt zwar unter Berufung auf den „natürlichen“ Sprachgebrauch die Subsumtion
ablehnt, aber damit keine grundsätzliche Aussage zur Bestimmung der Wortlaut-
grenze treffen wollte. So liegt es etwa in BGHSt 22, 235 (oben S. 88), wo es der
BGH ablehnt, eine Hauswand als „gefährliches Werkzeug“ anzusehen. Das „natür-
liche Sprachempfinden“ wehre sich gegen ein solches Verständnis (S. 236).286 Daß
die Wortlautgrenze aber generell nach dem natürlichen Sprachempfinden zu bestim-
men ist, kann der Entscheidung keineswegs entnommen werden.287 Zum Schwur
käme es nur, wenn ein weitergehender juristischer Sprachgebrauch als Alternative
zur Wahl stünde; davon geht der BGH aber offenbar nicht aus. Seine Ausführungen
besagen im Ergebnis allenfalls, daß nach seinem Dafürhalten im konkreten Fall vom
Alltagsverständnis auszugehen ist, das bei weiter Auslegung überschritten wäre und
deshalb ein Verstoß gegen das Analogieverbot288 vorläge.
stimmungen zu verdeutlichen. § 90a BGB würde dem wohl genügen, ein „eigenstän-
diger“ strafrechtlicher Sachbegriff ohne gesetzliche Klarstellung sicher nicht. Und wie
würde wohl die geforderte gesetzliche Umschreibung des Urkundenbegriffs aussehen?
284 Das ist schon daran ersichtlich, daß keine der genannten und vom BGH rezipier-
ten juristischen Begriffsschöpfungen vom BVerfG unter dem Aspekt des Analogiever-
bots verworfen wurden; anders sieht es z. B. beim – politisch bedeutsameren! – Ge-
waltbegriff des § 240 I StGB aus, den das BVerfG allerdings am Maßstab des Be-
stimmtheitsgebots mißt (vgl. BVerfGE 92, 1 und unten V 7 e). Unterliegt aber nicht
z. B. auch der (vergeistigte!) Urkundenbegriff den gleichen Einwänden wie der Ge-
waltbegriff?
285 Insoweit ist die Situation eine andere als bei der endgültig entschiedenen Frage,
ob der „möglichen Wortsinn“ überhaupt Grenze der Auslegung ist (oben III 7 a). Vgl.
zur Bindungswirkung in Methodenfragen unten VII 1 c.
286 R. Schmitt (JZ 1969, 304 [305]) hält die Berufung des BGH auf den Lebens-
sprachgebrauch für hinfällig, nachdem das Gericht sich in anderer Beziehung – Erfas-
sung von Chemikalien (BGHSt 1, 1) und Tieren (BGHSt 14, 152) – längst darüber
hinweggesetzt habe.
287 In diesem Sinn wird sie aber wohl vereinnahmt von Krey, Studien, S. 155.
118 III. Wortlaut und Wortsinn
Geht man vom hier vertretenen Standpunkt aus, daß der „mögliche Wortsinn“
nicht stets aus Perspektive des Bürgers bestimmt werden kann, stellt sich die
Folgefrage, wie die Wortlautgrenze bei juristischen Fachtermini zu ermitteln
ist.289 Denn daß auch hier Art. 103 II GG der Rechtsanwendung Grenzen auf-
erlegt, kann nicht strittig sein. Abstellen müssen wird man insoweit auf die nach
dem konkreten Zusammenhang „noch mögliche fachsprachliche Bedeutung“.
Das erscheint auf den ersten Blick paradox, da die Verwendung einer Fachspra-
che ja gerade bezweckt, ein präzises Wortverständnis zu konstituieren290, Berei-
che der Möglich- und Beliebigkeit zu reduzieren sowie Unverständlichkeiten zu
beseitigen. Bei juristisch geprägten Begriffen sollten mithin Fälle von Mehrdeu-
tigkeit die Ausnahme sein, da ihr Inhalt und Umfang in aller Regel feststehen
müßte. Aber so günstig stellt sich die Situation nicht dar. Es genügt der Hin-
weis auf den bereits erörterten Urkundenbegriff, über dessen Inhalt zwar im
wesentlichen Einigkeit besteht, dessen genauer Umfang in vielen Konstellatio-
nen aber höchst fraglich ist.291 Und bereits ein oberflächlicher Blick in die
Kommentare zum StGB zeigt die Bandbreite möglicher dogmatischer Begriffs-
bildung. Mehrdeutigkeiten bei juristischen Fachtermini mögen im Ergebnis sel-
tener auftauchen, sind aber keineswegs ausgeschlossen. Der sicherste Anhalt zur
Ermittlung der Wortbedeutung wäre wahrscheinlich die Erforschung des gesetz-
geberischen Willens mit Hilfe der Gesetzgebungsgeschichte, doch verhält es
sich damit wie bereits mehrfach dargestellt: Art. 103 II GG dient nicht der
Durchsetzung des historischen Gesetzgeberwillens, sondern begründet ein Ab-
wehrrecht des Bürgers gegen unvorhersehbare Rechtsanwendungen des Rich-
ters. Auch die Durchsetzung des historischen Willens kann jedoch wegen Wi-
derspruchs zum Wortlaut unvorhersehbar sein und einer „objektiven“ Schranke
bedürfen. Worin findet der „noch mögliche fachsprachliche Wortsinn“ aber
sonst seine Grenzen? Daß auch dieses Kriterium vage ist (wie der alltägliche
Sprachgebrauch), ist nicht zu bestreiten. Immerhin wird man aber verlangen
können, daß die vom Gesetzgeber selbst vorgegebene Systematik einzuhalten
ist292 und daß der Richter von einem eindeutig feststellbaren juristischen
Sprachgebrauch nicht zulasten des Täters abweichen darf293, weder durch eine
Flucht in den Alltagssprachgebrauch noch durch unhaltbare juristische Begriffs-
pothese, daß der Gesetzgeber die Vieldeutigkeit strategisch beabsichtige, um die An-
passungsfähigkeit des Gesetzes an zukünftige Entwicklungen zu gewährleisten.
291 Z. B. bezüglich der „zusammengesetzten Urkunde“ und der „Gesamturkunde“.
292 Siehe dazu auch unten III 7 f.
293 A.A. Küper, in: Heidelberg-FS, S. 465.
7. An der Wortlautgrenze 119
bildungen, die einzig der Erfassung des als strafwürdig erkannten Einzelfalls
dienen. Insbesondere kriminalpolitisch motivierte ad-hoc-Lösungen, die vom
sonst gängigen Begriffsverständnis abweichen und damit zu einer „Sprachspal-
tung“ innerhalb der Fachsprache führen, sind abzulehnen, wenn sie nicht auf
bereits in der Dogmatik geläufige Vorbilder verweisen können. Das Gesagte
soll mit folgenden Beispielen, in denen eine Wortlautüberschreitung allein aus
einem spezifisch fachsprachlichen Begriffsverständnis begründet werden könn-
te, illustriert werden:294
Fall 61 In BGHSt 28, 129 (oben Fall 24) war zu entscheiden, ob die gesetzlichen
Formulierungen „berechtigt“ oder „entschuldigt“ (§ 142 II Nr. 2 StGB) auch das un-
vorsätzliche Verhalten erfassen. Der BGH ist der Ansicht, daß eine „formal-dogma-
tische“ Betrachtung dem nicht entgegensteht;295 nach der „Rechtssprache“ sei auch
unvorsätzliches Verhalten erfaßt (S. 132). Infolgedessen stehe einer weiten, dem
„natürlichen Wortsinn“ entsprechenden Auslegung nichts entgegen. Ob die Ausfüh-
rungen des BGH zur fachsprachlichen Bedeutung der beiden Gesetzesbegriffe über-
zeugen, ist fraglich. Lackner hat dargelegt,296 daß die Gesetzesverfasser sehr wohl
von einem engeren juristisch-technischen Verständnis der Begriffe ausgegangen
seien und beim damaligen Stand der Rechtsprechung keinen Anlaß gehabt hätten,
die Fallgruppe des vorsätzlichen Entfernens überhaupt zu diskutieren. Wie genau
der Gesetzgeber ansonsten vorgeht, wenn es darum geht, Rechtsfolgen unvorsätz-
lichen, nicht rechtswidrigen oder nicht schuldhaften Verhaltens zu bestimmen, hat
Rudolphi aufgezeigt:297 Auch hinsichtlich § 142 StGB spreche alles für ein engeres
– dogmatisches – Verständnis; eine Abweichung von der Sprache, die der Gesetzge-
ber selbst verwende, verstoße gegen das Analogieverbot.298 Dagegen hat Küper zu
begründen versucht, daß selbst bei einer Orientierung am fachsprachlichen Wortge-
brauch der insoweit noch mögliche Wortsinn nicht überschritten sei:299 Theorie-
sprachlich könne sinnvoll von einem „entschuldigten“ Verhalten auch bei unvorsätz-
lichem Handeln gesprochen werden, denn auch in diesem Fall könne im weiteren
Sinn kein „Schuldvorwurf“ erhoben werden; es komme in Hinblick auf die Wort-
lautgrenze nicht auf die systematisch „schärfste“ oder „richtige“ Begriffsbedeutung,
sondern eben auf die noch mögliche an.300
nach der Fachsprache zu ermitteln ist, begründet Rudolphi leider nicht. Bei Lackner
(Fn. 296) bleibt der Zusammenhang der historischen Auslegung mit Art. 103 II GG
sogar völlig offen; die Ausführungen zur Entstehungsgeschichte hängen quasi in der
Luft.
299 Küper, in: Heidelberg-FS, S. 466; Küper selbst bestimmt die Wortlautgrenze al-
des § 142 II StGB hat der Gesetzgeber die Variationsbreite der noch möglichen juristi-
schen Bedeutung doch weitgehend reduziert; näher Berz, Jura 1979, 125 (131 f.). Inso-
120 III. Wortlaut und Wortsinn
Die Thematik soll hier nicht weiter vertieft werden, denn der methodisch
maßgebliche Gesichtspunkt dürfte in den unterschiedlichen Stellungnahmen,
insbesondere bei Küper hinreichend zum Ausdruck gekommen sein. Unter Be-
rücksichtigung des bisher Ausgeführten gilt: Die Auslegung des BGH wäre ge-
messen an Art. 103 II GG unzulässig, wenn sie die eindeutig feststellbare fach-
sprachliche Bedeutung oder – falls kein eindeutiger Sprachgebrauch erkennbar
ist – die noch mögliche fachsprachliche Bedeutung überschritte. Nach Ansicht
des Gerichts ist das jedoch nicht der Fall. Die dabei vom Senat vorgetragenen
inhaltlichen Gründe mag man bezweifeln, doch die methodische Vorgehens-
weise verdient grundsätzlich Beifall. Freilich kann aus den Ausführungen des
Gerichts nicht geschlossen werden, daß der BGH der hier vertretenen Konzep-
tion zum Verhältnis von Fach- zur Alltagssprache generell zustimmen würde.
Fest steht aber immerhin, daß die juristische Fachsprache der „natürlichen“
Wortbedeutung vorginge und damit der Auslegung Grenzen setzt.301 Keinesfalls
angängig wäre es mithin, das weite Verständnis durch eine Flucht in den allge-
meinen Sprachgebrauch zu rechtfertigen, denn mit den Ausdrücken „berechtigt“
und „entschuldigt“ rekurriert der Gesetzgeber nicht auf deren umgangssprach-
liche Bedeutung.
Fall 62 (BGHSt 37, 147): Als weiteres Beispiel, in dem ein fachsprachliches Be-
griffsverständnis „beinahe“ einen Verstoß gegen das Analogieverbot begründete,
während eine alltagssprachlich angelegte Interpretation in bezug auf die Wortlaut-
grenze bedenkenlos möglich gewesen wäre, kann BGHSt 37, 147 angeführt werden.
Nach § 29 I Nr. 1 BtMG wird u. a. bestraft, wer Betäubungsmittel unerlaubt anbaut,
herstellt, . . ., ausführt, veräußert, abgibt, sonst in den Verkehr bringt. Eine Straf-
schärfung sah § 29 III 2 Nr. 4 BtMG a. F. für denjenigen vor, der mit Betäubungs-
mitteln in nicht geringer Menge „Handel treibt, sie in nicht geringer Menge besitzt
oder abgibt“. Kann aus dem Fehlen der Tathandlung des „Veräußerns“ im Qualifi-
kationstatbestand geschlossen werden, daß die rechtgeschäftliche bzw. entgeltliche
Abgabe („Veräußerung“) nicht von der Strafschärfung erfaßt wird?302 Eine solch
subtile, aber offensichtlich sachwidrige Annahme wird durch den Gesetzestext des
§ 29 I Nr. 1 provoziert, der ausdrücklich zwischen (entgeltlicher) Veräußerung und
(unentgeltlicher) Abgabe differenziert. Der BGH hat jedoch in Hinblick auf das
Analogieverbot keine Bedenken, für den Fall der entgeltlichen Weitergabe auf den
umfassenderen Gesetzesbegriff der „Abgabe“ zurückzugreifen (S. 151), obschon die
Begründung des Senats recht gequält wirkt303. In der Differenzierung der Begriffe
in § 29 I Nr. 1 wird man aber in der Tat eine derart trennscharfe Abgrenzung, die
weit mag es nicht auf die „schärfste“, aber doch auf eine feststellbare Bedeutung an-
kommen. Daß Systematik und Kontext bei der Bestimmung der Wortlautgrenze zu be-
rücksichtigen sind, dazu unten III 7 f.
301 Auch Looschelders/Roth (Methodik, S. 150 f.) gehen davon aus, daß der mit
c) „Lehnstuhlmethode“/Sprachgefühl/linguistische Erhebungen
304 Eine solche Konstellation liegt in BGHSt 29, 311 = unten Fall 67 vor.
305 Näher dazu unten V 3 b.
306 Ähnlich wie hier, aber konkretisierungsbedürftig Larenz, Methodenlehre, S. 322:
„Unter dem ,möglichen Wortsinn‘ verstehe ich alles, was nach dem allgemeinen oder
dem jeweils als maßgeblich zu erachtenden Sprachgebrauch dieses Gesetzgebers –
wenn auch vielleicht nur unter besonderen Umstanden – noch als mit diesem Aus-
druck gemeint verstanden werden kann.“
307 Verstöße gegen diese Regel werden im weiteren Verlauf noch des öfteren aufge-
zeigt: Siehe z. B. BGHSt 33, 370 (Fall 68); 21, 101 u. a. (Fall 85); 34, 221 (Fall 103)
und die Gegenauffassungen zu: BGHSt 42, 158 (Fall 104); 47, 243 (Fall 105); 42, 235
(III 7 g bb, Nr. 19); BGHSt 1, 313 (Fall 113).
308 Aber Achtung: Nicht jede juristische Konkretisierung macht einen Alltags- zu
einem Fachbegriff; vgl. oben III 4 am Ende („freisetzen“) und Fall 47 („nicht erschie-
nen“). Ein über die Alltagssprache hinausgehendes fachsprachliches Verständnis, das
nicht lediglich auf einen Alltagsbegriff aufbaut und diesen konkretisiert, bedarf des-
halb einer Begründung.
309 Strikt abl., allerdings von einem methodologisch anderen Ausgangspunkt Jean
d’Heur, NJ 1995, 465 (466): „In der Alltagssprache ist die Suche nach der Wortlaut-
122 III. Wortlaut und Wortsinn
grenze mithin reichlich albern, zumal wenn damit die Absicht verfolgt werden sollte,
eine Art Sprachpolizei zur Sanktionierung abweichenden Sprachverhaltens zu etablie-
ren.“
310 Siehe bereits oben III 3 e. Wie man dieser Tendenz durch Berücksichtigung des
keitstests“ Luttermann hinsichtlich der Frage, was unter einer „lebenslangen“ Freiheits-
strafe zu verstehen ist (ZRP 1999, 334). Krit. zu dieser Vorgehensweise und generell
gegenüber unreflektierten Forderungen nach verständlichen Gesetzestexten Nussbau-
mer, ZRP 2000, 491, der für eine realistische Perspektive plädiert.
314 Die gleichen Schwierigkeiten tun sich auf, wenn mit Hilfe linguistischer Erhe-
bungen geprüft werden soll, ob ein Tatbestand hinreichend bestimmt gefaßt ist: Wel-
ches Maß an Fehleinschätzungen seitens der Probanden über den Anwendungsbereich
eine Norm beweist deren Unbestimmtheit?
7. An der Wortlautgrenze 123
tel III 7 g.
319 Siehe Küper, in: FS für Stree/Wessels, S. 483 f. Hinsichtlich der „Eindeutigkeit“
sprachlicher Auslegung vgl. allerdings auch BGHSt 25, 374 (379): Der Wortlaut sei
nicht eindeutig, „wie schon die Tatsache zeigt, daß in der Rechtsprechung und im
Schrifttum verschiedene Meinungen vertreten werden“.
124 III. Wortlaut und Wortsinn
mann, S. 127.
321 Schünemann, in: FS für Bockelmann, S. 127.
322 Formulierung bei Schünemann, in: FS für Klug, S. 182.
323 Siehe Hassemer, in: AK-StGB, § 1, Rn. 40: Mehrdeutigkeit kein Mangel, son-
setzgeber angesichts des technischen status quo nur mechanisch oder durch Dampf-
kraft angetriebene Eisenbahnen vor Augen hatte bzw. haben konnte. Die etablierte
Definition des Begriffs „Eisenbahn“ stand einer Subsumtion nicht entgegen, da die
Art der Antriebskraft insoweit nicht als begriffsnotwendig erschien. Zu Recht folgert
das RG, daß der Gesetzgeber seine Anordnung nicht auf die damals übliche Kon-
struktion beschränken wollte (S. 372). Der Gesetzgeber vermöge nicht im voraus
„die reiche Mannigfaltigkeit des Lebens zu fixieren“.
Die Entscheidungen behandeln deshalb gegenläufige Konstellationen, weil sie
trotz gleicher Interessenlage – in beiden Fällen sprachen teleologische Gründe
offensichtlich für die Anwendung des Gesetzes – bei Zugrundelegung desselben
methodischen Instrumentariums zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangen
müßten, denn nur im Fall RGSt 12, 371 hält sich die Subsumtion noch inner-
halb des sprachlichen Rahmens. Demgemäß mußte der BGH, um in BGHSt 10,
375 das „richtige“ Ergebnis zu erzielen, das methodische Instrumentarium im
kaum haltbarer Weise (siehe oben bei Fall 57) abwandeln – eine teuer erkaufte
Vorgehensweise, wenn man die nachhaltig andauernde Diskussion um diesen
Fall berücksichtigt.326 Nicht gangbar ist auch der Weg, den sprachlichen
„Mangel“ des Gesetzes durch die Figur des „sekundären Redaktionsfehlers“ zu
beseitigen.327 Die Konstellation von BGHSt 10, 375 ist damit zwar treffend be-
zeichnet, denn ursprünglich („primär“) deckte der Gesetzestext die ins Auge
gefaßte („angeschaute“) Wirklichkeit ab, während er bei Kenntnis von der spä-
teren Entwicklung sicherlich anders formuliert worden wäre. Eine Korrektur
dieses nachträglich eingetretenen, aus teleologischer Sicht „nur“ formell („re-
daktionell“) erscheinenden Fehlers durch den Richter ist unter der Herrschaft
des Analogieverbots jedoch nicht legitimiert. Sie wäre im übrigen auch aus an-
deren als rechtlichen Gesichtspunkten nicht wünschenswert. Zum einen würde
dadurch eine weitere Entfernung zwischen gelebten und geschriebenen Recht
befördert, zum anderen einer Vernachlässigung der Kodifikationspflege durch
den Gesetzgeber Vorschub geleistet. Deshalb kann es hingenommen werden,
daß eine wortlautgetreue Auslegung in gewisser Weise zu einer „Mumifizie-
rung“328 des Gesetzes führt und darüber hinaus der Zufall Einfluß auf das Aus-
legungsergebnis gewinnt, wenn es darauf ankommt, ob der Gesetzgeber seine
Formulierungen (in weiser Voraussicht oder nicht) nur abstrakt genug gefaßt
hat. Der Gesetzgeber befindet sich hier notgedrungen in einem Dilemma: For-
muliert er zu abstrakt, aber „zukunftsfest“, wird das Gesetz für den Bürger weit-
hin unlesbar (BGB!) und gerät womöglich in Konflikt mit dem Bestimmtheits-
gebot, formuliert er zu anschaulich, aber dafür verständlich, entstehen unbefrie-
für das Thema kaum mit BGHSt 10, 375 auseinandergesetzt; Anmerkungen sind nicht
ersichtlich.
327 Siehe oben Fn. 239.
328 Eine von Maurach (Strafrecht AT, S. 102) in anderem Zusammenhang verwen-
329 Näher zum Begriff des Redaktionsversehens und ähnlicher Erscheinungen unten
IV 8.
330 Entschieden abl. zur täterbelastenden Korrektur von Redaktionsversehen Krey,
Studien, S. 171 f.; Lackner, in: Heidelberg-FS, S. 58 f.; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/
Dürig, Art. 103, Stand: 12/1992, Rn. 228; Schmitz, in: MüKo-StGB, § 1, Rn. 75;
ebenso aus Vertrauensschutzerwägungen Jahr, in: FS für Kaufmann, S. 152; a. A. etwa
Heck, Gesetzesauslegung, 1914, S. 196: Das Analogieverbot erstrecke sich nicht auf
die Korrektur sprachlicher Fehlgriffe; Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, S. 160: „Vom
möglichen Wortsinn ist nur dann abzusehen, wenn ein Fehler in der Textfassung des
Gesetzes vorliegt . . .“.
331 Siehe Lackner, in: Heidelberg-FS, S. 56.
332 Aufgrund § 2 III StGB können die Konsequenzen eines Versehens enorm sein,
selbst wenn der Gesetzgeber unverzüglich nachbessert; vgl. z. B. BGHSt 22, 375 =
unten Fall 224 („Verjährung nationalsozialistischer Verbrechen“). Sehr kraß wäre es
etwa, wenn der Gesetzgeber bei Überarbeitung des Gesetzes für ein schweres Delikt
als Höchstmaß der Freiheitsstrafe 10 Monate statt 10 Jahre bestimmen würde oder
wenn ein Straftatbestand geschlechtsdifferenzierend formuliert, an einer Stelle aber der
männliche Täter „vergessen“ würde. Daß solche Gesetze womöglich verfassungswidrig
wären, hülfe nicht, denn was sollte an deren Stelle treten?
7. An der Wortlautgrenze 127
gung“ charakterisiert wird333, kann das einmal auf einer abweichenden – nicht
auf den Wortlaut, sondern auf die Regelungsabsicht des Gesetzgebers oder den
Zweck des Gesetzes abstellenden – Konzeption bei der Abgrenzung von „Aus-
legung“ und „richterlicher Rechtsfortbildung“ beruhen, die aber gleichfalls den
Vertrauensschutz in Rechnung stellen muß und kann;334 nicht jedoch kann in
dieser Situation mit dem Ausdruck (berichtigende) „Auslegung“ ein etwaiger
Verstoß gegen Art. 103 II GG ausgeräumt werden. Diese Zusammenhänge soll-
ten nicht durch eine unklare Terminologie verdunkelt werden: Die Berichtigung
eines Redaktionsfehlers beinhaltet die Korrektur oder Änderung des Gesetzes-
wortlauts und muß sich, auch wenn sie der Durchsetzung des gesetzgeberischen
Willens dient, am Maßstab des Art. 103 II GG messen lassen.
In der amtlichen Sammlung findet sich folgerichtig auch keine Entscheidung
im Anwendungsfeld des Art. 103 II GG, in der sich der BGH ausdrücklich be-
rechtigt sieht, einen Redaktionsfehler gegen den Gesetzeswortlaut zulasten des
Täters zu korrigieren. Da in den entsprechenden Fällen starke Sachgründe zur
Ausweitung drängen, wird die Problematik in die sprachliche Bestimmung der
Wortlautgrenze verlagert, die, weil dem Rechtsanwender ihre Überschreitung
unter Berufung auf ein Versehen versagt bleibt, in fragwürdiger Weise gedehnt
oder umgangen werden muß. Entsprechende Urteile, die im Ergebnis doch auf
eine Gesetzeskorrektur hinauslaufen, werfen demgemäß weniger prinzipielle
Fragen auf, sondern sind auf Redlichkeit und Vertretbarkeit der Argumentation
hin zu untersuchen.335
e) Bedeutungswandel/zeitlicher Horizont
Eng verwandt mit der Porosität der Rechtsbegriffe ist die Frage nach dem
maßgeblichen Sprachgebrauch im zeitlichen Horizont: Kommt es auf das zum
Zeitpunkt des Gesetzeserlasses geltende oder auf das gegenwärtige Begriffsver-
ständnis an? Und: Hängt die Antwort davon ab, ob es um die Auslegung eines
Alltags- oder eines juristischen Fachbegriffs geht? Die Thematik wird akut,
wenn aufgrund veränderter tatsächlicher oder rechtlicher Umstände ein Bedeu-
tungswandel der Norm, d.h. eine Sinnänderung bei unverändertem Wortlaut336
„Abändernde Auslegung“; Riedl, AöR 1994, 642 (652, 654); vgl. auch Wessels, unten
bei Fall 214; dagegen etwa Krey, Studien, S. 172.
334 Rüthers (Rechtstheorie, Rn. 937 f., 950) sieht in der Korrektur von Formulie-
rungsfehlern keine „richterliche Abweichung vom Gesetz“, jedoch müsse die Korrek-
tur den Vertrauensschutz der Normadressaten beachten. Unklar demgegenüber En-
gisch, der die Richtigstellung eines Redaktionsversehens einerseits noch als „Ausle-
gung“ qualifiziert, andererseits als legitimierenden Grund für eine Rechtsfortbildung
betrachtet (vgl. Einführung, S. 224 und S. 122 [Fn. 47 unter 4.]).
335 Eingehend zur Argumentationspraxis der Strafsenate im Bereich gesetzgeberi-
im Raum steht. Ein Unterschied zwischen der Porosität der Rechtsbegriffe (Er-
fassung eines neuen Falls ohne Änderung der Intension) und einem Bedeutungs-
wandel (Abwandlung der Intension) ist freilich nicht immer leicht zu erken-
nen.337 Wird die Intension nur hinreichend konkret gefaßt wie etwa in der be-
rühmten 223silbigen Definition des Begriffs „Eisenbahn“ durch RGZ 1, 247
(252), dann wird fast jede neue Erscheinungsform (Extension) zu einer Korrek-
tur der bisher maßgeblichen Definition (Intension) drängen.338 Begriffsinhalt
und -umfang verschwimmen. Schon hier wird deutlich, daß ein „Bedeutungs-
wandel“ nicht in erster Linie eine Frage von Art. 103 II GG ist, sondern zur
Thematik führt, ob die Auslegung an den Sprachgebrauch des historischen Ge-
setzgebers gebunden ist. Hingegen gewährt die für Art. 103 II GG maßgebliche
Grenze des „möglichen Wortsinns“ weitaus mehr Spielraum, in dem unter Um-
ständen mehrere Intensionen Platz finden. Zur Illustration kann erneut BGHSt
1, 1 herangezogen werden, eine Entscheidung, die im Schrifttum nach wie vor
rege diskutiert und zum Teil als Beleg für Verstöße der Rechtsprechung gegen
das Analogieverbot aufgeführt wird.
Fall 64 (BGHSt 1, 1 = oben Fall 51, Salzsäure als „Waffe“?): Das RG hatte gegen
die Einbeziehung chemischer Substanzen maßgeblich mit dem Gesetzeswortlaut so-
wie der Entstehungsgeschichte des § 223a StGB a. F. argumentiert (RGR 4, 298).
Unter den Waffenbegriff fielen nur Instrumente, welche „nach objektiver Beschaf-
fenheit und regelmäßiger Bestimmung dazu dienen, auf mechanische Weise Körper-
verletzungen durch Hieb, Stoß, Stich, Wurf oder Schuß herbeizuführen“ (S. 299).
Auch die Gesetzesverfasser hätten einhellig und ausdrücklich auf die mechanische
Einwirkung abgestellt und nur dementsprechende Beispiele aufgezählt. Der BGH
begründet seine weitergehende Auffassung wie folgt: (1) Die Begrenzungen des
Waffenbegriffs hätten ihre Grundlage in den damaligen Auffassungen vom Wesen
der Waffe gefunden. (2) Diese Auffassungen seien aus dem Sprachgebrauch der All-
gemeinheit und der Technik hergeleitet worden und (3) unterlägen damit dem Wan-
del der Zeiten. (4) Die Fortentwicklung von Kriegstechnik und Naturwissenschaften
rechtfertigten eine Trennung zwischen mechanischen und chemischen Angriffsmit-
teln nicht mehr. (5) Auch der allgemeine Sprachgebrauch sei dieser Weiterentwick-
lung längst gefolgt. (6) Ein entgegenstehender, originär strafrechtlicher Waffenbe-
griff sei nicht ersichtlich.339
Die Entscheidung wird im Schrifttum mit unterschiedlicher Begründung kritisiert.
G. und D. Reinicke (NJW 1951, 681 [683]) bemängeln die Dynamisierung des Ge-
tion verlangt – aus „Metall“, sondern einem anderen Werkstoff bestehen. Wäre die
entsprechende Anpassung der Definition als „Bedeutungswandel“ zu klassifizieren?
339 Zu diesem Aspekt der Entscheidung siehe bereits oben Fall 51.
7. An der Wortlautgrenze 129
setzes: Der Waffenbegriff sei kein Blankettbegriff, der auf die jeweils geltenden An-
schauungen verweist, sondern müsse so ausgelegt werden, wie er ursprünglich ver-
standen wurde. Da auch der Gesetzgeber unter Waffen nur mechanisch wirkende
Mittel verstanden habe, sei die durch den BGH erfolgte Ausdehnung eine verbotene
Analogie. Baumann340 meldet Zweifel an hinsichtlich der Prämisse, der allgemeine
Sprachgebrauch habe eine Fortentwicklung erfahren, denn der allgemeine Sprachge-
brauch unterscheide sehr wohl zwischen „Waffen“ und „chemischen Kampfmit-
teln“341; zumindest hätte das Gericht seine Meinung näher begründen müssen. Kauf-
mann sieht die Entscheidung als „unreflektierten Machtspruch“; die Gleichsetzung
von Salzsäure mit Waffe sei mit Wortlaut und möglichen Wortsinn nicht verein-
bar.342 Ein Hinwegsetzen über die Grenzen des Lebenssprachgebrauchs bescheinigt
dem BGH ferner R. Schmitt (JZ 1969, 304 [305]). Zumindest kritisch äußern sich
auch Engisch, Hassemer, Schmidhäuser und Rüthers343, für „noch legitim“ hält La-
renz344 die Entscheidung, für „hart an der Grenze“ Eser345, während nach Roxin die
Umgangssprache den Ausdruck „chemische Waffe“ kenne, der Wortsinn der Sub-
sumtion folglich nicht entgegenstehe346.
Fraglich ist zunächst, ob der BGH im vorliegenden Fall eine Änderung des
Norminhalts bzw. der Wortbedeutung vorgenommen hat oder ob das Gericht bei
unveränderter Intension des Waffenbegriffs lediglich eine Veränderung im Be-
reich der Technik aufgefangen hat, ohne den sprachlichen Rahmen der Norm zu
verändern (Porosität). Ist letzteres gegeben, kann von vornherein keine Über-
schreitung des möglichen Wortsinn angenommen werden. Die Argumentation
des BGH geht allerdings von einem Bedeutungswandel aus: Der ursprüngliche
Sprachgebrauch des Alltags habe unter Einfluß des damaligen Stands der Waf-
dungsgründe liefert Kaufmann freilich nicht, obwohl er die Entscheidung geradezu als
Gewährsfall heranzieht, um die Untauglichkeit der herkömmlichen Methodendoktrin
zu beweisen (vgl. a. a. O. vor allem S. 11, 80, 92); das Verdikt des „unreflektierten
Machtspruchs“ trifft eher die Behauptungen Kaufmanns als den BGH.
343 Engisch, Einführung, S. 195: „fragwürdig“; Hassemer, in: AK-StGB, § 1, Rn. 92:
lich BGHSt 1, 1 sogar davon aus, daß die „ganz h. M.“ den Rahmen des möglichen
Wortsinns für gewahrt halte.
130 III. Wortlaut und Wortsinn
fentechnik unter Waffe ein mechanisch wirkendes Mittel verstanden. Erst mit
dem Wandel der Technik habe die alltagssprachliche Definition durch die
Erfassung der chemischen Angriffsmittel eine Erweiterung erfahren. Freilich
bleibt der Unterschied eines Bedeutungswandels zum Phänomen der Porosität
gerade im vorliegenden Fall marginal, wenn man noch einmal genauer auf den
Ausgangspunkt der Begriffsbildung zurückblickt. Dann bietet sich folgender,
vielleicht ebenso akzeptabler Begründungsweg an, der allein auf die Verände-
rung der Lebenswirklichkeit abstellt:
(1) Der Gesetzgeber hat das damals übliche, umgangssprachliche Verständnis des
Ausdrucks „Waffe“ zugrunde gelegt. (2) Dieses orientierte sich an den tatsächlichen
Erscheinungsformen der technischen Angriffsmittel, die damals typischerweise me-
chanisch wirkten. (3) Die „zutreffende“ Begriffsbildung (Abstrahierung) müßte
demnach unter „Waffe“ ein „technisches“ Angriffsmittel verstehen. (4) Somit ist die
mechanische Wirkweise kein notwendiger Bestandteil der Intension,347 sondern nur
die nächst höhere Abstraktionsstufe („technisch“). (5) Darunter fallen aber auch
chemische Angriffsmittel. (6) Hätte der Gesetzgeber die veränderten Umstände be-
reits bei Gesetzeserlaß vor Augen gehabt, hätte er in den Gesetzesmaterialien auch
die chemischen Angriffsmittel erwähnt, den Gesetzestext aber nicht anders abgefaßt!
Für die Differenzierung von Porosität und Bedeutungswandel kommt es somit
darauf an, von welcher Definition der Rechtsanwender ausgehen muß und was
davon wirklich begriffsnotwendig ist. Hält man insoweit die Ansicht des histori-
schen Gesetzgebers für maßgeblich, dann stellt sich nur die Frage, was nach
dessen Vorstellungen die Intension der Begriffe kennzeichnet und ob eine et-
waige Abweichung von diesen Vorstellungen (dann: „Bedeutungswechsel“) zu-
lässig ist.348
Um etwas anderes geht es jedoch bei Art. 103 II GG. Hier kommt es darauf
an, ob die Subsumtion gegen den „möglichen Wortsinn“ des Begriffs „Waffe“
(oder „gefährliches Werkzeug“) verstößt, ob also die umgangssprachliche Be-
deutung in sprachwidriger Weise überschritten wird, wenn die Intension von
„mechanisch wirkend“ auf „mechanisch oder chemisch wirkend“ erweitert wird.
Die o. g. Autoren vertreten hier – meist ohne nähere Begründung – gegenteilige
Standpunkte und stützen sich dabei offenbar auf ihr Sprachgefühl. Der jeweili-
gen Auffassung kann man sich anschließen oder widersprechen, aber rational
überprüfbar ist diese „Lehnstuhlmethode“ (siehe dazu oben III 7 c) nur be-
dingt.349 Womöglich hätte die Heranziehung von Wörterbüchern ein wenig
mehr Orientierung geboten. Für die Fallgestaltung von BGHSt 1, 1 wird man
eine Überschreitung des möglichen Wortsinns kaum feststellen können, denn
daß der Betroffene, der den Einsatz eines chemischen Angriffsmittels in Be-
tracht zieht, die Bezeichnung dieses Mittels als „Waffe“ oder „gefährliches
Werkzeug“ als sprachwidrig erachtet und deshalb die Strafbarkeit gemäß § 224
I Nr. 2 StGB nicht vorhersehen kann, erscheint als eher lebensfremde An-
nahme.350
Im Ergebnis kann die Anpassung der Auslegung an veränderte Umstände also
sowohl am fehlenden sprachlichen Rahmen (Art. 103 II GG – „Forstdiebstahl“!)
als auch am entgegenstehenden gesetzgeberischen Willen scheitern.
Gerade BGHSt 1, 1 zeigt, wie die adäquate Analyse eines Urteils durch die
Verknüpfung zweier auslegungstheoretischen Problemfelder erschwert wird,
nämlich der Frage nach einem Verstoß gegen das Analogieverbot mit der Frage,
ob der Wille des historischen Gesetzgebers der Subsumtion im vorliegenden
Fall entgegensteht. Von letzterem gehen z. B. G. und D. Reinicke aus und sehen
schon deshalb in der Ausdehnung des Anwendungsbereichs durch den BGH
eine verbotene Analogie. Beide Gesichtspunkte sind jedoch auseinanderzuhal-
ten.351 Die historische Auslegung spricht hier eventuell für die enge Ausle-
gung,352 aber das hat nichts mit dem „möglichen Wortsinn“ als Auslegungs-
schranke zu tun, sondern mit dem Rang des historischen Kriteriums im Kanon
und der Frage nach dem Ziel der Auslegung. Deshalb verfängt auch der Hin-
weis der Autoren auf den vom Gesetzgeber angeblich nicht gewollten „Blan-
kettbegriff“ nicht, denn daß die Gesetzesverfasser wirklich gegen eine solche
dynamische Anpassung der Norm gewesen waren, hätte einerseits näherer Be-
gründung bedurft (näher unten IV 5 b) und hat andererseits wiederum nichts
mit Art. 103 II GG zu tun.
Das Thema „Bedeutungswandel“ provoziert noch Ausführungen zu einem
(angeblichen) Paradebeispiel für die Veränderungen eines Alltagsbegriffs und
den damit einhergehenden dogmatischen und sogar verfassungsrechtlichen Im-
plikationen; gemeint ist der Gewaltbegriff im Strafrecht.
Fall 65 (BGHSt 1, 145 – „Betäubungsmittel“): Verübt der Täter „Gewalt“ i. S. des
§ 249 StGB, wenn er das Opfer betäubt, ohne dabei Widerstand überwinden zu
350 Etwas anderes gälte womöglich, wenn man für den relevanten Sprachgebrauch
auf den Zeitpunkt der Gesetzesentstehung abstellt, näher unten am Ende dieses Ab-
schnitts. Aber das wäre paradox.
351 Beide Aspekte ebenfalls verknüpfend Krey, Studien, S. 162 f., der dann aber
BGHSt 1, 1 freilich den Willen des historischen Gesetzgebers ohne weiteres mit dem
Argument neutralisieren können, daß er keinen hinreichenden Ausdruck im Wortlaut
des Gesetzes gefunden habe. Denn die Formulierung „insbesondere eines Messers
oder eines anderen gefährlichen Werkzeugs“ erzwingt keine Beschränkung auf mecha-
nisch wirkende Angriffsmittel.
132 III. Wortlaut und Wortsinn
müssen? Das RG hat die Frage „mit Rücksicht auf den Wortlaut“ stets verneint, in
RGSt 72, 349 allerdings unter Berufung auf den Grundgedanken der Norm eine
(damals zulässige) Analogie bejaht. Der BGH hält eine unmittelbare Anwendung
für möglich: Die Rechtsprechung des RG sei widersprüchlich, denn es habe auch in
anderen Fällen, in denen kein nennenswerter körperlicher Kraftaufwand vorlag
(Einschließen, Schreckschuß), das Tatbestandsmerkmal Gewalt bejaht (Nachweise
in BGHSt 1, 145 [146]). Vom Opfer her gesehen könne es keinen Unterschied ma-
chen, ob der Täter mit Betäubungsmitteln oder sonstigem Zwang (Schreckschuß!)
vorgeht (S. 147). Diese Auslegung entspreche allein der natürlichen Betrachtung,
zumal im allgemeinen Leben die Betätigung von Körperkraft immer mehr zurückge-
treten sei.
Fall 66 (BGHSt 8, 102 – „Generalstreik“): Übt „Gewalt“ i. S. von § 80 I Nr. 1
StGB a. F. aus, wer durch Massenstreiks Bundesregierung und Bundestag ausschal-
ten will? Der BGH ist der Ansicht, daß der Gewaltbegriff die Anwendung von Kör-
perkraft nicht notwendig erfordere (S. 103). Ihr Einsatz zur Einwirkung auf Verfas-
sungsorgane gehöre vergangenen Zeiten an; die Gegenwart kenne andere, ebenso
wirksame Mittel des Umsturzes. Entscheidend sei die Zwangswirkung. Diese Ausle-
gung des Gewaltbegriffs entspreche der neueren Tendenz in Rechtsprechung (Hin-
weis auf BGHSt 1, 145) und Lehre.
Nicht zuletzt BGHSt 1, 145 und 8, 102 werden als Belege für eine Entwick-
lung angeführt, die als „Vergeistigung“ oder „Entmaterialisierung“ des Gewalt-
begriffs bezeichnet wird.353 Insbesondere der Nötigungstatbestand wurde im
Lauf der Zeit auch bei Verhaltensweisen herangezogen, die zwar nicht mehr
dem ursprünglichen – einigen körperlichen Kraftaufwand beim Täter verlangen-
den – Verständnis von Gewalt entsprachen, jedoch als ähnlich wirksam und
ebenso strafwürdig angesehen wurden. Bei Zugrundelegung des ursprünglichen
(körperlichen) Gewaltbegriffs, so wie ihn der Gesetzgeber wohl verstanden354
und die Rechtsprechung auch sanktioniert hat, ist in der Ausweitung somit eine
Änderung der Intension zu sehen. Der BGH sieht sich aufgrund veränderter Le-
bensverhältnisse und bei „natürlicher Betrachtung“ offenbar zur Vornahme des
Bedeutungswechsels berechtigt. Im möglichen Wortsinn als Auslegungsgrenze
erkennen beide Entscheidungen kein Problem, obwohl das RG seine gegentei-
lige Entscheidung unter anderem „mit Rücksicht auf den Wortlaut“ traf. Um die
Frage nach der Wortlautgrenze beantworten zu können, muß freilich zunächst
geklärt werden, auf welchen zeitlichen Horizont es insoweit ankommt.355 In der
ersten Sitzblockadenentscheidung (BVerfGE 73, 206) haben vier unterlegene
Richter einen Verstoß gegen das Analogieverbot bejaht und argumentiert, hin-
sichtlich der Vorhersehbarkeit der Strafbarkeit komme es auf den Zeitpunkt des
BGH einen Verstoß „gegen den Sinn des Satzes nulla poena sine lege“ vorwerfen.
7. An der Wortlautgrenze 133
Gesetzeserlasses an (S. 244). Das ist jedoch kaum haltbar. Damit wäre sogar
eine Berücksichtigung tatsächlicher Veränderung im Rahmen der Porosität ver-
fassungsrechtlich verboten. Maßgeblich für das Verbot sprachwidriger Ausle-
gung zulasten des Bürgers ist vielmehr das gegenwärtige Sprachverständnis356
(zur Tatzeit), denn bei der Abschätzung des Strafbarkeitsrisikos kann der Be-
troffene nur vom aktuellen Verständnis seiner Sprachgemeinschaft ausgehen.
Zumindest theoretisch denkbar, aber höchst unwahrscheinlich ist es, daß aufgrund
eines Sprachwandels der „mögliche Wortsinn“ eines Alltagsbegriffs verengt wird, so
daß die Subsumtion nunmehr unzulässig wird. Wenn nicht die Fachsprache vorran-
gig wäre, müßte man eine solche Konstellation in der Thematik erwägen, ob ein
Tier als „Sache“ gelten kann (siehe oben III 7 b).
Ob darüber hinaus Vertrauensschutz gegen den nachteiligen Wandel einer
ständigen Rechtsprechung besteht, die z. B. im Beibringen von Betäubungsmit-
teln seit jeher keine Gewalt sah, ist eine davon zu unterscheidende Frage, die
überwiegend unter dem Gesichtspunkt „Rückwirkungsverbot“ diskutiert wird.
Für die Vereinbarkeit des vergeistigten Gewaltbegriffs mit der Wortsinngrenze
kommt es somit darauf an, ob nach alltäglichem, zur Tatzeit gültigen Sprachge-
brauch das Beibringen von Betäubungsmitteln, ein Schreckschuß oder die Sitz-
blockade noch als Gewalt aufgefaßt werden kann oder ob eine solche Inter-
pretation als dermaßen sprachwidrig erscheint, daß die Normanwendung nicht
vorhersehbar war.357 Wenn der BGH die Subsumtion hier im Rahmen des
Möglichen sieht, kann man das kaum beanstanden; freilich hätte eine nähere
Erläuterung, von welchem semantischen Spielraum auszugehen ist und welcher
Sprachgebrauch in zeitlicher Hinsicht maßgeblich ist, nicht geschadet358.
Weiter verkompliziert würde die Frage nach dem zeitlichen Horizont, wenn man mit
den vier unterlegenen Richtern aus BVerfGE 73, 206 schon in BGHSt 1, 145 eine
Überschreitung des möglichen Wortsinns sähe. Kann dann noch viele Jahre später,
nachdem die Entmaterialisierung des Gewaltbegriffs ihren Fortgang nahm, noch
eine Wortlautüberschreitung konstatiert werden, obwohl das Strafbarkeitsrisiko (ins-
besondere bei Sitzblockaden) für jedermann vorhersehbar war? Die genannten Rich-
ter haben sich mit der Begründung beholfen, die Ausdehnung des Gewaltbegriffs sei
alsbald auf Kritik gestoßen, wodurch eine für die Frage der Vorhersehbarkeit maß-
gebliche gefestigte Rechtsauffassung sich nicht habe bilden können (S. 245). Für die
Sitzblockaden mag diese Ansicht noch zutreffen, für die Betäubungsmittel oder den
Schreckschuß bleiben aber doch Zweifel. Wohlweislich hat sich die zweite Sitzblok-
kaden-Entscheidung (BVerfGE 92, 1) bei ihrer Einschränkung des Gewaltbegriffs
nicht auf das Analogieverbot, sondern auf das Bestimmtheitsgebot gestützt.359
356 In diesem Sinn Kramer, Methodenlehre, S. 64; Krey, Studien, S. 162; Larenz,
Fachsprache handelt. Dann würden sich freilich ganz ähnlich Fragen stellen.
358 Entsprechendes ist auch in anderen kritischen Urteilen des BGH zum Gewaltbe-
griff nicht zu finden, siehe z. B. BGHSt 23, 46 („Laepple“) und BGHSt 23, 126 (Vor-
halten einer Waffe).
134 III. Wortlaut und Wortsinn
Fall 67 („Geldfälschung“, Teil II, vgl. oben Fall 34): Ganz deutlich wird das in der
bereits erörterten Entscheidung BGHSt 29, 311 zur Frage, ob die Weitergabe von
Falschgeld an einen eingeweihten Mittelsmann die Tatbestände der §§ 146 I Nr. 3
und 147 StGB erfüllen kann. Dagegen spricht die sprachliche Differenzierung zwi-
schen den Tathandlungen des „Inverkehrbringens als echt“ sowie dem „Ermögli-
chen“ eines solchen Inverkehrbringens in § 146 I Nr. 1 StGB, währenddessen die
unmittelbar folgenden §§ 146 I Nr. 3 und 147 nur die erste der genannten Alternati-
ven enthält. Eine logisch-systematische Textauslegung läßt somit nur den Schluß zu,
daß die §§ 146 I Nr. 3 und 147 in ihrem Anwendungsbereich nicht auf Sachverhalte
erstreckt werden können, die durch die Variante des „Ermöglichens“ abstrakt be-
schrieben sind364. Daß der Gesetzgeber anderes gewollt hat, offenbar einem Irrtum
erlegen ist, kann an der wegen Art. 103 II GG zwingenden Lösung nichts ändern.
Insofern findet die vom BGH im vorliegenden Fall herangezogene subjektiv-histo-
rische Auslegung ihre „objektive“ Grenze im Analogieverbot365, das sich auf die
systematisch-logische Textdeutung erstreckt. Dennoch hat der BGH sich zur gegen-
teiligen Lösung bekannt und sich damit in methodischen Widerspruch zur Ent-
scheidung BGHSt 19, 158 (näher oben Fall 33) gesetzt, die in einer ähnlichen
Konstellation den grammatikalisch-systematisch ermittelten Wortsinn trotz gegenläu-
figer teleologischer Erwägungen für zwingend hielt.366
Um einen Verstoß gegen das Analogieverbot aufzuzeigen, haben auch vier (unter-
legene) Richter in der ersten Entscheidung des BVerfG zur „Sitzblockade“
(BVerfGE 73, 206) u. a. auf die Gesetzessystematik des § 240 I StGB rekurriert:
Daß „Gewalt“ i. S. dieser Vorschrift mehr voraussetzt als eine bloß psychisch deter-
minierte Zwangswirkung, folge aus dem Gesetzesbegriff „nötigen“, der das Bewir-
ken von Zwang bereits erfasse (S. 245).367
Im Rahmen der Wortlautgrenze sind weitere Aspekte zu berücksichtigen, die
zum Teil ebenfalls schon Gegenstand der vorliegenden Arbeit waren. Dazu
zählt zunächst die Herstellung der entscheidungsrelevanten Textbasis (oben III 3
h), denn nicht stets handelt es sich dabei um eine einzige Norm des StGB-BT
oder des sonstigen materiellen Strafrechts. Einzubeziehen sind Hilfs- und Er-
363 Hier gelten die gleichen Maßstäbe und Grenzen wie bei der („noch möglichen“)
fachsprachlichen Begriffsbildung (vgl. oben III 7 b, S. 118 ff.). D.h., nicht jede dog-
matisch-systematisch unzutreffende Lösung bedeutet zugleich einen Verstoß gegen
Art. 103 II GG, vgl. Küper, in: Heidelberg-FS, S. 465.
364 Auf welch engem Grat diese Argumentation freilich verlaufen kann, zeigt
des Vorrangs der Fachsprache vor der Alltagssprache begründet werden (oben III 7 b),
denn die gesetzliche Formulierung in den §§ 146, 147 StGB ist eindeutig subtiler als
die umgangssprachliche Verwendungsweise und insoweit vorrangig.
366 Ein weiteres Beispiel dafür, daß die systematische Auslegung für die Bestim-
mung der Wortlautgrenze relevant ist, bietet BGHSt 28, 129 (oben Fall 61).
367 Zwingend erscheint diese Argumentation der das Urteil nicht tragenden Richter
freilich kaum. BVerfGE 92, 1 (17) hat sich ihr angeschlossen, die Problematik aller-
dings beim Bestimmtheitsgebot erörtert. Krit. zur Einbeziehung des systematischen
Arguments in die Prüfung des Art. 103 II GG durch das BVerfG Schroeder, JuS 1995,
875 (877).
136 III. Wortlaut und Wortsinn
gänzungsnormen368, die den Sinn der jeweiligen Norm erst faßbar und handhab-
bar machen. Im Strafrecht wird dies besonders deutlich im Zusammenwirken
zwischen StGB-BT und StGB-AT:
So hätte § 251 StGB a. F. – Qualifikation des Raubes bei „leichtfertiger“ Verursa-
chung des Todes – ohne Rückgriff auf § 18 StGB nur durch Überschreitung des
Gesetzeswortlauts auch auf die vorsätzliche Herbeiführung der Todesfolge ange-
wandt werden können (näher BGHSt GS 39, 100 = oben Fall 41). Signifikant tritt
die Problematik bei einigen (Qualifikations-)Tatbeständen oder benannten Strafzu-
messungsregeln des StGB-BT zutage, die bestimmte Handlungsweisen des Täters
unter eine schärfere Strafdrohungen stellen: Landfriedensbruch oder Gefangenen-
meuterei unter Ausübung von Gewalttätigkeiten gegen Personen (§ 125 II a. F. –
BGHSt 5, 344; § 122 III a. F. – BGHSt 8, 294 und 12, 129), Landfriedensbruch
unter Beisichführen einer Waffe (§ 125a 2 Nr. 2 – BGHSt 27, 56) oder Handeltrei-
ben mit Betäubungsmitteln unter Mitsichführen von Schußwaffen (§ 30a II Nr. 2
BtMG – BGHSt 42, 368; GS 48, 189). Es stellt sich jeweils die Frage, ob die Straf-
schärfungen sich auch auf Mittäter erstrecken können, ohne daß diese die qualifizie-
renden Umstände eigenhändig verwirklichen, ob also eine Zurechnung dieser Um-
stände gemäß § 25 II StGB erfolgen darf. Im Rückblick hat das Problem der „Ei-
genhändigkeit“ der Rechtsprechung viel Kopfzerbrechen bereitet und nicht immer
zu stimmigen Lösungen geführt. Freilich – und darauf kommt es hier an – die Wort-
lautgrenze stand den unterschiedlichen dogmatischen Wegen nie im Weg. Die Tatbe-
stände des StGB sind zwar in aller Regel i. S. eigenhändiger Tatausführung formu-
liert369, aber ihre Reichweite kann letztlich durch Normen wie § 25 II erweitert
werden. Das BVerfG hat es in Hinblick auf Art. 103 II GG z. B. nicht beanstandet,
einen „ortsabwesenden Hintermann“ als Mittäter eines Landfriedensbruchs (§ 125 I
StGB) anzusehen, obgleich der Tatbestand (u. a.) die Begehung von Gewalttätigkei-
ten aus einer Menschenmenge heraus voraussetzt (BVerfGE 82, 236 [269 f.] –
„Startbahn West“).
Keine Berücksichtigung bei der Herstellung der hinsichtlich Art. 103 II GG relevan-
ten Textgrundlage findet hingegen die Überschrift einer Norm (so ausdrücklich
BGHSt 45, 103 [106]); sie kann der Auslegung keine zwingend zu beachtende
Grenze setzen, als Argument aber eventuell anderweitig Berücksichtigung finden
(siehe unten V 2).
Daß „Texterweiterungen“ durch Hilfsnormen im dargestellten Sinn möglich
sind und in Hinblick auf Art. 103 II GG keinen Bedenken unterliegen, dürfte
nicht streitig sein, auch wenn das Verstehen der Gesetzestexte aus Sicht des
Normadressaten darunter notwendig leidet. Dies sollten nicht zuletzt diejenigen
berücksichtigen, die die Wortlautgrenze stets am Maßstab des (noch möglichen)
den: (1) Tatbestand (§ 242 StGB) und Regelbeispiel (§ 243 StGB) werden nicht voll
verwirklicht, (2) § 242 wird vollendet, § 243 nur „versucht“ (selten!), (3) § 242 wird
nur versucht, § 243 aber verwirklicht. Der BGH behandelt Konstellation (1), die für
vorliegenden Zusammenhang auch die problematischste ist.
371 Tröndle/Fischer, StGB50, § 46, Rn. 97 am Ende: Der Gesetzgeber habe die ver-
liche Anordnung der Versuchsstrafbarkeit sei dadurch nicht berührt [?!]; zwar ent-
halte § 243 keine solche Anordnung, aber die in § 242 II vorgesehene genüge
(S. 376). – Diese Deduktion ist nicht überzeugend: Daß die Strafdrohungen des BT
in Vollendungsform formuliert sind, bestätigt nur die Notwendigkeit einer allgemei-
neren Norm, die etwas über die begriffliche Möglichkeit eines Versuchs besagt. Das
sind die §§ 22, 23, die sich jedoch auf Tatbestände beziehen, was ja auch der BGH
betont. Die von ihm herangezogene Anordnung der Versuchsstrafbarkeit in § 242 II
hilft nur für den Tatbestand [!] des § 242 I, besagt aber ebenfalls nichts zur Frage,
ob die Strafzumessungsgründe auch in Versuchsform vorliegen können.374 Die Hilf-
losigkeit des BGH gipfelt in der inhaltslosen Feststellung, daß seine Auffassung
keine verbotene Analogie darstelle, sondern „eine dem Willen des Gesetzgebers ent-
sprechende Gesetzesauslegung, die mit den allgemeinen Vorschriften über die Be-
strafung des Versuchs, dem Gedanken des Schuldstrafrechts und den Grundsätzen
der Strafzumessung im Einklang steht“ (S. 377).
Einen anderen Weg, um das sachlich vernünftige Ergebnis des BGH ohne Bedenken
aus Art. 103 II GG zu erreichen, bietet Küper an: Der Ausdruck „Tatbestand“ in
§ 22 StGB könne ohne Überschreitung des äußersten möglichen Wortsinns auch da-
hin verstanden werden, daß die als Regelbeispiele formulierten Erschwerungsgründe
miterfaßt seien; das sei sowohl alltags- als auch theoriesprachlich möglich.375 Damit
mag die vertrackte Situation für dieses Mal auf eine ehrliche Art entschärft sein,
aber recht überzeugen kann eine solche, allein der Einhaltung einer formalen
Grenze dienende „Sprachspaltung“ des Begriffs „Tatbestand“ nicht. Nach dem, was
hier zu den Grenzen fachsprachlichen Verständnisses gesagt wurde (oben III 7 b,
S. 118 ff.), ist eine derartige Abweichung vom sonst üblichen Begriffsverständnis
nicht zu rechtfertigen. Vielleicht war dem BGH die dogmatische Anfälligkeit dieser
Konstruktion bewußt, so daß er seinen, nicht minder angreifbaren und arg krypti-
schen Argumentationsweg wählte.376
Zu erheblichen Schwierigkeiten kommt es im Zusammenhang mit der Wort-
lautgrenze darüber hinaus, wenn nicht Vorschriften innerhalb einer Kodifikation,
sondern Normen verschiedener Gesetze terminologisch nicht aufeinander abge-
stimmt sind. Die Rechtsprechung des BGH mußte sich insofern vor allem mit
Friktionen zwischen allgemeinem Strafrecht und Jugendstrafrecht befassen:
nannten“ schweren Falls, wodurch freilich die für die Praxis so wichtige Indizwirkung
der Regelbeispiele entfiele; für diese Lösung z. B. Tröndle/Fischer, StGB50, § 46,
Rn. 101; Lackner/Kühl, StGB, § 46, Rn. 15.
7. An der Wortlautgrenze 139
In BGHSt 6, 394 (oben Fall 55) resultierte die Unstimmigkeit daraus, daß die Ent-
ziehung der Fahrerlaubnis die Verurteilung zu einer „Strafe“ voraussetzte, die ju-
gendstrafrechtliche Sanktion des „Zuchtmittels“ jedoch keine Strafe in diesem Sinn
darstellt. Um dennoch zum sachgerechten Ergebnis zu gelangen und „unerträgliche“
Folgerungen zu vermeiden, scheut der BGH nicht davor zurück, Sinn und Zweck
über den Wortlaut zu stellen. Die andere Option bestand darin, den Begriff der
„Strafe“ in § 42m StGB a. F. in einem weiteren, die Zuchtmittel erfassenden Sinn zu
verstehen; der BGH ist vor dieser dogmatisch unsauberen Lösung377 jedoch zurück-
geschreckt und hat statt dessen eine methodologisch problematische gewählt (näher
oben bei Fall 55).
Ähnliche Fragen ergaben sich hinsichtlich § 20a I StGB a. F., der eine Strafschär-
fung für Gewohnheitsverbrecher u. a. von zwei Vorverurteilungen zu „Zuchthaus“
oder „Gefängnis“ abhängig machte. Nach Ansicht von BGHSt 12, 129 können dar-
unter auch „Jugendgefängnis“ (RJGG) bzw. „Jugendstrafe“ (JGG 1953) fallen.378
Noch schärfer zeigt sich die Schwierigkeit bei der Anordnung der Sicherungsver-
wahrung gemäß § 66 StGB, die an Vorverurteilungen zu „Freiheitsstrafen“ an-
knüpft. Der BGH379 sieht sprachlich kein Problem, auch hier die „Jugendstrafe“ als
Freiheitsstrafe genügen zu lassen, obwohl die Unterschiedlichkeit der beiden Maß-
nahmen feststehendes, jugendstrafrechtliches Dogma ist und obwohl bei Einführung
der Sicherungsverwahrung die „Jugendstrafe“ bereits gesetzlich definiert, eine ter-
minologische Berücksichtigung durch den Gesetzgeber also möglich war.380
Ob die „Sprachspaltungen“ zulässig sind, bemißt sich erneut danach, ob sie
fachsprachlich „noch möglich“ oder eine aus dem kriminalpolitischen Bedürfnis
geborene ad-hoc-Lösung sind. Mit der sprachlichen Inkompatibilität verschiede-
ner Kodifikationen (StGB/JGG) liegt jedoch ein Sachgrund vor, der über den
Einzelfall hinausreicht. Bezogen auf die Terminologie des StGB mögen die Aus-
drücke „Strafe“ bzw. „Freiheitsstrafe“ eine feststehende Bedeutung haben, aber
eben nur innerhalb dieser Kodifikation und nicht dann, wenn Regelungsfragen
quasi von außen (z. B. aus dem JGG) herangetragen werden. Daß insoweit
sprachliche Friktionen bestehen, ist für niemanden überraschend, und deshalb
ist es keine unhaltbare juristische Begriffsbildung, wenn der Ausdruck „Strafe“
für einen bestimmten, abgrenzbaren Bereich eine abweichende Bedeutung erhält.
Der Themenkreis Kontext und Wortlautgrenze gibt Anlaß, abschließend auf
einen „Mißstand“ hinzuweisen, der vielleicht sogar eher das Schrifttum als die
Rechtsprechung betrifft. Gemeint sind Tendenzen, wortlautferne Auslegungen
unter Berufung auf Wörterbücher oder einen weiten Alltagssprachgebrauch zu
377 Die in etwa mit der oben wiedergegebenen Argumentation Küpers im Fall
aa) Vorbemerkung
2002, 144 (146). Der Duden (Großes Wörterbuch, Bd. 1, S. 452, „Bande“) macht das
schon äußerlich kenntlich, indem er zwei Verwendungsweisen trennt, von denen hier
offensichtlich nur die erste in Betracht kommt: „1. organisierte Gruppe von Verbre-
chern . . . 2. (abwertend od. scherzh.) Gruppe gleich gesinnter Menschen (häufig Ju-
gendliche)“.
384 Baumann, MDR 1958, 394 (396), in etwas anderem Zusammenhang; zum Ge-
386 Als Zwischenbilanz zu den Ausführungen in III 7 a–f kann der erste Teil der
ZStW 1989, 838 (845); Kramer, Methodenlehre, S. 47; Seebode, JZ 1998, 781 (Fn. 4).
142 III. Wortlaut und Wortsinn
393 Hassemer, in: AK-StGB, § 1, Rn. 90; Schmidhäuser, Strafrecht AT, 5/43: Die
Hinweis auf Einzelfälle genügen, etwa auf den „immer wieder vorgerittenen
Professorenschimmel“396 des Stromdiebstahls, den das RG nicht unter § 242
StGB subsumierte, weil im Anzapfen von Elektrizität keine Wegnahme fremder
beweglicher Sachen liege (RGSt 29, 111; 32, 165). So wie es keine großen
Schwierigkeiten bereitet, fragwürdige Grenzfälle und Wortlautüberschreitungen
des BGH aufzuzeigen, so leicht fiele Entsprechendes für die Praxis des RG.
Letztere hat sich z. B. nicht davor gescheut, Schallplatten als „Schriften“
i. S. von § 184 StGB a. F. aufzufassen (RGSt 47, 223), das Anzeichnen eines
weiblichen Geschlechtsteils an eine Hauswand unter die Begriffe „Ausstellen“
oder „Anschlagen“ einer unzüchtigen Abbildung zu subsumieren (RGSt 11,
282) und siedend heißen Kaffee als „gefährliches Werkzeug“ i. S. von § 223a
StGB a. F. zu behandeln (RG GA 1916, 321).397 Hinsichtlich des in diesem
Kontext häufig genannten „Gewaltbegriffs“ ist daran zu erinnern, daß bereits
das RG das bloße Einschließen einer Person durch Vorschieben des Türriegels
(RGSt 27, 405; 73, 344) oder die Abgabe eines Schreckschusses (RGSt 60,
157; 66, 353) als Gewalt angesehen hat, bezüglich des Beibringens von Betäu-
bungsmitteln insofern nur auf halbem Weg stehengeblieben ist398. Als Beweis
für eine insgesamt strengere Handhabung können ebensowenig vereinzelte Fälle
genügen, in denen der BGH von einer engherzigen Auslegung des RG abge-
rückt ist399 oder eine Gesetzesanwendung fortgesetzt hat, zu der das RG sich
erst nach Aufhebung des Analogieverbots (1935) entschlossen hat400. Zum ei-
nen wäre zu beweisen, daß die „engere“, vom BGH verworfene Auslegung des
RG auch tatsächlich die „wortlautnähere“ ist oder ob es nicht sogar einmal um-
gekehrt liegen kann.401 Nicht jede über die bisherige Interpretation hinausge-
395 Bei Behauptungen bleibt es z. B. bei Hassemer, in: AK-StGB, § 1, Rn. 93 („seit
212.
399 Z. B. BGHSt GS 1, 158 = oben Fall 52 zu § 243 I Nr. 2 StGB a. F.: Wohnwagen
walt“.
401 Das dürfte für BGHSt GS 1, 158 gelten (Wohnwagen als „umschlossener Raum“
i. S. von § 243 I Nr. 2 StGB a. F.). Dazu der Große Senat selbst (S. 168): „Da diese
Auslegung in höherem Maße als bisher den Wortsinn beachtet, wäre es auch unzutref-
fend, sie als ausdehnend zu bezeichnen oder in ihr gar (verbotene) Analogie zu sehen.“
Nicht ausreichend berücksichtigt wird dieser Aspekt von Baumann, MDR 1958, 394
(395, Fn. 5) und Schmidhäuser, Strafrecht AT, 5/42 (Fn. 24).
144 III. Wortlaut und Wortsinn
402 Z. B. BGHSt 3, 259 gegen RGSt 77, 137 und OLG Düsseldorf MDR 1952, 180;
nach Auffassung des BGH (S. 260 f.) hat das RG bei seiner Auslegung Bedenken aus
Wortlaut und Entstehungsgeschichte hinter praktischen Bedürfnissen zurücktreten las-
sen; näher unten Fall 212. Außerdem zu nennen ist BGHSt 37, 226 (Bezahlung einer
Geldstrafe durch Dritte, unten Fall 73).
403 Zur Rolle des RG kurz vor Streichung des Analogieverbots 1935 siehe auch
StGB, § 1, Rn. 93), die Zahl der Entscheidungen, die unter Berufung auf das Analo-
gieverbot eine Auslegung ablehnen, sei „deutlich geringer“ als die Zahl wortlautferner
Interpretationen. Wer die Wirksamkeit des Analogieverbots auf diese Weise bewerten
möchte, müßte zudem die gesamte Rechtsprechung auf dem Gebiet des Strafrechts zu-
grunde legen (vgl. den Text zu Fn. 392) und auch die gar nicht erst zur Anklage ge-
brachten Fälle berücksichtigen.
7. An der Wortlautgrenze 145
Unfallstelle verläßt und sich deshalb nicht gemäß § 142 I StGB (a. F.) strafbar
macht, ist nicht (statt dessen) zur nachträglichen Unfallanzeige verpflichtet (BGHSt
7, 112 gegen BGHSt 5, 124); die gegenteilige Auffassung findet im Tatbestand
schlichtweg keinen Anhalt („wer sich nach einem Verkehrsunfall . . . vorsätzlich
durch Flucht entzieht“) und verstößt damit nach Ansicht des BGH gegen den
„Grundgedanken“ des § 2 StGB a. F. (= § 1 g. F.). (3) Zum Absatz gestohlenen Gel-
des wirkt nicht mit (§ 259 StGB a. F.), wer sich vom Dieb in einer Gaststätte frei-
halten läßt, denn es fehle am fördernden Verhalten; eine andere Auslegung verstoße
gegen Art. 103 II GG (BGHSt 9, 137 [139]).406 (4) „Aus einem Gebäude“ stiehlt
nicht, wer den an einer Außenwand eines Hauses angebrachten Zigarettenautomaten
aufbricht (BGHSt 9, 173 zu § 243 I Nr. 2 StGB a. F.). (5) § 243 I Nr. 2 StGB a. F.
(„wenn aus einem Gebäude oder aus einem umschlossenen Raum mittels Einbruchs,
Einsteigens oder Erbrechens von Behältnissen gestohlen wird“) ist auch dann nicht
erfüllt, wenn der Täter die Scheibe eines KFZ zerschlägt, im Wageninneren den
Kofferraum-Verschluß löst und anschließend aus dem Kofferraum einen Gegenstand
entwendet (BGHSt 13, 81): „Umschlossener Raum“ sei nur das Wageninnere,407
und daraus habe der Täter nicht gestohlen, es vielmehr wieder verlassen müssen;
das Behältnis (Kofferraum) hatte der Täter nicht erbrochen. (6) Ein schwerer Raub
„auf einem öffentlichen Platz“ kann nicht in einer unter dem Platz gelegenen Be-
dürfnisanstalt begangen werden; „eine so weite Auslegung verträgt der Wortlaut des
§ 250 Abs. 1 Nr. 3 StGB [a. F.] nicht mehr“ (BGHSt 13, 287 f.); die „bedenkliche
Entfernung“ vom Wortlaut könne auch durch fallvergleichende und rechtspolitische
Erwägungen nicht gerechtfertigt werden (S. 289).408 (7) Kein schwerer Diebstahl
gemäß § 243 I Nr. 2 StGB a. F. (siehe oben Nr. 5) liegt vor, wenn der Täter das
Behältnis erst außerhalb des Gebäudes erbricht (BGHSt 14, 291); einer anderen
Deutung stehe der eindeutige Wortlaut entgegen (S. 292). (8) Die Einziehung von
Vermögenswerten kann nicht auf §§ 86, 98 StGB a. F. gestützt werden, wenn der
Täter gemäß §§ 42, 47 BVerfGG a. F. wegen Zuwiderhandlung gegen das KPD-Ur-
teil des BVerfG verurteilt wird; §§ 42, 47 BVerfGG würden „ihrem Wesen nach“
zwar in den StGB-Abschnitt „Staatsgefährdung“ gehören und damit die Anwendbar-
keit der dort enthaltenen Einziehungsvorschriften rechtfertigen, doch „entscheidend
ist aber bei dem Vorrang des Analogieverbotes allein, daß weder die §§ 42, 47
BVerfGG [a. F.] noch ein anderes Gesetz die §§ 98, 86 StGB [a. F.] in diesen Fällen
für anwendbar erklären“ (BGHSt 18, 136 [140 f.]). (9) Gemäß § 335 StGB a. F. ist
gung und Zueignung zumindest gleichzeitig erfolgen dürfen, zulässig ist, läßt die Ent-
scheidung offen (BGHSt 2, 317 [319 f.]).
406 Die Grenzen verlaufen freilich eng: Gibt der Täter dem Dieb Tips, wo oder wie
dieser das Geld ausgeben soll, ist der Tatbestand nach Auffassung des BGH erfüllt
(a. a. O.).
407 Es ist allerdings fraglich, ob die Wortlautargumentation des BGH wirklich zwin-
gend ist. Auf das Analogieverbot beruft sich das Gericht bezeichnenderweise nicht;
anders Hartung in seiner Anm. (NJW 1959, 1546).
408 Als Vergleichsfall bietet sich BGH LM 1957, Nr. 14 zu § 250 I Nr. 3 StGB
(a. F.) an: „Auf einem öffentlichen Weg“ spiele sich der Raubüberfall auch dann noch
ab, wenn er „nahe“ an einem öffentlichen Weg des Stadtgartens begangen wird; der
Wortlaut zwinge nicht zur Annahme, der Raub müsse ausschließlich auf dem Weg
selbst stattfinden.
146 III. Wortlaut und Wortsinn
409 Ob allein mit diesem Argument schon ein Verstoß gegen das Analogieverbot
legt der Senat sich in BGHSt 28, 147 nicht fest, ob eine anderslautende Interpretation
gegen Art. 103 II GG verstieße.
7. An der Wortlautgrenze 147
ters (S. 395).412 (17) Laut BGHSt 38, 78 kann nicht jedes Im-Stich-lassen ein
„Verlassen“ einer anderen Person in hilfloser Lage darstellen; vielmehr sei eine
räumliche Entfernung nötig (näher oben Fall 28). (18) Gemäß § 20 I Nr. 1 und 2
VereinsG wird u. a. bestraft, wer den Zusammenhalt eines verbotenen Vereins oder
einer Ersatzorganisation aufrechterhält oder sich dort als Mitglied betätigt. Nach
Nr. 5 (a. F.) derselben Vorschrift wird außerdem bestraft, wer Kennzeichen eines der
in § 20 I Nr. 1 und 2 bezeichneten Organisationen verbreitet. Gegen ausländische
Vereine ergeht kein Vereins-, sondern nur ein gemäß § 20 I Nr. 4 sanktioniertes Be-
tätigungsverbot; sie sind keine Vereine i. S. des § 20 I Nr. 1 und 2, so daß § 20 I
Nr. 5 (a. F.) auf sie keine Anwendung findet. Der BGH bezweifelt die innere Recht-
fertigung für diese Besserstellung ausländischer Vereine, sieht jedoch wegen des
eindeutigen Wortlauts und des Analogieverbots keine Möglichkeit, eine etwaige
Strafbarkeitslücke „im Wege ausdehnender Anwendung“ des § 20 I Nr. 5 (a. F.) zu
schließen (BGHSt 42, 30 [34]).413 (19) BGHSt 42, 235 hält die sogenannte actio
libera in causa414 jedenfalls nicht durch das „Ausnahmemodell“ für begründbar, das
in Abweichung vom Koinzidenzprinzip des § 20 StGB – die Schuldfähigkeit muß
„bei“ Begehung der Tat gegeben sein! – den Schuldvorwurf ausnahmsweise vorver-
lagern will; das sei mit dem eindeutigen Wortlaut der Vorschrift und Art. 103 II GG
nicht vereinbar (S. 241). (20) Ein Täter, der von einem schlafenden Kind Fotogra-
phien fertigt, die in Großaufnahmen Scheide und Gesäß des auf dem Bauch mit
einem angewinkelten Bein liegenden Mädchens zeigen, begeht keinen sexuellen
Mißbrauch gemäß § 176 V Nr. 2 StGB a. F. (bis zum 6. StrRG); „schon begrifflich“
sei es ausgeschlossen, ein schlafendes Kind zu sexuellen Handlungen zu bestimmen
(BGHSt 43, 366 [369]).415 (21) Wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln wird
gemäß § 29 VI BtMG auch bestraft, „wenn sich die Handlung auf Stoffe oder Zube-
reitungen bezieht, die nicht Betäubungsmittel sind, aber als solche ausgegeben wer-
den“. Nach Auffassung von BGHSt 38, 58 (61) zwingt der Gesetzeswortlaut der
Vorschrift nicht dazu, eine Täuschung des Zwischenhändlers bezüglich der Imitat-
Eigenschaft zu verlangen, falls Händler und Zwischenhändler zumindest darüber ei-
nig sind, daß Endabnehmer getäuscht werden sollen. Der Wortlaut sei jedoch dann
„überdehnt“, wenn der Täter dem Zwischenhändler lediglich „Grundstoffe“ zur Her-
stellung von Imitaten liefert (BGHSt 47, 134 [136]).416 (22) Auch BGHSt 48, 354
412 Anders OVG Saarlouis ZfS 2001, 92 (93, r. Sp.) für den gleichen Ausdruck
S. 164) wog im konkreten Fall freilich nicht schwer, da der BGH – anders als die Vor-
instanz – § 20 I Nr. 4 VereinsG für anwendbar hielt.
414 Die Thematik kann hier inhaltlich nicht vorgestellt werden; insofern sei auf
hatte, die den sexuellen Mißbrauch von Kindern zum Gegenstand haben (§ 184 V
StGB a. F.). Nach Ansicht des BGH verlangt der „eindeutige Wortlaut“ des § 184 V
StGB (a. F.), daß auf dem Foto ein tatsächliches Geschehen abgebildet wird (BGHSt
43, 366 [369]).
416 Fragwürdig in Hinblick auf die Wortlautgrenze bleibt allerdings die Entschei-
dung BGHSt 38, 58, denn gegenüber dem Zwischenhändler gibt der Händler die Imi-
148 III. Wortlaut und Wortsinn
tate nicht als Betäubungsmittel aus; die Konstellation entspricht im wesentlichen der
von BGHSt 29, 311 (Inverkehrbringen von Falschgeld „als echt“, vgl. oben Fall 67).
417 Siehe aber die Meinungsaufgabe durch einen Senat im Fall von BGHSt 27, 45
in die Materie und einige Vorkenntnisse verlangt, bis die Wortlautüberschreitung als
evident erscheint. Der strafrechtlich weniger orientierte Leser vermag infolgedessen
nicht alle Beispiele aus dem Stehgreif nachvollziehen zu können. Eine detailliertere
Darstellung kann hier jedoch nicht erfolgen, weil es andernfalls an der quantitativ not-
wendigen Basis der Untersuchung fehlte.
7. An der Wortlautgrenze 149
Welzel (JZ 1952, 617 f.) will beispielsweise BGHSt 2, 317 (keine „große berichti-
gende Auslegung“ des § 246 StGB a. F.) dadurch widerlegen, daß er der Gesetzes-
formulierung „die er in Gewahrsam hat“ die Eigenschaft eines Tatbestandsmerkmals
schlicht abspricht und statt dessen als systematisch bedingte „Abgrenzungsformel“
(zu § 242 StGB) betrachtet, die dem Herrschaftsbereich des Analogieverbots entzo-
gen sei.419 Ohne weiteres abtun kann man die Argumentation Welzels allerdings
nicht, zumal wenn man bedenkt, daß es Bestandteile von Straftatbeständen gibt
(z. B. die schwere Folge bei der Beteiligung an einer Schlägerei gemäß § 231
StGB), die nach ganz h. M. keine Tatbestandsmerkmale sind, sondern „objektive Be-
dingungen der Strafbarkeit“, auf die sich ein Verschulden des Täters nicht erstrecken
muß.420 Ob ein Tatbestandsmerkmal oder eine objektive Bedingung der Strafbarkeit
vorliegt, soll durch Auslegung zu ermitteln sein!421 Und kein Wort hierzu im
Gesetzestext, was rechtsstaatlich sicher keine sehr befriedigende Situation ist422,
aber zeigt, wie weitgehend strafrechtsdogmatisches Vorverständnis die Lektüre des
„nackten“ Gesetzestextes determiniert. — Lange (JZ 1954, 329 f.) will entgegen
BGHSt 7, 112 die nachträgliche Anzeigepflicht des berechtigt die Unfallstelle ver-
lassenden Täters (bei Sinnlosigkeit der Rückkehr) als unechtes Unterlassungsdelikt
konstruieren: Wer sich nicht nachträglich meldet, soll sich demnach im Wege des
Unterlassens durch „Flucht“ vom Unfallort entziehen.423 — Auf welchem Umweg
ein Videoverleihunternehmen zu einer „Leihbücherei“ gemacht werden kann, wurde
bereits aufgezeigt (BGHSt 27, 52 = oben Fall 43). — Bemerkenswert und recht
durchschaubar ist auch der Versuch des GBA, unter Berücksichtigung der Rechtsent-
wicklung (§ 57a StGB) aus einer lebenslangen Freiheitsstrafe eine „zeitige Frei-
heitsstrafe“ zu machen (BGHSt 33, 398 m. w. N.). — Zu Recht verwirft BGHSt 42,
235 (240) das von Streng (JZ 1994, 709 ff.) zur Rechtfertigung der actio libera in
419 Jakobs (Strafrecht AT, 4/33, Fn. 61) hält die Einordnung als Abgrenzungsformel
AT I, § 23, Rn. 7 ff.: zumindest Fahrlässigkeit erforderlich. Daß der Verzicht auf Vor-
satz und Fahrlässigkeit hinsichtlich des Schuldprinzips unbedenklich sei, „weil sich das
Fehlen dieser Umstände nur zugunsten des Täters auswirken kann“ (so Jescheck, in:
LK-StGB11, vor § 13, Rn. 86), ist keine tragfähige Begründung, denn diese Aussage
trifft auch auf Tatbestandsmerkmale zu.
421 Siehe allgemein Wessels/Beulke, Strafrecht AT, Rn. 148 und als Beispiele
BGHSt 4, 161 und 21, 334 (361 ff.) zur Rechtmäßigkeit der Vollstreckungshandlung
in § 113 StGB. Laut Savigny (in: Juristische Dogmatik, S. 70) liegt in BGHSt 4, 161
wegen des Absehens vom Vorsatzerfordernis ein Grenzfall zur Wortlautüberschreitung
vor.
422 Die Auffassung Welzels zu § 246 StGB (a. F.) geht allerdings noch weiter, denn
danach wird ein Teil des Gesetzestextes so behandelt, als sei er gar nicht geschrieben.
Auf die objektiven Bedingungen der Strafbarkeit ist hingegen nach h. M. wenigstens
die Garantiefunktion des Art. 103 II GG anzuwenden, vgl. Jescheck, in: LK-StGB11,
vor § 13, Rn. 87. Zu einer ähnlichen, rechtsstaatlich ebenso problematischen, mittler-
weile aber gesetzlich gelösten Thematik (Strafbarkeit des fahrlässigen Handelns) siehe
unten Fall 100.
423 Die von BGHSt 7, 112 revidierte Entscheidung BGHSt 5, 124 (129) hatte die
Im folgenden werden Fälle vorgestellt, in denen der BGH unter Berufung auf
Wortlaut und Analogieverbot die Gesetzesanwendung ablehnt, obwohl der Ge-
setzestext bei weitem Verständnis die Subsumtion wohl noch tragen würde.
Eine rechtsstaatlich zurückhaltende Linie, die im Zweifel auf eine Bestrafung
verzichtet, mag generell begrüßenswert sein, sollte aber erst nach Ausschöpfung
aller begrifflichen Anstrengungen mit der „Keule“ des Analogieverbots gerecht-
fertigt werden.
Fall 69 (BGHSt 2, 337): § 40 StGB a. F. ließ die Einziehung von Gegenständen zu,
welche aus einer Straftat hervorgingen oder zu dessen Begehung gebraucht oder be-
stimmt waren. Ein Vergleich mit anderen Vorschriften zeigt dem BGH, daß das
StGB unter „Gegenständen“ nur körperliche Sachen, nicht aber auch Rechte (hier:
Miteigentum) verstehe. Eine andere, ausdehnende Auslegung zuungunsten des An-
geklagten widerspräche rechtsstaatlichen Grundsätzen (S. 337 f.). Dem BGH ist im
Ergebnis zuzustimmen, weil Wortlaut und Systematik für diese Auslegung streiten,
jedoch wäre der gegenteilige Standpunkt mit „rechtsstaatlichen Grundsätzen“ eben-
falls vereinbar. Andernfalls wäre jede unterschiedliche Auslegung von Begriffen im
StGB rechtsstaatlich bedenklich.424
Fall 70 (BGHSt 28, 100 – „Niere“): Eine schwere Körperverletzung liegt u. a. vor,
wenn das Opfer ein „wichtiges Glied“ verliert (§ 226 I Nr. 2 StGB; § 224 I StGB
i. d. F. bis 1998). Der BGH sieht die Grenzen „einer zulässigen Wortauslegung“ als
überschritten an, wollte man ein inneres Organ (hier: Niere) als Glied bezeichnen
(S. 102). Notwendig sei eine Verbindung mit dem Körper durch ein Gelenk. Die
Entscheidung wird wegen der nachdrücklichen Erinnerung an die Wortlautgrenze
des Art. 103 II GG nur von Hirsch gelobt (JZ 1979, 109), bezüglich des Wortlaut-
arguments jedoch überwiegend abgelehnt425. Unklar bleibt hier allerdings, nach
welchen Grundsätzen der BGH die Wortlautgrenze überhaupt bemißt: aus Sicht
des Bürgers oder des Juristen, entstehungsgeschichtlich oder nach gegenwärtigem
Sprachgebrauch.426 Ohne Herausarbeitung des maßgeblichen Obersatzes bleibt die
424 Zu Recht beruft sich aber BGHSt 19, 158 (oben Fall 35) in einer ähnlichen
in: Festgabe 50 Jahre BGH, Bd. IV, S. 471 f.: Falsch gebrauchtes Wortlautargument,
um einen unangreifbaren Standpunkt zu suggerieren; Looschelders/Roth, Methodik,
S. 132, 148: Auch bei Berücksichtigung des gesetzlichen Kontextes könne eine Niere
sprachlich als „Glied“ aufgefaßt werden.
426 Nach Dopslaff (Wortbedeutung und Normzweck, S. 94) hat der BGH schlicht-
weg sein eigenes Bedeutungsverständnis vom Begriff „wichtiges Glied“ zugrunde ge-
7. An der Wortlautgrenze 151
legt; der allgemeine Sprachgebrauch gebe jedenfalls keine festen Umrisse dieses Be-
griffs vor.
427 Gemeint ist wohl § 370 AO, obwohl der BGH das nicht unmittelbar sagt. Über-
haupt leidet der Gedankengang des Senats – zumindest seine Formulierung – an eini-
gen Unvollständigkeiten im Bereich der Obersätze.
428 In diesem Sinn auch die Deutung von Streck/Rainer, NStZ 1986, 272: Die Ver-
folgung wegen Steuerhinterziehung erreiche hier ein Übermaß, das den BGH wohl [!]
veranlaßt habe, die Einschränkung im Bereich [!] des § 370 AO zu suchen.
152 III. Wortlaut und Wortsinn
429 Nach Lampe (JR 1987, 383) sind solche Belege auch nicht auffindbar; aus den
Wörterbüchern ergibt sich für den allgemeinen Sprachgebrauch als notwendiges Be-
griffsmerkmal allenfalls die Abhängigkeit des Erfolgs vom Zufall, vgl. die Nachweise
bei Lampe, Fn. 2.
430 Sehr krit. zum Umgang des Senats mit dem nullum-crimen-Grundsatz („schwer-
stes Geschütz“) Lampe, JR 1987, 383: Belegt werde nur die Bedeutung dieses Grund-
satzes, nicht daß ein weiter Glücksspielbegriff dagegen verstößt.
431 So etwas genauer als der BGH Krey, JZ 1991, 889 f., allerdings entgegen seiner
früheren Auffassung (in: Strafrecht BT I, 7. Auflage, Rn. 620), wonach Wortlaut und
Zweck für die Anwendung von § 258 II in dieser Konstellation sprächen. Zu diesem
Meinungswandel Hillenkamp, JR 1992, 74 (76): Hat ein die Wortlautgrenze stark beto-
nender Autor diese im vorliegenden Fall wirklich jahrelang verkannt?
432 Näher Scholl, NStZ 1999, 599 (604) und OLG Frankfurt StV 1990, 112.
433 Vor allem von Scholl (wie Fn. 432) und Wodicka, NStZ 1991, 487 (beide gegen
den BGH) sowie Müller-Christmann, JuS 1992, 379 (für BGH); ausführlicher als der
BGH auch Hillenkamp (oben Fn. 431) und Mitsch, JA 1993, 304 f. (der Wortlaut spre-
che sogar für die Strafbarkeit!).
434 Die Entscheidung ist sehr komplex und hier soweit als möglich verknappt.
7. An der Wortlautgrenze 153
435 In Fall 71 hätte der BGH allerdings zur Begründung seiner einschränkenden
Auslegung statt auf das Analogieverbot auf das Bestimmtheitsgebot (so teilweise in
Fall 74) oder auf eine verfassungskonforme Auslegung zurückgreifen müssen.
154 III. Wortlaut und Wortsinn
Als nächstes geht es um Grenzfälle, in denen der BGH sich zur Anwendung
der Norm entschließt und eine Begründung für die Vereinbarkeit seiner Ausle-
gung mit dem Gesetzeswortlaut anführt. Geprüft werden soll, wie die Rechtfer-
tigungen erfolgen und ob sie sich tatsächlich auf sprachlicher Ebene bewegen.
In der bereits mehrfach erwähnten Entscheidung BGHSt 1, 1 (siehe oben Fall 64 –
Salzsäure als „Waffe“) beruft das Gericht sich auf einen Wandel des allgemeinen
und technischen Sprachgebrauchs, der nunmehr auch chemisch wirkende Angriffs-
mittel als „Waffe“ verstehe. Ausführlich dargestellt wurden auch die intensiven Be-
mühungen des BGH, sich eines streng formal-dogmatischen Verständnisses der Be-
griffe „berechtigt oder entschuldigt“ in § 142 II Nr. 2 StGB zu entledigen (BGHSt
28, 129 = oben Fall 24 und Fall 61). Eine sehr knappe Begründung liefert BGHSt
29, 311 (oben Fall 34 und Fall 67) für seine These, Falschgeld könne auch derjenige
„als echt“ in Verkehr bringen, der es an einen eingeweihten Mittelsmann (Zwi-
schenhändler) abgibt. „Final gesehen“ liege auch darin ein Inverkehrbringen als
echt, womit der allgemeine Sprachgebrauch gewahrt sei (S. 313). Daß Radarwarnge-
436 So der Vorwurf Rengiers gegenüber BGHSt 28, 100 (oben Fall 70): Der BGH
räte „Nachrichten“ empfangen können, erläutert der BGH sehr ausgiebig unter
Rückgriff auf ein technisches Wortverständnis in BGHSt 30, 15 (oben Fall 49).
Fall 75 (BGHSt 2, 29 – „Ermessensvorschrift“) ist eines der vielen Beispiele, in
denen trotz einfacher Satzstruktur die grammatikalische Auslegung große Probleme
bereitet. Gemäß § 49 WiStG 1949 war der Mehrerlös aus einem strafrechtlich rele-
vanten Preisverstoß zwingend einzuziehen. § 51 WiStG begründete diese Möglich-
keit auch für den Fall, daß es nur am Verschulden des Täters fehlt, mit der Formu-
lierung: § 49 „kann auch angewandt werden, wenn . . .“. Der BGH deutet diese
Norm als Mußvorschrift, obwohl deren Wortlaut („kann“) zunächst für die Annahme
einer Ermessensvorschrift spreche (S. 30). Die Fassung solle jedoch nur ausdrücken,
daß auch ohne Verurteilung die Möglichkeit eines selbständigen Einziehungsverfah-
rens besteht (S. 31).437 Offener zutage liege die Richtigkeit dieser Auffassung bei
§ 42 StGB (a. F.), da das Hilfszeitwort dort mit klarem Bezug erscheine (. . . ist die
Verurteilung einer bestimmten Person nicht möglich, „so können die daselbst vorge-
schriebenen Maßnahmen [der Einziehung und Unbrauchbarmachung] selbständig er-
kannt werden“). Aber auch der Wortlaut des § 51 WiStG stehe einer solchen Aus-
legung nicht entgegen (S. 33), eine „ungezwungene und dem natürlichen Sprachge-
brauch gerecht werdende Betrachtung“ spreche dafür (S. 34). Die in § 51 enthaltene
Beifügung des Wortes „auch“ hinter „können“ sei nicht ohne Bedeutung, denn auf
der Beifügung liege der größere Nachdruck. – Die Wortauslegung des BGH wirkt
sehr angestrengt. Unverständlich ist, daß der Wortlaut zunächst für das Vorliegen
einer Ermessensvorschrift, im weiteren Argumentationsverlauf jedoch eine „unge-
zwungene“ und dem natürlichen Sprachgebrauch folgende Interpretation plötzlich
für die gegenteilige Auffassung sprechen soll.438 Immerhin hat der Senat sich inten-
siv mit dem möglichen Wortsinn auseinandergesetzt und die Deutung, daß § 51
WiStG 1949 ausnahmsweise die Möglichkeit des Einziehungsverfahrens eröffnet, es
im übrigen aber bei den (zwingenden) Anordnungen der in Bezug genommenen
Norm bleibt, ist zumindest nicht abwegig.
Fall 76 (BGHSt GS 6, 147; bestätigt durch BGHSt 13, 162 – „Unglücksfall“): Liegt
ein zur Hilfeleistung verpflichtender „Unglücksfall“ i. S. von § 323c StGB (=
§ 330c StGB a. F.) vor, wenn eine andere Person einen Selbsttötungsversuch unter-
nimmt und deshalb in Gefahr schwebt? Der Große Senat hat in sprachlicher Hin-
sicht keine Bedenken, denn abzustellen sei auf die Perspektive des Helfers, von
dem das Eingreifen erwartet werde, nicht aber auf die des Lebensmüden oder auf
einen allgemeinen Begriff des Unglücksfalls (BGHSt 6, 147 [149]). Dagegen hatte
437 Ebenso RGSt 66, 431 (434) hinsichtlich des ähnlich formulierten § 414 AO a. F.:
Das Wort „kann“ solle nur ausdrücken, „es sei für die Einziehung belanglos, wem die
einzuziehenden Gegenstände gehören“ (krit. dazu Hartung, NJW 1949, 765 [767]).
Hingegen hat BGHSt 1, 351 die gleiche Norm aus Billigkeitserwägungen und in Vor-
wegnahme der späteren Rechtslage als Ermessensvorschrift gedeutet (näher unten IV 5
d und dort Fall 164). Wenn sich auch BGHSt 1, 351 und BGHSt 2, 29 von der Inter-
essenlage her unterscheiden mögen, so sind doch die unterschiedlichen Wortlautdeu-
tungen befremdlich.
438 In BGHSt 1, 351 (352) hat der BGH zu den §§ 401, 414 AO a. F. ausgeführt,
daß deren Interpretation als zwingende Vorschriften mit dem Normtext noch vereinbar
sein mag; damit wird besser erfaßt, welche der beiden Interpretationsmöglichkeiten bei
„ungezwungener“ Lektüre näherliegt.
156 III. Wortlaut und Wortsinn
BGHSt 2, 150 in einem Unglücksfall ein äußeres, vom Willen des Verunglückten
unabhängiges Ereignis gesehen; die Erfassung eines freiverantwortlichen Suizids sei
deshalb begrifflich und sprachlich ausgeschlossen (S. 151). – Man kann beide
sprachlichen Ansatzpunkte teilen: Aus der Sicht eines Dritten oder der betroffenen
Angehörigen, ist auch der freiverantwortliche Suizid ein „Unglück“ oder ein „Un-
glücksfall“439, die Nachricht hiervon eine „Unglücksnachricht“, mag der Betroffene
auch nicht „verunglückt“ sein. Daß auch das Gesetz auf diese Perspektive abhebt, ist
zumindest nicht auszuschließen; freilich könnten andere als sprachliche Argumente
dagegen sprechen. Einen faden Nachgeschmack hinterläßt der Rechtsprechungswan-
del natürlich, wenn ein Strafsenat zuvor diese sprachliche Deutung für „ausge-
schlossen“ hielt. Aber soll schon deshalb, weil ein Senat vielleicht übers Ziel hin-
ausgeschossen ist, der Weg zur „richtigen“ oder wenigstens „vertretbaren“ Lösung
verschlossen sein, zumal der Große Senat Argumente für seine Wortauslegung vor-
bringt?440
Fall 77 (BGHSt 10, 333 – „Diebesfahrt“): Gemäß § 42m StGB a. F. setzte die Ent-
ziehung der Fahrerlaubnis u. a. voraus, daß der Täter wegen einer Tat verurteilt wird,
die er „bei oder im Zusammenhang mit der Führung eines Kraftfahrzeugs“ began-
gen hat. Der notwendige Zusammenhang kann nach Ansicht des BGH auch bei an-
deren als Straßenverkehrsdelikten gewahrt sein, etwa bei Nutzung des Fahrzeugs für
eine Diebesfahrt.441 Sehr weitgehend läßt BGHSt 10, 333 die Entziehung der Fahr-
erlaubnis sogar beim mitfahrenden Teilnehmer einer Diebestour zu, der das Auto
selbst nicht lenkt. Der Wortlaut verlangt nach Ansicht des BGH (S. 335 f.) kein
eigenhändiges Steuern: „Eine gegenteilige, dem bloßen Wortlaut verhaftete [!] Aus-
legung würde wiederum dem vom Gesetzgeber gewollten Zweck nicht gerecht;
der Wortlaut steht ihr nach Ansicht des Senats sogar entgegen [!!442], weil das Ge-
setz es genügen läßt, daß der Täter die mit Strafe bedrohte Handlung ,im Zusam-
nicht recht weiter, schließen ein solches Verständnis aber auch nicht aus („unglückli-
che Begebenheit“). Die gegenteilige Auffassung Schmidhäusers (in: GedS für Martens,
S. 236) wird durch die von ihm genannte Quelle nicht gestützt (Wahrig, Dt. Wörter-
buch: „Unglück – Geschehnis, Ereignis, das Schaden und Trauer hervorruft, . . .
Schicksalsschlag; . . . “). In sprachlicher Hinsicht wenig überzeugend ist die Auffas-
sung von Gallas (JZ 1954, 641), wonach ein freier Entschluß zur Selbstschädigung
einen „Unglücksfall“ ausschließe, vorliegend dieser Entschluß aber wegen Verstoßes
gegen die Rechtsordnung unbeachtlich sei; von einem solchen Akt der Wertung dürf-
ten die begrifflichen Voraussetzungen des „Unglücksfalls“ kaum abhängen. Engisch
(Wahrheit und Richtigkeit, S. 13 f.) ordnet den Fall dem Begriffshof zu und hält beide
Textinterpretationen für „vertretbar“.
440 Deshalb ist Roxins (Strafrecht AT I, § 5, Rn. 34) Ansicht, der Große Senat habe
menhang mit der Führung eines Kraftfahrzeugs‘ begangen hat. Wann im einzelnen
ein solcher Zusammenhang zu bejahen ist, hängt von den Umständen des Falles ab.“
Die weite Formulierung des § 42m StGB (a. F.) läßt die Auslegung des BGH sicher
zu; die gegenteilige Interpretation „haftet“ freilich nicht am Wortlaut, sondern ist
lediglich enger und kann womöglich aus anderen Gründen die „richtige“ sein.443
Fall 78 (BGHSt 22, 368 – „Gefährdung eines anderen“): Wird „ein anderer“ im
Straßenverkehr „gefährdet“ (§ 1 StVO a. F.), wenn der Täter mit seinem Fahrzeug
an ein geparktes Auto anstößt?444 BGHSt 22, 368 bejaht das und zieht einen Ver-
gleich zur Alternative „ein anderer geschädigt“, die unbestritten auch dann erfüllt
sei, wenn nur das Vermögen einer Person beeinträchtigt ist (S. 369). Entsprechendes
müsse für das Merkmal der Gefährdung gelten, was mit dem Sprachgebrauch ver-
einbar sei: „Die Gefährdung eines anderen in seinem Vermögen als Gefährdung ei-
nes anderen zu bezeichnen, läßt sich mit dem Sprachgebrauch ebenso vereinen wie
die Bezeichnung eines anderen als Geschädigten, wenn sein Vermögen beschädigt
wurde“ (S. 369). Die Argumentation des BGH scheint logisch überzeugend, denn
der Grad der Beeinträchtigung (Gefährdung oder Beschädigung) kann mit dem
Kreis der geschützten Rechtsgüter eigentlich nichts zu tun haben. In sprachlicher
Hinsicht bleibt der vom BGH vorgenommene Vergleich beider Alternativen jedoch
fragwürdig, weil die Formulierung „Gefährdung eines anderen“ doch eher nur auf
die Person selbst, nicht aber auf deren sonstige Rechtsgüter abzielt, während es bei
der „Schädigung eines anderen“ gerade umgekehrt liegt. Sprachwidrig bis zur An-
nahme einer Wortlautüberschreitung dürfte die Interpretation des BGH freilich nicht
sein.445
Fall 79 (BGHSt 26, 348 – „Parken auf Gehwegen“) kann als optische Veranschau-
lichung des Analogieverbots gelten: Das in der StVO vorgesehene Zeichen Nr. 315
erlaubt das Parken auf Gehwegen. Eine örtliche Beschränkung des Geltungsbereichs
durch waagerechte Pfeile im Schild (für Anfang und Ende) war in der StVO für
dieses Schild – anders als bei Park- und Halteverbot (Zeichen Nr. 283, 286) – ur-
sprünglich nicht ausdrücklich vorgesehen. Nach Ansicht des BGH durfte eine solche
Beschränkung trotz des Ausschließlichkeitsgrundsatzes im Straßenverkehrsrecht den-
noch erfolgen. Sinn und Zweck sprächen für die Zulässigkeit einer solchen Begren-
zung, und wie jedes Gesetz sei die StVO einer solchen Auslegung zugänglich
(S. 350). Im Ergebnis werde kein neues Zeichen kreiert, sondern ein bekanntes Zei-
chen durch einen Zusatz begrenzt (S. 351). Diese aus Sinn und Zweck folgende
Auslegung verstoße nicht gegen das Analogieverbot446 und betreffe allein den An-
442 Ähnlich wie oben im Fall 75 wird die Wortlautargumentation auf den Kopf ge-
stellt: Der auf den ersten Blick entgegenstehende Gesetzestext wird plötzlich zur
Stütze der eigenen Auffassung!
443 Näher Hartung, JZ 1958, 131 f., der die Grenzen richterlicher Auslegung durch
wendungsbereich des Zeichens Nr. 315 (S. 351). Ohne Rücksicht auf Zweckmäßig-
keitserwägungen und mit in ihrer Einfachheit überzeugenden Argumentation vertritt
das OLG Düsseldorf den gegenteiligen Standpunkt: Die Anordnung der Pfeile sei
für das Zeichen Nr. 315 nicht vorgesehen, ihre analoge Übertragung aus anderen
Bestimmungen (Verkehrszeichen) unzulässig.447
Fall 80 (BGHSt 26, 358 – „Absatzhilfe“): Aus der bereits geschilderten Umgestal-
tung des Hehlereitatbestandes (vgl. oben Fall 54) ergab sich das Problem, ob unter
„Absetzen“ des Hehlereiguts (§ 259 StGB) nur die erfolgreiche Übertragung der
Verfügungsgewalt fällt oder ob bereits Absatzbemühungen zur Tatvollendung genü-
gen. Keine Zweifel hat der Senat jedenfalls bezüglich der Tatbestandsalternative der
Absatzhilfe („absetzen hilft“).448 Hierfür genüge die Unterstützung von Absatzbe-
mühungen, denn die geleistete Hilfe könne für sich gesehen noch vor dem eigentli-
chen Absatz abgeschlossen sein (S. 360). Daß diese Auslegung sprachlich „zwang-
los“ möglich sei, werde auch daraus deutlich, daß die frühere Gesetzesformulierung
(„Mitwirken zum Absatz“) in diesem Sinn gedeutet und gerade mit dem Ausdruck
„Absatzhilfe“ umschrieben worden sei. – Es ist fraglich, ob die Absatzhilfe („ab-
setzen hilft“) nicht doch die begrifflichen Voraussetzungen des „Absetzens“ mit ent-
halten muß, ob insoweit also Unterschiedliches gelten kann.449 Immerhin aber ist
der Senat um eine Begründung auf semantischer Ebene bemüht.
Fall 81 (BGHSt 27, 160 = oben Fall 18, „Pfandschein“): Verschafft der Täter sich
eine Sache (§ 259 StGB), wenn er einen Pfandschein, nicht aber die Sache selbst
erwirbt? Der BGH sieht in der Auslegung, die den mittelbaren Besitz und damit den
Pfandschein genügen läßt, keinen Verstoß gegen das Analogieverbot. Es könne
„ohne weiteres“ davon ausgegangen werden, daß der Gesetzgeber die sich aus dem
BGB ergebende Gleichstellung von unmittelbaren und mittelbaren Besitz auch für
vorliegende Konstellation zugrunde gelegt habe (S. 165). Dagegen sehen Schall
(NJW 1977, 2221) und das OLG Schleswig (NJW 1975, 2217) in dieser Interpreta-
tion einen Verstoß gegen Art. 103 II GG. Notwendig sei die Veränderung des unmit-
telbaren Besitzes, andernfalls stelle man die Ersatzhehlerei unter Strafe. Für diese
Auffassung mag es gute Gründe geben, weshalb aber die Auslegung des BGH mit
dem möglichen Wortsinn unvereinbar sein soll, legen weder Schall noch das OLG
Schleswig450 dar.
grenze in Sinn und Zweck der Norm zu sehen (vgl. oben III 7 a) und den Wortlaut –
hier im Verkehrszeichen verbildlicht – zurückzustellen. In einer Parallele zum mate-
riellen Recht kann man die Vorgehensweise des BGH als Beschränkung einer Erlaub-
nisnorm beschreiben, ohne daß die Erlaubnisnorm selbst eine solche Möglichkeit böte
– methodisch gesehen eine (unzulässige) teleologische Reduktion!
447 OLG Düsseldorf VRS 44 (1973), 152 f.
448 Ebenso kurz später für das „Absetzen“ BGHSt 27, 45, jedoch mit schwacher
folgreichen Absatz voraussetzt, z. B. Küper, JuS 1975, 633 (636) und NJW 1977, 58;
Lackner/Kühl, StGB, § 259, Rn. 13; Ruß, in: LK-StGB11, § 259, Rn. 26; Stree, in:
Schönke/Schröder, StGB, § 259, Rn. 38. Zum Teil wird allerdings zugestanden, daß
dies bei der Absatzhilfe weniger aus dem Wortlaut als vielmehr aus der notwendigen
Gleichbehandlung der Tatalternativen folge (vgl. Ruß, a. a. O.).
7. An der Wortlautgrenze 159
Fall 82 (BGHSt 42, 123 – „nicht geringe Menge“): § 30a II Nr. 2 BtMG sieht eine
Strafschärfung vor, wenn der Täter – unter Erfüllung weiterer Voraussetzungen –
„mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge . . . Handel treibt oder sie, ohne
Handel zu treiben, einführt, ausführt oder sich verschafft . . .“. Der Täter im vorlie-
genden Fall wollte das eingeführte Heroin teils zum Eigenkonsum, teils zur Weiter-
veräußerung nutzen. Nur beim Zusammenrechnen der auf die verschiedenen Tathand-
lungen entfallenden Anteile lag eine nicht geringe Menge i. S. der Vorschrift vor.
Nach Auffassung des BGH (S. 125) deutet die im Gesetz vorgenommen Differenzie-
rung „bei erster Betrachtung“ darauf hin, daß hinsichtlich jeder Tathandlung die
nicht geringe Menge vorliegen muß. Dennoch sei auch die gegenteilige Ansicht mit
dem Gesetzeswortlaut vereinbar, „wenn der auf die Handlungsmodalitäten der Ein-
fuhr, Ausfuhr und des Sichverschaffens bezogene Zusatz . . . ,ohne Handel zu trei-
ben‘ dahin verstanden wird, daß damit die Formulierung gemeint ist, ,auch soweit
der Täter mit den Betäubungsmitteln keinen Handel treibt‘“ (S. 128). – Der BGH
beschäftigt sich hier zwar mit der Wortlautschranke, doch kaum in überzeugender
Weise. Selbst wenn die vom Senat herangezogene Formulierung die Sachlage zutref-
fend erfassen sollte, ist damit noch nicht erklärt, daß sie mit der gesetzlichen über-
einstimmt.451 Ob das Gesetz wirklich „dahin verstanden“ werden kann, bedarf der –
freilich nur schwer zu leistenden – Begründung.
Insgesamt zeigen die Entscheidungen, wie schwierig sich die Begründung der
Vereinbarkeit mit der Wortlautgrenze gestalten kann, selbst wenn der zugrunde-
liegende Rechtssatz grammatikalisch eigentlich keine Probleme bereiten sollte
(Fall 75 – „Ermessensvorschrift“). Am überzeugendsten gelingt die Rechtfer-
tigung noch in Fall 80 („Absatzhilfe“) und Fall 81 („Pfandschein“), in denen
die Senate ihre Auffassungen zwar mit Evidenzbehauptungen bekräftigen
(„zwanglos“, „ohne weiteres“), aber auch inhaltliche Gründe für ihre Wortaus-
legung vorbringen. In Fall 77 („Diebesfahrt“) läßt die weite Gesetzesfassung
dem BGH leichtes Spiel, aber der Versuch, die engere Gegenmeinung zu diskre-
ditieren („haftet am Wortlaut“), schlägt fehl und schwächt eher die eigene An-
sicht. Die Ausführungen des Großen Senats zum „Unglücksfall“ (Fall 76) wer-
den Sprachsensible argwöhnisch betrachten, aber die Argumentation ist in
sprachlicher Hinsicht sicher nicht abwegig. Ähnliches gilt für Fall 78 („Ge-
fährdung eines anderen“), in dem zwar die logische Beweisführung des BGH
beeindruckt, aber die Ebene der semantischen Prüfung damit bereits verlassen
sein dürfte. Sehr verdächtig wirkt die Vorgehensweise des BGH in Fall 82
(„nicht geringe Menge“), denn das Gesetz scheint hier umformuliert zu werden;
ob die zitierte Formulierung so verstanden werden durfte, wie vom BGH vorge-
schlagen, bleibt letztlich unbegründet. Nicht überzeugend ausgeräumt wird ein
450 Das OLG Schleswig (NJW 1975, 2217 [2218]) möchte eine i. S. des BGH er-
gangene Entscheidung des RG (RGSt 70, 37) durch die fragwürdige Unterstellung ent-
kräften, diese sei bereits „unter dem Eindruck“ der (für den konkreten Fall noch nicht
geltenden!) Aufhebung des Analogieverbot ergangen. Die als Beleg dafür aus den Ur-
teilsgründen des RG herangezogene Formulierung ist freilich sehr vage.
451 Nach Seelmann (StV 1996, 672) nimmt der BGH eine gegen das Analogieverbot
Schon die soeben geschilderten Beispiele gaben mitunter Anlaß, die Qualität
der Wortlautauslegung zu beanstanden. Deutlicher werden die Begründungs-
mängel jedoch in den folgenden Fällen:
Fall 83 (BGHSt 6, 398; GS 10, 94; BGH GA 1955, 118 – „Entziehung der Fahrer-
laubnis“): § 42m I StGB i. d. F. bis 1964 ermöglichte dem Gericht unter bestimmten
Voraussetzungen, dem Angeklagten die Fahrerlaubnis zu entziehen; gemäß Abs. 3
war zugleich eine Frist zu bestimmen, vor deren Ablauf die Verwaltungsbehörde
keine neue Erlaubnis erteilen durfte. Konnte die Norm auch angewandt werden,
wenn die Fahrerlaubnis bereits eingezogen worden war (BGHSt 6, 398) oder der
Täter nie eine besaß (BGH GA 1955, 118)? BGH GA 1955, 118 sieht darin eine
unzulässige Ausdehnung der Befugnisse des Richters gegen den „klaren Wortlaut“
des Gesetzes452, während BGHSt 6, 398 die Frage bejaht. Die andere Auffassung
beschränke sich auf „formale Erwägungen“ und verkenne den Sinn der Maßnahme
(S. 399). Es sei zudem unrichtig, daß eine schon entzogene Fahrerlaubnis nicht
nochmals „entzogen“ werden könne, denn die Fahrerlaubnis hafte dem Fahrzeugfüh-
rer nicht naturgemäß an, sondern werde behördlich und nur unter den gesetzlichen
Voraussetzungen erteilt (S. 399). – Die Aussagekraft dieser Begründung, insbeson-
dere des letzten Gedankens ist sehr fragwürdig und räumt vor allem die sprachli-
chen Bedenken nicht aus. Der Große Senat argumentiert etwas anders, indem er in
den genannten Fällen zwar keine Entziehung der Fahrerlaubnis, jedoch die Festset-
zung einer Sperrfrist gemäß § 42m III für möglich hält (S. 99).453 Die dafür vorge-
brachte Begründung diskreditiert die Wortlautauslegung aber endgültig454 und stellt
452 Jescheck (GA 1959, 65 [66]) sieht eine solche Möglichkeit im Gesetz nicht an-
gedeutet!
453 In diesem Sinn hat der Gesetzgeber 1964 (vgl. oben Fn. 227) die Problematik
schließlich in § 42n I 2 geregelt: „Hat der Täter keine Fahrerlaubnis, so wird nur die
Sperre angeordnet.“ Die nachträgliche Umsetzung einer zweifelhaften Rechtsprechung
ist freilich kein Beweis, daß die Subsumtion zuvor die Grenzen überschritt.
7. An der Wortlautgrenze 161
das Grenzkriterium „möglicher Wortsinn“ überhaupt zur Disposition (S. 96 f.): „Aus
der Entstehungsgeschichte des § 42m StGB ergibt sich kein Anhalt dafür, daß der
Gesetzgeber den Fall eines Täters ohne Fahrerlaubnis bedacht hat. Schon deswegen
kommt der bloßen Wortfassung des Gesetzes keine ausschlaggebende Bedeutung zu.
In einem solchen Falle tritt vielmehr die Frage nach dem Gesetzessinn ausschlagge-
bend in den Vordergrund. Läßt er sich klar und eindeutig ermitteln, so greift er
gegenüber einer nicht völlig geglückten Wortfassung ohne weiteres durch.“ Die un-
zureichende Abfassung des § 42m StGB a. F. hat den BGH schon einmal dazu ver-
leitet, den Wortlaut der Norm als Grenze zwischen Auslegung und Analogie zugun-
sten der Kriterien „Sinn und Zweck“ zurückzustellen, und dies sogar ausdrücklich
(BGHSt 6, 394 = oben Fall 55). Der Große Senat hätte diesen Faden fortspinnen
sollen, statt die Wortauslegung mit wenig überzeugenden Argumenten zu überspie-
len. Noch weitergehend hat der BGH in einer ebenfalls auslegungstheoretisch inter-
essanten Problematik zu § 42m StGB a. F. eine sehr reservierte Haltung gegenüber
der Methodik im allgemeinen an den Tag gelegt und sich zu folgenden Erwägungen
hinreißen lassen (BGHSt 7, 165 [169]): Zweifel bei der Auslegung des § 42m seien
in ihrer Bedeutung bisweilen überschätzt worden. „Sie betreffen im Grunde rechts-
theoretische Überlegungen, deren Gegensätzlichkeit nicht notwendig mit sich bringt,
daß die Rechtsprechung in der Beurteilung praktischer Fälle auseinandergeht.“455
Fall 84 (BGHSt 11, 47 – „Ingebrauchnahme“): „Nimmt“ auch derjenige ein Kraft-
fahrzeug gegen den Willen des Berechtigten „in Gebrauch“ (§ 248b I StGB), der
erst während der Fahrt seine fehlende Berechtigung bemerkt, aber dennoch weiter-
fährt? Während das BayObLG (NJW 1953, 193) aus der Formulierung „in Ge-
brauch nehmen“ (statt „gebrauchen“) folgert, daß es allein auf den Augenblick der
Inbetriebnahme ankommt456, argumentiert der BGH wie folgt (S. 50): Der Gesetz-
geber verwende mit Bedacht nicht den Ausdruck „Benutzung“, denn dieser bedeute
„jede beliebige Art der Verwendung, ,Ingebrauchnahme‘ dagegen nur die Benutzung
zu dem bestimmungsgemäßen Zweck des Fahrzeugs. Die Ingebrauchnahme kann
deshalb [!!] nur eine Benutzung sein, bei der der Täter sich des Fahrzeugs unter
Einwirkenlassen der zur Ingangsetzung und Inganghaltung geeigneten Kräfte als
Fortbewegungsmittel bedient [Hinweis auf Schönke/Schröder. . .] und dabei eine . . .
Herrschaftsgewalt über das ganze Fahrzeug ausübt. Diese Ingebrauchnahme liegt
schon bei der Ingangsetzung, jedoch ebenso später vor; denn die immer wieder er-
neuerten Kräfte zur Fortbewegung wirken bis zur Außerbetriebnahme weiter, und
die Herrschaftsgewalt setzt sich ebenso fort, nachdem das Fahrzeug in Gang ge-
bracht worden ist. Ingangsetzen und Inganghalten fallen mithin gleicherweise unter
454 Geschickter insoweit Schröder in seiner Anm. in JZ 1956, 332 (333): Das vor-
liegende Problem betreffe allein die Interpretation der Rechtsfolgenseite und damit
nicht den Bereich des Analogieverbots; die Anordnung der Sperrfrist setze die Entzie-
hung der Fahrerlaubnis nicht zwingend voraus. Interessant ist die Bemerkung von
Bruns in GA 1955, 120 (121), daß die Entscheidung von der jeweiligen Grundeinstel-
lung des Interpreten abhänge, der zwischen „philologischer Gesetzestreue mit wenig
sinnvollen Ergebnissen und teleologischen Zweckmäßigkeitserwägungen im Rahmen
extensiver Interpretation“ zu wählen habe.
455 Zweifel bezüglich dieses Satzes äußert Schmidt-Leichner, NJW 1955, 557 (558):
den Begriff der Ingebrauchnahme.“ – Die Begründung zeigt, wie der BGH eine un-
bewiesene Prämisse mehr oder weniger geschickt in seinen Gedankengang einbaut
und dabei die eigentlich notwendige Analyse des sprachlichen Rahmens außer acht
läßt. Aus dem Gegensatz zwischen den Begriffen der „Benutzung“ und der „Inge-
brauchnahme“ folgert der BGH („deshalb“) plötzlich eine Definition des Inge-
brauchnehmens, die sowohl das Ingangsetzen als auch das Inganghalten einschließt,
was ja erst zu prüfen war. Ob sprachlich gesehen die Ingebrauchnahme (wie das
„Inbetriebsetzen“ 457 oder das „Ingangsetzen“458) nicht doch nur auf den Augenblick
des Beginns beschränkt ist, beantwortet der BGH nicht459.
Fall 85 (BGHSt 21, 101; 31, 118; 46, 62 – „faktischer Geschäftsführer/Vorstand“):
Die Bankrottvorschriften der §§ 239, 240 KO a. F. fanden gemäß § 244 KO a. F.
auch auf Mitglieder des Vorstands einer Aktiengesellschaft Anwendung, wenn sie
die Handlungen in dieser Eigenschaft begangen hatten. BGHSt 21, 101 mußte ent-
scheiden, ob „Mitglieder des Vorstands“ auch Personen sein können, die ohne Ein-
tragung in das Handelsregister, aber unter Duldung des Aufsichtsrats die Stellung
„tatsächlich“ ausüben.460 Nach Ansicht des BGH trifft auch diese Täter der straf-
rechtliche Vorwurf „mit Fug“; die Bestrafung sei mit dem Wortlaut „noch“ verein-
bar (S. 105). Die Gegenauffassung könne zu ungerechten Ergebnissen führen, da sie
den Durchgriff auf die wirklich Verantwortlichen vereiteln könnte. – Durch das
„noch“ bringt der Senat seine Zweifel schon selbst zum Ausdruck, so daß der
Frage, warum hier der gesellschaftsrechtliche Sprachgebrauch ausnahmsweise nicht
457 Besser gelöst hat der Gesetzgeber die Probleme der „Schwarzfahrt“ in einer zi-
dort so nicht enthalten. Schröder lehnt in einer späteren Auflage den Ausgangspunkt
des BGH dann auch ab (12. Aufl., § 248b, Anm. 5), hält das Ergebnis der Entschei-
dung jedoch für zutreffend. Nach Ansicht von Wessels/Hillenkamp (Strafrecht BT/2,
Rn. 398) zeigt gerade der Fall von BGHSt 11, 47 die Vereinbarkeit solcher Konstella-
tionen mit der Wortlautgrenze. Wohltuend klar und unter Benennung seines theoreti-
schen Standpunktes zur Bestimmung der Wortlautgrenze demgegenüber z. B. AG Mün-
chen NStZ 1986, 458 (459).
460 Die denkbaren Fallkonstellationen sind hier vereinfacht unter dem Ausdruck
461 Siehe – jeweils mit Nachweisen – K. Schmidt, in: FS für Rebmann, S. 433 ff.;
sei nicht durch den Wortlaut, aber durch den eindeutigen Regelungsgehalt des § 84
GmbHG gedeckt. Generelle Kritik am methodologischen Standpunkt K. Schmidts übt
Rüthers, JZ 2003, 995 (996).
463 Durch eine solche Sprachspaltung wird immerhin eine „Normspaltung“ zwi-
schen §§ 64, 84 GmbHG verhindert! Vgl. K. Schmidt, in: FS für Rebmann, S. 436 ff.
Andererseits besteht zwischen einer Schadenersatzpflicht und einer Bestrafung eben
doch ein qualitativer Unterschied. Sehr großzügig für die Möglichkeit eigenständiger
strafrechtlicher Begriffsbildung Bruns, JR 1984, 133, der zwar viele Beispiele vor-
trägt, aber letztlich – sieht man von den rein rechtspolitischen Erwägungen ab – eine
überzeugende Begründung dafür schuldig bleibt, warum dies auch beim „faktischen
Geschäftsführers“ gelten soll. Wohl zu Recht gegen einen eigenständig strafrechtlichen
Organbegriff z. B. Reich, DB 1967, 1663 (1667, r. Sp.).
464 Für den dort behandelten § 82 GmbHG mag aufgrund noch nicht erfolgter Ein-
tragung der GmbH etwas anderes gelten; auf diesen Aspekt stellt der BGH allerdings
nicht entscheidend ab, vgl. BGHSt 46, 62 (66). Abl. zur „faktischen Betrachtungs-
164 III. Wortlaut und Wortsinn
lich der Vereinbarkeit mit Art. 103 II GG, ist der Hinweis auf diese Entscheidung
inhaltlich nicht ausreichend.
Fall 86 (BGHSt 25, 10): Zu einer Überspielung des Wortlauts gelangt der BGH
auch in einer Entscheidung zum Einziehungsrecht. § 40 I StGB i. d. F. des EGOWiG
1968 (fast gleichlautend § 74 I StGB g. F.) ließ die Einziehung von Gegenständen
zu, „die durch die Tat hervorgebracht oder zu ihrer Begehung . . . gebraucht worden
oder bestimmt gewesen sind“. Weiter verlangte § 40 II Nr. 1 StGB a. F. (§ 74 I Nr. 1
StGB g. F.), daß der Gegenstand dem Täter „gehört“ oder „zusteht“. Wie verhält es
sich, wenn zur Tatausführung ein PKW benutzt wird, den der Täter als Sicherheit an
einen Dritten übereignet hat und lediglich eine Anwartschaft auf Rückübereignung
besteht? BGHSt 25, 10 läßt in dieser Konstellation die Einziehung des Anwarts-
chaftsrechts zu. Da der PKW, nicht aber das Anwartschaftsrecht Tatwerkzeug war,
„scheint“ der Wortlaut nach Ansicht des BGH der Einziehung zwar entgegenzuste-
hen (S. 11). Gegenüber einer zweckgerichteten Auslegung griffen diese Bedenken
jedoch nicht durch. Das Anwartschaftsrecht sei kein aliud zum Eigentum, sondern
wesensgleiches minus (S. 12). Daß die Sache eines Eigentümers, nicht aber das we-
sensgleiche minus eingezogen werden kann, sei nicht einzusehen. Auch im Zivil-
recht würden die Vorschriften über das Eigentum „entsprechend“ auf das Anwart-
schaftsrecht angewandt. – Richtig ist die Prämisse des BGH, wonach neben Sachen
auch Rechte der Einziehung unterliegen können.465 Daß aber Rechte zur Tatbege-
hung „gebraucht“ werden können, bedarf zumindest näherer Begründung.466 Es ist
deshalb merkwürdig, daß der BGH auf den Ausgangspunkt seiner Argumentation –
den nur scheinbar entgegenstehenden Wortlaut – nicht mehr zu sprechen kommt.
Aus dem Wesen des Anwartschaftsrechts kann man insoweit wohl kaum etwas her-
leiten.467 Gerade der vom BGH selbst herangezogene Vergleich mit dem Zivilrecht
und der dort praktizierten, vom BGH ausdrücklich als „entsprechend“ bezeichneten
Anwendung von Vorschriften über das Eigentum hätte das Problembewußtsein
schärfen müssen.468 Letztlich findet der BGH sein (vernünftiges) Ergebnis eben
doch mit Hilfe des Rechtsgefühls („nicht einzusehen“).
Fall 87 (BGHSt 26, 95; 28, 224 – „auf frischer Tat betroffen“): Ein räuberischer
Diebstahl liegt gemäß § 252 StGB u. a. vor, wenn der Dieb „auf frischer Tat betrof-
fen“ wird und, um sich den Besitz der Beute zu erhalten, Gewalt gegen eine Person
verübt. Trifft das auf denjenigen zu, der das nichtsahnende Opfer niederschlägt, um
dem Bemerktwerden zuvorzukommen? Der BGH sieht im Wortlaut kein Hindernis:
„Auf frischer Tat betreffen“ meine nicht mehr als das (auch zufällige) raumzeitliche
Zusammentreffen einer Person mit dem Dieb. „Jemand kann im reinen Wortsinn
weise“ („Büchse der Pandora“) und deren Erstreckung auf den Fall des § 82 GmbHG
Joerden, JZ 2001, 310 ff.
465 Das folgt u. a. aus dem Sprachgebrauch von § 40a Nr. 1 StGB a. F., der auch
beim Tatunbeteiligten die Einziehung ermöglicht, wenn dieser „dazu beigetragen hat,
daß die Sache oder das Recht [= Gegenstand i. S. von § 40 StGB a. F.] Mittel oder
Gegenstand der Tat“ gewesen ist; näher K. Meyer, JR 1973, 338.
466 Auch dazu K. Meyer (JR 1972, 385 [386]) in seiner Anm. zu BGHSt 24, 222,
einen Dieb betreffen, ohne daß ihm dessen Anwesenheit bewußt wird“ (S. 96). Der
Sinn der Norm lege es zumindest für den vorliegenden Fall nahe, vom Erfordernis
des „Bemerktwerdens“ abzusehen. Es leuchte nicht ein und sei mit dem Sinn unver-
einbar, § 252 daran scheitern zu lassen, daß der Täter dem Bemerktwerden durch
schnelles Zuschlagen zuvorkomme (S. 97). – Die Wortauslegung des BGH ist be-
denklich.469 Zu Recht hat BGHSt 28, 224 (227) Zweifel an dieser Interpretation
angemeldet und unter Heranziehung eines Wörterbuchs als Synonyme zum „betref-
fen“ die Ausdrücke „antreffen“ oder „ertappen“ genannt.470 Auch das RG hat ein
Wahrnehmen oder Bemerken durch das Gewaltopfer verlangt.471 In jedem Fall zu
beanstanden ist allerdings das kryptische Argumentieren mit dem „reinen Wort-
sinn“. Wenn damit so etwas wie ein unbefangenes Verständnis oder der Alltags-
sprachgebrauch gemeint sein soll, hätte sich als Hilfsmittel der Wortinterpretation
ein Wörterbuch geradezu aufgedrängt, und BGHSt 28, 224 ist ja in der Tat so ver-
fahren.472
Fall 88 (BGHSt 41, 348 – „Bausatztheorie“) Liegt ein vom Kriegswaffenkontrollge-
setz erfaßter „Zünder“ auch dann vor, wenn er in Einzelteilen (als Bausatz) geliefert
wird und ohne großen Aufwand zusammengesetzt werden kann? Der BGH hat ge-
gen die Erfassung des Bausatzes keine Bedenken aus Art. 103 II GG (S. 354). Mit
der „Bausatztheorie“ werde der Wortsinn der Kriegswaffenliste nicht überschritten;
die Zerlegung von Gegenständen bei der Versendung sei bei Industrieprodukten üb-
lich (S. 355). Eine andere Auslegung würde Umgehungsmöglichkeiten eröffnen. –
Wieder einmal bleibt es bei der Behauptung der Vereinbarkeit mit der Wortlaut-
grenze, obwohl doch offenbar Problembewußtsein vorhanden und eine inhaltliche
Begründung zu leisten war. Einen Argumentationsweg für die sprachliche Ausle-
gung bietet z. B. Steindorf473, der als Vergleichsbeispiel den Kauf eines in Teilen
gelieferten Schrankes nennt, der erst zu Hause zusammengebaut werden muß; auch
hier sei ein „Schrank“ und nicht nur die Einzelteile gekauft worden. Wenn demge-
genüber Pottmeyer474 die „Binsenweisheit“ anführt, daß das Ganze mehr als die
Summe seiner Einzelteile darstellt, und als entscheidendes Kriterium die Einsatzfä-
higkeit der Waffe (die Nutzbarkeit des Schrankes) bezeichnet, überzeugt das nicht.
Präziser wäre es zwar, vom Kauf eines Bausatzes bzw. vom Kauf der Einzelteile zu
sprechen, aber die ungenauere Formulierung („Ich habe einen Schrank gekauft, den
ich noch zusammenbauen muß.“) dürfte nicht unvereinbar mit dem Alltagssprachge-
brauch oder sonst sprachwidrig sein.475 Beim BGH ist von alldem leider nichts zu
lesen.
469 Dreher, MDR 1976, 529 (r. Sp.): Sprachlicher „Salto mortale“; Fezer, JZ 1975,
609: „Kühne Wortauslegung“; Kühl, JA 1979, 491: Überspielung der gesetzlichen
Handlungsumschreibung mit zweifelhafter teleologischer Argumentation.
470 Es kam in der Entscheidung auf diese Frage freilich nicht an.
471 RGSt 73, 343 (346); ebenso z. B. Schnarr, JR 1979, 314.
472 BGHSt 27, 276 (278) stellt zu einer verfahrensrechtlichen Norm fest: „Dem rei-
nen Wortlaut der Vorschrift nach gehört zu dieser Gruppe demnach zum Beispiel jeder,
der . . .“. Damit wird lediglich betont, daß die sprachliche Interpretation nur ein erster
Schritt im Gang der Rechtsfindung darstellt, im weiteren aber Sinn und Zweck zu
einer Einschränkung führen können.
473 Steindorf, in: Erbs/Kohlhaas, § 1 KWKG, Stand: 3/2002, Rn. 1a.
474 Pottmeyer, wistra 1996, 121 (122).
166 III. Wortlaut und Wortsinn
Bereits erörtert und kritisiert wurde die Entscheidung BGHSt 27, 45 (oben Fall 19
und Fall 54) zur Thematik „Absatzerfolg“ bei § 259 StGB.476 Der Senat hält die
Subsumtion sprachlich „ohne weiteres“ für möglich (S. 50), obwohl zuvor ein ande-
rer Strafsenat aus dem „eindeutigen Wortlaut“ das Gegenteil gefolgert und dafür –
anders als BGHSt 27, 45 – sogar Gründe dargelegt hat (vgl. BGH NJW 1976,
1698 f.). Zudem entwickelt der BGH zur Relativierung des Wortlautarguments eine
fragwürdige Auslegungsregel (siehe bei Fall 54). Nicht richtig ist die Ansicht
Lackners, der BGH habe in seiner Hehlereientscheidung „eine gründliche Wortlaut-
auslegung“ durchgeführt.477 Dafür gibt es in den Entscheidungsgründen keinen
Anhaltspunkt. In methodischer Hinsicht aufschlußreich ist zudem der von Lackner
vorgeschlagene Ausweg: Bei der Auslegung des § 259 sei die weitere Tatvariante
der „Absatzhilfe“ mit heranzuziehen, die unbestritten auch bloße Absatzbemühun-
gen erfasse.478 „Jedenfalls beide gesetzlichen Begriffe zusammen“ seien geeignet,
„alle erfolgreichen und erfolglosen Absatzbemühungen abzudecken“. Dieser Vor-
schlag ist kreativ, steht aber in merkwürdigem Kontrast zur sonst im Strafrecht be-
triebenen dogmatischen Feinarbeit. Zur Ausräumung des Verdachts, die Auslegung
verstoße gegen Art. 103 II GG, ist er jedenfalls nicht geeignet. Sollte es keinen
besseren Weg geben, spricht alles dafür, den Verstoß einzuräumen und von der An-
nahme eines vollendeten Delikts abzusehen. In Anbetracht der regelmäßig gegebe-
nen Versuchsstrafbarkeit kann das ohne Sorge geschehen. Der BGH würde sich da-
mit zudem der inkonsequenten Ausnahme entledigen, wonach bloße Absatzbemü-
hungen dann nicht genügen sollen, wenn der Hehler an Mittelsmänner der Polizei
gerät.479
Keine der dargestellten Entscheidungen räumt die sprachlichen Bedenken aus,
die in aller Regel ja doch zumindest gesehen werden. Die Bemühungen der
Senate sind allerdings recht unterschiedlich. Am redlichsten müht sich noch
BGHSt 25, 10 (Fall 86 – „Einziehung des Anwartschaftsrechts“), doch hätte der
Rückgriff auf eine im Zivilrecht praktizierte Analogie stutzig machen müssen.
Es verwundert deshalb nicht, daß der Senat den „Schein“ des entgegenstehen-
den Wortlauts nicht beseitigen kann und statt dessen an das Rechtsgefühl appel-
liert („es ist nicht einzusehen“).480 Extrem liegt Fall 83 zu § 42m StGB a. F.
(„Entziehung einer nicht existierenden Fahrerlaubnis“) – eine Norm, die den
475 Pottmeyer (wistra 1996, 121 [122]) ist hingegen der Ansicht, erst durch den Zu-
sammenbau ergebe sich das „geistige Band“ (Hinweis auf Goethe, Faust I), das den
Gegenstand seiner Bestimmung zuführt. Damit dürfte der Bereich einer streng philo-
logischen Gesetzesinterpretation jedoch verlassen sein.
476 Zum Begründungsmangel in BGHSt 31, 317 (Behauptung eines vom allgemei-
JK 1998, StGB § 259/18. Daß die Geister, die man mit einer ersten Wortlautüberdeh-
nung ruft, nicht leicht abzuschütteln sind, zeigten bereits BGHSt 47, 134 und BGHSt
48, 354 (oben III 7 g bb, Nr. 21 und 22). Wird der zweite Schritt nicht gegangen,
entstehen u. U. systematische Friktionen.
7. An der Wortlautgrenze 167
Hier sind Fälle darzustellen, in denen der BGH von vornherein Sensibilität
hinsichtlich der Wortlautgrenze vermissen läßt. Oftmals hätte bereits ein Blick
in die Kommentarliteratur die Problematik aufgezeigt, in anderen Beispielen
(wie in den folgenden beiden Fällen) lag die Sache so klar, daß das fehlende
Aufgreifen des Themas durch den BGH sehr verwundert.
480 Zu weitgehend ist jedoch die Interpretation von Krey (Studien, S. 145), wonach
die Entscheidung die Überschreitung des Wortsinns unter Berufung auf die ratio legis
für statthaft hält.
481 Nennenswerte Lücken waren dadurch nicht zu befürchten, denn die Verwal-
Fall 89 (BGHSt 5, 124; 14, 89; 18, 114 – „Verkehrsflucht“): Gemäß § 142 StGB
a. F. machte sich strafbar, „wer sich nach einem Verkehrsunfall [den Feststellungen]
vorsätzlich durch Flucht entzieht, obwohl nach den Umständen in Frage kommt, daß
sein Verhalten zur Verursachung des Unfalls beigetragen hat“. Muß der Täter einer
Hilfspflicht nachkommen, z. B. das Opfer zur Klinik bringen (§ 323c StGB!), so ist
er nach Erfüllung seiner Pflicht laut BGHSt 5, 124 zur Rückkehr an den Unfallort
verpflichtet, denn die Unfallflucht könne auch von einem anderen als dem Unfallort
begangen werden (S. 128). Bei „sachgemäßer Güterabwägung“ begründe die Hilfs-
pflicht nur ein Recht zur vorübergehenden Entfernung (S. 128). Ist die Rückkehr
mangels feststellungsbereiter Personen zwecklos, soll der Täter sogar zur Meldung
des Unfalls bei der Polizei verpflichtet sein.482 BGHSt 14, 89 hält – mit dem Wort-
laut vielleicht noch vereinbar – eine Unfallflucht auch dann für möglich, wenn der
Täter erst nachträglich Kenntnis vom Unfallgeschehen erlangt und sich zur Weiter-
fahrt entschließt. BGHSt 18, 114 bejaht für diesen Fall darüber hinaus eine Rück-
kehrpflicht des Täters zum Unfallort. Darin liege keine „unzulässige Ausweitung
des Tatbestandes“ (S. 119). Die Begründung, die der BGH für die Statuierung der
Rückkehrpflicht gibt, geht auf den Gesetzeswortlaut nicht weiter ein, obwohl das
vorlegende OLG insoweit Bedenken geäußert hat. Statt dessen stellt der BGH maß-
geblich auf den Gesetzeszweck, auf die Vereinbarkeit mit den entsprechenden Präju-
dizien und auf kriminalpolitische Argumente ab. Dabei gerät bei dem Bemühen,
Wertungsgleichheit zwischen den unterschiedlichen und bereits bisher vom BGH
sehr weitgehend erfaßten Fallkonstellationen herzustellen, der Gesetzestext zu stark
aus dem Blick.483 Die spätestens mit BGHSt 5, 124 eingeleitete Expansion des
§ 142 StGB a. F. fand damit ihren Höhepunkt und wurde schließlich auch vom Ge-
setzgeber durch das 13. StÄG – bei anderer Ausgestaltung im einzelnen – in ge-
schriebenes Recht umgesetzt (vgl. § 142 StGB g. F.). Völlig zu Recht sagt BGHSt
28, 129 (133), die Rechtsprechung des BGH zu § 142 StGB a. F. habe die Rück-
kehrpflicht „entwickelt“.484
Fall 90 (BGHSt 14, 194; bestätigt in BGHSt 14, 299): § 86 II StGB a. F. sah bei
Staatsschutzdelikten, die zu einer Einziehung von Gegenständen führten, eine ange-
messene Entschädigung für den an der Straftat nicht beteiligten Eigentümer der Ge-
genstände vor. Kann der Entschädigungsanspruch einer (staatsfeindlichen) Vereini-
gung vorenthalten werden? Der BGH zeigt das Problem zutreffend auf: Die Vor-
schrift sei auf juristische Personen nicht zugeschnitten, da diese nicht Beteiligte
einer Straftat sein können (S. 197). Daß dann aber stets eine Entschädigung erfol-
482 Diese Ansicht hat der BGH allerdings in BGHSt 7, 112 als mit dem „Grund-
gedanken“ des Analogieverbots unvereinbar aufgegeben; aus demselben Grund abl.
auch Jescheck, GA 1955, 97 (108).
483 Küper, in: Heidelberg-FS, S. 458: Der BGH begründe in erster Linie nicht aus
der Norm, sondern ergänze das bisherige Richterrecht. – Erneut ein Beispiel, wie sich
eine erste wortlautferne Auslegung fortsetzt! (Vgl. Fn. 479.)
484 Eine dogmatische Rechtfertigung hätte allenfalls durch die vom BGH allerdings
gen müßte, hält der BGH für ein „unsinniges Ergebnis“, für das die Entstehungsge-
schichte keinen Anhaltspunkt biete. Vielmehr sei diese Lücke des Gesetzes (!) nach
den in § 86 II enthaltenen Richtlinien zu schließen. „In entsprechender Anwendung“
(!!) erhalte somit die juristische Person keine Entschädigung, wenn sie eine staats-
feindliche Vereinigung oder Bestandteil davon ist (S. 197). – Die Auffassung des
BGH mag im Ergebnis haltbar sein485, aber das mangelnde Problembewußtsein bei
dieser selbstbewußten Lückenschließung zulasten des Einziehungsbeteiligten ver-
wundert. Wenn der BGH der Auffassung gewesen sein sollte, für eine Entschädi-
gungsnorm gelte das Analogieverbot486 von vornherein nicht, dann hätte er dies we-
nigstens begründen müssen.
Fall 91 (BGHSt 14, 291 – „Nachschlüsseldiebstahl“): Wendet derjenige zur Öffnung
eines Behältnisses einen „falschen Schlüssel“ an (§ 243 I Nr. 3 StGB a. F.), der sich
einen vom Eigentümer eingeschlossenen Schlüssel durch gewaltsames Öffnen des
Aufbewahrungsbehälters beschafft und damit das Behältnis öffnet? Nach Ansicht
des BGH entscheidet über die „Falschheit“ des Schlüssels allein der Wille des Ver-
fügungsberechtigten, der hier mit dem Einschließen dem echten Schlüssel seine Be-
stimmung entzogen habe (S. 292). Dagegen läßt der BGH angesichts des Gesetzes-
wortlauts die Benutzung eines gestohlenen Schlüssels für den „Nachschlüsseldieb-
stahl“ noch nicht genügen; erforderlich sei, daß der Berechtigte dem Schlüssel die
Bestimmung zur ordnungsgemäßen Öffnung entzogen hat (BGHSt 21, 189 f.). Der
BGH und die ihm folgende Lehre müssen im weiteren dann einigen Aufwand be-
treiben, um zu begründen, welche Anforderungen an eine solche Entwidmung zu
stellen sind. Aber kann die „Falschheit“ eines Schlüssels wirklich nur vom Willen
des Berechtigten abhängen? Der vom BGH verwendete Begriff des „Nachschlüs-
seldiebstahls“ zielt doch – gerade sprachlich – eher dahin, allein darauf abzustellen,
ob ein Schlüssel zur ordnungsgemäßen Öffnung eines Schlosses gefertigt wurde
oder nicht.487 Statt also nach der Bedeutung des Adjektivs „falsch“ und den inso-
weit maßgeblichen Sprachgebrauch – die Umgangssprache würde einen versteckten
Schlüssel kaum als „falsch“ bezeichnen! – zu fragen, stellt die Rechtsprechung al-
lein auf die „Bestimmung“ des Schlüssels ab.488
Fall 92 (BGHSt 23, 239; 38, 26; GS 46, 321; StV 2000, 315; JR 2001, 73 = oben
Fall 26, „Zweierbande“): Wenig Sensibilität zeigte der BGH zunächst auch in der
Frage, ob eine „Bande“ aus mindestens drei Personen bestehen muß. BGHSt 23,
239 (240) erkennt in der Neuformulierung der Diebstahlsqualifikation durch das
1. StrRG 1969 (§ 243 I Nr. 6 StGB a. F.: „mehrere mitwirken“; § 244 I Nr. 3 StGB
ren Wortlaut hinaus) analog angewandt. Stellt man hingegen auf Rechtswirkung der
Norm insgesamt ab (Entschädigung), wird ihr Anwendungsbereich zulasten des Be-
troffenen reduziert, vgl. unten III 7 h.
487 In diesem Sinn auch der wohl „quellennächste“ Kommentar zum RGStGB von
Rubo, § 243, Anm. 26: Auch ein nicht mehr gebrauchter, gleich ob freiwillig aufgege-
ben oder unfreiwillig verloren, sei nicht falsch.
488 Und zwar schon seit RGSt 4, 414 und besonders deutlich in RGSt 5, 17 (19).
Die hier vorgebrachten Bedenken teilt offenbar nur die Vorinstanz zu RGSt 4, 414
(siehe dort).
170 III. Wortlaut und Wortsinn
n. F.: „als Mitglied einer Bande“) keinen Willen des Gesetzgebers, die Mindestzahl
gegenüber der bisherigen Rechtslage zu erhöhen. Der Wortsinn zwinge nicht zu ei-
ner solchen Änderung. Für ein entsprechendes Bandendelikt im BtM-Recht kann
laut BGHSt 38, 26 (28) nichts anderes gelten; diese Auffassung sei mit dem Wort-
sinn „vereinbar“. Außer dem Nachweis einer Fundstelle, die diese Wortinterpretation
immerhin für „vertretbar“ hält, bringt der BGH keine Begründung für seine Ansicht,
obwohl zwischenzeitlich zum Teil vehemente Kritik an BGHSt 23, 239 geäußert
worden ist.489 Merkwürdig, daß erst 1999 ein Strafsenat (StV 2000, 315) semanti-
sche Zweifel zum Ausdruck bringt und sogar für durchschlagend hält! Was bisher
nicht einmal begründungsbedürftig schien, soll sich nach langer Zeit der Latenz490
plötzlich als Verkennung der Wortsinngrenze erweisen! Der Große Senat hat sich
das Wortlautargument des 4. Senats491 freilich nicht zu eigen gemacht und ohne
Begründung beiden Lesarten die Vereinbarkeit mit dem Wortlaut bescheinigt
(S. 328 f.). Das ist insofern bemerkenswert, als daß die vom Großen Senat vollzo-
gene Einschränkung des Bandenbegriffs mit dem Wortlaut doch zumindest hätte ge-
stützt werden können. Warum sollen Zweifel an der Zulässigkeit der Wortauslegung
nicht zugunsten einer engeren Auslegung geltend gemacht werden?
Fall 93 (BGH NJW 1984, 135 = JR 1984, 337; wistra 1995, 143; BGHSt 45, 97;
KG JR 1985, 24; OLG Karlsruhe JR 1989, 210 – „Erfolg der Strafvereitelung“):
Mit der Umgestaltung des Begünstigungstatbestandes 1974 hat der Gesetzgeber des
EGStGB ungewollt ein Auslegungsproblem verursacht,492 das dem bereits geschil-
derten zur Hehlerei (BGHSt 27, 45 = oben Fall 19 und Fall 54) sehr ähnelt. Setzt
das „Vereiteln“ einer Strafe (§ 258 I StGB) voraus, daß die Strafverfolgung endgül-
tig (erfolgreich) unmöglich gemacht wird? Die Gerichte verneinen das und lassen
unter Berufung auf Zweck und Entstehungsgeschichte als Tatbestandserfolg eine er-
hebliche Verzögerung der Strafverhängung genügen.493 Die Literatur beruft sich hin-
gegen überwiegend auf den eindeutigen Sprachgebrauch, der unter „vereiteln“
489 Vgl. Dreher, NJW 1970, 1802, dessen Anm. vor allem zeigt, welches Niveau bei
einer ernsthaft betriebenen Wortlautanalyse erreicht werden kann. Allerdings ist die
Argumentation Drehers sicher nicht die einzig vertretbare: Die soziologisch orientier-
ten Enzyklopädien (Brockhaus) verstünden unter Bande eine bestimmte Form der
„Gruppe“, die als Gegensatz zum „Paar“ mindestens drei Bestandteile voraussetze
(S. 1803). Der allgemeine Sprachgebrauch nenne zwei zusammenarbeitende Taschen-
diebe ebenfalls nicht „Bande“; auch der im Duden enthaltene Hinweis auf die „Schar“
spreche dagegen (a. a. O.).
490 Ein schönes Beispiel dafür, wie von der Dogmatik gespeicherte Zweifel doch
noch zum Durchbruch gelangen, vgl. allgemein dazu Honsell, Historische Argumente,
S. 10.
491 Der 4. Senat hat auf die vom 1. Senat im Anfrageverfahren vorgetragenen Ein-
wände (vgl. oben Fall 26) im Vorlagebeschluß seine Auffassung dezent abgemildert:
Heißt es im Anfragebeschluß noch, daß gegen die Zweierbande „zu Recht“ ein Ver-
stoß gegen die Wortlautgrenze vorgebracht werde (StV 2000, 315 [317]), sagt der 4.
Senat im Vorlageverfahren, daß dieser Einwand „nicht zu Unrecht“ erhoben werde (JR
2001, 73 [76]). Siehe zu diesem, nicht nur stilistischen relevanten Unterschied auch
Walter, Stilkunde, S. 228.
492 Zu diesem und weiteren Problemen der Neufassung eingehend U. Ebert, ZRG
1993, 1 (55–66).
493 Umfassende Darstellung der bisherigen Rechtsprechung bei Wappler, Erfolg der
Strafvereitelung, S. 66–85.
7. An der Wortlautgrenze 171
„verhindern“ oder „zum Scheitern bringen“ verstehe;494 der Gesetzgeber selbst dif-
ferenziere zwischen „vereiteln“ und „wesentlich erschweren“ (§§ 917, 935 ZPO)495.
Angesichts der naheliegenden sprachlichen Einwände verwundert, daß die Recht-
sprechung eine Begründung ihrer Auffassung zur Bedeutung des Ausdrucks „verei-
teln“ nie geliefert hat, sondern stets auf Präjudizien verweist, die ebenfalls die Argu-
mente schuldig bleiben.496 OLG Koblenz NStZ 1992, 146 f. verweist sogar auf Vor-
entscheidungen des RG, die zum alten, anderslautenden (!) Recht ergangen sind!
Angesichts der in jedem Fall greifenden Versuchsstrafbarkeit kann auch die Angst
vor Strafbarkeitslücken nicht als überzeugendes Motiv für die unzureichende Be-
gründung herhalten.497
Anlaß zur Diskussion bieten auch folgende Fälle, die sich wohl noch im Rah-
men des möglichen Wortsinns halten, in denen die Vereinbarkeit der Auslegung
mit dem Gesetzeswortlaut zumindest aber näher hätte begründet werden können:
Die „Zeugungsfähigkeit“ (§ 224 StGB i. d. F. bis zum 6. StrRG 1998) umfaßt nach
Auffassung des BGH auch die Gebär- oder Empfängnisfähigkeit der Frau (BGHSt
21, 194). Ob es sprachlich nicht näher liegt, von der „Zeugungsfähigkeit“ des Man-
nes, der „Empfängnisfähigkeit“ der Frau und als gemeinsamen Oberbegriff von der
Fortpflanzungsfähigkeit zu sprechen498, untersucht der BGH mit keinem Wort. —
Mehr zur sprachlichen Auslegung hätte man auch in der Frage erwarten können, ob
ein Schuh am Fuß des Täters als „gefährliches Werkzeug“ (§§ 223a I, 250 I Nr. 2
StGB i. d. F. bis zum 6. StrRG) betrachtet werden kann, woran BGHSt 30, 375 nicht
zweifelt.499 Das ist insofern merkwürdig, als nach unbefangener Gesetzeslektüre pri-
mär das Werkzeug selbst gefährlich sein muß und nicht nur der Umgang damit.
Dennoch hat die Rechtsprechung den Gesetzestext immer mehr aus dem Blick ver-
loren.500 BGHSt 3, 105 (109) hält es sogar für möglich, einen Weinschlauch als ge-
494 Seebode, JR 1998, 338 (341) und Wappler, Erfolg der Strafvereitelung, S. 170,
(vgl. oben III 3 g), dürfte hier aber nicht dem Wirkungskreis des Art. 103 II GG un-
terfallen, zumal es auf außerstrafrechtlicher Ebene liegt.
496 Bezeichnend der Verweis von BGH JR 1984, 337 auf BGH MDR/H 1981, 631,
wo lediglich das Ergebnis behauptet wird und weiter auf unveröffentlichte Entschei-
dungen verwiesen wird! Zum enttäuschenden Argumentationsniveau der Rechtspre-
chung in dieser Frage siehe die Analyse von Wappler (wie Fn. 493). BGHSt 45, 97
(100) behandelt die Thematik so, als sei sie gar nicht streitig. In der von Seebode
(oben Fn. 494) erörterten Entscheidung BGHSt 43, 82 kam es auf die Problematik
nicht an, weil der BGH § 258 schon aus anderen Gründen scheitern ließ.
497 Näher dazu und zum historischen Hintergrund des Malheurs unten Fall 311.
498 So jetzt auch § 226 I Nr. 1 StGB n. F.; näher zum Begriff der Zeugungsfähigkeit
Wortlaut und Entstehungsgeschichte des § 223a StGB (a. F.) das „gefährliche Werk-
zeug“ zum Oberbegriff erklärte, statt – wie es die Gesetzesverfasser gesehen hatten
(vgl. RT-Berichte 1875/76, S. 802) – von einem weiten Oberbegriff der Waffe auszu-
gehen (näher oben Fall 32 und Joerss, Die gefährliche Körperverletzung, S. 55).
172 III. Wortlaut und Wortsinn
fährliches Werkzeug zu betrachten, und nach BGH StV 2002, 482 kann auch eine
Plastiktüte genügen. Würde der Gesetzgeber diese Entwicklung nachzeichnen,
müßte er in § 224 I Nr. 2 StGB n. F. formulieren: „Wer die Körperverletzung mittels
eines Werkzeugs begeht, das er in gefährlicher Weise benutzt . . .“ oder „Wer zur
Körperverletzung ein Hilfsmittel in gefährlicher Weise gebraucht . . .“. — Nach
BGHSt 35, 21 kann Falschgeld auch dadurch „in Verkehr gebracht werden“ (§ 146 I
Nr. 3 StGB), daß es vom Täter in einen Abfalleimer geworfen wird, wo es ein Drit-
ter womöglich findet und somit in die Lage versetzt wird, es seinerseits als echt
weiterzugeben. Der vom RG entwickelte Begriff des Inverkehrbringens erfasse auch
diesen Fall „ohne weiteres“ (S. 25). Schroeder (JZ 1987, 1133) moniert zu Recht die
vom BGH vorgenommene Ausweitung, die den Tatbestand in ein Gefährdungsdelikt
(Gefahr, daß Dritte das Falschgeld in Verkehr bringen!) umwandle.501
Der BGH prüft nicht selten zu sehr die Vereinbarkeit seiner Auslegung mit
den durch die Rechtsprechung entwickelten Definitionen, anstatt das Augen-
merk auf den Gesetzestext selbst zu richten oder wenigstens eine Rückkontrolle
vorzunehmen. Ungeachtet der Notwendigkeit, die Vielzahl der Präjudizien zu
berücksichtigen und in ein stimmiges Konzept einzubinden, dürfen die Defini-
tionen kein Eigenleben gewinnen, das sich vom Gesetz entfernt502 und letztlich
immer nur zur Ausweitung der Strafbarkeit führt.
Im Bereich der Wortlautgrenze ist besonders auf Taktiken zu achten, die ver-
suchen, einen entgegenstehenden Gesetzeswortlaut auszuhebeln. Damit sind ty-
pische Stilmittel gemeint, welche die Sachlage verunklaren oder den Leser in
die Irre führen sollen. Gelingen kann das allerdings nur selten. Eher werden die
in diesem Zusammenhang verwendeten typischen Formulierungen sofort einen
Verdacht erwecken. Zunächst zu erwähnen ist die hin und wieder anzutreffende
Aussage, daß der Wortlaut einer bestimmten Auslegungshypothese entgegenzu-
stehen „scheint“ oder zu einer (Fehl-)Annahme „verleitet“. Formuliert der BGH
in dieser Weise, muß er den scheinbaren Widerspruch in seiner weiteren
Begründung auflösen, um eine in Frage stehende Wortlautüberschreitung auszu-
räumen.
Davon kann man in den Fällen von BGHSt 2, 29 (30: „Nach dem Wortlaut . . .
könnte man allerdings annehmen . . .“; vgl. oben Fall 75), BGHSt 37, 147 (150: „Für
die Auffassung des GBA scheint der Wortlaut . . . zu sprechen“; oben Fall 62) und
BGHSt 42, 123 (125: „deutet bei erster Betrachtung darauf hin“; vgl. oben Fall 78)
ausgehen, obgleich das Gericht sich im Anschluß an seine einleitenden Feststel-
501 BGHSt 44, 62 gibt BGHSt 35, 21 nur bezüglich der „begrifflichen Ausdehnung“
lungen zum Wortlaut sehr schwer damit tut, die gegenteilige Auslegung überzeu-
gend zu begründen. In BGHSt 25, 10 wird der „scheinbare“ Widerspruch hingegen
nicht beseitigt (näher oben Fall 86), was die generell bei dieser Argumentationsfigur
bestehende Gefahr belegt, auf die aufgeworfene Frage nicht mehr zurückzukommen
und statt dessen die übrigen canones zu erörtern.
Fall 94 (BGHSt 14, 55 – „Empfehlungsverbot“): Selbst Steine in den Weg legt sich
der BGH in einer Entscheidung zum kartellrechtlichen Umgehungsverbots (Emp-
fehlungsverbot) des § 38 II 2 GWB a. F. Im zugrundeliegenden Fall hatte ein Ein-
zelhandelsverband seine Mitglieder davon „unterrichtet“, welche Preise von einer
größeren Anzahl von Händlern am Markt verlangt werde. Daran hatten sich
anschließend einige Händler orientiert, weshalb ein Verstoß gegen § 38 II 2 GWB
a. F. in Betracht kam. Nach dieser Bestimmung handelt ordnungswidrig, „wer Emp-
fehlungen ausgesprochen hat, die eine Umgehung der in diesem Gesetz ausgespro-
chenen Verbote . . . durch gleichförmiges Verhalten bewirkt haben“.503 Im Verhalten
der Beteiligten konnte eine Umgehung einer durch das Kartellrecht verbotenen
Preisabsprache oder Preisbindung liegen. Der Tatbestand des § 38 II 2 GWB (a. F.)
bereitet hier zwar einige Schwierigkeiten (z. B. ob die Unterrichtung schon als
„Empfehlung“ angesehen werden kann), aber ohne Not problematisiert der BGH die
Frage, wer die „Umgehung“ i. S. dieser Vorschrift vornimmt. Nach Auffassung des
Senats ist das der Empfehlende, nicht hingegen der Empfänger der Empfehlung, ob-
wohl „Wortlaut und Satzbau“ für das Gegenteil zu sprechen „scheinen“ (S. 59). Im
letzteren Sinn dürfe die Vorschrift jedoch nicht verstanden werden. In Wirklichkeit
ergebe erst das Zusammenspiel von Empfehlung und gleichförmigem Verhalten die
verbotswidrige Wettbewerbslage; mit der Empfehlung beginne die unzulässige Um-
gehung, das gleichförmige Verhalten vollende sie (S. 60)504. Unabhängig von der
Relevanz dieser Ausführungen – Täter der Vorschrift ist ja unzweifelhaft der
Empfehlende, auch wenn die Umgehung des Verbots notwendig die Mitwirkung
des Empfängers voraussetzt505 – ist die aus Sinn und Zweck hergeleitete Auffassung
des BGH mit Wortlaut und Satzbau sicher vereinbar. Das erhellt vor allem, wenn
man berücksichtigt, daß die „Umgehung“ im Gesetz gar nicht personengebunden
formuliert ist, sondern auf ein Ergebnis oder einen Zustand abstellt: Das Verhalten
503 Fast gleichlautend die bis 1999 geltende Regelung des § 38 I Nr. 11 GWB; et-
sammen, so daß die Ansicht des BGH, die „Umgehung“ werde nur vom Empfehlen-
den begangen, zumindest „schief“, nach Auffassung von Lieberknecht (GRUR 1960,
355 [357]) sogar widersprüchlich ist.
505 Der Gesetzgeber hat eben nur das Verhalten der einen Seite für strafwürdig er-
achtet; nur der Initiator ist in diesem Sinn Täter des „Umgehungstatbestandes“. Der
BGH hat sich offenbar durch Äußerungen in der Literatur verunsichern lassen; sehr
verzerrend z. B. Langen, Kartellgesetz, § 38, Erläuterung B VII 2, der (materiell) den
Empfänger als „Haupttäter“, den Empfehlenden als „Anstifter“ einstuft, und dies zu
Unrecht aus der Formulierung „bewirkt haben“ schließt; mißverständlich auch Leo,
Die Aktiengesellschaft, 97 (98, l. Sp.), der den Adressaten als „Umgehungstäter“ be-
zeichnet; näher zum Ganzen Hübner, LM 1961, Nr. 4 zu § 38 GWB, unter 4. Die
heutige kartellrechtliche Literatur sieht insofern keine Probleme mehr, vgl. Emmerich,
Kartellrecht, S. 159 f.
174 III. Wortlaut und Wortsinn
der Beteiligten „bewirkt“ die Umgehung eines kartellrechtlichen Verbots, ist also
Voraussetzung desselben. Die Frage nach der Vereinbarkeit seiner Auffassung mit
Wortlaut und Satzbau hätte der Senat jedenfalls noch einmal aufgreifen müssen, um
die von ihm selbst in Betracht gezogene („scheinbare“) Überschreitung des semanti-
schen Rahmens wieder auszuräumen!
Fall 95 (BGHSt 16, 210 – „Einziehung im Weinrecht“) behandelt das Verhältnis
zwischen den Strafvorschriften des Weinrechts und des allgemeinen Lebensmittel-
rechts. Grundsätzlich sind die Sonderregelungen des Weinrechts vorrangig, aber
§ 31 WeinG a. F. bestimmte eine Ausnahme für den Fall, daß die Straftat in anderen
Vorschriften mit höherer Strafdrohung belegt ist. Konkret war diese Situation mit
§ 11 LebMG a. F. gegeben. Nach § 31 WeinG a. F. waren damit alle Strafvorschrif-
ten des WeinG, einschließlich ihrer Nebenfolgen verdrängt. Fraglich blieb das aller-
dings hinsichtlich der Einziehung, denn § 28 II WeinG a. F. sah auch dann die An-
wendung der Einziehungsvorschriften des Weingesetzes vor, „wenn die Strafe auf
Grund eines anderen Gesetzes zu bestimmen ist“. Gemeint ist damit offensichtlich
nur die Konstellation, in der das andere Gesetz überhaupt keine Einziehungsmög-
lichkeit vorsieht, die Vorrangregelung des § 31 folglich eine Lücke hinterließe; dann
soll jedenfalls das WeinG diese Möglichkeit gewährleisten (S. 213). Der Wortlaut
des § 28 II geht jedoch (unbeabsichtigt) noch weiter, indem er einen ausnahmslosen
Vorrang der weinrechtlichen Einziehungsregelung bestimmt. Für den Täter wäre die
Regelung des § 28 günstiger gewesen, weil sie anders als § 13 LebMG a. F. die Ein-
ziehung in das Ermessen des Gerichts stellte. Trotz allem verneint der BGH eine
Sperrwirkung des § 28 II WeinG. Der Gesetzgeber habe die Norm eingeführt, weil
es nach dem damaligen Stand der Rechtsprechung nicht möglich gewesen sei, auch
bei Gesetzeseinheit Nebenstrafen und Nebenfolgen aus dem verdrängten milderen
Gesetz zu verhängen (S. 214). Ein weitergehender Zweck als die Ermöglichung der
Einziehung auch in diesen Fällen komme der Vorschrift nicht zu (S. 215). – Die
Erwägungen des BGH sind alle plausibel, aber wie steht es mit dem zu weit gerate-
nen Wortlaut? Der Senat stellt ihn hinter dem Gesetzeszweck zurück: „Zwar könnte
eine nur wörtliche Auslegung dieser Vorschrift zu der Annahme verleiten, als richte
sich die Einziehung in jedem Falle nach den Vorschriften des Weingesetzes. Nach
seinem Zweck will § 28 Abs. 2 WeinG jedoch nur . . .“ (S. 213). Daß hier eine
teleologische Reduktion zulasten des Täters (Wortlautunterschreitung!) vorliegen
könnte, die unter dem Aspekt des Art. 103 II GG nichts anderes darstellt als eine
unzulässige Analogie (näher unten III 7 h), wird vom BGH nicht erwogen.506
Fall 96 (BGHSt 43, 285 – „Pfeilrot“): Auch hier findet der BGH aus einer diffizi-
len, vom Gesetzgeber ungewollt verursachten Wortlautproblematik kaum heraus. Im
Straßenverkehr existieren verschiedene Ampelanlagen, zum einen mit, zum anderen
ohne Richtungsangabe. Stets zwingt jedoch das Rotlicht zum Anhalten. Im vorlie-
genden Fall hatte die Straße mehrere Fahrbahnen. Eine führte geradeaus, die andere
war eine Abbiegerspur, auf der die Geradeausfahrt verboten war. Die Ampel der
Geradeaus-Spur zeigte „grün“, die Ampel der Abbiegerspur „rot“. Der Betroffene
fuhr, da die Geradeausspur blockiert war, auf die Abbiegerspur, hielt nicht an der
„roten“ Ampel, wechselte dann aber (hinter der Ampelanlage) direkt auf die Ge-
506 Aus anderen Gründen für einen Vorrang des § 28 WeinG (a. F.) Koch, NJW
507 Vgl. die vom Senat formulierte Vorlegungsfrage (S. 288): „Handelt ein Fahr-
zeugführer, der auf einem markierten (Linksabbieger-)Fahrstreifen im Sinne des § 37
Abs. 2 Nr. 4 StVO in eine Kreuzung einfährt, obwohl die Wechsellichtzeichenanlage
(pfeilförmiges oder volles) Rot zeigt, auch dann ordnungswidrig gemäß . . ., wenn er
anschließend in der Richtung eines durch Grünlicht freigegebenen anderen Fahrstrei-
fens weiter fährt?“
508 Hingegen hält das OLG Hamm mangels Nutzung des geschützten Abbiegebe-
reichs nach Sinn und Zeck der Norm kein Rotlichtverstoß für gegeben und eine Sank-
tion wegen falschen Überholens für ausreichend, vgl. BGHSt 43, 285 (286); wie das
vorlegende OLG auch Lessing, MDR 1998, 771, ohne den Wortlaut als Argument her-
anzuziehen.
509 Es ist allerdings fraglich, ob Satz 11 insofern nicht die speziellere Vorschrift
Tat veräußert und wäre ohne die Veräußerung die Einziehung gegenüber ihm zuläs-
sig gewesen, fehlen ihre Voraussetzungen aber gegenüber dem Dritten, dem die Sa-
che zur Zeit der Entscheidung gehört, so kann gegen den Täter . . . auf Einziehung
des Wertes der Sache in Geld erkannt werden.“ Wie steht es aber, wenn der Dritte
die Sache verbraucht hat, ihm die Sache „begrifflich“ also nicht mehr „gehört“?
Nach Auffassung des BGH sprechen teleologische Gründe dagegen, § 414a „rein
wörtlich“ zu nehmen (S. 294). Für das Erlöschen der Wertersatzstrafe bei Verbrauch
der Sache sei kein Grund ersichtlich. Das sei indessen auch „nicht der wirkliche
Inhalt der Vorschrift“ (S. 293). „Augenscheinlich gibt der Wortlaut des Gesetzes
seinen Sinn nicht ganz zutreffend wieder“ (S. 294).510 Die Wertersatzstrafe solle
Lücken im Einziehungsrecht schließen (S. 295) – eine Aufgabe, der die Ansicht des
Senats besser gerecht werde als eine „buchstäbliche Auslegung“ der Vorschrift
(S. 296). – Die Auffassung des Senats ist vernünftig und gerecht, aber ebenso sicher
eine Korrektur des fehlerhaften oder unvollständigen Gesetzeswortlauts.511 Wenn der
Senat demgegenüber suggeriert, daß seine Auffassung mit dem Gesetzestext zumin-
dest noch entfernt in Einklang stehe („rein wörtlich“, „buchstäblich“), übergeht er
kaum überzeugend die Frage nach der Legitimation seiner „Auslegung“.
Eine ähnliche Argumentation bietet BGHSt 6, 213 (oben Fall 39) anläßlich der
Frage, ob einen Diebstahl „begangen hat“ (§ 244 StGB a. F. – Rückfalldiebstahl),
wer einen solchen lediglich verabredete (§ 49a StGB a. F.). Der BGH löst die man-
gelnde sprachliche Abstimmung der beiden Normen auf, indem er apodiktisch den
Wortlaut der einen beiseite schiebt: „Daß § 244 StGB [a. F.] seinem Wortlaut nach
die Begehung des Rückfalldiebstahls voraussetzt, ist ohne Belang; denn es ist in der
Rechtsprechung seit jeher anerkannt, daß der erhöhte Strafrahmen auch gegen den
anzuwenden ist, der . . . einen Diebstahl nur versucht, dazu angestiftet oder ihn ge-
fördert hat . . . Nach seinem inneren Zusammenhang versteht § 244 StGB [a. F.] un-
ter der Begehung eines Diebstahls allenthalben dasselbe, nämlich die Strafbarkeit als
Dieb, d. h. nach den Diebstahlsvorschriften“ (S. 214).512 – Die Entscheidung ist im
Ergebnis richtig, aber „ohne Belang“ ist der Wortlaut des strafschärfenden § 244
StGB (a. F.) sicher nicht. Daß die Rechtsprechung „seit jeher“ dieser Auffassung ist,
ersetzt keine Begründung, wenn diese schon früher nicht erbracht wurde. Und der
„innere Zusammenhang“ besagt ebenfalls nichts. Der BGH hätte ohne weiteres eine
inhaltliche Analyse des fachsprachlichen (!) Begriffs der „Begehung“ leisten kön-
nen, die seine Auffassung rechtfertigen würde.
Recht häufig zu beobachten ist die Tendenz, die auf den Wortlaut gestützte
Gegenauffassung zu diskreditieren, indem der Gesetzestext als Argument ver-
510 Die Formulierung taucht außerdem auf in BGHSt 27, 276 (278): „Der Senat ist
indes der Meinung, daß der Wortlaut den erkennbaren [!] Sinn des Gesetzes nicht rich-
tig wiedergibt.“ Die Entscheidung berührt allerdings nicht den Bereich von Art. 103 II
GG, da der BGH eine verfahrensrechtliche Norm zugunsten des Betroffenen ein-
schränkt.
511 Sehr großzügig Kohlhaas, LM 1962, Nr. 1 zu § 414a AbgO (Blatt 3): Nicht ein-
Konstellation; laut Savigny (in: Juristische Dogmatik, S. 71) ein Grenzfall in Sachen
Wortlautgrenze.
7. An der Wortlautgrenze 177
513 RGSt 58, 312 (314); 74, 47 (49) = unten Fall 353; BGHSt 11, 171 (173).
514 Vgl. BGHSt 10, 333 (335) = oben Fall 77 und BGHSt GS 10, 94 (97) = oben
Fall 83. Freilich kann auch einmal eine Auslegung, welche die Strafbarkeit erst ermög-
licht, am bloßen Wortlaut kleben und damit abzulehnen sein – so BGHSt 17, 101
(106) gegen eine weitergehende Auffassung des GBA.
515 BGHSt 6, 398 (399) = oben Fall 83.
516 BGHSt 8, 8 (11) – allerdings außerhalb des Bereichs von Art. 103 II GG.
517 Näher dazu unten Fall 350 ff. und Fall 356.
518 Allg. zum (entweder schwachen oder überflüssigen) Formalismusargument
stände eröffnete § 76a II 1 diese Möglichkeit darüber hinaus, „wenn aus rechtlichen
Gründen keine bestimmte Person verfolgt werden kann und das Gesetz nichts ande-
res bestimmt“. Etwas „anderes bestimmt“ hat z. B. der unmittelbar folgende § 76a II
2 u. a. für den Fall des fehlenden Strafantrags. Als weitere gesetzliche Ausnahme
kam § 78 I StGB (ebenfalls i. d. F. des 2. StrRG) in Betracht, wonach die Verjährung
„die Ahndung der Tat und die Anordnung von Maßnahmen“ ausschloß. Zu den
Maßnahmen i. S. dieser Bestimmung zählte unbestritten auch die Einziehung. Unbe-
friedigend war eine solche Annahme vor allem für den Bereich der sog. Pressein-
haltsdelikte, da dort in aller Regel eine extrem kurze Verjährungsfrist von sechs
Monaten vorgesehen war (und ist), gefährliche Schriften demnach kaum je im selb-
ständigen Verfahren hätten eingezogen werden können. Die frühere Rechtslage hätte
die Einziehung hingegen zugelassen.521 Aber nach Auffassung des BGH sprechen
Sinn und Zweck (S. 229 f.) sowie der Wille des Gesetzgebers, dem offensichtlich
ein Versehen unterlaufen sei (S. 228), dafür, daß sich an der bisherigen Rechtslage
nichts geändert hat. Aber wie kommt der BGH über den Wortlaut hinweg? Er er-
reicht das durch einen Rückgriff auf das normtheoretische Verhältnis zwischen
§ 76a II 1 und § 78 I: Dem Sicherungszweck der Einziehung werde es besser ge-
recht, § 76a II 1 als Ausnahmevorschrift zu § 78 I anzusehen (S. 227). Und da das
Verhältnis beider Vorschriften zueinander nicht eindeutig i. S. eines Vorrangs des
§ 78 I gedeutet werden könne, dürfe das Versehen des Gesetzgebers berücksichtigt
werden (S. 228). – Die Schwäche dieser Argumentation liegt in der fehlenden Ana-
lyse des Gesetzeswortlauts, denn daraus hätte einiges zur Bestimmung des Verhält-
nisses beider Normen zueinander gefolgert werden können.522 Nach Auffassung
Lackners stellt der BGH das Verhältnis sogar gegen den völlig eindeutigen Wortlaut
auf den Kopf.523 Zu weit geht allerdings Lackners Annahme, der Senat sehe § 76a
II 1 als lex specialis gegenüber § 78 I StGB (a. F.), denn der Senat sagt nur, das
Verhältnis beider Normen zueinander sei nicht eindeutig i. S. eines Vorrangs des
§ 78 I zu verstehen.524 Das genügt ihm, um sich den notwendigen Auslegungsspiel-
raum zu schaffen und das Gesetz im Einklang mit einem bereits vorliegenden Ände-
rungsentwurf525 vorzeitig zu korrigieren.
spricht der eindeutige Wortlaut hier gegen die Auffassung des BGH, der dem über-
mächtigen Wunsch nach einer praktikablen Lösung erlegen sei.
524 Siehe Lackner, in: Heidelberg-FS, S. 63. Die Entscheidung führt nur im Ergebnis
zur Annahme eines Vorrangs des § 76a II 1, nicht aber aufgrund von Erwägungen
zum normtheoretischen Verhältnis.
525 Das 21. StÄG vom 13.6.1985 (BGBl. I, S. 965) hat die Auslegung des BGH
durch Änderung des § 78 I schließlich legitimiert bzw. – nach Ansicht des BGH – die
Norm in diesem Sinn klargestellt, vgl. BGHSt 31, 226 (230 f.).
7. An der Wortlautgrenze 179
526 Anders läge es beim Verhältnis der Tateinheit, vgl. § 52 II StGB. Montenbruck
(wistra 1987, 7 [12]) bezeichnet den vorliegenden Fall als einen der „Gesetzesinter-
ferenz“, die zwischen Tateinheit und Gesetzeseinheit einzuordnen sei. Die Lösung des
BGH lasse besorgen, daß dieser eine „neue Strafbestimmung“ geschaffen habe, und
bewege sich damit am „Abgrund der Verfassungswidrigkeit“ (S. 7 und 9).
527 Ein Musterbeispiel für ein argumentum ad absurdum, näher unten VI 4.
528 Näher zur Wortlautunterschreitung bei geschriebenen und ungeschriebenen Kon-
Entscheidungen des BGH beanstandet oder zur Diskussion gestellt, von denen
noch folgende erwähnenswert sind:
Fall 100 (BGHSt 6, 131; 11, 228): Vor Einführung des heutigen § 15 enthielt das
StGB keine generelle Aussage zur Frage, wann ein Delikt auch in Form der Fahrläs-
sigkeit verwirklicht werden kann. Die Rechtsprechung ging zwar grundsätzlich von
der Notwendigkeit einer ausdrücklichen Anordnung der Schuldform aus, ließ es im
Einzelfall jedoch auch genügen, daß die Strafbarkeit der fahrlässigen Verwirkli-
chung aus dem Zusammenhang oder aus dem Zweck der Norm „mit Sicherheit er-
kennbar“ sei (S. 132). Der BGH bejaht das in BGHSt 6, 131 für § 330 StGB a. F.
(Verstoß gegen die Regeln der Baukunst). Einen Konflikt mit dem Analogieverbot
(Verbot der „rechtsähnlichen Anwendung“) sieht der Senat darin nicht: § 2 StGB (=
§ 1 StGB g. F.) verbiete nicht die Auslegung eines Strafgesetzes nach den anerkann-
ten Auslegungsregeln, auch wenn das zum Nachteil des Täters wirkt (S. 133). Zur
„Ausfüllung von Lücken eines Gesetzes“530 seien neben dem Wortlaut auch die
übrigen Auslegungskriterien zu berücksichtigen. Die Teilung der Schuld in die ver-
schiedenen Schuldarten sei erst Ergebnis längerer Rechtsentwicklung und vom Ge-
setzgeber in früherer Zeit nicht immer beachtet worden. Die Entstehungsgeschichte
des § 330 (a. F.) spreche für die Strafbarkeit des fahrlässigen Handelns. Im übrigen
seien vorsätzliche Verstöße gegen die Regeln der Baukunst nicht allzu häufig, fahr-
lässige Zuwiderhandlungen demnach Hauptanwendungsbereich der Vorschrift.531 –
Die Behandlung der Thematik unter dem Aspekt des Analogieverbots ist nicht ge-
rechtfertigt; vielmehr stellt sich die Frage, ob die Strafbarkeit wegen fahrlässigen
Handelns überhaupt in ausreichender Form „gesetzlich bestimmt“ war532, denn die
Delikte des StGB-BT schließen von ihrem Wortlaut her die Erfassung auch fahrläs-
siger Verwirklichung in der Regel nicht aus. Beachtlich ist allerdings das vom BGH
gezeigte Problembewußtsein533, das in BGHSt 23, 167 in Anbetracht der allgemei-
nen Rechtsentwicklung weitere Verstärkung findet und zu größerer Zurückhaltung
führt534.
530 Ein solcher Begriff der Gesetzeslücke weckt aus heutiger Sicht Bedenken. Ge-
meint ist damit jedoch nur, daß die Frage im Gesetz nicht ausdrücklich geregelt ist;
die Auffassung des BGH kann dennoch mit dem Wortlaut vereinbar sein (vgl. oben
BGHSt 8, 66 = Fall 56).
531 Diese Argumentation erscheint – zumindest wenn vorsätzliche Verstöße denkbar
sind – zirkulär, denn was Anwendungsbereich der Norm ist, soll gerade ermittelt wer-
den.
532 So zutreffend BGHSt 23, 167 (171) für eine entsprechende Konstellation. Wie
BGHSt 6, 131 behandelt wohl auch Tröndle (in: LK-StGB10, § 1, Rn. 50) die Frage
zu Unrecht unter dem Gesichtspunkt einer Wortlautüberschreitung. Im Ergebnis mag
das keinen Unterschied machen. Zu den Problemen der Abgrenzung zwischen Analo-
gieverbot und Bestimmtheitsgebot siehe unten V 7 e.
533 Anders die überwiegende Kommentarliteratur zu § 330 StGB a. F., vgl. z. B.
Werner, in: LK-StGB8, § 330, Anm. X, Mösl, in: LK-StGB9, § 330, Rn. 13 und
Schönke/Schröder, StGB8, § 330, Anm. 4; Bedenken aber bei Kohlrausch/Lange,
StGB41, S. 598.
534 Vgl. vor allem BGHSt 23, 167 (171 f.). Der Ansatzpunkt von BGHSt 6, 131
Merkwürdig schwer tut sich der BGH in BGHSt 11, 228 mit dem Verständnis von
§ 11 OWiG (i. d. F. von 1952). Diese Vorschrift sollte die oben dargestellten Unge-
wißheiten für den Bereich der Ordnungswidrigkeiten gerade vermeiden, denn da-
nach konnte eine Ordnungswidrigkeit nur bei vorsätzlichem Handeln geahndet wer-
den, „sofern nicht durch Gesetz etwas anderes bestimmt ist“. Zur völligen Klarheit
fehlt dem BGH jedoch der Zusatz „ausdrücklich“ (bestimmt), der bei der Regelung
zum Versuch (§ 9 OWiG a. F.) bereits enthalten war.535 Diese feinsinnige Argumen-
tation, die trotz § 11 OWiG die Entscheidung wieder von der Auslegung der jewei-
ligen Norm abhängig machen würde, verwirft der BGH dann letztlich doch, u. a. mit
dem Hinweis auf die Absichten des Gesetzgebers und darauf, daß § 11 OWiG sonst
überflüssig wäre (S. 231 f.).
Fall 101 (BGHSt 14, 198; vgl. auch BGH MDR/D 1954, 16; RGSt 13, 257; RG JW
1924, 1736 – „Einsteigen“ durch „Einkriechen“?): Wird mittels „Einsteigens“ in ein
Gebäude gestohlen (§ 243 I Nr. 2 StGB a. F.), wenn der Täter durch ein Oberlicht-
fenster ins Haus „kriecht“? Nach Ansicht des BGH ist es allein entscheidend, ob der
Täter auf eine dafür nicht vorgesehenen Weise und nach Überwindung eines Hinder-
nisses in den Raum gelangt, nicht aber, ob er dabei kriecht oder aufrecht geht
(S. 200). Das Hineinkriechen stehe dem Einsteigen gleich (BGH MDR/D 1954, 16).
Das RG, auf das der BGH verweist, führt zu Recht aus, daß es auf die Bewegung
des „Steigens“ nicht ankommt (RGSt 13, 257 [258]). Mißverständlich ist allerdings
die in RG JW 1924, 1736 enthaltene Äußerung, es komme nicht auf die „wörtliche
Bedeutung“ des Begriffs „Einsteigen“ an (statt dessen besser: „engste“ oder „im Be-
griffskern angesiedelte“). – Mit dieser Auslegung ist der sprachliche Rahmen nicht
verlassen.536 Mit „Einkriechen“ ist die Vorgehensweise des Täters zwar phänomeno-
logisch besser umschrieben, aber die Subsumtion dieses Verhaltens unter den umfas-
senderen Gesetzesbegriff des „Einsteigens“ ist dadurch nicht ausgeschlossen.537 Der
Gesetzgeber kann die Wirklichkeit nicht immer mit der höchst möglichen Sprach-
Präzision erfassen.
Fall 102 (BGHSt 24, 48; abl. Anm. Dreher, NJW 1971, 1046): Nach früherer
Rechtslage kam ein strafbefreiender Rücktritt vom Versuch nur in Betracht, wenn
die Tathandlung noch nicht „entdeckt war“ (§ 46 Nr. 2 StGB a. F.). Nach Auffas-
sung des BGH kann „Entdecker“ der Tat auch der Verletzte selbst sein. Für eine
Einschränkung der Norm sprächen weder Wortlaut noch Sinn der Norm. Dreher
(a. a. O.) rügt die apodiktische Kürze der Entscheidungsgründe und hält dem BGH
vor, den Wortlaut beiseite geschoben zu haben. Der deutschen Sprache werde „Ge-
walt angetan“, wenn man annähme, das mit einem Messer oder einer Waffe ange-
griffene Opfer „entdecke“, daß man es verletzen oder töten will. Entdeckt werden
535 Seit 1968 auch bei der Vorschrift zum Vorsatz (§ 5 OWiG i. d. F. von 1968;
heute: § 10 OWiG).
536 A.A. wohl Schmidhäuser, Strafrecht AT, 5/42 f., der BGHSt 14, 198 als Beleg
für seine These aufführt, daß die Rechtsprechung das Unmögliche möglich macht. Der
Duden (Großes Wörterbuch, Bd. 2, S. 983) erwähnt als Beispiel für das „Einsteigen“
u. a. das Hineinklettern durch ein Kellerfenster! Auf die Körperhaltung dürfte es dabei
wohl nicht ankommen.
537 Fuchs (JW 1924, 1736) meint, „wie bei den meisten Komposita ist auch bei
könne nur etwas, was bereits existiert (S. 1047, unter Berufung auf Grimms Wörter-
buch). Der Entdecker stehe zur Sache im Verhältnis des Subjekts zum Objekt, könne
folglich nicht Objekt der Tat selbst sein; die Entdeckung durch ihn sei begrifflich
ausgeschlossen, was bereits das Reichsmilitärgericht (Nachweis a. a. O.) so gesehen
habe. Im Ergebnis könne nur ein Dritter die Tathandlung entdecken. Die Ausdeh-
nung auf den Verletzten stelle „im Grunde eine Analogie zuungunsten des Täters
dar.538 Eine solche Analogie wäre, wenn nicht verboten, so doch zumindest fragwür-
dig und könnte nur durch starke“ teleologische Argumente gerechtfertigt werden.539
– Die Erwägungen Drehers zur Wortlautauslegung sind kaum zwingend. Sprachlo-
gisch kann eine Person sehr wohl etwas entdecken, was mit ihr selbst geschieht,
z. B. daß eine Warze am Körper wächst, die Haare ausfallen oder daß eine Zecke
sich festgebissen hat und Blut saugt. Zudem spricht das Gesetz von der „Handlung“,
die noch nicht entdeckt sein darf, womit das Verhalten gemeint ist, mit dem der
Täter zur Verwirklichung des Tatbestandes unmittelbar ansetzt. Warum soll das Op-
fer nicht entdecken (erkennen) können, daß es sogleich durch eine solche Angriffs-
handlung betroffen sein wird oder verletzt werden kann? Richtig ist, daß der An-
wendungsbereich des § 46 Nr. 2 StGB a. F. durch eine solche Interpretation un-
zweckmäßig verengt wird, aber der Begriffshof ist dadurch nicht überschritten. Eine
nähere Darlegung dieses Aspekts durch den BGH wäre wünschenswert, in Anbe-
tracht entsprechender Vorentscheidungen des RG aber nicht nötig gewesen.540
Nach diesen umfangreichen Analysen gilt es, auf den Ausgangspunkt der
Überlegungen zur Wortlautgrenze zurückzukommen und zu beantworten, ob das
durch die Rechtsprechung vermittelte Bild tatsächlich so düster ist wie zuweilen
behauptet, ob wirklich Beliebigkeit herrscht und sprachlich Unmögliches mög-
lich gemacht wird. Ist dem BGH (BGHSt 40, 272 [279]) recht zu geben, wenn
er die Wortlautschranke aufgrund der „Manipulierbarkeit des Sprachgebrauchs“
nur für begrenzt leistungsfähig hält? In Anbetracht der im Einzelfall auftreten-
den Schwierigkeiten kann letztgenannte Aussage des BGH vielleicht als Ver-
such der Entlastung gesehen werden, um die hohen Erwartungshaltungen auf
538 Die genaue Konstruktion ist interessant: Bei § 46 StGB a. F. (und § 24 g. F.)
handelt es sich um eine strafbefreiende Norm, so daß eigentlich nur die sprachwidrige
Reduktion (Wortlautunterschreitung) verboten wäre. Andererseits handelt es sich bei
der „noch nicht entdeckten Handlung“ um ein Merkmal, das beim Vorliegen seiner
Voraussetzungen der Anwendung der Norm entgegensteht. Stellt man nur auf dieses
Merkmal ab, liegt mithin eine sprachwidrige Wortlautüberschreitung zulasten des Tä-
ters vor. Im Hinblick auf die Gesamtwirkung der (günstigen) Norm bleibt es hingegen
dabei, daß diese reduziert wird (näher unten III 7 h). – Einen Fall der Reduktion des
§ 46 Nr. 2 StGB a. F. durch das RG (RGSt 38, 402; 63, 158) behandelt Krey, Studien,
S. 167 f.
539 Diese Meinung Drehers zum Analogieverbot (S. 1047, r. Sp.) ist abzulehnen und
541 Bezüglich BGHSt 40, 272 ist zudem auf die Besonderheit hinzuweisen, daß es
um die Gesetzesauslegung durch Richter der DDR ging. Der Senat hat die Wortlaut-
grenze insoweit nur halbherzig berücksichtigt (vgl. oben Fn. 255); offenbar paßte da-
bei die generelle Herabwürdigung des Grenzkriteriums gut ins Konzept.
542 Siehe Küper, JZ 1997, 229 (231), Anm. zu BGHSt 42, 158 = unten Fall 104.
543 Vgl. z. B. den Vorwurf Rengiers gegenüber BGHSt 28, 100 (oben Fn. 425).
544 Deshalb ist es fragwürdig, wenn Roxin (Strafrecht AT I, § 5, Rn. 35) einige Ent-
scheidungen, welche die Subsumtion unter Berufung auf die Wortlautgrenze ablehnen,
als „erfreuliche Rückbesinnung auf das Gesetzlichkeitsprinzip“ lobt, ohne zu prüfen,
ob der BGH (in sprachlicher Hinsicht!) zu Recht so entschieden hat. Das ist bei eini-
gen der genannten Urteile sehr zweifelhaft (z. B. BGHSt 34, 171 = oben Fall 72 und
BGHSt 37, 226 = oben Fall 73).
184 III. Wortlaut und Wortsinn
545 Zur Selbstkontrolle kann es nützlich sein, die eigene Lösung gedanklich dem
Fachpublikum vorzustellen, vgl. oben Kap. II, Fn. 59. Zumindest unbewußt wird das
in der Regel ohnehin geschehen.
546 Damit soll nicht einer generellen Auslegungsregel „in dubio pro mitius“ das
„Absatzerfolg“.
548 Insbesondere können solche (unbegründeten) Behauptungen der Vereinbarkeit
mit dem Gesetzestext nicht ihrerseits Beleg für die Mehrdeutigkeit des Ausdrucks und
die Zulässigkeit jeder extensiven Auslegung sein, vgl. oben den Text zu Fn. 319.
549 Nicht zugestimmt werden kann deshalb der Annahme Küpers (JuS 1996, 783
[786, Fn. 21]), daß der wissenschaftliche Streit um den möglichen Wortsinn „meist
unfruchtbar“ ist. Unfruchtbar ist der Streit nur, wenn er ohne Argumente betrieben
wird. Von einem dezisionistischen Standpunkt aus ist allerdings die gesamte Ausle-
gungsprozedur „unfruchtbar“ und auch nicht „wissenschaftlich“.
7. An der Wortlautgrenze 185
hat der BGH letztlich sogar selbst eine Norm kreiert, die dann nachträglich vom
Gesetzgeber in geschriebenes Recht umgesetzt wurde. Schon fast ignorant ver-
schließt die Rechtsprechung sich in Fall 93 („Erfolg der Strafvereitelung“) ge-
genüber den vorgetragenen Argumenten; hier sollte der BGH sich zu einer
Nachrationalisierung oder zur Aufgabe seiner Ansicht entschließen. Strafbar-
keitslücken sind ebensowenig zu befürchten wie bei BGHSt 27, 45. Daß es sich
– solange keine befriedigende Begründung erfolgt ist – lohnt, an Bedenken
hartnäckig festzuhalten, zeigt Fall 92 („Zweierbande“), auch wenn der Große
Senat sich letztlich bei dem von ihm vollzogenen Rechtsprechungswandel ge-
rade nicht auf die sprachlichen Einwände berufen hat. Für sich steht Fallgruppe
6, denn Methodenehrlichkeit verlangt es, das selbst propagierte Grenzkriterium
Gesetzeswortlaut ernst zu nehmen oder es konsequent aufzugeben. Vor allem
die häufig zu beobachtende Diskreditierung der Wortlautauslegung als lediglich
„förmliches“ Argument („haftet am Wortlaut“, „bloß formale Erwägungen“) ist
nicht akzeptabel, besteht doch gerade darin die Stärke als einigermaßen hand-
habbares und einfaches Abgrenzungskriterium. Die Entscheidungsbegründungen
in diesem Bereich machen es dem Kritiker oft leicht, indem sie die möglichen
Einwände zumeist gleich mitliefern. Zuweilen scheint die Not der Senate auf
dem Weg zum billigen Ergebnis doch so groß zu sein, daß sie von einer aus-
drücklichen Preisgabe des Grenzkriteriums „Wortlaut“ nicht mehr weit entfernt
sind (Fall 83 – „Entziehung einer nicht existierenden Fahrerlaubnis“). Der
Schmerz der Grenze wird hier fühlbar – in gewisser Weise ein Erfolg der her-
kömmlichen Auslegungslehre, die Begründungsmängel und Verschleierungen
zwar nicht ausschließen kann, aber immerhin erkenn- und damit angreifbar
macht. Die Gefahr von „Scheinbegründungen“ ist demgemäß gering, denn ent-
scheidend ist allein die methodologische Vertretbarkeit der dargelegten Gründe.
Zweifelhafte Lösungen gehen regelmäßig mit fragwürdigen Begründungen ein-
her, während die Einfachheit551 der Lösung oft Indiz für ihre Richtigkeit ist
(vgl. z. B. Fall 79 und Fall 83).
Noch ein Wort zu den Motiven, die den BGH dazu veranlassen, sich im
Grenzbereich weit hervorzuwagen oder die Grenze sogar zu überschreiten. Man
darf den Senaten unterstellen, daß sie um gerechte und dogmatisch sinnvolle
Lösungen bemüht sind. Nur selten ist es hingegen die Angst um „Strafbar-
keitslücken“, die den BGH treibt, denn kaum jemals geht es um die Situation
Strafbarkeit oder Freispruch, und sollte es doch einmal so sein (vgl. z. B. Fall
76 und Fall 79), wiegen die Lücken in der Regel nicht schwer. Des öfteren
verhelfen die Strafsenate dem gesetzgeberischen Willen bei verunglückter Ge-
setzesfassung doch zum Durchbruch (Fall 54 – „Absatzerfolg“, Fall 34 –
setzen, könnte mit den Eigenheiten der Ausbildung womöglich auch die (theoretische)
Geringschätzung der Entstehungsgeschichte als Auslegungshilfe erklärt werden.
7. An der Wortlautgrenze 187
den muß, dürfte ein sehr unterschiedlicher sein und von Empfindlichkeiten des
jeweiligen Interpreten abhängen. Wem es selbst eher auf materielle Kriterien
ankommt, wird die Rechtsprechung als „engherzig“ betrachten, wer das formale
Abgrenzungskriterium „Wortlaut“ aus rechtsstaatlichen Erwägungen schätzt und
darüber hinaus noch sprachsensibel ist, wird ihr einen zu großzügigen Umgang
damit vorwerfen; wem die Wortlautgrenze generell ein Dorn im Auge ist, wird
die „gelegentlichen Ausrutscher“ sogar als Belege für eine beliebig verfahrende
Rechtsprechung anführen, die das Unmögliche möglich macht. Im Schrifttum
stehen deshalb sehr gegensätzliche Positionen nebeneinander: Auf der einen
Seite wird eine spürbare Tendenz der Rechtsprechung zu erweiternder Ausle-
gung diagnostiziert557, auf der anderen Seite eine zunehmend stärkere Respek-
tierung der Wortsinnschranke beobachtet558. Das reichhaltige Rechtsprechungs-
material sperrt sich jedoch gegen eine quantitativ-chronologische Auswertung,
die zu viele Faktoren559 berücksichtigen müßte, und kann ohne weiteres in die
eine oder andere Richtung aufbereitet werden. Obwohl in vorliegender Arbeit
versucht wurde, die „Problemfälle“ der gesamten amtlichen Sammlung weitge-
hend zu erfassen und in Fallgruppen zu systematisieren, hat sich nur der unsi-
chere Eindruck eingestellt, daß die Rechtsprechung eher zurückhaltender gewor-
den ist. Wenn man eine Grenze oder einen Wendepunkt markieren will, könnte
vielleicht auf die Entscheidungen BGHSt 25, 10 (Fall 86); 26, 95 (Fall 87) und
27, 45 (vgl. oben S. 166) verwiesen werden – ein letzter „Schub“ zweifelhafter
und zumindest wortlautferner Interpretationen, die viel Widerspruch erfahren
haben. Seitdem ist die rechtsstaatliche Funktion des Art. 103 II GG stärker in
den Mittelpunkt getreten, auch wenn noch einige „alte Zöpfe“ abzuschneiden
sind. Nicht auszuschließen ist, daß das zwischenzeitlich – aber nicht von Be-
ginn an! – erfolgte und wiederholte Bekenntnis des BVerfG zur Wortlaut-
grenze560, die restriktivere Tendenz der Fachgerichte begünstigt hat.
Freilich ist der unmittelbare Einfluß des BVerfG in dieser Frage schwer zu bestim-
men. Ein Exempel, etwa durch Aufhebung einer BGH-Entscheidung wegen Über-
556 So das Urteil Roxins, Strafrecht AT I, § 5, Rn. 35, das man übrigens auch ohne
weiteres auf die Rechtsprechung des RG übertragen könnte! (Vgl. oben III 7 g aa.)
Siehe bereits Jescheck (GA 1954, 322 [325]) bei seiner Rückschau auf die Bände
BGHSt 1–5: Vereinzelte Wortlautüberschreitungen (z. B. BGHSt 1, 47 = unten Fall
163; 5, 124 = Fall 89) seien Ausnahmen von der Regel, daß rechtsstaatliche Erwägun-
gen selbst dem besten kriminalpolitischen Bedürfnis vorgehen.
557 Eser, in: Schönke/Schröder, StGB26, § 1, Rn. 56 a. E.; zur frühen Rechtspre-
chung Grünwald, ZStW 1964, 1 (2) und Noll, ZStW 1964, 707 (709).
558 Krey, ZStW 1989, 838 (849 f.) mit Beispielen.
559 Z. B.: Standen vermehrt neue oder alte Gesetze zur Entscheidung? Welche Be-
sonderheiten müssen anläßlich des Zusammenbruchs 1945 für die unmittelbare Nach-
kriegszeit berücksichtigt werden? Welchen Einfluß auf diese Thematik haben einschlä-
gige Äußerungen des BVerfG? Waren frühere Entscheidungen der gleichen kritischen
Prüfungen durch das Schrifttum ausgesetzt wie heute?
560 Siehe die Nachweise oben Fn. 221.
188 III. Wortlaut und Wortsinn
schreitung der Wortlautgrenze, hat das BVerfG nicht gesetzt. Aber schon in der er-
sten Entscheidung zur Sitzblockade (BVerfGE 73, 206 zu § 240 StGB), in der die
weite Interpretation des Gewaltbegriffs nur knapp verfassungsrechtlicher Prüfung
(Art. 103 II GG) standhielt, kann eine eindringliche Mahnung zur Respektierung
der Wortlautgrenze erkannt werden. Ein auf den Wortlaut der Norm gestützter ver-
fassungsgerichtlicher Eingriff in einen dermaßen wichtigen Bereich hätte erhebliche
Konsequenzen für das Selbstverständnis der Strafgerichtsbarkeit, so daß bereits die
Drohung disziplinierend wirken dürfte.
Bei der Beurteilung des tatsächlichen Umgangs des BGH mit der Wortlaut-
grenze ist nochmals zu betonen, daß das Grenzkriterium selbst lange Zeit nicht
gesichert war (siehe oben III 7 a), weder in Rechtsprechung noch im Schrift-
tum. Schon deshalb kann es nicht überraschen, daß die frühere Rechtsprechung
des BGH im Ergebnis auch praktisch einen großzügigeren Umgang mit dem
Gesetzestext an den Tag legte als die jüngeren Urteile und daß daran auch we-
niger Kritik geübt wurde561. Denn wenn bereits die theoretische Leitlinie unklar
ist, kann an die praktische Umsetzung kein hoher Maßstab angelegt werden. Zu
kritisieren sind insofern allerdings besonders Entscheidungen, die zu dieser Pro-
blematik keine Stellung beziehen, so daß der methodische Standpunkt offen
bleibt.
Schwer zu sagen ist, ob die Literatur ein besseres Bild abgibt als die Straf-
senate des BGH. Im Ergebnis ist das wohl nicht der Fall. Hier wie dort sind die
gleichen Schwächen zu finden: Evidenzbehauptungen nach Sprachgefühl562,
Begründungsmängel und phantasiereiche Auslegungskunststücke563, die das ver-
nünftige Ergebnis trotz begrifflicher Zweifel durchzusetzen vermögen. Tenden-
ziell ist im Schrifttum allerdings festzustellen, daß in der Nachkriegszeit – ge-
rade in der Kommentarliteratur – die Sensibilität dafür, was sprachlich noch
möglich erscheint, spürbar gewachsen ist. Das ist wie bei der Rechtsprechung
darauf zurückzuführen, daß sich auch in der Literatur das Grenzkriterium
„Wortlaut“ erst im Lauf der Zeit mehr und mehr durchgesetzt hat. So nehmen
frühere Auflagen des „Leipziger Kommentars“ und des „Schönke/Schröder“
wortlautferne Interpretationen aus der Rechtsprechung wesentlich großzügiger
zur Kenntnis, als dies heute geschieht, jedoch von einem grundlegend anderen
methodischen Standpunkt aus.564 Deshalb sind literarische Stellungnahmen aus
561 Zur heute so oft diskutierten Entscheidung „Forstdiebstahl“ (BGHSt 10, 375 =
solche Auffassung sei sprachlich „beim besten Willen“ nicht mehr möglich (siehe Stu-
dien, S. 158, 164, 167); im Ergebnis hat Krey in den von ihm geprüften Fällen freilich
recht. Ähnlich Roxin, Strafrecht AT I, § 5, Rn. 34, der einige Fälle von Wortlautüber-
schreitungen aufzählt, dafür aber – offenbar der Zustimmung des Lesers gewiß – keine
Begründungen gibt.
563 Vgl. Welzel, oben S. 149; Küper zu Fall 68, Lackner, oben S. 166, Schroeder zu
Fall 43. Ist es Zufall, daß es sich gerade bei den Genannten um ausgewiesene Straf-
rechtsdogmatiker handelt?
7. An der Wortlautgrenze 189
heutiger Zeit regelmäßig aussagekräftiger, wenn sie auf die Respektierung der
Wortlautgrenze hin untersucht werden sollen. Ein echter Vergleich von Literatur
und Rechtsprechung unter dem Gesichtspunkt der methodologischen Stimmig-
keit läßt sich ohnehin kaum durchführen, denn naturgemäß wird ein Schriftstel-
ler seinen methodologischen Standpunkt widerspruchsfreier praktizieren kön-
nen, als das bei verschiedenen Strafsenaten (über einen längeren Zeitraum!) der
Fall sein kann, während das Schrifttum insgesamt sicher ein heterogeneres Bild
abgibt als die Rechtsprechung des höchsten Revisionsgerichts.565
In Anbetracht der zahlreichen hier besprochenen Entscheidungen, die im
Grenzbereich zweifelhaft verfahren, ist abschließend noch eine gewisse Rela-
tivierung vorzunehmen: Überschreitungen der Wortlautgrenze wiegen schwer,
aber in Hinblick auf den durch das Analogieverbot geschützten Bürger im Er-
gebnis auch nicht schwerer als jede sonstige „unrichtige“ Auslegung zu seinen
Lasten, etwa im Bereich der Systematik, Teleologie oder sonstwo. Und schaut
man auf den hinter den formalen Abgrenzungskriterium stehenden Zweck des
Art. 103 II GG, den Bürger vor überraschenden Entscheidungen zu schützen,
dann wird man in den dargestellten Fällen nur selten eine Beeinträchtigung des
Vertrauensschutzes erkennen können.566 Nachdenklich stimmt eher, daß die
Rechtsprechung gerade in einem Grenzbereich so große Probleme hat und zu
Begründungsschwächen neigt, der – jedenfalls nach Auffassung des BVerfG –
auch dem Laien zugänglich und aus dessen Perspektive zu bestimmen sein soll.
Der richtige Weg führt deshalb nicht dahin, resignativ die „Manipulierbarkeit
des Sprachgebrauchs“ zu konstatieren, sondern dahin, sich die Vorteile des for-
malen Abgrenzungskriteriums „Wortlaut“ zunutze zu machen567 und Begrün-
dungsmängel zu vermeiden.
Anm. VII (S. 49): „Entscheidend für das Strafrecht ist, daß der Strafrichter niemals
etwas bestrafen darf, was sich aus dem Gesetz nicht als strafbar ergibt . . .“. Vgl. au-
ßerdem Jagusch, in: LK-StGB7, § 2, Anm. 1 d und Kohlrausch/Lange, StGB41, S. 31 f.
565 Auch ein Großkommentar taugt kaum als Vergleichsmaßstab, denn dessen Be-
arbeiter erheben gar nicht erst den Anspruch eines einheitlichen methodischen Stand-
punkts.
566 Es wäre aber verfehlt, deshalb das konkrete Abgrenzungskriterium (Wortlaut-
grenze) gegen den vagen, hinter Art. 103 II GG stehenden Kontrollmaßstab der Vor-
hersehbarkeit auszutauschen.
567 Die Vorteile bestehen nach Hassemer (in: AK-StGB, § 1, Rn. 79) gerade in der
Verhinderung von Manipulationen, denn der Gesetzestext sei gegenüber der juristi-
schen Auslegung ein „externes“ Kriterium, welches die Rechtsanwendung von außen
her begrenze. Die umgangssprachliche Bedeutung könne mit Hilfe von Lexika, der
fachssprachliche Begriffsumfang durch Zusammenstellung bisheriger Entscheidungen
ermittelt werden. Enttäuschend sei allerdings die praktische Umsetzung dieser Einsich-
ten durch die Rechtsprechung (Rn. 81).
190 III. Wortlaut und Wortsinn
568 Bzw. ein „positiver Kandidat“ (im „Begriffskern“) gegeben ist, siehe Kramer,
571 Siehe dazu Mitsch, in: Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht AT, § 16, Rn. 30 f.
mit Beispielen.
572 Siehe dazu auch schon Fn. 538 zu Fall 102 sowie unten Fall 103.
573 Siehe BGHSt 42, 158 (161) = unten Fall 104 und BGHSt 42, 235 (241). Zur
Anwendbarkeit des Analogieverbots auf die sog. objektiven Bedingungen der Strafbar-
keit vgl. oben Fn. 422, zur Anwendbarkeit auf Konkurrenzregeln sogleich Fall 105 und
Fall 106.
574 Nachweise bei Jähnke, in: BGH-FS, S. 395.
575 Z. B. Roxin, Strafrecht AT I, § 5, Rn. 42, Krey, Strafrecht AT I, Rn. 103 und
keitsprinzips folgert, daß dieses zwar für Rechtfertigungsgründe, nicht aber für Vor-
schriften über die Schuldfähigkeit gelten soll (actio libera in causa!). Aus Art. 103 II
GG kann dies freilich kaum schlüssig abgeleitet werden.
577 Diese Ansicht kann zu schwierigen Folgeproblemen führen, wie etwa zur Frage,
ob ein vom Wortlaut her erfüllter Rechtfertigungsgrund (z. B. § 34 StGB) durch einen
spezielleren, aber nicht erfüllten (z. B. § 904 BGB) zuungunsten des Täters verdrängt
werden kann; eingehend dazu Thiel (wie Fn. 575). Abstrakt gesehen ist danach zu
fragen, wie sich eine ungeschriebene (!) Konkurrenzregel wie der lex-specialis-Grund-
satz im Bereich der Rechtfertigungsgründe zu Art. 103 II GG verhält (vgl. unten
BGHSt 1, 152 = Fall 106). Die Thematik ist allerdings nicht sonderlich praxisrelevant,
wie sich gerade im Verhältnis von § 34 StGB zu § 904 BGB zeigt: Die h. M. gelangt
bei diesen Normen kaum je zu unterschiedlichen Ergebnissen.
192 III. Wortlaut und Wortsinn
578 Siehe auch BGHSt 16, 210 (Fall 95) zum Außerachtlassen einer im Vergleich
günstigeren Einziehungsnorm.
579 Siehe Winkelbauer, JR 1988, 33 (35) und Tiedemann, in: LK-StGB11, § 283c,
II GG; Winkelbauer, JR 1988, 33 (35): Argumente des BGH nicht geeignet, Bedenken
aus Art. 103 II GG zu zerstreuen. Zustimmend hingegen Tiedemann, in: LK-StGB11,
§ 283c, Rn. 11: Von einer Einschränkung des Gläubigerbegriffs „in seinem Kernge-
halt“ könne keine Rede sein. Die Argumentation Tiedemanns (a. a. O., am Ende), die
auf den Grund der Privilegierung abstellt, erweckt freilich nicht minder den Verdacht
einer teleologischen Reduktion.
7. An der Wortlautgrenze 193
Fall 104 (BGHSt 42, 158 = oben Fall 14): Eine unzulässige Reduktion eines Straf-
ausschließungsgrundes sieht der BGH in der Ansicht, die einen strafbefreienden
Rücktritt (§ 24 StGB) ausschließen will, wenn der Täter eines erfolgsqualifizierten
Delikts schon im Versuchsstadium die schwere Folge herbeigeführt hat (z. B. den
Tod eines Menschen beim versuchten Raub, §§ 249, 251, 22 StGB). Der Wortlaut
des § 24 sei eindeutig; mit dem Rücktritt vom Grunddelikt (Versuch des Raubes,
§§ 249, 22) verliere die Qualifikation (Raub mit Todesfolge, § 251) ihren Anknüp-
fungspunkt (S. 160).583 Die Gegenauffassung dehne die Strafbarkeit unzulässig zu-
lasten des Täters aus (S. 161):
„Ebensowenig wie die analoge Anwendung einer strafbegründenden Vorschrift über
ihren eindeutigen, einer abweichenden Auslegung nicht mehr zugänglichen Wortlaut
hinaus allein im Hinblick auf den Normzweck . . . ist die Einschränkung einer die
Strafbarkeit ausschließenden Vorschrift über ihren möglichen Wortsinn hinaus zuläs-
sig . . .“.
Zunächst ist mit Küper (JZ 1997, 229 [231 f.]) darauf hinzuweisen, daß vorliegend
keine Wortlautüber-, sondern eine Wortlautunterschreitung zur Diskussion steht,
denn nach Ansicht des BGH läßt die Gegenauffassung § 24 außer Betracht, obwohl
dessen Wortlaut eindeutig erfüllt ist. Fraglich ist allerdings, ob der Ausschluß des
Rücktritts bei Eintritt der schweren Folge in sprachlicher Hinsicht tatsächlich mit
§ 24 unvereinbar ist, die Norm also trotz Vorliegens eines „positiven Kandidaten“
verneint würde.584 Diese Schlußfolgerung – das wird aus der Begründung des BGH
deutlich – hängt zwar von einigen dogmatischen Vorannahmen bezüglich der Ver-
suchsdogmatik und des Verhältnisses von Grunddelikt und Abwandlung ab; da es
jedoch erneut auf die fachsprachliche Bedeutung ankommt, schließen diese juristi-
schen Erwägungen die Annahme einer Wortlautunterschreitung nicht aus. Küper
hält es bei einheitlicher Betrachtung der §§ 249, 251 als eine Tat i. S. von § 24 zu-
mindest für vertretbar (kein „gravierender Wortsinnverstoß“, S. 232), daß mit dem
Eintritt der schweren Folge die Tat bereits „im wesentlichen“ ausgeführt oder voll-
endet sei und damit ein Aufgeben nicht mehr in Betracht komme;585 die Argumen-
tation vom „eindeutigen Wortlaut“ stehe jedenfalls auf unsicherem Boden. – Küper
zeigt, wie weit ein noch mögliches fachsprachliches Verständnis getrieben werden
kann, aber näher liegt es, die Grenzen der Auslegung hier schon als überschritten
anzusehen. Denn vom Ausgangspunkt der herrschenden Versuchsdogmatik her ist
ein „glatter“ Fall von § 24 I 1 gegeben586, der allenfalls an der mangelnden „Frei-
willigkeit“ des Rücktritts scheitern kann (BGH, S. 161). Der „noch mögliche fach-
583 Bereits hier wird deutlich, daß die Annahme des BGH von einigem dogmati-
sinnauslegung zur Lösung nicht geeignet; Jäger, NStZ 1998, 161 (163): „Überzogen“,
das Ergebnis auf das Analogieverbot zu stützen; Küper, JZ 1997, 229 (231 f.); Roxin,
Strafrecht AT II, § 30, Rn. 290.
585 Die Argumentation ist spitzfindig („im wesentlichen“) und leuchtet gerade bei
einer Gesamtbetrachtung von §§ 249, 251 StGB nicht ein: Folgerichtig müßte dann
z. B. bei einem einfachen Raub der Rücktritt ausscheiden, wenn mit der Wegnahme
oder der Gewalt bereits „wesentliche“ Komponenten vollendet wären. Küper zust. Ro-
xin, Strafrecht AT II, § 30, Rn. 290.
194 III. Wortlaut und Wortsinn
sprachliche Wortsinn“ (siehe dazu oben III 7 b, S. 118 ff.) wäre damit zulasten des
Täters unterschritten.
Fall 105 (BGHSt 43, 237; 47, 243 – „Subsidiaritätsklausel“): Wegen der Subsidiari-
tätsklausel des § 125 I StGB („wird . . . bestraft, wenn die Tat nicht in anderen Vor-
schriften mit schwererer Strafe bedroht ist“) sieht BGHSt 43, 237 (238) in der Auf-
fassung der Vorinstanz, trotz Vorliegens des schärferen § 223a (a. F.) noch § 125
anzuwenden, einen klaren Verstoß gegen den Gesetzeswortlaut. Die frühere Recht-
sprechung, die hiervon unter Hinweis auf Sinn und Zweck Ausnahmen zugelassen
habe587, sei in Anbetracht der Auffassung der Gerichte zum „möglichen Wortsinn“
als Grenze jeder Auslegung überholt (S. 239). Ein Wille des Gesetzgebers, § 125
„über seinen Wortlaut hinaus“ anzuwenden588, sei zudem nicht ersichtlich.
Noch deutlicher wird BGHSt 47, 243 bei der seit 1998 in § 246 I enthaltenen Sub-
sidiaritätsklausel, die derjenigen des § 125 I entspricht. Im konkreten Fall stand die
Unterschlagung in Tateinheit zu einem Totschlag. Da bei Tateinheit „regelmäßig“
nur eine „Tat“ vorliege (a. a. O.), mußte § 246 nach Ansicht des BGH somit zurück-
zutreten. Der Gegenauffassung, welche – dem Grundgedanken der Subsidiarität ent-
sprechend – die Klausel nur anwenden will, wenn das schwerwiegendere Delikt
ebenfalls ein Zueignungs- oder Vermögensdelikt ist,589 erteilt der BGH unter Hin-
weis auf den entgegenstehenden Gesetzeswortlaut eine Absage (S. 244). Ein mög-
licherweise anderslautender Wille des Gesetzgebers sei dort (anders als etwa in
§ 265) nicht zum Ausdruck gekommen und könne folglich nicht Grundlage einer
Auslegung zulasten des Angeklagten sein (S. 245). – Die klare Linie des BGH, die
sich auf abweichend formulierte Subsidiaritätsklauseln stützen kann (Umkehrschluß)
und den Gesetzgeber für die Zukunft zu mehr Sorgfalt zwingt, verdient Beifall.590
Die Gegenansicht mag zu sachgemäßeren Lösungen führen, doch ist das kein aus-
reichender Grund, um vom sonst in der Konkurrenzlehre üblichen Begriff der „Tat“
abzuweichen, nach dem auch Delikte mit ganz unterschiedlicher Schutzrichtung
586 Wohl ebenso Kudlich, JuS 1999, 349 (355): Einschränkung der klaren Regelung
des § 24 sei Bedenken aus Art. 103 II GG ausgesetzt. Martin (JuS 1997, 178) hätte
eine genauere Wortinterpretation des BGH erwartet.
587 Schon BGHSt 24, 72 (80 f.) hat sich allerdings gegen einen ähnlichen Ein-
schränkungsversuch gewandt: Der gegenteiligen Auffassung des OLG sei zwar zuzuge-
ben, daß der Gesetzgeber vielleicht besser auf die Subsidiaritätsklausel verzichtet
hätte, aber das sei eben nicht geschehen!
588 Es kommt wieder darauf an, wie man konstruiert: In der Einschränkung der
II 1, § 2, Rn. 75. Entsprechend für § 125 StGB Rudolphi, JZ 1998, 471 (Anm. zu
BGHSt 43, 237): Der Begriff der Tat lasse sich auch so verstehen, daß die Tatbe-
standsverwirklichungen zumindest partiell gegen das gleiche Rechtsgut gerichtet sein
müssen. Ebenso Roxin, Strafrecht AT II, § 33, Rn. 197: Man könne den Tatbegriff
„ohne weiteres“ in dem eingeschränkten Sinn verstehen.
590 Ebenfalls zust. Otto, NStZ 2003, 87; Heghmanns, JuS 2003, 954 (957 f.); anders
die überwiegende Ansicht: Cantzler/Zauner, Jura 2003, 483 (484 ff.); Duttge/Sotelsek,
NJW 2002, 3756; Freund/Putz, NStZ 2003, 242; Geppert, JK 2002, StGB § 246/13;
Hoyer, JR 2002, 517.
7. An der Wortlautgrenze 195
selbstverständlich in Tateinheit stehen und eine „Tat“ i. S. der Klausel bilden.591 Ge-
rade hier offenbart sich der Wert einer formalen Auslegungsgrenze, die auch nicht
unter Berufung auf das materiell richtige oder angemessene Ergebnis überwunden
werden darf.592 Nicht unproblematisch ist allerdings die Formulierung des BGH,
daß bei Tateinheit „regelmäßig“ (!) eine Tat vorliege;593 damit deuten sich doch
wieder Relativierungen und Einbruchstellen für Einschränkungsversuche an.
Fall 106 (BGHSt 1, 152; RGSt GS 73, 148 – „Sperrwirkung der Mindeststrafe“):
Konstruktiv noch interessanter sind folgende Probleme aus dem Bereich der Kon-
kurrenzregeln: § 73 StGB a. F. und § 52 II 1 g. F. bestimmen für den Fall der Tat-
einheit, daß nur das die schwerste Strafe androhende Gesetz zur Anwendung ge-
langt. § 52 II 2 g. F. bestimmt zusätzlich, daß die Mindeststrafe der anderen (nicht
anzuwendenden) Gesetze nicht unterschritten werden darf. RGSt GS 73, 148 hat
diese zwingende „Sperrwirkung der Mindeststrafe“ bereits für das alte Recht aner-
kannt, obwohl sie dort nicht ausdrücklich angeordnet war. Das RG hat im Text des
§ 73 trotz des Wortes „nur“ keinen zwingenden Grund für die Gegenansicht erkannt
und maßgeblich auf das Rechtsgefühl abgestellt: Dem Täter dürfe es nicht zum Vor-
teil gereichen, daß er zusätzliche Vorschriften verletze (S. 150).594 BGHSt 1, 152
591 Die „Denkgesetze der Subsidiarität“ (Geppert, wie Fn. zuvor) vermögen daran
nichts zu ändern. Hoyer (JR 2002, 517 f.) zeigt zwar zutreffend, daß der Begriff der
„Tat“ im StGB mit unterschiedlicher Bedeutung gebraucht wird, aber die von ihm ge-
brachten Beispiele (§§ 248b, 247, 24, 17 etc.) beweisen nichts, weil sie nicht – wie
hier – den Tatbegriff i. S. der Konkurrenzlehre zum Gegenstand haben. Der „noch
mögliche“ fachsprachliche Gebrauch ist aber durch den jeweiligen Kontext einge-
schränkt (siehe dazu oben III 7 b, S. 118 ff.). Freund/Putz (NStZ 2003, 242 [245])
wollen als „Tat“ eben nur die Unterschlagung ansehen. Daß damit die Klausel gänz-
lich überflüssig würde, nehmen die Verfasser in Kauf. Zuzugeben ist ihnen nur, daß
der BGH in beiden Entscheidungen näher hätte begründen sollen, weshalb der Tatbe-
griff in §§ 125 I, 246 I im konkurrenzrechtlichen Sinn zu verstehen ist. Merkwürdig
ist, daß der BGH insofern nicht auf BGHSt 24, 72 (80) verweist; dort hatte der BGH
in einer ganz ähnlichen Frage unmißverständlich Stellung bezogen. Vor allem hätte der
Gesetzgeber diese Vorentscheidung zurate ziehen müssen.
592 Eine kuriose Argumentation in Hinblick auf die Wortlautgrenze liefert Mitsch,
Strafrecht BT II 1, § 2, Rn. 75, der die Entscheidung BGHSt 43, 237 für „ignorant“
hält (a. a. O., Fn. 264): Es sei zuzugeben, daß der Wortlaut der Klausel die Verdrän-
gung „trägt“ (Hinweis auf BGHSt 47, 243 = NJW 2002, 2188), jedoch brauche der
Rechtsanwender sich zu einer entsprechend extensiven Handhabung „nicht gezwungen
zu fühlen“. – Diskussionswürdig ist hingegen der Einwand, wonach die Reduktion der
Klausel keine gegen Art. 103 II GG verstoßende Rechtsanwendung in malam partem
sei, weil nach ständiger Rechtsprechung das verdrängte Delikt gleichwohl bei der
Strafzumessung berücksichtigt werden müsse, und es demnach nur um die formale
Abfassung des Schuldspruchs gehe (in diesem Sinn Duttge/Sotelsek, NJW 2002, 3756
[3757] und Ernst/Charchulla, DRiZ 2003, 238 [240]; noch weitergehend Freund/Putz,
NStZ 2003, 242 [245]: die Wortlautgrenze sei auf Konkurrenzregeln generell nicht
anwendbar; dagegen Heghmanns, JuS 2003, 954 [956]). Daß sich die Annahme von
Tateinheit (statt Gesetzeseinheit) für den Täter tendenziell ungünstig auswirkt, wird
man jedoch kaum ausschließen können.
593 Vgl. nochmals oben Fall 12, wo die Vorinstanz als eine „Tat“ nur Fälle der Ge-
setzeseinheit ansah.
594 Nach Kohlrausch/Lange (StGB41, S. 230) überzeugt zwar die Verbalbegründung
nicht, aber der Hinweis auf das absurde Ergebnis genüge. Bezeichnend zur Behand-
196 III. Wortlaut und Wortsinn
hat die Ansicht des RG auch auf den Fall der gesetzlich (nach wie vor) nicht gere-
gelten Gesetzeseinheit erweitert, da dort nichts anderes gelten könne (S. 156).595 –
Daß RGSt 73, 148 für den Fall der Tateinheit gegen den Wortlaut des § 73 a. F.
verstoßen hat (Wortlautunterschreitung), bedarf keiner näheren Begründung. Schwie-
riger liegt es im Fall von BGHSt 1, 152, denn die Gesetzeseinheit hat keine gesetz-
liche Grundlage. Wie bereits in Fall 99 („Gesetzesinterferenz“) liegt der Verstoß
allenfalls in der Mißachtung einer ungeschriebenen (!), tätergünstigen Konkurrenzre-
gel.596 In diesem Fall ist es bei sinngemäßer Anwendung des Art. 103 II GG jedoch
notwendig, dessen Schutzwirkung auf die ungeschriebene Regel zu erstrecken. Ein-
deutige Verstöße gegen eine solche Regel sollten wie ein echter Wortlautverstoß als
rechtstaatswidrig betrachtet werden.
Fall 107 (BGHSt 43, 356 – „eigennützige Strafvereitelung“): Nach den Feststellun-
gen war es nicht auszuschließen, daß die Angeklagte dem Täter der Vortat ein fal-
sches Alibi zugesagt hatte und dieses Versprechen später bei einer Zeugenverneh-
mung tatsächlich einlöste. Da weiter davon ausgehen war, daß die Angeklagte sich
in Anbetracht der Beihilfe zur Vortat mit ihrer Aussage zugleich selbst hat schützen
wollen, kam hinsichtlich der falschen Aussage eine Strafbefreiung gemäß § 258 V
StGB in Betracht („Wegen Strafvereitelung wird nicht bestraft, wer durch die Tat
zugleich ganz oder zum Teil vereiteln will, daß er selbst bestraft . . . wird“). Der
BGH lehnt die Anwendung von § 258 V wegen des zugrundeliegenden Norm-
zwecks ab, da die vom Gesetzgeber vorausgesetzte „notstandsähnliche Lage“ hier
nicht gegeben sei. Die Angeklagte hätte „die Beweislage hinsichtlich ihrer eigenen
Vortat – der Zusage – nicht geändert, wenn sie sogleich die Wahrheit bekundet
hätte“; damit fehle es an der vorausgesetzten Zwangslage (S. 359). Es wäre unver-
ständlich, „wenn die Angeklagte für eine nachweislich begangene Strafvereitelung
deshalb straflos bliebe, weil nicht ausgeschlossen werden kann, daß sie die Strafver-
eitelung bereits vor der Vortat zugesagt hat. Der Täter kann nicht Straffreiheit da-
durch erlangen, daß er verspricht, sich strafbar zu machen.“ Der Wortlaut der Vor-
schrift stehe dieser an Sinn und Zweck orientierten Eingrenzung ihres Anwendungs-
bereichs nicht entgegen. – Das argumentum ad absurdum (Verbesserung der Lage
durch Beteiligung an einer weiteren Straftat) klingt eindrucksvoll, kann aber nicht
verdecken, daß der BGH eine schulmäßige teleologische Reduktion des § 258 V
vornimmt597 und dabei den eindeutig erfüllten Wortlaut einer tätergünstigen Norm
lung des Wortlauts durch RGSt 73, 148 Bockelmann, ZAkDR 1941, 293 (294): „mit
dieser Aufgabe wurde der Große Senat schnell und leicht fertig“. Siehe auch Hartung,
DR 1939, 1484 (1485, r. Sp.): Der Große Senat habe dem Grundgedanken des Geset-
zes „gegen den Wortlaut zum Siege verholfen. Das ist eine Tat, die jeder begrüßen
wird, dem die Ziele der nationalsozialistischen Rechtsentwicklung in Fleisch und Blut
übergegangen sind. Der Geist hat über den Buchstaben gesiegt.“
595 Bestätigt z. B. von BGH NJW 2003, 1679 f. (1680, r. Sp.).
596 Seit Regelung der Problematik für den Fall der Tateinheit in § 52 II 2 StGB
könnte man freilich den Wortlautverstoß auch in der analogen Anwendung dieser Vor-
schrift sehen (Wortlautüberschreitung), aber das ist analytisch ein Umweg und beant-
wortet die Ausgangsfrage nicht. Erwägen müßte man auch, ob der Wortlaut des § 52
II 2 den Fall der Gesetzeseinheit sogar mit abdeckt.
597 Paul, JZ 1998, 739 – allerdings unverständlich, weshalb Paul zusätzlich (S. 740)
unterschreitet. Die Vereinbarkeit mit dem Wortlaut bejaht der BGH ohne Problem-
bewußtsein598, obwohl die „notstandsähnliche Lage“, von welcher der BGH spricht,
im Gesetzestext keinen Ausdruck gefunden hat.
Fazit: Wie Wortlautüberschreitungen bei täterbelastenden Normen sind Wort-
lautunterschreitungen bei tätergünstigen Normen unzulässig, gleich ob es sich
um Privilegierungen, Rechtfertigungs-, Entschuldigungs-, sonstige Strafaus-
schließungsgründe oder Konkurrenzregeln handelt. Daß es auf den dogmati-
schen Standort nicht ankommt, zeigt der großzügige Ausgangspunkt des BGH
(vgl. Fall 104). Zumindest in sinngemäßer Anwendung sollte Art. 103 II GG
auch vor der Mißachtung von ungeschriebenen tätergünstigen Regeln schützen
(vgl. Fall 99 und Fall 106). Bei den Urteilsbegründungen im einzelnen offenba-
ren sich die gleichen Schwächen wie bei den Wortlautüberschreitungen. In Fall
103 („Gläubigerbegünstigung“) weicht der Senat ohne ausreichende Grundlage
vom gängigen fachsprachlichen Verständnis ab und nimmt dadurch eine unge-
rechtfertigte „Sprachspaltung“ vor. Beifall verdienen allerdings die Entscheidun-
gen BGHSt 42, 158 (Fall 104 – Rücktritt) und BGHSt 43, 237, 47, 243 (Fall 105
– „Subsidiaritätsklausel“), deren einfache und dem gängigen juristischen Sprach-
gebrauch folgenden Lösungen überzeugen. In Fall 105 macht es der BGH sich
womöglich mit der Annahme der Wortlautunterschreitung zu leicht, aber die
angestrengten Bemühungen und umständlichen Erwägungen der Gegenansichten
belegen schon fast die Richtigkeit der Senatsmeinung. An Problembewußtsein
fehlt es in BGHSt 43, 356 (Fall 107 – „eigennützige Strafvereitelung“) und – in
gewisser Weise verständlich – in BGHSt 1, 152 (Fall 106 – „Sperrwirkung der
Mindeststrafe“). Mehr oder weniger geschickt versucht BGHSt 16, 210 (Fall 95
– „Einziehung im Weinrecht“), den erfüllten Wortlaut zu umgehen („wörtliche
Auslegung könnte . . . zu der Annahme verleiten“).
i) Gleichsetzung/Gleichstellung
betracht des Wortlauts nur verwundern; auch die Zwangslage sei hier gegeben; See-
bode, JZ 1998, 781 (782): BGH „überschreitet“ den Wortsinn und damit die äußerste
Grenze zulässiger Interpretation.
598 Kein Problembewußtsein auch in der zust. Anm. von Geerds, NStZ 1999, 31.
198 III. Wortlaut und Wortsinn
In BGHSt 28, 129 (130, siehe oben Fall 24) führt das Gericht zu § 142 II Nr. 2
StGB aus, daß das unvorsätzliche Entfernen vom Unfallort dem in § 142 II Nr. 2
genannten „berechtigten“ oder „entschuldigten“ Entfernen „gleichzusetzen“ 599 sei.
BGHSt 23, 331 (334, oben Fall 47) hält es mit dem Wortlaut des § 329 I StPO für
vereinbar, einen schuldhaft betrunkenen, aber anwesenden Angeklagten mit einem
schuldhaft „nicht erschienenen“ Angeklagten „gleichzustellen“. Nach BGH MDR/D
1954, 16 (oben Fall 101) steht das „Hineinkriechen“ dem „Einsteigen“ i. S. von
§ 243 I Nr. 2 StGB (a. F.) gleich. Zu Recht kritisiert BGHSt 28, 100 (siehe oben
Fall 70) allerdings die Formulierung der Vorinstanz, wonach der Verlust einer Niere
„gleichbedeutend“ mit dem Verlust eines wichtigen Gliedes sei; diese Begründung
erwecke den Verdacht einer unzulässigen Analogie (S. 101). Aus der Literatur kön-
nen Stellungnahmen zur Entscheidung BGHSt 11, 47 (oben Fall 84) erwähnt wer-
den, in welcher der BGH ein unberechtigtes „in Gebrauch nehmen“ eines Kraftfahr-
zeuges auch noch während der Fahrt für möglich hält: Laut Hillenkamp600 stelle der
BGH zu Recht dem Ingebrauchnehmen das unbefugte Ingebrauchhalten gleich.
Was hier nach Analogie klingt, ist von den Verfassern nicht als solche ge-
meint, denn die Vereinbarkeit der Gesetzesanwendung mit dem Wortlaut wird
von ihnen nicht bezweifelt. Zur Vermeidung von Fehldeutungen sollte auf die
erwähnten Formulierungen jedoch verzichtet werden. Dabei geht es nur vorder-
gründig um sprachästhetische Gesichtspunkte, denn hinter der „Gleichsetzung“
verbirgt sich ein Grundlagenproblem der juristischen Methodik, das hier kurz in
Erinnerung gerufen werden soll. Vielleicht können damit einige Mißverständ-
nisse vermieden werden. Vor allem gießt die Formulierung vom „Gleichsetzen“
Öl ins Feuer einer hermeneutisch orientierten Lehre, welche die Untauglichkeit
des Grenzkriteriums „Gesetzeswortlaut“ aus der nach ihrer Ansicht strukturellen
Gleichheit von Auslegung und Analogie beweisen will. Jede Rechtsanwendung
setze einen Vergleich des zu lösenden mit den zweifelsfrei vom Gesetz erfaßten
Fällen unter Heranziehung eines Vergleichsmaßstabs (dem tertium comparatio-
nis) voraus; insofern unterschieden sich „Auslegung“ und „Analogie“ nicht
strukturell, sondern nur graduell.601 Vielleicht sind in Engischs „logischen Stu-
dien“, die den Prozeß der Subsumtion genauer aufschlüsseln602, einige Schwie-
rigkeiten angelegt. Auch dort ist im Rahmen der Darlegung, worin genau der
599 Nach Rudolphi (JR 1979, 210) ein „lapsus linguae“ des BGH.
600 Wessels/Hillenkamp, Strafrecht BT/2, Rn. 398; ebenso Tröndle/Fischer, StGB51,
§ 248b, Rn. 4 („nach hM gleichgestellt“).
601 Hassemer, in: Strafen im Rechtsstaat, S. 29 und AK-StGB, § 1, Rn. 97 ff.; Kauf-
603 Auch die hermeneutische Schule kennt natürlich Grenzen der Rechtsanwendung,
die im Ergebnis nicht zu einem größeren Bereich der Strafbarkeit führen müssen als
die der h. M.; vgl. z. B. die Ausführungen von Hassemer, in: Strafen im Rechtsstaat,
S. 33, die allerdings ohne weiteres auch auf Basis der h. M. vertretbar wären; Wohlers,
der den hermeneutischen Ausgangspunkt ebenfalls teilt (in: ratio legis, S. 81), befür-
wortet gleichwohl den möglichen Wortsinn als Auslegungsgrenze (S. 87). Für im
Grenzbereich tendenziell weitergehend hält diese Lehre Kim, in: FS für Roxin, S. 132,
freilich mit wenig überzeugender Begründung.
604 Das Bild Engischs vom problemgeladenen Untersatz wird allerdings nicht durch-
weg geteilt, vgl. z. B. Schünemann, in: FS für Klug, S. 178: „Fata Morgana“. Nach
anderen (wohl herrschenden) Konzeptionen des „Justizsyllogismus“ als deduktivem
Schema spielt der Fallvergleich hingegen nur bei der Herstellung des Obersatzes (bei
der Auslegung) eine Rolle, vgl. Larenz, Methodenlehre, S. 275, 314 und Bydlinski,
Methodenlehre, S. 397. Dabei dürfte es letztlich aber nur um terminologische Abwei-
chungen handeln. Den Einwänden der hermeneutischen Schule, die methodologisch
den Fallvergleich ganz ins Zentrum rückt, entgeht auch die h. M. nicht, denn auch sie
setzt so gesehen Fälle gleich.
605 Siehe auch Engisch, Einführung, S. 196 (Fn. 47).
606 Lebenssachverhalte sind stets allenfalls nur „ähnlich“, in rechtlicher Hinsicht
aber eventuell – wenn sie alle notwendigen Begriffsmerkmale des Obersatzes erfüllen
– dennoch identisch. Das Erkennen der Ähnlichkeit ist vor allem wichtig, um den Pro-
zeß der Rechtsanwendung überhaupt erst in Gang zu setzen und die einschlägigen
Rechtssätze zügig aufzufinden.
200 III. Wortlaut und Wortsinn
Analogieverbot als Grenze der „Auslegung“ des Art. 103 II GG nur bedingt zu
tun. Für den Fall BGHSt 1, 1 zu §§ 223a, 250 I StGB a. F. (oben Fall 51) heißt
das: Ein Messer ist eindeutig und in § 223a sogar ein ausdrücklich erwähnter
Fall einer „Waffe“, und wenn auch das chemische Angriffsmittel (Salzsäure)
unter § 223a subsumiert wird, bedeutet das im Ergebnis eine „Gleichsetzung“
beider Fälle. Die Angriffsmittel mögen im Erscheinungsbild (vielleicht) „ähn-
lich“ sein, aber in Hinblick auf die vom Gesetz verlangten Kriterien doch
„identisch“.607 Diese triviale Einsicht kann nicht verbergen, daß die maßgebli-
chen Vergleichgesichtspunkte erst durch Auslegung der Norm gewonnen wer-
den608 und dabei nicht mehr herausgeholt werden kann, als der Wortlaut zuläßt.
Einer unter vielen Faktoren, die bei der Auslegung berücksichtigt werden kön-
nen, ist natürlich auch, welche Beispiele der Gesetzgeber ausdrücklich aufge-
führt hat, denn daraus lassen sich womöglich Kriterien abstrahieren – hier etwa
bezüglich der Frage, ob das Angriffsmittel mechanisch wirken muß – und
schließlich in einer Definition zusammenfassen. Die Gleichartigkeit von Fällen
kann also bei der Auslegung eine Rolle spielen, aber die Kriterien der Ausle-
gung, insbesondere die Wortlautgrenze können der Gleichbehandlung entgegen-
stehen.609 Völlig „schief“ ist jedoch die Analyse derselben Entscheidung durch
Kaufmann: Die Salzsäure werde mit den eindeutig unter den Ausdruck „Waffe“
fallenden Beispielen verglichen und dann subsumiert; diese vergleichende Vor-
gehensweise sei – wie schon der Name sage – nichts anderes als eine Analo-
gie.610 Mit diesen Ausführungen werden der Prozeß der Rechtsanwendung und
Ähnlichkeit, und ähnlich ist einander nur, was teilweise übereinstimmt, teilweise
nicht. Da sich juristisch relevante Sachverhalte niemals völlig gleichen, ist es das ei-
gentliche Geschäft der Juristen, Übereinstimmung und Verschiedenheit aufzudecken,
also Analogien festzustellen.“ – Das eigentlich juristische Geschäft ist das durch Aus-
legung vorzubereitende Urteil, ob im Hinblick auf die gesetzliche Wertung Überein-
stimmung (Identität) oder eben nur Ähnlichkeit vorliegt! Der Gesetzeswortlaut setzt
dabei Grenzen. Auch in Stratenwerths Beispiel (a. a. O.) werden Entsprechung und
bloße Ähnlichkeit zu Unrecht synonym gesetzt: „. . . erfordert die Feststellung, daß
dieser Fall den zweifelsfrei gemeinten in wesentlicher Hinsicht . . . entspricht: das heißt
analog ist.“
608 Engisch, Einführung, S. 65: Auslegung des Rechtsbegriffs ist logische Voraus-
unten VI 3.
610 Siehe Kaufmann, Verfahren der Rechtsgewinnung, S. 9, 11, 74, 80, 84, 86. Die
Analyse weist weitere Merkwürdigkeiten auf, z. B. (S. 11) soll der Gesetzgeber „an-
läßlich dieses Urteils“ § 250 StGB geändert haben, obwohl eine Änderung erst durch
das EGStGB von 1974, also 24 Jahre später erfolgte und zu einer noch weiteren Text-
fassung führte („Waffe oder sonst ein Werkzeug oder Mittel“, § 250 I Nr. 2). Belege
und Begründungen – etwa für die Behauptung, Salzsäure sei nach dem noch mögli-
chen Wortsinn keine „Waffe“ (S. 74) – finden sich in der Analyse gar nicht, obwohl
etwa die Gesetzesverfasser des § 223a StGB a. F. den Waffenbegriff eindeutig untech-
nisch verstanden, also auch ein Stuhlbein darunter subsumierten (vgl. unten Kap. IV,
Fn. 238). Auch daß die h. M. BGHSt 1, 1 als Verstoß gegen die Wortlautgrenze ein-
7. An der Wortlautgrenze 201
j) Zusammenfassung zu III. 7.
schätze (S. 86), bleibt unbelegt (z. B. vereinnahmt Krey, Studien, S. 166, Fn. 19, die
„ganz h. M.“ für das gegenteilige Ergebnis).
611 Vgl. nochmals Busse, oben Kap. II, Fn. 24.
612 Zum Ausreißer-Phänomen siehe auch unten Kap. V, Fn. 158.
7. An der Wortlautgrenze 203
1. Vorüberlegungen/Terminologisches
a) Allgemeines
IV 2.
5 Larenz, Methodenlehre, S. 330, Fn. 35: Höchstrichterliche Rechtsprechung hat
den §§ 306 ff. StGB: Schroeder, GA 1998, 571 („Technische Fehler beim neuen
Brandstiftungsrecht“); Fischer, NStZ 1999, 13 („Strafrahmenrätsel im 6. Strafrechtsre-
formgesetz“).
1. Vorüberlegungen/Terminologisches 205
7 Siehe z. B. BGHSt 45, 131 (133); 45, 211 (217 f.). In BGHSt 47, 243 scheitert die
Varianten) erscheint 226 mal, davon 137 mal in Band 1–22 und 89 mal in Band 23–
44. Der „Wille des Gesetzgebers“ (gesetzgeberischer Wille u. ä.) taucht ca. 220 mal,
100 mal in den frühen, 120 mal in den späteren Bänden auf. Ein ausgeglichenes
Verhältnis über die gesamte amtliche Sammlung hin zeigt sich auch beim histori-
schen Auslegungsmittel der „Entwürfe“, die insgesamt 733 mal herangezogen wer-
den, davon 370 mal in Band 1–22 und 363 mal in Band 23–44.
Eine Tendenz ist allerdings beim Rückgriff auf amtliche „Drucksachen“ (u. ä.) zu
erkennen: Sie werden ca. 840 mal zitiert, davon jedoch weit überwiegend in den
späteren Bänden (154 gegenüber 680, in Band 41–44 sogar insgesamt so häufig wie
in Band 1–20!). Schlußfolgerungen aus dieser quantitativen Steigerung bleiben trotz-
dem schwierig, denn es stellt sich die Frage, ob sich für die frühe Rechtsprechung
des BGH die Heranziehung von „Drucksachen“ angesichts des im Durchschnitt
sicher älteren Normenbestands im gleichen Maß anbot. Womöglich kann der histo-
rische Wille des Gesetzgebers auch – gerade bei älteren Gesetzen – auf andere Art
ermittelt werden, und die Entstehungsgeschichte kann auch als maßgeblich zugrunde
gelegt werden, ohne zahlreiche Nachweise aus den „Drucksachen“ zu liefern. Zu
prüfen wäre daneben, ob die Rechtsprechung der Nachkriegszeit eine gleichmäßige
Zitiertechnik verwendet. So ist die Genauigkeit und Quantität der Literaturnachweise
in der neueren Rechtsprechung deutlich größer als früher, was für die Gesetzesma-
terialien gleichfalls gelten könnte. Schließlich sprechen die bereits genannten histori-
schen Argumentationsmuster („amtliche Begründung“!) dagegen, aus den vermehr-
ten Hinweisen auf die „Entwürfe“ methodisch Relevantes zu schließen.
Für die Rechtsprechung des BGH in Zivilsachen in den Jahren 1950–1983 (BGHZ
1–87) gelangt Wedel10 zu dem Ergebnis, daß die Zivilsenate ca. in jedem vierten
Fall (23,4 %) entstehungsgeschichtlich argumentieren; die dabei festzustellende
leicht steigende Tendenz führt Wedel auf die Vielzahl der Gesetzesänderungen in
jüngerer Zeit zurück11. Honsell vergleicht zum BGB ergangene Entscheidungen des
Reichsgerichts aus den Jahren 1900–1907 (RGZ 46–65) mit solchen des BGH aus
dem Zeitraum zwischen 1968–1978 (BGHZ 51–70): Von den erfaßten Urteilen des
RG argumentierten die Hälfte historisch, von denen des BGH nur ein Drittel12; das
Interesse an Einzelheiten der Entstehungsgeschichte sei insgesamt stark zurückge-
gangen13; es liege die Vermutung nahe, daß der Gebrauch historischer Argumente
maßgeblich vom Alter der einschlägigen Gesetze abhängt14. Letzteres wird von Mu-
scheler bestätigt, der nach Auswertung der Bände BGHZ 125–135 zu dem Ergebnis
gelangt, daß 39 % der Entscheidungen sich der historischen Auslegung bedienen;
der Anstieg der Quote gegenüber der Auswertung von Honsell resultiere daraus, daß
die Untersuchung nicht auf das BGB beschränkt war und damit erheblich mehr jün-
gere Gesetze auszulegen waren.15
Die These, daß neue Gesetze häufiger auf ihre Entstehungsgeschichte hin
untersucht werden als alte, ist kaum zu bestreiten.16 Als willkürlich herausge-
griffenes Beispiel kann etwa das 1972 in Kraft getretene BZRG genannt wer-
den: Von den ersten, in BGHSt 24–29 abgedruckten 14 Entscheidungen be-
schäftigt sich der überwiegende Anteil mit der Entstehungsgeschichte.17 Ob die
Materialien herangezogen werden, wird allerdings maßgeblich von ihrer Qualität
und Aussagekraft abhängen. Angesichts des wuchernden Präjudizienmaterials
wird die Entstehungsgeschichte im Lauf der weiteren Normexegese an Einfluß
verlieren, was freilich keine Abweichung vom historischen Willen des Gesetz-
gebers bedeutet. Fraglich ist bei alldem nur, ob eine Pflicht des Rechtsanwen-
ders besteht, jüngere Gesetze stärker auf ihre Entstehungsgeschichte hin zu un-
tersuchen, und ob die so gewonnenen Erkenntnisse über den Willen des Gesetz-
gebers bindend sind.18 Gegenüber der Auslegung sonstiger Gesetze besteht die
methodologische Besonderheit bei jüngeren Gesetzen wohl nur darin, daß der
Topos „Wandel der Verhältnisse“ (siehe dazu unten IV 5) nicht zur Überwin-
dung des gesetzgeberischen Willens in Betracht kommt.
Eine statistische Untersuchung – aber nicht nur sie! – müßte sich zudem mit dem
grundsätzlichen Einwand von Naucke und anderen auseinandersetzen, wonach die
Praxis die subjektive (und objektive) Auslegung nur dazu nutze, um ihr bereits
anderweitig gefundenes Ergebnis formulierbar zu machen; könne das Ergebnis
subjektiv begründet werden, greife die Praxis darauf zurück, weil dies das „knapp-
ste und klarste Verfahren“ der juristischen Begründung sei.19 Dieser Einwand
verfängt aber jedenfalls nicht gegenüber den unstreitig existierenden Fällen, in
denen die Praxis Konflikte zwischen Auslegungskriterien offenlegt und ausdrück-
lich darüber entscheidet. Im übrigen ist zu bedenken, ob die „Formulierbarkeit“
eines Ergebnisses nicht auch für seine inhaltliche Richtigkeit spricht!
16 Siehe neben den bereits Genannten noch Eser, in: Schönke/Schröder, StGB26,
§ 1, Rn. 44; Jescheck, GA 1954, 322 (325): „naturgemäß“; Kramer, Juristische Metho-
denlehre, S. 103 (Fn. 310 m. w. N.); Rahlf, in: Juristische Dogmatik, S. 35; Muscheler,
in: FS für Hollerbach, S. 113 (tendenziell größere Rolle); zweifelnd allerdings Has-
sold, ZZP 1981, 192 (203).
17 BGHSt 24, 378 (380); 25, 19 (23); 25, 24 (26 f.); 25, 81 (83); 25, 97 (99); 25,
100 (104); 25, 301 (305); 29, 252 (255 ff.). In BGHSt 25, 100 (104) und 25, 141
(142) schließen die Senate aus anderen Vorschriften auf einen bestimmten Willen des
Gesetzgebers, BGHSt 25, 64 (66) sieht keine Anhaltspunkte für einen gegenteiligen
Willen des Gesetzgebers. Keine Erörterung der Historie erfolgt in BGHSt 25, 172
(Zustimmung zu BGHSt 25, 141; beide Entscheidungen aufgegeben von BGHSt 25,
301); 25, 232; 27, 108.
18 Vgl. das schweizerische Bundesgericht, BGE 112 Ia, 97 (114): „Insbesondere bei
jungen Gesetzen darf der Wille des historischen Gesetzgebers nicht übergangen werden.“
19 Naucke, in: FS für Engisch, S. 279 f.; siehe z. B. schon Endemann, DJZ 1910, 18
(22): „Die Berufung auf die . . . Motive macht ohnedem keinen Eindruck mehr, da der
Sachkundige weiß, daß sie nur dann als maßgebend hingestellt werden, wenn sie das
sagen, was wir gerade wünschen.“
208 IV. Entstehungsgeschichte
(221).
1. Vorüberlegungen/Terminologisches 209
Von allen Problemen der Gesetzesinterpretation ist der Streit zwischen „sub-
jektiver“ und „objektiver“ Theorie wohl das prominenteste. Dahinter verbergen
sich begriffliche wie inhaltliche Schwierigkeiten, so daß jede Verständigung in
diesem Bereich auf erhebliche Widerstände stößt. Verkürzt gesagt geht es
darum, ob bei der Ermittlung der Bedeutung gesetzlicher Bestimmungen die
Vorstellungen der Gesetzesverfasser (wer immer darunter fallen mag) zugrunde
zu legen sind oder ob es statt dessen auf einen (wie auch immer zu ermitteln-
den) objektiven, gegenwärtigen Sinn ankommen muß.23 Häufig ist insofern vom
„Auslegungsziel“ die Rede, doch trifft diese Formulierung den Sachverhalt
nicht präzise, weil „Ziel“ der Auslegung nur die Klärung der Normbedeutung
für den konkreten Fall sein kann.24 Die Feststellung eines gesetzgeberischen
„Willens“ kann deshalb allenfalls Etappenziel oder leitender Gesichtspunkt,
nicht aber Ergebnis der Auslegung sein, da dadurch die fallentscheidende Kon-
kretisierung des Gesetzes noch nicht geleistet ist. Bereits erwähnt wurde, daß
die Thematik nicht allein das historische Auslegungskriterium, sondern auch die
übrigen Elemente betrifft:25 Beim Wortlaut kann sich die Frage stellen, ob der
Sprachgebrauch der Gesetzesverfasser oder ein „objektives“ Sprachverständnis
der übrigen Rechtsgemeinschaft entscheidend ist, bei der teleologischen Aus-
legung können die Zielvorstellungen objektiv oder subjektiv ermittelt werden.
23 Eindeutig z. B. RGSt 77, 176 (177 f.): Der ursprüngliche Zweck der Vorschrift
könne dahinstehen, denn entscheidend für die Auslegung sei „der Zweck, der sich aus
der . . . gegenwärtigen Fassung des StGB einschließlich der in letzter Zeit neu aufge-
nommenen Bestimmungen ergibt.“
24 Anders z. B. H. J. Müller, JZ 1962, 471: Die Klarstellung des Sinngehalts ver-
stehe sich als Interpretationszweck von selbst. Siehe zum Ganzen auch oben II 1 so-
wie Kap. III, Fn. 17.
25 Siehe Wank, Auslegung, S. 33, 42, 63, 73, 79 und Gern, VA 1989, 415 (421).
210 IV. Entstehungsgeschichte
S. 192 ff., Kramer, Methodenlehre, S. 96 ff., Liver, Der Wille des Gesetzes, S. 19 ff.
und Stratenwerth, in: FS für Germann, S. 257 ff. Mit einem weiteren Vorschlag zum
Sprachgebrauch treibt Schwalm (in: FS für Heinitz, S. 52 ff.) das Begriffschaos auf
die Spitze.
28 Larenz, Methodenlehre, S. 317.
29 So z. B. Hassold, ZZP 1981, 192 (209).
30 Weder notwendig noch überzeugend ist es, auch aus dem „strengen Gesetzesvor-
behalt“ des Art. 103 II GG eine stärkere Berücksichtigung der subjektiven Methode zu
fordern; so aber z. B. Nolte, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 103 II GG, Rn. 160
und U. Schroth, Subjektive Auslegung, S. 117; dagegen: Schmidt-Aßmann, in: Maunz/
Dürig, GG, Art. 103, Stand: 12/1992, Rn. 228.
31 Mayer, Strafrecht, S. 118. Mit dem darin zum Ausdruck kommenden Hierarchie-
Warum insoweit nicht maßgeblich auf die Materialien, die am ehesten Auf-
schluß über die Regelungsabsichten des Gesetzgebers geben dürften, abgestellt
werden darf, ist nicht ersichtlich. Auch aus hermeneutischer Sicht wäre es über-
raschend, bei der Sinnermittlung eines Textes die Motive des Verfassers und die
historische Situation außer acht zu lassen. Zu bedenken ist, daß die Legislativ-
organe die Regelung einer konkreten rechtspolitischen Fragestellung beabsich-
tigten und mithin der Nachvollzug dieses Vorgangs am ehesten Aufschluß über
die gewollte Problemlösung gibt: Um die Antwort zu verstehen, muß man die
Frage kennen!32 Deshalb werden auch gemäßigte Varianten einer objektiven
Theorie auf entstehungsgeschichtliche Argumente kaum verzichten,33 sondern
ihnen allenfalls im Konflikt mit anderen Kriterien einen geringeren Wert zu-
sprechen.34 Als Vorteile der subjektiven Theorie sind die relative Einfachheit
ihrer Handhabung und ein recht hohes Maß an der durch sie ermöglichten Vor-
hersehbarkeit der Entscheidungen35 zu nennen; daneben ergeben sich aus ihr
auch für Rechtsfortbildungen klare Leitlinien.
Hinsichtlich der subjektiven Theorie sind noch folgende Klarstellungen angebracht:
Wenig plausibel ist die gelegentlich anzutreffende Meinung, wonach besonders die
demokratische Legitimierung des Gesetzgebers für eine subjektive Auslegungstheo-
rie streite.36 Auf diese staatsrechtliche „Zufälligkeit“ kommt es jedoch nicht an,
denn wäre ein Monarch oder Despot der souveräne Gesetzgeber, spräche die Staats-
form nicht minder – vielleicht sogar noch eher (dazu sogleich) – für die Durchset-
zung des gesetzgeberischen „Willens“ gegenüber „objektiven Kriterien“. Entschei-
dend ist insoweit allein die staatsrechtliche Trennung zwischen Legislative und Judi-
kative und die damit einhergehende Bindung des Richters an eine fremde (!)
Wertentscheidung, mag sie einem demokratischen oder absolutistischen Souverän
entspringen.37 Das Mißverständnis beruht darauf, daß uns die demokratische Legiti-
mation des Gesetzgebers heute als verfassungspolitisch und -rechtlich einzig über-
und Methode, S. 376 (unter Berufung auf Collingwood): „In Wahrheit kann man einen
Text nur verstehen, wenn man die Frage verstanden hat, auf die er die Antwort ist.“
33 Siehe z. B. Zippelius, JZ 1999, 115: Historische Auslegung gibt rationale Hin-
wert abspricht, dürfte kaum noch vertreten werden. Der entscheidende Gesichtspunkt
des Streits besteht somit in der Frage, ob ein festgestellter Wille des historischen Ge-
setzgebers durch andere Kriterien überwunden werden darf, letztlich also in einem
Rangfolgeproblem.
35 Redeker/Karpenstein, NJW 2001, 2825 (2831).
36 Wank, Auslegung, S. 34. Eher für die objektive Theorie wird die gewaltenteilende
dung des Richters als „elementaren Bestandteil des Demokratieprinzips“ auffaßt. Rich-
212 IV. Entstehungsgeschichte
zeugende Lösung erscheint; aber diese Präferenz ist für den Streit zwischen objekti-
ver und subjektiver Theorie ohne Belang.
Merkwürdig ist weiter, daß in diesem Zusammenhang immer wieder die Frage auf-
taucht, welche von beiden Auslegungstheorien in höherem Maß dazu geeignet ist,
der Durchsetzung von Vorstellungen eines (nationalsozialistischen o. a.) Unrechtssy-
stems Hindernisse in den Weg zu stellen. Eine solche Diskussion wird den tatsäch-
lichen Möglichkeiten totalitärer Regimes in keiner Weise gerecht und ist wenig wei-
terführend. Dem Umbau des Rechtsystems im Sinn einer totalitären Ideologie stehen
beide Auslegungstheorien hilflos gegenüber.38 Die subjektive Theorie mag für das
ältere Recht wegen ihrer Anlehnung an den historischen Gesetzgeber noch kurzfri-
stig „helfen“, aber schon eine einzige Auslegungsregel im jeweiligen Gesetz oder
eine Verfassungsnorm, welche die Auslegung aller Normen im Geist der neuen
Ideologie verlangte, würde hier Abhilfe schaffen.39 So hat beispielsweise der natio-
nalsozialistische Gesetzgeber 1935 ausdrücklich das Reichsgericht von der Bindung
an frühere Rechtsprechung befreit und es dazu verpflichtet, „darauf hinzuwirken,
daß bei der Auslegung des Gesetzes dem durch die Staatserneuerung eingetretenen
Wandel der Lebens- und Rechtsanschauung Rechnung getragen wird“.40 Und für
das neue (nationalsozialistische) Recht versteht es sich von selbst, daß eine subjek-
tive Auslegungslehre am ehesten im Interesse des neuen Regimes liegen wird.41 Mit
Sicherheit wird man aber sagen können, daß jedenfalls eine kombinierte Verwen-
dung beider Auslegungstheorien je nach Bedarf im konkreten Fall (Methodensyn-
kretismus!) der Loslösung vom bisherigen Recht am besten gerecht wird; entspre-
chende Empfehlungen, in dieser Weise zu verfahren, wurden im Schrifttum nach
1933 auch tatsächlich gegeben.42 Für die Nachkriegszeit kann vermutet werden, daß
das „Ansehen“ der subjektiven Theorie durch ihre Verknüpfung mit dem „Führer-
prinzip“ gelitten hat. Der prononciert objektivistische Standpunkt, den das BVerfG
tig daran ist nur, daß eine Demokratie auf das rechtsstaatliche Element der richterli-
chen Gesetzesbindung kaum wird verzichten können.
38 „Freiheit lebt in den Herzen von Männern und Frauen; wenn sie dort stirbt, kann
keine Verfassung, kein Gesetz und kein Gericht sie retten.“ (Learned Hand, zitiert
nach Ehmke, F.A.Z. vom 14.8.2001, S. 44.) Siehe auch Strauch, KritVJ 2002, 311
(332 f.) und Looschelders/Roth, Methodik, S. 160 (Fn. 30) zur Diskreditierung der
teleologischen Auslegung als „nationalsozialistische Rechtslehre“. Allgemein zur
„Logik der Diskreditierung“ in Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus Vogel,
ZStW 2003, 638 ff. (643).
39 Methodologisch gesehen (bei Einführung der Verfassungsnorm) im Weg verfas-
tender gegenüber diesem „Dualismus der Methoden“ Engisch, Einheit der Rechtsord-
nung, S. 88 f.
1. Vorüberlegungen/Terminologisches 213
gleich zu Beginn seiner Tätigkeit eingenommen hat43, dürfte nicht ganz zufällig ge-
wählt worden sein. Demgegenüber ist klarzustellen: Die subjektive Auslegung kann
nicht mit einem Unrechtsregime in Sippenhaft genommen werden; sie hat als Me-
thode allein „dienende“ Funktion44, ist wertneutral und kann vor allem durch die
Legislative selbst für maßgeblich oder unmaßgeblich erklärt werden. Wirft man
etwa dem Gesetz als Handlungsinstrument an sich vor, daß es auch Ziele der Natio-
nalsozialisten transportierte? Die eigentliche Problematik ist in der bekannten Positi-
vismus-Debatte angesiedelt mit der Frage, ob das durch ein Unrechtssystem gesetzte
(ungerechte) Recht tatsächlich als Recht gültig ist. Dies ist weniger ein Thema der
Methodenlehre als eines der Rechtsphilosophie und des Verfassungsrechts.
Den verfassungsrechtlichen, hermeneutischen und praktischen Vorzügen der
subjektiven Theorie stehen jedoch zum Teil zwingende Einwände entgegen. Der
wichtigste ergibt sich aus der Verfassung selbst, denn nach herrschender Lesart
des Art. 103 II GG findet die Durchsetzung des gesetzgeberischen Willens ihre
Grenze im möglichen Wortsinn.45 Widerspricht der Gesetzeswortlaut der – aus
den Materialien erkennbaren – legislativen Vorstellung, so ist jedenfalls im
Strafrecht keine Gesetzesanwendung zulasten des Täters möglich. Aus Erwä-
gungen des Vertrauensschutzes erstreckt sich die Gesetzesbindung des Art. 97 I
GG in diesem Fall nicht auf die subjektiven Vorstellungen der Gesetzesverfas-
ser. Damit hat der Verfassungsgeber einen Teilaspekt im Streit zwischen objek-
tiver und subjektiver Auslegung selbst entschieden. Daß solche Differenzen
zwischen Wille und Erklärung vorkommen können und nicht generell im Sinn
eines Vorrangs des Willens zu beseitigen sind, zeigen schon die vergleichbaren
Regelungen der §§ 133, 157 BGB.
Auch diese Bestimmungen regeln einen Streit zwischen „objektiver“ und „subjekti-
ver“ Auslegung, wenn gemäß § 133 BGB bei Willenserklärungen nicht der buch-
stäbliche Ausdruck, sondern der wirkliche Wille maßgeblich sein soll, andererseits
§ 157 BGB für die Auslegung von Verträgen aber auch die Heranziehung objektiver
Kriterien verlangt („Rücksicht auf die Verkehrssitte“). In einem ähnlichen Sinn
könnte man Art. 97 I, 103 II GG deuten: In der Regel ist zwar der wirkliche Wille
des Gesetzgebers entscheidend (Art. 97 I), nicht aber wenn berechtigte Vertrauens-
schutzinteressen Dritter – zivilrechtlich: der „Empfängerhorizont“ – im Weg stehen
(Art. 103 II).
Weitere Argumente sprechen dafür, den Vorrang einer subjektiv-historischen
Methode „nur im Rahmen ihrer begrenzten Möglichkeiten“46 anzuerkennen:
Normen stehen in einem Beziehungsverhältnis zu weiteren Bestimmungen, wo-
Norm keine Strafbarkeit besteht, kommt es auf den gesetzgeberischen Willen, wie er
sich aus den Materialien ergibt, nicht mehr an.“
46 Loos, in: FS für Wassermann, S. 129.
214 IV. Entstehungsgeschichte
mit Rangordnungsfragen aufgeworfen sind.47 Deshalb kann die mit einer Norm
verbundene gesetzgeberische Zielvorstellung mit anderen Normen aus anderen
Zeitschichten, d.h. auch mit Vorstellungen eines „anderen“ (früheren) Gesetzge-
bers in Konflikt geraten.48 In solchen Konstellationen kann der gesetzgeberische
Wille nicht immer voll verwirklicht, sondern muß mit einem bereits bestehen-
den Normenbestand in Einklang gebracht werden und sich im Extremfall
(„verfassungskonforme Auslegung“) sogar gänzlich einer höherrangigen Vor-
schrift unterordnen.49 Große Schwierigkeiten hat die subjektive Theorie auch
dann, wenn die Zielvorstellungen des Gesetzgebers in den Materialien gar nicht
zum Ausdruck kommen50, der Gesetzgeber zu einem bestimmten Problem
schweigt oder die Lösung ausdrücklich an Wissenschaft und Praxis delegiert
oder, was selten sein mag, aber doch in Betracht gezogen werden muß, die Ma-
terialien komplett fehlen51. Auch dann kann der „Wille des Gesetzgebers“ mög-
licherweise erschlossen werden, aber eben nicht auf dem für die subjektive
Theorie sonst typischen Weg.52 Problematisch sind außerdem Widersprüche in-
nerhalb der Materialien sowie Fehlvorstellungen, die auf einem unzutreffenden
Erkenntnisstand beruhen. Zuletzt zeigen die unvermeidlichen Änderungen der
rechtlichen wie tatsächlichen Rahmenbedingungen der subjektiven Theorie
Grenzen auf, wobei zu beachten ist, daß dem Gesetzgeber selbst daran gelegen
sein wird, Normen an veränderte Umstände anzupassen, um die ursprüngliche
Wertentscheidung lebendig zu halten. In gewisser Weise liegt hierin eine Para-
doxie: Eine konsequent subjektiv-historische Auslegung könnte gerade zu einer
„Verkümmerung“ der ursprünglichen gesetzgeberischen Intention führen, wenn
sie nicht an die sich wandelnden Umstände angepaßt würde.
47 Für diese Einsicht muß man nicht die „Seinsschicht des objektiven Geistes“ (La-
cher ein höheres Ansehen verschaffen und die Vorhersehbarkeit der Entscheidungen
steigern würde; vgl. Redeker/Karpenstein, NJW 2001, 2825 (2827) und Rixecker, in:
FS für Ellscheid, S. 132–134. Zur Begründungspflicht von Gesetzesvorlagen der Bun-
desregierung siehe §§ 42, 43 der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministe-
rien (GMBl. 2000, S. 526).
52 Hassold, ZZP 1981, 192 (199): Auch die subjektive Theorie muß hier zur objek-
53 Die Personifizierung ist schon beim Gesetzgeber fragwürdig, erst recht aber beim
Gesetz; statt dessen sollte vom „normativen Sinn des Gesetzes“ gesprochen werden,
siehe Larenz, Methodenlehre, S. 319, Liver, Der Wille des Gesetzes, S. 19 ff., Rüthers,
Rechtstheorie, Rn. 797, Enneccerus, Bürgerliches Recht, S. 113 (Fn. 6): „höchstens
ein Bild“ und Gern, VA 1989, 415 (421): Fiktion, da „denkgesetzlich“ nicht möglich!
54 Nach Rahlf (in: Juristische Dogmatik, S. 33) greift der BGH, wenn er vom „Ge-
setzgeber“ spricht, nicht automatisch auf die historische Auslegung zurück; ebenso für
die Rechtsprechung des RG Honsell, Historische Argumente, S. 128.
55 Rüßmann, in: Elemente einer juristischen Begründungslehre, S. 148: Das eindeu-
56 Liver, Der Wille des Gesetzes, S. 20 f.: „In der Regel entspricht der Sinn, wel-
chen ein eindeutiger Rechtssatz hat, dem Gedanken, welchen der Gesetzgeber mit die-
sem Satz zum Ausdruck gebracht hat.“
57 So schließt BGHSt 11, 189 (193) aus grammatikalisch-systematischen Gründen
darauf, daß der „Wille des Gesetzes“ (vgl. nochmals oben BGHSt 7, 198) offensicht-
lich für eine bestimmte Ansicht spreche, was durch die Entstehungsgeschichte bestä-
tigt werde.
58 Vgl. allerdings unten Fall 134 und insbesondere Fn. 207.
1. Vorüberlegungen/Terminologisches 217
59 Ähnlich BGHSt 4, 158 (159 f.). In BGHSt 5, 179 (180) ermittelt der BGH den
Willen des Gesetzgebers aus der amtlichen Begründung, den Willen des Gesetzes
(„das Gesetz will“) aus dem Wortlaut.
60 Ebenso z. B. BGHSt 20, 170 (174), wo nach Auffassung des BGH eine „strenge
Wortauslegung“ zu Folgerungen führen würde, die „das Gesetz nicht beabsichtigt ha-
ben kann“.
61 Insofern sind nachzutragen: BGHSt 4, 325 (326): Auffassung des Gesetzes; 6,
213 (215); 6, 167 (171); 9, 160 (161); 9, 267 (269): Gesetz hat weiten Anwendungsbe-
reich „als unvermeidlich in Kauf genommen“; 10, 43 (44); 11, 324 (326): Ergebnis
widerspricht der Gerechtigkeit und müßte nur hingenommen werden, „wenn es dem
ausdrücklich ausgesprochenen Willen des Gesetzes entspräche“; 15, 9 (13); 15, 118
(122); 15, 234 (238); 17, 149 (155); 17, 309 (318 und 320); 25, 313 (315); 42, 1 (12).
218 IV. Entstehungsgeschichte
mals ist die Verwendung dieser Formulierungen weder notwendig noch weiter-
führend, zuweilen eher zweifelhaft:
Fall 108 (BGHSt 3, 277): Zu entscheiden war, ob beim Tatbestand der „Verschleu-
derung der Familienhabe“ (§ 170a StGB a. F.) die analoge Anwendung der §§ 247,
263 V StGB a. F. (Strafantragserfordernis bei Diebstahl, Unterschlagung oder Betrug
durch Angehörige) in Betracht kommt. Bezüglich § 266 StGB a. F. ist die Rechtspre-
chung aufgrund des „zu vermutenden Willen des Gesetzgebers“ tatsächlich so ver-
fahren, während der BGH dies für § 170a ablehnt: „Die entsprechende Anwendung
hat aber ihre Grenze dort, wo ihr der erkennbare Wille des Gesetzes entgegensteht“
(S. 278). Das sei bei § 170a der Fall, da diese Tat anders als eine Untreue gemäß
§ 266 stets durch Angehörige begangen werde, so daß der Gesetzgeber ein Antrags-
erfordernis ausdrücklich ausgesprochen hätte (S. 279). – Der BGH bringt Argumente
der Sachlogik vor, die in der Tat eine Regelungslücke als unwahrscheinlich erschei-
nen lassen, aber ist das der „erkennbare Wille des Gesetzes“?62
Insgesamt verbergen sich hinter den Formulierungen „Wille des Gesetzes“
und „Wille des Gesetzgebers“ keine stringenten methodologischen Positionen.
Beide Wendungen können in den Entscheidungsbegründungen oft beliebig aus-
getauscht werden, ohne daß sich etwas ändern würde. Beide Formulierungen
stehen für das Resultat der gesamten Auslegung und sind auf Zuschreibungen
angewiesen, denn auch der „Wille des Gesetzgebers“ kann für den konkreten
Fall häufig nicht empirisch (historisch) ermittelt werden, sondern muß aus „ob-
jektiven“ Kriterien (Wortlaut, Systematik) wertend hergeleitet werden. Ob ein
Konflikt zwischen „objektiver“ und „subjektiver“ Theorie zu entscheiden ist
und vom BGH entschieden wurde, ergibt sich allein aus diesen Formulierungen
nicht, sondern bedarf der Prüfung im Einzelfall. Voreilig wäre die Annahme,
die Rechtsprechung judiziere im Sinn der subjektiv-historischen Auslegungs-
theorie oder besonders „gesetzestreu“, wenn in den Urteilstexten vom „Willen
des Gesetzgebers“ die Rede ist. Unter Umständen soll die Formulierung den
Einklang mit der gesetzgeberischen Intention lediglich suggerieren, um der ge-
fundenen Lösung größere Autorität zu verleihen. Zu erwägen ist außerdem ein
Entlastungs-Mechanismus: Ein fragwürdiges Ergebnis beläßt man gern im Ver-
antwortungsbereich des Gesetzgebers.
Neben dem „Willen des Gesetzgebers“ und dem des „Gesetzes“ taucht wei-
terhin die Formel vom „objektivierten Willen des Gesetzgebers“ auf, die aller-
dings einige Schwierigkeiten bereitet.63 Harmlos ist sie zunächst dann, wenn
62 Der Gesetzgeber hat durch das 3. StÄG von 1953 sowohl in § 170a StGB a. F. als
1962, 471 (472). Zu pauschal hingegen Bleckmann, JuS 2002, 942 (943).
1. Vorüberlegungen/Terminologisches 219
damit nur die hermeneutische Trivialität gemeint sein soll, daß ein Gedanke,
erst recht der des Gesetzgebers, in einer schriftlichen Fixierung einen „objekti-
ven“ Ausdruck erhält, mithin „objektiviert“ wird.64 Problematischer wird es al-
lerdings dann, wenn aus diesem Sachverhalt eine normative Interpretationsregel
abgeleitet wird, nach der die subjektiven Vorstellungen der Gesetzesverfasser als
Voraussetzung ihrer Heranziehung eines (hinreichenden) Ausdrucks im Ge-
setzestext bedürfen. Die auf diesen Erwägungen beruhende Interpretations-
maxime wird später unter dem Stichwort „Andeutungstheorie“ erörtert (IV 3).
Aber nicht immer meint die Rechtsprechung einen solchen Kompromiß zwi-
schen „objektiver“ und „subjektiver“ Auslegung, wenn sie den „objektivierten
Willen des Gesetzgebers“ zu ergründen sucht. Häufig wird diese Formulierung
eher synonym zum Begriff „Wille des Gesetzes“, also im Sinn der objektiven
Auslegungstheorie verstanden, und teilweise zur Rechtfertigung oder Ver-
schleierung einer Rechtsfortbildung genutzt. Es ist kein Zufall, daß der „objek-
tivierte Wille“ des Gesetzgebers mit dem „objektiven Geist“, gleich ob Hart-
mannscher oder Hegelscher Prägung, einhergeht, um auch dem Gesetz einen
„übergeschichtlichen“ Sinn beizumessen, d.h. es „dynamisch“ zu verstehen.65
Der BGH hat dies treffend mit der Formulierung zum Ausdruck gebracht, das
Gesetz sei „nicht toter Buchstabe, sondern lebendig sich entwickelnder Geist,
der mit den Lebensverhältnissen fortschreiten und ihnen sinnvoll angepaßt wei-
tergelten will“.66 Das damit verbundene Anliegen ist in Grenzen berechtigt und
wird auch durch eine gemäßigt subjektive Auslegungstheorie nicht ausgeschlos-
sen. Aber die bildhafte Rede vom „objektiven Geist“, vom „objektivierten Wil-
len des Gesetzgebers“ oder „objektiven Willen des Gesetzes“ lenkt meist von
inhaltlichen Fragestellungen ab.
Das BVerfG hat schon früh die Wendung vom „objektivierten Willen des Ge-
setzgebers“ benutzt und darin das Leitkriterium des gesamten Auslegungspro-
zesses gesehen.67 Während frühe Entscheidungen bei der Ermittlung des objek-
tivierten Willens der historischen Auslegung eine nur geringe Rolle zusprachen
(näher unten IV 2), haben jüngere Entscheidungen sich (auch theoretisch) von
diesem rigorosen Standpunkt distanziert. Ein Vergleich zwischen methodologi-
schen Äußerungen einer frühen und einer jüngeren Entscheidung des BVerfG
zeigt, daß der „objektivierte Wille“ ein Leitbegriff der Gesetzesinterpretation
ist, dessen Inhalt und Kriterien einem Wandel unterliegen können:
64 Vgl. Liver, Wille des Gesetzes, S. 14: Der Gehalt der Rechtssätze sei insofern
BVerfG, daß diese sich über den Gehalt ihrer Auslegungsgrundsätze im klaren sei, und
konstatiert „eigenartige Unsicherheiten in der Beurteilung methodologischer Grund-
satzfragen“.
220 IV. Entstehungsgeschichte
„Maßgebend für die Auslegung einer „Maßgebend für die Auslegung einer
Gesetzesvorschrift ist der in dieser zum Gesetzesvorschrift ist der in der Norm
Ausdruck kommende objektivierte Wille zum Ausdruck kommende objektivierte
des Gesetzgebers, so wie er sich aus dem Wille des Gesetzgebers, so wie er sich
Wortlaut der Gesetzesbestimmung und aus dem Wortlaut der Vorschrift und dem
dem Sinnzusammenhang ergibt, in den Sinnzusammenhang ergibt, in den sie
diese hineingestellt ist. Nicht entschei- hineingestellt ist . . . Hierbei helfen alle
dend ist dagegen die subjektive Vorstel- herkömmlichen Auslegungsmethoden in
lung der am Gesetzgebungsverfahren be- abgestimmter Berechtigung. Unter ihnen
teiligten Organe . . . Der Entstehungs- hat keine einen unbedingten Vorrang vor
geschichte einer Vorschrift kommt für einer anderen.“ (BVerfGE 105, 135
deren Auslegung nur insofern Bedeutung [157])69
zu . . .“ (BVerfGE 1, 299 [312])68
Vereinzelt spricht das BVerfG ferner vom „objektiven Willen des Gesetzge-
bers“, der mit Hilfe der Auslegungsmethoden zu ermitteln sei (BVerfGE 11,
126 [130]). Auch mit diesem Begriff ist das Leitkriterium der Auslegung im
ganzen gemeint und zwar i. S. einer objektiven Auslegungstheorie. Die – soweit
ersichtlich – nicht fortgeführte Terminologie70 ist indes fragwürdig und (neben
dem „objektivierten“ Willen) überflüssig. Unabhängig davon, ob es einen „ob-
jektiven Willen“ einer Person oder Institution überhaupt geben kann, ver-
schleiert die Formulierung, daß die objektive Theorie Entscheidungen gegen
den („subjektiven“) Willen des Gesetzgebers ermöglicht.
Der BGH in Strafsachen hat die Formel vom objektivierten Willen erst spät
rezipiert,71 ist damit jedoch uneinheitlich umgegangen. Sie sollte dem Urteilsle-
ser als „Alarmzeichen“ dienen, denn leicht verbirgt sich hinter dem objektivier-
ten Willen eine methodologisch zweifelhafte Argumentation, zumindest aber
eine auslegungstheoretisch interessante Konstellation. Nähere Betrachtung ver-
dienen folgende Entscheidungen:
Fall 109 (BGHSt 17, 21): Im berufsrechtlichen Verfahren ist gemäß § 145 I BRAO
die Revision zulässig, wenn als Maßnahme die Ausschließung des Rechtsanwalts
aus dem Anwaltsberuf verhängt worden ist (Alt. 1) oder wenn die Vorinstanz einem
Antrag der Staatsanwaltschaft auf Ausschließung nicht entsprochen hat (Alt. 2).
Kann auch der zu einer anderen Maßnahme verurteilte Rechtsanwalt gestützt auf
Alt. 2 Revision einlegen, wenn die Staatsanwaltschaft mit ihrem Antrag auf Aus-
schließung gescheitert ist? Der BGH verneint (S. 23): „Maßgebend für die Ausle-
(3718, r. Sp.) die Rede. Dabei dürfte es sich jedoch um einen Druckfehler handeln,
denn im Original und in der amtlichen Fundstelle BGHSt 48, 354 (357) heißt es „ob-
jektiviert“.
71 Soweit ersichtlich in der amtlichen Sammlung erst in BGHSt 17, 21 (23) = Fall
109.
1. Vorüberlegungen/Terminologisches 221
gung eines Gesetzes ist der in ihm zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des
Gesetzgebers, so wie er sich aus dem Wortlaut der Gesetzesbestimmung, dem Sinn-
zusammenhang sowie dem erkennbaren Zweck der Vorschrift ergibt (BVerfGE 1,
299, 312; 10, 234, 244; 11, 126, 129 . . .).“72 Aus den in § 145 vorgesehenen Fällen
sei die „Absicht des Gesetzes“ ersichtlich, nur der Staatsanwaltschaft die Möglich-
keit nach Alt. 2 zu gewähren. Der Wortlaut der Alt. 2 sei offensichtlich „weiter
gefaßt . . ., als es dem Willen des Gesetzes entspricht“ (S. 24). Auch die Entste-
hungsgeschichte (Entwurfsbegründung) ergebe, daß nur eine drohende Existenzge-
fährdung dem Rechtsanwalt das Rechtsmittel der Revision einräumen soll.
Dem BGH ist zuzustimmen, aber die interpretationstheoretischen Ausführun-
gen waren nicht veranlaßt. Einerseits hätte das Ergebnis ohne weiteres damit
begründet werden können, daß zur Ermittlung der Wortbedeutung der Kontext
herangezogen werden muß und eine Lektüre beider Alternativen die angestrebte
Lösung bereits trägt. Unterstellt man andererseits – davon geht der BGH wohl
aus –, der Wortlaut spreche für die Zulässigkeit der Revision, dann war es un-
umgänglich, nach der Berechtigung für eine Wortlautkorrektur zu fragen. Eine
solche Reduktion könnte womöglich sowohl auf den Zweck der Regelung als
auch auf ihre Entstehungsgeschichte gestützt werden; da sie sich zudem nicht
im Bereich des materiellen Rechts bewegt, bestünden auch in Hinblick auf
Art. 103 II GG keine Bedenken. Die Rede vom „objektivierten Willen des Ge-
setzgebers“ verdunkelt diesen einfachen methodologischen Sachverhalt. Unklar
bleibt im übrigen, welches der genannten Auslegungskriterien (Wortlaut, Zu-
sammenhang, Zweck) für die „Objektivierung“ entscheidend sein soll, wenn
nicht der dafür prädestinierte Gesetzestext! Zu klären wäre schließlich, in wel-
chem Verhältnis der „objektivierte Wille des Gesetzgebers“ zur „Absicht“ bzw.
zum „Willen des Gesetzes“ steht, denn auch darauf rekurriert der Senat.
Fall 110 (BGHSt 31, 128) behandelt – unter Rückgriff auf das gleiche methodische
Instrumentarium – eine ähnliche Frage wie BGHSt 17, 21, diesmal für das berufs-
rechtliche Verfahren gegen einen Steuerberater. Wie § 145 I BRAO bestimmt § 129
I StBerG, daß die Revision nur zulässig ist, wenn die Vorinstanz den Steuerberater
aus dem Beruf ausgeschlossen hat (Nr. 1) oder wenn die Staatsanwaltschaft erfolg-
los die Ausschließung des Steuerberaters aus dem Beruf beantragt hat (Nr. 2). Im
vorliegenden Fall hatte die Staatsanwaltschaft zwar erfolglos die Ausschließung be-
antragt, sich mit der Revision aber nur dagegen gewandt, daß das Berufungsgericht
Verjährung angenommen und deshalb keine anderen Maßnahmen getroffen hat.
Nach Ansicht des BGH ist jedoch die Weiterverfolgung des Ausschließungsantrags
notwendige Voraussetzung einer zulässigen Revision, auch wenn der Wortlaut nur
einen erfolglosen Antrag im Berufungsverfahren verlangt. Die s. E. erforderliche
„einschränkende Auslegung“ rechtfertigt der Senat unter Berufung auf den „objek-
tivierten Willen des Gesetzgebers“, den er wie BGHSt 17, 21 definiert (S. 130). Bei
Zugrundelegung dieses Maßstabs zeige sich, daß die Revision nur bei drohender
oder bei verhängter Ausschließung eröffnet sein soll. Auch die weitere Argumenta-
tion wird aus BGHSt 17, 21 übernommen: Die Vorschrift sei weiter gefaßt, „als es
72 Ebenso BGHSt 20, 104 (107); 31, 128 (130); bestätigt in BGHSt 36, 192 (195).
222 IV. Entstehungsgeschichte
dem Willen des Gesetzes entspricht“, was durch die Entstehungsgeschichte bestätigt
werde.
Hier gilt das bereits zu BGHSt 17, 21 Gesagte entsprechend: Die „ein-
schränkende Auslegung“ bedurfte keines Rückgriffs auf den „objektivierten
Willen des Gesetzgebers“. Alle Interpretationskriterien außer dem Wortlaut
sprachen für die Lösung des BGH und insoweit blieb lediglich die nur noch
methodisch interessierende Frage, ob der Wortlaut einschränkend ausgelegt oder
korrigiert werden muß.73 Dagegen nimmt der BGH in folgender Entscheidung
unter dem Deckmantel des „objektivierten Willens“ eine Gesetzeskorrektur vor,
deren Legitimation zweifelhaft ist:
Fall 111 (BGHSt 29, 196 – „Überwachungsrichter“): Als ein Produkt der Terroris-
musbekämpfung gewährt § 148 II 1 StPO die Möglichkeit, den Schriftverkehr zwi-
schen Verteidiger und Beschuldigtem zu überwachen, wenn der Beschuldigte sich
nicht auf freiem Fuß befindet und Gegenstand der Untersuchung eine Straftat ge-
mäß § 129a StGB (Bildung terroristischer Vereinigungen) ist. § 148a I 1 StPO er-
klärt hierfür den Richter beim Amtsgericht („Überwachungsrichter“) für zuständig,
in dessen Bezirk die Vollzugsanstalt liegt. Dieser darf nicht mit dem Gegenstand der
Untersuchung (§ 129a StGB) betraut sein, § 148a II 1 StPO. Welches Gericht für
eine etwaige Beschwerde gegen Entscheidungen des Überwachungsrichters zu befin-
den hat, regeln die §§ 148, 148a StPO nicht. Deshalb griffe eigentlich die allge-
meine Norm des § 73 I GVG, wonach über Verfügungen und Entscheidungen des
Amtsrichters die Strafkammern des LG zu entscheiden haben. Im Bereich erst-
instanzlicher Zuständigkeit der Oberlandesgerichte – darunter fallen auch die Taten
gemäß § 129a StGB! – bestimmt davon abweichend jedoch § 120 III 1 GVG, daß
die Oberlandesgerichte auch die in § 73 GVG bezeichneten Entscheidungen zu tref-
fen haben. Bedenken gegen diese schlüssig scheinende Rechtslage erwachsen frei-
lich aus § 148a II 1 StPO (siehe oben), denn damit würde die Zuständigkeit eben
jenes Gerichts konstituiert, das auch im Hauptsacheverfahren zu entscheiden hätte.
Trotz dieser Widersprüchlichkeit und anderer praktischer Schwierigkeiten sah das
BayObLG zunächst keine Möglichkeit, die Zuständigkeitsbestimmung des § 120 III
GVG zu umgehen: „Die Gerichte sind nicht befugt, sich aus bloßen Zweck-
mäßigkeitserwägungen über die eindeutige gesetzliche Regelung hinwegzusetzen“
(BayObLG MDR 1979, 862 [863]). Der Wortlaut der Bestimmung sei „klar“. Ganz
anders geht der BGH vor, indem er die (inhaltlich) fragwürdige Regelung selbstbe-
wußt korrigiert und dabei zuerst die Wortlautargumentation der Gegenmeinung dis-
kreditiert: Die „bloße Wortauslegung“ könne zwar zur Annahme der OLG-Zustän-
digkeit führen, doch entspreche dies „weder dem im Gesetz objektivierten Willen
des Gesetzgebers noch dem Zweck der Norm“ (BGHSt 29, 196 [198]). Beide Krite-
rien seien aber „neben dem – hier nicht völlig [!] eindeutigen – Wortlaut zur Aus-
legung von Gesetzesvorschriften heranzuziehen“. § 148a StPO lasse erkennen, daß
die für die Zuständigkeitsbestimmung des § 120 III GVG maßgeblichen „Erwägun-
gen des Gesetzgebers“ für das Überwachungsverfahren „nicht zutreffen“ (!!). Ent-
73 Daß die Auslegung des BGH in BGHSt 31, 128 mit dem Wortlaut unvereinbar
ist, wird man kaum sagen können. Eher schon könnte die gegenteilige Auslegungs-
hypothese als befremdlich oder „spitzfindig“ charakterisiert werden.
1. Vorüberlegungen/Terminologisches 223
scheidend sei § 148a II StPO und das daraus ersichtliche gesetzgeberische Bemü-
hen, den Überwachungsrichter von der Befassung mit der Hauptsache fernzuhalten
(S. 199). Dem würde die Zuständigkeit der Oberlandesgerichte für die Beschwerde
zuwiderlaufen. Maßnahmen der Geschäftsverteilung könnten diesen Schwierigkeiten
„nur unvollkommen“ begegnen (möglich wäre es aber!), so daß zumindest ein (!)
Zweck des 120 III GVG weitgehend verfehlt würde (S. 199 f.).
Die wiedergegebene Argumentation ist ein Musterbeispiel für eine Gesetzes-
korrektur. Die nach Ansicht des BGH für das Verfahren des § 148a StPO unbe-
friedigende Zuständigkeitsnorm des § 120 III GVG wird aus teleologischen Ge-
sichtspunkten in ihrem Anwendungsbereich reduziert.74 Sehr gequält sind die
Ausführungen des BGH zur Wortlautauslegung, die er zunächst herabwürdigt
(„bloße Wortauslegung“) und dann mit der unbegründeten – wohl auch unbe-
gründbaren – Behauptung fortsetzt, der Wortlaut sei nicht „völlig“ eindeutig.
An der Eindeutigkeit der §§ 73, 120 III GVG, 148a StPO kann jedoch nicht
gezweifelt werden. Dem Gesetzgeber ist die Problematik (womöglich!) nur ent-
gangen, weshalb es an einer folgerichtigen Zuständigkeitslösung mangelt, die
der BGH rechtsschöpferisch nachreicht. Daß der Senat dennoch verkrampft die
Noch-Vereinbarkeit seiner Lösung mit dem Gesetzeswortlaut behauptet, mag an
Zweifeln bezüglich der Legitimation für eine Gesetzesberichtigung liegen, zu-
mal die Thematik den „gesetzlichen Richter“ des Art. 101 I GG berührt. Völlig
unklar bleibt jedoch, was der „objektivierte Wille des Gesetzgebers“ zum Pro-
blem beitragen kann, denn in den eigentlich relevanten Zuständigkeitsnormen
(§§ 73, 120 GVG) hat diese, vom BGH aus § 148a StPO gefolgerte gesetzgebe-
rische Intention ja offensichtlich keinen Ausdruck gefunden.75
In folgendem Beispiel fungiert der „objektivierte Wille des Gesetzgebers“ als
willfähriges Instrument „objektiver“ Gesetzesauslegung:
Fall 112 (BGHSt 36, 192; 30, 52; 43, 262 – „Erzwingungshaft“): Gemäß § 304 V
StPO ist gegen Verfügungen des Ermittlungsrichters des BGH oder OLG „die Be-
schwerde nur zulässig, wenn sie Verhaftung, einstweilige Unterbringung, Beschlag-
nahme oder Durchsuchung betreffen“. Meint „Verhaftung“ nur die Untersuchungs-
oder auch die Erzwingungshaft? BGHSt 30, 52 hat in einer kurzen Entscheidung
die engere Ansicht bevorzugt: § 304 IV, V StPO knüpfe an den in § 310 enthalte-
nen Begriff der Verhaftung an, worunter der Gesetzgeber – wie aus der Entwurfsbe-
gründung ersichtlich – nur die Untersuchungshaft verstanden habe (S. 53); auch die
Rechtsprechung zu § 310 sei diesen Vorstellungen gefolgt (S. 54). Mit § 304 V sei
die Entlastung der Beschwerdeinstanz bezweckt gewesen (S. 53). Unter Aufgabe
von BGHSt 30, 52 argumentiert BGHSt 36, 192 im gegenteiligen Sinn: Die Geset-
74 Das BayObLG hat sich in MDR 1990, 652 der Auffassung des BGH angeschlos-
sen und die Vorgehensweise des BGH als „einschränkende Auslegung“ des § 120 III
GVG charakterisiert. – Interessant ist, daß die teleologische Reduktion des § 120 III
GVG auf dem Gesetzeszweck einer anderen Norm beruht!
75 Schon gar keinen „hinreichenden“ Ausdruck, wie es die Senate sonst so oft ver-
zesverfasser mögen ein enges Begriffsverständnis verfolgt haben76 (S. 194), doch
komme dem gegenüber dem „objektivierten Willen des Gesetzgebers“ (Hinweis auf
BGHSt 31, 128 – siehe oben) keine ausschlaggebende Bedeutung zu (S. 195). Auch
eine grundsätzlich eng auszulegende Ausnahmevorschrift wie § 304 V sei nicht for-
mal, sondern nach Sinn und Zweck der gesetzgeberischen Konzeption zu interpretie-
ren. Der Wortlaut lasse die Erfassung der Erzwingungshaft zu, das Grundrecht der
persönlichen Freiheit spreche dafür. Eine solche Auslegung widerspreche auch nicht
der Intention des Gesetzes, nur Verfügungen zu erfassen, „die besonders nachhaltig
in die Rechtssphäre des Betroffenen eingreifen“ (S. 196, Nachweis aus den Berich-
ten des Sonderausschusses). Insofern „erschiene es ungereimt, wenn nicht system-
widrig, zwar Beschlagnahme und Durchsuchung, nicht aber Erzwingungshaft als be-
schwerdefähig anzusehen“ (S. 196).
In der umgekehrten Situation – die Staatsanwaltschaft wendet sich gegen die Nicht-
anordnung der Erzwingungshaft – lehnt BGHSt 43, 262 (264) die Anwendung des
§ 304 V StPO hingegen ab und führt zu BGHSt 36, 192 interessanterweise aus:
„Eine erweiternde Anwendung des § 304 Abs. 5 StPO, die die Gleichstellung der
Anordnung der Erzwingungshaft mit der in der Vorschrift genannten ,Verhaftung‘ –
gemessen an der Entstehungsgeschichte der Regelung (vgl. dazu BGHSt 30, 52, 53/
54) – bedeutet77, kommt wegen des Ausnahmecharakters der Vorschrift nur dann in
Betracht, wenn dies aus verfassungsrechtlichen Gründen und/oder nach dem Rege-
lungszweck unausweichlich gefordert ist.“
Die Heranziehung des „objektivierten Willens“ (in BGHSt 36, 192) dient al-
lein dazu, die subjektiven Vorstellungen der Gesetzesverfasser als irrelevant ab-
zutun; die Formel ist damit Vehikel der objektiven Auslegungstheorie. Dennoch
sieht der BGH sich nicht daran gehindert, später den „Willen des Gesetzgebers“
anhand der Gesetzesmaterialien zu ermitteln und daraus Schlußfolgerungen zu
ziehen. Die Schlußfolgerungen legen die Motivation des BGH allerdings offen:
Wenn der Gesetzgeber den Betroffenen bei besonders nachhaltigen Eingriffen
schützen wollte, dann wäre es „ungereimt“ und „systemwidrig“, zwar eine Be-
schlagnahme, nicht aber die Erzwingungshaft zu erfassen. Ist aber der BGH
dazu berechtigt, diese (angebliche) Systemwidrigkeit zu beseitigen, wenn die
Gesetzesverfasser mit dem von ihnen zugrunde gelegten Begriffsverständnis
76 Ob das – wie BGHSt 30, 52 annimmt – wirklich aus den Materialien folgt, ist
indes nicht ganz sicher (siehe dazu den lehrreichen Schlagabtausch zwischen Wedel
und Kutzer in MDR 1990, 786–788). Aber darauf kommt es bei der Analyse von
BGHSt 36, 192 nicht an, weil diese Entscheidung der Frage zum einen gar nicht nach-
geht (vgl. a. a. O., S. 194 f.: Die Gesetzesverfasser „mögen“ den Begriff so verstanden
haben.) und sich ganz unabhängig davon zur Überwindung der (unterstellten!) gesetz-
geberischen Vorstellungen berechtigt sieht. Beide Aspekte werden von Kutzer (a. a. O.,
S. 787) übersehen, der offenbar eine Begründung dafür nachreichen möchte, weshalb
die Entscheidung BGHSt 36, 192 doch im Einklang mit der Entstehungsgeschichte
steht, damit aber am eigentlichen Thema „vorbeischreibt“. Eine Urteilsanmerkung, die
vor allem Methodenkritik betreibt (wie die von Wedel), kann natürlich nur zugrunde
legen, wovon das Urteil selbst ausgeht.
77 Der BGH hat sich offenbar der Meinung seines Mitglieds Kutzer (siehe vorste-
restriktiv auszulegen und einer analogen Anwendung nicht zugänglich ist“ und unten
V 4.
79 Eine Analogie scheint sich hier zwar aufzudrängen, kommt aber gleichwohl nicht
und im Fall von BGHSt 36, 192 im besonderen Wedel, MDR 1990, 786. Zu weitge-
hend ist allerdings Wedels Urteil, wonach der BGH „nicht einmal den absoluten Min-
destanforderungen, die an eine höchstrichterliche Entscheidungsbegründung in metho-
discher Hinsicht zu stellen sind, gerecht wird“ (S. 787).
226 IV. Entstehungsgeschichte
ristischer Mystik“, Muscheler (in: FS für Hollerbach, S. 110) von einer „das tatsäch-
liche Vorgehen verschleiernden Oberformel“.
2. Ist die Entstehungsgeschichte als Erkenntnismittel heranzuziehen? 227
83 Die späteren ausdrücklichen Aussagen des BVerfG zu dieser Frage sind demge-
genüber sehr uneinheitlich und bieten somit ein ähnliches Bild wie die Stellungnah-
men des BGH; vgl. unten Fn. 91.
228 IV. Entstehungsgeschichte
dahinstehen läßt, „ob es neben dem Gesetz überhaupt Willens- und Meinungs-
äußerungen des gesetzgebenden Organs geben kann, die den Richter als ,kon-
krete Entscheidung‘ des Gesetzgebers binden“ (S. 173).
In einem Streit um die Deutung konkreter Gesetzesmaterialien sagt BGHSt
12, 42 (43) unter Hinweis auf BGHSt 1, 74 (siehe oben) und Mezger: Es be-
stehe Einigkeit, daß der Entstehungsgeschichte im allgemeinen, insbesondere
aber Äußerungen von Regierung und Abgeordneten zur Reichweite eines Geset-
zes nur ein bedingter Wert zukomme. Jedenfalls lasse sich im vorliegenden Fall
„eine unzweideutige, den Richter bindende Willensäußerung des Gesetzgebers
. . . entgegen der Meinung des Reichsgerichts der Entstehungsgeschichte nicht
entnehmen“. Schon hier deutet sich ein Widerspruch in der methodischen Hal-
tung des BGH an: Zunächst wird der Wert historischer Auslegung herabgesetzt
(„nur bedingt“), dann aber eine sich aus der – eingehend ermittelten! – Entste-
hungsgeschichte ergebende „bindende“ Willensäußerung des Gesetzgebers in
Betracht gezogen.
Im 13. Band der amtlichen Sammlung zeigt sich die ungeklärte Situation
bezüglich der subjektiven Auslegung. Auf der einen Seite führt BGHSt 13, 5
(näher unten Fall 150) unter Berufung auf das BVerfG, und obwohl die Entste-
hungsgeschichte im konkreten Fall nichts für die Gegenauffassung hergab, aus:
„Maßgebend für die Auslegung einer gesetzlichen Vorschrift ist jedoch nicht, wie
ihre Urheber oder Verfasser sie verstanden wissen wollten sondern ihr wirklicher
Sinngehalt, wie er sich für den unbefangenen Betrachter aus dem Wortlaut des Ge-
setzes und dessen Sachzusammenhang ergibt (BVerfGE 1, 299).“ (BGHSt 13, 5 [8])
Auf der anderen Seite steht kurze Zeit später derselbe Senat in BGHSt 13,
102 der historischen Auslegung, die in casu allerdings mit einer später erlasse-
nen höherrangigen Norm unvereinbar war, grundsätzlich positiv gegenüber:
„Der Sinn, den die Urheber einer bestimmten Gesetzesvorschrift mit ihr verbunden
wissen wollten, wird zwar unter der Voraussetzung, daß er zweifelsfrei ermittelt
werden kann, häufig ihre Auslegung maßgeblich bestimmen. Das gilt aber nicht
ohne Einschränkung. . . .“ (BGHSt 13, 102 [117])
Die letztgenannte methodologische Auffassung dürfte nur schwerlich mit der
des BVerfG (vgl. oben) zu vereinbaren sein!84 Aber schon kurz darauf argu-
mentiert der BGH wieder unverblümt „objektiv“, indem er die Vorstellungen
des Gesetzgebers über die Reichweite des Begriffs „Gemeingefahr“ wie folgt
beiseite räumt (BGHSt 15, 138 [141] = oben Fall 53): Ein etwaiger Irrtum des
Gesetzgebers über die wahre (!) Bedeutung des Begriffs würde den Richter
nicht dazu berechtigen, den wirklichen (!) Sinn „außer acht zu lassen und nur
den – kaum zuverlässig feststellbaren (vgl. BGHSt 1, 74, 76) – Willen des Ge-
setzgebers zugrunde zu legen . . .“.
Zum Höhepunkt steigerte sich das Hin und Her zwischen objektiver und sub-
jektiver Auslegung im 18. Band der amtlichen Sammlung. Eine starke Tendenz,
den Willen des Gesetzgebers als maßgeblich anzusehen, enthält BGHSt 18, 151
(155) in einer Entscheidung zum Absichtsbegriff des § 91 StGB a. F. Die Deu-
tung, die dieser Begriff im Rechtsausschuß des Bundestages erfahren hat, hat in
den Gesetzgebungsorganen keinen Widerspruch gefunden und wird deshalb vom
BGH zugrunde gelegt:
„Das Plenum des Bundestags und der Bundesrat haben keine abweichende Ansicht
geäußert. In diesen Vorgängen kommt eine authentische Interpretation des Willens
des Gesetzgebers zum Absichtsbegriff des § 91 StGB zum Ausdruck, die die Ge-
richte bindet.“
Doch nach Lektüre der sich unmittelbar anschließenden Entscheidung eines
anderen Senats zu einer nebenstrafrechtlichen Frage reibt man sich die Augen
(BGHSt 18, 156 [159]):
„Für die in dem Vorlegungsbeschluß vertretene Rechtsansicht spricht schließlich
auch die Entstehungsgeschichte des § 2a WiStG 1954, der allerdings nicht die Be-
deutung einer selbständigen Erkenntnisquelle zukommt (BVerfGE 1, 299, 312).“
Was auf der einen Seite die Gerichte bindet (BGHSt 18, 151), soll auf der
anderen Seite nicht einmal heuristischen Stellenwert besitzen (BGHSt 18, 156).
Der auslegungstheoretisch so weitreichende Nebensatz aus der letztgenannten
Entscheidung mutet um so merkwürdiger an, als er durch den konkreten Fall
nicht veranlaßt war, die Entstehungsgeschichte ja sogar für die Auffassung des
Senats sprach.85 Man kann diese Vorgehensweise entweder als Lippenbekenntnis
zur Entscheidung des BVerfG oder aber als vorsorgliche Äußerung für die Zu-
kunft – ein Fall, in der die Entstehungsgeschichte im Weg steht, wird in jedem
Fall kommen! – deuten. Überzeugen kann beides nicht und so bleibt der Metho-
denbruch in der Rechtsprechung des höchsten Strafgerichts nicht recht erklär-
bar.
In einer weiteren Entscheidung im 18. Band zum Begriff der „Absicht“ im
Staatsschutzrecht86 greift der BGH wiederum eingehend auf die genetische
Auslegung zurück, um den Sinn und Zweck der Norm zu ermitteln. Die Entste-
hungsgeschichte sei gerade im Staatsschutzrecht von besonderer Bedeutung, da
hieraus ersichtlich werde, wie weit der Staat sich selbst erkennbar gegen An-
griffe schützen wolle (BGHSt 18, 246 [249 f.]).
Seitdem ist es in der Rechtsprechung des BGH zur Verwertbarkeit der Entste-
hungsgeschichte für die Bestimmung des Gesetzesinhalts deutlich ruhiger ge-
klärte: Die Entstehungsgeschichte helfe im vorliegenden Fall zwar nicht weiter, würde
sie es aber tun, wären die daraus folgenden Erkenntnis bindend! – Eine solche Aus-
sage erscheint nur auf den ersten Blick als absurd.
86 Näher unten IV 4 b, Fall 139.
230 IV. Entstehungsgeschichte
worden.87 Explizit äußern die Strafsenate sich zu dieser Frage nur noch selten
und wenn, dann weniger grundsätzlich. BGHSt 22, 282 (285) greift auf die Ent-
stehungsgeschichte und auf die subjektive Vorstellung der Gesetzgebungsorgane
zurück, „mag sie auch für die Auslegung nicht entscheidend sein“. In BGHSt
25, 374 (379) macht der Senat den Rückgriff auf die amtliche Begründung le-
diglich von dem Junktim eines nicht eindeutigen Wortlauts abhängig. BGHSt
26, 73 (75) möchte die bindende Wirkung der Materialien wie folgt beschränkt
sehen:
„Daß weder der Amtlichen Begründung noch der Allgemeinen Verwaltungsvor-
schrift zur StVO eine dem Richter bindende Gesetzeswirkung zukommt, hindert
nicht etwa daran, sie als Auslegungshilfe . . . heranzuziehen.“
Nachdem die extremen Positionen in diesem Streit schon überwunden schie-
nen, führt BGHSt 26, 156 (160) fast schon atavistisch zurück zur objektiven
Theorie:88 Die Rechtsfrage müsse anhand des im Gesetz objektivierten Willens
des Gesetzgebers beantwortet werden. Und weiter:
„Die Gesetzesmaterialien können als ,Argumentationshilfe‘ (vgl. Raisch . . .) unter-
stützend, zur Behebung von Zweifeln und unter der Voraussetzung herangezogen
werden, daß die Vorstellung der an der Gesetzgebung beteiligten Organe im Gesetz
selbst einen hinreichend bestimmten Ausdruck gefunden haben (vgl. BVerfGE 1,
299, 312; 11, 126, 130; 20, 238, 253; BGHSt 1, 74, 76; 8, 294, 298; 11, 52, 53;
RGSt 37, 333, 334). Eine Auslegung, die diese Grenzen verkennt, läuft Gefahr, sich
mit dem Gebot der Bestimmtheit der Strafgesetzes (Art. 103 II GG . . .) in Wider-
spruch zu setzen . . .“.
Dagegen stellt BGHSt 38, 237 (243) maßgeblich darauf ab, ob die Motive
des Gesetzgebers im Wortlaut zum Ausdruck gekommen sind; nur dann bestehe
die Möglichkeit, ihnen gegenüber den übrigen Auslegungskriterien Gewicht zu
verschaffen:
„Im übrigen können die Vorstellungen und Motive des Gesetzgebers immer nur ei-
nes von mehreren Auslegungskriterien sein; ihre Bedeutung tritt um so stärker zu-
rück, je weniger sie im Wortlaut der Vorschrift ihren Niederschlag gefunden haben.“
Was ist nun von diesem Sammelsurium an Meinungen zu halten? Auffällig
ist zunächst, daß die ausdrücklichen methodologischen Aussagen der Strafse-
nate zu diesem Thema seltener geworden sind, obwohl ein Konsens in dieser
Frage keineswegs erzielt worden ist. Womöglich sieht der BGH die Problematik
letztlich nicht als aufklärbar an, zumindest nicht in Richtung der einen oder
anderen Position. Schwer erträglich sind Äußerungen, die sich diametral wider-
sprechen, so daß man fast geneigt ist, auch zu diesen auslegungstheoretischen
87 Ebenso Muscheler (in: FS für Hollerbach, S. 107) für die Rechtsprechung der
ebenfalls unklar, vgl. Sachs, DVBl. 1984, 73 (75 f., 78 ff.) und Seiler, Methode im
Zivilrecht, S. 50–52; nach Ansicht von H. J. Müller (JZ 1962, 471 [473]) gilt dies
sogar schon für die frühen Äußerungen; zu pauschal Bleckmann, JuS 2002, 942 (943).
Offenbar ebenfalls schwankend und zum Teil widersprüchlich das schweizerische Bun-
desgericht, siehe Kramer, Methodenlehre, S. 92–95. Zur Rechtsprechung des BGH in
Zivilsachen siehe Muscheler, in: FS für Hollerbach, S. 102 ff., 111: Die Äußerungen
seien von „tiefgehender Unsicherheit“ geprägt, die Wahl der Standpunkte sei nicht er-
kenntnis-, sondern ergebnisorientiert.
92 Eine Ausnahme bildet BGHSt 18, 151 (siehe oben).
93 Es folgen nähere Ausführungen, weshalb die Entstehungsgeschichte besonders
wertvoll ist. Eine Einigung in Methodenfragen hat BGHZ 46, 74 aber offenbar nicht
erzielt, vgl. Muscheler, in: FS für Hollerbach, S. 107 ff.
94 Ebenso z. B. Redeker/Karpenstein, NJW 2001, 2825: Der Praktiker wisse, daß
die theoretischen Aussagen nicht der Wirklichkeit entsprechen. Siehe auch Muscheler
(in: FS für Hollerbach, S. 129) bezüglich „BGHZ“ und Honsell (Historische Argu-
232 IV. Entstehungsgeschichte
BGH darum geht, eine ungenehme Ansicht des historischen Gesetzgebers für
den Fall der Fälle beiseite schieben zu können, notfalls durch Diskreditierung
des entstehungsgeschichtlichen Auslegungskriteriums schlechthin!95 Unter Hin-
weis auf die in BVerfGE 1, 299 (312) vertretene Position ist das stets mög-
lich.96 Daß diese Position allerdings methodengeschichtlich überholt ist, zeigt
eine bereits zitierte Äußerung aus einer jüngeren Entscheidung des BVerfG
(siehe oben IV 1 e), wonach alle herkömmlichen Auslegungsmethoden ihre Be-
rechtigung haben und keine davon eine Vorrangstellung genießt.
3. Die „Andeutungstheorie“
a) Einführung
mente, S. 129) hinsichtlich der Rechtsprechung des RG: Trotz in diese Richtung zie-
lender Äußerungen sei es auszuschließen, daß das RG der Entstehungsgeschichte einen
nur subsidiären Wert beimaß. Eine Diskrepanz zwischen theoretischer Wertschätzung
historischer Auslegung und tatsächlicher Praxis beim schweizerischen Bundesgericht
konstatiert Liver (Der Wille des Gesetzes, S. 17) bereits 1954.
95 Da Bindungen vermieden werden sollen, kommt auch eine an sich mögliche
sche Zusammenhang von mehreren Vorschriften, jedenfalls aber etwas „Äußeres“ ge-
meint. Daß der gesetzgeberische Wille auch erst in einer Gesamtheit von Normen
(„mittelbar“) zum Ausdruck kommen kann, zeigt die Entscheidung BGHSt GS 19,
206 (siehe unten Fall 114).
98 Von Säcker (in: MüKo-BGB, Einl., Rn. 98) als „alte“ Andeutungstheorie bezeich-
net, während „moderne Vertreter“ allein auf den möglichen Wortsinn als Auslegungs-
grenze abstellten (Rn. 100). Die hier im Vordergrund stehende Variante, die das Ver-
hältnis zwischen Wortlaut und Entstehungsgeschichte zum Gegenstand hat, wird von
Säcker nicht erörtert, obgleich gerade sie in der Rechtsprechung häufig auftritt. Vgl.
zum Ganzen auch Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 734 ff., Engisch, Einführung, S. 100 f.
und Muscheler, in: FS für Hollerbach, S. 127 f.
202 III. Wortlaut und Wortsinn
bücher heran, sondern beruft sich auf das eigene Sprachgefühl („Lehnstuhl-
methode“, III 7 c); professionelle (linguistische) Hilfe wird nicht in Anspruch
genommen. Weitere Probleme der Wortlautgrenze ergeben sich aus dem Wandel
der Zeiten, der mit durchlässigen („porösen“) Begriffen ohne weiteres aufgefan-
gen werden kann (III 7 d); unzulässig ist hingegen die Korrektur primärer oder
sekundärer Redaktionsfehler zulasten des Täters, denn dort wird der Rahmen
des sprachlich Möglichen verlassen. Fraglich ist, ob zwischen dem Phänomen
der Porosität (III 7 d) und einem Bedeutungswandel (III 7 e) sinnvoll differen-
ziert werden kann; vereinfacht gesagt liegt im Fall der Porosität lediglich eine
Änderung im Begriffsumfang (Extension), im Fall des Bedeutungswandels ein
Wandel des Begriffsinhalts (Intension) vor. Im „möglichen Wortsinn“ ist jedoch
Raum für ganz verschiedene Intensionen. Ob innerhalb dieses Rahmens ein Be-
deutungswandel zulässig ist, erweist sich somit nicht als Frage des Art. 103 II
GG, sondern als Problematik der Bindung an die Vorstellungen des Gesetzge-
bers (Art. 20 III, 97 I GG; näher unten IV 5). Für die Bestimmung der Wort-
lautgrenze als semantischen Rahmen kommt es auf das gegenwärtige Sprach-
verständnis an. Bei der Ermittlung des „möglichen Wortsinns“ sind außer gram-
matikalischen auch Gesichtspunkte heranzuziehen, die in den Bereich der
systematischen Auslegung hineinreichen (III 7 f). Logisch-systematische und
kontextbezogene Schlußfolgerungen, die direkt Aufschluß über die Wortbedeu-
tung geben, werden so von der verfassungsrechtlichen Wirkung des Art. 103 II
GG „geadelt“. Besondere Probleme entstehen, wenn die relevante Textgrundlage
erst aus verschiedenen, unter Umständen nicht ausreichend miteinander abge-
stimmten Normen zusammengestellt werden muß.
Trotz aller Fragen, die das Wortlautkonzept schon theoretisch aufwirft (III 7
a–f), steht im Mittelpunkt der Kritik der tatsächliche Umgang der Strafgerichte
mit der Wortlautgrenze (III 7 g). Ob diese ein wirksames Hindernis gegenüber
einer zur Ausweitung drängenden Praxis darstellt, hängt vom Beurteilungs-
maßstab ab (eingehend dazu in III 7 g aa und ii). Der Vorwurf der Beliebigkeit
kann – gegenüber Rechtsprechung und Schrifttum – leicht erhoben und belegt
werden, ein „düsteres Bild“ leicht gezeichnet werden. Letzte Sicherheit wird im
Grenzbereich zwischen Begriffshof und Begriffsumwelt nie zu erreichen sein.
Ein realistischer Standpunkt muß statt dessen auf den Mangel an Alternativen
verweisen, die verläßlichere Orientierung bieten könnten, und Verbesserungs-
vorschläge machen, wie dem Vorwurf einer beliebigen Verfahrensweise begeg-
net werden kann. Dazu wird das umfangreiche Material an Entscheidungen aus
der amtlichen Sammlung in Fallgruppen systematisiert, um typische Argumen-
tationsschwächen aufzeigen zu können (III 7 g bb–hh). Argumentationsmuster
des Schrifttums werden vergleichend herangezogen. Eine Prämisse, wonach eine
engere Auslegung per se rechtsstaatlich vorzugswürdig ist, ist nicht anzuer-
kennen. In einer stattlichen Zahl von Fällen (bb) verwerfen die Senate, meist
überzeugend und knapp, bestimmte Interpretationen als unzulässige Wortlaut-
3. Die „Andeutungstheorie‘‘ 233
BGHSt 31, 118 (oben Fall 85) spricht nicht vom „Willen des Gesetzgebers“, son-
dern vom „auf strafrechtlichen Schutz abzielenden Zweck“ der Norm, der im Wort-
laut hinreichend Ausdruck gefunden habe (S. 122).99 Ob damit jedoch einer Andeu-
tungstheorie im weiten Sinn das Wort geredet wird, ist zumindest zweifelhaft. Das
Analogieverbot hätte lediglich verlangt, daß die Interpretation mit dem „möglichen
Wortsinn“ vereinbar gewesen wäre, und hinsichtlich der sonst so hoch geschätzten
teleologischen Auslegung bleibt unklar, weshalb diese eines „hinreichenden“ Aus-
drucks im Gesetzestext bedarf, wo sie doch maßgeblicher Gesichtspunkt des Ausle-
gungsvorgangs insgesamt sein soll. Daß andere Auslegungsfaktoren als der histori-
sche Wille des Gesetzgebers nach Ansicht des BGH keines entsprechenden Rück-
halts im Wortlaut benötigen, wird unten anhand von BGHSt 38, 237 (Fall 115)
dargestellt. Die eigentliche Schwäche von BGHSt 31, 118 liegt allerdings darin, daß
es hinsichtlich der Vereinbarkeit mit dem Wortlaut bei einer bloßen Behauptung des
BGH bleibt, obwohl die Frage schwierig und strittig war (näher oben bei Fall 85).
Findet die Intention im Gesetz keinen Niederschlag, kommt zu ihrer Durch-
setzung nach dieser Lehre – wenn überhaupt – allenfalls eine Gesetzeskorrektur
im Weg der Rechtsfortbildung in Betracht. Für vorliegenden Zusammenhang ist
jedenfalls entscheidend, daß die Andeutungstheorie im Streit zwischen subjekti-
ver und objektiver Gesetzesauslegung eine vermittelnde Position einnimmt, in-
dem sie den Willen des historischen Gesetzgebers grundsätzlich, allerdings nur
unter bestimmten Kautelen für verwertbar erklärt.100 Daß diese Voraussetzungen
„formaler“ Art sind, spricht nicht von vornherein gegen diese Position, die sich
insoweit – was zu prüfen ist – vielleicht sogar auf das verfassungsrechtliche
Bestimmtheitsgebot stützen kann. Auch das Analogieverbot wird nach ganz
überwiegender Auffassung nach einem formalen Kriterium bestimmt.
Eine von der Andeutungstheorie zu unterscheidende (Folge-)Frage im Themenkreis
subjektive/objektive Theorie ist die nach der Bindungswirkung der gesetzgeberi-
schen Intention für den Fall, daß die legislative Absicht tatsächlich ihren Ausdruck
gefunden hat.
b) Abgrenzungen
nicht aber des Gegenwartssinns gehe, sieht H. J. Müller (JZ 1962, 471 [472 f.]) darin
eine gemäßigt subjektive Auslegungstheorie. Das wird man freilich nur sagen können,
wenn die Anhänger der Andeutungstheorie im Ernstfall den im Wortlaut zum Aus-
druck gekommenen Willen des historischen Gesetzgebers als bindend und nicht durch
„objektiv-teleologische“ Kriterien überwindbar ansähen.
234 IV. Entstehungsgeschichte
101 Es ist allerdings zweifelhaft, ob die „allgemeinen Erwägungen“, die der BGH im
Rahmen seiner teleologischen Auslegung anstellt (vgl. a. a. O., S. 75), noch eine An-
wendung des Gesetzes „aus sich selbst heraus“ darstellt.
102 Wie RGSt 77, 24 mit ausführlicher Begründung OLG Düsseldorf SJZ 1950,
284.
3. Die „Andeutungstheorie‘‘ 235
„Die Gerichte könnten einen solchen etwaigen inneren Willen des Gesetzgebers, der
im Gesetz keinen Ausdruck gefunden hat, angesichts des klaren Wortlauts der Be-
stimmung, der einen seinem Inhalt nach festumrissenen und allgemein gültigen Be-
griff des Strafrechts verwendet, nicht berücksichtigen.“ (BGHSt 1, 313 [316])103
Aber schon im nächsten Absatz entwertet der Senat seine methodologischen Er-
kenntnisse, indem er feststellt, daß der Entstehungsgeschichte nichts Gegenteiliges
entnommen werden könne; sie spreche sogar für seine Auffassung!
Wiederum also überflüssige methodologische Erwägungen, aber ein erstes
Bekenntnis in Richtung „Andeutungstheorie“. Ähnlich geht BGHSt 11, 52
(oben Fall 4) vor, wo der Senat zunächst den unzweifelhaften Wortlaut für sein
Ergebnis reklamiert, anschließend aber darauf hinweist, daß auch die Entste-
hungsgeschichte dies bestätige (S. 53). Für einen Irrtum des Rechtsausschusses
gebe es keinen Anhaltspunkt.
„Im übrigen wäre eine solcher Irrtum [des Rechtsausschusses] angesichts des klar
ausgedrückten Willens des Gesetzgebers bedeutungslos.“ (BGHSt 11, 52 [53])
In allen Fällen also eine ähnliche Vorgehensweise: Obwohl die Entstehungs-
geschichte für die Auffassung des BGH spricht bzw. für die Gegenauffassung
nur schwache Indizien liefert, werden zusätzlich die formalen Interpretations-
regeln herangezogen. Notwendig war das nicht, denn es hätte zur Stützung der
eigenen Auffassung genügt, sich auf den stark dafür sprechenden Wortlaut und
auf die damit übereinstimmende – jedenfalls nicht entgegenstehende – histori-
sche Auslegung zu berufen. Zudem ist die Vorgehensweise des BGH aus Sicht
der Praxis auch deshalb fragwürdig, weil die Festlegung auf starre Auslegungs-
regeln den Spielraum in zukünftigen Fällen verringern könnte. Insofern scheint
der BGH sich entweder über den Wert von Eindeutigkeitsregel und Andeutungs-
theorie sehr sicher zu sein oder aber er möchte, taktisch vorgehend, alle Bemü-
hungen der Interpreten, aus der Entstehungsgeschichte doch noch Gegenteiliges
zu folgern, im Keim ersticken.
Gegen den klaren Gesetzeswortlaut kommt ein womöglich entgegenstehender
Wille des Gesetzgebers auch in der Entscheidung BGHSt 6, 25 (oben Fall 12)
nicht an:
Die seit 1953 in § 49 StVO a. F., § 71 StVZO a. F. enthaltene Subsidiaritätsklausel
„wenn die Tat nicht schon nach anderen Vorschriften mit schwererer Strafe bedroht
ist“ erfaßt – auf Basis der ganz herrschenden Konkurrenzlehre – sicherlich den Fall
der Tateinheit. Bei Vorliegen von Gesetzeseinheit wären die straßenverkehrsrecht-
lichen Übertretungen ohnehin verdrängt, die Klausel insoweit also überflüssig. Da-
gegen geht (nach Ansicht des BayObLG) die amtliche Begründung davon aus, mit
103 Ebenso bereits OLG Hessen (Kasseler Senat) SJZ 1949, 570: Es gehe nicht an,
dem Zusatz sei keine Änderung der bisherigen Rechtslage verbunden, somit nur der
Fall der Gesetzeseinheit gemeint. Nach Auffassung des BGH wird diese Interpreta-
tion – wenn sie denn wirklich geäußert worden sein sollte – dem wirklichen Inhalt
der Vorschrift, wie er sich aus dem „klaren Wortlaut“ ergibt, nicht gerecht (S. 26):
„Selbst wenn der Bundesverkehrsminister in der Begründung zu der Neufassung . . .
seine Meinung hätte erkennen lassen, durch den . . . Zusatz solle das bisherige Recht
sachlich nicht geändert werden, käme ihr angesichts des klaren Wortlauts keine ent-
scheidende Bedeutung zu. Sie hat, wenn sie wirklich bestanden haben sollte, im Ge-
setz keinen Ausdruck gefunden.“
Die Sache war also schon nach dem klaren Wortlaut vorentschieden (sens-
clair-doctrine). Daß die entgegengesetzte Interpretation im Wortlaut zudem
„keinen Ausdruck“ gefunden haben kann, ist offensichtlich und hätte keiner Er-
wähnung bedurft. Deshalb ist der Hinweis auf die fehlende „Andeutung“ der
legislativen Intention im Gesetzestext immer dann überflüssig, wenn der Wort-
laut „klar“ oder „eindeutig“ im Sinn der gegenteiligen Auslegungshypothese
bzw. mit der Intention nicht zu vereinbaren ist. In solchen Konflikten zwischen
Wortlaut und gesetzgeberischer Vorstellung ist eine Rangfolgefrage zu entschei-
den, und sieht man den möglichen Wortsinn generell als Grenzkriterium zwi-
schen Auslegung und Rechtsfortbildung, kommt in einer solchen Konstellation
zur Verwirklichung des gesetzgeberischen Willens nur noch eine Rechtsfortbil-
dung (oder Gesetzeskorrektur) in Betracht. Ist darüber hinaus Art. 103 II GG
tangiert, kann es ohnehin nur bei einer dem Wortlaut entsprechenden Deutung
bleiben. Der BGH hat insofern des öfteren ungenau argumentiert, indem er –
für das Ergebnis allerdings unschädlich – sowohl auf die Eindeutigkeitsregel als
auch auf die Andeutungstheorie zurückgegriffen hat:
So hält BGHSt 42, 30 (34 f.) wegen eines „eindeutigen“ Wortlauts die Schließung
einer Strafbarkeitslücke zu Recht aufgrund des Analogieverbots nicht für zulässig.
Aber wenig sinnvoll ist die sich anschließende Aussage, daß anderslautende Hin-
weise in der Entstehungsgeschichte irrelevant seien, „denn solche Vorstellungen ha-
ben in Wortlaut und Systematik keinen hinreichenden [?] Ausdruck gefunden. —
Ebenso verfährt BGHSt 42, 291 (293): Schon nach dem Wortlaut sei keine Strafbar-
keit gegeben; der sich aus den Materialien ergebende gesetzgeberische Wille sei
demgegenüber irrelevant, da er nicht „hinreichend“ zum Ausdruck gebracht worden
sei. — Überzeugend stellt BGHSt 43, 366 (369) allein auf die Unvereinbarkeit der
Gegenauffassung mit dem Wortlaut ab. Ein womöglich anderslautender Wille des
Gesetzgebers wird nicht eigens erforscht und dargelegt, sondern insoweit lediglich
auf eine Literaturstimme verwiesen: Ebenso „Tröndle . . . unter Hinweis auf die dem
Gesetzeswortlaut entgegenstehenden Äußerungen im Gesetzgebungsverfahren“. —
Mißverständlich drückt sich dagegen wieder BGHSt 47, 243 (oben Fall 105) aus:
„Da ein solcher Wille des Gesetzgebers im Wortlaut des Gesetzes aber nicht zum
Ausdruck gebracht ist . . ., kann er nicht Grundlage einer mit dem Wortlaut des Ge-
setzes unvereinbaren [!!] Auslegung des Gesetzes zum Nachteil des Angeklagten
sein . . .“ (S. 245). Wenn die subjektiv-historische Auslegung mit dem Wortlaut „un-
vereinbar“ ist, kann sie dort natürlich keinen „Ausdruck“ gefunden haben. Und um-
gekehrt: Hat sie dort Ausdruck gefunden, kann sie mit dem Wortlaut nicht „unver-
3. Die „Andeutungstheorie‘‘ 237
einbar“ sein. Die Aussage des BGH ist unsinnig! — Außerhalb der Reichweite des
Analogieverbots ist auf BGHSt 25, 357 (359) hinzuweisen: § 224 I 2 StPO verlangt,
dem Verteidiger das bei einer kommissarischen Vernehmung erstellte Protokoll
„vorzulegen“. Der verschiedentlich und „wohl“ (BGH) auch in den Motiven zur
StPO vertretenen Auffassung, wonach die Vorlagepflicht nicht bestehe, wenn der
Verteidiger von der Vernehmung unterrichtet wurde, erteilt der BGH eine Absage:
Eine solche Beschränkung habe im Gesetz keinen Ausdruck gefunden. Da der Wort-
laut insoweit eindeutig sei, gebe es keinen Raum für eine „einengende Ausle-
gung“104.
Ebenfalls keine Fälle der Andeutungstheorie liegen folgenden Entscheidun-
gen zugrunde, die gleichwohl in diesem Zusammenhang von Interesse sind: In
BGHSt 31, 10 und 34, 138 läßt es der BGH dahinstehen, ob die Gesetzesverfas-
ser andere Vorstellungen hegten, weil eine dementsprechende Auslegung mit
dem Wortlaut im Widerspruch stünde (BGHSt 34, 138 [145]) oder unvereinbar
wäre (BGHSt 31, 10 [14]). Fragwürdig ist allerdings die Folgerung des BGH
aus dieser Situation: Wegen des Widerspruchs seien die Gerichte an diese Vor-
stellungen „nicht gebunden“ (jeweils a. a. O.). Da die Befolgung des (mögli-
cherweise) entgegenstehenden Willens des Gesetzgebers in beiden Entscheidun-
gen zu einer den Wortlaut überschreitenden und damit gemäß Art. 103 II GG
unzulässigen Rechtsanwendung zulasten des Täters führen würde, ist die vom
BGH gezogene Konsequenz nur im Ergebnis zutreffend: Die Gerichte sind in
solchen Fällen nicht von der Bindungswirkung (Art. 97 I GG) befreit, sondern
sie dürfen den subjektiven Willen aufgrund rechtsstaatlicher Schranken nicht
verwirklichen!
Nach Aussonderung der Fälle, für die von vornherein anderes gilt, die von der
Rechtsprechung aber gleichwohl mit der Andeutungstheorie in Verbindung
ebracht werden, geht es im folgenden um die Bestimmung des eigentlichen
Inhalts dieser Lehre. Interessant ist insoweit vor allem die Frage nach dem Maß-
stab – Wie muß der Wille des Gesetzgebers zum Ausdruck kommen? („irgend-
wie“, „noch“, „hinreichend“, „deutlich“, „zweifelsfrei“) – und nach einer inhalt-
lichen Begründung für die Anforderungen der Andeutungstheorie. Aufschluß-
reich sind zunächst Ausführungen des Großen Senats in BGHSt 19, 206:
Fall 114 (BGHSt GS 19, 206 – „Volkswagen-Aktien“): Zu entscheiden war, ob die
Bundesregierung die Zuteilung von Volkswagen-Aktien von bestimmten Auflagen
abhängig machen durfte, obwohl der Gesetzgeber selbst in einem Privatisierungsge-
setz (BGBl. I 1960, S. 585) bereits einige der beim Verkauf einzuhaltenden Regeln
dings fraglich, ob der BGH mit seiner Formulierung scharf zwischen einengender Aus-
legung und teleologischer Reduktion differenziert.
238 IV. Entstehungsgeschichte
bestimmt hatte. Da die Regelungen jedoch nur kursorisch waren und eine darüber
hinausgehende Beschränkung der Bundesregierung bei der Abwicklung von Rechts-
geschäften eher ungewöhnlich wäre, sieht der Große Senat keinen Anlaß, die Mög-
lichkeiten der Bundesregierung zu beschneiden: Hätten Bundestag und Bundesrat
das gewollt, hätte das im Gesetz selbst „einigermaßen deutlichen, jedenfalls erkenn-
baren Ausdruck“ finden müssen (S. 211).
Fraglich war außerdem, ob einige Auflagen der Bundesregierung (Höchsterwerbs-
zahl) sich aus dem Gesetz ergeben. Ein Bundestagsabgeordneter hatte im Gesetzge-
bungsverfahren eine entsprechende Auffassung vorgetragen, die der Große Senat zu-
mindest im Zusammenhang der einschlägigen Vorschriften (§§ 6–8 des Privatisie-
rungsgesetzes) bestätigt sieht: „Im Gesetz selbst fand diese Ansicht zwar nicht
ausdrücklich, aber doch noch hinreichend deutlich mittelbaren Ausdruck“ (S. 213).
Im weiteren Verlauf der Argumentation ergibt sich dann aber recht klar, daß der ge-
setzgeberische Wille durchaus mehr als nur „mittelbar“ im Gesetz zum Ausdruck
gekommen ist.105
Der Große Senat stellt in seinen methodenrelevanten Äußerungen nur geringe
Anforderungen an die Übereinstimmung von gesetzgeberischer Intention und
Gesetzestext. Nach letzterer Formulierung genügt im „Normalfall“ zur Berück-
sichtigung des gesetzgeberischen Willens schon ein mittelbarer Ausdruck im
Gesetz.106 Ein solcher Maßstab ist freilich zu vage, um voraussehbare Ergeb-
nisse zu erzielen. Etwas höhere Hürden („erkennbar“) setzt der Große Senat
dann, wenn die im Sinn der Gesetzesverfasser verstandene Regelung ungewöhn-
lich oder überraschend erscheint bzw. vom sonst Üblichen abweicht. BGHSt 41,
47 (52 = unten Fall 129) verlangt bei weitgehenden Vorstellungen des Gesetz-
gebers einen „hinreichenden“ Ausdruck, BGHSt 15, 138 (142 = oben Fall 53)
sogar, daß der Gesetzgeber seinen Willen „zweifelsfrei“ zum Ausdruck bringt,
wenn er vom gesicherten Stand abweichen möchte! Eine solche Abstufung107
klingt bei erster Betrachtung zwar schlüssig, aber eine Grundlage hierfür gibt es
nicht. Sie räumt dem Gesetzesanwender zudem, wie die Beispiele zeigen, einen
unangemessenen Spielraum ein, indem die formale Hürde des Wortlauts belie-
105 Davon geht auch der Große Senat aus, der die besagte Auffassung aus einer der
Vorschriften „zweifelsfrei“ entnimmt bzw. von einer „aus dem Gesetz selbst klar er-
kennbaren Regelung“ spricht (S. 214). Die gesamte Beweisführung des Großen Senats
wirkt allerdings sehr umständlich.
106 Zum Ausdruck der Intention im „Wortlaut“ oder im „Gesetz“ siehe nochmals
big variiert werden kann, je nach dem, für wie ungewöhnlich oder überraschend
man die gesetzgeberischen Vorstellungen hält. Wenig aussagekräftig bleibt zu-
dem der vom Großen Senat befürwortete Maßstab des „einigermaßen deut-
lichen, jedenfalls erkennbaren“ Ausdrucks. Statt dessen sollten Konflikte zwi-
schen Wortlaut und gesetzgeberischen Willen auf einfache Art und nicht mit
dem „Formalargument“108 der Andeutungstheorie gelöst werden: Widerspricht
die gesetzgeberische Intention dem Wortlaut, kommt ihre Durchsetzung nur im
Weg der Rechtsfortbildung in Betracht109, falls dem Art. 103 II GG keine
Grenze setzt. Ist die Intention mit dem Wortlaut vereinbar, muß sie maßgeblich
sein, wenn nicht andere Faktoren (z. B. die Verfassung) dagegen sprechen. Au-
ßerdem ist in solchen Situationen auch ein genauerer Blick auf die subjektiven
Vorstellungen der Gesetzesverfasser, also in die Entstehungsgeschichte selbst
angebracht: Die Ungewöhnlichkeit einer entsprechenden Äußerung im Gesetz-
gebungsverfahren läßt womöglich doch Zweifel daran aufkommen, ob es sich
dabei wirklich um den „Willen des Gesetzgebers“ handelt!110
In diesen Zusammenhang gehört auch die Entscheidung BGHSt 38, 237, die
gewissermaßen eine Weiterentwicklung der Andeutungstheorie enthält und über
die ebenfalls schon im vorhergehenden Kapitel berichtet wurde. Der historische
Wille ist demnach nur eines von mehreren Auslegungskriterien, dessen Bedeu-
tung davon abhänge, wie stark der Wille im Gesetzeswortlaut seinen Nieder-
schlag gefunden hat (S. 243). Vorstellungen und Motive des Gesetzgebers müs-
sen, um berücksichtigt zu werden, nicht nur irgendeinen Anhalt oder „hinrei-
chenden“ Ausdruck im Gesetzestext finden, vielmehr wird auch ihr Gewicht im
Auslegungsprozeß durch das Maß an Übereinstimmung zwischen Intention und
Ausdruck bestimmt. Diese Erwägungen erscheinen wiederum auf den ersten
Blick plausibel, aber auch hier gilt das eben Gesagte: Für die Rückkoppelung
zwischen Wille und Ausdruck gibt es keine Rechtfertigung. Stimmen beide
Faktoren überein, so liegt ein erfreuliches Beispiel gelungener Gesetzgebung
vor, das den Rechtsanwendungsprozeß stark vereinfacht und die Vorhersehbar-
keit der Entscheidung erleichtert. Doch normativ ist das nicht entscheidend.
Oder soll wirklich in der Situation, in der ein eindeutiger gesetzgeberischer
Wille mit dem Gesetzestext lediglich vereinbar ist, etwas anderes gelten, als
wenn dieser Wille zusätzlich noch deutlich zum Ausdruck gekommen ist? Auch
die Umsetzung der abstrakten Vorgaben in BGHSt 38, 237 weckt erhebliche
Zweifel:
Fall 115 (BGHSt 38, 237): Die Vorlegung oder Auslieferung von Akten im Weg
der Amtshilfe kann verweigert werden, wenn eine „Sperrerklärung“ der obersten
Dienstbehörde vorliegt (§ 96 StPO). Zu entscheiden war, ob eine Beschlagnahme
(§ 94 II StPO) von Behördenakten zumindest dann möglich ist, wenn keine Sperr-
erklärung abgegeben wird.111 Nach Auffassung des BGH spricht der systematische
Zusammenhang der Normen für die Beschlagnahmefähigkeit der Behördenakten,
obgleich diese Betrachtung nicht zwingend sei (S. 242). Einem Hinweis darauf, daß
der historische Gesetzgeber (in Anbetracht des zur Verfügung stehenden Amtshilfe-
verfahrens) generell von der Unzulässigkeit solcher Maßnahmen ausgegangen sein
soll, begegnet der BGH mit den oben erwähnten allgemeinen Aussagen zur Berück-
sichtigung der gesetzgeberischen Intention: Selbst wenn der Gesetzgeber dieser Auf-
fassung gewesen sein sollte, „so kann dies mangels eindeutiger und ausdrücklicher
Normierung nicht entscheidend sein, wenn andere Gesichtspunkte ohne Widerspruch
zum Wortlaut . . . eine entgegengesetzte Auslegung gebieten“ (S. 243). Als letztlich
entscheidendes Argument für die Möglichkeit der Beschlagnahme greift der BGH
schließlich unmittelbar auf das Verfassungsrecht, nämlich den Grundsatz der Gewal-
tenteilung zurück.
Unterstellt man die dem historischen Gesetzgeber zugeschriebene Auffas-
sung, dann kann hierfür in § 96 StPO durchaus ein Anhaltspunkt gesehen wer-
den. Die Norm, welche die Herausgabe von Schriftstücken im Amtshilfeverfah-
ren regelt, könnte als lex specialis gegenüber § 94 StPO aufgefaßt werden und
eine Beschlagnahme generell ausschließen.112 Die darin liegende Einschränkung
der Beschlagnahme muß sich – selbstverständlich – nicht direkt aus § 94 erge-
ben.113 Der BGH sagt demgegenüber, eine solche Vorstellung sei nicht „ein-
deutig und ausdrücklich“ normiert, und stellt damit plötzlich höhere Anforde-
rungen, als es zunächst den Anschein hatte. Denn Ausgangspunkt war, daß der
historische Wille nur um so stärker zurücktreten soll, je weniger er sich im Ge-
setzestext widerspiegelt, also eine graduelle Abstufung. Jetzt soll hingegen eine
eindeutige und ausdrückliche Normierung notwendig sein, um der gesetzgeberi-
schen Intention gegenüber anderen Gesichtspunkten zum Durchbruch zu verhel-
fen, die sich ihrerseits nicht einmal aus dem Wortlaut ergeben müssen, sondern
diesem lediglich nicht widersprechen dürfen (siehe oben). Die mit dem Wortlaut
zumindest vereinbare Intention muß somit gegenüber anderen, ebenfalls mit
dem Gesetzestext lediglich vereinbaren Kriterien zurücktreten, wenn diese eine
„entgegengesetzte Auslegung gebieten“. Ein schlüssiges methodisches Konzept
verbirgt sich hinter all diesen Erwägungen nicht.
Schwereres Geschütz gegen den „Willen des Gesetzgebers“ fährt der BGH in
der bereits erwähnten Entscheidung BGHSt 26, 156 auf, obwohl dies auf
111 Vorliegend haben Behörde und Dienstherr dem Herausgabeersuchen des GBA
zur Zeit der Abfassung des Gesetzes entspreche, mit dem Wortlaut für vereinbar und
weist zu Recht darauf hin, daß es zwar widersinnig sei, jedoch dem Wortlaut am ehe-
sten entspreche, in § 96 StPO überhaupt keine Grenze für eine Beschlagnahme gemäß
§ 94 II StPO zu sehen, auch nicht für den Fall einer ausgesprochenen Sperrerklärung.
113 Vgl. zur Frage, wie großzügig der BGH bei der Feststellung eines „objektivier-
ten Willens“ sein kann, oben Fall 111 (BGHSt 29, 156).
3. Die „Andeutungstheorie‘‘ 241
Grundlage der Senatsmeinung gar nicht nötig war. Schon die einleitende Be-
merkung, daß die Rechtsfrage anhand „des im Gesetz objektivierten Willens des
Gesetzgebers“ beantwortet werden müsse (S. 159), läßt nichts Gutes ahnen:
Fall 116 (BGHSt 26, 156): Bis zum 4. StrRG haben Rechtsprechung und Lehre für
jugendgefährdende Filmvorführungen einen Vorrang der Spezialregelungen des
JSchG vor dem schärferen GjS angenommen (BGHSt 15, 153). Die darin liegende
Ungereimtheit, daß die Aushändigung jugendgefährdender Schriften eine Straftat
nach dem GjS war und dafür automatisch ein strafbewehrtes Werbeverbot gemäß
dem GjS galt, während jugendgefährdende Filmvorführungen nur als Ordnungswid-
rigkeiten nach JSchG (ohne Werbeverbot) geahndet werden konnten, suchte der Ge-
setzgeber zu beseitigen. Dazu ordnete er in § 15 JSchG an, daß die Strafbarkeit
„verbotener Filmvorführungen“ nach dem GjS „unberührt“ bleibe.114 Der BGH ist
der Ansicht, daß damit der Vorrang des JSchG vor dem GjS nur bezüglich der
„verbotenen Filmvorführungen“ aufgehoben sei, das im GjS angeordnete Werbever-
bot somit nicht gelte (S. 160). Vorstellungen der Gesetzgebungsorgane zu dieser
Frage seien nur beachtlich, wenn sie im Gesetz selbst „hinreichenden“ Ausdruck
gefunden haben. Hier sei der im Gesetz angeordnete „objektivierte Wille des Ge-
setzgebers“ jedoch eindeutig115, die Entstehungsgeschichte damit irrelevant (S. 161).
Gleichwohl geht der Senat näher auf die Gesetzesmaterialien ein, mit dem Ergebnis,
daß sich daraus „nur wenig“ für die Gegenmeinung ergebe. Die weitergehend for-
mulierte, dann aber „zur Klarstellung“ geänderte Gesetzesvorlage habe ebenfalls nur
die Erfassung der Filmvorführungen bezweckt.116
Zur Erklärung der rigiden Anforderung, daß die gesetzgeberische Intention
eines „hinreichenden“ Ausdrucks im Gesetzestext bedürfe, greift der BGH auf
ein verfassungsrechtliches Argument zurück: Die Mißachtung der genannten
Auslegungsgrenzen widerspreche dem Gebot der Bestimmtheit des Strafgeset-
zes (Art. 103 II GG).117 Näher erläutert wird das allerdings nicht und deshalb
bleibt unklar, welche Auslegungsgrenzen aus dem Bestimmtheitsgrundsatz fol-
gen sollen, der sich ja – anders als das Analogieverbot – vornehmlich an den
Gesetzgeber und nicht an den Exegeten wendet (dazu unten V 7 d).118 In der
Äußerung des BGH klingt das häufig gegen die „subjektive Theorie“ vorge-
114 Nach Weides (NJW 1975, 1845) ein Beispiel für eine mißlungene, unklare ge-
setzliche Außenverweisung.
115 Das Eindeutigkeitsurteil ist in Anbetracht der komplizierten Rechtslage höchst
zweifelhaft – die Vorinstanz hält die Norm für „sprachlich nicht ohne weiteres ver-
ständlich“, Weides (NJW 1975, 1845 [1846]) für „unklar“. Zudem wäre bei der angeb-
lichen Eindeutigkeit des Ergebnisses der überwiegende Teil der Urteilsgründe schlicht
überflüssig.
116 Die „Klarstellung“ hatte jedoch genau den gegenteiligen Effekt, siehe Möhren-
schlager, NJW 1975, 399. Anders als der BGH deuten die Entstehungsgeschichte Möh-
renschlager (a. a. O.), Uschold, NJW 1976, 226 (227) und die Vorinstanz zu BGHSt 26,
156; dem BGH zust. Weides, NJW 1975, 1845.
117 Vgl. nochmals die wörtliche Wiedergabe oben IV 2, Seite 230.
118 Die Berufung auf RGSt 37, 333 (334) bringt keine Aufklärung. Dort hat das RG zum
einen ausgeführt, eine den „Wortlaut ausdehnende Auslegung“ von Strafgesetzen komme
wegen § 2 StGB (= § 1 StGB g. F.) nicht in Betracht, zum anderen der Entstehungsge-
242 IV. Entstehungsgeschichte
120 Ebenso verfährt BGHSt 14, 258 (259): Ein solcher Wille des Gesetzgebers sei
121 Dagegen Hartung, JZ 1954, 137 (139): Betätigung der Fahrerlaubnis ist notwen-
dig; Schmidt-Leichner, NJW 1954, 159 (162): Auch bei weiter Auslegung des Begriffs
„Führen“ nicht mehr von § 42m StGB gedeckt. Anders Bruns, GA 1954, 161 (186,
188) mit einem sehr weiten, vom sonst üblichen Sprachgebrauch abweichenden Ver-
ständnis dieses Begriffs; erfaßt sein soll sogar der Fall, in dem der Täter eine Verge-
waltigung in einem Wagen vollführt, der geparkt und abgemeldet in der Garage steht!
(In BGH JR 1954, 306 hat der Täter das Fahrzeug wenigstens benutzt, bevor es zur
Vergewaltigung kam.) Der BGH ist einem so weiten Verständnis später jedoch zu
Recht nicht gefolgt, vgl. BGHSt 22, 328 mit knapper und überzeugender Begründung.
3. Die „Andeutungstheorie‘‘ 245
122 BGHSt 1, 269 (272) verweist insofern ganz nüchtern darauf, daß § 251 StPO die
Verlesung nicht von der Einhaltung der Förmlichkeit des § 224 StPO abhängig macht,
wird mit dieser oberflächlichen Analyse der Rechtslage jedoch kaum gerecht. Umge-
kehrt ist es gleichfalls nicht überzeugend, wenn BGHSt 9, 24 (29) die fehlende Um-
setzung des gesetzgeberischen Willens an der Fassung des § 224 StPO (statt § 251
StPO) festmacht.
246 IV. Entstehungsgeschichte
Entstehungsgeschichte schließt der BGH auf die Absicht des Gesetzgebers, den
Sachverhalt abschließend zu regeln; diese Absicht sei im Gesetz „deutlich“ zum
Ausdruck gebracht (S. 37): Ein Vorschlag des Reichsrats, den Ländern das Recht
zur Reglementierung explizit zu erhalten, wurde nicht Gesetz; die dieses Recht vor-
sehende Vorgängervorschrift wurde aufgehoben (S. 37 und 38)123. Der Wille des
Gesetzgebers zeige sich zudem in der Differenziertheit der reichsrechtlichen Neure-
gelung, die alle bislang durch Polizeivorschriften der Länder erfaßten Konstellatio-
nen enthalte (S. 38). – Die Indizien sprechen so klar für die Übereinstimmung von
gesetzgeberischer Intention und gesetzlichem Ausdruck, daß die umfangreichen Er-
örterungen des BGH (S. 31–44!) kaum angebracht waren.
Fall 121 (BGHSt 19, 109 – „Rädelsführer“): Bei der Frage, was ein „Rädelsführer“
i. S. von § 90a StGB (a. F.) ist, verweist BGHSt 19, 109 (110) auf die parlamentari-
schen Beratungen. Danach sollten nur die „Drahtzieher“, nicht aber die „Mitläufer“
erfaßt werden. „Dieser klar zum Ausdruck gekommene Wille des Gesetzgebers muß
beachtet werden. Es besteht kein rechtspolitischer Grund, den Begriff des Rädelsfüh-
rers besonders weit auszulegen“ (S. 111). – Die gesetzgeberische Intention spiegelt
sich ohne weiteres im Begriff „Rädelsführer“ wider, der natürlich kein „Mitläufer“
sein kann; ein Rückgriff auf die Materialien wäre insofern nicht einmal nötig gewe-
sen. Der BGH hält diesen Gesetzesinhalt zwar für bindend („muß beachtet wer-
den“), doch gibt er in einem – unnötigen und fragwürdigen – Zusatz zu verstehen,
daß ein „rechtspolitischer Grund“ womöglich doch den „klar zum Ausdruck gekom-
menen Willen des Gesetzgebers“ überwinden könnte.
Fall 122 (BGHSt 24, 369 – „geheimdienstliche Tätigkeit“): Die Ausübung einer
„geheimdienstlichen Tätigkeit“ für den Geheimdienst einer fremden Macht (§ 99 I
Nr. 1 StGB) setzt nach Auffassung von BGHSt 24, 369 keine organisatorische Ein-
ordnung des Täters in den fremden Geheimdienst voraus. Im Gesetzeswortlaut sei
der Wille des Gesetzgebers hinreichend zum Ausdruck gekommen, auf jeden Fall
alle Personen nach § 99 StGB zu bestrafen, die an der Aktivität des geheimdienst-
lichen Apparats teilnehmen (S. 371). Viel gewonnen ist damit freilich nicht, und der
BGH muß im folgenden zur weiteren Konkretisierung der Norm doch auf die
Grundziele des Gesetzgebers – einerseits im Bereich der Landesverteidigung keine
Lücken entstehen zu lassen, andererseits den „loyalen“ Bürger vor unangemessener
Strafverfolgung zu schützen (vgl. a. a. O., S. 376) – zurückgreifen, zwischen denen
letztlich ein Kompromiß gefunden wird. Inwiefern diese Ziele „hinreichenden“ Aus-
druck im Gesetzestext gefunden haben, sagt der Senat nicht mehr.
Als Zwischenbilanz kann festgehalten werden: Konstellationen, in denen der
gesetzgeberische Wille nach Ansicht des BGH tatsächlich im Wortlaut zum
Ausdruck gekommen ist (siehe insbesondere in BGHSt 11, 31 = Fall 120,
BGHSt 19, 109 = Fall 121), bieten methodologisch wenig Probleme, was aller-
dings auch nicht überrascht. Insoweit bringt die Auslegungsregel „Andeutungs-
theorie“ keinen Erkenntnisgewinn für die Fallösung, und es bleibt offen, ob die
gesetzgeberische Intention sich nicht auch dann durchgesetzt hätte, wenn sie
123 Vgl. nochmals den vorhergehenden Fall (BGHSt 9, 24), wo der BGH diesen
Umkehrschluß nicht als „deutlichen“ Ausdruck des gesetzgeberischen Willens hat gel-
ten lassen.
3. Die „Andeutungstheorie‘‘ 247
lediglich mit dem Wortlaut „vereinbar“ gewesen wäre. Allein das verbale Be-
kenntnis zur Andeutungstheorie schließt diese Möglichkeit jedenfalls nicht aus.
Andererseits ist es auch nicht schädlich, wenn der BGH in diesen Fällen auf die
Harmonie zwischen subjektiven und objektiven Elementen hinweist.124 Anlaß
zur Kritik geben demgegenüber diejenigen Beispiele, in denen der Gerichtshof
sich auf die Übereinstimmung zwischen Wille und Ausdruck in einem letztlich
nicht maßgeblichen Aspekt beruft, etwa bei einer nicht fallentscheidenden
Norm (BGHSt 9, 24 = Fall 119) oder bei einem allgemeinen gesetzgeberischen
Ziel, das zur Lösung des konkreten Falls noch nichts beiträgt (BGHSt 24, 369 =
Fall 122).125 Womöglich will der BGH mit der Betonung des Einklangs von
Wille und Form in einer nebensächlichen Frage suggerieren, daß es beim ent-
scheidenden Aspekt ebenso liegt; überzeugen kann das nicht. Zu kritisieren ist
weiterhin der Wechsel des Maßstabs („eindeutig“) in BGHSt 9, 24 (Fall 119):
Um einem naheliegenden Umkehrschluß aus einer Gesetzesänderung zu begeg-
nen, werden die Anforderungen an die Erkennbarkeit des gesetzgeberischen
Willens ohne Begründung erhöht, was die „Beweglichkeit“ der Andeutungstheo-
rie belegt. Fragwürdig ist die Erwägung des BGH in BGHSt 19, 109 (Fall 121),
den im Wortlaut zum Ausdruck gekommenen Willen des Gesetzgebers notfalls
doch zugunsten rechtspolitischer Erwägungen hintanzustellen. Hier feiert die
„objektive Auslegungstheorie“, ohne daß der Fall Anlaß bot, fröhlich Urständ
und entwertet den Kompromiß der „Andeutungstheorie“. Denn wenn rechtspoli-
tische Aspekte den (unter Umständen sogar „deutlich“) zum Ausdruck gekom-
menen Willen des Gesetzgebers verdrängen können, hat die Feststellung der
Übereinstimmung zwischen Wortlaut und historischem Willen kein großes Ge-
wicht im Auslegungsprozeß.
124Als weiteres Beispiel kann BGHSt 30, 285 (292) genannt werden.
125Sehr deutlich außerdem in BGHSt 46, 238 (253); ansatzweise auch in BGHSt 5,
179 = Fall 118.
248 IV. Entstehungsgeschichte
Andeutungstheorie erweist sich als bequemer Weg, ein Rangfolgeproblem aus der
Welt zu schaffen. Auf Basis einer subjektiven Auslegungstheorie wäre die Lösung
nur bei Annahme der Unvereinbarkeit von gesetzgeberischer Vorstellung und Geset-
zeswortlaut klar, was hier wohl auch näher liegt: In Anbetracht des Analogieverbots
muß die Intention dann zurückstehen; die Gesetzesverfasser wären insoweit einem
begrifflichen Fehlverständnis erlegen. Schwieriger läge es bei der Annahme, die
Vorstellung des Gesetzgebers komme im Wortlaut zwar nicht zum Ausdruck, sei da-
mit aber zumindest vereinbar. Während sich für Anhänger der Andeutungstheorie
diese Frage gar nicht erst stellen kann, müssen „Subjektivisten“ erörtern, in wel-
chem Rangverhältnis die Meinung der Gesetzesverfasser zur möglicherweise entge-
genstehenden Systematik oder allgemeinen Dogmatik (Was ist ein „Fall“ bzw. eine
„Straftat“?) steht. Zu prüfen wäre auch, ob der gesetzgeberische Wille schon wegen
eines etwaigen Irrtums unbeachtlich ist, die Problematik also innerhalb der subjek-
tiv-historischen Auslegung geklärt werden kann.
Fall 124 (BGHSt 6, 364 – „Besitz“ eines Führerscheins): Nach der Rechtslage bis
1965 beging nur eine Übertretung gemäß §§ 4, 71 StVZO, wer den Führerschein
nicht „bei sich führt“. Ein Vergehen126 gemäß § 24 StVG verwirklichte hingegen,
„wer ein Kraftfahrzeug führt, ohne einen Führerschein zu besitzen“ oder „obwohl
ihm die Fahrerlaubnis entzogen worden ist“. BGHSt 6, 364 mußte entscheiden, was
unter Besitz in diesem Sinn zu verstehen ist. Der Gesetzesentwurf formulierte noch
„ohne einen Führerschein . . . zu haben“, womit nur der Fall erfaßt werden sollte, in
dem die Fahrerlaubnis noch gar nicht erteilt worden war (vgl. a. a. O., S. 365), nicht
aber die Situation, in welcher der Fahrer den Führerschein lediglich nicht bei sich
hat. Aus „redaktionellen Gründen“ kam es schließlich zur genannten Fassung. Die
h. M. hat den „Besitz“ wie in § 854 BGB verstanden und damit der Norm einen
sehr weiten Anwendungsbereich gegeben. Der BGH nimmt eine vermittelnde Posi-
tion ein: Auf den Besitz im Sinn des bürgerlichen Rechts komme es nicht an, son-
dern auf die Kontrollmöglichkeit. Deshalb sei die Norm nicht erfüllt, wenn der Fah-
rer Auskunft über den Verbleib des Führerscheins geben kann (S. 367), wie etwa im
vorliegenden Fall, in dem der Führerschein nur vorläufig sichergestellt worden war,
nicht aber, wenn der Führerschein verlorengegangen ist oder gestohlen wurde. „Die
. . . weitergehenden Einschränkungswünsche der Reichstagskommission [Führer-
schein noch nicht erteilt] haben im Gesetz keinen erkennbaren Niederschlag gefun-
den.“ – Der BGH hat zwar einen sachgerechten Kompromiß herbeigeführt, aber in-
wiefern seine eigene, vermittelnde Ansicht im Gesetz „erkennbar“ zum Ausdruck
gekommen ist, ist nicht ersichtlich.127 Insoweit führt die Andeutungstheorie zu einer
Diskriminierung des gesetzgeberischen Willens, weil nur dieser einer Spiegelung im
Wortlaut bedarf.128 Die Beliebigkeit dieser Argumentationsfigur zeigt noch folgende
Erwägung: Angenommen, der BGH hätte sich der weitergehenden Ansicht der h. M.
angeschlossen, dann hätte er die von ihm letztlich bevorzugte Meinung ebenfalls
lediglich, daß es auf das Beisichführen nicht ankommen kann, nicht aber, was im übri-
gen unter „Besitz“ zu verstehen ist.
128 So gesehen ist die „alte“ Andeutungstheorie (siehe oben IV 3 a und Fn. 98)
129 Sie wurde – soweit hier relevant – 1965 durch das 2. Gesetz zur Sicherung des
Straßenverkehrs (BGBl. I 1964, S. 921) in dem Sinn geklärt, daß als Vergehen gemäß
§ 24 StVG nur noch das Fahren ohne Fahrerlaubnis unter Strafe gestellt wurde. Der
Inhalt von BGHSt 6, 364 war damit obsolet.
130 Hierauf beruft sich u. a. BGHSt 44, 13 (18) mit der allgemeinen Aussage: „Ent-
scheidend für die Auslegung eines Gesetzes ist jedoch der in ihm zum Ausdruck kom-
mende objektivierte Wille des Gesetzgebers“.
131 Zur Fragwürdigkeit dieses Schlusses a minore ad maius siehe die Anm. von
Schroeder, NJW 1964, 1113. Nach Auffassung von Hübner (in: LK-StGB9, § 122,
Rn. 30) hat der BGH die Entscheidung BGHSt 8, 294 mißverstanden und zu Unrecht
auf die Mittäterschaft erstreckt.
132 Das Argument ist unzutreffend, denn der Wortlaut dieser Norm sagt für sich ge-
sehen nichts darüber aus, ob eine Zurechnung der Tatbeiträge gemäß § 25 II StGB
erfolgen kann; die Vorschriften des BT sind in aller Regel im Sinn von eigenhändiger
Tatausführung formuliert (siehe oben III 7 f). Etwas vorsichtiger argumentiert insoweit
BGHSt 42, 368 zu einer analogen Problematik in § 30a II Nr. 2 BtMG; vgl. weiter im
Text.
250 IV. Entstehungsgeschichte
keit und gegen die Möglichkeit der Zurechnung über § 25 II StGB tritt auch BGHSt
42, 368 für den Tatbestand des § 30a II Nr. 2 BtMG (Mitsichführen einer Waffe)
ein, obwohl in den Gesetzesmaterialien gegenteilige Stimmen laut wurden (vgl.
a. a. O., S. 370 f.).133 Diese gesetzgeberische Motivation habe im Wortlaut des Ge-
setzes „keinen ausreichenden Niederschlag gefunden“ (S. 371). Die Andeutungs-
theorie erweist sich mithin als bequemer Weg, den Willen des Gesetzgebers beiseite
zu schieben134, ohne sich in einem Rangfolgekonflikt der Auslegungsmethoden ein-
deutig vom historischen Willen lösen zu müssen. Welch geringen Wert die Recht-
sprechung in Wahrheit der Andeutungstheorie beimißt, zeigt schließlich ein Vorlage-
beschluß des 3. Senats (BGH NJW 2002, 1437), der die Entscheidung BGHSt 42,
368 aufgeben will und dabei wiederum „vor allem“ auf den Willen des historischen
Gesetzgebers abstellt (S. 1439). Der oben dargelegten Auffassung, daß dieser Wille
im Gesetz keinen „ausreichenden Niederschlag“ gefunden hat, begegnet der 3. Senat
kühl damit, daß dem Wortlaut auch nichts zu entnehmen sei, was einer Zurechnung
gemäß § 25 II entgegensteht!135 Das bedeutet nichts anderes als eine Absage an die
Andeutungstheorie.
Fall 126 (BGHSt 6, 314 – „in seiner Eigenschaft als Geschäftsführer“): Daß der
BGH ohne weiteres bereit ist, die Beschränkung des gesetzgeberischen Willens
durch die Andeutungstheorie fallenzulassen, erhellt auch die Entscheidung BGHSt
6, 314. Der Angeklagte war Geschäftsführer einer GmbH und hatte dabei Gelder
unterschlagen. Die Verurteilung wegen betrügerischen Bankrotts (§§ 239 KO a. F.,
83 GmbHG a. F.) setzte jedoch voraus, daß er „in seiner Eigenschaft als Geschäfts-
führer“ handelte, was nach Ansicht des BGH bei eigennütziger Geldentnahme nicht
der Fall ist. Das RG hat allerdings entgegen seiner früheren Rechtsprechung und
unter Betonung des Gläubigerschutzes dahingehend argumentiert, eine solche Be-
schränkung sei im Gesetz selbst nicht zum Ausdruck gekommen (RGSt 73, 68
[70]). Der BGH gibt zu, daß der Wortlaut des § 83 GmbHG (a. F.) insofern zweifel-
haft sei, aber gerade deshalb (!) müsse die Entstehungsgeschichte und der Zweck
der Vorschrift herangezogen werden (S. 317). Beide Kriterien sprächen für eine
enge Auslegung.136 – Die Vorgehensweise des BGH verdient Beifall, widerspricht
aber der Andeutungstheorie sogar in ihrer mildesten Variante; „hinreichend“ oder
„deutlich“ kommt der gesetzgeberische Wille schon gar nicht zum Ausdruck.
Fall 127 (BGHSt 16, 160 – „besondere Sitzgelegenheit“): Merkwürdig kompliziert
im Umgang mit der Entstehungsgeschichte zeigt sich BGHSt 16, 160 zur Frage, wie
Kinder auf Krafträdern befördert werden dürfen. § 35a III StVZO a. F. (§ 35a IX
g. F.) verlangte für die Beförderung eines Beifahrers die Ausrüstung des Kraftrads
mit einem zusätzlichen „Sitz“. Bei Kindern unter sieben Jahren galt das nicht, wenn
für diese eine „besondere Sitzgelegenheit“ (nach geltender Fassung: ein „besonderer
133 Im Grundsatz also genau die gegenteilige Situation zu BGHSt 8, 294; 12, 129.
134 Daß BGHSt 8, 294 so verfahren ist, sagt auch Schroeder, NJW 1964, 1113.
135 BGHSt GS 48, 189 hat sich dieser Ansicht angeschlossen und BGHSt 42, 368
aufgegeben.
136 Die Interpretation des BGH ist mit dem Wortlaut (wohl) noch vereinbar, so daß
Sitz“) vorhanden war. Im konkreten Fall saß die Mutter auf dem Beifahrersitz und
das Kind auf dem Schoß der Mutter. Nach der Verwaltungsvorschrift des Bundesver-
kehrsministers kam als „besondere Sitzgelegenheit“ nur eine technische Vorrichtung
in Betracht, die nach ihrer Bauart zum Sitzen bestimmt ist.137 Der BGH billigt der
Verwaltungsvorschrift jedoch keine Bindungswirkung zu und zudem habe der „ge-
setzgeberische Wille des Bundesministers“ im Gesetz keinen „hinreichend deutli-
chen Ausdruck gefunden“ (S. 163). Gleichwohl bilde die Verwaltungsvorschrift eine
„wertvolle Erkenntnisquelle“, von der abzuweichen der BGH keinen Anlaß sieht,
zumal auch die Gefahren des Straßenverkehrs für diese Auslegung sprächen. – Frag-
lich bleibt zum einen, weshalb der BGH die Heranziehung des gesetzgeberischen
Willens überhaupt problematisiert, wenn dieser mit dem Wortlaut zumindest verein-
bar ist und mit Sinn und Zweck der Vorschrift harmoniert. Zum anderen ist unklar,
woraus sich der Maßstab „hinreichend deutlich“ ergeben soll und was konkret dar-
unter zu verstehen ist. Denn daß mit der „besonderen Sitzgelegenheit“ eine spezielle
Vorrichtung gemeint ist, liegt doch um einiges näher am Wortlaut als die Annahme,
bereits das Sitzen auf dem Schoß der Beifahrerin genüge.138 Hätte der BGH schlicht
erklärt, die Intention des Gesetzgebers (technische Vorrichtung notwendig) sei auch
im Wortlaut zum Ausdruck gekommen („besondere Sitzgelegenheit“), hätte sich ver-
mutlich kein Widerspruch erhoben; der abweichende methodische Ansatz – „Aus-
druck gefunden“ statt „hinreichend deutlich zum Ausdruck gekommen“! – wäre
wahrscheinlich nicht einmal aufgefallen. Insgesamt betreibt die Entscheidung zu
hohen methodologischen Aufwand ohne rechtfertigenden Anlaß.
Fall 128 (BGHSt 34, 211 – „Hausmüll“): Ein Lehrstück zum Thema Andeutungs-
theorie enthält BGHSt 34, 211. § 326 I Nr. 4 StGB stellt u. a. die Beseitigung von
Abfällen unter Strafe, die geeignet sind, nachhaltig Gewässer, Luft oder Böden zu
verunreinigen. Der Rechtsausschuß ging in den Gesetzesberatungen davon aus, daß
Hausmüll nicht von der Norm erfaßt sei, obwohl auch von diesem Gefährdungen der
Umwelt ausgehen könnten (vgl. a. a. O., S. 212). Eine dahingehende Klarstellung des
Gesetzestextes hielt der Rechtsausschuß angesichts der Anlehnung an den Wortlaut
einer Vorschrift des Abfallbeseitigungsgesetzes nicht für notwendig. Eine Fehlein-
schätzung, denn nach Ansicht des BGH hat die Absicht des Rechtsausschusses,
nach Abfallarten zu differenzieren, im maßgeblichen Gesetzeswortlaut „keinen Nie-
derschlag gefunden“ (S. 213).139 Zudem widerspreche diese Auffassung dem grund-
legenden Gesetzeszweck, möglichst alle gefährlichen Fälle der Abfallbeseitigung zu
erfassen (so der Regierungsentwurf). – Der BGH spielt die konkreten Vorstellungen
des „Gesetzgebers“ gegen dessen generelle Zielsetzung aus. Entscheidend ist dieses
137 Nach Auffassung von OLG Neustadt DAR 1956, 134 geht auch die amtliche
Gesetzesbegründung von diesem Verständnis aus. Die amtliche Begründung könne für
die Auslegung des Begriffs zwar „ein Anhalt sein“, entscheidend sei aber, was nach
Sinn und Zweck der einschlägigen Vorschriften „sinnvoll ist“.
138 Nach Ansicht des BGH (S. 162) bietet der Wortlaut für keine der Auffassungen
einen „sicheren Anhalt“. Die jeweilige Wortauslegung des BGH soll hier jedoch nicht
bezweifelt werden. Ähnlich wie BGHSt 16, 160 verfährt die Entscheidung BGHSt 10,
28, die ebenfalls die Andeutungstheorie heranzieht, aber dabei schon ein zweifelhaftes
Textverständnis zugrunde legt (näher oben Fall 22).
139 Die in Bezug genommene Vorschrift des Abfallbeseitigungsgesetzes enthält hin-
Argument für den Senat zwar nicht, aber doch hilfreich, um den Vorwurf, sich über
den gesetzgeberischen Willen hinwegzusetzen, zu entkräften.140 Im übrigen liegt ein
Rangfolgeproblem vor, das wie folgt hätte gelöst werden können: Der Hausmüll ist
vom Gesetzestext eindeutig erfaßt (liegt im Begriffskern), so daß ein Ausschluß die-
ser Fallgruppe zu einem Widerspruch zwischen Wortlaut und Entstehungsgeschichte
führt und eine Reduktion des Anwendungsbereichs bedeutet. Für eine solche
Rechtsfortbildung (zugunsten des Täters) existiert jedoch in Anbetracht des allge-
meinen Gesetzeszwecks keine Rechtfertigung, so daß der Gesetzgeber „sich beim
Wort nehmen lassen muß“. Die Formulierung des BGH, die Intention habe im Text
keinen „Niederschlag“ gefunden, ist hingegen zu vorsichtig und provoziert wie-
derum die Frage nach dem Maßstab (irgendeinen, hinreichenden, deutlichen Aus-
druck141). Zudem bleibt damit offen, ob eine solche Auslegung nicht zumindest mit
dem Wortlaut „vereinbar“ ist und wenn ja, warum das nicht genügen soll.
Fall 129 (BGHSt 41, 47 – „Farbsprühaktion mit politischem Inhalt“): Auslegungs-
theoretisch in vielerlei Hinsicht interessant ist weiterhin BGHSt 41, 47. Die Grün-
dung einer Vereinigung steht unter Strafe, wenn deren Zweck oder Tätigkeit darauf
gerichtet ist, „Straftaten zu begehen“ (§ 129 I Alt. 1 StGB). Die Vorschrift ist nicht
anzuwenden, „wenn die Begehung von Straftaten nur ein Zweck oder eine Tätigkeit
von untergeordneter Bedeutung ist“ (§ 129 II Nr. 2 StGB). Trotz dieser Systematik
(Regel, Ausnahme) nimmt der BGH wegen des Schutzzwecks, wegen des Grundsat-
zes der Verhältnismäßigkeit und wegen der Bedeutung des § 129 als Voraussetzung
strafprozessualer Eingriffe eine Einschränkung des § 129 I vor. Die Straftaten müß-
ten in Hinblick auf die öffentliche Sicherheit von einigem Gewicht sein, wofür das
Strafmaß nicht entscheidend sei (S. 51). Auch Sachbeschädigungen kämen in Be-
tracht, wenn sie – wie hier bei Farbsprühaktionen mit ausländerfeindlichem Inhalt –
geeignet sind, die öffentliche Sicherheit zu beeinträchtigen. Aus einer Äußerung im
Gesetzgebungsverfahren, wonach gerade Fälle des Beschmierens von Hauswänden
mit politischen Parolen und Verunglimpfungen (§§ 185 ff.) von der Ausschlußklau-
sel des § 129 II erfaßt sein sollen, schließt der BGH nicht, daß § 129 I für Farb-
sprühaktionen mit Parolen unter keinen Umständen und losgelöst vom Inhalt der
Parolen in Frage kommen kann (S. 52). „Eine solche weitgehende Vorstellung wäre
jedenfalls deshalb unbeachtlich, weil sie im Gesetz keinen hinreichenden Ausdruck
gefunden hat“ (S. 52 f.). – Wieder zeigt sich ein problematischer Umgang mit den
Vorstellungen der Gesetzesverfasser.142 Die Äußerung in den Gesetzesmaterialien
140 Es ist fraglich, ob der BGH damit im Sinn der objektiven Auslegungstheorie den
„objektiven“ Gesetzeszweck über den Willen des historischen Gesetzgebers stellt, wie
es Rudolphi annimmt (NStZ 1987, 324 [325]). Eher liegt ein Widerspruch zwischen
konkreter und abstrakter Vorstellung des Gesetzgebers und damit die Frage vor, was
davon maßgeblich ist (vgl. unten IV 4 c).
141 Rudolphi (NStZ 1987, 324 [325]) verlangt zur Berücksichtigung des gesetzgebe-
rischen Willens, daß dieser im Gesetzestext „irgendeinen Ausdruck“ gefunden hat. Das
ist immerhin noch mehr als die bloße Vereinbarkeit mit dem Wortlaut, denn verlangt
ist damit etwas „Positives“, nämlich die Möglichkeit, den Willen aus dem Text heraus-
lesen zu können, während das Kriterium der Vereinbarkeit eher eine getrennte Analyse
von Wortlaut und historischem Willen zuläßt.
142 Nach Auffassung von Krehl (JR 1996, 208 [209]) hat der BGH die Vorstellun-
gen des Gesetzgebers „konterkariert“, nach Ansicht von Ostendorf (JZ 1996, 55 [56])
die gesetzgeberische Beurteilung durch eine eigene ersetzt.
3. Die „Andeutungstheorie‘‘ 253
wird zunächst zugespitzt – eine solche Reichweite hatte sie gar nicht! – und dann
gefolgert, daß sie im Wortlaut keinen „hinreichenden“ Niederschlag gefunden habe.
Letzteres ist nur insoweit richtig, als das im Gesetzgebungsverfahren genannte Bei-
spiel im Wortlaut nicht auftaucht; aber möglich war die Subsumtion allemal. Im
übrigen kommen die in den Gesetzesmaterialien genannten Anwendungsbeispiele im
abstrakten Gesetzestext in aller Regel nicht „hinreichend“ zum Ausdruck. Mit der
Andeutungstheorie möchte der BGH sich die Vorstellungen des Gesetzgebers vom
Hals schaffen.
Fall 130 (BGHSt 44, 13 – „längerfristige Videoobservation“): Nicht recht überzeu-
gend ist die „Objektivierung“ des gesetzgeberischen Willens auch in BGHSt 44, 13.
Bildaufzeichnungen zu Observationszwecken läßt § 100c I Nr. 1 StPO i. d. F. des
OrgKG von 1992 unter bestimmten Voraussetzungen zu. Vor Einführung des § 163f
StPO im Jahr 2000 war streitig, ob auch längerfristige Videoüberwachungen von
§ 100c StPO gedeckt sind oder aber einer speziellen Eingriffsgrundlage bedürfen.
In dieser grundrechtsrelevanten Frage ging der Gesetzgeber offenbar von folgender
Rechtslage aus:143 § 100c I Nr. 1 regelt aufgrund der Eingriffe in die Rechte am
eigenen Wort und Bild nur den Einsatz bestimmter technischer Mittel, während die
Observation an sich – auch die längerfristige – bereits durch die allgemeinen Nor-
men der §§ 161, 163 StPO144 abgedeckt ist. Die Frage, ob eine gesetzliche „Klar-
stellung“ (!) notwendig ist, wurde zwar diskutiert, aber offengelassen. Andererseits
gab es sowohl vor als auch nach dem OrgKG Entwürfe, die eine ausdrückliche
Eingriffsgrundlage entsprechend dem heutigen § 163f vorsahen, so daß auch der
Gesetzgeber (vor und nach dem Gesetzgebungsverfahren zum OrgKG) von einem
Regelungs- oder wenigstens Klarstellungsbedarf ausging. Der BGH ist der Ansicht,
daß etwaige Bedenken des Gesetzgebers angesichts des Wortlauts in § 100c I Nr. 1
„jedenfalls keinen Niederschlag gefunden“ haben (S. 18). Maßgeblich für die Aus-
legung sei der objektivierte Wille des Gesetzgebers. – Notwendig war diese
„Objektivierung“ nicht, denn die Frage nach der Erforderlichkeit einer expliziten
Eingriffgrundlage stellte sich ganz unabhängig von der Diskussion im Gesetz-
gebungsverfahren anhand verfassungsrechtlicher Kriterien und anderer Normen der
StPO. Zudem haben sich etwaige Bedenken im Gesetzgebungsverfahren nicht durch-
gesetzt, so daß ihr Niederschlag im Wortlaut von vornherein ohne Belang war. Un-
klar bleibt auch, wie ein sinnvoller Gesetzestext denn wohl aussehen würde, sollte er
diese Bedenken widerspiegeln.
Gegen die Andeutungstheorie spricht jedoch nicht nur die Art, wie damit ver-
fahren wird, sondern vor allem die Unklarheit darüber, wann sie überhaupt her-
angezogen wird. In vielen Entscheidungen ist der Wille des Gesetzgebers allen-
falls mit dem Wortlaut vereinbar, während zahlreiche andere Gründe für eine
143 Vgl. BGHSt 44, 13 (17 f.) und Rogall, JZ 1998, 796 (797).
144 Ob §§ 161, 163 StPO damaliger Fassung eine Eingriffsgrundlage enthielten, war
ebenfalls höchst streitig. Der Gesetzgeber hat dies im StVÄG 1999 (Gesetz vom
2.8.2000, BGBl. I, S. 1253) jedoch im positiven Sinn klargestellt.
254 IV. Entstehungsgeschichte
145 Siehe z. B. den Vorwurf von Keidel (JZ 1954, 564 [565, r. Sp.]) gegenüber
BGHSt 5, 111 (unten Fall 209): Ein solcher Wille des Gesetzgebers ist im Gesetz
nicht zum Ausdruck gekommen.
3. Die „Andeutungstheorie‘‘ 255
Gesichtspunkt des Analogieverbots gehabt (29, 311 . . . ).“146 Ähnlich ist BGHSt 27,
45 (oben Fall 19 und Fall 54) verfahren.
Erstaunlich ist auch die Argumentation in BGHSt 31, 226 (oben Fall 98), wo der
Wille des Gesetzgebers zwar mit der Vorläufernorm i. d. F. des EGOWiG im Ein-
klang stand, nicht aber mit der endgültigen Gesetzesfassung nach dem 2. StrRG.147
Obwohl der Wortlaut stark dagegen sprach, hat der BGH dem Willen des Gesetzge-
bers zum Durchbruch verholfen: Der in den Beratungen zum EGOWiG „deutlich
zum Ausdruck gekommene und auch Gesetz gewordene Wille des Gesetzgebers“
habe nach der Gesetzesänderung „keinen eindeutigen gesetzlichen Niederschlag
mehr behalten. Unter diesen Umständen ist bei der Auslegung der Vorschriften der
gesetzgeberische Wille zu beachten“ (S. 229). – Quasi eine Umkehrung der Andeu-
tungstheorie (in ihrer verschärften Variante): Gerade weil die gesetzgeberische Inten-
tion keinen eindeutigen Ausdruck mehr im Gesetz gefunden hat, soll sie herangezo-
gen werden!
Ohne Bedenken greift BGHSt 48, 28 (30 f.) sogar bei der Auslegung eines
ungeschriebenen Tatbestandsmerkmals („Offenkundigkeit“ bei § 203 II 2 StGB)
auf die Gesetzesmaterialien zurück. Auch eine den Wortlaut einschränkende
Auslegung auf Basis der Materialien nimmt der BGH oftmals vor, ohne die
Zulässigkeit dieser Verfahrensweise – etwa in Hinblick auf das Bestimmtheits-
gebot – überhaupt nur zu erörtern:
„Das kommt zwar im Wortlaut des Gesetzes nicht zum Ausdruck. Doch geht aus
den Gesetzesmaterialien, namentlich der Begründung zum Entwurf des EGStGB
klar hervor, daß . . .“ (BGHSt 42, 230 [234]).148
g) Fazit
Lackner, in: Heidelberg-FS, S. 48 und Lenzen, JR 1983, 292 (293); vgl. auch unten
den Text vor Fn. 186.
148 Ähnlich BGHSt 30, 328 (329, 331).
149 Als Versuch, das Rangverhältnis der Auslegungsmethoden zu bestimmen, sieht
314 = Fall 126 und die Ausführungen nach Fall 131), ohne einen etwaigen Wi-
derspruch zur Andeutungstheorie zu diskutieren.151 (4) Es bleibt insgesamt un-
klar, ob und wann auf sie zurückgegriffen wird (vgl. vor allem BGHSt 8, 294 =
Fall 125). Auch in Situationen, in denen sich aufgrund „objektiver“ Faktoren
(Gesetzestext und Systematik) ein Rückgriff auf diese Lehre offensichtlich an-
bietet, wird der subjektive Wille des Gesetzgebers mitunter bis in den Grenzbe-
reich des Wortlauts durchgesetzt. „Verlassen“ kann sich der Gesetzgeber darauf
jedoch nicht.152 (5) Bei Abweichungen von bisherigen Auffassungen zeigt sich,
daß die Andeutungstheorie als bislang tragendes Argument ohne weiteres
fallengelassen wird, wenn andere Auslegungskriterien doch vorzugswürdig er-
scheinen (BGHSt 8, 294 = Fall 125 und BGHSt 6, 314 = Fall 126). (6) Völlig
beliebig wechselt die Rechtsprechung den Maßstab, der für die Beachtlichkeit
der gesetzgeberischen Intention verlangt wird („hinreichend“, „deutlich“,
„noch“, „erkennbar“).153 (7) Plausibel scheint die graduelle Berücksichtigung
des Willens je nach dem, wie stark er im Wortlaut zum Ausdruck gekommen
ist (siehe u. a. BGHSt 38, 237 = Fall 115). Aber auch hierfür gibt es in Wahr-
heit keine Grundlage. Regelmäßig ist in diesen Fällen ein näherer Blick in die
Entstehungsgeschichte angebracht,154 oder es liegt tatsächlich ein Rangfolgepro-
blem vor, das inhaltlich und nicht formal entschieden werden muß. (8) Außer
dem Maßstab ist zudem unklar, wann etwas im Wortlaut seinen Niederschlag
findet (vgl. z. B. BGHSt 5, 179 = Fall 118 und BGHSt 16, 160 = Fall 127).
„Wenn sonstige Gründe eine bestimmte Entscheidung fordern, wird sich wohl
immer in den Worten dieser Gesetzesstelle oder einer anderen eine ,Stütze‘,
eine Andeutung finden lassen.“155 (9) Die bereits bestehenden Probleme der
grammatikalischen Auslegung werden vertieft, indem neben der aus Art. 103 II
GG folgenden Grenze des „möglichen Wortsinns“ eine weitere hinzugefügt
wird, die noch schwieriger zu handhaben ist. (10) An diesem Aufwand be-
stehen auch deshalb Zweifel, weil unklar bleibt, ob die Rechtsprechung dem
151 Siehe auch Bender, JZ 1957, 593 (594): Praxis verstößt häufig gegen ihr eigenes
Dogma; Schneider (wie Fn. 150): Auch die Befürworter nehmen das Dogma nicht
ernst.
152 Siehe dazu auch unten IV 7 b mit weiteren Beispielen.
153 Heck, Gesetzesauslegung, S. 154: „Das Reichsgericht wechselt mit den Anforde-
rungen.“ Siehe auch Muscheler, in: FS für Hollerbach, S. 128: „vage und nicht genau
nachprüfbare Formulierungen“.
154 Interessanter ist in diesen Fällen, ob ein gesetzgeberischer Wille sich klar oder
sicher feststellen läßt, weniger, wie klar dieser Wille im Wortlaut zum Ausdruck
kommt.
155 So Heck, Gesetzesauslegung, S. 155. Die Andeutungstheorie gefährde die
Rechtssicherheit, ihr Maßstab laufe auf Willkür hinaus (a. a. O.); siehe auch Zimmer-
mann, NJW 1956, 1262 (1263, l. Sp.): „reine Phrase“. Die Beliebigkeit der Behaup-
tung, die Auffassung sei im Wortlaut zum Ausdruck oder nicht zum Ausdruck ge-
langt, kann mit einfachen Kontrollerwägungen gezeigt werden, siehe z. B. in BGHSt
16, 160 = Fall 127.
3. Die „Andeutungstheorie‘‘ 257
(118); 25, 44 (49); 26, 117 (118); 27, 52 (55); 27, 307 (310); 29, 168 (171); 31, 207
(210); 31, 1 (5); 31, 76 (79); 32, 165 (172); 32, 203 (206); 32, 357 (364); 34, 146
(149); 34, 184 (187). Berichterstatter vor Bundestag oder Ausschüssen: 1, 74 (77); 2,
99 (103); 3, 334 (337); GS 4, 308 (314, 315); 5, 211 (213); 6, 394 (397); 7, 198 (201);
9, 142 (145); 9, 285 (289); 11, 171 (180); 11, 233 (234); 12, 120 (125); 12, 197 (201);
13, 32 (37); 15, 40 (44); 18, 246 (250); 20, 100 (102); 20, 342 (360); 22, 14 (18); 32,
165 (179); 43, 370 (378). Die namentliche Benennung einzelner Abgeordneter ist of-
fenbar im Abnehmen begriffen, was vielleicht an der selteneren Diskussion strafrecht-
licher Gesetze im Plenum liegt.
172 Siehe z. B. BGHSt 11, 324 (328); 11, 345 (347); 12, 295 (297); 13, 91 (96); 13,
207 (208); GS 14, 38 (47); 14, 68 (73); 14, 89 (95); 14, 353 (357); 16, 282 (295); 16,
374 (377); 20, 342 (358); 21, 334 (365); 21, 377 (380); 22, 282 (287); 22, 375 (379);
24, 213 (215); 28, 26 (27); 28, 129 (132); 29, 204 (207, 210); 29, 300 (304); 31, 185
(187); 31, 226 (228); 34, 4 (8 f.); 34, 59 (60); 40, 218 (232); 42, 230 (234); 44, 355
(359).
173 In Band 23–44 sind über 200 Nachweise enthalten.
260 IV. Entstehungsgeschichte
„Nirgends [in den Gesetzesmaterialien] kommt auch nur andeutungsweise zum Aus-
druck, daß . . . Nichts anderes gilt für die das Gesetzgebungsverfahren begleitenden
oder ihm vorausgehenden Wortmeldungen aus Wissenschaft und Praxis, soweit sie
Anregungen und Vorschläge zur gesetzlichen Regelung des Verteidigerausschlusses
enthielten, . . .“ (BGHSt 36, 133 [135]). — „Nicht beigetreten werden kann aller-
dings der Ansicht, . . . Hierauf weisen zwar die Motive hin; das Gesetz selbst hat
jedoch eine derartige Einschränkung nicht ausgesprochen“ (BGHSt 4, 8 [10]). —
„Wie die Begründung zum E 1962 . . . überzeugend darlegt, . . .“ (BGHSt 24, 103
[106]). — BGHSt 28, 272 f.: Die in der Begründung zum Regierungsentwurf ent-
haltene „Auslegung trifft jedoch nicht zu“.
Die Variationsbreite historisch-genetischer Auslegung erstreckt sich nicht nur
auf die Art der herangezogenen Quellen, sondern auch darauf, in welcher Weise
die Vorstellungen in den Gesamtvorgang der Gesetzeskonkretisierung einge-
bracht werden: als maßgebliches und erstes Indiz für den gesetzgeberischen
Willen, nur – in der Praxis ein besonders beliebtes Argumentationsmuster – als
Bestätigung für das anderweitig gefundene Ergebnis oder bloß als diesem nicht
entgegenstehend.174
Feste Regeln für die Verwertung und Interpretation der Gesetzesmaterialien
existieren nicht.175 Die bereits im 19. Jahrhundert für die ständische Gesetzge-
bung entwickelten Anleitungen, wie im Regel- und Konfliktfall mit legislativen
Äußerungen zu verfahren ist176, sind eher in Vergessenheit geraten und fanden
keine Fortschreibung. Die theoretische Enthaltsamkeit erstaunt, wenn man be-
denkt, wie tief die Durchdringung dogmatischer Fragestellungen von geringer
Relevanz in der Rechtsprechung gedeihen kann. Andererseits ist diese Entwick-
lung angesichts des Siegeszuges der objektiven Auslegungstheorie verständlich,
denn wenn der Heranziehung der Materialien von vornherein jeder Wert abge-
sprochen wird, erscheinen Bemühungen, die Voraussetzungen ihrer Verbindlich-
keit nach subtilen Regeln zu bestimmen, wenig fruchtbar. Konsequent können
dann Äußerungen aus dem Gesetzgebungsverfahren wie sonstige Literaturstim-
men, je nach sachlicher Relevanz zum gerade vorliegenden Thema, herangezo-
gen werden; besondere Autorität können sie dann nicht beanspruchen. Argwohn
wecken unter diesem Hintergrund auch die nicht seltenen Entscheidungen des
BGH, die zunächst die Unbeachtlichkeit der historischen Auslegung behaupten
oder zumindest andeuten, anschließend jedoch („selbst wenn . . .“) tief in die
Entstehungsgeschichte eintauchen.177
Argumente, S. 54 ff.
175 U. Schroth, Theorie und Praxis subjektiver Auslegung, S. 86.
176 Vgl. die Zusammenstellung bei U. Schroth, Theorie und Praxis subjektiver Aus-
legung, S. 37 ff., insbesondere zu von Wächter, Krug, Mittermaier, von Mohl. Siehe
außerdem die Regeln bei Heck, Gesetzesauslegung, S. 116 f.
177 Z. B. BGHSt 1, 74; 12, 42; 26, 156.
4. Die genetische Auslegung 261
Statt selbst positive Regen für die Heranziehung der Gesetzesmaterialien her-
auszuarbeiten, ist die subjektive Theorie hinreichend damit beschäftigt, die
gegen sie erhobenen Einwände auszuräumen. Vor allem unter dem Stichwort
„Willensargument“ werden ernstzunehmende Angriffe geführt, welche unmittel-
bar mit der Frage nach den Regeln zusammenhängen. Die Angriffe verweisen
auf die Komplexität des Gesetzgebungsverfahrens, in dem aufgrund der Viel-
zahl der beteiligten Organe ein einheitlicher „Wille des Gesetzgebers“ kaum
feststellbar sein wird und aus Einzeläußerungen von Personen nur schwerlich
auf einen „Gesamtwillen“ des Parlaments geschlossen werden kann.178 Der
BGH hat mehrfach betont, es gebe „kein verläßliches Mittel“ zur „zweifels-
freien Feststellung“ des gesetzgeberischen Willens.179 Diese Einwände werfen
zum einen eine Legitimationsfrage auf, wenn die historische Auslegung nur auf
eine – möglicherweise noch so kompetente – Stimme der Ministerialbürokratie
gestützt werden kann. Zum andern kann unklar bleiben, ob sich die Äußerungen
der beteiligten Personen im Gesetzgebungsverfahren wirklich als „herrschend“
durchgesetzt haben, ob sie sogar – womöglich stillschweigend!180 – zurückge-
nommen wurden oder ob sie eventuell irrtumsbefangen und fehlerbehaftet sind.
All das macht deutlich, daß eine subjektiv-historische Interpretation nicht ohne
Zuschreibungen auskommt, der „Wille des Gesetzgebers“ also in einer werten-
den Betrachtung aller Indizien ermittelt werden muß, wovon die Gesetzesmate-
rialien sicher zu den stärksten zählen. Aber auch sie sind kritisch zu betrachten,
interpretationsbedürftig181 und einer „würdigenden Behandlung“ (Heck182) zu
unterwerfen. So kann beispielsweise eine Abgleichung zwischen subjektiv-histo-
rischer (genetischer) und objektiv-historischer (evolutionärer) Auslegung auf
Unstimmigkeiten hindeuten, die es als fraglich erscheinen lassen, ob wirklich
die Meinung eines Abgeordneten mit dem Willen des historischen Gesetzgebers
in eins gesetzt werden darf; auch eine Differenz zwischen „eindeutigem“ Wort-
laut und den subjektiven Vorstellungen seiner Verfasser kann zu näherer Prü-
fung veranlassen, worauf die Diskrepanz beruht. Berücksichtigt werden kann in
diesem Zusammenhang auch, ob es sich um gut ausgearbeitete Kodifikationen
oder aber um oberflächlich durchdachte „Gelegenheitsgesetze“ handelt, „die aus
zufälligem Anlaß, ohne vertiefte Durchbildung zustande kommen“183. Erst bei
Beachtung dieser Faktoren ist der Standpunkt der sogenannten Paktentheorie
überzeugend, die Folgerungen aus Gesetzesbegründungen und sonstige Äuße-
denlehre, S. 329; Liver, Der Wille des Gesetzes, S. 17 f.; Hassold, ZZP 1981, 192
(207); U. Schroth, Theorie und Praxis subjektiver Auslegung, S. 78 f.; nach Schwalm
(in: FS für Heinitz, S. 50) liegt hier der Hauptmangel der subjektiven Theorie.
179 BGHSt 1, 74 (76); 15, 138 (141).
180 Maurer, Staatsrecht, Rn. 52.
181 Loos, in: FS für Wassermann, S. 125.
182 Heck, Gesetzesauslegung, S. 113.
183 RGSt 37, 333 (334); zum „Gelegenheitsgesetz“ auch BGHSt 1, 74 (76).
262 IV. Entstehungsgeschichte
rungen auf das gesetzgeberische Ziel bzw. den „Willen des Gesetzgebers“ nur
für zulässig hält, soweit diese Stellungnahmen im Gesetzgebungsverfahren un-
widersprochen geblieben sind.184 Stets ist nach Anhaltspunkten Ausschau zu
halten, die gegen die in der Paktentheorie liegende Fiktion oder Vermutung, der
Gesetzgeber habe sich die Entwurfsbegründung o. ä. zu eigen gemacht, sprechen
könnten und dann zu näherer Prüfung der Entstehungsgeschichte zwingen.
Entscheidungen des BGH enthalten häufig die Wendung, diese oder jene Auffassung
habe keinen Widerspruch im weiteren Gesetzgebungsverfahren gefunden185, z. B.
BGHSt 17, 149 (152): „Gegen diese Auffassung [des Abgeordneten] hat sich im
weiteren Gesetzgebungsgang kein Widerspruch erhoben. Der Wille des Gesetzge-
bers ging also eindeutig dahin, daß . . .“. BGHSt GS 19, 206 (213): Ebenso äußerte
sich der Abgeordnete Dahlgrün im Bundestag, „ohne daß ihm jemand widersprach.“
BGHSt 27, 90 (96): „Für einen derart weittragenden Beurteilungswandel im Laufe
der Beratungen im Ausschuß liegt kein Anhalt vor.“ BGHSt 29, 168 (172): Dem
ist weder im Rechtsausschuß noch im weiteren Verfahren widersprochen worden.
BGHSt 31, 309 (313): „Dieser sich aus der amtlichen Begründung ergebende nor-
mative Gehalt des damaligen § 9 OWiG . . . ist im Gesetzgebungsverfahren nicht
streitig geworden (vgl. Sten. Prot. . . .). Die Zweifel des vorlegenden Gerichts, ob die
Begründung des Gesetzes noch dem Willen des Gesetzgebers im Zeitpunkt der Ver-
abschiedung entsprach, finden in den Materialien keine Grundlage.“
Wie groß die Wirrungen eines Gesetzgebungsverfahrens sein können, zeigt BGHSt
31, 226 (oben Fall 98 und S. 255). Der Fall liegt kompliziert, weil im Rahmen der
großen Strafrechtsreform unterschiedliche Gesetzesfassungen – eine Übergangsrege-
lung (im EGOWiG) und die endgültige (im 2. StrRG) – verabschiedet wurden. Of-
fenbar kam es im Lauf des Verfahrens zu einer Diskrepanz zwischen dem Inhalt des
Abschlußberichts des Sonderausschusses und einer gutachterlichen Stellungnahme
des Ausschußvorsitzenden für den Rechtsausschuß. Der BGH stellt allein auf die
Darlegungen des Vorsitzenden ab und konstatiert auf dieser Grundlage hinsichtlich
der Gesetzesfassung ein Versehen des Gesetzgebers (vgl. a. a. O., S. 228 f.). Nach
Ansicht von Lackner und Lenzen hat der BGH die in den Materialien liegende Wi-
dersprüchlichkeit übersehen und damit zu Unrecht einen Sinneswandel der Gesetzes-
verfasser angenommen; das Beratungsergebnis sei eindeutig, der Bericht des Vorsit-
zenden darüber falsch.186 In jedem Fall hinterließ die Entstehungsgeschichte Zwei-
fel, ob hier die Einzeläußerung des Vorsitzenden als „Wille des Gesetzgebers“
gelten durfte, zumal sie mit dem Wortlaut nicht harmonierte.
Zu beachten sind weitere Tücken genetischer Interpretation: Protokolle können un-
zulänglich sein187, parlamentarische Äußerungen können deshalb unwidersprochen
rung, S. 120; Loos, in: FS für Wassermann, S. 125; Säcker, in: MüKo-BGB, Einl.,
Rn. 124; Wedel, Entstehungsgeschichtliche Argumente, S. 199.
185 Siehe außerdem: BGHSt 8, 59 (66); 10, 46 (49); 10, 163 (172); 11, 233 (235); 17,
112 (118); 18, 151 (156); 19, 63 (73); 24, 243 (246 f.); 24, 249 (252); 28, 103 (106);
34, 321 f.
186 Lackner, in: Heidelberg-FS, S. 47 f.; Lenzen, JR 1983, 292 (293).
187 Näher Redeker/Karpenstein, NJW 2001, 2825 (2826, r. Sp.).
4. Die genetische Auslegung 263
BGH mache sich Legenden zu eigen (NJW 1959, 1230 [1231]). Auch sonst sei die in
BGHSt 13, 102 praktizierte Zitiermethode bedenklich (S. 1230). – Zumindest zweifel-
haft ist die Heranziehung der amtlichen Begründung z. B. auch in BGHSt 15, 138
(siehe oben Fall 53 und dort insbesondere Fn. 208), denn das letztlich verabschiedete
Gesetz lautete anders.
264 IV. Entstehungsgeschichte
gegenüber der Stellungnahme einzelner Personen geboten (siehe unten b). Irrtü-
mer der Gesetzesverfasser und sonstige Fehler verlangen eine eingehende Prü-
fung, was als „wahrer“ Wille des Gesetzgebers gelten darf (unten IV 8). Ist der
gesetzgeberische Wille aus den Materialien eindeutig erkennbar (und verfas-
sungsgemäß), ist dieser bindend;192 unter Beachtung von Vertrauensschutzerwä-
gungen ist in diesem Fall auch eine Entscheidung gegen den eindeutigen Geset-
zeswortlaut möglich. Für die Feststellung des maßgeblichen Willens des Gesetz-
gebers ist es nicht relevant, ob dieser im Wortlaut „angedeutet“ ist oder sich
daraus klar ergibt; entscheidend ist vielmehr, wie eindeutig der Wille selbst er-
kennbar ist!193 Kein Problem der subjektiven Theorie stellt es dar, daß die Ent-
stehungsgeschichte zuweilen überhaupt keine Anhaltspunkte für die Ansicht des
historischen Gesetzgebers liefert und damit das „Nachschnüffeln“ nach legislati-
ven Äußerungen an seine Grenzen stößt; dann ist im Zweifel das gewollt, was
die übrigen Interpretationsfaktoren nahelegen.194 Ein fehlender oder nicht wi-
derspruchsfrei feststellbarer historischer Wille spricht jedenfalls nicht gegen
eine Bindung für den gegenteiligen Fall.195 Der Vorrang der subjektiven Ausle-
gung gilt eben nur „im Rahmen ihrer begrenzten Möglichkeiten“ (Loos196).
Ein spezielles Problem der genetischen Auslegung ist die Frage, ob die Ge-
richte dazu berechtigt oder sogar verpflichtet sind, bei Unklarheiten über den
„Willen des Gesetzgebers“ Beweis zu erheben, etwa durch Vernehmung der am
Gesetzgebungsverfahren beteiligten Personen. G. und D. Reinicke befürworten
eine dahingehende Verpflichtung der Praxis als notwendige Konsequenz der
subjektiven Auslegungstheorie, und vereinzelt sind einige Gerichte in der Tat so
verfahren.197 Das RG hat eine entsprechende Vorgehensweise des KG mit fol-
gender Begründung gebilligt:
„Der Richter . . . ist befugt und verpflichtet, sich den zur Erkenntnis und Auslegung
des Gesetzeswillens ihm erforderlich oder dienlich erscheinenden Stoff, mag er der
Entstehungsgeschichte des Gesetzes oder sonstigen Umständen zu entnehmen sein,
in jeder dem richterlichen Feingefühle geeignet erscheinenden Weise zu verschaf-
fen. . . . Er ist bei seiner Tätigkeit nicht beschränkt auf die Gesetzgebungsdruck-
sachen und sonstige Urkunden, sondern gegebenenfalls auch in der Lage, bestimmte
S. 266) hält es hingegen für willkürlich, den Rechtsanwender an die oft nur zufällig
vorhandenen legislativen Äußerungen zu bestimmten Zweifelsfragen zu binden.
196 Loos, in: FS für Wassermann, S. 129.
197 G. und D. Reinicke, MDR 1952, 141 (142, l. Sp.) mit Nachweisen aus der
Rechtsprechung.
4. Die genetische Auslegung 265
Vorgänge durch Abhörung von Zeugen oder Auskunftspersonen anderer Art aufzu-
klären und festzustellen.“ (RGZ 81, 276 [282])
Jedoch dürfte nicht nur das „richterliche Feingefühl“ regelmäßig gegen eine
Zeugenvernehmung sprechen, sondern gewichtige Sachgründe: Welche Beteilig-
ten wären zu vernehmen? (Alle?) Wie stünde es um die Zuverlässigkeit der
Aussagen? Würde der politische Meinungskampf vor Gericht fortgesetzt? Sol-
len alle Gerichte oder nur die Revisionsinstanzen hierzu berechtigt sein?198
Entschieden abzulehnen ist eine methodensynkretische Vorgehensweise, wel-
che die Materialien je nach Bedarf und Erwünschtheit des Ergebnisses „deko-
rativ“ heranzieht, bei Übereinstimmung der Auslegungskriterien von einer Bin-
dung an den historischen Willen ausgeht, bei einem Widerspruch die bindende
Kraft bestreitet und bei einem Schweigen der Materialien unterstellt, der Ge-
setzgeber hätte sich bei anderer Auffassung gegenteilig geäußert!199
S. 119 f.
199 Ein solches Vorgehen der Praxis konstatiert Schneider, MDR 1963, 368 (369,
l. Sp.).
200 Bydlinski, Methodenlehre, S. 433: Bestimmte Vorstellungen sind keinesfalls bin-
dend, „mögen sie auch erklären, warum das Gesetz gerade so erlassen wurde“. Larenz,
Methodenlehre, S. 329: Keine „bindende Richtschnur“, aber gleichwohl von „erhebli-
chem Wert für die Auslegung“.
266 IV. Entstehungsgeschichte
Der BGH hat sich nur selten in allgemeiner Form über den Wert einzelner
parlamentarischer Stellungnahmen geäußert. Verdikte, welche die historische
Auslegung generell abqualifizieren, erstrecken sich freilich auch darauf. In
BGHSt 12, 42 (43) wird sogar betont, daß „insbesondere Äußerungen von Re-
gierungsvertretern und Abgeordneten bei der Beratung eines Gesetzes für des-
sen Auslegung nur ein bedingter Wert zukommt“. Im übrigen werden parlamen-
tarische Stellungnahmen aber selbstverständlich verwertet. Welcher Rang ihnen
zuerkannt wird und wie ernst die Senate sich damit auseinandersetzen, zeigen
einige interessante Entscheidungen:
Fall 132 (BGHSt 2, 99 – Vernehmung der Verhörsperson?): Enthält § 252 StPO (=
§ 251 a. F.) für den Fall, daß ein vor der Hauptverhandlung vernommener Zeuge erst
dort von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch macht, nur – wie es der
Wortlaut nahelegt – ein Verlesungsverbot oder ein darüber hinausgehendes Verwer-
tungsverbot, das z. B. auch die Vernehmung der Verhörsperson als Zeuge verbietet?
Die reichsgerichtliche Rechtsprechung hat auf den klaren Wortlaut abgestellt und
der Entstehungsgeschichte nichts Gegenteiliges entnehmen können (z. B. RGSt 5,
142; 48, 246; 70, 6; RGR 3, 449 und 678). Nur RGSt 10, 374 hat in einem ausführ-
lichen obiter dictum eine andere Ansicht vertreten; aus der Entstehungsgeschichte
(Beratungen im Plenum u. a.) ergebe sich zweifelsfrei, daß die Gesetzesverfasser in
einer Beweisaufnahme über den Inhalt der Aussage eine unzulässige Gesetzesumge-
hung sahen. Der BGH hat sich dieser Ansicht angeschlossen, soweit es um nicht-
richterliche Verhörspersonen geht.201 Der Wortlaut sei „nicht so eindeutig“, als daß
er eine der vertretenen Auffassungen ausschlösse (S. 101).202 Besonderes Gewicht
mißt der BGH dann der Entstehungsgeschichte bei, mit der sich „bezeichnender-
weise“ nur RGSt 10, 374 befasse (S. 102). Eine Aussprache im Reichstag behan-
delte genau die vorliegende Konstellation, nach Ansicht des BGH mit dem Ergeb-
nis, daß man das Verlesungsverbot als Verbot auffaßte, „die frühere Aussage in ir-
gendeiner Form zu verwerten und zum Gegenstand der Beweisaufnahme (von
Schwarze) in der Hauptverhandlung zu machen.“ Der gegenteiligen Auffassung ei-
nes Abgeordneten sei der Berichterstatter mit der Bemerkung entgegengetreten,
„wenn durch derartige ,Manipulationen‘ der Gedanke und die Vorschrift des Geset-
zes ,illusorisch‘ gemacht werden könnten, höre jede Gesetzgebung auf.“ Diese Äu-
ßerungen veranlassen den Senat zu methodologischen Erwägungen:
„Die Bedeutung dieser Vorgänge liegt weniger darin, daß sie zeigen, welchen Sinn
die verantwortlichen Urheber der Vorschrift des § 252 mit ihr verbanden; denn es
201 Diese, noch heute gültige Differenzierung zwischen richterlichen sowie anderen
Verhörspersonen stand schon damals auf schwachen Füßen und hat spätestens 1964
mit der gesetzlichen Fixierung von Belehrungspflichten für alle Vernehmungsorgane in
§ 163a StPO ihre Grundlage verloren. In der Entscheidung RGSt 10, 374, auf die der
BGH sich im übrigen stützt, ging es um einen Untersuchungsrichter.
202 Das ist eine sehr fragwürdige Annahme, denn der Wortlaut der Norm spricht nur
203 Auch die Systematik der §§ 249 ff. StPO sprach für die Ansicht der BGH, vgl.
a. a. O., S. 102.
204 Freisler, DJ 1941, 929 (934, r. Sp.). Letzteres ist allerdings nur unter dem Hin-
tergrund der damals propagierten Lehre vom „Tätertyp“ verständlich. Da diese Lehre
ohne weiteres gegen das Bestimmtheitsgebot des GG verstößt, ist die Auffassung
Freislers eigentlich schon irrelevant.
205 Freisler, DJ 1941, 929 (935, l. Sp.).
268 IV. Entstehungsgeschichte
fernorm nicht vom Fahrer eines „Kraftfahrzeugs“, sondern nur von „Verkehrsunfall“
und „Fahrzeug“. War damit eine Normerweiterung auch in bezug auf den Schiffsver-
kehr verbunden? Zur Feststellung des gesetzgeberischen Sprachgebrauchs ermittelt
der Senat die Entstehungsgeschichte. Aus der amtlichen Begründung ergebe sich,
daß zwar der Täterkreis erweitert werden sollte (auf Beifahrer, Radfahrer, Fußgän-
ger), aber nicht über den Straßenverkehr hinaus! (Vgl. a. a. O., S. 119 f.) Die Erfas-
sung von Luft- und Schiffsverkehr sei denkbar, aufgrund der Unterschiede zum Stra-
ßenverkehr hätte der Gesetzgeber dies jedoch „klar zum Ausdruck bringen müssen“
(S. 120), zumal ein Warten am Unfallort bei Unfällen in der Luft gar nicht, auf dem
Wasser nur schwerlich in Betracht komme (S. 121). Daß der damalige Referent im
Justizministerium (Rietzsch) im Anschluß an die amtliche Begründung auch den
„Flugverkehr“ erwähne und vielleicht auch den Schiffsverkehr habe erfassen wollen,
sei nicht entscheidend (S. 121). Denn angesichts der dargelegten Unterschiede be-
stünden „auch dann . . . gewichtige Bedenken gegen die Annahme, es sei der Wille
des Gesetzgebers gewesen, was der seinerzeitige Referent für diesen Willen mög-
licherweise hielt.“ Eine andere Bewertung sei trotz der Bedenken aus der Entste-
hungsgeschichte nur bei – hier nicht ersichtlichen – „dringenden kriminalpolitischen
Gründen“ gerechtfertigt (S. 122).
Fall 135 (BGHSt 27, 52 = oben Fall 43, Videoverleih ist keine „Leihbücherei“):
Aus den Gesetzesmaterialien sei ersichtlich, daß die Abgeordneten zwar eine Lücke
erkannt und deren Schließung erwogen, letztlich aber darauf verzichtet haben (S. 55).
„Die abschließende Bemerkung des Ausschußvorsitzenden, wenn es zu der von ihm
erwarteten gewerblichen Vermietung von Filmkassetten und Tonbändern pornogra-
phischen Inhalts komme, ,könnten die Gerichte nicht anders, als auch diese Fälle . . .
zu erfassen‘ . . ., stellt lediglich eine die künftige Rechtsprechung betreffende Pro-
gnose eines Abgeordneten dar, ändert aber nichts daran, daß der Sonderausschuß in
Kenntnis der oben bezeichneten Lücke davon abgesehen hat, dem Deutschen Bun-
destag eine Fassung der Vorschrift vorzuschlagen, die auch die gewerbliche Vermie-
tung pornographischer Filme durch hierauf spezialisierte Unternehmen erfaßt hätte.
Inzwischen mag ein Bedürfnis erkennbar geworden sein, den Strafschutz in dieser
Richtung zu erweitern. Es wäre dann aber Sache des Gesetzgebers, die Strafvor-
schriften zu ändern. Deren jetziger eindeutiger Inhalt verwehrt es den Gerichten,
jenen Bereich in die Strafbarkeit einzubeziehen“ (S. 55 f.). – Schroeder (JR 1977,
231 [232]) erkennt in dieser Argumentation die typischen Probleme einer subjekti-
ven Auslegung. Der BGH habe zwar die im Sonderausschuß herrschenden Vorstel-
lungen zutreffend wiedergegeben; zu beachten sei aber auch, daß der Vorsitzende
sich zuletzt äußerte und niemand widersprach206 (S. 233). Zudem sei gerade im vor-
liegenden Fall die Distanz zwischen Gesetzesverfasser (Sonderausschuß) und Ge-
setzgeber zu groß, als daß die Auffassung der Verfasser als Wille des Gesetzgebers
angesehen werden könnte.
Im Fall BGHSt 9, 385 widerspricht die Stellungnahme des Kommissionsmit-
glieds der objektiv-historischen Auslegung (Formulierungsänderung im Gesetz-
gebungsverfahren) und ist – nach Ansicht des Großen Senats – auch nicht mit
der amtlichen Begründung zu vereinbaren. Deshalb kann die Stellungnahme
206 Zur Problematik dieses Argumentationsmusters siehe jedoch oben den Text zu
nicht mit dem Willen des Gesetzgebers identifiziert werden. Etwas schwieriger
liegt es in BGHSt 14, 116, aber auch hier harmoniert die Äußerung des Refe-
renten nach Meinung des Senats nicht mit der amtlichen Begründung und wei-
teren Umständen. Leider wird die subjektiv-historische Auslegung durch den
abschließenden Gedanken entkräftet, wonach kriminalpolitische Interessen ein
anderes Ergebnis legitimieren könnten.207 In beiden Fällen hätte zusätzlich dar-
auf verwiesen werden können, daß die Äußerungen nachträglich oder begleitend
erfolgten, nicht aber originär aus dem Gesetzgebungsverfahren stammten
(„halbamtliche Begründungen“208). Auch die Argumentation in BGHSt 27, 52
trifft zu, denn aus der vagen Ansicht des Ausschußvorsitzenden kann nicht auf
einen gegenteiligen legislativen Willen geschlossen werden.209 In keinem der
genannten Fälle lag ein möglicherweise zu berücksichtigender (Motiv-)Irrtum
des Gesetzgebers (dazu unten IV 8), sondern allenfalls ein Irrtum einer Einzel-
person vor.
Zu großer Verwirrung und methodologisch zweifelhaften Annahmen des BGH
hat eine Einzeläußerung aus dem Gesetzgebungsverfahren zur Reichweite des
Absichtsbegriffs im Staatsschutzrecht („verfassungsfeindliche Absicht“, „Unter-
grabungsabsicht“) geführt. Problematisch waren dabei vor allem Konstellationen,
in denen der Täter weitere oder andere Ziele (z. B. materielle Vorteile, Verbesse-
rung der Welt) verfolgt. Erschwert wurde (und wird) die Sache durch eine un-
einheitliche Begrifflichkeit („zielgerichtetes Handeln“, „Motiv“, „Beweggrund“),
bei der unklar war, ob damit wirklich Unterschiedliches gemeint war.
Fall 136 (BGHSt 9, 142 – „Absicht I“): Die Angeklagte im Fall von BGHSt 9, 142
wurde als Rädelsführerin der FDJ verurteilt; fraglich war, ob eine Strafschärfung
wegen Handelns in „verfassungsfeindlicher Absicht“ (§ 94 StGB i. d. F. des 1. StÄG)
vorzunehmen war, obwohl die Angeklagte glaubte, ein für Staat und Volk nütz-
liches Werk zu tun. BGHSt 9, 142 ist der Ansicht, daß der Absichtsbegriff tat-
bestandsspezifisch zu bestimmen ist (S. 144). Der Schutzzweck der Bestimmung
spreche dafür, die Absicht in § 94 nicht als „Beweggrund“, sondern als dolus direc-
tus zu deuten (S. 146). Eine gegenläufige Äußerung in den Gesetzesmaterialien wird
zurückgewiesen: „Die Bemerkung des Berichterstatters des Rechtsausschusses des
Bundestages, daß die verbrecherische Absicht das ,tragende Motiv‘ für die Hand-
lungsweise des Täters sein müsse, vermag dieses Ergebnis nicht zu erschüttern. Die
Äußerung könnte Gewicht für die Auslegung nur haben, wenn sie mit den sonstigen
207 Deshalb steht die Einordnung von BGHSt 14, 116 als Entscheidung, die der sub-
jektiv-historischen Methode folgt (so Bindokat, JZ 1969, 541 [542]), unter einem gro-
ßen Fragezeichen.
208 Luther (NJW 1954, 493 [495]), ebenfalls gegenüber einem Aufsatz von Rietzsch
rung des Vorsitzenden kann nicht das Beratungsergebnis revidieren. Selbst wenn der
„Gesetzgeber“, so wie Schroeder (a. a. O., S. 233) meint, für die zurückhaltende For-
mulierung andere Gründe hatte als die Gesetzesverfasser, ändert das doch nichts
daran, daß auch „er“ keine Textänderung vornahm oder Sinnänderung bezweckte.
270 IV. Entstehungsgeschichte
Kundgebungen der gesetzgebenden Organe zum Sinn und Zweck der Vorschriften
über die Staatsgefährdung übereinstimmte oder wenigstens näher begründete, wes-
halb nur die Absicht im Sinne des Beweggrundes das entscheidende Merkmal für
die Gefährlichkeit des Angriffs gegen die verfassungsmäßige Ordnung sein soll . . .
Das ist nicht der Fall. Der von allen bei der Gesetzgebung beteiligten Organen mit
dem [1. StÄG] verfolgte Zweck spricht deutlich gegen die – auch dem allgemeinen
Sprachgebrauch nicht entsprechende – Gleichsetzung der Absicht mit dem Beweg-
grund. Die Bemerkung des Berichterstatters entbehrt auch jeder näheren Begrün-
dung“ (S. 147). Bei der Würdigung seiner Ausführungen dürfe zudem nicht außer
acht gelassen werden, daß auch sonst nicht immer klar zwischen dolus directus und
Beweggrund differenziert werde.
Arndt hat sich entschieden gegen den methodischen Standpunkt des BGH ge-
wandt, dessen Erwägungen die „Grundfrage des Verhältnisses zwischen parla-
mentarischer Gesetzgebung und rechtsstaatlicher Rechtsprechung“ aufwerfe (JZ
1957, 206). Zumindest an konkrete Vorstellungen des Gesetzgebers sei die
Rechtsprechung gebunden; der BGH habe sich hier zu Unrecht über die Gedan-
ken der Parlamentarier hinweggesetzt.210 Schon kurze Zeit später hat der glei-
che Senat auf die Einwände repliziert und an seiner Ansicht festgehalten:
Fall 137 (BGHSt 11, 171 – „Absicht II“): „Der Senat läßt es dahingestellt, ob es
neben dem Gesetz selbst überhaupt Willens- oder Meinungsäußerungen des gesetz-
gebenden Organs geben kann, die den Richter als ,konkrete Entscheidung‘ des Ge-
setzgebers binden.211 Er ist jedenfalls der Meinung, daß er eine solche Schranke
nicht überschritten hat, wenn er die Äußerung des Berichterstatters, auf die sich die
Gegenmeinung beruft, in ihrem Wortlaut nicht als verbindlich ansah, sondern ihren
wirklichen Sinn aus dem Zusammenhang und dem Inbegriff der Erwägungen zu ge-
winnen suchte, die bei der Beratung der einschlägigen Vorschriften des [1. StÄG]
angestellt wurden. Wenn der in § 133 BGB niedergelegte Grundsatz, daß bei der
Auslegung einer Willenserklärung der wirkliche Wille zu erforschen und nicht am
buchstäblichen Sinne des Ausdrucks zu haften sei, ebenso bei der Auslegung von
Gesetzen gilt (vgl. z. B. RGZ 127, 48), so muß er erst recht anwendbar sein, wenn
es sich darum handelt, eine im Gesetzgebungsverfahren abgegebene Äußerung aus
dem Zusammenhang heraus zu verstehen und zu deuten, in dem sie abgegeben
wurde. Das ist in der Entscheidung BGHSt 9, 142 geschehen“ (S. 173). Im An-
schluß stützt der Senat sich auf Passagen aus einem Protokoll des Rechtsausschus-
210 Arndt macht allerdings deutlich, daß auch auf Grundlage der Gesetzesberatun-
gen im konkreten Fall Absicht vorlag (JZ 1957, 206 f.). Bockelmann zweifelt ange-
sichts des offensichtlich richtigen Ergebnisses, „ob die Begründung wirklich so schwer
war, wie sie der BGH sich gemacht hat“ (JZ 1956, 698); denn daß der Beweggrund
nicht das einzige Antriebsmoment zu sein braucht, sei beim Absichtsbegriff nicht strei-
tig (S. 698 f.). Auf die Entstehungsgeschichte geht Bockelmann bezeichnenderweise
nicht ein; vgl. zum unterschiedlichen Interesse der Autoren an Methodenfragen oben
in Kap. I den Text zu Fn. 34.
211 Obwohl der Senat sich hier offensichtlich gegen Arndt wendet, wird dieser nicht
zitiert! Auch die methodische Aussage, mit der er die subjektive Auslegungslehre un-
ter einen Vorbehalt stellt, kann nur als Affront gegen den Abgeordneten Arndt verstan-
den werden.
4. Die genetische Auslegung 271
ses, in dem ausdrücklich von „direktem Vorsatz“ die Rede ist, nicht aber von „tra-
gendem Motiv“ oder „Beweggrund“ (S. 174); vorrangig sei es um den Ausschluß
des bedingten Vorsatzes gegangen. Die Gegenauffassung sei im übrigen inkonse-
quent, weil sie – anders als der Berichterstatter – „statt des tragenden Motivs ein
tragendes Motiv genügen lassen“ will (S. 178, Hervorhebungen dort).
Der Streit um den Absichtsbegriff nahm seinen Fortgang im 18. Band der
amtlichen Sammlung, in dem der BGH seinen Standpunkt aufgibt.
Fall 138 (BGHSt 18, 151 – „Absicht III“): Zu entscheiden war über die Bedeutung
der „Untergrabungsabsicht“ i. S. von § 91 StGB i. d. F. des 4. StÄG. Der BGH refe-
riert die diesbezüglichen Vorstellungen des Rechtsauschusses, die unter Absicht den
„entscheidenden Beweggrund“ des Täters verstanden (vgl. a. a. O., S. 154). „Hier-
nach hat sich der sachbearbeitende Rechtsausschuß durch einstimmigen Beschluß
auf eine bestimmte Auslegung des Absichtsbegriffs im § 91 StGB geeinigt. Das Ple-
num des Bundestags und der Bundesrat haben keine abweichende Ansicht geäußert.
In diesen Vorgängen kommt eine authentische Interpretation des Willens des Gesetz-
gebers zum Absichtsbegriff des § 91 StGB zum Ausdruck, die die Gerichte bindet“
(S. 155). Dem Täter müsse es somit auf die Herbeiführung der Untergrabung an-
kommen. Daß er daneben weitere Beweggründe hat oder Nebenzwecke verfolgt,
schließe die Absicht nicht aus. Nicht ausreichend sei „direkter Vorsatz“ (S. 156).
Fall 139 (BGHSt 18, 246 – „Absicht IV“): Die in BGHSt 18, 151 vertretene Posi-
tion überträgt der Senat nunmehr auch auf die „verfassungsfeindliche Absicht“ und
geht dafür erneut auf die Entstehungsgeschichte des 1. StÄG ein, die zwar keine
restlose Klarheit bringe, aber jedenfalls für einen Ausschluß der „zweiten Erschei-
nungsform“ des direkten Vorsatzes spreche (S. 251); insoweit anderslautende Mei-
nungen gibt der Senat auf (S. 254). Der Ausdruck „Motiv“ sei in den Beratungen
benutzt worden (S. 250; anders oben BGHSt 11, 171). Immerhin verlange auch
BGHSt 9, 142, daß es dem Täter „darum zu tun“ sein müsse, den verfassungsfeind-
lichen Zweck zu erreichen. Begrifflich sei Absicht damit weder durch abweichende
Ziele noch anderweitige Beweggründe des Täters von vornherein ausgeschlossen
(S. 255). Fest hält der Senat hingegen an seiner Position, die es ablehnt, den „Be-
weggrund“ als entscheidendes Kriterium des Absichtsbegriffs einzustufen (S. 253).212
Die methodologische Vielfalt in den dargestellten Entscheidungen ist frappie-
rend. Nach BGHSt 18, 151 (155) ist die „Auslegung“ der Norm durch die Ab-
geordneten eine „authentische Interpretation“, die als Verlautbarung des gesetz-
geberischen Willens die Gerichte bindet, während BGHSt 11, 171 generelle
Zweifel an der subjektiv-historischen Auslegung anmeldet, jedenfalls aber kon-
krete Äußerungen in den Gesetzesmaterialien für auslegungsbedürftig (§ 133
BGB!) hält. Ohne weiteres zuzustimmen ist BGHSt 9, 142, soweit dort eine
Harmonisierung widersprüchlicher legislativer Aussagen verlangt wird, während
die Auferlegung einer besondere Begründungspflicht für die Abgeordneten zu-
mindest bedenklich ist. Der BGH präsentiert somit ein ganzes Arsenal von
212 Insoweit sieht Weber (in: Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht AT, § 20, Rn. 45
[Fn. 95]) einen Widerspruch zu BGHSt 18, 151, da dort doch auf den „entscheidenden
Beweggrund“ abgestellt wurde.
272 IV. Entstehungsgeschichte
Aus den soeben dargestellten Fällen wird zum einen deutlich, daß eine Ein-
zeläußerung darauf hin geprüft werden muß, ob sie zum Kollektivwillen er-
wuchs. Zum anderen ist es jedoch notwendig, die konkreten Vorstellungen ein-
zelner oder gar aller Gesetzesverfasser über den Umfang der Gesetzesbegriffe
mit den abstrakten Zielvorstellungen der Gesetzgebungsorgane zu vergleichen.
Möglicherweise ist insoweit ein Konflikt gegeben, der im Rahmen historischer
Auslegung beseitigt werden kann.215 Die konkrete Vorstellung (Subsumtion) der
Gesetzesverfasser216 ist aber jedenfalls dann durchzusetzen, wenn sie mit der
abstrakten Zielsetzung zu vereinbaren ist. Daran bestanden in BGHSt 14, 116
Zweifel, da es dem Gesetzgeber bei Ausweitung des § 142 StGB um die Ver-
hältnisse des Straßenverkehrs und nicht um den Flug- oder Schiffsverkehr ge-
gangen war. Im Einzelfall fällt eine Harmonisierung freilich schwerer, und mit-
unter nutzen die Senate die flexibler handhabbaren abstrakten Zielsetzungen zur
213 Von Winterfeld versucht zu beweisen, daß die Äußerung tatsächlich nicht in die-
sem Sinn gemeint war (NJW 1959, 745 [748]). Die Interpretation der Stellungnahme
(abgedruckt z. B. in DRiZ 1951, 181) fällt allerdings schwer.
214 Klärend z. B. Weber, in: Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht AT, § 20, Rn. 44,
45.
215 Zur Vermeidung von Mißverständnissen: Hier geht es nicht um einen Konflikt
während z. B. Beulke (NJW 1979, 400 [405]) gerade Äußerungen der Gesetzesverfas-
ser über den Anwendungsbereich der Regelung für überwindbar hält.
4. Die genetische Auslegung 273
217 Aus der Rechtsprechung der Zivilsenate z. B. BGHZ 67, 339 (341); dazu Mu-
Es kam darauf an, ob eine Klage- oder Berufungsschrift unterschrieben sein muß. Der
Wortlaut war offen, aber die Gesetzesmotive befürworteten das. Das OLG Saarbrücken
NJW 1970, 434 hält den historischen Willen aufgrund des Wandels der Verhältnisse
jedoch nicht mehr für ausschlaggebend. Roth-Stielow widerspricht dieser Begründung
energisch, hält das Ergebnis aber für gerechtfertigt, weil es sich auch bei einer Befra-
gung des „hinter den . . . Erwägungen des Gesetzgebers“ stehenden Sinn und Zwecks
ergeben hätte (S. 2058).
219 BGHSt GS 46, 321 (330) hat gleichwohl den Willen des Gesetzgebers selbstbe-
wußt und mit fragwürdiger Begründung – der Gesetzgeber hätte den Bandenbegriff
angesichts der lange herrschenden Kontroverse definieren sollen – übergangen; näher
unten IV 7 i, nach Fall 208.
220 Eine solche Konstellation erkennt Canaris (in: FS für Fikentscher, S. 11 ff.) in
der methodisch sehr interessanten Entscheidung BGHZ 135, 86, in der sich der BGH
„in Hinblick auf Art. 20 Abs. 3 GG“ an den (konkreten) Willen des Gesetzgebers
gebunden sieht (S. 91 f.). Canaris (a. a. O., S. 32) hält demgegenüber den davon ab-
weichenden allgemeinen Normzweck für maßgeblich, während Leenen (Jura 2000,
248 [254]) die Lösung des BGH mit dem Argument stützt, daß in der Norm neben
dem Primärziel weitere Ziele angelegt seien, die durchaus die konkreten Äußerungen
abdeckten.
274 IV. Entstehungsgeschichte
sung des Senats kommt es nicht darauf an, ob auch das Behältnis selbst besonders
gegen Wegnahme geschützt ist. Er beruft sich auf die Gesetzesberatungen, in denen
gerade das Beispiel, „daß der Dieb die verschlossene Kassette aus einem Haus
stiehlt und erst an einem anderen Ort aufbricht“ als Anwendungsfall genannt wurde
(a. a. O.). Ob damit aber auch dem generellen Ziel des Gesetzgebers entsprochen
wird, mit § 243 I 2 Nr. 2 besonders rücksichtloses Verhalten, das sich über beson-
dere Sicherungsmaßnahmen des Eigentümers hinwegsetzt, zu erfassen (Begründung
zum Entwurf 1962, S. 403), erörtert der Senat nicht.221 Auch der Wortlaut gab An-
laß zu Zweifeln, denn wenn das Behältnis selbst mühelos weggenommen werden
kann, dürfte es auch der darin befindlichen Sache keinen Schutz gewähren.222
Ist der Konflikt zwischen konkreten Vorstellungen und allgemeinen Zielen
nicht auszuräumen, ist zu erwägen, ob nicht ein Motivirrtum vorliegt, der Ge-
setzgeber also von unzutreffenden Voraussetzungen (in bezug auf den Wortlaut
oder auf die Bedeutung anderer Normen) ausging und deshalb einer Fehldeu-
tung hinsichtlich der Extension seiner Vorschrift unterlag.223 Dann muß die all-
gemeine Zielsetzung den Vorzug erhalten, wenn wenigstens sie außer Zweifel
steht.224 Ist der Konflikt auch auf diese Weise nicht aufzulösen, sollten andere
Auslegungskriterien den Ausschlag geben.
Ein recht sicheres Anzeichen dafür, daß der BGH bei der Heranziehung von
Gesetzesmaterialien prinzipienlos verfährt und statt dessen ganz auf die Aussage-
kraft der Quelle für das konkrete Auslegungsproblem abstellt, sind zahlreiche,
vornehmlich im Bereich des Straßenverkehrsrechts angesiedelte Entscheidun-
gen, in denen erläuternde Verwaltungsvorschriften, Durchführungsverordnungen
und ministerielle Erlasse als Auslegungshilfe verwertet werden. Den Wert dieser
Quellen veranschlagen die Senate hoch, weil sie regelmäßig von einer besonders
sachkundigen Stelle herrühren; demgegenüber rücken Zweifel an der Legitima-
tion – die Vorschriften stammen von der Exekutive und werden häufig zu einem
anderen Zeitpunkt als das auszulegende Gesetz erlassen – in den Hintergrund.
Fall 141 (BGHSt 15, 9): Zu prüfen war, ob eine Schienenbahn auch dann auf ei-
nem „besonderen Bahnkörper“ im Sinn des § 315 I StGB a. F. verläuft, wenn ihre
Gleise zwar innerhalb des Verkehrsraums einer öffentlichen Straße liegen, die Be-
221 Zudem haben die Gesetzesverfasser sich womöglich nur gegen eine Ungereimt-
heit des § 243 StGB a. F. gewandt, wonach es darauf ankam, ob der Dieb ein Behältnis
noch am Tatort oder erst später aufbricht (siehe oben Fall 5).
222 Vor allem aus teleologischen Gesichtspunkten abl. Krüger, NJW 1972, 648 f.,
Eser, in: Schönke/Schröder, StGB26, § 243, Rn. 25 und Schröder, NJW 1972, 778 ff.,
der auch kein kriminalpolitisches Bedürfnis für diese Auslegung sieht (S. 780).
223 Im Fall von BGHZ 135, 86 bezweifelt Canaris (in: FS für Fikentscher, S. 21),
daß die Gesetzesverfasser die von ihnen genannten Anwendungsbeispiele gut durch-
dacht haben und nimmt einen „Wertungsfehler“ an (S. 33).
224 Näher zum Motivirrtum unten IV 8 d.
4. Die genetische Auslegung 275
nutzung dieses Bereichs durch den übrigen Verkehr aber ausgeschlossen ist. Aus der
Entstehungsgeschichte ließ sich zu dieser Frage nichts entnehmen. Dagegen ergab
sich aus einer Durchführungsverordnung des Bundesverkehrsministeriums zu einer
Straßenbauordnung (!) eine Antwort. Nach Ansicht des Senats kommt dieser Mei-
nung keine maßgebliche Bedeutung bei der Auslegung eines strafrechtlichen Be-
griffs zu:
„Denn der Minister ist . . . nicht ermächtigt worden, diesen Begriff mit bindender
Wirkung für die Gerichte zu umschreiben. Überdies wurde die Durchführungsver-
ordnung erst einige Jahre nach dem Verkehrssicherungsgesetz erlassen. Ihr kann
deshalb nicht entnommen werden, was der Gesetzgeber des Jahres 1952 sich darun-
ter vorgestellt hat. Immerhin offenbart jene Stelle der Durchführungsverordnung die
Auffassung der auf dem Gebiet des Straßenverkehrs besonders sachkundigen Behör-
den. Deshalb wird ein Gericht sich bei der Rechtsanwendung nicht ohne weiteres
über diese Auffassung hinwegsetzen.“ (BGHSt 15, 9 [12 f.])
Noch stärkere Berücksichtigung findet in BGHSt 16, 160 (oben Fall 127)
eine Verwaltungsvorschrift bei der Auslegung der StVO, da sowohl Verordnung
als auch erläuternde Verwaltungsvorschrift von der gleichen Instanz erlassen
wurden:
„An diese Auslegung sind die Gerichte bei der Rechtsanwendung beider Verordnun-
gen, der StVO und der StVZO, zwar nicht gebunden, da der Verwaltungsvorschrift
nicht die Kraft einer für die Gerichte verbindlichen Rechtsnorm zukommt . . . Den-
noch bietet die Verwaltungsvorschrift eine wertvolle Erkenntnisquelle für die Ausle-
gung des . . . [in der StVO] . . . enthaltenen Begriffs, zumal sie . . . von derselben
Stelle, wenn auch mit unterschiedlicher Wirkungskraft, erlassen sind. Es müßten
schon triftige Umstände gegen die Auffassung des Bundesministers für Verkehr als
des für Verkehrsfragen auch im Bereich der Gesetzgebung besonders sachkundigen
Fachministers sprechen, wenn die Gerichte ihr die Gefolgschaft versagen wollten.“
(BGHSt 16, 160 [163])
Auf die besondere Kompetenz der Verfasser eines Runderlasses und die Zeit-
nähe zum Gesetz hebt auch BGHSt 17, 267 (unten Fall 160) ab: Der Erlaß des
Ministeriums sei zwar keine bindende Rechtsnorm, jedoch zeitlich nahe sowie
von maßgeblicher Stelle erlassen und damit wichtige Erkenntnisquelle für die
Auslegung (S. 269). BGHSt 23, 108 (113) sieht seine zuvor entwickelte Lösung
in einem Runderlaß des Bundesverkehrsministers bestätigt225 und betont:
„Die Runderlasse haben zwar keine Gesetzeskraft, sind aber eine wertvolle Ausle-
gungshilfe, da sie in gewissem Sinne als authentische Auslegung der ebenfalls vom
Bundesverkehrsminister erlassenen Straßenverkehrs-Zulassungsordnung gelten kön-
nen.“ (BGHSt 23, 108 [113])
Daß der BGH sich jedoch jederzeit als berechtigt sieht, die in Erlassen oder
Verwaltungsvorschriften enthaltene „authentische“ Interpretation zurückzustel-
len, wird klargestellt in BGHSt 17, 69:
225 Bloß unterstützend zieht auch BGHSt 12, 48 (49 f.) die Verwaltungsvorschrift
226 Ähnliches gilt für abschließende Stellungnahmen zu den Ergebnissen eines Ge-
227 U. a. wegen des scharfsinnigen Arguments, daß die Einfügung des Wortes „Äu-
228 Analytisch muß klar unterschieden werden zwischen einer Äußerung in der Ent-
wurfsbegründung zur Reichweite der alten Norm und der Klarstellungswirkung des
neuen Gesetzes selbst; beim letzteren Aspekt geht es um den Einfluß der lex ferenda
auf die Auslegung der lex lata, worauf später zurückzukommen sein wird (unten IV 7
d). Der BGH stellt vornehmlich auf die Entwurfsbegründung ab, während das
BayObLG sich in anderem Zusammenhang von der Vorlagepflicht schon aufgrund
eines Gesetzesentwurfs, der einen allgemeinen Wandel der Rechtsauffassung belege,
befreit sieht; BayObLGZ 1989, 175 (183) und ähnlich – allerdings für ein bereits
verkündetes Gesetz – OLG Frankfurt NJW 1958, 713.
4. Die genetische Auslegung 279
Gesetz ist ein anderes! Die Fragwürdigkeit der Ansicht des BGH zeigt sich zu-
dem bei einer leichten Abwandlung der Situation: Angenommen, der BGH
selbst hätte zum früheren Recht eine vom neuen (eindeutigen) Rechtszustand
abweichende Auffassung vertreten, womöglich mit besseren Gründen als das
OLG Düsseldorf: Hätte der BGH auch dann, z. B. bei einer Vorlage durch ein
OLG, von seiner Auffassung Abstand genommen, wenn in den Entwürfen zum
Korrekturgesetz die Auffassung des BGH als unzutreffende Deutung des alten
Rechtszustands bezeichnet worden wäre? Eher läßt sich vermuten, daß die
nachträglichen Äußerungen des Gesetzgebers dann mit den dafür bestens geeig-
neten Formulierungen einer „objektiven“ Auslegungstheorie („Gesetz als leben-
diger oder sich entwickelnder Geist“) für unbeachtlich erklärt worden wären.
geschichte ergebenden Willen des Gesetzgebers von 1935 heran, der den Selbst-
mordversuch ausdrücklich als Anwendungsbeispiel der Vorschrift nennt (vgl. a. a. O.,
S. 150). Der Gesetzgeber begründete die Einführung des § 330c StGB mit dem
„seit der ,nationalsozialistischen Erhebung‘ eingetretene[n] Wandel der Auffassun-
gen über die Pflicht des einzelnen gegenüber der Volksgemeinschaft und sein Ver-
hältnis zu den einzelnen Volksgenossen“ (S. 150). Das Gefühl der Zusammengehö-
rigkeit verlange das Eintreten für den anderen. Nachdem der BGH die Gültigkeit der
Norm in BGHSt 1, 266 und 2, 150 bereits bejaht hatte, prüft der Große Senat ledig-
lich, ob ein „Wandel der Anschauungen“ (S. 151) zu einer abweichenden Auslegung
führen muß. Jedoch entspreche die gegenseitige Hilfe in Notfällen einem „Haupt-
gebot der christlichen Lehre“, und auch der E 1919 habe eine vergleichbare Rege-
lung vorgesehen. § 330c entspringe somit nicht „einem nationalsozialistischen –
durch Übertreibung und Zwang entarteten – Gemeinschaftsgedanken“; die Hilfe-
leistungspflicht sei „nicht etwas dieser Regierungsform Eigentümliches, wenngleich
sie unter ihm zum ersten Mal Gesetz geworden ist“ (S. 151).
Die Entscheidung der Großen Senats zeigt: Motive des nationalistischen Ge-
setzgebers sind nicht per se obsolet, müssen jedoch auf ihre Vereinbarkeit mit
der auf dem Grundgesetz basierenden Rechtsordnung hin untersucht werden. Im
vorliegenden Fall hat der BGH zu Recht den Willen des historischen Gesetzge-
bers herangezogen. Ist die amtliche Begründung erst einmal ihrer anstößigen
Terminologie entkleidet, zeigt sich, daß der Grundgedanke der Vorschrift mit
den „Werten“ des Grundgesetzes, insbesondere den Grundrechten zumindest
vereinbar ist. Der Verfassung mag eine eher individualistisch orientierte Wert-
haltung zugrunde liegen, doch steht die Hilfspflicht des § 330c dazu nicht in
unüberwindbarem Gegensatz. Ein allgemeiner Wandel von „Wertvorstellungen“,
der im Gesetz keinen konkreten, der Deduktion zugänglichen Anknüpfungs-
punkt gefunden hat229, kann nicht durch die Behauptung, damit habe sich die
„Normsituation“ gewandelt, eine veränderte Auslegung rechtfertigen230.
229 Art. 2 GG ist natürlich trotz der Allgemeinheit seiner Formulierung einer De-
duktion zugänglich, doch ergibt sich daraus nichts Zwingendes gegen die Durchset-
zung des gesetzgeberischen Willens im vorliegenden Fall.
230 Näher zum Ganzen Engisch, Wahrheit und Richtigkeit, S. 15 f. und im folgen-
den Abschnitt.
231 Kaufmann, Verfahren der Rechtsgewinnung, S. 82: „Gretchenfrage an die Sub-
jektivisten“.
5. Wandel der Verhältnisse/Wandel der Normsituation 281
232 Siehe Maurach, Strafrecht AT, S. 102; Tröndle, in: LK-StGB10, § 1, Rn. 44.
233 Vgl. Hassold, ZZP 1981, 192 (209); Kramer, Methodenlehre, S. 99 ff.; Heck,
Gesetzesauslegung, S. 176 ff.
234 Für eine „dynamische“ Fortschreibung des gesetzgeberischen Willens auch Loo-
schelders/Roth, Methodik, S. 62 ff. und von Arnauld, Rechtstheorie 2001, 465 ff.
282 IV. Entstehungsgeschichte
sicher die Annahme zu, daß die Gesetzesverfasser auch den aktuellen Fall nicht hät-
ten erfassen wollen. Zu prüfen war freilich, ob der Gesetzgeber sich die Ansichten
seines „Vorgängers“ zur Vorläufernorm zu eigen gemacht hat und ob die Äußerun-
gen wirklich eine Zielvorstellung und nicht lediglich eine Interpretation zum Aus-
druck brachten (vgl. IV 4 c).
235 Montaigne, Essais, Drittes Buch, Abschnitt XIII (zitiert nach Zöllner, in: Tübin-
gen-FS, Fn. 46): „Was haben unsere Gesetzgeber gewonnen, wenn sie hunderttausend
besondere Fälle und Taten herausgreifen und hunderttausend Gesetze dafür geschaffen
haben? Diese Zahl steht in keinerlei Verhältnis zu der unendlichen Mannigfaltigkeit
des menschlichen Tuns. So viel wie wir uns auch ausdenken mögen, es wird nie an
die Vielfalt der Erscheinungen heranreichen. Fügt noch hunderttausendmal soviel
hinzu: es wird unter den künftigen Vorkommnissen doch nicht auch nur eines eintre-
ten . . .“.
5. Wandel der Verhältnisse/Wandel der Normsituation 283
den?), bleibt fraglich. Den konkreten Fall entscheidet das RG allerdings zutref-
fend (siehe bereits oben Fall 63): Der Gesetzgeber hatte bei Abfassung der
Norm zwar nur dampfbetriebene Eisenbahnen vor Augen, jedoch schlossen es
weder Wortlaut („Eisenbahn“) noch gesetzgeberische Wertung aus, auch elek-
trisch angetriebene Bahnen zu erfassen. Aber nicht alle Fälle sind so unproble-
matisch:236
Fall 148 (BGHSt 1, 1) Bereits mehrfach unter dem Aspekt grammatikalischer Aus-
legung erörtert wurde BGHSt 1, 1 zur Frage, ob Salzsäure als „Waffe“ im Sinn des
§ 223a StGB (a. F.) aufgefaßt werden kann (vgl. oben Fall 51 und Fall 64). Das RG
hat das u. a. unter Berufung auf die Entstehungsgeschichte abgelehnt, da die Geset-
zesverfasser ausdrücklich nur mechanisch wirkende Gegenstände als Waffen ansa-
hen und dementsprechende Beispiele aufzählten. BGHSt 1, 1 stellt dies nicht in Ab-
rede, nimmt aber unter Berufung auf den Fortschritt der Technik einen Bedeutungs-
wandel des Waffenbegriffs an (näher Fall 64), der nunmehr auch chemische
Angriffsmittel erfasse. Fraglich ist hier nur, ob die Entstehungsgeschichte überhaupt
Anlaß zu solch weitreichenden methodologischen Annahmen gab. In der Reichstags-
kommission wurde diskutiert, weshalb das Gesetz neben der Waffe noch das gefähr-
liche Werkzeug sowie das Messer aufführt („mittels einer Waffe, insbesondere eines
Messers oder eines anderen gefährlichen Werkzeugs“). Letztlich geschah dies, um –
auch dem Laien – spezielle Arten von Waffen vorzuführen und zu verdeutlichen,
daß nicht nur Waffen im technischen Sinn (Hieb-, Stich-, Stoß- und Schießwaffen)
dem Begriff unterfallen (RT-Berichte 1876, S. 802, r. Sp.). Eine Änderung des Waf-
fenbegriffs – jeder Gegenstand, mit dem durch mechanische Einwirkung auf den
Körper eines anderen eine Verletzung desselben herbeigeführt werden kann – war
damit nicht beabsichtigt (vgl. a. a. O.).
Kann aus diesen Vorgängen wirklich gefolgert werden, daß der Gesetzgeber nur
mechanisch wirkende Gegenstände erfassen oder umgekehrt chemisch wirkende
Substanzen ausschließen wollte? Zweifel daran sind u. a. deshalb angebracht, weil
nicht ersichtlich ist, welche Fallgruppen durch das Adjektiv „mechanisch“ aus-
geschlossen werden sollten, ob es sich dabei also nach Meinung der Gesetzes-
verfasser überhaupt um einen notwendigen Bestandteil der Definition handelte.
Ein relevanter Gegensatz zu mechanisch – „elektrisch“ scheidet sicher aus, „che-
misch“ wurde im Gesetzgebungsverfahren (wohl) nicht erwogen – ist aus den
Materialien nicht erkennbar. Um dem Willen des Gesetzgebers näher auf die
Spur zu kommen, könnte man folgende Hilfserwägungen anstellen:237
(1) War die Erörterung der jetzt vorliegenden Konstellation bereits im Gesetzge-
bungsverfahren veranlaßt und naheliegend? Bejahendenfalls könnte, wenn
kein Übersehen der Verfasser vorliegt, auf eine bewußte Entscheidung (De-
236 Noch klarer als RGSt 12, 371 liegt BGHSt 46, 266 („GPS“); siehe bereits oben
III 5 a.
237 Voraussetzung ist natürlich, daß der Wortlaut diese Überlegungen überhaupt zu-
läßt! Aber der mögliche Wortsinn ist bei der Subsumtion eines chemischen Angriffs-
mittels unter den Begriff „Waffe“ nicht überschritten (vgl. oben Fall 64).
284 IV. Entstehungsgeschichte
238 In der Reichstagskommission wurden Hieb-, Stich-, Stoß- und Schießwaffen ge-
ohne weiteres ein „gefährliches Werkzeug“ gesehen (GA 1916, 321), obwohl
kein einziger Fall aus der Entstehungsgeschichte damit auch nur im Ansatz ver-
gleichbar war und die in den Materialien zugrundegelegte Definition die Sub-
sumtion ausschloß!
Fall 149 (BGHSt 10, 157 – „Gesundheitszeugnis“): Ein weiteres interessantes Bei-
spiel bietet BGHSt 10, 157. Zu entscheiden war, ob der Tatbestand des § 278 StGB
– Ausstellen eines unrichtigen Gesundheitszeugnisses „zum Gebrauch bei einer Be-
hörde“ durch einen Arzt – auch dann erfüllt ist, wenn der Arzt bei der Behörde
angestellt ist, bei der das (innerdienstliche) Zeugnis vorgelegt werden soll. Der
BGH läßt es dahinstehen, ob dem § 278 „nach den damaligen Lebensverhältnissen“
die Vorstellung zugrunde lag, das Zeugnis werde zur Vorlage bei einer anderen Be-
hörde benötigt (S. 159). Auf diesen „Normalfall“ sei der Anwendungsbereich nicht
beschränkt:
„Kein Gesetz verträgt eine starre Begrenzung seiner Anwendbarkeit auf solche
Fälle, die der vom Gesetzgeber ins Auge gefaßten Ausgangslage entsprechen; denn
es ist nicht toter Buchstabe, sondern lebendig sich entwickelnder Geist, der mit den
Lebensverhältnissen fortschreiten und ihnen sinnvoll angepaßt weitergelten will, so-
lange dies nicht die Form sprengt, in die er gegossen ist (RGSt 12, 371 f; BGHSt
1, 1).“ (BGHSt 10, 157 [159 f.])239
Die grundsätzlichen, übertrieben metaphorischen240 Ausführungen waren
durch den Fall nicht veranlaßt. Der „Normalfall“ mag dem Gesetzgeber als
Grundlage für die Gesetzesfassung vor Augen gelegen haben, doch gleichwohl
kann auch die Einbeziehung eines eher am Rand liegenden Sachverhalts dem
Willen des historischen Gesetzgebers entsprechen. Für eine gegenteilige Wer-
tung, etwa durch konkrete Äußerungen im Gesetzgebungsverfahren, ist jeden-
falls nichts ersichtlich.241 Dem zugrundeliegenden „Normalfall“ können auch
keine generellen Kriterien entnommen werden, die der Erfassung der vorliegen-
den Konstellation entgegenstünden.242 Die Entscheidung kann sonach trotz ihrer
terminologischen Einkleidung nicht als Prototyp der „objektiven“ Auslegungs-
theorie herhalten. Auch in folgendem Beispiel versetzt der BGH der subjektiv-
historischen Auslegung ohne Not einen Schlag:
Fall 150 (BGHSt 13, 5 = oben Fall 31): Fraglich war, ob außer quellfähigen Mit-
teln auch Phosphate, die bei Gesetzesabfassung noch nicht erprobt waren, als verbo-
tene Bindemittel im Sinn der Wurstwarenverordnung anzusehen sind. Der Wortlaut
239 Das in BGHSt 10, 157 verfolgte Anliegen wird durch BVerfGE 105, 135 (158)
aufgezählten Beispiele für eine mechanische Einwirkung bzw. für die Beweglichkeit
der Angriffsmittel sprechen, und deshalb zumindest diskutiert werden müßte, ob damit
eine Ausschlußwirkung verbunden sein könnte. In BGHSt 10, 157 gibt es dafür zu
wenige Anhaltspunkte.
286 IV. Entstehungsgeschichte
(siehe bei Fall 31) schloß die Erfassung der Phosphate zumindest nicht aus. Der
Senat sieht in der Entstehungsgeschichte eher eine Stütze für eine weite Auslegung,
denn laut Entwurfsbegründung seien unter Bindemitteln für Wurstwaren Bindemittel
im weitesten Sinne zu verstehen (S. 8). Daß im Anschluß daran ausschließlich quell-
fähige Mittel, nicht aber Phosphate aufgezählt werden, sei unerheblich, da es sich
dabei nur um Beispiele handele. Unerheblich sei auch, daß Phosphate noch nicht
diskutiert wurden, denn diese seien bei Erlaß der Verordnung noch nicht als Binde-
mittel erprobt gewesen. Bevor der Senat zur systematischen und teleologischen Aus-
legung übergeht, würdigt er unvermittelt die historische Auslegung herab, obwohl
sie seine Auffassung doch angeblich eher stützt: „Maßgebend für die Auslegung
einer gesetzlichen Vorschrift ist jedoch nicht, wie ihre Urheber oder Verfasser sie
verstanden wissen wollten sondern ihr wirklicher Sinngehalt, wie er sich für den
unbefangenen Betrachter aus dem Wortlaut des Gesetzes und dessen Sachzusam-
menhang ergibt (BVerfGE 1, 299).“
Offenbar ist der Senat sich doch nicht ganz sicher, für welche Position die
Entstehungsgeschichte spricht, weshalb er auf methodologischer Ebene Vorsorge
gegen möglich Einwände trifft. Angesichts der überzeugend vorgeführten histo-
rischen Auslegung, die trotz der genannten Beispiele die Ansicht des Senats
zuließ, schwächt dieses zweigleisige Vorgehen die eigene Argumentation.
In einem merkwürdigen Kontrast zu BGHSt 1, 1 und BGHSt 13, 5 steht die
Entscheidung BGHSt 41, 219, die bereits (Fall 59) eingehend analysiert und
dabei vor allem wegen ihrer Auffassung zum Grenzkriterium des Analogiever-
bots kritisiert wurde.243 Auch die fragwürdige subjektiv-historische Auslegung,
die ohne Notwendigkeit an einem historischen Sprachverständnis festhält und
damit den Willen des Gesetzgebers eher in seiner Wirkung begrenzt, wurde be-
reits erörtert. Die insofern entscheidende Begründungsschwäche sei nochmals
kurz benannt:
Fall 151 (BGHSt 41, 219 = oben Fall 59): Der BGH lehnt es ab, unter einem
„Magazin“ i. S. des § 308 I StGB a. F. (Brandstiftung) auch einen mit Lecithin ge-
füllten und mehrere Tonnen fassenden Tankbehälter zu subsumieren. Es stehe fest,
„daß der Gesetzgeber seinerzeit nicht an Brandobjekte wie Tankbehälter für chemi-
sche Produkte gedacht hat. Der – abschließende . . . – Katalog von Angriffsobjekten
in § 308 Abs. 1 StGB entstammt einer längst überholten Wirtschaftsordnung . . . Ab-
hilfe kann insoweit nur der Gesetzgeber schaffen“ (S. 221).
An das – nicht näher nachgewiesene – Verständnis des historischen Gesetzge-
bers sieht der BGH den Interpreten sogar unter dem Aspekt des Analogiever-
bots gebunden, obwohl der Wortlaut durchaus eine weite Auslegung zuließ, wie
der BGH selbst illustriert. Den methodischen Problemen wird die Entscheidung
aber vor allem deshalb nicht gerecht, weil sie es ohne Hinterfragen genügen
läßt, daß der historische Gesetzgeber an die jetzt vorliegende Konstellation
noch nicht „gedacht“ hat. Damit ist zum einen der „Wille des Gesetzgebers“
243 Zu den Verwechslungen, denen der BGH hier erlegen ist, vgl. nochmals Otto, JK
jedoch nur oberflächlich ermittelt,244 und zum anderen fehlt eine Auseinander-
setzung mit den methodologisch so klar abweichenden Äußerungen in BGHSt
1, 1 und BGHSt 13, 5. Es ist kein Grund ersichtlich, warum ein Senat sich
zwar mit jedem noch so fernliegendem Präjudiz im dogmatischen Bereich,
nicht aber mit abweichenden und grundlegenden Entscheidungen auf dem Ge-
biet der Methodik beschäftigt. Jedenfalls ist eine subjektiv-historische Ausle-
gung keineswegs so eng begrenzt, wie BGHSt 41, 219 Glauben machen will.
Die Entscheidung verdient allenfalls unter psychologischen Gesichtspunkten
Beifall, nämlich als Anstoß des Gesetzgebers zu einer überfälligen Reform des
Brandstrafrechts.245
Eher überzeugend werden die Vorstellungen des Gesetzgebers dagegen in
BGHSt 39, 36 (oben Fall 17) genutzt, indem sie neben anderen Faktoren zur
Tatbestandsreduktion der §§ 239a, 239b StGB herangezogen werden. Daß die
Entscheidung sich im Bereich der Rechtsfortbildung bewegt, spielt für vorlie-
genden Zusammenhang keine Rolle:
Fall 152 (BGHSt 39, 36; vgl. auch BGHSt 39, 330): Der Gesetzgeber erweiterte
1989 die Tatbestände der §§ 239a, 239b StGB (Räuberische Erpressung und Geisel-
nahme) dahingehend, daß nunmehr auch „Zwei-Personen-Verhältnisse“ erfaßt wur-
den, d.h. die Einbeziehung einer dritten Person, die in Sorge um das Opfer zu be-
stimmten Verhaltensweisen genötigt werden soll, nicht mehr Voraussetzung der Tat-
bestandsverwirklichung war. Ausweislich der Materialien stufte der Gesetzgeber
dabei beide Delikte als „typische Erscheinungsformen terroristischer Gewaltkrimina-
lität“ ein, die nicht auf Dreiecks-Verhältnisse begrenzt sei (vgl. a. a. O., S. 39 mit
Nachweisen). Auch die genannten Beispiele – Entführung eines Politikers, Fabrikan-
ten oder Diplomaten, um diesen zu Handlungen zu nötigen – bestätigen diese Ziel-
setzung.246 Allerdings hat der Gesetzgeber nach Ansicht des BGH den Wortlaut so
weit gezogen, daß auch klassische Delikte wie Vergewaltigung oder räuberische Er-
pressung von den neugestalteten und mit einer höheren Mindeststrafe versehenen
Tatbeständen erfaßt werden. Da der Gesetzgeber diese systematischen Friktionen
nicht gesehen oder diskutiert und sich fast ausschließlich auf die Bekämpfung poli-
tisch motivierter Gewaltkriminalität konzentriert habe (S. 39 ff.), nimmt der BGH
eine mustergültige Reduktion vor, die sowohl auf die Entstehungsgeschichte als
auch auf objektiv-systematische Gründe (Verhältnis zu anderen Vorschriften) ge-
stützt ist. Dabei gewinnt er aus den im Gesetzgebungsverfahren genannten Fällen
und Zielen das einschränkende Kriterium der „Außenwirkung“.247
244 Um der Sache zumindest näher zu kommen, könnten wieder die bei BGHSt 1, 1
freilich verworfen: Das Kriterium der „Außenwirkung“ sei zu unbestimmt und stelle
doch wieder die gerade beseitigte Dreiecksstruktur her (S. 358). Die in BGHSt 39, 36
288 IV. Entstehungsgeschichte
Sowohl die sich aus den Gesetzesmaterialien ergebende Zielsetzung als auch
die dort genannten Anwendungsfälle sprachen zumindest für eine enge Ausle-
gung oder sogar, da den Gesetzesverfassern die Auswirkungen auf die übrigen
Delikte des StGB offensichtlich entgangen sind, für das Vorliegen einer (ver-
deckten) Gesetzeslücke. Zwar wurde bereits mehrfach gesagt, daß aus der
Nichterörterung von Fällen nicht folgt, diese Fälle seien vom Gesetz (und vom
Willen des Gesetzgebers) nicht erfaßt; aber wenn die genannten Beispiele eine
Gemeinsamkeit aufweisen und damit eine Generalisierung zulassen, die mit
weiteren Indizien (hier dem allgemeinen Ziel der Bekämpfung terroristischer
Gewaltkriminalität) übereinstimmt, spricht das für einen „engen“ Willen des
Gesetzgebers, daneben keine weiteren Sachverhalte zu erfassen, zumal nicht
„Normalfälle“ der Vergewaltigung oder räuberischen Erpressung.
Durchaus überzeugend argumentiert der BGH auch in folgender Entschei-
dung:
Fall 153 (BGHSt 39, 249 – „Autofalle“): Verübt auch derjenige einen räuberischen
Angriff auf den Führer eines Kraftfahrzeugs (§ 316a StGB), der einen Mofa-Fahrer
überfällt? Der BGH sieht keinen Anlaß, von der Legaldefinition des § 248b IV
StGB („Fahrzeuge, die durch Maschinenkraft bewegt werden“) abzuweichen und
den Anwendungsbereich auf Angriffe auf Autofahrer zu verengen. § 316a wurde
1952 eingeführt, nachdem der Kontrollrat das 1938 erlassene und die Todesstrafe
androhende „Gesetz gegen Straßenraub mittels Autofallen“ aufgehoben hatte. Ob-
wohl in den Gesetzesmaterialien zu § 316a auch von „Autofallen“ die Rede war,
beschränkt der BGH die Reichweite der Norm nicht auf diesen Fall,248 da ausweis-
lich der Protokolle „jeder Kraftfahrer“ und „der Straßenverkehr im allgemeinen“ ge-
schützt werden sollte (S. 250). – In Anbetracht des sonst im Gesetz (§ 248b) übli-
chen Sprachgebrauchs müßten in der Tat starke Anhaltspunkte für ein enges Be-
griffsverständnis der Gesetzesverfasser vorliegen. Gerade weil die Vorläufernorm
explizit gegen „Autofallen“ gerichtet war, ist nicht ersichtlich, weshalb § 316a –
falls ein so enger Anwendungsbereich beabsichtigt war – nicht ebenfalls eine ent-
sprechende Einschränkung enthält. Daß die Autofalle dem Gesetzgebungsverfahren
womöglich als Beispiel zugrunde lag, bringt ohne weitere Indizien keine Ausschluß-
wirkung für andere Konstellationen mit sich.249
bestandsmerkmal weit auslegt“ (so aber Große, NStZ 1993, 525 [527]), denn der Senat
versteht den Begriff im üblichen Sinn.
249 Nach Ansicht von Große (NStZ 1993, 525 [527]) dürfe § 316a StGB, „dessen
Gesetzes von 1938 am Leben hält! Bedenklich an § 316a StGB war bis zur Einfügung
des minder schweren Falls im Jahr 1998 (§ 316a II StGB) indes vor allem der hohe
Strafrahmen („nicht unter fünf Jahren“), der in Einzelfällen zu Härten führte. Das
Bemühen um politische Korrektheit kann nicht verdecken, daß räuberische Angriffe
auf Kraftfahrer (einschließlich Mofa-Fahrer) besonders verwerflich sind und harte Stra-
fen verdienen. Daß der Nationalsozialismus daraus die von ihm zu erwartenden Folge-
rungen zog (Todesstrafe, unbestimmte Gesetzesfassung) und in der ihm eigenen Spra-
che vertrat („asoziale Parasiten“, vgl. Große, S. 526), ist eine ganz andere Frage, die
mit der Auslegung des § 316a StGB nichts zu tun hat.
250 Siehe Heck, Gesetzesauslegung, S. 178. Der Begriff der „Lücke“ soll hier jedoch
gehen sein wird. Als Ausgangspunkt kann wiederum die Entscheidung des RG
zum Begriff der „Eisenbahn“ dienen (RGSt 12, 371): Der Fortschritt der Tech-
nik im Bereich der Antriebstechnik bei Eisenbahnen schließt es, obwohl der
Gesetzgeber noch von dampfgetriebenen Bahnen ausging, nicht aus, auch die
neuen Erscheinungsformen zu erfassen. Dagegen sprachen weder der Wortlaut
noch der gesetzgeberische Wille, der auf beide Fälle gleichermaßen zutrifft.
Selbst wenn die Gesetzesverfasser in den Materialien ausdrücklich eine Eisen-
bahn als dampfgetriebenes, schienengebundenes Fahrzeug definiert hätten,
würde sich daraus nur Abweichendes ergeben, wenn damit zweifelsfrei eine
Ausschlußwirkung beabsichtigt gewesen wäre.252 Mangels „Anschauung“ der
damaligen Gesetzesverfasser ist das aber unwahrscheinlich. Diese Erwägungen
zeigen, daß der Wille des Gesetzgebers nicht psychologisch (empirisch), son-
dern normativ (hypothetisch) zu ermitteln ist; doch auch wenn damit eine Zu-
schreibung erfolgt, weil ein tatsächlicher Wille zur anliegenden Problemstellung
notwendigerweise nicht ermittelt werden kann, dient dieses Verfahren dazu, die
ursprüngliche Wertung des Gesetzgebers aufrechtzuerhalten, nicht aber dazu, sie
abzuwandeln. Deshalb widerspricht diese Vorgehensweise nicht einer subjekti-
ven Auslegungstheorie,253 mögen auch die Gerichte diese Konstellationen gele-
gentlich in übertrieben objektivistischen Formulierungen („lebendig sich entwik-
kelnder Geist“) charakterisieren.
Fast wie RGSt 12, 371 liegt die Entscheidung des BGH zum Forstdiebstahl
(BGHSt 10, 375 = oben Fall 57), jedoch mit dem maßgeblichen Unterschied,
daß der Wortlaut der Anpassung an den technischen Fortschritt zwingend entge-
genstand.254 Ansonsten hätte es dem Willen des Gesetzgebers sicher entspro-
chen, auch die neue Konstellation (Kraftfahrzeug statt Fuhrwerk) zu erfassen.
Jedoch hat er einen zu engen, „undurchlässigen“ Ausdruck gewählt, der die ge-
setzgeberische Intention in ein zu enges Korsett preßt und damit in der Tat
„mumifiziert“.255 Eine Rechtsfortbildung könnte hier nicht helfen, da sie sich
zulasten des Täters auswirken würde (Art. 103 II GG). Hätte der Gesetzgeber
„Fahrzeug“ statt „bespanntes Fuhrwerk“ formuliert, so könnte ungeachtet des-
sen, daß der historische Gesetzgeber naturgemäß nicht an Kraftfahrzeuge den-
252 Man denke wieder an die berühmte, 223silbige Definition der „Eisenbahn“
durch RGZ 1, 247 (252), vgl. oben Kap. III, Fn. 338.
253 Kramer (Methodenlehre, S. 100 f. [Fn. 301]) ist zuzugeben, daß mit der Norma-
tivierung des gesetzgeberischen Willens wie auch bei der „objektiven“ Theorie die Ge-
fahr der Verschleierung besteht, aber hier gilt es, einen Weg zwischen Skylla (Mumi-
fizierung) und Charybdis („objektive“ Theorie) zu finden.
254 Siehe auch das von Liver (Der Wille des Gesetzes, S. 21) geschilderte Beispiel:
Wegen Holzmangels wurde eine Vorschrift erlassen, die bei der Erstellung von Zäunen
die Verwendung von Steinen vorschrieb (statt die Verwendung von Holz zu verbieten).
Wie stand es jedoch mit Eisen, das bei Erlaß der Vorschrift offenbar nicht zur Verfü-
gung stand, jedenfalls aber nicht bedacht wurde?
255 Zum Phänomen der „Porosität“ siehe bereits oben III 7 d.
5. Wandel der Verhältnisse/Wandel der Normsituation 291
ken konnte, die Subsumtion ohne weiteres und im Einklang mit der gesetzgebe-
rischen Wertentscheidung erfolgen.
Größere Schwierigkeiten bereitet erneut BGHSt 1, 1 (Salzsäure als „Waffe“?).
Der umgangssprachliche Ausdruck „Waffe“ ist sicher ein sehr weiter Begriff, der
viel Raum läßt, um neuen Entwicklungen Rechnung zu tragen, so daß die Wort-
lautgrenze nicht im Weg steht.256 Im übrigen ist aber zu unterscheiden:
(1) Haben die Gesetzesverfasser „mechanisch“ als Gegenbegriff zu „chemisch“
verstanden, woran freilich Zweifel bestehen (vgl. oben Fall 148), darf eine
subjektive Auslegung davon nicht abweichen. Sollten die tatsächlichen
Umstände sich durch eine um sich greifende Verwendung chemischer An-
griffsmittel geändert haben, mag die ursprüngliche Wertentscheidung des
Gesetzgebers ihre Grundlage, aber nicht ihre Geltung verloren haben. Die
Rechtsprechung ist durch eine solche quantitative „Verschiebung“ der Wirk-
lichkeit nicht zur Vornahme eines Sprachwandels (Definition „Waffe“) legi-
timiert.257
(2) Konnten die Gesetzesverfasser die Umstände noch nicht berücksichtigen, ist
ein am Wandel der Verhältnisse orientierter Sprachwandel möglich. Damit
wird die ursprüngliche Wertentscheidung nicht verkehrt, sondern verlängert!
Bestehen bei hypothetischer Betrachtung jedoch Zweifel, ob die ursprüngli-
che Entscheidung die neue Situation überhaupt erfaßt, der Gesetzgeber dafür
also die gleiche Lösung gewählt hätte, muß die Anpassung dem Gesetzgeber
selbst überlassen bleiben.
(3) Der BGH deutet einen weiteren Grund an, weshalb die Veränderung der
Wirklichkeit hier berücksichtigt werden dürfe: Das enge Begriffsverständnis
(mechanische Einwirkung) sei auf den damals in Technik und Allgemeinheit
herrschenden Sprachgebrauch und damit auf Auffassungen zurückzuführen,
„die dem Wandel der Zeiten unterworfen sind“ (S. 2). Die in den Gesetzes-
materialien enthaltenen Erläuterung wäre demnach nur eine Zusammenfas-
sung der damals insoweit herrschenden Vorstellungen, ohne daß damit eine
Anpassung an eine Weiterentwicklung von Technik und Umgangssprache
ausgeschlossen sein würde.
Bei letzterer Betrachtung lägen die Probleme nicht im Grundlagenstreit zwi-
schen objektiver und subjektiver Auslegung, sondern in einer Deutung der Mo-
tive selbst. Denn schon daraus könnte sich ergeben, daß der Gesetzgeber eine
258 G. und D. Reinicke, NJW 1951, 681 [683]: Die Abweichung von den Vorstellun-
geblich sind, bleibt in BGHSt 24, 136 insgesamt allerdings wenig durchsichtig; näher
oben bei Fall 50.
260 Zur Diskussion dieser Problematik nach Einführung des BGB siehe Honsell,
Historische Argumente, S. 77 m. w. N.
261 Von Arnauld (Rechtstheorie 2001, 465 [484 ff.]) sieht drei Fallgruppen, in denen
bereits die Ausgestaltung der Norm für einen auf Dynamisierung gerichteten gesetzge-
berischen Willen spreche: Die ausdrückliche Anordnung (z. B. der Verweis auf den
„Stand der Technik“), Generalklauseln und die Verwendung von Gattungsbegriffen,
wozu etwa auch die „Waffe“ zähle (S. 487 f.).
5. Wandel der Verhältnisse/Wandel der Normsituation 293
nach Ansicht des BGH ein „notwendig dezisionistischer“ Vorgang (S. 11) –
sicher gewesen.262
Eine Anpassung des Normverständnisses an veränderte Lebensverhältnisse
hält grundsätzlich auch BGHSt 28, 224 für möglich und nötig. Das Merkmal
„frische Tat“ (§ 252 StGB) bedingt nach Auffassung des BGH einen engen zeit-
lichen und räumlichen Zusammenhang (S. 229); dieses Ergebnis stimme mit der
Entstehungsgeschichte überein, die der BGH recht knapp darstellt (S. 230). Und
weiter führt der Senat aus:
„Es sind seither keine tatsächlichen Veränderungen in den Lebensverhältnissen ein-
getreten, die es bedenklich erscheinen ließen, der historischen Auslegungsmethode
gerade in Bezug auf die hier in Rede stehende Frage erhebliches Gewicht beizumes-
sen.“ (BGHSt 28, 224 [230])
Doch wie so oft, wenn der BGH in Methodenfragen zu generalisierenden
Aussagen greift, bleiben Zweifel. (1) War die allgemeine Aussage in Anbe-
tracht der Tatsache, daß eine normrelevante Veränderung der Lebensumstände
in vorliegender Frage eher fern lag und der BGH die Entstehungsgeschichte
ohnehin nur bestätigend heranzieht, überhaupt veranlaßt? (2) Steht jede histori-
sche Gesetzesauslegung unter dem vom BGH genannten Junktim, muß also
stets eine Änderung der Lebensverhältnisse in Betracht gezogen werden? Oder
spricht nicht eine Vermutung dafür, daß die historische Wertentscheidung unver-
ändert gültig ist?
Als schwierigste Fallgestaltung in der amtlichen Sammlung zur vorliegenden
Problematik wird man die sogenannte Entmaterialisierung des Gewaltbegriffs
sehen müssen, die oben bereits unter dem Gesichtspunkt des Analogieverbots
(oben III 7 e) angerissen wurde. In BGHSt 1, 145 (oben Fall 65 – „Betäubungs-
mittel“) und BGHSt 8, 102 (oben Fall 66 – „Generalstreik“) hat der BGH einen
weiten Gewaltbegriff u. a. auf eine lebensnahe, gegenwartsbezogene Betrachtung
gestützt und betont, daß „im allgemeinen Leben die Betätigung reiner Körper-
kraft . . . immer mehr zurückgetreten ist“ (BGHSt 1, 145 [147]). Im vorliegenden
Kontext interessiert allein, ob diese Erweiterung des Gewaltbegriffs dem Willen
des historischen Gesetzgebers entspricht bzw. ob Änderungen der Wirklichkeit
eingetreten sind, die auf die Definition der „Gewalt“ ausstrahlen. Die Senate
analysieren die Vorstellungen des historischen Gesetzgebers nicht,263 aber unter-
stellt man den naheliegenden Fall, die Gesetzesverfasser seien von einem engen
(körperlichen) Gewaltbegriff ausgegangen, dann sind folgende Konstellationen
zu bedenken, die teilweise schon aus BGHSt 1, 1 bekannt sind:
262 Der Fall paßt freilich deshalb nicht genau in den vorliegenden Zusammenhang,
kraft erfolgt: „Das geltende deutsche Recht versteht, dem gewöhnlichen Sprachgebrau-
che folgend, in seiner geschichtlichen Entwickelung von den ältesten Bestimmungen
an bis zur Gegenwart unter Gewalt ausschließlich die durch Anwendung körperlicher
Kraft erfolgte Beseitigung eines tatsächlich geleisteten oder bestimmt erwarteten und
deshalb von vornherein durch Körperkraft zu unterdrückenden Widerstandes.“
267 Das wird nicht in Betracht gezogen von Heinemann/Posser, NJW 1959, 121
(122): Nichts spreche dafür, daß der Gesetzgeber einen anderen als den seit eh und je
geltenden physischen Gewaltbegriff zugrunde gelegt hat.
268 Daß die Phänomene „Porosität“ und „Bedeutungswandel“ im Einzelfall eng bei-
die daran zweifeln lassen, daß die gesetzgeberische Zielsetzung beide Fall-
gruppen (die alte wie die neue) erfaßt.
(3) Die Gesetzesverfasser haben am damaligen fachsprachlichen Verständnis
angeknüpft. Auch hier gilt jedoch nichts Abweichendes: Es wird darauf
ankommen, ob die juristische Begriffsbildung bewußt die subtilen Gewalt-
formen berücksichtigt hat bzw. überhaupt berücksichtigen konnte. Hat die
Fachsprache die erhebliche körperliche Kraftentfaltung als unabdingbares
Merkmal verstanden und der Gesetzgeber dies übernommen, kann das eine
subjektiv-historische Auslegung kaum ignorieren. Generell dürfte beim juri-
stischen Sprachgebrauch aufgrund schärferer Formung des Begriffsinhalts
eine noch stärkere Vermutung dafür sprechen, das historische Verständnis
für maßgeblich zu erklären. Eine „Dynamisierung“ ist jedoch auch bei Maß-
geblichkeit der Fachsprache nicht gänzlich ausgeschlossen.
(4) Die subtileren Erscheinungsformen der Gewalt existierten bereits bei Abfas-
sung des Gesetzes, wurden aber weder vom Gesetzgeber noch sonst als
„Gewalt“ aufgefaßt. Im Lauf der Zeit hat jedoch ein Wertewandel stattge-
funden, der zu einer Gleichbehandlung von physischer und psychischer Mit-
tel drängt. Einen solchen gesellschaftlichen Wertewandel darf die Rechtspre-
chung jedoch nicht nachvollziehen, denn welche Angriffsformen strafwürdig
sind, muß der Gesetzgeber, nicht aber die Gesellschaft beurteilen (näher un-
ten IV 5 d).
Zur Verdeutlichung kann auf eine Entscheidung des schweizerischen Bundes-
gerichts hingewiesen werden, welche die historische Wertentscheidung über
Bord wirft und deshalb auch mit einer „großzügig“ verstandenen subjektiv-
historischen Auslegung nicht mehr zu vereinbaren ist. Die rechtliche Situation
ist ohne weiteres auf das deutsche Recht übertragbar:
Fall 154 (BGE 87 IV, 115 – Unterschlagung von Bankguthaben?): Der Gesetzgeber
verstand unter dem Begriff der „Sache“ im Unterschlagungstatbestand nur körperli-
che Gegenstände und vor BGE 87 IV, 115 sah das auch die Praxis so.269 Aufgrund
veränderter wirtschaftlicher Verhältnisse, insbesondere im Bereich des bargeldlosen
Zahlungsverkehrs, meint das schweizerische Bundesgericht, auch Rechte und Forde-
rungen einbeziehen zu müssen (S. 118 f.).270 – Für einen solch weitreichende Be-
deutungswandel und Eingriff in das System der Vermögensdelikte fehlt es an einer
Rechtfertigung. Es spricht alles dafür, daß der historische Gesetzgeber von einem
engen Verständnis des Begriffs ausgegangen ist und Forderungen sowie Rechte be-
wußt aus dem Anwendungsbereich ausschließen wollte. Die wirtschaftliche Fortent-
wicklung des bargeldlosen Zahlungsverkehrs mag zu Wertungswidersprüchen führen
und Anlaß bieten, die damalige Entscheidung zu überdenken; aber es ist keineswegs
269 Für das deutsche Strafrecht siehe bereits RGSt 3, 347 (349).
270 Kein Hindernis sieht das Bundesgericht im Gesetzlichkeitsprinzip, welches nur
verbiete, „über den dem Gesetz bei richtiger Auslegung zukommenden Sinn hinauszu-
gehen“ (a. a. O., S. 118).
296 IV. Entstehungsgeschichte
sicher, ob der Gesetzgeber in Kenntnis der neuen Situation tatsächlich die Norm
hätte erweitern wollen. Deshalb spricht eine Vermutung für die Fortgeltung der bis-
herigen Rechtslage.
Der BGH berücksichtigt die Fortentwicklung noch in folgenden Entscheidun-
gen, allerdings eher zur Unterstützung einer Interpretation als konstitutiv zur
Rechtfertigung eines Rechtsprechungswandels. Auch hier tun sich allerdings
Fragen auf:
Fall 155 Der Große Senat mußte in BGHSt 1, 158 (oben Fall 52) entscheiden, ob
ein „umschlossener Raum“ (§ 243 I Nr. 2 StGB a. F. – schwerer Diebstahl) ein um-
grenzter Teil der Erdoberfläche sein muß oder ob auch ein Wohnwagen darunter
fallen kann. Das RG hatte der Entstehungsgeschichte das engere Verständnis ent-
nommen, während der BGH dies nicht als zwingend ansieht (S. 162 f.). Aus den
Motiven ergebe sich zudem, daß der allgemeine Sprachgebrauch maßgebend sein
sollte, und dieser verlange für einen umschlossenen Raum keine Verbindung zum
Erdboden (S. 163 f.). „Diese Auslegung berücksichtigt, daß die wirtschaftliche Ent-
wicklung, die sich seit dem Inkrafttreten des StGB vollzogen hat, den strafrechtli-
chen Schutz abgeschlossener Räume oder Raumabteilungen im Innern von Gebäu-
den, aber auch beweglicher, jedoch gegen Diebstahl verstärkt geschützter Raumge-
bilde sehr viel dringlicher gemacht hat als es etwa im Jahre 1871 oder gar 1851 der
Fall war“ (S. 167).
Fall 156 (BGHSt 8, 151): § 164 VI StGB a. F. sah ein Verfahrenshindernis für die
Verfolgung einer Falschverdächtigung vor, „solange ein infolge der gemachten An-
zeige eingeleitetes Verfahren anhängig ist“. Während das RG für das „eingeleitete
Verfahren“ eine Verfügung der Staatsanwaltschaft verlangte, genügen dem BGH be-
reits Ermittlungen der Polizei, wenn der Vorgang mitsamt Anzeige an die Staats-
anwaltschaft übersandt worden ist (S. 152). „Die Auslegung des Gesetzes darf nicht
an der tatsächlichen Entwicklung vorübergehen, die die Zusammenarbeit zwischen
Staatsanwaltschaft und Polizei in den letzten Jahrzehnten genommen hat“ und die
der Polizei wesentlich mehr Raum für selbständige Maßnahmen gebe als zuvor
(S. 152). – Ob der BGH damit noch im Einklang mit dem Willen des historischen
Gesetzgebers judiziert, ist schwer zu beurteilen. Da die Norm vor Einführung der
StPO geschaffen wurde, bestimmte sich der Zeitpunkt der Einleitung des Verfahrens
nach den jeweiligen landesrechtlichen Gesetzen271, später nach dem Verständnis der
StPO. Wenn sich insofern aufgrund einer veränderten Ermittlungspraxis die Vorstel-
lungen gewandelt haben, verstößt das mangels konkreter und abweichender Vorstel-
lungen des Gesetzgebers nicht gegen dessen Willen, sondern allenfalls gegen die
an den damaligen Verhältnissen orientierte frühere Interpretation der Rechtspre-
chung.272
Fall 157 (BGHSt 14, 233): Wird ein Rechtsmittel „schriftlich“ eingelegt (§ 314
StPO), wenn ein entsprechender Telegramminhalt – ein Telegramm genügt unbe-
stritten – fernmündlich vom Postamt durchgesagt wird?273 Der BGH bejaht das zu-
mindest für den Fall, daß die Durchsage bei Gericht schriftlich vermerkt wird.274
Diese Ansicht trage „nicht nur den Besonderheiten der fortgeschrittenen Technik in
der Nachrichtenübermittlung und den Gepflogenheiten und Bedürfnissen des Ver-
kehrs Rechnung, sondern ist auch im praktischen Ergebnis der Gegenmeinung vor-
zuziehen. . . . Das starre Festhalten am Wortlaut einer Verfahrensvorschrift wäre da-
her sinnwidrig, wenn es dem Rechtssuchenden unnötige Schwierigkeiten bereitet
und das Verfahren erschwert, ohne daß es für die Durchsetzung des Zwecks der
Vorschrift erforderlich ist“ (S. 238). – Vom Standpunkt einer subjektiv-historischen
Interpretation her ist das Vorgehen des BGH fragwürdig. Nicht deshalb, weil der
Gesetzgeber an diese Konstellation nicht gedacht hat (gedacht haben kann), sondern
weil unklar ist, wie er in Anbetracht der technischen Entwicklung die Norm gefaßt
hätte. Die Erfassung des Telegramms ist durch die Porosität des Begriffs „schrift-
lich“275 ohne weiteres gedeckt und steht im Einklang mit der gesetzgeberischen
Wertung. Aber der vorliegende Fall liegt doch entscheidend anders. Zunächst muß
der Wortlaut im Weg der Analogie überwunden werden, was der BGH nur undeut-
lich zugibt (das „starre Festhalten am Wortlaut“ ist sinnwidrig!). Und weiter ist
zweifelhaft, ob eine solche Erweiterung dem (mutmaßlichen) Willen des Gesetzge-
bers, der mit dem einfachen und klaren Schriftformerfordernis Praktikabilitätserwä-
gungen im Einzelfall gerade entgegentreten wollte, wirklich entspricht.
Fall 158 (BGHSt 48, 278 – „Ladengeschäft“): Die Vermietung pornographischer
Schriften ist nicht von § 184 I Nr. 3a StGB erfaßt, wenn sie in einem für Personen
unter 18 Jahren nicht zugänglichen und von diesen nicht einsehbaren Ladengeschäft
erfolgt. In den Materialien ist der Gesetzgeber davon ausgegangen, daß in „Laden-
geschäften“ Personal tätig ist und dieses die Einhaltung des Jugendschutzes über-
wacht. Nicht zuletzt in „Hinblick auf inzwischen technisch mögliche und von Perso-
naleinsatz unabhängige Sicherungsmaßnahmen“, die dem Gesetzeszweck gleicher-
maßen Rechnung tragen können, sieht der Senat keinen Grund, die Anwesenheit
von Personal (weiterhin) als zwingende Voraussetzung eines „Ladengeschäftes“ an-
zusehen (S. 284 f.). – Die Vorstellung der Gesetzesverfasser hat sich an den damali-
gen realen Umständen orientiert; eine Ausschlußwirkung für zukünftige Gestaltun-
gen muß damit nicht verbunden sein.
Aufschlußreich sind noch drei Entscheidungen des BGH, in denen eine Än-
derung des Normverständnisses auf Grundlage veränderter Umstände abgelehnt
wird:
Fall 159 (BGHSt 18, 63 – „Verbreitung“ einer Druckschrift): Wird eine Druck-
schrift auch durch das wörtliche Verlesen ihres Inhalts „verbreitet“ (§ 3 PresseG
a. F.)? Der BGH ist der Meinung, daß eine Druckschrift als verkörperte Gedanken-
äußerung das körperliche Zugänglichmachen verlangt (S. 64). Die moderne techni-
sche Entwicklung, insbesondere der Rundfunk habe dem gesprochenen Wort zwar
„gleiche, wenn nicht sogar wirksamere Möglichkeiten der Massenbeeinflussung ver-
schafft als das Verbreiten von Druckschriften. Das könnte aber allenfalls den Ge-
274 Noch heute ist es h. M., daß die telefonische Einlegung des Rechtsmittels nicht
möglich ist, gleich ob darüber ein Aktenvermerk gefertigt oder eine Niederschrift er-
stellt wird, siehe BGHSt 30, 64 (dort S. 70 zur Abgrenzung gegenüber BGHSt 14,
233) und Meyer-Goßner, StPO, Einl., Rn. 140.
275 Zur Frage, ob für die Schriftlichkeit die Unterschrift nötig ist, vgl. oben Fn. 218.
298 IV. Entstehungsgeschichte
276 Siehe außerdem BGHSt 11, 304 (314) im Hinblick auf den technischen Fort-
schritt bei der Arzneimittelherstellung: Ob die Verordnung deshalb veraltet oder besse-
rungsbedürftig, könne „bei der Auslegung keine Rolle spielen. Allein dem Gesetzge-
ber obliegt die Entscheidung darüber, ob diese Bestimmung beizubehalten ist oder
nicht“.
5. Wandel der Verhältnisse/Wandel der Normsituation 299
c) Zwischenbilanz zu a) und b)
277 Vgl. auch BVerfGE 65, 1 (55 f.); 88, 203 (309 f.): Nachbesserungspflicht des
S. 588: Die Norm sei bei einem Funktionsverlust unanwendbar, auch ohne förmlichen
Aufhebungsakt. Siehe auch die positiv-rechtliche Verankerung des „cessante-Grundsat-
zes“ in § 4 des sächsischen ZGB von 1863: „Sind die Gründe eines Gesetzes wegge-
fallen, so verliert das Gesetz seine Kraft, wenn es ausschließlich auf den weggefalle-
nen Gründen beruhte.“
300 IV. Entstehungsgeschichte
kann die Veränderung der Umstände schon darin bestehen, daß der Ausnahme-
fall in der Realität zur Regel wird. Ist der Ausnahmefall jedoch von vornherein
nicht erfaßt, kann allein eine solche graduelle Verschiebung nicht zu einer ver-
änderten Interpretation führen (vgl. BGHSt 18, 63 – „Druckschrift“). (7) So-
wohl bei einer quantitativen Verschiebung (zwischen Normal- und Ausnahme-
fall) als auch einer qualitativen Veränderung kann sich eine in den Gesetzes-
materialien geäußerte Auffassung (Definition) womöglich unbeabsichtigt als zu
eng erweisen (Eisenbahn = dampfbetrieben; Waffe = mechanisch wirkend; La-
dengeschäft = von Personal geführt); in dieser Situation sollte es Anhaltspunkte
dafür geben, daß die gesetzgeberische Vorstellung in der Tat eine Ausschlußwir-
kung hinsichtlich der neu oder vermehrt auftretenden oder schlicht übersehenen
Fallgruppe zeitigt (vgl. BGHSt 22, 235 – „Hauswand“, BGHSt 13, 5 – „Binde-
mittel“, BGHSt 48, 278 – „Ladengeschäft“ und am schwierigsten BGHSt 1, 1 –
„Salzsäure“). (8) Legt der Gesetzgeber den allgemeinen Sprachgebrauch zu-
grunde, kann eine auf neuen Tatsachen basierende Veränderung des allgemei-
nen Sprachgebrauchs zu einer Veränderung der Intension führen.280 Die even-
tuell in den Gesetzesmaterialien enthaltene Definition gibt in dieser Situation
lediglich den letzten Stand der Dinge wieder, der einer Aktualisierung zugäng-
lich ist (vgl. näher bei BGHSt 1, 1; 24, 136). (9) Bei Zugrundelegung des juri-
stischen Sprachgebrauchs gilt grundsätzlich nichts anderes; auch hier ist eine
„Dynamisierung“ denkbar. Allerdings spricht in diesem Fall die genauere be-
griffliche Durchdringung dafür, daß die Intension bewußt und in Abgrenzung
zu bestimmten Fallgruppen gewählt wurde. Daraus resultiert jedoch keine Re-
gel, wonach bei fachsprachlichen Begriffen stets das historische, bei alltags-
sprachlichen Ausdrücken stets das aktuelle Verständnis maßgeblich sei.
Neben einem Wandel der tatsächlichen Verhältnisse kommt ferner eine Ver-
änderung der rechtlichen Verhältnisse als Grund für eine veränderte Norminter-
pretation in Betracht. Allerdings ist die Situation hier schwieriger. Während ein
Wandel der tatsächlichen Verhältnisse die Frage aufwirft, wie die neue Situation
sich zu den historischen Zielvorstellungen verhält, geht es bei rechtlichen Ver-
änderungen oft darum, widersprüchliche legislative Vorstellungen („Wertungs-
widersprüche“) aus unterschiedlichen Epochen in Einklang zu bringen. Freilich
ist abzuschichten:
(1) Zukünftiges Recht weicht vom gegenwärtigen ab. Diese Situation wird unter
dem Stichwort „Gesetzesentwürfe“ aufgegriffen (unten IV 6 und 7 d) und ist
280 Gerade beim „Sprachwandel“ kann sich allerdings die Frage stellen, ob dieser
auf veränderten Tatsachen oder auf veränderten Wertvorstellungen beruht (vgl. beim
Begriff „Gewalt“).
302 IV. Entstehungsgeschichte
nicht weiter problematisch: Die lex ferenda kann die Auslegung nur beein-
flussen, wenn dies mit dem Willen des historischen Gesetzgebers zu verein-
baren ist.
(2) Es treten echte Normenkonflikte auf, in denen Vorschriften verschiedenen
Ranges oder aus unterschiedlichen Zeiten für den gleichen Sachverhalt kon-
träre Lösungen vorsehen. Hier greifen die bekannten, in Teilbereichen nicht
unstreitigen Derogationsregeln der allgemeinen Rechtslehre (lex posterior,
lex specialis etc.), die hier nicht erörtert werden.281
(3) Es findet ein gesellschaftlicher „Wertewandel“ statt, der noch keinen positi-
ven Ausdruck im Rechtssystem gefunden hat, etwa wenn die Gesellschaft
homosexuelle Handlungen nicht mehr als strafwürdig empfindet, psychische
Angriffe als „Gewalt“ sehen will oder nichteheliche Lebensgemeinschaften
in bestimmten Bereichen der Ehe gleichstellen will. In diesem Sinn geän-
derte Anschauungen sind nur dann zu berücksichtigen, wenn das Gesetz aus-
drücklich auf sie verweist, z. B. durch Generalklauseln (§ 242 BGB) oder
unbestimmte Rechtsbegriffe („gute Sitten“).282 Allerdings bietet die Rechts-
ordnung weitere Einbruchstellen, um solche Entwicklungen zu berücksichti-
gen: So greifen die meisten Straftatbestände erst bei Überschreitung einer
Erheblichkeitsschwelle („minima non curat praetor“), deren Maßstab sich
einem Wandel gesellschaftlicher Einflüsse nicht wird entziehen können.283
Weitere Einfallstore bieten die Vorschriften der StPO zur Verfahrenseinstel-
lung (§§ 153 ff.) sowie der Bereich der Strafzumessung mit seinen großen
Spielräumen. Gerade die Strafbarkeit der homosexuellen Handlungen (§ 175
StGB a. F.) zeigt hier klar: Zwar kann eine veränderte Wertvorstellung keine
begrifflichen Folgen für die Auslegung des Tatbestandes besitzen, aber die
konkrete Strafe für das gleiche Verhalten wird 1950 erheblich von derjeni-
gen abweichen, die kurz vor Abschaffung des § 175 ausgesprochen wurde.
Daß die Norm ihre rechtspolitische Überzeugungskraft verloren hat, wird so
auf einem Umweg auch rechtspraktisch umgesetzt.284 Neben diesen Ein-
bruchstellen ist zu berücksichtigen, daß die Abgrenzung zwischen einem
Wertewandel und einer Änderung tatsächlicher Verhältnisse oft schwer-
fällt.285 So kann die soziologische Ausdehnung der nichtehelichen Lebensge-
im 6. StrRG zum Ausdruck gelangt, z. B. durch eine Verdopplung (!) des Strafrahmens
bei der gefährlichen Körperverletzung.
284 Siehe Scheuerle, ZZP 1971, 241 (253): Die Norm (§ 175 StGB a. F.) habe be-
285 Ebenso Honsell, Historische Argumente, S. 162 f. – Kaum zutreffend ist es,
wenn das OLG Hamm (NJW 2003, 3145) bei der Bestimmung des Wertes einer „ge-
ringwertigen Sache“ i. S. von § 248a StGB die „geänderten Wertvorstellungen in der
Bevölkerung“ berücksichtigen will. Diese veränderten (und irrelevanten) Vorstellungen
sind allein Resultat des objektiv steigenden Wohlstandes, also einer tatsächlichen Ent-
wicklung.
286 Siehe z. B. BGHZ 84, 36 (38).
287 Siehe z. B. Zippelius, DÖV 1986, 805 (808); Vogelsang, in: Das Recht der nicht-
ehelichen Lebensgemeinschaft, S. 72. Für den Begriff der Familie wird das aber schon
wieder anders gesehen, vgl. Zippelius, S. 809 und Vogelsang, S. 72 f. BGHZ 84, 36
(38) läßt offen, ob nach allgemeinem Sprachgebrauch eine nichteheliche Lebensge-
meinschaft noch als „Familie“ im weitesten Sinn angesehen werden kann.
Das AG Frankfurt (MDR 1993, 116) hat die „traditionelle Auslegung“ des Ehebe-
griffs (Mann & Frau) für unvereinbar mit Art. 2 I, 3 III, 6 I GG befunden. Das ist
nicht haltbar, aber auch nicht völlig abwegig, denn die Rechtsordnung hat sich seit
Konstitution des Ehebegriffs vielfältig gewandelt (z. B. Abschaffung des § 175 StGB),
was „mehr“ als nur ein Wandel des Zeitgeists und für die Auslegung von Art. 2 und 3
GG nicht ohne Relevanz ist.
288 Siehe die Zusammenstellung von Schreiber, Die nichteheliche Lebensgemein-
neuen Anschauungen ganz allgemein geteilt werden und so grundlegend sind, daß die
unveränderte Anwendung des Gesetzes für das Rechtsempfinden schlechthin untragbar
wäre“ (S. 194, l. Sp.).
290 Dazu, wie BGHSt GS 2, 194 sich gleichwohl die Legitimation zur Rechtsfortbil-
schied zur Konstellation des Normenwiderspruchs, liegt hier keine Konkurrenz von
gleichermaßen in Betracht kommenden Vorschriften vor.
292 Bydlinski, Methodenlehre, S. 581.
293 Vgl. Bydlinski, Methodenlehre, S. 580.
294 Bydlinski (Methodenlehre, S. 580 f.) befürwortet ein „bewegliches System“, im
296 Siehe dazu unten Fall 345 sowie G. und D. Reinicke, MDR 1957, 193 (194 f.).
297 Mit dieser seltsamen Argumentation dürfte der Wandel auf begrifflicher Ebene
(gegenseitige Masturbation = beischlafähnliche Handlung) nur unzureichend ver-
schleiert sein.
298 Siehe oben bei Fn. 40.
306 IV. Entstehungsgeschichte
wegtäuschen, daß die neue Linie des RG nicht nur einen Rechtsprechungswan-
del, sondern auch die Abkehr vom Willen des historischen Gesetzgebers bedeu-
tet. Die Gesetzesverfasser diskutierten in Anbetracht neuerer medizinischer Er-
kenntnisse die Abschaffung der Norm, hielten es aufgrund von in der Bevölke-
rung herrschenden Vorstellungen jedoch für nötig, an der bereits im preußischen
StGB vorhandenen Strafbestimmung (§ 143) festzuhalten.300 Diese wurde je-
doch eindeutig in einem eingeschränkten, die gegenseitige Onanie nicht erfas-
senden Sinn verstanden.301 Die Abweichung vom überlieferten restriktiven Ver-
ständnis problematisiert der Senat jedoch nicht, und noch deutlicher zeigt der
Umgang mit der eigentlich bestehenden Vorlagepflicht, wie der Senat unter
Rückgriff auf das zukünftige das geltende Recht großzügig beiseite schiebt.
Daß er es für „unannehmbar“ erachtet, für einen kurzen Zeitraum noch die frü-
heren Wertvorstellungen anzuwenden, erscheint als erstaunlich „unjuristische“
Sicht, zumal der nationalsozialistische Gesetzgeber selbst die einschlägigen Fri-
sten bestimmte. Jedenfalls hat das RG sich durch vorliegende Entscheidung als
Vorreiter der Staatserneuerung gezeigt.
RGSt 70, 277 schließt sich zwar der o. g. Entscheidung an, lehnt aber die Ansicht
des LG ab, die Einschränkung der Norm auf „beischlafähnliche Handlung“ für die
bis 1935 geltende Fassung des § 175 StGB ganz fallen zu lassen. Richtig sei, „daß
selbstverständlich jedes ältere Gesetz vom Standpunkte der nationalsozialistischen
Weltanschauung aus verstanden werden muß“ (S. 279). Jedoch könne wegen der Ge-
setzesbindung des Richters nicht unter Strafe gestellt werden, was nach dem Willen
des Gesetzgebers nicht strafbar sein sollte (S. 280). Der Gesetzgeber habe die Mög-
lichkeit gehabt, die seit 1853 gültige Auslegung zu korrigieren, und auch bei einer
Veränderung der „allgemeinen Volksanschauung“ bedürfe es dazu einer Gesetzesän-
derung. – Konsequent ist dieser Mittelweg des RG nicht, denn nach bis RGSt 69,
273 ganz herrschender Rechtsprechung (Nachweise oben) entsprach auch die Erfas-
sung der wechselseitigen Onanie nicht dem „Willen des Gesetzgebers“ und dennoch
sehen sich beide Entscheidungen aufgrund der neuen Anschauungen für berechtigt,
hier eine Anpassung vorzunehmen. Insofern ist es methodologisch nicht begründbar,
weshalb die „nationalsozialistische Weltanschauung“ im vorliegenden Fall durch den
Willen des historischen Gesetzgebers eine Einschränkung erfahren soll, zumal der
Wortlaut Spielraum ließ.
Der BGH hat sich zuerst in BGHSt 1, 47 in den Dienst der allgemeinen
Rechtsentwicklung gestellt:
299 Ähnlich hatte BGHSt 1, 145 (oben Fall 65) seine erweiterte Auslegung des Ge-
waltbegriffs gerechtfertigt.
300 Siehe die in BVerfGE 6, 389 (435) wiedergegebenen Motive und Sontag, unten
Fn. 330.
301 Siehe – mit Ausführungen zur Entstehungsgeschichte – RGR 1, 662 (663); 4,
493; Frank, RStGB, § 175, Anm. 2 (folgt aus „der historischen Tradition“); Oppen-
hoff, Preußisches StGB, § 143, Anm. 1; Olshausen, RStGB, § 175, Anm. 1; BVerfGE
6, 389 (392 f.).
5. Wandel der Verhältnisse/Wandel der Normsituation 307
302 RGSt 6, 336. § 4 JGG 1923 hat dies dann auch gesetzlich bestimmt, jedoch nur
bis 1943: „Die Strafbarkeit des Anstifters und Gehilfen, des Begünstigten und Hehlers
wird durch die Vorschriften der §§ 2, 3 [kindliche und jugendliche Strafunmündigkeit]
nicht berührt.“ Näher und krit. zum Ganzen Hartung, NJW 1949, 324 ff. (insbeson-
dere S. 325, l. Sp.).
303 Es gab allerdings schon zuvor Stimmen in der Literatur, die auf Basis des dama-
ligen Rechts eine Durchsetzung der limitierten Akzessorietät sowohl für die Teilnah-
melehre als auch für §§ 257, 259 StGB (a. F.) für möglich hielten und damit den vom
RG nur halbherzig eingeschlagenen Weg vollendet hätten; vgl. Hartung, NJW 1949,
324 (326 f.) und Bockelmann, NJW 1950, 850 (851). Noch weitergehend, aber fernab
der lex lata der Volksgerichtshof, DR 1942, 721 (Nr. 2), wonach sogar eine nur irrtüm-
lich vorgestellte Haupttat genügen soll: „Der Senat bricht damit bewußt mit der Lehre
von der sog. akzessorischen Natur der Beihilfe.“
308 IV. Entstehungsgeschichte
nahme, die großes Vertrauen in die Praxis zeigen würde.305 Gerade der Gesetzestext
des § 4 JGG 1923 hätte dazu anhalten müssen, nicht nur die Regelungen zur Teil-
nahme, sondern auch die teilnahmeähnlichen Delikte der §§ 257, 259 a. F. in diesem
Sinn zu reformieren.
Der BGH komplettiert zu Unrecht das unvollständige gesetzgeberische Pro-
gramm. Der Gewinn an „Wertungsharmonie“ kann den Verlust an Rechtssicher-
heit, der mit der Änderung des Normverständnisses zulasten des Täters bei un-
verändertem Wortlaut verbunden ist, nicht aufwiegen.306 So stark ist der „große
Rechtsgedanke“ nicht, als daß er den unterschiedlich formulierten Normen den
gleichen Inhalt verschaffen könnte.
Eine weitere bedeutsame Entscheidung aus dem ersten Band der amtlichen
Sammlung gibt ebenfalls unter Hinweis auf die Entwicklung des geltenden
Rechts die frühere Rechtsprechung auf, sieht in dem Rechtsprechungswandel
allerdings keinen Widerspruch zur Entstehungsgeschichte der Norm:
Fall 164 (BGHSt 1, 351; DOG NJW 1950, 652 – „Dritteinziehung“): Das Steuer-
strafrecht sah gegenüber den Tatbeteiligten die Einziehung von zur Tat genutzten
Gegenständen zwingend vor (§ 401 AO a. F.), gegenüber einem nicht an der Tat
beteiligten Dritten („Drittbetroffener“) bestimmte § 414 AO a. F.: „Wo die Strafe
der Einziehung vorgesehen ist, kann auf Einziehung erkannt werden, gleichviel,
wem die Gegenstände gehören . . .“. Trotz des Wortes „kann“ hat das RG in Anleh-
nung an die Auslegung von Einziehungsvorschriften anderer Gesetze auch die Ein-
ziehung beim Dritteigentümer für zwingend erachtet307 und dabei auftretende Här-
ten hingenommen: „Man mag in dieser Regelung eine in ein neuzeitliches Straf-
recht nicht mehr hineinpassende Überspannung der Wahrung der Belange des Fiskus
gegenüber den Belangen des gutgläubigen Eigentümers und den Bedürfnissen des
Verkehrs erblicken;308 der Gesetzgeber glaubte aber hierauf nicht verzichten zu kön-
nen“ (RGSt 62, 49 [52]). Der BGH wendet sich anläßlich eines Falls, in dem ein
gemietetes Auto ohne Wissen des Eigentümers zu einem Zollvergehen benutzt
wurde, von dieser Auffassung, für die weder Wortlaut noch Entstehungsgeschichte
sprächen (BGH, S. 352 f.), ab und verlangt eine Ermessensentscheidung des Ge-
304 Schmidhäuser, in: GedS für Martens, S. 235; Jescheck, GA 1954, 322 (325).
Eine Wortlautüberschreitung kann man dem BGH allerdings nur vorwerfen, soweit er
den Grundsatz der limitierten Akzessorietät vollständig und zulasten des Täters auf
§ 259 (a. F.) überträgt, während es im konkreten Fall um einen strafunmündigen Vor-
täter ging, den das RG ja schon früh als von § 259 erfaßt ansah.
305 Siehe aber Rietzsch, DJ 1943, 309 (311, l. Sp.): „Von dieser Änderung ist im
Vertrauen darauf abgesehen worden, daß die Praxis – mindestens unter Heranziehung
des § 2 StGB [!!] – die richtige Anpassung an § 50 Abs. 1 n. F. finden werde.“
306 So die von Bydlinski (Methodenlehre, S. 581) vorgeschlagenen Kriterien für den
Fall klar zutage liegender Wertungswidersprüche, wozu man die Konstellation von
BGHSt 1, 47 durchaus zählen kann.
307 Die Anlehnung an andere Einziehungsvorschriften stand allerdings aufgrund ab-
richts. Aus Gründen der Gerechtigkeit und Billigkeit bedürfe die Haftung des unbe-
teiligten Eigentümers einer besonderen Rechtfertigung, zumindest eines Fahrlässig-
keitsvorwurfs (S. 353 f.). Damit werde das Steuerstrafrecht in Einklang mit der
Schuldlehre des allgemeinen Strafrechts gebracht (S. 354; ebenso DOG NJW 1950,
652 [653, l. Sp.]: „elementare Forderung neuzeitlichen Rechtsdenkens“). Das Recht
der Einziehung habe sich in anderen haupt- und nebenstrafrechtlichen Vorschriften
gleichfalls in diese Richtung entwickelt (S. 354 f.). „Hinter dieser sich in der objek-
tiven Rechtsordnung widerspiegelnden Verfeinerung des allgemeinen Rechtsempfin-
dens darf die Auslegung des § 414 RAbgO nicht zurückbleiben“ (DOG, S. 653).
Das DOG, dessen Argumentation der BGH weitgehend zugrunde legt, nimmt den
Fall zum Anlaß für eine noch weitergehende Verallgemeinerung:
„Das einzelne Gesetz kann nicht losgelöst von seiner Umwelt, sondern nur als Teil
des gesamten Rechtssystems und der wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kul-
turellen Ordnung betrachtet werden. Es können deshalb auch ältere Rechtsvorschrif-
ten nur in diesem lebendigen Zusammenhang verstanden und ausgelegt werden.
Wenn der Gesetzeswortlaut einer solchen der fortschreitenden Rechtsüberzeugung
folgenden Auslegung nicht eindeutig entgegensteht, sondern noch Raum für rechts-
konstruktive Lösungen [!!] läßt, ist das Festhalten an veralteten, in das neue Recht
nicht mehr hineinpassenden Anschauungen (vgl. RGSt 62, 52) [siehe oben] nicht zu
rechtfertigen. Andernfalls könnte der Einzelne, der in eine einheitliche rechtliche
und kulturelle Ordnung hineingestellt ist, die Rechtsnorm, nach der er sich richten
muß, nicht mehr verstehen. Rechtssicherheit und Rechtsgleichheit wären gefährdet.“
(DOG NJW 1950, 652 [653, l. Sp.])
Die schöne Gerichtssprache kann nicht überdecken, daß der methodische
Standpunkt des DOG zu weit geht. Sicher besteht ein Interesse der Rechtsge-
meinschaft an einer einheitlichen Lösung gleichliegender Problemstellungen,
aber die „fortschreitende Rechtsüberzeugung“ ist ein zu unbestimmtes Krite-
rium, um gesicherte Norminterpretationen über Bord zu werfen. Der konkrete
Fall mag wenig Anlaß zur Kritik bieten, da der Wortlaut sogar eher für die
Neudeutung sprach und der historische Wille des Gesetzgebers dem offenbar
zumindest nicht entgegenstand.309 Aber angenommen, der historische Gesetz-
geber hätte sich gegenteilig geäußert, würden dann die obigen, wenig faßba-
ren Ausführungen wirklich zu einem Abweichen von diesem Willen berechti-
gen?310 Oder ist nicht statt dessen der Gesetzgeber selbst aufgerufen, Rechts-
gleich- und Rechtssicherheit zu schaffen? Der BGH tat vielleicht gut daran,
diese allgemeinen Erwägungen des DOG nicht unreflektiert zu übernehmen.
309 Anders G. und D. Reinicke, MDR 1957, 193 (195), die angesichts gewandelter
Anschauungen, die auch in anderen Gesetzen zum Ausdruck gelangt seien, die Norm-
berichtigung gleichwohl für zulässig halten.
310 Da der historische Wille womöglich gegen Verfassungsrecht (Art. 14 GG) ver-
stößt, könnte man freilich eine verfassungskonforme Auslegung erwägen. Auch diese
dürfte allerdings nicht einen eindeutigen gesetzgeberischen Willen in sein Gegenteil
verkehren (näher unten V 5). Seltsamerweise berufen sich aber weder der BGH noch
das DOG auf das GG. Vgl. zum Einfluß von Art. 14 GG auf das Recht der Einzie-
hung z. B. Zeidler, NJW 1954, 1148 f.
310 IV. Entstehungsgeschichte
311 Die historische Auslegung des Senats (a. a. O., S. 31 f.) ist freilich nicht unpro-
blematisch und zeigt, wie der Gesetzgeber unnötig Schwierigkeiten verursacht: Zu-
nächst galt ab 1941 eine „Kannvorschrift“, die allerdings als „Mußvorschrift“ gedeutet
wurde; ab 1944 galt dann eine Mußvorschrift, bis der Gesetzgeber 1949 wieder zur
„Kann-Fassung“ zurückkehrte, die er in der amtlichen Begründung jedoch wiederum
als zwingende Regelung verstand. Wenn das aber doch so klar ist und Normvorläufer
existieren, warum „schaffen“ es die Gesetzesverfasser dann nicht, ihren Willen klar
zum Ausdruck zu bringen? Zu den Problemen der Wortlautauslegung in BGHSt 2, 29
siehe oben bei Fall 75.
312 Als Ermessensvorschrift wurde § 51 WiStG hingegen vom BayObLG (NJW
laut in Betracht.
5. Wandel der Verhältnisse/Wandel der Normsituation 311
tung zu verschaffen wäre. Der Senat hält es daher für zulässig und geboten, hier den
§ 295 Abs. 2 StGB entsprechend anzuwenden“ (S. 98 f.).
Die apodiktische Kürze der Urteilsbegründung steht in merkwürdigem Kon-
trast zur methodologischen Schwierigkeit des Falls. In BGHSt 1, 351 und DOG
NJW 1950, 652 haben die Richter sich in einer ähnlichen, aber angesichts des
dort offenen Wortlauts einfacheren Lage deutlich mehr Mühe gegeben. Beide
Entscheidungen werden von BGHSt 9, 96 nicht einmal zitiert. Aber nicht nur
das Begründungsdefizit fällt auf, sondern auch inhaltliche Ungereimtheiten: Ge-
nügt der „Stand der Gesetzgebung“ zur Überwindung einer eindeutigen gesetz-
lichen Regelung? Ist die Existenz einer Norm nicht Grund genug für ihre Gel-
tung? (Vgl. oben: „kein Grund ersichtlich“!) Kann eine Einziehungsregelung
eines anderen Abschnitts (Jagdwilderei) einfach auf den Diebstahl übertragen
werden? Wo soll in Anbetracht der klaren Anordnung in § 245 III a. F. eine
Regelungslücke als Voraussetzung einer Analogie liegen? Unter dem Aspekt der
Gesetzesbindung des Richters (Art. 20 III, 97 I GG) hinterläßt die Entscheidung
letztlich deshalb Zweifel, weil die dem „Stand der Gesetzgebung“ entspre-
chende Regelung des § 295 II a. F. erst zwei Jahre nach Einführung des § 245a
III a. F. eingeführt wurde, was der Gesetzgeber ohne weiteres zur Anpassung des
§ 245a III a. F. zum Anlaß hätte nehmen können.315 Wenn aber der Gesetzgeber
seine eigenen Standards trotz bester Gelegenheit nicht selbst durchsetzt, soll
dann der Richter dazu berechtigt sein? Dogmatisch wie methodisch zutreffend
und einfach wäre folgende Lösung gewesen, die jedoch eine Reaktion des Ge-
setzgebers erforderlich gemacht hätte: (1) Die zwingende Anordnung der Ein-
ziehung ohne Rücksicht auf die Umstände des Einzelfalls verstößt gegen das
Schuldprinzip oder Art. 14 GG. (2) Die Norm ist mithin nichtig bzw. teilnich-
tig, soweit sie den Tatunbeteiligten betrifft.316 (3) Eine verfassungskonforme
Auslegung (Reduktion317) kommt nicht in Frage, da sie dem eindeutigen Wort-
laut widerspräche (näher unten V 5). (4) Ist die Norm nichtig bzw. teilnichtig,
kommt keine „entsprechende“ Heranziehung einer anderen Einziehungsregelung
in Betracht (Art. 103 II GG)! – Insgesamt ist die Durchsetzung der neuen
Rechtsentwicklung in BGHSt 9, 96 methodologisch nicht haltbar. Gleiches gilt
für eine weitere Entscheidung zum Recht der Einziehung:
Fall 166 (BGHSt 18, 279 – „Umdeutung im Wege der Auslegung“): § 401 AO
i. d. F. von 1939 sah zwingend die Einziehung vor, während die Neufassung (§ 414
AO i. d. F. von 1961) sowie die Einziehungsregelungen des E 1962 Ermessensrege-
lungen vorsahen. Der Senat hält die alte Norm zwar nicht für verfassungswidrig,
sieht aber die Möglichkeit, auch § 401 AO a. F. als Ermessensvorschrift zu deuten.
318 Gemeint sind u. a. die Neuregelung der AO, weitere nebenstrafrechtliche Bestim-
320 Nachweise beim Großen Senat, S. 10 und bei K. Schäfer, in: LR-StPO21, vor
§ 430, Anm. 7 A b.
321 K. Schäfer (wie Fn. 320) folgert aus den Entwürfen, daß der Ausschluß des Ein-
324 Allein mit diesem Argument hat das OLG Frankfurt (NJW 1966, 1527) das glei-
che Ergebnis wie der BGH erreicht, ohne die neue Rechtsentwicklung zu erörtern.
325 Werner, in: LK-StGB8, § 361, Anm. VI 8; OLG Dresden JW 1934, 501 f.
5. Wandel der Verhältnisse/Wandel der Normsituation 315
drücklichen Erwähnung abhängig macht, dann schlägt das unmittelbar auf die –
dann: verfassungskonforme – Auslegung des § 361 Nr. 6c StGB (a. F.) durch.
Dagegen ist das künftige Recht ein schwaches Argument, denn eine dort enthal-
tene Abweichung spricht eher für einen Umkehrschluß bezüglich der Reich-
weite des geltenden Rechts. Zirkulär ist die Folgerung des BGH aus der gegen-
wärtigen „Haltung“ der Rechtsordnung zur Prostitution:326 Die nur ausnahms-
weise Verfolgung kommt bereits im objektiven Tatbestand zum Ausdruck; aus
dieser Einschränkung kann nicht auf eine zusätzliche im Bereich der Schuld
geschlossen werden.
In einer weiteren Entscheidung zieht der BGH die „neuere Rechtsentwick-
lung“ unterstützend heran, um eine als unbefriedigend empfundene Rechtspre-
chung des Reichsgerichts zu korrigieren:
Fall 169 (BGHSt 11, 324 – Rücktritt vom untauglichen Versuch): Der Versuch blieb
gemäß § 46 Nr. 2 StGB a. F. straflos, „wenn der Täter . . . den Eintritt des zur Voll-
endung des Verbrechens . . . gehörigen Erfolges durch eigene Tätigkeit abgewendet
hat“. Konnte auch der Täter eines untauglichen Versuchs – z. B. Totschlagsversuch
mit unzureichender Giftmenge – von dieser Vorschrift profitieren? Das RG hat dies
verneint: Der Wortlaut verlange eine Erfolgsabwendung durch den Täter selbst, und
das sei beim von vornherein unzulänglichen Versuch nicht möglich; die daraus fol-
genden Härten könne nur der Gesetzgeber beseitigen (RGSt 68, 306 [309]). Nach
Auffassung des BGH muß dieses ungerechte, den ungefährlicheren Täter schlechter-
stellende Ergebnis nur hingenommen werden, wenn es dem „ausdrücklich ausge-
sprochenen Willen des Gesetzes entspräche“ (S. 326). Das sei aber nicht der Fall,
denn der Gesetzgeber habe nicht einmal ausdrücklich entschieden und entscheiden
wollen, ob der untaugliche Versuch überhaupt strafbar ist.327 Dann könne aber der
Wortlaut des § 46 Nr. 2 nichts zur (Folge-)Frage des Rücktritts vom untauglichen
Versuch besagen (S. 327). Deshalb müsse der Erfolgsbegriff in § 46 Nr. 2 „ergän-
zend“ ausgelegt328 werden, wie es auch der „neueren Rechtsentwicklung“ (§ 49a
StGB damaliger Fassung) und dem E 1958 entspreche (S. 328).
Ein Hinweis auf die neue Rechtsentwicklung sowie die Entwürfe zum künfti-
gen Recht ist sicherlich nicht zu beanstanden und rundet die Argumentation ab.
Aber tragen würde die neue Entwicklung das Ergebnis bei einem entgegenste-
henden Willen des Gesetzgebers nicht.329 Daß der BGH sich nicht berechtigt
326 Erstaunlicherweise ist auch BGHSt 6, 131 (oben Fall 100) in diesem Bereich
spricht für diese Ansicht. Siehe außerdem Rubo, RStGB, § 43, Anm. 17: „Die Streit-
frage, ob und inwieweit der Versuch mit untauglichen Mitteln . . . strafbar sei, ist im
Deutschen Strafgesetzbuche nicht geregelt worden.“
328 Näher lag in Anbetracht des Wortlauts von § 46 Nr. 2 StGB a. F. die Bildung
einer Analogie, zumal die Regelungslücke offensichtlich ist: Wenn der Gesetzgeber
nicht über die Strafbarkeit des untauglichen Versuchs entscheiden wollte, tat er dies
erst recht nicht hinsichtlich der Folgefragen!
329 Lange (JZ 1958, 671) meint hingegen, die neuere Rechtsentwicklung hätte als
„Ausdruck eines allgemeinen Rechtsgedankens“ stärker betont werden müssen und die
316 IV. Entstehungsgeschichte
sieht, eine klare Regelung an das zukünftige Recht anzupassen, zeigt folgende
Formulierung:
„Es geht nicht an, die offenbar dieser Novelle entnommenen Rechtsgedanken, so
wie der Nebenkläger meint, als ,vernunftgemäßen Willen des Gesetzgebers‘ vom
20. April 1949 in die bis zum 1. Januar 1952 geltende Fassung des § 410 hinein-
zulegen, dies um so weniger, als der Wortlaut und der Zweck des § 410 in seiner
bisherigen Fassung klar ist“ (BGHSt 3, 373 [374]).
Abschließend ist festzuhalten: Gegenüber einer Anpassung einer Norminter-
pretation aufgrund veränderter Rechtsanschauungen bestehen größere Bedenken
als gegenüber Veränderungen in tatsächlicher Hinsicht. Irrelevant sind zunächst
bloße Veränderung allgemeiner Rechtsanschauungen („Haschisch“, „Homose-
xualität“), denn ob daraus Recht entsteht oder ob es sich dabei nur um eine
Erscheinung des Chamäleons „Zeitgeist“ handelt330, entscheidet die Legislative
in einem dafür vorgesehenen Verfahren.331 Anderes mag gelten, wenn das Ge-
setz selbst auf die jeweils geltenden Wertanschauungen der Gesellschaft ver-
weist („Treu und Glauben“, „gute Sitten“ etc.), was allerdings im Strafrecht
seltener der Fall sein wird als in anderen Rechtsgebieten.332 Schwieriger liegt
es in den Fällen des „Wertungswiderspruchs“, wenn also die neue Rechtsent-
wicklung bereits objektiv in Erscheinung getreten ist und einer älteren Geset-
zesschicht widerspricht. Keine Einwände bestehen gegen eine Neuinterpretation
des älteren Rechts im Sinn der neuen Entwicklung, wenn dadurch der Wille des
historischen Gesetzgebers nicht konterkariert wird (BGHSt 1, 351 = Fall 164).
Begründung bereits getragen; die neue Entwicklung hätte der BGH mit weiteren Vor-
schriften (außer § 49a StGB) belegen können.
330 Noch sehr lesenswert die Bemerkungen von Sontag (GA 1870, 15 [23 f.]) zur
a) Einführung
333 Relativ häufig von der früheren Rechtsprechung des BGH herangezogen: die
des Gesetzgebers bleiben muß. Für die Auslegung der lex lata spielen diese
Äußerungen somit keine Rolle, allenfalls im Sinn einer „Rechtsvergleichung“,
die zum besseren Verstehen einer strittigen Frage beitragen kann. Anders liegt
es wieder, wenn der Gesetzgeber selbst auf frühere Entwürfe Bezug nimmt, sie
etwa als Vorbild heranzieht.335 Dann können diese Entwürfe und unter Umstän-
den auch deren Materialien zur Sinnermittlung herangezogen werden. Man muß
sich jedoch klarmachen, daß die Auslegung sich in diesen Fällen immer weiter
vom originären „Willen des Gesetzgebers“ entfernt und der zuschreibende Cha-
rakter des Vorgehens immer stärker hervortritt. Das spricht nicht dafür, auf
diese Hilfsmittel zu verzichten, sondern lediglich dafür, sie mit größerer Vor-
sicht zu verwenden.
Die Nutzung von Entwürfen durch die Rechtsprechung und die dabei auftre-
tenden Probleme werden im folgenden in verschiedenen Fallgruppen dargestellt.
Als Beispiel für die Variationsbreite geschichtlicher Auslegung und für die da-
bei zurückzulegenden Umwege sei vorweg auf die in BGHSt 31, 309 enthaltene
Argumentation hingewiesen: Die einschlägige Norm des OWiG von 1974 ent-
spreche im wesentlichen der von 1968, die ihrerseits auf einen Regierungsent-
wurf von 1967 zurückgehe, der lediglich redaktionell verändert worden sei
(S. 312 f.). Die Begründung zu diesem Entwurf sei davon ausgegangen, daß . . .
Dies decke sich mit der Auffassung der Rechtsprechung und mit den Vorstel-
lungen des E 1962 (S. 313).
Die Einsicht, daß ein Gesetzesentwurf kein geltendes Recht ist und deshalb
allein informativ herangezogen werden darf, teilt der BGH überwiegend:
In BGHSt 3, 373 (374) lehnt es der Senat ab, das zukünftige Recht als „vernunft-
gemäßen Willen des Gesetzgebers“ in die noch gültige und klare Regelung hinein-
zuinterpretieren. — Apodiktisch ablehnend zeigt sich BGHSt 12, 28 (30): „Die Aus-
führungen des Urteils zur Strafrechtsreform bedürfen keiner Stellungnahme, weil der
Richter das geltende Recht anzuwenden hat.“336 — BGHSt 15, 322 (324) weist bei
Beantwortung der Frage, ob ein „Autostraßenraub“ (§ 316a StGB a. F.) auch durch
einen Angriff des Fahrers auf einen Mitfahrer erfolgen kann, darauf hin, daß die
ungenaue Überschrift des E 1960 („räuberischer Angriff auf Kraftfahrer“) irrelevant
sei. — In BGHSt GS 19, 7 (oben Fall 167) sieht der BGH sich aus verfassungs-
rechtlichen Gründen zur Rechtsfortbildung berechtigt. Daß der Gesetzgeber mit der
334 Darauf verweist völlig zu Recht BGHSt 44, 13 (18), siehe unten Fall 181.
335 Am wichtigsten im Strafrecht natürlich der E 1962, welcher der großen Straf-
rechtsreform zugrunde lag. Zu den stellenweise mißlungenen Rückgriffen des jüngeren
Gesetzgebers auf den E 1962 siehe Kosloh, Das sechste Strafrechtsreformgesetz, 2000.
336 Tröndle (GA 1962, 225 [227]) bemerkt dazu süffisant, der Revisionsführer
müsse sich auf einen solchen Hinweis gefaßt machen, wenn der Inhalt des Entwurfs
nicht in die Rechtsprechung des BGH paßt.
6. Entwürfe, Änderungen im Gesetzgebungsverfahren 319
geltenden Regelung unzufrieden ist und dies in vielen Entwürfen zum Ausdruck ge-
bracht hat, hätte zur Korrektur der unbefriedigenden Rechtslage hingegen nicht aus-
gereicht. — BGH NJW 2002, 3559 f. (siehe oben III 7 g bb, Nr. 15) hält die Re-
gelung zur Sicherungsverwahrung für „bedenklich“, soweit eine „zeitige“, nicht aber
eine lebenslange Freiheitsstrafe die Voraussetzungen des § 66 StGB erfüllt. Es gebe
zwar bereits eine Gesetzesinitiative der Bundesregierung zur Beseitigung dieses
Mißstandes: „Dies ist aber noch nicht Gesetz geworden. Nach dem derzeitig gelten-
den Gesetz . . .“.
Schwieriger zu beurteilen ist der Standpunkt des BGH in folgenden Fällen:
Fall 170 (BGHSt GS 1, 158 = oben Fall 155): Der Große Senat mußte entscheiden,
ob ein „umschlossener Raum“ beim schweren Diebstahl (§ 243 I Nr. 2 StGB a. F.)
nur solche Räume meint, die unmittelbar ein Stück Erdoberfläche umgrenzen, oder
ob auch ein Wohnwagen oder ein Teil eines Gebäudes (abgeschlossene Wohnung)
darunter fällt. Der Große Senat befürwortet letzteres, u. a. unter Hinweis auf den
Zweck der Norm, besonders gesicherte Gewahrsamsbereiche zu schützen, die vom
Dieb nur unter größerer verbrecherischer Energie überwunden werden können und
somit einem erhöhten Rechtsfrieden genießen (S. 164 ff.). Dieser Gedanke klinge
schon in der Carolina an und „wenn es dafür noch eines weiteren Beweises [!] be-
dürfe, so würde ihn der Gang der Vorarbeiten zu einem neuen Strafgesetzbuch gelie-
fert haben“ (S. 165). Die Entwürfe 1925, 1927 und 1930 hätten die „Wohnung“ aus-
drücklich erwähnt und in den Motiven ausgeführt, daß die neue Fassung den Grund-
gedanken des geltenden Rechts reiner zum Ausdruck bringe (S. 166). – Es spricht
nichts dagegen, darauf hinzuweisen, daß auch die Entwürfe 1925 usf. am Grundge-
danken des geltenden Rechts anknüpfen. Aber die Motive zu diesen nicht verwirk-
lichten Gesetzesvorhaben besitzen keinen höheren Erkenntniswert als jede andere
literarische Stellungnahme über die Reichweite der lex lata; für eine bestimmte
Position „Beweis“ erbringen können sie nicht.
Fall 171 (BGHSt 13, 207): Zumindest fragwürdig argumentiert auch BGHSt 13,
207. Danach kann das Herauslassen von Luft aus Autoreifen Sachbeschädigung
sein, weil es die Gebrauchsfähigkeit der Sache zu ihrem bestimmungsgemäßen
Zweck mindert. Auf diesen Umstand habe das RG im Laufe der Zeit rekurriert, und
auch „die gesetzgeberischen Vorarbeiten zur Reform des Strafrechts“ seien dem ge-
folgt, indem in den einschlägigen Entwürfen das Unbrauchbarmachen ausdrücklich
als Fall der Sachbeschädigung auftauche; diese Rechtsauffassung mache der Senat
sich „schon für das geltende Recht zu eigen“ (S. 208). – Der BGH hat insoweit
recht, als daß der Fassungsunterschied zwischen lex lata und Entwurf nicht zu ei-
nem Gegenschluß nötigt, wonach das Unbrauchbarmachen erst in Zukunft strafbar
sein soll. Bereits das RG hatte § 303 StGB ja durchaus in einem weiten Sinn ver-
standen. Nicht zulässig ist es aber, den Inhalt des zukünftigen Gesetzes als Ausle-
gungskriterium zu berücksichtigen und zu dessen Durchsetzung das geltende Recht
über Gebühr zu strapazieren. Gut illustriert werden kann das mit den Gesetzesinitia-
tiven, die zur Bekämpfung des „Graffiti-Unwesens“ den Tatbestand der Sachbeschä-
digung um die Alternative des „Verunstaltens“ erweitern wollen.337 Das berechtigt
jedoch nicht, sich diese Auffassung schon für das derzeit gültige Recht „zu eigen zu
machen“. Auf der anderen Seite legitimiert die schwebende Gesetzesänderung aller-
dings auch keinen Umkehrschluß, wonach Farbsprühaktionen nicht schon vom gel-
tenden Recht erfaßt werden können – wenn sie dem Begriff des „Beschädigens“
unterfallen.
Ohne weiteres zulässig ist die rein informative Berücksichtigung von Entwür-
fen (und deren Begründungen), die nicht Gesetz geworden sind oder sich in
aktueller Diskussion befinden. Eine solche „rechtsvergleichende“ Betrachtung
dient der Verdeutlichung des Problems und der Erweiterung des Horizonts mög-
licher Lösungen; sie verschafft dem Urteil auch rechtspolitisches „Leben“. Der
eigentliche Auslegungsvorgang darf dadurch jedoch nicht beeinflußt werden, es
sei denn, es tritt der seltene Fall ein, in dem die relevanten Kriterien zu einem
„non liquet“ führen338; dann kann im Sinn des Entwurfs entschieden werden,
zumal wenn absehbar ist, daß dieser als Ausdruck einer „allgemeinen Rechts-
entwicklung“339 mit hoher Wahrscheinlichkeit auch umgesetzt werden wird340.
BGHSt 1, 145 (oben Fall 65) sieht sich in seiner Ansicht, das Beibringen von Betäu-
bungsmitteln stelle „Gewalt“ i. S. des § 249 StGB dar, durch Stimmen aus der Lite-
ratur und die Entwürfe 1924/27, 1925 und 1930 bestätigt, die sogar dahingehende
Definitionen enthielten (S. 148). – Gegen diesen Hinweis auf die Entwürfe ist
nichts einzuwenden. Die Gleichbehandlung mit den Literaturmeinungen zeigt aller-
dings ihren begrenzten Wert im eigentlichen Auslegungsprozeß.
Fall 172 (BGHSt 4, 161): Der Senat schließt sich mit eingehender Begründung der
bisherigen Rechtsprechung an, wonach die Rechtmäßigkeit der Vollstreckungshand-
lung in § 113 StGB (a. F.) kein Tatbestandsmerkmal, sondern eine objektive Bedin-
gung der Strafbarkeit sei.341 Nebenbei stützt der BGH sein Ergebnis wie folgt:
„Diese Auslegung des § 113 entspricht seiner Entstehungsgeschichte, dem berech-
tigten rechtsstaatlichen Ordnungsbedürfnis . . . und dem Entwurf von 1927“ (S. 164).
– Wiederum: Der Hinweis auf die Regelung des E 1927 ist an sich nicht schädlich,
aber auch nicht relevant. Störend ist nur, daß der E 1927 in einem Atemzug mit der
Entstehungsgeschichte des § 113 StGB genannt wird, so als ob beide Aspekte
gleichrangige Erkenntnismittel der Gesetzesauslegung wären. Die gleiche Problema-
tik behandelt mit gleichem Ergebnis BGHSt 21, 334, ohne sich auf den E 1927 zu
berufen. Hingewiesen wird lediglich („vgl. zum Vorstehenden“) auf die Begründung
zum E 1962 (S. 366).
Fall 173 (BGHSt 14, 68, vgl. oben S. 85): Ähnlich wie BGHSt 13, 207 (oben Fall
171), aber etwas vorsichtiger argumentiert BGHSt 14, 68: Der damals geltende
§ 42m I StGB ließ die Entziehung der Fahrerlaubnis auch dann zu, wenn der Täter
wegen Unzurechnungsfähigkeit freigesprochen wurde. Aber was sollte gelten, wenn
338 Großzügiger Tröndle, in: LK-StGB10, § 1, Rn. 56: Entwürfe seien zu berück-
sichtigen, wenn das geltende Recht „Auslegungsmöglichkeiten“ läßt; binden könne das
den Richter freilich „niemals“.
339 Vgl. oben IV 5 d und dort BGHSt 11, 324 (Fall 169), wo die Argumentation mit
die Unzurechnungsfähigkeit bloß zugunsten des Täters unterstellt wurde? Der BGH
begründet ausführlich, daß hier § 42m gleichfalls Anwendung finde; die Rechtsspra-
che differenziere nicht zwischen diesen Fällen (S. 71). Abschließend weist der Senat
darauf hin, daß auch die Große Strafrechtskommission sich zu dieser Ansicht be-
kannt und deshalb im E 1959 beide Fälle – erwiesene oder nicht auszuschließende
Schuldunfähigkeit – ausdrücklich normiert habe (S. 73). – Die Meinung der Kom-
mission zum geltenden Recht ist nicht maßgeblich. Umgekehrt folgt aus der aus-
drücklichen Regelung der Problematik im E 1959 aber auch nicht im Gegenschluß,
daß der Fall der unterstellten Schuldunfähigkeit von der lex lata nicht erfaßt ist!
Fall 174 (BGHSt 44, 355): Der Senat stellt fest, daß seine Interpretation sowohl mit
dem Wortlaut der alten als auch der neuen Fassung (nach dem 6. StrRG), nicht aber
mit der im E 1962 vorgesehenen Formulierung im Einklang steht (S. 359). – Der
Hinweis stärkt die Wortlautargumentation durch einen Vergleich: Die einschlägige
Vorschrift des E 1962 zeigt, daß andere Regelungen möglich sind und dann auch
anders formuliert würden. Aber tragender Gesichtspunkt einer historischen Ausle-
gung wäre dieses Argument nur, wenn der Gesetzgeber sich tatsächlich an diesem
historischen Vorbild orientiert hätte.
Fall 175 (BGHSt 47, 202 – „Opferschutz“): Fragwürdig argumentiert BGHSt 47,
202 zu § 414 II StPO. Nach dieser Norm gelten auch im Sicherungsverfahren
„sinngemäß“ die Vorschriften der StPO. Die bisherige Rechtsprechung ließ im Si-
cherungsverfahren keine Nebenklage zu, weil diese auf die Bestrafung des Täters
abziele, das Sicherungsverfahren aber anderen Zwecken diene. Vorliegende Ent-
scheidung distanziert sich von dieser Meinung und beruft sich dabei auf die Stär-
kung des Opferschutzes durch das Opferschutzgesetz von 1986, obwohl der Gesetz-
geber in Kenntnis der Problematik342 dort keine ausdrückliche Regelung der Frage
vornahm. In diesem Zusammenhang dürfe schließlich eine neue Gesetzesinitiative
des Bundesrats aus dem Jahr 2000 nicht außer Betracht bleiben, welche eine ent-
sprechende Regelung als „Klarstellung“ vorsehe, um den Grundgedanken des Opfer-
schutzgesetzes voll zu verwirklichen (S. 207).343 – Irrelevant ist, ob die Entwurfsbe-
gründung die Neuregelung als „Klarstellung“ der bereits geltenden Rechtslage oder
als Abkehr davon versteht, denn zur Auslegung des geltenden Rechts kann der Ent-
wurf, dessen Schicksal zudem oft „ungewiß“ ist344, nichts beitragen. Richtig war es
demgegenüber, maßgeblich auf das Opferschutzgesetz selbst abzustellen. Der darin
liegende Paradigmenwechsel kann für die Auslegung des vom Wortlaut her offenen
§ 414 II StPO von Belang sein.
345 Unterschiedliche Ansichten über die Tragweite von mehrfach wechselnden Ent-
der Senat Schlußfolgerungen aus einer Streichung im Entwurfstext mit einer geneti-
schen Auslegung entgegentritt (S. 207); ähnlich BGHSt 13, 178 (181). Über ein nega-
tives Beispiel aus der Rechtsprechung des BVerwG, das eine im Gesetzgebungsverfah-
ren gestrichene Formulierung dennoch ins Gesetz hineinlese, berichtet Esser, JZ 1975,
555 (557).
347 Eine eingehende Analyse liefert z. B. BGHSt 7, 165 mit dem Ergebnis, daß die
116.
6. Entwürfe, Änderungen im Gesetzgebungsverfahren 323
betont (S. 315 f.). Nach Ansicht des Senats sprechen somit „gewisse Anhaltspunkte“
für die Annahme einer Gesetzeslücke (S. 316). Letztlich müsse die Frage jedoch aus
anderen Gründen hier nicht endgültig entschieden werden. – Der Senat tut sich
schwer, um gegen ein Wahrscheinlichkeitsurteil bzw. eine Vermutung anzugehen:
Streicht der Gesetzgeber eine Regelung im Entwurf, wird man nur ausnahmsweise
von einer (unbewußten) Lücke ausgehen können.
Fall 177 (BGHSt 25, 35): Ein beeindruckendes Wechselspiel zwischen Gesetzgeber
und Gerichten bietet die durch BGHSt 25, 35 behandelte Geschichte des § 239a
StGB. Der nationalsozialistische Gesetzgeber sah 1936 für den erpresserischen Kin-
desraub die Todesstrafe vor, wenn „in Erpressungsabsicht ein fremdes Kind durch
List, Drohung oder Gewalt entführt“ wird. Angesichts der extremen Strafandrohung
wurde die Norm einschränkend in dem Sinn verstanden, daß der Täter zumindest
mit einer Schädigung des Kindes drohen muß.349 Das 3. StÄG von 1953 bedrohte
mit einer Mindeststrafe von nicht unter drei Jahren das Entführen eines Kindes zur
Erlangung eines Lösegeldes. Weitere Einschränkungen sah das Gesetz nicht vor.
Hingegen hatte der zugrundeliegende Entwurf zusätzlich die Absicht des Täters ver-
langt, die Besorgnis der Angehörigen um das Kindeswohl auszunutzen (vgl. a. a. O.,
S. 36).350 Der BGH ist der Ansicht, daß der Gesetzgeber trotz dieser Abweichung
eine gemilderte Einschränkung im Sinn des Entwurfs nicht habe „ausschließen“
wollen. Die Formulierungsänderung sei lediglich als Vereinfachung ohne Sinnände-
rung gedacht gewesen. Das 12. StÄG von 1971 bringe mit einer erneuten Änderung
des § 239a dieses „bisher ungeschriebene Tatbestandsmerkmal“ durch die Formulie-
rung „um die Sorge eines Dritten um das Wohl des Opfers zu einer Erpressung . . .
auszunutzen“ zum Ausdruck (S. 37).351 – Die Argumentation des BGH zur Fassung
des § 239a nach dem 3. StÄG ist kaum überzeugend: Der Gesetzgeber streicht die
Einschränkung aus dem Entwurf, will sie aber gleichwohl „nicht ausschließen“? Die
Folgerung des BGH ist nur deshalb hinnehmbar, weil der Täter eines erpresserischen
Kindesraubes wohl in aller Regel die Sorge der Angehörigen um das Wohl des Kin-
des ausnutzen will, so daß die Frage eher akademischer Art ist.
Fall 178 (BGHSt 26, 29): Seltsam umständlich und nicht ohne weiteres nachvoll-
ziehbar behandelt der Senat eine kostenrechtliche Frage. Für seine Gesetzesdeutung
beruft er sich u. a. auf den Regierungsentwurf, der jedoch anders als das spätere Ge-
setz formuliert war. Aus der Fassung des Entwurfs schließt der Senat auf eine be-
stimmte Absicht des Gesetzgebers, die – trotz veränderten Wortlauts! – auch für die
lex lata gelten soll: „Dieser Absicht entspricht bei der gegenüber dem Entwurf ge-
änderten Fassung der Vorschrift die Auslegung, daß . . .“ (S. 33). Der BGH mag da-
mit recht haben, aber er müßte wenigstens darlegen, weshalb trotz abweichender
Formulierung die Intention des Regierungsentwurfs auch auf das Gesetz übertragen
werden darf.
geber durch das StÄG 1989 durch eine zweifelhafte Änderung wieder eröffnet und
neue Einschränkungsbemühungen der Rechtsprechung entfacht; vgl. bereits oben Fall
152.
324 IV. Entstehungsgeschichte
Fall 179 (BGHSt 27, 307): Eine unterschiedliche Fassung von Entwurf und Gesetz
bereitet auch BGHSt 27, 307 (unnötig) Probleme. Nach Meinung des BGH unterfiel
das Verhalten des Täters (Weitergabe von Verfassungsschutzunterlagen an den
„Spiegel“) schon nicht dem objektiven Tatbestand der verfassungsfeindlichen Sabo-
tage (§ 88 I Nr. 4 StGB). Damit hätte es sein Bewenden haben können.352 Dennoch
prüft der BGH, welche Konsequenzen für das geltende Recht daraus folgen könnten,
daß in einem Gesetzesentwurf der objektive Tatbestand noch enger gefaßt war, und
gelangt dabei zu der Einsicht, die lex lata dürfe jedenfalls „nicht zu ausdehnend
ausgelegt werden“ (S. 312). – Diese Einsicht ist wenig erhellend. Sie folgt ohnedies
schon aus Art. 103 II GG, denn keine Strafvorschrift darf zum Nachteil des Täters
„zu“ ausdehnend interpretiert werden. Zweifelhaft ist der sich zumindest andeutende
Kompromiß, wonach die Streichung einer Einschränkung im Gesetzgebungsverfah-
ren durch eine enge Interpretation des letztlich beschlossenen Gesetzes kompensiert
werden kann. Ein dahingehender Wille des Gesetzgebers bedürfte eines Beleges in
den Materialien, denn die Formulierungsänderung kann gerade für einen (rechts-
politischen) Meinungswechsel innerhalb des Gesetzgebungsverfahrens und damit für
eine extensive Auslegung sprechen!
Fall 180 (BGHSt 32, 104): Art. 7 I Nr. 4 des 4. StÄG i. V. m. § 99 StGB stellt nach
seinem klaren Wortlaut die geheimdienstliche Tätigkeit sowohl gegenüber einem
NATO-Vertragsstaat als auch gegenüber dessen in Deutschland stationierten Truppen
unter Strafe. Das Art. 7 zugrundeliegende völkerrechtliche Abkommen bezweckte
jedoch nur den Schutz der stationierten Truppen, was die Gesetzesentwürfe und die
dazugehörigen Begründungen auch noch zum Ausdruck brachten (vgl. a. a. O.,
S. 109 f.). Eine Änderung im Gesetzgebungsverfahren erweiterte jedoch den Wort-
laut, ohne daß der BGH erkennen kann, ob dies gewollt oder ungewollt geschah
(S. 110). Der Senat erwägt zwar eine Restriktion der Norm i. S. der Entwürfe oder
des Abkommens, sieht sich angesichts des Wortlauts, insbesondere wegen des Ne-
beneinanders von geschütztem Staat und Truppen aber letztlich dazu nicht in der
Lage (S. 112). Abschließend353 nennt der BGH aber objektiv-teleologische Gründe,
die den weiten Schutzbereich doch als sinnvoll erscheinen lassen (S. 112 f.). Daraus
wird man allerdings nicht schließen können, daß der historische Gesetzgeber sich
bei der kurzfristigen Fassungsänderung von diesen Erwägungen leiten ließ. Näher
liegt wohl die Annahme eines Versehens, das nur durch eine gesetzeskorrigierende
Rechtsanwendung beseitigt werden könnte.
Fall 181 (BGHSt 44, 13 = oben Fall 130, „Videoobservation“): Mit einer kompli-
zierten Ausgangslage mußte sich BGHSt 44, 13 beschäftigen. § 100c I Nr. 1 StPO
regelte seit 1992 den Einsatz technischer Mittel zum Zweck der Überwachung, sagt
aber nichts zur Frage, ob eine längerfristige Observation überhaupt zulässig ist. Der
Referentenentwurf hielt insoweit noch eine ausdrückliche Regelung für notwendig
und sah eine solche vor (vgl. heute § 163f StPO), während der Gesetzgeber schließ-
lich von einer solchen „Klarstellung“ absah. Der Senat hält Schlußfolgerungen
aus der ursprünglich im Referentenentwurf vorgesehenen Regelung nicht für an-
gebracht: Bedenken hinsichtlich der Ermächtigungsgrundlage seien im letztlich
verabschiedeten Gesetz nicht zum Ausdruck gekommen (S. 18).354 Irrelevant sei
auch, daß ein neuer Entwurf wiederum eine entsprechende Regelung enthalte, zumal
„dessen Schicksal im Gesetzgebungsverfahren . . . ungewiß ist“ (S. 18). Die beab-
sichtigte Regelung könne nicht zur Auslegung der hier maßgeblichen Vorschrift her-
angezogen werden!
Klar liegt es in BGHSt 44, 233 (oben Fall 74). Während der Gesetzesentwurf die
Voraussetzungen des Subventionsbetruges weniger eng und formal abfaßte, lautete
das Gesetz wegen befürchteter Auslegungsunsicherheiten strenger und förmlicher
(vgl. a. a. O., S. 239). Der BGH weist darauf hin, daß die Gesetzes- gegenüber der
Entwurfsfassung zu Strafbarkeitslücken führen kann, daß diese Folge jedoch als
klare Entscheidung des Gesetzgebers hinzunehmen sei (S. 240).355
d) Ausdrückliche Bezugnahmen
354 Was allerdings auch kurios wäre, vgl. oben bei Fall 130.
355 Als weitere Beispiele für eindeutig gerechtfertigte Umkehrschlüsse aus geänder-
ten Textfassungen sind zu nennen: BGHSt 4, 119 (120 f.); 5, 100 (104 f.); 17, 69 (71).
326 IV. Entstehungsgeschichte
anderes. – Womöglich entspricht die Vorschrift des E 1962 eher den Vorstellungen
des BGH, aber die geltende Norm lautete anders! Insofern würde man gern etwas
über die Motivation des Gesetzgebers erfahren, aber statt dessen teilt der BGH die
belanglose Tatsache mit, wer (z. B. die CDU/CSU-Fraktion) gegen die Änderung
Stellung bezog.
Fall 184 (BGHSt 26, 176 = oben Fall 23): Problematisch ist der Hinweis auf die
Begründung des E 1962 auch in BGHSt 26, 176. Der Widerstand gegen Vollstrek-
kungsbeamte wird regelmäßig schwerer bestraft, wenn der Täter den Angegriffenen
„in die Gefahr des Todes“ bringt (§ 113 II Nr. 2 StGB). Der BGH ist der Auffas-
sung, daß insoweit Vorsatz des Täters notwendig ist, da die Todesgefahr schon
sprachlich nicht als „Folge“ der Tat (dann Fahrlässigkeit ausreichend: § 18 StGB)
aufgefaßt werden könne (S. 181). Auch die Begründung zu einer im wesentlichen
gleichlautenden Vorschrift im E 1962 gehe ausdrücklich vom Vorsatzerfordernis aus
(S. 182). Es sei ausgeschlossen, „daß sich das geltende Recht von dieser, der her-
kömmlichen Auffassung entsprechenden Haltung des Entwurfs abgewandt hätte“
(S. 182). – Für die Auffassung des BGH spricht eine gewisse Wahrscheinlichkeit,
aber letztlich bleibt doch unklar, ob dem „eigentlichen“ Gesetzgeber die Meinung
der Entwurfsverfasser zugeschrieben werden kann.356 Voraussetzung dafür wäre,
daß auch im übrigen alle (dogmatischen!) Umstände gleich geblieben sind, vor al-
lem die hier relevanten Lehren des Allgemeinen Teils.357 In der Literatur wird die
historische Anleihe des BGH beim E 1962 weitgehend abgelehnt, freilich mit Be-
gründungen, über die man gleichfalls streiten kann: Selbst wenn die Verfasser des
E 1962 dieser Meinung gewesen sein sollten, „fehlt es an jeder Begründung für eine
solche auffallende und überraschende Meinung“.358 Die Rechtslage sei auch für den
E 1962 unklar, die Äußerungen in der amtlichen Begründung seien nur beiläufig
erfolgt und hätten im Gesetz keinen klaren Ausdruck gefunden.359 Der das Gesetz
beschließende 6. Deutsche Bundestag habe nicht über den E 1962 entschieden.360
356 Die Frage kann sich ebenso hinsichtlich der Begründung einer gleich oder ähn-
pretation der lex lata nicht auf der Systematik des E 1962 beruhen dürfe.
358 Heimann-Trosien, in: LK-StGB9, § 113 StGB, Rn. 50.
359 Küper, NJW 1976, 543 (545); anders Backmann, MDR 1976, 969 (975). Bezüg-
lich der von Küper erwähnten Andeutungstheorie kann man dem BGH allerdings nur
vorwerfen, daß er von diesem höchst zweifelhaften Instrument nicht konsequent auch
hier Gebrauch macht (vgl. oben IV 3 f und g).
360 Insoweit zu pauschal Meyer-Gerhards, JuS 1976, 228 (231). Auch sonst entkräf-
tet Meyer-Gerhards die Argumentation nur zum Teil, denn von den Normen des
E 1962, auf die der BGH sich bezieht, haben sehr wohl einige Einzug ins reformierte
StGB gefunden (nur nicht die vom Verf. genannten).
6. Entwürfe, Änderungen im Gesetzgebungsverfahren 327
e) Sonstiges
Der BGH nutzt mitunter auch eher abseits liegende Entwürfe und überschätzt
dabei deren Bedeutung für die Auslegung.
Fall 185 (BGHSt 5, 40): Der 1943 eingeführte § 170d StGB (a. F.) stellte unter be-
stimmten Voraussetzungen die Vernachlässigung eines „Kindes“ unter Strafe, ohne
den Begriff „Kind“ zu definieren. Dagegen sprachen ähnliche, 1933 zum Schutz der
Jugend eingeführte Normen (z. B. § 223b StGB a. F.) von „Kindern“ und „Jugend-
lichen“. Fest stand, daß es in § 170d wie in den übrigen Jugendschutz-Bestimmun-
gen jedenfalls auf die Altersstufe, nicht aber auf die Abstammung ankommen
mußte. Der BGH weist auf die im E 1925 enthaltene Begriffsbestimmung und die
dazugehörige Begründung hin: Komme es auf die Altersstufe an, sei danach Kind,
wer noch nicht 14 Jahre alt ist (S. 41). Weiter rekurriert der BGH auf den Vorent-
wurf von 1909, auf die Entwürfe 1927 und 1930 und auf die Begründung des
E 1927, die auf die Begriffsbestimmung des RJGG von 1923 hinweise (S. 41 f.).361
Das Vorbild des § 170d im E 1930 habe noch Kinder, Jugendliche und andere sor-
gebedürftige Personen aufgezählt; daraus folge zum einen, daß bewußt zwischen den
Altersstufen „Kind“ und „Jugendlicher“ differenziert wurde, und zum anderen (im
Umkehrschluß), daß § 170d einen engeren Anwendungsbereich haben sollte als die
Vorschrift im E 1930 (S. 42).362 Auch die übrigen Normen (§§ 223b, 139b, 361
StGB a. F.), die ausdrücklich Kinder und Jugendliche schützen, folgten bewußt die-
sem Sprachgebrauch (S. 42 f.). Daß im Einzelfall auch Jugendliche schutzwürdig im
Sinn von § 170d sind, sei ohne Belang (S. 43).363 – Die sehr „aufgeblähte“ histori-
sche Argumentation des BGH versucht, sich dem Willen des historischen Gesetzge-
bers von 1943 anzunähern. Die Begründung zeigt die Schwierigkeiten einer histori-
schen Auslegung, die zur „Konstruktion“ der gesetzgeberischen Intention allein auf
„objektive“ Umstände zurückgreifen muß. Letztlich kann der BGH nur Indizien für
den maßgeblichen Sprachgebrauch zusammentragen, die es insgesamt als wahr-
scheinlich erscheinen lassen, daß der Gesetzgeber bewußt nur „Kinder“, nicht aber
auch „Jugendliche“ erfassen wollte.364 Am ehesten überzeugt noch der Hinweis auf
die ähnlichen und zuvor eingefügten Jugendschutz-Bestimmungen sowie auf die Ab-
weichung vom E 1930, während der Zusammenhang mit den Entwürfen 1925/1927
immer „indirekter“ („mittelbarer“) wird. Deren ausführliche Wiedergabe durch den
361 Das RJGG 1923 definiert ausdrücklich nur den Begriff „Jugendlicher“ (§ 1),
während es Personen unter 14 Jahren lediglich als strafunmündig einstuft (§ 2), aber
dabei nicht von „Kindern“ spricht. Deshalb halten z. B. Händel (NJW 1954, 119) und
Luther (NJW 1954, 493 [495]) das RJGG für einen untauglichen begrifflichen Orien-
tierungspunkt.
362 Luther (NJW 1954, 493 [495, Fn. 21]) hält insoweit ein Redaktionsversehen für
wahrscheinlicher!
363 A.A. z. B. Jagusch, in: LK-StGB8, § 170d, Anm. 3: Das Gesetz schweige zur
Altersgrenze; dem Zweck der Norm entspreche am ehesten eine Altergrenze von 16
Jahren. Anders Nagler (in: LK-StGB6/7, § 170d, Anm. 2) unter Hinweis auf das
RJGG; ein gegenteiliges Urteil des RG von 1944 enthalte eine Tatbestandserweite-
rung, „die heute wieder untersagt ist“.
364 Indizien, die gegen die Annahme eines bereits damals eingebürgerten Sprachge-
brauchs sprachen, tragen Händel und Luther vor (wie oben Fn. 361).
328 IV. Entstehungsgeschichte
Senat war nicht veranlaßt, weil ungewiß bleibt, ob der Gesetzgeber sich darauf be-
zogen hat.
Fall 186 (BGHSt 6, 131 = oben Fall 100): Große Mühe gibt sich BGHSt 6, 131
damit, die einschlägigen Entwürfe als nicht maßgebliches Recht darzustellen. Das
damals geltende Recht bestimmte nicht – wie heute § 15 StGB – in einer General-
norm, ob ein Vergehen auch durch fahrlässiges Verhalten verwirklicht werden kann.
Die Rechtsprechung mußte dies folglich von Norm zu Norm durch Ermittlung des
gesetzgeberischen Willens entscheiden. Der BGH zieht aus den bereits vorliegenden
Entwürfen, die eine dem § 15 StGB heutiger Fassung entsprechende Norm enthiel-
ten, keine Schlüsse für den status quo. Die Teilung der Schuld in Vorsatz und Fahr-
lässigkeit sei „erst das Ergebnis einer langen Rechtsentwicklung, auf die der Gesetz-
geber in der früheren Zeit nicht so bedacht genommen hat wie heute“ (S. 133). Die
E 1925/1927 sähen für die hier relevante Bestimmung zwar ausdrücklich beide
Schuldformen vor, jedoch nur „zur Klarstellung“ (S. 134).
Als hilfreiches Argument, nicht aber als Kriterium der „Auslegung“ nutzt BGHSt
GS 6, 147 (oben Fall 76) den E 1919, um zu zeigen, daß die in § 330c StGB a. F.
(§ 323c g. F.) statuierte Hilfspflicht in Unglücksfällen nicht nur auf nationalsozia-
listischem Gedankengut beruhen kann.
a) Einführung
Fall 187 (BGHSt 2, 29, oben Fall 75 und Fn. 311): Der BGH sieht sich in der Frage,
ob eine Vorschrift zur Abführung des Mehrerlöses (§ 51 WiStG a. F.) trotz des Wort-
lauts („kann“ angewandt werden) als zwingende Norm zu verstehen ist, durch die
Entstehungsgeschichte bestätigt. Die ursprüngliche Norm von 1941 war ebenfalls
als Ermessensvorschrift formuliert („kann“), wurde aber als zwingende Bestimmung
gedeutet. Die 1944 nachfolgende Norm war als Mußvorschrift formuliert und damit
konsequent als „Klarstellung“ der Rechtslage (gemeint als Gesetz in seiner herr-
schenden Deutung) verstanden worden. 1949 kehrte der Gesetzgeber wiederum zur
ursprünglichen Fassung zurück (vgl. a. a. O., S. 31 f.). Der Senat deutet diese Vor-
gänge nicht „objektiv-systematisch“ – Gegenschluß aus der Rückkehr zur „Kann-
Formulierung“ –, sondern beruft sich auf die amtliche Begründung, die weiterhin
von einer Mußvorschrift und außerdem davon ausgehe, daß die neue Bestimmung
die alte (von 1944) wiedergebe (S. 31 f.). – Der BGH zeigt sich „freundlich“ gegen-
über dem Gesetzgeber, der unverständlicherweise mit der Rückkehr zur ursprüngli-
chen Formulierung eine mittlerweile geklärte Problematik wieder aufgeworfen hat.
Ein „Objektivist“ könnte die Entwicklungsgeschichte der Norm anders deuten.
Fall 188 (BGHSt 3, 248): § 154 StGB i. d. F. bis 1944 verlangte als Voraussetzung
des Meineids, daß der Eid vor einer zur Abnahme von Eiden zuständigen „Behörde“
geleistet wird. Die seit 1944 gültige Fassung bedroht das falsche Schwören mit
Strafe, wenn es „vor Gericht oder vor einer anderen zur eidlichen Vernehmung . . .
zuständigen Stelle“ erfolgt. Der BGH ist der Ansicht, daß die Neufassung der ein-
schränkenden Auslegung bedarf, nach der auch die Gerichte (nicht nur die anderen
„Stellen“) zur Abnahme des Eides zuständig sein müssen (S. 249). Denn die Neu-
fassung habe sich den Zweck gesetzt,365 den Inhalt der bisherigen Vorschriften „ge-
drängt zusammenzufassen“; hingegen fehle es „an jedem Anhalt dafür, daß diese
330 IV. Entstehungsgeschichte
365 Vgl. zu diesen Personifizierungen des Gesetzes – die Neufassung setzt sich ei-
Fall 190 (BGHSt 31, 10): Mit einer ähnlichen Argumentation wie BGHSt 27, 45
zur Neufassung des § 259 StGB versucht die Revisionsführerin in BGHSt 31, 10 zu
begründen, daß die Änderung des Tatbestandes der Strafvereitelung (ebenfalls durch
das EGStGB 1974) eine rein äußerliche war. Aus der Begründung zum Regierungs-
entwurf ergebe sich die Intention des Gesetzgebers, es grundsätzlich beim früheren
Rechtszustand belassen zu wollen (S. 13 f.). Der BGH geht auf diese Argumentation
ein, entkräftet sie aber, indem er auf eine anderweitige Äußerung in der Entwurfsbe-
gründung hinweist (S. 14). „Zudem wären die Gerichte an eine mit dem Gesetzes-
wortlaut unvereinbare Auslegung des Verfassers des betreffenden Gesetzesentwurfes
nicht gebunden“ (S. 14).368 – Am neugestalteten Wortlaut scheitert die Berücksichti-
gung des fehlenden Änderungswillens des Gesetzgebers bzw. die Beibehaltung des
status quo auch in BGHSt 6, 25 (vgl. oben S. 235) und BGHSt 42, 291 (293).
Fall 191 (BGHSt 35, 6; 26, 387): BGHSt 35, 6 verlangt als formelle Voraussetzung
der Sicherungsverwahrung (§ 66 StGB), daß die Vorverurteilungen rechtskräftig
sind. Die Rechtsprechung sei bereits zur Vorläufernorm dieser Meinung gewesen,
und die Entstehungsgeschichte belege, daß der Gesetzgeber daran nichts ändern
wollte (S. 12). Anders als die frühere Vorschrift bestimme § 66 diese Anforderung
zwar nicht mehr ausdrücklich, doch sei damit keine inhaltliche Änderung verbunden
gewesen (S. 13). Der Gesetzgeber habe diese Voraussetzung als selbstverständlich
angesehen, wie die unwidersprochene Auffassung des Sonderausschusses zeige. Die
gegenteilige Schlußfolgerung eines anderen Strafsenats (BGHSt 26, 387 [389]) in
einer parallelen Situation berücksichtige nicht die Entstehungsgeschichte der ein-
schlägigen Vorschriften. – Der BGH vermeidet mit Hilfe subjektiv-historischer Aus-
legungsmittel den objektiv-historisch an sich angezeigten Umkehrschluß.
Fall 192 (BGHSt 40, 251) behandelt eine weitere durch das EGStGB aufgeworfene
Frage. § 307 Nr. 2 StGB a. F. stufte es als besonders schwere Brandstiftung ein,
wenn „die Brandstiftung in der Absicht begangen worden ist, um unter Begünsti-
gung derselben Mord oder Raub zu begehen“. § 307 Nr. 2 i. d. F. bis 1998 formu-
lierte hingegen: Wenn „der Täter in der Absicht handelt, die Tat zur Begehung eines
Mordes . . ., eines Raubes . . ., eines räuberischen Diebstahls . . . oder einer räube-
rischen Erpressung . . . auszunutzen“. Fraglich war, ob damit der Zusammenhang
zwischen der beabsichtigten Straftat und der Brandstiftung gelockert wurde, ob also
– wie für § 307 Nr. 2 a. F. angenommen – ein räumlicher und zeitlicher Zusammen-
hang zwischen beiden Taten bestehen muß. Nach Ansicht des Senats brachte die bis
1974 gültige Fassung die notwendige unmittelbare Anbindung deutlich zum Aus-
druck (S. 254). Aber auch die Neufassung sei (im Weg einer einengenden Ausle-
gung!) so zu verstehen, denn sie ergänze lediglich zur „Klarstellung“ den Katalog
der beabsichtigten Taten. Ein Wille des Gesetzgebers zu einer darüber hinausgehen-
den sachlichen Änderung sei nicht ersichtlich.369 – Aus dem reinen Wortlaut hätte
368 Zur Fragwürdigkeit dieser Aussage siehe bereits S. 237. Dieses Wortlautargu-
ment hätte der BGH wohl auch in BGHSt 27, 45 herangezogen, wenn er der Gegen-
meinung gefolgt wäre.
369 Der Gesetzgeber hat im 6. StrRG 1998 durch Verzicht auf das Merkmal des
„Ausnutzens“ die Vorschrift noch weiter gefaßt („in der Absicht handelt, eine andere
Straftat zu ermöglichen“). Deshalb sieht BGHSt 45, 211 zu Recht keine Möglichkeit
mehr zu einer „einschränkenden Auslegung“, gegen die zudem sowohl die Gesetzge-
bungsgeschichte als auch die Herabsetzung des Strafrahmens sprechen.
332 IV. Entstehungsgeschichte
man auf eine Ausweitung der Norm schließen können, aber zu Recht schaut der
Senat genauer hin.
Aus den vorgestellten Problemfällen kann auf eine konservative Haltung der
Strafsenate gegenüber der Annahme einer Rechtsänderung geschlossen werden.
Auch bei abweichender Textfassung neigt die Rechtsprechung zur Vorsicht ge-
genüber Umkehrschlüssen und bemüht zur Feststellung des gesetzgeberischen
Willens zusätzlich subjektiv-historische Argumente (vgl. BGHSt 35, 6). Spricht
der Wortlaut hingegen eindeutig für einen Wandel der Rechtslage (vgl. BGHSt
26, 191; 31, 10), kann ein fehlender Änderungswille des Gesetzgebers nur noch
im Weg der Rechtsfortbildung durchgesetzt werden, falls Art. 103 II GG nicht
entgegensteht. Im Einzelfall zeigt sich die Rechtsprechung sehr großzügig ge-
genüber den Gesetzesverfassern, muß zur Wahrung der Kontinuität dann aber
eine „gequälte“ Wortauslegung vornehmen (vgl. BGHSt 27, 45). Umgekehrt
verlangt der Gesetzgeber der Rechtsprechung einiges ab, wenn er Textänderun-
gen, die Umkehrschlüsse provozieren, lediglich als „Vereinfachung“ ohne In-
haltsänderung verstanden sehen will (vgl. BGHSt 3, 248; 35, 6; 40, 251). Dar-
auf, daß ihm die Rechtsprechung insoweit stets behilflich ist, kann der Gesetz-
geber sich in Anbetracht des Damoklesschwerts „Andeutungstheorie“ (oben IV
3) allerdings nicht verlassen.
370 Zur Meinung des BGH siehe insbesondere BGHSt 33, 394 = unten Fall 196.
7. Schlußfolgerungen aus Handlungen oder Untätigkeit des Gesetzgebers 333
371 Eine fast identische Argumentation bei ähnlicher Problematik taucht noch ein-
schichte des § 292 II StGB sei nichts für den zwingenden Charakter der Norm ersicht-
lich, JZ 1953, 278 (279). Ebenso Maurach, JZ 1953, 279 (280): Genesis des Gesetzes
stehe zumindest nicht entgegen.
334 IV. Entstehungsgeschichte
Fall 195 (BGHSt 28, 69): Einen Umkehrschluß, der auf der Änderung einer sach-
verwandten Norm basiert, zieht BGHSt 28, 69: Die Rechtsprechung hat die in
§ 410 StPO a. F. angeordnete Rechtskraftwirkung eines Strafbefehls („Ein Strafbe-
fehl, gegen den nicht rechtzeitig Einspruch erhoben worden ist, erlangt die Wirkung
eines rechtskräftigen Urteils.“) in dem Sinn eingeschränkt, daß die Tat unter bislang
noch nicht gewürdigten und straferhöhenden Umständen nochmals verfolgt werden
durfte (Nachweise a. a. O.). Begründet wurde diese mit dem Wortlaut kaum verein-
bare Auffassung375 u. a. mit dem lediglich summarischen Charakter des Strafbefehls-
verfahrens. Die Gegner dieser seit jeher bekämpften Rechtsprechung sahen sich
durch den 1974 (EGStGB) neugestalteten § 153a StPO bestätigt, der sogar bei einer
Einstellung des Strafverfahrens nach Erfüllung von Auflagen eine Rechtskraftwir-
kung vorsieht („kann die Tat nicht mehr als Vergehen verfolgt werden“). Dann
könne es aber nicht sein, daß der einem Urteil gleichstehende Strafbefehl eine ge-
ringere Rechtskraftwirkung besitzt als eine Verfahrenseinstellung (vgl. a. a. O., S. 70).
Der BGH folgt diesem Erst-recht-Schluß nicht, sondern hält an seiner bisherigen
Auffassung fest, weil die Gegenmeinung zu Unrecht „Rechtsgrundsätze aus dem
Bereich eines Rechtsinstituts in den eines anderen“ übertrage (S. 70).376 Der Gesetz-
geber habe weder 1974 noch in der Folgezeit § 410 StPO geändert, obwohl die dazu
ergangene Rechtsprechung bekannt gewesen sei. „Es ist deshalb davon auszugehen,
daß er die Rechtsprechung zu § 410 StPO nach wie vor billigt.“ Auch aus einer
ähnlichen Norm des OWiG könne wegen der dort zu beachtenden Besonderheiten
nichts für die Auslegung des § 410 gefolgert werden. – Die historische Argumenta-
tion des BGH, die aus der Nichtänderung des Normtextes eine Billigung der tradier-
ten Rechtsprechung folgern will, überzeugt nicht. Es bedürfte näherer Anhaltspunkte
dafür, daß die Gesetzesverfasser ihren Blick tatsächlich auch auf § 410 StPO richte-
ten und bewußt auf eine Revision der Vorschrift verzichteten. Viel zu weitreichende
Folgerungen zieht der Senat aus der (angeblichen) Kenntnis der Problematik durch
die Legislative. Überzeugend führt Achenbach aus: Es bedeute eine Überforderung
des „völlig überlasteten Gesetzgebers, wenn man in sein Schweigen mehr hinein-
liest, als was es bedeutet: daß er nämlich den Zusammenhang zwischen §§ 153a
und 410 StPO schlichtweg übersehen hat“.377
Fall 196 (BGHSt 33, 394): § 329 I StPO a. F. ließ die Verwerfung der Berufung zu,
wenn (neben weiteren Voraussetzungen) der Angeklagte „bei dem Beginn der
Hauptverhandlung“ nicht erschienen ist. Die h. M. hielt die Norm für unanwendbar,
375 Siehe z. B. Kleinknecht, JR 1977, 479; K. Schäfer, in: LR-StPO21, § 410, Anm. 2
fehl und Einstellung (jedenfalls bezüglich Vergehen) als Verstoß gegen Art. 3 I GG
bewertet und damit der st. Rechtsprechung des BGH den Boden entzogen. Der Gesetz-
geber hat die Norm durch das StÄG 1987 geändert, im entscheidenden Punkt aber
nichts anderes bestimmt als die Vorläufernorm (steht „einem rechtskräftigen Urteil
gleich“, § 410 III StPO). Unter Einfluß des bundesverfassungsgerichtlichen Urteils so-
wie einer Neuregelung des § 373a, der seit dem StVÄG 1987 für rechtskräftige Straf-
befehle ein erleichtertes Wiederaufnahmeverfahren vorsieht, wird § 410 III StPO nun-
mehr in einem dem Wortlaut entsprechenden, umfassenden Sinn verstanden, vgl.
Meyer-Goßner, StPO, § 411, Rn. 11–12.
377 Achenbach, NJW 1979, 2021 (2022); ähnlich Groth, NJW 1978, 197 (198) mit
wenn ein Urteil durch das Revisionsgericht aufgehoben und zur erneuten Verhand-
lung an das Berufungsgericht zurückverwiesen wurde (vgl. BGHSt 17, 188). Ebenso
entschied sie für § 74 II OWiG a. F., der die gleiche Thematik für das Bußgeldver-
fahren regelte, allerdings als Ermessensnorm formuliert war („kann“ verwerfen).378
Durch das 1. StVRG 1974 hat der Gesetzgeber diese sich nicht direkt aus dem
Wortlaut ergebende Interpretation ausdrücklich in § 329 I 2 StPO aufgenommen.
Hingegen wurde § 74 II OWiG nicht mit der entsprechenden Ergänzung versehen,
sondern nur in einem anderen Punkt geändert.379 Konnte daraus der (historisch-sy-
stematische) Gegenschluß gezogen werden, daß § 74 II OWiG anders als § 329 I 2
StPO eine Verwerfung trotz revisionsgerichtlicher Entscheidung noch zuließ? Der
BGH bejaht das und hält eine Verwerfung nach Ausübung des Ermessens für mög-
lich. Aus den Materialien lasse sich zwar keine Meinung des Gesetzgebers zu dieser
Frage erkennen (S. 397).
„Dieses Schweigen läßt jedoch nicht den Schluß zu, die Frage sei unentschieden
geblieben. Auch ohne Änderung des Gesetzeswortlauts kann der Gesetzgeber über
eine bestimmte, rechtlich zu regelnde Frage eine Entscheidung treffen; das kann bei
Änderung einzelner Vorschriften eines Gesetzes der Fall sein, wenn sich sein Betäti-
gungswille auch hinsichtlich im Wortlaut unverändert gebliebener Paragraphen aus
dem engen sachlichen Zusammenhang zwischen unveränderten und geänderten Nor-
men objektiv erschließen läßt, so wenn ein begrenztes und überschaubares Rechts-
gebiet durchgreifend geändert wird und veränderte und unveränderte Normen eng
miteinander zusammenhängen . . .“. (S. 397)
Die objektiv-systematische Folgerung des BGH überzeugt. Der Sachzusammenhang
zwischen § 74 II OWiG und § 329 I StPO sowie die Tatsache, daß beide Normen
durch das gleiche Gesetz (1. StVRG) geändert wurden, spricht stark für einen
bewußten Verzicht des Gesetzgebers, beide verfahrensrechtliche Normen inhaltlich
identisch zu gestalten.380 Im Ergebnis bedeutet das für § 74 II OWiG (a. F.) eine
veränderte Interpretation auf Basis eines (im hier relevanten Bereich) unveränderten
Gesetzestextes!381 Anders als im vorhergehenden Fall (BGHSt 28, 69) existieren so-
mit Anhaltspunkte dafür, daß der Gesetzgeber auch eine Aussage zur sachverwand-
ten, aber unveränderten Vorschrift treffen wollte.
Als weitere interessante Entscheidungen zu diesem Fragenkreis sind zu nennen:
BGHSt 2, 393 sieht in der Umgestaltung des Erpressungstatbestandes 1943 durch
den Gesetzgeber eine Bestätigung der h. M. zur Frage, ob zur Abgrenzung von Ver-
brechen und Vergehen (§ 1 StGB a. F.) eine abstrakte Betrachtungsweise (Höhe der
Strafdrohung) oder eine konkrete (die tatsächlich verhängte Strafe) gelten soll. Dies
378 Siehe OLG Hamm MDR 1974, 599; eine dahingehende Entscheidung des BGH
1986, 18 (21). Fezer, JR 1987, 84 (85) stimmt der Folgerung des BGH zu, befürwortet
allerdings die Korrektur des § 74 II OWiG (a. F.) im Sinn des § 329 I 2 StPO.
381 Dagegen wird man nicht sagen können, der ursprüngliche gesetzgeberische
Wille sei durch einen neuen ausgetauscht worden, denn was die ursprüngliche Inten-
tion des Gesetzgebers zur vorliegenden Frage war, wird nicht erörtert.
336 IV. Entstehungsgeschichte
382 Anders §§ 275 I 2, 338 Nr. 7 StPO seit dem 1. StVRG 1974.
383 Ähnlich argumentiert BGHSt 36, 270 (274) gegen die Annahme eines Analogie-
schlusses: Der Gesetzgeber habe in Kenntnis der Problematik von einer Regelung ab-
gesehen.
384 Rengier, in: Festgabe 50 Jahre BGH, Bd. IV, S. 472.
385 BGHSt 28, 100 hält die Subsumtion ja bereits für unvereinbar mit dem Wortlaut,
so daß sich die Frage nicht mehr stellt (näher oben Fall 70).
386 Strukturell kommt es nicht darauf an, daß es hier um die Bestätigung eines ge-
387 BVerfG NStZ 1991, 383 zieht § 112a StPO allerdings immerhin als Argument
dafür heran, daß die Anerkennung der fortgesetzten Handlung mit dem (damals) gel-
tenden Recht harmoniert. Vgl. zu diesem Aspekt Keppler, NJ 1994, 530.
388 Grundsätzlich krit. auch Achenbach, NJW 1979, 2021 (2022).
389 Insofern paßt die Bezeichnung „lex ferenda“ nicht ganz genau.
338 IV. Entstehungsgeschichte
Fall 199 (BGHSt 43, 370 – „Amtsträger“): Der Senat weist darauf hin, daß die lex
ferenda (Korruptionsbekämpfungsgesetz 1997) das Problem ebenso löse wie er und
eine Klarstellung enthalte; laut Begründung zum Regierungsentwurf sei die Geset-
zesänderung auch nur als Klarstellung des bereits geltenden Rechts zu verstehen
(S. 377). – Der Senat möchte den naheliegenden Umkehrschluß aus der abweichen-
den Formulierung durch das Heranziehen der Entwurfsbegründung vermeiden, ob-
wohl das zukünftige Recht solche Schlußfolgerungen ohnehin nicht zuläßt.
Fall 200 (BGH JR 2000, 475): Das Regelbeispiel des § 177 III 2 Nr. 1 StGB i. d. F.
des 33. StÄG 1997 setzte voraus, daß „der Täter mit dem Opfer den Beischlaf voll-
zieht oder ähnliche sexuelle Handlungen an dem Opfer vornimmt“. Fiel auch der
Oralverkehr darunter, den das Opfer am Täter ausführen mußte? Der BGH verneint
und verweist auf die Formulierungen des geltenden wie des früheren Sexualstraf-
rechts, die sämtlich zwischen Handlungen des Täters am Opfer und solchen des
Opfers am Täter explizit unterschieden (S. 476, l. Sp.). Das für den vorliegenden
Fall noch nicht geltende 6. StrRG 1998 enthalte zwar wieder beide Formulierungen,
jedoch handele es sich dabei nicht – wie der Rechtsausschuß meine – um eine
„Klarstellung“ der bisherigen Rechtslage. Vielmehr sei die Fassung des 33. StÄG
lückenhaft. – Der BGH weist zu Recht Äußerungen des „neuen“ Gesetzgebers über
den Inhalt der früheren Regelung als irrelevant zurück.393
Unzutreffend mit dem zukünftig geltenden Recht argumentiert jedoch fol-
gende Entscheidung:
Fall 201 (BGHSt 47, 89): § 21 StVG stellt das Fahren ohne die erforderliche Er-
laubnis unter Strafe. Wer den Führerschein (als Nachweis über die Fahrerlaubnis)
lediglich nicht bei sich führt, begeht nur eine Ordnungswidrigkeit. Für Inhaber einer
ausländischen Fahrerlaubnis bestimmte § 4 I 1 c) IntVO i. d. F. bis 1998394, daß
Fahrzeugführer, die eine gültige „ausländische Erlaubnis zum Führen von Kraftfahr-
zeugen (Fahrausweis) nachweisen“, im Umfang „der dadurch nachgewiesenen Be-
rechtigung“ Fahrzeuge in Deutschland führen dürfen. Nach Ansicht des BGH ist das
„Nachweisen“ nicht wörtlich zu verstehen, weil andernfalls eine Benachteiligung
gegenüber Inhabern einer inländischen Fahrerlaubnis eintreten würde (S. 96). Zu-
dem wären einige Bußgeldvorschriften in der IntVO (a. F.) „sinnlos“, wenn bereits
das Nichtmitführen des Führerscheins als Straftat gelten würde (S. 97). Ohnehin sei
der Wortlaut des § 4 nicht präzise gefaßt, wie die Gleichstellung von Fahrerlaubnis
und Fahrausweis zeige (S. 96). „Die fehlende Tragfähigkeit des Wortlautarguments
wird sodann auch durch die neue Fassung der Vorschrift, mit der eine inhaltliche
Änderung nicht beabsichtigt war . . ., belegt“ (S. 96). Dort werde nunmehr wie bei
der inländischen Fahrerlaubnis differenziert (S. 97). „Da mit der Neufassung . . .
keine inhaltliche Änderung beabsichtigt war, erweist sich der Schluß von dem Wort-
laut des § 4 IntVO a. F. darauf, daß Inhaber einer ausländischen Fahrerlaubnis bei
Scheitern ihres Nachweises – anders als Inhaber einer deutschen Fahrerlaubnis –
strafbar sind, als nicht tragfähig“ (S. 97).
393 Zustimmend Kudlich, JR 2000, 476 (477, l. Sp.): Äußerungen in einem späteren
Die Neufassung des Gesetzes und die dafür gegebene Begründung können,
wie BGH JR 2000, 475 gezeigt hat und von BGHSt 47, 89 übersehen wird,
keinen Einfluß auf die Auslegung des früheren Rechts gewinnen, weder im Weg
des Umkehrschlusses aus der geänderten Gesetzesfassung noch im Weg der
Klarstellung aus dem subjektiven Willen der Gesetzesverfasser („auch nur als
Klarstellung gemeint“). Möglich ist die Berücksichtigung des neuen Rechts nur,
wenn das noch gültige eine dahingehende Auslegung zuläßt. Zur Feststellung
dessen darf jedoch nicht seinerseits auf das neue Recht zurückgegriffen werden;
die Auslegungsfaktoren sind insoweit vergangenheitsbezogen395.
Interessante Probleme der historischen Auslegung ergeben sich, wenn der Ge-
setzgeber bereits aufgehobene Regelungen (ganz oder teilweise) wiedereinführt
oder Normen eines früheren Gesetzgebers übernimmt. BGHSt 1, 175 verlangt
nähere Anhaltspunkte dafür, daß der Gesetzgeber sich mit der Wiedereinfüh-
rung einer Bestimmung auch die Begründung zur (wortgleichen) Vorgänger-
norm zu eigen macht; dafür sei im konkreten Fall nichts ersichtlich (S. 179).396
Solche Anhaltspunkte kann BGHSt 30, 98 finden und zieht daraus noch weiter-
gehende Folgerungen: Der Gesetzgeber habe bei Einführung der Vorschrift zur
Rechtsmitteleinschränkung im Jugendstrafverfahren (§ 55 JGG) ausdrücklich
auf ein durch Notverordnung 1932 eingeführtes gesetzliches Vorbild zurückge-
griffen (S. 102). Deshalb sei davon auszugehen, „daß er sie auch so einführen
wollte, wie sie in der Praxis gehandhabt worden war“ (S. 103).397 Der subjek-
tive Wille des Gesetzgebers soll also nicht nur die Vorstellungen „seines“ Vor-
gängers, sondern auch die darauf aufbauende Rechtspraxis vereinnahmen. Eine
solche Fiktion ist jedoch kaum haltbar. Sie hätte zur Konsequenz, daß die Über-
nahme oder Überarbeitung einer Regelung zugleich die herrschende Deutung zu
allen strittigen Einzelfragen zementieren würde. Jede Abweichung von der frü-
heren Rechtsprechung – schon für sich gesehen problematisch genug – würde
damit zwangsläufig in Widerspruch zum Willen des historischen Gesetzgebers
geraten. Die Übernahme oder Wiedereinführung einer Regelung durch den Ge-
setzgeber impliziert nicht, daß der Gesetzgeber die mit der Norm verbundenen
Probleme geprüft und die bislang herrschende Ansicht (der Rechtsprechung)
daß der Gesetzgeber des StGB die Vorstellungen des preußischen Gesetzgebers geteilt
haben soll.
397 Gleiche Argumentation bei RGSt 69, 289 (294), die jedoch von BGHSt 8, 294
(298) mit der „Andeutungstheorie“ beiseite geschoben wird (siehe oben Fall 125).
7. Schlußfolgerungen aus Handlungen oder Untätigkeit des Gesetzgebers 341
dazu für richtig befunden hat. Wie auch sonst ist maßgeblich, ob der Entste-
hungsgeschichte Anhaltspunkte für das konkret vorliegende Auslegungsproblem
entnommen werden können. Nimmt der Gesetzgeber in den Materialien etwa
zustimmend Bezug auf eine bestimmte Interpretation, wird man dies im Sinn
einer (gemäßigt) subjektiven Auslegungslehre durchaus als maßgebend ansehen
können.
Daß die Übernahme einer früheren Regelung nicht zwangsläufig die Über-
nahme eines früheren Rechtszustands bedeutet, zeigt der BGH in folgender,
freilich nicht überzeugend begründeter Entscheidung:
Fall 202 (BGHSt 23, 64): Konnte das aufgrund einer Amnestie eingestellte Straf-
verfahren als selbständiges („objektives“) Einziehungsverfahren fortgeführt werden?
Das StraffreiheitsG 1949 enthielt hierzu keine Regelung, so daß trotz prozeßökono-
mischer Nachteile die ganz h. M. von der Unzulässigkeit der Fortführung ausging
(vgl. a. a. O., S. 66). Dagegen sah das StraffreiheitsG 1954 „im Interesse der Verein-
fachung und Kostenersparnis“ eine ausdrückliche Regelung vor (vgl. a. a. O.), wäh-
rend im Gesetz 1968 merkwürdigerweise wiederum eine Regelung fehlte. Aber, so
der BGH: „Es kann nicht angenommen werden, daß der Gesetzgeber zu dem frühe-
ren unbefriedigenden Zustand zurückkehren wollte.“ Wegen der ausdrücklichen Re-
gelung im Gesetz von 1954 und mangels gegenteiliger Bekundungen in den Mate-
rialien zum Gesetz von 1968 sei von einem „allgemeinen Grundsatz“ auszugehen,
daß die Verfahren zu diesem Zweck fortgeführt werden dürfen (S. 67). – Wieder
einmal springt der Senat dem Gesetzgeber zur Seite, allerdings mit einer zweifelhaf-
ten Argumentation. Die ausdrückliche Regelung von 1954 spricht doch gerade für
einen Gegenschluß und daß aus den Gesetzesmaterialien nichts Gegenteiliges folgt,
ist angesichts der ja fehlenden Regelung nicht weiterführend. Auch die generelle
Unterstellung, der Gesetzgeber wolle nicht zu einem unbefriedigenden Zustand
zurückkehren, besagt nichts, sondern ist allenfalls als Einfallstor einer objektiven
Gesetzesauslegung zu verstehen: Kein Gesetzgeber will „Unvernünftiges“. Unklar
bleibt schließlich, auf welchem methodischen Weg der „allgemeine Rechtsgrund-
satz“ gewonnen wird. Eine Rechtsfortbildung wäre insoweit denkbar, bleibt im Ur-
teil aber unerörtert.
Anders liegt es in folgendem Beispiel, in dem es der Gesetzgeber – offenbar
im Vertrauen auf eine subjektiv-historische Auslegung – versäumte, ein alte Un-
klarheit zu bereinigen:
Fall 203 (BGHSt 30, 328): Die Rechtsprechung hat § 128 StGB a. F. (Geheimbün-
delei) und § 129 StGB (Bildung krimineller Vereinigungen) einschränkend dahinge-
hend interpretiert, daß die Vereinigung wenigstens eine Teilorganisation im Gel-
tungsbereich des GG haben muß. Auch den 1976 eingefügten Qualifikationstatbe-
stand § 129a interpretiert der BGH in diesem Sinn. Bei den Gesetzesberatungen sei
man von diesem eingegrenzten Bereich ausgegangen (S. 329). Daß der Wortlaut
(wiederum) eine derartige Einschränkung nicht enthält, lasse angesichts der Entste-
hungsgeschichte keinen Gegenschluß zu, denn nach der einengenden Auslegung der
§§ 128 a. F., 129 habe für den Gesetzgeber kein Anlaß zu abweichender Formulie-
rung bestanden (S. 330 f.). – Ein Gegenschluß war hier in der Tat weder bei objek-
tiv- noch bei subjektiv-historischer Betrachtung veranlaßt. Zur Klarstellung der strit-
342 IV. Entstehungsgeschichte
tigen Situation war der Gesetzgeber aber in jedem Fall aufgerufen!398 Das zeigt u. a.
die Anmerkung von Rudolphi, der den „objektiven Sinn und Zweck“ der Norm an-
ders bestimmt als der BGH und den entgegengesetzten Willen des Gesetzgebers an
der Andeutungstheorie scheitern läßt.399
Eine ähnliche Situation ergab sich in BGHSt 2, 29: Der Gesetzgeber kehrte nach
zwischenzeitlich klarer Gesetzesfassung zur ursprünglichen, aber problematischen
zurück. Der BGH berücksichtigt den fehlenden Änderungswillen des Gesetzgebers
und knüpft – ungeachtet eines „objektiv“ vertretbaren Umkehrschlusses – an seine
Rechtsprechung zur früheren Norm an (näher oben Fall 187).
geber dieses Verhalten nicht für straflos erklären wollen, sondern sei von der Straf-
barkeit gemäß § 267 StGB (Urkundenfälschung) ausgegangen (S. 296).
Mit der Streichung von Vorschriften durch den alliierten Kontrollrat beschäf-
tigen sich zwei methodisch wie zeitgeschichtlich interessante Entscheidungen,
zum einen zur Problematik der Bestimmungsmensur (BGHSt 4, 24), zum ande-
ren zur Frage, wie die freiwillige Sterilisation strafrechtlich zu behandeln ist
(BGHSt 20, 81).
Fall 204 (BGHSt 4, 24 – „Bestimmungsmensur“): Das RG hat das Schlagen von
Mensuren auch bei Einhaltung von Schutzmaßnahmen als „Zweikampf mit tödli-
chen Waffen“ (§§ 201/205 StGB a. F.) eingestuft, im Widerspruch zur einhelligen
Auffassung in der Wissenschaft und zur Praxis der Untergerichte, die auf die kon-
krete Verwendung der Schläger abstellten.400 1933 erklärte der Gesetzgeber die
Schlägermensur ausdrücklich für straffrei, § 210a StGB a. F. Die Vorschrift wurde
jedoch vom Kontrollrat 1946 wieder aufgehoben, woraus der Oberbundesanwalt
schließt, daß die Schlägermensur wieder strafbar sein soll (vgl. a. a. O., S. 29). Der
BGH folgt dem nur im Ausgangspunkt: „Wenn der frühere Wortlaut des Gesetzes
wiederhergestellt wird, so kann das nur dahin verstanden werden, daß auch der frü-
here Rechtszustand wiederhergestellt werden soll. Dieser Rechtszustand war so be-
schaffen, daß das Reichsgericht in einigen wenigen Fällen die Bestrafung durchge-
setzt hatte, während im übrigen Zehntausende von Mensuren straffrei geblieben wa-
ren“ (S. 29 f.). Die darin liegende Ungewißheit habe der Kontrollrat nicht beseitigt,
sondern sich lediglich von § 210a distanziert (S. 30). Es sei „durchaus denkbar, daß
er die Entscheidung den Gerichten überlassen wollte“.401 Da der Gesetzgeber selbst
die Vorschriften über den Zweikampf (implizit) als obsolet angesehen habe, könne
die Bestimmungsmensur nicht nach diesen bestraft werden. Hinsichtlich des nach
Ansicht des BGH dann allerdings anwendbaren § 223a StGB a. F. (gefährliche Kör-
perverletzung) kam es auf die interessante Frage an, ob die Tat trotz Einwilligung
als sittenwidrig zu bewerten war (§ 226a a. F. = § 228 n. F.).402 Da in der Beurtei-
lung der Bestimmungsmensur keine Einigkeit bestehe, könne sie nicht als sittenwid-
rig angesehen werden (S. 32). – Fraglich ist, ob der Maßnahme des Kontrollrats der
Wille zugrunde liegt, die Bestimmungsmensur (wieder) unter Strafe zu stellen oder
sogar ganz konkret die Auslegung „Schläger = tödliche Waffe“ zu sanktionieren.
Dann würde ein Abweichen von der Rechtsprechung des RG nicht nur einen Recht-
400 Siehe z. B. Schönke/Schröder, StGB8, vor § 201, Anm. II, S. 732 mit Nachwei-
sen.
401 Eb. Schmidt hält nichts für so unwahrscheinlich wie diese Annahme (JZ 1954,
370; vgl. zur methodischen Haltung Eb. Schmidts auch oben Kap. II, Fn. 101); ebenso
Zimmermann, NJW 1954, 1628 (1630, r. Sp.): kühn und gewagt. Auch Hartung, der
im Ergebnis dem BGH folgt, hält es für wahrscheinlich, daß die Gesetzesverfasser
„geglaubt haben“, die Strafbarkeit wiederherzustellen (NJW 1954, 1225 [1226]).
402 Auf die eigentliche Pointe der Problematik weist deshalb Hartung (NJW 1954,
1225 [1226, l. Sp.]) in Erwiderung auf Eb. Schmidt hin: Das RG habe den eigentlich
fernliegenden § 205 a. F. gerade deshalb angewandt, um die ungünstigeren Folgen des
§ 223a zu vermeiden. Denn erst der ebenfalls 1933 eingeführte § 226a habe zuverläs-
sig die Möglichkeit der rechtfertigenden Einwilligung bei § 223a eröffnet. Da der
Kontrollrat jedoch nur § 210a, nicht aber § 226a aufhob, sei der Grund für die „ge-
künstelte“ Auslegung des § 205 durch das RG entfallen!
344 IV. Entstehungsgeschichte
403 Angesichts der von Hartung (wie Fn. zuvor) geschilderten Umstände, kann man
allerdings sagen, der Wille des Kontrollrats sei irrtumsbefangen gewesen, da die Ge-
setzesverfasser die Hintergründe der reichsgerichtlichen Rechtsprechung sicherlich
nicht überschaut haben. Deshalb ist eine Abweichung vom Willen des Kontrollrats
womöglich gerechtfertigt.
404 In diesem eingeschränkten Sinn deutet Jescheck (GA 1955, 97 [99]) das Aufhe-
bungsgesetz.
405 Eben diese Prämisse ist zweifelhaft und führt den BGH zu den fragwürdigen
entkleidet“ (= aufgehoben) wurden, durften sie wegen Art. IV KRG für diesen Be-
reich auch nicht mehr in Kraft gesetzt werden (S. 84).406 Die entstehende Gesetzes-
lücke müsse der Gesetzgeber schließen (S. 85). – Die einfache Regel, wonach mit
Aufhebung eines Gesetzes der vorherige Rechtszustand wieder gilt, hätte dem BGH
nicht geholfen. Er muß deshalb die dafür vorgesehene Sonderregelung des KRG
über Gebühr strapazieren, um die s. E. unhaltbare Konsequenz – härtere Bestrafung
als nach NS-Recht! – zu umgehen.
Im Ergebnis bedeutet die Aufhebung einer Norm regelmäßig die Rückkehr
zum früheren Rechtszustand. Fraglich ist allerdings, ob damit auch die Recht-
sprechung zu den wieder gültigen Vorschriften ihre legislativen („subjektiven“)
Weihen erhält, indem sie der historische Gesetzgeber in seinen Willen einbe-
zieht. Dann würde ein Rechtsprechungswandel eine Mißachtung dieses Willens
darstellen. Das ist letztlich die gleiche Frage, die sich auch bei der Wiederein-
führung einer Norm stellt, und sie kann ebenso beantwortet werden: Mit der
Rückkehr zur früheren Norm ist keine pauschale Übernahme der dazu ergange-
nen Rechtsprechung verbunden. Es kommt vielmehr darauf an, welche gesetz-
geberische Intention der Entstehungsgeschichte zum jeweiligen Problem ent-
nommen werden kann. Umgekehrt folgt daraus, daß der Gesetzgeber vor einem
Rechtsprechungswandel nicht generell „geschützt“ ist. Der BGH hat mit der
„Übernahme-These“ nicht unerhebliche Probleme und muß in den genannten
Beispielen zu „Krücken“ greifen, um unliebsame Konsequenzen dieser These
zu vermeiden.
406 Diese Auslegung des Art. IV KRG Nr. 11 ist auch vom Ausgangspunkt des
BGH kaum haltbar: Eine Spezialregelung (§ 226b) „hebt“ nicht die allgemeinen Re-
geln (§§ 223 ff.) „auf“. Zum wirklichen Sinn des Art. IV KRG siehe Engisch, Kriti-
sche Anmerkungen, S. 17. Zudem hätte diese Erwägung konsequent auch in der Ent-
scheidung BGHSt 4, 24, mit der sich der Senat nur sporadisch auseinandersetzt (vgl.
a. a. O., S. 86), zu einem anderen Ergebnis führen müssen; siehe Hanack, JZ 1965, 221
(222) und Schwarz/Dreher, StGB29, § 226a, Anm. 2 B.
346 IV. Entstehungsgeschichte
gen bzw. mit Konstruktionen eines gesetzgeberischen Willens, dem sie sich mit
logisch-systematischen Erwägungen annähern. Das daraus resultierende Wahr-
scheinlichkeitsurteil überzeugt freilich meist nur in Verbindung mit weiteren
Anhaltspunkten, welche die Sicherheit dieses Urteils erhöhen. Im Sinn der sub-
jektiven Auslegung wird das Mosaik „Wille des Gesetzgebers“ letztlich nur
komplett, wenn die logischen Schlußfolgerungen einen Rückhalt in den Geset-
zesmaterialien finden.
Den Zusammenhang macht BGHSt 27, 120 (123) deutlich: Einen anderen Sinn hätte
der Gesetzgeber „unschwer“ durch eine Textänderung erreichen können; diese am
Wortsinn orientierte Auslegung entspreche auch „dem tatsächlichen Willen des Ge-
setzgebers“.
Die in der Rechtsprechung auftretenden Argumentationsfiguren haben dem-
entsprechend unterschiedliche Überzeugungskraft. Besondere Zurückhaltung ist
gegenüber der „Wenn-dann-hätte-Argumentation“ angebracht, vor allem wenn
der BGH selbst die Formulierungen vorschlägt, die der Gesetzgeber (wohl) bei
anderer Intention gewählt haben würde407. Damit werden die gesetzestechni-
schen Fähigkeiten häufig überstrapaziert, denn mit Gewißheit kann nur gesagt
werden, daß „klügere“ Gesetzesverfasser die Sachlage besser getroffen hätten.
Eher trägt diese Begründung, wenn auf abweichende oder übereinstimmende
Gesetzesformulierungen, am besten bei sachnahen Regelungen im gleichen Ge-
setz, verwiesen werden kann.408 Gerne betonen die Strafsenate in diesem Zu-
sammenhang, daß die Gesetzesverfasser eine andere Ansicht „einfach“, „leicht“
oder „unschwer“ zum Ausdruck hätten bringen können409, daß eine Klarstellung
„ohne weiteres“ möglich oder sogar „naheliegend“ gewesen wäre. Auch diese
Argumentation läßt mitunter Schlüsse auf die gesetzgeberische Intention zu,
enthält aber daneben einen psychologischen Aspekt: Die eigene, womöglich an-
greifbare Position soll gestärkt werden durch eine Rückverlagerung der Verant-
wortung: Dem Gesetzgeber geschieht kein „Unrecht“ in Anbetracht der von ihm
außer acht gelassenen und naheliegenden Möglichkeiten!410 Ein schwerwiegen-
der Einwand gegenüber solchen Argumentationstypen besteht allerdings darin,
daß eine Klarstellung des Gesetzestextes meist sowohl in die eine als auch in
die andere Richtung möglich war411; dann aber kann aus einem Versäumnis der
Gesetzesverfasser, die Norm klarzustellen, nichts folgen, und andere Kriterien
407 BGHSt 5, 179 (181); 6, 163 (164); 26, 298 (303 f.); 48, 34 (38). „Unschädlich“
sind solche Hinweise, wenn der BGH die Rechtslage oder die anwendbare Norm ohne-
hin für klar oder eindeutig hält, siehe z. B.: BGHSt 3, 277 (279); 4, 119 (121); 6, 163
(164): andere Ansicht mit dem Wortlaut unvereinbar; 6, 312 (314); 7, 198 (201): wei-
tere Klarstellung war nicht nötig.
408 BGHSt 6, 312 (314); 11, 52 (53); 21, 139 (140); 42, 368 (371).
409 Siehe oben Kap. III, Fn. 137.
410 Z. B. BGHSt 44, 233 (241).
411 Zweifelhaft deshalb die Argumentationen in BGHSt 12, 392 (396) und 44, 145
(152).
7. Schlußfolgerungen aus Handlungen oder Untätigkeit des Gesetzgebers 347
müssen den Ausschlag geben412. Auf mehr oder weniger plausiblen Unterstel-
lungen und Wahrscheinlichkeiten beruht ein weiteres Begründungsmuster, des-
sen sich die Rechtsprechung gerne bedient: Ungewöhnliche Regelungen oder
einschneidende Folgen413, erhebliche Straferhöhungen414, Strafbegründungen415,
Abweichungen vom bisherigen Rechtszustand416, von einer herrschenden Mei-
nung417 oder ständigen Rechtsprechung418 hätte der Gesetzgeber bedacht bzw.
deutlicher zum Ausdruck gebracht. Im Zweifel verdient dann das Festhalten am
status quo den Vorzug.
Mit Unterstellungen arbeitet die Rechtsprechung auch, wenn sie betont, der
Gesetzgeber habe „in Kenntnis“ der Problematik (siehe bereits oben IV 7 c am
Ende), in Kenntnis der bisherigen Rechtsprechung oder anderer Umstände –
z. B. des üblichen Sprachgebrauchs – gehandelt. Dahinter verstecken sich aller-
dings verschiedene Argumentationsmuster mit je unterschiedlicher Überzeu-
gungskraft. Zunächst kann darin der „Normalfall“ subjektiver Gesetzesausle-
gung zum Ausdruck kommen: Die nach äußeren Kriterien naheliegende Lösung
wird subjektiv-historisch abgesichert. Insbesondere bei unstimmigen („auffäl-
ligen“) Regelungen sucht die Rechtsprechung so eine Entlastung:
Fall 206 (BGHSt 21, 141 und 334): Bis 1964 mußten die Revisionsgerichte eine
aufgehobene Strafsache in der Regel an denselben Spruchkörper zurückverweisen;
allein die erneute Befassung mit der Sache konnte demgemäß ohne weiteren Anlaß
keine Befangenheit eines Richters begründen. Der darin liegenden Problematik für
den Betroffenen wollte der Gesetzgeber des StPÄG gerecht werden, indem er in
§ 354 II StPO die Zurückverweisung an einen anderen Spruchkörper oder ein ande-
res Gericht bestimmte. Zu einem generellen Ausschluß von Richtern, die an der
Sache in irgendeiner Form (z. B. als Zivilrichter) beteiligt waren, konnte der Gesetz-
geber sich hingegen nicht entschließen; ein dahingehender Antrag wurde im Rechts-
ausschuß abgelehnt (vgl. a. a. O., S. 144). Aus der Entstehungsgeschichte folgt nach
Ansicht des BGH auch, daß „andere Kammer“ nicht „anders besetzte Kammer“
meint (S. 144). So kann es in Extremfällen passieren, daß der Angeklagte durch
412 Richtig BGHSt 29, 317 (319) und vor allem BGHSt 25, 97 (98), wo fast mit
setzgeber bedacht.
414 BGHSt 42, 368 (371).
415 BGHSt 28, 48 (52).
416 BGHSt GS 4, 308 (316): Ausweitung gegenüber früheren Rechtszustand wäre
Standpunkt zumindest erörtert; BGHSt 27, 45 (49), siehe die wörtliche Wiedergabe
oben bei Fall 189.
418 BGHSt 7, 153 (156): „Hätte der Gesetzgeber dieser jetzt 100 Jahre alten und
419 Nachweise bei Hanack, NJW 1967, 580 und in: LR-StPO25, § 354, Rn. 59.
420 Hier zeigt sich wieder die „Fernwirkung systematischer Auslegung“, vgl. oben
IV 7 c.
421 Besser sollte es heißen trotz Kenntnis der „Rechtslage“, denn daß allein die Zu-
äußeren Faktoren zu erschließen, ist eine andere Frage; siehe bereits oben IV 4 a und
Fn. 194.
7. Schlußfolgerungen aus Handlungen oder Untätigkeit des Gesetzgebers 349
BGHSt 6, 304: Die geläufige und differenzierte Terminologie könne dem Gesetz-
geber „nicht entgangen sein“, so daß sie auch hier zugrunde gelegt werden könne
(S. 307). — BGHSt 10, 28 (oben Fall 22): In Reaktion auf die Rechtsprechung zur
Einziehungsvorschrift des StGB (§ 40 a. F.) habe der Gesetzgeber spezielle Einzie-
hungsregelungen im Waffenrecht, nicht aber – trotz mehrfacher Gelegenheit und in
Kenntnis der Rechtsprechung zu § 40 StGB – im Straßenverkehrsrecht geschaffen
(S. 34). — BGHSt 18, 242 (oben S. 88, „Erwerb“ von Waren durch Diebstahl?):
Hätte der Gesetzgeber auch Diebstähle unter Zollstrafe stellen wollen, „so wäre es
unerfindlich, weshalb er dafür Begriffe verwandt hätte, die nach dem allgemeinen
Sprachgebrauch in der Regel einen rechtsgeschäftlichen Erwerb bezeichnen, und
warum er es nicht klargestellt hätte, daß . . . Dies wäre um so mehr nahegelegen, als
. . .“ (S. 245). — BGHSt 42, 368 (oben Fall 36): Da dem Gesetzgeber der bisher
einheitliche Sprachgebrauch für Strafschärfungen wegen Waffenführens bekannt
war, hätte er unschwer eine entsprechende Klarstellung aufnehmen können
(S. 371).425
Fall 207 (BGHSt 26, 221): Wie schwierig Folgerungen in diesem Bereich sind,
zeigt BGHSt 26, 221: Der Ausschluß eines Strafverteidigers an der Mitwirkung am
Strafverfahren gemäß § 138a I StPO (i. d. F. von 1971 bis 1976) schließt auch die
(spätere) Verteidigung eines Mitangeklagten in diesem Verfahren aus, ohne daß es
darüber gesonderter Beschlüsse bedürfte.426 Die Gesetzesmaterialien sprächen eher
für diese Ansicht (S. 226). Sowohl Äußerungen des Rechtsausschusses als auch des
Strafrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer gingen in diese Richtung
(S. 227).427 Dem Gesetzgeber sei dadurch die Problematik nahegebracht worden.
Deshalb sei davon auszugehen, daß er eine „eindeutig einschränkende Fassung ge-
wählt haben würde, wenn er eine . . . Beschränkung der Tatbestandswirkung eines
Verteidigerausschlusses gewollt hätte“ (S. 227). – Die Begründung des BGH über-
zeugt kaum. Der Gesetzgeber wird auf viele Probleme hingewiesen und zu erwarten
ist sowohl eine Klarstellung in die eine wie in die andere Richtung! Dennoch hat er
schlicht eine unklare Gesetzesfassung gewählt.
Bedenken bestehen schließlich gegenüber der bereits erwähnten Annahme,
der Gesetzgeber bestätige den status quo, wenn er „in Kenntnis“ der Praxis
nichts unternehme, obwohl ihm das möglich war („beredtes Schweigen“). Die
Problematik dieser Argumentation liegt vor allem in der Unklarheit darüber,
wann der Gesetzgeber wirklich eine Thematik in den Blick genommen und
bewußt darüber entschieden hat, zumal wenn der Text der einschlägigen Vor-
schrift nicht geändert wurde; zu leicht kann den Gesetzesverfassern eine Kennt-
nis untergeschoben werden.428 Der BGH steht diesem Begründungsmuster frei-
lich positiv gegenüber, muß dann aber einige Anstrengungen unternehmen, um
425 Zur „Kenntnis“ des Gesetzgebers außerdem: BGHSt 17, 149 (153); GS 32, 115
sich im Einzelfall dann doch von seiner durch den Gesetzgeber bestätigten
Rechtsprechung lösen zu können:
BGHSt 47, 202 (siehe nochmals oben Fall 175 – „Opferschutz“): „Allerdings ist die
Kenntnis des Gesetzgebers von der bisherigen Rechtsprechung ein gewichtiger Ge-
sichtspunkt bei der Auslegung neuer Gesetze“ (S. 206). Die durch „Nichtregelung“
der Problematik (!) bestätigte Rechtsprechung überwindet der BGH mit einem Hin-
weis darauf, daß der BGH selbst gegen die damalige Position hin und wieder Be-
denken geäußert habe (S. 207). Der Bestätigung des Gesetzgebers wird gewisser-
maßen die „Geschäftsgrundlage“ entzogen.429
428 Vgl. nochmals oben IV 7 c am Ende und dort die Argumentation Rengiers zu
BGHSt 28, 100. Krit. zu den übertriebenen Folgerungen aus dem Schweigen des Ge-
setzgebers Schneider, Logik, S. 191.
429 Ein ähnliches Argumentationsmuster ergab sich in BGHSt 4, 24 (oben Fall 204).
430 Dazu bereits oben IV 7 b, dort insbesondere die Fälle BGHSt 3, 248; 27, 45; 35,
6; 40, 251.
431 Siehe oben Fn. 227. Zu den denkbaren Umkehrschlüssen, die eine im E 1962
Teilpunkten neu gefaßt, so darf er zudem nicht so sehr nach dem Wortlaut aus-
gelegt werden, wie ein Tatbestand, der vollkommen neu gestaltet worden ist“
(S. 50). Und BGHSt 35, 21 (24) sucht die zweifelhafte Entscheidung BGHSt
29, 311 (siehe oben Fall 34 und Fall 67) mit der Erwägung zu stützen, es liege
möglicherweise nur ein „Scheinproblem“ vor, weil die den Umkehrschluß pro-
vozierende Formulierung „lediglich der Klarstellung diente“. Solche Interpreta-
tionsmaximen sind jedoch gar nicht notwendig. Denn das Bemühen, der gesetz-
geberischen Intention gegen einen verunglückten Wortlaut zum Durchbruch zu
verhelfen, bedarf – bei Beachtung des Analogieverbots432 – keiner besonderen
methodologischen Rechtfertigung. Die Gerichte sollten in diesem Zusammen-
hang aber endlich zur Kenntnis nehmen, daß ihre Vorgehensweise implizit eine
Absage an die „Andeutungstheorie“ beinhaltet (siehe oben IV 3 f und g).
Bei den Folgerungen aus der Wiedereinführung oder Streichung von Geset-
zen wurde bereits erörtert, ob der Gesetzgeber sich damit zugleich für die Maß-
geblichkeit der früheren Rechtsprechung entscheidet. Der BGH nimmt das in
der Regel an, aber wohl doch in zu weitem Umfang (näher oben IV 7 e und f).
Spiegelbildlich stellt sich (aus Perspektive der Legislative) die Frage, ob der
Gesetzgeber vor einer Änderung der Rechtsprechung gefeit ist, mit der womög-
lich die Grundlage einer gesetzgeberischen Maßnahme beseitigt würde. Her-
kömmlich wird das Thema „Rechtsprechungswandel“ nur unter der Fragestel-
lung diskutiert, ob der Bürger aus Gründen der Rechtssicherheit dagegen
Schutz genießt.433 Im Verhältnis zwischen Legislative und Judikative stellt sich
das Problem ebenfalls, allerdings nicht unter dem Gesichtspunkt der Grund-
rechte, sondern der subjektiv-historischen Auslegung. In der Entscheidung
BGHSt 30, 328 (oben Fall 203) hat der Senat z. B. berücksichtigt, daß der Ge-
setzgeber bei Einführung der Vorschrift die einschränkende Auslegung einer
sachverwandten Norm durch die Praxis zugrunde gelegt hat. Auch in folgender
Entscheidung will der BGH dem Gesetzgeber nicht durch eine Änderung der
Rechtsprechung die Grundlage entziehen:
Fall 208 (BGHSt 24, 222, vgl. oben BGHSt 25, 10 = Fall 86): Die Rechtsprechung
hat bereits vor Änderung der Einziehungsvorschriften durch das EGOWiG 1968 die
Eigentümerstellung („gehört“) nach juristischen, nicht nach wirtschaftlichen Krite-
rien bestimmt. Bei einer Sicherungsübereignung war demzufolge der Sicherungsneh-
mer als der von der Einziehung betroffene Eigentümer zu behandeln. Nach Ansicht
des Senats hat diese Rechtsprechung mit dazu beigetragen, daß der Gesetzgeber bei
434 Endriß/Kinzig, NJW 2001, 3217 (3220): Offenbar werde, wie unterschiedlich
Strafrichter „auslegen können, selbst wenn sie sich auf dieselben Quellen beziehen“.
7. Schlußfolgerungen aus Handlungen oder Untätigkeit des Gesetzgebers 353
angenommen werden, daß der Landesgesetzgeber – dessen Wille hier auszulegen ist
– den von ihm eingeführten Ausschüssen das Recht zulegen wollte, die Antragsteller
zu vereidigen“ (S. 116 f.). Gegen unwahre Anträge seien zudem andere Schutzmaß-
nahmen als die Vereidigung vorgesehen, und daß ein ohne Juristen besetzter Aus-
schuß über die Vereidigung entscheiden könnte, wäre „auffällig“ (S. 117). In diese
Entwicklung füge es sich folgerichtig ein, daß – nachdem die geänderte Auslegung
des § 15 FGG diskutiert werde – der Landesgesetzgeber ausdrücklich durch Gesetz
von 1952 die Vereidigung in diesem Verfahren für unzulässig erklärt, allerdings erst
mit Wirkung für die Zukunft. – Keidel wendet gegen den BGH ein: Daß der Gesetz-
geber bei Anordnung der sinngemäßen Anwendung des FGG auch die damals h. M.
zur vorliegenden Frage festschreiben wollte, sei im Gesetz nicht zum Ausdruck ge-
kommen; Änderungen in der Auslegung der in Bezug genommenen Normen müsse
der Gesetzgeber in Kauf nehmen.435
Die Kritik von Keidel vermag bei Zugrundelegung einer subjektiv-histori-
schen Auslegung nicht zu überzeugen. Hinsichtlich der Andeutungstheorie ver-
steht sich das von selbst. Aber auch die Erwägung, der Gesetzgeber müsse ei-
nen Wandel der in Bezug genommenen Normen hinnehmen, verdient in dieser
Allgemeinheit keinen Beifall. Vielmehr wird man die Zulässigkeit einer solchen
Dynamisierung nur für den Regelfall bejahen können: Verweist der Gesetzgeber
auf ein anderes Rechtsgebiet, läßt das grundsätzlich auf seinen Willen schlie-
ßen, die Auslegung der Normen an dem Wandel partizipieren lassen, wenn
nicht konkrete Anhaltspunkte für einen gegenteiligen Willen vorliegen. Sicher
unrichtig wäre demgegenüber die Ansicht, die Bezugnahme erfasse das andere
Rechtsgebiet nur in seinem durch die Rechtsprechung geprägten status quo,
weil der Strafgesetzgeber die weitere Entwicklung des fremden Gebiets nicht
überschauen kann. Zu kurz gegriffen wäre es demnach, wenn der BGH sich nur
auf die 50 Jahre bestehende Rechtsprechung zu § 15 FGG berufen würde, aber
keine weiteren Gründe für einen gegenteiligen hypothetischen Willen vorbringen
könnte.
Auch das nächste Beispiel macht deutlich, wie leicht der Gesetzgeber die
Kontrolle über den Anwendungsbereich seiner Normen verlieren kann, wenn die
Rechtsordnung sich an anderer Stelle ändert.
Fall 210 (BGH NJW 2001, 1874 – „Verbraucherkonkurs“): Nach der bis 1998 gel-
tenden KO war die Eröffnung eines Konkursverfahrens gegen eine Privatperson zwar
denkbar, praktisch aber kaum relevant. Infolgedessen kam die Vorschrift über den
Bankrott (§ 283 StGB) bei Privatpersonen nur selten in Betracht, weil sie regel-
mäßig die Eröffnung eines Konkursverfahrens (seit 1999: Insolvenzverfahrens) oder
die Abweisung eines Eröffnungsantrages voraussetzt, vgl. § 283 VI. Die Insolvenz-
ordnung hat diese Situation durch die Einführung des Verbraucherinsolvenzverfah-
rens modifiziert, wonach auch Privatpersonen vermehrt von einem Insolvenzverfah-
ren betroffen sein können (und sollen). Der BGH sieht in dieser Ausdehnung des
Täterkreises nur eine faktische Erweiterung des Tatbestandes, nicht jedoch eine
rechtliche Änderung.436 – Es ist fraglich, ob der Gesetzgeber die mit der Änderung
des Insolvenzrechts verbundene Erweiterung des Anwendungsbereichs von § 283
StGB gesehen hat437 und ob er in Erwägung dieser Konsequenzen die Vorschrift bei
Einführung der Insolvenzordnung noch immer so ausgestaltet hätte. Deshalb ist eine
Reduktion des vom Wortlaut her erfüllten Tatbestandes zumindest zu erwägen.438
Der BGH mußte dazu nicht Stellung beziehen, weil es im konkreten Fall nicht um
eine Verbraucherinsolvenz ging.
Abschließend zur Thematik439
Fall 211 (BGHSt 12, 136 – „Branntweinsteuer“): Der Senat schließt eine (mittel-
bare) Inhaltserweiterung des § 121 Nr. 2 Branntweinmonopolgesetz a. F. durch ein
Gesetz des Wirtschaftsrates von 1948 aus. Nach der Begründung zum Gesetz von
1948 habe der Rechtszustand nicht geändert werden sollen (S. 143, 144). „Ent-
scheidend spricht weiter dagegen, daß der Tatbestand des § 121 Nr. 2 . . . unverän-
dert geblieben ist. Sollte er durch eine außerhalb des Branntweinmonopolgesetzes
ergangene Gesetzesänderung eine Erweiterung erfahren, so verlangt es das in
Art. 103 Abs. 2 GG . . . zum Ausdruck gelangte Anliegen der Rechtssicherheit, daß
die Ausdehnung der Strafbarkeit in klarer und eindeutiger Weise erfolgt. Anderen-
falls würden die Tatbestände ihre Garantiefunktion verlieren. Die Grenzen strafbaren
Verhaltens würden aus ihnen nicht mehr ersichtlich sein“ (S. 145). Zur Ausfüllung
etwaiger Strafbarkeitslücken sei nur der Gesetzgeber befugt. – Die Tatsache, daß der
Tatbestand unverändert geblieben ist, dürfte hier nicht der entscheidende Aspekt
sein. Vielmehr sprach die im Branntweinmonopolgesetz verwandte Begrifflichkeit440
und damit Art. 103 II GG gegen eine Anpassung der Auslegung. Aber auch die
gründliche subjektive Auslegung des Senats, die gegen eine Erweiterung sprach,
verdient Beachtung.
436 Für die Angeklagten galt noch altes (Konkurs-)Recht, so daß es auf die Frage
Zielsetzung des § 283 StGB (Gläubigerschutz!) umfaßt womöglich auch die Verbrau-
cherinsolvenz, während die soziale Zielsetzung dieses Instituts womöglich dafür
spricht, nicht die Härte des § 283 zur Geltung zu bringen; in letzterem Sinn Schramm,
wistra 2002, 55 (56, r. Sp.). Aus Perspektive des § 283 läge dann eventuell eine nach-
trägliche Lücke, verursacht durch eine Weiterentwicklung des Konkursrechts vor, aus
Perspektive des Insolvenzrechts eine originäre Lücke, weil konsequent auch das Insol-
venzstrafrecht hätte geändert werden müssen. Auf wessen hypothetischen Willen (ur-
sprünglicher oder späterer Gesetzgeber) soll man dann aber abstellen?
439 Siehe außerdem BGHSt 22, 1 (4) zur Rückwirkung einer Rechtsprechungsände-
rung im Bereich des materiellen Strafrechts auf die Auslegung des Verfahrensrechts
und BGHSt 44, 355 (358) zur Frage, ob die dogmatisch veränderte Einstufung des
elterlichen Umgangsrechts Auswirkungen auf die Auslegung des § 235 StGB (Kindes-
entziehung) hat.
440 Die Einzelheiten können hier nicht dargestellt werden.
7. Schlußfolgerungen aus Handlungen oder Untätigkeit des Gesetzgebers 355
j) Delegation an Rechtsprechung
Nicht selten sieht sich die Rechtsprechung von einer Bindung an den histori-
schen Willen des Gesetzgebers durch eine in den Gesetzesmaterialien enthaltene
Kompetenzzuweisung befreit, welche die nähere Ausgestaltung der Norm der
Rechtsprechung überläßt. Eine solche Delegation wirft unter dem Gesichtspunkt
historischer Auslegung keine besonderen Probleme auf, eröffnet aber verfas-
sungsrechtliche Fragestellungen. Zum einen muß die Norm gerade im Bereich
des Strafrechts ausreichend bestimmt sein (dazu unten V 7), zum anderen muß
der Gesetzgeber wesentliche Entscheidungen selbst treffen; das Parlament kann
sich nicht der Regelung von wichtigen Sachfragen entziehen. Unter diesem
Aspekt sind nicht alle der folgenden Entscheidungen441 unbedenklich:
BGHSt 7, 360 (362): Die amtliche Begründung gehe selbst davon aus, daß nicht
alle Fälle gesetzlich geregelt werden können und daß offengebliebene Zuständig-
keitsfragen im Einzelfall durch die Rechtsprechung gelöst werden müßten; bei Be-
darf soll die örtliche Zuständigkeit durch entsprechende Anwendung geschaffen
werden. Der Gesetzgeber weist selbst auf die Lückenhaftigkeit seiner Regelung hin!
— BGHSt 9, 370 (vgl. BGHSt 1, 47 = oben Fall 163, „limitierte Akzessorietät“):
Die neue Textfassung („mit Strafe bedrohte Handlung“) besage nichts zur Frage, ob
die Tat vorsätzlich geschehen muß. Der Gesetzgeber habe sich einer Bestimmung
des Schuldbegriffs enthalten, die damit Aufgabe der Rechtsprechung nach den je-
weiligen Erkenntnissen bleibe (S. 377). — BGHSt 25, 25 (31): Der Ausschuß habe
zwar Bedarf für eine weitere Einschränkung des Tatbestandes, aber keine Möglich-
keit zu einer Verfeinerung der tatbestandlichen Umschreibung gesehen und deshalb
die Auslegung im einzelnen der Rechtsprechung überlassen (Hinweis auf die Proto-
kolle). — BGHSt 30, 1 (6): Der Gesetzgeber habe – anders als im E 1962 angekün-
digt – die Frage nach dem Anwendungsbereich der §§ 3 ff. StGB auf die DDR im
Einführungsgesetz nicht geregelt und ihre Lösung der Rechtsprechung überlassen.
— BGHSt 32, 93 (95): Auf den gesetzgeberischen Willen könne bei der Lösung der
Probleme nicht zurückgegriffen werden, denn „der Bundestag ist den mit der Ein-
führung des § 57a StGB vom Bundesrat als notwendig erkannten Folgeregelungen
bewußt ausgewichen und hat diese Aufgabe der gerichtlichen Praxis überbürdet
(vgl. BTDrucks. . . .).“ — BGHSt 39, 353 (359): Die Auswirkungen der in der DDR
ergangenen Amnestien seien im Einigungsvertrag ohne spezielle Regelung geblieben
und der Auslegung durch Rechtsprechung und Wissenschaft überlassen worden. —
BGHSt GS 40, 138 (146 f., „fortgesetzte Handlung“): „Eine ausdrückliche Anerken-
nung im Sinne einer positivrechtlichen Festschreibung des Rechtsinstituts hat der
Gesetzgeber jedoch vermieden und dessen weitere Entwicklung der Rechtsprechung
überlassen (vgl. E 1962, BTDrucks. . . .).“
Angesichts der zum Teil wichtigen Sachgebiete muß die Zurückhaltung des
Gesetzgebers überraschen. Nicht zu Unrecht sprechen kritische Literaturstim-
441 Vgl. außerdem BGHSt 12, 42 (oben Fall 143), wo der BGH aus Äußerungen bei
den Gesetzesberatungen auf eine Delegation schließt. In BGHSt 44, 171 (174) sieht
sich der Senat durch das BVerfG zur Klärung der unübersichtlichen Gesetzeslage er-
mächtigt.
356 IV. Entstehungsgeschichte
k) Fazit
442 Schroeder, NStZ 1981, 179 (180) und Wengler, JR 1981, 206 (207), beide zu
BGHSt 30, 1.
8. Irrtümer und Versehen der Gesetzesverfasser 357
a) Einführung
Nicht selten muß die Rechtsprechung des BGH sich mit gesetzgeberischen
Fehlleistungen und deren Beseitigung beschäftigen. Die sich dabei stellenden
Fragen sind vielfältig: Welche Arten von Versehen gibt es? Nach welchen Krite-
rien ist das Vorliegen eines Gesetzesfehlers zu bestimmen? Wann dürfen die
Fehler behoben werden, und kann dabei noch von „Auslegung“ gesprochen wer-
den? Wie verhält sich die Fehlerkorrektur zum Begriff der „Gesetzeslücke“ und
damit verbundenen Formen der Rechtsfortbildung? Es ist ersichtlich, daß diese
Fragestellungen nicht auf das Auslegungskriterium „Entstehungsgeschichte“ be-
schränkt sind. Gleichwohl finden sich hier die meisten Bezugspunkte, denn aus
der Historie wird sich am ehesten ergeben, ob eine „auffällige“ oder wider-
spruchsvolle Regelung beabsichtigt war oder nicht, ob also eine Differenz zwi-
schen Gewolltem und Erklärtem vorliegt. Deutlich wird aber schon hier, daß der
Blick in die Entstehungsgeschichte meistens erst der zweite Schritt sein wird,
der dem Aufspüren einer fehlerhaften Regelung nachfolgt. Das Aufspüren wird
in der Praxis aber nicht durch eine historische Analyse der Norm, sondern
durch das Aufstellen einer mehr oder weniger intuitiven Auslegungshypothese
geschehen: Ergibt sich dabei ein „auffälliges“ oder „sinnwidriges“ Ergebnis443,
wird Anlaß zu einer näheren Exegese bestehen.
Für alle der gleich zu erörternden Versehen gilt, daß eine Korrektur nur im
Rahmen der aus Art. 103 II GG folgenden Grenzen möglich ist, insbesondere
keine Überschreitung des möglichen Wortsinns zulasten des Betroffenen erfol-
gen darf (siehe bereits oben III 7 d). Insoweit besteht kein Unterschied zwi-
schen Gesetzesberichtigung und Rechtsfortbildung. Konzeptionen, die nicht den
möglichen Wortsinn als Grenze zwischen Auslegung und Rechtsergänzung an-
sehen und demzufolge oder aus anderen Gründen die Korrektur eines Versehens
zur Durchsetzung des wirklichen Willens oder „wahren Sinns“ noch als „Aus-
legung“ charakterisieren444, müssen dieses Hindernis gleichfalls beachten. Auch
die Art des Versehens spielt für die anzustellenden Vertrauensschutzerwägungen
keine Rolle. Offenbar respektiert auch der BGH diese rechtsstaatlichen Gren-
zen, denn es ist keine Entscheidung ersichtlich, in der ausdrücklich die Kompe-
tenz zur Berichtigung eines Fassungsversehens zum Nachteil des Täters behaup-
tet wird. Eher nehmen die Senate zweifelhafte Wortauslegungen oder sonst an-
greifbare Begründungen in Kauf.
Symptomatisch hierfür ist BGHSt 8, 66 (oben Fall 56), wo es der Senat dahinstehen
läßt, ob ein gesetzgeberisches Versehen vorliegt, denn die Antwort auf die im Gesetz
nicht ausdrücklich (!) geregelte Frage sei aus dem geltenden Recht „gewinnbar“
(S. 67 f.). Fragwürdige Versuche, die Eindeutigkeit des Wortlauts zu bestreiten, um
gesetzgeberische Versehen korrigieren zu können, unternehmen u. a.: BGHSt 27, 45
(Fall 54), BGHSt 29, 311 (oben Fall 34 und Fall 67) und BGHSt 31, 226 (Fall 98).
Näheren Zugang zur Problematik eröffnet ein Blick auf die Varianten mögli-
cher Gesetzesfehler. Grob vereinfacht und parallel zur zivilrechtlichen Bestim-
mung über die Irrtumsanfechtung (§ 119 BGB) kann zunächst zwischen Erklä-
rungs- und Inhaltsirrtümern differenziert werden. Im ersten Fall ist der Prozeß
der Willensbildung zwar fehlerfrei erfolgt, jedoch gibt der Verfasser, etwa auf-
grund eines Verschreibens, eine andere Erklärung ab, als er wollte. Beim In-
haltsirrtum irrt der Sprecher hingegen über die Bedeutung seiner Erklärung; er
mißt ihr einen anderen Sinn bei, als es bei „objektiver“ Betrachtung naheläge.
In beiden Fällen geht es also um die Beseitigung eines sprachlichen Mißgriffs
zur Durchsetzung des wirklichen gesetzgeberischen Willens.445 In diesem Zu-
sammenhang wird häufig der Begriff „Redaktionsversehen“ gebraucht, aller-
dings uneinheitlich, einerseits nur den Erklärungs-, andererseits auch den
Inhaltsirrtum umfassend.446 Fehler im „redaktionellen“ Bereich lassen bei un-
befangener Betrachtung in der Tat eher an technische Mängel i. S. eines
Verschreibens, nicht an inhaltliche Fehlvorstellungen denken. Um Mißverständ-
nisse zu vermeiden, wird deshalb im folgenden der Ausdruck „Fassungsverse-
hen“ als Oberbegriff verwendet. Insofern geht es nicht nur um terminologische
Fragen, denn die Behauptung eines „bloßen“ Redaktionsversehens suggeriert
zugleich die Offensichtlichkeit des Fehlers und die Berechtigung zu seiner Kor-
rektur: Welcher Gesetzgeber hat kein Interesse an der Berichtigung bloßer
Schreibfehler? Mithin besteht die Versuchung, mit der unbegründeten Behaup-
tung eines Redaktionsversehen eine inhaltliche Fehlleistung des Gesetzgebers
zu korrigieren.447 In der Praxis der Strafsenate geht es freilich äußerst selten
um sprachliche Versehen rein redaktioneller Art, des öfteren um Inhaltsirrtümer.
Als weitere Versehen kommen vor allem irrtümliche Rechtsvorstellungen in Be-
445 Jahr, in: FS für Kaufmann, S. 141. Enneccerus, Bürgerliches Recht, S. 109:
Lackner, in: Heidelberg-FS, S. 39, im letzteren Sinn Jahr, in: FS für Kaufmann, S. 142;
Riedl, AöR 1994, 642 (645). Ein weites Verständnis legen wohl auch Engisch (Ein-
führung, S. 224: Durchsetzung des wahren Gesetzeswillens gegenüber einem verse-
hentlich fehlerhaften Gesetzesausdruck) und Larenz (Methodenlehre, S. 400: Gesetzes-
redaktoren haben versehentlich einen anderen Ausdruck gewählt oder im Text belassen
als beabsichtigt) zugrunde. Konturenlos weit Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, S. 160:
Gesetzgeber hat aufgrund des Übersehens einer Fallgruppe „seinem erkennbaren Wil-
len einen zu engen Ausdruck gegeben“.
8. Irrtümer und Versehen der Gesetzesverfasser 359
447 Jahr, in: FS für Kaufmann, S. 150. Von einem Fall, in dem das Gericht eine ihm
b) Redaktionsversehen (Erklärungsirrtum)
449 Aus einem völlig sinnwidrigem Ergebnis schließt BGHSt 39, 353 (356) auf das
Vorliegen eines Redaktionsversehens, vgl. unten bei den Nachträgen (IV 8 f).
450 Jahr (in: FS für Kaufmann, S. 150) verlangt die Offensichtlichkeit des Ver-
nicht, ob der Gesetzgeber damit tatsächlich eine Sinnänderung verfolgte: Es sei nicht
nötig, weiter auf die Entstehungsgeschichte einzugehen, denn sie allein könne für die
Auslegung nicht entscheidend sein (a. a. O., S. 138).
453 So die h. M. bis zur Entscheidung des RG; Nachweise bei Hartung, SJZ 1950,
102 (106).
8. Irrtümer und Versehen der Gesetzesverfasser 361
sen Dreher ein non liquet konstatiert: Hartung könne allenfalls das Versehen des
Referenten, nicht aber die damalige Ansicht des Gesetzgebers zu dieser Frage be-
zeugen!454 Der BGH hält es „für wenig fruchtbar“, der Entstehungsgeschichte nach-
zugehen, denn der Wortlaut lasse die Annahme eines Fassungsversehens in beide
Richtungen zu (BGH, S. 260). Entscheidend für einen begrenzten Anwendungsbe-
reich des § 27c III spreche die Gesamtsystematik der §§ 27, 27a–c, aber auch die
Wahl des Wortes „hierzu“, „das sprachlich auf einen unmittelbar vorhergehenden
Gedanken zu verweisen pflegt“ (S. 262).455
Mit der Umgestaltung der Norm schlich sich womöglich ein redaktioneller
Fehler in die Regelung ein. Ein dürftiger Anhaltspunkt hierfür ist die Beibehal-
tung des Wörtchens „hierzu“, das nicht so recht passen will. Wie das OLG
Düsseldorf und der BGH feststellen, läßt der Wortlaut jedoch die Annahme ei-
nes Redaktionsversehens in zwei Richtungen zu, so daß sich die Erforschung
der Entstehungsgeschichte zur Klärung geradezu aufdrängt. Die gegenteilige
Folgerung des BGH („wenig fruchtbar“, der Entstehungsgeschichte nachzuge-
hen) kann deshalb nicht überzeugen. Angesichts der Prämisse – Fassungsverse-
hen in beide Richtungen möglich – überzeugt auch die abschließende Erwägung
nicht, die doch wieder auf die regelmäßige Bedeutung des Wortes „hierzu“ ab-
stellt456; denn aufgrund der Möglichkeit eines ambivalenten Redaktionsverse-
hens stand gerade diese Annahme auf unsicherem Boden. Freilich hätte eine
subjektiv-historische Auslegung (wohl) keinen näheren Aufschluß über die wah-
ren Hintergründe ergeben außer der nachträglichen und somit unmaßgeblichen
Äußerung Hartungs, so daß im Ergebnis doch wieder „objektive“ Kriterien ent-
scheiden mußten. Insofern sprachen in Hinblick auf die Gesamtkonzeption der
Geldstrafenregelung wohl die besseren Gründe für einen engen Anwendungsbe-
reich des § 27 III StGB a. F.457 Auf dieser Grundlage ist es zutreffend, wenn
man die Vorgehensweise des RG dahingehend charakterisiert, es habe ein
Redaktionsversehen zur Durchsetzung einer vernünftigen Regelung „ausge-
nutzt“.458
454 Hartung, SJZ 1950, 102 (108); Dreher, MDR 1952, 181 (182).
455 Am stärksten dürfte freilich das Argument Hartungs (SJZ 1950, 102 [107]) sein,
bei anderer Willensrichtung hätte der Gesetzgeber auf die Bestimmung einer Höchst-
grenze ganz verzichtet. Von einem Unentschieden der Argumente geht Hülle aus (LM
1954, Nr. 1 zu § 27c StGB): „Es ist letztlich eine Frage des abwägenden Willensent-
schlusses, welche Gesichtspunkte man für ausschlaggebend erachten . . . will.“
456 Das RG hat dem Argument, der Gesetzgeber hätte sprachlich richtig „hierbei“
statt „hierzu“ formuliert, wenn er Abs. 3 auch auf Abs. 1 hätte erstrecken wollen, ent-
gegengehalten: „Die Beachtung oder Nichtbeachtung solcher sprachlichen Feinheiten
hängt mehr oder weniger von Zufällen ab und läßt keinen zuverlässigen Schluß auf
die Bedeutung einer Bestimmung zu.“ (RGSt 77, 137 [138])
457 Ein „non liquet“ i. V. m. einer Vermutung, daß im Zweifel kein Versehen vorliegt,
hülfe hier nicht, denn der Gesetzestext ließ ja beide Deutungen zu.
458 So Hartung, SJZ 1950, 102 (105), der den Weg des RG aber für zulässig hält.
362 IV. Entstehungsgeschichte
Fall 213 (BGHSt 7, 165; BGH JZ 1954, 541): § 42m StGB i. d. F. von 1952 ließ
die Entziehung der Fahrerlaubnis zu, wenn sich der Täter „durch die Tat als unge-
eignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erwiesen hat“. Fraglich war, ob bereits da-
mit eine Gefährdung der Allgemeinheit vermutet werden konnte oder ob dies beson-
derer Prüfung bedurfte, wie es andere Maßregelvorschriften und noch der Referen-
tenentwurf zu § 42m ausdrücklich voraussetzten. BGH JZ 1954, 541 (542) wendet
sich gegen die Annahme einer gesetzlichen Vermutung und erklärt die unterschiedli-
che Formulierung mit einem Fassungsversehen: „Erstrebte der Gesetzgeber eine so
ungewöhnliche Abweichung von den Grundsätzen des Sicherungsrechts . . ., so hätte
er dies . . . im Gesetz oder in der Amtl. Begründung ausgesprochen.“ Zu einer ande-
ren Schlußfolgerung gelangt BGHSt 7, 165 nach eingehender Analyse der „vorpar-
lamentarischen Entstehungsgeschichte“, deren Heranziehung der Senat zur Klärung
der Frage „für zulässig“ hält (S. 169): Die jetzt gültige Formulierung sei im Refe-
rentenentwurf noch nicht enthalten gewesen, sondern gegen die dort vorgesehene
ausgetauscht worden (S. 170). Daß dies nicht auf Absicht beruhte, könne „schlech-
terdings nicht angenommen werden“. Der Senat beruft sich vorsichtig („vgl. auch“)
auf Dreher, der als Beteiligter der zuständigen Ministerialbürokratie dargelegt hat,
daß § 42m StGB nicht auf einem Redaktionsversehen beruhe.459 Das zeige auch ein
Vergleich der Begründungen zum Referenten- und zum (Gesetz gewordenen) Regie-
rungsentwurf.
Mit dem genaueren Blick in die Entstehungsgeschichte leistet der Senat ei-
gentlich Arbeit, die von der Gegenauffassung (BGH JZ 1954, 541) hätte erwar-
tet werden können.460 Fragwürdig ist bei einem recht klaren, nicht zu unsinnigen
Ergebnissen führenden Wortlaut auch die „Beweislastumkehr“, die Anhalts-
punkte im Gesetz oder in der Entstehungsgeschichte verlangt, die gegen ein Fas-
sungsversehen sprechen.461 Wenn ein Versehen nicht offenkundig ist, sollte er-
wartet werden, daß dessen Befürwortern eine Bringschuld obliegt.462 Festzuhal-
ten bleibt jedenfalls die zentrale Rolle der historischen Auslegung für die
Thematik „Fassungsversehen“. Die nachträgliche literarische Stellungnahme
Drehers kann in diesem Zusammenhang allerdings – wie im vorhergehenden
Fall die Äußerung Hartungs – nicht als authentische Stimme verwertet werden.
459 Dreher, JZ 1954, 542 (543, l. Sp.), der sich offenbar durch Hartung (JZ 1954,
137 [138]) zur Stellungnahme provoziert sah. Dieser hatte der neuen Ministerialbüro-
kratie „in alter Kollegialität“ (Dreher) bescheinigt, in die Aufgabe der richtigen Geset-
zesformulierung erst noch „hineinwachsen“ zu müssen.
460 Nicht tief genug in die Entstehungsgeschichte bei der Behauptung eines gesetz-
geberischen Versehens tauchte nach Ansicht von Lackner und Lenzen auch BGHSt 31,
226 ein, siehe oben Fn. 186 und den dazugehörigen Text.
461 Wie BGH JZ 1954, 541 aber Hartung, JZ 1954, 137 (138), der ebenfalls An-
die Voraussetzungen „als echt“ auch in Alt. 2 hineingelesen, diese aber (wiederum
teilweise) in einem weiteren Sinn als die Rechtsprechung verstanden und auch die
Weitergabe an einen Eingeweihten erfaßt, z. B. Herdegen, in: LK-StGB9, § 146, Rn. 12;
ausführlich dazu Bohne, JZ 1952, 205 (206) m. w. N.
466 Ebenso bereits RGSt 1, 408 (409). Krit. zur unzureichenden Begründung in
nur eine Klarstellung habe vornehmen wollen. – In der Literatur hat vor allem
Wessels mit den oben dargelegten und weiteren Argumenten (nur Klarstellung, kein
Sachgrund für unterschiedliche Behandlung, Gesetzesmaterialien, „ungewöhnlicher
Zeitdruck“ bei den Beratungen zum EGStGB) die Ansicht vertreten, es liege ein
Redaktionsversehen vor; deshalb dürfe das „sachlich Gewollte dem Gesetz im Wege
der Auslegung entnommen werden“.469 Den Gegenstandpunkt hat das OLG Stuttgart
eingenommen (NJW 1980, 2089 [2090 am Ende]): Das Gesetz sei nicht anders for-
muliert, als es der Gesetzgeber wollte; daß er „subjektiv von einer anderen Reich-
weite seiner Regelung ausging“, ändere nichts am objektiven Gehalt der Norm.
Klar ist zunächst, daß eine Wortlautkorrektur – etwa durch ein „Hinzulesen“
der Ermöglichungs-Variante in die übrigen Tatbestände – zulasten des Täters
nicht in Frage kommt.470 Die insoweit fragwürdige Begründung des BGH, der
eine Auslegung nach der Zielvorstellung des historischen Gesetzgebers mit dem
Wortlaut für vereinbar hält, wurde bereits an anderer Stelle erörtert (oben Fall
67). Daß offenbar auch der BGH von der Unzulässigkeit einer solchen Korrek-
tur ausgeht, zeigt die sich anschließende gekünstelte und grammatikalisch-syste-
matisch kaum haltbare Interpretation.
Welche Art von Versehen lag aber überhaupt vor? Wenn man fragt, ob eine
sprachliche oder eine inhaltliche Fehlleistung des Gesetzgebers vorliegt, fällt
die Abgrenzung für den vorliegenden Fall nicht leicht. Sowohl aus der Entste-
hungsgeschichte als auch aus teleologischen Erwägungen folgt zwar eindeutig,
daß auch §§ 146 I Nr. 3, 147 die fragliche Formulierung enthalten müßten, aber
das spricht noch nicht, wie das OLG Stuttgart zu Recht sagt, für die Annahme
eines Erklärungsirrtums (Verschreiben oder Versprechen). Näher liegt ein In-
haltsirrtum, denn die Gesetzesverfasser sind offenbar davon ausgegangen, daß
mit ihrer Regelung für alle Geldfälschungsdelikte das gleiche gelte471; die Re-
daktoren haben damit ihr Werk anders verstanden, als es sich für die Gemein-
schaft der Rechtsanwender nach Wortlaut und Systematik darstellt. Ebenso
plausibel kann man allerdings sagen, der Gesetzgeber habe sein Werk nicht
vollständig „durchdacht“, nicht alle denkbaren Varianten in seine Erwägungen
eingestellt und deshalb das Gesetz falsch oder inkonsequent konstruiert; deshalb
bedeutet eine Auslegung im Sinn von BGHSt 29, 311 eine sachliche, nicht bloß
eine sprachliche Korrektur472, zumal auch die Gegenauffassung nicht zu einem
469 Wessels, Strafrecht BT/121, Rn. 907 und in: FS für Bockelmann, S. 677 f.; Her-
degen (in: LK-StGB10, § 147, Rn. 5) sieht die Fehlleistung des Gesetzgebers „fast“ als
Redaktionsversehen.
470 Wessels äußert sich zur Vereinbarkeit seiner Auslegung mit dem möglichen Wort-
sinn nicht eindeutig: Es erscheine „methodisch zumindest nicht unzulässig, dem Willen
des Gesetzgebers hier größere Bedeutung beizumessen als dem . . . Wortlaut“ (in: FS für
Bockelmann, S. 678). Dazu, daß es vorliegend überhaupt um eine Rechtsanwendung
zulasten des Täters geht, siehe Wessels/Hettinger, Strafrecht BT/1, Rn. 933a.
471 Dafür spricht eine weitere Stelle in den Materialien (BT-Drucks. 7/1261, S. 13),
in der die Gesetzesverfasser beim Durchspielen der Möglichkeiten einen „an sich“
problematischen Fall ohne weiteres unter § 147 subsumieren.
8. Irrtümer und Versehen der Gesetzesverfasser 365
472 Aus Perspektive eines „Objektivisten“ stellt die Umdeutung einer klaren und
nicht sinnwidrigen Regelung ohnehin als sachliche Änderung der Norm dar!
473 Bejahend BGHSt 13, 16; 15, 361.
366 IV. Entstehungsgeschichte
Besonders zurückhaltend geben sich die Strafsenate mit der Korrektur von
Inhaltsirrtümern der Gesetzesverfasser, wenn also die Norm in Erwartung einer
bestimmten Auslegung erlassen wird, die „objektiv“ aber mit Wortlaut und Sy-
stematik unvereinbar ist. Für die Zurückweisung solcher Fehlvorstellungen als
unmaßgeblich greift der BGH auf verschiedene Argumentationsmuster zurück:
(1) Die Vorstellung widerspricht dem klaren und eindeutigen Wortlaut (sens-
clair-doctrine), (2) sie hat keinen Ausdruck im Gesetz gefunden (Andeutungs-
theorie), (3) die Berücksichtigung scheitert an Vertrauensschutzerwägungen
(Art. 103 II GG), (4) die Fehlvorstellung einer Einzelperson (oder eines Aus-
schusses) bedeutet nicht, daß auch der „Wille des Gesetzgebers“ auf diesem
Fehler beruht (Paktentheorie, dazu bereits oben IV 4 a).
für „absurd“.
8. Irrtümer und Versehen der Gesetzesverfasser 367
In BGHSt 6, 25 (oben Fall 12) wird die Ansicht des Ministers, mit der Gesetzesän-
derung sei keine inhaltliche Veränderung verbunden, wegen des klaren Wortlauts als
nicht entscheidend angesehen. Die Meinung habe, „wenn sie wirklich bestanden ha-
ben sollte, im Gesetz keinen Ausdruck gefunden“ (S. 26). Man kann hinzufügen:
Ihre Durchsetzung hätte (auf Basis der herrschenden Konkurrenzlehre) auch einen
täterbelastenden Verstoß gegen die Wortlautgrenze bedeutet. — Auch BGHSt 11, 52
(oben Fall 4) beruft sich auf den klaren Wortlaut. Für einen Irrtum des Rechtsaus-
schusses gebe es keinen Anhaltspunkt, aber selbst wenn: Angesichts des klar ausge-
drückten Willen des Gesetzgebers wäre ein solcher Irrtum irrelevant (S. 53). Aber
einen Irrtum unterstellt: Ist es dann wirklich noch der „Wille des Gesetzgebers“, der
klar zum Ausdruck kommt? — BGHSt 23, 36 (oben Fall 54) hält die Schlußfolge-
rung aus einem veränderten Wortlaut auf einen veränderten Sinn für zwingend, auch
wenn dies unverkennbar den Absichten des Gesetzgebers widerspreche.477 Aus-
drücklich auf das Analogieverbot beruft der Senat sich dabei nicht, obwohl es mög-
lich gewesen wäre. — BGHSt 31, 10 (oben Fall 190) widerspricht der Auffassung,
der Gesetzgeber habe in vorliegender Frage keine Rechtsänderung bewirken wollen.
Damit, daß die Gegenposition außerdem mit Art. 103 II GG kollidierte, begnügt der
BGH sich nicht: „Zudem wären die Gerichte an eine mit dem Gesetzeswortlaut un-
vereinbare Auslegung des betreffenden Gesetzesentwurfs nicht gebunden“ (S. 14).
— In BGHSt 34, 211 (oben Fall 128) ging der Rechtsausschuß von einem be-
schränkten Anwendungsbereich der Vorschrift aus (nur „Sondermüll“), hielt aber
eine Anpassung des eindeutig weitergehenden Wortlauts („Abfall“) nicht für nötig.
Der BGH argumentiert, die Absicht des Rechtsausschusses habe im Wortlaut keinen
Niederschlag gefunden; zudem widerspreche sie der allgemeinen Zielsetzung, die
der Norm zugrunde lag. Wie wäre es, wenn dem BGH die allgemeine Zielsetzung
nicht zum Überspielen der konkreten Vorstellung zur Verfügung stünde? — Auch in
BGHSt 43, 366 (oben Fall 198) erwies sich die Vorstellung der Gesetzesverfasser
über die Reichweite der Norm als Fehlprognose. Da die Durchsetzung der Vorstel-
lungen dem Analogieverbot widersprach, begnügt der BGH sich hier zu Recht mit
einem Hinweis auf den entgegenstehenden Wortlaut.
Als von vornherein unproblematisch erweisen sich somit Fälle, in denen eine
Wortlautkorrektur sich zum Nachteil des Täters auswirkt. Ist aber auch sonst die
Berichtigung eines eindeutigen Wortlauts unzulässig, um Fehlvorstellungen der
Redaktoren Rechnung zu tragen? Aus den genannten Beispielen wird man in
der Tat auf eine solche Auffassung des BGH schließen dürfen, zumindest unter
der – nicht ausgesprochenen – Voraussetzung, daß der klare Wortlaut zu keinem
sinnwidrigem Ergebnis führt.478 Andeutungstheorie und Eindeutigkeitsregel er-
scheinen den Senaten offenbar als so zwingend, daß sie selbst in den dafür prä-
destinierten Fällen darauf verzichten, sich zusätzlich auf das sicherlich nicht
schwache Argument „Analogieverbot“ zu stützen. Die Berufung auf diese For-
477 BGHSt 27, 45 hätte konsequent ebenso entscheiden müssen, nimmt statt dessen
aber eine höchst zweifelhafte Wortauslegung in Kauf (siehe bereits oben Fall 19 und
Fall 54); insoweit liegen BGHSt 27, 45 und 29, 311 völlig parallel.
478 Irrelevant ist es, ob die gegenteilige Ansicht zu sinnvolleren oder besseren Er-
gebnissen führt, was in BGHSt 11, 52 durchaus der Fall war; vgl. allerdings auch
BGHSt 4, 300 (unten Fall 222).
368 IV. Entstehungsgeschichte
Daß der BGH durchaus bereit ist, eine Norm anders zu verstehen, als es der
klare Wortlaut nahelegt, zeigt der Große Senat in folgendem Beispiel. Freilich
würde die gegenteilige Auffassung hier zu einem wenig überzeugenden und un-
praktikablen Ergebnis führen.
Fall 216 (BGHSt GS 5, 323): Der Große Strafsenat mußte über den Inhalt von
Art. 103 III GG (ne bis in idem) entscheiden. Dabei leitet er den „Willen des
Grundgesetzes“ u. a. aus der rechtgeschichtlichen Entwicklung dieses Grundsatzes
ab und gelangt zu dem Ergebnis, daß die Norm nicht erst – wofür der Wortlaut
spreche – die zweimalige Bestrafung einer Tat, sondern bereits die erneute Durch-
führung des Strafverfahrens verbiete (S. 328). Äußerungen des Redaktionsausschus-
ses des Parlamentarischen Rates ließen ebenfalls darauf schließen, daß der Grund-
satz in seiner hergebrachten Form übernommen werden sollte (S. 329). – Der Ge-
setzgeber hat es also nicht erreicht, den Stand der Dinge korrekt wiederzugeben.
Gleichwohl hilft der Große Senat ungeachtet des recht eindeutigen Wortlauts aus.
Eine problematische Argumentation zu einem vermeintlichen Inhaltsirrtum
liegt in einer weiteren Entscheidung zugrunde, die mit der Andeutungstheorie
arbeitet:
Fall 217 (BGHSt 15, 138 = oben Fall 53). Nach Ansicht des Senats steht der Inhalt
des Begriffs „Gemeingefahr“ sowohl fachsprachlich als auch nach allgemeinem
Sprachgebrauch fest und umfaßt nicht die gezielte Gefährdung einer bestimmten
Person. Der Gesetzgeber habe sich womöglich bei Einführung der Definition über
die „wahre“ Bedeutung des Begriffs geirrt; das berechtige den Richter jedoch nicht,
den „wirklichen“ Sinn außer acht zu lassen und nur den Willen des Gesetzgebers
zugrunde zu legen (S. 141). Wolle dieser vom allseits anerkannten Begriffsinhalt
abweichen, müsse er das zweifelsfrei zum Ausdruck bringen (S. 142). – Der Senat
läßt es dahinstehen, ob die Gesetzesurheber wirklich einem Irrtum unterlagen,482 und
setzt die Anforderungen der Andeutungstheorie herauf („zweifelsfrei“). Dazu ist er
gezwungen, weil der Wortlaut beide Ansichten zuließ, ja sogar eher für die Gegen-
meinung sprach. Der Ansicht des BGH wäre nur zu folgen, wenn die Entstehungsge-
schichte nicht klar ergäbe, ob die Gesetzesverfasser dem Begriff wirklich einen
neuen Inhalt geben wollten; nur dann wäre ein Festhalten am bisher unbestrittenen
und dem allgemeinen Sprachgebrauch entsprechenden Verständnis gerechtfertigt.
d) Motivirrtümer
482 Zur fragwürdigen historischen Auslegung des BGH vgl. oben Kap. III, Fn. 208.
483 Zum Begriff u. a. Engisch, Einführung, S. 230; G. und D. Reinicke, MDR 1952,
141 (142) mit Beispiel.
370 IV. Entstehungsgeschichte
484 G. und D. Reinicke, MDR 1952, 141 (142, r. Sp.) weisen zu Recht darauf hin,
daß die Gegenauffassung dem Richter nicht zutraut, die wahre Gebotsvorstellung des
Gesetzgebers zu ermitteln, so wie man zuvor den Richter an den Wortlaut binden
wollte; damit setze sich der gleiche Fehler in einer tieferen Schicht fort.
485 Wedel, Entstehungsgeschichtliche Argumente, S. 206: Keine unerlaubte rechts-
stellten Kriterien.
8. Irrtümer und Versehen der Gesetzesverfasser 371
zu; dieser müsse hinzugezogen und gehört werden, wenn der Staatsanwaltschaft
diese Rechte zustehen (§ 385). Aufgrund der unterschiedlichen Rolle zwischen Pri-
vat- und Nebenkläger sei die Verweisung des § 397 zwar nicht „restlos“ durchführ-
bar, hier stehe dem aber nichts entgegen. § 61 StPO sei in Zusammenhang mit den
weiteren Vorschriften und so auszulegen, daß er sich bruchlos in das System des
Strafverfahrensrechts einfügt (S. 274 f.). – Der BGH düpiert die Gesetzesverfasser,
die offenbar die Rechtslage nicht durchschaut haben. Ihr Wille scheitert an der Inte-
gration der Norm in das Gesamtgeflecht der StPO.
Fall 219 (BGHSt 44, 62 – „Verteilungsgehilfe“): Auch hier erteilt der Senat einer
s. E. irrigen Deutung der Gesetzesverfasser eine Absage. Es sei „nicht richtig, wenn
in der Begründung zum Regierungsentwurf des EGStGB die Meinung vertreten
wird (BTDrucks. 7/550 S. 227), Verteilungsgehilfen . . . seien nur nach § 147 StGB
strafbar. Diese Ansicht läßt sich in das System der §§ 146, 147 StGB nicht einord-
nen . . .“ (S. 67).
Fall 220 (u. a. BGH NStZ 1999, 301): Der Gesetzgeber des 6. StrRG 1998 hat eine
wesentliche Umgestaltung des qualifizierten Raubes vorgenommen und damit viel
Verwirrung gestiftet. Insbesondere die Auslegung des Begriffs „gefährliches Werk-
zeug“, das der Täter in § 250 I Nr. 1a StGB „bei sich führt“ und in § 250 II Nr. 1
„verwendet“, bereitet seitdem große Schwierigkeiten. Die Gesetzesverfasser waren
der Ansicht, daß insoweit auf die hergebrachte, zu § 223a StGB a. F. entwickelte
Definition zurückgegriffen werden kann488, wonach es bezüglich der Gefährlichkeit
des Werkzeugs auch auf die konkrete Art der Verwendung ankommt. Die Übertra-
gung dieser Definition auf § 250 I Nr. 1a scheitert jedoch an der dort vorausgesetz-
ten Tathandlung des Beisichführens (S. 302 am Ende)489, ein „evidenter gesetzgebe-
rischer Motivirrtum“490. – Es war schon fraglich, ob die in den Gesetzesmaterialien
geäußerte Ansicht überhaupt als „Wille des Gesetzgebers“ oder Zielvorstellung zu
einer konkreten Frage gelten kann oder ob nicht vielmehr nur eine unverbindliche
Auslegungsempfehlung vorlag. Auf der anderen Seite ist auch völlig unklar, wie ein
dahingehender Wille noch sinnvoll (korrigierend) berücksichtigt werden könnte.
Denn angenommen, den Redaktoren wäre der Mißgriff aufgefallen, wie hätten sie
die Norm dann ausgestaltet?
Eine Gesetzesberichtigung kommt jedoch in Betracht, wenn die Gesetzesver-
fasser offensichtlich aufgrund fehlerhafter Rechtsansichten eine mangelhafte
Norm verabschiedet haben, die Korrektur auf diese Norm beschränkt bliebe und
unzweifelhaft im Willen der Verfasser läge.
Fall 221 (BGHSt 1, 74; OGHSt 3, 44 – „Irrtum im Beweggrund“): Das Straffrei-
heitsG 1949 schloß Steuervergehen von der Amnestie aus (§ 12). Der Grund hierfür
bestand darin, daß Täter dieser Vergehen sich durch Spezialregelungen zur „tätigen
Reue“ (Selbstanzeige) Strafbefreiung verschaffen konnten, so daß es ungerecht er-
schien, auch die übrigen Täter, welche die gegebenen Möglichkeiten außer acht lie-
ßen, generell zu amnestieren.491 Freilich wurde übersehen492, daß durchaus nicht
alle Steuerdelikte die Möglichkeit der tätigen Reue vorsahen. Der OGH sieht sich
deshalb zur Durchsetzung des wirklichen gesetzgeberischen Willens und damit zur
„berichtigenden Auslegung“493 berechtigt (S. 47 f.). Für die vom Gesetzeswortlaut
abweichenden gesetzgeberischen Absichten seien in der Entstehungsgeschichte si-
chere Anhaltspunkte erkennbar (S. 49 ff.). Anders der BGH: Angesichts des klaren
Wortlauts sei kein Raum, um einen anderslautenden Willen des Gesetzgebers über-
haupt zu berücksichtigen (BGH, S. 76). Aber auch bei Heranziehung der Entste-
hungsgeschichte ergebe sich nichts anderes. Aus den Äußerungen weiterer Abgeord-
neter sei klar ersichtlich, daß der erklärte Wille der Gesetzesverfasser auf den Aus-
schluß aller Steuervergehen gerichtet gewesen sei (S. 77 f.). Ein etwaiger „Irrtum
im Beweggrund“ sei deshalb unbeachtlich und berechtige, selbst wenn sämtliche
Abgeordneten die unrichtige Rechtsauffassung geteilt hätten, nicht zur Gesetzeskor-
rektur, zumal unklar sei, wie der nicht irrtumsbefangene Gesetzgeber die Frage
geregelt hätte (S. 79)494. Zudem bestehe kaum ein Zweifel, „daß der mindestens
überwiegend aus Juristen zusammengesetzte Ausschuß im Laufe der Beratung zur
Erkenntnis der wirklichen Rechtslage“ gelangte, wofür die Äußerung eines
Abgeordneten spreche (S. 80).
Obwohl die Eindeutigkeitsregel dem BGH offenbar schon Grund genug ist,
eine Gesetzeskorrektur abzulehnen, läßt er sich auf die subjektiv-historischen
Erwägungen des OGH ein. Dabei bezweifelt der Senat zunächst schon das Vor-
liegen eines Irrtums, zum einen wegen einzelner Äußerungen von Abgeordne-
ten, zum anderen aufgrund eines normativierenden Maßstabs, indem den Geset-
zesverfassern ein solcher Rechtsirrtum oder Fehler nicht „geglaubt“ wird.495
Aber ganz ungeachtet dieser Gesichtspunkte versteift der Senat sich noch dazu,
etwaige Motivirrtümer des Gesetzgebers (Irrtum im Beweggrund) für gänzlich
unbeachtlich zu halten, wenn das Erklärte dem (vordergründig) Gewollten ent-
spricht: Die Gesetzesverfasser wollten alle Steuervergehen ausschließen und er-
klärten genau dies; ob sie das gleiche Gesetz auch bei zutreffender Rechts-
kenntnis, beim Überblicken aller Umstände verabschiedet hätten, bleibt irrele-
vant. Diese Argumentation verdient jedoch keinen Beifall. Auch bei einem
„Motivirrtum“, der sich von einem „Inhaltsirrtum“ nicht wesentlich unterschei-
det, sollte eine Berichtigung nicht per se ausscheiden, sondern die bereits ge-
nannten Kriterien geprüft werden.496 Vorliegend sprechen die stärkeren Gründe
allerdings ohne sich ausdrücklich zur Berechtigung dieses Vorgehens zu äußern. Wei-
tere Beispiele richterlicher Gesetzeskorrektur aus der Anfangszeit des BGH bei Zim-
8. Irrtümer und Versehen der Gesetzesverfasser 373
gegen eine Berichtigung, denn einmal bestehen schon Zweifel, ob die gesetzge-
berische Entscheidung wirklich irrtumsbefangen war, und im übrigen weist der
BGH zu Recht auf die Ungewißheit darüber hin, wie die Gesetzesverfasser die
Problematik in Kenntnis aller Umstände geregelt hätten, da auch die Gegen-
ansicht nicht unproblematisch war.
mermann, NJW 1952, 959, mit der etwas voreiligen Einschätzung, daß die Rechtspre-
chung den Streit zwischen objektiver und subjektiver Theorie „für absehbare Zeit“ zu-
gunsten letzterer entscheiden habe.
497 Auf die Unsicherheit der Abgrenzung weist auch Engisch hin (Einführung,
S. 175).
498 Das RG spricht von der notwendigen Ergänzung einer „Lücke“, RGSt 39, 291
(297).
374 IV. Entstehungsgeschichte
499 Siehe z. B. BGH MDR/H 1977, 811; NJW 1988, 2483 (2485); 1991, 1839
fung auf den „objektivierten Willen des Gesetzgebers“. Deutlicher als im vorliegenden
Fall ist der Konstruktionsfehler in BGHSt 17, 21 (siehe oben Fall 109 und unten Fall
225).
501 Siehe oben IV 7 g und außerdem BGHSt 30, 328 (Fall 203), wo der Gesetzgeber
bei Neueinführung einer Norm auf die Fortführung einer korrigierenden Rechtspre-
chung vertraut, anstatt die erkannte Problematik selbst zu bereinigen.
502 Mit diesen Kriterien will Jahr (in: FS für Kaufmann, S. 142) eine nur sprach-
wie § 120 GVG anzunehmen (S. 400). Die Nichtanpassung des § 153 II an die
neuen Zuständigkeitsregelungen lasse „nicht auf einen Willen des Gesetzgebers
schließen, der Vorschrift eine weitergehende Bedeutung zu geben als sie ursprüng-
lich hatte. Eher deutet die Beibehaltung des bisherigen Wortlauts darauf hin, daß
eine Änderung für unnötig angesehen wurde, weil man der Auffassung war, daß
angesichts der bisherigen Bedeutung des Wortes ,Amtsrichter‘ in § 153 Abs. 2 StPO
auch künftig darunter nur das für das Hauptverfahren zuständige Gericht . . . verstan-
den werden könne“ (S. 401). Sinn und Zweck der neuen Zuständigkeitsregelungen
sprächen aber für die Zuständigkeit des mit der Hauptsache befaßten und sachnahen
Gerichts auch für die Zustimmung zur Verfahrenseinstellung.
Die neuen Zuständigkeitsregelungen lassen § 153 II StPO (a. F.) als unzweck-
mäßig erscheinen. Der Norm fehlt es an der für die neue Rechtslage wün-
schenswerten Abstraktion, die der Senat gleichwohl in die Norm hineinliest –
so als könne über die Bedeutung des Wortes „Amtsrichter“ verhandelt werden!
Noch fragwürdiger ist jedoch die lebensfremde Konstruktion des gesetzgeberi-
schen Willens: Statt dem Gesetzgeber ein Übersehen zuzugestehen503 und die
Voraussetzungen einer Gesetzeskorrektur darzutun, macht der Senat ihn klüger,
als er war, und suggeriert so, im Einklang mit der legislativen Vorstellung zu
entscheiden.
Kein Problem mit der Anerkennung eines gesetzgeberischen Versehens hat
der BGH im folgenden Fall, in dem eine Gesetzesreform zu ungewollten Konse-
quenzen von großer Tragweite führte:
Fall 224 (BGHSt 22, 375, oben Fall 7 – „Verjährung von NS-Verbrechen“): Der
Angeklagte hatte Beihilfe zu Vernichtungsmaßnahmen gegen Juden geleistet. Er
hatte gewußt, daß die Opfer aus Rassenhaß umgebracht wurden, selbst aber keine
entsprechenden Motive. Nach der bis 1968 maßgeblichen Rechtslage war der Ange-
klagte wegen Beihilfe zum Mord zu verurteilen; die Strafe bestimmte sich nach der
Haupttat (lebenslang), konnte gemäß § 49 II StGB a. F. jedoch gemildert werden.
Die Akzessorietätslockerung des § 50 II a. F. („Bestimmt das Gesetz, daß besondere
persönliche Eigenschaften . . . die Strafe schärfen . . ., so gilt das nur für den Täter
oder Teilnehmer, bei dem sie vorliegen.“) half nicht, weil nach Ansicht der Recht-
sprechung die Mordmerkmale nicht einen Totschlag „schärften“, sondern die Straf-
barkeit des Mordes „begründeten“. Für die Verjährung folgte aus dieser Rechtslage
eine Frist von 20 Jahren, denn die Tat war bei nur fakultativer Strafmilderung den-
noch mit lebenslangem Zuchthaus „bedroht“ (§ 67 I a. F.). Das EGOWiG änderte
1968 diese Rechtslage, indem es die seit langem als ungerecht empfundene Rege-
lung504 zur limitierten Akzessorietät in § 50 vervollständigte. § 50 II a. F. wurde zu
§ 50 III n. F. und § 50 II lautete nunmehr: „Fehlen besondere persönliche Eigen-
schaften . . ., welche die Strafbarkeit des Täters begründen, beim Teilnehmer, so ist
dessen Strafe nach den Vorschriften über die Bestrafung des Versuchs zu mildern“.
503 Einfach und zutreffend dagegen der GBA, wiedergegeben vom BayObLG in
NJW 1959, 781 (782, r. Sp.): Aus der Entstehungsgeschichte folgt, daß der Gesetzge-
ber den Fall nicht bedacht hat.
504 Siehe Baumann, NJW 1969, 1279 f.; Tröndle, GA 1973, 289 (300).
376 IV. Entstehungsgeschichte
Diese Regelung erfaßte genau den vorliegenden Fall, und die Strafe war – jetzt
zwingend! – zu mildern.505 Offenbar übersehen hat der Gesetzgeber dabei eine auch
im vorliegenden Fall relevante Auswirkung auf die Verjährung von NS-Verbrechen,
denn die zwingende Strafmilderung war nach ganz herrschender Meinung bei der
Ermittlung des maßgeblichen Strafrahmens zu berücksichtigen.506 Im Ergebnis be-
trug deshalb die Verjährungsfrist 15, statt zuvor 20 Jahre (§ 67 I a. F.). Der BGH
sieht keinen Weg, dieses unerwünschte Ergebnis zu vermeiden. Der vom GBA, vom
Bundesjustizministerium in einer Presseverlautbarung und vom KG507 vertretenen
Lösung, niedrige Beweggründe gar nicht erst nicht als „persönliche Eigenschaften“
einzuordnen, widersprachen nach Ansicht des Senats Wortlaut, Entstehungsge-
schichte und bisherige Rechtsprechung.508 Auch ein Wechsel zur h. M. in der Litera-
tur, die in den Mordmerkmalen keine strafbegründenden, sondern schärfende Merk-
male sah (und sieht) und folglich zur Anwendung des § 50 III gelangt wäre, hätte
hinsichtlich der Verjährung zu keinem anderen Ergebnis geführt.509
Die „Amnestie“ ist sicher ungewollt und unbefriedigend, aber die „Gesetz-
gebungspanne“510 kann nicht korrigiert werden. Insofern ist es auch gleichgül-
tig, ob man das Gesetz als fehlerhaft oder aber als unvollständig einschätzt und
daß mit großer Wahrscheinlichkeit ein Interesse des Gesetzgebers an einer Kor-
rektur besteht. Hält man mit dem BGH bereits den Wortlaut hinsichtlich des
Merkmals „persönliche Merkmale“ für klar, dann kann der Fehler bereits aus
Vertrauensschutzerwägungen nicht berücksichtigt werden, Art. 103 II GG.511
Aber auch im Rahmen des noch möglichen Wortsinns darf eine unbeabsichtigte
milderung an, verweist aber auf eine Regelung, die ihrerseits nur eine fakultative Mil-
derung vorsieht (§ 44 I a. F.). Umgekehrt lag es in BGHSt 1, 351 und 2, 29 (vgl. oben
Fall 75 und Fall 164), wo eine Kann-Bestimmung auf eine Muß-Vorschrift verwies.
506 Schröder, JZ 1969, 132 (133, r. Sp.); Samson, ZRP 1969, 27 (28, l. Sp.); Stree,
JuS 1969, 403 (404 f.). Der GBA plädierte im Verfahren allerdings für eine Revision
dieser Meinung, vgl. NJW 1969, 1157; anders auch Dreher, JR 1970, 146 und (sehr
konstruiert) Gehrling, JZ 1969, 416.
507 GBA, NJW 1969, 1157; KG JR 1969, 63 (64) mit der ergebnisorientierten Be-
verstanden.
509 Koffka, JR 1969, 41 (42); Samson, ZRP 1969, 27 (28); Stree, JuS 1969, 403
Davon zu trennen ist die zeitgeschichtlich interessante Frage, ob die „Panne“ womög-
lich, wie mitunter vermutet, von ministerieller Seite geschickt eingefädelt und im
EGOWiG gut getarnt wurde, um ehemaligen Parteifreunden auszuhelfen. Ein solches
Schurkenstück wäre freilich schon zu genial, als daß man an seine Existenz wirklich
glauben könnte.
511 Auf Art. 103 II GG und eine gesicherte Rechtsposition der Betroffenen verweist
Stree, JuS 1969, 403 (406, r. Sp.). Daß der Wortlaut hier allerdings die Position des
GBA von vornherein ausschlösse, wird man in Anbetracht der komplex verknüpften
Rechtsfragen nur schwerlich sagen können.
8. Irrtümer und Versehen der Gesetzesverfasser 377
f) Nachträge
512 Mit einer gewissen rechtspolitischen Empörung mag man die Vorgehensweise
des Senats als „mechanische Deduktion“ bezeichnen, so Kirn, ZRP 1969, 124.
513 So Baumann, NJW 1969, 1279 (1280), der seinerseits mögliche Auswege (re-
striktive Auslegung der Gesetzesänderung, Lückenfüllung) nur andeutet, ohne ihre me-
thodische Tragfähigkeit vorzuführen.
514 Eine andere Frage ist, ob der BGH sich mit den Vorschlägen des GBA ausrei-
chend auseinandergesetzt hat; krit. insoweit z. B. Dreher, JR 1970, 146 (r. Sp.) und
Tröndle, GA 1973, 289 (300).
515 Näher oben IV 5 d und unten V 8 b.
516 Jescheck/Weigend (Strafrecht AT, S. 160) sehen auf Basis ihres weiten Verständ-
nisses in BGHSt 1, 47 ein Beispiel für ein Redaktionsversehen (vgl. oben Fn. 446).
Dadurch wird die Berechtigung zur inhaltlichen Gesetzeskorrektur auf leichtem Weg
erschlichen. Von einem „Versehen“ des Gesetzgebers geht Hartung aus, NJW 1949,
324 (326): Nach der Änderung des § 48 StGB „hätte man erwarten sollen . . .“.
378 IV. Entstehungsgeschichte
nate das Vorliegen eines Versehens ermitteln und welche Art von gesetzgeberi-
scher Fehlleistung vorliegt:
BGHSt 1, 245 (247) sieht in unterschiedlichen Fristbestimmungen in sachverwand-
ten Regelungen angesichts der unmittelbaren Nachbarschaft der Normen keinen An-
haltspunkt für ein Versehen. — Auch BGHSt 4, 158 (oben Fall 3) analysiert objek-
tive Faktoren: Die Regelung sei womöglich auffällig und unzweckmäßig, es sei je-
doch in Anbetracht der Umstände, insbesondere des Zusammenhangs zu anderen
Vorschriften, unwahrscheinlich, daß dem Gesetzgeber die unterschiedlichen Begriffe
entgangen sind (S. 159 f.); jedenfalls existiere kein Beweis für eine vom klaren
Wortlaut abweichende Vorstellung der Verfasser (S. 161). – Unter anderen Voraus-
setzungen würde der Senat also von der Eindeutigkeitsregel, die er zu Recht
i. S. einer Vermutung versteht, abweichen! — BGHSt 10, 255 (259) hält ein Verse-
hen (fehlende Erwähnung des § 13a StPO in § 12 II) aufgrund der erst nachträgli-
chen Hinzufügung des § 13a für möglich, läßt dies aber dahinstehen, weil schon ein
anderer Grund für eine Analogie spreche. — BGHSt 11, 152 (158) sieht keinen An-
laß, die gemäß § 232 IV StPO notwendige Zustellung des Urteils durch Übergabe
an den ausgebliebenen Angeklagten auch auf den gemäß § 233 vom Erscheinen ent-
bundenen Angeklagten zu erstrecken; die unterschiedliche Regelung beruhe nicht
auf einem Fassungsversehen und sei auch sinnvoll, so daß eine entsprechende An-
wendung nicht in Betracht komme. — BGHSt 18, 75 (76) erkennt darin, daß bei
der räuberischen Erpressung (§ 255 StGB) nur bei der Alternative der Drohung,
nicht aber bei der Gewaltausübung von einer gegenwärtigen Gefahr für Leib oder
Leben des Opfers die Rede ist, entgegen verbreiteter Auffassung keinen Redaktions-
fehler. Dagegen spreche schon die wiederholte Änderung des Grundtatbestandes
(§ 253), die nicht zu einer Berichtigung genutzt worden sei. – Diese Begründung ist
wenig überzeugend, wenn nicht dargetan werden kann, daß den Gesetzesänderungen
tatsächlich eine inhaltliche Stellungnahme auch zur vorliegenden Problematik ent-
nommen werden kann; womöglich hat der spätere Gesetzgeber lediglich keinen aku-
ten Korrekturbedarf gesehen. Die Begründung ist ein nicht seltenes Beispiel dafür,
wie aus der (Un-)Tätigkeit des Gesetzgebers zu Weitreichendes gefolgert wird.517
— Gemäß § 10 II DAG a. F. konnte auf Ersuchen einer ausländischen Regierung
und unter weiteren Voraussetzungen ein Ausländer bereits vor dem endgültigen Aus-
lieferungsantrag in „vorläufige Auslieferungshaft“ genommen werden. Für die Be-
schlagnahme von Gegenständen sah § 39 DAG a. F. hingegen kein vorläufiges Ver-
fahren vor, sondern verlangte den Eingang eines Herausgabeersuchens. Nach Auffas-
sung von BGHSt 20, 170 (174 f.) sprechen „unabweisbare kriminalpolitische“
Gründe gegen eine „strenge Wortauslegung“. Nichts [Wortlaut ?!] spreche dafür,
daß der Gesetzgeber in § 39 und § 10 II bewußt unterschiedliche Regelungen hat
treffen wollen (S. 176). Aus der amtlichen Begründung lasse sich hierfür nichts ent-
nehmen; sie lasse eher den Schluß zu, daß der Gesetzgeber die mit einer wörtlichen
Anwendung des § 39 DAG verbundenen Schwierigkeiten nicht erkannt habe. – An-
gesichts der höchst unbefriedigenden Auswirkungen einer wortgetreuen Auslegung
verlangt der Senat positive Anhaltspunkte in der Entstehungsgeschichte, die gegen
517 Wie es um die Unterstellung eines klugen Gesetzgebers bestellt ist, zeigt BGHSt
4, 300: Kann angenommen werden, daß den Gesetzesverfassern der gleiche Fehler
zweimal passiert? Der BGH hat damit kein Problem (näher oben Fall 222). Siehe
außerdem oben IV 7 g.
8. Irrtümer und Versehen der Gesetzesverfasser 379
ein Versehen sprechen könnten. — BGHSt 39, 353 (356) stellt einen Widerspruch
zwischen einer gesetzlichen Überschrift und der dazugehörigen, eindeutigen Rege-
lung fest, die bei Berücksichtigung der Überschrift „in unverständlicher, schwer
praktikabler und verfassungsrechtlich zweifelhafter Weise durchbrochen“ würde. Die
Überschrift könne deshalb nur als ein „Redaktionsversehen des Gesetzgebers ver-
standen werden“ (S. 357); ihr komme für die Auslegung der Norm keine Bedeutung
zu (S. 356). — In BGHSt 42, 200 (204) erklärt der Senat eine mangelhafte Rege-
lung, der er nur mit Mühe noch Sinn abgewinnen kann, mit der erst spät im Gesetz-
gebungsverfahren erfolgten Einfügung eines Absatzes, dessen Anpassung an andere
Regelungen der Norm versäumt worden sei. — BGHSt 42, 391 hält § 168c II StPO
nicht insofern für lückenhaft, als dort kein Anwesenheitsrecht des Beschuldigten bei
der Vernehmung eines Mitbeschuldigten vorgesehen ist. Aus Wortlaut und Systema-
tik folge, daß keine Gesetzeslücke vorliege; ein gesetzgeberisches Versehen sei kei-
neswegs naheliegend, denn ein Hinweis in den Gesetzesmaterialien spreche dafür,
daß der Gesetzgeber die Problematik gesehen habe (S. 395). — Nach BGHSt 43,
381 (404) ergibt sich aus den Gesetzesmaterialien, daß die Auswirkungen der ledig-
lich zur Klarstellung eingefügten Regelung nicht bedacht wurden.
Die Beispiele verdeutlichen, daß der BGH sich zur Feststellung eines Verse-
hens regelmäßig an objektiven Faktoren orientiert, in Zweifelsfällen aber durch-
aus die Entstehungsgeschichte zur Klärung heranzieht. Bei völlig unhaltbarem
Ergebnis einer wortgetreuen Auslegung verlangt der BGH allerdings positive
Anhaltspunkte in der Historie, daß dies tatsächlich gewollt ist. Kein Gewicht
wird der Frage nach der Art des gesetzgeberischen Fehlers beigemessen. Ob ein
rein sprachliches (redaktionelles) bzw. inhaltliches (konzeptionelles) Versehen
oder das Übersehen einer eigentlich regelungsbedürftigen Situation vorliegt
(vgl. vor allem BGHSt 42, 391), spielt keine Rolle: Stets kommt eine Gesetzes-
berichtigung oder eine Analogie in Betracht, letzteres auch bei sprachlichen
Fehlleistungen, wenn sich aufgrund dessen die Regelung als lückenhaft erweist
(vgl. z. B. BGHSt 10, 255; 11, 152). Aber nicht nur die Art des Versehens bleibt
häufig offen, sondern auch die Frage, ob überhaupt eines vorliegt:
BGHSt 1, 255 (258) sieht in der Höhe der Strafdrohung kein Argument für eine
enge Auslegung der Norm, denn dabei könne es sich auch um einen „überkomme-
nen Gesetzesfehler“ handeln. — BGHSt 8, 66 (68) erklärt die Frage, ob ein gesetz-
geberisches Versehen gegeben ist, für irrelevant, da eine Lösung aus dem geltenden
Recht „gewinnbar“ sei. — BGHSt 26, 29 (31 f.) stützt seine Auslegung auf den Ge-
setzestext, jedoch sei – warum, sagt der BGH nicht – mit der Möglichkeit eines
Redaktionsversehens zu rechnen; allerdings spreche auch der Zweck für eine dem
Wortlaut folgende Lösung. — BGHSt 28, 213 (216) vermag ein „gesetzestechni-
sches Versehen bei der Abfassung“ der Norm (GBA: „systemwidrig“) nicht auszu-
schließen, jedoch sei der Gesetzgeber zur Korrektur aufgerufen. Eine Berichtigung
durch den Senat selbst scheiterte wohl an Art. 103 II GG. — BGHSt 29, 37 (40)
läßt dahinstehen, ob mit der Neufassung eine Rechtsänderung bezweckt war, denn
dieses Ziel sei wegen des Wortlauts, der den bisherigen Rechtszustand bestätige,
nicht erreicht worden. In einer solchen Situation einer (äußerlich) eindeutigen
Rechtslage sollte der BGH besser damit argumentieren, daß der Entstehungsge-
380 IV. Entstehungsgeschichte
der unterlassenen Änderung des § 429a StPO bei Einführung des § 42m StGB
begründete Annahme eines gesetzgeberischen Übersehens (S. 95). – Der BGH
schreckt nicht davor zurück, den Wortlaut zweier eindeutiger Normen zu ergänzen,
obwohl wegen der in jedem Fall bestehenden Kompetenz der Verwaltungsbehörden
zur Entziehung der Fahrerlaubnis auch das gegenteilige Ergebnis zu vernünftigen
Ergebnissen geführt hätte.518 Bemerkenswert ist aber außerdem, daß der Senat sein
methodisches Vorgehen nicht genau benennt (Analogie?), und keinen Anlaß zu nä-
herer Prüfung der selbst aufgeworfenen Frage nach der Rechtssicherheit sieht. Denn
hier standen neben verfahrensrechtlichen womöglich sogar materiellrechtliche Vor-
aussetzungen der Entziehung der Fahrerlaubnis auf dem Prüfstand.519
g) Fazit
Mit gesetzgeberischen Fehlern muß der BGH sich häufig beschäftigen. Un-
abhängig von der Art des Versehens kommt eine Wortlautkorrektur nur bei Be-
achtung rechtsstaatlicher Schutzpositionen in Betracht. Darüber dürfen For-
mulierungen, wonach eine Berichtigung „im Wege der Auslegung“ erfolgt,
nicht hinwegtäuschen. Ob man darüber hinaus in jeder Fehlerkorrektur eine
„Rechtsfortbildung“ sieht, ist eine eher terminologische Frage.520 Beide Formen
dienen der Verwirklichung des „wahren“ oder „hypothetischen“ Willens des Ge-
setzgebers.521 Allerdings wird sich die Heranziehung der Entstehungsgeschichte
für den Bereich der Versehen oder Irrtümer eher anbieten als im Bereich der
Regelungslücken. Fließend ist die Grenze zwischen sprachlichen und inhalt-
lichen Fehlleistungen des Gesetzgebers. In beiden Fällen kann eine Korrektur
unzweifelhaft im Interesse der Gesetzesverfasser liegen; insbesondere beim
„Motivirrtum“ sollte aber mit Sicherheit feststehen, was wirklich beabsichtigt
war, denn nur dann ist gewährleistet, daß das gesetzgeberische Programm nicht
eigenmächtig „verbessert“ wird. Bei Inhaltsirrtümern sprechen zudem in der Re-
gel weitere inhaltliche Gründe gegen eine Durchsetzung der subjektiven Vorstel-
lungen der Redaktoren (vgl. die dort genannten Kriterien). Die Abstinenz gegen-
über Wortlautkorrekturen sollte nicht auf interpretatorische Formalregeln wie die
Andeutungstheorie und die Eindeutigkeitsregel gestützt werden, derer sich der
BGH vor allem dann gerne (aber nicht regelgeleitet) bedient, wenn es um die
Zurückweisung inhaltlicher oder rechtlicher Fehlvorstellungen der Gesetzesver-
Armbruster, NJW 1959, 1644: Die Entscheidung widerspreche dem eindeutigen Wort-
laut; das Versehen dürfe nicht durch die Gerichte beseitigt werden.
519 Hartung (JZ 1959, 607 [608]) versucht, die Begründung nachzuliefern: Ein Ver-
stoß gegen das Analogieverbot sei nicht gegeben, weil es letztlich allein um die ver-
fahrensrechtliche Frage, ob das Gericht oder die Verwaltungsbehörde zuständig ist,
nicht aber um die sachlichen Voraussetzungen des § 42m StGB gehe.
520 Siehe Fn. 444 und 448.
521 Engisch, Einführung, S. 233: Die Gesetzesberichtigung muß „auf den Spuren
fasser geht. Vielmehr sollte – unabhängig von der Art des etwaigen Mangels –
in einer klaren und nicht völlig sinnwidrigen Regelung eine Vermutung gesehen
werden, daß keine Differenz zwischen Wille und Erklärung vorliegt. Die Be-
weislast tragen dann die Befürworter eines Versehens; ihr kann vor allem mit
Hilfe der Entstehungsgeschichte genügt werden. Je nach Sinnwidrigkeit einer
textgetreuen Auslegung können die Anforderungen an die Begründungslast al-
lerdings sinken; im Extremfall kann die Fehlerhaftigkeit auch evident sein522.
Vorsicht ist gegenüber leichtfertigen Behauptungen eines („bloßen“) Redaktions-
versehens angezeigt, denn damit erschleicht der Rechtsanwender sich womöglich
die Befugnis zur Gesetzeskorrektur.
Sowohl bei Inhalts- als auch bei Motivirrtümern fällt auf, daß der BGH be-
sonders harsch mit rechtlichen Fehlvorstellungen der Gesetzesverfasser über die
Reichweite „ihrer“ Norm oder anderer Vorschriften umgeht. Das ist aus meh-
reren Gründen verständlich. Zum einen kommt darin ein genereller Vorbehalt
gegenüber einer „Auslegung“ beschlossener Normen durch die Verfasser selbst
zum Ausdruck, die eben nicht ihr Werk interpretieren, sondern Zielvorstellungen
äußern sollen; insofern darf der Gesetzgeber sich bei unausgegorenen Werken
wie dem 6. StrRG nicht wundern, wenn Äußerungen der Gesetzgebungsorgane
in ihrem heuristischen Wert auf eine Stufe mit sonstigen Interpreten gestellt
werden. Zum andern enthält die Zurückweisung solcher Meinungskundgaben
eine pädagogische Motivation: Der Verzicht auf eine willfährige Berichtigung
legislativer Fehler trägt womöglich zu einer technischen Verbesserung zukünfti-
ger Gesetze bei, obgleich man sich hier vor Illusionen bewahren sollte (näher
unten VII 3 b). Freilich geht es nicht darum, den Gesetzgeber für seine Fehler
abzustrafen, aber gerade vermeidbare technische Versehen stellen eine subjektiv-
historische Auslegung auf eine harte Probe!
9. Zusammenfassung
522 Dann mag die Unterstellung eines Versehens für den Gesetzgeber weniger „krän-
kend“ sein als die umgekehrte Annahme, vgl. Riedl, AöR 1994, 642 (645, Fn. 16).
9. Zusammenfassung 383
523 Nach Muscheler (in: FS für Hollerbach, S. 127) ist sie das zur Überwindung der
Gesetz den Bedürfnissen der Gegenwart anpaßt, will gewiß eine praktische Aufgabe
lösen. Aber seine Auslegung des Gesetzes ist deshalb noch lange nicht eine willkür-
384 IV. Entstehungsgeschichte
liche Umdeutung. Auch in seinem Falle heißt Verstehen und Auslegen: einen gelten-
den Sinn Erkennen und Anerkennen.“
526 Siehe dazu auch unten V 8.
9. Zusammenfassung 385
527 Jescheck, GA 1959, 65. Nach Ansicht von Tröndle (in: LK-StGB10, § 1, Rn. 46)
nimmt der BGH einen vermittelnden Standpunkt mit „deutlichem Übergewicht“ der
objektiven Methode ein.
528 Beispiele oben in IV 8.
529 Für selten hält sie z. B. Rahlf, in: Juristische Dogmatik, S. 36. Muscheler (in: FS
für Hollerbach, S. 116) kann in der gesamten Sammlung „BGHZ“ lediglich 13 Ent-
scheidungen (aus über 5000) finden, in denen die Senate (abgesehen von Rechtsfort-
bildungen) sich ausdrücklich über den Willen des Gesetzgebers hinwegsetzen oder die
Möglichkeit der Abweichung einräumen. Für „BGHSt“ erscheint diese Zahl schon in
Anbetracht der zahlreichen Fälle, die bei der Andeutungstheorie erörtert wurden, als
erheblich zu niedrig.
386 IV. Entstehungsgeschichte
530 Zur Frage, was sich inhaltlich hinter einer objektiv-teleologischen Auslegung
1. Vorüberlegungen
schen Anlaß exzessiv, aber mit einwandfrei funktionierenden Geräten. Der BGH be-
tont die Stellung der Norm im Abschnitt „gemeingefährliche Straftaten“; der Ge-
setzgeber habe nur Konstellationen erfassen wollen, in denen der Täter die Auswir-
kungen seiner Handlungen nicht in der Hand hat und deshalb eine Vielzahl von
Personen gefährdet werden (S. 349). Gefährde der Arzt hingegen gezielt nur eine
Person, handle er nicht „gemeingefährlich“ (S. 350).4 Auch BGHSt 27, 40 (42) be-
gründet seine Ansicht, daß § 315c StGB nicht anwendbar sei, wenn der Täter nur
das von ihm geführte, fremde Fahrzeug gefährdet, u. a. mit der Stellung der Norm
im Abschnitt „gemeingefährliche Straftaten“.
Die Argumentation aus der „Stellung im Abschnitt“ ist allerdings mit Vor-
sicht zu genießen.5 Die Bezeichnung des Abschnitts kann sich als unpräzise,
eine bestimmte Norm gewollt oder ungewollt als Fremdkörper im Abschnitt er-
weisen.
Fall 227: Für § 308 I Alt. 1 StGB i. d. F. bis zum 6. StrRG (einfache Brandstiftung)
war anerkannt, daß es sich dabei um einen Spezialfall der Sachbeschädigung und
somit um ein Eigentumsdelikt, nicht aber um eine „gemeingefährliche Straftat“ han-
delt.6 Konsequent hielt man bei diesem Tatbestand eine Einwilligung für möglich.
Nach überwiegender Ansicht gilt das auch für § 306 I StGB n. F.7 Der Gesetzgeber
hätte demnach dem Sachzusammenhang größeres Gewicht verliehen als der „lo-
gisch“ zutreffenden Anordnung. Seltsamerweise würde damit die erste Norm im Ab-
schnitt „gemeingefährlicher Straftaten“ nicht unter diesen Sammelbegriff fallen und
auch nicht Grunddelikt der Brandstiftungsnormen sein. BGH NStZ 2001, 196 (197)
hat demgegenüber angenommen, daß auch § 306 I „ein Element der Gemeingefähr-
lichkeit“ anhaftet, was durch die Stellung der Norm im Abschnitt über die gemein-
gefährlichen Straftaten bestätigt werde.8
Fall 228 (BGHSt 9, 285): Der Senat weist den Versuch, eine Abschnittsüberschrift
zur Tatbestandsreduktion des § 90a StGB i. d. F. des 1. StÄG („Wer eine Vereini-
gung gründet, deren Zwecke . . . sich gegen die verfassungsgemäße Ordnung . . . rich-
ten . . .“) heranzuziehen, recht unwirsch zurück. Die Verteidigung hatte vorgetragen,
zur Tatbestandsverwirklichung bedürfe es zusätzlich der Feststellung einer ernstzu-
nehmenden Gefährdung der verfassungsmäßigen Ordnung, wie man der Abschnitts-
überschrift „Staatsgefährdung“ entnehmen könne (S. 287). Der Senat sieht nach
Analyse der Entstehungsgeschichte keine Rechtfertigung für die Annahme unge-
schriebener Merkmale. „Der Hinweis auf die Abschnittsüberschrift beweist gar
nichts. ,Staatsgefährdung‘ ist das, was der Gesetzgeber in diesem Abschnitt tatbe-
4 In der abl. Anmerkung von Götz u. a. (MedR 1998, 505) wird zwar ausführlich
zur „systematischen Auslegung“ des § 311 Stellung bezogen (S. 507–509), doch feh-
len dort gerade die auf der Hand liegenden systematischen Argumente des BGH.
5 Larenz, Methodenlehre, S. 326: Wegen der sachlichen Zusammengehörigkeit von
Normen weiche das Gesetz teilweise von der systematischen Anordnung ab. Siehe
auch Schmitz, in: MüKo-StGB, § 1, Rn. 70 und 71.
6 Statt aller Wessels, Strafrecht BT/121, Rn. 925.
7 Siehe Tröndle/Fischer, StGB51, § 306, Rn. 1, 12 und Wessels/Hettinger, Strafrecht
standsmäßig erfaßt hat“ (S. 292).9 – Für die vorliegende Konstellation mögen die
Einsichten des BGH zutreffen, aber methodisch generalisierbar dürften sie nicht
sein.
Neben der systematischen Stellung der Vorschrift in einem Abschnitt10 wird
als Auslegungshilfe des öfteren die gesetzliche Überschrift der jeweiligen Vor-
schrift als Auslegungshilfe herangezogen. Selbst wenn die Überschriften amt-
lich sind,11 dürfte nicht strittig sein, daß es sich dabei nicht um Bestandteile der
Norm selbst handelt und damit auch nicht um Tatbestandsmerkmale, aus denen
sich die für Art. 103 II GG relevanten Wortlautgrenze zusammensetzt. Umge-
kehrt folgt daraus aber nicht die völlige Wertlosigkeit der Gesetzestitel für die
Interpretation. Die Bezeichnung einer Norm ist ja kein Resultat freier oder zu-
fälliger Namensgebung, sondern sie soll ihren Gegenstand stark verkürzt zum
Ausdruck bringen. Wenn auch mit den Bezeichnungen „Diebstahl“, „Raub“ und
„Mord“ nichts für die Auslegung zu gewinnen ist, kann es doch andere Fälle
geben, in denen die Überschriften Anhaltspunkte für die gesetzgeberische Inten-
tion liefern. Der BGH ist hinsichtlich der Verwertbarkeit allerdings hin- und
hergerissen:
BGHSt 18, 242 (246) begründet seine Ansicht, der „Erwerb“ von Waren im Sinne
des Zollrechts müsse rechtsgeschäftlich erfolgen, während ein Diebstahl nicht ge-
nüge, u. a. mit einigen Überschriften der Allgemeinen Zollordnung (a. F.), in denen
von „Handel“ die Rede ist. — BGHSt 39, 330 (vgl. oben Fall 152) zieht die gesetz-
liche Überschrift des § 239b StGB („Geiselnahme“) als eines von mehreren Argu-
menten heran, um den Tatbestand einzuschränken. In der Überschrift komme der
gesetzgeberische Wille zum Ausdruck, nur Fälle zu erfassen, in denen das Gesche-
hen Außenwirkung entfaltet; dadurch sei der Begriff der Geiselnahme seit jeher ge-
prägt (S. 334 mit Hinweisen auf Lexika). Auch die Bezeichnung „Geisel“ spreche
für eine einschränkende Anwendung der Norm.
Die Argumentation aus BGHSt 39, 330 ist sehr zweifelhaft. Im Duktus von
BGHSt 9, 285 könnte man erwidern: Das, was eine „Geiselnahme“ ist, be-
stimmt der Gesetzgeber durch die einzelnen Tatbestandsmerkmale. Dann aber
ist es unzulässig, der Norm aus Wörterbüchern und einem überkommenen Be-
griff einen anderen Charakter zu verleihen.12 Sonst ist der BGH wesentlich
skeptischer hinsichtlich der Aussagekraft gesetzlicher Überschriften und sieht
dem 2. StrRG von 1969 amtliche Überschriften, siehe Göhler, NJW 1974, 825
(834 f.).
12 Für eine Tatbestandsreduktion sprachen freilich andere, stärkere Gründe (vgl.
Fall 152).
3. „Logisch‘‘-systematische Argumente 391
darin häufig eine nur unpräzise oder gar unzutreffende Beschreibung des Norm-
inhalts:
Fall 229 (BGHSt 29, 220): § 17 des Lebensmittel- und Bedarfsgegenständegesetzes
a. F. enthält das Verbot, zum Verzehr nicht geeignete Lebensmittel gewerbsmäßig in
Verkehr zu bringen. Aus dem Normtitel „Verbote zum Schutz vor Täuschung“ fol-
gert das OLG über den eigentlichen Gesetzeswortlaut hinaus, daß die konkreten
Umstände den Verbraucher über die Eignung des Lebensmittels täuschen müßten
(S. 221). Der Senat sieht in Wortlaut und Entstehungsgeschichte keine Anhalts-
punkte für diese Auffassung, die außerdem übersehe, „daß die Überschriften gesetz-
licher Vorschriften, auch wenn sie vom Gesetzgeber mit beraten sind, nie zusätzliche
Tatbestandsmerkmale enthalten, sondern lediglich auf den wesentlichen Inhalt der
gesamten Vorschrift hinweisen“ (S. 224). Der Überschrift sei nur zu entnehmen, daß
die Alternativen des Tatbestandes überwiegend gegen Täuschungen gerichtet seien.
„Andernfalls wäre es in keiner der Einzelvorschriften . . . notwendig gewesen, die
Eignung zur Täuschung ausdrücklich als Tatbestandsmerkmal anzuführen.“ – Mit
der Überschrift ließe sich auch wie in BGHSt 39, 330 („Geiselnahme“) eine Tatbe-
standsreduktion begründen. Es kommt insofern ganz auf den wirklichen Willen des
Gesetzgeber an, der im maßgeblichen Gesetzestext eventuell nicht eins zu eins zum
Ausdruck kommt. Nicht überzeugen kann jedenfalls die abschließende Erwägung
des Senats („Andernfalls . . .“), denn der Gesetzgeber könnte so ja nur verfahren,
wenn es gesicherter Erkenntnis entspräche, daß die Gesetzesüberschrift zur Interpre-
tation herangezogen werden muß. Das ist aber nicht der Fall.
Fall 230 (BGHSt 39, 353): Aus der gesetzlichen Überschrift von § 315a EGStGB
(Verjährung für in der DDR „verfolgte und abgeurteilte Taten“) folge nicht, daß die
Norm nur bei Taten anwendbar ist, bei denen die Strafverfolgung bereits in der
DDR begonnen hatte (S. 356). Eine solche sinnwidrige Einschränkung finde in der
Vorschrift, die „selbst eine eindeutige und in sich geschlossene Gesamtregelung“
enthalte, keinen Niederschlag. Die Fassung der Überschrift könne nur „als ein Re-
daktionsversehen des Gesetzgebers verstanden werden“ (S. 357).
Fall 231 (BGHSt 45, 103 – „Durchschleusen“): Gemäß § 92a AuslG ist nicht nur
strafbar, wer Ausländer illegal nach Deutschland einschleust, sondern auch, wer sie
illegal durch das Bundesgebiet durchschleust. Das folgt aus den in Bezug genomme-
nen Normen und nach Ansicht des Senats aus Sinn und Zweck der Vorschrift
(S. 105). „Dem steht nicht entgegen, daß in der gesetzlichen Überschrift nur der
häufigere und die Belange der Bundesrepublik Deutschland stärker berührende
,Normalfall‘ des Einschleusens angesprochen wird, da die Wortlautschranke bei der
Auslegung nicht für die Überschrift einer Norm gilt“ (S. 106).
3. „Logisch“-systematische Argumente
Häufig trifft man in Urteilsgründen auf logische Schlußformen, vor allem auf
Größen- und Umkehrschlüsse. Dabei handelt es sich strenggenommen nicht um
Hilfsmittel einer systematischen Interpretation, sondern um „Grundstrukturen
juristischen Denkens“13 oder sogar um universelle Denkoperationen, die auch
zur juristischen Argumentation herangezogen werden. Im Vordergrund des In-
392 V. Systematik
teresses steht nicht die logische Struktur dieser Schlüsse, sondern die Frage, ob
sie in der jeweiligen Situation zu Recht gezogen oder verworfen wurden.14 Das
aber hängt von juristischen Kriterien ab, insbesondere von der Herausarbeitung
der gesetzgeberischen Wertentscheidung als normativen Bezugsrahmen der
Schlußformen. Leicht vernebelt das Prestige der Logik die Sachproblematik.
Natürlich zu vermeiden sind logische Fehler und Zirkelschlüsse (petitio princi-
pii, circulus vitiosus etc.); da sie keine Hilfsmittel der Gesetzeskonkretisierung
sind, werden sie hier nicht erörtert.15
Gerne greift die Praxis auf den Erst-recht-Schluß (argumentum a fortiori) und
als dessen Sonderfälle16 auf die Größenschlüsse (a minore ad maius/a maiore
ad minus) zurück. Die Struktur dieser Argumente ist leicht einsichtig: Wenn der
Gesetzgeber schon den geringeren Fall erfaßt, muß das für den schwereren erst
recht gelten (Schluß a minore). Wenn der Gesetzgeber schon den schwerwie-
genderen Fall straffrei läßt, muß dies erst recht auch für den geringeren Fall
gelten (Schluß a maiore).
Kann dem Täter eines untauglichen Versuchs das Privileg des Rücktritts gewährt
werden? Ja, denn ansonsten würde der weniger gefährliche Täter gegenüber dem ge-
fährlicheren schlechter gestellt. Ein anderes Ergebnis könnte nur hingenommen wer-
den, wenn es der Gesetzgeber ausdrücklich ausgesprochen hätte (BGHSt 11, 324
[325 f.] = oben Fall 169).17 — Ist auch der Mofafahrer vom Schutzbereich des
§ 316a StGB (räuberischer Angriff auf „Kraftfahrer“) erfaßt? Ja, denn die Norm
soll vor besonderen Gefahrenlagen des fließenden Verkehrs schützen, und in dieser
Hinsicht ist der Mofafahrer noch schutzbedürftiger als der Führer eines PKW
(BGHSt 39, 249 [250 f.] = oben Fall 153). — Wird durch Telefonsex eine sexuelle
Handlung „vor“ dem Täter vorgenommen? Aus den Gesetzesmaterialien ergibt sich,
daß „Distanztaten“ wie Exhibitionismus nicht erfaßt werden sollten; dann aber muß
dies für Telefonsex „erst recht“ gelten (BGHSt 41, 285 [287] = Fall 1).
Die Überzeugungskraft der Größenschlüsse resultiert vor allem aus ihrer Evi-
denz, aus der unmittelbaren Einsicht in die Richtigkeit des Ergebnisses. Mit der
Behauptung eines „Mehr oder Weniger“ oder eines „erst recht“ erhält die Beweis-
führung den Anschein zwingender Logik und Unangreifbarkeit. Sie enthält zudem
implizit die Aussage, daß in Anbetracht des offensichtlichen Ergebnisses jede
logischen Schlußformen.
14 Vgl. Looschelders/Roth, Methodik, S. 101; Gast, Rhetorik, Rn. 323.
15 Siehe dazu Gast, Rhetorik, Rn. 315 ff.; Schneider, Logik, S. 195 ff.; Scheuerle,
wichtiger.
19 Vgl. oben S. 85.
20 Näher Schneider, Logik, S. 155 f.
21 Bydlinski, Methodenlehre, S. 479 (Größenschluß als „verstärkte Abart des Analo-
stärker als die Behauptung einer Ähnlichkeit dazu geeignet sind, eine im Weg
der Rechtsfortbildung zu schließende Wertungslücke darzutun: Trifft die gesetz-
geberische Wertung auf den konkreten Fall noch stärker (erst recht) zu als in
der gesetzlich ausdrücklich geregelten Konstellation, ist es ein Gebot der
Gleichbehandlung, die gesetzliche Regelung im Weg der Rechtsfortbildung auf
diesen Fall zu erstrecken (wenn zusätzlich die übrigen Voraussetzungen der
Rechtsfortbildung gegeben sind). Davon abgesehen sind der Erst-recht-Schluß
und die Größenschlüsse jedoch universelle Argumentationsformen: Sie können
auch dazu dienen, die Sinnwidrigkeit oder Fehlerhaftigkeit einer gesetzlichen
Regelung aufzuzeigen, um eine Gesetzeskorrektur vorzubereiten.22 Aber auch
bei der herkömmlichen Auslegung secundum legem gelangen die Größens-
chlüsse zum Einsatz (vgl. oben den „Mofa-Fall“). Stets setzen sie die Ermitt-
lung des Gesetzeszwecks voraus. Erst wenn festgestellt ist, was der Gesetzgeber
mit der Norm beabsichtigt, kann gesagt werden, ob das „erst recht“ auch für die
Einbeziehung des vorliegenden Falls spricht oder ein konstatiertes „Mehr oder
Weniger“ tatsächlich normrelevant ist. Daß ohne die Herausarbeitung der Prä-
missen (des teleologischen Bezugsmaßstabs) der „logische“ Anteil der hier er-
örterten Schlüsse ohne Wert ist und nur die teleologischen Erwägungen den
Schluß tragen,23 unterliegt denn auch keinem Zweifel.
Ohne nähere Prüfung wäre es etwa kaum verständlich, warum der Gesetzgeber in
folgender Situation keinen Größenschluß gezogen hat: Gemäß § 243 StGB a. F.
wurde der Diebstahl u. a. dann höher bestraft, wenn „Gegenstände der Beförderung“
(z. B. Reisegepäck) gestohlen wurden. Die Wegnahme des ganzen Transportmittels
fiel hingegen nicht unter die Strafschärfung. Daß der Gesetzgeber bei der Ausgestal-
tung des Tatbestandes keinen auf den ersten Blick naheliegenden Schluß a minore
ad maius gezogen hat, begründet RGSt 6, 394 damit, daß ihm die Gefahr der Weg-
nahme des ganzen Transportmittels geringer erschien.24
Die Gefahr der Erst-recht- oder Größenschlüsse liegt demgemäß nicht in
ihrer logischen Struktur, sondern in der (unberechtigten) Inanspruchnahme von
Evidenz, mit der die inhaltlichen Anforderungen überdeckt werden. Ohne nä-
here Prüfung des Vergleichsmaßstabs – Ist das Größenverhältnis auch für die zu
prüfende Norm von Bedeutung? – besteht die Gefahr des Trugschlusses. Bei
Rechtsfortbildungen dürfen außerdem deren weiteren Voraussetzungen (Lücke)
nicht aus dem Blick geraten.25
reichenden Beleg für ein gesetzgeberisches Versehen anerkannt und eine Reduktion
des § 79 I Nr. 1 OWiG a. F. abgelehnt; ebenso BayObLG NStZ 1990, 497 mit abl.
Anm. von Göhler.
23 Sax, JZ 1964, 241 (244, Fn. 27); vgl. auch Looschelders/Roth, Methodik,
S. 104 f.
24 Vgl. BGHSt 3, 312 und 314 = oben Fall 2.
3. „Logisch‘‘-systematische Argumente 395
Fall 235 (BGHSt 40, 257; BGHZ 154, 205): Nach § 1904 I BGB bedarf die Ein-
willigung des Betreuers in einen ärztlichen Eingriff, bei dem für den Betreuten die
Gefahr des Todes oder eines schweren Schadens besteht, der Genehmigung durch
das Vormundschaftsgericht. BGHSt 40, 257 (261 f.) hat in einem obiter dictum die
Ansicht vertreten, daß die vom Wortlaut her nicht passende Norm nach ihrem Sinn
und Zweck – erst recht – angewandt werden muß, wenn es um den Abbruch einer
lebenserhaltenden Behandlung geht und der Sterbevorgang noch nicht eingesetzt hat.
Wenn schon ein Heileingriff wegen seiner Gefährlichkeit der Genehmigung bedürfe,
dann müsse dies „um so mehr“ für lebensbeendende Maßnahmen gelten. – Der
Schluß a minore ad maius, mit dem die analoge Anwendung des § 1904 BGB be-
gründet wird, wirkt in seiner Evidenz entwaffnend.26 Soll § 1904 BGB besonderen
Schutz vor gefährlichen ärztlichen Maßnahmen bieten, dann wäre sein Nichteingrei-
fen im vorliegenden Fall tatsächlich unverständlich. Gleichwohl hat ein Zivilsenat
des BGH sich gegen diese Argumentation gewandt und die Gleichheit der Problem-
lage bestritten: § 1904 BGB wolle Leben und Gesundheit des Betroffenen erhalten,
der Behandlungsabbruch das Leben beenden; beide Ziele stünden sich nicht im Ver-
hältnis von „maius“ und „minus“ gegenüber und rechtfertigten mithin keinen Erst-
recht-Schluß.27 – Der BGH in Zivilsachen stellt bei der Vergleichbarkeit der Pro-
blemlage somit auf das Ziel der Maßnahme ab, BGHSt 40, 257 auf ihre Gefährlich-
keit, und je nach dem, was man insoweit für zutreffend hält, trägt der Erst-recht-
Schluß oder nicht.
Fall 236 (BGHSt 24, 143): Evidenz kann auch das folgende Beispiel nicht be-
anspruchen: Wird die einwöchige Ladungsfrist des § 217 I StPO nicht eingehalten,
gewährt § 217 II dem Angeklagten die Option, einen Aussetzungsantrag zu stellen.
Stellt er den Antrag nicht, ist der Fehler geheilt und kann nicht mehr nachträglich
gerügt werden. Kann der ausgebliebene Angeklagte bei der Verwerfung seiner Beru-
fung gemäß § 329 I mit der Revision geltend machen, daß die Ladungsfrist nicht
eingehalten wurde? Dafür spricht nach einer verbreiteten Ansicht, daß eine Heilung
nur dann in Frage kommen kann, wenn der Angeklagte sein Antragsrecht kennt, was
beim Ausbleiben nicht der Fall ist. Mit ausführlicher Argumentation vertritt BGHSt
24, 143 die Gegenansicht und beruft sich dabei u. a. auf einen Erst-recht-Schluß:
Die Stellung des Ausgebliebenen könne nicht besser sein als die des Anwesenden,
der nur keinen Aussetzungsantrag stelle (S. 149). – Der Größenschluß überzeugt
nicht auf Anhieb, weil er von zu vielen Vorannahmen abhängt. Fraglich ist insbe-
sondere, ob der Vergleichsmaßstab wirklich zutrifft und in Hinblick auf den Norm-
zweck des § 217 nicht statt eines Mehr oder Weniger etwas Anderes vorliegt: Der
anwesende Angeklagte wird über sein Antragsrecht belehrt, der ausgebliebene er-
fährt davon womöglich nichts.28
Häufig und nicht nur im Bereich der Rechtsfortbildung wird die Wertungs-
grundlage für einen Erst-recht-Schluß nicht aus dem Anwendungsbereich der
entscheidungsrelevanten Norm selbst, sondern einer anderen, aber vergleichba-
ren Regelung innerhalb der Kodifikation entnommen. Hat der Gesetzgeber ein
sachverwandtes Problem andernorts einer klaren Lösung zugeführt, kann diese
Wertentscheidung unter Umständen für eine Erst-recht-Argumentation fruchtbar
gemacht werden. Dadurch werden Wertentscheidungen des Gesetzgebers harmo-
nisiert und so die systematische Stimmigkeit der Kodifikation erhöht.
Fall 237 (BGHSt 27, 216; 25, 4): Entfernt der Angeklagte sich aus der Verhand-
lung, so kann diese zu Ende geführt werden, „wenn er über die Anklage schon ver-
nommen war“, § 231 II StPO. Wie steht es, wenn die Vorstrafen noch nicht erörtert
wurden? Hinsichtlich der Vorstrafen hat der Gesetzgeber 1964 in § 243 IV 3, 4
StPO bestimmt, daß diese nur bei Relevanz für die Entscheidung festgestellt werden
sollen und über den Zeitpunkt der Feststellung der Vorsitzende entscheidet. BGHSt
25, 4 hat mit äußerst knapper Begründung dargelegt, daß die Vernehmung ohne die
Feststellung der Vorstrafen noch nicht vollständig sei. Gegenteilig hat BGHSt 27,
216 entschieden und sich durch die Einfügung von § 265 V StPO29 bestätigt ge-
fühlt. Nach dieser Norm sind bei eigenmächtiger Abwesenheit sogar Straferschwe-
rungen gegenüber dem Anklagevorwurf möglich, wenn neue Umstände eintreten
und dem Verteidiger der nach § 265 notwendige Hinweis erteilt wird. „Es läge ein
innerer Widerspruch in einer Auslegung des Gesetzes, die trotz dieser Regelung die
weit weniger ins Gewicht fallende Verlesung des Strafregisterauszuges in Abwesen-
heit des Angeklagten und seine Verwertung im Urteil ausschließen würde“ (S. 221).
Merkwürdigerweise hat BGHSt 28, 69 sich in einer viel klareren Situation, in der
die Einführung einer sachverwandten Regelung stark für einen Erst-recht-Schluß
sprach und ein Meinungswandel auch dem Wortlaut weit eher entsprochen hätte
(näher oben Fall 195), einer solchen Argumentation verschlossen. BVerfGE 65, 377
hat den vom BGH dadurch in Kauf genommenen Wertungswiderspruch sogar als
Verstoß gegen Art. 3 I GG gewertet.
Eine Beweisführung wie in BGHSt 27, 216 ist allerdings nicht sonderlich
stark, weil der Zusammenhang zur eigentlich fallrelevanten Norm ein nur mit-
telbarer ist. Sie ist zudem nur legitim, wenn sich zur einschlägigen Norm kein
Wille des Gesetzgebers feststellen läßt, das Ergebnis also offen ist. Erst danach
kann (subsidiär) eine sachnahe Wertung des Gesetzgebers aus einem anderen
Bereich herangezogen werden. In dieser Situation ist das dann immerhin ein
rationales Verfahren, das nicht freischwebend objektiv-teleologisch vorgeht,
sondern sich am gesetzgeberischen Programm für einen ähnlichen Fall orien-
tiert, mag es auch nicht das für den vorliegenden Fall vorgesehene sein. Abge-
hoben wird dabei – wie aus dem Bereich der Ergänzung von Gesetzeslücken
bekannt – auf die Perspektive eines hypothetischen Gesetzgebers: „Hätte dieser
die jetzt zu entscheidende Problematik gesehen und regeln wollen, dann hätte er
29 Vgl. heute § 234a StPO. BGHSt 25, 4 konnte § 265 V noch nicht berücksichti-
gen.
3. „Logisch‘‘-systematische Argumente 397
das in folgender Weise getan, wie sich aus jener Regelung ergibt.“ Freilich
besteht bei dieser Argumentation die Gefahr, eine für falsch oder unstimmig
befundene (aber doch vorhandene!) gesetzgeberische Lösung durch eine sach-
verwandte und für besser erachtete zu ersetzen. Mit der Übertragung einer sach-
verwandten Regelung wird in folgendem Beispiel die gesetzliche Regelung
überspielt:
Fall 238 (BVerfGE 48, 246): § 160a IV 2 SGG i. d. F. vom 30.7.1975 bestimmt für
die Nichtzulassungsbeschwerde, daß darüber das BSG „unter Zuziehung der ehren-
amtlichen Richter durch Beschluß“ entscheidet. Hingegen differenziert der Gesetz-
geber in § 169 SGG für die Revision zwischen deren Zulässigkeit (insofern Ent-
scheidung nur durch die Berufsrichter) und ihrer Begründetheit (dann kompletter
Spruchkörper). Das BSG hat trotz des klaren Wortlauts von § 160a IV 2 auch dort
eine Differenzierung i. S. von § 169 vorgenommen30 und statt eines Umkehrschlus-
ses einen Erst-recht-Schluß gezogen: Wenn drei Berufsrichter schon eine Revision
als unzulässig verwerfen dürfen, dann könne beim weniger starken Rechtsbehelf der
Nichtzulassungsbeschwerde nichts anderes gelten.31 Das BVerfG hat diese Recht-
sprechung unter dem Gesichtspunkt des gesetzlichen Richters nicht beanstandet und
dabei die systematische Stellung des § 160a im Revisionsrecht betont, den „bloßen
Wortlaut“ demgegenüber zurückgestellt (S. 257); die Rechtsmittelregelungen seien
nur dann „in sich logisch“, wenn die ehrenamtlichen Richter in jeweils gleichem
Umfang beteiligt werden. M. Hirsch hat in einem Sondervotum die Überzeugungs-
kraft des Erst-recht-Schlusses (a maiore ad minus) bestritten (S. 265) und angesichts
der unterschiedlichen Regelungen einen Umkehrschluß befürwortet (S. 266). Dem
„rechtstheoretisch scheinbar einwandfreien Analogieschluß“ (S. 264) fehle es an den
nötigen Voraussetzungen (S. 268 ff.). – Die Lösung des BSG ergibt sicherlich eine
stimmigere Gesamtregelung, aber der Erst-recht-Schluß hätte den Gesetzgeber selbst
bei der Ausgestaltung der Norm zum richtigen Ergebnis führen müssen. Statt dessen
hat er eine andere gewählt, die von der Rechtsprechung eigenmächtig „verbessert“
wird.
b) Umkehrschluß
Meyers Großem Taschenlexikon: „. . . im Recht der Schluß, daß die analoge Anwen-
398 V. Systematik
dung einer rechtl. Vorschrift wegen erhebl. Abweichung des Tatbestandes unzulässig
ist“.
33 BGH NJW 2002, 1437 (1439, r. Sp.).
3. „Logisch‘‘-systematische Argumente 399
Formulierung „oder ein anderer Beteiligter“ nicht nur Mittäter, sondern über § 25 II
StGB hinaus noch Anstifter und Gehilfen umfaßt.34
Nicht unproblematisch ist auch folgende Deduktion von BGHSt 24, 103 (106) zur
Frage, ob Maßregeln vom Rückwirkungsverbot des Art. 103 II GG erfaßt sind: Der
Grundgesetzgeber habe eine Strafrechtsordnung vorgefunden, die zwischen „Strafe“
und „Maßregel“ scharf unterscheide; da Art. 103 II GG aber nur die „Strafe“ unter
das Rückwirkungsverbot stelle, müsse daraus geschlossen werden, daß der einfache
Gesetzgeber hinsichtlich der Maßregeln nicht dieser Beschränkung unterliege. Die-
ser Umkehrschluß hängt ersichtlich von den begrifflichen Voraussetzungen ab. Ob
der Grundgesetzgeber aber den Ausdruck „Strafe“ tatsächlich mit einer Ausschluß-
wirkung verbunden hat, ist eine Frage der historischen Auslegung.35
Probleme ergeben sich aber nicht nur aus unberechtigten Gegenschlüssen,
sondern auch aus dem Verzicht auf einen solchen Schluß. Häufig übersieht der
Gesetzgeber die möglichen Konsequenzen einer begrifflich folgerichtigen Ge-
setzesanwendung. Dann hilft die Praxis den Gesetzesverfassern aus, indem sie
auf den „objektiv“ angezeigten, mitunter auf der Hand liegenden Umkehrschluß
verzichtet. Der „Preis“ für die Berücksichtigung der gesetzgeberischen Vorstel-
lungen kann hoch sein: Die Einheit der Begriffe (der Rechtsordnung) wird auf-
gegeben, das Gesetz erhält einen anderen Sinn, als es Wortlaut und Systematik
suggerieren und vereinzelt kann sogar ein Konflikt mit Art. 103 II GG entste-
hen.36
Noch gut verständlich ist der Verzicht auf einen Gegenschluß in BGHSt 8, 8: Der
Angeklagte fuhr als Führer einer S-Bahn bei starkem Nebel nicht auf Sicht und ver-
ursachte deshalb einen Unfall. Hat er durch das zu schnelle Fahren eine Transport-
gefährdung (§ 315 StGB a. F.) mittels eines „ähnlichen“ Eingriffs begangen? Der
BGH bejaht das, obwohl der benachbarte § 315a I Nr. 4 StGB (a. F.)37 die Variante
des zu schnellen Fahrens ausdrücklich enthält. Ein „Gegenschluß“ sei nicht ange-
bracht, weil § 315a erst nachträglich eingeführt38 und auf Besonderheiten des Stra-
ßenverkehrs, bei dem es Gründe für die Aufnahme dieser Alternative gebe, abge-
stimmt worden sei (S. 15). — Auf einen naheliegenden Umkehrschluß verzichtet
BGHSt 1, 47 (49) u. a. wegen eines sonst eintretenden Widerspruchs zur Gerechtig-
keit. Dabei bestand kein Zweifel, daß der Gesetzgeber den Gedanken der limitierten
Akzessorietät nur in einem Teilbereich verwirklicht, es im übrigen aber (aus Verse-
hen) bei der alten Regelung belassen hat (vgl. ausführlich oben Fall 163). — Nicht
zu umgehen war der Umkehrschluß in der mehrfach erörterten Entscheidung BGHSt
34 So ein Argument des Großen Senats gegen BGHSt 42, 368, siehe oben Fall 36.
35 Krit. zur Unterstellung, daß die Gesetzesverfasser sich an der „vorgefundenen“
Strafrechtsordnung orientiert hätten, Schroeder, JR 1971, 379 (380).
36 Daß die Rechtsprechung dadurch zudem ihre so geliebte „Andeutungstheorie“
gelungen abgestellt und es deshalb als ausgeschlossen angesehen, daß die Frage nicht
bedacht worden sei (S. 140).
400 V. Systematik
29, 311 (oben Fall 34 und Fall 67). § 146 I Nr. 1 und 2 StGB enthält eine den
fraglichen Sachverhalt exakt erfassende Tatmodalität, die in § 146 I Nr. 3 und in
§ 147 fehlt und dort vermißt wird. Unter Berufung auf die Entstehungsgeschichte
hält der BGH das „argumentum e contrario“ gleichwohl nicht für angebracht: Der
Gesetzgeber habe die Angleichung der Tatbestände nur versäumt, und für die sich
bei einem Gegenschluß ergebende unterschiedliche Behandlung sei kein Sachgrund
ersichtlich (S. 314). Erkennt man in den logisch-systematischen Folgerungen ein
Mittel zur Feststellung der für Art. 103 II GG maßgeblichen Wortsinngrenze, dann
liegt in der Argumentation des BGH nicht nur ein Widerspruch zu den Regeln sy-
stematischer Auslegung, sondern darüber hinaus ein Verstoß gegen das Analogiever-
bot.39
Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß der Gesetzgeber sich nicht darauf
verlassen kann, daß die Rechtsprechung auf den objektiv-systematisch angezeig-
ten Gegenschluß verzichtet, um den „wahren“ Willen des Gesetzgebers durch-
zusetzen. Vorsicht ist deshalb bei „Klarstellungen“ angebracht, die allzu leicht
das Potential zu ungewollten Gegenschlüssen bergen.40
Nicht nur bei Schlußfolgerungen aus („horizontalen“) Textvergleichen mit
dem geltenden Recht spielt der Gegenschluß eine Rolle, sondern auch bei der
objektiv-historischen Auslegung, insbesondere bei einem („vertikalen“) Ver-
gleich zu Vorläufernormen41 oder zu Entwurfsfassungen (oben IV 6 c), nach
der zweifelhaften Ansicht des BGH sogar zum künftigen Recht (oben IV 7 d).
Die Streichung, Hinzufügung, Übernahme oder Änderung von Formulierungen
läßt auf einen bestimmten Willen des Gesetzgebers schließen, die Rechtslage
anders als bisher oder als ursprünglich geplant auszugestalten. Aber auch hier
können entsprechende Schlüsse sich als trügerisch erweisen, und oft muß der
BGH große Mühe darauf verwenden, objektiv-historisch naheliegende Umkehr-
schlüsse mit Hilfe subjektiv-historischer Auslegung zu entkräften.42
Schließlich bleibt als Anwendungsfeld des Umkehrschlusses43 seine Stellung
als Opponent zum Analogieschluß. Gerade hier wird deutlich, daß die formal-
39 Näher oben Fall 67 und als Gegenbeispiel BGHSt 19, 158 = oben Fall 33. Siehe
Maskulin“) und außerdem BGHSt 42, 294 (oben Kap. III, Fn. 130).
41 Siehe oben IV 7 b und z. B. BGHSt 26, 191 (195): Der Textvergleich zur alten
gestellt. Es gibt weitere, die schwer einzuordnen sind, wie etwa in BGHSt 41, 348
(vgl. oben Fall 88): Nach der „Bausatztheorie“ der Rechtsprechung liegt eine Kriegs-
waffe auch dann vor, wenn sie in zusammensetzbaren Einzelteilen geliefert wird. Aus
der Erweiterung der Kriegswaffenliste auf bestimmte Waffenteile lasse sich nicht auf
eine abschließende Regelung von Einzelteillieferungen schließen, zumal diese durch
die Bausatztheorie nicht erfaßt würden (S. 355 f.). Nicht besonders durchsichtig ist
der von BGHSt 43, 336 (342) erwogene und verworfene Umkehrschluß.
4. Ausnahmevorschriften (singularia non sunt extendenda) 401
a) Einleitung
Nicht selten tritt in der Rechtsprechung die Interpretationsregel auf, der zu-
folge Ausnahmevorschriften keiner ausdehnenden oder analogen Anwendung
zugänglich sind bzw. restriktiv ausgelegt werden müssen.46 Sie entstammt dem
römischen Recht und ist in verschiedenen Rechtsordnungen sogar kodifiziert.47
Die Regel beruht auf dem Gedanken, daß eine Norm, die der Gesetzgeber nur
für eine spezielle Situation vorgesehen hat, keiner Verallgemeinerung zugäng-
44 Schneider (Logik, S. 154) weist darauf hin, daß nicht stets entweder ein Analo-
gie- oder Umkehrschluß bejaht werden muß, sondern als dritte Möglichkeit die freie
Rechtsfortbildung in Betracht komme.
45 Instruktive Argumentationen im Spannungsfeld zwischen Analogie und Umkehr-
schluß bieten z. B. BGHSt 36, 270 (272 f.) und 44, 265 (271). Zur merkwürdigen Si-
tuation, daß der Gesetzgeber sich bei einer Gesetzesänderung auf eine erneute Lücken-
schließung durch die Rechtsprechung verläßt, siehe BGHSt 30, 328 = oben Fall 203.
Einzelheiten müssen einer Darstellung zur Methodik der Rechtsfortbildung vorbehalten
bleiben.
46 Mit Abweichungen im Detail: BGHSt 3, 377 (380); GS 5, 323 (327); 6, 304
(307); 7, 256 (258); 11, 335 (337); 15, 194 (195); 17, 69 (74); 17, 188 (189); 19, 144
(148); 23, 108 (111); 23, 331 (332); 26, 218 (220); 30, 168 (170); 35, 290 (295 f.); 36,
192 (195); 38, 237 (242); 43, 262 (264); 44, 145 (148); 44, 328 (333); 47, 249 (251);
NJW 2002, 765; BVerfGE 45, 363 (374); 103, 142 (153).
47 Nachweise bei Kramer, Methodenlehre, S. 155.
402 V. Systematik
schnitts.
4. Ausnahmevorschriften (singularia non sunt extendenda) 403
Ausnahmevorschrift nicht nur eng, sondern sogar „auf das engste“ zu interpre-
tieren sei.54 Worauf solche Differenzierungen beruhen sollen, ist kaum nachzu-
vollziehen.
54Näher unten BGHSt 17, 188 = Fall 244 und BGHSt 23, 331 = Fall 245.
55Vgl. Heck, Gesetzesauslegung, S. 188; Kramer, Methodenlehre, S. 156; Larenz,
Methodenlehre, S. 355.
56 Kramer, Methodenlehre, S. 156.
57 Heck, Gesetzesauslegung, S. 187 f.
404 V. Systematik
Der BGH läßt sich durch die logische Anordnung in die Irre führen. Denn
die gesetzestechnische Ausgestaltung der Norm bringt kein normatives Regel-
Ausnahme-Verhältnis zum Ausdruck; vielmehr bilden beide Absätze eine Ge-
samtregelung.60 Auch wenn man vorliegende Fälle mit dem BGH dem Absatz 1
zuschlägt, dürfte es praktisch (statistisch) dabei bleiben, daß Absatz 2 häufiger
zur Anwendung gelangt, wofür auch das gesetzgeberische Ziel sprach, die Ober-
landesgerichte zu entlasten. Es ist also von vornherein fraglich, ob Gesetzes-
technik und tatsächlicher Anwendungsbereich übereinstimmen. Im übrigen ist
es auch nicht selten, daß durch die Vielzahl angeordneter Ausnahmen von ei-
nem Grundsatz praktisch kaum etwas übrigbleibt. Daß bei anderer Auffassung
die lex generalis des Absatzes 1 kaum noch ins Gewicht fiele, ist eher ein
ästhetisches Kriterium als ein sachlicher Auslegungsfaktor. Im Ergebnis legt die
formale Einstufung des Absatzes 2 als Ausnahmevorschrift der Gegenmeinung
ein auch mit Sachgründen nur schwer überwindbares Hindernis in den Weg. In
einer vergleichbaren Situation, in der die Gesetzestechnik das quantitative Ver-
hältnis ebenfalls nicht wiederspiegelt, hat der BGH – entsprechend der gesetz-
geberischen Intention – die Formalregel hingegen nicht zum Einsatz gebracht:
Fall 240 (BGHSt 44, 361): Gemäß § 76 I GVG (Grundsatz?) sind die großen Straf-
kammern mit drei Berufsrichtern besetzt. Nach § 76 II GVG (Ausnahme?) be-
schließt die Kammer bei Eröffnung des Hauptverfahrens, daß sie nur mit zwei Be-
rufsrichtern besetzt ist, wenn sie nicht als Schwurgericht zuständig ist oder wenn die
Sache nach Umfang und Schwierigkeit die Mitwirkung des dritten Richters nicht
notwendig erscheinen läßt. Nach Ansicht des Senats geht die gesetzgeberische Inten-
tion dahin, daß „grundsätzlich“ die Kammer mit zwei Berufsrichtern besetzt sein
soll und die Kammern überwiegend dahingehend entscheiden werden (S. 365). Ab-
satz 2 ist mithin in praktischer (quantitativer) Hinsicht Regel, aus logischer (geset-
zestechnischer) Sicht aber Ausnahme.
Besonders verwickelt wird es, wenn die Ausnahme ihrerseits eine Ausnahme
kennt. Ist eine solche „Unterausnahme“61 als Ausnahmevorschrift eng oder als
Wiederherstellung des Grundsatzes weit auszulegen? Hier stößt eine „logische“
Argumentation auf ihre Grenzen, worauf der BGH in folgender Entscheidung
aufmerksam macht:
Fall 241 (BGHSt 27, 236): Gemäß § 329 I 1 StPO wird die Berufung ohne Ver-
handlung verworfen, wenn der Angeklagte unentschuldigt nicht erschienen ist.
Diese Ausnahme von der Anwesenheitspflicht, die der BGH seit jeher eng ausgelegt
58 Das ist fragwürdig, denn die Norm könnte genauso „einfach“ i. S. des BGH klar-
und 302/99) gegen BGHSt 44, 145. Danach soll § 80a I OWiG lauten: „Die Bußgeld-
senate der Oberlandesgerichte sind mit einem Richter besetzt, soweit nichts anderes
bestimmt ist.“
60 Vgl. Larenz, Methodenlehre, S. 355, mit einem zivilrechtlichen Beispiel.
61 Siehe Kramer, Methodenlehre, S. 156.
4. Ausnahmevorschriften (singularia non sunt extendenda) 405
wissen will62, kennt ihrerseits eine Ausnahme („das gilt nicht“) in § 329 I 2: Das
Gericht darf nicht verwerfen, wenn die Sache vom Revisionsgericht zurückverwie-
sen wurde. Damit soll ein Widerspruch zu einer Sachentscheidung des Revisionsge-
richts vermieden werden. Wie steht es aber, wenn bereits das erste Berufungsverfah-
ren zu einer Verwerfung führte und folglich das Revisionsgericht nicht in der Sache
entschieden, sondern das Verwerfungsurteil nur aus formalen Gründen aufgehoben
hat? Der BGH nimmt für diese Konstellation eine teleologische Reduktion des
§ 329 I 2 vor, da der Normzweck hier nicht greife. Entgegen der Auffassung des
OLG Hamburg (JR 1976, 378) helfe der Grundsatz, wonach Ausnahmevorschriften
eng auszulegen vorliegend nicht weiter, da es um eine „Ausnahme innerhalb der
Ausnahme“ gehe (BGH, S. 238).63
„Das Verhältnis der beiden Vorschriften zueinander läßt sich nicht mit Hilfe forma-
ler Regeln bestimmen. Entscheidend muß sein, welcher Zweck mit ihnen verfolgt
wird.“
In anderen Fällen bleiben allerdings Zweifel:
Nach BGHSt 10, 43 (44) ist die enge Auslegung von Straffreiheitsgesetzen geboten.
Ob dies freilich aus deren Ausnahmecharakter folgt, sagt der Senat nicht ausdrück-
lich. § 13 des StraffreiheitsG 1954 nimmt einige ausdrücklich aufgezählte Neben-
strafen von der Straffreiheit aus; nach BGHSt 6, 304 (307) kann diese Ausnahme-
vorschrift „nicht ohne weiteres ausdehnend ausgelegt werden“. — Angesichts der
kurzen Verjährungsfrist von drei Monaten für Übertretungen (§ 67 III StGB a. F.)
neigte die Praxis zu einer extensiven Handhabung der Vorschriften zur Verjährungs-
unterbrechung (§ 68 StGB a. F.).64 Nach Ansicht von BGHSt 11, 335 (337) sind
diese Vorschriften jedoch als Ausnahmebestimmungen eng auszulegen und „loyal zu
handhaben“.
Wenn Straffreiheitsvorschriften – weshalb auch immer, womöglich aber als
Ausnahmebestimmungen – eng auszulegen sind, dann wird man darüber strei-
ten können, ob Rückausnahmen ebenfalls eng auszulegen sind. Ähnliches gilt
für die Verjährungsregelungen, die man als ausnahmsweise gewährte „Rechts-
wohltat“ bezeichnen könnte. Müssen dann aber Normen, welche ihrerseits die
Verjährung hinauszögern und damit die Regel wiederherstellen, eng (statt weit
oder schlicht nach den üblichen Methoden) interpretiert werden?65 Heck hat auf
die Manipulationsgefahren hingewiesen, die aus der häufig bestehenden und
willkürlich genutzten Möglichkeit resultieren, einer Regelung durch Gegenüber-
stellung eines Grundsatzes Ausnahmecharakter zuzusprechen.66 Interessant wä-
tätigkeit der Behörden entgegenzuwirken (vgl. Dünnebier, JR 1959, 267), besagt für
sich genommen nichts für die Auslegung der Unterbrechungsvorschriften, die gleich-
falls auf guten Gründen beruhen. Ob eine der beiden Regelungen von vornherein eng
oder weit auszulegen ist, ist deshalb zweifelhaft.
66 Heck, Gesetzesauslegung, S. 188.
406 V. Systematik
c) Einsatzgebiet
dem Ausnahmecharakter der Norm ihre enge Auslegung folgen soll. Möglicher-
weise hat der Senat aufgrund der inhaltlich unklaren Situation dankbar auf die
Formalregel zurückgegriffen, aber seine Argumentation wäre auch ohne sie aus-
gekommen.68 Aus den genannten Entscheidungen werden darüber hinaus Un-
sicherheiten in der Frage erkennbar, ob die singularia-Formel wirklich ohne Ab-
striche gilt. Relativierungen enthalten z. B. BGHSt GS 5, 323 („in der Regel“)
und BGHSt 6, 304 (können „nicht ohne weiteres ausdehnend ausgelegt wer-
den“). Halbherzig argumentiert der BGH insoweit auch in folgenden Entschei-
dungen:
Der Einwand einer vorschriftswidrigen Gerichtsbesetzung muß frühzeitig erhoben
werden, um gehört zu werden (§ 222b StPO). Nach Ansicht von BGHSt 44, 328
betrifft die Norm nicht nur – wie ursprünglich vorgesehen – die personelle Zusam-
mensetzung des Gerichts, sondern auch die Größe des Spruchkörpers, über die ge-
mäß § 76 II GVG die Strafkammer entscheiden muß. Die Regelung sei zwar als
Präklusionsvorschrift eng auszulegen, Normzweck und Interessenlage erfaßten je-
doch auch letztere Konstellation, so daß § 222b StPO entsprechend69 anzuwenden
sei (S. 333). — Betriebsunfähige Fahrzeuge, die abgeschleppt werden, bedürfen ge-
mäß § 18 I StVZO keiner Zulassung. Aus Interesse der Verkehrssicherheit sieht
BGHSt 23, 108 (111 f.) die Norm zwar als eng auszulegende Ausnahmevorschrift,
jedoch sei es „nicht einzusehen“, zwischen dem Schleppen zu einer Werkstatt und
dem Schleppen zur Verwertung zu differenzieren.
Letztlich kommt es also doch auf Sinn und Zweck der Regelung an. Zielt sie
auf eine Ausnahmesituation ab, die konkret nicht gegeben ist, kommt die Norm-
anwendung nicht in Betracht. Ob man dann noch auf den Ausnahmecharakter
der Bestimmung hinweist und damit womöglich ohne Not Mißverständnisse be-
günstigt, ist eine zweitrangige Frage. Die Formulierungen aus BGHSt 5, 323
und 6, 304 geben im Ergebnis recht zutreffend wieder, wie tatsächlich mit dem
singularia-Grundsatz verfahren wird.
Nicht selten wird versucht, die Plausibilität der singularia-Formel mit einem
Hinweis darauf zu verstärken, daß die Ausnahmeregel in die Rechte des Betrof-
fenen eingreife (vgl. z. B. oben BGHSt GS 5, 323). Diese Gesichtspunkte sind
jedoch voneinander zu trennen, denn ob eine Norm wegen ihres Eingriffscha-
rakters im Sinne des Grundsatzes „in dubio pro mitius“ eng auszulegen ist, hat
mit ihrer Klassifizierung als Ausnahmevorschrift nichts zu tun. Daß etwa mate-
rielle Strafbestimmungen keiner Analogie zulasten des Täters zugänglich sind,
folgt schon aus Art. 103 II GG, und inwieweit auch strafprozessuale Eingriffe
dieser Schranke unterliegen, ist gerade streitig. Der BGH hat auf die Heranzie-
hung dieses Aspekts auch in dafür geeigneten Situationen verzichtet oder beide
68 § 96 StPO selbst läßt eben nicht erkennen, daß die Beschlagnahme von Behörden-
akten generell ausgeschlossen sein soll, und auch aus dem Zusammenhang zu den
übrigen Normen folgt das nicht, vgl. BGH, a. a. O., S. 242.
69 BGHSt 44, 361 (363) hat – offenbar ohne BGHSt 44, 328 zu kennen – sogar eine
70 Mit der Argumentation versucht das BVerfG, die Ausweitung der Eilanordnungen
72 Der BGH bleibt hinsichtlich des Sachverhalts freilich sehr ungenau, vgl. Grün-
Fall 244 (BGHSt 17, 188): Nach Ansicht des Senats ist die Norm nicht anwendbar,
wenn das Berufungsgericht in einem früheren Termin bereits zur Sache verhandelt
hat. § 329 I beinhalte einen Widerstreit zwischen dem Bedürfnis nach Verfahrensbe-
schleunigung und dem grundsätzlichen Streben jedes Strafverfahrens nach einer ge-
rechten Entscheidung (S. 189). „Das rechte Verhältnis zwischen beiden muß auch
bei der Auslegung dieser Vorschrift gewahrt bleiben. Das meinte wohl schon das
Reichsgericht mit seinen Worten, es handle sich um eine Ausnahmebestimmung, die
für einen Angeklagten unter Umständen sehr gefährlich werden könne und daher auf
das engste auszulegen sei (RGSt 61, 278, 280).“ – Der Senat gelangt zwar für sei-
nen Fall zu einer Reduktion des § 329 I 1, aber aus der distanzierten Wiedergabe
der reichsgerichtlichen Auffassung ist ersichtlich, daß er sich den methodischen
Standpunkt des RG nicht kritiklos zu eigen macht.
Fall 245 (BGHSt 23, 331 = oben Fall 47): Ist der wegen Trunkenheit verhandlungs-
unfähige (aber anwesende) Angeklagte „nicht erschienen“ i. S. von § 329 I 1 StPO?
Der Senat macht sich die Stellungnahme des GBA zu eigen: Es sei allgemein aner-
kannt, daß die Norm im Interesse des Angeklagten eng ausgelegt werden müsse
(S. 332). Im vorliegenden Fall sei jedoch kein Grund gegen die Anwendung der
Vorschrift erkennbar (S. 333). Die Ansicht des RG, § 329 sei „auf das engste aus-
zulegen“, bedeute nur eine Mahnung, die gegenläufigen Verfahrensbelange (ge-
schildert in BGHSt 17, 188) ins rechte Verhältnis zu setzen. „Trotz aller hiernach
notwendigen Zurückhaltung gegenüber jeder Neigung zu einer erweiternden Ausle-
gung des § 329 Abs. 1 StPO steht seiner Anwendung auf den Vorlegungsfall auch
unter diesem Gesichtspunkt nichts im Wege“ (S. 334). Der Normsinn spreche für
die Anwendung, mit der Wortfassung sei dies „durchaus vereinbar“. – Schon die
methodischen Äußerungen des BGH (GBA) sind widersprüchlich: Zunächst wird
behauptet, die Norm sei eng auszulegen, während es später nur noch heißt, gegen-
über einer erweiternden Auslegung sei Zurückhaltung angebracht. Diese Aussagen
sind nicht in Einklang zu bringen. Daß daneben der Standpunkt des RG zu einer
„Mahnung“ relativiert wird, fällt demgegenüber kaum ins Gewicht. Auch die prakti-
sche Umsetzung ist wenig nachvollziehbar: Mit viel Wohlwollen mag man die Auf-
fassung des Senats als mit dem Wortlaut „vereinbar“ ansehen;75 aber daß darin ein
extensives Verständnis und damit ein Widerspruch zum singularia-Grundsatz liegt,
wird man nicht bestreiten können.76
Wohl am häufigsten zur Anwendung gelangt ist die Interpretationsregel bei
§ 304 IV 2, V StPO. Nach § 304 IV 1, 2 ist gegen Beschlüsse und Verfügun-
gen des BGH und der Oberlandesgerichte grundsätzlich keine Beschwerde mög-
lich. Bei erstinstanzlicher Zuständigkeit des OLG und bei Verfügungen des Er-
mittlungsrichters macht das Gesetz allerdings Ausnahmen für einzeln aufge-
führte Entscheidungen (§ 304 IV 2 Halbsatz 2, V).77 Sowohl BGH78 als auch
75 Dagegen z. B. Küper, JuS 1972, 127 (129 f.). Wie der BGH: OLG Frankfurt NJW
zumal § 304 IV 2 Nr. 1 und V StPO in ihren Katalogen fast deckungsgleich sind.
4. Ausnahmevorschriften (singularia non sunt extendenda) 411
BVerfG haben die Bestimmung als Ausnahmevorschrift eingestuft und ihr damit
eine Interpretationsregel angeheftet, die der späteren Praxis immer wieder
Schwierigkeiten bereitete. Das BVerfG hat apodiktisch und wenig vorausschau-
end ausgeführt:
„Dabei handelt es sich – wie der Wortlaut der Norm und die bei ihrer Formulierung
angewendete Gesetzgebungstechnik zeigen – um eine den Grundsatz der Unanfecht-
barkeit durchbrechende, die Anfechtungsmöglichkeit abschließend regelnde Ausnah-
mevorschrift, die einer erweiternden Auslegung oder entsprechenden Anwendung
auf ähnlich gelagerte Fälle unzugänglich ist. Daraus folgt, daß eine Beschwerde ge-
gen eine im Katalog des § 304 Abs. 4 Satz 2 StPO nicht ausdrücklich aufgeführte
Entscheidung eines Oberlandesgerichts nicht zulässig ist. Diese allein mögliche
Deutung entspricht auch dem Willen des Gesetzgebers (vgl. . . .)“. (BVerfGE 45, 363
[374])
Verboten ist also eine ausdehnende oder entsprechende Anwendung (Exten-
sions- und Analogieverbot), die dann vorliegt, wenn eine „nicht ausdrücklich
aufgeführte“ Entscheidung erfaßt wird. Ein Restriktionsgebot hat das BVerfG
hingegen nicht ausgesprochen. Anders der BGH, der zusätzlich ein Restriktions-
gebot formuliert und außerdem eine Erstreckung auch auf „nicht ausdrücklich
aufgezählte“ Fälle für zulässig hält:
„Bei dieser . . . Bestimmung handelt es
sich um eine die Anfechtungsmöglichkeit
abschließend regelnde Ausnahmevor-
schrift, die restriktiv auszulegen und ei-
ner analogen Anwendung nicht zugäng-
lich ist. Sie kann daher nur auf solche
nicht ausdrücklich aufgezählten Verfü-
gungen des Ermittlungsrichters erstreckt . . . erstreckt werden, die nach Sinn und
werden, die nach dem Wortsinn noch als Zweck der zu Grunde liegenden gesetz-
Unterfall einer der in § 304 V StPO aus- geberischen Konzeption der Anfechtung
drücklich genannten Eingriffsmaßnahmen offen stehen müssen“. (BGHSt 47, 249
unter den Wortlaut der Norm subsumier- [251])
bar sind und nach Sinn und Zweck der
zu Grunde liegenden gesetzgeberischen
Konzeption der Anfechtung offen stehen
müssen“. (BGH NJW 2002, 765)
Diese methodischen Prämissen sind widersprüchlich und mißverständlich.
Zumindest mißverständlich ist die Annahme, daß eine nicht ausdrücklich im
Gesetz aufgezählte Konstellation gleichwohl noch unter dessen Wortlaut subsu-
mierbar ist.79 BGHSt 47, 249 wird in diesem Punkt durch eine Verkürzung der
maßgeblichen Passage noch undeutlicher (vgl. oben). Eine echter Widerspruch
liegt zum einen gegenüber der Position des BVerfG vor (keine Anwendung auf
80 Gollwitzer (JR 1983, 85 [86]) versucht die Tragweite von BVerfGE 45, 363 durch
die Annahme zu relativieren, daß der dort behandelten Situation die Vergleichbarkeit
zu den Fällen des § 304 IV 2 StPO fehlte und damit eine Ausdehnung der Norm nicht
in Betracht kam; das kann aber über die Grundsätzlichkeit der Ausführungen des
BVerfG nicht hinwegtäuschen.
81 BVerfGE 45, 363 hat den möglichen Eintritt einer solche Situation hingegen
nicht erwogen, wie die apodiktische Formulierung (vgl. oben) belegt. Nach Hilger
(NStZ 2002, 445) hätte auch BGHSt 47, 249 wegen der Beeinträchtigung von Grund-
rechten § 304 V trotz des Ausnahmecharakters anwenden sollen.
4. Ausnahmevorschriften (singularia non sunt extendenda) 413
Gerade im Bereich des § 304 IV, V StPO zeigt sich die Wertlosigkeit der
singularia-Regel. Weder werden ihre theoretischen Voraussetzungen einheitlich
gehandhabt, noch werden die methodischen Prämissen praktisch umgesetzt. In
Ausnahmefällen wird die Maxime entweder ausdrücklich aufgegeben bzw. ein-
geschränkt (z. B. BGHSt 30, 168 und BGHSt 43, 262)82, oder sie wird verbal
postuliert, aber praktisch umgangen (z. B. BGHSt 36, 192 und oben BGHSt 23,
331 bezüglich § 329 I StPO). Zum Teil wird sie sogar nicht einmal herangezo-
gen, obwohl sie die Lösung stützen würde (z. B. BGHSt 30, 52). Die Strafsenate
gelangen denn auch häufig nicht wegen, sondern trotz der singularia-Regel zum
„richtigen“, Sinn und Zweck der Ausnahmevorschrift gerecht werdenden Ergeb-
nis.83 In Anbetracht der widersprüchlichen Handhabung kann man nicht sagen,
die Praxis nutze die Regel vor allem begründungsökonomisch, nämlich um das
aus anderen Gründen als richtig empfundene Ergebnis ohne große Mühe darzu-
stellen.84 Vielmehr kann dem BGH immerhin insofern Methodenehrlichkeit be-
scheinigt werden, als er die singularia-Formel auch dann nicht „unterschlägt“,
wenn sie das sachlich zutreffende Ergebnis nicht trägt.
Am singularia-Grundsatz kann im Ergebnis allenfalls in abgewandelter Form
festgehalten werden, und zwar mit dem Inhalt, daß Ausnahmevorschriften in der
Regel (BGHSt 30, 168: „grundsätzlich“) nicht ausdehnend interpretiert werden
dürfen und daß die Frage allein von der ratio legis abhängt (BGHSt 39, 112).85
Von einer Formalregel, die über Zweifelsfälle gerade dadurch hinweghelfen soll,
daß inhaltliche Erwägungen zurückgestellt werden, bleibt dann freilich nichts
mehr übrig.86 Abfällig kann man die so reduzierte Regel als „hermeneutische
Eselsbrücke“ (Heck) charakterisieren.87
82 Beide Entscheidungen sind zumindest mit BGH NJW 2002, 765 (siehe oben)
nicht zu vereinbaren, denn dort wird die Noch-Vereinbarkeit mit dem Wortlaut ver-
langt, während BGHSt 30, 168 und 43, 262 eine entsprechende bzw. erweiternde Aus-
legung für möglich halten. Daß BGHSt 30, 168 zu § 304 IV, die übrigen Entscheidun-
gen hingegen zu § 304 V ergangen sind, macht in methodischer Sicht keinen Unter-
schied (vgl. oben Fn. 77).
83 Die Meinung Hecks (Gesetzesauslegung, S. 186), es gebe „keine zweite Formel,
die so viel Unheil angerichtet und so viel verfehlte Erkenntnisse verschuldet hat“, trifft
auf die neuere Rechtsprechung angesichts der Relativierungen der Formel aber wohl
nicht zu.
84 So aber Säcker, in: MüKo-BGB, Einl., Rn. 103.
85 Vgl. die wörtliche Wiedergabe von BGHSt 39, 112 (117) zu Beginn des Ab-
schnitts.
86 Säcker, in: MüKo-BGB, Einl., Rn. 104.
87 Vgl. Heck, Gesetzesauslegung, S. 189.
414 V. Systematik
88 BVerfGE 48, 40 (45); vgl. auch BGHSt 26, 312 (318); seltsamerweise anders
Anfängerübung, S. 81.
91 Zippelius, in: Festgabe 25 Jahre BVerfG, S. 115; Schmitz, in: MüKo-StGB, § 1,
Rn. 80.
92 BVerfGE 48, 40 (45); Eser, in: Schönke/Schröder, StGB26, vor § 1, Rn. 30; La-
renz, Methodenlehre, S. 339; Loos, in: AK-StPO, Einl. III, Rn. 18; Tröndle, in: LK-
StGB10, § 1, Rn. 51.
93 Das BVerfG spricht hin und wieder davon, daß keine verfassungskonforme Aus-
legung gegen den eindeutigen Wortlaut und Sinn erfolgen dürfe, BVerfGE 47, 46 (82);
54, 277 (299 f.); 67, 186 (198); ebenso Schneider, MDR 1963, 463; damit ist freilich
nicht entschieden, ob der Sinn objektiv- oder subjektiv-telelogisch ermittelt wurde.
Nach Jescheck (in: LK-StGB11, Einl., Rn. 9) darf der „erkennbare Gesetzessinn“ nicht
überschritten werden.
5. Verfassungskonforme Auslegung und Rechtsfortbildung 415
94 Z. B. BVerfGE 18, 97 (111); 35, 263 (280); 71, 81 (105); Rüthers, Rechtstheorie,
Rn. 763: Norm muß nach Wortlaut und Entstehungsgeschichte mehrdeutig sein;
Schmitz, in: MüKo-StGB, § 1, Rn. 80: Die verfassungskonforme Auslegung darf nicht
den Absichten des Gesetzgebers widersprechen.
95 H. J. Müller, JZ 1962, 471 (474, r. Sp.); vgl. auch Scheuerle, AcP 1967, 305
(330): Gefahr „finaler Subsumtion“ und Zippelius, in: Festgabe 25 Jahre BVerfG,
S. 119 unten.
96 Vgl. zur Rechtsprechung des BVerfG: Bleckmann, JuS 2002, 942 (946 f.) m. w. N.
auf.
99 Betont z. B. in BVerfGE 71, 81 (105).
100 St. Rechtsprechung, z. B. BVerfGE 86, 288 (320); 48, 40 (46) m. w. N. Sehr le-
senswert ist das Minderheitsvotum in BVerfGE 33, 52 (78 ff., 82 f.), mit dem der Se-
natsmehrheit die Überschreitung der Grenzen einer verfassungskonformen Auslegung
416 V. Systematik
vorgeworfen wird; ähnlich das Sondervotum in BVerfGE 70, 35 (59 ff., 65): „Übergriff
in die gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit“.
101 Larenz (Methodenlehre, S. 340 f.) sieht hier bereits den Bereich der Rechtsfort-
dazu die scharf abl. Anm. von Arndt, NJW 1959, 1230.
5. Verfassungskonforme Auslegung und Rechtsfortbildung 417
Der BGH erkennt als eine Grenze der verfassungskonformen Auslegung zu-
mindest an, daß sie sich noch im Rahmen des Wortsinns hält. Insofern ist aller-
dings die praktische Argumentation zur Wortauslegung sehr zweifelhaft, und
daß die Vorschrift bis dahin in einem anderen Sinn verstanden wurde, zeigt die
Rabulistik des vom BGH vorgeführten Textverständnisses: Was zuvor nicht
ernsthaft in Betracht gezogen wurde, soll nunmehr „ohne weiteres“ vom Wort-
laut gedeckt sein.104 Hier treten die gleichen Mechanismen zur Überwindung
eines theoretisch anerkannten, formalen Kriteriums zutage wie bei der Wortlaut-
grenze des Art. 103 II GG.105 Dagegen sieht der Senat im entgegenstehenden
historischen Willen des Gesetzgebers kein Hindernis für die Neudeutung der
Norm.106 Die ursprüngliche Vorstellung der Gesetzesurheber sei zwar regelmä-
ßig maßgeblich, müsse jedoch im Fall des Widerspruchs zu höherrangigem
Recht weichen. Im Ergebnis hat der BGH eine nach Wortlaut und Sinn ein-
deutige Regelung abgewandelt,107 selbst wenn man unterstellt, die Ansicht des
BGH sei mit dem Wortlaut noch vereinbar.
Im Grenzbereich zwischen verfassungskonformer Interpretation und „objek-
tiver“ Auslegungstheorie bewegen sich folgende Entscheidungen:
Fall 250 (BGHSt 16, 282; 18, 279, oben Fall 166 – „Zwingende Einziehung“):
Vielfach wurden Zweifel daran geäußert, ob zwingende Einziehungsvorschriften
(z. B. § 401 AO a. F.) mit dem rechtsstaatlichen Grundsatz des schuldangemessenen
Strafens zu vereinbaren seien, insbesondere wenn geringfügige Steuervergehen
zwingend zur Einziehung einer wertvollen Sache führten. In neueren Einziehungsbe-
stimmungen hatte der Gesetzgeber dem durch Umgestaltung der Normen in Ermes-
sensregelungen Rechnung getragen, jedoch mußte der BGH vorliegend die Frage
noch für Altfälle entscheiden. BGHSt 16, 282 wies die Zweifel an der Verfassungs-
mäßigkeit zurück: Es gebe Möglichkeiten, den Einwänden durch „sinnvolle und ge-
setzestreue“ Interpretationen gerecht zu werden (S. 286); die Maßnahme diene zu-
dem der Abschreckung (S. 289); Härten könnten bei der Bemessung der Hauptstrafe
(S. 288) sowie im Gnadenweg (S. 290) berücksichtigt werden. Sollte die Einziehung
im Extremfall gegen die Menschenwürde verstoßen, dürfe der Richter die Norm
104 Abl. zur Wortauslegung des BGH z. B. Menger, JZ 1960, 168 (169, r. Sp.); Har-
tung, NJW 1958, 809 (810, r. Sp.) erwägt im Vorfeld der Entscheidung lediglich, daß
§ 450 II 1 AO (a. F.) durch Art. 19 IV GG „außer Kraft gesetzt“ werden könnte. Der
BGH hätte sich freilich auf die Entscheidung BVerfGE 9, 194 (199 f.) berufen können,
die in einer völlig parallelen Konstellation wie der BGH argumentiert – nach Zippelius
(in: Festgabe 25 Jahre BVerfG, S. 116) allerdings in einer „fast listig anmutenden
Weise“ und entgegen dem Gesetzessinn.
105 Das „ohne weiteres“ in BGHSt 13, 102 ist ebensowenig überzeugend wie in
nicht anwenden, aber ein solcher denkbarer Einzelfall könne nicht die Verfassungs-
widrigkeit der Norm begründen (S. 290). BGHSt 18, 279 hat diese Erwägungen be-
stätigt, darüber hinaus aber die Möglichkeit bejaht, die alten Bestimmungen in An-
passung an „neuzeitliche Rechtsanschauungen“ in Ermessensvorschriften „umzu-
deuten“ (vgl. eingehend oben Fall 166).
Die Motivation des BGH ist verständlich: In Anbetracht der zahlreichen Alt-
fälle sowie einer jahrzehntelangen Praxis soll die Norm nicht dem Verdikt der
Verfassungswidrigkeit anheimfallen. Freilich reichte der in BGHSt 16, 282 ge-
wiesene Weg offensichtlich nicht dazu aus, den verfassungsrechtlichen Einwän-
den in allen Fallkonstellationen gerecht zu werden; der Notanker „Gnadenweg“
macht das deutlich108. Eine Umgestaltung der zwingenden in fakultative Ein-
ziehungsvorschriften im Weg der verfassungskonformen (geltungserhaltenden)
Auslegung kam angesichts der Eindeutigkeit der Regelungen nicht in Betracht,
so daß BGHSt 18, 279 die „Umdeutung“ der veralteten Norm anders – im Er-
gebnis aber fragwürdig (siehe oben bei Fall 166) – begründen mußte. Interes-
sant ist noch die in BGHSt 18, 279 enthaltene Aussage, wonach eine im Einzel-
fall gegen die Menschenwürde verstoßende Einziehung zwar nicht erfolgen
dürfe, dies aber nicht die Verfassungswidrigkeit der Norm begründe. Dem ist
jedoch zu widersprechen: Bietet die zwingende Norm in einem (realistischen)
Fall keinen gangbaren Ausweg, um ein verfassungswidriges Ergebnis zu vermei-
den, ist sie mit dem GG unvereinbar.
Klare Grenzen verfassungskonformer Auslegung zeigt der BGH in folgender
Entscheidung auf, obwohl es dort gar nicht darauf ankam:
Fall 251 (BGHSt 22, 146): Nach Ansicht des Senats bestimmt das Wehrpflichtge-
setz eindeutig, daß eine Strafbarkeit wegen Befehlsverweigerung für einen Kriegs-
dienstverweigerer solange besteht, bis über seinen Antrag entschieden ist. Dieses
Ergebnis werde durch die Entstehungsgeschichte der Norm bestätigt und sei mit
dem GG vereinbar. Eine anderweitige Auslegung komme mithin nicht in Frage.
„Denn der Gesetzesinterpretation des Richters, der dem Gesetz unterworfen ist
(Art. 20 Abs. 3, 97 Abs. 1 GG), sind da Schranken gesetzt, wo der Boden der mit
dem Grundgesetz im Einklang stehenden Vorschrift verlassen wird . . . Selbst die
verfassungskonforme Auslegung findet dort ihre Grenze, wo sie mit dem Wortlaut
und dem klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers in Widerspruch treten würde
(BVerfGE 18, 97, 111)“ (S. 153).
Problematisch liegt hingegen ein weiterer Fall, in dem der Wortsinn zwar
großen Spielraum eröffnet, es aber fraglich ist, ob der Senat die gesetzgeberi-
sche Zielsetzung zu Recht modifiziert:
Fall 252 (BGHSt 40, 371): In Zusammenhang mit einer Verurteilung wegen einer
bestimmten Straftat aus dem Spektrum organisierter Kriminalität ermöglicht § 73d
I 1 StGB die Anordnung des erweiterten Verfalls von Gegenständen, „wenn die Um-
108 Auf diesen Ausweg verweist auch BGH NJW 1978, 1336 (1337) bezüglich der
absoluten Strafe des § 211 StGB, vgl. unten BGHSt GS 30, 105 = Fall 255.
5. Verfassungskonforme Auslegung und Rechtsfortbildung 419
stände die Annahme rechtfertigen, daß diese Gegenstände für rechtswidrige Taten
oder aus ihnen erlangt worden sind“. Nach Ansicht der Gesetzesverfasser sind die
rechtfertigenden Umstände bei einer „ganz hohen Wahrscheinlichkeit“ deliktischer
Herkunft der Gegenstände gegeben (vgl. a. a. O., S. 372 mit Nachweisen). Obwohl
der Gesetzgeber mit dieser Anforderung die Grundrechte der Betroffenen wahren
wollte (vgl. S. 373), geht dem Senat die darin liegende zweifache „Unterstellung“
(einer Straftat und eines daraus resultierenden Vermögens) zu weit. Wegen der Un-
schuldsvermutung und Art. 14 GG nimmt er eine einengende „verfassungskon-
forme“ Auslegung vor: Der Tatrichter müsse aufgrund „erschöpfender Beweiserhe-
bung und -würdigung . . . die uneingeschränkte Überzeugung gewonnen [haben], daß
der Angeklagte die von der Anordnung erfaßten Gegenstände aus rechtswidrigen
Taten erlangt hat, ohne daß diese selbst im einzelnen festgestellt werden müßten“
(S. 373). An die richterliche Überzeugungsbildung dürften jedoch keine überhöhten
Anforderungen gestellt werden.
Die „einengende“ Auslegung ist mit dem Wortlaut sicher vereinbar.109 Frag-
lich ist nur, ob der BGH von einem womöglich weitergehenden gesetzgeberi-
schen Ziel abweicht. Katholnigg (JR 1995, 297) sieht in der Ansicht des BGH
eine in Hinblick auf die Gewaltenteilung bedenkliche Kompetenzanmaßung. Der
BGH habe es verhindert, die Norm ohne einengendes Verständnis vom BVerfG
als verfassungsgemäß bestätigen zu lassen.110 Auch in der Sache sei die einen-
gende Interpretation nicht gerechtfertigt. Überzeugend sind die Einwände Ka-
tholniggs nur unter zwei Bedingungen. Zunächst muß die gesetzgeberische In-
tention in der Tat über das hinausgehen, was der BGH der Norm und ihrer Ent-
stehungsgeschichte entnimmt. Im Ergebnis unterscheiden sich die in den
Materialien genannten Voraussetzungen („ganz hohe Wahrscheinlichkeit“) von
der vom Senat entwickelten Auffassung (richterliche Überzeugungsbildung
ohne überhöhte Anforderungen) jedoch allenfalls in Nuancen, letztlich eher in
der Formulierung als im Inhalt.111 Geht man allerdings mit dem Senat von
einer Einengung des Anwendungsbereichs aus, stellt sich darüber hinaus die
Frage, ob diese als verfassungskonforme Auslegung zulässig ist. Das hängt wie-
derum davon ab, ob der Senat mit seiner Vorgehensweise ein Maximum des
Möglichen („suboptimal“) aufrechterhält, also das gesetzgeberische Ziel nur
quantitativ reduziert, oder ob die Zielsetzung der Legislative damit verfehlt
oder verfälscht wird. Die Problematik des erweiterten Verfalls kann hier nicht
näher dargestellt werden, aber anzunehmen ist jedenfalls, daß der Gesetzgeber
109 Siehe aber Eser, in: Schönke/Schröder, StGB26, § 73d, Rn. 15: „Höchst zweifel-
haft“, ob die Anforderungen des BGH in der Gesetzesfassung „zum Ausdruck kom-
men“; ebenfalls zweifelnd Th. Schmidt, JuS 1995, 463 (464).
110 Katholnigg (a. a. O.) sieht den Gesetzgeber angesichts der jederzeit drohenden
112 Anders aber Eser, in: Schönke/Schröder, StGB26, § 73d, Rn. 15.
113 Vgl. zur Begrifflichkeit auch Koch/Rüßmann, Begründungslehre, S. 268; Krey,
Studien, S. 139; zu den Grenzen „verfassungskonformer Rechtsergänzung“ Zippelius,
in: Festgabe 25 Jahre BVerfG, S. 121 ff.
114 Vgl. zu dieser Abgrenzung Zippelius, in: Festgabe 25 Jahre BVerfG, S. 123 f.
5. Verfassungskonforme Auslegung und Rechtsfortbildung 421
115 Das BVerfG argumentiert freilich nicht stringent, wenn es u. a. auf den in der
tion.
422 V. Systematik
haltbar erschienen119, aber mit seiner Gesetzeskorrektur ist er über den Rahmen
des Zulässigen hinausgeschossen120.
Festzuhalten bleibt: Eine verfassungskonforme Auslegung muß sich im Rah-
men des möglichen Wortsinns halten und darf nicht das Ziel des Gesetzgebers
verfälschen. Die möglichst weitgehende Aufrechterhaltung des gesetzgeberi-
schen Willens kann leicht in dessen Abwandlung umschlagen. Neben der „ver-
fassungskonformen Auslegung“ im engeren Sinn gibt es eine (wortlautüber-
oder unterschreitende) verfassungskonforme Rechtsergänzung oder Gesetzeskor-
rektur. Diese darf jedoch nur unter den üblichen Voraussetzungen (Regelungs-
lücke, Versehen) und nicht entgegen einer erkennbaren Entscheidung des Ge-
setzgebers erfolgen.121 Insbesondere begründet die etwaige Verfassungswidrig-
keit einer Norm nicht deren Unvollständigkeit, etwa mit der pauschalen
Erwägung „Hätte der Gesetzgeber die Verfassungswidrigkeit gesehen, hätte er
eine andere Regelung gewählt, und zwar die folgende . . .“. Erst wenn die Vor-
aussetzungen für eine Rechtsfortbildung vorliegen, ist es geboten, von den in
Frage kommenden Ergänzungsmöglichkeiten eine verfassungskonforme zu wäh-
len; das macht den begrenzten Anwendungsbereich der verfassungskonformen
Rechtsergänzung deutlich.
119 Siehe eingehend Köhler, JuS 1984, 762 (768 f.). Auf Anfrage des BVerfG hatte
der BGH noch erklärt, die gelegentlich unbefriedigenden Ergebnisse seien „kein ver-
fassungsrechtliches Problem, sondern ein solches der allgemeinen Gesetzgebung“, so
die Wiedergabe durch BVerfGE 45, 187 (202). Daran konnte der Große Senat nach
der Entscheidung des BVerfG nicht mehr festhalten.
120 Bruns, JR 1981, 358 (362, r. Sp.): „Unzulässige Gesetzesänderung“; Spendel
(StV 1984, 45 [46, r. Sp.]) sieht in der Entscheidung ein „abschreckendes Beispiel für
mangelnde richterliche Gesetzestreue“, das den objektiven Tatbestand der Rechtsbeu-
gung erfülle; Tröndle, StGB48, § 211, Rn. 2c und 17: Entscheidung „contra legem“;
Frommel (StV 1982, 533) betont den Vorzug der „Methodenehrlichkeit“. Pragmatisch,
aber den Ernst der Problematik zu Unrecht nivellierend: Tröndle/Fischer, StGB51,
§ 211, Rn. 22: „Im Ergebnis erscheint die massive Kritik . . . aus heutiger Sicht teil-
weise überzogen . . .“.
121 Koch/Rüßmann (Begründungslehre, S. 270) betonen, daß es die verfassungskon-
Fällen „hart“ erscheint; dem Richter stehe das Recht zur Gnade jedoch nicht zu.
424 V. Systematik
Zwischen der Prüfung der Sanktion auf der einen und der Gültigkeit der
Norm auf der anderen Seite ist die hier eigentlich interessierende Frage angesie-
delt, wie sich die verfassungsrechtlichen Schutzrechte des Bürgers auf die in-
haltliche Bestimmung der Normen auswirken. Das BVerfG weist seit dem Lüth-
Urteil (BVerfGE 7, 198) in ständiger Rechtsprechung darauf hin, daß bei der
Auslegung grundrechtseinschränkender Gesetze eine zwischen Grundrecht und
einschränkendem Gesetz stattfindende „Wechselwirkung“ zu beachten ist. Das
allgemeine Gesetz schränkt das Grundrecht zwar ein, muß jedoch so interpre-
tiert werden, daß dem Wertgehalt des Grundrechts Rechnung getragen wird.
Der BGH hat diese Position rezipiert:
„Ein solches Gesetz muß immer in seiner das Grundrecht beschränkenden Wirkung
im Lichte der Bedeutung dieses Grundrechts gesehen und darf deshalb nur so ange-
wendet und ausgelegt werden, daß der besondere Wertgehalt des Grundrechts ge-
wahrt bleibt . . . Der aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitete Grundsatz der Verhält-
nismäßigkeit läßt eine Beschränkung von Grundrechtspositionen nur auf das zum
Schutz des von der Verfassung anerkannten Rechtsgutes unbedingt Notwendige zu
. . .“ (BGHSt 26, 298 [304]).
Gleichwohl ist nicht geklärt, wie dieses Postulat die Auslegung der Strafge-
setze im einzelnen beeinflußt. Einerseits gibt es Bereiche, in denen die Norm-
konkretisierung praktisch zugunsten einer grundrechtsgeleiteten Güterabwägung
zurückgetreten ist, wie etwa bei den Beleidigungsdelikten auf dem Gebiet des
politischen Meinungskampfes mit der Abwägung von Ehrenschutz und Mei-
nungsfreiheit.128 Andererseits gibt es Felder, die von der „Wechselwirkungs-
theorie“ nicht betroffen sind, zumal wenn der Täter sich allein auf die bei jeder
Verurteilung betroffenen allgemeine Handlungsfreiheit oder den Grundsatz der
Verhältnismäßigkeit stützen kann. Wollte man hier „grundrechtsoptimierend“
auslegen, wozu sonst sollte das führen als zur pauschalen Regel „in dubio pro
mitius“? Konsequent hat der BGH z. B. in folgender Entscheidung die Relevanz
von Art. 2 GG für die Auslegung bestritten:
Fall 256 (BGHSt 1, 80; NJW 1952, 796): Der nationalsozialistische Gesetzgeber
änderte 1935 den Tatbestand des § 175 StGB a. F. (statt „widernatürliche Unzucht“
zwischen Männern nunmehr „Unzucht treiben“ unter Männern), um der Rechtspre-
chung, die lediglich „beischlafähnliche Handlungen“ als erfaßt angesehen hatte, den
Boden zu entziehen (näher oben Fall 162). BGHSt 1, 80 hat die Verfassungsmäßig-
keit der Norm bejaht und die Rückkehr zur milderen Auffassung der früheren
Rechtsprechung u. a. deshalb abgelehnt, weil damit eine zu weite Entfernung vom
Wortsinn verbunden sei129, eine gleichmäßige Auslegung verwandter Vorschriften
127 Ein weiteres Beispiel bietet BGHSt GS 42, 113 (122) mit der Frage, ob es un-
man die Wechselwirkungslehre bei § 193 StGB als Rechtfertigungsgrund oder bereits
auf der Tatbestandsebene des § 185 StGB zur Geltung bringt.
6. Sonstiger Einfluß von Grundrechten auf die Auslegung 425
verfehlt und der Strafschärfung des § 175a StGB (a. F.) ihre kriminalpolitisch unent-
behrliche Wirkung genommen würde (S. 82 f.). BGH NJW 1952, 796 ergänzt, daß
Art. 2 GG nicht zu einer Einengung des Tatbestandes zwinge: Es sei Sache des Ge-
setzgebers, darüber zu befinden, ob die Norm gerecht und kriminalpolitisch ausge-
wogen ist und insbesondere, ob sie die Strafbarkeitsgrenze zu weit ausdehnt. Leit-
satz: „Der Art. 2 GG über das Grundrecht der freien Entfaltung der Persönlichkeit
beeinträchtigt weder die Geltung noch die Auslegung des § 175 . . .“.
Dem ist insoweit zuzustimmen, als daß die Auslegung der Strafnorm nach
den üblichen Methoden zu erfolgen hat. Die daraus gewonnene Konkretisierung
wird durch Art. 2 GG nicht beeinflußt, muß sich freilich in dem Rahmen hal-
ten, den das Grundrecht zuläßt. Geht die Zielsetzung über diesen Rahmen hin-
aus, ist das nicht nur – wie der BGH in vorliegender Entscheidung anzunehmen
scheint – Sache des Gesetzgebers, sondern auch der Gerichte, für die sich in
Zweifelsfällen die Frage nach einer verfassungskonformen Auslegung stellt.
Eher als die allgemeine Handlungsfreiheit spielen bei der Auslegung des ma-
teriellen Strafrechts die speziellen Freiheitsgrundrechte (z. B. Art. 5, 8, 12 GG)
eine Rolle, zumindest wenn nach Heranziehung der klassischen Auslegungskri-
terien noch Spielraum oder Zweifel verbleiben. Ob dabei aber inhaltlich mehr
herauskommt, als daß die Grundrechte für eine enge Auslegung sprechen, ist
sehr fraglich:
BGHSt 4, 161 (oben Fall 172) sieht die von der h. M. vertretene Einordnung der
Rechtmäßigkeit der Vollstreckungshandlung als objektive Bedingung der Strafbar-
keit statt als Tatbestandsmerkmal im Einklang mit dem Gesetzeszweck und der Ent-
stehungsgeschichte. Die Grundrechte würden durch diese Auslegung nicht mehr
eingeengt, als es das Gemeininteresse gebietet (S. 163). Unvermeidbare Einschrän-
kungen müsse jeder Staatsbürger um der Gesamtheit willen hinnehmen. – Die Un-
bestimmtheit dieses Maßstabes ist offensichtlich.
BGHSt 18, 151 (oben Fall 138) stützt das aus der Entstehungsgeschichte hergeleitete
enge Verständnis des Begriffs „Untergrabungsabsicht“ mit grundrechtlichen Argu-
menten. Art. 4 und 5 GG böten „hinreichende Gründe zu enger Auslegung des § 91
StGB“ (S. 155). Dem Bürger müsse es in Fragen der Verteidigung erlaubt sein,
seine Meinung frei zu äußern und für das Recht der Kriegsdienstverweigerung ein-
zutreten. „Erst wenn der Täter, statt für diese Grundrechte einzutreten, den Unter-
grabungserfolg zum Ziel seines Handels macht, wird sein Tun nach § 91 StGB tat-
bestandsmäßig.“ – Das bereits mit anderen Kriterien gewonnene Ergebnis wird mit
grundrechtlichen Aspekten unterstützt. Nötig war das nicht. Hätte der BGH aus der
Entstehungsgeschichte und dem Normzweck eine andere Lösung gefolgert, könnte
er wie in BGHSt 4, 161 argumentieren, daß der Bürger „um der Gesamtheit willen“
unvermeidbare Einschränkungen seiner Meinungsfreiheit hinnehmen müsse.
129 Lange (JZ 1951, 562 [563 f.]) weist allerdings zu Recht darauf hin, daß bei
„objektiver“ Lesart, die sich von den damaligen Motiven freimacht, sowohl der alte
als auch der neue Gesetzestext beide Auffassungen zuläßt; anders freilich RGSt 69,
273 = oben Fall 162.
426 V. Systematik
Fall 257 (BGHSt 31, 258): Die Frage, ob „Waschanlagen“ dem LadenschlußG un-
terliegen, verneint der Senat und sieht seine Auslegung „im Rahmen der Zwecke
des Ladenschlußgesetzes, die den im Zwang zum Ladenschluß liegenden Eingriff in
die Berufsausübung rechtfertigen können“ (S. 262). Der BGH steigt anschließend in
eine Grundrechtsprüfung (Art. 12) ein und behandelt insbesondere den Grundsatz
der Verhältnismäßigkeit. Diese Gesichtspunkte seien „nicht nur für die Zulässigkeit
der Regelung als solche, sondern auch für ihre Auslegung in Zweifelsfällen von Be-
deutung“ (S. 263). Die dem LadenschlußG zugrundeliegenden Zwecke (u. a. Schutz
der Belegschaft) sprächen nicht für eine Erfassung der Waschanlagen. – Wenn Sinn
und Zweck den Fall nicht erfassen und die übrigen Auslegungskriterien kein klares
Ergebnis liefern, ist die Lösung vorgegeben; sie kann durch die Grundrechtsprüfung
höchstens noch unterstützt werden.
Fall 258 (BGHSt 32, 1): Der Angeklagte fertigte ein Manuskript mit verfassungs-
feindlichem Inhalt an, das er zwecks Veröffentlichung an einen Verlag weiterleitete.
Er wußte, daß der Text im Verlag noch auf strafbare Passagen durchgesehen werden
würde, und wollte auf eine dadurch eintretende inhaltliche Änderung noch unbe-
dingt Einfluß nehmen. Die Strafkammer hat in diesem Sachverhalt das „Herstellen“
einer Schrift zu deren Verbreitung (§ 86 StGB) erkannt. Der Senat sieht hingegen
Bedarf zu einer Einschränkung des Tatbestandes: Die Gefahr möglicher Verbreitung
müsse „bereits ganz nahe gerückt“ sein, der zu veröffentlichende Text mithin fest-
stehen. Wortlaut und Gesetzesmaterialien ergäben keinen sicheren Aufschluß
(S. 4 ff.). Ziel der Neufassung sei es gewesen, der technischen Entwicklung Rech-
nung zu tragen und die Beschlagnahme bereits vor Verbreitung des Werks zu er-
möglichen (S. 6). Die unterschiedslose Erfassung von Manuskripten bedeute jedoch
einen zu weitgehenden Eingriff in Art. 2 und 5 GG und würde bereits dann zur
Bestrafung führen, wenn die zur Verbreitung vorgesehene, verfassungsfeindliche
Schrift den Schreibtisch des Autors nie verlassen hätte (S. 7). „Ein solch weitgehen-
des Vordringen der Strafverfolgung in die Privatsphäre des Menschen ist durch die
moderne technische Entwicklung, auf die der Gesetzgeber Rücksicht nehmen wollte,
nicht geboten. Es wäre auch nicht mehr von der recht verstandenen [!] Zielsetzung
des Gesetzgebers getragen, dem ein Wille, die Strafbarkeit so weit vorzuziehen,
nicht unterstellt werden kann“ (S. 7 f.). – Nach Ansicht des BGH führt die Anwen-
dung aller Interpretationsmittel hier offenbar zu einem non liquet, aus dem die Tat-
sache der Grundrechtsbeeinträchtigung herausführt. Eher angestrengt wirken die Be-
mühungen, das Ergebnis auch dem „Willen des Gesetzgebers“ zuzuschreiben.
Fall 259 (BGHSt 33, 16): Lag in Farbsprühaktionen, mit denen auf die Situation der
RAF-Häftlinge aufmerksam gemacht wurde („Isolationsfolter“, „Freiheit für . . .“),
ein „Unterstützen“ einer terroristischen Vereinigung oder ein „Werben“ für diese
(§ 129a III StGB)? Der BGH sieht sich u. a. wegen des Bestimmtheitsgebots und
Art. 5 GG zur Einschränkung der umfassenden Alltagsbegriffe für den Fall unge-
fährlicher Sympathiebekundungen gezwungen (S. 18). – Bruns wendet sich gegen
das methodische Vorgehen des BGH (NStZ 1985, 22). Der Rückgriff auf den
Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, auf das Bestimmtheitsgebot und Art. 5 GG sei
in Anbetracht „handfesterer Argumente“ überflüssig gewesen (S. 23). Insbesondere
die beliebte Berufung auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit belege die „zahl-
reichen Bestrebungen, bei der Anwendung normaler Gesetzesbestimmungen voreilig
das Verfassungsrecht heranzuziehen und mit seiner Hilfe den Geltungsbereich der
6. Sonstiger Einfluß von Grundrechten auf die Auslegung 427
einfachen Normen, auch bei festen Konturen, so aufzuweichen, daß bei der anschlie-
ßenden Güterabwägung jeder zu dem Ergebnis gelangen kann, das ihm persönlich
(rechtspolitisch!) gefällt“ (S. 24).
Unter anderem wegen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit gelangt BGHSt 41,
47 (oben Fall 129) zu einer restriktiven Auslegung des § 129 I StGB, obwohl der
Gesetzgeber diesen Erwägungen schon mit der Erheblichkeitsschwelle des § 129 II
Nr. 2 StGB ausdrücklich Rechnung getragen hat.130
In den dargestellten Entscheidungen zum materiellen Recht steht nicht der
Einfluß der Grundrechte auf den Inhalt strafrechtlicher Begriffe im Vorder-
grund, sondern die hilfsweise Heranziehung in Zweifelsfällen. Ergeben die
üblichen Interpretationsmittel keine Klarheit, kann die Tatsache der Grundrechts-
beeinträchtigung als Argument dafür dienen, das Tatbestandsmerkmal zu vernei-
nen.131 Ein solches Vorgehen kann immerhin Rationalität für sich beanspruchen.
Freilich befreit diese Notlösung nicht von der zunächst zu leistenden begrifflich-
dogmatischen Kleinarbeit (vgl. oben Bruns zu BGHSt 33, 16). Zweifel über das
Vorliegen von Strafbarkeitsvoraussetzungen sind häufig und dürfen nicht vor-
schnell mit Hilfe der Grundrechte aufgelöst werden. Spricht schon der einge-
hend zu erforschende Gesetzeszweck nicht für die Erfassung des Falls, ist die
Berufung auf Grundrechte als Argument gegen die Strafbarkeit nur noch Bei-
werk.
Erheblich größeren Einfluß als im materiellen Strafrecht hat die grundrechts-
orientierte Auslegung im Bereich des Verfahrensrechts, wenn verfassungsrecht-
lich abgesicherte Rechte des Beschuldigten im Raum stehen. Dann ist schnell
eine enge Auslegung oder eine Analogie zugunsten des Betroffenen geboten.
Zu nennen sind vor allem das Gebot des gesetzlichen Richters (Art. 101 I 2
GG), das eine enge Anwendung von Zuständigkeitsregelungen verlangt,132 der
Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 I GG), der Grundsatz „ne bis in
idem“ (Art. 103 III GG), der besonders ausgestaltete Schutz vor freiheitsentzie-
henden Maßnahmen (Art. 104 GG) und weitere Abwehrrechte, die vor allem im
Ermittlungsverfahren einschlägig sind (Art. 10 und 13 GG).133 Soweit das
Grundgesetz selbst inhaltliche Vorgaben macht, ist es selbstverständlich, dies
bei der Auslegung der einfachgesetzlichen Normen zu berücksichtigen; zuwei-
len steht sogar die direkte Anwendung des prozessualen Grundrechts im Raum.
Ob aber aus der Tatsache, daß es sich hier um konkretisiertes Verfassungsrecht
handelt, weitergehende inhaltliche Erkenntnisse folgen, ist ebenso fraglich wie
hinsichtlich der speziellen Freiheitsrechte beim materiellen Strafrecht. Vernünf-
134 Eine direkte Anwendung des Art. 103 I GG, zumindest aber eine Analogie liegt
auch in BGHSt 25, 252 = oben Fall 253 zugrunde; ähnlich BGHSt 44, 46 mit einer
Abwägung zwischen dem Gebot effektiver Verteidigung und dem Interesse der Straf-
verfolgung, die im Ergebnis zur analogen Anwendung des § 97 StPO (Beschlagnah-
meverbot) i. V. m. verfassungsrechtlichen Normen führt.
6. Sonstiger Einfluß von Grundrechten auf die Auslegung 429
fen, ob der vorliegende Fall davon erfaßt und die Regelungsabsicht hinreichend im
Wortlaut zum Ausdruck gekommen ist (S. 229). „Einer Auslegung, die sich in die-
sem Rahmen hält, steht der Ausnahmecharakter der Norm nicht entgegen.“ Anderer-
seits erfordere es der Gesetzeszweck nicht, den Angeklagten gegen seinen Willen
von der Hauptverhandlung fernzuhalten. „Eine solche Auslegung würde den An-
spruch der Angeklagten auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) stärker als un-
erläßlich beeinträchtigen und damit das Übermaßverbot verletzen“ (S. 234). – Es
kommt mithin auf den mit den üblichen Auslegungsmethoden gewonnenen Rege-
lungszweck an, nicht aber – worauf die Beschwerdeführer sich berufen haben – auf
den Charakter der Norm als (grundrechtseinschränkende) Ausnahmevorschrift.
Fall 262 (BGHSt 26, 298 – „Zufallsfunde“): § 100a StPO läßt die Überwachung des
Fernmeldeverkehrs zu, wenn der Verdacht einer Katalogtat besteht. Wie steht es mit
dabei gewonnenen „Zufallserkenntnissen“, die eine dritte Person (z. B. den Anwalt)
betreffen? Der Senat ist der Ansicht, daß einer Verwertung nichts entgegensteht,
wenn ein Zusammenhang zu den in § 100a genannten Katalogtaten besteht. Denn
„in einem solchen Fall könnte diese dritte Person auch selbst überwacht und könnten
die dabei gewonnenen Erkenntnisse dann unmittelbar gegen sie verwertet werden“
(S. 302). Die enge Auslegung (Beschränkung auf eine Katalogtat) entspreche der
Bedeutung des Grundrechts der Unverletzbarkeit des Fernmeldegeheimnisses
(S. 303) und den „vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Rechtsgrundsätzen“
zur Wechselwirkung135. „Der aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitete Grundsatz der
Verhältnismäßigkeit läßt eine Beschränkung von Grundrechtspositionen nur auf das
zum Schutz des von der Verfassung anerkannten Rechtsgutes unbedingt Notwendige
zu . . .“ (S. 304). – Die Lösung zeigt den geringen Ertrag und die fehlende Präzision
der Wechselwirkungslehre: Zur Verwertung von Zufallsfunden gab es zum damaligen
Zeitpunkt keine Bestimmung, vor allem nicht, soweit dritte Personen betroffen wa-
ren.136 Nimmt man aber den Grundrechtsschutz ernst, so muß es für den Eingriff in
die Grundrechtsposition des Dritten – daß mit der Verwertung der Zufallsfunde ein
solcher Eingriff vorliegt, bejaht auch der Senat (siehe oben) – wenigstens eine Ein-
griffsgrundlage geben.137 Die vom BGH gefundene Kompromißlösung ist zwar ver-
nünftig, aber sie erfolgt freischwebend, wie die hypothetische Erwägung zeigt, wo-
nach die dritte Person überwacht werden „könnte“ (wenn sie selbst verdächtig wäre).
BGHSt 36, 192 (oben Fall 112) ist der Ansicht, daß die Anordnung der Erzwin-
gungshaft ein mit der Untersuchungshaft vergleichbarer Eingriff in das Freiheits-
recht des Art. 104 I GG sei und deshalb als „Verhaftung“ i. S. des § 304 V StPO
verstanden werden und die Möglichkeit der Beschwerde gegeben sein müsse. Vom
Wortsinn her sei das möglich. Zudem müßten Vorschriften, die „das gerichtliche
Verfahren einer Freiheitsbeschränkung regeln, . . . so ausgelegt werden, daß das Aus-
legungsergebnis der Bedeutung und Tragweite des Grundrechts auf persönliche Frei-
heit Rechnung trägt“ (S. 195 f.). Wenn die Beschwerdemöglichkeit schon bei einer
GG betroffen ist, betont z. B. BGHSt 44, 13 (16) = oben Fall 181 in einer schulmäßi-
gen Grundrechtsprüfung.
430 V. Systematik
Beschlagnahme bestehe, müsse dies erst recht auch für die Erzwingungshaft gelten
(S. 196). Dagegen hatte BGHSt 30, 52 aus grammatikalisch-systematischen und ent-
stehungsgeschichtlichen Erwägungen gegenteilig argumentiert und kein Wort zur
verfassungsrechtlichen Situation verloren.
Insgesamt sollte der Einfluß der hier erörterten Grundrechte138 auf die Norm-
konkretisierung nicht überschätzt werden. Dem Grundsatz der Verhältnismäßig-
keit wird weitgehend in der Strafzumessung Rechnung getragen, es sei denn, die
Norm selbst unterliegt verfassungsrechtlichen Zweifeln. Die speziellen Freiheits-
grundrechte fließen über die Lehre von der Wechselwirkung zwar in die Ausle-
gung ein, aber angesichts vager Maßstäbe ist der inhaltliche Ertrag nicht groß.
Zuweilen beschränkt sich die Wirkung der Grundrechte darauf, in Zweifelsfällen
ein Argument für eine enge Auslegung oder gegen die Strafbarkeit zu liefern.
Nicht selten zeigt sich die Neigung der Gerichte, die „einfachen“ Auslegungs-
kriterien, die konkretere Ergebnisse liefern könnten, zu vernachlässigen. Ein
Sonderfall ist der strafrechtliche Ehrenschutz auf dem Gebiet des politischen
Meinungskampfes: Insoweit besteht die Aufgabe der Gerichte nicht in einer
Normkonkretisierung, sondern in einer nach verfassungsgerichtlichen Vorgaben
vorzunehmenden Güterabwägung. Größeren Einfluß auf die Norminterpretation
als die speziellen Freiheitsrechte haben die verfahrensrechtlichen Grundrechte
des Beschuldigten.
7. Bestimmtheitsgebot
a) Einführung
138 Zum Einfluß von Art. 3 I GG auf die Auslegung siehe unten V 8 c und VI 3; zu
(12); 75, 329 (341); 73, 206 (234 f.); BGHSt 42, 79, 83; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/
Dürig, Art. 103, Stand: 12/1992, Rn. 179 f.
7. Bestimmtheitsgebot 431
BVerfGE 45, 363 [371]; NStZ 2000, 595 [596]); 1991, 383), erscheint auf den ersten
Blick mißverständlich; näher Lampe, JR 1982, 430.
141 Z. B. BVerfGE 92, 1 (12); 75, 329 (341); 45, 363 (371); 37, 201 (208); 28, 175
(183); 26, 41 (42); 4, 352 (358); NStZ 2000, 595 (596); BGHSt 37, 266 (273 f.); 30,
285 (287); 23, 40 (41); 18, 359 (362).
142 BVerfGE 57, 250 (262) m. w. N.; BGHSt 43, 381 (406); 28, 129 (134); 27, 318
(321).
143 BVerfGE 73, 206 (237). Oft wird kumulativ formuliert, daß der Anwendungsbe-
reich für den Bürger erkennbar sein und sich durch Auslegung ermitteln lassen muß
(BVerfGE 105, 135 [153] und BVerfGE 57, 250 [262], jeweils m. w. N.; BGHSt 42, 79
[83]). Das läßt aber offen, wie sich die beiden Anforderungen zueinander verhalten.
Besser trifft deshalb die Formulierung, daß eine an Wortlaut und Gesetzeszweck orien-
tierte Auslegung die Ermittlung des Anwendungsbereich „in einer für den Bürger hin-
reichend vorhersehbaren Weise“ ermöglichen muß (vgl. BVerfGE 73, 206 [237]) oder
daß der Norminhalt mit Hilfe der üblichen Auslegungsmethoden ermittelbar sein muß,
damit der Einzelne den Bereich des Strafbaren erkennen kann (vgl. BVerfGE 45, 363
[372]). Die Aussagen des BVerfG hierzu sind nicht auf einen Nenner zu bringen (siehe
auch zum nächsten Punkt im Text und am Ende des Abschnitts).
144 BVerfGE 63, 312 (324) für das Steuerrecht; BGHSt 42, 79 (83); 3, 180 (181):
1030; BGHSt 42, 79 (83); 37, 266 (273 f.); 23, 40 (41).
146 BVerfG NJW 1995, 2776 (2777); 1998, 2589 (2590).
147 BVerfGE 105, 135 (153); ähnlich BVerfGE 75, 329 (341).
148 BVerfGE 92, 1 (12); 73, 206 (235); NJW 1995, 2776 (2777); ohne Einschrän-
(5) eine unbestimmte Norm durch eine gefestigte Rechtsprechung die notwen-
dige Bestimmtheit gewinnen kann150, es dem Richter aber versagt ist, ein
unbestimmtes Gesetz von sich aus nachzubessern (BVerfGE 105, 135 [153]
m. w. N.),
(6) die Anforderungen an die Präzisierung mit der Höhe der Strafdrohung
steigt151,
(7) insgesamt die Anforderungen an den Gesetzgeber nicht übersteigert werden
dürfen, weil das Gesetz sonst zu starr und kasuistisch würde152.
Die gefundenen, im einzelnen nicht unumstrittenen Kriterien finden sich in
der sogleich darzustellenden Rechtsprechung des BGH wieder. Sie haben in der
Praxis des BVerfG zu keinen nennenswerten Beanstandungen von Strafgesetzen
geführt,153 sondern im Gegenteil den Eindruck erweckt, als würde der Bestimmt-
heitsgrundsatz dem Gesetzgeber keine ernstzunehmenden Hindernisse berei-
ten154 und damit leerlaufen. Der großzügige Maßstab ließ auch Extremfälle pas-
sieren, wie etwa den gesetzlich kaum konkretisierten Beleidigungstatbestand des
§ 185 StGB („Die Beleidigung wird . . . bestraft.“, BVerfGE 93, 266 [291 f.])155,
die nur beispielhaft benannten „besonders schweren Fälle“ (BVerfGE 45, 363),
150 BVerfGE 93, 266 (292): „. . . hat der Begriff der Beleidigung jedenfalls durch
27, 318 (321); abl. z. B. Kunig, in: von Münch/Kunig, Art. 103 GG, Rn. 29; Wasser-
mann, in: AK-GG, Art. 103, Rn. 52; Hanack, JZ 1970, 41 (44, Fn. 40); Schroeder, JZ
1969, 775 (778, l. Sp.).
152 BVerfGE 75, 329 (342 f.); 45, 363 (371); 26, 41 (43); 14, 245 (251); BGHSt 27,
Art. 103, Rn. 29 f.; Nolte, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 103, Rn. 144; Hanack,
JZ 1970, 41 (44); Kühl, StV 1987, 122 (125); Seebode, JZ 2004, 305 (306); Schulze-
Fielitz (in: Dreier, Art. 103 II, Rn. 38) weist auf die s. E. immerhin bestehende präven-
tive Wirkung des Bestimmtheitsgebots als „regulative Idee“ hin.
155 Bezeichnend LG Freiburg (NJW 2002, 3645 [3646]) bei Beantwortung der
der unbenannte besonders schwere Fall des Totschlags (§ 212 II StGB, BVerfG
JR 1979, 28)156, obwohl er zur lebenslangen Freiheitsstrafe führt und bereits bei
einigen Mordmerkmalen die Bestimmtheit zweifelhaft ist („niedrige Beweg-
gründe“), die nur rudimentär in § 13 StGB geregelten Voraussetzungen des un-
echten Unterlassungsdelikts157 und – die Seriosität der gesamten Thematik bis
heute untergrabend – der ehemalige Übertretungstatbestand des „groben Un-
fugs“ (BVerfGE 26, 41)158. Ob die Nichtigkeitserklärung der Vermögensstrafe
(§ 43a StGB) durch BVerfGE 105, 135 zu einer Trendumkehr führen wird, ist
noch nicht abzusehen; die abstrakten Kriterien böten dazu ausreichend Spiel-
raum.
Wie verfährt nun der BGH bei bedenklichen Normen, die er ebenso wie das
BVerfG auf die Einhaltung der Gesetzesbestimmtheit zu prüfen und notfalls –
bislang kam ein solcher Fall nicht vor – vorzulegen hat? Ist es ein realistischer
und handhabbarer Maßstab oder nur eine Leerformel, wenn BGHSt 38, 138
(140) formuliert: „Das allgemeine Bestimmtheitsgebot verlangt, daß Sanktionen
androhende Normen das Erlaubte vom Verbotenen deutlich abgrenzen.“ und
BGHSt 17, 309 (320) sogar fordert, daß „das Gesetz die Strafbarkeit klar und
zweifelsfrei bestimmt“?159 Entscheidet tatsächlich der Gesetzgeber selbst über
den Anwendungsbereich oder statt dessen die Rechtsprechung je nach Einzel-
fall?
BGHSt 4, 24 (oben Fall 204): Die Einschränkung der Einwilligung in eine Körper-
verletzung durch § 228 StGB (§ 226a a. F.) ist nach Ansicht des BGH aufgrund des
Verweises auf die „guten Sitten“ rechtsstaatlich bedenklich; die Norm müsse des-
halb eng ausgelegt werden, d.h., es müsse zweifellos kriminelles Unrecht vorliegen
(S. 32).
156 Siehe die krit. Anm. von Bruns, JR 1979, 28 (30, r. Sp.): „Bloßes Lippenbe-
das Analogieverbot mit dem „Forstdiebstahl“ (BGHSt 10, 375 = oben Fall 57); die
psychologische Wirkung dieser (als bedrohlich empfundenen) Einzelfälle kann nicht
hoch genug eingeschätzt werden. BVerfGE 26, 41 wird heute denn auch überwiegend
als Fehlentscheidung eingestuft, z. B. Roxin, Strafrecht AT I, § 5, Rn. 76; Rüping, in:
BK-GG, Art. 103, Stand: 5/1990, Rn. 29; Schroeder, JZ 1969, 775 (780): „Wie muß
. . . ein Straftatbestand noch aussehen, um vor dem BVerfG nicht bestehen zu können?“
159 Der in BGHSt 17, 309 formulierte Anspruch ist von vornherein utopisch und
droht, die ganze Thematik ins Lächerliche zu ziehen: Enthalten z. B. §§ 185, 266
StGB klare und zweifelsfreie Aussagen darüber, was eine Beleidigung bzw. eine Un-
treue ist? Die Aussage widerspricht im übrigen der vom BVerfG und BGH sonst ge-
teilten Auffassung, daß Grenz- und Zweifelsfälle oft unvermeidbar sind.
434 V. Systematik
Fall 263 (BGHSt 22, 365): Ist die Tatbestandsalternative des „ähnlichen, ebenso
gefährlichen Eingriffs“ in die Sicherheit des Straßenverkehrs (§ 315b I Nr. 3 StGB)
ausreichend bestimmt? Der Senat bejaht das angesichts dessen, daß die näher um-
schriebenen Anwendungsfälle der Norm (Nr. 1 und 2) „maßstabsetzende Beispiele“
böten160; zudem grenze das weitere Erfordernis „ebensolcher Gefährlichkeit“ den
Tatbestand „in einer für die richterliche Rechtsanwendung ausreichend klaren
Weise“ ab (S. 367).
Fall 264 (BGHSt 23, 40 – „Fanny Hill“): Der Senat sieht das Merkmal „unzüchtige
Schrift“ (§ 184 StGB i. d. F. bis zum 4. StrRG) als hinreichend bestimmt an. Das
Strafrecht könne nicht auf allgemeine Begriffe verzichten, auch wenn sie an die
Auslegung durch den Richter besondere Anforderungen stellten (S. 41). Die in der
Rechtsprechung gewonnene Konkretisierung beschreibt der Senat wie folgt: Eine
Schrift sei unzüchtig, wenn sie das Scham- und Sittlichkeitsgefühl „des normalen
Menschen“ in geschlechtlicher Beziehung in erheblicher Weise zu verletzen geeig-
net sei (S. 41 f.). „Es kommt darauf an, ob der Inhalt der Schrift den auf den Wert-
vorstellungen unserer Kultur beruhenden sittlichen Grundanschauungen der Gemein-
schaft in geschlechtlicher Hinsicht zuwiderläuft“ (S. 42). Die Toleranzgrenze könne
sich mit dem zeitbedingten Wandel der Anschauungen verändern. – Ob diese Aus-
führungen den Anforderungen an eine für den Bürger vorhersehbare Grenzziehung
zwischen erlaubtem und unerlaubtem Verhalten genügen, ist sehr zweifelhaft.161
Fraglich ist auch, warum nicht der gleiche Ansatzpunkt wie in BGHSt 4, 24 ge-
wählt wird: Die Norm ist rechtsstaatlich bedenklich (darüber herrscht kein Streit!),
so daß zweifellos kriminelles Unrecht vorliegen und eine restriktive Auslegung ge-
wählt werden muß.
Fall 265 (BGHSt 27, 318): Ist die „bei Nässe“ geltende Geschwindigkeitsbeschrän-
kung ausreichend bestimmt? Der BGH sieht für den Verkehrsteilnehmer kein Pro-
blem, denn der allgemeine Sprachgebrauch unterscheide zwischen Nässe und Feuch-
tigkeit; verbleibende Auslegungszweifel seien dem Betroffenen „zumutbar“ (S. 320),
zumal andere Verhaltensregeln der StVO noch höhere Anforderungen an die Beur-
teilung durch den Verkehrsteilnehmer stellten (S. 321). In Anbetracht der Sanktions-
höhe dürften die Anforderungen auch nicht überspannt werden.
Fall 266 (BGHSt 29, 6): Der angeklagte Arzt verschrieb seinen heroinabhängigen
Patienten Methadon, das diese in freier Verantwortung einnehmen konnten. Nach
Ansicht des Senats hat der Arzt angesichts der naheliegenden Gefahr des Miß-
brauchs gegen § 11 BtMG (a. F., vgl. § 13 I i. V. m. § 29 I Nr. 6 BtMG g. F.) versto-
ßen, der die Verschreibung von Betäubungsmitteln nur zuläßt, wenn dies „ärztlich
begründet“ ist. Nähere Voraussetzungen bestimmt die Norm nicht, sie „ergeben sich
jedoch mit der nach Art. 103 Abs. 2 GG gebotenen Bestimmtheit aus der Aufgabe
des Arztes“ (S. 8). Auch die BtM-Verschreibungs-Verordnung müsse das Merkmal
der ärztlichen Begründetheit nicht „in abschließender Weise verbindlich“ erläutern;
vielmehr sei der Begriff „nach dem erweiterten Gesetzeszweck im Wege der Aus-
legung zu ermitteln“.
160 Ähnlich argumentiert BVerfGE 45, 363 bei den benannten Strafzumessungsgrün-
den.
161 Sehr krit. Hanack, JZ 1970, 41.
7. Bestimmtheitsgebot 435
Fall 267 (BGHSt 30, 285): Die Verurteilung wegen Kreditbetrugs setzt u. a. voraus,
daß der Täter „unrichtige oder unvollständige Unterlagen . . . vorlegt, die . . . für die
Entscheidung erheblich sind“ (vgl. § 265b StGB). Der Senat sieht in diesen allge-
meinen Begriffen keinen Widerspruch zu Art. 103 II GG. Es sei zu berücksichtigen,
„ob die vom Gesetzgeber verwendeten Begriffe völlig neu sind oder an schon bisher
benutzte und durch die Rechtsprechung umschriebene und präzisierte Begriffe an-
knüpfen können“ (S. 287).162 Daß die Feststellung eines Tatbestandsmerkmals eine
„Bewertung“ voraussetze, sei keine Besonderheit des § 265b, sondern im Strafrecht
allenthalben anzutreffen (S. 287 mit zahlreichen Beispielen). „In allen diesen Fällen
muß der Bürger sein Handeln an der allgemeinen Rechtsüberzeugung und – soweit
es um Tatbestände geht, die besondere Lebensbereiche betreffen – an den für diese
Bereiche bestehenden besonderen Anschauungen messen; hierbei sind die von
Rechtsprechung und Schrifttum gesetzten Maßstäbe von besonderer Bedeutung. So
beraten, ist der Bürger in der Lage, mit hinreichender Sicherheit zu beurteilen, ob
das von ihm ins Auge gefaßte Handeln die Voraussetzungen eines Straftatbestandes
erfüllt“ (S. 288). In Ausnahmefällen hülfen die strafrechtlichen Irrtumsregeln. Hin-
sichtlich der Begriffe „Unrichtigkeit“ und „Unvollständigkeit“ könne auf bewährte
und gefestigte Grundsätze zurückgegriffen werden (S. 289).
Fall 268 (BGHSt 37, 266 – „mittelbare Parteienfinanzierung“): Liegt eine Steuer-
hinterziehung vor, wenn an einen Verband gezahlte Mitgliedsbeiträge der finanziel-
len Unterstützung von Parteien dienen und als „Betriebsausgaben“ geltend gemacht
werden? Der BGH räumt ein, daß der in § 4 EStG definierte Begriff („Aufwen-
dungen, die durch den Betrieb veranlaßt sind“) zwar durch die Rechtsprechung feste
Konturen erlangt habe, aber dennoch zweifelhafte Grenzfälle blieben (S. 273).163
Jedoch müsse auch das Strafrecht Begriffe verwenden, „die nicht eindeutig allge-
meingültig umschrieben werden können [!] und die an die Auslegung durch den
Richter besondere Anforderungen stellen“ (S. 273 f.). Daß zu vorliegender Konstel-
lation ein Erlaß eines Landesfinanzministeriums und eine unterschiedliche Verwal-
tungspraxis der Bundesländer existiere, belege nicht die Unbestimmtheit der Norm
(S. 274 f.).
Fall 269 (BGHSt 42, 1; 33, 8; 32, 162 – „nicht geringe Menge“): Die erhebliche
Erhöhung der Strafrahmen im BtM-Recht beim Vorliegen einer „nicht geringen
Menge“ gebietet nach Ansicht des BGH eine Präzisierung, da sowohl Rechtsanwen-
der als auch Rechtsunterworfener den maßgeblichen Grenzwert kennen müssen
(BGHSt 33, 8 [9]). Nicht ausreichend sei die vom OLG angestrebte „wertende Aus-
legung mit Rücksicht auf den Einzelfall“ (BGHSt 42, 1 [3]). Vielmehr müßten die
Grenzwerte (je nach BtM) zur eindeutigen Gesetzesanwendung „notwendig dezisio-
nistisch“ festgelegt werden (S. 11). Auf den grundsätzlichen Einwand eines OLG,
die Anwendung eines Verbrechenstatbestandes bei Cannabisprodukten verstoße ge-
gen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, erwidert der BGH: „Es ist grundsätzlich
162 Besonders krit. zu diesem Argument Lampe, JR 1982, 430 (431, l. Sp.): Allein
die Verwendung von Begriffen durch die Rechtsprechung verbürge nicht die verfas-
sungsrechtlich notwendige Bestimmtheit. „Rationale Bedeutung“ könne das Verfahren
des BGH nicht beanspruchen.
163 Da § 370 AO (Steuerhinterziehung) eine Blankettvorschrift ist, muß die dieses
164 Entsprechend liegt es bei der so bedeutsamen Grenze der absoluten Fahruntüch-
tigkeit i. S. von §§ 315c, 316 StGB. Da es sich dabei „eigentlich“ um eine legislative
Aufgabe handelt (vgl. z. B. § 24a StVG), ist es kein Zufall, daß die Herabsetzung des
Grenzwerts von 1,3 auf 1,1 % durch die Rechtsprechung als Problematik des – an den
Gesetzgeber gerichteten! – Rückwirkungsverbot gesehen wird; näher dazu Hettinger/
Engländer, in: FS für Meyer-Goßner, S. 145 ff. Daß diese Vernachlässigung des Be-
stimmtheitsgebots durch den Gesetzgeber für den Täter von Nachteil sein soll, da
7. Bestimmtheitsgebot 437
Zweifel steht, daß bei Überschreitung der großzügig bemessenen Grenzen wirk-
lich erhebliche Mengen vorliegen (bei THC 500 Konsumeinheiten!); Einwände
aus dem Gesichtspunkt der Vorhersehbarkeit sind entsprechend fernliegend.
Ähnliches gilt für die Konkretisierung des „großen Ausmaßes“ i. S. von § 263
III StGB, wofür BGHSt 48, 360 immerhin Anhaltspunkte in den Gesetzesmate-
rialien nutzen kann. Aber ist damit der Anwendungsbereich der Norm aus dem
Gesetz selbst erkennbar, und wäre die Vorschrift ohne diese Anhaltspunkte ver-
fassungswidrig?
Weitere Problemfälle in diesem Zusammenhang bieten die Tatbestandsmerkmale
„große Zahl von Menschen“ in § 306b I StGB und „in großem Ausmaß Steuern
verkürzt“ in § 370a AO. BGH NJW 2004, 2990 hält in einem obiter dictum § 370a
AO mangels Bestimmtheit für verfassungswidrig,165 denn der Normadressat könne
„Tragweite und Anwendungsbereich“ der Norm nicht durch „Auslegung . . . ermit-
teln und konkretisieren“ (S. 2991, r. Sp.). Insbesondere sei unklar, ob es bei einer
Vielzahl von Steuerhinterziehungen auf den Einzelfall oder auf eine Gesamtbetrach-
tung ankommen soll. Die im Strafzumessungsrecht „noch vertretbare Unbestimmt-
heit“ (Hinweis auf BGHSt 48, 360) sei bei einem Tatbestand „nicht mehr hinnehm-
bar“. – Der Senat will offenbar im Anschluß an BVerfGE 105, 135 die Zügel enger
fassen. Man mag das in der Tendenz begrüßen, aber in Hinblick auf die bereits erör-
terten Problemfälle erscheint es wenig plausibel, allein § 370a AO für verfassungs-
widrig zu erklären. Denn auch bei dieser Norm würde es der Rechtsprechung natür-
lich gelingen, vorhersehbare Grenzen festzulegen und damit Rechtssicherheit „zu
schaffen“ (vgl. oben BGHSt 48, 360). Es ist zu bezweifeln, daß der Senat hinrei-
chende Konkretisierungsbemühungen unternommen hat, zumal ein obiter dictum
hierfür kaum der geeignete Rahmen ist.166 Nicht überzeugend ist ferner der unter-
schiedliche Maßstab bei Tatbestandsmerkmal einerseits (§ 370a AO) und Regelbei-
spiel andererseits (§ 263 III StGB), denn die etwaige Unbestimmtheit benannter
Strafzumessungsregeln kann nicht durch die bei der Strafzumessung „gebotene Ge-
samtwürdigung“ (S. 2991, r. Sp.) kompensiert werden. Schließlich rechtfertigen
auch die Besonderheiten der Steuerdelikte (Einzelfall- oder Gesamtbetrachtung?)
keine Abweichung von der bisherigen Linie, denn beim Tatbestandsmerkmal der
„nicht geringen Menge“ im Betäubungsmittelrecht stellen sich ganz ähnliche Fra-
gen. Aber auf diese Parallele sowie die oben erörterten Präjudizien des BGH zum
Bestimmtheitsgebot geht der Senat bezeichnenderweise gar nicht ein.
(1886, r. Sp.).
166 Die Entscheidung ist sowohl prozeßrechtlich als auch begründungstechnisch
167 An dieser Stelle geht es nur um die Prüfung der Norm anhand des Bestimmt-
heitsgebots mit Hilfe des Kriteriums der Vorhersehbarkeit. Zur Frage, ob auch die
Rechtsprechung diesen Anforderungen genügen muß, erst unten d, e.
168 Kühl, StV 1987, 122 (124, l. Sp.); Schmidhäuser, in: GedS für Martens, S. 240.
7. Bestimmtheitsgebot 439
(z. B. NJW 2003, 1030). Unklar ist auch der Zusammenhang zwischen der Vor-
hersehbarkeit für den Betroffenen und der Ermittelbarkeit des Anwendungs-
bereichs durch „Auslegung“. Beide Kriterien nennt des BVerfG oft in einem
Atemzug, ohne deren Verhältnis zueinander zu klären.169 Die Erkennbarkeit des
Anwendungsbereichs wäre aber kaum gewährleistet, wenn der Bürger wie ein
professioneller Gesetzesinterpret erst die üblichen Auslegungsfaktoren heranzie-
hen muß, um die Reichweite der Norm abzuschätzen.170 Jedenfalls hat das
BVerfG keine Norm als verfassungswidrig eingestuft, nur weil der potentielle
Täter – gleich, ob man hier einen „individualpsychologischen“ Maßstab oder
eine „generalisierende“, idealtypische Betrachtungsweise zugrunde legt171 – bei
seinem, dem Alltagssprachgebrauch folgenden Wortverständnis die Strafbarkeit
nicht hätte vorhersehen können.172
Was soll z. B. bei den zahlreichen Normen gelten, die aufgrund der Verwendung von
juristischen Fachtermini von vornherein kein „natürliches“ Verständnis erlauben?
Soll der Bürger aus seinem unbefangenen Horizont und „aus dem Gesetz selbst“
erkennen können, was zum geschützten „Vermögen“ i. S. von § 263 StGB gehört
oder wann eine „Rechtspflicht“ als Voraussetzung des Unterlassungsdelikts vor-
liegt?173 Darf einem Alltagsbegriff durch die Rechtsprechung eine fachsprachliche
Bedeutung gegeben werden? („Urkunde“174) Was soll gelten, wenn der relevante
Normtext erst aus einer Vielzahl von Hilfsnormen und allgemeinen Bestimmungen
konstituiert werden muß? (Vom Nebenstrafrecht ganz zu schweigen.) Und wo soll
der Bürger ansetzen, wenn wie im Bereich der Beleidigungsdelikte neben den straf-
rechtlichen Bestimmungen (§§ 185, 193 StGB) noch eine Grundrechtsabwägung
(Art. 5 GG) über die Strafbarkeit entscheidet?175
Fall 272 (BGHSt 18, 359): § 7 I 1 StVO a. F. bestimmte, daß jedes Fahrzeug „ei-
nen zur selbständigen Leitung geeigneten Führer“ haben muß. Der Fahrzeughalter
dort der Aspekt, daß der Gesetzgeber die nötigen Voraussetzungen nicht hinreichend
bestimmt habe, ganz im Vordergrund steht. „Dadurch“ (S. 152) fehlt es zwangsläufig
auch an der Vorhersehbarkeit für den Normadressaten.
173 BVerfG NJW 2003, 1030 konstatiert, daß der „Kreis möglicher Garantenpflich-
ten nicht ohne weiteres dem StGB zu entnehmen“ ist, sieht die Voraussehbarkeit aber
durch eine tradierte Rechtsprechung als gewährleistet an.
174 Vgl. auch unten BGHSt 38, 281 („Kreditkarte“) = Fall 274.
175 Was das BVerfG insoweit verlangt, ist schon für die Fachgerichte völlig unklar,
vgl. Zaczyk, JR 2003, 36. Aus Sicht des Bürgers ist diese Unsicherheit allein deshalb
hinnehmbar, weil das BVerfG nur zu seinen Gunsten eingreifen kann. Ob aber im Be-
leidigungsrecht von Gesetzesbestimmtheit gesprochen werden kann, ist mehr als zwei-
felhaft. Unter die Merkmale des § 193 StGB wird praktisch gar nicht mehr subsumiert
(Zaczyk, S. 37). Vgl. auch oben Fn. 150 und 155.
440 V. Systematik
durfte gemäß § 7 I 3 die Inbetriebnahme nicht zulassen, „wenn das Fahrzeug . . . den
Vorschriften nicht entspricht“. Der BGH sieht in § 7 I 1 (a. F.) eine selbständige
Strafvorschrift, die sich auch an den Fahrzeughalter wende und diesem verbiete, das
Fahrzeug einer fahruntüchtigen Person zu überlassen (S. 361). Der Wortlaut sei „so
hinreichend bestimmt, daß sich jeder Halter ohne besondere Mühe oder Zweifel da-
nach richten kann“ (S. 362). – Wie soll der Fahrzeughalter anhand der gesetzlichen
Regelung erkennen, daß er überhaupt Adressat der Vorschrift ist? Anders als Satz 3,
der sich ausdrücklich an den Halter wendet, ist das bei unbefangener Lektüre des
Satzes 1 nicht ersichtlich.
Daß zur Überprüfung der Vorhersehbarkeit – ebenso wie bei der Grenze des
möglichen Wortsinnes – grundsätzlich auf empirisch-linguistische Erhebungen
zurückgegriffen werden könnte, wurde bereits im Kapitel III 7 c dargelegt. Da-
mit würde dem theoretischen Ausgangspunkt des BVerfG zwar Rechnung getra-
gen, andererseits aber ein völlig neues Instrumentarium eingeführt, das seiner-
seits mit erheblichen methodischen Unklarheiten belastet ist.176
Die Ernüchterung wird noch verstärkt, wenn man sich die weitgehende Wir-
kungslosigkeit des Verbotsirrtums (§ 17 StGB) in der Praxis vergegenwärtigt.
Sowohl BVerfG als auch BGH haben zwar auf die strafrechtlichen Irrtumsrege-
lungen als möglichen Ausweg in Grenzfällen hingewiesen,177 aber selbst bei
einer unübersichtlichen und kaum zu durchschauenden Rechtslage hilft die
Rechtsprechung dem Betroffenen nicht aus seiner Lage.178
Nachweisen und Amelung, NStZ 1995, 29 (30). Sehr engherzig auch BGHSt 45, 97
(100 ff.) zu § 258 StGB, siehe dazu Neumann, StV 2000, 425.
7. Bestimmtheitsgebot 441
BGHSt 26, 156 (oben Fall 116) verlangt zur Berücksichtigung der sich aus den Ge-
setzesmaterialien ergebenden gesetzgeberischen Vorstellungen, daß diese im Gesetz
selbst zum Ausdruck kommen; andernfalls bestehe die „Gefahr, sich mit dem Gebot
der Bestimmtheit des Strafgesetzes in Widerspruch zu setzen“ (S. 160; ähnlich
BGHSt 25, 151 [156] = Fall 117).
Fall 273 (BGHSt 26, 312): Die Kinder der Angeklagten wurden im Weg der Ju-
gendfürsorge in einem Heim untergebracht, weil die Angeklagte ihrer Unterhaltsver-
pflichtung nicht nachkam. Aus der Tatsache, daß die öffentlichen Träger zu dieser
Leistung gesetzlich verpflichtet sind, ändert sich nach Ansicht des BGH nichts an
der Strafbarkeit der vorrangig Unterhaltsverpflichteten gemäß § 170b I StGB a. F.
(§ 170 I g. F.); die öffentliche Hand greife in diesen Fällen nur subsidiär ein
(S. 316 f.). Der Ansicht eines OLG, wonach es für die Strafbarkeit darauf ankom-
men soll, ob die Jugendhilfe in Ausübung ihres Ermessens den Anspruch des Kin-
des auf sich überleitet, widerspricht der Senat: Die Strafbarkeit könne nicht davon
abhängen, ob die Behörde ihr Ermessen ausübt; andernfalls wären die Strafbarkeits-
voraussetzungen nicht genügend gesetzlich bestimmt (S. 318). „Gesetze sind aber
verfassungskonform auszulegen“. Zudem sei die Option der Überleitung Folge der
Straftat nach § 170b, nicht deren Voraussetzung.
Fall 274 (BGHSt 38, 281): Nach Ansicht des Senats ist eine Kundenkarte im
„Zwei-Partner-System“ bereits nach dem Wortlaut keine „Kreditkarte“ i. S. von
§ 266b StGB, weil der Aussteller nicht „zu einer Zahlung veranlaßt“ wird
(S. 282).183 Die entgegenstehende Begriffsverwendung durch die Beteiligten könne
die Strafbarkeit nicht begründen; das widerspräche den „Erfordernissen der Be-
stimmtheit und Rechtssicherheit“ (S. 284). Die Schwierigkeiten bei der Abgrenzung
der Kartensysteme dürfe nicht zur Anwendung des § 266b auf nicht erfaßte Fälle
führen.
BGHSt GS 40, 350 weist die Einschränkungsbemühungen des 1. Senats (BGHSt 39,
36 = oben Fall 152) zu §§ 239a, 239b StGB mit Hilfe des Kriteriums der Außen-
wirkung zurück: Das Gesetz biete dafür keine Stütze; dem Kriterium fehle es schon
an der notwendigen Bestimmtheit (S. 357 f.). Freilich ist zu bezweifeln, daß der
vom Großen Senat gewiesene Weg ein höheres Maß an Bestimmtheit aufweist.184
— BGHSt 32, 104 (oben Fall 180) verwirft eine einschränkende Auslegung, da es
dafür verschiedene Möglichkeiten gebe, die Tatbestandsabgrenzung aber Aufgabe
des Gesetzgebers sei (S. 111). Zudem stehe der Wortlaut entgegen (S. 112).
Fall 275 (BGHSt 43, 381 – Fall „Zwick“): Gemäß § 1 III 1 AO sind auf steuer-
liche Nebenleistungen (z. B. Säumniszuschläge, Zwangsgelder) die Vorschriften der
AO „sinngemäß“ anzuwenden. Gilt das auch für die steuerstrafrechtlichen Vor-
schriften der §§ 370 ff. AO, wenn etwa der Täter durch eine Täuschung erreicht,
daß das Finanzamt keine Säumniszuschläge erhebt? Nach Ansicht des BGH bleibt
der Umfang der „sinngemäßen Anwendung“ zu undeutlich, die Verweisung bei Be-
rücksichtigung anderer Vorschriften der AO inkonsequent (S. 403). Der Gesetzgeber
habe die Auswirkung der Verweisung auf die Strafvorschriften nicht bedacht
(S. 404). Sinn und Zweck des § 370 AO sprächen ebenfalls nicht für die Anwend-
barkeit auf Nebenleistungen.185 Eine „erweiternde Auslegung“ der §§ 370 ff. über
§ 1 III komme aufgrund des Bestimmtheitsgebots nicht Betracht, denn eine klare
Abgrenzung zwischen Erlaubtem und Strafbarem sei auch unter Heranziehung der
üblichen Auslegungsmethoden nicht möglich (S. 406).186
Aus den dargestellten Entscheidungen ist ersichtlich, daß die Senate in Be-
tracht gezogene oder vorgeschlagene Gesetzesinterpretationen insbesondere
dann als zu unbestimmt verwerfen, wenn die Erfüllung der tatbestandlichen
Voraussetzungen von zu vagen Faktoren abhängt (Schutzbedürftigkeit im Einzel-
fall, Ermessen einer Behörde, Sprachgebrauch der Beteiligten). Oftmals ist die-
ses Argument freilich gar nicht entscheidend, weil die eigene Position schon aus
anderen Gründen für richtig erachtet wird. In diesen Fällen wird die eigene
Auffassung indirekt durch den Hinweis auf die Unbestimmtheit der Gegenan-
sicht gestärkt (siehe z. B. BGHSt 26, 312).187 Abzulehnen ist in jedem Fall die
Heranziehung des Bestimmtheitsgebots als Stütze der „Andeutungstheorie“
(BGHSt 26, 156), denn gerade die subjektiv-historische Auslegung – als eines
der üblichen Auslegungsmittel – ist dazu geeignet, die Vorhersehbarkeit der Er-
gebnisse im Rahmen des Wortlauts zu fördern.188 Allenfalls wird man sagen
können, daß der Gesetzgeber die Voraussetzungen der Strafbarkeit im Gesetz
selbst, nicht aber in den Materialien anordnen muß, aber ab wann soll diese
Forderung mißachtet sein? Vorsicht ist weiter gegenüber der voreiligen An-
nahme angebracht, aus Bestimmtheitsgründen spreche der Gesetzeswortlaut ge-
gen eine Einschränkung des Tatbestandes (vgl. BGHSt 32, 104), denn konse-
quent würde dann jede Rechtsfortbildung mit dem Bestimmtheitsgebot kollidie-
ren.189 Ohne weiteres begrüßt werden kann demgegenüber der in BGHSt 43,
381 anklingende Standpunkt, daß keine Bestrafung erfolgen darf, wenn nach
Heranziehung der gängigen Auslegungsmethoden nicht gesagt werden kann, ob
das Verhalten strafbar sein soll oder nicht.190 Freilich bleiben Zweifel, ob der
Senat in seinem Fall wirklich alle Konkretisierungsanstrengungen unternommen
hat.191 Ähnlich argumentiert auch folgende Entscheidung:
185 Näher und verständlicher dazu BayObLG NStZ 1981, 147 mit dem gleichen Er-
weichenden Auslegung „wohl“ keinen Verstoß gegen Art. 103 II GG. Müller-Horn
(Die steuerlichen Nebenleistungen und der Tatbestand der Steuerhinterziehung, S. 132)
erkennt in der Erfassung der Nebenleistungen keinen Verstoß gegen Art. 103 II GG,
hält aber eine Differenzierung nach Sinn und Zweck des § 370 AO für nötig.
187 Zur Struktur des indirekten Beweises siehe unten VI 4 b.
188 Näher oben Fall 116 und Fall 117. Ähnlich wie der BGH allerdings auch
Fall 276 (BGHSt 38, 138): Das Anwaltsgericht hat gegen den Betroffenen ein Ver-
tretungsverbot „auf dem Gebiete des . . . Strafrechts und der damit zusammenhän-
genden Rechtsgebiete“ verhängt. Gilt das auch für das Ordnungswidrigkeitenrecht?
Nach Ansicht des Senats sprechen das „allgemeine Bestimmtheitsgebot“ und § 260
II StPO dafür, eine genaue Bezeichnung des betroffenen Rechtsgebiets zu verlangen
(S. 140 f.). Angesichts der Besonderheiten des Ordnungswidrigkeitenrechts gegen-
über dem Strafrecht sei das hier nicht geschehen (S. 141).
Kaum zu bestreiten ist, daß ein Strafgesetz nicht schon deshalb unbestimmt
ist, weil dazu eine unbestimmte Auslegungshypothese erwogen oder vertreten
wird. Auf welche Weise genau das Bestimmtheitsgebot die Auslegung beein-
flußt und wann eine Hypothese als verfassungswidrig verworfen werden muß,
ist damit jedoch noch immer nicht geklärt. Insbesondere stellt sich die Frage,
wie das Bestimmtheitsgebot sich zum Analogieverbot verhält, das ja eigentlich
für die Begrenzung richterlicher Macht „zuständig“ ist. Ist es überhaupt denk-
bar, daß eine Auslegung, die sich im Rahmen des möglichen Wortsinns hält
und damit nicht gegen das Analogieverbot verstößt, dennoch mit Art. 103 II
GG unvereinbar ist, obwohl andererseits auch gegen die Norm selbst keine ver-
fassungsrechtlichen Einwände bestehen? Die Rechtsprechung hebt die weithin
akzeptierte Differenzierung zwischen den beiden Ausprägungen des Gesetzlich-
keitsprinzips zuweilen ganz auf:
BGHSt 14, 55 (oben Fall 94): „§ 38 Abs. 2 Satz 2 GWB umreißt den Umgehungs-
tatbestand mit hinreichender Bestimmtheit.192 Daher verstößt die Vorschrift auch
nicht gegen Art. 103 Abs. 2 GG, wie eine im Schrifttum vertretene Meinung ihr als
einem gesetzwidrigen Analogietatbestand zum Vorwurf macht“ (S. 62).
BGHSt 34, 171 (oben Fall 72): Der Gesetzgeber habe den allgemein bekannten und
deshalb nicht umschreibungspflichtigen Begriff des „Glücksspiels“ vorausgesetzt
(S. 175). Ordne die Rechtsprechung völlig andersartige Verhaltensweisen (hier: Ket-
tenbriefaktion) unter diesen vorgegebenen Begriff, verstoße sie gegen das Analogie-
verbot (S. 178).193 „Eine solche Auslegung würde den Begriff des Glücksspiels in
dieser Vorschrift so unbestimmt machen, daß § 284 StGB mit dem aus Art. 103
Abs. 2 GG folgenden Bestimmtheitsgebot unvereinbar wäre; dieses Gebot verlangt,
daß jedermann vorhersehen kann, welches Handeln mit welcher Strafe bedroht ist,
um sein Verhalten entsprechend einrichten zu können“.
BVerfGE 71, 108: Seiner Pflicht zur Übernahme des Ehrenamts als Wahlhelfer „ent-
zieht“ sich nicht, wer zwar erscheint, aber durch unkorrektes (politisches) Verhalten
den Wahlvorsteher zum Ausschluß zwingt (S. 111, 121). Eine andere Auffassung lasse
sich mit dem möglichen Wortsinn aus Sicht des Bürgers nicht vereinbaren (S. 121).
192 In Anbetracht der höchst komplizierten Ausführungen des BGH (vgl. oben Fall
94) konnte man daran zumindest aus Sicht der Betroffenen mit gutem Grund zweifeln.
193 Krit. zu dieser Argumentation bereits oben Fall 72.
7. Bestimmtheitsgebot 445
„Wäre dies der Inhalt [der Norm], so würde diese Bußgeldbestimmung den Be-
stimmtheitsanforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG nicht genügen und damit einem
wesentlichen Zweck dieses Grundrechts, dem rechtsstaatlichen Schutz des Norm-
adressaten, zuwiderlaufen. Sie wäre verfassungswidrig.“
Dieser Rechtsprechung zufolge verstößt somit jede Auslegung, die über den
Wortlaut aus Sicht des Bürgers hinausgeht, zugleich gegen das Bestimmtheits-
gebot!194 Damit werden die beiden Ausprägungen des Gesetzlichkeitsprinzips
ohne Not in eins gesetzt. Wenn der Richter bereits außerhalb des möglichen
Anwendungsbereichs judiziert, verstößt er nicht gegen weitere Verfassungssätze.
Vor allem verstößt damit nicht die Norm selbst gegen Art. 103 II GG, wie es
BGHSt 34, 171 und BVerfGE 71, 108 aber annehmen wollen. Die Verurteilung
beruht in diesen Fällen nicht auf einer unbestimmten Gesetzesnorm, sondern
auf gar keiner. Zu den Verwechslungen und Unschärfen in der Praxis kommt es
zum einen wohl wegen des gemeinsamen Schutzzwecks aller Ausprägungen des
Gesetzlichkeitsprinzips, den Bürger vor überraschenden, unvorhersehbaren Ein-
griffen zu bewahren: Unter diesem gemeinsamen Ziel tritt eine genaue Dif-
ferenzierung zwischen Bestimmtheitsgebot und Analogieverbot leicht in den
Hintergrund.195 Zum anderen gelingt es oftmals nicht, Bestimmtheitsgebot und
Gesetzlichkeitsprinzip scharf zu unterscheiden, woran u. a. der Wortlaut des
Art. 103 II GG „schuld“ ist („gesetzlich bestimmt“): BVerfGE 73, 206 (234)
führt zutreffend aus, aus Art. 103 II [Gesetzlichkeitsprinzip!] folge ein an den
Gesetzgeber gerichtetes Bestimmtheitsgebot sowie „ein damit korrespondie-
rendes, an die Rechtsprechung gerichtetes“ Analogieverbot. Aber schon die
weitere Annahme, eine Analogie werde durch das „Erfordernis gesetzlicher
Bestimmtheit“ ausgeschlossen196, trifft die Sache nur wegen der Hervorhebung
des Attributs „gesetzlich“. Unzutreffend wäre es hingegen zu sagen, das Analo-
gieverbot leite sich aus dem Bestimmtheitsgebot ab.197 Hier sollte die Praxis
schärfer differenzieren, denn die gängige Klassifizierung, wonach das Analogie-
verbot den Bürger vor Gesetzesüberschreitungen (Willkürhandlungen) des Rich-
ters, das Bestimmtheitsgebot hingegen vor in ihrer Tragweite unkalkulierbaren
(12) durch den Verzicht auf die Hervorhebung Anlaß gegeben. Amelung (NJW 1995,
2584 [2586, r. Sp.]) meint etwa, der Senat leite „das Analogieverbot aus dem Be-
stimmtheitsgebot“ ab; ebenso Mittelsdorf, JuS 2002, 1062 (Fn. 3).
446 V. Systematik
Strafnormen des Gesetzgebers schützen soll, ist jedenfalls in den oben genann-
ten Fällen durchführbar.198
In seiner ersten Sitzblockaden-Entscheidung ist das BVerfG (E 73, 206 – „Mutlan-
gen“) noch mit der strikten Trennung zwischen abstrakter Normprüfung (Bestimmt-
heitsgebot) und Überprüfung der Auslegung (Analogieverbot) ausgekommen.199
Nach Auffassung der vier maßgeblichen Richter hält die Ausweitung des Gewaltbe-
griffs sich im Rahmen des möglichen Wortsinns, verstoße mithin nicht gegen das
Analogieverbot (S. 242). Auch der Zweck dieses Verbots stehe dem nicht entgegen,
denn das „Risiko einer Bestrafung war . . . für den Staatsbürger zumindest aufgrund
der im Schrifttum weithin anerkannten Rechtsprechung vorhersehbar“ (S. 243).200
Die vier unterlegenen Richter haben dagegen einen Verstoß gegen das Analogiever-
bot bejaht, da die Ausweitung des Gewaltbegriffs jedenfalls zum Zeitpunkt des Ge-
setzeserlasses nicht vorhersehbar gewesen sei (S. 244) und sich angesichts der erho-
benen Kritik auch keine „für die Vorhersehbarkeit durch den Staatsbürger wesent-
liche . . . gefestigte Rechtsauffassung“ entwickelt habe (S. 245).
Leider hat das BVerfG die Lage in einer weiteren Sitzblockaden-Entschei-
dung201 zusätzlich verkompliziert, indem es die Auslegung der Fachgerichte an
Bestimmtheitskriterien gemessen hat, ohne eine Begründung für diesen metho-
dischen Ansatz zu geben:
Fall 277 (BVerfGE 92, 1 – „Sitzblockade“): Hinsichtlich der Bestimmtheit der
Norm verweist die Senatsmehrheit zunächst auf BVerfGE 73, 206. Die Auslegung
des Gewaltbegriffs wird hingegen für unvereinbar mit Art. 103 II GG erklärt (S. 14,
16). Angesichts der Stimmengleichheit sei die Frage der Vereinbarkeit der Ausle-
gung mit dem Bestimmtheitsgebot in BVerfGE 73, 206 unentschieden geblieben;202
sie sei nunmehr im Sinn der Unvereinbarkeit zu beantworten (S. 14). Art. 103 II
nicht selten. Zu Unrecht auf das „Bestimmtheitsgebot“ stellen etwa ab: Geppert, JK
2002, § 246/13 (Anm. zu BGHSt 47, 243 = Fall 105) und Paul, JZ 1998, 739 (vgl.
oben Kap. III, Fn. 597).
199 Ebenso z. B. die Kommentierung von Schmitz, in: MüKo-StGB, § 1, Rn. 39 ff.,
55 ff.
200 Bereits mit diesen Darlegungen wird der Unterschied zwischen Analogieverbot
und Bestimmtheitsgebot verwässert, denn das Analogieverbot erhält neben dem Krite-
rium des möglichen Wortsinns aus dem allgemeinen Zweck des Art. 103 II GG noch
das der Vorhersehbarkeit. Man sollte sich aber entscheiden: Das Ziel des Art. 103 II
ist es, vorhersehbare Entscheidungen des Richters zu gewährleisten, Kriterium hierfür
ist der mögliche Wortsinn. Ist dieses Kriterium aber eingehalten, kann nicht durch
Rückgriff auf die Vorhersehbarkeit ein anderes Ergebnis erzielt werden. – Scharf abl.
zu den vagen Ausführungen des Senats bezüglich der Vorhersehbarkeit Calliess, NStZ
1987, 209 (211): Mit Art. 103 II GG habe das nichts mehr zu tun. Ebenfalls abl. Meu-
rer/Bergmann, JR 1988, 49 (51, l. Sp.).
201 Zwischenzeitlich wurde BVerfGE 73, 206 durch BVerfGE 76, 211 bestätigt.
202 Nach Ansicht von BVerfGE 92, 1 (14) hielten die vier unterlegenen Richter in
BVerfGE 73, 206 (244, 247) die Auslegung für „unvereinbar mit dem Bestimmtheits-
grundsatz“. Tatsächlich sprachen diese Richter aber vom Analogieverbot, einem Be-
griff, den BVerfGE 92, 1 zwar im theoretischen Vorspann erwähnt (S. 12), merkwürdi-
gerweise in der entscheidenden Passage (ab S. 13) aber ganz meidet.
7. Bestimmtheitsgebot 447
203 Angesichts der ständigen Rechtsprechung der Fachgerichte hält Schroeder (JuS
1995, 875 [876, r. Sp.]) diese Erwägungen für „völlig unverständlich“. Der Senat
desavouiere mit seiner weiteren Argumentation seine bisherige Auffassung zum Krite-
rium der Vorhersehbarkeit bei Art. 103 II GG.
204 Schroeder (wie Fn. zuvor) charakterisiert diese Unterscheidung als „schwer
nachvollziehbar“.
205 Vgl. nochmals Fn. 202. Für eine Prüfung der Normanwendung anhand des Be-
stimmtheitsgebots z. B. auch Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 103, Rn. 70 und Schulze-
Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 103 II, Rn. 39, ohne daß klar würde, ob überhaupt noch
zwischen Bestimmtheitsgebot und Analogieverbot differenziert werden müßte und,
wenn ja, nach welchen Kriterien. Schulze-Fielitz (a. a. O.) erörtert etwa die gemeinhin
dem Analogieverbot zugeordneten Kriterien (möglicher Wortsinn) unter dem Aspekt
des Bestimmtheitsgebots.
206 Man könnte allerdings erwägen, ob das BVerfG (a. a. O., S. 14) nicht das Be-
stimmtheitsgebot, sondern das Gesetzlichkeitsprinzip gemeint hat, vgl. oben den Text
nach Fn. 195.
448 V. Systematik
fung, denn dort kommen die auch sonst beim Bestimmtheitsgebot erörterten
Faktoren zum Einsatz (vgl. oben: „erforderliche Bestimmtheit“). In der verfas-
sungsgerichtlichen Rechtsprechung mag die Überprüfung der richterlichen
Normkonkretisierung (neben der Norm selbst) anhand von Bestimmtheitskrite-
rien eine Novität sein;207 überraschen kann das angesichts der oben dargestell-
ten Entscheidungen des BGH aber nicht. Worin allerdings die Rechtfertigung
für diese Vorgehensweise liegt, sagt der Senat nicht; der theoretische Vorspann
zum Inhalt des Art. 103 II GG (BVerfGE 92, 11–13) bleibt eine Antwort hierfür
schuldig.208 Womöglich beruht der Ansatz auf einer Art Kompromiß, der an die
Einsicht anknüpft, daß die Wirksamkeit des Analogieverbots mit seinem Grenz-
kriterium „möglicher Wortsinn“ davon abhängt, wie ernst der Gesetzgeber das
Bestimmtheitsgebot nimmt.209 Wenn einerseits das Analogieverbot aufgrund der
Weite der gesetzlichen Formulierungen der Rechtsanwendung keine erkennbaren
Hürden errichtet, andererseits aber aus dem großzügigen Maßstab bei der ab-
strakten Überprüfung der Norm ebenfalls – von Extremfällen abgesehen
(BVerfGE 105, 135) – keine nennenswerten Eingrenzungen folgen, stellt sich
zwangsläufig die Frage nach einem weiteren Schutzmechanismus für den Bür-
ger. Dieser wird dadurch verwirklicht, daß die Konkretisierung selbst Bestimmt-
heitskriterien genügen und zu kalkulierbaren Lösungen gelangen muß. Auch
die Rechtsprechung muß auf vorhersehbaren Bahnen wandeln. Ist eine Norm
auslegungsbedürftig, dann muß sich ihr mittels der herkömmlichen Auslegungs-
methoden ein für den Adressaten erkennbarer Anwendungsbereich entnehmen
lassen.210
So sieht etwa in BGHSt 28, 129 (134 f.) der Senat in der von ihm vertretenen Aus-
legung keinen Verstoß gegen das Analogieverbot, „weil sie keinen neuen Tatbestand
schafft, sondern den Willen des Gesetzgebers aus dem Wortlaut der Norm, ihrem
Zusammenhang, ihrem Zweck und ihrer Entstehungsgeschichte ermittelt . . . Damit
. . . ist die Strafbarkeit der hier vorliegenden Handlungsweise auch so bestimmt um-
207 Einen durch BVerfGE 92, 1 eingeleiteten Wandel konstatieren z. B. Roxin, Straf-
recht AT I, § 5, Rn. 79 und Amelung, NJW 1995, 2584 (2587): Die Senatsmehrheit
gewinne die Möglichkeit, die Schwierigkeiten des Analogieverbots durch einen Hin-
weis auf das Bestimmtheitsgebot zu überspielen. Weber (in: Baumann/Weber/Mitsch,
Strafrecht AT, § 9, Rn. 13) ist der Auffassung, daß BVerfGE 92, 1 besser von „unzu-
lässiger Analogie“ hätte sprechen sollen. Mittelsdorf (JuS 2002, 1062 [Fn. 3]) meint,
„genau genommen“ gehe es um eine Frage des Analogieverbots. Zu Unrecht behaup-
tet M. Graßhoff (NJW 1995, 3085 [3086, l. Sp.]), die Entscheidung habe einen Verstoß
gegen das Analogieverbot festgestellt.
208 Nach Amelung (NJW 1995, 2584 [2587]) gewinnt das BVerfG die Prüfungsmög-
lichkeit aus seiner These, wonach das Analogieverbot sich aus dem Bestimmtheitsge-
bot ableite. Es ist aber schon zweifelhaft, ob BVerfGE 92, 1 wirklich diese „Ablei-
tungsthese“ (Amelung) vertritt, vgl. oben Fn. 197. Näher liegt die Annahme, daß eine
theoretische Herleitung des Prüfungsansatzes schlicht fehlt.
209 Vgl. zu dieser Korrelation Hassemer, in: AK-StGB, § 1, Rn. 15.
210 Dazu, daß Art. 103 II GG eine willkürliche Handhabung der Auslegungskrite-
rien verbietet, bereits oben Kap. III, Fn. 253 und den dazugehörigen Text.
7. Bestimmtheitsgebot 449
schrieben (Art. 103 Abs. 2 GG), daß grundsätzlich berechenbar ist, ob das geplante
Handeln strafbar ist.“
Bei einer jungen Vorschrift muß der Adressat eine Antizipationsleistung hin-
sichtlich der späteren Rechtsprechung erbringen, während er sich bei älteren
Gesetzen an den gewonnenen Ergebnissen orientieren kann. Interessant ist inso-
weit ein zeitlicher Aspekt: Gelingt der Rechtsprechung die Präzisierung der
Norm mit Hilfe der üblichen Methodik, hat sich sozusagen im nachhinein die
Bestimmtheit der Norm erwiesen, während eine erfolglose Konkretisierungs-
arbeit (z. B. die „Entgrenzung“ des Gewaltbegriffs!211) die Unbestimmtheit der
Vorschrift belegt.212 Konsequent müßte das zur Erklärung ihrer Verfassungswid-
rigkeit führen, aber ein Ausweg besteht darin, von den diffusen Anwendungs-
möglichkeiten, die der weite Wortlaut eröffnet, eine vorhersehbare Auslegung
zu wählen. Dieses Verfahren kann, wie BGHSt 26, 312 (oben Fall 273) zeigt,
als eine Art verfassungskonforme Auslegung charakterisiert werden:213 Die
Norm selbst kann nur unter der Voraussetzung unbeanstandet bleiben, daß ihr
die Fachgerichte einen erkennbaren, im Zweifel oftmals restriktiven Anwen-
dungsbereich geben.214 So muß man das BVerfG vielleicht verstehen, wenn es
sagt, eine unbestimmte Norm könne durch eine gefestigte Rechtsprechung die
notwendige Bestimmtheit gewinnen.215 Damit dürfte nicht gemeint sein, daß die
Bestimmtheit durch die Fachgerichte (anstelle des Gesetzgebers) originär herge-
stellt, sondern durch sie unter Beweis gestellt wird.
Man kann das BVerfG natürlich auch beim Wort nehmen und ganz pragmatisch
argumentieren: Es mache „keinen praktischen Sinn“, die Norm nach erfolgter
„richterrechtlicher Konkretisierung unter Berufung auf den ursprünglichen Verstoß
gegen das Bestimmtheitsgebot aus dem Gesetz zu entfernen“.216 Aber verfassungs-
rechtlich ist diese Position kaum hinnehmbar, und zudem: Warum soll dies dann
lediglich für den Gewaltbegriff nicht gelten?
Ob die oben vorgestellte Konzeption allerdings wirklich trägt, bleibt fraglich.
Sie läßt sowohl in methodischer als auch in materieller Hinsicht vieles offen.
211 Ein weiteres Beispiel ist die Rechtsprechung zur „fortgesetzten Handlung“, vgl.
Allerdings wäre der Senat dort ohne weiteres mit dem Analogieverbot ausgekommen.
213 Küper, JuS 1996, 783 (785, Fn. 11) unter Hinweis auf den regelmäßig erfolglo-
sen Einwand der Unbestimmtheit der Norm. Vgl. auch Roxin, Strafrecht AT I, § 5,
Rn. 77: „In anderen Fällen läßt sich die Verfassungsmäßigkeit einer Vorschrift nur bei
einer sehr restriktiven Auslegung noch bejahen. . . . Eine Vorschrift darf also erst dann
wegen Unbestimmtheit für gänzlich nichtig erklärt werden, wenn es nicht möglich ist,
sie auf einen bestimmbaren Kern zu reduzieren.“
214 In diesem Sinn die Minderheitsauffassung in BVerfGE 105, 135 (172): Die Ver-
BVerfGE 73, 206 (244), die hinsichtlich der Vorhersehbarkeit auf den Zeitpunkt des
Gesetzeserlasses abstellen will (siehe bereits oben III 7 e).
222 Die Prüfung von Art. 8 GG steht in der jüngsten Entscheidung des BVerfG zu
f) Fazit
223 Die Parallele zu den Freiheitsgrundrechten spricht ebenfalls dafür, das Bestimmt-
Analogieverbot (i. S. der unterlegenen Richter in BVerfGE 73, 206) oder gegen das
Bestimmtheitsgebot (i. S. der Mehrheitsmeinung in BVerfGE 92, 1) annehmen will,
bleibt unklar. Womöglich soll die Entscheidung BVerfGE 92, 1 zwar inhaltlich fortge-
setzt werden, ohne aber an deren methodisch zweifelhaften Weg anzuknüpfen. Be-
trachtet man in einer Zusammenschau die in BVerfGE 73, 206, 92, 1 und 104, 92
vertretenen Mehrheits- und Minderheitsvoten in Hinblick auf methodische Konsistenz
und bedenkt man, daß die Minderheits- jederzeit zur Mehrheitsansicht werden kann et
vice versa, stellt sich kein gutes Gefühl in bezug auf die Vorhersehbarkeit verfassungs-
gerichtlicher Entscheidungen ein.
452 V. Systematik
bringt, ist seinerseits völlig unbestimmt.225 Die nach BVerfGE 92, 1 ergangene
Rechtsprechung des BVerfG prüft zwar nunmehr in manchen Fällen – nach der
Bestimmtheit der Norm und der Beachtung des Analogieverbots durch die
Fachgerichte – in einem dritten Punkt die Bestimmtheit der Auslegung, fällt
dabei aber in den alten Trott zurück, indem sie das Risiko einer möglichen Be-
strafung durch eine gefestigte Rechtsprechung genügen läßt.226 Unvorhersehbar
ist allein, wann das BVerfG auf Grundlage von Art. 103 II GG in die Recht-
sprechung der Fachgerichte eingreift.227
Frappierender Beleg hierfür ist die Aufgabe der „fortgesetzten Handlung“ durch
BGHSt GS 40, 138. Der Große Senat hat hierbei u. a. auf Bestimmtheitskriterien
abgestellt und konstatiert, daß der Begriff der fortgesetzten Handlung „seinem In-
halt nach von Anfang an stetem Wandel unterworfen und . . . in seiner Abgrenzung
fließend geblieben“ sei; die höchstrichterliche Rechtsprechung habe nie ein einheit-
liches Bild ergeben (S. 167). Wenige Jahre zuvor hatte BVerfG NStZ 1991, 383
gegen die Zusammenfassung fortgesetzter Handlungen zu einer „Tat“ i. S. von § 78a
StGB keine Bedenken aus Art. 103 II GG und dabei vor allem die Vereinbarkeit der
Rechtsprechung mit dem möglichen Wortsinn geprüft. Ob die Rechtsprechung der
Strafgerichte Bestimmtheitskriterien genügte und vorhersehbar war – Fragen, die der
Große Senat freimütig verneint –, hatte das BVerfG nicht einmal erwogen. Hätte der
methodische Ansatz aus BVerfGE 92, 1 – Prüfung der Rechtsanwendung anhand
von Bestimmtheitskriterien – zu einem anderen Ergebnis oder zumindest zum Er-
kennen des Problems geführt?
Für die Rechtsprechung des BGH ergibt sich keine wesentlich bessere Situa-
tion: Daß sie sich um voraussehbare Lösungen bemüht und unbestimmte Hypo-
thesen verwirft, ist aus rechtsstaatlicher Sicht zu begrüßen, aber im Ergebnis
bleibt auch hier offen, wann diese Argumente zum Einsatz kommen und unter
welchen Voraussetzungen eine Interpretation tatsächlich mit dem Bestimmt-
heitsgebot unvereinbar ist.
225 Sehr krit. zum Kriterium der Vorhersehbarkeit Calliess, NStZ 1987, 209 (211).
226 So vor allem BVerfG NJW 2003, 1030 (1031); scharf abl. Seebode, JZ 2004,
305 (307 f.).
227 Rüthers, F.A.Z. vom 9.6.1995, S. 10, bezüglich BVerfGE 92, 1; allgemein See-
bode, JZ 2004, 305 (307, l. Sp.): „Die Rechtsprechung zu Art. 103 II ist für jede
Überraschung gut.“
228 Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 775.
8. Einheit der Rechtsordnung 453
zung verstehen (siehe BGHSt 5, 40 = oben Fall 185); die Legaldefinition in § 176 I
StGB (Person unter 14 Jahren) ist auf diesen Tatbestand beschränkt.232 Darüber hin-
aus kann ein Ausdruck in einer Situation in seiner fachsprachlichen Bedeutung
(„Übertretung“ i. S. von § 1 StGB a. F.), in einer anderen Situation in seinem um-
gangssprachlichen Verständnis („Übertreten von Vorschriften“) gebraucht werden.233
Das „Besitzen“ eines Führerscheins i. S. des Straßenverkehrsrechts kann anderes
meinen als die einschlägigen sachenrechtlichen Vorschriften des BGB (siehe BGHSt
6, 364 = oben Fall 124).
Die Zulässigkeit der Begriffsspaltung ist in der Rechtsprechung der Straf-
gerichte ausdrücklich anerkannt, wenngleich mit unterschiedlicher Betonung:
RGSt 70, 251 (254 f.) räumt ein, „daß derselbe sprachliche Ausdruck, in ver-
schiedenen Strafgesetzen verwendet, nicht überall in demselben Sinn verstanden
werden muß“, will im konkreten Fall aber Parallelität wahren. BGHSt 9, 67 (69)
konstatiert, daß „eine verschiedene Sinngebung im Hinblick auf denselben Aus-
druck . . . keine seltene Erscheinung“ sei. BGHSt 25, 97 (99) hält die gleiche
Auslegung zweier Absätze einer Norm „allein wegen der Gleichheit des Wort-
lauts“ nicht für zwingend geboten. BGHSt 34, 221 (225) betont die Eigenstän-
digkeit strafrechtlicher Auslegung gegenüber anderen Rechtsgebieten234, und
BGHSt 48, 360 (364) weist auf die Notwendigkeit „tatbestandsspezifischer Aus-
legung“ hin. Dementsprechend sind in der Praxis der Strafgerichte Beispiele für
ein unterschiedliches Verständnis desselben Ausdrucks Legion. Sie kommen so-
wohl innerhalb eines Gesetzes als auch bei Normen unterschiedlicher Gesetze
vor.
Innerhalb des StGB hat der BGH z. B. bei folgenden Begriffen ein unterschiedliches
Verständnis bejaht: „Absicht“ (BGHSt 4, 107), „Kind“ (BGHSt 5, 40, siehe oben),
„Gegenstand“ (BGHSt 5, 263), „Gebäude“ (BGHSt 6, 107), „unzüchtige Handlung“
(BGHSt 15, 118), „Inland“ (BGHSt 30, 1), „Eindringen“ (BGHSt 45, 131). Inner-
halb der StPO: „Verletzter“ (BGHSt 4, 202).
Abweichungen bei gleichlautenden Ausdrücken in unterschiedlichen Gesetzen wur-
den z. B. bei folgenden Ausdrücken angenommen: „Untersuchung“ in StGB und
StPO (BGHSt 1, 255), „Besitz“ in StVG und BGB (BGHSt 6, 364 = oben Fall
124), „Verwandtschaft“ in StGB und BGB (BGHSt 7, 245 und 383)235, „Übertre-
tung“ in StGB und GewO (BGHSt 9, 67 = oben Fall 234), „Beteiligung“ in StGB
und StPO (BGHSt 10, 65), „Vereinigung“ in StGB und GG (BGHSt 28, 147),
„Gläubiger“ in StGB und BGB bzw. Konkursrecht (BGHSt 34, 221 = oben Fall 103).
232 Deshalb ist die Frage in § 221 II Nr. 1 StGB seit dem 6. StrRG 1998 strittig;
Verwandtschaft.
235 § 11 I Nr. 1a StGB i. d. F. des 2. StrRG hat diese Rechtsprechung später bestätigt
und entgegen dem damaligen bürgerlichen Recht (§ 1589 II BGB a. F.) klargestellt,
daß Verwandtschaft im strafrechtlichen Sinn auch dann besteht, „wenn die Beziehung
durch eine uneheliche Geburt vermittelt wird“.
8. Einheit der Rechtsordnung 455
Gründe für solche „Begriffsspaltungen“ sind vor allem, daß die Ausdrücke in
einem unterschiedlichen Kontext verwendet werden, daß die jeweiligen Norm-
zwecke für ein unterschiedliches Verständnis sprechen (teleologische Begriffsbil-
dung) und daß der Gesetzgeber in den verschiedenen Gesetzen keine einheitliche
Terminologie gebraucht, zumal bei Gesetzen aus unterschiedlichen Epochen.
BGHSt 1, 255 (257) versteht den Ausdruck „Untersuchung“ im StGB anders als in
der StPO: Die Übernahme der Begrifflichkeit der StPO auf das StGB sei „innerlich“
nicht gerechtfertigt, zumal das StGB das ältere Gesetz sei.236 — Nach BGHSt 6,
107 (näher oben Fall 45) kann ein mit Wänden und Dach versehener Rohbau schon
ein „Gebäude“ i. S. des Brandstrafrechts sein, während der andersartige Schutzzweck
des schweren Diebstahls für ein engeres Verständnis spricht.237 — BGHSt 4, 202 f.
sieht es nicht als Selbstverständlichkeit, daß der Begriff des „Verletzten“ in ver-
schiedenen Bestimmungen der StPO gleich auszulegen ist; entscheidend seien Zu-
sammenhang und Zweck der jeweiligen Norm. — Als geringwertige „Gegenstände“
kommen beim „Notbetrug“ (§ 264a StGB a. F.) nach Ansicht von BGHSt 5, 263
(266) auch nichtkörperliche Vermögenswerte in Betracht, während dies bei der
„Notentwendung“ (§ 248a StGB a. F.) anders liegt; denn dort kommen als Tatob-
jekte in aller Regel von vornherein nur körperliche Gegenstände in Frage. Hingegen
besteht keine Rechtfertigung für eine unterschiedliche Interpretation der „Gering-
wertigkeit“ in den beiden genannten Vorschriften (BGHSt 6, 41). — BGHSt 10, 194
(196) ist der Ansicht, daß der Begriff der Öffentlichkeit im StGB nicht einheitlich
ausgelegt werden muß; entscheidend sei der Schutzzweck der jeweiligen Norm.238
Der Tatbestand der Unzucht mit Kindern (§ 176 StGB a. F.) hat ein anderes Schutz-
objekt als der Tatbestand der „Erregung geschlechtlichen Ärgernisses“ in der Öffent-
lichkeit (§ 183 StGB a. F.), so daß unzüchtiges Reden trotz des identischen Tatbe-
standsmerkmals „unzüchtige Handlung“ nicht von beiden Normen gleichermaßen
erfaßt sein muß; zum Schutz des unpersönlichen Rechtsguts des § 183 (a. F.) genüge
die Ahndung schwerwiegender Angriffe auf das Sittlichkeitsgefühl (BGHSt 15, 118
[123]). — Schon aus dem Kontext ergibt sich, daß mit dem „Eindringen in den
Körper“ beim sexuellen Mißbrauch von Kindern (§ 176a I Nr. 1 StGB) nicht das
gleiche gemeint sein kann wie mit dem Eindringen in ein Gebäude oder eine Woh-
nung in §§ 123, 243 StGB; deshalb kommt es bei § 176a I Nr. 1 StGB nicht auf
den entgegenstehenden Willen des Berechtigten an (BGHSt 45, 131 [132]).
Ungeachtet dessen existieren jedoch Entscheidungen, die in gegenläufiger
Tendenz die Einheitlichkeit der Rechtsbegriffe wahren wollen. Stets hat der
BGH betont, daß eine Begriffsspaltung innerhalb einer Vorschrift kaum in
Frage kommt oder zumindest sehr ungewöhnlich wäre.239 Darüber noch hinaus-
gehend formuliert BGHSt 13, 178 (180) folgende Vermutung:
236 Eine weitere terminologische Abweichung zwischen StPO und StGB sieht
BGHSt 10, 65 im Begriff der „Beteiligung“ (vgl. § 60 Nr. 2 StPO, § 28 II StGB). Zur
(trotz § 28 II) unklaren Situation innerhalb des StGB siehe oben III 3 a.
237 Ebenso bereits BGHSt 3, 300 (303).
238 Eine Sprachspaltung aufgrund des Schutzzwecks der Norm vollführen außerdem
oder halten zumindest für möglich: BGHSt 28, 213 (217); 34, 221 (225 f.); 38, 138
(139 f.); GS 48, 189 (195).
456 V. Systematik
239 Siehe BGHSt 1, 313 (316) = oben Fall 113; BGHSt 7, 245 (247); BGHSt 45, 92
(a. F.) hält BGHSt 1, 80 (83) allerdings insoweit für möglich, als daß eine Handlung an
einem Kind bereits als „Unzucht“ erscheinen kann, während die gleiche Handlung un-
ter erwachsenen Männern diese Einstufung noch nicht erlaubt. Ebenso BGHSt 7, 231
(233) unter Hinweis auf die unterschiedlichen Schutzgüter der Vorschriften und
BGHSt 15, 118 (123) für §§ 176 I Nr. 3, 183 StGB a. F.
241 Daß der BGH dabei den mittelbaren Besitz (§ 868) nicht uneingeschränkt mit
einbeziehen will (a. a. O., S. 16), ist jedenfalls vom Wortlaut her nicht zu beanstanden,
denn von „tatsächlicher Gewalt“ spricht das BGB nur beim unmittelbaren Besitz
(§ 854).
8. Einheit der Rechtsordnung 457
griff kennt, in diesem Zusammenhang für eine Rolle spielen soll, ist unklar.
243 Zu den Problemen der im Umweltstrafrecht anerkannten Verwaltungsakzessorie-
244 Nicht überzeugend ist es deshalb, wenn OVG Saarlouis ZfS 2001, 92 (93, r. Sp.)
unter „Fahrzeug führen“ im Sinn der FeV etwas anderes verstehen will als der BGH zu
§ 316 StGB (oben Kap. III, Fn. 412).
245 „Im Zweifel“ für einen Rückgriff auf den „relativ feststehenden Begriffsinhalt“
geschehen und beim Ausdruck „Kind“ in § 221 II Nr. 1 StGB durch das 6. StrRG
(oben Fn. 232) sträflich unterlassen.
247 Das hat der Gesetzgeber des 6. StrRG z. B. übersehen, als er davon ausging, daß
das „gefährliche Werkzeug“ beim neugefaßten § 250 StGB so verstanden werden kann
wie in § 223a StGB a. F. (§ 224 I Nr. 2 g. F.). Da es danach auf die konkrete Verwen-
dung ankommt, paßt die Definition nicht, wenn der Räuber die Waffe nur bei sich
führt (§ 250 I Nr. 1a); näher oben Fall 220. Der Rechtsprechung bleibt deshalb nur
der Weg der Begriffsspaltung innerhalb von § 250 oder der Neukonstitution eines ein-
heitlichen Begriffsinhalts für § 250, dann aber in Abweichung zu § 223a a. F. (§ 224 I
Nr. 2 g. F.). BGHSt 45, 92 (94) ist der Ansicht, daß der Waffenbegriff in den Absätzen
1 und 2 des § 250 „naheliegender Weise“ einheitlich zu verstehen ist. Eingehend zu
diesem Fragenkreis Demko, Relativität der Rechtsbegriffe, S. 276 ff.
8. Einheit der Rechtsordnung 459
248 Vgl. BGHSt 1, 80 (83), oben Fn. 240 und BGHSt 15, 118 (123).
249 Ebenfalls in BGHSt 36, 192 = oben Fall 112 („Erzwingungshaft“).
250 Das Argument trägt allerdings kaum, weil der Gesetzgeber – auch nach Auffas-
sung des BGH – die Definition des Inlandsbegriffs ja gerade der Rechtsprechung über-
lassen hat; siehe H.-J. Schroth, NJW 1981, 500 f.
460 V. Systematik
siert vor allem H.-J. Schroth, NJW 1981, 500 (r. Sp.).
254 Die Entscheidung wird von Rengier (in: Festgabe 50 Jahre BGH, Bd. IV, S. 473)
255 Mit einer Sprachspaltung hätte der BGH auch in der Thematik des „faktischen
gensatz zur Einheit der Rechtsordnung, sondern ein notwendiges Mittel, um die Wi-
derspruchsfreiheit des Rechts zu gewährleisten (S. 153 f., 160); nicht zuletzt die Men-
schenwürde spreche gegen die schablonenhafte Annahme von Begriffsgleichheit
(S. 159). Die Rechtsordnung bewähre sich in ihrer Gesamtheit nur, wenn der Normin-
halt je nach Spezialgebiet verstanden werde (S. 158). – Damit wird aber ein einfacher
Sachverhalt verdreht: Das Ideal der Einheit der Rechtsordnung erfährt durch die Rela-
tivität der Rechtsbegriffe durchaus eine Einschränkung, die allerdings gerechtfertigt
oder sogar nötig sein kann. Für das unterschiedliche Verständnis der Ausdrücke „Ge-
bäude“ oder „Inland“ innerhalb des StGB mögen Sachgründe (Kontext, Zweck) spre-
chen, aber die „Widerspruchsfreiheit des Rechts“ oder gar Art. 1 GG werden durch
solche Begriffsspaltungen nicht gefördert.
257 So auch das Handbuch der Rechtsförmlichkeit (Rn. 48) mit Empfehlungen an
durchaus eine Vermutung für die Annahme von Bedeutungsgleichheit, die gene-
rell in geringerem Maß begründungsbedürftig ist als eine Begriffsspaltung.258
Insbesondere innerhalb einer Norm oder bei verwandten Vorschriften müssen
gute Gründe für die unterschiedliche Bedeutung desselben Ausdrucks vorliegen,
wobei solche aus dem Kontext leichter überzeugen als solche aus Schutzzweck-
erwägungen. Die Abgrenzung zwischen zulässiger „teleologischer Begriffsbil-
dung“ und kriminalpolitisch motivierten „ad-hoc-Lösungen“ ist im Einzelfall
allerdings schwierig. Im größeren Zusammenhang der Kodifikation und vor
allem kodifikationsüberschreitend verliert die genannte Vermutung freilich an
Kraft, obwohl auch dann oftmals ein Interesse an einem einheitlichen Verständ-
nis besteht, etwa beim Eigentums- und Sachbegriff im bürgerlichen Recht und
im Strafrecht. Nicht nur intuitiv erscheinen Gerichtsurteile, welche die Sinnein-
heit der Begriffe wahren, meistens ohne weiteres als überzeugend. Schließlich
ist noch zu betonen, daß die Einheit der Rechtsordnung in erster Linie als Ge-
bot an den Gesetzgeber zu verstehen ist, für eine konsistente Terminologie zu
sorgen, unterschiedliche Sachverhalte möglichst mit unzweideutigen Ausdrük-
ken zu bezeichnen und – im vertretbaren Rahmen – Mißverständnisse durch
Legaldefinitionen auszuräumen. Nur eine konsistente Begrifflichkeit ermöglicht
auch die typischen Umkehrschlüsse, die eine abweichende Formulierung als Be-
leg für einen abweichenden Inhalt betrachten oder darauf verweisen, daß der
Gesetzgeber bei anderer Zielsetzung eine andere Formulierung gewählt hätte.259
rung, S. 133. Demko (Relativität der Rechtsbegriffe, S. 325) hält sowohl Gleich- als
auch Verschiedenheit der Bedeutungen für begründungsbedürftig.
259 Vgl. oben III 3 g und IV 7 g.
260 BVerfGE 98, 83 (97); 98, 106 (118 f.); 98, 265 (301) leiten aus dem „Rechts-
265 Sarkastisch dazu König, JR 2000, 345 (346 f.): Wenig plausibel angesichts eige-
In Einzelfällen kann die Verletzung der „vom Gesetz selbst statuierten Sach-
gesetzlichkeit“ allerdings einen Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz
(Art. 3 I GG) begründen.272 Das setzt jedoch nicht nur die Feststellung der Sy-
stemwidrigkeit, sondern zusätzlich voraus, daß die Normadressaten ohne sach-
lichen Grund und trotz gleicher Sachlage ungleich behandelt werden. Führt die
Auslegung zu einem solchen Ergebnis, muß nach Wegen einer verfassungskon-
wonach die „Einheit der Rechtsordnung“ dafür spreche, die Sonderbehandlung von
Heranwachsenden im Strafrecht abzuschaffen, weil die Volljährigkeit auch auf anderen
Gebieten die entscheidende Grenze sei (siehe F.A.Z., Rhein-Main-Zeitung, 1. August
2003, S. 58). Maßgeblich ist doch nur, ob es für diese Sonderbehandlung sachliche
Gründe gibt, was bislang fast einhellig bejaht wurde. Oder soll es gegen die Einheit
der Rechtsordnung verstoßen, daß der Bundespräsident – anders als z. B. der Bundes-
kanzler – mindestens 40 Jahre alt sein muß? Es wäre auch kein Wertungswiderspruch,
wenn Bundestagsabgeordnete ein Mindestalter aufweisen müßten, während das aktive
Wahlrecht an die Volljährigkeit anknüpft.
271 Vgl. oben Fn. 243.
272 BVerfGE 45, 363 (375); 34, 103 (115); zurückhaltend: BVerfGE 59, 36 (49);
siehe zum Ganzen und zur neueren Entwicklung in der Rechtsprechung des BVerfG
Sendler, NJW 1998, 2875 und Sodan, JZ 1999, 864.
466 V. Systematik
formen Auslegung gesucht werden, die aber den dargelegten (siehe oben V 5)
Beschränkungen unterliegt. Ist ein verfassungskonformes Verständnis nicht
möglich, muß die Norm dem BVerfG vorgelegt werden. Obschon der Gleichbe-
handlungsgrundsatz im allgemeinen eine erhebliche Rolle in der Rechtsanwen-
dung spielt (vgl. unten VI 3), dürften Konstellationen, die zu einer verfassungs-
konformen Auslegung oder zu einer konkreten Normenkontrolle zwingen, im
Strafrecht nicht häufig sein.
Zu Recht hat aber z. B. BVerfGE 65, 377 in der Rechtsprechung des BGH, welche –
mit dem Wortlaut des § 410 StPO a. F. kaum vereinbar – dem Strafbefehl eine nur
eingeschränkte Rechtskraftwirkung zusprach, einen Verstoß gegen Art. 3 I GG er-
blickt (siehe oben BGHSt 28, 69 = Fall 195). Es sei kein Unterscheidungsmerkmal
zwischen Strafbefehl und Urteil erkennbar, das eine Ungleichbehandlung rechtfer-
tige; auch andere, dem Strafbefehlsverfahren ähnelnde Regelungen sprächen dage-
gen (S. 385 f.). Da dem Gesetzgeber aufgrund Art. 3 I GG eine solche Differenzie-
rung verwehrt sei, dürften auch die Gerichte nicht im Wege der Auslegung zu die-
sem Ergebnis gelangen (S. 384).
Die Frage nach einer Verletzung des allgemeinen Gleichheitssatzes stellt sich
nicht nur, wenn innerhalb einer Kodifikation die gleiche Interessenlage durch
verschiedene Normen unterschiedlich behandelt wird, sondern vor allem dann,
wenn eine Norm so ausgestaltet ist, daß sie – gemessen an ihrem Zweck –
keine gleichmäßige Erfassung gleichgelagerter Sachverhalte erlaubt.273 In der
bereits mehrfach erwähnten Entscheidung BGHSt 36, 192 hat der Senat auf
eine Systemwidrigkeit hingewiesen, die entstünde, falls man den Sprachge-
brauch des historischen Gesetzgebers zugrunde legte:
BGHSt 36, 192 (oben Fall 112): Nach § 304 V StPO sind u. a. Verfügungen des
Ermittlungsrichters beschwerdefähig, welche Beschlagnahme, Durchsuchung oder
„Verhaftung“ betreffen. Der Gesetzgeber hat unter „Verhaftung“ wohl274 nur Unter-
suchungshaft, nicht aber auch Erzwingungshaft verstanden. Unter Berücksichtigung
des Grundrechts auf persönliche Freiheit „erschiene es ungereimt, wenn nicht sy-
stemwidrig, zwar Beschlagnahme und Durchsuchung, nicht aber Erzwingungshaft“
zu erfassen (S. 196).
Hält man es für einen Verstoß gegen Art. 3 I GG, die Erzwingungshaft nicht
mit einzubeziehen, obwohl sie schwerer wiegt als eine Beschlagnahme, dann
kommt eine verfassungskonforme Auslegung in Betracht. Mit dem Wortlaut
wäre ein weiter Haftbegriff zu vereinbaren, aber fraglich bliebe, ob damit nicht
eine klare gesetzgeberische Entscheidung ohne Rechtfertigung modifiziert
würde.275 Ließe der gesetzgeberische Wille indes noch Raum für die Erfassung
der Erzwingungshaft, dann wäre dieses Verständnis angesichts der sonst vorlie-
273 Sodan, JZ 1999, 864 (871, r. Sp.): Die materiale Richtigkeit der Rechtsordnung
276 Siehe (auch zum folgenden) Bergmann, in: Seifert/Hömig, GG, Art. 3, Rn. 5;
Hand hat, die Erzwingungshaft durch eigenes Verhalten zu beenden, eine Unterschei-
dung rechtfertigt.
468 V. Systematik
lifikation des § 243 I Nr. 2 a. F., schlägt er hingegen die Scheibe ein, um im Fahr-
zeuginneren die Verriegelung des Kofferraums zu lösen und aus diesem zu stehlen,
dann scheitert die Anwendung. BGHSt 13, 81 konnte der Problematik entgehen,
weil (zufällig) eine weitere Alternative des § 243 a. F. griff, aber der Wertungs-
widerspruch wird dadurch nicht beseitigt. — Auch durch einen „sekundären Redak-
tionsfehler“ kann die ungerechtfertigte Ungleichbehandlung eintreten, wie etwa im
„Forstdiebstahls-Fall“ (BGHSt 10, 375 = oben Fall 57): Es ist kein Sachgrund dafür
ersichtlich, weshalb der ein „bespanntes Fuhrwerk“ nutzende Forstdieb bestraft wird,
der einen LKW verwendende und damit in Hinblick auf den Gesetzeszweck noch
gefährlichere Täter hingegen nicht.
In all diesen Fällen besteht ein Bedürfnis, den materiell „unrichtigen“ Ober-
satz wenigstens im Wege der Analogie auf die vom Wortlaut nicht erfaßte Kon-
stellation zu übertragen, denn der Gesetzeszweck trifft auf diese gleichermaßen
oder noch eher279 zu. Jedoch setzt in dieser Situation das Analogieverbot dem
Gleichbehandlungsgrundsatz Grenzen:280 Der Richter darf die Norm nicht er-
weitern, obwohl der nicht geregelte Fall dem ausdrücklich geregelten wertungs-
mäßig gleicht. Der straffrei ausgehende Beschuldigte kann darin naturgemäß
keine Verletzung seiner Grundrechte erblicken, aber wie steht es mit demjeni-
gen, der – mehr oder weniger zufällig – der Strafbarkeit unterfällt und damit
eine Art „Sonderopfer“ erbringen muß? Zunächst kann man darauf hinweisen,
daß der Betroffene letztlich eine Gleichheit im Unrecht – eine Gleichbehand-
lung mit den zu Unrecht nicht erfaßten Gruppen – begehrt, denn der Gesetzge-
ber müßte nicht ihn von Strafe freistellen, sondern andere Fallgruppen in die
Vorschrift aufnehmen:
Hinsichtlich des veralteten und Unbilligkeiten provozierenden § 243 StGB a. F.
weist BGHSt 3, 314 (316) darauf hin, daß die tatsächliche Entwicklung zu einer
Verschärfung der Norm dränge. „Dann aber kann die Revision den Gesichtspunkt
der Unbilligkeit nicht zum Zwecke einer Einengung beanspruchen, soweit der gel-
tende Wortlaut des Gesetzes die erforderliche Bestrafung heute schon teilweise zu-
läßt.“
Allerdings würde man es sich zu leicht machen, die Position des Betroffenen
schon aus diesem Grund als irrelevant abzutun, denn die Frage lautet allgemein,
ob eine Norm, die keine gleichmäßige Bewertung gleichliegender Sachverhalte
ermöglicht, überhaupt Grundlage für eine Bestrafung sein kann.281 Aufgrund
279 Zur kriminalpolitisch größeren Gefährlichkeit des Giral- gegenüber dem Bargeld
b): „Wird mit einer Verfassungsbeschwerde geltend gemacht, daß eine belastende
Norm den Gleichheitssatz verletze, weil sie nicht auf andere, gleiche Verhältnisse aus-
gedehnt worden sei, so fehlt ihr das Rechtsschutzinteresse dann nicht, wenn die Mög-
lichkeit besteht, daß die Gleichheit verfassungsrechtlich eindeutig durch Nichtigkeit
der belastenden Regelung herbeizuführen wäre.“
8. Einheit der Rechtsordnung 469
des fragmentarischen Charakters des Strafrechts wird man das in der Tat beja-
hen müssen, falls die Regelung nicht evident willkürlich ist. Der Gesetzgeber ist
überfordert, wenn er alle in Hinblick auf den Gesetzeszweck gleich strafwürdi-
gen Fälle in der abstrakten Rechtsnorm erfassen soll oder die aufgrund verän-
derter Verhältnisse unzureichend gewordenen Vorschriften ständig vervollständi-
gen müßte. Er trifft eine Auswahl, die niemals frei von Ungereimtheiten sein
kann und die zuweilen das gleichermaßen Strafwürdige nur punktuell erfaßt:282
BGHSt GS 14, 38 (47 f.) weist bei der Auslegung des Tatbestandes der Amtsunter-
schlagung (§ 350 StGB a. F.) darauf hin, daß sich angesichts der Gesetzeslage nicht
alle denkbaren Ungereimtheiten in den Ergebnissen vermeiden ließen. „Das liegt an
der einseitigen Wahl des Gesetzgebers“, zwar die Amtsunterschlagung, nicht aber
einen Diebstahl oder Betrug im Amt unter verschärfte Strafandrohung zu stellen.
BGHSt 13, 287 (289) kann den in § 250 Nr. 3 StGB a. F. (bis EGStGB) geregelten
Strafschärfungsgründen – u. a. der auf einem öffentlichen Weg oder Platz begangene
Raub – keine „klare Linie“ entnehmen. Die Norm lasse nicht erkennen, „weshalb
die dort aufgeführten Verstöße schwerer als andere nicht erwähnte Raubtaten be-
straft werden müssen“. Es sei kaum verständlich, weshalb der Raub in einer Bahn-
hofshalle weniger schwer wiege als der auf dem Weg zum Bahnhof begangene.
Da es zudem in aller Regel um die Ungleichbehandlung von Sachverhalten,
nicht aber von Personengruppen geht283, ist die Überprüfung auf eine Willkür-
kontrolle beschränkt (vgl. oben). Vor diesem Hintergrund wäre es überzogen,
eine Norm schon deshalb für verfassungswidrig zu erklären, weil sie – womög-
lich sogar offensichtliche – Strafbarkeitslücken enthält. Eine dahingehende ver-
fassungsgerichtliche Entscheidung zum materiellen Strafrecht ist nicht ersicht-
lich. In der Praxis werden die begrifflichen Ungereimtheiten der Tatbestände
womöglich in Hinblick auf die Weite der Strafrahmen ein wenig vernachlässigt:
Da zumeist andere Strafvorschriften oder Grundtatbestände mit ebenfalls erheb-
lichen Strafandrohungen greifen, ist – wenn man auf das Ergebnis schaut – eine
schuldangemessene Bestrafung nur selten in Frage gestellt.284
Zu berücksichtigen ist weiter, daß der Bezugspunkt für eine gleichmäßige
Rechtsanwendung der vom Gesetzgeber selbst vorgegebene Gesetzeszweck ist,
an dem sich die Frage der sachwidrigen Gleich- oder Ungleichbehandlung ent-
scheidet. Sind erst komplexe Überlegungen zur Ermittlung des Gesetzessinnes
vonnöten, wird die Problematik der Gleichbehandlung zusätzlich erschwert, zu-
mal dem Gesetzgeber weiter Spielraum bei der Formulierung seiner Ziele bleibt
282 Bydlinski, Methodenlehre, S. 348: Nicht jede Ungerechtigkeit führt zur Verfas-
sungswidrigkeit.
283 Unter diesem Gesichtspunkt hat BVerfGE 6, 389 die Ungleichbehandlung von
Männer und Frauen bei der Strafbarkeit der Homosexualität geprüft, jedoch sachliche
Gründe für die Differenzierung erkannt.
284 Gerade BGHSt GS 14, 38 (47) belegt das: „Der Schuldspruch wegen Betruges
(vgl. oben BGHSt 13, 287).285 Daraus wird zugleich deutlich, daß die gleichmä-
ßige und widerspruchsfreie Behandlung von Fällen in erster Linie Aufgabe ei-
ner teleologisch geprägten Dogmatik ist, die vom Gleichbehandlungsgrundsatz
geleitet wird. Auf die Thematik wird im Rahmen der teleologischen Auslegung
zurückzukommen sein (unten VI 3).
die Annahme, § 243 StGB a. F. müsse nicht nur das Stehlen von Gegenständen aus
einem Fahrzeug, sondern auch (erst recht) die Wegnahme des ganzen Fahrzeuges er-
fassen (vgl. oben V 3 a).
VI. Sinn und Zweck
1. Vorüberlegungen/Terminologisches
§ 1, Rn. 46.
2 Der Senat beruft sich auf BGHSt 27, 236 (238), wo es allerdings zurückhaltender
heißt, daß die anhand des Wortlauts gewonnenen Ergebnisse an Sinn und Zweck zu
messen sind.
3 Höhn, Gesetzesauslegung, S. 217; Drüen, JuS 1997, L 81 (82, r. Sp.).
4 Zu den verschiedenen Bedeutungen des „Sinns“ Bleckmann, JuS 2002, 943 (944 f.).
472 VI. Sinn und Zweck
So ist es auch gemeint, wenn vom möglichen „Wortsinn“ die Rede ist, worunter
in Hinblick auf Art. 103 II GG die noch zulässige semantische Bedeutung zu
verstehen ist, die den Wörtern beigelegt werden kann. In der Praxis werden die
Begriffe „Sinn und Zweck“6 weitgehend synonym gebraucht oder der „Sinn“
zusätzlich als Grundgedanke oder ratio verstanden. Die Formel mag großteils
unreflektiert verwendet werden, aber nennenswerte Verständnisprobleme resul-
tieren daraus nicht.
Aufmerksamkeit verdienen weiterhin die Ausdrücke „Grundgedanke“, „ratio“
und „Rechtsgut“. Grundgedanke der Norm, ratio legis7 oder der Gesetzessinn in
der zweiten der oben dargelegten Bedeutungen ist der tragende Gedanke der
Vorschrift, die Idee, die hinter der Norm steht, oder der Grund, weshalb sie
existiert. Der Grundgedanke des § 176 StGB wurde oben aufgezeigt.
Entsprechend sagt BGHSt 7, 48 (52) zu § 174 StGB, daß der „Grundgedanke“ der
Norm, „wonach das Überwachungs- und Betreuungsverhältnis von geschlechtlichen
Einflüssen reingehalten und die geschlechtliche Unantastbarkeit der abhängigen Per-
son vor Angriffen geschützt werden soll“, für eine weite Auslegung spreche.
Daß der Grundgedanke sich zumeist nicht bereits aus einem einzelnen Tatbe-
standsmerkmal ergibt,8 sondern unter Umständen erst durch einen Blick über
die Einzelnorm hinaus (Sinnzusammenhang) erkannt werden kann, ist keine Be-
sonderheit. Aus dem Grundgedanken wird in der Regel verständlich, welche
konkreten Zwecke und Absichten der Gesetzgeber mit der Vorschrift verfolgt
und oft liegt in der Verwirklichung des Grundgedankens auch ihr einziger
Zweck.9 Ist der Grundgedanke erkannt, leitet er die Auslegung der einzelnen
Tatbestandsmerkmale10 und bestimmt die Reichweite der Norm; er ist zudem
zentraler Anknüpfungspunkt für Analogien und teleologische Reduktionen11.
S. 114 (Fn. 351); Drüen, JuS 1997, L 81 (82, r. Sp.). Vgl. auch Engisch, Einführung,
S. 88: Die teleologische Methode erforsche Zweck und Grundgedanken der Norm und
ermittle von da her ihren Sinn; ähnlich Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, S. 155.
6 Auch von „Zweck und Sinn“ ist mitunter die Rede, ohne daß daraus Abweichendes
folgen würde: BGHSt 2, 53 (54); 5, 153 (154); 6, 131 (133); 9, 310 (312, 316); 10, 182
(183); 12, 166 (172); 18, 246 (249).
7 Von der „ratio legis“/„ratio“ sprechen die Senate allerdings nur selten, in jüngerer
Zeit allerdings vermehrt: BGHSt 14, 258 (260 – nur zitiert); 27, 260 (265); 39, 112
(117); 43, 8 (12); 43, 31 (34); 43, 112 (119); 43, 129 (142); 45, 41 (43); 45, 131
(134); 46, 212 (220); GS 46, 321 (333); 47, 55 (61); 47, 369 (374).
8 BGHSt 21, 196 (199): „Für sich allein drückt keines von ihnen schon den Grund-
ratio legis des . . . ausrichten. Nach dem Grundgedanken der Vorschrift soll . . .“.
BGHSt 5, 280 (282): „Aus diesem von dem Gesetz verfolgten Zweck ergibt sich der
Umfang seines Schutzbereiches.“
1. Vorüberlegungen/Terminologisches 473
Gegenüber dem Rückgriff auf den Grundgedanken ist allerdings auch Vorsicht
angebracht, denn der teleologischen Auslegung wohnt die Tendenz zur Verein-
fachung und Generalisierung inne. Unabhängig davon, ob man „subjektiv-“
oder „objektiv-teleologisch“ verfährt: Schnell ist ein abstrakter Normzweck er-
kannt, aus dem sich leicht deduzieren und eine Ausweitung der Strafbarkeit be-
gründen läßt (dazu unten VI 2).12 Deshalb darf zum einen die konkrete Ausge-
staltung der Norm nicht aus dem Blick geraten, denn dadurch hat der Gesetz-
geber seine Ziele womöglich selbst eingeschränkt; zum anderen ist darauf zu
achten, ob in der Norm eventuell verschiedene und gegenläufige Zwecke zum
Ausgleich gebracht wurden. Als zu unspezifisch erweist sich in der Regel der
Begriff des „Rechtsguts“, auf den im Rahmen der teleologischen Auslegung
ebenfalls hingewiesen wird13. Die Frage danach, welche Rechtsgüter und Inter-
essen der Gesetzgeber schützen will14, läuft auf nichts anderes als auf die be-
reits erwähnten Gesichtspunkte hinaus. Deshalb kann z. B. das „Rechtsgut“ –
oder auch der „Schutzzweck“ – des § 176 StGB darin gesehen werden, die un-
gestörte Entwicklung des Kindes zu ermöglichen.15 Daß der Begriff des Rechts-
guts darüber hinaus zur Systematisierung strafrechtlicher Normen taugt und sich
daraus relevante Aspekte für die (systematische) Interpretation ergeben können,
ist nicht zu bestreiten. Hinsichtlich der ratio legis ist schließlich noch auf ein
mögliches Begriffsverständnis hinzuweisen, das vor allem im schweizerischen
Rechtskreis üblich ist und in der ratio legis nicht nur den Zweck im Sinn der
teleologischen Auslegung, sondern den „Oberbegriff für die Gesamtheit der
Auslegungselemente“ oder als deren Ertrag betrachtet16. In der deutschen
Rechtspraxis dürfte dieses Verständnis seine Parallele im „objektivierten Willen
des Gesetzgebers“ finden.
Weiter stellt sich die Frage, wie der Gesetzeszweck zu ermitteln ist. Zunächst
ist auf den Unterschied zwischen deduktiven und induktiven Anteilen der teleo-
logischen Rechtsanwendung hinzuweisen. Zum einen kann der Gesetzeszweck
unabhängig vom konkreten Fall ermittelt werden, etwa durch das Aufgreifen
11 Mustergültig z. B. BGHSt 27, 236 (242): Bei dieser Verfahrenslage greife § 329 I
fehlen, etwa wenn BGHSt 19, 109 (110) bei der Auslegung des Begriffs „Rädelsfüh-
rer“ in § 90a StGB a. F. unter Berufung auf die Gesetzesmaterialien den „Grundge-
danken“ der Norm darin sieht, nur „Drahtzieher“, nicht aber „Mitläufer“ zu erfassen.
13 Siehe z. B. Tiedemann, Anfängerübung, S. 79: Der Zweck im Strafrecht sei, je-
scher Auslegung.
15 So ausdrücklich Tröndle, StGB48, § 176, Rn. 1 und Tröndle/Fischer, StGB51,
§ 176, Rn. 2.
16 Richli, in: ratio legis, S. 39, mit Nachweisen aus der Rechtsprechung des BG; für
praktisch unbrauchbar hält ein solches Verständnis dagegen Dubs, in: ratio legis, S. 22
(Fn. 3).
474 VI. Sinn und Zweck
17 Siehe vor allem Zippelius, Methodenlehre, S. 50: Auch nach der objektiven
Theorie sei maßgeblich, was der Gesetzgeber mit der Regelung bezweckte; ders., JZ
1999, 112 (115): „Zwar läßt sich in der Regel keine exakte Bestimmung des Gesetzes-
zwecks mit rationalen Kriterien gewinnen. Doch liefert das ,historische‘ Auslegungs-
kriterium immerhin rationale Hinweise auf den Gesetzeszweck . . .“.
18 Siehe als Beispiele nur BGHSt 2, 99 (104) = oben Fall 132, BGHSt 24, 72 (80):
Sinn und Zweck, „wie sie sich aus der Entstehungsgeschichte ergeben“ sowie BGHSt
24, 153: Gesetzeszweck folgt aus der Entstehungsgeschichte und den Absichten des
Gesetzgebers.
1. Vorüberlegungen/Terminologisches 475
darin den unklarsten Begriff der Methodenlehre überhaupt zu sehen. Eine An-
näherung gelingt am ehesten, indem man sich die „Schwächen“ der subjektiven
Auslegungslehre vergegenwärtigt.19 (1) Zunächst gibt es Fälle, in denen sich
aus der Entstehungsgeschichte nichts für das zu lösende Rechtsproblem ergibt.
Dann bleibt dem Rechtsanwender oftmals nur die Möglichkeit, den Grund-
gedanken der Norm aus äußeren Kriterien (Wortlaut, Systematik, vergleichbare
Regelungen) zu ermitteln, also vom Gesagten auf das Gewollte zu schließen.20
Auch ohne historisches Material kann nach den Motiven und Absichten gefragt
werden, die mit der Regelung wohl verbunden waren.21 Hierin liegt das un-
verdächtigste Anliegen einer objektiv-teleologischen Auslegung, denn dadurch
wird die Gesetzesbindung nicht in Frage gestellt. Schlimmstenfalls endet die
Suche in der Vermutung, daß der Gesetzgeber das der Sache „Angemessene“
oder die „vernünftigste“ Lösung gewählt haben dürfte.22 (2) Ein weiterer und
zentraler Aspekt, den Befürworter einer objektiven Auslegung vorbringen, ist
der Einwand der „Mumifizierung“, die mit dem Festhalten an der historischen
Wertentscheidung notwendig verbunden sei: Das Gesetz werde ohne Anpassung
an veränderte Umstände seinen Aufgaben nicht gerecht. Dieser Einwand ist
zwar „materiell“ berechtigt, doch wäre es mit dem Postulat der Gesetzesbin-
dung unvereinbar, hieraus die Legitimation zur Überwindung einer eindeutigen
gesetzgeberischen Anordnung herzuleiten. Wie ausführlich dargelegt wurde
(oben IV 5), vermag zudem auch eine subjektiv-historische Auslegung den Ver-
änderungen der Verhältnisse großteils gerecht zu werden. (3) Unvermeidbare
Einschränkungen muß die subjektive Theorie ferner dadurch hinnehmen, daß
die Norm in ein Gesamtgefüge von Rechtsvorschriften integriert werden muß
und dort mit anderen Normen (mit anderen gesetzgeberischen Vorstellungen,
mit anderen Normzwecken) kollidieren kann. Der gesetzgeberische Wille kann
deshalb nicht immer voll verwirklicht werden, sondern bedarf der Harmonisie-
rung im System. Die Vermeidung von Wertungswidersprüchen, einschließlich
der verfassungskonformen Auslegung, kann deshalb als Aufgabe objektiv-teleo-
logischer Gesetzesauslegung verstanden werden.23 Vorliegend wurden diese Fra-
gen als solche der systematischen Auslegung behandelt (oben V 5 und V 8 b).
(4) Als weitere Bestandteile objektiv-teleologischer Auslegung werden über-
greifende Gesichtspunkte genannt, die als „objektive Zwecke des Rechts“24
tel IV.
20 Vgl. oben IV 4 a und dort Fn. 194.
21 Bydlinski, Methodenlehre, S. 454. Siehe aus der Rechtsprechung BGHSt 3, 334
(337 f.), wo der Senat aus der Entstehungsgeschichte nicht ersehen kann, „von wel-
chem rechtfertigenden Grundgedanken sich der Gesetzgeber hat leiten lassen“, und
anschließend versucht, dem Grundgedanken auf andere Weise näher zu kommen.
22 Vgl. Larenz, Methodenlehre, S. 334, der aber den Vorrang der gesetzgeberischen
oder als abstrakte Normzwecke, „die allen Gesetzen gemeinsam sind“25, be-
zeichnet werden und die im weiteren Sinn zu den Bestandteilen der Rechtsidee
gerechnet werden können. Davon werden hier insbesondere Gerechtigkeit und
Rechtssicherheit (VI 9) sowie Praktikabilitätserwägungen (VI 10) erörtert. Fer-
ner können das argumentum ad absurdum (VI 4), die Ergebniskontrolle
(ebenda) und die Folgenberücksichtigung (VI 12) als objektiv-teleologische Kri-
terien betrachtet werden,26 obgleich sie häufig (wie auch der Grundsatz der
Gleichbehandlung, VI 3) den subjektiv-historisch ermittelten Gesetzeszweck als
Bezugspunkt haben. (5) Am problematischsten erweist sich die „objektive“ Ge-
setzesauslegung, wenn sie von vornherein und unter Außerachtlassen der klassi-
schen Kriterien behauptet, einen „objektiven Gesetzessinn“ ermitteln zu können,
und dabei auf gesetzesferne und wenig faßbare Kriterien wie Vernunft, Natur
der Sache oder das Wesen der Dinge rekurriert. Daß damit leicht das er-
wünschte Ergebnis erzielt werden kann, bedarf keiner Darlegung.27 (6) Ob man
auch die kriminalpolitische Argumentation (VI 5) dem soeben Gesagten zurech-
nen darf, kann offen bleiben. Dabei handelt es sich zwar um einen außergesetz-
lichen und damit unzulässigen Maßstab, aber er dient nicht der Verschleierung
„wahrer“ Gründe. Insgesamt wäre in der Diskussion um die objektiv- und sub-
jektiv-teleologische Auslegung schon viel gewonnen, wenn klar benannt würde,
von welcher der genannten Konstellationen jeweils die Rede ist. Ein „Objekti-
vist“ wird sich nicht mit allen der aufgezählten Möglichkeiten objektiver Aus-
legung einverstanden erklären, während umgekehrt eine Kritik an einer objekti-
ven Gesetzesauslegung klar benennen sollte, worin genau die Mißachtung des
gesetzgeberischen Willens liegen soll.
Wie unklar eine sich auf den objektiven Gesetzessinn stützende Argumentation sein
kann, zeigt BGHSt 45, 131 (näher sogleich Fall 282). Der Senat hält den Wortlaut
für eindeutig und sieht weder in der Entstehungsgeschichte noch in Sinn und Zweck
sowie dem Willen des Gesetzgebers Anlaß zur Einschränkung (S. 133 f.). Offenbar
steht dieses Ergebnis aber noch unter einem Vorbehalt objektiver (kriminalpoliti-
scher?) Gesetzesauslegung: „Auch die ratio legis erfordert eine derartige Einschrän-
kung nicht. Der umfassende Gesetzeswortlaut ist durchaus sachgerecht.“ – Weder ist
klar, worin der Unterschied zwischen „ratio legis“ einerseits sowie „Sinn und
Zweck“ andererseits liegen soll, noch wer den Maßstab für die „Sachgerechtigkeit“
der Lösung festlegt.28
jektiven Gesetzeszweck; Hassemer, in: AK-StGB, § 1, Rn. 114: Einen „objektiven Ge-
setzessinn“ gebe es nur im Kopf des Richters; die objektiv-teleologische Auslegung
könne dem erwünschten Ergebnis nie im Weg stehen; Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 813–
815: Der„objektiven“ Gesetzesauslegung fehle es an Methodenehrlichkeit; mangels
Kontrollierbarkeit sei sie keine wissenschaftliche Methode; vgl. auch oben Kap. III,
Fn. 244.
2. Ausweitungs- und Vereinfachungstendenzen 477
28 Berechtigt ist die Kritik von Bauer (StraFo 2000, 196 [198]), soweit sie die bloße
Behauptung des Senats über die Sachgerechtigkeit betrifft. Die Anmerkung zeigt aber,
wie ein anderer „Objektivist“ zu Werk geht, um dem Gesetzgeber nachzuhelfen.
29 Siehe z. B. BGHSt 24, 352 (354); 29, 311 (314); 45, 131 (133).
30 BGHSt 3, 1 (2): „schlagkräftige Waffe“; BGHSt 31, 317 (322): „wirksames In-
strument“.
31 Gesetzesmaterialien: BGHSt GS 6, 147 (150); BGHSt 24, 352 (354); 34, 211
(213); 45, 103 (107); 45, 253 (259 f.). Fassung des Tatbestandes: BGHSt 3, 314 (315).
Wille des Gesetzes: BGHSt 3, 1 (2).
478 VI. Sinn und Zweck
kann, etwa mit der Ausweitung der Norm in einem anderen Aspekt oder mit der
Einführung zusätzlicher Vorschriften, welche die ausweitende Gesamttendenz
einer Novellierung zum Ausdruck bringen soll.32 Auch daraus, daß der Gesetz-
geber entgegen ursprünglicher Absicht oder abweichend von der bisherigen
Rechtslage eine zusätzliche Fallgestaltung (unstreitig) erfassen wollte, läßt sich
noch nicht ohne weiteres folgern, daß alle ähnlichen (streitigen) Konstellationen
erfaßt sein sollten:
Fall 282 (BGHSt 45, 131, siehe zunächst oben Fall 10): Nach Ansicht des Senats
ist § 176a I Nr. 1 StGB auch dann erfüllt, wenn der Täter das Geschlechtsteil eines
Jungen in den Mund nimmt. Es sei unerheblich, ob in den Körper des Opfers oder
den des Täters eingedrungen wird (S. 134); eine besonders nachhaltige Beeinträchti-
gung sei in beiden Fällen gegeben. Die Gesetzesmaterialien belegten, daß der Ge-
setzgeber „eine umfassende Regelung treffen wollte“ (S. 133): Der Gesetzesentwurf
habe zunächst nur die Variante „[dem Beischlaf] ähnliche sexuelle Handlungen an
ihm vornimmt“ enthalten, die später um die Alternative „oder an sich vornehmen
läßt“33 ergänzt worden sei. Damit habe man klargestellt, daß auch der Fall, in dem
das Kind den Oralverkehr beim Täter ausführt, erfaßt werden sollte. – Insgesamt
dürfte die Lösung des BGH zutreffen, aber die Beweisführung hinsichtlich des um-
fassenden Schutzziels überzeugt wenig.34 Die Motivation des Gesetzgebers für die
Klarstellung der Norm ist unmittelbar einleuchtend, betrifft aber letztlich doch einen
anderen Fall als den hier vorliegenden. Deshalb hätte es näherer Darlegung bedurft,
ob unter der Berücksichtigung des Normzwecks die nunmehr zu beurteilende Kon-
stellation der in den Gesetzesmaterialien erörterten entspricht, der Zweck der Aus-
weitung also auch dort greift. Daß die Beeinträchtigung des Opfers in beiden Fällen
gleich groß ist, wie der Senat pauschal behauptet, versteht sich nicht von selbst.35
Um vorschnelle Generalisierungen zu vermeiden, ist stets nach Anhaltspunk-
ten zu suchen, die für eine Relativierung des weitverstandenen Normzwecks
sprechen. Womöglich sind in einer Norm gegenläufige Ziele zum Ausgleich
gebracht, was sich auch in der Auslegung widerspiegeln muß,36 oder die gerade
in Frage stehende Norm verfolgt ein anderes Ziel als ein ganzer Gesetzesab-
schnitt, in der sie (als Ausnahmevorschrift) steht, oder eine Gesetzesnovelle, mit
der sie eingefügt wurde.37 In vielen Fällen berücksichtigen auch die Strafsenate
diese gegenläufigen Tendenzen:
und 198).
35 Nach Bauer (StraFo 2000, 196 [197]) führt die Ansicht des BGH zu absurden
Ergebnissen, da danach sogar ein Zungenkuß den Wortlaut des Tatbestandes erfülle.
Das trifft jedoch schon deshalb nicht zu, weil es sich dabei nicht um eine beischlaf-
ähnliche Handlung handelt.
36 Leenen, Jura 2000, 248 (250, r. Sp.).
37 Herzberg (NJW 1990, 2525 [2528]) sieht ein „Grundgebrechen“ der teleologi-
schen Auslegung darin, daß die in der Norm oftmals enthaltenen gegenläufigen Ziele
in der Rechtsanwendung häufig verkürzt oder einseitig dargestellt werden.
2. Ausweitungs- und Vereinfachungstendenzen 479
BGHSt 4, 161 (163) betont einerseits den mit § 113 StGB bezweckten Schutz der
Vollzugsbeamten bei ihrer Tätigkeit, andererseits aber auch die grundrechtlich ge-
sicherte Position des Täters. Nach BGHSt 9, 142 (145) wollten die Gesetzgebungs-
organe mit den Staatsschutzbestimmungen modernen Umsturzmethoden wirksam
begegnen, ohne jedoch die verfassungsgemäße Opposition zu bekämpfen. Ähnlich
argumentiert BGHSt 31, 317 (321 f.): Mit einem bewußt weit gefaßten Spionagetat-
bestand habe der Gesetzgeber ein „wirksames Instrument zur Abwehr fremder Agen-
tentätigkeit schaffen“, andererseits aber Personen, die nur von dritter Seite ausge-
forscht werden, heraushalten wollen.
Fast schon überraschend stellt BGHSt 44, 145 (Einer- oder Dreierbesetzung der
OLG-Senate gemäß § 80a OWiG bei Entscheidungen über ein Fahrverbot, oben Fall
239) das generelle Ziel des Gesetzgebers, durch die Novellierung des OWiG die
Gerichte zu entlasten, zurück. Für die Dreierbesetzung spreche „auch das Anliegen
des Gesetzgebers, Vereinfachungen im Bußgeldverfahren dort ihre Grenzen finden
(zu lassen), wo überwiegende Belange des Bürgers entgegenstehen“ (S. 151).38 Dem
Entlastungsziel werde bereits in anderer Hinsicht Rechnung getragen (S. 152). – Wie
schon die grammatikalische ergibt auch die teleologische Auslegung Argumente für
beide Deutungsmöglichkeiten. Entscheidend ist allerdings, daß der Senat nicht ein-
seitig auf die Entlastungsabsicht der Novellierung abhebt.39
Des öfteren vermögen erst außerteleologische Gesichtspunkte, die freilich noch va-
ger sein können, dem weiten Gesetzeszweck Grenzen zu setzen: BGHSt 32, 1 (siehe
oben Fall 258) zieht zur Begrenzung des weitreichenden gesetzgeberischen Ziels,
möglichst frühzeitig gegen die „Herstellung“ verfassungsfeindlicher Buchmanu-
skripte vorgehen zu können, grundrechtliche Gesichtspunkte heran (S. 6 f.). BGHSt
26, 228 (oben Fall 261) bestimmt den Zweck des anläßlich der Terrorismusbekämp-
fung eingeführten § 231a StPO großzügig dahin, eine funktionsfähige Rechtspflege
zu gewährleisten; die Auslegung dürfe diese gesetzgeberische Absicht nicht ver-
eiteln (S. 230). Andererseits dürfe der Regelungsbereich der Vorschrift „nicht will-
kürlich überschritten werden“.
Für Generalisierungen des Normzwecks sind einige Rechtsgebiete besonders
prädestiniert. Gerade wenn Vorschriften dem Schutz einer besonders hilfsbe-
dürftig erscheinenden Personengruppe oder der Bekämpfung eines besonders
anstößigen Verhaltens dienen, finden die rechtspolitischen Zielsetzungen auf-
grund ihrer Evidenz offenbar auch beim Rechtsanwender leicht Gefolgschaft:
Zur Pauschalisierung bietet sich etwa das Sexualstrafrecht an: Minderjährige, Ab-
hängige, Betreute und körperlich Unterlegene sind stets in weitem Umfang zu schüt-
zen. So spricht z. B. nach BGHSt 7, 48 (52) der Grundgedanke des § 174 StGB a. F.
(Unzucht mit Abhängigen), das Betreuungsverhältnis von geschlechtlichen Einflüs-
sen reinzuhalten und die geschlechtliche Unantastbarkeit der abhängigen Person vor
Angriffen zu schützen, für die weite Auslegung eines Tatbestandsmerkmals. § 177 I
38 Erneut erfolgt die Beweisführung nur indirekt, denn die zitierte Äußerung wandte
sich gegen einen Gesetzesentwurf, der das Beschwerderecht des Betroffenen noch wei-
ter einschränkte, betraf aber nicht die vorliegende Konstellation.
39 Daß die Interpretation des BGH dieses Ziel verfehlt, konstatiert z. B. Deutscher,
NZV 1999, 186 (188), der dem BGH im Ergebnis aber zustimmt.
480 VI. Sinn und Zweck
Nr. 3 StGB n. F. dient nach Ansicht von BGHSt 45, 253 (255, 259) der Schließung
von Strafbarkeitslücken und dem umfassenden Schutz der sexuellen Selbstbestim-
mung. — Zu einem weitreichenden Verständnis des Schutzbereichs tendiert der
BGH ferner z. B. bei der Auslegung des Opferschutzgesetzes, das die Rechtsstellung
des Verletzten im Strafverfahren „umfassend“ verbessern will (BGHSt 38, 93 [95]
mit Nachweisen aus den Gesetzesmaterialien), oder auch bei Vorschriften, welche
die Gesundheit der Bevölkerung schützen sollen wie die AMVO und das BtMG40.
— Zur Ausdehnung neigt grundsätzlich auch der das Jugendstrafrecht beherr-
schende „Erziehungsgedanke“. In BGHSt 36, 27 (29) hat es der Senat freilich abge-
lehnt, eine s. E. eindeutige kostenrechtliche Vorschrift des JGG so zu verstehen, daß
dem Erziehungsgedanken Rechnung getragen werden könnte.41 — Keine Nachsicht
verdient das „in hohem Maß verwerfliche und sozialschädliche“ (Nachweis aus der
Gesetzesbegründung) „Schlepperunwesen“, das der Gesetzgeber nach Auffassung
von BGHSt 45, 103 (107) zum Schutz der geschleusten Ausländer „möglichst weit-
gehend“ erfassen wollte.
Ist die Generalisierung des gesetzgeberischen Ziels schon innerhalb der teleo-
logischen Auslegung mitunter problematisch, wenn sie gegenläufige Tendenzen
unberücksichtigt läßt, besteht eine weitere Problematik in einem Ablenkungsme-
chanismus: Neben dem so eindeutig belegten, auch im zu beurteilenden Fall
passenden Schutzzweck der Norm gerät die Prüfung der Tatbestandsmerkmale
oftmals aus dem Blick. Die direkte Deduktion aus einem weit verstandenen
Normzweck entfernt sich von der tatsächlichen Ausgestaltung der Norm;42 auf
diese Weise wird die begrifflich-dogmatische, handwerkliche Arbeit von der
Eindruckskraft des teleologischen Arguments überschattet. Auf der anderen
Seite werden die Erwägungen zum Gesetzeszweck über Gebühr ausgedehnt und
erscheinen angesichts des auf der Hand liegenden Ergebnisses redundant. Häu-
fig wird der Eindruck erweckt, also könne die ausgiebige Betonung des umfas-
senden Normzwecks die Probleme der Wortlautgrenze kompensieren. Besonders
deutlich wird das in einigen Entscheidungen zum Straßenverkehrsrecht, insbe-
sondere zu § 142 StGB:
Fall 283 (BGHSt 18, 114 = oben Fall 89) verlangt von demjenigen, der erst nach-
träglich Kenntnis von einem Verkehrsunfall erlangt, die Rückkehr zum Unfallort. Mit
dem Wortlaut des § 142 StGB a. F. (siehe oben bei Fall 89) ist das kaum in Einklang
zu bringen, aber der Senat läßt sich maßgeblich vom Gesetzeszweck leiten, der zu
einer ausweitenden Normanwendung drängt: Den Unfallbeteiligten soll Gelegenheit
gegeben werden, Feststellungen zum Unfallgeschehen zu treffen, um die sich daraus
40 BGHSt 11, 304 (313 ff.) zur AMVO, BGHSt 29, 6 (10 f.) zum BtMG. Auf ein
Kostenvorschrift nicht für eindeutig halten, vgl. Brunner, NStZ 1989, 239 (240), Eisen-
berg, JR 1990, 41 f. und Ostendorf, StV 1989, 309 (310).
42 Auch dazu Herzberg, NJW 1990, 2585 (2530), der aus seiner durchaus berechtig-
ten Kritik an der teleologischen Auslegung aber wohl doch zu weitreichende Schlüsse
bezüglich ihres Wertes im allgemeinen zieht.
2. Ausweitungs- und Vereinfachungstendenzen 481
43 Noch deutlicher BGHSt 9, 267 (269): „Die dem § 142 StGB zugrunde liegende
nach Fn. 59. Eine unzulässige Vereinfachung durch den BGH konstatiert auch Beulke,
NJW 1979, 400 (403); den Schutzzweckerwägungen hingegen zust. Berz, Jura 1979,
125 (132).
482 VI. Sinn und Zweck
Fall 285 (BGHSt 24, 352): Nach § 21 I Nr. 2 StVG wird u. a. bestraft, wer es als
Kraftfahrzeughalter „zuläßt“, daß jemand das Fahrzeug führt, der keine Fahrerlaub-
nis hat. Gemäß § 21 II Nr. 1 wird auch die fahrlässige Begehung bestraft. Muß der
Fahrzeughalter aber bezüglich des „Zulassens“ nicht wenigstens bedingten Vorsatz
haben? Der Senat verneint: Die Gesetzesmaterialien sagten zu dieser Frage unmittel-
bar zwar nichts, doch folge aus der inhaltlichen Erweiterung der Bestimmung durch
eine Gesetzesänderung von 1964 eine Ausweitung des Schutzzwecks: „Der Gesetz-
geber strebte einen umfassenderen Schutz der Allgemeinheit vor ungeeigneten Fah-
rern an“ (S. 353 f.). – Unter dieser Prämisse ist die Lösung vorgegeben und alle
weiteren Ausführungen des Senats redundant. Natürlich erfordert der so bestimmte
Schutzgedanke, die fahrlässige Verwirklichung aller Tatbestandsmerkmale genügen
zu lassen (S. 354), und natürlich verfehlt die Gegenauffassung des BayObLG dieses
gesetzgeberische Ziel.
Insgesamt ist festzuhalten: Der teleologischen Auslegung wohnt die Tendenz
inne, den Anwendungsbereich von Normen auszudehnen.46 Das kann zwar mit
dem Willen des Gesetzgebers im Einklang stehen, und die Rechtsprechung ist
nicht abgeneigt, entsprechend umfassende Vorstellungen aus den Gesetzesmate-
rialien aufzugreifen.47 Jedoch muß der Rechtsanwender zwei Probleme berück-
sichtigen: Er muß zum einen (innerhalb der teleologischen Auslegung) nach
konkurrierenden, gegenläufigen Normzwecken suchen, welche die weitgehende
Annahme in Frage stellen. Zum anderen darf er sich durch das offensichtliche
Schutzziel der Norm nicht von der tatsächlichen Ausgestaltung der Norm durch
deren Tatbestandsmerkmale ablenken lassen. Die dargestellten Gefahren belegen
nochmals die Vorzüge einer auf den „möglichen Wortsinn“ als Auslegungs-
grenze abhebenden Konzeption.
pauschale Ansichten über das Ziel der Strafbestimmung in den Materialien festzuhalten.
3. Wertungsbezogener Fallvergleich und Grundsatz der Gleichbehandlung 483
ders schutzwürdig ansah, sondern tragen selbst zur Beförderung bei. Das erklärt
auch, weshalb zwar der Diebstahl unbedeutender Gegenstände des Reisegepäcks
verschärft bestraft wurde, nicht aber – erst recht – die Wegnahme des gesamten
Transportmittels (KFZ).54 BGHSt 3, 314 (316) merkt an, daß diese Ergebnisse ange-
sichts der tatsächlichen Entwicklung der Verhältnisse unbillig seien, sieht aber ange-
sichts der klaren Gesetzeslage keinen Ausweg.55
Daß eine Norm, in der von vornherein – in BGHSt 3, 312 und 314 sowie
BGHSt 10, 375 traten die Ungereimtheiten erst durch die Fortentwicklung der
Verhältnisse ein – Inkonsistenzen angelegt sind, sich für einen wertungsbezoge-
nen Fallvergleich nicht gut eignet, ist leicht einsichtig. Solange die Regelung
nicht willkürlich ist oder aus anderen Gründen gegen Art. 3 GG verstößt56,
muß sie als Entscheidung des Gesetzgebers allerdings hingenommen werden:
BGHSt 34, 138 muß sich damit abfinden, daß der Täter, gegen den zwei gesamtstra-
fenfähige lebenslange Freiheitsstrafen verhängt wurden, gegenüber einem Täter, der
zu zwei zeitigen Strafen verurteilt wurde, in Hinblick auf Sicherungsverwahrung
und Führungsaufsicht besser stehen kann. Das sei „eine durch die Rechtsprechung
nicht vermeidbare Auswirkung“ der gesetzlichen Regelung (S. 145).57
BGHSt 22, 375 (oben Fall 224 – Verjährung von NS-Verbrechen) zitiert den GBA,
der einen einleuchtenden Grund dafür vermißt, „weshalb derjenige, der als Gehilfe
bei einer aus Rassenhaß begangenen Tötung mitwirkt und dabei weiß, daß sie ein
Beitrag zur Ausrottung einer ganzen Volksgruppe ist, besser gestellt werden soll
[Verjährung!] als der Teilnehmer z. B. am heimtückisch begangenen Mord“ (S. 381).
Auch der Senat sieht das nicht ein und findet den Grund für das „ungereimte Ergeb-
nis“ in einem gesetzgeberischen Versehen bei der Neuregelung der Beihilfe, so daß
die „ungleichen Folgen . . . bei der Auslegung nicht berücksichtigt werden“ könnten.
– Darüber hinaus kann allerdings schon die Stimmigkeit des § 28 StGB (§ 50 a. F.)
selbst bezweifelt werden. Denn wem leuchtet es in Hinblick auf den Grundsatz der
Gleichbehandlung ein, daß der Gehilfe eines heimtückischen Mordes einem schärfe-
ren Strafrahmen unterliegt als der Gehilfe eines aus Rassenhaß begangenen Mor-
des?58
Induktiver Fallvergleich und die Verwertung des abstrakten Gesetzeszwecks
können in der Fallanwendung in komplizierter Weise zusammenwirken. Der
Fallvergleich kann im Einzelfall dazu beitragen, die mit der teleologischen Aus-
54 Dazu, daß diese Regelung (ursprünglich) durchaus nicht unsinnig und willkürlich
sie gleichwohl nicht willkürlich und damit verfassungswidrig ist, dürfte sich aus den
Besonderheiten der lebenslangen Freiheitsstrafe ergeben, bei der dem Gesetzgeber die
anschließende Sicherungsverwahrung womöglich als Fremdkörper erschien (vgl.
BGHSt 33, 398 [400]).
58 Vorausgesetzt, der Gehilfe kennt die Motive des Haupttäters, erfüllt aber selbst
kein Mordmerkmal.
486 VI. Sinn und Zweck
59 Siehe oben VI 2 und dort insbesondere BGHSt 45, 131 = Fall 282.
60 Zu den weiteren Differenzen siehe Rudolphi, JR 1979, 210 (211, r. Sp.).
61 Weitere Beispiele unten VI 4 d (ab BGHSt 6, 394).
3. Wertungsbezogener Fallvergleich und Grundsatz der Gleichbehandlung 487
62 Vgl. Geppert, JR 1994, 72 (73), der den vom BGH angeführten Wertungswider-
greift freilich gern auf die indirekte Beweisführung (dazu sogleich) zurück, weil
mit ihr – vor allem mit dem argumentum ad absurdum – besonderer Eindruck
gemacht werden kann.
a) Ausgangspunkt
Das argumentum ad absurdum wird nicht oder nur äußerst selten als echte
Beweisform genutzt, die darauf gründet, mit der Widerlegung der Gegenmei-
nung die Richtigkeit der eigenen Position darzutun.65 Dieser „indirekte (apago-
gische) Beweis“66 setzt voraus, was in der juristischen Normkonkretisierung
kaum je der Fall sein wird, nämlich daß die Gegenauffassung die (logisch) ex-
akte Verneinung der eigenen Ansicht ist.67 Das läßt sich an jedem einzelnen
64 Das harte Wort „absurd“ taucht in der amtlichen Sammlung (BGHSt 1–47) aller-
dings nur in BGHSt 17, 360 (363) auf. Nachweise zu den übrigen Formulierungen
erfolgen im Lauf der Darstellung.
65 In diesem Sinn aber wohl Enneccerus, Bürgerliches Recht, S. 118 (Fn. 10): Auf
dem Wert des Ergebnisses für die Auslegung „beruht auch das sog. argumentum ad
absurdum, der Nachweis, daß ein bestimmte Auslegung richtig sei, weil die sonst
noch möglichen töricht sein würden.“
66 Schneider, Logik, S. 180 ff.; Gast, Rhetorik, Rn. 339 f.
4. Sinnwidriges Ergebnis/argumentum ad absurdum/Untragbarkeitsargument 489
in: FS für Larenz, S. 158 (Fn. 28). Aus der Rechtsprechung z. B.: BGHSt 24, 352
(354).
70 Enneccerus, Bürgerliches Recht, S. 118.
490 VI. Sinn und Zweck
ten VI 12.
72 Säcker, in: MüKo-BGB, Einl., Rn. 128: Widersinnige, d.h. mit dem Gesetzes-
und -systematik.
74 Schneider, Logik, S. 186; Scheuerle, ZZP 1965, 32 (60 ff.).
75 Näher Diederichsen, in: FS für Larenz, S. 177.
4. Sinnwidriges Ergebnis/argumentum ad absurdum/Untragbarkeitsargument 491
bar“, „unerträglich“ oder „absurd“. Die Sinnwidrigkeit ist demnach graduell ab-
stufbar, wenn sie nicht in einem logischen Widerspruch besteht.76 Widersprüche
zum Gesetzeszweck können sich als dermaßen evident erweisen, daß sich zur
Darstellung das argumentum ad absurdum, mit dem die Unrichtigkeit des Ergeb-
nisses besonders eindrucksvoll zum Ausdruck gebracht werden kann, geradezu
aufdrängt. Die Darlegung der absurden Konsequenzen einer Auffassung arbeitet
zwar mit einem Appell an das Rechtsgefühl oder den gesunden Menschenver-
stand,77 kann (und muß) jedoch trotz der rhetorisch übersteigerten Ausdrucks-
weise auf einem rationalen Fundament beruhen, wenn etwa der Gesetzeszweck
das zugrundeliegende Kriterium ist. Bei offensichtlicher Sachwidrigkeit kann es
gerechtfertigt sein, auf die Darlegung des rationalen Fundaments weitgehend zu
verzichten.78 Andererseits kann auch appelliert werden, ohne daß Sachgründe
Pate stehen; dann soll womöglich die Zustimmung des Fachpublikums durch die
unberechtigte Inanspruchnahme von Evidenz erschlichen werden.
d) Argumentationsmuster im einzelnen
fen wollen, bedarf keiner näheren Darlegung.“ BGHSt 7, 240 (244): „Daß damit die
Grenzen vertretbarer Gesetzesauslegung überschritten werden, bedarf keiner weiteren
Begründung.“ BGHSt 13, 46 (51): „Daß dies nicht dem Sinn und Zweck der Vor-
schrift gerecht würde, versteht sich von selbst.“
79 BGHSt 26, 95 (97) = oben Fall 286: „leuchtet nicht ein“; BGHSt 36, 192 (196) =
die Einbeziehung des zu entscheidenden Falls, weil er auf diesen noch eher (erst
recht) zutrifft als auf den sicher vom Gesetz erfaßten Fall, dann wäre es sinn-
widrig, unhaltbar oder absurd, gegenteilig zu verfahren. Das argumentum ad ab-
surdum ist auch hier nichts anderes als die Kehrseite einer teleologischen Argu-
mentation, mit der das Ergebnis auch positiv begründet werden könnte (vgl.
oben VI 3 am Ende). Daß die Praxis gleichwohl (zusätzlich) die indirekte Be-
gründung wählt, liegt daran, daß das teleologische Argument dadurch rhetorisch
besonders eindringlich ausgedrückt werden kann.81
Nach BGHSt 13, 46 verlangt der Tatbestand des § 100e StGB (a. F.) nicht, daß der
Täter eine Treuepflicht gegenüber der Bundesrepublik verletzt. Denn dann wären
nur Inländer strafbar und gerade die gefährlichsten Täter (auswärtige Agenten) nicht
erfaßt. „Daß dies nicht dem Sinn und Zweck der Vorschrift gerecht würde, versteht
sich von selbst“ (S. 51). — Auf einen Schluß a maiore ad minus beruft sich BGHSt
25, 10: Es sei „nicht einzusehen“, daß eine Sache des Eigentümers eingezogen wer-
den kann, nicht aber das Anwartschaftsrecht an der Sache (S. 12).82
Fall 288 (BGHSt 10, 355): Begeht ein Täter eine „mit Strafe bedrohte Handlung“
i. S. von § 42b StGB (a. F.), wenn er aufgrund seiner Wahnvorstellungen irrtümlich
eine rechtfertigende Situation annimmt (Erlaubnistatumstandsirrtum) oder wegen
seines Wahns keinen Vorsatz hat. Der Senat will das zumindest dann bejahen, wenn
der Irrtum Ausfluß der geistigen Erkrankung ist (S. 357). „Die gegenteilige Auffas-
sung würde bedeuten, daß grundsätzlich gerade die Geisteskranken, die erfahrungs-
gemäß besonders gefährlich sind, nämlich die Kranken, die an Verfolgungswahn lei-
den, von einer Unterbringung nach § 42b StGB ausgenommen wären. Das kann
nicht der Sinn des Gesetzes sein“ (S. 357 f.). – Die Frage besteht für § 63 StGB
g. F. fort, und entsprechend hat sich an den teleologischen Argumenten nichts ge-
ändert: Solange der Dualismus zwischen Strafen und Maßregeln bestehe, sei es
„teleologisch nicht zu begründen, sondern führt im Gegenteil zu ganz sinnwidrigen
Ergebnissen, ausgerechnet die krankheitsbedingten Motivationen, die zu der rechts-
widrigen Tat geführt haben, der Kompetenz des Strafrichters zu entziehen; § 63
würde auf diese Weise in seinem Schwerpunkt sinnwidrig unterlaufen“.83 – Näherer
Prüfung bedürfte freilich, ob die teleologische Rechtsanwendung und die damit ver-
bundene „Sprachspaltung“ begrifflichen und dogmatischen Anforderungen genügt84
oder ob nicht doch der Wunsch, das vernünftige Ergebnis zu erreichen, übermächtig
war.
In teleologischer Hinsicht geradezu absurd wäre es, wenn auf Basis der
Gegenauffassung der Täter besser wegkäme, obwohl er gegenüber dem Ver-
gleichsfall erschwerende Faktoren erfüllt. Ein solches Ergebnis kann nicht dem
Rn. 2a.
84 Prüfungsmaßstab wäre das noch mögliche fachsprachliche Verständnis (siehe
Willen des Gesetzgebers entsprechen, kann nicht Sinn des Gesetzes sein, ist
sinnwidrig oder ungereimt:
BGHSt 3, 377: Die Möglichkeit, eine Steuerstraftat zu veröffentlichen (§ 399 AO
a. F.), kann nicht deshalb entfallen, weil der Täter ein zusätzliches, in Tateinheit ste-
hendes Delikt verwirklicht. „Eine derartige Begünstigung eines doppelten Rechts-
bruchs kann nicht dem Willen des Gesetzgebers entsprechen“ (S. 380). — BGHSt
6, 398 (oben Fall 83): Kommt eine Entziehung der Fahrerlaubnis noch in Betracht,
wenn sie dem Täter bereits entzogen wurde? Nach Ansicht des Senats kann es nicht
Sinn des § 42m StGB (a. F.) sein, den Täter deshalb besser zu stellen, „weil er seine
verkehrsfeindliche Haltung schon vorher deutlich offenbart hat“ (S. 399). — BGHSt
32, 95 (oben Fall 99): Es wäre „sinnwidrig“, wenn beim Hinzutreten strafschärfen-
der Umstände (gewerbsmäßiges Handeln) ein milderer Strafrahmen gelten würde.
„Das kann der Gesetzgeber bei der Einführung des § 370 Abs. 3 AO nicht gewollt
haben“ (S. 96). — Ähnlich liegt die Entscheidung BGHSt 42, 123 (Fall 82), in der
ein entsprechendes Ergebnis als „ungereimt“ bezeichnet wird. — RGSt GS 73, 148
(150) stellt auf einen Widerspruch zum „Rechtsgefühl“ und BGH NJW 2003, 1679
(1680) auf einen drohenden „Wertungswiderspruch ab“ (oben Fall 106).
Die drohenden Ungereimtheiten für den Fall, daß kein Erst-recht-Schluß ge-
zogen wird, können mit Beispielen drastisch veranschaulicht und die Argumen-
tation so „auf die Spitze getrieben“ werden:
BGHSt 11, 324 (oben Fall 169) beweist die Notwendigkeit, auch beim untauglichen
Versuch das Rücktrittsrecht (gemäß § 46 StGB a. F.) zu gewähren, mit folgender
Fallabwandlung: Hätte die Angeklagte ihrem Kind statt der zu geringen (untaug-
lichen) Dosis Gift eine tödliche Menge gegeben, so bliebe sie straflos, wenn ein
durch sie herbeigerufener Arzt das Kind noch hätte retten können (S. 326). „Dann
aber widerspricht es der Gerechtigkeit85, der entsprechenden Handlung der Ange-
klagten deswegen die strafbefreiende Wirkung zu versagen, weil sie dem Kinde zu-
wenig Gift gegeben hat.“
Ähnlich verfährt BGHSt 9, 67 (siehe zunächst oben Fall 234), um darzulegen,
warum der Gewerbebevollmächtigte nicht nur für die geringfügigsten Delikte (da-
mals: Übertretungen) haftet. „Offenbar sinnwidrig wäre eine Auslegung, nach der
der verantwortliche Leiter eines Betriebes bei der Überladung eines LKW von 5 bis
10 % nach § 151 GewO verantwortlich wäre, weil es sich um eine Übertretung han-
delt, nicht aber bei einer solchen von über 10 %, die ein Vergehen ist“ (S. 70).
Das „Operieren mit Extremfällen“ 86 ist ein zentrales Hilfsmittel des argumen-
tum ad absurdum. Führt eine Auffassung in letzter Konsequenz zur offensicht-
lich zweckwidrigen Erfassung oder Nichterfassung eines Sachverhalts, ist die
Sinnwidrigkeit der Auffassung belegt:
Fall 289 (BGHSt 4, 316) Der Senat lehnt die Ansicht des LG ab, der Tatbestand der
Zuhälterei (§ 181a StGB a. F.) sei schon dann erfüllt, „wenn der Mann nur über-
haupt mit der Dirne eine gemeinsame Wirtschaft geführt habe“ (S. 319). Dem stehe
bereits der eindeutige Wortlaut entgegen, denn danach müsse der Mann den unsittli-
chen Erwerb der Dirne ausbeuten und dadurch den Lebensunterhalt beziehen. Allein
das Führen einer gemeinsamen Kasse genüge hierzu nicht. „Die folgerichtige
Durchführung der Ansicht des Landgerichts würde zu unhaltbaren Ergebnissen füh-
ren. Danach wäre ein Mann auch dann wegen Zuhälterei strafbar, wenn der Zuschuß
der Dirne zu dem gemeinsamen Haushalt nur einen geringen Teil des Wertes ihres
Verbrauchs und der Zuschußleistung des Mannes ausmachte, wenn also das Gegen-
teil einer Ausbeutung der persönlichen Beziehungen durch den Mann vorläge. Daß
der Gesetzgeber einen solchen Fall mit der Strafdrohung des § 181a StGB nicht hat
treffen wollen, bedarf keiner näheren Darlegung“ (S. 320).
Freilich darf das Durchdenken einer Auffassung nicht mit Fällen geschehen,
die extrem konstruiert erscheinen. Der absurde Fall kann eine Hypothese nur
dann erschüttern oder ins Lächerliche ziehen, wenn er nicht nur denkbar, son-
dern auch realitätsnah ist.87 Redlicherweise ist zudem zu prüfen, ob die Gegen-
auffassung ihre (angeblich) unerwünschten Konsequenzen mit naheliegenden
Argumenten entkräften kann, auf die man sich bei etwaigen Einwänden selbst
berufen würde.
In der Praxis wird die Unzulänglichkeit der Gegenposition auch häufig in
Hinblick auf die Gesetzessystematik belegt. Dann liegt die Absurdität weniger
in der evidenten Verfehlung des Gesetzeszwecks einer Vorschrift als in der Sy-
stemwidrigkeit der Ergebnisse.88 Das gesetzgeberische Programm wird auf Ba-
sis der Gegenansicht exemplarisch „durchgespielt“ und auf drohende Wertungs-
widersprüche hin untersucht:
BGHSt 6, 394 (oben Fall 55) sieht „unerträgliche Folgerungen“, falls man die ju-
gendstrafrechtlichen Zuchtmittel nicht als „Strafe“ i. S. von § 42m StGB (a. F.) auf-
faßte.89 Dann dürfte das Gericht die Fahrerlaubnis zwar dann entziehen, wenn es
den Jugendlichen mangels Reife freispräche (§ 3 JGG), nicht aber, wenn es ver-
urteilte und ein Zuchtmittel verhängte (S. 397). „Dieses Ergebnis kann der Gesetz-
geber nicht gewollt haben.“90
BGHSt 43, 22 (29) und BGHSt 43, 285 (290) demonstrieren mit Anwendungsbei-
spielen der entscheidungsrelevanten Norm, daß die Gegenansicht zu einem „unge-
reimten“ (systemwidrigen) Ergebnis führen würde. Zweckwidrigkeit im teleologi-
schen Verständnis und Wertungswidrigkeit sind insoweit freilich kaum trennscharf
zu unterscheiden,91 wie BGHSt 26, 29 (32) zeigt: Der Zweck der kostenrechtlichen
Bestimmung könne „nicht darin gesehen werden, die Entscheidung in dem Neben-
chen Situation.
496 VI. Sinn und Zweck
„unmöglich der Sinn der Straßenverkehrsordnung sein. Als sie erlassen wurde, war
kein Verkehrsteilnehmer ernstlich in Zweifel darüber, daß Fahrzeuge nicht auf dem
Bürgersteig halten durften.“ Eine besondere Hervorhebung des Verbots sei deshalb
nicht notwendig gewesen (S. 391 f.). Der Straßenverkehr bedürfe fester Regeln, um
Sicherheit und Leichtigkeit zu gewährleisten (S. 392). Ausnahmen vom Parkverbot
auf Gehwegen seien in besonderen Konstellationen gleichwohl denkbar. – Viele
Gründe sprachen für die Ansicht des BGH, aber offen zutage lag die Sinnwidrigkeit
der Gegenmeinung nicht. Die dargelegten Ausnahmen zeigen, daß auch eine diffe-
renzierende Ansicht durchführbar wäre.
Fall 291 (BGHSt 5, 312): Noch heftiger appelliert der BGH bei Beantwortung einer
Frage zum Verbot der Schlechterstellung. Der Tatrichter hatte zu Unrecht auf Unter-
bringung in eine Heil- oder Pflegeanstalt (§ 42b StGB a. F.) entschieden. Durfte der
neue Tatrichter statt dessen eine Strafe und die Maßregel der Sicherungsverwahrung
anordnen (§ 42e StGB a. F.), wie es auch der Angeklagte, der das Zusammenleben
mit Geisteskranken als besonders schwere seelische Belastung empfand, mit seiner
Revision beantragte? Dagegen sprach der Wortlaut des § 358 II 2 StPO (a. F.), denn
danach war die Sicherungsverwahrung anders als andere, ausdrücklich genannte
Maßregeln nicht vom Verbot der Schlechterstellung ausgenommen.93 Nach Ansicht
des Senats würde die Wortlautauslegung somit zu dem Ergebnis führen, „daß ein
vom Angeklagten als Beschwer empfundener und zutreffend gerügter Rechtsfehler
nicht beseitigt werden könnte“ (S. 316 f.). „Der Zweck der Vorschrift, die dem An-
geklagten eine Rechtswohltat gewähren will, würde damit genau in ihr Gegenteil
verkehrt.94 Dieser Widersinn kann nicht Rechtens sein“ (S. 317). Für vorliegende
Konstellation sei deshalb das Verbot der Schlechterstellung nicht anwendbar. – Der
kräftigen Rhetorik fehlt es an der Grundlage, denn der Widersinn läge allenfalls in
der gesetzlichen Regelung selbst.95 „Es sind starke Worte, die der Senat gebraucht“;
das Ergebnis der Entscheidung sei zwar sinnvoll, „deren Begründung aber unhalt-
bar“ (Bruns, JZ 1954, 730 [732 f.]). Zu Recht weist Jagusch darauf hin, daß der
Senat sich mit der Behauptung des Widersinns über die Regelung des § 358 II hin-
wegsetze; zudem werde angesichts der verbleibenden Strafe (ohne zusätzlicher Si-
cherungsverwahrung) die Rechtswohltat auch nicht in ihr Gegenteil verkehrt.96 Das
93 Ebenso BGHSt 25, 38 (39 f.) für das geltende Recht, in dem die Problematik
sein. Etwas zurückhaltender geben sich z. B. BGHSt 43, 22 (29): „Das Gegenteil hier-
von würde bewirkt, wenn . . .“ und BGHSt 10, 157 (160): „Es würde den Gesetzes-
zweck auf eine seltsame Weise verfehlen, wenn . . .“.
95 Daß es hinsichtlich der Folgen einer generell tätergünstigen Norm nicht auf die
persönlichen Wünsche des Angeklagten ankommt, zeigt BGHSt 20, 77 (80): „Diesen
aber fragt das Gesetz nicht.“
96 Jagusch, in: LR-StPO21, § 331, Anm. 3. Mit deutlichen Worten gegen den BGH
auch Eb. Schmidt, Lehrkommentar StPO II, § 331, Rn. 23. Vorsichtig distanzierend:
BGHSt 25, 38 (40). Dallinger (MDR 1954, 333 [334]) hält hingegen nur die Begrün-
dung des Senats für „mißverständlich“; unter „Zurückstellung formaler Bedenken“ sei
ihm aber im Ergebnis zuzustimmen. Bruns (JZ 1954, 730 [737]) meint, das „interes-
sante und mutige“ Urteil des BGH verdiene angesichts des Bemühens um eine sinn-
volle Anwendung des Verschlechterungsverbots Anerkennung.
4. Sinnwidriges Ergebnis/argumentum ad absurdum/Untragbarkeitsargument 497
Ergebnis des Senats könnte allenfalls durch die Annahme eines Verzichts des Revi-
sionsführers97 oder dadurch, daß die Staatsanwaltschaft ebenfalls und zuungunsten
des Angeklagten Revision einlegt, erreicht werden.
Wie ein zunächst vom BGH als befremdlich eingestuftes Ergebnis später von
ihm als geltendes Recht anerkannt wird, zeigt folgender
Fall 292 (BGHSt 15, 203; 16, 115; 22, 213; BayObLG NJW 1953, 1402): Muß ein
Verfahrenshindernis wie die Verjährung auch dann vom Revisionsgericht berücksich-
tigt werden, wenn die Revision zwar rechtzeitig eingelegt, aber nicht form- und
fristgerecht begründet wurde (vgl. §§ 345, 346 StPO)? Und ist insoweit zu differen-
zieren, ob das Hindernis bereits anfänglich bestand oder erst nach Erlaß des ersten
Urteils eintrat? Das BayObLG (a. a. O.) hat sich dafür ausgesprochen, nur die nach-
träglichen Verfahrenshindernisse zu berücksichtigen. BGHSt 15, 203 verwirft diese
Differenzierung und will das Hindernis stets berücksichtigen: Die Verschiedenheit
der Ergebnisse des BayObLG müsse „befremden“, könne einem „unbefangenen Be-
trachter . . . kaum einleuchten“ und „würde dem Gebot der Gerechtigkeit widerstrei-
ten“ (BGH, S. 206). Seine eigene Position begründet der Senat wie folgt: „Die Ge-
richte haben das Recht zu wahren. Es wäre daher eigenartig, wenn ein Gericht . . .
dem schwerwiegenden Rechtsmangel nicht sollte abhelfen können“ (S. 207). Der
Stellung der Revisionsgerichte werde der Verweis auf den Gnadenweg nicht gerecht.
Ein „solches Ergebnis müßte nur dann hingenommen werden, wenn es die Prozeß-
gesetze zwingend vorschreiben würden.“ BGHSt 16, 115 (116) weist für die anfäng-
lichen Verfahrenshindernisse diese Ansicht, die auf „Billigkeitserwägungen“ beruhe,
zurück. Die Berücksichtigung eines Rechtsfehlers sei daran geknüpft, daß das
Rechtsmittelgericht überhaupt in zulässiger Weise mit der Sache selbst befaßt wird
(S. 117). Für die nachträglich auftretenden Hindernisse setzt BGHSt 22, 213 den
von BGHSt 16, 115 eingeschlagenen Weg jedoch nicht fort98 und will diese wie-
derum berücksichtigt wissen. Damit ist die differenzierende Ansicht des BayObLG
wiederhergestellt, die BGHSt 15, 203 noch als „befremdlich“ und „kaum einleuch-
tend“ bezeichnet hat. Erstaunlich ist auch, daß der 4. Senat (BGHSt 15, 203) trotz
der „eigenartigen“ Konsequenzen der Gegenansicht auf Anfrage von seinem Stand-
punkt abgerückt ist. Den Appell an das Rechtsgefühl („eigenartig“) hat BGHSt 15,
203 allerdings ohnehin nur durch die Einführung der unpräzisen und für vorliegende
Frage unergiebigen Aussage ermöglicht, wonach die Gerichte das Recht zu wahren
hätten; dieser merkwürdig unjuristischen Vereinfachung99 kann nur schwerlich wi-
dersprochen werden.
Außer mit Gesetzeszweck und -systematik wird das argumentum ad absur-
dum nicht selten auch mit ganz allgemeinen Kriterien wie Rechtssicherheit, Ge-
rechtigkeit und Einheit der Rechtsordnung verknüpft, mit denen es sich gut ap-
pellieren läßt. Wenn damit keine vorrangigen Gesichtspunkte überspielt werden
und das hinter dem rhetorischen Appell stehende Sachargument überzeugt, kann
diese Argumentation sich durchaus als tragfähig erweisen:
BGHSt 24, 52 (54) betont den Wert des Grundsatzes ne bis in idem: „Es wäre aller-
dings unerträglich und mit dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit nicht vereinbar,
wenn ein deutsches Staatsorgan eine Geldbuße verhängen würde, ohne dabei“ eine
bereits verfügte Geldbuße einer europäischen Behörde zu berücksichtigen. —
BGHSt 2, 393 (395) befürwortet bei der Bestimmung dessen, was ein Verbrechen,
Vergehen oder eine Übertretung i. S. von § 1 StGB a. F. ist, die abstrakte Betrach-
tungsweise; bei der Gegenauffassung ergäbe sich eine „unerträgliche Unsicherheit“.
— BGHSt 12, 129 (134 f.) weist auf das „widersinnige Ergebnis“ der Gegenauffas-
sung hin, da die Anwendung der Strafschärfung des § 20a StGB (a. F.) danach von
der Reihenfolge der Aburteilung, mithin vom Zufall abhinge. — Differenzierende
Ansichten, für die der BGH keinen rechtfertigenden Grund erkennt, führen nach
seiner Meinung zu „befremdlichen“ oder „merkwürdigen“ Ergebnissen.100 —
BGHSt 7, 240 (243 f.) betont die Einheit der Rechtsordnung: Die Auffassung des
OLG sei „in sich selbst unhaltbar“, denn sie gebe dem Begriff in Absatz 1 einen
anderen Inhalt als in Absatz 3. „Daß damit die Grenzen vertretbarer Gesetzesausle-
gung überschritten werden, bedarf keiner Begründung.“101
Weiterhin nutzt die Praxis die Absurdität der Konsequenzen häufig dazu, ein
gesetzgeberisches Versehen oder eine Gesetzeslücke zu belegen. Die Offensicht-
lichkeit des Ergebnisses kann unter Umständen von der näheren Darlegung der
Voraussetzungen einer Gesetzesberichtigung oder einer Rechtsergänzung be-
freien:
Fall 293 (BGHSt 13, 41): Nach §§ 331 I, 358 II 1 StPO gilt das Verbot der
Schlechterstellung, wenn der Angeklagte oder die StA zugunsten des Angeklagten
Rechtsmittel eingelegt hat. Gemäß § 301 StPO führen Rechtsmittel der Staatsan-
waltschaft allerdings stets auch zur Prüfung des angegriffenen Urteils zugunsten des
Angeklagten. Gilt auch in dieser Konstellation das Verbot der Schlechterstellung,
obwohl der Wortlaut der §§ 331, 358 diesen Fall nicht erwähnt? Der Senat bejaht
das, denn ansonsten würde sich die eigentlich begünstigende Norm des § 301 zum
Nachteil des Angeklagten auswirken (S. 42). „Das kann nicht Sinn des Gesetzes
sein.“ Deshalb sei das Verbot der Schlechterstellung entgegen dem Wortlaut anzu-
wenden. – Der Senat wendet § 358 II 1 StPO zu Recht analog an. Die planwidrige
Lücke bzw. das gesetzgeberische Übersehen liegt auf der Hand und bedarf keiner
näheren Erörterung.
Fall 294 (BGHSt 14, 240): § 164 V StGB a. F. stellte die falsche Anschuldigung
auch für den Fall unter Strafe, daß sie nicht wider besseren Wissens, aber vorsätz-
lich oder leichtfertig begangen wurde.102 Der Senat legt dar, weshalb der bedingte
Vorsatz in § 164 V nicht im herkömmlichen Sinn verstanden werden könne: An-
dernfalls wäre auch derjenige erfaßt, der den Betroffenen nur möglicherweise für
unschuldig hält, den Verdacht aber nicht verschweigen will und deshalb anzeigt.
„Daß dies nicht rechtens sein kann, liegt auf der Hand und zwingt dazu, das Merk-
mal des Vorsatzes . . . einschränkend auszulegen“ (S. 256).103 Es komme darauf an,
ob der Täter die Anzeige auch dann erstattet hätte, wenn er deren Unwahrheit er-
kannt hätte.
BGHSt 22, 375 (oben Fall 224 – Verjährung von NS-Verbrechen) sieht den Grund
für das „ungereimte Ergebnis“ in einem gesetzgeberischen Versehen, das vorliegend
jedoch nicht durch die Rechtsprechung korrigiert werden könne (S. 381). — BGHSt
13, 91 (oben Fall 226) weist darauf hin, daß es oftmals vom Zufall abhänge, ob ein
Sicherungs- oder ein Strafverfahren durchgeführt wird. Es wäre „höchst eigenartig
und mit dem Sinn des § 42m StGB [a. F.] unvereinbar“, wenn die Möglichkeit der
Entziehung der Fahrerlaubnis von dieser Verfahrensfrage abhinge (S. 94 f.). Näher-
liegend sei die Annahme eines gesetzgeberischen Übersehens (S. 95).
Im Bereich der Rechtsergänzung und Gesetzesberichtigung liegt die Gefahr
des argumentum ad absurdum darin, daß die Eindeutigkeit womöglich dazu in-
strumentalisiert wird, von dogmatischen Problemen, einem „störrischen“ Wort-
laut oder von einer eindeutigen Gesetzeslage abzulenken. Wie mit der starken
Rhetorik vom „Widersinn“ eine Entscheidung contra legem herbeigeführt wer-
den kann,104 wurde bereits in BGHSt 5, 312 (oben Fall 291) deutlich. Es dürfte
kein Zufall sein, daß die Untragbarkeit der Ergebnisse gerade dann betont und
mit Beispielen auf die Spitze getrieben wird, wenn die Wortlautgrenze des
Art. 103 II GG Schwierigkeiten bereitet:
Das betrifft viele der oben dargestellten Beispiele.105 Zu erwähnen ist außerdem
BGHSt 43, 356: Die Angeklagte hatte dem Haupttäter möglicherweise im Vorfeld
der Tat zugesagt, ihm später ein (falsches) Alibi zu geben. Der Senat versagt der
Angeklagten den Strafaufhebungsgrund des § 258 V StGB, denn ansonsten könnte
sie weder wegen Beihilfe zur Haupttat noch wegen versuchter Strafvereitelung be-
straft werden. Der Täter könne aber „nicht Straffreiheit dadurch erlangen, daß er
verspricht, sich strafbar zu machen“ (S. 359). – Das wäre in der Tat absurd, aber
die entscheidende Frage war die nach der Vereinbarkeit der Lösung mit dem Wort-
laut des § 258 V StGB und insofern bleibt es bei einer apodiktischen Behauptung
des Senats (näher oben Fall 107). — Ähnlich liegt es in BGHSt 14, 194 (oben Fall
90): Der Gesetzgeber hat eine Ausnahmevorschrift zur Entschädigung bei der Ein-
ziehung auf natürliche Personen zugeschnitten. Die textgetreue Auslegung hätte mit-
hin zu einer unbegründeten Besserstellung von juristischen gegenüber natürlichen
Personen geführt. „Daß dies nicht angeht, liegt auf der Hand. Ein solches unsinni-
ges Ergebnis hat der Gesetzgeber ohne Zweifel nicht beabsichtigt“ (S. 197). – Pro-
blematisch war aber, ob der BGH zur Schließung der Gesetzeslücke zulasten der
juristischen Person berechtigt war. Sehr bedenklich ist insoweit auch BGHSt 20, 170
(oben S. 378): Die damaligen Bestimmungen des Auslieferungsrechts ließen bei
wörtlichem Verständnis in der konkreten Situation keine Beschlagnahme zu. Der
Senat hält das für eine „untragbare Folge, die das Gesetz nicht beabsichtigt haben
103 Von einer offensichtlich notwendigen Restriktion der Norm, deren rechtliche Zu-
lässigkeit nicht fraglich sei, geht auch Bockelmann aus (NJW 1959, 1849 [1854,
r. Sp.]).
104 Vgl. Scheuerle, ZZP 1965, 32 (61, 65): Das Argument der Sinnwidrigkeit könne
kann“ (S. 174). – Die Beschlagnahme muß möglich sein, also verschafft der Senat
sich die notwendige Rechtsgrundlage!
Außerhalb des Anwendungsbereichs von Art. 103 II GG ist auf BGHSt 26, 228
(oben Fall 243) hinzuweisen. Einwände der Betroffenen gegen die Anwendung des
§ 231a StPO, der die Fortführung der Hauptverhandlung bei schuldhaft herbeige-
führter Verhandlungsunfähigkeit erlaubt, weist der Senat zurück und treibt die etwai-
gen Konsequenzen auf die Spitze: „Die Argumentation der Verteidigung . . . läuft auf
die Zumutung hinaus, den Angeklagten entweder durch entsprechende Haftbedin-
gungen die Fortsetzung ihrer kriminellen Vereinigung einschließlich der Vorberei-
tung ihrer Befreiung zu erleichtern oder auf die Durchführung einer Hauptverhand-
lung gegen sie zu verzichten. Das kann nicht rechtens sein“ (S. 239 f.). – Gegen
diese Rhetorik kann keine Dogmatik bestehen.
Häufig wird eine Verbindung zwischen dem Untragbarkeitsargument und dem
Willen des Gesetzgebers oder Gesetzes hergestellt, die auf der Unterstellung
eines zweckmäßig und vernünftig handelnden Gesetzgebers beruht. Unzweck-
mäßige, unsinnige oder unhaltbare Ergebnisse kann er nicht gewollt haben, kön-
nen ihm nicht zugeschrieben werden. Entsprechende Formulierungen wurden
bereits mehrfach erwähnt.106 Sie haben allein rhetorische Funktion, denn sie
setzen voraus, daß die Unhaltbarkeit des Ergebnisses mit den üblichen Kriterien
(Zweck, Systematik, höherrangiges Recht usf.) belegt werden kann. Führt eine
Auslegungshypothese nach diesen Maßstäben zu absurden Konsequenzen, ist sie
schon deshalb zu verwerfen, ohne daß es einer zusätzlichen Legitimation des
Gesetzgebers bedarf. Ist ein konkreter Wille der Legislative zu einem Problem
erkennbar, ist (im Rahmen des verfassungsrechtlich Möglichen) ohnehin dieser
vorrangig, mag seine Durchsetzung auch zu „objektiv“ sinnwidrigen Ergebnis-
sen führen. Eine andere Frage ist, was gelten soll, wenn sich keine Vorstellung
des Gesetzgebers ermitteln läßt. In gewissem Rahmen hat hier eine „objektiv-
teleologische“ Vorgehensweise ihre Berechtigung.107 Dann sollte dem Gesetzge-
ber in der Tat nichts „Unvernünftiges unterstellt werden“,108 aber auch hier ist
der Rechtsanwender nicht frei, sondern muß sich so eng als möglich am gesetz-
geberischen Programm (z. B. an verwandten Problemlösungen in der Kodifika-
tion) orientieren.
106 Z. B. BGHSt 3, 377 (380): „Eine derartige Begünstigung eines doppelten Rechts-
bruchs kann nicht dem Willen des Gesetzgebers entsprechen“ oder BGHSt 8, 383
(388): „Ein so unzweckmäßiges Verfahren kann der Gesetzgeber nicht gewollt haben“.
107 Coing (in: Staudinger, BGB, Einl. Rn. 150) sieht das argumentum ad absurdum
in Zusammenhang mit dem Gedanken, „daß dem Gesetz eine innerlich vernünftige
Ordnung abgewonnen werden müsse“.
108 Siehe BGHSt 26, 221 (224): „Es hieße, dem Gesetzgeber Unvernünftiges unter-
stellen, wollte man annehmen, er verlange für solche Fälle eine Reihe gleichartiger
Beschlüsse und nehme sie trotz der damit verbundenen, unter Umständen schwerwie-
genden Verfahrensverzögerungen in Kauf.“
4. Sinnwidriges Ergebnis/argumentum ad absurdum/Untragbarkeitsargument 501
e) Fazit
109 Bydlinski (Methodenlehre, S. 457) sieht das Wesen des argumentum ad absur-
dum in der Prüfung, welche Auswirkungen die Auslegungshypothese auf die typischen
Fälle einer Norm hat und ob die Konsequenzen gegen „selbstverständliche Erwartun-
gen in der Rechtsgemeinschaft“ verstoßen.
110 Auch in den soeben genannten Entscheidungen begründen die Senate ihr Ergeb-
Als Beispiel für ein offensichtlich untragbares Ergebnis i. S. des argumentum ad ab-
surdum wird etwa genannt, daß einer Norm bei dem zugrunde gelegten Verständnis
kein sinnvoller Anwendungsbereich mehr bliebe oder daß eine Auslegung zu unhalt-
baren kriminalpolitischen Folgen führen würde.111 Ob diese Argumentationen über-
zeugen, hängt davon ab, ob kriminalpolitische Erwägungen zulässig sind (dazu un-
ten VI 5) bzw. ob der Gesichtspunkt der „wirkungsmächtigen Auslegung“ relevant
ist (dazu unten VI 7). Ebenso liegt es z. B. beim Gesichtspunkt der „Praktikabilität“
der Ergebnisse (unten VI 10).112
Nicht selten wird mit der Absurdität der Ergebnisse im Bereich der Rechts-
fortbildung und der Gesetzesberichtigung argumentiert. Die Gefahr besteht
dann darin, die näheren Voraussetzungen dieser Institute elegant unter Hinweis
auf die Evidenz zu überspielen.
Im Ergebnis ist das argumentum ad absurdum ein wirkungsvolles Instrument,
das juristisch durchaus korrekt sein kann.113 Ob Ergebnisse wirklich untragbar
oder widersinnig sind, entscheidet sich am jeweiligen Sachkriterium.114 Der Ap-
pell an das Rechtsgefühl birgt allerdings die Gefahr, sich die Zustimmung des
Adressaten mit rhetorischen Mitteln zu erschwindeln;115 bei näherem Hinsehen
kann der Appell sich mithin als Floskel erweisen. Vorrangig bleibt in jedem
Fall, die Richtigkeit der bevorzugten Rechtsmeinung direkt zu begründen.
5. Kriminalpolitische
Argumente/Strafbarkeitslücken/Strafwürdigkeit
a) Ausgangspunkt
dersinnigen Ergebnis“.
113 Horak, Rationes decidendi, S. 275, der es deshalb als „geradezu widernatürli-
chen Zug“ ansieht, wenn die römischen Juristen auf die Anwendung dieses Argumen-
tationsmittels verzichtet hätten.
114 Diederichsen (in: FS für Larenz, S. 179 und Fn. 113) schlägt vor, das Untrag-
fen, spricht man von Kriminalpolitik. Betrieben wird sie sowohl in der breiten
Öffentlichkeit als auch in der Wissenschaft, aber wichtigster Ort für rechtspoli-
tische Erörterungen sind die Organe der Legislative. Dort können Vorstellungen
über den wünschenswerten Rechtszustand („Wie sollte es geregelt sein?“) in
einem geordneten Verfahren geäußert werden und im günstigsten Fall zu gelten-
dem Recht gerinnen. Geschieht die Umsetzung in geltendes Recht, wird aus
dem kriminalpolitischen Motiv der für die Auslegung relevante Gesetzeszweck.
Erst dann setzt die in Praxis und Lehre betriebene Strafrechtsdogmatik ein, die
den Sinn der vorgegebenen Regelungen ermittelt („Wie ist es geregelt?“) und
systematisiert.117 Gerade die teleologische Auslegung als zentrales Hilfsmittel
dogmatischer Arbeit zeigt allerdings die gleichwohl bestehende Verknüpfung
zwischen Rechtspolitik und -dogmatik auf, denn bei ihr geht es um die Erfas-
sung des rechtspolitischen Ziels, das der Gesetzgeber verfolgt und verwirklicht
hat (Zwecksetzung) und das in der konkreten Fallanwendung durchgesetzt und
fortgedacht werden muß (Zweckverwirklichung).118 Der Ertrag der kriminal-
politischen Diskussion fließt somit unmittelbar in die Gesetzeskonkretisierung
ein. Trotz dieser Verknüpfung zwischen Rechtspolitik und -dogmatik119 wäre es
irreführend, die Rechtsanwendung als rechtspolitische Tätigkeit zu charakterisie-
ren oder dem Richter das Recht zur kriminalpolitischen Argumentation einzu-
räumen. Denn als Ergebnis der Gewaltenteilung und der Gesetzesbindung des
Richters ist es entscheidend, daß der Rechtsanwender an eine fremde Zielvor-
stellung – die des Gesetzgebers – gebunden ist, die er nicht durch eigene Erwä-
gungen zur Frage, wie das Problem vernünftigerweise zu regeln sei, ersetzen
darf.120
Vor diesem Hintergrund ist die Verwendung kriminalpolitischer Argumente in
den Entscheidungen der Strafsenate zu sehen, die den dargestellten Ausgangs-
punkt immerhin in der Regel teilen. Manche Äußerungen des BGH zeigen mu-
stergültig, wie die vom Gesetzgeber verfolgte rechtspolitische Konzeption den
für die Rechtsanwendung maßgeblichen Gesetzeszweck enthält. In der Bezug-
nahme auf die kriminalpolitischen Erwägungen liegt dann keine Kompetenz-
überschreitung des Richters, sondern die von ihm geforderte Gesetzesinterpreta-
tion:
117 Zipf, ZStW 1977, 705 (708): Dogmatik als hermeneutische Wissenschaft.
118 Vgl. Roxin, Strafrecht AT I, § 7, Rn. 70; Scheuerle, AcP 1967, 305 (313): Teleo-
logische Auslegung sei das Nachvollziehen des vom Gesetzgeber verfolgten politi-
schen Zwecks; Bartholomeyczik, Kunst der Gesetzesauslegung, S. 47: Der Sinn des
Gesetzes lasse sich durch die Erkenntnis seiner rechtspolitischen Zielsetzung deuten.
119 Zu abweichenden Konzeptionen in der Abgrenzung zwischen Kriminalpolitik
BGHSt 4, 119 (122): Es trifft nicht zu, daß die vorliegend vertretene Auffassung
„mit dem kriminalpolitischen Ziel des Gesetzes nicht im Einklang stehe. . . . Dem
Gesetzgeber kam es in erster Linie darauf an, . . .“. — BGHSt 19, 144 (148): „Die
rechtspolitischen Erwägungen, die zur Einführung der Bestimmung . . . geführt ha-
ben, treffen daher jedenfalls von dem Augenblick nicht zu, . . .“. — BGHSt 24, 352
(354, siehe oben Fall 285): Gerade im Vorfeld der Erfolgsdelikte muß der Straf-
rechtsschutz einsetzen, „soll das mit dem Gesetz verfolgte kriminalpolitische Ziel“
(Schutz der Allgemeinheit vor ungeeigneten Kraftfahrern) erreicht werden. —
BGHSt 27, 45 (51): Die Bestrafung nur wegen versuchter Tat würde eine „Mißach-
tung des gesetzgeberischen Willens und seiner kriminalpolitischen Ziele bedeuten“.
— BGHSt 28, 129 (134): Die Gegenauffassung widerspräche auch der kriminalpoli-
tischen Zielsetzung, die in der Einführung der nachträglichen Meldepflicht (§ 142 II
StGB) zum Ausdruck kommt.
Es ist naheliegend, daß bei der Erforschung der kriminalpolitischen Zielset-
zung des Gesetzgebers häufig auf die Entstehungsgeschichte der Norm zurück-
gegriffen wird:121
So stützt etwa BGHSt 24, 248 bei der Frage, ob in der Wegnahme eines Behältnis-
ses ein besonders schwerer Fall des Diebstahls gemäß § 243 I Nr. 2 StGB liegt,
seine bejahende Ansicht auf die „kriminalpolitischen Motive des Gesetzgebers“, der
während der Gesetzesberatungen eben diesen Fall habe erfassen wollen (Hinweise
auf die Materialien). — Zur Auslegung des Begriffs der „verfassungsfeindlichen
Absicht“ prüft BGHSt 18, 246 (249 f.) Sinn und Zweck der einschlägigen Vor-
schriften des Staatsschutzrechts: „Da es sich dabei um die rechtspolitische Vorfrage
handelt, wie weit sich der Staat erkennbar selbst gegen Angriffe auf seinen Bestand
. . . schützen will, ist von besonderer Bedeutung die Entstehungsgeschichte und der
hieraus zu ziehende Schluß auf die vom Gesetz gewollten Grenzen“ des strafrecht-
lichen Schutzes.122
Auch den Begriff der Strafbarkeitslücke kann die Rechtsprechung sich auf
diese Weise für die Auslegung zunutze machen: Beabsichtigte der Gesetzgeber,
eine bestimmte Lücke im Strafrechtsschutz zu schließen, fällt es oft leicht, die
Erwägungen des Gesetzgebers auch auf neu auftretende Fallkonstellation zu
übertragen. Dann wird nicht kriminalpolitisch, sondern subjektiv-teleologisch
argumentiert.123
121 In jedem Fall falsch wäre es deshalb zu sagen, kriminalpolitische seien „objek-
Normen geht, mit denen der Staat sich selbst schützen will, ist freilich eine metho-
disch unhaltbare Annahme. Auch sonst „will“ der Gesetzgeber mit seinen Regelungen
etwas erreichen, so daß Motivforschung zu betreiben wäre.
123 Siehe die entsprechenden Argumentationen in BGHSt 38, 281 (284) und 45, 253
124 Zur Schwierigkeit der Abgrenzung von politischer Begründung und teleologi-
nichtig war?125 BGHSt 8, 343 ist der Auffassung, es komme nur auf das förmliche
Zustandekommen des Versicherungsvertrages, nicht auf seine Wirksamkeit an. Dabei
beruft der Senat sich auf zwei Argumente des Reichsgerichts, zunächst auf ein hi-
storisches: Bei Erlaß des § 265 StGB und vor Einführung des VVG war die zivil-
rechtliche Frage noch landesrechtlich geregelt. Von Besonderheiten des jeweiligen
Landesrechts durfte nach Ansicht des RG die Strafbarkeit jedoch nicht abhängen,
und die spätere Einführung des § 51 VVG habe die Überversicherung nicht wieder
aus dem Anwendungsbereich herausnehmen wollen (S. 344). Zudem würde § 265
StGB „nahezu bedeutungslos sein, wenn man durch ihn nicht auch die Fälle der
betrügerischen Überversicherung erfasse, die die weitaus häufigste Form des Ver-
sicherungsbetruges darstellten.126 Für die verschwindend geringe Zahl anderer Fälle
sei der Erlaß einer Strafbestimmung kaum erforderlich gewesen. Diese zutreffenden
und zu billigenden rechtspolitischen Erwägungen können und müssen dann bei der
Auslegung des Gesetzes berücksichtigt werden, wenn sein Wortlaut dies gestattet“
(S. 344 f.). – Maßgeblich ist (innerhalb dessen, was der Wortlaut des § 265 StGB
zuläßt) der Wille des Gesetzgebers, und es ist in der Tat kaum anzunehmen, daß mit
Einführung des § 51 VVG etwas am status quo verändert werden sollte. Die dro-
hende Bedeutungslosigkeit der Norm entgegen der gesetzgeberischen Zielsetzung
mag daneben auch kriminalpolitisch unerwünscht sein.
Unvermittelt nebeneinander stehen Gesetzessinn und rechtspolitische Gründe in
BGHSt 9, 267 (269), die jeweils als Argumente gegen eine einschränkende Anwen-
dung des § 142 StGB (a. F.) herangezogen werden, ohne daß ein kategorialer Unter-
schied erkennbar würde. Die Berufung auf den von der Rechtsprechung ohnehin
sehr weit verstandenen Gesetzessinn des § 142 hätte genügt.
BGHSt 3, 1 (2) meint, die Folgen der Gegenauffassung (begriffliche Abgrenzungs-
probleme, Zufälligkeiten, Widerspruch zum Wortlaut, Umgehungsmöglichkeiten für
Täter) „rechtspolitisch“ nicht in Kauf nehmen zu können, „wenn man nicht die
Wirksamkeit des § 401 RAbgO preisgeben will, der nach dem Willen des Gesetzes
eine schlagkräftige Waffe zur nachdrücklichen Bekämpfung von Zoll- und Steuer-
vergehen sein soll“. – Eine Auslegung gegen Wortlaut, Zweck und weitere Kriterien
sollte auch sonst nicht in Kauf genommen werden!
Viele Aspekte, die der BGH als „rechtspolitisch“ oder „kriminalpolitisch“
charakterisiert, lassen sich womöglich den üblichen Auslegungsfaktoren zuord-
nen, insbesondere der teleologischen:
BGHSt 8, 66 (oben Fall 56) führt aus, daß der Zweck der gesetzlich vorgesehenen
Nebenstrafen (Ehrverlust) darin liegt, den Verurteilten fühlbar und über die Frei-
heitsstrafe hinaus zu treffen (S. 69). Begönne der Zeitraum der Nebenstrafe schon
ab Rechtskraft des Urteils, würde der Zweck verfehlt, da die Nebenstrafe nach Ver-
125 Die Problematik besteht für den Versicherungsmißbrauch des § 265 StGB g. F.
fort.
126 Die Argumentation des Senats wirkt zirkulär, da ja zuerst zu klären war, was ein
Versicherungsbetrug i. S. von § 265 StGB ist. Dazu ist die Meinung des Gesetzgebers
zu ermitteln, und erst dann wird klar, welche reale Bedeutung die Norm hat. Der Se-
nat hatte freilich die Möglichkeit, seine Auffassung unmißverständlich zu formulieren
(vgl. weiter im Text). Zu einer ähnlichen und in der Tat zirkulären Begründung siehe
unten BGHSt 10, 194 = Fall 297.
5. Kriminalpolitische Argumente/Strafbarkeitslücken/Strafwürdigkeit 507
büßung regelmäßig erledigt wäre und damit den Betroffenen kaum zusätzlich beein-
trächtigen würde. „Diese kriminalpolitischen Erwägungen“ träfen nicht nur beim
Entzug der bürgerlichen Ehrenrechte insgesamt, sondern auch beim Entzug nur ei-
nes dieser Rechte (Wählbarkeit) zu. – Warum die Überlegungen zum Gesetzes-
zweck später als „kriminalpolitisch“ charakterisiert werden, ist nicht ersichtlich. Die
Annahme, daß die gegenteilige Ansicht den Zweck des Strafgesetzes verfehlen
würde, ist keine rechtpolitische Argumentation.127
Im Streit um die Bedeutung des Tatbestandsmerkmals „Gemeingefahr“ (vgl. oben
Fall 53) lehnt es BGHSt 11, 199 aus diversen Gründen ab, die vom Fahrzeugführer
bewußt ausgewählten Fahrzeuginsassen in den Schutzbereich mit einzubeziehen.
Letztlich sei auch rechtspolitisch „eine solche erhöhte Strafbarkeit zugunsten von
Fahrzeuginsassen, die durch eine persönliche Beziehung zum Fahrer bestimmt sind
und sich regelmäßig ihren Fahrer selbst aussuchen können . . . nicht im gleichen
Maße veranlaßt“ (S. 205). – Wiederum Darlegungen, die auch im Gewand teleologi-
scher Auslegung erscheinen könnten: Die Norm soll vor bestimmten Gefahren
schützen, die in vorliegender Konstellation nicht in gleichem Maß bestehen, so daß
eine enge Interpretation vorzugswürdig erscheint.
BGHSt 14, 395 und 15, 138 haben eine Gemeingefahr auch für den Fall verneint,
daß der Fahrzeugführer gezielt auf eine Person losfährt. Das BayObLG (JZ 1959,
638) hat dagegen eingewandt, daß nach der Ansicht des BGH der Täter womöglich
wegen Straßenverkehrsgefährdung zu bestrafen sei, wenn er fahrlässig, nicht aber
wenn er vorsätzlich eine Person im Straßenverkehr gefährde. BGHSt 15, 138 (145)
hält diese „kriminalpolitischen Erwägungen . . . trotz ihres erheblichen Gewichts“
letztlich nicht für durchschlagend, da bei vorsätzlichem Handeln häufig andere Tat-
bestände (§§ 113, 240, 239 StGB) erfüllt sein dürften. – Die mögliche Sinnwidrig-
keit eines Ergebnisses, die z. B. in der Ungleichbehandlung gleich strafwürdiger
Fälle in Erscheinung treten kann, ist ein klassisches teleologisches Auslegungs-
moment. Mit dem Hinweis auf die zusätzlich eingreifenden Normen kann die Sinn-
widrigkeit des Resultats widerlegt oder entkräftet werden. Mit Kriminalpolitik hat
das nichts zu tun.
Aus der Literatur kann z. B. auf die ablehnende Anmerkung von Schröder zu BGHSt
24, 248 (oben Fall 140) hingewiesen werden, der ausführlich darlegt, weshalb der
Schutzzweck der Norm ihrer Anwendung vorliegend entgegenstehe; die Ansicht des
BGH entspreche weder dem „kriminalpolitischen Bedürfnis“ noch dem Wortsinn
(NJW 1972, 778 [780]). – Schröder leitet den Schutzzweck der Norm vornehmlich
aus dem Gesetzeswortlaut her, so daß man seine Auslegung vielleicht als objektiv-
teleologisch128, aber nicht als kriminalpolitisch charakterisieren kann. Das mögli-
cherweise fehlende „kriminalpolitische Bedürfnis“ ist für die Problematik unerheb-
lich.
127 Als weiteres Beispiel kann BGHSt 9, 17 (19) genannt werden. Auch dort stützt
der Senat sein Ergebnis mit „rechtspolitischen Erwägungen“, obwohl die dann folgen-
den Ausführungen lediglich ergeben, daß der Schutzzweck der Beleidigungsvorschrif-
ten auch vorliegende Konstellation erfaßt und keinen Raum für eine Differenzierung
läßt.
128 Näher liegt, daß eine Diskrepanz zwischen konkreter und allgemeiner Zielvor-
Recht zahlreich sind Entscheidungen, in denen der BGH sein mit Hilfe der
üblichen Kriterien (einschließlich des Gesetzeszwecks) gewonnenes Ergebnis
mit kriminalpolitischen Erwägungen zu unterstützen sucht. Was die Lösung
stärken soll, erweist sich oftmals als irrelevanter Annex oder sogar als Schwä-
chung der Argumentation:
Fall 297 (BGHSt 10, 194): Der Senat gelangt beim Übertretungstatbestand des
§ 361 Nr. 6 StGB a. F. („wer öffentlich in auffälliger Weise . . . zur Unzucht auffor-
dert oder sich dazu anbietet“) zu einer weiten Auslegung des Begriffs der „Öffent-
lichkeit“. Die Vorschrift diene dem Zweck, „Anstand und Sitte im öffentlichen
Leben vor Gefährdungen zu schützen“ (S. 196). Deshalb genüge es, daß nach den
örtlichen Verhältnissen Personen hätten anwesend sein können, die das Geschehen
hätten wahrnehmen können (S. 197). Hinzu trete „noch das kriminalpolitische Be-
dürfnis, das einen weitgehenden Schutz erheischt. Im Vorlagebeschluß wird in Über-
einstimmung mit der allgemeinen Lebenserfahrung zutreffend dargelegt, daß die
Gründe, die das Reichsgericht wegen der zunehmenden Häufigkeit der Vergehen
gegen § 183 StGB129 veranlaßt haben, den Begriff ,öffentlich‘ weit auszulegen,
auch für § 361 Nr. 6 StGB gelten.“ – Die großzügige Bestimmung des Schutz-
zwecks ist schon bedenklich genug,130 hätte das Ergebnis aber getragen. Mit den
zirkulären kriminalpolitischen Erwägungen stellt der Senat jedoch die Seriosität sei-
ner Darlegungen in Frage. Die weite Verbreitung eines Phänomens besagt weder, ob
es vom Tatbestand erfaßt ist, noch, ob es nach der gesetzgeberischen Wertung erfaßt
sein sollte. Andernfalls müßten z. B. die Tatbestandsmerkmale des § 242 StGB weit
ausgelegt werden, wenn die polizeiliche Kriminalstatistik (oder die „Lebenserfah-
rung“!) sagt, daß vermehrt gestohlen wird.
Fall 298 (BGHSt 18, 114 = oben Fall 283): Fast schon kurios erscheinen die krimi-
nalpolitischen Erwägungen, mit denen der Senat seine – auf dem weiten Schutzzweck
der Norm beruhende, aber mit der Fassung des § 142 StGB a. F. kaum zu vereinba-
rende – Konstruktion einer strafbewehrten Rückkehrpflicht131 unterstützt (S. 121):
Diese Verpflichtung entspreche auch einem kriminalpolitischen Bedürfnis. „Im Stra-
ßenverkehr wird in der Regel in Übereinstimmung mit dieser Verpflichtung gehandelt.
Die Rückkehrpflicht sowohl bei unbewußter wie bei bewußter, aber erlaubter oder
entschuldigter Entfernung von der Unfallstelle entspricht der Vorstellung breitester
Bevölkerungskreise.“ – Als könne das redliche Verhalten oder das schlechte Gewis-
sen der Mehrheit die Strafbarkeit entgegengesetzten Handelns belegen. Die überflüs-
sigen Ausführungen demonstrieren allein die Begründungsnot des Senats.132
Fall 299 (BGHSt 6, 385): Mit kriminalpolitischen Erwägungen sucht auch BGHSt
6, 385 seine Lösung zu stärken. Fraglich war, ob auch der Versuch der Ausspähung
129 § 183 StGB a. F.: „Wer durch eine unzüchtige Handlung öffentlich ein Ärgernis
wickelt“.
132 Schröder (NJW 1966, 1001 [1004]) sieht die Entscheidung „offenkundig von
von Staatsgeheimnissen (§ 100 II StGB a. F.: „Wer sich ein Staatsgeheimnis ver-
schafft, um es zu verraten, wird wegen Ausspähung . . . bestraft.“) strafbar ist. Daran
bestanden Zweifel, weil es sich bei der Ausspähung materiell um eine Vorberei-
tungshandlung des Landesverrats (§ 100 I a. F.) handelte. Unter Berufung auf Entste-
hungsgeschichte und Zweck der Norm bejaht der Senat die Versuchsstrafbarkeit
(S. 388). Dies entspreche „außerdem einem kriminalpolitischen Bedürfnis“, denn
das Gesetz sehe bereits in der Ausspähung eine erhebliche Gefährdung, weil die
darauffolgende Preisgabe des Geheimnisses an einen Unbefugten häufig nicht mehr
zu verhüten sei. „Es entspricht also dem aus der Entstehungsgeschichte erkennbaren
Willen des Gesetzes und einem besonderen kriminalpolitischen Bedürfnis, schon
vom Versuch der Ausspähung durch seine Strafbarkeit abzuschrecken“. – Unklar
bleibt, ob der BGH hier mit dem Normzweck und dem kriminalpolitischen Bedürf-
nis zwei unterschiedliche Aspekte meint und weshalb aus dem Bedürfnis ein „be-
sonderes“ Bedürfnis wird. Im Ergebnis impliziert eine solche Argumentation stets
die Erweiterung der Strafbarkeit: Der Gesetzgeber hält den Verrat eines Staatsge-
heimnisses für strafwürdig, ebenso die Ausspähung des Geheimnisses in Absicht der
Weitergabe und schließlich auch den Versuch, sich das Geheimnis zu verschaffen.
Das „Strafbedürfnis“ kennt hier keine Grenze.
Aus der Literatur kann z. B. die ablehnende Anmerkung von Schall133 zu BGHSt 27,
160 (oben Fall 81, „Pfandschein“) angeführt werden: Das Ergebnis des BGH sei
schon vom Schutzzweck des § 259 StGB her nicht zutreffend, „aber auch kriminal-
politisch . . . nicht zu rechtfertigen“. Das „kriminelle Unrecht“ sei bei unmittelbarer
Weitergabe der Sache eben doch größer als bei der Übergabe eines Pfandscheines. –
Ist der graduelle Unterschied im Unrecht aber ein kriminalpolitisches Argument,
und was folgt daraus für die begriffliche Bestimmung des Norminhalts?
Einige Fälle sind dadurch geprägt, daß die herkömmlichen Auslegungskrite-
rien kein eindeutiges Ergebnis hervorbringen und demnach Unklarheit darüber
herrscht, was aus der gesetzgeberischen Zielsetzung für die in Frage stehende
Thematik folgt. Dürfen oder müssen die Gerichte dann auf „objektive“ krimi-
nalpolitische Argumente zurückgreifen und die Frage „wie ein Gesetzgeber“ be-
antworten? Rechtspolitische Erwägungen geraten hier in die Nähe zur Rechts-
fortbildung.
Fall 300 (BGHSt 29, 370): § 56 II StGB ermöglicht die Strafaussetzung zur Be-
währung bei einer Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren, wenn neben den Voraussetzun-
gen des § 56 I „besondere Umstände in der Tat und in der Persönlichkeit“ des Tä-
ters vorliegen. BGHSt 29, 370 erörtert, ob bei einer Gesamtstrafe die besonderen
Umstände in allen zugrundeliegenden Einzeltaten oder wenigstens in einer dieser
Taten gegeben sein müssen, und stellt im Ergebnis auf eine „Gesamtwürdigung“ ab.
Nur diese Auslegung führe „zu gerechten und kriminalpolitisch sinnvollen Ergebnis-
sen“, während die bisherige Rechtsprechung Zufallsergebnisse produziert habe,
„denen eine einheitliche kriminalpolitische Grundlinie fehlt“ (S. 375). Der Wortlaut
stehe dem nicht entgegen, die Entstehungsgeschichte spreche eher134 für diese Lö-
sung (S. 375 ff.). Zudem dürfe die kriminalpolitisch intendierte Entscheidung über
die Strafaussetzung nicht von der dogmatischen Frage abhängen, ob Verhaltenswei-
sen zu einer Tat zusammengefaßt werden können oder als mehrere Taten einzustufen
sind (S. 379). – Da der Senat keine eindeutige gesetzgeberische Anordnung vorfin-
det, behilft er sich mit allgemeinen Kriterien, die man „objektiv-teleologisch“ oder
„kriminalpolitisch“ nennen mag, die sich aber soweit wie möglich am gesetzgeberi-
schen Programm orientieren. Widersprüchliche oder vom Zufall beherrschte Lösun-
gen sind nicht nur aus „kriminalpolitischen“ Erwägungen abzulehnen, sondern ver-
stoßen gegen feste Bestandteile der Rechtsordnung (Gleichbehandlungsgrundsatz,
Rechtssicherheit etc.).
Fall 301 (BGHSt 14, 116 = oben Fall 134): Ein Grenzfall ist die Entscheidung
BGHSt 14, 116 zur Frage, ob auch im Schiffsverkehr Unfallflucht gemäß § 142
StGB (a. F.) begangen werden kann. Der Wortlaut ließ die Subsumtion zu, die Ent-
stehungsgeschichte sprach eher dagegen, ergab aber kein ganz sicheres Ergebnis, da
die Gesetzesverfasser sich mit dieser Konstellation nicht beschäftigt hatten. In dieser
Situation geht der Senat – zumindest verbal – zu einer kriminalpolitischen Argu-
mentation über: Trotz der aus der Entstehungsgeschichte folgenden „erheblichen Be-
denken“ ließe die Ausdehnung sich „vielleicht dann rechtfertigen . . ., wenn drin-
gende kriminalpolitische Gründe dies erforderten“ (S. 122). Das sei hier aber nicht
der Fall, obwohl auch auf Wasserstraßen Unfälle denkbar seien, in denen eine Flucht
verwerflich erscheint. Jedoch „glaubt“ der Senat, bei der Ermittlung der kriminalpo-
litischen Notwendigkeiten vom „Regel- oder Durchschnittsfall“ eines Schiffsunfalls
„ausgehen zu sollen“. Dort seien aber keine besonderen Probleme bei der Feststel-
lung der Unfallbeteiligungen erkennbar (S. 123). – Die Argumentation des Senats
zeigt erneut die Schwierigkeit, kriminalpolitische von teleologischen Aspekten
scharf zu trennen. Es klingt zwar, als argumentiere der Senat „wie ein Gesetzge-
ber“, doch könnte die Begründung durch eine rhetorische Umstellung ohne weiteres
in die Bahnen herkömmlicher, „gesetzestreuer“ Interpretation geleitet werden: (1)
Aus der Entstehungsgeschichte ist die Frage nicht klar zu beantworten; sie spricht
aber eher gegen ein umfassendes Verständnis. (2) Aber auch der Zweck des § 142
verlangt nicht die Erfassung des Schiffsverkehrs. (3) Denn die Norm soll verhin-
dern, daß die Feststellungsinteressen der Beteiligten gewahrt werden. (4) Insoweit
bestehen im Schiffsverkehr in aller Regel keine Probleme, so daß der Gesetzes-
zweck die Anwendung der Norm nicht gebietet. Also nicht: Wir sehen keine krimi-
nalpolitische Notwendigkeit, sondern: Der durch den Gesetzgeber vorgegebene
Zweck greift hier nicht ein.135 Nur weil keine klare legislative Stellungnahme zur
konkreten Frage erkennbar ist und sie deshalb hypothetisch (unter Beachtung der
gesetzgeberischen Wertentscheidung) zu beantworten ist, heißt noch nicht, daß die
Rechtsprechung kriminalpolitisch argumentiert. In jedem Fall abzulehnen wäre der
Ausgangspunkt des Senats aber, wenn er unter dem „dringenden kriminalpoliti-
schen“ Bedürfnis tatsächlich ein „objektives“ und neben dem Gesetz stehendes Kri-
angesichts der dürftigen Anhaltspunkte schon zweifelhaft genug – die historische In-
terpretation „eher für“ das Resultat des Senats, später soll es von der Entstehungsge-
schichte her sogar „naheliegend“ sein (a. a. O., S. 379).
135 Man kann darüber spekulieren, ob der BGH bei Bejahung eines Strafbedürfnis-
ses sein Ergebnis ebenfalls kriminalpolitisch begründet hätte oder ob er in diesem Fall
nicht eher den oben vorgeschlagenen Weg gewählt hätte.
5. Kriminalpolitische Argumente/Strafbarkeitslücken/Strafwürdigkeit 511
136 Krit. insoweit die Anm. von Martin, LM 1960, Nr. 12 zu § 142 StGB: Es sei
vom Verbot des Art. 103 II GG die Voraussetzungen einer Analogie gegeben, aber
auch ein („objektives“) kriminalpolitisches Bedürfnis würde für die Normanwendung
sprechen. Aus dieser Koinzidenz darf jedoch nicht geschlossen werden, daß mit krimi-
nalpolitischen Erwägungen die Voraussetzungen einer Analogie dargetan wären.
138 In Anbetracht des erheblichen Grundrechtseingriffs bleiben allerdings Zweifel,
Volksempfinden“ bemühen muß (vgl. § 2 StGB i. d. F. von 1935), steht auf einem an-
deren Blatt.
512 VI. Sinn und Zweck
Bewertung zu unterwerfen. Das ist auch dann unzulässig, wenn die rechtspoliti-
sche Ergebniskontrolle sich möglicherweise zugunsten des Täters auswirkt.140
Bereits hingewiesen wurde auf den zumindest fragwürdigen Ansatz der Entschei-
dung BGHSt 14, 116 (oben Fall 301), die trotz erheblicher, aus der Entstehungsge-
schichte resultierender Bedenken eine Ausdehnung bei dringendem kriminalpoliti-
schen Bedürfnis für denkbar hält.
Fall 302 (BGHSt 30, 98): Zu überflüssigen und sehr zweifelhaften rechtspolitischen
Ausführungen läßt sich BGHSt 30, 98 hinreißen. Die Frage, ob die Einschränkung
der Rechtsmittelwahl im Jugendstrafrecht (Berufung oder Revision, § 55 II JGG)
auch dann greift, wenn der Angeklagte in der Berufungsinstanz nicht erscheint und
seine Berufung deshalb gemäß § 329 I StPO verworfen wird, bejaht der Senat nach
eingehender Normexegese. Ergänzend führt er aus: „Letztlich entspricht es heutigen
rechtspolitischen Vorstellungen, nicht mehr Rechtsmittelmöglichkeiten zu eröffnen
als aus rechtsstaatlichen Gründen unbedingt geboten ist. Bestehende gesetzliche
Rechtsmitteleinschränkungen sollten deshalb nicht ohne zwingende Gründe durch
die Rechtsprechung beseitigt werden“ (S. 105). – Für die Auslegung der lex lata
sind gegenwärtige rechtspolitische Vorstellungen völlig irrelevant; schwerer wiegt
aber die Kompetenzanmaßung des Senats, der es für zulässig hält, daß die Recht-
sprechung eine bestehende gesetzliche Regelung „beseitigt“.
Ganz bedenklich sind insoweit die immer wieder vorkommenden rechtspolitischen
Ergebniskontrollen,141 soweit sie das nach der herkömmlichen Gesetzeskonkretisie-
rung gefundene Resultat unter den Vorbehalt einer Revision durch eine zusätzliche
kriminalpolitische Prüfung stellen. So gelingt es z. B. BGHSt 19, 109 bei der Aus-
legung des Begriffs „Rädelsführer“, einen klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers
zu dieser Frage zu ermitteln, und dennoch folgt die Erwägung: „Es besteht kein
rechtspolitischer Grund, den Begriff des Rädelsführers besonders weit auszulegen“
(S. 111). Aber würde ein solcher Grund denn eine Abweichung vom erkennbaren
Willen des Gesetzgebers erlauben? Ähnlich geht BGHSt 31, 317 vor, wo die im
Einklang mit der gesetzgeberischen Vorstellung erzielte Lösung (bedingter Vorsatz
ausreichend) abschließend auf ihre Tragfähigkeit hin untersucht wird: Auch gegen
die Strafwürdigkeit des Täters seien Bedenken nicht zu erheben (S. 323).
Mißverständlich sind weiterhin Formulierungen, die auf eine judikative Bewertung
der gesetzgeberischen Lösung hindeuten, so wie in BGHSt 45, 131 (siehe oben Fall
282), wo der Senat eine einschränkende Auslegung ablehnt (S. 134): „Auch die ratio
legis erfordert eine derartige Einschränkung nicht. Der umfassende Wortlaut ist
durchaus sachgerecht.“ — Ähnlich argumentiert BGHSt 42, 391 bei Prüfung der
Frage, ob § 168c II StPO eine Regelungslücke enthält, weil er dem Beschuldigten
zwar ein Anwesenheitsrecht für die richterliche Vernehmung eines Zeugen einräumt,
nicht aber bei der Vernehmung eines Mitbeschuldigten: Aus verschiedenen Gründen
beziehe die Vorschrift den Mitbeschuldigten „zutreffend“ nicht mit ein (S. 396). In
beiden Fällen hätten die Senate, um den Verdacht auszuräumen, sie selbst beurteil-
ten die Regelung als vernünftig oder zutreffend, verdeutlichen sollen, daß die Aus-
gestaltung der jeweiligen Norm von der gesetzgeberischen Konzeption her system-
gerecht oder konsequent sei. — Gerade noch hergestellt wird die Verbindung zum
Normzweck in BGHSt 35, 340 (341): Die Unbestimmtheit der Norm begründe „die
Gefahr, daß der Anwendungsbereich des § 133 StGB auf Verhaltensweisen ausge-
dehnt werden könnte, die zwar unter disziplinarrechtlichen Gesichtspunkten beacht-
lich sein mögen, die jedoch strafrechtlicher Ahndung nicht unterworfen sein sollten,
weil im Hinblick auf den Zweck der Vorschrift . . . eine solche Ahndung nicht erfor-
derlich ist.“ — Nicht zweifelsfrei sind die Überlegungen des Großen Senats in
BGHSt 14, 38 zum Anwendungsbereich der Amtsunterschlagung (§ 350 StGB a. F.):
Es bestehe kein Bedürfnis, dieser Vorschrift einen möglichst weiten Anwendungsbe-
reich zu sichern, denn gerade deren Mindeststrafe werde „nach der Erfahrung der
Praxis nicht selten als unbillig empfunden“142 und auch das zukünftige Recht ent-
halte keine Mindeststrafe mehr (S. 47). Die Entscheidung mag aus anderen Gründen
zutreffen, aber nicht aus Billigkeitserwägungen der Praxis oder aufgrund der lex
ferenda.
Insgesamt verbergen sich hinter kriminalpolitischen Erwägungen in Urteils-
gründen somit ganz verschiedene Aspekte.143 Häufig handelt es sich um teleo-
logische Argumente, oft wird das auf herkömmlichen Weg gewonnene Ergebnis
unterstützt und nicht selten ist schlicht unklar, was damit gemeint ist. Schwer
abzugrenzen sind rechtspolitische Überlegungen vom Bereich der Rechtsfortbil-
dung. Mit der Gegenüberstellung der Fragen „Wie ist es geregelt?“ und „Wie
sollte es geregelt sein?“ gelangt man hier nicht weiter. Aber zumindest die
wichtigste Figur der Rechtsfortbildung, der Analogieschluß, orientiert sich
durchaus an der – wenn auch unvollständigen – gesetzgeberischen Wertent-
scheidung und nicht an eigenen Vorstellungen des Rechtsanwenders vom idea-
len Rechtszustand. Daß es darüber hinaus Situationen gibt, in denen der Richter
dem Gesetz überhaupt keine Richtschnur mehr entnehmen kann, und er „wie
ein Gesetzgeber“ entscheiden muß, ist zwar nicht auszuschließen144, aber selbst
dann bieten allgemeine Rechtsprinzipien (Verfassung, Rechtsidee) oder, wie
Art. 1 III des schweizerischen ZGB sagt, die „bewährte Lehre“ Anhaltspunkte
für eine Lösung.145 Entschieden abzulehnen ist die Beeinflussung oder Abwand-
lung einer feststellbaren gesetzgeberischen Entscheidung mittels kriminalpoliti-
scher Überlegungen.
142 Ähnlich BGHSt 34, 171: Daß Kettenbriefaktionen nicht als „Glücksspiel“
i. S. von § 284 StGB erfaßt werden können, sei angesichts der ohnehin weit gefaßten
und insoweit der Kritik unterliegenden Vorschrift „hinnehmbar“.
143 So auch Bahlmann, Rechtspolitische Argumente, S. 62 ff., 72 ff., mit Kritik an
werden, so soll das Gericht nach Gewohnheitsrecht und, wo auch ein solches fehlt,
nach der Regel entscheiden, die es als Gesetzgeber aufstellen würde. Es folgt dabei
bewährter Lehre und Überlieferung.“
514 VI. Sinn und Zweck
d) Kriminalpolitische Ergebniskontrolle/Strafbarkeitslücken
147 Aus Sicht der subjektiven Auslegungstheorie sollte man ergänzen: in einem klar
werden.
516 VI. Sinn und Zweck
VI 12.
150 Z. B. im Fall „Forstdiebstahl“ (oben Fall 57).
151 Zum eher rhetorischen Wechselspiel, das mit den (unerwünschten) Strafbarkeits-
lücken einerseits und dem (notwendig) fragmentarischen Charakter des Strafrechts an-
dererseits betrieben wird, siehe die Glosse von Ekklesiandros (Pseudonym), GA 1999,
409 (411). In der amtlichen Sammlung (Band 1–47) taucht die Formulierung vom
„fragmentarischen Charakter“ des Strafrechts übrigens gar nicht auf.
152 Regelmäßig liegt dann natürlich auch aus kriminalpolitischer Sicht eine Lücke
vor.
5. Kriminalpolitische Argumente/Strafbarkeitslücken/Strafwürdigkeit 517
In einigen Fällen, in denen der BGH die Strafnorm anwenden will, macht er
sich die psychologische Eindruckskraft des Arguments „Strafbarkeitslücke“
durch die Konstruktion eines gesetzgeberischen Willens zunutze. Unterstellt
wird ein vernünftiger Gesetzgeber, dessen Wille zur konkreten Frage womöglich
nicht feststellbar ist, der aber mit Sicherheit keine Strafbarkeitslücke hinterlas-
sen wollte:
BGHSt 18, 359 (oben Fall 272) zeigt anhand verschiedener Normen des Straßenver-
kehrsrechts auf, welche Pflichtverletzungen des Fahrzeughalters strafbar sind. „An-
gesichts dieser Bestimmungen wäre es nicht verständlich“, wenn vorliegende Kon-
stellation – Überlassung eines KFZ an einen Fahruntüchtigen – straflos bliebe
(S. 363). Die Gegenauffassung würde zu einer „Lücke in den Verkehrsvorschriften“
führen, „die der Gesetzgeber nicht gewollt haben kann“. — Recht pathetisch führt
BGHSt 31, 317 (oben Fall 35) aus: „Daß der Gesetzgeber eine so schwerwiegende
Lücke in den vor gefährlichen Angriffen fremder Geheimdienste gegen die Bundes-
republik Deutschland strafrechtlich geschützten Bereich habe reißen wollen, kann
ausgeschlossen werden“ (S. 320).
In beiden Fällen hat die Argumentation keinen kriminalpolitischen Charakter,
sondern eher nur rhetorischen Wert. Die von der Gegenauffassung vorgebrach-
ten Einwände aus dem Wortlaut wiegen schwer und bedürfen schlagkräftiger
Erwiderung. Notwendig war das gleichwohl nicht, denn in beiden Fällen spra-
chen schon subjektiv-teleologische Argumente153 für die Normanwendung, und
BGHSt 18, 359 kann zusätzlich auf die Gesamtsystematik der einschlägigen Re-
gelungen verweisen. Wer diese Faktoren mißachtet, erzeugt natürlich Strafbar-
keitslücken. Existierten hingegen keine „positiven“ (gesetzgeberischen) Gründe
für die Bejahung der Strafbarkeit, würden auch etwaige Lücken hierfür nicht
genügen.
Schwierig ist die Situation, wenn die Problematik im Bereich der allgemeinen
Lehren vom Verbrechen spielt, wie etwa in der berühmten Frage, wie der ge-
setzlich nicht geregelte Erlaubnistatumstandsirrtum zu behandeln ist. Bekannt-
lich vertritt eine starke Auffassung (die „rechtsfolgenverweisende einge-
schränkte Schuldtheorie“) die Ansicht, dieser Irrtum sei nur in den Rechtsfol-
gen dem Tatumstandsirrtum des § 16 StGB gleichzustellen, ändere aber nichts
daran, daß eine vorsätzliche Tat vorliegt; andernfalls seien Strafbarkeitslücken
im Bereich der Teilnahme zu befürchten, weil es an einer vorsätzlichen Haupt-
tat (§§ 26, 27 StGB) fehle.154 Da keine gesetzgeberische Äußerung zu dieser
Frage existiert, kann als Referenz nur die sonst anerkannte Systematik heran-
gezogen werden: Wäre es gemessen daran widersprüchlich oder systemwidrig,
die vorsätzliche Haupttat für vorliegende Konstellation zu verneinen, läge eine
ungewollte Strafbarkeitslücke vor, die zur Vermeidung von Widersprüchen ge-
153 BGHSt 18, 359 sagt es zwar nicht ausdrücklich, aber nach den Urteilsgründen
155 Wessels/Beulke (Strafrecht AT, Rn. 479) vereinnahmen den BGH für die rechts-
standsirrtums, zumal der Große Senat noch weitere Unbilligkeiten aufführt. Die gene-
röse Linie des Großen Senats wird noch andernorts deutlich, vgl. unten vor Fall 310.
5. Kriminalpolitische Argumente/Strafbarkeitslücken/Strafwürdigkeit 519
gung auch zu einer sachgerechten Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme führe,
indem typischerweise nur unterstützende Tätigkeiten als Beihilfe bewertet würden
(S. 65 f.). „Der Gesichtspunkt unerwünschter Strafbarkeitslücken ist daher in diesem
Zusammenhang ohne Belang“ (S. 66).
In den dargestellten Fällen ist der BGH von seiner dogmatisch begründeten
Lösung überzeugt und kann zusätzlich darauf verweisen, daß das gesetzgeberi-
sche Programm in der vorgeführten Auslegung auch kriminalpolitisch zu sach-
gerechten Ergebnissen führt. Häufig scheint der Gerichtshof sich seiner Sache
jedoch nicht ganz sicher zu sein und zerstreut die kriminalpolitischen oder dog-
matischen Bedenken mit dem pragmatischen Hinweis auf anderweitige Normen,
die den Sachverhalt erfassen und eine ausreichende Ahndung gewährleisten.159
Stehen andere Vorschriften zur Verfügung ist das kriminalpolitische Bedürfnis
zumindest nicht mehr „zwingend“, sind etwaige Strafbarkeitslücken „hinnehm-
bar“, nicht „erheblich“ oder nicht „gravierend“. Auf diese Weise kann das
rechtspolitische Gewissen beruhigt und der Gegenmeinung – mag sie kriminal-
politisch oder begrifflich argumentieren – Wind aus den Segeln genommen
werden.
Fall 306 (BGHSt 9, 370): Der Senat verlangt nach eingehender Begründung und im
Einklang mit der „überkommenen Trennung zwischen Täterschaft und Teilnahme“
als Anknüpfungspunkt für die Anstiftung eine vorsätzliche Haupttat. „Das Bestre-
ben, eine möglichst lückenlose Erfassung strafwürdiger Fälle zu gewährleisten,
rechtfertigt die Gegenmeinung nicht. Das Strafbedürfnis allein kann zu einer Ver-
urteilung nicht genügen. Im übrigen ist der Umfang der möglichen Lücken nicht
sehr groß. Sie werden in der Regel nur auftreten bei eigenhändigen Delikten und
bei Sonderdelikten, bei denen der Beteiligte . . . nicht mittelbarer Täter sein kann.
Hier ist jedoch häufig eine Bestrafung unter anderen rechtlichen Gesichtspunkten
möglich. Dies zeigt der vorliegende Fall . . .“ (S. 381).
Fall 307 (BGHSt 12, 392): Der Senat erkennt keinen strafbaren Verstoß gegen die
Pflicht des Fahrzeughalters, eine Haftpflichtversicherung abzuschließen und auf-
rechtzuerhalten, solange der einen Monat nachwirkende Versicherungsschutz gemäß
§ 158c II VVG besteht. In der Gegenauffassung liege eine „unzulässige Erweiterung
des Tatbestandes“ (S. 397). Es existiere auch kein kriminalpolitisches Bedürfnis, die
Strafbarkeit schon mit Ende des Versicherungsverhältnisses beginnen zu lassen, um
Druck auf den Fahrzeughalter auszuüben, rechtzeitig nach Ablauf des Versiche-
rungsvertrages einen neuen abzuschließen (S. 397 f.). „Das Gesetz hat auf anderem
[versicherungstechnischen] Wege genügend vorgesorgt, daß in der Zeit nach Ablauf
des erweiterten Versicherungsschutzes nicht die Ansprüche des Geschädigten gegen
den Kraftfahrzeughalter wegen dessen Mittellosigkeit vereitelt werden“ (S. 398).
BGHSt 24, 72 (80 f.) lehnt es ab, eine Subsidiaritätsklausel einzuschränken. Die
Klausel sei womöglich nicht sinnvoll, aber doch Gesetz. Andernfalls würde sie ihre
Bedeutung verlieren, was Sinn und Zweck der Vorschrift widerspräche. Zudem sei
„auch kein zwingendes rechtspolitisches Bedürfnis“ für die Annahme von Tateinheit
159 BGHSt GS 39, 221 (232, oben Fall 303) beschwichtigt damit, daß die Fall-
zu erkennen, denn das subsidiäre Delikt könne zumindest bei der Strafzumessung
erschwerend berücksichtigt werden.160
BGHSt 42, 368 verneint insbesondere aus grammatikalisch-systematischen Erwägun-
gen die Möglichkeit, den strafschärfenden Umstand der Bewaffnung in § 30a II Nr. 2
BtMG den Mittätern gemäß § 25 II StGB zuzurechnen (eingehend oben Fall 36).
Dies führe nicht zu „gravierenden Strafbarkeitslücken“ (S. 371). In dem von der
Gegenauffassung angeführten Fall, daß der Geschäftsherr eines Betäubungsmittelge-
schäfts sich von bewaffneten Mittätern begleiten läßt, könne Anstiftung vorliegen.
Auf die subsidiär greifenden Vorschriften weisen die Senate gerne auch dann
hin, wenn das Ergebnis durch den Wortlaut erzwungen ist oder andere Faktoren
die Anwendung der eigentlich von Sinn und Zweck her passenden Norm ver-
bietet.
Eine gefährliche Körperverletzung mittels eines gefährlichen Werkzeugs (§ 224 I
Nr. 2 StGB) begeht nicht, wer den Kopf des Opfers gegen eine Hauswand stößt.
Eine weite Auslegung entspräche nach Ansicht von BGHSt 22, 235 (237) dem
Normzweck vielleicht eher, jedoch bestehe dafür „kein zwingendes Bedürfnis“. In
leichteren Fälle genüge der Strafrahmen des Grundtatbestandes, bei schwereren Fäl-
len komme als andere Alternative des § 224 eine das Leben gefährdende Behand-
lung (§ 224 I Nr. 5) in Betracht. Ganz ähnlich argumentiert BGHSt 13, 81 (82): Da
eine andere Alternative des § 243 StGB (a. F.) greife, bestehe auch kein „praktisches
Bedürfnis“. Dagegen verzichtet BGHSt 42, 30 (34) darauf, den Kompensationsge-
danken besonders zu betonen: Die innere Rechtfertigung dafür, daß der vorliegen-
den Fall nicht § 20 I Nr. 5 VereinsG unterfällt, sei zwar fraglich, aber wegen des
Wortlauts könne die etwaige Strafbarkeitslücke161 nicht geschlossen werden. An-
schließend legt der Senat jedoch dar, daß § 20 I Nr. 4 Vereinsgesetz greift.
Fall 308 (BGHSt 25, 347): Der Senat hält es für zwingend, die kurze presserecht-
liche Verjährungsfrist bei der sukzessiven Verbreitung von Druckwerken bereits ab
Beginn der Verbreitung laufen zu lassen. Die „unbefriedigenden Auswirkungen“
seien zwar nicht zu übersehen (S. 354), müßten aber als Folge der presserechtlichen
Regelung, die möglichst frühzeitig Gewißheit über mögliche Strafverfolgungsmaß-
nahmen verschaffen wolle, hingenommen werden (S. 355). Zusätzlich beruhigt der
Senat das rechtspolitische Gewissen: „Ins Gewicht fallende kriminalpolitische Schä-
den sind hiervon angesichts der nach dem Eintritt der Verjährung fortbestehenden
Einziehungsmöglichkeit kaum zu erwarten, zumal da aufsehenerregende, die Rechts-
ordnung in schwerwiegender Weise berührende Presseinhaltsdelikte den Strafverfol-
gungsbehörden in aller Regel rechtzeitig zur Kenntnis gelangen werden.“
BGHSt 25, 347 zeigt zugleich den pragmatischen Charakter des Hinweises
auf anderweitige Ahndungsmöglichkeiten. Es kommt nicht darauf an, ob die
anderen Bestimmungen eine sachgerechte Erfassung von Unrecht und Schuld
160 BGHSt 47, 243 (oben Fall 105) macht sich in einer ganz parallelen Situation
dieses Argument gar nicht erst zunutze, sondern stellt maßgeblich auf den eindeutigen
Wortlaut der Subsidiaritätsklausel ab.
161 In Anbetracht des entgegenstehenden Wortlauts kann der Senat getrost dahinste-
164 Vgl. oben und BGHSt 22, 235 (§§ 223, 223a StGB a. F.) und BGHSt 40, 251
(§§ 306, 307 StGB a. F.). Sollte die Körperverletzung tatsächlich einmal so drastisch
sein, daß der Strafrahmen des § 223 StGB nicht genügt, wird regelmäßig ein (ver-
suchtes) Tötungsdelikt erfüllt sein. Eine Körperverletzung, die eine fünfjährige Frei-
heitsstrafe rechtfertigt, ohne daß § 224 StGB oder andere Vorschriften griffen, ist al-
lerdings auch bei großer krimineller Phantasie schwer vorstellbar.
165 Siehe oben BGHSt 42, 368.
166 Zur Formulierung „in aller Regel“ siehe bereits oben BGHSt 29, 300 (Fall 309).
524 VI. Sinn und Zweck
BGHSt 9, 84 (87) hält den Hinweis des RG auf §§ 246, 266 StGB nicht für ausrei-
chend, denn diese Normen seien in der relevanten Konstellation oft nicht erfüllt oder
nicht nachweisbar. — Ähnlich argumentiert BGHSt 13, 46 (51): „Die entstehende
Lücke ließe sich auch nicht durch Ausweichen auf andere Bestimmungen . . . schlie-
ßen, weil deren Anwendungsgebiet und Voraussetzungen wesentlich andere sind.“ —
Nach Ansicht von BGHSt 13, 32 sprachen Entstehungsgeschichte und Zweck dafür,
das Merkmal „mit Strafe bedrohte Handlung“ als Voraussetzung der Einziehung ge-
mäß §§ 86 I, 98 StGB a. F. schon bei Verwirklichung des äußeren Tatbestandes zu
bejahen, jedenfalls bei der Verbreitung staatsgefährdender Schriften gemäß § 93
StGB a. F. „Dieses Ergebnis entspricht bei § 93 StGB allein dem berechtigten Be-
dürfnis“, denn der „enge Rahmen“ der ansonsten greifenden allgemeinen Einzie-
hungsbestimmungen genüge wenigstens im Staatsschutzrecht nicht (S. 40).
Auch die Strafbarkeit wegen Versuchs oder Beihilfe hält der BGH offenbar
nicht für ausreichend und läßt sich selbst in dafür prädestinierten Fällen gar
nicht erst auf die Frage ein:
So weist etwa BGHSt 27, 45 (oben Fall 54) trotz erheblicher Bedenken aus dem
Wortlaut darauf hin, daß die Bestrafung erfolgloser Absatzbemühungen lediglich als
versuchte Hehlerei „eine nicht zu ertragende Mißachtung des gesetzgeberischen
Willens und seiner kriminalpolitischen Ziele“ bedeutete (S. 51).
Fall 311 (vgl. oben Fall 93 – „Erfolg der Strafvereitelung“): Ganz ähnlich verhält es
sich mit der Frage, ob das „Vereiteln“ einer Strafe in § 258 StGB nur bei der end-
gültigen Verhinderung der Bestrafung erfüllt ist. Die Rechtsprechung läßt es unter
Berufung auf die Entstehungsgeschichte genügen, daß die Verhängung der Strafe für
geraume Zeit verzögert wird, obgleich die grammatikalische Auslegung stark für ein
enges Verständnis spricht und obwohl die Versuchsstrafbarkeit dem Strafbedürfnis
ohne weiteres Rechnung tragen würde.167 Der wenig pragmatische Standpunkt der
Praxis hat womöglich zwei Ursachen: Zum einen würde die „Kann-Milderung“ des
§ 23 II StGB Strafzumessungsfehler der Vorinstanzen provozieren. Zum anderen
könnte historischer Ballast fortwirken, denn RGSt 70, 251 hat in einer ganz paralle-
len Situation168 bereits ebenso entschieden und keine endgültige Vereitelung ver-
langt. Im Unterschied zu § 23 II StGB g. F. sah jedoch § 44 StGB i. d. F. bis 1939
die zwingende Strafmilderung für den Versuch vor, worauf das RG entscheidend
abstellt: Bei anderer Ansicht würde der Täter „in den weitaus meisten Fällen nur
wegen Versuches – also milder – bestraft werden können, ein Ergebnis, das der Ge-
setzgeber . . . unmöglich gewollt haben kann“ (S. 255).
In vergleichbarer Ausgangsposition wie BGHSt 27, 45 und mit ähnlichem Pathos
betont BGHSt 31, 317 (oben Fall 35): „Daß der Gesetzgeber eine so schwerwie-
gende Lücke in den vor gefährlichen Angriffen fremder Geheimdienste gegen die
167 Immerhin rechtfertigt die Rechtsprechung ihre Auffassung nicht explizit mit den
e) Strafwürdigkeit
Ganz ähnlich wie mit den Strafbarkeitslücken verhält es sich mit dem nicht
selten anzutreffenden Begriff der „Strafwürdigkeit“. Gemeinhin dürfte er eher
im kriminalpolitischen Sinn verstanden werden. Die Frage wird dann lauten, ob
ein Verhalten (noch) strafwürdig ist und deshalb (weiter) unter Strafandrohung
stehen sollte.170 Möglich ist aber auch ein an der lex lata anknüpfender Stand-
169 So Schroeder, JZ 1983, 671 (672): Das Verhalten sei zwar zweifellos strafwür-
punkt, der danach fragt, welches Verhalten der Gesetzgeber selbst für „straf-
würdig“ erachtet hat. Nur diese Perspektive kann auch für die Rechtsanwen-
dung und zur Begründung der Strafbarkeit herangezogen werden:
Daß die Kriterien der Strafwürdigkeit aus der gesetzgeberischen Regelung selbst
folgen, wird u. a. in BGHSt 11, 199 (205) deutlich: Erst die Verwirklichung des zu-
sätzlichen Merkmals der Gemeingefahr „rechtfertigt nach der erkennbaren Absicht
des Gesetzgebers die erhöhte Strafwürdigkeit von gefährlichen Verkehrsverstößen
als Vergehen“. Und BGHSt 27, 160 (164) führt zu § 259 StGB aus: Der „für die
Strafwürdigkeit der Hehlerei wesentliche Gesichtspunkt, daß die Rückgewinnung für
den Berechtigten erschwert wird“, treffe auch auf die Weitergabe eines Pfandschei-
nes über die versetzte Sache zu. Vom „nach dem Gesetz strafwürdigen Unrecht“
spricht auch BGHSt 1, 293 (297). Fragwürdig argumentiert demgegenüber BGHSt
31, 317 (323), wo das dogmatisch ermittelte Ergebnis unter einen kriminalpoliti-
schen Vorbehalt gestellt wird: Auch gegen die Strafwürdigkeit des Täters seien Be-
denken nicht zu erheben.
f) Fazit
Die Praxis verfolgt keine klare Trennung zwischen dogmatischer und krimi-
nalpolitischer Argumentation. Einige Äußerungen des BGH lassen darauf
schließen, daß kriminalpolitische Bedürfnisse Einfluß auf die Auslegung gewin-
nen dürfen171, wenn nicht zwingende rechtsstaatliche Gründe entgegenstehen;
anderseits existieren Äußerungen, wonach das Strafbedürfnis die Strafbarkeit
zumindest nicht allein begründen könne. Allerdings ist oftmals unklar, was die
Rechtsprechung unter kriminalpolitischen Erwägungen überhaupt versteht. Vom
hier vertretenen Standpunkt aus sind kriminalpolitische Erwägungen für die
Auslegung irrelevant; insbesondere verbietet sich die „Auflehnung“ gegenüber
einem feststellbaren (und nicht verfassungswidrigen) gesetzgeberischen Willen.
Nicht zu bestreiten ist freilich, daß bei Unklarheit über den Gesetzesinhalt und
im Bereich der Rechtsfortbildung die Grenzen zwischen dogmatischen (Wie ist
es geregelt?) und rechtspolitischen Überlegungen (Wie soll es geregelt sein?)
verschwimmen. Zumindest „unschädlich“ ist in aller Regel ein unverbundenes
Nebeneinander von dogmatischer Lösung und kriminalpolitischer Stimmigkeits-
prüfung. Eine kriminalpolitische Ergebniskontrolle kann zwar ein vollständiges
Bild von der geltenden und wünschenswerten Rechtslage liefern, ist aber ihrer-
seits von erheblichen Unsicherheiten geprägt. Die Beschäftigung mit etwaigen
Strafbarkeitslücken dient zumeist nur der Beruhigung des rechtspolitischen Ge-
wissens.172 Wie der Begriff der Strafbarkeitslücke kann die „Strafwürdigkeit“ in
170 In diesem Sinn z. B. F. Meyer, ZStW 2003, 249 (276 ff.) zur Strafbarkeit und
rücksichtigt werden. Allerdings ist fraglich, ob die vom Senat angeführten Gründe
wirklich rechtspolitische sind (vgl. oben Fall 296); ähnlich: BGHSt 15, 138 (145).
6. Höhe des Strafrahmens 527
Nicht selten spielt in den Entscheidungen der Strafsenate die Höhe des Straf-
rahmens eine Rolle bei der Auslegung,173 vor allem bei Straftatbeständen mit
erhöhtem Mindeststrafrahmen. Dann wird die Strafandrohung mitunter als Ar-
gument für ein restriktives oder zumindest gegen ein ausdehnendes Verständnis
der Norm genutzt:
BGHSt 6, 144 (146): Gegen die ausdehnende Auslegung des Begriffs „Untersu-
chung“ spreche „schon die hohe Strafdrohung des § 343 StGB, die keine mildern-
den Umstände kennt“. — BGHSt 22, 178 (179): Die besonders hohe Strafdrohung
des § 236 StGB (a. F.) indiziere die Notwendigkeit, „dem Merkmal der Entführung
enge Grenzen zu setzen“. — BGHSt 40, 251 (254): „Nur diese einengende Ausle-
gung kann auch den wesentlich erhöhten Strafrahmen rechtfertigen.“ — BGHSt 42,
368 (371): Angesichts der besonders hohen Strafdrohung wäre eine gesetzgeberische
Klarstellung in diese Richtung zu erwarten gewesen.
Freilich wäre es ein Irrtum anzunehmen, daß ein hoher Strafrahmen per se
für eine restriktive Interpretation spreche oder daß sogar eine Auslegungsma-
xime existiere, nach der die Auslegung um so engherziger sein muß, je höher
die angedrohte Strafe ist. Ebensowenig existiert eine Interpretationsregel, wo-
nach eine Strafnorm mit geringer Strafandrohung weit auszulegen ist. Daß sol-
che Regeln unsinnig wären, folgt aus einfachen Umständen der Gesetzestech-
nik: Mit einem hohen Strafrahmen belegt der Gesetzgeber Verhaltensweisen,
die er als schweres Unrecht einstuft, die ihm als besonders strafwürdig erschei-
nen. Diese Einschätzung spiegelt sich in den tatbestandlichen Umschreibungen
wieder, indem z. B. im Tatbestand der schweren Körperverletzung nur beson-
ders gravierende Beeinträchtigungen der körperlichen Integrität unter ver-
schärfte Strafandrohung gestellt werden. Da die dort genannten Modalitäten von
vornherein nur bestimmte Sachverhalte der Lebenswirklichkeit herausgreifen, ist
die Restriktion somit bereits im Tatbestand angelegt. Eine zusätzliche Ein-
schränkung durch eine einengende Interpretation ist nicht angezeigt. Die Höhe
der Strafdrohung allein ist demzufolge kein Grund, § 226, § 212 oder § 244
StGB restriktiv auszulegen. Das gilt zumindest im Grundsatz sogar für § 211
StGB, denn dessen hohe Strafdrohung ist z. B. für die Auslegung der Mord-
merkmale „grausam“ oder Begehung mit „gemeingefährlichen Mitteln“ ohne
Belang. Es versteht sich von selbst, daß unter diese Tatbestandsmerkmale keine
geringfügigen Verhaltensweisen fallen und daß damit im Vergleich zum Tot-
schlag größeres Unrecht umschrieben ist. Mit den unterschiedlichen Strafrah-
men bringt der Gesetzgeber die unterschiedliche Gewichtung des Unrechts zum
Ausdruck.174 An dessen Entscheidung ist der Rechtsanwender gebunden.175
Fall 312 (BGHSt 38, 144 – Fall „Dr. Theissen“): Sehr fragwürdig argumentiert der
Senat bei der Auslegung der Vorschriften gegen den Schwangerschaftsabbruch. Die
geringe Strafandrohung in § 219 I StGB a. F. (Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu
einem Jahr) hält der Senat offenbar für inakzeptabel (S. 148 f.): „Nähme man nur
die angedrohte Höchststrafe . . . zum Maßstab, so stände § 219 StGB allerdings in
einer Reihe mit Hausfriedensbruch (§ 123 StGB), . . . Beleidigung (§ 185 StGB) und
ähnlichen Vorschriften minderen Gewichts. Indes wäre ein solches Vorgehen ver-
fehlt“, denn § 219 StGB solle wirksamen Lebensschutz gewährleisten und Schwan-
gerschaftsabbrüche verhindern. Die vergleichsweise geringe Strafdrohung beruhe
darauf, daß die Strafe nur „ultima ratio“ neben anderen Schutzmaßnahmen sei.
„Dies ändert aber nichts daran, daß es sich insgesamt um ,Straftaten gegen das Le-
ben‘ handelt (so die Überschrift des 16. Abschnitts . . .).“ Auch bei der Interpretation
des Tatbestandsmerkmals „ärztliche Erkenntnis“ in § 218a StGB a. F. bringt der Se-
nat seine Vorstellungen unter Berufung auf die Notwendigkeit verfassungskonformer
Auslegung zum Ansatz: „Die Bedeutung des ungeborenen Lebens verlangt eine
Auslegung, die seinen Schutz soweit wie möglich gewährleistet. Auslegungen, die
hinter dem grundgesetzlich verbürgten und geforderten Schutz zurückblieben, müß-
ten hinter Normdeutungen zurückstehen, die mit dem Grundgesetz in Einklang sind“
(S. 151). – Die Entscheidung steht in Gefahr, ihre eigenen Vorstellungen über die
Wertigkeiten der Rechtsgüter an die Stelle der gesetzgeberischen Einschätzung zu
setzen. Daß es – wie der Senat recht emotional betont – um Straftaten „gegen das
Leben“ geht, ändert nichts an der bewußt niedrigen Strafandrohung. Und daß die
Verfassung zu einer weiten Auslegung einer Strafvorschrift drängt, ist zwar metho-
disch denkbar,176 aber ein kaum konkretisierbares Auslegungsverfahren; insofern
müßte der Gedanke des Rechtsgüterschutzes generell zu einer ausdehnenden Inter-
pretation von Strafvorschriften führen.
Der Topos „Höhe der Strafdrohung“ gibt der Auslegung somit nicht a priori
eine bestimmte Richtung. Daß er in der Rechtsprechung gleichwohl verwendet
wird und zumindest tendenziell restriktiv wirkt177, hat andere Gründe. Vor al-
lem kann die hohe Strafdrohung Indiz dafür sein, daß die gesetzliche Fassung
den Erschwerungstatbeständen des § 122 III und des § 125 II hat denn auch der
Gesetzgeber nicht nur durch eine andere sprachliche Kennzeichnung (,verüben‘ statt
begehen), sondern vor allem durch die abweichende Bemessung der Strafrahmen be-
rücksichtigt.“ Oder BGHSt 1, 388 (390), wo der BGH für die Erfüllung des strafschär-
fenden Merkmals ein Täterverhalten verlangt, daß vom typischen Fall des Grundtat-
bestandes deutlich abweicht.
175 Kudlich, ZStW 2003, 1 (21), allerdings mit Einschränkungen.
176 Es läge ein Ausnahmefall vor, in dem die verfassungskonforme Auslegung zu
zu weit geraten ist, daß die Absicht des Gesetzgebers nicht so weit ging, wie es
der Wortlaut suggeriert. Die Ausgestaltung der Norm erscheint in Hinblick auf
die hohe Strafdrohung als mißlungen, unvollständig oder zumindest mißver-
ständlich. Vielleicht vermittelt die Strafandrohung dem Rechtsanwender nur ein
vages Gefühl, daß etwas „nicht stimmt“. Dann beginnt die nähere Suche nach
dem Grund der Strafschärfung oder nach dem „wahren Willen“ des Gesetzge-
bers, der womöglich durch eine restriktive Auslegung oder sogar im Wege der
Reduktion verwirklicht werden muß.
Eine Restriktion unternimmt BGHSt 40, 251 bezüglich der besonders schweren
Brandstiftung (§ 307 Nr. 2 StGB i. d. F. bis 1998). Die Vorläuferfassung habe die
Einschränkung zwar deutlicher zum Ausdruck gebracht, aber für einen Willen des
Gesetzgeber zu einer sachlichen Änderung sei nichts ersichtlich (S. 254; näher oben
Fall 192). „Nur diese einengende Auslegung kann auch den [gegenüber § 306] we-
sentlich erhöhten Strafrahmen rechtfertigen.“
Mehrmals zu einer Tatbestandsreduktion gezwungen wurde der BGH durch verun-
glückte Fassungen des § 239a StGB, der seit 1936 für einen erpresserischen Kindes-
raub die Todesstrafe, seit dem 3. StÄG von 1953 immerhin noch eine Mindeststrafe
von drei Jahren vorsah. Beide Fassungen schränkte die Rechtsprechung durch ein
zusätzliches Merkmal ein, das der Gesetzgeber schließlich 1971 im 12. StÄG auch
in den Gesetzestext einfügte (siehe oben Fall 177). Nach einer weiteren Umgestal-
tung der Norm 1989 zum allgemeineren Delikt des erpresserischen Menschenraubs
begannen die Reduktionsbemühungen angesichts der Mindeststrafe von fünf Jahren
von neuem. Insbesondere BGHSt 39, 36 und 330 haben versucht, dem (wohl) unbe-
absichtigt zu weit geratenen Gesetzeswortlaut durch zusätzliche Anforderungen ein-
zuschränken, und dabei auf im Gesetzgebungsverfahren geäußerte Vorstellungen zu-
rückgegriffen (subjektiv-teleologische Reduktion; näher oben Fall 152).
Eine Tatbestandsreduktion bedarf jedoch starker Anhaltspunkte, wenn die
Fehlerhaftigkeit oder Unvollständigkeit nicht offen zutage tritt, denn vorrangig
ist die Entscheidung des Gesetzgebers, mag sie auch als unangemessen erschei-
nen. Auf einen hohen Strafrahmen gestützte Forderungen aus der Literatur nach
einer Tatbestandsreduktion weist der BGH unter Berufung auf ein bewußtes le-
gislatives Votum z. B. in folgenden Entscheidungen zurück:
Nach BGHSt 46, 146 (oben Fall 20: Genügt die Fälschung nur einer Zahlungskarte
gemäß § 152a StGB?) hat der Gesetzgeber den Gesichtspunkt des Strafrahmens be-
dacht, sich u. a. wegen der Gefährlichkeit der Tathandlungen jedoch für die Einfüh-
rung eines Verbrechenstatbestandes entschieden (S. 151 f.).
Ähnlich argumentiert BGHSt 45, 211:178 Eine besonders schwere Brandstiftung ge-
mäß § 306b II Nr. 2 StGB („in der Absicht handelt, eine andere Straftat zu ermögli-
chen“) liegt auch dann vor, wenn der Täter die schwere Brandstiftung begeht, um
einen Versicherungsbetrug vorzubereiten. Ein spezifischer Zusammenhang der ande-
ren Tat zu der in der Brandstiftung liegenden Gemeingefahr sei nicht erforderlich,
da das Gesetz anders als die Vorläufernorm kein „Ausnutzen“ der Brandstiftung für
die Begehung weiterer Taten mehr verlangt (S. 217). Zudem habe der Gesetzgeber
die Herabsetzung des Strafrahmens (zuvor nicht unter zehn, jetzt mindestens fünf
Jahre) mit der Erweiterung der Qualifikationsmerkmale begründet. Einwände gegen
die hohe Mindeststrafe seien im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens zurückgewiesen
worden, so daß der Hinweis auf die hohe Strafdrohung eine restriktive Auslegung
nicht begründen könne (S. 218).179 – Dagegen nimmt das LG Kiel (StV 2003, 675)
angesichts des hohen Strafrahmens und drohender Wertungswidersprüche eine Tat-
bestandsreduktion („restriktive Auslegung“) vor.180
BGHSt 1, 255 (258) sieht in der Höhe der Strafdrohung des § 344 StGB a. F. (Ver-
folgung Unschuldiger) keinen Grund für eine enge Auslegung. Eventuell beruhe das
Mißverhältnis auf einem „überkommenen Gesetzesfehler“, jedoch gebe es auch
einen Grund dafür, weshalb die Norm eine schärfere Strafdrohung vorsehe als der
Tatbestand der Rechtsbeugung.
Ein außergewöhnlich hoher Mindeststrafrahmen kann sich weiterhin dann auf
die Normkonkretisierung auswirken, wenn er in Einzelfällen des Normbereichs
einer schuldangemessenen Bestrafung im Wege steht. In diesem Fall ist eine
verfassungskonforme (restriktive) Auslegung zu erwägen, um dem Schuldgrund-
satz bzw. dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Rechnung zu tragen. Nicht
möglich ist in dieser Situation allerdings eine verfassungskonforme Rechtsfort-
bildung gegen eine eindeutige Gesetzesnorm.181 Der BGH hat sich gerade bei
den dafür mustergültig geeigneten Bestimmungen (§ 211 StGB, § 316a StGB
a. F.) mit einer restriktiven Gesetzesanwendung erstaunlich schwergetan oder
diese gar nicht erst in Betracht gezogen:
Bezüglich § 211 hat der Große Strafsenat sich in BGHSt 30, 105 den vom BVerfG
angemahnten Weg der noch weitergehenden einengenden Auslegung der Mordmerk-
male verschlossen und statt dessen den Ausweg in einer methodisch unhaltbaren
Rechtsfortbildung gesucht (näher oben Fall 256).
Fall 313 (vgl. oben Fall 153): Für den „Autostraßenraub“ sah § 316a I StGB a. F.
ohne Milderungsmöglichkeit als Mindeststrafe Zuchthaus nicht unter fünf Jahren
vor. Gleichwohl hat der BGH die Auslegung der Bestimmung, insbesondere des Tat-
bestandsmerkmals „unter Ausnutzung der besonderen Verhältnisse des Straßenver-
kehrs“, keiner restriktiven Linie unterstellt.182 BGHSt 5, 280 hat den Tatbestand
z. B. bei einem Sachverhalt bejaht, in dem der Kraftfahrer an eine einsame Stelle
179 Anders Tröndle/Fischer, StGB49, § 306b, Rn. 9; vgl. dies., StGB51, § 306b,
lich einverstanden, so daß das Urteil (leider!) rechtskräftig wurde. Vgl. zur Aufleh-
nung des LG Kiels gegen die gesetzgeberische Entscheidung und die Ansicht des
BGH Ostendorf, StV 2003, 676, der die Mindeststrafe des § 306b II Nr. 2 StGB für
verfassungswidrig, das Urteil des LG für „rechtlich-mutig“ hält.
181 Vgl. dazu bereits oben V 5 am Ende. Wohlweislich hat das LG Kiel (siehe Fn.
zuvor) seine Reduktion des § 306b II Nr. 2 StGB nicht auf Verfassungsrecht gestützt,
denn das hätte zur Vorlage der Norm beim BVerfG gezwungen! Dieser Weg wäre frei-
lich ehrlicher und methodisch zutreffend gewesen, denn nur so ist die Mißachtung des
eindeutigen gesetzgeberischen Willens zu rechtfertigen.
6. Höhe des Strafrahmens 531
gelockt wurde, dort zum Aussteigen veranlaßt und dann in etwa 100 m Entfernung
überfallen wurde; Erwägungen zum Strafrahmen fehlen183. Erst BGHSt 22, 114 –
der Überfall ereignete sich hier erst nach einem längeren Fußmarsch – hat vorsich-
tig Zweifel geäußert und die hohe Strafdrohung zumindest gegen eine „ausdehnende
Anwendung“ der Vorschrift ins Feld geführt (S. 117).184 – Von der Frage nach einer
generell restriktiven Auslegung zu unterscheiden ist die verfassungsrechtliche Pro-
blematik in Fällen, die eindeutig den Tatbestand § 316a StGB (a. F.) erfüllen, bei
denen jedoch angesichts ihrer Geringfügigkeit die Mindeststrafe als unvertretbar
hoch erscheint. BGHSt 15, 322 (325) konstatiert auf den Einwand der Verteidigung,
die Strafe sei „naturrechtlich unvertretbar“, daß die Mindeststrafe bei der festgestell-
ten Sachgestaltung185 zwar „hart erscheint“, aber der Richter an die Entscheidung
des Gesetzgebers gebunden sei. Auch BGHSt 24, 173 (178) betont die Bindung des
Richters an den vom Gesetzgeber in § 316a vorgegebenen Strafrahmen. Wie in ei-
nem außergewöhnlichen – vorliegend aber nicht gegebenen – Fall, in dem die Min-
deststrafe die Schuld des Täters offensichtlich überschritte, zu verfahren wäre, läßt
der Senat offen (S. 177).186
Als letztes bleiben noch Fälle, in denen die Auslegungskriterien kein klares
Ergebnis zum Zweck der Strafschärfung und Inhalt der Norm zutage fördern.
Häufig ist lediglich klar, daß die Norm nur bei schwerwiegenden Verhaltens-
weisen greifen soll, nicht aber, worin genau das erhöhte Unrecht besteht. Inso-
fern kann der hohe Strafrahmen als Indiz dafür genommen werden, daß der Ge-
setzgeber nur erhebliches Unrecht erfassen wollte. Dann spricht nichts dagegen,
unter Hinweis auf die hohe Strafdrohung ein enges Verständnis zu bevorzugen.
Die Konkretisierung nimmt von diesem Ausgangspunkt ihren Weg:
Fall 314 (BGHSt 33, 322): Die Geiselnahme mit Todesfolge enthalte abgesehen
von § 211 StGB die höchste Strafdrohung im StGB, die wesentlich höher liege, als
182 Beyer, NJW 1971, 2034: Es sei auffällig, daß der BGH nie den Versuch gemacht
habe, § 316a unter Hinweis auf die hohe Strafdrohung einzuschränken. Beyer zitiert
außerdem eine Äußerung aus dem Sonderausschuß, wonach die Rechtsprechung des
BGH gezeigt habe, daß man mit der Formulierung des „Ausnutzens“ machen könne,
was man wolle.
183 Kein Wort dazu auch in der Entscheidung BGHSt 18, 170, die ein landgerichtli-
ches Urteil aufgehoben hat, in dem das „Ausnutzen“ verneint worden war. Auch die
damalige Kommentarliteratur sah offenbar keinen Grund für eine restriktive Handha-
bung, vgl. z. B. Schönke/Schröder, StGB12, Werner, in: LK-StGB8, Schwarz/Dreher,
StGB29, Floegel/Hartung, Straßenverkehrsrecht13, jeweils zu § 316a StGB.
184 Zu einem restriktiven Verständnis des § 316a StGB hat sich erst BGHSt 49, 8
durchgerungen, obwohl die Norm inzwischen einen minder schweren Fall kennt. Auf
den nach wie vor hohen Strafrahmen hat der BGH sich dabei nicht berufen.
185 Der Fahrer hatte einen Angriff auf eine Mitfahrerin unternommen und 70 DM
erbeutet. BGHSt 15, 322 erörtert zwar die verfassungsrechtliche Problematik der ho-
hen Strafandrohung, erwägt aber nicht, diese zum Anlaß für eine einschränkende Aus-
legung zu nehmen.
186 Entsprechend BGHSt GS 30, 105 müßte dann die richterliche Konstruktion einer
Milderungsmöglichkeiten erwogen werden. Das BVerfG hatte offenbar – anders als bei
§ 211 StGB – keine Gelegenheit, auf die Auslegung des § 316a StGB (a. F.) Einfluß
zu nehmen.
532 VI. Sinn und Zweck
wenn man lediglich auf die beiden zugrunde liegenden Tatbestände abstelle (Gei-
selnahme in Tateinheit mit fahrlässiger Tötung). Angesichts dieses Unterschieds „ist
die Folgerung zwingend, daß nicht der bloße Ursachenzusammenhang im Sinne der
Bedingungstheorie gemeint sein kann187, wenn der Tatbestand“ die Verursachung
des Todes „durch die Tat“ voraussetzt (S. 322 f.). „Vielmehr bedarf es eines zusätz-
lichen Merkmals, das geeignet erscheint, die hohe Strafdrohung zu rechtfertigen“
(S. 323). Ähnlich liege es bei der Körperverletzung mit Todesfolge.
Freilich ist es schwer vorherzusagen, wann die Rechtsprechung bei der Geset-
zeskonkretisierung auf das Argument „hohe Strafdrohung“ zurückgreift. Zuwei-
len wird es gar nicht herangezogen, obwohl es sich aufdrängt (vgl. oben zu
§ 316a StGB a. F.), oder es wird zur Begründung einer „mittleren“ Lösung ver-
wendet, obwohl es eher für eine noch engere Lösung spricht:
Fall 315 (BGHSt 18, 363): Der Senat verlangt u. a. „im Hinblick auf die schwere
Strafdrohung“ und auch aus sprachlichen Gründen für das Inbrandsetzen eines Ge-
bäudes gemäß § 306 Nr. 2 StGB (i. d. F. bis zum 6. StrRG 1998), daß das Feuer aus
eigener Kraft fortbrennen und daß es sich auf wesentliche Bestandteile des Gebäu-
des (Treppe, Fußboden, Wohnungstür) ausbreiten kann (S. 365 f.). Nicht erforderlich
sei hingegen die Möglichkeit, daß das ganze Gebäude niederbrennt. – Ob der Straf-
rahmen und die sprachliche Fassung aber nicht doch für eine engere Lösung spra-
chen?
Fall 316 (BGHSt 38, 116 – „Scheinwaffe“): Einen wenig überzeugenden Kompro-
miß vertritt BGHSt 38, 116 zum Thema „Scheinwaffe“ beim schweren Raub (§ 250
I Nr. 2 StGB i. d. F. bis zum 6. StrRG 1998). Entscheidend sei grundsätzlich nicht
die objektive Gefährlichkeit der Situation, sondern daß nach dem Plan des Täters
das Opfer davon ausgehen sollte, mit einer echten Waffe angegriffen zu werden
(S. 117). Jedoch dürften objektive Aspekte nicht völlig unberücksichtigt bleiben.
Wegen der hohen Mindeststrafe (fünf Jahre) sei der Anwendung des § 250 auf
Scheinwaffen Grenzen gesetzt (S. 118). Der mitgeführte Gegenstand müsse objektiv
dazu geeignet sein, beim Opfer den Eindruck der Gefährlichkeit zu erzeugen. Eine
einschränkende Auslegung sei auch angesichts der Grenze des möglichen Wortsinns
erforderlich (S. 119).188 – Es ist schwer von der Hand zu weisen, daß die hohe
Mindeststrafe für eine engere Auslegung des § 250 I sprach,189 aber noch eher
sprach sie dafür, die Scheinwaffe von vornherein nur als Fall des Grundtatbestandes
anzusehen.
Gänzlich unmotiviert wird das Argument in folgender Entscheidung ge-
braucht, offenbar um die eigentlich notwendige Begründung für die restriktive
Handhabung zu umgehen:
187 Klar ist nur, daß der Gesetzgeber mehr verlangt, aber nicht, was es ist.
188 Der Wortsinn gab zur Lösung des Problems gar nichts her, vgl. Graul, JR 1992,
297 (299); Mitsch, NStZ 1992, 434 (435).
189 Zu Recht weist allerdings Mitsch (wie Fn. zuvor) darauf hin, daß der Senat das
Strafrahmenargument mit dem minder schweren Fall des § 250 II StGB hätte entkräf-
ten können.
6. Höhe des Strafrahmens 533
Fall 317 (BGHSt 21, 188): Gemäß § 236 I StGB a. F. wurde mit mindestens einem
Jahr Zuchthaus bestraft, „wer eine Frau wider ihren Willen durch List, Drohung
oder Gewalt entführt, um sie zur Unzucht zu bringen“. Apodiktisch subsumiert der
Senat:190 „Wer eine Frau, die gewerbsmäßig Unzucht treibt, mit dem Kraftwagen
nicht an die von ihr genannte Stelle fährt, an der sie sich gegen ein schon vereinbar-
tes Entgelt hingeben will, sondern sie gegen ihren Willen an einen weiter entfernten
Ort entführt, um ihr dort das Geld vorzuenthalten und sie gewaltsam zu mißbrau-
chen, hat nicht die Absicht, ,sie zur Unzucht zu bringen‘.191 Denn § 236 Abs. 1
StGB schützt mit seiner hohen Mindeststrafe die Freiheit der Frauen im geschlecht-
lichen Umgang überhaupt, nicht eine damit verbundene Erwartung einer Belohnung
in Geld.“ – Die restriktive Anwendung der Norm hätte näherer Begründung als ei-
nes knappen Hinweises auf die Strafdrohung bedurft, denn daß die dem Wortlaut
eindeutig unterfallende Konstellation von der ratio legis nicht erfaßt sein soll, ist
zumindest nicht offensichtlich.192 Selbst wenn die hohe Mindeststrafe unangemessen
erschiene, wäre das lediglich Ausgangspunkt für die weitere Frage, ob das eine
Rechtsfortbildung rechtfertigte.193
Insgesamt ist das Argument „Höhe des Strafrahmens“ schwer einzuordnen.
Es ist kein Bestandteil der klassischen canones,194 sondern lenkt eher – ähnlich
wie der Topos „Ausnahmevorschrift“ (oben V 4) – den gesamten Auslegungs-
vorgang in eine bestimmte Richtung. Trivialer Ausgangspunkt des Arguments
ist die Einsicht, daß der Gesetzgeber mit der erhöhten Strafdrohung größeres
Unrecht kennzeichnet. Der Rechtsanwender muß diese Entscheidung im Rah-
men der verfassungsrechtlichen Grenzen hinnehmen. Von da aus ist der erhöhte
Strafrahmen Anlaß für die Prüfung, ob der Gesetzeswortlaut möglicherweise zu
weit geraten ist, und dient damit der Vorbereitung sowie Unterstützung einer
Rechtsfortbildung. Bei Unklarheit über den Inhalt der verschärften Norm zieht
die Praxis das Argument nicht selten zur Rechtfertigung oder Unterstützung
einer restriktiven Lösung heran. Die Argumentation erscheint dann allerdings
190 Bis auf einen Satz ist die Entscheidung komplett zitiert!
191 Rejewski (JR 1967, 339) versucht, diesen Gedanken zu konkretisieren: Der Täter
handele mit dem Wissen, daß die Weigerung des Opfers sich nicht gegen die Unzucht
mit ihm als solche, „sondern nur gegen deren gewaltsame Vornahme ohne Entgelt“
richte. – Aber damit ist doch nicht die Tatsache aus der Welt, daß die „Dirne“ in der
konkreten Situation keinen Geschlechtsverkehr wollte und der Täter dies wußte.
192 Die zust. Anmerkungen belegen das Begründungsdefizit nur noch deutlicher,
insbesondere die pathetischen Ausführungen von Stöcker (MDR 1967, 938): Wie häu-
fig im Recht stelle sich die Frage, was höher steht: „Rechtsbegriffe oder das Wohl und
Wehe der Rechtsbetroffenen. . . . Sollte man um buchstäbelnder Begriffsreinheit willen
die überhöhte Strafdrohung des § 236 Abs. 1 StGB zum Zuge kommen lassen?“ In-
struktiv zur Entscheidung des BGH, zur Kritik und Gegenkritik Hruschka, JR 1968,
454.
193 Daß die hohe Mindeststrafe unpassend ist, bestätigen auch die Kritiker des
BGH, verweisen aber zu Recht zugleich darauf, daß insoweit nur der Gesetzgeber Ab-
hilfe schaffen könne; vgl. Roxin, NJW 1967, 1286 (1287), Schröder, JR 1967, 226
(227) und Hruschka, JR 1968, 454 (455 f.).
194 Näher Kudlich, ZStW 2003, 1 (3 ff.).
534 VI. Sinn und Zweck
kaum je zwingend; insbesondere gibt die Höhe der Strafdrohung keinen Maß-
stab für die Einschränkung vor. Sicher ist nicht einmal, ob der hohe Strafrah-
men für eine restriktive Auslegung oder nur gegen eine (zu) ausdehnende Ge-
setzesanwendung spricht.195
Unter dem Grundsatz der „wirkungsmächtigen Auslegung“ wird hier eine In-
terpretation verstanden, die darum bemüht ist, Normen einen nennenswerten,
sinnvollen und im Vergleich zu anderen Normen abgewogenen Anwendungsbe-
reich zu erhalten.197 Weniger ist damit gemeint, den Normen ein besonders wei-
tes Einsatzgebiet zu verschaffen, wie man es vielleicht bei der („optimieren-
den“) Auslegung von Grundrechten, nicht aber im Bereich des Strafrechts in
Betracht ziehen kann.198 Der Grundsatz der wirkungsmächtigen Auslegung
kann einmal als teleologisches Argument klassifiziert werden, denn es wider-
spricht Sinn und Zweck der Norm, ihr den zugedachten Anwendungsbereich zu
entziehen.199 Insoweit ist nicht selten von der Gefahr der (zweckwidrigen)
„Aushöhlung“ der Norm die Rede.200 Dem Topos „wirkungsmächtige Ausle-
gung“ kommt jedoch über die teleologische Sinnbestimmung hinaus noch eine
weitergehende Bedeutung zu. Vorrangig beruht der Grundsatz auf objektiv-sy-
stematischen Überlegungen,201 denn er basiert auf der Vorstellung eines „sinn-
vollen (optimalen) Ganzen“ oder auf der Unterstellung, daß der Gesetzgeber
wohl keine bedeutungslose Norm erläßt oder sinnlose Überschneidungen und
Redundanzen verursacht.
BGHSt 2, 99 (oben Fall 132) verwirft die enge, wortlautnahe Auslegung des § 252
StPO (nur Verlesungsverbot) u. a. mit dem Argument, daß die Norm dann überflüs-
sig wäre, denn ein Verlesungsverbot folge schon aus § 250 StPO (S. 102).
195 Die gleiche Unsicherheit besteht wiederum bei der Auslegung von Ausnahme-
vorschriften.
196 Ausdruck bei Lerche, in: FS BVerfG, Band 1, S. 358.
197 Tiedemann, Anfängerübung, S. 82; Wank, Auslegung, S. 81.
198 Unter dem Aspekt des „möglichst hohen Wirkungsgrades“ von Normen erörtert
Lerche die Thematik (in: FS BVerfG, Band 1, S. 358) und weist auf die damit einher-
gehende Gefahr hin, daß die Norm über ihren eigentlichen Gehalt hinaus mit zusätz-
lichen Inhalten aufgeladen werde.
199 Vgl. sogleich BGHSt 24, 72 (81). Wank (Auslegung, S. 79 ff.) differenziert in-
BGHSt 6, 25 (oben Fall 12) räumt Zweifel aus der Entstehungsgeschichte aus: Soll
die Neufassung „überhaupt einen Sinn haben“, müsse die Subsidiaritätsklausel auch
die Fälle der Tateinheit erfassen (S. 26 f.). Würde sie auf die Fälle der Gesetzesein-
heit beschränkt, „hätte es [ihrer] nicht bedurft; denn das war auch vor der Neufas-
sung beider Bestimmungen Rechtens“ (S. 27). — Ähnlich äußert sich BGHSt 24, 72
(81): „Legte man die Rechtsauffassung des Oberlandesgerichts zugrunde, so würde
die Subsidiaritätsklausel des § 99 StGB ihre praktische Bedeutung weitgehend ver-
lieren. Das würde dem Sinn und Zweck dieser Vorschrift widersprechen.“202
BGHSt 45, 211 (oben Fall 11) stützt seine Ansicht, wonach es für die Ermögli-
chungsabsicht in § 306b II Nr. 2 StGB genügt, daß der Brandstifter einen Versiche-
rungsbetrug beabsichtigt auch auf „Gründe der Systematik“; bei einer einschränken-
den Auslegung hätte die andere Alternative der Norm (Verdeckungsabsicht) einen
„außerordentlich schmalen“ Anwendungsbereich (S. 218). — Ein sinnvolles Neben-
einander von Tatbestandsalternativen will BGHSt 17, 280 bei der Auslegung des
§ 176 I Nr. 3 StGB a. F. zugrunde legen: Wollte man vorliegenden Fall „in den Be-
reich der ersten Begehungsform übernehmen, dann würde der Tatbestand . . . seines
selbständigen Anwendungsbereichs beraubt und damit in Wirklichkeit ausgeschaltet
werden“ (S. 283 f.).203
Ausgehend von der Prämisse eines „sinnvollen Ganzen“ ist eine Auslegung,
die eine unanwendbare, überflüssige oder fast bedeutungslose Vorschrift bzw.
Tatbestandsalternative zurückließe, zumindest stark begründungsbedürftig. Die
Senate sind bemüht, keinen Torso zurückzulassen, und zum Teil erleichtert,
wenn eine Norm noch irgendeine Funktion erfüllt:
Kein großer, aber immerhin noch denkbarer Anwendungsbereich verbleibt § 113 II
Nr. 2 StGB nach der Auslegung durch die Entscheidung BGHSt 26, 176 (oben Fall
23), die hinsichtlich der Todesgefahr Vorsatz des Täters verlangt. Dadurch werde die
Norm „nicht bedeutungslos“, denn der Gefährdungsvorsatz sei noch kein Verlet-
zungsvorsatz (S. 182).
BGHSt 17, 309 (oben Fall 215) läßt dahinstehen, ob die Interpretation zu ändern
sei, „wenn § 41a GewO ohne Strafbewehrung seinen Zweck verfehlte und keinen
Sinn behielte“ (S. 318 f.). Die Norm erfülle auch so „eine sinnvolle Aufgabe“ und
zwar als Rechtsgrundlage für verwaltungsrechtliche Maßnahmen (S. 319). – In die-
sem eingeschränkten Sinn dürfte der Gesetzgeber die Norm freilich kaum verstan-
den haben, vgl. oben Fall 215.
BGHSt 42, 200 müht sich mit der Auslegung einer völlig mißlungenen
Norm, bei der kein Wille des Gesetzgebers ersichtlich ist. Die Sinngebungsver-
suche führen zum geringsten Übel: Die erstgenannte Auslegung sei auch des-
halb nicht erwägenswert, weil der Vorschrift dadurch „kein denkbarer Rege-
lungsgehalt“ bliebe, während die zweite Deutungsmöglichkeit der Norm immer-
hin „einen – wenn auch geringen – Regelungsgehalt“ einräume (S. 204).
202 Vgl. auch BGHSt 47, 243 = oben Fall 105 und dort Fn. 591.
203 Siehe außerdem BGHSt 44, 145 (149): § 80a II 2 OWiG käme bei anderer Auf-
fassung „kein eigenständiger Regelungsgehalt“ zu.
536 VI. Sinn und Zweck
BGHSt GS 8, 301 legt dar, weshalb es nicht dem Willen des Gesetzgebers entspre-
chen kann, daß die Einführung des § 153 StGB zu einer vermehrten Anwendung
des § 157 StGB auf den Meineid (§ 154) führt. Dadurch „würde die Strafdrohung
für den Meineid weithin außer Kraft gesetzt“ (S. 320). Nichts spreche dafür, daß der
Gesetzgeber mit der Einführung einer neuen Strafvorschrift den Schutz der Rechts-
pflege vor Meineiden habe schwächen wollen.
Fall 318 (BGHSt 27, 216 – „Vorstrafen“; vgl. oben Fall 237): Bis zum StPÄG von
1964 erörterten die Gerichte die Vorstrafen des Angeklagten regelmäßig schon zum
Zeitpunkt der Vernehmung über seine persönlichen Verhältnisse (§ 243 II StPO
a. F.), also vor der Beweisaufnahme. Der Gesetzgeber änderte die Bestimmung 1964,
um den Angeklagten vor Bloßstellungen zu schützen, und normierte in § 243 IV 2,
3 StPO, daß Vorstrafen nur dann festgestellt werden sollen, wenn sie für die Ent-
scheidung von Bedeutung sind; den Zeitpunkt ihrer Feststellung „bestimmt der Vor-
sitzende“. Mit dieser Änderung sollte nach Ansicht von BGHSt 27, 216 aber nicht
das Verfahren nach § 231 II StPO erschwert werden, wonach gegen den abwesenden
Angeklagten weiterverhandelt werden darf, wenn er bereits über die Anklage ver-
nommenen wurde (S. 219). Zur Vernehmung über die Anklage zähle deshalb nicht
die Erörterung der Vorstrafen. „Wollte man das nicht annehmen, so wäre der An-
wendbarkeit des § 231 Abs. 2 StPO auf diesem Wege weitgehend der Boden entzo-
gen.“ – Die unerwünschten Auswirkungen der Gesetzesänderung auf den anderen
Normbereich dürfen berücksichtigt werden, wenn die Modifikation des Verneh-
mungsbegriffs nicht seinerseits gegen den gesetzgeberischen Willen verstößt.
Auch durch den Wandel der tatsächlichen Verhältnisse droht der Anwen-
dungsbereich der Norm verlorenzugehen:
BGHSt 8, 102 (oben Fall 66) meint, „eine Auslegung, die für den Begriff der Ge-
walt im Sinne des § 80 StGB körperliche Kraftentfaltung fordert, würde . . . die
praktische Bedeutung der Vorschrift weitgehend entwerten“ (S. 103). Die Gegen-
wart kenne „andere und nicht minder wirksame Methoden des gewaltsamen Umstur-
zes“.
Demgegenüber ist zu konstatieren, daß die Normerhaltung an sich kein rele-
vanter Gesichtspunkt der Auslegung ist. Eventuell hat die Vorschrift – unwahr-
scheinlich, aber doch denkbar – ihr Ziel tatsächlich erreicht208 oder die Welt hat
sich in einer Weise verändert, daß eine neue Entscheidung des Gesetzgebers
notwendig ist. Die Anpassung der Interpretation an neue Umstände hängt davon
ab, ob das der gesetzgeberischen Zielvorstellung entspricht und ob die Ausge-
staltung der Norm es zuläßt,209 also von den üblichen Kriterien der Auslegung.
Insgesamt erweist sich die drohende Bedeutungslosigkeit von Normen oder
ihren Alternativen als zwiespältiger Faktor der Gesetzeskonkretisierung. Die
Unterstellung, der Gesetzgeber habe ein vernünftiges und abgewogenes System
geschaffen, in dem jeder Norm eine sinnvolle Funktion zukommt, ist nicht zu-
letzt aus normästhetischen Gesichtspunkten sympathisch, beruht allerdings auf
einer Fiktion, der mit unterschiedlichen Gründen der Boden entzogen werden
kann. Daß der Gesetzgeber nichts Sinnloses schafft, ist demnach allenfalls eine
widerlegbare Vermutung. Nicht verwunderlich ist, daß die Rechtsanwendung
und -dogmatik den Druck verspürt, ein „schiefes“ System zu harmonisieren.
Der juristische Verstand denkt selbst wie ein Gesetzgeber („Wie sollte es sein“)
und wehrt sich gegen die Konsequenz, eine unsystematische Lösung zurückzu-
lassen. Insoweit besteht die Gefahr der nicht gerechtfertigten Gesetzeskorrektur.
8. Gesetzesumgehungen/Schutzbehauptungen/
Beweisschwierigkeiten
210 Weitere Fälle, in denen das Argument freilich nicht näher ausgeführt wird:
zu begehen, für unerheblich. Konsequent müßte dies nämlich auch für § 331 gelten,
so daß lediglich Disziplinarunrecht bliebe; das aber „scheint dem Senat unerträglich
zu sein“ (S. 99). „Der vielleicht mögliche Gesichtspunkt des Betruges erfaßt das
Unrecht nicht in seiner vollen Bedeutung. In diesem Zusammenhang dürfen legiti-
merweise auch Beweisschwierigkeiten berücksichtigt werden. Es ist regelmäßig
nicht feststellbar, ob der Beamte sich ohne oder mit innerem Vorbehalt als käuflich
gegeben hat; Wahlfeststellung zwischen Bestechlichkeit und Betrug ist aber unzuläs-
sig“ (S. 99 f.). – Ob § 263 aushelfen kann, ist angesichts der anderweitigen Schutz-
richtung dieser Bestimmung unbeachtlich; die Norm dient dem Senat allenfalls als
kriminalpolitische Notlösung. Die Frage, ob der innere Vorbehalt bei §§ 331, 332
beachtlich oder unbeachtlich ist, muß nach den übrigen Auslegungskriterien ent-
schieden werden. Dafür aber dürfen Beweisschwierigkeiten keine Rolle spielen,
denn es geht um das Ob der Strafbarkeit!
In folgender Entscheidung bezeichnet es der BGH als „rechtspolitisches Er-
fordernis“, etwaigen Einlassungen des Täters vorzubeugen:
Fall 320 (BGHSt 17, 166 = oben Fall 233): Der Senat stützt seine eingehend be-
gründete Ansicht, wonach die Hilfeleistungspflicht bei Unglücksfällen nach § 330c
StGB (a. F.) nicht von der Erfolgsaussicht abhängen darf, schließlich mit einem
„rechtspolitischen Erfordernis“: Andernfalls wäre gerade in Fällen größter Gefahr
die Einlassung des Täters, dem Verunglückten habe nicht mehr geholfen werden
können, oft nicht zu widerlegen; die Norm würde dadurch „ausgehöhlt“.213 – Es
kommt allein darauf an, ob der Normzweck für die Erfassung der fraglichen Fälle
spricht und die Ausgestaltung der Norm die Subsumtion zuläßt. Widerspräche es
dem Gesetzesweck, in aussichtslosen Fällen die Hilfspflicht zu bejahen, dann ver-
löre das Argument der drohenden Einlassungen seine Basis: Denn allein die Gefahr,
daß auch andere Täter sich dieser Ausrede (zu Unrecht) bedienen könnten, kann die
Strafbarkeit für diese Konstellation nicht begründen. Entspricht die Erfassung des
Falles hingegen dem Gesetzeszweck, dann handelt es sich bei den Schutzbehauptun-
gen – wie bei den Gesetzesumgehungen – um kein Argument, das die Begründung
noch wesentlich stärkt.
Im Ergebnis sind in den Konstellationen der Gesetzesumgehung, der drohen-
den Schutzbehauptung und der Beweisschwierigkeiten in Wirklichkeit andere
Auslegungsfaktoren, insbesondere der Gesetzeszweck maßgebend. Vor allem
taugen sie nicht als Argumente zur Begründung der Strafbarkeit. Hinsichtlich
drohender Schutzbehauptungen und Einlassungen ist im übrigen darauf zu ver-
weisen, daß in aller Regel die Grundsätze zur richterlichen Überzeugungsbil-
dung (§ 261 StPO) hinreichend Spielraum bieten, um den Schwierigkeiten ge-
recht zu werden.214
gen des Täters sieht z. B. auch Beulke (NJW 1979, 400 [404, l. Sp.]) als kriminalpoli-
tisches Argument.
214 In diesem Sinn z. B. Beulke, NJW 1979, 400 (404) und vor allem BGHSt 47, 89
9. Rechtssicherheit/Gerechtigkeit/Rechtsidee
Recht bewegt sich im Spannungsfeld der Rechtsidee, und der Gesetzgeber selbst
entscheidet, welcher Ausprägung er in der jeweiligen Norm den Vorzug ein-
räumt. Im Rahmen des verfassungsrechtlich Zulässigen ist diese Entscheidung
maßgeblich.217 Führt eine Auslegung nach den klassischen Kriterien zu Ergeb-
nissen, die sich an der Rechtsidee reiben, mag das Anlaß sein, nach Fehlern in
der Auslegung, nach gleichermaßen vertretbaren Lösungen, nach Gesetzeslük-
ken oder Gesetzesfehlern zu suchen.218 Eine mehr oder weniger bewußte „Be-
gleitkontrolle“ (Bydlinski) des Auslegungsergebnisses anhand der Rechtsidee
wird der Rechtsanwendung häufig zugrunde liegen.219 Auch daß das Streben
nach einer gerechten Entscheidung die Handhabung des Auslegungsinstrumenta-
riums in gewisser Weise steuert, wird man kaum in Abrede stellen können. In
beiden liegt jedoch die Gefahr der Entscheidung contra legem begründet.
Das Gebot der Rechtssicherheit wird in der Rechtsordnung durch viele Ein-
zelvorschriften verwirklicht. Für das Strafrecht steht das verfassungsrechtlich
gesicherte Gesetzlichkeitsprinzip (Art. 103 II GG) ganz im Mittelpunkt. Keiner
Begründung bedarf die Relevanz des aus dem Gesetzlichkeitsprinzip abgeleite-
ten Analogieverbots für die Auslegung des materiellen Strafrechts. Aus Gründen
der Rechtssicherheit ist der Bürger vor wortlautüberschreitender und damit un-
vorhersehbarer Rechtsanwendung geschützt.220
In Einzelfällen bejaht der BGH auch in anderen Rechtsfragen über Art. 103 II GG
hinaus ein Verbot der Gesetzeskorrektur oder -ergänzung zulasten des Betroffenen.
So verbietet es nach Ansicht von BGHSt 17, 21 (26) das „Erfordernis der Rechts-
sicherheit“, eine Fristvorschrift im Rechtsmittelrecht gegen ihren klaren Wortlaut
auszulegen.
217 Larenz, Methodenlehre, S. 349: Das Streben nach einer gerechten Entscheidung
Recht und Rechtsidee beruht und die Rangfolgeproblematik der juristischen Methoden-
lehre lösen will, verfolgt Bydlinski (Methodenlehre, S. 553 ff.). Ausgangspunkt ist die
Annahme, daß ein Rechtsproblem dann voll gelöst ist, wenn die Lösung dem positiven
Recht entspricht und im Einklang mit der Rechtsidee steht (S. 559). Führt bereits der
Einsatz der einfachen und verläßlichen Methoden zu einem, gemessen an der Rechts-
idee, befriedigenden Ergebnis, ist der Rückgriff auf schwierigere Methoden entbehr-
lich. – Die Tragfähigkeit dieses Modells kann hier nicht untersucht werden.
220 Eingehend dazu oben III 7.
9. Rechtssicherheit/Gerechtigkeit/Rechtsidee 543
Weniger plausibel erscheint auf den ersten Blick, daß mit dem Bestimmt-
heitsgebot eine weitere Ausprägung des Gesetzlichkeitsprinzips die Gesetzesaus-
legung beeinflußt, denn primärer Adressat des Bestimmtheitsgebots ist die Le-
gislative, die den Strafvorschriften einen erkennbaren Inhalt geben muß. In der
Rechtsprechung wirkt sich dies zunächst in bezug auf Normen aus, die diesen
Anforderungen nicht genügen oder zumindest Zweifeln unterliegen. Auf dem
Weg einer verfassungskonformen Auslegung wird dann nachgeholt, was „ei-
gentlich“ Auftrag des Gesetzgebers wäre:
Nach Ansicht von BGHSt 4, 24 (32) ist der Verweis des § 226a StGB a. F. auf das
Sittengesetz vom „rechtsstaatlichen Standpunkt aus nicht ohne grundsätzliche Be-
denken. Er kann weitgehende Unsicherheit darüber zur Folge haben, welche Tatbe-
stände mit Strafe bedroht sein sollen. Eine derart unbestimmte Vorschrift muß, um
in einem Rechtsstaat erträglich zu sein, zugunsten des Angeklagten eng ausgelegt
werden.“ Deshalb müsse zweifellos strafwürdiges Unrecht vorliegen. — BGHSt 35,
340 (341 f.) verlangt aufgrund der Unbestimmtheit der Begehungsform und der dar-
aus resultierenden Gefahren eine möglichst eindeutige Abgrenzung.
Weiter ist denkbar, daß eine Norm zwar ausreichend bestimmt ist, nicht aber
eine zu ihr vertretene Auslegungshypothese, die zu unvorhersehbaren Ergebnis-
sen führen würde. Erklärte man den Inhalt der vorgeschlagenen Auslegungs-
hypothese zum Gesetz, genügte dieses selbst nicht dem Bestimmtheitsgebot.221
Deshalb muß auch die Auslegung verworfen werden:
Fall 321 (BGHSt 2, 181 und 393): Die Frage, ob ein Vergehen oder Verbrechen
i. S. von § 1 StGB (a. F.) vorliegt, darf nach Ansicht des BGH nicht von der konkret
verhängten Strafe und Strafzumessungserwägungen abhängen, sondern muß sich
nach abstrakten und damit vorhersehbaren Maßstäben bestimmen. Die Gegenauffas-
sung würde zu „unerträglichen Unsicherheiten“ führen (S. 395), da etwa die Ver-
suchsstrafbarkeit und die Verjährung von unklaren Umständen und Einzelfallwertun-
gen abhingen. „Dieses Ergebnis entspricht auch allein dem Gebot der Rechtssicher-
heit“ (S. 183). Die „gesetzliche Bestimmtheit der Strafbarkeit“, für die § 1 StGB
eine Grundlage bilde, sei nur bei tatbestandsmäßig festliegenden Merkmalen gesi-
chert. – Würde der Gesetzgeber die Gegenauffassung festschreiben, müßte sein Ge-
setz mangels vorhersehbarer Ergebnisse als Verstoß gegen das Bestimmtheitsgebot
für verfassungswidrig erklärt werden.
Leider verhält es sich mit den beiden vorgestellten Konstellationen in Wirk-
lichkeit komplizierter. Die Probleme wurden bereits eingehend erörtert (oben
V 7); an sie ist nur kurz zu erinnern: In der erstgenannten Konstellation bleibt
die – mittlerweile wohl überwiegend verneinte – Frage, ob die zwar methodolo-
gisch durchführbare verfassungskonforme Auslegung in bezug auf das Be-
stimmtheitsgebot überhaupt zulässig ist, ob also eine unbestimmte Norm durch
eine vorhersehbare Rechtsprechung verfassungsgemäß wird. In beiden Situatio-
221 Siehe BGHSt 26, 312 = oben Fall 264. Womöglich ist dies auch der methodi-
sche Standpunkt in BVerfGE 71, 108 (121); noch komplizierter liegt BVerfGE 92, 1 =
oben Fall 277; vgl. oben V 7 e.
544 VI. Sinn und Zweck
nen bleibt zudem weitgehend ungeklärt, wann das Gesetz bzw. eine vertretene
Interpretation als unbestimmt gelten darf. Dem insoweit befürworteten Krite-
rium der Erkenn- und Vorhersehbarkeit mangelt es selbst an hinreichender Si-
cherheit.
Ebenfalls bereits dargelegt wurde, daß die Praxis den Bestimmtheitsgrundsatz
auch in einer Weise einsetzt, in welcher der verfassungsrechtliche Kontext in
den Hintergrund tritt (V 7 d). Das Bestimmtheitsgebot geht dann im allgemei-
nen Prinzip der Rechtssicherheit auf. Die Vorhersehbarkeit der Ergebnisse, die
klare, einfache und trennscharfe Abgrenzbarkeit von Tatbestandsmerkmalen so-
wie die Sicherheit der Subsumtion sind rechtsstaatliche Forderungen, deren
Durchsetzung zweifellos erstrebenswert erscheinen, wie umgekehrt Lösungen,
die zu Rechtsunsicherheiten führen, zu vermeiden sind.222 Kein Zufall ist es
deshalb, wenn die Gerichte das Bestimmtheitsgebot und die Rechtssicherheit im
allgemeinen nebeneinander als Argumente für oder gegen eine Auslegungs-
hypothese anführen.
Unter gleichzeitiger Berufung auf das Bestimmtheitsgebot und auf die Rechtssicher-
heit223 hat der BGH etwa die Ansicht verworfen, die bei der Definition des Merk-
mals „Kind“ auf die Schutzbedürftigkeit im Einzelfall abstellen wollte (BGHSt 5, 40
[44] = oben Fall 185). — Als Widerspruch zu den Erfordernissen der Bestimmtheit
und Rechtssicherheit hat es BGHSt 38, 281 (oben Fall 274) angesehen, die Defini-
tion des Begriffs „Kreditkarte“ vom Sprachgebrauch der Beteiligten abhängig zu
machen (S. 284).
Häufig weisen die Senate Interpretationen zurück, die keine klaren Abgren-
zungskriterien bieten. Ob die mangelnde Trennschärfe mit dem Bestimmtheits-
gebot kollidiert oder der Rechtssicherheit im allgemeinen zuwiderläuft, bleibt
insoweit eine zweitrangige Frage:
Nach BGHSt GS 40, 350 (357 f.) fehlt dem Kriterium der „Außenwirkung“ zur Ein-
schränkung der §§ 239a, 239b StGB die „notwendige Bestimmtheit“. — BGHSt 45,
253 (256) sieht in der abweichenden Auffassung, gegen die bereits andere Gründe
(Wortlaut, Entstehungsgeschichte) sprachen, darüber hinaus „nicht lösbare Abgren-
zungsschwierigkeiten“ angelegt. — BGHSt 18, 63 (oben Fall 159) lehnt es ab, die
„Verbreitung“ einer Druckschrift in ihrer Verlesung zu erkennen: „Eine derartige
Ausweitung müßte auch zu Abgrenzungsschwierigkeiten führen. . . . Eine sinnvolle
Grenze zwischen Vorlesen, Auswendig-Hersagen und freiem Vortrag des Inhaltes
einer Druckschrift wäre nicht zu finden“ (S. 65). — Im Fall von BGHSt 27, 307
führt die Gegenansicht nach Auffassung des Senats zu einer solchen Weite des ob-
jektiven Tatbestandes, daß für die Einschränkung der Strafbarkeit allein die subjek-
tive Tatseite bliebe (S. 311). „Gegen die Annahme, der Gesetzgeber habe einen der-
222 Nebenbei entsprechen Klarheit und Durchsichtigkeit des Rechts auch einem äs-
Fall 271.
9. Rechtssicherheit/Gerechtigkeit/Rechtsidee 545
art weiten und schwer abgrenzbaren Tatbestand schaffen wollen“, sprächen jedoch
Wortlaut, Entstehungsgeschichte und Gesetzessystematik.
Fall 322 (BGHSt 45, 92): Der Senat gibt die Auffassung auf, wonach das Verwen-
den einer Waffe gemäß § 250 II Nr. 1 StGB den Eintritt einer Leibes- oder Lebens-
gefahr voraussetzt; deshalb genüge auch das Bedrohen einer hinter einer schuß-
sicheren Glasscheibe sitzenden Kassiererin mit einer Gaspistole (S. 96). Für diese
Ansicht „sprechen auch praktische Gründe der Rechtsanwendung“, denn jede
Einschränkung des Tatbestandsmerkmals sei „mit der Notwendigkeit verbunden, auf
Abgrenzungskriterien zurückzugreifen, die nicht trennscharf sein können“.
Zurückgewiesen werden ferner übertrieben differenzierende Kompromißlö-
sungen, die den Betroffenen nicht einleuchten und damit Rechtsunsicherheiten
begünstigen.224
Die Strafsenate nutzen die genannten Argumente insgesamt eher dazu, Ge-
genauffassungen zu widerlegen,225 als die eigene Position zu stützen. Aber na-
türlich kommt es auch vor, daß die Rechtsklarheit als unterstützender Aspekt
der eigenen Ansicht angeführt wird.226 Interessanter ist allerdings, daß die dro-
hende Rechtsunsicherheit und mangelnde Trennschärfe – oder umgekehrt: der
Vorzug der Rechtsklarheit – in aller Regel nur als zusätzliches Argument (siehe
oben BGHSt 18, 63; 27, 307; 45, 253) neben den übrigen Kriterien herangezo-
gen wird. Bei einigen der Beispiele wird zudem deutlich, weshalb die Ausprä-
gungen der Rechtssicherheit eher als Ideale oder Hilfsargumente in Zweifelsfäl-
len wirken denn als konkrete und klar handhabbare Auslegungskriterien. Nicht
trennscharfe und problematische Tatbestandsmerkmale („Gefahr“) sind in der
Strafrechtsordnung Legion, so daß die auf diese Argumente gestützte Verwer-
fung bestimmter Ansichten häufig als übertrieben erscheint. So war das von
BGHSt 39, 36 vorgeschlagene Eingrenzungskriterium der „Außenwirkung“ in
jedem Fall „bestimmt“ genug, um verfassungsrechtlichen Anforderungen zu ge-
nügen. Und auch das Erfordernis einer konkreten Lebens- und Leibesgefahr ist
vernünftig zu handhaben, zumal es im Strafrecht in erheblichem Umfang als
Tatbestandsmerkmal verwendet wird. So entsteht nicht selten der Eindruck, daß
die Rechtsprechung vorgeschlagene Auffassungen wegen angeblicher Unbe-
stimmtheit verwirft, die andernorts in ähnlicher Weise ohne weiteres praktiziert
werden oder sogar gesetzlich sanktioniert sind:
Fall 323 (BGHSt 33, 190): Der Senat lehnt es ab, in der Herausgabe gesetzwidrig
ausgestellter Führerscheine einen Verwahrungsbruch gemäß § 133 I StGB zu sehen
(„der dienstlichen Verfügung entzieht“), wenn der dienstlich Berechtigte handelt.
Eine Auslegung, die den Tatbestand zumindest bei eindeutigen Gesetzesverstößen
die Rechtsklarheit.
546 VI. Sinn und Zweck
anwenden wolle, sei bei teleologischer Betrachtung zwar möglich, würde jedoch
„die Gefahr einer nicht mehr hinreichend sicheren Abgrenzbarkeit des Tatbestandes
heraufbeschwören“ (S. 194). „In der Frage des Ausmaßes sowie der Eindeutigkeit
einer Gesetzesverletzung können die in Betracht kommenden Fälle ganz verschieden
liegen und dementsprechend können sie auch verschiedener Beurteilung zugänglich
sein. . . . Wo die Grenzen im einzelnen lägen, ließe sich nicht klar bestimmen“
(S. 194 f.). – Der Senat hat recht, sich nicht die in Betracht gezogenen Abgren-
zungsprobleme aufzubürden, denn die übrigen Auslegungsfaktoren zwangen nicht
zu jener Auffassung. Aber möglich und durchführbar wäre eine dahingehende An-
sicht durchaus,227 wie das Tatbestandsmerkmal der „rechtmäßigen“ Diensthandlung
in § 113 III StGB beweist, das in der Praxis freilich zahlreiche Schwierigkeiten be-
reitet.
Fall 324 (BGHSt 25, 30): In ähnlicher Weise verfährt BGHSt 25, 30 beim Tatbe-
stand der Verwendung von Kennzeichen verfassungsfeindlicher Organisationen
(§ 86a StGB). Der Gesetzgeber sah zwar Bedarf nach weiterer Einschränkung der
Norm, fand offenbar aber kein geeignetes Kriterium und delegierte die Frage des-
halb – bedenklich genug! – an die Rechtsprechung. Keinen gangbaren Weg erblickt
der Senat darin, eine konkrete Gefährdung je nach den Umständen zu verlangen
(S. 31). „Eine solche Auslegung würde in der praktischen Anwendung der Vor-
schrift zu ähnlichen Ergebnissen führen wie bei einer Ausgestaltung als konkretes
Gefährdungsdelikt. Sie würde außerdem in der Praxis zu ungewöhnlich großen
Schwierigkeiten und Unsicherheiten bei der Subsumtion führen“ (S. 32). – Gefähr-
dungsdelikte führen stets zu Unsicherheiten in der Subsumtion!
Die Zweifel an der Aussagekraft des Arguments Rechtssicherheit werden
auch dadurch genährt, daß die Rechtsprechung zuweilen selbst Kriterien ein-
führt, die dem Anliegen der Rechtssicherheit kaum gerecht werden:
BGHSt 18, 114 hat in einer mit dem Wortlaut des § 142 StGB a. F. kaum zu verein-
barenden Weise die Rückkehrpflicht des Fahrzeugführers bejaht, der erst nachträg-
lich Kenntnis vom Unfall erlangt (oben Fall 298). Allerdings verlangt der Senat, da
die Rückkehrpflicht nicht unbegrenzt gelten könne, daß noch „ein räumlicher und
zeitlicher Zusammenhang zum Unfallgeschehen“ vorliegt. – Gewährleistet diese
Einschränkung eine sichere und trennscharfe Subsumtion?
Gewissermaßen zwischen den beiden vorgestellten Fallgruppen, in denen die
Rechtssicherheit Einfluß auf die Auslegung gewinnt – einerseits mit verfas-
sungsrechtlicher Wirkung (Bestimmtheitsgebot), andererseits lediglich als Ideal
– bewegen sich Fälle, in denen die fragliche Norm selbst im Interesse der
Rechtssicherheit erlassen wurde oder dieser zumindest Rechnung trägt (näher
unten c). In einigen Rechtsgebieten, wie etwa dem Verfahrensrecht, wird das
besonders in Betracht kommen.228 In diesen Fällen muß sich auch die Ausle-
gung von diesen Faktoren bestimmen lassen.
227 Marcelli (NStZ 1985, 500) hält die Besorgnis des Senats für unbegründet; Ab-
Fall 325 (BGHSt 34, 250): Zumindest graduell höhere Anforderungen stellt BGHSt
34, 250 für das Recht der Zustellung. Ziel der einschlägigen Norm sei es gewesen,
die Möglichkeiten der Ersatzzustellung zu erweitern, jedoch nur, wenn dies zuver-
lässig geschehen kann (S. 254). Beim Lebensgefährten sei das nicht der Fall, denn
es fehlten äußerlich erkennbare Anhaltspunkte dafür, ob jemand Lebensgefährte
eines anderen ist (S. 255). „Die Grundsätze der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit
verlangen jedoch wegen der zuweilen schwerwiegenden Folgen einer . . . Ersatzzu-
stellung, auf für den Zusteller eindeutige, äußerlich erkennbare Kriterien abzustel-
len.“229 – Auch hier bleibt freilich offen, was die Rechtssicherheit genau verlangt.
Mit einiger Sicherheit kann wiederum nur gesagt werden, welches Verständnis die-
sem Gesichtspunkt besser gerecht wird.
Im Ergebnis kann zu den Argumenten der Rechtssicherheit folgendes gesagt
werden: Obgleich sie in Entscheidungsbegründungen häufig auftauchen, ist ihr
tatsächlicher Einfluß auf die Normkonkretisierung schwer zu bestimmen.
Rechtssicherheit und Rechtsklarheit wirken eher als Ideale („Optimierungsge-
bote“)230 denn als nach klaren Vorgaben durchsetzbare Kriterien. Sie sollten vor
allem dann zum Einsatz kommen, wenn die sonstigen Kriterien keine klaren
Lösungen bieten oder wenn verschiedene Alternativen zur Auswahl stehen.
Denn auch wenn kaum zu sagen ist, was das Gebot der Rechtssicherheit kon-
kret verlangt, fällt doch die Antwort darauf, welche Auslegungsvariante diesen
Idealen am ehesten gerecht wird, oft leicht. Bewegt die Rechtsprechung sich auf
den Bahnen der Rechtsfortbildung, sollte sie im Zweifel ebenfalls die trenn-
schärfste und klarste Lösung wählen, denn auch der Gesetzgeber hätte sich von
diesen Idealen leiten lassen (müssen), hätte er die Rechtsfrage erkannt.231 Pro-
blematisch sind die Entscheidungen, in denen die Rechtssicherheit in Form des
Bestimmtheitsgebots mit verfassungsrechtlicher Wucht über die Auslegung her-
einbricht, denn es ist – von krassen Fällen abgesehen – unklar, wie unvorher-
sehbar und unbestimmt eine Auslegung sein muß, um das Urteil der Verfas-
sungswidrigkeit zu begründen. Die Rechtsprechung sollte hier einerseits stren-
ger prüfen, ob sie auch einen Tatbestand für unbestimmt erklärte, wenn die
fragliche Auslegung dort ausdrücklich kodifiziert wäre (vgl. oben Fall 321).
Zum andern sollte auch insoweit eher von einer optimierenden Wirkung auf den
Auslegungsprozeß ausgegangen werden, so wie es etwa in einer Formulierung
aus BGHSt 22, 282 (287) anklingt, wonach die Interpretation des Senats dem
Bestimmtheitsgebot „besser Rechnung“ trage.
229 Ähnlich BGHSt 4, 135 (137) für das Recht der Verjährung: „Der Beginn einer
sowohl beim „Ob“ der Rechtsschöpfung als auch bei deren Ausgestaltung Zurückhal-
tung walten lassen soll.
548 VI. Sinn und Zweck
b) Gerechtigkeit, Gleichbehandlungsgrundsatz,
„Gerechtigkeitsempfinden“
(150): Widerspruch zum „Rechtsgefühl“ und BGHSt 7, 300 (304): „ausgesprochen un-
gerecht“.
235 So BGHSt 21, 101 (105).
236 BGHSt 15, 203 (206): Verschiedenheit der Ergebnisse muß „befremden“, kann
die Rechtsprechung beseitigt werden kann (siehe oben V 8 c). Der BGH tut sich
zuweilen schwer, solche gewollten oder ungewollten Strafbarkeitslücken hinzu-
nehmen:
BGHSt 44, 233: „Der Senat verkennt in diesem Zusammenhang nicht, daß eine
nicht an inhaltlichen Kriterien orientierte, sondern derart auf die formale Bezeich-
nung einer Tatsache abstellende Regelung im Einzelfall zu erheblichen, in der Sa-
che kaum zu rechtfertigenden und mit dem Gerechtigkeitsgefühl nur schwer zu ver-
einbarenden Strafbarkeitslücken führen kann. . . . Dies ist jedoch als Folge der sich
in dem Gesetzeswortlaut widerspiegelnden Entscheidung des Gesetzgebers hinzu-
nehmen.“237
Da der Grundsatz der Gleichbehandlung auch der maßgebliche Gesichtspunkt
ist, der eine (gebundene) Rechtsfortbildung in Form des Analogieschlusses
trägt238, ist es nicht überraschend, daß auch dort von Gerechtigkeit die Rede ist:
BGHSt 18, 268 schließt eine Lücke im Kostenrecht, denn auch dort sei die „sach-
liche Gerechtigkeit“ von ausschlaggebender Bedeutung für die Auslegung (S. 271).
Aus „Gründen der Gerechtigkeit“ dürfe der Angeklagte nicht mit den Kosten eines
folgenschweren Irrtums des Gerichts belastet werden. Ebenfalls in einer kostenrecht-
lichen Frage bejaht BGHSt 16, 168 eine Analogie:239 Dies werde sowohl durch „die
entsprechende Gestaltung der rechtlich zu beurteilenden Umstände“ als auch „durch
Gesichtspunkte des gerechten Ergebnisses nahegelegt“ (S. 173).
BGHSt 24, 54 (60 f.) hält es für „unerträglich und dem Grundsatz der Rechtsstaat-
lichkeit nicht vereinbar“, wenn ein deutsches Gericht bei der Verhängung einer
Geldbuße nicht berücksichtigen dürfte, daß die Tat bereits durch ein Organ der euro-
päischen Gemeinschaften geahndet wurde. „Die im Rechtsstaatsprinzip enthaltene
Idee der Gerechtigkeit“ verlange es, den Grundgedanken des § 60 III 1 StGB (a. F.
= § 51 III 1 g. F.) entsprechend heranzuziehen.
Daneben spielt die Sachgerechtigkeit eine wichtige Rolle auf dem Gebiet der
freien Rechtsfortbildung, wo es gänzlich oder weitgehend am gesetzlichen Rah-
men fehlt. Die richterliche Lösung kann sich dann unmittelbar im Spannungs-
feld der Rechtsidee entwickeln, wie es der BGH in einer Entscheidung zu den
im Gesetz nur rudimentär geregelten Prozeßhandlungen demonstriert:
Fall 326 (BGHSt 17, 14): Der Senat äußert sich zur Frage, wie sich Willensmängel
auf Rechtsmittelerklärungen auswirken. „Das Gebot der Gerechtigkeit zwingt zu
Ausnahmen von der unbedingten Gültigkeit der Rechtsmittelerklärungen . . .“ (S. 18).
Die entsprechende Anwendung des § 136a StPO sei nicht geboten, nur die Heran-
ziehung seiner Grundgedanken. Im übrigen entschieden Art und Entstehung des
Willensmangels darüber, „ob überwiegende Gründe der Gerechtigkeit den Vorrang
vor dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit beanspruchen müssen“.
237 Ähnlich BGHSt 34, 138 (145), allerdings ohne auf die Gerechtigkeit abzuheben.
238 Vgl. Larenz, Methodenlehre, S. 381.
239 Außerdem: BGHSt 25, 109 (116): „drängen zwingende Gründe der Gerechtig-
keit“.
550 VI. Sinn und Zweck
240 Auch BGHSt 1, 351 (354 und 355) hat sich zur Rechtfertigung einer veränder-
ten Interpretation u. a. auf die „Grundsätze der Gerechtigkeit“ berufen. Nach Ansicht
des Senats standen Wortlaut und Entstehungsgeschichte der Neudeutung allerdings
nicht entgegen (näher oben Fall 164).
241 Ein weiteres Beispiel bietet BGHSt 17, 101 = unten Fall 333.
242 Wiederum ist also der Grundsatz der Gleichbehandlung zur Frage der Gerechtig-
keit überhöht.
243 Vgl. z. B. die differenzierende Ansicht von Schönke/Schröder, StGB8, § 26,
Anm. III 2.
9. Rechtssicherheit/Gerechtigkeit/Rechtsidee 551
Die Gerechtigkeit wird darüber hinaus nicht selten als Kontrollkriterium des
Auslegungsergebnisses eingesetzt. Dazu wurde bereits einleitend bemerkt, daß
das mit Hilfe der üblichen Kriterien gewonnene Resultat, welches sich im Rah-
men des verfassungsrechtlich Möglichen hält, nicht unter dem Vorbehalt einer
Revision auf Grundlage von Gerechtigkeitsvorstellungen steht. Abschließende
Erwägungen der Senate über die Gerechtigkeit ihrer Entscheidung und deren
Ergebnisse sind meistens fruchtlos oder erinnern an die kriminalpolitische Er-
gebnisbetrachtung:244
Fall 328 (BGHSt 20, 284): Der BGH ist der Ansicht, daß der wegen Vollrauschs
Verurteilte dem Nebenkläger die notwendigen Auslagen zu erstatten hat, wenn die
Rauschtat sich gegen diesen richtete. Daß die Rauschtat nur eine objektive Bedin-
gung der Strafbarkeit darstellt und der Vollrauschtatbestand dem Schutz der Allge-
meinheit dient, hält der Senat zu Recht nicht für entscheidend. Nicht weiterführend
ist aber das Schlußbekenntnis des Senats (S. 285): „Diese Entscheidung ist auch
billig und gerecht.“
Fall 329 (BGHSt 5, 344): Nicht hilfreich ist auch die Argumentation, mit der
BGHSt 5, 344 (345) seine „nicht einschränkende Auslegung“ stützt. Diese führe
durchaus zu „sinnvollen und gerechten Ergebnissen“; die Weite des Strafrahmens
gestatte es, „den Forderungen der Gerechtigkeit entsprechend die Besonderheiten
des Einzelfalls zu berücksichtigen“. – Wann sollte dies aber (bei den weiten Straf-
rahmen des geltenden Rechts) einmal nicht zutreffen?
Fall 330 (BGHSt 4, 144): Der Senat revidiert die Auffassung des RG, wonach die
Strafbarkeit der Unfallflucht eine am Tatort anwesende und feststellungsbereite Per-
son voraussetzte. War der Verletzte tot oder bewußtlos oder war niemand in der
Nähe, lag in der Weiterfahrt keine Unfallflucht. Nach Meinung des Senats wider-
spricht diese Auslegung dem gesetzgeberischen Zweck; durch den Wortlaut sei sie
nicht geboten (S. 146). Der Verkehrsteilnehmer müsse zunächst abwarten. Anschlie-
ßend bekräftigt der Senat seine Lösung mit kriminalpolitischen Erwägungen, welche
die vorangegangene teleologischen Betrachtungen nunmehr als verdächtig erscheinen
lassen: „Das Ergebnis ist gerecht. Der davonfahrende Kraftfahrer darf sich nicht
damit entschuldigen können, er habe den Verletzten für bewußtlos gehalten, und an-
dere Personen seien nicht am Unfallort gewesen. Ebensowenig darf straffrei bleiben,
wer . . .“. – Weil nicht sein kann, was nicht sein darf! Von gleicher Aussagekraft wäre
die Wertung, das Ergebnis sei vernünftig oder kriminalpolitisch angemessen.
Ergebniskontrollen sind dagegen durchaus zulässig, wenn es darum geht, ob
eine bestimmte Auslegung zu einer gleichmäßigen oder systematisch stimmigen
Rechtsanwendung oder aber zu Wertungswidersprüchen führt. Auch diese
Aspekte werden von den Gerichten, wiederum in rhetorischer Überhöhung, als
Fragen der Gerechtigkeit dargestellt:
Fall 331 (BGHSt 26, 358 = oben Fall 80, BGHSt 27, 45 = Fall 54): BGHSt 26, 358
mußte sich mit der auf den ersten Blick merkwürdigen gesetzlichen Gleichstellung
244 In einem Atemzug z. B. BGHSt 29, 370 (375): „Zu gerechten und kriminalpoli-
245 Vgl. dazu bereits eingehend und krit. oben Fall 54.
246 A.A. z. B. Remmele, NJW 1963, 22: Es sei kein Verstoß gegen das Gerechtig-
keitsempfinden, die regelmäßig bestehenden Möglichkeiten der Medizin zu berück-
sichtigen, sondern diene (im Gegenteil) der „Vermeidung paradoxer Ergebnisse“.
9. Rechtssicherheit/Gerechtigkeit/Rechtsidee 553
rechtigkeit“ hat sich BGHSt 15, 203 in einem anderen Aspekt berufen (siehe oben
Fall 292).
9. Rechtssicherheit/Gerechtigkeit/Rechtsidee 555
d) Billigkeit/Angemessenheit
251 Näher Hartung, JZ 1963, 103, der die Entscheidung als „originellen Versuch“
Der Senat hält es angesichts der Geringfügigkeit des Verhaltens offenbar für
überzogen, die Strafnorm auch hier anzuwenden. Dies als Resultat des Span-
nungsverhältnisses zwischen Rechtssicherheit und Gerechtigkeit zu betrachten,
ist jedoch reichlich übertrieben. Dem Aspekt der Geringfügigkeit kann, wie der
Senat selbst zeigt, in aller Regel anderweitig Rechnung getragen werden. Im
übrigen entspricht es dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, keine übermäßi-
gen Strafen für geringfügiges und folgenloses Verhalten zu verhängen. Mit sei-
ner Vorgehensweise begründet der Senat den Verdacht, die gesetzgeberische Re-
gelung in Frage zu stellen und auf Umwegen auszuhebeln. Denn daß die Vor-
schrift vorliegende Situation erfaßt und ihrerseits nicht verfassungswidrig ist,
bezweifelt auch er nicht.
In folgender Entscheidung identifiziert der Große Senat die „unbilligen Här-
ten“ unmißverständlich mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Zugleich
macht der BGH deutlich, daß es nicht darauf ankommt, was der Richter für
„unbillig“ hält:
Fall 334 (BGHSt GS 42, 113): Fraglich war, ob die zwischen 1986–89 erfolgte,
ungenehmigte Ausfuhr von Waren in die DDR auch noch nach der Wiedervereini-
gung zu bestrafen ist. Der Große Senat gelangt zu dem Ergebnis, daß dem Gesetz
durch die Wiedervereinigung nur die Wirkung für die Zukunft genommen wurde
(S. 122). „Auch die Einmaligkeit des Vorgangs der Wiedervereinigung führt nicht
zu der Annahme einer ,unbilligen Härte‘ als Ausprägung des auch das Strafrecht
beherrschenden Verfassungsgrundsatzes der Verhältnismäßigkeit. Solche besonders
bedeutsamen Ereignisse mögen zwar Anlaß zu gesetzgeberischen Erwägungen ge-
ben, sie können aber nicht durch eine autark judikative Lösung ersetzt werden, die
unter Umständen im Parlament so nicht erreichbar war“ (S. 122 f.).
Auch sonst betont der BGH, daß Unbilligkeiten und unbillige Ergebnisse im
Einzelfall nicht dazu berechtigen, von der gesetzgeberischen Regelung abzuwei-
chen:
BGHSt 7, 240 (244 f.) hält unbillige Ergebnisse für möglich, nimmt sie aber als
gesetzgeberisch gewollt hin: „An Stelle der Gesetz gewordenen Regelung aber eine
andere zu treffen, von der keineswegs feststeht, daß der Gesetzgeber sie gewollt hat
oder gewollt hätte, ist der gemäß Art. 97 GrundG, § 1 GVG dem Gesetz unterwor-
fene Richter nicht befugt . . .“. — BGHSt 6, 312 (314) erkennt nicht zu bestreitende
Unbilligkeiten im Einzelfall. „Das darf jedoch kein Anlaß sein, das Gesetz in einer
Weise auszulegen, die dem erklärten Willen des Gesetzgebers widerspricht.“ —
BGHSt 9, 96 (oben Fall 165 – „Dritteinziehung“) weist auf die evident unbilligen
Auswirkungen einer Einziehungsregel hin. Das allein berechtige den Richter jedoch
„noch nicht ohne weiteres“ dazu, von der Anwendung der Norm abzusehen (S. 98).
Die Berechtigung dafür folgert der Senat erst daraus, daß die Norm nicht mehr dem
„Stand der Gesetzgebung“ entspreche.254
254 Dazu, daß auch diese Begründung nicht trägt, siehe oben Fall 165.
9. Rechtssicherheit/Gerechtigkeit/Rechtsidee 557
Die genannten Entscheidungen zeigen zugleich, worauf das Urteil der Unbil-
ligkeit weiterhin gründen kann. Die veraltete Einziehungsregelung berücksich-
tigte etwa nicht die berechtigten Interessen des an der Tat nicht beteiligten, aber
von der Einziehung betroffenen Eigentümers. Sie hätte den Anforderungen des
Art. 14 GG nicht genügt, wenn der BGH keinen (allerdings höchst zweifelhaf-
ten) Weg gefunden hätte, sich über die unbillige Regelung hinwegzusetzen. In
BGHSt 6, 312 und 7, 240 ging es um Straffreiheitsgesetze, bei deren Anwen-
dung Unbilligkeiten und unangemessene Ergebnisse als „unausweichliche Fol-
gen jeder Grenzziehung“ (BGHSt 7, 244) „nie ganz zu vermeiden“ (BGHSt 6,
314) sind. Hinter dem Vorwurf der Unbilligkeit steckt hier der Gleichbehand-
lungsgrundsatz als Ausprägung der materiellen Gerechtigkeit, denn die starren
Zäsuren der Amnestiegesetze (Stichtagsregelungen u. ä.) lassen es mitunter als
zufällig erscheinen, ob einem Täter die Begünstigung zuteil wird oder nicht.
Die Ungleichbehandlung ist demnach im Gesetz selbst notwendig angelegt, aber
gültiges Recht, soweit keine Verletzung des Art. 3 I GG festgestellt werden
kann. Läßt die gesetzliche Regelung hingegen Spielraum, können drohende Un-
gleichbehandlungen bei der Auslegung berücksichtigt werden. Zumindest in Be-
tracht kam dies in folgender Konstellation:
Fall 335 (BGHSt 2, 230): Als gesetzliche „Billigkeitsregel“, die dem Grundsatz der
Gleichbehandlung Rechnung trägt, kann die Vorschrift über die nachträgliche Bil-
dung einer Gesamtstrafe angesehen werden (§ 79 StGB a. F., § 55 g. F.): Der Täter
soll nicht dadurch schlechter gestellt werden, daß seine Taten getrennt abgeurteilt
werden, was von Zufällen abhängen kann. Von der Einbeziehung ausgeschlossen hat
der Gesetzgeber freilich erledigte (z. B. verbüßte) Strafen, die nicht noch einmal Ge-
genstand richterlicher Erörterung werden sollten. Im Fall von BGHSt 2, 230 kam es
hinsichtlich der Verbüßung auf die Frage des maßgeblichen Zeitpunkts an: Beim
ersten tatrichterlichen Urteil war die einzubeziehende Strafe noch nicht verbüßt,
beim zweiten Urteil, das nach erfolgreicher Revision notwendig war, war die Strafe
verbüßt, so daß sie der Tatrichter nicht mehr einbezogen hat. Der Angeklagte hat
eingewandt, daß die Anwendung des § 79 StGB (a. F.) nicht von der Schnelligkeit
des Rechtsmittelverfahrens abhängen dürfe; zudem könne die Staatsanwaltschaft
durch Einlegung eines Rechtsmittels eine Gesamtstrafenbildung verhindern. Deshalb
müsse es auf die erste Verurteilung ankommen. Der Senat weist diese Einwände, die
„allein auf Billigkeitserwägungen“ beruhten, zurück (S. 232). Gegenüber dem mit
der Einschränkung der Gesamtstrafenbildung verfolgten Ziel (vgl. oben) könnten sie
nicht durchdringen. „Die Billigkeitserwägungen übersehen, daß Härten stets auftre-
ten können, wenn mehrere Straftaten, gleichgültig aus welchen Gründen, in ver-
schiedenen Verfahren abgeurteilt werden.“ Etwaige Härten könne der Tatrichter bei
der Strafzumessung ausgleichen (S. 233). – Der Grundsatz der Gleichbehandlung
drängt dazu, die Einbeziehung auch im vorliegenden Fall zu ermöglichen, doch läßt
das die gesetzliche Ausgestaltung aus anderen Gründen nicht zu. Das Anliegen des
Angeklagten beruht aber nicht, wie der Senat abschätzig meint, „allein auf Billig-
keitserwägungen“, sondern ist materiell gesehen und zur Vermeidung von Zufällen
durchaus berechtigt. Das erkennt auch der Senat an, indem er den notwendigen Här-
teausgleich in den Bereich der Strafzumessung verweist.
558 VI. Sinn und Zweck
255 Siehe als weiteres Beispiel oben BGHSt 26, 358 (362) = Fall 331: Die Ausle-
gung widerspreche nicht der „Billigkeit und der Vorstellung von der gerechten Strafe“.
9. Rechtssicherheit/Gerechtigkeit/Rechtsidee 559
Ähnlich wie mit der Billigkeit kann es sich mit dem Wertmaßstab der „An-
gemessenheit“ verhalten. Die Beurteilung dessen, was einem Gegenstand ange-
messen ist, entzieht sich leicht rationaler Kontrolle, wenn nicht wiederum hand-
feste Kriterien (wie der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit) ausfindig gemacht
werden können, die sich hinter dieser Formulierung verbergen.
Fall 337 (BGHSt 32, 60): § 41 StGB läßt die Verhängung einer Geldstrafe neben
einer Freiheitsstrafe zu, wenn der Täter sich „durch die Tat“ bereicherte oder berei-
chern wollte. Wie steht es mit dem Steuerberater, der bei einer Steuerhinterziehung
mitwirkt, um von seinem Mandanten zusätzliche Aufträge zu erhalten. Nach Ansicht
des Senats liegt auch hier eine Bereicherung durch die Tat vor, was aus Entste-
hungsgeschichte und Zweck der Norm folge (S. 62 f.). Eine andere Auslegung
würde zu „unangemessenen Ergebnissen führen. Der vorliegende Fall zeigt, daß ge-
rade bei Steuerstraftaten ein Bedürfnis dafür bestehen kann, nicht nur denjenigen,
dem die unmittelbaren Vorteile der Steuerhinterziehung zufließen, zusätzlich mit
Geldstrafe zu belegen, sondern auch denjenigen, der zugunsten des Steuerpflichti-
gen eine Steuerhinterziehung begeht, um sich durch das erwartete Tatentgelt zu be-
reichern“ (S. 63). – Die kriminalpolitische Ergebniskontrolle ist nichtssagend und
zirkulär; sie entwertet die vorrangigen Ausführungen zu den üblichen Auslegungs-
kriterien.
e) Der Zufall
Keiner näheren Begründung bedarf, daß die Auslegung nicht von Zufälligkei-
ten abhängen darf. Darin läge sowohl ein Verstoß gegen das Gebot gleichmäßi-
ger Rechtsanwendung als auch gegen das Ideal vorhersehbarer Entscheidungen.
Der Zufall ist eine sachfremde und störende Variable in einer um Herstellung
konsistenter Wertungen bemühten juristischen Dogmatik. Es ist gut verständ-
lich, daß die Rechtsprechung zur Widerlegung von Gegenauffassungen auf die-
ses Argument zurückgreift, sobald es in Betracht kommt.257 Besonders typisch
ist die Konstellation, daß die sachlich zutreffende Entscheidung an Zufälligkei-
ten der Verfahrensgestaltung zu scheitern droht:
Darauf beruht etwa die Vorschrift über die nachträgliche Gesamtstrafenbildung (vgl.
oben Fall 335): Wann Taten abgeurteilt werden, kann von Zufällen abhängen; das
darf sich nicht zulasten des Täters auswirken. Und auch in Situationen, in denen die
Anrechnungsnorm (§ 55 StGB) aus formalen Gründen nicht greift, kann es notwen-
dig sein, die Zufälle zumindest durch einen Härteausgleich in der Strafzumessung
zu kompensieren. So weist etwa BGHSt 43, 79 darauf hin, daß der Gedanke des
Härteausgleichs auch für In- und Auslandstaten gelten müsse, denn auch dort hänge
256 Siehe bereits oben Fall 304. Ein verwertbares Argument des Großen Senats ist
391 (394); 24, 208 (211 f.); 29, 370 (379); 36, 205 (210); 43, 79 (80); RGSt 71, 218
(220).
560 VI. Sinn und Zweck
die getrennte oder gemeinsame Aburteilung von Zufälligkeiten wie z. B. der Zusam-
menarbeit der Behörden ab (S. 80).
Fall 338 (BGHSt 24, 208): Gemäß § 357 StPO erstreckt sich die Wirkung eines
aufhebenden Revisionsurteils auch auf den Mitangeklagten, der kein Rechtsmittel
eingelegt hat. Über den Wortlaut hinaus wendet die Rechtsprechung die Norm auch
dann an, wenn das Revisionsgericht das Verfahren wegen eines Verfahrenshindernis-
ses einstellt und das Verfahrenshindernis die Mitangeklagten gleichermaßen betrifft.
Nach BGHSt 24, 208 darf die Erstreckungswirkung dann aber nicht davon abhän-
gen, ob das Revisionsgericht das Verfahren durch Urteil oder Beschluß einstellt. An-
dernfalls „bliebe es aus der Sicht des Mitbetroffenen dem Zufall der Verfahrensge-
staltung überlassen, ob seine Belastung mit den Folgen der Verurteilung entfiele
oder nicht. Ein solches Ergebnis stände aber in einem untragbaren Gegensatz zu
dem Gesetzeszweck der Erstreckungsvorschrift“ (S. 211 f.). – Der Gesetzeszweck
trifft die Situation unabhängig von der Verfahrensgestaltung, und deshalb verlangt
der Grundsatz der Gleichbehandlung, insoweit keine Differenzierung vorzuneh-
men.258
Da der Grundsatz der Gleichbehandlung tragender Faktor einer Analogie ist,
wird die Vermeidung von Zufälligkeiten, die der gebotenen Gleichbehandlung
entgegenstehen, auch im Bereich der Rechtsfortbildung als Argument genutzt:
Nach Ansicht von BGHSt 13, 91 (oben Fall 226) wäre es „höchst eigenartig und mit
dem Sinn des § 42m [a. F.] unvereinbar“, daß die Fahrerlaubnis zwar im normalen
Strafverfahren, nicht aber im Sicherungsverfahren entzogen werden darf (S. 95).
Bisweilen hänge es vom Zufall ab, ob die Zurechnungsunfähigkeit eines Beschuldig-
ten bereits vor der Anklage untersucht und welche Verfahrensart gewählt wird
(S. 94 f.). – Die Tatsache, daß der damalige Gesetzestext die Möglichkeit des Fahr-
erlaubnisentzuges im Sicherungsverfahren nicht vorsah und damit das Gesetz er-
gänzt oder korrigiert wird, läßt der Senat in Anbetracht evidenter Sachgründe in den
Hintergrund treten (näher oben Fall 226).
Unter Umständen sieht aber auch der BGH sich angesichts rechtsstaatlicher
Erfordernisse gehindert, dem Grundsatz der Gleichbehandlung Rechnung zu tra-
gen. BGHSt 19, 158 (oben Fall 33) konstatiert, daß die fragliche Einziehungs-
regel mitunter „zu zweckwidrigen, vom Zufall abhängigen und oft unsinnigen
Ergebnissen“ führe; Abhilfe könne jedoch nur der Gesetzgeber schaffen (S. 163).
f) Fazit
Häufig bemühen die Strafsenate sich darum, den Bedürfnissen der Praxis
Rechnung zu tragen, indem nach praktikablen, einfach handhabbaren und leicht
abgrenzbaren Lösungen gesucht wird. Praktikable und einfach zu handhabende
Vorschriften dienen einerseits den Interessen von Judikative und Exekutive, also
dem Normanwender.259 Andererseits entsprechen sie einer Forderung der
Rechtssicherheit, denn nicht lösbare Abgrenzungsprobleme und komplizierte
Differenzierungen stehen der Berechenbarkeit und Vorhersehbarkeit staatlicher
Entscheidungen entgegen, mindern die Orientierungsgewißheit des Bürgers.260
259 Belange der Gerichte prüfen etwa BGHSt 1, 334 (336); 7, 153 (155); 14, 233
(238); 17, 161 (165); 27, 56 (59); 33, 155 (158); 38, 281 (284); 42, 306 (312); 45, 46
(49 f.); 45, 92 (96); 45, 253 (256). Belange der Exekutive: BGHSt 2, 338 (340); 17,
267 (276); 28, 327 (329); 29, 187 (192). Sowohl als auch: BGHSt 17, 101 (109 f.);
25, 109 (112); 47, 89 (98 f.).
260 Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 75: Das Gebot der Rechtssicherheit verlange
u. a. die sichere Handhabbarkeit des Rechts und seine Praktikabilität; ähnlich Her-
schel, JZ 1967, 727 (732 f.).
562 VI. Sinn und Zweck
BGHSt 45, 92 (96) beruft sich auf „praktische Gründe der Rechtsanwendung“, denn
die Gegenauffassung müsse auf nicht trennscharfe Abgrenzungskriterien zurückgrei-
fen, welche die Praxis vor erhebliche Schwierigkeiten stellen würde. Ähnlich argu-
mentiert BGHSt 45, 253 (256): Gegen die vorgeschlagene Differenzierung sprächen
nicht zuletzt „durchgreifende Praktikabilitätserwägungen“, da sie „zu nicht lösbaren
Abgrenzungsschwierigkeiten führt“. Beide Entscheidungen hätten neben der Prakti-
kabilität auf die Rechtssicherheit verweisen können.
Fall 339 (BGHSt 17, 267 = oben Fall 160): Besonders deutlich ist die Verknüpfung
in BGHSt 17, 267. Dort hält der Senat daran fest, daß die Hackfleischverordnung
den Vertrieb von Hackfleisch nur in einem Fleischereibetrieb zuläßt, nicht aber in
dessen Filialen. Fortschritte in der Kühltechnik vermöchten daran nichts zu ändern.
Die Zulassung des Vertriebs an anderen Orten würde Schwierigkeiten in der prakti-
schen Handhabung verursachen, die den Schutzzweck der Verordnung insgesamt in
Frage stellen könnten (S. 275 f.). Wann ein Transport zu einer erhöhten Gefahr des
Keimbefalls führe, könne angesichts der Vielfalt an Gestaltungsmöglichkeiten kaum
sicher beurteilt werden; dadurch würden Irrtümer provoziert und Umgehungsmög-
lichkeiten ermöglicht (S. 276). Die Kontrollorgane sähen sich bei der Beurteilung
des Einzelfalls „vor kaum lösbare Aufgaben gestellt“. Angesichts der jederzeit dro-
henden Gefahren sei zudem eine andauernde Überwachung jedes Einzelbetriebs er-
forderlich, die „undurchführbar“ erscheine.
Die Erwägungen in BGHSt 17, 267 zeigen aber nicht nur den Zusammen-
hang von Praktikabilität und Rechtssicherheit, sondern darüber hinaus, daß die
Frage nach der praktischen Handhabung und Durchsetzbarkeit Bestandteil der
teleologischen Auslegung sein kann. Es liefe dem Schutzzweck der Hackfleisch-
verordnung zuwider, wenn eine unpraktikable Einzelfallprüfung der Betriebe
durchzuführen wäre. Die einfache Handhabung der Norm mag insoweit nicht
Hauptzweck der Vorschrift sein, aber sie dient seiner besseren Verwirklichung;
sie wird ihrem Schutzzweck besser gerecht.261 Deshalb darf und muß die Prak-
tikabilität als Gesichtspunkt der Normkonkretisierung berücksichtigt werden,
wenn sie auch der Gesetzgeber als relevanten Aspekt bei der Ausgestaltung der
Norm einfließen ließ. Für einige Rechtsgebiete wird das eher in Betracht kom-
men als für andere. Insbesondere das Verfahrensrecht wird Belangen der Prak-
tikabilität bereits in zahlreichen Vorschriften Rechnung tragen, um eine öko-
nomische Vorgehensweise zu gewährleisten, aber auch im materiellen Recht ist
Entsprechendes denkbar (vgl. oben BGHSt 17, 267).
BGHSt 34, 154 (158) sieht „keine durchgreifenden Bedenken, diese Erwägungen,
die sich weitgehend von Gesichtspunkten prozessualer Zweckmäßigkeit leiten las-
sen, bei der Auslegung des . . . zu berücksichtigen . . . Die Neuregelung der Unterbre-
chung der Hauptverhandlung beruht überwiegend auf Gründen bloßer Zweckmäßig-
keit.“ – Daß Verfahrensnormen von „bloßen“ Zweckmäßigkeitsüberlegungen geprägt
261 Daß die Praktikabilität zur teleologischen Auslegung gehören kann, meint z. B.
Ecker, JZ 1967, 265 (269 f.); Wank (Auslegung, S. 79, 81) zählt sie zu den „abstrakten
Normzwecken“, „die allen Gesetzen gemeinsam sind“ (vgl. oben Fn. 199).
10. Praktikabilität/Bedürfnisse der Praxis 563
sind, ist nicht ungewöhnlich. Der Senat muß sich ihrer Heranziehung nicht schämen.
— Nach BGHSt 2, 390 (392) bedarf gerade der Straßenverkehr fester Regeln. „Die
Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs erfordert, daß jeder Verkehrsteilnehmer
weiß, wohin er gehört. Dazu sind feste Grenzen erforderlich.“ – Klare Vorgaben im
Straßenverkehr dienen sowohl der Rechtssicherheit (für die Betroffenen) als auch
der Durchsetzbarkeit (für die Behörden), aber auch der Schutzzweck der einzelnen
Verkehrsregeln kann praktikable und einfache Lösungen erfordern. — Erwähnt wer-
den kann ferner das inzwischen aufgegebene Institut der fortgesetzten Handlung,
dessen Rechtfertigung nach Ansicht von BGHSt GS 40, 138 (158) in erster Linie
auf Gründen der „Praktikabilität und Prozeßökonomie“ beruhte. Ist das aber der
Fall, dann durfte auch die weitere Konkretisierung dieses Instituts auf diese Aspekte
Rücksicht nehmen.
Freilich kann es sich als schwierig erweisen, allgemeine Praktikabilitätsüber-
legungen von solchen zu unterscheiden, die tatsächlich in einzelnen Normen
angelegt sind oder ganze Normbereiche prägen. Zu undifferenziert wäre etwa
die Ansicht, das Verfahrensrecht bezwecke stets die praktikabelste und einfach-
ste Lösung, die der Praxis den geringsten Aufwand bereitet, denn auch im Ver-
fahrensrecht kann der Gesetzgeber anderen Gesichtspunkten (Gerechtigkeit,
Rechtssicherheit) den Vorzug einräumen.262
Fall 340 (BGHSt 7, 153): Der Senat lehnt es ab, einen Freispruch mangels erwiese-
ner Schuld (Freispruch „zweiter Klasse“) als Beschwer i. S. des Rechtsmittelrechts
aufzufassen. Dem im Einzelfall verständlichen Anliegen des Betroffenen könne
nicht dadurch entsprochen werden, daß das Rechtsmittelgericht die Anfechtung
jedenfalls dann gestatte, wenn ein berechtigtes Interesse vorliege (S. 154). „Dies
würde das Gericht vor eine kaum lösbare Aufgabe stellen und könnte zur Ungleich-
heit führen. Ein bestimmter und einfacher Grundsatz ist erforderlich, zumal da es
sich um das Verfahrensrecht handelt.“ Darüber hinaus führe die Anerkennung einer
Beschwer „zu einer weiteren Überlastung der Gerichte und damit im Ergebnis zu
einer Verschlechterung der Rechtsprechung“ (S. 155). Die Richter des ersten
Rechtszuges müßten erhebliche Mehrarbeit leisten, da auch Beweise hinsichtlich der
Unschuld des Angeklagten erhoben werden müßten. „Dadurch würde in schädlicher
Weise die Strafrechtspflege äußerlich und innerlich von ihrer Hauptaufgabe abge-
lenkt werden. Diese besteht darin, so gründlich, gerecht und schnell wie möglich
über die Bestrafung zu entscheiden und auf diese Weise das Verbrechen als Erschei-
nung des Gemeinschaftslebens nachdrücklich und wirksam zu bekämpfen.“ – Die
Argumente der Praktikabilität lenken vom Thema ab. Die Zulässigkeit eines Rechts-
mittels vom Nachweis eines berechtigten Interesses abhängig zu machen, ist in der
Rechtsordnung nichts Ungewöhnliches und durchführbar. Wenig überzeugend ist
außerdem das Argument der erheblichen Mehrarbeit, denn konsequent müßte es zu
einem generell restriktiven Verständnis von Zulässigkeitsregelungen führen.
Fall 341 (BGHSt 14, 233): Der Senat relativiert in fragwürdiger Weise das für die
Einlegung von Rechtsmitteln geltende Schriftformerfordernis u. a. aus Praktikabili-
262 Vgl. auch BGHSt 26, 106 (110): „Dabei ist bereits zweifelhaft, ob und inwie-
263 Enneccerus, Bürgerliches Recht, S.118: Bei der Gesetzesauslegung „ist die
den „völlig sinnlosen Arbeitsaufwand der Gerichte“ zu vertreten habe (NStZ 1993,
185 [186]).
266 Siehe neben den sogleich genannten Fällen noch BGHSt 23, 261 (265): „Dieses
Ergebnis hat im übrigen auch den Vorzug der Praktikabilität“ und BGHSt 27, 56 (59);
45, 92 (96).
10. Praktikabilität/Bedürfnisse der Praxis 565
In BGHSt 17, 101 (oben Fall 333) stützt der Senat seine Auffassung zur Rechts-
kraftwirkung einer gebührenpflichtigen Verwarnung schließlich mit Belangen von
Exekutive und Judikative: Das Ergebnis bringe „auch klare Richtlinien für die Pra-
xis“ (S. 109). Der Polizeibeamte müsse nicht befürchten . . . und die Gerichte seien
der „schwierigen und oft kaum zu lösenden Aufgabe enthoben, zu prüfen . . .“
(S. 109 f.).267 — Nach BGHSt 17, 161 (oben Fall 332) hat die Auslegung, die hin-
sichtlich der „dauernden Entstellung“ als Folge einer Körperverletzung technische
Ersatzmöglichkeiten (Prothese) außer Betracht lassen will, den „praktischen Vorteil,
daß der Richter sich . . . von den häufig vom Zufall abhängigen Möglichkeiten eines
künstlichen Ersatzes des vom Opfer erlittenen Verlustes freimachen kann“ (S. 165).
— BGHSt 42, 306 (312) konstatiert, daß die Gegenauffassung „außerdem zu wider-
sinnigen und unpraktikablen Ergebnissen führen“ würde, denn der Richter müßte die
Maßnahme aufrechterhalten, obwohl feststeht, daß deren Voraussetzungen nicht ge-
geben sind; erst der Vollstreckungsrichter könnte dem Rechnung tragen.268
Auf vorgebrachte Praktikabilitätsaspekte läßt sich die Rechtsprechung mei-
stens und auch dann ein, wenn sie eine gegenteilige Lösung wählt. Unter Um-
ständen finden die Senate Möglichkeiten, die Einwände zu entkräften:
Fall 342 (BGHSt 33, 155): Im ehrengerichtlichen Verfahren gegen einen Rechtsan-
walt sind die tatsächlichen Feststellungen eines strafgerichtlichen Urteils grundsätz-
lich bindend (§ 118 III 1 BRAO). Bezweifeln die Richter jedoch die Richtigkeit der
Feststellungen, gestattet § 118 III 2 eine erneute Beweiserhebung. Davon abwei-
chend hat die Vorinstanz zu BGHSt 33, 155 ein Bedürfnis gesehen, mit einer Be-
weiserhebung zu prüfen, ob solche Zweifel bestehen. Der BGH hält dies für einen
unzulässigen Mittelweg, der sich „auch nicht aus praktischen Bedürfnissen rechtfer-
tigen“ lasse (S. 157 f.). Zusätzlich stellt der Senat klar, daß auch das Gesetz eine
ökonomische Vorgehensweise zuläßt, denn etwaige Zweifel nötigten nicht zur Über-
prüfung des gesamten Urteils; die Beweisaufnahme könne sich auf bestimmte
Punkte beschränken (S. 158).
Fall 343 (BGHSt 47, 89): Ungewöhnlich ausführlich beschäftigt sich BGHSt 47, 89
mit den Bedürfnissen der Praxis. Nach Ansicht des Senats macht der Inhaber einer
ausländischen Fahrerlaubnis sich nicht schon dadurch gemäß § 4 IntVO (i. d. F. bis
1998) strafbar, daß er die Fahrerlaubnis nicht bei sich führt (eingehend oben Fall
201). Das Ergebnis dieser Ansicht sei nicht „unerträglich“ (S. 98). Allerdings sei
„einzuräumen, daß die Notwendigkeit, dem Kraftfahrzeugführer, der sich auf eine
ausländische Fahrerlaubnis beruft, diese Einlassung zu widerlegen, die Arbeit der
Behörden der Verkehrsüberwachung und der Gerichte erschweren wird“. In Einzel-
fällen könnten die Ermittlungen, je nach Organisation des jeweiligen Staates, sogar
„auf unüberwindbare Schwierigkeiten stoßen“. Dennoch erscheine es als zweifelhaft,
ob die „Folgenbetrachtung“ nicht eher gegen die Strafbewehrung spreche, denn
überwiegend gehe es um Personen aus Nachbarstaaten und im Hinblick auf das eu-
ropäische Recht sei es problematisch, diese Personen anders zu behandeln als deut-
sche Fahrer (S. 99). Für eine Differenzierung nach dem Herkunftsland (EU/andere
Staaten) lasse die Norm aber keinen Raum.269 „Im übrigen darf der Aufwand für
die Verkehrsüberwachungsbehörden und Gerichte nicht überschätzt werden.“ Vagen
Einlassungen des ausländischen Fahrzeugführers bezüglich seiner Fahrerlaubnis
könne mit den Grundsätzen zur freien Beweiswürdigung (§ 261 StPO) Rechnung
getragen werden.
Die Rechtsprechung gibt sich zum Teil große Mühe, praktikable Ergebnisse
zu erzielen. Andererseits zeigt BGHSt 47, 89, daß auch erheblicher praktischer
Aufwand hingenommen werden kann. Solange der Zweck der Norm nicht ver-
eitelt und die Rechtssicherheit nicht gefährdet wird, sind Schwierigkeiten der
Praxis (aus Sicht eines Revisionsgerichts) stets zweitrangig und zu bewältigen.
In vielen Entscheidungen bringt das der BGH unmißverständlich zum Aus-
druck:
BGHSt 1, 334 (336) lehnt es ab, die Begründungsanforderungen für den Ausschluß
der Öffentlichkeit im Strafprozeß herabzusetzen. „Wesentliche praktische Verfah-
rensgründe stehen dem nicht entgegen. Das Gesetz fordert damit vom Gericht auch
nichts schwer Erfüllbares oder die Hauptverhandlung besonders Erschwerendes.“ —
Nach BGHSt 11, 228 (232) bedeutet es keine „unbillige Zumutung an den Landes-
gesetzgeber“, die fahrlässige Begehung von Ordnungswidrigkeiten nur für den Fall
anzuerkennen, daß dies im Gesetz ausdrücklich bestimmt ist. Die veränderte bundes-
rechtliche Situation sei bekannt gewesen. — BGHSt 45, 46 (49 f.) meint, einem
Strafbefehl komme anders als einem strafgerichtlichen Urteil keine Bindungswir-
kung im anwaltsgerichtlichen Verfahren zu (vgl. § 118 III 1 BRAO). „Ernstliche
Anhaltspunkte dafür, daß die Anwaltsgerichte mit den beschriebenen Anforderungen
der Beweiserhebung über anwaltliches Fehlverhalten, das bereits Gegenstand eines
Strafbefehlsverfahrens gewesen ist, überfordert sein könnten, liegen nicht vor.“ –
Praktischer wäre die gegenteilige Ansicht offenbar schon. — Auf den Kopf stellen
könnte man die Argumentation aus BGHSt 17, 161 (vgl. oben Fall 332, „dauernde
Entstellung“): Von den Gerichten würde nichts Unerfüllbares verlangt, wenn sie die
technischen Ersatzmöglichkeiten zu berücksichtigen hätten. Dem Richter wird auch
sonst einiger Aufwand bei der Urteilsfindung abverlangt! (Vgl. § 46 StGB.)
Recht barsch weist der BGH die Belange der Exekutive in folgender Ent-
scheidung zurück. Der Grund leuchtet allerdings unmittelbar ein:
Fall 344 (BGHSt 28, 327): Das Gericht dürfe nicht auf eine Unterbringungsent-
scheidung gemäß § 64 StGB verzichten, nur weil es im Vollzugsgebiet keine adä-
quate Anstalt gebe (S. 329). „Es kann nicht Sache der Gerichte sein, einem eindeu-
tigen Gesetzesbefehl die Gefolgschaft deshalb zu versagen, weil die Exekutive nicht
die zu seiner Durchführung erforderlichen Mittel bereithält. So wäre es schlechthin
gesetzwidrig, eine Freiheitsstrafe nur deshalb nicht zu verhängen, weil nach einer
vom Gericht erholten Auskunft die Vollzugsanstalten des Landes überbelegt sind. . . .
Anderenfalls hätte es die Verwaltung in der Hand, durch Verzögerung der notwendi-
269 Der Senat sticht damit innerhalb der „Folgenbetrachtung“ die Praktikabilitäts-
erwägungen mit dem Grundsatz der Gleichbehandlung aus. Es fällt nicht leicht, dem
umständlichen Begründungsweg des Senats zu folgen.
11. Argumentation aus dem „Wesen‘‘/sonstige Floskeln 567
gen Maßnahmen die Durchführung eines Gesetzes für einen ihr richtig erscheinen-
den Zeitraum zu verhindern.“
Festzuhalten bleibt: Praktikabilitätserwägungen sind regelmäßig nur nachran-
gige Gesichtspunkte der Auslegung, die gegenüber den übrigen Faktoren zu-
rücktreten und als Ideal wirken. Die Rechtsprechung berücksichtigt sie, soweit
es ihr vertretbar erscheint, hat andererseits aber auch keine Scheu, Belastungen
und Schwierigkeiten der Praxis als hinnehmbar zu betrachten. Der Wert von
Praktikabilitätserwägungen steigt allerdings nicht selten dadurch, daß einfache
und handhabbare Lösungen sich zugleich als eine Forderung der Rechtssicher-
heit darstellen können. In manchen Fällen, vornehmlich in bestimmten Rechts-
gebieten, kann der Aspekt der leichten Handhabbarkeit aber auch im Gesetz
selbst als teleologischer Gesichtspunkt verankert und damit „echtes“ Kriterium
der Normkonkretisierung sein.
270 Abwertend etwa BGHSt 7, 300 (303): „Daß zum Rückfall mehrere Bestrafungen
gehören, folgt demnach nicht aus einer theoretischen Ansicht über das ,Wesen der
Dinge‘.“
271 Siehe auch Duden, Großes Wörterbuch, Bd. 10, S. 4497: „das Besondere, Kenn-
zeichnende einer Sache, Erscheinung, wodurch sie sich von anderen unterscheidet“.
568 VI. Sinn und Zweck
272 So Scheuerle, AcP 1963, 429 (430), der eingehend aufzeigt, welche wahren Ar-
änderungen durch das Opferschutzgesetz belegt der Senat, daß diese Vorstellung
vom Wesen der Nebenklage überholt sei.
Wie über das „Wesen“ eines Rechtsinstituts gerungen werden kann, belegt der (in-
zwischen obsolete) Streit um den Begriff der Teilnahme. § 48 StGB a. F. verlangte
für die Anstiftung das vorsätzliche Bestimmen eines anderen zu einer „mit Strafe
bedrohten Handlung“. Mußte die Handlung vorsätzlich geschehen? BGHSt 4, 355
(357) ist der Ansicht, daß der Inhalt strafrechtlicher Begriffe aus dem geltenden
Recht herzuleiten sei. Insbesondere aus einer Gesetzesänderung folgert der Senat,
daß das „Wesen der Anstiftung“ nur in der Verursachung eines rechtswidrigen Ver-
haltens bestehe; deshalb sei es „begrifflich unerheblich, auf Grund welcher Vorstel-
lungen und mit welcher Willensrichtung der Angestiftete gehandelt hat“ (S. 358).
Dagegen legt BGHSt 9, 370 (oben Fall 306) eingehend dar, daß die Gesetzesände-
rung am „Wesen der Anstiftung nichts geändert“ habe (S. 379); mit Hilfe aller Aus-
legungskriterien begründet der Senat seine Auffassung, wonach das „Wesen der
Teilnahme“ eine vorsätzliche Haupttat voraussetze.275
Auf gewandelten Vorstellungen über das „Wesen der Schuld“ beruht die be-
rühmte Entscheidung des Großen Strafsenats (BGHSt GS 2, 194), die mit der
überlieferten Irrtumslehre des Reichsgerichts brach und der heutigen Differen-
zierung in §§ 16 und 17 StGB den Weg bahnte. Der Große Senat gesteht offen
ein, seine Lösung im Wege einer Rechtsfortbildung zu gewinnen. Die Legitima-
tion hierfür ist freilich zweifelhaft, denn über das Wesen der Rechtsbegriffe ent-
scheidet prinzipiell der Gesetzgeber:276
Fall 345 (BGHSt GS 2, 194 – „Wesen der Schuld“): „Alle diese Mängel drängen
dahin, die Rechtsprechung des Reichsgerichts aufzugeben und im Wege richterlicher
Rechtsfindung diejenigen Rechtssätze zu ermitteln und anzuwenden, die auch bei
der Bestrafung vorsätzlicher Taten die Durchführung des Schuldgrundsatzes verbür-
gen und dem Wesen der Schuld gerecht werden“ (S. 203 f.). Daß der Gesetzgeber
den Irrtum über das Strafgesetz für unbeachtlich hielt, stehe nicht entgegen, denn
seine Auffassung habe keinen Niederschlag im Gesetz gefunden (S. 204).277 Die ge-
setzlichen Regelungen seien nicht abschließend, so daß die „Befugnis und Ver-
pflichtung der Rechtsprechung, neue den Schuldgrundsatz voll zur Geltung brin-
gende Rechtssätze für die Behandlung des Verbotsirrtums zu entwickeln“, außer
Zweifel stünden. Als beste Lösung zur Berücksichtigung der aus „dem Wesen der
Schuld sich zwingend – vor aller gesetzlicher Normierung – ergebenden Rechts-
sätze“ erweise sich die Schuldtheorie (S. 209), deren zutreffenden Erkenntnisse der
Gesetzgeber bereits im Wirtschaftsstrafgesetz und im Gesetz über Ordnungswidrig-
275 BGHSt 31, 309 (313) sagt, daß der Gesetzgeber an die seit BGHSt 9, 370 ge-
festigte Rechtsprechung „zum Wesen von Anstiftung und Beihilfe“ angeknüpft habe.
276 Allgemein in diesem Sinn BGHSt 7, 180 (184): „Diese sich aus dem Gesetz
ergebenden Folgerungen können nicht mit Erwägungen über das Wesen und die syste-
matische Stellung der Strafaussetzung zur Bewährung widerlegt werden. Solche Erwä-
gungen sind für die künftige Entwicklung des Strafrechts von Bedeutung. Das geltende
Gesetz hat aber . . .“.
277 Unter Hinweis auf § 59 StGB (a. F.) konnte man das freilich mit gutem Grund
(Umkehrschluß) bestreiten. Insofern abl. denn auch G. und D. Reinicke, MDR 1957,
193 (194 f.).
570 VI. Sinn und Zweck
keiten übernommen habe.278 Dies müsse „den Richter veranlassen, ihr auch im all-
gemeinen Strafrecht, für das eine gesetzliche Regelung fehlt, den Vorzug zu geben.
Hierzu bedarf es keines Eingreifens des Gesetzgebers, weil diese Rechtssätze sich
aus dem Wesen der Schuld ergeben und deshalb im allgemeinen Strafrecht ebenfalls
anzuwenden sind.“
Der Große Senat ist sich seiner Sache sicher. Daß er die sachgemäßere und
vernünftigere Lösung der Irrtumsprobleme entwickelt als die des Reichsge-
richts, mag sein, aber entscheidend war die (vielleicht überholte) Sicht des Ge-
setzgebers vom „Wesen“ der Schuld. Grundsätzlich erkennt das auch der BGH
an, indem er die Überwindung der gesetzgeberischen Vorstellungen zu rechtfer-
tigen sucht; dazu muß er allerdings auf das fragwürdige Instrument der Andeu-
tungstheorie (keinen Niederschlag gefunden) zurückgreifen, das aber wie stets
gute Dienste leistet. Zweifelhaft ist im übrigen die Behauptung, daß die Er-
kenntnisse über den Begriff der Schuld „vor aller gesetzlicher Normierung“ lie-
gen. Im Rahmen des verfassungsrechtlich Zulässigen dürfte der Gesetzgeber
selbstverständlich von den Einsichten des BGH abweichen, und ob nicht auch
die ursprüngliche Konzeption verfassungsrechtlich haltbar war, bedürfte näherer
Prüfung.
Schließlich ist auf die rhetorische Wirkung des Wesensargumentes hinzuwei-
sen,279 die bereits in BGHSt GS 2, 194 zum Tragen kam. Die Entscheidung
praeter oder contra legem bedurfte starker Gründe und womöglich auch rheto-
rischer Unterstützung. Die rhetorische Verwendung des Wesensargumentes ist
allerdings nicht per se verdächtig, sondern in der Regel nur überflüssig:
Fall 346 (BGHSt 2, 246): Der Senat bestätigt die Ansicht, wonach ein minder
schweres Delikt nicht zwei in Tatmehrheit stehende schwerere Delikte zu einer Tat
verklammern kann. Das gelte auch bei einem Raubversuch gegenüber mehreren
Mordversuchen. „Das Wesen des schwersten vorsätzlichen Verbrechens gegen das
Leben, das das Strafgesetzbuch kennt, schließt die Zusammenziehung mehrerer
Morde oder Mordversuche durch gemeinsame Tateinheit mit einer andern minderen
Straftat zu einer einzigen Straftat aus“ (S. 248). – Kann das geringere Delikt keine
Klammerwirkung herbeiführen, muß das Wesen des Mordes als schwerstes Verbre-
chen nicht eigens betont werden.
Fall 347 (BGHSt 4, 135): Problematischer ist die Begründung in BGHSt 4, 135:
Gemäß § 68 I StGB a. F. unterbrach „jede Handlung des Richters, welche wegen
der begangenen Tat gegen den Täter gerichtet ist“, die Verjährung. Anders als das
RG läßt der Senat einen „Sichtvermerk“ des Vorsitzenden auf der Revisionsakte
hierfür nicht genügen. „Vor allem verbietet dies aber die Rücksicht auf das Wesen
und die Rechtsfolgen der Verfolgungsverjährung. Diese schafft ein unbedingtes Ver-
fahrenshindernis. Ihre Folgen haben für den Beschuldigten einschneidendes Ge-
wicht. An Bedeutung stehen sie hinter dem verfassungsverbürgten Grundsatz der
Einmaligkeit der Strafverurteilung nicht zurück. . . . Der Beginn einer gesetzlichen
Frist darf nicht im Ungewissen stehen“ (S. 137). – Die Wirkungen der Verjährung
sind weitreichend, aber ihrem „Wesen“ nach ist sie immerhin eine „Rechtswohltat“
für den Betroffenen; deshalb besteht – anders als beim Grundsatz des ne bis in idem
– kein Grund für eine generell großzügige Anwendung dieses Instituts. Das Gebot
der Rechtssicherheit spricht dagegen zweifellos für die Ansicht des Senats.280
280 Vgl. vor diesem Hintergrund die detaillierte Regelung in § 78c StGB g. F.
572 VI. Sinn und Zweck
12. Folgenberücksichtigung/Ergebniskontrolle
281 In obiger Reihenfolge: DOG NJW 1950, 652 (653) = oben Fall 164; BGHSt 14,
55 (60); 5, 28 (32).
282 Goethe, Faust I, Vorspiel auf dem Theater.
283 Siehe einführend Hensche, Rechtstheorie 1998, 103 ff.; ausführlich Deckert, Fol-
genorientierung, 1995.
284 Das wird z. B. bereits 1913 von Enneccerus (Bürgerliches Recht, S. 118) betont.
In BGHSt 47, 89 (siehe zunächst Fall 343) verteidigt der Senat seine Auffassung
gegen den Einwand des „unerträglichen Ergebnisses“ (S. 98). Die Probleme der Pra-
xis seien nicht zu übersehen, der Aufwand für die Behörden aber auch nicht zu über-
schätzen; vagen Einlassungen des Täters könne mit der freien Beweiswürdigung an-
gemessen begegnet werden (S. 99). Es erscheine zudem als zweifelhaft, „ob die Fol-
genbetrachtung nicht eher gegen die Strafbewehrung“ spreche, denn dadurch käme es
zu einer bedenklichen Ungleichbehandlung der Täter je nach Herkunftsland.
Besonders häufig stellen die Gerichte vergleichende Fallbetrachtungen an:
Die Auslegungshypothese wird durchgespielt (zu Ende gedacht), indem ihre
Auswirkungen auf die typischen Fälle der Norm oder auf realistische Abwand-
lungen des zu untersuchenden Falls betrachtet werden. Dabei festzustellende
(zweckwidrige) Ungleichbehandlungen oder Wertungswidersprüche sind Folgen,
die selbstverständlich bei der Auslegung zu berücksichtigen sind. Mit dem argu-
mentum ad absurdum können sie zum Teil eindrucksvoll vorgetragen werden.287
Um solche „systeminternen“ Folgen288 geht es auch bei der Prüfung, welche
Konsequenzen eine Auslegung auf andere Normbereiche hat, ob sie dort zu ei-
ner Schieflage führt. Wenn die übrigen Kriterien (Wortlaut, gesetzgeberischer
Wille) es zulassen, können solche unerwünschten Auswirkungen zu einer ver-
änderten Gesetzesauslegung führen.289
In umgekehrter Wirkungsrichtung kann das (unbestritten und aus Sicht des Gesetz-
gebers) unerwünschte Ergebnis, zu dem die Auslegung einer Norm führt, zu einer
Korrektur in anderen Bereichen drängen, die Einfluß auf das Ergebnis nehmen kön-
nen. So hätte etwa in der Konstellation von BGHSt 22, 375 (oben Fall 224), in der
eine gesetzgeberische Regelung ungewollt zur Verjährung von NS-Verbrechen
führte, das unerwünschte Resultat womöglich durch eine Modifikation vorgreiflicher
dogmatischer Fragen korrigiert werden können. Das schien dem Senat allerdings zu
Recht als zu teuer, nämlich durch eine Abweichung von eindeutigen Regelungen er-
kauft. Das heißt aber nicht, daß unerwünschte Folgen nicht berücksichtigt werden
dürfen, sondern nur, daß deren Korrektur an vorrangigen Aspekten scheitern kann.
Als systeminterne Folgen können ferner die Konsequenzen einer Einzelfall-
entscheidung auf die Dogmatik insgesamt oder einzelne dogmatisch anerkannte
Lehren (Täterschaft und Teilnahme, Irrtumslehre) berücksichtigt werden.290 Mit
Gesetzesauslegung hat das nur noch mittelbar zu tun, aber gerade im Bereich der
Dogmatik ist die Folgenbetrachtung ein zentrales, konsistenzwahrendes Mittel.
287 Eingehend und mit Beispielen oben VI 4 c. Schmalz (Methodenlehre, Rn. 264)
gericht die allgemeine Teilnahmelehre arg strapazierte; siehe Hassemer, in: FS für
Coing, S. 501.
574 VI. Sinn und Zweck
folge“ und wirft den Befürwortern einer Folgenorientierung vor, sich gerade mit sol-
chen Realfolgen zu wenig zu beschäftigen.
294 Allgemein dazu Luhmann, Recht der Gesellschaft, S. 381: Empirisch gesicherte
Prognosen seien fast immer unmöglich und führten zu Ergebnissen mit geringer Signi-
fikanz.
295 Auch Aspekte der Rechtssicherheit zählt Hensche (wie Fn. 293) zu den „justiz-
nahen Realfolgen“.
12. Folgenberücksichtigung/Ergebniskontrolle 575
Verlangt das Gesetz (der Gesetzeszweck) ihre Berücksichtigung, muß die Inter-
pretation die tatsächlichen Konsequenzen beachten.296 Führt die Auslegung ei-
nes Gesetzes zu tatsächlichen Folgen, die dem konkreten Gesetzeszweck offen-
sichtlich zuwiderlaufen, darf sie im Rahmen des Zulässigen modifiziert werden.
Als solche Folge könnte die drohende Gesetzesumgehung betrachtet werden (vgl.
oben VI 8).297 Läßt eine Auslegung solche tatsächlichen, zweckvereitelnden Verhal-
tensweisen zu, kann dies womöglich berücksichtigt werden. Freilich ist auch hier
fraglich, ob insoweit von „externen“ Folgen gesprochen werden kann.
Nicht angängig ist es hingegen, ohne konkreten Anknüpfungspunkt in der
jeweiligen Norm unspezifisch die „sozialen Auswirkungen“ oder „praktischen
Konsequenzen“ einer bestimmten Interpretation zu bedenken und auf diese
rückwirken zu lassen. In dieser Hinsicht fehlt es sowohl am notwendigen me-
thodischen Instrumentarium der Feststellung als auch an hinreichend konkreten
Maßstäben, um die Realfolgen zu bewerten und sie ins rechte Verhältnis zu den
übrigen Kriterien der Auslegung zu setzen.298 Keine Rücksicht bei der Norm-
konkretisierung verdient auch, welche Akzeptanz eine bestimmte Normdeutung
beim Betroffenen oder welche (generalpräventiven) Auswirkungen sie auf das
Rechtsbewußtsein der Gesellschaft haben wird. Konsequent müßte auch dies
mit empirischen Methoden ermittelt werden, um den Bereich der Spekulation
und Alltagstheorie zu verlassen.
Andernfalls kommt es zu gehaltlosen Feststellungen wie in BGHSt 26, 228 (oben
Fall 243): „Auch unter rechtsstaatlichen Verhältnissen kann es einem Angeklagten
nicht erlaubt sein, sich gegen seine Aburteilung in einer Weise zur Wehr zu setzen,
welche die Durchführung des Verfahrens praktisch verhindert. Das Rechtsbewußt-
sein der rechtstreuen Bürger, die täglich die Bestrafung Gestrauchelter wegen weit
geringfügigerer Delikte erleben, als sie den Beschwerdeführern zur Last gelegt wer-
den, würde sonst unabsehbaren Schaden nehmen“ (S. 241). – Man wird nicht anneh-
men können, daß der Senat damit Kriterien angibt, die generell bei der Auslegung
eine Rolle spielen.
Daß der Gesetzgeber dem Richter die Berücksichtigung solcher Faktoren auf-
erlegen kann und ihn so vor schwer lösbare Aufgaben stellt, ist eine andere
Frage. Im Strafrecht verlangt der Gesetzgeber richterliche Prognosen über tat-
sächliche Entscheidungsfolgen allerdings nicht im Bereich der Normkonkretisie-
296 Raisch, Vom Nutzen, S. 56: Nur die von der Rechtsordnung gewollten oder
nicht gewollten Folgen dürfen berücksichtigt werden. Weitergehend wohl Wank, Aus-
legung, S. 80: Bei der Folgenkontrolle muß der Interpret prüfen, welche sozialen Fol-
gen eine bestimmte Interpretation hervorruft und ob das vom Gesetzgeber beabsichtigt
war.
297 Die Ermöglichung von Mißbrauch und Umgehung zählt Schmalz (Methoden-
baren Kriterien für die Bewertung von Realfolgen siehe Deckert, Folgenorientierung,
S. 163 ff., wonach letztlich nur Effizienz, Richtigkeit, Gerechtigkeit und Wahrheit in
Betracht kämen (S. 173).
576 VI. Sinn und Zweck
rung, sondern bei der Bestimmung der Rechtsfolge. So muß der Richter gemäß
§ 46 I 2 StGB bei der Strafzumessung die Wirkungen der Strafe auf das künf-
tige Leben des Täters prognostizieren und gemäß §§ 47, 56 III, 59 I Nr. 3 StGB
beachten, welche Auswirkungen seine Entscheidung auf das Rechtsbewußtsein
der Allgemeinheit haben wird.299 Die damit verbundenen Schwierigkeiten gehö-
ren nicht zum Gegenstand vorliegender Untersuchung.
Abschließend ist zur Vermeidung von Verwechslungen noch auf einen Ge-
sichtspunkt hinzuweisen, der mit dem Ergebnis der Auslegung nicht selten asso-
ziiert wird und als „Ergebnisdenken“, „Finalismus“ oder „Auslegung vom Er-
gebnis her“300 bezeichnet werden kann. Gemeint ist eine Rechtsanwendung, die
sich ihres – vornehmlich mit den vagen Maßstäben der Vernunft, der Gerechtig-
keit oder des Rechtsgefühls gewonnenen – Ergebnisses von vornherein sicher ist
und das Resultat erst nachträglich mehr oder weniger geschickt mit rationalen
Gründen rechtfertigt.301 Ist das mit den anerkannten Faktoren der Interpretation
nicht möglich, entsteht ein „Dilemma des Könnens“ (Scheuerle), das häufig in
Schleichwege und Tricks mündet.302 Von einer so verstandenen und zu mißbilli-
genden Ergebnisorientierung zu unterscheiden ist wiederum die an sich
unbedenkliche ökonomische Vorgehensweise des erfahrenen Rechtsanwenders,
dem aufgrund seines geschulten Rechtsgefühls die „richtige“ Lösung vor-
schwebt und der diese im Anschluß (erwartungsgemäß) methodisch einwandfrei
zu begründen vermag oder aber revidieren muß.303
299 Ob es sich bei dem generalpräventiven Aspekt allerdings wirklich um eine Frage
S. 317).
303 Scheuerle, AcP 1967, 305 (336 f.): Nur „scheinbar final“. Auch dazu bereits
oben II 6.
VII. Übergreifende Gesichtspunkte
Die abschließende Betrachtung dient nicht dazu, eine Rangfolge der Ausle-
gungskriterien vorzustellen. Zwei wesentliche Aspekte dieses Themas – der
„mögliche Wortsinn“ als Grenze der Auslegung und die Frage nach der Bin-
dung an die historische Wertentscheidung des Gesetzgebers – wurden hier ein-
gehend in den jeweiligen Einzelkapiteln behandelt. Auch die Relevanz vieler
Argumentationsfiguren wurde in den einzelnen Abschnitten beleuchtet. Ob dar-
über hinausgehende Regeln aufgestellt werden können, nach denen die Praxis zu
verfahren hat, muß bezweifelt werden. Ohne eine Erörterung der Rechtsfortbil-
dung und des Präjudizienrechts bliebe die Thematik Rangfolge zudem notwen-
dig unvollständig. Abschließend sollen statt dessen wichtige Äußerungen des
BGH betrachtet werden, aus denen sich Rückschlüsse darauf ergeben, wie die
Rechtsprechung selbst Rangfolgefragen einschätzt. Von Interesse sind dabei vor
allem ausdrückliche Stellungnahmen zu Methodenfragen (VII 1) und zur Geset-
zesbindung (VII 3 a), aber auch aus Rechtsprechungsänderungen (VII 2) erge-
ben sich Hinweise auf die Behandlung des Auslegungskanons in Grenzfällen.
1. Methodologische Aussagen
Die ausdrücklichen Aussagen der Strafsenate und (teilweise) des BVerfG zur
Methodik der Gesetzesauslegung wurden weitestgehend bei den jeweiligen Ein-
zelfragen vorgestellt und diskutiert. Sie sollen hier in komprimierter Form rück-
schauend zusammengefaßt werden. Viele der Aussagen sind überholt, streitig
oder ungeklärt, aber sie zeigen das Spektrum möglicher methodologischer
Standpunkte und deuten denkbare Lösungen von Rangfolgefragen an. Notge-
drungen außer Betracht bleiben methodologische Widersprüche, die auf tatsäch-
lich gegenläufig verfahrenden Entscheidungen beruhen, welche ihren methodi-
schen Standpunkt nicht explizit formulieren. Insoweit muß auf die einzelnen
Kapitel verwiesen werden.
geber aber ein engeres Verständnis zugrunde legen könne.1 Fragwürdig ist demge-
genüber die Annahme von BGHSt 34, 171 (175), wonach der Gesetzgeber, der ei-
nen Begriff nicht definiert hat, „von einer typischen, allgemein bekannten Erschei-
nung des täglichen Lebens“ ausgegangen ist. Zweifelhaft ist die in BGHSt 27, 45
(50) vertretene Ansicht, ein nur zur Klarstellung neugefaßter Tatbestand dürfe nicht
so sehr nach dem Wortlaut ausgelegt werden wie eine völlig neugestaltete Vorschrift
(vgl. Fall 189). BVerfGE 1, 299 (312) will den Wortlaut genau nehmen, weil er im
Gesetzgebungsverfahren mehrfach geändert wurde. Für möglich halten es die Se-
nate, daß eine Rechtsfrage bereits auf semantischer Ebene entschieden ist, der Wort-
laut „eindeutige“ Ergebnisse liefert und damit Rückgriffe auf andere Kriterien über-
flüssig macht.2 Gleichwohl beschäftigen die Senate sich auch bei klarem Wortlaut
aus unterschiedlichen Gründen und zu Recht mit den weiteren Konkretisierungsele-
menten. Als maßgebliche Grenze der Auslegung zum Nachteil des Angeklagten ist
der „mögliche Wortsinn“ heute einhellig anerkannt3 und verfassungsgerichtlich sank-
tioniert. Weder der gesetzgeberische Wille (BGHSt 42, 391 [393]) noch kriminalpo-
litische Erwägungen (BGHSt 8, 343 [345]) rechtfertigen eine Überschreitung dieser
Grenze. „Wortsinn“ ist dabei mehr als der reine Gesetzestext, denn er ergibt sich
„aus dem Gesetzeswortlaut und aus dem Sinnzusammenhang . . ., in den die Norm
gestellt ist“ (BGHSt 41, 285 f.).4 Daß der „mögliche Wortsinn aus Sicht des Bürgers
zu bestimmen ist“, sagt explizit BVerfGE 71, 108 (115), allerdings ohne Tragweite
und Realitätsferne dieser Ansicht zu bedenken. Der BGH hat sie – soweit ersichtlich
– nicht übernommen und verfährt faktisch anders.5 Keine ausdrückliche Bestätigung
fand bislang die (allerdings naheliegende) Auffassung, daß es hinsichtlich der Wort-
sinngrenze auf den gegenwärtigen Sprachgebrauch ankommt.6 Insgesamt desillusio-
niert zur Wirksamkeit der Auslegungsgrenze äußert sich BGHSt 40, 272 (279): Zu
beachten sei, „daß die Grenzen zwischen zulässiger Auslegung und verbotener Aus-
dehnung einer Strafrechtsnorm flüssig sind, da die Wortlautschranke7 wegen der
Manipulierbarkeit des Sprachgebrauchs nur beschränkt leistungsfähig ist“.
Sehr zahlreich sind Stellungnahmen zur Frage, ob und wie die Entstehungs-
geschichte zur Gesetzeskonkretisierung herangezogen werden darf. Skepsis und
widersprüchliche Äußerungen finden sich insbesondere in bezug auf den „ge-
1 Siehe die wörtliche Wiedergabe oben in Kap. III bei Fn. 200; dort auch zur näch-
sten Entscheidung.
2 Eingehend und mit Nachweisen oben III 3 c.
3 Siehe oben III 7 a und insbesondere BGHSt 43, 237 (238 f.) m. w. N. Ausdrück-
lich anders: BGHSt 6, 394 (396), zweifelhaft: BGHSt 8, 66 (70), faktisch anders:
BGHSt 10, 375.
4 Daraus resultiert die Frage, ob auch Elemente der systematischen Auslegung am
denn im zugrundeliegenden Fall führt sie fraglos zur richtigen Lösung (Wortlautüber-
schreitung). Eingehend zur Thematik oben III 7 b.
6 Implizit und zu Unrecht anders aber BGHSt 41, 219 = oben Fall 59. Ob gleich-
wohl die Entstehungsgeschichte als einfaches Auslegungskriterium für ein engeres (das
historische) Verständnis spricht, ist eine davon zu trennende Frage.
7 Scharf zwischen der Grenze des „Wortsinns“ und des „Wortlauts“ differenziert die
Rechtsprechung nicht, was in der Regel unschädlich ist (allgemein dazu oben III 2).
1. Methodologische Aussagen 579
netischen“ Anteil der historischen Auslegung und vor allem in frühen Entschei-
dungen der amtlichen Sammlung. Die Leitentscheidung, die der subjektiv-histo-
rischen Auslegung stets Steine in den Weg legte, stammt freilich vom BVerfG:
Nach BVerfGE 1, 299 (312) sind subjektive Vorstellungen der Gesetzesverfasser
über die Bedeutung einer Bestimmung nicht ausschlaggebend; die Entstehungsge-
schichte diene lediglich der Bestätigung einer anderweitig gewonnenen Auslegung
oder der Behebung von Zweifeln. Prononciert in diesem Sinn äußert sich BGHSt
13, 5 (8): „Maßgebend für die Auslegung einer gesetzlichen Vorschrift ist jedoch
nicht, wie ihre Urheber oder Verfasser sie verstanden wissen wollten sondern ihr
wirklicher Sinngehalt, wie er sich für den unbefangenen Betrachter aus dem Wort-
laut des Gesetzes und dessen Sachzusammenhang ergibt“. Verkennt der Gesetzgeber
den „wirklichen“ Gesetzessinn oder die „wahre Bedeutung“ der Begriffe, berechtigt
das den Richter nicht, statt dessen den Willen des Gesetzgebers zugrunde zu legen.8
BGHSt 12, 42 (43) sieht Einigkeit in Rechtsprechung und Lehre, daß der Entste-
hungsgeschichte im allgemeinen, insbesondere aber Äußerungen von Abgeordneten
und Regierung „nur ein bedingter Wert zukommt“.9 BGHSt 18, 156 (159) spricht
der Entstehungsgeschichte unter Berufung auf BVerfGE 1, 299 die „Bedeutung ei-
ner selbständigen Erkenntnisquelle“ schlicht ab, während BGHSt 26, 156 (160) wie-
der ihre nur unterstützende oder der Behebung von Zweifeln dienende Funktion als
„Argumentationshilfe“ herausstellt. Insoweit gleicht der Rang der Gesetzesmateria-
lien dem anderer Interpretationshilfen wie ministeriellen Erlassen und Verwaltungs-
vorschriften.10 Gegen die Ermittlung des historischen gesetzgeberischen Willens
wird ferner eingewandt, „daß es kein verläßliches Mittel gibt, das seine zweifels-
freie Feststellung ermöglicht“, BGHSt 1, 74 (76). Besonders gelte das für Gelegen-
heitsgesetze, die „ohne vertiefte Durchbildung“ zustande gekommen sind (a. a. O.). –
Stets gab es unter den Senaten des BGH aber auch Befürworter der subjektiv-histo-
rischen Methode. Noch zurückhaltend gegenüber der Verwertung von Inhaltsvorstel-
lungen einzelner Abgeordneter zeigt sich BGHSt 2, 99 (103 f.), betont aber, daß
daraus der Zweck der Vorschrift erhelle. Großzügig und kaum mit BVerfGE 1, 299
vereinbar zieht BGHSt GS 4, 308 (310) bei offenem Wortlaut die Entstehungsge-
schichte heran, „um dem Willen des Gesetzgebers . . . nach Möglichkeit zum Erfolg
zu verhelfen“; dabei erläutert der Große Senat eingehend, welche Verlautbarungen
aus dem Gesetzgebungsverfahren zu verwerten sind. In Richtung subjektive Theorie
tendiert auch BGHSt 13, 102 (117), wonach die Vorstellungen der Urheber über den
Gesetzessinn die Auslegung häufig maßgeblich bestimmen werden, falls seine zwei-
felsfreie Feststellung möglich sei. BGHSt 11, 171 (173) läßt dahinstehen, ob kon-
krete Meinungsäußerungen aus dem Gesetzgebungsverfahren, „den Richter als
,konkrete Entscheidung‘ des Gesetzgebers binden“, betont aber, daß entsprechend
§ 133 BGB auch bei solchen Äußerungen nach ihrem „wirklichen Sinn“ zu fragen
ist. Am deutlichsten wird der BGH in BGHSt 18, 151 (155), wenn er den parlamen-
tarischen Vorgängen „eine authentische Interpretation des Willens des Gesetzgebers“
entnimmt, welche „die Gerichte bindet“. Nach Band 26 der amtlichen Sammlung
finden sich kaum noch Äußerungen, die der Verwertung der Entstehungsgeschichte
von vornherein reserviert gegenüberstehen. Als Schlußpunkt der Diskussion kann
erneut eine Entscheidung des BVerfG herangezogen werden, denn nach BVerfGE
105, 135 (157) haben „alle herkömmlichen Auslegungsmethoden“ ihre Berechtigung
bei der Ermittlung des objektivierten Willen des Gesetzgebers; keiner gebühre ein
unbedingter Vorrang vor den anderen.
Stärker in den Vordergrund rückt deshalb die Frage, ob die grundsätzlich zulässige
Heranziehung nicht an bestimmten Hürden, vor allem am Wortlaut scheitern muß
(oben IV 3). Nach BGHSt 1, 74 (76) „kann der abweichende sogenannte Wille des
Gesetzgebers regelmäßig keine Beachtung finden“, wenn „die Anwendung eines Ge-
setzes aus sich selbst heraus zu einem eindeutigen Ergebnis“ führe. Ist der Wortlaut
hingegen nicht eindeutig, so kann oder muß die Gesetzesbegründung oder der ge-
setzgeberische Wille herangezogen werden.11 Nahe verwandt sind Eindeutigkeitsre-
gel und Andeutungstheorie.12 Letztere verlangt auch bei einem zweideutigen Geset-
zestext zur Berücksichtigung des gesetzgeberischen Willens, daß dieser im Wortlaut
„Ausdruck“ oder „Niederschlag“ gefunden hat.13 Ungeklärt ist die Frage, wie stark
die historischen Vorstellungen im Gesetzeswortlaut zum Ausdruck gelangen müs-
sen.14 BGHSt 26, 156 (160) gibt der Andeutungstheorie verfassungsrechtliche Wei-
hen: Die Gesetzesmaterialien dürften als „Argumentationshilfe“ unter „der Voraus-
setzung herangezogen werden, daß die Vorstellungen der an der Gesetzgebung betei-
ligten Organe im Gesetz selbst einen hinreichend bestimmten Ausdruck gefunden
haben . . . Eine Auslegung, die diese Grenzen verkennt, läuft Gefahr, sich mit dem
Gebot der Bestimmtheit des Strafgesetzes (Art. 103 Abs. 2 GG; § 1 StGB) in Wi-
derspruch zu setzen“. BGHSt 38, 237 (247) setzt Wortlaut und Entstehungsge-
schichte in ein Verhältnis der Proportionalität: „Im übrigen können die Vorstellun-
gen und Motive des Gesetzgebers immer nur eines von mehreren Auslegungskrite-
rien sein; ihre Bedeutung tritt um so stärker zurück, je weniger sie im Wortlaut der
Vorschrift ihren Niederschlag gefunden haben“.
Weitere Einschränkung erfährt der gesetzgeberische Wille durch den Wandel der
Verhältnisse (oben IV 5). Apodiktisch sagt RGSt 12, 371 (372), daß der Gesetzge-
ber angesichts der „Mannigfaltigkeit des Lebens“ nicht alle Fälle im voraus beden-
ken und regeln könne; deshalb gelte das Gesetz für alle Fälle, auf die es „nach
richtiger Auslegung paßt“. Berühmt ist die pathetische Formulierung aus BGHSt 10,
157 (159 f.): „Kein Gesetz verträgt eine starre Begrenzung seiner Anwendbarkeit
auf solche Fälle, die der vom Gesetzgeber ins Auge gefaßten Ausgangslage entspre-
chen; denn es ist nicht toter Buchstabe, sondern lebendig sich entwickelnder Geist,
der mit den Lebensverhältnissen fortschreiten und ihnen sinnvoll angepaßt weitergel-
ten will“.15 Die Anpassung veralteter Gesetze an neue Anschauungen hält BGHSt
11 Kann: BGHSt 25, 374 (379); muß: BGHSt 11, 47 (49); 27, 45 (50); 32, 1 (4).
12 Siehe oben IV 3 b mit vielen und nicht selten mißverständlichen Formulierungen
aus der Rechtsprechung.
13 Siehe z. B. BGHSt 34, 211 (213); 47, 243 (245).
14 Ausführlich zu den unterschiedlichen Maßstäben („hinreichend“, „noch“, „si-
cher“) der Senate oben III 3 c; zu den erheblichen Einwänden gegen die Andeutungs-
theorie vgl. III 3 g.
1. Methodologische Aussagen 581
18, 279 (283) für zulässig: „Für den Rechtsunterworfenen wäre es unverständlich,
wenn angesichts dieser allgemeinen, unaufhaltsamen Fortentwicklung des Rechts in
einem eng begrenzten – steuerrechtlichen – Bereich an einer einzelnen überalterten
Regelung um ihres äußeren Wortlauts willen unbekümmert um die jetzt gemilderten
Anforderungen des Gesetzgebers an die Mittel zur Durchsetzung der Steuerhoheit –
selbst nur noch für eine kurze Übergangszeit – festgehalten würde und kein Weg
gefunden werden könnte, sie im Wege der Auslegung an die allgemeinen neuzeitli-
chen Rechtsanschauungen anzupassen.“ Grenzen der Dynamisierung erkennt aller-
dings BGHSt 17, 267 (274): Im Rahmen des rechtlich Zulässigen müsse eine „auf
Ermittlung des Gegenwartssinnes“ gerichtete Auslegung „auch den seit Erlaß der
Norm veränderten tatsächlichen Umständen Rechnung tragen“; aus Gründen der Ge-
waltenteilung seien dem jedoch „enge Grenzen gesetzt“. Und nach BGHSt 11, 304
(314) kann die Frage, ob eine Regelung aufgrund technischer Veränderungen „ver-
altet oder verbesserungsbedürftig“ ist, „bei der Auslegung keine Rolle spielen“; die
Entscheidung über die Fortgeltung obliege allein dem Gesetzgeber.
Weniger Probleme bereiten Reflexionen zur objektiv-historischen (systematisch-
historischen) Auslegung. Ablehnend zur Verwertung der lex ferenda16 äußert sich
BGHSt 12, 28 (30): Der Richter habe „das geltende Recht anzuwenden“. Beabsich-
tigte Regelungen dürfen nicht zur Auslegung der jetzt maßgeblichen Bestimmung
herangezogen werden, BGHSt 44, 13 (18). Eine Fernwirkung systematischer Ausle-
gung (oben IV 7 c) bejaht BGHSt 33, 394 (397): „Auch ohne Änderung des Geset-
zeswortlauts kann der Gesetzgeber über eine bestimmte, rechtlich zu regelnde Frage
eine Entscheidung treffen; das kann bei Änderung einzelner Vorschriften eines Ge-
setzes der Fall sein, wenn sich sein Betätigungswille auch hinsichtlich im Wortlaut
unverändert gebliebener Paragraphen aus dem engen sachlichen Zusammenhang
zwischen unveränderten und geänderten Normen objektiv erschließen läßt, so wenn
ein begrenztes und überschaubares Rechtsgebiet durchgreifend geändert wird und
veränderte und unveränderte Normen eng miteinander zusammenhängen“. BGHSt
30, 98 (103) meint für den Fall der Wiedereinführung einer Vorschrift (oben IV 7
e), daß der Gesetzgeber sie im Zweifel „auch so einführen wollte, wie sie in der
Praxis gehandhabt worden war“. Wird der frühere Wortlaut wiederhergestellt, so
kann das nach BGHSt 4, 24 (29) „nur dahin verstanden werden, daß auch der frü-
here Rechtszustand wiederherstellt werden soll“. BGHSt 3, 241 (245) hält es schon
ganz allgemein für „untunlich, nach Wegfall einer strafrechtlichen Bestimmung ih-
ren bisherigen Anwendungsbereich im Wege richterlicher ,Auslegung‘ einer anderen
Vorschrift zuzuweisen“ (oben IV 7 f).
Der systematischen Auslegung können folgende Aussagen zugeordnet werden:
Das Ziel der systematischen Interpretation und gleichzeitig das Wesen der verfas-
sungskonformen Auslegung beschreibt BGHSt 13, 102 (117): „Die Auslegung hat
auch darauf bedacht zu sein, daß sich die Gesamtheit der gesetzlichen Bestimmun-
gen tunlichst zu einem widerspruchslosen Ganzen zusammenfügt. Ergibt sich, daß
eine früher erlassene Vorschrift mit dem Sinn, den ihre Urheber mit ihr verbunden
15 Siehe außerdem die Ausführungen von DOG NJW 1950, 652 (653) = oben Fall
164.
16 Vgl. oben IV 6 und 7 d; dort auch zu faktisch gegenteilig verfahrenden Entschei-
dungen.
582 VII. Übergreifende Gesichtspunkte
wissen wollten, mit einer späteren Bestimmung von höherem Rang nicht in Ein-
klang zu bringen ist, erlaubt aber der Wortlaut der früheren Vorschrift, ihr einen
Sinn zu geben, der der späteren höherrangigen Norm nicht widerstreitet, ist es zu-
lässig, sie in diesem Sinne auszulegen.“ Überschriften gesetzlicher Vorschriften ent-
halten, auch wenn sie vom Gesetzgeber mitberaten wurden, nach BGHSt 29, 220
(224) nie zusätzliche Tatbestandsmerkmale, sondern weisen lediglich „auf den
wesentlichen Inhalt der gesamten Vorschrift“ hin (oben V 2). Schwer tut die Recht-
sprechung sich mit der Behandlung von Ausnahmevorschriften (oben V 4): Nach
BGHSt GS 5, 323 (327) sind sie „in der Regel eng auszulegen“, besonders wenn sie
„verfassungsmäßig gewährleistete Grundrechte einschränken“. BGHSt 43, 262 (264)
gestattet ihre „erweiternde Anwendung . . ., wenn dies aus verfassungsrechtlichen
Gründen und/oder nach dem Regelungszweck unausweichlich gefordert ist“. Und
zutreffend stellt BGHSt 39, 112 (117) fest, daß sich auch die Auslegung einer Aus-
nahmevorschrift allein nach deren ratio legis bestimmt. Unbestritten erkennt die
Rechtsprechung die „Relativität der Rechtsbegriffe“ an, bemüht sich in vielen Fällen
aber um die Wahrung der Einheitlichkeit (oben V 8 a). BGHSt 13, 178 (180) formu-
liert sogar eine dahingehende Vermutung: „Nach gesetzgeberischen Gepflogenheiten
versteht ein Gesetz, wenn es an mehreren Stellen denselben Begriff wörtlich ver-
wendet, in der Regel dasselbe.“ BGHSt 7, 240 (243 f.) verwirft eine Auslegung als
fernliegend, die dem gleichen Ausdruck in verschiedenen Absätzen einer Norm eine
unterschiedliche Bedeutung beilegen will: „Daß damit die Grenzen vertretbarer Aus-
legung überschritten werden, bedarf keiner weiteren Begründung.“
Zur teleologischen Auslegung im weiteren Sinn zählen folgende Aussagen:
„Innerhalb der Grenzen des sprachlich Möglichen ist . . . jeder Begriff nach dem
Sinn und dem Zweck der Vorschrift auszulegen“, BGHSt 3, 300 (303); 4, 144 (148).
Auf Sinn und Zweck komme es entscheidend an, BGHSt 30, 98 (101); den Zweck
in den Vordergrund zu stellen, entspreche „den Grundsätzen heutiger Rechtsausle-
gung“, BGHSt 14, 152 (155). Zurückhaltender meint BGHSt 27, 236 (238), die In-
terpretation müsse zwar vom Wortlaut ausgehen, doch seien „die daraus gewonne-
nen Ergebnisse am Sinn und Zweck der Bestimmung zu messen“. Zur Erforschung
von Sinn und Zweck ist nach BGHSt 31, 1 (4) auf die Gesetzesmaterialien zurück-
zugreifen, wenn der Wortlaut keinen eindeutigen Aufschluß gibt. BGHSt 8, 343
(345) verlangt die Berücksichtigung rechtspolitischer Erwägungen, wenn es der Ge-
setzeswortlaut gestattet (oben VI 5).
Über die Einzelkriterien des Kanons hinaus gehen folgende Äußerungen:
Häufig gebrauchen die Senate die Ausdrücke „Wille des Gesetzgebers“ und „Wille
des Gesetzes“ (oben IV 1 d). Darin kann sich der Streit zwischen objektiver und
subjektiver Auslegung widerspiegeln wie in BGHSt 1, 74 (75 f.): Gegenüber dem
eindeutig erkennbaren, sich aus Wortlaut und Zweck ergebenden Willen des Geset-
zes „kann der abweichende sogenannte Wille des Gesetzgebers regelmäßig keine
Beachtung finden“. In aller Regel stehen die Ausdrücke jedoch nur für das Ergebnis
der Interpretation. Problematischer verhält es sich mit dem „objektivierten Willen
des Gesetzgebers“, worunter das Leitkriterium der Auslegung insgesamt verstanden
werden kann (oben IV 1 e). Nach einigem Zögern hat der BGH den bereits in
BVerfGE 1, 299 (312) verwendeten Ausdruck in BGHSt 17, 21 (23) aufgegriffen:
„Maßgebend für die Auslegung eines Gesetzes ist der in ihm zum Ausdruck kom-
1. Methodologische Aussagen 583
mende objektivierte Wille des Gesetzgebers, so wie er sich aus dem Wortlaut der
Gesetzesbestimmung, dem Sinnzusammenhang sowie dem erkennbaren Zweck der
Vorschrift ergibt“.17 Dem durch BVerfGE 1, 299 eröffneten Weg folgend wird der
„objektivierte Wille“ dazu genutzt, den historischen Willen zu überwinden;18 die
Verwendung kann sich allerdings auch als harmlos erweisen. Neuerdings bindet
BVerfGE 105, 135 (157) freilich auch die historische Auslegung ausdrücklich und
gleichrangig zu den anderen Kriterien in die Ermittlung des „objektivierten Wil-
lens“ mit ein.
Zur Auslegung im allgemeinen konstatiert BGHSt 2, 364 (365) ein Bestreben der
höchstrichterlichen Rechtsprechung in Strafsachen „nach natürlicher Betrachtung
und nach lebensgemäßen, befriedigenden Ergebnissen“. Nach BGHSt 9, 84 (87) ist
ein Gesetz „immer so auszulegen, daß es seine Aufgaben im praktischen Rechts-
leben zu erfüllen vermag“, nach BGHSt 13, 54 (55), daß seine „Handhabung im
Rechtsleben möglich ist“. Das Übermaß an Auslegungsproblemen zu § 42m StGB
a. F. führt in BGHSt 7, 165 (oben Fall 213) zur Geringschätzung der Methodik im
allgemeinen: Die Zweifel bei der Interpretation dieser Norm würden überschätzt; sie
„betreffen im Grunde genommen rechtstheoretische Überlegungen, deren Gegensätz-
lichkeit nicht notwendig mit sich bringt, daß die Rechtsprechung in der Beurteilung
praktischer Fälle auseinandergeht“ (S. 169). Zuweilen finden sich methodologische
Leersätze, so wie in BGHSt GS 8, 301 (320): „Es geht nicht an, aus dem Gesetz
etwas herauszulesen, was es ersichtlich nicht gewollt hat.“ Der BGH behauptet (zu
Recht) nicht, daß Strafgesetze per se eng auszulegen seien (in dubio pro mitius),
aber immerhin ist BGHSt 28, 147 (148) der Auffassung, „daß eine richterliche
Überdehnung von Straftatbeständen vermieden werden muß“.19 Ohne weiteres zuzu-
stimmen ist BGHSt 38, 144 (151), wenn der Senat unter Hinweis auf Art. 103 II
GG ausführt: „Läßt das Gesetz nach Ausschöpfung aller Auslegungsmöglichkeiten,
möglicherweise bedingt durch die Schwierigkeit der Materie, Zweifel offen, dürfen
diese nicht zu Gunsten der Strafbarkeit behoben werden.“
Neben der Frage, welche Kriterien unter welchen Voraussetzungen zur Erfor-
schung des „objektivierten Willens des Gesetzgebers“ herangezogen werden
dürfen und müssen, erörtern die Senate ferner die Reihenfolge, nach der die
Interpretation ablaufen soll. Häufig wird dabei die bedeutungslose Regel postu-
liert, die Auslegung müsse vom Wortlaut ausgehen:
„Alle Auslegung fängt beim Worte an“, BGHSt 3, 259 (262), müsse „stets vom
Sprachgebrauch ausgehen“, BGHSt 6, 304 (307). Die „Auslegung jeder gesetzlichen
Bestimmung muß bei ihrem Wortlaut beginnen“, BGHSt 14, 116 (118).20 Viel ge-
17 Ebenso BGHSt 20, 104 (107); 31, 128 (130); 36, 192 (195); 44, 13 (18).
18 Siehe vor allem BGHSt 36, 192 = oben Fall 112.
19 Näher zu prüfen wäre, welche konkreten Folgen (außer dem Analogieverbot) der
EGMR mit seiner Ansicht verbindet, Art. 7 EMRK verbiete „jede extensive Auslegung
des Strafgesetzes zu Lasten eines Angeklagten“; vgl. EGMR NJW 2001, 3035 (Leit-
satz 3) und NJW 1985, 2076.
584 VII. Übergreifende Gesichtspunkte
wonnen ist damit nicht, denn – abgesehen von den Fällen der Eindeutigkeit21 – las-
sen die Senate keinen Zweifel, daß innerhalb des Wortlauts der Gesetzeszweck ent-
scheidet: „Der Senat verkennt nicht, daß die Auslegung eines Gesetzes von dessen
Wortlaut auszugehen hat. Das schließt aber . . . nicht aus, eine Bestimmung, deren
Wortlaut verschieden deutbar ist, so auszulegen, daß dem ihr zugrunde liegenden
und in ihr allgemein zum Ausdruck gekommenen Zweck in differenzierender Weise
Rechnung getragen wird, auch wenn der Wortlaut keine ausdrücklichen Unterschei-
dungen macht. Entscheidend ist, daß der Wortlaut einer unterscheidenden Auslegung
nicht entgegensteht.“22 Auch BGHSt 27, 236 (238) befürwortet die genannte Regel,
beginnt aber mit einer Diskreditierung der Wortauslegung: Der „bloße Wortlaut“
könne allerdings für die Gegenansicht sprechen. „Auf den Wortlaut allein kann je-
doch nicht abgestellt werden. Zwar hat die Gesetzesauslegung von ihm auszugehen
. . . Die anhand des Wortlauts gewonnenen Ergebnisse sind aber am Sinn und Zweck
der Bestimmung zu messen“.23 Eine Reihe von Entscheidungen wählt zudem den
umgekehrten Weg und stellt erst abschließend fest, daß die gewonnene Auslegung
auch mit dem Wortlaut zu vereinbaren sei.24 BGHSt 26, 228 (229) sagt: „Bei der
Bestimmung des sachlichen Geltungsbereichs des § 231a StPO sind zunächst die
Absichten ins Auge zu fassen, die der Gesetzgeber mit der Einführung dieser Vor-
schrift verfolgte. Sodann ist zu prüfen, ob eine Verfahrenslage wie die hier zu beur-
teilende in den danach beabsichtigten Regelungsbereich fällt, und weiter, ob dies in
dem Wortlaut der Vorschrift hinreichenden Ausdruck gefunden hat.“ BGHSt 18, 114
(117 f.) will bei „Beantwortung der Frage, ob ein Unfallbeteiligter, der die Unfall-
stelle zunächst in Unkenntnis seiner Mitbeteiligung verlassen hat, zurückkehren
muß, . . . vom Zweck des § 142 StGB“ ausgehen.
Eine feste Prüfungsabfolge der Auslegungskriterien ist nicht anzuerkennen.25
Da es stets darum geht, den Sinn eines Textes zu ermitteln, ist es naheliegend,
von diesem auszugehen, aber die Normexegese kann auch anders verfahren. In
der Regel prüft das Revisionsgericht ja bereits ausgearbeitete Auslegungshypo-
thesen und kann sogleich auf bestimmte Kriterien des Kanons „springen“. Vie-
les ist insoweit allein eine Frage der Darstellungstechnik. Rangfolgefragen müs-
sen auf andere Weise entschieden werden. Im zuletzt genannten Fall (BGHSt
18, 114) könnte man dem Senat zwar unterstellen, nur wegen des problemati-
schen Wortlauts zunächst den Zweck in den Vordergrund gestellt zu haben;26
20 Siehe außerdem: BGHSt 18, 151 (152 f.); 19, 158 (159); 26, 367 (371); 27, 45
(50); RGSt 77, 137 (138).
21 BGHSt 19, 158 (161) prüft allerdings noch eingehend Sinn und Zweck, obwohl
Wortlaut ist allerdings auch Sinn und Zweck des Gesetzes für dessen Auslegung her-
anzuziehen“.
23 Siehe auch BGHSt 17, 101 (106): Bei der Auslegung sei nicht auf den „bloßen
Gesetzeswortlaut zurückzugreifen“.
24 Z. B. BGHSt 24, 352 (354); 27, 160 (165); 44, 355 (359); unmittelbar auf den
c) Bindungswirkung/Fazit
26 BGHSt 27, 45 (50) muß ebenfalls mit einem problematischen Wortlaut kämpfen,
meint aber gleichwohl, daß die Gesetzesauslegung mit dem Wortlaut zu beginnen
habe.
27 Dazu, daß der BGH die notwendige Begründung hierfür in der Entscheidung
oben IV 2.
586 VII. Übergreifende Gesichtspunkte
Erst recht gilt das für Konstellationen, die aus methodologischer Sicht zwar die glei-
chen oder ganz ähnliche Fragen aufwerfen, in denen der methodische Standpunkt
aber nicht explizit hervorgekehrt wird. Abweichungen fallen dann gar nicht erst auf,
zumal die zu entscheidenden dogmatischen Probleme in der Regel unterschiedliche
sind. So kommt es zu echten Antinomien wie etwa in den Fällen BGHSt 19, 158
und BGHSt 29, 311, in denen bei gleicher Ausgangslage einerseits der „objektiv“
angezeigte Umkehrschluß gezogen, andererseits aus subjektiv-historischen Gründen
darauf verzichtet wird (näher oben Fall 67). Gegenläufig verfahren auch BGHSt 1, 1
und BGHSt 41, 219, wo einmal dem gewandelten Sprachgebrauch Rechung getra-
gen wird (Salzsäure als „Waffe“, oben Fall 64), ein andermal das historische Ver-
ständnis zementiert wird („Magazin“, oben Fall 60). Selbst methodische Widersprü-
che bei der Lösung fast identischer dogmatischer Fragen werden nicht erkannt oder
jedenfalls nicht offengelegt (siehe oben Fall 54 zum Merkmal „Absetzen“). Daß
diese Antinomien nicht nur in der Methodenlehre, sondern auch in der Gerichtspra-
xis erörterungswürdig sind, kann man nicht bezweifeln.
Auch eine Bindungswirkung von methodologischen Äußerungen des BVerfG
wird man grundsätzlich nicht anerkennen können, soweit sie nicht als Interpre-
tation einer verfassungsrechtlichen Bestimmung erscheinen.
Bindend i. S. von § 31 BVerfGG ist selbstverständlich die aus Art. 103 II GG her-
geleitete Auslegungsgrenze des möglichen Wortsinns,32 nicht aber eine verfassungs-
gerichtliche Stellungnahme zur Frage, was der „objektivierte Wille des Gesetzge-
bers“ ist.33 Die insoweit in BVerfGE 1, 299 vertretene Position hat die Praxis nie
gehindert, tatsächlich und maßgeblich die subjektiv-historische Auslegung anzu-
wenden und dies auch (allerdings nur vereinzelt) ausdrücklich hervorzuheben.34
Fraglich wäre es beispielsweise, ob eine verfassungsgerichtliche Aussage, wonach
Ausnahmevorschriften keiner erweiternden Anwendung zugänglich sind, die Fachge-
richte binden könnte.35 Verstöße gegen solche methodologischen „Erkenntnisse“
bleiben unbeachtet, wenn die fachgerichtliche Lösung nicht aus anderen Gründen
gegen Verfassungsrecht verstößt. Freilich ist hier vieles ungeklärt, und als letztes
Mittel bleibt dem BVerfG, eine Rechtsanwendung als „objektiv unhaltbar“ oder
„willkürlich“ zu beanstanden.36 Zur Überprüfung des Gesagten sollte man erwägen,
ob und unter welchen Voraussetzungen eine fachgerichtliche Entscheidung, die der
historischen Auslegung per se jeden Wert abspricht und damit den Vorgaben aus
32 Ob sie stets aus Sicht des Bürgers ermittelt werden muß, kann trotz BVerfGE 71,
151 (156).
35 Vgl. auch die oben in V 4 d dargestellte Entscheidung BVerfGE 45, 363 (374)
zum Charakter des § 304 IV 2 StPO als Ausnahmevorschrift und zur teilweise davon
abweichenden Praxis des BGH.
36 Vgl. oben III 7 a am Ende mit Nachweisen.
1. Methodologische Aussagen 587
BVerfGE 105, 135 zuwiderläuft, angegriffen werden kann. Diese Tatsache allein
wird der Verfassungsbeschwerde jedoch kaum zum Erfolg verhelfen.
Auch wenn die Praxis mit der Formulierung methodologischer Standpunkte
kein Bindungsrisiko eingeht, bieten unausgeräumte Widersprüche empfindliche
Angriffspunkte. Die wahre Motivation der Praxis für methodologische Stellung-
nahmen dürfte nicht darin liegen, Selbstbindung zu erzeugen und Vorhersehbar-
keit zu gewährleisten, sondern – im Gegenteil – um ihre Spielräume zu erwei-
tern. Vermieden werden nicht Methodensätze, sondern überwiegend nur solche
mit einengendem Charakter.37 Deshalb wird trotz der häufigen Anwendung der
subjektiv-historischen Auslegung ihr Wert so selten explizit hervorgehoben.
Dies betrifft vor allem die Spielarten der „objektiven“ Auslegungstheorie, insbe-
sondere der Andeutungstheorie, mit denen unerwünschte oder veraltete gesetz-
geberische Vorstellungen überwunden werden können. Dagegen wird eine bin-
dende oder einschränkende Wirkung der objektiven Theorien nicht in Betracht
gezogen: Daß etwa die Andeutungstheorie auch einmal dem erwünschten Er-
gebnis entgegenstehen könnte, wird ignoriert.38 (Insoweit hält man sie offen-
sichtlich und zu Recht für falsch.) Ferner geht aus den theoretischen Stellung-
nahmen, die zur objektiven Theorie neigen, nicht hervor, daß sie im Grunde
Ausnahmesituationen betreffen. In aller Regel gelangt die Praxis mit der subjek-
tiv-historischen Auslegung zu tragfähigen Ergebnissen, ohne daß eine Abwei-
chung von der gesetzgeberischen Vorstellung notwendig wäre. Hält die Recht-
sprechung gleichwohl eine Abweichung für nötig (etwa wegen des Wandels der
Zeiten), nimmt sie das zum Anlaß, eine allumfassende objektive Theorie zu
formulieren. Damit schießt die Praxis über das Ziel, einer kleinen Fallgruppe
Herr zu werden, weit hinaus und setzt sich dem insoweit berechtigten Vorwurf
aus, ihre ausdrücklichen Stellungnahmen zur Methodik entsprächen nicht ihrer
tatsächlichen Verfahrensweise – sie tue nicht, was sie sagt, und sage nicht, was
sie tut.39 In diesem Zusammenhang fällt weiterhin die Angewohnheit der Ge-
richte auf, Methodenfragen zu beantworten, ohne daß der Fall Anlaß dazu bot:
So wird z. B. der Wert der historischen Auslegung diskreditiert oder einer objek-
tiven Auslegung das Wort geredet, im Anschluß aber (hilfsweise?) eingehend
die Entstehungsgeschichte erörtert, regelmäßig mit dem Ergebnis, daß nichts
Gegenteiliges daraus folge.40 Auch dadurch soll womöglich der Spielraum für
künftige Fälle erweitert oder wenigstens bewahrt werden.
37 Eine Ausnahme ist freilich der Satz, Ausnahmevorschriften seien eng auszulegen,
denn dadurch verringert die Praxis ihren Spielraum. Um so verwunderlicher, daß viele
Senate so hartnäckig an diesem unzutreffenden Satz festhalten.
38 Näher oben IV 3 f.
39 Christensen, Gesetzesbindung, S. 64.
40 Siehe vor allem die Leitentscheidungen der „objektiven Theorie“: BGHSt 1, 74
(oben IV 2 und IV 3 b); BGHSt 1, 313 = Fall 113; 10, 157 = Fall 149; 13, 5 = Fall
150; 26, 156 = Fall 116; 28, 224 (Kap. IV, nach Fn. 262). Teilweise überflüssig sind
588 VII. Übergreifende Gesichtspunkte
Betrachtet man die amtliche Sammlung im ganzen, ist freilich eine rückläu-
fige Tendenz in der Formulierung methodologischer Reflexionen zu beobachten,
vor allem in der Grundsatzproblematik „objektive/subjektive Theorie“, die zu
Anfang zahlreiche Aussagen provoziert hat. Schwer zu beantworten ist, ob dar-
über hinaus das Interesse der Rechtsprechung an methodologischen Frage-
stellungen generell gesunken ist. Eher wird man größere Vorsicht und Zurück-
haltung vor prinzipiellen Stellungnahmen konstatieren können. Das Selbst-
bewußtsein scheint geschwunden, denn die „großen“ und mit viel Pathos
vertretenen (aber kaum durchhaltbaren) Grundsatzaussagen stammen bemer-
kenswert häufig aus der früheren Nachkriegszeit.41 Vielleicht hat sich – wo-
möglich unter dem Einfluß der seit den 1970er Jahren verstärkt aufkommenden
methodenkritischen Diskussion – die Erkenntnis durchgesetzt, daß in Methoden-
fragen überzeitliche Einsichten kaum zu gewinnen sind. Gerade auch deshalb
mag man daran zweifeln, ob eine Bindungswirkung in Methodenfragen über-
haupt erstrebenswert wäre.42 Dahingehende Zweifel ändern freilich nichts
daran, daß auch auf diesem Gebiet widersprüchliche Äußerungen und Verfah-
rensweisen zu vermeiden und anderslautende Standpunkte (des eigenen Ge-
richtshofes!) zur Kenntnis zu nehmen sind.
2. Rechtsprechungsänderungen
Aufschluß über den Umgang der Praxis mit dem methodologischen Instru-
mentarium kann ferner ein Blick auf Rechtsprechungsänderungen geben. Unter-
schiedliche Lösungen ein und desselben Sachproblems bieten Vergleichsmög-
lichkeiten unter den Gesichtspunkten, welche Auslegungskriterien bevorzugt
werden und ob jedes erwünschte Ergebnis mit ihnen begründet werden kann.
Zwar geht es in den meisten Revisionsurteilen um die Bestätigung oder Verwer-
fung bestimmter Ansichten (der Literatur oder der Vorinstanzen) und damit um
einen variierenden Einsatz der Auslegungskriterien; doch gerade Rechtspre-
chungsänderungen auf höchstrichterlicher Ebene sind von besonderem Interesse,
da sie nicht leichtfertig geschehen dürften und auch auf formale Hindernisse
stoßen (§ 132 II GVG). Für eine Abweichung vom bisherigen Rechtszustand
müssen in der Regel starke Argumente und eine überzeugende methodische Be-
gründung vorliegen.43 Ein Vergleich von früheren mit späteren Entscheidungen
bers“; BGHSt 10, 157 (159): „lebendig sich entwickelnder Geist“; BGHSt 18, 279
(282 f.): „unaufhaltsamen Fortentwicklung des Rechts“; DOG NJW 1950, 652 (653):
Auch ältere Vorschriften können „nur in diesem lebendigen Zusammenhang verstan-
den und ausgelegt werden“.
42 Auch die praktische Umsetzung dürfte einige Schwierigkeiten bereiten.
2. Rechtsprechungsänderungen 589
ist freilich stets insoweit verzerrt, als die spätere Entscheidung eine Reaktion
auf eine bereits existierende Ansicht ist, nicht aber eine „unbefangene“ Alterna-
tivbegründung, die eine Exegese quasi aus dem Naturzustand heraus leistet.
Über mögliche Begründungswege würde man womöglich noch mehr erfahren,
wenn verschiedene Senate zeitgleich und unabhängig voneinander ein Problem
entschieden.
Eine derartige zufällige Überschneidung liegt wohl den Entscheidungen BGHSt 44,
328 und 361 zugrunde. Beide gelangen zum gleichen Ergebnis, BGHSt 44, 328
allerdings im Wege der Analogie und BGHSt 44, 361 im Wege der Auslegung.44
Abweichende methodologische Grundpositionen kommen in dieser Differenz jedoch
nicht zum Ausdruck.
Die folgenden Ausführungen stützen sich vor allem auf Entscheidungen, in
denen zur Begründung unterschiedlicher Ergebnisse das methodische Instrumen-
tarium besonders strapaziert wurde oder in denen von einer ursprünglich als
eindeutig erkannten Rechtslage später doch abgerückt wird. Aber auch Urteile,
in denen unterschiedliche Ergebnisse methodisch gleichermaßen gut begründet
werden, kommen zu Wort, da sie das Spektrum des „methodisch Zulässigen“
ausleuchten.45 Rechtsprechungsänderungen sind besonders interessant, wenn da-
bei die gesamte Bandbreite und variable Nutzung der Auslegungsfaktoren deut-
lich wird, aber schon die unterschiedliche Deutung und Bewertung eines Einzel-
kriteriums des Auslegungskanons kann weiterführende Fragen aufwerfen:
Wenn etwa BGHSt 7, 112 – gegen BGHSt 5, 124 – es als mit dem Grundgedanken
des Analogieverbots unvereinbar ansieht, das Fluchtverbot des § 142 StGB (a. F.) in
ein Meldegebot umzugestalten, ist dem ohne weiteres zuzustimmen, aber es bleibt
die Frage nach der Folgerichtigkeit der weiteren Rechtsprechung zu § 142 StGB
a. F.: Auch die Statuierung einer Rückkehrpflicht unterlag nämlich diesen Bedenken
(näher Fall 89).
Die in mehrfacher Hinsicht unbefriedigende und unvollständige Regelung des
§ 42m StGB a. F. hat die Rechtsprechung des öfteren zu zweifelhaften Wortlaut-
argumentationen (siehe Fall 83) und vereinzelt sogar zur Aufgabe des Grenzkrite-
riums „Wortsinn“ verleitet (Fall 55). Nur BGH GA 1955, 118 hat in der Ausweitung
eine unzulässige Ausdehnung der richterlichen Befugnisse gegen den „klaren Wort-
laut“ des Gesetzes gesehen. Die Konstellation ist symptomatisch dafür, wie die
Rechtsprechung dem Druck im Widerstreit zwischen der formellen Ausgestaltung
der Norm und der materiell „richtigen“ Lösung erliegt.46 Man kann freilich noch
aussagen, weil sie sich vornehmlich mit Präjudizien beschäftigen oder sich in einem
relativ „freien“ Bereich richterlicher Wertung abspielen; vgl. etwa BGHSt 17, 161 ge-
gen BGHSt 24, 315 (oben Fall 332).
46 Näher unten Fall 356 (BGHSt 45, 117). Zumindest an einem Begründungsmangel
leidet die Entscheidung BGHSt 27, 45, die ihr Ergebnis „ohne weiteres“ für mit dem
Wortlaut vereinbar hält, obwohl BGH NJW 1976, 1698 (2. Senat) das gegenteilige
590 VII. Übergreifende Gesichtspunkte
Ergebnis ausgiebig begründet hatte (näher oben Fall 19); merkwürdig ist zudem, daß
der 2. Senat seine Auffassung zu einem derart fundamentalen Aspekt aufgibt.
47 So Bruns, GA 1955, 120 (121); vgl. oben Fall 83 und dort Fn. 454.
48 Auch BGHSt 12, 42 (oben Fall 143) taucht noch einmal tief in die Entstehungs-
BGHSt 36, 192 ab: Die gesetzgeberische Konzeption bestehe darin, die Beschwer-
demöglichkeit nur bei besonders intensiven Grundrechtseingriffen zu gewähren; in-
sofern sei es im Vergleich zu den übrigen in § 304 V genannten Maßnahmen aber
ungereimt, die Erzwingungshaft auszunehmen (S. 196). Nur diese Auslegung werde
der Bedeutung des Grundrechts auf persönliche Freiheit gerecht (S. 195 f.). Der Aus-
nahmecharakter der Norm stehe dieser Interpretation nicht entgegen, denn er zwinge
nicht zu einer formalen Betrachtung des Katalogs (S. 195). Daß die Gesetzesverfas-
ser den Begriff der Verhaftung womöglich anders verstanden haben, sei gegenüber
dem in § 304 V StPO zum Ausdruck gekommenen „objektivierten Willen des Ge-
setzgebers“ nicht ausschlaggebend (S. 194 f.). – Die methodische Vielfalt ist frappie-
rend. Abgesehen vom generell fragwürdigen Rückgriff auf den „objektivierten Wil-
len des Gesetzgebers“, von der inkonsequenten Handhabung der singularia-Regel
und der Unterschlagung des gesetzgeberischen Ziels der Entlastung, entscheidet
über die Vertretbarkeit von BGHSt 36, 192 die verfassungsrechtliche Argumenta-
tion. Näher liegt insofern freilich, daß mit dem Ausschluß der Erzwingungshaft der
gesetzgeberische Spielraum nicht überschritten ist (näher oben V 8 c). Hätte BGHSt
30, 52 die Problematik kurz aufgezeigt und anschließend auf den Vorrang der gesetz-
geberischen vor der richterlichen Entscheidung (Gesetzesbindung, Art. 97 I GG) ver-
wiesen, hätte es eine Rechtsprechungsänderung wahrscheinlich schwerer gehabt.50
Daß man im Ergebnis wohl beiden Entscheidungen „Vertretbarkeit“ bescheinigen
muß, ist Konsequenz daraus, daß in der Rechtsprechung subjektive und objektive
Auslegungstheorie nebeneinander betrieben werden.51
Wie unterschiedliche Ansichten auch ohne Methodenbruch begründet werden
können, zeigt ein weiterer Streitfall zum Begriff der Haft (siehe oben Fall 131).
Sowohl BGHSt 3, 334 als auch BGHSt GS 4, 308 verwerten die Entstehungsge-
schichte und versuchen, dem Grundgedanken der Norm auf die Spur zu kom-
men. Wenn BGHSt 3, 334 die Entstehungsgeschichte eher objektiv-historisch
deutet (Umkehrschluß aus einer Formulierungsänderung), BGHSt GS 4, 308 da-
gegen eher subjektiv-historisch (Vorstellungen der Gesetzesverfasser), dann hält
diese Divergenz sich angesichts der letztlich nicht auszuräumenden Zweifel im
Rahmen des methodisch Vertretbaren. In jedem Fall ist BGHSt 3, 334 dafür zu
loben, sich die Begründung nicht mit einem Rückgriff auf die Andeutungstheo-
rie erheblich erleichtert zu haben. Daß diese ganz allgemein in der Rechtspre-
chung ein Mittel der Wahl ist, mit dem Abweichungen von früheren Ansichten
legitimiert oder unterstützt werden kann, bedarf keiner näheren Darlegung.52
Ein weiteres Beispiel, in dem unterschiedliche Ergebnisse ohne willkürliche Hand-
habung der Auslegungskriterien begründet werden, sind die Entscheidungen BGHSt
50 Vgl. allerdings unten Fall 355, in dem der BGH sich auch von einer eindring-
lichen Betonung der Gesetzesbindung durch das RG nicht von einer konstruktiven
Lösung abhalten läßt.
51 Vom Standpunkt der subjektiven Theorie hätten auch die verfassungsrechtlichen
Erwägungen das Ergebnis von BGHSt 36, 192 nicht gerechtfertigt, denn der abwei-
chende Wille des Gesetzgebers hätte dann zur Vorlage an das BVerfG gezwungen.
52 Vgl. BGHSt 8, 294 und 12, 129 gegen RGSt 69, 289 (oben Fall 125) sowie unten
Fall 352.
592 VII. Übergreifende Gesichtspunkte
39, 36 und BGHSt GS 40, 350 (oben Fall 152). Die §§ 239a, 239b StGB sind of-
fensichtlich zu weit geraten und bedürfen der Einschränkung. BGHSt 39, 36 nimmt
eine subjektiv-teleologische Reduktion vor, indem aus den in den Gesetzesmateria-
lien erwähnten Anwendungsfällen ein einschränkendes Kriterium (Außenwirkung)
abstrahiert wird. Dagegen deutet der Große Senat die Entstehungsgeschichte anders
und setzt auf ein restriktives Verständnis, das stärker auf die besondere objektive
Struktur dieser Delikte abstellt. In Anbetracht der verunglückten Normen ist der
Weg, auf dem die Einschränkung erreicht wird, eher von dogmatischem als von me-
thodischem Interesse.
Fall 349 (BGHSt 3, 259 gegen RGSt 77, 137; oben Fall 212): Etwas schwieriger
liegt es in BGHSt 3, 259. Für die Problematik war womöglich ein Redaktionsverse-
hen ursächlich; kein Auslegungskriterium ergab ein klares Ergebnis. RGSt 77, 137
hat die Gelegenheit genutzt, den bisherigen unbefriedigenden Rechtszustand fortzu-
entwickeln und dem „praktischen Bedürfnis“ nach gerechter Strafzumessung Rech-
nung zu tragen (S. 138). Das OLG Düsseldorf (MDR 1952, 180) hat sich dem Er-
gebnis des RG angeschlossen und dafür auf den Grundgedanken der Norm rekur-
riert, der nach Versagen der grammatischen und historischen Auslegung entscheiden
müsse; dagegen dürfe das vom RG herangezogene „praktische Bedürfnis“ keine
Rolle bei der Auslegung spielen (S. 181, l. Sp.). BGHSt 3, 259 tritt dem entgegen
und meldet rechtsstaatliche Bedenken gegenüber der kriminalpolitischen Motivation
des RG an (S. 261). Für seine eigene Ansicht beruft der Senat sich vor allem auf
die Gesamtsystematik der Regelungen und – trotz des im Raum stehenden Fas-
sungsversehens – auf den Wortlaut der Norm (S. 262). – Über die Berücksichtigung
des „praktischen Bedürfnisses“ darf man streiten, aber die Entscheidung des OLG
Düsseldorf zeigt, daß die Lösung des RG auch methodengerecht begründet werden
konnte, ohne sich den „rechtsstaatlichen Bedenken“ des BGH auszusetzen. Ein kla-
rer Wille des Gesetzgebers war nicht zu ermitteln.
Zuweilen erscheinen bei einer unbefangenen Betrachtung, die zunächst auf
die schulmäßige Interpretation verzichtet, zwei Lösungen einer Problematik als
gleichermaßen „vernünftig“. Dann ist darauf zu achten, daß nicht lediglich die
zur Rechtfertigung der bevorzugten Lösung geeigneten, sondern auch die ge-
genläufigen Argumente berücksichtigt werden:
Müssen die für die Sicherungsverwahrung erforderlichen Vorverurteilungen rechts-
kräftig sein, obwohl § 66 StGB das anders als die Vorläufernorm nicht mehr expli-
zit verlangt? (Siehe oben Fall 191.) Unabhängig von einer näheren Normexegese
sind in der Sache beide Positionen plausibel: Hinsichtlich der Warnfunktion für den
Täter kann man sowohl die Verurteilung (so BGHSt 26, 387) als auch den rechts-
kräftigen Abschluß des Verfahrens (so BGHSt 35, 6) als maßgeblich betrachten.
BGHSt 26, 387 bevorzugt angesichts der Formulierungsänderung den (objektiv-hi-
storischen) Umkehrschluß, hat dabei aber nach BGHSt 35, 6 (13) subjektiv-histori-
sche Einwände „nicht berücksichtigt“.53
53 Die Konstellation ähnelt derjenigen aus BGHSt 3, 334 und GS 4, 308 (vgl.
oben).
2. Rechtsprechungsänderungen 593
über die Spekulation des BayObLG zu den möglichen Motiven des Gesetzgebers für
die Verwendung des Ausdrucks „Gegenstände“.
56 Das sind keine außerhalb des Gesetzes liegenden „objektiv-teleologischen“ Erwä-
gungen, vgl. IV 4 c.
594 VII. Übergreifende Gesichtspunkte
RG hat RGSt 77, 24 auch Einzelakte einer fortgesetzten Handlung genügen lassen
und sich dabei auf den „Sinn“ der Norm berufen: Der verbrecherische Hang, an den
die Norm anknüpfe, offenbare sich bereits in den Einzelakten der fortgesetzten Tat
(S. 26). Das OLG Düsseldorf (SJZ 1950, 284) hat sich den teleologischen Erwägun-
gen des RG angeschlossen und gegen den Verdacht argumentiert, das RG habe sich
zeitbedingt von Anschauungen leiten lassen, die einer humanen Strafrechtspflege
entgegenstehen (Sp. 286).57 Dagegen hat das OLG für Hessen (SJZ 1949, 570) die
Begriffsspaltung als unvereinbar mit dem Wortlaut angesehen; dem Begriff der Tat
könne nicht aus Zweckmäßigkeitsgründen in § 20a eine andere Bedeutung als sonst
zuerkannt werden (Sp. 571). Auch BGHSt 1, 313 wendet sich gegen RGSt 77, 24:
Andernfalls würde von einem feststehenden und grundlegenden Begriff des Straf-
rechts abgewichen und dies sogar – angesichts der unstrittigen Auslegung des Aus-
drucks in einem anderen Absatz – innerhalb der gleichen Norm (BGH, S. 316). Das
sei selbst bei einem womöglich abweichenden Willen des Gesetzgebers nicht mög-
lich. Die Entstehungsgeschichte liefere im übrigen „zwingende Beweise“ gegen
RGSt 77, 24.58 – Gegen die Begriffsspaltung sprachen hier noch bessere Gründe als
im vorgenannten Fall, ob sie aber (als Verstoß gegen die fachsprachlich bestimmte
Wortlautgrenze, vgl. oben III 7 b) unhaltbar war, bedürfte näherer Prüfung. Schwach
ist die knappe Replik des BGH auf das teleologische Argument der Gegenansicht.
Dieses sei „nicht stichhaltig. Denn damit legt das RG dem Gesetz einen Sinn unter,
der ihm nicht entnommen werden kann, im Gegenteil seinem Wortlaut widerstrei-
tet.“59
Zur Rechtsprechungsänderung vermag auch ein vor jeder Methodik liegender
Paradigmenwechsel führen, wie etwa die vom Nationalsozialismus begünstigte
Bevorzugung von Allgemein- gegenüber Individualinteressen.
Fall 352 (BGHSt 6, 314 gegen RGSt 73, 68): Um wegen betrügerischen Bankrotts
bestraft werden zu können, muß der Vorstand einer Aktiengesellschaft oder der Ge-
schäftsführer einer GmbH in „seiner Eigenschaft“ als Vorstand oder Geschäftsführer
gehandelt haben (siehe Fall 126). Wie steht es bei eigennützigen Handlungen wie
der Unterschlagung von Waren? Anders als die frühere Rechtsprechung hat RGSt
73, 68 auch diese Fälle erfaßt. Die bisherige einhellige Ansicht könne sich zwar auf
die Gesetzesbegründung stützen (S. 69), doch bringe das Gesetz selbst die Ein-
schränkung nicht zum Ausdruck (S. 70). Die Begründung weise zudem darauf hin,
daß die Vorschrift einen möglichst weitreichenden Schutz der Betroffenen gewähr-
leisten wolle.60 Ferner stülpt das RG der Auslegung ein Leitkriterium über: „Der
Gedanke, daß die Allgemeinheit gegen die Angriffe von Rechtsbrechern wirksam zu
sichern sei, der für die Neugestaltung des Strafrechts immer schärfer betont wird,
57 Vgl. nochmals oben die Entscheidung BGHSt 3, 259 (Fall 349), in deren Vorfeld
Schrifttum.
59 BGHSt 1, 313 (317). Richtig und ausreichend wäre die einfache Begründung:
Der Sinn, den das RG dem Gesetz entnommen hat, widerstreitet dem Wortlaut.
60 Die frühere Rechtsprechung des RG hatte diesen Aspekt keineswegs außer acht
führt ohne weiteres zur Prüfung, welche Auslegung der einzelnen Strafbestimmung
diesem Ziel am besten entspricht.“ BGHSt 6, 314 (317) stellt mit einer äußerst kur-
zen Begründung die ursprüngliche Ansicht wieder her:61 Es sei zuzugeben, daß der
Wortlaut zweifelhaft sei, aber gerade deshalb seien Entstehungsgeschichte und
Zweck heranzuziehen; diese Kriterien sprächen für eine enge Auslegung. – Die An-
deutungstheorie erlaubt es dem RG, sich die ihm genehmen Teile der Entstehungs-
geschichte herauszusuchen,62 die mit dem neuen Strafrechtsdenken verknüpft wer-
den – eine höchst unerfreuliche methodologische Mischung.
Fall 353 (BGHSt 26, 218 gegen RGSt 74, 47): Eine ganz ähnliche Situation liegt
BGHSt 26, 218 zugrunde. § 247 StPO läßt unter bestimmten Voraussetzungen die
Entfernung des Angeklagten während der „Vernehmung“ eines Zeugen zu. Nach der
früheren Rechtsprechung des RG galt das aber nicht für die Vereidigung des Zeu-
gen, denn Vernehmung und Vereidigung wurden als selbständige Abschnitte aufge-
faßt. RGSt 74, 47 hat eine Kehrtwende vollzogen: Die bisherige Ansicht hafte zu
sehr am Wort und der äußeren Form und „berücksichtigt zu sehr die Belange der
Verteidigung, das Recht des einzelnen“ (S. 49). Auch wenn das Gesetz die beiden
Prozeßhandlungen trenne, „so gehören sie doch nach der natürlichen Auffassung
sachlich . . . zusammen“. Nur eine solche Auslegung werde auch dem mit § 247 ver-
folgten Zweck (Wahrheitsforschung) gerecht. BGHSt 26, 218 (219) hält diese Aus-
dehnung der Norm über ihren Wortlaut hinaus für unzulässig. § 247 sei als Ausnah-
mevorschrift eng auszulegen und streng auf den Wortlaut zu beschränken (S. 220);
der Zweck der Norm werde dadurch nicht gefährdet. Es liege im Interesse des An-
geklagten, vor der Vereidigung gehört zu werden. – Die Einseitigkeit von RGSt 74,
47 ist offenkundig. Der Wahrheitserforschung stehen viele Vorschriften im Weg,
aber nicht ohne Grund! Deren Wortlaut kann diffamiert („äußere Form“), ihr An-
wendungsbereich durch eine „natürliche Betrachtung“ reduziert werden.
Fall 354 (BGHSt 5, 140 gegen RGSt 71, 218; 73, 155): Die Interessen der Allge-
meinheit verfolgt merkwürdigerweise BGHSt 5, 140. Nach § 429b I StPO a. F.
(ebenso § 414 I g. F.) waren im Sicherungsverfahren die Vorschriften über das Straf-
verfahren sinngemäß anwendbar. Setzte die Durchführung des Sicherungsverfahrens
bei Antragsdelikten einen Strafantrag voraus? RGSt 71, 218 (219) hat das entgegen
einer im Schrifttum „mit Rücksicht auf die öffentliche Sicherheit“ vertretenen An-
sicht bejaht.63 Die Gegenansicht würde dazu führen, daß die Wahl der Verfahrensart
über die Möglichkeit entscheide, eine Sicherungsmaßregel zu verhängen (S. 220).
Widersinnig sei weiter, daß das Verfahren eingestellt werden müsse, wenn sich im
Sicherungsverfahren wider Erwarten die Zurechnungsfähigkeit des Angeklagten er-
gebe und deshalb in das Strafverfahren übergeleitet werde. Gegenteilig argumentiert
BGHSt 5, 140: Die sonst für das Antragserfordernis vorgebrachte Rechtfertigung
gelte nicht im Sicherungsverfahren, das ausschließlich dem Schutz der Allgemein-
61 Die Kürze scheint dem Senat wohl gerechtfertigt, weil RGSt 73, 68 „schon wie-
der“ durch RGSt 73, 117 „aufgeben“ worden sei. Letzteres ist jedoch unzutreffend,
denn RGSt 73, 117 (119) mußte eine andere Konstellation entscheiden, in der es auf
ein weiteres Tatbestandsmerkmal ankam.
62 Vgl. zur „Rosinentechnik“ auch oben bei BGHSt 2, 99 = Fall 348.
63 Ebenso RGSt 73, 155 (156) mit dem Argument, daß es für die Wahl des Verfah-
rens gemäß § 429a StPO (a. F.) nur auf die Zurechnungsfähigkeit ankomme. Zur heuti-
gen Rechtslage siehe BGHSt 31, 132 (134 ff.).
596 VII. Übergreifende Gesichtspunkte
heit vor zukünftigen Taten diene (S. 142). „Die gegenteilige Ansicht führt zu dem
Ergebnisse, daß der gerichtliche Schutz der öffentlichen Sicherheit . . . vom Willen
einer Privatperson abhängen würde. Das ist nicht angängig.“ – Es ist erstaunlich,
daß das RG (1937) den Gedanken des Schutzes der Allgemeinheit nicht aufgegrif-
fen hat, obwohl dies der Tendenz des Zeitgeistes entsprochen hätte. Das macht die
Argumentation des BGH nicht per se verdächtig. Ihm ist allerdings vorzuwerfen,
den zentralen Einwand des RG nicht behandelt zu haben, denn das Argument, daß
eine Sachfrage nicht von Zufälligkeiten der Verfahrensgestaltung abhängen darf, ist
stark und wird vom BGH sonst gerne verwendet (siehe oben VI 9 e).
Schließlich bleiben Fälle, in denen von einer bislang als eindeutig angesehe-
nen, aber als unbefriedigend empfundenen Rechtslage abgewichen wird.64 Eine
methodengerechte Begründung einer Rechtsprechungsänderung erweist sich
dann – kaum überraschend – als schwierig.
Fall 355 (BGHSt 20, 248 gegen RGSt 33, 410; 27, 10): Gemäß § 69 I StGB a. F.
ruhte die Verjährung, solange ein gesetzliches Hindernis für die Strafverfolgung be-
stand. Für Immunität genießende Abgeordnete bedeutete das sowohl eine Privilegie-
rung als auch eine Benachteiligung. Letztere lag vor, wenn der Eintritt der Verjäh-
rung nicht durch die Immunität, sondern aus anderen Gründen gehemmt war. Dann
würde unter Umständen allein die Abgeordneteneigenschaft noch die Möglichkeit
der Strafverfolgung eröffnet haben. Die Härte wäre dadurch zu beseitigen gewesen,
daß die Hemmung von einem Antrag der Behörde an den Reichstag auf Aufhebung
der Immunität oder von der Ablehnung des Antrags abhängig gemacht worden wäre.
RGSt 33, 410 sieht eine solche Lösung aber weder in § 69 StGB (a. F.) noch in der
Vorschrift zur Immunität in der Reichsverfassung (Art. 31) angelegt, die beide ein-
deutig seien. Gegenüber dem „klaren Willen des Gesetzes“ sei der Einwand der
Schlechterstellung irrelevant; diese sei untrennbar mit dem Privileg verbunden
(S. 413). Eindringlich betont der Senat seine Bindung an das Gesetz (S. 411): Ob
sich „aus politischen oder juristischen Gründen“ eine andere Regelung empfehle,
eine andere Regelung zweckmäßiger sei, habe nicht der Richter zu entscheiden.
Eine Kehrtwende vollzieht BGHSt 20, 248: Die „unbilligen“ Folgen der Rechtspre-
chung des RG seien zu vermeiden (S. 249), indem das Ruhen der Verjährung erst
mit der Kenntnis der Verfolgungsbehörden von Tat und Täter beginne (S. 251). Aus
der Entstehungsgeschichte folge nur, daß die Bevorzugung der Abgeordneten besei-
tigt werden sollte (S. 250). Hingegen habe der Gesetzgeber deren Benachteiligung
„sicher nicht gewollt“. Deshalb bestehe kein Anlaß, § 69 I StGB so auszulegen, daß
der „Gesetzeszweck in sein Gegenteil verkehrt“ werde. Die Norm sei „nicht so ein-
deutig“, wie das RG angenommen habe; „ihr Wortlaut gestattet, die Voraussetzun-
gen der Verjährungshemmung jeweils aus Sinn und Zweck des einzelnen Verfol-
gungshindernisses zu ermitteln“. Weder aus dem Institut der Immunität noch aus
dem Zweck des § 69 I lasse sich die Schlechterstellung der Abgeordneten rechtferti-
gen. – An der Eindeutigkeit des Wortlauts war nicht zu zweifeln; eine Begründung
für die Vereinbarkeit seiner Auslegung mit dem Gesetzestext bleibt der Senat schul-
dig. In Betracht kam allerdings eine teleologische Reduktion, falls der Gesetzgeber
die nachteiligen Folgen übersehen hatte (verdeckte Lücke). Die vom RG betonte
64 Wiederhergestellt wird eine eindeutige Rechtslage von BGHSt 16, 115 gegen die
auf „Billigkeitserwägungen“ beruhende Entscheidung BGHSt 15, 203 (oben Fall 292).
2. Rechtsprechungsänderungen 597
Gesetzesbindung erstreckt sich nur auf eine vorhandene Entscheidung des Gesetz-
gebers.65 Fraglich ist aber, ob die Voraussetzungen einer Rechtsfortbildung hinrei-
chend dargetan werden können und ob – bei einer nicht sinnlosen, sondern nur un-
befriedigenden Norm – nicht eine Vermutung für ihre Vollständigkeit spricht. Näher
liegt die Deutung, daß der BGH sich der unbefriedigenden Situation angenommen
und eine sinnvollere Regelung konstruiert hat.66 Im Vorfeld des Urteils ist auf Basis
der lex lata nichts gegen die Lösung des RG erinnert worden.67
Offensichtlicher ist die Gesetzesumgehung im folgenden Beispiel, das zeigt,
wie die eindeutige, aber im Einzelfall als zweckwidrig oder formalistisch emp-
fundene Regelung dem Dauerdruck nicht mehr standhält:
Fall 356 (BGHSt 45, 117 gegen BGHSt 1, 334; 2, 56 u. a.): Gemäß § 171b GVG
kann die Öffentlichkeit aus der Hauptverhandlung ausgeschlossen werden, wenn
Umstände aus dem persönlichen Lebensbereich eines Prozeßbeteiligten erörtert wer-
den. Nach § 174 I 2 GVG muß ein dahingehender Beschluß öffentlich verkündet
werden; der Grund für den Ausschluß ist anzugeben, § 174 I 3. Ein Verstoß gegen
diese Anforderungen ist ein absoluter Revisionsgrund, § 338 Nr. 6 StPO. BGHSt 1,
334 hat kurz und bündig entschieden, den Anforderungen genüge es nicht, daß sich
die Gründe für den Ausschluß aus dem Sachzusammenhang oder aus vorausgehen-
den Anträgen ergeben. Schon der Gesetzeswortlaut („ist anzugeben“) spreche dage-
gen (S. 335). Jedes Absehen von der zwingenden Angabe des Grundes provoziere
eine weitere Aushöhlung der Vorschrift und widerspreche dem mit der Öffentlich-
keit des Verfahrens verbundenen Gesetzeszweck, dessen Gewicht im übrigen durch
die Statuierung eines absoluten Revisionsgrundes belegt werde (S. 335 f.). Dem Ge-
richt werde nichts schwer Erfüllbares abverlangt (S. 336).68 BGHSt 2, 56 ist dem
beigetreten und hat betont, daß diese Folgerung keineswegs „formalistisch“ sei
(S. 57).69 Die Öffentlichkeit der Hauptverhandlung sei eine alte demokratische For-
derung, die nicht durch eine lässige Handhabung abgeschwächt werden dürfe. Daß
es Fälle gibt, in denen der Ausschlußgrund leicht erkennbar ist, ändere nichts; das
Gesetz lasse bewußt keine Ausnahmen zu (S. 58). BGHSt 27, 187 (188) hat diese
strengen Grundsätze bestätigt: Außerhalb des Beschlusses liegende Umstände dürf-
ten auch dann nicht berücksichtigt werden, wenn der Ausschlußgrund für Beteiligte
und Zuhörer „offen zutage lag“.70
In einer neueren Entscheidung zeigt der BGH (1. Senat) sich hingegen der Bela-
stung, eine materiell offensichtlich richtige Entscheidung wegen eines Formmangels
aufzuheben, nicht mehr gewachsen. Ist allen Beteiligten klar, weshalb die Öffent-
einer „Gefährdung der Sittlichkeit“ ausgeschlossen wurde; gleichwohl besteht der Se-
nat „aus grundsätzlichen Erwägungen“ auf die Einhaltung der Förmlichkeit.
598 VII. Übergreifende Gesichtspunkte
71 Ebenfalls abl. Gössel, NStZ 2000, 182 (183): Mit dem Gesetz und anderen Ur-
teilen nicht zu vereinbaren; Park, StV 2000, 246 (248): Beeinträchtigung der Rechts-
sicherheit, bedenklich im Hinblick auf die Gewaltenteilung; zumindest krit. auch Rieß,
JR 2000, 253.
72 Näher zur Fragwürdigkeit des durchgeführten Anfrageverfahrens Rieß, JR 2000,
253 (254).
73 Ventzke, StV 2000, 249 f. (zu einer ganz ähnlichen Entscheidung des BGH).
74 Rieß, JR 2000, 253 (256).
75 Es ging um die Frage, ob die Urteilsverkündung noch zur „mündlichen Verhand-
lung“ gehört. Gegen die frühere Rechtsprechung haben RGSt 69, 175; 71, 377 die
Frage verneint und damit die Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens ent-
wertet. BGHSt 4, 279 stellt die ursprüngliche Auffassung des RG wieder her. Ähnlich
utilitaristische Motive des RG wurden oben in Fall 353 deutlich, und es ist erstaunlich,
daß BGHSt 45, 117 diese Tendenz wieder aufgreift.
76 Selten dürfte die umgekehrte Situation sein, in der versucht wird, mit einer spitz-
Viele Entscheidungen der Senate beschäftigen sich mit der Bindung des
Richters an das Gesetz. Daß es dann zumeist um auslegungstheoretisch interes-
sante Konstellationen geht, bedarf keiner näheren Begründung. Zahlreiche die-
ser Urteile wurden hier vorgestellt, und wiederum sollen die wesentlichen Aus-
sagen der Rechtsprechung zur Gesetzesbindung zusammenfassend betrachtet
werden, um der Frage näher zu kommen, woran genau die Gerichte sich gebun-
den sehen (eindeutiger Gesetzessinn, Wille des Gesetzgebers?) und welche
Grenzen der Richter nach eigenem Bekunden nicht überschreiten darf.
Zunächst sind Fälle abzugrenzen, in denen die Rechtsprechung eine vorge-
schlagene Subsumtion aufgrund von Art. 103 II GG ablehnt. Die Respektierung
des Analogieverbots – des möglichen Wortsinns – ist keine Frage der Gesetzes-
bindung des Richters, sondern eine rechtsstaatliche Forderung, die gerade auch
77 Siehe oben Fall 353 (RGSt 74, 47), oben III 7 h gg (ab Fn. 513) und allg.
78 Als „nicht befugt“ zur Lückenschließung betrachtet sich auch BGHSt 20, 104
(108); ebenso, aber in anderer Hinsicht mißverständlich BGHSt 2, 317 (319), vgl. die
wörtliche Wiedergabe oben bei Fall 59.
79 Als weitere Beispiele, in denen eine eindeutige Rechtslage und wohl auch der
Wortlaut gegen die Subsumtion sprachen, können genannt werden: BGHSt 25, 151
(157) = oben Fall 117 und BGHSt 31, 348 (353) = oben Fall 279, jeweils mit Verweis
auf die Zuständigkeit des Gesetzgebers.
3. Zum Verhältnis von Gesetzgeber und Richter 601
Woran genau die Rechtsprechung sich gebunden fühlt, ist schwer zu sagen.
An einer Konkretisierung hat sich BGHSt 38, 144 (oben Fall 312) versucht:
Aus Art. 103 II GG folge das Verbot, die Strafbarkeit über den Wortlaut hinaus aus-
zuweiten und den Gesetzgeber zu korrigieren, „wobei der Begriff ,Gesetzgeber‘ da-
hin zu verstehen ist,80 daß es sich um den im Gesetz zum Ausdruck kommenden
Regelungsinhalt handelt. Aufgabe des Richters ist nicht, das Gesetz so zu gestalten,
wie der eine oder andere es gern gestaltet sähe, weil er es so für richtig hielte;
Sache des Richters ist vielmehr, das Gesetz so anzuwenden, wie es gestaltet ist
(Art. 20 Abs. 3 GG). Das verbietet es, Gedanken und Überlegungen zu verwirkli-
chen, die – mögen sie noch so bedenkenswert sein – eben nicht Gesetz geworden
sind“ (S. 151).
Aus den wenig weiterführenden Formulierungen wird man immerhin auf eine
Bindung an einen klar erkennbaren Regelungsgehalt des Gesetzes, an seinen
„eindeutigen Inhalt“81 schließen können. Mit dieser Konzeption im Einklang
steht die von der Rechtsprechung vertretene Andeutungstheorie, die zur Berück-
sichtigung des (subjektiven) gesetzgeberischen Willens verlangt, daß dieser im
Wortlaut zum Ausdruck gekommen ist. Explizit verneint deshalb BGHSt 31, 10
(14) in dieser Situation folgerichtig eine Bindungswirkung:
„Zudem wären die Gerichte an eine mit dem Gesetzeswortlaut unvereinbare Ausle-
gung seitens der Verfasser des betreffenden Gesetzentwurfs nicht gebunden.“82
In Konsequenz dessen wird man zu dem großen Bereich der Gesetzesberich-
tigungen – verstanden als Wortlautkorrekturen zur Durchsetzung des „wahren“
gesetzgeberischen Willens (eingehend oben IV 8) – sagen müssen, daß die Ge-
richte sich hierzu nicht verpflichtet sehen. Daß sie gleichwohl und mit erhebli-
chem Aufwand zur Berichtigung (zugunsten des Täters) schreiten, ist eine an-
dere Frage. Vom Standpunkt einer subjektiv-historischen Auslegung müßte inso-
weit anders entschieden und eine Pflicht zur Korrektur bejaht werden, falls der
wirkliche Wille tatsächlich klar zutage liegt.
Um der Einstellung der Rechtsprechung zur Frage ihrer Selbstbindung näher
auf die Spur zu kommen, lohnt weiterhin ein Blick auf die Konstellationen, in
denen die Senate ihre Bindung gegenüber der gesetzgeberischen Entscheidung
hervorkehren und dem „Askese-Gebot“83 damit zumindest verbal Rechnung tra-
gen. Es handelt sich dabei um die typischen Situationen, in denen das Drängen
zur Gesetzeskorrektur mehr oder weniger verständlich erscheint, wie beim Wan-
80 Wieder werden Fragen des Art. 103 II GG mit solchen der richterlichen Geset-
zesbindung verknüpft.
81 BGHSt 22, 146 (153) = oben Fall 251 mit ausführlichem Zitat; BGHSt 27, 52
(56).
82 Es ist allerdings fraglich, ob der Senat in Wirklichkeit nicht die Unvereinbarkeit
der historischen Vorstellungen mit der Wortlautgrenze dartun wollte; vgl. oben Fall
190.
83 Ausdruck bei Paeffgen, in: Grünwald-FS, S. 459.
602 VII. Übergreifende Gesichtspunkte
327 (oben Fall 344): „Es kann nicht Sache der Gerichte sein, einem eindeutigen Ge-
setzesbefehl die Gefolgschaft deshalb zu versagen, weil die Exekutive nicht die zu
seiner Durchführung erforderlichen Mittel bereithält.“
85 Siehe außerdem BGHSt 24, 140 (142) zur Fotokopie als Urkunde.
86 Zur Frage der Fortgeltung einer Norm, die keinen Zweck mehr erfüllt („cessante-
willen unbekümmert . . . festgehalten“ und kein Weg zur Anpassung gefunden würde
(S. 283). Wenn es sein muß, werden Wege gefunden, die Gesetzesbindung zurückzu-
stellen!
dem Gesetz unterworfene Richter nicht befugt.“ BGHSt GS 42, 113 (122 f.) sieht
keine „unbillige Härte“ darin, auch nach der Wiedervereinigung noch ehemals uner-
laubte Ausfuhren in die DDR zu bestrafen; die gesetzgeberische könne „nicht durch
eine autark judikative Lösung ersetzt werden“ (S. 122 f.).88
Ferner verweist der BGH nicht selten auf die Gesetzesbindung, wenn die ge-
setzgeberische Konzeption zwar durchführbar ist, die Problematik aber sinnvol-
ler hätte geregelt werden können. Der Gesetzgeber ist in seiner Entscheidung
frei, und die Rechtsprechung darf nicht einen Weg beschreiten, der ihr folge-
richtiger erscheint.89 Schließlich bleibt der große Bereich der Rechtsfortbildung,
der mit der Gesetzesbindung des Richters naturgemäß eng verknüpft ist. Ist eine
legislative Entscheidung der Problematik vorhanden und sind die Voraussetzun-
gen der Rechtsfortbildung (Gesetzeslücke etc.) demnach nicht gegeben, erfor-
dern Art. 20 III, 97 I GG zwangsläufig richterliche „Askese“. Die Berufung auf
die Gesetzesunterworfenheit überzeugt je nach dem, wie ernsthaft eine Rechts-
ergänzung in Betracht kommt. Müssen ihre Voraussetzungen ausgiebig disku-
tiert werden, ist die abschließende Berufung der Gerichte auf die Bindung an
die gesetzgeberische Entscheidung nichts weiter als das Ergebnis dieser Erwä-
gungen90 oder eine rhetorische Beteuerung. Das antagonistische Verhältnis zwi-
schen Gesetzesbindung und Rechtsfortbildung bedarf der inhaltlichen Klärung.
BGHSt 36, 27 (29) erkennt eine eindeutige Rechtslage im Kostenrecht des Jugend-
strafrechts, das keine Regelung enthalte, wonach dem verurteilten Jugendlichen
seine notwendigen Auslagen erstattet werden könnten. In der Gegenansicht sieht der
Senat eine Überschreitung zulässiger Gesetzesauslegung. Der dem „Jugendstrafrecht
innewohnende Erziehungszweck“ könne an der Gesetzeslage nichts ändern. „Wenn
der Gesetzgeber eine solche Entscheidungsbefugnis für notwendig halten sollte,
müßte er eine gesetzliche Regelung hierfür schaffen. Ob dies empfehlenswert wäre,
erscheint jedoch fraglich; denn ein . . .“. – Der Senat hätte sich knapp fassen können:
Die Gesetzeslage ist eindeutig, und der Erziehungsgedanke ist zu „schwach“, um
eine Rechtsfortbildung zu begründen. Auch die rechtspolitischen Erwägungen waren
überflüssig.
Daß es ganz auf die Frage ankommt, welchen Anforderungen eine Rechtsergänzung
genügen muß, zeigt z. B. BGHSt 23, 176 (179): „Nun ist allerdings eine Rechtsfort-
bildung auch entgegen dem klaren Sinn und Zweck einer gesetzlichen Vorschrift
nicht unter allen Umständen ausgeschlossen.91 Ihr sind jedoch schon im Hinblick
auf Art. 20 Abs. 3 GG enge Grenzen gezogen. Hier vermag der Senat keine durch-
BGHSt 19, 196 (200 f.): Die Regelung der Problematik „steht bei der gesetzgebenden
Gewalt“; die Rechtsprechung könne ihr nicht vorgreifen, da es verschiedene Lösungs-
wege gebe und ein zuverlässiger Maßstab zur Lückenfüllung fehle.
91 Ob diese Ansicht inhaltlich überzeugt, bedürfte nähere Prüfung.
3. Zum Verhältnis von Gesetzgeber und Richter 605
Das Verhältnis von Legislative und Judikative wird weiterhin durch die Frage
beleuchtet, ob die Gerichte in übertriebener Weise zur Gesetzeskorrektur neigen.
Zuweilen wird vermutet, daß die Ausmerzung von gesetzgeberischen Fehlern
durch die Gerichte letztlich zu einer qualitativen Verschlechterung der Gesetze
und zur Lethargie des Gesetzgebers führt, der im Vertrauen auf das Entgegen-
kommen der Praxis auf die Pflege der Kodifikationen verzichtet.92 Aber ist es
wirklich falsche Rücksicht der Rechtsprechung, die das „Elend läßt zu hohen
Jahren kommen“? Sicher ist zunächst, daß die Rechtsprechung zur Rechtsfortbil-
dung berechtigt ist, wenn eine Regelung fehlt oder unvollständig ist, aber ebenso
klar ist, daß unter bestimmten Voraussetzungen zur Verwirklichung des nur feh-
lerhaft zum Ausdruck gebrachten gesetzgeberischen Willens Gesetzesberichti-
gungen zulässig sind (siehe oben IV 8). In beiden – ohnehin kaum scharf ab-
grenzbaren – Fällen „repariert“ der Rechtsanwender das Rechtssystem, und es
kommt zu einer Entfernung zwischen geschriebenem und tatsächlich praktizier-
tem Recht, ohne daß eine Pflicht des Gesetzgebers entstünde, diese Entwicklung
92 Paeffgen, in: FS für Grünwald, S. 468: „Man sollte sich im Umgang mit proble-
93 Siehe nur BGHSt 26, 95 = Fall 87 („auf frischer Tat betroffen“), BGHSt 27, 45 =
gleichen „Fehler“ noch einmal begangen zu haben. Damit wird die stimmigere, sy-
stemgerechte Lösung erschlichen.
96 Siehe allgemein zum Umgang mit schwierigen Gesetzen Leisner, Krise des Ge-
geber sei nach der Mehrheitsansicht zwar „noch einmal davongekommen“, wäre aber
gut beraten, das Gesetz zu ändern!
98 Ob die Vorgehensweise des Großen Senats als Rechtsergänzung oder Gesetzes-
zu, ist aber nicht der entscheidende Aspekt. Schwer begreiflich ist allerdings, daß
der Gesetzgeber sich bis heute nicht durch eine nachträgliche Legitimation „er-
kenntlich gezeigt“ hat.
Problematischer als die Möglichkeit der (zulässigen) Gesetzeskorrektur an
sich erscheint eher die Unklarheit darüber, wann die Rechtsprechung den gesetz-
geberischen Vorstellungen zum Durchbruch verhilft. Der Gesetzgeber muß sich
hier auf Überraschungen einstellen. Wie mehrfach dargelegt, besitzt die Recht-
sprechung jedenfalls hinreichend Instrumente, um den subjektiv-historischen
Vorstellungen die Gefolgschaft zu versagen. Aber all das sind Gesichtspunkte,
die auf bereits erörterte Fragestellungen des Auslegungskanons zurückführen.
In den Entscheidungen zum „Absetzen“ (BGHSt 27, 45) und zur „Geldfälschung“
(BGHSt 29, 311) hätten die Senate die historischen Vorstellungen ohne weiteres mit
der Andeutungstheorie zurückweisen können. Erstaunlich ist zuweilen das Vertrauen,
das der Gesetzgeber der Rechtsprechung entgegenbringt, wie etwa BGHSt 30, 328
(Fall 203) zeigt: Statt bei Einführung des Gesetzes eine bekannte Problematik klar-
zustellen, setzt der Gesetzgeber auch die neue (zusätzliche) Norm mit dem gleichen
Makel in Kraft und vertraut darauf, daß die Rechtsprechung ihre einschränkende
Auslegung dort fortsetzt.100 Zur Warnung dienen lassen sollte der Gesetzgeber sich
jedoch die Problematik um die Vernehmung der „Verhörsperson“ bei § 252 StPO
(siehe Fall 348). Die Gesetzesverfasser haben die Norm – über ihren Wortlaut hin-
aus – nicht nur im Sinn eines Verlesungsverbots, sondern zudem als umfassendes
Verwertungsverbot verstanden. Der Berichterstatter hielt ein anderes Verständnis der
Norm nicht für möglich, andernfalls „höre jede Gesetzgebung auf“. Gleichwohl ist
die Rechtsprechung des RG gegenteilig verfahren. Ein positives Gegenbeispiel, bei
dem der Gesetzgeber die unerwünschten, aber denkbaren Interpretationen (Umkehr-
schluß) in seine Erwägungen mit einbezieht, schildert BGHSt 12, 42.101 Eine sol-
chermaßen vorausschauende Gesetzgebung, die „objektive“ Lesarten und denkbare
Folgen für verwandte Rechtsgebiete antizipiert, wird man freilich nicht als Normal-
fall unterstellen können.
Für die pädagogische Motivation, das mangelhafte Werk an seinen Konstruk-
teur zurückzureichen, kann man angesichts der zahlreichen gesetzgeberischen
Fehlleistungen Verständnis haben. In vielen Fällen mühen die Senate sich ab,
einem verunglückten Gesetz noch irgendeinen Sinn abzugewinnen.102 Sympto-
matisch hierfür ist der durch das 6. StrRG modifizierte § 250 StGB, dessen
offensichtliche Fehlkonstruktion die Rechtsprechung vor fast unlösbare Aufga-
ben gestellt und zahllose Entscheidungen provoziert hat.103 Unzweifelhaft hätte
der Gesetzgeber hierfür „Strafe“ verdient, indem die unausgegorene Norm gänz-
lich außer Betracht bliebe oder nur in ihrem eindeutigen Gehalt angewandt
würde; Gesetzesbindung kann ohnehin nur eine erkennbare Wertentscheidung
des Gesetzgebers erzeugen. Aber wohin sollte es führen, wenn die Rechtspre-
chung die ihres Erachtens widersprüchlichen oder unsinnigen Normen unange-
wendet ließe, und welcher Maßstab sollte dabei gelten?104 Unter Umständen
bliebe ein Torso zurück. Offensichtlich betrachten es Juristen – gleich ob aus
Wissenschaft oder Praxis – auch nicht als unwürdige Aufgabe, Unstimmiges in
ein System zu bringen. Das harte Urteil von Kirchmanns über den Wert der
Jurisprudenz, die ihre Rolle allein aus der Unzulänglichkeit der Gesetzgebung
gewinne, ist allein aus der Geringschätzung des positiven Rechts an sich und
damit historisch erklärbar; falsch beschrieben ist die Tätigkeit der Juristen da-
mit freilich nicht:
„Selbst das Genie weigert sich nicht, dem Unverstand zu dienen; zu dessen Recht-
fertigung all seinen Witz, all seine Gelehrsamkeit aufzubieten. Die Juristen sind
durch das positive Gesetz zu Würmern geworden, die nur von dem faulen Holz
leben; von dem gesunden sich abwendend, ist es nur das kranke, in dem sie nisten
und weben. Indem die Wissenschaft das Zufällige zu ihrem Gegenstand macht, wird
sie selbst zur Zufälligkeit; drei berichtigende Worte des Gesetzgebers und ganze
Bibliotheken werden Makulatur.“105
Ein noch schwächeres Instrument als der Verzicht auf Gesetzeskorrekturen,
um den Gesetzgeber zur Kodifikationspflege zu gewinnen, ist zweifellos die
Kritik am Gesetz und an dessen Verfassern. Hier darf man sich keinen Illusio-
nen hingeben und keine naiven Erwartungen hegen. Ein Appell wird in der Re-
gel ungehört verhallen, denn der „Gesetzgeber“ ist ein zu anonymer Adressat,
als daß die Kritik Wirkung erzielen könnte.106 Ein „Kodifikationsdenken“, das
die Widerspruchsfreiheit und Aktualität der Gesetze als Wert an sich betrachtet,
ist längst verabschiedet.107 Die Legislative wird in der Regel nur dann tätig,
wenn sie politischen Handlungsbedarf zur Korrektur erkennt.108 Am mißlunge-
nen 6. StrRG wurde vielfach und scharfe Kritik geübt,109 und manches wäre
Siehe auch die ausgiebigen Sinngebungsversuche von Küper, in: FS für Hanack,
S. 569 ff. und in: FS für Schlüchter, S. 331 ff.
104 Inwieweit und ab welchem Grad eine in sich widersprüchliche Norm verfas-
ten) Ministerialbürokratie sind freilich nicht ausgeschlossen, vgl. oben BGHSt 7, 165
(Fall 213, Fn. 459).
107 Eingehend dazu und zur weitgehend nutzlosen Kritik am Gesetzgeber Kübler, JZ
zwar großen politischen Handlungsdruck erzeugte, aber nicht zu korrigieren war. Ver-
suche der Einflußnahme ließ der BGH zu Recht abprallen.
3. Zum Verhältnis von Gesetzgeber und Richter 609
hier nachzubessern, aber ein „Korrekturgesetz“ steht nach wie vor aus. Bis es
dazu kommt, werden Rechtsprechung und Lehre ohnedies das Schlimmste aus-
gemerzt haben. Ohne die Vorarbeit der Praxis steht zudem zu befürchten, daß
die geforderte Novelle zu einer weiteren Verschlechterung des Zustandes
führt.110 Wie lange der Gesetzgeber trotz aller Kritik mit der Modernisierung
der Kodifikationen zögert, ist hinlänglich belegt.
Wie lange galten weite Teile des StGB als überholt, bis die große Strafrechtsreform
in Kraft trat? Wieviel Kritik wurde beispielsweise an der unbefriedigenden Regelung
des § 243 StGB (a. F.) geübt, bis eine Änderung erfolgte? Unerträgliche Untätigkeit
des Gesetzgebers herrscht etwa im Bereich des strafprozessualen Ermittlungsverfah-
rens oder in der Frage des Rechtsschutzes gegen erledigte Maßnahmen der Strafver-
folgungsbehörden. Dem Jugendstrafvollzug und der Ausgestaltung der Untersu-
chungshaft fehlt bis heute weithin die gesetzliche Grundlage. Der Gesetzgeber sah
offenbar auch kein Problem darin, eine selbst gesetzte Frist für weiteres Handeln
um 20 Jahre zu überschreiten (§ 200 II StVollzG a. F. – „Gefangenenentloh-
nung“).111 Ohne Anstöße seitens des BVerfG112 ist in vielen Fragen nichts mehr zu
erwarten.
Um das Kodifikationsdenken in begrenztem Umfang wiederzubeleben, sollte erwo-
gen werden, eine Institution dauerhaft mit der Aufgabe zu befassen, „Mustergesetz-
bücher“ zu führen, die den möglichen technischen wie inhaltlichen Stand aufzeigen.
Daß durch die Möglichkeit, auf eine Referenz zu verweisen, eher Reformdruck ent-
steht als durch Gesetzeskritik und durch den Verzicht auf Gesetzeskorrekturen, zeigt
die Idee der Alternativentwürfe, die auf eine neue Grundlage gestellt werden sollte.
Die Rechtsprechung bezieht in Sachen Gesetzeskritik einen realistischen
Standpunkt. Auch bei groben Versehen des Gesetzgebers übt sie nur selten Kri-
tik und wenn, dann in zurückhaltender Form. Zwar werden Regelungen als
„auffällig und wenig zweckmäßig“, „außergewöhnlich“, „ungereimt“, „nicht
sinnvoll“, „gesetzestechnisch unvollkommen“, „sachlich bedenklich“ bezeich-
net113 und auf „Unbilligkeiten“ und „wenig wünschenswerte Ergebnisse“ einer
eine Gesetzgebungspraxis, die sich immer wieder über selbstgesetzte Fristen hinweg-
setzt . . ., das Vertrauen in die Glaubwürdigkeit staatlicher Selbstbindung erschüttern“.
Beendet wurde der Zustand durch BVerfGE 98, 169.
112 Auch der Auftrag an die Fachgerichte, im Bereich des Rechtsschutzes gegen er-
c) Unendliche Geschichten
114 So BGHSt GS 1, 158 (167) und BGHSt 3, 314 (316) zur „veralteten“ Fassung
tungshaltung, die gegenüber dem Gesetzgeber erhoben wird, oben IV 7 g (nach Fall
206).
116 Puppe, in: NK-StGB, § 146, Stand: 1/1997, Rn. 35. Ähnlich Herdegen, in: LK-
StGB10, § 146, Rn. 23: „Damit wird unverständlicherweise eine sehr umstrittene Zwei-
felsfrage des früheren Rechts fortgeschleppt“.
117 Von „milder Ironie“ des BGH spricht Roxin, in: Die Deutsche Strafrechtswissen-
Fall 83; 7, 165 = Fall 213; GS 10, 94 = Fall 83; 10, 333 = Fall 77; 13, 91 = Fall 226;
14, 68 = Fall 173; siehe auch den ungewöhnlich ausführlichen Aufsatz von Bruns, GA
1954, 161–192. Zur Einziehung siehe insbesondere BGHSt 1, 351 = Fall 164; 2, 29 =
Fall 75 und Fall 187; 9, 96 = Fall 165; 16, 282 = Fall 97 und Fall 250; 18, 279 = Fall
3. Zum Verhältnis von Gesetzgeber und Richter 611
(169) ließ sich durch die zahlreichen Probleme des § 42m StGB a. F. sogar zur
Abqualifizierung der Methodik im allgemeinen hinreißen: Die Auslegungszwei-
fel zu § 42m würden überschätzt und beträfen „im Grunde rechtstheoretische
Überlegungen“.119 Zu den ewigen Themen, die Schwierigkeiten bereiteten und
auch vorliegende Arbeit zum Teil durchziehen, gehören u. a. folgende Fragen:
Müssen qualifizierende Umstände „eigenhändig“ verwirklicht werden oder ist eine
Zurechnung möglich?120 Setzen Tathandlungen wie das „Absetzen“, „Vereiteln“ und
„Herstellen“ einen Erfolg voraus?121 Ist der Zeitpunkt der Verurteilung oder der
Rechtskraft maßgeblich?122 Darf auf die einzelne Tat abgestellt werden oder kommt
es auf die zusammengefaßte Tat (Gesamtstrafe o. ä.) an?123 Gehört die Verkündung
eines Urteils noch zur Hauptverhandlung?124 Wie können terminologische Inkompa-
tibilitäten innerhalb eines Gesetzes oder zwischen verschiedenen Gesetzen ausgegli-
chen werden?125
Viele der vernünftigen, aber mit dem Gesetz nicht immer zu vereinbarenden
Lösungen, zu denen die Rechtsprechung sich in diesen Fragen durchgerungen
hat, hat der Gesetzgeber nachträglich kodifiziert.126 Durch die Reformgesetzge-
bung der 1960er und 70er Jahre wurde einiges verbessert. Andererseits bestehen
viele der Probleme nach wie vor. Einige davon werden sich angesichts der prak-
tischen Schwierigkeiten jeder Gesetzgebung nie vermeiden lassen, in anderen
Fällen ist der Gesetzgeber immerhin um Lösungen bemüht127, aber nicht selten
verdienen die Gesetzesverfasser angesichts der auf der Hand liegenden und be-
kannten Probleme Kritik.128
166 und Fall 250; GS 19, 7 = Fall 167; 19, 158 = Fall 33; 24, 222 = Fall 208; 25, 10 =
Fall 86. Zu § 142 StGB a. F.: BGHSt 5, 124 = Fall 89; 14, 89 = Fall 89; 14, 116 = Fall
134 und Fall 301; 18, 114 = Fall 89, Fall 283 und Fall 298; zu § 142 StGB n. F.:
BGHSt 28, 129 = Fall 24, Fall 61 und Fall 284.
119 Vgl. Fall 83 am Ende.
120 BGHSt 5, 344; 8, 294; 12, 129; 27, 56; 27, 205; 42, 368; GS 48, 189; Fall 36
Fall 94 („Vereiteln“).
122 BGHSt 7, 178; 8, 66 = Fall 56; 26, 387 = Fall 191; 35, 6 = Fall 191; 46, 88.
123 BGHSt 1, 313 = Fall 114; 22, 260; 29, 370 = Fall 296. Mit Aufgabe der „fort-
gesetzten Handlung“ und der Aufhebung der Rückfallvorschriften (§§ 244, 245 StGB
a. F.) hat die Thematik an Relevanz verloren.
124 BGHSt 4, 279 = Fall 232; 42, 294 (Kap. III, Fn. 130).
125 BGHSt 6, 394 = Fall 55; 12, 129 (Kap. III, bei Fn. 378); 26, 152 (Kap. III, Fn.
379), jeweils zum Verhältnis von StGB/JGG. Innerhalb des StGB: BGHSt 33, 370 =
Fall 68.
126 Erwähnt werden kann hier das unvollständige Kostenrecht der StPO, das viele
Rechtsfortbildungen notwendig machte; siehe z. B. BGHSt 11, 189; 11, 195; 13, 75;
14, 391; 16, 168; 25, 109. Siehe außerdem bei den Fällen zu § 42m StGB.
127 Gescheitert ist er z. B. beim Begriff der „Gemeingefahr“; vgl. Fall 53.
128 Vgl. nochmals Fn. 116. Interessant ist auch, daß der Gesetzgeber des ZPO-Re-
formgesetzes von 2001 wieder einmal die Frage nach dem Begriff der „Verkündung“
aufwirft; vgl. Hartmann, NJW 2001, 2577 (2598).
Literaturverzeichnis
Hinweis: Ergänzungen in Klammern geben entweder die Fundstelle aus der amt-
lichen Sammlung „BGHSt“ an (siehe z. B. bei Altenhain) oder nennen die Entschei-
dung, mit deren Thematik sich ein Aufsatz hauptsächlich beschäftigt (siehe z. B. bei
Achenbach und Anders), ohne „Anmerkung“ im eigentlichen Sinn zu sein. Auch bei
Besprechungen, die Urteile von Vorinstanzen o. ä. behandeln, wird auf die später er-
gangene BGH-Entscheidung hingewiesen (siehe z. B. bei Kleinknecht).
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3, 300 80, 100, 455, 471, 582 5, 280 472, 530 (Fall 313)
3, 312 394, 484 f. 5, 295 342 f.
3, 314 47 (Fall 2), 394, 468, 477, 5, 312 496 f. (Fall 291), 499
484 f., 610 5, 323 369 (Fall 216), 401, 406 f.,
3, 334 84 f., 254 (Fall 131), 259, 322, (GS) 428, 582
591, 599 5, 344 136, 527, 528, 551 (Fall 329),
3, 373 316, 318 611
6, 25 50 (Fall 12), 235 f., 331, 367,
3, 377 217, 401, 406, 493, 500
490, 535
4, 6 44
6, 41 455
4, 8 247 (Fall 123), 257, 260
6, 85 392
4, 24 258, 343 f. (Fall 204), 350, 6, 100 93 ff. (Fall 53)
433, 440, 543, 581
6, 107 81 (Fall 44), 90, 455
4, 36 63
6, 131 180 f. (Fall 100), 314, 315, 328
4, 107 80, 454 (Fall 186), 472
4, 119 76, 77, 325, 346, 504 6, 144 522 f. (Fall 310), 527, 527
4, 135 547, 565, 570 f. (Fall 347) 6, 147 155 f. (Fall 76), 258, 279 f.
4, 144 80, 100, 112, 216, 471, 551 (GS) (Fall 146), 328, 477
(Fall 330), 582 6, 163 75, 346
4, 158 48 (Fall 3), 73, 217, 378, 609 6, 167 217
4, 161 149, 320 (Fall 172), 425, 479 6, 213 77 (Fall 39), 176, 217
4, 202 80, 455 6, 215 550 (Fall 327)
4, 279 16, 393 (Fall 232), 598, 611 6, 248 50 (Fall 13), 78
4, 300 367, 373 f. (Fall 222), 378, 606 6, 304 75, 209, 349, 401, 405, 407,
583
4, 308 84 f., 227, 254 (Fall 131), 259,
(GS) 322, 347, 579, 586, 591, 599 6, 312 47, 73, 346, 556 f.
4, 316 47, 491, 493 f. (Fall 289) 6, 314 250 (Fall 126), 255 f., 594 f.
(Fall 352)
4, 325 60 f. (Fall 21), 217
6, 364 248 f. (Fall 124), 255, 454
4, 355 569
6, 377 457
5, 28 572
6, 385 216, 508 f. (Fall 299)
5, 40 327 f. (Fall 185), 441, 454, 544 6, 394 18, 101 ff. (Fall 55), 111, 139,
5, 100 325 259, 494, 578, 610, 611
5, 111 258, 352 f. (Fall 209) 6, 398 33, 160 f. (Fall 83), 177, 493,
5, 124 145, 149, 168 (Fall 89), 187, 499, 610
539, 589, 611 7, 37 484, 505 (Fall 295)
5, 140 595 f. (Fall 354) 7, 48 472, 479
5, 153 472 7, 112 145, 149, 168, 589, 600
5, 179 157, 217, 244 (Fall 118), 247, 7, 153 347, 561, 563 (Fall 340)
256, 346, 610 7, 162 597
Entscheidungsverzeichnis 643
11, 304 88, 298, 480, 581, 602 13, 219 208
11, 324 217, 259, 315 (Fall 169), 320, 13, 287 100, 145, 469, 514, 600
392, 493, 548 13, 337 259
11, 332 597 14, 38 43, 63, 259, 469, 513, 518
11, 335 21, 401, 405 (GS) (Fall 304), 522, 558, 609
11, 345 259 14, 55 64, 65, 88, 173 f. (Fall 94),
11, 365 30, 36 444, 572
12, 28 318, 581 14, 68 63, 85, 259, 320 f. (Fall 173),
12, 42 228, 259, 260, 266, 277 (Fall 610
143), 350, 355, 579, 590, 607 14, 89 168 (Fall 89), 259, 611
12, 48 80, 113, 117, 275 14, 116 91, 216, 238, 267 f. (Fall 134),
12, 120 46, 259 269, 272, 277 f., 510 f. (Fall
12, 129 136, 139, 249 f. (Fall 125), 301), 512, 577 f., 583, 611
498, 559, 591, 611 14, 152 117, 471, 582
12, 136 354 (Fall 211), 600 14, 185 43
12, 166 472 14, 194 168 f. (Fall 90), 499
12, 197 259 14, 198 181 (Fall 101)
12, 227 36 14, 223 64
12, 282 458, 461 14, 233 296 f. (Fall 157), 561, 563 f.
12, 295 259 (Fall 341)
12, 335 21, 472, 553 14, 240 491, 498 (Fall 294)
12, 353 30 14, 258 243, 472
12, 364 64, 65 14, 291 48 (Fall 5), 145, 169 (Fall 91)
12, 392 76, 346, 520 (Fall 307) 14, 299 168 f. (Fall 90)
12, 399 333, 374 f. (Fall 223), 377 14, 353 259
13, 5 70 (Fall 31), 98, 228, 231, 14, 391 559, 560, 611
285 f. (Fall 150), 289, 301, 14, 395 507
579, 587 15, 1 44
13, 16 365 15, 9 217, 274 f. (Fall 141), 277
13, 32 259, 524 15, 28 217
13, 41 498 (Fall 293) 15, 40 259
13, 46 491, 492, 524 15, 88 48 (Fall 6), 259, 522 (Fall
13, 54 583 309), 539 f.
13, 75 611 15, 118 104, 217, 455, 456, 459
13, 81 145, 468, 521 15, 138 93 ff. (Fall 53), 228, 238, 263,
13, 91 259, 380 f. (Fall 226), 499, 369 (Fall 217), 507, 526, 579
559, 560, 610 15, 153 241
13, 102 214, 228, 263, 416 f. (Fall 15, 194 401, 408
249), 453, 579, 581, 586 15, 203 497 (Fall 292), 498, 548, 554,
13, 123 428 (Fall 260) 596, 603
13, 162 155 f. (Fall 76) 15, 224 568
13, 178 322, 455 f., 582 15, 234 217
13, 207 116, 259, 319 f. (Fall 171) 15, 268 553
Entscheidungsverzeichnis 645
15, 322 318, 423, 531 (Fall 313), 603 18, 151 229, 231, 257, 262, 263, 271
15, 361 365 (Fall 138), 425, 579 f., 584,
586
16, 94 113
18, 156 20, 74, 229, 231, 579
16, 115 497 (Fall 292), 554, 596, 603
18, 170 531
16, 160 217, 250 f. (Fall 127), 256, 18, 242 88, 113, 117, 349, 390
275
18, 246 84, 229, 259, 271 f. (Fall 139),
16, 168 259, 549, 611 456, 472, 504
16, 178 408 f. (Fall 242) 18, 268 549
16, 193 21 18, 279 311 f. (Fall 166), 317, 417 f.
16, 210 174 (Fall 95), 192 (Fall 250), 463, 550, 580 f.,
602, 605, 606, 610 f.
16, 282 175 f. (Fall 97), 259, 311,
417 f. (Fall 250), 610 18, 359 431, 432, 439 f. (Fall 272),
517
16, 374 259
18, 363 527, 532 (Fall 315)
17, 14 549 (Fall 326) 19, 7 313 (Fall 167), 318, 336, 611
17, 21 47, 220, 231, 374, 380 (Fall (GS)
225), 542, 582 19, 27 146
17, 69 275 f. (Fall 142), 325, 401, 19, 63 262
406 19, 109 246 (Fall 121), 257, 473, 512
17, 101 177, 550, 554 f. (Fall 333), 19, 144 401, 408 f. (Fall 242), 428,
561, 565, 584 504
17, 112 259, 262 19, 158 71 (Fall 33), 150, 400, 467,
17, 149 76, 217, 259, 262, 349 514, 560, 584, 586, 611
19, 196 604
17, 161 552 (Fall 332), 561, 565, 566,
589 19, 206 237 f. (Fall 114), 262
(GS)
17, 166 393 (Fall 233), 534, 540 (Fall
320), 548 20, 77 496, 553, 604
20, 81 258, 344 f. (Fall 205)
17, 188 401, 403, 409, 410 (Fall 244)
20, 100 259
17, 267 36, 275, 298 (Fall 160), 539,
20, 104 221, 583, 600
545, 561, 562 (Fall 339), 581,
602 20, 170 217, 378, 380, 499, 511
20, 248 82, 596 f. (Fall 355)
17, 280 535
20, 284 551 (Fall 328)
17, 309 217, 365 f. (Fall 215), 433,
20, 342 259
535
20, 387 107, 146
17, 360 488
21, 4 336
17, 399 46, 338 (Fall 197), 348, 456 21, 101 121, 141, 162 f. (Fall 85), 539,
18, 63 297 f. (Fall 159), 301, 544, 548
602 21, 139 73, 346, 398, 399, 603
18, 75 378 21, 141 347 f. (Fall 206)
18, 114 168 (Fall 89), 480 f. (Fall 283), 21, 188 527, 533 (Fall 317)
508 (Fall 298), 546, 584, 611 21, 189 169
18, 136 101, 103, 145 21, 194 171
646 Entscheidungsverzeichnis
29, 317 347 32, 104 38, 63, 324 (Fall 180), 380,
29, 370 509 f. (Fall 300), 551, 559, 442
610, 611 32, 115 349
30, 1 355, 459 f. (Fall 278) (GS)
30, 15 64, 89 (Fall 49), 155 32, 162 432, 435 f. (Fall 269)
30, 52 223 ff. (Fall 112), 412 (Fall 32, 165 259
247), 590 f., 599 32, 194 64
30, 64 297 32, 203 259
30, 98 258, 471, 512 (Fall 302), 581, 32, 221 264
582 32, 335 43, 390
30, 105 15, 418, 420 ff. (Fall 255), 32, 357 259
(GS) 530, 531, 603, 605, 606 f.
33, 8 435 f. (Fall 269)
30, 168 401, 412 f. (Fall 246)
33, 16 91, 426 f. (Fall 259), 441
30, 260 380
33, 133 568
30, 285 247, 431, 432, 435 (Fall 267),
438, 440 33, 155 561, 565 (Fall 342)
30, 328 255, 341 f. (Fall 203), 351, 33, 190 545 f. (Fall 323)
374, 401, 607 33, 252 45
30, 375 171 33, 322 527, 531 f. (Fall 314)
31, 1 259, 582 33, 370 77 (Fall 40), 121, 137 f. (Fall
31, 10 214, 237, 331 (Fall 190), 68), 571, 611
367 f., 601 33, 383 151 (Fall 71), 523, 609
31, 76 259 33, 394 332, 334 f. (Fall 196), 337,
31, 118 162 f. (Fall 85), 233 581
31, 128 221 f. (Fall 110), 231, 583 33, 398 49 (Fall 9), 146, 149, 485
31, 132 595 34, 4 259
31, 163 63 34, 59 259
31, 185 259 34, 71 15
31, 207 259 34, 138 237, 485, 549
31, 226 177 f. (Fall 98), 255, 259, 262, 34, 146 259
358, 362 34, 154 562 f.
31, 258 426 (Fall 257) 34, 171 91, 151 f. (Fall 72), 154, 183,
31, 309 262, 318, 569 444, 449, 513, 519, 578
31, 317 64, 72 (Fall 35), 76, 88, 166, 34, 184 259
477, 479, 512, 517, 524, 526 34, 211 251 f. (Fall 128), 273, 367 f.,
31, 348 456, 460 (Fall 279), 514, 519, 477, 580
600 34, 218 43
32, 1 59, 479, 580 34, 221 121, 192 (Fall 103), 454, 455,
32, 16 276, 426 (Fall 258) 461
32, 60 559 (Fall 337) 34, 250 547 (Fall 325)
32, 80 44 34, 321 262
32, 93 355 35, 6 331 (Fall 191), 350, 400, 592,
32, 95 179 (Fall 99), 493, 499, 571 611
Entscheidungsverzeichnis 649
47, 295 465 (Fall 281) NJW 1976, 1698 53 f. (Fall 19), 96,
47, 369 226, 423, 472 166, 589
48, 28 255 NJW 1978, 1206 70
48, 34 75 (Fall 37), 346 NJW 1978, 1336 418, 421, 603
48, 100 258 NJW 1984, 135 170 f. (Fall 93), 524
48, 189 74 (Fall 36), 136, 250, 455, (Fall 311)
(GS) 611 NJW 1988, 2483 374
48, 278 297 (Fall 158), 301 NJW 1991, 1839 374
48, 354 100, 147 f., 166, 220 NJW 1996, 2316 352
48, 360 436 f. (Fall 271), 454, 544 NJW 1999, 3723 139
49, 8 531 NJW 2000, 2907 66 (Fall 26)
NJW 2001, 1874 353 f. (Fall 210)
BGH, sonstige Quellen (alphabetisch) NJW 2001, 3205 50
NJW 2002, 765 30, 104, 225, 401,
BGHZ 3, 82 372 711
BGHZ 46, 74 68, 204, 220, 231, NJW 2002, 1437 74 (Fall 36), 249 f.
474 (Fall 125), 398
BGHZ 67, 339 273 NJW 2002, 3116 74
BGHZ 84, 36 303 NJW 2002, 3559 146, 319, 485, 609
BGHZ 135, 86 273, 274 NJW 2003, 1679 196, 493
BGHZ 154, 205 38, 395 (Fall 235) NJW 2003, 1824 389
GA 1955, 118 160 (Fall 83), 589 NJW 2003, 3717 220
GA 1975, 283 597 NJW 2004, 1885 437
JR 1954, 306 244 NJW 2004, 2990 437
JR 1957, 68 348 NStZ 1999, 301 371 (Fall 220)
JR 1984, 337 170 f. (Fall 93), 524 NStZ 1999, 92 598
(Fall 311) NStZ 2001, 196 389 (Fall 227)
JR 2000, 475 339 (Fall 200), 478 StV 1981, 3 597
JR 2001, 73 66 (Fall 26), 169 f. StV 1998, 485 371
(Fall 92) StV 1998, 486 371
JZ 1954, 541 362 (Fall 213) StV 2000, 315 66 (Fall 26), 68, 75,
LM 1957, Nr. 14 145 169 f. (Fall 92)
zu § 250 I StV 2002, 360 451
Nr. 3 StGB StV 2002, 482 172
LRE 1, 325 298 (Fall 161) wistra 1995, 143 170 f. (Fall 93),
(Lebensmittel- 524 (Fall 311)
rechtl. Entschdg.)
MDR/D 1954, 16 181 (Fall 101), 198
(bei Dallinger) BVerfGE
MDR/H 1977, 374
811 (bei Holtz) 1, 299 25, 213, 220 f., 227, 232, 578,
MDR/H 1981, 631 171 579, 582 f., 586, 588
NJW 1952, 796 424 f. (Fall 256) 2, 380 128
NJW 1967, 343 68 4, 352 431
652 Entscheidungsverzeichnis
Dreher 53, 75, 80, 139, 161, 165, 170, Fuchs 181
181, 182, 345, 361, 362, 376, 377, Fürstenau 38
531, 597
Drüen 471, 472 Gadamer 23, 26, 211, 383
Dubs 473
Gallas 156
Dünnebier 310, 311, 366, 405
Geerds 116, 197
Duttge 194, 195
Gehrling 376
Geppert 194, 195, 446, 487
Ebert, A. 162
Gern 16, 39, 59, 209, 215, 414, 473
Ebert, U. 150, 170
Ecker 562, 572, 576 Gillen 23
Ehmke 212 Goethe 166, 572
Eisenberg 63, 139, 480 Göhler 335, 390, 394
Ekklesiandros 516 Gollwitzer 405, 412
Emmerich 173 Gössel 598
Endemann 207, 258 Götz 389
Endriß 352 Grasnick 26, 28
Engelhardt 36 Graßhoff 448
Engisch 15, 20, 24, 25, 29, 30, 32, 35, Graul 114, 532
41, 44, 57, 59, 82, 87, 90, 127, 129, Gribbohm 432, 443
141, 156, 198 ff., 207, 210, 212, 213, Grimm 15, 29, 39
232, 255, 262, 264, 280, 302, 304,
Große 288
344, 345, 358, 359, 369, 373, 381,
402, 453, 463, 472 Groth 334
Engländer 351, 436 Grünwald 187, 409
Enneccerus 127, 215, 358, 488, 489, Gülde 62
564, 572 Günther 421
Ermert 88
Ernst 195 Haft 46, 70, 198
Eser 35, 129, 164, 187, 190, 194, 207, Hälschner 70
274, 414, 419, 420 Hanack 106, 344, 345, 348, 432, 434,
Esser 31, 33, 38, 39, 263, 268, 322 492, 497
Hand, L. 212
Fabry 138 Händel 327
Ferber 23 Hardtung 75
Fezer 96, 165, 289, 335 Hartmann 611
Fischer 115, 137, 138, 198, 204, 389,
Hartung 34, 94, 145, 155, 157, 161,
422, 424, 440, 442, 454, 473, 492, 530
196, 244, 307, 343, 344, 360 ff., 377,
Frank 70, 306 381, 417, 458, 531, 555
Franke, D. 162 Hassemer 23, 25, 26, 31, 38, 104, 106,
Franke, U. 27 112, 124, 129, 141, 142, 143, 168,
Freisler 267 189, 198, 199, 448, 449, 476, 573,
Freund 194, 195 574, 576
Frommel 21, 422 Hassold 207, 210, 214, 242, 261, 281
Personenverzeichnis 665
Heck 42, 126, 256, 258, 260, 261, 263, 187, 207, 308, 344, 358, 377, 385,
265, 281, 289, 370, 402, 403, 405, 414, 471, 472
413, 609 Joerden 164
Heghmanns 194, 195 Joerss 171
Heimann-Trosien 90, 115, 326 Johannes 15
Heinemann 132, 294
Hengsberger 69 Kaligin 163
Henkel 43, 118, 501, 546 Karpenstein 211, 214, 231, 259, 262
Hensche 57, 572, 574, 575
Katholnigg 419
Hentschel 147
Kaufmann, Arthur 21, 26, 27, 29, 31,
Herdegen 363, 364, 387, 610 33, 129, 198, 200, 280, 402
Herschel 443, 544, 547, 562 Keidel 254, 353
Herzberg 478, 480
Kelsen 92
Hettinger 68, 287, 351, 364, 389, 436
Keppler 333
Heusinger 37
Kim 199
Hilgendorf 21, 28, 29, 56
Kinzig 352
Hilger 412
Kirchmann (von) 608
Hillenkamp 152, 162, 198
Kirn 377
Hirsch, H. J. 150
Hirsch, M. 397 Kirsch 29
Hoerster 25 Klein 15
Hofer 16 Kleinknecht 334
Hoffmann-Walldorf 62 Klug 116
Höhn 471, 472 Koch, Hans-Joachim 24, 25, 28, 30, 32,
Horak 491, 493, 502 33, 42, 64, 82, 122, 123, 124, 393,
420, 422
Horn 95, 178, 344
Koch, Hans-Jörg 174
Hörnle 478
Hoyer 194, 195 Koffka 376
Hruschka 20, 533 Köhler 21, 422
Huber 584 Kohlhaas 176
Hübner 173, 249 Kohlrausch 323
Hülle 361 Koller 23, 393
Köndgen 33
Jäger 193 König 464
Jagusch 48, 61, 189, 204, 296, 327, 496, Kosloh 318
597 Kötz 36
Jähnke 101, 191 Krack 166
Jahr 126, 357, 358, 359, 360, 374 Kramer 28, 31, 35, 42, 44, 57, 58, 82,
Jakobs 55, 106, 149 83, 133, 141, 190, 207, 210, 231, 242,
Jarass 467 281, 290, 299, 302, 388, 393, 401,
Jeand’Heur 117 402, 403, 404, 472, 539, 547
Jescheck 38, 52, 53, 59, 94, 103, 105, Krawietz 34
106, 126, 129, 149, 160, 167, 168, Krehl 252
666 Personenverzeichnis
Krey 57, 79, 91, 101, 109, 112, 117, Looschelders 31, 58, 64, 68, 83, 101,
126, 127, 129, 131, 133, 141, 152, 105, 120, 130, 141, 150, 212, 281,
167, 182, 187, 188, 191, 201, 358, 420 392, 394, 494
Kriele 28 Lüderssen 28
Krüger 274 Luhmann 17, 19, 25, 28, 29, 33, 34, 35,
Kübler 19, 608 211, 573, 574, 585
Kudlich 24, 75, 140, 194, 339, 423, 528, Luther 269, 327
533 Luttermann 122
Kühl 75, 138, 141, 158, 165, 354, 432,
438, 457 Maiwald 52, 536
Kunig 432 Mann, Golo 22
Küper 46, 54, 62, 63, 87, 110, 114, 115, Marcelli 546
116, 118, 119, 120, 123, 134, 135, Marquard 26, 28
137, 138, 139, 158, 168, 183, 184, Martin, L. 511
188, 193, 326, 371, 402, 410, 449, 608
Martin, S. 194
Kutzer 38, 224
Marxen 19
Maurach 52, 71, 115, 124, 125, 204,
Lackner 21, 101, 111, 119, 126, 166, 281, 333, 468
178, 188, 255, 262, 330, 358, 362,
Maurer 208, 261
460, 494
Mayer 27, 32, 140, 143, 210, 212
Ladeur 28
Mayer-Maly 51
Lampe 152, 154, 431, 435
Menger 417
Lamprecht 37
Merz 19
Lange 48, 50, 52, 149, 180, 189, 195,
Meurer 446
315, 390, 425, 494, 541
Meyer, D. 54, 374
Langen 173
Meyer, F. 526
Larenz 15, 16, 34, 57, 101, 121, 129,
133, 141, 199, 204, 210, 214, 215, Meyer, K. 164
261, 265, 304, 358, 389, 393, 402, Meyer, W. 22
403, 404, 414, 416, 464, 475, 476, Meyer-Gerhards 62, 326
542, 549 Meyer-Goßner 266, 297, 334, 351, 409,
Lasker 277 607
Laudenklos 29, 56 Mezger 228
Leenen 273, 478 Mitsch 115, 152, 191, 194, 195, 532
Leisner 606 Mittelsdorf 445, 448
Lenzen 178, 255, 262, 362 Möhrenschlager 241
Leo 173 Montaigne 282
Lerche 416, 534 Montenbruck 175
Lessing 175 Mösl 180
Lieberknecht 173 Müller, Friedrich 29, 208
Liver 210, 215, 216, 219, 232, 261, 264, Müller, Fritz 162
290 Müller, H. J. 209, 218, 219, 231, 233,
Loos 20, 22, 25, 32, 33, 34, 42, 83, 213, 415
261, 262, 264, 414, 476 Müller-Christmann 152, 408
Personenverzeichnis 667
– tatbestandsspezifische 81, 269, 454 Bestimmtheitsgebot 125, 241 f., 430 ff.,
– teleologische 80 ff., 471–576, 582 543 f.
– verfassungskonforme 212, 214, 299, – Verhältnis zum Analogieverbot 444 ff.
414 ff., 442, 449 f., 462, 464 ff., 475, Beweisschwierigkeiten 538 ff.
528, 530, 543, 581 Billigkeit 555 ff.
– vom Ergebnis her 576, 598 Billigung der Rechtspraxis 337
– von DDR-Recht 110, 183 Bindungswirkung von Methodenaussagen
– willkürliche 110, 584 585 ff.
– wirkungsmächtige 534 ff. Blankettbegriff 129, 131, 292
– zwanglose 123, 158 Bürger als Normadressat 101, 105, 112,
Auslegungsakrobatik 87, 188 430 ff.
Auslegungsgrenze 100 ff., 213
Auslegungskanon 16 f., 23, 69 canones, s. Auslegungskriterien
Auslegungskriterien 16 f., 23, 69 cessante-Grundsatz 299
– Reihenfolge 583 ff.
Auslegungsregeln 25 Darstellungsebene 31 ff.
Auslegungsziel 23 f., 209 DDR-Recht 110, 183
Auslegungszweifel 434, 583, 611 Deduktion 29, 377, 473
Ausnahmevorschrift 401 ff. Definitionen 41, 172, 284
Ausreißer-Phänomen 111, 201, 433, 605 Definitionen, gesetzliche 45 ff.
Äußerungen, ministerielle 274 ff. Delegation an Rechtsprechung 355 f.
Äußerungen, nachträgliche 276 ff. Demokratie 109, 211 f.
Äußerungen von Abgeordneten 265 ff. Drucksachen 206, 264
Ausweitungstendenzen 477 ff., 485 f. Durchspielen von Fällen 486, 493 ff.,
552, 573
Dynamisierende Gesetzesdeutung 128 f.,
Bedeutung 41
219, 292, 294 f., 299 f., 383, 581
Bedeutungsfeststellung 45 ff.
Bedeutungskonflikt 24
Eindeutige Rechtslage 596 ff., 601
Bedeutungswandel 127 ff., 294
Eindeutigkeiten 47 ff., 57 ff.
Bedürfnisse der Praxis 561 ff., 592
Eindeutigkeitsregel 57 ff., 233 ff., 368
Begriff 41 Einfachheit 160, 185
Begriffsbildung, juristische 91 f., 117 Einheit der Rechtsordnung 452 ff.
Begriffsbildung, teleologische 80, 460 Entstehungsgeschichte, s. Auslegung, hi-
Begriffshof/-kern 42 storische
Begriffsinhalt/-umfang 41, 141 Ergebnisdenken 576, 598
Begriffsjurisprudenz 80 Ergebniskontrolle 488 ff., 551 f., 572 ff.
Begriffsspaltung, s. Sprachspaltung – kriminalpolitische 515 ff.
Begründungskultur 32 Erklärungsirrtum des Gesetzgebers
Begründungsmangel 54, 163, 589 360 ff.
Begründungsstil, forensischer 35 ff. Erst-recht-Schluß 392 ff., 484 f., 491 ff.
Belegexzesse 37 Evidenzen 47 ff., 184, 392 ff., 491 ff.
Bestimmtheit der Auslegung 440 ff. Extension 41, 93, 97, 128, 202
672 Sachverzeichnis
Überdehnung des Wortlauts 147 Wandel der Verhältnisse 280 ff., 537 f.,
Überdehnung von Straftatbeständen 184, 580 f.
583 – und Gesetzesbindung 602, 606
Übernahme einer Vorschrift 340 ff. Wechselwirkungstheorie 424, 429 f.
Überschrift, s. Gesetzesüberschrift Wertentscheidung des Gesetzgebers 101,
Übersehen des Gesetzgebers 373 ff. 106, 109, 124, 210, 214, 265, 281,
Umdeutung des Gesetzes 311 f., 550 291 ff., 359, 368, 370, 383, 392, 475,
577, 605 f., 608
Umkehrschluß 55, 71 f., 74 f., 121, 162,
245, 247, 254, 315, 320, 322, 328, Wertewandel 302
331 ff., 338 f., 341 f., 345, 350 f., Wertungsfehler des Gesetzgebers 377
363, 387, 397 ff., 586, 607 Wertungsharmonie 304, 308, 464
Unbestimmte Rechtsbegriffe 292, 302, Wertungswiderspruch 304, 316, 462 ff.,
430 475, 486 f.
Unrechtssystem 212 f. Wesensargument 567 ff.
Untätigkeit des Gesetzgebers 328 ff. Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung
Untersatz 30 f., 199 462 ff.
Untragbarkeitsargument 488 ff. Wiedereinführung einer Vorschrift 340 ff.
Urteile, Umfang der 37 Wille des Gesetzes 215 ff., 582
Urteilstechnik 37 Wille des Gesetzgebers 215 ff., 582
– dynamisch verstandener 128 f., 219,
292, 294 f., 299 f., 383, 581
Vagheit 42
– normativer 290
Vereinfachungstendenzen 477 ff., 486
– objektiver 220
Vernunft, Vernünftigkeit 32, 126, 164,
175 f., 188, 217, 264, 312, 329, 348, – objektivierter 218 ff., 243, 258, 582 f.
361, 416, 464, 475 f., 488, 492, 500, – vernunftgemäßer 316, 318
503, 512, 517, 541, 551, 570, 576, Willensargument 261
592, 611 Willkür 36, 110, 467 ff., 586
Verschiebung, quantitative 291 ff., 301 Wörterbücher, Lexika 64 ff., 140
Versehen des Gesetzgebers 357 ff. Wortlaut, s. Auslegung, grammatikalische
Verständlichkeit des Rechts 83, 122, – „bloßer“ 104, 156, 161, 167, 177,
458, 461 223, 397, 584
Vertrauensargument 242 – Diskreditierung 159, 167, 177, 185,
Vertrauensschutz des Bürgers 125 f., 584, 599
133, 189, 213, 264, 357, 366, 376, 380 – eindeutiger/klarer 42, 47 ff., 160
Vertrauensschutz des Gesetzgebers – „haftet am . . .“ 156, 159, 177, 185,
351 ff. 227, 599
Vertretbarkeit 29 f., 35 f., 599 – „schon der . . .“ 60 ff.
Verwaltungsvorschriften 274 ff. – „verleitet zur Annahme“ 174
Volksanschauung 306 Wortlaut und Wortsinn 43 ff.
Vorhersehbarkeit der Strafbarkeit 438 ff. Wortlautgrenze 100 ff., 140 ff.
Vorrangregeln, s. Rangfolge Wortlautüberdehnung 147
Vorurteil 32 Wortlautüberschreitungen 144 ff.
Vorverständnis 31 ff. Wortlautunterschreitungen 182, 190 ff.
676 Sachverzeichnis
Wortsinn, möglicher 100 ff., 140 ff. Zufall 559 f., 596
Wortsinn, „reiner“ 164 f. Zusammenspiel von speziellen mit allge-
meinen Normen 77 ff., 134 ff.
Zeitgeist 186, 316 Zuschreibungen 215 ff., 261, 345 f., 348
Zertitätstheorie 33