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Juristische Methodenlehre
Auch eine noch so genaue Kenntnis der Gesetzes-
texte reicht für die juristische Arbeit nicht aus.
Peter Bydlinski
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Die unvermeidliche Distanz zwischen konkretem
Fall einerseits und generell-abstrakten Normen
andererseits macht eine Interpretation unumgäng-
lich. Dabei bedarf es einer gelegentlich durch-
Grundzüge
aus aufwändigen methodischen Vorgangsweise.
der juristischen
utb.de
utb 3659
utb 0000
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Methodenlehre
von
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4. Auflage
2023
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4. Auflage 2023
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Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und der
Verbreitung sowie der Übersetzung, sind vorbehalten.
Satz: Wandl Multimedia-Agentur
Druck und Bindung: CPI − Ebner & Spiegel, Ulm
Printed in the EU
ISBN 978-3-8252-6145-0
E-ISBN 978-3-8385-6145-5
E-PUB 978-3-8463-6145-0
Vorwort zur 4. Auflage
5
Vorwort zur 4. Auflage
gung bzw Rechtsfindung ein weiteres Mal ausgebaut und dabei vor
allem den Zulässigkeitsgrenzen besonderes Augenmerk geschenkt.
Berichtenswert erscheint schließlich auch, dass in anderen Län-
dern aktuell großes Interesse an methodischen Fragen zu bestehen
scheint. So sind im Jahr 2023 Übersetzungen der 3. Auflage in ko-
reanischer und in chinesischer Sprache erschienen.
Nicht zuletzt aufgrund der Beobachtung, dass sich die studenti-
sche Sprachkompetenz von Jahrzehnt zu Jahrzehnt eher verschlech-
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tert als verbessert, habe ich ein weiteres Mal mit Hilfe studentischer
Probeleser/innen, namentlich meiner studentischen Mitarbeiter/in-
nen Noah Herscovici, Julian Köck und Katharina Petrovic, denen ich für
ihr Engagement herzlich danke, versucht, die sprachliche Zugäng-
lichkeit für die heutigen Leser/innen zu erleichtern. Dabei wurde
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Grundzüge der juristischen Methodenlehre, 9783825261450, 2023
der gesamte Text nach dem studentischen Durchgang von mir Satz
für Satz gelesen und überarbeitet (mit herzlichem Dank an meine
Schwiegermutter, die mir dafür drei Tage lang Herberge und Klau-
sur geboten hat).
Der Inhalt des Buchs ist – aufgrund der behandelten Materie –
allerdings nach wie vor durchaus anspruchsvoll. Auch deshalb,
nämlich um die Lektüre nicht weiter zu erschweren, habe ich das
generische Maskulinum verwendet und nur punktuell weibliche
Formen ergänzt. Selbstverständlich ist mit dem Juristen aber wei-
terhin die Juristin mitgemeint, mit dem Richter die Richterin usw.
Seit der 2. Auflage habe ich nicht nur vieles umformuliert, son-
dern auch eigene inhaltliche Akzente gesetzt. Daher erscheint das
Buch nunmehr allein unter meinem Namen (wobei ich hoffe, dass
mein Vater die meisten der seit der Erstauflage erfolgten vielfältigen
Änderungen und Ergänzungen ebenfalls als Verbesserungen emp-
funden hätte).
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Vorwort zur 1. Auflage
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Inhaltsverzeichnis
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Abkürzungsverzeichnis
D Deutschland
dh das heißt
EKHG Eisenbahn- und Kraftfahrzeughaftpflichtgesetz (Ö)
EMRK Europäische Menschenrechtskonvention
EU Europäische Union
EuGH Europäischer Gerichtshof
f und der (die) folgende
ff und die folgenden
GewRÄG Gewährleistungsrechts-Änderungsgesetz (Ö)
hA herrschende Ansicht
Kfz Kraftfahrzeug
KSchG Konsumentenschutzgesetz (Ö)
NotAktsG Notariatsaktsgesetz (Ö)
Nr Nummer
Ö Österreich
OGH Oberster Gerichtshof (Ö)
OGHG Gesetz über den Obersten Gerichtshof (Ö)
OR Obligationenrecht (CH)
RL Richtlinie (EU)
RIS Rechtsinformationssystem des Bundes (Ö)
S Seite(n)
sog sogenannte, -er, -es
StGB Strafgesetzbuch (Ö)
USA United States of America (Vereinigte Staaten
von Amerika)
usw und so weiter
uU unter Umständen
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zB
vgl
ZGB
VGG
VfGH
WKRL
Abkürzungsverzeichnis
vergleiche
zum Beispiel
Zivilgesetzbuch (CH)
Verfassungsgerichtshof (Ö)
Warenkaufrichtlinie der EU
Verbrauchergewährleistungsgesetz (Ö)
Ausgewählte Literaturhinweise
tionen und ist bewusst kurz gehalten (und schon deshalb nicht ganz ohne
Willkür).
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Ausgewählte Literaturhinweise
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A. Einleitung: Was ist und wozu betreibt man
juristische Methodenlehre?
I. Begriff und Aufgabe
Die Methode ist das Handwerkszeug aller Wissenschaftler. Daher
braucht auch die Rechtswissenschaft ihre Methode; und im Übrigen
ebenso all jene, die Rechtsnormen „bloß“ anzuwenden haben wie
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oder um die „Beschäftigung“ mit dem geltenden Recht gehe. Das ist
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Einleitung: Was ist und wozu betreibt man juristische Methodenlehre?
Daher ist der „Rohstoff“ der Jurisprudenz nicht bloß das Recht. Zu
ihm gehören vielmehr auch die rechtlich relevanten Sachverhalte
einschließlich der „generellen Tatsachen des Normbereichs“, zB die
Hilfsbedürftigkeit des Kleinkindes, die arbeitsteilige Organisation
der Wirtschaft oder die Knappheit erschwinglichen Wohnraums.
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Die Notwendigkeit der Methodenlehre
Dazu ein Beispiel: Bei einem Schadensfall prüft man regelmäßig an
hand des § 1295 ABGB, ob die in dieser Norm vorgesehenen Tatbestand
selemente vollständig erfüllt sind. Der als „Beschädiger“ Beklagte haftet
eben nur dann, wenn er dem Kläger rechtswidrig und schuldhaft
einen Schaden zugefügt, dh verursacht hat. Ist dem Schädiger etwa
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Einleitung: Was ist und wozu betreibt man juristische Methodenlehre?
III. Gegenmodelle
In der Jurisprudenz war und ist vieles streitig; häufig aber zu Un-
recht. So wird zB den eben skizzierten Vorstellungen über eine ra-
tionale juristische Methodenlehre unter Berufung auf die Anforde-
rungen der Rechtssicherheit das gesetzespositivistische Modell
einer strikten Gesetzesbindung gegenübergestellt. Dieses kann frei-
lich überhaupt nur soweit funktionieren, wie der jeweils problemre-
levante Gesetzesinhalt in seiner Anwendbarkeit auf den zu beurtei-
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Gegenmodelle
schon mit Blick auf ein von ihm gewünschtes Ergebnis aussucht.
Dass ein solches unseriöses Vorgehen im Einzelfall tatsächlich vor-
kommt, kann selbstverständlich kein Argument gegen die Beacht-
lichkeit methodischer Vorgaben sein.
Zum dafür vorgetragenen Argument des Fehlens einer klar und
dauerhaft fixierten Rangordnung der Methoden wird später bei Er-
örterung dieser Frage näher Stellung genommen (siehe dazu S 109 ff).
Die zutreffende Beobachtung, dass in der juristischen Arbeit am
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Einleitung: Was ist und wozu betreibt man juristische Methodenlehre?
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Gegenmodelle
eilungsgefahr besteht? Hier steht das Argument aus dem Wortlaut dem
aus dem Zweck diametral entgegen.
Richtig und wichtig ist also, dass man zunächst so intensiv und sorg-
fältig wie möglich aus mehreren denkbaren („Denken in Alterna-
tiven“!) nach der am besten begründeten Lösung zu suchen hat,
statt sogleich in die Eigenwertung zu flüchten. Die bloße Existenz
gegenläufiger Argumente an sich braucht dabei noch nicht zur Re-
signation zu führen, weil es in der Regel möglich ist, für eine be-
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Einleitung: Was ist und wozu betreibt man juristische Methodenlehre?
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Methodenlehre für die Rechtsanwendung überhaupt?
der Grundsatz „nullum crimen, nulla poena sine lege“ (kein Verbrechen
und keine Strafe ohne Gesetz) gilt.
Gefordert ist also eine im Zeitpunkt der Tatbegehung bereits gel-
tende, strafandrohende Regel. Das ist freilich keine historische oder
gar naturgesetzliche Selbstverständlichkeit, sondern erklärt sich in
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Einleitung: Was ist und wozu betreibt man juristische Methodenlehre?
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B. Die Auslegung (im engeren Sinn)
I. Die wörtliche („grammatische“) Auslegung
1. Vorklärungen
Üblicherweise werden mehrere – meist vier bis fünf – Interpre-
tationsmethoden oder „Kanones“ der Auslegung unterschieden,
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2. Das Demonstrationsbeispiel
Wegen seiner einfachen Darstellbarkeit und Variationsfähigkeit
(also nicht primär wegen besonderer Wichtigkeit) wird in der Fol-
ge möglichst weitgehend ein erbrechtlicher Sachverhalt als Beispiel
verwendet, der die Anwendung und zuvor die Auslegung von § 578
Satz ABGB erfordert: Dort (ähnlich etwa in Art 505 ZGB, während
§ 2247 BGB das Unterschriftserfordernis präzisiert) ist für die Gül-
tigkeit eines privatschriftlichen (zeugenlosen) Testaments vo-
rausgesetzt, dass der Testator
a) den Text eigenhändig geschrieben und
b) mit seinem Namen
c) eigenhändig unterschrieben hat.
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Die Auslegung (im engeren Sinn)
Diese Vorschrift ist an sich sehr einfach und klar verständlich. Je-
doch wirft sie in Bezug auf bestimmte Fallkonstellationen einige
Auslegungsfragen von unterschiedlichem Schwierigkeitsgrad auf.
Sie sollen in der Folge näher erörtert werden.
3. Das Auslegungsmaterial
Auf der wörtlichen Stufe der Auslegung ist das hier heranzuziehen-
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Die wörtliche („grammatische“) Auslegung
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Die Auslegung (im engeren Sinn)
ben und Herr Navratil bloß unterschrieben, so ergibt sich mit dersel
ben Deutlichkeit, dass die Subsumtion des Falles unter die anwendbare
Rechtsregel nicht möglich ist. Ein solches Testament ist daher nach § 578
ABGB formungültig.
Dass derartige Deduktionen möglich sind und täglich unzählige
Male mehr oder weniger explizit vorgenommen werden, beweist
die Unrichtigkeit von Behauptungen über die Unmöglichkeit der lo-
gischen Ableitung aus generellen Normen auf engere Sachverhalte.
Das erörterte einfache Beispiel zu § 578 ABGB zeigt überdies,
dass einfache Deduktion nicht etwa allein aus numerischen Begrif-
fen in Rechtsnormen möglich ist. Für die Unterscheidung einfa-
cher Fälle oder Fallelemente von schwierigeren gibt vielmehr ein
anderer Ansatz die entscheidende Orientierung; nämlich die Un-
terscheidung von „Begriffskern“ und „Begriffshof“ sowie selbst-
verständlich, meist unausgesprochen, einem Bereich jenseits der
möglichen Anwendung des Begriffs. Maßgebend ist der allgemeine
Sprachgebrauch. Der „Begriffskern“ erstreckt sich auf alle Objekte,
die praktisch jeder Sprach- und Sachkundige als Anwendungsfälle
des Begriffs behandelt bzw sich vorstellt (so unterfallen zB Rinder,
Schweine und Schafe ohne Zweifel dem Begriff „Vieh“). Zum „Be-
griffshof“ zählen die Objekte, auf die in der Sprachgemeinschaft der
betreffende Begriff manchmal erstreckt wird, manchmal aber auch
nicht (zB Hühner, gezüchtetes Damwild, Reitpferde). Hier stellen
sich die eigentlichen Auslegungsprobleme. In diesem Bereich ist die
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Die wörtliche („grammatische“) Auslegung
31
Die Auslegung (im engeren Sinn)
Bei einigen dieser Fragen kann man auf der sprachlichen Ebene
vielleicht in die eine oder andere Richtung mit einem überwiegen-
den Sprachgebrauch (zB des Ausdrucks „unterschreiben“) argu-
mentieren; allein damit kommt man aber wohl kaum einmal zu
einer klaren und systematisch überzeugenden Lösung. Es bedarf
daher jedenfalls weiterer Argumente entsprechend den folgenden
Auslegungsmethoden. Die sprachliche Analyse bleibt aber jedenfalls
immer für die genauere Problemerfassung wichtig, durch die man
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Die systematisch-logische Auslegung
2. Beispiele
Zur bereits erwähnten Fallvariante einer Unterschrift mit dem
Spitznamen oder Pseudonym (zB „Schneckerl“ für einen populären
früheren österreichischen Fußballer – nunmehr bekannt als Ana-
lytiker beim Fernsehen mit Problemen beim dritten und vierten
Fall) liefert § 43 ABGB ein wertvolles systematisches Pro-Argument
(= reicht als Name im Sinne des § 578 ABGB aus), da diese Norm
den Schutz des Namensrechts durch Unterlassungs- und Schaden-
ersatzansprüche ausdrücklich auf den durch faktische Übung er-
worbenen „Decknamen“ erstreckt. (Unergiebig sind dagegen die
Vorschriften, die den Erwerb des „eigentlichen“ Namens regeln,
weil sie über den Spitz- oder den Künstlernamen gerade nichts
besagen.) Damit ist rechtlich anerkannt, dass über den amtlichen
Namen hinaus auch die „bloß“ verkehrsübliche Benennung für
den Betreffenden bedeutsam sein kann und daher rechtlich voll
geschützt ist. Warum der „Deckname“ dann beim eigenhändigen
Testament nicht als Identifizierungsmittel und Unterschriftsformel
ausreichen sollte, wäre nicht verständlich. Der andere Sachkontext
(Testamentsgültigkeit hier, Namensschutz dort) ändert an dieser
Überlegung nichts. Dass der „Deckname“ sprachlich als „Name“ in
Betracht kommt, bringt das Wort unmittelbar zum Ausdruck, auch
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Die Auslegung (im engeren Sinn)
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Die historische (subjektive) Auslegung
Beispiel: Der Verkauf einer fremden Sache ohne Zustimmung des Ei
gentümers könnte auf den ersten Blick, da verboten, als gesetz- oder
sittenwidrig iS des § 879 ABGB angesehen werden. Rechtsfolge wäre
allerdings die Nichtigkeit des Kaufvertrags. Bei diesem weiten Verständ
nis des § 879 ABGB – übrigens ein klassischer Anfängerfehler – wür
de aber etwa § 367 ABGB unanwendbar werden. Diese Vorschrift sieht
unter strengen Voraussetzungen einen gutgläubigen Eigentumserwerb
des Käufers vor. Ohne wirksamen Titel (hier: Kaufvertrag) kann jedoch
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generell kein Eigentum erworben werden. Daher ist § 879 ABGB eng
zu verstehen und bloß auf Inhaltsverbote anzuwenden. (Dass die Sache
fremd ist, wird aber in aller Regel gerade nicht Vertragsinhalt, da bzw
wenn der Käufer davon ausgeht, vom Berechtigten zu erwerben.)
Abzulehnen ist ferner zB eine dem nächstliegenden sprachlichen
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Die Auslegung (im engeren Sinn)
Was bleibt, ist in der Sache lediglich ein wichtiger Aspekt der
Vorrangfrage unter den juristischen Methoden; besser wohl: me-
thodischen Schritten (dazu noch später S 109 ff). Hier soll nur so
viel gesagt werden: Da es um aktuelle Rechtsanwendung geht,
muss die in der gegenwärtigen Rechtsordnung und der heutigen
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2. Das Auslegungsmaterial
Das Auslegungsmaterial besteht bei der historischen Auslegung
aus allen irgendwie aufschlussreichen Hinweisen auf den Wil-
len oder die Absicht „des Gesetzgebers“, der die auszulegende
Norm erlassen hat, also des seinerzeitigen („historischen“) Gesetz-
gebers in Bezug auf das gerade anstehende Problem. Die von man-
chen vertretene Alternative, stattdessen generell auf den Willen
und die Vorstellungen des heutigen Gesetzgebers abzustellen, schei-
det häufig schon deshalb aus, weil es bei diesem in der Regel keine
Hinweise auf seine Absichten in Bezug auf ältere Normen gibt. Aber
auch ganz generell geht es darum, was mit der Erlassung bestimm-
ter Normen bezweckt war. Das kann sich nur aus Äußerungen im
Rahmen des konkreten Gesetzgebungsverfahrens ergeben.
Da eine Rechtsregel nicht bloß aus sprachlichen Elementen (Tex-
ten) besteht, sondern darin vielmehr ein normsetzender mensch-
licher Wille zum Ausdruck kommt, und weil der „objektive“ Text
auch im Zusammenhang vielfach vage oder mehrdeutig bleibt, ist
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Die historische (subjektive) Auslegung
oft rasch und gut erkennen lässt, was geändert wurde. (So ist die
ausdrückliche Qualifizierung von Ort und Datum des Testaments in
§ 578 Satz 2 ABGB als nicht erforderlich, aber ratsam, nur aufgrund
des Wissens über die vorher bestandenen Auslegungsunsicherhei-
ten verständlich.)
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Die Auslegung (im engeren Sinn)
schwierig sei, die Handschrift (!) in einem aus mehreren Zeilen be-
stehenden Testament unerkennbar nachzumachen (Ofner I 347).
Daraus geht einerseits die Meinung hervor, „eigenhändig“ bedeute
„handschriftlich“, und andererseits als Zweck des Merkmals „eigen-
händig“ die generelle gute Überprüfbarkeit der Echtheit anhand der
Urkunde (durch Schriftenvergleich, falls nötig mit Hilfe eines gra-
phologischen Sachverständigen).
Erst in Verbindung mit dem allgemeinen Erfahrungssatz, dass
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Das hat nichts mit der bloßen Beweisfrage zu tun, ob nicht viel-
leicht doch, etwa durch zufällig anwesende Zeugen, dargetan wer-
den kann, dass der Erblasser persönlich „getippt“ hat: Einerseits
soll eben die Testamentsgültigkeit nicht von einem solchen Zufall
abhängen; andererseits besteht gegen einen solchen Beweis wegen
der Möglichkeit bestochener oder sonst manipulierter Zeugen ein
besonderes Misstrauen, da der Erblasser selbst dazu nicht mehr be-
fragt werden kann. Gegen ein stenografisches oder in kyrillischen
Schriftzeichen verfasstes Testament bestehen dagegen keine ver-
gleichbaren Bedenken: Es ist handschriftlich, also mit überprüfba-
ren individuellen Schriftzeichen angefertigt. Dass diese in unseren
Breiten unüblich sind, tut nichts zur Sache.
Zur „Unterschrift“ bestätigt sich, dass sie, was ja schon sprach-
lich nahe liegt, am Ende des Textes stehen muss, weil nur dann
ersichtlich ist, dass die „Beendigung des Geschäftes“ bezweckt war
(Ofner I 347, II 538). Nur die Unterschrift zeigt ja nach der Verkehrs-
übung an, dass die Überlegungen des Erklärenden beendet sind und
er den vorliegenden Text in Kraft setzen will. Dem genügt die Na-
mensnennung zu Beginn der Erklärung oder irgendwo im Text kei-
neswegs; es könnte sich ja nur um einen bloßen Entwurf handeln
(Ofner II 539).
Weniger aufschlussreich sind die Materialien hingegen erstaun-
licherweise für die Interpretation des Tatbestandsmerkmals „mit
seinem Namen“. Der Urentwurf hatte in seinem § 373, der Vor-
39
Die Auslegung (im engeren Sinn)
meint war: Zwar gehören der Vor- und der Familienname zweifellos
zum Namen des Testators und lässt sich sprachlich gewiss jeder Teil
als „Name“ bezeichnen. Es ist aber keineswegs selbstverständlich,
dass drei verschiedene Varianten (Vorname, Familienname oder
beides) einheitlich und in der Einzahl als „sein Name“ bezeichnet
werden. Sprachlich ist dies allerdings auch nicht ausgeschlossen, da
ja der Vor- und der Familienname je für sich, aber auch gemeinsam,
zweifellos dem Namensbegriff unterfallen.
Sprachlich, gerade wegen des Formulierungsunterschieds ge-
genüber dem Vorentwurf aber auch historisch, spricht wesentlich
mehr für das Ausreichen der Unterfertigung mit Vor- oder Familien
namen. Untermauern lässt sich diese Ansicht durch die objektiv-
teleologische Auslegung, auf die hier vorgegriffen sei: Sowohl der
Vor- wie der Familienname werden im Rechtsverkehr als bekräfti-
gende Abschlussformel verwendet. Auch als Identifizierungsmittel
reichen sie in aller Regel jedenfalls in Verbindung mit dem sonstigen
Testamentsinhalt und mit den aufschlussreichen Nebenumständen
(zB dem Auffindungsort des Testaments, den darin bedachten oder
zumindest erwähnten Personen usw) aus; jedenfalls nicht weniger
als ein voll ausgeschriebener Allerweltsname (zB Karl Maier).
40
Die historische (subjektive) Auslegung
41
Die Auslegung (im engeren Sinn)
42
Die objektiv-teleologische Auslegung
Dafür spricht, dass der bloße Gesetzestext ohne den Kontext der
Gründe, Absichten und Erwägungen, auf denen er fußt, nur be-
schränkt verständlich wäre. Man spricht von „Paktentheorie“ in
dem Sinn, dass die formellen Gesetzgebungsorgane die Übernahme
von Entwurfstext und Hintergrund akzeptieren (und damit „pak-
tieren“), wenn sie nichts Gegenteiliges erkennen lassen. Selbstver-
ständlich können sie bei der Beschlussfassung nicht nur die vorbe-
reiteten Entwürfe als solche ändern, sondern auch zum Ausdruck
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Die Auslegung (im engeren Sinn)
2. Das Grundschema
Es ist also zu prüfen, welcher Zweck oder welche Zwecke nach der
gesamten verfügbaren Erfahrung im konkreten Zusammenhang
überhaupt oder doch zumindest mit einer gewissen Wahrschein-
lichkeit als vernünftige Rechtszwecke in Frage kommen. Dies tut
man, indem man mit Hilfe korrekter Tatsachenaussagen fragt, für
die Verfolgung welcher Zwecke die betreffende Rechtsregel geeig-
net ist. Diese Prüfung muss auf der jetzt erörterten Auslegungsstufe
mangels historischer Hinweise aufgrund allgemeiner Erfahrung vom
Standpunkt eines wohlinformierten und auf dem Boden des Rechts-
systems stehenden Beurteilers erfolgen; also in diesem Sinn „objek-
tiv“. Es gilt, jene relevante Zweckhypothese herauszufinden, die ver-
nünftigerweise mit der größten Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist.
44
Die objektiv-teleologische Auslegung
der auszulegenden Norm als Mittel und dem erst gesuchten Zweck)
hilfreich sind. Nur solche Zweckhypothesen, bei denen die Taug-
lichkeit der Norm als Mittel bejaht werden kann, kommen somit in
die engere Wahl.
Beispiel: So scheitert auf der objektiv-teleologischen Ebene, also etwa für
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Die Auslegung (im engeren Sinn)
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Die Auslegung (im engeren Sinn)
48
Die objektiv-teleologische Auslegung
soll, in vollem Umfang auch auf die ABGB-Regel „passt“. Der Ge-
setzgeber hat das Problem und dessen Regelungsbedürftigkeit aber
eben erst im Zuge der Erlassung des EKHG erkannt. Ideal wäre na-
türlich gewesen, § 1327 ABGB im Zuge der Erlassung des EKHG
entsprechend anzupassen. Aus der Nichtanpassung kann aber man-
gels entsprechender Hinweise nicht der Schluss gezogen werden,
der Gesetzgeber habe für das ABGB eine abweichende Rechtsla-
ge gewollt. Es läge also ein krasser Wertungswiderspruch vor,
wenn unsere Problemfrage hier anders beantwortet werden würde.
Darüber hinaus läge sogar eine absurde Begünstigung eines an der
Tötung schuldigen Schädigers gegenüber einem solchen Schädiger
vor, der ohne Verschulden nur für die Betriebsgefahr seines Kfz haf-
tet. Das Ergebnis der teleologisch-systematischen Auslegung ist also
eindeutig; die Lösung des Problems kann spätestens seit der Geltung
des EKHG nicht mehr zweifelhaft sein.
Zur am besten ebenfalls bei der teleologischen Auslegung ein-
zuordnenden Maxime der beidseitigen Rechtfertigung von
Rechtsfolgen – danach gilt der Blick etwa Schädiger und Geschä-
digtem gleichermaßen, nicht primär oder gar bloß dem einen oder
dem anderen – siehe auf S 79 f im Zusammenhang mit der Abwä-
gung von (gegenläufigen) Prinzipien.
49
Die Auslegung (im engeren Sinn)
ben: Einmal kann man damit die Fälle bezeichnen, in denen in ei-
ner rechtlichen Ableitung ein die „Tatsachen des Normbereichs“
beschreibender Satz eine besondere Rolle spielt; etwa weil er von
Meinungsverschiedenheiten betroffen ist oder weil sich die maßge-
bende Meinung über seine Richtigkeit geändert hat.
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Die objektiv-teleologische Auslegung
nur, aber immerhin dann möglich, wenn die fragliche „Sache“ ein
typisches, also in der Realität des menschlichen Zusammenlebens
häufig in gleicher Weise vorkommendes Lebensverhältnis ist und
wenn dieses Lebensverhältnis rechtlich durch eine darauf bezogene
Regelung als „Rechtsinstitut“ anerkannt ist. Beispiele sind etwa
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der Vertrag, das Eigentum oder die Familie, mangels einer recht
lichen Regelung und Bedeutung aber nicht die Freundschaft.
Weist nun die rechtliche Regelung Auslegungsspielräume auf,
die objektiv-teleologisch bewältigt werden müssen, so ist es mög-
lich, unter den denkbaren Zweckhypothesen danach zu unterschei-
den, welche von ihnen für das nach allgemeiner Auffassung be-
friedigende Funktionieren des betreffenden, rechtlich anerkannten
Instituts besser geeignet ist. Das befriedigende Funktionieren lässt
sich dem faktischen Verhalten der Beteiligten in den Anwendungs-
fällen des Instituts entnehmen, die von den beteiligten Menschen
als normal oder zumindest als nicht zerrüttet oder gestört empfun-
den werden. Unter der globalen normativen Maxime der Zweck-
mäßigkeit empfiehlt es sich nämlich, jene Auslegung zu wählen,
die das befriedigende Funktionieren eines rechtlich anerkannten ty-
pischen Lebensverhältnisses am besten fördert oder doch zumindest
am wenigsten gefährdet. Kurz gesagt kommt es also auf die betä-
tigte Übung der unmittelbar Beteiligten in ihren funktionierenden
Beziehungen an.
Manche Beispiele dafür sind banal. Dass für Kaufverträge in ei-
nem Ladengeschäft Erfüllungsort eben das Geschäft und Erfüllungs-
zeit „sogleich“ ist, auch wenn dies im Gesetz nirgends so ausgespro-
chen ist, versteht sich von selbst; ebenso, dass Erfüllungsort für die
Arbeitspflicht eines Arbeitnehmers mangels anderer Vereinbarung
der Betrieb ist, für den er angestellt wurde. Oder: Im Strafrecht stell-
te sich die Frage, ob der Nichtigkeitsgrund des § 281 Abs 1 Z 7 StPO
51
Die Auslegung (im engeren Sinn)
die Natur der Sache wurde das zu Recht bejaht: Weil das Werk erst
zukünftig erstellt wird, scheidet eine tatsächliche Übergabe jeden-
falls aus. Allerdings kann der Formmangel durch Übergabe (mit-
tels Zeichen) geheilt werden, sobald das Werk geschaffen wurde.
Ebenfalls unter Hinweis auf die Natur der Sache wurde ausgespro-
chen, dass die gesetzliche Pflicht zur ehelichen Lebensgemeinschaft
ebenso wie die zur Treue zwischen Gesellschaftern im Rahmen der
objektiv-teleologischen Auslegung hinsichtlich ihrer Reichweite so
zu konkretisieren ist, wie diese Pflichten in einer funktionierenden
Ehe bzw Gesellschaft in aller Regel geübt werden.
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Die objektiv-teleologische Auslegung
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Die Auslegung (im engeren Sinn)
dem er bei der Landung am Zielort einen Unfall und eine Verletzung
erleidet. Das gewinnbringende Geschäft kommt daher nicht zustande.
Auf dem Heimweg vom Krankenhaus stiehlt ihm ein Taschendieb sei-
ne Brieftasche. Ein Bekannter hat ihn im Krankenhaus besucht und
wurde dort mit einer Infektionskrankheit angesteckt, die er alsbald auf
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Die objektiv-teleologische Auslegung
interessieren.
In der Sache läuft die Adäquanzlehre darauf hinaus, dass der
heutige präzise Kausalitätsbegriff für Haftungsfragen in die Rich-
tung der engeren historischen Vorstellungen von der „unmittel-
baren“ Herbeiführung eines Schadens zurückgeführt wird. Als
Hauptargument für diese enge Auslegung (bzw Eingrenzung) der
Kausalität als Haftungsvoraussetzung wird stets ausgeführt, dass an-
derenfalls die Haftung uferlos, völlig zufällig, in ihren Ausmaßen
unkontrollierbar und unabsehbar würde. Sie wäre auch zum ob-
jektiv erkennbaren und daher motivationsrelevanten Schadenspo-
tential der unerlaubten Handlung (und oft auch zum Verschulden
des Schädigers) ganz unverhältnismäßig. Ein notwendiger Teil des
Arguments bleibt aber regelmäßig unausgesprochen: Dass eben die-
se Uferlosigkeit und Zufälligkeit allgemeiner Ablehnung durch die
Rechtsgenossen (einschließlich der nicht strikt formalistisch den-
kenden Juristen) begegnet. Die engere Auslegung des Kausalitäts-
erfordernisses als Haftungsvoraussetzung mit Hilfe der Adäquanz ist
somit ein starkes und wichtiges Beispiel für eine restriktive objektiv-
teleologische Auslegung mit Hilfe eines argumentum ad absurdum.
Ein anderes Beispiel kann etwa der Aufwandersatz des unredlichen Be
sitzers nach § 336 ABGB liefern, dessen Verweisung auf die Regeln über
die Geschäftsführung ohne Auftrag – sprachlich immerhin möglich – von
einer einflussreichen Lehre dahin verstanden wurde, dass der unredliche
Besitzer bei den für die fremde Sache getätigten notwendigen Aufwen
dungen besser behandelt wird als der redliche. Dieses erwogene Ausle
55
Die Auslegung (im engeren Sinn)
56
Die objektiv-teleologische Auslegung
vorsah. Aber auch für Normen, deren Sinn sich nur Personen er-
schloss, die sowohl Freude an als auch Begabung für komplizierte
Denksportaufgaben hatten und darüber hinaus einen archivarischen
Fleiß an den Tag legen mussten, wurde Verfassungswidrigkeit bejaht.
Ein letztes aktuelles Beispiel, das zugleich die Grenzen zwischen zulässi
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Die Auslegung (im engeren Sinn)
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Die objektiv-teleologische Auslegung
gläubiger unmöglich oder doch zumindest untunlich ist. Daher ist jene
Auslegungsvariante zu favorisieren, die dem bei Rückstellung gemachten
„Vorbehalt“ bloß obligatorische Wirkung beimisst: Gab es einen solchen
Vorbehalt, kann der Gläubiger neuerliche Übergabe (und damit Neu
bestellung!) des Pfandes fordern; fehlte ein solcher Vorbehalt, muss der
Verpfänder die Sache nicht mehr herausgeben.
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Die Auslegung (im engeren Sinn)
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Die objektiv-teleologische Auslegung
nig hilfreich erweisen. Denkbar ist aber auch der umgekehrte Fall:
Die Regelungen fallen zwar konkret, aber sehr undifferenziert und
damit „rechtssicher“ aus, wodurch bei der Anwendung auf kompli-
ziertere Fälle jedoch die (Einzelfall-)Gerechtigkeit auf der Strecke
bleiben kann, da Ungleiches gleich behandelt würde. Beide Tenden-
zen sind unerwünscht.
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Die Auslegung (im engeren Sinn)
kung genügt. Beachtet man dies, kann der ökonomische Ansatz al-
lerdings durchaus Rationalitätsgewinne mit sich bringen. Das gilt
ganz besonders für die Rechtssetzung, also die Schaffung neuer
Normen durch den Gesetzgeber, wobei deren wirtschaftliche Aus-
wirkungen – und zwar sowohl gesamtwirtschaftlich wie auch in-
dividualisiert – vorweg so sorgfältig wie möglich erwogen werden
sollten.
Doch auch für die Anwendung des geltenden Rechts wird der
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Das Phänomen der europarechtskonformen Auslegung
stehen.
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Die Auslegung (im engeren Sinn)
64
Das Phänomen der europarechtskonformen Auslegung
tragen.
Ob dieses Ergebnis (der Auslegung bzw Fortbildung einer Richt-
linienbestimmung, die häufig selbst wenig konkret formuliert ist)
überzeugt, sei zunächst dahingestellt. (Zumindest in Österreich und
Deutschland wurde überwiegend mit Hinweis auf die begrenzte
vertragliche Erfüllungspflicht – Übergabe der Fliesen im Baustoff-
markt – ein gegenteiliges Ergebnis erwartet; ganz in diesem Sinn
lautete übrigens auch der Entscheidungsvorschlag des zuständigen
EuGH-Generalanwalts. Umgekehrt spricht sachlich einiges dafür,
die Nachteile aus der vertragswidrigen Leistung eher dem Verkäufer
als dem gutgläubigen Käufer anzulasten.) Jedenfalls hatte der OGH
anschließend in einem vergleichbaren Ausbau-Einbau-Fall dar-
über zu entscheiden, ob und unter welchen Voraussetzungen eine
unverändert gebliebene nationale Regelung (wie § 932 aF ABGB)
nunmehr im Sinne der Richtlinie zu interpretieren ist, obwohl sie
vorher anders, nämlich beschränkt auf Nacherfüllung im Sinne des
kaufrechtlichen Pflichtenprogramms, verstanden wurde. Er folgte
dem EuGH, legte die Vorschriften des österreichischen Rechts, die
sich mit dem Verbesserungsanspruch beschäftigen, also richtlinien-
konform (= im Sinne der Richtlinie, so wie sie der EuGH interpre-
tierte) aus. Das ist wohl zutreffend und schon deshalb zulässig, weil
der Begriff der Verbesserung keine klaren gesetzlichen Grenzen auf-
weist und für die Ausbau-Einbau-Konstellationen möglicherweise
auch eine Regelungslücke besteht: Wie sich aus den Gesetzesma-
65
Die Auslegung (im engeren Sinn)
terialien zum GewRÄG aus dem Jahre 2001 ergibt, wurde bei der
Formulierung der Gewährleistungsnormen an solche Fälle nicht
gedacht. Anders sieht es hingegen bei der Frage aus, ob der Verkäu-
fer (= Übergeber) die Verbesserung unter Berufung auf einen ihn
dabei treffenden unverhältnismäßig hohen Aufwand verweigern
kann. Genau das war in § 932 Abs 4 aF ABGB vorgesehen (und ist
es auch noch heute). Der EuGH meinte jedoch, die Richtlinie lasse
einen solchen Einwand nicht zu. Nachdem der österreichische Ge-
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Das Phänomen der europarechtskonformen Auslegung
die Reichweite einer Vorgabe nicht im Klaren war, sich aber be-
wusst für eine bestimmte – vom EuGH im Nachhinein als zu eng
empfundene – gesetzliche Regelung entschieden hat.
Aber es wird noch komplizierter. Die Verbrauchsgüterkauf-RL
galt nur für Verbrauchergeschäfte; und der EuGH ist nur für die
Interpretation der Richtlinie zuständig. Die Umsetzung dieser RL
erfolgte in Österreich aber (weitestgehend) im ABGB (anders im
deutschen BGB, das einen eigenen Abschnitt über den Verbrauchs-
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Die Auslegung (im engeren Sinn)
rungsfrist gestatten, beseitigt (für Österreich siehe die §§ 10 Abs 4 und
28 Abs 1 VGG, für Deutschland § 476 Abs 2 iVm § 475e Abs 3 BGB).
Die Rechtslage in der Schweiz, die ja keine Verpflichtung zur Umsetzung
europäischer Richtlinien trifft, ist – wohl nicht nur – aus rechtsverglei
chender Sicht einzigartig und widersprüchlich. Während nach Art 210
Abs 4 OR die Verjährungsfrist für die Sachgewährleistung beim Kauf
gebrauchter beweglicher Verbrauchsgüter seit 1.1.2013 nicht auf weniger
als ein Jahr verkürzt werden darf, wurde vom Gesetzgeber (sehenden
Auges!) Art 199 OR beibehalten, nach dem die Gewährleistung auch zu
Lasten von Verbrauchern zur Gänze ausgeschlossen werden kann. Einzi
ge Ausnahme: Arglist des Verkäufers.
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Die Auslegung in besonders schwierigen Fällen
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Die Auslegung (im engeren Sinn)
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Die Auslegung in besonders schwierigen Fällen
Grades.
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Die Auslegung (im engeren Sinn)
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Die Auslegung in besonders schwierigen Fällen
dieser Sätze ableitbar ist und die zum Teil überprüfbar sind. Darüber
hinaus weisen sie Entwurfscharakter, also ein spekulatives Ele-
ment, auf. Sie sollen einen möglichen Weg zu erweiterter Erkennt-
nis aufzeigen und erreichen dieses Ziel, wenn und soweit sie sich in
der Folge experimentell oder sonst (wie in der Rechtswissenschaft)
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All dies gilt auch für die bei besonders schwierigen Rechtsfra-
gen so oft im Zentrum stehende Frage des „wie weit“; also nach
dem genaueren Vorrangbereich, der im jeweiligen Problembereich
einem von mehreren relevanten, aber kollidierenden Prinzipien zu-
kommt.
weis, dass die „Fertigung“ in der Weise erfolgen muss, deren sich
der Erblasser „gewöhnlich bedient“ (Ofner, Der Ur-Entwurf und die
Berathungs-Protokolle des Österreichischen Allgemeinen bürgerli-
chen Gesetzbuches I [1888] 347). Das könnte für die Tauglichkeit
der Unterfertigung sprechen, wenn der Erblasser im Familienkreis
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Die Auslegung (im engeren Sinn)
dem nur die Unterschrift „eigenhändig“ ist.) Daher ist auch nicht
ausgemacht, dass der erwähnte Gesetzeszweck wirklich bis in die
jetzt angesprochene letzte Konsequenz verwirklicht werden sollte.
Das könnte als überspitzter und unnötiger Formalismus erscheinen.
Man muss sich also auf die Suche nach weiteren Argumenten
machen und könnte dabei im Bereich der Prinzipien (und einer
möglichen Prinzipienkollision) fündig werden. Die Zweifel an
der Notwendigkeit einer insoweit engeren Auslegung lassen sich
nämlich untermauern, wenn man auf die Testierfreiheit Bedacht
nimmt. Nach diesem das Erbrecht beherrschenden Prinzip hat je-
dermann grundsätzlich die Möglichkeit und die Befugnis, über
sein Vermögen für die Zeit nach seinem Tod nach seinem Willen zu
verfügen. Dass dieser Grundsatz dem ganzen Rechtsinstitut „Tes-
tament“ zugrunde liegt, ist evident. Er wird freilich auf den ersten
Blick durch den Grundsatz der Formbedürftigkeit von Testamenten
eingeschränkt. Dieser Grundsatz ist ebenfalls wohlbegründet, weil
zu den üblichen Gründen für Formstrenge (vor allem Übereilungs-
schutz) bei bestimmten Rechtsgeschäften gerade im Erbrecht hin-
zutritt, dass man den Erblasser nicht mehr über den Inhalt und die
Endgültigkeit seines Willens befragen kann. Es ist also ohne Zweifel
unzulässig, die Formvorschriften zur Durchsetzung der Testierfrei-
heit generell so weit wie möglich einzuschränken, weil darin eine
Verletzung des – teleologisch gut begründeten – Grundsatzes der
Formbedürftigkeit läge.
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Die Auslegung in besonders schwierigen Fällen
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Die Auslegung (im engeren Sinn)
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Die Auslegung in besonders schwierigen Fällen
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Die Auslegung (im engeren Sinn)
Für den Fall ihrer schwerwiegenden Verletzung sieht das Gesetz im An
schluss daran ausdrücklich vor, dass der Kreditgeber nicht nur seine An
sprüche auf Zinsen und Kosten, sondern auch den Anspruch auf Rück
zahlung der gewährten Kreditsumme verliert (Art 32 Abs 1)!
Das ist ebenso eindeutig wie unsachlich, auf der Ebene des einfachen
Gesetzes aber als klarer Norminhalt hinzunehmen. Der Gesetzgeber
hat hier die Interessen des Konsumenten sowie den Präventions-
aspekt offensichtlich sehr einseitig beachtet und überbetont, dabei
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C. Die ergänzende Rechtsfortbildung
(vor allem Analogie und Reduktion)
I. Grundlagen
1. Das Verhältnis zur Auslegung im engeren Sinn
Wer den Ausdruck „ergänzende Rechtsfortbildung“ zum ers-
ten Mal hört, wird damit wohl kaum etwas anfangen können. Er
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Die ergänzende Rechtsfortbildung (vor allem Analogie und Reduktion)
82
Grundlagen
der Jurisprudenz muss man sich sehr weitgehend mit Kriterien be-
gnügen, die in den meisten Fällen zumindest hinreichend trenn-
scharf sind, in besonderen Grenzfällen aber eben Interpretationsfra-
gen aufwerfen und allenfalls nur durch „richterliche Eigenwertung“
ihrer letzten problemrelevanten Zuspitzung zuzuführen sind. Schon
die griechische Philosophie wusste, dass es sinnlos ist, mehr an Prä-
zision zu fordern, als auf dem jeweiligen Wissensgebiet möglich ist.
Für das Kriterium des möglichen Wortsinns spricht aber vor al-
lem entscheidend, dass es prägnant eine unterschiedliche metho-
dische Ausgangslage bezeichnet: Wer an die positiven Einzelregeln
des Gesetzes, die ihm in Gestalt eines Textes entgegentreten, ge-
bunden ist und einen einschlägigen Fall zu beurteilen hat, kann
seine Bindung nur realisieren, also die Vorschrift nur anwenden,
wenn er sich eine Meinung über den zunächst zweifelhaften prob-
lemrelevanten Gehalt des Textes gebildet hat. Ohne Auslegung geht
es also schlechthin nicht. Ist aber der mögliche sprachliche Sinn
der positiven Regeln überschritten, so könnte man sich durchaus
vorstellen, dass ohne Verletzung der Bindung an die positiv er-
lassenen Vorschriften eine rechtliche Beurteilung des von keinem
möglichen Wortsinn einer Norm erfassten Falles oder Fallelements
schon deshalb abzulehnen ist. Man würde einen solchen Sachver-
halt also durchgehend als rechtlich irrelevant behandeln („rechts-
freier Raum“) bzw jedenfalls nicht der von ihrem Wortlaut her
unpassenden Norm unterwerfen. Das wäre zwar, wie sich sogleich
zeigen wird, verfehlt. Die rechtliche Relevanz und Beurteilungs-
83
Die ergänzende Rechtsfortbildung (vor allem Analogie und Reduktion)
84
Grundlagen
So heißt es in § 7 ABGB wörtlich: „Lässt sich ein Rechtsfall weder aus
den Worten, noch aus dem natürlichen Sinne eines Gesetzes entscheiden, so
muss auf ähnliche, in den Gesetzen bestimmt entschiedene Fälle, und auf die
Gründe anderer damit verwandten Gesetze Rücksicht genommen werden.“
Um das „wegzuinterpretieren“, bedarf es großer Energie und
mangelnder Scheu vor einem Zirkelschluss, weil mit der Lücken-
losigkeit des Rechts, also der eigentlich erst zu beweisenden These,
bereits argumentiert werden muss. Zu diesem Zweck fasst man eben
den Rechtsbegriff so eng, dass Lücken nicht möglich sind. Damit
gerät man aber gerade in Widerspruch zum Gesetz, nämlich zu § 7
ABGB.
Der positivistischen Kritik an der Möglichkeit einer Gesetzeslücke
und damit an der Rechtsfortbildung fehlt es also an einer tauglichen
Grundlage. Dazu kommt die breite rechtshistorische Erfahrung,
dass allein mit vorformulierten Rechtsregeln niemals das Auslangen
gefunden wurde, sondern stets vielfältige Anlehnungen und Erwei-
terungen notwendig waren und sind. In einem Recht, das gar nicht
auf kasuistische Perfektion angelegt ist, wie zB das österreichische
Privatrecht, kommt man insbesondere ohne Rechtsfindung durch
Analogie nicht aus, wie sich sogleich an Beispielen zeigen wird.
Abschließend kurz gesagt: Der „allgemeine negative Satz“, ob
ausdrücklich aufgestellt oder impliziert, ist klar abzulehnen. Wor-
auf es allein ankommt, ist die Erarbeitung der bestbegründeten Kri-
terien für ergänzende Rechtsfortbildung.
85
Die ergänzende Rechtsfortbildung (vor allem Analogie und Reduktion)
3. Die Gesetzeslücke
Dem unter 1. beschriebenen spezifischen methodischen Ausgangs-
problem der ergänzenden Rechtsfortbildung entspricht die dafür
nach zutreffender und ganz überwiegender Meinung geltende
Voraussetzung der Gesetzeslücke. Darunter versteht man das
planwidrige Fehlen einer Norm, die zumindest im Rahmen des
weitest möglichen Sprachsinns auf das anstehende Sachproblem
unmittelbar tatbestandlich anwendbar wäre. Diese Voraussetzung
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Grundlagen
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Die ergänzende Rechtsfortbildung (vor allem Analogie und Reduktion)
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Analogie und Umkehrschluss
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Die ergänzende Rechtsfortbildung (vor allem Analogie und Reduktion)
auf seine Zwecke (Gründe) sieht, kann von der angeblich belie-
bigen „Schaukel“ zwischen Analogie- und Umkehrschluss
als grundsätzlichem Einwand gar keine Rede sein. Es kommt viel-
mehr darauf an, ob der problemrelevante Zweck des Gesetzes sich
nur auf die tatbestandlich erfassten Sachverhalte erstreckt (dann
Umkehrschluss) oder darüber hinausgeht (dann und insoweit Ana-
logieschluss). Verweise bloß auf den Wortlaut des Gesetzes helfen
bei dieser Frage, wie bei zahlreichen anderen methodischen Prob-
lemen, nicht weiter.
Beispiel: § 1327 ABGB sieht für gesetzliche Unterhaltsgläubiger, etwa
minderjährige Kinder, eines schuldhaft Getöteten Schadenersatzan-
sprüche gegen den Verantwortlichen auf das vor, was ihnen durch die
Tötung entgeht. Wie sind nun etwa Kaufpreis-, Darlehens- oder Scha-
denersatzforderungen gegen den Getöteten zu beurteilen? Auch diese
Gläubiger kommen wegen der Tötung ihres Schuldners nicht zu ihrem
Geld, sind durch die Tötung ihres Schuldners also ebenfalls („mittelbar“)
geschädigt. Ein Analogieschluss von den Unterhaltsforderungen auf die
anderen Ansprüche lässt sich nicht etwa mit dem Hinweis auf den Ge-
setzeswortlaut abwehren: Dieser Wortlaut wird ja bei jedem Analogie-
schluss überschritten! Entscheidend ist vielmehr der evidente Zweck der
genannten Vorschrift, dem existentiell bedeutsamen Unterhaltsbedarf der
Betroffenen besonderen Schutz zu gewähren. Das und nicht der Wortlaut
verlangt hier unbestrittenermaßen einen Umkehrschluss.
Richtig ist, dass in manchen Fällen die Anwendung der genannten
Kriterien im Ergebnis zweifelhaft bleiben kann, weil der maßge-
92
Analogie und Umkehrschluss
bende Zweck nicht zureichend präzise zu ermitteln ist. Das ist aber
kein Argument für die zahlreichen Fälle, in denen die Ratio einer
Anordnung offensichtlich ist. Dann bleibt allerdings noch der Ein-
wand aus dem anerkannten Zentralprinzip der Rechtssicherheit
übrig: Einerseits sprechen Gerechtigkeitserwägungen für Gleichbe-
handlung, andererseits könnte das geschriebene Gesetzesrecht ten-
denziell den Schutz des Vertrauens auf unterschiedliche Behand-
lung rechtfertigen. Konsequenz dieses Gedankens könnte sein, die
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Analogie und Umkehrschluss
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Die ergänzende Rechtsfortbildung (vor allem Analogie und Reduktion)
Beispiele: 1. Nach § 349 ABGB geht der Besitz an einer Sache verloren,
wenn sie ohne Hoffnung des Wiederauffindens in Verlust gerät, freiwil
lig weggegeben wird oder in fremden Besitz gelangt. Umso mehr tritt
Besitzverlust – trotz Nichtnennung dieser Fallgruppe in § 349 ABGB –
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dann ein, wenn die Sache (etwa durch einen Brand) vollständig zerstört
Grundzüge der juristischen Methodenlehre, 9783825261450, 2023
wird.
2. § 22 Abs 1 des österreichischen Unterhaltsvorschußgesetzes sieht eine
Rückzahlungspflicht von Vorschüssen unter anderem dann vor, wenn
diese zu Unrecht ausgezahlt wurden und sie der Zahlungsempfänger
„vorsätzlich oder grob fahrlässig für den Unterhalt des Kindes ver
braucht hat“. In einem konkreten Fall hatte der Empfänger die erhalte
nen Zahlungen nun nicht für das Kind, sondern für sich selbst ausgege
ben. Ein Größenschluss aus der gesetzlichen Regelung ergibt, dass er das
Geld dann erst recht zurückzubezahlen hat.
Der Schluss vom Größeren auf das Kleinere (argumentum a ma-
iori ad minus) führt zu einer Wendung ins Negative: Wenn nicht
einmal ein nach dem Gesetzeszweck weitergehender Tatbestand
eine bestimmte Rechtsfolge hat, dann umso weniger der engere.
Beispiel: Nicht einmal der schutzwürdige redliche Besitzer kann gegen
die Herausgabeklage des Eigentümers einwenden, er habe für die Sache
einem Dritten einen Kaufpreis gezahlt (§ 333 ABGB). Der Zweck ist die
Klarstellung, dass den Eigentümer die Beziehungen des Besitzers zu Drit
ten wegen ihrer bloß relativen Bedeutung nichts angehen. Umso mehr
gilt dieser Zweck dann, wenn der Besitzer unredlich und daher weniger
schutzwürdig ist.
Auf die Rechtsfolgenseite übertragen besagt das letztgenannte Ar-
gument, dass dann, wenn ein Sachverhalt nach einer bestimmten
Regel eine weitergehende Rechtsfolge ermöglicht, umso mehr eine
96
Die teleologische Reduktion (Restriktion)
97
Die ergänzende Rechtsfortbildung (vor allem Analogie und Reduktion)
(anders nunmehr, etwas versteckt, § 7c Abs 2 Satz 3 KSchG, sowie schon
länger § 323 Abs 2 Nr 1 BGB).
2. Für den Schenkungsvertrag ohne wirkliche Übergabe des Geschenks
wird die Einhaltung einer besonderen Form verlangt; so nach § 1 Abs 1
lit d NotAktsG die Errichtung eines Notariatsakts. Ist nun ein Vertrag
wirksam, in dem bloß die Erklärung des Schenkers in Form eines
Notariatsakts vorliegt, während der Beschenkte die Annahme etwa durch
schlichten Brief erklärt hat? Da der Zweck des Formgebots im Schutz des
Schenkers vor Übereilung liegt, muss bloß dessen Erklärung der beson
deren Form genügen. (Ganz in diesem Sinn unterstellt das Gesetz etwa
nur die Erklärung des Bürgen der Schriftform.) Die Norm, deren Formu
lierung den gesamten Vertrag dem Formgebot unterwirft, ist also zu weit
gefasst und daher teleologisch zu reduzieren, was im geschilderten Fall
zur Wirksamkeit der Schenkung führt. Keine (weitere) Reduktion der die
Schenkererklärung erfassenden Formvorschrift ist de lege lata hingegen
für kleine Geschenke möglich; schon deshalb, weil sich der Rechtsord
nung keine Grenze entnehmen lässt.
3. Bei der bereits mehrfach erwähnten Sicherungsübereignung wäre zu
§ 428 ABGB wie folgt zu argumentieren: Die Bestimmung hat bloß die
dauerhafte Übereignung (etwa aufgrund eines Tausch-, Kauf- oder
Schenkungsvertrags) im Auge, bei der geringere Publizität ausreicht,
nicht hingegen pfandrechtsähnliche Vorgänge, bei denen sich ein kon
kreter Gläubiger Befriedigungsvorrechte verschaffen möchte. Daher ist
§ 428 Fall 1 ABGB (Besitzkonstitut, bei dem die Sache faktisch beim
98
Die Anwendung allgemeiner Rechtsgrundsätze
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Die ergänzende Rechtsfortbildung (vor allem Analogie und Reduktion)
102
Die Anwendung allgemeiner Rechtsgrundsätze
3. Die Prinzipienlücke
Der Charakter von Prinzipien als „Mehr-oder-weniger-Normen“,
also als bloße Optimierungsgebote, schließt es aus, eine Prinzi-
pienlücke bereits dann anzunehmen, wenn die Rechtsschicht der
positiven Regeln einem einzelnen Prinzip nicht im weitest mögli-
chen Umfang entspricht. Das ist bei allen Prinzipienkollisionen ja
unvermeidlich. Solche Kollisionen machen auch eine optimieren-
de Abwägung solange unmöglich, wie deren Anwendungsbereich,
also der Bereich der zu schließenden Lücke, nicht bekannt ist. Die
Ermittlung der Prinzipienlücke muss also getrennt von ihrer
Ausfüllung erfolgen, und zwar in möglichst engem Anschluss an
die vorhandenen und zu ergänzenden positiven Regelungen. Das
Ziel ist ja ein möglichst konsistentes Gesamtsystem.
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Die ergänzende Rechtsfortbildung (vor allem Analogie und Reduktion)
4. Beispiele
Die bisherigen abstrakten Überlegungen müssen und sollen nun-
mehr – ausnahmsweise in einem eigenen Abschnitt – durch un-
terschiedliches Anschauungsmaterial greifbar gemacht werden.
Ein erstes Beispiel bietet in Österreich, charakteristisch für die das
104
Die Anwendung allgemeiner Rechtsgrundsätze
105
Die ergänzende Rechtsfortbildung (vor allem Analogie und Reduktion)
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Die Anwendung allgemeiner Rechtsgrundsätze
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Die ergänzende Rechtsfortbildung (vor allem Analogie und Reduktion)
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D. Der Rang der Rechtsfindungsmethoden
I. Die abstrakte Rangfrage
1. Das übliche pragmatische Vorgehen
In der Praxis des rechtlichen Argumentierens werden die juristi-
schen Methoden bzw Kriterien im Allgemeinen in der Reihenfolge
herangezogen, die auch in der vorliegenden Darstellung gewählt
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hen sind jedoch zu machen: Zum Ersten ist noch einmal auf die
Notwendigkeit einer „Gegenprobe“ als Kontrolle des zunächst er-
zielten Ergebnisses hinzuweisen, die mit Hilfe der fundamentalen
Grundsätze der „Rechtsidee“ auf etwaige Wertungswidersprüch-
lichkeit, Sach- oder Funktionswidrigkeit oder auf Verstoß gegen
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Die abstrakte Rangfrage
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Der Rang der Rechtsfindungsmethoden
3. Abweichende Modelle
Die abstrakte Rangfrage ist also weit von der Bedeutung entfernt,
die ihr manche Kritiker der juristischen Methodenlehre beilegen
wollen. Vereinfacht lautet deren Position: Mangels eines ein für alle
Male festen Rangverhältnisses der Methoden sei die juristische Me-
thodenlehre wertlos.
Diese Position ist jedoch in nahezu jeder Hinsicht unzutreffend.
Einerseits besteht, wie gezeigt, ein festes Rangverhältnis in ab-
stracto durchaus und hat es eine gewisse, wenn auch bescheide-
ne anwendungspraktische Bedeutung. Andererseits ist es aber fast
selbstverständlich, dass ein generell gültiges Rangverhältnis nicht
möglich ist, weil die einzelnen methodischen Stufen offensichtlich
Argumente von ganz unterschiedlicher Stärke liefern können:
112
Notwendige Modifikationen
fremden Kritik aus, entspricht aber ihrerseits nicht der Realität. Nur
bei besonders schwierigen Problemen ist eine umfassende Heran-
ziehung aller methodischen Stufen mit sorgfältiger vergleichender
Analyse der unterschiedlichen Ansätze und ihrer Einzelergebnisse
nötig. Eine solche umfassende Heranziehung allen erdenklichen
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Der Rang der Rechtsfindungsmethoden
ver Gesetze ist das kleinere. Sie ist der Preis, der für die bessere Mög-
lichkeit friedlicher Streitbeilegung in einer Gesellschaft zumindest
bis zur nächsten Gesetzesänderung gezahlt werden muss.
Mit den dargestellten differenzierten Rechtsfindungsmethoden
ist eine solche Beschränkung zu vereinbaren, wenn man sich verge-
genwärtigt, dass das Gesetz nicht etwa nur aus publizierten Worten
und Sätzen besteht (Form), sondern auch aus einem normativen
menschlichen Willen (Inhalt). Stimmen beide Elemente der mut-
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Der Rang der Rechtsfindungsmethoden
2. Die WKRL gibt für den Regelfall die Vermutung vor, dass ein Mangel
schon bei Übergabe der Ware an den Verbraucher vorhanden war, wenn
er sich innerhalb eines Jahres nach der Übergabe zeigt. Der österreichi
sche Gesetzgeber hat diese Vermutung im VGG (§ 11 Abs 1) umgesetzt,
die Anordnung in § 924 Satz 2 ABGB, wonach diese Frist sechs Monate
beträgt, aber belassen. Das hat zu einer kuriosen, wertungswidersprüch
lichen Rechtslage geführt: Bei genau dem gleichen Mangel einer genau
gleichen Sache kommt dem Verbraucher, der von einem Unternehmer
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gekauft hat, im Vergleich zum Privaten, der von einem Privaten gekauft
hat, eine doppelt so lange wirkende Vermutung zugute; und das, obwohl
unbestritten ist, dass die Vermutung nur durch die zeitliche Nähe des
Hervorkommens des Mangels zur Übergabe zu begründen ist. Da aber
der Gesetzgeber die Richtlinienvorgaben nachweislich nur für Verbrau
chergeschäfte umsetzen wollte, ist die Lex-lata-Grenze erreicht und für
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Notwendige Modifikationen
(primäre) Lex-lata-Grenze.
Beispiel: In Deutschland lehnte der Gesetzgeber des BGB seinerzeit eine
generelle Beachtung nach Abschluss eines Vertrages (deutlich) geänder
ter Verhältnisse ab. Ohne Gesetzesänderung war es daher grundsätzlich
nicht zulässig, die bewusst übernommene Pflicht zur vertragsgemäßen
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Der Rang der Rechtsfindungsmethoden
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Notwendige Modifikationen
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Notwendige Modifikationen
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Der Rang der Rechtsfindungsmethoden
wollt wie sie formuliert wurde, muss die Norm auch dann mit die-
sem Inhalt angewendet werden, wenn er sich als richtlinienwidrig
erweist (Beispiel dazu bereits auf S 67 f). Selbst der EuGH erkennt
ausdrücklich an, dass die richtlinienkonforme Auslegung ihre Gren-
ze dort findet, wo sie das jeweilige nationale Recht einschließlich
der für dieses Recht anerkannten Methodik setzt.
122
E. Die Bedeutung von „Richterrecht“
und seine Anwendung
I. Das Phänomen und seine faktische Bedeutung
Als Richterrecht (auch: Präjudizienrecht, Gerichtsgebrauch, Fall-
recht, Case Law) bezeichnet man normative Sätze, die in der Be-
gründung gerichtlicher, vor allem höchstgerichtlicher Entschei-
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Judikatur zu § 578 ABGB, die deutlich über die bloße Bezugnahme auf
den Text der Norm hinausgehen, ergibt sich konkret, dass eine stenografi
sche Niederschrift das Erfordernis der Eigenhändigkeit sehr wohl erfüllt,
Maschinenschrift hingegen nicht.
Diese Festlegung betrifft nicht bloß die Entscheidung spezieller Ein-
zelfälle selbst, die zwischen den Streitparteien rechtskräftig wird.
Vielmehr werden als Begründung generalisierende Sätze aufge-
stellt, die auf einer mittleren Abstraktionshöhe zwischen den
Gesetzesregeln und der Einzelfallentscheidung stehen. Daher sagt
auch § 12 ABGB, wonach einzelne Urteile auf andere Fälle nicht
ausgedehnt werden können, schon seinem Wortlaut nach für das
eigentliche Problem der Bindung an das Richterrecht nichts aus.
Es unterliegt keinem Zweifel, dass auch in Kontinentaleuropa
die weitaus üblichste „Rechtsfindungsmethode“ in der Rechtspraxis
angesichts eines Problemfalles in der Suche nach einschlägigen Vor-
entscheidungen besteht: Jeder Anwalt oder Richter informiert sich
zuallererst, ob es zu dem als entscheidungsrelevant erkannten (oder
vermuteten) Problem Judikatur gibt; idealerweise vom zuständigen
Höchstgericht. So wird allerdings in der Praxis auch dann vorge-
gangen, wenn die Lösung auf „normalen“ methodischen Wegen
gefunden werden kann. Diese Fälle interessieren nunmehr nicht.
Vielmehr ist an Entscheidungen zu denken, die bloß eine Richter-
rechtsregel, auch „Fallnorm“ genannt, enthalten, die auf den an-
stehenden Problemfall bzw eines seiner problematischen Elemen-
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Die Bedeutung von „Richterrecht“ und seine Anwendung
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Die Bedeutung von „Richterrecht“ und seine Anwendung
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Der Streit um die rechtliche Bedeutung des Richterrechts
Naivität oder ganz tendenziös, da es nur auf die Stärke der Ar-
gumente im jeweiligen Zusammenhang ankommen kann, nicht
hingegen darauf, wer sie in die Diskussion eingebracht hat. (Bei
Ausführungen von Personen, die an konkreten Ergebnissen einer
juristischen Diskussion nicht bloß ein wissenschaftliches Interesse
haben – etwa weil sie eine Prozesspartei in einer einschlägigen An-
gelegenheit rechtsfreundlich vertreten oder für diese ein Rechtsgut-
achten erstattet haben –, ist allerdings ein besonders kritischer Blick
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Die Bedeutung von „Richterrecht“ und seine Anwendung
Das eine Extrem bildet die traditionelle und nach wie vor
verbreitete Auffassung, die über die Rechtsprechung als bloße
Erkenntnisquelle keinen Schritt hinausgeht. Die eigenständige
rechtliche Bedeutung wurde im Rahmen dieser Auffassung einmal
unüberbietbar knapp und deutlich dahin beurteilt, dass „ein rich-
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Die Bedeutung von „Richterrecht“ und seine Anwendung
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Unterschiedliche Ansätze zur beschränkten Bindungskraft des Richterrechts
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Die Lehre von der subsidiären Bindungskraft
Rechtssicherheit.
Auf Gerechtigkeitsgleichmaß und Rechtssicherheit beru-
fen sich ungeachtet sonstiger Nuancen die meisten Vertreter der
Lehren von der beschränkten Bindungskraft des Richterrechts.
Einzelne Stimmen stützen sich allerdings entweder bloß auf den
Gerechtigkeitsmaßstab oder auf die Rechtssicherheit, ohne dass da-
für eine zureichende Erklärung sichtbar würde. Überzeugend ist
es dagegen, wenn zugunsten einer Präjudizienbindung ergänzend
auch auf den fundamentalen Grundsatz der Zweckmäßigkeit im
Sinne der notwendigen Effektivität des staatlichen Rechtsschutz-
apparats hingewiesen wird. In der Tat würden die staatlichen In-
stanzen der Einzelfallentscheidung hoffnungslos überfordert oder
durch notwendigen personellen Ausbau außerordentlich verteuert
werden, wenn in jedem Einzelfall jede Rechtsfrage von Grund auf
neu untersucht werden müsste; jedenfalls von den gewissenhaften
Juristen, die sich nicht einfach „blind“ vorhandener Vorjudikatur
anvertrauen möchten, sondern mit allem Ernst die rechtsrichtige
Entscheidung anstreben. Für diese bedarf es ja jedenfalls normativer
Kriterien.
Die genannten fundamentalen Rechtsgrundsätze führen
zwanglos auch zu den benötigten Beschränkungen der Präjudizi-
enbindung, die den Vorrang des Gesetzes (im weiten Sinn) wahren.
Das Gerechtigkeitsgleichmaß (wie auch der verfassungsrechtliche
Gleichheitsgrundsatz) fordert keine mechanische Egalität in allem
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Die Bedeutung von „Richterrecht“ und seine Anwendung
behandelt wurden.
Dient die Rechtsprechungsänderung dagegen der Korrektur
eines inzwischen erkannten Rechtsfehlers, der in den Vorent-
scheidungen unterlaufen ist, oder wäre die Maxime der Vorent-
scheidung im geänderten gegenwärtigen Kontext unrichtig, so ist
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Die Lehre von der subsidiären Bindungskraft
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Die Bedeutung von „Richterrecht“ und seine Anwendung
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Die Lehre von der subsidiären Bindungskraft
teiligung der Kunden im Sinne des Gesetzes behandelt, weil eine exakte
„Wertstellung“ mit Eingang der Überweisung zu aufwändig und damit
– auch für die Kunden – verteuernd gewesen wäre. Diese Rechtsprechung
wurde zutreffend als nicht mehr haltbar erkannt, nachdem alle Banken
mit modernen Softwareprogrammen ausgerüstet waren und daher eine
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Die Bedeutung von „Richterrecht“ und seine Anwendung
ein Teilproblem bestehen kann und es daher genügt, wenn die dar-
auf bezogene Richterrechtsregel auch im neuen Fall anwendbar ist,
mag er auch sonst andere Sachverhaltselemente aufweisen.
Beispiel: Richterrechtliche Präzisierungen des Irrtumsrechts, die in ei
nem Fall des Erklärungsirrtums entwickelt wurden, können auch in
einem Fall des sonstigen Geschäftsirrtums herangezogen werden, wenn
sie auch dort auf ein bestimmtes Sachverhaltselement passen; so etwa die
Regel, dass es bei der Veranlassung des Irrtums im Sinne des § 871 ABGB
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Die Bedeutung von „Richterrecht“ und seine Anwendung
V. Praktische Konsequenzen
Ein Hauptanwendungsgebiet für korrekt verwendetes Richter-
recht auch im kodifizierten System bilden die Generalklauseln
und ähnlich unbestimmte Rechtsbegriffe im Gesetzesrecht mit
ihrem bereits erörterten differenzierten und nicht selten ebenfalls
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Die Bedeutung von „Richterrecht“ und seine Anwendung
Die (beibehaltene) Ansicht des OGH zum Beginn der langen Verjäh
rungsfrist im Schadenersatzrecht wurde bereits angesprochen. Hier soll
an einem konkreten Beispiel gezeigt werden, warum sie nicht überzeugt:
Ein Notar macht bei der Errichtung eines Testaments im Jahre 1990
Fehler, die zunächst nicht erkannt werden, aber zur Unwirksamkeit der
letztwilligen Verfügung führen. Als der Testator im Jahr 2022 stirbt, geht
die als Erbin eingesetzte Person leer aus. Nach der Judikatur kann der
Notar dem Schadenersatzbegehren des (unwirksam) eingesetzten Erben
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2. Nach dem Beispiel von Rechtsordnungen des case law sind un-
ter den normativen Sätzen in der Vorjudikatur zwei Gruppen zu
unterscheiden: die „ratio decidendi“ und das „obiter dictum“.
Zur ersten Gruppe gehören jene gerichtlichen Aussagen, die für
die Begründung des Entscheidungsergebnisses notwendig waren,
zur zweiten diejenigen, die darüber hinaus gemacht wurden; ins-
besondere im Rahmen vergleichender Erwägungen, im Vorgriff
auf mögliche künftige Fälle, zur weiteren Erläuterung des Ergeb-
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Die Bedeutung von „Richterrecht“ und seine Anwendung
ter dictum vorliegt, auch einem solchen Ausspruch des Gerichts un-
ter den bereits erörterten Voraussetzungen subsidiäre Bindungs-
kraft zusprechen.
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Rechtsprechungsänderung als isoliertes Problem?
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Die Bedeutung von „Richterrecht“ und seine Anwendung
denziell sogar gefährlicher ist als die streng akzessorische Bürgschaft. Der
OGH hat daher in Analogie (§ 7 ABGB) zur Bürgschaftsform die bloß
mündliche Garantie für unwirksam erklärt. Danach hat er, wie eben
falls schon erwähnt, das bürgschaftsrechtliche Formgebot konsequenter
weise auch auf den Sicherungs-Schuldbeitritt erstreckt. (Beide Schritte
hat der deutsche BGH bis heute nicht gesetzt.)
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Rechtsprechungsänderung als isoliertes Problem?
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Die Bedeutung von „Richterrecht“ und seine Anwendung
stark umstritten sind. Genannt sei hier nur die wichtigste: Genügt
die abstrakte Möglichkeit des Vertrauens auf die Rechtsprechung
oder muss, was die praktische Bedeutung eines Rückwirkungsver-
bots stark reduzieren würde, ein solches Vertrauen im Einzelfall tat-
sächlich vorliegen, was konkrete Kenntnis des wesentlichen Inhalts
der bisherigen Judikatur voraussetzt (die dann womöglich unter
Beweis gestellt werden müsste)?
Nach dieser Andeutung interner Streitfragen der Rückwirkungs-
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mit ist unvereinbar, dass nach Erkenntnis der Unrichtigkeit der bis-
herigen Rechtsmeinung praktisch in irgendeinem Umfang an ihr
doch festgehalten werden sollte oder gar müsste. Der gelegentliche
Einwand, das Vertrauensprinzip gehöre ja auch zur Rechtsordnung,
zieht nicht. Dieses kann nicht rechtfertigen, dass das Vertrauen des
einen Beteiligten auf die bisherige Rechtsprechung zulasten gerade
des anderen privaten Beteiligten geschützt wird, der für diese Recht-
sprechung und damit für das Vertrauen des ersten in keiner Weise
verantwortlich ist. Das Vertrauen ist von der bisherigen Rechtspre-
chung veranlasst worden, nicht vom anderen Beteiligten. Es ist die-
sem in keiner Weise zurechenbar und geht ihn daher nichts an.
Zweitens verstoßen alle Rückwirkungsverbotstheorien, wenn
auch in unterschiedlichem Umfang, gegen den Vorrang des me-
thodisch korrekt ausgelegten oder allenfalls fortgebildeten Geset-
zes. Erkennt das Gericht nunmehr eine neue Lösung der Rechts-
frage als die besser begründete und damit in diesem Sinn als die
rechtlich richtige, so hat es dieser Einsicht daher sofort und ohne
zeitliche Verzögerung zu folgen, weil es andernfalls den Vorrang des
Gesetzes vor seiner eigenen bisherigen Rechtsmeinung verletzt.
Der dritte Einwand gegen alle Rückwirkungsverbotstheorien
betrifft den bereits angesprochenen Vertrauensaspekt: Es ist nicht
einzusehen, warum zwar das Vertrauen eines Streitbeteiligten auf
die bisherige Rechtsprechung beachtet und geschützt werden soll,
nicht aber das Vertrauen des anderen Teils auf die – wie sich
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Stichwortverzeichnis
Ähnlichkeitsschluss siehe Auslegungsmaterial
Analogie – der grammatischen Ausle-
Allgemeiner negativer Satz 84 f, gung 28
105, 131 – der historischen Ausle-
Analogie 90 ff, 97, 99 f, 150 gung 36 ff
– Gesamt- bzw Rechtsanalo- – der objektiv-teleologischen
gie 95 f Auslegung 45 f
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maius 96 Auslegungsziel
Argumentum ad absurdum 52 ff, – objektives 35 f
132 f – subjektives 35 f
Argumentum e contrario 91 ff Begriffshof 30 ff
Auslegung Begriffskern 30 ff
– einfache historische 38 Beidseitige Rechtfertigung von
– von Einheitsrecht 68 f Rechtsfolgen 49, 79 f
– europarechtskonforme 63 ff, Bewegliches System 101
122 Deduktion 29 ff
– gespaltene 67 f Denken in Alternativen 23, 32
– grammatische 27 ff Diskurstheorien 72 f
– Grundsatz autonomer 68 f Dual-Use-Fälle 67 f
– historische 35 ff Einheitsrecht 68 f
– historisch-teleologische 38 Europäischer Gerichtshof 64
– nach der Natur der Sache 50 ff Funktionswandel und Lex-lata-
– objektiv-teleologische 40, 43 ff Grenze 90, 117 ff
– rechtsvergleichende 59 ff Generalklauseln 22, 144
– richtlinienkonforme 63 ff, 122 – Konkretisierung 119 ff
– systematisch-logische 32 ff Gerichtsgebrauch siehe
– teleologisch-systematische 46 ff Richterrecht
– unionsrechtskonforme 63 ff, Gesetzeslücke 85, 86 ff
122 Gesetzesmaterialien, Bedeutung
– verfassungskonforme 56 ff bei der historischen Ausle-
– entsprechend vorrangigem gung 37
Recht 56 ff Gesetzespositivismus 20, 84 f
– wörtliche 27 ff Gesetzeszweck 38
Auslegungskanones 27 – Ermittlung 44 ff
159
Stichwortverzeichnis
– objektiver 43 f Methodenlehre
Gesetzgeber 40 ff – Gegenmodelle 20 ff
– Begriff 42 – der Jurisprudenz 17
– formeller 42 – Notwendigkeit 18 f
– Kollektivwille 41 f Natur der Sache
– Wille 36 – Auslegung nach der 50 ff, 106
Gewohnheitsrecht 130 ff – und Prinzipienermittlung 101,
Gleichheitsgrundsatz 46 f, 137 f 106
Gleichmaßgebot 47, 143 Natürliche Rechtsgrundsätze 99
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Rechtswissenschaften
Juristische Methodenlehre
Auch eine noch so genaue Kenntnis der Gesetzes-
texte reicht für die juristische Arbeit nicht aus.
Peter Bydlinski
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