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Rechtswissenschaften

Juristische Methodenlehre
Auch eine noch so genaue Kenntnis der Gesetzes-
texte reicht für die juristische Arbeit nicht aus.
Peter Bydlinski

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Die unvermeidliche Distanz zwischen konkretem
Fall einerseits und generell-abstrakten Normen
andererseits macht eine Interpretation unumgäng-
lich. Dabei bedarf es einer gelegentlich durch-
Grundzüge
aus aufwändigen methodischen Vorgangsweise.
der juristischen

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Grundzüge der juristischen Methodenlehre, 9783825261450, 2023
Darüber soll hier Auskunft gegeben werden.
Die Schwerpunkte liegen bei der Auslegung von
Rechtsnormen, bei der Arbeit mit (eventuell)
lückenhaften oder überschießenden Regelungen
sowie bei der Arbeit mit Präjudizien, also mit
Methodenlehre
Vorjudikatur zur neuerlich gestellten Rechtsfrage.
Genauer zur Sprache kommen auch die Beson­der­ 4. Auflage
heiten europarechtskonformer Rechtsfindung
einschließlich ihrer Grenzen.

Dies ist ein utb-Band aus dem Verlag facultas.


utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem
gemeinsamen Ziel: Lehr- und Lernmedien für
das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen.
Bydlinski

ISBN 978-3-8252-6145-0 QR-Code für mehr Infos und


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Methodenlehre

von
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Dr. Peter Bydlinski


o. Universitätsprofessor an der Universität Graz
Universitätsprofessor an der Wirtschaftsuniversität Wien

auf Basis der 1. Auflage


von
Dr. Dr. h.c. mult. Franz Bydlinski †
em. o. Universitätsprofessor in Wien

4. Auflage

2023
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Alle Angaben in diesem Fachbuch erfolgen trotz sorgfältiger


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ist ausgeschlossen.

4. Auflage 2023
Copyright © 2023 Facultas Verlags- und Buchhandels AG
facultas Verlag, Stolberggasse 26, 1050 Wien, Österreich
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und der
Verbreitung sowie der Übersetzung, sind vorbehalten.
Satz: Wandl Multimedia-Agentur
Druck und Bindung: CPI − Ebner & Spiegel, Ulm
Printed in the EU
ISBN 978-3-8252-6145-0
E-ISBN 978-3-8385-6145-5
E-PUB 978-3-8463-6145-0
Vorwort zur 4. Auflage

Die vorliegende kleine Schrift wurde vor fast 20 Jahren in erster


Auflage von meinem Vater verfasst. Sie beruht auf seinen jahrzehn-
telangen Bemühungen um ausgewogene und praktikable Positio-
nen zum möglichst rationalen, das heißt nachvollziehbar begründe-
ten, Umgang mit Rechtsnormen. Sobald es heikel wird, dürfen sich
auch erfahrene Rechtsanwender nicht allein auf ihr Rechtsgefühl
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und ihre (subjektiven) Gerechtigkeitsvorstellungen verlassen. Viel-


mehr bedarf es dann einer gelegentlich durchaus aufwändigen me-
thodischen Vorgangsweise. Darüber soll hier Auskunft gegeben wer-
den, wobei die durchaus beabsichtigte Kürze – das Werk soll ja von
möglichst vielen gelesen werden, nicht schon durch seinen Umfang
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abschrecken – sowohl zu manchen Vereinfachungen als auch zu


Schwerpunktsetzungen zwingt. Die Schwerpunkte liegen dort, wo
der praktisch tätige Jurist, an den sich das Werk neben den Studie-
renden primär wendet, wohl immer wieder Hilfe benötigt: Bei der
Auslegung von Rechtsnormen, bei der Arbeit mit (möglicherwei-
se) lückenhaften oder überschießenden Regelungen (Stichworte:
Analogie und Reduktion) sowie besonders bei der Arbeit mit Prä-
judizien, also mit Vorjudikatur, die sich zur nunmehr – neuerlich –
aktuellen Rechtsfrage bereits geäußert hat (Stichwort „Richter-
recht“). Eine solche Darstellung muss einerseits eine gewisse Abs-
traktionsstufe erreichen, kann aber zugleich nicht ohne erläuternde
Beispiele auskommen. Diese sind ganz überwiegend dem Privat-
recht entnommen; und da wiederum vor allem (aber nicht nur)
dem österreichischen. Für die vierte Auflage wurden diese Beispiele
ein weiteres Mal vermehrt.
Nachdem methodische Fragen vor einigen Jahrzehnten in der
Rechtswissenschaft intensiv diskutiert wurden, scheint es seit eini-
ger Zeit eine gewisse Flaute zu geben. Vielmehr erfolgt eine Konzen-
tration auf die Bedeutung der europäischen Umsetzungsvorgaben,
wobei die jüngere Wissenschaftlergeneration dazu tendiert, diesen
Aspekt zu stark zu gewichten. Für eine Rechtsfindung contra legem
gibt jedoch auch das europäische Recht keine Rechtfertigung. Auch
darauf soll im vorliegenden Werk deutlich hingewiesen werden.
Daher habe ich den Abschnitt zur europarechtskonformen Ausle-

5
­Vorwort zur 4. Auflage

gung bzw Rechtsfindung ein weiteres Mal ausgebaut und dabei vor
allem den Zulässigkeitsgrenzen besonderes Augenmerk geschenkt.
Berichtenswert erscheint schließlich auch, dass in anderen Län-
dern aktuell großes Interesse an methodischen Fragen zu bestehen
scheint. So sind im Jahr 2023 Übersetzungen der 3. Auflage in ko-
reanischer und in chinesischer Sprache erschienen.
Nicht zuletzt aufgrund der Beobachtung, dass sich die studenti-
sche Sprachkompetenz von Jahrzehnt zu Jahrzehnt eher verschlech-
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tert als verbessert, habe ich ein weiteres Mal mit Hilfe studentischer
Probeleser/innen, namentlich meiner studentischen Mitarbeiter/in-
nen Noah Herscovici, Julian Köck und Katharina Petrovic, denen ich für
ihr Engagement herzlich danke, versucht, die sprachliche Zugäng-
lichkeit für die heutigen Leser/innen zu erleichtern. Dabei wurde
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der gesamte Text nach dem studentischen Durchgang von mir Satz
für Satz gelesen und überarbeitet (mit herzlichem Dank an meine
Schwiegermutter, die mir dafür drei Tage lang Herberge und Klau-
sur geboten hat).
Der Inhalt des Buchs ist – aufgrund der behandelten Materie –
allerdings nach wie vor durchaus anspruchsvoll. Auch deshalb,
nämlich um die Lektüre nicht weiter zu erschweren, habe ich das
generische Maskulinum verwendet und nur punktuell weibliche
Formen ergänzt. Selbstverständlich ist mit dem Juristen aber wei-
terhin die Juristin mitgemeint, mit dem Richter die Richterin usw.
Seit der 2. Auflage habe ich nicht nur vieles umformuliert, son-
dern auch eigene inhaltliche Akzente gesetzt. Daher erscheint das
Buch nunmehr allein unter meinem Namen (wobei ich hoffe, dass
mein Vater die meisten der seit der Erstauflage erfolgten vielfältigen
Änderungen und Ergänzungen ebenfalls als Verbesserungen emp-
funden hätte).

Graz und Wien, im Mai 2023 Peter Bydlinski

6
Vorwort zur 1. Auflage

Die vorliegende kleine Schrift enthält eine einführende Zusam­


men­fassung meiner methodologischen Positionen, wie sie in drei
Büchern und zahlreichen Abhandlungen entwickelt wurden. Zu-
erst ist sie 2003 vom Forschungsinstitut für mittel- und osteuro-
päisches Wirtschaftsrecht der Wirtschaftsuniversität Wien in deren
„Arbeitspapieren“ für einen engeren Kreis von mit diesem Institut
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verbundenen Interessenten veröffentlicht worden. Sie beruht auf


den Vorlesungen, die ich 2003 auf Einladung der Fakultät, der „Ös-
terreichischen Rechtschule“ und der „Tschechischen Gesellschaft
für das Studium des Rechtes der deutschsprachigen Länder“ an der
Universität in Brünn gehalten habe (dazu das Vorwort von Peter
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Grundzüge der juristischen Methodenlehre, 9783825261450, 2023

Doralt, Jarmila Pokorná und Ivana Bučková, den Organisatoren


dieser Vorlesungsreihe).
Da verschiedentlich der Wunsch nach einer allgemein zugäng-
lichen Publikation geäußert wurde, regte Prof. Peter Doralt eine
solche an. Er vermittelte auch den Verlagsvertrag. Für sein förder­
liches Interesse an dieser Schrift habe ich ihm sehr zu danken; für
vielfaches Entgegenkommen dem Verlag. Vielleicht ist eine Ein-
führung wie diese besser geeignet als dicke und daher selten ganz
ge­lesene Bücher, junge Juristen zumindest ein wenig gegenüber
den extremsten der vielfältigen schiefen oder missverständlichen,
manch­mal freilich hochgelehrten Äußerungen über die Aufgaben,
Möglichkeiten und Grenzen methodisch disziplinierter Rechtsfin-
dung zu immunisieren.

Maria Enzersdorf, im Juli 2005 Franz Bydlinski

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Grundzüge der juristischen Methodenlehre, 9783825261450, 2023
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Inhaltsverzeichnis

Vorwort zur 4. Auflage ............................................................... 5


Vorwort zur 1. Auflage ............................................................... 7
Abkürzungsverzeichnis ........................................................... 13
Ausgewählte Literaturhinweise . ........................................... 15
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A. Einleitung: Was ist und wozu betreibt man


juristische Methodenlehre?............................................. 17
I. Begriff und Aufgabe ............................................................. 17
II. Die Notwendigkeit der Methodenlehre . .............................. 18
III. Gegenmodelle ...................................................................... 20
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IV. Methodenlehre für die Rechtsanwendung überhaupt


oder für einzelne Rechtsgebiete? ......................................... 24

B. Die Auslegung (im engeren Sinn)................................... 27


I. Die wörtliche („grammatische“) Auslegung . ....................... 27
1. Vorklärungen .................................................................. 27
2. Das Demonstrationsbeispiel . .......................................... 27
3. Das Auslegungsmaterial ................................................. 28
4. Der einfache Fall und die schlichte Subsumtion ............ 28
II. Die systematisch-logische Auslegung ................................... 32
1. Das Auslegungsmaterial ................................................. 32
2. Beispiele . ........................................................................ 33
III. Die historische (subjektive) Auslegung ................................ 35
1. Der Streit um das „subjektive“ oder „objektive“
Auslegungsziel ................................................................ 35
2. Das Auslegungsmaterial ................................................. 36
3. Beispiel § 578 ABGB ...................................................... 38
4. Wer ist „der Gesetzgeber“?.............................................. 41
IV. Die objektivteleologische Auslegung..................................... 43
1. „Objektiver Zweck“? . ..................................................... 43
2. Das Grundschema . ......................................................... 44
3. Die teleologisch-systematische Auslegung ..................... 46
4. Die Auslegung entsprechend der „Natur der Sache“....... 50
5. Auslegung mit Hilfe eines argumentum
ad absurdum ................................................................... 52
9
Inhaltsverzeichnis

6. Auslegung entsprechend vorrangigem Recht


(vor allem Verfassungsrecht) und Normkollision ........... 56
7. Die rechtsvergleichende Auslegung . .............................. 59
8. Die Bedeutung ökonomischer Gesichtspunkte
bei der Auslegung ........................................................... 61
V. Das junge Phänomen der europarechtskonformen
Auslegung ............................................................................ 63
1. Ausgangslage................................................................... 63
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2. Anwendungsprobleme an einem konkreten Beispiel .... 64


VI. Die Auslegung von Einheitsrecht ......................................... 68
VII. Die Auslegung in besonders schwierigen Fällen................... 69
1. Merkmale ....................................................................... 69
2. Komplexe Streitfragen und juristische Theorien . .......... 71
3. Veranschaulichung an einem Beispiel (mit Ausfüh-
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rungen zu Rechtsprinzipien und deren Kollision) ......... 74

C. Die ergänzende Rechtsfortbildung (vor allem


Analogie und Reduktion) . .............................................. 81
I. Grundlagen .......................................................................... 81
1. Das Verhältnis zur Auslegung im engeren Sinn ............. 81
2. Der „allgemeine negative Satz“ ...................................... 84
3. Die Gesetzeslücke ........................................................... 86
II. Analogie und Umkehrschluss . ............................................. 90
1. Die angebliche „Schaukel“ . ............................................ 90
2. Arten des Analogieschlusses ........................................... 94
3. Die Größenschlüsse als verstärkte Unterarten
der Analogie ................................................................... 96
III. Die teleologische Reduktion (Restriktion) ........................... 97
IV. Die Anwendung allgemeiner Rechtsgrundsätze .................. 99
1. Allgemeines .................................................................... 99
2. Ermittlung und Beschaffenheit von Prinzipien ............ 100
3. Die Prinzipienlücke . ..................................................... 103
4. Beispiele . ...................................................................... 104

D. Der Rang der Rechtsfindungsmethoden .....................109


I. Die abstrakte Rangfrage ..................................................... 109
1. Das übliche pragmatische Vorgehen.............................. 109
2. Die theoretische Rechtfertigung der Rangfrage ............ 111
3. Abweichende Modelle .................................................. 112
10
Inhaltsverzeichnis

II. Notwendige Modifikationen .............................................. 113


1. Die Lex-lata-Grenze im Speziellen ............................... 113
2. Die Hinausschiebung der Lex-lata-Grenze durch
„Funktionswandel“........................................................ 117
3. Konkretisierung von Generalklauseln . ........................ 119
III. Besondere Vorrangstellung der europarechtskonformen
Auslegung? . ....................................................................... 122
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E. Die Bedeutung von „Richterrecht“ und seine


Anwendung ..................................................................... 123
I. Das Phänomen und seine faktische Bedeutung ................. 123
II. Der Streit um die rechtliche Bedeutung des
Richterrechts (mit Überlegungen zum Gewohn-
heitsrecht)........................................................................... 127
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1. Grundsätzliche Positionierungen . ................................ 127


2. Richterrecht und Gewohnheitsrecht ............................ 130
3. Der Vorrang des Gesetzesrechts .................................... 132
III. Unterschiedliche Ansätze zur beschränkten
Bindungskraft des Richterrechts ........................................ 135
IV. Die Lehre von der subsidiären Bindungskraft . .................. 136
V. Praktische Konsequenzen .................................................. 144
VI. Einige Einzelheiten . ........................................................... 146
VII. Rechtsprechungsänderung als isoliertes Problem? . ........... 149

Stichwortverzeichnis .................................................................. 159

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Abkürzungsverzeichnis

ABGB Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch (Ö)


Abs Absatz
AEUV Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union
aF alte Fassung
Art Artikel
BGB Bürgerliches Gesetzbuch (D)
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BWG Bankwesengesetz (Ö)


bzw beziehungsweise
BGH Bundesgerichtshof (D)
CH Schweiz
CISG United Nations Convention on the International Sale of
Goods (UN-Kaufrecht)
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D Deutschland
dh das heißt
EKHG Eisenbahn- und Kraftfahrzeughaftpflichtgesetz (Ö)
EMRK Europäische Menschenrechtskonvention
EU Europäische Union
EuGH Europäischer Gerichtshof
f und der (die) folgende
ff und die folgenden
GewRÄG Gewährleistungsrechts-Änderungsgesetz (Ö)
hA herrschende Ansicht
Kfz Kraftfahrzeug
KSchG Konsumentenschutzgesetz (Ö)
NotAktsG Notariatsaktsgesetz (Ö)
Nr Nummer
Ö Österreich
OGH Oberster Gerichtshof (Ö)
OGHG Gesetz über den Obersten Gerichtshof (Ö)
OR Obligationenrecht (CH)
RL Richtlinie (EU)
RIS Rechtsinformationssystem des Bundes (Ö)
S Seite(n)
sog sogenannte, -er, -es
StGB Strafgesetzbuch (Ö)
USA United States of America (Vereinigte Staaten
von Amerika)
usw und so weiter
uU unter Umständen

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14
zB
vgl

ZGB
VGG
VfGH

WKRL
Abkürzungsverzeichnis

vergleiche

zum Beispiel
Zivilgesetzbuch (CH)
Verfassungsgerichtshof (Ö)

Warenkaufrichtlinie der EU
Verbrauchergewährleistungsgesetz (Ö)
Ausgewählte Literaturhinweise

Die Grundzüge der juristischen Methodenlehre dienen der Einführung bzw


der zusammenfassenden Wiederholung. Für diesen Zweck sind detaillier-
te Literaturangaben oder gar Fußnotenzitate kaum erforderlich; mancher
Leser könnte sich sogar eher abgeschreckt fühlen. Einige weiterführende
Hinweise für besonders Interessierte sollen aber doch gegeben werden. Die
folgende beispielhafte Auswahl enthält nur deutschsprachige Buchpublika-
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tionen und ist bewusst kurz gehalten (und schon deshalb nicht ganz ohne
Willkür).

1. Allgemeine methodische Literatur


Bydlinski Franz, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff2 (1991, Nach-
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druck 2011): umfangreiches, detailreiches Werk; Schwerpunkt österrei-


chisches Privatrecht
Engisch, Einführung in das juristische Denken12 (2018): klassisches Einfüh-
rungswerk
Kerschner, Wissenschaftliche Arbeitstechnik und Methodenlehre für Juris-
ten7 (2022): praxisnahes Werk mit Schwerpunkt österreichisches Privat-
recht
Kerschner, Juristische Methodenlehre. Zur gesetzestreuen Rechtsanwendung
– eine Streitschrift (2022): neues Werk mit besonderer Betonung des ge-
setzgeberischen Willens
Kramer, Juristische Methodenlehre6 (2019): eher kurz gefasstes Werk mit
vielen Detailnachweisen; Schwerpunkt Schweizer Privatrecht
Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft6 (1991): Klassiker mit Schwer-
punkt deutsches Privatrecht
Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft3 (1995): gekürzte
Studienausgabe
Möllers, Juristische Methodenlehre4 (2021): aktuelles, breit angelegtes Werk
Müller/Christensen, Juristische Methodik I11 (2013): Schwerpunkt deutsches
öffentliches Recht
Puppe, Kleine Schule des juristischen Denkens4 (2019): Einführungswerk
mit Schwerpunkt deutsches Strafrecht
Wank, Juristische Methodenlehre (2020): neues Werk zum deutschen Recht
mit starkem Falllösungsbezug
Zippelius, Juristische Methodenlehre. Eine Einführung12 (2021): kurz gefass-
ter Einführungsklassiker zum deutschen Recht mit Schwerpunkt Rechts-
theorie

15
Ausgewählte Literaturhinweise

2. Literatur zu rechtlichen Grundfragen sowie zu


methodischen Spezialthemen
Adams, Ökonomische Theorie des Rechts2 (2004)
Adomeit/Hähnchen, Rechtstheorie mit juristischer Methodenlehre7 (2018)
Alexy, Theorie der juristischen Argumentation10 (2022)
Bydlinski Franz, System und Prinzipien des Privatrechts (1996, Nachdruck
2013)
Bydlinski Franz, Der Begriff des Rechts (2015)
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Riesenhuber (Hrsg), Europäische Methodenlehre4 (2021)


Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie und Juristische Methodenlehre12 (2022)
Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts6 (2020)
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16
A. Einleitung: Was ist und wozu betreibt man
juristische Methodenlehre?
I. Begriff und Aufgabe
Die Methode ist das Handwerkszeug aller Wissenschaftler. Daher
braucht auch die Rechtswissenschaft ihre Methode; und im Übrigen
ebenso all jene, die Rechtsnormen „bloß“ anzuwenden haben wie
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insbesondere die Richterinnen und Richter. Die hier gemeinte Leh-


re von der Methode der „eigentlichen Jurisprudenz“ (Rechtsdog-
matik) – nicht der Rechtsgeschichte, Rechtssoziologie, Rechtsphi-
losophie oder Gesetzgebungslehre bzw Rechtspolitik – wird oft so
beschrieben, dass es um das „Verstehen“ des geltenden Rechts
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oder um die „Beschäftigung“ mit dem geltenden Recht gehe. Das ist
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nicht falsch, aber wenig aussagekräftig. Daher sei schon an dieser


Stelle die Hauptaufgabe der Jurisprudenz betont: Sie hat prak-
tische Bedürfnisse zu erfüllen, nämlich der Rechtsgemeinschaft
und ihren Mitgliedern Orientierung über Rechtliches zu geben.
Daher ist es deutlicher, wenn man einerseits auf den unmittelba-
ren Gegenstand der juristischen Arbeit, nämlich das Recht, aber an-
dererseits auch auf die Aufgaben der wissenschaftlich betriebenen
Jurisprudenz hinweist. Diese Aufgaben bestehen darin, Kriterien
bereitzustellen, mit deren Hilfe die tatsächlich aufgetretenen oder
möglicherweise noch auftretenden Rechtsprobleme so rational wie
möglich – und das heißt vor allem: nachprüfbar begründet – aus
dem geltenden Recht gelöst werden können. (Systematische und
rationale Arbeit de lege ferenda, also an der Änderung – und idea-
lerweise zugleich: Verbesserung – der Gesetzeslage, ist damit durch-
aus verwandt, aber wegen der fehlenden Bindung an das geltende
Gesetz davon doch zu unterscheiden.) Über die dafür tauglichen Ar-
gumente geben die Kriterien der juristischen Methodenlehre Aus-
kunft. „Recht“ muss dabei, wie noch im Einzelnen gezeigt werden
wird, weit verstanden werden: Es umfasst nicht bloß die publizier-
ten Einzelvorschriften, sondern auch die ihnen zugrunde liegenden
Zweck- und Prinzipienschichten im Rechtssystem wie insbe-
sondere Rechtssicherheit, Zweckmäßigkeit und Gleichbehandlung
wertungsmäßig gleich gelagerter Sachverhalte („Gleichmaß“, „Ge-
rechtigkeit“).

17
Einleitung: Was ist und wozu betreibt man juristische Methodenlehre?

II. Die Notwendigkeit der Methodenlehre


Die Notwendigkeit geordneter und kontrollierter Arbeit am Recht
zeigt sich bei seiner Anwendung auf sog Fälle, also Einzelsachver-
halte, bzw auf Falltypen, an denen Rechtsprobleme wahrnehm-
bar werden. Sie beruht vor allem auf der unvermeidlichen Distanz
zwischen konkretem Fall (oder Falltyp) einerseits und generell-
abstrakten Normen andererseits, die durch vernünftige und sach-
lich korrekte Argumentation möglichst überbrückt werden muss.
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Daher ist der „Rohstoff“ der Jurisprudenz nicht bloß das Recht. Zu
ihm gehören vielmehr auch die rechtlich relevanten Sachverhalte
einschließlich der „generellen Tatsachen des Normbereichs“, zB die
Hilfsbedürftigkeit des Kleinkindes, die arbeitsteilige Organisation
der Wirtschaft oder die Knappheit erschwinglichen Wohnraums.
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Eine leider nicht seltene Quelle juristischer Probleme sind sach-


liche, systematische oder sprachliche Fehler des Gesetzgebers.
Diese sind durch Sorgfalt zwar reduzierbar, in der Praxis aber nicht
ganz vermeidbar; insbesondere dann nicht, wenn die politisch-ideo-
logischen Elemente oder der „Kuhhandel“ (etwa zwischen Parteien
oder Sozialpartnern) in der Gesetzgebung stark in den Vordergrund
treten: Unterschiedliche Lobbys werden bei einer Gesetzesnovel-
lierung gleichermaßen bedient, was zu Widersprüchen führt, oder
werden durch kompromisshafte – und daher schwammige – For-
mulierungen besänftigt, mit denen zunächst jede Seite leben kann
(bis die Norm erstmals in einem konkreten Fall anzuwenden ist).
Ziel der juristischen Arbeit ist die bestmöglich begründete
Auffindung einer Rechtsregel, die dem Problemsachverhalt näher
ist als die zunächst vorfindliche positive Ausgangsnorm und die das
gerade gestellte Fallproblem entscheidet. In Bezug auf dieses Prob-
lem muss die gefundene Regel also konkreter sein als die Gesetzes-
schicht. Beispiele folgen sogleich; auch dafür, dass noch so genaue
Kenntnis der Gesetzestexte für die juristische Arbeit nicht ausreicht.
Das Grundmodell der juristischen Arbeit sieht wie folgt aus: Die
für das Sachproblem möglicherweise relevanten Teile des Rechts
werden mit dem problematischen Teil des Sachverhalts methodisch
geordnet zusammengefügt. Dadurch soll die problemlösende Regel
gewonnen (abgeleitet) werden.

18
Die Notwendigkeit der Methodenlehre

Der erste Schritt zu einer rational betriebenen Rechtsgewinnung


ist daher stets die bestmögliche Feststellung des zu beurteilen-
den Sachverhalts im Hinblick auf die möglicherweise anzuwen-
denden Rechtsnormen und die analytische Herausarbeitung der
rechtlich relevanten, vor allem der problematischen Fallelemente.
Auf diese sind sodann die – möglicherweise – relevanten Rechtsnor-
men in methodisch geordneter Weise mit entweder positivem oder
negativem Ergebnis anzuwenden.
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Dazu ein Beispiel: Bei einem Schadensfall prüft man regelmäßig an­
hand des §  1295 ABGB, ob die in dieser Norm vorgesehenen Tatbestand­
selemente vollständig erfüllt sind. Der als „Beschädiger“ Beklagte haftet
eben nur dann, wenn er dem Kläger rechtswidrig und schuldhaft
einen Schaden zugefügt, dh verursacht hat. Ist dem Schädiger etwa
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kein Verschulden vorzuwerfen, weil er die Vase des Klägers aufgrund


eines plötzlichen, unerwarteten und unkontrollierbaren Anfalls zerbro­
chen hat, ist das Ergebnis in Bezug auf §  1295 ABGB negativ; also keine
Haftung.
Diese analytische Annäherung zwischen den Elementen des Prob-
lemsachverhalts und den in Betracht kommenden Rechtsnormen
ist die rational unentbehrliche „Urmethode“, ohne die es bei einer
gefühlsmäßig-generellen, also bloß intuitiven Würdigung nur vage
erfasster Gesamtsachverhalte bleiben müsste. Die Teilbeurteilun-
gen der einzelnen Teilprobleme sind anschließend im Hinblick auf
das letztlich gesuchte Gesamtergebnis zusammenzufügen. In einem
ersten Schritt sind dabei auch und gerade in rechtlich wenig kom-
plexen Fällen die in den einzelnen Rechtsgebieten bewährten Fall-
lösungstechniken nützlich; im Privatrecht etwa die Methode der
„Anspruchsprüfung“. Davon kann hier nicht mehr weiter die
Rede sein. (Die wichtigsten Schritte der Fallprüfung werden heut-
zutage ohnehin in den anwendungsbezogenen Übungen oder Kur-
sen der einzelnen Fächer vermittelt.) Zumindest hingewiesen soll
aber darauf werden, dass es gerade in Gerichtsprozessen erster Ins-
tanz besonders wichtig ist, sich als Richterin oder Richter in einem
möglichst frühen Stadium Klarheit über die (vermutlich) wesent­
lichen Rechtsfragen zu verschaffen. Das führt zu deutlich rascheren
Verfahren, da unnötige Beweiserhebungen vermieden werden.

19
Einleitung: Was ist und wozu betreibt man juristische Methodenlehre?

III. Gegenmodelle
In der Jurisprudenz war und ist vieles streitig; häufig aber zu Un-
recht. So wird zB den eben skizzierten Vorstellungen über eine ra-
tionale juristische Methodenlehre unter Berufung auf die Anforde-
rungen der Rechtssicherheit das gesetzespositivistische Modell
einer strikten Gesetzesbindung gegenübergestellt. Dieses kann frei-
lich überhaupt nur soweit funktionieren, wie der jeweils problemre-
levante Gesetzesinhalt in seiner Anwendbarkeit auf den zu beurtei-
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lenden Sachverhalt klar und nicht bezweifelbar ist. Darüber hinaus


wird anstelle der differenzierten und manchmal schwierigen juris-
tischen Methoden bloß das „Ermessen“ oder die „Eigenwertung“
des zuständigen Richters oder eines sonstigen Beurteilungsorgans
als Allzweckinstrument vorgeschlagen. Das weist den persönlichen
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oder gruppenspezifischen Präferenzen des amtlich zuständigen Be-


urteilers sogleich die entscheidende Rolle zu. Es bedeutet also den
weitgehenden und vorzeitigen Verzicht auf rationale, auch für Drit-
te gültige oder wenigstens nachvollziehbare Begründung. Gegen
ein solches (vorrangiges) Abstellen auf die Subjektivität jedes amt-
lich zuständigen Beurteilers spricht bereits das Zentralprinzip der
Rechtssicherheit, zu der ohne Zweifel die möglichst weitgehende
Vorhersehbarkeit der Einzelfallentscheidung gehört.
Radikale normative Erkenntnisskepsis in Verbindung mit Nei-
gung zum „Rechtsrealismus“ führt in eine ähnliche, ja in eine
wohl noch aussichtslosere Sackgasse. Im Extremfall wird sogar be-
zweifelt, dass Gesetze wegen ihrer Abstraktheit jemals einen für
die Anwendung auf konkrete zwischenmenschliche Sachverhalte
erkennbaren Inhalt haben. Anwendbar seien vielmehr nur die Zu-
schreibungen eines bestimmten Inhalts zu den Gesetzestexten durch
die Rechtsprechung. Diese „Zuschreibungen“ müssen freilich eben-
falls durch Worte und Sätze erfolgen, die allgemeiner sein müssen
als die Sachverhaltsbeschreibungen. Wieso nun aber solche sprach-
lichen „Zuschreibungen“ im Gegensatz zum Gesetzestext selbst sehr
wohl einen erkennbaren Inhalt haben sollen, bleibt unverständlich.
Verfehlt ist es auch, wenn von manchen die juristische Metho-
denlehre als wertlos erachtet wird, weil sich der Anwender angeb-
lich die von ihm herangezogene Methode aus den später zu bespre-
chenden einzelnen methodischen Kriterien frei oder womöglich gar

20
Gegenmodelle

schon mit Blick auf ein von ihm gewünschtes Ergebnis aussucht.
Dass ein solches unseriöses Vorgehen im Einzelfall tatsächlich vor-
kommt, kann selbstverständlich kein Argument gegen die Beacht-
lichkeit methodischer Vorgaben sein.
Zum dafür vorgetragenen Argument des Fehlens einer klar und
dauerhaft fixierten Rangordnung der Methoden wird später bei Er-
örterung dieser Frage näher Stellung genommen (siehe dazu S 109 ff).
Die zutreffende Beobachtung, dass in der juristischen Arbeit am
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Einzelproblem keineswegs alle Methoden ausdrücklich „durchpro-


biert“ werden, erklärt sich keineswegs aus deren allein vom Wun-
schergebnis bestimmtem Ansatz, sondern – neben den begrenzten
Zeitressourcen und Effizienzerwägungen – völlig zureichend dar-
aus, dass in vielen Fällen die Unergiebigkeit bestimmter Methoden
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von vornherein evident ist oder dass bestimmte Methoden offenbar


für die Lösung ausreichen. Oft wird überhaupt keines der Ausle-
gungskriterien ausdrücklich diskutiert, sondern nur unter Berufung
auf bereits vorliegende Lehre und Rechtsprechung argumentiert. In
diese sind aber die methodischen Argumente idealerweise bereits
früher eingegangen.
Unhaltbar ist auch die Vorstellung (bzw der Vorwurf), dass jeder
Beurteiler von vornherein ein bestimmtes Ergebnis wünscht und
unverrückbar anstrebt. Die Erfahrung der Juristen lehrt, dass das
Ergebnis in heiklen Fällen oft sogar nach schon ziemlich weitge-
hender Abwägung der Pro- und Kontra-Argumente für die ver-
schiedenen möglichen Lösungen auch subjektiv offen ist. Stellt sich
tatsächlich vorweg eine Tendenz zu einer bestimmten Lösung ein,
so beruht das beim erfahrenen Juristen auf zunächst unreflektier-
ter Globalanwendung seiner Rechtskenntnisse („Judiz“) und bedarf
stets sorgfältiger kritischer Selbstprüfung, die nicht selten zur Än-
derung der ursprünglichen Tendenz führt.
Immer wieder anzutreffen ist auch die Behauptung, dass man
an die Stelle der Methodenlehre das positivierte Verfassungsrecht
setzen müsse. Die bekannten Verfassungen enthalten jedoch kei-
nerlei methodische Maximen, sodass sie dort bloß freihändig
„hineingelesen“ werden könnten. Auch bedarf die Verfassung wie
jede andere von Menschen geschaffene und formulierte Rechtsma-
terie selbst der Auslegung und der Ergänzung. Angesichts dieser

21
Einleitung: Was ist und wozu betreibt man juristische Methodenlehre?

Tatsachen bleibt unklar, was die Empfehlung, die Methodenlehre


durch die Verfassung zu ersetzen, bedeuten soll. Überhaupt folgen
die methodischen Kriterien nicht aus positiven Setzungen welcher
formellen Rechtsstufen auch immer, sondern aus den Fundamental-
grundsätzen der „Rechtsidee“, nämlich Gerechtigkeit, Rechts-
sicherheit und Zweckmäßigkeit. Das zeigt auch die rechtswis-
senschaftliche Erfahrung von Jahrtausenden bei der Anwendung
dieser Prinzipien auf die realen Eigenschaften positiven Rechts
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(Sprachlichkeit, Kontextabhängigkeit, historische Entstehung, typi-


sche Ausrichtung an vernünftigen Zwecken und anerkannten Wer-
tungen). Ausdrückliche Gesetzesregeln wie die §§  6 und 7 ABGB,
die knappe Anordnungen zum methodischen Vorgehen bei der
Rechtsanwendung („Rechtsgewinnung“) enthalten, können durch-
aus verdeutlichend wirken. Anordnungen dieser Art sind aber letzt-
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lich entbehrlich, wie fast alle anderen Rechtsordnungen und ihre


rechtswissenschaftliche Behandlung zeigen, die solche Normen nicht
enthalten (wie zB die deutsche).
Einen – wenn auch sehr beschränkt – zutreffenden Kern haben
die „Gegenmodelle“ allerdings. So ist es erfahrungsgemäß richtig,
dass manche Rechtsfragen auch mit aller methodischen Anstren-
gung aus dem Recht nicht mit zureichender Schlüssigkeit beantwor-
tet werden können, etwa in zugespitzten Grenz- und Zweifelsfällen
und besonders im Rahmen von vagen gesetzlichen Generalklau-
seln, die sich etwa auf „gute Sitten“, „gröbliche Benachteiligung“
oder „Angemessenheit“ zurückziehen. Die vielfach vertretene Be-
hauptung, dass jedes rechtliche Problem bloß eine richtige Lö-
sung habe, ist daher empirisch nicht verifizierbar und wertlos,
solange man diese richtige Lösung nicht durch eine rechtlich zu-
mindest relativ bessere Begründung ermitteln kann. Schon theore-
tisch ist die Behauptung in ihrer generellen Form uneinlösbar: Man
muss sich nur bewusst machen, dass die rechtlichen Argumente un-
überbrückbar in verschiedene Richtungen deuten können.
Ein (vereinfachtes) Beispiel: Zum Schutz vor Übereilung sieht das Gesetz
(§  1346 Abs 2 ABGB, §  766 BGB, Art 493 OR) für die Wirksamkeit einer
Bürgschaftsübernahme die Unterschrift des Bürgen vor. Für den Schuld­
beitritt ist nichts dergleichen angeordnet. Soll dieser formfrei wirksam
sein; auch dann, wenn er zu Sicherungszwecken erfolgt, also die gleiche
Funktion wie die Bürgschaft erfüllt, und (zumindest) die gleiche Über­

22
Gegenmodelle

eilungsgefahr besteht? Hier steht das Argument aus dem Wortlaut dem
aus dem Zweck diametral entgegen.
Richtig und wichtig ist also, dass man zunächst so intensiv und sorg-
fältig wie möglich aus mehreren denkbaren („Denken in Alterna-
tiven“!) nach der am besten begründeten Lösung zu suchen hat,
statt sogleich in die Eigenwertung zu flüchten. Die bloße Existenz
gegenläufiger Argumente an sich braucht dabei noch nicht zur Re-
signation zu führen, weil es in der Regel möglich ist, für eine be-
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stimmte Lösung doch zumindest überwiegende, also stärkere Ar-


gumente aufzufinden als für die Gegenmeinungen, die durchaus
auch „etwas“, aber verhältnismäßig weniger Gewichtiges für sich
haben mögen.
Bleibt die Pattstellung der Argumente aber tatsächlich einmal
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unauflösbar, so könnte ein Rechtswissenschaftler resignieren (und


je nach Temperament seinen Manuskriptentwurf in der Schreib-
tischlade verschwinden lassen oder laut nach dem Gesetzgeber ru-
fen). Diese Auswege bestehen dann nicht, wenn – wie insbesondere
in einem Gerichtsverfahren – eine Entscheidung zwingend getrof-
fen werden muss. Dann kann die endgültige Würdigung allerdings
nur noch durch „richterliche Eigenwertung“ erfolgen; jedoch
legitimerweise bloß in dem Rahmen, der zunächst durch rationa-
le Argumente erarbeitet wurde, also in einem letzten Schritt. Die
„Eigenwertung“ ist vom Standpunkt einer rationalen, wissenschaft-
lichen Jurisprudenz aus ja nur durch ihre Unvermeidlichkeit
legitimierbar, wenn und soweit diese vorliegt. Die intellektuelle
Anstrengung methodischer rechtlicher Argumentation darf man
sich also nicht von vornherein ersparen wollen.
Damit wird keineswegs behauptet, dass dies faktisch nicht doch
– aus welchen Gründen auch immer – manchmal geschieht. Damit
ist aber insbesondere die Pflicht des Richters als des Prototyps des
rechtlichen Beurteilers zur möglichst intensiven Begründung seiner
Entscheidung verletzt, nicht aber ein nachahmenswertes Gegenmo-
dell aufgezeigt. Der erfahrene „Kadi“, der primär aus der Tiefe seiner
eigenen Weisheit schöpft und deren Ergebnisse den Rechtssuchen-
den ohne weitere Begründung auferlegt, wäre ein unglaubwürdiges
Leitbild, so gut Lebensklugheit und Verständnis für das Menschliche
selbstverständlich auch heutigen Richtern anstehen. Heutzutage

23
Einleitung: Was ist und wozu betreibt man juristische Methodenlehre?

sind Richter jedoch selbst bei musterhafter Begründung ihrer Ent-


scheidungen nicht selten Anfeindungen von mindestens einer Seite
ausgesetzt. Sie sollten dem nicht durch vorzeitige „Eigenwertung“
Vorschub leisten, weil eine solche im „Verlierer“ in noch stärkerem
Ausmaß den Verdacht der Verletzung der Unabhängigkeit und Un-
parteilichkeit erwecken kann. Die juristische Erfahrung mit gehalt-
voll begründeten juristischen Problemlösungen zeigt jedenfalls, in
wie weitem Umfang bei methodisch bewusstem Vorgehen rationale
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Lösungen von Rechtsfragen möglich sind. Sie finden wohl am ehes-


ten unter neutralen Sachkundigen breite Zustimmung. Den Beifall
des im Prozess Unterlegenen wird man freilich auch bei noch so
sorgfältiger und methodisch sauberer Begründung nicht erlangen
können.
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IV. Methodenlehre für die Rechtsanwendung überhaupt


oder für einzelne Rechtsgebiete?
In allen Rechtsgebieten wird die Rechtsanwendung vor grundsätz-
lich gleichartige Probleme der Überbrückung von generell-abstrak-
ter Norm und konkretem Sachverhalt gestellt. Man sollte daher
nach wie vor im Sinne der herrschenden Ansicht von prinzipieller
Einheitlichkeit der juristischen Methodenlehre ausgehen. Das
wird nicht zuletzt dadurch bestätigt, dass eine relativ weitgehende
Teilkodifikation der juristischen Methodenlehre zwar (nur) im (ös-
terreichischen) Privatrecht, nämlich in den §§  6 ff ABGB enthal-
ten ist. Diese Regeln sind nach allgemeiner Meinung aber auch in
den anderen Rechtsgebieten maßgebend. Sie enthalten in der Tat
keine positivgesetzlichen Zufälligkeiten einer bestimmten Rechts-
materie, sondern sind in der Sache und in der „Rechtsidee“ begrün-
det. Rechtsvergleichend betrachtet sind solche „Methodennormen“
singuläre Erscheinungen (siehe etwa noch Art 1 Schweizer ZGB,
der bei Fehlen einer gesetzlichen Vorgabe das Gericht dazu aufruft,
nach einer Regel zu entscheiden, die es selbst als Gesetzgeber auf-
stellen würde).
Das Privatrecht hat jedoch das umfassendste und differenziertes-
te Methodeninstrumentarium aufzuweisen. Im Laufe der Rechts-
entwicklung haben sich nämlich für manche Rechtsgebiete doch
gewisse methodische Besonderheiten ergeben, die auch kritischer

24
Methodenlehre für die Rechtsanwendung überhaupt?

Reflexion standhalten. Sie bestehen aber im Wesentlichen nur im


Weglassen oder in der besonderen Akzentuierung einzelner Metho-
den aus dem umfassenden Repertoire.
Beispiel: Eine der berühmtesten Besonderheiten ist das im Strafrecht gel­
tende Verbot von Analogien zulasten des Beschuldigten (siehe §  1
StGB). Straftatbestände dürfen also nicht erst durch Analogieschluss
(oder sonstige ergänzende Rechtsfortbildung) statuiert werden (Recht­
fertigungs- oder Schuldausschließungsgründe hingegen sehr wohl), weil
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der Grundsatz „nullum crimen, nulla poena sine lege“ (kein Verbrechen
und keine Strafe ohne Gesetz) gilt.
Gefordert ist also eine im Zeitpunkt der Tatbegehung bereits gel-
tende, strafandrohende Regel. Das ist freilich keine historische oder
gar naturgesetzliche Selbstverständlichkeit, sondern erklärt sich in
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einem entwickelten Rechtssystem daraus, dass der Fundamental-


grundsatz der Rechtssicherheit dort besonders hoch bewertet wird,
wo es um einen mit sozialer Missbilligung verbundenen staatlichen
Eingriff in die Rechtsgüter des Individuums geht. Der Täter muss
bei der Begehung seiner Tat daher zumindest wissen können, dass
dieses Verhalten mit Strafe bedroht ist.
Eine ähnliche Beschränkung sollte konsequenterweise im Be-
reich der (staatlichen) „Eingriffsverwaltung“ gelten, weil auch
hier jedenfalls der Gedanke der Sicherung der Rechtsgüter des
Einzelnen gegen Eingriffe der Zentralgewalt besondere Bedeutung
hat. Für das Verfassungsrecht werden von manchen besonders for-
malistisch-starre, von anderen besonders großzügig-unbegrenzte
Auslegungstendenzen vertreten. Anzuerkennen ist aber nur die
Besonderheit, dass in staats- und parteipolitisch sehr umstrittenen
Rechtsgebieten zur Wahrung des Rechtsfriedens eher formale Kri-
terien wie Wortlaut und historische Argumente Vorrang haben soll-
ten. Exemplarisch dafür ist die oft nur ideologisch erklärbare Kri-
tik an brisanten Entscheidungen der Verfassungsgerichte (etwa im
Jahre 2017 des österreichischen VfGH zur „Ehe für alle“). Gerichte
müssen aber eben auch politisch heikle Fragen entscheiden, wenn
sie angerufen werden.
(Umgekehrt kann ein in letzter Instanz zur Entscheidung berufe-
ner Gerichtshof – wie jedes andere Gericht – mit seiner Rechtsmei-
nung durchaus einmal daneben liegen. Damit ist, da jedes Verfahren

25
Einleitung: Was ist und wozu betreibt man juristische Methodenlehre?

irgendwann einmal zu Ende sein muss, allerdings nur der konkrete


Streitfall entschieden, was von den beteiligten Parteien hinzuneh-
men ist. Nicht ausgeschlossen ist hingegen, das Gericht bei nächs-
ter Gelegenheit mit Hilfe [vermeintlich] überzeugender Argumente
zum Abgehen von der [vermeintlich] unrichtigen Position zu be-
wegen. Mängel in der Argumentation von Höchstgerichten aufzu-
zeigen, ist eine wichtige Aufgabe der Rechtswissenschaft. Dies sollte
allerdings aus eigenem Antrieb erfolgen, nicht aufgrund finanzieller
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Anreize durch Auftraggeber, die an einem ganz bestimmten Ergeb-


nis interessiert sind. Die Entwicklung geht nach meinen Beobach-
tungen in den letzten Jahren aber leider in die falsche Richtung,
was dem Image unserer gesamten Zunft Schaden zufügt.)
In manchen Rechtsgebieten, etwa im Kartell- und im Steuer-
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recht, wird unter dem Titel „wirtschaftliche Betrachtungswei-


se“ eine intensive zweckbezogene Auslegung propagiert; insbeson-
dere um in raschem Fluss befindliche Rechtsmaterien nicht zu sehr
auf Gesetzesformulierungen zu fixieren, die aktuell für die spezi-
fischen Zwecke unzureichende Begrifflichkeiten aufweisen. Wenn
man die „wirtschaftliche Betrachtungsweise“ (die als solche recht-
lich überhaupt nichts besagt) nicht als Deckmantel für Beliebigkeit
verwendet, sondern die eigentlich maßgebenden Zwecküberlegun-
gen herausarbeitet, kann dies im Rahmen der teleologischen
Auslegung (dazu S 43 ff) methodisch durchaus legitim sein. Ein-
seitigkeiten sind hingegen generell abzulehnen.

26
B. Die Auslegung (im engeren Sinn)
I. Die wörtliche („grammatische“) Auslegung

1. Vorklärungen
Üblicherweise werden mehrere – meist vier bis fünf – Interpre-
tationsmethoden oder „Kanones“ der Auslegung unterschieden,
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wobei die Einteilungen und vor allem die Untergruppierungen


vielfach voneinander abweichen. Am zweckmäßigsten erscheint
die jetzt folgende Unterscheidung, weil sie auf einem greifbaren
und praktisch bedeutsamen Merkmal aufbaut, nämlich auf dem
„Auslegungsmaterial“, das für die konkret auszulegende Norm
aufzufinden ist, um die gestellten Probleme mit Aussicht auf Erfolg
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angehen zu können. Aus der interpretationsbedürftigen Gesetzes­


lage allein lässt sich ja selbstverständlich nicht mehr entnehmen, als
darin enthalten ist; einschließlich der gestellten Auslegungsfragen.
Um diese zu lösen, bedarf es zusätzlicher Prämissen. Der reduktio-
nistische Blick „bloß auf das Gesetz“ hilft daher gar nichts, wie sich
sogleich exemplarisch zeigen wird. Im Folgenden sollen die einzel-
nen Methoden der Jurisprudenz zunächst getrennt besprochen und
mit Hilfe von Beispielen anschaulich gemacht werden. Von den Vor-
rangverhältnissen und der zusammenfassenden Heranziehung in
schwierigen Fällen wird sinnvollerweise erst anschließend (S 109 ff)
die Rede sein.

2. Das Demonstrationsbeispiel
Wegen seiner einfachen Darstellbarkeit und Variationsfähigkeit
(also nicht primär wegen besonderer Wichtigkeit) wird in der Fol-
ge möglichst weitgehend ein erbrechtlicher Sachverhalt als Beispiel
verwendet, der die Anwendung und zuvor die Auslegung von §  578
Satz ABGB erfordert: Dort (ähnlich etwa in Art 505 ZGB, während
§  2247 BGB das Unterschriftserfordernis präzisiert) ist für die Gül-
tigkeit eines privatschriftlichen (zeugenlosen) Testaments vo-
rausgesetzt, dass der Testator
a) den Text eigenhändig geschrieben und
b) mit seinem Namen
c) eigenhändig unterschrieben hat.
27
Die Auslegung (im engeren Sinn)

Diese Vorschrift ist an sich sehr einfach und klar verständlich. Je-
doch wirft sie in Bezug auf bestimmte Fallkonstellationen einige
Auslegungsfragen von unterschiedlichem Schwierigkeitsgrad auf.
Sie sollen in der Folge näher erörtert werden.

3. Das Auslegungsmaterial
Auf der wörtlichen Stufe der Auslegung ist das hier heranzuziehen-
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de Auslegungsmaterial wenig überraschend oftmals die allgemei-


ne Spracherfahrung, die der Beurteilende an die anzuwendende
Norm und den verbal beschriebenen Problemsachverhalt heran-
trägt. Manchmal hat der Gesetzgeber durch „Legaldefinitionen“
die Begriffe der anzuwendenden Norm (wie etwa „Sache“, „Besit-
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zer“ oder „Kaufvertrag“) präzisiert, was freilich wieder eigene Aus-


Grundzüge der juristischen Methodenlehre, 9783825261450, 2023

legungsfragen aufwerfen kann und schon deshalb nur beschränkt


hilfreich ist. Gewöhnlich ist man aber bezüglich der gesetzlichen
Worte und Sätze auf den allgemeinen Sprachgebrauch verwiesen,
der häufig nur ein überwiegender Sprachgebrauch ist. Bei Normen,
die sich praktisch vor allem an bestimmte Bevölkerungsgruppen
richten, zB an die Jäger oder an die Kaufleute, hat deren speziellerer
Sprachgebrauch Vorrang. Daher spricht auch bei den Gesetzen der
„klassischen“ Rechtsbereiche, wie Zivil-, Straf- oder Prozessrecht,
die weitestgehend auf die Vermittlung durch Juristen angewiesen
sind, die Vermutung für die Maßgeblichkeit eines etwa vorhande-
nen speziell rechtstechnischen Sprachgebrauches.
Beispiel: „Vertreter“ ist dann nicht derjenige, der unterwegs ist, um et­
was an die Frau oder den Mann zu bringen, sondern der als Stellvertre­
ter [= Bevollmächtigter] Handelnde, sofern der Kontext, in dem das Wort
„Vertreter“ verwendet wird, keine deutlichen gegenteiligen Hinweise
enthält.

4. Der einfache Fall und die schlichte Subsumtion


Auch bei einfach gelagerten Fällen oder Fallelementen, die es in der
Rechtswissenschaft glücklicherweise in großer Zahl gibt – was aber
von hochtheoretischen Standpunkten aus häufig vergessen wird –,
kann man insoweit von „Auslegung“ sprechen: Das Ergebnis, der
vorliegende Sachverhalt sei der anwendbaren Regel in ihrem Tat-

28
Die wörtliche („grammatische“) Auslegung

bestand (also in ihren Voraussetzungen) ohne alle Schwierigkeiten


zuzuordnen (zu subsumieren), sodass die Rechtsfolge der Vorschrift
ohne weiteres eintritt, entsteht ja nicht von selbst. Es bedarf jeden-
falls einer Beurteilung, die hier freilich sehr einfach durch schlichte
Deduktion (Subsumtion im Rahmen eines sog Syllogismus) er-
folgt. Das Schema ist folgendes: Die maßgebende Rechtsregel (hier:
§  578 ABGB) bildet mit ihren Tatbestandsmerkmalen (eigenhändig,
Name, Unterschrift) den Obersatz, der zu beurteilende Sachver-
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halt (über den die Konfliktparteien – im Regelfall der vermeintliche


Testamentserbe und der vermeintliche gesetzliche Erbe – trotz sei-
ner rechtlichen Einfachheit streiten, etwa weil sie über die Tatsa-
chen- und die Beweislage unterschiedlicher Meinung sind), so wie
er gerichtlich festgestellt wurde, den Untersatz. Der Sachverhalt
ist zweckmäßigerweise so zu beschreiben, dass nur die vermutlich
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rechtlich relevanten Elemente genannt werden, also zB nicht der


Beruf oder die Religionszugehörigkeit der Beteiligten.
Entsprechen nun die abstrakteren Begriffe der Rechtsnorm den
konkreteren Begriffen des Sachverhalts, sodass die letzteren als Un-
terbegriffe der ersteren erscheinen, ist die Deduktion vollzogen und
die Rechtsfolge der Norm (hier: die Formgültigkeit des Testaments)
als Schlusssatz abgeleitet.
Beispiel: Es wurde festgestellt, dass Josef Navratil mit Bleistift auf einer
herausgerissenen Heftseite geschrieben hat: „Nach meinem Tod soll mein
Vermögen an Johanna Pospischil fallen.“ Darunter hat er unterschrie­
ben mit „Josef Navratil“.
Da mehr an „eigenhändigen“, individuell-handschriftlichen Schrift-
zeichen und mehr an Namensunterschrift als Vor- und Zuname
nicht denkbar sind, also die Normbegriffe sogar im engstmöglichen
Verständnis verwirklicht sind, ist die Subsumtion unmittelbar unter
die vorliegende gesetzliche Regel ohne jede Schwierigkeit möglich.
Das Testament von Josef Navratil ist (unter dem hier allein interes-
sierenden Formaspekt) gültig. Der benötigte individuelle Rechtssatz
ist somit abgeleitet. Für einen ganzen Falltyp ist die Lösungsregel
gewonnen, wenn man die Sachverhaltsmerkmale allgemeiner fasst
und somit Handschrift des Testators mit beliebigem Schreibwerk-
zeug sowie Unterfertigung mit dem Vor- und Familiennamen des
Testators zur Beurteilung stellt.

29
Die Auslegung (im engeren Sinn)

Dass die Papierqualität des Dokuments im Beispielsfall sehr all-


täglich beschaffen ist, dass Bleistifttexte radiert werden können und
dass Ort und Zeit der Testamentserrichtung fehlen, ist kein Ein-
wand: Gehobene oder überhaupt irgendeine Papierqualität sowie
ein bestimmtes Schreibwerkzeug wird von den gesetzlichen Tat-
bestandsmerkmalen nicht verlangt, die Angabe von Ort und Zeit
wird in §  578 Satz 2 ABGB ausdrücklich bloß als ratsam, aber als
nicht notwendig erwähnt. Das hat offenkundig bloß klarstellende
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Bedeutung; rechtlich genügt das Fehlen eines entsprechenden Gül-


tigkeitserfordernisses. (Zur Beweislast bei bestrittener Echtheit der
Unterschrift bzw der in der Urkunde enthaltenen Erklärungen siehe
für Österreich vor allem die §§  294 und 312 ZPO.)
Hat den Text hingegen ein vom Testator herangezogener Freund geschrie­
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ben und Herr Navratil bloß unterschrieben, so ergibt sich mit dersel­
ben Deutlichkeit, dass die Subsumtion des Falles unter die anwendbare
Rechtsregel nicht möglich ist. Ein solches Testament ist daher nach §  578
ABGB formungültig.
Dass derartige Deduktionen möglich sind und täglich unzählige
Male mehr oder weniger explizit vorgenommen werden, beweist
die Unrichtigkeit von Behauptungen über die Unmöglichkeit der lo-
gischen Ableitung aus generellen Normen auf engere Sachverhalte.
Das erörterte einfache Beispiel zu §  578 ABGB zeigt überdies,
dass einfache Deduktion nicht etwa allein aus numerischen Begrif-
fen in Rechtsnormen möglich ist. Für die Unterscheidung einfa-
cher Fälle oder Fallelemente von schwierigeren gibt vielmehr ein
anderer Ansatz die entscheidende Orientierung; nämlich die Un-
terscheidung von „Begriffskern“ und „Begriffshof“ sowie selbst-
verständlich, meist unausgesprochen, einem Bereich jenseits der
möglichen Anwendung des Begriffs. Maßgebend ist der allgemeine
Sprachgebrauch. Der „Begriffskern“ erstreckt sich auf alle Objekte,
die praktisch jeder Sprach- und Sachkundige als Anwendungsfälle
des Begriffs behandelt bzw sich vorstellt (so unterfallen zB Rinder,
Schweine und Schafe ohne Zweifel dem Begriff „Vieh“). Zum „Be-
griffshof“ zählen die Objekte, auf die in der Sprachgemeinschaft der
betreffende Begriff manchmal erstreckt wird, manchmal aber auch
nicht (zB Hühner, gezüchtetes Damwild, Reitpferde). Hier stellen
sich die eigentlichen Auslegungsprobleme. In diesem Bereich ist die

30
Die wörtliche („grammatische“) Auslegung

Subsumtion des Problemsachverhalts daher erst nach aufwändiger


Lösung der Auslegungsfrage, also nicht mehr „allein aus dem Ge-
setz“, möglich. Die subsumtionsfähige konkretere Regel muss erst
erarbeitet werden. Jenseits auch des Begriffshofs – so ist etwa ein
Zooelefant auch bei weitem Wortverständnis kein „Vieh“ – schei-
det („unmittelbare“) Anwendung der auszulegenden Vorschrift zu-
nächst aus. [UU ist aber, wie sich noch zeigen wird, analoge An-
wendung möglich.] Das Beispiel des nach dem Diktat des Erblassers
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schreibenden Freundes überschreitet zB jede sprachlich denkbare


Variation von „eigenhändig“, liegt also auch außerhalb des „Begriffs­-
hofs“.
Die durch schlichte Subsumtion erledigte Fallvariation ist wie
gezeigt deshalb so einfach, weil die gesetzlichen Voraussetzungen
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auch in ihrem jeweiligen engsten Verständnis, also in ihrem „Be-


griffskern“, die Merkmale des Falles umfassen. Jedoch ist auch in
zunächst ganz klar erscheinenden Situationen zur bestmöglichen
Vermeidung von Fehlern eine Art „Gegenprobe“ dahin geboten,
ob das einfach erzielte Ergebnis nicht bei einem zunächst globalen
Blick auf die Zweck- und Prinzipienschichten des Rechts den Ver-
dacht erweckt, durch Prinzip-, System- oder Sachwidrigkeit gegen
die fundamentalen Grundsätze der „Rechtsidee“ zu verstoßen. Das
ist beim obigen Beispiel gewiss nicht der Fall. Wo es aber zutrifft, er-
weist sich, dass mit schlichter Subsumtion nicht auszukommen ist.
Variiert man nun den einfachen Sachverhalt ein wenig in ver-
schiedene Richtungen, so zeigt sich sofort, wie viele Auslegungsfra-
gen selbst eine so klare und überzeugende Norm wie §  578 ABGB
in den „Begriffshöfen“ ihrer Tatbestandsmerkmale enthalten kann.
Beispielvarianten: Genügt „schreiben“ im Stenogramm oder in kyrilli­
scher Schrift? Reicht ein vom Testator selbst, aber mit Hilfe einer Schreib­
maschine oder eines Computers angefertigter Text? Genügt die Unterferti­
gung bloß mit dem Familiennamen, bloß mit dem Vornamen, mit einem
Spitznamen oder Pseudonym oder gar mit einer Verwandtschaftsbezeich­
nung („Euer Vater“)? Reicht es, wenn der eigenhändige Namenszug des
Erblassers in der Einleitung des Testaments steht (zB Überschrift „Testa­
ment von Josef Navratil“), während sich am Ende nur die Schlussformel
„Das ist mein letzter Wille“ findet?

31
Die Auslegung (im engeren Sinn)

Bei einigen dieser Fragen kann man auf der sprachlichen Ebene
vielleicht in die eine oder andere Richtung mit einem überwiegen-
den Sprachgebrauch (zB des Ausdrucks „unterschreiben“) argu-
mentieren; allein damit kommt man aber wohl kaum einmal zu
einer klaren und systematisch überzeugenden Lösung. Es bedarf
daher jedenfalls weiterer Argumente entsprechend den folgenden
Auslegungsmethoden. Die sprachliche Analyse bleibt aber jedenfalls
immer für die genauere Problemerfassung wichtig, durch die man
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die unterschiedlichen möglichen Begriffsbedeutungen und damit


die jeweilige Auslegungsfrage präzisiert. So lässt sich dem bana-
len, weiten Verständnis von „eigenhändig“ als „mit eigener Hand“
die engere Bedeutung „mit eigenen, daher individuell geprägten
Schriftzeichen“, also handschriftlich, gegenüberstellen. Dass beides
denkbar ist, lehrt die Spracherfahrung. Wenn man etwa sagt: „Die
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Sekretärin von X ist krank; er musste diesen Brief daher eigenhän-


dig tippen“ meint man eindeutig und verständlich die weitere Be-
deutung. Wenn man hingegen sagt: „Mir hat die berühmte Y sogar
einen eigenhändigen Brief geschrieben“, meint man offensichtlich
die engere. Wem zunächst nur die weitere Bedeutung einfällt und
wer sie durch einfache Subsumtion zur Geltung bringen will, könn-
te leicht in die Irre gehen und den Zweck der Formvorschrift ganz
verfehlen. Die schon erwähnte „Gegenprobe“ soll solche Fehlerge-
fahren vermeiden. Man kann nicht korrekt interpretieren, ohne
sich zunächst die sprachlich möglichen Begriffsbedeutungen ver-
gegenwärtigt zu haben. Wiederum zeigt sich, dass in der Juristerei
Denken in Alternativen gefragt ist.

II. Die systematisch-logische Auslegung


1. Das Auslegungsmaterial
Der erste Blick gilt immer der unmittelbar auszulegenden, weil
(möglicherweise) anzuwendenden Regel. Das reicht aber häu-
fig nicht aus. Vielmehr ist auch der explizite Inhalt anderer Vor-
schriften des gleichen, uU aber auch eines anderen Gesetzes zu
berücksichtigen, das mit der auszulegenden Norm in einem syste-
matischen Zusammenhang steht, soweit dies Aufschluss für das
anstehende Problem verspricht. Dieser Zusammenhang kann sich

32
Die systematisch-logische Auslegung

schon aus der äußerlichen Aufeinanderfolge mehrerer Regeln er-


geben: Wenn die Miete im Schuldrecht geregelt ist, kann es sich bei
ihr – zumindest grundsätzlich – um kein dingliches Recht handeln,
da dieses in das Sachenrecht gehört. Sachmängel sind nicht einfach
nach den Regeln über die Nichterfüllung zu beurteilen, da unmittel-
bar nach diesen (§§  918 ff ABGB) gesondert (und damit spezieller)
die Gewährleistung für Sachmängel (§§  922 ff ABGB) angeordnet
ist. Systematische Zusammengehörigkeit kann jedoch – sogar bei im
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Gesetz weit voneinander entfernten Regeln – auch daraus folgen,


dass sich die zur Auslegung heranzuziehenden Regeln ganz oder
teilweise auf denselben Sachverhalt beziehen wie die auszulegende
Vorschrift. Dabei muss die allgemeine Erfahrung über die Darstel-
lung komplexer Gedankeninhalte und daher komplexer Texte in
der menschlichen Kommunikation, insbesondere beim Aufbau von
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Rechtssystemen, mitberücksichtigt werden.

2. Beispiele
Zur bereits erwähnten Fallvariante einer Unterschrift mit dem
Spitznamen oder Pseudonym (zB „Schneckerl“ für einen populären
früheren österreichischen Fußballer – nunmehr bekannt als Ana-
lytiker beim Fernsehen mit Problemen beim dritten und vierten
Fall) liefert §  43 ABGB ein wertvolles systematisches Pro-Argument
(= reicht als Name im Sinne des §  578 ABGB aus), da diese Norm
den Schutz des Namensrechts durch Unterlassungs- und Schaden-
ersatzansprüche ausdrücklich auf den durch faktische Übung er-
worbenen „Decknamen“ erstreckt. (Unergiebig sind dagegen die
Vorschriften, die den Erwerb des „eigentlichen“ Namens regeln,
weil sie über den Spitz- oder den Künstlernamen gerade nichts
besagen.) Damit ist rechtlich anerkannt, dass über den amtlichen
Namen hinaus auch die „bloß“ verkehrsübliche Benennung für
den Betreffenden bedeutsam sein kann und daher rechtlich voll
geschützt ist. Warum der „Deckname“ dann beim eigenhändigen
Testament nicht als Identifizierungsmittel und Unterschriftsformel
ausreichen sollte, wäre nicht verständlich. Der andere Sachkontext
(Testamentsgültigkeit hier, Namensschutz dort) ändert an dieser
Überlegung nichts. Dass der „Deckname“ sprachlich als „Name“ in
Betracht kommt, bringt das Wort unmittelbar zum Ausdruck, auch

33
Die Auslegung (im engeren Sinn)

wenn im unstreitigen Kernbereich dieses Begriffs nur der „offiziel-


le“ Vor- und Nachname liegt, sodass erst das systematische Argu-
ment den Ausschlag gibt. Relevante teleologische oder prinzipielle
Bedenken sind nicht ersichtlich.
Das globale Gegenargument, dass doch eigentlich jeder klar ge-
äußerte letzte Wille des Erblassers maßgebend sein sollte, sodass es
etwa auf die Art der Unterschrift gar nicht ankäme, wäre dagegen
ganz untauglich, weil es der zweifellos vom geltenden Recht ge-
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forderten Testamentsform überhaupt widerspricht (zum einleuch-


tenden historischen Hauptzweck dieses Erfordernisses – Gewissheit
über die Echtheit und Verbindlichkeit der Willenserklärung des Erb-
lassers – noch später auf S 38 ff.
Zur jetzt besprochenen systematischen Auslegung gehören auch
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die bekannten Regeln zur Lösung von vermeintlichen Normkolli-


sionen, nämlich die Regeln vom Vorrang der spezielleren Vor-
schrift (lex specialis) gegenüber der allgemeineren (lex generalis)
sowie vom Vorrang der späteren (lex posterior) vor der früheren
(lex prior). Sie entsprechen der Erfahrung über den anzunehmen-
den Willen des Gesetzgebers und über die (daher) allgemein ange-
nommene Bedeutung der in solcher Weise kollidierenden Regeln.
Beispiel: Das ABGB sieht in seinem aus dem Jahre 1811 stammen­
den – und bis heute nicht formell aufgehobenen – §  943 Satz 2 vor, dass
der Schenkungsvertrag ohne wirkliche Übergabe des Geschenks einer
„schriftlichen Urkunde“ bedarf. Im später erlassenen Notariatsaktsge­
setz wird hingegen die Errichtung eines „Notariatsakts“, also einer von
einem Notar stammenden Urkunde (einschließlich einer Belehrung des
Schenkers über die rechtlichen Konsequenzen seines Tuns), verlangt.
Zwingende Konsequenz der hier anzuwendenden Lex-posterior-Regel:
Sogar eine Urkunde, die vom Schenker eigenhändig geschrieben und
unterschrieben wurde, bringt – unabhängig vom Wert des Geschenks –
keinen wirksamen Schenkungsvertrag zustande.
Hierher gehört auch die Regel, wonach die Auslegung nicht dazu
führen soll, dass für bestimmte Gesetzesvorschriften wegen ihres
Verhältnisses zu anderen kein Anwendungsbereich bleibt, sie also
überhaupt unanwendbar oder doch unnötig und daher sinnlos
würden.

34
Die historische (subjektive) Auslegung

Beispiel: Der Verkauf einer fremden Sache ohne Zustimmung des Ei­
gentümers könnte auf den ersten Blick, da verboten, als gesetz- oder
sittenwidrig iS des §  879 ABGB angesehen werden. Rechtsfolge wäre
allerdings die Nichtigkeit des Kaufvertrags. Bei diesem weiten Verständ­
nis des §  879 ABGB – übrigens ein klassischer Anfängerfehler – wür­
de aber etwa §  367 ABGB unanwendbar werden. Diese Vorschrift sieht
unter strengen Voraussetzungen einen gutgläubigen Eigentumserwerb
des Käufers vor. Ohne wirksamen Titel (hier: Kaufvertrag) kann jedoch
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generell kein Eigentum erworben werden. Daher ist §  879 ABGB eng
zu verstehen und bloß auf Inhaltsverbote anzuwenden. (Dass die Sache
fremd ist, wird aber in aller Regel gerade nicht Vertragsinhalt, da bzw
wenn der Käufer davon ausgeht, vom Berechtigten zu erwerben.)
Abzulehnen ist ferner zB eine dem nächstliegenden sprachlichen
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Verständnis entsprechende, weite Auslegung von „Jedermann“ bei


der Schadenersatzberechtigung nach §  1295 ABGB; und zwar unter
anderem deshalb, weil sie der leicht als Sondernorm erkennbaren
Regel des §  1327 ABGB (Schadenersatz für Hinterbliebene wegen
Tötung eines unterhaltspflichtigen Angehörigen) jeden möglichen
Sinn nehmen würde. Vor allem diese Norm legt es nahe, „Jeder-
mann“ in §  1295 ABGB im Regelfall auf unmittelbar Geschädigte
einzuschränken, nicht hingegen generell auch bloß „mittelbar“ Ge-
schädigten Ersatzansprüche zuzuerkennen.
Beispiel: Wer einen Sänger verletzt, sodass dieser seinen nächsten Auf­
tritt absagen muss, muss ihm den Verdienstentgang ersetzen; nicht aber
auch dem Caterer, der wegen der Absage kein Geschäft macht.

III. Die historische (subjektive) Auslegung


1. Der Streit um das „subjektive“ oder „objektive“
Auslegungsziel
Dieser von vornherein wenig ergiebige Streit ist heute im Wesentli-
chen überwunden. Als „subjektiv“ wird die Suche nach der (prob-
lemrelevanten) Absicht des historischen Gesetzgebers bezeich-
net. „Objektiv“ ist dagegen die Ermittlung des problemrelevanten
Gehaltes des Gesetzes, den man in sorgfältiger und sachkundiger
Beurteilung dem kundgemachten Text des Gesetzes in seinem Zu-

35
Die Auslegung (im engeren Sinn)

sammenhang mit Blick auf die gegenwärtigen Verhältnisse


entnehmen kann. Tatsächlich muss man – und musste man schon
immer – beide Erkenntnismöglichkeiten heranziehen, wenn man
die juristische Aufgabe rational bestmöglicher, nachvollziehbarer
Begründung erfüllen will. Dabei steht je nach der konkreten Prob-
lemlage einmal der eine und einmal der andere Ansatz im Vorder-
grund. Von Exklusivität des einen oder anderen „Auslegungsziels“
sollte also nicht die Rede sein.
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Was bleibt, ist in der Sache lediglich ein wichtiger Aspekt der
Vorrangfrage unter den juristischen Methoden; besser wohl: me-
thodischen Schritten (dazu noch später S 109 ff). Hier soll nur so
viel gesagt werden: Da es um aktuelle Rechtsanwendung geht,
muss die in der gegenwärtigen Rechtsordnung und der heutigen
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Rechtsgemeinschaft jeweils bestbegründbare Auslegung gesucht


werden. Das schließt aber nur eine unverrückbare Fixierung auf
die historische Absicht des Gesetzgebers aus, nicht hingegen deren
Wichtigkeit im Zusammenspiel mit anderen Auslegungsmethoden,
die einander durch ihr Rangverhältnis und ihre zusammenfassende
Abwägung relativieren können.

2. Das Auslegungsmaterial
Das Auslegungsmaterial besteht bei der historischen Auslegung
aus allen irgendwie aufschlussreichen Hinweisen auf den Wil-
len oder die Absicht „des Gesetzgebers“, der die auszulegende
Norm erlassen hat, also des seinerzeitigen („historischen“) Gesetz-
gebers in Bezug auf das gerade anstehende Problem. Die von man-
chen vertretene Alternative, stattdessen generell auf den Willen
und die Vorstellungen des heutigen Gesetzgebers abzustellen, schei-
det häufig schon deshalb aus, weil es bei diesem in der Regel keine
Hinweise auf seine Absichten in Bezug auf ältere Normen gibt. Aber
auch ganz generell geht es darum, was mit der Erlassung bestimm-
ter Normen bezweckt war. Das kann sich nur aus Äußerungen im
Rahmen des konkreten Gesetzgebungsverfahrens ergeben.
Da eine Rechtsregel nicht bloß aus sprachlichen Elementen (Tex-
ten) besteht, sondern darin vielmehr ein normsetzender mensch-
licher Wille zum Ausdruck kommt, und weil der „objektive“ Text
auch im Zusammenhang vielfach vage oder mehrdeutig bleibt, ist
36
Die historische (subjektive) Auslegung

die Heranziehung des gesetzgeberischen Willens geradezu selbstver-


ständlich, wo ein solcher Wille feststellbar ist und bei der Lösung des
jeweiligen Problems weiterhilft. (Das ist aus verschiedenen Grün-
den natürlich keineswegs immer der Fall.)
Für die Erforschung der Absicht des Gesetzgebers ist (über den
schon durch die früheren Auslegungsstufen erfassten Gesetzestext
hinaus) der Rechtszustand vor der Erlassung der auszulegen-
den Norm häufig besonders aufschlussreich, weil der Vergleich
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oft rasch und gut erkennen lässt, was geändert wurde. (So ist die
ausdrückliche Qualifizierung von Ort und Datum des Testaments in
§  578 Satz 2 ABGB als nicht erforderlich, aber ratsam, nur aufgrund
des Wissens über die vorher bestandenen Auslegungsunsicherhei-
ten verständlich.)
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Historisch aufschlussreich ist auch der Vergleich des erlassenen


Gesetzes mit der damals vorliegenden rechtswissenschaftlichen Li-
teratur, wobei wissenschaftliche Äußerungen, deren Verfasser auch
starken Einfluss auf die Ausarbeitung des Gesetzes gehabt haben,
besonders weiterhelfen können (so für das ABGB der mehrbändige
Kommentar von Zeiller). Der Vergleich des schließlich erlassenen
Gesetzes mit vorausgehenden Entwürfen kann ebenfalls hilfreich
sein; ebenso der generelle politische Ansatz des Gesetzes (zB Mie-
terschutz oder Umsetzung einer verbraucherschützenden Richtlinie
der EU).
Am ergiebigsten sind aber meist die „Gesetzesmaterialien“,
worunter man alle schriftlichen (und daher auf Dauer reproduzier-
baren) Bekundungen über die Entstehung des Gesetzes von den
ersten Anstößen oder Projekten über die Entwurfsarbeiten in einer
Behörde oder einer fachlichen Kommission bis hin zu den Bera-
tungen im Parlament versteht. Heute stehen etwa für Österreich
die „Erläuternden Bemerkungen“ bzw „Erläuterungen“ zur Regie-
rungsvorlage des betreffenden Gesetzes und uU die parlamentari-
schen Ausschussberichte zur Verfügung; für jedermann und gratis
über das RIS (www.ris.bka.gv.at). Sie haben regelmäßig erklären-
den Charakter und lassen nicht selten unmittelbar problemrelevan-
te Meinungen oder Zwecke des Gesetzgebers erkennen, die dieser
mit dem Gesetz realisieren wollte.

37
Die Auslegung (im engeren Sinn)

Ein Zweck (Telos) ist ein vorgestellter und gewünschter, daher


zu realisierender Zustand. Die erlassene Regel ist das Mittel zu seiner
Erreichung. Von den unterschiedlichen Auslegungsmöglichkeiten
auf sprachlicher Ebene entspricht jene dem Zweck besser, die geeig-
net ist, den darin umschriebenen Zustand in größerem Umfang bzw
mit größerer Wahrscheinlichkeit zu realisieren. Das lässt sich nicht
mehr allein mit sprachlichen Überlegungen feststellen, sondern be-
darf der Faktenanalyse hinsichtlich der voraussichtlichen Folgen der
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einen oder anderen Auslegungsvariante. Die heute oft propagierte


bloße „Kosten- und Folgenanalyse“ an sich, ohne dass die voraus-
sichtlichen Folgen an bestimmten Zwecken oder Wertungen gemes-
sen und entsprechend selektioniert werden können, hilft dagegen
bei der Auslegung nicht weiter.
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Die einfache historische Auslegung sucht die problemrelevante


Meinung des Gesetzgebers über die Bedeutung seiner Rechtsbegriffe
und Rechtssätze zu ermitteln, was zugleich seine problemrelevante
Absicht erkennen lässt. Die häufig ergiebigere historisch-teleologische
Auslegung fragt (auch) nach dem „Warum“; also danach, aus wel-
chen problemrelevanten Gründen bzw zu welchen problemrele-
vanten Zwecken die Norm erlassen wurde.

3. Beispiel §  578 ABGB


Damit gleich wieder zum konkreten Beispiel: Warum verlangt §  578
ABGB eigenhändiges Schreiben und Unterschreiben mit dem Namen?
Diese Frage kann in weitem Umfang aus den Beratungsprotokol-
len zum ABGB beanwortet werden. Der – ohnehin naheliegende
– historische Zweck des Tatbestandsmerkmales „eigenhändig“ ist
leicht zu ermitteln: Generell wurde bei den Beratungen vertreten,
dass die „äußere Form“ bei den Testamenten die Echtheit der
Willenserklärung des Verstorbenen außer Zweifel stellen soll
(Ofner, Der Ur-Entwurf und die Berathungs-Protokolle des Öster-
reichischen Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches I [1888] 344).
Speziell zum späteren §  578 ABGB wies die Kommissionsmehrheit
den Vorschlag, das privatschriftliche zeugenlose Testament wegen
besonderer Fälschungsgefahr überhaupt abzuschaffen, in Ableh-
nung eines übermäßigen Formalismus zulasten rechtsunkundiger
Bürger zurück; dies vor allem mit dem Argument, dass es äußerst
38
Die historische (subjektive) Auslegung

schwierig sei, die Handschrift (!) in einem aus mehreren Zeilen be-
stehenden Testament unerkennbar nachzumachen (Ofner I 347).
Daraus geht einerseits die Meinung hervor, „eigenhändig“ bedeute
„handschriftlich“, und andererseits als Zweck des Merkmals „eigen-
händig“ die generelle gute Überprüfbarkeit der Echtheit anhand der
Urkunde (durch Schriftenvergleich, falls nötig mit Hilfe eines gra-
phologischen Sachverständigen).
Erst in Verbindung mit dem allgemeinen Erfahrungssatz, dass
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ma­schinen- oder computergeschriebene Texte eine individuelle


Feststellbarkeit des Schreibers nicht zulassen, ist damit bereits die
Ungültigkeit eines so geschriebenen Testaments sicher begründet:
Eine derartige Urkunde ermöglicht die bezweckte Echtheitsprüfung
„aus sich selbst heraus“ eben gerade nicht.
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Das hat nichts mit der bloßen Beweisfrage zu tun, ob nicht viel-
leicht doch, etwa durch zufällig anwesende Zeugen, dargetan wer-
den kann, dass der Erblasser persönlich „getippt“ hat: Einerseits
soll eben die Testamentsgültigkeit nicht von einem solchen Zufall
abhängen; andererseits besteht gegen einen solchen Beweis wegen
der Möglichkeit bestochener oder sonst manipulierter Zeugen ein
besonderes Misstrauen, da der Erblasser selbst dazu nicht mehr be-
fragt werden kann. Gegen ein stenografisches oder in kyrillischen
Schriftzeichen verfasstes Testament bestehen dagegen keine ver-
gleichbaren Bedenken: Es ist handschriftlich, also mit überprüfba-
ren individuellen Schriftzeichen angefertigt. Dass diese in unseren
Breiten unüblich sind, tut nichts zur Sache.
Zur „Unterschrift“ bestätigt sich, dass sie, was ja schon sprach-
lich nahe liegt, am Ende des Textes stehen muss, weil nur dann
ersichtlich ist, dass die „Beendigung des Geschäftes“ bezweckt war
(Ofner I 347, II 538). Nur die Unterschrift zeigt ja nach der Verkehrs-
übung an, dass die Überlegungen des Erklärenden beendet sind und
er den vorliegenden Text in Kraft setzen will. Dem genügt die Na-
mensnennung zu Beginn der Erklärung oder irgendwo im Text kei-
neswegs; es könnte sich ja nur um einen bloßen Entwurf handeln
(Ofner II 539).
Weniger aufschlussreich sind die Materialien hingegen erstaun-
licherweise für die Interpretation des Tatbestandsmerkmals „mit
seinem Namen“. Der Urentwurf hatte in seinem §  373, der Vor-

39
Die Auslegung (im engeren Sinn)

gängerbestimmung des §  578 ABGB, neben weiteren, später als


überflüssige Belastung erkannten Formalitäten noch Unterzeich-
nung mit dem Vor- und Geschlechtsnamen (Familiennamen) gefor-
dert. Die Änderung auf „mit seinem Namen“, die schließlich Geset-
zestext wurde, ist nicht erklärt. Jedoch liegt die Vermutung nahe,
dass auch dies die Formstrenge lockern sollte. Das spricht für das
Ausreichen der Unterfertigung des Testaments mit dem Familien­
namen und wohl auch mit dem Vornamen allein, was aber ange-
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sichts der Vielzahl von Namensträgern bei allen gängigen Vornamen


unter dem Gesichtspunkt der Identifizierung jedoch etwas proble-
matisch bleibt. Der Lockerungsthese könnte man noch entgegen-
halten, dass auch eine bloße Verkürzung der Gesetzesformulierung
beabsichtigt sein konnte und „mit seinem Namen“ (in der Einzahl!)
wie vorher der vollständige „amtliche“ oder „bürgerliche“ Name ge-
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meint war: Zwar gehören der Vor- und der Familienname zweifellos
zum Namen des Testators und lässt sich sprachlich gewiss jeder Teil
als „Name“ bezeichnen. Es ist aber keineswegs selbstverständlich,
dass drei verschiedene Varianten (Vorname, Familienname oder
beides) einheitlich und in der Einzahl als „sein Name“ bezeichnet
werden. Sprachlich ist dies allerdings auch nicht ausgeschlossen, da
ja der Vor- und der Familienname je für sich, aber auch gemeinsam,
zweifellos dem Namensbegriff unterfallen.
Sprachlich, gerade wegen des Formulierungsunterschieds ge-
genüber dem Vorentwurf aber auch historisch, spricht wesentlich
mehr für das Ausreichen der Unterfertigung mit Vor- oder Familien­
namen. Untermauern lässt sich diese Ansicht durch die objektiv-
teleologische Auslegung, auf die hier vorgegriffen sei: Sowohl der
Vor- wie der Familienname werden im Rechtsverkehr als bekräfti-
gende Abschlussformel verwendet. Auch als Identifizierungsmittel
reichen sie in aller Regel jedenfalls in Verbindung mit dem sonstigen
Testamentsinhalt und mit den aufschlussreichen Nebenumständen
(zB dem Auffindungsort des Testaments, den darin bedachten oder
zumindest erwähnten Personen usw) aus; jedenfalls nicht weniger
als ein voll ausgeschriebener Allerweltsname (zB Karl Maier).

40
Die historische (subjektive) Auslegung

4. Wer ist „der Gesetzgeber“?


Offen geblieben ist bisher die Frage, wen oder was genau die ver-
einfachende Redeweise vom „Gesetzgeber“ bezeichnet. Dazu wird
häufig als Problem empfunden, dass zwar ein absoluter Monarch
oder Diktator ein personaler Gesetzgeber sei, während in einem
entwickelten demokratischen Rechtsstaat in der Gesetzgebung vie-
le Menschen, insbesondere die Parlamentsmehrheit, beteiligt sind,
sodass gar kein Mensch aufzufinden sei, dessen realer Wille maß-
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geblich sein könnte. Ein Kollektivwille sei aber nichts psychologisch


Reales, sondern nur eine Konstruktion.
Rechtspraktisch betrachtet sind das allerdings im Wesentlichen
Scheinprobleme. Auch ein absoluter Monarch hatte etwa bei Er-
lassung des ABGB dieses Gesetz gewiss nicht so in sein Bewusstsein
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und damit in seinen Willen aufgenommen, dass er zu den zahllosen


Auslegungsfragen Konkretes gewollt hätte. Dasselbe gilt schon we-
gen der oft beklagten „Gesetzesflut“ für die Abgeordneten im Parla-
ment, die meist auf einem geringen Informationsstand gemäß den
Vorgaben ihrer Partei abstimmen („Klubzwang“); und meist sogar
für die jeweiligen Experten der einzelnen Parteien, deren Informa-
tion und Willensbildung über das zu erlassende Gesetz in der Re-
gel ebenfalls mehr global als detailliert sind. Die für die Auslegung
möglicherweise ergiebige Detailarbeit geschah und geschieht ganz
regelmäßig in fachkundigen Beratungsgremien, vor allem aber in
den die Gesetzesentwürfe vorbereitenden Ministerien, in den die-
se Entwürfe beeinflussenden und begutachtenden politischen und
wirtschaftlichen Verbänden usw.
Ein „Kollektivwille“ ist zwar in der Tat eine realitätsfrem-
de Konstruktion. Doch ist es selbstverständlich möglich, dass der
durchaus individuelle Wille mehrerer oder auch vieler Menschen
zu bestimmten Fragen in die gleiche Richtung geht; auch in dem
Sinn, dass Menschen dem Willen anderer Menschen mit oder ohne
eigene Überprüfung beitreten, diesen Willen also als den ihren
übernehmen. Die in der Diskussion ins Spiel gebrachte Konstrukti-
on, dass der Wille des Gesetzgebers ein nach den Regeln zwischen-
menschlicher Kommunikation zuzurechnender Wille eines nicht
existierenden Wesens ist, erscheint weder notwendig noch irgend-
wie sinnvoll. Vielmehr muss man eben davon ausgehen, dass an der

41
Die Auslegung (im engeren Sinn)

Gesetzgebung zahlreiche verschiedene Menschen in verschiedenen


Rollen beteiligt sind; insbesondere die politischen, wirtschaftlichen
oder juristischen Anreger, Ausarbeiter, Berater, Begutachter usw
als gleichsam informelle, aber gerade für die Detailarbeit und damit
auch für die Auslegung höchst wichtige Instanzen. Sogar die „for-
mellen“ Gesetzgeber in den verfassungsmäßigen Gesetzgebungs-
organen haben häufig mit dem genaueren, auslegungsrelevanten
Inhalt der Gesetze wenig zu tun, sondern legen allenfalls die groben
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Züge der Neuregelung fest, greifen allenfalls korrigierend ein und


fungieren im Übrigen (wie früher der absolute Monarch) als Positi-
vierungsinstanz, die das Gesetz durch ihren Beschluss in Geltung
setzt. Dabei liegen den am Gesetzesbeschluss Beteiligten heutzutage
regelmäßig die von Fachkundigen verfassten Erläuterungen zur Re-
gierungsvorlage vor, weshalb diese Erläuterungen daher als wich-
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tige Grundlage der Abstimmungsentscheidungen in den Gesetzge-


bungsgremien angesehen werden können.
„Der Gesetzgeber“ ist daher am besten als Kurzbezeichnung für
alle informell und formell an dem betreffenden Gesetzgebungsakt
beteiligten realen Menschen zu verstehen. Der „Wille des Gesetzge-
bers“ ist ein durchaus realer menschlicher Wille, nämlich der Wille
eines oder mehrerer der Menschen aus diesem Kreis, der sich im
Gesetzgebungsprozess in der problemrelevanten Frage durchgesetzt
hat. Das kann selbstverständlich auch ein Kompromiss zwischen
ursprünglich auseinanderstrebenden Absichten sein. Ob man nach-
träglich personell präzise feststellen kann, wessen Meinung bzw
Absicht ursprünglich oder überhaupt die letztlich maßgebende ge-
worden ist, spielt keine Rolle.
Das Problem, wie es möglich sein soll, dass eigentlich „privat“
oder doch nur informell-vorbereitend Mitwirkende eine relevante
Absicht des Gesetzgebers bilden können, ist nicht von großem Ge-
wicht, wo es um – real feststehenden – Einfluss auf den auslegungs-
relevanten Gesetzesinhalt und nicht formal um Gesetzesgeltung an
sich geht. Gelöst wird es durch die vernünftige und sachgerechte
Überlegung, dass die offiziellen Gesetzgebungsinstanzen, wenn und
soweit sie ohne eigene Veränderung und ohne Vorbehalt von außen
erarbeitete Gesetzeswerke in Geltung setzen, nicht nur den nack-
ten Text übernehmen, sondern auch die nach außen getretenen Er-
wägungen und Absichten, auf denen der formulierte Text basiert.

42
Die objektiv-teleologische Auslegung

Dafür spricht, dass der bloße Gesetzestext ohne den Kontext der
Gründe, Absichten und Erwägungen, auf denen er fußt, nur be-
schränkt verständlich wäre. Man spricht von „Paktentheorie“ in
dem Sinn, dass die formellen Gesetzgebungsorgane die Übernahme
von Entwurfstext und Hintergrund akzeptieren (und damit „pak-
tieren“), wenn sie nichts Gegenteiliges erkennen lassen. Selbstver-
ständlich können sie bei der Beschlussfassung nicht nur die vorbe-
reiteten Entwürfe als solche ändern, sondern auch zum Ausdruck
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bringen, dass sie eine unveränderte Entwurfsregel aus anderen als


den vorgeschlagenen Gründen in Kraft setzen, was allerdings kaum
einmal geschieht.
Methodisch wohl noch bedeutsamer sind die Motive und Zweck­
erwägungen einer nationalen Gesetzesregelung, wenn dahinter
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Rechtsakte anderer Institutionen stehen. Das ist nicht zuletzt für


(die vielen) Normen wichtig, die der nationale Gesetzgeber auf-
grund verbindlicher Vorgaben durch europäische Richtlinien erlas-
sen hat (näher dazu S 63 ff).

IV. Die objektiv-teleologische Auslegung


1. „Objektiver Zweck“?
Die häufige Redeweise vom objektiven Zweck des Gesetzes selbst
als Gegensatz zum subjektiven Zweck des Gesetzgebers wird mit
Recht als paradox kritisiert: Ist ein Zweck ein gewünschter und
anzustrebender Zustand, so ist ein wünschendes und strebendes
Subjekt vorausgesetzt. Gemeint ist jedoch etwas durchaus Sinnvol-
les: Oft lässt sich eine Rechtsfrage mit den bisher erörterten Metho-
den nicht überzeugend lösen; etwa weil sich für das gerade anste-
hende „Begriffshof“-Problem auch im historischen Material keine
aufschlussreichen Vorstellungen oder Zwecke finden lassen, weil
relevantes historisches Material überhaupt nicht aufzufinden ist,
weil die historischen Zweckerwägungen widersprüchlich sind bzw
mit anderen anerkannten Zwecken kollidieren oder weil feststellba-
re historische Zwecke (etwa solche des Gesetzgebers während des
Nationalsozialismus) im gegenwärtigen rechtlichen und faktischen
Kontext eindeutig überholt sind. Richter sind aber jedenfalls zur
Entscheidung ihnen vorgelegter Streitfälle verpflichtet. Immer noch

43
Die Auslegung (im engeren Sinn)

ungerechtfertigt wäre es aber, der jeweils dafür zuständigen Rechts-


instanz, letztlich dem Höchstgericht, bereits nach Erschöpfung der
bisherigen Methoden die Entscheidung durch „Eigenwertung“ nach
seinen persönlichen Vorlieben oder Präferenzen zu überlassen. Der
Richter muss vielmehr so weit wie möglich als begründungspflich-
tiger Repräsentant der Rechtsgemeinschaft handeln. Es muss daher
immer noch versucht werden, jene unter den möglichen Ausle-
gungsvarianten herauszuarbeiten, die sich am besten in das geltende
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Rechtssystem einfügt. Erst wenn auch diese Bemühung vergeblich


bleibt, ist wegen des staatlichen Entscheidungszwangs „richterliche
Eigenwertung“ unvermeidlich und daher legitim.
Vor dieser letzten, nicht mehr als rational zu qualifizierenden
Methode kann und muss daher noch vorausgesetzt werden, dass
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Gesetze in aller Regel nicht schlechthin willkürlich-zufällig, sondern


in Verfolgung (regelmäßig) vernünftiger und daher rekonstruier-
barer Zwecke produziert werden und entsprechend den zentralen
Grundsätzen des Rechts (Gerechtigkeit, Rechtssicherheit, Zweck-
mäßigkeit) angewendet werden sollen. Dem Gesetzgeber muss – bei
sonstiger Unmöglichkeit rationaler Rekonstruktion – bis zum klaren
Beweis des Gegenteils zugestanden werden, dass er die Tatsachen-
fragen im Zusammenhang mit der Mittel-Zweck-Relation sachlich
zutreffend bzw im Einklang mit den am besten bewährten („wahr-
heitsnächsten“) Erfahrungssätzen lösen wollte und gelöst hat.

2. Das Grundschema
Es ist also zu prüfen, welcher Zweck oder welche Zwecke nach der
gesamten verfügbaren Erfahrung im konkreten Zusammenhang
überhaupt oder doch zumindest mit einer gewissen Wahrschein-
lichkeit als vernünftige Rechtszwecke in Frage kommen. Dies tut
man, indem man mit Hilfe korrekter Tatsachenaussagen fragt, für
die Verfolgung welcher Zwecke die betreffende Rechtsregel geeig-
net ist. Diese Prüfung muss auf der jetzt erörterten Auslegungsstufe
mangels historischer Hinweise aufgrund allgemeiner Erfahrung vom
Standpunkt eines wohlinformierten und auf dem Boden des Rechts-
systems stehenden Beurteilers erfolgen; also in diesem Sinn „objek-
tiv“. Es gilt, jene relevante Zweckhypothese herauszufinden, die ver-
nünftigerweise mit der größten Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist.

44
Die objektiv-teleologische Auslegung

Dieser Ansatz mag übermäßig spekulativ erscheinen, ist aber durch


den Zwang zu umfassender Argumentation jedenfalls noch deutlich
rationaler als die sofortige „Eigenwertung“.
Als Auslegungsmaterial dienen somit – neben den unter 1. ge-
machten Voraussetzungen – alle Informationen über jene Geset-
zeszwecke, die im Problemzusammenhang mit vernünftiger Wahr-
scheinlichkeit als möglich erscheinen, sowie Informationen über
jene Tatsachen, die zur Beurteilung der Mittel-Zweck-Relation (mit
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der auszulegenden Norm als Mittel und dem erst gesuchten Zweck)
hilfreich sind. Nur solche Zweckhypothesen, bei denen die Taug-
lichkeit der Norm als Mittel bejaht werden kann, kommen somit in
die engere Wahl.
Beispiel: So scheitert auf der objektiv-teleologischen Ebene, also etwa für
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einen Beurteiler, dem das historische Auslegungsmaterial nicht zur Ver­


fügung steht, die mögliche Zweckhypothese bezüglich des Tatbestands­
merkmals „eigenhändig“ in §  578 ABGB, mit dieser Norm habe man
bloß die Schreibfertigkeit der Menschen fördern wollen: Eine Urkunde,
die zahllose Menschen überhaupt nicht, andere allenfalls einmal oder
zweimal in ihrem Leben errichten, ist dafür offenkundig ungeeignet.
Ebenso wird nicht bezweckt gewesen sein, die Auftragslage für Schrift­
sachverständige zu verbessern.
Um einen Zirkel zu vermeiden, ist die auszulegende Norm ferner
unter Ausklammerung der gerade anstehenden Auslegungsfrage
tunlichst auf ihren vom Auslegungszweifel nicht betroffenen en-
geren Kernbereich zu beschränken und ist für diesen die geeigne-
te Zweckhypothese zu suchen. Aus dem so ermittelten Zweck lässt
sich nicht selten die Lösung des anstehenden Auslegungsproblems
ableiten (deduzieren). Das sei wiederum am Beispiel der Testa-
mentsform gezeigt: Vom Merkmal „eigenhändig“ wäre auf den
zugrunde liegenden Zweck zunächst unter Ausklammerung der
kritischen Bereiche, also des maschinell geschriebenen und des ste-
nografischen Testaments, zurückzuschließen; somit für einen mit
normaler Handschrift (mit welchem Schreibmittel immer) angefer-
tigten Text. In diesem Beispiel liegt (vom historischen Auslegungs-
material einmal abgesehen) der besonders günstige Fall vor, dass
nur eine Zweckhypothese ernstlich die um den konkreten Ausle-
gungszweifel bereinigte geltende Regel erklärt, ohne dass ihrer Be-

45
Die Auslegung (im engeren Sinn)

jahung irgendwelche Bedenken als system- oder sachwidrig entge-


gengehalten werden könnten: Die Hypothese, der Zweck sei die
verlässliche Echtheitsprüfung aus der Urkunde selbst. Damit ist
eine vollkommen zureichende und befriedigende Erklärung für das
Erfordernis der Eigenhändigkeit gegeben.
Auch wenn man die Auslegungsfrage objektiv-teleologisch un-
tersucht, folgen also die historisch begründeten Resultate (dazu be-
reits S 35 ff) ganz unabhängig von den persönlichen Vorlieben des
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beurteilenden Juristen, der zB subjektiv ein Verfechter möglichst


weitgehender Formfreiheit und dementsprechend milder Interpre-
tation der Formvorschriften sein mag oder der zB eine starke Ab-
neigung gegen ihm selbst nicht zugängliche (etwa stenografische)
Schriftzeichen hat. Das muss eben ohne Einfluss bleiben. Charak-
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teristisch ist aber die Beobachtung, dass im Beispielsfall – wie über-


wiegend auch sonst – die objektiv-teleologische Auslegung genau
dasselbe Ergebnis liefert wie die historisch-subjektive.
Schwieriger wird die objektiv-teleologische Auslegung selbst-
verständlich dann, wenn mehrere Alternativzwecke ernstlich als
taugliche Grundlage der auszulegenden Regeln in Frage kommen.
Auch dann ist es aber noch keineswegs notwendig, zur „richter­
lichen Eigenwertung“ bei der Wahl zwischen den zunächst taug-
lichen Zweckhypothesen überzugehen. Vielmehr sind für die wei-
tere rechtliche Selektion vor dem genannten letzten Ausweg die
allgemeinsten rechtlichen Grundwertungen heranzuziehen, also
die fundamentalen Prinzipien der „Rechtsidee“, die sich, freilich
weitgehend vermittelt durch konkretere rechtliche Maßstäbe, viel-
fach als weiterführend erweisen. Für die Demonstration am Bei-
spiel muss allerdings öfters über den bisher vielfach verwendeten
Testamentsfall hinausgegangen werden, was gelegentlich größere
Ausführlichkeit notwendig macht.

3. Die teleologisch-systematische Auslegung


Das erste und wichtigste Zusatzkriterium für die Wahl zwischen zu-
nächst tauglichen Zweckhypothesen ist der für das Rechtssystem
fundamentale Grundsatz der Gerechtigkeit im allgemeinsten
und zugleich durchaus unpathetischen Sinn; dh der Grundsatz des
Gleichmaßes, wonach Gleiches gleich, Ungleiches entsprechend
46
Die objektiv-teleologische Auslegung

seiner Ungleichheit ungleich zu behandeln ist (für Österreich siehe


dazu auch Art 7 B-VG). Die unzweifelhafte Unvollständigkeit dieses
Maßstabes, der die genauen Kriterien für gleich und ungleich selbst
nicht enthält, ist im vorliegenden Zusammenhang dadurch über-
brückbar, dass man diesbezüglich auf in der Rechtsordnung bereits
an anderer Stelle, also außerhalb des jetzt auszulegenden Geset-
zes, getroffene Zwecksetzungen oder Wertentscheidungen abstellt.
Nicht mehr der explizite Inhalt anderer konkreter und systematisch
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aufschlussreicher Regeln ist hier also das zusätzlich benötigte Ausle-


gungsmaterial, sondern deren Zweck- oder Wertungsgrundlagen.
Diese sind zunächst nur der betreffenden anderen Norm zugrunde
gelegt worden. Die dort vom Regeltatbestand betroffenen Sachver-
halte enthalten aber als Kern eine zwischenmenschliche Interessen-
konstellation, üblicherweise einen typischen Interessenkonflikt, der
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ebenso oder doch in ähnlicher Form auch im Normbereich der aus-


zulegenden Regel besteht; hier freilich eingebettet in einen anderen
Sachverhaltszusammenhang.
Bei der Interpretation ist nun darauf zu achten, dass die Wer-
tung und dementsprechende Zielsetzung, die der systematisch ein-
schlägigen anderen Norm erkennbar zugrunde liegt, auch bei der
primär anzuwendenden Norm in deren Auslegungsspielraum wirk-
sam wird. Auf diese Weise wird das fundamentale Gleichmaßge-
bot respektiert. In der Methodenlehre spricht man dabei meist und
anschaulich von der möglichsten Vermeidung von Wertungs-
widersprüchen als wichtigem Auslegungsziel. Die Relativierung
– „möglichst“ – ist notwendig, weil gegen eindeutige Wertungswi-
dersprüche gesetzlicher Regelungen kein methodologisches Kraut
gewachsen ist, sondern nur die Anrufung des Gesetzgebers (oder
des Verfassungsgerichtshofs wegen Gleichheitswidrigkeit) bleibt.
Beispiel: Bei einem Unfall wird ein Beteiligter getötet, der andere ist
schuld. Der Schädiger hat nach §  1327 ABGB den gesetzlich unterhalts­
berechtigten Hinterbliebenen das zu ersetzen, „was ihnen dadurch ent­
gangen ist“; also eben den Unterhalt, den ihnen der Getötete nicht mehr
gewähren kann. Ein Kind des Getöteten ist nun im Zeitpunkt seines
Todes bereits selbsterhaltungsfähig, bekommt also aktuell keinen Unter­
halt. Einige Zeit nach dem Todesfall verliert dieses Kind seine Stelle, hat
kein Einkommen und würde also wieder vom Getöteten erhalten werden
(müssen), wenn dieser noch lebte.

47
Die Auslegung (im engeren Sinn)

Die Auslegungsfrage, von deren Beantwortung nicht weniger als die


Bejahung oder die Ablehnung des Ersatzanspruchs gegen den Schä-
diger abhängt, lautet somit: Kommt es beim Anspruch des Hinter-
bliebenen gegen den Haftenden nur auf den aktuellen gesetz­lichen
Unterhaltsanspruch im Zeitpunkt des Todes an oder auf das fami-
lienrechtliche Verhältnis als solches, aus dem der aktuell ruhende
Unterhaltsanspruch bei Unfähigkeit zur Selbsterhaltung jederzeit
wieder entstehen kann? Das ist in §  1327 ABGB nicht eindeutig ge-
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sagt. Dessen Formulierung spricht durch die Verwendung des Per-


fekts („entgangen ist“) eher ein wenig dafür, dass der zu ersetzende
Unterhaltsentgang auf den Zeitpunkt der Tötung zu beziehen ist.
Man kann aber auch vom Zeitpunkt der Beurteilung (regelmäßig
Schluss der Gerichtsverhandlung 1. Instanz) zurückblicken. Prin-
zipiell schiene es recht willkürlich, wenn bei sonst zwischen Schä-
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diger und Hinterbliebenem völlig gleicher Interessenlage der Zufall


entscheiden sollte, dass der Hinterbliebene gerade im Zeitpunkt der
Tötung – womöglich nur für kurze Zeit – selbsterhaltungsfähig war.
Klarheit schafft eine teleologisch-systematische Auslegung mit
Hilfe des §  12 Abs 2 EKHG. Dieses im Vergleich zu §  1327 ABGB
jüngere Sondergesetz legt vor allem dem Halter eines Kfz für Un-
fälle beim Betrieb dieses Kfz eine vom Verschulden unabhängige
Gefährdungshaftung auf. Die zitierte Bestimmung stellt nun völlig
klar zugunsten der unterhaltsberechtigten Hinterbliebenen eines
Getöteten auf das Rechtsverhältnis ab, aus dem die Unterhaltsan-
sprüche entstehen können, also nicht auf den aktuellen Unterhalts-
anspruch im Zeitpunkt der Tötung: „Stand der Getötete zur Zeit der
Verletzung zu einem Dritten in einem Verhältnis, vermöge dessen er diesem
kraft Gesetzes unterhaltspflichtig war oder unterhaltspflichtig werden konn­
te, …“ Bezweckt ist also offensichtlich, jeder Unterhaltsbedürftig-
keit unabhängig vom zufälligen Zeitpunkt der Aktualisierung des
Unterhaltsanspruchs Rechnung zu tragen. Das entspricht auch dem
Zweck des Schadenersatzrechts, Geschädigte so zu stellen, wie sie
ohne die schädigende Handlung stünden. Ohne die Tötung wäre es
mit Wegfall der Selbsterhaltungsfähigkeit zum Wiederaufleben der
Unterhaltsansprüche gekommen.
Schwache Juristen vom Typ des strengen Formalisten neigen
in vergleichbaren Fällen zu dem „Argument“, die Erstreckung der
Ersatzpflicht auch auf erst später aktualisierte Unterhaltsansprüche

48
Die objektiv-teleologische Auslegung

stehe eben (nur) im EKHG, sodass es in den sonstigen Schadensfäl-


len, für die §  1327 ABGB gelte, eben anders sei. Das ist ganz verfehlt.
Gewiss hätte der Gesetzgeber in §  1327 ABGB die Zeitpunktfrage
umgekehrt lösen können. Abgesehen davon, dass dies eine krasse
Willkürlichkeit gewesen wäre, hat er das aber nicht getan, sondern
in §  1327 ABGB die besprochene Auslegungsfrage (nicht entschie-
den, sondern) bloß aufgeworfen; vermutlich ganz ungewollt, da er
an den speziellen Sachverhalt – das Kind ist im Zeitpunkt der Tö-
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tung des Vaters selbsterhaltungsfähig, verliert diese Fähigkeit aber


später wieder – bei Formulierung der Norm nicht gedacht hat. Ent-
scheidend ist nun, dass der Interessenkonflikt zwischen Schädiger
und Hinterbliebenen in beiden Normbereichen völlig gleich liegt,
sodass die klare Wertung des – später erlassenen – EKHG, wonach
der Zufall der aktuellen Unterhaltsberechtigung nicht entscheiden
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soll, in vollem Umfang auch auf die ABGB-Regel „passt“. Der Ge-
setzgeber hat das Problem und dessen Regelungsbedürftigkeit aber
eben erst im Zuge der Erlassung des EKHG erkannt. Ideal wäre na-
türlich gewesen, §  1327 ABGB im Zuge der Erlassung des EKHG
entsprechend anzupassen. Aus der Nichtanpassung kann aber man-
gels entsprechender Hinweise nicht der Schluss gezogen werden,
der Gesetzgeber habe für das ABGB eine abweichende Rechtsla-
ge gewollt. Es läge also ein krasser Wertungswiderspruch vor,
wenn unsere Problemfrage hier anders beantwortet werden würde.
Darüber hinaus läge sogar eine absurde Begünstigung eines an der
Tötung schuldigen Schädigers gegenüber einem solchen Schädiger
vor, der ohne Verschulden nur für die Betriebsgefahr seines Kfz haf-
tet. Das Ergebnis der teleologisch-systematischen Auslegung ist also
eindeutig; die Lösung des Problems kann spätestens seit der Geltung
des EKHG nicht mehr zweifelhaft sein.
Zur am besten ebenfalls bei der teleologischen Auslegung ein-
zuordnenden Maxime der beidseitigen Rechtfertigung von
Rechtsfolgen – danach gilt der Blick etwa Schädiger und Geschä-
digtem gleichermaßen, nicht primär oder gar bloß dem einen oder
dem anderen – siehe auf S 79 f im Zusammenhang mit der Abwä-
gung von (gegenläufigen) Prinzipien.

49
Die Auslegung (im engeren Sinn)

4. Die Auslegung entsprechend der „Natur der Sache“


Der Ausdruck „Natur der Sache“ wird in sehr unterschiedlicher
und teilweise unklarer Weise verwendet; insbesondere wird mit sei-
ner Hilfe auch versucht, unmittelbar aus sachlichen Gegebenheiten
normative Folgerungen abzuleiten. Das läuft auf einen „normativen
Fehlschluss“ (vom Sein auf das Sollen) hinaus.
Zwei taugliche Möglichkeiten zur Verwendung des Begriffs blei-
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ben: Einmal kann man damit die Fälle bezeichnen, in denen in ei-
ner rechtlichen Ableitung ein die „Tatsachen des Normbereichs“
beschreibender Satz eine besondere Rolle spielt; etwa weil er von
Meinungsverschiedenheiten betroffen ist oder weil sich die maßge-
bende Meinung über seine Richtigkeit geändert hat.
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Beispiel: Man nehme als Ausgangspunkt etwa einen Rechtssatz, wonach


nur gesundheitsverträgliche Baustoffe verwendet werden dürfen. (Er mag
in manchen Bauordnungen explizit vorzufinden sein, kann aber auch ein
bloßes Teilelement in allgemeinen Rechtssätzen sein, die eine vorrangige
Berücksichtigung des Schutzes von Leben und Gesundheit fordern.) So­
lange Asbest als Baumaterial verwendet wurde, ohne dass irgendwelche
gesundheitliche Bedenken bekannt waren, ließ sich aus diesem Rechtssatz
und dem deskriptiven Satz über die Unbedenklichkeit des Asbests folgern,
dass dieses Material beim Bau verwendet werden darf. Dieser problemnä­
here, also konkretere Rechtssatz galt kraft Deduktion aus der Ausgangs­
norm bis zu dem Zeitpunkt, zu dem die massive Gesundheitsgefährdung
von Asbest erkannt und anerkannt war. Ohne jede Änderung des Gesetzes
ist seither der gegenteilige konkretere Rechtssatz abzuleiten, dass Asbest als
Baumaterial unzulässig ist.
Eigenständige normative Bedeutung hat die „Natur der Sache“ in
der jetzt besprochenen Funktion nicht. Rechtliche Ableitungen und
Begründungen müssen infolge der Realbezogenheit des Rechts in
weitestem Umfang auch mit Tatsachenaussagen arbeiten (so wur-
de etwa lange Zeit an die Unschädlichkeit des Passivrauchens ge-
glaubt), mag es sich – wie im Beispielsfall – um Aussagen über
„generelle Tatsachen des Normbereichs“ oder – wie bei der Einzel-
fallentscheidung – um festgestellte Einzeltatsachen handeln. Sind
die Tatsachenaussagen falsch, etwa im Einzelprozess wegen falscher
Zeugenaussagen, denen geglaubt wird, so gilt das auch für das recht-
liche Ergebnis. Dieses kann allerdings durch die Rechtskraft in den

50
Die objektiv-teleologische Auslegung

Grenzen des Prozessrechts trotzdem unangreifbar geworden sein.


Die normativen Prämissen wurden eben völlig korrekt gehandhabt.
Um diese Prämissen geht es aber, wenn die „Natur der Sache“
als Interpretationsbehelf fungieren soll. Im Auslegungsbereich,
also im „Begriffshof“ der Normbegriffe und Normsätze, kann die
Natur der Sache tatsächlich eine klärende Rolle spielen, wenn man
sie eben nicht mit einer bloßen Sachbeschreibung gleichsetzt, son-
dern ihr einen bestimmten normativen Gehalt zuschreibt. Das ist
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nur, aber immerhin dann möglich, wenn die fragliche „Sache“ ein
typisches, also in der Realität des menschlichen Zusammenlebens
häufig in gleicher Weise vorkommendes Lebensverhältnis ist und
wenn dieses Lebensverhältnis rechtlich durch eine darauf bezogene
Regelung als „Rechtsinstitut“ anerkannt ist. Beispiele sind etwa
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der Vertrag, das Eigentum oder die Familie, mangels einer recht­
lichen Regelung und Bedeutung aber nicht die Freundschaft.
Weist nun die rechtliche Regelung Auslegungsspielräume auf,
die objektiv-teleologisch bewältigt werden müssen, so ist es mög-
lich, unter den denkbaren Zweckhypothesen danach zu unterschei-
den, welche von ihnen für das nach allgemeiner Auffassung be-
friedigende Funktionieren des betreffenden, rechtlich anerkannten
Instituts besser geeignet ist. Das befriedigende Funktionieren lässt
sich dem faktischen Verhalten der Beteiligten in den Anwendungs-
fällen des Instituts entnehmen, die von den beteiligten Menschen
als normal oder zumindest als nicht zerrüttet oder gestört empfun-
den werden. Unter der globalen normativen Maxime der Zweck-
mäßigkeit empfiehlt es sich nämlich, jene Auslegung zu wählen,
die das befriedigende Funktionieren eines rechtlich anerkannten ty-
pischen Lebensverhältnisses am besten fördert oder doch zumindest
am wenigsten gefährdet. Kurz gesagt kommt es also auf die betä-
tigte Übung der unmittelbar Beteiligten in ihren funktionierenden
Beziehungen an.
Manche Beispiele dafür sind banal. Dass für Kaufverträge in ei-
nem Ladengeschäft Erfüllungsort eben das Geschäft und Erfüllungs-
zeit „sogleich“ ist, auch wenn dies im Gesetz nirgends so ausgespro-
chen ist, versteht sich von selbst; ebenso, dass Erfüllungsort für die
Arbeitspflicht eines Arbeitnehmers mangels anderer Vereinbarung
der Betrieb ist, für den er angestellt wurde. Oder: Im Strafrecht stell-
te sich die Frage, ob der Nichtigkeitsgrund des § 281 Abs 1 Z 7 StPO
51
Die Auslegung (im engeren Sinn)

(Nichterledigung der Anklage) auch vom Angeklagten oder nur


vom Ankläger aufgegriffen werden kann. Aus der Natur der Sache
ergibt sich, dass der Nichtigkeitsgrund nur für den Ankläger gilt und
die bloße Unterlassung eines Freispruchs keine Nichtigkeit darstellt.
Der Angeklagte hat nämlich keinen Vorteil daraus, ein Urteil mit
diesem Nichtigkeitsgrund zu bekämpfen, da die Nichterledigung im
Ergebnis einem Freispruch gleichkommt, das Urteil ihn also inso-
fern nicht belastet.
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Nicht so selbstverständlich zu beantworten ist eine zur unent-


geltlichen Lizenz im Urheberrecht aufgeworfene Frage. Zu klären
war, ob die schenkungsweise Einräumung eines Werknutzungs-
rechts über ein erst geplantes Werk (zB einen Roman) im Sinne des
allgemeinen Schenkungsrechts formpflichtig sei. Unter Hinweis auf
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die Natur der Sache wurde das zu Recht bejaht: Weil das Werk erst
zukünftig erstellt wird, scheidet eine tatsächliche Übergabe jeden-
falls aus. Allerdings kann der Formmangel durch Übergabe (mit-
tels Zeichen) geheilt werden, sobald das Werk geschaffen wurde.
Ebenfalls unter Hinweis auf die Natur der Sache wurde ausgespro-
chen, dass die gesetzliche Pflicht zur ehelichen Lebensgemeinschaft
ebenso wie die zur Treue zwischen Gesellschaftern im Rahmen der
objektiv-teleologischen Auslegung hinsichtlich ihrer Reichweite so
zu konkretisieren ist, wie diese Pflichten in einer funktionierenden
Ehe bzw Gesellschaft in aller Regel geübt werden.

5. Auslegung mit Hilfe eines argumentum ad absurdum


Im strengen Sinn spricht man von einem argumentum ad absur-
dum, wenn das Ergebnis eines Gedankenganges mit einer seiner
Prämissen in Widerspruch steht. Im Zusammenhang der Ausle-
gung gibt es da zumindest eine Ähnlichkeit: Die Rechtsordnung ist
jene einer bestimmten Rechtsgemeinschaft und sollte daher auch
in ihren Einzelergebnissen mit dem Rechtsbewusstsein des über-
wiegenden Teils dieser Gemeinschaft möglichst im Einklang ste-
hen. Ablehnung durch eine starke Majorität, wie sie auch in ei-
ner „pluralistischen Gesellschaft“ gerade im Sinne eines negativen
Konsenses durchaus vorkommt, genügt als Kriterium; also etwa
die Ablehnung durch fast alle einigermaßen vernünftig urteilenden
und die Rechtsordnung grundsätzlich bejahenden Mitglieder der

52
Die objektiv-teleologische Auslegung

Rechtsgemeinschaft ohne Rücksicht auf ihre generelle ideologische


Einstellung. Vorausgesetzt muss dabei freilich auch werden, dass
ein solcher Konsens nicht primär auf Informationsmängeln (oder
gar aufgrund aktueller Medienmanipulation) beruht. Kann man
solchen negativen Konsens mit gutem Grund für ein bestimmtes
Auslegungsergebnis annehmen, so ist die betreffende Zweck- und
damit Auslegungshypothese ad absurdum geführt und daher auf-
zugeben. Man muss sich dabei freilich auch vergegenwärtigen, dass
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hier nur von einer Teiloperation im Rahmen methodischer juristi-


scher Arbeit (und hier wieder im Rahmen der objektiv-teleologi-
schen Interpretation bei bestimmten Vorschriften bzw Problemen)
die Rede ist. Die Befürchtung, dass hier den jeweils aktuellen Emo-
tionen einer vielleicht politisch bzw medial manipulierten großen
Zahl entscheidender Einfluss auf die Rechtsfindung zugeschrieben
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wird, kann also entkräftet werden. Bei entsprechend eingeschränk-


ter Anwendung spricht für die Anerkennung des hier besprochenen
Auslegungskriteriums der fundamentale Grundsatz der Rechtssi-
cherheit; und zwar gleich in einem doppelten Sinn: Was die meis-
ten Mitglieder einer Rechtsgemeinschaft klar ablehnen, werden sie
auch nicht als Ergebnis ihrer Rechtsordnung erwarten, sodass ein
solches Ergebnis für sie überraschend und damit unvorhersehbar
sein müsste. Darüber hinaus würde ein solches Ergebnis ihr Rechts-
bewusstsein untergraben, was der realen Wirksamkeit der Rechts-
ordnung im Ganzen abträglich wäre.
Ein wichtiges Anschauungsbeispiel liefert der Kausalzusam-
menhang im Schadenersatzrecht, dessen ganz zentrale Verschul-
denshaftungsnorm (§  1295 ABGB) bestimmt, dass der schuldhaft
Handelnde den durch sein Verschulden „zugefügten“ Schaden erset-
zen muss. Das heutige, recht präzise und grundsätzlich wohlbegrün-
dete Verständnis von Kausalität (Ursächlichkeit, Verursachung) als
Haftungsvoraussetzung geht dahin, dass ein Umstand (die schuld-
hafte Handlung) kausal für einen anderen Umstand (den Schaden)
ist, wenn bei Wegdenken des ersten auch der zweite entfiele (Lehre
von der „conditio sine qua non“ oder vom „Bedingungszusam-
menhang“). Die historischen Vorstellungen über die Kausalität, die
rechtsgeschichtlich wirksam waren und dem Gesetz zugrunde lie-
gen, waren vergleichsweise unklar und wohl erheblich enger, wie
insbesondere die Figur des „gemischten Zufalls“ („casus mixtus“) in

53
Die Auslegung (im engeren Sinn)

§ 1311 Satz 2 ABGB zeigt. Die unreflektierte Anwendung des prä-


zisen Begriffs der (naturgesetzlich verstandenen) Kausalität kann
freilich zu absonderlichen Ergebnissen führen, wenn er unkorrigiert
bleibt.
Beispiele: Ein Verkehrsteilnehmer verschuldet durch ein kleines Verse-
hen einen geringfügigen Verkehrsunfall. Ein anderer Unfallsbeteiligter
ist dadurch in Gefahr, wegen der Verzögerung seiner Fahrt einen wich-
tigen Geschäftstermin zu versäumen. Er nimmt daher ein Flugzeug, mit
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dem er bei der Landung am Zielort einen Unfall und eine Verletzung
erleidet. Das gewinnbringende Geschäft kommt daher nicht zustande.
Auf dem Heimweg vom Krankenhaus stiehlt ihm ein Taschendieb sei-
ne Brieftasche. Ein Bekannter hat ihn im Krankenhaus besucht und
wurde dort mit einer Infektionskrankheit angesteckt, die er alsbald auf
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Familienmitglieder und Mitarbeiter überträgt. Einer von diesen kann


daher seinen Erbonkel nicht zeitgerecht besuchen und verliert dadurch
ein ihm in Aussicht gestelltes großes Vermächtnis. Dieses wird vielmehr
einem anderen Neffen zugewendet, der sich in seiner Freude darüber
betrinkt und daher einen schweren Verkehrsunfall mit zahlreichen Ver-
letzten und großem Sachschaden herbeiführt. Man kann die Geschichte
beliebig fortspinnen.
Ein kürzeres Beispiel: A zeugt durch ein schuldhaft-rechtswidriges
Verhalten, etwa durch eine Vergewaltigung, ein Kind. Dieses oder sei-
ne Nachkommen verursachen im Laufe ihres Lebens zahlreiche Schä-
den.
Müssen der erste Unfallschädiger und der Vater für alle genannten
Schäden einstehen? Ohne ihre schuldhafte Handlung wären diese
ja nicht entstanden. Diese Verhaltensweisen waren daher für alle
Schäden kausal.
Von den verschiedenen Kriterien der Haftungsbeschränkung soll
hier nur die Adäquanz angesprochen werden und hier wieder nur
das für sie vorgetragene Hauptargument. Vereinfacht gesagt bedeu-
tet Adäquanz, dass Schadensfolgen dem Verantwortungsgrund haf-
tungsrechtlich nur zugerechnet werden, soweit diese Folgen durch
die Ursache im Zeitpunkt ihrer Verwirklichung aus der Warte eines
sachkundigen und umsichtigen Beurteilers in noch irgendwie prak-
tisch beachtlichem Ausmaß begünstigt (wahrscheinlicher) werden;
wenn sie also nicht bloß durch eine ganz zufällige, für niemanden

54
Die objektiv-teleologische Auslegung

erwartbare Verkettung von Umständen aus dieser Ursache entstan-


den sind.
Schon durch diese, die schlichte Kausalität beschränkende, zu-
sätzliche Haftungsvoraussetzung würden die meisten der oben an-
gedeuteten Schadensfolgen deutlich ausgeschlossen. Die genannten
Beispiele (und zahlreiche andere) lassen auch erkennen, warum die
Adäquanz in der neueren Rechtsprechung relativ selten ausdrück-
lich angewendet wird: In der großen Zahl der einschlägigen klaren
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Fälle kommt von vornherein niemand auf den Gedanken, wegen


solcher „entfernter“ Schäden den schuldigen Ausgangsverursacher
in Anspruch zu nehmen. Von den dritten Geschädigten weiß regel-
mäßig auch niemand von der ganzen Vorgeschichte. Sie brauchen
sich wegen des Adäquanzerfordernisses für diese auch gar nicht zu
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interessieren.
In der Sache läuft die Adäquanzlehre darauf hinaus, dass der
heutige präzise Kausalitätsbegriff für Haftungsfragen in die Rich-
tung der engeren historischen Vorstellungen von der „unmittel-
baren“ Herbeiführung eines Schadens zurückgeführt wird. Als
Hauptargument für diese enge Auslegung (bzw Eingrenzung) der
Kausalität als Haftungsvoraussetzung wird stets ausgeführt, dass an-
derenfalls die Haftung uferlos, völlig zufällig, in ihren Ausmaßen
unkontrollierbar und unabsehbar würde. Sie wäre auch zum ob-
jektiv erkennbaren und daher motivationsrelevanten Schadenspo-
tential der unerlaubten Handlung (und oft auch zum Verschulden
des Schädigers) ganz unverhältnismäßig. Ein notwendiger Teil des
Arguments bleibt aber regelmäßig unausgesprochen: Dass eben die-
se Uferlosigkeit und Zufälligkeit allgemeiner Ablehnung durch die
Rechtsgenossen (einschließlich der nicht strikt formalistisch den-
kenden Juristen) begegnet. Die engere Auslegung des Kausalitäts-
erfordernisses als Haftungsvoraussetzung mit Hilfe der Adäquanz ist
somit ein starkes und wichtiges Beispiel für eine restriktive objektiv-
teleologische Auslegung mit Hilfe eines argumentum ad absurdum.
Ein anderes Beispiel kann etwa der Aufwandersatz des unredlichen Be­
sitzers nach §  336 ABGB liefern, dessen Verweisung auf die Regeln über
die Geschäftsführung ohne Auftrag – sprachlich immerhin möglich – von
einer einflussreichen Lehre dahin verstanden wurde, dass der unredliche
Besitzer bei den für die fremde Sache getätigten notwendigen Aufwen­
dungen besser behandelt wird als der redliche. Dieses erwogene Ausle­
55
Die Auslegung (im engeren Sinn)

gungsergebnis begründet schon für sich ein argumentum ad absurdum:


Kein vernünftiger Mensch könnte es begreifen, wenn die Rechtsordnung
den sorglos oder gar bewusst rechtswidrig Handelnden besser behandelte
als den Sorgfältigen. Daher ist eine andere Auslegungsvariante zu wäh­
len.

6. Auslegung entsprechend vorrangigem Recht (vor allem


Verfassungsrecht) und Normenkollision
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Eine bedeutsame Unterart der teleologisch-systematischen Ausle-


gung legt auf die Übereinstimmung der auszulegenden Norm mit
formal höherrangigem positivem Recht besonderen Wert. Die wich-
tigsten Beispiele sind die „verfassungskonforme“ Auslegung
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von einfachen Gesetzen und die europarechtskonforme Interpreta-


Grundzüge der juristischen Methodenlehre, 9783825261450, 2023

tion inländischen Rechts (dazu gesondert und ausführlicher unter


V. ab S 63). Hier geht es nicht „bloß“ um die Vermeidung von Wer-
tungswidersprüchen, sondern um möglichste Ausschaltung echter
Normwidersprüche zwischen Normen unterschiedlichen formalen
Ranges. Nicht die Grundwertungen, sondern die Norminhalte selbst
könnten kollidieren. Der generelle Zweck der Auslegung ist es nun,
solche Kollisionen so weit wie möglich zu vermeiden. Er ist von
konkreten und belegbaren historischen Absichten des Gesetzgebers
unabhängig, vielmehr knüpft er objektiv an den unterschiedlichen
Rang positiven Rechts an. Vorausgesetzt ist freilich stets, dass die
untergeordnete Norm einen entsprechenden Auslegungsspielraum
bietet, sodass die gefundene Lösung innerhalb ihrer „Lex-lata-
Grenze“ liegt (ausführlich zu dieser Grenze S 113 ff). Die formal
nachrangige Norm darf also nur in einzelnen – und nicht in allen
– ihrer an sich möglichen Auslegungen gegen die höherrangige ver-
stoßen, damit eine vorrangkonforme Auslegung überhaupt denk-
bar ist.
Darüber hinausgehende, also interpretativ nicht auszuräumende
Widersprüche müssten primär in der dafür positivgesetzlich vorge-
sehenen Weise gelöst werden; also je nach genauerer Anordnung
durch Nichtigkeit, Aufhebung oder Nichtanwendung der unter-
geordneten Norm. Wie die Praxis zeigt, finden sich immer wieder
Normen, deren verfassungskonforme Auslegung auf methodisch zu-
lässige Weise nicht in Frage kommt. Ganz prägnant gesagt: Es gibt

56
Die objektiv-teleologische Auslegung

untergeordnete Normen, deren Inhalt auch aufgrund ihrer Entste-


hungsgeschichte (gesetzgeberischer Wille) so klar ist, dass an ihrer
Verfassungswidrigkeit kein Weg vorbeiführt. Daher gehört es auch
zum Alltagsgeschäft des Verfassungsgerichtshofs (VfGH), solche Ge-
setzesbestimmungen als verfassungswidrig aufzuheben. Dies hat er
beispielsweise bei einer Norm aus dem Glücksspielrecht getan, weil
diese für Schadenersatzansprüche des Spielers gegen die Spielbank
ohne sachliche Begründung eine extrem kurze Verjährungsfrist
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vorsah. Aber auch für Normen, deren Sinn sich nur Personen er-
schloss, die sowohl Freude an als auch Begabung für komplizierte
Denksportaufgaben hatten und darüber hinaus einen archivarischen
Fleiß an den Tag legen mussten, wurde Verfassungswidrigkeit bejaht.
Ein letztes aktuelles Beispiel, das zugleich die Grenzen zwischen zulässi­
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ger Rechtsanwendung und Rechtspolitik (Änderung des Rechts) aufzeigt:


§  44 ABGB verlangte für die Ehe bis vor einigen Jahren ausdrücklich
„zwei Personen verschiedenen Geschlechts“. Das ist vom Wortlaut her
eindeutig und war vom Gesetzgeber auch genau so gewollt. Die „Ehe für
alle“ war bei dieser Gesetzeslage durch zulässige Auslegung (§  6 ABGB)
also keinesfalls zu erreichen. Vielmehr musste der VfGH eine Aufhebung
der betreffenden Wortfolge aussprechen, um die von ihm als verfassungs­
gemäß erachtete Rechtslage herzustellen, zumal der Gesetzgeber insoweit
untätig blieb. (Ob diese personale Beschränkung der Ehe im Sinne des
VfGH-Erkenntnisses aus dem Jahre 2017 – der VfGH hat sie zum Ende
des Jahres 2018 aufgehoben – tatsächlich verfassungswidrig war, kann
hier nicht diskutiert werden.)
Im Rahmen des Auslegungsspielraums ist die (verfassungs)konfor-
me Auslegung allerdings einer (vermeidbaren) Behandlung der un-
tergeordneten Norm als nichtig oder ihrer Aufhebung vorzuziehen,
weil auch sie den Widerspruch vermeidet, ohne die berechtigten
Erwartungen der Rechtsgemeinschaft in die Geltung der korrekt
kundgemachten untergeordneten Norm zu enttäuschen (Rechts­
sicherheit) und ohne einen Bruch in der Rechtsordnung durch Un-
gleichbehandlung der Rechtsadressaten vor und nach Verwerfung
der untergeordneten Norm durch die zuständige Instanz (VfGH)
herbeizuführen (Gerechtigkeitsgleichmaß). Der VfGH hebt Normen
nämlich nur ex nunc oder gar mittels Fristsetzung für die Zukunft
auf; in den Genuss einer Rückwirkung kommen nur die Beteiligten
des Anlassverfahrens.

57
Die Auslegung (im engeren Sinn)

Es geht also um die Minimierung der durch wirkliche oder auch


nur wahrscheinliche Normwidersprüche unvermeidlich entste-
henden Schwierigkeiten, die in einem einheitlichen Rechtssystem
nicht bestehen bleiben dürfen. Ob es sich dabei um Widersprüche
im streng logischen Sinn handelt, ist zwar umstritten, aber ziemlich
gleichgültig. Denn es kann niemand gegensätzliche Normbefehle
befolgen, sodass widersprüchliche Normen überhaupt ungeeignet
sind, ihre generelle Aufgabe zu erfüllen, nämlich zur Orientierung
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menschlichen Verhaltens zu dienen. An der rechtlichen Unbrauch-


barkeit einander widersprechender Normen ist daher nicht zu zwei-
feln.
Dieser Befund erfasst gleichermaßen den Widerspruch formal
gleichrangiger Normen, für den keine besonderen Behebungs-
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regeln gelten. Dann bleibt nur die Möglichkeit, den Widerspruch


mit Hilfe der allgemeinen Auslegungsregeln zu beheben oder zu
reduzieren, soweit diese im konkreten Zusammenhang hilfreich
sind. Gelingt dies nicht, sind beide Widerspruchsnormen schlecht-
hin unanwendbar und daher vernünftigerweise auch als ungültig
zu qualifizieren.
Beispiel: §  467 Fall 3 ABGB sieht vor, dass das Pfandrecht erlischt,
wenn der Pfandgläubiger die Pfandsache dem Verpfänder „ohne Vorbe­
halt“ zurückstellt. Ein einfacher Umkehrschluss führte zum Rechtssatz,
dass die Rückstellung „unter Vorbehalt“ (zB für eine bestimmte kurze
Zeitspanne) das Pfandrecht unberührt lässt. Diese Rechtsposition kolli­
dierte jedoch mit dem zwingenden Faustpfand- bzw Publizitätsprinzip,
das für die Begründung des Pfandrechts normiert ist (§§  451 f ABGB)
und durch Rückstellungsabreden leicht unterlaufen werden könnte. Wie
könnte dieser Widerspruch aufgelöst werden, ohne die in §  467 ABGB
enthaltene Regel so zu reduzieren, dass sie keinerlei Anwendungsbereich
(= rechtliche Relevanz) mehr hat? Eine derart weit reichende Reduk­
tion entspräche ja im Ergebnis einer Streichung durch den Interpreten
und ist daher anerkanntermaßen methodisch unzulässig. Ein Redukti­
onsversuch geht dahin, das Pfandrecht dann aufrecht zu lassen, wenn
die Rückstellung unter Vorbehalt derart erfolgt, dass das Pfandrecht –
etwa durch Anbringung entsprechender Zeichen an der Sache – für den
Rechtsverkehr weiterhin erkennbar ist. Dagegen spricht allerdings, dass
§  452 ABGB die symbolische Verpfändung (etwa durch Anbringung von
Zeichen) nur zulässt, wenn eine körperliche Übergabe an den Pfand­

58
Die objektiv-teleologische Auslegung

gläubiger unmöglich oder doch zumindest untunlich ist. Daher ist jene
Auslegungsvariante zu favorisieren, die dem bei Rückstellung gemachten
„Vorbehalt“ bloß obligatorische Wirkung beimisst: Gab es einen solchen
Vorbehalt, kann der Gläubiger neuerliche Übergabe (und damit Neu­
bestellung!) des Pfandes fordern; fehlte ein solcher Vorbehalt, muss der
Verpfänder die Sache nicht mehr herausgeben.

7. Die rechtsvergleichende Auslegung


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Hier lautet die Fragestellung: Kann fremdes (= ausländisches)


Recht etwas zum Verständnis und zur Anwendung des eigenen
Rechts beitragen? Für eine Rechtstheorie, für die sich das Recht in
autonomen Willensprodukten bestimmter staatlicher oder über-
staatlich organisierter Gesellschaften bzw ihrer Gesetzgebungsorga-
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ne erschöpft, muss die Antwort „nein“ lauten. Zumindest ein wenig


anders sieht die Sache jedoch dann aus, wenn man die Rechts-
ordnungen als unterschiedliche Versuche der Konkretisierung der
universalen Fundamentalprinzipien der „Rechtsidee“, also der
Gerechtigkeit, der Rechtssicherheit und der Zweckmäßigkeit, be-
trachtet. Dann bietet es sich bei anders nicht zu überbrückenden
Vagheiten oder Lücken der eigenen Rechtsordnung durchaus an,
klare und wohlbewährte Konkretisierungen anderer Rechtsord-
nungen fruchtbar zu machen, um dem gerade gestellten Problem
abzuhelfen, bevor man zur freien Eigenwertung des Beurteilers
übergeht. Damit kann die Rechtsvergleichung über ihre rein wis-
senschaftliche Erkenntnisbedeutung und über ihre Eignung als be-
währtes Hilfsmittel rationaler Gesetzgebungsbemühungen auch in
der Rechtsanwendung eine gewisse methodische Bedeutung erlan-
gen. Diese liegt primär in der Qualifizierung des bewährten frem-
den Rechts als kontrollierende und uU bestätigende Instanz für die
Brauchbarkeit von bestimmten Auslegungshypothesen unter dem
Gesichtspunkt allgemeiner praktischer Zweckmäßigkeit.
Ganz deutlich muss allerdings betont werden, dass fremdes Recht
nur in seltenen Ausnahmefällen unmittelbar auf die Auslegung
der eigenen Normen einwirken kann. Vielmehr ist im Regelfall große
Zurückhaltung geboten. Vor allem ist der rechtsvergleichenden Ver-
suchung zu widerstehen, dass bestimmte Lösungen in den Rechts-
ordnungen großer und wichtiger Staaten („Rechtsimperialismus“)

59
Die Auslegung (im engeren Sinn)

– so blicken österreichische Rechtswissenschaft und Gerichte häufig


(nur) nach Deutschland – oder auch einfach rechnerisch mehrerer
Staaten, die vielleicht voneinander „abgeschrieben“ haben, ohne
weiteres als vorzugswürdig betrachtet werden. Ebenso wäre es be-
denklich, überproportional ganz bestimmte Rechtsordnungen her-
anzuziehen, die gerade dem jeweiligen Rechtsvergleicher besonders
naheliegen. Vielmehr ist, soweit dies möglich ist, die rechtsverglei-
chend sachlich und prinzipiell beste Lösung zu suchen, die sich zu-
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gleich inhaltlich in das System der eigenen Rechtsordnung einfügt.


Rechtsvergleichende Argumente sollten mit ausschlaggebender,
nicht bloß kontrollierend-bestätigender Funktion daher nur dann
herangezogen werden, wenn die der eigenen Rechtsordnung ent-
stammenden Argumente für die Ermittlung der in diesem System
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bestbegründeten Lösung zu vage oder zu gegensätzlich sind. An-


dernfalls droht von der Heranziehung fremden Rechts die Gefahr,
dass sie in die eigene Rechtsordnung Spannungen oder sogar Wi-
dersprüche sowie Überraschungseffekte hineinträgt, die bedenk-
licher sind als die ohnedies bestehenden Unterschiede, die häufig
historisch gewachsen sind oder nationalen Vorlieben entsprechen.
Auch diese Verschiedenheit an sich bildet freilich, gemessen an
Idealvorstellungen, einen Stein des Anstoßes. So wurde im Grund-
satz zutreffend festgestellt, wie merkwürdig es sei, dass die Gerech-
tigkeit (besser freilich: die Konkretisierung der Gerechtigkeit) dies-
seits der Pyrenäen eine andere sei als jenseits. Die Vorteile einer
positivrechtlichen Rechtsvereinheitlichung auf dafür besonders
geeigneten, nämlich durch intensive internationale Wirtschafts-
verflechtungen gekennzeichneten Rechtsgebieten sind daher ge-
wiss erheblich, wofür das Wiener UN-Kaufrechtsübereinkommen
(CISG) ein markantes Beispiel liefert. Auch die Pläne für eine euro-
päische Privatrechtsvereinheitlichung im Rahmen der EU sind hier
zu nennen. Dabei geht es allerdings um umfassende Gesetzeswerke
(im europäischen Bereich wurde etwa an eine zur Wahl der Partei-
en gestellte „komplette“ Vertragsrechtsordnung – ein sog optionales
Instrument – für übernationale Geschäfte gedacht), nicht mehr um
interpretative Enklaven fremder Herkunft. Doch bleibt auch hier ge-
genüber zu weitgehender Euphorie abzuwägen, dass internationale
Rechtsvereinheitlichung häufig den Preis interner Rechtszersplitte-
rung mit den nicht vereinheitlichten Rechtsgebieten zu bezahlen

60
Die objektiv-teleologische Auslegung

hat. (Beispiel: Das Leistungsstörungsrecht wird vereinheitlicht, das


Recht der Willensmängel hingegen nicht.) Ferner besteht die Ge-
fahr, dass sich Vereinheitlichung häufig am ehesten auf der Basis
des kleinsten gemeinsamen Nenners bewerkstelligen lässt. Die-
ser tendiert manchmal eher zu simplen als zu sachlich und prinzipi-
ell überzeugend durchdachten Lösungen. Dadurch könnte es oft zu
sehr einfachen Gesetzesformeln kommen, die sich aber dann bei der
konkreten Problembewältigung als ungemein vage und daher we-
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nig hilfreich erweisen. Denkbar ist aber auch der umgekehrte Fall:
Die Regelungen fallen zwar konkret, aber sehr undifferenziert und
damit „rechtssicher“ aus, wodurch bei der Anwendung auf kompli-
ziertere Fälle jedoch die (Einzelfall-)Gerechtigkeit auf der Strecke
bleiben kann, da Ungleiches gleich behandelt würde. Beide Tenden-
zen sind unerwünscht.
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8. Die Bedeutung ökonomischer Gesichtspunkte


bei der Auslegung
Blickt man nur auf die Normen des geltenden Rechts und auf deren
Auslegung, so können ökonomische Aspekte dabei von ganz unter-
schiedlicher Bedeutung sein; tendenziell stärker im Vermögensrecht
und tendenziell schwächer etwa im Familienrecht. Zutreffend wer-
den diese Gesichtspunkte bei der Suche nach den Zwecken einer
Vorschrift, also bei der teleologischen Auslegung, eingeordnet. Die
„ökonomische Analyse des Rechts“, eine aus Amerika stam-
mende rechtstheoretische Strömung, stellt die optimale Nutzung
der (immer zu knappen) Ressourcen ganz in den Vordergrund.
Nach deren Vertretern soll sich die Zurechnung von Rechten und
Pflichten auch im Privatrecht an dieser Maxime ausrichten. „Öko-
nomisch“ ist diese Analyse des Rechts in dem Sinne, als sie sich
der Methoden der Ökonomik bedient. Die Ökonomik wiederum
beschäftigt sich insbesondere mit der Untersuchung von rationalen
Entscheidungen des „homo oeconomicus“ unter Nebenbedingun-
gen. Wie auch sonst ist hinsichtlich dieses Ansatzes vor Einseitig-
keiten zu warnen. Zum einen beachtet selbstverständlich bereits die
klassische Auslegungslehre wirtschaftliche Aspekte. Zum anderen
regieren in der Gesellschaft – auch in einer rationalen – nicht nur
diese, wofür wohl ein Hinweis auf die häufig praktizierte Schen-

61
Die Auslegung (im engeren Sinn)

kung genügt. Beachtet man dies, kann der ökonomische Ansatz al-
lerdings durchaus Rationalitätsgewinne mit sich bringen. Das gilt
ganz besonders für die Rechtssetzung, also die Schaffung neuer
Normen durch den Gesetzgeber, wobei deren wirtschaftliche Aus-
wirkungen – und zwar sowohl gesamtwirtschaftlich wie auch in-
dividualisiert – vorweg so sorgfältig wie möglich erwogen werden
sollten.
Doch auch für die Anwendung des geltenden Rechts wird der
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Einsatz der ökonomischen Analyse immer wieder gefordert; so etwa


für das Schadenersatzrecht, wo sich häufig die Frage nach der Effi-
zienz einer Regelung stellt. Man denke nur an die Totalschadenpro-
blematik: Wann kann der Geschädigte im Sinne der Naturalrestitu-
tion die Reparatur der schwer beschädigten Sache verlangen und
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wann kann der Schädiger erfolgreich einwenden, die Behebungs-


kosten lägen über dem Wert der unbeschädigten Sache? Oder im
Bereich von Rechtswidrigkeit und Verschulden: Welche Anstren-
gungen zur Schadensvermeidung sind wirtschaftlich sinnvoll und
ab wann wird es ineffizient, das geringe Restrisiko von Schadens-
fällen (etwa durch einen zusätzlichen Kontrollschritt) vermeiden
zu wollen, sodass man einem Schädiger die Unterlassung solcher
Maßnahmen womöglich wegen Unzumutbarkeit ihrer Vornahme
nicht mehr vorwerfen kann?
In diesem Sinn würde also gefragt werden, welche von mehreren
Auslegungsvarianten den von einer Norm verfolgten Zweck unter
weitest gehender Schonung knapper Ressourcen erreichen könnte.
Dabei leugnen die Vertreter der ökonomischen Analyse in aller Re-
gel nicht, dass Recht auch anderen Kriterien – wie etwa jenen der
Gerechtigkeit oder Moral – zu entsprechen hat. Doch sie verlagern
diese Prüfung auf eine der Effizienz nachgelagerte Stufe, um zu-
nächst alle zu beurteilenden Alternativen „gesinnungsfrei“ heraus-
zuarbeiten. Wie überall kommt es dabei auf die richtige Gewichtung
an (über die allerdings kaum einmal volle Übereinstimmung herr-
schen wird). Vor Scheinrationalität ist jedenfalls ernsthaft zu war-
nen. Diese Gefahr besteht schon deshalb, weil das Kriterium der Ef-
fizienz nach sorgfältiger empirischer Erhebung der Grundlagen sehr
einfach und prägnant in Zahlen ausgedrückt werden kann. Diese
Zahlen sind als Argumentationsbasis ungleich leichter zu erfassen
und heranzuziehen als andere, nicht in ähnlicher Weise quantifi-

62
Das Phänomen der europarechtskonformen Auslegung

zierbare auslegungsrelevante Aspekte (und damit für manche be-


sonders verlockend).
Eine zu befürwortende Abwandlung des Konzepts eines streng
wirtschaftlich und rational denkenden „homo oeconomicus“ stellt
die sog Verhaltensökonomie dar. Sie geht von nicht (immer)
vollkommen rational, sondern eben typisch menschlich agierenden
Personen aus. Das ist vor allem dann klar vorzugswürdig, wenn es
um Nichtunternehmer, also Verbraucher, geht; aber auch dann,
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wenn im betroffenen Bereich (zB im Familienrecht) streng rationa-


les Verhalten nicht massiv dominiert. Den Handelnden werden also
gewisse – zumindest vermeintliche Irrationalitäten – zugeschrieben,
die etwa aus schwankenden Präferenzen, emotional dominierten
Entscheidungen oder Herdenverhalten (zB am Kapitalmarkt) ent-
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stehen.

V. Das Phänomen der europarechtskonformen


Auslegung
1. Ausgangslage
Das hier anzusprechende, unter den (gleichwertigen) Schlagworten
„europarechts-“, „unionsrechts-“ oder „richtlinienkonforme“ Aus-
legung intensiv diskutierte Problem ist schwierig, weil vielschich-
tig. Es beginnt damit, dass die EU ihren Mitgliedstaaten in rechtlich
verbindlicher Form, vor allem durch sog Richtlinien, vorgibt, wie
sie bestimmte Bereiche ihrer eigenen innerstaatlichen Rechtsord-
nung zu gestalten haben; so vor allem häufig in Teilbereichen des
Verbraucher(schutz)rechts. Die erste Aufgabe des Rechtsanwenders
besteht dann darin, zu klären, wie sich der Inhalt dieser Richtlinie
präzise darstellt. Damit ist die Auslegung europäischer Rechts-
normen angesprochen. Stellt sich in einem vor einem staatlichen
Gericht geführten Rechtsstreit heraus, dass die innerstaatliche
Rechtsnorm von der europäischen Richtlinienvorgabe abweicht, so
ist sie dennoch anzuwenden. Allerdings muss der betreffende Mit-
gliedstaat mit einem Vertragsverletzungsverfahren wegen fehler-
hafter Umsetzung rechnen; überdies ist er verpflichtet, den Umset-
zungsfehler umgehend zu beseitigen. Ob ein solcher Fehler vorliegt
bzw, anders formuliert, wie die konkrete Anordnung einer Richt-

63
Die Auslegung (im engeren Sinn)

linie korrekt auszulegen ist, erfährt man vom Europäischen Ge-


richtshof (EuGH), der im Interesse einheitlicher Auslegung von
Unionsrecht über solche Fragen entscheidet. (Überprägnant wird
dabei nicht selten von einem „Auslegungsmonopol“ des EuGH
hinsichtlich des Unionsrechts gesprochen.)
Erst nach diesen Erklärungen wird die hier entscheidende Frage
verständlich. Sie lautet: Ob und inwieweit ist der Umstand, dass bei
der Auslegung einer konkreten innerstaatlichen Norm eine mög-
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liche Variante richtlinienwidrig wäre, während eine andere mit


der Richtlinie zu vereinbaren ist, für das Auslegungsergebnis von
Bedeutung? Die Tendenz geht deutlich dahin, eine Norm so weit
wie möglich im Sinne der Richtlinie zu verstehen, die vom na-
tionalen Gesetzgeber umzusetzen war. Ebenso wie für die bereits
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angesprochene verfassungskonforme Interpretation muss es dabei


aber Grenzen geben. Über deren präzise Festlegung herrscht in der
Diskussion keine Einigkeit. Die praktisch wichtigsten Fälle sind
jene, in denen im Mitgliedstaat pflichtgemäß ein Umsetzungsgesetz
erlassen wurde. Bei nicht von vornherein eindeutiger nationaler
Regelung lautet die entscheidende Frage dann immer wieder: Soll
es für den Vorrang einer richtlinienkonformen Auslegung be-
reits genügen, dass in den Erläuterungen zu einem Gesetz betont
wird, damit werde eine bestimmte EU-Richtlinie umgesetzt, woraus
(bloß) der generelle Wille zu korrekter Umsetzung erkennbar wird;
auch dann, wenn eine konkrete Norm deutlich von der Richtlinien-
vorgabe abweicht?

2. Anwendungsprobleme an einem konkreten Beispiel


Beispiel (zwecks besserer Verständlichkeit leicht vereinfacht; übrigens
hat sich die Gesetzeslage nach Umsetzung zweier neuer europäischer
Richtlinien zum 1.1.2022 geändert, indem das Problem [nur] für den
Warenkauf eines Verbrauchers nunmehr ausdrücklich geregelt wurde):
Ein privater Käufer (= Verbraucher) hatte von einem Baustoffhändler
Bodenfliesen gekauft und anschließend verlegt. Erst danach stellte sich
heraus, dass die Fliesen eine mangelhafte Oberfläche aufwiesen. Der
Käufer verlangte vom Verkäufer Entfernung der alten mangelhaften
und Verlegung von neuen vertragsgemäßen Fliesen (bzw die Tragung
der Kosten für diese Arbeiten). Der Verkäufer war nur zur Übergabe ei­

64
Das Phänomen der europarechtskonformen Auslegung

ner entsprechenden Menge vertragsgemäßer Fliesen bereit, weil er keine


Pflicht zur Verlegung, sondern bloß eine solche zur Übergabe (zwecks
Selbstverlegung) übernommen habe. Da das Geschäft unter die sog Ver­
brauchsgüterkauf-RL fiel, legte das (deutsche) Gericht dem EuGH die
Frage vor, ob zur Mangelbehebung gemäß der Richtlinie in einem sol­
chen Fall auch der Aus- und Einbau gehöre. Der EuGH betonte im Jahre
2011 ganz besonders die verbraucherschützende Tendenz der betreffen­
den Richtlinie und legte ihren Art 3 Abs 3, wonach der Verbraucher un­
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entgeltliche Nachbesserung bzw Ersatzlieferung verlangen könne, sofern


dies nicht unmöglich oder unverhältnismäßig ist, wohl nicht zuletzt im
Sinne des vielfach beschworenen „effet utile“ (unionsrechtliches Effizi­
enzgebot) weit aus. Ergebnis des EuGH: Auch die Kosten von Aus- und
Einbau einer zu einem solchen Zweck erworbenen Sache sind nach der
Richtlinie verschuldensunabhängig vom verkaufenden Unternehmer zu
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tragen.
Ob dieses Ergebnis (der Auslegung bzw Fortbildung einer Richt-
linienbestimmung, die häufig selbst wenig konkret formuliert ist)
überzeugt, sei zunächst dahingestellt. (Zumindest in Österreich und
Deutschland wurde überwiegend mit Hinweis auf die begrenzte
vertragliche Erfüllungspflicht – Übergabe der Fliesen im Baustoff-
markt – ein gegenteiliges Ergebnis erwartet; ganz in diesem Sinn
lautete übrigens auch der Entscheidungsvorschlag des zuständigen
EuGH-Generalanwalts. Umgekehrt spricht sachlich einiges dafür,
die Nachteile aus der vertragswidrigen Leistung eher dem Verkäufer
als dem gutgläubigen Käufer anzulasten.) Jedenfalls hatte der OGH
anschließend in einem vergleichbaren Ausbau-Einbau-Fall dar-
über zu entscheiden, ob und unter welchen Voraussetzungen eine
unverändert gebliebene nationale Regelung (wie §  932 aF ABGB)
nunmehr im Sinne der Richtlinie zu interpretieren ist, obwohl sie
vorher anders, nämlich beschränkt auf Nacherfüllung im Sinne des
kaufrechtlichen Pflichtenprogramms, verstanden wurde. Er folgte
dem EuGH, legte die Vorschriften des österreichischen Rechts, die
sich mit dem Verbesserungsanspruch beschäftigen, also richtlinien-
konform (= im Sinne der Richtlinie, so wie sie der EuGH interpre-
tierte) aus. Das ist wohl zutreffend und schon deshalb zulässig, weil
der Begriff der Verbesserung keine klaren gesetzlichen Grenzen auf-
weist und für die Ausbau-Einbau-Konstellationen möglicherweise
auch eine Regelungslücke besteht: Wie sich aus den Gesetzesma-

65
Die Auslegung (im engeren Sinn)

terialien zum GewRÄG aus dem Jahre 2001 ergibt, wurde bei der
Formulierung der Gewährleistungsnormen an solche Fälle nicht
gedacht. Anders sieht es hingegen bei der Frage aus, ob der Verkäu-
fer (= Übergeber) die Verbesserung unter Berufung auf einen ihn
dabei treffenden unverhältnismäßig hohen Aufwand verweigern
kann. Genau das war in § 932 Abs 4 aF ABGB vorgesehen (und ist
es auch noch heute). Der EuGH meinte jedoch, die Richtlinie lasse
einen solchen Einwand nicht zu. Nachdem der österreichische Ge-
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setzgeber diesen Einwand allerdings ausdrücklich und ganz bewusst


im ABGB – und damit auch für Verbrauchergeschäfte – vorgesehen
hatte, kann die Norm insoweit nicht im Sinne der Richtlinie (wie sie
der EuGH versteht) ausgelegt werden. Bindend ist eben nur die na-
tionale Norm, nicht die Richtlinie, die bloß, aber immerhin, im Rah-
men des methodisch Zulässigen zur Auslegung heranzuziehen ist.
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Manche sehen das allerdings bis heute anders. Um die nationale


Regelung genau so wie deren Richtlinienvorgabe zu verstehen
und mit diesem Inhalt anzuwenden, wollen sie es mangels gegen-
teiliger Hinweise ausreichen lassen, dass der Gesetzgeber mit der
Neufassung (hier: des Gewährleistungsrechts) die Vorgaben der
Richtlinie vollständig und präzise umsetzen wollte („Generalum-
setzungswille“); mit welchem methodischen Kunstgriff auch immer
(oder auch ganz ohne einen solchen, nämlich bloß unter Berufung
auf die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung bzw den Vor-
rang dieser Auslegungsmethode). Richtlinienwidrig könnten da-
nach überhaupt nur mehr jene Normen sein, bei deren Schaffung
der nationale Gesetzgeber verbotener- und deklariertermaßen (!)
von der Vorgabe abweichen wollte; also keine, da so etwas prak-
tisch nicht vorkommt. Eine solche Position liefe in fast allen Fällen
auf die direkte Wirkung einer Richtlinie in den Einzelrechtsord-
nungen der Mitgliedstaaten hinaus, obwohl eine solche Wirkung in
Art 288 AEUV – anders als bei europäischen Verordnungen – gera-
de nicht vorgesehen ist, vielmehr ganz im Gegenteil grundsätzlich
eben nur eine Pflicht zur Umsetzung in nationales Recht besteht.
Ähnlich wie bei der Verfassungswidrigkeit einfacher Gesetze wird
daher im Einzelfall eine Richtlinienwidrigkeit (mit daraus folgen-
der Korrekturverpflichtung ex nunc) auch dann in Frage kommen,
wenn sie vom nationalen Gesetzgeber nicht beabsichtigt war, ihm
aber immerhin „passiert“ ist; etwa, weil sich der Gesetzgeber über

66
Das Phänomen der europarechtskonformen Auslegung

die Reichweite einer Vorgabe nicht im Klaren war, sich aber be-
wusst für eine bestimmte – vom EuGH im Nachhinein als zu eng
empfundene – gesetzliche Regelung entschieden hat.
Aber es wird noch komplizierter. Die Verbrauchsgüterkauf-RL
galt nur für Verbrauchergeschäfte; und der EuGH ist nur für die
Interpretation der Richtlinie zuständig. Die Umsetzung dieser RL
erfolgte in Österreich aber (weitestgehend) im ABGB (anders im
deutschen BGB, das einen eigenen Abschnitt über den Verbrauchs-
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güterkauf enthält; die Umsetzung der neuen, aktuellen Richtlinie


[WKRL] erfolgte in Österreich ebenfalls in einem Spezialgesetz,
dem VGG). Man spricht von „überschießender“ Umsetzung, da
der Gesetzgeber die Vorgaben über den Bereich (des Verbraucher-
rechts) hinaus umgesetzt hat, ohne dazu verpflichtet gewesen zu
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sein. Meist sollen damit Rechtszersplitterung sowie Wertungswi-


dersprüche vermieden werden. Was galt aber nun, wenn ein Un­
ternehmer gekauft hatte? Der OGH wählte in einer Folgeentschei-
dung den Weg der sog gespaltenen Auslegung und verwehrte
dem Unternehmer-Käufer so den Anspruch auf Aus- und Einbau:
Er legte die den Verbesserungsanspruch betreffenden Normen somit
nur bei Verbraucherkäufen unionsrechtskonform weit aus, wäh-
rend er die Verbesserungspflicht ansonsten – wie früher – enger zog
(bloße Pflicht zur Übergabe vertragsgemäßer Fliesen). Das ist schon
deshalb nicht überzeugend, weil sich der österreichische Gesetz-
geber seinerzeit bewusst für eine Gleichbehandlung von Verbrau-
cherkäufen und sonstigen Käufen entschlossen hatte und überdies
kein Unterschied in der Interessenlage zu sehen ist. Den vorläufigen
Abschluss dieser – nicht unbedenklichen – Entwicklung stellt eine
Entscheidung des OGH in einem sog Dual-Use-Fall dar: Der Käu-
fer eines Fertigparketts verlegte das Holz sowohl in seinem beruflich
genutzten Arbeitszimmer als auch in zwei Privaträumen. Obwohl
der private Anteil deutlich überwog, lehnte das Höchstgericht die
– auch nur teilweise – Heranziehung der für Verbrauchergeschäfte
geltenden Regeln ab; und damit zugleich aufgrund der befürworte-
ten gespaltenen Auslegung auch generell eine Pflicht des Parkett-
verkäufers zu Aus- und Einbau im Zuge seiner Verbesserungspflicht.
Ein weiteres Beispiel für Richtlinienwidrigkeit, die auf methodisch
zulässige Weise nicht behoben werden konnte, stellte die sowohl in Ös­
terreich als auch in Deutschland geltende Regelung dar, wonach die Ver­

67
Die Auslegung (im engeren Sinn)

jährungsfrist zu Lasten eines Verbrauchers beim Verkauf gebrauchter


beweglicher Sachen durch Vereinbarung auf bis zu ein Jahr verkürzt
werden kann (§  9 Abs 1 aF KSchG bzw §  476 aF BGB). Wie der EuGH
in einer Entscheidung aus dem Jahre 2017 klargestellt hat, widersprach
diese Verkürzungsmöglichkeit der zugrunde liegenden Verbrauchsgüter­
kaufrichtlinie, die generell eine Verjährungsfrist von mindestens zwei
Jahren vorsah; die Verkürzungsmöglichkeit auf ein Jahr betraf hingegen
bloß die Frage, in welchem Zeitraum nach der Übergabe der Mangel auf­
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getreten ist („Haftungsfrist“). Da der nationale Gesetzgeber aber bewusst


und gewollt die Verkürzung der Verjährungsfrist gestattet hatte, blieb für
eine europarechtskonforme Auslegung (im weiteren Sinn) kein Raum.
Mittlerweile wurde diese Richtlinienwidrigkeit im Zuge der Neugestal­
tung des Verbrauchergewährleistungsrechts auf Basis der nunmehr von
der WKRL gemachten Vorgaben, die auch eine Verkürzung der Verjäh­
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rungsfrist gestatten, beseitigt (für Österreich siehe die §§  10 Abs 4 und
28 Abs 1 VGG, für Deutschland §  476 Abs 2 iVm §  475e Abs 3 BGB).
Die Rechtslage in der Schweiz, die ja keine Verpflichtung zur Umsetzung
europäischer Richtlinien trifft, ist – wohl nicht nur – aus rechtsverglei­
chender Sicht einzigartig und widersprüchlich. Während nach Art 210
Abs 4 OR die Verjährungsfrist für die Sachgewährleistung beim Kauf
gebrauchter beweglicher Verbrauchsgüter seit 1.1.2013 nicht auf weniger
als ein Jahr verkürzt werden darf, wurde vom Gesetzgeber (sehenden
Auges!) Art 199 OR beibehalten, nach dem die Gewährleistung auch zu
Lasten von Verbrauchern zur Gänze ausgeschlossen werden kann. Einzi­
ge Ausnahme: Arglist des Verkäufers.

VI. Die Auslegung von Einheitsrecht


Eigene Regeln gelten für die Auslegung von sog Einheitsrecht;
also von einem Normengefüge, das in die nationalen Rechte nicht
eingebettet ist, sondern in kleineren, präzise abgegrenzten Berei-
chen für viele Staaten wortgleich (wenn auch notwendigerweise
in verschiedenen Sprachen) geregelt ist. In diesen Fällen ist ein in-
ternationaler Gleichschritt bei der Auslegung („Wahrung des inter-
nationalen Entscheidungsgleichklangs“) anzustreben. Daher greift
der Grundsatz autonomer Auslegung ein: Die Vorschriften sind
– soweit wie möglich – „aus sich heraus“ zu verstehen, was eine
Beschränkung auf das konkrete Normengefüge (inklusive seiner

68
Die Auslegung in besonders schwierigen Fällen

Entstehung und seiner Zwecke) bedeutet. Gelegentlich finden sich


derartige methodische Anweisungen im Regelungskomplex selbst.
Plakatives Beispiel dafür ist Art 7 des UN-Kaufrechtsüber-
einkommens (CISG), der in seinem Abs 1 vorsieht, dass bei der
Auslegung dieses Übereinkommens sein internationaler Charak-
ter zu berücksichtigen ist und ebenso die Notwendigkeit, seine ein-
heitliche Anwendung zu fördern. Lückenfüllung ist gemäß Abs 2
leg cit primär nach den dem Übereinkommen zugrunde liegenden
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allgemeinen Grundsätzen vorzunehmen; und falls nötig subsidiär


nach den Grundsätzen jener (nationalen) Rechtsordnung, die ge-
mäß den Vorschriften des internationalen Privatrechts anzuwenden
ist. Um weitestgehend internationalen Entscheidungseinklang zu
erreichen, ist anerkannt, dass Gerichte bereits ergangene Entschei-
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dungen auch aus anderen Vertragsstaaten des Übereinkommens zu


berücksichtigen haben.

VII. Die Auslegung in besonders schwierigen Fällen


1. Merkmale
Die besonders schwierigen Rechtsprobleme sind dadurch gekenn-
zeichnet, dass sich die relevanten Interpretationsargumente aus
den verschiedenen methodischen Ebenen einschließlich der ob-
jektiv-teleologischen in gewichtigem Umfang nicht nur auf un-
terschiedliche Auslegungsvarianten verteilen, sondern auch in
unterschiedliche Richtungen weisen. Vorausgesetzt ist dabei, dass
die noch später (S 109 ff) zu besprechenden Vorrangrelationen
für die Interpretationsmethoden (mit ihrer Relativierung durch die
notwendige „Gegenprobe“) zu keiner brauchbaren Lösung geführt
haben. „Brauchbar“ wäre eine Lösung dann, wenn sie einerseits die
Vagheitsprobleme der einschlägigen Rechtsregeln im Hinblick auf
den Problemsachverhalt überwindet und andererseits keine Wider-
sprüche insbesondere zu den Zweck- und Prinzipienschichten des
Rechts aufweist. Einfache oder gar mechanisch anwendbare Pa-
tentrezepte („Schemata“) gibt es für die schwierigen Problemlagen
naturgemäß nicht. Bevor aber der „Notausgang“ der richterlichen
Eigenwertung legitimerweise gewählt werden darf, ist eine zusam-
menfassende Analyse und Abwägung aller bisher in die verschiede-

69
Die Auslegung (im engeren Sinn)

nen Richtungen vorgetragenen bzw auffindbaren rechtlichen Argu-


mentationslinien geboten.
Die Betonung liegt dabei auf „rechtlich“. Sonstige Argumente,
die subjektive oder auch gruppenweise Präferenzen rechtsunabhän-
gig oder sogar mit rechtsfeindlicher Tendenz wiedergeben, können
ja stets durch gegenteilige Präferenzen derselben Beschaffenheit
bekämpft werden. Rationale Rechtsfindung ist daher nur bei ent-
sprechender Beschränkung auf taugliche Argumente möglich. Die
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relevanten und daher abzuwägenden normativen Argumente müs-


sen sich also aus dem Recht in allen seinen systematischen Schich-
ten und aus den methodologischen Kriterien ableiten lassen. Das
Recht ist dabei weit zu verstehen. Zu ihm gehören nicht nur die
„positivrechtlichen“, also in Gesetzesform zur Verfügung stehenden
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Regeln, sondern auch die diesen zugrunde liegenden Zwecke so-


wie die ganze Rechtsinstitute und Rechtsmaterien beherrschenden
Prinzipienschichten des Rechts, die universal wirken und die die
generellen Zwecke von Recht beschreiben.
Unter diesen Voraussetzungen verlagert sich das Abwägungspro-
blem naturgemäß auf die objektiv-teleologische Ebene. Denn die
anderen Methoden sind ja bereits, auch in ihrer Summierung, ohne
zureichenden Erfolg eingesetzt worden. Das gilt freilich auch für die
objektiv-teleologische Auslegung, wie sie bisher beschrieben wur-
de. Es bedarf also jetzt einer objektiv-teleologischen Auslegung
von zusätzlicher Qualität, gleichsam „höheren Grades“. Bisher
wurde ja in praktisch vereinfachender Weise mit „dem“ Zweck des
Gesetzes, genauer: der auszulegenden konkreten Gesetzesnorm, ge-
arbeitet. Das ist in weitem Umfang möglich, weil es aus dem gesam-
ten Geflecht von unterschiedlichen Zwecken, die einer gesetzlichen
Regelung meist zugrunde liegen, natürlich nur auf die gerade prob-
lemrelevanten ankommt, sodass die anderen vernachlässigt werden
können.
Die Vereinfachung durch Heranziehung „des“ (einzigen relevan-
ten) Zwecks des Gesetzes muss jedoch aufgegeben werden, wenn
das gerade gestellte Problem in den Kollisionsbereich mehrerer aus-
einanderstrebender Ausgangsbewertungen oder Ausgangszwecke
fällt und aus dem auszulegenden Gesetz samt seinem systemati-
schen und historischen Kontext auf keinen bestimmten problemre-

70
Die Auslegung in besonders schwierigen Fällen

levanten Kompromiss rückgeschlossen werden kann. Selbst wenn


das Gesetz, wie es vorliegt, zweifellos ein Kompromiss ist, kann
doch die entscheidende Frage ungelöst geblieben sein, wie weit beim
vorliegenden Problem die eine oder die andere kollidierende Wer-
tung Vorrang haben sollte. Das wird sogleich (S 74 ff) an einem im
Sachverhalt (nicht jedoch in der Lösung) einfachen Beispiel näher
demonstriert; ebenso die zu seiner Lösung einzusetzende „Prin-
zipienabwägung“ als objektiv-teleologische Auslegung höheren
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Grades.

2. Komplexe Streitfragen und juristische Theorien


Besonders umstrittene juristische Probleme fußen nicht selten auf
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sehr differenzierten und komplexen Sachverhalten; zugleich hängt


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die Lösung der gerade aktuellen Auslegungsfragen von der Klärung


damit zusammenhängender Vor-, Seiten- und Folgefragen ab, die
schon für sich schwierig genug sein können. Man denke nur an das
gesamte Rechtsgeschäfts-, insbesondere Vertragsrecht als zusam-
menhängendes Problemfeld. Es bleibt dann nichts anderes übrig, als
den Gesamtstand der für jede zentrale Lösungsvariante vorgetra-
genen und auffindbaren Argumente zu allen Teilproblemen einan-
der gegenüberzustellen und sorgfältig dahingehend zu analysieren,
welche der konkurrierenden Mengen von ihnen besser mit dem
unstreitigen Rechtsinhalt harmonieren und weniger mit den Re-
geln und Prinzipien des Rechts kollidieren.
Können für jede vertretene Meinung gehaltvolle Argumente aus
dem Recht abgeleitet werden, wird es bei der einen oder anderen
Teilfrage kaum je ohne Kollision abgehen. Am besten begründet
ist dann jener Auslegungsansatz, der gesicherten Elementen des
Rechts und hier insbesondere den tieferen, systemtragenden Prinzi-
pienschichten des Rechts am wenigsten widerspricht. Darüber, wel-
che Auslegungsvariante dieses Kriterium erfüllt, können selbstver-
ständlich auch gute und sorgfältige Juristen verschiedener Meinung
sein. Schon deshalb bleibt es niemandem, der ein solches Problem
zu beurteilen hat, erspart, sich selbst durch möglichst umfassen-
de und kritische Analyse des Diskussionsstandes in seiner Relati-
on zum gesicherten Rechtsinhalt eine rechtlich begründete eigene
Meinung zu bilden.

71
Die Auslegung (im engeren Sinn)

Wo es darum geht, zentrale Probleme samt ihren Vor-, Neben-


und Folgefragen einer einheitlichen, möglichst konsistenten, sys-
tem- und sachgerechten Lösung zuzuführen, bezeichnet man auch
in der Rechtswissenschaft in der Regel die grundsätzlichen Lösungs-
ansätze als (rechtsdogmatische) „Theorien“. Sie versuchen, die
vielfältigen und umfassenden Fragen in einem Problemfeld aus-
gehend von konsistenten Grundvorstellungen zu lösen. Damit sie
Anerkennung verdienen, müssen sie den klaren Rechtsinhalt res-
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pektieren, die entsprechenden Lösungen aus den Prinzipien- und


Zweckschichten des Rechts erklären und aus diesen auch für die
offenen und streitigen Probleme möglichst konsistente und brauch-
bare Lösungen entwickeln.
Gegensätzliche Theorien müssen kritisch darauf überprüft
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werden, welche von ihnen diesen Anforderungen am besten ent-


spricht. Man denke etwa im Recht der Verträge und sonstigen
Rechtsgeschäfte an die Willens-, die Erklärungs-, die Vertrauens-
und die kombinatorische Theorie. Aus anderen Rechtsgebieten sei
an die Adäquanz- und die Äquivalenztheorie bei der Kausalität im
Schadenersatzrecht erinnert; ferner an die verschiedenen Theo­rien
der juristischen Person oder an die Einheitstheorie bzw die zwi-
schen Leistungskondiktionen und allgemeinem Bereicherungsan-
spruch unterscheidende Trennungstheorie im Bereicherungsrecht.
Hat sich eine Theorie einmal durchgesetzt, wird die Entscheidung
vieler Einzelfälle mit ihrer Hilfe regelmäßig ungemein einfacher.
Im Vergleich mit der hier befürworteten umfassenden Theorie-
bildung und Theorieprüfung sind die „Topik“ und andere Dis-
kurstheorien weniger geeignet, praktisch verwertbare Ergebnisse
zu liefern. Diese Ansätze versuchen, die entscheidenden normati-
ven Gesichtspunkte durch freie Diskussion (unter häufig irrealen
Voraussetzungen) zu gewinnen. Das bringt die Gefahr der Ufer- und
Endlosigkeit mit sich. Jene Variante der Diskurstheorie, die den ju-
ristischen Diskurs wegen der zu respektierenden Verbindlichkeit des
Rechts als „Sonderfall“ auffasst und auch sonst auf begrenzende Ar-
gumentationsregeln besteht, ähnelt jedoch stark dem für besonders
schwierige Problemlagen üblichen Vorgehen der Jurisprudenz, wie
es eben beschrieben wurde. Daran, dass eine umfassende Diskussi-
on unter Sachkundigen der beste Weg ist, um die für ein bestimmtes
Problem möglicherweise relevanten Argumente so vollständig wie

72
Die Auslegung in besonders schwierigen Fällen

möglich zu sammeln und zu bewerten, sollte aber ohnehin kein


Zweifel bestehen.
Von manchen wird die Verwendung des Theoriebegriffs für
rechtsdogmatische Bemühungen allerdings von vornherein abge-
lehnt. Das geschieht jedoch zu Unrecht, auch wenn es sich manch-
mal wegen eines relativ engen Problembereichs um „Minitheorien“
handelt. Eine Theorie ist eine Mehrzahl von Sätzen, die miteinan-
der nicht im Widerspruch stehen, von denen ein Teil aus anderen
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dieser Sätze ableitbar ist und die zum Teil überprüfbar sind. Darüber
hinaus weisen sie Entwurfscharakter, also ein spekulatives Ele-
ment, auf. Sie sollen einen möglichen Weg zu erweiterter Erkennt-
nis aufzeigen und erreichen dieses Ziel, wenn und soweit sie sich in
der Folge experimentell oder sonst (wie in der Rechtswissenschaft)
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praktisch, durch weitgehende Anerkennung, bewähren.


In der Jurisprudenz umfasst das „Satzsystem“ einer Theorie
idealerweise die Wiedergabe der möglicherweise relevanten Rechts-
regeln samt ihren bereits bekannten Zweck- und Prinzipienschich-
ten, eine Zweck- oder Prinzipienhypothese für die offene zentrale
Auslegungsfrage und die Ableitung der Ergebnisse für die betroffe-
nen konkreten Sachverhaltstypen und (exemplarischen) Einzelfälle
samt den für solche Ableitungen erforderlichen Sachaussagen über
die Tatsachen des Normbereichs.
Diese Sachaussagen sind in demselben Ausmaß überprüfbar
wie sonstige empirische Behauptungen. Die Bezugnahmen auf das
Recht sind aus dem Recht selbst und den (dazu gehörenden) me-
thodischen Regeln der Jurisprudenz kritisierbar. Die Zweck- oder
Prinzipienhypothese muss sich daran bewähren, dass sie die im
Einzelnen bereits bekannte Rechtslage einfach und überzeugend
erklärt und hinsichtlich der besonders schwierigen Rechtsfragen
zu Ergebnissen führt, die keine systematischen Widersprüche im
Recht (einschließlich seiner fundamentalen Prinzipienschichten)
hervorrufen. Zugleich sollten diese Ergebnisse praktisch anwend-
bar sein und der Mehrzahl der Mitglieder der Rechtsgemeinschaft
zumindest vertretbar erscheinen. Bei solchen Rechtsfragen, die sich
dem Laien nur durch ausführliche und zeitraubende Erklärungen
vermitteln ließen, denen sich kaum jemand aussetzen will, muss
dabei die Rechtsgemeinschaft durch die zureichend sachkundigen
Juristen repräsentiert werden.
73
Die Auslegung (im engeren Sinn)

All dies gilt auch für die bei besonders schwierigen Rechtsfra-
gen so oft im Zentrum stehende Frage des „wie weit“; also nach
dem genaueren Vorrangbereich, der im jeweiligen Problembereich
einem von mehreren relevanten, aber kollidierenden Prinzipien zu-
kommt.

3. Veranschaulichung an einem Beispiel (mit Aus-


führungen zu Rechtsprinzipien und deren Kollision)
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Das in seinem Sachverhalt einfache Demonstrationsbeispiel lässt


sich wieder dem Rechtsbereich des eigenhändigen Testaments ent-
nehmen: Ein mit individuellen Schriftzügen verfasstes Testament ist
ebenso eigenhändig unterzeichnet mit „Euer Vater“. Die Gültigkeit
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dieses letzten Willens hängt, da die anderen Voraussetzungen ohne


Grundzüge der juristischen Methodenlehre, 9783825261450, 2023

weiteres bejaht werden müssen, davon ab, ob man diese Unterferti-


gung als solche mit dem „Namen“ des Testators qualifizieren kann.
In wörtlicher Analyse ist das nach dem allgemeinen Sprachge-
brauch klar zu verneinen, da in diesem als „Name“ nur ein Wort
bezeichnet wird, das geradezu die Funktion hat, ein bestimmtes
Individuum als solches zu identifizieren. Das ist bei bloßen Ver-
wandtschaftsbezeichnungen nicht der Fall: Väter gibt es millionen-
fach. Unter bestimmten logischen Gesichtspunkten und in einem
davon bestimmten, gewiss eher seltenen Sprachgebrauch kann aber
als „Name“ jede Bezeichnung gelten, die tatsächlich unter gewissen
Umständen ein bestimmtes Individuum identifiziert, auch wenn dies
nicht die allgemeine Funktion dieses Wortes ist. Das ist bei der Ver-
wandtschaftsbezeichnung der Fall, wenn aus dem Inhalt des Tes-
taments und den sonstigen Nebenumständen hervorgeht, an wen
der Testator seine Erklärung richten wollte: Der Vater der so ange-
sprochenen Menschen – die im Testament üblicherweise nament-
lich vorkommen – ist durch die Verwandtschaftsbeziehung eindeu-
tig bestimmt. Auch die Funktion, Endgültigkeit und damit Geltung
zum Ausdruck zu bringen, fehlt der – etwa im Briefverkehr unter
Verwandten nicht seltenen – Unterfertigung mit der Verwandt-
schaftsbezeichnung nicht.
Dennoch spricht auf der Ebene der sprachlichen Gesetzesaus-
legung der weitaus überwiegende Sprachgebrauch gegen ein Aus-
reichen dieser Unterfertigung. Durch die systematisch-logische
74
Die Auslegung in besonders schwierigen Fällen

Auslegung wird das eher noch bekräftigt, da die Vorschriften über


den Erwerb des Vor- und des Familiennamens eindeutig auf den
Namen im allgemein-sprachgebräuchlichen Sinn zielen. Allerdings
betreffen sie eine ganz andere Interessenkonstellation, nämlich
nicht den Konflikt zwischen verschiedenen Erbanwärtern, sondern
bloß die Erlangung gerade eines allgemeinen Identifizierungsmerk-
mals, nicht zuletzt im Interesse staatlicher Behörden.
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weis, dass die „Fertigung“ in der Weise erfolgen muss, deren sich
der Erblasser „gewöhnlich bedient“ (Ofner, Der Ur-Entwurf und die
Berathungs-Protokolle des Österreichischen Allgemeinen bürgerli-
chen Gesetzbuches I [1888] 347). Das könnte für die Tauglichkeit
der Unterfertigung sprechen, wenn der Erblasser im Familienkreis
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so zu unterschreiben pflegte. Doch ist dies ein schwaches und in


Wahrheit ambivalentes Argument, da dies eben nur im Familien-
kreis, nicht aber generell in Frage kommt und nur manche Väter
das während ihres Lebens so handhaben.
Der Grund, warum die Unterfertigung mit dem „Namen“ erfol-
gen soll, ergibt sich aus den Materialien nicht, obwohl die darin
bestätigte Endgültigkeits- und Geltungsfunktion der Unterfertigung
offensichtlich auch durch eine andere Schlussformel zum Ausdruck
gebracht werden könnte; zB durch „Das eben Erklärte ist mein letz-
ter Wille“, oder „Das hiermit Angeordnete soll nach meinem Tod
mit meinem Vermögen geschehen“. Ein so „unterschriebenes“ Tes-
tament ist aber sicher formungültig, da von einer Unterfertigung
durch den Testator mit „seinem Namen“ in keinem denkbaren Sinn
die Rede sein kann. Objektiv-teleologisch folgt nämlich aus den
oben angestellten allgemeineren Überlegungen, dass aus dem ge-
setzlichen Tatbestandsmerkmal „Namen“ nur ein Rückschluss auf
einen vernünftigerweise anzunehmenden Zweck möglich ist: Dem
Testator wird die geringe Mühe zugemutet, durch die Unterferti-
gung mit dem Namen die Identifizierung des Textverfassers
aus der Urkunde selbst entscheidend zu erleichtern. Wenn die
Nennung der Personen, an die sich die letztwilligen Anordnungen
primär richten, und die sonstigen Umstände über diese Personen
keinen Zweifel offenlassen, ist – wie schon gesagt – die Bezeichnung
„Vater“ eine eindeutige Identifizierung des Testators. Das sollte dem
hier maßgebenden Zweck genügen.

75
Die Auslegung (im engeren Sinn)

Hinsichtlich des historisch wohlbelegten Zwecks der gesamten


Formvorschrift, eine verlässliche Echtheitsprüfung anhand der Ur-
kunde selbst zu ermöglichen, sind jedoch gewisse Zweifel anzumel-
den: Die Unterschrift, deren sich ein Mensch üblicherweise bedient,
ist noch stärker als seine sonstige Handschrift individuell geprägt;
die Besonderheiten sind durch oftmalige Wiederholung verfestigt.
Die eigenhändige Unterschrift mit dem Namen im üblichen Sinn
ermöglicht also eine über die Prüfung des sonstigen eigenhändigen
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Textes hinausgehende Echtheitskontrolle. Daran fehlt es bei der Un-


terschrift mit „Euer Vater“ wohl regelmäßig. Der Gesetzeszweck der
Echtheitsprüfung ist also nicht bestmöglich realisiert, wenn auch
das Manko angesichts des insgesamt für den Schriftvergleich zur
Verfügung stehenden Textes sehr geringfügig ist. (Anders sieht es
selbstverständlich bei einem mechanisch hergestellten Text aus, zu
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dem nur die Unterschrift „eigenhändig“ ist.) Daher ist auch nicht
ausgemacht, dass der erwähnte Gesetzeszweck wirklich bis in die
jetzt angesprochene letzte Konsequenz verwirklicht werden sollte.
Das könnte als überspitzter und unnötiger Formalismus erscheinen.
Man muss sich also auf die Suche nach weiteren Argumenten
machen und könnte dabei im Bereich der Prinzipien (und einer
möglichen Prinzipienkollision) fündig werden. Die Zweifel an
der Notwendigkeit einer insoweit engeren Auslegung lassen sich
nämlich untermauern, wenn man auf die Testierfreiheit Bedacht
nimmt. Nach diesem das Erbrecht beherrschenden Prinzip hat je-
dermann grundsätzlich die Möglichkeit und die Befugnis, über
sein Vermögen für die Zeit nach seinem Tod nach seinem Willen zu
verfügen. Dass dieser Grundsatz dem ganzen Rechtsinstitut „Tes-
tament“ zugrunde liegt, ist evident. Er wird freilich auf den ersten
Blick durch den Grundsatz der Formbedürftigkeit von Testamenten
eingeschränkt. Dieser Grundsatz ist ebenfalls wohlbegründet, weil
zu den üblichen Gründen für Formstrenge (vor allem Übereilungs-
schutz) bei bestimmten Rechtsgeschäften gerade im Erbrecht hin-
zutritt, dass man den Erblasser nicht mehr über den Inhalt und die
Endgültigkeit seines Willens befragen kann. Es ist also ohne Zweifel
unzulässig, die Formvorschriften zur Durchsetzung der Testierfrei-
heit generell so weit wie möglich einzuschränken, weil darin eine
Verletzung des – teleologisch gut begründeten – Grundsatzes der
Formbedürftigkeit läge.

76
Die Auslegung in besonders schwierigen Fällen

Es handelt sich beim besprochenen Unterfertigungsproblem so-


mit um einen kleinen Unterausschnitt der Kollision zwischen Tes-
tierfreiheit und Formstrenge (wobei die Formstrenge den guten
Zweck hat, sicherzustellen, dass die Verfügung tatsächlich vom Ver-
storbenen stammt – und damit in gewisser Weise durchaus die In-
teressen auch des Erblassers wahren soll). Der Grund, warum man
sich als kritischer Beurteiler nicht ohne weiteres damit zufrieden-
gibt, dass der weitaus überwiegende Sprachgebrauch einen engeren
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Namensbegriff kennt, der „Vater“ nicht einschließt, liegt naturge-


mäß nicht in sprachlichen Bedenken. Das Problem liegt vielmehr
darin, dass der hochrangige Grundsatz der Testierfreiheit hier sogar
zugunsten eines am Rande liegenden und daher schwachen As-
pekts des Formgebotes zurücktreten sollte.
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Prinzipien, also rechtliche Grundwertungen, die ganzen Rechts-


instituten oder Rechtsmaterien zugrunde liegen, sind nicht wie kon-
krete Rechtsregeln auf unmittelbare Anwendung angelegt. Sie sind
auch nicht so weit wie maximal möglich zu realisieren, was schon
wegen ihrer häufigen Kollision nicht funktionieren kann. Sie sind
vielmehr Optimierungsgebote: Im Kollisionsfall ist eine Abwä-
gung nötig, die ein Prinzip nur so weit einschränkt, wie dies wegen
des gegensätzlichen anderen Prinzips notwendig und verhältnismä-
ßig ist. Diese Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit sind bei un-
serem Problem im Gesetz und seinen unmittelbaren Zweckgrundla-
gen nicht klar vorentschieden. Hier werden auch bei Anerkennung
der Unterschrift „Euer Vater“ die Zwecke der Formvorschrift zwar
nicht vollständig, aber doch sehr weitgehend realisiert. Ihr Zurück-
treten betrifft nur ein zusätzliches, keineswegs unbedingt nötiges
Element der Echtheitsprüfung. Dafür wird aber die durch die Form-
vorschriften ohnehin deutlich eingeschränkte Testierfreiheit von
einer verschärften, überspitzt anmutenden Einschränkung entlas-
tet. Mangels deutlicher Vorgaben im Gesetz und seinen Grundla-
gen bezüglich des „wie weit“ der beiden gegensätzlichen Prinzipien
gerade bei diesem Problem spricht die dann notwendige, speziell
problembezogene Abwägung eher für die Gültigkeit des Testaments.
Die zusätzliche Einschränkung der Testierfreiheit wäre substanziell
und daher gewichtiger als die Einschränkung bloß eines entlegenen
Teilaspekts des Formzwanges.

77
Die Auslegung (im engeren Sinn)

Das methodisch auf objektiv-teleologischer Stufe „höheren Gra-


des“ – nämlich durch Prinzipienabwägung – gewonnene Ergeb-
nis, dh der zur Problemlösung benötigte konkretere Rechtssatz
lautet aufgrund der soeben angestellten Abwägung also: Die Unter-
fertigung mit einer Verwandtschaftsbezeichnung, die den Testator
nach dem Testamentsinhalt und den Umständen eindeutig identifi-
ziert, entspricht (gerade noch) dem Erfordernis der Unterschrift mit
„seinem Namen“.
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Wer der üblichen Namensunterfertigung für die Echtheitsprü-


fung aus empirischen Gründen größere Bedeutung beimisst, als dies
hier für zutreffend gehalten wird, gelangt zu einem anderen Ergeb-
nis. Kann er fachwissenschaftliche Gründe für stärkere Wünschbar-
keit oder gar Notwendigkeit eines Namenszuges im üblichen Sinn
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für die Schriftuntersuchung beibringen, die der vorstehenden „all-


tagstheoretischen“ Beurteilung dieser Frage entgegenstehen (nach
der Auskunft eines wissenschaftlich und praktisch erfahrenen
Schriftsachverständigen bestehen solche Gründe allerdings nicht),
wäre ihm unter Preisgabe der hier vertretenen Meinung zu folgen.
Rechtsfragen der höheren Schwierigkeitsgrade lassen sich nun ein-
mal häufig nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit
beurteilen. Jedenfalls sollten aber die vorstehenden Überlegungen
gezeigt haben, dass weder mit der rein sprachlichen Ebene eines
selbst ganz deutlich überwiegenden Sprachgebrauches noch mit
vermeintlich einfachen allgemeinen Überlegungen eines etwa in
Anspruch genommenen „gesunden Menschenverstandes“ auszu-
kommen ist, da man zunächst die rechtliche Analyse so weit treiben
muss, wie dies eben möglich ist. Diese mitunter mühsame Arbeit
bleibt bei sonstigem Verzicht auf bestmögliche Rationalität unver-
meidlich.
Daran ändert auch die unbestrittene Tatsache nichts, dass in der
Rechtspraxis die methodische Argumentation üblicherweise schon
aus Zeitgründen weniger ausführlich und explizit entwickelt wird
und dass sie sich beim dargestellten Problem vielleicht von vorn-
herein auf die Frage konzentriert, ob die eigenhändige Namensfer-
tigung im engeren Sinn für die Echtheitsprüfung eine wesentliche
oder nur eine geringe ergänzende Bedeutung hat. (Als klares Zei-
chen für die Endgültigkeit und den Abschluss des Erklärten reicht
die Unterfertigung mit „Euer Vater“ ja jedenfalls aus.) Umfangrei-

78
Die Auslegung in besonders schwierigen Fällen

che juristische Erfahrung ermöglicht häufig solche abgekürzte Ar-


gumentation. Von Zufallstreffern abgesehen, ist diese allerdings in
aller Regel nur unter der Voraussetzung brauchbar, dass man sich
die vollständige methodische Entwicklung der Argumente zunächst
wenigstens an Modellbeispielen bewusst gemacht hat. Nur dann
kann man ein zureichendes „Gefühl“ („Judiz“) dafür entwickeln,
was als naheliegend oder banal gar nicht explizit gesagt werden
muss und wo der eigentliche Schwerpunkt des Problems liegt.
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An dieser Stelle sei noch ein weiterer Aspekt der Kollision


von Prinzipien angesprochen. Dieses Phänomen verlangt sowohl
bei der Rechtssetzung, also der Gesetzgebung, als auch bei der
Rechtsanwendung Beachtung. Dabei ist wie auch sonst die Ver-
meidung von Extremismen gefragt. Sehr schön lässt sich dies am
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Beispiel des Verbraucher(schutz)rechts zeigen. Auch wenn dort


dem Prinzip „Schutz des Schwächeren“ eine besondere Bedeu-
tung zukommt, so darf nicht jede Neuregelung oder Auslegungs-
bemühung hinsichtlich einer verbraucherrechtlichen Norm allein
mit Blick auf dieses Prinzip erfolgen. Nach wie vor müssen ja auch
etwa der allgemein-privatrechtliche Grundsatz der Vertragstreue
oder die zentrale – und zugleich konkretisierungsbedürftige – Idee
der Gerechtigkeit Beachtung finden; also auch die schutzwürdigen
Interessen des Vertragspartners eines Verbrauchers. In diesem Sinn
wäre es daher abzulehnen, wollte man bei auslegungsbedürftigen
Normen immer quasi automatisch jene Auslegungsvariante wäh-
len, die für den beteiligten Verbraucher zum günstigsten Ergebnis
führt. (Gegenwärtig ist eine solche Tendenz etwa bei der Anwen-
dung des in §  6 Abs 3 KSchG verankerten „Transparenzgebots“ zu
beobachten: Kaum eine AGB-Klausel erscheint der Rechtsprechung
des OGH klar genug, um vor diesem Maßstab zu bestehen.) Vielmehr
muss eben auch auf die verständlichen Interessen des anderen Teils
geblickt werden. Diesen wichtigen Aspekt betont die neuere Lehre
von der beidseitigen Rechtfertigung von Rechtsfolgen. Keine
Hilfe können diese Überlegungen allerdings dann bieten, wenn der
Gesetzgeber ohne Zweifel eine Regelung unter weitestgehender Ig-
norierung dieser Maxime getroffen hat. (In Extremfällen liegt dann
aber uU Verfassungswidrigkeit vor.)
Beispiel: Das Schweizer Konsumkreditgesetz enthält zunächst näher
umschriebene Pflichten des Kreditgebers zur Kreditwürdigkeitsprüfung.

79
Die Auslegung (im engeren Sinn)

Für den Fall ihrer schwerwiegenden Verletzung sieht das Gesetz im An­
schluss daran ausdrücklich vor, dass der Kreditgeber nicht nur seine An­
sprüche auf Zinsen und Kosten, sondern auch den Anspruch auf Rück­
zahlung der gewährten Kreditsumme verliert (Art 32 Abs 1)!
Das ist ebenso eindeutig wie unsachlich, auf der Ebene des einfachen
Gesetzes aber als klarer Norminhalt hinzunehmen. Der Gesetzgeber
hat hier die Interessen des Konsumenten sowie den Präventions­-
aspekt offensichtlich sehr einseitig beachtet und überbetont, dabei
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jedoch etwa nicht einmal danach differenziert, was der Kreditneh-


mer mit dem Kredit gemacht hat, ob er nicht zumindest einen Teil
des Kredits ohne weiteres zurückzahlen könnte usw. Von beidseiti-
ger Rechtfertigung kann hier also nicht die Rede sein. Vergleichba-
res gilt wohl für §  100 des österreichischen BWG, der – nicht ganz so
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extrem wie das Schweizer Beispiel – einem Unternehmer sogar für


ein von ihm vollkommen vertragsgemäß erledigtes Bankgeschäft
jeden Vergütungsanspruch abspricht, wenn er solche Bankgeschäf-
te ohne die dafür erforderliche Berechtigung (Bankkonzession) be-
treibt; ebenso sind für solche Geschäfte zugunsten des Unterneh-
mers bestellte Bürgschaften und Garantien unwirksam.

80
C. Die ergänzende Rechtsfortbildung
(vor allem Analogie und Reduktion)
I. Grundlagen
1. Das Verhältnis zur Auslegung im engeren Sinn
Wer den Ausdruck „ergänzende Rechtsfortbildung“ zum ers-
ten Mal hört, wird damit wohl kaum etwas anfangen können. Er
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klingt jedenfalls ziemlich verdächtig und erklärt sich keinesfalls von


selbst. Was ist damit also gemeint und in welchen Konstellationen
kann bzw muss dieser Weg bei der „Rechtsfindung“, also dem
Auffinden des für bestimmte Sachverhalte normativ Gültigen, ge-
wählt werden? Wie so oft lässt sich das Anliegen dieser methodi-
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schen Rechtsfigur am besten an einer konkreten Fragestellung ver-


anschaulichen; hier: der Begründung von Sicherungseigentum.
Beispiel: Viele Rechtsordnungen verlangen für das wirksame Entstehen
eines Pfandrechts, also eines dinglich wirkenden Sicherungs- und Be­
friedigungsrechts (vor allem) die körperliche Übergabe der Pfandsache
(§  451 ABGB, §  1205 BGB). Können die Beteiligten einen ganz ähnli­
chen Effekt, nämlich die vorzugsweise Sicherung eines einzelnen Gläubi­
gers, auch durch die Verschaffung von Eigentum (zu Sicherungszwecken)
ohne eine solche körperliche Übergabe erreichen? Wäre das so, könnte
der Sicherungsgeber die Sache weiterhin benutzen, was bei Verpfändung
beweglicher Sachen grundsätzlich ausscheidet. Für das Eigentum sind
regelmäßig erleichterte Übergabeformen vorgesehen; so reicht etwa nach
§  428 ABGB (ebenso nach §  930 BGB) das Besitzkonstitut aus, bei dem
die Sache beim Veräußerer bleibt, der Erwerber aber dennoch Eigentum
erlangt. Rein vom Wortlaut her wäre also §  428 ABGB anwendbar, so­
fern die Parteien eine – wenn auch bloß vorübergehende – Eigentums­
verschaffung gewollt haben. Eigentlich wollten sie aber bloß ein sehr
pfandähnliches Recht begründen, wobei der Sicherungsgegenstand beim
Sicherungsgeber bleibt. Es ist daher zu fragen, ob nicht eine Gesetzesum­
gehung vorliegt, die es zu verhindern gilt.
Wie man an diesem Beispiel sieht, stellt sich das Problem der Zu-
lässigkeit und der Reichweite ergänzender Rechtsfortbildung also
immer dann, wenn „normale“ Auslegung zu einem Ergebnis führt,
gegen das ernsthafte systematische oder teleologische Beden-

81
Die ergänzende Rechtsfortbildung (vor allem Analogie und Reduktion)

ken bestehen. Auslegung (insbesondere des § 451 ABGB) allein


hilft nämlich nicht weiter: Die heute überwiegend anerkannte Ab-
grenzung unterscheidet eben nach dem noch möglichen sprachlichen
Sinn einer anzuwendenden und daher auszulegenden Rechtsregel:
Methodische Ergebnisse, die sich noch im Rahmen des mögli-
chen Wortsinns bewegen, gehören zur Auslegung. Wird dieser
mögliche Wortsinn dagegen überschritten (Eigentumsverschaf-
fung ist keine Pfandrechtsbegründung), kann nur noch ergänzen-
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de Rechtsfortbildung vorliegen. Ihre legitimen Voraussetzungen


werden in der Folge zu klären sein.
Eine andere Auffassung will entsprechend der Absicht des Ge-
setzgebers unterscheiden und nur bei deren Überschreitung eine
entsprechende Rechtsfortbildung vornehmen. Das ist jedoch viel
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weniger unterscheidungskräftig: Soll eine streng wortlautgemäße


Gesetzesanwendung Rechtsfortbildung sein, wenn historische Be-
kundungen über die Absicht des Gesetzgebers in andere Richtun-
gen gehen? Soll die objektiv-teleologische Rechtsanwendung, auch
wenn sie zur sprachlich ohnehin naheliegenden Interpretation
führt, durchwegs Rechtsfortbildung sein, weil historische Hinweise
auf die subjektive Absicht des Gesetzgebers fehlen?
Demgegenüber ist die Unterscheidung nach dem, was dem recht-
lichen Beurteiler unmittelbar vorliegt, also nach dem Gesetzestext
in einer möglichen sprachlichen Bedeutung, praktisch viel besser
handhabbar. Das zeigt sich vor allem dort, wo die Unterscheidung
ihre größte Bedeutung hat, nämlich wo der Analogieschluss we-
gen verschärfter Rechtssicherheitsanforderungen als Hauptform der
Rechtsfortbildung ausgeschlossen ist. Wie bereits erwähnt (S 25),
ist das insbesondere im Strafrecht zulasten des Beschuldigten der
Fall: Eine Bestrafung soll nur bei Vorliegen einer publizierten Straf-
norm im Zeitpunkt der Tatbegehung erfolgen können, an der man
sich relativ leicht orientieren konnte. Dem liefe es völlig zuwider,
wenn allein aus Hinweisen auf eine weitere Absicht des Gesetzge-
bers Strafbarkeit abgeleitet werden könnte, die im veröffentlichten
und nachlesbaren Gesetzestext aber nicht zum Ausdruck kommt.
Gerade im modernen Strafrecht wird jedoch von manchen in sub-
tilen Ausführungen vertreten, dass die Abgrenzung entsprechend
dem möglichen Wortsinn aufgegeben werden sollte. Besser hand-
habbare Abgrenzungskriterien haben diese Stimmen freilich nicht

82
Grundlagen

hervorgebracht. Zuzugeben ist nur, dass auch das Kriterium des


möglichen Wortsinns seinen Begriffshof hat und daher nicht in al-
len Grenzfällen trennscharf ist. Doch gilt dies für andere Abgren-
zungsvorschläge in noch stärkerem Maße.
Grundsätzlich ist daher an dieser Stelle hervorzuheben, dass ju-
ristische Begriffe und Abgrenzungen nicht allein deshalb mit Er-
folg kritisiert werden können, weil sie nicht für jeden einzelnen
Fall eine messerscharfe Grenzziehung erlauben. Es ist jedoch we-
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nig überzeugend, anderen Meinungen das Fehlen mathematisch


präziser Trennschärfe vorzuhalten, während die eigene Meinung
solchen Anforderungen erst recht nicht genügt. Nur derjenige darf
sich legitim auf solche Kritik berufen, der selbst ebenso sach- und
systemgerechte, aber präzisere Abgrenzungen anzubieten hat. In
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der Jurisprudenz muss man sich sehr weitgehend mit Kriterien be-
gnügen, die in den meisten Fällen zumindest hinreichend trenn-
scharf sind, in besonderen Grenzfällen aber eben Interpretationsfra-
gen aufwerfen und allenfalls nur durch „richterliche Eigenwertung“
ihrer letzten problemrelevanten Zuspitzung zuzuführen sind. Schon
die griechische Philosophie wusste, dass es sinnlos ist, mehr an Prä-
zision zu fordern, als auf dem jeweiligen Wissensgebiet möglich ist.
Für das Kriterium des möglichen Wortsinns spricht aber vor al-
lem entscheidend, dass es prägnant eine unterschiedliche metho-
dische Ausgangslage bezeichnet: Wer an die positiven Einzelregeln
des Gesetzes, die ihm in Gestalt eines Textes entgegentreten, ge-
bunden ist und einen einschlägigen Fall zu beurteilen hat, kann
seine Bindung nur realisieren, also die Vorschrift nur anwenden,
wenn er sich eine Meinung über den zunächst zweifelhaften prob-
lemrelevanten Gehalt des Textes gebildet hat. Ohne Auslegung geht
es also schlechthin nicht. Ist aber der mögliche sprachliche Sinn
der positiven Regeln überschritten, so könnte man sich durchaus
vorstellen, dass ohne Verletzung der Bindung an die positiv er-
lassenen Vorschriften eine rechtliche Beurteilung des von keinem
möglichen Wortsinn einer Norm erfassten Falles oder Fallelements
schon deshalb abzulehnen ist. Man würde einen solchen Sachver-
halt also durchgehend als rechtlich irrelevant behandeln („rechts-
freier Raum“) bzw jedenfalls nicht der von ihrem Wortlaut her
unpassenden Norm unterwerfen. Das wäre zwar, wie sich sogleich
zeigen wird, verfehlt. Die rechtliche Relevanz und Beurteilungs-

83
Die ergänzende Rechtsfortbildung (vor allem Analogie und Reduktion)

bedürftigkeit von Sachverhalten, die nicht einmal möglicherweise


unter eine positiv erlassene Vorschrift mit ihrem sprachlichen Ge-
halt fallen, muss allerdings gesondert begründet werden. Es wäre
selbstverständlich nicht akzeptabel, an irgendwelche Vorgänge weit
außerhalb jeder erkennbaren rechtlichen Erfassung Rechtsfolgen
zu knüpfen; zB Schadenersatz zuzusprechen, wenn sich jemand für
ein Geschenk nicht zureichend bedankt oder wenn jemand auf eine
Bitte um Rückruf nicht unverzüglich reagiert.
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Die methodische Besonderheit der ergänzenden Rechtsfortbil-


dung liegt also gerade in der Notwendigkeit des Nachweises, dass
ein bestimmter Sachverhalt, der sich einer gesetzlichen Regel auch
in ihrem weitest möglichen sprachlichen Verständnis nicht zuord-
nen lässt, trotzdem einer rechtlichen Beurteilung bedarf; und zwar
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nicht bloß im Wege des Umkehrschlusses (zu diesem noch S 91 ff)


nach dem Motto: Da der Wortlaut der Norm nicht erfüllt ist, greift
auch ihre Rechtsfolge nicht ein. Daher empfiehlt sich auch der
verschiedentlich übliche – nicht zuletzt vom EuGH gepflogene –
Sprachgebrauch nicht, die Rechtsfortbildung als Interpretation oder
Auslegung (im weiteren Sinn) zu bezeichnen. Man könnte zwar
durchaus sagen, dass es immer noch um Interpretation geht, freilich
jetzt nicht des Gesetzes im Sinne der Einzelvorschriften, sondern
des gesamten Rechtssystems. Das hervorgehobene charakteristische
Merkmal der Rechtsfortbildung würde durch die hier abgelehnte
Einheitsterminologie aber unzweckmäßigerweise verwischt wer-
den.

2. Der „allgemeine negative Satz“


Die Zweckmäßigkeit der Unterscheidung sowie die Möglichkeit er-
gänzender Rechtsfortbildung überhaupt besteht für die gesetzes-
positivistischen Meinungen nicht. Diese vertreten – mehr oder
weniger strikt – den „allgemeinen negativen Satz“. Danach gilt,
dass außerhalb der positiven Rechtsregeln kein Recht existiert.
Sachverhalte oder Sachverhaltselemente, die nicht bestimmten
positiven Rechtstexten zugeordnet werden können, seien daher
rechtlich stets irrelevant. Sie bringen also keine Rechtsfolgen, insbe-
sondere keine Ansprüche oder Einreden, hervor. Die Denkmöglich-
keit einer Gesetzes- oder Rechtslücke, die erst durch ergänzen-

84
Grundlagen

de Rechtsfortbildung geschlossen werden muss, wird folglich von


vornherein abgelehnt.
Sachlich entscheidend ist allerdings, dass diese Grundhaltung
weder theoretisch noch praktisch begründbar ist. Natürlich
kann man einen besonders engen Rechtsbegriff bilden, der genau
zu dem beschriebenen Ergebnis führt. Ebenso gut sind aber auch
andere Rechtsbegriffe möglich, die für die Bewältigung der juristi-
schen Grundaufgabe (rational nachvollziehbare Entscheidung von
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Konfliktfällen) wesentlich zweckmäßiger sind. Besonders paradox


ist die gesetzespositivistische Verengung übrigens dann, wenn in ei-
ner Rechtsordnung das Gesetz selbst klar die Möglichkeit einer Ge-
setzeslücke anerkennt und ergänzende Rechtsfortbildung anordnet,
wie in §  7 ABGB und in Art 1 OR.
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So heißt es in §  7 ABGB wörtlich: „Lässt sich ein Rechtsfall weder aus
den Worten, noch aus dem natürlichen Sinne eines Gesetzes entscheiden, so
muss auf ähnliche, in den Gesetzen bestimmt entschiedene Fälle, und auf die
Gründe anderer damit verwandten Gesetze Rücksicht genommen werden.“
Um das „wegzuinterpretieren“, bedarf es großer Energie und
mangelnder Scheu vor einem Zirkelschluss, weil mit der Lücken-
losigkeit des Rechts, also der eigentlich erst zu beweisenden These,
bereits argumentiert werden muss. Zu diesem Zweck fasst man eben
den Rechtsbegriff so eng, dass Lücken nicht möglich sind. Damit
gerät man aber gerade in Widerspruch zum Gesetz, nämlich zu §  7
ABGB.
Der positivistischen Kritik an der Möglichkeit einer Gesetzeslücke
und damit an der Rechtsfortbildung fehlt es also an einer tauglichen
Grundlage. Dazu kommt die breite rechtshistorische Erfahrung,
dass allein mit vorformulierten Rechtsregeln niemals das Auslangen
gefunden wurde, sondern stets vielfältige Anlehnungen und Erwei-
terungen notwendig waren und sind. In einem Recht, das gar nicht
auf kasuistische Perfektion angelegt ist, wie zB das österreichische
Privatrecht, kommt man insbesondere ohne Rechtsfindung durch
Analogie nicht aus, wie sich sogleich an Beispielen zeigen wird.
Abschließend kurz gesagt: Der „allgemeine negative Satz“, ob
ausdrücklich aufgestellt oder impliziert, ist klar abzulehnen. Wor-
auf es allein ankommt, ist die Erarbeitung der bestbegründeten Kri-
terien für ergänzende Rechtsfortbildung.
85
Die ergänzende Rechtsfortbildung (vor allem Analogie und Reduktion)

3. Die Gesetzeslücke
Dem unter 1. beschriebenen spezifischen methodischen Ausgangs-
problem der ergänzenden Rechtsfortbildung entspricht die dafür
nach zutreffender und ganz überwiegender Meinung geltende
Voraussetzung der Gesetzeslücke. Darunter versteht man das
planwidrige Fehlen einer Norm, die zumindest im Rahmen des
weitest möglichen Sprachsinns auf das anstehende Sachproblem
unmittelbar tatbestandlich anwendbar wäre. Diese Voraussetzung
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ist notwendig, weil andernfalls auszufüllende Regelungslücken von


schlicht rechtsfreien Räumen überhaupt nicht unterschieden wer-
den könnten. Das müsste zur beliebigen Rechtsfortbildung ohne je-
den Zusammenhang mit dem geltenden Recht führen.
Die Definition der Gesetzeslücke zeigt, dass das bereits verwen-
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dete Beispiel der Sicherungsübereignung ein zusätzliches metho-


disches Problem aufwirft: Da es um Eigentumsverschaffung geht,
wären vom Wortlaut her eigentlich die gesetzlichen Regeln des Ei-
gentumserwerbs heranzuziehen, die ja existieren, weshalb bereits
das Vorliegen einer Lücke begründungsbedürftig ist (in Deutschland
wird eine Lücke mit Hinweis auf die gesetzlichen Eigentumser-
werbsregeln übrigens ganz überwiegend abgelehnt). Aus Gründen
der Übersichtlichkeit wird die damit zu klärende Vorfrage einer (te-
leologischen) Reduktion (hier: des Anwendungsbereichs der – in-
soweit möglicherweise zu weit formulierten – Eigentumsverschaf-
fungsregeln für die Begründung gerade von Sicherungseigentum)
jedoch erst später (S 97 ff) gesondert behandelt.
Beschrieben wird die Gesetzeslücke in der Regel als „planwid-
rige Unvollständigkeit“ der vorfindlichen Rechtsvorschriften.
Es fehlt also für einen konkret zu beurteilenden Sachverhalt eine
ihrem Text nach (auch bei dessen weitestem Verständnis) anwend-
bare Vorschrift, die jedoch vorhanden wäre, wenn der Gesetzgeber
seinem Plan oder Entwurf für die Rechtsordnung nur konsequent
gefolgt wäre.
Es wäre allerdings eine wirklichkeitsferne Vorstellung, dass ein
solch umfassender „Generalplan“ für die zu erlassende Gesamtge-
setzesordnung tatsächlich entworfen, jedoch in der Folge unzurei-
chend beachtet wird. Sie würde an der Realität und den Möglichkei-
ten der Gesetzgebung vorbeigehen. Die realistische Interpretation

86
Grundlagen

der „planwidrigen“ Unvollständigkeit geht dahin, dass in den kon-


kreten gesetzlichen Regelungen die Zwecke und Grundwer-
tungen (Prinzipien), vor denen sich die Gesetzgebung im jeweils
fraglichen Zusammenhang leiten ließ, nicht konsequent und
umfassend realisiert wurden. Die irreale Voraussetzung eines sys-
tematischen Planes vor der Gesetzgebungsaktivität ist also entbehr-
lich; „Teilpläne“ in dem Sinn, dass man sich über die Zwecke und
Grundwertungen einer im Gang befindlichen Regelung Gedanken
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macht, sind jedoch durchaus realistisch.


Der Grund für mangelnde umfassende Zweckkonsequenz und
Konsistenz bei der Formulierung von Normen liegt häufig im Feh-
len einer vollständigen Übersicht der in der Gesetzgebung tätigen
Menschen über die zahlreichen variationsfähigen Sachverhalte, die
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an sich von jenen Zwecken oder Grundwertungen erfasst sind. Sol-


che „Vollständigkeitsfehler“ unterlaufen vor allem dann, wenn
die Gesetzgebungsarbeit im Übermaß auf eine bestimmte Fallge-
staltung fixiert ist, aber auch dadurch, dass an eher ungewöhnliche
Sachverhaltskonstellationen bei der Vorbereitung eines Gesetzes
schlicht nicht gedacht wird. Beispielhaft erwähnt seien hier nur
die bereits bekannten Ausbau-Einbau-Fälle im Gewährleistungs-
recht (dazu schon S 64 ff), an die offenbar weder beim Abfassen der
europäischen Verbrauchsgüterkauf-RL noch bei deren nationaler
Umsetzung durch das GewRÄG gedacht wurde. (Behoben wurde
das Regelungsmanko erst durch die WKRL und das VGG, wobei der
österreichische Gesetzgeber die Aus- und Einbaupflichten des Über-
gebers bewusst nicht auch im ABGB verankern wollte, was zu einer
wenig überzeugenden Ungleichbehandlung führt.)
Gelegentlich können gewisse Sachverhaltsunterschiede wegen
unzureichender Analyse, also aufgrund von Tatsachenirrtümern,
auf den ersten Blick relevant erscheinen, ohne es bei näherer Be-
trachtung tatsächlich zu sein. Wegen eines solchen Irrtums im Ge-
setzgebungsverfahren wurden sie in der gesetzlichen Tatbestands-
formulierung aber nicht miterfasst. Nicht selten kommt es auch vor,
dass der Gesetzgeber einen bestimmten Sachverhalt sehr wohl als re-
gelungsbedürftig erkennt, aber wegen (wirklich oder vermeintlich)
geringer praktischer Bedeutung keine ausdrückliche Regel für ihn
aufstellt, sondern für den Bedarfsfall deren Gewinnung, insbeson-
dere per analogiam, „Rechtsprechung und Lehre“ überlässt, wie es

87
Die ergänzende Rechtsfortbildung (vor allem Analogie und Reduktion)

dann in den Gesetzesmaterialien oft heißt. Auch in diesem Fall wäre


es also „planwidrig“, wenn die Ableitung der benötigten Regel unter
reduktionistischen Vorwänden nach dem schlichten Motto „der Ge-
setzestext sieht keine Differenzierung vor“ verweigert würde.
Das Merkmal der Gesetzeslücke wird somit ohne große Schwie-
rigkeiten verständlich, wenn man die „Lücke“ auf die auf unmit-
telbare Anwendung angelegte Regelschicht, also die konkret aus-
formulierten Gesetzesnormen, bezieht und darüber hinaus zu ihrer
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Abgrenzung die inhaltlich-systematisch tieferen Zweck- und Prin-


zipienschichten des Rechtssystems heranzieht. Von dort, also der
Zweck- und Prinzipienschicht, her müssen im Wesentlichen auch
die Instrumente der Lückenausfüllung kommen.
Aus praktischer Sicht steht die „teleologische“ Lücke im Vor-
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dergrund, die von manchen auch irreführend als „unechte“ Lücke


bezeichnet wird: Dabei fordert der problemrelevante Gesetzeszweck
im (bereits bei der Auslegung erörterten) subjektiv-historischen
oder objektiv-teleologischen Sinn in Verbindung mit dem Gerech-
tigkeitsgrundsatz des Gleichmaßes eine Erstreckung der Rechts-
folge der Ausgangsnorm (Analogiegrundlage) auf einen von ih-
rem sprachlich fixierten Tatbestand auch im äußersten möglichen
Sprachverständnis nicht mehr erfassten Sachverhalt. Das wird da-
mit begründet, dass dieser Sachverhalt gemäß dem maßgebenden
Zweck der Ausgangsnorm gleich regelungsbedürftig und, ohne Wi-
dersprüche hervorzurufen, gleich zu regeln ist, ohne dass dies aber
eine vorgegebene (gesetzliche oder gewohnheitsrechtliche) Rechts-
vorschrift aussprechen würde. Hier wird die Lücke durch ein und
denselben methodischen Gedankengang festgestellt und geschlos-
sen, nämlich durch Rückbesinnung und Rückgriff auf den Geset-
zeszweck.
Am Beispiel der Sicherungsübereignung: Die gesetzlich zwingende Not­
wendigkeit der körperlichen Übergabe einer beweglichen Pfandsache hat
ihren unbestrittenen Grund darin, besonders intensive Publizität her­
zustellen. Nur wenn sich die Sache nicht mehr beim Pfandbesteller be­
findet, scheiden Täuschungen Dritter über den beim Pfandbesteller noch
vorhandenen Haftungsfonds aus. Keine andere Bewertung der Beteilig­
teninteressen ist dann vorzunehmen, wenn sich die Parteien des Siche­
rungsverhältnisses dazu entschlossen haben, nicht bloß ein Pfandrecht zu
begründen, sondern zur Erreichung des Sicherungszwecks sogar Eigen­
88
Grundlagen

tum zu übertragen (das allerdings bei Wegfall des Sicherungszwecks wie


eine Pfandsache wieder an den Sicherungsgeber zurückgelangen soll).
Heikler ist die Feststellung und Behandlung von „Prinzipienlü-
cken“. Darauf wird bei Erörterung der Prinzipienanwendung zu-
rückzukommen sein (S 103 f). Einfacher verhält es sich dagegen mit
der Feststellung der logischen („echten“) Lücken. Sie werden
teilweise sogar von modernen Rechtspositivisten als methodisch re-
levant und ausfüllungsbedürftig zugestanden. Hier ist eine vorhan-
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dene positive Norm ohne Ergänzung gar nicht anwendbar.


Beispiel: In einem bestimmten Zusammenhang wird die Verzinsung ei­
ner Geldforderung angeordnet, jedoch ohne Angabe des Zinssatzes. Der
klassische rechtspositivistische Ausweg läge sogar hier im freien Ermes­
sen des Richters, der den Zinssatz nach Belieben festsetzt. Pragmatischere
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Auffassungen bevorzugen, selbstverständlich zu Recht, analoge Anwen­


dung einer nach Zweck oder Grundwertung geeigneten Regel, die eine
Zinshöhe angibt. (Im österreichischen Recht stellt sich hier übrigens von
vornherein kein Analogieproblem, da bei fehlender Regelung immer
§  1000 Abs 1 ABGB zu Hilfe kommt.)
Im Vorgriff auf spätere genauere Erörterungen zur „Lex-lata-
Grenze“ (S 113 ff) ist hier bereits hervorzuheben, dass die legi-
timen methodischen Möglichkeiten der anwendungsorientierten
Rechtswissenschaft durch die Entscheidungsprärogative (Vor-
recht) des Gesetzgebers – ohne die die staatliche Organisation
der Gesellschaft mit Herausbildung besonderer Gesetzgebungsorga-
ne sinnlos wäre – de lege lata in spezifischer Weise beschränkt sind.
Nahezu alle modernen Verfassungen unterscheiden streng zwi-
schen Rechtssetzung (Gesetzgebung) und Rechtsanwendung
(Vollziehung der Gesetze). Das gilt natürlich auch und gerade für
die ergänzende Rechtsfortbildung. Sie findet dort ihre Grenze, wo
der klare Wortlaut der Regelschicht mit der deutlich nachweisba-
ren historischen Absicht des Gesetzgebers übereinstimmt. Bei der
ergänzenden Rechtsfortbildung besteht das Textelement im Fehlen
einer sprachlich auch nur möglicherweise auf den anstehenden
Problemsachverhalt anwendbaren Regel. Beruht das Fehlen einer
solchen Regel aber nun gerade auf einer bewussten Entschei-
dung des Gesetzgebers, ein bestimmter Sachverhalt solle keine
oder zumindest nicht die gerade ins Auge gefassten Rechtsfolgen
auslösen, so liegt keine „planwidrige“ Unvollständigkeit der Regel-
89
Die ergänzende Rechtsfortbildung (vor allem Analogie und Reduktion)

schicht vor. Das gilt wegen der bewussten gesetzgeberischen Ent-


scheidung zur Andersbehandlung selbst dann, wenn dieses Fehlen
sachlich bzw systematisch unbegründet und daher de lege ferenda
mit rechtlichen Argumenten aus den tieferen Schichten des Rechts
zu bekämpfen (und womöglich sogar verfassungswidrig) ist.
Beispiel: Als in einem früheren Stadium der vielen österreichischen Re­
formen des Namensrechts verheirateten Frauen ausdrücklich das Recht
eingeräumt wurde, ihren Mädchennamen dem Mannesnamen nachzu­
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stellen (Doppelname), wenn der Mannesname zum Ehenamen wurde,


sollte nach der den Materialien entnehmbaren Absicht des Gesetzgebers
dem Mann im umgekehrten Fall (Frauenname als Ehename) diese Mög­
lichkeit verschlossen bleiben. Irgendein zureichender, insbesondere der
Gleichberechtigung entsprechender Grund dafür war nicht zu erkennen.
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Die bewusste Entscheidung des Gesetzgebers stand aber – so die Recht­


sprechung – der analogen Anwendung des Namensnachstellungsrechts
der Frau auf den Mann entgegen. (In dieser Auslegung hatte man es
wohl unzweifelhaft mit einer verfassungswidrigen Norm zu tun, die
nach österreichischem Recht aber bis zur Aufhebung durch den VfGH
wirksam ist.)
Allerdings gilt auch die Lex-lata-Grenze strikt nur rebus sic stanti-
bus, also vorbehaltlich einer gravierenden Änderung der Umstän-
de. Treten in neueren Rechtsschichten abweichende gesetzgeberi-
sche Wertungen hervor, die zu deutlichen Wertungswidersprüchen
im Verhältnis zum älteren Gesetz führen, kann diese Grenze zur Be-
hebung des Widerspruchs durch „Funktionswandel“ (dazu noch
später S 117 ff) verschoben werden.

II. Analogie und Umkehrschluss


1. Die angebliche „Schaukel“
Der Analogieschluss als primäre, weil gesetzesnäheste Methode
der Rechtsfortbildung wurde schon im vorigen Abschnitt bei der
Ermittlung der „teleologischen“ Lücke beschrieben: Der problem-
relevante Gesetzeszweck (etwa des Erfordernisses der körperlichen
Übergabe bei der Verpfändung) ist aus historischem Erkenntnisma-
terial oder objektiv-induktiv zu erschließen. Danach ist er deduktiv
auf das anstehende, vom Gesetzestext nicht erfasste Fallproblem

90
Analogie und Umkehrschluss

anzuwenden. Erschlossen wird damit auch die Rechtsfolge der Aus-


gangsnorm; zwar nicht für „unmittelbare“, wohl aber für analoge
Gesetzesanwendung. Die maßgebende Ähnlichkeit (Analogie)
zwischen der von ihrem Wortlaut her nicht anwendbaren Regel
(Verpfändung) und dem Problemfall (Sicherungsübereignung) wird
dadurch hergestellt, dass der Zweck der ersteren auch auf den letz-
teren „passt“; mehr noch: dass eine Verschiedenbehandlung grob
wertungswidersprüchlich wäre.
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Ein weiteres Beispiel ist das Schriftlichkeitsgebot des Bürgschaftsrechts


(§  1346 Abs 2 ABGB, §  766 BGB), das übereilte Haftungsübernahmen
für fremde Schuld verhindern soll. Dieselbe Ratio gilt für die Übernahme
persönlicher Haftung in ähnlicher Weise – wie etwa durch Schuldbeitritt
oder Garantie. Deshalb spricht teleologisch alles für eine analoge Anwen­
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dung des bürgschaftsrechtlichen Formgebotes auf diese anderen Siche­


rungsformen, obwohl sich in deren Kontext – sofern überhaupt gesonderte
gesetzliche Regelungen existieren – keine Regelung der Formfrage findet
und an sich der Grundsatz der Formfreiheit gilt.
Gelegentlich muss die Analogiefrage entschieden werden, ohne
dass es möglich ist, mit zureichender Plausibilität einen problemre-
levanten Gesetzeszweck positiv zu ermitteln. Dann kann die Analy-
se des Unterschieds zwischen den textlich durch die Ausgangsnorm
erfassten Fällen und dem sicher darüber hinausgehenden anstehen-
den Problemfall ergeben, dass die Sachunterschiede nach allen im
Kontext erkennbaren rechtlichen Zwecken und Wertungen irrele-
vant sind.
Beispiel: Selbst wenn man nicht zureichend klären kann, warum ge­
nau bei Vermietung einer Eigentumswohnung der Mieter geringeren
Schutz erhält als bei einer sonstigen Wohnungsmiete, ist die betreffen­
de Regel analog auf die Vermietung einer im (alten, nur mehr selten
aufrechten) Stockwerkseigentum stehenden Wohnung anzuwenden. Die
Gemeinsamkeit, nämlich das dingliche ausschließliche Verfügungsrecht
bloß über einen Teil des Hauses, ist so deutlich, dass die Unterschiede in
der Eigentumskonstruktion im Zusammenhang des Mieterschutzes keine
erkennbare Rolle spielen können.
Dem Analogieschluss steht der Umkehrschluss (argumentum e
contrario) scharf gegenüber. Hier wird gefolgert, dass die in einer
Rechtsvorschrift angeordnete Rechtsfolge nur unter den tatbestand-

91
Die ergänzende Rechtsfortbildung (vor allem Analogie und Reduktion)

lichen Voraussetzungen dieser Vorschrift gelten soll, also gerade


nicht auf von ihrem Wortlaut nicht erfasste Fälle auszudehnen ist.
Es gehört zu den Standardeinwänden von Methodenkritikern, dass
die beiden gegensätzlichen Schlussformen stets zur Wahl stünden.
Das ist aber nur unter der verfehlten Prämisse richtig, dass als
rechtlich relevant nur die formulierten Rechtsvorschriften in Frage
kommen. Selbst pragmatischere Gesetzespositivisten gestehen je-
doch wenigstens der aus anderen Erkenntnisquellen erkennbaren
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Absicht des Gesetzgebers bei der Auslegung erhebliche Bedeutung


zu. Warum sollte das bei der Rechtsfortbildung anders sein? Aus
dem bereits Gesagten ergibt sich die Widerlegung des Einwandes
von selbst: Wenn man nicht bloß den Gesetzestext, also den „Buch-
staben“ des Gesetzes beachtet, sondern – etwa mit §  7 ABGB! – auch
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auf seine Zwecke (Gründe) sieht, kann von der angeblich belie-
bigen „Schaukel“ zwischen Analogie- und Umkehrschluss
als grundsätzlichem Einwand gar keine Rede sein. Es kommt viel-
mehr darauf an, ob der problemrelevante Zweck des Gesetzes sich
nur auf die tatbestandlich erfassten Sachverhalte erstreckt (dann
Umkehrschluss) oder darüber hinausgeht (dann und insoweit Ana-
logieschluss). Verweise bloß auf den Wortlaut des Gesetzes helfen
bei dieser Frage, wie bei zahlreichen anderen methodischen Prob-
lemen, nicht weiter.
Beispiel: §  1327 ABGB sieht für gesetzliche Unterhaltsgläubiger, etwa
minderjährige Kinder, eines schuldhaft Getöteten Schadenersatzan-
sprüche gegen den Verantwortlichen auf das vor, was ihnen durch die
Tötung entgeht. Wie sind nun etwa Kaufpreis-, Darlehens- oder Scha-
denersatzforderungen gegen den Getöteten zu beurteilen? Auch diese
Gläubiger kommen wegen der Tötung ihres Schuldners nicht zu ihrem
Geld, sind durch die Tötung ihres Schuldners also ebenfalls („mittelbar“)
geschädigt. Ein Analogieschluss von den Unterhaltsforderungen auf die
anderen Ansprüche lässt sich nicht etwa mit dem Hinweis auf den Ge-
setzeswortlaut abwehren: Dieser Wortlaut wird ja bei jedem Analogie-
schluss überschritten! Entscheidend ist vielmehr der evidente Zweck der
genannten Vorschrift, dem existentiell bedeutsamen Unterhaltsbedarf der
Betroffenen besonderen Schutz zu gewähren. Das und nicht der Wortlaut
verlangt hier unbestrittenermaßen einen Umkehrschluss.
Richtig ist, dass in manchen Fällen die Anwendung der genannten
Kriterien im Ergebnis zweifelhaft bleiben kann, weil der maßge-
92
Analogie und Umkehrschluss

bende Zweck nicht zureichend präzise zu ermitteln ist. Das ist aber
kein Argument für die zahlreichen Fälle, in denen die Ratio einer
Anordnung offensichtlich ist. Dann bleibt allerdings noch der Ein-
wand aus dem anerkannten Zentralprinzip der Rechtssicherheit
übrig: Einerseits sprechen Gerechtigkeitserwägungen für Gleichbe-
handlung, andererseits könnte das geschriebene Gesetzesrecht ten-
denziell den Schutz des Vertrauens auf unterschiedliche Behand-
lung rechtfertigen. Konsequenz dieses Gedankens könnte sein, die
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analoge Anwendung auf die Vermeidung grober Wertungswi-


dersprüche zu beschränken. Diese Voraussetzung wäre im Falle
der Sicherungsübereignung jedenfalls erfüllt, da dem zwingenden
pfandrechtlichen Publizitätsprinzip in Österreich ohne Zweifel zen-
trale Bedeutung zukommt.
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Bei differenzierter Sicht vom Umkehrschluss zu unterscheiden


ist das argumentum e silentio. Darunter versteht man einen
Schluss aus dem Schweigen sowohl des Textes als auch der ratio le-
gis, also des Normzwecks: Der Zweck einer Regel beschränkt deren
Rechtsfolge nicht schlechthin auf die im Text tatbestandlich erfass-
ten Fälle, lässt also an sich Analogie zu; nicht aber auf den gerade
anstehenden Sachverhalt.
Ein – mittlerweile ebenfalls rechtshistorisches – Beispiel dafür kann
wiederum §  1327 ABGB liefern. Das Familienrecht unterschied frü­
her terminologisch deutlich zwischen Unterhaltsleistungen (im engeren
Sinn) und familiären Arbeitsleistungen (für die Ehe Haushaltsführung,
Pflege und Erziehung der Kinder, ehelicher Beistand). Auf den Verlust
dieser Arbeitsleistungen durch Tötung des familienrechtlichen Schuld­
ners war §  1327 ABGB wegen des zutreffenden Gesetzeszwecks (Wah­
rung existentieller Bedürfnisse) analog anzuwenden. Damals handelte
es sich also hinsichtlich der anderen Forderungsarten (Kaufpreis-, Dar­
lehens- oder Schadenersatzforderungen Dritter) um ein argumentum e
silentio. Seit der Gesetzestext auch die familiären Arbeitsleistungen unter
den – nunmehr weit gefassten – Unterhaltsbegriff bringt, geht es um blo­
ße systematische Gesetzesauslegung und Umkehrschluss.
In diesem Zusammenhang ist ausdrücklich festzuhalten, dass eine
bewusste Entscheidung des Gesetzgebers gegen die Zulässigkeit
analoger Anwendung nicht etwa willkürlich oder allein mit dem
Argument des Gesetzeswortlautes unterstellt werden darf; etwa
nach dem Motto: Das Gesetz hat eben nur bestimmte Fälle erfasst
93
Die ergänzende Rechtsfortbildung (vor allem Analogie und Reduktion)

und daher nur diese erfassen wollen. Damit ist selbstverständlich


noch kein gewollter Ausschluss ähnlicher Fälle bewiesen. Es bleibt
ja möglich, dass sie den bei der konkreten Gesetzgebungsaktivität
engagierten Menschen nicht zureichend bewusst geworden oder
dass sie vielleicht gerade der Rechtsfindung durch Analogieschluss
überlassen worden sind. Im Zweifel darf dem Gesetzgeber schon
wegen seiner Bindung an Gerechtigkeitsgleichmaß und Gleich-
heitsgrundsatz gewiss nicht der Wille zu einer davon abweichenden
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und damit willkürlichen Regelung unterstellt werden. Ob aufgrund


dieser Überlegung bereits bei Zweifeln über die Frage einer bewusst
inkonsequent getroffenen Regelung durch den Gesetzgeber Ana-
logie und nicht Umkehrschluss geboten ist, hängt wohl davon ab,
wie stark man das bereits angesprochene, uU gegenläufige Prinzip
der Rechtssicherheit gewichtet, das ja tendenziell für den Schutz
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eines Vertrauens der Rechtsunterworfenen in die differenzierende


Gesetzes(text)lage spricht. Ein solcher Schutz muss jedenfalls dort
seine Grenze finden, wo Gleiches erkennbar grob ungleich behan-
delt werden würde, weil massive, vom Gesetzgeber nicht beabsich-
tigte Wertungswidersprüche verhindert werden müssen, wobei zu-
gleich auf eine solche (massiv widersprüchliche) Rechtslage nicht
vertraut werden darf. Inkonsistenzen geringeren Ausmaßes, die sich
wohl in jeder Rechtsordnung in größerer Zahl finden lassen, sollten
hingegen de lege lata akzeptiert werden; auch dann, wenn nicht ge-
klärt werden kann, ob sich der Gesetzgeber der Widersprüchlichkeit
bewusst war. Es darf hier allerdings nicht verschwiegen werden,
dass die methodische Diskussion (auch) in diesem Punkt bisher zu
keinem einheitlichen Ergebnis geführt hat

2. Arten des Analogieschlusses


a) Die einfachste Form ist die Einzelanalogie (Gesetzesanalo-
gie), die auch bisher zugrunde gelegt wurde: Der Zweck einer
bestimmten einzelnen Vorschrift passt auf den gerade dadurch
rechtsähnlichen, vom Gesetzestatbestand aber textlich nicht erfass-
ten Fall.
Beispiel: §  862a ABGB bestimmt entsprechend der Zugangs- oder Emp­
fangstheorie für die Annahmeerklärung beim Vertragsschluss, dass
diese mit Zugang beim Empfänger wirksam wird. Für andere Willens­

94
Analogie und Umkehrschluss

erklärungen, die einem anderen gegenüber abzugeben sind, wie etwa


Vertragsofferte, Kündigung, Rücktritts- oder Optionserklärung, fehlt im
ABGB eine diesbezügliche Vorschrift, obwohl alle diese Erklärungen dem
Gesetz natürlich bekannt sind. Die entsprechenden Regeln können aber
gar nicht angewendet werden, ohne dass man weiß, wann bzw wodurch
die betreffende Willenserklärung wirksam wird. Es liegt also eine „logi-
sche“ Lücke vor. Auszufüllen ist sie durch Analogie zu §  862a ABGB
entsprechend dem Zweck dieser Regel, das Transportrisiko der Erklärung
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nach der besseren Gefahrenbeherrschung zu verteilen: Der Absender


bestimmt die Art des Transportes; damit kann allein er das eigentliche
Transportrisiko beeinflussen. Ab dem Eingehen in die Herrschaftssphä­
re des Empfängers, dem Zugang, sind nach der Natur der Sache dieser
Empfänger und seine organisatorischen Vorkehrungen dafür zuständig,
dass die Erklärung alsbald dem Adressaten zur Kenntnis gelangt. Die­
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ser Risikoverteilungszweck passt nun nicht nur für eine Annahmeerklä­


rung, sondern für alle empfangsbedürftigen Willenserklärungen glei­
chermaßen.

b) Die Gesamtanalogie (Rechtsanalogie) ermittelt hingegen


aus einer Reihe von gesetzlichen Regeln einen gemeinsamen
Grundgedanken und wendet diesen, weil keine der einzelnen Re-
geln passt, sehr wohl aber der gemeinsame Gesetzesgrund, auf den
ähnlichen, nicht unmittelbar geregelten Fall an.
Beispiel: Alle im Gesetz näher erfassten Dauerschuldverhältnisse (Miete,
Pacht, Arbeitsverhältnis, Gesellschaft) enthalten eine Regel, die besagt,
dass sie von jedem Vertragsteil einseitig ohne Rücksicht auf die verein­
barte Dauer aus wichtigem Grund fristlos aufgelöst werden können. Die
Vertragsfortsetzung kann insbesondere durch Vertragsverletzungen des
anderen Teils, aber auch durch objektiv geänderte Umstände unzumut­
bar werden. Viele Dauerschuldverhältnisse werden nun kraft Vertrags­
freiheit mit einem Inhalt geschlossen, der ihre Einordnung unter die ge­
setzlich geregelten Typen von Dauerschuldverhältnissen ausschließt (zB
Bezugsvertrag, Gebrauchstausch, Dauerkauf, Dauertransportvertrag).
Die Regel vom wichtigen Grund ist aber kraft Gesamtanalogie auch auf
sie anwendbar. Der Zweck, unzumutbare Bindungen in Dauerbeziehun­
gen zu vermeiden, trifft ja auch hier voll zu. Wie der drohende Wer­
tungswiderspruch zeigt, liegt hier eine teleologische Lücke vor, die ohne
Schwierigkeiten geschlossen werden kann.

95
Die ergänzende Rechtsfortbildung (vor allem Analogie und Reduktion)

3. Die Größenschlüsse als verstärkte Unterarten


der Analogie
Der Größenschluss ist in zwei Varianten verwendbar: als Schluss
vom Kleineren auf das Größere (argumentum a minori ad mai-
us) überträgt er die Rechtsfolge einer Regel auf einen textlich nicht
erfassten Sachverhalt, der nach dem Zweck der Regel dieser Rechts-
folge umso mehr bedarf (also sogar „mehr als bloß rechtsähnlich“
ist).
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Beispiele: 1. Nach §  349 ABGB geht der Besitz an einer Sache verloren,
wenn sie ohne Hoffnung des Wiederauffindens in Verlust gerät, freiwil­
lig weggegeben wird oder in fremden Besitz gelangt. Umso mehr tritt
Besitzverlust – trotz Nichtnennung dieser Fallgruppe in §  349 ABGB –
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dann ein, wenn die Sache (etwa durch einen Brand) vollständig zerstört
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wird.
2. §  22 Abs 1 des österreichischen Unterhaltsvorschußgesetzes sieht eine
Rückzahlungspflicht von Vorschüssen unter anderem dann vor, wenn
diese zu Unrecht ausgezahlt wurden und sie der Zahlungsempfänger
„vorsätzlich oder grob fahrlässig für den Unterhalt des Kindes ver­
braucht hat“. In einem konkreten Fall hatte der Empfänger die erhalte­
nen Zahlungen nun nicht für das Kind, sondern für sich selbst ausgege­
ben. Ein Größenschluss aus der gesetzlichen Regelung ergibt, dass er das
Geld dann erst recht zurückzubezahlen hat.
Der Schluss vom Größeren auf das Kleinere (argumentum a ma-
iori ad minus) führt zu einer Wendung ins Negative: Wenn nicht
einmal ein nach dem Gesetzeszweck weitergehender Tatbestand
eine bestimmte Rechtsfolge hat, dann umso weniger der engere.
Beispiel: Nicht einmal der schutzwürdige redliche Besitzer kann gegen
die Herausgabeklage des Eigentümers einwenden, er habe für die Sache
einem Dritten einen Kaufpreis gezahlt (§  333 ABGB). Der Zweck ist die
Klarstellung, dass den Eigentümer die Beziehungen des Besitzers zu Drit­
ten wegen ihrer bloß relativen Bedeutung nichts angehen. Umso mehr
gilt dieser Zweck dann, wenn der Besitzer unredlich und daher weniger
schutzwürdig ist.
Auf die Rechtsfolgenseite übertragen besagt das letztgenannte Ar-
gument, dass dann, wenn ein Sachverhalt nach einer bestimmten
Regel eine weitergehende Rechtsfolge ermöglicht, umso mehr eine

96
Die teleologische Reduktion (Restriktion)

weniger weitgehende (nicht: einfach eine andere!) in Betracht


kommen muss.
Beispiel: Hat der Aufsichtsrat einer Aktiengesellschaft aufgrund be­
stimmter Ereignisse das in §  75 Abs 4 AktG vorgesehene Recht, den
Vorstand (endgültig) abzuberufen, muss er erst recht die weniger ein­
schneidende Maßnahme der (vorläufigen) Suspendierung verhängen kön-
nen.
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III. Die teleologische Reduktion (Restriktion)


Die der Analogiesituation genau entgegengesetzte Situation liegt
vor, wenn die einschlägige Regel ihrem Wortlaut nach mehr umfasst
als ihrem Zweck entspricht; und zwar schon im „Begriffskern“ (im
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„Begriffshof“ hilft ja bereits eine einschränkende teleologische In-


terpretation). Das verschärfte Problem der Rechtsfortbildung stellt
sich also, wenn bereits der engst mögliche Wortsinn über den
Gesetzeszweck hinausgeht. Hier ist – als Gegenstück zur Analo-
gie – Rechtsfortbildung durch teleologische Reduktion (Restrik-
tion) geboten, die die gesetzlich angeordnete Rechtsfolge auf den
vom Zweck getroffenen Bereich beschränkt.
Da der vorhandene, wenn auch teleologisch gesehen überschie-
ßende Gesetzeswortlaut stärkere Erwartungen weckt als – bei der
Analogie – das Fehlen eines möglicherweise anwendbaren Textes,
ist freilich in mehrfacher Hinsicht Vorsicht geboten. Zunächst ist
der die Einschränkung bedingende Zweck mit besonderer Sorgfalt
zu prüfen und zu begründen. Das kann durch den Nachweis er-
leichtert sein, dass für andere, systematisch zusammenhängende
Rechtsregeln ohne die Reduktion der problematischen Regel kein
sinnvoller Anwendungsbereich bliebe. Weiter ist darauf zu achten,
dass nicht unter dem Deckmantel einer teleologischen Reduktion in
Wahrheit „alle Umstände des Einzelfalles“ berücksichtigende blo-
ße Billigkeitsjurisprudenz betrieben wird, die die betreffende Regel
alsbald überhaupt auflöst. Vielmehr muss nachzuweisen sein, dass
eine abstrakt umschreibbare Fallgruppe aus der angeordneten
Rechtsfolge herauszunehmen ist.
Im Falle der teleologischen Reduktion ist die für die Rechtsfort-
bildung erforderliche Gesetzeslücke als „verdeckte“ Lücke zu

97
Die ergänzende Rechtsfortbildung (vor allem Analogie und Reduktion)

verstehen, dh, dass eine nach dem Gesetzeszweck notwendige Aus-


nahme im expliziten Regelbestand fehlt.
Beispiele: 1. Das Nachfristerfordernis beim Rücktritt wegen Verzugs
nach §  918 ABGB (ganz ähnlich §  323 BGB) soll dem säumigen Ver­
tragspartner die Chance geben, durch verspätete, aber doch alsbaldige
Leistung den Vertrag aufrechtzuerhalten. Hat der säumige Vertragspart­
ner nun aber bereits ernstlich erklärt, dass er überhaupt nicht daran
denke, den Vertrag zu erfüllen (Erfüllungsverweigerung), wäre die
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Nachfristsetzung bloß eine sinnlose, ihrem vernünftigen Zweck nicht die­


nende Formalität: Man weiß aus bester Quelle, nämlich vom Schuldner
selbst, dass er die Nachholungschance nicht wahrnehmen wird. Hier ist
also Rücktritt ohne Nachfristsetzung wirksam, obwohl das österreichi­
sche ABGB für diese Fallgruppe keine ausdrückliche Ausnahme vorsieht
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(anders nunmehr, etwas versteckt, §  7c Abs 2 Satz 3 KSchG, sowie schon
länger §  323 Abs 2 Nr 1 BGB).
2. Für den Schenkungsvertrag ohne wirkliche Übergabe des Geschenks
wird die Einhaltung einer besonderen Form verlangt; so nach §  1 Abs 1
lit d NotAktsG die Errichtung eines Notariatsakts. Ist nun ein Vertrag
wirksam, in dem bloß die Erklärung des Schenkers in Form eines
Notariatsakts vorliegt, während der Beschenkte die Annahme etwa durch
schlichten Brief erklärt hat? Da der Zweck des Formgebots im Schutz des
Schenkers vor Übereilung liegt, muss bloß dessen Erklärung der beson­
deren Form genügen. (Ganz in diesem Sinn unterstellt das Gesetz etwa
nur die Erklärung des Bürgen der Schriftform.) Die Norm, deren Formu­
lierung den gesamten Vertrag dem Formgebot unterwirft, ist also zu weit
gefasst und daher teleologisch zu reduzieren, was im geschilderten Fall
zur Wirksamkeit der Schenkung führt. Keine (weitere) Reduktion der die
Schenkererklärung erfassenden Formvorschrift ist de lege lata hingegen
für kleine Geschenke möglich; schon deshalb, weil sich der Rechtsord­
nung keine Grenze entnehmen lässt.
3. Bei der bereits mehrfach erwähnten Sicherungsübereignung wäre zu
§  428 ABGB wie folgt zu argumentieren: Die Bestimmung hat bloß die
dauerhafte Übereignung (etwa aufgrund eines Tausch-, Kauf- oder
Schenkungsvertrags) im Auge, bei der geringere Publizität ausreicht,
nicht hingegen pfandrechtsähnliche Vorgänge, bei denen sich ein kon­
kreter Gläubiger Befriedigungsvorrechte verschaffen möchte. Daher ist
§  428 Fall 1 ABGB (Besitzkonstitut, bei dem die Sache faktisch beim

98
Die Anwendung allgemeiner Rechtsgrundsätze

Übergeber bleibt) um die Fallgruppe „Eigentumsverschaffung zu Siche­


rungszwecken“ zu reduzieren. Die dadurch für das Sicherungseigentum
entstehende Lücke wird anschließend durch analoge Anwendung der te­
leologisch passenden Pfandrechtsbegründungsvorschrift des §  451 ABGB
geschlossen. (Anders entscheidet bei praktisch gleicher Gesetzeslage und
damit für österreichische Juristen durchaus überraschend die ganz hA
zum deutschen Recht, die das Besitzkonstitut – und damit auch die Um­
gehung der zwingenden Pfandrechtsbegründungsvorschriften – bei der
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Sicherungsübereignung ausreichen lässt.)

IV. Die Anwendung allgemeiner Rechtsgrundsätze


1. Allgemeines
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Die allgemeinen Rechtsgrundsätze spielen bereits bei der Auslegung


im engeren Sinn und bei der Analogie eine wesentliche Rolle (vgl
nur die Ausführungen auf S 94 f zum Gefahrenbeherrschungsprin-
zip bei der empfangsbedürftigen Willenserklärung). Auch ihre un-
mittelbare Verwendung bei der sog Rechtsgewinnung dürfte zumin-
dest in den meisten entwickelten Rechtsordnungen bekannt sein.
In vielen von ihnen wird sie zur Gesetzesergänzung sogar durch
ausdrückliche Gesetzesbestimmungen angeordnet. (Rechtsverglei-
chend ziemlich singulär ist dagegen der – für seine Zeit [1811] gut
gelungene – Versuch einer relativ umfassenden Teilkodifikation
der methodischen Regeln insgesamt durch die §§  6 ff ABGB.) In
§  7 ABGB ist in letzter Linie die Heranziehung der „natürlichen
Rechtsgrundsätze“ vorgesehen. In den Vorarbeiten zum ABGB
war teilweise von „allgemeinen Rechtsgrundsätzen“ die Rede. Die
abgewandelte Formulierung im ABGB selbst beruhte nicht auf einer
sachlichen Veränderungsabsicht. Die Redeweise von „allgemei-
nen“ Rechtsgrundsätzen ist insofern vorzuziehen, als sie neutraler
ist und Assoziationen mit dem „Naturrecht“ nicht aufkommen lässt,
das manchen als grundsätzlich bedenklicher Ansatz erscheint. Der
Hauptredaktor des ABGB, Zeiller, war zwar als Rechtstheoretiker
Naturrechtler, als Gesetzgebungspraktiker aber sehr auf die Bedeu-
tung des Gesetzes bedacht. Daher hat er auf die bloß subsidiäre und
daher relativ seltene unmittelbare Heranziehung der allgemeinen
Rechtsgrundsätze bei der Rechtsfindung großen Wert gelegt; we-

99
Die ergänzende Rechtsfortbildung (vor allem Analogie und Reduktion)

gen der Entscheidungs- und Wertungskompetenz des Gesetzgebers


gerade aus heutiger Sicht ganz zu Recht. Andernfalls könnte das
positive Gesetzesrecht seine friedensstiftende und die sicherere Er-
kennbarkeit der Rechtslage fördernde Funktion nicht zureichend
erfüllen. Dazu kommt heutzutage die demokratische Legitimation
der Gesetzgebungsinstanzen.
Ein Rückgriff auf die allgemeinen Rechtsgrundsätze ist zwar den
gesetzesnäheren Rechtsfindungsinstrumenten, der Interpretation
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und der Analogie, nachrangig, also eine bloß subsidiäre Rechtsfin-


dungsmethode, in heiklen Einzelfällen rationalerweise jedoch un-
umgänglich. Das gilt trotz ihrer relativen Vagheit. Die Kritiker, die
auf diese hinweisen, haben ja regelmäßig nur das überhaupt krite-
rienlose Ermessen bzw die Eigenwertung des jeweiligen Beurteilers
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als Alternative anzubieten.

2. Ermittlung und Beschaffenheit von Prinzipien


Allgemeine Rechtsgrundsätze verfestigen sich in sog Prinzipien.
In vielen Rechtsgebieten und Rechtsinstituten sind seit jeher solche
Prinzipien, also die gesamte betroffene Rechtsmaterie wesent-
lich beeinflussende Grundwertungen, bekannt. Sie unterschei-
den sich, bei fließenden Übergängen, von den Gesetzeszwecken
oder Gesetzesgründen dadurch, dass diese Zwecke und Gründe
bestimmten einzelnen Gesetzesvorschriften (zB einem bestimmten
Paragrafen), nicht hingegen umfassenderen Rechtskomplexen (zB
dem gesamten Vertragsrecht) zugrunde liegen.
Als Beispiele für leitende Grundsätze denke man etwa im Ver-
fassungsrecht an Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Grundrechts-
schutz, an das Schuldprinzip oder die Maxime „nulla poena sine
lege“ im Strafrecht, an die Grundsätze der Rechtskraft oder der frei-
en Beweiswürdigung im Prozessrecht, an die (beschränkte) Eigen-
tumsfreiheit, das Publizitätsprinzip und die absolute Wirkung der
subjektiven Rechte im Sachenrecht, an die Leitgedanken der Pri-
vatautonomie und des Vertrauensschutzes im Schuldrecht, an die
Testierfreiheit und die Familienerbfolge im Erbrecht usw. Schon die
alte Prinzipienlehre hat in vielen Zusammenhängen die allgemei-
nen Rechtsgrundsätze in diesem Sinn, also als allgemeine system-
tragende Grundwertungen, hervorgehoben und bei der Auslegung
100
Die Anwendung allgemeiner Rechtsgrundsätze

und Rechtsfortbildung nutzbar gemacht. Prinzipien in diesem Sinn


sind keine in Tatbestand und Rechtsfolge gegliederte, auf schlichte
Anwendung angelegte Rechtsnormen, sondern generelle Wer-
tungstendenzen in Bezug auf umfassende Sachverhaltskomplexe
und die darauf bezogenen konkreteren Rechtsbereiche.
Rechtstheoretisch hat die neuere Prinzipienlehre, zunächst in
Gestalt der von der Rechtsdogmatik ausgehenden Theorie eines
„beweglichen Systems“ von Walter Wilburg, eine strukturelle Be-
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sonderheit der Prinzipien hervorgehoben, die sich inhaltlich von


dem anderen Normentyp, den auf unmittelbare Anwendung an-
gelegten „Regeln“, unterscheidet: Prinzipien fordern – wie oben
schon bemerkt – nicht vollständige Befolgung, sondern enthalten
Optimierungsgebote. Das sind abstufbare Sollensanforderungen,
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denen nur nach Möglichkeit, insbesondere unter Beachtung kol-


lidierender anderer Prinzipien, zu folgen ist. Die neuere Rechts-
theorie hat das Verständnis von der „Mehr-oder-weniger-Struktur“
der Normen vom Prinzipientyp wesentlich vertieft. Hier gibt es eben
selten ein „ganz oder gar nicht“. Vielmehr bedürfen Prinzipien im
Kollisionsfall eines abwägenden Ausgleichs; idealerweise bereits
durch den Gesetzgeber, aber auch später in der Rechtsanwendung.
Für die Ermittlung allgemeiner Rechtsgrundsätze sind zwei
unterschiedliche Positionen zu beobachten: Kurz gesagt wollen die
einen aus dem positiven Recht dessen Grundgedanken herausdes-
tillieren, die anderen dagegen bei den rechtsunabhängig im zwi-
schenmenschlichen Verkehr zu beobachtenden Anschauungen
und Übungen, also bei faktischen Gegebenheiten, ansetzen. Schon
zur bestmöglichen Kontrolle ist die Kombination beider Wege ge-
boten. Beginnen sollte man für die Rechtsanwendung möglichst
sachnahe mit einer Induktion aus dem positiven Recht auf dessen
wertungsmäßige Grundlagen. Dabei richtet sich der Blick auf
ganze Rechtsinstitute oder Systemmaterien, geht aber über deren
normative Grundlagen hinaus. Deshalb führt die Prinzipienermitt-
lung auch zum Unterschied vom Analogieschluss nicht zu einer be-
stimmten Rechtsfolge, nämlich jener der Ausgangsnorm, sondern
hinsichtlich der Rechtsfolgen bloß zu einer Orientierung an der
im Prinzip ausgedrückten Werttendenz.
Weit getriebene Induktion führt übrigens letztlich zu den univer-
salsten Rechtsprinzipien (Rechtszwecken) der „Rechtsidee“,
101
Die ergänzende Rechtsfortbildung (vor allem Analogie und Reduktion)

nämlich den Grundsätzen der Gerechtigkeit, Rechtssicherheit


und Zweckmäßigkeit, deren interne Differenzierungen hier nicht
weiter zu verfolgen sind. Diese Prinzipien sind – mehr oder weniger
deutlich – in den Rechtsordnungen zumindest unseres Rechtskrei-
ses nachweisbar und bilden so die empirisch am besten bestätigten
Grundelemente des Rechts. Sie sind auch diejenigen, die jeder
seine eigenen langfristigen Interessen abwägende Mensch, der zu-
gleich bereit ist, auf seine Mitmenschen als gleichberechtigte Interes-
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senträger Rücksicht zu nehmen, akzeptieren müsste.


Die Ermittlung der allgemeinen Wertungsgrundlagen der gelten-
den Rechtsregeln gelingt freilich häufig nur, wenn man aus dem
zunächst rechtsunabhängigen Verhalten der meisten Mitglieder ei-
ner Gesellschaft die darin zum Ausdruck kommenden Wertungen
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entnimmt, da es ja diese sein müssen, die in einer demokratischen


Gesellschaft auch in die Gesetze eingehen. Die allgemeine Ableh-
nung von Vertrauensbrüchen („Verrat“) und daraus resultierenden
Erwartungsenttäuschungen ist zB ein deutlicher Hinweis auf das in
der Rechtsordnung weithin geltende Vertrauensprinzip; der unzäh-
lige Male erkennbar betätigte Wunsch der Menschen, ihre eigenen
Angelegenheiten nach ihrem eigenen Willen zu regeln, ein solcher
auf Privatautonomie und Eigentumsfreiheit. Bloße Induktion aus
den positiven Rechtssätzen bringt die Gefahr mit sich, sich zwischen
den zahlreichen möglichen Abstraktionsstufen zu verirren oder gar
die Grundgedanken missratener Gesetze als Rechtsprinzipien zu be-
handeln.
Es ist nämlich unbestreitbar, dass die zu bestimmten Zeiten und
an bestimmten Orten herrschenden sozialen Auffassungen ein-
schließlich ihrer Auswirkungen auf die Gesetzgebung höchst inhu-
man werden können. Man denke nur an die Diskriminierung be-
stimmter Gruppen von Mitmenschen, die von noch relativ milden
Formen bis zum brutalen Massenmord reichen können und auch
gereicht haben. In Extremfällen verlieren selbst formal „korrekt“
erlassene Gesetzesbefehle solchen Inhalts materiell den Rechtscha-
rakter. Aber noch weit vor solchen Entartungen wäre es rational
unvertretbar, entsprechende Maximen als allgemeine Rechtsgrund-
sätze anzuwenden, wie das unter totalitaristischen Systemen häufig
propagiert und praktiziert wird. Vielmehr gilt im Recht umgekehrt
die methodische Maxime, deutlich sach- oder systemwidrige Ge-

102
Die Anwendung allgemeiner Rechtsgrundsätze

setze zwar anzuwenden, aber so restriktiv wie möglich auszulegen


und nicht durch Analogieschluss oder gar durch Anerkennung ei-
nes allgemeinen Rechtsgrundsatzes zu erweitern. Zu verhindern ist
das hier abgelehnte Vorgehen vor allem durch die Heranziehung
der fundamentalen Rechtsprinzipien als Kontrollinstanz bei
der Ermittlung sonstiger allgemeiner Rechtsgrundsätze.
Die Ermittlung solcher Grundsätze ist also ein differenzierter
Vorgang, bei dem mehreres zusammenwirken muss: die Induktion
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aus den positiven Rechtsregeln und Rechtsinstituten, die im Zusam-


menleben der betreffenden Gemeinschaft deutlich hervortretenden
Wertungspräferenzen sowie die begleitende Kontrolle anhand der
fundamentalen Rechtsgrundsätze. Ein relativ gut zu handhabendes
Mittel der Begründung oder Kontrolle eines vermuteten allgemei-
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nen Rechtsgrundsatzes bildet übrigens die Rechtsvergleichung:


Was in vielen Rechtsordnungen in gleichartiger Weise anerkannt
wird, kann regelmäßig auf einen allgemeinen Rechtsgrundsatz zu-
rückgeführt werden.
Wie schon die zu Beginn dieses Abschnitts genannten Beispiele
belegen, gibt es trotz aller Schwierigkeiten zahlreiche unstreitig
anerkannte Rechtsprinzipien in den verschiedenen Rechts-
gebieten. Die zuletzt angedeuteten Probleme sind also offenbar
weitgehend überwindbar.

3. Die Prinzipienlücke
Der Charakter von Prinzipien als „Mehr-oder-weniger-Normen“,
also als bloße Optimierungsgebote, schließt es aus, eine Prinzi-
pienlücke bereits dann anzunehmen, wenn die Rechtsschicht der
positiven Regeln einem einzelnen Prinzip nicht im weitest mögli-
chen Umfang entspricht. Das ist bei allen Prinzipienkollisionen ja
unvermeidlich. Solche Kollisionen machen auch eine optimieren-
de Abwägung solange unmöglich, wie deren Anwendungsbereich,
also der Bereich der zu schließenden Lücke, nicht bekannt ist. Die
Ermittlung der Prinzipienlücke muss also getrennt von ihrer
Ausfüllung erfolgen, und zwar in möglichst engem Anschluss an
die vorhandenen und zu ergänzenden positiven Regelungen. Das
Ziel ist ja ein möglichst konsistentes Gesamtsystem.

103
Die ergänzende Rechtsfortbildung (vor allem Analogie und Reduktion)

Zwei Möglichkeiten bestehen: Bei der Ähnlichkeitsprüfung


wird untersucht, ob der gerade zu beurteilende Problemfall den in
bestimmten Einzelregeln erfassten Fällen zumindest soweit ähn-
lich ist, dass jedenfalls eine rechtliche Beurteilung überhaupt nötig
ist, also eine Einordnung in den „rechtsfreien Raum“ ausscheidet.
Anders als bei der Analogie geht es noch nicht um die Erschlie-
ßung einer bestimmten Rechtsfolge für den Problemfall, nämlich
die in einer „Ausgangsnorm“ angeordnete: Die Rechtsfolgen der
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jetzt herangezogenen Ausgangsnormen können für den gerade zu


beurteilenden Fall problemfremd und gänzlich unanwendbar sein.
Vielmehr wird zunächst lediglich die rechtliche Beurteilungsbedürf-
tigkeit als solche daraus erschlossen, dass insoweit die Zwecke oder
Grundwertungen vorhandener positiver Normen „passen“ (Beispie-
le dazu folgen).
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Bei der Vollständigkeitsprüfung wird ein im Rechtsleben


typisches Lebensverhältnis, das durch eine umfassende rechtliche
Regelung als Rechtsinstitut anerkannt ist, in Erwägung gezogen.
Anschließend wird geprüft, ob diese Regelung das für die unmit-
telbar Beteiligten wünschenswerte Funktionieren dieses Instituts in
der Rechtswirklichkeit ausreichend fördert. Wenn nein, liegt eine
Lücke vor, die durch Heranziehung allgemeiner Rechtsgrundsätze
zu schließen ist. Die beiden Möglichkeiten der Lückenprüfung sind
kombinierbar und können einander deutlich bestärken (Beispiele
auch dazu sogleich unter 4.).
Die für den Problemfall benötigte Rechtsfolge (oder bei diffe-
renzierendem Ergebnis: die mehreren Rechtsfolgen) muss den in
Optimierungsabsicht ausgeglichenen Wertungstendenzen der betei-
ligten Rechtsprinzipien entsprechen und ist möglichst den in der
Rechtsordnung in anderen Zusammenhängen bekannten Typen
von Rechtsfolgen zu entnehmen, um unnötige Zusatzkomplikatio-
nen und Unsicherheiten zu vermeiden.

4. Beispiele
Die bisherigen abstrakten Überlegungen müssen und sollen nun-
mehr – ausnahmsweise in einem eigenen Abschnitt – durch un-
terschiedliches Anschauungsmaterial greifbar gemacht werden.
Ein erstes Beispiel bietet in Österreich, charakteristisch für die das
104
Die Anwendung allgemeiner Rechtsgrundsätze

Phänomen des Todes verdrängende Kultur der neueren Zeit, das


private Totenrecht. Die Frage ist, wer über Art und Ort der Bei-
setzung eines Verstorbenen sowie uU sogar über die Umbettung des
Leichnams zu entscheiden hat. Für den Streit zwischen privaten Be-
teiligten darüber fehlen unmittelbar oder analog anwendbare Re-
geln. Ein solcher Rechtsstreit ist selten, wird aber dann unter den
Beteiligten oft erbittert geführt (zB zwischen Frau und Freundin des
Verstorbenen, zwischen Kindern des verstorbenen Elternteils oder
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zwischen den geschiedenen Eltern des verstorbenen Kindes). Gel-


tend gemacht werden Herausgabe-, insbesondere Exhumierungs-
ansprüche auf den Leichnam bzw Einwendungen gegen solche An-
sprüche.
In einer sehr alten Entscheidung hat der österreichische OGH
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einmal ganz im Sinne des „allgemeinen negativen Satzes“ gesagt:


Mangels einer gesetzlichen Regelung gibt es diesbezüglich keine
Ansprüche oder Einreden. Das besonders Absurde an diesem Stand-
punkt ist, dass damit der Streit um den Leichnam der eigenmäch-
tigen Austragung durch List oder auch Gewalt überlassen wurde,
weil derjenige rechtlich unangreifbar sein musste, der sich faktisch
des Leichnams auf welche Weise immer bemächtigt hat. Daher wird
die Rechtsfrage inzwischen längst auch von der Judikatur nach den
dafür auffindbaren Rechtsgrundsätzen beurteilt: Primär entschei-
det der Wille des Verstorbenen selbst, der nicht unbedingt in Testa-
mentsform erklärt zu sein braucht. Dieser wirkt sogar als hypothe-
tischer Wille, wenn der Verstorbene keinen aktuellen Willen über
seine Bestattung hat erkennen lassen, aber nach den vorliegenden
Umständen ein bestimmter Wille seinerseits anzunehmen ist, den
er bei Reflexion über diese Frage aller Wahrscheinlichkeit nach ge-
habt hätte. Sekundär entscheiden die nächsten Familienangehöri-
gen, und zwar nicht etwa nach formalen Verwandtschaftsgraden,
sondern entsprechend der realen Nahebeziehung zum Verstorbe-
nen vor seinem Tod. Zu beachten ist schließlich der Grundsatz der
Totenruhe, sodass nicht unbedingt notwendige Exhumierungen aus
Pietätsgründen vermieden werden sollen.
Das alles bedeutet eine Kombination des Grundsatzes der Pri-
vatautonomie in seiner besonders starken persönlichkeitsrechtli-
chen Ausprägung mit der in zweiter Linie heranzuziehenden Fa-
milienfürsorge. Die problembezogene Präzisierung der genannten

105
Die ergänzende Rechtsfortbildung (vor allem Analogie und Reduktion)

Grundsätze folgt also der „Natur der Sache“ im bereits erörterten


Sinn. Da sogar viel weniger emotionalisierte Interessenkonflikte
als der Streit um den Leichnam in einem entwickelten Rechtsstaat
selbstverständlich in einem geordneten Verfahren ausgetragen wer-
den können und müssen, und weil dem Rechtsinstitut Familie eine
Regelung für den Todesfall eines Familienmitglieds fehlt, ergeben
sowohl die Ähnlichkeits- wie die Vollständigkeitsprüfung das Vor-
liegen einer ausfüllungsbedürftigen Prinzipienlücke.
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Ein weiteres, praktisch weit wichtigeres Beispiel ist das „quasi-


dingliche Recht des Mieters“ einer unbeweglichen Sache, mit
dem sich dieser nach fester Rechtsprechung – die Wissenschaft ist
zu dieser Frage uneins (dazu sogleich) – gegen einen unberechtigten
Dritten wehren kann, der ihn stört oder gar verdrängt. (Der eigent-
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liche, „reine“ Besitzschutz des Mieters reicht dafür nach österrei-


chischem Recht aus verschiedenen Gründen, insbesondere wegen
einer sehr kurzen Frist für die Besitzklagen, nicht immer aus.) Vor
allem der allgemeine Grundsatz des Mieterschutzes kann im
heutigen Recht dieses dingliche Element in der Miete begründen. Er
richtet sich allerdings in den gesetzlichen Ausprägungen nur gegen
den Vermieter und seine Eigentumsnachfolger und beschränkt vor
allem das Kündigungsrecht des Vermieters bei Wohnungs- und Ge-
schäftsraummieten zu dem Zweck, dem Mieter den existentiell not-
wendigen Wohnungsgebrauch und – wesentlich problematischer –
die räumliche Unternehmensgrundlage dauerhaft zu sichern. Umso
mehr (Ähnlichkeitsprüfung mit Größenschluss!) muss dieser
Sicherungszweck gegenüber unberechtigten Dritten wirken, wenn
er sogar gegenüber dem Eigentümer und Vermieter durchschlägt.
Die sachenrechtliche Norm des §  372 ABGB, auf deren Analogie
man sich dabei gern beruft, passt nicht bloß ihrem Wortlaut nach
nicht; auch ihr Zweck ist ein anderer. Dieser Zweck geht nämlich
dahin, dem möglichen (aber wegen Zweifelhaftigkeit des Vormannes
nicht beweisbaren) Eigentümer bzw dem – durch die Ersitzungsvor-
aussetzungen ausreichend qualifizierten – „werdenden Eigentümer“
vorweg eigentumsähnliche dingliche Ansprüche zu geben (die nur
gegenüber dem wirklichen Eigentümer versagen). Dazu ist vor al-
lem eine für den Eigentumserwerb grundsätzlich taugliche Erwerbs-
grundlage nötig, wovon beim Mietvertrag keine Rede sein kann.
Ferner könnte §  372 ABGB auch in analoger Anwendung keine

106
Die Anwendung allgemeiner Rechtsgrundsätze

Differenzierung zwischen Mietern einer unbeweglichen und einer


beweglichen Sache rechtfertigen, wie sie die Judikatur vornimmt.
Die tragfähige Begründung kann also nur im Grundsatz des Mieter-
schutzes liegen. Damit wird der Umfang des „quasidinglichen Rechts
des Mieters gegen Dritte“ auf in ihrem Bestand gesetzlich besonders
geschützte Mietverhältnisse beschränkt. Das ist in Österreich vor al-
lem für die vielen Verträge der Fall, die dem MRG unterliegen.
Es soll allerdings nicht verschwiegen werden, dass die Diskussion
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zum vorliegenden Sachproblem extrem facettenreich ist und ande-


re Ansätze durchaus diskutabel sind: Manche lehnen die „Verding-
lichung“ des Mietrechts aus systematischen Gründen gänzlich ab;
andere finden ihre Rechtfertigung nicht zuletzt darin, dass der Um-
weg über den Vermieter – der ja an sich vertraglich verpflichtet ist,
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die Interessen des Mieters auch gegenüber Drittbeeinträchtigungen


zu wahren – unnötig kompliziert ist, zumal es dem störenden Drit-
ten grundsätzlich gleichgültig sein kann, wer ihn in die Schranken
weist. Als besonders heikel erweist sich allerdings die Konstellation,
in der der Dritte mit Billigung des Vermieters handelt: Hier kann
dem Mieter nur ein eigenes Recht helfen.
Und noch ein Beispiel: In Rechtsprechung und Lehre ist ganz
überwiegend anerkannt, dass Vergleichsverhandlungen die Ver-
jährung der in Verhandlung gezogenen Ansprüche so lange hem-
men, bis ein Teil diese – an sich sehr wünschenswerten – außerge-
richtlichen Verhandlungen beendet. Dies, obwohl eine direkt oder
analog anwendbare gesetzliche Vorschrift fehlt. Manche begründen
diese Ansicht mit dem Vertrauensprinzip, andere berufen sich
ausdrücklich und allgemein auf die „Grundsätze der Gerechtig-
keit“. Auch darin liegt ein wichtiger praktischer Anwendungsfall
der Heranziehung allgemeiner Rechtsgrundsätze. Anschließend
wird die Rechtsfolge den – weder unmittelbar noch analog anwend-
baren – Hemmungsregeln des ABGB entnommen. (Das moderni-
sierte deutsche Verjährungsrecht ordnet für Vergleichsverhandlun-
gen in §  203 BGB eine solche Hemmung ausdrücklich und generell
an.)
Ein letztes, geradezu klassisches Beispiel, und zwar für die An-
wendung des Rechtsscheinprinzips, einer Ausprägung des Ver-
trauensprinzips, liefert folgende Konstellation: A ist als Entleiher,

107
Die ergänzende Rechtsfortbildung (vor allem Analogie und Reduktion)

Mieter oder Verwahrer Inhaber einer Sache der B; C beschädigt sie


schuldhaft und zahlt den Schadenersatzbetrag sofort an A aus, den
er für den geschädigten Eigentümer hält. A klärt ihn nicht auf. So-
dann belangt B, die wahre Geschädigte und damit die wahre Scha-
denersatzgläubigerin, C auf Schadenersatz. A war im Sinne der
Rechtsscheinvorschrift des §  367 ABGB Vertrauensmann der Eigen-
tümerin B, sodass der gute Glaube von C an das Eigentum des A
geschützt sein müsste. In §  367 ABGB geht es jedoch um den Eigen-
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tumserwerb eines Gutgläubigen und nicht, wie hier, um eine etwa-


ige ausnahmsweise Befreiungswirkung der Zahlung an einen nur
vermeintlichen Gläubiger. Im Recht der Forderungsabtretung gibt
es in §  1395 ABGB eine entsprechende Befreiungsvorschrift, die
aber ganz andere Rechtsscheinvoraussetzungen hat. Das gemeinsa-
me Rechtsscheinprinzip verlangt, weil der bestehende Rechtsschein
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des Eigentums von A der B nach der gesetzlichen Wertung in §  367


ABGB zurechenbar ist, Schutz des gutgläubig Zahlenden und da-
mit befreiende Wirkung seiner Zahlung. In Anlehnung an §  1395
ABGB, der von Tatbestand und Zweck her allerdings nicht präzise
passt, ist die dort vorgesehene Rechtsfolge (Befreiung des Schuld-
ners) zu bejahen, weil (nur) sie dem Rechtsscheinprinzip beim
gestellten Sachproblem voll Rechnung trägt. (Im nächsten Schritt
kann C das von A kassierte Geld natürlich herausverlangen, trägt
aber insoweit auch das Risiko von As Insolvenz.)

108
D. Der Rang der Rechtsfindungsmethoden
I. Die abstrakte Rangfrage
1. Das übliche pragmatische Vorgehen
In der Praxis des rechtlichen Argumentierens werden die juristi-
schen Methoden bzw Kriterien im Allgemeinen in der Reihenfolge
herangezogen, die auch in der vorliegenden Darstellung gewählt
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wurde. Man schreitet zu einer späteren Methode nur dann fort,


wenn und soweit das gestellte Problem auf der früheren Stufe oder
den früheren Stufen noch nicht gelöst werden konnte. Diese Übung
hat den guten Grund, dass sich niemand unnötige Arbeit und sich
und anderen unnötige Schwierigkeiten machen will. Jedermann
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wird daher zunächst jene vermutlich anwendbare Rechtsregel he-


ranziehen, deren Text offiziell publiziert und daher am leichtesten
zugänglich ist, und den Text mit jener Spracherfahrung aufnehmen,
die ihm wie jedem anderen Sprachkundigen zur Verfügung steht.
Nur im Bedarfsfall wird der juristische Beurteiler nach systema-
tisch aufschlussreichen anderen Rechtsvorschriften forschen und
uU zu historischen Erkenntnisquellen über die Absicht des Gesetz-
gebers übergehen. Das alles kostet in der praktischen Alltagsarbeit
ja Zeit, die oft nicht zur Verfügung steht. Die objektive Ermittlung
des maßgebenden Gesetzeszwecks stellt weitere analytische und
sachliche Anforderungen und muss weitgehend mit Wahrschein-
lichkeitsüberlegungen arbeiten. Bei der ergänzenden Rechtsfort-
bildung ist es, wie bereits erwähnt, zusätzlich nötig, zu begründen,
warum eine Gesetzeslücke vorliegt. und das Füllen dieser Lücke er-
folgt bei der Analogie gesetzes(text)näher als bei der Anwendung
allgemeiner Rechtsgrundsätze, was die letztgenannte Methode rela-
tiv betrachtet noch etwas unsicherer macht.
Bei alldem werden in der Praxis aller Voraussicht nach uner-
giebige methodische Stufen übersprungen. Ebenso bleiben die
nach bereits erfolgter Problemlösung noch ausständigen entfernte-
ren außer Betracht. Dies alles erfolgt in der Regel ohne schulmäßige
Erörterung, sondern stillschweigend und mit Selbstverständlichkeit.
Auch führen häufig erst die addierten Argumente aus mehreren
Methodenstufen zu einer zureichend begründeten Lösung. Manch-
mal wird aus Gründen besonderer Vorsicht zur Kontrolle und Be-
109
Der Rang der Rechtsfindungsmethoden

stärkung des Ergebnisses trotz auf einer (früheren) Stufe bereits


erfolgter Problemlösung auf eine spätere Methode weitergegriffen;
etwa im Sinne einer Eventual- oder auch Alternativbegründung.
An einem solchen Vorgehen ist nichts zu kritisieren. Dasselbe gilt
für die Tatsache, dass die methodischen Argumente häufig bloß mit-
telbar über die Aussagen von Literatur und Rechtsprechung heran-
gezogen werden, in die sie bereits vorher eingegangen sind.
Zwei Ergänzungen zu diesem üblichen pragmatischen Vorge-
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hen sind jedoch zu machen: Zum Ersten ist noch einmal auf die
Notwendigkeit einer „Gegenprobe“ als Kontrolle des zunächst er-
zielten Ergebnisses hinzuweisen, die mit Hilfe der fundamentalen
Grundsätze der „Rechtsidee“ auf etwaige Wertungswidersprüch-
lichkeit, Sach- oder Funktionswidrigkeit oder auf Verstoß gegen
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breiten negativen Konsens der Sozietät erfolgen muss. Dabei sind


schon vorliegende Ergebnisse aus entfernteren (bei der bisherigen
Gewinnung des Ergebnisses nicht verwendeten) Methodenstufen
mit zu verwerten. Ohne eine solche Gegenprobe besteht die Ge-
fahr, dass die Annahme, das bisher erzielte Ergebnis sei schlüssig,
auf einem unerkannten groben Fehler beruht. Ein solcher kann sich
etwa aus fehlender Einsicht in sprachliche Mehrdeutigkeiten („ei-
genhändig“) oder aus falschen Vorstellungen über den historischen
Rechtszustand ergeben.
Zum Zweiten ist mit Nachdruck hervorzuheben, dass es nicht nur
um den schrittweisen Abbau sprachlicher Vagheiten, Unklarheiten
und Mehrdeutigkeiten geht, die der eventuell anzuwendenden
Rechtsregel anhaften. Das wird schon durch die ergänzende Rechts-
fortbildung klar unter Beweis gestellt, die den Text des Gesetzes und
damit alle sprachlichen Vagheitsbereiche („möglicher Wortsinn“)
eindeutig hinter sich lässt. In Frage stehen vielmehr auch und gera-
de die universalen Rechtswerte, die in der „Rechtsidee“ zusam-
mengefasst sind. Auch wenn man eine sprachlich gut begründbare
Ableitung erzielt hat, darf man auf dieser methodischen Stufe nicht
stehen bleiben, falls das so erzielte – vorläufige – Auslegungsergeb-
nis klare Wertungswidersprüche, eindeutige Unzweckmäßigkeit
(Sach- oder Funktionswidrigkeit) oder die frappierende Verletzung
eines umfassenden negativen Konsenses (im Sinne von „Das darf
doch nicht herauskommen!“) mit sich bringt. Andernfalls gäbe es ja
von vornherein keine Rechtsfindung durch Analogieschluss. Viel-

110
Die abstrakte Rangfrage

mehr ist – in den sogleich (S 113 ff) zu besprechenden Grenzen


der Lex lata – mit der juristischen Analyse fortzufahren, bis auch
dieser normative Mangel behoben ist. Eine Problemlösung ist also
erst dann zureichend begründet, wenn sowohl den sprachlichen als
auch den normativen Schwierigkeiten abgeholfen wurde. Auch un-
ter diesem Gesichtspunkt ist ohne die erwähnte Gegenprobe nicht
auszukommen: Wenn die grobe Prüfung Zweifel erweckt, zwingt
dies zur vertieften Argumentation auch mit Hilfe der bisher noch
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nicht herangezogenen Methodenstufen.


Ist aber auf einer bestimmten methodischen Stufe das gestellte
Problem in einer Weise gelöst worden, die den sprachlichen Anfor-
derungen (oder jenen an die Begründung einer Lücke) und zugleich
den fundamentalen normativen Systemanforderungen genügt, so
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bedarf es der weiteren methodischen Stufen nicht mehr.


Beispiel: Wurde erkannt, dass §  431 ABGB sprachlich und in seinem
Zusammenhang mit den einschlägigen Vorschriften des Grundbuchsge­
setzes eindeutig das Eintragungsprinzip für den Erwerb dinglicher Rech­
te ausdrückt und dass dies (Gegenprobe!) ein sachlich und systematisch
gut vertretbares Ergebnis ist, so sind Nachforschungen darüber, ob der
historische Gesetzgeber nicht vielleicht doch bloß das Publizitätsprinzip
gemeint hat, müßig, weil irrelevant.

2. Die theoretische Rechtfertigung der Rangfrage


Die dargestellte Reihenfolge der einzelnen Methoden lässt sich auch
rechtstheoretisch abstützen, sodass sie – mit gewissen Grenzen – zu-
gleich als Rangordnung anzuerkennen ist.
Ausgangspunkte der Rechtsfindung sind bei der Interpreta-
tion (Auslegung) textlich vorfindliche Regeln. Bei der Rechtsfort-
bildung müssen solche erst gewonnen werden. Das dafür nötige
Auslegungsmaterial wird durch die jedermann verfügbare Spracher-
fahrung, der übliche Zusammenhang komplexer Äußerungen ins-
besondere normativer Art, gesondert zu ermittelndes historisches
Material und die allgemeine Erfahrung über erwartbare Rechtszwe-
cke sowie Mittel-Zweck-Zusammenhänge samt den notwendigen
faktischen Informationen gebildet. Das Rechtsgewinnungsmaterial
wird mit zunehmender Entfernung vom textlich leicht feststellba-

111
Der Rang der Rechtsfindungsmethoden

ren Gesetz schwerer zu beschaffen und unsicherer. Abstrakt und


generell betrachtet verspricht daher die jeweils frühere metho-
dische Stufe mehr an Vorhersehbarkeit, Gleichmäßigkeit und Be-
gründungsökonomie bei den Einzelentscheidungen.
Daraus rechtfertigt sich – wieder in abstracto – das dargestellte
Vorrangverhältnis. Unmittelbar ausschlaggebend ist es aber nur in
dem besonderen Fall, in dem verschiedene Methoden etwa gleich
starke gegensätzliche Argumente liefern. In diesem Sinn wird zB
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mit Recht auch von der ständigen österreichischen Judikatur insbe-


sondere der Vorrang eines sprachlich (auch im systematischen Zu-
sammenhang) klaren Gesetzestextes vor einer aus den Materialien
hervorgehenden abweichenden Absicht des Gesetzgebers vertreten.
Soweit aber in concreto die Stärke der Argumente unter-
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schiedlich ist, kann der abstrakte Vorrang keine entscheidende


Rolle spielen. Eine solche Konstellation liegt beispielsweise dann
vor, wenn ein möglicher oder auch leicht überwiegender Sprach-
gebrauch einer gegenteiligen klaren Absicht des Gesetzgebers ge-
genübersteht oder schwache sprachliche oder historische Hinweise
einem eindeutigen objektiv-teleologischen Befund widersprechen.
In solchen Fällen ergibt sich die am besten begründbare Lösung
vielmehr erst aus der umfassenden Abwägung der in concreto
auffindbaren Argumente.

3. Abweichende Modelle
Die abstrakte Rangfrage ist also weit von der Bedeutung entfernt,
die ihr manche Kritiker der juristischen Methodenlehre beilegen
wollen. Vereinfacht lautet deren Position: Mangels eines ein für alle
Male festen Rangverhältnisses der Methoden sei die juristische Me-
thodenlehre wertlos.
Diese Position ist jedoch in nahezu jeder Hinsicht unzutreffend.
Einerseits besteht, wie gezeigt, ein festes Rangverhältnis in ab-
stracto durchaus und hat es eine gewisse, wenn auch bescheide-
ne anwendungspraktische Bedeutung. Andererseits ist es aber fast
selbstverständlich, dass ein generell gültiges Rangverhältnis nicht
möglich ist, weil die einzelnen methodischen Stufen offensichtlich
Argumente von ganz unterschiedlicher Stärke liefern können:

112
Notwendige Modifikationen

So kann etwa die sprachliche Auslegung einen allein denkbaren,


einen überwiegenden, einen möglichen und einen entfernt mögli-
chen Sprachgebrauch zeigen.
Die gängige Antwort der Jurisprudenz auf die hier angespro-
chene Globalkritik geht dahin, dass die einzelnen Auslegungsele-
mente jeweils nur Teile eines einheitlichen Auslegungsvor-
ganges seien und daher stets nebeneinander eingesetzt werden
müssten. Diese Positionierung reicht zwar zur Abwehr der realitäts-
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fremden Kritik aus, entspricht aber ihrerseits nicht der Realität. Nur
bei besonders schwierigen Problemen ist eine umfassende Heran-
ziehung aller methodischen Stufen mit sorgfältiger vergleichender
Analyse der unterschiedlichen Ansätze und ihrer Einzelergebnisse
nötig. Eine solche umfassende Heranziehung allen erdenklichen
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Auslegungsmaterials für jeden banalen Auslegungsvorgang zu pos-


tulieren, wäre aber sowohl theoretisch verfehlt als auch (vor allem)
praktisch aussichtslos. Kein vernünftiger juristischer Beurteiler wird
etwa systematische Recherchen, historische Nachforschungen oder
Mittel-Zweck-Analysen betreiben, wenn er sein Problem bereits auf
sprachlicher Stufe mit Hilfe eines allgemeinen (zumindest deutlich
überwiegenden) Sprachgebrauches gelöst hat, die globale „Gegen-
probe“ keine Bedenken ergibt und das Ergebnis überdies der von
vielen vertretenen, kaum oder gar nicht bestrittenen Ansicht ent-
spricht. Eine solche Gegenprobe braucht selbstverständlich nicht
explizit etwa in die Begründung einer Entscheidung oder Begut-
achtung aufgenommen zu werden; besonders dann nicht, wenn
ihr Ergebnis ohnehin negativ ausfällt. Zur internen Selbstkontrolle
bleibt sie dennoch unentbehrlich.

II. Notwendige Modifikationen


1. Die Lex-lata-Grenze im Speziellen
Ein sehr wichtiges Element der Rangtheorie der juristischen Me-
thoden bleibt noch zu erörtern. Es ist begründet in der Rechts-
friedens- und Rechtssicherheitsfunktion der Gesetzgebung
durch dazu (demokratisch) legitimierte Instanzen. Auch minder
gelungene, problematische Produkte der Gesetzgebung haben An­-
spruch auf Respektierung, weil die genannten Funktionen an-

113
Der Rang der Rechtsfindungsmethoden

dernfalls nahezu grenzenlos dem Streit der Meinungen ausgesetzt


werden könnten. Dieser Respektierungsanspruch endet aber – was
unter demokratischen, rechtsstaatlichen Verhältnissen nur ganz
ausnahmsweise in Frage kommt – bei Gesetzen mit grob inhuma-
nem, krass ungerechtem oder sonst der Rechtsidee deutlich wider-
sprechendem Inhalt, der ihnen trotz formal korrekter Entstehung
materiell den Rechtscharakter nimmt („Radbruchsche Formel“).
Beispiele: In diesem Sinn konnten etwa die Nürnberger Judengesetze
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in der Zeit des Nationalsozialismus oder gesetzesförmige Etablierungen


reiner geheimpolizeilicher Willkürbefugnisse im Kommunismus keinen
materiellen Rechtscharakter für sich beanspruchen. Auf dieselbe Weise
ist die Aufwertungsrechtsprechung des deutschen Reichsgerichts in den
20er-Jahren des 20. Jahrhunderts zu rechtfertigen, die im klaren Gegen­
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satz zur positivrechtlichen Regelung des Nominalismus (Mark = Mark)


durch das Währungsgesetz stand. Unter den Extrembedingungen einer
unerwarteten Hyperinflation war hier eine krasse Gerechtigkeitswidrig­
keit der Gesetzeslage mit unkontrollierbaren sozialen und wirtschaftli­
chen Folgen erst durch eine massive Veränderung der „Tatsachen des
Normbereichs“ entstanden (dazu S 118 noch ausführlicher).
Eine solche Rechtsfindung „contra legem sed secundum ius“
(nämlich entsprechend der Prinzipienschicht des Rechts) darf aber
nur in derart krassen Ausnahmefällen in Betracht gezogen werden.
Ein breiteres, differenziertes Verständnis von vermeintlich vielfach
zulässiger „Rechtsfindung contra legem“ verliert seine spezifische
Funktion und wirkt daher verwirrend.
Von krassen Extremfällen abgesehen darf der Vorrang der Ge-
setzgebung jedenfalls nicht durch eine Rechtsfindung überspielt
werden, die anstelle des Gesetzes primär die weitest mögliche An-
näherung an die fundamentalen Werte der „Rechtsidee“ setzt. Dass
jede Rechtsnorm den zentralen Rechtsprinzipien bestmöglich ent-
spricht, ist „bloß“ die Maxime juristischer Arbeit de lege ferenda,
also im Rahmen der Gesetzgebung und all ihrer Vorbereitung, etwa
auch durch Vorschläge aus der Rechtswissenschaft. Schon de lege
lata praktiziert, würde sie den vernünftigen Sinn der Funktions-
und Gewaltenteilung zwischen Gesetzgebung und Rechtsan-
wendung weithin beseitigen. Solche ungehemmte „Rechtsfortbil-
dung“, auch wenn sie an sich gute bzw gut gemeinte Ziele verfolgt,
wäre das größere Übel; die Respektierung auch mangelhafter positi-
114
Notwendige Modifikationen

ver Gesetze ist das kleinere. Sie ist der Preis, der für die bessere Mög-
lichkeit friedlicher Streitbeilegung in einer Gesellschaft zumindest
bis zur nächsten Gesetzesänderung gezahlt werden muss.
Mit den dargestellten differenzierten Rechtsfindungsmethoden
ist eine solche Beschränkung zu vereinbaren, wenn man sich verge-
genwärtigt, dass das Gesetz nicht etwa nur aus publizierten Worten
und Sätzen besteht (Form), sondern auch aus einem normativen
menschlichen Willen (Inhalt). Stimmen beide Elemente der mut-
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maßlich anwendbaren Gesetzesnorm überein, ist mit dieser Fest-


stellung der Rechtsgewinnungsvorgang beendet und die (primä-
re) Lex-lata-Grenze der Rechtsfindung erreicht. Dies gilt auch
dann, wenn objektiv-teleologische oder der Prinzipienschicht des
Rechts entstammende Argumente deutlich für die Vorzugswürdig-
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keit einer anderen Lösung sprechen. Angesichts der vielfach gegen-


sätzlichen Interessen der Menschen wäre ein Abgehen von dieser
Position geradezu eine Einladung, alles und jedes, dh insbesondere
auch durchaus wohlbegründete oder doch vertretbare Gesetzesnor-
men, bis zur völligen Auflösung zu zerreden (und vor allem zu „zer-
schreiben“). Rechtliche Argumente aus den tieferen Rechtsschich-
ten werden damit rechtlich nicht als schlechthin irrelevant, sondern
„nur“ als für das konkrete Problem de lege lata unanwendbar er-
kannt. Sie können und sollen durchaus als rechtliche, nicht bloß als
politische Argumente mit dem Vorschlag einer Gesetzesänderung
an den Gesetzgeber adressiert werden. Ob man damit Erfolg hat, ist
eine andere Sache und hängt von vielen, auch irrationalen Fakto-
ren ab.
Beispiele: 1. Im Zuge der Umsetzung der europäischen Zahlungsver­
zugs-RL wurde vorgeschlagen, auch den dispositiven ABGB-Zinssatz
flexibel zu gestalten, nämlich wie (nunmehr) in §  456 UGB am aktuel­
len Basiszinssatz anzuknüpfen. Das wurde in der ministeriellen Arbeits­
gruppe mit dem Argument abgelehnt, die Richterschaft sei dagegen, weil
die Berechnung dann zu kompliziert werde. (In Handelssachen wird den
Gerichten hingegen durchaus zugemutet und zugetraut, Verzugszinsen
unter Zugrundelegung des Faktors „9,2% + Basiszinssatz“ zu errech­
nen.) Dass die in §  1000 Abs 1 ABGB somit nach wie vor normierten
4% Jahreszinsen in Niedrig- wie in Hochzinsphasen zu unsachlichen,
also zu ungerechten Ergebnissen führen, ist evident, jedoch de lege lata
unbeachtlich.

115
Der Rang der Rechtsfindungsmethoden

2. Die WKRL gibt für den Regelfall die Vermutung vor, dass ein Mangel
schon bei Übergabe der Ware an den Verbraucher vorhanden war, wenn
er sich innerhalb eines Jahres nach der Übergabe zeigt. Der österreichi­
sche Gesetzgeber hat diese Vermutung im VGG (§  11 Abs 1) umgesetzt,
die Anordnung in §  924 Satz 2 ABGB, wonach diese Frist sechs Monate
beträgt, aber belassen. Das hat zu einer kuriosen, wertungswidersprüch­
lichen Rechtslage geführt: Bei genau dem gleichen Mangel einer genau
gleichen Sache kommt dem Verbraucher, der von einem Unternehmer
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gekauft hat, im Vergleich zum Privaten, der von einem Privaten gekauft
hat, eine doppelt so lange wirkende Vermutung zugute; und das, obwohl
unbestritten ist, dass die Vermutung nur durch die zeitliche Nähe des
Hervorkommens des Mangels zur Übergabe zu begründen ist. Da aber
der Gesetzgeber die Richtlinienvorgaben nachweislich nur für Verbrau­
chergeschäfte umsetzen wollte, ist die Lex-lata-Grenze erreicht und für
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eine wertungskonsistente wortlautübersteigende Rechtsfindung kein


Raum. (Im deutschen Recht gibt es die Vermutung übrigens von vornher­
ein nur für den Verbrauchsgüterkauf [§  477 Abs 1 BGB]).
3. Vergleichbares gilt für das Hervorkommen von Mängeln an langlebi­
gen Gütern erst nach längerer Zeit: Obwohl die WKRL den Mitgliedstaa­
ten das Recht zur gesetzlichen Verlängerung der (Mindest-)Frist von zwei
Jahren eingeräumt hat und obwohl auch dem österreichischen Gesetzge­
ber bewusst war, dass es viele Waren gibt, die deutlich länger halten sol­
len, hat er sich im Gewährleistungsrecht für die zwei Jahre als generelle
Grenze entschieden. Es ist nun zwar ohne Zweifel grob unsachlich, etwa
dem Käufer von Dachziegeln, die üblicherweise mindestens 40 Jahre hal­
ten, keinerlei Gewährleistungsrechte zuzustehen, wenn die Ziegel schon
nach drei Jahren zu zerbröseln beginnen. Da das der Gesetzgeber aber
eindeutig so (undifferenziert) angeordnet hat und, wie die Erläuterun­
gen zum GRUG zeigen, auch genauso wollte, ist die Norm wortlautgetreu
anzuwenden. (Übrig bleibt die Möglichkeit, die Verfassungskonformität
einer solchen Rechtslage überprüfen zu lassen.)
Wie bereits ausgeführt, wird die Lex-lata-Grenze durch Überein-
stimmung der beiden Bestandteile des positiven Gesetzes, näm-
lich des (klaren) Gesetzeswortlautes mit der deutlich er-
weislichen Absicht des historischen Gesetzgebers gezogen.
§  6 ABGB bestätigt dies in zutreffender Würdigung dieser beiden
Elemente des Gesetzes ausdrücklich. Absichten, die auf nachweis-
lichen Tatsachenirrtümern des Gesetzgebers beruhen, dürften

116
Notwendige Modifikationen

allerdings unbeachtlich sein, weil dadurch die Wertungsprärogative


des Gesetzgebers nicht verletzt wird.
Bei der Rechtsfortbildung bezeichnet das deutliche Fehlen
eines anwendbaren Gesetzestextes („jenseits des möglichen Wort-
sinns“) in Verbindung mit der erweislichen historischen Absicht des
Gesetzgebers, bestimmte – vielleicht erst später als problematisch
erkannte – Sachverhalt mögen keine Rechtsfolgen nach sich ziehen
oder doch die gerade interessierenden Rechtsfolgen nicht haben, die
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(primäre) Lex-lata-Grenze.
Beispiel: In Deutschland lehnte der Gesetzgeber des BGB seinerzeit eine
generelle Beachtung nach Abschluss eines Vertrages (deutlich) geänder­
ter Verhältnisse ab. Ohne Gesetzesänderung war es daher grundsätzlich
nicht zulässig, die bewusst übernommene Pflicht zur vertragsgemäßen
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Erfüllung solcher Verträge zu relativieren (zu Ausnahmen bei „Funk­


tionswandel“ sogleich). Das geltende deutsche Schuldrecht erkennt al­
lerdings mittlerweile die Relevanz massiv geänderter Verhältnisse unter
dem Stichwort „Störung der Geschäftsgrundlage“ seit dem Jahre 2002 in
§  313 BGB ausdrücklich an und sieht als Regelrechtsfolge die Anpassung
des Vertrags an die geänderten Umstände vor.

2. Die Hinausschiebung der Lex-lata-Grenze durch


„Funktionswandel“
Zahlreiche faktische Veränderungen im Realbereich des
Rechts werfen keine rechtlichen Probleme auf. So werden unzäh-
lige technische Geräte, die erst nach der Erlassung der Zivilgesetz-
bücher erfunden wurden, ohne weiteres nach den Normen über
den Kaufvertrag und die Eigentumsübertragung behandelt, da die-
se nach Wortlaut und Zweck abstrakt genug sind, um auch diese
Neuerungen zu erfassen. Im Wirtschaftsverkehr neu entstandene
Vertragstypen werden, wie sonstige gesetzlich nicht näher geregelte
Vertragsarten, nach allgemeinem Rechtsgeschäfts- und Schuldrecht,
uU mit Einzelanalogie zu passenden Regeln gesetzlich ausgeformter
Vertragstypen, beurteilt.
Ändern sich generelle Tatsachen des Normbereichs oder
die Erfahrungssätze darüber, wie im bereits gebrachten Asbest-
Beispiel (S 50), kann bei völlig unveränderter Lage der Ausgangs-

117
Der Rang der Rechtsfindungsmethoden

normen durch den Wandel in den faktischen Prämissen der Rechts-


findung ein abweichendes Ergebnis folgen. Änderungen normativ
nicht relevanter Tatsachen ändern die Rechtslage hingegen nicht.
Gesetzesregeln, Gesetzesgründe und Rechtsprinzipien als solche
können durch faktische Änderungen überhaupt nicht modifiziert
werden, wohl aber, wie gezeigt, die Ableitungen aus ihnen.
Methodisch problematischer sind Änderungen des Normen-
systems jenseits schlichter Gesetzesänderungen, also bei formal
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unveränderten Rechtsvorschriften, die man als „Funktionswan-


del“ bezeichnen kann und die vielfach in Verbindung mit fakti-
schen Veränderungen stehen. Besonders bei negativen, nur durch
das Fehlen einer möglichen Regelung ausgedrückten Absichten des
Gesetzgebers kann sich ergeben, dass sich die generellen Tatsachen
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des Normbereichs deutlich geändert haben; und zwar in einem Aus-


maß, das es zweifelhaft macht, ob der gegenwärtige Gesetzgeber,
würde er heute umfassend normieren, ebenso negativ entscheiden
würde.
Beispiel: Die plötzliche Hyperinflation nach dem ersten Weltkrieg führ­
te zu Veränderungen in den Anwendungsergebnissen grundlegender
Rechtsprinzipien, zu einer für das Verständnis einschlägiger General­
klauseln (zu ihnen sogleich unter 3.) bedeutsamen Veränderung des
Rechtsbewusstseins angesichts einer unübersehbaren Massenproblematik
und zu eher willkürlich oder zufällig abgegrenzten Teilreaktionen des
neueren Gesetzgebers. Krass war insbesondere die durch die Entwicklung
entstandene massive Verletzung des Äquivalenzprinzips zwischen Gläu­
bigern und Schuldnern sowie die damit einhergehende willkürliche Dis­
kriminierung der Geldgläubiger gegenüber den Sacheigentümern. Die
grundsätzliche negative Entscheidung des ursprünglichen BGB-Gesetzge­
bers (aus dem Jahre 1896) gegen die Beachtung veränderter Umstände,
die im Gesetz freilich nicht ausdrücklich ausgesprochen war, wurde da­
her durch Herausarbeitung und Anerkennung der Regeln über den Weg­
fall der Geschäftsgrundlage überwunden. In Deutschland geschah dies
im Rahmen der sog Aufwertungsrechtsprechung (dazu bereits S 114) zu­
nächst durch eine entsprechende Neukonkretisierung der Generalklausel
von Treu und Glauben (§  242 BGB). Ihre Zulässigkeit beruhte darauf,
dass man aus den angedeuteten Gründen die Hintergrundentscheidung
des Gesetzgebers gegen die Beachtung geänderter Umstände als überholt
betrachten musste.

118
Notwendige Modifikationen

Ein (einfaches) Beispiel für Funktionswandel auf der normativen


Ebene bildeten Scheidungsregeln aus der Zeit des Nationalsozialismus,
die ihrem Text nach bei der Zerrüttungsscheidung das Widerspruchs­
recht des schuldlosen beklagten Ehegatten völlig neutral – aber vage –
durch das „Wesen der Ehe“ beschränkten, die aber spezifischen Zwecken,
nämlich der Förderung „rassisch einwandfreien“ Nachwuchses, dienen
sollten. Nach Ende des dritten Reichs mussten diese historischen Zwecke
selbstverständlich durch im Rahmen der dann geltenden Rechtsordnung
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unbedenkliche ersetzt werden, denen die Regel ihrer Formulierung nach


ebenso gut genügen konnte.
Es geht beim Funktionswandel also regelmäßig darum, dass in neue-
ren Gesetzesschichten gesetzgeberische Zwecke und Wertungen für
bestimmte Sachbereiche in den Vordergrund treten, die mit jenen
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älterer Vorschriften für andere, aber systematisch zusammenhän-


gende Sachbereiche kollidieren. Dadurch würden Wertungswider-
sprüche zwischen den verschiedenen Rechtskomplexen begründet,
wenn ihnen nicht abgeholfen wird. Ist dieser Widerspruch so gra-
vierend, dass er die Unsicherheiten mit dem Auslegungswandel der
älteren Norm überwiegt, so ist anstelle des historischen Zwecks
ein geltungszeitlich-objektiver zu setzen, der den Wertungswi-
derspruch behebt und damit zugleich die Lex-lata-Grenze hinaus-
schiebt.
Beispiele: Die Vorschriften der EMRK über den immateriellen Schaden­
ersatz bei Freiheitsberaubung haben eine entscheidende „Fernwirkung“
auf die Auslegung des §  1329 ABGB über die Freiheitsentziehung unter
Privaten gehabt. Ferner konnten die zunächst jeweils für bestimmte Ar­
beitnehmergruppen aufgestellten arbeitsrechtlichen Schutzvorschriften
ohne groben Wertungswiderspruch jenen Arbeitnehmern, die mangels
einschlägiger Sondergesetze bloß dem ABGB unterlagen, nicht vorent­
halten werden. Daher wurde der die Fürsorgepflicht ihres Arbeitgebers
betreffende §  1157 ABGB über seinen Wortlaut hinaus und entgegen sei­
nen ursprünglichen beschränkten Zwecken weiter ausgelegt bzw durch
Analogie ausgedehnt.

3. Konkretisierung von Generalklauseln


Gerade im Zusammenhang mit der Rangfrage stellt die Konkreti-
sierung von Generalklauseln wie „gute Sitten“, „Treu und Glau-
119
Der Rang der Rechtsfindungsmethoden

ben“, „wichtiger Grund“, „öffentliches Interesse“, „gröblich benach-


teiligend“, „volkswirtschaftlich gerechtfertigt“, „angemessen“ usw
ein besonderes Problem dar. Es handelt sich dabei um bewusst be-
sonders vage gehaltene gesetzliche Vorschriften, also um solche
mit sehr geringem unmittelbarem Informationsgehalt. Ihre
Hauptfunktionen sind die Erhaltung einer gewissen Anpassungs-
fähigkeit des Rechts an konkrete Sachverhalte bzw an geänderte
Umstände und vor allem eine gewisse Öffnung für unmittelbar in
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der Gesellschaft herrschende Wertvorstellungen. Im sehr weiten


Rahmen ihres sprachlichen Gehaltes und ihrer systematischen Stel-
lung im Gesetz stellen solche offene Normen der Rechtsanwendung
besonders weitgehende Aufgaben hinsichtlich ihrer einzelproblem-
bezogenen Konkretisierung. Einigermaßen rational zu bewältigen
sind sie nur, wenn man die Generalklauseln primär als Verweisung
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auf sehr unterschiedliches Konkretisierungsmaterial versteht. Des-


halb sind die gegensätzlichen strikten Auffassungen abzulehnen, die
bestimmte Generalklauseln bloß als Verweisung auf das rechtsex-
terne „Anstandsgefühl aller (?) billig und gerecht Denkenden“
ver­stehen oder umgekehrt nur rechtsimmanente Erkenntnisquel-
len heranziehen wollen. Vielmehr müssen die Generalklauseln als
Verweisung auf Verschiedenes verstanden werden: auf die all-
gemeinen Rechtsgrundsätze einschließlich der fundamentalen (zB
Äquivalenzprinzip beim Problem der Geschäftsgrundlage; Freiheits-
schutz in Bezug auf zentrale Persönlichkeitsbereiche); auf alle syste-
matisch aufschlussreichen, weil problemnahen Regeln (samt ihren
Zwecken) des geltenden Rechts einschließlich jener der Verfassung;
und auf die im zwischenmenschlichen Verkehr unmittelbar (ohne
Beteiligung von Staatsorganen) geübten Verkehrsregeln bzw die
entstandenen oder mittlerweile veränderten Verkehrsauffassungen.
Dabei ist es die Aufgabe der Rechtsprechung, diese Maßstä-
be problembezogen herauszuarbeiten, abzuwägen und ihnen die
notwendige Zuspitzung auf das gerade gestellte Problem zu geben.
Jedoch ist hier diese Aufgabe wegen der Inhaltsarmut der gesetz-
lichen Regel viel umfassender als bei präziseren Bestimmungen.
Dies ist unverkennbar und vom Gesetzgeber einer Generalklausel
auch, weil unvermeidlich, so gewollt. Letztlich steckt daher in den
Generalklauseln auch eine Verweisung auf die notwendige Schaf-
fung und Anwendung von „Richterrecht“. Darin liegt eines

120
Notwendige Modifikationen

der wichtigsten methodischen Problemfelder, und zwar auch und


gerade im Rahmen eines kontinentalen, also kodifizierten Rechts-
systems (näher zum Richterrecht sogleich S 123 ff).
Theoretisch handelt es sich bei der Konkretisierung um „Aus-
legung“ der Generalklausel, weil ihr möglicher Wortsinn wegen
ihrer Vagheit ungemein weit reicht. Tatsächlich liegt, wie schon
das unterschiedliche Konkretisierungsmaterial zeigt, vielfach eine
Rechtsfindung vor, die in der Sache eher der Rechtsfortbildung ent-
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spricht. Grundsätzlich müssen bei der Konkretisierung von Gene-


ralklauseln alle juristischen Methoden kombiniert werden, soweit
sie im konkreten Zusammenhang überhaupt ergiebig sind. Die „Na-
tur der Sache“ tritt infolge der Verweisung auf Verkehrsübung und
Verkehrsanschauung stärker hervor als sonst.
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Zwecks konsistenter Einpassung in das Rechtssystem haben al-


lerdings die rechtsinternen Konkretisierungsmittel bei Kol-
lisionen im Zweifel Vorrang vor bloßen Verkehrsübungen und
Verkehrsanschauungen; diese Anschauungen sind für sich allein
betrachtet ja nichts Normatives (anders dann, wenn sich eine Ge-
setzesnorm zur Konkretisierung auf sie beruft). Vielmehr werden
sie im Zusammenleben der Menschen von den meisten aus Grün-
den der Vernunft (Vereinfachung, Vereinheitlichung usw) beachtet.
(So weicht etwa bei Begegnungen im Gebirge an Engstellen derje-
nige aus, der auf der Bergseite geht, nicht hingegen der am steilen
Abhang. Gesetzlich angeordnet ist das nicht.) Notwendig ist daher
wiederum die Begrenzung der Rechtsanwendung im Rahmen von
Generalklauseln durch die Lex-lata-Grenze einschließlich der Mög-
lichkeit des Funktionswandels; und zwar hier in dem Sinn, dass die
Heranziehung einer Generalklausel nicht zu Ergebnissen führen
darf, die dem klaren Wortlaut und der übereinstimmenden klaren
Absicht des Gesetzgebers anderer, präziserer Regelungen widerspre-
chen (vgl das bereits gebrachte Beispiel des Funktionswandels bei
der Geschäftsgrundlage).
Ein weiteres Beispiel für den Funktionswandel von Generalklauseln ist
die „mittelbare“ (durch privatrechtliche Regeln vermittelte und diesen
dadurch eingepasste) „Drittwirkung“ der verfassungsrechtlichen Grund­
rechte im Privatrecht, die hauptsächlich mit Hilfe der „guten Sitten“ bzw
von „Treu und Glauben“ erfolgt.

121
Der Rang der Rechtsfindungsmethoden

III. Besondere Vorrangstellung der


europarechtskonformen Auslegung?
In jüngerer Zeit wird der europarechtskonformen (richtlinien-, uni-
onsrechtskonformen) Auslegung (zu ihr bereits ausführlicher S 63 ff)
von manchen – in unterschiedlichen Schattierungen – eine beson-
ders große Bedeutung bis hin zum (beinahe) absoluten Vorrang
zugeschrieben. Daran ist richtig, dass der nationale Gesetzgeber
regelmäßig die Absicht hatte, seinen Umsetzungspflichten korrekt
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nachzukommen („Generalumsetzungswille“). Daher ist die richt­


linienkonforme Auslegungsvariante immer dann zu wählen, wenn
die nationalen Methodenregeln dem nicht entgegenstehen. Eine
solche Schranke stellt wiederum die Lex-lata-Grenze dar: Hat der
nationale Gesetzgeber die konkrete Norm inhaltlich genauso ge-
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wollt wie sie formuliert wurde, muss die Norm auch dann mit die-
sem Inhalt angewendet werden, wenn er sich als richtlinienwidrig
erweist (Beispiel dazu bereits auf S 67 f). Selbst der EuGH erkennt
ausdrücklich an, dass die richtlinienkonforme Auslegung ihre Gren-
ze dort findet, wo sie das jeweilige nationale Recht einschließlich
der für dieses Recht anerkannten Methodik setzt.

122
E. Die Bedeutung von „Richterrecht“
und seine Anwendung
I. Das Phänomen und seine faktische Bedeutung
Als Richterrecht (auch: Präjudizienrecht, Gerichtsgebrauch, Fall-
recht, Case Law) bezeichnet man normative Sätze, die in der Be-
gründung gerichtlicher, vor allem höchstgerichtlicher Entschei-
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dungen verwendet werden und nicht in der bloßen Wiedergabe


positiver Rechtsvorschriften bestehen. Die Frage lautet nun, ob,
wann und inwieweit dieses „Recht“ wie Gesetzesrecht zu beachten
ist.
Beispiel: Aus den Ausführungen in der einschlägigen österreichischen
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Judikatur zu §  578 ABGB, die deutlich über die bloße Bezugnahme auf
den Text der Norm hinausgehen, ergibt sich konkret, dass eine stenografi­
sche Niederschrift das Erfordernis der Eigenhändigkeit sehr wohl erfüllt,
Maschinenschrift hingegen nicht.
Diese Festlegung betrifft nicht bloß die Entscheidung spezieller Ein-
zelfälle selbst, die zwischen den Streitparteien rechtskräftig wird.
Vielmehr werden als Begründung generalisierende Sätze aufge-
stellt, die auf einer mittleren Abstraktionshöhe zwischen den
Gesetzesregeln und der Einzelfallentscheidung stehen. Daher sagt
auch §  12 ABGB, wonach einzelne Urteile auf andere Fälle nicht
ausgedehnt werden können, schon seinem Wortlaut nach für das
eigentliche Problem der Bindung an das Richterrecht nichts aus.
Es unterliegt keinem Zweifel, dass auch in Kontinentaleuropa
die weitaus üblichste „Rechtsfindungsmethode“ in der Rechtspraxis
angesichts eines Problemfalles in der Suche nach einschlägigen Vor-
entscheidungen besteht: Jeder Anwalt oder Richter informiert sich
zuallererst, ob es zu dem als entscheidungsrelevant erkannten (oder
vermuteten) Problem Judikatur gibt; idealerweise vom zuständigen
Höchstgericht. So wird allerdings in der Praxis auch dann vorge-
gangen, wenn die Lösung auf „normalen“ methodischen Wegen
gefunden werden kann. Diese Fälle interessieren nunmehr nicht.
Vielmehr ist an Entscheidungen zu denken, die bloß eine Richter-
rechtsregel, auch „Fallnorm“ genannt, enthalten, die auf den an-
stehenden Problemfall bzw eines seiner problematischen Elemen-

123
Die Bedeutung von „Richterrecht“ und seine Anwendung

te (deduktiv) anwendbar ist. Allerdings sind solche Präjudizien


nicht in einer Weise anzuwenden, wie sie aus amerikanischen Fil-
men bekannt ist: Ein Anwalt blättert eine ganze Nacht lang in al-
ten Entscheidungssammlungen und findet schließlich eine einzelne
passende Entscheidung aus dem Jahr 1895, woraufhin er bei Son-
nenaufgang müde, aber glücklich zu Bett geht. Er weiß ja nun, dass
ihm der Hinweis auf diese Entscheidung am nächsten Tag in der
Gerichtsverhandlung den Prozesserfolg – und anschließend wohl
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auch ein höheres Gehalt – bringen wird.


Die Art der Präjudizienverwendung ist ein gutes Kriterium,
um die juristische Qualität des Verwenders zu beurteilen: Bei schwa-
chen Juristen kommt es manchmal zu erstaunlichen Fehlleistun-
gen, weil sie isoliert herausgegriffene Sätze – häufig zu allgemein
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formulierte „Leitsätze“ in Fachzeitschriften oder „Rechtssätze“ in


Datenbanken – aus möglichen Präjudizien zitieren und ohne Rück-
sicht auf ihre eigentliche Bedeutung auf in Wirklichkeit ganz andere
Problemlagen anwenden. Ihre konkrete („wahre“) Bedeutung wird
ja erst durch den Kontext der tatsächlichen Fallumstände und der
streitigen Rechtsfragen des früheren Falles zureichend bestimmt.
Beispiel: So kann aus der in ganz anderem Zusammenhang getroffenen
Aussage eines Höchstgerichts, dass Optionsverträge von Vorverträgen zu
unterscheiden sind, unversehens und falsch eine Ablehnung der analo­
gen Anwendung der Clausula-Bestimmung des §  936 ABGB auf Opti­
onsverträge werden (jedenfalls, wenn jemand zusätzlich die Judikatur
nicht kennt, die diese Analogie ausdrücklich bejaht).
Die zentrale Bedeutung der Präjudiziensuche und Präjudizi-
enverwertung bei der praktischen Rechtsfindung würde gänzlich
missverstanden werden, wenn man daraus etwa die Überflüssigkeit
oder doch die geringe Bedeutung der oben erörterten methodischen
Kriterien und Gedankengänge ableiten wollte. Dieser Schluss wird
zwar von manchen gezogen, ist aber aus mehreren Gründen falsch.
Zunächst müssen selbstverständlich Rechtsprobleme auch dann so
begründet wie möglich beurteilt werden, wenn zu ihnen noch kei-
ne gerichtlichen Präjudizien vorliegen. Ferner gibt es auch in der
Rechtsprechung umstrittene, also uneinheitlich beantwortete Fra-
gen; ebenso finden sich Widersprüche. Schließlich müssen, wie aus-
führlich zu erörtern sein wird, die vorhandenen Vorentscheidungen
kritisch auf ihre konkrete rechtliche Begründung überprüft werden,
124
Das Phänomen und seine faktische Bedeutung

was nur mit Hilfe der methodologischen Kriterien der Rechtswis-


senschaft möglich ist. Es ist ja durchaus denkbar, dass die besse-
ren Argumente sogar gegen eine schon länger etablierte ständige
Rechtsprechung sprechen. Das führt immer wieder zu einer Wei-
terentwicklung – nicht selten im Sinne einer differenzierten Prob-
lemlösung –, wenn diese Argumente insbesondere von Seiten der
Rechtswissenschaft auf den Tisch kommen und die Gerichte über-
zeugen.
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Welche rechtliche Bedeutung vorhandene, uU sogar einheitli-


che Präjudizien nun aber genau haben, ist in den kontinentaleu-
ropäischen Rechtsordnungen mit kodifizierten Systemen außeror-
dentlich umstritten. Die ganz übliche ausführliche Verwertung von
Vorjudikatur kann schon deshalb nicht gegen die üblichen Metho-
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denregeln ins Treffen geführt werden, weil – von bloßen Billigkeits-


oder Gefühlsentscheidungen mit mehr als fragwürdiger Legitimität
abgesehen – in die Begründung dieser früheren Judikate bereits die
methodisch korrekten Rechtsgewinnungsargumente eingegangen
sein müssen (bzw sollten), sodass der Verweis auf bestimmte Präju-
dizien jedenfalls mittelbar auch die darin enthaltenen (bzw zumin-
dest rekonstruierbaren) methodischen Argumente mit erfasst.
Aus diesem Grund wird die Vorjudikatur ziemlich einheitlich
zumindest als „Rechtserkenntnisquelle“ anerkannt; ähnlich
wie ein Lehrbuch oder eine wissenschaftliche Abhandlung: Es han-
delt sich hier wie dort um bereits vorliegende Versuche, bestimmte
Rechtsfragen in rechtlich begründeter Weise zu lösen. Auf sie kann
der gegenwärtige Beurteiler eines aktuellen Falles, der dieselben
Rechtsfragen aufwirft, zurückgreifen. Er muss (bzw sollte) das im-
mer dann tun, wenn er selbst nicht in der Lage ist, die betreffende
Rechtsfrage vollständig zu analysieren und unter Ausschöpfung der
auffindbaren Argumente zu entscheiden. So verhält es sich in der
praktischen juristischen Arbeit nicht zuletzt unter dem Druck der
laufenden Geschäfte sehr häufig. Die Verwendung schon vorhan-
dener präjudizieller Rechtsprechung als Vorrat bereits vorliegender
Problemlösungen ist daher in hohem Maße zweckmäßig bis not-
wendig.
Freilich darf sich der jeweilige Beurteiler die eigenständige Arbeit
nur in bestimmtem Umfang ersparen. Einerseits gibt es Vorentschei-

125
Die Bedeutung von „Richterrecht“ und seine Anwendung

dungen, die für den einigermaßen kritischen juristischen Beurteiler


schon wegen ihrer offensichtlich unzureichenden Begründung die
Vermutung ihrer inhaltlichen Richtigkeit nicht in sich tragen. Er-
kennbar unrichtige „Rechtserkenntnis“ ist aber in Wahrheit keine
Rechtserkenntnis, sondern nur ihr im konkreten Fall leider miss-
glückter Versuch. Andererseits bedarf die tatsächliche Präjudiziali-
tät vorliegender Judikatur für den gerade aktuellen Fall stets sorg-
fältiger analytischer Überprüfung. Mechanische Verwendung von
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Vorentscheidungen ist daher kein geeigneter Ersatz für das eigene


juristische Denken des Beurteilers. Entlastet wird dieses Denken
aber doch weithin von der praktisch unmöglichen Aufgabe, dass
jeder juristische Beurteiler bei jeder auftretenden Rechtsfrage selbst
in alle Tiefen und Untiefen des Problems eindringt.
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Grundzüge der juristischen Methodenlehre, 9783825261450, 2023

Die Behandlung vorhandener publizierter Judikatur als im Rah-


men des Möglichen kritisch zu verwertende „Rechtserkenntnis-
quelle“ ist nach allem geradezu selbstverständlich. Die juristische
Daueraufgabe der rational bestmöglich begründeten Lösung
der gestellten Rechtsfragen aus dem gesamten Rechtssystem und
den notwendigen „wahrheitsnächsten“ empirischen Sätzen muss
naturgemäß stets durch die Zeitnöte der praktischen Arbeit und
die beschränkten Mittel und Fähigkeiten des jeweiligen einzelnen
Beurteilers relativiert verstanden werden. Objektiv optimieren lässt
sich die Verfolgung dieses Ziels nur durch die vereinigten Anstren-
gungen und durch die Diskussion aller am Recht praktisch und the-
oretisch qualitätsvoll Tätigen. Der Beitrag der Rechtswissenschaft
kann und muss dabei schon deshalb erheblich sein, weil ihre Vertre-
ter in der Regel in der Lage sind, ihre regelmäßig selbst gewählten
Problemfelder, in denen sie Spezialisten sind, ohne unmittelbaren
Zeitdruck oder den Zwang zur alsbaldigen Entscheidung zu bear-
beiten. Die immer wieder vertretene Meinung, dass die Produkte
richterlicher Weisheit per se allen Ergebnissen der professionellen
Rechtswissenschaft überlegen seien (etwa nach dem Motto: „Der
EuGH hat gesprochen und daher stellt sich die Rechtslage nunmehr
wie folgt dar: …“), ist schon aus diesen Gründen verfehlt; ebenso
wie der – heute freilich wohl von niemandem mehr behauptete –
grundsätzliche Vorrang der Erkenntnisse von Professorinnen oder
Professoren als solchen. Derartige berufsspezifische Vorrangvorstel-
lungen sind, wenn sie ernst gemeint sein sollten, von erstaunlicher

126
Der Streit um die rechtliche Bedeutung des Richterrechts

Naivität oder ganz tendenziös, da es nur auf die Stärke der Ar-
gumente im jeweiligen Zusammenhang ankommen kann, nicht
hingegen darauf, wer sie in die Diskussion eingebracht hat. (Bei
Ausführungen von Personen, die an konkreten Ergebnissen einer
juristischen Diskussion nicht bloß ein wissenschaftliches Interesse
haben – etwa weil sie eine Prozesspartei in einer einschlägigen An-
gelegenheit rechtsfreundlich vertreten oder für diese ein Rechtsgut-
achten erstattet haben –, ist allerdings ein besonders kritischer Blick
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geboten. Allerdings können auch diese Personen recht haben.) Dass


praktisch Tätige, vor allem Rechtsberater, spezielles Augenmerk auf
die höchstgerichtliche Judikatur legen müssen, steht dazu in kei-
nem Widerspruch. Hier wirkt eben die Kraft des Faktischen beson-
ders stark.
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Praktisch fruchtbar ist die professionelle rechtswissenschaftliche


Arbeit selbstverständlich nur dann, wenn sie die schon genannte
juristische Daueraufgabe nicht aus den Augen verliert, sondern we-
nigstens als entferntes, mittelbar zu förderndes Ziel auch der theo-
retischen Grundlagenarbeit im Auge behält. Rechtstheoretische Be-
mühungen mit ganz anderer Zielrichtung werden damit natürlich
nicht etwa ausgeschlossen: sie können aber für die Erfüllung der
Daueraufgabe, die rational bestmöglich begründete Lösung zu fin-
den, höchstens Zufallstreffer beisteuern.

II. Der Streit um die rechtliche Bedeutung


des Richterrechts (mit Überlegungen zum
Gewohnheitsrecht)
1. Grundsätzliche Positionierungen
Die bisher erörterte technisch-informative Bedeutung von „Richter-
recht“ als zweckmäßiges und sogar häufig notwendiges Mittel me-
thodischer, wenn auch verkürzt argumentierender Rechtsanwen-
dung im üblichen Sinn ist wie schon erwähnt nicht zu bestreiten
und daher wohl auch tatsächlich unumstritten. Ganz anders steht es
hingegen mit der Frage, ob und in welchem Umfang Richterrechts-
sätzen auch eigenständige rechtliche, also normative Bedeutung
zukommt. Kann bzw wann kann Richterrecht also wie Gesetzes-
recht binden, dh Geltung und damit auch Anwendung verlangen?

127
Die Bedeutung von „Richterrecht“ und seine Anwendung

Diese Frage wird im kontinentaleuropäischen, grundsätzlich ko-


difizierten Recht nach wie vor kontrovers diskutiert. Vor allem die
große Bandbreite der dazu vertretenen Meinungen ist angesichts
der praktischen Bedeutung des Problems erstaunlich und bedenk-
lich. So wurde vor einiger Zeit zutreffend von „methodologischer
Verlegenheit“ gesprochen, wenn es darum gehe, mit dem immer
wichtiger werdenden, aber immer noch als problematisch empfun-
denen Phänomen des Richterrechts umzugehen.
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Das eine Extrem bildet die traditionelle und nach wie vor
verbreitete Auffassung, die über die Rechtsprechung als bloße
Erkenntnisquelle keinen Schritt hinausgeht. Die eigenständige
rechtliche Bedeutung wurde im Rahmen dieser Auffassung einmal
unüberbietbar knapp und deutlich dahin beurteilt, dass „ein rich-
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terliches Präjudiz an sich nichts“ (Rechtserhebliches) bedeute. Das


ist vom Standpunkt der bloßen Rechtserkenntnisquelle aus ganz
konsequent, da es gleichgültig ist, woraus der rechtliche Beurteiler
seine notwendigen Rechtserkenntnisse bezieht; ob er also der juris-
tischen Literatur, bejahendenfalls welchen ihrer Strömungen oder
Werke, ob er vorhandener Vorjudikatur oder nur eigener Forschung
vertraut.
Eine für die rechtliche Bedeutung irrelevante Variation dieser
Meinung liegt vor, wenn auf die faktisch dennoch herausragende
Bedeutung der Präjudiziensuche und Präjudizienanwendung hin-
gewiesen wird. So wird gesagt, dass vorliegende ältere Judikatur
(bloß) ein rechtssoziologisch bedeutsames Faktum sei; dass sie
(bloß, aber immerhin) „faktische“ oder „praktische“ Geltung bzw
Bindungskraft besitze; ja sogar, dass es deshalb auf die rechtliche
Qualität von Richterrecht gar nicht ankomme, weil die „prakti-
sche Geltung“ genüge.
Das ist im Rahmen einer normativen Wissenschaft wie der Juris-
prudenz jedenfalls unzureichend. Die zitierten Begriffe klingen we-
gen des normativen Gehaltes von „Geltung“ oder „Bindung“ sogar
wie Widersprüche in sich. Man kann sie aber wohl dahin interpre-
tieren, dass im Rechtsverkehr mit der tatsächlichen Befolgung vor-
handener Präjudizien im Allgemeinen gerechnet werden kann und
muss, auch wenn jede rechtliche Bindung fehlt. In Wahrheit bleibt
aber die normative Frage unabweislich: Liegt eine (bewusste) Ab-
weichung vom vorhandenen Fallrecht in der Entscheidungsbefug-
128
Der Streit um die rechtliche Bedeutung des Richterrechts

nis des aktuellen rechtlichen Beurteilers, vor allem des nunmehr


zuständigen Richters? Darf, soll oder muss er davon abweichen;
und wenn ja: unter welchen Umständen? Konsequenterweise sind
aber auch Folgefragen unausweichlich: Muss der Rechtsverkehr
(unter welchen Voraussetzungen) damit rechnen, dass eine solche
Abweichung stattfindet, oder kann er darauf vertrauen, dass sich
nichts ändert? Und was geschieht, wenn sich im Nachhinein her-
ausstellt, dass die Einschätzung falsch war?
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Globalaussagen über eine generelle Befolgungstendenz mögen


faktisch durchaus richtig sein, lassen aber naturgemäß alles recht-
lich Entscheidende offen. Sie stellen ja nur eine generelle Prognose,
die im Einzelfall sogar als solche wenig hilft. Vor allem aber fehlt
eine Stellungnahme zur zentralen Frage, welche Rolle Richterrecht
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Grundzüge der juristischen Methodenlehre, 9783825261450, 2023

legitimerweise spielen soll. Es wäre ein Armutszeugnis der Metho-


denlehre, sich dieser rechtlich entscheidenden Frage zu verschlie-
ßen. Die dargestellten Aussagen führen ja auf der normativen Ebe-
ne zu dem Schluss, dass man bei der Beurteilung von Einzelfällen
vorhandene Vorentscheidungen befolgen darf – was manche Äuße-
rungen im Rahmen des von ihnen für maßgebend gehaltenen rich-
terlichen Ermessens (dann überflüssigerweise) besonders hervorhe-
ben –, dass man sie aber auch ignorieren darf. Der Rechtsverkehr
muss also, ungeachtet der faktisch überwiegenden Tendenz zur Be-
folgung, doch auch mit Ignorierung oder Verwerfung der Vorjudika-
tur rechnen. Das hilft weder dem entscheidungspflichtigen Gericht
noch dem Rechtsverkehr.
Das extreme Gegenteil zum „an sich nichts“ vertreten die Mei-
nungen, die letztlich allein das Richterrecht als rechtlich rele-
vant und daher als verbindlich betrachten: weil Gesetzesregeln in-
folge ihrer Allgemeinheit bloßes Programm seien; weil sie nur den
Inhalt hätten, den die Richter „pflichtgemäß“ (?) daraus entneh-
men; weil ein Gesetz vielleicht noch nie eine richterliche Entschei-
dung bestimmt habe (!), weil es überhaupt keinen erkennbaren
entscheidungserheblichen Inhalt habe usw. Solche Positionen wur-
den und werden in der methodischen Diskussion tatsächlich vertre-
ten. All dies ist bereits vollkommen erfahrungswidrig, weil einfache
Fälle oder Sachverhaltselemente ständig problemlos durch schlichte
Subsumtion ohne weiteres aus dem Gesetz beurteilt werden. Selbst-
verständlich berufen sich auch die Gerichte in ihren Entscheidun-

129
Die Bedeutung von „Richterrecht“ und seine Anwendung

gen regelmäßig auf konkrete Gesetzesvorschriften! Auch theore-


tisch müssen sich die Vertreter solcher Auffassungen fragen lassen,
wieso die Schwierigkeiten menschlicher Kommunikation und des
Textverständnisses in anderen Zusammenhängen regelmäßig gut
gemeistert werden können, sie aber gerade bei Aussagen des Ge-
setzgebers als unüberwindbar angesehen werden. Besonders bizarr
ist dabei, dass diese Unverständlichkeit zwar das Gesetz, nicht aber
(auch) die – immer noch recht allgemeinen! – Richterrechtsregeln
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erfassen soll. Glücklicherweise sind die Vertreter solcher Ansichten


deutlich in der Minderzahl.

2. Richterrecht und Gewohnheitsrecht


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Etwas weniger extreme Meinungen leugnen nicht vollständig die


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Existenz eines erkennbaren Gesetzesinhalts, betrachten das Richter-


recht aber als dem Gesetz gleichrangige Rechtsquelle; in der
Regel dann vom Charakter des Gewohnheitsrechts, teilweise aber
auch als eigenständigen Entstehungsgrund von Recht.
Jedoch überzeugen sind auch diese Auffassungen nicht. Das
Gewohnheitsrecht umfasst die im Rechtsleben tatsächlich wirk-
samen Rechtssätze, deren „Positivierung“ nicht durch Beschluss ei-
ner besonderen, in der Rechtsgemeinschaft anerkannten Gesetzge-
bungsinstanz, sondern durch das gleichmäßige (ganz überwiegende)
Verhalten der Menschen im Rechtsverkehr und (zum Unterschied
von Verkehrssitte, Handelsbrauch usw) unter der dabei mitwirken-
den Überzeugung zustande gekommen ist, dass die zugrunde geleg-
te Maxime rechtlich bindend sei (opinio iuris sive necessitatis). In
der Sintflut der gegenwärtigen Gesetzgebung ist heute, anders als
in früheren Zeiten und langfristig im common law, nur noch sehr
wenig Raum für eine solche Entstehung von Rechtsvorschriften un-
mittelbar durch Verhalten und Bewusstsein der einfachen Mitglie-
der der Rechtsgemeinschaft selbst.
Beispiele: Im österreichischen Recht sind aber immerhin das Rechtsinsti­
tut der Treuhand, der Rechtfertigungsgrund des sportregelgerechten oder
sporttypischen Verhaltens bei Körperverletzungen, einige Sonderregeln
im bäuerlichen Bereich (Realgemeinschaften als juristische Personen;
Übergabeverträge unter Lebenden mit Begünstigung des Übernehmers;
Regeln über offenkundige Grunddienstbarkeiten) und die Befugnis des
130
Der Streit um die rechtliche Bedeutung des Richterrechts

Leiters einer GmbH-Generalversammlung, das Beschlussergebnis festzu­


stellen, zu nennen.
Gesetzespositivistisch motivierte Behauptungen über das Fehlen
von aktuellem Gewohnheitsrecht sind also jedenfalls unbegründet;
ebenso die Behauptung, die Verfassung schließe die Entstehung
von Gewohnheitsrecht aus, weil sie diesen Entstehungsgrund von
Recht nicht erwähne. Dieses Argument ist bloß ein Unterfall des
„allgemeinen negativen Satzes“ und scheitert schon daran, dass die
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Verfassung, soweit sie überhaupt auf erschöpfende Erfassung der


objektiven Rechtsquellen zielt, dabei (vom Völkerrecht abgesehen)
offenkundig nur an bewusste Rechtssetzung denkt. Die spontane
Entstehung von Gewohnheitsrecht im Rechtsverkehr selbst ist et-
was qualitativ anderes.
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Die Einordnung des Richterrechts als Gewohnheitsrecht schei-


tert jedoch bereits an der Entstehungsvoraussetzung der gleich-
mäßigen Übung im Rechtsverkehr selbst. Das Richterrecht ist viel-
mehr ein Produkt von Staatsorganen, mögen diese auch nicht in
der Absicht, allgemeine Normen zu setzen, sondern im Rahmen
ihrer Aufgabe der Einzelfallentscheidung tätig geworden sein. Zwar
wird heute die „opinio iuris“ in der Regel am einfachsten durch
eine entsprechende Judikatur nachzuweisen sein, weil und wenn
diese einen im Verkehr herausgebildeten Satz als bindendes Recht
behandelt und damit dem Rechtsverkehr die entsprechende Rechts-
überzeugung vermittelt oder bestätigt. Die allgemeine tatsächliche
Übung im Rechtsverkehr selbst ist aber für das Gewohnheitsrecht
unverzichtbar. Dass häufig wiederholte Judikaturregeln als solche
im Rechtsverkehr weithin beachtet werden, wofür schon anwalt­
liche Vorsicht und Beratung sorgt, reicht dafür nicht aus, weil doch
in aller Regel die Produktion des Normsatzes durch die Gerichte und
nicht durch den Rechtsverkehr selbst für alle Beteiligten deutlich
ist. Es mag freilich auch sein, dass eine ursprünglich richterrechtli-
che Regel im Rechtsverkehr selbst in einem derartigen Ausmaß in
die Praxis und in das Rechtsbewusstsein eingegangen ist, dass die
ursprüngliche bloß richterrechtliche Herkunft als Grundlage oder
Bestätigungsfaktor ganz in Vergessenheit geraten ist. (Ein Beispiel
dafür bietet wohl die Sicherungsübereignung durch Besitzkonstitut
im deutschen Recht.) Dann ist entsprechendes Gewohnheitsrecht
wohl anzuerkennen, gleichgültig, ob sich feststellen lässt, dass die

131
Die Bedeutung von „Richterrecht“ und seine Anwendung

entsprechende Übung des Rechtsverkehrs sich schon vor der ein-


schlägigen Judikatur, parallel zu dieser oder erst nachträglich ent-
wickelt hat.
Über das Gesagte hinaus spricht gegen die Qualifizierung von
Richterrecht als Gewohnheitsrecht ein starkes argumentum ad
absurdum: Wegen der Gleichrangigkeit von Gesetzes- und Ge-
wohnheitsrecht müsste sie dazu führen, dass jede einmal etablierte,
durch bloß vermeintliche, uU aber sogar evident unrichtige „Geset-
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zesanwendung“ begründete Judikatur das Gesetz, dem sie in Wahr-


heit widerspricht, sogleich durch Derogation dauerhaft verdrängt.
Ein noch so grober Fehler der Judikatur wäre wegen der binden-
den Kraft des (jüngeren) vermeintlichen Gewohnheitsrechts nicht
mehr zu korrigieren. Für wirklich derogatorisches Gewohnheits-
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recht („desuetudo“) ist hingegen weit mehr zu fordern, nämlich


langfristige Nichtanwendung einer bestimmten Gesetzesvorschrift
durch Rechtsgemeinschaft und Staatsorgane mit allseitiger Rechts-
überzeugung.
Das Gesagte lässt den essentiellen Unterschied zwischen Ge-
wohnheitsrecht und Richterrecht erkennen: Das erstere entsteht
im Verhältnis zur bisher geltenden Rechtsordnung autonom im
Rechtsverkehr, das zweite wird – es sei denn, dass es sich um offe-
nen Rechtsbruch handelt – zumindest im Versuch der Begründung
aus dem vorweg bestehenden, bindenden Rechtssystem produziert.

3. Der Vorrang des Gesetzesrechts


Von ähnlichen Einwänden wird auch jene Auffassung getroffen,
die das Richterrecht als eigenständige und gleichrangige weitere
Quelle bindenden Rechts betrachtet. Anwendbar bleibt insbesonde-
re das argumentum ad absurdum aus der unmittelbaren derogatori-
schen Kraft jeder einmal etablierten Rechtsprechungslinie, mag sie
auch tatsächlich in vollem Widerspruch zum der Rechtsprechung
bindend vorgegebenen Recht entstanden sein: Das Gericht hat das
Gesetz dann eben bloß anzuwenden versucht, hat sich dabei aber
geirrt; etwa weil es groben Interpretationsfehlern oder sachlichen
Missverständnissen zum Opfer gefallen ist. Die Judikatur hat aber
auch in dieser Situation durch ihren eigenen Begründungsversuch
den Vorrang des ihr vorgegebenen Rechtssystems anerkannt! Dass
132
Der Streit um die rechtliche Bedeutung des Richterrechts

daraus sogleich dem Gesetz gleichrangiges Richterrecht entstehen


soll, welches das falsch angewendete Gesetz (samt seinen Grundla-
gen) verdrängt, erweist sich damit schon logisch als Widerspruch.
Der rechtlich entscheidende Punkt ist dabei der Vorrang des Ge-
setzes bzw der Vorrang der gesetzgeberischen Entscheidung.
Mit dieser etwas verkürzten Formulierung ist hier stets der Vorrang
des Gesetzes nicht als bloße Summe von publizierten und nach-
lesbaren Texten gemeint, sondern – mit Ausnahme des Gewohn-
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heitsrechts – das gesamte Rechtssystem; also die Gesetzesregeln


samt den ihnen zugrunde liegenden Zwecken und allgemeineren
Rechtsprinzipien einschließlich der methodologischen Regeln.
Denn die Gesetzestexte allein sind, wie bereits mehrfach dargelegt,
infolge ihrer Distanz zum konkreten Rechtsproblem für sich allein
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für die Rechtsanwendung im Ganzen häufig unzulänglich. „Vorrang


des Gesetzes“ bedeutet also den Vorrang des gesamten, der Judika-
tur verbindlich vorgegebenen Rechtssystems; daher auch der darauf
gestützten methodisch korrekten Rechtsfindungsergebnisse.
Dass dieser Vorrang verletzt wäre, wenn jede Judikaturregel
gesetzesgleiche Gültigkeit hätte und daher einem widersprechen-
den älteren Gesetz als jüngere Regel derogieren müsste, liegt auf
der Hand. Zutreffend schließt daher §  12 ABGB ausdrücklich eine
gesetzesgleiche Kraft von gerichtlichen Entscheidungen und ihre
dementsprechende Erstreckung auf andere Fälle aus. Primär han-
delt der Paragraf von den Einzelfallurteilen als solchen und hebt
damit (wohl auch) die subjektiven Grenzen der Rechtskraft hervor.
Gemeint sind aber offenbar auch die in den Einzelurteilen enthal-
tenen richterrechtlichen Sätze. Nur diese könnten ja auf „andere
Fälle“ angewandt werden. Diesen Sätzen wird damit zwar die ge-
setzesgleiche Wirkung abgesprochen (Urteile „haben nie die Kraft
eines Gesetzes“). Davon, dass sie keinerlei normative Bedeutung ha-
ben können, ist in §  12 ABGB hingegen nicht die Rede.
Manche Autoren bemühen sich, den Vorrang des Gesetzes gegen-
über dem Richterrecht mit großem Aufwand aus den positiven Ver-
fassungen ihren jeweiligen Heimatländer zu begründen. Das ist auf-
grund der an manchen Orten herrschenden Richterrechtseuphorie
und dementsprechend extensiv betriebener „richterlicher Rechts-
fortbildung“ verständlich, aber unnötig. Es geht gar nicht um die

133
Die Bedeutung von „Richterrecht“ und seine Anwendung

Auslegung mehr oder weniger passender oder durch „Hineinlesen“


bestimmter Grundsätze passend gemachter positiver Verfassungsre-
geln, sondern um ein Strukturelement der Rechtskultur (zumin-
dest) unseres gesamten kontinentaleuropäischen Rechtskreises. Es
besteht in der Gewalten- und Funktionsverteilung zwischen
den Staats- und den Rechtsorganen, die zum Zweck und mit
der Funktion der Rechtssetzung geschaffen werden, einerseits und
jenen, die mit dem Zweck und der Funktion der Einzelfallentschei-
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dung durch Rechtsanwendung eingesetzt sind, andererseits. Diese


Aufgabenverteilung ist unabhängig davon, dass in weitem Umfang
auch die Entstehung von (ergänzendem) Richterrecht unvermeid-
lich ist. Sie bleibt nämlich durch den Vorrang des Gesetzes im Grun-
de aufrecht. Sinnlos und folglich überflüssig würde hingegen die
Einsetzung unterschiedlicher Rechtsorgane für generelle Rechts-
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setzung einerseits und für Einzelfallentscheidungen andererseits,


wenn die Judikative nicht an den Vorrang des Gesetzes gebunden
wäre. Weitgehend sinnlos wären damit aber auch die politischen
Auseinandersetzungen und demokratischen Wahlen um die Mehr-
heit in den Gesetzgebungsorganen, wenn doch deren Ergebnisse ge-
genüber der Rechtsprechung bloß empfehlenden Charakter hätten.
Der beschriebene Strukturunterschied und seine Konsequenzen
hängen nicht einmal vom Bestand einer geschriebenen (demokra-
tischen) Verfassung ab, sondern nur von der genannten Funktions-
teilung. Auch und gerade unter der absoluten Monarchie bei Erlas-
sung des ABGB bestand an der Bindung der Gerichtsbarkeit an das
Gesetz, also an dessen selbstverständlichem Vorrang, kein Zweifel.
Der Hauptredaktor des ABGB, Zeiller, hat diesen Vorrang mit gro-
ßem Nachdruck unterstrichen. (Eine andere, hier nicht unmittelbar
interessierende Frage war, wie weit „der Herrscher“ umgekehrt Ein-
zelfallentscheidungen an sich oder an ad hoc bestimmte Instanzen
ziehen konnte. Das war als Folge des Absolutismus grundsätzlich
vorgesehen. Zeiller hat dazu allerdings ein auch den Herrscher –
wohl nur informell-ethisch – bindendes naturrechtliches Prinzip der
Unabhängigkeit des Richters vertreten.)
Was nach der unvermeidlichen Ablehnung der zum Richterrecht
vertretenen Extrempositionen des „nichts“ (an rechtlicher Bedeu-
tung) und des „alles“ (volle Rechtsquelle) bleibt, ist wie so häufig
eine mittlere Lösung: Bejaht werden sollte eine beschränkte, ge-

134
Unterschiedliche Ansätze zur beschränkten Bindungskraft des Richterrechts

nauer eine subsidiäre Bindungskraft des Richterrechts. Gele-


gentliche, aus dem Demokratieprinzip der heutigen Verfassungen
abgeleitete, Einwände schlagen nicht durch: Diesem Prinzip wäre ja
in keiner Weise gedient, wenn jeder Richter nach Belieben vorhan-
dene Vorjudikatur beachten oder missachten dürfte oder gar, wenn
er an jede Vorjudikatur gebunden wäre.
Abgesehen von den genaueren Voraussetzungen und Grenzen
der Bindung, die noch geklärt werden müssen, folgt schon aus den
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bisherigen Ausführungen, dass eine brauchbare Einordnung des


Richterrechts in unser Rechtssystem jedenfalls Antwort auf die nor-
mative Bindungsfrage geben muss, ohne dabei den grundsätzlichen
Vorrang des Gesetzes anzutasten.
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III. Unterschiedliche Ansätze zur beschränkten


Bindungskraft des Richterrechts
Die Lehre von einer beschränkten Bindungskraft der Vorjudi-
katur ist – nach dem bisher Gesagten wenig überraschend – relativ
alt und besonders in der schweizerischen Literatur verbreitet. Sie ist
aber keineswegs einheitlich. Das kann hier nur an einigen Beispie-
len angedeutet werden.
Eine detailliert ausgearbeitete Richterrechtstheorie der „Fall-
norm“ begrenzt die (streng verstandene) Bindung auf den Bereich
richterlicher Rechtsfortbildung und lehnt zugleich im Bereich der
Gesetzesauslegung jede Bindung an Präjudizien ab. Vom hier ver-
tretenen Standpunkt aus ist für diese Unterscheidung kein ausrei-
chender Grund zu sehen, da auch der Bereich der (ergänzenden)
richterlichen Rechtsfortbildung, wie bereits dargelegt, durchaus
kontrollierenden rechtlichen Kriterien unterliegt. Wer dies verneint
und die richterliche Rechtsfortbildung grundsätzlich als Rechts-
findung contra legem versteht, mag zu einer anderen Sicht kom-
men. Doch ist dabei schon die abweichende Prämisse, nämlich die
Preisgabe des Vorranges des Gesetzes, nicht zu billigen. Richtig ist
freilich, dass der Vorrang des Gesetzes in der Regel umso weniger
verletzt werden kann, je weniger bestimmt die gesetzliche Regelung
und ihre normativen Grundlagen sind. Das begründet aber keine
kategorial durchgreifende Verschiedenheit hinsichtlich der Legiti-
mität der Rechtsfortbildung.
135
Die Bedeutung von „Richterrecht“ und seine Anwendung

Eine andere Auffassung nimmt Maßgeblichkeit des Präjudizien-


rechts nur dann an, wenn das Präjudiz im Rechtsstreit nicht
argumentativ „angegriffen“ wird. Dabei wird aber nicht gewür-
digt, dass mögliche Schwächen und damit die Überprüfungsbedürf-
tigkeit einer bisherigen Judikaturregel nicht nur aus Argumen-
ten ersichtlich werden können, mit denen die Prozessparteien die
Vorjudikatur angreifen, sondern auch dem beurteilenden Richter
von sich aus ein- und auffallen oder dem rechtswissenschaftlichen
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Schrifttum entnommen werden können.


Eine prominente Lehre spricht bestehendem Richterrecht „prä-
sumtive“ Geltung zu, sodass es verbindlich ist, wenn und solange
es nicht widerlegt wird. Das ist im Ergebnis plausibel, lässt aber of-
fen, wie und wodurch eine solche Widerlegung erfolgen kann bzw
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muss. Insoweit wird nur von entgegenstehenden guten Gründen


oder überhaupt von entgegenstehenden „Gründen“ gesprochen,
was wenig weiterhilft.
Dasselbe gilt für die Lehre von der beschränkten Befolgungs-
pflicht, die bloß darauf abstellt, ob den Rechtssätzen der Vorjudika-
tur gute Gründe entgegengehalten werden können, ohne darüber,
insbesondere über Art und Gewicht dieser Gründe, Greifbares zu
sagen.

IV. Die Lehre von der subsidiären Bindungskraft


Eine überzeugende Lehre von der Bindungskraft des Richterrechts
sollte seiner praktisch gewaltigen Bedeutung für die Rechtsfindung
Rechnung tragen, die normative Frage seiner Bindungskraft beant-
worten, den Vorrang des Gesetzes respektieren und (schon deshalb)
die Voraussetzungen für Bindungskraft oder Abweichungsnotwen-
digkeit so systematisch abgesichert und praktisch handhabbar wie
möglich angeben.
Diesen Anforderungen entspricht, wie bereits erwähnt, am bes-
ten die Lehre von der subsidiären Bindungskraft des Richter-
rechts. Sie erfreut sich heutzutage namhafter Zustimmung und
insbesondere weitgehender Übereinstimmung mit jenen Entschei-
dungen des deutschen BGH, die sich ausdrücklich zur Bindungs-
kraft von Präjudizien äußern.

136
Die Lehre von der subsidiären Bindungskraft

Die Kerngedanken dieser Lehre sind die folgenden: Die funda-


mentalen Rechtsgrundsätze der Gerechtigkeit und Rechtssicherheit
fordern die Anerkennung einer normativen Bindung an eine beste-
hende Judikatur. Die Streitteile der bisherigen Prozesse wurden in
ihren Einzelfällen von staatlichen Instanzen (Gerichten, Behörden)
bereits entsprechend den bestehenden Richterrechtssätzen behan-
delt. Das erweckt regelmäßig (wenn diese Judikatur hinreichend
publik ist) entsprechende Erwartungen des Rechtsverkehrs in Be-
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zug auf später auftretende Einzelfälle, die hinsichtlich des richter-


rechtlich bereits erfassten Fallelements gleichartig sind, in denen
also die gleiche Rechtsfrage zu lösen ist. Beliebige „Schwenkent-
scheidungen“ entsprechen daher nicht dem grundlegenden Gebot
des Gleichmaßes, sondern schmälern die Voraussehbarkeit der Ein-
zelfallentscheidungen und damit eine zentrale Anforderung der
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Rechtssicherheit.
Auf Gerechtigkeitsgleichmaß und Rechtssicherheit beru-
fen sich ungeachtet sonstiger Nuancen die meisten Vertreter der
Lehren von der beschränkten Bindungskraft des Richterrechts.
Einzelne Stimmen stützen sich allerdings entweder bloß auf den
Gerechtigkeitsmaßstab oder auf die Rechtssicherheit, ohne dass da-
für eine zureichende Erklärung sichtbar würde. Überzeugend ist
es dagegen, wenn zugunsten einer Präjudizienbindung ergänzend
auch auf den fundamentalen Grundsatz der Zweckmäßigkeit im
Sinne der notwendigen Effektivität des staatlichen Rechtsschutz-
apparats hingewiesen wird. In der Tat würden die staatlichen In-
stanzen der Einzelfallentscheidung hoffnungslos überfordert oder
durch notwendigen personellen Ausbau außerordentlich verteuert
werden, wenn in jedem Einzelfall jede Rechtsfrage von Grund auf
neu untersucht werden müsste; jedenfalls von den gewissenhaften
Juristen, die sich nicht einfach „blind“ vorhandener Vorjudikatur
anvertrauen möchten, sondern mit allem Ernst die rechtsrichtige
Entscheidung anstreben. Für diese bedarf es ja jedenfalls normativer
Kriterien.
Die genannten fundamentalen Rechtsgrundsätze führen
zwanglos auch zu den benötigten Beschränkungen der Präjudizi-
enbindung, die den Vorrang des Gesetzes (im weiten Sinn) wahren.
Das Gerechtigkeitsgleichmaß (wie auch der verfassungsrechtliche
Gleichheitsgrundsatz) fordert keine mechanische Egalität in allem

137
Die Bedeutung von „Richterrecht“ und seine Anwendung

und jedem, insbesondere keine Gleichbehandlung im Unrecht. Ver-


wehrt sind nur willkürliche, sachlich unbegründete Differenzierun-
gen in der Behandlung der Mitglieder einer Rechtsgemeinschaft.
Davon kann aber nur die Rede sein, wenn ein Staatsorgan bloß auf-
grund persönlicher oder gruppenspezifischer Präferenzen, um origi-
nell zu sein, aus Unkenntnis der Vorjudikatur oder aufgrund juristi-
scher Fehler in seinem aktuellen Fall von jener Maxime abweichen
möchte, nach der bisher die Menschen in gleichartigen Situationen
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behandelt wurden.
Dient die Rechtsprechungsänderung dagegen der Korrektur
eines inzwischen erkannten Rechtsfehlers, der in den Vorent-
scheidungen unterlaufen ist, oder wäre die Maxime der Vorent-
scheidung im geänderten gegenwärtigen Kontext unrichtig, so ist
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die Abwendung vom Präjudiz alles andere als willkürlich oder


sachlich unbegründet. Vielmehr ist sie durch den Vorrang des Ge-
setzes als der primär zur Orientierung der Rechtsgemeinschaft be-
stimmten Rechtsquelle sogar geboten.
Auf den ersten Blick scheint das Fundamentalprinzip der
Rechtssicherheit für eine sehr weit reichende Anwendung von
Richterrecht zu sprechen: Hat etwa ein nationales Höchstgericht
eine Rechtsfrage mehrfach in einem bestimmten Sinn entschieden,
wird sich jemand, der erwägt, einen Prozess zu führen, nicht selten
primär an dieser Judikatur orientieren. Allerdings ist der Vorrang
des Gesetzes auch unter dem Rechtssicherheitsaspekt zu respektie-
ren. Positive Rechtssetzung (und daher auch die daran unvermeid-
lich anknüpfende methodische Rechtsfindung) hat geradezu den
Hauptzweck, dem Verhalten der Menschen in der Rechtsgemein-
schaft eine möglichst klare Orientierung zu bieten. Soweit dieser
Zweck, und sei es auch erst in wiederholten methodischen Versu-
chen, erreicht werden kann, fordert das Prinzip der Gerechtigkeit
die Respektierung jenes Vorrangs durch die Rechtsfindung und so-
mit die Abkehr von bestehender gegenläufiger Judikatur. Alternati-
ve wäre die bewusste Entscheidung gegen nunmehr als zutreffend
und durchschlagend erkannte Argumente; anders gesagt: ein be-
wusstes Judizieren contra legem. Das kann von einem Richter we-
der verlangt werden noch sollte es ihm auch nur erlaubt sein. Abso-
lute Rechtssicherheit gibt es für die Beteiligten somit nicht; vertraut
darf allenfalls in die „objektiv richtige“ Rechtsanwendung werden,

138
Die Lehre von der subsidiären Bindungskraft

wobei die objektive Richtigkeit bei schwierigen Rechtsfragen kaum


einmal mit Sicherheit vorweg beurteilt werden kann. Aus prakti-
scher Sicht bleibt daher wohl nur, aber immerhin, das Vertrauen der
Beteiligten in den Versuch der Entscheidungsorgane, durch sorgfäl-
tiges Vorgehen das Richtige zu finden, übrig.
Der Zweckmäßigkeit hinsichtlich des staatlichen Rechtsschutz-
apparats ist eine immanente Grenze dadurch gesetzt, dass bei un-
besehener Bindung an Präjudizien umgekehrt die Effektivität des
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Gesetzgebungsapparats ernsthaft beeinträchtigt wäre. Dessen Auf-


gabe besteht ja darin, Konflikte nach allen rechtlichen Vorgaben,
also richtig, zu entscheiden.
Die Konsequenz aus alldem ist: Die Verbindlichkeit des Richter-
rechts hängt davon ab, dass es nicht aus dem für die Judikatur
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verbindlichen, ihr vorgegebenen Recht als unrichtig widerlegt


werden kann. Dabei muss die „Richtigkeit“ aufgrund der Leistungs-
grenzen der Rechtswissenschaft und wegen der Möglichkeit der
Verteilung methodologisch relevanter Argumente auf gegensätz-
liche Lösungen durchaus zurückhaltend verstanden werden: Die
Widerlegung ist bereits dann gelungen, wenn eine vom bisherigen
Richterrecht abweichende Problemlösungsregel aus dem vor-
gegebenen Rechtssystem besser begründet werden kann. Damit
ist auf die oben dargelegte Auslegung und Rechtsfortbildung ein-
schließlich der methodischen Vorrangkriterien und der allenfalls
notwendigen umfassenden Abwägung gegensätzlicher Argumente
verwiesen. Stärker bzw besser sind jene Argumente, die mit weni-
ger zahlreichen und vor allem mit systematisch (im Begründungs-
zusammenhang des Rechts) weniger grundlegenden Normen des
Rechtssystems im Widerspruch stehen.
Für die Richtigkeit einer Entscheidung muss selbstverständlich
die Sach- und Rechtslage in dem Zeitpunkt maßgebend sein, in dem
sie ergeht. Vorjudikatur ist daher nicht nur daraufhin zu überprü-
fen, ob sie schon seit jeher unrichtig war, sondern vor allem auch
darauf, ob sie nicht durch relevante Veränderungen der Rechtslage
und der Sachlage (bzw unserer Kenntnis maßgebender Faktoren)
unrichtig geworden ist.
Das betrifft nicht etwa nur explizite Änderungen der unmittelbar
anzuwendenden Gesetze. Dass eine Judikaturregel durch eine Ge-

139
Die Bedeutung von „Richterrecht“ und seine Anwendung

setzesänderung überholt werden kann, versteht sich von selbst. Es


geht vielmehr insbesondere auch um die methodologische „Fern-
wirkung“ neuerer Gesetze auf die (systematische) Interpretation
oder Ergänzung alter Regeln, mit deren Auslegung oder Ergänzung
sich die Vorjudikatur befasst hat.
Beispiele: 1. Die Einführung der EMRK in Österreich mit ihren Vor­
schriften über den Ersatz immaterieller (ideeller) Schäden machte die
– unerhört enge – Auslegung der einschlägigen Regeln des ABGB syste­
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matisch unhaltbar und widerlegte dadurch auch (endgültig) die österrei­


chische Vorjudikatur, die bei der Freiheitsberaubung den Ersatz immate­
rieller Schäden ablehnte.
2. Im Rahmen der Generalklausel der „guten Sitten“ (§  879 ABGB) hat
sich eine neue Regel des KSchG, wonach die vertragliche Freizeichnung
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von Personenschäden schlechthin unzulässig wurde, systematisch als


Konkretisierungsfaktor des §  879 ABGB mit demselben Ergebnis ausge­
wirkt, da selbstverständlich Leben und Gesundheit von Unternehmern
nicht geringer bewertet werden dürfen als dieselben Rechtsgüter von
Konsumenten. Damit waren die bisherigen Judikaturregeln im Rahmen
der guten Sitten widerlegt, die Unwirksamkeit einer haftungsbeschrän­
kenden Klausel nur bei grobem oder gar bei besonders grobem Verschul­
den bejahten. Soweit Generalklauseln auf die allgemeinen Verkehrsan­
schauungen und Verkehrsregeln verweisen, sind diesbezüglich deutliche
Änderungen maßgebend; zB bei der Neukonkretisierung des strafrecht­
lichen Tatbestandsmerkmals „unzüchtig“ durch einen – gesellschaftlich
begründeten – Judikaturwandel.
3. Erst vor einigen Jahren ist der OGH von Vorjudikatur abgegangen,
die den zu Sicherungszwecken erklärten Schuldbeitritt im Unterschied
zur Bürgschaft formfrei zuließ, obwohl sich an den gesetzlichen Bestim­
mungen über die Form von Rechtsgeschäften nichts geändert hatte. Das
Höchstgericht verwies aber vor allem darauf, dass mittlerweile in das
KSchG Normen eingefügt worden waren, die eine weitgehende Gleichbe­
handlung von Bürgschaft, Garantie und Schuldbeitritt nahelegten.
Auch die Änderung von solchen generellen Tatsachen oder unse-
rer Kenntnis von ihnen, die bei der Rechtsgewinnung korrekt als
Prämissen fungiert haben, kann zu abweichenden juristischen Fol-
gerungen und damit zur aktuellen Widerlegung von – ursprünglich
wohlbegründeten – Richterrechtsregeln führen. (Die bloß floskel-

140
Die Lehre von der subsidiären Bindungskraft

hafte globale Berufung auf geänderte Verhältnisse reicht hingegen


nicht aus.)
Beispiele: Erinnert sei zunächst an die schon (S 50) erwähnten Asbest­
fälle, die nach dem Bekanntwerden der Gesundheitsgefahren asbesthal­
tiger Baustoffe anders entschieden wurden. Ähnliches gilt vermutlich für
das Passivrauchen. Oder: Banken praktizierten die verzögerte (zinsen­
relevante) „Wertstellung“ bei Überweisung auf ein Kundenkonto. Das
wurde ursprünglich von den Gerichten nicht als unangemessene Benach­
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teiligung der Kunden im Sinne des Gesetzes behandelt, weil eine exakte
„Wertstellung“ mit Eingang der Überweisung zu aufwändig und damit
– auch für die Kunden – verteuernd gewesen wäre. Diese Rechtsprechung
wurde zutreffend als nicht mehr haltbar erkannt, nachdem alle Banken
mit modernen Softwareprogrammen ausgerüstet waren und daher eine
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sofortige Wertstellung ohne besonderen Aufwand möglich war.


Die Grundsatzposition zur Bindungskraft von Richterrecht
sollte somit lauten: An der Rechtsprechungsregel ist festzuhalten,
wenn und solange sie nicht durch – im aktuellen Kontext – (deut-
lich) besser begründete Überlegungen widerlegt werden kann;
wenn sie sich also bei Nachprüfung als richtig erweist, aber wohl
auch, wenn sie nach dem der Judikatur vorrangigen Rechtssystem
und seiner methodischen Anwendung zumindest gleich gut wie
eine abweichende Lösung vertretbar ist. In diesem Bereich unge-
fähr gleichgewichtiger gegensätzlicher rechtlicher Argumen-
te, also im Bereich des „methodischen non liquet“, damit sub-
sidiär, geben die genannten fundamentalen Rechtsgrundsätze den
Ausschlag zugunsten einer Bindung an die bestehenden Richter-
rechtssätze. Das Beibehalten der bisher vertretenen rechtlichen Be-
urteilung entspricht dann nämlich offenkundig allen Zentralprin-
zipien: dem Gerechtigkeitsgleichmaß, der Rechtssicherheitsmaxime
und dem Grundsatz der Zweckmäßigkeit.
Der Vorrang des Gesetzes (im weiten Sinn) und die Möglich-
keiten relevanter Veränderungen im rechtlichen oder rechtlich
relevanten tatsächlichen Kontext verlangen eine Überprüfung des
bestehenden Richterrechts immer dann, wenn ein auch nur mög-
licherweise relevantes neues Argument gegen die bestehende
richterrechtliche Lösung von Beteiligten eines konkreten Prozesses
oder in rechtswissenschaftlichen Untersuchungen vorgetragen bzw

141
Die Bedeutung von „Richterrecht“ und seine Anwendung

in der Rechtsprechung selbst entdeckt wird. Etwaige Hoffnungen


auf besonders bequeme Rechtsfindung oder gewaltige Effektivitäts-
gewinne bei der Rechtsprechung wären daher verfehlt. Immerhin
bleibt auch die Zweckmäßigkeit in all jenen Fällen (und daher ins-
gesamt in sehr relevantem Ausmaß) unbestreitbar, in denen ein
Rechtsproblem bereits gründlich geprüft und entschieden wurde,
ohne dass seither neue und möglicherweise relevante Gegenargu-
mente in den Blick gekommen sind.
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Das Gebot immer neuer Überprüfung des Rechtsproblems,


sobald ein auch nur möglicherweise methodisch relevantes Ge-
genargument auftritt, erweist gelegentliche Einwände als haltlos,
wonach der hier vertretene Standpunkt eine „antidynamische Ten-
denz“ habe oder zu einer „Erstarrung“ des einmal erreichten Recht-
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sprechungsstands führen müsse. Tatsächlich ist die hier vertretene


methodische Position lediglich anti-willkürlich und rechtssicher-
heitsschonend. Ebenso kein durchschlagender Einwand ist die Be-
hauptung, die ungefähr gleichmäßige Vertretbarkeit mehrerer Lö-
sungen lasse sich nicht „so ohne weiteres“ feststellen. Das ist richtig.
Das Gegenteil wurde aber auch nicht behauptet. Vielmehr ist bei der
Überprüfung von Richterrecht das gesamte methodologische Inst-
rumentarium einzusetzen. Dem überprüfenden Juristen wird damit
jedoch gewiss nicht mehr abgefordert als bei der erstmaligen Bear-
beitung eines Rechtsproblems. Während dort aber eine festgestell-
te ungefähre Pattstellung der rechtlich relevanten Argumente nur
noch durch „richterliche Eigenwertung“ aufgelöst werden kann, er-
gibt sich bei der Überprüfung vorhandener Richterrechtssätze eine
bestimmte, klare Lösung, nämlich aufgrund der fundamentalen
Rechtsgrundsätze das Gebot des Festhaltens an der Vorjudikatur.
Einwände derart, dass Präjudizien nicht wie ein Gesetz binden
können, laufen gegenüber der hier entwickelten Meinung offene
Türen ein, weil eine subsidiäre Bindung selbstverständlich gerade
keine gesetzesgleiche Bindung ist, sondern diese sogar ausdrücklich
verneint.
Ernster zu nehmen, aber dennoch nicht durchschlagend ist der
Einwand, dass das Präjudiz einen völlig gleichen Fall betreffen und
„argumentationsgesättigt“ sein, also zu jeder Teilfrage ein Argument
präsentieren müsse. Die Voraussetzung „völlig gleicher Fall“ trifft
deshalb nicht zu, weil Präjudizialität evidentermaßen auch nur für
142
Die Lehre von der subsidiären Bindungskraft

ein Teilproblem bestehen kann und es daher genügt, wenn die dar-
auf bezogene Richterrechtsregel auch im neuen Fall anwendbar ist,
mag er auch sonst andere Sachverhaltselemente aufweisen.
Beispiel: Richterrechtliche Präzisierungen des Irrtumsrechts, die in ei­
nem Fall des Erklärungsirrtums entwickelt wurden, können auch in
einem Fall des sonstigen Geschäftsirrtums herangezogen werden, wenn
sie auch dort auf ein bestimmtes Sachverhaltselement passen; so etwa die
Regel, dass es bei der Veranlassung des Irrtums im Sinne des §  871 ABGB
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nicht auf ein Verschulden des Partners des Irrenden ankommt.


Überdies ist gemäß den genannten Rechtsgrundlagen für eine be-
schränkte bindende Wirkung des Richterrechts die Argumentation
der Vorjudikatur als solche gegenüber der Richterrechtsregel selbst,
nach welcher bereits Menschen behandelt wurden, sekundär: Nur
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die Richterrechtsregel selbst, nicht ihre vielleicht in mancher Bezie-


hung schwache Begründung ist für den Ansatz der Gleichmaßma-
xime von Bedeutung. Ergibt die Überprüfung, dass die Vorjudikatur
trotz ihrer schwachen Begründung mit einer anderen, stärkeren,
zumindest so gut vertretbar ist wie die nunmehr erwogene Gegen-
position, so ist sie aus Gleichmaßgründen beizubehalten. Gegen-
stand der Erwartungen des Rechtsverkehrs ist nämlich im Allgemei-
nen bloß die Richterrechtsregel als solche, nicht auch ihre konkrete
Begründung. Ist diese Begründung besonders schwach, wird sie
allerdings – zumindest bei Sachkundigen – nur geringes Vertrau-
en erzeugen können. Doch reicht auch ein solches Vertrauen (in
die Richterrechtsregel) in Verbindung mit dem klar anwendbaren
Gleichmaßgebot für die Rechtfertigung der Bindung aus.
Im Unterschied zu den eben besprochenen kritischen Positionen
gibt es auch Stellungnahmen in der methodologischen Literatur, die
der hier entwickelten Lehre vom Richterrecht mehrere erheb-
liche Vorzüge zuschreiben: Sie trage dem in der Praxis üblichen
Umgang mit höchstgerichtlichen Entscheidungen in realistischer
Weise Rechnung, indem sie ein theoretisches Fundament für ihre
beschränkte normative Verbindlichkeit schaffe. Sie vermeide die
Gefahr eines „naturalistischen Fehlschlusses“ vom Sein auf das Sol-
len ebenso wie die gegenteilige Gefahr, die Bindung des Richters an
Gesetz und Recht zu relativieren. Sie impliziere weiter eine elegante
Erklärung für die Tatsache, dass sich das geltende Recht trotz gleich-

143
Die Bedeutung von „Richterrecht“ und seine Anwendung

bleibender Gesetzesbestimmungen in seiner Anwendung ständig


wandle. Auch werde die richterliche Konkretisierung von General-
klauseln und unbestimmten Rechtsbegriffen adäquat erfasst. Dies
scheint zu bestätigen, dass die Lehre von der subsidiären Bindungs-
kraft von Präjudizien im Grunde eine systematisch und sachlich zu-
treffende Einordnung des Phänomens „Richterrecht“ in das konti-
nentaleuropäische, primär kodifizierte Recht darstellt.
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V. Praktische Konsequenzen
Ein Hauptanwendungsgebiet für korrekt verwendetes Richter-
recht auch im kodifizierten System bilden die Generalklauseln
und ähnlich unbestimmte Rechtsbegriffe im Gesetzesrecht mit
ihrem bereits erörterten differenzierten und nicht selten ebenfalls
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vagen oder widersprüchlichen Konkretisierungsmaterial. Das not-


wendige Minimum an Rechtssicherheit und an Gleichmäßigkeit der
Rechtsanwendung ist hier in der Regel überhaupt nur bei sorgfälti-
ger Berücksichtigung der Vorjudikatur erreichbar. Das gilt etwa für
die „guten Sitten“ im Vertragsrecht, für die „Angemessenheit“ des
Schmerzengeldes, für die „unverhältnismäßige“ Höhe des Verbes-
serungsaufwands oder die „Geringfügigkeit“ eines Mangels im Ge-
währleistungsrecht usw. Aus diesen Gründen ist die Widerlegbar-
keit vorhandenen Richterrechts in solchen Bereichen beschränkt,
seine Bindungskraft also praktisch erweitert. Dem Grunde nach ist
aber selbstverständlich auch hier der Nachweis möglich, dass der
bisherigen Judikatur zu einer bestimmten Frage aktuell überwie-
gende Gründe entgegenstehen, die sich aus deutlichen Veränderun-
gen im normativen Konkretisierungsmaterial oder in den normbe-
troffenen und daher rechtlich relevanten Tatsachen ergeben. Das
bestätigen zahlreiche wohlbegründete Judikaturänderungen auch
in diesem Bereich.
Beispiele: Abkehr von der generellen Einordnung von Prostitutionsver­
trägen als sittenwidrig und daher unwirksam; Erstreckung des Schmer­
zengeldes auch auf empfindungsunfähig gewordene Verletzte.
Die herausgearbeiteten Kriterien zur Anwendung von „Richter-
recht“ sind aber ohne weiteres auch im Bereich tatbestandlich präzi-
serer Regelungen anwendbar. Das zeigt sich sowohl an der Aufgabe
bisheriger Judikaturpositionen als auch an ihrer Aufrechterhaltung
144
Praktische Konsequenzen

mangels von der Rechtsprechung als durchschlagend beurteilter


Gegenargumente.
Beispiele für Rechtsprechungsänderungen: Preisgabe der über lange
Zeit vertretenen Ansicht, dass rechtsgeschäftlich durch bloße reale Über­
gabe „außerbücherliches Eigentum“ erworben werden könne; Korrektur
der alten Judikatur über die Wirkungen der Verarbeitung einer unter
Eigentumsvorbehalt gelieferten Sache; Aufgabe der Auffassung, dass die
(kurze dreijährige) Verjährung einer Schadenersatzforderung gemäß
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§  1489 Satz 1 ABGB bereits vor Entstehung jedes Schadens beginnen


und daher auch enden könne (für die lange dreißigjährige Frist hat der
OGH hingegen seine Ansicht vom Verjährungsbeginn bereits mit der
Vornahme der schädigenden Handlung auch bei viel späterem Scha­
denseintritt im Jahre 2020 gegen die überwiegende Ansicht der Rechts­
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wissenschaft bestätigt, dazu noch S 146); die schließlich doch akzeptierte


Erstreckung der „petitorischen Klage des Mieters gegen Dritte“ auch auf
Unterlassungsansprüche; und die Anerkennung der Lohnfortzahlung
des Arbeitgebers im Krankheitsfall als Fall der Drittschadensliquidation.
Soweit sich diese Rechtsprechungsänderungen ausdrücklich auf die
hier vertretene Lehre berufen haben, beweisen sie zugleich auch
die Haltlosigkeit der Behauptung einer „antidynamische Tendenz“
dieser Lehre.
Noch viel häufiger hat sorgfältige und umfassende Überprüfung
einer Judikatur aber (zumindest) ihre Vertretbarkeit auch im gegen-
wärtigen Kontext ergeben und damit zu ihrer Aufrechterhaltung
geführt.
Beispiele für die Beibehaltung von Rechtsprechungssätzen: Das
Erfordernis gerichtlicher (nicht bloß rechtsgeschäftlicher) Anfechtung
eines Vertrages wegen Willensmangels; die absolute Wirkung des ver­
einbarten Abtretungsausschlusses, etwas ungenau auch als „Zessions­
verbot“ bezeichnet (der im Jahre 2005 neu geschaffene §  1396a ABGB
verstärkt seither diese Position, da er gerade zwecks Durchbrechung der
absoluten Wirkung für einen wichtigen Teilbereich eingeführt wurde);
ferner die Belassung der Haftung gerichtlicher Sachverständiger im all­
gemeinen Schadenersatzrecht entgegen mancher Behauptungen über die
Anwendbarkeit der Amtshaftung.

145
Die Bedeutung von „Richterrecht“ und seine Anwendung

Die (beibehaltene) Ansicht des OGH zum Beginn der langen Verjäh­
rungsfrist im Schadenersatzrecht wurde bereits angesprochen. Hier soll
an einem konkreten Beispiel gezeigt werden, warum sie nicht überzeugt:
Ein Notar macht bei der Errichtung eines Testaments im Jahre 1990
Fehler, die zunächst nicht erkannt werden, aber zur Unwirksamkeit der
letztwilligen Verfügung führen. Als der Testator im Jahr 2022 stirbt, geht
die als Erbin eingesetzte Person leer aus. Nach der Judikatur kann der
Notar dem Schadenersatzbegehren des (unwirksam) eingesetzten Erben
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Verjährung entgegenhalten, obwohl dessen Schaden (kein Anspruch


auf den Nachlass) erst im Zeitpunkt des Todes des Erblassers eingetreten
ist und auch keine Beweisprobleme bestehen. Nach der Grundregel des
§  1478 ABGB beginnt die Verjährung jedoch nicht, bevor das betreffende
Recht ausgeübt werden kann. Einen Schadenersatzanspruch kann man
nun aber erst nach Eintritt eines Schadens geltend machen.
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VI. Einige Einzelheiten


1. Nur einige besonders wichtige Einzelheiten der Anwendung von
Richterrecht sollen noch erwähnt werden. Die Richterrechtsregeln
werden in der Vorjudikatur regelmäßig keineswegs in gesetzesähn-
lichen Normformulierungen ausgesprochen, sondern im Zuge der
Begründung der Einzelfallentscheidung oft in deskriptiven
Sätzen; etwa über die gebotene Auslegung einer Vorschrift, über
deren Zweck usw. Ihr normativer Charakter und ihre genauere Be-
deutung sind häufig erst vor dem Hintergrund der Tatsachenlage
und der rechtlichen Argumentation der Prozessparteien im konkre-
ten Rechtsstreit herauszufiltern. Dieses Verfahren muss hier weit-
hin die historische und die systematische Auslegung von Gesetzen
substituieren. Freilich kann auch die Ermittlung der historischen
Entwicklung der Rechtsprechung wichtige Hinweise geben. Ana-
loge Anwendung eines zunächst eng gefassten Richterrechtssatzes
(was wegen der Einzelfallbezogenheit der Aussagen die Regel ist)
auf ähnliche Sachverhalte, die keine rechtlich als relevant erkenn-
baren Unterschiede aufweisen, ist häufig nötig („Argumentieren
von Fall zu Fall“).
Beispiel: Die vertraglichen Schutz- und Sorgfaltspflichten werden auf er­
kennbar vertrags(leistungs)nahe Dritte wie zB mitwohnende Familien­
angehörige erstreckt.
146
Einige Einzelheiten

2. Nach dem Beispiel von Rechtsordnungen des case law sind un-
ter den normativen Sätzen in der Vorjudikatur zwei Gruppen zu
unterscheiden: die „ratio decidendi“ und das „obiter dictum“.
Zur ersten Gruppe gehören jene gerichtlichen Aussagen, die für
die Begründung des Entscheidungsergebnisses notwendig waren,
zur zweiten diejenigen, die darüber hinaus gemacht wurden; ins-
besondere im Rahmen vergleichender Erwägungen, im Vorgriff
auf mögliche künftige Fälle, zur weiteren Erläuterung des Ergeb-
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nisses oder aus rechtswissenschaftlichen Gründen systematischer


Geschlossenheit. Doppel-, Alternativ- und Eventualbegründungen
bilden allerdings eine Grenzzone. Bloße obiter dicta werden in der
Regel als weniger bedeutsam angesehen; vor allem deshalb, weil
ihnen möglicherweise nicht die gleiche Sorgfalt gewidmet wurde
wie den wirklich entscheidungstragenden Gründen. Daher sind sie
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unbeachtlich, wenn sie im Gegensatz zu rationes decidendi anderer


Vorentscheidungen stehen.
Sonstige Judikaturwidersprüche sind durch den Vorrang der
eindeutig überwiegenden Rechtsprechung, insbesondere zulasten
einzelner „Ausreißerentscheidungen“, sodann zugunsten der späte-
ren und wohl auch der spezielleren Judikaturregeln („lex“ posterior
bzw specialis) zu lösen. Manchmal ist es möglich, widersprüchliche
Fallnormen durch ihre Zurückführung auf die jeweils tatsächlich
betroffenen Sachverhalte und damit durch eine engere Fassung
zu harmonisieren. Unbehebbar widersprüchliche Judikaturlinien
schließen naturgemäß eine Bindungskraft der Präjudizien aus. Im
nächsten Rechtsstreit, den in Österreich in letzter Instanz ein auf
11 Richter verstärkter Senat des OGH entscheiden müsste (§  8
OGHG), muss ja (zumindest) eine dieser Linien abgelehnt werden.
Fraglich erscheint, ob den obiter dicta über ihren Nachrang
hinaus jede Bedeutung als Richterrecht abzusprechen ist. Das Prob-
lem liegt darin, dass hier die „Doppelbegründung“ für beschränkte
Bindungskraft als solche nicht greift: Das bloße Dictum hat ja noch
nicht dazu geführt, dass bestimmte Menschen ihm entsprechend
behandelt wurden, bietet also noch keinen unmittelbaren Ansatz
für das Gleichmaßargument. Andererseits kann die deutlich, wenn
auch nicht entscheidungswesentlich verkündete Rechtsmeinung
des Höchstgerichts große – vielfach ganz bewusst angestrebte –
Publizität erreichen und daher mit Blick auf die Rechtssicherheit

147
Die Bedeutung von „Richterrecht“ und seine Anwendung

ausgesprochen bedeutsam sein. Dazu kommt, dass es nach einiger


Zeit aus eben diesem Grund wahrscheinlich ist, dass Untergerichte
bereits im Sinne des Dictums unpublizierte und daher nicht gut auf-
findbare Entscheidungen gefällt haben bzw dass Rechtsberater das
Verhalten der Beratenen im Sinne des Dictums unter Hinweis auf
entsprechende Prozessaussichten beeinflusst haben. Dadurch sind
sehr wohl Menschen real im Sinne des obiter Gesagten behandelt
worden. Daher sollte man, wenn richterrechtlich bisher nur ein obi-
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ter dictum vorliegt, auch einem solchen Ausspruch des Gerichts un-
ter den bereits erörterten Voraussetzungen subsidiäre Bindungs-
kraft zusprechen.

3. Umstritten ist schließlich, ob bei Fehlen höchstgerichtlicher


Vorjudikatur die Rechtsprechung anderer (untergeordneter) Ge-
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richte eine subsidiäre Bindungswirkung entfalten kann. Entspre-


chend den Anforderungen von Gleichmaß und Rechtssicherheit ist
dies unter der Voraussetzung, dass diese Entscheidungen allgemein
zugänglich, also publiziert sind, wohl zu bejahen, ohne dass damit
die besondere Funktion des Höchstgerichts geschmälert würde.
Auch das oberste Gericht ist ja an die maßgebenden fundamentalen
Rechtsgrundsätze gebunden. Ist es allerdings davon überzeugt, im
aktuellen Kontext eine stärkere Begründung für eine gegenteilige
Lösung bieten zu können, so besteht, wie allgemein beim Richter-
recht, ohnehin keine Bindung.
Bei Widersprüchen in der Rechtsprechung des Höchstge-
richts gegenüber Gerichten unterer Instanzen geht naturge-
mäß die erstere vor, auch wenn beide nach dem vorrangigen Recht
gleichermaßen vertretbar sind. Anders ist das mögliche Maß an
Gleichbehandlung und Rechtssicherheit nicht zu erreichen. Dazu
kommt der Zweckmäßigkeitsgrund, dass sich im Instanzenzug auf
Dauer die oberste Instanz durchsetzen muss, soweit nicht prozessu-
ale Beschränkungen für die Anrufung des Höchstgerichts bestehen.
Aus materiellrechtlicher Sicht stellen solche Rechtsmittelschranken
allerdings eine irrelevante Zufälligkeit dar.

148
Rechtsprechungsänderung als isoliertes Problem?

VII. Rechtsprechungsänderung als isoliertes Problem?


Die „Verlegenheit“ weiter Teile der juristischen Methodenlehre ge-
genüber dem Richterrecht zeigt sich besonders deutlich darin, dass
heute in einer breiten Diskussion in Kontinentaleuropa versucht
wird, ohne Stellungnahme zur grundsätzlichen Frage der Bindungs-
kraft von Richterrecht die Änderung der Rechtsprechung als isolier-
tes Problem zu behandeln. Ein solcher Zugang ist aber aus methodi-
schen Gründen geradezu ausgeschlossen, da nur die (grundsätzlich
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möglichen) vollständigen Positionen zur Bindungsfrage eine syste-


matisch kohärente Stellungnahme zum Judikaturwandel gestatten.
Bedeutet die Vorjudikatur rechtlich „nichts“, muss das auch für
ihre Änderung gelten, diese also als solche schrankenlos zulässig
sein. Ist die Judikatur hingegen die eigentliche, selbstverständlich
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bindende Rechtsquelle, müsste die Konsequenz die Unveränder-


lichkeit sein; zumindest aber – wenn man sich mit nur beschränkter
Konsequenz begnügt – die Beschränkung der Änderungsmöglich-
keit auf wenige und gut umschreibbare Ausnahmesituationen. Hat
die Vorjudikatur beschränkte Bindungskraft, so müssen selbstver-
ständlich genau deren Grenzen für die Zulässigkeit bzw Geboten-
heit von Rechtsprechungsänderungen maßgebend sein.
Mit konsequentem und daher systematischem Rechtsdenken ist
es unvereinbar, wenn das Problem der Rechtsprechungsänderung
isoliert gesehen und daher zu ihr von selbst gewählten Standpunk-
ten aus argumentiert wird. Plakatives Beispiel dafür ist die (durchaus
intensiv geführte) Diskussion um die möglichen Konsequenzen von
Judikaturänderungen, wobei bereits die nicht selten befürworteten
„Zeitzündertheorien“ (seriöser: Thesen zum Rückwirkungs-
verbot) zahlreiche unterschiedliche Varianten aufweisen. Auch
wenn nicht zu leugnen ist, dass immer wieder gewichtige materiell-
rechtliche Rechtsprobleme vorliegen, kann dem nicht mit frei kons-
truierten „Rückwirkungsverboten“ begegnet werden. Manchmal ist
freilich eine durchwegs befriedigende Lösung überhaupt nicht mög-
lich, sodass es nur um die Wahl des geringsten Übels gehen kann.
Beispiele: Zwei besonders zugespitzte Konstellationen aus der österrei­
chischen Rechtsprechung mögen zur Veranschaulichung dienen.

149
Die Bedeutung von „Richterrecht“ und seine Anwendung

1. Die Garantie als Sicherungsmittel ist im österreichischen Recht gesetz­


lich nicht im Einzelnen geregelt. Es fehlt daher auch an einer warnen­
den Formvorschrift, während für die Bürgschaft Schriftform notwendig
ist (§  1346 Abs 2 ABGB). Die Judikatur hat lange Zeit auch formfreie
Garantieerklärungen für wirksam gehalten. Unter dem Einfluss massi­
ver wissenschaftlicher Kritik hat sie aber schließlich akzeptiert, dass die
Schutzzwecke der Bürgschaftsform voll und sogar verstärkt auch bei der
sicherungsweisen Garantie zutreffen, die wegen ihrer Abstraktheit ten­
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denziell sogar gefährlicher ist als die streng akzessorische Bürgschaft. Der
OGH hat daher in Analogie (§  7 ABGB) zur Bürgschaftsform die bloß
mündliche Garantie für unwirksam erklärt. Danach hat er, wie eben­
falls schon erwähnt, das bürgschaftsrechtliche Formgebot konsequenter­
weise auch auf den Sicherungs-Schuldbeitritt erstreckt. (Beide Schritte
hat der deutsche BGH bis heute nicht gesetzt.)
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2. Im Jahre 2015 ist der OGH im Anschluss an entsprechende Lehr­


meinungen von seiner bisherigen Rechtsprechung abgewichen, in dem
er Rückforderungsansprüche eines Mieters aufgrund einer Mietzinsmin­
derung nicht mehr der allgemeinen 30-jährigen Verjährungsfrist unter­
wirft, sondern solche Forderungsrechte über eine Analogie zu Spezial­
regelungen schon innerhalb von drei Jahren verjähren lässt. (Gewisses
Erstaunen hervorgerufen hat dabei der Umstand, dass der OGH neben
§  27 Abs 3 MRG auch eine Norm des Kleingartengesetzes als Analogie­
basis heranzieht.)
Die beiden Beispiele sind für die hier vertretene Position, die ein
Rückwirkungsverbot ablehnt, besonders heikel. Denn sie werfen,
zum Unterschied von manchen anderen Fällen, unzweifelhaft ech-
te Vertrauensschutzprobleme auf: Wer sich auf die bisherige
Rechtsprechung verlassen hat, steht unversehens ohne wirksame
Sicherheit da oder verliert überraschend schnell die volle Durch-
setzbarkeit seiner Forderung infolge Verjährung (und damit auch
den zu spät eingeleiteten Prozess).
Unter diesem Vertrauensschutzaspekt und damit zugleich unter
dem Rechtssicherheitsaspekt ist seit einigen Jahrzehnten nach
dem Vorbild der USA, wo allerdings die Auffassungen je nach Ein-
zelstaat und zu verschiedenen Zeiten sehr umstritten waren bzw
sind, insbesondere in Deutschland, in der Schweiz und zuletzt auch
in Österreich eine umfassende Diskussion darüber entstanden,
ob, wie und inwieweit das Vertrauen betroffener Rechtssubjekte
150
Rechtsprechungsänderung als isoliertes Problem?

auf eine bestehende Judikaturregel, die durch Interpretation oder


Rechtsfortbildung begründet wurde, geschützt werden kann und
soll. (Extreme Positionen postulieren sogar, dass im Recht der Form
und der Verjährung aus den genannten Gründen Analogien unzu-
lässig seien. Das ist in dieser Absolutheit selbstverständlich abzuleh-
nen, da §  7 ABGB auch für diese Normenbereiche gilt.)
Bis vor wenigen Jahrzehnten hat im kodifizierten Rechtssystem
Kontinentaleuropas kein Zweifel daran bestanden, dass Gerichte
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rechtlich so richtig wie möglich entscheiden sollen. Das bedeu­


tet vor allem, dass sie ihre bisherige Auffassung aufgeben und ab-
weichend urteilen müssen, wenn rechtliche Nachprüfung ergibt,
dass ihre bisherige Rechtsmeinung auf einem Fehler bei der Inter-
pretation oder Rechtsfortbildung beruhte oder doch durch die Aus-
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wirkungen einer wesentlichen tatsächlichen Änderung der Verhält-


nisse oder einer methodisch relevanten Änderung im rechtlichen
Kontext unrichtig geworden ist.
Genau dies wird in der neueren Diskussion nun von manchen
angegriffen. Gefordert wird ein „Rückwirkungsverbot“. In der strik-
testen und konsequentesten Variante verlangen die einschlägigen
Theorien, dass die Judikatur, wenn sie die Notwendigkeit einer Än-
derung ihrer Rechtsmeinung erkennt, ihre neue Überzeugung von
der Rechtslage zunächst bloß in ihren Urteilen ankündigt, tatsächlich
aber die anhängigen Fälle noch nach ihrer alten Rechtsmeinung
entscheidet; also nach ihrer eigenen jetzigen Überzeugung bewusst
falsch! Erst die neuen Fälle, deren Sachverhalte sich bereits nach
der angekündigten (und publizierten) Rechtsprechungsänderung
verwirklicht haben, sollen dann auch tatsächlich nach der neuen
Rechtsmeinung beurteilt werden. Man nennt dies, heutzutage wie
so oft mit einem angloamerikanischen Begriff, „prospective over-
ruling“. Beispiele dafür finden sich etwa in der Rechtsprechung
deutscher Höchstgerichte, wo man auch die lapidare Aussage lesen
kann, dass Aspekte, die der Gewährung von Vertrauensschutz ent-
gegenstünden, nicht ersichtlich sind.
Der Unterschied zum – übrigens durchaus begründungs- und
konkretisierungsbedürftigen – Rückwirkungsverbot bei Geset-
zen, auf das sich die einschlägigen Theorien bei der Rechtspre-
chungsänderung gerne berufen, wird schon durch die bisherigen
Bemerkungen deutlich: Er liegt in der Hauptfunktion der Gerichte,
151
Die Bedeutung von „Richterrecht“ und seine Anwendung

die Streitfälle gemäß dem Rechtssystem zu entscheiden. Der Ge-


setzgeber hat einen viel weiteren Gestaltungs- und Ermessensspiel-
raum und entscheidet jedenfalls, auch wenn er rückwirkend regelt,
nicht bewusst falsch. Überdies urteilt die Rechtsprechung in einem
bestimmten Sinn ohnehin immer und notwendig „rückwirkend“,
nämlich über zeitlich vorausgehende Sachverhalte. Der Vergleich
mit dem Verbot rückwirkender Gesetze ist daher oberflächlich und
als Argument ungeeignet.
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Darüber hinaus steht der konsequenten Theorie des Rückwir-


kungsverbots, wie sie eben skizziert wurde, zumindest ein wohl
durchschlagendes faktisches Argument entgegen. Sie muss prak-
tisch zu einer fast vollständigen Unangreifbarkeit und damit Erstar-
rung einer eingeführten Rechtsprechungsregel führen, und sei sie
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noch so falsch: Bei Annahme eines konsequenten Rückwirkungs-


verbots in dem beschriebenen Sinn könnte jeder, der sich in seinem
Prozess gegen die bestehende Rechtsprechung wendet, günstigsten-
falls damit rechnen, dass ihm die Judikatur theoretisch im Ergeb-
nis zustimmt, praktisch aber in Anwendung ihrer bereits als falsch
erkannten früheren Meinung doch seinen Prozessgegner mit allen
Kostenfolgen obsiegen lässt. Das muss jedermann von der Bekämp-
fung einer einmal etablierten Rechtsprechung abschrecken, da da-
mit ja bestenfalls künftigen Prozessparteien geholfen, ein eigener
Vorteil aber von vornherein ausgeschlossen wäre. Ohne den Ver-
such, die bisherige Judikatur mit Hilfe guter (und uU neuer) Argu-
mente „umzudrehen“, kann es aber von vornherein nicht zu einer
Überprüfung der bestehenden Rechtsprechung kommen. Solche
Versuche trotz inhaltlichen Erfolgs (das Gericht ändert seine Mei-
nung) in concreto unbelohnt zu lassen (der erfolgreich die Judika-
turänderung Betreibende verliert den Prozess trotzdem!), ist unter
keinem rechtlich vertretbaren Aspekt wünschenswert.
Daher wird das Rückwirkungsverbot von manchen zumin-
dest dahin abgeschwächt, dass im „Anlassfall“, in dem ein Pro-
zessbeteiligter erstmals die Änderung die Rechtsprechung erwirkt,
doch nach der nunmehr als richtig erkannten Rechtslage zu seinen
Gunsten entschieden wird. In allen anderen älteren Fällen, die zum
Zeitpunkt der höchstgerichtlichen Rechtsprechungsänderung noch
bei Gericht anhängig sind, soll dagegen wie bisher, also nach dem
neuen Erkenntnisstand unrichtig, geurteilt werden. Von manchen

152
Rechtsprechungsänderung als isoliertes Problem?

wird als Variante empfohlen, die neue Rechtsmeinung zwar in al-


len bei der Rechtsprechungsänderung schon anhängigen Verfahren
wirken zu lassen, nicht hingegen in erst später bei Gericht landen-
den „Altfällen“ heranzuziehen. Diesen Modifikationen, die immer-
hin den Anreiz zur Bekämpfung einer verfehlten oder zweifelhaften
Judikatur aufrechterhalten, steht aber die Gerechtigkeits- und
Gleichheitswidrigkeit der vorgeschlagenen Lösung deutlich ent-
gegen: Wie rasch einer von mehreren gleichgelagerten Fällen zum
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Höchstgericht oder überhaupt vor Gericht gebracht wird, hängt von


vielen Zufällen ab, aber keineswegs von materiell unterschiedlicher
Schutzwürdigkeit der beteiligten Interessen. Eine Verschiedenbe-
handlung der jeweils Beteiligten aufgrund bloßer Zufälle und daher
ohne sachliche Begründung ist aber willkürlich und gleichheits­
widrig.
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Eine verfeinerte Strömung der Rückwirkungsverbotstheorie


sieht all diese Probleme sehr wohl und will daher auf Einheitslö-
sungen verzichten: Dem zur Änderung seiner Rechtsmeinung ent-
schlossenen Gericht selbst sei die Aufgabe übertragen, ad hoc eine
Übergangsregel aufzustellen, also von sich aus festzusetzen, ob
und wie weit ein „Rückwirkungsverbot“ im Einzelfall gelten soll.
Die Richtlinien, die dafür in der Literatur erarbeitet wurden, sind
aber notwendigerweise so vage, dass eine einigermaßen verlässliche
Prognose dieser gerichtlichen Festsetzung für den konkreten Fall
nicht möglich ist. Das wird von manchen Vertretern dieser Theorie-
variante sogar ausdrücklich zugegeben. Erst recht gilt dies natürlich,
wenn ohne weitere Vorgaben einfach auf das gerichtliche Ermes-
sen abgestellt werden sollte. Von Rechtssicherheit kann dann kei-
ne Rede sein. Ob und wie weit das Vertrauen eines Beteiligten auf
die bisherige Rechtsprechung geschützt werden wird, bleibt also in
Wahrheit a priori gänzlich offen. Schon dies schließt aus praktischer
Sicht die Bekämpfung einer einmal eingewurzelten Rechtsprechung
wegen des unkalkulierbaren Risikos nahezu aus und steht darüber
hinaus mit den Grundlagen aller Rückwirkungsverbotstheorien,
den Prinzipien der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes, in
vollkommenem Widerspruch: Man dürfte dann eben doch nicht auf
die bestehende Rechtsprechung vertrauen; alles bliebe unsicher.
Bei so unzureichenden Grundlagen der Theorien darf es nicht
verwundern, dass in ihrem Rahmen auch nahezu alle Folgefragen

153
Die Bedeutung von „Richterrecht“ und seine Anwendung

stark umstritten sind. Genannt sei hier nur die wichtigste: Genügt
die abstrakte Möglichkeit des Vertrauens auf die Rechtsprechung
oder muss, was die praktische Bedeutung eines Rückwirkungsver-
bots stark reduzieren würde, ein solches Vertrauen im Einzelfall tat-
sächlich vorliegen, was konkrete Kenntnis des wesentlichen Inhalts
der bisherigen Judikatur voraussetzt (die dann womöglich unter
Beweis gestellt werden müsste)?
Nach dieser Andeutung interner Streitfragen der Rückwirkungs-
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verbotstheorien sind aber erst die grundlegenden Einwände


zu erheben, die sich gegen alle Varianten dieser Lehren rich-
ten. Hier ist erstens die – schon erwähnte – Hauptfunktion der
Gerichte zu nennen, die ihnen vorliegende einzelne Streitigkeit
rechtlich so wohlbegründet wie möglich zu entscheiden. Da­
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mit ist unvereinbar, dass nach Erkenntnis der Unrichtigkeit der bis-
herigen Rechtsmeinung praktisch in irgendeinem Umfang an ihr
doch festgehalten werden sollte oder gar müsste. Der gelegentliche
Einwand, das Vertrauensprinzip gehöre ja auch zur Rechtsordnung,
zieht nicht. Dieses kann nicht rechtfertigen, dass das Vertrauen des
einen Beteiligten auf die bisherige Rechtsprechung zulasten gerade
des anderen privaten Beteiligten geschützt wird, der für diese Recht-
sprechung und damit für das Vertrauen des ersten in keiner Weise
verantwortlich ist. Das Vertrauen ist von der bisherigen Rechtspre-
chung veranlasst worden, nicht vom anderen Beteiligten. Es ist die-
sem in keiner Weise zurechenbar und geht ihn daher nichts an.
Zweitens verstoßen alle Rückwirkungsverbotstheorien, wenn
auch in unterschiedlichem Umfang, gegen den Vorrang des me-
thodisch korrekt ausgelegten oder allenfalls fortgebildeten Geset-
zes. Erkennt das Gericht nunmehr eine neue Lösung der Rechts-
frage als die besser begründete und damit in diesem Sinn als die
rechtlich richtige, so hat es dieser Einsicht daher sofort und ohne
zeitliche Verzögerung zu folgen, weil es andernfalls den Vorrang des
Gesetzes vor seiner eigenen bisherigen Rechtsmeinung verletzt.
Der dritte Einwand gegen alle Rückwirkungsverbotstheorien
betrifft den bereits angesprochenen Vertrauensaspekt: Es ist nicht
einzusehen, warum zwar das Vertrauen eines Streitbeteiligten auf
die bisherige Rechtsprechung beachtet und geschützt werden soll,
nicht aber das Vertrauen des anderen Teils auf die – wie sich

154
Rechtsprechungsänderung als isoliertes Problem?

nunmehr zeigt – richtige Rechtslage. In diesem Vertrauen – und


mit einigem Risiko – hat sich dieser andere Teil in den Prozess ein-
gelassen. Häufig hat er sich auch in seinem vorausgehenden materi-
ellrechtlich relevanten Verhalten schon von dieser Rechtslage leiten
lassen; vielleicht mit dem unbewussten Risiko der entgegenstehen-
den damaligen Rechtsprechung. Sein Vertrauen war dann also viel-
leicht riskant, hatte aber doch das richtige Objekt. Ein bloß „ein-
äugiger“ Vertrauensschutz lediglich auf die Rechtsprechung, nicht
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aber auf die wirkliche Rechtslage, ist unvertretbar.


Die letzten Überlegungen zur Relevanz bzw Irrelevanz einer
etwaigen Vertrauensenttäuschung sollen nun noch am bereits be-
kannten Beispiel eines Schuldbeitritts per E-Mail veranschaulicht
werden. Dabei wird rasch zu sehen sein, dass die Schutzwürdig-
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keit desjenigen, für den die Fortführung der bisherigen Judikatur


günstig wäre, regelmäßig ohnehin stark zu relativieren ist. Zwei
Stadien möglichen Vertrauens sind zu unterscheiden und zu
berücksichtigen. Das erste ist jener Zeitpunkt, in dem sich jemand
entscheidet, eine bestimmte Handlung vorzunehmen, also etwa ei-
nem per E-Mail erklärten Schuldbeitritt zu einer Kreditschuld zu-
zustimmen (und daraufhin etwa den Kredit zu verlängern oder zu
erhöhen). Tut das diese Person ohne weiteres Nachdenken über
rechtlich Erforderliches, hat sie von vornherein nicht auf eine be-
stimmte, bisher vertretene Judikaturlinie (Schuldbeitritt formfrei
wirksam) vertraut. Ihre Schutzwürdigkeit ist aber auch dann nicht
besonders groß, wenn sie sich vorweg näher mit der Formfrage be-
schäftigt hat. Da Judikaturänderungen kaum einmal vollkommen
überraschend vom Himmel fallen, hätte sie dann ja mitbekom-
men, dass der Schuldbeitritt ausgesprochen bürgschaftsähnlich ist
und dass in der Rechtswissenschaft bereits öfters mit gut nachvoll-
ziehbaren Argumenten eine Analogie zum bürgschaftsrechtlichen
Schriftformgebot (mit Unterschrift) vertreten wurde. Dann hätte sie
mit der Möglichkeit einer Änderung der Rechtsprechung zumindest
rechnen müssen; zugleich muss sie sich den Vorwurf gefallen gelas-
sen, nicht auf dem jedenfalls sicheren Weg einer unterschriebenen
Schuldbeitrittserklärung bestanden zu haben. Ähnliches gilt für das
zweite Stadium, in dem es um die Entscheidung geht, sich auf einen
Prozess einzulassen. In dieser Phase ist es noch viel wahrscheinli-
cher, dass die Rechtslage einigermaßen umfassend reflektiert wird.

155
Die Bedeutung von „Richterrecht“ und seine Anwendung

Damit stehen den Beteiligten die möglichen Risiken in Bezug auf


die nunmehrige Beurteilung der Rechtslage durch das Gericht aber
regelmäßig hinreichend klar vor Augen.
Das Ergebnis ist nach alldem zunächst ausschließlich negativ:
Alle Varianten der Rückwirkungsverbotstheorien sind abzu-
lehnen. Der „alten“ (manche würden vielleicht sagen: „altmodi-
schen“) Auffassung, dass Gerichte rechtlich so wohlbegründet wie
möglich zu entscheiden haben, ist weiterhin zu folgen, auch wenn
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dies bei einem der Streitteile zur Enttäuschung seines Vertrauens


auf Entscheidungskontinuität führt. Diese Position wird erfreuli-
cherweise auch vom österreichischen OGH ausdrücklich vertreten.
Damit wird freilich keineswegs geleugnet, dass sich in der Situa-
tion der Rechtsprechungsänderung Vertrauensschutzprobleme stel-
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len können, wie schon die beiden Einleitungsbeispiele andeuten.


Daher ist zu betonen, dass die sonst wenig glückliche Diskussion zum
Rückwirkungsverbot immerhin ein Problembewusstsein geschaffen
hat, das zu einer wichtigen Erkenntnis beiträgt: In manchen Fällen
kann ganz oder teilweise auf materiellrechtlicher Ebene, also ohne
gewaltsame oder unvorhersehbare Rückwirkungsverbote, Abhilfe
geschaffen werden. Die entsprechenden materiellrechtlichen Insti-
tute und Regeln sind dabei freilich nach Inhalt und Zweck ernst zu
nehmen; Einseitigkeiten sind wie auch sonst zu vermeiden. Zu nen-
nen sind etwa die Verneinung von Verschulden bei Orientierung
eines Schädigers an der bisherigen Rechtsprechung und, mit aller
Vorsicht, Rechtsmissbrauch.
Beispiel (für Rechtsmissbrauch): Jemand gibt seine Garantieerklärung
bloß per E-Mail, also nicht schriftlich im Sinne des §  886 ABGB, ab und
hat dabei bereits den Vorsatz, sich gegen eine künftige Inanspruchnahme
mit der Berufung auf Formmangelhaftigkeit zu wehren. Zum Zeitpunkt
der Garantieübernahme hat die Judikatur Formfreiheit noch bejaht, im
rechtswissenschaftlichen Schrifttum wurde aber bereits heftig dagegen
argumentiert, weshalb sich der Garant für einen möglichen künftigen
gerichtlichen Streit über die Wirksamkeit seiner Garantie eine Judika­
turänderung erhoffte.
Bejaht man in diesem Fall Rechtsmissbrauch, dringt der Garant mit sei­
nem Einwand der Formmangelhaftigkeit auch dann nicht durch, wenn
das Gericht nunmehr zum Ergebnis gelangte, dass auch für die Garantie

156
Rechtsprechungsänderung als isoliertes Problem?

in Analogie zur Bürgschaft ein Schriftformgebot besteht. (In der Praxis


würde die Begründung in der Entscheidung allerdings möglicherweise
wie folgt lauten: Es kann dahingestellt bleiben, ob dem Schrifttum hin­
sichtlich der Schriftform zu folgen ist, da dem Garanten wegen seines
rechtsmissbräuchlichen Verhaltens die Berufung auf einen etwaigen
Formmangel versagt bleibt.)
In manchen Fällen, etwa in den Einleitungsbeispielen, ist allerdings
ein hartes Ergebnis regelmäßig nicht zu vermeiden (sofern nicht wie
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in der eben gebrachten Fallvariante ganz ausnahmsweise besondere


Umstände Rechtsmissbrauch begründen). Das ist aber das kleinere
Übel im Vergleich zu den angedeuteten Konsequenzen eines „ein-
äugigen“ Vertrauensschutzes. Wie sollte man auch eine allseits und
in jedem Fall befriedigende Lösung finden können, wenn die Prob-
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lemlage von vornherein durch eine sehr unbefriedigende Situation


außerhalb des Einflussbereichs der Streitteile gekennzeichnet ist,
nämlich durch eine (möglicherweise) als unrichtig aufzugebende
Rechtsprechung?
Zum Abschluss: Alles Gesagte gilt in vollem Umfang nur für die
gewöhnliche Entscheidungstätigkeit der Zivilgerichte, die
auf rechtsrichtiger Beurteilung eines Streitfalles zwischen gleichbe-
rechtigten Beteiligten gerichtet ist; also ganz deutlich im Privatrecht.
Die abstrakte Normenkontrolle durch Verfassungsgerichte und die
abstrakte Lösung von Auslegungsfragen durch Vorabentscheidun-
gen des EuGH haben Besonderheiten, die auch Gegenstand posi-
tivrechtlicher Regelungen sind. Diese Bereiche können hier nicht
mehr erörtert werden.

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Stichwortverzeichnis
Ähnlichkeitsschluss siehe Auslegungsmaterial
Analogie – der grammatischen Ausle-
Allgemeiner negativer Satz 84 f, gung 28
105, 131 – der historischen Ausle-
Analogie 90 ff, 97, 99 f, 150 gung 36 ff
– Gesamt- bzw Rechtsanalo- – der objektiv-teleologischen
gie 95 f Auslegung 45 f
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– Gesetzes- bzw Einzelanalo- – der systematisch-logischen


gie 94 f, 117 Auslegung 32 f
Analogieverbot 25, 82 Auslegungsmethoden,
Argumentum a maiori ad Rangverhältnis 36, 109 ff
minus 96 f „Auslegungsmonopol” des
Argumentum a minori ad EuGH 64
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maius 96 Auslegungsziel
Argumentum ad absurdum 52 ff, – objektives 35 f
132 f – subjektives 35 f
Argumentum e contrario 91 ff Begriffshof 30 ff
Auslegung Begriffskern 30 ff
– einfache historische 38 Beidseitige Rechtfertigung von
– von Einheitsrecht 68 f Rechtsfolgen 49, 79 f
– europarechtskonforme 63 ff, Bewegliches System 101 
122 Deduktion 29 ff
– gespaltene 67 f Denken in Alternativen 23, 32
– grammatische 27 ff Diskurstheorien 72 f
– Grundsatz autonomer 68 f Dual-Use-Fälle 67 f
– historische 35 ff Einheitsrecht 68 f
– historisch-teleologische 38 Europäischer Gerichtshof 64
– nach der Natur der Sache 50 ff Funktionswandel und Lex-lata-
– objektiv-teleologische 40, 43 ff Grenze 90, 117 ff
– rechtsvergleichende 59 ff Generalklauseln 22, 144
– richtlinienkonforme 63 ff, 122 – Konkretisierung 119 ff
– systematisch-logische 32 ff Gerichtsgebrauch siehe
– teleologisch-systematische 46 ff Richterrecht
– unionsrechtskonforme 63 ff, Gesetzeslücke 85, 86 ff
122 Gesetzesmaterialien, Bedeutung
– verfassungskonforme 56 ff bei der historischen Ausle-
– entsprechend vorrangigem gung 37
Recht 56 ff Gesetzespositivismus 20, 84 f
– wörtliche 27 ff Gesetzeszweck 38
Auslegungskanones 27 – Ermittlung 44 ff

159
Stichwortverzeichnis

– objektiver 43 f Methodenlehre
Gesetzgeber 40 ff – Gegenmodelle 20 ff
– Begriff 42 – der Jurisprudenz 17
– formeller 42 – Notwendigkeit 18 f
– Kollektivwille 41 f Natur der Sache
– Wille 36 – Auslegung nach der 50 ff, 106
Gewohnheitsrecht 130 ff – und Prinzipienermittlung 101,
Gleichheitsgrundsatz 46 f, 137 f 106
Gleichmaßgebot 47, 143 Natürliche Rechtsgrundsätze 99
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Größenschluss 96 f, 106 Negativer Satz siehe allgemeiner


Grundelemente des Rechts 102 negativer Satz
Grundsatz Normen, Rangfolge 56 ff
– der Gerechtigkeit 17, 22, 44, Normenwiderspruch
46 f, 59, 94, 102, 114, 137 ff – formell gleichrangiger Nor-
– der Rechtssicherheit 17, 20, 22, men 58 f
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25, 44, 59, 93 f, 102, 137 ff – nicht gleichrangiger Nor-


– der Zweckmäßigkeit 17, 22, 44, men 56 f
51, 59, 102, 137, 139 Obersatz 29
„Homo oeconomicus” 61 ff Obiter dictum 147 f
Interpretation siehe Auslegung Ökonomische Analyse des
Juristische Arbeit Rechts 61 ff
– Grundmodell 18 Paktentheorie 43
– „Urmethode“ 19 Präjudizienrecht siehe
– Ziel 18 Richterrecht
Juristische Methodenlehre Prinzipien
– Besonderheiten verschiedener – Beschaffenheit 100 ff
Rechtsgebiete 24 ff – als Optimierungsgebote 77,
– grundsätzliche Einheitlich- 101, 103
keit 24 f – als Wertungstendenzen 104
– im Kartell- und Steuerrecht 26 Prinzipienabwägung 78
– im Verfassungsrecht 21 f, 25 f, Prinzipienlücke 89, 103 ff
56 ff – Ähnlichkeitsprüfung 104, 106
Legaldefinitionen 28 – Vollständigkeitsprüfung 104
Lex-lata-Grenze 56, 90, 113 ff, Radbruchsche Formel 114
121 f Rangverhältnis der Auslegungs-
– Hinausschiebung durch methoden siehe
Funktionswandel 117 ff Auslegungsmethoden,
Lex-posterior-Regel 34, 147 Rangverhältnis
Lex-specialis-Regel 34, 147 Ratio siehe Gesetzeszweck
Lücke Ratio decidendi 147
– echte 89 Recht, Begriff 17
– teleologische 88 Rechtfertigung von Rechtsfolgen,
beidseitige 49, 79 f
160
Stichwortverzeichnis

Rechtsfindung contra legem Richtlinien der EU, Umsetzung 43,


secundum ius 114 63 ff
Rechtsfindungsmethoden, – „Generalumsetzungswille” 66,
Rangverhältnis siehe 122
Auslegungsmethoden, Sachverhalt
Rangverhältnis – Beschreibung 29
Rechtsfortbildung – Feststellung 19
– ergänzende 81 ff Schlusssatz 29
– Verhältnis zur Auslegung 81 ff Sprachgebrauch
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Rechtsgrundsätze – allgemeiner 28, 30


– allgemeine 99 ff – spezieller 28
– natürliche 99 – überwiegender 28, 32
„Rechtsidee” 22, 31, 46, 59, 101, Strafrecht, Analogieverbot 25, 82
110 f Subsumtion 28 ff
Rechtsimperialismus 59 Syllogismus 29
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Rechtslücke 84 System, bewegliches 101


Rechtsprechungsänderung und Teleologische Reduktion 97 ff
Vertrauensschutz 149 ff Telos 38
Rechtsrealismus 20 Theorienbegriff 72
Rechtssicherheit 22, 25, 53, 57, 94, Topik 72
113, 137 f Umkehrschluss 84, 91 ff
Rechtsvereinheitlichung 60 Umsetzung, „überschießende” 67
Reduktion, teleologische 97 ff UN-Kaufrecht, Auslegung 60 f, 69
Restriktion siehe Reduktion Untersatz 29
Richter als Repräsentant der Unvollständigkeit, planwidri-
Rechtsgemeinschaft 44 ge 86 f, 89
Richterliche Eigenwertung, Verhaltensökonomie 63
Zulässigkeit 23 f, 44, 83, 142 Vertrauensschutz 93 f, 149 ff
Richterrecht 123 ff Wertungswidersprüche,
– Hauptanwendungsbereich 144 f Vermeidung 47, 57, 67, 93 f
– normative Bedeutung 127 ff Wirtschaftliche Betrachtungs-
– obiter dictum 147 f weise 26
– ratio decidendi 147 Wortsinn, möglicher 82, 97, 110,
– als Rechtserkenntnisquel- 117
le 125 ff
– subsidiäre Bindungskraft 135,
136 ff

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Grundzüge der juristischen Methodenlehre, 9783825261450, 2023
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Rechtswissenschaften

Juristische Methodenlehre
Auch eine noch so genaue Kenntnis der Gesetzes-
texte reicht für die juristische Arbeit nicht aus.
Peter Bydlinski
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Die unvermeidliche Distanz zwischen konkretem


Fall einerseits und generell-abstrakten Normen
andererseits macht eine Interpretation unumgäng-
lich. Dabei bedarf es einer gelegentlich durch-
Grundzüge
aus aufwändigen methodischen Vorgangsweise.
der juristischen
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Grundzüge der juristischen Methodenlehre, 9783825261450, 2023

Darüber soll hier Auskunft gegeben werden.


Die Schwerpunkte liegen bei der Auslegung von
Rechtsnormen, bei der Arbeit mit (eventuell)
lückenhaften oder überschießenden Regelungen
sowie bei der Arbeit mit Präjudizien, also mit
Methodenlehre
Vorjudikatur zur neuerlich gestellten Rechtsfrage.
Genauer zur Sprache kommen auch die Beson­der­ 4. Auflage
heiten europarechtskonformer Rechtsfindung
einschließlich ihrer Grenzen.

Dies ist ein utb-Band aus dem Verlag facultas.


utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem
gemeinsamen Ziel: Lehr- und Lernmedien für
das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen.
Bydlinski

ISBN 978-3-8252-6145-0 QR-Code für mehr Infos und


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