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Rechtswissenschaft
Eine Einführung in das Recht
und seine Grundlagen
6. Auflage
2123
Heinrich Honsell Theo Mayer-Maly
Salzburg Salzburg
Österreich Österreich
E-Mail: heinrich@honsell.at
Springer
© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 1972, 1981, 1985, 1988, 1991, 2015
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Vorwort
1
Wolfgang Zöllner in dem Nachruf NJW 2008, 815 f.
V
VI Vorwort
aus allen drei Ländern angeführt, so dass der Leser auch eine Einführung in das
eigene Recht erhält.
In den letzten Jahrzehnten ist aus mancher Vorlesung des Jurastudiums nament-
lich in Deutschland eine mehr oder weniger bildungsarme Rechts- und Gesetzes-
kunde geworden. Auch in Österreich und der Schweiz wurde diese Tendenz durch
die Bologna-Reform begünstigt. Dem will das Buch abhelfen, indem es versucht,
dem Leser eine Anschauung vom Bildungshorizont der Jurisprudenz zu vermitteln
und ihn zu kritischer Reflexion anzuregen. Nicht zuletzt soll es der Gefahr einer dé-
formation professionelle entgegenwirken, die mit jeder Spezialisierung einhergeht.
Wichtig bleibt der „enzyklopädische Blick“ auf das Ganze der Jurisprudenz, der
dem Spezialisten leicht verloren geht.
Ich danke Frau Dr. Mayer-Maly, die mich mit dieser Neuauflage betraut und die
Mühe des Korrekturlesens auf sich genommen hat.
Ein besonderer Dank gilt Herrn Kollegen Friedrich Harrer, Universität Salzburg,
für wertvolle Mitarbeit und zahlreiche Anregungen sowie seinem Lehrstuhl, na-
mentlich Frau Theresa Pfeifenberger und Frau Sandra Entmayr-Schwarz für tat-
kräftige Unterstützung bei Herstellung und Korrektur des Manuskripts. Zu danken
habe ich schließlich dem Springer Verlag für vorbildliche verlegerische Betreuung,
namentlich Frau Dr. Brigitte Reschke, Frau Anna Dittrich, Hema Iyer und Manuela
Schwietzer.
§ 1 Rechtswissenschaft ������������������������������������������������������������������������������������ 1
I. Definitionen von Recht und Rechtswissenschaft ������������������������������������� 1
1. Recht ������������������������������������������������������������������������������������������������ 1
2. Naturrecht und Positivismus ������������������������������������������������������������ 9
3. Rechtswissenschaft �������������������������������������������������������������������������� 12
II. Die Wissenschaftlichkeit des Rechts ������������������������������������������������������ 13
VII
VIII Inhaltsverzeichnis
A Österreich (Austria)
AEUV Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (Vertrag v Lissa-
bon, 2007/2009)
ABGB (öst) Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch
Abs Absatz
AcP Archiv für die civilistische Praxis (Tübingen)
ADHGB Allgemeines Deutsches Handelsgesetzbuch
aE am Ende
aF alte Fassung
AGG Allgemeines GleichbehandlungsG v 4.8.2006 BGBl I 1897
AJP Allgemeine Juristische Praxis (St Gallen)
All ER All England Law Reports
ALR Preussisches Allgemeines Landrecht
aM anderer Meinung
AP Arbeitsrechtliche Praxis, Nachschlagewerk des (deutschen) BAG (Mün-
chen u Frankfurt/Main)
Arb Sammlung (öst) arbeitsrechtlicher Entscheidungen (Wien)
ARSP Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie (Stuttgart)
Art Artikel
AT Allgemeiner Teil
Aufl Auflage
BAGE Entscheidungen des (deutschen) Bundesarbeitsgerichts (Kassel)
BB Betriebsberater (Frankfurt/Main)
Bde Bände
BGB (deutsches) Bürgerliches Gesetzbuch
BGE Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts (Lausanne)
BGHSt Entscheidungen des (deutschen) Bundesgerichtshofes in Strafsachen
(Karlsruhe)
BGHZ Entscheidungen des (deutschen) Bundesgerichtshofes in Zivilsachen
(Karlsruhe)
BT Besonderer Teil
BVerfG (deutsches) Bundesverfassungsgericht (Karlsruhe)
XI
XII Abkürzungsverzeichnis
bzw beziehungsweise
ca circa
C Codex Iustinianus
CC französischer Code civil
CC esp Spanischer Código civil
CC it italienischer Codice civile
CH Schweiz (Confoederatio Helvetica)
CIC Corpus Iuris Civilis
D Deutschland, Digesta Iustiniani
d deutsch
ders derselbe (Autor)
dh das heißt
di das ist
E Erwägung
EG Europäische Gemeinschaft; seit dem Vertrag v Lissabon (2007/2009): EU
EGV Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (seit Maastricht,
1992)
Einl Einleitung
EMRK Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfrei-
heiten (Rom 1950)
EuGH Europäischer Gerichtshof (Luxemburg)
EUV Vertrag über die Gründung der Europäischen Union (Vertrag v Lissabon,
2007/2009)
EuZW Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht (München u Frankfurt/Main)
EWG Europäische Wirtschaftsgemeinschaft; seit dem Vertrag von Maastricht
(1992): EG
Fn Fußnote
FS Festschrift
f/ff folgende
GG (deutsches) Grundgesetz
GS Gedenkschrift, Gedächtnisschrift
GWB (deutsches) Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen
HGB Handelsgesetzbuch
hL herrschende Lehre
hM herrschende Meinung
Hrsg Herausgeber
I Institutiones Iustiniani
ieS im engeren Sinne
iwS im weiteren Sinne
JBl (österreichische) Juristische Blätter (Wien)
Jh Jahrhundert
JZ Juristenzeitung (Tübingen)
LA Liber Amicorum
Lit Literatur
LQR The Law Quarterly Review (London)
Abkürzungsverzeichnis XIII
Inhaltsverzeichnis
1. Recht
Gegenstand der Rechtswissenschaft ist das Recht (Ius). Es wird definiert als die
Gesamtheit der Normen, die das Zusammenleben der Bürger im Staate regeln und
die von staatlichen Institutionen erlassen und gegebenenfalls mit Zwang durchge-
setzt werden. Diese meistens verwendete Definition ist insofern positivistisch, als
sie allein auf das geltende Recht abstellt und die Frage nach dessen inhaltlicher
Richtigkeit und Gerechtigkeit ausblendet (unten I 2 u § 10). Die Beschränkung auf
den positivrechtlichen Aspekt1 unter Ausklammerung des ethisch richtigen Rechts
1
Statt vieler W Ernst, Gelehrtes Recht, Die Jurisprudenz aus der Sicht des Zivilrechtslehrers, in:
Engel/Schön (Hrsg), Das Proprium der Rechtswissenschaft (2007) 3 ff, 15 ff („The strictly legal
point of view“); dazu Reimann ebenda 87 ff. Für einen „moralneutralen Rechtsbegriff“ Hörster,
Was ist Recht? (2012) 79 ff. Das Ausklammern der Gerechtigkeit war quasi der Markenkern des
Positivismus, s etwa Windscheid, Rektoratsrede (1884), Gesammelte Reden und Abhandlungen
(1904) 101; „ethische, politische, oder volkswirtschaftliche Erwägungen… sind nicht Sache des
Juristen als solchem“ (s auch unten § 6 II § 7 Fn 22 u § 12 Fn 298); pointiert Kelsen, Reine Rechts-
lehre2 (1934, 1960/67), dazu unten I 2 und besonders § 4 VII, 6 II und 7 I; zu Hegel und insbes
zum Neuhegelianismus, der die Gerechtigkeit ebenfalls ausgeblendet hat s den Sammelband von
Wischke/Przylebski (Hrsg), Recht ohne Gerechtigkeit? (2010) § 11 bei Fn 118. Die meisten gängi-
gen Definitionen des Rechts beschränken sich auf dieses sog positive Recht.
© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015 1
H Honsell, T Mayer-Maly, Rechtswissenschaft, Springer-Lehrbuch,
DOI 10.1007/978-3-662-45682-8_1
2 § 1 Rechtswissenschaft
und Verzicht auf normative Kritik ist aber weder notwendig noch richtig. Vielmehr
zeigt schon die Rechtswirklichkeit mit ihren häufig kontroversen juristischen Dis-
kussionen und mit vielfältiger richterlicher Rechtsfortbildung gegenüber oft kor-
rekturbedürftigen Gesetzen, dass auch die Praxis auf normative Fragen und Ant-
worten nicht verzichten kann (unten §§ 5 V – VII u 7 II). Mehr spricht also für eine
Definition, welche die Gerechtigkeit nicht ausklammert. Neben der Gerechtigkeit
sind Geltung und Durchsetzung entscheidende Merkmale des Rechts. Das Recht
kann also definiert werden als eine im Großen und Ganzen wirksame und Richtig-
keit anstrebende Ordnung menschlichen Verhaltens, die einem ethischen Minimum
genügt2. Das schließt ein, dass man das Gesetz kritisieren und ihm im Extremfall
sogar die Gefolgschaft verweigern kann, wenn es das ethische Minimum nicht ein-
hält und damit zu krass vom Gerechtigkeitspostulat abweicht (unten 2).
Allein auf die inhaltliche Richtigkeit des Rechts stellt die vom römischen Ju-
risten Celsus überlieferte Definition ab, der das Recht als „Kunst des Guten und
Billigen“ (Gerechten) definiert hat (D 1, 1, 1, pr: ius est ars boni et aequi). Das
ist freilich eher die Beschreibung eines Ideals nach griechischem Vorbild (ähnlich
der καλοκαγαθία – Kalokagathia, dem Maßstab des Schönen und Guten) als eine
inhaltliche Exaktheit anstrebende Definition. ‚Gut und billig‘ klingt heute wie die
Werbung eines Supermarkts, ist aber der Verhaltensmaßstab eines vir bonus, eines
anständigen Menschen, der gerecht und billig handelt. Er findet sich auch in einer
alten, auf das deutsche Reichsgericht3 zurückgehenden Definition der guten Sitten
(iSd § 138 BGB, § 879 Abs 1 ABGB und Art 20 Abs 1 OR) als das, was dem „An-
standsgefühl aller billig und gerecht Denkenden“ entspricht.
Das Ideal der Gerechtigkeit wird in der von Ulpian4 überlieferten Definition wei-
ter konkretisiert:
D 1, 1, 10 pr: iustitia est constans et perpetua voluntas ius suum cuique tribuendi. iuris praecepta
sunt haec: honeste vivere, alterum non laedere, suum cuique tribuere. – Gerechtigkeit ist der be-
ständige und dauerhafte Wille, jedem das Seine zu geben. Die Gebote des Rechts sind diese: ehren-
haft leben, dem anderen nicht schaden, jedem das Seine geben.
Diese drei praecepta iuris5 sind sehr allgemein gehaltene, zum Teil eher ethische
als juristische Handlungsmaximen. Namentlich honeste vivere ist heute weniger
eine Maxime des Rechts, als der Ethik. Da das Recht, wie wir gesehen haben, nur
ein ethisches Minimum schützt, verlangt es nicht ehrenhaftes Verhalten, sondern
begnügt sich mit neutralem und nicht rechtswidrigem Handeln. Nicht alles, was
erlaubt ist, ist auch anständig: Non omne quod licet honestum est (Paul D 50, 17,
2
So zB Mayer-Maly, Rechtsphilosophie (2001) 2; Gegen ein Ausblenden der Gerechtigkeit und
des Naturrechts auch ders, FS Demelius (1973) 139 ff; s auch § 10. Der Begriff „ethisches Mini-
mum“ stammt von Jellinek, Die sozialethische Bedeutung von Recht, Unrecht und Strafe2 (1908)
45.
3
RGZ 48, 114, 124; s auch BGHZ 10, 228, 232. dazu noch unten Fn 88; wie das RG BGE 94 II 5,
16; OGH JBl 1954, 436 spricht statt von Anstands- von Rechtsgefühl
4
Nach D 50, 15, 1 stammte er aus Tyros im heutigen Libanon.
5
Dazu Honsell, Römisches Recht7 (2010) 19 ff; Höffe, Gerechtigkeit4 (2010) 49 ff.
I. Definitionen von Recht und Rechtswissenschaft 3
144 pr). Die zum Teil von griechischen Vorbildern stammenden Vorgaben sind idea-
listisch, aber relativ abstrakt. Ihr Kern ist in einem Kindervers zusammengefasst,
den man goldene Regel nennt: „Was du nicht willst, das man dir tu’, das füg’ auch
keinem anderen zu“. Diese Maxime ist seit der Antike in allen Gesellschaften, auch
im Fernen Osten anerkannt6. In der Bibel finden wir sie im apokryphen Buch Tobit7.
In einer allgemeingültigen philosophischen Fassung begegnet sie uns im katego-
rischen Imperativ von Immanuel Kant: „Handle so, dass die Maxime deines Wil-
lens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte“8.
Dass für das Zusammenleben der Bürger gegenseitige Rücksichtnahme wesentlich
ist, betont auch eine andere, ebenfalls von Kant stammende Definition des Rechts:
„Das Recht ist der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen
mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit vereinigt
werden kann“9. Der Begriff hat noch nicht die pejorative Bedeutung wie heute (zB
„Behördenwillkür“), sondern bezeichnet die Freiheit, nämlich insbesondere die
Handlungsfreiheit des Individuums, die nur durch dasselbe Recht der anderen und
durch die Rücksicht auf das Gemeinwohl (unten § 4 III), das bonum commune, be-
grenzt wird. Dass diese Bedingungen (die Gesetze) in der Realität der modernen
Staaten mit exzessiver Regulierung auf mehreren Ebenen (Europa – Staat – Land
– Gemeinde) zum Teil hypertroph geworden sind, steht auf einem anderen Blatt.
Auch die zweite Maxime, neminem laedere (niemandem schaden), ist nicht so
eindeutig, wie es zunächst scheint. Es ist der oberste Grundsatz des Deliktsrechts,
dass nur die rechtswidrige (in der Schweiz: widerrechtliche) Schädigung ersatz-
pflichtig macht. Man muss also zwischen erlaubtem und unerlaubtem Verhalten
unterscheiden. So darf man zB in Notwehr die Schädigung eines Angreifers bei
der Abwehr in Kauf nehmen (unten § 5 VII) und allgemein gilt der Satz, dass nie-
manden schädigt, wer (nur) von seinem Recht Gebrauch macht: Qui suo iure utitur
neminem laedit. So schaden Wettbewerbsmaßnahmen, die das eigene Unternehmen
fördern, gleichzeitig der Konkurrenz. Sie sind deshalb nicht per se rechtswidrig,
sondern nur, wenn es sich um sog „unlauteren Wettbewerb“ handelt10. Abstrakt und
als Bonmot zugespitzt lässt sich sagen, dass jede wirtschaftliche Tätigkeit darauf
gerichtet ist, aus fremdem Geld eigenes zu machen. Trotzdem besteht ein funda-
mentaler Unterschied zwischen einem Bankraub und der Gründung einer Bank
(entgegen der ironischen Frage von Bert Brecht, Dreigroschenoper: „Was ist ein
Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?“). Das eine ist verboten
6
S Forschner ua (Hrsg), Lexikon der Ethik7 (2008) 118; Mayer-Maly, Rechtsgeschichtliche Bi-
belkunde (2003) 26 ff.
7
4,16: Quod ab alio oderis fieri tibi, vide ne alteri tu aliquando facias – was du von anderen
fürchtest, sieh zu, dass du es nicht selbst einmal einem anderen antust. Das Neue Testament hat
nur die positive Variante „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“, Jesus nennt dies im Markus-
Evangelium (12, 29–31) das wichtigstes Gebot neben der Gottesliebe.
8
Kant, Kritik der praktischen Vernunft § 7 Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft, Akade-
mieausgabe V 30.
9
Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, Akademieausgabe XXIII 207 ff, 230.
10
S dazu die Gesetze gegen unlauteren Wettbewerb – UWG in D/A/CH, zu denen es eine uferlose
und kleinteilige Judikatur gibt; zB hat der deutsche Kommentar zum UWG von Köhler/Bornkamp
2040 Seiten.
4 § 1 Rechtswissenschaft
und strafbar, das andere rechtmäßig und erlaubt. Gleichwohl ist es bemerkenswert,
dass der ehrbare Kaufmann und der Dieb in dem Götterboten Hermes (römisch:
Merkur) ihren gemeinsamen Schutzpatron hatten: Er war der „Gott der Kaufleute
und der Diebe“.
Offen bleibt schließlich, was „jedem das Seine“ ist11. Suum cuique tribuere
betrifft die verteilende Gerechtigkeit (iustitia distributiva)12. Nach Aristoteles13
gehört sie zum öffentlichen Recht. Es soll trotz der Gleichheit vor dem Gesetz ( Iso-
nomia unten bei Fn 26) nicht an alle gleich verteilt werden, sondern nach „Wür-
digkeit“. Der Staat soll – was selbstverständlich ist – nicht jedem eine Flöte geben,
sondern nur den Flötenspielerinnen. Dabei sind nicht Schönheit oder Geburt (Adel)
maßgeblich, sondern Kunstfertigkeit im Flötenspiel14. Überträgt man dies auf die
heutige staatliche Leistungsgewährung und Daseinsvorsorge, so fällt als Negativ-
beispiel das Kindergeld für alle ins Auge, eine sinnfreie, teure und populistische
Maßnahme, die gleichzeitig verhindert, dass die wirklich Bedürftigen angemessen
unterstützt werden15. Der Staat soll nach Bedürftigkeit unterstützen, wie er umge-
kehrt den Bürgern Lasten, namentlich Steuern, nach Leistungsfähigkeit auferlegt,
was sich in dem progressiven Einkommenssteuertarif widerspiegelt, bei dem der
Steuersatz mit zunehmendem Einkommen sogar noch steigt.
Anders als im öffentlichen Recht gilt im Zivilrecht nicht die iustitia distributi-
va, sondern die iustitia correctiva16. Sie ist nicht proportional, dh es wird nicht
nach Würdigkeit verteilt, sondern unter Privaten herrscht, wenn man so will, Will-
kür. Das bedeutet wie im obigen Kant-Zitat die freie Handlung. In der deutschen
Rechtsgeschichte war Willkür ursprünglich überhaupt das Wort für den Vertrag17.
11
S auch Platon Politeia 331 ff; Cicero de officiis I 15; de legibus I 19. – Man hat diese Maxime
auch als Leerformel bezeichnet. Daran ist richtig, dass sie ungeachtet ihrer ethischen Ausrichtung
gegen Pervertierung nicht geschützt ist; so haben sie die Nationalsozialisten über das Tor des Kon-
zentrationslagers Buchenwald geschrieben.
12
Zum Folgenden Honsell, Iustitia distributiva – iustitia commutativa, FS Mayer-Maly (2002)
287 ff; Staudinger/Honsell, BGB Einl Rz 113b. Mit dem Problem der Verteilungsgerechtigkeit
befasst sich auch Rawls A Theory of Justice (1971), dt Eine Theorie der Gerechtigkeit (1975) 28 ff
(s unten § 8 Fn 31 u § 11 Fn 134).
13
Nikomachische Ethik 1130b ff, 1138a, b; ferner Platon Politeia 332. Aus der lateinischen Tradi-
tion noch Gellius Noctes Atticae XIII, 24.
14
Aristoteles Politik 3, 12.
15
Die Debatte wird durch Verknüpfung des Kindergeldes mit Freibeträgen bei der Einkommens-
steuer kompliziert.
16
Der Begriff der iustitia commutativa, der ausgleichenden Gerechtigkeit, beruht auf einem Über-
setzungsfehler des Thomas von Aquin, hat sich aber fälschlicher Weise fast allgemein durchge-
setzt. Daran knüpfte Thomas eine Lehre vom gerechten Preis (iustum pretium), die aber weder in
der Jurisprudenz noch in der Ökonomie je anerkannt wurde. Die römischen Juristen formulieren
sogar, dass es naturgemäß erlaubt sei, sich gegenseitig zu übervorteilen (naturaliter concessum est
se invicem circumscribere, s Paulus D 19, 2, 22, 3); zum Ganzen Honsell, (Fn 12) 288 f mit Fn 4;
ders, FS Gauch (2004) 101 ff.
17
„Willkür bricht Stadtrecht, Stadtrecht bricht Landrecht, Landrecht bricht gemeines Recht“ Will-
kür bedeutet die vertragliche Vereinbarung, die im Bereich des dispositiven Rechts allen anderen
Rechten vorgeht.
I. Definitionen von Recht und Rechtswissenschaft 5
Nur bei krassen Abweichungen einer vertraglichen Vereinbarung von der Mesotes,
der rechten Mitte18 zwischen einem Zuviel und einem Zuwenig19, soll der Richter
korrigierend eingreifen20.
Zu den Grundprinzipien und Kardinalpflichten des Rechts gehört schließlich
auch die Ethik des gegebenen Wortes, der Satz, dass man Vereinbarungen halten
muss (pacta sunt servanda, s auch § 13 II 2). Er ist gewissermaßen das vertrags-
rechtliche Pendant zu dem deliktischen neminem laedere und genauso wichtig wie
dieses.
Das zweite Element neben dem bonum in der von Celsus überlieferten Defini-
tion, ist die auf das griechische Vorbild der epieikeia (Aristoteles, Nikomachische
Ethik V 1137a – 1138a) zurückgehende aequitas (equity, Billigkeit). Es ist eine
Absage an das strenge Recht, den rigor iuris, an dessen Stelle humanitas und mi-
sericordia (Menschlichkeit und Mitleid) treten sollen. Nicht strenges und formales
Recht soll herrschen, sondern das Recht soll materiell gerecht, eben billig sein. Das
ist auch das große Thema der Zweiteilung und des Nebeneinanders von common
law und equity in den angelsächsischen Ländern. Wie in Rom (§ 2 I und 4 IV) wird
das starre alte Zivilrecht nicht aufgehoben, sondern durch ein flexibles modernes
Recht ergänzt, was im Ergebnis einer Aufhebung gleichkommt, weil equity und ius
gentium Vorrang haben. Die Einzelfallgerechtigkeit, die oft in Konflikt gerät mit
dem formellen Recht und dem Argument der Rechtssicherheit21, behält letztlich die
Oberhand, und der Missbrauch formaler Rechtspositionen22 ist unzulässig. Schon
in den Institutionen des Gaius (1, 53) lesen wir: male enim nostro iure uti non debe-
mus – wir dürfen unser Recht nicht in schlechter Weise ausüben. Fragen kann man
auch, ob rigorose Form- und Fristvorschriften, wie wir sie heute haben, wirklich
immer unverzichtbar sind. So sind die Fristen des Prozessrechts sehr streng, wenn
zB ein Prozess endgültig verloren ist, weil die Berufung gegen ein erstinstanzliches
Urteil nicht fristgerecht eingelegt worden ist (§ 517 dZPO: ein Monat, Art. 311
chZPO: 30 Tage; § 464 öZPO: vier Wochen23). Die Argumente pro und contra kön-
nen hier nicht diskutiert werden. Jedenfalls sollte man aber bei Fristversäumung
18
Dazu auch Bydlinski, Die Suche nach der Mitte als Daueraufgabe des Privatrechts, AcP 204
(2004) 309, 310.
19
Nik. Ethik 1106 a-b u passim; speziell für die Gerechtigkeit 1131.
20
Honsell (Fn 12).
21
Näher Honsell, Teleologische Reduktion versus Rechtsmissbrauch, FS Mayer-Maly (1996)
369 ff.
22
In der Antike prägte man dafür den paradoxen Satz Summum ius – summa iniuria das höchste
Recht ist das höchste Unrecht (Cicero De off. I 33); dazu Kant, Metaphysische Anfangsgründe
der Rechtslehre Akademieausgabe VI 234, 235; ausführlich Stroux, Summum ius, summa iniuria
(1949); s ferner Honsell, 1. FS Kaser (1976) 111, 114 f; Esser in: Summum ius, summa iniu-
ria, Ringvorlesung der Tübinger Juristenfakultät (1963) 1 ff; zur Problematik im modernen Recht
ebenda Esser 23 ff.
23
Das sind drei unterschiedliche Fristen. Die Monatsfrist ist unabhängig davon, ob der Monat 30,
31 oder nur 28/29 Tage hat (zur Berechnung s § 188 Abs 2 BGB). 30 Tage sind 30 Tage, 4 Wochen
sind 28 Tage. Eine ähnliche Variationsbreite bei an sich beliebigen zahlenmäßigen Festlegungen
finden wir bei anderen Fristen oder bei Altersgrenzen (vgl unten I 1 aE).
6 § 1 Rechtswissenschaft
mit der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand großzügiger sein. Besonders genau,
um nicht zu sagen perfide, sind deutsche Gerichtsbriefkästen (die allerdings dem-
nächst abgeschafft werden sollen). Sie haben eine Uhr und einen beweglichen Zwi-
schenboden, der sich nachts um 24h einschiebt, damit man verspätet eingegangene
Schriftsätze aussondern und als verfristet zurückweisen kann. Der Datumswechsel
um Mitternacht hat keinen astronomischen Grund, sondern entsprang dem Aber-
glauben und den Skrupeln des römischen Sakralrechts24. Im antiken Griechenland
etwa gehörte zu jedem Tag die ganze darauf folgende Nacht und der neue Tag be-
gann morgens um sechs Uhr.
Problematisch ist auch der Testamentsformalismus. So ist ein Testament un-
gültig, das vom Testator nicht eigenhändig geschrieben und unterschrieben ist25.
Weshalb lässt man zB ein maschinenschriftliches Testament nicht gelten, wenn es
unzweifelhaft vom Erblasser stammt?
Neben die aequitas tritt die aequalitas, das Gebot der Gleichbehandlung. Vor
dem Gesetz sind alle Menschen gleich, haben also gleiche Rechte und Pflichten.
Das war der Grundgedanke der Isonomia (Gleichheit vor dem Gesetz) in der grie-
chisch-römischen Antike26 und Jahrtausende später neben Freiheit und Brüderlich-
keit das Leitmotiv der französischen Revolution ( liberté, egalité, fraternité). Die
Gleichheit vor dem Gesetz ist auch im US-amerikanischen Recht seit der Declara-
tion of Independence vom 4. Juli 1776 eine zentrale Maxime27. Sie steht am Fries
des US-amerikanischen Supreme Court in Washington: equal justice under law.
Damit ist die Verpflichtung des Richters angesprochen, alle Menschen gleich zu be-
handeln. Die allegorische Figur der Justitia hat eine Balkenwaage und verbundene
Augen28. Das symbolisiert Gleichbehandlung, Unparteilichkeit und Entscheidung
ohne Ansehen der Person. Die Gleichheit ist nicht nur im Fallrecht, sondern auch
24
Paul. D 2, 12, 8 More Romano dies a media nocte incipit et sequentis noctis media parte finitur.
– Nach Sitte der Römer beginnt der Tag um Mitternacht und endet in der Mitte der darauffolgen-
den Nacht; es war ein Trick der Priester, der rituelle Gründe hatte, näher dazu Honsell Römisches
Recht 16 f.; dort auch zu Quintus Mucius Scaevola und dem am Ende des Jahres durchgeführten
trinoctium, das unwirksam war, weil die 2. Hälfte der dritten Nacht schon zum neuen Jahr gerech-
net wurde. Um nicht unter die Herrschaft des Mannes zu geraten, musste die eigenberechtigte
Frau jedes Jahr drei Nächte außer Hauses verbringen; nur so konnte sie die Ersitzung durch den
Mann verhindern. Der Fall zeigt, dass die Menschen schon vor 2000 Jahren mit Fristen schikaniert
wurden.
25
Früher waren sogar das Fehlen von Ort oder Datum ein Nichtigkeitsgrund. Das gilt heute nicht
mehr (vgl § 2247 BGB, § 578 ABGB, Art. 505, 520a ZGB). Angeblich exisitiert eine neuere
Statisitik, wonach 80 % aller privatschriftlichen Testamente entweder wegen Form- oder wegen
Inhaltsmängeln unwirksam sein sollen, <http://www.notar-hoeft.de/notar/aufgaben/erbrechttesta-
ment.html> gesehen am 20.8.2014.
26
Dazu Honsell, Naturrecht und Positivismus im Spiegel der Geschichte in FS Koppensteiner
(2001) 593 ff. Freilich hat dies nichts an der Sklaverei geändert, vgl unten bei Fn 36.
27
„We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed
by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit
of Happiness.“ An der Sklaverei hat auch das zunächst nichts geändert. Sie wurde erst nach dem
ihretwegen entbrannten Sezessionskrieg (1861–1865) abgeschafft.
28
Dazu kommt das Schwert, das das Strafrecht symbolisiert, und mit Vergeltung und Abschre-
ckung für eine gänzlich andere, Schrecken verbreitende Gerechtigkeit steht. Fiat iustitia pereat
I. Definitionen von Recht und Rechtswissenschaft 7
mundus – Es soll Gerechtigkeit geschehen, möge die Welt darüber zugrunde gehen, war der Wahl-
spruch Kaiser Ferdinand I (1503–1564).
29
Insbesondere das römische Recht hat sie nicht gekannt: Papinian D. 1, 5, 9: In multis iuris nos-
tri articulis deterior est condicio feminarum quam masculorum. – In vielen Vorschriften unseres
Rechtes ist die Stellung der Frauen schlechter als die der Männer.
30
Vgl EuGH C 236/09.
31
Dass Kosten von Schwangerschaft und Geburt nicht zu unterschiedlichen Prämien führen dür-
fen (§ 20 Abs 2 S 1 AGG) ist vertretbar. Nicht selbstverständlich ist allerdings, dass sie unter die
Krankenversicherung fallen. In der Schweiz ist das zB nicht der Fall.
8 § 1 Rechtswissenschaft
Vor allem aber ist es nicht einzusehen, weshalb nicht die Versicherer selber über ihr
Angebot und seine Kosten sollten entscheiden dürfen.
Unsinnig ist es auch, wenn eine angebliche Diskriminierung bei der Stellenaus-
schreibung (wegen Fehlens des Femininums) nach § 15 des Allgemeinen Gleich-
behandlungsgesetzes (AGG) mit drei Monatsgehältern entschädigt wird. So hat
das OLG Karlsruhe32 einer Rechtsanwältin, die sich zum Schein erfolglos auf die
ausgeschriebene Stelle eines „Geschäftsführers“ beworben hatte, 13‘000 EUR zu-
gesprochen. Drei Monatsgehälter bekommt man selbst dann, wenn man auch bei
diskriminierungsfreier Auswahl nicht angestellt worden wäre. Die Diskriminierung
muss also nicht kausal gewesen sein. Die Nichtanerkennung des generischen Mas-
kulinums und die Ablehnung nur der Ordnung dienender grammatikalischer Kon-
gruenzregeln sind albern, aber zurzeit nicht zu ändern33. Wer etwa in einem Inserat
„Mitarbeiter für unser junges Team“ sucht, hat schon zwei Diskriminierungen be-
gangen, eine wegen des Geschlechts, die andere wegen des Alters.
Auch das Diskriminierungsverbot wegen des Alters ist nicht überzeugend. Es
ist nicht einzusehen, weshalb ein Unternehmen nicht junge Berufseinsteiger oder
umgekehrt Leute mit langer Berufserfahrung sollte suchen dürfen. Das Diskrimi-
nierungsverbot wird zu einer schwer erträglichen Bevormundung. Im Übrigen sind
Altersgrenzen im Recht weithin notwendig und sinnvoll. Man ist weder diskrimi-
niert, wenn man erst mit 14 (§§ 21 Abs 2, 569 ABGB), 16 (§ 2229 Abs 1 BGB) oder
18 Jahren (Art 467 ZGB) ein (notarielles) Testament und mit 18 wählen und den
Führerschein machen darf, noch wenn man mit 65 oder 67 in Pension oder Rente
geschickt wird.
Schließlich ist der Gleichheitsbegriff formal und ändert nichts daran, dass Men-
schen in ganz unterschiedlichen ökonomischen und sozialen Verhältnissen leben,
die das Recht nicht ausgleichen kann34. In de re publica35 lässt Cicero den Scipio
ganz im Sinne der stoischen Lehre sagen, dass man die Vermögensgleichheit nicht
herstellen wolle und die intellektuellen Fähigkeiten nicht die gleichen seien, aber
die Rechte der Staatsbürger die gleichen sein müssten: iura certe paria debent esse
eorum inter se qui sunt cives in eadem civitate – sicher muss für diejenigen, die
Bürger desselben Staates sind, das gleiche Recht gelten. An dieser formalen Gleich-
berechtigung, die keine materiell gleichen Bedingungen gewährleisten kann, wird
zu Recht Kritik geübt (unten § 8 II). Noch plumper waren Rechtfertigungsversuche
32
Urt 13. 9. 2011, 17 U 99/10.
33
Mühsam ist, namentlich bei Wiederholungen in Gesetzestexten, die Anführung von Formen
beiderlei Geschlechts wie Bewerber/Bewerberin, Mitarbeiter/Mitarbeiterin usw. Das monotone
filius/filiave der Zwölftafeln (451 v Chr.) wurde schon im klassischen Recht überwunden (Paul D
50, 16, 84: filii appellatione omnes liberos intellegimus). Die „Vorständin“ hat es sogar schon in
den Duden geschafft, „Mitgliederinnen“ noch nicht, weil Mitglied Neutrum ist. Der Satz: „Alle
Mitglieder des Vorstands sind Frauen“, lässt sich präziser nicht formulieren. Den vorläufigen Gip-
felpunkt markiert eine Satzung der Universität Leipzig, die den Titel „Professor“ abgeschafft hat
und „Professorin“ auch für Männer vorschreibt, also „Herr Professorin“. Die erwarteten Protestzu-
schriften sollen „sprachwissenschaftlich“ untersucht werden. Inzwischen rudert man zurück: Das
„generische Femininum“ werde nur in der Grundordnung verwendet, nicht im Alltag.
34
Dazu und zum Folgenden Jhering, Geist II (1921) 88 ff.
35
1, 49.
I. Definitionen von Recht und Rechtswissenschaft 9
wie die des „Sklaven von Natur“ oder die Beherrschung der Frauen durch die Män-
ner, die wir zB bei Aristoteles36 finden.
Von den modernen deutschsprachigen Verfassungen ist die schweizerische die
einzige, welche eine allgemeine Chancengleichheit als Verfassungsauftrag formu-
liert: Art 2 Abs 3 BV: „Sie [sc die schweizerische Eidgenossenschaft] sorgt für eine
möglichst große Chancengleichheit unter den Bürgerinnen und Bürgern.“
Wir haben gesehen (oben 1), dass eine Definition des Rechts auf den inhaltlichen
Aspekt der Gerechtigkeit nicht verzichten kann (dazu auch § 10). Bei der Frage, wo-
her man die Maßstäbe dafür nimmt, stößt man auf das Naturrecht, dessen Existenz
freilich immer wieder bestritten wird. Die sublimste Kritik stammt von Kelsen37,
der (vereinfacht und verkürzt) argumentiert hat, dass aus einem Sein kein Sollen
folgen kann. Ungeachtet der prima facie einleuchtenden Trennung zwischen Sollen
und Sein besteht der Irrtum Kelsens darin, dass er aus der richtigen Prämisse den
falschen Schluss zieht, es gebe keine vorpositiven, apriori verbindlichen Werte und
dass er daraus weiter schließt, Gesetze könnten, wenn sie nur formal korrekt erlas-
sen seien, jeden beliebigen Inhalt haben38. Immanuel Kant39 hat die Geltung eines
allgemeinen Sittengesetzes in dem berühmten Satz formuliert: “Zwei Dinge erfül-
len das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je
öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel
über mir und das moralische Gesetz in mir.”
Recht ist nicht Wissenschaft im strengen Sinne (unten II), sondern lediglich Wer-
tungswissenschaft und Argumentationskunst. Der normative Charakter des Rechts
bedeutet aber keineswegs, dass es nicht einen allgemeinen Konsens darüber gibt,
was richtig ist und was falsch. Namentlich bei krassen Ungerechtigkeiten, um die es
ja meist geht, lässt sich dieser Konsens fast immer feststellen. Es ist das Rechtsge-
fühl40 des unverbildeten Laien und das Judiz des noch nicht von einer Déformation
professionelle verbogenen Juristen, das zu gerechten Entscheidungen führt. Moral
und Ethik weisen in diesen Fällen denWeg.
Die berühmte Definition des Naturrechts in der Nikomachischen Ethik des Aris-
toteles lautet: „das für politische Gemeinschaften geltende Recht zerfällt in das na-
türliche und in das gesetzliche. Das natürliche ist jenes, das überall die gleiche Kraft
besitzt, unabhängig davon, ob es anerkannt ist oder nicht. Das gesetzliche ist jenes,
dessen Inhalt ursprünglich so oder anders sein kann und das erst durch positive
Festsetzung so bestimmt wird“41.
36
Politik 1254 f.
37
Reine Rechtslehre2 (1960) 201 u. öfter; ausführlich dazu unten § 1 II § 4 II u VII § 7 I.
38
Vgl Reine Rechtslehre2 42, dazu § 10 bei Fn 40; ferner Honsell in FS Koppensteiner 593 ff.
39
Akademieausgabe V 161.
40
Zu immer noch grundlegend Riezler, Das Rechtsgefühl3 (1921/1969).
41
Nikomachische Ethik 1129 b.
10 § 1 Rechtswissenschaft
J ustinian Inst. 1, 2, 11: sed naturalia quidem iura, quae apud omnes gentes peraeque servantur, divi-
na quadam providentia constituta semper firma atque immutabilia permanent: ea vero, quae ipsa sibi
quaeque civitas constituit, saepe mutari solent vel tacitu consensu populi vel alia postea lege lata.
Die natürlichen Rechtsgrundsätze, die von allen Völkern beachtet werden und ge-
wissermaßen durch göttliche Vorsehung begründet sind, bleiben immer gültig und
unabänderlich; diejenigen aber, die sich eine Bürgerschaft selbst gibt, pflegen oft
geändert zu werden, sei es durch stillschweigenden Konsens des Volkes, sei es
durch ein späteres Gesetz.
Der alte Topos der unveränderlichen, ewigen Rechte war auch ein Thema der
Aufklärung. Es findet sich zB in der von Thomas Jefferson verfassten amerika-
nischen Declaration of Independence (unalienable rights)44 und bei den beiden
großen deutschen Dichtern der Klassik. So heißt es bei Schiller, Wilhelm Tell II
(Stauffacher):
Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden,
Wenn unerträglich wird die Last,
Greift er hinauf getrosten Mutes in den Himmel
Und holt herunter seine ew'gen Rechte,
42
Zum Folgenden Honsell, Nomos und Physis bei den Sophisten, Mél Wubbe (1993) 179 ff; ders
FS Koppensteiner 593 ff; ders, Röm Recht7 21 ff; Höffe, Gerechtigkeit4 (2010) 40 ff.; Rüthers, Das
Ungerechte an der Gerechtigkeit3 (2009) 68 ff.
43
Fr. 44 A und B bei Diels/Kranz, Die Fragmente der Vorsokratiker (1903) II 346 f; näher Honsell
179.
44
Oben bei Fn 28.
I. Definitionen von Recht und Rechtswissenschaft 11
Das zeitlose Thema wurde in Deutschland nach dem Zusammenbruch des natio-
nalsozialistischen Terrorregimes wieder lebhaft diskutiert. Es ging um die Frage,
ob man auch ungerechte Gesetze befolgen muß. Die Antwort fand man in der
sog Radbruch’schen Formel:45 „Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der
Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, dass das positive, durch Satzung und
Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht
und unzweckmäßig ist, es sei denn, dass der Widerspruch des positiven Gesetzes
zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, dass das Gesetz als ‚unrichti-
ges Recht‘ der Gerechtigkeit zu weichen hat.“ Ähnliche Formulierungen haben die
Gerichte in den Mauerschützen-Fällen verwendet, in denen man den angeklagten
Grenzsoldaten der DDR die Berufung auf einen Befehlsnotstand versagt hat46.
Naturgemäß tritt das Spannungsverhältnis zwischen Naturrecht und Gesetz bei
ungerechten oder gar grausamen Gesetzen am deutlichsten hervor. Namentlich die
römische Geschichte liefert viele Beispiele für rücksichtslose Härte und unmensch-
liche Brutalität, die sich auf ein Gesetz berufen kann und meist mit der Staatsräson,
der utilitas publica, begründet wird. Man denke nur an die qualvolle Todesstrafe der
Kreuzigung oder an die barbarische Ankettung der Galeerensklaven, die ihren Tod
bei einem Schiffsuntergang stets vor Augen hatten. Das Senatus Consultum Silania-
num ordnete die Tötung aller Haussklaven an, wenn der Eigentümer in seinem Haus
getötet worden war. Die Hinrichtung von vierhundert Sklaven des Stadtpräfekten
Pedanius Secundus, auch der Frauen und Kinder, wird von Cassius Longinus, dem
Schulhaupt der Rechtsschule der Sabinianer, mit dem sinistren Satz gerechtfertigt:
45
Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, Süddeutsche Juristenzeitung 1946, 105 ff.
In seiner Rechtsphilosophie2 (1932, Nachdruck 2003) 85 hatte Radbruch noch geschrieben: „Wir
verachten den Pfarrer, der gegen seine Überzeugung predigt, aber wir verehren den Richter, der
sich durch sein widerstrebendes Rechtsgefühl in seiner Rechtstreue nicht beirren lässt“; vgl auch
§ 10 bei Fn 41.
46
BGHSt 39, 1 ff (Mauerschützen I): „Ein zur Tatzeit angenommener Rechtfertigungsgrund kann
… nur dann wegen Verstoßes gegen höherrangiges Recht unbeachtet bleiben, wenn in ihm ein
offensichtlich grober Verstoß gegen Grundgedanken der Gerechtigkeit und Menschlichkeit zum
Ausdruck kommt; der Verstoß muss so schwer wiegen, dass er die allen Völkern gemeinsamen, auf
Wert und Würde des Menschen bezogenen Rechtsüberzeugungen verletzt (BGHSt 2, 234, 239)“.
12 § 1 Rechtswissenschaft
habet aliquid ex iniquo omne magnum exemplum, quod contra singulos utilitate
publica rependitur47. – Jedes große Exempel, das im öffentlichen Interesse an Ein-
zelnen statuiert wird, hat etwas Unbilliges. Cicero48 sagt über die magistratische
Gewalt, sie habe etwas Böses an sich, das man aber um des Guten willen in Kauf
nehmen müsse: fateor in ipsa ista potestate inesse quiddam mali, sed bonorum quod
est quaesitum in ea sine isto malo non haberemus.
Es ist ein ebenso paradoxes wie bedrückendes Phänomen der Anthropologiege-
schichte, dass das „Volk des Rechts“ ( Fritz Schulz) zugleich eine grausame „Skla-
venhaltergesellschaft“ ( Karl Marx) war.
Bei Livius49 finden wir die Vorstellung vom tauben und unerbittlichen, vom gna-
den- und schonungslosen Gesetz: legem rem surdam et inexorabilem esse… nihil
laxamenti nec veniae habere.
Von Ulpian, dem ein hervorragender Gerechtigkeitssinn bescheinigt wird50,
stammt die Parömie quod quidem perquam durum est, sed ita lex scripta est51. –
Zwar ist das manchmal hart, aber so steht es im Gesetz.
Ebenso wird in den USA absurdes Legalunrecht und Strafen von 99 Jahren und
mehr, welche die Lebenserwartung des Täters mehrfach übersteigen, mit einem
Achselzucken quittiert: It’s the law52.
3. Rechtswissenschaft
Die Lehre vom Recht ist die Rechtswissenschaft (Jurisprudenz). In ihrem Zentrum
steht die Rechtsanwendung auf den Gebieten des privaten und öffentlichen Rechts
47
Tacitus annales 14, 42–45. Zur Brutalität römischer Strafen s Liebs Symp. Wieacker (1985)
89 ff.
48
De legibus 3, 23.
49
Ab urbe condita 2, 3, 3 ff.
50
Scriptores Historiae Augustae, Alexander Severus 31, 2.
51
D 40, 9, 12, 1; dazu Wieacker, SZ 94, 1977, 9 Fn 32.
52
Vgl Honsell, Amerikanische Rechtskultur in FS Zäch (1999) 39 ff. Nach dem kalifornischen
Three Strikes Law, das nach einer Regel des Baseballspiels (three strikes and you are out) be-
nannt ist, wird man zB schon wegen drei geringfügiger Delikte, wie Diebstahl, Besitz von Kokain
oder Fahren ohne Führerschein (usw) lebenslänglich eingesperrt. Dies, obwohl das Gesetz eine
serious felony (ernstes Verbrechen) verlangt. Der US-Supreme Court hat diese menschenverach-
tende Praxis gebilligt und erklärt, es sei kein Verstoß gegen das 8. Verfassungsamendment, das
cruel and unusual punishment verbietet. 7000 Menschen sitzen wegen dieses barbarischen Ge-
setzes im Gefängnis und bundesweit sind ca 2,3 % der Bevölkerung der USA inhaftiert. Die USA
sind im Einsperren in der westlichen Welt mit großem Abstand führend, verhängen und vollstre-
cken absurde Freiheitsstrafen und inhaftieren sogar Kinder. Unlängst wurde von der Verurteilung
einer 23-Jährigen zu 99 Jahren wegen Kindesmisshandlung berichtet <www.heute.at/news/welt/
art23661,804534>. Für den Anbau von Cannabis sollen Strafen bis zu 150 Jahren verhängt worden
sein <cannabislegal.de/international/usa.htm> 16.8.2014; lebenslang für das Backen und Verkau-
fen von Cannabiskeksen usw. Solche und andere Absurditäten werden über das Strafrecht in den
US-amerikanischen Bundesstaaten berichtet. Es ist haarsträubendes Unrecht, das offenbar von der
Bevölkerung gutgeheißen, oder jedenfalls toleriert wird. Strafen, welche die Lebenserwartung um
ein mehrfaches übersteigen, sollen dem Täter offenbar jede Hoffnung auf eine vorzeitige Haftent-
lassung nehmen.
II. Die Wissenschaftlichkeit des Rechts 13
(einschließlich des Strafrechts). Mit ihr befasst sich die Rechtsdogmatik, die frei-
lich mehr ist als eine blosse Anleitung zur Anwendung des geltenden Rechts (dazu
unten § 5 I) und die Rechtstheorie. Neben sie treten die Disziplinen der Rechts-
geschichte und Rechtsvergleichung sowie der Rechtsphilosophie und Rechtssozio-
logie. Die Rechtsdogmatik beschäftigt sich mit der systematischen Ordnung des
geltenden Rechts (§ 6 I u II) sowie der Entwicklung von Begriffen, Prinzipien und
Regeln, die Methodenlehre mit Auslegung und Anwendung von Gesetzen (und
Rechtsgeschäften). Beide lassen sich nicht exakt trennen. Daneben charakterisiert
der Begriff der Dogmatik das normative Element des Rechts und gilt den Wertun-
gen, die man für richtig hält. Die Parallele dazu in der Religion ist die christliche
Dogmatik, die Glaubenslehre der katholischen und evangelischen Kirche (Dogma
gr. = Glaube, Meinung). Rechtsgeschichte, Rechtsvergleichung und Rechtssozio-
logie sind keine normativ-dogmatischen, sondern empirische Fächer, welche die
geschichtliche oder gegenwärtige Rechtswirklichkeit abbilden, also nicht danach
fragen, was sein soll, sondern was ist oder wie es gewesen ist. Sie sind Hilfswissen-
schaften der Jurisprudenz, weil sie Aufschluss darüber geben, wie richtiges Recht
sein soll (vgl auch unten II).
In der Antike findet man keinen Versuch einer genauen und vollständigen Be-
schreibung der Jurisprudenz. Sie wird eher wolkig und inhaltsarm umschrieben,
aber wiederum, wie bei der Definition des Rechts (vgl oben 1), unter Hinweis auf
ihre inhaltliche Richtigkeit. So sagt Ulpian D 1, 1, 10, 2: Iuris prudentia est divina-
rum atque humanarum rerum notitia, iusti atque iniusti scientia – Jurisprudenz ist
die Kenntnis der göttlichen und menschlichen Dinge, die Wissenschaft von Recht
und Unrecht.
Wer den Versuch macht, den Leser in die Rechtswissenschaft einzuführen, muss
sich einer Frage stellen, welche die Juristenzunft seit jeher beschäftigt und die für
sie nicht ganz unproblematisch ist: Gehört diese Disziplin überhaupt zu den Wis-
senschaften? Für eine bloße Gesetzeskunde, die sich auf eine Darstellung des gel-
tenden Rechts beschränkt, wie sie heute leider weithin betrieben wird, ist diese
Frage klar zu verneinen. Aber auch für die Jurisprudenz im eben beschriebenen
Sinne ist sie nicht trivial.
In der Jurisprudenz geht es nicht um das systematische Erforschen bestimm-
ter noch unerforschter Gebiete wie zB in den Naturwissenschaften. Es gibt weder
Entdeckungen noch Erfindungen53. Das Heureka-Glück des Erfinders ist anderen
Disziplinen vorbehalten. Im Vordergrund stehen die Analyse und Kommentie-
rung von juristischen Texten und Problemen und die Lösung von Einzelfällen. Die
Rechtsanwendung ist in gewissem Sinne eine Kunst (ars) oder besser ein Handwerk
(techne). Die Frage nach dem Wissenschaftscharakter der Rechtswissenschaft kann
53
Näher Honsell, Recht und Rechtswissenschaft in Österreich in Berka/Magerl (Hrsg), Wissen-
schaft in Österreich (2006) 37 ff.
14 § 1 Rechtswissenschaft
man pragmatisch dahin beantworten, dass offenbar alles, was an Universitäten ge-
lehrt wird, Wissenschaft ist. Die Jurisprudenz gehört neben Philosophie, Medizin
und Theologie seit den Universitätsgründungen des Mittelalters zu den klassischen
vier Fakultäten. Die Theologie ist, was die dogmatischen Fächer anlangt, Zweifeln
an ihrer Wissenschaftlichkeit noch weit stärker ausgesetzt. Ähnlichkeiten mit der
Jurisprudenz hat sie insofern, als sie Glaubenssätze zum Gegenstand hat, sich mit
Dogmen befasst. In der Jurisprudenz geht es um Überzeugung von Richtigkeit, um
Meinungen und Regeln, die der Mehrheit einleuchten, es geht nicht um Erkennt-
nis von Wahrheit. Es tut sich ein weites Feld von Streitfragen auf, zu denen es idR
mindestens zwei Auffassungen gibt, nämlich Meinung und Gegenmeinung und die
sog herrschende Meinung (hM) der Mehrheit. Im antiken Rom gab es sogar zwei
Rechtsschulen, in welchen die konträren Auffassungen gelehrt wurden, die Sabinia-
ner und die Proculianer.
Während früher die Gelehrten die Autorität hatten (communis opinio doctorum),
haben heute die Gerichte das Entscheidungsmonopol.
Die herrschenden Meinungen zu bestimmten Fragen werden von den Juristen oft
auch Theorien genannt, ohne dass dieser Theoriebegriff den Anforderungen einer
wissenschaftlichen Theorie genügen würde. Man denke etwa an die sog „Saldo-
theorie“54 im Bereicherungsrecht, welche die falsche Verallgemeinerung des Ent-
reicherungseinwandes55 (§ 818 Abs 3 BGB, §§ 1437, 32956 ABGB, Art 64 OR)
bei der Rückabwicklung gegenseitiger Verträge mit dem Gedanken der Saldierung
vermeiden will. Sie ist eine verfehlte Hilfskonstruktion, führt aber partiell zu besse-
ren Ergebnissen, weil bei Nichtigkeit des Vertrages nicht eine Partei isoliert Rück-
forderung verlangen und die Gegenleistung behalten kann. Es gilt gewissermaßen
der faktische Vertrag, also der Ausschluss der Kondiktion trotz Nichtigkeit des Ver-
trages57.
Meinung zu bilden und zu überzeugen ist Aufgabe der Rhetorik (vgl unten § 5
IV 2), die seit der Zeit der Sophisten im Griechenland des 5. Jh vChr geübt und seit
dem Mittelalter im Abendland im Studium generale58 des ersten Studienjahrs an
allen Fakultäten unterrichtet wurde. Sie kam im Wissenschaftspositivismus des 19.
Jh – nicht zum ersten Mal, aber zu Unrecht in Verruf und wurde schließlich an den
Universitäten nicht mehr gelehrt. Jetzt glaubte man, dass es in den Parlamenten und
54
Der Begriff stammt ursprünglich aus einer Dissertation von Weintraud, Die Saldotheorie (1931).
Die Gegenmeinung vertrat die sog Zweikondiktionentheorie.
55
Ursprünglich war er auf den redlichen Besitzer und ähnliche Fälle beschränkt. Der Besitzer der
trotz Redlichkeit nicht gutgläubig erwerben konnte, weil die Sache gestohlen war (usw.) wurde
wenigstens insoweit privilegiert, als er nur herausgeben musste, was er noch hatte. Dieser Ge-
danke passt für die Rückabwicklung gescheiterter Verträge nicht, vgl Honsell, Drei Fragen des
Bereicherungsrechts LA Schulin (2002) 25 ff; ders, Tradition und Zession – kausal oder abstrakt?
FS Wiegand (2005) 349 ff.
56
Danach kann der redliche Besitzer die Sache „…nach Belieben verbrauchen, brauchen, auch
wohl vertilgen“.
57
S etwa Honsell, MDR 1970, 717 ff; vorzugswürdig ist es freilich, gegenüber der Preiskon-
diktion des Käufers eine Wertkondiktion des Verkäufers zuzulassen und diese gegeneinander zu
verrechnen, s Honsell LA Schulin 25 ff.
58
Das sog trivium bestand aus Grammatik, Dialektik und Rhetorik.
II. Die Wissenschaftlichkeit des Rechts 15
Gerichtshöfen nur um die Wahrheit gehe, zu der Rhetorik nichts beitragen könne.
Heute ist Rhetorikunterricht wieder im Vordringen. Man muss einräumen, dass Ju-
risprudenz zu einem guten Stück Rhetorik ist. Deshalb wundert es nicht, dass eine
alte Tradition den Wissenschaftscharakter der Jurisprudenz überhaupt leugnet.
Eine berühmte Verneinung der Wissenschaftlichkeit des Rechts, von der man
heute noch spricht59, stammt von Julius von Kirchmann. Der Berliner Jurist und
spätere Reichstagsabgeordnete hielt 1847 vor der Berliner Juristischen Gesellschaft
(die es heute noch gibt) einen Vortrag „über die Wertlosigkeit der Jurisprudenz als
Wissenschaft“60. Kirchmann griff den Stil der Rechtswissenschaftler seiner Zeit an
und warf der ganzen Disziplin mangelnde Seriosität vor, da nur über einen unwan-
delbaren Gegenstand wissenschaftliches Denken möglich sei. Die Beschaffenheit
des in einem Gemeinwesen gerade geltenden Rechts sei dagegen zufällig und wan-
delbar. Indem die Rechtswissenschaft das Zufällige zu ihrem Gegenstand mache,
werde sie selbst zur Zufälligkeit. Die Beliebigkeit und Veränderlichkeit des positi-
ven Rechts im Gegensatz zu dem am Ideal der Gerechtigkeit orientierten unverän-
derlichen Naturrecht kommen auch in Kirchmanns berühmt gewordenen Ausspruch
zum Ausdruck: „Drei berichtigende Worte des Gesetzgebers und ganze Bibliothe-
ken werden zu Makulatur“61.
Obwohl sogleich Apologien der Rechtswissenschaft geschrieben wurden62 und
auch später immer wieder Schriften verfasst wurden, welche die Unentbehrlichkeit
einer Rechtswissenschaft darzulegen versuchten63, ist Kirchmanns Stachel haften
geblieben. Es ist auch immer wieder zu neuen Zweifeln an der Wissenschaftlichkeit
der Rechtswissenschaft gekommen. So disqualifizierte Lundstedt64 als einer der ra-
dikalsten, wenn auch nicht der besten Autoren der „skandinavischen Schule“65 die
bisherige Rechtswissenschaft als bloße Sammlung von Wortverbindungen, als eine
kompakte metaphysische Masse. Er setzt dagegen eine auf empirische Fakten ge-
gründete Theorie, in deren Zentrum aber der empirisch nicht eindeutig nachweisba-
re Gedanke steht, dass unser tatsächliches Streben, das Gute mit dem Gemeinwohl
zu verbinden, die oberste Handlungsnorm konstituiere. Für Jerusalem66 kommt es
nicht auf die Richtigkeit der Aussagen von Juristen, sondern auf die Anerkennung
ihrer Aussagen durch eine Rechtsgemeinschaft an.
59
Vgl etwa die Kontroverse zwischen Engel, Wiedergelesen Julius von Kirchmann, Die Wertlo-
sigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft (1848) JZ 2006, 614 und H H Jakobs, Abermals Wieder-
gelesen, JZ 2006, 1115.
60
Eine leicht zugängliche Edition des Vortrags bietet die Wissenschaftliche Buchgesellschaft: Ju-
lius von Kirchmann, Die Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft (1966).
61
(Fn 60) 24.
62
Julius von Stahl, Rechtswissenschaft oder Volksbewusstsein? (1848).
63
Erik Wolf, Fragwürdigkeit und Notwendigkeit der Rechtswissenschaft (1953/65); Larenz, Über
die Unentbehrlichkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft (1966); Diederichsen, Die Eigenständig-
keit der Jurisprudenz in FS Flume, Bd 1 (1978), 283 ff.
64
Die Unwissenschaftlichkeit der Rechtswissenschaft, 2 Bde (1932/6).
65
Zu dieser Bjarup, Skandinavischer Realismus (1978) 104 ff.
66
Kritik der Rechtswissenschaft (1948).
16 § 1 Rechtswissenschaft
Die Hartnäckigkeit, mit der sich der Zweifel an der Wissenschaftlichkeit der
Rechtswissenschaft hält, legt es nahe, nochmals auf Kirchmanns Thesen und ihre
Voraussetzungen zu sehen. Er war der prominenteste, aber nicht der erste Zweifler.
Die Frage, ob die Jurisprudenz überhaupt eine scientia (dh: eine Wissenschaft) sei,
musste aufgeworfen werden, sobald scientia als Aufgabe und Ideal des humanis-
tischen Universitäts- und Wissenschaftsbetriebes feststand. Eine erste Diskussion
dieser Frage gab es schon im 16. Jahrhundert67:
Der Bologneser Professor Gammarus schrieb 1506 über Wahrheit und Rang der
Rechtswissenschaft ( De veritate ac excellentia legalis scientiae). Anlass zur Ex-
position eines rechtswissenschaftlichen Selbstverständnisses waren damals nicht
Zweifel aus den eigenen Reihen, sondern philosophische Kritiker. 1518 musste sich
Nevizzano gegen artistae (dh: der Fakultät der artes liberales entstammende Phi-
losophen) wenden, die meinten, dass die Rechtslehre keine Wissenschaft sei ( quod
professio seu notitia legalis non est scientia). Eine scientia – so sagten die Wort-
führer der Juristenkritik – sei nur über eine Sache möglich, die sich in Ewigkeit
nicht ändert. Dies traf aber nur auf das Naturrecht68 zu, nicht auf das von Menschen
gemachte Recht. Kirchmanns Argument, über dem Wandel Unterworfenes gebe es
keine Wissenschaft, war also nicht neu.
Im 17. und im 18. Jh standen praktische und gelehrte Zweige der Jurisprudenz
nebeneinander69. Die Neuformulierung des Wissenschaftsbegriffes durch Kant70
und dessen Verknüpfung des Anspruchs auf Wissenschaftlichkeit mit der Ausbil-
dung eines Systems (als Einheit der mannigfaltigen Erkenntnisse unter einer Idee)
veränderten die Aufgabenstellung für die akademische Rechtslehre und setzten sie
zugleich neuen Möglichkeiten der Kritik aus. Schon vor Kirchmann sagten Kant-
Schüler, nur Teile der Rechtslehre wären Wissenschaft71. Was aber sagt Kirchmann
selbst?
Seine Argumentation hat drei Schwerpunkte. Zunächst spricht er die Juristen sei-
ner Zeit an. Er wirft ihnen ein Übermaß müßiger Spekulationen und das Versagen
bei ihren eigentlichen Aufgaben im Rechtsleben vor. Die Jurisprudenz, der diese
Vorwürfe galten, hatte eine andere Stellung als die der Gegenwart. Die Anwendung
und Auslegung von Gesetzen spielte eine viel geringere Rolle als heute. Grund-
sätzlich galt das „gemeine Recht“, das ein aus dem römischen und dem kanoni-
67
Troje, Wissenschaftlichkeit und System in der Jurisprudenz des 16. Jahrhunderts, in Blühdorn/
Ritter (Hrsg), Philosophie und Rechtswissenschaft (1969) 63 ff.
68
Justinian I. 1, 2, 11: vgl dazu oben I 2.
69
Vgl Jan Schröder, Wissenschaftstheorie und Lehre der „praktischen Jurisprudenz“ auf deut-
schen Universitäten an der Wende zum 19. Jahrhundert (1979) bes 46 ff; ders, Recht als Wis-
senschaft – Geschichte der juristischen Methodenlehre in der Neuzeit 1500–19332 (2012); ders,
Theorie der Gesetzesinterpretation im frühen 20. Jahrhundert (2011).
70
Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft (1786) Vorrede (Ausgabe der Preuss
Akademie der Wiss, Bd 4, 467 f): „Eine jede Lehre, wenn sie ein System, das ist ein nach Prinzi-
pien geordnetes Ganzes der Erkenntnis sein soll, heißt Wissenschaft“; dieser Wissenschaftsbegriff
ist im Hinblick auf die Naturwissenschaften entwickelt worden.
71
Vgl Kohlschütter, Vorlesungen über den Begriff der Rechtswissenschaft (1798) 142; dazu
Schröder (Fn 69) 152.
II. Die Wissenschaftlichkeit des Rechts 17
72
Vgl Schröder (Fn 69) 38 ff.
73
(Fn 60) 23.
74
(Fn 60) 39.
75
Vgl Hans Julius Wolff, Festschrift für den 45. Deutschen Juristentag (1964) 13 ff; ders, Juristi-
sche Gräzistik, Vorträge zur griechischen und hellenistischen Rechtsgeschichte (1975) 5.
18 § 1 Rechtswissenschaft
(für die man sich besonders auf die englische jury berief76), mit der Volksgeistro-
mantik der historischen Schule, aber auch mit der marxistischen Vorstellung vom
Absterben des Staates, als dessen zu getreue Diener auch Kirchmann die Juristen
sieht. So steht Kirchmanns These von der Überwindbarkeit der Fachjurisprudenz
im Schnittpunkt mannigfaltiger Utopien seiner Zeit. Sie passt auch zu dem in den
Naturrechtskodifikationen des ausgehenden 18. Jh häufig verfügten Kommentier-
verbot77, das sich schon im Corpus juris Justinians fand (Const. Tanta 21) und auf
dem aus der römischen Antike bekannten Misstrauen gegen den Juristen beruhte.
Auch Friedrich der Große glaubte, nach Erlass des preuss ALR keine Juristen mehr
zu brauchen.
Das Beziehungsfeld, aus dem die prominenteste Artikulierung der These von der
Unwissenschaftlichkeit der Rechtswissenschaft stammt, haben wir nun einigerma-
ßen kennengelernt. Zur Sachfrage selbst sind wir aber noch nicht viel weitergekom-
men. Manchen erscheint die Frage nach der Wissenschaftlichkeit der Jurisprudenz
überhaupt nur als ein Scheinproblem78. Richtig ist, dass es zunächst davon abhängt,
wie streng man den Wissenschaftsbegriff konzipiert, ob die Lehre des Rechts zu
den Wissenschaften zu rechnen ist. Geht man von einem weiten Wissenschaftsbe-
griff aus, so verflüchtigt sich das Problem. Verknüpft man die Wissenschaftlichkeit
einer Disziplin aber mit höheren Anforderungen, etwa mit logischer Stringenz oder
rationaler Nachvollziehbarkeit von Argumenten, so kehrt es wieder.
Verfehlt ist der Versuch, die Jurisprudenz als exakte Wissenschaft auszugeben,
wie dies im Wissenschaftspositivismus und in der Begriffsjurisprudenz des 19. Jh
geschah. Auch die Überschätzung des Syllogismus (unten § 5 III) resultierte aus
dem Wunsch nach zwingender Logik und exakter Wissenschaft79. Jenseits dieser
Fehlvorstellung ist die Frage nach der Wissenschaftlichkeit der Rechtswissen-
schaft80 kein Scheinproblem, sondern macht eine lange Zeit verdeckte und erst seit
einigen Jahrzehnten explizit diskutierte Kalamität des juristischen Argumentierens
76
In Deutschland sind die Geschworenengerichte mit der Emminger’schen Justizreform abge-
schafft worden. Die heutigen sog Schwurgerichte sind mit drei Berufsrichtern und zwei Schöffen
besetzt. In der Schweiz ist mit der eidgenössischen StPO von 2011 das Schwurgericht fast überall
verschwunden. Österreich kennt noch Geschworenengerichte. In den USA steht die jury in der
Verfassung und wird deshalb trotz ihrer eklatanten Schwächen nicht abgeschafft.
77
Dazu unten § 5 IV.
78
So U Neumann, Wissenschaftstheorie der Rechtswissenschaft in Kaufmann/Hassemer/Neu-
mann (Hrsg), Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart8 (2011) 423.
79
Dazu unten III; zum System als Element der Wissenschaft unten § 6.
80
Vgl zur modernen Diskussion Axel Adrian, Wie wissenschaftlich ist die Rechtswissenschaft?
Rechtstheorie 41 (2010) 521 ff; Hugo Marx, Der Wissenschaftscharakter der Jurisprudenz2 (1919);
Ahlander, Är juridiken en vetenskap? (1950); Ekelöf, Är den juridiska doktrinen en teknik eller
en vetenskap? (1951); Ralf Dreier, Zum Selbstverständnis der Jurisprudenz als Wissenschaft in
Rechtstheorie 2 (1971) 37 ff; Kurt Kettembeil, Zum Charakter der Jurisprudenz als Wissenschaft
(1975); Arthur Kaufmann, Einige Bemerkungen zur Frage der Wissenschaftlichkeit der Rechts-
wissenschaft in FS Paul Bockelmann (1979) 67 ff; Wolfgang Schur, Über den Wissenschafts-
charakter der Rechtswissenschaft in FS Schapp (2010) 445 ff; s noch die Beiträge in Engel/Schön
(Hrsg), Das Proprium der Rechtswissenschaft (2007), die auch der Frage nach der Wissenschaft-
lichkeit der Teildisziplinen öffentliches Recht und Strafrecht nachgehen.
II. Die Wissenschaftlichkeit des Rechts 19
und Schließens bewusst. Einerseits bemüht sich der Großteil der Juristen um ein
Maximum an Rationalität81, andererseits gibt es kaum eine Rechtsfrage, in die nicht
Wertungen82 und Weltanschauungen hineinspielen. Weder benötigt die Jurispru-
denz einen mathematisch-naturwissenschaftlich geprägten Wissenschaftsbegriff83,
noch ist ihre Einordnung als Sozialwissenschaft relevant84. Entscheidend ist allein
die Rationalität der Rechtspflege. Judizielle Konfliktlösungen sollen vorhersehbar
sein, juristische Begründungen auch den überzeugen, der anders wertet und denkt.
Ein guter Jurist wird sich in jedem Fall um einen logischen Aufbau seiner Argu-
mente, um ein widerspruchsloses System und um intersubjektive Nachprüfbarkeit
der Entscheidung bemühen. Er wird dies nicht primär deshalb tun, weil er seine
Disziplin als Wissenschaft anerkannt sehen möchte. Maßgebend ist für ihn vielmehr
die Verantwortung, in der er den Einzelnen und der Gesellschaft gegenüber steht.
Gerade diese Verantwortung macht aber die prekäre Situation, in der sich die Pflege
des Rechts als Aktivität des Intellekts befindet, doppelt spürbar. Die Kalamität ju-
ristischer Arbeit resultiert insbesondere
a. aus den Grenzen einer rationalen Auseinandersetzung über Wertungen;
b. aus der Variabilität vieler Inhalte des Rechts, vor allem aus der Einsicht in den
Anteil, den Zufall und Willkür an der Rechtsentstehung haben;
c. aus der Distanz zwischen dem Handeln der in der Praxis tätigen Juristen und
den Erkenntnissen der Rechtslehre, also aus dem notorischen Abstand zwischen
Theorie und Praxis.
Diese drei Kalamitäten verdienen eine etwas eingehendere Analyse: Max Webers
Postulat, Wissenschaft müsse wertfrei sein85, galt vor allem den Gesellschaftswis-
senschaften86. Es wirkte auf die Nationalökonomie und Soziologie, Politikwissen-
schaft und Sozialphilosophie, aber auch auf die mit dem Recht befasste Disziplin.
Von dieser Wertfreiheit fordern, heißt: den Juristen, der als solcher Aussagen über
das Recht macht, dazu verhalten, nur die in der betreffenden Rechtsordnung an-
erkannten Wertungen zugrunde zu legen, seine persönlichen Ansichten aber bewusst
81
Zur juristischen Rationalität sehr lesenswert Helmut Schelsky, Die Soziologen und das Recht
(1980) 34 ff.
82
Über Wertung und Werte im Recht Adalbert Podlech, AöR 95 1970, 185 ff; Günther Winkler,
Wertbetrachtung im Recht und ihre Grenzen (1969); Stig Jørgensen, Values in Law (1978).
83
Dem Einfluss von Naturwissenschaft und Mathematik auf Rechtsdenken und Rechtswissen-
schaft in zweieinhalb Jahrtausenden (so der Untertitel) geht Dieter von Stephanitz, Exakte Wissen-
schaft und Recht (1970) nach.
84
Rottleuthner, Rechtswissenschaft als Sozialwissenschaft (1973); s auch die von Luhmann be-
gründete Systemtheorie, Niklas Luhmann, Soziale Systeme: Grundriss einer allgemeinen Theorie
(2006); ders, Einführung in die Systemtheorie5 (2009); ders, Theorie der Gesellschaft (2002) 9
Bde; Gunther Teubner, Recht als autopoietisches System (1989); Thomas Vesting, Kein Anfang
und kein Ende – Die Systemtheorie des Rechts als Herausforderung für Rechtswissenschaft und
Rechtsdogmatik, JURA 2001, 299.
85
Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre3 (1968) 489 ff.
86
Dieser sog Werturteilsstreit setzte sich ein halbes Jahrhundert später fort im Positivismusstreit
(zB Popper, Adorno).
20 § 1 Rechtswissenschaft
87
Vgl zu § 138 BGB Armbrüster in Münchener Kommentar, Bd 16 (2012) Rz 27 ff., zu § 879
ABGB Gschnitzer in Klang Kommentar Bd 4/1 (1968) 180 ff.
88
Vgl Haberstumpf, Die Formel vom Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden in der
Rechtsprechung des BGH (1976).
89
So der Titel einer Monographie von Haverkate (1977).
90
Kirchmann 24 (oben Fn 60).
II. Die Wissenschaftlichkeit des Rechts 21
ebenfalls vielfältigen Erosionen ausgesetzt ist (näher unten § 7 II). Das angeblich
von Otto von Bismarck stammende Bonmot, dass die Leute umso besser schliefen,
je weniger sie darüber wüssten, wie Würste und Gesetze gemacht werden, hat seine
Aktualität leider nicht eingebüßt.
Wenden wir uns nun dem Verhältnis von juristischer Theorie und Praxis91
zu. Von medizinischer oder physikalischer Wissenschaft wird erwartet, dass sie
Sätze aufstellt, nach denen das Handeln der Praktiker als richtig oder falsch quali-
fiziert werden kann. Aussagen von vergleichbarer Eindeutigkeit kann die juristi-
sche Theorie nur selten bieten. Fragt man einen Rechtsanwalt, ob man „im Recht
ist“, so wird er, wenn er seriös ist, von den Chancen und Risiken einer allenfalls
zu erhebenden Klage sprechen. An die Stelle einer apodiktischen Aussage tritt ein
Wahrscheinlichkeitskalkül. Wer mit Kant von eigentlicher Wissenschaft fordert,
dass ihre Gewissheit apodiktisch sei, kann die Rechtswissenschaft nicht als Wissen-
schaft anerkennen. Mehr Gewissheit scheint nur zu Themen möglich, die mit der
Praxis weniger zu tun haben. Daher wurde oft eine Zweiteilung der Jurisprudenz
erwogen. Die der Praxis zugewandte Rechtsdogmatik sei eher Kunde und Kunst als
Wissenschaft. Rechtsphilosophie, Rechtsgeschichte, Rechtsvergleichung, Rechts-
soziologie und Rechtstheorie dagegen könnten als Wissenschaften gelten. Auf diese
Weise kommt es zu einer auffälligen Emanzipation vom positiven Material (das
heißt: vom gerade geltenden Recht), in der die Naturrechtslehren mit Hans Kelsens
reiner Rechtslehre92 trotz ihrer Gegensätzlichkeit zu konvergieren scheinen93. Die
Naturrechtslehren sind Philosophien, die der Gerechtigkeit des Rechts gelten und
aus der Gerechtigkeitserkenntnis Aussagen zu gewinnen trachten, die unabhängig
von den Anordnungen eines Gesetzgebers und unabhängig von den gewohnheits-
rechtlich anerkannten Maximen einer Gesellschaft Geltung beanspruchen. Kelsens
reine Rechtslehre wiederum ist eine Theorie, die Aussagen über Strukturgesetze
aller Rechtsordnungen macht, so dass sie zwar nur Formales zu erfassen vermag,
aber doch nicht von der Beschaffenheit eines bestimmten positiven Rechts abhän-
gig ist. Für eine auf Rechtsgeschichte und Rechtsphilosophie, auf Rechtstheorie und
Rechtssoziologie beschränkte Rechtswissenschaft kann ihre Wissenschaftlichkeit
leichter verteidigt werden als für eine die Rechtsdogmatik einschließende Disziplin.
Wer der Jurisprudenz die Wissenschaftlichkeit abspricht, will vor allem die Auto-
rität der Rechtsdogmatik erschüttern. Es bildet aber gerade das wissenschaftliche
Fundament der die Entscheidungsbegründungen tragenden und kontrollierenden
Dogmatik den Grund des Interesses an der Wissenschaftlichkeit der Rechtswissen-
schaft.
91
Dazu Dubischar, Theorie und Praxis in der Rechtswissenschaft (1978); Jestaedt, Das mag in der
Theorie richtig sein … Vom Nutzen der Rechtstheorie für die Rechtspraxis (2006).
92
Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1934, 1960/1967).
93
Ungeachtet dieses äußeren Befundes ist gerade die reine Rechtslehre positivistisch in dem Sin-
ne, dass sie nur nach dem formal korrekten Zustandekommen fragt und die Geltung dieses Rechts
auch dann postuliert, wenn es sich um materiell ungerechtes Recht handelt. Zum Gegensatz zwi-
schen Naturrecht und Positivismus unten § 5 VII und öfter; Honsell in FS Koppensteiner 593; ders,
Recht und Rechtswissenschaft in Österreich in Berka/Magerl (Hrsg), Wissenschaft in Österreich
37 ff.
22 § 1 Rechtswissenschaft
94
Vgl aus einer sehr umfangreichen Diskussion Esser, AcP 172 (1972) 97 ff; Meyer-Cording,
Kann der Jurist heute noch Dogmatiker sein? (1973); Krawietz, Juristische Entscheidung und wis-
senschaftliche Erkenntnis (1978) 239 f; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft6 (1991)
224 ff.
95
Zur Problematik juristischer Begründungen vgl Horak in Sprung/König (Hrsg), Entscheidungs-
begründung (1974) 1 ff.
§ 2 Der Jurist
Inhaltsverzeichnis
Der Jurist gehört für den Zivilisationsbürger des 21. Jh zu den Selbstverständlich-
keiten des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Aber auch hier ist das, was man für
natürlich und unvermeidlich hält, nur das Produkt einer relativ jungen historischen
Konstellation. Die gebotene Relativierung greift nicht nur von der Vergangenheit her
ein: Dass künftige Gesellschaften versuchen könnten, ohne eine „beruflich speziali-
sierte Gruppe auszukommen, die ein Monopol für den rechtlichen Austrag sozialer
Konflikte nach technischen Regeln erworben hat“1, ist vorstellbar. Automatisierte
Entscheidungen, die derzeit nur im Steuer- und Sozialversicherungswesen breite-
ren Einsatz finden, könnten mit der Verbesserung der Computer-Software auch Ge-
richte entlasten und Prozesse vereinfachen2. Der Richter kann für sein Urteil heute
Datenbanken nutzen, welche die Gesetze, Judikatur und Literatur enthalten. Bis zu
einem gewissen Grade kann er auch auf Textbausteine zurückgreifen3. So wird eine
Automatisierung für einfache, typisierte Fälle des täglichen Lebens denkbar. Darü-
ber hinaus bleibt sie Utopie. Allerdings könnte der Staat durch Vermeidung übermä-
ßiger und streitanfälliger Regeln zu einer erheblichen Verminderung von Prozessen
1
Wieacker in Gedenkschrift für Gschnitzer (1969) 467.
2
Zum Problemfeld Kilian, Juristische Entscheidung und elektronische Datenverarbeitung (1974);
Wieacker, Rechtsgewinnung durch elektronische Datenverarbeitung in FS von Caemmerer (1978)
45 ff; H Köhler, Die Problematik automatisierter Rechtsvorgänge, insbesondere von Willenserklä-
rungen, AcP 182 (1982) 126 ff.
3
Näher dazu unten § 12 VII 5.
© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015 23
H Honsell, T Mayer-Maly, Rechtswissenschaft, Springer-Lehrbuch,
DOI 10.1007/978-3-662-45682-8_2
24 § 2 Der Jurist
4
Ohne Gegenstück im deutschsprachigen Schrifttum ist der Überblick, den Gaudemet, Instituti-
ons de l’Antiquite (1967) bietet.
5
Die Gesetzgebung des Lykurgus und Solon, (1790) im 11. Heft der „Thalia“.
6
Demosthenes als Advokat (1968); s ferner Samotta, Demosthenes (2010); G A Lehmann, Demos-
thenes von Athen. Ein Leben für die Freiheit (2004).
7
Zur Entstehung von Recht in frühen Gesellschaften Wesel, Geschichte des Rechts. Von den Früh-
formen bis zum Vertrag von Maastricht (1997); ders, Frühformen des Rechts in vorstaatlichen
Gesellschaften: Umrisse einer Frühgeschichte des Rechts bei Sammlern und Jägern und akephalen
Ackerbauern und Hirten. (1985).
8
Zur Entwicklung der römischen Rechtswissenschaft Schulz, Geschichte der römischen Rechts-
wissenschaft (1961); Kunkel, Herkunft und soziale Stellung der römischen Juristen2 (1967); Wiea-
I. Der Jurist im Wandel der Geschichte 25
nach der Darstellung der römischen Rechtsgeschichte durch Pomponius mit einem
Bruch der Arkandisziplin Hand in Hand ging. Die Publizität des Rechts und der
Ansatz zur Fachjurisprudenz gehören zueinander: Appius Claudius (der Erbauer
der via Appia und des Aquaedukts aqua Appia), dessen Mitarbeiter Gnaeus Flavius
geheime Formulare für Klagen und andere Rechtsakte öffentlich zugänglich ge-
macht hat, wird von Pomponius9 als Autor der ältesten römischen Juristenschrift
bezeichnet. Etwa fünfzig Jahre später erteilt Tiberius Coruncanius als erster ponti-
fex maximus seine Rechtsauskünfte öffentlich. Um 100 vChr finden wir bereits ein
verzweigtes fachjuristisches Schrifttum, immer seltener und bedeutungsloser wird
der Umstand, dass ein iuris peritus die Position des pontifex einnimmt. Die erste
Fachjurisprudenz der Geschichte ist aus einem zweihundert jährigen Prozess der
Laisierung hervorgegangen.
Vergleicht man die Positionen und Funktionen des modernen Juristen mit
denen eines iuris peritus aus der Zeit des Augustus10, so stößt man auf gewichti-
ge Unterschiede. Drei typische Juristenberufe der Gegenwart – Richter, Rechts-
anwalt und Verwaltungsbeamter – werden heute von Fachjuristen ausgeübt. Der
römische Richter brauchte keine juristische Vorbildung, er war Laie und wurde aus
einer Richterliste ausgewählt, wie heute Schöffen oder Geschworene. Benötigte er
rechtskundigen Rat, berief er ein consilium ein; erst da kam der Fachjurist zum
Zug. Die Aufgaben des modernen Rechtsanwalts waren in Rom geteilt– und sind
es in England noch heute (zwischen barrister und solicitor). Die forensische Tätig-
keit, das Plädieren vor Gericht (in England die Aufgabe des barrister), war nicht
Sache des iuris peritus. Um als advocatus oder orator aufzutreten, musste man vor
allem eine rhetorische Ausbildung haben. Cicero gehörte zu den Gerichtsrednern11,
nicht zu den Juristen (die er übrigens auch nicht mochte). Lediglich die kautelar-
juristische Tätigkeit, namentlich beim Vertragsschluss – das cavere – und die gut-
achtliche Klärung zweifelhafter Rechtsfragen – das respondere – hat der römische
iuris peritus mit dem modernen, als Rechtsanwalt tätigen Juristen gemein. In füh-
renden Verwaltungspositionen finden wir römische Juristen durch lange Zeit nicht
als solche, sondern bloß im Rahmen einer politischen Karriere, die sie wie ande-
re einflussreiche und ehrgeizige Angehörige der Oberschicht durchlaufen. Um als
Prätor über den Inhalt der Rechtsschutzverheißungen (das Edikt) zu befinden und
über die Einsetzung des einzelnen Gerichtsverfahrens zu entscheiden, musste man
nicht Jurist sein: Politische Wahl (vergleichbar der in der USA üblichen Wahl von
Justiz- und Verwaltungsfunktionären) berief zur Prätur und zur Provinzialstatthal-
terschaft. Freilich ließ sich der Prätor von Juristen beraten, um seiner Aufgabe der
Rechtsfortbildung gerecht zu werden. Der Prätor, heißt es bei Papinian D 1, 1, 7, 1
cker in Sein und Werden im Recht, FS v Lübtow (1970) 183 ff; Behrends, Die Wissenschaftslehre
im Zivilrecht des Q Mucius Scaevola pontifex (1976).
9
D 1, 2, 2, 36.
10
Zur Stellung der Juristen in ihren Rechtsordnungen s Dawson, The Oracles of the Law (1968);
vgl auch Audibert, Essai sur le juriste (1960) und den von Luig und Liebs herausgegebenen Band
„Das Profil des Juristen in der europäischen Tradition“ (1980).
11
Vgl Wieacker, Cicero als Advokat (1965).
26 § 2 Der Jurist
wird tätig iuris civilis adiuvandi, supplendi vel corrigendi gratia zur Unterstützung,
Ergänzung und Korrektur des Zivilrechts. Diese Beschreibung passt exakt auch auf
die heutige richterliche Rechtsfortbildung (unten § 5 VI u VII).
Im 2. Jh nChr besetzten die Kaiser immer häufiger führende Verwaltungsposi-
tionen mit Juristen. Unter den Premierministern der Severer (193 bis 235 nChr)
finden wir die spätklassischen Koryphäen Papinian, Ulpian und Paulus, von denen
mehr als die Hälfte der Digestentexte stammt. Ein aus Juristen zusammengesetztes
Berufsbeamtentum kommt erst in dem mit Diokletian beginnenden Dominat auf.
Zugleich aber wird die Jurisprudenz anonym: Während wir von den Juristen der
Zeit Trajans und Hadrians jeden einzelnen kennen, begegnen uns die Juristen der
Zeit Diokletians und Konstantins nur als Angehörige der kaiserlichen Kanzlei. Sie
sind zu fungiblen Personen geworden. Die bürokratische Periode der Jurisprudenz
beginnt mit dem polizei- und wohlfahrtsstaatlichen Absolutismus der Spätantike.
Wenn die marxistisch-leninistische Periodisierung der Geschichte auf die Sklaven-
haltergesellschaft den Feudalismus und auf diesen den Kapitalismus folgen lässt, so
vernachlässigt sie die Eigenständigkeit und eminente Bedeutung des bürokratischen
Etatismus, der nicht nur zwischen Antike und Feudalismus, sondern auch zwischen
Feudalismus und Kapitalismus, vielleicht auch zwischen Kapitalismus und Sozia-
lismus steht.
Während wir demnach bei den klassischen römischen Juristen viele in der Ge-
genwart bedeutungsvolle Juristenberufe vergeblich suchen, stoßen wir bei ihnen auf
ungleich mehr Anteil an der Rechtsfortbildung, als in der modernen Jurisprudenz.
Das klassische römische Privatrecht ist vor allem Juristenrecht. Nur langsam gelang
es den Kaisern, zB durch die Verleihung der kaiserlichen Autorisierung von Gutach-
ten (ius respondendi ex auctoritate principis), das Juristenrecht unter Kontrolle zu
bringen. Die Gründe für diesen starken Anteil der Juristen an der Rechtsfortbildung
waren hohe Autorität und geringe Zahl.
In der Bundesrepublik Deutschland gibt es ca 250‘000 Juristen12, hingegen
wirkten im römischen Imperium selten mehr als 10 iuris periti gleichzeitig. Quod
rarum carum: Was selten ist, gilt viel. Die Autorität der Juristen wurzelte in ihrer
gesellschaftlichen Position13. Sie gehörten durchwegs zur Oberschicht. In persön-
licher Unterweisung gaben sie Fähigkeiten und Wissen an wenige Schüler weiter.
Die unmittelbare Überzeugungskraft sachgerechter Problemlösungen spielt in ihren
Schriften eine größere Rolle als das wissenschaftliche Arsenal logischer Dedukti-
on, mit dem der kontinentale Jurist der Neuzeit zu argumentieren pflegt. Für ihre
Entscheidung ist eine sparsame Begründung typisch, die sich mit der Assoziation
eines Nachbarfalles begnügt und nur den wesentlichen Aspekt benennt. Mit seiner
verlorenen Schrift de iure civili in artem redigendo dürfte Cicero zwar ein Pro-
gramm zur Anpassung der Jurisprudenz an den allgemeinen Wissenschaftsbegriff
12
Angaben des Statistischen Bundesamtes 2008. Die Zahl ist seither weiter gestiegen, so dass
aktuell mit 250.000–300.000 Juristen zu rechnen sein wird, davon sind allein 161.000 Rechtsan-
wälte.
13
Vgl Kunkel (Fn 8).
I. Der Jurist im Wandel der Geschichte 27
verfolgt haben: ars war für ihn die techne der Griechen, nicht eine Kunst14. Die zur
techne gehörende Begriffs- und Regelbildung finden wir aber nur beim Außenseiter
Gaius, nicht bei den Koryphäen aus der Oberschicht. Wenngleich auch bei ihnen
der Anteil rational ambitionierter Begründungen nicht unterschätzt werden darf15,
blieb doch der Anteil jener Mischung von Intuition, Autorität und Erfahrung groß,
die wir überall dort antreffen, wo den Römern Spitzenleistungen gelangen: bei der
Feldvermessung, im Städte- und Straßenbau, in der Militär- und Verwaltungsorga-
nisation und namentlich im Zivilrecht.
Die rechtsbildende Jurisprudenz der Prinzipatszeit (bis ca 230 nChr) war mit
dem Souveränitätsanspruch der Kaiser der Dominatszeit (ab Diokletian, 284–305)
unverträglich. Nun sollte alles Recht vom Kaiser ausgehen; der Jurist hatte das
Recht anzuwenden, nicht zu schaffen. Damit geriet der Jurist in seine moderne Posi-
tion, wobei es unter dem Aspekt der Stellung des Juristen nur·sekundäre Bedeutung
hat, dass heute die Vorbehalte gegen jurisprudentielle Rechtsfortbildung16 weniger
vom Anspruch eines Souveräns als vom Grundsatz der Gewaltenteilung (Legisla-
tive – Justiz – Exekutive) und von der zu geringen demokratischen Legitimation
eines Juristenrechtes ausgehen.
Die beamtete Jurisprudenz der Spätantike entspricht eher der des neuzeitlichen
Wohlfahrts- und Verwaltungsstaates. Das friderizianische Preußen und das josephi-
nische Österreich haben insofern mit Justinians Reich verblüffende Ähnlichkeiten.
Von Kontinuität kann indessen nicht die Rede sein. Der Fachjurist behauptete sich
zwar am Hof von Byzanz und in der päpstlichen Verwaltung, nicht aber in den Pfal-
zen und Residenzen des Frühmittelalters. Der Prozess der Verdrängung im Recht
erfahrener, aber nicht als Fachjuristen ausgebildeter Honoratioren durch speziali-
sierte Experten musste im Hoch-und Spätmittelalter wiederholt werden. Diesmal
ging er von Bologna und Paris als den Zentren eines akademischen Rechtsunter-
richtes aus17.
Das erste eindrucksvolle öffentliche Auftreten des europäischen Juristen neuer
Prägung erfolgte 1158 beim Reichstag Barbarossas auf den Ronkalischen Feldern.
Als Kronjuristen des Kaisers nahmen – vor allem in dessen Auseinandersetzung mit
der lombardischen Liga – vier doctores aus Bologna zum politisch brisant geworde-
nen Problem der Regalien (königlicher Vorrechte) Stellung. Rationale Legitimation
politischer Ansprüche: Dies hatte der gelehrte Fachjurist vor allem anzubieten. Das
führte ihn in Spitzenpositionen an Fürstenhöfen und Bischofsresidenzen und mach-
te ihn zugleich bei vielen suspekt. Wer an der Ständeordnung gegen den sich anbah-
nenden Etatismus der Fürsten festhalten wollte, war gegen den Juristen. So sagten
die Schöffen des eidgenössischen Frauenfeld: „Höret Ihr, Doktor, wir Eidgenossen
fragen nicht nach dem Bartele und dem Baldele und anderen Doktoren. Wir haben
14
Vgl auch die Definition ius est ars boni et aequi, oben § 1 I 1.
15
Die Relation zwischen überzeugender Intuition und rationaler Ableitung ist allerdings strittig,
vgl einerseits Horak, Rationes decidendi (1969), andererseits Waldstein, Entscheidungsgrundlagen
der klassischen römischen Juristen in Temporini (Hrsg), Aufstieg und Niedergang der römischen
Welt II/15 (1976) 3 ff.
16
ZB bei Kruse, Das Richterrecht als Rechtsquelle des innerstaatlichen Rechts (1971).
17
Dazu und zum folgenden Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit2 (1967) 60 ff.
28 § 2 Der Jurist
18
S dazu den gleichnamigen Beitrag von Schott in FS Thieme (1983) 17 ff.
I. Der Jurist im Wandel der Geschichte 29
19
Leeb, Deutsche Richterzeitung 1909, 207.
20
Vgl Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung7 (2012) 439 ff.
21
Kennzeichnend F v. Hippel, Die nationalsozialistische Herrschaftsordnung als Warnung und
Lehre2 (1947); ders, Die Perversion von Rechtsordnungen (1955).
22
S etwa Weinkauff, Der Naturrechtsgedanke in der Rechtsprechung des BGH, NJW 1960,
1989 ff; kritisch hierzu Wieacker, Rechtsprechung und Sittengesetz, JZ 1961, 337 ff und Flume,
Verhandlungen des 46. Deutschen Juristentages, Bd 2 (1966/7) K 5 ff.
30 § 2 Der Jurist
Im Beruf des Rechtsanwalts finden sich alle Juristen, die nicht in Justiz, Verwal-
tung oder Wirtschaft (Unternehmen, Verbänden usw) unterkommen. Er wird zuneh-
mend geprägt von dem Gegensatz zwischen großen, international operierenden An-
waltbüros –„lawfirms“ mit 100 Mitarbeitern und mehr sind keine Seltenheit – und
einem Anwaltspräkariat an der Grenze des Existenzminimums23. Auf dem Deut-
schen Anwaltstag 2014 in Stuttgart wurde unter dem Motto „Freiheit gestalten“ das
Spannungsverhältnis zwischen Berufsethik und Kommerz24 und die Normierung
von Ethikregeln diskutiert.
Weithin unpolitisch und unkritisch ist in den deutschsprachigen Ländern auch die
Juristenausbildung. Diese gliedert sich in zwei Teile. Zunächst findet sie an den
Universitäten statt, dann führt die Referendarausbildung oder ein Gerichtsprakti-
kum in die Praxis. Das Hochschulstudium soll etwa sieben Semester dauern (durch-
schnittlich sind es 10,2) und wird mit dem 1. Staatsexamen abgeschlossen. Es ist
in Deutschland nur wenig durch Zwischenprüfungen gegliedert und überlässt die
Studiengestaltung trotz zunehmender Verschulung und Bemühung um Studienpläne
und andere Instrumente der Hochschuldidaktik noch immer stark der Lernfreiheit
des Studenten. Ausbildung und Prüfung liegen nur in Österreich und der Schweiz,
nicht aber in Deutschland in einer Hand, denn letztere liegt in der Kompetenz der bei
den Justizministerien der Länder angesiedelten Justizprüfungsämter, die Professo-
ren und Praktiker als Prüfer beschäftigen. Die Kluft zwischen Ausbildung und Prü-
fungsanforderungen ist der Grund dafür, dass in Deutschland die meisten Studenten
Repetitorien besuchen. Diese stellen gewissermaßen den kleinsten gemeinsamen
Nenner aller Prüfer des Staatsexamens dar. Um Informationsbasis und Denkstil des
deutschen Durchschnittsjuristen zu kennen, muss man die Repetitorien mit ihren
Klausurtechniken und Prüfungsprotokollen kennenlernen. Für eine kritische Ana-
lyse und intellektuelle Erfassung der politischen Bezüge der Juristenarbeit bleibt in
einem derart am Beherrschen eines hauptsächlich die Rechtsprechung enthaltenden
Lernstoffs kaum ein Raum. Mit dem anspruchsvollen Programm der Humboldt-
schen Universität, von der sich heute so viele Reformer lossagen, hat dieser seit
Jahrzehnten eingebürgerte Ausbildungsstil nichts gemein. Ein um Bildung statt um
Vermittlung von Techniken bemühtes Hochschulstudium wäre besser geeignet, das
Bewusstsein der Juristen für die politische Relevanz ihrer Tätigkeit zu stärken und
kritisch und unabhängig denkende Richterpersönlichkeiten hervorzubringen.
23
Kritisch zu dem Berufsstand J. Wagner, Vorsicht Rechtsanwalt. Ein Berufsstand zwischen
Mammon und Moral (2014).
24
Den Vortrag hielt M. Henssler; s. auch schon ders, Die Anwaltschaft zwischen Berufsethik und
Kommerz, AnwBl 2008, 721; ders, Die internationale Entwicklung und die Situation der Anwalt-
schaft als freier Beruf, AnwBl 2009, 1.
II. Die Juristenausbildung 31
Die zweite Phase der Juristenausbildung führt in Deutschland von der ersten zur
zweiten Staatsprüfung. Dieser Weg vom Referendar- zum Assessorexamen wird
in der Praxis, in „Stationen“ zurückgelegt. Einige versuchen in dieser Zeit, eine
Doktorarbeit anzufertigen. So geschätzt der Doktor insbesondere unter Wirtschafts-
juristen ist, zum „Volljuristen“ macht nicht der akademische Grad, sondern das be-
standene Assessorexamen und die für die Berufschancen allein maßgebliche Note25.
Den jungen Juristen auf diese Prüfung vorzubereiten, ist Sache von Ausbildern und
Arbeitsgemeinschaftsleitern aus der Praxis. Auch hier bleibt freilich das Meiste
dem Selbststudium oder dem Repetitor überlassen.
Die Trennung zwischen akademischer und praktischer Ausbildung zu überwin-
den, war das Ziel der einstufigen Ausbildung26, die 1984 wieder abgeschafft wurde.
Das Bologna-Modell hat man in der deutschen Juristenausbildung nicht übernom-
men (vgl unten).
Auch die österreichische Juristenausbildung führt nicht zu einem „Volljuristen“.
Sie hat insofern Anschluss an den europäischen Standard erlangt, als der Doktor-
grad heute nur noch aufgrund einer Dissertation und eines Doktoratsstudiums ver-
liehen wird und nicht mehr aufgrund mündlicher Prüfungen, die sich bei gleichem
Gegenstand einfach an die Staatsprüfungen anschlossen. Während des Diplom- und
des Doktoratsstudiums sieht der angehende Jurist von der Praxis des Rechtslebens
nur wenig. Nach dem Ende der Universitätsausbildung teilen sich die Wege: Es
nimmt zwar der Großteil der Hochschulabsolventen ein „Gerichtsjahr“ auf sich,
doch dieses führt nicht zu einer für das Berufsleben wirklich maßgeblichen Prüfung.
Vielmehr gibt es für das Richteramt, für die Rechtsanwaltschaft und für den Dienst
in der öffentlichen Verwaltung je besondere Prüfungen mit längerer und nach dem
angestrebten Beruf getrennter Vorbereitungszeit. Der österreichische Jurist ist daher
stärker spezialisiert als der deutsche, seine Mobilität bleibt erheblich geringer. Noch
weiter geht das französische Ausbildungssystem in der Spezialisierung: Es gliedert
die künftigen Juristen schon während des Studiums (im Wesentlichen in 3 Gruppen:
Justizrecht, öffentliche Verwaltung, Wirtschaftsjuristen). Der im Zuge Europäischer
Rechtsangleichung durch die Bologna-Reform neu eingeführte Bachelor und die
Verschulung des Studiums durch Prüfung und Vergabe von Creditpoints in den Vor-
lesungen und Übungen führen zu einer weiteren Verflachung der Ausbildung. Diese
Reform macht die in zeitlicher und inhaltlicher Hinsicht (zu) niedrigen Anforde-
rungen der romanischen und angelsächsischen Länder zum allgemeinen Maßstab.
Insbesondere für die Juristenausbildung ist ein sechssemestriges Grundstudium
viel zu kurz, ebenso das der Spezialisierung dienende zweisemestrige Masterstudi-
um. Jurisprudenz, die über ein kurzfristig angelerntes Wissen hinausreicht, die zur
25
Von Ludwig Thoma stammt der Satz über den königlichen Landgerichtsrat Alois Eschenberger:
„Er war ein guter Jurist und auch sonst von mäßigem Verstande.“ „Er bekam im Staatsexamen
einen Brucheinser und damit für jede Dummheit einen Freibrief im rechtsrheinischen Bayern“; zit.
nach v. Münch, Juristen – „elitär und arrogant“?, NJW 2000, 1312.
26
Zu diesem Konzept Stiebeler, Hamburger Modell einer einstufigen Juristenausbildung, JZ 1970,
457 ff; Thoss/Lautmann/Fest, Einstufige Juristenausbildung im Bereich strafrechtlicher Sozial-
kontrolle (1976); Das Bielefelder Modell der einstufigen Juristenausbildung (1978); Voegeli, Ein-
phasige Juristenausbildung (1979).
32 § 2 Der Jurist
Rechtsanwendung und zu einem kreativen Umgang mit dem Stoff in der Lage ist,
benötigt eine längere Ausbildung. Es ist bedauerlich, dass sich die Schweiz dieser
unausgegorenen Reform ohne Notwendigkeit angeschlossen hat. In Deutschland
haben sich die Länderjustizminister mit dem formalen Argument gegen die Über-
nahme dieses Modells zur Wehr gesetzt, dass das Referendarexamen keine Uni-
versitätsabschluss-, sondern eine Einstellungsprüfung für den Referendardienst sei.
Gerade in Deutschland ist aber leider auch weithin ein angepasstes Lernen zu beob-
achten, das die schier unüberschaubare Flut höchstrichterlicher Rechtsprechung zu
beherrschen versucht, aber wenig Verständnis für Zusammenhänge, übergreifende
Prinzipien und an der ratio legis orientierte Methode entwickelt und dementspre-
chend die juristischen Bildungsfächer vernachlässigt, aber auch Nebenfächer wie
Internationales Privatrecht oder Völkerrecht. Wer sich den wesentlichen Inhalt von
mehr als 130 Bänden BVerfGE oder 190 Bänden BGHZ (usw.) einzuprägen ver-
sucht, wird dadurch allein kein guter Jurist, hat aber keine Zeit mehr, Völkerrecht,
Internationales Privatrecht (IPR) oder gar Römisches Recht zu studieren.
Eine Reduktion des Juristennachwuchses auf die vorhandenen Begabungen wäre
zu begrüßen. Zwar meinen viele, man brauche keine Begabung, um Jurist zu wer-
den. Der Entschluss zum Studium des Rechts fällt oft aus Verlegenheit: Man will
studieren und weiß nicht recht was. In Wahrheit fordert aber gerade die Jurispru-
denz spezifische Begabung – auch hierin mehr Kunst als Wissenschaft. Die Krite-
rien dieser Begabung zu beschreiben, ist freilich schwer: Fähigkeit zur schnellen
Erfassung auch von komplexen Sachverhalten, klare und einfache Sprache und die
Kunst des Argumentierens. Die Anforderungen ans Gedächtnis sind in der Praxis
geringer, als man gemeinhin glaubt. Schon gar nicht muß man Gesetze auswendig
lernen. Wenn man den Überblick hat und die Zusammenhänge kennt, kann man
Alles nachschlagen oder im Internet finden. Einigermaßen verlässliche Indikatoren
juristischer Begabung sind die Gymnasialnoten in Deutsch, Latein und Geschichte
(gute Lehrkräfte vorausgesetzt). Der Wert mathematischen Talents für den Juristen
wird hingegen stark überschätzt. Interesse für Politik und am Wirtschaftsteil von
Zeitungen kündigen oft eine juristische Begabung an.
Sucht man nach einer realistischen Aussage über die Stellung des Juristen in der
Zukunft, so bieten sich nur wenige Anhaltspunkte an:
Das sogenannte Juristenmonopol wird weiter abgebaut werden. Als Juristen-
monopol27 bezeichnet man die lange Zeit geübte Präferenz der staatlichen Ver-
waltung bei Neueinstellungen: Bei der Wahl zwischen Volkswirten und Juristen,
Pädagogen und Juristen, Soziologen und Juristen entschieden sich viele Personalre-
ferenten – selbst Juristen – für ihresgleichen. Bestimmend dafür waren die vielsei-
tige Verwendbarkeit der Juristen und die Angst vor ungeschickter Aktenerledigung
der Nichtjuristen. Dieses Juristenmonopol hat in Deutschland nach dem ersten und
in Österreich nach dem zweiten Weltkrieg kräftige Abstriche erfahren. Der zuneh-
mende Drang zur Spezialisierung der Studiengänge (zB Auswärtige Beziehungen,
27
Zu ihm Liefmann-Keil in Systeme und Methoden in den Wirtschafts-und Sozialwissenschaften,
FS Beckerath (1964) 271 ff; Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland (1965)
262; Mayer-Maly, Juristenmonopol und Wirtschaftsakademiker in: Wirtschaftskurier (1972) 5 ff.
II. Die Juristenausbildung 33
28
Gsell AcP 2014 (2014) 99 ff spricht euphemistisch von einem Mehrebenensystem.
29
Vgl Kaupen, Die Hüter von Recht und Ordnung (1969); Weyrauch, Zum Gesellschaftsbild des
Juristen (1970); Ansätze zu einer Wissenschaftssoziologie der Jurisprudenz bei Klausa, Kölner
Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 18/1975, 100 ff.
§ 3 Der Fall
Inhaltsverzeichnis
I. Fallbeispiele ��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 35
II. Methode und Technik der Falllösung ����������������������������������������������������������������������������������� 42
I. Fallbeispiele
Zum Juristen gehört ein Fall. Hierin gleicht er dem Arzt. Ein juristischer Fall ist
ein Sachverhalt, über den unter den Parteien Streit herrscht. Der unproblematische
Sachverhalt, der zur beiderseitigen Zufriedenheit abgewickelte Tausch, wird – wie
der gesunde Patient – nicht zum Fall. Erst der Konflikt lässt einen Sachverhalt zum
Fall werden1.
Dass in Konfliktfällen oft verschiedene Argumente und Lösungen in Betracht
kommen und wie die ars distinguendi, das Entscheiden durch Vergleichen von Fäl-
len und Herausarbeiten von Unterschieden funktioniert2, zeigt anschaulich ein Fall
aus dem alten Rom, der das Problem der Abstimmung in Richterkollegien behan-
delt:
Ulpianus/Julianus Dig 4, 8, 27, 3 inde quaeritur apud Iulianum, si ex tribus arbitris unus
quindecim, alius decem, tertius quinque condemnent, qua sententia stetur: et Iulianus scri-
bit quinque debere praestari, quia in hanc summam omnes consenserunt3.
Ein aus drei Richtern bestehendes Spruchkollegium war sich zwar in der Verurtei-
lung des Beklagten, nehmen wir an, auf Schmerzensgeld, einig, aber nicht über
1
Vgl auch J. Schapp, Der Fall in der juristischen Methodenlehre in Gabriel/Gröschner (Hrsg),
Subsumtion (2012) 227 ff.
2
Ausführlich dazu unten § 4 IV.
3
S auch Paulus/Iulianus D 42,1,38,1 – Si diversis summis condemnent iudices, minimam
spectandam esse Iulianus scribit.
© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015 35
H Honsell, T Mayer-Maly, Rechtswissenschaft, Springer-Lehrbuch,
DOI 10.1007/978-3-662-45682-8_3
36 § 3 Der Fall
dessen Höhe. Der eine plädierte auf fünfzehntausend, der andere auf zehn-, der
dritte nur auf fünftausend.
Wie ist dieses Dilemma zu lösen?
Zunächst erscheint die Annahme naheliegend, dass es bei einem non liquet über-
haupt keine Entscheidung gibt. In Rom war dies möglich. Die Richter, die in Zivil-
sachen regelmäßig Laien waren (der arbiter war ein privater Schiedsrichter), konn-
ten sich dem Amt entziehen, mussten aber schwören, dass ihnen der Fall nicht klar
sei ( iurare rem sibi non liquere). Der Fall wurde dann anderen Richtern übertragen.
Heute geht das nicht mehr. Der Kläger hat ein Recht auf ein Urteil und der gesetzli-
che Richter, der meist Berufsrichter ist, muss es fällen. Verweigert er dies so macht
er sich nach Art 4 CC eines déni de justice schuldig. In unserem Fall wird die Mög-
lichkeit einer non liquet-Entscheidung nicht erwogen. Vielmehr wird versucht, aus
den unterschiedlichen Voten eine gemeinsame Entscheidung heraus zu destillieren.
Nach Julian lautet das Urteil auf fünftausend, weil dies die Summe ist, in der alle
drei Richter übereinstimmen4. Es ist der kleinste gemeinsame Nenner.
Dem liegt die Vorstellung zugrunde, dass in dem nicht konsentierten Mehr ein
übereinstimmendes Weniger enthalten ist: minus in maiore5. Wer zehn oder sogar
fünfzehntausend zusprechen will, stimmt jedenfalls minimaliter und hilfsweise
auch den fünftausend zu. Zu ähnlichen Größenschlussen s unten § 5 IV 6. Proble-
matisch an dieser Lösung ist, dass sie dem Richter mit dem niedrigsten Votum quasi
ein Veto gegenüber den anderen einräumt.
Heute stellt man zurecht auf die Mehrheit der Richter ab. Art 196 Abs 2 GVG
bestimmt: Bilden sich in Beziehung auf Summen, über die zu entscheiden ist, mehr
als zwei Meinungen, deren keine die Mehrheit für sich hat, so werden die für die
größte Summe abgegebenen Stimmen den für die zunächst geringere abgegebenen
so lange hinzugerechnet, bis sich eine Mehrheit ergibt.
Das ist schon nach der ersten Hinzurechnung der Fall und ziemlich umständlich
ausgedrückt, ein Votum für zehntausend, also den gemeinsamen Nenner der Mehrheit.
Variiert man den Fall, so dass es nicht um Schmerzensgeld in einem Zivilprozess
geht, sondern um eine Freiheitsstrafe in einem Strafprozess, so kommt ein anderes
Argument ins Spiel. Die Römer entschieden in dubio pro reo, bzw in dubio mitius6,
im Zweifel für den Angeklagten bzw für das mildere Urteil. Das ist noch heute ein
wichtiger rechtsstaatlicher Grundsatz: Wenn sich die Tat dem Täter nicht zweifels-
frei nachweisen lässt, ist er freizusprechen7.
4
Vgl auch W. Ernst, Abstimmen über Rechtserkenntnis, JZ 2013, 637, 638; ders, Schiedsrichter-
mehrheiten im klassischen römischen Recht, FS Sirks (2014) 161 ff.
5
Diese Argumentationsfigur findet man im römischen Recht auch in anderem Zusammenhang: So
bejaht Julian eine wirksame Übereignung des Geldes aufgrund eines Darlehens, wenn der Geber
schenken, der Nehmer es aber nur als Darlehen annehmen wollte, s Iulianus D 41,1,36; die Frage
war freilich strittig vgl Honsell, Röm Recht7 44.
6
Paulus/Iulianus Dig 42, 1, 38, pr: Inter pares numero iudices si dissonae sententiae proferantur,
in liberalibus quidem causis, secundum quod a divo Pio constitutum est, pro libertate statutum
optinet, in aliis autem causis pro reo.
7
Im modernen Recht vgl Art 196 Abs 3 GVG: „Bilden sich in einer Strafsache, von der Schuld-
frage abgesehen, mehr als zwei Meinungen, deren keine die erforderliche Mehrheit für sich hat,
so werden die dem Beschuldigten nachteiligsten Stimmen den zunächst minder nachteiligen so
lange hinzugerechnet, bis sich die erforderliche Mehrheit ergibt. Bilden sich in der Straffrage zwei
Meinungen, ohne dass eine die erforderliche Mehrheit für sich hat, so gilt die mildere Meinung“.
I. Fallbeispiele 37
Zu den ältesten Rechtsfällen, die auch heute noch häufig sind, gehören Grenz-
und Nachbarschaftsstreitigkeiten.
Ein Getreidefarmer und ein Viehrancher stritten sich darüber, wer für den Schaden verant-
wortlich ist, den Vieh des Ranchers am Getreide des Farmers angerichtet hat. Der Farmer
stellt sich auf den Standpunkt, der Rancher sei für sein Vieh verantwortlich und müsse es
deshalb einzäunen. Der Rancher entgegnet, es sei üblich, dass das Vieh frei und ungeachtet
des Eigentums über das Weideland zieht; weil dieses viel grösser sei als die Getreidefarm,
obliege es dem Farmer, zum Schutz vor dem Vieh das Getreide einzuzäunen. Andernfalls
würden die Kosten für die Zaunerrichtung und das Haftungsrisiko eine rentable Viehzucht
verhindern.
Wie ist der Fall zu entscheiden? Besteht eine Pflicht zum fencing in oder zum fenci-
ng out? Heute, wo die Welt verteilt ist und es kein freies Land mehr gibt, verlangen
wir, dass der Rancher das Vieh einzäunt. Frisst es fremdes Gras oder Getreide, muss
er aufgrund der Eingriffskondiktion (§ 812 BGB, § 1041 ABGB, Art 61 OR) für
den Verbrauch fremden Gutes Wertersatz leisten. Die economic analysis of law will
den Fall nach dem Prinzip des cheapest cost avoider entscheiden8, das Unfall- und
Unfallvermeidungskosten vergleicht und den Schaden den tragen lässt, der ihn mit
geringeren Kosten vermeiden könnte.
Den Nuancen- und Differenzierungsreichtum der Zivilrechtsdogmatik beleuch-
tet etwa folgender Fall:
G hat L ihre wertvolle Geige für drei Tage zum Ausprobieren geliehen. L behandelt sie
pfleglich und gibt sie nach 3 Tagen in unversehrtem Zustand zurück.
Varianten:
L hat die Geige nach vier Wochen immer noch nicht zurückgegeben.
L gibt die Geige beschädigt zurück.
L verkauft die Geige an D.
G hat der L die Geige nicht geliehen, sondern L hat sie heimlich entwendet und an D
verkauft.
Der Ausgangsfall ist kein juristischer Fall, weil L sich korrekt verhalten, die Geige
pfleglich behandelt und vereinbarungsgemäß zurückgegeben hat.
Gibt L die Geige verspätet oder beschädigt zurück, so hat G Schadensersatzan-
sprüche aus Vertrag und Delikt, die aber nicht kumuliert werden. Es handelt sich um
einen Anspruch aus zwei rechtlichen Titeln.
In der nächsten Variante ist zuerst zu prüfen, ob G die Geige von D herausverlan-
gen kann. G ist Eigentümerin der Geige. Der Eigentümer kann die Sache grundsätz-
lich von jedem herausverlangen, der sie ihm rechtswidrig vorenthält. Diese Heraus-
gabeklage nennt man nach ihrem römischen Vorbild Vindikation (vgl § 985 BGB,
§ 366 ABGB, Art 641 Abs 2 ZGB).
Fraglich ist aber, ob G sein Eigentum durch die Veräußerung der Geige von L an
D verloren hat. Dies wird in allen drei Rechtsordnungen bejaht, wenn, wie im Fall,
G der L die Geige geliehen, also anvertraut hat (§ 932 BGB, § 367 ABGB, Art 933
ZGB). Die ratio legis dieser Vorschriften ist der Verkehrsschutz: Wer gutgläubig von
einem Besitzer erwirbt, ist in diesem Vertrauen zu schützen. Das liegt im Interesse
8
Näher zum sog Coase-Theorem s. Coase, J. of Law & Economics 3 (1960) 1, 13; dazu Kötz, FS
Zivilrechtslehrer 1934/35 (1999) 245, 251 ff. Nach dieser Theorie müsste man im Wald entlang
den Straßen auch Wildzäune gegen Verkehrsunfälle bauen, wenn das auf Dauer billiger wäre; dazu
Honsell/Isenring/Kessler, Schweizerisches Haftpflichtrecht5 (2013) § 1 V 2.
38 § 3 Der Fall
des redlichen Verkehrs. Allerdings nur, wenn der Eigentümer die Sache dem Besitzer
anvertraut hat. Geschützt wird der Erwerber auf Kosten des bisherigen Eigentümers,
der sein Eigentum verliert, was einen relativ krassen Eingriff in das Grundrecht
‚Eigentum‘ bedeutet (vgl zB Art 14 GG; Art 26 BV, Art 5 StGG), aber so erklärt
wird, dass G durch das Verleihen der Geige der unredlichen L vertraut hat und „jeder
seinen Glauben dort suchen soll, wo er ihn gelassen hat“ (altdeutsches Sprichwort).
Im römischen Recht war das Eigentum besser geschützt, denn gutgläubiger Erwerb
war in unserem Fall, in dem ja Unterschlagung (§ 246 dtStGB; in Österreich und
der Schweiz Veruntreuung, Art 138 chStGB, § 133 öStGB) vorliegt, und in allen an-
deren Fällen des Abhandenkommens, ausgeschlossen. Eigentum konnte überhaupt
nur in eng begrenzten Fällen vom Nichteigentümer gutgläubig erworben werden9.
Dies geschah indes auch dann nicht durch sofortigen gutgläubigen Erwerb, sondern
erst durch ein- oder zweijährige Ersitzung, eine Frist, die dem wahren Eigentümer
zugebilligt wurde, um nach dem Verbleib seiner Sache zu fahnden.
Gai 2, 44: quod ideo receptum videtur, ne rerum dominia diutius in incerto essent, cum
sufficeret domino ad inquirendam rem suam anni aut biennii spatium, quod tempus ad
usucapionem possessori tributum est.
Was deshalb eingeführt worden ist, damit das Eigentum an den Sachen nicht zu lange im
Unsicheren sei, zumal ein Zeitraum von einem bzw zwei Jahren – die Zeit, die dem Besit-
zer zur Ersitzung zugeteilt ist – dem Eigentümer zur Nachforschung nach seiner Sache
genügen muss.
In der Variante hat G die Geige nicht verliehen, sondern sie wurde ihr gestohlen.
Hier konnte nach römischem Recht der gutgläubige Erwerber ebenfalls nicht er-
sitzen. Der Eigentümer konnte vielmehr seine Sache, wo und wann immer er sie
fand, vindizieren (ubi rem meam invenio, ibi vindico). Nach geltendem Recht wird
der (gutgläubige) Erwerber auch hier geschützt, allerdings nicht durch sofortigen
gutgläubigen Erwerb, sondern nur durch Ersitzung nach einer Frist von 3 (§ 1466
ABGB), 5 (Art 728, 935 ZGB) bzw 10 Jahren (§ 937 BGB).
Hat jemand im Dritten Reich Raubkunst10 erworben, zB einen Rembrandt aus
jüdischem Besitz oder ein Bild von Chagall, das als „entartete“ Kunst konfisziert
worden war, so scheidet Ersitzung mangels Gutgläubigkeit aus. Verkauft er es aber
9
Ein Beispiel findet sich bei Gaius Inst 2,50: Unde in rebus mobilibus non facile procedit, ut
bonae fidei possessori usucapio competat, quia qui alienam rem vendidit et tradidit, furtum com-
mittit; idemque accidit etiam, si ex alia causa tradatur. sed tamen hoc aliquando aliter se habet;
nam si heres rem defuncto commodatam aut locatam uel apud eum depositam existimans eam esse
hereditariam, vendiderit aut donaverit, furtum non committit. – Bei beweglichen Sachen kommt es
deshalb nicht leicht vor, dass der gutgläubige Besitzer ersitzen kann, weil wer eine fremde Sache
verkauft und übergibt, Diebstahl begeht; das trifft auch zu, wenn aus einem anderen Rechtsgrund
übergeben wird. Manchmal verhält es sich allerdings anders; denn wenn der Erbe des Verstor-
benen eine Sache, die diesem geliehen oder vermietet oder bei ihm hinterlegt worden war, im
Glauben, es handle sich um eine zum Nachlass gehörige Sache, verkauft oder verschenkt, begeht
er keinen Diebstahl.
10
Darunter fällt nicht nur, was den meist jüdischen Eigentümern weggenommen wurde, sondern
auch was sie vor ihrer Flucht zwangsweise billig verkaufen mussten, um die zynische „Reichs-
fluchtsteuer“ zu bezahlen und die nötigsten Mittel für die Flucht zu haben. Ob auch der angeord-
nete Verkauf „entarteter“ Kunst durch Museen darunter fällt, ist mindestens zweifelhaft.
I. Fallbeispiele 39
später weiter, an jemanden, der von der Herkunft des Bildes nichts weiß, so kann
der Käufer das Bild gutgläubig ersitzen und der Eigentümer bzw seine Erben gehen
leer aus. Das zeigt, dass die römische Lösung besser war. Dort war eine Ersitzung
bei Diebstahl, Unterschlagung, Raub usw. überhaupt nie möglich, also auch nicht
bei Gutgläubigkeit eines späteren Besitzers.
Ein noch schlimmerer, die Restitution jüdischen Eigentums hindernder Fehler
des deutschen Rechts ist die mit der Schuldrechtsmodernisierung 2002 gesetzlich
normierte Verjährung der Vindikation (§ 197 Abs 1 Ziff 1 BGB, Frist: 30 Jahre).
Nach richtiger, auch in der Schweiz und Österreich herrschender Ansicht verjährt
die Vindikation überhaupt nicht. Sie entfällt jedoch mit Ersitzung des Eigentums
durch einen gutgläübigen Dritten (§ 937 BGB, § 1460 ff ABGB, Art 728 ZGB). Der
deutsche Gesetzgeber, der die gemeinsamen Wurzeln von Verjährung und Ersitzung
(Extinktiv- und Aquisitiv-Verjährung) nicht mehr kennt, hat diesen Zusammenhang
übersehen. In Deutschland bewirkt die Verjährung der Vindikation, dass sogar der
bösgläubige Dieb oder Erwerber arisierten Gutes die Sache nach Eintritt der Verjäh-
rung behalten darf, obwohl er nicht Eigentümer geworden ist, weil Ersitzung nach
§ 937 Abs 2 BGB Gutgläubigkeit voraussetzt. Das ist in der Sache problematisch,
aber auch vom Standpunkt der Dogmatik, denn es führt zu einem dauernden Aus-
einanderfallen von Besitz und Eigentum. Die meisten anderen Länder kennen diese
Lösung nicht und schon die römischen Zwölftafeln haben, wie gesagt, die Ersitzung
einer gestohlenen Sache abgelehnt.
Ein letztes Beispiel ist ein Standardfall aus dem täglichen Leben:
E hat ein älteres Auto. Er kauft einen Neuwagen und gibt den Altwagen in Zahlung.
Der Neuwagen kostet 25‘000,- EUR. Der Kaufpreis setzt sich aus einer Barzahlung von
18‘000,- EUR und aus dem Gebrauchtwagen zusammen, der zu einem Preis von 7‘000,-
EUR angerechnet wird.
Das ist noch kein Fall. Die Parteien haben einen Vertrag geschlossen und sind ver-
pflichtet zu leisten. Die gegenseitigen Ansprüche erlöschen durch Erfüllung.
Es kann aber etwa geschehen, dass der Gebrauchtwagen zwischen Vertrags-
schluss und Übergabe an den Autohändler einen Totalschaden erleidet: Er war an
einer öffentlichen Straße geparkt und wurde während der Nacht von einem unbe-
kannten, flüchtigen Fahrer total beschädigt.
Jetzt wird sich der Autohändler auf den Standpunkt stellen, dass M eben den
Gesamtbetrag von 25‘000,- EUR in bar zahlen müsse. M dagegen wird diese Sum-
me vielleicht gar nicht flüssig haben und jedenfalls vorbringen, dass er sich nicht
zum Erwerb des Neuwagens entschlossen hätte, wenn ihm sein alter Wagen nicht
zu einem günstigen Preis abgenommen worden wäre. Nun haben wir den Konflikt
und damit einen Fall.
Ehe M sich auf einen Prozess einlässt, wird er Auskunft über seine Chancen
suchen. Jetzt kommt der Jurist ins Spiel. Welcher Art sind seine Überlegungen?
Der Jurist muss M mit der Feststellung überraschen, dass es entscheidend darauf
ankommt, ob man das von ihm abgeschlossene Geschäft als Kauf oder als Tausch
qualifiziert. Und es wird M noch mehr überraschen, dass über die rechtliche Quali-
fikation dieses Geschäftes trotz seiner Alltäglichkeit keine Einmütigkeit besteht.
40 § 3 Der Fall
Qualifiziert man den Vertrag als Kauf, so liegt es nahe, eine sog „Ersetzungs-
befugnis“ (facultas alternativa) des Käufers anzunehmen. Das bedeutet: M schuldet
aus dem Vertrag 25‘000,-, hat aber die Befugnis, durch Hingabe seines Altwagens
die Geldschuld von 25‘000,- auf 18‘000,-zu reduzieren. Kann M jedoch infolge der
Zerstörung seines Wagens von der Ersetzungsbefugnis keinen Gebrauch machen,
ist er 25‘000,- schuldig. Er trägt also das Risiko des Sachuntergangs.
Nimmt man dagegen Tausch an, so ist die Rechtslage ganz anders. Auf M’s Seite
ist zufällige Unmöglichkeit der Leistung eingetreten: Er verliert zwar den Anspruch
auf die Gegenleistung (den Neuwagen), muss aber auch selbst nichts leisten. Das
ganze Geschäft ist also hinfällig.
Es sind aber noch andere Konstruktionen denkbar. Man könnte zwei voneinan-
der unabhängige Kaufverträge mit Verrechnungsabrede annehmen: Einen Kauf des
Neuwagens um 25‘000 EUR und einen Verkauf des Altwagens um 7‘000,-EUR.
Die Frage, ob M „aufzahlen“ muss oder vom Vertrag freikommt, stellt sich dann
in folgender Weise: Hat es sich für M und den Autohändler um einen einheitlichen
Geschäftsvorgang gehandelt, dessen Zerlegung zu einem dem Parteiwillen wider-
sprechenden Resultat führen würde, oder ist das eine Geschäft nur aus Anlass des
anderen abgeschlossen worden?
Für jede der bisher benannten Konstruktionsmöglichkeiten lassen sich Argu-
mente vorbringen11. Der Blick ins Gesetzbuch bringt keine Entscheidung – weder
zum deutschen noch zum schweizerischen Recht. Dagegen hält das österreichische
Gesetzbuch (ABGB) mit seinem § 1055 an sich eine Zuordnungsregel für die Ab-
grenzung von Tausch und Kauf bereit. Danach wären Verträge, bei denen der Geld-
anteil den Sachleistungsanteil überwiegt, Kauf, andernfalls Tausch. Das ist die sog
Absorptionstheorie, die in Österreich für unseren Fall zur Anwendung kommen
müsste. Doch die Gerichte entscheiden anders: Sie orientieren sich an der Verkehrs-
übung, der sie die Qualifikation solcher Verträge als Kauf entnehmen12. Der deut-
sche Bundesgerichtshof hat einen Kauf mit Ersetzungsbefugnis angenommen13, den
Käufer also gleichfalls zur Barzahlung von 25‘000,- EUR verurteilt. Danach liegt
ein Kaufvertrag zum Preis von 25‘000,- EUR vor, der Gebrauchtwagen wird nur
zahlungshalber angenommen. Entscheidet man sich für diese Lösung, so wird man
M auf den Neuwagenpreis den Rabatt gewähren, der üblicher Weise eingeräumt
wird, wenn der Käufer keinen Wagen in Zahlung gibt.
Zum selben Ergebnis wie der BGH gelangt das Schweizer Bundesgericht in
einem ähnlichen Fall: Der Betreiber eines Reitstalls hatte zwei Pferde (Panic und
Fleury) für 13‘000,- Fr gekauft. 10‘000,- FR sollten dadurch beglichen werden,
dass ein weiteres Pferd der Verkäuferin (La Punt) in Pension genommen und zu-
11
Vgl aus dem Schrifttum Pfister, Monatsschrift für Deutsches Recht 1968, 361 ff; Dubischar, Alt
gegen Neu beim Kauf, JZ 1969, 175 ff; Leenen, Typus und Rechtsfindung (1971) 157 ff; Mayer-
Maly, Dogmengeschichtliches zu BGHZ 46, 338 in FS Larenz (1973) 673 ff; Honsell, Jura (1983)
523 ff.
12
OGH (29.5.1962), Stanzl/Friedl (Hrsg), Handelsrechtliche Entscheidungen Nr 3174; OGH, ÖJZ
1974, 353 (EvBl Nr 162); vgl dazu Mayer-Maly in Klang Kommentar zum ABGB IV/2, 246 f.
13
BGHZ 46, 338.
I. Fallbeispiele 41
geritten werde. 3‘000,- FR sollten in Geld bezahlt werden. Der Vertrag wurde un-
durchführbar, weil La Punt starb. Das Bundesgericht hat im Wege der ergänzenden
Vertragsauslegung entschieden, dass kein Fall von Unmöglichkeit nach Art 119, 20
Abs 2 OR vorliegt und der ganze Preis in Geld bezahlt werden muss. (BGE 107 II
144 = Praxis 1981 Nr. 176). Das Ergebnis ist also dasselbe wie das des deutschen
Bundesgerichtshofs. Falls der Käufer indes dartun kann, dass er sich den Kauf nicht
hätte leisten können und nicht abgeschlossen hätte, wenn er gewusst hätte, dass der
ganze Preis in Geld aufgebracht werden muss, dann müsste man wohl im Hinblick
auf den hohen Anteil der Dienstleistung (10‘000 Fr.) iSd Vertragsaufhebung ent-
scheiden.
Im Autohandel hat man ua wegen der Mehrwertsteuer versucht, eine andere
Konzeption zu entwickeln: Da der Gebrauchtwagen nicht beim Autohändler bleibt,
sondern weiterverkauft wird, tritt dieser nur als mit der Vermittlung beauftragter
Agent auf14. Damit verändern sich auch Gefahrtragung und Gewährleistung für den
Gebrauchtwagen.
Der Fall lehrt allerlei: Er zeigt, wie wenig im Rechtsleben genügt, um Alltägli-
ches zum Problem werden zu lassen. Er macht deutlich, wie dünn die Schicht des
Gesicherten ist. Wir erkennen, dass es nicht einmal einer tiefer greifenden Änderung
der Lebensverhältnisse bedarf, um Gerichte zur Rechtsfortbildung zu bewegen. Die
Grenzen zwischen den zu beurteilenden Fakten und den für die Beurteilung maß-
geblichen Normen können unscharf werden. Zwischen den Fakten und den Normen
besteht oft Interdependenz: Die Vertragsgestaltung kann auf die objektive Rechts-
lage elastisch reagieren, ein zunächst der Lösung A zuzuführender Fall wird durch
solche Reaktion unter die Lösung B gebracht. Die juristische „Konstruktion“ er-
schließt nicht unverrückbare Qualifikationen wie eine botanische Klassifikation,
sondern bleibt in Wechselwirkung mit den im Rechtsleben wirksamen Interessen.
Die wirtschaftlichen Interessen, an denen es bei Rechtsproblemen selten fehlt, kön-
nen oft viel einfacher formuliert werden als die juristischen Fragestellungen. Daher
drängt sich die Frage auf, ob man nicht lieber direkt über die Interessen entscheiden
soll. Ist der intellektuelle Aufwand zu juristischen Konstruktionsfragen vielleicht
gar überflüssig?
Fragen dieser Art (welche die Antwort schon in sich tragen) wurden von den
Vorkämpfern der „Interessenjurisprudenz“ – etwa von Müller-Erzbach15 – oft ge-
nug gestellt. Ohne Berechtigung waren diese Fragen gewiss nicht. In vielen Fällen
führt die Diskussion über Konstruktionsfragen weit von der an sich unverkennba-
ren Problematik eines Falles weg. Dennoch will bedacht sein, dass das Bemühen
um eine klare konstruktive Bewältigung eines Falles einen sozialen und politischen
Sinn hat: Es dient dem Streben nach Rationalisierung der Argumentationspositio-
nen16 und nach Versachlichung der Diskussion.
14
Zu diesem „Agenturvertrag“ BGH, JR 1978, 412; Oehler, Die Inzahlungnahme gebrauchter
Fahrzeuge, JZ 1979, 787.
15
Die Relativität der Begriffe (1913); Die Hinwendung der Rechtswissenschaft zum Leben (1939).
16
Zur juristischen Argumentation vgl Clemens, Strukturen juristischer Argumentation (1977) und
Alexy, Theorie der juristischen Argumentation3 (1996/2011).
42 § 3 Der Fall
Für die Lösung von Fällen hat sich insbesondere im deutschen (viel weniger im
österreichischen und im schweizerischen) Rechtsunterricht eine ausgeklügelte, re-
lativ starre Technik entwickelt. Es dominieren Leitfäden von Berg („Gutachten und
Urteil“), Schneider („Der Zivilrechtsfall“) und Sattelmacher („Bericht, Gutachten
und Urteil“), alle in vielen Auflagen17. Man unterscheidet den Gutachtensstil von
dem zur praktischen Fallentscheidung führenden Urteilsstil, der auf Beurteilung
einer Rechtslage zielt, wobei zwischen streitigen und unstreitigen Sachverhalten
unterschieden wird. Die Juristenausbildung beginnt mit dem Gutachten zu einem
unstreitigen Sachverhalt, das in den Universitätsübungen und beim Referendarexa-
men gefordert wird, und führt zur sog Relationentechnik, die in der Ausbildung zum
Assessor eine besondere Rolle spielt. Die Relation ist noch kein Urteil, sondern
stellt die Auffassung eines Referenten zu einem zu entscheidenden Streitfall dar;
sie besteht aus Sachbericht, Gutachten und Entscheidungsvorschlag. Bedeutung hat
die Etablierung einer weithin anerkannten und kanonisierten Lehre von der allein
richtigen Abfolge der Fragestellungen und Denkoperationen.
Im Urteil wird zuerst die Feststellung getroffen (zB „X wird wegen Diebstahls
verurteilt“), die anschließend begründet wird. Im Gutachten hingegen steht – regel-
mäßig im Konjunktiv – eine Frage am Anfang, zB „X könnte den Tatbestand des
Diebstahls verwirklicht haben“, oder „zu prüfen ist, ob das Verhalten des X den
Tatbestand des Diebstahls erfüllt“.
Fragen und Konjunktive wirken bisweilen monoton und schwerfällig. Auch
führt die Stilvorgabe zu Sprachregelungen von erstaunlichem Formalismus: So
wird allen Ernstes behauptet, die Konjunktionen „denn“ „da“ oder „weil“ dürften
nur im Urteil vorkommen, während Begründungen im Gutachten nur mit „also“
oder vergleichbaren Synonymen wie „daher, deswegen, folglich, mithin, somit“
usw angeknüpft werden solle. Das führt leicht zu Monotonien und ist Nonsens,
denn ein explikativer, das Ergebnis nicht vorwegnehmender Duktus verträgt bei
richtiger Satzfolge ohneweiters auch Kausalsätze.
Generell für vorzugswürdig hält man die sog Anspruchsmethode bei der die Be-
zeichnung der Anspruchsgrundlage immer an die Spitze des Gutachtens zu stellen
ist, wenn die sog Fallfrage am Ende des zu lösenden Falles auf einen Anspruch ge-
richtet ist (zB kann X Herausgabe, Schadensersatz, Vertragserfüllung usw. verlan-
gen). Der Jurist beginnt mit der Frage „quae sit actio?“. Lautet die Frage allgemein,
wie ist die Rechtslage?, so müssen alle denkbaren Ansprüche sämtlicher Beteiligten
geprüft werden. Als Merkregel empfiehlt man die vier W: Wer verlangt von wem
17
S noch Valerius, Einführung in den Gutachtenstil3 (2009).
II. Methode und Technik der Falllösung 43
was woraus?, wobei woraus die (gesetzliche) Anspruchsgrundlage meint, deren Vo-
raussetzungen dann das Prüfprogramm bilden. Kommen mehrere Anspruchsgrund-
lagen in Betracht, so gelten für die Reihenfolge ihrer Prüfung Zweckmäßigkeits-
grundsätze, deren Einhaltung in der Juristenausbildung strikt gefordert wird: So
sollen vertragliche Ansprüche (zB aus Kauf, § 433 BGB, § 1061 f ABGB, Art 184
OR) vor Ansprüchen aus unerlaubter Handlung (§ 823 BGB, § 1295 ABGB, Art 41
OR) geprüft werden, der Anspruch aus dem Eigentum (§ 985 BGB, § 366 ABGB,
Art 641 ZGB) vor dem aus Bereicherung (§ 812 BGB, § 1431 ABGB, Art 62 OR)
usw. Am Ende der Prüfung aller denkbaren Anspruchsgrundlagen kann man dann
sogar in Entscheidungen von oberen Bundesgerichten lesen: „Weitere Anspruchs-
grundlagen sind nicht erkennbar“18.
Gerade diese Suche nach Anspruchsgrundlagen und die einleitende Frage „quae
sit actio“ verdeutlichen jedoch die Gefahren, die sich bei zu starker Schematisie-
rung der Technik der Falllösung ergeben: Neben den Bemühungen um die Archi-
tektur eines Lösungsentwurfs wird dann leicht die Bedeutung der Suche nach den
tragenden Rechtsgedanken vernachlässigt oder der wesentliche Punkt übersehen.
Das überkommene Gefüge der Anspruchsgrundlagen fungiert als ein Denkmodell,
das den angehenden Juristen gefangen nimmt, über das er selten hinausgreift. An-
dererseits ist einzuräumen, dass der Anspruchsaufbau eine gewisse Ordnung, Rei-
henfolge und namentlich Vollständigkeit der Prüfung gewährleistet, die gerade der
Anfänger üben muss19. Richtig sieht Medicus20, dass die Suche nach Anspruchs-
grundlagen im Übungsbetrieb einen höheren Stellenwert hat als in der Vorlesung
und dass auch im Rahmen einer an Anspruch und Einrede orientierten Falllösungs-
technik „alle Mittel der Juristenkunst“ einzusetzen sind, die maßgeblichen Rechts-
gedanken herauszuarbeiten.
Der Anspruchsaufbau hat auf den ersten Blick eine gewisse Parallele zum ak-
tionenrechtlichen Denken der Römer, das freilich die erst im 19. Jh entwickelte
Unterscheidung zwischen materiellem und prozessualem Anspruch21 nicht gekannt
hat und bei dem auch die grundsätzlichen Unterschiede zwischen Gesetzesrecht und
Fallrecht zu beachten sind.
Auch wenn Relationentechnik und Anspruchsaufbau übertrieben sind, bleibt
eine genaue Schlüssigkeits- und Erheblichkeitsprüfung des klägerischen und des
Beklagten-Vortrags wichtig, denn erst diese zeigt, ob das Parteivorbringen relevant
ist. Zu prüfen ist, ob das Klägervorbringen, seine Richtigkeit unterstellt, den An-
spruch rechtfertigen würde. Trifft dies zu, so ist analog für die Beklagtenseite zu
prüfen, ob das Vorbringen, seine Richtigkeit unterstellt, zu einer Abweisung der
18
ZB BAG Arbeitsrechtliche Praxis, Nr 5 zu Art 9 Grundgesetz.
19
Dazu etwa die Fallsammlungen mit methodischer Anleitung von Honsell, Fälle mit Lösungen
zum Obligationenrecht3 (2005) und Harrer/Honsell/Mader, Prüfungsfälle zum (öst) Bürgerlichen
Recht6 (2013).
20
Medicus/Petersen, Bürgerliches Recht – eine nach Anspruchsgrundlagen geordnete Darstellung
zur Examensvorbereitung24 (2013) Rz 1 ff.
21
S Windscheid, Die Actio des römischen Civilrechts, vom Standpunkte des heutigen Rechts
(1856).
44 § 3 Der Fall
Klage führen müsste. Zu diesem Zweck muß sich der Richter schon vor der Beweis-
aufnahme die möglichen Ansprüche und Einreden, also die Rechtslage klarmachen
und sodann die Frage klären, wer wofür die Beweislast trägt. Erst dann weiß er,
welcher Tatsachenvortrag entscheidungserheblich und wer dafür beweispflichtig
ist. Klagt der Verkäufer auf Zahlung des Kaufpreises, so muß er den Abschluss des
Kaufvertrages beweisen und regelmäßig auch die Lieferung. Der Beklagte kann
einwenden, dass der Vertrag unwirksam, die Ware mangelhaft ist oder dass er be-
reits bezahlt hat.
Der Richter vermeidet so den Fehler, den man in Österreich und der Schweiz
gelegentlich beobachten kann, dass die Parteien wahllos Tatsachen vortragen und
Beweise anbieten, die vom Gericht aus Sorge vor dem Vorwurf der Verletzung
rechtlichen Gehörs oder der antizipierten Beweiswürdigung sämtlich erhoben wer-
den, obwohl sie nicht relevant sind, weil schon der Vortrag nicht schlüssig oder der
angebotene Beweis nicht erheblich war.
§ 4 Die Norm
Inhaltsverzeichnis
Welche Sätze sind Sätze des Rechts? Was unterscheidet den Rechtssatz von einem
Satz der Umgangssprache, von einem Satz der Mathematik oder der Theologie?
Der Rechtssatz besteht aus Tatbestand und Rechtsfolge. So sagt zB § 249, Abs 1
dStGB1: „Wer mit Gewalt gegen eine Person oder unter Anwendung von Drohun-
gen mit gegenwärtiger Gefahr für Leib und Leben eine fremde bewegliche Sache
einem andern in der Absicht wegnimmt, sich dieselbe rechtswidrig zuzueignen,
wird wegen Raubes mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr bestraft.“
Es wird aber nicht jeder Räuber bestraft. Ins Gefängnis kommen nur die Räuber,
die man erwischt. Daher ist der Satz, den § 249 dStGB ausspricht, als Tatsachen-
behauptung unrichtig und als Prognose ungenau. Er drückt nicht etwas aus, was
geschieht, sondern etwas, das geschehen soll.
1
In § 142 Abs 1 des österreichischen Strafgesetzbuches heißt es: „Wer mit Gewalt gegen eine
Person oder durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben (§ 89) einem anderen
eine fremde bewegliche Sache mit dem Vorsatz wegnimmt oder abnötigt, durch deren Zueignung
sich oder einen Dritten unrechtmäßig zu bereichern, ist mit Freiheitsstrafe von einem bis zu zehn
Jahren zu bestrafen.“ Vgl auch Art 140 chStGB.
© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015 45
H Honsell, T Mayer-Maly, Rechtswissenschaft, Springer-Lehrbuch,
DOI 10.1007/978-3-662-45682-8_4
46 § 4 Die Norm
Für den Rechtssatz ist also charakteristisch, dass er ein Sollen ausdrückt, ein
deontischer Satz ist. Weil Rechtssätze Aussagen über ein Sollen sind, gehören sie
zu den Normen. Normen sind auch die Gebote der Sitte („Man spuckt nicht aus“),
der Ethik („Respektiere die Gewissensentscheidungen deiner Mitmenschen“) und
der Religion („Du sollst den Tag des Herrn heiligen“). Von diesen anderen Normen
unterscheiden sich die Sätze des Rechts vor allem durch die unterschiedliche Sank-
tion2. Die Sätze anderer Sollensordnungen sind zum Teil unsanktioniert, zum Teil
anders sanktioniert. Die Ethik etwa hat keine Sanktionen zu Gebote. Sie kann nur
sagen: „Du handelst nicht richtig, wenn Du raubst.“ Die Sitte dagegen verfügt über
Sanktionen: Wer ausspuckt, wird von denen, die dies für ungehörig halten, gemie-
den. Die Religion steht insofern zwischen Sitte und Ethik: Sanktionen sind ihren
Sätzen nicht wesentlich, kommen aber vor („Wer den Tag des Herrn nicht heiligt,
wird in die Hölle kommen“). Die Sanktionen für religiöse Normen müssen nicht
im Jenseits liegen, sondern können als Tabus auch im Diesseits wirksam werden.
Die Eigenart der Sanktion eines Rechtssatzes besteht in der Ankündigung einer
Rechtsfolge. Rechtsnormen entsprechen durchwegs dem Schema: „Wenn A ist, soll
B sein“. Sie sind also rein formal betrachtet keine Sollenssätze („Du sollst nicht
töten“), sondern verknüpfen ein Sein mit einem Sollen („Wer tötet, ist als Mörder zu
bestrafen“). Das Sein, das die Voraussetzung für die Entstehung des Sollens bildet,
nennt man Tatbestand. Verwirklicht ein tatsächliches Geschehen oder ein Zustand
(Sachverhalt) einen von einer Rechtsordnung formulierten Tatbestand, so soll die
vorgesehene Rechtsfolge eintreten.
Die Rechtsfolge steht in enger Beziehung zu den Rechtsschutzeinrichtungen,
zu den Gerichten und Behörden. Das liegt für die Rechtsfolgen des Strafrechts auf
der Hand. Es wäre aber falsch, wollte man die Sanktion der Rechtsnorm und den
Eintritt von Rechtsfolgen nur unter dem Blickwinkel des Strafrechts sehen. Das
Strafrecht war zwar wissenschaftsgeschichtlich der wichtigste Zugang zur Einsicht
in die Struktur der Verknüpfung von Tatbestand und Rechtsfolge, diese Verknüp-
fung begegnet aber auch in allen anderen Rechtsgebieten.
Für öffentliches Recht und Strafrecht galt die alte Einteilung Modestins (D 1,
3, 7): Legis virtus haec est: imperare, vetare, permittere, punire – Das Gesetz kann
gebieten, verbieten, erlauben und bestrafen. Im Zivilrecht definierten die Römer die
Leistungsinhalte als dare facere prastare (Übereignen, Tun, Gewährleisten). Hinzu-
kam die Zahlung von Schadensersatz, namentlich im Deliktsrecht.
So bedeutsam die Eigenschaft der Rechtssätze, ein Sollen auszudrücken, für die
Erkenntnis ihrer Struktur ist, so falsch wäre es, die Seinsbezüge der Rechtssätze und
damit der Rechtsordnung zu vernachlässigen3. Diese sind verschiedenartig:
2
Über das Verhältnis des Rechts zu anderen sozialen Normenordnungen vgl Henkel, Einführung
in die Rechtsphilosophie2 (1977) 52 ff.
3
Über die Einfügung des Rechts in die Seinsordnung der Welt vgl Henkel (Fn 2) 172 ff und be-
sonders 220 ff.
II. Sein und Sollen des Rechts 47
a. Wie wir schon gesehen haben, ist der Rechtssatz kein reiner Sollenssatz. Viel-
mehr verbindet er mit Tatbestand und Rechtsfolge Sein und Sollen. Diese Ver-
bindung kennzeichnet auch die Stellung der Rechtsordnung als solcher. Sie rein
normativ zu betrachten und dabei von ihrer Effektivität sowie von ihren sozialen
Funktionen abzusehen, wäre ebenso verfehlt wie eine Verdrängung der normati-
ven Jurisprudenz durch Rechtstatsachenforschung und Judikaturbeschreibung.
b. Das Recht hat eine spezifische Seinsweise: die Geltung4. Wenn wir von einem
Baum sagen, dass er da ist, so heißt das, dass man ihn mit seinen Ästen und
Blättern sehen kann. Wenn man von einer Norm und insbesondere von einer
Rechtsnorm sagt, dass sie gilt, so bedeutet dies, dass sie in einer Gesellschaft da
ist. Diese gesellschaftliche Existenz einer Norm, ihre Geltung, setzt zweierlei
voraus: Normsetzung und Anerkennung der Norm. Das Stadium der Normset-
zung kann so weit zurückliegen, dass es historisch gar nicht mehr auffindbar ist.
Doch auch die in einer Gesellschaft von jeher bestehende Überzeugung, ein Satz
gelte als Norm, hat den Charakter einer Normsetzung. Dass neben der Normset-
zung die Anerkennung einer Norm Voraussetzung ihrer Geltung sei, wird aller-
dings von der Mehrheit der Rechtstheoretiker geleugnet. In der Tat spricht viel
dafür, eine einmal erzeugte Norm auch dann als geltend zu betrachten, wenn sie
von der Gesellschaft abgelehnt wird. Das Ende der Geltung eines Rechtssatzes
kann nicht einfach durch Meinungswandel herbeigeführt werden. Es bedarf dazu
eines besonderen Vorganges, den man Derogation nennt. Einem Rechtssatz
kann durch ausdrückliche Aufhebung (formelle Derogation), durch Schaffung
ihm widersprechender Rechtssätze (materielle Derogation) oder durch abwei-
chendes Gewohnheitsrecht derogiert werden. Letzteres aber stellt sich unwei-
gerlich ein, wenn ein Wandel der Auffassung zum Ende der Anerkennung einer
Norm führt. Leugnet eine Rechtsquellenlehre die Möglichkeit von Gewohnheits-
recht, so endet sie in derartigen Fällen bei der Behauptung der Geltung von totem
Recht. Die Fragwürdigkeit einer solchen Behauptung erweist den richtigen Kern
der Anerkennungstheorien des Rechts5, aber auch die Verflechtung von Sein und
Sollen6.
c. Von der Geltung eines Rechtssatzes ist seine Wirksamkeit zu unterscheiden. Sie
bezeichnet die Beachtung eines Rechtssatzes im Rechtsleben, die Häufigkeit der
Umsetzung des Sollens in ein Sein. Die Auskunft darüber, ob ein Rechtssatz gilt,
kann nur „ja“ oder „nein“ lauten. Die Aussage über seine Wirksamkeit hat dage-
gen quantitativen Charakter. Die Effektivität des Rechts ist nahezu nie total. Um
von der Geltung einer Rechtsordnung sprechen zu können, genügt es, dass sie
„im großen und ganzen“ wirksam ist. Quantitativ ist auch das Effektivitätsmini-
mum als Untergrenze der Rechtsgeltung. Ohnmacht des Rechts gegenüber den
Fakten kennzeichnete nicht nur das Schicksal mancher mittelalterlichen Norm,
auch im Völkerrecht der Gegenwart bildet die bescheidene Effektivität vieler
4
Zu ihr Larenz, Das Problem der Rechtsgeltung (1929/1967); Walter ZÖR 1961, 531 ff; Henkel
(Fn 2) 543 ff.
5
Solche Theorien haben zB Welcker, Letzte Gründe von Recht, Staat und Strafe (1813) und Bier-
ling, Zur Kritik der juristischen Grundbegriffe (1877) entworfen.
6
Zu ihr etwa Maihofer, Recht und Sein (1954), sowie Arthur Kaufmann (Hrsg), Die ontologische
Begründung des Rechts (1965).
48 § 4 Die Norm
7
Ein Beispiel für die Ohnmacht des Völkerrechts war die Geiselhaft des Botschaftspersonals der
USA im Iran: vgl das Urteil des Internationalen Gerichtshofes vom 15.12.1979 in Europäische
Grundrechte-Zeitschrift 1980, 26; Gross, American Journal of International Law (1980) 395 ff; aus
der Sicht des „islamischen Rechts“ Bassiouni, ebenda 609 ff.
8
Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 3, 1972, 259 ff.
9
Im Dritten Reich und in den Anfängen der DDR. In der Antike soll der Kaiser Diokletian die
Überschreitung von Höchstpreisen mit der Todesstrafe geahndet haben, vgl Laktanz, de morte
persecutorum 7, 6.
10
Zu ihr Grimmer, Die Rechtsfiguren einer Normativität des Faktischen (1971).
11
Allgemeine Staatslehre 1 (1900) 307.
II. Sein und Sollen des Rechts 49
12
Platon, Politeia 338c; dazu Salomon, SZ 32 (1911) 19 ff, 142 ff; D Nörr, Rechtskritik in der röm
Antike (1974) 20 f; Honsell, IURA 26, 1975, 177 f mwN.
13
Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, Akademieausgabe VI 235 f. Kant zitiert in die-
sem Zusammenhang den Satz necessitas non habet legem – Not kennt kein Gebot. Das Beispiel
ist schon bei Cicero, de off. 3, 90 überliefert; dort überlässt ein Weiser das Brett dem anderen. Die
Geschichte ist auch als „Brett des Karneades“ bekannt, vgl Laktanz, divinae institutiones 16,10.
14
BVerfGE 115, 118 anerkennt den übergesetzlichen Notstand nicht: Der gezielte Abschuss eines
entführten Passagierflugzeugs bei einem durch dieses drohenden Terrorangriff verstößt auch dann
gegen Art. 1 Abs 1 GG und ist unzulässig, wenn dadurch eine weit größere Zahl von Menschen
gerettet werden könnte.
15
Wie zB bei René Marcic, Rechtsphilosophie (1969); vgl ders, Mensch – Recht – Kosmos (1965).
16
Vgl Reinach, Zur Phänomenologie des Rechts (1953); Maihofer, Recht und Sein: Prolegomena
zu einer Rechtsontologie, (1954); Pavlakos, Rechtsontologie und praktische Vernunft (2008).
17
ZB BVerfGE 12, 205, 251 (Gesetzgebungskompetenz aus der Natur der Sache); öVfGH Slg
3919; OGH, SZ 46/112; OGH, JBl 1978, 428 f.
18
Vgl D 19, 5, 4; D 41, 2, 23, 2; D 50, 17, 188, 1; dazu Mayer-Maly, Studi Volterra II (1969) 113 ff.
50 § 4 Die Norm
19
Vgl Radbruch, Die Natur der Sache als juristische Denkform (1948), Gesamtausgabe 3, Rechts-
philosophie (bearb v Hassemer 1990) III 229 ff.; Schambeck, Der Begriff der „Natur der Sache“,
1964; Dreier, Zum Begriff der „Natur der Sache“ (1965); A. Kaufmann, Analogie und Natur der
Sache2 (1982); Neusüss, Gesunde Vernunft und Natur der Sache, 1970; Springer, Naturrecht und
Natur der Sache (1976); zur Natur der Sache jenseits des Juristischen Veit in Wirtschaftsordnung
und Staatsverfassung, FS Franz Böhm (1975) 615 ff.
20
Dernburg, Das bürgerliche Recht des Deutschen Reiches und Preußens I3 (1906) 85.
21
Das neue Bild des Strafrechtssystems4 (1961).
22
Um eine privatrechtliche Lehre von der Handlung bemüht sich Ernst Wolf, AcP 170 (1970)
181 ff.
23
Vgl Welzel, Naturrecht und Rechtspositivismus in FS Niedermeyer (1953) 290.
24
(Fn 19) 128.
III. Erscheinungsformen des Rechtssatzes 51
Die Jurisprudenz ist nicht die einzige Wissenschaft, die von Gesetzen spricht. Umso
deutlicher unterscheidet sich der juristische Gesetzesbegriff von dem vieler ande-
rer Disziplinen. Das naturwissenschaftliche Gesetz zeichnet die Ausnahmslosigkeit
seiner Geltung aus. Gibt es einen einzigen Fall, in dem es nicht gilt, ist das Gesetz
widerlegt. Der Jurist dagegen stellt dann, wenn sein Gesetz gebrochen wurde, die
Frage nach der Sanktion gegen den Verletzer. So wirkt sich ein Gesetzesbruch beim
juristischen Gesetz gegen den Rechtsbrecher, beim naturwissenschaftlichen aber
gegen das Gesetz aus.
Trotz dieses massiven Unterschiedes zwischen juristischem und naturwissen-
schaftlichem Gesetzesbegriff 25 gibt es auch Gemeinsamkeiten. Begreift man etwa
das physikalische oder das mathematische Gesetz als Aussage über einen allge-
meinen und notwendigen Zusammenhang, so teilt das juristische Gesetz zwar
nicht das Merkmal der Notwendigkeit, wohl aber das der Allgemeinheit. Begriff-
lich-apodiktischen Charakter nimmt die Betonung der wesentlichen Allgemeinheit
des juristischen Gesetzes bei Rousseau an, wenn er im 6. Kapitel des 12. Buches
seines „Contrat Social“26 sagt, über den besonderen Gegenstand gebe es keinen all-
gemeinen Willen. In Wahrheit ist die Allgemeinheit des Rechtsgesetzes nur typisch
und nicht zwangsläufig. In der Rechtsgeschichte begegnen immer wieder Einzel-
fallgesetze. Das scheinbar Begriffswesentliche ist auch diesmal Wertungsresultat.
Der sich gegen Einzelfallgesetze wendende Art 19 Abs 1 GG gibt einer derartigen
Wertung Ausdruck.
Als Gesetz ohne Notwendigkeit der Befolgung steht das juristische Gesetz nicht
allein. Insbesondere bei ästhetischen und musikalischen Gesetzen finden wir Ent-
sprechungen. Die nationalökonomischen Gesetze dagegen stehen den naturwis-
senschaftlichen näher, wenngleich sie zum größten Teil nur empirisch beobachtete
Tendenzen und regelmäßige Verläufe bezeichnen, nicht aber absolut notwendige
Kausalitäten und Konnexe.
Während das naturwissenschaftliche Gesetz durch Beobachtung ermittelt wird,
wird das juristische Gesetz von einem Gesetzgeber gesetzt. Es ist kein Wissens-,
sondern ein Willensakt. Die Imperativentheorie des Rechtssatzes kann sich darauf
berufen, dass Verbote und Gebote den ursprünglich alleinigen und auch heute noch
sinnfälligsten Inhalt der Gesetze ausmachen.
Von der Beschaffenheit des Legislators lässt die moderne Theorie die Gesetzes-
qualität einer Norm nicht abhängen. Sie will ja eine Erklärung aller vom Souverän
geschaffenen Rechtssätze anstreben, sei er nun ein Parlament, ein absoluter Mon-
25
Zu letzterem Frey, Gesetz und Entwicklung in der Natur, (1958); Schrödinger, Was ist ein Na-
tur-Gesetz? (1962); „Der Gesetzesbegriff in der Philosophie und den Einzelwissenschaften“ wird
in einem 1968 von Kröber herausgegebenem Sammelband behandelt; vgl dazu auch das Heft
1966/11 von „Studium generale“; zum juristischen Gesetzesbegriff Roellecke, Der Begriff des
positiven Gesetzes und das Grundgesetz (1969); Starck, Der Gesetzesbegriff des Grundgesetzes
(1970).
26
1762; in der Ausgabe von Bertrand de Jouvenel (1947) 224.
52 § 4 Die Norm
arch oder das zu einem Plebiszit aufgerufene Volk. In der Rechtsgeschichte ist aller-
dings die Neigung unverkennbar, nur vom Volk beschlossenes Recht als Gesetz zu
bezeichnen. So sagt im 2. Jh nChr der römische Rechtslehrer Gaius (institutiones 1,
3): Lex est quod populus iubet atque constituit – Gesetz ist, was das Volk anordnet
und beschließt.
Bei Thomas von Aquin (1225–1274) führte das Bestreben, das Gesetz aus der
Vielfalt rechtserzeugender Anordnungen herauszuheben, zur Aufnahme von sach-
lichen Anforderungen in den Begriff des Gesetzes. Er definiert27 die lex als dem
Gemeinwohl dienende Ordnung der Vernunft, die von dem, der eine Gemeinschaft
zu leiten hat, verkündet wird. Damit wird die Eignung zur Position des Legislators
vom Volk auf jeden Machtträger erweitert, die Norm aber unter die Anforderungen
der Publizität, der Vernünftigkeit und der Gemeinwohlförderung gestellt. In dieser
Tradition werden noch im Kodifikationsprojekt Maria Theresias, dem Codex The-
resianus, die Gesetze als „allgemeine, von der höchsten Gewalt zur Wohlfahrt der
Untertanen erlassene Verordnungen“ definiert28.
Seither ist die Gemeinwohldienlichkeit des Gesetzes als ein inhaltliches Merk-
mal stark zurückgetreten. Dies liegt vor allem an der Kompromittierung des Ge-
meinwohls durch den Nationalsozialismus29, daneben aber auch an der vertieften
Deutung eines anderen, materiellen Elementes des Gesetzesbegriffes: der Allge-
meinheit des Gesetzes. Als Gesetz im materiellen Sinn gilt die an einen nur nach
Gattungsmerkmalen bezeichneten Adressatenkreis gerichtete Norm. Bei dieser Be-
trachtungsweise erlangt die Figur des Normadressaten30, aber auch sein individu-
eller Rechtsbereich besondere Bedeutung. Die Allgemeinheit des Gesetzes ist Aus-
druck des Gleichheitsgedankens und gewinnt eine rechtspolitische Funktion in der
Ablehnung von Maßnahmen- und Einzelfallgesetzen und Sonderopfern.
Dem materiellen Gesetzesbegriff einen formellen gegenüberzustellen, macht
eine Besonderheit der deutschen Rechtslehre aus. Außer in einigen Nachbarstaaten
findet man diesen Dualismus des Gesetzesbegriffes (gegen den auch in Deutsch-
land einige Opposition besteht) sonst nicht. Als Gesetz im formellen Sinn gilt jeder
im vorgeschriebenen Verfahren zustande gekommene Willensakt der Legislative.
Mit der auf Laband31 zurückgehenden Unterscheidung zwischen materiellem und
formellem Gesetzesbegriff gewinnt die Terminologie der Parlamente enorme Be-
deutung: formelles Gesetz ist ja alles, was ein Parlament als Gesetz bezeichnet.
Formelles Gesetz ist alles, was in der Form erklärt wird, in der der staatliche Wille
erklärt wird. Formelles Gesetz ist daher nicht nur die politisch bedeutungsvolle Be-
schlussfassung über den Staatshaushalt, das Budgetgesetz, auch für die politisch
unbedeutende Veräußerung einer Liegenschaft durch den Staat kann ein formelles
Gesetz vorgeschrieben sein. In Österreich kann nicht einmal ein Stück Straße ge-
27
Summa Theologica Ia IIae, qu 90 a 4 co; vgl dazu Marcic, Geschichte der Rechtsphilosophie
(1971) 247 f; Cotta, Il concetto di legge nella Summa Theologiae di S Tommaso d’Aquino (1955).
28
Harras v Harrasowsky (Hrsg), Codex Theresianus I 2 (1883), 12 (S 36).
29
Vgl Stolleis, Gemeinwohlformeln im nationalsozialistischen Recht (1974).
30
Zu ihr Krüger, Der Adressat des Rechtsgesetzes (1969).
31
Das Staatsrecht des Deutschen Reiches I (1876).
III. Erscheinungsformen des Rechtssatzes 53
baut werden, ohne dass deren Verlauf in einer genauen Beschreibung gesetzlich
festgelegt wird32. Maßnahmengesetze33, mit denen der Staat einen politischen
Einzelakt setzt, indizieren durch ihre rechtspolitische Problematik die Grenzen der
Abhebung des formellen Gesetzesbegriffes vom materiellen. Dennoch ist der Dua-
lismus der Gesetzesbegriffe zweckmäßig. Kein Staatsrecht wird sich dazu bereitfin-
den, die Gesetzesform auf generelle Normierungen zu beschränken. Verständliche
demokratische Postulate gehen vielmehr dahin, auch andere Akte von erheblicher
Bedeutung, wie den erwähnten Haushaltsbeschluss des Parlaments an die Gesetzes-
form zu binden. Andererseits bringt es die Anerkennung von Autonomiebereichen
(Kirchen, Sozialpartner) mit sich, dass nicht alle generellen Normierungen den Weg
der Gesetzgebung durchlaufen. Bei den Tarifverträgen, die in Österreich Kollektiv-
und in der Schweiz Gesamtarbeitsverträge heißen, erweist der Begriff des Gesetzes
im materiellen Sinn seinen rechtspraktischen Wert: Er trägt die Analogie, die be-
wirkt, dass man diese kollektiven Normierungen von Arbeitsverhältnissen hinsicht-
lich ihrer Auslegung, aber auch im Hinblick auf ihre Publizität und auf Folgen der
Nichtigkeit einzelner Bestimmungen wie Gesetze behandelt.
Spricht man vom Rechtssatz, so denkt man an einen Gesetzessatz. Dieser setzt
ein Verfahren der Rechtserzeugung voraus, das erst auf einer bestimmten Kultur-
stufe möglich ist und auch heute keineswegs jeder Schaffung eines Rechtssatzes
vorangeht. Wir kennen sogar mehrere historische und zeitgenössische Hochkultu-
ren, die sich bewusst gegen eine Dominanz der Gesetzessätze bei der Konstitution
ihrer Rechtsordnung entschieden haben. Für die Gegenwart sind die angloamerika-
nischen Staaten zu nennen, für die Antike Rom.
Rechtssätze, die nicht in Gesetzessätzen formuliert sind, kann man ungeschrie-
benes Recht oder Gewohnheitsrecht nennen. Beide Ausdrücke leiden jedoch
an Ungenauigkeit. Auch das nicht in Gesetzessätzen gefasste Recht wird häufig
schriftlich festgehalten: in Aufzeichnungen des Gewohnheitsrechts wie dem mit-
telalterlichen Sachsenspiege134, in den französischen Coutumes oder in den Case
Reports der Engländer und Amerikaner. Der νόμος ἄγραφος – nomos agraphos (un-
geschriebenes Gesetz) der Griechen spielt heute kaum mehr eine Rolle: Recht und
Schrift sind auch dort untrennbar, wo keine Gesetze bestehen.
Das rechtshistorische Erfahrungsmaterial führt uns auch ungeschriebenes Recht
vor, das seit unvordenklicher Zeit gilt, ohne dass ausgemacht werden könnte, dass
es je unverbindlich gewesen wäre35. Für das evolutionistische Vorurteil, alles Recht
sei Entwicklungsprodukt, fehlt eine Verifikation durch Vorgeschichte und verglei-
chende Ethnologie. Gerade in archaischen Gesellschaften stoßen wir auf festgefügte
32
Vgl unten VII Fn 101.
33
Vgl Fortshoff, Gedächtnisschrift F W Jellinek (1955) 221 ff; Zeidler, Maßnahmegesetz und
„klassisches“ Gesetz (1961); K Huber, Maßnahme-Gesetz und Rechts-Gesetz (1963).
34
Zwischen 1220 und 1235; vgl die Edition der Quedlinburger Handschrift durch Eckhart in Fon-
tes iuris Germanici antiqui (1966); eine durch von Schwerin besorgte Taschenbuchausgabe ist
1956 bei Reclam erschienen.
35
Dennoch herrscht zB über die Anerkennung von Gewohnheitsrecht im römischen Recht Streit,
vgl einerseits (verneinend) Flume, Römisches Recht und Gewohnheitsrecht (1975); andererseits
(bejahend, meines Erachtens im Ganzen zu Recht) Waldstein, ZSS 93, 1976, 358 ff.
54 § 4 Die Norm
36
Zum Folgenden Staudinger/Honsell, BGB Einl Rz 232.
37
Nachweise bei Staudinger/Honsell, BGB Einl Rz 241 mwNw.
38
Vgl BGHZ 36, 219, 220 f, 224 ff.
39
ZB von Heck, AcP 122 (1924) 205.
40
Näher Honsell, Vier Rechtsfragen des Geldes in FS Canaris (2007) 461 ff, 466 ff. Das Nomi-
nalismusprinzip bezweckt die Aufrechterhaltung der Geldillusion. Würde man Geldforderungen
automatisch der Inflation anpassen, würde das die Inflation noch beschleunigen. Aus demselben
Grund waren in Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg Wertsicherungsklauseln weitgehend
verboten. Dadurch sollte das Vertrauen in die Währung gestärkt werden. – Das Nominalismus-
prinzip gilt allerdings nicht bei Hyperinflation; hier ist eine Anpassung nach den Grundsätzen des
Wegfalls der Geschäftsgrundlage möglich. Diese ist in § 313 BGB kodifiziert, gilt aber auch in den
anderen Ländern kraft Richterrechts.
IV. Richterrecht 55
Als weiteres Beispiel für Gewohnheitsrecht wird die Treuhand41 angeführt. Ist
der Anwendungsbereich von Gewohnheitsrecht lokal begrenzt, so spricht man von
Observanzen.
IV. Richterrecht
Es ergibt sich also ein höchst disparater Charakter der neben dem Gesetz stehenden
Rechtssätze. Als Entwicklungsprodukt zu qualifizierendes Gewohnheitsrecht steht
neben „ungeschriebenem“ Recht, das immer schon als geltend angesehen wurde.
Die Entscheidungen der Gerichte (Präjudizien, Richterrecht42) kommen als Er-
kenntnis-, aber auch als Entstehungsquellen des außergesetzlichen Rechts ebenso
in Frage wie die Meinung der Fachjuristen ( opinio doctorum) und die Manifestation
einer Rechtsüberzeugung durch allgemeine Gewohnheit.
Der diffuse Charakter dieser außergesetzlich formulierten Rechtssätze und ihre
geringe Kohärenz mögen dazu beigetragen haben, dass starke Strömungen der
neueren Rechtsquellenlehre versucht haben, die außergesetzlichen Rechtsquellen
völlig auszuschalten oder doch zu begrenzen. Demokratische und rechtsstaatliche
Konzepte taten ein Übriges: Die Ableitung des Gesetzesrechts aus dem Volkswillen
und die Wahrung der Rechtssicherheit durch Durchsetzung eines Legalitätsprinzips
(das für jeden Staatsakt eine gesetzliche Grundlage fordert) lassen sich als Argu-
mente für die Form des Gesetzes anführen.
Es ist gerade dieses Konzept eines demokratisch-rechtsstaatlichen Legalismus,
das die Rechtsordnung Kontinentaleuropas in Gegensatz zum angelsächsischen und
angloamerikanischen Recht bringt43. Dort kommt den Gesetzen (statutes) eine zwar
wachsende, aber noch immer nicht dominante Bedeutung zu. Auch wurden Gesetze
unter dem Aspekt des Eingriffs in das Freiheitsrecht des Bürgers kritisch gesehen
(vgl unten §§ 4 IV und 8). Daneben steht das alte Gemeinrecht ( common law) und
seine Fortbildung durch den Court of Chancery im Sinne einer Billigkeitskorrektur
( equity), die als unterschiedliche Rechtsmassen begriffen werden, ähnlich wie ius
civile und ius honorarium im römischen Recht44. Beide zu konkretisieren, ist Sache
der Gerichte. Haben sie einmal entschieden, soll es nicht zu Judikaturänderungen
kommen ( stare decisis). Bindungswirkung haben aber nur die unmittelbar die Ent-
scheidung tragenden Rechtsgedanken (die rationes decidendi), nicht das darüber
hinaus oder nebenbei Gesagte (die obiter dicta). Was die Common Law Courts
und der Court of Chancery an Fallrecht ( Case law) geschaffen haben, wird mehr
41
Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts (1996) 350 mit Nw auch zum deutschen
Recht Fn 373.
42
S zur richterlichen Rechtsfortbildung auch unten § 5 VII.
43
Eine kompetente Einführung in den Aufbau der englischen Rechtsordnung bieten Walker and
Walker’s, The English Legal System10 (2008); Blumenwitz/Fedtke, Einführung in das anglo-ame-
rikanische Recht (2014); vgl ferner Radbruch, Der Geist des englischen Rechts (1956); zum Ver-
hältnis zwischen den kontinentalen und den angloamerikanischen Ordnungen Esser, Grundsatz
und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts3 (1956/1974) 2.
44
S Honsell, Röm Recht7 9.
56 § 4 Die Norm
als Auffinden eines als schon vorhanden gedachten Rechtes denn als richterliche
Rechtsschöpfung begriffen. Demokratisch und rechtsstaatlich ist das angloameri-
kanische Konzept dennoch nicht weniger als das kontinentale. Das rechtsstaatliche
Denken dankt der Kontinent der rule of law; das Exempel demokratischer Praxis,
das England gab, war einflussreicher als Althusius und Rousseau und für Großstaa-
ten überzeugender als das Beispiel der Schweiz. Wenn heute die institutionelle Ver-
ankerung demokratischer Rechtsstaatlichkeit auf dem Kontinent stärker ausgeprägt
ist und englische Kritik am case law nicht fehlt, so muss doch bedacht werden, dass
in den common law countries Stil und Tradition das gewährleisteten, was auf dem
Kontinent erst durch spezielle Mechanismen, wie etwa Montesquieu’s Gewalten-
teilung, gesichert werden musste.
Die fundamentale Übereinstimmung in den Grundsätzen demokratischer Rechts-
staatlichkeit ist eine der Ursachen dafür, dass die Unterschiede zwischen den beiden
Rechtskreisen kleiner sind, als es aufs erste scheint, und in der neueren Entwicklung
(auch unter dem Einfluss des Europarechts) geringer werden. Das ergibt sich zum
einen aus der Zunahme des Gesetzesrechts im angloamerikanischen Bereich, zum
andern aus dem Erstarken des Richterrechts auf dem Kontinent. Alle Versuche, die
Rechtsfortbildung bei der Legislative zu konzentrieren und die Ordnung großer Ma-
terienkomplexe durch Kodifikationen zu manifestieren, konnten nicht verhindern,
dass jede realistische ex-post-Analyse der Rechtsentwicklung ein beträchtliches
Maß an Neubildungen und jurisprudentiellen Innovationen, also viel neues Richter-
recht, zu diagnostizieren hat. Im Arbeitskampfrecht etwa ist der Anteil der Legisla-
tive so bescheiden, dass der Vergleich mit angloamerikanischen Verhältnissen nicht
mehr fern liegt. Auch das Gesellschaftsrecht, um ein anderes Beispiel zu nennen,
wird durch Rechtsfortbildung, namentlich des 2. Senats des BGH ganz maßgeblich
geprägt. Die Rechtsfortbildung wird als selbstverständlich anerkannt; so sagt der
BGH45: „Ein pflichtbewusster Richter kann sich der Aufgabe nicht entziehen, das
Recht notfalls fortzuentwickeln.“ Zur Legitimation der richterlichen Rechtsfortbil-
dung verweist man auf das Verbot der Rechtsverweigerung (ausdrücklich normiert
in Art 4 CC) und darauf, dass der Richter nicht nur an das Gesetz, sondern nach
Art 20 Abs 3 GG an „Gesetz und Recht“ gebunden ist. Den großen Senaten der obe-
ren Bundesgerichte wird die Rechtsfortbildung sogar durch ausdrückliche gesetz-
liche Anordnung aufgetragen. Niemand wird also leugnen, dass unser Privatrecht
heute aus zwei großen Teilen besteht, den Regeln, die das Gesetz ausspricht (in der
Auslegung durch Wissenschaft und Rechtsprechung), und denjenigen, welche die
Gerichte iuris civilis adiuvandi, supplendi vel corrigendi gratia46 geschaffen ha-
ben: zur Unterstützung und Ergänzung, ja sogar zur Korrektur des Rechts. Diesen
Begriffen entsprechen Auslegung, Analogie und teleologische Restriktion (näher
unten § 5 V-VII).
45
BGHZ 9, 164; zur Zulässigkeit richterlicher Rechtsfortbildung und ihren Grenzen s zB noch
BVerfG Beschluss 25. 1. 2011 – 1 BvR 918/10.
46
So beschrieb Papinian (D 1, 1, 7, 1) die rechtsfortbildende Tätigkeit der römischen Praetoren.
Der Satz bezieht sich freilich im römischen Fallrecht nicht auf das Gesetz, sondern auf das Recht.
V. Gesetzesrecht und Fallrecht 57
47
Vgl Schlüter, Das obiter dictum (1973).
48
Ansätze zu einer an Präjudizien orientierten Methodologie bei Fikentscher, Methoden des
Rechts IV (1977) 336 ff.
49
BAGE 12, 284 (15.2.1962).
50
Dazu ist es nicht erforderlich, die Kontinuität der Rechtsprechung zum Verfassungsprinzip
hochzustilisieren; so aber A. Leisner Kontinuität als Verfassungsprinzip (2002); Zur Änderung der
Rechtsprechung in der Schweiz s die gleichnamige Schrift von Th. Probst (1993).
51
DB 1972, 390.
52
Dazu Mayer-Maly, BB 1974, 1124 ff; Hromadka, Das Recht der leitenden Angestellten (1979);
Martens, NJW 1980, 2665 ff.
58 § 4 Die Norm
53
Ausführlich zu den Unterschieden Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung
des Privatrechts3 (1956/1974).
54
Das betont auch Haft, Jur Rhetorik4 (1990); ders, Strafrecht BT4 (1991) Vorwort VI.
55
Vgl nur BGHZ 98, 212; in der Schweiz und in Österreich wird dies zu Recht abgelehnt.
56
S dazu auch Medicus, NJW 1989, 1892.
V. Gesetzesrecht und Fallrecht 59
57
Vgl etwa Mädrich, Das allgemeine Lebensrisiko (1980).
58
Dazu Esser, Grundsatz und Norm3 (1956/1974); zu ihm Alexy, Rechtsregeln und Rechtsprin-
zipien in: Alexy/Koch/Kuhlen/Rüßmann; Elemente einer juristischen Begründungslehre (2003)
217 ff. mwNw; dort auch zu Dworkin, Models of Rules I in Taking Rights Seriously2 (1978) 15 ff;
s auch unten § 12 VIII.
59
So sah man es auch im alten Rom. Das zeigt etwa der berühmte Satz des Tacitus (Annales 3,27)
corruptissima res publica plurimae leges; s auch Honsell, Vom heutigen Stil der Gesetzgebung
(1978).
60
S etwa Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent (2001) 855.
60 § 4 Die Norm
Je stärker man die Allgemeinheit der Regelung als Gesetzesmerkmal betont, umso
grösser wird die Bedeutung der Gesetzespublikation. Beherrschte bis 300 vChr die
Geheimhaltungspraxis von Priestern (Arkandisziplin) das römische Rechtsleben, so
bildete doch schon die Antike Publizitätsinstrumente61 aus. Die Staats- bzw Bundes-
gesetzblätter der Gegenwart sind aus Publikationsorganen der Ära des aufgeklärten
Absolutismus (also aus der Gesetzgebungspraxis des 18. Jh) hervorgegangen62. Sie
dienten zunächst der Unterrichtung und Unterweisung der Untertanen. Nicht selten
verwendete man auch Gesetzesprologe und Präambeln, um dem Publikum die ge-
setzgeberische Absichten darzulegen. Sie waren schon in der Antike gebräuchlich.
Berühmt ist die Kritik des Stoikers Poseidonios:63
… Legem enim brevem esse opportet quo facilius ab imperitis teneatur. velut emissa divi-
nitus vox sit: iubeat non disputat. nihil mihi videtur frigidius nihil ineptius quam lex cum
prologo. – Das Gesetz muß kurz sein, damit es umso leichter auch von unerfahrenen Per-
sonen eingehalten werden kann. Es soll sein wie eine göttliche Stimme; es diskutiert nicht,
sondern befiehlt. Nichts scheint mir unsinniger und unpassender als ein Gesetz mit einem
Prolog.
61
Zu ihnen Schwind, Zur Frage der Publikation im römischen Recht (1940/1973).
62
Falsch ist die Behauptung von Immel, in: Coing (Hrsg), Handbuch der Quellen und Literatur
der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, Bd II/2 (1976) 95, amtliche Publikationsorgane
seien erstmals in Frankreich nach der Revolution von 1789 geschaffen worden.
63
Überliefert bei Seneca ep. moral. 94, 38; näher Ries, Prolog und Epilog in Gesetzen des Alter-
tums (1983) 86; s. noch Fögen, Das Lied vom Gesetz (2007).
64
Auch bei den Nazis waren Präambeln beliebt, zB zum Reichsjagdgesetz von Göring, mit dem
ein Blut und Boden-Mythos verbreitet und die Figur des Reichsjägermeisters geschaffen wurde.
65
Zu Ansätzen in der Antike vgl Mayer-Maly, IVRA 27 (1976/9) 1 ff.
VI. Gesetzespublizität und Kodifikation 61
schaffen, sie fügte oft genug eine Pflicht hinzu, sich über neue Gesetze zu informie-
ren. So hieß es in § 12 der Einleitung zum Allgemeinen Landrecht für die preußi-
schen Staaten (1792): „Es ist aber auch ein jeder Einwohner des Staats sich um die
Gesetze, welche ihn oder sein Gewerbe und seine Handlungen betreffen, genau zu
erkundigen gehalten; und es kann sich niemand mit der Unwissenheit eines gehörig
publizierten Gesetzes entschuldigen.“ Wie der letzte Halbsatz dieser Bestimmung
zeigt, verband sich der aufklärerische Informations- und Belehrungsanspruch mit
einer alten Juristenregel über die Zuweisung der Nachteile, die sich aus einem Ver-
kennen der Rechtslage ergeben: error iuris nocet – der Rechtsirrtum schadet66 und
ius civile vigilantibus scriptum est – das Zivilrecht ist für die Wachen geschrieben67.
Bei der heutigen Gesetzesflut mit hunderttausenden von Vorschriften auf Bundes-,
und Landes- wie auf europäischer Ebene, also in einem unüberschaubaren Durchei-
nander von Vorschriften auf mehreren Ebenen, ist die Forderung, die Bürger müss-
ten die Gesetze kennen, eine reine Fiktion. Gleichwohl will man grundsätzlich nicht
an ihr rühren, weil sich in unserer überkomplexen und überregulierten Welt viele
auf Gesetzesunkenntnis berufen könnten. Auch im Zivilrecht gilt also der Grund-
satz unverändert. So verlangt § 2 ABGB (in Kraft seit 1811) Rechtskenntnis, sobald
das Gesetz „gehörig kundgemacht“ ist. Ebenso bestimmte im öst. Strafrecht der alte
§ 3, dass Unkenntnis nicht vor Strafe schützt. Das wurde durch eine differenzierte
Regelung des Rechtsirrtums in § 9 öStGB 1974 ersetzt. Danach ist der Rechtsirrtum
nur vorwerfbar, wenn das Unrecht leicht erkennbar ist. Im deutschen Strafrecht ent-
fällt – weniger beifallswert – die Strafbarkeit des Verbotsirrtums nur, wenn dieser
unvermeidbar war. Ein anderer älterer Ansatz war, dass man die Rechtsunkennt-
nis nur bei Straftatbeständen des sog Nebenstrafrechts (Strafnormen außerhalb des
StGB)68 entschuldigt hat. Dem lag die Vorstellung zugrunde, dass jedenfalls den
Unrechtsgehalt der im StGB enthaltenen Strafnormen jeder kennen muss. Seit aber
der Gesetzgeber auch im Strafgesetzbuch bei fast jeder Gelegenheit neue Straftatbe-
stände erfindet und alte verschärft, kann davon keine Rede mehr sein69.
Das deutsche BGB hat anders als das österreichischen ABGB auf eine Posi-
tivierung der Maxime von der Gesetzeskenntnis verzichtet, die Spruchpraxis der
Gerichte tendiert aber auch hier dazu, den Rechtsirrtum dem Irrenden eher zum
Nachteil gereichen zu lassen als ein Verkennen von Tatsachen70. Im Problem der
Gesetzeskenntnis wiederholt sich die allgemeine Informationskrise unserer Zeit.
Die Informationsmöglichkeiten haben zwar dramatisch zugenommen (manche
sprechen von einem information overload), noch mehr aber ist das Material, über
das man sich informieren sollte, angewachsen. Die Gesetzblätter bringen es auf
mehrere 1000 Seiten pro Jahr, die Amtsblätter der EU noch auf weit mehr. Die
Maxime, dass man sich mit der Unkenntnis eines gehörig kundgemachten Gesetzes
nicht entschuldigen könne, wird unter diesen Umständen zur Zumutung. Anderer-
66
Dazu Mayer-Maly, Error iuris in Ius humanitatis, FS Verdross (1980) 147 ff.
67
Scaevola, D 42, 8, 24 aE.
68
Zum ausufernden Nebenstrafrecht unten § 8 I.
69
Dazu unten § 10.
70
Vgl Mayer-Maly, AcP 170 (1970) 133 ff.
62 § 4 Die Norm
seits kann keine Rechtsordnung, die sich noch ernst nehmen will, darauf verzichten,
dass man von ihr Kenntnis nimmt71. Eine Patentlösung zur Überwindung der Ka-
lamität gibt es nicht. Doch kann eine Kombination von Abhilfen gefunden werden.
Dazu gehören:
a. die Beschränkung der Nachteile der Rechtsunkenntnis auf Fälle, in denen die
Rechtskenntnis aus Berufsgründen oder wegen der grundsätzlichen Bedeutung
einer Norm zumutbar war;
b. die Publikation der Gesetze im Internet72.
c. die Intensivierung der Rechtsbereinigung;
d. die Eindämmung der Gesetzesflut durch Rückführung eines überspitzten Legali-
tätsprinzips, das für jedes staatliche Handeln eine gesetzliche Grundlage for-
dert und das durch den Grundsatz, die Verordnung dürfe gegenüber dem Gesetz
nichts Neues enthalten, zu einer Überlastung der Legislative und damit zu einer
Entwertung des Gesetzes geführt hat.
Ein klassisches Mittel, das Gesetzesrecht besser überschaubar zu machen, ist die
Kodifikation73. Sie dient allerdings nicht nur der Publizität des Rechts, sondern ist
zugleich Ausdruck eines umfassenden Ordnungs- und Gestaltungswillens, Zeug-
nis und Resultat der zu einem gewissen Standard gelangten Problembeherrschung.
Ihren Namen hat die Kodifikation vom lateinischen codicem facere („ein Buch
machen“). Während die römischen Juristenschriften zumeist auf Papyrusrollen pu-
bliziert waren (den sog libri), zog man für die Kaisergesetze (ebenso wie für religi-
öse Texte) den Pergamentcodex vor, der – wie ein Buch beschaffen – das häufige
Nachschlagen erleichterte. Als geordnete Gesetzessammlungen finden wir zunächst
Privatarbeiten wie den Codex Gregorianus und den Codex Hermogenianus (um 300
n. Chr.), dann die amtlichen Sammlungen durch den Codex Theodosianus (438) und
Justinians Codex (529 bzw 534). Dass es erst spät zu Kodifikationen des römischen
Rechts kam, liegt nicht daran, dass vorher die Problembeherrschung gefehlt hätte.
Vielmehr lief der Kodifikationsgedanke, dem bezeichnenderweise ein so traditions-
feindlicher Reformator wie Cäsar zuneigte (Sueton, Caesar 44), dem offenen Fall-
recht der klassischen Honoratiorenjurisprudenz zuwider.
Die Abneigung gegen das Korsett einer Kodifikation teilt die römische Klassik
mit dem angloamerikanischen Rechtskreis. Ob Deutschland den Weg der Kodifika-
tion gehen sollte, war im 19. Jhdt. sehr umstritten. Das nationale Momentum des
gegen Napoleon geführten Befreiungskrieges schien dem Heidelberger Professor
71
Zu der daraus resultierenden Problematik Mayer-Maly, Rechtskenntnis und Gesetzesflut (1969);
Honsell, Vom heutigen Stil der Gesetzgebung (1979).
72
Nützlich ist eur-lex.europa.eu; vorbildlich ist die Website admin.ch; brauchbar ist auch ris.bka.
gv.at; Deutschland bietet enttäuschender Weise nichts Vergleichbares.
73
Zur Geschichte der Kodifikationsidee Wieacker, Aufstieg, Blüte und Krisis der Kodfikations-
idee, FS Boehmer (1954) 34 ff; K Schmidt, Die Zukunft der Kodifikationsidee (1985); Vanderlin-
den, Le concept de code en Europe occidentale (1967); Cohen Jeroham, Over codificatie2 (1970);
Heinz Hübner, Kodifikation und Entscheidungsfreiheit des Richters in der Geschichte des Privat-
rechts (1980); Caroni, Saggi sulla storia della codificazione (1998); ders, Gesetz und Gesetzbuch
(2003).
VI. Gesetzespublizität und Kodifikation 63
74
Die Texte der Schriften von Thibaut und Savigny findet man ua bei Stern, Thibaut und Savigny,
(1914/1959), neu publiziert von Hattenhauer (1973).
75
Vgl Ebel, Jacob Grimm und die deutsche Rechtswissenschaft (1963).
76
Marx-Engels, Werke, Bd 1 (1970), 78.
64 § 4 Die Norm
Das sächsische BGB von 1863/577 und vor allem das deutsche BGB von 190078
standen ebenso wie die anderen Kodifikationen großer Rechtsgebiete (Allgemeines
Handelsgesetzbuch 1861, Reichsstrafgesetzbuch 1871, Zivilprozessordnung 1877)
im Zeichen einer neuen rechtswissenschaftlichen Haltung. An die Stelle der ratio-
nalistischen Naturrechtslehre war ein juristischer Positivismus getreten – zunächst
als wissenschaftlicher, dann als Gesetzespositivismus. Recht galt dieser Richtung
als Erfahrungsmaterial, Rechtswissenschaft als dessen begriffliche Erfassung und
systematische Ordnung. Von Gesetzgebern geschaffenes Recht war wissenschaftli-
cher Behandlung besser zugänglich als aus Gewohnheiten und Partikularsatzungen
abgelesenes. Daher verband sich in Deutschland dem wilhelminischen Selbstbe-
wusstsein das Drängen der Wissenschaft auf Kreation einer tauglichen Ausgangs-
basis durch kodifikatorische Legislative.
Hat also die Entwicklung Thibaut und nicht Savigny Recht gegeben? – Die Kodi-
fikationswelle an der Wende vom 19. zum 20. Jh legt eine Bejahung dieser Frage
nahe. Das internationale Echo des BGB war beträchtlich. Sein allgemeiner Teil und
vor allem seine Lehre vom Rechtsgeschäft hatten einen starken Einfluss auf andere
Rechtsordnungen. Schlägt man Werke der japanischen Zivilrechtsliteratur auf, so
findet man die deutschen Koryphäen der Jahrhundertwende auf jeder Seite zitiert.
Das schweizerische Zivilgesetzbuch von 1912 – freilich weniger begrifflich und
positivistisch konzipiert als das deutsche BGB79 – wurde von der Türkei 1925 im
Zug der Europäisierungspolitik Atatürks rezipiert.
Betrachtet man aber die Kodifikationen aus dem Blickwinkel unserer Zeit, so
ergibt sich ein völlig anderer Eindruck. Besonders auffällig sind die von den gesetz-
geberischen Entscheidungen abweichenden Entwicklungen der Rechtsprechung.
Häufig greifen sie auf in der Kodifikationsphase verworfene Alternativen zurück.
Das gilt für den entgegen § 253 BGB erfolgenden Ersatz immaterieller Schäden
ebenso wie für die Rückkehr zur Dreiteilung der Fahrlässigkeit und trifft für die
Einbeziehung der Leibesfrucht in den Kreis der Rechtssubjekte ebenso zu wie für
die Restriktion der Gesamtnichtigkeit, die nach § 139 BGB im Zweifel immer ein-
treten sollte, wenn sich ein Teil eines Rechtsgeschäftes als nichtig herausstellte80.
So drängt sich die Frage auf: Haben die Kodifikationen der gemeinrechtlichen Ent-
wicklung, die sie abschließen wollten, wirklich ein Ende gesetzt? Oder erweist sie
die seitherige Rechtsentwicklung als eine – sicherlich bedeutende – Episode in der
noch nicht abgeschlossenen Geschichte des gemeinen Rechts?
So kräftig die Relativierung ist, die sich der Kodifikationsgedanke in den letzten
Jahrzehnten gefallen lassen musste, tot ist er gewiss nicht. Italien hat seinen neuen
77
Vgl Buschmann, JuS 1980, 553 ff.
78
Zu seiner Entstehungsgeschichte Jakobs/Schubert, Die Beratung des Bürgerlichen Gesetzbu-
ches (1978).
79
Zum Verhältnis der beiden Kodifikationen s Honsell, Hundert Jahre Schweizerisches Obliga-
tionenrecht, ZSR 2011 II 5 ff; Gmür, Das Schweizerische Zivilgesetzbuch verglichen mit dem
deutschen Bürgerlichen Gesetzbuch (1965).
80
Grundlegend dazu Mayer-Maly, Die Wiederkehr von Rechtsfiguren, JZ 1971, 1 ff; ferner Hon-
sell, Lebendiges Römisches Recht in GS Mayer-Maly (2011) 225 ff.
VI. Gesetzespublizität und Kodifikation 65
Codice civile erst seit 1942, in den Niederlanden sind vom Nieuw burgerlijk wet-
book wichtige Teile in Kraft getreten. Die meisten sozialistischen Staaten waren
schon durch die Änderung der Gesellschaftsordnung zu neuen Zivilrechtskodifi-
kationen veranlasst. Für das Arbeitsrecht und Sozialrecht gibt es in Deutschland
und Österreich Kodifikationen. In der Schweiz hat man den maßgeblichen Titel des
Schweizerischen Obligationenrechts (Art 319–362) einer Revision unterzogen. Das
allgemeine Strafrecht findet sich in allen drei Ländern in Strafgesetzbüchern, die
immer wieder aktualisiert werden.
Es regen sich aber auch Zweifel an der Möglichkeit und Sinnhaftigkeit einer
Kodifikation. In einer Abhandlung über „Kodifikation und Demokratie“ hat Fried-
rich Kübler81 die Auffassung vertreten, die Krise der Gesetzgebung gehöre zur
Normalität einer demokratisch verfassten Industriegesellschaft. In ihr seien Gesetze
fragmentarisch und periodisch. In der Tat bereitet der vielschichtige Entscheidungs-
prozess mit der Anhörung von Verbänden und der Suche nach Kompromissen in-
nerhalb von Koalitionen vielen Kodifikationsvorhaben Schwierigkeiten, die sich
mit denen, die in der Ära der Honoratiorenparlamente zu überwinden waren, nicht
vergleichen lassen. Dennoch ginge es zu weit, wollte man mit Esser82 das Streben
nach kodifikatorischer Normenreduktion als eine Art juristischer Nostalgie quali-
fizieren. Diese Sicht der Dinge setzt sich dem Verdacht aus, den zu bekämpfenden
Missständen noch eine theoretische Verteidigung nachzuliefern. Es ist bezeichnend,
dass Essers Absage an den Kodifikationsgedanken83 als Festrede zum 100jährigen
Bestand einer obersten deutschen Justizbehörde vorgetragen wurde. Gegen diesen
Kodifikationspessimismus hat sich zu Recht K Schmidt84 gewandt.
81
Kodifikation und Demokratie, JZ 1969, 645 ff.
82
Gesetzesrationalität im Kodifikationszeitalter und heute (1977) 18 ff, 38 f.
83
In Vogel/Esser, 100 Jahre oberste deutsche Justizbehörde, Vom Reichsjustizamt zum Bundesmi-
nisterium der Justiz, (1977) 13 ff.
84
Die Zukunft der Kodifikationsidee (1985); s ferner Hirte, Wege zu einem Europäischen Pri-
vatrecht (1995); Kadner-Graziano, Die Zukunft der Zivilrechtskodifikation in Europa – Harmo-
nisierung der alten Gesetzesbücher oder Schaffung eines neuen?, ZEuP 13, 2005, 523 ff; Zur
Dekodifikation Irti, L’età della decodificazione4 (1999); zuletzt E Kramer, Der Vollständigkeits-
anspruch der Kodifikation und das Problem der Nebengesetze zum ABGB in Fischer-Czermak
ua (Hrsg), ABGB 2011 – Chancen und Möglichkeiten einer Zivilrechtsreform (2008); ders, Na-
tionale Privatrechtskodifikationen, internationale Privatrechtsvereinheitlichung und Privatrechts-
vergleichung zu Beginn des neuen Jahrhunderts, ZSR 124, 2005, 421 ff. – Zum europäischen
Draft Common Frame of Reference (DCFR 2008) krit etwa Eidenmüller/Faust/Grigoleit/Jansen/
Wagner/Zimmermann, JZ 2008, 529; W Ernst, Der gemeinsame Referenzrahmen für das Europäi-
sche Privatrecht: Wertungsfragen und Kodifikationsprobleme, JZ 2008, 529; ders, Der ‚Common
Frame of Reference‘ aus juristischer Sicht, ders, Europäisches Vertragsrecht – Entwürfe, Kritik,
Perspektiven, AcP 208 (2008) 248 ff = Europäische Rechtskultur, Symp Honsell (2009) 109 ff;
Meyer-Pritzl, Formalismus und Finalismus im Europäischen Privatrecht in FS Behrends (2008)
391 ff; zum Entwurf eines optionalen europäischen Kaufrechts s etwa die Beiträge in Remien/
Herrler/Limmer (Hrsg), Gemeinsames Europäisches Kaufrecht für die EU? (2012); zur fehlenden
Kompetenz Grigoleit ebda 75 ff; krit auch Eidenmüller/Jansen/Kieninger/Wagner/Zimmermann,
Der Vorschlag für eine Verordnung über ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht – Defizite der
neuesten Textstufe des europäischen Vertragsrechts, JZ 2012, 269 ff; ferner die Beiträge auf der
Sondertagung der Zivilrechtslehrervereinigung, AcP 212 (2012) 467 ff; s noch Schulte-Nölke/Zoll/
66 § 4 Die Norm
Jansen/Schulze (Hrsg), Der Entwurf für ein optionales europäisches Kaufrecht (2012) und Wen-
dehorst/Zöchling-Jud (Hrsg), Am Vorabend eines gemeinsamen europäischen Kaufrechts (2011).
85
Vgl Weigel, Die Leiden der jungen Wörter (1979) 5.
86
Ein schlimmer Vorbote war § 1319a ABGB zur Wegehaftung mit einer 8 Zeilen langen Legalde-
finition des Weges (zur Sache Posch, JBl 1977, 281 ff), sprachlich schlecht sind auch die §§ 154,
163c und 164 ABGB.
87
Justinian Inst 3, 2, 3; Th Fleiner, Simplicitas legum amica in FS Häberle (2004) 145 ff; Schott,
Einfachheit als Leitbild des Rechts und der Gesetzgebung, ZNR 1983, 121 ff.
88
S etwa Griffel (Hrsg), Vom Wert einer guten Gesetzgebung (2014); dazu Schwaibold SJZ 2014,
419 f; Noll, Gesetzgebungslehre (1973); G Müller, Elemente einer Rechtssetzungslehre2 (2006);
Karpen, Gesetzgebungslehre – neu evaluiert – Legistics – freshly evaluated2 (2008).
VII. Der Rang der Rechtssätze und der Stufenbau des Rechts 67
89
Grundlinien der antiken Rechts- und Staatsphilosophie2 (1948) 151 ff.
90
Platon, Nomoi VIII–XII, Heitsch/Müller/Sier (Hrsg), Akademie der Wissenschaften Mainz
(2011) 961a–965b.
68 § 4 Die Norm
sprechen91. Auf dem Kontinent fragte man bald auch nach leges fundamentales – als
Grundgesetzen des Heiligen Römischen Reiches und seiner Territorien92. Als die
Pilgrimväter mit der Mayflower 1620 nach Amerika segelten, schlossen sie noch an
Bord einen Vertrag ab, in dem sie sich gegenseitig versprachen, ein Gemeinwesen
zu gründen, Behörden einzusetzen und diesen zu gehorchen. Aus derartigen „Pflan-
zungsverträgen“ gingen Charten hervor wie die von Rhode Island und Connecti-
cut. Beim Ausbruch der amerikanischen Revolution (1755) hatten alle 13 Kolonien
Charten. Die Bill of Rights von 1776 und die Verfassung der Vereinigten Staaten
von Amerika von 1787 sind somit aus einer spezifisch an urkundlicher Rechtsver-
briefung orientierten Tradition erwachsen. Für den französischen Konstitutionalis-
mus, dessen erstes Produkt die 1789–91 beratene und am 3.9.1791 verkündete Ver-
fassung war, wurden sie neben den Lehren von Montesquieu93 zum maßgeblichen
Vorbild. Für das Übergreifen der Verfassungsbewegung auf Deutschland gab die
Charte constitutionelle Ludwigs XVIII. vom 4.6.1814 den unmittelbaren Anstoß.
Diese Verfassungsurkunde, die den Versuch machte, das Besitzbürgertum als neue
staatstragende Schicht zu gewinnen, diente vor allem in den süddeutschen Staaten
als Modell. Nassau erhielt 1814, Bayern und Baden 1818, Württemberg 1819 und
Hessen-Darmstadt 1820 eine Verfassung (mit Ausnahme von Württemberg durch
einseitigen Akt der Monarchen). Ein nächster Höhepunkt des Konstitutionalismus
wurde mit der belgischen Verfassung vom 7.2.1831 erreicht94. Auch die Revolu-
tionen vom 1848/49 dienten neben der Gründung eines deutschen Nationalstaates
nicht zuletzt der Schaffung einer Verfassung.
In der zu Mitte des 19. Jh erreichten Phase hatte die Entwicklung der Verfassung
schon ihre volle Bedeutung für die Ausbildung einer Rangordnung der Rechtssät-
ze gewonnen. Diese Funktion einer Verfassung ist ja durchaus nicht ihre einzige.
Verfassungen erfüllen sehr verschiedenartige Aufgaben: Sie bestimmen die Staats-
form (Monarchie, Republik), entscheiden zwischen Bundes- und Einheitsstaat,
verteilen die Staatsgewalt zwischen Legislative, Justiz und Verwaltung, gewähren
Grundrechte und regeln immer das Verfahren der Gesetzgebung. Damit gewinnt
ein Verfassungsgesetz gegenüber allen übrigen Rechtssätzen einen zweifachen Vor-
rang: Es ist die Erzeugungsregel des unter der Verfassung stehenden Rechts und
zugleich dessen Schranke. Das Verfassungsrecht bestimmt, welches Verfahren zu
beobachten ist, damit ein Satz zu einem neuen Rechtssatz wird. Es ordnet den Weg
der Gesetzgebung. Daneben steht eine jedem Satz des Verfassungsrechts eigentüm-
liche Schrankenfunktion: Kollidiert ein Satz des unter der Verfassung stehenden
Rechts mit einem Satz des Verfassungsrechts, so ist der Satz des einfachen Rechts
91
Vgl W Rothschild, Der Gedanke der geschriebenen Verfassung in der englischen Revolution
(1903).
92
Zum Aufkommen des Verfassungsgedankens in der deutschen Staatslehre Schmidt-Assmann,
Der Verfassungsbegriff in der deutschen Staatslehre der Aufklärung und des Historismus (1967),
sowie (knapper, aber weiter ausgreifend) Link, Herrschaftsordnung und bürgerliche Freiheit
(1979) 178 ff.
93
L’esprit des lois (1748).
94
Über die Rolle der juristischen Verfassung als Freiheitsgarant, s Funk in Streissler/Watrin
(Hrsg), Zur Theorie marktwirtschaftlicher Ordnungen (1980) 446 ff.
VII. Der Rang der Rechtssätze und der Stufenbau des Rechts 69
95
Otto Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht3 (1924) Vorwort.
96
Zu ihr Heinz Mayer, Die Verordnung (1977).
97
Vgl Sieghart, Government by Decree (1950).
98
Zu ihm Novak, öVerwaltungsarchiv 1970, 1 ff; Schäffer in Ermacora ua (Hrsg), Allgemeines
Verwaltungsrecht (1979) 253 ff; Adamovich/Funk, Allgemeines Verwaltungsrecht (1980) 87 ff.
70 § 4 Die Norm
ber wiederum Kelsen war. Dieses besagt, „dass die gesamte staatliche Verwaltung
nur aufgrund der Gesetze ausgeübt werden darf“99.
Das Verständnis des Legalitätsprinzips basiert auf der Gewaltenteilung Montes-
quieus und verlangt nicht nur eine strenge Bindung der Verwaltung an das Gesetz,
sondern auch eine Verpflichtung des Gesetzgebers, das Handeln der Verwaltung
genau zu determinieren. Die Verwaltung wird dadurch zum bloßen Gesetzesvoll-
zug. Übertriebene Anforderungen an diese gesetzliche Determinierung führen zu
einer grotesken Übermaßregelung und der gesetzlichen Normierung einer uferlosen
Kasuistik. Die Folge sind viel zu detaillierte Gesetze und eine Unzahl von Verord-
nungen. Staatliches Handeln ist außerhalb einer auf Gesetz beruhenden Verordnung
überhaupt nicht denkbar. Deshalb kann zB in Österreich kein Kilometer Straße
gebaut werden, ohne dass zuvor in einer Verordnung der genaue Straßenverlauf
usw. festgelegt wird. Es liegt auf der Hand, dass es unsinnig ist, Pläne über einen
Straßenverlauf in schlechtes Amtsdeutsch zu übersetzen, nur um sie ins Gesetzblatt
schreiben zu können. Doch hält man das für unabdingbar. Man gewinnt den Ein-
druck, dass für die Existenz der Straße der Gesetzesbefehl wichtiger ist als die tat-
sächliche Errichtung. Es gilt gewissermaßen das Motto: „quod non est in lege non
est in mundo“100, was nicht in einem Gesetz steht, existiert nicht. Sobald ein kleines
Teilstück einer Straße gebaut ist, schreiten die Beamten des Ministeriums zur Tat
und verfassen Verordnungstexte ohne welche die Straße nicht existieren kann, wel-
che sie gewissermaßen juristisch erzeugen101. Abgesehen davon, dass niemand ver-
steht, wieso es nötig sein soll, neben der Verordnung für die neue Straße auch noch
die Umlegung der alten Straße und ihre anschließende Auflassung zu verordnen, ist
das ganze insofern eine Farce, als diese Übung oft erst gemacht wird, wenn die Stra-
ße längst gebaut oder jedenfalls geplant ist. Mit anderen Worten: Das Leben folgt
nicht dem Gesetzesbefehl, sondern dieser läuft den Fakten hinterher und meist be-
stellt sich die Exekutive den Gesetzestext bei der Legislative. Das Beispiel ist kein
99
Ähnlich auch Art. 80 Abs 1 S 2 GG, wo gefordert wird, dass sich Inhalt Zweck und Ausmaß der
Verordnungsermächtigung aus dem Gesetz ergeben müssen. Solche Strenge ist angebracht, wo es
um Hoheitsverwaltung geht, also um Eingriffe in die Rechte der Bürger.
100
In Anlehnung an den Satz des kanonischen Prozesses quod non est in actis non est in mundo,
der besagt, dass für das Gericht nur der Akteninhalt maßgeblich ist, ein Grundsatz der auch als
Verhandlungsmaxime bezeichnet wird und bedeutet, dass die Beibringung und Feststellung des
Prozessstoffes (des strittigen Sachverhalts) allein Sache der Parteien ist.
101
Eine Leseprobe aus dem Gesetzblatt macht den Nonsens deutlich: zB öBGBl 1969 II Nr. 312
mit der Überschrift: „Verordnung des Bundesministers für Bauten und Technik v. 2. August 1969,
mit der Teile der Ennstal Straße und der Schoberpass Straße auf neu hergestellte Straßenteilstü-
cke umgelegt und die bisherigen Straßensteilstücke als Bundesstraße aufgelassen sowie Teile der
Radlpass Straße und der Wechsel Straße auf neu herzustellende Straßentrassen umgelegt werden.“
Unter Ziffer 3 heißt es beispielsweise: „das Straßenteilstück der Radlpass Straße im Bereich der
Gemeinde Stainz wird von km 11,800 (alt) bis km 14,200 (alt) auf die Straßentrasse von km 14,800
(alt) in südlicher Richtung verlaufend, am Bahnhof Stainz vorbeiführend, die Trasse der alten
Radlpass Straße zirka 180 m südlich der Abzweigung der Gaiß-Stams-Laßnitzer Landesstraße
überschneidend und von dort in einer Entfernung von zirka 25 m parallel zu dieser verlaufend und
bei km 14,200 (alt) wieder in die Radlpass Straße einbindend umgelegt;“ – Heute sind Sprache und
Legistik nur wenig besser, doch lässt man immerhin Verweise auf Pläne zu.
VII. Der Rang der Rechtssätze und der Stufenbau des Rechts 71
Einzelfall, es gibt unzählige. Der Gesetzgeber hat zB eine Bestimmung über den
Bundesadler in die Verfassung aufgenommen, die eine heraldische Beschreibung
des fertigen Wappens war102. Für eine solche Beschreibung hätte eine Bekanntma-
chung genügt. Schreibt man sie in die Verfassung, so sind Änderungen nur mit 2/3
Mehrheit möglich. Eine gewisse Ironie ist es, dass die Beschreibung unvollstän-
dig ist und außerdem mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmt. Unvollständig ist
sie, weil nicht gesagt wird, in welche Richtung der seit 1920 ja einköpfige Adler
schaut. Auf dem im Bundesgesetz über das Staatswappen beigefügten Bild blickt er
(vom Bild aus gesehen) nach rechts. Im Text steht darüber nichts. Vielleicht ist das
eine Freud’sche Fehlleistung in Reminiszenz an den Doppeladler, der nach beiden
Richtungen schaute. Das Wappen wird aber auch nicht verwendet wie beschrieben:
Der Querbalken auf dem roten Schild ist nach dem Gesetzesbefehl silbern. Man
findet jedoch auf der Brust des Adlers fast immer die Farben Österreichs, also rot-
weiß-rot. In Deutschland hat man sich mit einer Bekanntmachung des Bundespräsi-
denten begnügt: „Das Bundeswappen auf goldgelbem Grund zeigt den einköpfigen
schwarzen Adler, den Kopf nach rechts gewendet, die Flügel offen, aber mit ge-
schlossenem Gefieder, Schnabel, Zunge und Fänge von roter Farbe.“ Hier wird also
immerhin die Blickrichtung angegeben. Der Hinweis auf die Einköpfigkeit ist eine
überflüssige Reminiszenz an Österreich, denn der deutsche Reichsadler war immer
einköpfig. Es ist offenbar schwierig, ein Wappen zu beschreiben. Deshalb verweist
die deutsche Beschreibung auf eine Musterzeichnung.
Auf der untersten Stufe steht die Entscheidung eines Gerichtes oder einer Ver-
waltungsbehörde. Sie erschien lange Zeit nur als Normanwendung, nicht als Norm.
Indessen ist die Normanwendung nicht der letzte Schritt vom Sollen ins Sein. Die
Entscheidung bedarf der Vollstreckung: Der säumige Schuldner muss gepfändet,
der verurteilte Betrüger in Haft genommen werden.
Die Entscheidung kann man als Norm an die zu ihrer Vollstreckung berufenen
Organe auffassen. Diese Norm hat aber nicht mehr generellen Charakter. Mit ihr
findet der Prozess der Konkretisierung103 und Individualisierung sein Ende. Zwin-
gend ist die Deutung der Entscheidung als Normsetzungsakt nicht. Man könnte sie
auch als bloße Verwirklichung eines Tatbestandsmerkmals der generellen Normen,
die die Tätigkeiten von Gerichtsvollziehern und Justizwachebeamten regeln, qua-
lifizieren. Die These, dass ein Akt vorliege, der nicht nur Normvollzug, sondern
auch Normsetzung sei, beruht auf dem Streben, alle Sätze einer Rechtsordnung in
einem Geltungszusammenhang zu sehen. Den Versuch, ein einheitliches Weltbild
des Rechts zu gewinnen, hat vor allem die „reine Rechtslehre“ von Hans Kelsen
und seiner „Wiener Schule“ unternommen. Der „logische Glanz“ dieser Lehre be-
ruht auf ihrem Anspruch, die Rechtswissenschaft von Politischem und damit von
102
Art. 8a B-VG Abs. 2: „Das Wappen der Republik Österreich (Bundeswappen) besteht aus ei-
nem freischwebenden, einköpfigen, schwarzen, golden gewaffneten und rot bezungten Adler, des-
sen Brust mit einem roten, von einem silbernen Querbalken durchzogenen Schild belegt ist. Der
Adler trägt auf seinem Haupt eine goldene Mauerkrone mit drei sichtbaren Zinnen. Die beiden
Fänge umschließt eine gesprengte Eisenkette. Er trägt im rechten Fang eine goldene Sichel mit
einwärts gekehrter Schneide, im linken Fang einen goldenen Hammer.“
103
Vgl Engisch, Die Idee der Konkretisierung in Recht und Rechtswissenschaft unserer Zeit
(1953).
72 § 4 Die Norm
Irrationalem, aber auch von mehr oder weniger bewusst verdeckten Wertungen zu
befreien. Unverkennbar besteht eine Entsprechung zu Max Webers Forderung nach
Wertfreiheit der Sozialwissenschaft. Eine dergestalt gesäuberte Rechtswissenschaft
ist allerdings in einer gewissen thematischen Verlegenheit. Viele traditionsreiche
Fragestellungen – etwa die der Lehre vom öffentlichen Interesse und der Unterschei-
dung zwischen Privatrecht und öffentlichem Recht oder die der Interpretationslehre
gestatten nur wenige Aussagen mit wissenschaftlichem Objektivitätsanspruch. So
traten die Sachfragen der Rechtsordnung stärker zurück, und es dominierte das Be-
mühen, die formalen Strukturen sichtbar zu machen. So stammen die wichtigsten
Erkenntnisse über den Rang der Rechtssätze von der reinen Rechtslehre104.
Nach der Reinen Rechtslehre sollte sich die Rechtswissenschaft allein mit dem
positiven Recht befassen und nicht mit Rechtspolitik, Soziologie oder Ethik etc.
vermengt werden. Gegenstand der Reinen Rechtslehre war das Recht, wie es ist,
und nicht das ideale, richtige Recht. Sein und Sollen waren ebenso strikt zu trennen
wie Recht und Politik. So glaubte man erneut, aus der Jurisprudenz eine echte Wis-
senschaft mit einem geschlossenen System, ableitungsfähigen Begriffen und verifi-
zierbaren Sätzen machen zu können. Dies geschah um den Preis eines Verzichts auf
inhaltliche Richtigkeit, was zu einem mehr oder weniger sterilen System führte. Die
Reine Rechtslehre ist eine Fortsetzung der Begriffsjurisprudenz des 19. Jh. Kelsen
wollte ein geschlossenes, auf einer Grundnorm basierendes System von Regeln. Die
Grundnorm und den Gedanken eines rechtlichen Stufenbaus hat erstmals der Kel-
sen-Schüler Adolf Julius Merkl formuliert. Als diese Lehre zu Beginn des 20. Jh Ge-
stalt gewann (bahnbrechend war Kelsens 1910 publiziertes Werk „Hauptprobleme
der Staatsrechtslehre entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatz“, klassisch wurde
die in 1. Auflage 1934 veröffentlichte „Reine Rechtslehre“), hatte man zwar einzel-
ne Relationen zwischen Rechtssätzen bereits längst erfasst (so die Beziehung Ver-
fassung-Gesetz und das Verhältnis Gesetz-Verordnung), ein alle Sätze einer Rechts-
ordnung umfassendes Konzept stand jedoch noch aus. Dieses wurde von Merkl
mit der Lehre vom Stufenbau des Rechts gewonnen105. In der Schrift über „Das
Recht im Lichte seiner Anwendung“106, versucht Merkl zu zeigen, dass der Stufen-
bau der Rechtsordnung nicht einfach in einer Hierarchie, in der Zuweisung einer
Rangposition unter den Rechtsquellen bestehe, sondern in einem Bedingungs- und
Delegationszusammenhang zwischen den Rechtsquellen. Diese Erkenntnis führe
zu einer Einheit des rechtlichen Weltbildes107. Alle zu einer Rechtsordnung zäh-
104
Zur seitherigen Entwicklung vgl etwa Walter, ZÖR 18, 1968, 331 ff; ders, Rechtstheorie 1
(1970) 69 ff; Olechowski, Kelsens Rechtslehre im Überblick, in Ehs (Hrsg), Hans Kelsen, Eine
politikwissenschaftliche Einführung (2011) 47 ff; über Kelsen biographisch Métall, Hans Kelsen
– Leben und Werk (1969).
105
Zu dieser Lehre Behrend, Untersuchungen zur Stufenbaulehre Adolf Merkls und Hans Kelsens
(1977).
106
Deutsche Richterzeitung Heft 7/8, 1917, 3 ff; Wiederabdruck in: Die Wiener rechtstheoretische
Schule, Bd l (1968) 1167 ff.
107
Dazu Verdross, Die Einheit des rechtlichen Weltbildes auf Grundlage der Völkerrechtsverfas-
sung (1923).
VII. Der Rang der Rechtssätze und der Stufenbau des Rechts 73
lenden generellen und individuellen Normen seien als miteinander verbunden und
daher als konsequent anzusehen. Die Erzeugung von Normen der niedrigeren Stufe
werde durch die Norm der höheren Stufe geregelt. Diese Lehre geht also von einer
Normenhierarchie und einem Delegations- und Bedingungszusammenhang aus:
Verfassung – Gesetz – Verordnung – Verwaltungsakt/Urteil108. Sie hat der Idee von
der Einheit der Rechtsordnung neuen Auftrieb verliehen109. Sie ähnelt dem Stamm-
ler’schen Begriffshimmel (unten § 6 II) im Bereich des Gesetzes. An oberster Stelle
steht die Verfassung. Obwohl sie positives Recht ist, nimmt sie sich selbst vom
positiven Recht aus110. Das ist paradox111. Vom sonstigen positiven Recht unter-
scheidet sich die Verfassung zunächst nur durch erschwerte Abänderbarkeit. So-
dann durch einen Vorrang112, der allerdings, wie für die Grundrechte in Art 1 Abs 3
GG, ausdrücklich angeordnet sein muss. Verfassungen enthalten Normen von ganz
unterschiedlicher Dignität. Etliche Regelungen, wie die Freifahrt der Abgeordneten
im deutschen Grundgesetz (Art 48 Abs 3 GG), das Absinth- oder das Jesuitenverbot
in der alten Schweizer Verfassung oder die erwähnte Beschreibung des Bundes-
adlers113 in der österreichischen Verfassung könnten auch einfachgesetzlich gere-
gelt sein und haben offensichtlich nicht denselben Stellenwert wie die Würde des
Menschen und die Grundrechte. Die Normenhierarchie steigert sich zur deductio ad
absurdum, wenn man das Europarecht in die Pyramide einzeichnet, dem ja Vorrang
sogar vor den nationalen Verfassungen eingeräumt wird. Obersten Rang haben dann
pointilistische und fragmentarische EG-Richtlinien zum Konsumentenschutz oder
zum Kartellrecht, die sich als oberste Grundsätze oder Begriffe für das sonstige
Recht inhaltlich überhaupt nicht eignen und eine planmäßige Einheit und Ordnung
auch nicht im Ansatz erkennen lassen. Doch bleiben wir bei der Verfassung. Die
Vorstellung vom Grundgesetz als „Spitze der Pyramide der Rechtsordnung“114 oder
als „Dach über dem sonstigen Recht“115 hat in Deutschland eine merkwürdige Fehl-
entwicklung begünstigt: Das Bundesverfassungsgericht sieht in der Einheit der Ver-
fassung „das vornehmste Interpretationsprinzip“, ein „logisch-teleologisches Sinn-
gebilde“. Die Wertordnung der Grundrechte strahle auf alle Rechtsgebiete aus und
108
Adolf Julius Merkl, Prolegomena einer Theorie des rechtlichen Stufenbaus in FS Kelsen (1931)
252 ff.
109
S Schnapp, Hans Kelsen und die Einheit der Rechtsordnung in FS Kelsen (1984) 381; ferner
Mayer-Maly, Jurisprudenz und Politik in FS Kelsen (1984) 108.
110
N Luhmann, Verfassung als evolutionäre Errungenschaft, Rechtshistorisches Journal 9, 1990,
176, 186 f, 190.
111
So Roellecke, Das Ansehen des BVerfG und die Verfassung in Piazolo (Hrsg), Das Bundesver-
fassungsgericht – Ein Gericht im Schnittpunkt von Recht und Politik (1995) 33, 47 f.
112
Dazu etwa Starck, Rangordnung der Gesetze (1995) 29 ff; Ruffert, Der Vorrang der Verfassung
(2001) 7 ff u passim.
113
Art 8a Abs 2 B-VG.
114
Gegen diese These F. Müller, Die Einheit der Verfassung (1979) 106.
115
Clemens, Das BVerfG im Rechts- und Verfassungsstaat – Das Ansehen des BVerfG und die
Verfassung, in: Piazolo (Hrsg), Das Bundesverfassungsgericht – Ein Gericht im Schnittpunkt von
Recht und Politik, (1995) 16, 19.
74 § 4 Die Norm
116
S etwa K Schmidt in Vielfalt des Rechts – Einheit der Rechtsordnung, Hamburger Ringvor-
lesung (1994) 9, 19; W Rüfner, Drittwirkung der Grundrechte – Versuch einer Bilanz in GS Mar-
tens (1987) 215, 216 f; s auch Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privat-
rechts (2001) 42 f; krit Felix, Einheit der Rechtsordnung (1998) 168 ff, 401; F Müller Die Einheit
der Verfassung (1979) 85 ff, 225 ff u passim.
117
Dürig, Grundrechte und Zivilrechtsprechung, FS Nawiasky (1956) 176 ff, vgl auch unten § 5
Fn 156.
118
ZB Jestaedt in Engel/Schön, Das Proprium der Rechtswissenschaft (2007) 241 ff, 251 ff, 258 f;
Rüthers Rechtstheorie (2009) 272; Limbach in FS Zivilrechtslehrer 1934/35 (1999) 383 ff., 387;
abschwächend Kramer Methodenlehre3 43, Fn 26 mwN 45 f; kritisch differenzierend auch Schen-
ke, Methodenlehre und Grundgesetz in Dreier (Hrsg) Macht und Ohnmacht des Grundgesetzes
(2009) 51 ff, 67 ff; s dazu auch Staudinger/Honsell, Eckpfeiler (2014/15) Rz 68a. Haferkamp,
Zur Methodengeschichte unter dem BGB, AcP 214 (2014) 60, 78 ff mNw, zu den Anfängen der
Konstitutionalisierung des Privatrechts im Lüth-Urteil des BVerfG (unten § 5 Fn 141); s auch die
kontroverse Diskussion auf dem Zivilrechtslehrertag, abgedruckt in AcP 214 (2014) 183 f.
119
Grundlegend Adolf Julius Merkl in FS Kelsen 252 ff. Aus neuerer Zeit statt aller Jestaedt 241 ff.
120
Weitere Beispiele für diesen vagen und konturlosen verfassungsrechtlichen Dogmatik- und Theo-
riebegriff finden sich in den Sammelbänden Depenheuer/Grabenwarter (Hrsg), Verfassungstheorie
(2010), namentlich die Beiträge von Jestaedt, Verfassungstheorie als Disziplin 4 ff; Hillgruber, Ver-
fassungsinterpretation 505 ff; Kahl, Grundrechte 772 ff; Kempen, Verfassung und Politik, 929 ff und bei
Jestaedt/Lepsius/Möller/Schönberger, Das entgrenzte Gericht (2011); ferner in Hillgruber/Waldhoff,
VII. Der Rang der Rechtssätze und der Stufenbau des Rechts 75
Eine für alle Zeiten gleich gültige Struktureinsicht hat auch die Rechtsquellen-
lehre der reinen Rechtslehre nicht gewonnen. Mit der von ihr bekämpften Natur-
rechtslehre teilt sie die Eigenschaft, von den Rechtsverhältnissen ihres Entstehungs-
raumes und ihrer Entstehungszeit abhängig zu sein. Für den westeuropäischen Ge-
setzesstaat ist der Erklärungswert der reinen Rechtslehre und ihrer Stufenbautheorie
größer als etwa für den angloamerikanischen Rechtsbereich.
So faszinierend der Entwurf eines einheitlichen rechtlichen Weltbildes ist, zwei
Fragen vor allem bereiten Schwierigkeiten: die Frage nach dem Verhältnis des
staatlichen Rechts zum Völkerrecht und die Frage nach dem Geltungsgrund der
Verfassungen.
Dass staatliches Recht nicht die einzige Erscheinungsform des Rechtes bildet,
ist heute anerkannt. Das kanonische Recht der katholischen Kirche bildet hierfür
ein Beispiel. Dem Staat und seinem Recht nicht gleichzusetzen ist aber auch das
Völkerrecht. Es regelt die juristischen Beziehungen zwischen Staaten, aber auch
andere supranationale Fragen, insbesondere die Ordnung internationaler Organi-
sationen. Für das Verhältnis dieses Rechts zum staatlichen Recht haben sich zwei
Konzepte ausgebildet: Dualismus und Monismus. Für den Dualismus sind staatli-
ches Recht und Völkerrecht zwei voneinander vollständig getrennte Ordnungen121.
Der Versuch, sie in einem Stufenbau zu verbinden, wäre daher sinnlos. Der Monis-
mus dagegen erstreckt die Idee der Einheit des Rechts auf das Verhältnis zwischen
Völkerrecht und staatlichem Recht. Daher kann er den Versuch unternehmen, die
Stufenbaulehre auf das Völkerrecht auszudehnen122. Praktische Relevanz hat diese
Konzeption vor allem durch die immer häufiger werdende Frage nach dem Ausmaß
der innerstaatlichen Rechtswirkung internationaler Vereinbarungen, namentlich des
Europarechts (unten § 12 V) erhalten123.
Stellt man die Frage nach dem Geltungsgrund der Verfassungen, so lässt sich
keine positive Norm ausfindig machen, auf die diese Erzeugungsregel aller ande-
ren staatlichen Normen gegründet werden könnte. Es ist wie in der Physik, in der
alle Gesetze auf andere Gesetze gestützt werden können, ohne dass man sich der
Erkenntnis des Gesetzes der Gesetze nähert. Manche gründen die Geltung der Ver-
fassungen bloß auf die effektive Macht der Verfassungsgesetzgeber und lassen so
das Recht mit jeder Revolution neu beginnen. Andere gründen die Konstitutionen
auf präpositives Recht. Eine sehr subtile Auskunft gibt die reine Rechtslehre mit
ihrer Theorie der Grundnorm. Als Grundnorm bezeichnet man die Norm, nach
der die Verfassung erzeugt wurde. Einige Zeit lang wurde die historisch erste Ver-
fassung als Grundnorm qualifiziert. Diese Konzeption scheitert aber am häufigen
Kontinuitätsbruch durch Revolutionen. So drang die These durch, dass es sich bei
60 Jahre Bonner Grundgesetz (2010); krit differenzierend zur Rsp des BVerfG Schenke, Methodenlehre
und Grundgesetz in Dreier (Hrsg), Macht und Ohnmacht des Grundgesetzes (2009) 51 ff, 67 ff, der die
Nachteile der „Konstitutionalisierung der Methodenlehre“ in ihrer Isolierung von den Nachbardiszipli-
nen und der Verengung auf das öffentliche Recht sieht.
121
So Triepel, Völkerrecht und Landesrecht (1899).
122
Vgl Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 324 f, 328 ff.
123
Zu dem heute wohl vorherrschenden „gemäßigten Monismus“ vgl Miehsler, JBl 1965, 566 ff;
Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht (1976) 66 ff.
76 § 4 Die Norm
der Grundnorm nicht um eine gesetzte, sondern um eine vorausgesetzte Norm hand-
le. Die Voraussetzung, die zur Formulierung der Grundnorm führe, werde nicht
von einem Gesetzgeber, sondern von der Rechtswissenschaft bestimmt. Trotzdem
ist die Grundnorm kein Juristenrecht. Die Rechtswissenschaft setzt nach der neu-
eren Grundnormtheorie der reinen Rechtslehre mit der Grundnorm nicht einen Akt
der Rechtsschöpfung, sondern der Erkenntnis. Die Voraussetzung der Grundnorm
erfolgt im Hinblick auf eine im Großen und Ganzen wirksame Rechtsordnung124.
Gerade deshalb ist die Grundnorm nicht in der Lage, die Rechtsordnung, für die sie
vorausgesetzt wird, zu normieren. Sie selbst kann ja nur aus dieser Ordnung Gestalt
gewinnen. Ihr fehlt das Wollen eines Legislators. Sie ist ein intellektueller Trapez-
akt, aber keine Norm.
Als Mittel ordnungsimmanenter Strukturanalyse übertrifft die Lehre vom Stu-
fenbau des Rechts jede andere Theorie über das Verhältnis der Rechtssätze zuein-
ander. Das System als Ganzes zu verankern und seine Grundlage zu begründen, ist
aber auch dieser Konzeption nicht gelungen.
124
Kelsen, Reine Rechtslehre2 208.
§ 5 Methode und Interpretation
Inhaltsverzeichnis
Fall und Norm bedürfen der Vermittlung. Diese zu steuern, so dass die Konkretisie-
rung des Rechts durch Entscheidungen überzeugt und im Geist der Rechtssicherheit
erfolgt, ist das Anliegen der juristischen Methodenlehre1. Als Methode bezeichnen
1
Adomeit/Hähnchen, Rechtstheorie für Studenten6 (2012); Alexy, Theorie der juristischen Argu-
mentation3 (1996/2011); Alexy/Koch/Kuhlen/Rüßmann, Elemente einer juristischen Begründungs-
lehre (2003); F. Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff2 (1991); Engel/Schön
(Hrsg), Das Proprium der Rechtswissenschaft (2007); Engisch, Einführung in das juristische
wir ein geordnetes Verfahren zur Gewinnung von Erkenntnissen. Diesen Methoden-
begriff teilt die Jurisprudenz mit vielen anderen Wissenschaften.
Ob der Gegenstand die Methode bedingt oder ob umgekehrt die Methode den
Gegenstand konstituiert, ist für die Wissenschaft vom Recht durch den Einfluss des
Neukantianismus (der den Primat der Methode lehrte) auf neuere rechtstheoretische
Konzepte zu einem Thema von beträchtlicher Bedeutung geworden. Die Annahme,
dass die Methode ihren Gegenstand konstituiert, kennzeichnet die „Juristische Me-
thodenlehre“ von Wilhelm Sauer (1940) ebenso wie Kelsens Reine Rechtslehre. Für
die bessere Vorgangsweise, zum einmal gewählten Gegenstand die angemessene
Methode zu suchen, haben sich zB Walther Burckhardt2 und Günther Winkler3 aus-
gesprochen. Es muss jedoch bedacht werden, dass dem Gegenstand „Recht“ ver-
schiedene Methoden angemessen sind. Die Unterschiede zwischen Rechtstheorie,
Rechtsdogmatik, Rechtsphilosophie und Rechtssoziologie beruhen nicht auf Unter-
schieden im Gegenstand, sondern in der Methode. Deren Wahl ist aber nicht frei
(und führt daher auch nicht zur Konstituierung eines Gegenstandes dieser Diszi-
plinen), sondern hängt von der Art der dem Gegenstand „Recht“ geltenden Fra-
gestellung ab. Nicht der Gegenstand der verschiedenen juristischen Disziplinen,
sondern die Art der dem Recht als Gegenstand geltenden Fragestellung erweist eine
bestimmte Methode als angemessen.
Der rationale Anspruch juristischer Methode führt zur Etablierung einer dem
Recht geltenden Dogmatik4.
Die „dogmatische Denkform“5 begegnet nicht nur in der Theologie und in man-
cher Geisteswissenschaft, sondern auch in der Jurisprudenz. Was sie in dieser be-
deutet, bleibt allerdings oft unklar. Die Analogie zur theologischen Dogmatik legt
es häufig nahe, auch der juristischen Dogmatik ein Streben nach strikt verbindli-
Denken (1964); Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts3
(1956/1974); Fikentscher, Methoden des Rechts, 5 Bände (1977); Gabriel/Gröschner (Hrsg), Sub-
sumtion (2012); Kaufmann/Hassemer/Neumann (Hrsg), Einführung in die Rechtsphilosophie und
Rechtstheorie der Gegenwart8 (2011); Kramer, Juristische Methodenlehre4 (2013); Larenz, Me-
thodenlehre der Rechtswissenschaft6 (1991); Canaris/Larenz, Methodenlehre der Rechtswissen-
schaft3 (1995); Mahlmann, Rechtstheorie und Rechtsphilosophie (2010); F Müller/Christensen,
Juristische Methodik, Bd 1 Grundlagen, öffentliches Recht10 (2009), Bd 2 Europarecht3 (2012);
Pawlowsky, Methodenlehre für Juristen (1980); Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie6 (2011); Rüt-
hers, Das Ungerechte an der Gerechtigkeit3 (2009) 85 ff. 114 ff; Schneider/Schnapp, Logik für
Juristen6 (2006); Vesting, Rechtstheorie (2007); Wank, Die Auslegung von Gesetzen4 (2008); Zip-
pelius, Juristische Methodenlehre10 (2006); ders, Das Wesen des Rechts. Eine Einführung in die
Rechtstheorie6 (2012);
2
Methode und System des Rechts (1936) 76 ff.
3
Wertbetrachtung im Recht und ihre Grenzen (1969) 16.
4
Aus der in den letzten Jahrzehnten zeitweise intensiven Diskussion über die juristische Dog-
matik sind zu nennen: Wieacker, FS für Gadamer (1970) 311 ff; Esser, AcP 172 (1972) 97 ff;
Meyer-Cording, Kann der Jurist heute noch Dogmatiker sein? (1973); Luhmann, Rechtssystem
und Rechtsdogmatik (1974) 15 ff; Struck, Dogmatische Diskussion über Dogmatik, JZ 1975,
84 ff; Ballerstedt, FS Flume 1 (1978) 257 ff; Schelsky, Die Soziologen und das Recht (1980)
54 und 202 f.; Jansen Rechtdogmatik im Zivilrecht (2011) <enzyklopaedie-rechtsphilosophie.net/
inhaltsverzeichnis/19-beitraege/98-rechtsdogmatik-im-zivilrecht> .
5
Zu ihr Rothacker, Die dogmatische Denkform in den Geisteswissenschaften und das Problem des
Historismus (1954); s auch schon oben § 1 I 3 u II.
I. Juristische Methode und Dogmatik 79
a. die Überprüfung einer neu erlassenen Vorschrift oder einer zu fällenden Ent-
scheidung auf ihre Vereinbarkeit mit den schon anerkannten Rechtsgedanken;
b. das Auffinden übergreifender Rechtsgedanken in den aus verschiedenen Zeiten
stammenden und durch unterschiedliche Problemstellungen ausgelösten Nor-
men einer Rechtsgemeinschaft;
c. die Einordnung der Rechts-, insbesondere der Rechtsprechungsentwicklung in
das Gefüge der eine Rechtsordnung beherrschenden Rechtsgedanken, damit
zugleich der Nachweis, aber auch die Überprüfung des Fortbestehens der Kohä-
renz dieser Ordnung6.
6
S dazu schon oben § 1 I und unten § 6 II.
7
Klug, Juristische Logik3 (1966) 48.
8
Gesetz und Urteil (1912).
9
In diesem Punkt berührt sich das methodologische Konzept von Fikentscher, seine Lehre von
der „Fallnorm“ (Methoden des Rechts IV (1977) 202 ff), seltsamerweise mit Elementen des De-
zisionismus. Nach Fikentscher entnimmt der Richter die für die Entscheidung eines Falles maß-
gebliche Norm nicht einfach dem Gesetz, sondern bildet sie in den meisten Fällen selbst für den
zu entscheidenden Fall. Diese Konvergenz zeigt aber nur, wie weit intellektuelle Entwürfe trotz
80 § 5 Methode und Interpretation
gegen den Versuch von Esser10, die dogmatische Argumentation als Resultat der
Abhängigkeit von Vorverständnis zu deuten. Dies, obwohl Esser zuzugestehen ist,
dass es notwendig ist, sich über das Ausmaß des auf die Rechtsfindung einwirken-
den Vorverständnisses Klarheit zu verschaffen.
In den oben beschriebenen Funktionen ist juristische Dogmatik mehr und we-
niger als bloße Lektüre und Applikation der lex lata, des geltenden Gesetzes. Eine
noch immer verbreitete Populardistinktion unterscheidet rechtsdogmatisches und
rechtspolitisches Argumentieren analog zum Gegensatz zwischen lex lata ( = das
erlassene Gesetz) und lex ferenda ( = das zu erlassende, das geforderte Gesetz).
Diese Unterscheidung taugt zwar als Barriere gegen juristisches Wunschdenken,
bedarf aber der Relativierung, wenn Rechtsdogmatik mehr sein soll als die Kunst
des Lesens. Mehr als Applikation der lex lata ist juristische Dogmatik deshalb, weil
sie unvollständig wäre, wenn sie rechtspolitische Aspekte völlig eliminieren wollte.
In der Rechtsdogmatik geht es um Rechtsgedanken, nicht um Worte eines Gesetzes.
Rechtsgedanken aber kann man nur in ihrer Dynamik voll erfassen. Weniger als
Applikation der lex lata ist Dogmatik insofern, als sie den Akt der Rechtsanwen-
dung nicht voll beherrscht. Begreift man Dogmatik als rationales Kalkül, so muss
man, wenn man realistisch bleiben will, einräumen, dass in viele Akte der Rechtsan-
wendung irrationale Faktoren hineinspielen. Hier hat nicht nur Essers Hinweis auf
die Rolle des Vorverständnisses seinen legitimen Ort, hier sind auch die Resultate
der Lehre vom Verhalten der Richter zu berücksichtigen11. Vor allem aber ist zu
bedenken, dass ein Gesetz unbrauchbar – zu kasuistisch und zu umfangreich – sein
müsste, wenn es versuchen wollte, die Rechtsanwender für jeden erdenklichen Fall
so zu fixieren, dass ihre Entscheidungen rational programmiert wären. Jeder gute
Gesetzgeber kennt die wesentliche Distanz zwischen Norm und Fall. Vorsichtige
Höchstgerichte fügen in die Formulierung der Linie ihrer Judikatur oft genug den
Vorbehalt der Umstände des Einzelfalles ein. Auch einer elastischen Methodik wird
es nicht immer gelingen, alles Irrationale aus dem Prozess der Rechtsanwendung
fernzuhalten. Um Kontrolle zu ermöglichen, Willkür abzuwehren und Rechtsstaat-
lichkeit zu gewährleisten, genügt freilich meist schon das Vorhandensein eines ent-
sprechenden Problembewusstseins.
Die Frage nach dem Anteil der Rationalität an der Vorgangsweise der das Recht
ermittelnden und anwendenden Juristen hat noch einen weiteren Aspekt. Es geht
um das Verhältnis zwischen Rationalität und Evidenz12. Zugrunde liegt die in
der philosophischen Erkenntnistheorie zwar nicht unbestrittene, aber doch recht
verbreitete Unterscheidung zwischen Erkenntnis durch Ableitung und Erkenntnis
durch unmittelbare Einsicht. Von Evidenz oder Plausibilität spricht man, wenn ein
formaler Ähnlichkeit voneinander entfernt sein können. Schmitts Dezisionismus hat bis zu einer
Rechtfertigungsideologie für den Nationalsozialismus geführt, Fikentschers Fallnormlehre hat die
richterliche Rechtsfortbildung im freiheitlichen Rechtsstaat als Hintergrund.
10
Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung (1970).
11
Ansätze zu einem deutschen Gegenstück zur Theorie des judicial behavior bei Lautmann, Jahr-
buch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 1 (1970) 381 ff.
12
Vgl Mayer-Maly, Der Jurist und die Evidenz in FS Verdross (1971) 259 ff.
II. Juristische Hermeneutik 81
Argument unmittelbar überzeugt. Solche Evidenz wird nicht nur für oberste Grund-
sätze des Rechts behauptet; bisweilen stellt sogar ein Gesetzgeber darauf ab, ob et-
was offenkundig ist13. An der Qualifikation des Verhältnisses zwischen Evidenz und
Rationalität scheiden sich die Geister: Im Anschluss an Dietrich von Hildebrand14
verneint Waldstein15 einen Gegensatz zwischen rationaler Argumentation und Er-
kenntnis durch Intuition. Während Deduktion nur aus vorher Erkanntem möglich
sei, könnten die jeweils ersten Prämissen nur durch Intuition erkannt werden. Für
Scheuerle16 dagegen sind „juristische Evidenzen“ ein radikal einzuschränkender,
wenn nicht abzuschaffender Ausdruck der Irrationalität. Dass solche Abstinenz von
der Evidenz je gelingen könne, ist nicht nur wegen der Denkfaulheit der herrschen-
den Meinungen, sondern auch wegen der Beschaffenheit der Situation, in der sie
argumentieren müssen, unwahrscheinlich. Man sollte sich um eine Methodik bemü-
hen, die mit Evidenzargumenten leben kann, ohne sie zu glorifizieren. Ist rationale
Begründung möglich, ist ihr der Vorzug zu geben. Ist ohne Berufung auf Evidenz
nicht auszukommen, muss man sich die Mittelbarkeit dieser Evidenz, das heißt: ihre
Abhängigkeit von schon gegebenen Erfahrungen und Haltungen, bewusst machen.
Erst nach dieser Reduktion der in eine juristische Methodenlehre zu setzenden Er-
wartungen erscheint es möglich, von der Interpretationstheorie als dem Herzstück
jeder juristischen Methodologie zu sprechen. Und erst nach diesen Vorbemerkungen
kann Verständnis für das Fehlen logischer Stringenz der Auslegungslehre erwartet
werden. Die Interpretationstheorie der Juristen soll zwar Begründungszusammen-
hänge vermitteln, ist aber selbst ohne Begründungszusammenhang. Sie besteht aus
relativ isolierten Maximen, die zum Teil in einem Spannungsverhältnis stehen.
13
So § 319 BGB „offenbar unbillig“.
14
Der Sinn philosophischen Fragens und Erkennens (1950) 78 ff; ähnlich Seifert, Erkenntnis ob-
jektiver Wahrheit (1972) 198 ff.
15
Topik und Intuition in der römischen Rechtswissenschaft. Zur Frage des Einflusses der griechi-
schen Philosophie auf die römische Rechtswissenschaft in FS Herdlitczka (1972) 253 ff.
16
ZZP 1971, 241 ff.
17
Zur ihr grundlegend Dilthey, Die Entstehung der Hermeneutik, Gesammelte Schriften, Bd 5
(1924/1961) 317 ff; zum heutigen Meinungsstand repräsentativ (und gut verständlich) Hinderling,
Rechtsnorm und Verstehen (1971); Hruschka, Das Verstehen von Rechtstexten (1972); Schroth,
Juristische und philosophische Hermeneutik in Gabriel/Gröschner (Hrsg), Subsumtion (2012)
129 ff mwN; ders, Hermeneutik, Norminterpretation und richterliche Normanwendung, in: Kauf-
mann/Hassemer/Neumann (Hrsg) Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegen-
wart8 (2011) 270 ff.
82 § 5 Methode und Interpretation
bensäußerungen. Ihren Namen hat sie von der Funktion des Götterboten Hermes als
Vermittler zwischen Göttern und Menschen (§ 1 I 1 u § 8 I). Den Sinn einer Bot-
schaft zu erschließen, ist ihr Ziel. Die Botschaft, die verstanden werden soll, hat in
einem „Text“ Ausdruck gefunden. Auslegungsbedürftiger Text muss nicht geschrie-
ben sein und nicht aus Worten bestehen. Auch Statuen, Bauwerke und Musikstücke
sind auslegungsfähig und daher Text im Sinne der Hermeneutik.
Der Weite des hermeneutischen Textbegriffes entsprechen Gemeinsamkeiten
der literarischen, musikalischen, theologischen und juristischen Auslegung. Es ist
ein bleibendes Verdienst des italienischen Juristen Emilio Betti, mit seiner „Allge-
meinen Auslegungslehre als Methodik der Geisteswissenschaften“ (1967) auf diese
Zusammenhänge zwischen juristischer und allgemeiner Hermeneutik hingewiesen
zu haben. Ohne Besinnung auf die grundsätzlicheren Probleme der allgemeinen
Hermeneutik18 verflacht die juristische Auslegungslehre leicht zu einer Lehre von
Praktiken und Techniken. Bemüht man sich aber um diese Rückbesinnung, so bil-
det die Auslegungslehre einen der wichtigsten Ansätze zu einer Verbindung der
Jurisprudenz mit der Philosophie, der Theologie und dem gesamten Komplex der
Geisteswissenschaften. Der Gedanke der Einheit der Wissenschaft mag heute als zu
anspruchsvoll erscheinen. Interdisziplinäre Forschung zu pflegen, ist aber ein aktu-
elles, anerkanntes Postulat. Für den Juristen dürfte eine wichtige interdisziplinäre
Aufgabe auf dem Gebiet der Hermeneutik liegen.
Dass der Jurist in der Begegnung mit der allgemeinen Hermeneutik nicht nur der
nehmende Teil ist, erweist das Zeugnis des Philosophen Gadamer19. Er weist der
juristischen Hermeneutik exemplarische Bedeutung für die allgemeine zu, orien-
tiert an der Auslegung der Juristen das Programm einer Wiedergewinnung des her-
meneutischen Grundproblems. Weil jede juristische Hermeneutik auch Vermittlung
mit der Gegenwart anstrebt und sich nie mit einem historischen Sinn bescheiden
kann, ist sie für Gadamer nicht ein Sonderfall, sondern das Exempel der vollen
Problematik jeder Hermeneutik20. Eine Erkenntnis der allg. Hermeneutik ist auch
der heuristische Zirkel21 oder besser die hermeneutische Spirale22. Diese Begriffe
bezeichnen die Beobachtung, dass Verstehen ein Lernprozess ist, der sich mit einem
Vorverständnis behelfen muss, das mit dem besseren Verstehen immer wieder kor-
rigiert wird. Der Verstehensprozess führt zu einem ständigen Verstehenszuwachs
und ist damit kein zirkuläres Zurückkehren zum Ausgangspunkt. Die Notwendig-
keit eines Vorverständnisses als Ausgangspunkt des Verstehens kann, wenn keine
laufende Korrektur erfolgt, auch als Defizit im Sinne eines Vorurteils gedeutet wer-
den23.
18
Vgl Warnach (Hrsg), Hermeneutik als Weg heutiger Wissenschaft (1971).
19
Wahrheit und Methode4 (1975).
20
Vgl Wieacker, Notizen zur rechtshistorischen Hermeneutik, Nachrichten der Akademie der Wis-
senschaften Göttingen, phil-hist Klasse (1963/1); Mayer-Maly, JBl 1969, 413 ff.
21
Vgl Gadamer 296 ff; Stegmüller, Das Problem der Induktion: Humes Herausforderung und
moderne Antworten: Der sog Zirkel des Verstehens (1971).
22
Der Begriff stammt von Bolten, Die hermeneutische Spirale, Poetica 17 (1985) 362 f.
23
Übertreibungen in dieser Richtung bei Esser, Vorverständnis und Methodenwahl (1970).
III. Die Subsumtion (Syllogismus) 83
Zur herkömmlichen juristischen Methode gehören eine Reihe von Schlüssen oder
Argumentationsformen. Rechtsanwendung im kontinentaleuropäischen Geset-
zesrecht ( codified law) ist Subsumtion25 des Falles unter eine Norm, was idR
eine Auslegung (dazu unten V) derselben notwendig macht. Als Syllogismus ( =
Zusammenrechnung) bezeichnet man jeden Schluss, namentlich den Schluss vom
Allgemeinen auf das Besondere – vor allem aber einen Schluss, bei dem ein in
zwei vorausgeschickten Prämissen je einmal auftretender Begriff in der Konklusion
nicht mehr vorkommt26. Die Anwendung der Syllogistik auf Rechtsfälle sollte eine
gewisse Subsumtionsautomatik gewährleisten: Individuelle Wertungen des sub-
sumierenden Richters sollten nur wenig Spielraum finden, jeder vernunftbegabte
Rechtsanwender müsste zum nämlichen Resultat gelangen. Zu erinnern ist an die
Persiflage von Kantorowicz27 über den Richter, der, nur mit einem Gesetzbuch und
einem scharfen Verstand ausgestattet, jeden beliebigen Fall lösen kann.
Der einfache Syllogismus, hat die Form Obersatz, Untersatz und Conclusio:
Alle Menschen sind sterblich
Sokrates ist ein Mensch
Sokrates ist sterblich.
Die Subsumtion besteht in der (scheinbar einfachen) Abgleichung der Begriffe
(Mensch). Sind die Begriffe identisch, so ist der Schluss richtig. Juristische Normen
sind regelmäßig weit komplexer. Ungeachtet beträchtlicher Varianten in der Formu-
lierung dieses „juristischen Syllogismus“ bezieht man den Obersatz auf eine Norm
und den Untersatz auf einen Fall (Sachverhalt). Der Obersatz lautet dann:
Wenn der Tatbestand T verwirklicht wird, soll die Rechtsfolge R eintreten („gilt“
die Rechtsfolge R).
Der Untersatz dagegen hat keine Bedingungsform, sondern drückt eine Feststel-
lung aus:
Der Sachverhalt S verwirklicht den Tatbestand T (häufig: Der Mensch M hat im
Sachverhalt S den Tatbestand T verwirklicht).
Nimmt man als strafrechtliches Beispiel einer Subsumtion den Diebstahltatbe-
stand (§ 242 StGB, Art 139 chStGB, § 127 öStGB) und stellt man den Untersatz
(den festgestellten Sachverhalt) unter den Obersatz (den gesetzlichen Tatbestand),
so ergibt sich:
24
Eine Reihe lesenswerter Beiträge enthält der Sammelband von Gabriel/Gröschner, Subsumtion;
Bung, Subsumtion und Interpretation (2004).
25
Kritisch zum Subsumtionsparadigma, Bung (Fn 79) 14 ff mwN.
26
Dazu Lukasiewicz, Aristotle’s Syllogistic (1951); Patzig, Die aristotelische Syllogistik3 (1969).
27
Gnaeus Flavius, Der Kampf um die Rechtswissenschaft (1906) 7, eine anonyme Flugschrift für
die Freirechtsschule.
84 § 5 Methode und Interpretation
• Obersatz: Wer eine fremde bewegliche Sache einem anderen in der Absicht weg-
nimmt, die Sache sich oder einem Dritten rechtswidrig zuzueignen28 wird mit
Gefängnis oder mit Geldstrafe bestraft.
• Untersatz: D ist ein Dieb. Er hat eine fremde bewegliche Sache… (usw.).
• Conclusio: D wird mit Gefängnis oder mit Geldstrafe bestraft.
Die Feststellung der Tat (D ist des Diebstahls schuldig) ist im Strafrecht in der Re-
gel weit komplexer und schwieriger als die der Rechtsfolge. Im Zivilrecht sind oft
die Rechtsfragen verwickelter.
Die Rechtsfolge kann im Strafrecht in einem Freiheitsentzug oder einer Geld-
strafe des Diebes bestehen, im Zivilrecht in einem Eigentumserwerb des Käufers
bzw. seiner Pflicht zur Zahlung des Kaufpreises. Das Zusammenspiel zwischen
dem von der Rechtsordnung formulierten Tatbestand und dem im Leben verwirk-
lichten Sachverhalt für die in der Schlussfolgerung liegende juristische Feststellung
durchzieht das gesamte Recht.
Da Sachen nur körperliche Gegenstände sind (§ 90 BGB; von demselben Sach-
begriff geht § 641 ZGB aus; viel weiter § 285 ABGB), war zweifelhaft, ob man
den Diebstahl von elektrischer Energie unter den Straftatbestand subsumieren kann
(s unten V 1).
Wegen des Grundsatzes nulla poena sine lege clara et certa (Art 103 Abs 2 GG;
Art 7 Abs 2 EMRK; § 1 öStGB; Art 1 chStGB), der sich auch in dem strafrecht-
lichen Analogieverbot (unten§ 5 V) manifestiert, wurde dies allgemein verneint.
In allen drei Ländern erließ man deshalb einen neuen Tatbestand der „Entziehung
von elektrischer Energie“ (§ 248c StGB, § 132 öStBGB, Art 142 chStGB). Aller-
dings darf man den Grundsatz und den in ihm zum Ausdruck kommenden Glauben
an eine exakte ex ante-Bestimmbarkeit von Straftatbeständen nicht überschätzen.
Auch wenn man einzuräumen bereit ist, dass sich die zulässige extensive Ausle-
gung von der verbotenen Analogie mit Hilfe des Kriteriums des möglichen Wort-
sinns (sog Wortlautgrenze, dazu auch unten IV 2 u V) nicht exakt trennen lässt,
bleibt das Analogieverbot geltendes Verfassungsrecht und eine notwendige rechts-
staatliche Sicherung gegen Richterwillkür.
Ein anderes Beispiel ist der sog Datendiebstahl. Auch hier hielt man ein Tätig-
werden des Gesetzgebers für notwendig. Der Begriff des Diebstahls passt hier nicht,
weil es sich um Ausspähen (vgl § 202c dStGB) bzw unbefugte Datenbeschaffung
(§ 143 chStGB) handelt oder um Verrat von Geheimnissen (zB Bankgeheimnis)
oder unerlaubtes Verbreiten (Kopieren).
Der juristische Syllogismus ist nicht ohne Faszination. Er erweckt den Eindruck
logischer Stringenz, um die sich der Jurist bemüht, dem an Rechtssicherheit liegt.
Seine Beliebtheit beruht auf seiner (scheinbaren) Einfachheit und dem logischen
Glanz, den er ausstrahlt; suggeriert er doch eine wertungsfreie Gesetzesanwen-
dung, die man auch einem Subsumtionsautomaten überlassen könnte. Doch wird
seine Bedeutung weit überschätzt. Der deduktive Schluss vom Allgemeinen zum
28
Die Varianten hierzu im schweizer und österreichischen Tatbestand enthalten keine materiellen
Unterschiede.
III. Die Subsumtion (Syllogismus) 85
Besonderen liefert nur wenn die Prämissen stimmen, zwingende und sicher richtige
Ergebnisse. Stimmen die Prämissen nicht, so wird das Ergebnis falsch oder unsin-
nig. ZB Alle Menschen sind sterblich – Sokrates ist ein Fuchs. Oder die Argumen-
tationskette In vino veritas – in veritate libertas – in vino libertas. Das meint der
Satz ex falso quodlibet sequitur – aus einer falschen Prämisse lassen sich beliebige
Schlüsse ziehen (unten § 6 II). Ein fehlerhafter Schluss ist auch die Quaternio ter-
minorum mit mehrdeutigem Mittelbegriff (schlaue Menschen sind Füchse, Füchse
haben vier Beine…) oder die Petitio principii (Zirkelschluss, auch definitio in idem)
bei der das Thema probandum schon vorausgesetz wird; eine Argumentation in der
das zu Beweisende bereits als Voraussetzung enthalten ist. Das Beispiel bei Duden
(„Kaffee regt an, weil er eine anregende Wirkung hat) ist allerdings nicht mehr als
eine Tautologie.
Der Glanz der Logik schwindet auch, wenn man sich die begrenzte Reichwei-
te des Subsumtionsschlusses vor Augen hält. Der deduktive Schluss funktioniert
nur bei dem einfachen dictum de omni aut de nihil, einer Aussage über Alles oder
Nichts. Nicht verallgemeinerungsfähige Sätze wie zB „einige Menschen …“ kom-
men als Obersätze nicht in Betracht. Die Sicherheit des Schlusses beruht auf dem
axiomatischen Charakter des Obersatzes und der einfachen Subsumierbarkeit des
identischen Begriffs im Untersatz. In Wahrheit sind aber Anwendungsbereich und
Aussagegehalt solch trivialer29 Schlüsse sehr gering. Die weit größere Komplexität
juristischer Schlüsse zeigt zB schon der an sich einfache Diebstahltatbestand (Weg-
nahme einer fremden beweglichen Sache in Zueignungsabsicht). Die Frage wer ein
Dieb und was genau Diebstahl ist, steht ganz im Vordergrund und die Aussage, dass
alle Diebe bestraft werden und X ein Dieb und deshalb bestraft wird, tritt dahinter
zurück. Entscheidend ist also die Konkretisierung der Prämissen durch Auslegung
des Obersatzes, der die einzelnen Tatbestandselemente des Gesetzes enthält, und
durch Herausarbeitung des den Untersatz bildenden Rechtsfalles, dh Ermittlung
seiner rechtlich relevanten Elemente. Hat man diese Schritte erledigt, hat die Sub-
sumtion nur noch eine Art Kontrollfunktion, ähnlich wie eine Rechenprobe.
Hinzu kommt, dass in den meisten Fällen nicht, wie idealiter im Strafrecht, der
Sachverhalt nur unter eine Norm zu subsumieren ist. Auch im Strafrecht ist es aber
häufig, dass man den Fall unter mehrere Norm subsumieren muss. Zunächst ist
auch hier das Zusammenspiel zwischen allgemeinem und besonderem Teil zu be-
achten. So wird die Zurechnungsfähigkeit des Täters zusammen mit vielen anderen
Elementen des allgemeinen Teiles des StGB vorausgesetzt, es wird mit Begriffen
wie „fremd“ und „rechtswidrig“ auf ganze Ordnungskomplexe des Rechts verwie-
sen, die für mehrere Normen relevant sind und nicht jedesmal wiederholt werden.
Sodann bestehen schwierige Konkurrenzprobleme, wenn auf den Sachverhalt in
Fällen der Ideal- oder Realkonkurrenz mehrere Tatbestände anwendbar sind. Bei
jener verstößt eine Handlung gegen mehrere Strafnormen (Tateinheit), bei dieser
29
U Neumann, Juristische Argumentationslehre (1986) 19, bezeichnet die deduktive Herleitung
als trivial und bescheinigt dem Subsumtionsparadigma „einen eher zweifelhaften Ruf“, in: Gabri-
el/Gröschner (Fn 17) 311; s auch Lege in Gabriel/Gröschner 259.
86 § 5 Methode und Interpretation
sind es mehrere Handlungen (Tatmehrheit). Das Zivilrecht ist noch weit komplexer.
Hier kommt es fast immer auf das Zusammenspiel zahlreicher Normen an.
Der Glanz der Logik schwindet weiter, wenn man sich klar macht, wie das ent-
scheidende Abgleichen der in den Prämissen identischen Begriffe tatsächlich funk-
tioniert.
Dieses Vergleichen von Sachverhaltselementen des Falles mit Tatbestandsele-
menten der Norm bei der Subsumtion ist dem Fallvergleich im case law nicht un-
ähnlich. Nur werden im case law zwei konkrete Fälle verglichen, der neue Fall mit
dem alten, bereits entschiedenen und nicht wie bei der Subsumtion ein konkreter
Fall mit einer abstrakten Norm, die ja für alle einschlägigen Fälle gelten soll. Der
Vergleich einzelner Sachverhaltselemente im Fallrecht führt zur Isolierung des rele-
vanten Unterschiedes und zur Fokussierung auf die Frage, ob der Unterschied eine
andere Rechtsfolge rechtfertigt oder ob beide Fälle gleich zu entscheiden sind (ratio
distinguendi). Diese ratio ist eine über den Einzelfall hinaus greifende allgemeine
Regel, die quasi das tertium comparationis, den Maßstab für die Beurteilung der
beiden Fälle enthält (vgl oben § 4 IV und unten § 5 VI und VII). Sie wird induktiv
gefunden durch einen Schluss vom Besonderen zum Allgemeinen. Dieser induktive
Schluss führt nicht zu zwingend richtigen Urteilen, sondern nur zu wahrscheinli-
chen. Der Ähnlichkeitsschluss (Analogie, argumentum a simili, dazu unten § 5 V)
kommt nicht nur in der Jurisprudenz vor. Ein Beispiel mag dies verdeutlichen: Auf
der Erde gibt es Wasser und eine Atmosphäre und es leben Menschen dort. Auch
auf dem Mars gibt es Wasser und eine Atmosphäre. Nimmt man an, dass dies hin-
reichende Bedingungen für Leben sind, so könnte man daraus folgern, dass es dort
vielleicht auch Menschen gibt.
Norm und Faktum stehen in einem wechselseitigen Verhältnis, dass erst in der
Rechtsanwendung überbrückt wird. Engisch30 hat treffend von einem „Hin und Her-
wandern des Blickes“ zwischen Sachverhalt und Norm gesprochen. Die Norm ge-
winnt für den Fall eine besondere Gestalt, der Fall wird im Licht der Norm gesehen.
Ist ein Sachverhalt durch Konflikt zum Fall geworden, so denkt der um eine Lösung
bemühte Jurist in Wahrheit nicht von den Fakten, sondern von der Norm her. Dar-
auf hat Hruschka31 treffend hingewiesen: Eine vorweg feststehende „Grundfrage“
bestimmt zu Beginn der Tatsachenfeststellung die Auswahl der relevanten Sachver-
haltselemente aus einem größeren Kontext, aus dem die ersten Aussagen gewonnen
werden. Die Grundfrage selbst wird nicht von einer Tatsache, sondern von einer ju-
ristischen Behauptung beherrscht: etwa einem Leistungsbegehren oder einem Dieb-
stahlsvorwurf. Der Prüfung des Sachverhalts geht also häufig die Beantwortung
einer (hypothetischen) Rechtsfrage voraus. Die Feststellung des Sachverhalts ist
aber, was allein die Fakten anlangt, in der Regel wichtiger und namentlich in Straf-
prozessen auch schwieriger als die Beantwortung der Rechtsfragen.
Schließlich wird die vermeintliche logische Stringenz auch durch Spielräume bei
der Auslegung (dazu unten IV) erheblich aufgeweicht.
30
Logische Studien zur Gesetzesanwendung2 (1960) 14 f.
31
Die Konstitution des Rechtsfalles (1965).
IV. Die juristische Auslegung 87
1. Geschichtliche Entwicklung
Die Anfänge des Rechts kennzeichnet ein starres Haften an vorgegebenen Formen
und ein extremer Formalismus33, der weder die kleinste Abweichung von einem
magisch einzuhaltenden Wortlaut zuließ, noch irgendeine Auslegung. Er findet sich
bei Formeln, die für Rechtsgeschäfte und in Prozessen gesprochen werden mussten.
Die geringste Abweichung vom Text, der kleinste Fehler, führte zum Verlust des
Prozesses.
Gai. 4, 30 berichtet:
sed istae omnes legis actiones paulatim in odium venerunt, namque ex nimia subtilitate
veterum, qui tunc iura condiderunt, eo res perducta est, ut vel qui minimum errasset, litem
perderet.
Aber alle diese Legisaktionen kamen nach und nach in Misskredit. Denn wegen der allzu
großen Spitzfindigkeit der Vorfahren, die damals das Recht begründeten, kam es schließ-
lich so weit, dass man wegen des kleinsten Fehlers den Prozess verlor.
Die richtigen Formeln und Worte wurden den Parteien von den pontifices zur Ver-
fügung gestellt. Nach der Legende hat Flavius, der Schreiber des berühmten Appius
Claudius Caecus (der die Via Appia und ein nach ihm benanntes Aquädukt, die
Aqua Appia, erbauen ließ) den Formelschatz öffentlich bekannt gemacht ( ius Fla-
vianum, ca 300 vChr, Pomponius D. 1, 2, 2, 7).
In dieser Zeit begegnet uns auch bei der Gesetzesauslegung eine rabulistisch
enge Wortinterpretation. So enthielten zB die Zwölftafeln aus naheliegenden wirt-
schaftlichen Gründen ein Verbot goldener Grabbeigaben (neve aurum addito). Da
sich das Verbot dem Wortlaut nach auch auf das Zahngold der Toten erstreckte, war
eine Novellierung des Gesetzes notwendig.
32
Lit (Auswahl): Kramer, Juristische Methodenlehre; Hassemer, Juristische Methodenlehre und
richterliche Pragmatik, Rechtstheorie (2008) 1 ff; N Horn, Einführung in die Rechtswissenschaft
und Rechtsphilosophie5 (2011); Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, mit Juristischer Methoden-
lehre6 (2011); Schwintowski, Juristische Methodenlehre (2005); Zippelius, Juristische Methoden-
lehre10 (2006); Gabriel/Gröschner, Subsumtion; A Kaufmann, Analogie und Natur der Sache2
(1982); Wank, Die Auslegung von Gesetzen4 (2008); Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen
in England und auf dem Kontinent I/II (2001). S zum Folgenden auch Staudinger/Honsell, BGB
Einl Rz 114 ff.
33
Dazu Honsell, Röm. Recht7 10 ff.
88 § 5 Methode und Interpretation
Ulp. D. 1, 3, 30: Fraus enim legi fit, ubi quod fieri noluit, fieri autem non vetuit, id fit: et
quod distat ῥητòν ἀπò διανοία – rheton apo dianoia hoc distat fraus ab eo, quod contra
legem fit.
Gesetzesumgehung liegt dann vor, wenn etwas geschieht, was das Gesetz nicht gewollt,
aber nicht verboten hat; ebenso wie Wortlaut und Sinn verschieden sind, unterscheidet sich
die Umgehung vom Handeln contra legem.
Beispiele hierfür gibt es viele35. Angeblich hat Licinius Stolo (4. Jh. v. Chr.) sein
eigenes Ackergesetz, das den Besitz von mehr als 500 Joch Grundbesitz verbot,
dadurch umgangen, dass er seinen Sohn freiließ und ihm einen Teil seines Grund-
besitzes übertrug. Cato soll die lex Claudia de nave senatorum, die den Senatoren
Schiffsbesitz und das Betreiben von Handelsgeschäften verbot, mit Hilfe seines
Freigelassenen Quintio umgangen haben (Plut. Cat. mai. 21, 6 f). Die Zinsgesetze
wurden dadurch umgangen, dass man das Darlehen durch Scheinkaufvertrag mit
Rückkaufsverpflichtung zu höherem Preis verdeckte36. Im Ergebnis hatte man da-
mit einen Darlehensvertrag mit Sicherungsübereignung.
Die strenge Wortbindung hat eine weitere Figur des römischen Rechts hervorge-
bracht, die uns heute noch begegnet: die Fiktion37. Diese besteht in einer bewuss-
ten Gleichsetzung verschiedener Tatbestände. Es wird etwas angenommen, was in
Wahrheit nicht zutrifft, zB, dass das ungeborene Kind bereits geboren ist. Man sagt,
es gilt als bereits geboren: nasciturus pro iam nato habetur. Die Fiktionen stammen
aus dem Sakralrecht. Da man sich wegen des skrupulösen Wortfetischismus nicht in
der Lage sah, die sakralrechtlichen Vorschriften, namentlich den Wortlaut von Ge-
lübden und Gebeten zu ändern, fingierte man einfach den Tatbestand und operierte
mit Scheinerfüllungen. So war es den Römern zB um die vielen Opfertiere leid, die
sinnlos getötet und verbrannt werden mussten. Man buk sie deshalb aus Teig, in der
Hoffnung, die Götter würden den Betrug nicht merken. Später stellte man einfach
den Satz auf: in sacris simulata pro vero accipiuntur38 – bei den Opfern gilt das Vor-
getäuschte als wahr. Ein alter Brauch verlangte zB, dass jedes Jahr ein Grieche und
eine Griechin von der Brücke in den Tiber gestürzt werden. Da ein Menschenopfer
nicht in Betracht kam, warf man aus Binsen geflochtene Figuren ins Wasser. Noch
heute sprechen wir vom Strohmann, wenn ein Stellvertreter nur zum Schein vor-
geschoben wird. Und nach alten Bräuchen wird noch heute zum Frühjahrsfest eine
Strohpuppe verbrannt, zB der Böögg beim Sechseläuten in Zürich.
34
Dazu Honsell in 1. FS Kaser (1976) 111 ff.; abweichend Behrends, Die fraus legis (1982).
35
Weiteres bei Honsell, Römisches Recht 11 ff.
36
Dieser später sog contractus mohatrae (auch „Kuhverstellungsvertrag“) spielt im islamischen
Recht bei der Ungehung des Zinsverbots bis zum heutgen Tage eine Rolle, vgl § 9 II bei Fn 34.
37
Dazu immer noch grundlegend Demelius, Rechtsfiktion (1858); ferner Honsell, St. Guarino
1659 ff.
38
Servius, Vergilkommentar zur Aeneis 4, 512.
IV. Die juristische Auslegung 89
Die Fiktion war also ursprünglich eine Erfindung der Priester zum Betrug der
Götter. Später diente sie zur Scheinerfüllung eines Tatbestandes, weil man sich zu
einer Änderung der Vorschriften außerstande sah.
Heute ist die Fiktion das gesetzestechnische Mittel einer verkürzenden Verwei-
sung. Anstatt bei verschiedenen Tatbeständen, welche dieselben Rechtsfolgen ha-
ben, diese Rechtsfolge stets zu wiederholen, setzt man einfach die verschiedenen
Tatbestände künstlich gleich.
In der Rechtsgeschichte hat das Haften am Wort erst allmählich einer freieren
Auslegung Platz gemacht39. Dabei hat der Einfluss der griechischen Rhetorik eine
zentrale Rolle gespielt. In der causa Curiana, einem berühmten Erbschaftsstreit
des 1. Jh. v. Chr. in Rom, hat die Auslegung nach dem Willen zum ersten Mal den
Sieg über den Wortlaut des Testaments davongetragen40. Dies blieb freilich ein nur
vorübergehender Sieg über den Testamentsformalismus, der bis zum heutigen Tage
fortbesteht.
2. Rhetorik
In der Rhetorik der griechischen Sophisten gewann schon im 5. Jh vChr die Frage
herausragende Bedeutung, ob ein Gesetz oder Rechtsgeschäft nach dem Wortlaut
(secundum verba) oder nach dem Willen (secundum voluntatem) auszulegen sei41.
Die Rhetorik hatte erkannt, dass Wortlaut und Auslegung einander bedingen, in
einem dialektischen Verhältnis stehen. Wortlaut oder Sinn – bei der subjektiven
Auslegung (unten 4) auch: Wille – des Gesetzgebers oder der Vertragsparteien –
waren dort Auslegungstopoi, auf die man sich, je nach dem, was für den eigenen
Standpunkt günstig war, berufen konnte ( scriptum/sententia, verba/voluntas). Ein
Argument für den Sinn und gegen den (unpassenden) Wortlaut war der berühmte
Satz des Celsus (Dig 1,3,17): scire leges non hoc est verba earum tenere, sed vim
ac potestatem – Die Gesetze verstehen, heißt nicht, an ihrem Wortlaut zu haften,
sondern Sinn und Bedeutung zu begreifen. Dieser Satz war entgegen einem bis
heute bestehenden, unausrottbaren Missverständnis keine Maxime juristischer Aus-
legungskunst mit alleinigem Geltungsanspruch, sondern ein rhetorischer Topos
gegen eine enge Wortauslegung. Eine fast gleichlautende Formulierung finden wir
in der antiken Rhetorikliteratur. In Quintilians Deklamationen (decl. mai. 33) lautet
sie: multo ergo invenientur frequenter, quae legum verbis non teneantur, sed vim ac
39
S zB Jhering, Geist des römischen Rechts II 2 449 ff.
40
Honsell, Röm. Recht7 § 71 III; s noch Wieling, Testamentsauslegung im römischen Recht (1972).
Die Frage war, modern gesprochen, ob trotz einer zu engen Formulierung im Testament, ein Nach-
erbe auch als Ersatzerbe berufen ist, was heute allgemein angenommen wird (§ 608 ABGB, § 2102
BGB, Art 492 Abs 3 ZGB).
41
Zum verba – voluntas – Problem s Stroux, Summum ius, summa iniuria (1926, Nachdruck
1949); Wieacker, Römische Rechtsgeschichte 622 ff.; Wesel, Rhetorische Statuslehre und Geset-
zesauslegung der röm. Juristen (1967); Honsell, Das Gesetzesverständnis in der römischen Antike
in FS Coing I (1982) 129 ff, 138 ff.
90 § 5 Methode und Interpretation
potestatem. Wie etwa das Gegenargument lauten konnte, kann man bei Cicero, (de
inventione 2, 127 f.) lesen:
Iudicem legi parere, non interpretari legem oportere … eos qui iudicent certum quod
sequantur nihil habiturus, si semel ab scripto recedere consueverint – Der Richter soll das
Gesetz befolgen und nicht interpretieren … diejenigen, die urteilen, hätten künftig kei-
nen sicheren Halt mehr, wenn man sich einmal daran gewöhnt hätte, vom Geschriebenen
abzuweichen.
Die Partei, die sich auf den Wortlaut des Gesetzes berief, beschwor die Heiligkeit
der Gesetze. Die andere, die den Wortlaut gegen sich hatte, betonte den Sinn und
argumentierte mit der notwendigen Lückenhaftigkeit des Gesetzes, der Billigkeit
usw. Damals wie heute galt, dass die Position desjenigen, der sich auf den Wortlaut
des Gesetzes berufen konnte, günstiger war, weil leichter zu verteidigen.
Die Entscheidung für den Wortlaut des Gesetzes, welcher die Rechtssicherheit
verkörpert, oder den Sinn des Gesetzes, der die Einzelfallgerechtigkeit repräsen-
tiert, hing also ganz vom jeweiligen Standpunkt ab. Hierzu entwickelte die antike
Rhetorik einen Katalog ausgefeilter Argumente. Es ging um die Kunst des in ut-
ramque partem (nach beiden Seiten) Argumentierens, mit dem von Protagoras aus
Abdera, dem berühmten Sophisten und Redner, (überspitzt) formulierten Ziel, „die
schwächere Sache zur stärkeren zu machen“42. Für den Nutzen dieser Technik, die
eine Parallele in der aus These und Antithese gewonnenen Synthese hat, spricht
noch heute, dass es in der Jurisprudenz oft weniger um Wahrheiten geht, als um
überzeugende Argumente.
Der rhetorische Ursprung der Auslegungsregeln nährt eine gewisse Skepsis
gegenüber der juristischen Methodenlehre, deren Ziel ja Wahrheit und richtige
Ergebnisse sind und nicht der Sieg der eigenen Partei oder Position. Übertrieben
ist freilich die These von Amstutz und Niggli43, die in einer Überzeichnung des
Wittgenstein’schen44 Skeptizismus meinen, der Sinn eines Satzes erschließe sich
überhaupt nur und erst durch den Gebrauch und ebenso der des Gesetzes erst durch
Anwendung auf einen Sachverhalt45. Deshalb verneinen diese Autoren sogar jede
apriorische Bedeutung des Gesetzestextes und damit sogar eine Bindung des Rich-
ters an das Gesetz und tun alle Methodenlehre als für die Rechtsfindung unbrauch-
bare bloße Rhetorik ab. Auch wenn es zutrifft, dass das Vorverständnis eine Rolle
42
Protagoras bei Aristoteles Rhet. B 24, 1402a 23, vgl Diels/Kranz, Fragmente der Vorsokratiker
II 260; dazu Honsell, Naturrecht und Positivismus im Spiegel der Geschichte, in FS Koppensteiner
(2001) 593.
43
ZB Recht und Wittgenstein III: Vom Gesetzeswortlaut und seiner Rolle in der rechtswissen-
schaftlichen Methode in FS Walter (2004) 9, 19, 30 ff; krit dazu auch Kramer, Methodenlehre3
301 ff.
44
Zur Sprachtheorie Wittgensteins s dessen Philosophische Untersuchungen, Werksausgabe Bd 1
(1953); dazu Binz, Gesetzesbindung: Aus der Perspektive der Spätphilosophie Ludwig Wittgen-
steins (2008) 37 ff.
45
So zuletzt wieder Niggli/Keshelava, Recht und Wittgenstein, V: Rechtsquellen und Quellen des
Rechts in FS W Ott (2008) 136.
IV. Die juristische Auslegung 91
spielt46 und dass es auf den Kontext und die Umstände ankommt, schüttet diese
These das Kind doch mit dem Bade aus, indem sie den Regelcharakter und den
weiten Bereich einer einfachen Anwendung klaren Rechts verkennt.
Die Auslegung kommt ins Spiel, wenn bei der Anwendung eines Gesetzes oder
eines Vertrages eine mögliche Diskrepanz zwischen Wortlaut und Sinn besteht.
Auslegung setzt also voraus, dass der Sinn eines Textes unklar oder mehrdeutig
ist. Fälle der Rechtsanwendung, die allein nach dem Wortlaut entschieden werden
können, die maW so klar sind, dass man auf die Sinnfrage verzichten kann, sind
allerdings nicht so häufig, wie der Laie gemeinhin annimmt. Zum einen gibt es
Begriffe, die nicht definiert, unklar oder mehrdeutig sind; zB ist unklar, ab wel-
cher Zahl von Bäumen man von einem Wald sprechen kann, bei welcher Lautstärke
Lärm beginnt, was genau „bei Einbruch der Dämmerung“ bedeutet (usw). Wir fin-
den in Gesetzen deskriptive Begriffe, deren Bedeutung bei Unklarheit nach dem ge-
wöhnlichen oder einem Fach- oder Branchen-Sprachgebrauch empirisch ermittelt
werden muss, aber auch normative, die vom Richter eine Wertung verlangen, zB
der wichtige Grund für eine Kündigung, das auffällige Missverhältnis beim Wucher
(§ 138 Abs 2). Einer wertenden Ausfüllung bedürfen insbesondere die Generalklau-
seln von § 242 BGB, Art 2 ZGB, (Treu und Glauben) oder § 138, Art 20 Abs 1 OR,
§ 879 Abs 1 ABGB (gute Sitten). Aber auch wenn der Wortlaut an sich eindeutig
ist – und das ist der häufigere Fall – kommt man bei der Rechtsanwendung nicht
ohne Rückgriff auf die ratio legis aus, wenn der Gesetzgeber – wie häufig – mit
seiner Formulierung nicht alle denkbaren Fälle richtig erfasst hat. Denn auch ein
sorgfältiger und vorausschauender Gesetzgeber kann nicht alle Fälle vorhersehen,
die das Leben bringt. So hat man zB bei der Schaffung des BGB das Problem der
großen Inflation nicht bedacht. Aber auch, wenn der zu regelnde Fall einfach und
klar ist, kann die richtige Formulierung schwierig sein. Dafür ein Beispiel: Das
Verbot „Betreten des Rasens verboten“ ist sprachlich eindeutig. Die einfache Frage,
ob unter Betreten auch das Befahren fällt, ist nach dem Wortlaut klar zu verneinen,
nach dem Sinn (Auslegung) hingegen ohne weiteres zu bejahen, denn das Verbot
dient der Schonung des Rasens und das Befahren schädigt ihn noch mehr als das
Betreten. Das englische „keep off the grass“ ist abstrakter formuliert und vermeidet
diese Unklarheit. Ein Beispiel aus dem römischen Recht ist der Begriff des Vierfüß-
lers (quadrupes) in der Tierhalterhaftung der Zwölftafeln, den man auf Zwei- und
Mehrfüßler erstreckt hat, so dass das Gesetz zB auch auf einen Strauß anwendbar
war47. Wo der Wortlaut eindeutig ist und die Norm alle Fälle richtig erfasst und um-
gekehrt Fälle nicht erfasst, auf welche die ratio nicht zutrifft, benötigt man keine
46
Vgl Esser, Voverständnis und Methodenwahl (1970), der diese These übertrieben hat (oben § 5
III).
47
Dazu Honsell, Analogie und Restriktion im römischen Recht – vom Wortlaut zum Sinn, in FS
Kramer (2004) 193 f.
92 § 5 Methode und Interpretation
Auslegung, doch ist schon diese Feststellung ein Akt der Auslegung. Dass man, je
weniger die Definition die einschlägigen Fälle trifft, die vom Zweck der Regelung
erfasst werden sollen, umso eher auf die Analogie zurückgreifen muss, hat schon
die antike Rhetorik erkannt48.
Ein anderes Beispiel dafür, dass ein an sich klarer Begriff später (sobald er auf
das Leben trifft) unklar werden kann, bietet ein Fall der Vertagsauslegung (BGH
JZ 1961, 494 ff.): Jemand hatte eine Nachbarparzelle verkauft und im Vertrag be-
stimmt, dass das zu errichtende Gebäude auf der dem Haus des Verkäufers gegen-
über liegenden Seite keine Fenster in der Wand haben dürfe. Der Käufer hatte des-
halb auf der fraglichen Seite das Stiegenhaus errichtet, welches durch ein Rechteck
aus Glasbausteinen belichtet wurde. Der BGH nahm an, dass Glasbausteine Fenster
sind und gab der Klage auf Beseitigung statt. Nach gewöhnlichem Sprachgebrauch
verstehe man unter „Fenstern“ Lichtöffnungen in Gebäuden. Die Lichtdurchläs-
sigkeit sei das Entscheidende (Grimm, Deutsches Wörterbuch: „das Loch in der
Wand, durch welches Tag einbricht“). Lüften und Hinausschauen seien nicht be-
griffswesentlich, denn es gebe viele Fenster, die sich nicht öffnen ließen oder deren
Glas undurchsichtig sei. Doch ist der Fall wirklich allein nach dieser Definition des
Begriffs Fenster zu entscheiden? Der BGH ergänzte, dass sich auch aus dem Ver-
tragszweck ergebe, dass Fenster schlechtin ausgeschlossen sein sollten. Eben dies
war jedoch zweifelhaft. Näher lag, dass durch die Vereinbarung verhindert wer-
den sollte, dass man vom Nachbargebäude ins Haus des Verkäufers sehen könnte,
was bei Verwendung von Glasbausteinen ausgeschlossen war. Entscheidend ist also
nicht die (zweifelhafte) Definition der Glasbausteine als Fenster, sondern die Tat-
sache, dass man durch sie nicht hindurchsehen kann. Auch dieser Fall lehrt aber,
dass einfache Begriffe in einem juristischen Kontext schwierige Auslegungsfragen
aufwerfen können.
Unklar und daher auslegungsbedürftig sind auch im Recht nicht notwendiger-
weise nur Texte (vgl oben II). In Betracht kommen auch Bilder und Zeichen. Ein
Beispiel bilden Verkehrszeichen. Was bedeutet eine 80 in einem roten Kreis mit
dem Piktogramm einer Schneeflocke darunter? Ist es nur ein erklärender Hinweis,
der begründet, warum man auch auf trockener Straße höchtens 80 km/h fahren darf,
nämlich weil es Schnee- oder Eisglätte geben könnte oder gilt die Geschwindig-
48
Qintilian inst. or. 7. 8. 2 nam saepe, si finitio infirma est, in syllogismum delabitur. sit enim lex:
venefica capite puniatur. saepe se verberanti marito uxore amatorium dedit, eundem repudiavit:
per propinquos rogata ut redieret non esset reversa: suspendit se maritus. mulier venefica rea est.
fortissima est actio dicentis amatorium venenum esse: id erit finitio, quod si parum valebit fiet
syllogismus, ad quem velut remissa priore contentione veniemus: an proinde puniri debeat, ac
si virum veneno necasset? – Denn häufig, wenn die Definition unzulänglich ist, gelangt man zur
Analogie. Nimm zB ein Gesetz an, dass die Giftmischerin mit dem Tode bestraft werden soll. Eine
Frau, die von ihrem Mann häufig geschlagen worden war, gab ihm einen Liebestrank und verließ
ihn. Sie kehrte auch auf mehrfache Bitten der Verwandten nicht zurück. Der Mann erhängte sich.
Die Frau wurde wegen Giftmischerei angeklagt. Das Argument dessen, der sagt, ein Liebestrank
sei Gift, ist stark. Hält man es für weniger stark, gelangt man zur Analogie, gleichsam wie nach
einem aufgegebenen Wettstreit, man sagt dann, dass sie so zu bestrafen sei, wie wenn sie den Mann
mit Gift getötet hätte. – Das Beispiel lebt vom Aberglauben an die Wirkung eines Liebestrankes.
Davon abgesehen würde heute eine Bestrafung auch am strafrechtlichen Analogieverbot scheitern.
IV. Die juristische Auslegung 93
keitsbeschränkung nur, wenn tatsächlich Schnee- oder Eisglätte herrscht? Das OLG
Hamm (RBs 125/14) hat Ersteres angenommen und einen Autofahrer, der auf der
trockenen Straße mit 120 km/h unterwegs war zu 160 EUR Geldbuße und einem
Fahrverbot von einem Monat verurteilt: Anders als beim Zusatzschild „bei Nässe“
werde durch das Schild „Schneeflocke“ die angeordnete Höchstgeschschwindigkeit
nicht auf Zeiten beschränkt, in denen winterliche Schneeeverhältnisse herrschen.
Dieser Satz geht schon deshalb zu weit, weil dann das Schild auch im Sommer gel-
ten würde. Das vergleichbare Zusatzschild „bei Nässe“ (an dessen Stelle oft auch
nur das nicht amtliche Piktogramm einer Regenwolke verwendet wird) beschränkt
das Verbot klar und eindeutig auf nasse Straßen. Warum sollte bei Schneeglätte
etwas anderes gelten? Es leuchtet nicht ein, dass für die Witterungsverhältnisse
Schnee und Regen unterschiedliche Regelungen gelten sollen. Selbst wenn man mit
dem Gericht annehmen wollte, dass es nur ein pädagogischer Hinweis zur Verbes-
serung der Akzeptanz das Verbotes ist, bleibt es problematisch, wenn keine Glätte
herrscht. Näher liegt, dass das Verbot mit seiner ratio entfällt (nach dem Satz ces-
sante ratione cessat lex ipsa, V 2), wenn es nicht schneit oder gefriert und die Straße
trocken ist. Allerding gilt dieser Satz bei Verkehrszeichen grundsätzlich nicht, an-
dernfalls würden viele unnötige Verkehrszeichen nicht gelten49.
Ganz überwiegend geht es in der Jurisprudenz aber um Auslegung von Texten.
Ausgangspunkt der Auslegung ist dann der Wortlaut. Verfehlt ist die gelegentlich
erhobene Forderung, der Richter dürfe die Grenzen des Wortlauts nicht überschrei-
ten. Entscheidend ist nicht der Wortlaut, sondern die ratio legis, die sich nicht auf
eine einzelne Bestimmung und auch nicht notwendig auf das fragliche Gesetz be-
schränkt, sondern aus einer der Gesamtrechtsordnung immanenten Teleologie zu
gewinnen ist. Der mögliche Wortsinn ist nur die Grenze der Auslegung. Jenseits
dieser nicht scharf zu ziehenden Grenze beginnt die richterliche Rechtsfortbildung
in Form der Analogie oder der teleologischen Restriktion (näher unten V).
Die sens-clair-Doctrine ( in claris non fit interpretatio; ähnlich schon D 31, 25,
1)50, welche die Auslegung bei klarem Wortlaut verbietet, richtet sich vor allem
gegen eine gekünstelte Auslegung, gegen Wortverdrehung und Advokatenrabulis-
tik. Sie war ein rhetorischer Topos, dessen Gegenstück lautete, dass es nicht auf
den buchstäblichen Wortlaut, sondern auf den Willen (Sinn) ankommt. Übertriebe-
nes Haften an Wortlaut und Buchstaben ist als Wortfetischismus und Buchstaben-
klauberei ebenso verfehlt wie umgekehrt ein vorschnelles Abgehen vom Wortlaut.
Der Streit zwischen Wortlaut und Sinn ist ein uraltes anthropologisches Phänomen
und zahlreich sind die Beispiele für naive Wortgläubigkeit der Laien und überspitz-
te und dem Volk suspekte juristische Auslegungskünste. Das juristisch nicht gebil-
49
Namentlich bei Geschwindigkeitsbeschränkungen oder Halteverboten auf breiten und über-
sichtlichen Straßen hat man mitunter den Verdacht, dass sie nicht der Gefahrenprävention, sondern
dem Kassemachen dienen. Trotzdem gelten sie. – Die Entscheidung des OLG war freilich aus
einem anderen Grunde vertretbar: Es hatte sich um ein, in einer konkreten Glättegefahr eingeschal-
tetes elektronisches Verkehrszeichen gehandelt.
50
Dazu Schott, „Interpretatio cessat in claris“ – Zur Auslegungsfähigkeit und Auslegungsbedürf-
tigkeit in der jur. Hermeneutik in J Schröder (Hrsg), Theorie der Interpretation vom Humanismus
bis zur Romantik (2004) 155 ff.
94 § 5 Methode und Interpretation
dete Volk meint, dass alles nur klar aufgeschrieben werden muss und dass Juristen
Paragraphen verdrehen. Dafür steht auch die sola scriptura-Doktrin, wie sie Martin
Luther in Bezug auf die Bibel vertreten hat, auf den übrigens auch der Spruch „gute
Juristen, böse Christen“ zurückgeht. Das Gegenstück ist für die Vertragsauslegung
in § 133 BGB verankert, der besagt, dass man den wirklichen Willen erforschen und
nicht am Wortlaut haften soll.
In Art 18 OR wird dasselbe mit der Parömie falsa demonstratio non nocet gesagt
(eine falsche Bezeichnung schadet nicht, vgl das Beispiel von der Bibliothek, dazu
unten 4). Hierher gehört auch der alte, vom Apostel Paulus (Korinther 3,6) überlie-
ferte Satz „der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig“51, der dem positiven
Gesetz kritisch gegenübersteht. Dagegen wurde im angelsächsischen Recht, das tra-
ditionell viel weniger Gesetze hat als das kontinentaleuropäische Recht, vielleicht
auch wegen der freiheitbeschränkenden Wirkung der Gesetze lange Zeit eine strikte
Buchstabenauslegung vertreten52. Die sog golden rule, erlaubte eine Abweichung
vom buchstäblichen Sinn und normalen Sprachgebrauch nur, wenn andernfalls das
Ergebnis absurd wäre. Diese Enge hat man in der zweiten Hälfte des vorigen Jh
nicht zuletzt unter dem Einfluss des EU-Rechts, das eine freiere Auslegung ver-
langt, überwunden. So schrieb Lord Denning53: „It is the age-old conflict which
exists between the most eminent judges whether to give the words a literal or li-
beral interpretation. I take my stand on a liberal interpretation, remembering that
‚the letter killeth, but the Spirit gives life‘“. Ähnlich äußerte sich Lord Griffith54:
„The days have long passed when the courts adopted a strict constructionist view
of interpretation which required them to adopt the literal meaning of the language.
The courts now adopt a purposive approach which seeks to give effects to the true
purpose of legislation“. Eine ähnliche Tendenz ist auch in den USA zu beobachten.
Gleichwohl ist nicht zu verkennen, dass die Auslegung im angelsächsischen Recht
immer noch weit enger ist und mehr zu einem Haften am Wortlaut tendiert als in
den Ländern des europäischen Kontinents.
51
Vgl auch Jesaja 32,16: „Das Recht wohnt in der Wüste, aber die Gerechtigkeit weilt in den
Gärten.“.
52
Eine gewisse Ironie der Geschichte ist es, dass diese am Freiheitsideal orientierte Haltung heute
namentlich in den USA in eine Tyrannei unsinniger Gesetze umschlägt (Beispiele oben § 1 Fn 52).
53
In Court of Appeal, Corocraft Ltd v Pan American Airways Inc (1969) 1, Q B 616 ff.
54
In House of Lords, Pepper v Hart, I All ER 42 ff, 50; vgl dazu Vogenauer, Die Auslegung von
Gesetzen in England und auf dem Kontinent, 2 Bde (2001) 855 ff, 963 ff; Kramer in Assmann
ua (Hrsg), Unterschiedliche Rechtskulturen – Konvergenz des Rechtsdenkens (2001) 31 ff, 35;
Wandlungen im englischen Rechsprechungsstil beobachtet Maultzsch (Hrsg), Fuchs oder Igel? –
Fall und System in Recht und Wissenschaft, Symp G Hager (2014) 53 ff; zu Fuchs und Igel s auch
§ 6 Fn 56 und § 11 Fn 133.
IV. Die juristische Auslegung 95
Die Stellung des Textes in der Zeit konstituiert einen Schwerpunkt aller Ausle-
gungsfragen. Das vom Juristen Auszulegende stammt stets aus der Vergangen-
heit, fordert aber Befolgung in der Gegenwart55. Deshalb kann es nicht genügen,
in einem rechtshistorischen Verfahren die ursprüngliche Bedeutung einer Norm zu
ermitteln. Die Frage nach dem ihr gegenwärtig innewohnenden Sinn ist unerläss-
lich. Neben dem historischen steht der hypothetische Gesetzgeber. Die Absicht des
historischen Gesetzgebers kann aus den „Materialien“ – den Beratungsprotokollen
der zur Gesetzesvorbereitung eingesetzten Kommissionen, den Ausschussberichten
und Parlamentsprotokollen, den erläuternden Bemerkungen zu Regierungsvorlagen
(usw) – ermittelt werden56. Als Wollen des hypothetischen (das heißt: als gegen-
wärtig wirkend vorgestellten) Gesetzgebers dagegen gilt der Sinn, der sich für eine
Norm aus der Beschaffenheit der Gesamtrechtsordnung im Zeitpunkt der Ausle-
gung ergibt. Damit verändern die neuen Gesetze den Sinn der alten. Gesellschaft-
licher Wertungswandel greift über die Akte hinaus, in denen er sich unmittelbar
manifestiert. Die hierin liegende Problematik macht es begreiflich, dass die in den
übrigen Rechtsgebieten gängige Distanzierung von den Absichten der historischen
Gesetzgeber von der Interpretationslehre des Verfassungsrechts57 gelegentlich nicht
mitgemacht wird. Die qualifiziert politische Note der historischen Verfassungs-
entscheidungen verleitet dazu, die Verfassungsinterpretation aus den allgemeinen
Grundsätzen der juristischen Hermeneutik herauszuheben und den Spielraum der
Interpreten einzuengen58. Besonders weit geht in dieser Richtung die „Versteine-
rungstheorie“ des österreichischen Verfassungsgerichtshofes59, die vor allem für die
Auslegung der Bestimmungen über die bundesstaatliche Kompetenzverteilung –
nur die historische Interpretation zulassen will.
Die Unterscheidung zwischen subjektiver und objektiver, entstehungszeitli-
cher und geltungszeitlicher Auslegung60 stellt der Interpretation nach den Intenti-
onen des Verfassers eine Interpretation nach einem allgemeinen zeitgenössischen,
55
Ein altes Bonmot spricht vom Gesetz als Herrschaft der Toten über die Lebenden; s dazu § 7 I.
56
Vgl etwa zum BGB Mugdan, Die gesamten Materialien zum BGB (1899) und Jakobs/Schubert,
Die Beratung des BGB (1978 ff); zum ABGB Harras von Harrasowsky, Der Codex Theresianus
und seine Umarbeitungen (1883 ff), und Ofner, Der Ur-Entwurf und die Beratungs-Protokolle des
österreichischen ABGB (1889).
57
Zu ihr Böckenförde NJW 1976, 2089 ff; Schäffer, Verfassungsinterpretation in Österreich
(1971); ders, in: Schambeck (Hrsg), Das österreichische Bundes-Verfassungsgesetz und seine
Entwicklung (1980) 57 ff; Schambeck, Möglichkeiten und Grenzen der Verfassungsinterpretation
in Österreich, JBl 1980, 225 ff; Walter/Mayer, Grundriss des österreichischen Bundesverfassungs-
rechts3 (1980) 37 ff. – Vgl andererseits die exzessive Interpretation des BVerfG (§ 5 VIII und § 7
II) und die neuere Debatte um die sog Konstitutionalisierung der Methodenlehre (oben § 4 VII).
58
Zur gegenläufigen Entwicklung der Verfassungsinterpretation in Deutschland unten VIII.
59
Formuliert in öVfGH Slg 1327, 1351, 2721 und 3472, variiert in öVfGH Slg 7516, 7792, 8035,
8195; zur Problematik Walter/Mayer (Fn 57) 40; s auch unten VIII.
60
Eingehend dazu Th Honsell, Historische Argumente im Zivilrecht (1982) 19 ff, Kramer, Me-
thodenlehre4 116 ff.
96 § 5 Methode und Interpretation
61
GrünhutsZ 13, 1886, 1, 40.
62
Rechtsphilosophie 107.
63
Krit Rüthers, Personenbilder und Geschichtsbilder – Wege zur Umdeutung der Geschichte?
Anmerkungen zu einem Larenz-Portrait, JZ 2011, 593, 600 mwN und die Kontroverse mit Canaris
879 ff, 1149 ff; s auch § 11 Fn 119.
64
Säcker ARSP 58, 1972, 215, 216.
65
Über diese Larenz, Die Methode der Auslegung des Rechtsgeschäfts (1933/1966); dazu: Wie
acker, Die Methode der Auslegung des Rechtsgeschäfts, JZ 1967, 385 ff; Lüderitz, Auslegung von
Rechtsgeschäften (1966); Rummel, Vertragsauslegung nach der Verkehrssitte (1972).
IV. Die juristische Auslegung 97
5. Gesetzliche Auslegungsvorschriften
66
S O Sandrock, Zur ergänzenden Vertragsauslegung im materiellen und internationalen Schuld-
vertragsrecht (1966); Sonnenberger, Verkehrssitten im Schuldvertrag (1970) 159 ff; Uffmann, Das
Verbot der geltungserhaltenden Reduktion (2010) 175 ff.
67
Vgl Mayer-Maly, FS Flume I (1978) 621 ff.
68
Aus dem älteren Schrifttum etwa Enneccerus-Nipperdey, Allgemeiner Teil des bürgerlichen
Rechts15 (1959) 311 ff; Ehrenzweig, System des österreichischen allgemeinen Privatrechts2 I/1
(1951) 69 ff.
69
Lediglich für die Auslegung von Willenserklärungen bzw Rechtsgeschäften finden sich einige
Vorschriften: § 133 BGB (wirklicher Wille, nicht Buchstabe), § 157 BGB (Treu und Glauben,
Verkehrssitte) sowie einige Bestimmungen über Testamentsauslegung, zB § 2084 BGB (favor tes-
tamenti); § 2085 (im Zweifel Restgültigkeit, abweichend von § 139 BGB, dazu unten 7); weitere
Beispiele in §§ 2086 ff.
98 § 5 Methode und Interpretation
(§§ 6 und 7) wie für die Vertragsauslegung (§§ 863 und 914) gesetzliche Inter-
pretationsgrundsätze auf. Darin stimmt es mit dem italienischen Codice civile von
1942 überein, der in den dem 1. Buch vorangestellten „disposizioni sulla legge in
generale“ ebenfalls gesetzliche Auslegungsregeln formuliert (unten VII).
Die Auslegungsgrundsätze für die Gesetzesauslegung haben die Organe der
Rechtsanwendung zum unmittelbaren Normadressaten. Ebenso wie diese jurisdik-
tionelle Interpretation ist aber auch die doktrinelle, die Auslegung durch die Rechts-
wissenschaft auf bestimmte Auslegungsgrundsätze verpflichtet. Um die Usualin-
terpretation und die authentische Interpretation steht es anders. Als Usualinterpre-
tation bezeichnet man die einer Norm durch die Übung einer Rechtsgemeinschaft
verliehene Bedeutung. In ihr steckt die Kraft des Gewohnheitsrechts. Paulus nennt
die Gewohnheit die beste Interpretin der Gesetze ( consuetudo est optima legum
interpres)70. Als Diagnose (nicht auch als normative Anerkennung der Usualinter-
pretation) gilt das weit über das römische und kanonische Recht hinaus. Sich an
Interpretationsregeln zu orientieren, ist die Usualinterpretation ebensowenig gehal-
ten wie die Auslegung durch den Gesetzgeber, die authentische Interpretation.
Ist der Sinn einer Norm zweifelhaft geworden, so steht es dem Gesetzgeber frei,
ihn durch eine neue zu klären. Die Problematik der authentischen Interpretation
liegt darin, dass sich mit ihr oft der Anspruch auf Rückwirkung der nunmehrigen
Auslegung verbindet71. Neufassung der Normierung ist dem Versuch einer Ausle-
gung durch Rechtssatz vorzuziehen. Gesetzgeber, die den Interpreten misstrauen,
neigen aber dazu, die authentische Interpretation als einzige zuzulassen. Das Cor-
pus Iuris Justinians72 enthielt sogar ein Kommentierverbot. Das wurde in einigen
Naturrechtskodifikationen kopiert, namentlich im preußischen ALR Friedrichs des
Großen, der den Juristen und ihren vermeintlich verderblichen Auslegungsküns-
ten besonders misstraut hat. Hierher gehört auch die Anekdote, dass Napoleon, als
man ihm den ersten Kommentar zum Code civil zeigte, ausgerufen haben soll: mon
code est perdue. Joseph II. wollte niemandem „verstatten, sich einer rechtskräftigen
Ausdeutung“ seiner Gesetze anzumaßen; er sagte in § 26 des Josephinischen Ge-
setzbuches (1786):
Wenn aber dem Richter ein Zweifel vorfiele, ob ein vorkommender Fall in dem Gesetz
begriffen sei oder nicht, wenn ihm das Gesetz dunkel schiene oder ganz besondere und sehr
erhebliche Bedenken der Beobachtung desselben entgegenstünden, so solle die Belehrung
allezeit von Uns gesuchet werden.
Solche Verpflichtung zur Rückfrage beim Gesetzgeber73, zum Référé legislatif (das
in Frankreich 1667 und in Preußen 1780 eingeführt wurde), ist typisch für ein am
Willen eines monarchischen Legislators orientiertes Rechtssystem. Alle Interpreta-
tion wird zur authentischen. Zwischen Rechtssetzung und Normanwendung bleibt
70
D. 1, 3, 37, 1; der Satz wird übernommen im Codex iuris canonici c 27.
71
Vgl Kobzina FS Verwaltungsgerichtshof (1976) 233.
72
Einleitungskonstitution Tanta 21.
73
Vgl Schott, „Rechtsgrundsätze“ und Gesetzeskorrektur (1975).
IV. Die juristische Auslegung 99
keine Distanz. Gerade deshalb erweisen sich derartige Systeme nicht lange als funk-
tionsfähig. Zum Rechtsleben gehört ein Spannungsverhältnis zwischen Norm und
Entscheidung. Versuche, diese Relation durch Interpretationsverbote auszuschalten,
sind ebenso fragwürdig wie die Inanspruchnahme eines weitgehenden Rechtsfort-
bildungsauftrags durch die Gerichte.
74
Vgl Morlok, Die vier Auslegungsmethoden – was sonst? in Gabriel/Gröschner, Subsumtion
(2012) 179 ff.
75
D 1, 3, 24.
100 § 5 Methode und Interpretation
Widersprüchliche Aussagen kann das Recht nicht zulassen (s auch § 6 II). Inso-
fern ist die von der Psychologie für Kultur und Religion geforderte Ambiguitäts-
toleranz für die Jurisprudenz keine Option.
Im Recht sind Wertungswidersprüche (Antinomien) im Rahmen der systemati-
schen Auslegung auszuräumen. Von keiner Rechtsordnung darf vermutet werden,
dass sie sich widersprüchlich verhält, obwohl Normwidersprüche zur täglichen Er-
fahrung der Juristen zählen76. Widersprüche von Gesetzen beseitigt man mit dem
Satz von der lex posterior (derogat legi priori, s auch Art 15 CC it, Art 2 CC esp)
oder der lex specialis (derogat legi generali). Zwei einander widersprechende,
gleichrangige Normen heben sich gegenseitig auf, so dass keine zu beachten ist.
Das logische Argument wird von einigen zur grammatisch-logischen Auslegung
verbunden. Richtiger ist es, das logische Element zum systematischen zu stellen77.
Das logische Element erschöpft sich nicht in den bekannten logischen Schlussfi-
guren, zu denen neben dem Subsumtionsschluss auch das argumentum a fortiori
(„Erst-recht-Schluss“), der Größenschluss (a minore ad maius, a maiore ad minus),
die deductio ad absurdum78 und das argumentum e contrario oder e silentio zählen.
Auch der (umstrittene) Satz, dass Ausnahmevorschriften eng auszulegen sind (sin-
gularia non sunt extendenda, dazu V 5), gehört dazu. Die Eignung der Logik zur
Rechtsfindung wird heute kritisch beurteilt79.
Während der Größenschluss zu relativ eindeutigen Resultaten führt (streitig sind
meistens bloß seine Prämissen), aber nur selten offene Probleme zu lösen vermag,
ist die Überzeugungskraft aller übrigen Mittel der logisch-systematischen Interpre-
tation bescheidener. Es geht hier vor allem um den Umkehrschluss ( argumentum
e contrario) mit dem Schluss aus dem Stillschweigen ( argumentum e silentio) und
dem argumentum lege non distinguente als Sonderformen. Grundgedanke des Um-
kehrschlusses ist, dass sich aus der Anordnung der Rechtsfolge B für den Tatbe-
stand A ergibt, dass alle Rechtsfolgen außer B für A nicht gelten sollen, während die
Rechtsfolge B für alle Tatbestände außer A nicht gelten soll. Spricht eine deutsche
Norm von einer Sache, so greift die Rechtsfolge dieser Norm nicht auch für eine
Forderung ein: Forderungen sind nach dem BGB (anders als nach § 285 des öster-
reichischen ABGB) keine Sachen. § 90 BGB erklärt nur körperliche Gegenstände
zu Sachen im Rechtssinn. Das Problematische am Umkehrschluss ist, dass er einen
perfekten Gesetzgeber voraussetzt und damit eine unrealistische Prämisse aufstellt.
Diese Kritik trifft auch den Schluss aus dem Stillschweigen, der jedes Schweigen
des Gesetzgebers als ein beredtes Schweigen qualifizieren muss, und das Argument,
dass man dann, wenn das Gesetz nicht unterschieden habe, auch in der Rechtsan-
wendung nicht unterscheiden dürfe.
Neben der grammatischen und der logisch-systematischen Interpretation stehen
die historische und die teleologische. Die historische Auslegung gilt, wie wir ge-
76
Vgl Perelman (Hrsg), Les antinomies en droit, (1965).
77
Savigny 227; Bydlinski, Methodenlehre 442.
78
Dazu Diederichsen, Die „reductio ad absurdum“ in der Jurisprudenz, FS Larenz (1973) 155.
79
Vgl Baufeld, ARSP Beiheft 103 (2005) 183 ff; kritisch zum Subsumtionsschluss Bung, Subsum-
tion und Interpretation (2004) 14 ff mwN.
IV. Die juristische Auslegung 101
sehen haben, den Absichten des Gesetzgebers, der die Norm geschaffen hat. Ihr
Gewicht nimmt mit dem Alter der Norm ab. Umso mehr tritt der objektive Zweck
der Norm in den Vordergrund. Ihm gilt die teleologische Interpretation ( telos =
Ziel, Zweck). Das teleologische Element war für Savigny suspekt (System I 220):
„Ungleich bedenklicher, und nur mit großer Vorsicht zulässig, ist der Gebrauch des
Gesetzesgrundes zur Auslegung des Gesetzes“. Erst unter dem Eindruck von Jhe-
ring (Der Zweck im Recht) wurde die teleologische Auslegung, die sich am Zweck
einer Regelung orientiert, als Interpretationsverfahren allgemein anerkannt und in
der Folge (Interessenjurisprudenz) in den Vordergrund gerückt. Sie hat nur in der
Jurisprudenz Bedeutung, da mit anderen Texten regelmäßig kein Zweck verbunden
ist. Bei der Gesetzesauslegung hingegen spielt die ratio legis eine zentrale Rolle,
bei der Vertragsauslegung der Vertragszweck.
Eine Rangordnung der Auslegungskriterien besteht heute ebenso wenig wie zu
Savignys Zeit (vgl Bydlinski, Methodenlehre 423 ff). Savigny (System I 215) sagt
zutreffend, es handle sich nicht um Arten der Auslegung, unter denen man nach
Geschmack und Belieben wählen könne, sondern um „verschiedene Tätigkeiten,
die vereinigt wirken müssen, wenn die Auslegung gelingen soll“. Problematisch
ist deshalb der Beliebigkeit suggerierende sog „Methodenpluralismus“ oder besser
Synkretismus des schweizerischen Bundesgerichts80. Richtig ist, dass die einzelnen
Elemente oft gehäuft auftreten, manchmal in Widerstreit stehen oder ambivalent
sind und dass es eine allgemein anerkannte Reihenfolge oder Hierarchie nicht gibt.
Immerhin sollte man heute den Vorrang der teleologischen Interpretation grundsätz-
lich anerkennen. Zu beginnen ist aber zweckmäßiger Weise stets mit der grammati-
schen Auslegung, freilich ohne strikte Bindung an den Wortlaut. Kein Interpretati-
onstopos sollte a priori vernachlässigt werden81.
7. Weitere Auslegungsgrundsätze
Neben dem herkömmlichen Auslegungskanon kennt man heute einige weitere Aus-
legungsaspekte:
Die rechtsvergleichende Auslegung bezieht namentlich im Privatrecht Lö-
sungsansätze anderer Länder mit ein.
Die aus den USA stammende ökonomische Schulrichtung der economic ana-
lysis of law82 will Rechtsfragen nach ökonomischen Theorien lösen, indem auf
Grundlage dieser Theorien das Gesetz ausgelegt und fortgebildet wird.
80
S. zuletzt etwa BGE 135 V 249 E 4.1; kritisch Kramer, Methodenlehre 121 f mwN, der von Me-
thodenopportunismus spricht; Pichonnaz/Vogenauer, AJP 1999, 417 ff; zustimmend hingegen H
P Walter, Der Methodenpluralismus des Bundesgerichts bei der Gesetzesauslegung, recht (1999)
157 ff.
81
Zur Stellung der verschiedenen Interpretationsmethoden zueinander s noch Schäffer, Kriterien
juristischer Auslegung in Griller et al (Hrsg), Grundfragen und aktuelle Probleme des öffentlichen
Rechts, FS Rill (1995) 595, 620 ff.
82
Posner, Economic Analysis of Law6 (2003); weitere Lit bei Staudinger/Honsell (2013) BGB
Einl Rz 199 zum BGB.
102 § 5 Methode und Interpretation
83
Bettermann, Die verfassungskonforme Auslegung – Grenzen und Gefahren (1986); Bogs, Die
verfassungskonforme Auslegung von Gesetzen (1996); Voßkuhle, Theorie und Praxis der verfas-
sungskonformen Auslegung von Gesetzen durch Fachgerichte – Kritische Bestandsaufnahme und
Versuch einer Neubestimmung, AöR 125 (2000) 177 ff; Wank, Richterliche Rechtsfortbildung im
Verfassungsrecht, ZGR 1988, 314 ff; Zippelius, Verfassungskonforme Auslegung von Gesetzen in
FS BVerfG (1976) 108 ff. Aus der Judikatur des BVerfG s zuerst BVerfGE 2, 266, 282; 87, 114;
zuletzt BVerfG, 1 BvR 2269/07 vom 16.6.2009; mwN bei MünchKommBGB/Säcker Einl Rz 140
Fn 360; grundsätzlich krit zu der Figur U Lembcke, Einheit durch Erkenntnis? – Die Unzuläs-
sigkeit der verfassungskonformen Gesetzesauslegung als Methode der Normkompatibilisierung
durch Interpretation (2009).
84
Ulpian D. 45, 1, 1, 5; dazu Mayer-Maly, Über die Teilnichtigkeit in GS Gschnitzer (1969) 265 ff.
85
Allg zu Fragen der europäischen Methodenlehre s etwa Riesenhuber (Hrsg), Europäische Me-
thodenlehre. Handbuch für Ausbildung und Praxis2 (2010); Vogenauer, Eine gemeineuropäische
Methodenlehre des Rechts – Plädoyer und Programm, ZEuP 2005, 234 ff; Jansen, Dogmatik,
Erkenntnis und Theorie im Europäischen Privatrecht, ZEuP 2005, 750 ff; Langenbucher, Europa-
rechtliche Methodenlehre, in: Langenbucher (Hrsg), Europarechtliche Bezüge des Privatrechts,
(2005) 25 ff; Gsell, Zivilrechtsanwendung im Europ. Mehrebenensystem, AcP 214 (2014) 99,
101 ff, 106 ff; weit Lit bei Honsell, Staudinger Eckpfeiler Einl Fn 273.
V. Teleologische Interpretation (Analogie und Restriktion) 103
Fällt der Sachverhalt S nicht unter den Tatbestand A, so kann sich daraus ergeben,
dass die für den Tatbestand A vorgesehene Rechtsfolge B nicht eingreift. Es kann
aber auch sein, dass der Sachverhalt S dem Tatbestand A ohne sich darunter subsu-
mieren zu lassen, doch so ähnlich ist, dass es gerechtfertigt erscheint, die Rechtsfol-
ge B auch im Fall S eintreten zu lassen. Dann wird die Norm, die die Rechtsfolge B
vorsieht, analog angewandt. Mit dem Begriff der Analogie machen die Juristen eine
Anleihe bei den Philosophen87. Als Analogie bezeichnet man die Ähnlichkeit, aber
auch die Erkenntnis durch Vergleich. Platon hat den Begriff von der Mathematik auf
die Philosophie übertragen. Bei der juristischen Analogie wird eine Norm auf einen
Fall angewandt, der dem von der Norm vorausgesetzten Tatbestand zwar nicht ge-
nau entspricht, aber doch in wesentlichen Punkten identisch, also ähnlich ist.
Die Figur der Analogie war zwar nicht dem Namen, aber der Sache nach auch
der antiken Rhetorik88 und dem römischen Recht89 geläufig.
Julian D 1, 3, 12: non possunt omnes articuli singillatim aut legibus aut senatus consultis
comprehendi: sed cum in aliqua causa sententia eorum manifesta est, is qui iurisdictioni
praeest ad similia procedere atque ita ius dicere debet90.
86
Vgl auch schon oben III aE und IV; A. Kaufmann, Analogie und Natur der Sache2 (1982);
Langhein, Das Prinzip der Analogie als juristische Methode (1992); Rüffler, Analogie: zulässi-
ge Rechtsanwendung oder unzulässige Rechtsfortbildung? Journal für Rechtspolitik 2002, 60 ff;
Honsell, Analogie und Restriktion im römischen Recht – vom Wortlaut zum Sinn in FS Kramer
(2004) 193 ff.
87
Vgl etwa Hoffding, Der Begriff der Analogie (1924); Specht, Der Analogiebegriff bei Kant und
Hegel (1952); aus dem juristischen Schrifttum Heller, Logik und Axiologie der analogen Rechts-
anwendung (1961); Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz (1964) 24 ff und 71 ff.
88
Oben § 5 IV 2 u. 3.
89
Näher Honsell, Röm. Recht7 14.
90
Ähnlich Ulpian D 1, 3, 13: nam, ut ait Pedius, quotiens lege aliquid unum vel alterum introduc-
tum est, bona occasio est cetera, quae tendunt ad eandem utilitatem, vel interpretatione vel certa
iurisdictione suppleri – denn wie Pedius sagt, sobald durch ein Gesetz das eine oder das andere
eingeführt worden ist, besteht eine gute Gelegenheit (ein guter Anknüpfungspunkt), das Gesetz
für die Fälle, in denen der gleiche Zweck gilt, durch Auslegung oder durch Rechtsprechung zu
ergänzen.
104 § 5 Methode und Interpretation
Gesetze und Senatsbeschlüsse können nicht für alle Fälle ausdrückliche Bestimmungen
enthalten; wenn sie aber für einen bestimmten Fall eine Regelung treffen, kann der, der die
Jurisdiktion innehat, die Regel auf ähnliche Fälle erstrecken und so Recht sprechen.
Das entscheidende Element der analogen Anwendung einer Norm liegt in ihrem
Grund bzw Zweck, also in der ratio legis: Fordert diese auch in einem ihrem
Tatbestand ähnlichen Fall Beachtung, so ist Analogie geboten. Die ratio legis der
anzuwendenden Norm legitimiert und begrenzt die Analogie. Daher ist es ungenau,
wenn man bisweilen sagt, Ausnahmebestimmungen seien immer eng auszulegen
und einer analogen Anwendung nicht fähig. Es kommt allein darauf an, wieweit das
Prinzip reicht, das der Ausnahme zugrunde liegt.
Bei der Einzelanalogie wird eine Rechtsregel auf einen Fall erstreckt, auf den sie
nach ihrem Wortlaut zwar nicht trifft, der aber unter teleologischen Gesichtspunk-
ten als wesensgleich anzusehen ist. Der innere Grund für die Analogie liegt also in
der Maxime, dass gleiche Fälle gleich entschieden werden müssen. Sie ist ein In-
duktiver Schluss vom Besonderen zum Allgemeinen, der anders als die Deduktion
nicht sicher, sondern nur plausibel ist.
Nach der herrschenden Doktrin setzt eine Analogie voraus, dass ein Gesetz nach
der gesetzgeberischen Regelungsabsicht eine planwidrige Unvollständigkeit ent-
hält91. Durch Analogie soll eine Regelung für bisher nicht Normiertes gewonnen,
nicht aber eine bestehende Normierung durch eine andere verdrängt werden. Das
Fehlen einer speziellen Regelung für das mit Analogie zu lösende Problem nennt
man Lücke92.
Ob es in Rechtsordnungen überhaupt Lücken geben kann, ist nicht unbestritten.
Der Lehre von der Lückenfüllung steht die These von der wesentlichen Geschlos-
senheit jeder Rechtsordnung gegenüber. Diese von Bergbohm93 formulierte Lehre
hält Rechtslücken für logisch unmöglich. Fehle zu einem Thema eine gesetzliche
Regelung, so sei der Fall gleichwohl nicht ungeregelt: aus einem solchen ungere-
gelten Sachverhalt ließen sich keine Ansprüche ableiten. Ein Begehren, das in der
Rechtsordnung nicht vorgesehen ist, werde ungeachtet seiner materiellen Berechti-
gung abgewiesen (sog Lehre vom negativen Satz).
Ob der Anspruch auf Geschlossenheit zu den Wesenszügen der Rechtsordnung
zählt, mag aber für das Problem der Lückenfüllung durch Analogie dahinstehen.
Die theoretische Möglichkeit einer Rechtslücke ist keine unabdingbare Vorausset-
zung für die Praktikabilität der Analogie. Für diese genügt es, dass eine Lücke im
pragmatischen Sinne vorliegt: Jene planwidrige Unvollständigkeit einer Rechtsord-
nung94, die man „Lücke“ nennt und die eine Rechtsfindung praeter legem erforder-
lich macht, ist immer dann gegeben, wenn zu einer in der gesellschaftlichen Wirk-
lichkeit deutlich gewordenen Problemstellung keine gesetzliche Lösung vorhanden
91
Vgl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft6 (1991) 370 ff, insbes 373.
92
Zum Lückenbegriff der Juristen s neben Canaris (Fn 87), Hinderling, Rechtsnorm und Ver-
stehen (1971) 114 ff.
93
Jurisprudenz und Rechtsphilosophie (1892).
94
Vgl OGH Arb 9844.
V. Teleologische Interpretation (Analogie und Restriktion) 105
ist. Entstehen können derartige Lücken als anfängliche durch Nachlässigkeit oder
bewusste Abstinenz der Legislative, als nachträgliche durch rechtliche, technische,
wirtschaftliche oder gesellschaftliche Entwicklungen seit dem letzten einschlägi-
gen Gesetzgebungsakt. Ein Beispiel für eine Rechtslücke durch bewusste legisla-
torische Abstinenz lieferte das Arbeitskampfrecht, das in Deutschland eine weit-
gehende richterrechtliche Ordnung erfahren hat95. Häufig entstehen Lücken durch
technischen Fortschritt. So war und ist das Internet teilweise ungeregelt. Bei der
Organtransplantation hat das TransplantationsG zwar ua die Zustimmungslösung
und das Hirntodkonzept festgeschrieben, aber die zentrale Frage nach den Kriterien
der Organvergabe der Bundesärztekammer und der Stiftung Eurotransplant über-
lassen. Anderes, wie Gentechnik und Fortpflanzungsmedizin ist in mitunter zwei-
felhafter Weise geregelt, zB im deutschen EmbryonenschutzG. Die sog Leihmutter-
schaft wurde in den deutschsprachigen Ländern verboten96, in zahlreichen anderen
Ländern ist sie erlaubt.
Ist das Vorliegen einer planwidrigen Lücke zu bejahen, so wird sie bei Gleich-
heit von Interessenlage und Normzweck durch Analogie zur Regelung des ge-
setzlich geregelten Falles geschlossen.
Das Verhältnis zwischen Auslegung und Analogie gehört zu den Grundproble-
men der Methodenlehre97. Von der Analogie nur graduell zu unterscheiden ist die
extensive (ausdehnende) Auslegung. Sie erstreckt eine Norm auch auf Fälle, die
nicht mehr vom Begriffskern erfasst werden, sondern nur noch im Randbereich
eines Begriffes liegen. Der gesetzliche Tatbestand wird hier weit ausgelegt. Maß-
geblich ist im Allgemeinen der gewöhnliche Sprachgebrauch, oder wenn feststell-
bar, ein spezieller, in den jeweiligen Kreisen. Um Analogie handelt es sich, wenn
der Fall nicht mehr unter den Gesetzesbegriff subsumiert werden kann. Die Ab-
grenzung zwischen Analogie und extensiver Auslegung ist namentlich im Beson-
deren Teil des Strafrechts so bedeutsam wie problematisch, wo wegen des rechts-
staatlichen Gebotes nulla poena sine lege certa, clara et praevia – keine Strafe ohne
bestimmtes, klares und vorausgehendes Gesetz (Art 103 Abs 2 GG98) – ein Analo-
gieverbot besteht. Es gilt nur in malam partem – zum Nachteil des Angeklagten. Im
Strafrecht dürfen also Analogieschlüsse nicht zur Vermehrung der im Gesetz ent-
haltenen Strafdrohungen führen. Bezeichnender Weise hatte der NS-Gesetzgeber
das Analogieverbot aufgehoben und Bestrafung nach „gesundem Volksempfinden“
angeordnet (§ 2 StGB idF 1935 RGBl I 839).
95
Zuletzt durch BAG AP Nr 64–66 zu Art 9 GG Arbeitskampf.
96
§ 1 EmbryonenschutzG/D; Art 31 FortpflanzungsmedizinG/CH; § 1 f FortpflanzungsmedizinG/A.
Zu zweifelhaften Regelungen, namentlich im deutschen Recht s Honsell, Ethik und Recht in der
Medizin, FS Steiner (2009) 327, 330 ff.
97
Vgl zum Folgenden Staudinger/Honsell, BGB Einl Rz 156 ff; Basler Komm ZGB I/Honsell
Art 1 ZGB N 12 ff; weiter Höltl, Die Lückenfüllung der klassisch-europäischen Kodifikationen.
Zur Analogie im ALR, Code Civil und ABGB (2005); Baldus, Auslegung und Analogie im 19.
Jahrhundert in Riesenhuber (Hrsg), Europäische Methodenlehre. Ein Handbuch für Ausbildung
und Praxis2 (2010) 32 ff.
98
„Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die
Tat begangen wurde“; zum Analogieverbot s Rüthers/Höpfner, Analogieverbot und subjektive
Auslegungsmethode, JZ 2005, 21 ff; Höpfel, Zu Sinn und Reichweite des sogenannten Analogie-
verbots, JBl 1979, 505 ff.
106 § 5 Methode und Interpretation
Der Grund für das Analogieverbot liegt nicht im Ausnahmecharakter des Straf-
rechts, sondern im rechtsstaatlichen Prinzip „keine Strafe ohne Gesetz“ (Art 103
GG, Art 7 Abs 2 EMRK; § 1 öStGB; Art 1 chStGB).
So wünschenswert eine klare Abgrenzung vom rechtsstaatlichen Standpunkt ist,
so schwierig ist sie im Einzelfall. Heute würden wir kaum mehr eine eigene Norm
für notwendig halten, damit der Stromdiebstahl nicht ungestraft bleibt (vgl oben
III). Bezweifeln kann man allerdings, ob das Entfliegenlassen eines Kanarienvogels
wirklich als Sachbeschädigung qualifizieren werden kann, ob ein Damenschuh mit
Bleistiftabsatz oder eine glühende Herdplatte „gefährliche Werkzeuge“99 sind (usw,
diese Beispiele stammen aus der Strafrechtsjudikatur). Dies waren Auslegungs-
künste, mit denen zur Vermeidung von Strafbarkeitslücken die extensive Ausle-
gung strapaziert wurde. Die Grenze zwischen extensiver Auslegung und Analogie
bildet der mögliche Wortsinn100. Jeder Begriff hat einen Kern, einen Hof und einen
äußeren Kreis, der die Grenze des Wortsinns markiert. Dies zeigt das folgende Drei-
Bereiche-Modell:
Begriffshof
möglicher Wortsinn („Wortlautgrenze“)
Auslegung
= Grenze der Auslegung
Analogie
Begriffskern
Anwendung
extensive
Auslegung
99
So § 224 Abs 1 Nr 2 dStGB; Art 123 Ziff 2 Abs 2 chStGB spricht besser von „gefährlichem
Gegenstand“ und vermeidet so eine Strapazierung des Begriffs „Werkzeug“; vgl zu dem Problem
auch oben IV 3.
100
Vgl Th Probst, Die Grenzen des möglichen Wortsinns in FS Kramer (2004) 249 ff; Rüthers/
Höpfner, Analogieverbot und subjektive Auslegungsmethode, JZ 2005, 21 ff; andere sprechen von
Wortlautgrenze, zB Klatt, Theorie der Wortlautgrenze. Semantische Normativität in der juristi-
schen Argumentation (2004) 19 ff; Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze, Thesen zu einem Topos
der Verfassungsinterpretation (1988); Pötters/Christensen, Richtlinienkonforme Rechtsfortbil-
dung und Wortlautgrenze, JZ 2011, 387 ff. Der Begriff „Wortlautgrenze“ ist missverständlich, da
er auch so verstanden werden könnte, dass der strikte Wortlaut gemeint sei und nicht die äußere
Grenze.
V. Teleologische Interpretation (Analogie und Restriktion) 107
An dieser Betrachtung sollte man festhalten, wenngleich die Grenze des möglichen
Wortsinns also (zwischen extensiver Auslegung und Analogie) fließend und nicht
so klar zu ziehen ist, wie es die Grafik suggeriert. So kann man zB fragen, ob unter
den Begriff Schüler auch Berufsschüler fallen oder gar Hochschüler, ob unter Eltern
auch die Großeltern zu verstehen sind, ob eine Seilbahn unter den Begriff der Ei-
senbahn subsumiert werden kann usw. Liegt der zu subsumierende Begriff noch im
Bereich des möglichen Wortsinns, handelt es sich um extensive Auslegung. Liegt er
außerhalb, ist der Fall jedoch ähnlich und trifft die ratio legis (der Gesetzeszweck)
auf ihn genauso zu, dann handelt es sich um Analogie. In unserem Beispiel wird
man für den Berufsschüler eine extensive Auslegung grundsätzlich bejahen können.
Dagegen ist mit den Studenten (Hochschülern) oder gar mit dem Kursteilnehmer
einer Volkshochschule die Grenze des möglichen Wortsinns und damit zur Analo-
gie wohl überschritten. Seilbahnen sind nach gewöhnlichem Sprachgebrauch keine
Eisenbahnen. Im Wege der Analogie könnte man aber die Gefährdungshaftung des
Eisenbahngesetzes auf Seilbahnen erstrecken, denn diese sind noch gefährlicher.
Doch nimmt die hL hier irrig an, dass Tatbestände der Gefährdungshaftung wegen
des angeblich elementaren Verschuldensprinzips – ähnlich dem strafrechtlichen
Analogieverbot – einer Analogie nicht zugänglich seien101. Im Zivilrecht ist die
Analogie jedoch generell zulässig, sofern ihre Voraussetzungen vorliegen.
Das Gegenstück zur Analogie ist das sogenannte argumentum e contrario
(Umkehrschluss. Damit wird geltend gemacht, dass eine bestimmte gesetzliche
Regelung abschließend ist, so dass die Rechtsfolge nur eintritt, wenn der Tatbestand
vorliegt, in allen anderen Fällen hingegen nicht. Der Gesetzgeber wählt absichtlich
eine enge Formulierung (zB nur), um die von ihr nicht erfassten Fälle von der ent-
sprechenden (analogen) Behandlung auszuschließen. Es ist dieselbe Situation wie
beim strafrechtlichen Analogieverbot. So zeigt etwa § 248b StGB, der den unbefug-
ten Gebrauch von Fahrzeugen unter Strafe stellt, im Umkehrschluss, dass der bloße
Gebrauch anderer Sachen nicht strafbar ist. Eine Analogie wäre ohnedies verboten.
Ein anderes Beispiel bietet § 932 Abs 2 BGB. Die Vorschrift verneint gutgläubigen
Erwerb bei grober Fahrlässigkeit, woraus e contrario folgt, dass leichte Fahrlässig-
keit gutgläubigen Erwerb nicht ausschließt102. Das englische Recht formuliert den
Umkehrschluss in der exclusionary rule noch strenger: expressio unius est exclusio
alterius – das Aussprechen des einen ist der Ausschluss des anderen103. Da der Ge-
setzgeber heute eine präzise Ausdrucksweise nicht selten vermissen lässt, macht
das argumentum e contrario mehr und mehr der Analogie Platz. Zu behaupten, der
Umkehrschluss sei „armseliger“ als die „großzügige“ Analogie, ist aber Unsinn104.
Analogie- und Umkehrschluss sind rein formaler Natur. Sie beschreiben eine
bestimmte Argumentationsweise geben aber nicht an, wann die eine und wann die
andere Argumentation zum Zuge kommen soll. Formal sind beide Argumente aus-
101
Dagegen etwa Honsell, Die Reform der Gefährdungshaftung, ZSR 1997, 297 ff.
102
In der Schweiz (Art 933 ZGB) schadet schon einfache Fahrlässigkeit. In Österreich ist die Fra-
ge strittig, vgl Koziol/Bydlinski/Bollenberger/Eccer, Komm ABGB3 § 367 Rn 3.
103
Vgl Halsbury 137, 138.
104
So aber Ehrenzweig, System des österreichischen Privatrechts I 12 (1951) 82.
108 § 5 Methode und Interpretation
tauschbar. Es kann aber immer nur entweder das eine oder das andere vorliegen.
Kelsen hat das kritisiert: „… dass die üblichen Interpretationsmittel des argumen-
tum e contrario und der Analogie völlig wertlos sind, geht daraus zur Genüge her-
vor, dass beide zu entgegengesetzten Resultaten führen und es kein Kriterium dafür
gibt, wann das eine und wann das andere zur Anwendung kommen soll“105. Die von
Kelsen vermissten Kriterien werden in erster Linie durch Rückgriff auf die ratio
legis oder die Entstehungsgeschichte gefunden.
Zu nennen ist schließlich das sogenannte argumentum a fortiori oder a maiore
ad minus (Größenschluss). Bei diesem Argument schließt man von der Verknüp-
fung einer bestimmten Rechtsfolge mit einem Sachverhalt auf ihre Verknüpfung mit
einem anderen Sachverhalt, mit der Begründung, dass die Verknüpfung mit dieser
enger sei als mit jener. Man schließt also „wenn schon…, dann erst recht“. Man
beweist eine Behauptung durch eine schon bewiesene weitergehende Behauptung
(auch „Erst-recht-Schluss“) und unterscheidet den Schluss vom Größeren auf das
Kleinere (a maiore ad minus) und vom Kleineren auf das Größere (a minore ad mai-
us). In einer umfassenden Berechtigung sind auch enger gefasste Rechte enthalten;
die Zulässigkeit des Fahrens über eine Wiese schließt das Recht, über diese Wiese
zu gehen, in sich. Wenn zB die eine Partei schenken wollte, die andere aber nur
ein zinsloses Darlehen annehmen, so ist a maiore ad minus ein Darlehensvertrag
zustande gekommen, denn die Schenkung enthält gewissermaßen als kleinere Ver-
pflichtung ein unentgeltliches Darlehen. A minore ad maius schließt, wer argumen-
tiert, dass, wenn man schon bei rechtmäßiger Besitzentziehung eine Entschädigung
verlangen kann, so erst recht bei rechtswidriger.
Im Allgemeinen sind extensive Auslegung und Analogie häufiger als restriktive
Interpretation (dazu sogleich) und Umkehrschluss (argumentum e contrario). Aus-
legung und Analogie sind unverzichtbar, weil (gesetzliche) Begriffe häufig unschar-
fe Grenzen haben oder weil der Gesetzgeber an benachbarte Fälle oft nicht gedacht
hat.
Eine ausdehnende Auslegung soll nach immer noch vorherrschender Ansicht
nicht zulässig sein, wenn es sich um eine Ausnahmebestimmung handelt. Dies
sagt die auf zwei Papinian-Stellen (D 40, 5, 23, 3 und D 41, 2, 44, 1) zurückgehende
Parömie singularia non sunt extendenda, wonach Ausnahmevorschriften nicht aus-
gedehnt werden dürfen, dh eng auszulegen sind. Dieser Grundsatz ist (zusammen
mit dem strafrechtlichen Analogieverbot) in Art 14 CC it normiert. Er gilt jedoch
nicht, wenn der (scheinbaren) Ausnahmevorschrift ein auf Verallgemeinerung an-
gelegtes Prinzip zugrunde liegt.
Das Gegenstück zur extensiven Interpretation/Analogie liegt vor, wenn der in ei-
ner Bestimmung enthaltene Rechtsgedanke weniger weit reicht als der Text. Sie
105
Vgl Kelsen, Reine Rechtslehre 12.
V. Teleologische Interpretation (Analogie und Restriktion) 109
ist quasi ein spiegelbildlicher Vorgang und bildet neben der Analogie den zweiten
Anwendungsfall der teleologischen Interpretation. Die restriktive Auslegung hat
wiederum nur eine fließende Grenze zur teleologischen Restriktion. Schon in der
antiken Rhetorik gab es für die teleologische Interpretation zwei gegensätzliche
Argumente. War der Wortlaut des Gesetzes für den Parteistandpunkt günstig, sagte
man: lege non distinguente nec nostrum est distinguere – Wo das Gesetz nicht un-
terscheidet dürfen auch wir nicht unterscheiden. Das Argument der Gegenposition
lautete: cessante ratione cessat lex ipsa – Mit dem Wegfall seines Zwecks entfällt
das Gesetz selbst. Diese rhetorischen Topoi können in dieser Verallgemeinerung
keine Geltung beanspruchen. Anerkannt ist aber die Notwendigkeit und Legitimität
der teleologischen Auslegung und Rechtsfortbildung. Allerdings darf die teleolo-
gische Restriktion nur zur Rückführung des Normtextes auf die ratio legis, nicht
aber zur Nichtanwendung unerwünschter Regelungen eingesetzt werden. Hierzu
ist sie ebenso ungeeignet wie die insgesamt verunglückte Lehre von den unech-
ten Lücken106. Verfehlt wäre es nämlich, zunächst eine teleologische Restriktion
einer unerwünschten Regelung zu unternehmen, um dann eine Lücke in derselben
zu konstatieren und diese durch analoge Heranziehung einer erwünschten Rege-
lung zu schließen. Der unerwünschten Regelung ist, solange sie nicht gegen funda-
mentale Rechtsgrundsätze verstößt, im gewaltenteilenden Rechtsstaat nur mit dem
Instrument rechtspolitischer Kritik beizukommen. Richtig ist auch, dass sich der
Rechtsanwender über einen klaren Wortlaut nur dann hinwegsetzen darf, wenn
eine abweichende ratio legis hinreichend deutlich festgestellt ist (vgl § 5 IV 2). Für
ein zu weit greifendes Gesetz, das Fälle erfasst, die es nach seinem Zweck (telos)
nicht regeln soll, ist schon der Ausdruck Lücke verfehlt, denn das Gesetz enthält ge-
rade keine Lücke107. Namentlich Zitelmann108 hat diesen verfehlten Lückenbegriff
in Auseinandersetzung mit der positivistischen Theorie der Begriffsjurisprudenz109
verwendet, welche davon ausging, dass ein auch noch so lückenhaftes Gesetz keine
Lücken hat, weil eben jeder Anspruch, den das Gesetz nicht kennt, abzuweisen ist
und umgekehrt eine Ausnahme, die das Gesetz nicht macht, nicht anzuerkennen
ist (sog negativer Satz; vgl oben V 1). Dieser pointiert positivistische Standpunkt
ist längst überholt und die Zulässigkeit teleologischer Interpretation allgemein an-
erkannt.
Lediglich die schweizerische Doktrin hat lange Zeit die Möglichkeit einer te-
leologischen Restriktion bei sog „rechtspolitischen“ oder “unechten“ Lücken mit
der Begründung geleugnet, dass diese in Art 1 ZGB nicht vorgesehen sei. Eine
Korrektur könne nur in Ausnahmefällen über Art 2 Abs 2 ZGB (Rechtsmissbrauch)
erfolgen110.
106
Gegen diese Kramer, Beiheft 15 ZSR 1993, 65 ff, 71 ff und Huwiler, Beiheft 16 ZSR 1994,
57, 88.
107
S Kramer (106) 72; Honsell, (Fn 101) 374 ff.
108
Lücken im Recht (1903) 9, 23 ff.
109
Vgl statt aller Bergbohm, Jurisprudenz und Rechtsphilosophie I (1892) 372 ff.
110
Ebenso neuerdings wieder Riemer, recht 1999, 176 und Jaun, ZBJV 137, 21 mwN, die sich
in diesem Punkt zu Unrecht auf eine eigenständige schweizerische Methode berufen. Hingegen
110 § 5 Methode und Interpretation
Die teleologische Restriktion ist ebenso zulässig wie die Analogie. Restriktive
und extensive Auslegung bzw teleologische Restriktion und Analogie sind, wie be-
reits gesagt, spiegelbildliche Vorgänge und nur die zwei Seiten derselben Münze.
Ob der Gesetzgeber einen Fall nicht geregelt hat, weil er ihn nicht gesehen hat oder
ob er einen Fall in abstrakter Formulierung versehentlich mitgeregelt hat, weil er
seinen Ausnahmecharakter nicht erkannt hat, macht keinen Unterschied. Stets geht
es nur darum, dass der Wortlaut mit der ratio legis nicht in Einklang steht, einmal
ist er zu weit, das andere Mal zu eng. Die Restriktion ist wie die Analogie freilich
nur zulässig, wenn sich eine von einem zu weiten Wortlaut abweichende ratio legis
erweisen lässt. Sie ist, wie bereits betont, kein Instrument zur Berichtigung bloß
unerwünschter oder unbefriedigender Normen. Die Abneigung gegen die teleolo-
gische Restriktion beruht darauf, dass sie den Anschein einer Entscheidung contra
legem erweckt. Indessen richtet sie sich nur gegen den Wortlaut (contra verba legis)
steht aber im Einklang mit dem Sinn und Zweck des Gesetzes (secundum rationem
legis). Der Vorwurf mangelnder Gesetzestreue, der Aufweichung der Gesetzesgel-
tung und des Verstoßes gegen die Gewaltenteilung (usw) ist also unberechtigt. Der
„horror“ iudicandi contra legem ist unangebracht. Es geht nicht um Gesetzestreue,
sondern um die Frage, ob man sich (wenn sich beides nicht deckt) am Sinn oder am
Wortlaut orientiert. Und diese Frage ist iSd ersten Alternative zu entscheiden.
wird die teleologische Restriktion vom Bundesgericht und einem Teil der Lehre anerkannt: BGE
121 III 219 ff, 224 E 1d/aa – Praxisänderung; BGE 123 III 292 ff, 297 E 2e/aa; 128 I 34, 41 E 3b;
Kramer, Beiheft 15 zur ZSR 1993, 72; ders, Jur Methodenlehre 161, 164 ff; Honsell, Teleologische
Reduktion versus Rechtsmissbrauch in FS Mayer-Maly (1996) 369, 374 ff.
111
BGHZ 26, 394.
112
BGHZ 35, 363, 367 f.
VI. Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung 111
113
BVfGE 34, 269 = NJW 1973, 1221.
114
Larenz, Methodenlehre6 (1991) 425 f; Ossenbühl, Richterrecht im demokratischen Rechtsstaat
(1988) 18; aM Canaris/Larenz, Methodenlehre3 (1995) 248 ff mit der Begründung, § 253 enthalte
kein Analogieverbot, sondern nur ein „Induktionsverbot“.
115
BGHZ 146, 341 = NJW 2001, 1056– Arge „weißes Ross“; BGH NJW (2006, 3716;); ablehnend
zu Recht Canaris, Die Übertragung des Regelungsmodells der §§ 125–130 HGB auf die Ge-
sellschaft bürgerlichen Rechts als unzulässige Rechtsfortbildung contra legem, ZGR 2004, 69 ff;
Pfeifer, Rechtsfähigkeit und Rechtssubjektivität der Gesamthand – die GbR als oHG?, NZG 2001,
296 ff; Zöllner, Rechtssubjektivität von Personengesellschaften? in FS Gernhuber (1993) 563,
566 ff; ders, FS Kraft (1998) 701 ff; zustimmend die hL, s K Schmidt, Die BGB Außengesell-
schaft: rechts- und parteifähig – Besprechung des Grundlagenurteils II ZR 331/00 vom 29.1.2001,
NJW 2001, 993 ff; MünchKommBGB6/Schäfer (2013) § 705 Rz 295, 299 ff, 303 ff.
116
Art 20 Abs 3 GG, BVerfG, NJW 2011, 836.
117
Vgl zB Larenz, Methodenlehre6 42 f; Canaris/Larenz, Methodenlehre3 (1995) 251; Bydlinski,
Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff 496 ff, 500, der ansonsten einen „Rechtsbruch“ an-
nimmt.
112 § 5 Methode und Interpretation
Analogie ist nicht der einzige Weg der Lückenfüllung. Um neues Recht zu gewin-
nen, kann man sich auf natürliche Rechtsgrundsätze, auf die Natur der Sache (dazu
schon oben § 1 I, § 4 II f) oder auf in der Gesellschaft anerkannte Wertvorstellungen
berufen. Art 12 Abs 2 CC it verweist auf die allgemeinen Rechtsgrundsätze des
Staates („principi generali dell’ordinamento giuridico dello Stato“, ähnlich Art 1
CC esp „principios generales del derecho“). § 7 ABGB spricht von natürlichen
Rechtsgrundsätzen, womit auch die Natur der Sache angesprochen ist. Art 1 ZGB
ermächtigt den Richter zur Entscheidung „nach der Regel, die er als Gesetzgeber
aufstellen würde“, wenn er weder dem Gesetz noch dem Gewohnheitsrecht eine
Vorschrift entnehmen kann. Der Richter ist also zur Rechtsfortbildung „modo le-
gislatoris“ befugt. Das verlangt eine verallgemeinernde Begründung, die auch für
andere Fälle passt und soll eine Rückbindung, wo nicht an das Gesetz, so doch an
das Recht gewährleisten121. Die Entscheidung eines konkreten Interessenkonflikts
118
S dazu etwa Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung2 (1976) 255; Neuner, Rechtsfindung contra
legem2 (2005).
119
Larenz, Methodenlehre6 (1991) 377 ff; Canaris/Larenz 251; Bydlinski 496.
120
Wie hier Kramer 213 ff.
121
Kramer (Jur Methodenlehre4, 2013) 227 ff spricht von „gesetzesübersteigendem Richterrecht“
im Gegensatz zu „gebundenem Richterrecht“. Damit wird eine Abgrenzung suggeriert, die sich
klar nicht ziehen lässt. Auch ist mit neuen Begriffen, ähnlich wie bei den zahllosen Lückenbe-
griffen kein Erkenntnisgewinn verbunden. Besser lässt man es bei den alten Begriffen adiuvandi,
supplendi, corrigendi iuris civilis gratia (vgl oben im Text).
VII. Richterliche Rechtsfortbildung jenseits der Analogie, insbes 113
a. Woher nimmt man in einer rationalen Diskussion Maßstäbe für die Aufstellung
neuer Rechtssätze?
b. Kann die Rechtsfortbildung auch zur Korrektur bisher anerkannter Sätze des
positiven Rechts führen?
Der ersten dieser beiden Fragen gelten die schon berührten Argumentationsposi-
tionen „Natur der Sache“, „allgemeine Rechtsgrundsätze“, „Naturrecht“. ZB kann
man schon in den Digesten lesen, dass es die natürliche Vernunft erlaubt, sich gegen
eine Gefahr zu verteidigen: nam adversus periculum naturalis ratio permittit se de-
fendere ( Gaius D 9, 2, 4 pr; zur Notwehr s auch oben § 1 I 1); auch gegenseitiges
Sich-Übervorteilen bei Kauf und Miete wird quasi naturrechtlich gerechtfertigt
( Paulus D 19, 2, 22, 3: naturaliter concessum). Dem Hinweis auf die Natur lassen
sich Judiz des Juristen und Rechtsgefühl123 des Laien zur Seite stellen. Assoziativ-
intuitiv gefundene Ergebnisse sind rational nicht immer begründbar. Auch wenn Ju-
risten und Rechtsphilosophen nicht in der Lage sind, eine Antwort auf die abstrakte
Frage zu geben, was Gerechtigkeit ist, so sagt uns ein unverbildetes Rechtsgefühl
doch stets, was ungerecht ist. Dagegen ist die positive Aussage, was gerecht ist, oft
weniger sicher. Die Existenz einer materialen Gerechtigkeitsethik kann man nicht
in Zweifel ziehen. Bei allen diesen Positionen spielt die Überprüfung der rechts-
staatlichen Legitimation des auslegenden Richters eine zentrale Rolle. Insofern bil-
122
S dazu Honsell, Basler Komm ZGB5 Art 1 N 34; Meier-Hayoz, Der Richter als Gesetzgeber
(1951); Huwiler, Beiheft 16, ZSR 1994, 83 f Fn 131. Danach war Eugen Hubers Vorbild Aristo-
teles Nik Ethik 1137b. Aristoteles erzählt dort die Anekdote, dass Solon, der Gesetzgeber Athens,
für zehn Jahre nach Ägypten gehen wollte, um dort Handelsgeschäfte zu betreiben. Die besorgten
Bürger fragten ihn, wie denn seine Gesetze angewandt werden sollten, wenn man ihn nicht mehr
fragen könne. Er antwortete, sie sollten so entscheiden wie der Gesetzgeber, wenn er im Lande
wäre.
123
Riezler, Das Rechtsgefühl3 (1921/1969).
114 § 5 Methode und Interpretation
124
Zum Folgenden Staudinger/Honsell, BGB Einl Rz 187 ff.
125
Konkreter ausgestaltet sind etwa Ehe und Familie (Art 6 GG), die Vereinsfreiheit (Art 9 GG),
die Unverletzlichkeit der Wohnung (Art 13 GG) oder das freilich bis zur Unkenntlichkeit einge-
schränkte Asylrecht (Art 16a GG), das seinen Charakter als Grundrecht weitgehend eingebüßt hat.
126
Näher Staudinger/Honsell, BGB Einl Rz 187.
VIII. Die Verfassungsinterpretation des Bundesverfassungsgerichts 115
Auch Goethe hat in den zahmen Xenien (II) über die Auslegungskünste der Ju-
risten gespottet: „Im Auslegen seid frisch und munter! Legt ihr‘s nicht aus so legt
was unter“. Das Misstrauen gegen die Auslegungskünste der Juristen ist ein alter
Topos128. Das Bundesverfassungsgericht treibt sie auf die Spitze und mutiert vom
Hüter der Verfassung zu ihrem Herrn. So dass man die alte Frage Juvenals129 stellen
muss: quis custodiat ipsos custodes? Die Verfassungsrichter füllen die inhaltsleeren
Normen mit ihren eigenen Werturteilen aus, und geben ihre Meinungen als angeb-
lich vorgefundenen Inhalt der Verfassung aus130. Ganz nach dem Motto des chief
justice Hughes, der gesagt hat: „we are under a Constitution, but the Constitution is
what the judges say it is“131. Das ist ein undemokratisches gouvernement de juges
mit Kompetenz-Kompetenz. Es verwundert daher, dass dies von der hL kaum kriti-
siert wird132 und dass das Gericht im Volk auf eine Akzeptanz stößt, die alle anderen
127
(4. Aufl 1891) 247 ff.
128
Das kommt in einigen Parömien zum Ausdruck: „gute Juristen – böse Christen“ ( Luther);
„Summum ius – summa iniuria“ (römisches Sprichwort), etwa bei Cicero, de off I 33.
129
Satyrae 6, 347 f.
130
Dazu statt vieler Diederichsen, Die Rangverhältnisse zwischen den Grundrechten und dem
Privatrecht, in: Starck (Hrsg), Rangordnung der Gesetze (1995) 90 ff.
131
David Danelski/Joseph Tulchin (ed), The Autobiographical Notes of Charles Evans Hughes
(1973) 144.
132
Kritik findet sich indes bei der im Zunehmen befindlichen Mindermeinung in der Lehre, vgl
zuletzt Hillgruber, Ohne rechtes Maß? Eine Kritik der Rechtsprechung des BVerfG nach 60 Jah-
ren, JZ 2011, 861 ff; Honsell, Wächter oder Herrscher – Das Bundesverfassungsgericht zwischen
Recht und Politik, ZIP 2009, 1689 ff; ferner Bettermann, Hypertrophie der Grundrechte (1984);
Hesse, Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit in FS Hans Huber (1981) 261, 270; ders, Ver-
fassungsrechtsprechung im geschichtlichen Wandel, JZ 1995, 265; Koch, Die Begründung von
Grundrechtsinterpretationen in: Alexy/Koch/Kuhlen/Rüßmann; Elemente einer juristischen Be-
gründungslehre (2003) 179 ff, 212 ff; Böckenförde; Schutzbereich, Eingriff, verfassungsimmanen-
te Schranken, Der Staat 2003, 165; ders NJW 1974, 1529 u. öfter; Schenke, Methodenlehre und
Grundgesetz in Dreier (Hrsg) Macht und Ohnmacht des Grundgesetzes (2009) 51 ff, 67 ff Rüthers,
Demokratischer Rechtsstaat oder oligarchischer Richterstaat?, JZ 2002, 365 ff; Deppenheuer, Die
Methoden der Verfassungsinterpretation in FS Kriele (1997) 457 ff; Diederichsen, Das Bundes-
116 § 5 Methode und Interpretation
verfassungsgericht als oberstes Zivilgericht, AcP 198 (1998) 171 ff; Forsthoff, Die Umbildung
des Verfassungsgesetzes in Rechtsstaat im Wandel (1964) 147 ff; Grimm, Die Zukunft der Verfas-
sung (1991) 221 ff; Grossfeld, Götterdämmerung?, Zur Stellung des Bundesverfassungsgerichts,
NJW 1995, 1719 ff; Hesse, Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, in: FS H. Huber 261 ff; Isen-
see, Bundesverfassungsgericht – quo vadis?, JZ 1996, 1085 ff; Jestedt, Grundrechtsentfaltung
im Gesetz (1999); Rüthers JZ 2002, 365 ff; Schenke, Methodenlehre und Grundgesetz in Dreier
(Hrsg) Macht und Ohnmacht des Grundgesetzes (2009) 51 ff, 67 ff; Schlink, Freiheit durch Ein-
griffsabwehr – Rekonstruktion der klassischen Grundrechtsfunktion, EuGRZ 1984, 457; Möllers,
Wandel der Grundrechtsjudikatur, NJW 2005, 1973 ff; Ossenbühl in Badura/Scholz (Hrsg), Ver-
fassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, Symposion Lerche (1998) 49 ff, 55 ff; Schulze-Fielitz,
Das Bundesverfassungsgericht in der Krise des Zeitgeists, AöR 1997, 1 ff; Würtenberger, Zur
Legitimität des Verfassungsrichterrechts in Guggenberger/Würtenberger, Hüter der Verfassung
oder Lenker der Politik – Das Bundesverfassungsgericht im Widerstreit 57, 69; Volkmann, Verän-
derungen der Grundrechtsdogmatik, JZ 2005, 261 ff; ders, Die Schattenseiten des Grundgesetzes
in Dreier, Macht und Ohnmacht des GG 9 ff, 21 ff. Eine Kritik der Kompetenzüberschreitung
durch das Gericht, die allerdings auf die zentralen, hier kritisierten Punkte nicht eingeht, findet
sich schließlich bei Jestedt/Lepsius/Möllers/Schönberger, Das entgrenzte Gericht – Eine kritische
Bilanz nach sechzig Jahren Bundesverfassungsgericht (2011).
133
S dazu Vorländer/Brodocz, Das Vertrauen in das BVerfG, Ergebnisse einer repräsentativen
Bevölkerungsumfrage in Vorländer, Die Deutungsmacht der Verfassungsgerichtsbarkeit (2006)
259 ff; ferner die Umfrageergebnisse bei Voßkuhle in Hillgruber/Waldhoff Hrsg) 60 Jahre Bon-
ner Grundgesetz (2010) 97 Fn 1. Das demoskopische Institut Allensbach hat ermittelt, dass der
„Vertrauenswert“ des Bundesverfassungsgerichts mit 75 % fast doppelt so hoch ist wie der des
Parlaments mit 39 %.
VIII. Die Verfassungsinterpretation des Bundesverfassungsgerichts 117
ment legitim ist, ist als angeblich interpretativ gewonnene Erkenntnis illegitim. Man
muss also trennen zwischen Handlungsmaßstab und Kontrollmaßstab134, der erste
ist weit, der zweite eng. Das ist auch deshalb so, weil die politische Willensbildung
der Legislative durch einfaches Gesetz erfolgt. Die im Rahmen der Konkretisierung
gewonnenen Prüfungsmaßstäbe des Bundesverfassungsgerichts hingegen haben
Verfassungsrang. Gerade der Vorrang der Verfassung und die überragende Stellung
des Bundesverfassungsgerichts, das außerhalb der Gewaltenteilung agiert, keiner
Kontrolle unterworfen ist und die Macht hat, im Rahmen der Normenkontrolle Ge-
setze und im Rahmen der Verfassungsbeschwerde Hoheitsakte zu kassieren, würde
eine vorsichtige Verfassungsgerichtsbarkeit nahelegen, die den gebotenen judicial
self-restraint und die political-question-Doktrin beachtet und darauf bedacht ist, aus
der Verfassung nichts abzuleiten, was nicht drin steht, kurz: die sich von einem
verfassungsgerichtlichen Voluntarismus zurückhält. Häufig wird behauptet, dieser
Ansatz sei in Deutschland nicht möglich, weil das Gericht ja verpflichtet sei, zu
entscheiden und es keine präzisen Ansätze für diese Empfehlung gebe135. Die Ver-
pflichtung zur Entscheidung kann aber selbstverständlich durch eine Entscheidung
erfüllt werden, die ausspricht, dass es sich um eine politische Entscheidung handelt
für die das Gericht nicht zuständig ist. Denn das Gericht gibt ja die Konkretisie-
rungen selber vor. Es müsste nur diese Grenzüberschreitungen unterlassen, bei der
„Auslegung“ der Verfassung Zurückhaltung üben und auf politische Entscheidun-
gen im Zweifel verzichten (zur überbordenden Rechtsprechung des BVerfG s auch
unten § 7 II).
Die überzogene Praxis der „Grundrechtskonkretisierung“ legt es an sich nahe,
die Lehre von der Ausstrahlung der Grundrechte, die nicht nur im Privatrecht zu
„Strahlenschäden“136 führt, ganz aufzugeben und die Grundrechte – soweit es um
den Kontrollmaßstab des Bundesverfassungsgerichts geht – wieder als bloße Ab-
wehrrechte zu verstehen, so wie das jahrhundertelang richtig war. Dies ist noch
wichtiger, seit der Vertrag von Lissabon mit seiner noch detaillierteren Grundrecht-
scharta in Kraft getreten ist. Jetzt kommen wir womöglich vom Regen in die Traufe,
weil die Rechtsprechungskultur des EuGH politisch noch arbiträrer ist als die des
Bundesverfassungsgerichts137.
134
Zu der Unterscheidung s Bryde, Verfassungsentwicklung (1988) 306 f; Jestedt, Grundrecht-
sentfaltung im Gesetz (1999) 186 ff mwN; Raabe, Grundrechte und Erkenntnis (1998) 147 ff.
135
S etwa Stern, Staatsrecht III/2 (1994) 1706, 1710 f; Schlaich, Das Bundesverfassungsgericht2
(1991) Rz 469; Heun, Funktionell-rechtliche Schranken der Verfassungsgerichtsbarkeit (1992)
11 f.
136
So Isensee, Bundesverfassungsgericht – quo vadis? in: Fikentscher u a, Wertewandel – Rechts-
wandel (1997) 93 ff, 107.
137
Vgl unten § 12 V 5 c. – Ähnlich verhält es sich mit der Europäischen Menschenrechtskonven-
tion und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg, der immerhin eine et-
was vorsichtigere Linie verfolgt. Auch hier gibt es Ausreißer: EGMR (Nr. 52067/10 und 41072/11)
vom 11. März 2014 verurteilt die Schweiz, weil der Schadensersatzanspruch eines Asbestopfers
von BGE 137 III 16 wegen der 10- jährigen Verjährung abgewiesen worden war. Der EGMR stell-
te eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren gem. Art. 6 EMRK (access to court) fest.
– Mit dieser Argumentation lassen sich im Prinzip alle Verjährungsfristen abschaffen. In diesem
Fall bestand das Problem in der langen Latenzzeit zwischen Asbestexposition am Arbeitsplatz und
118 § 5 Methode und Interpretation
Ausbruch der Krankheit. Die in der Schweiz geplante (viel zu lange) 30-jährige Verjährungsfrist
für Körperverletzung ist nicht die richtige Antwort. Das missliche Ergebnis, dass der Anspruch
verjährt, bevor der Betroffene überhaupt erkrankt ist, entfällt, wenn man die Verjährungsfrist (ent-
gegen BGE) nicht mit der Pflichtverletzung; sondern mit dem Eintritt des Erfolges (Ausbruch der
Krankheit) beginnen lässt (s Honsell/Isenring/Kessler, Schweizerisches Haftpflichtrecht5 (2013)
§ 12 N 4).
138
S etwa Berka, Die Grundrechte (1999).
139
VfSlg 8136/1977– UOG 1975 nicht verfassungswidrig; VfSlg 7400/1975 Fristenlösung nicht
verfassungswidrig. Dagegen BVerfGE 35, 79 (Hochschulgremien ohne Mehrheit für Professoren
verfassungswidrig) und BVerfGE 39,1 und 88, 203 (Fristenlösung verfassungswidrig).
140
Vgl dazu etwa Korinek, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit (2000) 186 mit Fn 150;
vgl auch oben § 5 VIII.
141
BVerfGE 7, 198, 205.
VIII. Die Verfassungsinterpretation des Bundesverfassungsgerichts 119
freiheit des Art 5 GG gerechtfertigt. Im nächsten Fall rief der Springer Verlag zum
Boykott der Zeitschrift „Blinkfüer“ auf, weil diese das DDR Fernseh-Programm
abdruckte. Die Justiz hatte durch das Lüth-Urteil gelernt, dass die Meinungsfreiheit
Wirtschaftsboykotte rechtfertigt und wies deshalb die Schadensersatzklage gegen
den Springer-Verlag ab142. Damit lag sie wieder falsch. Das Bundesverfassungsge-
richt143 gab diesmal Blinkfüer recht. Es geht hier nicht darum, welche Entscheidung
richtig ist. Es geht darum, dass die Abwägung kollidierender Grundrechtspositionen
politische Ansichtssache ist, die mal so und mal so ausfällt. Das Lüth-Urteil ist
deshalb so bedeutsam geworden, weil es aus den Grundrechten, die Abwehrrechte
gegen den Staat waren, eine auf alle Bereiche des Rechts ausstrahlende Wertord-
nung gemacht hat. Erst dadurch, so die vorherrschende Meinung, sei die Einheit
der Rechtsordnung verwirklicht worden144. So bestechend auf den ersten Blick der
Gedanke ist, dass die ganze Rechtsordnung vom Geist der Grundrechte durchweht
wird, so verfehlt ist er bei näherem Hinsehen. Die Grundrechte eignen sich nicht
zur Lösung von Konfliktfällen im Privatrecht145. Auch wird die Verfassung entwer-
tet, wenn man selbst noch die kleinsten praktischen Rechtsfragen aus ihr ableitet,
wie dies seit dem Elfes-Urteil146 geschieht, das aus der freien Persönlichkeitsent-
faltung des Art 2 Abs 1 GG eine allgemeine Handlungsfreiheit entwickelt hat147.
Mit dem Instrumentarium des Bundesverfassungsgerichts kann man jede Rechts-
frage zur Verfassungsfrage machen148. Seither befasst sich das Gericht im Rahmen
von Verfassungsbeschwerden mit dem Grundrecht auf „Reiten im Wald“149 oder
„Taubenfüttern“150, um nur zwei Beispiele zu nennen. Zu Recht hat man vor einer
Banalisierung der Grundrechte gewarnt151. Schon in den 60er Jahren des vorigen
Jh hat Forsthoff vor einer Auflösung der juristischen Verfassungsinterpretation ge-
warnt, bei der es nicht auf Werteverwirklichung, sondern nur auf die klassischen
Auslegungsregeln ankomme. Er hat „normfremde Hypostasierungen“ beanstan-
142
BGH NJW 1964, 29.
143
BVerfGE 25, 256.
144
So K Schmidt, Einheit der Rechtsordnung – Realität? Aufgabe? Illusion?, in: Vielfalt des
Rechts – Einheit der Rechtsordnung?, Hamburger Ringvorlesung 1994, 9, 19.
145
Limbach, FS Zivilrechtslehrer 1934/35 (1999) 383, 386 ff. nennt diese Kritik „Nachhutgefechte
einiger um ihre politische Keuschheit besorgter Juristen“.
146
BVerfGE 6, 32.
147
Dazu statt aller Böckenförde, Schutzbereich, Eingriff, verfassungsimmanente Schranken, Der
Staat (2003) 165, 172; Knies, FS Stern (1997) 1155, 1172 f.
148
Vgl auch Würtenberger, Zur Legitimität des Verfassungsrichterrechts in Guggenberger/Wür-
tenberger (Hrsg), Hüter der Verfassung oder Lenker der Politik? Das Bundesverfassungsgericht im
Widerstreit (1998) 57, 69.
149
BVerfGE 80, 137.
150
BVerfGE 54, 173.
151
Grimm, Sondervotum BVerfGE 80, 137, 146 ff; kritisch auch Knies (147); Scholz, Karlsruhe
im Zwielicht – Anmerkungen zu den wachsenden Zweifeln am BVerfG, FS Stern (1997) 1201,
1214 f.
120 § 5 Methode und Interpretation
det152, die später ein fester Bestandteil der Rechtsprechung wurden, wie zB der den
Schwangerschaftsabbruch rechtfertigende Beratungsschein153 oder das unzulässige
Rauchverbot in Einraumkneipen unter 75 Quadratmetern154, die nicht in Art 1 und
2 bzw Art 12 GG hineininterpretiert werden können.
Im Privatrecht wird zwar eine unmittelbare Drittwirkung155 der Grundrechte
überwiegend verneint, die herrschende Lehre bejaht aber eine mittelbare Drittwir-
kung über die Generalklauseln. Diese These stammt von Dürig156, der die Gene-
ralklauseln „Einbruchstellen der Grundrechte in das Zivilrechte“ genannt hat157. In
neuerer Zeit wurde dieser Ansatz in der Rechtsprechung des Bundesverfassungs-
152
Forsthoff, Die Umbildung des Verfassungsgesetzes in Rechtsstaat im Wandel (1964) 147, 152;
usprünglich in FS Carl Schmitt (1959) 35 ff.
153
Nach BVerfGE 88, 203 ff ist heute nicht mehr die Abtreibung strafbar, sondern das Fehlen ei-
nes Beratungsscheins. Die wegen der Menschenwürde (!) gebotene Strafbarkeit einer Abtreibung
ohne Beratungsschein kann man aber nicht dem Art 1 Abs 1 GG (Die Würde des Menschen ist
unantastbar …) entnehmen. Weder war es schon von den Vätern des GG mitbedacht, noch lässt
es sich im Wege einer immanenten Teleologie hypostasieren, dass die Menschenwürde des Fötus
bei sonstiger Verfassungswidrigkeit wenigstens durch Strafbarkeit der Abtreibung bei Fehlen ei-
nes Beratungsscheines geschützt werden müsste. Man kann dies nicht als Inhalt der Verfassung
ausgeben, der vom Gericht nur erkannt wird. Art 1 Abs 1 GG hat keine konkreten Inhalte dieser
Art. Die Menschenwürde und das Recht auf Leben sind Selbstverständlichkeiten, die in Reaktion
auf die Naziverbrechen in die Verfassung aufgenommen wurden. Für die Frage, ob ein Fötus durch
Strafrecht geschützt werden muss, lässt sich ihnen nichts entnehmen, schon gar nicht, dass man
von Verfassung wegen den Fötus grundsätzlich schutzlos lässt, aber durch Bestrafung von Frauen
schützen muss, die es versäumt haben, sich beraten zu lassen. So hat denn auch der Europäische
Menschenrechtsgerichtshof (EGMR Nr 53924/00) die Einbeziehung des ungeborenen Lebens in
den Schutz des Art 2 Abs 1 S 1 EMRK abgelehnt und in den meisten Ländern Europas gilt die Fris-
tenregelung (näher Honsell, Wächter oder Herrscher – das Bundesverfassungsgericht zwischen
Recht und Politik, ZIP 2009, 1689 ff).
154
BVerfG 1 BvR 3262/07 v 30.7.2008: Aus der Berufsfreiheit des Art 12 GG soll sich erge-
ben, dass das Rauchen auch in Einraumkneipen mit weniger als 75 Quadratmetern erlaubt werden
muss, in denen keine zubereiteten Speisen angeboten werden und zu denen Personen unter 18
Jahren keinen Zutritt haben. Es ist nicht nachvollziehbar, wie man diese Details aus einer Kon-
kretisierung von Art 12 GG gewinnen will. Die Feststellungen des Gerichts sind keine Konkreti-
sierung eines Abstractum, das in Art 12 GG bereits irgendwie angelegt ist. Auch hier müsste aber
doch die Grundidee wenigstens angedeutet sein, so dass es in rational nachvollziehbarer Weise aus
dem abstrakten Text und seiner ratio für den konkreten Fall erschlossen werden könnte. Andern-
falls handelt es sich nicht mehr um Erkenntnis sondern um Dezision, nicht mehr um Begründung
eines Urteils aus der Verfassung, sondern um Proklamation eines politischen Willens. Und in der
Tat kann solche Vorgaben legitimer Weise nur ein Gesetzgeber machen. Diese und viele andere
Beispiele zeigen, dass mit den allgemeinen Begriffen Würde des Menschen oder freie Persön-
lichkeitsentfaltung, Kunst- und Lehrfreiheit (usw.) eine beliebige und grenzenlose Auslegung be-
trieben wird.
155
Dafür Nipperdey, Grundrechte und Privatrecht (1961).
156
JZ 1953, 199 ff; Grundrechte und Zivilrechtsprechung, FS Nawiasky (1956) 157 ff; s auch
Bosch/Habscheid Vertragspflicht und Gewissenskonflikt, JZ 1954, 213 ff; vgl schon oben § 4
Fn 117.
157
Dürig in: Neumann/Nipperdey/Scheuner, Die Grundrechte, Bd 2 (1954) 525; den Begriff hatte
Heinrich Lange (JW 1933, 2859) für das „neue Rechtsdenken“ der Nationalsozialisten verwendet;
vgl Haferkamp (§ 4 Fn 118) 83.
VIII. Die Verfassungsinterpretation des Bundesverfassungsgerichts 121
gerichts durch die Theorie von den staatlichen Schutzpflichten, von den Teilhabe-
und Gewährleistungsrechten (usw) ganz erheblich erweitert.158 Die Abkehr von der
negatorischen Grundrechtskonzeption (Grundrechte bieten Schutz vor Eingriffen
des Staates) führte zu einer die Gewaltenteilung sprengenden Machtakkumulation
bei der Verfassungsgerichtsbarkeit unter Einengung des politischen Spielraums von
Legislative, Exekutive und Judikative. Dies alles geschah unter dem mehr oder
weniger verhüllenden Praetext der Grundrechtsauslegung. Inzwischen existiert
auch für das Privatrecht eine abschreckende Liste von Einzelfällen, die das Bun-
desverfassungsgericht auf dieser Basis als „Superrevisionsinstanz“ und „oberstes
Amtsgericht“159 entschieden hat, von der Parabolantenne160 des türkischen Mieters
bis zur Verfassungswidrigkeit des Verbots von Erfolgshonoraren wegen Verstoßes
gegen die Berufsfreiheit161. Wäre Letzteres richtig, so wäre das Erfolgshonorar ein
Essentiale der Advokatur. Davon kann indes keine Rede sein. Das auch in anderen
Ländern gültige Verbot des Erfolgshonorars162, das man negativ als eine Art Kla-
158
S zB BVerfG 39, 1 u 88, 203– Abtreibung I u II; Voẞkuhle (in: Hillgruber/Waldhoff, 60 Jah-
re Bonner Grundgesetz) nennt die „grundrechtliche Begründung staatlicher Schutzpflichten die
wahrscheinlich prominenteste Ausprägung der objektiven Grundrechtsdimension und echten Ex-
portschlager“. Aus der kaum mehr überschaubaren Literatur zum Verhältnis von Grundrechten u
Privatrecht s etwa Canaris, Grundrechte und Privatrecht, AcP 184 (1984) 201 ff; ders, Grundrech-
te und Privatrecht 1999; Cremer, Freiheitsgrundrechte (2003); Floren, Grundrechtsdogmatik im
Vertragsrecht (1999); Hager, Grundrechte im Privatrecht, JZ 1994, 373 ff; Diederichsen, Das Bun-
desverfassungsgericht als oberstes Zivilgericht, AcP 198 (1998) 171 ff; ders, Die Selbstbehaup-
tung des Privatrechts gegenüber dem Grundgesetz, Jura 1997, 57 ff; ders, Die Rangverhältnisse
zwischen den Grundrechten und dem Privatrecht, in: Rangordnung der Gesetze, hrsg v Starck
(1995); Isensee, Vertragsfreiheit im Griff der Grundrechte, in: FS Großfeld (1999) 485 ff; Lerche,
Grundrechtswirkungen im Privatrecht, Einheit der Rechtsordnung und materielle Verfassung, in:
FS Odersky (1996) 215 ff; Medicus; Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Privatrecht, AcP
192 (1992) 35, 43 ff; K Schmidt (Fn 144) 9, 18 f; Neuner, Privatrecht und Sozialstaat (1998); ders,
Das BGB unter dem Grundgesetz, in: Diederichsen/Sellert (Hrsg), Das BGB im Wandel der Epo-
chen (2002) 131 ff; Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts – Eine
verfassungsrechtliche Untersuchung zur Privatrechtswirkung des Grundgesetzes (2001); Singer,
Vertragsfreiheit, Grundrecht und der Schutz des Menschen vor sich selbst, JZ 1995, 1133 ff; Zöll-
ner, Regelungsspielräume im Schuldvertragsrecht, AcP 196 (1996) 1 ff; ders, Die Privatrechts-
gesellschaft im Gesetzes- und Richterstaat (1996).
159
Robbers, Für ein neues Verhältnis zwischen Bundesverfassungsgericht und Fachgerichtsbarkeit
Möglichkeit und Inhalt von „Formeln“ zur Bestimmung von verfassungsgerichtlicher Kompeten-
zweite, NJW 1998, 935 ff; s auch Ossenbühl, FS Hoppe (1996) 52: „… entscheidet das Bundes-
verfassungsgericht wie ein Amtsrichter, beispielsweise im Ehrenschutz, im Mietrecht und zuletzt
im Arbeitsrecht“.
160
BVerfG NJW 1993, 1252.
161
BVerfGE 117, 163: „Das Verbot anwaltlicher Erfolgshonorare einschließlich des Verbotes der
‚quota litis‘ (§ 49b Abs 2 BRAO aF, § 49b Abs 2 Satz 1 BRAO) ist mit Art 12 Abs 1 GG insoweit
nicht vereinbar, als es keine Ausnahme für den Fall zulässt, dass der Rechtsanwalt mit der Verein-
barung einer erfolgsbasierten Vergütung besonderen Umständen in der Person des Auftraggebers
Rechnung trägt, die diesen sonst davon abhielten, seine Rechte zu verfolgen“. Diese Vorgaben, die
keinerlei Konnex zur Berufsfreiheit des Art. 12 GG haben, wurden in den neuen § 4a Abs 1 dRVG
übernommen.
162
Vgl zB § 879 Ziff 2 ABGB: Die US-amerikanische contingency fee ist allerdings überall auf
dem Vormarsch.
122 § 5 Methode und Interpretation
genkauf charakterisieren kann, geht auf das Römische Recht zurück163. Seine ratio
liegt auf der Hand: Der Mandant kann das Prozessrisiko und damit den Wert der
Klage nur schwer einschätzen. Deshalb das Verbot; dass es gegen die Berufsfrei-
heit verstoßen soll, ist viel zu weit hergeholt. Denn man kann nicht behaupten, dass
Klagenkauf und Prozesskostenfinanzierung zum wesentlichen Kern des Berufsbil-
des eines Anwalts gehören. Einen kuriosen Beitrag zur Einheit der Rechtsordnung
hat das Bundesverfassungsgericht164 mit der Entscheidung geleistet, dass das Be-
sitzrecht des Mieters an der gemieteten Wohnung Eigentum im Sinne von Art 14
Abs 1. S 1 GG sein soll. Es gibt also jetzt zwei Eigentümer, den Vermieter und den
Mieter. Im Gegensatz zum Laien unterscheidet der Jurist zwischen Eigentum und
Besitz. Seit 2000 Jahren gilt der Satz, dass Eigentum und Besitz nicht verwechselt
werden dürfen: Ulpian D 41, 2, 12, 1: nihil commune habet proprietas cum posses-
sione – Eigentum und Besitz haben nichts miteinander gemein. Dem Bundesverfas-
sungsgericht fehlt dieses gesicherte zivilrechtliche Basiswissen. Kurios sind auch
die Ergebnisse, zu denen das Gericht gelangt. Dafür nur zwei Beispiele: So soll die
außerordentliche Kündigung des Vermieters wegen konstanter Nichteinhaltung von
Terminen zur Besichtigung der heruntergekommenen Wohnung seitens der Mie-
terin, gegen Art 14 verstoßen165, weil bei der Abwägung deren „Eigentum“ nicht
richtig gewürdigt worden sei. Im zweiten Fall hatte ein Mietinteressent, der eine
gehbehinderte Partnerin hatte, eine Wohnung im 1. Stock eines Mietshauses gemie-
tet. Der Vermieter hatte gezweifelt, ob die Wohnung für den Mieter geeignet sei und
bedauert, dass er mit Rücksicht auf die anderen Mieter keinen Treppenlift einbauen
könne. Der Mieter hatte geantwortet, das sei kein Problem, er komme zurecht und
brauche keinen Lift. Kaum war er eingezogen, verlangte er den Treppenlift. Sei-
ne Klage war bis zum BGH erfolglos. Das Bundesverfassungsgericht166 leitete aus
dem „Eigentum“ des (betrügerischen) Mieters ein Recht auf Barrierefreiheit ab, das
sogar Eingang ins BGB gefunden hat167.
Gegeneinader abwägen kann man kollidierende Güter (Leben und Eigentum)
bzw Pflichten. Dann wird ermittelt, welches Gut oder welche Pflicht höherran-
gig ist. Bei der vom BVerfG praktizierten Abwägung168 einander widerstreitender
Grundrechte oder Verfassungsprinzipien handelt es sich nicht um eine Güterkolli-
163
Ulpian D 17, 1, 6, 7; Papinian eod 7; s Kunkel/Honsell, Röm Recht4 (1987) 337 Fn 23.
164
BVerfGE 89, 1 (u öfter).
165
BVerfG 1 BvR 2285/03 vom 16.1.2004.
166
BVerfG 1 BvR 1460/99, NJW 2000, 2658.
167
Zur sog Barrierefreiheit s § 554a Abs 1 BGB.
168
Zur Abwägung s etwa Ossenbühl, Abwägung im Verfassungsrecht in: Erbguth/Ebbecke ua
(Hrsg) Abwägung im Recht, Symp Hoppe (1996) 25, 33 f; Leisner, Der Abwägungsstaat – Verhält-
nismäßigkeit als Gerechtigkeit? (1997); Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht (1961); ders, Stil
und Methode der verfassungsrechtlichen Entscheidungspraxis, in: Badura/Dreier, (Hrsg), 50 Jahre
Bundesverfassungsgericht (2001) 334, 349 ff; Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht (1976);
Stern, Staatsrecht III/2 (1994) 814 ff; Alexy, Theorie der Grundrechte3 (1996) 143 ff; Dreier, Di-
mensionen der Grundrechte. Von der Wertordnungsjudikatur zu den objektivrechtlichen Grundla-
gen (1993); S die Beiträge von Alexy und Koch in: Alexy/Koch/Kuhlen/Rüßmann (Hrsg), Elemete
einer juristischen Begründungslehre (2003) 217–298; zuletzt Rückert, Abwägung JZ 2011, 913 ff.
VIII. Die Verfassungsinterpretation des Bundesverfassungsgerichts 123
sion, sondern um im Einzelfall konfligierende Werte. Hier hat die Abwägung ähn-
liche Schwächen wie das von Wilburg169 entwickelte bewegliche System, das auf
das Zusammenspiel verschiedener Elemente unterschiedlichen Gewichts abstellt.
Im Zivilrecht, in dem meist klare Tatbestände vorliegen, ist der Nutzen solcher
Theoreme sehr begrenzt. Sie höhlen die traditionelle Zivilrechtsdogmatik aus und
führen zu einer nicht unbeträchtlichen Rechtsunsicherheit170. An die Stelle klarer,
subsumtionsfähiger Tatbestände treten widerstreitende Prinzipien, die gegeneinan-
der abgewogen werden sollen, wie etwa Meinungsfreiheit gegen Persönlichkeits-
schutz oder Eigentumsgarantie, Menschenwürde gegen Handlungsfreiheit (usw),
ohne dass dafür konkrete, nachprüfbare Maßstäbe in der Verfassung zur Verfügung
stünden. Man tauscht eine klare und präzise Dogmatik gegen ein System vager
Prinzipien. Ohne Maßstäbe hat indes das bloße Abwägen kollidierender Grund-
rechte keinen nachprüfbaren Begründungswert. Es ist wie „Wägen ohne Waage“.171
Übrig bleibt nur der politische Wille des Richters, der für den Vorrang eines der
konfligierenden Prinzipien plädiert. Die auf diese Weise gewonnenen Entscheidun-
gen sind durchweg begründungsärmer und weniger überzeugend als die auf Sub-
sumtion oder Analogie beruhenden Urteile der Fachgerichte. Die Voraussetzungen
für das Urteil der Verfassungswidrigkeit bleiben unklar. Ein Beispiel für Abwägung
im Spannungsverhältnis zwischen Meinungsfreiheit und Eigentumsgarantie sah das
Bundesverfassungsgericht172 in einem Fall, in dem ein Mieter ein Wahlplakat seiner
politischen Partei an der Außenwand des Mietshauses angebracht hatte. Indessen
lag hier gar kein Spannungsverhältnis vor, denn die Meinungsfreiheit gibt grund-
sätzlich kein Recht zur Inanspruchnahme fremden Eigentums. Oder hat der Mieter
auch an der Außenmauer ein Miteigentum, das gegen das des Vermieters abgewo-
gen werden muß? Dasselbe gilt für die Kunstfreiheit. Man denke an die Graffiti des
Sprayers Nägeli, die auch dann eine Sachbeschädigung bleiben, wenn man sie für
Kunst halten wollte. Die Abwägung zwischen Eigentum und Meinungs- bzw In-
formationsfreiheit erfolgt zugunsten der Parabolantenne des türkischen Mieters.173
Zum Verfassungsprinzip ist auch die Maxime der Verhältnismäßigkeit (auch
Übermaßverbot) avanciert. Den Verfassungsrechtlern gilt es heute als „wichtigs-
tes Element der verfassungsgerichtlichen Kontrolle von Gesetzgebung, Verwal-
tung und Rechtsprechung“.174 Das verwundert, denn es handelt sich nicht um ei-
169
Entwicklung eines beweglichen Systems im bürgerlichen Recht, Rektoratsrede, Graz 1951;
dazu etwa Michael, Der allgemeine Gleichheitssatz als Methodennorm komparativer Systeme
(1997); näher unten § 6 III 2.
170
Medicus AcP 192, 58 ff.
171
So Koppensteiner, Marktbezogene Unlauterkeit und Missbrauch von Marktmacht, WRP 2007,
475, 479 – zur Interessenabwägung.
172
BVerfGE 7, 230, 234 ff.
173
BVerfG NJW 1993, 1252.
174
Voßkuhle, in:Hillgruber/Waldhoff, 60 Jahre Bonner Grundgesetz – eine geglückte Verfassung?
(2010) unter Hinweis auf Schlink, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, in: Badura/Dreier
FS 50 Jahre BVerfG II (2001) 445 ff.; Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht2 (1999); ebenso
Lepsius in: Jestaedt/Lepsius/Möller/Schönberger, Das entgrenzte Gericht (2011); „In der Heraus-
arbeitung dieses relationalen Maßstabes liegt die vielleicht größte Leistung des BVerfG.“ Kritisch
124 § 5 Methode und Interpretation
zur Verhältnismäßigkeit als grundrechtlichem Verfassungsprinzip Medicus AcP 192 [1992] 35, 54;
für eine verfassungsrechtliche Herleitung dagegen H Hanau, Der Grundsatz der Verhältnismäßig-
keit als Schranke privater Gestaltungsmacht (2004) mwN.
175
BVerfGE 98, 83, 97; BVerfGE 98, 106, 1 18 f; vgl unten § 6 bei Fn 29.
176
BVerfG 1 BvR 2248/01 v 22.3.2004 = FamRZ 2004, 768 – Familienfideikommiss, Ebenbürt-
gkeitsklausel (gegen BGH Beschluss v 02.12.1998, IV ZB 19/97) s dazu die Kritik von Gutmann
NJW 2004, 234: „Die Aussicht, Erbe zu werden ist eine nuda spes. Jenseits des Pflichtteilsrechts
hat eine letztwillige Zuwendung den Charakter einer Schenkung, auf die niemand – auch nicht der
nächste Familienangehörige – einen rechtlichen Anspruch hat. Jede Bedingung, die der Erblasser
mit einer Erbeinsetzung verknüpft, ist deshalb nur die Beschränkung einer überobligaten Zuwen-
dung, aber keine Einschränkung dessen, was der Bedachte vor der Zuwendung schon hatte oder
rechtlich erwarten durfte. Der unter einer Bedingung eingesetzte Erbe kann durch ein bestimmtes
Verhalten etwas gewinnen, was er sonst nicht fordern könnte; er kann hingegen nicht etwas ‚ver-
lieren‘, was ihm in irgendeiner rechtlich fassbaren Weise bereits zustünde. Handlungstheoretisch
stellt eine mit einer Potestativbedingung verknüpfte, über den Pflichtteil hinausgehende Erbeinset-
zung notwendigerweise und immer ein Angebot an den Erbprätendenten dar. Es ist rechtstheore-
tisch schlechthin ausgeschlossen, mit einem Angebot, das einer Person unterbreitet wird, in deren
VIII. Die Verfassungsinterpretation des Bundesverfassungsgerichts 125
Erben zugunsten der letzteren vorgenommen: Zwar umfasse die Testierfreiheit auch
die Freiheit, die Vermögensnachfolge nicht an den allgemeinen gesellschaftlichen
Überzeugungen oder den Anschauungen der Mehrheit ausrichten zu müssen. Der
durch Art. 14 Abs 1 Satz 1 GG geschützten Testierfreiheit stehe aber das Grundrecht
aus Art. 6 Abs 1 GG gegenüber. Deshalb hat das Gericht die Ebenbürtigkeitsklausel
in der Hausverfassung der Hohenzollern, die Primogenitur und Enterbung bei nicht
standesgemäßer Heirat (Mesalliance) vorsah, wegen mittelbarer Beeinträchtigung
der Eheschließungsfreiheit (Art 6 Abs 1 GG) und daraus abgeleiteter Sittenwidrig-
keit für nichtig erklärt.
Das Gebot der Gleichbehandlung gilt im Privatrecht grundsätzlich nur soweit es
durch (einfaches) Gesetz vorgesehen ist. Das über europarechtliche Vorgaben noch
hinausgehende dAGG (oben § 1 I) gilt weithin als gesetzgeberische Fehlleistung177.
Zunächst muss aus dem Privatrecht selbst ermittelt werden, auf welchen Wert-
entscheidungen die privatrechtlichen Normen beruhen und wie diesen Werten in der
Privatrechtsordnung Rechnung getragen ist.178 Hinter den oft technisch wirkenden
Normen des Privatrechts stehen grundlegende Wertvorstellungen, wie Handlungs-
freiheit, Vertragsfreiheit, persönliche Verantwortung, Rechtssicherheit, Vertrauens-
schutz, Vertragstreue, Verhältnismäßigkeit usw. Die Privatautonomie selbst enthält
also in überkommenen Dogmen eine Vielzahl von Wertungen, die man auch grund-
rechtlich begründen kann, ohne dass dies freilich einen zusätzlichen Erkenntnis-
gewinn oder eine bessere Rechtsqualität brächte. Die Ausstrahlungswirkung der
Grundrechte, ihre angeblich von Verfassungs wegen gebotene Implementierung in
das Privatrecht führen zu einer Erosion der Privatautonomie, zu einer Vermehrung
zwingenden Rechts und vor allem zur Ersetzung einer hochdifferenzierten Dog-
matik durch Abwägungen, die ihre Begründungsarmut nicht verbergen können.
Während die Bemühungen des Bundesverfassungsgerichts im Privatrecht nicht zu
einer signifikanten Vermehrung von Gerechtigkeit oder Rechtssicherheit führen,
verursachen sie häufig eine nicht unbedeutende Verschlechterung juristischer Ar-
gumentation.
Inhaltsverzeichnis
I. System
Von einer Wissenschaft wird angenommen, dass sie ein System hat. Dieses soll den
inneren Zusammenhang und die Logik der Disziplin zeigen. Obwohl das griechi-
sche Wort systema Zusammenstellung heißt, geht es antiker und moderner Syste-
matik um mehr: um die Integration von Erkenntnissen zu einer widerspruchsfreien
Wissensganzheit, um ein „nach Prinzipien geordnetes Ganzes der Erkenntnis“1. Da-
her erschließt das System tiefere Erkenntnis als seine Elemente und es kann mit ihm
argumentiert werden, wenn die Elemente nicht zur Klarheit führen.
Die Verlockung, die für eine mit Lücken der Ordnung und neuen Problemen
ringende Jurisprudenz in der Leistungskraft eines Systems liegen muss, ist ver-
ständlich. Hinzu kommt eine auf dem Feld der Jurisprudenz besonders wichtige
Aufgabe jeder Systematik2: Jeder juristische Systementwurf soll die Rechtsordnung
als folgerichtig und widerspruchsfrei erweisen. Darin liegt seine wichtigste Legi-
timation und Aufgabe.
1
Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft (1786), Vorrede, IV.
2
Das Hauptwerk über das Systemproblem der Rechtswissenschaft ist: Canaris, Systemdenken
und Systembegriff in der Jurisprudenz (1969); dazu Wieacker in Rechtstheorie (1970) 107 ff; fer-
ner: Engisch, Sinn und Tragweite juristischer Systematik in Studium generale (1957) 173 ff..
© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015 127
H Honsell, T Mayer-Maly, Rechtswissenschaft, Springer-Lehrbuch,
DOI 10.1007/978-3-662-45682-8_6
128 § 6 Das Systemproblem der Rechtswissenschaft
Der Systembildung voraus geht die Formulierung von Begriffen und Kategorien,
Regeln und Prinzipien.
Vorbildlich war die römische Regelbildung. Sie vermied Verallgemeinerungen,
blieb vorsichtig und kasuistisch. Regeln dienten nur der Ordnung und Übersicht des
Fallmaterials und die Berufung auf eine Regel lenkt zugleich den Blick auf mög-
liche Ausnahmen. Sie waren aber keine ableitungsfähigen Sätze.
Paul D 50, 17, 1: regula est quae rem quae est breviter enarrat. non ex regula ius sumatur,
sed ex iure quod est regula fiat.
Eine Regel ist eine kurz gefasste Aussage. Aus der Regel wird nicht das Recht abgeleitet,
sondern umgekehrt wird aus dem vorhandenen Recht die Regel gebildet.
Die römischen Juristen waren Meister in der Synthese des Gegensatzes zwischen
abstrakter Begrifflichkeit und lebendiger Anschauung. Die Notwendigkeit dieser
Synthese charakterisiert ein alter, sinngemäß auf Kant3 zurückgehender Satz: „Be-
griffe ohne Anschauung sind leer – Anschauung ohne Begriff ist blind“.
Der Begriff ist die „Vorstellung einer Vorstellung“4, „die Gesamtheit wesent-
licher Merkmale in einer gedanklichen Einheit“ (Duden), das kennzeichnend Ge-
meinsame einer Gattung. In dieser Bedeutung ist der Begriff mit dem Wort nicht
identisch, sondern ihm quasi vorgelagert und entsteht in der realen Welt aus der An-
schauung eines Gegenstandes. Begriffe müssen definiert oder sonstwie umschrie-
ben werden. Nach einer alten, auf Aristoteles zurückgehenden Regel geschieht die
Definition durch die nächsthöhere Gattung und den spezifischen Unterschied (ge-
nus und species). Definitio fit per genus proximum et differentiam specificam: Ein
Schimmel (Begriff) ist ein weißes (differentia specifica) Pferd (genus proximum)
oder „der Mensch ist ein vernunftbegabtes Lebewesen“. Diese Definitionstechnik
setzt einen pyramidenförmigen Aufbau der Begriffe voraus. Daneben treten Eigen-
schaften aufzählende oder sonstwie beschreibende Definitionen. Diese bilden den
Übergang vom Begriff zum Typus(dazu sogleich).
Abstrakte Begriffe zu bilden oder vorauszusetzen, ist jede Jurisprudenz, aber
auch jede Rechtsordnung gehalten. Die Rechtsbegriffe entstammen zum einen dem
normativen Bereich, zum anderen nimmt das Recht mit ihnen auf Seinsgegebenhei-
ten Bezug. Beide Formen der Begriffsbildung sind für eine Jurisprudenz notwendig.
3
Bei Kant, Kritik der reinen Vernunft Akademieausgabe IV 48 heißt es: „Unsre Natur bringt es so
mit sich, dass die Anschauung niemals anders als sinnlich sein kann, d. i. nur die Art enthält, wie wir
von Gegenständen afficirt werden. Dagegen ist das Vermögen, den Gegenstand sinnlicher Anschau-
ung zu denken, der Verstand. Keine dieser Eigenschaften ist der andern vorzuziehen. Ohne Sinn-
lichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben und ohne Verstand keiner gedacht werden. Gedanken
ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind [Hervorhebung hinzugefügt].“
4
Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung in: Hübscher (Hrsg, 1938) I § 9 48; vgl Cassirer,
Zur Theorie des Begriffs in Kantstudien 33 (1928) 129 ff; E Horn, Der Begriff des Begriffs (1932).
I. System 129
5
Vgl Krawietz (Hrsg), Theorie und Technik der Begriffsjurisprudenz (1976).
6
S Leenen, Typus und Rechtsfindung (1971).
7
Dazu und zum „Wesen des Wesens“ s den gleichnamigen Artikel von Scheuerle, AcP 163 (1964)
429 ff.
8
Diese Vorliebe karikiert folgende Geschichte, die Franz Wieacker erzählt hat: Beim Jüngsten
Gericht strömen die Völker der Erde in den Himmel. Dort gibt es ein großes Tor, über dem steht
„Eingang zum Paradies“, durch das alle Völker gehen. Nur die deutschen gehen durch ein kleine-
res Nebentor über dem steht „Vorträge über das Paradies.“ Nach einer anderen Geschichte wur-
de unter den Nationen ein Wettbewerb ausgeschrieben, bei dem das beste Buch über Elefanten
prämiert werden sollte: Ein Italiener schrieb: I elefanti e i bambini, der Franzose: Les elefants e
l’amour, der Brite: The elefants and the British Empire, der Amerikaner: How to make elefants
bigger and better und der Deutsche: Die Grundzüge des Elefantenwesens.
9
RGZ 1, 247, 252: „Ein Unternehmen, gerichtet auf wiederholte Fortbewegung von Personen
oder Sachen über nicht ganz unbedeutende Raumstrecken auf metallener Grundlage, welche durch
Konsistenz, Konstruktion und Glätte den Transport großer Gewichtsmassen, beziehungsweise die
Erzielung einer verhältnismäßig bedeutenden Schnelligkeit der Transportbewegung zu ermögli-
chen bestimmt ist, und durch diese Eigenart in Verbindung mit den außerdem zur Erzeugung der
Transportbewegung benutzten Naturkräften (Dampf, Elektrizität, thierischer oder menschlicher
Muskelthätigkeit, bei geneigter Ebene der Bahn auch schon der eigenen Schwere der Transport-
gefäße und deren Ladung, usw) bei dem Betriebe des Unternehmens auf derselben eine verhältnis-
mäßig gewaltige (je nach Umständen nur in bezweckter Weise nützliche, oder auch Menschen-
leben vernichtende und die menschliche Gesundheit verletzende) Wirkung zu erzeugen fähig ist.“
Sprachliche Kritik an diesem scheußlichen Amtsdeutsch und Ratschläge für einen besseren Stil bei
Reiners, Stilfibel (2001) 80 f mit einer im selben Stil verfassten Parodie auf das Reichsgerichts.
130 § 6 Das Systemproblem der Rechtswissenschaft
Kategorien sind für den Juristen Mittel zur gliedernden Erfassung von Gattun-
gen. Nicht der Kant’sche Apriorismus, sondern Aristoteles steht Pate, wenn man
von juristischen Kategorien spricht. Da es zur Eigenart der gesellschaftlichen Wir-
kungsweise des Rechts gehört, vielfache Abstufungen und Differenzierungen her-
vorzubringen, bei denen das Gemeinsame wie das Unterscheidende nur allmäh-
lich fassbar wird, kommt der Entwicklung juristischer Gattungsbegriffe große Be-
deutung zu. So baut sich das Obligationenrecht aus Vertragsrecht und Deliktsrecht
auf. Jedes dieser Gebiete kann nach Kategorien in Teilgebiete gegliedert werden10.
Alle diese Gattungsbegriffe liegen aber nicht vor der Erfahrung, sondern entstehen
relativ spät durch intellektuelle Bewältigung lebendiger Rechtsentwicklung. Was
an Folgerichtigkeit und Harmonie in dieser Entwicklung steckt, ist zunächst un-
bewusst. Die Entdeckung des inneren Systems führt über die Aufstellung von Kate-
gorien und ihre Artikulierung durch Einteilungen.
Seit im Jahre 1935 der Strafrechtler und Rechtsphilosoph Karl Engisch seine Hei-
delberger Antrittsvorlesung über die Einheit der Rechtsordnung gehalten hatte12,
wird wieder die Frage diskutiert, ob das Recht als ein System begriffen werden
kann, dessen zwei wesentliche Elemente Einheit und Ordnung sind. Claus Wilhelm
Canaris hat dies in seinem Buch Systemdenken und Systembegriff13 bejaht und
die Rechtsordnung als ein axiologisches und teleologisches System bezeichnet, in
dem die „generalisierende Tendenz der Gerechtigkeit verwirklicht“ sei14. Andere
bezeichnen es als logisches15 oder gar moralisches16 Postulat17. Der Einwand liegt
nahe, dass man zwischen einem wissenschaftlichen Rechtssystem unterscheiden
muss, das solche Forderungen vielleicht erfüllen könnte und dem Recht als der
Summe aller Normen im Staat, das ja nicht einem sinnvollen Plan folgend als Gan-
zes konzipiert worden ist, sondern regelmäßig als politische ad hoc-Gesetzgebung
und das a priori kein System in dem genannten Sinne sein kann. Ein Versuch der
10
Vg1 Dieter Nörr, Divisio und partitio (1972).
11
Zum Folgenden Honsell, Jahrbuch junger Zivilrechtslehrer (2008) 11 ff.
12
1935; s ferner Felix, Einheit der Rechtsordnung (1998) 168 ff, 401; K Schmidt in Vielfalt des
Rechts – Einheit der Rechtsordnung, Hamburger Ringvorlesung (1994) 9 ff; zur geschichtlichen
Entwicklung des Topos Baldus, Die Einheit der Rechtsordnung (1995); Mayer-Maly in Verhand-
lungen des 60. Österr Juristentages II/4 (1976) 5 ff; „Die Einheit der Verfassung“ beleuchtet kri-
tisch F. Miller (1979) 85 ff, 225 ff und passim.
13
(1983) 16 f u passim.
14
Kritisch Peine, Recht als System (1983) 16, 20 ff.
15
Etwa Hanack, Der Ausgleich divergierender Entscheidungen in der oberen Gerichtsbarkeit
(1962) 107.
16
Coing, System, Geschichte und Interesse in der Privatrechtswissenschaft, JZ 1951, 485; Raiser,
Rechtswissenschaft und Rechtspraxis, NJW 1964, 1201 ff, 1206.
17
Weitere Charakterisierungen bei Baldus (Fn 2) 13 f.
II. Die Einheit der Rechtsordnung 131
Systematisierung des Rechts waren lediglich die großen Kodifikationen des Zivil-,
Straf- und Prozessrechts am Anfang und am Ende des 19. Jahrhunderts. Seither
hat die Kodifikationsidee (oben § 5 V) an Kraft verloren. Vieles wird außerhalb
geregelt. Was integriert wird, wie zB die deutsche Schuldrechtsreform 2002 und
seitherige EU-Richtlinien zum Privatrecht sticht hervor durch legistische und dog-
matische Mängel.
Die Idee von Einheit und Ordnung war eine Anleihe der Rechtswissenschaft
bei dem positivistischen Wissenschaftsbegriff des 19. Jahrhunderts, der seinerseits
aus dem Systemstreben des Naturrechts hervorgegangen war. Wissenschaft bedeu-
tete damals exakte systematische Wissenschaft wie Mathematik oder Physik. Es
waren Systeme more geometrico mit einer Hierarchie von Gattungsbegriffen unter
einer höchsten Idee, aus der alles deduziert werden sollte. Solche Systeme wurden
nicht nur für das Recht konzipiert. Baruch Spinoza hat sogar eine ethica more geo-
metrico demonstrata verfasst und Isaac Newton eine Philosophie in dem Werk Phi-
losophiae naturalis principia mathematica. Samuel Pufendorf18, Thomas Hobbes,
Christian Wolf ua haben diese vorgeblich von Naturgesetzen ausgehende Methode
auf das Naturrecht übertragen19. Diese Mode fand gewissermaßen ihre Fortsetzung
in der Begriffsjurisprudenz des 19. Jh. Paradigmatisch dafür waren Puchtas Ge-
nealogie der Begriffe oder Stammlers Begriffshimmel. Einheit bedeutete nicht nur
Widerspruchsfreiheit, sondern auch Lückenlosigkeit, die allerdings nur durch die
Lehre vom sog negativen Satz hergestellt werden konnte, der Annahme, dass auch
ein noch so lückenhaftes Gesetz keine Lücken habe, weil eben jeder Anspruch,
den das Gesetz nicht kennt, abzuweisen sei20. Die Begriffsjurisprudenz ist heute
weitgehend überwunden. Unser Systemvertrauen ist weniger optimistisch und wir
pflichten Nicolai Hartmann bei, der gesagt hat, das Streben nach System sei immer
ein inhaltlich zu weit gehendes Verlangen der menschlichen Vernunft.
Fragen kann man allerdings, ob die Jurisprudenz überhaupt eine Wissenschaft
ist21. Die Rechtsdogmatik, die sich mit dem geltenden Recht und seiner Anwendung
befasst, ist keine Wissenschaft im strengen Sinne, wie die Mathematik oder die
Physik. Es gibt kein geschlossenes System, keine Axiome und keine Ableitungszu-
sammenhänge. Sie ist auch keine empirische Wissenschaft wie zB die Medizin, die
Biologie oder die Geschichte. Gegenstand empirischer Forschung sind aber einige
Nebenfächer, wie Rechtsgeschichte, Rechtsvergleichung und Rechtssoziologie.
Aus diesem Dilemma heraus hat man die Wertfreiheit der Jurisprudenz gefordert
und versucht, aus der Jurisprudenz ein deduktives System zu machen. Das war die
Geburtsstunde des Positivismus.
Bernhard Windscheid, der berühmte deutsche Pandektist hat den Satz geprägt:
„ethische, politische, oder volkswirtschaftliche Erwägungen…, sind nicht Sache
18
De Jure naturae et gentium (1672).
19
S etwa Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit (1952/1967) 301 ff; Welzel, Naturrecht und
materiale Gerechtigkeit (1962) 124 ff.
20
Vgl statt aller Bergbohm, Jurisprudenz und Rechtsphilosophie I (1892) 372 ff.
21
Vgl dazu ausführlich oben § 1 II.
132 § 6 Das Systemproblem der Rechtswissenschaft
des Juristen als solchem“22. Auch Max Weber postulierte die Wertfreiheit der Wis-
senschaft (oben § 1 II). Hans Kelsen begründete die Reine Rechtslehre23 in Re-
aktion auf die Freirechts-Schule Eugen Ehrlichs24, dem Begründer der modernen
Rechtssoziologie.
Die tatsächliche Bedeutung der Einheit der Rechtsordnung ist einfach und be-
scheiden zugleich: Einheit bedeutet Widerspruchsfreiheit und Ordnung bedeutet
Gliederung. Zur Gliederung ist nicht viel zu sagen. Sie erfolgt systematisch nach
den herkömmlichen Rechtsgebieten, eine Einteilung die nicht zugunsten von (an-
geblich modernen) Querschnittmaterien aufgegeben werden sollte25. Denn sie hat
sich nicht nur für das Studium bewährt, sondern auch für die Gesetzgebungskom-
petenz und die Gerichtszuständigkeit. Das systematische Element besteht in einem
„inneren Zusammenhang“, welcher alle Rechtsinstitute und Rechtsregeln zu einer
widerspruchsfreien Einheit verknüpft26. Diese Aussage bezog sich auf das römisch-
gemeine Recht, welches zwar wenig äußere Ordnung hatte aber ein inneres dog-
matisches System. Im Usus modernus des 18. Jh und im Pandektenrecht kam dann
die äußere Ordnung hinzu. Beides lebt fort im BGB. Diese innere Systematik geht
heute wieder verloren, sei es durch eine ausufernde Judikatur und Literatur mit (zu)
spitzfindigen Differenzierungen, sei es durch eine aufgepfropfte qualitativ minder-
wertige Gesetzgebung, wobei insbesondere das Europarecht eine gewisse Verhee-
rung der Dogmatik mit sich gebracht hat27.
Wichtiger als die Ordnung ist die Widerspruchsfreiheit (s schon oben § 5 IV
6). Ein Normwiderspruch liegt vor, wenn zwei Normen auf denselben Sachverhalt
anwendbar sind und unvereinbare Rechtsfolgen enthalten. Seine Vermeidung ist ein
einfaches logisches Gebot: A kann nicht zugleich gelten und nicht gelten. Schon in
22
Gesammelte Reden und Abhandlungen (1904) 101.
23
Reine Rechtslehre (1931).
24
Vgl ARSP 1915, 839; dazu Ehrlich, ARSP 1916, 844; Kelsen ARSP 1916, 850; Ehrlich ARSP
1916/17, 609 und wiederum Kelsen ARSP 1916/17, 611.
25
Ebenso K. Schmidt, in: Vielfalt des Rechts – Einheit der Rechtsordnung, Hamburger Ringvor-
lesung (1994) 9 ff; 9, 12.
26
Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd 1 (1840) 213; Reimann, Die Propria der
Rechtswissenschaft, in: Engel/Schön (Hrsg), Das Proprium der Rechtswissenschaft 87, 92 f meint,
wir hätten den Savigny’schen Glauben an eine innere organische Gesamtstruktur des Rechts heute
verloren. Das ist schief, denn Savigny bezog sich auf die tatsächlich vorhandene Struktur des rö-
mischen Privatrechts. Verloren haben wir nicht den Glauben an die Struktur, sondern die Struktur
selbst.
27
Zur Erosion des Systems im heutigen Recht s etwa die Beiträge von W Ernst, Fleischer und
Reimann, in: Engel/Schön (Hrsg), Das Proprium der Rechtswissenschaft (2007) 3 ff, 50 ff, 87 ff;
ferner Honsell, Erosion des Privatrechts durch das Europarecht, ZIP 2008, 621 ff; ders, Die Einheit
des Privatrechts (2009) in Die Einheit der Rechtsordnung, Jahrbuch Junger Zivilrechtswissen-
schaftler (2008) 11 ff; zu Überlappungen und Überschneidungen im Europarecht s Müller-Graff,
Symp Honsell (2009) 1 ff, 6 ff; Hönnige/Kneip/Lorenz (Hrsg), Verfassungswandel im Mehrebe-
nensystem (2011); Stürner, Die Zivilrechtswissenschaft und ihre Methodik, AcP 214 (2014) 7 ff,
22 ff, der von einer „Sprengung der Feinsystematik“ durch das Europarecht spricht. Gsell, Zivil-
rechtsanwendung im Europäischen Mehrebenensystem, AcP 214 (2014) 99 ff, 146 sieht „erheblich
Sand im Getriebe der Zivilrechtsanwendung im Mehrebenensystem“.
II. Die Einheit der Rechtsordnung 133
der Scholastik des Mittelalters hat man erkannt, dass man aus widersprüchlichen
Prämissen jede beliebige Schlussfolgerung ziehen kann: ex falso quodlibet sequi-
tur28.
Das Bundesverfassungsgericht glaubt freilich, den Grundsatz der Widerspruchs-
freiheit aus der Verfassung ableiten zu sollen, genauer, aus dem Rechtsstaatsprin-
zip29. Danach soll bei Wertungswidersprüchen eine der beiden Normen nichtig sein.
Der frühere Präsident des Bundesverwaltungsgerichts Horst Sendler30 hat diese
Argumentation eine „Reise nach Absurdistan“ genannt. Das (Nicht-)Widerspruchs-
prinzip ist ein Axiom der Logik und als solches ein vorpositives Prinzip, das seine
Geltung nicht erst aus der Verfassung oder der Bestätigung durch das Bundesverfas-
sungsgericht erhält. Echte Normwidersprüche müssen aufgelöst werden, einerlei,
ob sich dafür in der Verfassung etwas Passendes findet oder nicht.
Widersprüche und ihre Auflösung haben schon die Antike beschäftigt. Vom rö-
mischen Kaiser Caligula wird berichtet, dass er seine Schwester nach ihrem Tod in
den Stand einer Gottheit erheben ließ und anordnete, dass, wer weine, zu bestrafen
sei, weil er an ihrer Göttlichkeit zweifle; dass, wer nicht weine, ebenfalls bestraft
werden solle, weil er die gebührende Anteilnahme am Schicksal der kaiserlichen
Familie vermissen lasse. Auch für den widersprüchlichen Fall, den casus perple-
xus31 hat man sich interessiert.
Wenn von den zwei Konsuln, den obersten Exekutivbeamten der Röm. Repub-
lik, der eine etwas gebot, der andere ebendies verbot, so galt das Verbot als stärker32.
Ein ähnliches Dilemma, das Generationen von Juristen beschäftigt hat33, ergab
sich beim Befehlsnotstand: Kann die Befolgung eines rechtswidrigen Schießbefehls
gleichzeitig geboten und verboten sein? Befolgt der Untergebene den Befehl, han-
delt er rechtswidrig, befolgt er ihn nicht, handelt er ebenfalls rechtswidrig. Heute
enthalten Soldaten- und Polizeigesetze in Demokratien Bestimmungen, wonach
Befehle, die eine Straftat oder Menschenrechtsverletzung zum Gegenstand haben,
unverbindlich sind.
In der modernen Gesetzgebung sind echte Normwidersprüche selten. Häufiger
sind Wertungswidersprüche. Sie führen nicht automatisch zur Nichtigkeit einer
der beiden Normen. Sie entstehen, wenn der Gesetzgeber verschiedene Zwecke oder
Ziele verfolgt und diese nicht aufeinander abstimmt, was insbesondere vorkommt,
wenn es sich um verschiedene Gesetze handelt. Ein Beispiel aus der Schweiz ist
Art 186 OR. Danach kann die kantonale Gesetzgebung „die Klagbarkeit von For-
28
S oben § 5 III; vgl dazu auch Adomeit, Rechtstheorie für Studenten (1979) 34 f.
29
BVerfGE 98, 83, 97; BVerfGE 98, 106, 118 f.
30
Grundrecht auf Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung? – Eine Reise nach Absurdistan, NJW
1998, 2875; kritisch auch Fischer, JuS 1998, 1096, Konrad, DÖV 1999, 12, 15 ff; zustimmend
hingegen Sodan, Das Prinzip der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung, JZ 1999, 864; Bothe,
Zulässigkeit landesrechtlicher Abfallabgaben, NJW 1998, 2333. Gegen die Ableitung der Einheit
der Rechtsordnung aus der Verfassung auch Felix, Die Einheit der Rechtsordnung (1998) 168 ff,
187 f u 401.
31
S dazu die gleichnamige Monographie von Backhaus (1981).
32
D 10, 3, 28: in re pari potiorem causam esse prohibentis.
33
Vgl Engisch (Fn 2) 53 f; K Schmidt (Fn 25) 27.
134 § 6 Das Systemproblem der Rechtswissenschaft
34
Beispiel von K Schmidt (Fn 25) 26.
35
Felix 122 ff.
36
Der Spruch geht auf Vespasian zurück, der einen Obulus für öffentliche Bedürfnisanstalten ein-
geführt hat, vgl Sueton, De vita Caesarum 23,3. – In Frankreich werden öffentliche Pissoirs noch
heute Vespasienne genannt.
37
Dafür BGE 111 II 295 ff. Die deutsche Judikatur ist restriktiver: BGHZ 67, 119 (= JZ 1977,
173 mit krit Anm v Stürner) verneinte den Ersatz des Erwerbsschadens grundsätzlich und billigt
der Prostituierten nur ein existenzdeckendes Einkommen zu. Das war schon 1977 zweifelhaft
und ist inzwischen durch die Legalisierung der Prostitution überholt; zum anstößigen Erwerb im
deutschen Recht s noch Ganter, NJW 1996, 1310. Der Ersatz eines entgangenen „rechtswidrigen“
Vorteils in der Berufshaftung rechtlicher und steuerlicher Berater, NJW 1996, 1310.
38
Nach § 73 ff StGB kann der Staat deliktisch erlangte Gewinne für verfallen erklären und ein-
ziehen; dazu und zur ähnlichen Regelung in § 29a dOWiG s Rönnau, Vermögensabschöpfung in
der Praxis (2003).
II. Die Einheit der Rechtsordnung 135
die Einheit der Rechtsordnung bemüht39, die bei der Frage der Besteuerung ge-
rade ausgeblendet worden ist. Der Große Senat des BFH40 hat diese Rsp kassiert,
was prompt den Gesetzgeber auf den Plan rief, der die Entscheidung unter dem
Gesichtspunkt der Einheit der Rechtsordnung rechtspolitisch für nicht hinnehmbar
hielt41 und die Absetzbarkeit wieder abgeschafft hat42.
Eine ganz andere, weit gravierendere Sache ist es, wenn sich der Staat selbst als
Hehler (iSd § 259 dStGB) betätigt, wie beim Ankauf gestohlener Liechtensteiner
oder Schweizer Bankkontodaten. Mit dem Argument, man habe keine Sache an sich
gebracht, denn Daten seien keine Sachen und die DVD’s gebe man ja zurück, sollten
die Verantwortlichen jedenfalls nicht davon kommen. Denn sie verantworten einen
pekuniären Anreiz zum Geheimnisverrat, der sowohl nach den Bankengesetzen wie
nach den UWG’s aller beteiligten Ländern strafbar ist, ein Unwerturteil, das nicht
zugunsten des Staates und aus fiskalischen Erwägungen vorschnell suspendiert wer-
den kann43. Steuerhinterziehung darf nicht verharmlost werden. Keinesfalls handelt
es sich um ein Kavaliersdelikt. Doch muss man feststellen, dass ein aufgeblähter
Staat bedenkenlos über Schulden finanziert wird44, dass ein zum Teil fahrlässiger
Umgang mit den gewaltig angestiegenen Steuermitteln mit einer enormen Steuer-
last korrespondiert, die mit einer übertriebenen und unverhältnismäßigen Strafan-
drohung für Steuerhinterziehung sanktioniert wird, nämlich Freiheitsstrafe bis zu
zehn Jahren bei Hinterziehung „in großem Ausmaß“, was schon ab 50.000 EUR
angenommen wird (§ 370 Abs 3 S 1 dAbgO45). Das gilt übergangslos auch für neue
Steuertatbestände – wie zB bei der Besteuerung von Spekulationsgewinnen46, was
einen leichtfertigen Umgang des Staates mit den Freiheitsrechten der Bürger zeigt.
Verantwortlich für diesen Missbrauch sind Regierung und Parlament. Es ist un-
stimmig und auch durch eine angeblich schlechte Steuermoral oder das öffentliches
Interesse am Steueraufkommen nicht zu rechtfertigen, wenn Steuerhinterziehung
ab 50.000 EUR – die ja auch fahrlässig begangen werden kann – genauso bestraft
wird, wie die Vorsatztaten besonders schwerer Diebstahl oder Betrug (§§ 243, 263
39
BFHE 61, 361, 365.
40
BFHE 135, 531.
41
BR-Drs 87/1984.
42
S § 4 Abs 5 Nr 8 EStG.
43
Das BVerfG (2 BvR 2101/09) hat jedenfalls im Ergebnis ein Beweisverwertungsverbot abgelehnt.
Der Gedanke der „fruit of the poisoned tree“ gilt danach für den Ankauf von Steuer-CD’s nicht.
44
Die ständig steigende, katastrophale Staatsverschuldung ist offenbar ein demokratietypisches
Leiden. Der österreichische Ökonom Schumpeter hat einmal gesagt, dass eher ein Hund einen
Wurstvorrat anlegt, als dass ein Staat Rücklagen bildet. In der Tat gab es in Deutschland seit 1969
keinerlei Rücklagen, ja nicht einmal einen einzigen Haushalt ohne Netto-Neuverschuldung, dh,
dass man Jahr für Jahr neue Schulden machen musste, nur um die Zinsen für die alten zu bezahlen.
Die schwarze Null, die der deutsche Finanzminister erstmals für 2015 anstrebt, bedeutet nicht, dass
irgendwann ernsthaft an eine Tilgung der Bundesschulden von ca 1,3 Bio. EUR gedacht würde.
45
Das liegt nach BGH (12.7.11, 1 StR 81/11, wistra [Zeitschrift für Wirtschafts- und Steuerstraf-
recht] 2011, 396) bereits ab 50.000 EUR vor.
46
Bis 2009 waren Kursgewinne in Deutschland nur steuerpflichtig, wenn die Papiere innerhalb
der Haltefrist von einem Jahr veräußert wurden. In etlichen europäischen Ländern werden Kurs-
gewinne überhaupt nicht besteuert.
136 § 6 Das Systemproblem der Rechtswissenschaft
47
D 1,3,24, vgl schon oben E IV 5.
48
Dazu Grosskreutz, Normwidersprüche im Verfassungsrecht (1966) 28 ff.
49
Willkür bricht Stadtrecht, Stadtrecht bricht Landrecht und Landrecht bricht gemeines Recht.
II. Die Einheit der Rechtsordnung 137
50
In jenen Ländern verdrängt das Sachmängelrecht die Irrtumsanfechtung in diesen konkurrieren
die Rechtsbehelfe; kritisch zu dem Nebeneinander Honsell, Die Konkurrenz von Sachmängelhaf-
tung und Irrtumsanfechtungen – Irrungen und Wirrungen, SJZ 2007, 137 ff; für Konkurrenz zB P
Huber, Irrtumsanfechtung und Sachmängelhaftung (2001).
51
Denn:ex falso quodlibet sequitur – aus falscher Prämisse lassen sich beliebige Schlüsse ziehen
(oben § 5 bei Fn 28 und § 4 III).
52
Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts (1996); Esser, Grundsatz und Norm in der
richterlichen Fortbildung des Privatrechts3 (1956/1974); Larenz, Richtiges Recht (1979); Hinder-
ling, Rechtsnorm und Verstehen (1971) 128 ff.
138 § 6 Das Systemproblem der Rechtswissenschaft
Die Ansätze einer juristischen Systembildung53 gehen auf die Antike zurück. Ci-
ceros verlorene Schrift de iure civili in artem redigendo54 dürfte eine Gliederung
des Rechts gefordert haben, die den Ansprüchen des hellenistischen Wissenschafts-
begriffes (ars als techne) genügen sollte. Die römischen Klassiker begnügten sich
– system-avers – mit einer losen, assoziativen Stoffanordnung. Nur der für Unter-
richtszwecke schreibende Gaius entwarf ein einfaches und grobes System. Dieses
„Institutionensystem“ beherrschte die europäische Zivilistik bis zur Wende vom 18.
zum 19. Jh. Intensive Bemühungen um klarere, besser einleuchtende Systematik
kennzeichnen den gesamten Verlauf der juristischen Geistesgeschichte Europas,
die insofern in der Vernunftrechtswissenschaft der Aufklärung einen ersten und im
wissenschaftlichen Positivismus der Begriffsjurisprudenz einen zweiten Höhepunkt
fand. Nachdrücklich in Frage gestellt wurde der Wert des Systemdenkens erst im
20. Jh.
1. Topik
53
Vgl Coing, Zur Geschichte des Privatrechtssystems (1962); Wolodkiewicz, Les origines romai-
nes de la systematique du droit civil contemporain (1978); Jan Schröder, Wissenschaftstheorie
und Lehre der ‚praktischen Jurisprudenz‘ (1979) 114 ff.
54
Zitiert bei Aulus Gellius, Noctes Atticae 1, 22, 7.
55
Viehweg 17 ff.
56
Diesseits von Idealismus und Realismus, Kant-Studien 29 (1924) 160 ff. Zum Gegensatz zwi-
schen Falldenken und Systemdenken zuletzt Maultzsch (Hrsg), Fuchs oder Igel? – Fall und System
in Recht und Wissenschaft, Symp G Hager (2014); s § 11 Fn 133.
III. Neuere Systemansätze 139
Schließen, der sich ebenfalls schon in der griechischen Philosophie findet. Systema-
tisches Denken bestimmt danach zunächst einen grundsätzlichen Standpunkt und
leitet davon ausgehend seine Konsequenzen ab; es löst Probleme, indem es sie dem
so gewonnenen System einordnet; Fragen, die solche Einordnung nicht zulassen,
werden abgewiesen. Problemdenken dagegen ermittelt – ohne grundsätzliche Fest-
legung – zunächst die verschiedenen denkbaren Lösungen eines Problems, arbeitet
vergleichend Unterschiede heraus und fragt, ob diese eine abweichende Entschei-
dung rechtfertigen.
Dagegen werden die Argumente der Topik nicht als Elemente eines Begrün-
dungszusammenhanges angesehen, sondern als relativ isolierte persuasive Argu-
mente, deren Aufgabe es ist, zu überzeugen. „Topoikataloge“ enthalten eine Auf-
stellung von Argumenten, die meinungsmäßig außer Frage stehen. Eine moderne
Liste anerkannter Prämissen findet man etwa bei Struck57. Zu den 64 Topoi dieses
Kataloges gehören Sätze wie „Wer Schuld hat, muss für die Folgen einstehen“ und
„Unzumutbares darf nicht verlangt werden“, aber auch „Interesse“ und „Zweck“,
womit nicht viel gewonnen ist, weil Interessen und Zwecke gegeneinander zu ste-
hen pflegen. Manche Topoi sind überhaupt nichts anderes als gemeinrechtliche Pa-
römien (so Strucks Topos Nr 19: Casum sentit dominus wörtlich: den Zufall spürt
der Eigentümer, dh., bei zufälligem Zerstörung einer Sache trifft der Schaden den
Eigentümer).
Viehweg beruft sich für seine topische Jurisprudenz auf Cicero und Vico. Cicero
verfasste für seinen Freund Trebatius, der ein angesehener Jurist war, eine Topik.
Diese Schrift zeichnet sich jedoch durch besonders deutliches Systemstreben aus.
Die Antithese von Systematik und Topik kann sich gerade nicht auf das antike Kon-
zept der Topik berufen58.
Die Schrift, die Gian Battista Vico 1708 über die Studienart seiner Zeit ( de nostri
temporis studiorum ratione) verfasste, stellte einer alten Methode, die vom sen-
sus communis (dem englischen common sense, den herrschenden und vernünftigen
Überzeugungen) ihren Ausgang nahm, eine neue Methode gegenüber, die axioma-
tisch von einer obersten Wahrheit, einem primum verum, ausgeht. Viehweg meint,
bei Vico die Ablösung der Topik durch Systematik wahrnehmen zu können. Daran
ist richtig, dass der Aufbruch des Rationalismus das Interesse an der Systembildung
gesteigert hat. Um gliedernde Ordnung eines bisher recht chaotischen Stoffes waren
die Juristen aber schon viel früher bemüht. Es genügt, an die Systematiker unter den
Humanisten – etwa an Donellus – zu erinnern. Systematik und Topik bilden kein
sinnvolles Gegensatzpaar. Der richtige Gegensatz zu systematischem Denken ist
das problematische Denken, dass nicht aus dem System argumentiert, sondern vom
Problem her einen Begründungszusammenhang sucht.
In ähnliche Richtung einer Auflockerung des Systems zielt die Forderung nach
Unterscheidung eines
a) äußeren und inneren Systems,
57
Topische Jurisprudenz (1971).
58
Ähnlich Waldstein, in Festgabe Herdlitczka 237 ff.
140 § 6 Das Systemproblem der Rechtswissenschaft
59
Dazu Honsell, Tradition oder Zession – kausal oder abstrakt? in FS Wiegand (2005) 349 ff.
60
Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz (1932).
61
Kritisch zu ihr Reimann, Die Propria der Rechtswissenschaft in Engel/Schön (Hrsg), Das Prop-
rium der Rechtswissenschaft (2007) 87, 92.
62
Über diese Hempel/Oppenheim, Der Typusbegriff im Lichte der neuen Logik (1936); Larenz,
Methodenlehre der Rechtswissenschaft6 (1991) 443 ff.
63
Dazu Leenen, Typus und Rechtsfindung (1971).
64
ZB Bergbohm, Jurisprudenz und Rechtsphilosophie (1892).
III. Neuere Systemansätze 141
2. Bewegliches System
Die Forderung nach mehr Beweglichkeit des juristischen Systems wurde Ansätzen
bei Ernst Rabel folgend – von Walter Wilburg65 formuliert. Wilburg erprobte sein
Konzept zunächst an Einzeluntersuchungen zum Bereicherungsrecht66 und zum
Schadensersatzrecht67, um es dann in seiner Grazer Rektoratsrede 1950 allgemeiner
zu formulieren. Wilburg lehnte nicht – hierin wurde er vielfach missverstanden –
das systematische Denken als solches ab, sondern wollte das bisher zu starre System
durch ein bewegliches ersetzen. Dieses wird als aus Elementen zusammengesetzt
gedacht, die in unterschiedlicher Zahl und Stärke auftretend, einen Tatbestand
begründen können, auch wenn nicht alle seine Voraussetzungen vorliegen. Anders
als im traditionellen System haben die Elemente keinen festen Platz, sondern wer-
den in Wechselbeziehungen gesetzt, die bis zur Austauschbarkeit gehen. Ein kenn-
zeichnendes Beispiel liefern die Voraussetzungen der Schadensersatzpflicht: Die
traditionelle Systematik fordert primär den Eintritt eines Schadens, zweitens seine
Verursachung durch den Ersatzpflichtigen, drittens die Rechtswidrigkeit der Schä-
digung und viertens ein Verschulden des Schädigers. Fehlt eines dieser Elemente
des Haftungssystems, entfällt die Ersatzpflicht. Bejaht man dennoch eine Haftung,
so muss für diese – etwa mit der Lehre von der Gefährdungshaftung – eine beson-
dere Systematik entwickelt werden. Wilburg dagegen begreift das Haftungsrecht,
aber nicht nur dieses, als Beispiel eines beweglichen Zusammenspiels von System-
elementen: Tritt ein Haftungselement in besonderer Stärke auf, so kann dies das
Zurücktreten, ja das Fehlen eines anderen Elements ausgleichen. Lässt sich etwa
die Verursachung nicht deutlich feststellen, so kann sich aus dem klaren Vorliegen
eines Mangels eine Haftung ergeben. Abzulehnen ist aber die vorschnelle Annahme
von Beweiserleichterungen oder Vermutungen, die auf eine Art „Verdachtsstrafe“
hinauslaufen. Es ist daran festzuhalten, dass es ohne Verursachung keine Haftung
geben kann. Am Verzicht auf das Erfordernis einer wahrscheinlichen Kausalität lei-
det auch die Lehre von der perte d’une chance. Nach dieser aus dem französische
Recht entlehnten Figur ist auch bei geringer statistischer Wahrscheinlichkeit we-
nigstens ein prozentueller Ersatz zu leisten: So hat etwa der englische Court of Ap-
peal Ersatz für den vertragswidrigen Ausschluss von einem Schönheitswettbewerb
bei 60 Bewerbern zugebilligt68, während der deutsche BGH einen Anspruch wegen
rechtswidrigen Ausschlusses von einem Architektenwettbewerb bei 42 Bewerbern
verneint hat (BGH NJW 1983, 442). Art. 56d Abs. 2 HS 2 des Entwurfs eines neuen
Schweizer Haftpflichtrechts sah vor, dass das Gericht die Ersatzleistung nach dem
65
Entwicklung eines beweglichen Systems im bürgerlichen Recht (1950); ders, AcP 163 (1964)
346 ff; für die Ausstrahlung des Wilburg’schen Konzepts ist die „Assistenten-Festschrift“ von
Fenyves ua (Hrsg), Wertung und Interessenausgleich im Recht (1975) bezeichnend.
66
Die Lehre von der ungerechtfertigten Bereicherung (1934).
67
Die Elemente des Schadensrechts (1941).
68
Chaplin v. Hicks, King’s, Bench Division 1911/2, 786, 796.
142 § 6 Das Systemproblem der Rechtswissenschaft
Grade der Wahrscheinlichkeit bemessen kann69. Es kann aber nicht sein, dass es
auch bei geringen Gewinnchancen Ersatz gibt. Massgeblich ist die Wahrschein-
lichkeit der Gewinnrealisierung. Auch wenn man annehmen wollte, dass die kleine
Chance eines grossen Gewinns und die grosse Chance eines kleinen Gewinns ma-
thematisch gleichwertig sind, bleibt die juristische Wertung richtig, dass für entgan-
genen Gewinn nur Ersatz zu leisten ist, wenn er mit hinreichender Wahrscheinlich-
keitrealisiert worden wäre70.
Eine ähnliche Überlegung steckt hinter dem sog Sandhaufentheorem71, das
ebenfalls auf das Zusammenspiel verschiedener Elemente unterschiedlichen Ge-
wichts abstellt. Damit soll erklärt werden, dass bei einem besonders groben Leis-
tungsmissverhältnis iSv § 138 Abs 2 BGB die subjektive Seite wie Notlage oder
Leichtsinn nicht verwirklicht sein muss, wenn der aus objektiven und subjektiven
zusammengesetzte Sandhaufen im Ergebnis gleich groß ist. Im Zivilrecht, in dem
meist klare Tatbestände vorliegen, ist der Nutzen solcher Theoreme sehr begrenzt.
Im Übrigen ist der Gedanke nicht neu. Schon Oswald Spengler hat in „Der Un-
tergang des Abendlandes“ (1918/1922) in Reaktion auf den Wissenschaftspositivis-
mus des 19. Jh den Vorschlag gemacht, statt der starren Systeme more geometrico
mit ihren Anleihen bei Geometrie und Physik besser an die Elemente der Chemie
anzuknüpfen.
3. Systemtheorie
Von den zahlreichen „postmodernen“ Theorien des Rechts72, soll hier nur noch
die soziologische Systemtheorie erwähnt werden73. Sie hat mit dem herkömmli-
chen Begriff des Systems nichts zu tun und erhebt den Anspruch, alle gesellschaft-
lichen Phänomene zu erklären, von denen das Recht ein Teilaspekt ist. In dieser
von Niklas Luhmann begründeten Lehre spielen die Begriffe der Selbstreferenz,
69
Dagegen zutreffend BGE 133 III 462; dagegen wiederum P Widmer, C Müller u. Kadner Graziano
HAVE 2008, 55 ff, 61 ff.
70
So schon Fischer, Der Schaden – nach dem Bürgerlichen Gesetzbuche für das Deutsche Reich
(1903) 54.
71
Bender, Das „Sandhaufentheorem“. Ein Beitrag zur Regelungstechnik in der Gesetzgebungsleh-
re in GS Rödig (1978) 34, 38 ff; dagegen BGHZ 80, 153, 159 ff. – Allerdings wird im deutschen
Recht, das im Gegensatz zu § 934 ABGB keine gesetzliche Regelung der laesio enormis kennt,
das Hälftekriterium von der Judikatur im Rahmen der Sittenwidrigkeit nach § 138 Abs. 1 analog
herangezogen, was im Ergebnis bedeutet, dass in diesen Fällen die subjektiven Voraussetzungen
des Wuchers bei einem groben Missverhältnis nicht erfüllt sein müssen. Nach dieser Rsp. ist Sit-
tenwidrigkeit iSd § 138 Abs. 1 BGB anzunehmen, wenn der Verkaufspreis den Wert um rund
100 % übersteigt (BGHZ 146, 298, 302168, 8, 11; BGH WM 2008, 967 Tz 31, 35, 37; s. Palandt/
Ellenberger, Komm BGB73 (2014) § 138 Rn 34a; vgl auch Mayer-Maly, Renaissance der laesio
enormis? FS Larenz (1983) 395 ff.
72
S den Sammelband Buckel/Christensen/Fischer-Lescano (Hrsg), Neue Theorien der Rechts2
(2009).
73
S Callies, Systemtheorie in Luhmann/Teubner 53 ff.
III. Neuere Systemansätze 143
der Autopoiesis (Selbsterschaffung) und der Differenz eine Rolle74. Hinzu kommen
der Begriff der Dekonstruktion ( Derrida) sowie eine Verschiebung der Betrachtung
von Funktion und Struktur auf Unterscheidung und Kommunikation (?)75. System
wird unverständlich und tautolog definiert als die Differenz von System und Um-
welt ( Vesting). Das alles ist mehr oder weniger abgehoben und unverständlich.
74
S zB Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie, (1984/2006)
148 ff.; ders, Einführung in die Systemtheorie5 (2009); ders, Theorie der Gesellschaft (2002) 9
Bde; dazu etwa Willke, Systemtheorie. Eine Einführung in die Grundprobleme der Theorie sozia-
ler Systeme4 (1993); krit zu Luhmann etwa die Beiträge in: Merz-Benz,/G Wagner (Hrsg.), Die Lo-
gik der Systeme. Zur Kritik der systemtheoretischen Soziologie Niklas Luhmanns (2000); Martin,
Überkomplexe Gesellschaft. Eine Kritik der Systemtheorie Niklas Luhmanns (2009).
75
S auch Teubner, Recht als autopoietisches System (1989); Vesting, Kein Anfang und kein Ende
– Die Systemtheorie des Rechts als Herausforderung für Rechtswissenschaft und Rechtsdogmatik,
JURA 2001, 299 ff.
§ 7 Das Verhältnis der Jurisprudenz zur Politik
Inhaltsverzeichnis
Die Grenze zwischen Rechtsanwendung und Rechtsfortbildung hat sich als flie-
ßend erwiesen. Rechtsfortbildung aber ist immer auch Politik1. Die Rechtswissen-
schaft aus der Verflechtung mit der Politik zu lösen, war das Anliegen der bereits
mehrfach erwähnten „Reinen Rechtslehre“ von Hans Kelsen2. Im Vorwort zur 1934
erschienenen 1. Auflage dieses heute in viele Sprachen übersetzten Werkes forderte
Kelsen:
den Verzicht auf die eingewurzelte Gewohnheit, im Namen der Wissenschaft vom Recht,
unter Berufung also auf eine objektive Instanz, politische Forderungen zu vertreten, die nur
einen höchst subjektiven Charakter haben können, auch wenn sie im besten Glauben als
Ideal einer Religion, Nation oder Klasse auftreten.
Wie stark gerade mit diesen Worten eine Konstante im Lebenswerk Kelsens und in
der Konzeption seiner Schule Ausdruck gefunden hat, zeigt das (nach seiner Ver-
treibung durch das Hitlerregime) 26 Jahre später verfasste Vorwort zur zweiten Auf-
lage der „Reinen Rechtslehre“:
Nach wie vor stößt eine objektive, ihren Gegenstand nur beschreibende Rechtswissenschaft
auf den hartnäckigen Widerstand all jener, die, die Grenzen zwischen Wissenschaft und
Politik missachtend, im Namen jener dem Recht einen bestimmten Inhalt vorschreiben,
das heißt, das gerechte Recht und damit ein Wertmaß für das positive Recht bestimmen zu
können glauben.
1
Vgl Kukuck, Zum Problem der politischen Komponente im Richterrecht (1980).
2
Vgl auch § 1 I 2 u II, § 4 II u. VII, § 5 III u. VIII, § 6 II.
© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015 145
H Honsell, T Mayer-Maly, Rechtswissenschaft, Springer-Lehrbuch,
DOI 10.1007/978-3-662-45682-8_7
146 § 7 Das Verhältnis der Jurisprudenz zur Politik
Es überrascht daher auch nicht, dass Kelsen, der zu den Begründern der modernen
Verfassungsgerichtsbarkeit zählt, vor einer Verfassungsjudikatur auf der Grundlage
abstrakter Grundrechte gewarnt hat3.
Von den juristischen Teildisziplinen enthält das öffentliche Recht die meisten
politischen Implikationen und ist dem Einwand, es handle sich um Politik, am
stärksten ausgesetzt4. Aber auch die anderen Teildisziplinen sind nicht frei von po-
litischen Elementen.
Auch wenn man der Konzeption der Reinen Rechtslehre5 kritisch gegenübersteht,
ist einzuräumen, dass Aussagen über das Recht, die Anspruch auf wissenschaftliche
Gültigkeit haben sollen, nicht von der politischen Position des Juristen abhängen
dürfen, von dem diese Aussage stammt6. Aussagen über allgemeine Eigenschaf-
ten von Rechtsordnungen und Rechtssätzen können indes gemacht werden, ohne
dass die politische Haltung des Aussagenden Einfluss gewinnen muss. Über das
Recht als solches ist politikfreie Wissenschaft möglich. Der Jurisprudenz jedoch
geht es vor allem um Aussagen über den Inhalt von Normen und ihre Anwendung.
Auch diese Aussagen von politischen Elementen frei zu halten, ist viel schwieri-
ger – vor allem, wenn mit der Sinndeutung der Norm ihre Anwendung verbunden
ist. Es hat nämlich jede Rechtsanwendung auch politische Funktionen7. Als poli-
tisch bezeichnen wir dabei alle vom Willen zur Gesellschaftsgestaltung getragenen
Aktivitäten. Nur eine heute überwundene Begriffsverengung, die lediglich das auf
Regierung und Parteibildung Bezogene für politisch hielt8, kann eine unpolitische
3
Kelsen, Wer soll Hüter der Verfassung sein? (1931) 24: „Wünscht man die Macht der Gerichte
und damit den politischen Charakter ihrer Funktion zu restringieren – eine Tendenz, die bei der
konstitutionellen Monarchie besonders hervortritt –, die aber auch in der demokratischen Republik
zu beobachten ist, dann muss der Spielraum freien Ermessens, den die Gesetze ihrer Anwendung
einräumen, möglichst eng gezogen sein. Dann dürfen die einem Verfassungsgericht zur Anwen-
dung stehenden Verfassungsnormen, insbesondere jene, mit denen der Inhalt künftiger Gesetze
bestimmt wird, wie die Bestimmungen über die Grundrechte und dergleichen nicht zu allgemein
gefasst sein, nicht mit vagen Schlagworten, wie „Freiheit“, „Gleichheit“, „Gerechtigkeit“ usw.
operieren. Andernfalls besteht die Gefahr einer von der Verfassung nicht intendierten und politisch
höchst unangebrachten Machtverschiebung vom Parlament zu einer außerhalb desselben stehen-
den Instanz, „die zum Exponenten ganz anderer politischer Kräfte werden kann, als jene, die im
Parlament zum Ausdruck kommen.“ – Für Kelsen war eine Verfassungsgerichtsbarkeit, welche die
Grenzen der Jurisdiktion missachtet und politische Entscheidungen trifft, undenkbar. Er war auch
der Aufnahme allgemeiner und abstrakter Grundsätze und jeglicher Verfassungslyrik abhold. So
ist das österreichische B-VG ein nüchterner, spröder Text ohne große Worte. Angeblich beanstan-
dete Kelsen bei den Verfassungsarbeiten sogar den Art 1 S 1 B-VG („Österreich ist eine demokra-
tische Republik“) wegen seines programmatischen Charakters, worauf Renner geantwortet haben
soll: „Herr Professor, Sie haben Recht, aber irgendetwas Schönes soll doch auch in der Verfassung
stehen“. Die Geschichte erzählt R Walter in der Wiener Zeitung, online: www.wienerzeitung.at/
linkmap/personen/kelsen.htm, zuletzt gesehen am 14.8.2008.
4
S zB Matthias Jestedt, „öffentliches Recht“ als wissenschaftliche Disziplin, in: Engel/Schön
(Hrsg), Das Proprium der Rechtswissenschaft (2007) 241, 243, der (243 Fn 5) altertümelnd von
Publizistik (s § 12 Fn 2) in Analogie zu Zivilistik spricht, eine weniger glückliche Wortwahl, weil
(wie Jestedt selbst sieht) der Begriff von der Kommunikations- und Medienwissenschaft (der sog
4. Gewalt) besetzt ist.
5
Vgl oben § 4 II u VI.
6
Vgl zum Problemkreis Mayer-Maly, Jurisprudenz und Politik, FS Hans Kelsen (1971) 108 ff.
7
Dazu Mayer-Maly, Deutsche Richter-Zeitung (1971) 325 ff.
8
Zum Wandel des Politik-Begriffes vgl Sternberger, Der Begriff des Politischen (1961).
I. Recht und Politik 147
Justiz postulieren. Begreift man aber alle rechtsgestaltende Aktivität, die sich in der
Öffentlichkeit vollzieht als politisch, so liegt die politische Funktion der Rechts-
anwendung klar zutage. Politisch ist schon die jeder Justiz wesentliche Ausschal-
tung von Privatrache und anderer Selbsthilfe. Ob das Entwicklungsmodell, nach
dem alles Recht aus Überwindung von Selbsthilfe entstanden ist, die historische
Realität für sich hat oder bloß die Verrechtlichung der internationalen Beziehungen
und der Arbeitskämpfe in die Vergangenheit projiziert, mag dahingestellt bleiben.
Es spricht viel dafür, dass in der vorgeschichtlichen Gesellschaft kein Faustrecht
galt. Feststeht jedenfalls, dass durch die Einrichtung eines Rechtsschutzsystems
Selbsthilfe entbehrlich, aber auch verboten wird. So befand schon ein Dekret von
Marc Aurel den der unerlaubten Gewalttat ( vis) schuldig, der seinen Schuldnern auf
eigene Faust Geld abnahm9. Das ist noch heute so. Es gilt das staatliche Gewalt-
monopol. Nur wo obrigkeitliche Hilfe nicht rechtzeitig zu erlangen ist, (zB Antref-
fen des Schuldners am Flughafen kurz vor dem Abflug ins Ausland) ist Selbsthilfe
gestattet (s zB § 229 f BGB). Mit der Ausschaltung der Selbsthilfe trägt die Justiz
zur Erhaltung des inneren Friedens der Gesellschaft bei. Zugleich aber legitimiert
sie den Staat, der diese Gesellschaft organisiert in dem Zustand, in dem er sich
gerade befindet10. Schon an dieser politischen Funktion der Jurisprudenz fällt eine
konservative Note auf. Der Jurist dient der bestehenden Ordnung. Er bemüht sich
mehr um ihre Erhaltung als um ihre Kritik. Diese defensive Funktion und die mit ihr
häufig verbundene konservative Gesinnung sind den Juristen als Stand oft vorge-
worfen worden. Sie liegen dem Schlagwort „Klassenjustiz“11 ebenso zugrunde wie
der Justizreformdiskussion12, aber auch mancher humanistischen Juristenkritik im
16. Jh. Vielfach meint man, die soziale Herkunft der Juristen sei für ihre konserva-
tive Haltung und ihre häufige Allianz mit der Macht verantwortlich13. In Wahrheit
jedoch wirken auch Funktionen, deren sich die Jurisprudenz kaum entledigen kann,
viel stärker dahin, dass die Juristen eine konservative Haltung einnehmen.
Konflikte in einer Gesellschaft zu bewältigen, ist die wesentlich konservative
Leistung jeder Rechtsprechung. Diese Konflikte haben nur selten rein individuel-
le Ursachen. Mitunter manifestiert sich am Widerspruch der Rechtsbehauptungen
zweier Prozessgegner nicht nur deren individueller Konflikt, sondern auch eine
Störung des sozialen Gleichgewichts, eine Gefährdung einer Schicht, eine Fehlent-
wicklung der Wirtschaft oder des Rechts. Auch hier ist die Rechtsprechung nicht
unpolitisch, trägt sie doch zum Erhalt der anerkannten Ordnung bei.
Keine Ordnung könnte lange Zeit hindurch bestehen, würde sie nicht durch
Rechtsfortbildung den Erfordernissen und Veränderungen angepasst. Daher hat auch
die richterliche Rechtsfortbildung14 in scheinbar politisch neutralen Bereichen
eine politische Funktion. Der Versuch der Richter, die von einem gesellschaftlichen
Konsens getragenen Maximen in Fallentscheidungen zu konkretisieren, dient nicht
zuletzt dem Ziel, die bestehende Ordnung dadurch zu erhalten, dass man sie ändert.
9
D 48, 7, 7.
10
Vgl Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969).
11
So bei Liebknecht, Rechtsstaat und Klassenjustiz (1907), und bei Geffken, Klassenjustiz (1972),
dazu Rottleuthner, Kritische Justiz (1973) 332 ff.
12
Vgl etwa Rasehorn, Kritische Justiz (1969) 273 ff; Lautmann, Justiz – die stille Gewalt (1972).
13
Dazu Kaupen, Die Hüter von Recht und Ordnung (1969).
14
S oben § 4 IV; zu ihren Schranken Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung (1978).
148 § 7 Das Verhältnis der Jurisprudenz zur Politik
15
Vgl Birke, Richterliche Rechtsfortbildung und gesellschaftliche Auffassungen (1968); Fiedler,
Sozialer Wandel, Verfassungswandel, Rechtsprechung (1972); Wege, Positives Recht und sozialer
Wandel im demokratischen und sozialen Rechtsstaat (1977).
16
Näher Kley, Die Verantwortung gegenüber künftigen Generationen – ein staatsphilosophisches
Postulat von Thomas Jefferson <http://www.rwi.uzh.ch/lehreforschung/alphabetisch/kley/contai-
ner/jefferson_pages_505_523.pdf> (gesehen am 25. 3. 2014) mit Nachweisen.
17
Vgl Kübler, AcP 162 (1963) 104 ff.
18
L’esprit des lois (1748).
19
Vgl Montesquieu, De l’Esprit des Lois, Buch IX, Kap. 6 (1748).
20
S Ogorek, Richterkönig oder Subsumtionsautomat (2008).
21
Gnaeus Flavius, Der Kampf um die Rechtswissenschaft (1906) 7; § 5 Fn 27
22
Rektoratsrede (1884),Gesammelte Reden und Abhandlungen (1904) 101.
I. Recht und Politik 149
hat23. Jurisprudenz ist nicht reine Theorie; deshalb ist sie zu Realismus verpflichtet.
Dieser aber fordert ein Konzept, das richterliche Rechtsfortbildung akzeptiert. Die-
se ist sowohl in der Verfassungsrechtsprechung (ungeachtet der Kritik an ihrer zu
weitgehenden Politisierung (vgl oben § 5 VIII und unten § 7 II), als auch bei den
Fachgerichten legitim. Man muss daher versuchen, die in dieser Rechtsfortbildung
liegende politische Funktion der Jurisprudenz und der Justiz in einer Weise zu be-
greifen und zu begrenzen24, die es ermöglicht, den Schwerpunkt der rechtspoliti-
schen Entscheidungen bei der parlamentarischen Legislative zu konzentrieren.
Dazu ist es vor allem nötig, sich bewusst zu machen, dass die Behauptung ei-
nes Rechtsfortbildungsrechtes der Rechtsanwendungsorgane die Behauptung eines
Vorranges der Juristen bei gesellschaftlicher Willensbildung impliziert. Eine solche
Annahme lag zwar der gemeinrechtlichen Anerkennung der communis opinio doc-
torum zugrunde, sie verträgt sich aber ebenso wenig mit dem Gesetzgebungsan-
spruch monarchischer Souveräne wie mit dem Prinzip eines demokratischen Egali-
tarismus. Das dem demokratischen Gedanken wesentlich verbundene Gleichheits-
prinzip fordert, dass das Votum des Juristen auch in Fragen der Rechtsfortbildung
nicht schwerer wiegt als bei allen anderen Themen der gesellschaftlichen Willens-
bildung: Größere Sachkunde verschafft in der Demokratie nicht mehr Stimmge-
wicht25. Die Bejahung der Rechtsfortbildung durch die Organe der Rechtsanwen-
dung könnte freilich für die Demokratie darauf gestützt werden, dass die rechts-
fortbildenden Normvollzugsorgane (in Deutschland insbesondere die ausdrücklich
zur Rechtsfortbildung berufenen großen Senate der oberen Bundesgerichte) ihre
Tätigkeit nicht als Schaffung von neuem Recht, sondern als Artikulierung eines
gesellschaftlichen Wertungswandels26 verstehen. Gerade dann aber ergibt sich eine
neue Schwierigkeit, die aus dem pluralistischen Charakter der demokratischen
Gesellschaft resultiert. Unter Pluralismus verstehen wir dabei mit Zacher27 ein Sys-
tem des Geltenlassens und der Selbstverwirklichung möglichst vieler. Als pluralis-
tisch sehen wir eine Gesellschaft an, in der die Grundsätze des Zusammenlebens
nicht nur aus einem als verbindlich anerkannten Wertsystem abgelesen, sondern
auch durch Verfahren der Konsensbildung gewonnen werden. Daraus aber ergibt
sich eine spezifische Problematik der Funktion der Rechtsprechung in der pluralis-
tischen Gesellschaft: Die Anerkennung einer solchen Funktion tangiert gerade jene
23
Verhandlungen des 46. Deutschen Juristentages (1966/1967) K 1 ff; allerdings verkennt Flume
nicht, dass der Richter nach Art 20 Abs 3 GG an Gesetz und Recht gebunden ist; s auch Lo-
binger, Ein Jahrhundertjurist ist hundert: Werner Flume, <http://www.zjs-online.com/dat/arti-
kel/2008_6_135.pdf> zuletzt gesehen am 17.3.2014.
24
für richterliche Selbstbeschränkung auch Ipsen, Richterrecht und Verfassung (1975).
25
S dazu Plinius epistulae 1, 12: Numerantur enim sententiae non ponderantur; Nam cum sit impar
prudentia, par omnium ius est. Die Stimmen werden gezählt nicht gewogen. Denn wenn auch die
Klugheit unterschiedlich sein mag, ist doch das Recht für alle das gleiche.
26
Beachtung verdient, dass die österreichischen Höchstgerichte weniger Bereitschaft zur Rechts-
fortbildung erkennen lassen, auch wenn sich in den letzten Jahrzehnten deutlich eine gegenläufige
Tendenz gezeigt hat Zum österreichischen Positivismus s Honsell, Recht und Rechtswissenschaft
in Österreich in Berka/Magerl (Hrsg) Wissenschaft in Österreich (2006) 37 ff.
27
In: Der Staat (1970), 161 f; vgl seither Suter, Wertpluralismus und Recht (1979).
150 § 7 Das Verhältnis der Jurisprudenz zur Politik
28
Zu deren möglicher Ausgestaltung Peter Schneider, Demokratie und Justiz in FS 150 Jahre
OLG Zweibrücken (1969) 257 ff.
29
Vgl die Vorbehalte von Diederichsen in FS Flume I 294 ff, gegenüber dem „politischen Rich-
ter“; beachtenswert ferner Dutz, Zeitschrift für Zivilprozess 87 (1974) 382 ff.
30
Vgl Puttner, Toleranz als Verfassungsprinzip (1977).
II. Politik in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 151
31
Vgl Stone, Law and the Social Sciences (1966); Grimm (Hrsg), Rechtswissenschaft und Nach-
barwissenschaften, Bd 1 (1973), Bd 2 (1976).
32
Zum Nutzen und zu den Gefahren einer sozialwissenschaftlichen Ausbildung von Juristen
Schelsky, Die Soziologen und das Recht (1980) 196 ff.
33
Kelsen, Wer soll Hüter der Verfassung sein? (1931) 12 ff, gegen C Schmidt, Hüter der Verfas-
sung (1931) 117, 128, der diese Rolle dem Reichspräsidenten zudachte; ein kritischer Sammel-
band hrsgg v Guggenberger/Würtenberger trägt den Titel: Hüter der Verfassung oder Lenker der
Politik? – Das Bundesverfassungsgericht im Widerstreit; vgl auch Honsell, Wächter oder Herr-
scher? – Das Bundesverfassungsgericht zwischen Recht und Politik, ZIP 2009, 1689 ff. – Das
Bundesverfassungsgericht hat sich selbst als Hüter der Verfassung bezeichnet, vgl BVerfGE 1,
184, 195 ff; 6, 300, 304; 40, 88, 93 u öfter.
152 § 7 Das Verhältnis der Jurisprudenz zur Politik
polemische Schrift „Die Tyrannei der Werte“34 verkennt indes, dass nicht die Werte
an sich eine Gefahr für das Recht sind, sondern die Allgemeinverbindlicherklärung
individueller, aus der Verfassung nicht ableitbarer Wertvorstellungen der Verfas-
sungsrichter in den Urteilen des Bundesverfassungsgerichts.
Die heutige hL folgt dem Bundesverfassungsgericht idR kritiklos und geht mehr-
heitlich davon aus, dass die „Konkretisierung der Wertordnung“ legitim und not-
wendig sei, weil die Verfassung keine klaren Vorgaben enthalte. Das Bundesverfas-
sungsgericht habe die Gratwanderung zwischen Recht und Politik im Allgemeinen
gut bewältigt35. Die richtige Alternative, sich auf die Fragen zu beschränken die
eine im Text der Verfassung und ihrem Umfeld verifizierbare Antwort zulassen
und die Entscheidung politischer Fragen als nicht justiziabel der Politik zu über-
lassen, erwägt die hL genauso wenig wie das Bundesverfassungsgericht selbst36.
Seine Mitglieder räumen ganz offen ein, Politik zu machen. So schreibt zB Hass-
emer37 „der Vorwurf, das Gericht mache Politik, ist alt, iterativ und im Wesentli-
chen zutreffend“. Diese Vorwärtsverteidigung verkennt, dass eine Fehlentwicklung
nicht dadurch akzeptabel wird, dass man sie offen zugibt oder der Kritik Wieder-
holung vorhält. Doch fehlt es auch nicht an kritischen Stimmen38. Der Gesetzgeber,
schreibt etwa Hillgruber39, nehme seine „Desavouierung dankend an, indem die
normverwerfende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts als wegweisend
kommentiert wird. Ein unwürdiges Schauspiel, das sich mit schöner Regelmäßig-
keit wiederholt“.
34
In einer nur in 200 Exemplaren privat gedruckten Schrift (1960, Nachdruck 2011, hrsgg und mit
einem lesenswerten Nachwort v Schönberger versehen). Zu Carl Schmitt s Mehring, Carl Schmitt
– Aufstieg und Fall (2009) 511 ff, 523; dort wird auch ein unangemessenes Spottgedicht zitiert, in
dem Schmitt die Verfassungsrichter als Lemuren auftreten lässt:
„In Karlsruhe wächst ein Gummibaum Lemuren schlurfen durch den Raum Und hängen einen
Freiheitstraum Als Wert an diesen Gummibaum.nanu Was sagt ihr denn dazu? Wir sagen: psst –
tabu!“ S auch unten § 12 Fn 26.
35
So etwa Scholz, Das Bundesverfassungsgericht: Hüter der Verfassung oder Ersatzgesetzgeber?,
ApuZ B 16/99, 3, 4; ähnlich Wesel, Der Gang nach Karlsruhe – Das Bundesverfassungsgericht
in der Geschichte der Bundesrepublik (2004) 359 u passim; mehr oder weniger unkritisch sind
auch die Beiträge in Badura/Dreier (Hrsg), 50 Jahre Bundesverfassungsgericht (2001); Häberle
(Hrsg), 60 Jahre deutsches Grundgesetz (2011) und Vesting/Korioth (Hrsg), Der Eigenwert des
Verfassungsrechts (2011); Hillgruber/Waldhoff, 60 Jahre Bonner Grundgesetz – eine geglückte
Verfassung? (2011).
36
Auch angesichts der 60-Jahrfeier des Bundesverfassungsgerichts überwiegen kritiklose Ovati-
onen, zB in dem Sammelband von Stolleis (Hrsg), Herzkammern der Republik – Die Deutschen
und das BVerfG (2011) (womit offenbar die beiden Senate gemeint sind). Dort nennt etwa Prantl
168 f, 177 – difficile satiram non scribere – Karlsruhe einen Gnadenort, der mit Altötting (sic!)
vergleichbar sei, spricht vom Wunder von Karlsruhe, das so etwas sei wie das Hambach unserer
Zeit sei, vom Mekka der Verfassungsgerichte (usw); unkritisch auch Lamprecht, Ich gehe bis nach
Karlsruhe – eine Geschichte des Bundesverfassungsgerichts (2011).
37
Erscheinungsformen des modernen Rechts (2007) 82; s auch dens, Politik aus Karlsruhe?, JZ
2008, 1 ff.
38
Vgl oben § 5 Fn 133.
39
Ohne rechtes Maß? Eine Kritik der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nach 60
Jahren, JZ 2011, 861, 863.
II. Politik in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 153
40
Engel/Schön, Das Proprium der Rechtswissenschaft 320, allerdings allgemein, ohne Bezug auf
das BVerfG; krit auch Koch, Die Begründung von Grundrechtsinterpretationen in: Alexy/Koch/
Kuhlen/Rüßmann; Elemente einer juristischen Begründungslehre (2003) 179 ff, 212: „Es darf be-
fürchtet werden, dass das BVerfG Aufgaben übernimmt, die eigentlich dem Parlament zustehen“.
41
Dazu § 4 IV, § 5 III § 7 I.
42
What Next in the Law (1982) 330.
§ 8 Liberale und sozialistische Rechtsvorstellungen
Inhaltsverzeichnis
I. Liberalismus
Vor allem zwei Konzepte bestimmen auch heute das Denken über das Verhältnis
zwischen Recht und Politik: das sozialistische und das liberale. Aus diesen beiden
Quellen stammt das Argumentationsmaterial des rechtspolitischen Alltagsdiskurses,
aber auch die Frontstellung der Grundsatzdiskussion, zB in dem CDU-Slogan der
70er Jahre „Freiheit statt Sozialismus“. Jenseits solchen politischen Feldgeschreis
gibt es heute in Europa leider keine Parteien, die sich ernsthaft für die Freiheitsrech-
te des Individuums einsetzen, auch die deutschen Liberalen tun dies, von einzelnen
Ausnahmen abgesehen, schon lange nicht mehr. Die Zeiten des klassischen Libera-
lismus, in dessen Zentrum die Freiheit des Individuums stand, sind lang vorbei. Die
Freiheitsrechte des Individuums verkommen im postmodernen Gewährungs- und
Lenkungs-Staat, in dem in einem „Mehrebenensystem“ ein unsinniger Regulie-
rungswettbewerb stattfindet, man denke nur an den Kompetenzwirrwar europäi-
scher und nationaler Regelungen. Dieses Durcheinader erstreckt sich auch auf die
Grundrechte. In Deutschland gibt es Länderverfassungen und das Grundgesetz dazu
Verfassungsgerichtshöfe und das Bundesverfassungsgericht. Hinzukommt eine EU-
Charta mit einem umfassenden Grundrechtskatalog, dessen Umsetzung der EuGH
betreiben wird. Schließlich gibt es den Menschenrechtsgerichtshof in Strassburg,
der für die Einhaltung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) in
den Mitgliedstaaten zuständig ist, wobei sogar eine Mitgliedschaft der EU beim
Europarat geplant ist. Die Grundrechte sind nicht überall identisch und auch unter-
schiedlich formuliert. Cum grano salis haben sie aber alle die gleichen Schutzziele.
Das liberale Rechtsdenken hat seine Wurzeln im 17. und 18. Jh. Mit der ameri-
kanischen Declaration of Independence und der Déclaration des droits de l‘homme
et du citoyen in der französischen Revolution erreichte die politische Aufklärung
ihren Höhepunkt. Liberté, egalité, fraternité, und das Recht auf Glück, pursuit of
happiness. Thomas Hobbes, Samuel Pufendorf, Gottfried Wilhelm Leibniz, Jean
Jaques Rousseau, Jeremy Bentham, Adam Smith, Thomas Paine und andere1 haben
die Bürger- und Menschenrechte gefordert und die auf griechische Vorbilder2 zu-
rückgehende Idee der Gleichheit vor dem Gesetz (zur Isonomia vgl auch oben § 1 I)
und die Forderung nach dem größten Glück der größten Zahl vertreten.
Das liberale Wirtschaftsmodell der Privatautonomie beruht auf dem Grundge-
danken, dass der beste Garant für den Wohlstand der Gesellschaft das natürliche
Streben des Individuums nach Glück und Wohlstand ist. Dieser Gedanke findet sich
schon in dem grundlegenden Werk von Adam Smith, An Inquiry into the Nature and
Causes of the Wealth of Nations (1776). Nach dieser Theorie ist das Glücksstreben
des Individuums ( pursuit of happiness) der Garant für die Wohlfahrt der Gesell-
schaft. Den Zusammenhang zwischen Freiheit und Eigentum hat Dostojewski in
dem plastischen Satz ausgedrückt: „Geld ist geprägte Freiheit“. Natürlich kann man
fragen, wie aus dem Egoismus der Individuen ein harmonisches Ganzes entstehen
kann. Nach Adam Smith wird der Markt von einer „unsichtbaren Hand“ ( invisible
hand) geordnet. Das freie Spiel der Kräfte von Angebot und Nachfrage führt nach
diesem Modell im freien Wettbewerb zu einer optimalen Güterversorgung zu den
richtigen Preisen auf einem ausgeglichenen Markt.
Diese klassische Theorie des Wirtschaftsliberalismus wurde von David Ricardo
und John Stuart Mill ausgebaut und verfeinert. Im 19. Jh hat dies zur Ablehnung
jeglicher staatlichen Intervention oder Regulierung geführt. Das berühmte Schlag-
wort „laissez faire, laissez passer, le monde va de lui même“3 oder der von Wilhelm
v. Humboldt4 geprägte Begriff des Nachtwächterstaates, in dem der Staat nur für
die innere und äußere Sicherheit sorgt, kennzeichnen diese Bestrebungen, welche
später im sog Manchester-Liberalismus gipfelten. Der freie Markt und der homo
oeconomicus sind in diesem Modell die Garanten von Fortschritt und Wohlstand.
Staatliche Intervention steht unter einem potenziellen Missbrauchsverdacht.
Indessen erkannte man schon früh, dass das liberale Marktmodell einer sozia-
len Korrektur bedarf und kritisierte die „soziale Blindheit“ des Marktes. Anatole
France kommentierte den formalen Gleichheitsbegriff mit dem berühmten Satz:
„La majestueuse égalité des lois qui interdit au riche comme au pauvre, de coucher
sous les ponts, de mendier dans les rues et de voler du pain“ – die majestätische
Gleichheit des Gesetzes, die es Reichen und Armen gleichermaßen verbietet, unter
Brücken zu schlafen, in den Straßen zu betteln oder Brot zu stehlen. Als am Ende
1
S etwa Berber, Das Staatsideal im Wandel der Weltgeschichte2 (1978) 193 ff, 216 ff, 258 ff,
274 ff.
2
Zur Isonomia Honsell, Naturrecht und Positivismus im Spiegel der Geschichte in FS Koppen-
steiner (2001) 593, 596.
3
Der Spruch geht angeblich auf den liberalen Ökonomen Vincent de Gournay (1712–1759) zu-
rück. Nach einer anderen Legende soll der Fabrikant Legendre dem Minister Colbert (1619–1683)
auf dessen merkantilistisch-interventionistische Frage, was er für die Industrie tun könne, geant-
wortet haben: Laissez-nous faire.
4
Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen (1851).
I. Liberalismus 157
des 19. Jh. das deutsche BGB entstand, monierte man das Fehlen eines Mindest-
schutzes für die sozial Schwachen ( Anton von Menger5). Otto von Gierke forder-
te den berühmten „Tropfen sozialistischen Öls“6 und nannte die Vertragsfreiheit“
„eine furchtbare Waffe in der Hand des Starken und ein stumpfes Werkzeug in der
Hand des Schwachen“7. Der französische Kommunist Garaudy8 sprach von der
„Moral des freien Fuchses im freien Hühnerstall“ (la morale du renard libre dans le
poulailler libre). Soziale Probleme können mit dem formalen Gleichheitsbegriff des
Liberalismus nicht gelöst werden.
In der Industriegesellschaft des 20. Jh rückten die sozial notwendigen Korrektu-
ren in den Vordergrund.
Im Vertragsrecht gewährleistet der Gesetzgeber den Schutz der sozial Schwächeren
hauptsächlich durch die Normierung zwingenden Rechts, wie wir es insbesondere im
Arbeits-, und Mietrecht sowie im Konsumentenschutz finden; bei letzterem allerdings
in zweifelhafter Weise, da sich der Schutz durch die Anknüpfung an die Verbraucher-
Rolle nicht auf die schwächere Partei beschränkt. In allen drei Fällen handelt es sich im
Grunde um öffentliches Recht, denn alles zwingende Recht ist öffentliches Recht (vgl
Papinian D 2,14,38: Ius publicum privatorum pactis mutari non potest – öffentliches
Recht kann durch Vereinbarung der Privaten nicht geändert werden).
Wieder aktuell geworden ist der liberale Gedanke9 auch durch den marxistischen
Sozialismus10. Die Auseinandersetzung mit seinen um die Mitte des 19. Jh formu-
lierten Thesen hat gezeigt, dass ein modelltheoretisch konsequenter Gegenentwurf
zum marxistischen Sozialismus nicht ohne Rückgriff auf die Konzepte der liberalen
Klassiker auskommen kann.
Allerdings darf man sich bei der Konfrontation von liberalen und sozialistischen
Rechtsvorstellungen11 nicht von scheinbaren Konvergenzen mit aktuellen poli-
tischen Gruppierungen täuschen lassen. Denn mit den Programmen der diversen
liberalen Parteien Europas hat das Rechtsdenken des Liberalismus kaum etwas ge-
meinsam. Um es zu erfassen, muss man vielmehr auf ältere Traditionen zurück-
greifen. Weil man die liberale Konzeption des Rechts nicht einfach an der Elle des
bürgerlichen Liberalismus des 19. Jh messen darf, wäre es insbesondere falsch,
„liberal“ mit „antiklerikal“ oder „national“ gleichzusetzen, nur weil es im liberalen
Bürgertum auch antiklerikale und nationale Strömungen gegeben hat. Mit natio-
naler Haltung kann sich liberale Gesinnung auf Dauer nicht vertragen. Da sie sich
an der Nation als staatlich organisiertem Volk ausrichtet, gerät sie mit dem Stre-
ben nach Staatsbegrenzung, das ein Merkmal des liberalen Rechtsdenkens darstellt,
schnell in Konflikt.
5
Das Bürgerliche Gesetzbuch und die besitzlosen Volksklassen (1890).
6
Otto von Gierke, Die soziale Aufgabe des Privatrechts (1889/1943) 13.
7
28 f.
8
Le communisme et la morale (1945).
9
Eine eindrucksvolle, wenngleich sehr persönlich akzentuierte Zusammenfassung verleiht ihnen
F. A. von Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit (1980); vgl ferner Mayer-Maly, FS Merkl
(1970) 247 ff.
10
Zu seinem Bild vom Recht Reich (Hrsg), Marxistische und sozialistische Rechtstheorie (1972).
Paul, Marxistische Rechtstheorie als Kritik des Rechts (1974); Stoyanovitch, La pensee marxiste
et le droit (1974); Rottleuthner (Hrsg), Probleme der marxistischen Rechtstheorie (1975).
11
Zu dieser Henke, Die Sozialisierung des Rechts. Ein Beitrag zur Rechtspolitik, JZ 1980, 369,
374.
158 § 8 Liberale und sozialistische Rechtsvorstellungen
12
Die Polizei-Wissenschaft nach den Grundsätzen des Rechtsstaates (1832); ders, über den Autor
Angermann (1962).
13
Zu ihrer weiteren Entwicklung: Bähr, Der Rechtsstaat (1864/1969); Gneist, Der Rechtsstaat2
(1879); Forsthoff (Hrsg), Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit (1968); Schambeck, Vom
Sinnwandel des Rechtsstaats (1970); Merten, Rechtsstaat und Gewaltmonopol (1975); – über Ge-
waltentrennung vgl Rausch (Hrsg), Zur heutigen Problematik der Gewaltentrennung (1969).
14
Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre (1797/1970) § 45 (164); vgl Luf, Freiheit
und Gleichheit (1978) 164 ff; vgl auch oben § 1 I 1.
15
Die Philosophie des Rechts II3 § 36.
16
Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart 4 (1910) 196 ff.
17
Dazu Klein, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 1950, 392 ff.
18
Maunz/Dürig/Herzog, Grundgesetz-Kommentar Rz 58 ff zu Art 20 GG; krit zB Jarass/Pieroth,
GG Art 20 Rz 38.
I. Liberalismus 159
rechten Rechtes entsprechen. Sie beruht auf den Erfahrungen des Dritten Reiches,
die gezeigt haben, in welchem Umfange es möglich ist, bei Wahrung formeller Ge-
setzmäßigkeit den Rechtsstaat auszuschalten. Freilich nimmt die herrschende Ver-
fassungslehre an, dass eine Vermutung bestehe, „dass die materielle Gerechtigkeit
durch das förmliche Gesetz und seine Anwendung auch realisiert wird“19.
Die rechtsstaatliche Limitierung des Staates ist für das liberale Rechtsdenken
alles andere als Selbstzweck. Sie dient dazu, dem Individuum Entfaltungsraum zu
wahren und steht daher in engstem Zusammenhang mit dem liberalen Entwurf des
Privatrechts. Man erfasst das Konzept des Liberalismus nur dann, wenn man den
wesentlichen Zusammenhang zwischen der staatsbegrenzenden Lehre vom Rechts-
staat und dem freiheitlichen Entwurf der Privatrechtsordnung beachtet. Für deren
Leitgedanken hat der Frankfurter Neoliberale Franz Böhm die treffende Bezeich-
nung „Privatrechtsgesellschaft“ gewählt20: Die Gestaltung dieser Gesellschaft soll
sich in erster Linie durch die spontanen und anonymen Akte der Bürger durch ihre
Rechtsgeschäfte vollziehen, nicht durch obrigkeitliche Pläne.
So notorisch der gedankliche Zusammenhang zwischen der öffentlich-rechtli-
chen und der privatrechtlichen Seite des liberalen Konzeptes ist, so unbequem und
verdrängungsanfällig scheinen die Konsequenzen. Unbeschränkter Marktwirtschaft
redet in der Ära der Globalisierung und der entfesselten Finanzmärkte niemand
mehr das Wort. Zum Rechtsstaat aber möchte jeder stehen. So stellt sich die Frage,
wie teilbar die liberalen Konzepte sind. Konsequenz zeigen die Marxisten, wenn
sie mit der kapitalistischen Warenproduktion auch den bürgerlichen Rechtsstaat at-
tackieren. Für Pašukanis21 ist der Rechtsstaat „eine fata morgana, aber eine der
Bourgeoisie sehr bequeme“.
Die Problematik des Unterfangens, von den beiden Hauptelementen der liberalen
Rechtskonzeption das eine ohne das andere zu verwirklichen, wird aber auch an den
Friktionserscheinungen deutlich, zu denen es in sozialistischen Staaten gekommen ist,
wenn sie zur Verbesserung der Versorgungslage oder zur Ankurbelung des Exportes
Teilbereiche des Wirtschaftslebens liberalisierten. Das Gegenbeispiel einer relativ frik-
tionsfreien Verwirklichung der Liberalisierung bietet die Volksrepublik China.
Der liberale Entwurf des Privatrechts steht im Zeichen zweifacher Freiheitsver-
bürgung: Freiheit im Abschluss von Verträgen und Freiheit der Disposition über
das Eigentum. Dabei wird von John Locke22 ein sehr weiter Eigentumsbegriff zu-
grunde gelegt. Property im Sinne von Locke ist jede dem Individuum zukommende
Berechtigung23. Bewahrung dieser property ist für Locke (§ 222) der Grund, warum
19
Vgl Staudinger/Honsell, BGB Einl Rz 210.
20
Böhm in Ordo (1966) 75 ff; Kritik an dieser Konzeption bei Runge, Antinomien des Freiheitsbe-
griffs im Rechtsbild des Ordoliberalismus (1971).
21
Allgemeine Rechtslehre und Marxismus3 (1970) 127.
22
Two Treatises of Government (1690), deutsch von Hoffmann in Abendroth (Hrsg), Politische
Texte (1967).
23
Es fällt auf, dass die von Posner (Economic Analysis of Law2 (1977) aufgestellte „Theory of
Property Rights“ (zu ihr N Horn, AcP 176 (1976) 307 ff; Prisching, in Reformen des Rechts [1979]
995 ff) gleichfalls von einem über den Eigentumsbegriff weit hinausgreifenden Begriff „property“
ausgeht.
160 § 8 Liberale und sozialistische Rechtsvorstellungen
Menschen in die Gesellschaft eintreten: „The reason why men enter into society is
the preservation of their property“. Sie wählen eine Legislative, damit diese Geset-
ze mache und Regeln aufstelle – als Wachen und Zäune zum Schutz der Rechte aller
Mitglieder der Gesellschaft.
Das Streben nach Freiheitsverbürgung beruht auf einem juristischen Voluntaris-
mus, der das Rechtsdenken der Liberalen geprägt hat. Die Beziehungen zwischen Frei-
heitsbegriff und Willensbetätigung sind übrigens sehr alt24. Für Aristoteles (Pol. 6, 1, 7,
1317b) und Cicero ( de officiis 1, 70) war Freiheit die Möglichkeit zu leben, wie man
will. Die auf liberalen Vorstellungen beruhende Privatrechtsdogmatik des 19. Jh war
daher nur konsequent, als sie das subjektive Recht als rechtlich anerkannte Willens-
macht definierte25 und das Rechtsgeschäft als Willenserklärung konzipierte26.Während
eine von der Rechtsordnung positiv bewertete Willensbetätigung als Rechtsgeschäft das
Vertragsrecht konstituierte, sollte die Schadensersatzpflicht des Deliktsrechts dann ein-
setzen, wenn ein Willensfehler vorlag: ein Verschulden. Obligationen entstehen für das
liberale Privatrecht nicht direkt aus dem Gesetz, sondern aus positiv oder negativ bewer-
teter Willensbetätigung des einzelnen. Der sich so manifestierende juristische Volunta-
rismus27 beruht auf einer relativ selten bewusst gewordenen Voraussetzung, die jenseits
des Juristischen liegt. Es ist gerade diese Voraussetzung, die das liberale Rechtsdenken
mit der liberalen Philosophie verknüpft.
Dem Willen des einzelnen wird durch die Privatautonomie nicht aus Freude am
Individualismus, sondern deshalb Raum gegeben, weil man in ihn die Erwartung
setzt, dass sie eine sinnvolle und funktionsfähige Ordnung herbeiführt, die ihre
Aufgabe besser erfüllt als jede obrigkeitlich dekretierte Ordnung. Eine Lenkung
und Kontrolle der im Rahmen der Privatautonomie gesetzten Entscheidung unter-
bleibt, weil das Gewollte als vernünftig gilt. Es entfällt daher eine Überprüfung
der Dispositionen – der Entscheidung für einen Verkauf, der Höhe des Preises, bei
Darlehen der Höhe des Zinsfußes – auf ihre Rationalität. Das Gewollte gilt als ver-
nünftig – nicht so sehr deshalb, weil man objektiv keine anderen Kriterien des Rich-
tigen bestimmen könnte, sondern vor allem deshalb, weil man gerade von der freien
Willensbetätigung der Menschen erwartet, dass sie eine Ordnung sichtbar machen
kann, die als vorgeformte bereits existiert. Dem Rechtskonzept des Liberalismus
liegt ebenso wie den Grundgedanken des Wirtschaftsliberalismus die von Leibniz28
zunächst für das Verhältnis zwischen Körper und Geist entwickelte, dann aber auch
zur Deutung des Verhaltens der Menschen (als Offenbarung der lex naturae) heran-
gezogene Lehre von der prästabilierten Harmonie zugrunde. Nach dieser Lehre
kann das spontane Verhalten der einzelnen eine Ordnung freilegen, die in der Natur
der Menschen begründet ist. Dieser Gedanke kehrt wieder in der Metapher von der
invisible hand (bei Adam Smith und anderen) die für das Vertrauen in die Selbstre-
24
Vgl Waldstein, Willensfreiheit und rechtliche Ordnung in FS Schwind (1978) 329 ff.
25
Windscheid, Pandekten I § 37.
26
Windscheid, ebenda § 69.
27
Zu ihm Rieg, Le role de la volonté dans l’acte juridique en droit civil français et allemand
(1961); Kramer, Die „Krise“ des liberalenVertragsdenkens (1974).
28
Systeme nouveau pour expliquer la nature des substances et leur communication entre elles
(1695), über Leibniz und das Recht vgl Hans-Peter Schneider, Justitia universalis (1967).
I. Liberalismus 161
29
Gegen übertriebene Marktgläubigkeit Stürner, Markt und Wettbewerb über alles? (2008).
30
S statt aller Hayek, Die Verfassung der Freiheit (1971).
31
Dies auch deshalb, weil bessere Startbedingungen in intellektueller und ökonomischer Hinsicht
kein Verdienst sind. Diese Überlegungen sind auch die zentrale These von Rawls, A Theory of
Justice (1971), s zu ihm auch § 1 Fn 12 u § 11 Fn 134.
32
Diogenes Laertius 1,87 und 88; s auch Snell, Leben und Meinungen der Sieben Weisen. Grie-
chische und lateinische Quellen4 (1971) 107.
33
Platon Protagoras 322.
34
1. Mose 3,5 (Sündenfall).
162 § 8 Liberale und sozialistische Rechtsvorstellungen
könne. Der Staatseingriff wird nun nicht mehr kategorisch abgelehnt, sondern als
Rahmenordnung einer Wettbewerbswirtschaft gutgeheißen. Damit werden zugleich
Staatszwecke auf wirtschaftspolitischem Gebiet anerkannt. Grundlegend wurde die
Stellungnahme von Franz Böhm35 zum Monopolproblem. Vor allem die Frage, wie
Kartelle (das sind der Beschränkung des Wettbewerbs dienende Vereinbarungen) zu
behandeln sind, führte zu einer gewissen Emanzipation des Neoliberalismus von der
klassischen Tradition: Wer ein Kartellgesetz nach der Art des deutschen Gesetzes
gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) positiv beurteilt, bejaht die grundsätz-
liche Zulässigkeit der Beschränkung der Vertragsfreiheit der Wirtschaftstreibenden
durch den Staat. Ehe das US-amerikanischen Kartellrecht nach dem Zweiten Welt-
krieg auch in Deutschland auf das GWB 1952 Einfluss gewann, waren Kartelle
weitgehend zulässig36. Das Kartell ist ein Vertrag seiner Mitglieder. Es ist aber auch
ein Akt der Bildung von Marktmacht, die mit dem Wettbewerb den essentiellen
Faktor der anonym-spontanen Handelsordnung beschränkt, auf welche die Libera-
len bauen. In diesem Konflikt entscheiden die Neoliberalen für die Veranstaltung
von Wettbewerb, für den Einsatz des Rechtes zur Sicherung der Konkurrenz. Heute
sind freilich gewisse Entartungen namentlich im Europäischen Kartell- und Bei-
hilfenrecht zu beobachten, das Strafen bis zu 10 % des Umsatzes (!) ermöglicht (ob-
gleich allenfalls der Gewinn einen Bezug zum Kartellverstoß hat), aber gleichzeitig
leugnet, dass es Strafen sind (vgl § 23 Abs 5 VO 1/2003), weil die rechtsstaatlichen
Mindesterfordernisse von Strafen nicht erfüllt sind (vgl § 12 V 5 d).
Die Überzeugung, dass die Funktionsfähigkeit einer Wettbewerbsordnung bestimm-
te Voraussetzungen hat, die mitunter erst herbeigeführt werden müssen, hat die Idee der
Wirtschaftsverfassung37 zu einem Leitmotiv des neoliberalen Rechtsdenkens werden
lassen. Diese Idee meint die im Verfassungsrecht verankerte, meist aber über dieses
hinausgreifende Ordnung des Rahmens der Entfaltung einer Wettbewerbswirtschaft.
Man kann auch die rechtliche Ausgestaltung des Rahmens einer Planwirtschaft Wirt-
schaftsverfassung nennen, doch verfehlt solche Terminologie die typischen Akzente der
bisherigen Diskussion über das Wirtschaftsverfassungsrecht.
Ein neoliberaler Ansatz, der in Deutschland sogar von der rot-grünen Regierung
übernommen wurde, lag auch der (weitgehend ungeregelten) Entwicklung der Fi-
nanzmärkte und des Bankenaufsichtsrechts um die Jahrtausendwende zugrunde,
die im Jahre 2008 mit dem Konkurs der Lehmann-Bank in den USA zu einer Welt-
wirtschaftskrise geführt hat, deren Folgen noch immer nicht überwunden sind.
Unkontrollierte Spekulation und die globale Ausbreitung der Finanzkrise haben er-
neut gezeigt, wie nötig eine Regulierung der Finanzmärkte ist. Der „Kasinokapita-
lismus“ der Märkte für Derivate, auf denen man Wetten über die künftigen Preise
35
Wettbewerb und Monopolkampf (1933).
36
Vgl K W Nörr, Die Leiden des Privatrechts: Kartelle in Deutschland von der Holzstoffkartellent-
scheidung des Reichsgerichts zum Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (1994) 8 ff; Rittner,
Wirtschaftsrecht (1979) 269 ff.
37
Zu ihrer Entwicklung Zacher, Wirtschaftsordnung und Rechtsordnung in FS F Böhm (1965)
63 ff; vgl ferner Mayer-Maly, Privatautonomie und Wirtschaftsverfassung in Wirtschaft in Öster-
reich, FS Korinek (1972) 151 ff. und Rittner, Wirtschaftsrecht 23 ff Fn 23.
I. Liberalismus 163
von Waren oder Rohstoffen und auf die Kurse von Aktien, Anleihen, Schulden,
Währungen, Zinsen, Indices (usw) abschließen und mit sog Futures handeln kann,
bedarf in der Tat einer Einschränkung und internationalen Reglementierung.
Börsentermin- und Differenzgeschäfte sind Spekulationsgeschäfte, bei welchen
eine effektive Lieferung von Waren, Wertpapieren oder Devisen nicht geplant ist. Viel-
mehr geht es den Parteien darum, aus den unterschiedlichen Börsenpreisen im Zeit-
punkt des Vertragsschlusses und zu einem späteren Termin einen Gewinn zu erzielen.
Diese Geschäfte werden zu standardisierten Bedingungen auf einem Terminmarkt ab-
geschlossen. Typisch für sie ist das Ausnutzen von Kursänderungen zur Erzielung von
Gewinnen, wobei gleichzeitig ein Verlustrisiko in Kauf genommen werden muss. Man
kann à la hausse spekulieren, d. h. auf steigende Preise setzen, oder à la baisse, d. h.
auf sinkende. Im ersten Fall kauft man zB Aktien an einer Aktienbörse oder Waren an
einer Warenbörse zum heutigen Preis mit späterem Liefertermin. Steigen die Preise,
so kann man die Position im Lieferzeitpunkt mit Gewinn verkaufen. Dieses Geschäft
nennt man auch long position. Man hat dann das Spekulationsobjekt praktisch nie be-
sessen. Eine tatsächliche Lieferung ist nicht vorgesehen. Was sollte der Spekulant auch
mit einer Tankerladung Öl? Die Börse erlaubt in der Regel zu jedem Zeitpunkt Gegen-
geschäfte, mit denen man seine Position wieder glattstellen kann. Im umgekehrten Fall,
bei der Spekulation à la baisse, verkauft man Waren oder Wertpapiere, die man gar
nicht hat (daher Leerverkäufe, engl. short selling), zum heutigen Preis und zu einem
späteren Liefertermin. Sinken die Preise tatsächlich, kann man im Lieferzeitpunkt einen
Deckungskauf zu einem günstigeren Preis abschliessen und damit seine Position wie-
derum glattstellen. Zu beachten ist freilich, dass Glattstellungsgeschäfte u. U. nur zu
einem verlustbringenden Preis und in Ausnahmefällen bei fehlender Marktliquidität
überhaupt nicht abgeschlossen werden können. Das war bei dem Übernahmeversuch
von VW durch Porsche der Fall, als einige Hedgefonds auf sinkende Kurse der VW-
Aktie spekulierten. Zu den Termingeschäften zählt auch der Handel mit Derivaten. Es
gibt Optionsscheine über Wertpapiere, insbesondere Aktien, Obligationen, Devisen,
Waren und Indices. Auch hier will der Erwerber nicht tatsächliche Lieferung, die zB
bei einem Index gar nicht möglich wäre, sondern die Differenz in Geld. Der Erwerber
einer Kauf- oder Verkaufsoption erhält gegen Zahlung einer Optionsprämie das Recht,
die Option während oder am Ende der Laufzeit zum Basispreis (Tageskurs im Zeitpunkt
des Vertragsschlusses) auszuüben. Bei Erwartung steigender Kurse erwirbt man eine
Call-Option, weil man dann die teurer gewordenen Papiere noch zum alten Preis kau-
fen kann. Umgekehrt erwirbt man bei erwartetem Sinken eine Put-Option, weil man
die billiger gewordenen Papiere zum alten Preis verkaufen kann. Das Risiko ist insofern
begrenzt, als der Spekulant nicht mehr verlieren kann als die Optionsprämie. Da der
Kapitaleinsatz beim Erwerb einer Option jedoch viel geringer ist als beim Erwerb der
Basiswerte selbst (zB Kurs der Aktien), können viel grössere Summen bewegt werden,
wodurch das Risiko ganz erheblich steigt. Man nennt diese Hebelwirkung Leverage-
Effekt. Manche halten den Options- und Terminhandel volkswirtschaftlich für notwen-
dig, wofür ua geltend gemacht wird, dass mit Hilfe dieser Instrumente die Risiken von
Preis- bzw. Kursänderungen, namentlich im Devisenverkehr oder von Wertpapierfonds,
abgesichert werden können (sog Hedge-Geschäfte). Von diesen Hedge-Geschäften
abgesehen, handelt es sich schlicht um Wetten auf künftige Kursentwicklungen, de-
164 § 8 Liberale und sozialistische Rechtsvorstellungen
ren ökonomische Berechtigung fragwürdig ist. Zu ihrer Rechtfertigung sagt man, die
Vorteile des Hedging seien ohne einen grossen Markt für Spekulanten nicht zu haben.
In den letzten Jahren haben allerdings einige spektakuläre Zusammenbrüche infolge
von Milliardenverlusten durch Handel mit Derivaten und sog strukturierten Produkten
aus schlechten US-amerikanischen Hypotheken sowie spekulative Angriffe auf Wäh-
rungen zu weltweiten Finanzkrisen geführt. Man muss in der Tat fragen, was zB Cre-
dit Default Swaps (Kreditderivate zum Handel mit Ausfallrisiken von Krediten) oder
Leerverkäufe von Staatsanleihen für einen Sinn haben, wenn der Erwerber gar keine
solchen Staatsanleihen besitzt und deshalb kein Ausfallrisiko hat. Deshalb sind heute
ungedeckte Leerverkäufe oder CDS durch die EU-Verordnung Nr. 236/2012 verboten.
Der auf den Finanzmärkten zu beobachtende Herdentrieb, der die Marktteilnehmer
veranlasst, einem vorhandenen Trend zu folgen („the trend is your friend“), eröffnet
Manipulationsmöglichkeiten und wirkt manchmal wie ein Brandbeschleuniger. Auch
wenn man diesen Herdentrieb positiv als Schwarmintellegenz etikettiert, bleibt er ein
negatives Börsenphänomen. Die Börse wird zu einer Art Kasino mit grossen Gewinn-
chancen zum Schaden anderer. Der Derivatehandel mit seinen gigantischen Volumina
ist ein Nullsummenspiel ohne realwirtschaftlichen Hintergrund. Gewettet wird auf jede
beliebige zukünftige Entwicklung, wer den Trend richtig prognostiziert, gewinnt, was
der andere Teil verliert. So haben Spekulanten, die das Platzen der US-amerikanischen
Hypothekenblase rechtzeitig vorausgesehen hatten, Milliarden verdient. Das waren
zum Teil dieselben, die diese Papiere zuvor an Dritte verkauft hatten und die Risiken
kannten. Die Milliarden konnten freilich erst ausgezahlt werden, nachdem der Versi-
cherungskonzern AIG durch einen staatlichen Kredit von 85 Mrd. USD gerettet worden
war. AIG galt als systemrelevant („too big to fail“). Die Käufer, die weltweit auf den
zum Teil betrügerisch gepackten und von den US-Ratingagenturen mit AAA bewerteten
Schrottpapieren sitzengeblieben waren, hatten Verluste in Höhe von mehreren Billionen
US-Dollar. Auch die Verteuerung der Rohstoffe, wie Öl, Baumwolle, Getreide, Metalle
usw., beruht vor allem auf Spekulationsgeschäften, die zu grossen Schäden in der Real-
wirtschaft führen und nicht erst zu einem Problem werden, wenn sie Millionen Hunger
und Not bringen. Die Krise hat gezeigt, dass eine Regulierung und Überwachung der
Märkte notwendig ist und dass die völlige Loslösung des Derivatemarktes von der Real-
wirtschaft eine Fehlentwicklung der globalen Finanzmärkte darstellt. Namentlich Inst-
rumente, die reine Wetten sind, die zu Manipulationen verwendbar sind und eine Gefahr
für die Märkte darstellen, müssen auf ihre ökonomische Sinnhaftigkeit überprüft wer-
den. Die insoweit notwendige Regulierung scheitert freilich zurzeit noch an den USA
und Großbritannien. Einschränken müsste man auch den automatisierten und Hochfre-
quenzhandel und andere Auswüchse. Die unabweisbare Neuordnung der Finanzmärkte
spricht freilich nicht gegen die grundsätzliche Notwendigkeit einer Deregulierung auf
anderen Gebieten mit hypertropher Reglementierung, namentlich im Europarecht und
im Verwaltungsrecht der Mitgliedstaaten.
Für eine funktionierende Marktwirtschaft sind schließlich auch ausgeglichene,
wirtschaftliche Kräfteverhältnisse notwendig. Ist von zwei Kontrahenten einer wirt-
schaftlich erheblich stärker als der andere, so droht die Gefahr, dass der Vertrag der
ungleichen Partner nicht dem Ausgleich von Nachfrage und Angebot, sondern der
alleinigen Verwirklichung der Interessen des Mächtigeren dient. Die Abwehr dieser
I. Liberalismus 165
Gefahr ist von der Praxis des Arbeitslebens aber auch von der Wohnungswirtschaft
ausgegangen. Die Zusammenschlüsse der Arbeiter in Gewerkschaften – anfangs als
wettbewerbswidrige Bildung von Angebotskartellen lebhaft bekämpft – haben die
Vertragsfreiheit wieder funktionsfähig gemacht. Die durch diese Zusammenschlüs-
se ermöglichten Tarifverträge haben entscheidend zur Besserung der ökonomischen
Situation der Arbeiterschaft beigetragen. Als Manifestation eines kollektiven Li-
beralismus38, der den Staat nicht minder heftig abwehrt als der individuelle, sind
sie aber nicht ein sozialistisches, sondern ein marktwirtschaftliches Element der
bestehenden Rechtsordnung.
Allmählich folgte der praktischen Einsicht die theoretische Position. Zwei Kon-
zepte haben in diesem Zusammenhang zentrale Bedeutung: die Lehre von der Rich-
tigkeitsgewähr des Vertrages und das Gegengewichtsprinzip (checks and balances).
Die Theorie von der Richtigkeitsgewähr des Vertrages ist von Schmidt-Rim-
pler39 aufgestellt worden. Er knüpft an die Erfahrung an, dass man in rechtlichen
Angelegenheiten nie empfindlicher ist als dann, wenn die eigenen Interessen be-
troffen sind. Daraus folgert er, die aus einem Interessenausgleich der Nächstbe-
teiligten hervorgehende Regelung müsse auch objektiv der Regelung durch eine
normierende Obrigkeit überlegen sein. Die Problemnähe der Regelnden wird für
ihn zu einem tragenden Argument; auf sie vor allem gründet man die Vermutung
der Richtigkeitsgewähr von gleich starken Partnern frei ausgehandelter Verträge.
An dieser Vertragsparität fehlt es nicht nur dann, wenn eine Seite sozial schwächer
ist, wie zB heute auf dem Arbeits- oder Wohnungsmarkt. Sie fehlt regelmässig auch
dort, wo die lex contractus nicht von den Parteien ausgehandelt worden ist. Dies ist
namentlich bei der Verwendung von Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Fall.
Die „Kompensation gestörter Vertragsparität“ ( Hönn) erfolgt in der Hauptsache
mit Mitteln zwingender Schutznormen. An die Stelle des dispositiven Rechts tritt
das zwingende (ius cogens). So finden sich insbesondere im Konsumkreditgesetz,
im Mietrecht und im Arbeitsrecht zahlreiche zwingende Normen.
Eine weitere Voraussetzung des Funktionierens der Richtigkeitsgewähr ist das
Gegengewichtsprinzip. Seine publikumswirksame Formulierung erfolgte durch
Galbraith40. Dem Phänomen der Abhängigkeit des Wettbewerbs von den Kräfte-
verhältnissen begegnete Galbraith mit dem teils diagnostischen, teils postulativen
Satz, dass Marktmacht Gegenmacht fordere. Als anschaulichstes Modell gilt die
Kräftebalance zwischen den Verbänden der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer.
Mit der Erkenntnis, dass die Privatautonomie stärker voraussetzungsabhängig
sei, als die bloße Berufung auf eine prästabilierte Harmonie annahm, hat sich das
allgemeine Rechtskonzept der Liberalen weiterentwickelt. Mit dem Streben, durch
vom Staat geschaffenes Recht für die Verwirklichung dieser Voraussetzungen zu
38
Von einem solchen spricht Ramm, Der Arbeitskampf und die Gesellschaftsordnung des Grund-
gesetzes (1965) 26 ff.
39
AcP 147 (1941) 130 ff.
40
American Capitalism2 (1956) (Untertitel: The concept of countervailing power); Applikationen
auf die deutsche Rechts- und Wirtschaftslage bei Andreae/Glatze, Das Gegengewichtsprinzip in
der Wirtschaftsordnung (1966) und Bartholomeyczik, AcP 166 (1966) 30 ff; krit Schuhmacher,
ZHR 140, 1976, 317 ff.
166 § 8 Liberale und sozialistische Rechtsvorstellungen
sorgen und Wettbewerb also zu veranstalten, hat der Ordoliberalismus41 einen be-
sonderen, freilich nicht von allen Liberalen gebilligten Akzent gesetzt. Greift man
gemeinsame Hauptpunkte des Rechtskonzeptes aller liberalen Richtungen heraus,
so sind zu nennen:
1. Begrenzung der Aufgaben des Staates, Trennung von Staat und Gesellschaft.
2. Gewaltentrennung innerhalb des Staates, Etablierung eines rechtsstaatlichen
Rechtsschutzsystems.
3. Verankerung von Grundrechten, die den Staat gegenüber Freiheitssphären
abgrenzen.
4. Eigentumsgarantie und Entschädigungspflicht bei Sonderopfern.
5. Vererblichkeit der Vermögen, Begrenzung der Erbschaftssteuer.
6. Anerkennung der Vertragsfreiheit als Abschlussfreiheit, als freie Kontrahenten-
wahl und als Gestaltungsfreiheit.
7. Ablehnung einer staatlichen Entgeltfestsetzung bei Kauf, Miete und Arbeits-
vertrag (keine Mindestlöhne – von der großen Koalition aufgegeben).
8. Freiheit der Zinsbildung am Kapitalmarkt.
9. Freiheit des Beitrittes zu Vereinigungen und des Fernbleibens von solchen.
10. Abwehr jeder rechtlichen und praktischen Relevanz der Zugehörigkeit zu Reli-
gionsgemeinschaften und anderen durch die Gesinnung ihrer Mitglieder kons-
tituierten Verbänden.
Für die Konkretisierung dieser Hauptelemente einer liberalen Ordnung spielt das
Recht eine entscheidende Rolle. Es erfährt bei allen liberalen Autoren eine überaus
positive Bewertung. Das Recht ist dem Liberalen ein unentbehrliches Element der
Freiheitsverwirklichung.
II. Sozialismus
In der Bewertung des Rechts unterscheidet sich der Liberalismus besonders deut-
lich vom marxistischen Sozialismus42.
Für Marx gehört das Recht zum Überbau, der von der herrschenden Klasse auf
der Basis der Produktions- und Eigentumsverhältnisse einer Gesellschaft errichtet
wird. Es hat daher ideologischen Charakter. Der Jurist Marx hat zwar nie eine spe-
zielle Lehre vom Recht formuliert, ist aber zu Grundprinzipien seiner politischen
41
Zu seiner Entwicklung Dürr, Wesen und Ziele des Ordoliberalismus (1954); zur Kritik an ihm
Runge (Fn 22).
42
Zur Rechtsauffassung des Sozialismus – vor allem des marxistischen – Pašukanis, Allgemeine
Rechtslehre und Marxismus3 (1966); Klenner, Der Marxismus-Leninismus über das Wesen des
Rechts (1954); Reich (Hrsg), Marxistische und sozialistische Rechtstheorie (1972); Paul, Mar-
xistische Rechtstheorie als Kritik des Rechts (1974); Stoyanovitch, La pensée marxiste et le droit
(1974); Rottleuthner (Hrsg), Probleme der marxistischen Rechtstheorie (1975). – Die Position des
orthodoxen Marxismus-Leninismus findet man in der von der Akademie für Staats- und Rechts-
wissenschaft der DDR herausgegebenen Zeitschrift „Staat und Recht“, die der in der Bundesrepu-
blik Deutschland angesiedelten „neuen Linken“ in der Zeitschrift „Kritische Justiz“.
II. Sozialismus 167
Ökonomie durch die Auseinandersetzung mit einer Rechtslehre, nämlich mit He-
gels „Rechtsphilosophie“ (1833), gelangt. Im Vorwort des Buches „Zur Kritik der
politischen Ökonomie“ (1859) sagt Marx: „Die erste Arbeit, unternommen zur Lö-
sung der Zweifel, die mich bestürmten, war eine kritische Revision der Hegelschen
Rechtsphilosophie…“43.
Aus dieser Revision gewann Marx die Auffassung, dass Rechtsverhältnisse we-
der aus sich selbst noch aus der allgemeinen Entwicklung des menschlichen Geistes
zu begreifen sind, sondern in den materiellen Lebensverhältnissen wurzeln. So ge-
langte er zu dem Satz44:
Die Gesamtheit der Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesell-
schaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt.
Der Einschätzung des Rechtes als Überbau und Ideologie – einer Qualifikation, die
es mit der Religion teilt – entspricht die Prognose seines Absterbens in der kom-
munistischen Gesellschaft der Zukunft. Die Notwendigkeit einer völligen Abkehr
vom „bürgerlichen Rechtshorizont“ hat Marx besonders in der „Kritik des Gothaer
Programmes“45 betont. Überbau- und Absterbetheorie haben in neueren Fassungen
der marxistischen Lehre einige Modifikationen erfahren, sind aber nie grundsätz-
lich aufgegeben worden. Aus ihnen ergibt sich, dass ein konsequenter Marxismus
keinen Platz für eine Rechtsphilosophie und für Theorien zur legitimierenden Be-
gründung des Rechtes kennen kann. Er ist vielmehr negatorische Ideologiekritik
des Rechts. Anders als jede frühere revolutionäre Bewegung zielt er nicht darauf,
schlechtes Recht durch besseres zu ersetzen, sondern will mit dem Staat das Recht
überwinden46. Der Nachweis einer positiveren Bewertung des Rechts durch den
jungen Marx, den Maihofer47 erbracht hat, ändert hieran wenig, weil das Lehrge-
bäude des Marxismus eben nicht durch den jungen, sondern durch den reifen Marx
geprägt wurde.
Während das Recht in der bürgerlichen Gesellschaft als Überbau wirkt und im Kom-
munismus absterben soll, hat es in der Übergangsphase des Sozialismus eine auch von
der marxistischen Theorie anerkannte und positiv bewertete Funktion. Die Übergangs-
phase kann nach den Ausführungen, die Marx in der „Kritik des Gothaer Programmes“
macht, auf das Recht als Regelungsinstrument nicht verzichten. Sie übernimmt sogar
große Stücke des bürgerlichen Rechts, das aber nun – nach der Vergesellschaftung der
Produktionsmittel nicht mehr geeignet sein soll, der Ausbeutung zu dienen.
Dieser Ansatz zu einer temporär positiveren Einschätzung der Aufgabe des
Rechts hat schon bei Lenin48 starke Beachtung erfahren, wurde aber vor allem im
43
Marx/Engels, Werke, Bd 13 (1971) 8.
44
(Fn 45).
45
Marx/Engels, Werke, Bd 19 (1969) 11 ff.
46
Zur Kritik der reinen Rechtslehre an den marxistisch-leninistischen Auffassungen vom Recht
vgl einerseits Kelsen, The Communist Theory of Law (1955), andererseits Klenner, Rechtsleere
(1972); s auch Klenner, Rechtsphilosophie in der Krise (1976) 44 ff.
47
Demokratie und Sozialismus – Recht und Staat im Denken des jungen Marx (1968).
48
Staat und Revolution in Ausgewählte Werke, Bd 2 (1970).
168 § 8 Liberale und sozialistische Rechtsvorstellungen
Zeichen des administrativen Sozialismus der Ära Stalins ausgebaut. In einer Schrift
über „Fragen des Rechts und Staats bei Marx“ definierte Wyschinski49 das Recht
als „Gesamtheit der Verhaltensregeln, die den Willen der herrschenden Klasse aus-
drücken und auf gesetzgeberischem Wege festgelegt sind, sowie der Gebräuche und
Regeln des Gemeinschaftslebens, die von der Staatsgewalt sanktioniert sind“. Die
hiermit artikulierte Lehre vom Klassencharakter des Rechts beherrscht die marxis-
tische Rechtsauffassung zusammen mit der Überbau- und der Absterbetheorie. Sie
geht im Grundsatz auf Marx, Engels und Lenin zurück, erfährt aber bei Wyschinski
eine interessante Wendung: Die marxistischen Klassiker hatten allein das von ihnen
abgelehnte Recht herrschender Klassen, denen sie den Kampf angesagt hatten, im
Sinn. Wyschinski dagegen denkt auch an das von einer zur Herrschaft gelangten
Arbeiter- und Bauernklasse geschaffene Recht. Ideologiekritische Funktion hat sei-
ne Bezugnahme auf das Wollen der herrschenden Klasse nicht mehr. Seine Defini-
tion sollte auch für das Sowjetrecht zutreffen, das von der Herrschaft der Arbeiter
und Bauern ausgegangen war.
Der Begriff „Juristen-Sozialismus“ stammt von Engels. Es war Titel einer Schrift,
die Engels gegen den zu den sog Kathedersozialisten zählenden Anton Menger verfass-
te50. Engels bezeichnete die „juristische Weltanschauung“ als die klassische der Bour-
geoisie. Was Engels an Menger kritisierte, war, dass dieser im Vorwort zum Buch „Das
Recht auf den vollen Arbeitsertrag“ (1886) zwar für die sozialistischen Ideen eintrat,
aber forderte, dass sie sich von den endlosen volkswirtschaftlichen Diskussionen lösen
und in „nüchterne Rechtsbegriffe“ verwandeln sollten. Menger51 zielte ebenso wie als-
bald auch Karl Renner auf einen Wandel des Rechts, nicht auf seine Überwindung. Er
trat dafür ein, dass es als ein „Hauptgrundsatz der Gesetzgebung“ anerkannt werde, dass
nicht neue arbeitslose Einkommen zugelassen werden dürfen. Zugleich wandte Menger
sich gegen jede Übertragung der Grundrente und des Kapitalgewinns von einer Volks-
klasse auf die andere. Die vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED
beigegebene Anmerkung52 zum Engels’schen „Juristen-Sozialismus“ irrte, wenn sie
Menger als „selbst in der bürgerlichen Wissenschaft bedeutungslosen Mann“ disquali-
fizierte. Menger war nicht bürgerlich, sondern stand links. Die bürgerliche Wissenschaft
war weit davon entfernt, ihn für bedeutungslos zu halten. Starke Beachtung fand auch
seine Kampfschrift „Das bürgerliche Recht und die besitzlosen Volksklassen“ (1890),
die dem Entwurf zum deutschen BGB Einseitigkeit zugunsten der Besitzenden vorwarf.
Den Rechtsvorstellungen des demokratischen Sozialismus der Gegenwart kommt
Karl Renner53 am nächsten. In seinem zunächst unter dem Pseudonym Karner erschie-
49
In deutscher Ausgabe (1953).
50
Zuerst in „Die Neue Zeit“ 2. Jg 1887; abgedruckt in Marx/Engels, Werke, Bd 21 (1972) 492 ff;
vgl dazu Ramm, Juristensozialismus in Deutschland in Quaderni Fiorentini 3/4, 1974/1975, 7 ff;
dem Themenkreis „Juristensozialismus“ gelten die Bände 3/4 der Quaderni Fiorentini zur Gänze.
51
Zu seinem Konzept vgl Reich in Recht und Politik (1972) 93 ff; Kästner, Anton Menger (1841–
1906), Leben und Werk (1974); Eckhard Müller, Anton Mengers Rechts-und Gesellschaftssystem
(1975).
52
Marx/Engels, Werke, Bd 21 (1972) 617 (Anm 464).
53
Über diesen zweimal um die Konstituierung des österreichischen Staatswesens hochverdienten
Juristen und Politiker vgl Hannak, Karl Renner und seine Zeit (1965); Leser, FS Broda (1976)
II. Sozialismus 169
nenen Buch über „Die soziale Funktion der Rechtsinstitute“54 wandte er sich vor allem
dem Eigentum zu, um für dieses Funktionswandel und Normwandel zu analysieren. Die
Norm ist für Renner nicht im Zeichen der Zwangsläufigkeit stehender Überbau, sondern
„freie Tat der ihrer selbst bewussten Gesellschaft“. Deren „rechtliche Legitimation zur
freien Gesetzgebung“ ist für ihn „über alle Zweifel erhaben“.
Gesellschaftsveränderung durch Rechtspolitik ist ein spezifisch sozialdemo-
kratisches Programm55, die sich von der marxistisch-leninistischen Orientierung an
der Gestaltung der Produktionsverhältnisse ebenso abhebt wie von konservativem
Bewahrungsstreben und liberalem Bemühen um Sicherung von Freiheitsräumen.
Zu ihrer Schwerpunktbildung bei der Rechtspolitik hat die europäische Sozialde-
mokratie nur allmählich gefunden. Das vor allem aus der Arbeiterschutzgesetz-
gebung erwachsene Arbeitsrecht56 mit seinen zahlreichen Einschränkungen der
Vertragsfreiheit wurde zwar durch das Erstarken der Arbeiterorganisationen und
die verbreitete Kritik am Arbeiterelend verursacht, die ersten legislativpolitischen
Initiativen gehen jedoch mehr auf konservatives Ordnungsstreben und auf das Be-
mühen, Revolutionen zu vermeiden, als auf sozialdemokratische Programmatik
zurück57. Eine positive Einstellung zum Recht und zur Rechtspolitik konnte von
dieser erst mit der zunehmenden Entfernung von der negativen Einschätzung des
Rechts bei Marx und Engels gewonnen werden58.
Heute zeichnen sich sozialdemokratische Programme durch Kataloge von
rechtspolitischen Postulaten aus. Der Großteil aller Forderungen wendet sich an
den Gesetzgeber. Signifikante Postulate der Sozialdemokratie sind:
1. Verankerung von „sozialen Grundrechten“59, die anders als die „klassischen“ des
Liberalismus nicht Freiheitsräume gegen den Staat abgrenzen, sondern Ansprü-
che gegen Staat und Gesellschaft begründen sollen.
2. Einschränkung der Privatautonomie durch Diskriminierungsverbote im Privat-
recht (in Deutschland durch das AGG verwirklicht).
3. Beschränkung der Vertragsfreiheit durch relativ zwingende Gesetze, vor allem
durch solche, von denen nur zugunsten des wirtschaftlich Schwächeren abge-
gangen werden kann60.
169 ff; zur Entwicklung des Verhältnisses zwischen Sozialdemokratie und reiner Rechtslehre vgl
Leser, Sozialismus zwischen Relativismus und Dogmatismus (1974).
54
Wien 1904; 1965 erfolgte ein Neudruck der 2. Auflage, deren Titel „Die Rechtsinstitute des
Privatrechts und ihre soziale Funktion“ lautete.
55
Vgl zB Vogel, Zeitschrift für Rechtspolitik 1981, 1 ff (besonders über „Rechtspolitik als Mittel
evolutionärer Gesellschaftsveränderung“).
56
Zu seinen unterschiedlichen Wurzeln Mayer-Maly, FS Schmelzeisen (1980) 227 ff.
57
Vgl Ebert, Moderne Sozialpolitik in Österreich (1975).
58
Zum Verhalten der sozialdemokratischen Partei und Presse während der Arbeit am BGB vgl
Vormbaum, Sozialdemokratie und Zivilrechtskodifikation (1977).
59
Zu ihnen beachte man zwei (nicht sozialdemokratische) Autoren: Tomandl, Der Einbau sozialer
Grundrechte in das positive Recht (1967); Horner, Die sozialen Grundrechte (1974); vgl ferner
Wank, Das Recht auf Arbeit im Verfassungsrecht und im Arbeitsrecht (1980) 29 ff.
60
Konsumentenschutz ist nach dem Arbeitnehmerschutz und dem Mieterschutz ein verbreitetes
Ziel solcher Gesetzgebung geworden: vgl (wiederum aus nicht sozialdemokratischer Sicht) Krej-
170 § 8 Liberale und sozialistische Rechtsvorstellungen
Inhaltsverzeichnis
I. Christentum
Keine geistige Strömung hat die Kultur Europas und Amerikas, damit auch die
Rechtsentwicklung dieser Erdteile so nachhaltig beeinflusst wie das Christentum.
Umso bemerkenswerter ist, dass Christus und die Christen – insofern Marx und den
Marxisten ähnlich – zunächst keine Rechtslehre aufgestellt haben1. Während sich
im Marxismus dieser Nachrang des Juristischen aus der These vom bloßen Über-
baucharakter des Rechts ergab, beruht er im Christentum auf dem ebenso deutlichen
wie seiner Zeit (nämlich den freiheitshungrigen Juden) skandalösen Verzicht auf ein
„Reich von dieser Welt“ (Joh 18,36). Das staatliche Recht wird vom Christentum
nicht in Frage gestellt: Was des Kaisers ist, soll dem Kaiser gegeben werden. Die
Sklaverei wird zwar nicht gebilligt, aber die Sklaven sollen ihren Herren in Treue
dienen (1. Brief des Paulus an Timotheus 6,1 f).
Wie kam es, dass diese Religion, die nicht auf Umsturz zielte und die bestehende
Ordnung zu akzeptieren bereit war, in einen langen und blutigen Konflikt mit dem
römischen Staat2 geriet, der sich im Vergleich mit anderen, auch christlichen Staa-
ten durch ein Maximum an Toleranz gegenüber den verschiedensten Religionen
auszeichnete?
1
Zu den Möglichkeiten einer marxistischen Rechtstheorie s zB Friedrich Müller, Essais zur The-
orie von Recht und Verfassung, von Methodik und Sprache2 (2013) 56 ff.
2
Vgl Speigl, Der römische Staat und die Christen (1970); Molthagen, Der römische Staat und die
Christen im 2. und 3. Jh (1970).
Die Antwort hierauf erschließt sich aus dem Vergleich mit einem anderen Fall, in
dem sich die sonst toleranten Römer zu hartem Durchgreifen gegen eine religiöse
Bewegung entschlossen: Im Jahr 186 vChr unterband ein uns inschriftlich erhalte-
nes, im Wiener Kunsthistorischen Museum ausgestelltes Senatskonsult die Baccha-
nalien. Der Grund für das Vorgehen gegen den Bacchus-Kult lag in der Furcht vor
Überfremdung, war politischer, nicht religiöser Art. Die Staatsgefährlichkeit des
Christentums bestand in der Ablehnung des Kaiserkultes. Gerade dieser aber wurde
seit Trajan, (unter dem es mit Plinius zum Briefwechsel über die Behandlung der
Christen kam3), als das Reichsgefüge einigendes Band forciert.
Starke Anzeichen sprechen dafür, dass die Christen zunächst zwar das staatliche
Recht respektierten, aber versuchten, im Verkehr untereinander von diesem Recht
loszukommen. Dies führte nicht nur zu völliger Gütergemeinschaft in einigen Ge-
meinden, sondern auch zur Anrufung des Bischofs statt eines weltlichen Richters,
wenn es zwischen Christen Streitigkeiten gab4. Erste Themen akzentuierter Rechts-
kritik waren die augusteischen Ehegebote, die dem Vorrang der Jungfräulichkeit
und des Zölibats zuwiderliefen, und die Opfergebote. Als die Christen im 4. Jh nChr
zunächst Anerkennung und dann maßgebenden Einfluss erlangten, hatten sie kein
rechtspolitisches Programm. Eine revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft lag
ihnen fern5. Die Sklaverei wurde keineswegs sogleich abgeschafft, die Eheschei-
dung blieb noch lange möglich. Nur allmählich vollzog sich eine Durchsetzung des
Verkehrsrechts mit ethischen Geboten6. Diese hatten zum Teil ausgesprochen anti-
ökonomischen Charakter. So wurde durch eine lex Anastasiana (506) dem Erwerber
einer Forderung verboten, vom Schuldner mehr als den Kaufpreis für die Forderung
einzutreiben. Während vorher der Aufkauf von Forderungen ein einträgliches Ge-
schäft sein konnte, war er nun ein sinnloses Risiko: Der Gefahr, dass der Schuldner
zahlungsunfähig sein könnte, stand keine Gewinnchance gegenüber. Noch lähmen-
der musste das kanonische Zinsverbot auf das Wirtschaftsleben wirken: Wer wollte
noch Geld verleihen, wenn er nur dieses zurückfordern konnte und keine Zinsen
erhielt? Auch hier schoss die Reaktion auf wucherische Praktiken weit übers Ziel
und endete bei einer ökonomisch unsinnigen Risikozuweisung.
Sympathischer als diese antiökonomische Haltung des Christentums berührt
das Bemühen um Humanität und subjektive Gerechtigkeit. Allerdings ist die allen
christlichen Einfluss auf das Recht kennzeichnende Allmählichkeit und Indirektheit
bei diesen Themen noch deutlicher als sonst. Die Humanisierung des Rechtslebens
wurde in der Spätantike durch eine Barbarisierung der Gesellschaft, im Frühmittel-
alter durch radikalen Glaubenseifer gehemmt. Auf längere Zeit hatte jedoch die
3
Zu diesem Briefwechsel Mayer-Maly, Studia et Documenta Historiae et Iuris 22 (1956) 311 ff.
4
Zu dieser audientia episcopalis Vismara, Episcopalis audientia (1937); Selb, ZSS 84 (1967)
162 ff.
5
Konstantin der Große war von 306–337 römischer Kaiser. Ab dem Jahr 324 regierte er als Al-
leinherrscher. Bis zur Zeit Konstantins war das Christentum im römischen Reich vorübergehend
geduldet, oft aber auch verfolgt. Seit 312 finden sich christliche Selbstzeugnisse des Kaisers, als
Alleinherrscher bekannte er sich öffentlich zum Christentum
6
Zum Ganzen Biondi, Il diritto romano cristiano, 3 Bde (1952) 4; Gaudemet, L’Eglise dans
l’empire romain (1959).
I. Christentum 173
Gestaltungskraft einer Religion, die den Menschen als Gottes Ebenbild ansieht,
einen humanisierenden Einfluss auf das Recht. Der Orientierung am christlichen
Menschenbild ist insbesondere die Verfeinerung der Schuldlehre des Strafrechts
und des Schadensersatzrechts zuzuschreiben7. Die Betonung der Willensfreiheit
des Menschen verstärkte die Bemühung um eine Grenzziehung zwischen Vorsatz
und Fahrlässigkeit und führte zur radikalen Einschränkung bloßer Erfolgshaftung.
Die Erfassung der sittlichen Bedeutung des Wollens erleichterte die Entformali-
sierung des Vertragsrechts und die Renaissance der Testierfreiheit. Das moderne
Privatrecht wurde nicht nur von der römischen Falllösungskunst, sondern auch von
der Neigung des christlichen Mittelalters zur Artikulierung von Prinzipien geprägt.
Die Positionen der Kanonisten wirken auf uns manchmal fortschrittlicher als die
der Legisten8.
Im Bereich des öffentlichen Rechts liegt die hauptsächliche Leistung des Chris-
tentums in der Relativierung des Staates. In der Antike dominierte noch der Typus
der Staatsreligion. Zumindest war es für die in einem Gemeinwesen bestehenden
Religionen selbstverständlich, das Wohl des Gemeinwesens und seiner Führer zu
einem Ziel der Kultakte zu machen. Religiös motivierte Auflehnung gegen den
eigenen Staat ist bis zu den Christen undenkbar. Diese aber gelangten nicht nur
in den Verfolgungsjahren zur Kritik am Staat, auch nach Konstantin scheuten Bi-
schöfe und Synoden nicht das harte Wort gegen Kaiser. Für Aurelius Augustinus
(354–430) sind die Staaten nur große Räuberbanden ( magna latrocinia), wenn sie
nicht der Gerechtigkeit dienen ( de civitate Dei 4,4). Diese Position führt zu einer
in der christlichen Naturrechtstradition verankerten Lehre vom Widerstandsrecht9
und zur permanenten Möglichkeit gerechtigkeitsbezogener Rechtskritik. Gebrauch
wurde von dieser Möglichkeit gewiss nicht oft genug gemacht. Zu den vom Feu-
dalwesen ausgelösten Übelständen hat die Kirche geschwiegen. Der Renaissance
der Sklaverei in Amerika haben Katholiken und Protestanten zu wenig Widerstand
geleistet. Relativ kräftig war der christliche Protest gegen die Verursachung von
Elend in der industriellen Revolution. Die Soziallehren der Kirchen gelangten zu
teilweise praktikablen Alternativen, Enzykliken der Päpste machten sehr konkrete
Vorschläge10. Heute wird die Globalisierung von der kirchlichen Soziallehre the-
7
Dazu Endemann, Studien in der romanisch-kanonistischen Wirtschafts- und Rechtslehre, 2 Bde
(1874/1883) (Neudruck 1962). Engelmann, Die Schuldlehre der Postglossatoren (1895/1965).
8
Die Kanonisten beschäftigten sich mit dem Corpus iuris canonici, die Legisten mit dem Corpus
iuris civilis. Zu den Einflüssen des Kirchenrechts auf das Zivilrecht s Wolter, Ius canonicum in
iure civili (1975).
9
Vgl Wolzendorff, Staatsrecht und Naturrecht in der Lehre vom Widerstandsrecht des Volkes ge-
gen rechtswidrige Ausübung der Staatsgewalt (1916/1961); Link, Herrschaftsordnung und bürger-
liche Freiheit (1979) 193 ff; Wolfgang Huber, Gerechtigkeit und Recht – Grundlinien christlicher
Rechtsethik3 (2006/2013) 478 ff; vgl auch noch Arthur Kaufmann, Vom Ungehorsam gegen die
Obrigkeit: Aspekte des Widerstandsrechts von der antiken Tyrannis bis zum Unrechtsstaat unserer
Zeit, vom leidenden Gehorsam bis zum zivilen Ungehorsam im modernen Rechtsstaat (1991).
10
Vgl Walterbach, Leo XIII. und die Arbeiterfrage (1920); Schasching (Hrsg), Die soziale Bot-
schaft der Kirche von Leo XIII. bis Johannes XXIII. (1963); Utz, Die katholische Sozialdoktrin in
ihrer geschichtlichen Entfaltung4 (1976).
174 § 9 Religion und Recht
Die Intensität des christlichen Einflusses auf das Recht18 ist aber alles andere als
geradlinig steigend. Seit dem 18. Jahrhundert ist eine gegenläufige Entwicklung
wahrnehmbar, die man Säkularisation nennen kann. Sie tritt für das Eherecht be-
sonders deutlich zutage. Dabei ist allerdings ein konfessioneller Unterschied zu be-
achten. Für die römisch-katholische Kirche ist die Ehe ein Sakrament, zu dem sie
das staatliche Recht nur widerwillig mitsprechen lässt; für Luther dagegen ist sie
ein weltlich Ding, das von bürgerlichen Gesetzen zu ordnen ist. Polygamie und
11
Ausführlich dazu Spieker und Emunds, in dem von Jörg Althammer herausgegebenen Sammel-
band Caritas in veritate – Katholische Soziallehre im Zeitalter der Globalisierung (2013) 199 ff,
215 ff; vgl weiter Sutor, Katholische Soziallehre als politische Ethik (2013).
12
Der Streit um die Mitbestimmung (1968).
13
Eigentumspolitik, Arbeit und Mitbestimmung (1968).
14
Vgl Stegmann, Der soziale Katholizismus und die Mitbestimmung in Deutschland (1974); Spie-
ler, Kirche und Mitbestimmung (1976); vgl auch Nidenhoff, Mitbestimmung in der Bundesre-
publik Deutschland14 (2005); Renaud, Arbeitnehmermitbestimmung im Strukturwandel (2008);
Kißler/Greifenstein/Schneider, Die Mitbestimmung der Bundesrepublik Deutschland (2011).
15
Vgl Utz, Formen und Grenzen des Subsidiaritätsprinzips (1956); von Nell-Breuning, Bauge-
setze der Gesellschaft. Solidarität und Subsidiarität (1990); Evans/Zimmermann (Eds.), Global
Perspectives on Subsidiarity (2014); Knut W. Nörr/Oppermann (Hrsg), Subsidiarität. Idee und
Wirklichkeit. Zur Reichweite eines Prinzips in Deutschland und Europa (1997); Blickle/Hüglin/
Wyduckel (Hrsg), Subsidiarität als rechtliches und politisches Ordnungsprinzip in Kirche, Staat
und Gesellschaft (2002); zum Subsidiaritätsprinzip in der EU s § 12 V 5.
16
Weiler/Schambeck, Naturrecht in Anwendung (2009).
17
Dazu insbes Hengsbach, Entgifteter Kapitalismus – Faire Demokratie. Texte zur Reform von
Kirche, Wirtschaft und Gesellschaft (2013).
18
Vgl Tomandl (Hrsg), Der Einfluss des katholischen Denkens auf das positive Recht (1970).
II. Islamisches Recht 175
Das westliche Weltbild prägt (ua) die strikte Differenzierung zwischen dem Staat
und religiösen oder kirchlichen Angelegenheiten. Wer sich mit islamischer Rechts-
kultur befassen will, muss zunächst und vor allem zur Kenntnis nehmen, dass es
diese Trennung im Islam nicht gibt22. Islam kommt von aslama, sich ergeben, sich
hingeben23. Islam ist die Hingabe an Gott, der Muslim unterwirft sich Gott. Anders
als das Christentum ist der Islam in zahlreichen Ländern Staatsreligion.
Religionsfreiheit, die zu den Grund- und Menschenrechten zählt (Art. 9 EMRK,
Art. 4 GG, 14 StGG, 15 BV), ist dem Islam fremd. Abfall vom Islam (Apostasie)
wird mit dem Tode bestraft (was aber nicht auf dem Koran, sondern einem Hadith
beruht, dazu sogleich). Angewandte Toleranz findet man im Islam heute selten. Das
war nicht immer so. Die Herrschaft des Islam auf der iberischen Halbinsel schuf
19
Vgl Mikat, Zeitschrift für Familienrecht, 1962, 81 ff und Gernhuber/Coester-Waltjen, Lehrbuch
des Familienrechts4 (1994) 273 ff.
20
Dazu Heckel, Lex charitatis (1953); Erik Wolf, Ordnung der Kirche (1961) 70 ff und 350 ff. Zu
Melanchthon Kisch, Melanchthons Rechts- und Soziallehre (1967).
21
Zur neueren Entwicklung der evangelischen Rechtstheorie vgl Steinmüller, Evangelische
Rechtstheorie (1968); Dombois, Das Recht der Gnade I3 (1978), II (1974).
22
Yassar, Die Rechtsquellen des islamischen Rechts; eine Einführung, ZfRV 1999, 103 (mit vielen
Belegen); vgl ferner Lohlker, Islamisches Recht (2012); Rohe, Das Islamische Recht – Geschichte
und Gegenwart3 (2011).
23
Mitunter wird auch die Verwandtschaft der Begriffe Islam und Salam (Frieden) hervorgehoben.
176 § 9 Religion und Recht
Jahrhunderte der Blüte und war wesentlich toleranter als die der katholischen Kir-
che nach der Rückeroberung Spaniens im 15. Jahrhundert (Inquisition). Dies hat
sich erst in der Aufklärung geändert. Lessings Nathan der Weise (1779) oder Goe-
thes, von dem persischen Dichter Hafiz inspirierter, west-östlicher Diwan (1819)
sind Dokumente des Dialoges und der Toleranz24.
Die Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam hat bezüglich der Religi-
onsfreiheit (Artikel 10) folgenden Wortlaut: „Der Islam ist die Religion der reinen
Wesensart. Es ist verboten, irgendeine Art von Druck auf einen Menschen auszu-
üben oder seine Armut oder Unwissenheit auszunutzen, um ihn zu einer anderen
Religion oder zum Atheismus zu bekehren“. Leider stellt die Deklaration alle Be-
stimmungen unter den Vorbehalt der Scharia und gewährt Muslimen nicht die Frei-
heit, ihre Religion zu wechseln oder aufzugeben.
Die Grundlage des Islam bildet der Koran25. Nach dem Glauben der Muslime
enthält diese Heilige Schrift die wörtliche Offenbarung Gottes. Gott (arabisch: Al-
lah) hat die himmlische Urschrift im Monat Ramadan, in der Nacht der Bestim-
mung, in die unterste Himmelssphäre hinabgesandt. Die Übermittlung der einzel-
nen Teile an den Propheten Mohammed26 erfolgte im 7. Jahrhundert im Laufe von
zwanzig Jahren27.
Bedeutende Texte sind neben dem Koran die Hadithe und die Sunna. Hadithe
sind Überlieferungen von Aussprüchen und Handlungen des Propheten Moham-
med28. Nach islamischen Vorstellungen hat die Handlungsweise (Sunna) des Pro-
pheten normativen Charakter. Die islamische Normenlehre (Fiqh) beruht vornehm-
lich auf dem Koran, daneben aber auch auf der Sunna. Das Studium der Hadithe
dient dazu, Kenntnisse über die Handlungsweise des Propheten zu erwerben. Die
Gesamtheit der Normen, die sich aus diesen Texten ergibt, bezeichnet man als Scha-
ria29.
24
Vor Goethe sah man die zwiespältige Figur Mohammeds allerdings überwiegend negativ; vgl
etwa Eibl (Hrsg), Johann Wolfgang Goethe, Gedichte (1998) 914; Die Bedeutung Goethes als
Vermittler islamischer Glaubensvorstellungen wird sehr anschaulich dargestellt von Katharina
Mommsen, Goethe und die arabische Welt (1988) 325 ff.
25
Der Koran besteht aus 114 Suren, die mit einem Namen versehen sind. Die Suren beginnen re-
gelmäßig mit der Basmala (Im Namen Allahs, des Erbarmers, des Barmherzigen). Diese 114 Suren
enthalten mehr als 6.000 Verse. Das deutsche Wort Koran geht auf den arabischen Begriff quaran
zurück: Vortrag, Lesung, Rezitation.
26
Mohammed, der Stifter des Islam, wurde um 570 in Mekka geboren. Im Alter von etwa 40 Jah-
ren fühlte er sich zum Gesandten Gottes berufen.
27
Nach islamischen Vorstellungen empfing Mohammed die Gottesbotschaften zwischen 610 und
632. Die Texte wurden zunächst nur mündlich tradiert. Nach dem Ort der Offenbarung unter-
scheidet man zwischen mekkanischen und medinesischen Suren. Man nimmt an, dass die ersten
Niederschriften nach der Hidjra, der Auswanderung nach Medina, also 622 erfolgten. Der erste
Koran-Kodex entstand 632.
28
Lohlker, Islamisches Recht 82 ff.
29
Arabisch saria bedeutet Weg zur Quelle oder Weg zur Tränke.
II. Islamisches Recht 177
Besonderheiten sind für die kleinere der beiden Hauptgruppen des Islam, die
Schiiten30 hervorzuheben. Für die Schiiten31 sind nur Ali Ibn Abi Talib, der Vetter
und Schwiegersohn Mohammeds und seine Nachkommen rechtmäßige Nachfolger
des Propheten. Bestimmte Nachfahren sind Imame. Der 12. Imam ist 874 in die Ver-
borgenheit entrückt. Er wird am Ende der Zeiten wiederkehren. Bis dahin handeln
oberste Religionsgelehrte der schiitischen Klerikerhierarchie als Vertreter32.
Der Koran ist nicht als Gesetzeswerk angelegt. Anschaulich spricht man von
einem Lebenskanon33. Etwa achtzig Verse betreffen Rechtsfragen. Eine Grundlage
für ein juristisches System bilden sie nicht. Die rechtlichen Aussagen des Korans
werden im Lichte der Sunna ergänzt. Aussprüche und Entscheidungen des Prophe-
ten sind eine zulässige Interpretationshilfe. Die Autorität der Sunna beruht auf dem
Koran: Wer dem Gesandten gehorcht, der gehorcht Allah34.
Der Islam verbietet zB (ähnlich dem alten Christentum) das Zinsnehmen. Dieses
volkswirtschaftlich unsinnige, auf die griechische Philosophie zurückgehende Ver-
bot verhindert den für eine prosperierende Volkswirtschaft essentiellen Ausgleich
von Sparen und Investieren. Schon im Mittelalter gab es mit dem sog contractus
mohatrae35 Umgehungsversuche, indem man das verzinsliche Darlehen durch Kauf
und späteren Rückkauf zu höherem Preis tarnte. Das Instrumentarium zur Umge-
hung des Verbots wurde im arabic banking ausgeweitet und verfeinert.
Der Koran enthält auch strafrechtliche Vorschriften. Bei ihnen steht– ähnlich
wie zB im Alten Testament36 – der Vergeltungsgedanke und das Talionsprinzip im
Vordergrund: „Leben um Leben, Auge um Auge, Nase um Nase, Ohr um Ohr, Zahn
um Zahn“ (Sure 5,45).
Das Steinigen der Ehebrecherin, das Abhacken der Hand des Diebes, die (manch-
mal tödliche) Auspeitschung usw, für die man sich auf Allah und Mohammed beruft
sind grausame und unverhältnismäßige Strafen. Die Steinigung etwa steht nicht im
Koran und verstößt gegen das Verbot grausamer oder erniedrigender Strafen (Art 5
MRK). Auch der sog Ehrenmord bleibt nach gültiger Ethik Mord.
Radikale Islamisten (zB Al Quaida, Boko Haram, Islamischer Staat) begehen
heute Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, denen die globale
Zivilgesellschaft leider meist nur zögerlich und nicht durchgreifend entgegentritt.
Eine friedliche Zukunft ist nur gewährleistet, wenn es gelingt diese Verbrechen ab-
zustellen.
30
Die Gemeinschaft der Sunniten umfasst etwa 90 % der Muslime. Nach sunnitischem Verständ-
nis sind die vier rechtgeleiteten Kalifen die legitimen Nachfolger Mohammeds: Abu Bakr (632–
634, Freund und Schwiegervater Mohammeds), Omar I. (634–644) Othman (644–656) und Ali
Ibn Abi Talib (656–661). Ali ist also der vierte Kalif der Sunniten und der erste Imam der Schiiten.
31
Schia kommt von arabisch siah, Partei. Die Schiiten bilden die Anhängerschaft Alis.
32
Die Anhänger Ruhollah Chomeinis, iranisches Staatsoberhaupt (1979–1989) und zentrale Figur
der Islamischen Revolution (1978–1979), bezeichneten ihn als Imam und heiligen Imam.
33
Yassari, ZfRV 1999, 105.
34
Suren 4,80 und 59,7.
35
Vgl Honsell, Römisches Recht7 137 Fn 4.
36
Exodus 21, 23–24 Levitikus 24, 19–22.
178 § 9 Religion und Recht
Die These, wonach die Verse des Koran wegen ihrer göttlichen Herkunft „an
Zeit und Raum nicht gebunden“ seien37, führt zu einer Verabsolutierung des Wort-
lautes und einem Ausblenden der historischen Umstände der Entstehungszeit wie
sie für Religionen typisch ist. Das impliziert ein Haften am Wortlaut. Wegen der
Heiligkeit des Textes dürfen Sinnfragen nicht gestellt werden. Ein einfaches Bei-
spiel ist das auf der Gefahr der Trichinose beruhende Verbot von Schweinefleisch
oder das Schächten von Tieren (im Islam und im Judentum), das, ähnlich wie andere
Vorschriften unter heutigen medizinisch-hygienischen Verhältnissen keine Berech-
tigung mehr hat.
Beim Schächten von Tieren oder beim Beschneiden von Knaben gerät die Re-
ligionsfreiheit in Konflikt mit dem Tierschutz bzw dem Kindeswohl. Gleichwohl
werden diese Praktiken auch in den westlichen Ländern zugelassen (vgl zB § 1631d
BGB für die Beschneidung minderjähriger männlicher Kinder).
37
Zur fundamentalistischen Deutung des Islam, vgl beispielhaft Chomeini, Der islamische Staat
(1983) 34: Die Behauptung, dass die Gesetze des Islam „an Zeit und Raum gebunden sind, wider-
spricht dem islamischen Geist“.
§ 10 Rechtswissenschaft als Gerechtigkeitslehre
Wie wir gesehen haben1 begnügt sich die hL mit einer Erfassung der Formalstruktur
des Rechts und vermeidet die Abhängigkeit von Rechtsinhalten. Auf diese Weise
gelangt man zu einem positivistischen Rechtsbegriff, der sich insofern an das Kon-
zept von Auguste Comte2 anlehnt, als er es bei jeder Wissenschaft auf Beobachtung
und Verifizierbarkeit ankommen soll. Als beobachtbar und verifizierbar aber wird
nur das in einem Gemeinwesen verordnete oder wirklich geübte Recht angesehen,
wobei es dann auf die Gerechtigkeit der Sätze dieses Rechts nicht ankommen soll3.
Es ist aber ein alter Anspruch der Jurisprudenz, nicht nur über das Recht, sondern
auch über die Gerechtigkeit Auskunft zu geben. Dies zeigt schon die Definition der
Jurisprudenz des römischen Juristen Ulpian als Kenntnis von den göttlichen und
menschlichen Dingen, als Wissen über gerecht und ungerecht4.
Politische Postulate über Rechtliches berufen sich zumeist in erster Linie auf
Gerechtigkeit (marxistische Aussagen machen hier insofern eine Ausnahme, als sie
historische Notwendigkeit behaupten)5.
Die Aussage, etwas sei gerecht, wird aber oft in die Form gekleidet, etwas sei
unabhängig von der positiven Ordnung eines Gemeinwesens rechtens. Damit wird
1
S oben § 1 I.
2
Catechisme positiviste (1852). Auguste Comte (1798–1857) war Mathematiker, Philosoph und
Religionskritiker. Pionierarbeiten hat er auf dem Feld der Soziologie geleistet; vgl etwa Wag-
ner, August Comte zur Einführung (2001) und Lepenies, Auguste Comte. Die Macht der Zeichen
(2010).
3
Vgl aus dem unübersehbaren Schrifttum über Rechtspositivismus und Naturrecht: Maihofer
(Hrsg), Naturrecht oder Rechtspositivismus?2 (1966); Rosenbaum, Naturrecht und positives Recht
(1972); Höffe, Gerechtigkeit4 (2010) 34 ff; 40 ff; Hörster, Was ist Recht? (2012); Ott, Der Rechts-
positivismus (1976); Ellscheid, Strukturen naturrechtlichen Denkens, in: Kaufmann/Hassemer/
Neumann (Hrsg), Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart8 (2011)
148 ff.
4
D 1, 1, 10, 2; dazu oben § 1 I.
5
S zB Müller/Christensen, Juristische Methodik I10 (2009).
© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015 179
H Honsell, T Mayer-Maly, Rechtswissenschaft, Springer-Lehrbuch,
DOI 10.1007/978-3-662-45682-8_10
180 § 10 Rechtswissenschaft als Gerechtigkeitslehre
die Frage nach der Gerechtigkeit zu einer Frage der Definition des Rechtsbegriffes
(oben § 1 I 1).
Nimmt man also – wie hier vorgeschlagen – Anforderungen an den Inhalt des
Rechts in die Definition des Rechtsgriffes auf, so gelangt man zu einer materialen
Sinngebung der Rechtsidee. Einen solchen inhaltlich determinierten Rechtsbegriff
präsentiert die einzige definitorische Aussage über das ius, die uns aus der römi-
schen Jurisprudenz überliefert ist6. Justinian stellte sie an die Spitze seiner Diges-
ten. Es ist der Satz des Celsus, das Recht sei die Kunst des Guten und Billigen ( ius
est ars boni et aequi, oben § 1 I 1). Eine bloße Formaldefinition des ius findet sich
in der römischen Jurisprudenz nicht7, auch wenn es in der sophistischen Rechtslehre
– etwa bei Thrasymachos (2. Hälfte des 5. Jh vChr) –Ansätze zu einer positivisti-
schen Deutung des Rechts gegeben haben mag8.
Die Definition des ius durch Celsus war der Versuch einer inhaltlichen Bestim-
mung des Rechtsbegriffes ohne naturrechtlichen Anspruch. Um eine Aussage über
das Recht zu machen, die seinen Inhalt nicht als beliebig erscheinen lässt, muss man
nicht gleich Naturrechtler werden. Kriele9 hat den Versuch einer relativistischen
und nicht naturrechtlichen Gerechtigkeitslehre gewagt.
Die meisten Gerechtigkeitslehren jedoch sind Naturrechtslehren10. Das Recht
ist zwar Kultur- und nicht Naturprodukt. Wenn sich dennoch so viele Gerechtig-
keitslehren auf die Natur berufen, so hat dies einen historischen und einen strategi-
schen Grund. Die geschichtliche Wurzel des Naturbezugs der Gerechtigkeitslehren
liegt in der naturphilosophischen Tendenz der griechischen Philosophie, auf welche
die Gerechtigkeitslehren zurückgehen. Nachdem schon Pythagoras sagte, dass die
Gerechtigkeit (die er als Zahl auffasste) nicht auf dem Nomos als staatlicher Sat-
zung, sondern auf der Physis, eben der Natur, beruhe, beherrschte die Antithese
νόμος - φύσις (nomos - physis) seit der Sophistik die griechische Rechtslehre11. Der
strategische Grund für den Naturbezug der Gerechtigkeitslehren liegt darin, dass
die Analogie zur Natur die Behauptung von Einsichtigkeit des Richtigen ebenso
erleichtert wie die Behauptung der Unabdingbarkeit und Notwendigkeit des für ge-
recht Erklärten. Welcher Art die Natur ist, auf die man mit einer Naturrechtslehre
Bezug nimmt, wird selten klargestellt. Mitunter meint man die Natur im Sinne der
Naturwissenschaften, häufiger die Natur des Menschen, manchmal auch die Natur
des Rechts.
6
Zum Rechtsbegriff der Römer Mayer-Maly, ZÖR 9 (1958) 151 ff.
7
Positivistische Tendenzen werden dagegen von Nörr, Rechtskritik in der römischen Antike
(1974) 20, 33 f angenommen.
8
Oben § 4 II d; ferner Flückiger, Geschichte des Naturrechts (1954); Verdross, Grundlinien der
antiken Rechts- und Staatspilosophie2 (1958) 56, 62.
9
Kriterien der Gerechtigkeit (1963); dazu ders., Theorie der Rechtsgewinnung2 (1976).
10
Über sie Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit4 (1962); Verdross, Statisches und dy-
namisches Naturrecht (1971).
11
Vgl dazu bereits oben § 1 I 1–2; Honsell, Naturrecht und Positivismus im Spiegel der Geschich-
te, FS Koppensteiner (2001) 593 ff.; ferner Verdross (Fn 8) 50 ff, 133 ff; ders, Abendländische
Rechtsphilosophie2 (1963) 9 ff.
§ 10 Rechtswissenschaft als Gerechtigkeitslehre 181
12
D 1, 1, 1, 3: quod natura omnia animalia docuit.
13
Mensch-Recht-Kosmos (1965).
14
Hesiod, Theogonie 902.
15
Platon Protagoras 322.
16
Näher Honsell FS Koppensteiner (2001) 593.
17
Zu den römischen Naturrechtslehren Ernst Levy, Gesammelte Schriften I (1963) 3 ff; Herbert
Wagner, Studien zur allgemeinen Rechtslehre des Gaius (1978) 30 ff.
18
D 1, 1, 11: quod semper aequum ac bonum est.
19
Zu der komplexen Problematik Arthur Kaufmann, Naturrecht und Geschichtlichkeit (1957).
20
Dazu Modrzejewski, ZSS 81 (1964) 52 ff. Auch in der griechischen Mythologie gibt es einen
prominenten Inzesatfall: Zeus und und Hera, die Kinder des Kronos und der Rhea waren ein Ehe-
paar.
182 § 10 Rechtswissenschaft als Gerechtigkeitslehre
Recht ist alles, was an sich selbst gut ist, was nach seinen Verhältnissen und Folgen etwas
Gutes enthält oder hervorbringt und zur allgemeinen Wohlfahrt beiträgt.
1. Sie gäben keine Kriterien zur Ermittlung des Guten und Gerechten an.
2. Sie würden zumeist nur eine gerade geltende Ordnung absolut setzen.
3. Sie dienten mehr der Legitimation des Bestehenden als der Erkenntnis des
Gerechten.
21
Besonders deutlich in der Fn 8 zitierten Schrift.
22
Verdross (Fn 8) 101.
23
Dazu besonders Wagner (Fn 17) 104 ff.
24
D 1, 1, 9.
25
Zu ihr, besonders zu Vitoria und Suarez, vgl Reibstein, Die Anfänge des neueren Natur- und
Völkerrechts (1949); Verdross, Abendländische Rechtsphilosophie2 (1963) 92 ff.
§ 10 Rechtswissenschaft als Gerechtigkeitslehre 183
Liest man Christian Wolffs „Institutiones iuris naturae“ (1750), so erweisen sich die
Sätze des Naturrechts als eine Abstraktion des Rechts der Zeit – vor allem in den
privatrechtlichen Abschnitten. Allerdings ist es auch noch keiner anderen metaposi-
tiven Rechtslehre gelungen, über den Schatten der Geschichte zu springen. Selbst
die scharfsinnigste aller Rechtstheorien, Kelsens reine Rechtslehre, hat ihre Bezüge
zum Zeitgenössischen: Sie ist, wie wir gesehen haben, primär eine Theorie des kon-
tinentalen Gesetzesstaates der Neuzeit. Will man auch zu dieser Frage realistisch
bleiben, so ist zu sagen, dass Bindung an aktuelle Empirie aller juristischen Theo-
riebildung anhaftet, der naturrechtlichen ebenso wie der positivistischen.
Der Vorwurf, das Bestehende zu legitimieren statt es auf seine Gerechtigkeit zu
prüfen, trifft einen Naturrechtler härter, meist aber mit weniger Grund als die ande-
ren Einwände gegen eine Naturrechtslehre. Angesichts der Anfälligkeit der Juristen
für Allianzen mit der Macht kann es zwar nicht verwundern, wenn sich Belege für
naturrechtlich formulierte Versuche, das Seltsamste und auch das Übelste (zB das
Kastratensängertum) zu legitimieren, beibringen lassen26. Betrachtet man aber die
Naturrechtslehre in ihrer Gesamtheit, so zeigt sich deutlich, dass neben einer un-
bestreitbar großen Zahl erklärend-rechtfertigender Theorien eine permanente kri-
tische Richtung besteht. Die Trennung der Richtungen vollzieht sich schon in der
griechischen Philosophie.
Es ist diese kritisch-revolutionäre Richtung der Naturrechtslehre, die sich über
die Averroisten27 und Monarchomachen28 bis hin zur naturrechtlichen Vorberei-
tung der Französischen Revolution29 erstreckt, die den Vorwurf einseitiger Le-
gitimationstendenz entkräftet. Aus dieser Richtung vor allem ist die Lehre vom
Widerstandsrecht30,aber auch die Theorie der Grund- und Menschenrechte er-
wachsen. Man würde, aber dem scholastischen Naturrecht unrecht tun, wenn man
seinen Beitrag zur Anerkennung der Menschenrechte vernachlässigte. Auch in
der scholastischen Naturrechtslehre bildet die Schrankenfunktion des Naturrechts
gegenüber dem staatlichen Recht ein konstantes Thema. Marcic31 hat auf die Be-
deutung hingewiesen, die der thomistischen Forderung nach Achtung vor dem in-
dividuellen Gewissen32 für die Entwicklung der Menschenrechte zukommt. Der
Weg zu den Grundrechten33 erweist sich als außerordentlich komplexer Prozess.
Entgegen einer verbreiteten Lehre beginnt er schon in der griechischen Philosophie.
26
S dazu die Naturrechtskritik des katholischen Soziologen A M Knoll, Katholische Kirche und
scholastisches Naturrecht (1968) 15 ff, 76 ff u passim.
27
Zu Avicenna (979–1037) und Averroes (1126–1198) vgl Bloch, Avicenna und die aristotelische
Linke (1963).
28
Über sie Marcic, Geschichte der Rechtsphilosophie (1971) 239 ff.
29
Dazu Habermas, Theorie und Praxis8 (1978) 89 ff.
30
Zu ihr Wolzendorff, Staatsrecht und Naturrecht in der Lehre vom Widerstandsrecht des Volkes
gegen rechtswidrige Ausübung der Staatsgewalt (1916/1961); Kern, Gottesgnadentum und Wider-
standsrecht im frühen Mittelalter3 (1962).
31
(Fn 28) 47 f.
32
Zur juristischen Dimension des Gewissens s das gleichnamige Buch von Hirsch (1979); Mayer-
Maly, Jahres- und Tagungsbericht der Görres-Gesellschaft 1979 (1980) 5 ff.
33
Über ihn Oestreich, Geschichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten im Umriss (1968).
184 § 10 Rechtswissenschaft als Gerechtigkeitslehre
34
D 1, 1, 4; D 1, 5, 4; D 12, 6, 64; D 40, 11, 2; D 50, 17, 32. – Auch das Alte und Neue Testament
liefert Anhaltspunkte gegen die Sklaverei oder zum Schutz der Sklaven; s Exodus 21, 2 und 21,
20–32 sowie Philemon 1, 1 ff, Galater 2, 1–10; 3, 28 und Matthaeus 28, 16–20.
35
Ursprung und Ausbreitung der mittelalterlichen Freiheitsrechte, 1933; vgl V Keller, Freiheitsga-
rantien für Person und Eigentum im Mittelalter (1933); aus neuerer Zeit s Brieskorn, Menschen-
rechte. Eine historisch-philosophische Grundlegung (1997).
36
Vgl Fritz von Hippel, Die Perversion von Rechtsordnungen (1955) und vor allem Rüthers, Die
unbegrenzte Auslegung7 (2012).
37
Claus Schenk Graf von Stauffenberg verübte am 20. Juli 1944 ein Attentat auf Hitler; vgl Hoff-
mann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg und seine Brüder (1992); s auch noch Meyer/Bechtold,
Schenk Graf von Stauffenberg (1905–1944). Völkerrecht im Widerstand (2001) und Riedel, Ge-
heimes Deutschland. Stefan George und die Brüder Stauffenberg (2006).
38
Zu ihm Evers, Der Richter und das unsittliche Gesetz (1956).
§ 10 Rechtswissenschaft als Gerechtigkeitslehre 185
39
Gegen dieses „Hitler-Argument“ der Kritik am Rechtspositivismus auch Rosenbaum (Fn 3)
143 ff.
40
Reine Rechtslehre2 (1960) 42.
41
Rechtsphilosophie6 (1963) 336; dazu oben § 1 I 2 bei Fn 45; s. auch Kaufmann, Die Radbruch’sche
Formel vom gesetzlichen Unrecht und vom übergesetzlichen Recht in der Diskussion um das im
Namen der DDR begangene Unrecht, NJW 1995, 81 ff.
42
Die ewige Wiederkehr des Naturrechts2 (1947).
186 § 10 Rechtswissenschaft als Gerechtigkeitslehre
43
Neue Juristische Wochenschrift (1960) 1689 ff.
44
Zum heutigen Stand der Naturrechtsdiskussion (1965).
45
Selten wurde das klarer gezeigt als von Ernst Bloch, Naturrecht und menschliche Würde (1961).
46
Krit dazu der Bundesrichter Th Fischer, Der Spiegel Nr 32 2014, S 21, 22.
47
Th Fischer (Fn 46) 22. Das BVerfG (2 BvR 392/07) mit abw Sondervotum v Hassemer hat
feilich das Inzestverbot des § 173 dStGB bestätigt; ebenso EMGR v 12. April 2012 Az 43547/08.
48
NZZ v 19. Juni 2010; s oben § 1 I 2 Fn 52.
§ 10 Rechtswissenschaft als Gerechtigkeitslehre 187
49
In krassem Kontrast dazu steht, dass der Bundestag den vom UN-Antikorruptionsabkommen
(2003) geforderten Tatbestand der Abgeordnetenbestechung (§ 108e StGB) erst mit mehr als
10jähriger Verspätung geschaffen und so ausgestaltet hat, dass der Richter am BGH Th Fischer
das Gesetz „einen Witz“ genannt hat (Die Zeit v. 26. 6. 2014, S 8).- Zu den zu hohen Strafen wegen
Steuerhinterziehung s § 6 II bei Fn 45.
50
Auf S 146 des Koalitionsvertrages (2013) zwischen CDU/CSU und SPD heißt es: „Um eine
Alternative zur Freiheitsstrafe und eine Sanktion bei Personen zu schaffen, für die eine Geldstrafe
kein fühlbares Übel darstellt, werden wir das Fahrverbot als eigenständige Saktion im Erwachse-
nen- und Jugendstrafrecht einführen.“
51
Vgl §§ 218, 218a, 219 dStGB; unten § 5 VIII Fn 153.
188 § 10 Rechtswissenschaft als Gerechtigkeitslehre
wollte 100 Mio, daher die Dollar. Das ist mehr als das dreifache der höchstmög-
lichen Geldstrafe. Wie geringe Schuld und 100 Mio zusammenpassen, kann die
Justiz nicht plausibel erklären. Der Fall wird in die Rechtsgeschichte eingehen,
einerseits als Beispiel für einen gravierenden Verstoß gegen das gerade von der
Justiz zu fordernde Gleichbehandlunsgebot und andererseits für eine inakzeptable
Kommerzialisierung der Strafrechtspflege. Das letztere gehört zu den mehrfach er-
wähnten, leider zahlreichen amerikanischen Rechtstaatsdefiziten, die nach Europa
herüberschwappen. Die US-Justiz kassiert namentlich von Banken viele Milliarden
für die Einstellung von Strafverfahren52, was beinah noch schlimmer ist als die an
Geschädigte gezahlten punitive damages53; denn das den Aktionären weggenom-
mene Geld kommt meist nicht den Geschädigten zugute.
52
ZB wurde die Bank of America zu einem Vergleich mit der bislang höchsten Strafzahlung von
17 Mrd USD genötigt, weil sie sich am Verkauf betrügerisch gepackter Hypothekenpapiere (die
häufig uneinbringliche Hypothekenforderungen enthielten, vgl oben § 8 I), sog Collateralized
Debt Obligations (CDO), beteiligt hatte. Die betrogenen (überwiegend ausländischen) Banken
erhielten davon nichts.
53
Dazu Honsell, Der Strafgedanke im Zivilrecht – ein juristischer Atavismus, FS Westermann
(2008) 315 ff.
§ 11 Epochen der Rechtswissenschaft
Inhaltsverzeichnis
Einen ersten Eindruck vom Wandel der Richtungen in der Jurisprudenz1 hat die
permanente Auseinandersetzung zwischen Naturrecht und Positivismus vermittelt.
Mit dem Recht ist die Rechtswissenschaft vom geschichtlichen Wandel abhängig.
Ihre Positionen sind mehr zeitgebunden als die der Mathematik oder der Chemie.
Zusammenhänge mit weltanschaulichen Implikationen und dem „Zeigeist“ werden
immer wieder greifbar.
1
Vgl Schulz, Geschichte der römischen Rechtswissenschaft (1961); Koschaker, Europa und das
römische Recht4 (1966); Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit2 (1967); Luigi Lombardi,
Saggio sul diritto giurisprudenziale (1967); Wesenberg/Wesener, Neuere deutsche Privatrechts-
geschichte4 (1985); Wesel, Juristische Weltkunde: eine Einführung in das Recht (1993); s ferner
Kleinheyer/Schröder, Deutsche und europäische Juristen aus neun Jahrhunderten4 (1996).
© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015 189
H Honsell, T Mayer-Maly, Rechtswissenschaft, Springer-Lehrbuch,
DOI 10.1007/978-3-662-45682-8_11
190 § 11 Epochen der Rechtswissenschaft
Fragt man nach den Wurzeln des Rechts in Europa, so stößt man zunächst auf
die Griechen. Ihnen verdanken wir die Philosophie2, die Rhetorik3 und insbesonde-
re die Demokratie, die es namentlich in Athen zu hoher Blüte, aber auch zu einer
gewissen Entartung gebracht hat4. In Griechenland und im Orient liegen auch die
Anfänge der Gesetzgebung5. Man denke nur an den Codex Hammurabi6 oder das
Stadtrecht von Gortys7, an die Gesetze des Solon, die wegen ihrer Weisheit, aber
auch an die des Drakon, die wegen ihrer Strenge sprichwörtlich geworden sind.
Dagegen hatten in Rom Gesetze nur marginale Bedeutung. „Das Volk des Rechts
war nicht das Volk der Gesetze“ ( F Schulz). Auch das älteste und vereinzelt geblie-
bene umfassende Gesetz der Römer, das man als Kodifikation bezeichnen kann, die
Zwölftafeln (um 450 v. Chr.), war griechisch beeinflusst. Nach der Überlieferung ist
eine Gesandtschaft zum Studium der Solonischen Gesetze nach Athen gereist8. In
vorklassischer Zeit, die man auch die hellenistische Periode genannt hat, studierte
man in Rom neben der griechischen Philosophie auch Rhetorik, die ua Regeln der
Gesetzesauslegung enthielt9. Eine Rechtswissenschaft im heutigen Sinne hat Grie-
chenland nicht hinterlassen. Die Anfänge einer Rechtswissenschaft liegen in Rom.
Vor der römischen iuris prudentia gab es keine Rechtswissenschaft. Man kann zwar
von einem griechischen Rechtsdenken10 sprechen, des Rechtes besonders Kundige
gab es im klassischen und im hellenistischen Griechenland ebenso wie in den Kul-
turen Ägyptens11 und des Zweistromlandes12. Die Kondensierung der Rechtskunde
zu einer Jurisprudenz blieb jedoch aus13. Zu ihr gehörte eine gesteigerte Konzent-
ration des Interesses auf Rechtsfragen (von einem echten Beruf allerdings konnte
anfangs nicht die Rede sein), das Auftreten spezifisch juristischer Begabungen (wie
2
Zu den Vorsokratikern, namentlich den Sophisten, und zu Aristoteles und Platon oben § 1 I 2.
3
Dazu schon oben § 1 I 2 und § 5 V 1 u 2.
4
Nach Polybios nennt man die Entartungsform der Demokratie Ochlokratie (Pöbelherrschaft).
5
Dazu Wesel, Geschichte des Rechts in Europa: Von den Griechen bis zum Vertrag von Lissabon
(2010) 15 ff; ders, Geschichte des Rechts. Von den Frühformen bis zum Vertrag von Maastricht
(2000).
6
Eine Rechtssammlung aus Babylon, 18. Jh vChr, auf einer Stele, ausgestellt im Louvre.
7
5. Jh vChr in Gortys auf Kreta.
8
Vgl Honsell, Römisches Recht7 4 f.
9
Näher unten II. Im Übrigen war aber die Bedeutung der Rhetorik für das römische Recht, in dem
es kaum Gesetze gab, gering; vgl Wieacker, Über das Verhältnis der römischen Fachjurisprudenz
zur griechisch-hellenistischen Theorie, IURA XX, 1969, 448 ff, 474.
10
Vgl Erik Wolf, Griechisches Rechtsdenken, 3 Bde (1950–56); Triantaphyllopoulos, Das Rechts-
denken der Griechen (1985).
11
Vgl Allam, Recht im pharaonischen Ägypten, in: Manthe (Hrsg), Die Rechtskulturen der Antike
(2003) 15.
12
S Neumann, Recht im antiken Mesopotamien, in: Manthe (Fn 11) 55 ff.
13
Vgl Hans J. Wolff, Festschrift für den 45. Deutschen Juristentag (1964) 13 ff.; neuerdings ver-
tritt namentlich Barta (Graeca non leguntur? I [2010] 529 ff.) die Auffassung, dass das griechische
Rechtsdenken die römische Jurisprudenz erheblich beeinflusst habe – eine Meinung, die der Ori-
ginalität und Idiosynkrasie des in den Digesten überlieferten römischen Fallrechts nicht gerecht
wird.
I. Die Entstehung der Rechtswissenschaft 191
sie in Rom als soziale Ingenieurkunst der Gabe für Straßen-, Wasserleitungs- und
Städtebau zur Seite traten) und das Echo juristischer Sachkunde in der Öffentlich-
keit. Trotz des Zusammenwirkens dieser Faktoren im republikanischen Rom des
3. und 2. Jh vChr dürfte erst die Rückschau späterer Generationen, die bereits eine
besondere iuris prudentia kannten, dazu geführt haben, dass man die Anfänge der
Jurisprudenz an die Wende vom 4. zum 3. Jh vChr setzte. Vermutlich unterschied
sich der damals gegebene Entwicklungsstand wohl noch nicht erheblich von der
auch in anderen antiken Hochkulturen erreichten Intensität der Beschäftigung mit
Rechtlichem.
14
Dazu besonders D Nörr, in: Temporini/Haase (Hrsg), Aufstieg und Niedergang der römischen
Welt II/15 (1976) 498, 512 ff.
15
S oben § 1 Fn 25.
16
Dazu oben § 2 I.
192 § 11 Epochen der Rechtswissenschaft
heran. Dann gewinnt das Bemühen um eine andere Abgrenzung der Jurisprudenz
die Oberhand: das Streben nach Unterscheidung gegenüber der Rhetorik. Am
eigentlichen Ort des Juristen, bei Gericht, hat der römische iuris peritus nicht viel
zu sagen. Zum Richteramt kommt er nicht durch Sachkunde, sondern – wenn über-
haupt – durch gesellschaftliche Stellung, durch Nennung in der angesehene Männer
enthaltenden Richterliste. Für Prozessparteien zu plädieren, ist gerade seine Sache
nicht. Tut er es doch einmal, so ist die peinliche Niederlage, wie sie Quintus Mucius
Scaevola in der causa Curiana gegen den Redner Crassus erlitt17, näher als der
Sieg. Wie Gesetze auszulegen sind und wie vor Gericht zu agieren ist, lehren die
Rhetoren18. Dass sie nicht daran dachten, die Sphäre des Juristischen Sachkundige-
ren zu überlassen, demonstriert Quintilians Lehrbuch der Redekunst (institutionis
oratoriae libri, um 90 nChr)19. Wie die Argumente zu setzen seien, sagte ihnen
Ciceros Topik. Deren Verfasser und das Beispiel des jüngeren Plinius, der es gegen-
über der Fachjurisprudenz nicht an Überheblichkeit fehlen ließ, zeigen, dass die
gesellschaftliche Position der Gerichtsredner jener der juristischen Experten aus
hochgestellten Familien nicht nachstand.
Wenn sich dennoch neben Pontifikat und Rhetorik eine eigenständige Fachju-
risprudenz entwickeln konnte, so lag das wohl nicht nur an einer bei den Römern
stärker ausgeprägten juristischen Begabung. Auch hellenistische Einflüsse spielten
eine Rolle. Fritz Schulz20 nennt die zwischen pontifikaler Rechtskunde und augus-
teischem Juristenstand liegende Zeit überhaupt die hellenistische Periode der römi-
schen Jurisprudenz. Die Juristen übten zwar gegenüber den didaktischen Ambitio-
nen des Hellenismus mehr Zurückhaltung als andere Disziplinen, übernahmen aber
dialektische Methoden, die Kategorienbildung und das Interesse an Definitionen.
Pomponius rühmt Quintus Mucius Scaevola (um 100 vChr) als ersten, der das Recht
generatim (nach Gattungen) erfasst habe. In seiner verlorenen Schrift de iure civili
in artem redigendo dürfte Cicero gefordert haben, dass man den hellenistischen
Gedanken der techne als eines wissenschaftlichen Systems noch stärker auf die
Darstellung des Rechts anwende.
Spätere Autoren zitieren die Juristen der voraugusteischen Zeit als die Alten,
als veteres. Heute spricht man von Vorklassikern. Man muss sich jedoch vor der
Annahme hüten, es handle sich um eine archaische Jurisprudenz. In mancherlei
Hinsicht waren die veteres moderner als die von Mode und Kaiserwillen auf einen
national-römischen Traditionalismus festgelegten Klassiker. Sie standen einer als
Wissenschaft konzipierten Lehre des Rechts näher als die ihnen folgenden Gene-
rationen.
17
Cicero, de oratore 1, 57, 242 f und 2, 32, 140 f; zur „causa Curiana“ oben § 5 IV 1; ferner
Wieacker, in: Antologia giuridica romanistica ed antiquaria I (1968) 111 ff und Wesel, Rhetorische
Statuslehre und Gesetzesauslegung der römischen Juristen (1967) 32 ff.
18
Vgl oben § 5 IV 2; Bonner, Roman Declamation (1949).
19
Die Rednerkunst nahm im öffentlichen Leben der griechisch-römischen Antike einen zentralen
Platz ein. Eine Übersicht bietet etwa Fuhrmann, Die antike Rhetorik4 (1995). Das umfassendste
Zeugnis über die Ausbildung des Redners enthalten die im Text genannten institutiones oratoriae
des Marcus Fabius Quintilianus, lateinisch und deutsch hrsg. und übersetzt von Rahn2 (1988).
20
Geschichte der Römischen Rechtswissenschaft (1961) 44 ff.
I. Die Entstehung der Rechtswissenschaft 193
3. Römische Klassik
Die Klassik der römischen Jurisprudenz beginnt nach überwiegender Meinung mit
den Juristen der Zeit des Augustus, mit Labeo und Capito. Wieacker21 dagegen lässt
die Klassik schon früher einsetzen. Dabei unterscheidet er zwischen dem Gebrauch
von „klassisch“ für einen literarischen Ausdruck und dem Gebrauch dieses Wortes,
um eine kulturelle Leistung zu bezeichnen. Damit führt die Frage nach dem Beginn
der Klassik über die Art historischer Periodisierung hinaus, über die man ja immer
streiten kann. Was interessiert, sind die Merkmale der Klassik.
Diese Frage, die T. S. Eliot22 für die Literatur formuliert hat und die ein Zent-
ralthema der Bildungstradition anspricht, stellt sich auch für die Jurisprudenz. Da-
bei hat es den Anschein, als vertrügen sich Bedeutung der gedanklichen Schöpfung
und Qualität des literarischen Ausdrucks in der Jurisprudenz nicht gut. Das Neue
und das Geniale im Recht kommen zum Großteil aus Phasen der Unruhe, in denen
für feinsinnige Literatur nur wenig Platz ist. Rationale Durchdringung der aner-
kannten Rechtsgedanken und durch Disziplin und Formschönheit ausgezeichneter
Ausdruck dieser Gedanken gelingen in Zeiten ohne viel Bewegung erheblich bes-
ser. Kreativität und Klassik sind zweierlei. Mit Klassik sollte man eine Qualität des
Formalen und nur diese bezeichnen. Epochen der Jurisprudenz, in denen wir dieser
Qualität begegnen, sind Zeiten der Ruhe, in denen die Rechtsentwicklung nur lang-
sam fortschreitet.
Innerhalb der römischen Klassik unterscheidet man drei Phasen: Früh-, Hoch-
und Spätklassik. Von Phase zu Phase nimmt die Verflechtung der Jurisprudenz
mit der Organisation des Reiches durch die Kaiser zu. In der Spätklassik (um
200 nChr) sind Eleganz und Originalität der Gedankenführung bescheidener ge-
worden, Vollständigkeitsstreben und Tendenz zur Systembildung kennzeichnen die
großen Kommentare dieser Zeit. Anfänge eines organisierten Elementarunterrichts
zeichnen sich ab. Aus dieser Sphäre stammt der die Kodifikationen bis ins 19. Jh
beeinflussende Systementwurf des Gaius, bei dem sich auch Tendenzen zu deduk-
tiver Denkweise und begrifflicher Argumentation abzeichnen. Philosophisch oder
methodologisch determinierte Gruppenbildungen blieben der klassischen Jurispru-
denz fremd. In Früh- und Hochklassik unterschied man zwar zwischen Sabinianern
und Proculianern, doch fehlte jeder prinzipielle Gegensatz zwischen diesen beiden
Schulen. „Fungible Personen“, wie man früher meinte, waren die römischen Klassi-
ker jedoch nicht. Für viele von ihnen lassen sich persönliche Stilmerkmale, typische
Denkweisen und kennzeichnende Interessenschwerpunkte feststellen23. Am Hoch-
klassiker Celsus fallen die eleganten Formulierungen, an seinem Zeitgenossen Juli-
an die dogmatische Klarheit auf; Papinian verbindet Scharfsinn mit Subtilität und
21
Vom römischen Recht2 (1961) 161 ff.
22
What is a classic? (1943); vgl auch den von Burger herausgegebenen Sammelband Begriffsbe-
stimmung der Klassik und des Klassischen (1972) und Wittkowski, Verlorene Klassik? Ein Sym-
posium (1986).
23
Zu Details vgl den oben Fn 14 zitierten Band II/15 von „Aufstieg und Niedergang der römischen
Welt“.
194 § 11 Epochen der Rechtswissenschaft
Drei Hauptgründe für den Zusammenbruch der klassischen Jurisprudenz seien he-
rausgegriffen: die tiefgreifende Erschütterung der ökonomischen, politischen und
sozialen Verhältnisse, die Wandlung des Kaisertums vom Prinzipat zum Dominat,
die Unüberschaubarkeit der zu Ende der Klassik bereits publizierten Juristenmei-
nungen.
Das klassische Recht beruhte auf einer Honoratiorenjurisprudenz25. Diese hatte
den Bestand jener Oberschicht zur Voraussetzung, die im Laufe des 3. Jh nChr zer-
fiel. Geldentwertung, Landflucht und Verwicklung in Palastrevolutionen bedrohten
die ökonomische Basis und die physische Existenz des Milieus, aus dem die Juris-
ten kamen26. Noch schwerer wog, dass mit der bisherigen Oberschicht jene gesell-
schaftliche Gruppe wegfiel, deren ritualisierte Konflikte die Anlassfälle für die Re-
sponsen der Juristen gebildet hatten. Die gemäßigte Abhängigkeit vom Kaiserhaus,
die sich im Verlauf der Prinzipatszeit ausgebildet hatte, ließ Raum für individuelle
Meinungsentfaltung in Rechtsfragen. Den neuen Herren fehlte der Sinn für derlei.
Die kurzlebigen Soldatenkaiser der Mitte des 3. Jh nChr wussten mit Juristen über-
24
Dazu Wieacker, Vulgarismus und Klassizismus im Recht der Spätantike (1955); kritisch gegen-
über der Annahme eines Vulgarrechtes Kop, Beschouwingen over het zgn. ,vulgarie‘ romeinse
recht (1980).
25
Vgl Dawson, The Oracles of the Law (1968) 107 ff.
26
Dazu Rostovtzeff, Gesellschaft und Wirtschaft im römischen Kaiserreich 2 Bd (1929/1931);
Heichelheim, Wirtschaftsgeschichte des Altertums, 2 Bd (1938/1969).
I. Die Entstehung der Rechtswissenschaft 195
haupt nichts anzufangen. Die Herrscher der mit Diokletian einsetzenden Dominats-
zeit duldeten individuelle Jurisprudenz nicht mehr. Des Kaisers Kanzlei wurde zum
einzigen Motor der Rechtsentwicklung, aber auch zum Zentrum der intellektuellen
Befassung mit dem Recht. Mit Recht spricht Schulz27 von einer bürokratischen
Periode der römischen Jurisprudenz.
Das Ende der Klassik hat aber nicht nur exogene Gründe. Die Jurisprudenz selbst
hatte ein Stadium erreicht, das die Gefahr des Zusammenbruchs heraufbeschwor. Es
gab kaum ein Thema, zu dem sich nicht eine Fülle kontroverser Juristenmeinungen
eingestellt hätte. Die Zahl der vorliegenden Publikationen war so angewachsen,
dass den Zeitgenossen die juristische Literatur bereits unüberschaubar schien. Die
Analogie zur biologischen Erfahrung, dass extreme Vermehrung den Bestand einer
Art gefährden kann, drängt sich auf. Die Kaisergesetzgebung erhob den Anspruch,
die endlosen Kontroversen der Juristen zu beenden.
Was wir für die Dominatszeit als Rechtswissenschaft aufspüren können, hat ge-
genüber der Klassik grundverschiedene Züge. Es handelt sich um eine akademische
Disziplin mit Schwerpunkten an den Unterrichtsstätten von Beryt (heute Beirut)
und Byzanz (heute Istanbul). Die dort wirkenden Professoren beschrieben und tra-
dierten das Recht, hatten aber an seiner Entwicklung nur noch wenig Anteil. Den
von ihnen zugrunde gelegten Texten kam bereits das Gewicht einer Norm zu. Nicht
das, was der Jurist schrieb, sondern das, was er las, hatte Autorität. Die Wissenschaft
der Dominatszeit ist die erste juristische Romanistik – also eine Wissenschaft vom
römischen Recht, nicht mehr eine das römische Recht gestaltende Wissenschaft.
5. Justinians Kompilation
Von den Schulen des Ostens ging so eine klassizistische Haltung aus. Zu dieser
gehörte das Streben nach authentischer und dauerhafter Dokumentation des von der
klassischen Jurisprudenz Erreichten. Die Bedeutung dieses Strebens für Justinians
Kompilationsentschluss28 und insbesondere für die Abfassung der die klassischen
Juristenschriften exzerpierenden Digesten (533) kann nicht hoch genug eingeschätzt
werden. Kaiser Justinian29 ließ von einer Kommission, an der ua Professoren der
Rechtsschulen von Konstantinopel und Beryt beteiligt waren, unter der Leitung von
Tribonian eine Rechtssammlung anlegen. Man bezeichnet sie seit dem Hochmittel-
alter als Corpus iuris civilis. Das Corpus iuris enthält die Digesten30 oder Pandek-
ten31. Sie bestehen aus 50 Büchern, die den umfangreichsten und wichtigsten Teil
des Corpus und die Hauptquelle des Wissens vom (klassischen) römischen Rechts
27
(Fn 20) 335 ff.
28
Über Justinian als Gesetzgeber Archi, Giustiniano legislatore (1970).
29
Justinian gelangte 527 – nach einer Periode innerer Schwäche des römischen Reichs – an die
Herrschaft. Er war bestrebt, den Glanz des Imperium Romanum – nicht nur, aber auch – auf dem
Gebiet des Rechts zu erneuern. Ein Denkmal seiner Bautätigkeit ist die Hagia Sophia.
30
Lat digesta bedeutet geordnet.
31
Griechisch pandektes, pandektai = Sammlung.
196 § 11 Epochen der Rechtswissenschaft
bilden32. Neben den Digesten besteht das Corpus iuris aus den Institutionen33, dem
Codex Justinianus34 und den sog Novellen35.
Das Werk sollte der Ausbildung der Juristen und der juristischen Praxis dienen.
Vor allem aber wollte Justinian das klassische römische Recht, also das Recht der
Prinzipatszeit36 erfassen und gleichsam konservieren. Der Idee, einer hochstehende
Rechtskultur im Wege hoheitlicher Autorität37 neuerlich Geltung zu verschaffen,
standen indes Hindernisse entgegen. Denn der Wandel der Verhältnisse war tief-
greifend.
Der Praxis leistete das monumentale Werk zunächst nur bescheidenen Dienst.
Was es bot, war für den Standard des Rechtslebens der Zeit zu anspruchsvoll. Vor
allem hatte sich, wie bereits gesagt, die von den Klassikern vorausgesetzte Gesell-
schaftsstruktur seither gründlich geändert. Die unabhängigen Bankiers und Han-
delsherren, die in so vielen Juristenschriften begegnen, waren ebenso verschwun-
den wie die vornehmen Großgrundbesitzer, die einst den Rat der Juristen eingeholt
hatten. Die Kaiser hatten einen alle Wirtschaftsprozesse erfassenden Lenkungsap-
parat eingesetzt. Viele feinziselierte Dogmen des Privatrechtsverkehrs waren völlig
außer Übung gekommen. Eine massive Schwerpunktverlagerung vom privaten zum
öffentlichen Recht hin war erfolgt. So konnte das Wort geprägt werden, Justinians
Digesten (an deren Exzerpierungsmethode wir übrigens heute noch von „Readers
Digest“ erinnert werden) seien ein „Werk der Schule für die Schule“ gewesen38.
Allerdings wissen wir nicht, ob Justinian39, bei dem Züge einer restaurativen Ro-
mantik unverkennbar sind40, seine Digesten nicht doch praktiziert sehen wollte. Je-
denfalls hat er die Quintessenz einer abgeschlossenen Rechtskultur für eine ferne
Zukunft bereitgestellt.
So müßig alle Spekulation über Justinians Motive ist, so nachdenklich muss der
objektive Befund stimmen. Klammert man die Digesten aus der Überlieferung der
32
Die Digesten werden nach Buch, Titel, Fragment (Lex) und Paragraph zitiert.
33
Die Verfasser waren Theophilus und Dorotheus. Die Vorlage lieferten die Institutionen des Gai-
us und einige andere Elementar-Schriften der klassischen und nachklassischen Zeit.
34
Eine Zusammenfassung von Erlässen und Entscheidungen (Konstitutionen) römischer Kaiser.
35
Konstitutionen Justinians (nach 534).
36
Die monarchische Staatsform, die C. Octavius, der den Ehrennamen „Augustus“ trug, im Jahr
27 vChr geschaffen hat, bezeichnet man als Prinzipat.
37
Die Digesten wurden (gemeinsam mit den Institutionen) zum 30. Dezember 533 als Gesetz in
Kraft gesetzt.
38
Vgl Wieacker (Fn 17) 286.
39
Zu Justinians Persönlichkeitsbild Rubin, Das Zeitalter Justinians I (1960), II (1995) (aus dem
Nachlass herausgegeben); aus neuerer Zeit ist auf Mischa Meier, Justinian (2011) und Leppin, Jus-
tinian. Das christliche Experiment (2011) zu verweisen. Zu Justinian und Theodora s das gleich-
namige Buch von Browning (1981), das ebenso wie das Werk von Stadelmann, Theodora von By-
zanz (1927) in der Hauptsache auf der Geheimgeschichte des Prokop beruht, einer Skandalchronik
über den Hof des Justinian, die man nicht immer wörtlich nehmen kann; s Meier/Leppin (Hrsg)
Prokop, Geheimgeschichte, griechisch u deutsch (2004).
40
Auch das von Justinian erlassene Verbot, die Digesten zu kommentieren, lässt auf ein realitäts-
fernes Rechtsverständnis schließen.
I. Die Entstehung der Rechtswissenschaft 197
antiken Rechtskultur aus, so bleibt zwar noch immer eine imposante Tradition; die
intellektuelle Stimulation, die in Europa um 1000 vom römischen Recht ausging,
wäre jedoch nie zustande gekommen. Die Digesten aber sind uns nur in einem ein-
zigen Exemplar überliefert, in einer zunächst in Pisa aufgetauchten und seit 1406
in Florenz in der Bibliotheca Medicea Laurenziana aufbewahrten Handschrift, der
sog Florentina. Nach ihrer Neuentdeckung haben die Digesten das Rechtsleben des
Abendlandes zunächst nicht merklich beeinflusst. Dieses hatte vorwissenschaftli-
chen Charakter. Vom einstigen Niveau der Jurisprudenz war im Westen nicht mehr
viel zu merken. Bei der Renaissance der Rechtswissenschaft, zu der es um 1070
kam, spielten die Digesten jedoch eine entscheidende Rolle.
Zuvor wurde das verflachte, sog weströmische Vulgarrecht in einigen Gesetzen
bei den Germanenstämmen kodifiziert, so die Lex Romana Visigotorum, die Lex
Romana Burgundionum, der Codex Euricianus und das Breviarium Alaricianum.
Dem Osten blieb der Kontinuitätsbruch des Westens erspart. Die Exegese der
justinianischen Sammlungen brach nie ab, neue Gesetzgebungsunternehmungen
späterer Kaiser gaben der Jurisprudenz immer wieder neue Aufgaben. Der Stil der
byzantinischen Jurisprudenz41 erinnert an den der Kunst: Eine nur von wenigen
Wandlungen beunruhigte Tradition fügt aus vielen kleinen Teilen ein ehrwürdi-
ges Gesamtbild42. Generationen von Scholiasten erläutern behutsam die Gesetze
Justinians und seiner Nachfolger, originelle Konzepte fehlen ebenso wie kritische
Akzente. Der eigenen Praxis wie dem Rechtsleben der am Balkan entstehenden Ge-
meinwesen hat die byzantinische Jurisprudenz jedoch wertvolle Dienste geleistet.
Das älteste Gesetzbuch der Bulgaren, der aus dem 9. Jh stammende Zakon sudnyj
Ljudem, beruht auf der Ekloge von Leo dem Isaurier (717–741); das Gesetz des
Serbenkönigs Stephan Duschan (1331–1355) orientierte sich am Procheiron des
Kaisers Basilius (879). Auf diesem beruhte auch die slawische Fassung des No-
mokanon des Photius, die der Moskauer Metropolit Kyrillos 11. 1272 publizierte43.
Die umfassendste legislative Leistung von Byzanz, die Basiliken (um 890), war
freilich für die Praxis, besonders außerhalb des Reiches, zu unhandlich44. Eine um
1345 entstandene Zusammenfassung des byzantinischen Rechts, der Hexabiblos
des Harmenopoulos, beherrschte dagegen das Rechtsleben von Griechenland bis
ins 20. Jahrhundert.
Wenngleich das Bemühen um eine wissenschaftliche Pflege des Rechts in By-
zanz nie ganz erloschen ist, kam es doch zu langen Phasen des Niedergangs und der
Stagnation. Von diesen hebt sich die Akademiegründung durch Kaiser Monoma-
41
Pieler, Byzantinische Rechtsliteratur in: Hunger (Hrsg), Handbuch der Altertumswissenschaft,
Die hochsprachliche profane Literatur der Byzantiner, XII 5, 2, (1978) 343 ff; ferner Kreutz, Recht
im Mittelalter2 (2013).
42
Unter Basilius I. und seinem Sohn Leo VI. (9./10. Jh) erlebt der byzantinische Staat eine Blüte-
zeit. Aus rechtshistorischer Perspektive gesehen verdienen die Basiliken Beachtung. Es sind dies
griechische Paraphrasen von Institutionen, Digesten und dem Codex Justinianus.
43
Zur Bedeutung des byzantinischen Rechts für die slawischen Rechte Soloviev ZSS 76 (1959)
432 ff.
44
S schon die vorangehende Fn.
198 § 11 Epochen der Rechtswissenschaft
chos im Jahr 1045 deutlich ab45. Unentgeltlicher Unterricht in einer großzügig aus-
gestatteten, staatlichen Rechtsschule wurde eingeführt. Ein hoher Richter, Xiphili-
nos, wurde vom Kaiser als Präsident der Schule, als Nomophylax (= Rechtswahrer),
eingesetzt; ihm wurde die Benützung der kaiserlichen Bibliothek ermöglicht. Eine
Studienordnung regelte die Voraussetzungen für den Eintritt in die verschiedenen
Juristenberufe.
45
Zu ihr Wenger, Die Quellen des römischen Rechts (1953) 717 ff.
46
Unter Scholastik versteht man die Bemühungen der mittelalterlichen Philosophie und Theolo-
gie, kirchliche Dogmen rational zu begründen.
47
Dazu besonders Otte, Dialektik und Jurisprudenz (1971).
II. Die Renaissance der Rechtswissenschaft 199
5. Die Schwerpunktbildung in Bologna wurde durch das nahe Verhältnis zum lange
byzantinischen Ravenna, durch die damalige politische Bedeutung der oberita-
lienischen Städte, durch die anregende Wirkung der am langobardischen Recht
orientierten Schule von Pavia sowie durch die Greifbarkeit von Abschriften der
einzigen aus der Antike erhaltenen Digestenhandschrift gefördert.
Die mit Irnerius einsetzende Epoche der Rechtswissenschaft bezeichnet man als
die der Glossatoren48. Ihren Namen hat die Schule von der Glosse als literarischer
Ausdrucksform: Glossen sind zunächst nur Erklärung einzelner Worte, dann relativ
knapp gefasste Erläuterungen einzelner Worte oder kurzer Stücke aus einem Text.
Sie führen daher nicht zu einem größeren Werk mit einem durchlaufenden Text,
zu einem Traktat, sondern reichern in Form von Rand- oder Interlinearglossen den
Text an. Fortschritte der Systembildung konnten auf diese Weise nicht erzielt wer-
den. Kasuistischer Scharfsinn dagegen kam zu stärkster Entfaltung.
Zu den Glossatoren zählte Azo, der eine Sammlung von Glossen (sog Summa)
verfasste. Seine Werke waren so wichtig, dass es den Spruch gab „Chi non ha Azo
non vada a palazzo“ – wer keinen Azo hat, soll (besser) nicht zum Gericht ge-
hen. Noch berühmter wurde die Glossa ordinaria seines Schülers Accursius (1185–
1263), in der die bis dahin entstandenen Anmerkungen zusammengefasst waren. In
ihrer rückblickend-zusammenfassenden Funktion lässt sie sich mit der Bedeutung
von Ulpians Ediktskommentar für die klassische Jurisprudenz, aber auch mit der
Vermittlung der gesamten Pandektistik des 19. Jh durch Windscheids Pandekten-
lehrbuch vergleichen. Von Zeit zu Zeit den gesamten Wissensstand zusammenzu-
fassen, ist in der Jurisprudenz wegen der gesellschaftlichen Verwendbarkeit dieses
Wissens besonders wichtig. Für die Praxis hat die Glossa ordinaria wie ein dop-
pelter Filter gewirkt: Antike Texte, die unglossiert geblieben waren, sollten auch
von den Gerichten nicht beachtet werden (quod non agnoscit glossa, non agnoscit
curia). Glossen, die in die Glossa ordinaria nicht Eingang gefunden hatten, gerieten
bald in Vergessenheit. Was Accursius übernommen hatte, kannte jeder Jurist. Erst
die Humanisten publizierten wieder unglossierte Ausgaben.
Bologna war aber nicht nur das Zentrum des studium civile. Um 1140 schuf dort
Gratian eine systematische Quellensammlung des Kirchenrechts, die concordan-
tia discordantium canonum, später decretum Gratiani genannt. Neben die Legisten
traten Kanonisten (canon = Regel), das Recht erschien der Zeit als zweigeteilt (ius
utrumque). Die Werke der den Glossatoren vergleichbaren Dekretisten und die der
späteren Dekretalisten entwickelten ein rationaleres Prozessrecht, haben aber auch
auf das allgemeine Privatrecht Einfluss genommen49: Die Anerkennung der Ver-
tragsfreiheit als Gestaltungsfreiheit geht von der Kanonistik aus. Die Bedeutung der
Kanonistik für die Jurisprudenz darf nicht an dem Eindruck gemessen werden, den
48
Zu der von ihnen geschaffenen Literatur Weimar, in: Coing (Hrsg), Handbuch der Quellen und
Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte I (1973) 129 ff; Hermann Lange, Rö-
misches Recht im Mittelalter I: Die Glossatoren (1997).
49
S Knut Nörr, Römisch-kanonisches Prozessrecht (2012); Link, Kirchliche Rechtsgeschichte
(2008); Mayer-Maly, in: Jakobs (Hrsg), Rechtsgeltung und Konsens (1976) 91, 100 ff.
200 § 11 Epochen der Rechtswissenschaft
50
Vgl Wolter, Ius canonicum in iure civili (1975); Link Kirchliche Rechtsgeschichte (2008).
51
Geschichte des römischen Rechts im Mittelalter V (1829) 224.
52
Zu ihnen N Horn, Aequitas in den Lehren des Baldus (1968). (261 ff).
53
Vgl Sbriccoli, L’interpretazione dello statuto (1969).
54
Vgl Neumeyer, Die gemeinrechtliche Entwicklung des internationalen Privat- und Strafrechts,
2 Bde (1901/1916, Neudruck 1969).
II. Die Renaissance der Rechtswissenschaft 201
55
Die beiden 1962 von der Universität Perugia publizierten Bände „Bartolo da Sassoferrato“
bezeugen die Tragweite der Leistung des Bartolus, besonders die Intensität seines Einflusses in
vielen europäischen Ländern; s ferner Krauß, in: Kleinheyer/Schröder, Deutsche Juristen aus fünf
Jahrhunderten (1976) 43 ff.
56
Oben Fn 52.
57
Humanismus und Rezeption, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 1940, 423 ff.
202 § 11 Epochen der Rechtswissenschaft
Rezeption allgemeine Geltung erlangte, erschien nicht als ein fremdes, sondern als
das gemeine – das heißt: das allgemeine, das in ganz Europa gültige. Auf Grund der
Vorstellung, das Imperium der christlichen Kaiser des Heiligen Römischen Reiches
setze das Imperium der römischen Kaiser seit Augustus fort (Translationstheorie),
galt das römische Recht im neuen Reich ratione imperii, als Kaiserrecht58. Außer-
halb des Reiches aber beachtete man es wegen seiner überzeugenden Vernünftigkeit
als ratio scripta; hier galt es nicht ratione imperii, sondern imperio rationis. Ra-
tio aber war hier wie dort das Losungswort: Vernunft verdrängte das Herkommen,
nachprüfbare Denktechnik die Autorität. Mit der Rezeption bricht ein neuer Stil der
Bewältigung sozialer Konflikte an: der Stil, der auch noch die Gegenwart prägt.
Gewisse Ansätze zur Verwissenschaftlichung der Rechtskunde und zur Ra-
tionalisierung des Umgangs mit dem Recht fehlten auch nördlich der Alpen nicht.
Die beiden großen Rechtsbücher des Spätmittelalters, Sachsenspiegel und Schwa-
benspiegel bekunden profunde Rechtskenntnisse und juristische Begabung ihrer
Verfasser59. Glossierungen des Sachsenspiegels (um 1325 durch Johann von Buch
und um 1390 durch Nikolaus Wurm) verraten den methodologischen Einfluss der
italienischen Universitätsjurisprudenz. Die wahrscheinlich um 1340 von Raymun-
dus in Neapel verfasste Summa legum wird in Wiener Neustadt überarbeitet60. Ur-
teile städtischer Spruchkollegien wie der von Magdeburg und Wien, aber auch des
Ingelheimer Oberhofes zeichnen sich durch viel dogmatischen Scharfsinn aus. Die
seit der Mitte des 14. Jh im Reich entstandenen Universitäten (Prag 1348, Krakau
1364, Wien 1365, Heidelberg 1386) entsandten am römischen und am kanonischen
Recht geschulte Juristen in die Praxis. Staatsrechtliche Fragen behandelte Lupold
von Bebenburg 1340 in der Schrift de iuribus regni et imperii Romanorum. So lässt
sich über das heimische Rechtsleben der deutschen Länder sagen, dass es bereits
intensiv zu der Verwissenschaftlichung tendierte, die dann von der Rezeption her-
beigeführt wurde.
III. Humanismus
Während sich so die Durchsetzung des gelehrten Rechtes in der Praxis anbahnte,
begann an den Universitäten eine die Beziehung zwischen Wissenschaft und Praxis
bedrohende Entwicklung: der Humanismus61. Ihm war das römische Recht nicht als
58
Dazu Krause, Kaiserrecht und Rezeption (1952).
59
Vgl Kroeschell, in: Vorträge und Forschungen (Konstanz) 23 (1977) 349 ff.; ders, in: Mohn-
haupt (Hrsg), Rechtsgeschichte in den beiden deutschen Staaten (1991) 232 ff.; Laufs, Rechtsent-
wicklungen in Deutschland6 (2006); s auch Kaller, Der Sachsenspiegel. Übertragung ins Hoch-
deutsche (2002).
60
Dazu und überhaupt zur „Frührezeption“ in Österreich Baltl, in: Ius Romanum Medii Aevi V 7
(1952) 50 f.
61
Vgl Kisch, Erasmus und die Jurisprudenz seiner Zeit (1960); Gestalten und Probleme aus Hu-
manismus und Jurisprudenz (1969); Troje, in Handbuch (Fn 48) II/I (1977) 615 ff. Sehr lesenswert
auch Troje, Graeca leguntur (1971). Das schwungvolle Buch zeichnet nicht nur die Aneignung des
III. Humanismus 203
byzantinischen Rechts durch die humanistische Jurisprudenz, sondern erhellt noch viele andere
Züge der Rechtswissenschaft des 16. Jahrhunderts; vgl weiter Fuhrmann, Bildung. Europas kultu-
relle Identität (2002); Holderegger (Hrsg), Humanismus. Sein kritisches Potential für Gegenwart
und Zukunft (2011); Baab, Was ist Humanismus? (2013) 28 ff.
62
Aymarus Rivallius, Civilis historia iuris (1515).
63
Zu ihm Mocci, La cultura giuridica di Cino da Pistoia (1910); Kantorowicz, Rechtshistorische
Schriften (1970) 287 ff.
204 § 11 Epochen der Rechtswissenschaft
64
Vgl Troje, in Handbuch (Fn 48) 698, 773.
65
Métall, Hans Kelsen: Leben und Werk (1969).
66
Feichtinger, Wissenschaft zwischen den Kulturen. Biografie Albert Armin Ehrenzweig (2001).
67
Kegel, in: Grundmann/Riesenhuber, Deutschsprachige Zivilrechtslehrer des 20. Jahrunderts in
Berichten ihrer Schüler I (2007) 17 ff.
68
Medicus, in: Heinrichs/Franzki/Schmal/Stolleis (Hrsg), Deutsche Juristen jüdischer Herkunft
(1993) 543 ff und Falk, in: Stolleis (Hrsg), Juristen. Ein biographisches Lexikon (2001) 676 ff.
69
Vgl Kisch (Fn 61) 317 ff; Halkin, Erasmus von Rotterdam (1989); Riebhegge, Erasmus von
Rotterdam. Primus (2000). Beachtung verdienen auch noch Huizinga, Erasmus (1928) und Stefan
Zweig, Triumpf und Tragik des Erasmus von Rotterdam (1934).
III. Humanismus 205
Griechisch heißt die Tenne halos; auf der Malztenne aber bearbeitet der Mälzer das
Malz). Mit einem Stipendium des Rates von Zwickau (das den jungen Gelehrten
verpflichtete, später in städtischen Dienst zu treten) reiste Haloander nach Italien
und bereitete dort eine nur an den antiken Quellen orientierte, von allen Glossen
freie Ausgabe der Digesten, des Codex, der Institutionen und auch der griechisch
gefassten Novellen Justinians vor, die 1529–1531 in Nürnberg mit kräftiger Unter-
stützung des Rates dieser Stadt gedruckt wurde. Während moderne Editionen dar-
auf zielen, sich an der glaubwürdigsten Überlieferung zu orientieren, ging es Halo-
ander vor allem um einen gut lesbaren, eleganten Text. Er dürfte zahlreiche seither
verlorengegangene Handschriften und Abschriften verwendet haben. Viele Lesun-
gen seiner Konjekturalkritik werden noch von allen heute gebräuchlichen Editionen
übernommen oder wenigstens angemerkt. Für die Leidenschaft, die Humanisten
bei Handschriftensuche und Editionsarbeit aufbringen konnten, ist es bezeichnend,
dass Haloanders Tod auf seiner zweiten Italienreise von manchen Zeitgenossen (zB
1540 von Obsopolus) auf eine Vergiftung durch rivalisierende Italiener zurückge-
führt wurde70.
Der Praxis unmittelbar durch Entscheidungen oder Gutachten zu dienen, hatte
Haloander nie Gelegenheit. Was bei ihm durch seinen frühen Tod erzwungen wur-
de, entsprang bei anderen Humanisten der Verachtung für alles, was nicht mit der
Antike zu tun hatte, nicht zu den humaniora gehörte. So kann es nicht verwundern,
dass sich schon zu Ende des 16. Jh eine neue Richtung anbahnte – eine Richtung, die
mehr praktisch-dogmatisch als historisch-humanistisch orientiert war. Der Wechsel
zwischen gelehrten und pragmatischen Tendenzen kennzeichnet so die Abfolge der
wissenschaftlichen Schulen von den Glossatoren bis ins 19. Jahrhundert: Auf die
buchgelehrten Glossatoren folgen stärker praxisbezogene, dogmatisch orientierte
Kommentatoren. Mit den Humanisten erreicht die historisch-philologische Haltung
einen neuen Höhepunkt. Usus modernus und Vernunftrechtslehre sind aber wieder
unhistorisch. Savignys historische Schule dagegen tritt wenigstens in manchem in
die Fußstapfen der Glossatoren und der Humanisten. Die ihr folgende Begriffsju-
risprudenz ist wieder praxisbezogen und dogmatisch. Wie sich die Entwicklung,
die an einen dialektischen Prozess gemahnt, in jüngster Zeit fortsetzt, ist schwer zu
sagen, weil es an Distanz fehlt. Nur die Zukunft kann lehren, ob die Polarität zwi-
schen Historischem und Dogmatischem nun durch eine andere (etwa eine Polarität
zwischen Normativismus und Soziologismus) ersetzt wird.
Ihren Namen erhielt die auf den juristischen Humanismus folgende Richtung
vom Titel des erfolgreichen Hauptwerks von Samuel Stryk (1640–1710): Usus mo-
dernus pandectarum71. Nun steht wieder die praktische Anwendung des aus der Re-
zeption hervorgegangenen Rechtsstoffes im Zentrum des Interesses. Daher bezieht
man auch durchaus Unantikes, etwa die Reichspolizeigesetzgebung und die Ver-
ordnungen einzelner Landesfürsten72, in die Darstellung ein. Die Autoren des Usus
70
Zu Haloanders Biographie Kisch (Fn 61) 201 ff.
71
Zu ihm Söllner, in Handbuch (Fn 48) II/I (1977) 501 ff; s ferner Klemm, Eigentum und Eigen-
tumsbeschränkungen in der Doktrin des usus modernus pandectarum (1984).
72
Dazu für Brandenburg Scholz, Der brandenburgische Landrechtsentwurf von 1594 (1973).
206 § 11 Epochen der Rechtswissenschaft
modernus wollen ihre Leser darüber informieren, wie man ein Testament macht,
einen Vertrag aufsetzt und eine Klage einbringt. Sie schreiben forensisch, das heißt:
für das vor Gericht Wichtige. Zu ihnen gehören der von einer haltlosen Legende
als Hexenjäger verzeichnete Benedikt Carpzov (1595–1666, Jurisprudentia forensis
roma – saxonica, 1638), Pommerns angesehener Mevius (1609–1670), der Dog-
matiker des Lehnsrechtes Struve (1619–1692) und Augustin Leyser (1683–1752),
dessen Meditationes ad Pandectas die Kodifikatoren des 18. Jh stark beeinflussten.
Von diesen war besonders der Redaktor und Kommentator des bayerischen Codex
Maximilianeus (1756), Wiguleus Aloysius Kreittmayr (1704–1790), dem Usus mo-
dernus mehr verbunden als der Vernunftrechtslehre, die es im Übrigen war, die den
Kodifikatoren die Ideen gab.
Auf die Wurzeln der rationalistischen Naturrechtslehre des 18. Jh ist schon im
Paragraphen über die Rechtswissenschaft als Gerechtigkeitslehre hingewiesen wor-
den. Hugo Grotius ( Huigh de Groot, 1583–1645), der als Vater des Naturrechts
gilt, erweist sich bei näherem Zusehen als ebenso traditionsverflochten wie wohl
jeder, der über Recht nachdenkt. Die Jurisprudenz lässt eben längst nicht so viel
Originalität zu wie andere Disziplinen: mit ihrem Objekt, dem Recht, steht sie in
der Entwicklung der Gesellschaft und deshalb auch in deren Traditionsströmen und
deren Kontinuität. Der theologisch gebildete Patriziersohn aus dem holländischen
Delft, an dessen naturrechtlichem Denken sich alle späteren Vernunftrechtslehrer
orientierten, war vor allem von der spanischen Spätscholastik73, aber auch von den
Deutschen Oldendorp und Althusius74 abhängig. Der Begründer der Schule von Sa-
lamanca, Francisco de Vitoria (1480–1546), hatte ein privatrechtliches Konzept,
dem Otte75 nachgegangen ist. Eine beträchtliche Rolle spielte der Probabilismus76,
der sich mit der Art des Abwägens der Gründe für die Entscheidung darüber, was
in einem Zweifelsfall moralisch richtig sei, auseinandersetzt. In ihm bereiten sich
Denkweisen der beweglicheren Richtungen der neuzeitlichen Jurisprudenz vor.
Als Hofjuristen von Kaiser Karl V. die These aufstellten, es sei zulässig, die Völ-
ker der neuen Welt mit Gewalt dem Imperium einzuverleiben, trat ihnen De Vitoria
mit einer „Vorlesung über die Indianer“, mit der Relectio de Indis, entgegen77. Auch
den Heiden vindizierte er Personqualität, auch für sie behauptete er Rechtssubjek-
73
Zu ihr der von Grossi herausgegebene Sammelband „La Seconda Scolastica nella formazione
del diritto privato moderno“ (1973) und Bergfeld, in Handbuch (Fn 48) II/1 (1977) 1016 ff.
74
Vgl Reibstein, Johannes Althusius als Fortsetzer der Schule von Salamanca (1953); s weiter
Hüglin, Sozietaler Föderalismus. Die politische Theorie des Johannes Althusius (1991) und Car-
ney/Schilling/Wyduckel (Hrsg), Jurisprudenz, Politische Theorie und Politische Theologie. Sym-
posion zum 400. Jahrestag der Politika des Johannes Althusius 1603–2003 (2004).
75
Das Privatrecht bei De Vitoria (1964).
76
Zu ihm Otte in dem in Fn 73 zitierten Sammelband (283 ff).
77
Gegen das spanische Terrorregime in den Kolonien und für die Rechte der Indios engagierte
sich auch ein Zeitgenosse de Vitorias, der Dominikaner Bartolomé de Las Casas (1484–1566). Die
neuen Gesetze, die Karl V. 1542 erlassen hatte, um die Versklavung der Indios zu verbieten, waren
(ua) der Initiative de Las Casas zu danken. Der praktische Vollzug scheiterte freilich aus verschie-
denen Gründen. – Reinhold Schneider nannte Las Casas das Gewissen Europas. Seine Erzählung
über Las Casas (Las Casas vor Karl V.) erschien 1938 und wurde sogleich von den Nazis verboten.
IV. Renaissance des Naturrechts 207
tivität. Die Ordnung zwischen den Staaten gründete er nicht auf den Glauben (so
dass gegenüber Ungläubigen keine Rechtspflichten anzuerkennen wären), sondern
auf Naturrecht. So wurde das Völkerrecht zu einem Schwerpunkt naturrechtlicher
Fragestellungen78.
Nicht auf dem Boden katholischer Tradition, sondern auf den Gedanken der Refor-
mation bauen die Norddeutschen Oldendorp79 und Althusius80 ihre Naturrechtsleh-
ren auf. Bei beiden dominieren innenpolitische und damit staatsrechtliche Themen.
Oldendorp (1486–1567), der 1539 eine „Isagoge iuris naturalis“ publizierte, stand
in Lübeck an Wullenwebers Seite, Althusius (1557–1637) präsentiert in der „Poli-
tica methodice digesta“ (1603) eine naturrechtliche Theorie der Volkssouveränität,
die Otto von Gierke81 1880 als Vorwegnahme demokratischer Konzepte, insbeson-
dere auch des Repräsentativprinzips und des Rechtsstaatsgedankens, eingehend ge-
würdigt hat.
Die neue Naturrechtslehre, von Grotius mit dem 1623 vollendeten, zum Teil im
Gefängnis geschriebenen Werk „De iure belli ac pacis“ zum Siege geführt, ersetzt
die Autorität der Quelle durch die Autorität der Vernunft. Im Absolutheitsanspruch
der Rationalität begegnet sie sich mit Descartes „Discours de la methode de raison-
ner“ (1637). Gott vorauszusetzen ist nicht mehr denknotwendig. Atheistisch ist die
neue Lehre darum aber nicht: Grotius sagt zwar in § 11 der Prolegomena zu „De
iure belli ac pacis“, das Naturrecht gelte auch, wenn es Gott nicht gäbe; doch fügt er
sogleich hinzu, dass es äußerste Ruchlosigkeit wäre, das wirklich anzunehmen. Wie
Wieacker82 treffend anmerkt, setzt Grotius hier nur ein scholastisches Denkspiel
fort. Zu stärkerer Säkularisation des Naturrechts kommt es erst später, bei Pufendorf
und Thomasius83.
Grotius fand bei den Praktikern ein starkes Echo. Sein Werk zeichnete sich durch
humanistische Eleganz, aber auch durch klare Systematik aus. Mit der Lehre vom
78
Vgl den von Horst/Justenhoven und Stüben herausgegebenen Sammelband Francisco de Vi-
toria: Vorlesungen (Relectiones) Völkerrecht, Politik, Kirche (1995) und Grawert, Francisco de
Vitoria. Naturrecht – Herrschaftsordnung – Völkerrecht, Der Staat 39 (2000) 110 ff.
79
Vgl Kisch, Erasmus (Fn 61) 227 ff und Luig, Johann Oldendorp, Neue Deutsche Bibliographie
Bd 19 (1999) 514.
80
Vgl außer Reibenstein, Johannes Altusius als Fortsetzer der Schule von Salamanca (1953),
Friedrich, Johannes Althusius und sein Werk im Rahmen der Entwicklung der Theorie von der
Politik (1975).
81
Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorie (1880/1968).
82
(Fn 1) 266.
83
Doch auch bei diesen, vor allem bei Pufendorf, wirken rechtstheologische Elemente fort; Link,
Herrschaftsordnung und bürgerliche Freiheit (1979) 118.
208 § 11 Epochen der Rechtswissenschaft
84
Vgl Diesselhorst, Die Lehre des Hugo Grotius vom Versprechen (1959); Lipp, Die Bedeutung
des Naturrechts für die Ausbildung der Allgemeinen Lehren des deutschen Privatrechts (1980)
136 ff; in der Diktion von § 861 ABGB wirkt diese Lehre noch heute nach.
85
Noch ältere Ansätze der Lehre von der Geschäftsgrundlage weist Feenstra, in: Watson (Hrsg),
Daube noster (1974) 77 ff nach; vgl ferner Gieg, Clausula rebus sic stantibus und Geschäftsgrund-
lage. Ein Beitrag zur Dogmengeschichte (1994); vgl auch oben § 4 Fn 40.
86
Vgl Welzel, Die Naturrechtslehre Samuel Pufendorfs (1958); Denzer, Moralphilosophie und
Naturrecht bei Samuel Pufendorf (1972); Hüning (Hrsg), Naturrecht und Staatstheorie bei Samuel
Pufendorf (2009); S Müller, Samuel von Pufendorfs Stärkung des neuzeitlichen Autonomiege-
dankens. Naturrechtliche Erkenntnis als actio humana, Theologische Quartalschrift 2011, 242 ff.
87
Nova methodus discendae docendaeque iurisprudentiae (1667); dazu Hans-Peter Schneider,
Justitia universalis (1967); Liske, Gottfried Wilhelm Leibniz (2000) und Poser, Gottfried Wilhelm
Leibniz zur Einführung2 (2010).
V. Die Idee der Kodifikation 209
Alles am Naturrecht drängte zur Kodifikation: der Optimismus der Vernunft, der
Erfolg im Kampf um Systemklarheit, die Überzeugung von der Zeitlosigkeit der
rational gewonnenen Erkenntnis. Die unmittelbare Arbeit an den Kodifikationen
prägt eine besondere Gruppe von Naturrechtslehrern, die man Kodifikationsjuris-
ten nennen könnte90: den Bayern Kreittmayr, die Preußen Coccei und Suarez, die
Österreicher Martini91 und Zeiller92. Sie alle hatten Ansehen und Vertrauen beim
absoluten Monarchen, genossen recht viel geistige Freiheit und repräsentierten ein
leistungsfähiges Bündnis von Intellekt, Politik und Aufklärungsoptimismus. In der
Kunst der Verständlichkeit sind sie von der neueren Legistik nicht übertroffen wor-
den.
Dennoch stieß ihr Werk alsbald auf herbe Kritik. Deren Wortführer, Friedrich
Carl von Savigny (1779–1861) war der Begründer einer neuen Richtung, der histo-
rischen Schule der Rechtswissenschaft93. Dieses juristische Pendant der Romantik
setzte gegen die Vernunft die Geschichte, gegen das abstrakte Raisonnement den
88
Christian Thomasius, Ein deutscher Gelehrter ohne Misere (1954); vgl ferner Rüping, Die Na-
turrechtslehre des Christian Thomasius (1968); Bühler, Die Naturrechtslehre und Christian Tho-
masius (1655–1728; 1991) und Peter Schröder, Christian Thomasius zur Einführung (1998).
89
Dazu etwa Simson, Einer gegen Alle (1972) und Hammes, Hexenwahn und Hexenprozesse
(1977); lesenswert ist auch der Roman von Michael Kunze, Straße ins Feuer (1982) über das
Schicksal der Famile Papenheimer.
90
Vgl Coing/Wilhelm (Hrsg), Wissenschaft und Kodifikation des Privatrechts im 19. Jahrhundert,
Bd 1 (1974); Hübner, Kodifikation und Entscheidungsfreiheit des Richters in der Geschichte des
Privatrechts (1980) 22 ff; beachtenswert auch Strakosch, State Absolutism and the Rule of Law
(1967).
91
Hebeis, Karl Anton von Martini (1996); Rainer, in: Geistlinger/Harrer/Mosler/Rainer, 200 Jahre
ABGB – Ausstrahlungen (2011) 25, 28 ff.
92
Zu ihm Selb/Hofmeister (Hrsg), Forschungsband Franz von Zeiller (1980).
93
Zu ihr etwa Wieacker, Wandlungen im Bilde der historischen Rechtsschule (1967); ders, Pri-
vatrechtsgeschichte der Neuzeit2 (1967) 348 ff; Stuhler, Die Diskussion um die Erneuerung der
Rechtswissenschaft von 1780–1815 (1978); Wesenberg/Wesener, Neuere deutsche Privatrechts-
geschichte4 (1985) 170 ff. – Zu Savigny vgl insb Erik Wolff, Große Rechtsdenker der deutschen
Geistesgeschichte4 (1963) 467 ff; Schroeder, Vom Sachsenspiegel zum Grundgesetz – eine deut-
210 § 11 Epochen der Rechtswissenschaft
sche Rechtsgeschichte in Lebensbildern (2002) 85 ff und Dieter Nörr, Carl von Savigny, Neue
Deutsche Biographie Bd 22 (2005) 470 ff.
94
Das Deutsche Genossenschaftsrecht I (1868), II (1873), III (1881), IV (1913, unvollendet). –
Zur Aktualität Gierkes s etwa Ott, Recht und Realität der Unternehmenskorporation (1977); Bock,
Rechtstheorie 25 (1994) 87 ff. und K Schmidt, Gesellschaftsrecht4 (2002) § 8 II 3.
95
Der Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuchs und das deutsche Recht (1889); Die soziale Aufga-
be des Privatrechts (1889); dazu Pfeiffer-Munz, Soziales Recht ist deutsches Recht (1979).
V. Die Idee der Kodifikation 211
96
3. Aufl (1980).
97
Eine Fortsetzung fand dieses Werk in dem großen Sammelwerk Ius Romanum Medii Aevi (in
vielen Teilbänden), dem sog „Neuen Savigny“.
98
Zu ihm (sehr lebendig und interessant) Wickert, Theodor Mommsen, 4 Bde (1959–1980); s
weiter Christ, Theodor Mommsen und die „Römische Geschichte“6 (2001); Rebenich, Theodor
Mommsen – Eine Biographie (2002); Sturm, Theodor Mommsen, Gedanken zu Leben und Werk
des großen deutschen Rechtshistorikers (2006) und Rainer, Theodor Mommsen (1817–1903) FS
200 Jahre Juristische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin (2010) 277 ff.
212 § 11 Epochen der Rechtswissenschaft
Eine solche Rechtsfigur aus der Retorte (gewissermaßen ein juristischer homun-
culus), die sich zu bewähren vermochte, ist die um 1890 ersonnene, alsbald vom
Gesetzgeber ins Leben gerufene Gesellschaft mit beschränkter Haftung.
Die auf Puchta99 folgenden Pandektisten zeichnen sich alle durch Klarheit ihrer
Systementwürfe, durch Scharfsinn und Präzision aus. Zu nennen sind insbesondere
Vangerow (1808–1870), Brinz (1820–1887) und Bekker (1827–1916). Die Sum-
me der Schule ziehen Dernburg (1829–1907) und Windscheid (1817–1892), deren
Einfluss auf das BGB beträchtlich war. Das von der Pandektistik zugrunde gelegte
Zivilrechtssystem, das Pandektensystem, wurde zum System des BGB und nahezu
aller modernen Darstellungen des bürgerlichen Rechts. Die dogmatischen Abgren-
zungen, zu denen die Pandektisten gelangten, und von ihnen präzisierte Rechtsfigu-
ren sind aus der Privatrechtslehre nicht mehr wegzudenken. Während die Fernwir-
kung der historischen Schule bescheiden blieb, erzielte die Pandektistik im Ausland
ein starkes Echo. Auf Österreich100 wirkte sie durch Josef Unger (1828–1913), auf
die Schweiz durch Bluntschli und Keller ein. Nach Belgien vermittelte sie (aller-
dings zusammen mit naturrechtlichen Reminiszenzen) Warnkönig, in der italieni-
schen Dogmatik stößt man noch heute auf ihre Spuren.
Die erste und schärfste Kritik der pandektistischen Begriffsjurisprudenz kam aus
den eigenen Reihen. Seit 1861 erschienen – zuerst anonym – die „Vertraulichen
Briefe eines Unbekannten an die Herausgeber der Preußischen Gerichtszeitung“.
In ihnen wurde der von der Pandektistik errichtete Begriffshimmel sarkastisch ver-
spottet, die Distanz zur Praxis verhöhnt: Man konstruiere kunstvolle Uhren, die
nicht zu gehen brauchten. Schon hatten andere Kritiker der zeitgenössischen Juris-
prudenz ebenfalls „vertrauliche Briefe“ in der Preußischen Gerichtszeitung publi-
ziert, da bekannte sich Jhering101 als Urheber der vier von ihm stammenden Briefe,
die man heute in „Scherz und Ernst in der Jurisprudenz“ nachlesen kann. Jhering
(1818–1892), der vordem die Konstruktionsjurisprudenz als „naturhistorische Me-
thode“ gepriesen hatte, löste die Frage nach dem Begriff durch die nach dem Zweck
ab. Ein funktionales Verständnis der Normen griff Platz: Recht wird als Instrument
99
Zu ihm Bohnert, Über die Rechtslehre Georg Friedrich Puchtas (1975); Henkel (Begriffsjuris-
prudenz und Billigkeit: zum Rechtsformalismus der Pandektistik [2004]) widerlegt die These,
Puchta stehe für einen Rechtsformalismus, der für Billigkeit, Berücksichtigung der Interessenlage
usw keinen Raum lasse.
100
Vgl Ogris, Der Entwicklungsgang der österreichischen Rechtswissenschaft im 19. Jahrhundert
(1968); lesenswert auch Losano, Der Briefwechsel Jherings mit Unger und Glaser (1996).
101
Über ihn Pasini, Saggio sul Jhering (1959); Wieacker, Rudolf von Jhering2 (1968); Fikent-
scher, Methoden des Rechts III (1976) 101 ff; zu seinem bis heute wirksamen Einfluss Wieacker/
Wollschläger (Hrsg), Jherings Erbe (1970) und Behrends (Hrsg), Jherings Rechtsdenken. Theorie
und Pragmatik im Dienste evolutionärer Rechtsethik (1996).
VI. Pandektistik, Begriffsjurisprudenz, Interessenjurisprudenz 213
102
Jhering, Der Kampf ums Recht (1872).
103
Über diese Riebschläger, Die Freirechtsbewegung (1968); Moench, Methodologische Bestre-
bungen der Freirechtsbewegung (1971).
104
Freie Rechtsfindung und freie Rechtswissenschaft (1903); über ihn: Manfred Rehbinder, Die
Begründung der Rechtssoziologie durch Eugen Ehrlich2 (1986).
105
1906 unter dem Pseudonym Gnaeus Flavius veröffentlicht; aus neuerer Zeit dazu etwa Laut-
mann, in: Estermann (Hrsg), Der Kampf ums Recht (2011) 48, 49 ff.
106
Ernst Fuchs, Schreibtischjustiz und Richterkönigtum (1907); Ogorek, Richterkönig oder Sub-
sumtionsautomat2 (2008)
107
Statt vieler Meier-Hayoz, Der Richter als Gesetzgeber (1951); Zöllner Die Privatrechtsgesell-
schaft im Gesetzes- und Richterstaat (1996).
108
Vgl Edelmann, Die Entwicklung der Interessenjurisprudenz (1967); Dombeck, Das Verhältnis
der Tübinger Schule zur deutschen Rechtssoziologie (1969); Ellscheid/Hassemer (Hrsg), Interes-
214 § 11 Epochen der Rechtswissenschaft
Ihren Namen hat diese von Philipp Heck109, Müller-Erzbach und Stoll vertretene
Richtung davon, dass sie alles Recht als Interessenschutz betrachtet. Das Gesetz
wird vor allem als Dokument der Interessenbewertung gesehen. Um richtige Fall-
entscheidungen zu gewinnen, müsse man nicht unter Begriffe subsumieren, sondern
fragen, welche der kollidierenden Interessen von der Rechtsordnung höher bewertet
wird.
Die Interessenjurisprudenz ist wie die meisten der vor ihr besprochenen Richtun-
gen der neueren Rechtswissenschaft vor allem auf das Privatrecht bezogen110. Ihr
Thema ist das Verhältnis des Richters zum Gesetz, die Art des Verstehens und An-
wendens der Norm. Nach den Strukturmerkmalen der Norm selbst zu fragen, hatten
die Zivilisten ungleich weniger Anlass als die Öffentlichrechtler. Aus deren Lager
ist als bedeutendste Richtung die reine Rechtslehre von Kelsen zu nennen, deren
hauptsächliche Positionen schon im Paragraphen über die Norm behandelt wurden.
Ebenso wie Kelsen geht auch Stammler (1856–1938) von Kant111 aus. Stammlers
„Theorie der Rechtswissenschaft“112 qualifiziert das Wollen als Grundkategorie des
Rechts und führt zum Ideal einer Gemeinschaft frei wollender Menschen. Da das
Wollen nach Stammler unter der Anforderung der Richtigkeit steht, will er – ob-
wohl nicht „Naturrechtler“ – anders als Kelsen zwischen richtigem und unrichtigem
Recht unterscheiden113.
Der Einfluss von Kant auf die Rechtswissenschaft wird nur noch von Hegel über-
troffen. Rechtsidee, Dialektik oder konkret-allgemeiner Begriff sind die Elemen-
te, mit denen sich spätere Strömungen bis hin zum „Neuhegelianismus“ befassen.
Dabei ist die Vorstellung einer dialektischen Auflösung von Gegensätzen nicht neu.
Man findet sie etwa im 15. Jahrhundert bei Nikolaus von Kues (Cusanus) in der
Figur der coincidentia oppositorum („Zusammentreffen von Gegensätzen“).
Bei den sich auf Hegel berufenden Richtungen stößt man auf größere Gegensätz-
lichkeiten. Eine von Hegel ausgehende Alternative zu historischer Schule und Pan-
dektistik suchte Eduard Gans (1797–1839) mit seinem universalistischen „Erbrecht
in weltgeschichtlicher Entwicklung“. Zum Wortführer eines juristischen Neuhe-
gelianismus wurde Julius Binder (1870–1939), der die Rechtsidee ins Zentrum
der „Philosophie des Rechts“ (1925) stellte. Das Recht wird als objektiver Geist
eines Volkes gesehen – was gewisse Entsprechungen zu Savignys Volksgeistlehre
erschließt. Die schon in Hegels Rechtslehre dominante Stellung des Staates wird
vom juristischen Hegelianismus noch stärker betont114. Darin mag die Anfälligkeit
hegelianischer Juristen für den Nationalsozialismus und die Bewunderung national-
sozialistischer Juristen für Hegel ihren Grund haben. Carl Schmitt115, der als Den-
ker bedeutendste und als Legitimator des Systems am meisten schuldig gewordene
Autor aus diesem Kreis, feiert Hegel als Summe des deutschen Widerstandes gegen
Liberalismus und Positivismus, als Philosoph des „konkreten Ordnungsdenkens“.
Es besteht aber auch eine unverkennbare Affinität marxistischer Rechtsdenker zu
Hegel116. Die Betonung des Sittlichen in der Qualifikation des Rechts als objektiver
Geist ermöglichte es sogar konservativen Katholiken, zu positiver Hegel-Interpre-
tation zu gelangen117. Hegel ist in der Tat der für Juristen attraktivste Philosoph.
Die dialektische Methode entspricht dem ewigen Widerstreit der Argumente und
der Dogmen, aber auch der Wahrheitsfindung in mehrinstanzlichen Prozessen. Sie
steht für eine Aufhebung des Widerspruches zwischen Sollen und Sein, zwischen
Naturrecht und Positivismus. Der konkret-allgemeine Begriff ist dem eigentüm-
lichen Charakter vieler Rechtsbegriffe adäquat. So findet man mit Dulckeit118 und
Larenz119bedeutende Rechtsdenker der neueren Zeit unter den Hegelianern, wobei
namentlich letzterer nicht akzeptable Konzessionen an die NS-Ideologie gemacht
hat.
Die dritte philosophische Konzeption, die deutlich auf die Jurisprudenz der Ge-
genwart einwirkt, ist die Phänomenologie. Edmund Husserl und Nicolai Hartmann
haben auf die Jurisprudenz besonders durch Reinach120und Gerhard Husserl121 stär-
keren Einfluss gewonnen. Mit der Anerkennung eines materialen Apriori des Rechts
beziehen die Phänomenologen eine antipositivistische Position. Sie beanspruchen
114
Dazu Scheuner, in: Studium Berolinense (1960) 129 ff.
115
Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens (1934).
116
Vgl Beyer, Hegel-Bilder (1967) und das von Beyer herausgegebene Hegel-Jahrbuch, besonders
Bd 1975.
117
So Marcic, Hegel und das Rechtsdenken (1970).
118
Rechtsbegriff und Rechtsgestalt. Untersuchungen zu Hegels Philosophie des Rechts und ihrer
Gegenwartsbedeutung (1936) 113 schrieb, dass Hegel die rechtlichen Grundlagen für die Neuge-
staltung des nationalsozialistischen Rechts im deutschen Geiste geschaffen habe; s noch Groß-
mann, Recht verkehrt, Hegels Rechtsphilosophie im Neuhegelianismus, in Wischke/Przylebski
(Hrsg) Recht ohne Gerechtigkeit? (2010) 191 ff.
119
Das Problem der Rechtsgeltung (1929/1967); zur rassenideologischen Verstrickung im Natio-
nalsozialismus s Larenz Rechtsperson und sujektives Recht – Zur Wandlung der Rechtsgrundbe-
griffe in: Dahm ua (Hrsg), Grundfragen der neuen Rechtswisssenschaft (1935) 225, 241 („Rechts-
genosse ist nur, wer Volksgenosse ist“); dazu Canaris, Deutschsprachige Zivilrechtslehrer im 20.
Jahrhundert ("Hrsg Riesenhuber/St Grundmann) Bd 2 (2010) 261 ff, 273 f; dagegen die Kritik von
Rüthers JZ 2011 593 ff und die weitere Diskussion in JZ 2011 879 ff und 1149 ff.
120
Die apriorischen Grundlagen des bürgerlichen Rechts (1913) = Zur Phänomenologie des
Rechts (1953).
121
Recht und Zeit (1955); Recht und Welt (1964).
216 § 11 Epochen der Rechtswissenschaft
für rechtliche Gebilde wie das Eigentum und die Obligation ein Sein ähnlich dem
der Zahlen oder der Bäume. Eine anschauende Erfassung dieser Seinsweisen soll
die Rechtserkenntnis vertiefen. Argumente aus der Natur der Sache gelangen so zu
hohem Ansehen. Der Anteil der gesellschaftlichen Wertentscheidung dagegen wird
oft verkürzt; was in Wahrheit Wertung ist, wird in Erfassung von Vorgegebenheiten
umgedeutet.
Verhältnismäßig bescheiden blieb bisher der Einfluss von in England und Skan-
dinavien entwickelten Richtungen auf Mitteleuropa. Diese Richtungen zeichnen
sich durch ein verstärktes Bemühen um Realismus aus122. Vor allem die skandi-
navischen Autoren123 bemühen sich um „Entzauberung“ des Rechts. Es wird als
höchst diesseitiges Machtgebilde gesehen, seine Überhöhung in Theorien wie der
des subjektiven Rechts als Magie oder Mystik disqualifiziert. Den Anfang machte
Hägerström (1868–1939) mit einer Kritik des Begriffs der Obligation124. Lunds-
tedt125 warf aller bisherigen Rechtswissenschaft vor, dass sie auf ideologischen
Grundlagen aufbaue, meinte aber, dass sich jede Rechtsfrage durch Orientierung
am gemeinen Nutzen entscheiden lasse. Dass auch diese Haltung nicht realistisch
sei, betonte Ross126. Nach Ross ist das geltende Recht der Ausdruck einer Ideologie,
die den Richter tatsächlich beseelt und deshalb seine Entscheidungen motiviert.
Andere führende Vertreter des skandinavischen Realismus sind Olivecrona127mit
seiner Lehre vom Gesetz als Gehorsamssignal und Ekelöf, der die teleologische
Interpretationslehre im Geist der Schule adaptierte.
Im Bemühen um Realismus sind die skandinavische und die angloamerikanische
Jurisprudenz128 einig. Ihre besondere Note erhält die jurisprudence durch das Stre-
ben nach Analyse. Schon die dem Recht geltenden Aussagen in der Entwicklung
einer Philosophie des Utilitarismus durch Jeremy Bentham (1748–1832) weisen auf
eine analytische Methode129. Das Recht soll nach Bentham zu einem Instrument
der Verwirklichung des größten Glücks der größten Zahl gemacht werden. Es wird
damit einer funktionalen Betrachtung unterworfen. Nicht Gerechtigkeit, sondern
Gemeinnützlichkeit erscheint als Maßstab des Rechts. Dies vertieft in seiner sehr
einflussreichen Weise der Rechtspositivismus von John Austin (1750–1859)130. Er
stellt eine juristische Artikulierung des politischen Liberalismus dar. Zentrale Be-
122
Zum amerikanischen wie zum skandinavischen Rechtsrealismus Krawietz, Juristische Ent-
scheidung und wissenschaftliche Erkenntnis (1978) 115 ff.
123
Überblick über ihre Leitgedanken geben Jørgensen, Juristenzeitung (1970) 529 ff; Vogel, Der
skandinavische Rechtsrealismus (1972); Bjarup, Skandinavischer Realismus (1978).
124
Der römische Obligationsbegriff, 2 Bde (1927/1941); vgl ferner: Olivecrona (Hrsg), Recht,
Pflicht und bindende Kraft des Vertrages (1965).
125
Die Unwissenschaftlichkeit der Rechtswissenschaft, 2 Bde (1932/1936).
126
On Law and Justice (1958).
127
Gesetz und Staat (1940); s noch Olivecrona, Law as Fact2 (1971).
128
Zu deren Entwicklung Fikentscher, Methoden des Rechts, Bd 2 (1975); Krawietz, Juristische
Entscheidung und wissenschaftliche Erkenntnis (1978) 86 ff.
129
Hart (Hrsg) Bentham, Of Laws in General (1970), sowie Hart, Rechtstheorie (1971) 55 ff.
130
Zu Austin vgl Löwenhaupt, Politischer Utilitarismus und bürgerliches Rechtsdenken (1972).
VIII. Neuere Ansätze 217
deutung hat für Austin der Souveränitätsbegriff. Die Geltung aller Rechtssätze be-
ruht auf Souveränität.
131
The Concept of Law (1969); dazu Krawietz 89 ff; Eckmann, Rechtspositivismus und sprach-
analytische Philosophie (1969).
132
Rechtsquellenfragen im Arbeitsrecht (1969); Adomeit empfiehlt eine „open-texture-Theorie“,
nach der man sich nicht an einem geschlossenen Rechtsquellensystem zu orientieren hat, sondern
die Rechtsordnung als ein bewegliches Gefüge von veralternden Normen, unbestritten geltenden
Normen und Normvorschlägen anzusehen ist.
133
Dworkin, Taking Rights Seriously (1977); ders, Law’s Empire (1986). Ders, Gerechtigkeit für Igel
(2012), befasst sich mit dem Satz des altgriech. Lyrikers Archilochos (7. Jh vChr) „der Fuchs weiß
viele Dinge aber der Igel weiß eine große Sache“. Der Sinn dieses Satzes ist nicht ganz klar; vielleicht
ist dasselbe gemeint wie in dem Sprichwort non multa sed multum - nicht Vielerlei, sondern Viel. S
noch I Berlin, Der Igel und der Fuchs, Essay über Tolstojs Geschichtsverständnis (1953/2009); s auch
Maultzsch (§ 6 Fn 56) 5 ff. Am ehesten geht es um die (vielen) Teile und das systematische Ganze. –
Eine Einführung bietet Dworkin, Was ist Gleichheit? (2011); s auch oben § 4 VI.
134
Zur Gerechtigkeit als Fairness besonders Rawls, A Theory of Justice (1971), deutsch: Eine
Theorie der Gerechtigkeit (1975) 28 ff (oben § 1 Fn 12, § 8 Fn 31). Aus der deutschen Literatur
vgl dazu etwa Höffe, Gerechtigkeit4 (2010) 66 ff; Wolfgang Huber, Gerechtigkeit und Recht –
Grundlinien christlicher Rechtsethik3 (2006/2013) 220 ff; Kaufmann, in: Kaufmann/Hassemer/
Neumann (Hrsg) Einführung (§ 10 Fn 3) 106 ff und Mahlmann, Rechtsphilosophie und Rechts-
theorie2 (2012) 167 ff.
135
Für die im deutschen Sprachraum geführte Prinzipiendiskussion ist nochmals Larenz (s oben
Fn 113) zu nennen; vgl weiter Bydlinski, Fundamentale Rechtsgrundsätze (1988); ders, Fundmen-
218 § 11 Epochen der Rechtswissenschaft
tale Rechtsgrundsätze in der Löwengrube, RTh 22 (1991) 199 ff. Penski, Rechtsgrundsätze und
Rechtsregeln, JZ 1989, 105 ff; Hörster, Die aktuelle Diskussion über die Funktion von Rechtsprin-
zipien, ARSP 77 (1991) 257 ff. – Ein früher und wichtiger Beitrag stammt von Werner Lorenz, Ge-
neral Principles of Law: Their Elaboration in the Court of Justice of the European Communities,
American Journal of Comparative Law 13 (1964) 1 ff.
136
The Nature and Sources of Law (1909).
137
Zu ihm besonders Fikentscher (Fn 101) 151 ff und Kaufmann, in: Kaufmann/Hassemer/Neu-
mann (Hrsg), Einführung (§ 10 Fn 3) 53.
138
The Common Law (1881); Law and the Court (1931).
139
Cardozo, The Nature of the Judicial Process (1921).
140
Zu ihr N Horn, AcP 176 (1976) 307 ff; Prisching, in: Grazer Juristenfakultät (Hrsg), Reformen
des Rechts (1979) 995 ff; Gotthold, ZHR 144, (1980) 545 ff und vor allem Mestmäcker, A Legal
Theory without Law (2007).
141
Economic Analysis of Law7 (2007); vgl auch die Zeitschrift „Journal of Legal Studies“. – In
neuerer Zeit wandte sich Posner keynsianischen Ideen zu. Eine seiner jüngsten Publikationen trägt
den Titel „How I became a Keynesian“ (The New Republic, 23.9.2009).
VIII. Neuere Ansätze 219
Wahrheit ist gerade bei irrtümlichen Erklärungen stets auch das schutzwürdige Ver-
trauen des Erklärungsempfängers zu würdigen. Sozialethische Aspekte wie dieser
haben selbständige, aber auch ökonomische Relevanz. Am einen wie am anderen
gehen die meisten Autoren der Economic Analysis of Law vorbei. Daher konnten
sie sich sogar in Diskussionen über die ökonomischen Aspekte der Entscheidung
zwischen Todesstrafe und Haftstrafe verstricken. Wenn man die neue Lehre auch
Theorie der Property Rights nennt, so wird dabei nicht ein zivilistischer Eigen-
tumsbegriff zugrunde gelegt. Man denkt vielmehr an alle ökonomisch relevanten
Dispositionsmöglichkeiten und greift daher sogar erheblich über den schon stark
ausgedehnten Eigentumsbegriff der verfassungsrechtlichen Judikatur zum Grund-
rechtsschutz des Eigentums (§ 5 VIII) hinaus.
Mittlerweile erfasst die ökonomische Analyse nahezu sämtliche Gebiete und
Teilgebiete des Rechts142. Auch der Wettbewerb der Rechtsordnungen ist in die-
sem Kontext zu nennen143. Über die Frage der Übertragbarkeit ökonomischer Ent-
scheidungsprozesse auf das Recht werden freilich sehr unterschiedliche Meinungen
vertreten144. Neben der Rechtsanwendung soll die ökonomische Analyse auch für
die Gesetzgebungslehre fruchtbar gemacht werden. Richtig daran ist, dass auch die
Jurisprudenz ohne Folgenanalyse und Effizienzkontrolle nicht auskommt, an der
sich eine zukünftige Gesetzgebung orientieren kann.145
So oft die Jurisprudenz an die Philosophie anknüpft, so selten orientiert sie sich
an der Psychologie. In eine eingehende Auseinandersetzung mit Freud sind die Ju-
risten durch Jahrzehnte nicht eingetreten, obwohl etwa dessen Deutung der Persön-
lichkeitsstruktur fundamentale Positionen des Strafrechts und des Schadensersatz-
rechts tangiert. Eine interessante Ausnahme macht Albert A. Ehrenzweig146. Die Ge-
rechtigkeit ist ihm ein Trugbild, nur über „Gerechtheiten“ erscheint ihm sinnvolle
Diskussion möglich. Was als Problem von Recht und Gerechtigkeit erscheint, soll
der Psychoanalyse unterworfen werden. So kommt es zB zu einer Unterscheidung
zwischen „ödipalen“ und „postödipalen“ Vergehen. Ehrenzweigs Buch ist ein Spät-
werk, reich an Wissen und arm an Sprengkraft. Seine Thesen wirken akademisch.
142
Eine repräsentative Übersicht bieten der von Eger und Schäfer herausgegebenen Sammelband
Ökonomische Analyse der europäischen Zivilrechtsentwicklung (2007) und Adams, Ökonomische
Theorie des Rechts (2002). Auch die soeben erschienene FS für Michael Adams (2013) ist diesem
Themenkreis gewidmet.
143
S etwa Kieninger und Kerber, in: Eger/Schäfer (vorhergehende Fn) 170 ff, 203 ff.
144
Vgl zB Frank, Die „Rationalität“ einer ökonomischen Analyse des Rechts, Zeitschrift für
Rechtssoziologie 1986, 191 ff.; Kötz, Die ökonomische Analyse des Rechts, ZGV 1993, 57 ff; F.
Müller, in: Buckel/Christensen/Fischer-Lescano (Hrsg), Neue Theorien des Rechts2 (2008) 351 ff;
J Schneider, in: Kaufmann/Hassemer/Neumann (Hrsg), Einführung (§ 10 Fn 3) 353 ff und Effer-
Uhe, Die ökonomische Analyse des Rechts und ihre Verwendbarkeit im Rahmen der Rechtsan-
wendung, ZRph 2013, 39 ff.
145
S Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip. Möglichkeiten und Grenzen der ökonomischen
Analyse des Rechts (3. Aufl 2005) 13.
146
Psychoanalytische Rechtswissenschaft (1973). – Eine Zusammenfassung psychoanalytischer
Ansätze im Recht liefert Häußler, in: Buckel/Fischer-Lescano (Hrsg), Neue Theorien des Rechts
(2008) 307 ff.
220 § 11 Epochen der Rechtswissenschaft
So bleibt die Erprobung der Chancen einer der Psychologie verpflichteten Jurispru-
denz künftigen Ansätzen vorbehalten.
Ähnlich steht es um die bisherige juristische Adaptierung des Strukturalismus147.
Nicht nur die Entwicklung einer Sprache, sondern auch die eines Rechts kann als
Folge von Zuständen eines zusammenwirkenden Systems begriffen werden. Die
Strukturen eines Systems erscheinen als bedingende Kräfte. Insoweit ergeben sich
Entsprechungen zu marxistischen Behauptungen einer Determiniertheit der Rechts-
entwicklung148. Die Voraussetzung sozialer Systeme mit bestimmten Strukturen
hat Luhmann149 zu bemerkenswerten Annahmen über die Aufgaben des Rechts ge-
führt150. Seine Systemtheorie, welche alle gesellschaftlichen Phänomene zu erklä-
ren versucht, von denen das Recht ein Teilaspekt ist,151 verliert sich allerdings im
Nirgendwo inhaltsleerer Begriffe152.
Größere Affinität zur Denkweise der Juristen und stärkeren Widerhall bei diesen
hat der besonders von Popper153 und Albert154 getragene kritische Rationalismus.
Nur Aussagen, die auch einer Falsifizierung zugänglich sind, dürfen nach dieser
Konzeption als wissenschaftliche gemacht werden. Die prinzipielle Falsifizierbar-
keit grenzt für den kritischen Rationalismus den Bereich der Erfahrungswissen-
schaft von dem der Metaphysik ab. Den Geisteswissenschaften wird ebenso wie den
Sozialwissenschaften eine erkenntnistheoretische Sonderstellung verweigert. In der
Hermeneutik als Kunstlehre der Auslegung wird nur eine technologische Disziplin
gesehen155. Albert156 leugnet nicht, dass Jurisprudenz dogmatisch, normativ und
hermeneutisch verfahren könne, gibt aber „von einer kritizistischen Wissenschafts-
auffassung her“ einer „theoretisch fundierten Technologie“ den Vorzug. Engagierte
Opposition gegen den kritischen Rationalismus hat Henke157 vorgetragen: Das Prin-
zip der Falsifizierung bedeute nichts anderes, als dass auf Gewissheit der Ergeb-
nisse verzichtet, aber an allen logischen und empirischen Garantien der Gewissheit
festgehalten werde, obwohl diese keine Gewissheit über allgemeine Sätze schaffen
147
Vgl Levy-Strauss, Strukturale Anthropologie (1967); Schiwy, Der französische Strukturalismus
(1969).
148
Vgl Polacek, The Irish Jurist (1971) 372 ff.
149
Zweckbegriff und Systemrationalität (1968); Rechtssystem und Rechtsdogmatik (1974).
150
Zu Luhmann etwa Büllesbach, Systemtheorie im Recht, in: Kaufmann/Hassemer/Neumann
(Hrsg), Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart8 (2011) 447 ff.
151
S Luhmann: Soziale Systeme: Grundriss einer allgemeinen Theorie. (1. Aufl 1987, Nachdruck
2006); ders, Einführung in die Systemtheorie (5. Aufl 2009); ders, Theorie der Gesellschaft (2002)
9 Bde.
152
Vgl oben § 6 bei Fn 74.
153
Logik der Forschung7 (1982); Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie (1979); s dazu
auch Kaufmann, in: Kaufmann/Hassemer/Neumann (Hrsg), Einführung (Fn 150) 142.
154
Traktat über kritische Vernunft2 (1969); Plädoyer für kritischen Rationalismus (1971); Konst-
ruktion und Kritik, 1972; Traktat über rationale Praxis (1978).
155
Albert, Konstruktion und Kritik (1972) 205.
156
240. – Dazu etwa Neumann, in: Kaufmann/Hassemer/Neumann, Einführung (Fn 150) 397 ff.
157
Kritik des kritischen Rationalismus (1974); dagegen wiederum Döring, Rechtstheorie (1977)
219 ff.
VIII. Neuere Ansätze 221
können. Das ganze System der sicheren Erkenntnis bleibe bestehen, doch werde
ihm sein Ziel genommen. Entschieden verteidigt Henke den hermeneutischen Cha-
rakter der Jurisprudenz. Von Sachproblemen ist die Diskussion über die juristische
Applikation des kritischen Rationalismus bisher im Ganzen recht weit entfernt ge-
blieben158. Die hauptsächlichen Gründe für den unbefriedigenden Diskussionsstand
dürften einerseits im erkenntnistheoretischen Totalitätsanspruch des kritischen Ra-
tionalismus zu suchen sein, der sich allen anderen Denkweisen widersetzt, anderer-
seits im Fehlen eines mit juristischen Sachfragen tiefer vertrauten Repräsentanten
dieser Richtung.
158
Vgl immerhin Heurle, Rechtstheorie (1978), 77 ff. zu Suhr, Bewusstseinsverfassung und Ge-
sellschaftsverfassung (1975).
§ 12 Gebiete des Rechts und Disziplinen der
Rechtswissenschaft
Inhaltsverzeichnis
I. Die Einteilung des Rechts ���������������������������������������������������������������������������������������������������� 224
II. Öffentliches Recht �������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 228
III. Privatrecht ������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 232
1. Allgemeines Zivilrecht �������������������������������������������������������������������������������������������������� 232
2. Sondergebiete des Privatrechts �������������������������������������������������������������������������������������� 235
IV. Verfahrensrecht ������������������������������������������������������������������������������������������������������������������ 240
V. Europarecht ������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 243
1. Allgemeines ������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 243
2. Historische Perspektiven ����������������������������������������������������������������������������������������������� 244
3. Organe der EU ��������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 246
4. Quellen des Unionsrechts ���������������������������������������������������������������������������������������������� 249
5. Charakterisierung und Kritik des Europarechts ������������������������������������������������������������ 250
6. Die Judikatur des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) ������������������������������������������������� 258
7. Korrektur durch das Bundesverfassungsgericht? ���������������������������������������������������������� 262
8. Ausblick ������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 262
VI. Völkerrecht ����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 264
VII. Weitere Gebiete ��������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 267
1. Übersicht ����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 267
2. Rechtsphilosophie ��������������������������������������������������������������������������������������������������������� 267
3. Rechtstheorie ����������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 269
4. Rechtslogik �������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 270
5. Kybernetik des Rechts ��������������������������������������������������������������������������������������������������� 271
6. Rechtssoziologie ������������������������������������������������������������������������������������������������������������ 272
7. Rechtspsychologie ��������������������������������������������������������������������������������������������������������� 274
8. Rechtsgeschichte und Rechtsvergleichung ������������������������������������������������������������������� 275
9. Rechtspolitik ������������������������������������������������������������������������������������������������������������������ 282
Die Haupteinteilung der Rechtsgebiete, die summa divisio des Rechtes ist die in
Privatrecht und öffentliches Recht1. Die Unterscheidung ist insbesondere wegen
der Gesetzgebungs- und der Gerichtszuständigkeit (Rechtsweg) relevant. Dass alles
Recht entweder öffentliches oder Privatrecht sei, werden viele bejahen. Die Eintei-
lung der Juristen in Zivilrechtler und Öffentlichrechtler2 kann nicht mehr so glatt
erfolgen. Strafrechtler und Verfahrensrechtler halten zwar das von ihnen behandelte
Recht für öffentliches3, sehen aber nicht sich selbst, sondern die das Verfassungs-
und Verwaltungsrecht pflegenden Juristen als die eigentlichen Öffentlichrechtler
an. Systematisch gehört das Verfahrensrecht zum öffentlichen Recht4. Wichtiger
ist aber der Zusammenhang mit dem jeweiligen materiellen Recht. Das Strafrecht
bedarf der Ergänzung durch ein Strafprozess- und Strafvollstreckungsrecht. Das
Privatrecht bleibt ohne Zivilprozess- und Konkursordnung unvollständig. So zeigt
sich zB ein wesentlicher Aspekt des Eigentumsvorbehalts oder eines Sicherungsei-
gentums erst im Konkurs, wenn es um die Frage geht, ob der Berechtigte die Sa-
che aus der Konkursmasse aussondern kann. Arbeitsrechtler oder Mietrechtler, aber
auch Experten des Vergaberechts betonen die „Gemengelage“ von privatem und
öffentlichem Recht in ihrem speziellen Fachgebiet5. Hinzu kommt, dass die Unter-
scheidung zwischen privatem und öffentlichem Recht nur für das unter der Stufe
der Verfassung stehende Recht eingreift. Für das Völkerrecht ist sie ohne Relevanz.
Dieses ist ebenso wie das Verfassungsrecht selbst öffentliches Recht. Es hat sich
allerdings ursprünglich aus dem Privatrecht emanzipiert und trägt, insbesondere im
Bereich des völkerrechtlichen Vertragsrechts, deutlich Elemente des Privatrechts.
Auch das Privatrecht beruht insofern auf öffentlichem Recht, als seine Erzeugung
von der Verfassung geregelt wird und als seine Sätze verfassungsgemäß sein müs-
sen. Zur Bedeutung der Verfassung für die Rechtsordnung und namentlich zur Rolle
des deutschen Bundesverfassungsgerichts s oben § 5 VIII und § 7 II.
Die Unterscheidung zwischen Privatrecht und öffentlichem Recht als oberster
Einteilung des Rechts muss aber nicht nur wegen der Verfassungsabhängigkeit des
Privatrechts, sondern auch deshalb relativiert werden, weil es verschiedene Eintei-
lungskriterien gibt. Die Zahl der Abgrenzungsversuche6 lässt sich auf einige Haupt-
typen reduzieren: auf den Gegensatz zwischen Individualinteresse und Gemeinwohl
(„Interessentheorie“), auf die Rangordnungsrelation zwischen den an einem Vor-
gang Beteiligten („Subjektionstheorie“), auf die Hoheitsgewalt der von einer Norm
1
Dazu immer noch lesenswert Bullinger, Öffentliches Recht und Privatrecht (1968).
2
Die Begriffe Zivilrechtler und Öffentlichrechtler sind unschöne, aber gebräuchliche Wortbildun-
gen. Früher hat man auch von Zivilisten und Publizisten gesprochen (vgl auch § 7 Fn 4).
3
Bemerkenswerte Vorbehalte gegen ein öffentlichrechtliches Verständnis des Zivilprozessrechts
aber bei Puttfarken, JuS 1977, 493 ff.
4
So stellen Schweizer Studienpläne das Verfahrensrecht zum öffentlichen Recht, was zwar sys-
tematisch zutrifft, aber praktisch nicht richtig ist, weil der materielle Zusammenhang mit dem
Privatrecht leicht vernachlässigt wird.
5
Vgl etwa Martinek/Schwarz, DRdA 1960, 105 ff; das Vergaberecht ist heute vornehmlich durch das
Unionsrecht geprägt; dazu näher T Müller/M Öhler, in: Schramm/Aicher/Fruhmann/Thienel (Hrsg),
Bundesvergabegesetz 2006 (2013) 2, Europäisches- und internationales Vergaberecht Rz 1 ff.
6
Eine Übersicht bei H J Wolff, Verwaltungsrecht I7 (1968) § 22 11.
I. Die Einteilung des Rechts 225
7
D 1,1,1,2: ad singulorum utilitatem (spectat).
8
Richtig Bullinger (Fn 1) 16 ff.
9
Institutiones iuris publici, 1572.
10
Bullinger (Fn 1) 18.
11
Vgl auch MünchKomm/Säcker, BGB6 Einl Rz 2; kritisch zur Subjektionstheorie zB
MünchKomm/Papier, BGB6 § 839 Rz 147.
12
Die neuere Literatur spricht auch von der „modifizierten Subjektstheorie“ oder „Sonderrechts-
theorie“; s etwa Wolf/Neuner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts10 (2012) 10 f; im Vorder-
grund steht heute wohl eine kombinatorische Verknüpfung der Subjektionstheorie mit der Subjekt-
stheorie; s Bydlinski, AcP 194 (1994) 329 ff; Koziol/Welser, Bürgerliches Recht I14 6 f.
226 § 12 Gebiete des Rechts und Disziplinen der Rechtswissenschaft
13
Papinian D 2, 14, 38.
14
So zB § 1164 ABGB und § 619 BGB.
15
Die Grundlagen der Bürgerlichen Rechtsordnung (1952) Vorwort.
I. Die Einteilung des Rechts 227
teresse des Einzelnen und das der Gesamtheit sind nie identisch. Nur faschistische
und andere totalitäre Systeme behaupten Interessenharmonie. Der richtige Kern der
Interessentheorie und die freiheitliche Note der Unterscheidung zwischen Privat-
recht und öffentlichem Recht liegen in der Anerkennung der Diskrepanz von Ge-
meinwohl und Individualinteresse, in der Abwehr einer völligen Unterordnung des
letzteren unter das Gemeinwohl.
Die Erkenntnis, dass alle Abgrenzungsversuche Schwächen haben, bedeutet
nicht, dass man die Unterscheidung aufgeben könnte. Denn man muss sich fragen,
wie die Funktionen wahrgenommen werden sollen, die bisher bei der abzulösenden
Unterscheidung lagen. Hierzu wurde von den Kritikern des Rechtsdualismus wenig
vorgebracht. Ebenso offen blieb bislang eine andere Frage: Was soll bei Abkehr vom
Rechtsdualismus mit den ausgefüllten Systemen geschehen, die innerhalb des öf-
fentlichen und besonders innerhalb des Privat-Rechts bestehen? Soll etwa die in sich
geschlossene Gliederung des allgemeinen bürgerlichen Rechts aufgegeben werden?
– Tut man dies nicht, so wird der Rechtsdualismus nur zum Schein aufgehoben. Tut
man es doch, so stellen sich problematische Resultate ein: Der privatrechtliche Lie-
genschaftskauf etwa hat gewiss auch eine öffentlich-rechtliche Seite. Sie ergibt sich
aus dem Grundverkehrsrecht und der Regelung der örtlichen Raumplanung sowie
aus dem Abgabenrecht. Der Gedanke, die rechtliche Systembildung bei sog Quer-
schnittsmaterien vor allem an Lebenssachverhalten auszurichten, könnte zur Konzi-
pierung eines „Bodenrechts“ oder Liegenschaftsrechts führen, die Privatrechtliches
und Öffentlichrechtliches zusammenführen, wie es schon einmal Wieacker16 und
dann wieder Kühne17 vorgeschlagen hat. In Wahrheit ist jedoch mit einer solchen,
scheinbar lebensnäheren Ordnung nichts gewonnen. Verstellt würde aber die Sicht
auf das Spezifikum der jeweiligen Gebiete, im Privatrecht namentlich der Nutzen
und Willen des Einzelnen, im Öffentlichen Recht das Interesse der Allgemeinheit.
Was über das Bodenrecht gesagt wurde, gilt für viele andere Rechtsgebiete, in
denen eine „Gemengelage“ von Privatrecht und öffentlichem Recht besteht. Dies ist
insbesondere im Arbeitsrecht, im Wohnungsrecht und im Wirtschaftsrecht der Fall.
In allen diesen Gebieten muss die unbestreitbare Gemengelage als Ausdruck eines
Mischungsverhältnisses der Gestaltungskräfte verstanden werden. Es wäre aber
verfehlt, aus ihr eine völlige Selbständigkeit des Sondergebietes gegenüber den
Hauptgebieten zu folgern. Ein Beispiel für eine solche falsche Emanzipationsthese
bildet die vor Jahren aufgestellte Behauptung, das Arbeitsrecht habe sich zu einem
dritten, selbständig neben Privatrecht und öffentlichem Recht stehenden Element
der Rechtsordnung entwickelt18. Die Verflechtung von Privatrecht und öffentlichem
Recht kann jedoch nicht dazu führen, dass ein von diesen beiden Hauptgebieten
qualitativ verschiedenes, drittes Rechtsgebiet entsteht. Quantitatives kann nicht so
in Qualitatives umschlagen. Die Unterscheidung zwischen Privatrecht und öffentli-
chem Recht ist zwar nicht als eine alles Recht erschöpfende entstanden, sie hat aber
seither umfassenden Charakter erlangt. Sie lässt zwar ungezählte Mischformen zu,
aber nichts Drittes.
16
Bodenrecht (1938); vgl auch Akademie für Deutsches Recht, Protokolle (1933–1945), Aus-
schüsse für Immobiliarkredit, Bodenrecht (allgemeines Grundstücksrecht), Hypothekenrecht und
Enteignungsrecht (1934–1942) hrsg v Schubert 1995.
17
Das Bodenrecht (1970).
18
So Bohrig, Die Rechtseinheit im deutschen Arbeitsrecht (1951) 76.
228 § 12 Gebiete des Rechts und Disziplinen der Rechtswissenschaft
Das Gebiet, das dem ius publicum als unmittelbar mit der res publica zusammen-
hängendem Recht den Namen gegeben hat, erfasst freilich nur einen Teil des öf-
fentlichen Rechts: das Staatsrecht. Öffentliches Recht, das nicht Staatsrecht ist, fin-
den wir in Gestalt des Strafrechts, der Verfahrensrechte und des Völkerrechts. Das
Staatsrecht dagegen zerfällt in Verfassungsrecht und Verwaltungsrecht. Diesen
beiden normativ-juristischen Disziplinen stehen mit der allgemeinen Staatslehre
und der allgemeinen Verwaltungslehre nicht an ein positives Recht gebundene Wis-
senschaften zur Seite, die sich um die Erfassung struktureller Wesensmerkmale je-
des Staates und jeder Verwaltung bemühen, aber auch die Vielfalt der für Staat und
Verwaltung möglichen Ordnungstypen mit ihren Wertungsbezügen erfassen wollen.
Die Allgemeine Staatslehre19 soll den Staat definieren, seine möglichen For-
men typologisch erfassen, seine Zwecke zur Diskussion stellen. Als Geschichte des
Denkens über den Staat konvergiert sie mit einem Zweig der Politikwissenschaft,
der politischen Ideengeschichte20. Die Definition des Staates führt nicht nur zur
Frage, ob es – etwa an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit – eine „Geburts-
stunde des souveränen Staates“ gibt, wie von der Heydte21 meinte, sondern auch
zur Lehre von den Elementen oder Konstituanten des Staates. Als solche Elemente
nannte Georg Jellinek in seiner klassisch gewordenen „Allgemeinen Staatslehre“22
Volk, Gebiet und Herrschaft. Von Smend und Herbert Krüger23 wurde diese Drei-
Elementen-Lehre jedoch als zu naturalistisch abgelehnt.
Die Typisierung der Staatsformen gelangt nicht nur zur Unterscheidung von
Monarchie und Republik, von Demokratie und Aristokratie, sondern auch zur Ge-
genüberstellung von Einheitsstaat, Bundesstaat und Staatenbund. Die Lehre von
den Staatszwecken nennt als solche Zwecke unter anderem die Wohlfahrt der Bür-
ger, die Wahrung ihrer Freiheit und ihrer Rechte, aber auch die Erhaltung und Ent-
wicklung der menschlichen Kultur, die Integration der vom Staat organisierten Ge-
sellschaft und die Verwirklichung objektiver Sittlichkeit (als deren höchste Form
Hegel24 den Staat ansah). Staatszwecklehren sind also nicht notwendig Lehren von
den Grenzen der Staatsgewalt, sie können auch einen Absolutheitsanspruch dieser
Gewalt begründen. Immer aber berühren sie sich mit den Rechtfertigungslehren des
Staates, die auf Legitimation der Existenz des „kältesten aller kalten Ungeheuer“25
zielen. Allgemeine Staatslehre steht an der Grenze der Jurisprudenz.
Während das Denken über den Staat nie völlig auf eine positiv geltende Ordnung
fixiert war26, hat sich die Überzeugung von der Sinnhaftigkeit einer metapositiven
19
Repräsentativ Krüger, Allgemeine Staatslehre2 (1966) und Zippelius, Allgemeine Staatslehre16
(2010).
20
Besonders instruktiv Berber, Das Staatsideal im Wandel der Weltgeschichte2 (1978).
21
Die Geburtsstunde des souveränen Staates, 1952.
22
3. Aufl (1929) 394 ff.
23
Allgemeine Staatslehre2 (1966) 145 f mit Hinweis auf Smend, Verfassung und Verfassungsrecht
(1928) 55.
24
In Ilting (Hrsg), Rechtsphilosophie Bd 4 (1974) §§ 257, 258 (S 631).
25
Nietzsche, in: Schlechta (Hrsg), Werke II 6 (1972) 587.
26
Zur Geschichte der Staatslehre vgl etwa Stolleis (Hrsg), Staatsdenker im 17. und 18. Jahrhundert
(1977) und Link, Herrschaftsordnung und bürgerliche Freiheit (1979). – Für die Rechtsauffas-
II. Öffentliches Recht 229
sung des Nationalsozialismus vgl C. Schmitt, Staat, Bewegung, Volk (1934); ders, über die drei
Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens (1934). Seine Haltung im Dritten Reich hat vielfälti-
ge Irritationen ausgelöst. Ernst Bloch (Naturrecht und menschliche Würde [1961] 62) hat ihn „eine
der Huren… des nationalsozialistischen Absolutismus“ genannt. Zu C Schmitt mit stark gegen-
wartsbezogenem Plädoyer Mans, Bürgerliche Rechtstheorie und Faschismus (1976); eine gut
abgewogene Analyse bietet Anderbrogge, Völkisches Rechtsdenken (1978); s ferner Quaritsch,
Positionen und Begriffe Carl Schmitts (1995); Hofmann, Legitimität gegen Legalität. Der Weg der
politischen Philosophie Carl Schmitts4 (2002); Mehring, Carl Schmitt zur Einführung4 (2011); s
auch § 4 I, 5 I Fn 9, 7 II Fn 34.
27
Deutsches Verwaltungsrecht 2 Bde (1895).
28
Für Österreich ist Adolf Julius Merkl, Allgemeines Verwaltungsrecht (1927) zu nennen; vgl
seither Ermacora ua (Hrsg) Allgemeines Verwaltungsrecht (1979); Antoniolli/Koja, Allgemeines
Verwaltungsrecht3 (1996); aus der dt Lit s Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts12 I (1973);
Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht18 (2011); Ipsen, Allgemeines Verwaltungsrecht8 (2011);
und Wolff/Bachof/Stober/Kluth, Verwaltungsrecht I13 (2014); Battis, Allgemeines Verwaltungs-
recht3 (2002); Detterbeck, Allgemeines Verwaltungsrecht12 (2014); für die Schweiz Haefelin/Mül-
ler, Allgemeines Verwaltungsrecht6 (2010).
29
S zB Schedler/Proeller, New Public Management3 (2006).
30
Für Österreich Pernthaler, Allgemeine Staatslehre und Verfassungslehre2 (2008); Berka, Verfas-
sungsrecht5 (2013); Griller, Grundlagen und Methoden des Verfassungs- und Verwaltungsrechts2
(2013); Grabenwarter/Holoubek, Verfassungsrecht-Allgemeines Verwaltungsrecht2 (2014); für
Deutschland Kloepfer, Verfassungsrecht I (2011), II (2010); Badura, Staatsrecht5 (2012); vgl auch
Heimann/Kirchhof/Waldhoff, Verfassungsrecht und Verfassungsprozessrecht2 (2010).
230 § 12 Gebiete des Rechts und Disziplinen der Rechtswissenschaft
31
Für Österreich Bachmann/Baumgartner/Feik/Giese, Besonderes Verwaltungsrecht9 (2012); für
Deutschland etwa Ehlers/Fehling/Pünder Besonderes Verwaltungsrecht3 I-III (2011/2013); Sei-
del/Reimer/Möstl, Besonderes Verwaltungsrecht3 (2009); Steiner Besonderes Verwaltungsrecht8
(2006);.
32
Dazu Bielenberg (ua), Raumordnungs- und Landesplanungsrecht des Bundes und der Länder
(1979) und für Österreich Pernthaler, Raumordnung und Verfassung (1978).
33
Eine aktuelle Einführung bieten Eberhard/Grabenwarter/Holoubek/Lienbacher/Potacs/Vranes,
Europäisches und öffentliches Wirtschaftsrecht I9 (2013), II7 (2012).
34
Vgl Klees, Einführung in das Energiewirtschaftsrecht (2012); Koenig/Kühling/Rasbach, Ener-
gierecht (2012).
35
Zur Regulierung von Infrastrukturmärkten vgl einführend Eberhard/Grabenwerker/Holoubek/
Lienbacher/Potacs/Vranes, Europäisches und öffentliches Wirtschaftsrecht I9 (2013) 28 f.
36
Über die Wissenschaften vom Verbrechen und ihr Zusammenwirken vgl Roxin, Strafrecht, Allg
Teil I4 (2005).
II. Öffentliches Recht 231
37
Vgl den Abschnitt „Allgemeines zum Verfahren“ bei Henkel, Strafverfahrensrecht2 (1968); zur
heutigen Behandlung des Strafprozessrechts vgl für Deutschland Roxin/Schünemann, Strafverfah-
rensrecht2 (2012) und für Österreich Bertel/Vernier, Strafprozessrechts6 (2013).
232 § 12 Gebiete des Rechts und Disziplinen der Rechtswissenschaft
Das Strafvollzugsrecht, das früher meist als Annex des Strafprozessrechts be-
handelt wurde, erfährt neuerdings eine gewisse Verselbständigung38. Da sich seine
Zwecksetzungen von denen des Strafprozessrechts unterscheiden (die Resozialisie-
rung tritt heute in den Vordergrund) und da das Fehlen einer die Zweckrationalität
des Strafvollzugs gründlicher durchleuchtenden Disziplin an der Ineffektivität, ja
Schädlichkeit des bisherigen Strafvollzugs mitschuldig sein dürfte, ist diese Aus-
gliederung einer Spezialdisziplin mehr zu begrüßen als jede andere derartige Eman-
zipation.
Die Strafzwecke sind bis heute vielschichtig und ungewiss geblieben. Sie rei-
chen von Vergeltung und Sühne über General- und Spezialprävention bis zur Re-
sozialisierung.
III. Privatrecht
1. Allgemeines Zivilrecht
Wenn man das allgemeine Zivilrecht (Privatrecht) oft das bürgerliche Recht39
nennt, so hat diese Terminologie entgegen einer verbreiteten Meinung nichts mit
der Bourgeoisie, dem Bürgertum als einer Gesellschaftsschicht zu tun. Es war zwar
diese Schicht, die an der Ausgestaltung und gedanklichen Durchdringung des Pri-
vatrechts im 19. Jh den stärksten Anteil hatte und die jene „Zivilrechtsgesellschaft“
konstitutierte, die Franz Böhms Ordoliberalismus40 verteidigt; die Bezeichnung die-
ses Rechts als „bürgerlich“ ist aber nur eine Übersetzung von ius civile. Als Recht
der Bürger unterschied man dieses weniger vom Staatsrecht als vom ius gentium,
das auch für Nichtbürger galt. Die Bezeichnung des bürgerlichen oder Zivil-Rechts
als allgemeines Recht wiederum rührt von der Ausbildung besonderer Privatrechte
wie etwa des Handels- und Unternehmensrechts.
Innerhalb des allgemeinen bürgerlichen Rechts unterscheidet man heute zwi-
schen allgemeinen Lehren, Personen- und Familienrecht, Sachenrecht, Erbrecht
und Schuldrecht (Obligationenrecht). Dieses fünfteilige „Pandektensystem“ ist
relativ jung41. Bis zur Wende vom 18. zum 19. Jh dominierte das noch aus der
38
Dazu Müller-Dietz, Strafvollzugskunde als Lehrfach und wissenschaftliche Disziplin (1969);
Alexander Böhm, Strafvollzug (1979); vgl auch Kury (Hrsg), Strafvollzug und Öffentlichkeit
(1980).
39
Darstellung bei Enneccerus/Kipp/Wolff, Lehrbuch des bürgerlichen Rechts Bd 115 (1959, be-
arbeitet von Nipperdey); in neuerer Zeit dominieren bezeichnenderweise Darstellungen von Teil-
gebieten; vgl zB das von Apathy (in vielen Einzelbänden) herausgegebene Lehrbuch des Bürger-
lichen Rechts. Für Österreich s Koziol/Welser Bürgerliches Recht I14 (2014), II13 (2007) und die
Neuauflage des seinerzeit von Armin Ehrenzweig entwickelten System des österreichischen all-
gemeinen Privatrechts; für Deutschland Grunewald/Gernhuber, Bürgerliches Recht8 (2009) und
Medicus/Petersen, Bürgerliches Recht24 (2013).
40
Vgl Franz Böhm, Privatrechtsgesellschaft und Marktwirtschaft, Ordo XVII (1966) 75 ff; einen
repräsentativen Überblick über das Werk des Autors vermittelt der von Mestmäcker herausgegebe-
ne Sammelband Franz Böhm, Reden und Schriften (1960).
41
Zu seiner Entstehung, besonders zu den vor Heise, Grundriss eines Systems des gemeinen Civil-
rechts zum Behuf von Pandecten-Vorlesungen (1807) liegenden Ansätzen A B Schwarz, Rechts-
III. Privatrecht 233
44
Kennzeichnend § 859 ABGB.
45
Savigny, Das Recht des Besitzes (1803).
46
Privatrechtsgeschichte der Neuzeit2 (1967) 373.
47
Vgl oben Fn 46.
48
Vgl Buschmann, JuS 1980, 553 ff.
49
Vgl MünchKomm/Säcker, BGB6 Einl Rz 44 ff.
III. Privatrecht 235
Die Grenze zwischen den beiden Typen der Systemdurchbrechung ist fließend. Eine
dem BGB derogierende sondergesetzliche Regelung, die nicht zur Ausbildung eines
Rechtsgebietes mit Selbständigkeitsanspruch geführt hat, stellt das Ehegesetz 1946
dar, dem in der Loslösung vom BGB das NS EheG von 1938 vorangegangen war.
Die vollständige Redintegration ins BGB erfolgte erst im Jahre 1998. Beispiele
für sondergesetzliche Regelungen, die zwar die in den Kodifikationen vorgesehene
Ordnung für ein Teilgebiet überholen, aber doch nicht zur Ausbildung eines „beson-
deren Privatrechts“ als einem Rechtsgebiet mit Eigenständigkeitsanspruch führen,
sind die Haftpflichtgesetze, die dem Mieterschutz dienenden Sondergesetze und
die Regelung der Verschollenheit. Auch in Österreich ist die seinerzeit vom ABGB
getroffene Regelung des Eherechts längst nicht mehr in Geltung, über die Art der
Ablösung des Ehegesetzes von 1938 wird aber noch immer diskutiert. Die Schweiz
dagegen hat bisher die meisten größeren Zivilrechtsgebiete in ihrer eine Einheit
bildenden Kodifikation50 – von ZGB und OR (Obligationenrecht) – festzuhalten
vermocht51. Diese folgt dem Pandektensystem, allerdings fehlt ein Allgemeiner
Teil. Die meisten der darin für das Rechtsgeschäft geregelten Figuren finden sich
allerdings nicht unvorteilhaft auf einer etwas niedrigeren Abstraktionsstufe im All-
gemeinen Teil des Obligationenrechts für den Vertrag.
Die Neuregelung des Arbeitsvertragsrechtes ist nicht durch eine eigene Kodi-
fikation, sondern durch Neufassung im Obligationenrecht erfolgt. Eine gewisse Ab-
kehr von dem Prinzip der Kodifikation hat der Gesetzgeber mit der Übernahme
von EU-Recht im sog Swisslex-Paket eingeleitet (ProduktehaftpflichtG, Pauschal-
reiseG, KonsumkreditG und PartnerschaftsvermittlungsG). Zudem gibt es einige
Materien, die von jeher außerhalb des OR in Sondergesetzen geregelt sind. Hierzu
gehören ähnlich wie in Deutschland und Österreich ua das UWG, das Urheberrecht
(URG), das Patentrecht (PatG), das private Versicherungsrecht (VVG) sowie zahl-
reiche Gesetze, die eine Gefährdungshaftung normieren.
a) Vorbemerkungen
Die Diskussion über „Sonderprivatrechte“ begann in den siebziger Jahren des vori-
gen Jahrhunderts52. Im Vordergrund stand das Bemühen um plausible Kriterien der
Systematisierung. Hervorhebung verdienen die Bestrebungen, ein weiteres „Ausei-
nanderdriften“ der Sonderprivatrechte einzudämmen53.
50
Das OR ist, obgleich gesondert publiziert, das 5. Buch des ZGB.
51
Vgl Gmür, Das schweizerische ZGB verglichen mit dem BGB (1965).
52
Zahlreiche Nachweise zB bei Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts (1996) 416
Fn 439.
53
Vgl insbes Zöllner, Zivilrechtswissenschaft und Zivilrecht im ausgehenden 20. Jahrhundert,
AcP 188 (1988) 85 ff und Bydlinski, System und Prinzipien 416 ff.
236 § 12 Gebiete des Rechts und Disziplinen der Rechtswissenschaft
b) Handelsrecht (Unternehmensrecht)
54
Der Begriff „Handelsrecht“ ist vor allem historisch zu erfassen. Das prägende Element war
der Vertrieb von Waren. Der Kaufmann, also eine Person, die einkauft und verkauft, befasst sich
mit dem Warenhandel. Dieses Bild erscheint heute antiquiert, denn das professionelle Anbieten
von Dienstleistungen ist kaum weniger bedeutsam als der Handel mit Waren und die Herstellung
von Produkten wird ebenfalls nicht erfasst. In der Literatur diskutiert man seit Jahrzehnten, ob
der moderne Unternehmensbegriff den tradierten Kaufmannsbegriff ablösen sollte (führend dazu
Karsten Schmidt, Handelsrecht5, 1999, 277 ff). In Österreich hat man in der Tat das Handels-
gesetzbuch (HGB) in ein Unternehmensgesetzbuch (UGB) umgestaltet; dazu Zöllner, in: Harrer/
Mader (Hrsg), Die HGB-Reform in Österreich, 2005, 1 ff; Man sollte diesen Schritt indes nicht
überbewerten. Gewöhnungsbedürftig ist es beispielsweise, dass in Österreich nicht mehr Handels-
geschäfte, sondern unternehmensbezogene Geschäfte abgeschlossen werden. Zum neuen UGB vgl
die von Straube, Jabornegg/Artmann und Ulrich Torggler herausgegebenen Kommentare.
55
Lesenswert dazu Müller-Freienfels, FS von Caemmerer (1978) 583, 601. Dieser Autor spricht
von einer „Lawine“ handelsrechtlicher Entwürfe und Kodifikationen. Insgesamt entstanden im 19.
Jh etwa vierzig selbständige Handelsgesetzbücher.
56
Zöllner (Fn 54).
III. Privatrecht 237
c) Arbeitsrecht
Als Motor des Privatrechts wirkt auch das Arbeitsrecht57. Arbeitsrecht umfasst die
Rechtsbeziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, es ist also das Son-
derprivatrecht der unselbständig Tätigen. Bei dieser Betrachtungsweise erlangt die
Bindung der Arbeitnehmer an Weisungen und ihre wirtschaftliche Abhängigkeit
eine für das ganze Rechtsgebiet konstitutive Bedeutung. Wenngleich es sowohl im
Rahmen des Obligationenrechts wie auch im Rahmen des städtischen Zunft- und
des ländlichen Gesinderechts schon immer eine Ordnung der Arbeitsverhältnisse
gegeben hat, erhielt das Arbeitsrecht den Großteil seiner spezifischen Problem-
stellungen erst durch die industrielle Revolution58. Sie machte persönlichen und
technischen Arbeitsschutz nötig und ließ jene „soziale Frage“ entstehen, auf die
der soziale Rechtsstaat der Gegenwart mit Sozialpolitik zu antworten sucht: Kol-
lektive Privatautonomie, von den Gewerkschaften in Tarifverträgen ausgeübt, soll
den Vertrag wieder funktionsfähig, ein lenkendes Eingreifen staatlicher Stellen ent-
behrlich machen. Daher gehören zum Arbeitsrecht nicht nur Arbeitsvertragsrecht
und Arbeitsschutzrecht, sondern auch Arbeitsverbandsrecht, Arbeitskampfrecht,
Tarifvertragsrecht (dazu unten 14 III) und Betriebsverfassungsrecht – kurzum: das
kollektive Arbeitsrecht.
Der öffentlich-rechtliche Einschlag des Arbeitsrechts ist stark und unverkenn-
bar59. Aber auch Elemente, die wie das kollektive Arbeitsrecht (österreichisch:
Kollektivvertragsrecht in der Schweiz: Gesamtarbeitsvertrag) und das Betriebsver-
fassungsrecht nicht als solche öffentlich-rechtlich sind, unterscheiden es deutlich
von anderen Gebieten des Privatrechts. Erheblich ist auch der Einfluss des Europa-
57
Für Deutschland: Zöllner/Loritz/Hergenröder, Arbeitsrecht6 (2007); Söllner/Waltermann, Ar-
beitsrecht16 (2012); für Österreich: Mayer-Maly, Arbeitsrecht I2 (1987); Marhold/Mayer-Maly,
Arbeitsrecht II2 (1999); Floretta/Spielbüchler/Strasser, Arbeitsrecht I4 (1998), II4 (2001); Mar-
hold, Österreichisches Arbeitsrecht2 (2012); für die Schweiz: Geiser/Müller, Arbeitsrecht in der
Schweiz (2009).
58
Zur Frage nach der Existenz eines vorindustriel1en Arbeitsrechts vgl einerseits Mayer-Maly,
RdA 1975, 59 ff. (eher bejahend), andererseits Mestitz, ZNR 1980, 47 ff (von einer marxistischen
Position her verneinend).
59
Ein naheliegendes Beispiel bietet das Arbeitsschutzrecht. Im Vordergrund stehen verwaltungs-
rechtliche und verwaltungsstrafrechtliche Bestimmungen.
238 § 12 Gebiete des Rechts und Disziplinen der Rechtswissenschaft
d) Andere Sonderprivatrechte
60
S etwa Streinz, Europarecht Rz 1125 ff; Hießl/Runggaldier, Grundzüge des europäischen Ar-
beits- und Sozialrecht3 (2012).
61
Vgl etwa Hießl/Runggaldier, Grundzüge des europäischen Arbeits- und Sozialrechts (2012) und
Thüsing, European Labour Law (2013).
62
Zöllner/Loritz/Hergenröder, Arbeitsrecht 1.
63
Sowohl in Österreich, als auch in Deutschland wirken Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat
mit. Im Detail unterscheiden sich die Modelle (für Deutschland vgl das MittgestimmungsG, für
Österreich das ArbVG). Anders ist die Lage hingegen in der Schweiz oder in Frankreich, wo es
keine Arbeitnehmervertreter in Aufsichtsgremien gibt. Diese Divergenzen bildeten mitunter eine
erhebliche Hürde auf Europarechtlicher Ebene. Die Schaffung einer europäischen Privatgesell-
schaft ist (jedenfalls bis jetzt) auch deshalb gescheitert.
64
Der Aufsichtsrat ist notwendiges Organ der Aktiengesellschaft. GmbH und GmbH & Co KG
müssen einen Aufsichtsrat einrichten, wenn bestimmte (größenbezogene) Kriterien erfüllt sind.
Der Schweizer Verwaltungsrat folgt dem Bordsystem, das Verwaltung und Kontrolle in einem
Gremium zusammenfasst.
65
Vgl Zöllner/Loritz/Hergenröder, Arbeitsrecht4: „Arbeitsrecht als Teil des Wirtschaftsverfas-
sungsrechts“.
66
Kerst/Jäckel, Versicherungsrecht (2010); Wandt, Versicherungsrecht5 (2010); Schimikowski,
Versicherungsvertragsrecht (2014); zum europäischen Versicherungsrecht s Herrmann und Wil-
kens, in: Bruck/Möller I9 (2008) Einf L Rz 1 ff.
III. Privatrecht 239
67
Eugen Ulmer, Urheber- und Verlagsrecht3 (1980); Pierson/Ahrens/Fischer, Recht des Geistigen
Eigentums2 (2010); Schack, Urheber- und Urhebervertragsrecht, Kucsko, Geistiges Eigentum –
Markenrecht, Musterrecht, Patentrecht, Urheberrecht (2003); Koppensteiner, Markenrecht (2012).
68
Koppensteiner, Österreichisches und europäisches Wettbewerbsrecht3 (1997); Mestmäcker/
Schweizer, Europäisches Wettbewerbsrecht2 (2004); Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht
I/15 (2012), I/25 (2012); II/4 (2007).
69
Emmerich, Kartellrecht12 (2012); Johannes P. Gruber, Österreichisches Kartellrecht2 (2013);
die Materie ist traditionell eine Domäne des europäischen Rechts; vgl dazu die Angaben in der
vorhergehenden Fn.
70
Emmerich, Unlauterer Wettbewerb9 (2012); Enzinger, Lauterkeitsrecht (2012); Wiebe/Georg
Kodek, UWG2 (2013).
71
Zur Entstehung des Konzepts Hedemann, Festschrift Hueck (1959) 377 ff; zu seiner heutigen
Ausprägung Schluep, Festschrift Hug (1968) 25 ff; Koppensteiner, in: Rechtstheorie (1973), 1 ff;
Rittner, Wirtschaftsrecht (1979) 11 ff und FS Ulmer (2003) 977; vgl ferner Assmann/Brüggemeier/
Hart/Joerges, Wirtschaftsrecht als Kritik des Privatrechts (1980) und Koppensteiner, JBl 2005,
137 ff.
72
S die Angaben in der vorhergehenden Fn.
73
Eine aktuelle Übersicht bietet Helmut Hoffmann, NJW 2014, 518 ff.
74
Auch eBay-Auktionen beschäftigen die Gerichte; BGH NJW 2011, 2643 und Urteil vom
8.1.2014, VIII ZR 63/13.
75
Namentlich das Einstellen von Fotos ins Internet liefert immer wieder Anlass für urheberrecht-
liche Streitigkeiten.
76
BGH NJW 2013, 3245.
77
EuGH NJW 2014, 530, 531.
240 § 12 Gebiete des Rechts und Disziplinen der Rechtswissenschaft
IV. Verfahrensrecht
78
Vgl Wolfram Henckel, Prozessrecht und materielles Recht (1970).
79
(Fn 78).
80
Grundriß des Zivilprozessrechts (1921).
81
Diese Haltung dominiert namentlich in der österreichischen Prozessrechtslehre; in Deutschland
tritt ihr Puttfarken (oben Fn 3) entgegen.
82
JBl 1968, 162.
IV. Verfahrensrecht 241
83
Informativ dazu Maisel, Rechtsarchäologie Europas (1992) 1 ff („Rechtsorte unter freiem Him-
mel“).
84
So der Titel eines berühmten Buches von Luhmann, das 1969 erschienen ist.
85
Zu ihm etwa Baur/Grunsky, Zivilprozessrecht11 (2003).
242 § 12 Gebiete des Rechts und Disziplinen der Rechtswissenschaft
der Befriedigung mehrerer Gläubiger aus dem Gesamtvermögen, dient der Kon-
kurs. Dieser gehört ebenso wie das Vergleichs(Ausgleichs oder Nachlass)verfahren
zum Insolvenzrecht, das für den Fall der Zahlungsunfähigkeit eines Rechtsgenos-
sen Normen bereitstellt. Hält man die Verteilung der Zuständigkeiten und die übri-
gen Organisationsregeln der Justiz als Gerichtsverfassungsrecht hinzu, so ergeben
sich folgende Teilgebiete der Ordnung des zivilgerichtlichen Verfahrens: Gerichts-
verfassungsrecht, Erkenntnisverfahren, Vollstreckungsrecht, Insolvenzrecht, Ver-
fahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit. Dazu kommen die anderen Rechtsgebieten
zugeordneten Verfahrensregeln: Arbeitsgerichtsverfahren, Sozialgerichtsverfahren,
Verwaltungsverfahren, Finanzverfahren, Verfahren der Verfassungsgerichtsbarkeit,
Strafprozess. Der Versuch, allen diesen Verfahren gemeinsame Grundsätze aufzu-
zeigen oder wenigstens die bestehenden Unterschiede theoretisch zu ergründen,
konnte nicht lange ausbleiben. Ihm gelten die Bemühungen um eine „allgemeine
Verfahrenslehre“86.
Ein aktuelles verfahrensrechtliches Phänomen, das auch in der (europäischen)
Rechtspraxis zunehmend an Bedeutung gewinnt, ist die Mediation87. Das schwei-
zerische Zivilverfahren prägt der Grundsatz, dass dem Entscheidungsverfahren ein
Schlichtungsverfahren vorangeht, um eine Lösung des Konfliktes „mit gesundem
Menschenverstand“ herbeizuführen88. Im österreichischen Recht ist das Erfordernis
eines Vergleichsversuches vor dem Rechtsstreit die Ausnahme89. Für Deutschland
ist auf § 15a EGZPO zu verweisen90. Danach kann für bestimmte Streitfälle durch
Landesgesetz bestimmt werden, dass eine Klageerhebung erst nach Vornahme eines
Schlichtungsversuches zulässig ist. – Mediationsvereinbarungen sind mittlerweile
ein verbreitetes Instrumentarium der Konfliktadministration91.
Auch das schiedsgerichtliche Verfahren darf in diesem Kontext nicht übergan-
gen werden. Streiterledigung ist grundsätzlich Aufgabe der ordentlichen Gerichte.
Unter bestimmten Voraussetzungen kann jedoch ein Schiedsgericht die Stelle des
ordentlichen Gerichtes einnehmen. Vermögensrechtliche Auseinandersetzungen
sind im Allgemeinen schiedsfähig. Die Parteien können eine Schiedsvereinbarung
treffen. Mit einer Schiedsvereinbarung unterwerfen sich die Parteien der Zuständig-
86
Henckel, Vom Gerechtigkeitswert verfahrensrechtlicher Normen (1966); Pawlowski, Die Auf-
gabe des Zivilprozesses, ZZP 80 (1976) 345; Hagen, Verfahrenslehre und verfassungsgerichtliches
Verfahren (1971); ders, Elemente einer allgemeinen Prozesslehre (1972); Fasching, in: Fasching/
Konecny, Kommentar zu den Zivilprozessgesetzen I3 (2013) Einl Rz 11.
87
Vgl dazu die vorzügliche Übersicht von Neumayr, Mediationsvereinbarungen und ihre Auswir-
kungen auf die Einleitung von zivilgerichtlichen Verfahren, FS Delle Karth (2013) 685 ff; Neu-
mayr hebt hervor, dass die Mediation in den USA schon seit vielen Jahren populär ist, was auch
damit zusammenhängt, dass die Gerichte weniger auf Vergleiche hinwirken.
88
Art 197 ff schweizerische ZPO.
89
Die Durchführung eines Schlichtungsverfahrens verlangt Art III ZivRÄG 2004 zu § 364 Abs 3
ABGB (Entzug von Licht oder Luft).
90
Eingeführt mit dem Gesetz vom 15.12.1999 zur Förderung der außergerichtlichen Streitbeile-
gung.
91
Zur rechtlichen Bedeutung einer Mediationsvereinbarung vgl vor allem Neumayr (Fn 87) 694 ff.
V. Europarecht 243
V. Europarecht
1. Allgemeines
92
Verweist eine Schiedsvereinbarung nicht auf die Schiedsordnung einer Institution und regelt
sie auch das Verfahren nicht, so ist es die Aufgabe der Schiedsrichter, die Verfahrensgrundsätze
festzulegen. Ein Schiedsgericht, das aufgrund einer Schiedsvereinbarung tätig wird, die sich nicht
auf die Schiedsvereinbarung einer Institution bezieht, bezeichnet man als Ad-hoc-Schiedsgericht.
93
Ein Download der Schiedsgerichtsordnung 2012 ist auf der Website der ICC <www.iccwbo.
org> möglich.
94
Die sog „Wiener Regeln“; Hausmaninger, in: Fasching/Konecny2 IV/2, § 577 ZPO Rz 27; dort
Rz 8 ff auch zum UNCITRAL-Modellgesetz.
95
Nicht nur Familiengesellschaften sind bemüht, interne Auseinandersetzungen in der Öffentlich-
keit zu vermeiden. Die Verhandlung vor dem Schiedsgericht sind nicht öffentlich.
96
Hausmaninger, in: Fasching/Konecny2 IV/2, Vor §§ 577 ff ZPO Rz 5.
97
Dazu sogleich unter VI.
244 § 12 Gebiete des Rechts und Disziplinen der Rechtswissenschaft
weit über eine Bindung der Mitgliedstaaten hinaus. EU-Verordnungen gelten in den
Mitgliedstaaten unmittelbar und sind von den Bürgern zu beachten98. Auch Richt-
linien, die sich nach ihrer Konzeption an die Mitgliedstaaten richten, können un-
mittelbare Wirkung entfalten99.
2. Historische Perspektiven100
Europa hat – wenn man von den Balkankriegen101 absieht – seit dem Ende des
Zweiten Weltkriegs eine Zeit des Friedens erlebt. Heute empfindet man das fried-
liche Zusammenleben in Europa als selbstverständlich. Das war nicht immer so.
Die Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich waren belastet und kon-
fliktreich. Blutige Höhepunkte oder besser: Tiefpunkte bildeten die Schlachten von
Sedan102 und Verdun103. Im Ersten Weltkrieg lieferten sich Österreich und Italien
zwölf Isonzo-Schlachten. Nach dem Ersten Weltkrieg folgte die Katastrophe des
Zweiten.
In der Nachkriegszeit entwickelte der französische Außenminister Robert Schu-
mann und sein Mitarbeiter Jean Monnet die Idee, dass eine wirtschaftliche Zu-
sammenarbeit zwischen Deutschland und Frankreich zu einer Überwindung der
tradierten Konflikte und Aggressionen beitragen könnte. Der „Pariser Vertrag“
vom 18.4.1951 zwischen der Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien, Lu-
xemburg, den Niederlanden und Belgien begründete die Montanunion (Europäi-
sche Gemeinschaft für Kohle und Stahl, EGKS) als überstaatliche Organisation zur
Errichtung eines gemeinsamen Marktes für Kohle und Stahl. Schlüsselindustrien
Deutschlands und Frankreichs waren einer supranationalen Einrichtung unterstellt.
Die Pläne für die Schaffung eines gemeinsamen Marktes sind im Jahr 1955 in
Angriff genommen worden. Der EWG-Vertrag104 wurde am 25.3.1957 in Rom von
den sechs Gründungsmitgliedern unterzeichnet. Er ist am 1.1.1958 in Kraft getre-
ten. Es liegt auf der Hand, dass ein für sechs Mitglieder konzipierter Vertrag trotz
zahlreicher Änderungen und Anpassungen für eine EU mit 28 Mitgliedern kaum
funktionieren kann.
98
S unten § 12 V 4.
99
S unten § 12 V 4.
100
Einen kurzen Überblick über die Geschichte der EU findet man auf <http://europa.eu/about-eu/
eu-history/index_de.htm>, zuletzt gesehen am 20.8.2014.
101
Der erste Krieg zum „Schutz der serbischen Siedlungsräume“ begann im Juli 1991 in Kroatien,
ein zweiter Krieg folgte 1992 in Bosnien und Herzegowina. Die kriegerischen Auseinandersetzun-
gen konnten erst 1995 beendet werden.
102
Im Krieg von 1870/71 wurde die französische Armee bei Sedan von deutschen Verbänden
geschlagen.
103
Die Schlacht von Verdun zählt zu den verlustreichsten des Ersten Weltkriegs. Etwa 29 Millio-
nen Granaten gelangten zum Einsatz. Sowohl die deutsche Armee als auch die französische Armee
verloren mehr als 300.000 Mann.
104
Europäische Wirtschaftsgemeinschaft.
V. Europarecht 245
So konnte man sich etwa trotz der steigenden Zahl von Mitgliedern lange nicht
entschließen, das vielfach vorgesehene Erfordernis einstimmiger Entscheidungen
einzuschränken. Das führte praktisch zu einem Vetorecht und zu erheblichen Er-
pressungsversuchen einiger Mitgliedsländer, die ihre Zustimmung zu Reformen
von finanziellen Sonderzuwendungen abhängig machten. Der Agrarmarkt mit un-
sinnigen Subventionen wurde zu einem Musterbeispiel für verfehlte Marktsignale
und Geldverschwendung. Um die durch Subventionen entstandene Überproduktion
zB in den Bereichen Milch- und Viehwirtschaft zu reduzieren, führte man die sog
Herodesprämie für die Tötung neugeborener Kälber ein, eine gottvergessene und
zynische Maßnahme, die zur Folge hatte, dass massenhaft Kälber erzeugt wurden,
nur um sie sogleich zu Tierfutter zu verarbeiten. In Deutschland hat man diese Pra-
xis aus ethischen Gründen verboten. Aus demselben Grund zahlte man Prämien für
den Tierexport, was zu qualvollen, dem Tierschutz Hohn sprechenden Tiertranspor-
ten führte. Noch schlimmer und menschenverachtend ist die Asylpolitik der EU,
die dazu geführt hat, das tausende Flüchtlinge in überbelegten und nicht seetaug-
lichen Booten im Mittelmeer sterben, weil die EU die „Festung Europa“ ausbaut
und die Erstaufnahmeländer, wie Italien und Griechenland, nicht durch Aufnahme
der Flüchtlinge im übrigen Europa unterstützt. Es ist bestürzend, wie gleichgültig
sich die „solidarische EU“ (der „Raum der Sicherheit, der Freiheit und des Rechts“,
Art 67 AEUV, unten 5) in dieser humanitären Katastrophe verhält.
Aus der EWG wurde die EG. Ungeachtet des klaren Charakters eines lediglich
vertraglichen Zusammenschlusses schuf man ein Parlament, das zunächst keine
nennenswerten Aufgaben und Befugnisse besaß und von den Mitgliedstaaten meist
mit unbedeutenden (Alt-) Politikern beschickt wurde. Das Gremium wurde 1979
erstmals von den Bürgern der damals neun Mitgliedstaaten direkt gewählt. Auch
wenn das allgemein als Demokratisierung verstanden wurde, war die Schaffung
eines Parlaments verfehlt, weil der richtige Weg der demokratischen Entscheidung
allein über die nationalen Parlamente führt, die für die Ratifizierung völkerrechtli-
cher Verträge zuständig sind. Auch lässt sich die unterschiedliche Größe der Mit-
gliedstaaten im Europa-Parlament nicht richtig abbilden. Die kleinsten Länder
(zB Malta) entsenden mindestens sechs, die größten (zB Deutschland) höchstens
96 Abgeordnete. Ein Malteser hat das 16-fache Stimmgewicht eines Deutschen; die
deutsche Bevölkerungszahl ist ca 200 mal größer (80 Mio: 400‘000).
Noch bedenklicher ist das gleiche Stimmrecht aller Mitglieder im Rat der
Europäischen Zentralbank, wo Zypern oder Malta dieselbe Stimme haben wie
Deutschland oder Frankreich. Der Rat, in dem die Problemländer die Mehrheit ha-
ben, beschließt den umstrittenen Ankauf von Ramsch-Anleihen der Krisenstaaten
oder das Anwerfen der Notenpresse, die wirtschaftlich stärkeren Länder, mit den
weit größeren Kapitalanteilen, müssen es gegebenenfalls „ausbaden“ (vgl unten V
7 u 8).
In ähnliche (falsche) Richtung geht die Fortentwicklung der EU (als eines ver-
traglichen Zusammenschlusses) zu einem eigenständigen Völkerrechtssubjekt, ei-
ner Juristischen Person mit eigenen Rechten und Pflichten, zB einer Mitgliedschaft
bei der UNO oder dem angestrebten Beitritt zum Europarat in Straßburg.
246 § 12 Gebiete des Rechts und Disziplinen der Rechtswissenschaft
3. Organe der EU
Der Europäische Rat, das Gremium der Staats- und Regierungschefs der Mitglied-
staaten, ist das politische Leitungsorgan der Union109. Er entwickelt die erforderli-
chen Impulse und formuliert politische Zielvorstellungen sowie Prioritäten. Eine
gesetzgeberische Initiative entfaltete er grundsätzlich nicht. Bindungswirkung ha-
ben die „Allgemeinen Richtlinien des Europäischen Rates“, die expressis verbis zur
Grundlage von Beschlüssen des Rates erklärt werden110.
Das Europäische Parlament111 (vgl zunächst oben 2) nimmt gemeinsam mit
dem Rat Haushaltsbefugnisse und Gesetzgebungsagenden wahr. Darüber hinaus
wird das Europäische Parlament beratend tätig („nach Anhörung des Europäischen
105
Dazu Herzog, Europa neu erfinden (2014) 49 ff, 129 u öfter.
106
Streinz, Europarecht Rz 49 ff.
107
Streinz, Europarecht Rz 53 ff.
108
Klemens Fischer, Der Vertrag von Lissabon2 (2010).
109
Art 15 EUV; Art 235 f AEUV.
110
Art 26 Abs 2 EUV.
111
Art 14 EUV; Art 233 ff AEUV; nicht zu verwechseln mit dem Europäischen Rat (dem Gremium
der Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten, vgl oben) oder gar mit dem 47 Mitglieder
zählenden Europarat in Strassburg, dessen wichtigstes Abkommen die Europäische Menschen-
rechtskonvention ist.
V. Europarecht 247
112
Streinz, Europarecht Rz 310.
113
Art 16 EUV; Art 237 ff AEUV.
114
Qualifizierte Mehrheit ist erforderlich, soweit nichts anderes bestimmt ist. Sie verlangt nach
Art. 16 IV EUV mindestens 15 Mitglieder, die zusammen 65 % der Bevölkerung repräsentieren.
Eine Regelung, welche den kleineren Ländern immer noch überproportionales Gewicht verleiht
und eine Kombination aus kleineren (Zahl) und größeren (Bevölkerung) Mitgliedstaaten erfordert.
115
Art 17 EUV; Art 244 AEUV; in den Verträgen: „Kommission“; die Kommission bezeichnet
sich aber als „Europäische Kommission“.
248 § 12 Gebiete des Rechts und Disziplinen der Rechtswissenschaft
116
Art 19 EUV; Art 251 ff AEUV.
117
Streinz, Europarecht Rz 406, 413 f.
118
Art 263 AEUV.
119
Art 265 AEUV.
120
Art 268 AEUV.
121
Art 19 Abs 1 EUV.
122
Der EuGH hat, wie andere Höchstgerichte auch, die Aufgabe, unter bestimmten Voraussetzun-
gen rechtsfortbildend zu wirken (allgemein zur höchstrichterlichen Rechtsfortbildung oben § 4
IV und § 5 V u VI). Gleichwohl muss auch ein Höchstgericht zunächst und vor allem prüfen, ob
überhaupt eine kompetenzmäßige Grundlage gegeben ist. Dieses Erfordernis hat der EuGH nicht
selten vernachlässigt; vgl unten 5.
V. Europarecht 249
entscheiden hat, erheblich ist. Zu hypothetischen Fragen nimmt der EuGH nicht
Stellung. Gerichte eines Mitgliedstaates sind vorlageberechtigt, ein Gericht, das in
letzter Instanz tätig wird, ist vorlageverpflichtet. Die Vorlageverpflichtung entfällt
nur dann, wenn bereits eine gefestigte Rsp des EuGH zur Klärung der Frage be-
steht (acte clair). Der Vorrang des Europarechts gebietet es nach Auffassung des
EuGH, auch wenn eine Vorlage nicht oder noch nicht erfolgt ist, dem Unionsrecht
widersprechendes mitgliedstaatliches Recht unangewendet zu lassen123. Das Urteil
des EuGH in einem Vorabentscheidungsverfahren bindet das vorlegende Gericht
und alle weiteren mit dieser Sache befassten Gerichte. Erklärt der EuGH einen Akt
des Sekundärrechts für ungültig, so hat jedes Gericht die Ungültigkeit zu beachten.
Auslegungsurteile wirken grundsätzlich ex tunc. Die Behörden der Mitgliedstaaten
haben die ausgelegte Norm in jener Deutung, die der EuGH vorgenommen hat,
auch auf Rechtsverhältnisse anzuwenden, die vor dem Urteil entstanden sind.
Das Recht der Europäischen Union hat in den letzten Jahrzehnten für die Ent-
wicklung des Privatrechts stark an Bedeutung gewonnen.124 Das Gemeinschafts-
recht hat Vorrang vor nationalem Recht. Es besteht aus dem primären Gemein-
schaftsrecht, hierzu zählen die Verträge über die Gründung der EU (EUV)125 und
die Arbeitsweise der EU (AEUV – besser wäre, wie im englischen, der Begriff
„Funktion“)126 sowie die Grundrechtscharta der EU, die zusammen den Lissaboner
Vertrag ausmachen127. Es besteht weiter aus dem sekundären Gemeinschaftsrecht.
Das sind die in den Mitgliedstaaten unmittelbar geltende Verordnungen und die
– für das Privatrecht namentlich bedeutsam – Richtlinien (Art 288 AEUV = ex-Ar-
tikel 249 EGV). Durch sie werden die Mitgliedsländer verpflichtet, ihr Recht den
europäischen Vorgaben anzupassen (sog Umsetzung).
Das Primärrecht normiert insbes die Grundfreiheiten (freier Personen-, Waren-,
Dienstleistungs- und Kapitalverkehr), welche die Entwicklung des gemeinsamen
Binnenmarktes gewährleisten sollen128. Die Freiheit des Warenverkehrs zielt darauf
ab, dass Waren und Leistungen in einer homogenen Wettbewerbsordnung ungehin-
dert zirkulieren können. Beschränkungen des Warenverkehrs zwischen den Mit-
123
Der Gedanke einer Nichtanwendung von rangniedrigeren Normen, die Normen höheren Ran-
ges widersprechen, beruht insbes auf skandinavischen Rechtsvorstellungen.
124
Vgl Gebauer/Wiedmann (Hrsg), Zivilrecht unter Europäischem Einfluss (2. Aufl 2010); Lan-
genbucher ua (Hrsg), Europarechtliche Bezüge des Privatrechts3 (2013); Basedow/Hopt/Zimmer-
mann (Hrsg), Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts (2009); Basedow, Das BGB im
künftigen Europäischen Privatrecht, AcP 200 (2000) 445, 450 ff.
125
ABl vom 9.5.2008, C 115/13–45.
126
In Kraft seit 1. 12. 2009, kons Fassung ABl 2008 C 115/47; den Text findet man zB auf den
Websites von Eurolex oder unter <aeuv.de>.
127
ABl 2007/306C/01.
128
Ausführlich Streinz, Europarecht Rz 297 ff.
250 § 12 Gebiete des Rechts und Disziplinen der Rechtswissenschaft
gliedstaaten sind unzulässig. Das gilt auch für „Maßnahmen gleicher Wirkung“, zB
nichttarifäre Handelsbeschränkungen (Art. 34 AEUV). Im Rahmen der Personen-
verkehrsfreiheiten unterscheidet man zwischen der Freizügigkeit der Arbeitnehmer
und der Niederlassungsfreiheit. – Die Kapitalverkehrsfreiheit gewährleistet den un-
gehinderten Geldtransfer von einem Mitgliedstaat in den anderen.
Das sekundäre Unionsrecht differenziert zwischen unterschiedlichen Typen von
Rechtsakten. In Betracht kommen die Verordnung, die Richtlinie und der Beschluss
sowie Empfehlungen und Stellungnahmen. – Eine Verordnung gilt unmittelbar in jedem
Mitgliedstaat. Man kann die Verordnung als Europäisches Gesetz bezeichnen.
Von der Verordnung ist die Richtlinie zu unterscheiden. Die Richtlinie formuliert
nur (verbindliche) Ziele. Dem Mitgliedstaat bleibt es überlassen, die für die Er-
reichung des Zieles geeigneten Instrumente und Maßnahmen auszuwählen. Richt-
linien besitzen – anders als Verordnungen – keine unmittelbare Wirkung. Sie richten
sich nicht an die Bürger, sondern an die Mitgliedstaaten. Unter Missachtung dieser
Grundsätze hat ihnen die Rsp des EuGH unter bestimmten Voraussetzungen eine
Direktwirkung verliehen. Im Widerspruch zum Richtlinienbegriff spricht man von
‚Vollharmonisierung’ und ‚Horizontalrichtlinie’. Zur richtlinienkonformen Ausle-
gung der nationalen Umsetzungsgesetze s oben § 5 IV 7. Richtlinien müssen sich
als Rahmen- oder Modellgesetze auf Grundsatz- und Rahmenregelungen beschrän-
ken. Diese Prinzipien wurden in der Praxis der Kommission und des EuGH weit-
gehend verwässert. Man findet fast immer minutiöse Detailvorschriften, die dem
Charakter der Richtlinie als Rahmen oder Modellgesetz widersprechen und dem
nationalen Gesetzgeber keinen Spielraum lassen129.
Als tertiäres Unionsrecht bezeichnet man die abstrakt-generellen Rechtsakte, welche
die Kommission auf der Grundlage sekundärrechtlicher Ermächtigungen setzt130. Ter-
tiäres Unionsrecht spielt zB im Beihilfenrecht eine nicht unerhebliche Rolle.
Aus der Umsetzungsverpflichtung nimmt der EuGH auch das Gebot einer richtli-
nienkonformen Auslegung. Nationales Recht im Regelungsbereich einer Richtlinie
ist nach Wortlaut und Zweck der Richtlinie auszulegen. Die Verpflichtung beginnt
mit dem Ablauf der Umsetzungsfrist. Zu bedenken sind allerdings auch Vorwirkun-
gen von Richtlinien. Die Mitgliedstaaten dürfen während der Umsetzungsfrist nicht
Maßnahmen setzen, die das Ziel der Richtlinie in Frage stellen könnten.
a) Beschränkte Gesetzgebungskompetenz
129
Das wurde oft kritisiert; s zuletzt Stürner, Markt und Wettbewerb über alles? (2007) 194; Pro-
kopf, Das gemeinschaftsrechtliche Rechtsinstrument der Richtlinie (2007) 66 ff passim, mwNw;
Herzog, Europa neu erfinden (2014) 97 ff, 99.
130
Streinz, Europarecht Rz 4.
V. Europarecht 251
beim Verbraucherrecht (Art 169 AEUV [= ex-Art 153 EGV]). Hierher gehören zB
die Richtlinien über Verbraucherkredit und Verbrauchsgüterkauf, über Time-Sha-
ring und Überweisungen, über Produkthaftung sowie über Haustür- und Fernab-
satzgeschäfte.
Die Europäische Gemeinschaft erließ oft Rechtsvorschriften ohne hierfür eine
Kompetenz zu besitzen.131 Zwar wurden durch den Vertrag von Lissabon die Kom-
petenzartikel 3 bis 6 AEUV neu eingefügt und bislang fehlende Kompetenzen be-
gründet bzw bestehende erweitert. Doch sind die Formulierungen schwammig und
für die notwendige, klare Aufteilung der Kompetenzen zu unbestimmt. Die Bestim-
mungen erfüllen das Erfordernis der „begrenzten Einzelermächtigung“ (Art. 5
EUV) nicht. So normiert etwa Art 4 Abs 2 lit j (AEUV) neben „Verkehr“ (lit g)
und „Energie“ (lit i) eine geteilte Zuständigkeit für den „Raum der Sicherheit der
Freiheit und des Rechts“. Allerdings bestehen Kompetenzen in diesen Bereichen
nur, soweit die Verträge eine Zuständigkeit übertragen (Art 4 Abs 1 AEUV). Die
vertraglichen Bestimmungen hierzu sind Art 90 ff (Verkehr), 194 (Energie) und 67
(Raum der Sicherheit …), Vorschriften, die weniger konkrete Zuständigkeiten als
allgemeine Ziele formulieren. Die Einschränkung von Art 4 Abs 1 fehlt bei Art 6
AEUV, der Kompetenz für „Unterstützungs- und Koordinierungsmaßnahmen“ in
den Bereichen Gesundheit (Art 168 AEUV), Industrie (Art 173 AEUV), Tourismus
(ART 195, Bildung, Jugend, Sport (Art 165 AEUV) usw); sie muss aber auch dort
gelten.
Schließlich sind im Bereich beider Kompetenzartikel die Prinzipien der Subsi-
diarität (Art 5 Abs 3 EUV) und der Verhältnismäßigkeit (Art 5 Abs 4 EUV) zu
beachten, dh, dass die EU nur tätig werden darf, soweit die Maßnahme im Hinblick
auf den verfolgten Zweck geeignet, erforderlich und angemessen ist. Wichtiger
noch ist die Subsidiarität: Die EU darf nicht tätig werden, wenn die Aufgabe auf
lokaler Ebene genauso gut (oder besser) erfüllt werden kann (zur Subsidiarität s
auch oben § 9 I).
Die ungenaue Abgrenzung zu den bei den Mitgliedstaaten verbleibenden Kom-
petenzen wird dazu führen, dass die EU künftig noch unbedenklicher Kompetenzen
für sich in Anspruch nimmt als schon bisher. Der EuGH begünstigt diese Tendenz
durch seine Theorie vom effet utile und der aus dem US-amerikanischen Recht
übernommenen These von den implied powers, die zu weiten und wenig konturier-
ten Annexkompetenzen führen.
131
Honsell, Die Erosion des Privatrechts durch das Europarecht, ZIP 2008, 621 ff; Honsell, in:
Harrer/Gruber (Hrsg) Europäische Rechtskultur, Symposium Honsell (2009) VI ff; Herzog, Euro-
pa neu erfinden (2014) 55 ff, 81 f..
252 § 12 Gebiete des Rechts und Disziplinen der Rechtswissenschaft
Auslegung gerechtfertigt werden kann. Nach der 1. Entscheidung des EuGH zur
Tabakwerbe-Richtlinie132 genügt eine bloß abstrakte Gefahr von Wettbewerbsver-
zerrungen nicht, um eine Kompetenz auf der Grundlage von Art 114, 115 AEUV (=
ex-Art 95, 96 EGV) zu rechtfertigen. Die Kommission zieht Art 116 AEUV so her-
an, als handle es sich um eine generelle, voraussetzungslose Kompetenz zur Anglei-
chung von Rechtsvorschriften. Die meisten Richtlinien, auch solche, die mit dem
Wettbewerb auf dem Binnenmarkt überhaupt nichts zu tun haben, werden auf diese
Norm gestützt133. Krasse Beispiele vertragswidriger Kompetenzanmaßung sind die
golden share-Urteile,134 insbesondere die Aufhebung des VW-Gesetzes135 wegen
Verstoßes gegen die Kapitalverkehrsfreiheit (sic!) des Art 63 AEUV (= ex-Art 57
EGV). Das VW-Gesetz räumte dem Bund und dem Land Niedersachsen eine Vor-
rangstellung im Aufsichtsrat ein und beschränkte das Stimmrecht unabhängig vom
Aktienbesitz auf 20 %. Art 63 AEUV, auf den das Urteil gestützt wurde, regelt nur
die Liberalisierung des Kapital- und Devisenverkehrs, verbietet Beschränkungen
des Kapital- und Zahlungsverkehrs und hat mit der Zulässigkeit von Stimmrechts-
beschränkungen im Aktienrecht nicht das Geringste zu tun. Ein anderes Beispiel
ist die Finanzmarktrichtlinie MiFID (Markets in Financial Instruments Directive
2004/39/EG). Sie wird allein auf Art 53 AEUV (= ex-Artikel 47 EGV) gestützt, der
nur eine Kompetenz zur Erleichterung der Niederlassungsfreiheit bei selbständigen
Tätigkeiten enthält. Auch mit der größten Phantasie lässt sich daraus keine Kompe-
tenz für die Regelung von Wertpapiergeschäften herleiten. Die in stRsp vertretene
Drittwirkung von Grundfreiheiten führt zu einem enormen Kompetenzzuwachs des
EuGH. So ist etwa Art 141 AEUV (Lohngleichheit) ausdrücklich an die Mitglied-
staaten adressiert, was den EuGH aber nicht daran gehindert hat, einen unmittel-
baren Anspruch des Arbeitnehmers zu statuieren136.
Der EU-Gesetzgeber achtet auch nicht auf Präzision der Formulierungen, was
zu einer allmählichen Kontamination der Privatrechtsdogmatik führt. Das zeigen
schlecht formulierte, oft seitenlange Vorschriften, ungenaue Begriffe, unsinnige
Häufung von synonymen Adjektiven usw. Die Verbrauchsgüterkauf-RL137 zB heißt
wirklich so, obwohl sie nicht den Verkauf von Verbrauchsgütern regelt, sondern
den Verbraucherkauf. Die Integration der Richtlinien ins BGB hat dieses mit lang-
132
EuGH JZ 2001, 32 mit Anmerkungen von Götz; kritisch W.-H. Roth in: Ernst/Zimmermann
(Hrsg), Zivilrechtswissenschaft und Schuldrechtsreform (2001) 225, 231; ders in: Sondertagung
Schuldrechtsmodernisierung: Europäischer Verbraucherschutz und BGB, JZ 2001, 589; Ehmann/
Rust JZ 1999, 853 f; Sachsen Gessaphe RIW 2001, 721, 735.
133
ZB die EG-RL 2006/24 über die Vorratsdatenspeicherung vgl unten Fn 178.
134
Dazu Günter H Roth, Symp. Honsell (2009) 67 ff.
135
EuGH C 112/2005 v 23. Oktober 2007.
136
EuGH 8. 4. 1976, Rs 43/75-Defrenne II und öfter; krit auch Ehlers/Becker, Europäische Grund-
rechte und Grundfreiheiten (2009) 237 ff u passim mwNw; s noch Körber, Grundfreiheiten und
Privatrecht (2004).
137
1999/44/EG vom 25. Mai 1999, ABl. 1999 L 171 vom 7. Juli 1999, 12–16; ersetzt durch
2011/83 EU v 25. 10. 2011.
V. Europarecht 253
138
Bürgerliches Recht21 (2007) Rn 325.
139
„Normtextlänge durch Redundanzen, Abstraktheitskaskaden und Mehrfachregelungen sowohl
innerhalb eines Textes als auch durch die Existenz verschiedener benachbarter und sich überlap-
pender Richtlinien“ beobachtet Müller-Graff Symp Honsell (2009) 2.9.
140
Herzog, Die EU neu erfinden (2014) 88 ff, 100 ff, insbes zur Normenflut.
254 § 12 Gebiete des Rechts und Disziplinen der Rechtswissenschaft
Das wöchentlich drei- bis viermal erscheinende Amtsblatt L, in dem die Rechts-
vorschriften der EG publiziert werden, umfasst inzwischen hunderttausende Seiten
von überlangen, schwer verständlichen und extrem änderungsanfälligen Gesetzes-
texten. Die Änderung der Änderung der Änderung. Oft ist es die vorletzte Novelle,
welche die letzte erst notwendig macht. Nicht selten wird ein ganzer Erlass wegen
Fehlerhaftigkeit einfach ein zweites Mal publiziert. Dem Leser wird nicht mal mehr
mitgeteilt, weshalb. Wer es schon gelesen hat, ist der Dumme, und muss das Ganze
noch mal lesen. Die Umsetzung von Richtlinien wirft namentlich bei Kollision mit
nationalen Wertungsmodellen Probleme für den nationalen Gesetzgeber und den
Rechtsanwender auf. Sie erfolgt in Nebengesetzen, zB im ProdHaftG, in Deutsch-
land zunehmend aber durch Integrierung ins BGB.
141
S etwa Mestmäcker/Schweizer, Europäisches Wettbewerbsrecht2 (2004); Immenga/Mestmä-
cker, Wettbewerbsrecht I/15 (2012), I/25 (2012); II/4 (2007); Emmerich Kartellrecht12 (2012).
142
Frenz, Handbuch Europarecht III Beihilfe- und Vergaberecht (2007); Bartosch, EU-Beihilfen-
recht (2009)
143
Holoubeck/Fuchs/Holzinger, Vergaberecht (2012); Münchener Kommentar zum Europäischen
und Deutschen Wettbewerbsrecht III: Beihilfenrecht und Vergaberecht (2011).
144
Näher Honsell, Staudinger Eckpfeiler, Einl B Rn 46.
145
S statt aller Rittner, Das Kartellverbot des Art 81 EGV in teleologischer Reduktion, in: FS
Huber (2006) 1095, 1114.
146
Rittner/Dreher/Kulka, Europäisches und deutsches Kartellrecht8 (2004) Rn 1094, 1095.
147
Im Jahre 2007 waren es zB mehr als 3 Mrd EUR.
V. Europarecht 255
e) Verbraucherschutz
148
Ebenso EuG T-83/91 Slg. 1994 II 755 Rn 235 – Tetra Pak; krit Honsell ZIP 2008, 621. Die
Buße kann bis zu 10 % des Jahresumsatzes betragen, obwohl dieser kein geeigneter Parameter für
die Höhe ist. Sachgerecht müsste man auf den Gewinn abstellen.
149
Auch die neuen EU-Vergaberichtlinien v 17. April 2014 ändern daran wenig, sondern kompli-
zieren das Verfahren durch Aufnahme vergabefremder, ökologischer und sozialer Kriterien (usw).
Wegen des bürokratischen Aufwands beteiligen sich gerade KMU immer weniger an Ausschrei-
bungen.
150
„We are all consumers“.
151
S §§ 246 ff EGBGB.
256 § 12 Gebiete des Rechts und Disziplinen der Rechtswissenschaft
152
ZB § 355 BGB.
153
Zur Bedeutung des Schutzes des Schwächeren im heutigen Privatrecht vgl statt vieler Weit-
nauer, Der Schutz des Schwächeren im Zivilrecht (1975); Bydlinski, Die Suche nach der Mitte
als Daueraufgabe des Privatrechts, AcP 204 (2004) 309 ff; Repgen, Die soziale Aufgabe des Pri-
vatrechts (2001) 501 ff. u. passim; zuletzt E vHippel, Kampfplätze der Gerechtigkeit (2009) 39 ff
mwNw.
154
Die in Erw 6 u 7 RL 2011/83/EU v 25. 10. 2011 aufgestellte Behauptung, die Konsumenten
ließen sich durch unterschiedliche Regelungen von grenzüberschreitenden Aktivitäten abhalten,
ist aus der Luft gegriffen und jedenfalls unbewiesen.
155
Krit dazu auch A Junker, Vom Bürgerlichen zum kleinbürgerlichen Gesetzbuch – der Richtlini-
envorschlag über den Verbrauchsgüterkauf, DZWiR 1997, 271, 281; Zöllner, Regelungsspielräu-
me im Schuldvertragsrecht, AcP 196 (1996) 1, 4; ders, GS Mayer-Maly (2011) 599, 602.
156
Sie heißt wirklich so, obwohl es nicht um den Verbrauchsgüterkauf geht, sondern um den Ver-
braucherkauf.
157
So BGH NJW 1978, 261 mwNw.
V. Europarecht 257
und der Kaufanspruch auf Lieferung des Pferdes besteht fort. Inzwischen existiert
auch zum Verbraucherschutz eine neue Verbraucherrechte-RL (VRRL)158, wel-
che die Haustürwiderrufs-RL (85/577/EWG) und die Fernabsatz-RL (97/7/EG) auf-
gehoben und die RL über missbräuchliche Vertragsklauseln (93/13/EWG) sowie die
Verbrauchsgüterkauf-RL (1999/44/EG) geändert und eine europaweit einheitliche,
nicht abänderbare Regelung unter der verharmlosenden Bezeichnung ‚Vollharmo-
nisierung’ und ‚Horizontalrichtlinie’ (dh mit unmittelbarer Drittwirkung) spätestens
am 13.6.2014 in Kraft gesetzt hat. Sie verkennt wiederum das Wesen der Richtlinie
und ist von den EU-Verträgen nicht gedeckt159.
f) Zahlungsverzug
Ein letztes Beispiel verfehlter Gesetzgebung ist die RL 2011/7 EU mit dt Umset-
zungsG 2014 zur Bekämpfung des Zahlungsverzuges im Geschäftsverkehr (er-
setzt durch RL EU 2011/7). Sie wurde in Deutschland umgesetzt durch das Gesetz
zur „Beschleunigung fälliger Zahlungen“ (sic!). In Erwägungsgrund 16 RL hieß
es: „Zahlungsverzug stellt einen Vertragsbruch dar, der für die Schuldner in den
meisten Mitgliedstaaten durch niedrige Verzugszinsen und/oder langsame Beitrei-
bungsverfahren finanzielle Vorteile bringt. Ein durchgreifender Wandel, der auch
eine Entschädigung der Gläubiger für die ihnen entstandenen Kosten vorsieht, ist
erforderlich, um diese Entwicklung umzukehren und um sicherzustellen, dass die
Folgen des Zahlungsverzugs von der Überschreitung der Zahlungsfristen abschre-
cken.“ Bekanntlich ordnet § 288 BGB deshalb an, dass der Verzugszins 5 % über
dem von der EZB festgelegten Basiszinssatz liegt und, wenn kein Verbraucher be-
teiligt ist, sogar 9 % darüber. Je nach dem jeweiligen Basiszinssatz sind Verzugszin-
sen von 10 % und mehr die Regel. Zwar ist die Flexibilisierung des Verzugszinses
an sich richtig, doch ist der Zinssatz viel zu hoch. Im Übrigen war eine höhere Zins-
forderung bei Nachweis eines Schadens schon bisher möglich. Jetzt muss man nicht
mehr mit höheren Deckungskosten oder Anlagezinsen argumentieren, sondern er-
hält den erhöhten Zins, auch wenn man keinen Schaden hat, quasi als Strafscha-
densersatz. Da man bei kaum einer Anlageform Zinsen von 10 % und mehr erzielt,
kann einem nichts Besseres passieren, als ein (solventer) Schuldner im Verzug. Was
der Gesetzgeber offenbar völlig übersehen hat, ist die Tatsache, dass längst nicht
jeder Schuldner, der nicht zahlt, dies in vertragswidriger Absicht tut. Der häufigste
Fall ist der, dass er sich in Zahlungsschwierigkeiten befindet. Nicht selten ist es
aber auch so, dass die Parteien über die Berechtigung der Forderung streiten und
deshalb eine gerichtliche Klärung herbeiführen müssen. Hier wachsen während des
Prozesses nicht selten Verzugszinsen in Höhe von 30 % und mehr an, was eine echte
Erschwerung der Rechtsverfolgung für den Schuldner darstellt. Seit einem Reichs-
deputationsabschied aus dem Jahre 1600 betrug der Verzugszins 5 %, wobei – wie
gesagt – eine höhere Schadensersatzforderung immer möglich war. Was vierhun-
Vgl oben a); eingehend dazu Martinek Staudinger Eckpfeiler A BGB aktuell Rn 95 ff. und
159
dert Jahre richtig war, wird mit dem unbedachten Federstrich eines voreiligen und
uninformierten Gesetzgebers beiseite gewischt. Die überzogenen Verzugszinsen
kontrastieren im Übrigen mit dem gegen null tendierenden allgemeinen Zinsniveau,
das wir übermäßiger Staatsverschuldung und einer verfehlten Zins- und Geldpolitik
der Europäischen Zentralbank verdanken (vgl unten V 8 aE). Die Schweiz hat die-
sen Unsinn zum Glück nicht mitgemacht.
An dem Befund der Ausuferung des Europarechts und seiner mangelnden juris-
tischen Qualität hat auch die Judikatur des EuGH erheblichen Anteil.160 Das Ge-
richt, das sich zu Zeiten des Abbaus nichttarifärer Handelshemmnisse mit Entschei-
dungen wie Cassis de Dijon161 verdienstvoll als „Motor der Integration“ im Bereich
der Warenverkehrsfreiheit betätigt hat, spielt heute die ihm nicht zustehende Rolle
eines „gouvernement des juges“, das quasi Allzuständigkeit besitzt. Wie die natio-
nalen Gerichte hat der EuGH die Befugnis zur Rechtsfortbildung162. Dies ist indes
kein Freibrief für Überdehnung der Grundfreiheiten,163 Ausweitung der Richtlinien
und Beschneidung der Gesetzgebungskompetenz der Mitgliedstaaten. In der Rsp
des EuGH häufen sich Auswüchse und Pannen und endlich werden auch kritische
Stimmen laut. So hat der ehemalige Bundespräsident und Präsident des BVerfG,
Roman Herzog164 beklagt, dass der EuGH zentrale Grundsätze der abendländischen
richterlichen Rechtsauslegung bewusst und systematisch ignoriere. Kritisch hat sich
auch die Bundesjustizministerin Brigitte Zypries165 vor dem Deutschen Juristentag
2008 geäußert. Auch für die zahlreichen Auswüchse und Fehlentscheidungen in der
Judikatur des EuGH mögen wenige Beispiele genügen: Das Verbot der Altersdis-
kriminierung (RL 2000/ 78 EG, § 10 AGG) ist, wie schon die Erwägungsgründe
mit ihren Ausnahmen zeigen, völlig unklar. Unverständlich ist jedenfalls, dass der
EuGH im Fall Mangold166 die Befristungsmöglichkeit von Arbeitsverträgen für Be-
160
Näher Honsell, Die Erosion des Privatrechts durch das Europarecht, ZIP 2008, 621 ff; G H
Roth, in: Harrer/Gruber (Hrsg), Europäische Rechtskultur, Symposium Honsell (2009) 67 ff.
161
EuGH Rs 120/79; die Entscheidung sagt dass alle Waren, die in einem Mitgliedstaat geset-
zeskonform hergestellt wurden, in allen anderen ungehindert verkauft werden dürfen. Das hat ua
dem ursprünglich in Österreich zugelassenen Energydrink Red Bull die Verbreitung in Europa
erleichtert.
162
Zur Rechtsfortbildung im Unionsrecht s die gleichnamige Schrift von Grosche (2011).
163
S dazu Roth (Fn 160); Hillgruber JZ 2011, 861, 871 spricht von einem „großen europäischen
Grundrechte-Einheitsbrei, der in Straßburg angerührt und in Karlsruhe ausgelöffelt wird“.
164
Herzog/Gerken, Stoppt den Europäischen Gerichtshof, FAZ v 8. 9. 2008 Nr 210 S 8; Herzog,
SüddZtg 15. 6. 2014 schlägt einen eigenen unabhängigen Kompetenzgerichtshof vor. Weitere Re-
formvorschläge bei Herzog, Europa neu erfinden (2014).
165
FAZ v 23. 9. 2008, S 6.
166
EuGH C-144/04 – Mangold Slg 2005, I-9981 = EuZW 2006, 17 (Reich); NZA 2005, 1345 =
RdA 2007, 169 (Kuras) = ZAS 2006, 236 ( Urlesberger) = NJW 2005, 3695 = ZIP 2005, 2171.
Es handelte sich um einen fiktiven, von einem Münchener Anwalt provozierten Rechtsstreit, der
einen älteren Arbeitnehmer eingestellt und gegen sich hatte klagen lassen. BAGE 118, 76, 87 =
V. Europarecht 259
BB 2006, 1858 = Betrieb 2006, 1162 = NZA 2006, 1162, 1167 (Honeywell) hat in einem Paral-
lelfall das Urteil akzeptiert und eine Vorlage verfügt (Beschluss v 11. 10. 2008, 7 AZR 253/07),
welche die EG-Kompatibilität von § 14 Abs 3 S 1 aF TzBfG betrifft (Zulässigkeit der Befristung
ab 58 Jahren). BVerfGE 126, 286 (Beschluss vom 6. 7. 2010, 2 BvR 2661/06) hat leider eine
Kompetenzüberschreitung des EuGH und einen „ausbrechenden Rechtsakt“ verneint und die Ver-
fassungsbeschwerde gegen die Entscheidung des BAG in der Rechtssache Honeywell zurück-
gewiesen.
167
§ 14 Abs 3 S. 4 TzBfG aF.
168
S die bei Egger, in: Roth/Hilpold (Hrsg), Der EuGH und die Souveränität der Mitgliedstaaten
(2008) 55, 71 ff. Rn 81 genannten zahlreichen kritischen Stimmen; etwa Bauer, Ein Stück aus
dem Tollhaus: Altersbefristung und EuGH, NZA 2005, 800; Gerken/Rieble/Roth/Stein/Streinz,
„Mangold“ als ausbrechender Rechtsakt (2009), 1, 17 ff, wo insbes die horizontale Vorwirkung
der RL gerügt wird, deren Umsetzungsfrist noch gar nicht abgelaufen war sowie die Erfindung
eines Grundrechts des Verbots der Altersdiskriminierung lange bevor die Grundrechtscharta mit
dem Antidiskriminierungsartikel 21 in Kraft getreten war. Das Bundesverfassungsrecht (2 BvR
2661/06 – Mangold/Honeywell) hat sich dieser Kritik nicht angeschlossen.
169
EuGH NJW 1992, 2687; dazu etwa Junker NJW 1994, 2527.
170
Zurecht ablehnend die hL, zB Palandt/Weidenkaff § 613a Rn 10; MünchKomm BGB/Müller-
Glöge § 613a Rn 30 u. 49; Kaiser NZA 2000, 1144.
171
Aus der unübersehbaren Lit s statt aller Zöllner, GmbHR 2006, 1; kritisch auch Grigoleit, in:
Neuner, Grundrechte und Privatrecht aus rechtsvergleichender Sicht (2007) 266 ff; ferner Rüffler,
Erosion des Gesellschaftsrechts durch das Europarecht, Symp Honsell, 85 ff; G H Roth, Vorgaben
der Niederlassungsfreiheit für das Kapitalgesellschaftsrecht (2010); Eidenmüller ZGR 2007, 168,
sowie die Sammelwerke hrsg v Eidenmüller, Ausländische Kapitalgesellschaften im deutschen
Recht (2004) und Lutter, Europäische Auslandsgesellschaften in Deutschland (2005).
172
EuGH v 9. 3. 1999 Rs C-212/97; 5. 11. 2002 C-208/00; 30. 9. 2003 C-167/01; einschränkend
C-196/04.
260 § 12 Gebiete des Rechts und Disziplinen der Rechtswissenschaft
173
S statt aller Zöllner GmbHR 2006, 1 ff; kritisch auch Grigoleit in: Neuner, Grundrechte und
Privatrecht aus rechtsvergleichender Sicht (2007) 266; s ferner Eidenmüller ZGR 2007, 168.
174
Urteil vom 17. April 2008; s dazu auch BGH Urteil v 26. 11. 2008 (VIII ZR 200/05).
175
In Rn 39 meint der EuGH, Erw 15 beziehe sich nur auf Vertragsauflösung (aus anderen Grün-
den). Trotz der zu engen Formulierung der Erw 15 ist dies nicht nachvollziehbar, denn es fehlt
jeder innere Grund für eine solche Einschränkung.
176
Die Richter hielten sich einfach an den Wortlaut der VO, in dem die selbstverständliche Aus-
nahme für höhere Gewalt nicht vorgesehen ist. – Auch der Umstand, dass diese Art von Geschen-
ken am Ende (über den Preis) immer der Verbraucher bezahlt, ist nicht ins Blickfeld der Richter
geraten.
V. Europarecht 261
rechtliche Urteile des EuGH, der nicht ausreichend mit qualifizierten Richterper-
sönlichkeiten des Privatrechts, sondern mit Beamten für Europarecht und interna-
tionale Verwaltung aus Ländern sehr verschiedener Rechtskulturen besetzt ist und
an einem Mangel qualifizierter Juristen leidet.
Als Fazit177 bleibt die Feststellung, dass eine Überdehnung der Grundfrei-
heiten, eine Überschreitung der Richtlinienkompetenz und eine Strapazierung
der Binnenmarktidee unter Ignorierung der seit Edinburgh primärrechtlich ver-
ankerten Prinzipien der begrenzten Einzelermächtigung und der Subsidiarität
die Hauptvehikel einer ständigen, vertragswidrigen Ausweitung des Europarechts
geworden sind. Man fühlt sich wie in Andersens Märchen „Des Kaisers neue Klei-
der“ und wartet darauf, dass endlich das Kind kommt, das sagt, „der Kaiser hat ja
gar nichts an“.
Die von der Kommission initiierten und vom EuGH idR gedeckten Kompetenz-
anmaßungen und unbeanstandeten Richtlinien178 führen zu einem systemwidrigen
Durcheinander von europäischem und nationalem Recht. Es ist nicht hinnehmbar,
wenn die häufig massiven Eingriffe der EU in die Rechte der Mitgliedstaaten und
Dritter ohne hinreichende Rechtsgrundlage und in vertragswidriger Weise erfolgen.
Die Bürger sind dem schutzlos ausgeliefert. Mitgliedstaaten könnten ein Gesetz
wegen Unzuständigkeit oder Vertragswidrigkeit mit Nichtigkeitsklage nach Art 263
Abs 2 u 6 AEUV in einer Frist von zwei Monaten anfechten, was aber, soweit er-
sichtlich, kaum geschieht, wenn ein Gesetz den Ministerrat einmal passiert hat. Seit
Lissabon können auch die Parlamente der Mitgliedstaaten wegen Verletzung des
Subsidiaritätsprinzips den EuGH anrufen. Dazu bestimmt Art. 23 Abs 1a GG, dass
der Bundestag berechtigt und auf Antrag eines Viertels seiner Mitglieder auch ver-
pflichtet ist, wegen Verstößen gegen das Subsidiaritätsprinzip zu klagen. Was fehlt,
ist ein unabhängiger Kompetenzgerichtshof, wie ihn Altbundespräsident Roman
Herzog179 gefordert hat.
Die Verhinderung Unordnung schaffender Übergriffe wäre an sich letztlich auch
Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, das über die Einhaltung des Rechtsstaats-
prinzips (Art 20 Abs 3 GG) wacht. Das Gericht kommt dem aber nur in sehr einge-
schränktem Umfang nach (unten 7).
177
S Honsell ZIP 2008, 621, 625; Herzog, Europa neu erfinden (2014), insbes 88 ff, 94 ff. 100 f.
178
Natürlich gibt es auch Gegenbeispiele, so hat der EuGH mit Urteil v. 8.4.2014 (C-293/12 u
C-594/12) die RL 2006/24/EG über die Vorratsdatenspeicherung für ungültig erklärt. Wegen deren
Nichtumsetzung wurde gegen die BRD ein Vertragsverletzungsverfahren vor dem EuGH ange-
strengt und eine Strafe von täglich 315.000 EUR gefordert. Nach der Aufhebung der RL wurde
das Verfahren eingestellt.
179
Europa neu erfinden (2014). Dort auch zu weiterer grundsätzlicher Kritik und Reformvorschlä-
gen.
262 § 12 Gebiete des Rechts und Disziplinen der Rechtswissenschaft
8. Ausblick
Ein völkerverbindendes, einiges Europa bleibt eine faszinierende Idee und ein loh-
nendes Ziel. Deutschland ist zur Mitwirkung an der Verwirklichung eines vereinten
Europas sogar verpflichtet (Art. 23 Abs 1 GG). Die Europäische Integration, der
Wegfall der Grenzen, der Freihandel und das Zusammenrücken der Europäischen
Staaten in einer globalisierten Welt tragen zu politischer Stabilisierung in einem
künftigen Europa bei, in dem ein tief verwurzeltes europäisches Zusammengehörig-
keitsgefühl besteht und in dem die Bürger Europa genauso verbunden sind wie ih-
ren Heimatländern. Dazu gehört indes auch eine Kommission, welche Kompetenz-
grenzen und das Subsidiaritätsprinzip beachtet, sich um eine minimale Ordnung
und Systematik des Europarechts bemüht und frei ist von aktionistischer Beliebig-
keit. Stattdessen sind wir mit einer Flut ausufernder und überflüssiger Regelungen
ohne System und Konzept183 und mit unklaren und diffusen Nebenwirkungen kon-
180
Zu den Einzelheiten s BVerfGE 37, 271 ff – Solange I; 73, 339 ff – Solange II; 89, 155 fff –
Maastricht.
181
BVerfGE 126, 286 – Mangold/Honeywell.
182
Selbstverständlich hielt sich das Gericht auch in diffizilen Währungsfragen für kompetent.
Sogar die verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit konnte das angegriffene Gesetz gerichtsfest
machen, weil mit der Haushaltsautonomie des Parlaments angeblich auch das unabänderliche De-
mokratieprinzip (Art 79 Abs 3 iVm Art 20 GG; dazu schon BVerfGE 89, 155 – Maastricht) tangiert
sei. (näher zu den Kompetenzüberschreitungen des BVerfG § 5 VIII und § 7 II).
183
So etwa A Junker, Der EuGH im Arbeitsrecht – Die schwarze Serie geht weiter, NJW 1994,
2527; zustimmend Zöllner, GS Mayer-Maly (2011) 599, 602, der von methodisch kaum nachvoll-
ziehbarer Gängelung und Komplizierung spricht.
V. Europarecht 263
frontiert. Nötig wäre eine Kommission, die den Europäischen Gedanken und das
Zusammengehörigkeitsgefühl der Nationen mit sinnstiftenden Maßnahmen fördert
anstatt die Europäische Idee mit abschreckender Bürokratie zu beschädigen.
Ein gravierender historischer Fehler war auch die Einführung einer einheitlichen
europäischen Währung für einen lockeren Staatenverbund (mit ganz unterschied-
licher Wirtschafts-, Währungs-, Steuer- und Sozialpolitik und mit grundverschiede-
ner Inflationsmentalität) allein im Vertrauen auf die disziplinierende Wirkung von
Strafen für die Nichteinhaltung von Defizitkriterien. Es ist eine unsinnige Idee, man
könne einen defizitären Staat mit Schulden in Milliarden- oder Billionenhöhe durch
Geldstrafen (in Milliardenhöhe?) auf den rechten Weg zurückbringen.
Die Kritik betrifft also nicht die Europäische Idee, sondern ihre zum Teil falsche
Umsetzung und eine fehlerhafte Konstruktion der Europäischen Union sowie die
Brüsseler Bürokratie. Wie es aussieht, führt die nicht wirklich überwundene Euro-
krise dazu, auf dem bisherigen Weg sogar noch fortzuschreiten und die EU weiter
auszubauen anstatt sie zu reformieren. Wenn man betrachtet, wie Brüssel bislang
seine Haushaltsmittel verwendet hat und wie wenig handlungsfähig es in der Euro-
krise war, wird man dies kaum für erfolgversprechend halten. Kein gutes Zeichen
ist es auch, wenn eine zentrale Rechtsvorschrift der Europäischen Wirtschafts- und
Währungsunion wie die Nichtbeistands-Klausel in Art 125 Abs 1 S 2 AEUV = ex-
Art 103 EGV (auch no-bailout-clause, zuerst im Vertrag von Maastricht normiert
und seither mehrfach wiederholt und bestätigt), die jede Haftung der Europäischen
Union sowie der Mitgliedstaaten für Verbindlichkeiten anderer Staaten ausschließt,
beim ersten Krisenfall über Bord geworfen wird. Angesichts der klaren Vertragsla-
ge kann man schwerlich mit einer freiwilligen, außervertraglichen Hilfe (von meh-
reren hundert Milliarden Euro) argumentieren. Allenfalls der Grundsatz „Not kennt
kein Gebot“ (necessitas non habet legem) lässt sich anführen. Das Problem der
Staatsverschuldung und die Spekulation gegen Währungen wird man ohne weitere
Schuldenschnitte und ohne eine globale Regulierung der Finanzmärkte nicht in den
Griff bekommen.
Die von den USA im Gefolge der Wirtschaftskrise (2008) angestossene Politik
des leichten Geldes und der niedrigen Zinsen, welche die Europäische Zentralbank
übernommen hat, verdeckt diese Problematik temporär, führt aber längefristig nicht
zu einer wirtschaftlichen Erholung, sondern zu beträchtlichen Schäden. So wird ein
überliquider Markt mit weiterem Geld geflutet, um eine angebliche Kreditklemme
der Wirtschaft in Südeuropa zu beseitigen, die in Wahrheit andere Ursachen hat.
Diese Politik enteignet die Sparer und macht zB die Pläne von Pensionsfonds zu
Makulatur. Für einen Ausgleich zwischen Sparen und Investieren/Verbrauchen im
Rahmen der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung sind der Zinssatz und eine nied-
rige Inflationsrate essentiell. Inflation ist per se ein Faktor hochgradiger volkswirt-
schaftlicher Unordnung. Nur für die überschuldeten Staaten sind Nullverzinsung
und Inflation günstig, denn sie ermöglichen eine Schuldenreduktion ohne Sparen
und ohne Schuldenschnitt. So wird heute von einigen Ländern eine „Beendigung
des Sparzwangs“ gefordert, noch ehe mit dem Sparen überhaupt begonnen wurde.
264 § 12 Gebiete des Rechts und Disziplinen der Rechtswissenschaft
VI. Völkerrecht
Das Völkerrecht verdankt seine Sonderstellung dem Umstand, dass sich die in
der Allgemeinen Staatslehre überholte Drei-Elemente-Lehre Georg Jellineks zur
Definition eines Staates184 weltweit durchgesetzt und dort bis in die Gegenwart
bestimmend geblieben ist. Sind Staatsgebiet, Staatsvolk und effektive Staatsgewalt
gegeben, liegt ein Staat vor und damit zugleich die fixe Bezugsgröße des Völker-
rechts. Staaten in diesem Sinne schufen und schaffen die so genannten Quellen des
Völkerrechts. Diese sind in erster Linie völkerrechtliche Verträge und völkerrecht-
liches Gewohnheitsrecht sowie Allgemeine Rechtsgrundsätze. Österreich bietet ein
instruktives Beispiel. Die historische Grundlage des gesamten nationalen Rechts ist
jeweils ein völkerrechtlicher Vertrag. Gäbe es nicht den Staatsvertrag von St. Ger-
main 1919185 nach dem Ersten Weltkrieg und den Staatsvertrag von Wien 1955186
nach dem Zweiten Weltkrieg, so gäbe es kein unabhängiges Österreich, das diesen
Namen trägt und als demokratische Republik in den Grenzen des österreichischen
Territoriums eingerichtet wurde.
Die Staaten legen im Wege der Völkerrechtsquellen auch fest, welche weiteren
Völkerrechtssubjekte akzeptiert werden. Die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges
schufen im Jahr 1945 die Vereinten Nationen und deren Satzung187, die der öster-
reichische Völkerrechtswissenschaftler Alfred Verdross188 wegweisend als „Verfas-
sung der Staatengemeinschaft“ bezeichnet hat189. Die Satzung der Vereinten Natio-
nen ist selbst der Gründungsvertrag der weitaus bedeutsamsten internationalen Or-
ganisation und bestimmt zugleich den Kern des völkerrechtlichen Friedensrechts190
und die Bedingungen, unter denen erlaubterweise ein Krieg begonnen oder andere
Sanktionen gegen einen Staat verhängt werden dürfen. Kriege, im Völkerrecht be-
waffnete Konflikte genannt, unterliegen dem völkerrechtlichen Kriegsrecht191.
Der Versuch, partikuläres Sondervölkerrecht mit Abweichungen vom universel-
len Völkerrecht zu entwickeln, prägt die Geschichte des Völkerrechts von ihren An-
fängen her. Er steht hinter dem seinerzeitigen britischen Anspruch auf geschlossene
184
Vgl insbes Jellinek, Die Lehre von den Staatenverbindungen (1882). Georg Jellinek (1851–
1911) war ein bedeutender deutscher Staatsrechtslehrer österreichischer Herkunft. S zu Jellinek
etwa Kersten, Georg Jellinek und die klassische Staatslehre (2000) sowie Paulson (Hrsg), Georg
Jellinek: Beiträge zu Leben und Werk (2000).
185
öStGBl 1920/303.
186
öBGBl 1955/152.
187
1UNTS XVI, BGBl 1956/120. Dazu etwa Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht3 (1984)
69 ff.
188
Alfred Verdroß (1890–1980) prägte maßgeblich die Wiener Schule des Völkerrechts und der
Rechtsphilosophie; vgl Köck, Alfred Verdroß – Ein österreichischer Rechtsgelehrter von inter-
nationaler Bedeutung (1991); Schambeck, Alfred Verdroß als Rechtsphilosoph und die Wiener
Rechtstheoretische Schule, FS Köck (2009) 527 ff.
189
S schon Verdross, Völkerrecht2 (1950) 400 ff.
190
Vgl Schweisfurth, Völkerrecht (2006) 254 ff.
191
Eingehend zum Recht der bewaffneten Konflikte Schweisfurth, Völkerrecht 478 ff.
VI. Völkerrecht 265
Meere, vorgetragen durch John Selden192, der der niederländischen Forderung nach
einem mare liberum, vertreten durch Hugo Grotius193, entgegentrat. Die Schrift De
mare libero (1609) lieferte die juristische Begründung des niederländischen Begeh-
rens nach einem freien Handel zur See. Grotius gilt als der Pionier des modernen
Seerechts.
Mit der Oktoberrevolution 1917 beanspruchte die sozialistische Völkerrechts-
lehre auch einen qualitativen Wandel des Völkerrechts194. Zwar fanden einzelne
auf Lenin und die sowjetische Völkerrechtslehre zurückzuführende Normen, wie
das Selbstbestimmungsrecht der Völker, Eingang in das universelle Völkerrecht.
Dort führte die Umsetzung dieser Norm zum Zusammenbruch der Kolonialreiche,
letztlich aber auch zum Zusammenbruch der Sowjetunion selbst. Im Übrigen nahm
die Sowjetunion, gestützt von den sozialistischen oder sozialistisch orientierten
Staaten, für ihr Verhältnis zueinander ein sozialistisches Völkerrecht in Anspruch,
dem sie ein bürgerliches Völkerrecht zwischen allen anderen Staaten und ein Recht
der friedlichen Koexistenz zwischen sozialistischem und bürgerlichem Völkerrecht
gegenüberstellte. In der Gegenwart machen islamische Völkerrechtsgelehrte auf
ähnliche Weise ein islamisches Völkerrecht als Sondervölkerrecht zwischen islami-
schen Gesellschaften geltend195. Diese Versuche führten letztlich zu Kompromis-
sen, Vorbehalten zu völkerrechtlichen Verträgen196 oder zur Trennung von Kodi-
fikationsvorhaben197. Das Recht auf humanitäre Intervention wird nicht allgemein
als Ausnahme vom universellen Gewaltverbot der UN Satzung anerkannt198. Auch
wenn sich in einer multipolaren Welt mit mehreren Machtzentren199 ein solches
Recht noch nicht allgemein durchsetzen konnte, bleibt das Nothilferecht (genau-
so wie die Notwehr) ein unverzichtbarer, quasi naturrechtlich legitimierter völker-
rechtlicher Grundsatz200.
192
John Selden (1584–1654) war ein englischer Universalgelehrter. Sein Buch Mare clausum ent-
stand 1618, erschien aber erst 1635.
193
Zu Grotius s § 11 IV.
194
Cassese, International law2 (2005) 35 f.
195
Eine Übersicht bietet Muhammad ibn al-Hasan al-Shaybani, The Shorter Book on Muslim
International Law (1998; in die englische Sprache übersetzt von Mahmood Ahmad Ghazi).
196
ZB Scharia-Vorbehalte bei universellen Menschenrechtsverträgen.
197
Am 16. Dezember 1966 ist sowohl der Internationale Pakt über bürgerliche und politische
Rechte, als auch der Internationale Pakt über wirtschaftliche, zivile und handelsrechtliche Rechte
vereinbart worden ( Schweisfurth, Völkerrecht 534 f). Der Umstand, dass eine Kodifikation in
einem Vertrag nicht möglich war, spiegelt die Teilung zwischen einer bürgerlichen und einer so-
zialistischen Völkerrechtsanschauung wieder.
198
Nach immer noch hM ist selbst eine humanitäre Intervention ohne UN-Mandat illegal ( Schweis-
furth, Völkerrecht 368); vgl aber Fn 200.
199
Die USA und EU sowie die 5 aufstrebende Industrienationen sind die sog BRICS Staaten Bra-
silien, Russland, Indien Cina und Südafrika.
200
S etwa Hugo Grotius, De Iure Belli ac Pacis 2, 25, 4 ff. – Der Kriegseinsatz im Kosovo
(1998/99) war also richtiger Ansicht nach auch ohne UN-Mandat rechtmäßig, das am Veto Russ-
lands und Chinas gescheitert war. Auch die Tragödie in Syrien hätte bei frühzeitiger Hilfe für das
geschundene Volk einen anderen Verlauf nehmen können.
266 § 12 Gebiete des Rechts und Disziplinen der Rechtswissenschaft
201
ZB Thomas Hobbes (1588–1679) und Samuel von Pufendorf (1632–1694).
202
ZB Johann Jacob Moser (1701–1785) und Hans Kelsen (1881–1973).
203
Die Monisten erstreckten das Prinzip der Einheit des Rechts auch auf das Verhältnis des Völ-
kerrechts zum staatlichen Recht. Dies führt, wenn man konsequent bleibt, zur Behauptung der
Nichtigkeit der völkerrechtswidrigen Normen des staatlichen Rechts (s Triepel, Völkerrecht und
Landesrecht 1899). Die Dualisten begriffen Völkerrecht und staatliches Recht als voneinander
getrennte Ordnungen (vgl Rudolf, Völkerrecht und deutsches Recht, 1967). Widersprüche bleiben
dann ohne normative Relevanz. – Dazu noch Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht 53 ff.
204
Schweisfurth, Völkerrecht (2006) 196 f; zB bestimmt Art. 25 GG: Die allgemeinen Regeln
des Völkerrechtes sind Bestandteil des Bundesrechtes. Sie gehen den Gesetzen vor und erzeugen
Rechte und Pflichten unmittelbar für die Bewohner des Bundesgebietes. Art. 26 GG verbietet den
Angriffskrieg; vgl auch Art 5 Abs 4 chBV: Bund und Kantone beachten das Völkerrecht.
VII. Weitere Gebiete 267
1. Übersicht
2. Rechtsphilosophie
205
ILC Draft Articles on State Responsibility, zur Kenntnis genommen durch UN Generalver-
sammlungsresolution 56/83 vom 12.12.2001.
206
Gesamtdarstellungen geben Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie3 (1976); Henkel, Einfüh-
rung in die Rechtsphilosophie2 (1977); Kaufmann, Rechtsphilosophie2 (1997); Kaufmann/Hass-
emer/Neumann (Hrsg), Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart8
(2011); Zippelius, Rechtsphilosophie6 (2011); eine erste Orientierung ermöglichen zB Mayer-Ma-
ly, Rechtswissenschaft (2001) und Kirste, Einführung in die Rechtsphilosophie (2010); über die
amerikanische Diskussion informiert beispielsweise der Sammelband Schauer, Sinnot-Armstrong,
The Philosophy of Law, classic and contemporary readings with commentary (1996); eine vorzüg-
liche Geschichte der Disziplin bietet Verdross, Abendländische Rechtsphilosophie2 (1963); eine
wichtige Zeitschrift der Disziplin ist das „Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie“.
207
Kaufmann, Grundprobleme der Rechtsphilosophie (1994) 9.
268 § 12 Gebiete des Rechts und Disziplinen der Rechtswissenschaft
und gelten soll. Sie stellt die Jurisprudenz mit anderen Wissenschaften in Zusam-
menhang und bemüht sich um Erfassung ihrer Voraussetzungen. Ihre disziplinäre
Verselbständigung setzt erst spät ein. Rechtsphilosophie begegnet lange Zeit ent-
weder als Teil umfassend angelegter Philosophien (so in Platons Nomoi oder in der
Politik von Aristoteles) oder als Element einer dem Recht als Ganzem gewidmeten
Rechtslehre (so beim Kommentator Baldus208). Das gilt auch für die Neuzeit: Phi-
losophiefragment ist die Rechtsphilosophie bei Kant und Hegel, Stück eines juris-
tischen Lehrgebäudes bei Kelsen, Stammler und Coing. Die Thematik umschließt
die Fragen nach der Rechtsidee, nach den Vorgegebenheiten des Rechts, nach dem
Verhältnis des Rechts zu anderen Sozialordnungen, gilt aber auch den das ganze
Recht durchziehenden Gedanken wie „Billigkeit“, „Rechtssicherheit“ und „Ratio-
nalität“209.
Rechtsphilosophische Reflexion kann die rechtswissenschaftliche Auseinander-
setzung ergänzen und bereichern. Ein Beispiel bietet die bekannte Frage nach Zu-
lässigkeit und Grenzen einer Rückwirkung von Gesetzen210. Ein anderes, aktuelles
Thema ist die Rechtsakzeptanz. Eine hyperaktive Gesetzgebung kann dazu führen,
dass die Akzeptanz der Adressaten schwindet211. Ein Beispiel sind etwa die überzo-
genen Informationspflichten212. – Rückwirkungsfragen und Akzeptanzgrenzen sind
Themen, die in allen Rechtssystemen begegnen. Ihre rechtsphilosophische Analyse
kann den rechtsdogmatischen Diskurs fördern.
208
Oben § 11 II.
209
Ein rechtsphilosophische Übersicht über „spezifische Problembereiche“ liefert zB Zippelius,
Rechtsphilosophie 164 ff; zu nennen sind etwa Gerechtigkeitsfragen bei der Führung von Unter-
nehmen, bei der Mitbestimmung der Arbeitnehmervertreter, beim Vertrag oder im Zusammenhang
mit dem Ausgleich von Schäden; ein besonders wichtiges Thema ist auch die Verfahrensgerech-
tigkeit.
210
Mayer-Maly, Rechtsphilosophie 57 f.
211
Mayer-Maly, Rechtsphilosophie 58.
212
Zu der Fülle von Informationspflichten des Europäische Rechts s § 238 ff EGBGB; dazu die
am 13.6.2014 in Kraft getretene EU Verbraucherrechte RL 2011/8/EU (VRRL oben § 12 V 5 e),
die keine Richtlinie ist, sondern unmittelbar geltendes Recht enthält. Namentlich die Informations-
pflichten welche die EU-Richtlinien den Unternehmern und Banken gegenüber dem Verbraucher
auferlegen führen zu einer information overload, einer Informationsüberlastung; vgl Wunderle,
Verbraucherschutz im Europäischen Lauterkeitsrecht (2010) 321. Das Ergebnis ist ein „Informa-
tionsstress“, der die Entscheidungsqualität beeinträchtigt ( Wunderle 322). Die Information wird
dann gar nicht mehr wahrgenommen.
VII. Weitere Gebiete 269
3. Rechtstheorie
Rechtstheorie ist ein mit der Rechtsphilosophie und der juristischen Methodenlehre
mehrfach verschränktes, aber doch von ihr unterscheidbares Fach213. Als Theorie214
soll die Rechtstheorie rational nachvollziehbare Aussagen über Wirklichkeiten und
Möglichkeiten anbieten. Die Wirklichkeiten, um die es geht, sind die verschiedenen
wahrnehmbaren Rechtsordnungen und die effektiven Rechtsbeziehungen, also auch
die Rechtstatsachen. Die Möglichkeiten dagegen werden von angestrebten, aber
bislang nicht verwirklichten Rechtssätzen beigesteuert. Insofern kann auch Rechts-
politik und Rechtsutopie Objekt der Rechtstheorie sein. Rechtstheorie hat das Recht
und nicht irgendwelche Rechtssätze zum Gegenstand. Sie steht unter der Anforde-
rung der Objektivität und beschränkt sich auf die Feststellung der dem Recht unter
exakt formulierbaren Bedingungen eigentümlichen Strukturierungen. Daher bilden
Aussagen über Formalstrukturen den Schwerpunkt der Rechtstheorie. In der Praxis
der wissenschaftlichen Arbeit ist solche Beschränkung selten. Schon die Formulie-
rung der „Forschungsidee der Rechtstheorie“ durch Ellscheid215 greift weiter aus.
Auch die in der Zeitschrift „Rechtstheorie“ (ab 1970) begegnenden Beiträge haben
zumeist eine komplexere Thematik. Vom Stil der Rechtsphilosophie unterscheidet
sich die Rechtstheorie durch stärkere Orientierung an den Maximen der Wissen-
schaftstheorie und durch deutliche Reserve gegenüber jedweder Wertung216.
Der Gedanke einer allgemeinen Rechtslehre217 ist dem der Rechtstheorie inso-
fern verwandt, als hier wie dort versucht wird, metapositive Aussagen über Recht-
liches zu machen, ohne einen naturrechtlichen Anspruch zu erheben. Der Unter-
schied liegt zum einen im zeitgeschichtlichen Bezugssystem, zum anderen in einem
Gegensatz zwischen Typologie und rationaler Stringenz. – Die Anfänge218 einer all-
gemeinen Rechtstheorie liegen bei Jeremy Bentham (1748–1832) und seinem Schü-
ler Austin (1790–1859). In „Principles of Morals and Legislation“ (1833) beschreibt
Bentham die Aufgabe einer universal jurisprudence als Ermittlung der Bedeutung
der allgemein im Rechtsleben gebräuchlichen Worte wie Recht und Pflicht219. Mit
dem Satz, diese Disziplin habe sich strikt auf die Klarstellung von Terminologien zu
213
Zu diesem Jahr/Maihofer (Hrsg), Rechtstheorie (1971); Krawietz, Juristische Entscheidung
und wissenschaftliche Erkenntnis (1978) 210 ff; Adomeit/Hähnchen, Rechtstheorie für Studenten6
(2012); Kaufmann/Hassemer/Neumann (Hrsg), Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechts-
theorie der Gegenwart8 (2011); Mastronardi, Angewandte Rechtstheorie (2009); Rüthers/Fischer/
Birk, Rechtstheorie – mit juristischer Methodenlehre7 (2013); Friedrich Müller, Essais zur The-
orie von Recht und Verfassung, von Methodik und Sprache2 (2013); zur Abgrenzung zwischen
Rechtsphilosophie und Rechtstheorie vgl auch noch Winkler, Rechtstheorie und Erkenntnislehre
(1990), Vorwort.
214
Über die Theorie-Begriffe der Juristen vgl Wagner, Juristische Schulung (1963) 457 ff.
215
In: Arthur Kaufmann (Hrsg), Rechtstheorie (1971) 5 ff.
216
Die Rechtstheorie befasst sich aber beispielsweise auch mit der Willfährigkeit der Juristen ge-
genüber Unrechtssystemen; dazu namentlich Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie 16 ff.
217
Vgl Nawiasky, Allgemeine Rechtslehre2 (1948).
218
Vgl Coing, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 54 (1968) 69 ff; Krawietz (Fn 5) 87.
219
Vgl Luik, Die Rezeption Jeremy Benthams in der deutschen Rechtswissenschaft (2003).
270 § 12 Gebiete des Rechts und Disziplinen der Rechtswissenschaft
4. Rechtslogik
Die spezifische Bedeutung der Rechtslogik227 erhellt aus dem Anspruch auf Folge-
richtigkeit, den alles Recht erhebt. Die Disziplin aber, die sich mit den Prinzipien
und Methoden des folgerichtigen Denkens befasst, ist die Logik228. Ihre allgemei-
nen Gesetze gelten auch für das Denken der Juristen. Rechtslogik ist daher zunächst
einmal Logik für Juristen, nicht dem Recht eigentümliche Logik. Sie ist Teil der
allgemeinen Logik, nicht von dieser verschieden. Es hat jedoch die allgemeine Lo-
gik gerade im Hinblick auf die semantische Eigenart von Normsätzen gegenüber
den bloßen Aussagesätzen eine besondere Disziplin entwickelt, die Normenlogik229.
220
Ein zentrales Anliegen Benthams war die strikte Trennung von Moral und Recht. Ein Natur-
recht oder natürliche Rechte lehnte er ab. Die Erklärung der Menschenrechte im Zuge der franzö-
sischen Revolution qualifizierte er als Nonsense upon stilts (Unsinn auf Stelzen).
221
Kritik der juristischen Grundbegriffe (1877).
222
Juristische Grundlehre (1917).
223
Allgemeine Rechtslehre2 (1948) 6.
224
Allgemeine Rechtslehre3 (2008).
225
(Fn 224) 1.
226
(Fn 224) 7.
227
Tammelo/Schreiner, Grundzüge und Grundverfahren der Rechtslogik, 2 Bde (1974/1977);
Klug, Juristische Logik4 (1982); Tezner, Rechtslogik und Rechtswirklichkeit (1986); Weinberger,
Rechtslogik2 (1989); Morscher, Kann denn Logik Sünde sein? Die Bedeutung der modernen Lo-
gik für Theorie und Praxis des Rechts (2009).
228
Dazu Tammelo, Rechtslogik und materiale Gerechtigkeit (1971); ders, Modern Logic in the
Service of Law (1978).
229
Zu dieser vor allem Weinberger (Fn 227) 189 ff.
VII. Weitere Gebiete 271
Diese bildet einen Vorstoß der rationalen Analyse in den Bereich des Wollens. Die
Normenlogik ermöglicht eine objektive Diagnose der Widersprüche zwischen Nor-
men einer Normenordnung (das heißt: die Feststellung von Antinomien) und er-
schließt die Logik des Rechts. Es gibt – um eine Unterscheidung von Tammelo auf-
zugreifen – nicht nur die Logik der Juristen (die juristische Logik), sondern auch
eine Logik des Rechts: Rechtsnormen haben eine spezifische logische Struktur230,
auch die Rechtsordnung als Ganzes und das Recht als solches können an logischen
Kategorien gemessen werden. Diese Eigenschaften des Rechts ermöglichen for-
male Aussagen und können daher mit jener Formelsprache erfasst werden, deren
sich die moderne Logik231 bedient. Was in neuerer Zeit an rechtslogischer Arbeit
geleistet wurde, beruht auf dieser formalen Logik. Besondere Bedeutung hat die so
gewonnene Formalisierbarkeit juristischer Aussagen im Hinblick auf das Projekt
einer Kybernetik des Rechts232.
Kybernetik, heute so en vogue, ist ein altes Wort. Es stammt aus der Termino-
logie der griechischen Seefahrt (vgl Homer, Odyssee 3, 283) und bezeichnet die
Steuermannskunst. Als Wissenschaft von Steuerungsmechanismen und Regelungs-
einrichtungen hat die Kybernetik233 mit der Entwicklung des Computers neue Be-
deutung gewonnen. Zum einen erkannte man die Chancen einer Rationalisierung
des Rechtslebens durch elektronische Datenverarbeitung, zum andern begriff man
das Recht selbst und insbesondere die Rolle des Staates als Objekt der Kybernetik,
als eine Summe von Vorgängen, die mit kybernetischen Kategorien wie „Rück-
koppelung“ besser erfasst werden können234. Spiros Simitis235 verwies früh auf die
Datenverarbeitung als Ausweg aus der durch die Gesetzes- und Entscheidungsflut
ausgelösten Informationskrise des Rechts, der Deutsche Juristentag setzte 1970 eine
besondere Datenverarbeitungskommission ein. Anfängliche Schwerpunkte des Ein-
satzes von Computern im Rechtsleben236 konnten in der Steuerverwaltung, in allen
Zweigen der Versicherung, bei der Strafregisterführung und im öffentlichen Haus-
haltsrecht beobachtet werden. Heute ermöglichen Datenbanken den Zugriff auf die
230
Zu ihr Rupert Schreiber, Logik des Rechts (1962).
231
Über ihre Entwicklung Bochenski, Formale Logik2 (1962).
232
Zu ihr Vrecion, Informationstheorie und Recht (1976).
233
Über sie Wiener, Kybernetik (1963); Flechtner, Grundbegriffe der Kybernetik (1966); Klaus/
Liebscher (Hrsg), Wörterbuch der Kybernetik4 (1976).
234
Vgl Lang, Zu einer kybernetischen Staatslehre (1971).
235
Informationskrise des Rechts und Datenverarbeitung (1970).
236
Dazu Haft, Elektronische Datenverarbeitung im Recht (1970); Hagemann, Die Anwendung der
automatisierten Datenverarbeitung in der Rechtsfindung, speziell im Subsumtionsprozess (1978);
Bing/Selmer (Hrsg), A Decade of Computers and Law (1980); beachtenswert ferner die seit 1972
erscheinende Zeitschrift „Datenverarbeitung und Recht“.
272 § 12 Gebiete des Rechts und Disziplinen der Rechtswissenschaft
6. Rechtssoziologie
Eine weitere junge Rechtsdisziplin ist die Rechtssoziologie241. Sie ist die Wissen-
schaft von den Zusammenhängen zwischen Recht und Gesellschaft. Sie fragt nicht
nach dem Sollensgehalt der Normen, sondern nach den gesellschaftlichen Be-
dingungen ihrer Entstehung und nach der Effektivität ihrer Anwendung242. Zu ihr
gehört insbesondere Rechtstatsachenforschung243: Von Normen nicht geforderte,
aber tatsächlich beobachtete Rechtsübungen werden ermittelt, der Anteil des to-
237
Bergauer/Staudegger, Recht und IT: zehn Studien (2009); Staudegger, Recht online gratis –
RIS/EUR-Lex: unentgeltliche juristische Datenbanken im Internet2 (2010); Steckler, Grundzüge
des IT-Rechts: das Recht der Datenverarbeitung und der Online-Dienste3 (2011); Jahnel/Mader/
Staudegger, IT-Recht3 (2012); über aktuelle Entwicklungen informiert die Zeitschrift JusIT: IT-
Recht, Rechtsinformation, Datenschutz.
238
Vgl Fiedler, JZ 1966, 93 ff; ders, NJW 1968, 273 ff; s auch oben § 2 I.
239
Über ihn Hermann Dilcher, JZ 1970, 214 ff; als Beispiele erwähnenswert: Dilcher, Sachen-
recht in programmierter Form (1970); ders, Schuldrecht, besonderer Teil, in programmierter Form
(1974).
240
Jahnel, Handbuch Datenschutzrecht (2010); Berka, Das Grundrecht auf Datenschutz im Span-
nungsfeld zwischen Freiheit und Sicherheit, 18. ÖJT I/1 (2012) 74 ff; Thiele, Persönlichkeits-
schutz in Neuen Medien – Facebook, Google & Co, AnwBl 2013, 11; Baumgartner, Grundrechte
und Datenschutz, AnwBl 2014, 24 ff.
241
Vgl Max Weber, in: Winckelmann (Hrsg), Rechtssoziologie2 (1967); Stone, Lehrbuch der
Rechtssoziologie, 3 Bde (1976); Tiemeyer, Zur Methodenfrage der Rechtssoziologie (1969); Man-
fred Rehbinder, Einführung in die Rechtssoziologie (1971); Horvath, Probleme der Rechtssozio-
logie (1971); J. J. Hagen, Soziologie und Jurisprudenz (1973); Hagen/Dimmel, Soziologie für
Juristen5 (1995); Ryffel, Rechtssoziologie (1974); Rotter/Dux/Lautmann, Rechtssoziologie (Exa-
minatorium) (1980); Luhmann, Rechtssoziologie4 (2008); Struck, Rechtssoziologie (2011); Baer,
Rechtssoziologie (2011); Raiser, Grundlagen der Rechtssoziologie6 (2013). Seit 1970 erscheint
ein „Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie“.
242
Luhmann, Rechtssoziologie 267 ff.
243
Arthur Nussbaum, Die Rechtstatsachenforschung (1968); ein hübsches Beispiel: Koewius, Die
Rechtswirklichkeit der Privatklage (1974); s dazu ferner Reiser, Grundlagen 15 ff.
VII. Weitere Gebiete 273
244
Dazu Manfred Rehbinder, Die Begründung der Rechtssoziologie durch Eugen Ehrlich2 (1986);
vgl auch noch Rottleuthner, in: Heyen (Hrsg), Historische Soziologie der Rechtswissenschaft
(1986) 227 ff.
245
1. Aufl 1913; 3. Aufl 1967.
246
Zu Sinzheimer auch Rottleuthner, in: Heyen (Fn 244) 227 ff.
247
Sinzheimer, Die soziologische Methode in der Privatrechtswissenschaft (1909); Weber, Wirt-
schaft und Gesellschaft (1922); vgl auch die lesenswerte Studie von Petersen, Max Webers
Rechtssoziologie und die juristische Methodenlehre (2008).
248
Vgl dazu Reich, Sociological Jurisprudence and Legal Realism im Rechtsdenken Amerikas
(1967).
249
Jurisprudence (1962).
250
Social Dimensions of Law and Justice (1966).
251
Einführung in die Rechtssoziologie (1971); Einführung in die Rechtswissenschaft8 (2012).
274 § 12 Gebiete des Rechts und Disziplinen der Rechtswissenschaft
7. Rechtspsychologie
252
S dazu die berühmte Schrift Freie Rechtsfindung und freie Rechtswissenschaft (1903); der Text
findet sich auch in dem Band Recht und Leben. Gesammelte Schriften zur Rechtstatsachenfor-
schung und zur freien Rechtslehre (1967).
253
Vgl Bicket, Kritische Theorie und Rechtssoziologie, in: Naucke/Trappe, Rechtssoziologie und
Rechtspraxis (1970) 29 ff.
254
Vgl Achterberg, Th. Raiser und Damann/Winter JZ 1970, 281 ff, 665 ff und 679 ff; Naucke,
Über die juristische Relevanz der Sozialwissenschaften (1972).
255
Vgl etwa Stöhr, Psychologie der Aussage (1911).
256
Grassberger, Psychologie des Strafverfahren2 (1968); Volbert/Dahle, Forensisch-psychologi-
sche Diagnostik im Strafverfahren (2010); Steller/Volbert (Hrsg), Psychologie im Strafverfahren
(1997).
257
Dazu vor allem Albert A Ehrenzweig, Psychoanalytische Rechtswissenschaft (1973).
VII. Weitere Gebiete 275
a) Ausgangslage
Den Erfahrungshorizont zu erweitern, vor dem wir die Grundprobleme des Rechts
diskutieren, ist auch das Anliegen zweier eingebürgerter Disziplinen: der Rechts-
geschichte und der Rechtsvergleichung. Der Historismus der Humboldtschen Uni-
versität und der humanistische Traditionalismus aller neuzeitlichen Wissenschaft
haben allerdings der Rechtsgeschichte lange Zeit eine ungleich stärkere Position
verschafft, als sie der Rechtsvergleichung zukam. In Wahrheit haben jedoch beide
Disziplinen den nämlichen Zweck: das gerade geltende Recht als Entscheidung für
eine von mehreren Regelungsmöglichkeiten zu erweisen, es gerade in seiner Rela-
tivität besser verstehen zu lernen. Rechtsgeschichte und Rechtsvergleichung sind
als Bildungsfächer neben einer nationalen Rechtskunde unverzichtbar, bewahren
sie doch die Studierenden vor einem bildungsarmen Dogmatismus und unkritischer
Haltung gegenüber dem positiven Recht.
b) Rechtsgeschichte
Rechtsgeschichte259 zu betreiben, lag gerade der Jurisprudenz, die in aller Welt das
beliebteste Objekt der Rechtsgeschichte ist, durchaus fern: der römischen. Die Ju-
risten Roms waren ungleich unhistorischer gesonnen als die am meisten dem Geset-
zespositivismus ergebenen Jünger des BGB. Geschichte interessierte sie nur als
Gegenwart, als jetzt noch Aktuelles. Eine Ausnahme machen nur Außenseiter –
Pomponius mit seinem Enchiridion, Gaius (2. Jh nChr) mit einem Kommentar zu
den 12 Tafeln (5. Jh vChr). Unhistorisch waren aber auch die ersten Juristengenera-
tionen des Abendlandes. Ihr Rückgriff auf die Antike beruhte auf einer aus der intel-
lektuellen Überlegenheit der alten Texte resultierenden Aktualität und Modernität
der Vergangenheit. Ein Historismus, der das Alte als Altes schätzt, kommt erst mit
den Humanisten auf. Doch auch bei diesen fehlen nicht die systematisch-aktuellen
Ambitionen, auch bei ihnen spielt die Überzeugung von der Gegenwartsrelevanz des
258
Riezler, Das Rechtsgefühl3 (1921/1969).
259
Allgemein über ihre Aufgaben und Methoden: Wieacker, FS Seidl (1977) 220 ff; Landau, ZNR
1980, 117 ff; Gesamtdarstellungen bieten Seagle, Weltgeschichte des Rechts3 (1967); Lompart,
Die Geschichtlichkeit der Rechtsprinzipien (1976); Wesel, Juristische Weltkunde. Eine Einführung
in das Recht (1984); Geschichte des Rechts. Von dem Frühforum bis zur Gegenwart (2001); Ge-
schichte des Rechts in Europa. Von den Griechen bis zum Vertrag von Lissabon (2010).
276 § 12 Gebiete des Rechts und Disziplinen der Rechtswissenschaft
kulturell Besseren eine entscheidende Rolle. Nicht einmal die „historische Schule“
um Savingy vindiziert der Geschichte als solcher zentrale Bedeutung. Es ist erst die
Annahme einer spezifischen Bedeutung der Geschichte für die Gegenwart, die zum
Interesse an der Geschichte führt: die Lehre vom Volksgeist, der das Recht präge
und aus der Geschichte zu erschließen sei. Erst nach der Befreiung von derartigen
Aufträgen für die Gegenwart, erst seit der Ablösung des gemeinen Rechts durch
die Kodifikationen kann die Rechtsgeschichte das leisten, was sie als Historie soll:
vergangenes Recht darstellen, wie es wirklich gewesen ist. Diese Emanzipation von
dogmatischer Verpflichtung schaffte der Textkritik samt ihren Übertreibungen260
freien Raum, ebnete den Weg für juristische Papyrologie, landesgeschichtliche For-
schung zur heimischen Verfassungsgeschichte, rechtliche Volkskunde und Arbeiten
zum altnordischen Recht. Die Befreiung von der Dogmatik hatte ihren Preis: immer
mehr Rechtshistoriker lösten sich völlig von den Problemen des geltenden Rechts,
wurden zu Einsprengseln der philosophischen in der juristischen Fakultät. Der „Le-
benswert der Rechtsgeschichte“261 wurde zwar in glänzender Diktion proklamiert,
von der Gesellschaft, auch von den Fakultäten, jedoch immer weniger anerkannt.
Abstriche vom rechtshistorischen Teil der Juristenausbildung, in Deutschland sogar
die praktische Aufhebung aller diesbezüglichen Prüfungsanforderungen scheinen
einen Abschied von der Rechtsgeschichte einzuleiten, der diese in einer ersten Pha-
se aus den Universitäten in die Akademien verbannen könnte, um sie in einer zwei-
ten aus dem zeitgenössischen Kulturbewusstsein zu eliminieren.
In dieser Situation ist es angezeigt, sich um eine realistische Analyse der ver-
schiedenen Funktionen der Befassung mit Rechtsgeschichte zu bemühen262. Für
eine historische Beschäftigung mit dem Recht spricht zunächst die geschichtliche
Bedingtheit der lex lata. Die großen europäischen Kodifikationen sind nicht aus
dem Nichts entstanden, sondern das Ergebnis eines nahezu zwei Jahrtausende um-
spannenden Entwicklungsprozesses. Es besteht ein genetisches Interesse an der
Rechtsgeschichte: Sie wird als Vorstufe des jetzt geltenden Rechts studiert. Das
war der Ansatz von Hermann Conring263, das auch der Anspruch der Romanisten
nach Einführung des BGB. Hält ein Gesetzgeber sein Werk für so lucid, dass es
der historischen Einführung nicht bedarf oder unterbricht eine Revolution, wie die
russische, die Kontinuität zum älteren Recht, so bleibt das Gewicht einer Berufung
auf die genetische Funktion der Rechtsgeschichte gering. An ihrem Erfahrungswert
ändert sich jedoch nichts. Dieser besteht darin, dass Alternativen zu den jetzt an-
erkannten Problemlösungen bewusst gemacht werden. Erst auf diese Weise werden
Funktionszusammenhänge zwischen Normen und Rechtsinstituten sichtbar. Verliert
man die historische Empirie aus den Augen, muss man die Erfahrung mit einer
Fehlentwicklung oft ein zweites Mal machen. Es ist nicht Historismus, sondern
empirischer Realismus, der die Beschäftigung mit Rechtsgeschichte fordert.
260
Gegen diese Kaser, Zur Methodologie der römischen Rechtsquellenforschung (1972).
261
Über ihn Heinrich Mitteis, Der Lebenswert der Rechtsgeschichte (1947); Honsell, Lebendiges
Römisches Recht, GS Mayer-Maly (2011) 225 ff.
262
Dazu Mayer-Maly, in: Revue internationale des droits de l’Antiquite 1964, 395 ff.
263
De origine iuris germanici, 1643.
VII. Weitere Gebiete 277
Das Römische Recht war jahrhundertelang die viva vox iuris civilis.264 Ihm
verdanken wir die wichtigsten Prinzipien, Regeln und Figuren, zB das Prinzip
von Treu und Glauben, die Institution des Eigentums265, Vertrag, Testament und
Vieles andere mehr. Seit dem Mittelalter galt das Römische Recht als ratio scripta
schlechthin. Mitteis sah den Lebenswert der Rechtsgeschichte vor allem darin, dass
sie die Rechtswissenschaft „vor positivistischer Erstarrung bewahrt“266 und dass sie
„vom Glauben an juristische Dogmen befreit“.267 Die Kenntnis der historischen Di-
mensionen des Rechts bewahrt vor einem unkritischen und bildungsarmen Dogma-
tismus. Wegen der klaren Begrifflichkeit, der hohen Argumentationskunst und der
großen Sachgerechtigkeit der römischen Zivilrechtsdogmatik dient das Studium des
Römischen Rechts noch heute als ideales Propädeutikum des modernen Zivilrechts.
Eine Zivilrechtsdogmatik, die auf historisch-dogmatische Argumente verzich-
tet und sich der rechtshistorischen Empirie verschließt, nimmt nicht nur eine Ver-
armung des Argumentationshaushaltes in Kauf, sondern leidet infolge des künstli-
chen Ausblendens historischer Erkenntnisse gewissermaßen an partieller Blindheit.
Treffend bemerkt Klaus Luig268, Gesetzgeber und Rechtswissenschaft könnten nach
Aufklärung über die Genese einer Rechtsregel von der Tradition abweichen. Wenn
sie sich aber von der Geschichte informieren ließen, wüssten sie wenigstens, was
sie tun.
Zu den am deutlichsten erkennbaren römischen Elementen im BGB gehören,
um nur einige Beispiele zu nennen, die Lehre von der Bedingung, von den Grund-
dienstbarkeiten, die bis hin zum Begriff ein getreues Abbild der römischen Servitu-
ten sind, der Nießbrauch, das Vermächtnis usw. Die Bedingung ist eine juristische
Erfindung von luzider Klarheit und großartiger Einfachheit. Sie ist auch heute noch
Bestandteil des unentbehrlichen Inventars der Zivilrechtsdogmatik in allen Län-
dern des römischen Rechtskreises.269 Es gibt in der Tat kein einfacheres Mittel,
eine zukünftige Entwicklung im Rahmen eines Rechtsgeschäfts zu berücksichti-
gen als die Bedingung. Alle Vorschriften der §§ 158 ff. BGB und ihre Pendants
in den anderen römisch geprägten Kodifikationen270 kannte schon das Römische
Recht; zB die Unterscheidung zwischen Suspensiv- und Resolutivbedingung; die
Fiktion des Bedingungseintritts bei treuwidriger Vereitelung; die Unwirksamkeit
von Zwischenverfügungen während der Schwebezeit bei späterem Bedingungsein-
tritt. Römischen Ursprungs ist auch die Unterscheidung zwischen Bedingung und
264
S. Marcian D.1.1.8 etikettiert so das Honorarrecht: nam et ipsum ius honorarium viva vox est
iuris civilis.
265
Zum Eigentum s § 13 I, zur Ersitzung § 3 I.
266
Mitteis, Vom Lebenswert der Rechtsgeschichte (1947) 129.
267
131.
268
Rechtshistor. Journal 5 (1986) 290 ff., 322.
269
Im Unterschied zu dem sog romanischen Rechtskreis gehören dazu neben den romanischen
Ländern insbes. die deutschsprachigen, in denen das römische Recht eine ebenso große Rolle ge-
spielt hat. Die Rechtskreislehre der hL (vgl etwa Zweigert/Kötz Einf in die Rechtsvergleichung2 I
[1985] 72 ff) ist fehlerhaft.
270
Vgl etwa§§ 695 ff ABGB; Art. 151 ff. OR; Art. 1168 CC; Art. 1353 ff. CC it., dazu Honsell
Röm. Recht7 27 ff.
278 § 12 Gebiete des Rechts und Disziplinen der Rechtswissenschaft
Befristung. Das Recht der Dienstbarkeiten funktioniert immer noch mit dem alten
Instrumentarium des römischen Rechts, denn für eine abstrakte Dogmatik ist es
einerlei, ob es sich um Aquädukte handelt oder um Stromleitungen, Seilbahnen,
Schiabfahrten usw. Hier zeigt sich die zeitlose Gültigkeit einer relativ abstrakten
Zivilrechtsdogmatik, welche vom Wandel technischer und wirtschaftlicher Verhält-
nisse unberührt bleibt.
Der Gesetzgeber hat auf weiten Strecken das gemeine Recht unverändert kodi-
fiziert und es ist ihm dies im Wesentlichen auch gelungen. Freilich hat er – ebenso
wie schon die Pandektenwissenschaft – im Streben nach möglichst allgemeingülti-
gen Sätzen vom Anschauungsmaterial des gemeinen Rechts abstrahiert und dabei
nicht selten die Gefahr einer falscher Verallgemeinerung heraufbeschworen.271 Die
Beispiele falscher Verallgemeinerung auf dem Weg vom Römischen Fallrecht zur
Privatrechtskodifikation sind verhältnismäßig zahlreich272. Hierher gehört mehr
oder weniger die ganze Rechtsgeschäftslehre, bei welcher der Grad der Abstrak-
tion besonders hoch ist und das Ausgangsmaterial meist konkrete Entscheidungen
zum Kauf oder anderen Verträgen waren; ferner das Sachmängel- oder das Berei-
cherungsrecht mit der Verallgemeinerung des Entreicherungseinwandes273 oder des
Kondiktionsverbotes bei beiderseitiger Sittenwidrigkeit274.
In der Dogmengeschichte lässt sich nicht selten beobachten, dass die Rechts-
entwicklung nach Umwegen wieder zum Ausgangspunkt und den ursprünglichen
Rechtsfiguren und Lösungen zurückkehrt275. Oft sind das Fälle, in denen der Ge-
setzgeber bewusst oder unbewusst vom gemeinen Recht abgewichen ist. Die Re-
naissance alter Lösungsmodelle zeigt zweierlei: zum einen, dass die Zahl möglicher
Lösungen begrenzt und vorgegeben ist, zum anderen, dass im Auf und Ab konkur-
rierender Wertungen mal die eine und mal die andere die Oberhand gewinnt.
c) Rechtsvergleichung
Was die Rechtsgeschichte aus der Vergangenheit gewinnen soll, erhofft die Rechts-
vergleichung276 von der Gegenwart. Die Rechtskreise der Erde haben mehr Lö-
sungsvorschläge und Differenzierungsvarianten hervorgebracht, als der einfalls-
reichste Dogmatiker ersinnen könnte. Sie in ihrer Eigenart und Bedingtheit zu erfas-
271
Weitere Details bei Honsell, Die Bedeutung des römischen Rechts für die moderne Zivilrechts-
dogmatik, FS Hattenhauer, (2003) 245 ff; ders, Lebendiges Römisches Recht, GS Mayer-Maly
(2011) 275 ff.
272
Näher Honsell 245 ff.
273
Näher Honsell (Fn 271), ders, Drei Fragen des Bereicherungsrechts LA Schulin (2002) 25 ff.
274
Honsell (Fn 271); ders, Die Rückabwicklung sittenwidriger oder verbotener Verträge (1974).
275
Mayer-Maly, Die Wiederkehr von Rechtsfiguren, JZ 1971, 1 ff.; Honsell (Fn 271).
276
Über sie Rabel, Aufgabe und Notwendigkeit der Rechtsvergleichung (1925); Constantinesco,
Einführung in die Rechtsvergleichung, 2 Bde (1971/1972); Zweigert, Die kritische Wertung in der
Rechtsvergleichung, FS Schmitthoff (1973) 403 ff; Großfeld, Macht oder Ohnmacht der Rechts-
vergleichung (1984); Rheinstein, Einführung in die Rechtsvergleichung2 (1987); Zweigert/Kötz,
Einführung in die Rechtsvergleichung3 (1996); Magnus, in Koch/Magnus/Winkler von Mohren-
fels, IPR und Rechtsvergleichung3 (2004) 310 ff.
VII. Weitere Gebiete 279
sen, um dann heuristischen Nutzen aus ihr zu ziehen, ist das Anliegen der Rechts-
vergleichung. Sie zeigt zB, welche Zeitpunkte für den Gefahrübergang beim Kauf
in Frage kommen, und macht bewusst, dass der Eigentumserwerb des Käufers mit
dem Konsens, mit der Preiszahlung, aber auch mit der Sachübergabe verbunden
werden kann. Sie erschließt unterschiedliche Typen der Verwaltungsgerichtsbar-
keit (kassatorische oder meritorische, apriorische oder aposteriorische, ein- oder
mehrstufige) und macht die Konsequenzen der Entscheidung zwischen Fallgerech-
tigkeit und Gesetzestreue bewusst277. Dies alles könnte wohl auch durch Spekula-
tion gelingen. Was aber den Vorzug der von der Rechtsvergleichung festgestellten
Typenbildungen ausmacht, ist ihre empirisch verifizierte Sozialrelevanz. Was eine
Rechtsordnung schon wirklich versucht hat, ist wichtiger als die bloß ersonnene
Möglichkeit.
Beiläufige Rechtsvergleichung ist schon immer betrieben worden. Für Na-
turrechtler wie Grotius278 war die Anerkennung einer Norm durch verschiedene
Rechtsordnungen oder durch die Bibel ein Beweis ihrer objektiven Verbindlichkeit.
Als Methode und als Disziplin ist die Rechtsvergleichung jedoch ein Produkt des
19. Jh. Mit Sandrock279 ist der Anteil Hegels und der Ethnologie hoch einzuschät-
zen. Aber auch auf Kant gehen starke Impulse zurück, insbesondere Feuerbachs280
Frage: „Warum hat der Anatom seine vergleichende Anatomie und warum hat der
Rechtsgelehrte noch keine vergleichende Rechtswissenschaft?“ Wenn Feuerbach
weiter sagte, die reichste Quelle aller Entdeckungen sei Vergleichung und Kom-
bination, so wandte sich das ebenso gegen die Vernunftrechtslehre wie gegen die
historische Schule. Hegel sieht die Chance, das Walten des objektiven Geistes zu
erfassen, nur in der Zusammenschau der erfahrbaren Rechtsordnungen. Nur sie er-
möglichen die Aufstellung allgemeiner Rechtsbegriffe. Konsequent macht sich sein
Schüler Gans an eine Weltgeschichte des Erbrechts und kämpft – zunächst freilich
ohne viel Erfolg – gegen die „mikrologischen Altertumsforschungen“ der histori-
schen Schule. Aber auch Josef Kohler281 fußt auf Hegel, wenn er versucht, in der
Rechtsgeschichte der Völker aller Zeiten die Idee des Rechts aufzudecken.
In Deutschland etablierte sich 1878 die „Zeitschrift für vergleichende Rechts-
wissenschaft“. Das Streben nach Systematisierung und Klassifizierung führte zur
Einteilung mehr oder weniger willkürlicher Rechtskreise. Zweigert/Kötz282 nennen
deren acht: den romanischen, den deutschen, den anglo-amerikanischen, den nordi-
schen, den sozialistischen und den fernöstlichen Rechtskreis sowie das islamische
277
Dazu Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts3 (1956/1974);
Fikentscher, Die Theorie der Fallnorm als Grundlage von Kodex- und Fallrecht, ZfRV 1980, 161;
Zweigert/Kötz, Einführung 250 ff.
278
Zu Grotius § 11 IV.
279
Über Sinn und Methode zivilistischer Rechtsvergleichung (1966).
280
Kleine Schriften (1833) 163.
281
Grünhuts Zeitschrift 1901, 273 ff; Lehrbuch der Rechtsphilosophie (1909).
282
Rechtsvergleichung I 72 ff; David/Grasmann Rechtsvergleichung (1966) kamen noch mit vier
aus: dem römisch –germanischen, dem sozialistischen, dem common law sowie den religiösen
Rechten.
280 § 12 Gebiete des Rechts und Disziplinen der Rechtswissenschaft
und das Hindu-Recht. Die Einteilung ist zweifelhaft, denn der deutsche Rechtskreis
gehört ebenso zum römisch-gemeinen Recht wie die romanischen Rechte und das
schottische Recht. Auch auf das common law hatte das römische Recht erheblichen
Einfluss. Auch lässt sich gegen die Rechtskreislehre einwenden, dass sie zu sehr
auf Europa und die USA fokussiert ist283. Eine methodische Reflexion der Rolle der
Rechtsvergleichung ist vor allem das Verdienst von Esser284 und Zweigert285. Man
begriff sie nicht mehr nur als Anreicherung der Information, sondern als Weg zum
besseren Verständnis des eigenen Rechts. In der Tat kann gerade die Rechtsverglei-
chung zeigen, ob eine zur Diskussion stehende Neuerung zu einem Systembruch
führt, der ein zu hoher Preis der Fallgerechtigkeit wäre, oder ob sie nur mit Details,
nicht auch mit den Prinzipien der bisherigen Ordnung in Widerspruch steht286.
Nicht nur der Vergleich von Rechtskreisen, auch die länderbezogene Rechts-
vergleichung kann sich namentlich innerhalb Europas als fruchtbar erweisen, wo
Unterschiede zwischen den pandektistischen Gesetzbüchern (BGB, OR, ZGB, Co-
dice civile) und den naturrechtlichen (ABGB, Code civil287) bestehen. Ein beson-
ders eindrucksvolles Beispiel bietet die deutsch-französische Rechtsvergleichung
von Ferid und Sonnenberger. Die differenzierte Gegenüberstellung der Lösungen,
die zwei hochentwickelte, im Einzelnen aber mitunter sehr unterschiedliche Pri-
vatrechtsordnungen vorsehen, vertieft und erweitert den Argumentationshaushalt.
Einen eindrucksvollen Beleg für die Leistungsfähigkeit der Rechtsvergleichung
bietet auch das sog Wiener Kaufrecht. Die internationale Komponente hat bei Kauf-
verträgen von Unternehmen große Bedeutung. Der Warenverkehr erfolgt häufig
grenzüberschreitend. Ein Pionier der Rechtsvergleichung, Ernst Rabel288, hat einen
Lösungsansatz aufgegriffen, der im antiken Rom entwickelt wurde: Für Geschäfte
mit Fremden galt eine eigene Rechtsordnung289. Rabel plante ein Weltkaufrecht, ein
neues, von den Rechtsordnungen der Parteien losgelöstes Modell. Die Vorarbeiten
am Berliner Kaiser Wilhelm-Institut für Rechtsvergleichung in der ersten Hälfte des
vorigen Jahrhunderts waren Forschungen zu den wichtigsten Kaufrechtssystemen
283
Näher Heiss, Deutscher Rechtskreis, in Vinculum iuris, Büchler/Ernst/Oberhammer (Hrsg),
Symp Honsell (2008) 133 ff.
284
In dem rechtsvergleichenden Werk Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des
Privatrechts3 (1956/1974).
285
Aus dem unüberschaubaren Schrifttum s zB Großfeld, Macht und Ohnmacht der Rechtsver-
gleichung (1984).
286
Vgl Zweigert/Kötz, Einführung 12 ff.
287
Dazu Zachariae-Lingenthal, Handbuch des franz. Zivilrechts (1886); Sonnenberger/Ferid
Das französische Zivilrecht2 (1986 ff); s auch Sonnenberger/Autexier, Einführung in das franzö-
sische Recht3 (2000) und Sonnenberger/Dammann, Französisches Handels- und Wirtschaftsrecht3
(2008).
288
Zu Rabel s etwa den Nachruf von vCaemmerer NJW 1956, 569 ff; Kegel in: Heinrichs/Franz-
ki/Schmalz/Stolleis, Deutsche Juristen jüdischer Herkunft (1993) 571 ff; ders, in: Grundmann/
Riesenhuber (Hrsg) Deutschsprachige Zivilrechtslehrer des 20. Jahrhunderts in Berichten ihrer
Schüler (2007) 16 ff.
289
Zum ius gentium des praetor peregrinus s Honsell Röm Recht7 20.
VII. Weitere Gebiete 281
der Welt290. Heute ist Rabels Idee von einem Weltkaufrecht Wirklichkeit geworden.
Das Wiener Kaufrecht oder UN-Kaufrecht ist ein internationales Abkommen, dem
bereits 80 Länder beigetreten sind291.
Das römisch-rechtliche Fundament der Europäischen Zivilrechtsordnungen wäre
die ideale Basis eines Europäischen Zivilgesetzbuchs. Indessen interessieren sich
die moderne Zivilrechtswissenschaft und die Rechtsvergleichung für die römischen
Grundlagen des Europäischen Privatrechts kaum. Man verkennt den Wert des röm.
Rechts und seiner unerreichten Dogmatik, die als common core des Europäischen
Rechts überall fortlebt. Das Europäische Recht besteht nach Meinung der meisten
nicht in dem tradierten Ius Romanum Europaeum, sondern in dem acquis commu-
nautaire aus Brüssel. Die Europäische Gemeinschaft hat mehrfach Beschlüsse über
eine Europäische Zivilrechtskodifikation gefasst. Sie favorisierte das scheinbar
bescheidenere Projekt eines Common Frame of Reference292, zu dem die sog Ac-
quis- und die Study-Group einen gemeinsamen Entwurf293 vorgelegt haben. Dieser
ist in Wahrheit keine „toolbox“, sondern eine Kodifikation des Vertrags- Delikts-
und Sachenrechts, deren Text gelegentlich zu stark den angelsächsischen Vertrags-
bzw. Gesetzesstil annimmt (zB mit allgemeinen Definitionen oder kasuistischen
Kautelen) und in deren Zentrum der Konsumentenschutz steht (mit Informations-
pflichten, Widerrufsrechten, Diskriminierungsverboten usw.). Der vorläufig letz-
te Vorschlag ist der Entwurf einer Verordnung über ein optionales Europäisches
Kaufrecht ( Common European Sales Law)294 für grenzüberschreitende Geschäfte,
der überwiegend auf Kritik gestoßen ist.295 Entgegen seinem Titel enthält er neben
dem Kaufrecht einen (unvollständigen) Allgemeinen Teil mit einem allgemeinen
Vertragsrecht, Die Integration des privatrechtlichen Aquis communautaire, ebenso
wie die Lokalisierung des Projekts bei der Generaldirektion für Gesundheit und
Verbraucher zeigen eine frappante Fehleinschätzung der Bedeutung und Trag-
weite eines Europäischen Zivilgesetzbuchs. Außerdem wird damit das Pferd vom
Schwanz aufgezäumt. Denn es liegt auf der Hand, dass die Rechtsvereinheitlichung
im Binnenmarkt beim Obligationen- und Handelsrecht beginnen müsste und nicht
290
Rabel, Recht des Warenkaufs I (1936), II (1958).
291
Vgl Schlechtriem/Schwenzer (Hrsg), Kommentar zum Einheitlichen UN-Kaufrecht (CISG)5
(2008) und Schwenzer/Fountoulakis/Dimsey, International Sales Law – A Guide to the CISG
(2012); Honsell (Hrsg), UN-Kaufrecht2 (2010).
292
S.dazu die Kritik von Wolfgang Ernst Symp. Honsell (2009) 109 ff.
293
Principles, Definitions and Model Rules of European Private Law Draft Common Frame of Re-
ference (DCFR) 2008; darauf kann hier nicht näher eingegangen werden; krit. etwa Eidenmüller/
Faust/Grigoleit/Jansen/Wagner/Zimmermann JZ 2008, 529.
294
11. 10. 2011 KOM (2011) 635 endgültig, abrufbar unter: http://ec.europa.eu/justice/newsroom/
news/20111011_en.htm.
295
S etwa die Beiträge in Remien/Herrler/Limmer, Hrsg, Gemeinsames Europäisches Kaufrecht
für die EU? (2012); zur fehlenden Kompetenz Grigoleit ebda 75 ff; krit auch Eidenmüller/Jansen/
Kieninger/Wagner/Zimmermann JZ 2012, 269 ff; ferner die Beiträge auf der Sondertagung der
Zivilrechtslehrervereinigung, AcP 212 (2012) 467 ff; s noch Schulte-Nölke/Zoll/Jansen/Schulze
(Hrsg), Der Entwurf für ein optionales europäisches Kaufrecht (2012) und Wendehorst/Zöchling-
Jud (Hrsg), Am Vorabend eines gemeinsamen europäischen Kaufrechts (2011).
282 § 12 Gebiete des Rechts und Disziplinen der Rechtswissenschaft
9. Rechtspolitik
Die Rechtsvergleichung befindet sich oft an der Schwelle der Rechtspolitik297. Auch
diese zur Disziplin zu machen und in ein rationales Beziehungsfeld einzuspannen,
bestehen bemerkenswerte Ansätze. Lange Zeit herrschte die Überzeugung, ein Ju-
rist, der sich zur Rechtspolitik äußere, verlasse sein eigentliches Metier, spreche
sozusagen als Laie, als Bürger unter Bürgern. Das meinte auch Windscheid mit
dem schon mehrfach zitierten Satz, ethische, politische und volkswirtschaftliche
Erwägungen seien nicht Sache des Juristen als solchem298. Kelsens an sich berech-
tigter Kampf gegen Politik unter wissenschaftlichem Deckmantel hat diese Haltung
noch bestärkt. Seit 1968 jedoch erscheint eine „Zeitschrift für Rechtspolitik“ (als
Beilage zur „Neuen Juristischen Wochenschrift“), die sich große Verdienste um die
Integration der Rechtspolitik in die Jurisprudenz erworben hat. Als Schlüssel zur
Anerkennung der Mög1ichkeit rationaler Behandlung der Rechtspolitik hat sich die
Offenlegung von Wertungen erwiesen. Die Exposition rechtspolitischer Zielsetzun-
gen ist eine Sache, der Versuch einer Wissenschaft von der Rechtspolitik eine ande-
re. Zum zweiten sind die wahrnehmbaren Ansätze viel bescheidener als zum ersten.
Kleine Elemente wie die Lehre von der Gesetzgebungskunst ( Legistik) haben frei-
lich Tradition. Die Hauptstücke dagegen – eine juristische Wertlehre, eine Analyse
der in der Rechtspolitik wirksamen Zweck-Mittel-Relationen, eine Beschreibung
der ebenso typischen wie ungewollten Sekundäreffekte von Zielverwirklichungen
– müssen erst konzipiert werden. Es ist notwendig, dass die Rechtspolitik nicht nur
im Rahmen der Politikwissenschaft299, sondern auch im Bereich der Jurisprudenz
als Disziplin gepflegt wird.
Hält man die positivrechtlichen und die metapositiven Disziplinen der Juris-
prudenz zusammen, so ergibt sich ein buntes Bild von verwirrender Vielfalt. An
der Spezialisierung aller Disziplinen, die dazu führt, dass der einzelne immer
mehr über immer weniger weiß, hat die Jurisprudenz ihren guten, vielleicht sogar
überproportionalen Anteil. In einer Zeit, in der Rechtsunkenntnis noch immer als
Fehler, oft sogar als Verschulden gilt, findet man kaum einen Juristen, der die ge-
samte Rechtsordnung in halbwegs verlässlicher Weise zu überschauen vermöchte.
Was theoretisch dem Bürger an Rechtskenntnis abverlangt wird, können praktisch
nicht einmal die Fachleute leisten. Zur Begründung der Notwendigkeit einer Res-
296
Oben § 12 III 2 b.
297
Vgl zu dieser, besonders zu ihren Möglichkeiten und Grenzen Seifert, Kampf um Verfassungs-
positionen (1974).
298
Windscheid, Rektoratsrede (1884), Gesammelte Reden und Abhandlungen (1904) 101 (oben
§ 1 Fn 2), das vollständige Zitat weist diese Erwägungen der Gesetzgebung zu.
299
Vgl aus dieser Von Der Gablentz, Der Kampf um die rechte Ordnung (1964).
VII. Weitere Gebiete 283
In solch ein hohes Lied der Spezialisierung sollte man nicht einstimmen. Zuge-
geben: Durch Spezialisierung wird eine verbesserte Erkenntnis von Details und
Strukturen eines Fachs möglich. Doch darf man den Ausbau der Mikrowelten nicht
übertreiben und die Gefahr einer déformation professionelle, die vor allem in Blick-
verengung und Kritikverlust besteht, nicht unterschätzen. Wirklich Neues oder gar
Endgültiges kann nur erreicht werden, wenn man über die Spezialdisziplin hinaus-
blickt. Auf die für den eigenen Bereich gewonnene Erkenntnis muss deren Vermitt-
lung mit einem umfassenden Bezugssystem folgen. Zur Leistung des Spezialisten
muss eine enzyklopädische Integration treten.
Der spezialisierte Jurist ist in der Gegenwart unentbehrlich. Dass er je wieder
überflüssig würde, ist nicht wahrscheinlich. Doch sollte es beim reichlich unver-
bundenen Nebeneinander der juristischen Spezialdisziplinen sein Bewenden nicht
300
Zu ihm Greenwood/Frederickson, in: Countryman/Finman, The Lawyer in Modern Society
(1966) 722 ff; Mayer-Maly, in: Merten (Hrsg), Probleme der Juristenausbildung (1980) 15 ff.
301
Vgl Haueisen, JZ 1961, 9 ff; Gitter, Schadensausgleich im Arbeitsunfallrecht (1969) 105 ff;
Tomandl, System des österreichischen Sozialversicherungsrechts (1978) 280 ff.
302
Scheuerle, RdA 1958, 247 ff.
303
Wissenschaft als Beruf5 (1967) 11 f.
284 § 12 Gebiete des Rechts und Disziplinen der Rechtswissenschaft
304
Zu ihm Henningsen, Archiv für Begriffsgeschichte 10 (1966) und Dierse, Supplementheft 2
zum Archiv für Begriffsgeschichte 1977.
305
Vgl Proust, Diderot et l’Encyclopédie (1962). Die französische Encyclopédie (1751–1772) hat
heute nur noch historische Bedeutung. Die Encyclopaedia Britannica leistet weiterhin wertvolle
Dienste.
306
Zu ihm Volk, Die juristische Enzyklopädie des Nikolaus Falck (1970).
307
So Warnkönig, Juristische Encyklopädie (1853); über den Autor Wild, Leopold August Warn-
könig (1961).
308
So Falck, Juristische Encyklopädie (1824) § 24.
§ 13 Institutionen im Wandel
Inhaltsverzeichnis
I. Allgemeines
1
Wolfgang Adam Lauterbach, Collegium theorico-practicum, § 3 der Prolegomena, Bd 1 (1690) 7 f.
2
Bd 1 (1840) 9 f.
© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015 285
H Honsell, T Mayer-Maly, Rechtswissenschaft, Springer-Lehrbuch,
DOI 10.1007/978-3-662-45682-8_13
286 § 13 Institutionen im Wandel
Rechtsinstitute zu qualifizieren, ist sein Begriff des Rechtsinstituts doch auf Vor-
positives bezogen; das Rechtsinstitut selbst bildet für Savigny – und damit erhält
sein Konzept einen phänomenologischen Akzent – ein Objekt der „Anschauung“.
Wenn in diesem Paragraphen von Institutionen im Wandel gesprochen wird, so
wird der Begriff der Institution nicht im Sinne von Savigny gebraucht. Vielmehr
wird vom Primat der Norm ausgegangen und die Institution – ganz anspruchslos –
lediglich als soziale Verfestigung von Geregeltem begriffen. Die dem Regelungsre-
sultat innewohnende Tendenz zur Eigenständigkeit soll ebenso wenig unterschätzt
werden wie die pragmatische Bedeutung des Vorgefundenen für jeden vernünftigen
Gesetzgeber. Was aber interessiert, ist nicht die Möglichkeit einer metapositiven
Überhöhung des Institutionellen, sondern die geschichtlich manifestierte Dynamik
gegenüber aller Verfestigung. Deshalb richtet sich der Blick auf den Wandel der
Institutionen. Als Exempel wählen wir die zwei Grundfiguren des Privatrechts, das
Eigentum und den Vertrag, sowie zwei Institutionen aus ganz verschiedenen Le-
bensbereichen, an denen sich der Wandel besonders gut zeigen lässt, die Ehe und
die Presse.
1. Eigentum
Das Eigentum3 – von jeher ein Politikum des Rechts – ist durch den Marxismus
ins Zentrum der Kritik am Recht gestellt worden. Die Befugnis, über eine Sache in
den Schranken der Rechtsordnung nach Belieben zu verfügen (§ 903 BGB, Art 641
ZGB und § 354 ABGB), wird vom selbstverständlichen Bestandteil jeder entwi-
ckelten Rechtsordnung zum umstrittenen Problem, sobald man zwischen Konsum-
gütereigentum und Eigentum an Produktionsmitteln unterscheidet, und das letztere
als Recht des Kapitalisten begreift, sich fremde Arbeit bzw. ihr Produkt anzueig-
nen4. Nicht nur die marxistische Eigentumskritik, sondern auch die theologische
Lehre vom Pflichtcharakter des Eigentums und die von Gemeinwohlvorstellungen
ausgehende Tendenz zur Relativierung des Eigentums wenden sich gegen einen
„absoluten“ Eigentumsbegriff, der historisch als romanistisch und politisch als
liberal-individualistisch qualifiziert wird. Der von der rechtsgeschichtlichen und
rechtsvergleichenden Erfahrung überlieferte Eigentumsbegriff betont aber die kriti-
sierte Bindungsfreiheit viel weniger, als die Kontrahenten der Grundsatzdiskussion
annehmen. Die empirisch verifizierte Wandelbarkeit der Konzeption des Eigentums
3
Vgl Negro, Das Eigentum (1963); Breidenstein, Das Eigentum und seine Verteilung (1968);
Liver GS Gschnitzer (1969) 247 ff; Aicher, Das Eigentum als subjektives Recht (1975); Riegel,
Das Eigentum im europäischen Recht (1975); „Itinerari moderni della proprieta“ (Heft 5–6 der
Quaderni Fiorentini 1976/77): Mayer-Maly, Das Eigentumsverständnis der Gegenwart und die
Rechtsgeschichte, FS Hübner (1984) 145; Andersen, Probleme der Wandlung des Eigentumsbe-
griffs (1984); Hecker, Eigentum als Sachherrschaft (1990); Finkenauer, Eigentum und Zeitablauf
– Das dominium sine re im Grundstücksrecht (2000).
4
So Marx, Das Kapital, 7. Abschnitt, 22. Kapitel, (1962) 605 ff.
II. Ausgewählte Beispiele 287
geht so weit, dass es schwerfällt, die Konstante zu bezeichnen, aus der sich das
Wesentliche der Institution ergibt. Deutlich fassbar sind nur Problemschwerpunkte.
Als solche wollen wir die Absolutheit des Eigentums, seinen Verfassungsbezug,
die Differenzierung nach Eigentumsobjekten, die Eigentumsteilung, die Relation zu
anderen subjektiven Rechten und die Enteignung behandeln.
Die Absolutheit des Eigentums entstammt dem Prozess. Sie bedeutet nicht
Freiheit von Bindungen, sondern Klagemöglichkeit gegen jede Beeinträchtigung
des Rechts durch einen Dritten. Im altrömischen Recht, das ebenso wenig wie das
griechische5 einen profilierten Eigentumsbegriff kannte (die Worte dominium und
proprietas gewinnen erst im 2. Jh vChr prägnante Bedeutung), setzte ein Eigen-
tumsprozess voraus, dass beide Streitteile Eigentumsbehauptungen (Vindikationen)
aussprachen. Die Eigenschaft, jeden Nichtberechtigten von Einwirkungen auf das
Eigentumsobjekt auszuschließen, erlangte das Eigentum erst, als man zur Einlei-
tung des Vindikationsverfahrens die Rechtsbehauptung einer Seite genügen ließ.
So wurde die Vindikation zur Klage des nichtbesitzenden Eigentümers gegen den
besitzenden Nichteigentümer (§ 985 BGB, Art. 641 Abs. 2 ZGB, § 366 ABGB), das
Eigentum vom besseren zum gegen jeden durchsetzbaren Recht.
Verfassungsbezug6 hatte das römische Eigentum nicht. Es war weder bindungs-
frei noch heilig. Von einem „droit inviolable et sacre“ sprach erst die Französi-
sche Revolution, zunächst in der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vorn
26.8.1789 und dann in der Verfassung vom 24.6.1793. Die verfassungsrechtliche
Gewährleistung des Privateigentums war zunächst ein gegen den Staat gerichtetes
Individualgrundrecht. Es sollte dem einzelnen die Unantastbarkeit seiner Rechts-
güter sichern und so die Voraussetzungen seiner Freiheit schützen. Die These vorn
Freiheitswert des Eigentums, die freilich auch bei Hegel7 begegnet, legte der deut-
sche Bundesgerichtshof seiner Rechtsprechung zugrunde, als er sagte8:
Der in den Staat eingegliederte Einzelne bedarf, um unter seinesgleichen als Person, das
heißt: frei und selbstverantwortlich leben zu können und um nicht zum bloßen Objekt einer
übermächtigen Staatsgewalt zu werden, also um seiner Freiheit und Würde willen, einer
rechtlich streng gesicherten Sphäre des Eigentums.
5
Vgl Kaser, Eigentum und Besitz im älteren römischen Recht2, 1956; Kränzlein, Eigentum und
Besitz im griechischen Recht (1963).
6
Vgl Spanner/Pernthaler/Ridder, Grundrechtsschutz des Eigentums (1977); Berka, Verfassungs-
recht5 (2014) 529 ff.
7
In: Ilting (Hrsg), Philosophie des Rechts Bd 3, § 41 (S 203).
8
BGHZ 6, 270, 276; ähnlich BVerfGE 24, 367, 389: „Das Eigentum ist ein elementares Grund-
recht, das in einem inneren Zusammenhang mit der Garantie der persönlichen Freiheit steht. Ihm
kommt im Gesamtgefüge der Grundrechte die Aufgabe zu, dem Träger des Grundrechts einen
Freiheitsraum im vermögensrechtlichen Bereich sicherzustellen und ihm damit eine eigenverant-
wortliche Gestaltung des Lebens zu ermöglichen. Die Garantie des Eigentums als Rechtseinrich-
tung dient der Sicherung dieses Grundrechts. Das Grundrecht des Einzelnen setzt das Rechtsins-
titut ‚Eigentum‘ voraus; es wäre nicht wirksam gewährleistet, wenn der Gesetzgeber an die Stelle
des Privateigentums etwas setzen könnte, was den Namen ‚Eigentum‘ nicht mehr verdient“.
288 § 13 Institutionen im Wandel
9
Ähnlich zum österreichischen Recht Unkart, JBl 1966, 298, 302; dagegen aber Koziol, JBl 1966,
333 f und Mayer-Maly, Rechtsfragen der Raumordnung (1972) 52 ff.
II. Ausgewählte Beispiele 289
lage immer öfter in den ausgreifenden Konzepten des Umweltschutzes, der Städte-
planung (einschließlich der Altstadtsanierung) und der regionalen Raumordnung
finden10. So konnte mit Recht die Frage gestellt werden11, ob die nun bestehenden
Nutzungsbindungen des Bodeneigentums nicht einer Rückkehr zur Lehre vom do-
minium eminens gleichkommen. Nach dieser Lehre, auf der die heute noch geltende
Fassung von § 357 ABGB beruht, stand über dem Nutzungseigentum des einzelnen
ein Obereigentum eines gesellschaftlichen Organs, etwa des Lehensherrn oder des
Landesfürsten.
Die Überwindung der funktionalen Eigentumsteilung wurde erst vom Libera-
lismus des 19. Jahrhunderts bewerkstelligt. Das österreichische ABGB von 1811
unterschied noch (besonders auch in den §§ 1127 ff.) zwischen Obereigentum und
Nutzungseigentum. Damit führt es die gemeinrechtliche Distinktion zwischen do-
minium directum und dominium utile fort, die im Mittelalter zur juristisch-konstruk-
tiven Bewältigung des Feudalismus entwickelt worden war. So wichtig und populär
die Anliegen von Raumordnung und Umweltschutz sind, es stellt sich doch die
Frage, ob man deshalb zur Funktionsteilung des Eigentums zurückkehren soll. Man
dient der Raumordnung und dem Umweltschutz besser, wenn man ohne Inhaltsver-
änderungen des Eigentums auskommt, die sich von der Etablierung eines gesell-
schaftlichen dominium eminens nicht mehr unterscheiden lassen. Ist auch der Weg
über Anreizsysteme und entschädigungspflichtige Enteignungen teurer, so spricht
doch alles, was gegen das landes- und lehensherrliche Obereigentum vorgebracht
wurde, auch gegen ein dominium eminens der Gesellschaft12.
Das Eigentumsobjekt, dem die Auseinandersetzungen über die Grenzen einfach-
gesetzlicher Inhaltsbestimmung und obrigkeitlicher Nutzungsbindung vor allem
gelten, ist der Boden. Dass Liegenschaftseigentum mit mehr immanenten Beschrän-
kungen behaftet ist als Eigentum an Fahrnis, ist heute allgemeine Überzeugung, die
mit der Unvermehrbarkeit des Bodens und seiner besonderen Bedeutung für die
gesamtgesellschaftliche Entwicklung begründet wird. Auch in dieser Hinsicht hat
das Moderne mehr Tradition als das Konservative. Freies Individualeigentum an
Liegenschaften entstand später als das Fahrniseigentum. Die vorstaatliche Sippen-
gesellschaft kannte, wie wir gesehen haben, verfügbares Individualeigentum über-
haupt nur an Fahrnis. Die Beschränkung der Verfügung über Liegenschaften durch
Wart- und Beispruchsrechte von Verwandten wurde erst im Spätmittelalter über-
wunden. Die Gleichstellung von Boden- und Fahrniseigentum13 blieb noch deutli-
cher auf die liberale Kodifikationswelle am Ende des 19. Jahrhunderts beschränkt
als die Überwindung funktionaler Eigentumsteilung. Zum neuen Bezugspunkt der
spezifischen Schranken des Bodeneigentums wurde rasch die Gesellschaft als sol-
che. Mit den Grundverkehrsgesetzen wollte man den Bauernstand erhalten, ein an-
deres Ziel ergab sich mit Maßnahmen gegen den Grunderwerb von Ausländern.
10
Vgl Jabornegg/Rummel/Strasser, Privatrecht und Umweltschutz (1976).
11
Vgl zu der beim Zivilrechtslehrertag 1975 geführten Diskussion die Referate von Baur und
Badura, in: AcP 176 (1976) 97 ff und 120 ff; beachtenswert ferner H Westermann, Zulässigkeit
und Folgen einer Aufspaltung des Bodeneigentums in Verfügungs- und Nutzungseigentum (1975).
12
In diesem Sinne auch Mayer-Maly, Raumordnung und Privatrechtsgesellschaft (1973).
13
Rechtsdogmatisch lösen sich von ihr besonders deutlich Baur/Stürner, Lehrbuch des Sachen-
rechts18 (2009) 9 f.
290 § 13 Institutionen im Wandel
2. Vertrag
Der Vertrag ist für Naturrechtler (wie Grotius und Zeiller) eine Funktion des Eigen-
tums. Noch das ABGB führt in der zweiten Abteilung (§§ 859 ff) die Obligationen
unter der Überschrift persönliche Sachenrechte. Der Vertrag wird als eine Art ius ad
rem auf bestehende Berechtigungen bezogen, indem man ihn als Verpflichtung zur
14
Konkretisiert bei Kühne, Das Bodenrecht (1970).
15
Für Deutschland vgl Baur/Stürner, Sachenrecht18 (2009) § 26 Rz 7; für die Schweiz Binz-
Gehring, Das gesetzliche Vorkaufsrecht im schweizerischen Recht (1975); für Österreich Aicher,
Das Bodenbeschaffungsgesetz (1975) 26 ff.
16
Auch die Erweiterung der wirtschaftlichen Arbeitnehmermitbestimmung wirkt in dieser Rich-
tung, weil sie zur Inhaltsbeschränkung des Eigentums an Produktionsmitteln führt.
17
FS Kahl (1923).
18
Vgl Werner Weber, AÖR 1966, 382 ff.
19
Vgl VfSlg 15.129/1998; aus der Praxis des EGMR s ÖJZ 2013, 795; reserviert hingegen noch
VfSlg 5658; 6648; 6733.
II. Ausgewählte Beispiele 291
Übertragung von Rechten oder als Verfügung über solche begreift. Eigentumsbe-
zogen ist aber auch das Hegelsche Verständnis des Vertrages, wenn es diesen – un-
verkennbar unter dem Eindruck des preußischen Allgemeinen Landrechts – als Art
des Eigentumserwerbes konzipiert (vgl Rechtsphilosophie § 71). Die Konzeption
des ALR beruht ihrerseits auf der gemeinrechtlichen Lehre vom titulus und modus
adquirendi20.
Die Eigenart und Bedeutung des Vertrages erschließt sich aber nicht aus seiner
Beziehung zur Ordnung der Sachgüter, sondern aus seiner Relation zum Wollen
der Menschen. Die den Menschen, unabhängig von seiner Zugehörigkeit zu einer
staatlich organisierten Gesellschaft auszeichnende Fähigkeit, sein Wollen durch
Versprechen in einer ihn selbst bindenden Weise zu bekunden, macht den Vertrag
zu einem Essentiale des Zusammenlebens. Das Einhalten von Abreden (pacta sunt
servanda) gehört zu den Existenzbedingungen jeder Gesellschaft. Die rechtliche
Ausgestaltung als Vertrag vollzieht sich nur allmählich, die Bindungswirkung der
Einigung als solcher ist das Resultat einer vielstufigen und vielschichtigen Entwick-
lung21. Vertragsform und Erbringung einer Gegenleistung sind die hauptsächlichen
Vorstufen, aber auch Hindernisse für die schließliche Durchsetzung der Verbind-
lichkeit der bloßen Abrede22.
Noch heute genügt der bloße Konsens nicht für jeden Vertrag. Nach § 311b BGB
und Art. 216 OR bedarf ein Vertrag, durch den sich der eine Teil verpflichtet, das
Eigentum an einem Grundstück zu übertragen, der öffentlichen (gerichtlichen oder
notariellen) Beurkundung. Das dient dem Schutz vor Übereilung. Nach österreichi-
schem Recht dagegen ist erstaunlicher Weise auch der nur konsensuale, formlose
Liegenschaftskauf verbindlich, ohne dass dies allzu oft zu Rechtsunsicherheit oder
zur Bindung an unüberlegte Erklärungen führen würde; denn im Bewusstsein des
Publikums ist ein mündlicher Kaufvertrag über eine Liegenschaft nicht wirksam.
Jedenfalls hat– soweit ersichtlich – noch niemand aus einer bloß mündlichen Ver-
einbarung geklagt. Für ein Schenkungsversprechen genügt zum Schutz vor übereil-
ten Versprechen der bloße Konsens auch in Österreich nicht23. Einseitige Verpflich-
tung bedarf deshalb der Form, in Rom der anfangs solennen Stipulationsform. In
der Ablehnung einer Gültigkeit der Schenkung ohne Übergabe oder Einhaltung der
Form verbinden sich Residuen des Prinzips der notwendigen Entgeltlichkeit mit
dem Gedanken der Formbindung. Beide, den Vertrag als bloße Einigung ablehnen-
den Rechtsgedanken, haben tiefe und alte Wurzeln. Nach dem Prinzip der notwen-
digen Entgeltlichkeit24, das in der angelsächsichen Figur der consideration fortlebt,
hängt der Rechtserwerb weniger von der Einigung als vielmehr von der Erbringung
einer Gegenleistung ab. Zuwendungen ohne Gegenleistung erscheinen nicht nur
20
Zu ihr Hofmann, Die Lehre vom titulus und modus adquirendi (1873).
21
Zu dieser Mayer-Maly, in: Jakobs (Hrsg), Rechtsgeltung und Konsens (1976) 91 ff.
22
So ist es im angelsächsischen Recht noch heute Voraussetzung eines klagbaren Vertrages, das
entweder eine bestimmte Form eingehalten wird (durch Errichtung einer Urkunde) oder eine Ge-
genleistung (consideration) erbracht wird; vgl Zweigert/Kötz, Rechtsvergleichung II 84 ff.
23
§ 1 Abs 1 d) öNotariatsaktsgesetz.
24
Zu ihm Kaser, ZSS 91 (1974) 146 ff.
292 § 13 Institutionen im Wandel
als sinnlos oder verdächtig, sie gelten sogar als wirkungslos, weil für den Erwer-
benden noch kein Rechtsgrund seines Habens besteht. Daher bleibt beim formalen
Manzipationsakt der Römer mit dem kleinen Geldstück ( raudusculum) ein Relikt
des einst Zug um Zug geleisteten Preises im Spiel, daher auch muss nach langobar-
dischem Recht der Beschenkte ein launegild als formale Gegenleistung erbringen,
auf dass ihm das Geschenk nicht mehr abgefordert werden kann.
Die Sachhingabe, auch die Erbringung einer Gegenleistung, war zugleich eine
der möglichen Formen: die Form des Realkontrakts. Andere Formbindungen der
Einigung knüpften an den Gebrauch von Erz und Waage (sog Libralakte), an die
Einhaltung bestimmter Spruchformulare (vor allem bei der Stipulation) und an die
Errichtung von Urkunden an. Die bloße Einigung genügte für alle alten Rechte nur
ausnahmsweise. Auch das klassische römische Recht kannte nur vier Konsensual-
kontrakte (Kauf, Auftrag, Gesellschaft, Miet- und Arbeitsvertrag). Das Verkehrs-
leben war nicht nur an die Einhaltung spezifischer Formgebote, sondern auch an
fixierte Kontrakttypen gebunden, die weder erweitert noch vermischt werden konn-
ten. Der Durchbruch zu einer wirklichen Vertragsfreiheit ging nicht von diesem
Kontraktsystem, sondern vom Wegfall der antiquierten Stipulationsform und vom
pactum als formfreier, zunächst aber nicht ohne weiteres verbindlicher Abrede aus.
Das Wort pactum steckt auch in dem deutschen ‚Pacht‘.
Seinen Ursprung nimmt das pactum bei der Funktion des Rechts als Strategie
des Friedens, bei der Ablösung der Privatrache im Sühnevergleich. Um 450 vChr
bestimmten die 12 Tafeln, dass bei Zerstörung von Gliedmaßen (beim membrum
ruptum) Gleiches mit Gleichem („Aug um Aug“) vergolten werden solle, wenn
kein Sühnevergleich abgeschlossen wird. Diesen nannte man pactum. In diesem
Wort für Vereinbarung steckt pax (Frieden). Im klassischen römischen Recht waren
pacta, zu denen man längst alle formlosen Abreden zählte, nur unter bestimmten
Bedingungen verbindlich. Der Durchbruch zur Vertragsfreiheit gelang erst nach der
Jahrtausendwende mit dem Wegfall der antiquierten Stipulationsform sowie durch
die Kanonistenlehre von der Verbindlichkeit aller pacta25. Bis ins 18. Jh stößt man
aber auf Spuren eines die Vertragsfreiheit beengenden Typenzwanges. Form und
Gegenleistung traten nur allmählich in den Hintergrund, die Selbstbestimmung
durch Willensbetätigung wurde nur langsam als Geltungsgrund und Hauptfunktion
der Verträge erfasst.
Ihren Höhepunkt erlangte die willensbezogene Konzeption des Vertrages im 19.
Jh mit der pandektistischen Theorie vom Rechtsgeschäft: Der Vertrag wurde als
Korrespondenz zweier Willenserklärungen (Angebot und Annahme) begriffen26.
25
Dazu Mayer-Maly (Fn 21).
26
Entgegen einer in der Schweiz verbreiteten Meinung ist freilich nicht der innere Wille maßgeb-
lich, den man nicht kennt, sondern der erklärte, äußere (vgl Art 2 OR „Willensäusserung“). Ein
Abstellen auf den inneren Willen lässt sich weder aus dem römischen Konsensprinzip noch aus der
Privatautonomie herleiten. Dieser ist nicht für den Vertragsschluss, sondern nur für die Irrtums-
anfechtung relevant. Es gilt (wie in Deutschland) die durch das Vertrauensprinzip zu korrigierende
Erklärungstheorie, nicht die Willenstheorie. Anders aber irrig das Bundesgericht (vgl etwa BGE
126 III 25 E 3c) im Anschluss an Kramer (Berner Komm. Art. 1 N 2 und Grundlagen der vertragli-
chen Einigung [1972] 60 ff,); krit dazu Honsell, Willenstheorie oder Erklärungstheorie? FS Walter
II. Ausgewählte Beispiele 293
Eine Besinnung auf objektive Faktoren ist auch in dem Bereich zu beobachten, in
dem puristischer Voluntarismus am fühlbarsten versagen musste: in der Lehre von
den Mängeln des rechtsgeschäftlichen Wollens. Für eine das Rechtsgeschäft nur als
Willenserklärung begreifende Konzeption lag es nahe, in allen Fällen, in denen eine
vom Willen nicht gedeckte Erklärung abgegeben wurde, eine Irrtumsanfechtung
zuzulassen. Die schutzwürdigen Interessen des Vertragspartners, der auf eine irrige
Erklärung vertraut hatte, wurden nur teilweise und allmählich berücksichtigt. Dann
aber meinte man schließlich, mit dem Vertrauensprinzip28 einen Rechtsgedanken
erfasst zu haben, der dem der willentlichen Selbstbestimmung ebenbürtig sei und
wie dieser den Gesamtbereich der Privatautonomie gestalte. So richtig es ist, die Irr-
tumsfolgen nach dem Maß des schutzwürdigen Vertrauens beim Erklärungsgegner
abzustufen29, so wenig Beifall verdient die Konfrontation von Willensherrschaft
und Vertrauensprinzip. Eine voluntaristische Vertragstheorie, die das Vertrauens-
(2004) 335 ff; der Begriff des „normativen Konsenses“ wird verwendet, weil die Erklärung so gilt,
wie sie vom Empfänger nach Treu und Glauben verstanden werden durfte
27
Vgl Kramer, Die „Krise“ des liberalen Vertragsdenkens (1974).
28
Zu ihm Canaris, Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht (1971).
29
Unterschätzt wird die Schutzwürdigkeit des irrig Erklärenden von Kramer, Grundfragen der
vertraglichen Einigung (1972).
294 § 13 Institutionen im Wandel
prinzip nicht berücksichtigen wollte, würde mit der Zweiseitigkeit des Vertrages ein
Strukturelement der Institution vernachlässigen.
Alternativen zum willensbezogenen, der Privatautonomie verpflichteten Ver-
ständnis des Vertrages wurden in sozialistischen und nationalsozialistischen Rechts-
lehren aus der Plandeterminiertheit aller Einzelakte oder aus nationalen Pflichten-
katalogen abgeleitet30.
Heute steht der Vertrag als Institution im Zeichen der Entscheidung zwischen
einem Einsatz als bloß technischem Regelungsinstrument und der wertungsbewuss-
ten Anerkennung der Selbstbestimmung durch Interessenausgleich.
3. Ehe
Ein Beispiel für die Eigenart, aber auch für die Wandelbarkeit einer Institution ist
die Ehe31. Sie stellt sich als Resultat der Entscheidung für eine bestimmte Art des
auf Dauer angelegten Zusammenlebens von Mann und Frau dar. Zu sagen, es hand-
le sich um dessen bipolare Organisation, wäre ungenau. Auch die polygamen Ver-
bindungen im Islam und die polyandrischen Zusammenschlüsse in Tibet sind Ehen.
Durch die Schaffung von auf Dauer angelegten Beziehungen, die wenigstens auf
einer Seite mit Ausschließlichkeitsanspruch ausgestattet sind, unterscheiden sich
auch die nicht monogamen Beziehungen von außerehelichem Sexualkontakt.
Die Alternative zwischen Monogamie und Polygamie besteht seit vorgeschicht-
licher Zeit. Sie stellt keine Eigentümlichkeit des homo sapiens dar. Zoologie und
Verhaltensforschung haben analoge Alternativen im Tierreich nachgewiesen32.
Während Vorgeschichte und vergleichende Ethnologie zeigen, dass die Monoga-
mie nicht erst spätes Kulturprodukt ist, sondern schon auf Primitivstufen begegnet,
reicht andererseits die Polygamie bis in Hochkulturen und in die Gegenwart.
Die aktuelle Problematik der Ehe als Institution konzentriert sich auf ihr Ver-
hältnis zum staatlichen Recht, zur kirchlichen Ordnung und zum Wandel der Ge-
sellschaft.
Was heute als Eherecht gilt, ist nicht zuletzt das Produkt einer allmählichen Ver-
staatlichung. In den antiken Kulturen33 hatte die Ehe nicht viel mit dem Staat zu tun.
Es gab weder Standesbeamte noch Scheidungsrichter. Um eine Ehe einzugehen,
bemühte man nicht den Staat, sondern bekundete den Ehewillen formlos vor Freun-
den. Nur zum Erwerb der ehelichen Gewalt ( manus) war ein Formalakt vorgesehen,
30
So Rhode, Die Willenserklärung und der Pflichtgedanke im Rechtsverkehr (1938); Chalfina,
Wesen und Bedeutung des Vertrages im sowjetischen sozialistischen Zivilrecht (1958).
31
Vgl Müller-Freienfels, Ehe und Recht (1962); Ramm, JZ 1975, 505 ff; Greiff, Die Ordnung der
Ehe (1977); Diederichsen, FS Beitzke (1979) 169 ff; Palandt/Brudermüller, BGB73 (2014) Einl v
§ 1297 Rz 1 f.
32
Vgl beispielhaft Rasa, Die perfekte Familie. Leben und Sozialverhalten der afrikanischen
Zwergmungos (1984) 188 ff.
33
Zu ihrem Eherecht Orestano, La struttura giuridica del matrimonio romano (1951); J Huber,
Der Ehekonsens im römischen Recht (1977).
II. Ausgewählte Beispiele 295
der aus dem Brautkauf entstanden war. Die Ehe dauerte so lange wie der auf Zunei-
gung beruhende Ehewille (affectio maritalis) bestand. Die auf Dauer des ganzen Le-
bens angelegte Ehe (consortium omnis vitae) war doch jederzeit frei scheidbar. Fiel
der Ehewille fort, bedurfte es keiner staatlichen Prozedur, um die Ehe zu scheiden.
Die Bekundung des Scheidungswillens genügte. Das Konträraktsprinzip galt auch
bei der förmlichen Eheschliessung der confarreatio. Hier war auch die Scheidung
formgebunden (diffarreatio). Neben der Ehe kannte das römische Recht auch eine
einfachere Form des Zusammenlebens von Mann und Frau, den Konkubinat, der
sich von der Ehe sowohl hinsichtlich der sozialen Stellung der Frau wie hinsichtlich
der Rechtsstellung der Kinder unterschied.
Wenn der Staat in die Ordnung der freien Ehe ( matrimonium liberum) ein-
griff, geschah dies aus Gründen der National- und Militärpolitik. Augustus erließ
Ehegesetze, die das italische Element in der Reichsbevölkerung stärken und den
Nachwuchs für seine Legionen sichern sollten. Etatistischer Populationismus blieb
ein Leitmotiv staatlicher Ehegesetzgebung – zuletzt deutlich auch im deutschen
Ehegesetz von 1938. Stärker noch wirkte die kirchliche Ordnung der Ehe auf ihre
Verrechtlichung hin. Dies lag insbesondere daran, dass das Christentum ein neues
Grundkonzept der Ehe geschaffen hatte. Begriff man sie bisher als Lebensgemein-
schaft34, so erschien sie nun als Sakrament. Damit potenzierte sich die Anlage auf
Dauer zur Unscheidbarkeit. Deren Durchsetzung in der Rechtspraxis nahm aller-
dings noch geraume Zeit in Anspruch.
Martin Luthers Lehre35, dass die Ehe „ein äußerlich weltlich ding ist wie kleider
und speise, haus und hof, weltlicher oberkeit unterworfen“, begünstigte die alleini-
ge Gestaltung des Eherechts durch den Staat. Sie erfolgte in der perfektionistischen
Manier des aufgeklärten Polizeistaates. Die Beziehung zwischen den Ehegatten
erschien als ein Bündel von Rechtspflichten, die Ehe selbst als bürgerlicher Ver-
trag. Der Aspekt verlagerte sich von dem andauernden Ehewillen auf den die Ehe
begründenden Akt. Der Satz, die moderne Ehe werde geschlossen, die antike sei
gelebt worden, bezeichnet diesen Unterschied.
Die Zivilehe des staatlichen Rechts ist, anders als die sakramentale Verbindung
des kanonischen Rechts, grundsätzlich scheidbar. Scheidungsfreundlich ist aber
weder die evangelische Ethik noch das staatliche Gesetz. Nur selten wird Ehegatten
die Möglichkeit eröffnet, durch ihr Einverständnis das Eheband aufzuheben36. So
kennt das japanische Recht eine Scheidung durch Übereinkunft, bei der es keiner
Angabe von Gründen bedarf. Zumeist aber bilden Scheidungsgründe die Vorausset-
zung einer Ehescheidung. Diese können entweder im schuldhaften Verhalten eines
Gatten oder in einer objektiven Zerrüttung der Ehe bestehen. In vielen Eherechten
34
Der Spätklassiker Modestinus sagte nach dem Zeugnis von D 23, 2, 1: Nuptiae sunt coniunctio
maris et feminae et consortium omnis vitae, divini et humani iuris communicatio.
35
Von Ehesachen, Weimarer Ausgabe, Bd 30, 205.
36
Zur „Konventionalscheidung“ des deutschen Rechts Damrau, Das Verfahren bei der Konventi-
onalscheidung nach dem 1. EheRG, NJW 1977, 1169 ff; Brüggemann, Drei neuralgische Punkte
des materiellen Scheidungsrechts, FamRZ 1978, 91; Gernhuber/Coester-Waltjen, Lehrbuch des
Familienrechts6 (2010) § 27.
296 § 13 Institutionen im Wandel
ist die Tendenz, mehr auf die Zerrüttung als auf das Verschulden zu sehen, unver-
kennbar. In der Bundesrepublik Deutschland ist man 1976 zum Zerrüttungsprinzip
übergegangen: Scheitern der Ehe wurde zum einzigen Scheidungsgrund. § 1565
Abs 1 BGB sagt: „Eine Ehe kann geschieden werden, wenn sie gescheitert ist. Die
Ehe ist gescheitert, wenn die Lebensgemeinschaft der Ehegatten nicht mehr besteht
und nicht mehr erwartet werden kann, dass die Ehegatten sie wiederherstellen“.
Der 2. Absatz von § 1565 BGB stellt dann darauf ab, ob die Ehegatten schon ein
Jahr lang getrennt leben. Der Gesetzgeber unterschätzt die Schwierigkeiten, die in
bäuerlichen Verhältnissen, aber auch in einigen Schichten der Stadtbevölkerung
eine Aufhebung von Haushaltsgemeinschaften mit sich bringen. Ähnlich wie die
italienischen Divorzionisten haben die deutschen Anhänger einer erleichterten Ehe-
scheidung Problemlösungen entwickelt, die für das Besitzbürgertum taugen. Ange-
sichts der Problematik der ökonomischen Situation geschiedener Ehefrauen wird
ein Widerspruch zwischen progressiven Positionen deutlich: Jede Erleichterung der
Scheidung gefährdet die Situation der älteren, oft gar nicht mehr voll arbeitsfähigen
Frauen aus Arbeiterschaft und Landwirtschaft. Statuiert man hohe Unterhaltspflich-
ten und sorgt man – was schwer genug ist – auch für deren Effektivität, so kommt
man einem weitgehenden Scheidungsverbot nahe. Der österreichische Gesetzgeber
hat mit der Neufassung von § 55 des Ehegesetzes einen Lösungsversuch unter-
nommen.
Gerade die Probleme um die ökonomische Situation der Frau machen den Wan-
del deutlich, den die sozialen Bedingungen der Ehe durchmachen. Versucht man
eine Unterscheidung nach Typen der Ehe, ist nicht mehr nur zwischen kinderlosen
und Ehen mit Kindern, sondern auch zwischen Hausfrauenehe und Doppelverdie-
nerehe zu unterscheiden. Die Doppelverdienerehe verwirklicht die Gleichberechti-
gung deutlicher und macht eine Scheidung leichter als die Hausfrauenehe, für die es
schwer ist, eine adäquate vermögensrechtliche Reaktion auf die Leistung der Frau
zu finden. Die in Deutschland mit dem Gleichberechtigungsgesetz (1957) an die
Stelle der Gütertrennung getretene Zugewinngemeinschaft beruht zwar auf über-
zeugenden Grundgedanken, leidet aber an zu komplizierten Einzelregelungen37 und
an der Notwendigkeit, sie bei Ehen von Gesellschaftern einer Personengesellschaft
vertraglich zu modifizieren. Die Doppelverdienerehe dagegen ist vermögensrecht-
lich und dem Status der Gatten nach weniger problematisch, scheint aber krisenan-
fälliger und vor allem bei der Kindererziehung weniger leistungsfähig zu sein. Vor
dem Gesetz sind die beiden soziologisch so verschiedenen Eheformen bisher gleich
und müssen es wohl auch noch in Zukunft bleiben. Die Institutsgarantie der Ehe in
Art 6 GG gilt für Doppelverdienerehe und Hausfrauenehe gleich38. Sie spricht die
Ehe als solche an und erreicht schon dadurch beträchtliche Abstraktionshöhe.
Die Ehe ist nach wie vor die einzige staatlich anerkannte Lebensgemeinschaft
heterosexueller Paare. Eine alternative, lockerere Form der Partnerschaft (ähnlich
dem Konkubinat) ist nicht vorgesehen. Auch das Scheidungsrecht ist nicht wirk-
lich liberalisiert. Richtig wäre es, mit einem gewissen Übereilungsschutz die Ehe
37
S zB Palandt/Brudermüller, BGB73 § 1375 Rz 2 ff.
38
Palandt/Brudermüller, BGB73 Vor § 1297 Rz 2 und Einf v § 1353 Rz 3.
II. Ausgewählte Beispiele 297
dort zu scheiden, wo sie geschlossen wurde: vor dem Standesbeamten. Die gericht-
liche Scheidung ist anachronistisch und die Gerichte sind damit überfordert.
Die Institutsgarantie von Art 6, Abs 1 Grundgesetz gilt der bürgerlichen Ehe
(zum Unterschied von der Kirchenehe) und der Kleinfamilie. Diese ist vor allem
die Gemeinschaft eines Ehepaares mit seinen Kindern, aber auch die nach Eheauf-
lösung verbliebene Gemeinschaft eines Gatten mit den Kindern, auch die Verbin-
dung der Mutter mit ihrem nichtehelichen Kind. Zu unterscheiden ist sie von der
Großfamilie. Diese wieder hat einen bekannten und hergebrachten, aber auch einen
utopisch-revolutionären Typ. Bekannt und hergebracht ist die Zusammenfassung
mehrerer Ehen und Kindschaftsverhältnisse unter der Führung des Hauptes eines
größeren Hausverbandes, wobei der Grund der Zusammenfassung in Verwandt-
schaftsbeziehungen liegt. Auf großen Bauerngütern konnten in einer solchen Groß-
familie Ehen dreier Generationen nebeneinander stehen, aus der jüngsten Generati-
on waren es oft mehrere Ehepaare. Diese bäuerliche Großfamilie bildete eine relativ
vielseitige Produktionsgemeinschaft und konnte bei Arbeitsunfähigkeit eines Fami-
lienmitgliedes die Existenzsicherung gewährleisten. Die nun von utopistischen Re-
volutionären, aber auch von Soziologen zur Diskussion gestellte Großfamilie neuen
Typs39 soll dagegen Verwandtschaft nicht voraussetzen. Von der Institutsgarantie
des Grundgesetzes würden derartige Zusammenschlüsse nicht gedeckt.
Seit der zweiten Hälfte des 20. Jhs haben sich die dem Familienrecht zugrunde
liegenden Anschauungen vollständig geändert. Es wurde durch zahlreiche und tief-
greifende Veränderungen liberalisiert.40 An die Stelle einer patriarchalischen Ehe ist
die partnerschaftliche getreten.
Eine neue Dimension wurde mit der Anerkennung gleichgeschlechtlicher Part-
nerschaften erreicht. In Deutschland wurde ein Lebenspartnerschaftsgesetz
(LPartG BGBl 2001 I 266) eingeführt, das einen rechtlichen Rahmen für die Be-
ziehung gleichgeschlechtlicher Paare gibt, welcher der Ehe weitgehend angenä-
hert ist („Homo-Ehe“). Es verpflichtet ua die Partner zu gemeinsamer Lebensfüh-
rung, gegenseitigem Beistand und Unterhalt und gewährt ihnen ein gesetzliches
Erbrecht. Ähnliche Regelungen enthalten in Österreich das Gesetz über die Einge-
tragene Partnerschaft (EPG) und in der Schweiz das Partnerschaftsgesetz. Gleich-
geschlechtliche Partnerschaften können sich auf Art 8 EMRK berufen41. Die EU
hat ein Diskriminierungsverbot auch für die sexuelle Orientierung eingeführt. Die
Gleichstellung muss sich nach dem deutschen Bundesverfassungsgericht auch auf
den (nur in Deutschland bestehenden) Steuervorteil des Ehegattensplitting erstre-
cken42. Dass die Beschränkung auf Ehegatten verfassungswidrig sein soll, leuchtet
vor dem Hintergrund des Art. 6 GG („Ehe und Familie stehen unter dem besonderen
Schutz des Staates“) nicht ein. Das Gericht verkennt, dass nur eine unreasonable
discrimination den Gleichheitssatz verletzt. Der deutsche Gesetzgeber hat die Mög-
lichkeit, das Splitting sachgerecht auf Familien (mit Kindern) zu beschränken, nicht
wahrgenommen. Ein offener Punkt ist das idR fehlende Adoptionsrecht.
39
Vgl zu ihr Feil (Hrsg), Wohngruppe, Kommune, Großfamilie (1972).
40
Vgl Staudinger/Honsell (2013) Einl 107 zum BGB.
41
VfSlg 19.623/2012.
42
BVerfG 2 BvR 909/06.
298 § 13 Institutionen im Wandel
4. Presse
Eine sich wandelnde Institution ist die Presse43. Die Rundfunk- Fernseh- und Pres-
sefreiheit gehört zu den Grundfreiheiten und Grundpfeilern der Demokratie. Frei-
lich haben diese Institutionen auch eine Macht, die der Kontrolle bedarf. Man hat
geradezu von einer vierten Gewalt im Staat gesprochen.
Als im Oktober 1962 die Redaktionsräume des „Spiegel“ auf Veranlassung der
Bundesanwaltschaft wegen Verdachtes des publizistischen Landesverrates durch-
sucht wurden, löste dies heftige innenpolitische Erschütterungen aus und trug
wesentlich zum bald folgenden Rücktritt des Verteidigungsministers Franz Josef
Strauß bei. Die Sensibilität der Öffentlichkeit gegenüber Aktionen, die sich gegen
eine Zeitung oder Zeitschrift wenden, erwies sich als stark, gleichviel, wie viel
Sympathien oder Antipathien der Stil dieser Zeitschrift auslöste. Deutschland, das
erst durch wenige Jahrzehnte eine einigermaßen volle Pressefreiheit genossen hat-
te, reagierte in einer Weise, die erkennen ließ, dass man allgemein die Freiheit der
Presse als Wesenselement der Freiheitlichkeit einer Demokratie erkannt hatte44.
Die Freiheit der Presse zu postulieren und zu garantieren, wurde aktuell, als Staat
und Kirche mit vielen Mitteln versuchten, die gesellschaftlichen Auswirkungen der
Kommunikation einzudämmen, die durch Erfindung der Druckerpresse ermöglicht
worden war. Die Verbreitung von Nachrichten und Meinungen konnte durch eine
Nachzensur, wie sie bisher stattgefunden hatte, nicht mehr unter Kontrolle gehalten
werden. Es ist kein Zufall, dass die erste Normierung einer Vorzensur in Gutenbergs
Heimatstadt erfolgte: mit einer Verordnung des Mainzer Erzbischofs Berthold von
Henneberg im Jahre 1486. Wenn noch heute das deutsche Grundgesetz in Art 5 ein
besonderes Zensurverbot ausspricht, so spricht es damit das zentrale Thema der
Auseinandersetzungen an, die seit dem 15. Jh zwischen Staat und Presse stattge-
funden haben.
Die auf Abschaffung der Zensur zielende Forderung nach Pressefreiheit wurde
zuerst in England erhoben. 1644 sagte John Milton (der Autor von „Paradise Lost“)
in der Streitschrift „Areopagitica, a speach for the liberty of unlicensed printing“:
Wer ein gutes Buch vernichtet, tötet die Vernunft. Die erste verfassungsrechtliche
Verankerung der Pressefreiheit erfolgte 1776 in der Verfassung von Virginia. 1789
fand der Schutz der Pressefreiheit Eingang in die französische Erklärung der Men-
schen- und Bürgerrechte. In Deutschland proklamierte erst die 1849 in der Pauls-
kirche tagende Nationalversammlung die Pressefreiheit; vorher hatte der Deutsche
Bund eine strikte Zensurpolitik betrieben.
Die Pressefreiheit, die Art 118 der Weimarer Reichsverfassung als Erscheinungs-
form der Meinungsfreiheit garantierte und die durch Art 5 GG gewährleistet wird
(vgl auch Art 13 öst. StGG über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger, Art 17 der
43
Vgl Grosz, Die Institution Presse (1971); Stammler, Die Presse als soziale und verfassungs-
rechtliche Institution (1971); Ricker, Die öffentliche Aufgabe der Presse (1973); Kull, in: Presse-
recht und Pressefreiheit, FS Löffler (1980) 187 ff; Rübenach, Europäisches Presserecht (2000);
Ricker/Werberling, Handbuch des Presserechts6 (2014); Korte, Praxis des Presserechts (2014).
44
Vgl BVerfGE 20, 162.
II. Ausgewählte Beispiele 299
45
BVerfGE 20, 162.
46
Die öffentlichen Aufgaben der Presse im System des modernen Verfassungsrechts (1962).
47
Vgl den Hinweis von Rüthers, Archiv für Presserecht 1977, 305, 314 auf BVerfGE 20, 162, 175.
300 § 13 Institutionen im Wandel
dung der Meinungsvielfalt liegt auf der Hand. Im „Spiegel“-Erkenntnis spricht das
Bundesverfassungsgericht von einer „Pflicht des Staates, Gefahren abzuwehren,
die einem freien Pressewesen aus der Bildung von Meinungsmonopolen erwachsen
können“. So richtig es ist, den Konzentrationsvorgängen entgegenzutreten, sobald
sie die Meinungsvielfalt gefährden, so beachtenswert ist es andererseits, dass direk-
te staatliche Maßnahmen durch ihren obrigkeitlichen Charakter zwangsläufig auch
die Pressefreiheit tangieren. Strukturpolitik, wie sie sich auch in anderen Branchen
als unentbehrlich erwiesen hat, ist daher vorzuziehen.
Die Verlagerung des Schwerpunktes der Meinungsbildung vom Publikum auf
die Redaktionen muss zusammen mit dem Gedanken der inneren Pressefreiheit48
besprochen werden, aus dessen Anerkennung sie resultiert. Während es bei der äu-
ßeren Pressefreiheit um die Abwehr staatlicher Einflüsse und Kontrollen geht, meint
die innere Pressefreiheit die Unabhängigkeit der Redakteure gegenüber den Verle-
gern und Herausgebern, mitunter auch gegenüber den Chefredakteuren. Es geht
dabei nicht nur um die Wahrung der Gewissensfreiheit des einzelnen Journalisten,
sondern auch um die Beschränkung des Herausgebers auf eine Einzelweisungen
nicht zulassende Richtlinienkompetenz und um seine Bindung an die Beschlüsse
von Redaktionsräten. Bisher wurden solche Maximen (freilich nicht voll rechts-
verbindlich) in Redaktionsstatuten niedergelegt. Eine gesetzliche Verankerung der
inneren Pressefreiheit wurde in der Bundesrepublik über ein Presserechtsrahmenge-
setz angestrebt, das aber in mehreren Legislaturperioden nicht zustande gekommen
ist und seit dem Wegfall der Rahmengesetzgebung durch die Föderalismusreform
2006 nicht mehr möglich ist. In Österreich hat das Mediengesetz 1981 fakultative
Redaktionsstatuten eingeführt.
Die Problematik der inneren Pressefreiheit liegt darin, dass sie ebenso zum
Konformismus führen kann wie die Konzentration. Das liberale Modell der ver-
legerisch gesteuerten Zeitung ging von der Erwartung aus, dass jeder Herausgeber
mit der Richtung seiner Zeitung einen Markt suchen werde. Daher glaubte man,
wo Meinung sei, werde auch bald die sie artikulierende Zeitung kommen. Als zur
Verteidigung dieser Denkweise und der Vormachtstellung von „Bild“ und anderen
Blättern des Springer-Konzerns von einer Abstimmung am Kiosk gesprochen wur-
de, war allerdings schon deutlich geworden, dass auch die Zeitung zu den Produk-
ten gehört, die sich ihren Markt schaffen können, die durch Meinungsbildung zum
Konformismus ebenso beitragen können wie die Übertragung des sehr speziellen
Meinungshorizonts der Journalisten auf das Publikum. Dennoch bleibt wahr, dass
Pressefreiheit nur dort herrscht, wo die Leute das lesen, was sie wollen, nicht das,
was sie sollen. Die Korrektur des Publikumsgeschmacks ist auch dann kein Argu-
ment gegen verlegerische Entscheidungsfreiheit, wenn man diesen missbilligt. Wer
die Presse zur moralischen Anstalt machen will, nimmt ihr die Freiheit49.
48
Zu ihm Mayer-Maly DB 1971, 335 ff; Rüthers DB 1973, 2471 ff; Hofmann/Riem-Plander,
Rechtsfragen zur Pressereform (1977).
49
Vgl dazu auch Berka, Verfassungsrecht5 500 (aus dem Blickwinkel des Grundrechts der Äuße-
rungsfreiheit iS des Art 10 EMRK): auf dem geistigen Wert oder die Bedeutsamkeit des Mitgeteil-
ten kommt es nicht an.
II. Ausgewählte Beispiele 301
Die Presse, um deren Freiheit es geht, hat ihre Gestalt in mancher Hinsicht ge-
wandelt. Im Vordergrund steht die Freiheit der Massenmedien oder Medienfreiheit.
Es ist nicht zweifelhaft, dass der Garantiegehalt des Art. 10 EMRK sämtliche Mas-
senmedien einbezieht. Zu diesen gehören nicht nur Presse, Rundfunk und Fernse-
hen, sondern insbes auch die Online-Medien50.
Neben den Konzentrationstendenzen stellt der Übergang von der Weltanschau-
ungspresse zur neutralen Informationspresse mit nuancierten Sympathien den
auffälligsten Wandel in der deutschsprachigen Presse dar. Die Parteiblätter haben
allenthalben viel Publikum verloren. Die Möglichkeiten des Boulevards dagegen
scheinen unerschöpflich. In diesem Befund verbinden sich positive mit fragwürdi-
gen Akzenten. Rückwirkungen auf die Rechtsordnung der Medien sind unausbleib-
lich. Es sind ja alle juristischen Normierungen, besonders aber die des Medien-
rechts, an einem bestimmten Sozialmodell orientiert. Man muss also gar nicht eine
apriorisch-vorpositive Bindung an Institutionen behaupten, um deren Relevanz und
die Bedeutung des Institutionenwandels richtig zu würdigen. Die Erfahrung vom
permanenten und unaufhaltbaren Wandel aller Sozialmodelle des Rechts genügt,
um Elastizität als eine der wichtigsten Anforderungen an alle Jurisprudenz, aber
auch an die Legistik, zu erkennen.
50
Berka, Verfassungsrecht5 501.
§ 14 Recht als Strategie des Friedens
Inhaltsverzeichnis
I. Allgemeines
Recht kann als Selbstzweck oder als Mittel zum Zweck gesehen werden. Als Selbst-
zweck wird es begriffen, wenn seine Geltung als Verwirklichung der Natur oder
des Menschen gedeutet wird, wenn man meint, dass in der Ordnung des Rechts die
Ordnung der Welt kundbar werde. Wer sich einem so absoluten Rechtsverständnis
verschreibt, muss freilich auch sagen: Fiat iustitia pereat mundus. Wenn nur das
geschieht, was das Recht gebietet, mag die Welt darüber zugrunde gehen1.
Diesem absoluten Rechtsverständnis kann ein relatives entgegengesetzt werden.
Es sieht das Recht in dienender Funktion, als Mittel zum Zweck. Über den Zweck
des Rechtes gehen die Meinungen freilich erst recht auseinander. Für den Marxisten
ist es ein Instrument der herrschenden Klasse, für den sozialdemokratischen Re-
former das zulässige Mittel zur Veränderung der Gesellschaft durch Rechtspolitik.
Der Liberale erwartet vom Recht die Wahrung von Freiheit und Eigentum. Versucht
man, eine dem humanistischen Realismus verpflichtete Aussage über das Recht als
Mittel zum Zweck zu machen und stützt man sich dabei auf aktuelle Beobachtun-
gen und historische Erfahrungen, so erscheint es vor allem als Strategie des Frie-
dens, als Alternative zur Gewalt.
Die Behauptung einer Dominanz der Friedensfunktion des Rechts hat mit einer
unverbindlichen Lobrede auf den Frieden, in die jedermann einstimmen könnte,
nichts gemein. Sie bedeutet nämlich, dass der Wahrung des Friedens unabhängig
1
S § 1 Fn 28.
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H Honsell, T Mayer-Maly, Rechtswissenschaft, Springer-Lehrbuch,
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304 § 14 Recht als Strategie des Friedens
vom Resultat einer Bewertung bestehender Verhältnisse der Vorzug gegeben wird.
Das heißt für den die kapitalistische Wirtschaft bekämpfenden Lohnarbeiter: Das
Streben nach Veränderung der Gesellschaft hat auf Gewalt zu verzichten, ist auf
rechtlich geordnete Vorgänge zu beschränken. Daher bedeutet der Primat des Frie-
dens auch für den, der in einer unfreien Gesellschaft lebt, dass sein Streben nach
mehr Freiheit keine Wege beschreiten darf, die den Frieden gefährden.
Bezeichnet man heute das Recht als Strategie des Friedens2, so denkt man an
das Völkerrecht. Gerade dieses mit dem Krieg rechnende, das Kriegsrecht als ein
Teilgebiet etablierende Recht dient deutlicher als sonst ein Rechtsgebiet dem Frie-
den3: durch Bereitstellung von Verfahren der friedlichen Streitbeilegung, durch die
Beschränkung des Rechtes zum Krieg, durch Organisation der Völkergemeinschaft
und durch das Instrumentarium für die verlorene Kunst des Friedensschlusses4. Ge-
walt zu überwinden und durch Verfahren zu ersetzen, ist aber auch auf anderen Ebe-
nen Ziel und Eigenart des Rechts. Die Fehde des Mittelalters und der Arbeitskampf
der Industriegesellschaft weisen Entsprechungen zum Interessenkonflikt zwischen
Staaten auf, die Anlass zur Hoffnung geben, dass auch für diesen einmal eine „Ver-
rechtlichung“ gelingen könnte.
2
Zur Entwicklung der modernen „Friedensforschung“ vgl Holcombe, A Strategy of Peace in a
Changing World (1967); Fetscher, Modelle der Friedenssicherung2 (1973); Galtung, Strukturelle
Gewalt (1975); Brauch, Entwicklungen und Ergebnisse der Friedensforschung 1969–1978 (1979).
3
Dazu Kimminich, Völkerrecht und Frieden (1969); Neuhold, Internationale Konflikte – Verbote-
ne und erlaubte Mittel ihrer Austragung (1977).
4
Vgl v Hentig, Der Friedensschluss (1952); Hagemann, Der provisorische Friede (1964).
5
Rösener, Zur Problematik des spätmittelalterlichen Raubrittertums, FS Schwineköper (1982)
469 ff; Kaufmann/Kohlhase, Fehde und Recht im 16. Jahrhundert, Symposien für Erler (1985).
6
Zu ihr Gernhuber, Die Landfriedensbewegung in Deutschland (1952).
II. Fehde und Landfrieden 305
in karolingischen Kapitularien und in Geboten der Salier Konrad II.7 und Heinrich
III.8 Heinrich IV.9 verkündete 1103 einen Landfrieden, der für vier Jahre im ganzen
Reich gelten sollte. Bestimmte Orte (Kirchen) und bestimmte Personen (Kleriker,
Frauen, Kaufleute, Juden) genossen Schutz. Das erste allgemeine Fehdeverbot ent-
hielt Barbarossas10 Reichslandfrieden von 1152.
Eine Gerichtsbarkeit, die ihre Befugnisse von der kaiserlichen Gewalt ablei-
tet, sollte den Frieden sichern. Ein Netz von Eidverpflichtungen diente dazu, den
Rechtsweg durchzusetzen11. Barbarossas Landfrieden von 1152 und 1158 wurden
als Satzung errichtet und durch Inserierung in die Libri Feudorum gut verbreitet.
Der Mainzer Landfriede, den Kaiser Friedrich II.12 1235 auf dem großen Hoftag
in Mainz verkündete, war der erste auch in deutscher Sprache formulierte Land-
friede13. Im Vordergrund standen die Etablierung eines geordneten Strafverfahrens
und die Anerkennung der hoheitlichen (kaiserlichen) Gewalt und ihrer Gerichte.
Die Etablierung eines ständigen Hofrichters (nach sizilianischem Vorbild) sollte die
primäre Verantwortung des Königs für das Gerichtswesen unterstreichen.
Der sog Ewige Reichslandfrieden, der 1495 am Reichstag von Worms erlassen
wurde, bildete den Abschluss der Landfriedensbewegung. Die Fehde wurde kon-
sequent kriminalisiert und in der Folge tatsächlich zurückgedrängt. Friedbruchs-
angelegenheiten fielen in die Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte; die oberste
Instanz war das im gleichen Jahr geschaffene Reichskammergericht, das zunächst
immer dort tagte, wo sich der König aufhielt und erst seit 1527 einen ständigen Sitz
in Speyer und später in Wetzlar hatte. Das Richtergremium setzte sich aus Juris-
ten und Adeligen zusammen. Den Vorsitzenden präsentierten die Reichsstände. Die
Kanzleigeschäfte besorgte ein als Reichserzkanzler eingesetzter Kanzleiadminist-
rator, den der Mainzer Churfürst ernannte. Die Ausfertigung der Urteile erfolgte im
Namen des Kaisers.
7
990–1039.
8
1017–1056.
9
1050–1106.
10
Kaiser Friedrich der I. (1122–1179) aus dem Hause der Staufer.
11
Über die frühe Bedeutung des Eides im Dienste des Friedens Aquist, Frieden und Eidschwur
(1968).
12
1194–1250. – Die Zurückdrängung der Fehde und die Sicherung des Friedens waren Ziele kai-
serlicher Politik. Der Begriff Friedenskaiser ist jedoch in einem anderen Zusammenhang zu ver-
stehen. In der Hebräischen Bibel ist der durch Salbung mit Feinöl eingesetzte Priester und König
ein Erwählter Gottes (Messias, Gesalbter). In der jüdischen Apokalyptik begegnet der Messias
als Heilbringer und Erlöser, der ein Reich des Friedens und der Gerechtigkeit errichten werde. Im
Mittelalter waren Offenbarungsschriften weit verbreitet, die die Herrschaft eines Friedenskaisers
ankündigten. Dieser Friedenskaiser werde eine aetas aurea, ein goldenes Zeitalter (eine altrömi-
sche Weissagung), schaffen. Besondere Bedeutung hatten diese Denkansätze zur Zeit Friedrichs
II. Der Name Friedrich (als Friedensstifter oder Friedensbringer) und die außergewöhnliche Per-
sönlichkeit des Staufers gaben Anlass zu vielfältigen Deutungen (s Schaller, Endzeit – Erwartung
– und Antichristvorstellungen im 13. Jahrhundert, FS Heimpel (1972) 924; Lerner, The Powers
of Prophecy 1983).
13
Eine bedeutende kodifikatorische Leistung sind die sog Konstitutionen von Melfi, die Friedrich
II. 1231 publiziert hat.
306 § 14 Recht als Strategie des Friedens
III. Arbeitskampfrecht
Das industrielle Arbeitsleben wiederholte den Prozess der Eindämmung von Eigen-
macht zu einem guten Teil. Als seine ersten kollektiven Konflikte ausbrachen,
stand keine wirksame Regelungs- und Entscheidungsinstanz zur Verfügung. Die
Zivilgerichtsbarkeit verfuhr nach einem die Problemstruktur völlig verfehlenden
Normierungsmode1114: Der von ihr vorausgesetzte Individualarbeitsvertrag hatte
durch das ökonomische Ungleichgewicht der Kontrahenten seine Funktionsfähig-
keit verloren, erwies sich im Ergebnis als Summe der von der Arbeitgeberseite dik-
tierten Bedingungen. Um diese zu verändern, kam es im 19. Jh immer häufiger
zu kollektiven Arbeitseinstellungen. Diesen Streiks gegenüber bildete die Arbeit-
geberseite die Aussperrung als Gegenwaffe aus: Die Weigerung, arbeiten zu las-
sen, verbindet sich mit Lohnentzug. Als drittes, selteneres Kampfmittel begegnet
der Boykott, die Absperrung vom Rechtsverkehr (zB durch „schwarze Listen“ der
Arbeitgeber und Konsumverweigerung von Arbeitnehmern). Die Hauptmittel des
Arbeitskampfes waren auf die Existenzbasis der Gegenseite zielende Vertragsbrü-
che. Gewalt gegen Personen und Sachen kam zwar immer wieder vor und war viel-
leicht typisch, nicht aber spezifisch. Seit dem Ende des 1. Weltkrieges sind jedoch
andere Funktionen und Konzepte des Arbeitskampfes in den Vordergrund getreten:
Streik und Aussperrung werden als vermeidbare, aber kennzeichnende Vorstadien
jener kollektiven Arbeitsverträge angesehen, die man in Deutschland Tarifverträge,
in Österreich Kollektivverträge und in der Schweiz Gesamtarbeitsverträge nennt.
Ihr Ziel ist nicht Vernichtung, auch nicht ernstliche Gefährdung der Gegenseite,
sondern Druck bei der Verhandlungsführung. Sie werden nicht mehr als Elemente
des Klassenkampfes, sondern als Konsequenz des bewussten Verzichts auf staat-
liche Zwangsschlichtung verstanden. Die Analogie zu Fehde und Krieg hat damit
ihre Berechtigung verloren15. Das in der Bundesrepublik vom Bundesarbeitsgericht
geschaffene Richterrecht des Arbeitskampfes16 hat ein Maß an Verrechtlichung be-
wirkt, das erheblich über die frühere Lage, auch über die anderswo (zB in England)
noch bestehenden Verhältnisse hinausgeht.
Die wichtigsten Merkmale der Konfliktbewältigung im industriellen Arbeitsle-
ben sind Verrechtlichung durch Verfahrensregeln und Instanzenbildung. Eine Ri-
tualisierung der Konflikte, wie sie auch von der Verhaltensforschung beobachtet
wird, hat Platz gegriffen. Die Machtprobe muss ultima ratio sein, darf nicht auf
Existenzvernichtung zielen und wird an Maximen eines fair play gebunden. Dies
14
Zur Geschichte des Arbeitskampfrechts vgl Mayer-Maly, Zeitschrift für Unternehmensge-
schichte, Beiheft 6 (1980) 11 ff.
15
Ramm, Der Arbeitskampf und die Gesellschaftsordnung des Grundgesetzes (1965), 1 ff; zum
Verhältnis zwischen den Kampfmitteln zuletzt BAG AP Nr 64 zu Art 9 GG – Arbeitskampf.
16
Zu ihm Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht (1975); Rebhahn, Das österreichische Be-
triebsverfassungs- und Arbeitskampfrecht in vergleichender Sicht, wbl 2001, 293; Däubler, Ar-
beitskampfrecht – Handbuch für die Rechtspraxis3 (2010); Kersten, Neues Arbeitskampfrecht:
über den Verlust institutionellen Verfassungsdenkens (2012); Berg, Tarifvertragsgesetz und Ar-
beitskampfrecht4 (2012).
III. Arbeitskampfrecht 307
waren zunächst Elemente aus der von Nipperdey17 entwickelten und für einige Zeit
vom deutschen Bundesarbeitsgericht rezipierten Lehre von der Sozialadäquanz des
Arbeitskampfes, die zu Recht kritisiert wurde18, obwohl sie sich als Formel der
Konfliktbewältigung bewährt hatte. Als Maßstab für die Arbeitskämpfe ist – ohne
dass dies in der Sache viel geändert hätte – die Verhältnismäßigkeit19 an die Stelle
der Sozialadäquanz getreten.
Der nicht nur das Arbeitskampfrecht, sondern auch das Betriebsverfassungs-
recht kennzeichnende Einsatz von Einigungs- und Schlichtungsstellen neben der
institutionalisierten Arbeitsgerichtsbarkeit hat die Bedeutung des Unterschiedes
zwischen Rechtsstreitigkeiten und Regelungsstreitigkeiten klar hervortreten lassen.
Rechtsstreitigkeiten gelten der Durchsetzung von Ansprüchen, sie sind voll justizi-
abel. Lässt eine Rechtsordnung auch für sie Selbsthilfe zu, so erweist sie sich als
nicht voll entwickelt. Regelungsstreitigkeiten dagegen haben Interessenkonflikte
zum Gegenstand, für die von der Rechtsordnung keine rational nachvollziehbaren
Lösungen bereitgehalten werden. Die aus der Erfahrung mit Fehde und Arbeits-
kampf für das Problem des Völkerfriedens ableitbare Einsicht geht jedoch dahin,
dass es möglich ist, auch für Regelungsstreitigkeiten Mechanismen einer friedli-
chen Schlichtung zu schaffen.
Eine Frage von großer Tragweite ist der Streit um die Tarifeinheit im Betrieb.
Nach dem das Bundesarbeitsgericht (Beschluss v 23. 6. 2010 10 AS 2/10 ua) sei-
ne frühere Position geändert und das Jahrzehnte geltende Gebot der Tarifeinheit
aufgehoben hat, ist großer Streit darüber entbrannt, ob eine gesetzliche Festschrei-
bung der Tarifeinheit notwendig ist oder ob dies gar gegen die Koaltionsfreiheit
des Art 9 Abs 3 GG verstößt und verfassungswidrig ist. Unbestreitbar ist, dass sog
Sparten- oder Berufsgewerkschaften, die für sich allein die Macht haben einen Be-
trieb lahmzulegen, dazu tendieren für ihre Mitglieder unverhältnismäßige Vorteile
zu erstreiken, was mangelnde Solidarität verrät, ein Verstoß gegen die wichtigste
Maxime der Gewerkschaftsidee. Man denke nur an die Gewerkschaft Deutscher
Lokomotivführer (GDL) die „Vereinigung Cockpit e. V.“ (VC), die Gewerkschaft
der Flugsicherung (GdF) oder die Ärztegewerkschaft „Marburger Bund“ (MB).
Auch droht den Betrieben unverhältnismäßiger Schaden durch permanente Streiks
konkurrierender Gewerkschaften (zB der Lufthansa durch separate Streiks von Pi-
loten, Flugbegleitern, Bodenpersonal usw). Schließlich sind die häufigen Streiks
bei Bahn und Lufthansa dem Publikum nicht zuzumuten. Das im Koalitionsver-
trag von CDU/CSU und SPD (2013, S 50) geplante Gesetz über die Tarifeinheit
ist also im Grundsatz vernünftig. Die Bundesregierung hat einen Gesetzesentwurf
verabschiedet, der im Sommer 2015 in Kraft treten soll. Er soll die zu große Macht
kleiner Spartengewerkschaften beschränken und die fragmentierte Tariflandschaft
vereinheitlichen. An sich ist es ein Gebot der Vernunft, dass es in jedem Betrieb nur
einen Tarifvertrag gibt, nämlich den der mitgliedsstärksten Gewerkschaft. Das Ge-
17
Hueck/Nipperdy, Lehrbuch des Arbeitsrechts II7 (1970) 998 ff.
18
Bernert, Zur Lehre von der „sozialen Adäquanz“ und den „sozialadäquaten Handlungen“ (1966).
19
Zu ihr Hirschberg, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, 1981; Mayer-Maly, ZfA 1980,
473 ff.
308 § 14 Recht als Strategie des Friedens
setz ist freilich umstritten. Die großen Gewerkschaften wie DGB und Ver.di, die es
zunächst (zusammen mit dem BDA, der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeit-
geberverbände) gefordert hatten, lehnten es inzwischen wieder ab. Bis zuletzt war
die Haltung der Gewerkschaften uneinheitlich und schwankend.
20
Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht5 (1976) 637 ff.
21
In: Der Staat (1964) 159 ff.
22
Vgl Kelsen, Die Staatslehre des Dante Alighieri (1905).
23
Vgl Hoffmeister, Die Problematik des Völkerbundes bei Kant und Hegel (1934).
24
Der Völkerbund war bemüht, die sog Mandatsgebiete (ehemalige deutsche Kolonien, vorder-
asiatische Gebiete des Osmanischen Reiches) auf die Unabhängigkeit vorzubereiten, er entfaltete
eine (oft erfolgreiche) Schlichtungstätigkeit und unterstützte die maßgeblich von Gustav Strese-
IV. Konfliktadministration und Völkerrecht 309
gilt auch für die mit Beschluss vom 26. Juni 1945 von der Konferenz von San Fran-
cisco geschaffene „Organisation der Vereinten Nationen“. Man suchte zwar einige
deutliche Schwächen der Völkerbundverfassung zu vermeiden und schuf daher ein
Exekutivorgan mit Zwangsgewalt (den Sicherheitsrat), musste aber bald feststel-
len, dass dies keinen Fortschritt bringt, wenn die mit Vetorecht ausgestatteten Rats-
mitglieder (Frankreich, Großbritannien, USA, Russland, China) in jedem größeren
Konflikt engagiert sind. Deshalb zu bezweifeln, dass die Friedenswirkung der UNO
die des Völkerbundes übertreffe, ist aber kein Anlass: Artikel 2, Punkt 4 der Satzung
der Vereinten Nationen geht weit über die Kriegsverbote der Völkerbundsatzung
und des Kellogg-Paktes von 1928 hinaus. Die Bestimmung lautet:
Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale
Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit
den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt.
Unter bestimmten Voraussetzungen kann die UNO auch polizeiliche oder militäri-
sche Maßnahmen ergreifen. Der Begriff „UNO-Friedenstruppen“ fasst multinatio-
nale Truppenkontingente bzw Beobachtermissionen zusammen, die aufgrund eines
Mandates des UN-Sicherheitsrates friedenserhaltend operieren. Die internationale
Präsenz soll dazu beitragen, politische Lösungen zu erreichen. Diese bewaffneten
Einheiten, die auch als Blauhelme bezeichnet werden, sollen die Wiederaufnahme
der Kämpfe verhindern und die Rückkehr zu friedlichen Lebensverhältnissen för-
dern. Die Blauhelme waren und sind weltweit im Einsatz25. Im Jahr 1988 erhielten
sie den Friedensnobelpreis.
Zur Verfolgung des Völkerstrafrechts ist der Internationale Strafgerichtshof
(IStGH) mit dem Sitz in Den Haag geschaffen worden. Die rechtliche Grundlage
ist das römische Statut vom 17. Juli 1998. Es ahndet Völkermord und Verbrechen
gegen die Menschlichkeit, 122 Staaten sind beigetreten. An den Verhandlungen
nahmen 160 Staaten und Nichtregierungsorganisationen teil. Der Gerichtshof nahm
seine Tätigkeit am 1. Juli 2002 auf. Die Beziehung zur UNO regelt ein Kooperati-
onsabkommen. Gegenstand des Verfahrens vor dem IStGH waren bislang Verbre-
chen, zB im Kongo, in Uganda, in der Zentralafrikanischen Republik, in Mali, im
Sudan, in Lybien, in Kenia und in der Elfenbeinküste.
Nicht beigetreten sind allerdings die USA, die nicht ohne Grund befürchten, dass
auch eigene Staatsangehörige zur Rechenschaft gezogen werden könnten.
Sie haben nach dem 11. September 2001 zunächst 779 teilweise unschuldige
Menschen (überwiegend Muslime) in Guantanamo inhaftiert (einem Stück Land,
das die USA auf Kuba gepachtet hatten). Dort wird ein Teil von ihnen seit 13 Jah-
ren ohne Gerichtsbeschluss und Verfahren festgehalten. Man verwehrt ihnen den
Status von Kriegsgefangenen und den Schutz der Genfer Konvention. Die Rede
ist auch von Folter. Auch haben sie die Gefangenen in Länder gebracht, in denen
sie foltern konnten. Der EGMR hat deshalb Polen jetzt in zwei Fällen zur Zahlung
von Schmerzensgeld verurteilt (FAZ v 25. Juli 2014). Kopfschütteln verursacht der
lächerliche Umgehungsversuch, die Taten im Ausland zu begehen. Dahinter steckt
die abstruse Vorstellung, für Menschenrechtsverbrechen begangen durch US-Bür-
ger sei die US-Justiz nur zuständig, wenn sie auf eigenem Territorium begangen
würden. Die Argumentation der Regierung, dass Guantanamo nicht amerikanisches
Staatsgebiet und US-Gerichte daher nicht zuständig seien, verwarf der Supreme
Court mit Urteil v 28. Juni 2004. Trotz der eklatanten Rechtswidrigkeit und mehrfa-
cher Bemühung der Obama-Administration, sind immer noch nicht alle Inhaftierten
freigelassen.
Was ratlos macht, ist das anfechtbare Verhalten der westlichen Führungsmacht,
die ihren moralischen Anspruch auch sonst zunehmend verspielt (zB der völker-
rechtswidrige Krieg George W Bushs gegen den Irak (2003) mit der unwahren
Behauptung, der Irak besitze weapons of mass destruction, Spionage gegen be-
freundete Staaten in der NSA-Affäre usw). Mehr und mehr fragwürdig, weil dem
tu-quoque-Einwand ausgesetzt, werden dabei die Vorwürfe gegen Menschenrechts-
verletzungen in China oder Russland. So fordert die US-Regierung strenge Sank-
tionen, weil Russland nicht verhindert habe, dass ukrainische Rebellen (wohl ver-
sehentlich) eine zivile Verkehrsmaschine abgeschossen haben. Als 1988 ein Airbus
der Iran Air mit 290 Passagieren von einem US-Kriegsschiff über dem Persischen
Golf abgeschossen wurde, erklärte George Bush dies zu einem Kriegszwischenfall
und verweigerte sogar eine Entschuldigung.
Die völkerrechtliche Praxis hat verschiedentlich auch Ad-hoc-Tribunale ge-
schaffen. Bekannte Beispiele aus neuerer Zeit sind der Internationale Strafgerichts-
hof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY), zuständig für die Verfolgung schwerer
Verbrechen, die während der Jugoslawienkriege bzw des Kosovo-Krieges began-
gen wurden und der Internationale Strafgerichtshof für Ruanda (ICTR), zuständig
für die Verfolgung des Völkermordes in Ruanda (1994). Die Errichtung des IStGH
soll dazu beitragen, Ad-hoc-Tribunale entbehrlich zu machen26.
Das Erfordernis einer friedlichen Konfliktadministration wird besonders deut-
lich, wenn man auf aktuelle Opferzahlen blickt. Nach seriösen Erhebungen sind
in der Zeit zwischen 1948 und 2008 weltweit etwa 92 Millionen Menschen in be-
waffneten Konflikten getötet worden. Die Zahl übersteigt jene der Opfer beider
Weltkriege27.
26
Kühne/Esser/Gerding, Völkerstrafrecht. 12 Beiträge zum internationalen Strafrecht und Völker-
strafrecht (2007); Werle (Hrsg), Völkerstrafrecht3 (2012); Cassese (Hrsg), International Criminal
Law3 (2013).
27
Bassiouni, Northwestern Journal of International Human Rights IX (2011) 317 ff.
§ 15 Jurisprudenz und Philosophie
Jurisprudenz und Philosophie1 gehören neben Theologie und Medizin zu den seit
dem Mittelalter an den europäischen Universitäten etablierten vier Studienrichtun-
gen (Fakultäten), haben aber sonst wenig miteinander zu tun.
Philosophie ist zunächst kontemplativ, Jurisprudenz zielt auf Entscheidung, da-
mit auf Aktion. Während die Jurisprudenz wie die meisten Wissenschaften darauf
gerichtet ist, etwas Gegebenes zu bestimmen (konkret: auszusagen, was rechtens
ist), will Philosophie das Gegebene im Denken über dasselbe begreifen.
Anders als die Jurisprudenz konstituiert sich die Philosophie schon dadurch,
dass sie nach ihrem Wesen fragt. Der Jurisprudenz fehlt dieser spekulative Ansatz.
Er findet sich lediglich in der Rechtsphilosophie (oben § 12 VII 2), einem Teilgebiet
der Philosophie, die das Wesen des Rechts und die Gerechtigkeit zum Gegenstand
hat, ähnlich wie die Philosophie nach Erkenntnis und Wahrheit strebt, über das Sein
und die menschliche Existenz. Ein Berührungspunkt liegt bei der Ethik mit der Fra-
ge nach dem rechten Handeln. Das Recht freilich schützt, wie wir gesehen haben
(§ 1I 1), nur ein ethisches Minimum. Die Jurisprudenz bleibt auf dem Boden der
Praxis und liefert Konfliktlösungen im sozialen Leben. Jurisprudenz wird häufig als
Begründungskunst betrieben, während in der Philosophie die Elenktik2 genannte
Widerlegungskunst eine große Rolle spielt. Philosophie soll ja von Scheinwissen
befreien, die Jurisprudenz dagegen tendiert dazu, eine bestehende Ordnung als rati-
onal zu deuten. Philosophie muss in Frage stellen3, Jurisprudenz neigt zu Legitima-
tionsversuchen. Philosophie ist auch dem isolierten Menschen möglich, Jurispru-
denz dagegen ist nur in der Gesellschaft sinnvoll.
Diesen strukturellen Unterschieden korrespondiert ein historischer: Die Philo-
sophie ist ein griechisches Erbe, die Jurisprudenz ein römisches. Der griechischen
Philosophie entstammen etwa die These vom unveränderlichen Naturrecht (§ 1 I 2,
§ 10), von der Gleichheit vor dem Gesetz (Isonomia § 1 I) von der iustitia distri-
butiva und correctiva (§ 1 I), ebenso wie der Gedanke, dass das Gemeinwesen auf
1
Vgl Mayer-Maly, FS Baltl (1978) 337 ff; ders, Rechtsphilosophie 1 ff.
2
Vgl Landmann, Elenktik und Maieutik (1950); Mayer-Maly, Rechtsphilosophie 6.
3
Vgl Kolakowski, Der Mensch ohne Alternative (1960) 262.
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H Honsell, T Mayer-Maly, Rechtswissenschaft, Springer-Lehrbuch,
DOI 10.1007/978-3-662-45682-8_15
312 § 15 Jurisprudenz und Philosophie
einem Vertrag der Bürger beruht4, der im contrat social von Rousseau (§ 4 III bei
Fn 26) wiederkehrt.
Die römischen Juristen haben diese allgemeinen Aussagen übernommen, ohne
daraus irgendetwas abzuleiten. So überliefert Marcian (D 1, 3, 2) das Demosthenes-
Zitat mit dem Vertragsgedanken, Justinian (I 1, 2, 11) das ewige und unveränder-
liche Naturrecht und Ulpian (D 1, 1, 1, 1) bezeichnet die Jurisprudenz gar als eine
vera, non simulata philosophia5 (eine wahre, nicht nur scheinbare Philosohie).
Im Mittelalter hielten die Glossatoren (zu D 1, 1, 1, 1) daran fest, dass die civilis
sapientia – und so nannten sie die Jurisprudenz – eine vera philosophia sei. Aber
nicht nur Erhabenes hatten die Juristen mit den Philosophen gemein, sondern auch
die Frage, ob sie für das, was sie tun, Geld nehmen dürfen, eine Frage die man
bejahte. Für den Kommentator Baldus war Jurisprudenz eine philosophia legalis6.
Dagegen setzt beim humanistischen Systematiker Donellus eine deutliche Unter-
scheidung zwischen den praecepta philosophorum und den Geboten des Rechts ein.
Die rationalistische Naturrechtslehre vermittelt noch einmal zwischen Philosophie
und Recht. Aber am Ende der gemeinrechtlichen Interpretation der Bezeichnung
der Jurisprudenz als vera philosophia steht Resignation:
Man erkläre nun die Definition Ulpians, wie man will, so bleibt die Sache immer undeut-
lich, und sie kann daher heutzutage umso weniger gebraucht werden, da sie aller Wahr-
scheinlichkeit aus den Grundsätzen und Begriffen der Stoiker herrührt7.
4
Vgl Anonymus Jamblichi Fr 6 bei Diels/Kranz, Fragmente der Vorsokratiker II 402; Demosthe-
nes XXV, 51. Aus der Stoa s Epikur, Über das Glück 31–38.
5
Dazu Dieter Nörr, Festschrift Zepos I (1973) 555 ff.
6
Vg1 N Horn, in: Ius commune 1 (1967) 104 ff.
7
Glück, Ausführliche Erläuterung der Pandecten, Bd 12 (1867) 204.
8
Vgl Blühdorn/Ritter, Philosophie und Rechtswissenschaft (1969).
9
Vgl Engisch, Die Lehre von der Willensfreiheit in der strafrechtsphilosophischen Doktrin der
Gegenwart2 (1965); Holzhauer, Willensfreiheit und Strafe (1970).
§ 15 Jurisprudenz und Philosophie 313
Eingriffen ins werdende Leben haben das Ausmaß der Abhängigkeit des Rechts von
der Beschaffenheit des vorausgesetzten Menschenbildes erneut deutlich gemacht.10
Ähnliches gilt für die Frage, ob man für die Geburt eines unerwünschten Kindes
Schadensersatz verlangen kann11 oder für die Sterbehilfe, die nur zögernd und sehr
restriktiv zugelassen wird.
Es wäre illusionär, anzunehmen, philosophische Besinnung könne dem Juristen
zu klarer und gegenüber allen potentiellen Diskussionspartnern zwingender Ent-
scheidung helfen. Im Gegenteil: Je redlicher die Besinnung erfolgt, umso stärker
kompliziert sie die Probleme. Doch hat man dann wenigsten die Chance, nicht von
einer verkürzten Sicht der Wirklichkeit auszugehen. Sich die philosophischen Di-
mensionen eines juristischen Problems bewusst zu machen, ist nicht bloß ein Gebot
juristischer Kultur, sondern eine Frage der Bereitschaft zur Verantwortung.
Martin Heidegger hat das Fragen als die Religion des Denkens bezeichnet12.
Es steht auch im Mittelpunkt juristischer Bemühung. Ein Ende der Fragen ist im
naturwissenschaftlichen Kontext vorstellbar, wo Entdeckungen und endgültig Klä-
rungen eines Phänomens möglich sind. Dagegen ist weder in der Philosophie noch
in der Jurisprudenz ein Ende des Fragens vorstellbar. Eine Änderung der Verhält-
nisse oder ein Wandel der Anschauungen können eine etablierte Sichtweise, eine
„herrschende Meinung“, in Zweifel ziehen13. Eine gefestigte Judikatur kann sich als
überholt erweisen. Der Jurist kann – ähnlich wie der Philosoph – für sich nur in An-
spruch nehmen, dass er – sozusagen hier und heute – den Argumentationshaushalt
ausschöpft und zu einer Lösung gelangt, die er für richtig hält.
10
S einerseits EGHMR 53924/00 und die meisten Europäischen Länder, in denen die Fristen-
lösung gilt, zB Art 119 Abs 2 chStGB, § 97 Abs 1 östStGB, andererseits § 218 dStGB, erlassen
aufgrund von BVerfGE 88, 203, das an der Strafbarkeit der Abtreibung bei Fehlen eines Bera-
tungsscheines festhält.
11
Ausführlich zu den verschiedenen Ansichten (auch in der Rsp der Länder), Honsell, Das Kind
als Schaden, FS Bucher (2009) 275 ff mNw.
12
Martin Heidegger, Vorträge und Aufsätze (1954), 44.
13
Auch der Zweifel ist sowohl eine philosophische, als auch eine juristische Kategorie. Von bene
dubitare (gut zweifeln) ist schon bei Thomas von Aquin die Rede ( Mayer-Maly, Rechtsphiloso-
phie 4).
Sachverzeichnis
A Arkandisziplin, 25
Absterbetheorie, 167, 168 Assessor, 42
Abwägung Auslegung, 56, 58, 81, 84, 86, 89
von Grundrechten, 122, 123 Empfängerhorizont, 97
von Gütern bzw Pflichten, 122 entstehungszeitliche, 95
Acquis communautaire, 253, 281 ergänzende, 97
Adäquanztheorie, 283 extensive, 105
Aequalitas, 6 geltungszeitliche, 95
Aequitas, 5 grammatische, 99
AEUV, 102, 137, 245, 249, 250, 251, 254, historische, 95, 100
256, 260, 261, 263 logische, 100
AGB-Kontrolle, 226 objektive, 95
Agent, 41 rechtsvergleichende, 101
Ähnlichkeitsschluss Siehe Analogie, 86 restriktive, 109
Allgemeine Geschäftsbedingungen, 97, 165, richtlinienkonforme, 102
293 subjektive, 95, 96
Allgemeine Staatslehre, 228 systematische, 99
Allgemeines Verwaltungsrecht, 229 teleologische, 100, 101
Ambiguitätstoleranz, 100 Treu und Glauben, 97
Analogie, 86, 92, 93, 103, 104, 105, 112 verfassungskonforme, 102
Analogieverbot, 105 Auslegung s. auch Interpretation, 77
Anspruch, 42 Ausnahmebestimmungen, 108
Anspruchsaufbau, 43 Aussperrung, 306
Anspruchsgrundlage, 42, 43 Autonomie, 125
Anspruchsmethode, 42 Autorität, 14, 21, 207
Antinomien, 100
Äquivalenztheorie, 283 B
Arbeitsgerichtsbarkeit, 307 Barrister, 25
Arbeitskampfrecht, 307 Basiliken, 197
Arbeitsrecht, 237 Begriff, 128
Argumentation, 83, 107 abstrakter, 128
Argumentum Begriffsjurisprudenz, 129, 131, 205, 212, 213
a fortiori, 108 Begründung, 19, 20, 26, 27, 50, 112
a maiore ad minus, 108 Begründungsarmut, 125
a simili, 86, 103 Begründungswert, 123
e contrario, 100, 107 Begründungszusammenhang, 81, 139
e silentio, 100 Berufungsfrist, 5
lege non distinguente, 100 Betriebsverfassungsrecht, 237, 307
© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015 315
H Honsell, T Mayer-Maly, Rechtswissenschaft, Springer-Lehrbuch,
DOI 10.1007/978-3-662-45682-8
316 Sachverzeichnis
C E
Call-Option, 163 Economic analysis of law, 37, 101, 218
Case law, 7, 56, 58, 86, 113 Effektivität, 29, 47, 272
Casum sentit dominus, 139 Effizienzkontrolle, 219
Chancengleichheit, 9 Ehe, 175, 294
Christentum, 171, 175, 295 Ehescheidung, 172, 175, 295, 296
Civil law, 58 Eigentum, 37, 39, 122, 123, 169, 286
Clausula rebus sic stantibus, 208 absolutes, 287
Codex Eigentumsgarantie, 123, 166, 288, 290
Euricianus, 197 Eigentumsschutz, 114, 288, 290
Hammurabi, 24 Einheit
iuris canonici, 233 der Rechtsordnung, 130, 132
Common Law, 5, 55, 280 der Wissenschaft, 82, 137
Communis opinio, 14, 149 Einrede, 43
Consensus omnium, 54 Einzelanalogie, 104
Consideration, 291 Einzelermächtigung, begrenzte, 258, 261
Contra legem, 110, 111 Einzelfallgesetze, 51
Contrat social, 51, 312 Elenktik, 311
Corpus iuris civilis, 195, 201, 204 Embryonenschutz, 105
Credit Default Swaps, 164 EMRK Siehe Europäische
Menschenrechtkonvention, 155
D Enteignung, 230, 287, 288
Datenschutz, 272 Entelechie, 49
Datenverarbeitung, 271 Entgeltlichkeit, 291
Datumswechsel um Mitternacht, 6 Enzyklopädie, 284
Deals im Strafprozess, 187 Epieikeia, 5
Declaration of Independence, 6, 10 Equity, 5
Deduktion, 26, 81, 84, 104 Erbrecht, 214, 234
Definitio in idem, 85, 240 Erheblichkeitsprüfung, 43
Definition, 128 Ersetzungsbefugnis, 40
Déformation professionelle, 9, 283 Ersitzung, 38, 48
Deliktsrecht, 3, 130, 160, 281 Erst-recht-Schluss, 100, 108
Denken, aktionenrechtliches, 43 Etatismus, 27
Derivatehandel, 164 Ethik, 9, 30, 46, 113, 209
Derogation, 100, 136 EU-Beihilfenrecht, 255
Dezisionismus, 79, 153 EU-Kartellrecht, 254
Sachverzeichnis 317
M O
Magna Charta, 67 Obiter dictum, 55, 57
Marktwirtschaft, 159, 164 Obligationenrecht, 130, 233, 234
soziale, 161 Ordo-Liberalismus, 161, 226
Marxismus, 167 Organtransplantation, 105
Mediation, 242
Mehrebenensystem, 155 P
Mehrwertsteuer, 41 Pacta sunt servanda, 5, 256, 266, 291
Menschenbild, 161, 312 Pactum, 292
Menschenrechte, 29, 156, 183 Pandektensystem, 234
Menschenrechtskonvention, 299 Pandektisten, 50, 212, 234, 293
Menschenrechtsverbrechen, 309, 310 Parlament, 52, 116, 118, 158, 245
Methode, 77, 90 Parteiwillen, hypothetischer, 97
Methodenlehre, 77, 90 Petitio principii, 85
europäische, 102 Pfandrecht, 234
juristische, 269 Phänomenologie, 49
Konstitutionalisierung, 74 Philosophie, 190, 311
Methodenpluralismus, 101 Physis, 10, 180
Methodensynkretismus, 101 Plebiszit, 52
Misericordia, 5 Pluralismus, 149, 150
Mitbestimmung, 174 Political-question-Doktrin, 117, 118, 153
Monismus, 75 Politik, 116, 145, 151
Monogamie, 294 Politikwissenschaft, 19
Moral, 9 Polygamie, 174, 294
Mos Pontifikat, 192
gallicus, 203 Populationismus, 295
italicus, 203 Positivismus, 9, 131, 189, 211, 213, 215, 266
Postglossatoren, 201
N Praeter legem, 104
Nationalsozialismus, 48, 52, 69, 185, 215 Prätor, 25
Naturalis ratio, 182 Precedent, 7
Natur der Sache, 49, 50, 112, 216 Presse, 298
Naturrecht, 9, 11, 114, 131, 180, 181, 182, Pressefreiheit, 298, 299
183, 184, 185, 186, 189, 207, 208, 209 Priester, 24, 60, 89
Naturrechtslehren, 21, 182, 207 Prinzipien, 59, 123, 128
Naturrechtswidrigkeit, 184 Privatautonomie, 169, 156, 160, 161, 165,
Naziverbrechen, 184, 185 226, 255, 293, 125
Nebenstrafrecht, 187 Privatrache, 147, 292, 304
Negativer Satz, 104, 109 Privatrecht, 26, 56, 67, 72, 224
Neminem laedere, 3 Privatrechtsgesellschaft, 159
320 Sachverzeichnis