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Jürgen Rödig

Schriften
zur juristischen Logik

Herausgegeben von
E.Bund B.Schmiedel G. Thieler-Mevissen

Mit einem Geleitwort von Ulrich Klug

Springer-Verlag
Berlin Heidelberg NewYork 1980
Professor Dr. Elmar Bund
Institut für Rechtsgeschichte, Werthmannplatz
7800 Freiburg

Professor Dr. Burkhard Schmiedel


Lehrstuhl für Bürgerliches Recht
4630 Bochum

Dr. Gerda Thieler-Mevissen


Informatik Kolleg, Havelstraße 5, 6100 Darmstadt

ISBN-13: 978-3-642-67392-4 e-ISBN-13: 978-3-642-67391-7


DOI: 10.1 007/978-3-642-67391-7

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek


Rödig, Jürgen:
[Sammlung]
Schriften zur juristischen Logik / Jürgen Rödig. Hrsg. von E. Bund ... Mit e. Geleitw. von Vlrich Klug. -
Berlin, Heidelberg, New York : Springer, 1979.

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begTÜndeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nach-
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besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, daß solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-
Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.
© by Springer-Verlag Berlin· Heidelberg 1980
Softcover reprint ofthe hardcover 1si editioo 1980
Offsetdruck: J. Beltz, Hemsbach. Bindearbeiten: Konrad Triltsch, Würzburg.
2143/3130-543210
Geleitwort

Wenn eine für den gesamten Bereich wissenschaftlicher Forschung, mithin


für alle Wissenschaften im weitesten Sinne so wichtige Grundlagentheorie,
wie die Logik, seit Jahrzehnten in einer geradezu atemberaubenden, zur
Freilegung ganz neuer Perspektiven führenden Entwicklung begriffen ist,
kann es nicht ausbleiben, daß sich dies schließlich - wenngleich mit nicht
untypischer Verzögerung - auch in der Rechtswissenschaft auswirkt.
Dabei ist es gewiß keine Überraschung, wenn die "EinbruchsteIle" dieses
wissenschaftshistorischen Vorganges innerhalb der Rechtswissenschaft
zunächst derjenige Bereich ist, den man als Rechtstheorie zu bezeichnen
pflegt. Einer von denen, die hier den Fortschritt besonders gewagt und
gefördert haben, ist Jürgen Rödig gewesen, den ein tragisches Schicksal am
13. November 1975, erst dreiunddreißig Jahre alt, aus dem Leben gerissen
hat. Seine großen, noch vor seinem Tode erschienenen Schriften "Die
Denkform der Alternative in der Jurisprudenz" und "Die Theorie des
gerichtlichen Erkenntnisverfahrens" weisen ihn als einen Protagonisten im
Sinne der genannten neuen Entwicklung ebenso aus, wie seine zahlreichen
Einzeluntersuchungen.
Da die letztgenannten recht gestreut publiziert wurden, ist es dankens-
wert, daß diese Arbeiten hier nun in einem Sammelband unter werkgerech-
ter Betreuung durch die Herausgeber vorgelegt werden. In der dadurch
erleichterten Gesamtschau wird die breite Fächerung der intensiven For-
schungstätigkeit von Jürgen Rödig deutlich. Insbesondere zeigt sich eine
harmonische Entwicklung, die von der analytischen Grundlagentheorie
über die Behandlung spezieller Probleme zur Gesetzgebungstheorie, einem
heute besonders aktuellen wissenschaftlichen Anliegen, fortschritt. Rödig
suchte und fand neue Wege. Seine Ergebnisse sind in einem beispielhaften
Sinne erhellend und weiterführend. Zahlreiche wichtige Anregungen dür-
fen von dem, was Rödig in seiner vorsichtigen, gründlichen und genauen
Art erarbeitet hat, erwartet werden.

Köln, im März 1979 Ulrich Klug


Vorwort

Der vorliegende Band enthält Schriften Jürgen Rödigs, die die Methoden
moderner Logik auf die Jurisprudenz anwenden. Rödig hat sich vor allem
drei große Aufgaben gestellt: die Anwendung des axiomatischen Denkens
mit seinen Postulaten der Widerspruchsfreiheit und Vollständigkeit auf
juristische Probleme zu demonstrieren und, was in der ersten Aufgabe
nicht notwendig enthalten ist, den Formalismus der Prädikatenlogik erster
Stufe als leistungsfähige juristische Deduktionsmethode vorzustellen. Zur
dritten Aufgabe gelangte er, als er die herkömmliche Beschränkung der
juristischen Methodologie auf die Auslegung der fertigen Rechtsnorm
sprengte und die modernen logikwissenschaftlichen und wissenschafts-
theoretischen Methoden auf die Gesetzgebung selbst anwandte.
Alle Veröffentlichungen Rödigs auf diesen Gebieten herauszugeben,
haben sich wegen der fachübergreifenden Breite Juristen und Logiker
zusammengetan. Der Vollständigkeit halber wurden Publikationen auch
dann aufgenommen, wenn sie gleiche oder ähnliche Fragen behandeln,
und auch nicht als geschlossene Abhandlung konzipierte Tagungsbeiträge
sollen in diesem Bande ihren Platz finden. Viele der edierten Texte, die
Tagungsbeiträge zumal, sind nur sehr schwer zugänglich.

Elmar Bund
Burkhard Schmiedel
Gerda Thieler-Mevissen

VI
Inhaltsverzeichnis

1. Rechtstheoretische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

Naturrecht oder Rechtspositivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1


Logik und Rechtswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 27
Verhältnis herkömmlicher Interpretationsmethoden zueinander. . . . . . . . . . .. 55

2. Deduktives und formalisiertes Rechtsdenken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57

Kennzeichnung der axiomatischen Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 57


Axiomatisierbarkeit juristischer Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 65
Ein Kalkül des juristischen Schließens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 107
Einige Bemerkungen zur Axiomatisierbarkeit juristischer Zusammenhänge
anhand der kritischen Würdigung einiger Details aus Schreibers "Logik
des Rechts" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 159
Comp1ement zum Sitzungsprotokoll vom 2. Oktober 1970.
Erste Nachmittagssitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 165
Kritik des Normlogischen Schließens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 169
Ober die Notwendigkeit einer besonderen Logik der Normen. . . . . . . . . . . . .. 185

3. Konsequenzen für die Rechtsdogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 209

Zur Alternativstruktur des juristischen Kausalbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 209


Die Privatrechtliche Pflicht zur Unterlassung. Zugleich ein Beitrag zur Lehre
von der positiven Forderungsverletzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 213
Bildung einer prädikatenlogischen Normalform für § 8 Abs. 3 StVO a.F. sowie
für einschlägige Paraphrasen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 235
Buchbesprechung: Podlech, A., Gehalt und Funktion des allgemeinen verfassungs-
rechtlichen Gleichheitssatzes (1971) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 243

4. Gesetzgebungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 251

Zum Begriff des Gesetzes in der Rechtswissenschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 251


Gesetzgebungstheorie als praxisorientierte rechtswissenschaftliche Disziplin
auf rechtstheoretischer Grundlage. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 295
Zum Stellenwert der Gesetzgebungstheorie in der herkömmlichen Dogmatik
sowie in der traditionellen Methodenlehre. . . . . . . . . ... . . . . . . . . . . .. 301
Logische Kriterien für die korrekte Verwendung von Legaldefmitionen . . . . . .. 307
Einige Regeln ftir korrektes Legal-Defmieren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 323
Die Regel-Ausnahme-Technik des Gesetzgebers in logischer Sicht (gemeinsam
mit G. Thieler-Mevissen). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 329
Logische Untersuchungen zur Makrostruktur rechtlicher Kodifikate . . . . . . . .. 335

QueUenverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 355
1. Rechtstheoretische Grundgedanken

Naturrecht oder Rechtspositivismus?


Klug, U., Ramm, Th., Rittner, F., SchmiedeI, B. (Hrsg.): Gesetzgebungstheorie, Juristische Logik,
Zivil- und Prozeßrecht (Gedächtnisschrift für Jürgen Rödig), Berlin, Heidelberg, New York:
Springer 1978, S. 369-393

Einleitung
,,Naturrecht oder Rechtspositivismus?"
Es ist eine verfiihrerische Frage. Man möchte sie sogleich entscheiden: sich zum
Naturrecht bekennen.
Der Rechtspositivismus hat unter der vergangenen Herrschaft schwer gelitten. Fast
keiner wagt, ihn heute zu vertreten. Gleichsam vorgegeben scheint der Verlauf dieser
Arbeit: früher oder später ein Bekenntnis zum Naturrecht, mit historischen und theo-
retischen Gründen versehen.
Doch der Ansatz wäre verfehlt. Seit der Schrift von Erik Wolf (1) kann schwerlich
von "dem" Naturrecht die Rede sein. Der Rechtspositivismus ist nicht minder vielge-
sichtig. Also ist es nicht verheißungsvoll, "die" Entscheidung für das eine oder andere
zu versuchen.
Dem "Wie" der Entscheidung hat die Klärung des "Wofür" voraufzugehen.
Darum behandelt der erste Teil dieser Arbeit die Frage und erst der zweite die
Antwort.

Vorbemerkung des Herausgebers

Bei der hier veröffentlichten Abhandlung handelt es sich um ein Referat, das Jürgen
Rödig, damals Student der Rechte im 7. Semester, am 15. Juli 1965 im Rahmen
eines von mir in Freiburg veranstalteten rechtsphilosophischen Seminars gehalten hat.
Die Veröffentlichung geschieht mit Zustimmung von Frau Rödig. Das Manuskript ist
lediglich redaktionell überarbeitet. Die literarischen Nachweisungen wurden überprüft
und, soweit erforderlich, vervollständigt. Auf den Abdruck des Literaturverzeichnisses
wurde verzichtet; die notwendigen Angaben fmden sich in den Anmerkungen am
jeweiligen Ort.
Dieses Seminarreferat von hohem Niveau ist ein für sich sprechendes Dokument
der außergewöhnlichen denkerischen Kraft Jürgen Rödigs. Es zeigt, wie er mit Scharf-
blick und mit sensiblem Differenzierungsvermögen sich in einer entscheidenden Grund-
frage der Jurisprudenz einen eigenen Stand zu erarbeiten versucht hat. Was hier bei-
spielsweise zum Problem einer Rechtsdefmition, zur Mehrdeutigkeit des Begriffes
"Rechtspositivismus" , zu Eigenart und Funktion juristischer Logik, oder etwa zum
Phänomen des Gewissens gesagt ist, verdient auch noch in der heutigen Diskussion
Beachtung, ,$anz abgesehen davon, daß die Abhandlung auf den Denkweg des Frühvoll-
endeten signiftkante Lichter wirft.
Alexander Hollerbach

1
370 Jürgen Rödig

Erster Teil: Die Frage

A. Die Frage sei an Hand von Beispielen aufgewiesen

Dabei soll Unwesentliches nach und nach ausgeschieden, die Frage selber mehr und
mehr verschärft werden.
I. Es sind vier Beispiele.
1. Das erste spielt in einer Demokratie. Die ftir Gesetzgebung zuständigen Organe
beschließen und erlassen ein Gesetz. Das Gesetz lautet: "Wer einen Menschen tötet
und sich weder rechtfertigen noch entschuldigen kann, wird selber mit dem Tode
bestraft."
2. Das zweite Beispiel spielt ebenfalls in einer Demokratie. Wiederum ergeht von
zuständiger Stelle ein Gesetz. Es lautet: "Wessen Buch in eine fremde Sprache übersetzt
wird, wird vom Staate in Höhe seines Jahreseinkommens belohnt. Ausgenommen sind
Autoren mit den Anfangsbuchstaben Abis H."
3. Das dritte Beispiel spielt in einer Tyrannei. Der Tyrann ist an die Macht gekom-
men, weil er über eine furchtbare Waffe verfügt. Ohne sie wäre er nicht in seinem Amt.
Er erklärt sich zum alleinigen Gesetzgeber. Er erläßt ein Gesetz. Das Gesetz lautet wie
folgt: "Wer einen Menschen tötet und sich weder rechtfertigen noch entschuldigen
kann, wird mit lebenslangem Zuchthaus bestraft."
4. Das vierte Beispiel spielt in derselben Tyrannei. Es ergeht ein Gesetz des Tyran-
nen. Das Gesetz lautet: "Der Mörder wird mit dem Tode bestraft. Der Mörder wird
nicht bestraft, wenn er der Tyrann ist oder ein Freund des Tyrannen."
Es kommt in jedem Beispiel zu einem Prozeß. Der Sachverhalt ordue sich dem
Tatbestande der jeweils genannten Gesetze unter.
Richter und Betroffene möchten wissen, ob sie an das Gesetz gebunden sind.
II. Ob Richter und Betroffene an das Gesetz gebunden sind, kann fiir keines der
Beispiele zweifelsfrei entschieden werden. Selbst wenn das Gesetz des 1. Beispiels dem
Willen des Volkes entspricht, es also keinen Art. 102 GG gibt, ist seine Bindung nicht
erwiesen. Vielleicht ist die Todesstrafe sittlich nicht gerechtfertigt. Vielleicht kann sie
darum nie verbindlich sein. Das Gesetz des zweiten Beispiels - hierin unterscheidet es
sich vom ersten - entspricht dem Willen des Volkes, ftir das es gilt, sicher nicht. Ist es
dennoch verbindlich, eben weil es ein rechtmäßig zustandegekommenes (verfahrens-
richtig zustandegekommenes) Gesetz ist? Das Gesetz des 3. Beispiels hat vielleicht
einen billigenswerten Inhalt. Es beruht jedoch auf einer bedenklichen Autorität. Mögli-
cherweise vermag es darum nicht zu binden. Das Gesetz des vierten Beispiels ist frag-
würdig in Bezug auf Autorität und Inhalt.
Dies vorausgesetzt, seien die Beispiele verglichen. Von allen vier Beispielen kann
man - wenn auch vorerst nur in einem vorläufigen Sinne - sagen, es gelte ein bestimm-
tes Gesetz. Aber keines dieser Gesetze, darin besteht die zweite Gemeinsamkeit, befrie-
digt voll. Die Gesetze des 3. und 4. Beispiels beruhen auf einer vielleicht unzulänglich
gerechtfertigten Autorität. Die Gesetze des 1., 2. und 4. Beispiels sind ihres Inhalts
wegen verdächtig. Der inhaltliche Mangel beruht teils in einem Widerspruch zum Willen
des Volkes (2. und 4. Beispiel), teils in einem möglichen Widerspruch zum Sittengesetz
(1. Beispiel).

2
Naturrecht oder Rechtspositivismus 371

Es scheint also um die Frage zu gehen, wie man sich gegenüber Gesetzen verhalten
solle, die zwar gelten, jedoch nicht richtig sind.
Aber diese Fassung der Frage begreift das Problem nicht in vollem Umfang. Viel-
leicht gibt es gar keine Gesetze, die zwar gelten, jedoch nicht richtig sind. Vielleicht
besteht die Richtigkeit eines Gesetzes in seiner Geltung, vielleicht die Geltung eines
Gesetzes in seiner Richtigkeit. Man mag das Recht als jene Autorität begreifen, die sich
durchzusetzen vermag und die darum allein im Stande ist, Ordnung zu schaffen. Dann
wäre selbst das Gesetz des vierten Beispiels richtiges Recht.
Man mag umgekehrt grob unbilligem Recht das Prädikat der Geltung versagen.
Dann gilt weder das Gesetz des zweiten noch das des vierten Beispiels. Die Frage, ob
der Mensch an das richtige oder an das geltende oder nur an das sowohl richtige wie
geltende Recht gebunden sei, diese Frage mag von der Naturrechtslehre wie vom
Rechtspositivismus verschieden beantwortet werden: dennoch sind die Positionen
nicht geklärt. Denn es könnte unter richtigem und geltendem Recht dasselbe verstan-
den werden.
Es ergibt sich: Die Naturrechtslehre besteht nicht allein in der These, man sei an
das richtige Recht gebunden, sondern zusätzlich in einem ganz bestimmten Verständ-
nis des richtigen Rechts; umgekehrt besteht der Rechtspositivismus nicht allein in der
These, man sei an das geltende Recht gebunden, sondern zusätzlich in einem ganz
bestimmten Verständnis des geltenden Rechts.

B. Dieser Abschnitt soll - zuerst formaliter, dann materialiter - zeigen, welche


Möglichkeiten für eine Dualität von Naturrechtslehre und Rechtspositivismus es gibt
I. Es wurde bereits festgestellt, daß die Naturrechtslehre die Bindung an das richtige,
der Rechtspositivismus dagegen die Bindung an das geltende Recht verlangt. Die Ver-
schiedenheit beider Auffassungen setzt mithin ein\: Verschiedenheit von geltendem
und richtigem Recht voraus. Beide Begriffe müssen verglichen werden. Dieser Vergleich
kann das folgende ergeben:
Erste Möglichkeit: Es gibt kein Merkmal, welches dem geltenden Recht zukommt
und dem natürlichen nicht.
Die zweite Möglichkeit besteht in der Verneinung der ersten, d.h., es gibt minde-
stens ein Merkmal, welches dem geltenden Recht zukommt und dem natürlichen nicht.
Eine Dualität von Naturrechtslehre und Rechtspositivismus ist nur bei der zweiten
Möglichkeit denkbar. Es ist erneut zu unterscheiden:
1. Das Unterscheidungsmerkmal ist eindeutig. Nur unter dieser Voraussetzung
kann man von "dem" Unterschied zwischen natürlichem und geltendem Recht, d.h.
nur unter dieser Voraussetzung von "dem" Unterschied von Naturrechtslehre und
Rechtspositivismus reden.
2. Oder das Unterscheidungsmerkmal wird verschieden bestimmt. Es gibt vielleicht
verschiedene Begriffe, jeweils von natürlichem und geltendem Recht. Dann können
jedem Begriff des natürlichen alle des geltenden Rechts entgegengesetzt werden und
umgekehrt. Gibt es jeweils n und m Begriffe, so sind n . m Unterscheidungen möglich,
mithin n • m Dualitäten von Naturrechtslehre und Rechtspositivismus.
11. Nun soll die Dualität von Naturrechtslehre und Rechtspositivismus dem Inhalt
nach aufgewiesen werden. Es ist bereits gesagt worden, daß die Differenz beider Lehren

3
372 Jürgen Rödig

allein auf einem verschiedenen Verständnis von natürlichem und geltendem Recht
beruhen kann. Diese Begriffe sind zu bestimmen.

1. "Richtiges Recht" und "Geltendes Recht"


"Geltendes Recht" ist etwas, das zugleich "Rechtsordnung" wie "geltende Ordnung"
ist.
"Rechtsordnung" ist ein Inbegriff von Normen, welche im Falle einer Kollision
von Handlungen entscheiden, welche Handlung zugelassen ist und welche nicht.
"Rechtsordnung" bedeutet, anders formuliert, ein System von Normen, welches aus
dem Bereich der möglichen Handlungen eine Menge von miteinander verträglichen
Handlungen auswählt und diese als zulässig auszeichnet (2).
Man mag ein wenig enttäuscht sein über die "Leere" dieser Begriffsbestimmung.
Es ist in der Tat ihr Zweck, eine Strukturbeschreibung des Rechts zu sein. Inhaltliche
Merkmale werden bewußt ausgeschieden. Nur auf diese Weise ist eine saubere Abgren-
zung zwischen geltendem Recht und natürlichem (im Sinne von richtigem) Recht mög-
lich. Wollte man das Recht als emotionale Ordnung (3), ideale Ordnung (4), bewah-
rende Ordnung (5) oder ähnlich begreifen, so würde bereits in den Bereich seiner
Bewertung ("Richtigkeit" des Rechts) vorgegriffen. Dieser Bereich, so verlangt es die
vorliegende Aufgabe, muß jedoch sorgfältig abgegrenzt und gesondert werden. Darum
geht selbst die Kantische Definition (6) nur teilweise ein, nämlich nur "als Inbegriff
der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern ... ver-
einigt werden kann". Daß sich diese Vereinigung einem allgemeinen Gesetze der Frei-
heit unterordne, ist in unsere Definition nicht aufgenommen: Auch die Freiheitlichkeit
einer Rechtsordnung wird als Kriterium ihrer Richtigkeit angesehen.
Es gibt allerdings andere Strukturbegriffe. Das Recht kann als Inbegriff subjektiver
Rechte oder im Sinne eines ,juristischen Nihilismus" verstanden werden.
Was die Bestimmung des Rechts als Inbegriff subjektiven Rechts anlangt (7), so
gilt nichts Neues. Denn das objektive Recht kann getreu in eine Menge von subjektiven
Rechten abgebildet werden und umgekehrt ("eineindeutige Abbildung").
Nietzsche hat einmal geschrieben: "Der Nihilismus steht vor der Tür: woher
kommt uns dieser unheimlichste aller Gäste?" (8).
Der juristische Nihilismus ist kein unheimlicher Gast. Er besagt, daß die rechtli-
chen Normen keine Verpflichtung aussprechen, sondern lediglich Nachteile ankündigen,
falls der Angesprochene anders handelt als die "Norm" es will (9). Sieht man näher
hin, so ist die Menge der Handlungen identisch; das Komplement dieser Menge ist
gerade mit den oben definierten zugelassenen Handlungen identisch. Dies bedeutet,
daß sich die Eigenart des juristischen Nihilismus auf eine Eigenart der Formulierung
beschränkt.
In kurzer Zusammenfassung: Entscheidend für eine Rechtsordnung ist die Absicht
verträglicher Handlungsreihen; ob diese durch Auferlegung von Pflichten oder durch
die Ankündigung der Haftung bei Zuwiderhandeln herbeigeftihrt werden sollen, ist
gleichgültig. Darum kann der Begriff der Pflicht aus einer Rechtsordnung eliminiert
werden, ohne daß etwa ihr naturrechtlicher Gehalt geschmälert würde. Die Würde einer
Rechtsordnung besteht nicht darin, daß sie von Pflichten redet, sondern in der Hoheit
ihrer Ziele.

4
Naturrecht oder Rechtspositivismus 373

Das geltende Recht ist sodann Geltungsordnung;


Zur Geltung im Allgemeinen. Geltung ist eine Eigenschaft von Sätzen und nur von
Sätzen. Je nach Eigenart der Sätze bedeutet Geltung Verschiedenes. Eine Aussagenform
gilt, wenn sie bei jeder Einsetzung von Aussagen an Stelle von Aussagenvariablen eine
wahre Aussage ergibt. Ein physikalischer Satz gilt, wenn er bei jeder Einsetzung von
Konstanten an den hierftir vorgesehenen Stellen (Variablen) eine richtige ("getreue")
Abbildung der Natur liefert. Wann ein Rechtssatz gilt, ist streitig. Jedenfalls hängt die
Geltung eines Satzes mit dessen Eigenart zusammen. Dies läßt sich so formulieren: Ein
Satz si gilt, wenn er dem Typ t q angehört und die Eigenschaft el hat, oder wenn er
dem Typ t 2 angehört und die Eigenschaft e2 hat, etc.
Es gibt folgende Theorien über die Geltung von Rechtssätzen:
a) Juristische Geltungslehre. Sie leitet die Geltung von Rechtssätzen aus ranghöhe-
ren her. Der rangniedere Rechtssatz gilt nur insoweit, als sich seine Geltung aus einem
höherrangigen ergibt und der höherrangige gilt. Dieses Verfahren geht eine ganze Weile
gut. Dann gelangt es aber zu ranghöchsten Rechtssätzen, d.h. zu solchen, über denen es
keine höheren gibt. Woher beziehen diese ihre Autorität? Die juristische Geltungslehre
gibt keine Auskunft. Radbruch sagt, sie könne das Recht stets nur an seinem eigenen
Geltungsanspruch messen (10). Nun wird im vorliegenden Zusammenhang gerade nicht
von der Geltung von Rechtssätzen gesprochen, sondern von der Geltung einer Rechts-
ordnung. Es geht also nicht um die innere Geltungshierarchie. Vielmehr geht es um den
Geltungsanspruch der Rechtsordnung selbst, also um die Geltung jenes ,,höchsten"
Rechtssatzes, von dem die Geltung aller anderen Rechtssätze hergeleitet wird.
Darum bleibt die juristische Geltungslehre ihre Antwort auf unsere Frage schuldig:
wann eine Rechtsordnung als solche gelte (11).
b) Die soziologische Geltungslehre hat zweierlei Gestalt: Sie erscheint erstens als
Machttheorie: Eine Rechtsordnung gilt, wenn sie von einer Autorität gesetzt ist, die
willens ist und fähig, es im Notfall machtvoll durchzusetzen. C.A. Emge würde einen
höchsten Gewalthaber fordern, eine Macht also, der es leichter f.Hlt als irgendeiner
andem auf demselben Raumteil, das Recht zu verwirklichen (12). Radbruch wendet
ein: alle Macht vermöge nur ein Müssen zu begründen, nicht aber ein Sollen (13). In
unserem Zusammenhang wäre dieser Einwand nur von Bedeutung, wenn wir bereits
den Standpunkt des Rechtspositivismus bezogen hätten, d.h. das geltende Recht ftir
verbindlich hielten.
Die t;oziologische Geltungslehre wird sodann als Anerkennungstheorie vertreten.
Sie besagt, eine Rechtsordnung gelte genau dann, wenn diejenigen mit ihr einverstan-
den seien, deren Handeln sie bestimme. Radbruch wendet ein, die Anerkennungstheo-
rie müsse in heiklen Fällen, etwa gegenüber dem Überzeugungstäter, mit Fiktionen hel-
fen. Sie setze im Ergebnis das Anerkennen dem Anerkennen-Sollen gleich (14),
verlasse also ihre soziologische Basis (15).
c) Die ideale Geltungslehre (16) läßt das richtige Recht und nur dieses gelten.
Emge, der diese Lehre beschreibt, fordert, das ideale Recht müsse stets an der konkre-
ten geschichtlichen Situation gemessen werden. Ein schlechthin ideales Recht sei nicht
als "Ideal" des jeweils geltenden Rechtes anzuerkennnen.
d) Die normative Geltungslehre (17) setzt das geltende Recht mit dem verbindli-
chen Recht gleich. Damit ist fur unsem Zusammenhang nichts gewonnen. Wir fragen

5
374 Jürgen Rödig

nämlich, wann ein Recht ,,gelte", um so die These des Rechtspositivismus zu verste-
hen: das geltende Recht sei verbindlich. Eine Einsetzung ergibt "das verbindliche
Recht ist verbindlich".
Die nähere Bezeichnung der Verbindlichkeit des Rechts, wie sie sich bei Emge
fmdet (18), kommt wiederum einer Richtigkeitslehre nahe: Auf die Richtigkeit der
Norm wird abgestellt, aber auch unrichtigen Normen müsse man folgen, wenn die
Befolgung die richtige Geschichtsentwicklung mehr befördere als die Nichtbefolgung.
e) Die philosophische Geltungslehre (19) deckt sich der Sache nach mit der Macht-
theorie. Der Unterschied besteht darin, daß die philosophische Geltungslehre die
Macht philosophisch rechtfertigt, während die Machttheorie auf eine solche Rechtfer-
tigung verzichtet. Dies ist die philosophische Rechtfertigung der Machtgeltungslehre:
Nur die Macht vennag das Recht zu sichern, das Gebot der Rechtssicherheit zu erftil-
len (20).
Diese Geltungslehren sind zum Teil jedenfalls nicht nur Geltungslehren, sondern
zugleich Richtigkeitslehren. Offenkundig ist dies bei der idealen Geltungslehre. Eini-
gennaßen deutlich ist es bei der normativen Geltungslehre.
Wie steht es mit der philosophischen? Sie unterscheidet sich nur in ihrer Begrün-
dung von der Machttheorie. Gerade aus dieser Begründung geht aber hervor, daß die
Macht aus dem Gedanken der Rechtssicherheit (also aus der Rechtsidee!) ihre Legiti-
mation bezieht: daß das machtvolle Recht insoweit ein richtiges Recht ist. Mithin ist
auch die philosophische Geltungslehre eine verkappte Richtigkeitslehre. Was die Aner-
kennungstheorie betrifft, ist zu unterscheiden: entweder, man fordert Zustimmung
aller, weil das Recht auf diese Weise sich tatsächlich behaupte; dann ist die Anerken-
nungstheorie eine andere Formulierung der Machttheorie. Oder man fordert die Zu-
stimmung aller, damit einem jeden nur das Recht geschehe, das er selbst gewollt habe:
also nie ein Unrecht. Dann aber liegt der Anerkennungstheorie eine unmittelbare Rich-
tigkeitslehre zugrunde.
übrig bleibt eine Machttheorie ohne jeden Anspruch auf philosophischen Grund.
Sie besagt, das Recht werde im Zweifel eben durchgesetzt; darum und insoweit gelte es.
Hieraus folgt aber, daß es nur eine Geltungslehre gibt, die das geltende Recht als
vom richtigen (natürlichen) Recht verschieden ansieht: dies ist die Machttheorie in
"reiner" Fassung. Nach der Machttheorie allein gilt auch unrichtiges Recht; nach allen
andem Theorien ist dies nicht möglich. Wenn es nun richtig ist, daß der Rechtspositi-
vismus die Verbindlichkeit des geltenden Rechts behauptet, die Naturrechtslehre das
Gegenteil, dann - so scheint es - sind beide Auffassungen eindeutig voneinander
geschieden.
Sie sind es in der Tat, wenn es wirklich einen Rechtspositivismus gibt, welcher die
Verbindlichkeit des im Sinne der Machttheorie geltenden Rechts behauptet.
Das "richtige Recht" ist eine Ordnung, die sowohl "Recht" wie "richtig" ist.
Der Begriff des "Rechtes" ist - jedenfalls, was die vorliegende Untersuchung
anlangt - bereits bestimmt: Es ist ein Inbegriff von Sätzen, die im Falle einer Kollision
von Handlungen entscheiden, welche zugelassen sind und welche nicht.
Wann aber ist ein Recht "richtig"?
Das Gewicht dieser Frage ist hinreichende Rechtfertigung, ihrer Erörterung einen
methodischen Hinweis voranzuschicken.

6
Naturrecht oder Rechtspositivismus 375

Häufig wird "richtig" im Sinne von "wahr" verwendet. In der folgenden Untersu-
chung werden beide Begriffe streng voneinander unterschieden. Wahrheit wird als Son-
derfall der Richtigkeit verstanden.
Ein Beispiel soll den Unterschied deutlich machen. Gegeben sei eine Aussage:
"Ludwig stiehlt Kirschen". Es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder stiehlt Ludwig tat-
sächlich Kirschen, oder er tut es nicht, geht etwa nur spazieren, oder stiehlt, aber keine
Kirschen. Im ersten Falle ist die Aussage wahr, im zweiten falsch. Man sieht: die Aus-
sage wird an einem bestimmten Wert: dem Wert der Wahrheit, gemessen. "Wahrsein"
wird mithin als einer der beiden (21) Wahrheitswerte (22) "wahr" und "falsch" ver-
standen.
Der Begriff der "Richtigkeit" ergibt sich aus dem der "Wahrheit" durch zweifache
Abstraktion. Erstens wird von einem bestimmten Wert, nämlich dem der Wahrheit,
abgesehen, dafur allein ein Wert schlechthin gefordert. Zweitens wird von einem
bestimmten Gegenstande der Bewertung, nämlich einer Aussage, abgesehen; bewertet
werden können Gegenstände jeder Art. Wie nun "Wahrheit einer Aussage" die Erftil-
lung des Wertes Wahrheit durch eine Aussage bedeutet, so soll "Richtigkeit eines
Gegenstandes im Hinblick auf einen beliebigen Wert" die Verwirklichung dieses Wertes
durch den Gegenstand bedeuten. Gegenstand sei beispielsweise der Sachverhalt, Lud-
wig stehle Kirschen. Wert sei beispielsweise das Gute. Dann soll man sagen können:
Es ist im Hinblick auf das Gute (im Sinne von: Anständige, Moralische) nicht richtig,
daß Ludwig Kirschen stiehlt. Ein solcher Sprachgebrauch ist dem Leben nicht fremd.
Die Mutter sagt dem Kind: "Es ist nicht richtig, daß du stiehlst".
Gesetzt, ein Recht wolle das Böse verwirklichen. Dann ist eine Norm richtig, die
lautet: "Wer nicht tötet, obwohl er könnte, wird bestraft." - Gesetzt, ein Recht wolle
unmittelbar den Wert des Tausehens und Verkehrens schützen. Dann ist es, soweit es
gutgläubigen Erwerb gestattet, richtiges Recht. Soll jeder behalten, was er hat, ist ein
Recht gutgläubigen Erwerbes unrichtiges Recht.
Dies vorausgeschickt, soll die Frage nach der Richtigkeit des Rechts und die Frage
nach der Wahrheit seiner Normen systematisch expliziert werden, und zwar in unmit-
telbarem Anschluß an die Definition des Rechts.
Unabdingbare Voraussetzung allen Rechts ist allein sein Zweck, die Kollision von
Handlungen zu verhüten. Das Recht ist ein Inbegriff von Normen, die für jeden Kon-
flikt von Handlungen zu entscheiden haben, welche zugelassen sind und welche nicht.
Die kollidierenden Handlungen sind offenbar nicht miteinander identisch. Darum ent-
spricht es verschiedenen Rechtsordnungen, daß es verschiedene Handlungen gibt. Jede
Handlung hat ihre äußere Seite. Wie ein Naturereignis wirkt sie auf das reale Geschehen
ein. Sie ist insoweit Ursache. Meist haben verschiedene Ursachen verschiedene Wirkun-
gen zur Folge. Dann entsprechen verschiedenen Rechtsordnungen verschiedene Wir-
kungen. Ursachen wie Wirkungen sind Umstände, die durch die Kategorie der Zeit
(mit-)bestimmt werden. Sie sind also Sachverhalte. Dies bedeutet, daß verschiedene
Rechtsordnungen, indem sie verschiedene Handlungen im Konfliktfall vorziehen, ver-
schiedene Sachverhalte als Wirkungen dieser Handlungen begünstigen. Warum? Frage
und Antwort seien an folgenden Sachverhalten beispielhaft aufgewiesen: Klaus hat
Grippe;Peter hört das Forellenquintett; der Fuchs stiehlt eine Gans.
Hat Klaus Grippe, flihlt sich Klaus nicht wohl. Hört Peter das Forellenquintett,
oder stiehlt der Fuchs eine Gans, so flihlt sich Klaus dagegen nicht notwendig ebenso,

7
376 Jürgen Rödig

er sei denn der Vater von Klaus oder Eigentümer der Gans. Hört Peter das Forellen-
quintett, kann man vielleicht sagen: es ist schön; in den andern Beispielen nicht ohne
weiteres.
Offenbar ist keiner dieser Sachverhalte mit einem bestimmten Wert identisch.
Dennoch war es möglich, einen jeden Sachverhalt mit bestimmten Werten in Beziehung
zu setzen: nämlich der Gesundheit des Klaus, dem Glücklich-Sein des Peter, dem
Schön-Sein an und flir sich.
Diese Werte waren jeweils erfüllt oder nicht erfüllt. Der terminologischen Ordnung
halber soll der Umstand, ein Wert sei erftillt oder nicht erfüllt, nicht "Wert" genannt
werden, sondern "Wertverhalt". Wertverhalte werden zweckmäßig im Zusammenhang
mit bestimmten Werten genannt. Sind diese Werte erfüllt, soll man von "positivem",
andernfalls von einem ,,negativen" Wertverhalt reden können.
Die Beispiele sollten zeigen, es entspreche jedem Sachverhalt mindestens ein Wert-
verhalt. Es ist keine Frage der Konvention, ob man Werte unabhängig vom Individuum
oder davon abhängig begreifen will; dies ist eine Frage des philosophischen Bekennens:
ob es "den Wert" schlechthin gebe, ob man einen Sachverhalt bewerten wie ihn natur-
wissenschaftlich beschreiben wolle. Davon hängt es ab, ob Werturteile wahr oder falsch
sein können. Leitet man die Werte vom Wertfühlen des Einzelnen und nur davon ab,
so werden einem Sachverhalt des öfteren mehrere Wertverhalte entsprechen. Verliert
das Volk V 1 den Krieg gegen V 2, so sind die meisten Angehörigen von V I glücklich,
die meisten von V 2 unglücklich.
Ins Bild gewendet: Bestimmte Sachverhalte werden stets (und sei es auch nur nega-
tiv) durch bestimmte Wertverhalte überlagert. Bestimmten Sachverhalten sind bestimmte
Wertverhalte zugeordnet. Wenn im folgenden von "Wertung" die Rede ist, so ist stets
die Zuordnung von bestimmten Wertverhalten zu bestimmten Sachverhalten gemeint.
Der Begriff der "Wertung", des "Bewertens" ist wichtig und kommt häufig vor. Da er
die Dualität von Sachverhalt und Wertverhalt voraussetzt, ergibt sich die Bedeutung
einer Unterscheidung beider Begriffe. Eine klare Abgrenzung verlangt, daß entweder
der Wertverhalt nicht bloß als Vorgang des Gefühls begriffen oder aber das Wertfühlen
aus dem realen Geschehen eliminiert werde. Beide Wege sind gangbar.
Jetzt aber ist geklärt, warum - wie oben dargetan - verschiedene Rechtsordnun-
gen verschiedene Sachverhalte begünstigen: weil den Sachverhalten Wertgehalte zuge-
ordnet und verschiedene Werte bevorzugt werden.
Geht man von einer VerscJ;liedenartigkeit der Werte aus, so ergibt sich die folgende
Bestimmung des richtigen Rechts: Eine Rechtsordnung ist richtig, wenn der Wert Wi
verwirklicht werden soll [ = Ziel der Rechtsordnung] und die Rechtsordnung im Kon-
fliktsfalle Handlungen zuläßt, die zu Sachverhalten führen, denen der positive Wertver-
halt Wi zugeordnet ist. Dabei soll in der Formulierung "eine Handlung führe zu Sach-
verhalten", der Fall einbegriffen sein, die Handlung sei mit einem dieser Sachverhalte
bereits identisch (23). Diese Definition gilt für eine Relativität der Werte ebenso wie
flir die Werteinheit, d.h. die Existenz "des" Wertes. Im letzten Fall gibt es nur ein Wi.
Wie aber steht es mit der Wahrheit von Normen?
Von der Wahrheit der Normen kann in verschiedenem Sinne die Rede sein. Nor-
men von der Gestalt: "Wenn du stiehlst, mußt du mit Strafe rechnen", sind wahr,
wenn im Falle eines Diebstahls in der Tat die hinreichende Wahrscheinlichkeit einer
Bestrafung besteht. Vielleicht will die Norm etwas anderes besagen: "Hat Pi gestohlen,

8
Naturrecht oder Rechtspositivismus 377

so ist Pi identisch mit einer Person Pj' welche die Eigenschaft hat, bestraft werden zu
sollen". Oder ähnlich: "Hat Pi den Pj rechtswidrig und schuldhaft geschädigt, so ist Pi
dem Pj zum Ersatz verpflichtet"; das "Zurn-Ersatz-verpflichtet-Sein" kann als Prädikat
verstanden werden. Was die Struktur solcher Aussagenfunktionen anlangt - bei Einset-
zung für Pi und Pj ergeben sich Aussagen - , so ist eine Besonderheit nicht vorhanden.
Die Unanwendbarkeit der Begriffe "wahr" und "falsch" kann also allein daher rühren,
daß in diesen Sätzen sinnlose Ausdrücke vorkommen (24). Anders gesagt: Eskommt
auf die objektive Beschreibbarkeit des Sollens an. Offenbar besteht eine Verpflichtung
des Pi zu Hk genau dann, wenn der Wert W1 verwirklicht werden muß und der Hand-
lung Hk ein positiver Wertverhalt des Wertes Wj zugeordnet ist. Das "Sollen" von be-
stimmten Handlungen kann also auf ein Sollen zurückgeführt werden, bestimmte Werte
zu verwirklichen.
Mithin geht es um die Frage, ob die Durchsetzung bestimmter Werte geboten ist.
Nun liegt es aber nahe, daß es bereits zur Bestimmung des Wertes gehört, er müsse ver-
wirklicht werden; andernfalls wäre ein regressus ad infinitum unabwendbar (25). Dies
bedeutet, daß Ri die Handlung Hk genau dann vornehmen soll, wenn es den Wert Wj
gibt und Wj durch Hk erfüllt wird (d.h. Hk ein positiver Wertverhalt bez. Wj ist). Folge-
recht ist die Frage dahin verschärft, ob es sinnvoll sei, zu sagen, es gebe einen bestimm-
ten Wert. "Sinnvoll" bedeutet: wahr oder falsch.
Das Problem der objektiven Existenz von Werten ist angesprochen. Es hat eine
- wenn auch nurmehr äußerliche - Ähnlichkeit mit dem Universalienproblem. Dem
Realismus würde die Annahme einer objektiven Existenz und Beschreibbarkeit von
Werten entsprechen. Die Auffassungen, welche Werte es gebe, sind grundverschieden.
Die Auffassung, es gebe keine Werte, ist wahrscheinlich seltener als man meint. Meist
werden nur ,,höhere" Werte geleugnet, dagegen einfache und "positive" gefordert (26).
Dennoch hat es zuweilen den Anschein, als werde die Existenz von Werten gerade
darum geleugnet, weil es an jedem Anhalt objektiver Erkennbarkeit fehle. In ähnlicher
Weise ist auch das sicherlich zu Recht bestehende Gebot religiöser Toleranz Mißver-
ständnissen ausgesetzt: es soll zwar die Ausübung fremden Glaubens geachtet, am eige-
nen deshalb aber nicht gezweifelt werden.
Wenigstens ein Teil der Werte mag auf empirischem Wege überhaupt nicht erkenn-
bar sein. Also ist die Annahme, es gebe sie, Glaube: sei es religiöser, sei es philosophischer.
Nie macht Selbstverständlichkeit oder Wahrscheinlichkeit des Inhalts die Größe
eines Glaubens aus. Größe und Wagnis allen Glaubens bestehen vielmehr darin, daß ein
Inhalt, der gerade nicht wahrscheinlich ist oder sich von selbst versteht, unwiderleglich
als wahr vermutet werde: auf Grund göttlicher oder anaerer geistiger Autorität. Unter
dieser Voraussetzung kann der Sinn von Werturteilen nicht mehr in Frage stehen. Die
Vielheit, Verschiedenheit und Unsicherheit der Wertmeinungen darf das Werturteil
dem Bereich des Wahren oder Falschen nicht entziehen. Man sollte vielmehr Ernst und
Bedeutung des Werturteils darin sehen, daß es, obwohl empirisch nicht beweisbar, dem
unbeugsamen Richtmaß der Wahrheit untersteht. Es wäre keine gute Entwicklung,
würde wertendes Denken einen Verzicht auf Genauigkeit bedeuten.
Einen Wertglauben vorausgesetzt, teilen Werturteile mithin nicht stets das Schick-
sal der Stadt, die nördlich von sich selber liegt, oder auch nur des "Ich lüge". Die Mög-
lichkeit, es gebe einen bestimmten Wert tatsächlich, und dieser werde durch eine
bestimmte Handlung erfüllt, wird also angenommen. Dies bedeutet, daß man, der oben

9
378 Jürgen Rödig

genannten Definition entsprechend, "tatsächlich" etwas sollen könne. Die Beziehung


zwischen einem Urteil, man solle etwas, und dem Umstand, dies sei tatsächlich der
Fall, wird Wahrheit genannt.
Also sind auch Werturteile wahr oder falsch; d.h. sie sind sinnvoll.
Es hat sich das Folgende ergeben:
Eine Rechtsordnung ist richtig, wenn es den (Rechts)wert Wi gibt und die Rechts-
ordnung im Kollisionsfalle Handlungen zuläßt, welche zu Sachverhalten fUhren, denen·
positive Wertverhalte (bez. Wi) zugeordnet sind.
Eine Norm ist wahr, wenn es den (Rechts)wert Wi gibt und die in der Norm gebo-
tene Handlung (verbotene Handlung) den Wi erftillt (nicht erftillt).
Man ersieht aus einem Vergleich, daß die Richtigkeit des Rechts und die Wahrheit
seiner Normen auf durchaus ähnlichen Voraussetzungen beruhen. Erstens wird ein
bestimmter Wert vorausgesetzt, den das Recht bzw. die Norm zu verwirklichen habe;
zweitens wird gefordert, daß dieser Wert tatsächlich auch verwirklicht werde. In der
ersten Voraussetzung geht es um das Ziel oder den Zweck des Rechts, in der zweiten
um den Weg oder um das Mittel. Demgemäß ist die sich anschließende materielle Erör-
terung des richtigen Rechts (bzw. der wahren Norm) in zwei Abschnitte aufgeteilt. Im
ersten (a) wird untersucht, von welchen rechtlichen Werten angenommen wird, "es gebe
sie"; im zweiten (b) wird das Mittel behandelt, welches ein Recht einsetzen muß, wenn
es das gesteckte Ziel (d.h.: den angenommenen Wert) erreichen will.
a) Von welchen Werten wird angenommen, es gebe sie: und zwar fUr das Recht?
Es geht also darum, welche Werte dem Recht vorgegeben oder aufgegeben seien.
Die Ansichten darüber sind verschieden. Es entspricht weder der Anlage dieser
Arbeit noch (und vor allem) der Reife des Verfassers, daß ein auch nur annähernd
befriedigender Überblick geboten werde. Allein, eine derartige Darstellung ist fUr die
vorliegende Untersuchung, welche das richtige (,,natürliche") Recht ja stets nur im
Hinblick auf Naturrechtslehre und Rechtspositivismus sieht, nicht unbedingt erforder-
lich. Bei einem knappen Überblick soll es darum bewenden. Es soll weniger danach
gefragt werden, welche Werte dem Recht tatsächlich aufgegeben werden, sondern viel-
mehr nach den Möglichkeiten abweichender Wertbestimmung. Diese Möglichkeiten
werden in einer bestimmten Reihenfolge aufgeführt: mehr und mehr kommen mate-
riale Merkmale in der Bestimmung des dem Recht aufgegebenen Wertes vor. Dies
bedeutet, daß man mehr und mehr aus der Bestimmung des Rechtswertes soll entneh-
men können, welchen Inhalt er in concreto hat.
Diese Anordnung vorausgesetzt, steht eine Idee des Rechts arn Anfang, die den
Inhalt seiner Normen schlechthin "dahingestellt sein läßt". Sie ist in zweierlei Gestalt
erschienen. Uralt ist das "suum cuique tribuere". Jünger ist wohl die Lehre von der for-
malen Gerechtigkeit, dem Naturrecht mit wechselndem Inhalt (darüber unten).
Weder von der Geschichte des "suum cuique tribuere" kann hier die Rede sein
noch von dem tiefgründenden Sinn, den man mit diesem Wort verbunden haben mag (27).
Das Wort soll viel einfacher verstanden werden: als eine Regel, die es dem Richter
leichter macht, auf richtiges Recht zu erkennen.
Ein Bauer geht auf dem Acker seines Nachbarn spazieren. Er entdeckt einen
Schatz. Er möchte ihn haben. Der Nachbar auch. Ein Richter soll entscheiden. Die
Formel gebietet ihm, er solle dem Bauern das Seine und dem Nachbarn das Seine geben.

10
Naturrecht oder Rechtspositivismus 379

Man wird es dem Richter nachsehen, wenn er fragt, was jeweils "das Seine" ist (28).
Vom Wortsinn her ist mit dem "Seinen" das gemeint, was einem gebührt, d.h., was
einem gegeben werden soll. Eine Einsetzung ergibt: ,,Man soll jedem geben, was man
jedem geben soll". So gesehen, ist das "cuique suum tribuere" nichts weiter als eine
Umschreibung des Problems, deren grammatikalisch sicherer Auftritt die innere Unsi-
cherheit nur zu gerne verbirgt.
Nur wenn eine vom durchschnittlichen Sprachgebrauch abweichende Bestimmung
des "Seinen" zugrundeliegt, die es als Inbegriff des dem Menschen Eigentümlichen
oder ihm wesensmäßig Vorgegebenen begteift (29), fUhrt die Formel weiter. Insoweit
wird sie später behandelt. Bleibt es aber bei dem schlichten "suum cuique tribuere",
fehlt es also an einem damit verbundenen materialen Verständnis des "suum", so ist
die Formel "formalistisch" im (gebräuchlichen!) schlechten Sinn. Es ist nicht sicher,
daß stets, wenn die Formel heutzutage verwendet wird, ein solches Verständnis des
"suum" einbegriffen ist. Dann sollte man sich das Wort versagen; ein allzu unbeschwer-
ter Sprachgebrauch tut denen Unrecht, die das Wort zuerst gesprochen haben (30).
Es gibt ein Schlagwort vom ,,Naturrecht mit wechsendem Inhalt" (31). Damit
hängt ein höchst formaler Begriff der Gerechtigkeit zusammen.
Gerechtigkeit bestimme nicht den Inhalt, sondern die Form des Gesetzes. Es gelte
für alle Gleichgestellten gleich: dies und nur dies sei der Anspruch der Gerechtigkeit (32).
Allgemeiner: Gleiches müsse gleich, Ungleiches ungleich behandelt werden (33).
Da diese Formel offenbar als Urform der Norm verstanden, mithin als zumindest
im Grundsatz für rechtliche Entscheidungen anwendbar befunden wird, ergibt sich, es
sei mit dem "Gleichen" bzw. "Ungleichen" jeweils ein Sachverhalt gemeint.
Offenbar ist so dann nicht von dem selben Sachverhalt die Rede. Dann aber setzt
die Gleichheit (bzw. Ungleichheit) von Sachverhalten eine Elimination von bestimmten
Merkmalen dieser Sachverhalte voraus.
Welche Merkmale werden eliminiert?
Die Formel selber gibt das Kriterium nicht an. Es sei denn, gerade diejenigen Merk-
male dürften ausgelassen werden, die für Gleich- bzw. Ungleichbehandlung nicht relevant
sind. Dann aber sind die Sachverhalte jeweils derart reduziert, daß die Formel folgende
Gestalt empfangt: "Was gleich zu behandeln ist, ist gleich zu behandeln, was ungleich zu
behandeln ist, ungleich". Offenbar soll das "Gleiche" bzw. "Ungleiche" also nicht durch
die Formel selber definiert werden. Dann liegt nahe, er ergebe sich aus Gesetz (34).
Auch Gesetze eliminieren. Man kann dies so formulieren: Der Tatbestand von Nor-
men entsteht aus Sachverhalten durch Elimination irrelevanter Merkmale. So wird
etwa meist von den Merkmalen des Ortes und der Zeit (d.i. der konkreten Zeit; Fristen
etc. sind nicht gemeint!) abgesehen. Dies vorausgesetzt, soll formale Gerechtigkeit
nicht mehr als gleiche Anwendung von Gesetzen bedeuten. Beispiel: Es gebe ein Gesetz:
Wer der Sekte S beitritt, wird mit Gefangnis bestraft. A und B treten der Sekte S bei.
Dann ist es ungerecht, wenn A bestraft wird und B nicht.
Zu einem solchen Gerechtigkeitsbegriff ist zu bemerken:
Er setzt J.haltlich richtiges Recht voraus. Ist diese Voraussetzung nicht erfüllt, so
ist er, wie man wohl sagt, "zu allem fähig". Würde das Gesetz des zweiten Eingangsbei-
spiels (Buchstabenbeispiel) stets durchgeführt, so wäre dies gerecht.
Ja, die Tatbestände von Gesetzen könnten im Grenzfall so eng ausgestattet werden
- eine untere Grenze der Abstraktion ist nicht vorgeschrieben -, daß sie in Sachverhalte

11
380 Jürgen Rödig

übergehen. Dies hätte etwa zur'Folge, daß' ein Verstoß gegen das Gebot der Gleichheit
(Art. 3 GG) streng genommen nicht mehr möglich wäre, allenfalls in verschiedener
Behandlung ein und desselben Falles liegen könnte. Damit ist hinreichend darglegt, daß
das als Gerechtigkeitsideal verstandene Gleichheitsideal höchste rechtliche Ungleich-
heit ebenso ermöglichte wie höchste rechtliche Gleichheit. Es kann darum schwerlich
als letztes Richtmaß allen Rechtes angesehen werden (35). Zwar mag die Höchstform
des Rechtes in Gerechtigkeit bestehen, dann aber darf der Begriff der Gerechtigkeit mit
dem soeben explizierten nicht identisch sein.
Unabdingbar ist eine materiale Bestimmung des richtigen Rechts (36). Ist formale
Gerechtigkeit wenigstens unter dieser Voraussetzung ein fundamentales Prinzip des
Rechts?
Man erinnere das Sektenbeispiel. Was bedeutet es, daß A bestraft wird und B nicht?
Angenommen, die Richter urteilen auf Grund von Normen, deren Voraussetzungen
Tatbestände sind; Voraussetzungen in Gestalt von Sachverhalten sind bereits bespro-
chen. Die Voraussetzungen sollen sodann nicht gerade an die Haarfarbe oder ähnliches,
sondern an den Beitritt zu Sekten anknüpfen. Dann bedeutet die Bestrafung von A und
Nichtbestrafung von B, daß das Recht zwei Normen enthält oder die Richter sich zu-
mindest so verhalten, als enthalte das Recht zwei Normen von der folgenden Gestalt:
"Wer der Sekte S beitritt, wird bestraft", und: "Es ist nicht der Fall, daß, wenn jemand
der Sekte S beitritt, er bestraft wird".
Man sieht leicht, daß die Behauptung beider Normen eine Aussage der folgenden
Form ist: p et non p. Aussagen dfeser Form sind bereits aus logischen Gründen falsch.
Es gibt keine Einsetzung flir p, so daß p und non p zugleich in wahre Aussagen über-
gehen. Die Wahrheit einer durch Einsetzung in p entstehenden Aussage ist mit der
Falschheit einer durch dieselbe Einsetzung in non p entstehenden Aussage äquivalent,
und umgekehrt.
Also, scheint es, ist formale Gerechtigkeit nichts weiter als der Verstoß gegen ein
Gesetz der Logik: den Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch (37).
Sie ist in Wahrheit mehr als dies. Homo homini lupus, heißt es oft. Man tut den
Wölfen Unrecht. Sie sind ritterliche Kämpfer. Droht der eine zu unterliegen, zeigt er
dem andern seinen Hals. Ein Biß in die Schlagader würde ihn töten. Doch der Gegner
beißt nicht zu.
Gesetzt einen Wolf, der nun erst recht zupackt. Verstößt er gegen den Satz vom
ausgeschlossenen Widerspruch? Offenbar nicht. Warum nicht? Weil der Wolf nicht des-
halb seinen Gegner verschont, weil man ihn verschonen muß, und ihn nicht deshalb
nicht verschont, weil man ihn nicht verschonen muß. Daraus aber erhellt, daß formal
gerechtes Verhalten voraussetzt, dieses Verhalten unterstehe einem Gesetz. Die Men-
schen vermögen nur dann gegen formale Gerechtigkeit zu verstoßen, wenn sie ihr Ver-
halten Gesetzen unterworfen wissen. Eine solche Unterwerfung versteht sich nicht von
selbst. Vielleicht macht gerade sie Wesen und Würde des Menschen aus.
Dieser schlechthin fundamentale Sachverhalt wird durch das Prinzip formaler
Gerechtigkeit unübertreffbar klar und einfach ausgedrückt. Also ist gewiß ein Merk-
mal des richtigen Rechts darin begriffen. Dasselbe gilt für einen entsprechend formalen
Pflichtbegriff.
Dennoch kann solche formale Gerechtigkeit nicht als "der" Wert des "richtigen"
Rechtes angesehen werden. Wenn nämlich das Recht die Ordnung ist, die Kollisionen

12
Naturrecht oder Rechtspositivismus 381

menschlicher Handlungen durch Zulassung und Nichtzulassung derselben verhütet,


dann wird bereits eine jede Handlung einem Gesetze unterworfen. Die Idee der forma-
len Gerechtigkeit ist mithin in einem sehr strengen Sinne bereits in der Idee des Rechts
enthalten. Dies mindert ihre Würde nicht, steigert sie eher.
Die "Richtigkeit" des Rechts aber bedarf materialer Bestimmung. Die Merkmale
des "richtigen" Rechts sollen den Gegensatz zu einem unrichtigen Recht ermöglichen,
also nicht schon im Begriffe des Rechts selber enthalten sein.
Vielleicht sind von allen möglichen Rechtsordnungen diejenigen als die richtigen
ausgezeichnet, die wirklich sind. Eine Untersuchung des richtigen Rechts hätte einen
Staat nicht zu belehren, welches Gesetz und welches Recht er geben müsse, sondern
nachzuforschen und nachzuweisen, warum das tatsächlich Gegebene werthaft und
richtig sei (38). Von der Unbestimmtheit des Begriffes der Wirklichkeit sei ganz abge-
sehen. Ist es unter dieser Voraussetzung sinnvoll, der zu Beginn dieser Arbeit dargeleg-
ten Bestimmung der Naturrechtslehre eine Verbindlichkeit des wirklichen Rechts zu
fordern?
Wenn das wirkliche, tatsächliche Rechtsgeschehen ohnehin richtig und vernünftig
ist, so ist jede Bindung überflüssig. Es mag immerhin noch einen Sinn haben, dem
Unabwendbaren verpflichtet zu sein; also etwas wollen zu sollen, dessen Gegenteil
man, selbst wenn man es wollte, nicht könnte. Sinnlos aber ist es, das zu sollen, was
man will (39); denn alles Sollen hat allein in der Beschränkung des Wollens seinen
Bestand.
Wird das "Wirkliche" dagegen nicht als das tatsächliche Rechtsgeschehen verstan-
den, sondern etwa als "Gebot der Stunde", derzeitiger Wille der meisten, oder ähnlich,
so ist das Problem nur umschrieben: Das "Wirkliche" steht - nach außen hin vielsa-
gend - an Stelle des Wertes, um dessen Bestimmung es gerade geht.
Also wird etwas anderes als die Wirklichkeit den verbindlichen Wert des Rechtes
konstituieren. Vielleicht ist dieser Wert in der Autorität irgendeines Willens begriindet.
Soll der Wert des richtigen Rechtes auf einem Willen beruhen, so ist nach den
möglichen Subjekten dieses Willens zu unterscheiden.
Vielleicht beruht der Wert des Rechts auf dem Willen dessen, für dessen Handeln
es gilt. Dann ist erneut zu unterscheiden. Entweder ist der jeweilige Wille gemeint, der
Wille also, der wie die Zeit wechselt und verläuft.
Oder es ist ein Wille gemeint, der sich in einer bestimmten Situation gebunden,
seiner Freiheit entäußert, festgelegt hat: der vom subjektiven zum objektiven gewor-
den ist.
Daß der jeweilige Wille kein Richtmaß des Rechtes sein könne, ist bereits dargetan.
Wie könnte eine Bindung bestehen, das zu sollen, was man will.
Dennoch heißt es einmal bei Spinoza (40), "daß das Recht und die Ordnung der
Natur, unter welchem alle Menschen geboren werden und den größten Teil ihres
Lebens verbringen, nichts verbietet, als was niemand wünscht und niemand kann ... ".
Dem Übermenschen Nietzsches wird der Rückweg "in die Unschuld des Raubtiergewis-
sens" gewiesen (41).
Unter der Herrschaft einer solchen Ordnung geht das objektive Recht in das sub-
jektive über.
Freilich, dem äußeren Wortlaut der Defmition des Rechtes entsprechend könnte
auch jetzt noch die Existenz einer allgemeinen Ordnung behauptet werden: gilt das

13
382 Jürgen Rödig

"Recht des Stärkeren", so wird in jedem Konflikt von Handlungen der Stärkere siegen
und der Schwächere unterliegen. Die Handlung des Stärkeren könnte als die zugelas-
sene, die des Schwächeren als die nicht zugelassene definiert werden. Die Definition
des Rechts ist aber dahin zu verstehen, daß ein solcher Konflikt im Sinne eines Kamp-
fes im einzelnen Falle gerade vermieden und erspart bleiben solle. So ist allem Recht
nicht nur eine formale Idee der Gerechtigkeit, sondern überdies eine Idee des Friedens
immanent: Die Auseinandersetzung der streitenden Mächte soll durch gemeinsame
Setzung einer Ordnung: durch Gesetze also, überwunden werden.
Hieraus ergibt sich eine Verschärfung des Rechtsbegriffes: Das Recht ,)äßt Hand-
lungen zu" oder nicht, indem es den Willen der Menschen anspricht, der allein einem
Zusammenstoß der Mächte zu wehren vermag.
Vielleicht beruht der Wert verbindlichen Rechtes in einem Willen des Einzelnen,
der sich festlegt, gebunden hat. Die Werthaftigkeit eines solchen Willens kann aus
seiner Funktion in einem Weltgeschehen abgeleitet werden, welches zu immer weiterer
Objektivierung fortschreitet, indem der Bereich des Gewollten mehr und mehr gemein-
sam wird oder aber allgemein (42).
Vielleicht ist der Wille des Einzelnen deshalb höchster Wert des Rechts, weil er,
nachdem er sich erst geäußert und in einem Gesetz objektiviert hat, überhaupt die ein-
zig mögliche Basis des Rechts ist. Man sei an kein Gesetz gebunden, dem man nicht
selber habe zustimmen können. Das Recht wird gleichsam aus dem Willen vieler zusam-
mengesetzt, einem Willen, den der Einzelne erst von sich abgelöst hat: wie man etwa
anläßlich einer Sammlung den Geldbeutel zieht, eine Münze entnimmt und in eine
gemeinsame Kasse gibt, damit sie sich dort mit den Münzen der anderen Spender ver-
eine. Danach ist Recht zwar autonome Ordnung (43) im besten Sinne; aber auch nur
diese.
Seit wann wird dem Willen eine solche Achtung zuteil? Gesetzt, ein Mann
wolle (!) sein Kind töten; tötet er es deshalb mit Recht? Der Einwand liegt nahe:
sicherlich habe sich dieser Mann, indem er Leistung und Ordnung seines Gemeinwesens
in Anspruch genommen habe, mit dem Verbot des Kindermordes einverstanden
erklärt (44). Gut. Aber der Mann sei offenkundiger Anarchist. Tötet er sein Kind unter
dieser Voraussetzung mit Recht? Antwort: Erverstößt jedenfalls nicht gegen Recht,
allenfalls gegen sein Gewissen. Wird er in das Zuchthaus geschickt, so handelt das
Gericht, das ihn verurteilt, und handelt die Behörde, welche die "Strafe" vollzieht, im
Grunde nicht "von Rechts wegen": beide Behörden vertreten die Mehrheit, die·dem
Mörder oder Totschläger gegenüber zwar nicht im Recht ist, jedoch mächtiger ist
als er.
Wie aber, wenn es sogar ein Gesetz gäbe, das dem Vater unter bestimmten Umstän-
den - etwa Schwächlichkeit des Kindes - gebietet, sein Kind zu töten? Wobei davon
auszugehen ist, dieses Gesetz entspreche dem Willen aller, beruhe also auf der Autono-
mie des vereinigten Willens. Soll dieses Recht für einen Vater verbindlich sein, der sein
schwaches Kind über alles liebt und bitter bereut, daß er sich je mit einem solchen
Recht hat abfinden können?
Gesetzt, die Familie habe eine Schiffsreise angetreten. Das Schiff sei untergegan-
gen. Vater und Kind sollen allein sich auf eine verlassene Insel haben retten können.
Ist es selbst unter diesen Voraussetzungen ein fur den Vater verbindliches Recht, er
müsse nunmehr sein Kind töten?

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Naturrecht oder Rechtspositivismus 383

Offenbar geht doch die "Objektivität" und darin bestehende Verbindlichkeit des
Willens nicht soweit, jemand sei an Entschlüsse von einst fortan und auch dann gebun-
den, wenn sie ausschließlich ihn selber betreffen.
Also ist es eigentlich nicht nur der Wille, der das Recht wertvoll und verbindlich
macht. Das Wesentliche ist nicht allein der Wille des Einzelnen, er werde sich in
bestimmter Weise verhalten, sondern auch der Umstand, wem gegenüber dieser Wille
geäußert worden ist.
Damit ist die - höchst einfache - Lösung hinreichend vorbereitet: Die Verbind-
lichkeit des geäußerten und festgelegten Willens beruht ganz schlicht darin, daß ,,man"
sich auf diesen Willen verläßt. Selbst ein "schlecht" gewolltes Recht kann darum ver-
bindlich sein, dann nämlich, wenn die Abkehr davon einen größeren (Vertrauens-!)
Schaden auslösen würde als seine Befolgung.
Es folgt daraus: Ein Wille, der nur einem (bestes Beispiel: einern Vertragspartner)
gegenüber geäußert worden ist, hat weniger Vertrauen begründet als ein Wille, der an
viele (etwa an die andem Mitglieder einer Korporation) oder an alle (den "Staat")
geäußert und gerichtet worden ist. Dies ist von Bedeutung für die oben explizierte
Güterabwägung.
Dies vorausgesetzt, besteht der Wert des richtigen Rechts darin, daß seine Normen
gewollt und mit Vertrauen ausgestattet sind. Das Gewolltsein der Normen, die Freiheit-
lichkeit des Rechts reicht nicht aus, seine Richtigkeit zu konstituieren; es kommt der
Wert der Treue (Schutz des Vertrauens) hinzu.
Vielleicht beruht der Wert richtigen Rechts auf fremdem Willen,
sei es auf dem Willen eines Königs,
sei es auf dem Willen Gottes.
Ein Naturwissenschaftler könnte uns belehren, daß die Natur zu gewissen höchst
komplizierten Vorgängen faltig ist. Man bedenke das Werden des Lebens. Zuweilen
wird bereits aus der Natur der Geschöpfe hergeleitet, eine Verhinderung ihres Werdens
und Lebens verstoße wider natürliches Recht. Diese These wird später behandelt. Viel-
leicht aber ist etwas anderes gemeint: die Natur gebiete nicht allein, "aus sichtbaren
Vollkommenheiten auf den Seienden zu schließen" (45), sondern zugleich auch zu
schließen auf den Willen des Schöpfers, der die Natur so will und nicht anders.
So gewaltig und im letzten zwingend dieser Weg auch sein mag: er überschreitet
die Grenzen menschlicher Kraft. Der göttliche Wille ist nicht umsonst in göttliche Sat-
zung eingegangen. Damit ist das Problem der Rechtstheologie angesprochen: dieser
Untersuchung zugleich die Grenze angezeigt (46).
Beruht die Richtigkeit des Rechtes auf anderen Werten als dem Willen, sei es dem
menschlichen, sei es dem göttlichen? Einige dieser Werte seien unten aufgezählt; es
folgt darauf eine kritische Bemerkung über Lehren, die den höchsten Wert des Rechtes
in eben diesen Werten sehen:
Werte, von denen angenommen wird, sie seien im Recht als höchste vor- und auf-
gegeben.
Der Wert der Freiheit. Es sei an die Definition des Rechts angeknüpft: Recht als
die Ordnung, welche flir jeden Konflikt von Handlungen sagt, welche Handlung zuge-
lassen ist und welche nicht. Offenbar zerlegt jede Rechtsordnung die Menge der Hand-
lungen in zwei Teilmengen, in die der zugelassenen und die der nicht zugelassenen
Handlungen. Es gibt keine Handlung (also: kein "Element"), welche der einen und der

15
384 Jürgen Rödig

andem Menge angehört, aber es gibt auch keine, welche weder Element der einen noch
der andem ist. Unter der Voraussetzung, daß die Menge der Handlungen nicht unend-
lich und von den Mengen der zugelassenen Handlungen eine die größte ist, ließe sich
diese größte als "das" (Eindeutigkeit!) Naturrecht definieren (47). Der Wert eines sol-
chen Naturrechts würde in seiner maximalen Freiheit bestehen.
Dennoch besteht die Freiheit einer solchen Rechtsordnung gerade nicht notwen-
dig darin, daß sie auf dem Willen derer beruht, für die sie gilt. Man kann sehr wohl eine
Rechtsordnung wollen, die nur verhältnismäßig wenige Handlungen zuläßt. Es liegt
nun aber sehr nahe, daß die Freiheitlichkeit einer Rechtsordnung gerade darin bestehe,
daß sie frei gewollt ist: denn dieser Fall schließt den der inhaltlichen maximalen Frei-
heit ein (48).
Der Wert der Wohlfahrt und des materiellen Glücks ist als hoher, wenn nicht ober-
ster Wert allen Rechtes angesehen worden.
Auguste Comte (49) hat solche Wohlfahrt nicht minder gefordert als Thomasius
oder Christian Wolff (50).
In neuerer Zeit hat Maihofer (51) das richtige Recht: das Naturrecht, ähnlich ver-
standen: als Existenzrecht, Recht aufbestimmungsgemäße Existenz des Menschen mit
dem Menschen, ausgerichtet am Leitbild einer menschenwürdigen und zugleich lebens-
werten Ordnung.
Weitere Werte: Menschlichkeit (52), Geselligkeit (53), Bewahrtheit (54), Gebor-
genheit (55); aber auch das (kulturelle) Werk könnte als höchstes Ziel der Gemein-
schaft und damit des Rechts begriffen werden (56).
All diese Werte sind darum an letzter Stelle aufgeführt worden, weil es scheint. als
seien sie gleichsam naturwissenschaftlicher Beschreibung fähig; mit diesen Werten sei
das richtige Recht bereits konkret gegeben. Insbesondere sei es unabhängig geworden
vom Willen derer, für die es gilt. Die Erkenntnis des Menschen führe Zur Erkenntnis
des ihm angemessenen und darum allein richtigen Rechts.
Aber es ist gefährlich, dem Menschen zu sagen, ja sogar in rechtlicher Form zu
befehlen, wie er sich seinen Interessen gemäß richtig verhalte. Sind die "wahren" Inter-
essen des Menschen auf äußere Sicherheit oder inneren Frieden gerichtet, auf Genuß
oder schöpferische Gestaltung, auf Geselligkeit oder immerwährenden Kampf und
stete Bewährung? Gerade die Beobachtung des Menschen zeigt, daß bestimmte Inter-
essen bestimmter Menschen gegenteilige Interessen anderer bedingen. Es ist also höchst
fragwürdig, von "dem" Interesse als dem richtigen zu sprechen: in Wahrheit ist das
Interesse mit dem identisch, was ein Mensch will; nur weil sich der Wille der Menschen
in einiger Hinsicht deckt - leben wollen, essen wollen, schlafen wollen, gesund sein
wollen, mächtig sein wollen, reich sein wollen - , nur deshalb ist der Begriff des Inter-
esses nützlich: das Interesse figuriert als Sammelname. Ein ungenauer Sprachgebrauch
freilich sieht von diesem Ursprung ab und geht zum Interesse als dem durchschnittli-
chen Willen über; dies vorausgesetzt, vermag es einen Gegensatz zwischen Interesse und
wirklichem Willen zu konstruieren. Durchweg aber kann das Interesse nur vom Willen
her verstanden werden; ein davon unabhängiges Verständnis fUhrt in die Irre.
Dies bedeutet, daß Lehren, welche den Wert des Rechtes unabhängig vom Willen
zu bestimmen suchen, zumindest insoweit fehl gehen, als sie ein "wahres" Interesse des
Menschen zu Grunde legen. Vielleicht soll das Interesse die praktischen Schwierigkei-
ten überwinden helfen, den wirklichen Willen zu finden; vielleicht aber ist es nur ein

16
Naturrecht oder Rechtspositivismus 385

Ersatz des wohl bekannten, doch unbequemen Willens. "Was dem Volke nützt", nützt
nicht immer dem Volk.
Ergebnis dieser Zwischenuntersuchung ist die Erkenntnis, daß auch das richtige
Recht mit Notwendigkeit ein gewolltes ist: sei es ein von Gott, sei es ein von einem
einzigen, den meisten oder allen Menschen gewolltes Recht. Damit ist die Frage nach
dem richtigen Recht an ihre obere Grenze gefUhrt: sie geht über in die Frage nach dem
richtigen Wollen. Also hört sie auf, juristische Frage in einem durchschnittlichen
Sprachgebrauch zu sein. Aber warum sollte die Existenz des Menschen im Recht nicht
als Teil seines sittlichen Daseins begriffen werden? Warum sollte es keine juristischen
Fragen geben, die zugleich sittliche Entscheidung fordern?
Aber auch nur diese Sicht macht es möglich, ein auf göttlichem Willen und ein auf
menschlichem Willen gründendes "richtiges Recht" letztlich von einer gemeinsamen
Basis her zu verstehen.
Ein Einwand liegt nahe: eine solche ZUTÜckfUhrung des Rechts auf Sittlichkeit und
Gewissen bedeute eine Erschütterung ohnegleichen; das Recht höre auf, objektive Ord-
nung zu sein, und werde unsicher, ratlos und schwach wie das Gewissen selber. Der
zweite Teil dieser Untersuchung wird zeigen, daß dieser Einwand einen bemerkenswer-
ten Umstand übersieht.
b) Eine Rechtsordnung ist richtig, wenn es den (Rechts-)Wert Wi gibt und die
Rechtsordnung im Kollisionsfalle Handlungen zuläßt, die den Wert Wi erfüllen (d.h.,
denen positive Wertverhalte bez. Wi zugeordnet sind). Die bisherige Untersuchung hat
von den Werten gehandelt, von denen man annimmt, "es gebe sie": sie seien dem
Recht als Ziel und Endzweck aufgegeben. Stehen diese Werte fest, so ist es nötig, daß
die Rechtsordnung die richtigen Mittel fmde, diese Werte zu verwirklichen. Von der
Eigenart des jeweiligen Zieles kann hierbei abgesehen werden.
Die Frage nach dem richtigen Mittel ist identisch mit der Natur der Sache, wenn
dieses Wort einen vernünftigen Sinn haben soll.
Jede Rechtsordnung hat ein Ziel. Das Ziel einer Rechtsordnung besteht in einem
Inbegriff von Wertverhalten. Oben ging es darum, daß Sachverhalten Wertverhalte ent-
sprechen. Nun ist jeder Sachverhalt kausal durch andere bedingt. Andererseits sind
Handlungen - jedenfalls u.a. - Sachverhalte. Folglich wird eine Rechtsordnung, der es
um die Verwirklichung bestimmter Wertverhalte geht, solche Handlungen gebieten, die
auf Grund der irdischen Kausalität: d.h. gemäß der Natur der Dinge, gerade zu den
Sachverhalten fUhren, die den gewünschten Wertverhalten entsprechen.
Da es keine Handlung gibt, die verursachen könnte, daß eine Mutter bereits im
dritten Monat gebiert, ist eine entsprechende Rechtsnorm von wegen der Natur der Sache
fehlsam. Gehört es zu den von einem Recht erstrebten Werten, daß die Äcker reich
Frucht tragen, so ist eine Rechtsnorm, die mehrmaliges Bepflanzen eines und desselben
Ackers mit derselben Frucht gestattet, u.U. mit der Natur der Sache nicht verträglich.
Man sieht: Auch wenn die Natur der Sache in diesem engen Sinn verstanden wird,
ist sie doch ein ungemein wichtiges und echtes juristisches Prinzip: Sie fordert den
Juristen auf zu Weltoffenheit und - nicht anders als den Naturwissenschaftler - zum
Respekt vor den Tatsachen.
Damit ist auch der Begriff des "richtigen Rechts", soweit dies für die vorliegende
Arbeit von Bedeutung ist, geklärt.

17
386 Jürgen Rödig

2. Die Dualität von richtigem und geltendem Recht

Wir sind davon ausgegangen, daß Rechtspositivismus die Bindung an das geltende und
Naturrecht die Bindung an das richtige Recht bedeutet und daß die Dualität beider
Standpunkte so viele Variationen zuläßt, als Begriffen des geltenden Begriffe des richti-
gen Rechts entgegengesetzt werden können. Da wir nur einen Begriff des geltenden
Rechts gefunden haben, der nicht zugleich - und in Wahrheit - das richtige Recht
meint, ist die gesuchte Dualität genauso vielfach, als es Naturrechtslehren gibt.
Dies gilt freilich nur, wenn es tatsächlich einen Rechtspositivismus gibt, der die
Verbindlichkeit des rein geltenden und nicht notwendig auch richtigen: d.h. des mäch-
tigen Rechts behauptet. (Ein entsprechender Vorbehalt wurde berei ts oben angemerkt.)
D.h.: es gibt eine Lehre, welche verlangt, man sei an das Recht gebunden, dem man
ohnehin, ob man es wolle oder nicht, unterworfen sei. Eine solche These kann selbst
einer positivistischen Lehre schwerlich zugemutet werden. Der Rechtspositivismus
besteht offenbar in mehr als in einer Lebensregel, man füge sich zweckmäßig dem nicht
Abwendbaren.
Also ist die Auseinandersetzung von Rechtspositivismus und Naturrechtslehre eine
Auseinandersetzung von Richtigkeitslehren.
Was aber die Naturrechtslehren angeht, so bedarf es nach der Schrift von Wolf(57)
keines Hinweises mehr, sie seien derart vielgestaltig, daß nur noch ihre Funktion eine
gemeinsame Einordnung gestattet. Nun ist es Funktion aller Naturrechtslehren, das
jeweils geltende Recht zu legitimieren (58); aber erst, nachdem das geltende am Natur-
recht gemessen worden ist; darum ist das Naturrecht letztlich Richtmaß des geltenden.
Nun ist es sicher zulässig, das Naturrecht - wie jedes Ding - von seiner Funktion her
zu definieren (59). Dann ergibt sich: Unter dem Naturrecht wird Recht, das Richtmaß
sein kann: also richtiges Recht verstanden.
Eine Einsetzung ergibt: Die Auseinandersetzung von Rechtspositivismus und
Naturrechtslehre ist eine Auseinandersetzung von Naturrechtslehren. Nun fragt es sich:
Gibt es wenigstens ein klares Merkmal, welches es gestattet, von den Naturrechtslehren
bestimmte Lehren auszuzeichnen und mit dem Namen "Rechtspositivismus" zu
belegen?
Auch dieser Weg ist nicht gangbar. Die einzelnen Auffassungen über den Rechts-
positivismus weichen so sehr voneinander ab und sind zuweilen so wenig genau, daß sie
beim besten Willen nicht imstande sind, bestimmte Naturrechtslehren zu qualifizieren.
Klar und einfach ist jener Begriff des Rechtspositivismus, von dem wir - darum! -
ausgegangen sind. Wohin er fUhrt, ist deutlich geworden. Davon abweichende Bestim-
mungen des Rechtspositivismus sind weit weniger scharf; um es zugespitzt zu sagen:
sie sind genauso scharf wie der Begriff des richtigen Rechts. Die einzelnen Gestalten
des Rechtspositivismus sind bisher ausgespart, besser noch: nicht mit Namen genannt
worden, weil sich ihre Problematik mit der des richtigen Rechts deckt. Dies soll kurz
nachgewiesen werden.
Soweit man unter Positivismus den wissenschaftlichen Standort etwa der Wiener
Schule, d.h. die symbolische Logik, versteht, ist ein solcher Positivismus natürlich
auch vom Juristen vertretbar. Vielleicht ist er oder doch eine ähnliche Einstellung
sogar Gebot. Nur darf es dieser Positivismus verlangen, als die Lehre verstanden zu wer-
den, die sie ist: Sie will nie und nimmer sachliche Auskunft geben, sondern, eine solche

18
Naturrecht oder Rechtspositivismus 387

vorausgesetzt, ftir ein einwandfreies Denken sorgen, Man tut der juristischen Logik
Unrecht, wenn man sie in der Nachfolge der Begriffsjurisprudenz sieht oder gar mit
naturhistorischer Denkart belastet. Das Entstehen von Normen aus Begriffen, das
begrifflich Unmögliche, Mögliche, Unabwendbare; aber auch das Untergehen, Erlö-
schen, sich Verwandeln: all diese Begrifflichkeit hat mit juristischer Logik nichts
gemein. Umgekehrt hat gerade Klug mit großen Ernst darauf hingewiesen, der Jurist
müsse stets beides im Auge behalten: logisches und teleologisches Denken (60).
Nun ist mit einem solchen ,,Positivismus" oft, abernicht irnmer (61),ein Positivis-
mus in dem Sinne verbunden, wie Cornte ihn begründet hat. Gemeint ist eine Lehre,
die nur glaubt, was wißbar und beweisbar ist. Eine solche Lehre vermag dem Recht
durchaus Werte aufzugeben: nur werden dieselben weder der Göttlichkeit des einzel-
nen Objekts (Animismus) noch dem Willen mehrerer Götter (Polytheismus) noch dem
Willen eines Gottes (Monotheismus) entnommen (theologisches Stadium); noch
werden sie den Wesenheiten entnommen, die ein fortschreitender Geist an die Stelle
der Gottheit gesetzt hat (metaphysisches Stadium) (62). Die Werte ergeben sich viel-
mehr aus einer naturwissenschaftlichen, nüchternen, genauen, nützlichen, kurz: einer
positiven (63) Betrachtung von Mensch und Welt. Auch der so verstandene Positivis-
mus vermag Sachverhalten Wertverhalte zuzuordnen; nur mit abweichender Begründung.
Man sieht leicht ein, daß beiden Gestalten des Positivismus je eine bestimmte
Naturrechtslehre entspricht. Einem Positivismus, der die Beachtung formaler Logik
gebietet, entspricht die formale Lehre des richtigen Rechts bzw. der Gerechtigkeit (64);
beide Standpunkte sind auch in Gefahr, denselben Fehler zu begehen: aus formaler
Wahrheit auf materiale schließen zu wollen, wiewohl dieser Fehler selten genug began-
gen wird. Jener zweiten Gestalt des Positivismus, die nur glaubt, was sie beweisen
kann, die auch den Menschen naturwissenschaftlicher Analyse unterzieht und derart
die Güter ermittelt, die ein Recht zu fördern und zu schützen habe, stehen insbeson-
dere jene Naturrechtslehren nahe, welche nach dem "wahren" Interesse des Menschen
und einer ihm entsprechenden Ordnung suchen (65).
Manche Naturrechtslehren sehen Grund und Rechtfertigung allen Rechts im Wil-
len dessen, dem es gilt. In großen Staaten wirkt der Wille des Einzelnen nicht unmittel-
bar auf das Recht ein, sondern mittelbar: über den Willen anderer. Diese Mittelbarkeit
des Willens sollte eigentlich nicht nur technischer Behelf sein, sondern ein Instrument
der Läuterung und Besserung des vom Volk Gewollten (66). Dennoch kann die Reprä-
sentation ihr Ziel verfehlen: indem sie ihre Ämter schlechten Waltern zur Verftigung
stellt und die Allgemeinheit schlechter Gesetze gebietet. Sollen solche Gesetze verbind-
lich sein? Vielleicht, weil sie eben dem Willen aller entsprechen: dann ist der Gesetzes-
positivismus (67) mit einer naturrechtlichen Willenslehre äquivalent; je nach dem Kri-
terium, an welchem der Wille abgelesen wird - auch die Naturrechtslehre muß diesen
Willen irgendwie ermitteln! - kann von einem "soziologischen" (68) oder gar einem
"psychologischen" (69) Rechtspositivismus die Rede sein.
Vielleicht aber gebietet der Gesetzespositivismus die Verbindlichkeit von Gesetzen
und nur von Gesetzen, weil nur dadurch jedenfalls eine, wenn auch nur schlechte, Ord-
nung geschaffen werde. Dann aber will der Gesetzespositivismus sachlich dasselbe wie
jene Naturrechtslehre, welche vom Recht nicht eine ideale, sondern eine wirkliche Ord-
nung: Sicherheit (70), verlangt. Stützt sich der Gesetzespositivismus auf die hinter dem
Gesetz stehende Macht, so identifiziert er sich mit derselben Naturrechtslehre (71).

19
388 Jürgen Rödig

Der "wissenschaftliche Positivismus", den Wieacker anführt (72), ist eine Lehre,
die allein rechtswissenschaftliche Begriffe und Lehrsätze achtet, außerjuristischen Wer-
tungen oder Zwecken aber weder die Kraft zuerkennt, Recht zu erzeugen, noch beste-
hendes zu ändern. Vielleicht begründet sich ein solcher Positivismus damit, nur das
gesetzte Recht mit seinen Begriffen und Befehlen vermöge zu verpflichten, weil nur es
den reinen Willen des (repräsentierten!) Volkes verkörpere. Das "Bewußtsein des Juri-
sten" trübe diesen Willen nur. Dann ist dieser Positivismus wiederum so nahe bei einer
naturrechtlichen Willenslehre angelangt, daß er von dieser nur schwerlich unterschieden
werden kann. Es hat durchaus seinen tiefen und gerade auch naturrechtlichen Sinn,
daß Windscheid den "Juristen als solchen" gemahnt hat, er sei weder Gesetzgeber noch
Rechtspolitiker (73).
Vielleicht möchte Wieacker - im Gegensatz zu dem besagten Positivismus - sozial-
ethische Wertungen, soziologische Zweckmäßigkeiten oder Ähnliches berücksichtigt
wissen: dann vertritt er einen zwar höchst einleuchtenden Standpunkt, aber auch
genau den, den der teleologische oder auch soziologische Positivismus vertritt.
Es ist mittlerweile schwierig geworden, - umgekehrt - nach einer Naturrechts-
lehre zu suchen, deren Inhalt nicht auch von irgendeinem Positivismus behauptet wird.
Selbst eine Naturrechtslehre, die Befolgung des göttlichen Willens fordert, könnte
angenähert werden durch einen psychologischen Positivismus, welcher auf die Seele
und damit das ("gegebene") Gewissen abstellt, oder einen Positivismus im allgemeinen
philosophischen Sinne, der durch genaue Betrachtung der Natur das ihr entsprechende
ermitteln will.
Dieser Sachverhalt kann nicht deutlich genug formuliert werden. "Sich fur das
Naturrecht und gegen den Rechtspositivismus entscheiden" bedeutet: sich für eine
bestimmte Naturrechtslehre und sich gegen andere Naturrechtslehren entscheiden. Dies
vorausgesetzt, stiftet der beliebte häufige Gebrauch des Wortes "Rechtspositivismus",
,'positivist!", oder "positivistisch" nur Verwirrung. Hieraus erhellt auch das unange-
nehme GefUhI, das eintritt, wenn Denker wie Radbruch dem Sinne nach, und zwar
abwertend, als Positivisten eingeordnet werden (74). Es sollte nicht verkannt werden,
daß es letztlich allen um das richtige Recht geht; sie haben verdient, daß sowohl der
Ernst ihrer Frage wie auch der Ernst ihrer Antwort geachtet werde. Allzuleicht wird
Positivismus mit Diesseitigkeit oder gar mit Oberflächlichkeit verwechselt.
Der erste Teil dieser Untersuchung hat gezeigt, daß es geHihrlich ist, zu fragen:
"Naturrecht oder Rechtspositivismus?"; geHihrlicher noch, auf diese Frage eine Ant-
wort zu geben.

Zweiter Teil: Eine Antwort

A. Es hat sich ergeben, daß stets nur die Verbindlichkeit richtigen Rechts
behauptet wird
Wir hätten dieses Ergebnis auf einfacherem Weg erzielen können: Wie könnte die Ver-
bindlichkeit eines andern als eines irgendwie richtigen Rechts behauptet werden!
Das verbindliche Recht ist mit dem richtigen Recht identisch.
Nun haben wir den Fall, Verbindlichkeit bedeute nur die Fähigkeit sich durchzu-
setzen, bereits ausgeschieden. Dann aber kann Verbindlichkeit nichts anderes sein als

20
Naturrecht oder Rechtspositivismus 389

Bindung des Willens, und zwar nicht beliebige Bindung, sondern Bindung an göttlichen
Willen, irdisch verstandene Sittlichkeit: jedenfalls an das Gewissen (75). Diese kühne
These sei vereinfacht: Das richtige Recht ist identisch mit dem Recht, dem man auf
Grund seines Gewissens verpflichtet ist.
Es scheint, als entziehe ein solches Verständnis des Rechts allem objektiven Recht
den Boden und verkehre es in eine Vielzahl und verwirrende Mannigfaltigkeit subjekti-
ver Ordnungen. Dennoch vermag auch ein solches Verständnis des richtigen Rechts
seine Objektivität - freilich nur in einem ganz bestimmten Sinne - zu begründen.
I. Allein die Bestimmung des richtigen Rechts vom Gewissen her vermag seiner
Verschiedenheit von Fall zu Fall gerecht zu werden.
Was nützt ein schlechthin ideales Recht, wenn die überwiegende Mehrheit des Vol-
kes nach einem andern lebt? Ein Richter, der zur überzeugung gelangt, gutgläubiger
Erwerb sei mit einer idealen Ordnung nicht vereinbar, dieser Richter würde durch ent-
sprechende Urteile nur Verwirrung stiften, und zwar nicht einmal eine nachhaltige,
sondern nur vorläufige Verwirrung; seine Urteile würden das Recht nicht in seinem
Sinne besser machen.
Vielleicht ist dieser Richter Mitglied des Bundestags geworden: dann freilich darf
er mit all seiner Kraft auf das Recht hinwirken, das allein er fur richtig hält.
Ein Verwaltungsbeamter kann von der Verwaltungspraxis schwerlich abweichen;
aber er kann seine Stimme einem Abgeordneten oder einer Partei geben, deren Ziel
eine Änderung dieser Verwaltungspraxis ist.
Ein Verkehrsfachmann ist mit der gegenwärtigen Ordnung des Straßenverkehrs
nicht zufrieden. Dennoch muß er rechts fahren. Aber er kann ein Buch schreiben, es
sei besser, links zu fahren.
Man sieht: Es ist dem Verkehrsfachmann, dem Verwaltungsbeamten und dem
Richter, die alle drei nach dem fUr sie richtigen, hic et nunc verbindlichen Recht fra-
gen, mit dem Hinweis auf irgendeine ideale naturrechtliche oder ähnliche Doktrin
wenig geholfen. Es leuchtet allen dreien ein, daß sie schwerlich so entscheiden kön-
nen, wie sie es "eigentlich" fUr richtig hielten.
Zwingend ist das Ergebnis: Die Richtigkeit des jeweils verbindlichen Rechts hängt
von den Umständen ab. Von diesen Umständen ist hier in einem genauen Sinn die
Rede. Um welche Umstände es sich handelt, ist bei der Besprechung des richtigen
Rechts bereits angedeutet worden: Es kommt darauf an, ob die anderen sich auf eine
bestimmte Ordnung verlassen.
Dies vorausgesetzt, leuchtet es unmittelbar ein, warum fUr den Richter, Verwal-
tungsbeamten und Verkehrsfachmann einmal dieses, ein andermal jenes das richtige
Recht sei.
II. Zwei Fälle sind zu unterscheiden:
1. Ist eine Ordnung, auf die sich alle verlassen, noch nicht vorhanden, gilt es, diese
Ordnung erst zu schaffen, so ist es Gewissenspflicht eines jeden, mit all seiner Kraft
auf die Ordnung hinzuwirken, die er - wiederum auf Grund seines Gewissens - fUr
die richtige hält. Sind alle, die sich in einer solchen Lage befinden, mit ähnlicher
Macht ausgestattet, so wird man sich später nur auf eine solche Ordnung verlassen
können, welche die meisten wollen. Also wird sich der Einzelne zwar um eine Mehr-
heit fUr sein Recht bemühen, sich aber auch einer abweichenden Ordnung fUgen;

21
390 ]ürgen Rödig

es sei denn, diese Ordnung sei mit dem Gewissen des Einzelnen nie und nimmer ver-
einbar.
Ähnlich liegt es, wenn eine Ordnung zwar vorhanden ist, aber nur auf Macht
gegründet ist; eine Ordnung also, auf die ,,man" sich im Grunde nicht verläßt, mit der
man nur notgedrungen rechnet. Ist ein grausamer Diktator an der Herrschaft, so ist es
Gewissenspflicht eines Jeden, mit aller Macht hinzuwirken auf seinen Sturz. Selbstver-
ständlich sind die geltenden Gesetze insoweit nicht verbindlich, als ihre Einhaltung
sich mit diesem Ziel nicht verträgt. Aber es kann auf Grund dieses Zieles von Fall zu
Fall geradezu geboten sein, die geltenden Gesetze einzuhalten. Man sieht: Die Katego-
rien der Naturrechtslehre und des Rechtspositivismus ftihren in dieser entscheidenden
Lage nicht weiter. Den allermeisten Widerstandskämpfern ist sicherlich bewußt, die
gegenwärtige Ordnung sei nicht ideal, eine andere besser. Aber was nützt ihnen die
Kenntnis aller Naturrechtslehren, wenn keine von ihnen Auskunft gibt, ob die geplante
Verschwörung nur noch mehr Verwirrung und Schaden anrichtet oder aber zu dem
ersehnten Umsturz fUhrt?
Wer eine Schreckensherrschaft mitgemacht hat, wird vielleicht danach sagen: um
die Frage nach der Richtigkeit des geltenden Rechts sei es nicht so sehr gegangen -
hier sei man nicht im Zweifel gewesen. Entscheidend sei es auf Fragen der Taktik, des
geschickten, klugen, planmäßigen Verhaltens angekommen.
2. Gesetzt eine Ordnung, auf welche die Mehrheit sich verläßt, sei schon vorhanden.
Dennoch soll daran festgehalten werden, daß sie fUr den Einzelnen nur insoweit ver-
bindlich ist, als sie nicht gegen sein Gewissen verstößt. Bedeutet dies, diese Ordnung sei
in Frage gestellt, nämlich der "Ungewißheit und Haltlosigkeit des Gewissens" ausgesetzt?
Sicherlich wird es nur wenige geben, welche mit der bestehenden Ordnung bis ins
Einzelne einverstanden sind. Immer wieder hört man: Eigentlich müßte es anders sein.
Aber sowohl das Interesse wie auch - und vor allem! - das Gewissen der meisten wird
darin übereinstimmen, es sei an der geltenden und "verläßlichen" Ordnung festzuhal-
ten: eben weil es allgemein einleuchtet, die Mängel der Ordnung seien geringer als die
Nachteile seiner Abweichung.
In dieser Gemeinsamkeit der Güterabwägung aber besteht die Objektivität des
Rechts.
Es ergibt sich, daß die "Richtigkeit des Rechts" etwas ganz verschiedenes bedeutet,
je nachdem, ob dieses Recht schon besteht oder erst zu schaffen ist. Genau genommen
geben die ·meisten Naturrechtslehren nur auf die letzte Frage eine Antwort. Gibt es in
diesem zweiten Sinne "das" richtige Recht? Ja, wenn aller Gewissen dasselbe gebietet,
und zwar: bis ins Einzelne hinein das Selbe! Diese Frage, ans Ende der theoretischen
Erörterung gestellt, soll eine Möglichkeit aufzeigen, wie das "richtige Recht" der Men-
schen übergehen könne in das göttliche Recht.

B. Die an den Anfang dieser Untersuchung gesetzten Fälle sind zu lösen

Fall 1: Was soll der Richter tun, der meint, es sei nicht richtig, mit dem Tode zu
bestrafen? Bestraft er nicht, so geht der Prozeß mit Sicherheit in die höhere Instanz.
Dort wird der Totschläger selber zum Tode verurteilt. Der Richter, der vom Gesetz
abweicht, hält die Rechtspflege nur auf. Er ändert weder sie noch das Gesetz. Die Nach-
teile einer Abweichung vom Gesetz sind größer als dessen mögliche Mängel.

22
Naturrecht oder Rechtspositivismus 391

Fall 1: Hier stiftet bereits das Gesetz Verwirrung! Das Volk zerstreitet sich an
einem solchen Gesetz. Das Gesetz schafft keine verläßliche Ordnung. Eine abwei-
chende Entscheidung des Richters wäre ein durchaus hoffnungsvoller Beitrag zu einer
neuen Ordnung, die des Friedens fähig und die beständig ist.
Fall 3: Die herrschende Gewalt ist zwar nicht legitim. Doch gegen das Gesetz sel-
ber ist nichts auszusetzen. Es wäre nicht klug, würde dem Tyrannen dort Widerstand
geleistet, wo er sich anerkennenswert verhält. Es würde seine Stellung eher bestärken:
er könnte sich auf "seine bessere Ordnung" berufen.
Fall 4: Hier sind Herrschaft und Gesetz von übel. Das Gesetz ist ftir den Richter
nicht verbindlich.
Die Fälle sind mit Vorbedacht so entschieden worden, daß der Leser nicht recht
einverstanden ist. Er gibt für die Lösung des ersten Falles zu bedenken, möglicherweise
sei doch eine Abweichung vom Gesetz geboten. Verurteile etwa ein sehr hoher und
angesehener Richter nicht zum Tode, unterziehe er sich den damit verbundenen Nach-
teilen, so werde er seine Mitbürger nachdenklich stimmen. Umgekehrt sei selbst das
Gesetz des vierten Falles verbindlich, wenn etwa eine Verschwörung im Gange sei und
es aus Gründen der Taktik darauf ankomme, dem Tyrannen vorzutäuschen, seine Herr-
schaft sei unerschütterlich und werde nicht bedroht. -- Hegt der Leser solche Zweifel,
so hat diese Untersuchung ihre Aufgabe geleistet: Sie hat den Leser in die Problematik
eingeführt, die der Sache nach besteht.

Anmerkungen

(1) Das Problem der Naturrechtslehre. Versuch einer Orientierung. 3. Aufl., Karlsruhe 1964.
(2) Kempski, Jürgen von, Bemerkungen zum Begriff der Gerechtigkeit, in: den, Recht und Poli-
tik. Studien zur Einheit der Sozialwissenschaft, Stuttgart 1965, S. 52.
(3) Wolf, Erik (Anm. 1) S. 158 ff.
(4) das. (Anm. 1) S. 162 ff.
(5) das. (Anm. 1) S. 181 ff.
(6) Kant, Metaphysik der Sitten. Einleitung in die Rechtslehre, § B a.E. (Werke, ed. Weischedel,
Bd. IV, S. 337).
(7) Wolf, Erik (Anm. 1) S. 148 ff.
(8) Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre, in: Werke (ed. Schlechta), Bd. III, S. 88l.
(9) Binder, Julius, Philosophie des Rechts. Berlin 1925, S. 819 f.
(0) Rechtsphilosophie, 6. Aufl, hrsg. v. Erik Wolf, Stuttgart 1963, S. 175.
(11) Radbruch, Gustav, Vorschule der Rechtsphilosophie, 2. Aufl, Göttingen 1959, S. 36.
(12) Emge, earl August, Einftihrung in die Rechtsphilosophie. Frankfurt a.M.-Wien 1955, S. 338.
(13) Radbruch, Vorschule (Anm. 11), S. 36.
(14) Radbruch, ebenda.
(15) Radbruch, Rechtsphilosophie (Anm. 10), S. 178.
(16) Emge (Anm. 12), S. 347.
(17) Emge (Anm. 12), bes. S. 342.
(18) Emge (Anm. 12), S. 343.
(19) Radbruch, Rechtsphilosophie (Anm. 10), S. 178 ff.
(20) Radbruch, a.a.O. S. 180.
(21) Freilich bestritten! Vgl. Tarski, A., Wahrscheinlichkeitslehre und mehrwertige Logik, in:
Erkenntnis 5 (1935), S. 174 f.
(22) Grundlegend dafür die Arbeiten von Frege, Gottlob, vgl. etwa: Funktion, Begriff, Bedeutung.
Fünf logische Studien; hrsg. v. Patzig, Günther, Göttingen 1962, S. 24. Ihm folgt die gesamte
mathematische Logik der Gegenwart; vgl. etwa Scholz, Heinrich - Hasenjaeger, Gisbert,
Grundzüge der mathematischen Logik. Berlin-Göttingen-Heidelberg 1961, § 1l.1 (S. 47 f.).

23
392 ]ürgen Rödig

(23) Beispiel: Der (positive) Wertverhalt besteht in dem Umstand, daß der Handelnde sich wegen
jeder Handlung vor seinem Gewissen rechtfertigen kann.
(24) Anders, wenn man nur Wahrheit und Nichtwahrheit kennt und Sinnlosigkeit als einen Sonder-
fall der Nichtwahrheit versteht.
(25) Der Begriff des Wertes wird darum fortan nur noch in diesem neuen und begrenzten Sinne ver-
wendet.
(26) Auguste. Comte, dem Begründer des Positivismus, sind weder Forderungen noch Werte unbe-
kannt. Erziehung und regelmäßige Arbeit werden durchaus als Werte angesehen und zum In-
halt von "deux conditions (L S. v. "Forderungen") fondamentales, l'une spirituelle, l'autre
temporelle" gemacht: vgJ. Discours sur I 'esprit positif - Rede über den Geist des Positivismus,
ed. Fetscher. Hamburg 1956, Nr. 66 (S. 193).
(27) VgJ. hierüber Wolf, Erik (Anm. 1) S. 165 f.
(28) VgJ. Thomas von Aquin, Summa contra gentiles 11, 28.
(29) Indem die "formale Gerechtigkeitslehre" (vgl. Wolf, Erik, a.a.O.) auf das Wesen eines Seien-
den zurückgreift, um das Seine zu bestimmen, ist sie eigentlich gar keine "formale" Gerechtig-
keitslehre mehr.
(30) Hinweise bei Wolf, Erik (Anm. 1) S. 165. Hiernach ist Platon einer der Gründer des Wortes.
(31) So bei Stammler, Rudolf, Wirtschaft und Recht nach der materialistischen Geschichtsauffas-
sung. 4. Aufl. Berlin-Leipzig 1921, S. 174.
(32) Radbruch (Anm. 1) S. 26.
(33) Der Gedanke ist bei Aristoteles grundgelegt: Nikomachische Ethik, ed. Gigon Zürich 1951,
S. 157 f., 159 ff. (Gleichheit der ausgleichenden und Gleichheit der austeilenden Gerechtig-
keit).
(34) Hiervon geht Radbruch aus: a.a.O.
(35) Radbruch (Anm. 10) S. 127.
(36) So Wolf, Erik (Anm. 1) S. 165 unten.
(37) Nicht gerade in der Fassung Kants (Kritik der reinen Vernunft, A 151, B 190), der ihn recht
informal vesteht: "Prädikat, welches einem Ding widerspricht". VgJ. aber etwa Scholz-Hasen-
jaeger (Anm. 22) § 21, 10 (S. 74).
(38) VgJ. Hegel, Philosophie des Rechts, ed. Hoffmeister, Hamburg 1955, Vorrede (S. 16).
(39) All dies soll mit dem Namen Hegels nicht in Verbindung stehen. Ich verstehe viel zu wenig von
seiner Philosophie. Aber es ist vielleicht nicht ganz unwahrscheinlich, daß die Wirklichkeit im
tatsächlich Gewollten bestehe, die Wirklichkeit des Weltgeistes also in dem Maße wächst, als
von den Einzelnen Gewolltes sich identifiziere. VgJ. Philosophie des Rechts, §§ 289, 253, vor
allem aber § 26l.
(40) Theologisch-politischer Traktat, ed. Gebhardt, Hamburg 1955, Kap. 16.
(41) Zur Genealogie der Moral 1,11, in: Werke, ed. Schlechta, Bd. 11, S. 786.
(42) Hegel selber unterscheidet das bloß Gemeinsame scharf vom Allgemeinen. VgJ. Grundlinien
der Philosophie des Rechts, § 75. Der nihilistische Geschichtsbegriff macht diesen Unterschied
fragwürdig; vgJ. hierzu Steidle, Die Erfahrung des Nihilismus und die Möglichkeit seiner Über-
windung, Diss. phil. Freiburg LBr. 1964.
(43) VgJ. dei Vecchio, Giorgio, Vom Wesen des Naturrechts, in: den, Grundlagen und Grundfra-
gen des Rechts. Göttingen 1963, S. 55-59.
(44) Vgl. Radbruch (Anm. 10) S. 178.
(45) So das große Wort aus Weisheit 13, 1 nach der Übersetzung bei Riessler, Paul - Storr, Rupert,
Die Heilige Schrift des Alten und des Neuen Bundes. Mainz 1954, S. 867.
(46) VgJ. hierüber Wolf, Erik, Rechtsgedanke und biblische Weisung (1948), Recht des Nächsten
(1958), Ordnung der Kirche (1961), Ordnung der Liebe (1963). "Rechtsgedanke und bibli-
sche Weisung" wird wenig glücklich besprochen bei Welzel, Hans, Naturrecht und materiale
Gerechtigkeit, 4. Aufl., Göttingen 1962, S. 230.
(47) VgJ. von Kempski, Naturrecht und Völkerrecht, in dem oben Anm. 2 zitierten Sammelband,
S.12.
(48) Darum ist es nicht sicher, ob von Kempski Kant richtig versteht, indem er meint, dessen Defi-
nition des Rechts (vgJ. oben bei Anm. 6) sei mit der seinen des Naturrechts identisch.
(49) VgJ. die Nachweise oben Anm. 26.
(50) Der Brauchbarkeits- und Wohlfahrtsgedanke ist bei Erik Wolf (Anm. 1) S. 160 ff. näher dar-
gelegt.
(51) Naturrecht als Existenzrecht. Frankfurt a.M. 1963, S. 48 ff.
(52) Wolf, Erik (Anm. 1) S. 191 ff.
(53) Wolf, Erik (Anm. 1) S. 187 ff. Recht als ,,gruppliche" Ordnung. VgJ. auch Welzel (Anm. 46)
S. 139 bei der Darstellung Pufendorfs.

24
Naturrecht oder Rechtspositivismus 393

(54) Wolf, Erik (Anm. 1) S·. 181 ff.


(55) Wolf, Erik (Anm. 1) S. 172 ff.
(56) Vgl. etwa Radbruch (Anm. 11) bes. S. 28.
(57) Vgl. oben Anm. 1.
(58) Wolf, Erik (Anm. 1) S. 197.
(59) Eine Definition des Tisches ist anders als nach seiner Funktion nicht möglich. Definitionen
setzen nur Eindeutigkeit von definiens und definiendum voraus.
(60) Juristische Logik. 2. Aufl., Berlin-Göttingen-Heidelberg 1958, bes. S. 151 ff.
(61) Prof. Bochenski hat mir vor einem Jahr erzählt, er habe eben ein Buch über "Logic of Religion"
dem Druck übergeben. Vgl. auch die Anmerkung unter 27.10 seiner "Formalen Logik"
(2. Aufl., Freiburg-München 1962, S. 190). Zusatz des Herausgebers: "Tbe Logic of Religion"
ist 1965 bei New York University Press erschienen, eine deutsche Ausgabe, besorgt von Albert
Menne, in erster Auflage in Köln 1968.
(62) Comte (Anm. 26) S Nr. 2 ff.
(63) Comte selber gibt dem Wort "positiv" diesen Sinn, vgl. a.a.O. Nr. 31.
(64) Henkel, Heinrich, Einführung in die Rechtsphilosophie (München-Berlin 1964) S. 380,
spricht von einem "rationalistischen Positivismus"; er meint zu Unrecht, dieser sei mit dem
"wissenschaftlichen Positivismus" i. S. v. Franz Wieacker (Privatrechtsgeschichte der Neuzeit,
Göttingen 1952, S. 253) identisch.
(65) Henkel, a.a.O. S. 386, nennt den zugehörigen Positivismus den teleologischen.
(66) KlÜger, Herbert, Allgemeine Staatslehre. Stuttgart 1964, § 18 "Die Idee der Repräsentation"
(S. 234 ff.).
(67) Vgl. Henkel (Anm. 64) S. 389; Wieacker (Anm. 64) S. 253.
(68) Henkel (Anm. 64) S. 382.
(69) Henkel (Anm. 64) S. 384.
(70) Darum ist nach Hobbes (Leviathan, Kap. 27) die Verletzung positiven Rechts nie entscheidbar.
(71) Vgl. auch die philosophische Geltungslehre bei Radbruch (Anm. 10), S. 180.
(72) aaO. (Anm. 64) S. 253.
(73) Vgl. Wieacker, a.a.O.
(74) Peinlich geradezu Welzel (Anm. 46) S. 190.
(75) Ein absolutes Richtmaß des Wollens, das dem Willen nicht erkennbar ist, kann nicht angenom-
men werden.

25
Logik und Rechtswissenschaft
Grimm, D. (Hrsg.): Rechtswissenschaft und Nachbarwissenschaften 2, München: C. H. Beck 1976,
S.53-79

1. Zum Verhältnis von Logik und Recht im allgemeinen

1.1. Zum Gerechtigkeitswert von Logik

Logische Gedankenführung wird seit alters als Attribut juristischen


Denkens in Anspruch genommen. Inwiefern der Jurist sich dieses
Attributs mehr rühmen dürfe als etwa ein Biologe oder auch ein
Politikwissenschaftler, muß allerdings entschieden dahingestellt blei-
ben. Dies gilt um so mehr, als immer noch Grundsätze wie "iudex non
calculat" ihr Unwesen treiben. Man sollte den genannten Grundsatz
zweckmäßigerweise auf das Addieren von Paragraphen-Nummern
beschränken. Wir können uns an dieser Stelle jedenfalls nicht um eine
Zusammenstellung sämtlicher Eigenschaften bemühen, welche auf die
Logik zutreffen und auf die Rechtswissenschaft nicht. Ferner könnten
wir den Nachweis der Angewiesenheit der Logik (nicht: der Logiker)
auf das Recht oder die Rechtswissenschaft vermutlich selbst dann
nicht erbringen, wenn wir wollten. Es muß also bei einer höchst
asymmetrischen Bestimmung des Verhältnisses der Disziplinen sein
Bewenden haben: Ohne die Einhaltung der Gesetze der Logik sind
weder Rechtswissenschaft noch juristische Praxis imstande, die von
ihnen wahrzunehmenden Funktionen zu erfüllen. Es läßt sich sogar
zeigen, daß selbst die Idee des Rechts im Sinne der neueren Rechtsphi-
losophie nur mithilfe von Logik gedacht werden kann.
Gustav Radbruch 1 unterscheidet bezüglich der Idee des Rechts die
Komponenten Gerechtigkeit, Zweckmäßigkeit und Rechtssicherheit.
Hier soll uns nur das Verhältnis von Gerechtigkeit und Zweckmäßig-
keit interessieren. Nach Radbruch ist die Gerechtigkeit eine formale
Idee. Sie verlangt zwar Gleichbehandlung Gleicher und Ungleichbe-
handlung Ungleicher, setzt jedoch voraus, wer als gleich oder ungleich
anzusehen ist und wie Gleiche oder Ungleiche behandelt werden
müssen. Die beiden zuletzt genannten Voraussetzungen sind materia-

1 Vorschule der Rechtsphilosophie, 2. Auf!., Göttingen 1959, S. 24ff.; siehe

auch ders., Rechtsphilosophie, 6. Auf!., Stuttgart 1963, S. 123ff., 168ff.

27
54 Jürgen Rödig

len Charakters; insofern dominiert der Gesichtspunkt der Zweckmä-


ßigkeit. Je nach dem Zweck, den man mit einer Strafe verfolgt, wird
also beispielsweise das Strafensystem entweder mit verschärfter To-
desstrafe beginnen und mit peinlicher Haft enden oder mit 10-jähriger
Freiheitsstrafe beginnen und mit minimaler Geldstrafe enden. Jedoch
auch die Frage, welche Taten mit welchen Strafen belegt werden
sollen, ist nach Maßgabe der Zweckmäßigkeit zu entscheiden. Sogar
die Bemessung der Strafhöhe innerhalb eines bald enger, bald weiter
bestimmten Strafrahmens hat sich laut Radbruch nach Zweckmäßig-
keits-Gesichtspunkten (etwa nach dem Gefährlichkeitsgrad des Tä-
ters) zu richten. Der mit dem Strafrecht verfolgte Zweck entscheidet
nach alledem darüber, welche Straftaten wie geahndet werden sollen,
und die Idee der Gerechtigkeit beschränkt sich auf die Forderung, daß
es nicht wenigstens zwei Personen geben darf, welche unter den
gleichen Voraussetzungen die gleichen Straftaten begangen haben und
trotzdem verschieden bestraft werden. "Nur die Form des Gesetzes:
daß es für alle Gleichgestellten gleich sei und deshalb die Form der
Allgemeinheit an sich trage, vermag" nach einer Formulierung Rad-
bruchs oder doch nach einer von Radbruch zumindest gebilligten
Formulierung "die Gerechtigkeit zu bestimmen".2
Radbruch konzipiert die Idee der Gerechtigkeit, wie man sieht, im
Sinne der Forderung nach Gleichbehandlung der Betroffenen nach
Maßgabe der auf sie zutreffenden rechtlichen Normen. Diese Kon-
zeption, an die sich Radbruch übrigens nicht durchweg gebunden
fühlt,3 ist für die Bestimmung des Verhältnisses von Logik und Recht
höchst aufschlußreich. Vorweg ist allerdings eine Unterscheidung
einzuführen, die bereits von Kant 4 vernachlässigt wird. Mit der For-
derung nach Gleichbehandlung der Betroffenen ist die Forderung
nach Allgemeinheit rechtlicher Normen nicht zu verwechseln. Was
jedenfalls die Forderung nach Allgemeinheit rechtlicher Normen be-
trifft, so ist sie formal nicht begründbar. Je niedriger das Abstrak-
tionsniveau einer Rechtsordnung, desto weniger kann die Beurteilung
eines gegebenen Sachverhalts mit der Beurteilung eines weiteren Sach-
verhalts in Widerspruch geraten. Stellen wir uns als Grenzfall eine bei
einem Kadi monopolisierte Rechtsordnung vor, die lediglich aus indi-
viduellen Normen besteht; also aus Normen, die jeweils an einen u. a.
räumlich und zeitlich determinierten Sachverhalt ebenso konkrete
Rechtsfolgen knüpfen. Dann würde fürs erste das Gebot der Gleich-
behandlung der Betroffenen durch jede Streitentscheidung trivialer-

2 Vorschule der Rechtsphilosophie, S. 26.


) Siehe etwa a.a.O., S. 27 oben.
4 Metaphysik der Sitten, Erster Teil, Anfangsgründe der Rechtslehre, Vorlän-
dersche Ausgabe, Leipzig 1922, S. 29 (226).

28
Logik und Rechtswissenschaft 55

weise erfüllt; die zwecks Fallbeurteilung verwendeten Normen sind


gleich gar nicht so allgemein formuliert, daß die Behandlung eines
Falles von der Behandlung eines weiteren abweichen könnte. Zum
zweiten sind jedoch selbst die von unserem Kadi benutzten Rechtssät-
ze logischer Allgemeinheit fähig. Wir brauchen den einzelnen Rechts-
satz lediglich in der Weise zu statuieren, daß je nach Erfüllung der
Sachverhaltsmerkmale die vorgesehenen Rechtsfolgen eintreten sol-
len, und überlassen dem Rechtsanwender die Einsicht, daß es eben nur
einen diese Merkmale erfüllenden Sachverhalte gibt. Dieser Vorge-
hensweise entspricht übrigens die Möglichkeit der Eliminierung von
Subjektskonstanten (Dingwörtern) aus prädikatenlogischen Kalkü-
len, wie sie in der zeitgenössischen Logik im Zusammenhang mit dem
sogenannten "Kennzeichnungs-Operator" diskutiert zu werden
pflegt. 5
Tatsächlich läßt sich selbst die Allgemeinheit eines Gesetzes erst
mithilfe von Gesichtspunkten der Zweckmäßigkeit begründen. So
kann beispielsweise ein Katalog von Straftatbeständen die ihm zuge-
dachte Warnfunktion nur dann erfüllen, wenn die angedrohten straf-
rechtlichen Sanktionen infolge ihrer Verknüpfung mit allgemein for-
mulierten Straftaten im Voraus berechenbar sind. Weiter setzt jedes
umfänglichere wirtschaftliche Agieren ein Mindestmaß an Orientie-
rungssicherheit der Beteiligten voraus, welches ebenfalls erst mit Hilfe
allgemeiner Statuierung der einschlägigen privatrechtlichen Normen
hergestellt werden kann. Wer also aufgefordert wird, nach einer Maxi-
me zu handeln, "die zugleich als allgemeines Gesetz gelten kann",
dem wird in Wirklichkeit bereits materiales Rechtsdenken abverlangt.
Kants kategorischer Imperativ6 ist in der Tat nicht so formal, wie er
sich anhört und wie er von seinen Kritikern 7 denn auch aufgefaßt
worden ist. Dies gilt sowohl für die Forderung nach Allgemeinheit
selbst als auch für die - durch diese Forderung ausgelöste - N otwen-
digkeit, zulasten einer "billigen" Beurteilung des Einzelfalls von des-
sen Individualität weitgehend zu abstrahieren. Einer Regelung, wel-
che die Entscheidung jedweden Rechtsfalls vom Ausgang eines Zwei-
kampfs oder eines Würfel-Spiels der Beteiligten abhängig machte,
würde es weder an rechtlicher noch gar an logischer Allgemeinheit
gebrechen. Kants Intentionen würde die genannte Regelung gleich-
wohl schwerlich entsprechen. Dann aber wird jener materiale Rechts-

5 Vorzügliche Darstellung bei W. V. O. Quine, Grundzüge der Logik,


Deutsche Erstausgabe Frankfurt 1969 (eng!. Methods of Logic), §§ 3M.
(S.276ff.).
6 Siehe Anm. 4.

7 Namentlich M. Sehe/er, Der Formalismus in der Ethik und die materiale


Wertethik, 1913, 5. Auf!., Bern, München 1968.

29
S6 Jürgen Rödig

inhalt, welchen Kant um seiner empirischen Bezogenheit willen aus


dem Naturrecht der großen Naturrechtslehrer hinauskomplimentie-
ren wollte, unter dem sich formal ausnehmenden Stichwort "Allge-
meinheit" stillschweigend wieder in das rechtsphilosophische Denken
hineinkomplimentiert.
Gehen wir nun aber von einer Rechtsordnung aus, die aus generell
gefaßten Rechtssätzen besteht, so läuft die Forderung nach Gleichbe-
handlung, welche für den Fall einer Kadijurisprudenz als trivial abge-
tan werden mußte, auf keine andere als auf die rein logische Forderung
nach der Vermeidung von Widersprüchen hinaus. Radbruchs Idee der
Gerechtigkeit erschöpft sich insofern in einer ausschließlich logischen
Gesetzmäßigkeit. Erscheint es generell als zweckmäßig, daß aufgrund
des Vorliegens gewisser Tatbestände (nämlich bestimmter Arten von
5 achverhalten) bestimmte Rechtsfolgen ausgelöst werden, so kann
solche Zweckmäßigkeit nicht ohne Widerspruch für einen unter den
Tatbestand fallenden Sachverhalt behauptet werden und für einen
weiteren Sachverhalt, der ebenfalls unter den Tatbestand fällt, nicht.
Radbruchs Einordnung der Gerechtigkeit ist nach alledem in noch
eklatanterer Weise "formal", als Radbruch sie selbst konzipiert: Je
nach individueller oder genereller Fassung der anzuwendenden recht-
lichen Normen stößt das Gleichbehandlungsgebot ins Leere oder aber
geht in einer logischen Gesetzmäßigkeit auf.

1.2. Transparenz der Rechtsordnung

Die logische Empfindlichkeit einer Rechtsordnung nimmt, wie wir


gesehen haben, mit wachsender Allgemeinheit der sie bildenden
Rechtssätze zu: jedoch wäre es voreilig, die Rechtsordnung in dieser
Hinsicht abhärten zu wollen. Zwar pflegt rechtliche "Billigkeit" im
Sinne von Gerechtigkeit im Einzelfall immer wieder als geradezu per
se anzustrebender Wert gepriesen zu werden. Es leuchtet indes - wie
bereits ausgeführt - ein, daß man das Abstraktionsniveau einer
Rechtsordnung nicht nach Belieben senken kann, ohne die Rechtsord-
nung in der Wahrnehmung elementarer Funktionen wie etwa in ihrer
Funktion als einer Orientierungshilfe für menschliches Verhalten
ernstlich zu gefährden. Ist die Beurteilung individueller Sachverhalte
nun aber auf generelle rechtliche Normen zu stützen, so kommt es
gerade unter dem Gesichtspunkt der Orientierungssicherheit auf eine
logisch vollständigeS Begründung der Fallösung an. Der Betroffene

8 Diese Form von logischer Vollständigkeit, die ich auch "Beweisvollständig-


keit" nenne, ist von der Vollständigkeit eines Kalküls (Ableitbarkeit aller
Folgerungen aus gegebenen Annahmen) sowie von der Vollständigkeit eines
inhaltlichen Axiomensystems (Erschließbarkeit sämtlicher einschlägiger Sach-

30
Logik und Rechtswissenschaft 57

soll möglichst wissen, auf welche generellen Normen die Entschei-


dung gestützt worden ist und wie diese Normen in Richtung zu dem
zu beurteilenden Sachverhalt konkretisiert worden sind. Mit dieser
überlegung sind wir bei einem weiteren für das Verhältnis von Logik
und Recht erheblichen Punkt angelangt. Wer für die generelle Fassung
rechtlicher Normen plädiert, muß zugleich die Einbettung dieser
Normen in logisch lückenlose Beweise für die Lösung einzelner Fälle
verlangen. Je lückenhafter die Begründung der Lösung von Rechtsfäl-
len gerät, desto mehr büßt die Rechtsordnung gerade jene Berechen-
barkeit ein, die mit Hilfe genereller Konturierung zukünftiger Tatbe-
standsverwirklichung erreicht werden sollte; der Betroffene muß mit
der Verwendung von Normen rechnen, die nicht genannt sind, und
was die genannten Normen betrifft, so wird er über ihre Konkretisie-
rung und damit über den gerade ihn interessierenden Ausschnitt ihres
Anwendungsbereichs im Ungewissen gelassen.
Wir sind nunmehr einen letzten Gesichtspunkt bezüglich des Ver-
hältnisses von Logik und Recht zu skizzieren imstande. Je exakter die
Lösung individueller Sachverhalte auf generelle Normen zurückge-
führt werden kann, desto erlernbarer ist das jeweils geltende Recht.
Das geltende Recht wird in einem demokratischen Gemeinwesen
durch gesetzgebende Körperschaften gesetzt, welche ihre Legitima-
tion ihrerseits von den durch die Gesetzgebung betroffenen Personen
beziehen. Sollen diese Personen die ihnen hiernach eingeräumte Mög-
lichkeit der Einflußnahme sinnvoll wahrnehmen können, dann
kommt es offenbar darauf an, daß sie über die bestehende soziale
Ordnung hinreichend informiert sind, um sei es für deren Beibehal-
tung, sei es für deren Veränderung, begründet votieren zu können.
Kadijurisprudenz ist nicht erlernbar, höchstens mit Hilfe gleichläu-
figen Judizes nachfühlbar. Eine Rechtsordnung ist umgekehrt in dem
Maße erlernbar, als sie auf möglichst wenige und damit möglichst
allgemeine Normen möglichst zuverlässig reduziert werden kann. Die
für die Formulierung dieser Normen verwendeten Rechtsbegriffe
nehmen notwendigerweise an deren Allgemeinheit teil; sie fungieren,
kybernetisch ausgedrückt, als "Superzeichen", welche die Zurück-
führung komplexer Materien auf überschaubare Einheiten gestatten. 9
Es handelt sich, was die Erlernbarkeit des Rechts angeht, um mehr als
um einen Gesichtspunkt lediglich pädagogischen Interesses, dem bloß
sekundärer Rang eingeräumt werden dürfte. Im Gegenteil hängt, wie
wir gesehen haben, geradezu das Funktionieren eines demokratischen

aussagen) zu scheiden; vgl. J. Rödig, Axiomatisierbarkeit juristischer Systeme,


in: Münchner Ringvorlesung EDV und Recht, Berlin 1973, S. 49ff., sowie in:
Datenverarbeitung im Recht 1 (1972), S. 170ff.
9 Siehe F. v. Cube, Was ist Kybernetik?, Bremen 1967, S. 55.

31
58 Jürgen Rödig

Rechtsstaats von der Erlernbarkeit der in diesem Staat geltenden


Rechtsnormen ab. Hinzu kommt, daß auch die für die Rechtsan-
wendung berufenen Personen das anzuwendende Recht möglichst
gut und möglichst gleichmäßig gelernt haben müßteJ?:. Sehr zu Un-
recht haben methodologische Bestrebungen der letzten Jahrzehnte
den systematischen Aspekt der Rechtswissenschaft zu verniedlichen
versucht.
Derartige Bestrebungen sind u. a. durch Theodo'r Viehwegs in
gewisser Hinsicht faszinierender Schrift über Topik und Jurispru-
denz 10 angeregt worden. Diese Schrift ist ungeachtet ihrer Bedeutung,
die sich aufgrund subjektiver Interpretation (im Rechtssinn dieser
Interpretations-Methode) des Textes ergibt, als Loblied auf ein mög-
lichst ungezwungenes - insbesondere möglichst unsystematisches -
Argumentieren aufgefaßt worden. tt Man habe sich (welche Alternati-
ve!) weniger am System als vielmehr am sogenannten "Problem" zu
orientieren. Systematische Bindungen werden durch Topoi, nämlich
durch gewisse Fragestellungen, Lösungsgesichtspunkte oder auch
Allgemeinplätze, ersetzt. Zur Motivierung solchen Rechtsdenkens
werden angebliche Gefahren systematischen Vorgehens ins Treffen
geführt,12 insbesondere die Gefahr der Verengung des Blicks für die zu
beurteilende Interessenlage sowie die Gefahr der Zementierung von
Regelungen, welche infolge ihrer Einkleidung in ein bestimmtes syste-
matisches Gewand nur noch schematisch und ohne Rekurs auf den
dahinter stehenden Rechtsgedanken gehandhabt werden; ja zuwei-
len scheint man systematische Jurisprudenz sogar mit juristischem
Konservatismus um jeden Preis, nämlich mit dem Stehenbleiben
bei ein für allemal angenommenen "Axiomen", in eins setzen zu
wollen.
Was den zuletzt erwähnten Einwand anlangt, so haben wir es -
wieder einmal, wie man bedauerlicherweise hinzufügen muß - mit
einer in der zeitgenössischen Logik jedenfalls nicht gebräuchlichen
Verwendung des Ausdrucks "Axiom" zu tun. \3 Ein Satz führt in der
zeitgenössischen Logik den Titel "Axiom" nicht um seiner Unabän-
derlichkeit willen. Es handelt sich vielmehr darum, daß man die zu
axiomatisierende Theorie, nämlich eine durch das Vorkommen ein-
schlägiger Begriffe charakterisierte Menge von Sätzen, auf jeweils
10 3. Auf!., München 1965; vgl. insbesondere S. 53ff.
11 Mißverständlich etwa N. Horn, Zur Bedeutung der Topiklehre Viehwegs für
eine einheitliche Theorie des Juristischen Denkens, NJW 1967, S. 601 H. Auf
S. 604 A lehrt Horn, ein streng formalisiertes deduktives System werde bei
aller Perfektion immer inhaltsleerer und wirklichkeitsfremder, wo hingegen
die Topik auf ein vernünftiges Sich-in-der-Welt-zurechtfinden verweise.
12 Vg!. Rödig, Anm. 8, sub 1.
\3 Eingehende Erörterung a.a.O., sub 5.

32
Logik und Rechtswissenschaft 59

mehrfache Weise in zwei Teilmengen zerlegen kann, dergestalt, daß


die Elemente der ersten Menge ("Axiome") angenommen werden
müssen und daß die Elemente der zweiten Menge ("Theoreme")
durchweg aus den Elementen der ersten Menge logisch folgen. Ein Satz
heißt mithin "Axiom" nicht an sich, sondern lediglich im Hinblick auf
die Verwendung dieses Satzes als einer ihrerseits weder bewiesenen
noch beweisbaren Prämisse. Je nach Gliederung derselben Theorie in
Axiome und Theoreme kann derselbe Satz bald als Axiom, bald als
Theorem fungieren. Häufig führt man einen Satz geradezu tückischer-
weise als Annahme ein, nämlich zu dem Zweck, mit seiner Hilfe
abwegige Resultate zu erzielen, welche die Annehmbarkeit dieses
Satzes fortan diskreditieren. Im Sinne der Zementierung einmal ange-
nommener Sätze wirkt sich die Anwendung der axiomatischen Me-
thode also nicht aus. Lediglich im Rahmen eines und desselben Be-
gründungszusammenhanges sollte man dieselben Annahmen nicht
variieren lassen; wird Verwirrung darüber gestiftet, welche Sätze mit
Hilfe welcher Sätze hergeleitet werden, dann kann man die Begrün-
dung jener Sätze ohnehin bleiben lassen.
Schließlich ist nicht erfindlich, inwiefern systematische Jurispru-
denz vom Rechtsgedanken entfernter sein sollte als unsystematische.
Das menschliche Gehirn ist zu begrenzt, um das für die Ordnung
eines modemen Industriestaats erforderliche Recht in Gestalt von
lauter Einzelfall-Entscheidungen speichern zu können. Mit dem Ver-
zicht auf Systematik geht auf die Dauer unweigerlich der überblick
über die zu verarbeitende Materie verloren. Mangelnder überblick bei
der Anwendung des objektiven Rechts braucht der Qualität der Fallö-
sung nicht zugute zu kommen. Einer mit Absicht unsystematisch
betriebenen Jurisprudenz gebricht es vor allem an der Fähigkeit, die
für eine wirkungsvolle Gesetzgebung erforderliche dogmatisch-syste-
matische Vorarbeit zu leisten. Man sollte die Jurisprudenz der Gegen-
wart nicht nur unter dem Gesichtspunkt minderer systematischer
Leidenschaft mit der Jurisprudenz des ausgehenden 19. Jahrhunderts
vergleichen. Wenn man diesen Vergleich, der normalerweise auf die
überwindung der Begriffsjurisprudenz durch die Interessenjurispru-
denz hinausläuft, schon anstellen möchte, dann sollte auch die Güte
der einerseits damals und andererseits heute geleisteten Gesetzge-
bungsarbeit als Kriterium dienen dürfen. Allein durch das Mehr an
Demokratie läßt sich das Weniger an Gesetzgebungstechnik schwer-
lich erklären. Nicht umsonst hat sich gerade eine bei der zeitgenössi-
schen Logik ansetzende rechtstheoretische Richtung der bislang stark
vernachlässigten Gesetzgebungstheorie angenommen. 14

HVgl. J. Rödig!E. Baden! H. Kindermann, Vorstudien zu einer Theorie der


Gesetzgebung, Bonn 1975.

33
60 Jürgen Rödig

2. Mathematische Logik des juristischen Denkens

2.1. Ausgangspunkt

Die Einsicht in die Bedeutung, welche die Logik für das Recht, für die
Rechtsanwendung sowie für die Rechtswissenschaft besitzt (oben 1),
ist auf verschiedene Weise in die Tat umgesetzt worden. Die Art der
Umsetzung ist teilweise sogar geeignet, im nachhinein Zweifel an der
Erkenntnis selbst zu erwecken. Es handelt sich insofern insbesondere
um die Versuche, eine regelrechte Normenlogik, eine bereits in logi-
scher Hinsicht spezifisch "juristische" Logik, zu entwickeln. 15 Diese
Versuche sind bereits in ihrem Ansatz dringend der Diskussion be-
dürftig. Die Öffnung der Rechtswissenschaft zu Nachbarwissen-
schaften hin verliert in dem Maße an Wert, als diese Nachbarwissen-
schaften sogleich in einer Weise aufgefaßt werden, die ihrerseits auf
juristischem Vorverständnis beruht. Dies gilt namentlich für die Öff-
nung der Rechtswissenschaft zur Logik hin - mag man die Wissen-
schaft von der Logik als "Nachbarwissenschaft" der Rechtswissen-
schaft ansehen wollen oder nicht. Was nützt die Bereitschaft des
Juristen, sich den Gesetzen der Logik zu unterwerfen, wenn diese
~esetze alsbald juristisch motivierte Einschränkungen oder Modifi-
kationen erfahren, welche doch gerade ihrerseits auf ihre logische
5tringenz hin hätten überprüft werden sollen.
Der Einsatz einer bereits juristisch disziplinierten Logik vermag
schwerlich die Früchte zu tragen, die man.sich allgemein von interdis-
ziplinärer Vorgehensweise verspricht. Die Ergebnisse spezifisch nor-
mologiseher Bemühungen bestätigen diese Feststellung. Sofern man
sich einer in logischer Hinsicht besonderen Logik bediente, stellten
sich teils logisch angreifbare,16 teils praktisch unbrauchbare Resultate
heraus j ja häufig ist es sogar nur zu Vermutungen von Resultaten oder
zu einer Systematisierung der Voraussetzungen für vermutete Resul-
tate 17 gekommen. Demgegenüber hat sich die strenge Anwendung
einer rein mathematischen Logik auf juristische Bereiche zwar als ein

15 Vgl. namentlich O. Weinberger, Rechtslogik, Wien 1970, S. 189ff.; H. Wag-


ner/K. Haag, Die moderne Logik in der Rechtswissenschaft, Bad Homburg
1970, S. 77ff. Hierzu J. Rödig, über die Notwendigkeit einer besonderen
Logik der Normen, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 2
(1972), S. 163ff., sub II 2 sowie sub II 4.
16 Hinsichtlich des von Weinberger, a.a.O., S. 220 oben, genannten Schlusses

von der Gebotenheit von A und der Implikation von B durch A auf die
Gebotenheit von B, vgl. J. Rödig, Kritik des normlogischen Schließens, Theory
and Decision 2 (1971), S. 117ff., sub 1.4.3.
17 Siehe etwa Wagner/Haag, a.a.O., S. 10Sff.

34
Logik und Rechtswissenschaft 61

mitunter dorniges, jedoch im Ergebnis außerordentlich nützliches


Verfahren erwiesen. Dies gilt für die Analyse von Subsumtion und
Argumentation, die man jeher als Gegenstände juristischer Logik
betrachtete, nicht minder als für die Behandlung gesetzgebungstheo-
retischer Fragen (siehe nachfolgend 3.2., 3.3.).

2.2. Relative Wahrheit von Normen

Die zahlreichen Versuche, der allgemeinen Logik eine besondere Lo-


gik der Normen gegenüberzustellen, gehen durchweg von zwei An-
nahmen aus: 18 Fürs erste pflege logisches Operieren mit Sätzen im
Sinne der allgemeinen Logik auf die Fähigkeit dieser Sätze angewiesen
zu sein, die Wahrheitswerte des Wahren oder des Falschen annehmen
zu können. Zum zweiten seien Normen der Wahrheit oder Falschheit
nicht fähig; man könne sie allenfalls als gültig oder ungültig o. ä.
bewerten. Von diesen Annahmen trifft die erste zu, sofern man den
Begriff der "Wahrheit" (oder "Falschheit") nach dem Vorgang A.
Tarskis 19 im Sinne der relativen Wahrheit formalisierter Sprachen
versteht. Versteht man ihn so, dann wird allerdings die zweite Annah-
me bei Zugrundelegung desselben Wahrheitsbegriffes falsch. Versteht
man den Begriff der "Wahrheit" anders als in dem genannten Sinne, so
ist bereits die erste Annahme falsch. '
Die Konzeption einer relativen Wahrheit formalisierter Sprachen
läßt sich am besten von der Funktion der Formalisierung von Spra-
chen her nachvollziehen. Die Logik hat es einem immer noch verbrei-
teten Mißverständnis zum Trotz 20 nicht etwa mit der Richtigkeit
isolierter Sätze zu tun. Die Richtigkeit eines Satzes ist in logischer
Hinsicht vielmehr nur insofern bedeutsam,. als dieser Satz bezüglich
seiner Richtigkeit von anderen Sätzen abhängig ist. Es kommt darauf
an, ob man unter der Voraussetzung, daß man gewisse Sätze für wahr
hält, auch einen weiteren Satz für wahr halten muß, mit anderen
Worten: ob dieser Satz (Konklusion) aus jenen Sätzen (Prämissen)
logisch - nämlich ohne Hilfe weiterer inhaltlicher Annahmen - folgt.
Für das Bestehen der Folgerungsbeziehung ist es mithin ohne Belang,
ob eine der Prämissen oder auch die Konklusion für sich genommen
verifiziert werden kann. Ja, es kann sich gerade im Hinblick auf die

18 Siehe Anm. 15.


19 Der Wahrheitsbegriff in den formalisierten Sprachen, Studia Philosophica I,
Leopoli 1935, S. 267-279; ders., Fundamentale Begriffe der Methodologie der
deductiven Wissenschaften I. Mh. Math. Phys. 37 (1930), S. 361-404. - Eine
hervorragende Einführung in die Ideen Tarskis gibt W. Stegmüller, Das Wahr-
heitsproblem und die Idee der Semantik, Wien 1957, S. 52 ff.
20 Siehe neuerdings wieder K. Adomeit, Der gerichtliche Prozeß in der Sicht der

Rechtstheone, AcP 1974, S. 407ff.

35
62 Jürgen Rödig

Zweifelhaftigkeit einer Prämisse als zweckmäßig erweisen, diese Prä-


misse unter dem Gesichtspunkt der sich aus ihr ergebenden Konklu-
sionen zu testen und die Prämisse insofern als wahr vorauszusetzen.
Was nun die Formalisierung von Sprachen betrifft, so handelt es sich
lediglich um ein - salopp gesagt -" trickreiches" Verfahren, das Beste-
hen der Folgerungsbeziehung zu kontrollieren. Die einzelnen logi-
schen Regeln für das Gewinnen von Konklusionen werden in dem
Maße normiert, daß sie geradezu mechanisch angewendet werden
können. Der übergang von gegebenen Aussagen zu einer weiteren
Aussage, deren Wahrheit von der Wahrheit jener Aussagen abhängig
ist, wird durch ein geregeltes Operieren mit Symbolen ersetzt. Die
zum Ausdruck von Prämissen und Konklusion verwendeten Zeichen
werden vorübergehend ihrem Zweck entfremdet. Sie zeigen nicht
mehr auf ein außerhalb ihrer liegendes Phänomen, sondern gleichsam
bilderschriftlich auf sich selbst, um auf diese Weise als "Objekte"
formalisierter Schlußregeln fungieren zu können. Man pflegt insofern
auch von "Objektsprache" zu sprechen und das Sprechen über Ob-
jektsprache als "metasprachlich" zu bezeichnen; objektsprachliche
Gebilde werden um ihrer Unterscheidbarkeit von metasprachlichen
Gebilden nach dem Vorgang Gottlob Freges in Anführungszeichen
gesetzt. 21 Nehmen formalisierte Schlußregeln nur noch auf die graphi-
sche Gestalt der Sätze Bezug, auf die sie angewendet werden, so gilt es
offenbar bereits, die der Erzeugung dieser Sätze zugrundeliegende
Objektsprache zu normieren. Dies geschieht mit Hilfe eines Verzeich-
nisses der zulässigen Symbole sowie mit Hilfe von Regeln, welche
besagen, in welcher Weise gegebene Symbole oder bereits zulässig
gebildete symbolische Reihen für den Aufbau weiterer symbolischer
Reihen verwendet werden dürfen. Derartige Regeln nennt man inso-
fern, als sie sich auf das Verhältnis von Zeichen zueinander beziehen,
auch syntaktische Regeln. Syntaktische Regeln sind nun aber offenbar
der Ergänzung durch weitere - sogenannte "semantische" - Regeln
bedürftig, welche zulässig gebildete objektsprachliche Ausdrücke in
Parallele zu deren Aufbau mit Bedeutungen versehen;22 damit um-
gangs- oder fachsprachliche Behauptungen zum Gegenstand eines
formalisierten Schlußverfahrens gemacht werden können, müssen die
Behauptungen unter Wahrung ihres Aussagegehalts in die Objekt-
sprache übersetzt und von dieser (nach Anwendung des Verfahrens)
21 Hierzu H. Schatz/Go Hasenjaeger, Grundzüge der mathematischen Logik,
Berlin, Heidelberg 1961, S. 42.
22 Neben Syntax und Semantik pflegt die sogenannte "Pragmatik" als Lehre
der Beziehungen des (bereits gedeuteten) Zeichens zu seinen Benutzern aufge-
faßt zu werden; Syntax, Semantik und Pragmatik werden häufig unter dem
Oberbegriff der "Semiotik" als der allgemeinen Lehre vom Zeichen zusam-
mengefaßt.

36
Logik und Rechtswissenschaft 63

zurückübersetzt werden können. Diese Obersetzbarkeit und nur sie


soll durch die Kategorie der relativen Wahrheit formalisierter Spra-
chen gewährleistet werden; und nur im Sinne solcher" Wahrheit" hat
es die moderne Logik mit Wahrheitswerten (Wahrheit, Falschheit) zu
tun.
Auf der Grundlage des soeben skizzierten relativen Wahrheits be-
griffs kann eine formalisierte Objektsprache vollständig aufgebaut
und vollständig interpretiert werden, ohne daß zusätzliche Vorausset-
zungen bezüglich des objektsprachlich auszudrückenden Aussagege-
halts aufgestellt werden müßten. Als Namen für "Individuen" im
logischen Sinn, nämlich für Gegenstände, auf die sich gewisse Be-
schaffenheiten beziehen, wählen wir Subjektskonstante des Typs
"aa", "ab", ... , "ba", .. , usw. (nach Bedarf mit unteren Indizes als
Unterscheidungszahlen). Die genannten Beschaffenheiten selbst be-
nennen wir durch Prädikate, die sich durch Verknüpfung von jeweils
einem großen Anfangsbuchstaben mit einem kleinen Buchstaben er-
geben und bei denen der obere Index die Stelligkeit des Prädikats
angibt, d. i. die Anzahl der Individuen, auf die sich die durch das
Prädikat benannte Beschaffenheit bezieht (wiederum je nach Bedarf
zusätzliche untere Indizes als Unterscheidungszahlen). t-stellige Prä-
dikate wie etwa "Aal", "AbI", ... , "BaI" ... usw. stehen insoweitfür
Eigenschaften, nämlich für Beschaffenheiten, die jeweils von gerade
einem Individuum ausgesagt werden. n-stellige Prädikate (n ;;!: 2) ste-
hen für Beziehungen, welche jeweils bezüglich einer - geordneten -
Menge von n Individuen ausgesagt werden. Die Bedeutung eines
I-ste/ligen Prädikats wird durch die Menge derjenigen Individuen
festgelegt, auf welche die durch das Prädikat ausgedrückte Eigenschaft
zutrifft. Die Bedeutung eines mehr als I-stelligen Prädikats wird
durch die (ungeordnete) Menge sämtlicher geordneter Mengen beste-
hend aus jeweils denjenigen Individuen festgelegt, bezüglich derer die
durch das Prädikat ausgedrückte Beziehung obwaltet. Seien etwa
(pe1.1' pe1.2)' (pe2.1' pe2.2), ... und (pen.l' pen.2) sämtliche Paare von
Personen, von denen jeweils die erste Gläubiger der zweiten ist. Dann
bestimmen wir die Bedeutung des Prädikats "F0 2", welches das Beste-
hen der Forderungs-Beziehung ausdrücken soll, mit Hilfe der Menge
dieser Paare {(pel.\> pe1.2)' (pe2.1' pe2.2)' ... , (pen.l' pe n.2)}; diese
Menge, welche dem "Begriffsumfang" im Sinne der traditionellen
Logik entspricht, wird auch als "Extension" des Prädikats (bzw. der
durch das Prädikat ausgedrückten Beschaffenheit) bezeichnet.
Sogenannte "atomare Aussagen" sind die kleinsten Einheiten der
symbolischen Sprache, welche einen Gedanken auszudrücken vermö-
gen; sie werden durch Verkettung eines n-stelligen Prädikats mit n
Subjektskonstanten gebildet. "F0 2 pe3.1' pe3.2" stellt hiernach eine
zulässig gebildete atomare Aussage dar. Diesen Ausdruck (als ein

37
64 Jürgen Rödig

objektsprachliches - mithin in Anführungszeichen zu setzendes! -


Gebilde) nennen wir nun im Sinne des relativen Wahrheitsbegriffs
wahr genau dann, wenn das durch die Subjektskonstanten (in ihrer
Reihenfolge) bestimmte Individuenpaar Element der Extension von
"F0 2" ist, also genau dann, wenn (pe3.!,pe3.2) E {(pel.l' pe1.2) , (pe2.!,
pe2.2), ... , (pen .!, pen .2)}' mithin genau dann, wenn n ~ 3. Hinsicht-
lich der Wahrheitswertung des normativen Satzes "Fo2 pe3.!' pe3.2" ist
also kein Unterschied gegenüber der Bewertung eines faktischen Sat-
zes wie "Br2 pe).!, pe3.2" zu machen, welcher das Bestehen der Bruder-
Beziehung zwischen (erstens) pe).! und (zweitens) pe).2 symbolisieren
mag.
Mit Hilfe von Junktoren werden Aussagen, die bereits korrekt
gebildet sind (also insbesondere atomare Aussagen), zu komplexen
Aussagen zusammengesetzt. Hierbei wird der Wahrheitswert der
komplexen Aussage ausschließlich von den Wahrheitswerten derjeni-
gen Aussagen abhängig gemacht, auf deren junktorenlogischer Ver-
knüpfung die komplexe Aussage beruht. Die Wirkungsweise der
Junktoren erschöpft sich in der Herstellung einer derartigen Abhän-
gigkeit. Zusätzliche inhaltliche Gesichtspunkte gehen in die Defini-
tion der Junktoren nicht ein. Mithin kommtes auch in dieser Phase des
Aufbaus unserer symbolischen Sprache auf das Auftreten oder Nicht-
auftreten normativer Aussagegehalte nicht an. Mit Hilfe metasprach-
lieher Mitteilungszeichen "AFo", "AF~", "AF~" usw. wollen wir uns
über beliebige objektsprachliche Aussagen verständigen. "WW
(AFO)" stehe für den Wahrheitswert von AFo; durch WW (AF) wird
entweder Wahrheit (WA) oder Falschheit (FA) repräsentiert (Stand-
punkt der zweiwertigen Logik). Dann gibt es offenbar 22 = 4 Mög-
lichkeiten, dem Wahrheitswert genau einer Aussage einen weiteren
Wahrheitswert zuzuordnen (sog. "l-stellige Wahrheitswertfunktio-
nen"). 2-stellige Wahrheitswertfunktionen, deren genau 22' = 16 ge-
bildet werden können, ordnen den Wahrheitswerten jeweils genau
zweier Aussagen einen weiteren Wahrheits wert zu. Von diesen
4 -t 16 Wahrheitswertfunktionen interessieren uns nur die folgenden
6 mit den Funktoren NON, VEL, SEQj, SEQ., ÄQ, ET, von denen
die erste (NON-funktion) 1-stellig ist und die restlichen 2-stellig sind:
NON (WA) = VEL (FA, FA) = SEQj (FA, WA) = SEQ.(WA,
FA) =ÄQ(WA,FA) =ÄQ(FA, WA) = ET(WA, FA) = ET(FA,
WA) = ET(FA, FA) = FA; die Anwendung derWahrheitswertfunk-
tionen auf alle übrigen Argumente bzw. Argumentenpaare ergibt den
Funktionswert WA (daher etwa NON (FA) = ET (WA, WA)). Die
Bedeutung der Junktoren ,,1" (Negator), " v " (Disjunktor), ,,::?"
(intensiver Implikator), ,,--+ " (extensiver Implikator), ,,-" (Äquiva-
lentor) und"" " (Konjunktor) wird nunmehr wie folgt festgelegt:
WW (I AFO) = NON (WW (AFO»; WW «AF~ v AF~)) = VEL

38
Logik und Rechtswissenschaft 65

(WW (AF~), WW (AF~»; wie" v" mithilfe von VEL interpretiert


wird, so werden,,~" durch SEQi' ,,-> "durch SEQ., ,,-" durch ÄQ
und" /\ " durch ET interpretiert. Der Einsatz des Negators entspricht
der umgangssprachlichen Verneinung einer Aussage (als ganzer). Der
Disjunktor entspricht der umgangssprachlichen Verknüpfung zweier
Sätze durch nicht-ausschließendes "oder" (lat. "vel" im Gegensatz zu
"aut-aut"), der Konjunktor dem umgangssprachlichen "und". Mit
(AF~~, AF~) bringt man zum Ausdruck, daß nur, wenn AF~, so AF~;
(AF~ --> AF~) drückt aus, daß stets, wenn AF~, so AF~; (AF~ _ AF~)
besagt, daß genau dann, wenn AF~, so AF~.
Durch "ve t" und "ve2" mögen zwei bestimmte Verhaltensweisen
benannt werden. "Vb t" stehe für die Verbotenheit, "Ert " für die
Erlaubtheit eines Verhaltens; "Un2., .. " bringe zum Ausdruck, daß.
eine Unterlassung von .. ist. Dann gelte es beispielsweise, den Wahr-
heitswert folgenden Satzes zu bestimmen: ,,(Vb t vet v (Un 2 vet, ve2
/\ ER t ve2»'" Aufgrund der getroffenen Festsetzungen ergibt sich:
WW (,,(Vb t ve t v (Un 2 ve t, ve2 /\ Er t ve2»" = VEL (WW ("Vb t
ve t"), WW (,,(Un2 ve t, ve 2 /\ Er t ve2)"» = VEL (WW ("Vb t vet"),
ET (WW ("Un2ve t , ve2"), WW ("Er t ve2"»)' Die Wahrheitswerte der
atomaren Aussagen" Vb t ve t ", "Un2 ve t, ve2" und "Er t vez" dürfen,
wie wir gesehen haben, vorausgesetzt werden. Also etwa WW ("Vb t
vet") = FA und WW ("Un 2 vet, vez") = WW ("Er t vez") = WA.
Mithin VEL (WW ("Vb t vet)", ET (WW ("Un 2ve t, ve2"), WW ("Er t
vez"») = VEL (FA, ET (WA, WA» = VEL (FA, WA) = WA.
Die Wahrheitswertung der genannten komplexen Aussage bereitet
also offenbar ungeachtet ihres normativen Gehalts keinerlei Schwie-
rigkeiten.
Wie die Einführung von Junktoren, so ist schließlich auch die
Einführung von Quantoren im Hinblick auf den normativen Cha-
rakter des zu erfassenden Aussagegehalts unproblematisch. Soll bei-
spielsweise dargestellt werden, daß ein Verhalten, falls es verboten ist,
nicht erlaubt ist, so kommt es darauf an, wieviele Verhalten "zur
Diskussion stehen". Besteht das "universe of discourse" etwa aus nur
drei Verhalten vet, ve 2 und ve3' so würden wir den genannten Inhalt
folgendermaßen symbolisieren können: ,,(((Vb t vet --> --, Er t vet) /\
(Vb t ve2 --> --, Er t ve2» /\ (Vbt ve 3--> --, Er t ve3»'" Solche konjunktive
Verknüpfung von Sätzen, welche den genannten Zusammenhang
gleichsam Fall für Fall - nämlich von Individuum zu Individuum -
behaupten, nimmt jedoch mit wachsendem universe of discourse an
Mühseligkeit zu und gerät bei unendlich großem universe of discourse
an ihre Grenze; gerade der "Verhaltens"-Begriff dürfte, sofern man
komplexe Gebarensmuster einbezieht, unschwer dahin zu fassen sein,
daß unendlich viele Verhaltensweisen in Betracht gezogen werden
müssen. Es liegt daher nahe, den Zusammenhang zwischen Verboten-
5 BSR t43

39
66 Jürgen Rödig

heit und Nicht-Erlaubtheit auf eine Subjektsvariable zu beziehen,


welche als repräsentativ für jedes beliebige Element des universe of
discourse angesehen werden kann, und diese Variable sämtliche Ele-
mente des universe of discourse (das man insofern auch als "Wertbe-
reich" der Variablen bezeichnet) durchlaufen zu lassen. Als Subjekt-
variable verwenden wir kleine Buchstaben (notfalls mit unteren Indi-
zes als Unterscheidungszahlen) und notieren" A v (Vb! V ~ -, Er!
v)", zu deutsch: "Für alle (Verhaltensweisen) v gilt, daß v stets dann,
wenn es verboten ist, nicht erlaubt ist". "A "heißt auch Generalisator,
"v" heißt in unserem Beispiel "durch A gebunden". ,,(Vb! v~ -, Er!
v)" selbst stellt keine der Wahrheit fähige Aussage, sondern - wegen
des ungebundenen ("freien") Vorkommens von "v" -lediglich das
Schema einer Aussage, eine sogenannte "Aussageform" (metasprach-
liches Kürzel: "AF"), dar. Im Hinblick auf das Vorkommen gerade
einer freien Variablen wählen wir einen entsprechenden oberen Index:
"AF!"; nachträglich wird die Verwendung des metasprachlichen Kür-
zels "AFo" für Aussagen motiviert. - Wie der Generalisator "A " vom
Konjunktor " 1\ " her erklärt werden kann, so kann der Partikularisa-
tor "V" als Verallgemeinerung des Disjunktors aufgefaßt werden. Wir
notieren beispielsweise "Vv ErV' für «(Er l ve! v Er! ve2) v Er! ve3)
v ... v Er! ven ) und übersetzen: "Es gibt wenigstens ein (Verhalten)
v, welches erlaubt ist".
Die logische Qualität der Quantoren geht über die der entsprechen-
den Junktoren ,,1\ " und" v" lediglich hinsichtlich ihrer Fähigkeit
hinaus, notfalls auch mit einem unendlich großen universe of discour-
se fertig zu werden. Auch bezüglich dieses Gesichtspunkts kommt es
auf das Auftreten oder Nichtauftreten normativer Aussagegehalte
ersichtlich nicht an.
Es muß nach alledem als prinzipielles Mißverständnis der moder-
nen Logik aufgefaßt werden, wenn man glaubt, ihr lediglich solche
Sätze unterwerfen zu können, welche verifizierbar sind oder deren
Richtigkeit gar mittels Beobachtung festgestellt werden könnte. 23 Das
Kriterium der Beobachtbarkeit scheint bereits hinsichtlich der Verifi-
zierung faktischer Sätze zu versagen, wie aus der Problematik der
Dispositionsprädikate erhellt. 24 Erst recht steht es dem logischen Um-
23 VgJ. Weinbergers Ausführungen in seiner Rechtslogik, S. 33 und 195; der

diesen Ausführungen zugrundeliegende Standpunkt scheint in Weinbergers


"Bemerkungen zur Grundlegung der Theorie des juristischen Denkens" in:
Jahrbuch f. Rechtssoziologie und Rechtstheorie 2 (1972), S. 134ff., beibe-
halten' zu werden.
24 VgJ. Rödig (Anm. 15), Fn. 17. - Die in Weinbergers "Bemerkungen ... "
(Anm. 23, S. 158) aufgestellte Behauptung, Sätze mit Dispositionsprädikaten
seien - neuerdings? - verifizierbar, habe ich jedenfalls mit Hilfe des einschlägi-
gen - neueren - wissenschaftstheoretischen Schrifttums nicht verifizieren kön-

40
Logik und Rechtswissenschaft 67

gang mi t Normen nicht im Wege, daß diese allenfalls "gelten" und daß
ihre Geltung jedenfalls nicht mittels Beobachtung ermittelt werden
kann. Wahrheitswerte erfüllen im Rahmen logischer Kalküle die
Funktion, eine zuverlässige übersetzung umgangs- oder fachsprachli-
cher Texte in formalisierte Sprachen sowie eine ebenso zuverlässige
Rückübersetzung zu sichern; es brauchen also lediglich die Bedingun-
gen für das Zutreffen objektsprachlicher Ausdrücke angegeben zu
werden, jedoch gerade auf der Grundlage kombinatorisch vollständi-
ger Wahrheitshypothesen wird ein exaktes Operieren mit diesen Hy-
pothesen und auf diese Weise zugleich eine exakte Analyse der logi-
schen Abhängigkeit eines Satzes von anderen Sätzen ermöglicht. Wer
die Logik demgegenüber - wider deren Willen - in ein Verfahren für
die Verifikation von Normen umfunktioniert, hat es nur zu leicht, die
Eignung der Logik für juristische Zwecke in Frage zu stellen und der
Jurisprudenz auf diese Weise wieder einmal die Chance zu nehmen,
einen Schuß Exaktheit dazuzugewinnen.

2.3. Dreiwertigkeit

Zu den originellsten Versuchen der Begründung einer besonderen


Logik der Normen gehört der Ansatz von Georg Klaus. 25 Klaus meint
betreffs der von ihm sogenannten "deontischen Modalitäten" des
Gesollt-, des Erlaubt- und des Verbotenseins: "Es ist offensichtlich,
daß die logische Beschreibung dieser Modalitäten des Handelns ...
eine dreiwertige Logik verlangt". Der Dualismus der Wahrheitswerte
W A, FA würde mithin nicht ausreichend sein, und die Einbeziehung
auch nur eines weiteren Wahrheitswerts würde insbesondere eine
modifizierte Einführung von Junktoren sowie von Quantoren erfor-
derlich machen. Tatsächlich ist jedoch auch der Ansatz von Klaus nur
durch das soeben behandelte Mißverständnis bezüglich der logischen
Funktion von Wahrheitswerten zu erklären. Der Nachweis für die
Geltung eines Satzes, der ein Verhalten bewertet, scheint für Klaus nur
dann erbringbar zu sein, wenn wenigstens drei modi für die Geltung
des Satzes zur Verfügung stehen; um den Satz, der das Verhalten
bewertet, verifizierbar zu machen, werden Kategorien für die Bewer-
tung des Satzes aufgestellt, die den Kategorien für die Bewertung des
Verhaltens entsprechen.
Die von Kla~s behandelte Schwierigkeit fällt hinweg, sofern man
nur mit der Praxis der herkömmlichen Normlogik bricht, die Attribu-
te der Gebotenheit, Erlaubtheit und Verbotenheit auf jeweils gerade

nen; siehe etwa W. Stegmüller, Probleme und Resultate der Wissenschafts-


theorie und Analytischen Philosophie 1, Wien 1969, S. 123ff.
25 Die Macht des Wortes, 3. Aufl., Berlin-Ost 1965, S. 171.

5*

41
68 Jürgen Rödig

ein (isoliert betrachtetes) Verhalten zu beziehen. 26 Diese Betrach-


tungsweise ist bereits sachlich inadäquat. Würde etwa das Attribut der
Gebotenheit nur auf ein einzelnes Verhalten bezogen werden können,
so bliebe unklar, ob dieses Verhalten lediglich rechtmäßig und inso-
fern erlaubt ist oder aber ob es - wie dies der Intention von Geboten
entspricht - wenigstens einem weiteren Verhalten, das für den N orm-
adressaten gleichfalls in Frage kommt, vorgezogen werden muß. Die
sogenannten deontischen Modalitäten sind in der Tat nur als komple-
xe Bewertungsformen adäquat explizierbar. Wir haben von einem
Verhaltens spielraum des Normadressaten auszugehen, der aus wenig-
stens 2 für ihn in Frage kommenden Verhaltensweisen besteht. Der
Einfachheit halber soll er auch aus höchstens 2 Verhaltensweisen
bestehen. Wir können also, auf eine faktische Verhaltens eigenschaft
Bezug nehmend, mit Fug von gerade einem Tun sowie von "der"
Unterlassung dieses Tuns reden. Ferner soll eine normative Verhal-
tenseigenschaft vorausgesetzt werden; je nach Erfüllung oder Nicht-
erfüllung dieser Eigenschaft sehen wir das Verhalten als rechtmäßig
oder rechtswidrig an. Rechtmäßigkeit und Rechtswidrigkeit lassen
sich offenbar auf vier verschiedene Arten auf Tun und Unterlassen
verteilen. Wir nennen nun das Tun "geboten", wenn es rechtmäßig
und wenn das Unterlassen rechtswidrig ist. Gerade umgekehrt nennen
wir das Tun "verboten", wenn es rechtswidrig und wenn das Unter-
lassen rechtsmäßig ist. "Erlaubt" heiße das Tun schon dann, wenn es-
ungeachtet der Bewertung des Unterlassens - rechtmäßig ist. Nun-
mehr ist die Erlaubtheit von der Gebotenheit unterscheidbar. Es
lassen sich sodann mühelos Zusammenhänge herleiten, welche be-
treffs der deontischen Modalitäten angenommen zu werden pflegen -
etwa der Satz, daß ein Verhalten stets dann, wenn es geboten ist, auch
erlaubt ist. Schließlich - und gerade dieser Umstand interessiert uns
hier so sehr - leuchtet es unmittelbar ein, daß sämtliche einschlägigen
Aussagen im Rahmen einer zweiwertigen Logik aufgestellt werden
können. Ja man wird sogar behaupten dürfen, daß gerade die Einhal-
tung logischer Kategorien dazu gezwungen hat, Komplexität dort zu
suchen, wo sie meist auch anzutreffen ist: im sachlichen Bereich.
Immer wieder verdanken wir gerade der Rigorosität formaler Metho-
den heuristische Impulse.

Vgl. J. Rödig, Die Denkform der Alternative in der Jurisprudenz, Berlin,


26

Heidelberg 1969, § 21.

42
Logik und Rechtswissenschaft 69

3. Anwendungen

3.1. Ableitungsregeln

Die Ableitungsregeln, deren wir uns bei den nachfolgenden Anwen-


dungsbeispielen bedienen, können an dieser Stelle auch nicht annä-
hernd pünktlich formuliert werden, vom Nachweis der Wider-
spruchsfreiheit sowie der Vollständigkeit dieses Kalküls ganz zu
schweigen. Es muß vielmehr genügen, die Regeln gerade soweit zu
charakterisieren, daß der Leser den Anschluß an einschlägige Fachlite-
ratur gewinntP
Damit eine Ableitung überhaupt beginnen kann, benötigen wir
Regeln, welche das Hinschreiben einer Zeile gestatten, ohne daß
bereits die Existenz bestimmter Zeilen vorausgesetzt werden muß.
Eine Regel für die Einführung von Annahmen AE erlaubt es, irgendei-
ne Aussage hinzuschreiben. Ist diese Aussage jedoch nicht bereits aus
logischen Gründen wahr, so kann sie nur in Abhängigkeit von be-
stimmten Prämissen behauptet werden. Sie kann insbesondere als ihre
eigene Prämisse aufgefaßt werden, und so erklän es sich, daß das Zitat
der Zeile in Klammer hinter der Zeilennummer erscheint, z. B.:
1 (1) ,,(Gb l vel A Vbl ve2)" AE
Mit Hilfe einer weiteren Regel JL für den junktorenlogischen Uber-
gang von gegebenen Zeilen zu einer weiteren Zeile dürfen Formeln
hingeschrieben werden, welche sich aus den schon vorhandenen For-
meln aufgrund von logischen Gesetzen für die Verwendung von Junk-
toren ergeben. So kann etwa aufgrund der Definition des Konjunktors
der Ausdruck ,,(Gb l ve l A Vb l ve2)" nicht als wahr vorausgesetzt
werden, ohne daß auch "Gb l ve" für wahr gehalten wird. Dieser
Ausdruck folgt daher aus jenem, und mit dem Bestehen der Folge-
rungsbeziehung korrespondien die Allgemeingültigkeit der extensi-
ven Implikation ,,«Gb l vel A Vbl ve2) __ Gb l ve)" (sog. "Deduk-
tionstheorem"). Um eine extensive Implikation auf Allgemeingültig-
keit zu testen, wird man naheliegenderweise prüfen, ob das erste Glied
der Implikation (Implikans) bei falschem zweiten Glied (Implikat)
den Wahrheitswen Wahrheit annehmen kann; ist dies nicht der Fall,

27Bei dem nachfolgend skizzierten Kalkül, der den Bedürfnissen der Praxis des
juristischen Schließens angepaßt ist und demnächst eingehender dargestellt
werden soll, handelt es sich um einen sogenannten "Kalkül des natürlichen
Schließens", wie ihn namentlich B. Mates in seiner Elementaren Logik, Lon-
don 1969 (org. "Elementary Logic", 1965), beschreibt; dieses Werk sowie
Quines Grundzüge (Anm. 5), die ebenfalls in einen prädikatenlogischen Kal-
kül des natürlichen Schließens münden, seien zur Lektüre empfohlen.

43
70 Jürgen Rödig

so kann die Implikation nicht unrichtig sein. Was den Ausdruck


,,((Gb 1 vel A Vb 1 vez) ~ Gb 1 ve)" betrifft, so muß bei falschem
Implikat auch das erste Konjunktionsglied und damit das gesamte
Implikans unrichtig werden. Die mittels JL gewonnene Zeile ist in
Abhängigkeit von den Annahmen der Zeilen zu notieren, aus denen
sich ihr Inhalt junktorenlogisch ergibt; links vom Zitat der Regel
werden jene Zeilen selbst (Regelvorlagen) zitien. Daher etwa
1 (1) ,,(Gb 1 vel A Vb 1 vez)" AE
2 (1) "Gb 1 vet" (1) JL,
aber auch
1 (1) "Gb 1 vel" AE
2 (2) "Vb 1 vez" AE
3 (1,2) ,,(Gb 1 vel A Vb l vez)" (1) (2) JL;
eine extensive Implikation, deren Implikans in der konjunktiven Ver-
knüpfung der Inhalte der Zeilen (1) und (2) besteht, ist offenbar stets
wahr, wenn das Implikat im Inhalt vqn Zeile (3) besteht:
,,((Gb 1 ve l A Vb l vez) ~ (Gb 1 vel A Vb 1 vez))". übrigens soll eine
junktorenlogisch allgemeingültige Aussage ihrerseits explizit hinge-
schrieben werden dürfen; der Anführung von Annahmen hinter der
Zeilennummer bedarf es in diesem Fall nicht, und die Regel heißt
entsprechend JL JL!1J.
Beispiel:
,,((Gb 1 ve l A Vb 1 ve 1) ~ Gb 1 ve 1)" JLI/l
Die Fortführung des Beispiels lehrt, daß Annahmen und Regelvorla-
gen auseinanderfallen können:
2 (2) ,,(Gb 1 ve l A Vb l vez)" AE
3 (2) "Gb l ve l " (1) (2) JL
(1) taucht in (3) nur als Regelvorlage auf.
Der übergang zu Zeile (3) wird durch folgende extensive Implika-
tion legitimiert, deren Implikat nicht mit FA belegt werden kann,
ohne daß auch das aus (1) und (2) konjunktiv zusammengesetzte
Implikans als falsch aufgefaßt werden muß:
,,((((Gb 1 ve l A Vbl ve 1) ~ Gb 1 ve l ) A
A (Gb l ve l A Vb! ve2)) ~
I ~ '}
FA FA FA WA FA
l' 4' I
Zur Beseitigung von Annahmen dient Regel AB, mit deren Hilfe
eine Prämisse einer bereits hingeschriebenen Zeile - im Hinblick auf
die Gleichwenigkeit von Folgerungsbeziehung und allgemeingültiger
extensiver Implikation - in das Implikans einer weiteren Zeile um-

44
Logik und Rechtswissenschaft 71

funktioniert werden kann, deren Implikat aus dem Inhalt der bereits
hingeschriebenen Zeile besteht; was die weitere Zeile angeht, so
braucht die Zeile, welche die nunmehr umfunktionierte Prämisse
enthält, nicht mehr als Annahme genannt zu werden. Beispiel:
1 (1) ,,(Gb l ve l A Vb l ve2)" AE
2 (1) "Gb l vel" (1) JL
3 ,,«Gb l vel A Vb l ve2) -+ Gb l vel)" (1) (2) AB

Der in Zeile (3) voraussetzungslos behauptete übergang von einer


Konjunktion zu einem ihrer Glieder ist der Verallgemeinerung fähig
und dient dann zur Motivierung einer Regel GB zur Beseitigung von
Generalisatoren. Unter AF SV/SK sei das Ergebnis verstanden, wel-
ches man erhält, wenn man eine Subjektsvariable SV überall dort, wo
SV in AF frei vorkommt, durch eine zu ihrem Wertbereich gehörende
Subjektskonstante SK ersetzt. Dann lautet GB: Ist A SV AF abgelei-
tet, so ist AF SV/SK unter den Annahmen von A SV AF ableitbar.
Beispiel mit "Rfl" für die Eigenschaft (einer Person), rechtsfähig zu
sem:
1 (1) "A P Rf l p" AE
2 (1) "Rfl pe" (1) GB

Regel GE für die Einführung von Generalisatoren fällt etwas kom-


plizierter aus, da offenbar von einem Beispiel nicht ebenso leicht auf
die allgemeine Aussage wie von der allgemeinen Aussage auf das
Beispiel geschlossen werden kann: Ist AF SV/SK abgeleitet und tritt
SK weder in AF noch in irgendeiner Annahme von AF SVISK auf, so
ist A SV AF unter den Annahmen von AF SV/SKableitbar. Die in GE
enthaltenen Zusatz-Bestimmungen sollen sicherstellen, daß die zu
verallgemeinernde Behauptung von der Individualität des Beispiels,
für das sie aufgestellt wurde, nicht abhängig ist. Mit "GfI" für die
Eigenschaft, geschäftsfähig zu sein, können wir daher folgende kor-
rekte Ableitung bilden:
1 (1) "A P (Rf l P A Gf l p)" AE
2 (1) ,,(Rfl pe A Gf l pe)" (1) GB
3 (1) "Gfl pe" (2) JL
4(1) "ApGflp" (3) GE

Würde diese Ableitung mit Zeile (2) beginnen, so würde sie ihre
Korrektheit einbüßen, da (2) nicht mehr nur als - zufällige - Konkreti-
sierung einer bereits allgemein angenommenen Behauptung erschiene.
Regel Q U gestattet die Auswechslung von Quantoren; ist -, A SV
-, AF abgeleitet, so darf V SV AF unter den Annahmen von -, A SV-,
AF abgeleitet werden.

45
72 Jürgen Rödig

Weitere - derivative - Regeln, die mit Hilfe der bereits angegebenen


Regeln begründet werden können, erleichtern die Ableitungspraxis.
Mit Hilfe von Regel PE für die Einführung des Partikularisators istaus
der Annahme eines Beispiels auf die Existenz überhaupt eines Bei-
spiels zu schließen: Ist AF SV/SK abgeleitet, so ist V SV AF unter den
Annahmen von AF SV/SK ableitbar. Die Regel korrespondiert mit
der Erschließbarkeit von (AF~ v A~) aus AF~ ebenso wie Regel GB
mit der Erschließbarkeit von A~ aus (A~ /\ AF~). - Will man ferner
den Bezug auf ein als Annahme eingeführtes Beispiel vermeiden, so
läßres sich aus der Menge der Annahmen des zu beweisenden Satzes
folgendermaßen eliminieren ("BB" als Kürzel für "Beseitigung eines
Beispiels") :
BB: Folgende Bedingungen seien erfüllt:
(1) V SV AF! ist in der i-ten Zeile einer Ableitung abgeleitet;
(2) in einer weiteren Zeile (j) kommt AF! SV/SK als Element der
Annahmenmenge vor;
(3) AF2 ist in Zeile (k) abgeleitet;
(4) SK ist weder in AF! noch in AF2 noch in einer der Annahmen
der k-ten Zeile enthalten, ausgenommen Annahme AF!
SV/SK.
Dann darf AF2 unter den Annahmen der Annahmen der Zeilen (i)
und (k) mit Ausnahme der Annahme (j) abgeleitet werden.
Die für die Anwendung von BB angegebenen Bedingungen er-
klären sich daraus, daß man, sofern man die mit BB gebotene Abkür-
zungsmöglichkeit nicht wahrnehmen möchte, u. a. auf Regel GE
zurückgreifen müßte. Es liegt schließlich nahe, Regel QU dahin zu
verallgemeinern, daß sowohl
VSVAF und..., ASV...,AF
als auch VSV...,AF und..., A SVAF
als auch ...,VSVAF und ASV...,AF
als auch ..., V SV ..., AF und A SV AF
jeweils unter denselben Bedingungen ableitbar sind. Ist also beispiels-
weise A SV..., AF abgeleitet, so darf ..., V SV AF unter den Annahmen
von A SV..., AF abgeleitet werden. Beispiel:
1 (1) "V v Er! v" AE
2 (1) ,,"" A v..., Er! v" (1) QU

3.2. Juristische Argumentationstheorie

Nach § 7 Abs. 2 BGB kann der Wohnsitz, und zwar der Wohnsitz
einer natürlichen Person (vgl. §§ 1 ff. BGB), an mehreren Orten
bestehen. Aus dieser Vorschrift hat man per argumentum e contrario
schließen wollen, daß eine juristische Person ihren Sitz nicht an mehre-

46
Logik und Rechtswissenschaft 73

ren Orten haben kann. 28 Durch "Pn l" werde die Eigenschaft, natür-
liche Person zu sein, durch "Pj1" die Eigenschaft, juristische Person
zu sein, durch "Om l" die Befugnis einer Person symbolisiert, ihren
(Wohn-)Sitz an mehreren Orten zu haben. Dann führen wir § 7 Abs. 2
BGB in Zeile (1) als Annahme ein, versuchen hieraus auf das ge-
wünschte Ergebnis zu schließen, wobei wir mittels einer weiteren
Annahme (2) voraussetzen, daß eine juristische Person keine natür-
liche ist.
1 (1) "Ap(Pnlp~Omlp)" AE
2 (2) "A p (PP p ~,Pnl p)" AE
3 (1) ,,(Pn l pe ~ Om l pe)" (1) GB
Wir bauen nun einen kleinen Fehler ein (Zeile (4» und schließen
alsdann fröhlich weiter:
4 (1) ,,(, Pn l pe ~ , Om l pe)" (3) JL
5 (2) ,,(PP pe ~ , Pn l pe)" (2) GB
6 (1,2) ,,(PP pe ~ , Om l pe)" (4) (5) JL
7 (1,2) "Ap (PP p ~ , Om l p)" (6) GE
Zwar enthält (7) das gewünschte Ergebnis, jedoch beruht dieses Er-
gebnis auf einem unkorrekten junktorenlogischen Schritt, der für die
Praxis des argumenturn a contrario kennzeichnend ist; (4) wird durch
(3) nicht allgemeingültig impliziert, wie folgende Wahrheitswertung
zeigt:
,,((Pn l pe ~ Om l pe) ~ (, Pn l pe ~ , Om l pe»"
FA WA WA FA WA FA FA FA WA
Junktorenlogisch allgemeingültig ist lediglich der übergang von (3)
zu ,,(, Om l pe ~ , Pn l pe)", jedoch mit der Einsicht, daß eine
Person, wenn sie mehrere Wohnsitze haben kann, eine natürliche
Person ist, ist für die Lösung der uns interessierenden Frage nichts
gewonnen. Der Ausschluß mehrerer Sitze einer juristischen Person ist
allenfalls sachlich begründbar; formale Logik sollte nicht als Deck-
mantel für das Fehlen sachlicher Gesichtspunkte herhalten müssen.
Auch im Zusammenhang mit dem sogenannten "argumentum a
fortiori" wirkt sich formale Logik weniger dahingehend aus, daß
gewisse Topoi ihrer logischen Stringenz wegen aus der sachlichen
Debatte herausgenommen werden könnten. Wir werden vielmehr
umgekehrt zum Suchen zusätzlicher sachlicher Gesichtspunkte aufge-
fordert, durch welche das formale Raster ausgefüllt werden muß. Bei
dem argumentum a fortiori geht es darum, daß aus dem Umstand, daß
etwas soundso sei, die Tatsache entnommen wird, etwas weiteres sei

Vgl. etwa H. Coingin StaudingersKomm. zumBGB, 11. Aufl., Berlin 1957,


28
Anm. 5 zu § 24; zum argumenturn e contrario im Allgemeinen vorzüglich
U. Klug, Juristische Logik, 3. Aufl., Berlin, Heidelberg 1966, § 10 (S. 124ff.).

47
74 Jürgen Rödig

nunmehr erst recht der Fall. Klug 29 diskutiert in diesem Zusammen-


hang, und zwar im Anschluß an Tammelo ,30 das Verbot des Fahrrad-
fahrens zu zweit auf öffentlichen Wegen. Ebenso zweifellos, wie zwei
in drei enthalten ist, scheint es verboten zu sein, auf öffentlichen
Wegen zu dritt ein und dasselbe Fahrrad zu benutzen. Es scheint sich
um nichts anderes als um eine formale Abschwächung des zuerst
angeführten Rechtssatzes zu handeln. Groß wird unsere Verlegenheit
indessen, wenn wir versuchen, besagte Abschwächung durch eine
entsprechende logische Gesetzmäßigkeit zu repräsentieren.
Ein Beispiel für ein logisches Abschwächungsverfahren haben wir
bereits kennen gelernt, und zwar anläßlich der Motivierung der Ablei-
tungsregel GB: Aus (AF? 1\ AF~) folgt AF? Ähnlich hätte PE durch
die Erschließbarkeit von (AF? v AF~) aus AF? motiviert werden
können. Anwendbar auf unseren Ausgangsfall sind beide dieser Fol-
gerungsbeziehungen, jedoch ihre Anwendung führt nicht weiter. Be-
zeichne etwa das O-stellige Prädikat "Fzo" das generelle Verbot des
Fahrens zu zweit, "Fdo" das generelle Verbot des Fahrens zu dritt auf
öffentlichen Wegen. Dann gelangt man zwar mühelos von "Fzo" zu
"Fz o v Fd O)":
1 (1) "FzO" AE
2 (1) ,,(Fz o v Fdo)', (1) JL,
und zwar sogar in der Weise, daß "Fz o" als - einzige - Voraussetzung
von ,,(Fz O v Fd O)" auftritt. Nur hat (2) den Nachteil, dem gewünsch-
ten Verbot des Fahrradfahrens zu dritt nicht zu entsprechen. Die
Verbotenheit des Fahrens zu dritt wird lediglich disjunktiv in Verbin-
dung mit dem Verbot des Fahrens zu zweit ausgesprochen, und trifft
das zuletzt genannte Verbot zu, so braucht das weitere nach Maßgabe
der Definition der Disjunktion nicht zu gelten. Das Zutreffen eines
Disjunktionsgliedes genügt.
Den Kern des Schlusses auf die Verbotenheit des Fahrradfahrens zu
dritt scheint die überlegung zu bilden, daß der Gesetzgeber gleichsam
ein höheres Maß an Regelungsenergie hat aufbringen müssen, um
bereits das Fahren zu zweit zu verbieten. Für das auf öffentliche Wege
bezogene Verbot des Fahrradfahrens zu dritt oder gar des bereits für
eine Zirkusveranstaltung reifen Fahrradfahrens zu viert, zu fünft usw.
wäre offenbar eine geringere Kraftanstrengung der Gesetzesverfasser
erforderlich gewesen. Das Verbot des Fahrradfahrens zu zweit scheint
zumindest eine weniger selbstverständliche Regelung zu sein, was
jeder, der einmal ein sogenanntes "Tandem" in Aktion gesehen hat,
bestätigen wird. Wie aber heben wir eine weniger selbstverständliche

29Anm. 28, S. 134.


JODrei rechtsphilosophische Aufsätze, Heidelberg 1948, S. 3lf.; ders., Legal
dogmatics and the mathesis universaJis, Heidelberg 1948, S. 7 f.

48
Logik und Rechtswissenschaft 75

Aussage von einer selbstverständlicheren Aussage ab? N aheliegender-


weise durch die Einbeziehung eines Konjunktionsgliedes, welches
folgerichtig zwecks Abschwächung der stärkeren Aussage gestrichen
werden kann. Wir müßten mithin versuchen, das Verbot des Fahrens
zu zweit in zwei konjunktiv miteinander verknüpfte Bedingungen zu
zerlegen dergestalt, daß die eine dieser Bedingungen im Verbot des
Fahrens zu dritt, zu viert usw. besteht. Formaliter ergeben sich keiner-
lei Schwierigkeiten. Man verbietet einerseits das Fahren zu dritt, zu
viert usw., und was die restlichen Fahrweisen angeht, also das Fahren
höchstens zu zweit, so wird andererseits das Fahren in Gesellschaft
genau einer weiteren Perspn dem Verbot unterworfen. Aus einer
derartigen Fassung des Verbots des Fahrens zu zweit ist in der Tat auf
das Verbot des Fahrens zu dritt, zu viertusw. zu schließen, jedoch nur
deshalb, weil bereits die Prämisse die conclusio in expliziter Weise
enthält. Das nicht-triviale Charakteristikum des argumentum a fortio-
ri, nämlich das mittelbare Erkennen eines Satzes aufgrund einer An-
nahme, welche diesen Satz noch nicht expliziter enthält und ihn an
"Stärke" gleichwohl übertrifft, geht verloren. Diesen Verlust haben
wir auch dann zu beklagen, wenn wir das Verbot des Fahrens zu dritt
mit Hiife der überlegung begründen, daß man bereits aus logischen
Gründen nicht zu dritt fahren kann, ohne zugleich zu zweit zu fahren.
Wir bedienen uns in diesem Zusammenhang der Möglichkeit der
prädikatenlogischen Erfassung von Anzahlaussagen. Als uni.verse of
discourse nehmen wir die Menge der Rechtsgenossen. "Ff z pe), pez"
beschreibe das Faktum, daß pe) in Gesellschaft von pe z Fahrrad fährt.
Durch "Rh )pe" werde zum Ausdruck gebracht, daß sich pe rechtswi-
drig verhält. Zeitpunkte lassen wir einfachheitshalber weg. "Idz" steht
für die 2-stellige Beziehung der Identität. Dann ist die Rechtswidrig-
keit des Fahrens in Gesellschaft wenigstens einer weiteren Person wie
folgt zu präzisieren:

1 (1) AE

Was für jeden Rechtsgenossen gilt, das gilt insbesondere für pe):
2 (1) "Vpz( ....lId zpe),PZ 1\ FFpe),pz)~~Rh)pe))" (1) GB
Besagter Rechtsgenosse besitze nun aber die Dreistigkeit, nicht allein
in Gesellschaft nur einer, sondern in Gesellschaft noch einer dritten
Person pe3 ein und dasselbe Fahrrad zu benutzen:

3 (3) "Vpz ««, Idzpe), pz 1\ I Id zpe)pe 3) 1\


I Idzpz, pe3) 1\ FFpe), pz) 1\ FFpe), pe))" AE
Dann schließen wir auf die Widerrechtlichkeit auch dieses Verhaltens
wie folgt:

49
76 Jürgen Rödig

4 (4) ,,((((i Id2pel' pe2 A i Id2pel' pe3) A


i Id2pe2' pe3) A Ff2pel' pe2) A Ff2pel' pe3)" AE
5 (4) ,,(i Id2pel' pe2 A Ff2pel' pe2)" (4) JL
6 (4) "Vp2(i Id2pel' P2 A Ff2pel' P2)" (5) PE
7 (3) "VP2 (i Id 2pe l, P2 A Ff2peIP2)" (3) (4) (6) BB
8 (1,3) "Rh1pe l" (2) (7) JL
Auch der zuletzt vollführte Schluß auf die Widerrechtlichkeit des
Fahrradfahrens zu dritt ist trivial, sofern man, wie wir dies stillschwei-
gend taten, das Verbot des Fahrens zu zweit als Verbot des Fahrens in
Gesellschaft wenigstens einer weiteren Person interpretiert. Gerade
zu dieser Interpretation sollte uns das argumentum a fortiori nun aber
erst berechtigen. Maßgebend für den Schluß auf die Widerrechtlich-
keit des Fahrens zu dritt dürften in Wirklichkeit inhaltliche Gesichts-
punkte sein. Es handelt sich insbesondere um den Gesichtspunkt, daß
sich die Gefährlichkeit der Benutzung eines Fahrrads mit jedem weite-
ren Benutzer sowohl im Hinblick auf die Benutzer selbst als auch mit
Rücksicht auf weitere Verkehrsteilnehmer erhöht. In methodologi-
scher Hinsicht ist lediglich von Interesse, daß sowohl das Kriterium
der Gefährlichkeit als auch die dahinter stehenden Rechtsgüter der
Unversehrtheit menschlichen Lebens, der Reibungslosigkeit des Stra-
ßenverkehrs usw. als komparative Begriffe aufgefaßt werden. Jedoch
gerade die Steigerungsfähigkeit der genannten Kriterien ist auf keinen
Fall zu verabsolutieren, nämlich dahin zu extrapolieren, daß die Be-
nutzung eines Fahrrads durch nur eine Person und erst recht durch 0
Personen, also die Unterlassung des Fahrradfahrens schlechtweg, als
die in rechtlicher Hinsicht erfreulichsten Formen des Umgangs mit
Fahrrädern erschienen. Denn von dem Verbot des Fahrradfahrens
überhaupt wären wiederum andere rechtliche Güter betroffen, etwä
das Rechtsgut an Bewegungsfreiheit, mittelbar auch das Rechtsgut der
- durch Fahrradfahren geförderten - Gesundheit usw. Wie nahezu
sämtliche rechtlichen Regelungen, so läßt sich auch die Festsetzung
der Höchstzahl der Benutzer eines Fahnads als Ergebnis eines Opti-
mierungsprozesses erklären, innerhalb dessen es gilt, die einschlägigen
Wertungen nicht etwa isoliert, vielmehr per saldo optimal zu realisie-
ren. Sofern die vorausgesetzten Wertungen sowie das Maß ihrer Reali-
sierung präzisiert werden können, bieten sich erneut strukturelle Er-
kenntnismittel an - insbesondere das mächtige Instrument der Infini-
tesimalrechnung, dessen Bedeutung im Rahmen einer allgemeinen
Entscheidungs- und Regelungstheorie nicht überschätzt werden
kann. - Gerade dieses sich jeglicher pauschaler Aussagen entziehende
Ineinandergreifen sowohl inhaltlicher als auch formaler Gesichts-
punkte galt es anhand des argumentum a fortiori zu demonstrieren.
Die Analyse der übrigen Schlußmodi - namentlich des argumentum a
simile, des argumentum a maiore ad minus, des argumentum a minore

50
Logik und Rechtswissenschaft 77

ad maius sowie des argurnenturn ad absurdum (das mit dem Umkehr-


schluß zusammenhängt) - hätte kein anderes Ergebnis erbracht.

3.3. Gesetzgebungstheorie

Ein überraschend reiches Anwendungsgebiet hat sich der modernen


juristischen Logik im Zusammenhang mit der Analyse der Makro-
struktur juristischer Kodtfikate eröffnet. 31 Die hierbei gewonnenen
Resultate sind großenteils unmittelbarer Umsetzung in die gesetzge-
berische Praxis fähig. Es handelt sich beispielsweise um die Erfor-
schung der Struktur von Legaldefinitionen, Fiktionen, gesetzlichen
Vermutungen, Verweisungen sowie von Allgemeinen Teilen, mit de-
ren Hilfe übereinstimmende Regelungsmerkmale gleichsam vor die
Klammer gezogen werden können; eine formale Analyse der genann-
ten Techniken bringt ans Licht, daß diese Techniken teilweise über-
einstimmende Funktionen erfüllen, und erst aufgrund einer derartigen
funktionalen Betrachtung lassen sich Kriterien für ihren gezielten
Einsatz herausarbeiten. Auf der anderen Seite werden gegenüber
scheinbar altbewährten gesetzgeberischen Vorgehensweisen erheb-
liche Zweifel erweckt. Was namentlich das sogenannte "Regel-Aus-
nahrne-Prinzip" anlangt, so haben wir es geradezu mit einem Verfah-
ren für das systematische Produzieren von Widersprüchen zu tun.
Setzen wir etwa ein verwaltungsrechtliches Kodifikat voraus, das die
Widerrufbarkeit (i. w. S.) von Verwaltungsakten behandelt. In der
früher vorherrschenden Lehre wurde bekanntlich einer Regel der
freien Widerruflichkeit von Verwaltungsakten das Wort geredet. 32
Heute scheint eher umgekehrt die Regel der Unwiderruflichkeit von
Verwaltungsakten vertreten zu werden. 32 Beide Regeln sind in Wirk-
lichkeit nicht so weit voneinander entfernt, wie sich ihre Formulie-
rung anhört, werden sie doch beide kräftig durch Ausnahmen durch-
brochen. Inwiefern dieser Umstand die Transparenz der Rechtsfort-
bildung fördert, muß dahingestellt bleiben.
Nehmen wir im folgenden die Regel der Unwiderruflichkeit von
Verwaltungsakten an (Zeile (1» und formulieren wir alsdann zwei
Ausnahmen (Zeilen (2) und (3», welche dadurch motiviert sein mö-
gen, daß der Widerruf den Betroffenen günstig stellt oder daß der zu
widerrufende Verwaltungsakt vom Betroffenen erschlichen worden
ist. Den Wertbereich der Variablen "h" möge die Menge der hoheitli-
chen Maßnahmen {hm1' hm2' ... , hmn } bilden. Zeile (4) beschreibt
einen sogenannten "Ausnahme-Fall", und zwar einen Fall von Aus-

31Vg!. Anm. 14.


32Siehe H.-J. Wolff, Verwaltungsrecht I, 7. Auf!., München 1968, § 53 (insbes.
S. 357ff.).

51
78 Jürgen Rödig

nahme (2). Die restlichen ZeileIJ. dienen der Erzeugung eines Wider-
spruchs.
1 (1) "A h (Va1h -+ -, Wi1h)" AE
2 (2) "Ah (Va1h -+ (Lä1h -+ Wi1h»" AE
3 (3) "Ah(Va1h-+(Er1h-+Wi1h»" AE
4 (4) ,,(Va1hm A Lä1hm)" AE
5 (1) ,,(Va1hm -+ -, Wi1hm)" (1) GB
6 (2) ,,(Va1hm -+ (Lä1hm -+ Wilhm»" (2) GB
7 (4) "Va1hm" (4) JL
8 (1,4) ,,-' Wilhm" (5) (7) JL
9 (2,4) "Wilhm" (4) (6) JL
10 (1,2,4) ,,(Wilhm A -, Wi1hm)" (8) (9) JL
Der in (10) enthaltene Widerspruch hätte sich vermeiden lassen, wenn
die Ausnahme-Tatbestände Lä l sowie Er l sogleich - und zwar
nunmehr in negativer Fassung - in eine entsprechend erweiterte Regel
"A h «Va1h A -, (Lä1h v Er1h» -+ -, Wilh)"
einbezogen worden wären. Mit Hilfe übergeordneter Rechtsbegriffe
lassen sich negative Tatbestandsmerkmale genauso wie positive Tat-
bestandsmerkmale bündeln, und in die - im vorhinein beschränkte -
Regel braucht nur der übergeordnete Rechtsbegriff aufgenommen zu
werden. Jene Rechtssatz-Ungeheuer, die man im Hinblick auf die
Einbeziehung jeweils sämtlicher Ausnahmen befürchtet, stellen sich
also nicht ein. Auf der anderen Seite bleiben der juristischen Dogmatik
zahlreiche Zweifelsfragen des Inhalts erspart, wieweit eine gesetzliche
Regel reiche, wann die Liste der Ausnahmen abbreche usf. Die Erörte-
rung derartiger Zweifelsfragen hat, wie etwa aus der Problematik der
Abgrenzung des Eigentümer-Besitzer-Verhältnisses (§§ 985ff. BGB)
von verwandten Instituten zeigt, ein hohes Maß an juristischer Ener-
gie verzehrt. 33
33 Nach Abschluß des Manuskripts hatte ich das Vergnügen, eine Studie von].
Berkemann über das Thema "Zum Prinzip der Widerspruchsfreiheit in der
deontischen Logik" (in: Hans Lenk, (Hrsg.), Normlogik, Pullach 1974,
S. 166ff.) zu studieren. Berkemann befaßt sich u. a. mit meiner These von der
überflüssigkeit einer besonderen Logik der Normen und versucht anhand
einiger Beispiele plausibel zu machen, daß nicht sämtliche von ihm so ge-
nannten "deontischen" Widersprüche sich auf logische Widersprüche zurück-
führen lassen. Es handelt sich insoweit namentlich um zwei Beispiele (S. 177
a.a.O., und zwar um die Beispiele mit den doppelt geklammerten Nummern S
und 6). Was indessen BeispielS betrifft, so geht es um die Konjunktion einer
atomaren Aussage mit ihrer Negation, also um einen ersichtlich bereits aus
logischen Gründen falschen Ausdruck. Wenn derartige Ausdrücke von dem
Verdikt der Widersprüchlichkeit verschont bleiben sollen, so frage ich mich,
welchen Sinn es überhaupt noch hat, Symbole für extensional (nämlich mit
Hilfe von Wahrheitswerten) definierte Aussageverknüpfungen auftreten zu

52
Logik und Rechtswissenschaft 79

lassen. Was dagegen Beispiel 6 anbelangt, so haben wir es natürlich mit keinem
bereits aus logischen Gründen unrichtigen Satz zu tun. Auf der anderen Seite
wird es jedermann für ausgeschlossen halten, daß sowohl ein Verhalten als
auch dessen Unterlassung geboten seien. Hieraus den von Berkemann gezoge-
nen Schluß zu ziehen, es gebe mithin auch Widersprüche nichtlogischer Art,
wäre indessen voreilig. Es gilt vielmehr fürs erste, die mißverständliche Ver-
wendung des Negators dahin zu deuten, daß in Wirklichkeit keine Negation,
sondern Diversität gemeint ist. Gemeint ist schlicht ein anderes Verhalten als
jenes, von dem bereits die Rede war. Zum zweiten kommt es darauf an (im
Gegensatz zu einer leider noch immer nicht überwundenen normlogischen
Lehrmeinung), deontische Modalitäten wie das Gebot, das Verbot sowie die
Erlaubnis als komplexe Bewertungsmodi aufzufassen und demgemäß durch
den Bezug auf ein elementares Bewertungssystem zu definieren. Setzen wir
etwa einen Verhaltensspielraum voraus, der aus genau zwei Verhaltensweisen
besteht, so erscheint jede dieser Verhaltensweisen als die Unterlassung der
anderen, und es entspricht der Statuierung des Gebots zur Vornahme einer
bestimmten Verhaltensweise, daß diese Verhaltensweise anhand eines gegebe-
nen Wertes positiv bewertet, die andere dagegen anhand desselben Wertes
negativ bewertet wird. Diese - wie man zugeben muß naheliegende - Defini-
tion vorausgesetzt, ist Beispiel 6 in ähnlicher Weise auf einen logischen Wider-
spruch (nämlich die Verbindung der Behauptung der positiven Bewertung
eines gegebenen Verhaltens mit deren Gegenteil) zurückführbar, wie wir um-
gekehrt sog. analytische Aussagen mit Hilfe einschlägiger Definitionen auf
logisch wahre Sätze zurückführen können. Wir haben es also wie so oft
weniger mit Grenzen der mathematischen Logik selbst als vielmehr mit (über-
windbaren) Schwierigkeiten bei der Strukturierung der einschlägigen normati-
ven Begriffe zu tun.

53
63

Verhältnis herkömmlicher Interpretationsmethoden zueinander


Rave, D., Brinckmann, H., Grimmer, K. (Hrsg.): Paraphrasen juristischer Texte. Referate und
Protokolle der Arbeitstagung im Deutschen Rechenzentrum. Darmstadt 1971, S. 63

1. Die herkömmliche und herrschende juristische Auslegungs-


lehre bedarf sowohl hinsichtlich ihrer methodischen Grundla-
gen (2) als auch ihrer jur~stischen Rechtfertigung (3) dring-
end der Diskussion.

2.1 Was die Unterscheidung der herkömmlichen Arten der Aus-


legung betrifft, so werden aus dem Verfahren der Auslegung
jeweils einzelne Kriterien herausgegriffen und zum Inhalt ei-
ner entsprechenden "Methode" gemacht. Die dergestalt gewon-
nenen einzelnen Auslegungsmethoden werden nicht des Näheren
aufeinander bezogen oder voneinander abhängig gemacht. Die
Unkontrollierbarkeit ihres gegenseitigen Verhältnisses ge-
stattet, sie nach Bedarf zur Erzielung des gewünschten Ergeb-
nisses gegeneinander auszuspielen.

2.2 Das gewünschte Ergebnis tritt mitunter im Gewand der


"Interessengerechten Auslegung" auf. Bei dieser Art der Aus-
legung kommt es im Grenzfall auf den vom Gesetzgeber mit dem
Wort de facto verbundenen - seinerseits mehr oder weniger
aufzuklärenden - Sinn nicht mehr an.

2.3 Als besonderes Kuriosum ist die sogenannte Auslegung nach


Ubul";.ortlaut" (Beispiel: BGHZ 29, 157, 159) anzuführen. Hier
wird das - doch auszulegende! - Wort alQ Auslegungsmittel
(seiner selbst?) benutzt. Auf die in diesem Zusammenhang zu
entscheidende Frage, welcher Sprachgebrauch der massgebende
sei, geht man gewöhnlich nicht ein.

3. Was die juristische (materiell-rechtliche) Rechtferti-


gung der herkömmlichen Auslegungsmethoden anbelangt, so ist
das verfassungsrechtliche Problem zu klären, ob überhaupt
und ggf. unter welchen Voraussetzungen der auslegende Rich-
ter eine im Ergebnis der des Recht setzenden Gesetzgebers
entsprechende Funktion wahrnehmen kann.

55
2. Deduktives und formalisiertes Rechtsdenken

Kennzeichnung der axiomatischen Methode


Rödig, J., Baden, E., Kindermann, H. (Hrsg.): Vorstudien zu einer Theorie der Gesetzgebung.
Gesellschaft für Mathematik und Datenverarbeitung. Bonn 1975, S. 31-37

2.1.1.1. Wir gehen aus von einem rechtlichen Gebiet, etwa von dem Gebiet des deutschen Wechsel rechts.
Vorausgesetzt sei dabei eine Abbildung dieses - je nach Definition des Begriffs" Gebiet" nur aus gedank-
lichen Elementen bestehenden - Gebiets in eine Menge von Sätzen.

(I) {SI ,S2"",Sm }.


Welche Sätze zu der bei (I) genannten Menge gehören, ist eine schwierig zu entscheidende Frage. Man
wird zunächst das Vorkommen einschlägiger Prädikate fordern. Man wird ferner verlangen, daß die Sätze,
welche diese Prädikate enthalten, zugleich bestimmte Beziehungen zwischen den durch die Prädikate bezeich -
neten Attributen zum Ausdruck bringenWie daher einerseits das Vorkommen einschlägiger Prädikate nicht
genügt, so braucht auf der anderen Seite das Vorkommen nicht einschlägiger Prädikate nicht schädlich zu
sein. Man würde, was das Vorkommen nicht einschlägiger Prädikate betrifft, lediglich zu fordern

*) Die ProtokoUierung des Referats besteht im wesentlichen in einer Kompilation der Schrift" Axiomatisierbarkeit ju-
ristischer Systeme" von Jiirgen Rödig. Da große Partien wörtlich oder aber nur geringfügig verändert iibemorrunen wurden,
wurde auf eine jeweilige Kenntlichmachung verzichtet.
Dem J. Schweitzer-Verlag ( Berlin) , der die QueUe in Münchner Ringvorlesung,EDV und Recht,Bd.6,Berün 1973, S.49-91
und in Datenverarbeitung im Recht, 1972,S. 170-208 veröffentlicht hat, ist ftir sein Entgegenkonunen herzlich zu danken.

57
- 32- Jürgen Rödig

haben. daß die betreffenden Sätze insoweit keinen auf sachlichen Annahmen beruhenden Inhalt besitzen.
Eine in dieser Weise beschränkte Einbeziehung nicht einschlägiger Prädikate liegt um so näher. als sie im
Ergebnis der Verwendung einschlägiger Prädikate innerhalb tautologischer Zusammenhänge entspricht.
Ein einschlägiges wechselrechtliches Prädikat wäre beispielsweise ein an die Vorschrift des Art. 11 Abs. 1 WG
angelehntes 4 - stelliges Prädikat mit dem über zwei Personen a.b. über einen Wechsel c und über einem
Zeitpunkt d erklärtem Inhalt. daß a den Wechsel c zu einer Zeit d an b vermittels Indossaments
überträgt.
Wir brauchen die Problematik der Abgrenzung der ein bestimmtes Gebiet abbildenden Sätze an dieser Stelle
nicht näher zu verfolgen. Daß die Menge dieser Sätze unendlich sein wird. leuchtet bereits aufgrund der so -
eben entwickelten Kriterien ein: Gesetzt. die Menge sei endlich. Dann enthält sie wenigstens einen längsten
Satz in dem Sinn. daß kein aus einer größeren Menge von kleinsten Zeicheneinheiten bestehender Satz zur
selben Menge gehört. Man verknüpfe jenen Satz auf konjunktive Weise mit einem typographisch gleichen
Satz. Dieser Satz ist wahr genau dann. wenn jener es ist. und er geht über jenen auch nicht hinsichtlich der
darin vorkommenden Prädikate hinaus. Er müßte also zu der das Gebiet abbildenden Satzmenge gehören.
ist jedoch länger als jeder der nach der Voraussetzung in der Satzmenge vorkommenden Sätze. Die Ab -
bildung eines Gebiets scheint mithin bedauerlicherweise allemal eine notwendig fragmentarische Sache
zu sein.
Ähnlich fragmentarisch ist dem Anschein nach jeder Versuch. eine aus hinreichend vielen. und zwar ins-
besondere eine aus unendlich vielen Elementen bestehende Menge zu bestimmen. Nun kann man eine Menge
aber anerkanntermaßen nicht allein durch Aufzählung ihrer Elemente. vielmehr auch durch Angabe einer
diese Elemente als Elemente der Menge definierenden Eigenschaft charakterisieren. Was insbesondere die
Bestimmung der zu einem Gebiet gehörenden Sätze betrifft. so kommt uns folgender Kunstgriff zustatten.
Wir zeichnen den folgenden Umstand als die fiir diese Sätze kennzeichnende Eigenschaft aus. Die Sätze
sollen die Eigenschaft haben. aus den zu einer Teilmenge der Gesamtmenge gehörenden Sätzen logisch zu
folgen.
Unser Kunstgriff gewinnt naheliegenderweise in dem Maße an Effektivität. als es uns gelingt. eine möglichst
kleine Teilmenge von der soeben beschriebenen Beschaffenheit zu finden. Es soll sich insbesondere um eine
echte Teilnahme handeln. und sie soll nur aus endlich vielen Elementen bestehen.
Die Menge {sI' s2 ...• sk } mit k < n sei eine solche Teilmenge. Dann nennen wir jedes si (1:5: i:5: k)
ein'Jil.xiom" und jedes Sj (k < j:5: n) ein ''Theorem'' . Der Durchschnitt der Menge der Axiome mit der
Menge der Theoreme ist leer. Die Vereinigung beider Mengen ist identisch mit der Menge ( 1) . Diese Menge
wird. mit andern Worten. in einerseits Axiome und andererseits Theoreme gegliedert; wir nennen (1) unter
dem Gesichtspunkt dieser Gliederung auch eine" Theorie" .
Ein wissenschaftliches Gebiet braucht keineswegs allemal auf dieselbe Weise in Axiome und Theoreme ge -
gliedert zu sein. Was unser Beispiel betrifft. so läßt sich vielleicht auch die Menge der Sätze s2' s3 •...• sk' sk +1
als hinlängliehe Menge von Axiomen betrachten. Die Menge der Theoreme bestünde mithin in der Menge
{ sI' sk +2' sk + 3' ...• sn }. Jede Menge läßt sich. allgemein gesagt. als Menge von Axiomen betrachten.
sofern wenigstens sämtliche Axiome den Schluß auf jede andere zum selben Gebiet gehörende Aussage er-
lauben.
Es wäre eigenartig. wenn ein Jurist von sich behaupten wollte. ein aus wenigstens einem gültigen Rechtssatz
bestehendes Rechtsgebiet Satz fiir Satz zu wissen. Sind doch bereits in einem aus wenigstens einem gültigen
Rechtssatz bestehenden Rechtsgebiet nachweisbar unendlich viele Rechtssätze en$alten. Ist man deshalb
zum Bekenntnis bereit. nicht über sämtliche der beispielsweise zum Wechsel recht gehörenden Sätze zu ver-
fUgen. also nur im Besitz von endlich vielen Sätzen zu sein. so kommt man jedenfalls in diesem Sinn um eine

58
Kennzeichnung der axiomatischen Methode - 33-

Anwendung der axiomatischen Methode gar nicht herum. Die Anwendung der axiomatischen Methode, also
die Gliederung des einschlägigen Faches in Axiome und Theoreme, ist insoweit nicht nur möglich; sie ist
sogar erforderlich. Problematisch ist allein, weIche Mengen von Sätzen sich eignen, jeweils als hinreichende
Mengen von Axiomen, als sogenannte" Axiomensysteme .. , zu fungieren. Es liegt nahe, beispielsweise die
Menge der in einem Kodifikat vorkommenden Rechtssätze als ein Axiomensystem zu betrachten. Es geht nicht
etwa darum, ob die axiomatische Methode anzuwenden sei oder nicht. Es geht vielmehr darum, inwieweit
man die axiomatische Methode unter der Voraussetzung, daß man sie anwendet, auch e.xaIct anwenden soll.
Die bisherigen Gesetze können nur als gleichsam im Freistil geschaffene Axiomensysteme angesehen werden.

2.1.1.2. Anforderungen an juristische Axiomensysteme


Nach Friedrich earl v. Savigny bildet die Gesamtheit der verschiedenen Mengen von Rechtssätzen " ein
Ganzes, weIches zur Lösung jeder vorkommenden Aufgabe im Gebiet des Rechts bestimmt ist. Damit es
zu diesem Zweck tauglich sey, müssen wir daran zwey Anforderungen machen: Einheit und Vollständig-
'r
keit System des heutigen Römischen Rechts, I. Band, S. 262) . Was nun die mangelhaften Zustände
der Quellen im Ganzen betrifft, so erläutert v. Savigny die Gesichtspunkte der Einheit und Vollständig-
keit wie folgt: "Fehlt die Einheit, so haben wir einen Widerspruch zu entfernen," fehlt die Vollständigkeit,
so haben wir eine Löcke auszufiillen .. (S. 263 ). Mit den Kriterien der Widerspruchsfreiheit sowie der
Vollständigkeit sind nun aber keine anderen als die beiden wichtigsten Anforderungen an Axiomensysteme
genannt. Drittes Kriterium ist die Unabhängigkeit der Axiome; die Erfiillung dieser Anforderung braucht,
wie wir sehen werden, nicht erwünscht zu sein.

2.1.1. 2.1. Widerspruchsfreiheit


Ein Axiomensystem, d.i. die Menge der innerhalb eines axiomatischen Systems vorkommenden Axiome,
heißt" widerspruchsfrei " , wenn es nicht zwei Theoreme dergestalt gibt, daß das ~ine in einer Negation des
anderen besteht. Sind zwei derartige Theoreme als Folgerungen aus den Axiomen zu gewinnen, so folgt aus
den Axiomen auch die Konjunktion eines Satzes mit seiner Negation, also ein bereits aus logischen Gründen
falscher Satz .

Gesetzt, es gebe wenigstens ein Theorem von der Art einer solchen Konjunktion. Dann existieren, da eine
Implikation nur bei Wahrheit des" Wenn'! Satzes und bei Falschheit des" dann" - Satzes unrichtig ist,
keine falschen Implikationen mit der genannten Konjunktion als "Wenn" - Satz. Die Implikation gilt mithin
allgemein, und man kann den" dann"· Satz daher auch als eine Folgerung aus dem" Wenn" - Satz im
Sinne der Folgerungsbeziehung betrachten. Auf den Inhalt des "Dann" - Satzes kommtes nicht an. Der
" Dann" - Satz kann insbesondere in einer falschen Aussage bestehen. Jeder Satz kann als " Dann" _Satz
fungieren,und es leuchtet einerseits ein, daß ein im Hinblick auf jeden Satz schlüssiges axiomatisches System
sowohl trivial als auch in praktischer Hinsicht unbrauchbar ist. Einleuchtend ist andererseits eine weitere,
und zwar zunächst überraschende, Formulierung des Prinzips der Widerspruchsfreiheit; ein Axiomensystem
heiße:.. " widerspruchsfrei "genau dann, wenn es wenigstens eine Aussage gibt, welche kein Theorem, welche
mithin aus den Axiomen nicht erschließbar ist. Sofern man die axiomatische Methode auf eine gegebene _
insbesondere endliche - Klasse von Sätzen bezieht, so ist das Prinzip der Widerspruchsfreiheit in der Forde-
rung enthalten,es dürfen sich aus den diese Satzklasse axiomatisierenden Axiomen nur Elemente der Satz _
klasse oder auch Folgerungen aus Elementen der Satzklasse ergeben.
An dieser Stelle kann nicht eindringlich genug betont werden, daß es nach der zeitgenössischen Logik keine
Widersprüche zwischen Begriffen gibt, sondern nur zwischen Sätzen. Gerade die begriffsjuristische Methode
ist, entgegen mancher auch in der neuesten Zeit noch vorgetragenen Verdächtigungen, der axiomatischen
Methode diametral entgegengesetzt.

59
- 34- Jürgen Rödig

Nach der" begriffsjuristischen Methode" glaubt man aus bestimmten Begriffen auf normative Sätze schließen
zu können. Als Beispiel sei der Schluß aus dem Begriff des Vertrages auf die Unzulässigkeit öffentlichrecht _
licher Verträge ( O. Mayer) genannt. Tatsächlich läßt jeweils nur ein Satz oder eine Menge von Sätzen den
Beweis auf eine weitere Aussage zu. Wenn man gleichwohl so tut, als werde bereits aus Begriffen geschlossen,
so handelt es sich in Wirklichkeit um einen Schluß aus einer ebenso undefinierten wie häufig auch undis _
kutierten Menge von mit dem betreffenden Begriff assozüerten Sätzen.
Einen" Widerspruch" zwischen dem Begriff der Zweckmäßigkeit und der Rechtssicherheit gibt es nicht.
Logisch nachvollziehbar wäre allenfalls die Herstellung eines Widerspruchs aus zwei Sätzen, von denen man
den einen mit dem Begriff der Gerechtigkeit, den anderen mit dem Begriff der Zweckmäßigkeit assoziiert .
Jedoch gerade von einer auch nur einigermaßen verläßlichen Abbildung der genannten Begriffe in normative
Sätze sind wir himmelweit entfernt.
Höchst verwirrend ist es schließlich, den" Begriff" im Sinne eines durch die Rechtsidee geförderten Rechts _
instituts mit einem bestimmten Rechtsverhältnis in Widerspruch zu setzen. Auch eine noch so zerrüttete Ehe
.. widerspricht" nicht dem Ehebegriff . Insbesondere eine Fortflihrung von Hege!'s Lehre vom konkret-
allgemeinen Begriff erscheint in diesem Zusammenhang schwerlich als klärend.

2.1.1.2.2. Vollständigkeit
Die Vollständigkeit eines Axiomensystems kann folgendermaßen gefaßt werden: Gegeben seien zwei Aus-
drücke, welche höchstens einschlägige Begriffe in einer nicht tautologischen Weise enthalten und von welchen
der eine die Negation des anderen ist. Dann heiße das einschlägige Axiomensystem vollständig, wenn die
Axiome den Schluß auf wenigstens einen der genannten Ausdrücke gestatten.
Einschränkung: Gegeben seien zwei Aussagen, d.h. zwei 0 - stellige Aussageformen, welche höchstens ein -
schlägige Begriffe auf eine nicht tautologische Weise enthalten. Eine dieser Aussagen sei die Negation der
anderen. Gesetzt sodann, es sei von beiden Aussagen höchstens eine ( Widerspruchsfreiheit ) , aber auch
mindestens eine aus den Axiomen beweisbar. Mit dieser Art von Vollständigkeit ist indessen keineswegs eine
Deckung der aus Axiomen und Theoremen bestehenden, Satzmenge mit der das zu axiomatisierende Ge -
biet abbildenden Menge von Sätzen erreicht. Es genügt nicht nur das Bestehen von jeweils einer von mehreren
in sich widerspruchsfreien Beziehungen zwischen den einschlägigen Begriffen. Wie sich die einzelnen Begriffe
zueinander veIhaiten, ist zwar erstens unter Vermeidung von Widersprüchen und Lücken, zweitens jedoch
auch auf eine inhaltlich determinierte Weise zu bestimmen, und diese Kongruenz der axiomatisierten Theorie
mit dem zu axiomatisierenden Gebiet, die wir als .. materiale Kongruenz .. bezeichnen, kommt nur mithilfe
informeller Kriterien zustande.

2.1.1.2.2.1. Horizontale Vollständigkeit juristischer Systeme


Was insbesondere die Vollständigkeit juristischer Systeme betrifft, so geht dem Problem der Abdeckung
eines juristischen Gebiets durch Axiome das Problem der Konturierung des Gebiets als solchem voraus. Es
fragt sich, welche Begriffe überhaupt als einschlägige Begriffe darin vorkommen sollen, und zwar zunächst
in horizontaler Hinsicht: So kann man beispielsweise einerseits versuchen, dieim zweiten Buch des 8GB ent -
haltenen Vorschriften zu axiomatisieren. Man kann es andererseits für zweckmäßiger halten,. sich auf die Vor-
schriften über die Miete oder den Dienstvertrag zu beschränken, dann jedoch weitere Kodifikate wie in diesem
Fall arbeitsrechtliche und in jenem Fall mietrechtliche Rechtssatzsysteme einzubeziehen. Besondere Schwierig-
keiten ergeben Sich bei der Berücksichtigung Allgemeiner Teile.
Auf die Technik der Setzung eines Rechtsgebietes kommt es ersran, nachdem die zu setzende Regelung hin-
sichtlich ihres rechtlichen Inhalts konzipiert worden ist. Das zu axiomatisierende Gebiet wird vielfach als solches

60
Kennzeichnung der axiomatischen Methode - 35-

als der Korrektur bedürftig angesehen. Erst das bereits korrigierte Gebiet ist im Sinne der axiomatischen
Methode zu ordnen.

2.1.1.2.2.2. Vertikale Vollständigkeit


Gesetzt wir unternähmen den Versuch, das Wechselrecht zu axiomatisieren. Mit der Erweiterung der im WG
enthaltenen Rechtssätze um weitere Rechtssätze, die sich zum Teil im BGB oder in anderen Gesetzen fmden ,
ist es, was die rechtliche Beurteilung konkreter Sachverhalte anbelangt, natürlich nicht getan. Es kommt viel-
mehr zusätzlich darauf an, den Sachverhalt in Richtung der zu generalisierenden Norm oder auch die Norm
in Richtung des Sachverhalts zu transformieren. Es handelt sich beispielsweise um die Konkretisierung der als
Substrate des Wechsels infrage kommenden körperlichen Gegenstände wie Papier, Karton usw. Doch damit
nicht genug, auch die durch die Norm statuierte Rechtsfolge bedarf der Konkretisierung, und es ist schließlich
die Konkretisierung des Tatbestandes mit der Konkretisierung der Rechtsfolge in Übereinstimmung zu
bringen. Erst ein bis auf die Sachverhaltsebene hinunter konkretisiertes Rechtsgebiet stellt eine lückenlose
Regelung dar. Eine solche Vollständigkeit ist weder durch die fleißigsten Kommentatoren noch durch die
speicherungsfähigsten Rechner erreichbar. Bei welchem Abstraktionsniveau man jeweils stehen bleiben sollte,
ist nach Gesichtspunkten der Zweckmäßigkeit zu entscheiden.

2.1.1.2.3. Unabhängigkeit
Ein Axiomensystem heiße unabhängig genau dann, wenn sich jeweils weder ein Axiom noch eine abgeschwächte
- wenngleich noch informative - Fassung des Axioms aus den übrigen Axiomen herleiten lasse.
Um eine Frage der Unabhängigkeit würde es sich beispielsweise nandeln, wenn der Verfasser eines Sachen -
rechtslehrbuches betreffs der Vorschrift des § 946 BGB behauptete, diese Bestimmung sei eigentlich über -
flüssig; der Inhalt der Vorschrift sei bereits in den §§ 93 ff. BGB enthalten.
Mit dem Erfordernis der Unabhängigkeit von Axiomensystemen ist die Erfassung des Inhalts des zu axiomati-
sierenden Gebiets mithilfe einer möglichst kleinen Menge möglichst knapper Sätze gemeint. Es handelt sich
im Grunde um die Formulierung des Prinzips der axiomatischen Methode überhaupt.
Im Gegensatz zu den Erfordernissen der Widerspruchsfreiheit und der Vollständigkeit ist eine strenge Beachtung
des Unabhängigkeitserfordernisses aber rur die Praktikabilität eines axiomatischen Systems nicht unbedingt
erforderlich.

2.1. 2. Diskussion

2.1.2.1. Zu Beginn der Diskussion wurde der Begriff des" Axioms" präzisiert, da einer der Seminarteil-
nehmer unter einem Axiom einen einschränkungslos geltenden, unbeweisbaren Satz verstand, an dessen Be .
rechtigung nicht gerüttelt werden dürfe.
Herr Rödig antwortete darauf, daß von" Axiomen" nicht absolut die Rede sein könne. Jedes Axiom ist
vielmehr als Element einer Menge von Axiomen, und diese Menge ist als das Ergebnis einer von mehreren
Möglichkeiten der Einteilung einer Theorie in Axiome und Theoreme zu sehen. Mit der Axiomatisierung eines
Gebiets geht nIcht etwa ein Bekenntdis zur Richtigkeit der das Gebiet abbildenden Sätze Hand in Hand. Man
braucht insbesondere die jeweils als Axiome hervorgehobenen Sätze nicht fiir richtig oder doch fiir .. richtiger ..
als andere Sätze zu halten. Die rur die vor - Hilbert 'sche Epoche der Logik vielleicht teilweise zutreffende
Konzeption des Axioms als eines sachlich unerschütterlichen Satzes ist überholt. Der Begriff des "Axioms ..
ist also erstens inhaltlich zu relativieren. Er ist zweitens der formalen Relativierung bedürftig: Gegeben sei
eine - nur aus wahren oder auch aus falschen oder sogar nur aus falschen Sätzen bestehende - Menge von

61
- 36 - Jürgen Rödig

Sätzen. Dann sind nicht etwa einige dieser Sätze im vorhinein .. grundlegend" in dem Sinne, daß man partout
sie und keine andern als Axiome anzusehen hätte. Als Axiomensystem ist vielmehr jeder Inbegriff von Sätzen
geeignet, der die Herleitung jedes anderen zum selben Gebiet gehörenden Satzes erlaubt.

2.1.2.2. Anschließend wurde erörtert, inwieweit die Verwendung einer künstlichen Sprache Voraussetzung
fiir die Anwendung der axiomatischen Methode ist. Grundsätzlich ist eine derartige Formalisierung nicht un -
bedingt erforderlich. Aus den Sätzen, daß erstens jeder Angeschuldigte Beschuldigter ist und daß zweitens
jeder Angeklagte Angeschuldigter ist (vgl. § 157 StPO), ist zwanglos auf den Satz zu schIießen,es sei jeder
Angeklagte Beschuldigter. Man kann die beiden ersten Sätze als Axiome, den dritten als Theorem betrachteten,
und der übergang von den Axiomen zu den Theoremen ist ausschließlich durch das Bestehen einer Folge-
rungsbeziehung bedingt. Auf die Verwendung einer künstlichen Sprache kommt es nicht an. Dennoch kommt
der Wert der axiomatischen Methode erst durch eine Formalisierung voll zur Geltung. Die axiomatische Methode
verdankt ihre Stärke der Folgerungsbeziehung. Den allgemein bekannten Gefahren des inhaltlichen Schließens
kann aber insbesondere durch Verwendung eines symbolisierten Kalküls mit seiner hohen Berechenbarkeit be -
gegnet werden.
Macht man den Versuch, ein juristisches System aufWiderspriiche zu untersuchen, zeigen sich deutlich die
p'raktischen Vorteile eines derartigen Kalküls. 1 Nach der Fertigstellung eines ersten Entwurfs des BAFöG
soll dieser Entwurf nach einer Information von Herrn Prof. Krückeberg ( GMD ) formalisiert und durch
einen Rechner mit der soeben demonstrierten Methode auf Widersprüche untersucht worden sein. Es soll
sich auf diese Weise gezeigt haben ,daß der Entwurf fehlerhaft war und der Korrektur bedurfte. Die Wider-
sprüche waren sämtlichen Bearbeitern des Entwurfs bis zu diesem Zeitpunkt entgangen.
Dem geschilderten Verfahren kommt aber nicht nur hinsichtlich der überprüfung bereits bestehender Systeme
Bedeutung zu. Die Verträglichkeit eines neu einzufiihrenden Rechtssatzes mit den bereits bestehenden Sätzen
läßt sich nicht besser prüfen als dadurch, daß man den Satz als Axiom einfiihrt und aus diesem Axiom auf
offensichtlich untragbare Theoreme oder auch auf Widerspriiche zu anderen Sätzen schließt, von denen vor -
ausgesetzt ist, daß sie keine Einschränkung erleiden sollen. Besonders hervorgehoben werden muß an diesem
Ort, daß die Logik dem Gesetzgeber nur zu sagen vermag, daß sich überhaupt ein Störer im Gesetz befmdet
und unter welchen Axiomen er zu suchen ist. Welcher Satz stört,läßt sich logisch nicht entscheiden. Der
Gesetzgeber ist vielmehr in seiner Entscheidung, welchen Satz er aufgeben möchte, vollkommen frei. Eine
irgendwie geartete Determination seiner wertenden Entscheidung durch die Logik besteht nicht. Im Gegen -
teil, da der Gesetzgeber seinen überlegungen klare Alternativen zugrunde legen und die jeweiligen Konsequenzen
.. berechnen " kann, wird er erst in besonderem Maße zu einer wertenden Entscheidung beflihigt.

2.1.2.3. Die Ausfiihrungen Rödigs über die Verwendungsmöglichkeiten elektronischer Rechner ließen bei
einigen Seminarteilnehmern die Befiirchtung aufkommen, daß eines Tages an die Stelle der Richter der-
artige Rechner treten könnten, sog. Richter - Computer.
In seiner Entgegnung verwies Herr Rödig auf eine' Tatsache, die er bereits in seinem einleitenden Referat
angesprochen hatte: Nur eine den zu regelnden Sachverhalt an Konkretheit erreichende Vorschrift ist der
Anwendung auf diesen Sachverhalt flihig . Die bis auf die Sachverhaltsebene hinunter reichende Konkreti -
sierung eines Rechtsgebiets ist aber praktisch nicht zu erreichen. Eine lediglich mit allgemeinen Rechts -
normen sowie mit SachverhaItsdaten gefiitterte elektronische Datenverarbeitungsanlage ist entgegen immer
noch verbreiteter Ansicht aber nicht imstande, konkrete rechtliche Sollenssätze auszugeben. Zu erklären
ist diese Vorstellung nur durch die unzutreffende Konzeption des richterlichen Syllogismus. Die technische
Phantasie geht ersichtlich über das logisch Realisierbare hinaus. Oberhaupt ist grundsätzlich festzuhalten, daß
die Anwendung einer Technik, die exakter ist als die Verhältnisse, auf die sie angewendet wird, ihrerseits zu
erheblichen Orientierungsschwierigkeiten führt.
1) Vetgl. Thieler-Mevissen, Beispiel für ein widerspruchsvoUes und ein widenpruchsfreies GesetzesmodeU ; unten unter
2.3.2.

62
Kennzeichnung der axiomatischen Methode - 37-

2.1.2.4. Weiter wurde auch gegen ein nicht formalisiertes axiomatisches System der Vorwurf der Unver -
ständlichkeit erhoben.
Erflillt der Gesetzgeber konsequent das Erfordernis der Unabhängigkeit,wird das axiomatisierte Rechtsgebiet
keine überflüssigen Sätze mehr enthalten. Sachliche Bedeutung einer Regelung und Explizierung durch ent-
sprechende Axiome im System werden sich genau entsprechen. Die so erzielte Knappheit und Transparenz
des geregelten Gebiets wird zu seiner Verständlichkeit erheblich beitragen.
Da eine strenge Beachtung des Unabhängigkeits - Erfordernisses nicht zwingend ist, kann in besonderen Aus-
nahmefaIlen aus lerntechnischen Gründen auch die Aufnahme von Sätzen geboten sein, deren Inhalt sich
zumindest teilweise aus anderen - bereits als Axiome anerkannten - Sätzen ergibt. Man muß aber immer
im Auge behalten, daß es gerade der Sinn der axiomatischen Methode ist, nur diejenigen Sätze als Axiom auf -
zunehmen, die zur Gliederung des Systems unbedingt erforderlich sind.
Herr Rödig wies darauf hin, daß man nicht so tun solle, als ob wir zur Zeit ein verständliches Gesetz hätten.
Gerade das BGB sei in hohem Maße dem juristischen Laien unverständlich. Er wiederholte seinen bereits
früher gemachten Vorschlag, bei der Setzung eines Rechtsgebiets mehrere Fassungen zu unterscheiden, und
zwar eine möglichst streng axiomatisierte fachsprachliche, eine automationsgerechte sowie eine eher volks -
tümliche Fassung; von diesen Fassungen würde die fachsprachliche im Zweifel die verbindliche sein. Von
einer eingehenden Erörterung des genannten Vorschlags wurde abgesehen, da das Problem der Verständlich -
keit von Gesetzen gesondert behandelt werden sollte. 1
2.1.2.5. Schließlich wurde der axiomatischen Methode entgegengehalten, sie fUhre zu einem unbeweglichen
System und einer Zementierung der einmal getroffenen Wertentscheidungen.
Herr Rödig führte aus, daß sowohl das umgangssprachliche als auch das mittels einer künstlichen Objekt -
sprache formulierte Axiom einer Interpretation nicht nur fähig, sondern geradezu bedürftig ist. Kommt es
beispielsweise darauf an, ob auch elektrischer Strom als Sache iSd. § 242 Abs. 1 StGB anzusehen sei, so
bleibt die Spannung dieser Frage ungeachtet des Umstands erhalten, daß man die Eigenschaft, Sache zu
sein, mithilfe des einstelligen Prädikats" Sa' (.) "symbolisiert.
Weiter ist es dem Gesetzgeber jederzeit unbenommen, geltende Axiome aus dem System zu entfernen und
durch neue Axiome zu ersetzen, sofern er bei diesem Verfahren die grundlegenden Erfordernisse der
l!I(iomatischen Methode überhaupt beachtet.
Ausgeschlossen wird durch die axiomatische Methode allerdings das zur Zeit geübte Verfahren, mittels der
.. objektiven Auslegung" bei unverändertem gesetzlichen Wortlaut eine neue, abweichende Regelung einzu-
führen. Eine Anpassung des Gesetzes an veränderte gesellschaftliche Umstände hätte nicht mehr stillschweigend,
sondern offen zu erfolgen. Gerade die herkömmliche Auslegungsmethode hat zu der immer wieder be -
klagten negativen Einstellung des Bürgers gegenüber dem Recht nicht unerheblich beigetragen. Bei gleich-
lautendem gesetzlichem Normbefehl wurden in der geschichtlichen Entwicklung ganz unterschiedliche kon-
krete Handlungen von ihm verlangt. Der Eindruck eines willkürlichen Vorgehens mußte sich geradezu auf -
drängen.
Die durch die axiomatische Methode geforderte offene Anpassung, bei der in demokratischer Form die
künftig anzustrebenden Ziele diskutiert werden können, vermag diesem Zustand wirkungsvoll zu begegnen.

2) Vetgl. E. Baden, Zur Sprachlichkeit der Gesetze; unten unter 3.2.4.4.2.

63
Axiomatisierbarkeit juristischer Systeme
Kaufmann, A. (Rrsg.): Münchner Ringvorlesung. EDV und Recht. Möglichkeiten und Probleme.
EDV und Recht 6. 1973, S. 49-90

1. VORBEREITENDE ÜBERLEGUNGEN
Eine Axiomatisierung rechtlicher Bereiche scheint, wenn man der noch im
neueren rechtsmethodologischen Schrifttum vorherrschenden Meinung! ver-
traut, eine entweder undurchführbare 2 oder aber eine zwar durchführbare, je-
doch eher schädliche als nützliche Sache 3 zu sein. Gegen die Verwendbarkeit
der axiomatischen Methode wird insbesondere der weniger logische als viel·
mehr axiologische Charakter juristischen Argumentierens4 ins Treffen geführt.
Schlüsse von der Art, wie die Juristen sie zu ziehen pflegen, seien keineswegs

• Die folgende Abhandlung beruht auf Vorträgen an den Universitäten München


und Bielefeld sowie in der Gesellschaft für Mathematik und Datenverarbeitung
in Birlinghoven bei Bonn. In den sich an die genannten Vorträge anschließenden
Diskussionen sind großenteils grundsätzliche Fragen aufgeworfen worden. Ich
habe die diskutierten Fragen nahezu vollständig in die hier vorgelegte Studie ein-
zubeziehen versucht. Dieser Umstand erklärt den Charakter der Abhandlung; er
erklärt insbesondere die Weglassung einiger weiterer - ursprünglich vorgesehener -
eher "technischer" Details.
1 Prägnant insoweit namentlich Viehweg, Topik und Jurisprudenz, 3. Aufl. 1965,
insbesondere §§ 7 f.;Engisch, Sinn und Tragweite juristischer Systematik, in:
Studium Generale 10, 1957; Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der
Jurisprudenz, 1969, insbesondere S. 20 bis 29. -- Eine vorzügliche Diskussion der
in den angeführten Schriften vorgetragenen Argumente findet sich be: Eike v.
Savigny, Zur Rolle der deduktiv-axiomatischen Methode in der Rechtswissen-
schaft, in: Rechtstheorie, hrsg. v. G. Jahr und W. Maihofer, 1971.
2 Die "Undurchführbarkeit" ist teilweise im Sinne der Unanwendbarkeit der
(klassischen Version der) mathematischen Logik auf normative Sätze gemeint.
Vgl. insofern Weinberger, Können Sollsätze (Imperativa) als wahr bezeichnet
werden?, Prag 1958; ders., Rechtslogik, 1970, S. 195; Wagner-Haag, Die modeme
Logik in der Rechtswissenschaft, 1970, etwa S. 78 f., 81. Im Grundsatz abwei-
chend Rödig, Kritik des normlogischen Schließens, in: Theory and DecisiQn 2
(1972), S. 79 ff.; ders., Über die Notwendigkeit einer besonderen Logik der Nor-
men, in: Jahrbuch für Rechtstheorie und Rechtssoziologie, 1972, S. 163 ff.
3 Vgl. insoweit beispielsweise Arihur Kaufmanns und Winfried Hassemers treffliche
Einführung in "Grundprobleme der zeitgenössischen Rechtsphilosophie und
Rechtstheorie", 1971, etwa S. 68: Konkrete Einwände gegen das Ziel einer stren-
gen Axiomatisierung des Rechts, und zwar nicht nur Einwände gegen die Reali-
sierbarkeit, sondern "auch die Wünschbarkeit einer Axiomatisierung", sollen sich
unter dem Gesichtspunkt juristischer Hermeneutik ergeben. Die tatsächlich aaO
erhobenen Einwände sind indessen eher abstrakter Natur; sie bedürfen der Dis-
kussion (siehe nachfolgend 2.1, 2.2.1).
4 Vgl. insoweit namentlich Canaris, Anm. 1, S. 21 bis 25.

65
50 Jürgen Rödig

jeweils schon von den angenommenen Prämissen her erklärbar. Schließlich sei
es allemal die inhaltliche Evidenz, an welche der Jurist mit seinen Argumenten
appelliere 5 . Aufgrund dieser und ähnlicher überlegungen wird, wie erwähnt,
die Axiomatisierbarkeit juristischer Systeme bereits im Grundsatz bestritten.
Gesetzt jedoch den Fall, die erwähnten Einwände hielten nicht Stich. Die
Gegner einer Axiomatisierung gäben sich gewiß nicht geschlagen. Nun näm-
lich käme man, und zwar erst recht, auf die Gefahren einer Axiomatisierung
rechtlicher Bereiche zu sprechen. Derartige Gefahren scheinen in der Tat vor-
handen zu sein:
Gilt axiomatisiertes Recht, so ist der Richter allem Anschein nach zumindest
im Prinzip durch Automaten ersetzbar. Selbst unter der Voraussetzung, daß
man den Richter nicht durch elektronische Rechner ersetzt, scheint jede An-
wendung von axiomatisiertem Recht unweigerlich auf ein mit dem Funktio-
nieren von Computern verwandtes Operieren mit juristischen Daten hinaus-
laufen zu müssen. Eine Axiomatisierung objektiven Rechts habe insbesondere
so etwas wie einen Zementierungseffekt zur Folge. Das Recht behalte, wie
man befürchtet, jeweils fortan den und nur den Inhalt, den man ihm anläßlich
seiner Axiomatisierung gab. Die Möglichkeit, vermittels objektiver Interpreta-
tion der Gesetze eine Anpassung des Rechts an die sich stetig ändernden ge-
sellschaftlichen Verhältnisse zu erreichen, sei einer Axiomatisierung zwangs-
läufig zum Opfer zu bringen. Ja man zögert nicht einmal, die axiomatische
Methode in der zweifelhaften Rolle eines Werkzeugs der Machthaber totalitä-
rer Staaten auftreten zu lassen. Auch insoweit sind die Gründe naheliegend 6 .
Logische Perfektionierung trägt, wie man vermutlich befürchtet, auf dem
Umweg über die Fixierung des gesetzten Rechts 7 zu einer Monopolisierung
der Erzeugung objektiven Rechts bei den - beliebig wenigen - Verfassern

5 Siehe diesbezüglich Engisch, Anm. 1, S. 176.


6 Hienu mit Nachw. Hopt in seiner eindrucksvollen Studie über "Finale Regelun-
gen, Experiment und Datenverarbeitung in Recht und Gesetzgebung", JZ 1972,
S. 65 ff. (S. 68, Fn. 12).
7 Was den Versuch einer Szientifizierung der juristischen Technik betrifft, so wäre
laut Viehweg (Anm. 1, § 7 IV) u.a. erforderlich: "Eine strenge Axiomatisierung
des gesamten Rechts verknüpft mit einem strikten Interpretationsverbot innerhalb
des Systems, was am vollständigsten durch Kalkülisierung zu erreichen wäre."
Demgegenüber setzt jedoch gerade eine Kalkülisierung, sofern man sich mit andern
als mit ausschließlich syntaktischen Problemen befaßt, jeweils eine Deutung der
verwendeten Kalküle voraus. Eine solche Deutung hat vermittels metasprachlicher
Ausdrücke zu erfolgen. Wie diese Ausdrücke infolge ihrer Übersetzung in objekt-
sprachliche Elemente aufhören sollen, ihrerseits der Interpretation zu bedürfen
oder gar einer Interpretation unzugänglich zu sein, ist nicht ersichtlich. Auch mit
der Anwendung der axiomatischen Methode hat ein Verbot von Interpretationen
nichts zu tun. Diejenige Art der Szientifizierung juristischer Techne, welche Vieh-
weg im Ergebnis auf eine so übeneugende Weise bekämpft, ist hinsichtlich ihrer
Unbeweglichkeit gerade nicht durch den Einfluß der axiomatischen Methode.
charakterisiert. Siehe hienu nachfolgend 2.2.1, 3.2.2.3.

66
Axiomatisierbarkeit juristischer Systeme 51

von Gesetzen bei. Deren Horizont sei es, der fortan den Spielraum der Gewin-
nung richtigerer Normen auf ein Minimum begrenze. Insbesondere die Recht-
sprechung bekäme solche Begrenzung zu spüren; die ihr verbleibende Funk-
tion erschiene in der Tat als "en quelque fa<;on nulle".
Alle diese Einwände verdienen mit dem größten Ernst diskutiert zu werden.
Es geht nicht an, sie beispielsweise als den schlichten Ausdruck des Unwillens
gegenüber dem Aufkommen bislang ungewohnter Methoden, sozusagen als
juristisches Hinterwäldlertum, zu diskreditieren. Die Anwendung der axio-
matischen Methode wird zweifelsohne Auswirkungen haben, und zwar nicht
nur Auswirkungen hinsichtlich des durch einen Axiomatisierungsversuch
jeweils betroffenen rechtlichen Stoffes. Mann kann es ftir durchaus geboten
halten, der Anwendung der axiomatischen Methode so entschieden, wie es
häufig geschieht, entgegenzutreten. Jedoch gerade angesichts des hohen Maßes
an Verantwortungsbewußtsein, welches man zu investieren pflegt, sollte man
die axiomatische Methode als solche so gut wie möglich kennen zu lernen
versuchen.
Es ist dringend an der Zeit, von der Axiomatisierung rechtlicher Bereiche de-
taillierter zu sprechen, als dies üblicherweise geschieht 8 . Zahlreiche der Ge-
fahren, die man im Zusammenhang mit der Anwendung der axiomatischen
Methode auf juristische Systeme beschwört, würden bereits im Hinblick auf
einige der ftir diese Methode kennzeichnenden Eigenschaften mit einer an
Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit nicht mehr beschworen. Jedoch
auch jener ftir die neue re rechtstheoretische Entwicklung so außerordentlich
unfruchtbaren Kontrastierung von einerseits "formalen" und andererseits
mehr "inhaltlichen" (wie insbesondere soziologischen, hermeneutischen
sowie sprachphilosophischen) Konzeptionen 9 ist anders als durch eine scharfe
Trennung dessen, was die moderne Logik will, von dem, was die moderne
Logik weder sucht noch kann, nicht mit Erfolg entgegenzuwirken.

2. UNTERSCHEIDUNG DES FORMALISIERTEN AXIOMATISCHEN


SYSTEMS VOM AXIOMATISCHEN SYSTEM
2.1 Axiomatisches System
Eine in besonderer Weise von Emotionen begleitete Version der Ablehnung
von Axiomatisierungsversuchen hängt mit der immer wieder anzutreffenden
Identifizierung axiomatisierter Systeme mit formalisierten axiomatischen
Systemen zusammen.

8 Beispiel einer detaillierten und deshalb so aufschlußreichen Erörterung des Gegen-


standes ist die bereits erwähnte (Anm. 1) Studie von Eike v. Savigny.
9 Mißverständlich insoweit auch Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der
Jurisprudenz, 1970, S. 101 f. Vgl. ferner Anm. 3.

67
S2 Jürgen Rödig

Die fUr formalisierte Systeme kennzeichnende Verwendung künstlicher Spra-


chen, namentlich logischer Symbole, löst nach wie vor das größte Unbehagen
aus 10 • GefUhle sind als solche weder verifizierbar noch falsiflzierbar; einer
Diskussion zugänglich ist jedoch der folgende gegen eine F ormalisierung juri-
stischer Bereiche ins Treffen zu führende Aspekt. Was in einem Staate rechtens
sei, soll möglichst jeder durch das objektive Recht Betroffene wissen. Würde
das objektive Recht axiomatisiert, so scheint die schon heute ihrer Unver-
ständlichkeit wegen beklagte Rechtsordnung unweigerlich den Rest an Ver-
ständlichkeit einbüßen zu müssen. Eine Parallele zur Tätigkeit der pontifices
in der Frühgeschichte des römischen Rechts scheint nahezuliegen. Wie die
zwecks Bezwingung einer Gottheit zu verwendenden Worte, so hielten jene
Priester auch die flir die Herstellung einer rechtlichen Bindung von Menschen
zu Menschen zu gebrauchenden Formeln bekanntlich auf das strengste geheim.
Eine in diesem Sinne priesterliche Tätigkeit braucht indessen, was die zeit-
genössischen Logiker betrifft, nicht befürchtet zu werden: Die Axiomatisie-
rung eines Faches setzt dessen Formalisierung keineswegs notwendig voraus.
Wir gehen aus von einem rechtlichen Gebiet, etwa von dem Gebiet des deut-
schen Wechselrechts. Vorausgesetzt sei ferner eine Abbildung dieses - je nach
Definition des Begriffs "Gebiet" nur aus gedanklichen Elementen bestehen~
den - Gebiets in eine Menge von Sätzen.
(1) {S.,S2, ... ,Sm}.
Welche Sätze zu der bei (1) genannten Menge gehören, ist eine schwierig zu
entscheidende Frage. Man wird zunächst das Vorkommen einschlägiger
Prädikate fordern. Man wird ferner verlangen, daß die Sätze, welche diese
Prädikate enthalten, zugleich bestimmte Beziehungen zwischen den durch die
Prädikate bezeichneten Attributen zum Ausdruck bringen. Wie daher einer-
seits das Vorkommen einschlägiger Prädikate nicht genügt, so braucht auf der
andern Seite das Vorkommen nicht einschlägiger Prädikate nicht schädlich zu
sein 11 • Man würde, was das Vorkommen nicht einschlägiger Prädikate betrifft,
lediglich zu fordern haben, daß die betreffenden Sätze insoweit keinen auf
sachlichen Annahmen beruhenden Inhalt besitzen. Eine in dieser Weise be-
schränkte Einbeziehung nicht einschlägiger Prädikate liegt um sonäher, als sie
im Ergebnis der Verwendung einschlägiger Prädikate innerhalb tautologischer
Zusammenhänge entspricht. Ein einschlägiges wechselrechtliches Prädikat wäre

10 Das Erlernen der für die Verwendung prädikatenlogischer Kalküle nötigen Symbo-
lik dürfte bei weitem weniger Mühe bereiten als beispielsweise das Erlernen der
deutschen Einheitskurzschrift; siehe zu alledem Stegmüller. Probleme und Resul-
tate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie, Bd. 1, 1969, S. 4 f.
11 Normalerweise werden freilich lediglich einschlägige Grundbegriffe sowie mithilfe
ausschließlich dieser Begriffe definierte weitere (daher ebenfalls einschlägige)
Begriffe berücksichtigt; vgl. etwa die - lesenswerte - Einführung in die axiomati-
sche Methode bei Essler. Einführung in die Logik, 2. Aufl., 1969, S. 240 ff.

68
Axiomatisierbarkeit juristischer Systeme 53

beispielsweise ein an die Vorschrift des Art. 11 Abs. 1 WG angelehntes 4-stelli-


ges Prädikat mit dem über zwei Personen a, b, über einem Wechsel c und über
einem Zeitpunkt d erklärten Inhalt, daß a den Wechsel c zur Zeit d an b ver-
mittels Indossaments überträgt.
Wir brauchen die Problematik der Abgrenzung der ein bestimmtes Gebiet ab-
bildenden Sätze an dieser Stelle nicht näher zu verfolgen. Daß die Menge
dieser Sätze unendlich sein wird, leuchtet bereits aufgrund der soeben ent-
wickelten Kriterien ein: Gesetzt, die Menge sei endlich. Dann enthält sie
wenigstens einen längsten Satz in dem Sinn, daß kein aus einer größeren Men-
ge von kleinsten Zeicheneinheiten bestehender Satz zur selben Menge gehört.
Man verknüpfe jenen Satz auf konjunktive Weise mit einem typographisch
gleichen Satz. Dieser Satz ist wahr genau dann, wenn jener es ist 12, und er geht
über jenen auch nicht hinsichtlich der darin vorkommenden Prädikate hinaus.
Er müßte also zu der das Gebiet abbildenden Satzmenge gehören, ist jedoch
länger als jeder der nach Voraussetzung in der Satzmenge vorkommenden
Sätze. - Der auf konjunktiver Verknüpfung beruhende Satz ist mit Bezug auf
jeden der einzelnen miteinander verknüpften Sätze natürlich trivial, wie es
überhaupt unendlich viele in unserer Satzmenge vorkommende zumindest
relativ (zu andem Sätzen) triviale Sätze geben wird. Andere Sätze wird man
indessen nicht als Trivialitäten abtun können, und die Abbildung eines Gebiets
scheint bedauerlicherweise allemal eine notwendig fragmentarische Sache zu
sein 13 •
Ähnlich fragmentarisch ist dem Anschein nach jeder Versuch, eine aus hin-
reichend vielen, und zwar insbesondere eine aus unendlich vielen, Elementen
bestehende Menge zu bestimmen. Nun kann man eine Menge aber anerkannter-
maßen nicht allein durch Aufzählung ihrer Elemente, vielmehr auch durch
Angabe einer diese Elemente als Elemente der Menge definierenden Eigen-
schaft charakterisieren 14. Was insbesondere die Bestimmung der zu einem
Gebiet gehörenden Sätze betrifft, so kommt uns folgender Kunstgriff zustat-
ten. Wir zeichnen den folgenden Umstand als die für diese Sätze kennzeich-
nende Eigenschaft aus. Die Sätze sollen die Eigenschaft haben, aus den zu

12 ,,(Ao 1\ AO)" ist definitionsgemäß genau dann wahr, wenn "Ao" wahr ist und
wenn ,,A0" wahr ist, d.h. wenn ,,A0" wahr ist.
13 Vgl. insoweit die faszinierend klare Beschreibung der "vollkommensten" - näm-
lich der axiomatischen - Methode durch Bloise Pascal: Sur I'esprit de la g~ometrie"
und ,,oe I'art de peISuader", beide Abhandlllngen abgedruckt in: La Logique ou
l'art de penser" (sog. "Logik von Port-Royal"), hrsg. v. A. Amauld und P. Nicole,
1662. - Zur Einführung siehe Klug, Juristische Logik, 3. Aufl., 1966, S. 14 f.
14 Siehe Jürgen Schmidt, Mengenlehre I, 1966, S. 21.

69
S4 Jürgen Rödig

einer Teilmenge der Gesamtmenge gehörenden Sätzen logisch zu folgen IS.


Unser Kunstgriff gewinnt naheliegenderweise in dem Maß an Effektivität, als
es uns gelingt, eine möglichst kleine Teilmenge von der soeben beschriebenen
Beschaffenheit zu finden. Es soll sich insbesondere um eine echte 16 Teilmenge
handeln, und sie soll nur aus endlich vielen Elementen bestehen.
Die Menge {SI, S2, ... , Sk} mit k < n sei eine solche Teilmenge. Dann nennen
wir jedes Si (1 :::; i:::; k) ein ,,Axiom" und jedes Sj (k:::;j :::; n) ein "Theorem".
Der Durchschnitt der Menge der Axiome mit der Menge der Theoreme ist
leer. Die Vereinigung beider Mengen ist identisch mit der Menge (1). Diese
Menge wird, mit andem Worten, in einerseits Axiome und andererseits Theo-
reme gegliedert; wir nennen (1) unter dem Gesichtspunkt dieser Gliederung
auch eine "Theorie".
Ein wissenschaftliches Gebiet braucht keineswegs allemal auf dieselbe Weise in
Axiome und Theoreme gegliedert zu sein 17. Was unser Beispiel betrifft, so läßt
sich vielleicht auch die Menge der Sätze S2, S3 .... , Sk, sk +1 als hinlängliche
Menge von Axiomen betrachten. Die Menge der Theoreme bestünde mithin
in der Menge {SI> Sk+2, sk+3, ... , sn} . Jede Menge läßt sich, allgemein ge-
sagt, als Menge von Axiomen betrachten, sofern wenigstens sämtliche Axiome
den Schluß auf jede andere zum selben Gebiet gehörende Aussage erlauben.
Von "Axiomen" kann, wie sich bereits an dieser Stelle ergibt, nicht absolut
die Rede sein. Jedes Axiom ist vielmehr als Element einer Menge von Axio-
men, und diese Menge ist als das Ergebnis einer von mehreren Möglichkeiten
der Einteilung einer Theorie in Axiome und Theoreme zu sehen. Ob ein Satz
Axiom sei, sieht man ihm selbst nicht an. Schon in dieser Hinsicht also ist
der Begriff des "Axioms" zu relativieren. Mit einer Axiomatisierung recht-
licher Bereiche wäre keineswegs eine Hervorhebung einzelner Rechtssätze in
dem Sinn verbunden, daß diese und nur diese Sätze zum Ausgangspunkt von
Beweisen gemacht werden könnten. Ist man andererseits zum Bekenntnis
bereit, nicht über sämtliche der beispielsweise zum Wechsel recht gehörenden
Sätze zu verfugen, also nur im Besitz von endlich vielen Sätzen zu sein, so
kommt man jedenfalls in diesem Sinn um eine Anwendung der axiomatischen
Methode gar nicht herum. Die Anwendung der axiomatischen Methode, also
die Gliederung des einschlägigen Faches in Axiome und Theoreme, ist inso-

IS Das soeben mengentheoretisch motivierte Kriterium für die Zugehörigkeit eines


Satzes zu einem axiomatischen System von Sätzen trifft insbesondere auf die zu
der Teilmenge gehörenden Sätze selber zu: Jeder Satz (Xi (1:::;
i:::; n) folgt offenbar
aus den Sätzen (Xl, (X2,' .. (Xn; die Implikation «(Xl 1\ .• . 1\ (Xi 1\ •. . 1\ (Xn)""* (Xi)
gilt, da falsches (Xi die implizierende Konjunktion falsifIZiert, junktorenlogisch
allgemein.
16 M heißt "echte" Teilmenge von N, wenn jedes Element von M Element von N ist
und es wenigstens ein Element von N gibt, das kein Element von Mist.
17 Vgl. etwa Eike 11. Salligny, Anm. 1, S. 328.

70
Axiomatisierbarkeit juristischer Systeme 55

weit nicht nur möglich; sie ist sogar erforderlich. Problematisch ist allein,
welche Mengen von Sätzen sich eignen, jeweils als hinreichende Mengen von
Axiomen, als sogenannte "Axiomensysteme", zu fungieren. Es liegt nahe,
beispielsweise die Menge der in einem Kodifikat vorkommenden Rechtssätze
als ein solches Axiomensystem zu betrachten. Inwieweit diese Betrachtungs-
weise zulässig ist, soll alsbald näher ausgefUhrt werden. Zuvor sind noch einige
Bemerkungen betreffs der Formalisierung axiomatisierter Theorien am Platz.

2.2 Fonnalisierung axiomatischer Systeme


2.2.1 Formalismus
Die Gliederung der ein Gebiet abbildenden Aussagen in Axiome und Theoreme
setzt eine Formalisierung dieser Aussagen nicht voraus. Aus den Sätzen, daß
erstens jeder Angeschuldigte Beschuldigter ist und daß zweitens jeder Ange-
klagte Angeschuldigter ist (vgl. § 157 StPO), ist zwanglos auf den Satz zu
schließen, es sei jeder Angeklagte Angeschuldigter. Man kann die bei den ersten
Sätze als Axiome, den dritten als ein Theorem betrachten, und der übergang
von den Axiomen zu dem Theorem ist ausschließlich durch das Bestehen einer
Folgerungsbeziehung bedingt. Auf die Verwendung einer künstlichen Sprache
kommt es nicht an. Die Formalisierung stellt, wie gesagt, keine notwendige
Voraussetzung fur die Anwendung der axiomatischen Methode dar; sie ist in-
dessen ein vorzügliches Instrument, den Wert der Axiomatisierung voll zur
Geltung kommen zu lassen.
Es ist die Folgerungsbeziehung, der die axiomatische Methode ihre Stärke
verdankt. Erst aufgrund der Möglichkeit, aus gegebenen Sätzen auf weitere
Sätze'zu schließen, läßt sich die unendliche Menge der ein gegebenes Gebiet
abbildenden Sätze ohne inhaltlichen Verlust auf eine kleinere Menge, ins-
besondere auf eine endliche Menge von Sätzen, reduzieren. Sehen wir von
Ausdrücken ab, die freie Variable enthalten, beschränken wir uns also auf
Aussagen, so läßt sich die Folgerungsbeziehung wie folgt definieren. Ein Satz
Sn folge aus Sätzen SI, S2, . . . , Sn-1 genau dann, wenn es ausgeschlossen ist,
daß Sb S2 , . . . und Sn -1 wahr sind, Sn dagegen falsch ise s . Es folgt also insbe-
18 Das Bestehen der Folgerungsbeziehung zwischen Ausdrücken Q1, Q2, ... Qm
einerseits und Qn andererseits ist exakterweise jeweils mit Bezug auf die für diese
Ausdrücke in frage kommenden Interpretationen (also mithilfe der Zuordnung
von Attributen (Eigenschaften, Beziehungen) zu Prädikaten, von Individuen zu
Subjekten usf.) zu bestimmen. Kommen auch Ausdrücke vor, welche freie Variab-
le enthalten, so sind die zu interpretierenden Ausdrücke zuvor mithilfe entsprechen-
der Konstanten zu belegen. Stellt das Ergebnis der Belegung eine wahre Aussage
dar, so spricht man hinsichtlich des verwendeten Belags auch von einem "Modell"
des belegten Ausdrucks; hierbei wird freilich häufig nicht hinreichend zwischen
Interpretation und Belegung unterschieden. Vermittels des Modellbegriffs kann
man das Bestehen der Folgerungsbeziehung zwischen gegebenen Prämissen und
einem weiteren Satz auch davon abhängig machen, daß jedes Modell der Prämis-
sen (d.i. jeder Belag, der ein Modell jeder Prämisse ist) zugleich ein Modell des zu
erschließenden Satzes ist.

71
56 Jürgen Rödig

sondere Sj aus Si, wenn Si falsch ist oder wenn Sj wahr ist. Gerade der zuletzt
genannte Aspekt der Folgerungsbeziehung ist fur das juristische Schließen
von besonderer Bedeutung.
Ohne Schwierigkeiten einzusehen sind zwar Schlüsse der folgenden Art:
Alle Logiker sind böse.
Einige Juristen sind nicht böse.
Einige Juristen sind keine Logiker.
Weniger einleuchtend sind bereits Schlüsse wie dieser: 19
K hat genau 136 Walzer komponiert.
Jeder Walzer enthält mindestens 140 Takte.
Kein Walzer enthält mehr als 166 Takte.
K hat mindestens 6 Walzer mit derselben Anzahl von Takten
komponiert.
Der zuletzt angeftihrte Schluß weist folgende Besonderheit auf. Es sind zwar
sämtliche Prämissen vorhanden. Die conclusio überrascht gleichwohl. Für
zahlreiche Beispiele jUristischen Schließens ist in gewisser Hinsicht die umge-
kehrte Situation charakteristisch. Die Schlüsse überraschen im Ergebnis nicht.
In der Menge der Prämissen sind jedoch Lücken enthalten. Ein Schluß ist, wie
erwähnt, schon dann berechtigt, wenn die conclusio stimmt. Weshalb es denn
auch naheliegt, in einer dem Juristen nicht ungewohnten Weise vom Ergebnis
her zu denken. Gibt man nun aber vor, ein Ergebnis begründen zu wollen, so
scheint die Wahrheit des Ergebnisses gerade nicht gesichert zu sein. In diesem
Fall ist mithin nicht schon von der Wahrheit des zu erschließenden Satzes
auf die Gültigkeit des Schlusses zu schließen. Bei Folgerungen der zuletzt er-
wähnten Art ist vielmehr eine Parallele zu dem sich an seinen eigenen Haaren
aus dem Sumpf ziehenden Freiherrn von MÜllchhausen zu ziehen.
Das Argumentieren vom Ergebnis her stellt eine der gefährlichsten Versionen
eines sozusagen "inhaltlichen Schließens"2o dar. Eine nicht minder gefähr-
liche Version des inhaltlichen Schließens ist die Praktizierung der sogenannten
"begriffsjuristischen Methode" in dem Sinn, als man aus bestimmten Begrif-
fen auf normative Sätze glaubt schließen zu können 21. Als Beispiel sei der
Schluß aus dem Begriff des Vertrages auf die Unzulässigkeit öffentlich-recht-
licher Verträge genannt. Tatsächlich lassen jeweils nur ein Satz oder eine Menge
von Sätzen den Beweis auf eine weitere Aussage zu. Wenn man gleichwohl so

19 Das Beispiel ist angelehnt an ein Beispiel von Mates, Elementare Logik, 1969
(Arnerikanische Originalausgabe 1965), S. 14.
20 Ein Beispiel "inhaltlichen Schließens" ist das "bedeutungsbestimmte Folgern",
wie Weinberger (vgl. Anrn. 2, S. 77 f.) es aaO trefflich charakterisiert.
21 Vgl. Rödig, Die Denkform der Alternative in der Jurisprudenz, 1969, § 29.6.

72
Axiomatisierbarkeit juristischer Systeme 57

tut, als werde bereits aus Begriffen geschlossen, so handelt es sich in Wirklich-
keit um einen Schluß aus einer ebenso undefinierten wie häufig auch undisku-
tierten Menge von mit dem betreffenden Begriff assoziierten Sätzen. Diese
Sätze sind, wie beispielsweise aus dem Schluß aus dem Begriff des Vertrages
auf die Unzulässigkeit öffentlich-rechtlicher Verträge 22 erhellt, nicht selten
dringend einer Diskussion bedürftig. Jedoch gerade dadurch, daß man angeb-
lich aus Begriffen schließt, werden sie der sachlichen Debatte entzogen 23 .
Sinn der Formalisierung axiomatisierter Systeme ist der Versuch und nur der
Versuch, der soeben angedeuteten Gefahren inhaltlichen Schließens Herr zu
werden. Der Grundgedanke ist einfach. Kennzeichnend für das formalisierte
axiomatische System ist die Verwendung einer "characteristica universalis" in
der durch Leibniz formulierten Bedeutung des Ausdrucks 24 . Es handelt sich
um den Gebrauch einer künstlichen Sprache in dem Sinn, daß man gedankliche
Operationen durch ein geregeltes Operieren mit sprachlichen Elementen er-
setzt. Die benutzte Sprache wird, wenn man so sagen darf, ihrem "eigent-
lichen" Zweck, nämlich dem Zweck der Mitteilung, entfremdet. Das nur noch
als Gegenstand geregelter Operationen betrachtete Zeichen hört auf, auf
einen von ihm verschiedenen Inhalt zu zeigen. Das Zeichen zeigt vielmehr im
Sinn der scholastischen Kategorie der "materialen Supposition"25 auf sich
selbst. Das Zeichen gewinnt die Handfestigkeit eines kleinen Stückes Kalk.
Wie mit einem "calculus"26 kann man nunmehr mit ihm rechnen, und nur
der höheren Berechenbarkeit wegen pflegen symbolische Kalküle an die
Stelle natürlicher Sprachen zu treten.

22 Vgl. Dito Mayer, Zur Lehre vom öffentlich-rechtlichen Vertrage, in: Archiv für
öffentliches Recht, 3. Bd. (1888), S. 3 ff. "Wahre" Verträge des Staates auf dem
Gebiet des öffentlichen Rechts sind nach Auffassung Mayers nicht einmal "denk-
bar" (S. 42). Die als Prämissen für die Ablehnung öffentlich-rechtlicher Verträge
infrage kommenden Sätze (z.B. Verneinung der Existenz wenigstens zweier gleich-
berechtigter Subjekte des öffentlichen Rechts usf.) werden charakteristischer-
weise nicht annähernd expliziert.
23 Die "begriffsjuristische" Methode ist der axiomatischen Methode, wie man sieht,
geradezu diametral entgegengesetzt. Gerade unter dem Gesichtspunkt der mathe-
matischen Logik ist jene Methode prinzipiell zu verwerfen. Es wäre außerordent-
Iil;h irreführend, die zeitgenössische juristische Logik insoweit, als diese Logik sich
logistischer Hilfsmittel bedient, als eine neue Erscheinungsform von Begriffs-
jurisprudenz zu charakterisieren.
24 Eine hervorragende Einflihrung in Leibnizens Idee des Formalismus vermittelt
Heinrich Scholz, Abriß der Geschichte der Logik, 2. Aufl., 1959, S. 48 ff. (52 f.).
25 VgJ. BOchendci-Menne, Grundriß der Logistik, 3. Aufl., 1965, § 2.11 und Anhang
zu § 2.11; für ein tieferes problemgeschichtliches Studium ist Bochenskis For-
male Logik, 2. Aufl., 1962, § 27, zu empfehlen.
26 Übers. "Steinchen" usf.

73
58 JÜTgen Rödig

Eine der durch künstliche Sprachen zu erfüllenden Funktionen ist die Abkür-
zungsfunktion. Kommt es nun aber darauf an, jeweils von geordneten Mengen
von Symbolen dergestalt zu einer weiteren symbolischen Reihe überzugehen,
daß diesem übergang der Übergang von gegebenen wahren Gedanken zu
einem weiteren wahren Gedanken entspricht, so sind auch kurze objektsprach-
liche Einheiten der Deutung bedürftig. Sie sind zu interpretieren, und sie
haben aufgrund derartiger Interpretationen keine schwächere Bedeutung als
die Bedeutung, welche die als definiens verwendeten metasprachlichen - ins-
besondere umgangssprachlichen - Zeichen besitzen 27 . Hermeneutische Pro-
bleme, die sich im Hinblick auf das Verständnis oder auch im Hinblick auf
das Vorverständnis umgangssprachlicher Prädikate ergeben, werden aufgeho-
ben. Und zwar "aufgehoben" nicht im Sinn der Ausmerzung, vielmehr im Sinn
der Aufbewahrung, ja geradezu der Konservierung. Zu Unrecht wird mitunter
der Eindruck erweckt, als gingen mit der äußerlichen Kürze objektsprachlicher
Prädikate notwendigerweise die Armut ihres Inhalts sowie die Problemlosig-

27 Eine gewisse Härte liegt allenfalls in der Übersetzung umgangssprachlicher Aus-


drücke wie "und", ,ja sogar", "aber" usf. durch rein extensional konzipierte
FWlktoren. So würden etwa die als Beispiele angeführten Wendungen vermutlich
durchweg vermittels eines und desselben Junktors, nämlich des Konjunktors, abzu-
bilden sein. Vermittels des Konjunktors wäre auch die im Sinn des Gegensatzes
gebrauchte Wendung "während" zu erfassen. Wird "während" dp.mgegenüber tem-
poral verstanden, so dürfte eine Quantifizierung von Variablen für Namen von
Zeitpunkten die angemessene Methode sein. Spezifisch inhaltliche Satzelemente
wie Subjektskonstanten und Prädikate büßen infolge ihrer Symbolisierung ohne-
hin nicht an sachlichem Inhalt ein. Kommt es beispielsweise darauf an, ob auch
elektrischer Strom als "Sache" iSd § 242 Abs. 1 StGB anzusehen sei, so bleibt die
Spannung dieser Frage ungeachtet des Umstands erhalten, daß man die Eigen-
schaft, Sache zu sein, mithilfe des einstelligen Prädikats "Sa 1 (.)" symbolisert.

74
Axiomatisierbarkeit juristischer Systeme 59

keit des Verständnisses ihres Inhalts einher. Selbst einige der vorzüglichsten
neue ren rechtsmethodologischen Schriften 28 sind von diesem Mißverständnis
nicht frei.

28 Der Nutzen einer Kalkülisierung vermittels des "zweiwertigen reinen Aussage-


kalküls", vermittels "mehrwertiger Modelle einer prädikativen Semantik" sowie
einer "deontischen Logik" (hierzu vgl. Anm. 2; den zweiwertigen Prädikatenkal-
kül scheint Esser nicht ins Auge zu fassen) endet laut Esser "am hermeneutischen
Problem" (Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 1970,
S. 102). "Dieses" (d.i. das hermeneutische Problem) erlaube es "nicht, die Impli-
kationen im Rechtsbegriff und den begrifflichen Kriterien der Tatbestände durch
unsprachliche Modelle verläßlich zu reproduzieren". Implikationen, also Aussa-
gen, sind "im Rechtsbegriff" freilich allenfalls in einem sehr übertragenen Sinn
enthalten; vgl. insoweit die Kritik der begriffsjuristischen Methode sub 2.1. Was
ferner das Ergebnis der Symbolisierung von Begriffen und Aussagen betrifft, so
haben wir es nicht etwa mit "unsprachlichen" Modellen zu tun. Es handelt sich
lediglich um nicht umgangssprachliche Sprachen. Derartige Objektsprachen pfle-
gen jedoch auf umgangssprachlicher Basis definiert zu werden, und die Bedeutung
des (symbolischen) definiendum bleibt, wie schon gesagt, nicht bereits der Kürze
des Symbols wegen hinter der Bedeutung des (umgangssprachlichen) definiens zu-
rück. Mißverständlich ist es schließlich, daß Esser Kalkülisierungsversuche im
Hinblick darauf rügt, es gingen derartige Versuche "irrig von der logischen Struktur
der Rechtsnormen und ihrer Begriffe aus, statt von deren Sub- oder Infrastruktur"
(aaO). Auszugehen ist sowohl von logischen als auch von "Sub- oder Infrastruk-
turen". Die Alternative zwischen beiden Ausgangspunkten ist unrichtig gestellt.
Unbegründet ist ferner die von Arthur Kaufmann und Winfried Hassemer gehegte
Befürchtung, es verliere der zur Entscheidung stehende Sachverhalt bei "richter-
licher Entscheidung im Wege formalen Schließens aus der Gesetzesnorm" seinen
Eigenwert (Grundprobleme der zeitgenössischen Rechtsphilosophie und Rechts-
theorie, 1971, S. 69). Ein logisches Verfahren, welches die Ableitung einer
richterlichen Entscheidung "im Wege formalen Schließens" abzuleiten erlaubte,
existiert tatsächlich nicht. Das richterliche Schließen ist bereits in logischer Hin-
sicht komplizierter, als gewöhnlich angenommen wird; auf die Notwendigkeit der
Einbeziehung mindestens einer dritten Prämisse in das Modell des richterlichen
Schließens wird noch einzugehen sein (3.2.2.2). Gerade im Rahmen dieser Prä-
misse läßt sich der - mißverständlich so genannte - "Eigenwert" des zu ent-
scheidenden Sachverhalts realisieren. Daß es diesen "Eigenwert" im Sinne eines
heuristischen Anstoßes zur Konkretisierung der generellen Norm bedarf und daß
erst die konkretisierte Norm als Regelungsdeterminante taugt, heben Kaufmann
und Hassemer durchaus übeneugend hervor. Eine den zu regelnden Sachverhalt
an Konkretheit nicht erreichende Vorschrift ist der Anwendung auf dieseu Sach-
verhalt bereits au~ logischen Gründen nicht fahig; ließe sich hinsichtlich dieses
Faktums Einigkeit enielen, so bestünde Aussicht auf eine für die Entwicklung
der rechtsiwssenschaftlichen Methodenlehre außerordentlich vorteilhafte Koope-
ration.

75
60 Jürgen Rödig

2.2.2 Insbesondere maschinelles Beweisen


Mit der Kalkulierbarkeit logischen Schließens ist offenbar eine notwendige
Voraussetzung rur maschinelles Beweisen erftillt2 9 . Liegt es doch auf der
Hand, die Repräsentanten inhaltlicher Einheiten anstatt durch graphische
Symbole durch technische Elemente - etwa mithilfe von elektronischen Kon-
takten, insbesondere elektronischen Schaltkreisen - zu verkörpern und das
Operieren mit diesen Elementen einem seinerseits speicherungsfähigen Pro-
gramm anzuvertrauen. Was namentlich die elektronische Verarbeitungjuristi-
scher Daten betrifft, so könnte man nach alledem versucht sein, die Axiomati-
sierung der einschlägigen juristischen Bereiche rur eine unabdingbare Voraus-
setzung rur den Einsatz automatischer Rechner zu halten. Jedoch so einfach
läßt sich die Notwendigkeit der Anwendung der axiomatischen Methode leider

29 Siehe beispielsweise Hennes, Einführung in die mathematische Logik, 2. Aufl.


1969,S. 36.

76
Axiomatisierbarkeit juristischer Systeme 61

nicht demonstrieren. Die logische Struktur der Arbeitsweise von Computern 30


stimmt mit der logischen Struktur der durch den Computer zu verarbeiten-
den Daten nicht etwa notwendig überein 31 • Was beisp,ielsweise den Einsatz
des Computers zu Dokumentationszwecken betrifft, so reicht es aus, die zu
verarbeitenden Dokumente unter einigen wenigen Gesichtspunkten zuein-
ander in logische Beziehungen zu setzen. Jedoch auch unter dem Aspekt der

30 Es handelt sich beispielsweise'Um die geordnete Zusammenfassung zweier Mengen


von Lochkarten. Es möge zwei Eingangskanäle I und 11 sowie einen Ausgangskanal
111 geben, ferner die Vorschrift, daß Karten aus I die "Vorfahrt" gebührt. Die Ver-
bindung 11 - 111 soll, mit andern Worten, dann und nur dann zustandekommen,
wenn in 11 eine Karte eintrifft und in I nicht. Sowohl das Eintreffen von Karten
(im Gegensatz zum Nichteintreffen) als auch die Elektrifizierung des Weichen-
mechanismus (im Gegensatz zu dessen Ruhestellung) läßt sich durch jeweils den
positiven zweier gegebener Werte interpretieren ("x" ftir Eintreffen einer Karte
in I, "y" ftir Eintreffen einer Karte in 11, "z" ftir Verbindung 11 - 111):
(1) x y z
+ +
+
+ +

Es liegt auf der Hand, die Abhängigkeit der Ausgangsvariablen z von den beiden
Eingangsvariablen x und y junktorenlogisch zu deuten. Eingangs- und Ausgangs-
variable werden als Aussagenvariable betrachtet, als Wertbereich der Variablen
figuriert die Menge der Wahrheitswerte {WA, FA} . Die sich unter der Ausgangs-
variablen befindende Wahrheitswertkolonne stellt mithin den Wertverlauf einer
gewissen 2-stelligen Aussagenfunktion dar. Diese Funktion ist aufgrund des soge-
nannten Repräsentantentheorems sowohl durch eine (kanonische) konjunktive als
auch durch eine (kanonische) disjunktive Normalform repräsentierbar. Man wird,
da die positiven Werte des Wertverlaufs die negativen Werte überwiegen, die dis-
junktive Normalform wählen. Sie besteht aus einem und nur einem Disjunktions-
glied, nämlich der Konjunktion
(2) ,,(' x 1\ y)"
(vgl. die Zeile< -, +, + > in (1».
Was die entsprechende Reihenparallelschaltung betrifft, so wird man trivialer-
weise folgende Reihenschaltung wählen, wobei der linke Kontakt (Ruhekontakt)
beim Nichteintreffen einer Karte in I in Ruhe bleibt und der rechte Kontakt
(Arbeitskontakt) sich beim Eintreffen einer Karte in 11 regt, d.h. den Stromkreis
schließt:
(3)
Vgl. zu alldem die vorzügliche Darstellung bei Dworatschek, Einftihrung in die
Datenverarbeitung, 4. Aufl., 1971, S. 221 ff.
31 Die Struktur des Verarbeitungsvorgangs ist, wie man sieht, zwar durch die Ein-
schlägigkeit eines logischen Zusammenhanges charakterisiert. Einen parallelen
Zusammenhang zwischen den zu verarbeitenden einschlägigen Aussagen oder auch
Begriffen wird man jedoch vergeblich suchen.

77
62 Jürgen Rödig

elektronischen Datenverarbeitung ist der Versuch der Axiomatisierung der


einschlägigen juristischen Gebiete keine überflüssige Sache:
Allein mit einer Anhäufung von Dokumenten braucht keineswegs eine Erleich-
terung der Tätigkeit des unter Zeitdruck über die betreffende Rechtsfrage
entscheidenden Richters verbunden zu sein. Die in diesen Dokumenten vor-
kommenden Termini werden häufig trotz Gleichheit des Namens in verschie-
denem Sinne gebraucht. Die systematischen Konzeptionen pflegen, soweit
sie überhaupt vorhanden sind, in teiiweise hohem Maß zu divergieren. Gleich-
wohl sind zahlreiche Dokumente erst vor dem Hintergrund derartiger Kon-
zeptionen hinreichend zu erfassen. Wollte man nun aber jeweils den Gesamt-
zusammenhang dokumentieren, etwa den Inbegriff der einer richterlichen
Entscheidung voraufgehenden einschlägigen Entscheidungen sowie der von
dem Urteil - oft nur stillschweigend - in Bezug genommenen sonstigen Texte,
so wäre alsbald die Grenze einer wirtschaftlich noch vertretbaren Elektrifi-
zierung des Dokumentationssystems erreicht. Bewendet es indessen bei der
Speicherung von isolierten Dokumenten, so braucht, wie schon gesagt, nicht
etwa eine Reduktion von Komplexität die Folge zu sein. Die Anwendung
einer Technik, die exakter ist als die Verhältnisse, auf die sie angewendet
wird, kann vielmehr ihrerseits zu Orientierungsschwierigkeiten führen. Und
zwar zu Schwierigkeiten dergestalt, daß die maschinelle Verarbeitung umge-
kehrt proportional zur Möglichkeit gedanklicher Verarbeitung erfolgt.
Gerade von der Anwendung der axiomatischen Methode darf man sich jene
systematische Klärung versprechen, derer es im Hinblick auf eine effektive
Dokumentation so dringend bedarf. Der Wert der Axiomatisierung für die
Bewältigung der Synonymenproblematik liegt auf der Hand 32 . In diesem Zu-
sammenhang ist der Entwurf von Einschlägigkeitsmustern zu erwägen, welche
nach Möglichkeit von den Verfassern gerichtlicher Entscheidungen selber
auszufti1len wären. Die in derartigen Mustern vorkommenden Begriffe wären
jeweils inhaltlich im vorhinein zu normieren. Es wäre beispielsweise dahin-
gehend zu differenzieren, ob die Verfasser der Entscheidung einen von ihnen
gebrauchten Begriff definieren wollen, oder ob es ihnen darauf' ankommt, ihn
nur unter einigen von mehreren infrage kommenden Aspekten zu behandeln.
Wie rur eine in der soeben skizzierten Weise "automationsgerechte" Recht-
sprechung, so dürfte sich die Axiomatisierung rechtlicher Bereiche auch im
Hinblick auf den Erlaß automationsgerechter Gesetze 33 als ein kaum zu über-
schätzender Vorteil erweisen. Doch damit nicht genug. Der Großteil der im

32 Hinsichtlich der Einsetzbarkeit der elektronischen Datenverarbeitung zu Zwecken


der Rechtsanwendung vgl. insbesondere die umsichtig informierende Darstellung
bei Simitill, Informationskrise des Rechts und Datenverarbeitung, 1970, S. 95 ff.
33 Siehe namentlich Simitill (Anm. 32), S. 84 ff.

78
Axiomatisierbarkeit juristischer Systeme 63

Folgenden zu skizzierenden Überlegungen stellt eine auch im Hinblick auf die


allgemeine Theorie der Gesetzgebung notwendige Vorarbeit dar. Es handelt
sich um die Verwendung von Legaldefinitionen, um den Sinn der Voranstel-
lung Allgemeiner Teile, um die Handhabung des sogenannten "Regel-Ausnah-
me-Prinzips" sowie vor allem um die Unterscheidung zwischen Rechtssatz
und Norm (4).

3. ANFORDERUNGEN AN JURISTISCHE AXIOMENSYSTEME


3.1 Widerspruchsfreiheit
3.1.1 Zum Prinzip der Widerspruchs[reiheit im Allgemeinen
Die Verwendung von Axiomen ist, wie wir gesehen haben, eine insbesondere
für den Juristen selbstverständliche Sache. Es wäre jedenfalls eigenartig, wenn
ein Jurist von sich behaupten wollte, ein aus wenigstens einem gültigen
Rechtssatz bestehendes Rechtsgebiet Satz für Satz zu wissen. Sind doch be-
reits in einem aus wenigstens einem gültigen Rechtssatz bestehenden Rechts-
gebiet nachweisbar unendlich viele Rechtssätze enthalten. Was für die Gliede-
rung der ein Gebiet abbildenden Sätze in Axiome und Theoreme im allge-
meinen gilt (2.1), das gilt für die an Axiomensysteme zu stellenden Anforde-
rungen insbesondere. Auch im Hinblick auf diese Anforderungen ist die An-
wendung der axiomatischen Methode auf das Recht nur scheinbar ein novum.
Es geht, um das Ergebnis vorweg zu skizzieren, nicht etwa darum, ob die
axiomatische Methode anzuwenden sei oder nicht. Es geht vielmehr darum,
inwieweit man die axiomatische Methode unter der Voraussetzung, daß man
sie anwendet, auch exakt anwenden soll.
Friedrich earl v. Savigny behandelt im ersten Band des Systems des heutigen
Römischen Rechts 34 im Anschluß an die "Auslegung einzelner Gesetze"
(§§ 33 ff) die ,,Auslegung der Rechtsquellen im Ganzen" (§§ 42 ff). Unter
dem "einzelnen Gesetz" wird weniger der isolierte Rechtssatz, also eine von
andem Rechtssätzen durch Punkte, durch das Vorkommen in verschiedenen
Paragraphen oder auf ähnliche Weise getrennte, Aussage verstanden. Es han-
delt sich vielmehr um das durch den Akt der Rechtssetzung, durch die Per-
sonen seiner Verfasser oder ähnlich gekennzeichnete Kodifikae s . Was
demgegenüber die ,,Auslegung der Rechtsquellen im Ganzen" betrifft, so sind
die überlegungen v. Savigny's an dem damals in Deutschland anzutreffenden
allgemeinen Quellenkreis orientiert; v. Savigny36 nennt insoweit die Justinia-
nischen Gesetze, das kanonische Recht, die Reichsgesetze, das wissenschaft-
lich entstandene Gewohnheitsrecht sowie den Gerichtsgebrauch. Die besondere

34 1840.
35 Aufschlußreich insofern etwa aaO, S. 262 bis 265.
36 S.264.

79
64 Jürgen Rödig

Problematik dieses Nebeneinander liegt in der Heterogenität der einzelnen


Quellen 37. Die hinsichtlich der "Auslegung der Rechtsquellen als Ganzes"
genannten Maximen hätte v. Savigny demgegenüber bereits anläßlich der
,,Auslegung der einzelnen Gesetze" vortragen können: Die Gesamtheit der ver-
schiedenen Mengen von Rechtssätzen bilde "ein Ganzes, welches zur Lösung
jeder vorkommenden Aufgabe im Gebiete des Rechts bestimmt ist. Damit es
zu diesem Zweck tauglich sey, müssen wir daran zwey Anforderungen machen:
Einheit und Vollständigkeit" (System des heutigen Römischen Rechts, 1.
Band, S. 262). Fehlende Einheit und Unvollständigkeit werden demgemäß als
"die mangelhaften Zustände jenes Ganzen" (S. 263) gesehen und mit den "an
sich denkbaren Fällen" mangelhafter einzelner Gesetze verglichen: "I. Unbe-
stimmter Ausdruck, der also überhaupt auf keinen vollendeten Gedanken
führt. - 11. Unrichtiger Ausdruck, indem der von ihm unmittelbar bezeichnete
Gedanke von dem wirklichen Gedanken des Gesetzes verschieden ist"
(S.222)38.
Was nun die mangelhaften Zustände der Quellen im Ganzen betrifft, so er-
läutert v. Savigny die Gesichtspunkte der Einheit und Vollständigkeit wie folgt:
"Fehlt die Einheit, so haben wir einen Widerspruch zu entfernen, fehlt die
Vollständigkeit, so haben wir eine Lücke auszuftillen" (S. 263). Mit den
Kriterien der Widerspruchsfreiheit sowie der Vollständigkeit sind nun aber
keine anderen als die beiden wichtigsten Anforderungen an Axiomensysteme
genannt. Drittes Kriterium ist die Unabhängigkeit der Axiome; die Erfüllung
dieser Anforderung braucht, wie wir sehen werden, nicht erwünscht zu sein.
Ein Axiomensystem, d.i. die Menge der innerhalb eines axiomatischen Systems
vorkommenden Axiome, heißt "widerspruchsfrei", wenn es nicht zwei
Theoreme dergestalt gibt, daß das eine in einer Negation des anderen besteht.
Sind zwei derartige Theoreme als Folgerungen aus den Axiomen zu gewinnen,
so folgt aus den Axiomen auch die Konjunktion eines Satzes mit seiner Nega-
tion, also ein bereits aus logischen Gründen falscher Satz. Gesetzt, es gebe
wenigstens ein Theorem von der Art einer solchen Konjunktion. Dann exi-
stiert, da eine Implikation nur bei Wahrheit des "Wenn"-Satzes und bei

37 Die sowohl für das Verständnis als auch für das Vorverständnis von Rechtssätzen
grundlegenden Unterscheidungen zwischen der Setzung eines Rechtssatzes durch
genau einen Verfasser in genau einem Akt, durch einen Verfasser in mehreren
Akten, durch mehrere Verfasser in einem Akt sowie durch verschiedene Verfasser
in verschiedenen Akten pflegen ein wenig vernachlässigt zu werden. Auf dieses
Phänomen, das ersichtlich mit der Konzeption der jurirtischen Auslegung als
einer "objektiven" (d.h. den Auslegenden an der Bestimmung des Inhalts des
auszulegenden Textes beteiligenden) Auslegung zusammenhängt, kann im Rah-
men dieser Abhandlung nicht näher eingegangen werden.
38 Hinsichtlich des logischen Zusammenhangs zwischen der Widersprüchlichkeit
von Sätzen sowie terminologischer Uneinheitlichkeit siehe nachfolgend 3.1.2.

80
Axiomatisierbarkeit juristischer Systeme 65

Falschheit des "dann"-Satzes unrichtig ist, keine falsche Implikation mit der
genannten Konjunktion als "Wenn"-Satz. Die Implikation gilt mithin allge-
mein, und man kann den "dann"-Satz daher auch als eine Folgerung aus dem
"Wenn"-Satz im Sinn der Folgerungsbeziehung (2.1) betrachten. Auf den
Inhalt des ,,Dann"-Satzes kommt es nicht an. Der "Dann"-Satz kann insbe-
sondere in einer falschen Aussage bestehen. Jeder Satz kann als ,,Dann"-Satz
fungieren, und es leuchtet einerseits ein, daß ein im Hinblick auf jeden Satz
schlüssiges axiomatisches System sowohl trivial als auch in praktischer Hin-
sicht unbrauchbar ist39 . Einleuchtend ist andererseits eine weitere, und zwar
zunächst überraschende, Formulierung des Prinzipes der Widerspruchsfreiheit;
ein Axiomensystem heiße "widerspruchsfrei" genau dann, wenn es wenigstens
eine Aussage gibt, welche kein Theorem, welche mithin aus den Axiomen
nicht erschließbar sei. Sofern man die axiomatische Methode auf eine gege-
bene - insbesondere endliche - Klasse von Sätzen bezieht, so ist das Prinzip
der Widerspruchsfreiheit in der Forderung enthalten, es dürften sich aus den
diese Satzklasse axiomatisierenden Axiomen nur Elemente der Satzklasse
oder auch Folgerungen aus Elementen der Satzklasse ergeben. Das Fehlen
wenigstens eines aus den Axiomen erschließbaren Satzes stellt offenbar einen
Sonderfall der zuletzt genannten - von Eike v. Savigny 40 unter dem Stichwort
"Korrektheit" formulierten - Forderung dar. Man wird allerdings verlangen,
daß die zu axiomatisierende Satzklasse ihrerseits auf keine Widersprüche
schließen läßt, also ihrerseits bereits widerspruchsfrei ist. Ließe sie den Schluß
auf Widersprüche zu, so wäre die Forderung nach "Korrektheit" durch jede
Menge von Axiomen trivialerweise erfüllt. Auch bei der üblicherweise aufge-
stellten Forderung nach dem Fehlen wenigstens eines aus den Axiomen er-
schließbaren Satzes pflegt stillschweigend vorausgesetzt zu werden, daß das zu
axiomatisierende Gebiet seinerseits keine Widersprüche enthält. Daß man das
Prinzip der Widerspruchsfreiheit gleichwohl durchweg auf die Bildung von
Axiomensystemen beschränkt, ist bemerkenswert. Was die Praxis der Axioma-
tisierung betrifft, so haben wir es in der Tat mit einern unter dem Gesichts-
punkt der Logik vorgenommenen Eingriff in die zu axiomatisierenden Gebiete
selbst zu tun: Widersprüche, die vielleicht in dem zu axiomatisierenden Gebiet
enthalten sind, fallen mit der Bildung widerspruchsfreier Axiomensysteme
notwendigerweise hinweg. Das zu axiomatisierende Gebiet hört auf, mit dem

39 Aus ähnlichen Gründen kann man solche Wahrheitswertfunktionen nicht brau-


chen, welche ungeachtet der Wahrheit ihrer Argumente beispielsweise stets wahre
Funktionswerte liefern; es handelt sich in diesem Fall, was die zweisteIligen
Wahrheitswertfunktionen betrifft, um die von Bochetlslci-Me1l1U! (Grundriß der
Logistik, 2. Aufl., 1962, § 3.94) so genannte "Tautologie" (entgegengesetzter
Fall, d.h. ausschließlich falsche Funktionswerte : ,,Antilogie"). - Auf die im logik-
wissenschaftlichen Schrifttum gebIäuchIiche Unterscheidung zwischen syntakti-
schiff und semantischer Widerspruchsfreiheit ist hier nicht näher einzugehen.
40 Anm. I, S. 327 f.

81
66 ]ürgen Rödig

tatsächlich axiomatisierten Satzsystem identisch zu sein. Das tatsächlich axio-


matisierte Satzsystem ist sozusagen von störenden Sätzen gereinigt. Welche
Sätze stören, läßt sich natürlich logisch nicht entscheiden. Logisch entscheid-
bar ist nur, daß sich jeweils in einer Menge von wenigstens zwei Sätzen wenig-
stens ein Störer befindet.
3.1.2 Widerspruchs[reiheit juristischer Systeme
Der Terminus "Widerspruch" wird im rechtsmethodologischen Schrifttum
häufig anders als in der mathematischen Logik verwendet 41 .Die Abweichun-
gen sind teilweise außerordentlich verwirrend. Engisch führt als erste Kate-
gorie von Widersprüchen in der Rechtsordnung die von ihm so genannten
"gesetzestechnischen Widersprüche" auf; diese bestünden "namentlich in einer
Uneinheitlichkeit der Terminologie" (Einführung in das juristische Denken,
5. Aufl., 1971, S. 157). Uneinheitlichkeit der Terminologie liegt vor sowohl
im Fall des Gebrauches eines und nur eines Namens für verschiedene Bedeu-
tungen als auch im Fall des Gebrauchs wenigstens zweier Namen für eine
und nur eine Bedeutung. Engisch 42 wählt als Beispiel u.a. den Beamtenbe-
griff. Gesetzt, es enthalte eine Rechtsordnung sowohl den Rechtssatz, es sei
kein auf frischer Tat ertappter Beamter durch Private festnehmbar, kurz:
(2) [2]"V p(Bel(p)--+.Fpl(p»", AE
als auch den Satz, es dürfe ein auf frischer Tat ertappter Beamter, der keine
Ernennungsurkunde besitzt, durch Private festgenommen werden:
(3) [3]"V p((Be1(p)t\.Eb1(p»--+Fpl(p»" AE.
pe sei ein Beamter, der keine Ernennungsurkunde besitzt:
(4) [4] "Bel (pe)t\-.Ebl(pe»" AE.
Dann folgt aus (2) - individualisierte Fassung - und (4) mithilfe des junk-
torenlogisch allgemeingültigen Schemas (5)
(5) °
,,(((A --+ -, BO) t\ (AO t\ -. Co» --+ -. BO)"
der Ausschluß der Festnehmbarkeit von pe durch Private:
(6) [2] ,,(Bel(pe)--+-.Fpl(pe»" [2J GB
(7) [4,6] ,,-.Fpl(pe)" [2,4J JL.
Aus (3) und (4) ergibt sich das glatte Gegenteil:
(8) [3] ,,((Bel(pe)t\---,Ebl(pe»--+
--+ Fpl (pe »" [3 ] GB
(9) [3,4] "Fpl(pe)" [3,4] JL.

41 Insoweit klar und treffend Schreiber, Logik des Rechts, 1962, S. 57 ff. (59 bis 61).
42 Einftihrung in das juristische Denken, 5. Aufl., 1971, S. 157.

82
Axiomatisierbarkeit juristischer Systeme 67

Bedienen wir uns nunmehr anstatt nur eines Beamtenbegriffes zweier der-
artiger Begriffe 43 , etwa der Begriffe "Be~" und "Be~". Der erste dieser Be-
griffe werde in (2), der zweite in (3) verwendet. Kommt nun in (4) der Be-
griff "Be~" vor, so ist nur noch auf" -, Fpl(pe)", dagegen nicht mehr auf
"Fpl (pe)" zu schließen. Wird in (4) demgegenüber der Begriff "Be~" ge-
braucht, so ergibt sich zwar "Fpl (pe)", jedoch nicht" -, Fpl (pe )". Ein
Widerspruch kommt mithin in keinem der beiden Fälle zustande. Wir haben,
mit anderen Worten, einen nach Voraussetzung tatsächlich vorhandenen
Widerspruch mithilfe einer uneinheitlichen Terminologie nicht etwa eneugt,
vielmehr behoben.
Die Parallelisierung der Uneinheitlichkeit der Terminologie mit der Wider-
spTÜchlichkeit von Sätzen ist mit der immer wieder anzutreffenden Identifi-
zierung von Begriffen mit Aussagen 44 verwandt. Auf diese Ungenauigkeit ist
bereits im Zusammenhang mit der Kennzeichnung der sogenannten "Begriffs-
jurisprudenz" als eines Schließens aus Begriffen hingewiesen worden (2.2). Es
handelt sich, um an das bereits erwähnte Beispiel anzuknüpfen, um Folgerun-
gen aus dem Begriff des "Vertrages". Weitere Beispiele derart folgenreicher
Begriffe liefern die Privatautonomie, der Vertrauensschutz, nicht zuletzt Treue
und Glauben. Mit der Vorschrift des § 242 BGB scheinen wir zugleich in un-
mittelbare Nähe zu überpositivem Recht vorgestoßen zu sein. Auch die in
diesem Bereich dominierenden Begriffe wie die Begriffe der Gerechtigkeit, der
Zweckmäßigkeit und der Rechtssicherheit werden zum Ausgangspunkt von

43 In rechtlicher Hinsicht problematisch ist der umgekehrte Fall, nämlich die Existenz
genau eines Namens ftir mehrere Arten von Beamten. Was diesen Fall betrifft, so
kann sich einerseits der Anschein des Bestehens von tatsächlich nicht bestehenden
Widerspruchen ergeben (vgl. insoweit das im Text folgende Beispiel). Es besteht
jedoch andererseits Gefahr ftir die Behauptung inhaltlich unrichtiger Sätze. Ange-
nommen, es gehe der strafrechtliche Beamtenbegriff über den staatsrechtlichen
hinaus. Dann trifft der Ausdruck
"V p (Bel(p) -+ Bel (p»"
zwar voraussetzungslos zu; ist innerhalb des (generalisierten) Implikans jedoch der
strafrechtliche und innerhalb des (generalisierten) Implikats der staatsrechtliche
Beamtenbegriff gemeint, so bt die generalisierte (= formale) Implikation durch
jedes Beispiel eines lediglich "strafrechtlichen" Beamten widerlegbar. Was daher
die Gefahrlichkeit uneinheitlicher Terminologie betrifft, so ist sie der Gefährlich"
keit von Widerspruchen im Ergebnis verwandt, und den Ausftihrungen von Engisch
ist insoweit zu folgen.
44 Die verheerenden Folgen der Identifizierung von Begriff und Aussage reichen bis
in die rechtsdogmatische Erfassung des Begriffs der "Unterlassung" hinein; siehe
insoweit Rödig, Die privatrechtliche Pflicht zur Unterlassung, in: Rechtstheorie,
1972, Bd. I, S. 1 ff.

83
68 Jürgen Rödig

Schlußfolgerungen genommen. Das ist nicht alles. Die Begriffe werden über-
dies in ein gegenseitiges Verhältnis der "Spannung" gebracht;45 wiederum ist
ausdrücklich von "Widersprüchen", und zwar von "Prinzipienwidersprüchen",
die Rede46 . Auch derartige Widersprüche sind in den Kategorien der zeitge-
nössischen Logik nicht unterzubringen. Logisch nachvollziehbar wäre allenfalls
die Herstellung eines Widerspruchs aus zwei Sätzen, von denen man den eitlen
mit dem Begriff der Gerechtigkeit, den andern mit dem Begriff der Zweck-
mäßigkeit assoziiert. Jedoch gerade von einer auch nur einigermaßen verläß-
lichen Abbildung der genannten Begriffe in normative Sätze sind wir himmel-
weit entfernt. Höchst verwirrend ist es schließlich, den "Begrifr' im Sinne
eines durch die Rechtsidee geförderten Rechtsinstituts mit einem bestimmten
Rechtsverhältnis in Widerspruch zu setzen. Auch eine noch so zerrüttete Ehe
"widerspricht" nicht dem Ehebegriff4 7 . Insbesondere eine Fortführung von
Hegels Lehre vom konkret-allgemeinen Begriff48 erscheint in diesem Zusam-
menhang schwerlich als klärend.
Auch der sogenannte "Wertungs-Widerspruch" oder auch der "teleologische
Widerspruch", wie Engisch49 ihn beschreibt, ist meist kein "Widerspruch" im
logischen Sinn. Die Sätze, zwischen denen er bestehen müßte, pflegen auch in
diesem Fall nicht explizit genannt zu sein. Man sollte sich, allgemein ge-
sprochen, im Rahmen der juristischen Argumentation davor hüten, einen. Be-
griff ins Treffen zu führen, ohne imstande zu sein, die mit diesem Begriff in
diesem Zusammenhang assoziierten Rechtssätze jeweils ausdrücklich zu nennen.
Die Befolgung der soeben formulierten Regel hätte vermutlich zahlreiche
-- teilweise außerordentlich fruchtlose - rechtswissenschaftliehe Diskussionen
verhindert.
Wer sich der axiomatischen Methode bedient oder sich dieser Methode auch
nur zu bedienen versucht, ist im vorhinein nicht in Gefahr, vor lauter Begrif-
fen die diese Begriffe enthaltenden Sätze aus dem Auge zu verlieren. Wer ein
Satzsystem axiomatisiert, hat es natürlich auch mit Begriffen zu tun, und
man betrachtet nicht umsonst die Definitionslehre als ein Element der

45 Vgl. RadbTUch, Vorschule der Rechtsphilosophie, 1947, S. 23 ff.


46 Vgl. Engisch (Anm. 42), S. 162 f.
47 Vgl. aber LaTenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 2. Aun., 1969, S.477.
48 Siehe Anm. 47, S. 476 ff. - Was insbesondere die dem konkret-allgemeinen Be-
griff als einem konkreten Begriff innewohnende Dialektik betrifft, so spricht
wiederum einiges dafür, daß man zwar von Begriffen spricht, jedoch Aussagen
meint. Nur zwischen Aussagen kommen Widersprüche zustande; die zwischen
mehreren Gegenständen (oder deren begrifflichen Abbildungen) bestehende Ver-
schiedenheit (= Diversität) ist eine von der Widersprüchlichkeit scharf zu unter-
scheidende logische Kategorie.
49 Anm. 42, S. 160 f. und 161 f.

84
Axiomatisierbarkeit juristischer Systeme 69

Axiomatik im weiteren Sinnso. Wichtig ist jedoch, daß die zu definierenden


Begriffe jeweils nur als - unselbständige - Elemente von Aussagen einen ge-
danklichen Inhalt zu produzieren vermögen, und daß es erst recht verfehlt
wäre, sich von den entsprechenden Definitionen einen auch noch so bescheide·
nen sachlichen Gehalt zu versprechen. Definitionen müssen erstens rückgängig
gemacht werden können (Eliminierbarkeitskriterium). Sie dürfen zweitens
nicht in der Lage sein, Sätze über solche Inhalte beweisbar zu machen, die
ohne die verwendeten Definitionen unbeweisbar wären (Kriterium der Nicht-
kreativitätS!). Beide Kriterien lassen korrekte Definitionen s2 als im Prinzip
überflüssig erscheinen.

3.2 VoUständigkeit
3.2.1 Zum Kriterium der Vollständigkeit im Allgemeinen
Wie jede Axiomatisierung, so ist insbesondere die Anwendung der axioma-
tischen Methode auf juristische Systeme der Forderung der Widerspruchsfrei-
heit zu unterwerfen. Sofern der Jurist gleichwohl willens ist, Spannungen von
der Art zu ertragen, wie sie angeblich - um nur ein Beispiel zu nennen -
zwischen Gerechtigkeit und Rechtssicherheit bestehen, haben wir es weniger
mit Konflikten im Sinne einander widersprechender Sätze als vielmehr mit der
bloßen Verschiedenheit rechtspolitischer GeSichtspunkte zu tun (3.1.2). Man
wird natürlich herausfinden wollen, bei welchen Modellen der Ausgestaltung
dieser Zielsetzungen sich einander widersprechende rechtliche Sätze ergeben.
Um dies zu erfahren,.kommt man um eine Abbildung der betreffenden As-
pekte, Zielsetzungen oder auch "Begriffe" in jeweils eine Menge von Sätzen
nicht herum. Erst auf der Basis einer Menge von Sätzen ist sinnvoll nach
Widersprüchen zu fragen. Kommen bei dieser Fragestellung Widersprüche her-
aus, so wird man sie entweder entfernen oder aber folgerichtig jeden noch so
törichten Satz, namentlich jeden noch so widersinnigen Rechtssatz, als gültig
anerkennen müssen (3.1.1).
Wie die Anwendung des Widerspruchsprinzips, so stellt auch die Befolgung der
VoUständigkeitsmaxime eine· vorzügliche Methode juristischer Selbstkritik
dar. Die Forderung nach Vollständigkeit von Axiomensystemen wird im
wissenschaftstheoretischen Schrifttum mithilfe verschiedener Formulierungen
erhoben s3 . Es liegt nahe, die Vollständigkeit eines Axiomensystems insbeson-

50 Vgl. Essler, Einführung in die Logik, 2. Aufl., 1969, S. 248.


51 Dieses Kriterium wurde erstmals 1931 durch Ldniewski formuliert; siehe Anm.
50, S. 252.
52 Eine gute Einführung in die neuere Definitionstheorie gibt Klug, Juristische Logik,
3. Aufl., 1966, § 8 (S. 85 ff.).
53 Siehe insbesondere die subtile Darstellung bei H.A. Schmidt, Mathematische Ge-
setze der Logik I. 1960, S. 141 f. sowie 176 ff. - Vgl. ferner Essler, Anm. 50
S. 245 f.

85
70 Jürgen Rödig

dere folgendermaßen zu fassen. Gegeben seien zwei Ausdrücke, welche höch-


stens einschlägige Begriffe in einer nicht tautologischen Weise enthalten und
von welchen der eine die Negation des anderen ist. Dann heiße das einschlägi-
ge Axiomensystem vollständig, wenn die Axiome den Schluß auf wenigstens
einen der genannten Ausdrücke gestatten.
Bei der soeben angeführten Formulierung kann es mit folgenden zwei Ein-
schränkungen bewenden. Gesetzt den Fall, daß die genannten Ausdrücke
Variable enthalten, welche sich binden lassen. Dann kommt es darauf an, daß
sie ke"ine freien, d.h. keine nicht gebundenen, Variablen enthalten. Angenom-
men beispielsweise eine ungebundene O-steIlige Prädikatenvariable "Ao,,; man
kann auch von einer ,,Aussagenvariablen" sprechen. Verlangt man die Beweis-
barkeit von ,,A0" oder von" -, AO", so kann man bei Beweisbarkeit von
,,A0" vermittels der Einsetzung einer falschen Aussage und bei" -, AO" ver-
mittels der Ersetzung von "Ao" durch eine wahre Aussage einen falschen Aus-
druck gewinnen.
Zweite Einschränkung: Gegeben zwei Aussagen, d.h. zwei O-steIlige Aussage-
formen, welche höchstens einschlägige Begriffe auf eine nicht tautologische
Weise enthalten. Eine dieser Aussagen sei die Negation der andern. Gesetzt
sodann, es sei von beiden Aussagen höchstens eine (Widerspruchsfreiheits-
prinzip ), aber auch mindestens eine aus den Axiomen beweisbar. Dann ist
zwar "Vollständigkeit" in dem Sinn erreicht, daß sich aufgrund der Hinzufli-
gung eines weiteren Axioms, welches eine nicht schon logisch wahre Aussage
bezüglich der einschlägigen Begriffe enthält, ein Widerspruch ergäbe. Mit dieser
Art von "Vollständigkeit" ist indessen keineswegs eine Deckung der aus
Axiomen und Theoremen bestehenden Satzmenge mit der das zu axiomati-
sierende Gebiet abbildenden Menge von Sätzen erreicht. Es genügt nicht nur
das Bestehen von jeweils einer von mehreren in sich widerspruchsfreien Be-
ziehungen zwischen den einschlägigen Begriffen. Wie sich die einzelnen Begrif-
fe zueinander verhalten, ist zwar erstens unter Vermeidung von Widersprüchen
und Lücken, zweitens jedoch auch auf eine inhaltlich detenninierte Weise zu
bestimmen, und diese Kongruenz der axiomatisierten Theorie mit dem zu
axiomatisierenden Gebiet, die wir als "materiale Kongruenz" bezeichnen,
kommt nur mithilfe infonneller Kriterien zustande.

·3.2.2 Zur Vollständigkeit juristischer Systeme


3.2.2.1 Horizontale Vollständigkeit
Bereits das Studium des Grundsatzes der Vollständigkeit im Allgemeinen hat
die Notwendigkeit der Einbeziehung außerlogischer Gesichtspunkte ergeben
(3.2.1). Was insbesondere die Vollständigkeit juristischer Systeme betrifft, so
geht dem Problem der Abdeckung eines juristischen Gebiets durch Axiome
das Problem der Konturierung des Gebiets als solchen voraus. Es fragt sich,
welche Begriffe überhaupt als einschlägige Begriffe darin vorkommen sollen,

86
Axiomatisierbarkeit juristischer Systeme 71

und zwar wnächst in horizontaler Hinsicht: So kann man beispielsweise einer-


seits versuchen, die im zweiten Buch des BGB enthaltenen Vorschriften zu
axiomatisieren. Man kann es andererseits flir zweckmäßiger halten, sich auf
die Vorschriften über die Miete oder den Dienstvertrag zu beschränken, dann
jedoch weitere Kodifikate wie in diesem Fall arbeitsrechtliche und in jenem
Fall mietrechtliche Rechtssatzsysteme einzubeziehen. Besondere Schwierig-
keiten ergeben sich bei der Berücksichtigung Allgemeiner Teile. Auf diese
Schwierigkeiten gehen wir später, wenn auch nur andeutungsweise, noch ein.
Einzelheiten werden im Rahmen einer allgemeinen Theorie der Gesetzgebung
abzuhandeln sein.
Auch auf die Existenz von Lücken, deren Beseitigung Friedrich earl v. Savigny
unter dem Stichwort "Vollständigkeit" behandelt (3.1.1), ist vielfach erst
aufgrund der Annahme eines bereits in bestimmter Weise konturierten sach-
lichen Gebiets zu schließen. Es sei TB die Menge der unter die Tatbestände
ausdrücklich statuierter Normen subsumierbaren Sachverhalte. Dann klafft
nicht etwa hinsichtlich jedes zu TB, d.h. zum Komplement von TB, gehören-
den Sachverhalts eine Regelungslücke. Betrachten wir beispielsweise die Men-
ge der die Beschädigung einer Sache betreffenden ausdrücklich formulierten
privatrechtlichen Sätze, insbesondere Sätze betreffend die Ersatzpflicht
wegen unerlaubter Handlung sowie Sätze betreffend die sogenannte "Lei-
stungsgefahr" (vgl. etwa §§ 243 Abs. 2, 270 Abs. 1,300 Abs. 2 BGB). Alle
diese -Sätze sind vor dem Hintergrund des Satzes "casum sentit dominus" zu
sehen, und eine Lücke ist weniger im Hinblick auf die von den Gesetzesver-
fassern erkennbar beabsichtigte Regelung als vielmehr im Hinblick auf die Ab-
sicht ausdrücklicher Formulierung dieser Regelung vorhanden.
Wir haben es erneut mit einem Problem der Gesetzgebungstechnik zu tun.
Auf die Technik der Setzung eines Rechtsgebiets kommt es erst an, nachdem
die zu setzende Regelung hinsichtlich ihres rechtlichen Inhalts konzipiert
worden ist. Wenn man auch insoweit von "Lücken" spricht, so ist jedenfalls
häufig nicht so sehr das Fehlen einer Regelung als vielmehr die Ablehnung
von anderen, insbesondere von sich aus den jeweils sogenannten "allgemeinen
Rechtsgrundsätzen" ergebenden S4, Rechtsfolgen gemeint. Das zu axiomati-
sierende Gebiet wird, wie man sieht, als solches als der Korrektur bedürftig
angesehen. Erst das bereits korrigierte Gebiet ist im Sinn der axiomatischen

54 Charakteristisches Beispiel ist insoweit die "Ergänzung" des positiven Gesell-


schaftsrechts durch die fur fehlerhafte Gesellschaften (insbesondere für fehler-
hafte Gesellschaften auf mangelhafter Vertragsgrundlage sowie für Scheingesell-
schaften) ausgebildeten Normen. ~ Eine gründliche Diskussion des Lückenprob-
lems kommt a!1 dieser Stelle nicht in Betracht; vgl. insbesondere die eindringende
Untersuchung von Engisch (Anm. 42, S. 134 ff.), von Larenz (Anm. 47, S. 350 ff.)
sowie von Canaris. Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 1964. Ein eindrucks-
volles Beispiel fur den kombinatorischen Aspekt des Lückenproblems gibt Fiedler,
Juristische Logik in mathematischer Sicht, ARSP 52 (1966), S. 105 ff.

87
72 Jürgen Rödig

Methode zu ordnen, und zwar zu ordnen insbesondere mit der Maßgabe, daß
die jeweils als Axiome gewählten Sätze den Schluß auf sämtliche der das
Gebiet abbildenden Sätze erlauben. Der Entwicklung eines vollständigen
Axiomensystems geht, was den zuletzt beschriebenen Lücken-Typus betrifft,
nicht wiederum eine Vervollständigung, vielmehr eine Modifikation des zu
axiomatisierenden Gebiets im Sinne einer Änderung bereits vorhandener
Sätze voraus.

3.2.2.2 Vertikale Vollständigkeit


Gesetzt, wir unternähmen den Versuch, das Wechselrecht zu axiomatisieren.
Mit der Erweiterung der im WG enthaltenen Rechtssätze um weitere Rechts-
sätze, die sich zum Teil im BGB oder in anderen Gesetzen befinden oder die
gewohnheitsrechtlieh anerkannt sein mögen, ist es, was die rechtliche Beur-
teilung konkreter Sachverhalte anbelangt, natürlich nicht getan. Noch in zeit-
genössischen Darstellungen wird zu Unrecht der Eindruck erweckt, als könne
es im Hinblick auf den Prozeß der Rechtsanwendung bei jeweils zwei und nur
zwei Prämissen, nämlich einer - generellen - Rechtsnorm und der - indivi-
duellen - Beschreibung eines Sachverhalts, bewenden 5 5. Es kommt vielmehr
zusätzlich darauf an, den Sachverhalt in Richtung der zu generalisierenden
Norm oder auch die Norm in Richtung des Sachverhalts zu transformieren.
Es handelt sich beispielsweise um die Konkretisierung der als Substrate des
Wechsels infrage kommenden körperlichen Gegenstände wie Papier, Karton
oder das zur Anfertigung eines Zigarrenkistchens verwendete Holz. Doch da-
mit nicht genug. Auch die durch die Norm statuierte Rechtsfolge bedarf der
Konkretisierung, und es ist schließlich die KorIkretisierung des Tatbestandes
mit der Konkretisierung der Rechtsfolge in Übereinstimmung zu bringen.
Gerade das zuletzt erwähnte Erfordernis scheint im einschlägigen Schrifttum

55 Eine treffende Formulierung des herkömmlichen Modells des richterlichen Syllo-


gismus findet sich bei Hopt (Anm. 6, S. 65): Es ist die Rede von dem "richter-
lichen Syllogismus mit seinen zwei Gliedern, der bestimmten Norm (praemissa
maior) [gemeint ist, wie sich aus dem voraufgehenden Satz ergibt, der "gesetzlich
normierte bzw. in Rechtsprechung und Rechtslehre präzisierte Obersatz") und
dem individuellen Sachverhalt (praemissa minor)". Hopt bezieht sich auf LaTenz
(Anm. 47), S. 228 ff. Das aaO, S. 230, verwendete Gleichheitszeichen ist, da man
den Tatbestand nicht auch als Fall des Sachverhalts betrachten kann, als "E" zu
lesen, d.h. als Ausdruck rur die Elementbeziehung. Der lmplikator wäre ent-
sprechend als Ausdruck rur die Inklusion (kurz "e") aufzufassen. Trotz dieser
Modifikationen kommt kein Schluß auf eine konkrete Rechtsbeziehung zustande.
Wie T, so hätte auch R konkretisiert werden müssen, und zwar nicht irgendwie,
sondern in exakter Entsprechung zur Konkretisierung von T. - Der kritische An-
satz Hopts ist im Ergebnis berechtigt, und er wäre es auch in der Begründung, wenn
tatsächlich dergestalt geschlossen werden könnte, wie die herkömmliche Konzep-
tion des richterliChen Syllogismus dies suggeriert.

88
Axiomatisierbarkeit juristischer Systeme 73

nicht genügend berücksichtigt zu werden s6 • Was die für einen schlüssigen Voll-
zug des richterlichen Syllogismus erforderlichen Prämissen betrifft, so bedarf
es wenigstens einer dritten Prämisse, und diese Prämisse steht den herkömm-
lich anerkannten Prämissen in ihrer logischen Dignität durchaus g1eich s7 .
Auch insoweit also setzen die jeweils einschlägigen Rechtsgebiete, indem sie
ein gewisses Abstraktionsniveau nicht unterschreiten, inhaltliche Komplettie-
rung voraus. Ein System von analytischen Sätzen dergestalt, daß der Prozeß
der Subsumption als ein quasi-logisches oder gar als logisches Verfahren er-
schiene, pflegt nicht zur Verfügung zu stehen.
Es wäre wiederum verfehlt, sich von der Anwendung der axiomatischen Me-
thode die Erftillung einer nicht einmal durch das zu axiomatisierende Gebiet
selbst erftillten Forderung zu versprechen. Abwegig ist namentlich jenes teil-
weise zu Abschreckungszwecken entworfene Bild eines Richter-Computers,
welches die Vorstellung suggeriert, als sei eine lediglich mit allgemeinen
Rechtsnormen sowie mit Sachverhaltsdaten gefütterte elektronische Datenver-
arbeitungsanlage konkrete rechtliche Sollenssätze auszugeben imstande s8 .
Auch diese Vorstellung ist nur vor dem Hintergrund der herkömmlichen Kon-
zeption des richterlichen Schließens zu erklären. Die technische Phantasie
geht ersichtlich über das logisch Realisierbare hinaus.
Erst ein bis auf die Sachverhaltsebene hinunter konkretisiertes Rechtsgebiet
stellt eine lückenlose Regelung dar. Eine solche Vollständigkeit ist weder
durch die fleißigsten Kommentatoren noch durch die speicherungsfähigsten
Rechner erreichbar. Bei welchem Abstraktionsniveau man jeweils stehen
bleiben solle, ist nach Gesichtspunkten der Zweckmäßigkeit zu entscheiden.
Ein wichtiges - wenngleich keineswegs das einzige oder auch das einzig richti-
ge - Kriterium bildet der übergang von der Umgangssprache in die juristische
Fachsprache i.e.S. S9 . Auch die Frage nach dem jeweils angemessenen Konkre-
tionsgrad bildet eines der im Rahmen einer allgemeinen Gesetzgebungs-
theorie zu behandelnden Themen.

56 Das ist verständlich: Es liegt nahe, den Rechtsanwendungsprozeß anhand der rela-
tiv übersichtlichen Anwendung von objektivem Strafrecht zu exemplifizieren
(Vgl. Anm. 52, S. 47 ff.), und strafrechtliche Rechtsfolgen pflegen nicht in der-
selben Weise wie privatrechtliche Rechtsfolgen konkretisiert und in ihrer konkre-
ten Fassung auf entsprechend konkretisierte Tatbestände bezogen zu werden.
57 Einzelheiten finden sich in einer demnächst erscheinenden Schrift betreffend die
Struktur des Rechtsanwendungsprozesses. - Berechtigte Kritik am richterlichen
Syllogismus herkömmlicher Konzeption als einem in der Tat verkürzten Modell
des Rechtsanwendungsprozesses äußert insbesondere Rittner, Verstehen und Aus-
legen als Probleme der Rechtswissenschaft, 1967, S. 53.
58 Mißverständlich insoweit auch Viehweg (Anm. I, § 7 IV, letzter Absatz).
59 Wichtig diesbezüglich namentlich die Analysen Essers (Anm. 2, S. 46 f.); aufschluß-
reich auch Brinckmann, Juristische Fachsprache und Umgangssprache, in: ÖVD 2
(72), S. 60 ff.

89
74 Jürgen Rödig

3.2.2.3 BeweiwoUständigkeit
Logische Kriterien sind weder im Hinblick auf die Breite (3.2.2.1) noch im
Hinblick auf die Tiefe - nämlich auf das Ausmaß der Konkretisierung (3.2.2.2)
- des zu axiomatisierenden Gebiets ausfindig zu machen. Wir können uns
insbesondere auf den Entwurf von sehr kleinen, von sozusagen ,,mikro-axio-
matischen", Systemen beschränken. Gegeben sei die Herleitung eines Satzes
aus anderen Sätzen. Man kann die zuletzt genannten Sätze, also die Prämissen
des Beweises, als die Elemente eines axiomatischen Systems betrachten 60 •
Die Konklusion erscheint als eines der aus den Axiomen herleitbaren Theore-
me. Der gewöhnlich auf das Verhältnis zwischen dem Axiomensystem und
dem zu axiomatisierenden Gebiet abgestellte Begriff der "Vollständigkeit"
läßt sich nunmehr mit Bezug auf die Herleitbarkeit des zu beweisenden Satzes
relativieren: Der Beweis heiße "vollständig", wenn er sämtliche der für die
Herleitung des Satzes erforderlichen Prämissen enthält.
"Vollständigkeit" im Sinne der Beweisvollständigkeit ist ein Gesichtspunkt
ausschließlich logischer Art. Das Gebot der Wahrung dieser Art von "Voll-
ständigkeit" gilt für juristisches Argumentieren uneingeschränkt. Namentlich
begriffsjuristische Gedankengänge sind durch das Fehlen von Prämissen
charakterisiert (2.2.1,3.2.1). Normative Sätze sind durch Rechtsbegriffe
nicht ersetzbar. Auch mithilfe der Berufung auf Rechtsgüter oder gar auf
Interessen sind rechtliche Normen, die man für die Herleitung konkreter Sol-
lenssätze benötigt, nicht zu substituieren. Entscheidungen "aus der Interessen-
lage heraus" stehen insoweit begriffsjuristischen Gedankengängen gleich.
Man sollte sie nicht minder vermeiden wie Begründungen "vom Ergebnis
her" (2.2.1). Es ist ein für die Entwicklung der rechtswjssenschaftlichen Me-
thodenlehre bemerkenswertes Faktum, daß sich selbst führende Autoren zum
Zweck, die Begrenztheit des Wertes deduktiver Verfahren zu demonstrieren,
auf das Phänomen des "Vorverständnisses" berufen 61 • Hinsichtlich des logi-
schen Aspekts des "Vorverständnisses" ist zweierlei zu sagen. Erstens. Ist ein
Rechtsgebiet erst im Sinne von entweder so oder so verstandenen Normen
der Anwendung auf Sachverhalte fähig, so stellt das Rechtsgebiet weder einen
im Sinn der vertikalen Vollständigkeit (3.2.2.2) noch im Sinn der Beweisvoll-
ständigkeit "vollständigen" Inbegriff von Rechtssätzen dar. Eine der Bedin-
gungen für logisch korrekte Deduktionen ist nicht erfüllt. Zweitens. Eines der
zwecks Vervollständigung angewendeten Mittel kann die Ermittlung der von
den Gesetzesverfassem, ein anderes Mittel kann die Berücksichtigung der von
dem Gesetzesinterpreten subintelligierten Gesichtspunkte sein. Das neuere
Schrifttum betont interessanterweise GeSichtspunkte der zuletzt genannten
Art. Um was für Gesichtspunkte es sich nun immer handle, so haben wir es

60 Vgl. insofern auch Klug (Anm. 52), S. 175.


61 Treffend BrincklT/llnn (Anm. 59, Fn. 37) im Hinblick auf Efifier (Anm. 2), S. 101 f.

90
Axiomatisierbarkeit juristischer Systeme 75

doch jedenfalls mit Elementen der Begründung rechtlicher Normen oder auch
konkreter Sollensurteile, folglich mit Elementen von andernfalls unvollständi-
gen Beweisen zu tun. Die Vervollständigung von Beweisen ist Erflillung einer
logischen Notwendigkeit, und die Erflillung logischer Notwendigkeiten ist
kaum das richtige Mittel, das Bestehen derartiger Notwendigkeiten infrage zu
stellen.
Auch mit der Berufung auf Topik ist nur scheinbar eine Alternative zur axio-
matischen Methode gewonnen. Lassen wir einmal unsinnige wie sinnlose 62
Topoi außer acht, ebenfalls solche Topoi, welche lediglich in (weder wahren
noch falschen, vielmehr erst als Bestandteile von Gedanken bzw. Sätzen rele-
vanten) Begriffen bestehen. Dann ist betreffs des dem Topos zukommenden
Aussagegehalts danach zu unterscheiden, ob die Aussage sachlich informiert
oder aber tautologisch ist. Der tautologische Topos ist als Inhalt eines logi-
schen Axioms oder als Grundlage einer Folgerung (2.1, 2.2.1) verwendbar.
Der sachlich informierende Topos liegt demgegenüber entweder neben der
Sache, d.h. es kommt auf gerade diese Information im Rahmen gerade dieses
Begründungszusammenhanges nicht an. Oder aber der Topos ist die Begrün-
dung zu ermöglichen oder auch abzusichern geeignet. Dann handelt es sich
wiederum um ein Mittel zur Vervollständigung von andernfalls lückenhaften
Deduktionen.
Auf einer offenbar unrichtigen Sicht der axiomatischen Methode würde insbe-
sondere die Kontrastic~rung axiomatischer Systeme mit sogenannten "beweg-
lichen" Systemen beruhen. Der Vorteilhaftigkeit "beweglicher Systeme"
redet namentlich Wilburg in seiner Grazer Rektoratsrede vom 22. November
195063 das Wort. Wilburg legt anhand mehrerer "Grundsätze" wie beispiels-
weise des konkursrechtlichen Grundsatzes der Gleichheit pfandloser Gläubi-
ger 64 dar, es seien derartige Grundsätze uneingeschränkt kaum einmal anzuer-
kennen. Sie seien vielmehr der Relativierung durch weitere Gesichtspunkte be-
dürftig, und sogar das Verhältnis jeweils mehrerer Gesichtspunkte sei, wie
Wilburg am Beispiel des Schadensrechts ("des Nervenzentrums des Privat-
rechts,,6S) demonstriert, elastisch zu gestalten. Die Haltlosigkeit uneinge-
schränkt geltender Grundsätze macht Wilburg insbesondere anhand ihrer Kon-
sequenzen plausibel. Ein durchaus axiomatisches Verfahren: Die Haltbarkeit
eines Rechtssatzes läßt sich nicht besser prüfen als dadurch, daß man den Satz

62 Als Sonderfall eines sinnlosen, nämlich keinen - wahren oder falschen - Aussage-
gehalt besitzenden Topos' soll hier auch die Ausdrucksform der Frage gelten;
hinsichtlich der Bedeutung der Frage für die Präzisierung des Begriffs des Topos'
vgl. Rödig (Anm. 21), § 9. 2.
63 Entwicklung eines beweglichen Systems im bürgerlichen Recht, 1950.
64 Vgl. Anm. 63, S. 6 ff.; ferner ders., Gläubigerordnung und Wertverfolgung, in: Jur.
Blätter, 1949, S. 29 ff.
65 Anm. 63, S. 11.

91
76 Jürgen Rödig

als Axiom einfUhrt und aus diesem Axiom auf offensichtlich untragbare Theo-
reme oder auch auf Widersprüche zu anderen Sätzen schließt, von denen vor-
ausgesetzt worden ist, daß sie keine Einschränkungen erleiden sollen. Ob man
einen Rechtssatz einschränkungslos anerkennt oder nicht, hat nach alle dem
mit der Frage, ob man den Rechtssatz als Axiom auftreten lassen solle, nicht
das Geringste zu tun. Der von Viehweg verwendete Begriff des "Axioms" ist
nicht der Begriff "des Axioms" im Sinn der zeitgenössischen, namentlich
durch die Lehre David Hilbert's66 geprägten, axiomatischen Methode. Nur mit-
hilfe der Verwendung vor-Hilbertscher Vorstellungen ist es Viehweg gelungen,
den Juristen gegenüber axiomatischen Systemen mißtrauisch werden und
"bewegliche Systeme" als Beispiele einer anderen als der axiomatischen Form
des juristischen Denkens erscheinen zu lassen.
Die Beweglichkeit eines Systems kann sowohl auf der Möglichkeit der Hinzu-
fügung als auch auf der Möglichkeit der Streichung als auch auf der Möglich-
keit der Ersetzung von Axiomen 1urch andere beruhen. Beweglich pflegt inso-
fern insbesondere jedes System von Rechtsanwendungsprozessen zu sein. Die
im Rahmen von Rechtsanwendungsprozessen verwendeten Sätze stellen teil-
weise Sachverhaltsbeschreibungen dar, und derartige Beschreibungen sind von
Fall zu Fall verschieden. Gerade anläßlich der Rechtsanwendung tut man ~t,
auf "Vollständigkeit" im Sinne der Beweisvollständigkeit zu achten. Die her-
kömmliche - dreigliedrige - Konzeption des richterlichen Syllogismus ist,
wie bereits erwähnt (3.2.2.2), die Konzeption eines infolge der Unvollständig-
keit der Prämissen unzulässigen Schlusses. Ein unbewegliches System von
Rechtsanwendungsprozessen, beispielsweise ein unbewegliches System für die
Anwendung des Strafrechts, müßte die Beschreibung sämtlicher einschlägiger
Sachverhalte, in unserm Beispiel also die Beschreibung sämtlicher vergangener,
gegenwärtiger und zukünftiger Straftaten, enthalten. Niemand kommt auf die
Idee, ein derartiges System zu fordern. Es ist vielmehr eine Selbstverständlich-
keit, daß man die Menge der für das zu beweisende Urteil erforderlichen nor-
mativen und faktischen Ausgangssätze verschieden bestimmt. Der QJalität
dieser Sätze als Axiome tut das keinen Abbruch, und es ist für den herkömm-
lichen juristischen Gebrauch des Begriffs ,,Axiom" charakteristisch, daß man
den Terminus auf generelle normative Sätze beschränkt, den Terminus also
weder für Sachverhaltsbeschreibungen noch für solche Rechtssätze verwen-
det, die bereits in Richtung der zu subsumierenden Sachverhalte konkretisiert
worden sind.

3.3 Unabhängigkeit
Das Kriterium der Unabhängigkeit von Axiomensystemen wird gewöhnlich
folgendermaßen formuliert: Ein Axiomensystem heiße unabhängig gen au
66 Bahnbrechend insoweit der 1923 gehaltene Vortrag über ,,Die logischen Grund-
lagen der Mathematik", teilweise abgedruckt bei Bocheluki, Formale Logik, 2.
Aufl:, 1962, § 38.28.

92
Axiomatisierbarkeit juristischer Systeme 77

dann, wenn keines der Axiome von den übrigen deduziert werden kann. Die
mit dem Ausdruck "Unabhängigkeit" gemeinte Eigenschaft von Axiomen-
systemen ist indessen einer schärferen Fassung bedürftig. Möglicherweise stellt
ein Axiom die konjunktive Verknüpfung zweier elementarer Sätze dar, und es
folgt gerade einer dieser Sätze aus den übrigen Axiomen. Daher wird, was die
Unabhängigkeit von Axiomensystemen betrifft, allgemein zu fordern sein, daß
sich jeweils weder ein Axiom noch eine abgeschwächte - wenngleich noch
informative - Fassung des Axioms aus den übrigen Axiomen herleiten lasse.
Um eine Frage der Unabhängigkeit würde es sich beispielsweise handeln, wenn
der Verfasser eines Lehrbuchs des Sachenrechts betreffs der Vorschrift des
§ 946 BGB behauptete, diese Bestimmung sei eigentlich überflüssig; der In-
halt der Vorschrift sei bereits in den §§ 93 f. BGB enthalten. Für die Güte des
Lehrbuchs würde diese Bemerkung nicht sprechen. Jedoch auf den sachenrecht-
lichen Aspekt des Beispiels kommt es an dieser Stelle nicht an. Mit dem Er-
fordernis der Unabhängigkeit von Axiomensystemen ist die Erfassung des
Inhalts des zu axiomatisierenden Gebiets mithilfe einer möglichst kleinen Men-
ge möglichst knapper Sätze gemeint. Es handelt sich im Grunde um die For-
mulierung des Prinzips der axiomatischen Methode überhaupt (2.1). Gleich-
wohl braucht eine strenge Beachtung des Unabhängigkeits-Erfordernisses nicht
wünschenswert zu sein. Es kann vielmehr naheliegen, aus mnemotechnischen
oder ähnlichen Gründen in beschränktem Umfang auch solche Sätze als
Axiome anzusehen, deren Inhalt sich zumindest teilweise aus anderen - be-
reits als Axiome anerkannten - Sätzen ergibt. Würde man beispielsweise bei
der Setzung eines Rechtsgebiets mehrere Fassungen unterscheiden, und zwar
eine streng axiomatische, eine automationsgerechte sowie eine eher volkstüm·
liche Fassung67 , so könnten sich hinsichtlich der zuletzt genannten Version
Wiederholungen um der Verdeutlichung von Zusammenhängen willen durch-
aus als zweckmäßig erweisen.

4. TRANSFORMATION VON RECHTSSÄTZEN IN NORMEN


4.1 Tücken paragraphenweiser Fonnalisierung
Sowohl die Gliederung der ein Gebiet abbildenden Sätze in Axiome und
Theoreme (2) als auch die Anforderungen, welche man an Axiomensysteme

67 Auch ein Gesetz wie das BGB stellt keineswegs die geeignete Form eines Rechts-
lesebuchs dar. Ein derartiges Lesebuch würde nicht minder zweckmäßig sein als
eine - selbstverständlich nicht jedermann verständliche - axiomatisierte Version
des Gesetzes. Zweckmäßig wäre es, für sämtliche dieser Versionen zu sorgen; als
die maßgebliche würde man vermutlich eine umgangssprachlich axiomatisierte
Fassung anzusehen haben. Das "Verständlichkeitsproblem" (oben 1) wäre auf
diese Weise ohne Verlust an Exaktheit gelöst.

93
78 Jürgen Rödig

zu stellen pflegt (3), sind flir den praktizierenden Juristen durchaus selbstver-
ständliche Dinge. Die gegen die Anwendung der axiomatischen Methode vor-
getragenen Angriffe sind, sofern man sie genauer. betrach tet, gegen eine ande-
re als gegen die "axiomatische Methode" im Sinn der zeitgenössischen mathe-
matischen Logik gerichtet. Insbesondere der richterliche Syllogismus, der als
hauptsächliches Objekt jener Angriffe figuriert, ist ein purer Pappkamerad:
lierade der richterliche Syllogismus hält so, wie man ihn herkömmlicherweise
versteht, den Anforderungen moderner Logik nicht stand. Eine Kritik von
logisch korrekten Modellen juristischen Denkens wäre selbst den scharfsinnig-
sten Trägern der neueren juristischen Methodenlehre nur schwerlich geglückt.
Dankbarere Objekte rechtsmethodologischen Scharfsinns sind demgegenüber
gewisse Probleme der exakten Realisierung juristischer Axiomensysteme. So
selbstverständlich es ist, die axiomatische Methode im Prinzip zu befolgen,
ebenso mühsam ist ihre Durchflihrung im Detail. Es liegt natürlich nahe, sich
sowohl an der Sprache als auch an der inneren Ordnung gegebener Gesetzes-
werke zu orientieren. In zahlreichen Lehrbüchern der modernen Logik 68 wer-
den Beispiele flir die Formalisierung umgangssprachlicher Sätze gebracht,
und man freut sich schon darauf, die in den einzelnen Paragraphen rechtlicher
Kodifikate enthaltenen Vorschriften Satz für Satz in eine symbolische Fassung
zu versetzen. Lohn dieser Arbeit scheint die Möglichkeit zu sein, nunmehr
auch mit rechtlichen Vorschriften rechnen zu können, und zwar rechnen zu
können ähnlich wie mit den natürlichen Zahlen oder - genauer - wie mit
Guiseppe Peanos Axiomen flir die Theorie der natürlichen Zahlen 69 •
Fangen wir an mit § 1 BGB. Die Rechtsfahigkeit des Menschen beginnt nach
dieser Bestimmung ,,mit der Vollendung der Geburt". Was die logische Struk-
tur der Vorschrift betrifft, sagt Heller: "Als gesetzlichen Tatbestand haben wir
hier die Vollendung der Geburt, als Rechtsfolge den Eintritt der RechtsHthig-
keil. Im Hinblick darauf, daß jeder Mensch mit der Vollendung seiner Geburt
nach unserem geltenden Recht rechtsfahig wird, kann gesetzt werden:
TB ~ Rf. Andererseits ist man aber auch berechtigt, zu setzen: TB => Rf, da ein
nasciturus noch nicht im Voll sinne rechtsfahig ist. Da mithin in beiden Rich-
tungen eine Implikationsbeziehung besteht, haben wir hier eine Äquivalenz
vor uns: TB +> Rf' (Logik und Axiologie der analogen Rechtsanwendung, 1961,
S.60).
Sowohl die Vollendung der Geburt als auch das Erlangen der Rechtsfahigkeit
sind offenbar auf menschliche Personen, und zwar auf jeweils eine und die-
selbe natürliche Person, zu beziehen. Der Zusammenhang von Geburt und
Rechtsfahigkeit wird ferner nicht etwa nur hinsichtlich dieser oder jener be-

68 Lehrreich insoweit namentlich Anm. 19, S. 91 ff.


69 Vgl. diesbezüglich Hermes, Einführung in die mathematische Logik, 2. Aufl.,.,
1969, S. 13 f. und S. 20 f.

94
Axiomatisierbarkeit juristischer Systeme 79

stimmten natürlichen Person, vielmehr hinsichtlich sämtlicher der zu einer


Rechtsgemeinschaft gehörenden Rechtsgenossen behauptet. Es bedarf daher
ferner der Ersetzung der materialen Äquivalenz
(20) ,,(Tb +> Rf)"
durch eine formale. Es sei "p" eine Variable mit der Menge der Namen sämt-
licher Rechtsgenossen als Wertbereich. "Gb 1(.)" bezeichne die Eigenschaft,
die Geburt vollendet zu haben, "Rgl(.)" die Eigenschaft, rechtsfähig zu sein.
Dann ist man versucht, (20) wie folgt mithilfe einer formalen Äquivalenz zu
reparieren:
(21) ,,'<1 P (Gb 1(p) +> Rg1(p»".
Jedoch Formel (21) ist, wie man anband jedes zwar geborenen, jedoch auch
schon verstorbenen Rechtsgenossen erkennt, widerlegbar 70. Richtig ist nur
(22) ,,'<1 P (Rg1(p) ~ Gb1(p»",
doch von der in (22) enthaltenen Information wird man bei der Entscheidung
aktueller Rechtsfälle absehen können.
Von erheblicher Bedeutung für eine adäquate Formalisierung rechtlicher
Sätze ist der auch im einschlägigen Schrifttum stark vernachlässigte Gesichts-
punkt der Zeit. Es liegt nahe, die soeben behandelten Prädikate "Gb 1(.)" und
"Rgl(.)" wie folgt durch den Bezug auf bestimmte Zeitpunkte (die entspre-
chende Variable laute "z") zu relativieren. "Gbl(.y' geht über in das 2-stellige
Prädikat "Gb 2(. , .. )" als den objektsprachlichen Namen für die 2-stellige
Beziehung, daß das an der Stelle . unbestimmt genannte Individuum zu dem
an der Stelle .. unbestimmt genannten Zeitpunkt die Geburt vollendet. Ähn-
lich wird "Rgl (.)" in "Rg2( . , .. )" transformiert: Erlangung der Rechtsfähig-
keit durch . zum Zeitpunkt .. . Mithilfe der soeben entwickelten Prädikate
ist § 1 BGB nun aber in der Tat als eine formale Äquivalenz formulierbar:
(23) ,:~p '<Iz (Gb 2 (p, z) +> Rg2(p, z»".
Formel (23) ist, wie man sieht, auf der Basis eines mehrsortigen Prädikaten-
kalküls 71 entwickelt. Verwendet man demgegenüber ausschließlich Variablen
mit jeweils derselben Menge von Konstanten als Wertbereich, so muß erklärt
werden, daß es sich bei dem jeweils ersten Element des (geordneten) Paares
,,(p, z)" um die Andeutung des Namens einer natürlichen Person (,,Pe l (.)"),
beim zweiten Element um die Andeutung des Namens eines Zeitpunktes
("Zpl (.)") handelt.

70 Mißverständlich insoweit auch Anm. 52, S. 42.


71 Siehe Hilbert-Ackermann, Grundzüge der theoretischen Logik, 4. Aufl., 1959,
S.117.

95
80 Jürgen Rödig

Die Fonnellautet dann:


(24) "V p 'v' z ((pel(p) 1\ Zpl(Z» -+ (Gb 2(p, z) .... Rg2(p, z»)".
Bereits aus dem soeben diskutierten Beispiel kann man ein rur die moderne
Logik charakteristisches Faktum ersehen. Es gibt gar nicht "die logische
Struktur" von Sätzen, insbesondere nicht "die logische Struktur" von Rechts-
sätzen, von welcher etwa Esser 72 spricht. Was die linguistische Analyse um-
gangssprachlicher Ausdrücke betrifft, so mag eine Verabsolutierung von Struk-
turelementen in gewissem Umfang gerechtfertigt sein. Wie man einen Satz
dagegen logischerweise zerlegt, ob man namentlich ausschließlich einfache
Terme oder auch zusammengesetzte Tenne 73, ob man O-stellige Prädikate
(= Aussagen), I-stellige oder mehrsteIlige Prädikate usf. verwendet: alle diese
Vorgehensweisen gelten logisch gleich, und rur welches Verfahren man sich
entscheidet, ist allein durch Gesichtspunkte der Zweckmäßigkeit detenninier-
bar. Es besteht insbesondere keinerlei logische Notwendigkeit, normative
Sätze in jeweils eine nonnative sowie eine faktische Komponente zu gliedern,
wie das - auf eine etwas mißverständliche Weise - im zeitgenössischen nonn-
logischen Schrifttum 74 gerne geschieht: Die Gesolltheit des durch "A" be-
schriebenen Verhaltens mag durch ,,!A" gekennzeichnet werden (ist ,,!" als
Anwendung eines Prädikats auf eine Aussage zu interpretieren? ); nicht min-
der berechtigt wäre "Gb o " sowie vor allem die Zuordnung des l-stellig konzi-
pierten Prädikats der Gebotenbeit ("Gb 1 (.)") auf ein (nach Belieben vermit-
teis eines zusammengesetzten Tenns näher zu charakterisierendes) Verhalten
ve:
"Gb 1 (ve )".
Grenzen der Beliebigkeit der logischen Strukturierung des zu fonnalisierenden
Satzes ergeben sich namentlich im Hinblick auf die Einbettung des Satzes in
ein funktionierendes System solcher Sätze. So könnte es beispielsweise un-
zweckmäßig (wenngleich nicht "unlogisch") sein, entsprechende Prädikate
im Rahmen mancher Rechtssätze durch den Bezug auf Zeitpunkte zu relati-
vieren, in anderen nicht; die rur die Herleitung zahlreicher Theoreme erfor-
derliche strukturelle Kongruenz der Prämissen ginge unweigerlich verloren.
Mit dieser überlegung sind wir zugleich auf den zentralen Gesichtspunkt ge-
stoßen.
Strukturelle Kongruenz der Prämissen ist nur unter dem Aspekt der Makro-
sturktur der ein Rechtsgebiet abbildenden Sätze erreichbar. Die Struktur des
einzelnen Rechtssatzes, dessen "Mikrostruktur" sozusagen, ist anband der rur

72 Anm. 2, S. 102.
73 Hinsichtlich der Eliminierbarkeit von mehr als o-stelligen Funktoren vgl. Anm.
69, S. 49.
74 Hierzu Rödig (Anm. 2), II 2.1.

96
Axiomatisierbarkeit juristischer Systeme 81

die Makrostruktur maßgebenden Gesichtspunkte zu bestimmen. Es handelt


sich insoweit nicht allein um logische Stilistik, also beispielsweise darum, ob
man eine Beziehung durch ein 2- oder ein mehr als 2-stelliges Prädikat erfaßt.
Es handelt sich vor allem um die für die Konsistenz eines Satzsystems ent-
scheidende logische Verträglichkeit der dazu gehörenden Sätze. Gerade inso-
weit ist die paragraphenweise Formalisierung größtes Unheil anzurichten im-
stande:
Schreibers 7S Formalisierung des § 812 Abs. I S. I BGB, die bereits in anderem
Zusammenhang und unter weiteren Aspekten zu diskutieren war 76 , lautet wie
folgt:
(25) ,,{ G (x, y, w)" --, N [G (x, y, w)]} ~ N [H (y, x, w)] "
Zu lesen: "Gelangt ein Wert w von einer Person x zu einer andern Person y
und ist es nicht rechtens, daß w von x zu y gelangt, so ist es rechtens, daß y
dem x w herausgibt." In Anlehnung an Schreibers Symbolismus formulieren
wir § 814 BGB (mit "VrS14 (. , .. , ... )" rur den Tatbestand des § 814 BGB):
(26) "VrS14(x, y, w) ~ -, N [H (y, x,w)]"
Angenommen nunmehr ein Fall, der sowohl die Voraussetzungen des § 812
Abs. I S. 1 als auch die des § 814 BGB erfüllt:
(27) "G (a, b, c) 1\ --, N [G (a, b, c)] " VrS14(a, b, c)"
Aus (27) folgt durch Abschwächung eine aus den beiden ersten Konjunktions-
gliedern bestehende Konjunktion; aus der Individualisierung von (25) ergibt
sich mittels Anwendung des modus ponendo ponens
(28) "N [H (b, a, c)]"
Aus (27) folgt ferner durch Abschwächung das letzte Konjunktionsglied allein;
diesmal ergibt sich mithilfe der Individualisierung von (26)
(29) ,,--' N [H (b, a, c)]"
Aus (28) und (29) ist auf beliebige Sätze zu schließen; die Vorschriften der
§§ 812 Abs. 1 S. 1,814 BGB wären insbesondere sich selbst zu widerlegen in
der Lage.

75 Vgl. Anm. 41, S. 28 f.


76 Logische Struktur von Normensystemen am Beispiel der Rechtsordnung, hrsg. v.
Rave, Brinckmann und Grimmer, 1971, S. 25 Cf.

97
82 Jürgen Rödig

Angreifbar ist auch folgende Fonnalisierung des § 263 Abs. 1 StGB, die Hasse-
mer in seiner gedankenreichen Studie über "Tatbestand und Typus" (1968)
im Anschluß an den Vorgang Schreibers notiert:
. .
:J A
(30) "Vft (x) V EwT (x) V UwT (x) j J Vsch Vors (x) Arw Vv (x) A
j Rf (x)"
Zu lesen: "Wenn durch Vorspiegelung falscher (Vft) oder durch Entstellung
(EwT) oder Unterdrückung wahrer Tatsachen (UwT) seitens eines Individuums
(x) ein Irrtum (J) entsteht, woraus sich ein Vermögensschaden (Vseh) ergibt,
und wenn bei diesem Individuum Vorsatz (Vors) und Absicht auf einen rechts-
widrigen Vennögensvorteil (Arw Vv) vorliegen, dann gilt für dieses Individuum
die Rechtsfolge (Rf)" (S. 26 ff.)77.
Eine - nicht bereits bei Schreiber anzutreffende - Besonderheit liegt in der
Unterlassung der Relativierung von "J" und "Vseh" durch "x". Sei "pe" ein
Element des Wertbereichs von "x", also der Name einer als Betrüger infrage
kommenden Person. Dann läßt sich (30) entweder nicht im Hinblick darauf
konkretisieren, daß beispielsweise gerade dieser Täter - also pe - gerade
diesen Schaden angerichtet hat. Oder aber es besitzt "Vseh" von vornherein
diesen konkreten Inhalt; dann ist die Fonnel als allgemeine Fonnulierung einer
strafrechtlichen Nonn nicht zu gebrauchen. Jedoch auch eine insoweit korri-
gierte Version der Fonnel bringt uns nicht weiter. Die Verhaltensweise von
pe sei etwa insgesamt durch Notwehr gedeckt. Was diesen Fall betrifft, so darf
erneut von einer die betreffende Rechtsfolge verneinenden generellen Rechts-
nonn ausgegangen werden. Wie anläßlich von Schreibers Fonnalisierung des
§ 812 Abs. 1 S. 1 BGB ist auch diesmal ein Widerspruch konstruierbar 78.

4.2 Rechtssatzkollision und ReaIisationszusammenhang


Die Vorschriften der §§ 812 Abs. 1 S. 1 BGB und 263 Abs. 1 StGB sind so,
wie ihre Verfasser sie hingeschrieben haben, gar nicht gemeint. Die Gesetzes-
verfasser haben mit diesen sowie den sie jeweils umgebenden Bestimmungen
zwar eine bestimmte Regelung treffen wollen. Sie haben sich jedoch zu diesem

77 Ein nicht mit räumlichen Schwierigkeiten verbundenes Verfahren der Verwendung


von Punkten fmdet sich beispielsweise bei Asser, Einftihrung in die mathematische
Logik 1,2. Aufl., 1965, S. 14 ff.
78 Was die von Hassemer aaO., S. 27, Fn. 35, diskutierten Fälle betrifft, daß der Tä-
ter nicht gefaßt wird oder ein Fehlurteil ergeht, so kann die den Rechtssatz aus-
drückende (formale) Implikation nicht unrichtig werden: Das Implikat beschreibt
die Gesolltheit der Bestrafung ("ist zu bestrafen "), nicht ihren faktischen Eintritt.
Also wird das Implikat auch nicht durch faktischen Nichteintritt der Bestrafung
widerlegt. Auf den ontischen oder auch deontischen Charakter der Implikation als
solcher kommt es nicht an.

98
Axiomatisierbarkeit juristischer Systeme 83

Zweck zugleich bestimmter Techniken bedient. Eine dieser Techniken ist das
schwerlich zu Recht als "Prinzip" bezeichnete Regel-Ausnahme-Prinzip. ins-
besondere mit der Anwendung des Regel-Ausnahme-Prinzips ist die Formulie-
rung von miteinander kollidierenden Rechtssätzen verbunden. Die Anwen-
dung der Rechtssätze setzt die Behebung von Rechtssatzkollisionen voraus.
Die Rechtssätze sind, mit andern Worten, in die tatsächlich gemeinten Nor-
men zu transformieren, und erst diese Normen sind jeweils nach und nach in
Richtung des aktuellen Sachverhalts, auf den sie angewendet werden sollen,
zu konkretisieren.
Man kann je nach der Anzahl der in Normen zu transformierenden Rechtssätze
verschiedenstellige Rechtssatzkollisionen unterscheiden. 2- oder mehrsteIlige
Rechtssatzkollisionen bilden Fälle der herkömmlich so genannten "Gesetzes-
konkurrenz ". Bei }-stelligen Rechtssatzkollisionen haben wir es mit den Ver-
fahren schlichter Auslegung oder auch der - mit der analogen Rechtsanwen-
dung korrespondierenden - Restriktion von Rechtssätzen zu tun. Was die
analoge Rechtsanwendung betrifft, so wäre die Kategorie der Rechtssatzkolli-
sion in Richtung O-stelliger Kollisionen zu extrapolieren. Der Akt des Ver-
stehens (bzw. des Vorverstehens) eines KodifIkats ist nach alledem - zunächst
überraschenderweise - mit der Behebung von Rechtssatzkollisionen äquiva-
lent.
Die systematische Erfassung der Rechtssatzkollision hat bis in das neueste
Schrifttum hinein unter der Verquickung mit einem prinzipiell anderen, wenn
auch im Ergebnis mitunter gleichfalls zur "Nichtanwendung" von Rechts-
sätzen führenden, Verfahren gelitten. Es handelt sich um die Behandlung
solcher, jeweils bereits konkretisierter, Normen, hinsichtlich deren die Erfül-
lung der Rechtsfolge der einen Norm den Wegfall des Tatbestandes der andern
bewirkt. Ein Beispiel bildet der im Zusammenhang mit der Unterscheidung
zwischen materiellem und prozessualem Anspruch gern behandelte sogenann-
te "Straßenbahnfall"79. Wird ein Fahrgast aufgrund eines durch den Straßen-
bahnführer verursachten Unfalls verletzt, so kann der Fahrgast Ersatz seines
Schadens u.a. unter dem Gesichtspunkt der Vertragsverletzung verlangen. Die
Leistung des Ersatzes hat nun aber den Wegfall des Schadens, mithin zugleich
den Wegfall eines Merkmals des Tatbestandes eines mithilfe des privaten
Deliktsrechts (oder auch des Rechts der Gefährdungshaftung) zu begründenden
Anspruchs, zur Folge. Das zuletzt beschriebene Verhältnis jeweils mehrerer
Normen sei ,,Realisationszusammenhang" genannt. Normen, zwischen denen
Realisationszusammenhang besteht, brauchen im Gegensatz zu miteinander
kollidierenden Rechtssätzen nicht erst in Normen transformiert zu werden.

79 Siehe etwa die klare Darstellung bei Grunsky, Grundlagen des Verfahrensrechts,
1970, S. 22 ff.

99
84 Jürgen Rödig

Der strukturelle Unterschied zwischen Realisationszusammenhang und Rechts-


satzkollision ist fundamental. Irreftihrenderweise pflegen beide Institute, was
das Privatrecht anbelangt, gleichermaßen unter dem Stichwort "Anspruchs-
konkurrenz" behandelt zu werden 80 .

4.3 Behebung von RechtssatzkoUisionen. Rangverhältnisse


Gegeben seien genau zwei Rechtssätze aus einem und demselben Kodifikat.
Die Abänderungsbedürftigkeit wenigstens eines dieser Rechtssätze kann u.a.
indiziert sein durch die Herleitbarkeit eines Widerspruchs. Die Änderung des
einen oder auch des andern Rechtssatzes kann insbesondere in der Einschrän-
kung des Anwendungsbereichs des einen Satzes zugunsten des Anwendungs-
bereichs des andern Satzes bestehen. Ist der zuletzt genannte Anwendungs-
bereich in dem zuerst genannten Anwendungsbereich als echter Teil ent-
halten, so pflegt von "Spezialität" gesprochen zu werden sl ; man wird zusätz-
lich zu fordern haben, daß die durch die beiden Rechtssätze statuierten Rechts-
folgen miteinander unverträglich sind. Es handelt sich beispielsweise um die
generelle Anordnung der Bestrafung des Diebes. Wer jedoch speziell seinen
Ehegatten bestiehlt, soll straflos bleiben. Der modus der Behebung der Kolli-
sion zwischen beiden Rechtssätzen scheint mit Selbstverständlichkeit die Her-
stellung eines Rangverhältnisses zu sein. Haben die Rechtssätze verschiedenen
Rang, so gibt es zwei Möglichkeiten. Die erste. Der Rang des generellen Satzes
ist höher, mit dem Ergebnis, daß der spezielle Satz niemals zur Anwendung
gelangt. Also muß - zweite Möglichkeit - der spezielle Satz ranghöher sein.
Wiederum ist freilich eine Einschränkung zu machen. Der spezielle Satz ist in-
soweit und auch nur insoweit mit höherem Rang auszustatten, als sich sein
Anwendungsbereich mit dem des generellen Satzes deckt. Normale Diebe
sollen von der dem Ehegatten eingeräumten Rechtswohltat nicht profitieren.
Die Herstellung von Rangverhältnissen ist indessen lediglich dem Anschein
nach so ungefährlich, wie man dies anzunehmen scheint 82 • Es ist zunächst ein
rechtsmethodologisches Bedenken vorzutragen; wieweit es Stich hält, kann
hier dahingestellt bleiben: Soll ein Rechtssatz S2 höheren Rang als ein Rechts-
satz SI besitzen, so muß dies angeordnet werden, und zwar nicht durch ir-
gendeinen, sondern durch einen dritten, die Sätze SI und S2 regierenden Satz
S3'

80 Klärend insoweit auch nicht Georgilldes, Die Anspruchskonkurrenz im Zivilrecht


und Zivilprozeßrecht, 1968, S. 164, § 17 (S. 167 ff.): Die von Georgilldes unter
dem Stichwort "Anspruchsnormenkonkurrenz" behandelten Fälle stellen jeden-
falls großenteils Fälle des Realisationszusammenhangs dar.
81 Grundlegend zu alle dem Klug, Zum Begriff der Gesetzeskonkurrenz, in: ZStW 68
(1956), S. 399 ff.
82 Vgl. Anm. 47, S. 206 bis 209.

100
Axiomatisierbarkeit juristischer Systeme 85

Daß S3 insoweit höher steht, bedarf erneut der Anordnung: S4' usw. -. Ein
regressus ad infinitum scheint nicht auszubleiben 83 . Ein eher praktischer
Einwand hängt damit zusammen, daß man anläßlich der Formulierung des
rangniedrigeren Satzes nicht ausdrücklich anzugeben pflegt, welche rang-
höheren Sätze in der Lage sein sollen, ihn insbesondere unter dem Gesichts-
punkt der Spezialität zu durchbrechen. Man denke nur an die zahlreichen
Zweifelsfragen, mit denen die Gerichte sich im Hinblick auf das Ausmaß der
Einschlägigkeit der §§ 987 ff BGB (Konkurrenz der Regeln des sogenannten
"Eigentiimer-Besitzer-Verhältnisses" mit andern RechtSinstituten) herumzu-
schlagen haben.
Sowohl in rechtsmethodologischer als auch in praktischer Hinsicht unangreif-
bar ist demgegenüber folgender Weg. Der Tatbestand der generellen Vorschrift
wird, ohne daß es der Herstellung eines Rangverhältnisses bedürfte, um ein
weiteres Tatbestandsmerkmal, und zwar um die Negation des für den speziel-
len Tatbestand charakteristischen Kriteriums, ergänzt. Widersprüche sind
nun nicht mehr herleitbar. Es ist ferner explizit gesagt, wieweit die vermittels
des speziellen Rechtssatzes zum Ausdruck gebrachte Einschränkung reicht.
Die auf mehr oder minder wohldefinierte Weise durch "Ausnahmen" durch-
brochene "Regel" hört auf, juristische Energie zu verzehren.
Was die Ergänzung genereller Rechtssätze durch negative Tatbestandsmerk-
male betrifft, so wird allerdings immer wieder der folgende Einwand ins Tref-
fen geführt. Eine derartige Ergänzung habe, so befürchtet man, die Bildung
von Rechtssätzen von einer nicht mehr zu übersehenden Länge zur Folge. So
gelte es beispielsweise hinsichtlich jeder Normierung einer Straftat, jeweils
sämtliche Gesichtspunkte zu berücksichtigen, unter denen sich ein Ausschluß
der Rechtswidrigkeit, ein Ausschluß der Schuldhaftigkeit, ein Strafaus-
schließungsgrund, das Vorliegen eines Prozeßhindernisses usf. ergibt. Auf ähn-
liche Weise bedürften Sätze des materiellen Privatrechts oder auch des mate-
riellen öffentlichen Rechts einer ins Unübersehbare reichenden Ergänzung.
Auch die Erledigung dieses Einwandes läuft auf nichts anderes als auf die Be-
schreibung von Eigenschaften der axiomatischen Methode hinaus. Einen Teil
der "Axiomatik" iwS. bildet, wie bereits erwähnt 84 , die Theorie der Defini-
tion. Die Verwendung von Definitionen ist in der Tat ein probates Mittel,
jeweils charakteristische Gruppen von rechtsbegründenden oder rechtsvernich-
tenden bzw. -einschränkenden Tatbestandselementen auf eine sowohl für die
Leichtigkeit der Rechtsanwendung als auch für den Rechtsunterricht zweck-
mäßige Weise zusammenzufassen. Auch ohne den ausdrücklichen Einsatz von

83 Problematisch insoweit u.a. die Annahme verschiedenrangigen Verfassungsrechts;


vgl. etwa BVerfG 3,225 (siehe allerdings S. 233).
84 Siehe bei Anm. 50.
85 Vgl. Anm. 57, S. 62.

101
86 Jürgen Rödig

Definitionen läßt sich, und zwar mithilfe entsprechender generalisierter Äqui-


valenzen, die gewünschte Übersichtlichkeit erreichen. Wir demonstrieren dieses
Verfahren anhand einiger - bereits in anderen Zusammenhängen unter teil-
weise anderen Gesichtspunkten diskutierter - Formeln ftif das Bestehen eines
Anspruches. Die Allgemeinheit dieser für die axiomatische Entwicklung pri-
vatrechtlicher Systeme charakteristischen Formeln ist, wie man sogleich be-
merkt, von einer prinzipiell anderen Art als die angebliche "Allgemeinheit"
der in herkömmlichen Kodifikaten auftretenden "Allgemeinen Teile". Kenn-
zeichnend ist insbesondere die Orientierung selbst elementarster Sätze an
den durch das objektive Recht jeweils zu begründenden rechtlichen Folgen.
Die Technik einer auf die skizzierte Weise vorgehenden Gesetzgebung wiese in-
soweit Ähnlichkeiten mit der Technik des als ,)ogische" oder auch als "An-
spruchsmethode" bezeichneten Verfahrens der Bearbeitung privatrechtlicher
Fälle86 auf.
Die Variablen "PI" und "P2" stehen für Namen von Rechtsgenossen, "Zl ",
,,zz" und ,,z3" für Namen von Zeitpunkten; "s" steht für den Namen einer
Sache. Es handelt sich also wiederum um einen mehrsortigen Kalkül.
"Fr2 (. , ••)" soU bedeuten, daß . früher als .. geschieht. Der Inhalt ("JN(.)")
der wefteren Prädikate:
JN (,,Hr4 (. , .. , . . . , . . . . )" ) = . kann von .. zum Zeitpunkt ... die
Herausgabe von .... verlangen;
JN (',Er4 = . erwirbt zum Zeitpunkt ... gegenüber
(. , .. , . . . , . . . . )")
das Recht auf Herausgabe von .... ; ähnlich wird der Verlust des
subjektiven Rechts ("V1 4 (. , .. , . . . , . . . . )") erklärt.

86 Vorbildlich insoweit etwa Essers Fälle und Lösungen zum Schuldrecht (1. Aufl.
1963).

102
Axiomatisierbarkeit juristischer Systeme 87

Hinsichtlich des Bestehens eines Anspruchs auf Herausgabe bezüglich eines be·
stimmten Zeitpunkts notieren wir nunmehr:
(40) "Vp, VP2 Vz)Vs(Hr 4 (PI,P2,z),s)+>

+> 3 Zl (--, Fr 2 (z), zd 1\ Er 4 (PI, P2, Z" s)

1\ --,3 Z2 (--, Fr 2 (Z2, zd 1\ --, Fr 2 (z), Z2) 1\

Vl4 (PI, P2, Z2, S))))"87

Diese an Allgemeinheit wohl nicht zu übertreffende, für den Aufbau des


Systems jedoch unerläßliche - nicht etwa bereits aus logischen Gründen rich·
tige, d.h. nicht tautologische - Formel ist jetzt Schritt für Schritt zu konkre-
tisieren. Es möge genau zwei - zusammenfassende - Formen für den Erwerb
der Berechtigung geben, etwa Erwerb aufgrund Vertrages ("Ev 4 { . , .. , . . . ,
.... )") sowie Erwerb aufgrund bereicherungsrechtlicher, deliktischer oder
ähnlicher Haftung ("Eh 4 (. , .. , . . . , . . . . )"). Mit der Einführung dieser ersten
Differenzierung ist zugleich die Notwendigkeit der Einbeziehung einer zweiten
verbunden: Wir dürfen nicht vergessen, daß sich möglicherweise nunmehr auch
die Gründe für einen Verlust der Berechtigung88 verschieden gestalten
("Vv 4 { . , .. , ... , . . . . )" versus "Vh4{ . , .. , ... , .... )"):
(41) ,,'v'PI 'v'P2 'v' Z3 'v's(Hr4 (PI,P2,z),s)+>(3 Zt ('Fr 2

(z), zd 1\ Ev 4 (Pt, P2, Zt, s) " ...., 3 Z2 (...., Fr 2 (Z2, Zt)

1\ -, Fr 2 (Z3, Z2) 1\ V v4 (Pt, P2, z2, s») v 3 Zl (...., Fr 2

(z) , z d 1\ Eh 4 (PI , P2, Zl , s) "...., 3 z2 ( -, Fr 2 (Z2, zd

1\ ...., Fr 2 (z3, Z2) 1\ Vh4 (PI, P2, z2, s»»"

Ein nächster Schritt würde namentlich in der weiteren Konkretisierung der


- bereits im Zusammenhang mit der Unterscheidung der ErwerbsgTünde erst-

87 Annähernd "wörtlich" übersetzt: "Eine Person (Kläger) kann von einer andern
(Beklagter) genau dann zu einem Zeitpunkt Z3 Herausgabe einer Saehe verlangen,
wenn es erstens einen Zeitpunkt Zl gibt, der (jedenfalls!) nicht später als Z3 liegt
und zu welchem der Kläger den Anspruch auf Herausgabe erworben hat, und wenn
es zweitens keinen zwischen Zl und z3 liegenden (oder sich gar mit zl oder z3
deckenden) Zeitpunkt Z2 gibt, zu welchem der Kläger diesen Anspruch verloren
hat." Folgende (elegantere) Übersetzung verdanke ich E. v. Savigny: "PI hat
spätestens zu Zl gegen P2 das Recht auf s erworben und von da an bis Z3 nicht
verloren." Das Zusammenfallen von Zt mit Z) (folglich auch mit z2) ist, wie man
sieht, in Formel (40) berücksichtigt worden.
88 Hinsichtlich der Einordnung der Verjährung als eines Verlustgrundes siehe die vor-
züglichen Ausflihrungen bei Rimmelspacher, Materiellrechtlicher Anspruch und
Streitgegenstandsprobleme im Zivilprozeß, 1970, S. 53 ff.

103
88 Jürgen Rödig

mals konkretisierten - Verlustgründe bestehen89 ; beispielsweise Verlust der


Berechtigung durch übergang auf einen Dritten (insbesondere Abtretung)
oder aber durch deren sogenannten "Untergang", durch ihr "Erlöschen". Die
anläßlich der Diskussion der Ausführungen Hellers und Schreibers behandel-
ten Vorschriften der §§ 1,812 Abs. 1 S. 1 BGB büßen ihre Selbständigkeit
ein: Der Regelungsgehalt von § 1 BGB, sofern man überhaupt von einem
solchen sprechen kann, geht beispielsweise ein in die Konkretisierung von
,,Ev4 ( . , .. , . . . , . . . . )" oder auch von "Eh4 (. , .. , . . . , . . . . )". § 812
Abs. 1 S. 1 BGB wird zur Detaillierung von "Eh4 ( . , .. , . . . , . . . . )" ver-
wendet werden müssen. Was insbesondere die Integrierung von § 812 Abs. 1
S. 1 BGB anbelangt, so ist, wie man sieht, von vornherein für das Ausbleiben
von Widersprüchen gesorgt. Das Erlöschen oder die Abtretung des mittels
Bereicherungsre.:hts begründeten Anspruchs werden ebenso berücksichtigt
("Vh4 ( . , .. , ... , .... )") wie das mithilfe negativer Tatbestandsmerkmale
zu formulierende Nichtentstehen des Anspruchs gemäß § 814 BGB.

s. ZEMENTIERUNGSEFFEKT. Wissenschaftssoziologische Aspekte


Wir befassen uns zum Schluß - anstelle einer Zusammenfassung - mit eini-
gen Gesichtspunkten betreffend die "Wünschbarkeit" einer Axiomatisierung
des Rechts.
Des Rechts? Allein der Klarheit halber sei bemerkt, daß eine Axiomatisierung
der gesamten positiven Rechtsordnung selbst unter der Voraussetzung, daß
man das Abstraktionsniveau der Gesetzessprache allenfalls geringfügig unter-
schreitet, vorläufig nicht infrage kommt. Ob eine solche Axiomatisierung über-
haupt einmal infrage kommt, ist eine zweifellos reizvolle Frage. Gleichwohl
könnte es voreilig sein, auf diese Frage schon heute in entweder diesem oder
jenem Sinn eine abschließende Antwort geben zu wollen.
Vielleicht tut man besser, auch über die Axiomatisierung nur insoweit zu
sprechen, als mit dem Sprechen über die axiomatische Methode Versuche
ihrer Realisierung korrespondieren. Ist die Realisierung einzelner Gebiete ge-
glückt, so ist zu erwägen, ob sie sich in axiomatisierter Fassung kombinieren
lassen usf. Wieweit dieser Prozeß fortgesetzt werden kann oder fortgesetzt
werden sollte, ist, wie gesagt, cura posterior. Was insbesondere die Frage nach
der Wünschbarkeit einer Axiomatisierung rechtlicher Systeme betrifft, so
wollen wir uns auf die Wünschbarkeit einer Axiomatisierung eng begrenzter
Systeme beschränken. Gegen die Wünschbarkeit einer Axiomatisierung pflegt
namentlich die Gefahr einer Zementierung des durch die axiomatische Metho-
de betroffenen Rechtsgebiets eingewendet zu werden. Es genügt, die diesen
Einwand widerlegenden, ihn geradezu als abwegig erscheinen lassenden,
Eigenschaften der axiomatischen Methode zu resurnieren : Mit der Axiomati-

89 Treffend diesbezüglich Henckel, Parteilehre und Streitgegenstand im Zivilprozeß,


1961, S. 260.

104
Axiomatisierbarkeit juristischer Systeme 89

sierung eines Gebiets geht nicht etwa ein Bekenntnis zur Richtigkeit der das
Gebiet abbildenden Sätze Hand in Hand. Man braucht insbesondere die je-
weils als Axiome hervorgehobenen Sätze nicht für richtig oder doch für "rich-
tiger" als andere Sätze zu halten (3.2.2.3). Die für die vor-Hilbertsche Epoche
der Logik vielleicht teilweise zutreffende Konzeption des Axioms als eines
sachlich unerschütterlichen Satzes ist überholt. Der Begriff des ,,Axioms" ist
also erstens inhaltlich zu relativieren. Er ist zweitens der formalen Relativie-
rung bedürftig: Gegeben sei eine - nur aus wahren oder auch aus falschen oder
sogar nur aus falschen Sätzen bestehende - Menge von Sätzen. Dann sind nicht
etwa einige dieser Sätze im vorhinein "grundlegend" in dem Sinn, daß man
partout sie und keine andern als Axiome anzusehen hätte. Als Axiomensystem
ist vielmehr jeder Inbegriff von Sätzen geeignet, der die Herleitung jedes
anderen zum selben Gebiet gehörenden Satzes erlaubt (2.1). Drittens. Sowohl
das umgangssprachliche (2.1) als auch das mittels einer künstlichen Objekt-
sprache (2.2.1) formulierte Axiom ist einer Interpretation nicht nur fähig,
sondern geradezu bedürftig. Gewisse Interpretationen der einschlägigen Prädi-
kate können natürlich die Inadäquatheit des Systems im Hinblick auf das zu
axiomatisierende Gebiet zur Folge haben. Man muß also adäquate Interpre-
tationen zu finden und die logische Struktur des Axiomensystems diesen
Interpretationen gegebenenfalls anzupassen versuchen. Möchte man einige
Prädikate trotz typographischer Gleichförmigkeit an verschiedenen Stellen
ihres Vorkommens verschieden interpretieren, so genügt es, an die Stelle je-
weils eines und nur eines Prädikats entsprechend viele Prädikate zu setzen.
Inhaltlich unproblematisch ist der umgekehrte Fall des Vorkommens mehre-
rer Prädikate trotz Identität ihres Sinnes (3.1.2).
Halten wir daher fest, daß die Anwendung der axiomatischen Methode die
Beweglichkeit des zu axiomatisierenden juristischen Systems auf der einen
Seite nicht stört. Die Beweglichkeit des Systems wird andererseits durch die
Anwendung der axiomatischen Methode sogar gesteigert. Die neuere rechts-
soziologische Forschung 90 hat ihre Wichtigkeit nicht zuletzt durch ihre Kenn-
zeichnung der richterlichen Entscheidungstätigkeit als eines u.a. durch die
Zugehörigkeit des Entscheidenden zu einer bestimmten sozialen Schicht
charakterisierten Verhaltens bewiesen. Als "Einbruchsstellen der Mittel-
schichtswerte in das Richterurteil" werden - mit Recht - Begriffe wie "Treu
und Glauben", "Unzucht" oder "öffentliche Sicherheit" genannt. Weitere
Einbruchsstellen finden sich überall dort, wo der Eindruck erweckt wird, es
werde aus generellen Rechtssätzen nebst den Beschreibungen individueller
Sachverhalte auf konkrete rechtliche Sollensurteile "geschlossen". Derartige
Schlüsse halten weder dem Kriterium der vertikalen Vollständigkeit (3.2.2.2)
noch dem Kriterium der Beweisvollständigkeit (3.2.2.3) stand. Eine logisch
exakte Analyse bringt vielmehr sogleich das Fehlen zusätzlich erforderlicher

90 Überzeugend insoweit namentlich Lautmllnn, Soziologie vor den Toren der


Jurisprudenz, 1971,S. 7SfL

105
90 Jürgen Rödig

Prämissen als Licht. Bereits die Notwendigkeit, diese Prämissen ausdrücklich


zu fonnulieren (man könnte von einern ,,Explizierungszwang" sprechen),
macht sie zu einem erheblich besseren Objekt für Kritik. Das Vorkommen
stillschweigender Prämissen im Rahmen "allgemeiner Rechtsgedanken" oder
gar im Rahmen von Rechtsbegriffen (2.1, 3.2.2.3) hat den Effekt eines diese
Prämissen gegen sachliche Diskussion abschinnenden Panzers. Was beispiels-
weise den immer wieder berufenen Gesichtspunkt der "Rechtssicherheit" an-
geht, so ist es schwer, wenn nicht gar unzumutbar, in abstracto etwas dagegen
zu sagen. Wird Rechtssicherheit demgegenüber in Richtung anwendungsfähiger
Rechtssätze konkretisiert91 , dann könnten sich alsbald nicht minder konkrete
Bedenken ergeben.
Man wird Prämissen, welche bereits ihre Aufdeckung dem logischen Zwang zur
Explizierung verdanken, auf ihre Annehmbarkeit hin zu testen versuchen. Man
wird insbesondere fragen, inwieweit sich diese Sätze mit andem, und zwar
mit relativ verläßlicheren, Sätzen vertragen. Wiederum wird die Prämisse als
Element eines Systems von Axiomen betrachtet, doch diesmal zu einem eher
tückischen Zweck; man untersucht sozusagen, ob überhaupt und gegebenen-
falls in welchem Maß sich die Prämisse in der ihr zugewiesenen Rolle bewährt.
Den Zwang zur Explizierung bekäme aber auch eine solide Technik der Gesetz-
gebung zu spüren. Die in diesem Rahmen typischerweise auftretenden Lücken
sind Fälle horizontaler Unvollständigkeit (3.2.2.1). Mit der logischen Notwen-
digkeit zur Vervollständigung ist gerade diesmal in auffallender Weise ein
Zwang zu inhaltlicher Ergänzung oder auch inhaltlicher Modifikation verbun-
den. Einen ähnlich heuristischen Effekt äußert die axiomatische Methode im
Zusammenhang mit der Behebung von Rechtssatzkollisionen (4.2,4.3).
Bereits der Versuch, und zwar bereits ein heute vielleicht noch so sehr zum
Scheitern verurteilter Versuch der Axiomatisierung der ersten drei Bücher des
BGB, des Wechselrechts oder eines noch begrenzteren Gebiets könnte eine un-
geahnte Mannigfaltigkeit neuartiger rechtsdogmatischer Aspekte ergeben 92 .
Die Arbeit, die getan werden muß, ist immens. Hat die vorliegende Studie
für die Sache, um die es geht, auch nur einen weiteren Mitarbeiter gewonnen,
so hat sie ihre hauptsächliche Absicht erfmIt.

91 Beispiel: Verbrauch der Strafklage gegen einen irrig lediglich wegen unbefugten
Schießens verurteilten Mörders (nach RGSt 70,26 (30 f.».
92 Als problematisch könnte sich beispielsweise die von den Verfassern des BGB
gewählte Konstruktion der Übertragbarkeit eines identischen Anspruchs trotz Ver-
schiedenheit von Zedent und Zessionar erweisen. - Als weitere prOblematische
Kategorie sei die der Unterlassungspflicht genannt; motivierend für die Kritik
dieser Figur (siehe Rödig. Die privatrechtliche Pflicht zur Unterlassung, Rechts-
theorie, 1972, Bd. 1, S. 1 ff.) ist nicht zuletzt der Entwurf eines axio1Tliltischen
Systems für die Theorie der Alternative (Anm. 21, insbes. § 33) gewesen.

106
Ein Kalkül des juristischen Schließens
Rödig, J.: Ein Kalkül des juristischen Schließens (Informatik-Kolleg). Gesellschaft rur Mathe-
matik und Datenverarbeitung. Bann

ÜBERSICHT

4 EIN KALKÜL DES JURISTISCHEN SCHLIESSENS


4.1 Aufbau einer symbolischen Sprache für die Beschreibung juristischer Phänomene
4.1.1 Grammatik der symbolischen Sprache
4.1.1.1 Vorbemerkungen
4.1.1.2 Zugelassene Symbole
4.1.1.3 Zulässige symbolische Reihen
4.1.1.3.1 Symbolische Reihen
4.1.1.3.2 Ausdrücke
4.1.2 Interpretation der symbolischen Sprache
4.1.2.1 Interpretation von atomaren Ausdrücken
4.1.2.2 Interpretation von Ausdrücken, welche sich mithilfe von Junktoren ergeben
4.1.2.3 Interpretation quantifizierter Ausdrücke
4.2 Ableitungsregeln
4.2.1 Folgerungsbeziehung
4.2.2 Die Regeln I Dj (1 .;; i.;; 4)
4.2.3 Junktorenlogisch fundierte Ableitungsregeln
4.2.3.1 Junktorenlogische Allgemeingültigkeit
4.2.3.2 JLiI>
4.2.3.3 Einführung von Annahmen
4.2.3.4 Beseitigung von Annahmen
4.2.3.5 Junktorenlogischer Übergang
4.2.4 Quantorenlogisch fundierte Ableitungsregeln
4.2.4.1 AF SV/SK
4.2.4.2 Beseitigung von Generalisatoren
4.2.4.3 Einführung von Generalisatoren
4.2.4.4 Auswechslung von Quantoren
4.2.4.5 Derivative Regeln
4.3 Anwendungen
4.3.1 Juristische Argumentationstheorie
4.3.2 Deontische Logik
4.3.2.1 Vorbemerkungen
4.3.2.2 Dreiwertigkeit
4.3.2.3 Widerspruchsfreiheit von Normen

107
4 EIN KALKÜL DES JURISTISCHEN SCHLIESSENS

4.1 Aufbau einer symbolischen Sprache für die Beschreibung juristischer


Phänomene

4.1.1 Grammatik der symbolischen Sprache

4.1.1.1 Vorbemerkungen
Weder die juristischen Zeichnungen HECKs (3.2) noch der Symbolismus THEODOR
GEIGERs (3.3) sind juristische Argumentationen berechenbar zu machen geeignet.
Weder auf dieses noch gar auf jenes Spiel mit Zeichen kann man sich in dem Sinn ver-
lassen, daß jeweils dem übergang von gegebenen symbolischen Reihen zu einer wei-
teren symbolischen Reihe der übergang von voraussetzungsgemäß wahren Gedanken
zu einem weiteren wahren Gedanken entspricht (hierzu im allgemeinen schon unter
2.1). Ein auch diese Funktion erfüllendes Zeichenspiel soll nunmehr dargestellt werden.
Es handelt sich um ein System von Ableitungsregeln, bei deren Anwendung vom Inhalt
der Ausdrücke, auf welche sich die Regeln beziehen, abgesehen werden kann. Um ihren
Zweck jedoch zu erfüllen, müssen diese Regeln so beschaffen sein, daß jeder Ausdruck,
den die Regeln aus bestimmten Annahmen abzuleiten gestatten, eine Konsequenz aus
diesen Annahmen ist (',K.orrektheit" oder auch "Zuverlässigkeit" des Ableitungskal-
küls), und es sollte ferner umgekehrt mit jeder Folgerungsbeziehung eine Ableitbar-
keitsbeziehung korrespondieren ("Vollständigkeit" des Kalküls).
Erst auf der Basis einer ihrerseits normierten Sprache kann man auf besagte Weise
operieren. Darum schicken wir dem System der Ableitungsregeln ein System von
Regeln für die Bildung zulässiger Ausdrücke ("Bildungsregeln") voraus. Inwieweit die
Bildungsregeln und inwieweit die Ableitungsregeln zur "Syntax" im engeren Sinn des
Wortes gerechnet werden dürfen, ist eine allenfalls im Hinblick auf die Problematik des
"Syntax"-Begriffs problematische Frage (siehe oben). Was jedenfalls das System der
Bildungsregeln betrifft, so haben wir es mit einem Analogon zur Grammatik natür-
licher Sprachen zu tun, wenn auch vielleicht mit dem zusätzlichen Unterschied, daß
wir zur Charakterisierung der eine zulässige Zeichenreihe bildenden Symbole aus-
schließlich syntaktische Kategorien verwenden.
Im Anschluß an die Angabe der Grammatik der symbolischen Sprache (4.1.1) wer-
den wir diese Sprache auf mengentheoretischer Basis interpretieren (4.1.2). Wir haben
es bei dieser Interpretation mit ,,reiner" Semantik zu tun, und von der - auch fUr die
Gliederung des vorliegenden Buches bestimmenden - Zweckmäßigkeit der Verbin-
dung von reiner Syntax mit einer ihr entsprechenden Semantik ist bereits die Rede
gewesen. Was das System der Ableitungsregeln (4.2) angeht, also der Regeln fUr kal-
külisiertes Schließen, so müßten wir strenggenommen wie bei den Bildungsregeln ver-
fahren, und zwar insbesondere erst nach Angabe eines kompletten Regelsystems mit
dessen logischer Legitimierung beginnen. Wenn wir tatsächlich jeweils bereits die An-
gabe einer einzelnen Ableitungsregel mit der Skizzierung der sie rechtfertigenden

108
Ein Kalkül des juristischen Schließens

logischen Gesetzmäßigkeiten versehen werden, so nur wegen der Knappheit des hier
zur Verfügung stehenden Raumes.
Mit einem in bestimmter Hinsicht berechtigten Mißtrauen wird der Leser der
Formulierung ,,Kalkül des juristischen Schließens" begegnen. Es gibt in Wirklichkeit
nicht das ,juristische" Schließen im Sinne einer Logik besonderer Art, mag die Not-
wendigkeit einer derartigen Logik auch noch in neue ster Zeit von namhaften Rechts-
und Wissenschaftstheoretikern befürwortet werden. Können die von einem Juristen
gezogenen Schlüsse zugleich mithilfe allgemeiner mathematischer Logik gewonnen
werden, so ist die Verwendung des Ausdrucks ,juristisches Schließen" nicht schädlich.
Sind die von einem Juristen gezogenen Schlüsse anderer Art, so sind sie unrichtig. Um
einen "Kalkül des juristischen Schließens" kann es sich nur insoweit handeln, als
man aus der Menge der logisch gültigen Schlußverfahren eine für die Zwecke der
juristischen Praxis taugende Auswahl zu treffen versucht. Nur in diesem Sinn
pflegt ja auch von Kalkülen des "natürlichen" oder auch des ,,mathematischen"
Schließens gesprochen zu werden, und an gerade diese Bezeichnungsweisen lehnen wir
uns bei der Formulierung ,,Kalkül des juristischen Schließens" denn auch an.
Der hier zu beschreibende ,,Kalkül des juristischen Schließens" weist sämtliche Be-
sonderheiten von Kalkülen des "natürlichen" oder auch ,,mathematischen" Schließens
auf; dies wird anläßlich der Darstellung der Ableitungsregeln auszuführen sein. Was be-
reits den Aufbau der symbolischen Sprache betrifft, auf welche sich die Ableitungs-
regeln beziehen, so werden wir beim Versuch der FormaHsierung einer elementaren
Sprache gerade des Rechts die folgenden Gesichtspunkte zu berücksichtigen haben.
Es wird sich erstens um eine prädikatenlogische (einschließlich quantorenlogische)
Kunstsprache handeln müssen, nämlich um eine Sprache, in welcher die Zuordnung
einer n-stelligen Beschaffenheit (einer Eigenschaft oder einer Beziehung) zu n Dingen
explizit beschrieben wird und bei welcher gegebenenfalls die Allgemeinheit solcher
Zuordnung mittels sogenannter "Quantifizierung" von Variablen für Individuennamen
hergestellt werden kann. Je nach den mit einem Ableitungskalkül verfolgten Zwecken
kann es natürlich bei gleichsam nur von außen her betrachteten Aussagen als kleinsten
Trägern von nichtlogischen Inhalten bewenden; in diesem Fall geht die Gliederung
einer Aussage in Namen von Beschaffenheiten und Namen von Dingen aus ihrer Sym-
bolisierung nicht hervor, und ihre Komplexität kann sich allenfalls mithilfe solcher
Operationen ergeben, welche aus bereits gegebenen Aussagen weitere Aussagen erzeu-
gen ("Junktoren"). Für die Erfassung der Rechtssprache wäre eine derartige nur aussa-
genlogische Sprache indessen zu grob; den Richter interessiert, ob gerade gegen diesen
Beklagten eine Verbindlichkeit in dieser oder jener Höhe besteht. Auch mithilfe der
Verwendung von Ausrufungszeichen im Rahmen einer sonst nur aussagenlogischen
Sprache wird man juristischen Belangen nicht gerecht; diesmal ergeben sich zusätzliche
semantische Schwierigkeiten, indem niemand weiß, ob sich die durch das Ausrufungs-
zeichen markierte Gebotenheit auf den Sachverhalt bezieht, dessen Name dem Ausru-
fungszeichen folgt, so daß sich der Name eines sonst isoliert beschriebenen Gedankens
in den Namen eines Dinges verwandelt, oder aber ob das Ausrufungszeichen als inten-
sionaler einstelliger Junktor auf dieselbe Stufe wie beispielsweise der einstellige Nega-
tor gestellt werden muß.
Aus der Struktur des im Wege richterlichen Erkennens zu gewinnenden konkreten
Sollensurteils ergibt sich eine zweite Besonderheit der hier aufzubauenden Sprache. In

109
Jürgen Rödig

dieser Sprache sind nicht nur Variable ftir Namen von Dingen, sondern auch Namen
von Dingen selbst enthalten. In zahlreichen prädikatenlogischen Systemen kommen
derartige "Subjektskonstante" zwar nicht vor, und man kann sie auch mithilfe soge-
nannter Kennzeichnungsoperatoren eliminieren. Das Auftreten von Subjektskonstanten
ist jedoch auf der anderen Seite in logischer Hinsicht keineswegs störend, ja es gestattet
sogar in besonderer Weise den Einblick in die logische Stringenz der später anzugeben-
den quantorenlogischen Ableitungsregeln. Mithilfe von Subjektskonstanten läßt sich
vor allem eine optimale Annäherung formallogischer Operationen an die herkömmliche
Technik des Subsurnierens individueller Sachverhalte unter generelle rechtliche Nor-
men erreichen.
Drittens. Die Einbeziehung von Subjektskonstanten kommt der ,,Natürlichkeit"
unserer prädikatenlogischen Sprache in einer weiteren Hinsicht zugute. Mit dem Auf-
treten von Subjektskonstanten wird nämlich das Ausbleiben echter (Subjekts-)Variablen
korrespondieren. Variable werden zwar bisweilen als "veränderliche Größen" ange-
sehen,jedoch sie besagen in Wirklichkeit nichts. Eine Variable zeigtlediglich an, daß sie
an allen Stellen, an denen sie in typographisch gleicher Weise vorkommt, durch einen
beliebig zu wählenden, nach getroffener Wahl jedoch beizubehaltenden Namen aus
dem Wertbereich der Variablen ersetzt werden kann. Wird eine Variable freilich quanti-
fIziert, indem man beispielsweise "von allen x" behaupten möchte: ,,x ist rechtsfähig",
so durchläuft besagte Behauptung Person ftir Person den gesamten Wertbereich der
Variablen, wobei es wegen des konjunktiven Charakters der aneinandergereihten Ein-
zelaussagen auf die Reihenfolge dieser Aussagen nicht mehr ankommt. Wir haben es mit
einer nur noch "scheinbaren" Variablen zu tun, und auf derartige Variable werden wir
uns bei dem zu entwerfenden prädikatenlogischen Kalkül beschränken. Was wiederum
zur Folge hat, daß die Ausdrücke, welche die Annahmen oder auch die Ergebnisse von
Ableitungen bilden, ausschließlich aus vollständigen Sätzen bestehen. Jeden dieser Aus-
drücke kann man deuten, während umgekehrt jeder Ausdruck, der auch nur eine echte
Variable enthält, einer Deutung prinzipiell unfähig ist. Unsere Ableitungen werden also
schon im Hinblick auf die Ausdrücke, welche den Inhalt der einzelnen Ableitungszei-
chen bilden dürfen, keine sozusagen "semantischen" Unterbrechungen enthalten. Diese
Art von Vollständigkeit wird durch eine weitere ergänzt, indem nämlich der Inhalt
jeder letzten Zeile einer Ableitung als Konsequenz aus ihren Annahmen wird aufge-
faßt werden können. Gerade der in diesem Absatz angeführten Gesichtspunkte wegen
schien eine Anlehnung des hier zu beschreibenden Kalküls des juristischen Schließens
an das von MATES entwickelte prädikatenlogische System zweckmäßig zu sein. Soweit
es sich - wie schon erwähnt - bei diesem Kalkül um einen Kalkül des "natürlichen"
oder auch ,,mathematischen" Schließens handelt, kann auf Arbeiten von GENTZEN,
JASKOWSKI, QUINE, HERMES und GUMM Bezug genommen werden.
Eine äußerliche Besonderheit des Kalküls des juristischen Schließens bildet die Ge-
stalt der Subjekts- sowie der Prädikatenkonstanten (Prädikatenvariable kommen nicht
vor), also die Gestalt der Namen ftir Dinge sowie der Namen ftir Beschaffenheiten von
Dingen. Wir schreiben jeweils zwei lateinische Buchstaben aneinander, und zwar bei
Subjektskonstanten zwei kleine Buchstaben und bei Prädikatenkonstanten erst einen
großen und dann einen kleinen. Auf diese Weise wird nicht nur eine deutliche Unter-
scheidung zwischen Subjektskonstanten einerseits und andererseits Subjektsvariablen
erreicht, ftir welche wir jeweils nur einen kleinen lateinischen Buchstaben Geweils den

110
Ein Kalkül des juristischen Schließens

Anfangsbuchstaben einer entsprechenden Konstanten) verwenden. Die Verbindung je-


weils zweier Buchstaben kommt vor allem mnemotechnisch geeigneten Abkürzungen
zugute. - Setzt sich ein Symbol aus zwei lateinischen Großbuchstaben zusammen, so
handelt es sich durchweg um ein metasprachliches Zeichen, mit dessen Hilfe wir uns
über unsere künstliche prädikatenlogische Sprache - die insofern ihrerseits als Objekt
des Sprechens figuriert: "Objektsprache" - unterhalten.

4.1.1.2 Zugelassene Symbole

Der Aufbau der symbolischen Sprache gliedert sich naheliegenderweise in zwei Schritte.
Wir haben erstens anzugeben, welche einzelnen Symbole vorkommen dürfen, und es ist
zweitens zu regeln, wie man von einzelnen Symbolen zu bestimmten symbolischen
Reihen und von schon zulässig gebildeten symbolischen Reihen zu weiteren symboli-
schen Reihen übergehen darf.
Zugelassene Symbole sind zunächst n-stellige Prädikatenkonstante - kurz: n-stel-
lige Prädikate - von der Gestalt:

"Aa n ", ,,Ab n ,,, ... , "Ban", ""'

nach Bedarf mit unteren Indizes als Unterscheidungszahlen. Zugelassen sind sodann
Subjektskonstante

"aa", "ab", ... , "ba", ...

sowie Subjektsvariable

"a", "b", ... ,

jeweils wiederum nach Bedarf mit unteren Indizes als Unterscheidungszahlen.

Als Junktoren kommen vor:


Negatoren vom Typus ,,1 ",
Disjunktoren vom Typus "v",
intensive Implikatoren vom Typus " +--" ,

-"
extensive Implikatoren vom Typus "--+",
;fquivalentoren vom Typus und
"
Konjunktoren vom Typus ,,/\ ".

Als Quantoren kommen vor:


Generalisatoren der Gestalt ,,/\" und
Partikularisatoren der Gestalt "V" .

Zugelassen sind schließlich darstellungstechnische Symbole, nämlich konvexe Klam-


mern, konkave Klammern und Kommata. Weitere Symbole sind nicht zugelassen, so
daß beispielsweise ein Gebilde wie

111
JÜIgen Rödig

,,/\ VA v0v A V /\",

so achsensymmetrisch es auch ist, schon wegen des die Achse beherbergenden Symbols
,,0" kein Bestandteil unserer symbolischen Sprache zu bilden vermag.
Sofern wir uns über zugelassene Symbole der erwähnten Arten unterhalten, stehen
,,PRn ,,, "PRr", ,,PR~", ... für n-stellige Prädikate, "SK", "SKI ", SK2 ", ... für Sub-
jektskonstante, "SV", "SV I ", "SV 2 ", ... für Subjektsvariable. Junktoren, Quantoren
und darstellungstechnische Symbole fungieren im Verein mit den soeben angegebenen
metasprachlichen Zeichen ebenfalls als metasprachliche Zeichen für die von ihnen nun-
mehr gleichsam bilderschriftlich charakterisierten objektsprachlichen Symbole.

4.1.1.3 Zulässige symbolische Reihen


4.1.1.3.l Symbolische Reihen
Unter einer "symbolischen Reihe" - kurz: "SR" - verstehen wir eine lineare Anein-
anderreihung zugelassener Symbole (4.1.1.2). SR 1 und SR 2 gelten als einander typo-
graphisch gleich - kurz: "SR 1 == SR2 " -, wenn SR 1 und SR 2 dieselbe Länge besitzen
und an den selben Stellen die gleichen Symbole vorkommen. Reiht man SR2 an SR 1 ,
so ergibt sich erneut eine symbolische Reihe; wir sprechen von der "Verkettung" von
SR 1 mit SR2 und notieren kurz "SR 1 SR2 ". Wegen (SR 1 SR2) SR 3 == SR 1 (SR 2SR3 )
sind Klammern entbehrlich.
SR+ liegt in SR - kurz: "SR+ in SR" - offenbar genau dann, wenn SR == SR+
oder es SR 1 , SR 2 gibt dergestalt, daß SR == SR 1 SR+ oder SR == SR+SR2 oder SR ==
SR 1 SR+SR 2 .

4.l.l.3.2 Ausdrücke
Beispiele für symbolische Reihen, die auch aus nur einem zugelassenen Symbol beste-
hen können, sind folgende Gebilde:

"axl7 " '"X a 71 axl7 (( »" , " -+ +-" , " (Yb 1by -+ ZC2cZl, CZ2 )" .

Aus der Menge der symbolischen Reihen heben wir nunmehr die Menge der zuläs-
sigen symbolischen Reihen, und zwar die Menge der Ausdrücke, im Wege eines rekur-
siven Verfahrens hervor:
(a) PRnSK 1 , SK2 , ... , SKn ist ein - "atomarer" - Ausdruck. Für n = 1 brauchen
keine Kommata, für n = 0 auch keine Subjektskonstanten hingeschrieben zu
werden.
(b) Ist SR ein Ausdruck, so ist auch..., SR ein Ausdruck (',Negation").
(c) Sind SR 1 und SR 2 Ausdrücke, so sind auch (SR 1 v SR2), (SR 1 +- SR 2 ), (SR 1 -+
SR 2), (SR 1 # SR2 ) und (SR 1 A SR 2 ) Ausdrücke. Diese Ausdrücke heißen, den
Namen der sie erzeugenden Junktoren (4.1.1.2) entsprechend, ,,Disjunktion", "in-
tensive Implikation", "extensive Implikation", "Äquivalenz" und ,,Konjunktion".
(d) Ist SR ein Ausdruck, so sind auch /\ SV SR sowie V SV SR Ausdrücke, wobei es
jeweils erlaubt (wenngleich nicht erforderlich) ist, irgendwelche SKi mit SKi in SR
durch SV zu ersetzen. /\ SV und V SV heißen "QuantifIkatoren" mit dem Wir-

112
Ein Kalkül des juristischen Schließens

kungsbereich SR. /\ SV SR heißt "Generalisation", V SV SR heißt ,'partikularisa-


tion".
(e) Ist SR weder nach (a) noch nach (b) ... noch nach (d) ein Ausdruck, so ist SR
kein Ausdruck.

Beispiele:
"Un2vet , ve2" ist ein Ausdruck nach (a),
,,-' Un2vet , ve2" ist ein Ausdruck nach (b),
,,(Un2vel' ve2 v -, Un2vel, ve2)" ein Ausdruck nach (c) und
"V v (Un2vel' v v Un 2v, ve2)" ein Ausdruck nach (d).

4.1.2 Interpretation der symbolischen Sprache

4.1.2.1 Interpretation von atomaren Ausdriicken


Unter ,,IN(SR)" werde fortan das Ergebnis der Interpretation einer symbolischen Reihe
mittels einer jeweils zu vereinbarenden, nach getroffener Vereinbarung beizubehalten-
den Interpretation IN verstanden. Als Ergebnis der Interpretation könnten sowohl der
Sinn von SR als auch die Bedeutung von SR (auf den Unterschied zwischen Sinn und
Bedeutung werden wir alsbald einzugehen haben) als auch schließlich die durch SR
erfaßten Dinge, Klassen von Dingen sowie Klassen von Klassen von Dingen (insbeson-
dere sogenannte "Relationen") figurieren. Was die Interpretation eines Eigennamens be-
trifft (symbolische Reihen können, wie erwähnt, aus jeweils nur einem zugelassenen
Symbol bestehen), so liegt es nahe, als ihr Ergebnis ein einzelnes Ding selbst zu be-
trachten, also ein "Individuum" im logischen Sinn. Man spricht hinsichtlich dieses
Dinges auch vom ,,Designatum" des Symbols. Welches Designatum indessen einer Aus-
sage entspricht, ist offenbar weit problematischer zu entscheiden. Anders als das
psychophysische Substrat eines Gedankens kommt das Gedachte selbst in der Wirklich-
keit entweder nicht vor oder es kommt darin anders vor als ein Ding, und selbst in
einer nur "möglichen" Welt wären Gedanken nicht ebenso wie die diese ,,mögliche"
Welt bildenden ,,möglichen" Gegenstände enthalten. Um symbolische Reihen nun aber
einheitlich interpretieren zu können, lassen wir es auch bei der Interpretation von
Eigennamen bei einem Hinweis auf deren begrifflichen Inhalt bewenden, und nur der
Einfachheit halber ist jeweils anstatt von Begriffen von Dingen von diesen Dingen
selbst die Rede.
IN(SK) ist ein Individuum (im logischen Sinn, also nicht notwendig eine Person).
Für SR == SV wird IN(SR) nicht definiert. Variable wie insbesondere Subjektsvariable
haben, wie bereits ausgefUhrt (4.1.1.1), keine Bedeutung. Man kann eine Variable erst
nach ihrer Ersetzung durch eine zu ihrem Wertbereich gehörende Konstante interpre-
tieren, und nunmehr interpretiert man in Wirklichkeit eine Konstante. Variable mar-
kieren, was nicht genug hervorgehoben werden kann, lediglich die Stellen, an welchen
jeweils eine zum Wertbereich der Variablen gehörende Konstante eingesetzt werden
darf. Von einer "Veränderlichen" kann um so weniger gesprochen werden, als eine
Variable, sofern man sie durch eine bestimmte Konstante ersetzt, auch an allen anderen

113
Jürgen Rödig

Stellen, an denen sie im selben Ausdruck in typographisch gleicher Weise vorkommt,


nur durch jene Konstante ersetzt werden darf. Lediglich die Wahl dieser Konstanten
steht im Belieben, vorausgesetzt, daß sie zum Wertbereich der Variablen gehört.
Den Wertbereich jeder Subjektsvariablen identifIzieren wir vorerst mit der Menge
der fUr die Interpretation der symbolischen Sprache überhaupt vorausgesetzten Indivi-
duen, mit dem sogenannten "Individuenbereich " oder auch dem "universe of dis-
course". Entsprechen verschiedenen Subjektsvariablen verschiedene Wertbereiche, so
daß wenigstens einer dieser Wertbereiche lediglich in einer echten Teilmenge des Indi-
viduenbereichs besteht, so pflegt von "mehrsortigen Prädikatenkalkülen" gesprochen
zu werden.
Auf den Individuenbereich nehmen wir nicht nur bei der Interpretation der -
ihrerseits den Wertbereich von Subjektsvariablen bildenden - Subjektskonstanten
Bezug. Vielmehr wollen wir auch den begrifflichen Inhalt der Prädikate an dem jeweils
vorausgesetzten universe of discourse zu orientieren versuchen. Was zunächst die Inter-
pretation l-stelliger Prädikate betrifft, so lassen wir diesen Prädikaten bestimmte
Mengen von Individuen, also Teilmengen des Individuenbereichs, entsprechen. Wir
fassen das I-stellige Prädikat als den Namen einer Eigenschaft auf und lassen diese
Eigenschaft sich darin erschöpfen, daß das Individuum, von welchem die Eigenschaft
behauptet wird, zu jener Teilmenge gehört. Die Eigenschaft wird mit anderen Worten,
nur von ihrem Anwendungsbereich oder auch ihrer "Extension" her verstanden:
"extensionaler Standpunkt". Identifiziert man die "Bedeutung" eines I-stelligen Prä-
dikats mit seiner Extension, wie dies häufig geschieht, so haben die umgangssprachli-
chen Prädikate, Morgenstern bzw. Abendstern zu sein, dieselbe Bedeutung; der "Sinn"
der Prädikate (als das mit ihrem Wortlaut intendierte Phänomen) mag divergieren. Be-
stünde der Individuenbereich in der Menge der Mitglieder einer Rechtsgemeinschaft
und kämen in dieser Rechtsgemeinschaft Juristische Personen nicht vor, so wiesen
naheliegenderweise die Prädikate ,,x ist Mensch" und ,,x ist rechtsfähig" eine und
dieselbe Bedeutung auf.
Zwecks Vorbereitung der Interpretation von mehr als I-stelligen Prädikaten müssen
wir uns mit dem Begriff der geordneten Menge befassen. Der Individuenbereich ist in
sich nicht geordnet. Der inneren Ordnung entbehren auch jene Teilmengen des Indi-
viduenbereichs, mit deren Hilfe wir die Extensionen der durch I-stellige Prädikate be-
schriebenen Eigenschaften bestimmen. Mit dem Fehlen einer inneren Ordnung korre-
spondiert die Möglichkeit der Streichung mehrfach vorkommender Elemente, so daß
etwa

{IN("aa"), IN("aa")} = {IN("aa")}.

Gesetzt nun aber, wir wollen zum Ausdruck bringen, daß ein bestimmtes Indivi-
duum mit sich selbst identisch ist. Dann müssen wir dieses Individuum, da die Identi-
tätsbeziehung 2-stellig ist, zweimal erwähnen, und dementsprechend wird auch die
Extension der Identitätsbeziehung aus 2-elementigen Mengen bestehen. Wären diese
Mengen nun aber von der Art

{IN("aai "), IN("aai ")},

114
Ein Kalkül des juristischen Schließens

so wären sie, wie ausgeführt, auf {IN("aai")} reduzierbar und würden demgemäß zur
Abbildung der Identitätsbeziehung nicht taugen. Die 2-elementige Menge muß viel-
mehr geordnet sein, d. h., sie darf sich nicht nur durch Aufzählung ihrer Elemente oder
auch durch Angabe einer definierenden Eigenschaft ihrer Elemente ergeben, sondern
sie muß zugleich auf einer Vorschrift für die Aufeinanderfolge dieser Elemente beru-
hen. Jedes Element wird also nicht nur durch sein Vorkommen in einer Aufzählung
oder auch durch die Einschlägigkeit einer definierenden Eigenschaft, sondern zugleich
durch die Stelle, an der es innerhalb der Menge auftritt, charakterisiert. Sei

<IN("aai "), IN("aai ")}

eine geordnete Menge, so ist daher nicht - wie soeben - eine Überführung dieser
Menge in <IN("aai ")} erlaubt. Wie die Extension der Identitätsbeziehung, so können
wir auch die Extension weiterer 2-stelliger Beziehungen mittels geordneter Paare be-
stimmen, und zwar jeweils durch Bildung der (ihrerseits ungeordneten) Menge sämt-
licher geordneten Paare, hinsichtlich deren jeweils die betreffende Beziehung obwaltet.
Es handle sich beispielsweise um das Bestehen einer Forderung einer Person gegen
eine andere. Der Individuenbereich bestehe aus der Menge der Personen pe 1, pe2, ... ,
pen . Dann bilden wir zunächst die Menge aller Möglichkeiten fiir die Aufeinanderfolge
jeweils zweier Personen, also nichts anderes als das sogenannte "cartesische Produkt"
von pel, pe2, ... , pen mit sich selbst:

Das cartesische Produkt kommt zustande, indem wir jeweils ein in der linken Menge
vorkommendes Element mit einem in der rechten Menge vorkommenden Element zu
einer geordneten Menge vereinen und sämtliche der sich ergebenden geordneten Mengen
als Elemente einer ihrerseits ungeordneten Menge betrachten:

Mit dieser Menge wäre zugleich die Extension der Beziehung der Identität zwischen
jeweils 2 Personen bestimmt. Was dagegen das Bestehen einer Forderung einer Person
gegen eine andere anbelangt, so stellt vielleicht pel den einzigen Gläubiger dar, und die
sich als Extension der Beziehung ergebende Menge setzt sich nicht aus n 2 , sondern -
sofern wir pel nicht auch als seinen eigenen Gläubiger betrachten - nur aus n - 1 ge-
ordneten Paaren zusanunen, also nur aus einem Teil der jene Menge bildenden Ele-
mente:

Die Extension 3-stelliger Beziehungen bestimmen wir durch Mengen von ge-
ordneten 3-elementigen Mengen, von sogenannten "Tripeln"; die Extensionen 4-stelli-
ger Beziehungen erscheinen als Mengen von Quadrupeln, die Extensionen n-stelliger
Beziehungen (sog. "Relationen") allgemein als Mengen von n-tupeln. Jedes n-tupel
besteht, wie gesagt, aus einer geordneten Menge, jedoch der Vollständigkeit halber sei

115
Jürgen Rödig

erwähnt, daß der Begriff der geordneten Menge auf den der ungeordneten Menge zu-
rückgeführt werden kann.
Eigenschaften sowie 2- und mehrstellige Beziehungen werden zum Begriff des
n-stel/igen "Attributs" verallgemeinert, und n-stellige Attribute sind es denn auch, die
wir allgemein als begrifflichen Inhalt n-stelliger Prädikate betrachten. Nachdem nun-
mehr sowohl die Subjektskonstanten als auch n-stellige Prädikate interpretiert worden
sind, müssen wir uns mit der Interpretation der Verkettung n-stelliger Prädikate mit
jeweils n (ggf. durch Kommata voneinander getrennten) Subjektskonstanten, also mit
der Interpretation atomarer Ausdrücke (4.1.1.3.2 sub (a», befassen. Wir deuten diese
Verkettung als einen Gedanken, und zwar als gerade den Gedanken, der sich durch An-
wendung des mittels des n-stelligen Prädikats benannten n-stelligen Attributs auf jene
n Individuen ergibt, als deren Namen die n Subjektskonstanten figurieren. Die nach
Maßgabe des Auftretens der Subjektskonstanten aneinandergereihten Individuen brau-
chen natürlich keines der n-tupel zu bilden, aus welchen die Extension des erwähnten
n-stelligen Attributs besteht. Ist dies indessen der Fall, so nennen wir den atomaren
Ausdruck" wahr".
Sei also {(IN(SKl.l), IN(SK1.2), ... , IN(SK ln », (IN(SK 2.d, IN(SK 2.2), ... ,
IN(SK 2n », ... , <IN(SK k.l ), IN(SKk.2), ... , IN(SK kn»} die Menge von n-tupeln, welche
auf die soeben dargelegte Weise als Extension von IN(PR n ) aufgefaßt wird. Dann be-
handeln wir PRn SKi.1 , SKi.2, ... , SKin als "wahr" genau dann, wenn

(IN(SKi.1), IN(SKi.2), ... , IN(SKin » E


{<IN(SKl.1), IN(SK1.2), ... , IN(SK ln »,
<IN(SK 2.l ), IN(SK 2.2), ... , IN(SK 2n », ...
... , <IN(SKk.d, IN(SKk.2), ... , IN(SK kn »}
Betrachten wir beispielshalber den bereits erwähnten Fall des Bestehens von For-
derungen eines Gläubigers pe 1 gegen weitere Personen pe2 bis pe n . Es soll insbeson-
dere ausgesagt werden, daß eine Forderung des pel gegenüber pe2 besteht: "F02pel'
pe2 ". Der Wahrheitswert (kurz: "WW") dieser Aussage ist offenbar Wahrheit ("WA"),
also

denn die Extension von IN("F0 2 ") stimmt nach den getroffenen Festsetzungen mit
"»,
{(pel, pe2), (pel, pe3), ... , (pel, pe n )} überein und fur <IN("pel "), IN("pe2 also
rur (pel, pe2), gilt:

Das soeben behandelte Beispiel ist in unserm Zusammenhang, also im Rahmen des
Aufbaus einer prädikatenlogischen Sprache für einen Kalkül des juristischen Schlie-
ßens, von besonderem Interesse. Nichts hindert uns daran, den Ausdruck "F02pel'
pe2" als normative Aussage anzusehen. pe2 soll sich gegenüber pel so verhalten, daß
pel in den Genuß der ihm gebührenden Leistung gelangt. Das Bestehen dieses Sollens

116
Ein Kalkül des juristischen Schließens

braucht nun aber, was die Wahrheit von "F02pel, pe2" betrifft, nicht etwa seinerseits
veriftziert zu werden, und es kommt insofern auch nicht darauf an, die Bedingungen
flir die Gültigkeit der Verpflichtung des pe2 gegenüber pel zu kennen. Die Zuordnung
des Wahrheitswerts WA zu dem objektsprachlichen Ausdruck "F02pel' pe2" erschöpft
sich in einer ZurückfUhrung auf den metasprachlich zu formulierenden Umstand (pel ,
pe2) E {(pel, pe2>, (pel, pe3>, ... , (pel, pe n >}. Auf einen derart relativierten Wahrheits-
begriff können wir uns im Hinblick auf die Funktion unserer symbolischen Sprache
beschränken. Mit Hilfe dieser Sprache wollen wir lediglich das Gewinnen von Konse-
quenzen aus gegebenen Ausdrücken berechenbar machen. Auf den Wahrheitswert eines
Ausdrucks kommt es stets nur insoweit an, als dieser Ausdruck im Sinne einer Prämisse
oder auch im Sinne einer Konsequenz ftguriert. Es kommt jeweils darauf an, ob ein
Ausdruck wahr ist, falls schon weitere Ausdrücke als wahr vorausgesetzt werden. Für
die bloße Voraussetzbarkeit des Wahrheitswerts eines objektsprachlichen Ausdrucks
aber reicht ein System von übersetzungsregeln. Der Begriff der relativen Wahrheit for-
maler Sprachen wird freilich noch immer unter dem Aspekt der Veriftzierbarkeit -
oder auch der Nichtveriftzierbarkeit - von Sollenssätzen gesehen, und die Notwendig-
keit einer auch in logischer Hinsicht besonderen Logik der Normen wird namentlich
mit dem Hinweis darauf begründet, daß man die Geltung einer Norm nicht ebenso wie
die Richtigkeit eines faktischen Satzes mittels Beobachtung der Wirklichkeit feststellen
könne. Ob man die Richtigkeit faktischer Sätze tatsächlich stets im Wege der Beobach-
tung feststellen könne, soll hier dahingestellt bleiben. Selbst unter der Voraussetzung,
daß dem so wäre, bräuchte bei der Interpretation einer entsprechenden symbolischen
Sprache auf dieses Veriftkationskriterium nicht zurückgegriffen zu werden. Was für die
Formalisierung des faktischen Teils einer gegebenen Umgangssprache gilt, das gilt für
die Formalisierung ihrer normativen Partien nicht minder.

4.1.2.2 Interpretation von Ausdrücken, welche sich mithilfe von Junktoren ergeben

Für die Interpretation der Ausdrücke, welche sich mithilfe von Junktoren (4.1.1.3.2,
sub (b) und (c» ergeben, werden ausschließlich die Wahrheitswerte der jeweils mitein-
ander verknüpften Ausdrücke sowie der Wahrheitswert des sich jeweils durch diese Ver·
knüpfung ergebenden Ausdrucks maßgebend sein. Für jeden Ausdruck wird vorausge-
setzt, daß er genau einen der beiden Wahrheitswerte WA oder FA (mit ,,FA"flirFalsch-
heit) besitzt (sogenannte ,,zweiwertige" Logik; auf die Problematik der Notwendigkeit
einer mehr als 2-wertigen Logik der Normen werden wir noch einzugehen haben).
Setzen wir daher genau einen Ausdruck voraus, so sind die Fälle WA und FA in
Betracht zu ziehen. Jeden der beiden Wahrheitswerte können wir als Argument einer
sogenannten "Wahrheitswertfunktion" auffassen, welche jeweils bestimmte Argumente,
die in Wahrheitswerten bestehen, in einen weiteren Wahrheitswert als Funktionswert
überfUhrt. Kommt nur ein Argument vor, also entweder WA oder FA, so gibt es fol-
gende Möglichkeiten für die Zuordnung jeweils eines Funktionswerts zu einem Argu-
ment:

{WA, FA} x {WA, FA} = {<WA, WA>, <WA, FA>, (FA, WA>, (FA,FA>}

117
Jürgen Rödig

Aus der sich rechts vom Gleichheitszeichen befindenden Menge von Wahrheits-
wertepaaren bilden wir nunmehr die Menge der l-stelligen Wahrheitswertfunktionen
WFl (1 ~ i ~ 4) in der Weise, daß wir jeweils genau einen ~A, .. ) -Fall mit genau
einem (FA, .. .> -Fall kombinieren, die Funktion also hinsichtlich jedes Arguments mit-
hilfe eines und nur Eines weiteren Wahrheitswertes als des ,,Bildes" des Arguments er-
klären:

{~A, WA>, ~A, FA>} x {(FA, WA>, (FA, FA>} =


= {(~A, WA>, (FA, WA», (~A, WA>, (FA, FA»,
(~A, FA>, (FA, WA», (~A, FA>, (FA, FA»}

Den Elementen, die in der rechts vom Gleichheitszeichen notierten Menge vor-
kommen, entsprechen - in derselben Reihenfolge - die Wahrheitswertfunktionen
WFI bis WFl. Was insbesondere WF~ angeht, so wird jeder Wahrheitswert in den je-
weils anderen Wahrheitswert transformiert, kurz: WF~ (WA) = FA, WF~ (FA) = WA.
Legen wir zwei Ausdrücke zugrunde, so sind bereits hinsichtlich des Zusammen-
treffens jeweils eines Wahrheitswerts des ersten Ausdrucks mit einem Wahrheitswert
des zweiten Ausdrucks vier Fälle zu unterscheiden:

{WA, FA} x {WA, FA} = {(WA, WA>, (WA, FA>, (FA, WA>, (FA, FA)}

Die in der sich rechts vom Gleichheitszeichen befindenden Menge enthaltenen Ele-
mente bilden zugleich die möglichen Argumentenpaare für die 2-stelligen Wahrheits-
wertfunktionen WF? (1 ~ i ~ 16). An Abbildungsmöglichkeiten jedes Argumenten-
paars in einen weiteren Wahrheitswert existieren folgende:

{(WA, WA>, (WA, FA>, (FA, WA>, (FA, FA>} x {WA, FA} = {(~A, WA>, WA>,
«WA, WA>, FA>,
«WA, FA>, WA>, «FA, WA>, FA>,
«FA, WA>, WA>, «FA, WA>, FA>,
«FA, FA>, WA>, «FA, FA>, FA>}

Fassen wir jeweils genau einen (~A, WA>, .. '>-Fall mit genau einem (~A, FA>, .. .>
-Fall, genau einem «FA, WA>, .. ->-Fall sowie genau einem «FA, FA>, .. ->-Fall zusam-
men, so kommen die einzelnen 2-stelligen Wahrheitswertfunktionen heraus:

{(~A, WA>, WA>, (~A, WA>, FA>} x


x {(~A, FA>, WA>, (~A, FA>, FA>} x
x {«FA, WA>, WA>, «FA, WA>, FA>} x
x {«FA, FA>, WA>, «FA, FA>, FA>} =
= {«~A, WA>, WA>, (~A, FA>, WA>, «FA, WA>, WA>, «FA, FA>, WA»
«~A, WA>, WA>, (~A, FA>, WA>, «FA, WA>, WA>, «FA, FA>, FA»

«~A, WA>, FA>, (~A, FA>, FA>, «FA, WA>, FA>, «FA, FA>, FA»

118
Ein Kalkül des juristischen Schließens

Jede der 16 geordneten Mengen, die rechts vom Gleichheitszeichen zu einer Menge
zusammengefaßt sind, ist offenbar weniger durch die - stets identisch wiederkehren-
den - Argumentenpaare als vielmehr durch die Folge der sich auf jedes Argumenten-
paar hin einstellenden Funktionswerte charakterisiert. Diese Folge lautet zunächst ~A,
WA, WA, WA), dann ~A, WA, WA, FA) usw., schließlich <FA, FA, FA, FA). Wir he-
ben einige 2-stellige Wahrheitswertfunktionen hervor, und zwar

WF~ mit dem Wertverlauf~A, WA, WA, FA),


WF~ mit dem Wertverlauf~A, WA,FA, WA),
WF~ mit dem Wertverlauf~A, FA, WA, WA),
WF~ mit dem Wertverlauf~A,FA,FA, WA)und
WF~ mit dem Wertverlauf~A, FA, FA, FA).

Gegeben seien nunmehr beliebige Ausdrücke, welchen wir aus einem alsbald darzu-
legenden Grund als Aussageformen mit 0 darin vorkommenden Subjektsvariablen -
kurz: als O-stellige Aussageformen AFo, AFY , AF~ - auffassen wollen. Ist AFo ein
atomarer Ausdruck, so haben wir bereits geklärt, unter welchen Bedingungen WW(AFo)
= WA (4.1.2.1). Dies vorausgesetzt, defmieren wir:

ww(-, AFo)=WF~(WW(AFo»
WW«AFY v AFg» =WF~(WW(AFY), WW(AFg»
WW«AFY +- AFg» = WF~(WW(AFY), WW(AFg»
WW«AFY -+ AFg» =WF~(WW(AFY), WW(AFg»
WW«AFY ++ AFg» = WF~(WW(AFY), WW(AFg»
WW«AFY A AFg» = WF~(WW(AFY), WW(AFg»

Das Vorkommen des Negators entspricht hiernach dem umgangssprachlichen Ge-


brauch des Wörtchens "nicht", soweit es sich auf einen kompletten Satz bezieht. Mit
dem Disjunktor korrespondiert das nichtausschließende "oder" (lat. "vei" im Gegen-
satz zu "aut-aut"), mit dem Konjunktor die Verknüpfung zweier Sätze durch "und".
Guter Wille ist erforderlich, um den intensiven Implikator durch ,,nur wenn ... , dann",
den extensiven Implikator durch "stets wenn ... , so" und den Äquivalentor durch
"stets und nur dann, wenn ... , so" zu deuten; diese Deutung wird indessen plausibel,
sofern man die entsprechenden Implikationen und Äquivalenzen quantifIziert (',for-
male" Implikation usw. im Gegensatz zur nur ,,materialen").
Es werde beispielsweise durch "Tb l " die Tatbestandsmäßigkeit eines Verhaltens,
durch ,,Rfl " das Zutreffen eines Rechtfertigungsgrundes auf dieses Verhalten, durch
"Sa l " das Zutreffen eines Schuldausschließungsgrundes (oder auch das Zutreffen eines
Entschuldigungsgrundes oder das Fehlen einer Schuldvoraussetzung) sowie durch "St l "
die Strafbarkeit des Verhaltens symbolisiert. Dann gilt

119
Jiirgen Rödig

WW(,,((Tblve (Rflve v Salve» +- Stlve)" =


A -,

=WF~(WW(,,(Tblve A -, (Rflve v Salve»", WW(,,stlve"» =


= WF~(WFä(WWe,Tblve"), WW(,,-, (Rflve v Salve)"», WWe,stlve"» =
= WF~(WFä(WW("Tblve"), FW~(WW(,,(Rflve v Salve)"»), WW(,,stlve"» =
=WF~(WFUWW("Tblve"), WF~(WF~(WW("Rflve"), WW("Salve"»», WW("Stlve"»
In der sich rechts vom letzten Gleichheitszeichen befindenden Formel sind die
Wahrheitswerte WW nur noch auf atomare Ausdrücke bezogen. Es läßt sich hiernach
aufgrund der getroffenen Vereinbarungen (4.1.2.1) entscheiden, unter welchen Voraus-
setzungen beispielsweise

WW("Tb've") =WW("Stlve") = WA sowie


WW("Rflve") = WW("Sa1ve") = FA.

In diesem Fall gilt

WF~(WFä(WA, WF~(WF~(FA, FA»), WA) = WF~(WFä(WA, WF~(FA», WA)

Begründung: WF~ liefert für das Argumentepaar <FA, FA) den Funktionswert FA

= WF~(WFä(WA, WA), WA) = WF~(WA, WA) = WA


Die - nunmehr umgangssprachlich formulierte - Aussage

"Nur dann, wenn das Verhalten ve tatbestandsmäßig ist und wenn es nicht der
Fall ist, daß auf ve ein Rechtfertigungsgrund zutrifft oder daß auf ve ein Schuld-
ausschließungsgrund (i. w. S.) zutrifft, ist ve strafbar"

ist daher voraussetzungsgemäß wahr.


Konstatieren wir erneut, daß sich die Interpretation der Junktoren ausschließlich
mithilfe von Wahrheitswertfunktionen, also allein auf der Grundlage der Wahrheits-
werte der miteinander verknüpften sowie der sich durch Verknüpfung ergebenden
weiteren Aussagen vollzieht. Man pflegt in diesem Zusammenhang von "extensionalen
Junktoren" zu sprechen. Um einen extensionalen Junktor handelt es sich auch bei der
Verknüpfung zweier Aussagen durch das umgangssprachliche Wörtchen "aber": ,,Der
Angeklagte ist Täter des Mordes, aber er hat dem Opfer die tödliche Spritze nicht
selbst verabreicht". Der komplexe Satz ist wahr offenbar genau dann, wenn beide
Teilsätze stimmen, und wir haben es insofern wie auch beim Wörtchen "und" mit einer
Entsprechung zu unserm Konjunktor (basierend auf WFä) zu tun. Den durch das
Wörtchen "aber" zusätzlich angedeuteten Gegensatz vermögen wir durch den Kon-
junktor freilich nicht zu erfassen, jedoch dieser Gegensatz wirkt sich auf die Art der
logischen Abhängigkeit des Wahrheitswerts des komplexen Satzes von den Wahrheits-
werten der miteinander verknüpften Sätze nicht aus; so ist es denn auch nicht verwun-
derlich, daß man das Wörtchen "aber" in einer weniger auf Stellungnahmen als vielmehr

120
Ein Kalkül des juristischen Schließens

auf lapidare Feststellungen oder Befehle bedachten Sprache - wie beispielsweise der
Sprache der Gesetzesverfasser - kaum antrifft. .
Ähnlich wie das soeben behandelte Wörtchen "aber" fungiert das Wörtchen
"während", sofern man es zum Ausdruck eines Gegensatzes - franz.: "tandis que" --
verwendet: "Die Krankenschwester, welche dem Opfer die tödliche Spritze verab-
reichte, handelte als gutgläubiges Werkzeug, während der die Schwester zu ihrem
Handeln bestimmende Arzt als Täter bestraft werden muß". - Betrachten wir nun
aber folgende Aussage: "Während sich der Arzt die Hände wusch, verabreichte die
Krankenschwester dem Patienten die tödliche Spritze". Das Wörtchen "während" wird
diesmal im temporalen Sinne gebraucht (franz.: "pendant que"), und wir wollen unter-
suchen, ob es sich auch insoweit um einen extensionalen Junktor handelt. Wäre dem
so, dann dürfte sich der Wahrheitswert des komplexen Satzes nicht ändern, wenn man
wenigstens einen der miteinander verknüpften Sätze durch einen Satz ersetzt, dessen
Wahrheitswert derselbe ist wie der des ersetzten Satzes. Sowohl die beiden Teilsätze
als auch der komplexe Satz sollen als wahr vorausgesetzt werden. An die Stelle des
wahren Satzes "Die Krankenschwester verabreichte dem Patienten die tödliche Spritze"
soll nunmehr ein anderer, jedoch ebenfalls wahrer, Satz gesetzt werden: "Der Arzt
wurde zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe verurteilt". Der komplexe Satz lautet
nunmehr: "Während sich der Arzt die Hände wusch, wurde er zu einer lebensläng-
lichen Freiheitsstrafe verurteilt". Die Wahrheit dieses Satzes ist eher unwahrscheinlich,
und man sieht, daß der Wahrheitswert des komplexen Satzes jedenfalls nicht nur von
den Wahrheitswerten der miteinander verknüpften Sätze abhängig ist: "während"
im temporalen Sinn als Beispiel für einen intensionalen Junktor . Übrigens kann auch
das temporal gebrauchte "während" - wenn auch auf einem Umweg - mithilfe exten-
sionaler Operatoren ausgedrückt werden. Man verwendet zu diesem Zweck den (dem
Konjunktor entsprechenden) Generalisator und behauptet für jeden Zeitpunkt des
Händewaschens, daß zu diesem Zeitpunkt auch die tödliche Spritze verabreicht worden
ist.
In noch höherem Maße inhaltsbestimmt als das soeben diskutierte temporale
"während" sind normative Operatoren, wie sie von den Befürwortern einer in logischer
Hinsicht besonderen Logik der Normen eingeführt werden. Es handelt sich beispiels-
weise um ein immer wieder anzutreffendes Gebilde vom Typus "lA". Der isoliert
stehende Buchstabe "A" wird als Symbolisierung eines faktischen Satzes angesehen.
Das Ausrufungszeichen bringt Gesolltheit zum Ausdruck, und das komplexe Gebilde
"lA" wiid mithilfe einer sogenannten "Erflillungsfunktion" interpretiert: ",lA' wird
erfüllt genau dann, wenn ,A' der Fall ist".
Versuchen wir einmal, "lA" in seine syntaktischen Bestandteile zu zerlegen und
diese Bestandteile alsdann mit entsprechenden semantischen Kategorien in Beziehung
zu setzen. Eine derartige - über den Hinweis auf die Erfüllungsfunktion hinausge-
hende - Analyse scheint innerhalb des norrnlogischen Schrifttums zwar nicht für erfor-
derlich gehalten zu werden; sie dürfte indessen um so zweckmäßiger sein, als die Expli-
kation der für den Aufbau sowie für die Deutung von "lA" maßgebenden syntakti-
schen bzw. semantischen Regeln zugleich die Korrektheit von deren Anwendung in wei-
teren Fällen garantiert. Dies vorausgesetzt, wird man "lA" als Namen für einen Ge-
danken, also als einen - vermutlich normativen - Satz auffassen dürfen. Was die Glie-
derung dieses Satzes betrifft, so scheint es lediglich folgende Möglichkeiten zu geben.

121
Jürgen Rödig

Die erste. Wir deuten " ... A" als Namen für ein Verhalten, also als Namen für ein
Individuum (im logischen Sinn). Ein kompletter Satz kommt in diesem Fall nur durch
die Auffassung von ,,! ... " als eines (l-stelligen) Prädikats zustande. Es würde sich bei
dem gesamten Ausdruck um nichts anderes handeln als um eine etwas irreführende
Schreibweise für "Gs\re" mit "Gs 1" als Namen der Gesolltheit und "ve" als Namen
des ge sollten Verhaltens. Irreführend wäre diese Schreibweise deshalb, weil sich ,,A",
sofern es in ,,!A" Einzug hält, sowohl syntaktisch als auch in semantischer Hinsicht
erheblich verändert: Aus dem Namen für eine Aussage oder auch für ein O-stelliges
Prädikat geht der Name für ein bestimmtes Ding hervor, und dies bei gleichbleiben-
der äußerer Gestalt. Als problematisch erscheint zudem, ob man ein - normalerweise
durchaus komplexes - Individuum wie gerade ein menschliches Verhalten ausschließ-
lich mithilfe einer - gewöhnlich nur einen von unendlich vielen Aspekten hervorhe-
benden - Aussage zu bestimmen vermag.
Auch WEINBERGER scheint die soeben diskutierte Analyse nicht für zwingend
zu halten, indem er es nämlich als ein "Vorurteil" bezeichnet, ,,zu glauben, daß jeder
Satz aus Prädikat und Namen bestehen muß". In den heute gebräuchlichen aussagen-
und prädikatenlogischen Sprachen pflegen Aussagen denn auch mit Selbstverständlich-
keit mithilfe von Junktoren aus weiteren Aussagen gebildet zu werden (siehe oben
4.1.1.3.2 sub (b) und (c )). Ziehen wir diesen Aufbau daher als zweite Möglichkeit für
die Analyse von ,,!A" in Betracht. Hat der Buchstabe "A" bei isoliertem Auftreten als
Name für einen Gedanken, mithin als Aussage, fungiert, so können wir ilim diesmal
auch insoweit, als "A" in ,,!A" vorkommt, diese Funktion belassen. Das Ausrufungs-
zeichen wäre demgemäß, da ja auch ,,!A" eine Aussage darstellen soll, als Junktor an-
zusehen, aufgrund von dessen Anwendung auf eine Aussage sich wiederum eine Aus-
sage ergibt. Um einen extensionalen Junktor wird es sich indessen schwerlich handeln.
Mit einer Negation ist ,,!A" sinngemäß nicht zu identifizieren, und die Wahrheitswert-
funktionen WF L WF ~ und WF1 sind inhaltlich ohnehin uninteressant (mithin a fortiori
nicht geeignet, die Beschreibung eines Verhaltens in die Anordnung (oder auch in die
Beschreibung der Anordnung) dieses Verhaltens zu überführen). ,,!" wird daher als
intensionaler Junktor einzuordnen sein. Was den syntaktischen Aufbau einer ent-
sprechenden deontischen Sprache betrifft, so müßte ,,!" als weiteres zugelassenes
Symbol eingefiihrt werden, und es scheint, als könne es im übrigen bei einer Aufbau-
regel folgenden Inhalts bewenden: ,,Ist SR ein Ausdruck, so ist auch !SR ein Aus-
druck".
Der Schein trügt allerdings. Eine derartige Regel würde nicht allein den Übergang
von beispielsweise "Ge1pe" (zu übersetzen: pe spielt Geige) zu ,,!Ge1pe" gestatten.
Denn wie der Übergang von , , 0 Gelpe" zu , , 0 ° Gelpe", so wäre überdies die Gewin-
nung von ,,!!Ge1pe" aus ,,!Ge1pe" legitim: Gesolltheit der Gesolltheit des Geige-
spielens - ein in semantische Kategorien kaum noch unterzubringender Fall. Sollen
derartige Fälle ausgeschlossen sein, so müssen wir hinsichtlich der als Argumente des
Funktors ,,!" infrage kommenden Ausdrücke offenbar zusätzliche Bedingungen auf-
stellen. Und zwar nicht etwa lediglich die Bedingung, daß ein solcher Ausdruck nicht
schon seinerseits mit ,,!" beginnt. Auch den Inhalt dieses Ausdrucks gilt es zu nor-
mieren. Dürfte ,,A" eine beliebige Aussage sein, etwa die Beschreibung eines Gewitters,
so wäre laut ,,!A" sogar ein Gewitter gesollt. Hat es lange nicht geregnet und ist die
Versorgung der Bevölkerung mit Trinkwasser in Gefahr, so wird der Ausbruch eines

122
Ein Kalkül des juristischen Schließens

Gewitters zwar als wünschenswert erscheinen. Gleichwohl wird man zögern, andere
Ereignisse als menschliche Verhaltensweisen zum Gegenstand von Geboten, Erlaub-
nissen und Verboten zu machen. Die Menge der für ,,!A" infrage kommenden Aus-
sagen ,,A" wäre also auf eine Menge von Beschreibungen menschlicher Verhaltens-
weisen zu beschränken. Soll eine derartige Beschränkung nun aber nicht fortwährend
stillschweigend vorausgesetzt werden müssen (dies würde die Leistungsfähigkeit des
Kalküls nicht eben fördern), sondern soll diese Beschränkung explizit zum Ausdruck
gebracht werden können, so wäre ,,A" wie folgt zu zerlegen: Entweder in die Zuord-
nung des Prädikats, menschliches Verhalten zu sein, zum Namen eines Sachverhalts
oder in die Zuordnung des Namens einer besonderen Verhaltenseigenschaft zum
Namen einer Verhaltensweise oder schließlich in die Zuordnung eines O-stelligen Prä-
dikats zu 0 Subjektskonstanten, wobei bereits das O-stellige Prädikat die Vornahme
eines bestimmten Verhaltens besagt. Die bei den ersten Möglichkeiten dürften der
dritten an Explizitheit zumindest ebenbürtig sein. Ist dem aber so, dann wird man
fragen, weshalb die zu gebietenden, zu erlaubenden oder auch zu verbietenden Ver-
haltensweisen nicht schon im Vorhinein als Subjektskonstanten eingeführt werden
sollten. Die Frage liegt um so näher, als man keinerlei Bedingungen dafür anzugeben
pflegt, inwiefern die Geltung von ,,!A" von der Richtigkeit von ,,A" abhängig ist.
Derartige Bedingungen haben wir ja nicht nur bei den extensionalen Junktoren,
sondern überdies bei dem intensionalen Junktor "während" im temporalen Sinne
kennengelernt. Wollte man besagte Bedingungen nun aber formulieren, so liefe diese
Formulierung auf den Entwurf eines axiomatischen Systems für die Voraussetzun-
gen der Gebotenheit, der Erlaubtheit sowie der Verbotenheit von Handlungen hinaus,
und man käme diesmal, da deontische Modalitäten und zusätzliche Attribute jeweils
von denselben Verhaltensweisen aussagbar sein müssen, um die Gliederung der ent-
sprechenden atomaren Sätze in Prädikate und Subjektskonstanten ohnehin nicht
herum.

4.1.2.3 Interpretation quantifizierter Ausdrücke


Was die Interpretation von Generalisationen und von Partikularisationen (4.1.1.3.2
sub (d» betrifft, so bedienen wir uns einiger Hilfsbegriffe, und zwar der Begriffe der
,,n-stelligen Aussageform", des "Belags" sowie des ,,Modells".
Unter einer ,,n-stelligen Aussageform" verstehen wir eine symbolische Reihe, die
sich aus einem Ausdruck dadurch ergibt, daß man irgendwelche der darin vorkommen-
den Subjektskonstanten durch genau n voneinander typographisch verschiedene Sub-
jektsvariable ersetzt. Jeder Ausdruck kann, wie schon erwähnt, als O-stellige Aussage-
form aufgefaßt werden. Um mehr als O-stellige Aussageformen handelt es sich bei
folgenden symbolischen Reihen:

Bei der ersten dieser symbolischen Reihen haben wir es mit einer I-stelligen Aus-
sage form AFl, bei der zweiten mit einer 2-stelligen Aussageform AF2 zu tun. Der
obere Index n, dessen wir uns bei Mitteilungszeichen AF n für Aussageformen bedienen,
ist mit dem oberen Index von Prädikaten nicht durcheinanderzubringen; der obere

123
Jürgen Rödig

Index von Prädikaten zeigt die Stelligkeit des n-tupels von Individuen an, auf welches
sich das durch das Prädikat benannte Attribut bezieht.
Weist eine Aussageform mehr als 0 Stellen auf, so kann man sie, wie bereits mehr-
fach hervorgehoben worden ist, nicht interpretieren. Besteht der Individuenbereich
beispielsweise in der Menge der Rechtsgenossen {pel, pe2' ... , pe n } und handelt es sich
um die Prädikate "GfI " flir Geschäftsfähigkeit und "Rfl " flir Rechtsfähigkeit, so ist
der Ausdruck

sowohl ohne Bedeutung als auch ohne Sinn - mag "p" auch vereinbarungsgemäß
(4.1.1.1. a. E.) als Variable mit der Menge {pe!> pe2' ... , pen } als Wertbereich figu-
rieren. Es sind insbesondere keine "veränderlichen" Rechtsgenossen, welche zum Aus-
druck des Gedankens herhalten müssen, daß sich aufgrund des Vorliegens von Ge-
schäftsfähigkeit zugleich das Vorliegen von Rechtsfähigkeit ergibt. Die Funktion von
"p" erschöpft sich vielmehr darin, daß überall dort, wo sich "p" befindet, eine beliebig
zu wählende, nach getroffener Wahl jedoch beizubehaltende Subjektskonstante aus
dem Wertbereich von "p" eingesetzt werden darf. Kommen in einer Aussageform mehr
als eine Subjektsvariable vor, so bedarf es wenigstens einer weiteren Ersetzung von Sub-
jektsvariablen durch Subjektskonstante, damit sich eine der inhaltlichen Deutung
fähige symbolische Reihe ergibt. Jeden Inbegriff von derartigen Subjektskonstanten
nennen wir zusammen mit einer Vorschrift dahin, durch welche Konstanten welche
Variablen ersetzt werden dürfen, einen ,,Belag", kurz: "BL". BL soll der Einfachheit
halber flir jeweils sämtliche der in unserer symbolischen Sprache vorkommenden Sub-
jektsvariablen erklärt sein; von Interesse sind jeweils natürlich nur jene Variablen,
welche die mit BL zu belegende AF in concreto enthält. Erst im Hinblick auf eine
bereits belegte Aussageform ist nach deren begrifflichem Inhalt zu fragen: IN(BL(AF»;
auch im allgemeinen Schrifttum zur theoretischen Logik werden, wie es scheint, Bele-
gung und Interpretation nicht immer genügend auseinandergehalten.
Der Interpretation einer Aussageform geht deren Belegung voraus. Je nach der
Art der Belegung gehen die in AF vorkommenden Variablen in die Namen von diesen
oder jenen Individuen über, und je nach den auf diese Weise eingeftihrten Konstanten
wird sich insgesamt ein entweder wahrer oder falscher Ausdruck ergeben. Für den
ersten dieser Fälle nennen wir BL ein ,,Modell" von AF, kurz

BL mod AF genau dann, wenn WW(BL(AF» = WA

Was nun die Interpretation der verbleibenden Ausdrücke, also von Generalisa-
tionen und Partikularisationen sowie von solchen Ausdrücken betrifft, welche Genera-
lisationen oder auch Partikularisationen enthalten, so haben wir es mit Ausdrücken von
der Gestalt /\ SV SR oder auch V SV SR mit SR flir eine höchstens I-stellige AF zu
tun. Hinsichtlich /\ SV AF setzen wir fest, daß

WW(/\ SV AF) = WA genau dann, wenn für jeden BL: BL mod AF

124
Ein Kalkül des juristischen Schließens

Es gelte ferner

WW (V SV AF) = WA genau dann, falls BL mod -, A SV -, AF

Die Interpretation der quantifizierten Ausdrücke läßt sich leicht wie folgt illu-
strieren. Betrachten wir beispielsweise eine Generalisation. Diese gilt verabredungsge-
mäß als wahr genau dann, wenn jeder Belag ein Modell der zu quantifizierenden Aussa-
geform (d. h.: des Wirkungsbereichs des entsprechenden Quantifikators SV) ist. Die
zu quantifizierende Aussageform muß entweder O-stellig oder I-stellig sein. Sie wird also
höchstens eine Subjektsvariable (welche natürlich mehrmals in typographisch gleicher
Weise vorkommen kann) enthalten. Enthält AF keine Subjektsvariable, so kann man
bereits hinsichtlich von AF über das Zutreffen genau eines der beiden Wahrheitswerte
befinden. Welchen Wahrheitswert AFo bezieht, hängt von der Belegung von AFo mit
BL nicht mehr ab; Hir den Fall, daß WW(AFo) = WA, gilt offenbar flir jeden BL, daß
BL mod AFo mit dem Ergebnis WW(SV AFo) = WA. Und in der Tat, eine Wahrheit wie
beispielsweise die Identität des Mondes mit sich selbst kann offenbar, ohne daß sich
freilich der praktische Hintergrund eines derartigen Verfahrens einsehen ließe, von be-
liebigen Dingen ausgesagt werden.
Von praktischem Interesse ist hingegen der Fall, daß die zu quantifizierende Aus-
sageform genau eine Stelle besitzt. Diesmal können die Belage, mit deren Hilfe wir
AF 1 belegen, nur insoweit divergieren, als es um die Ersetzung der in dem Quantifi-
kator A SV enthaltenden Subjektsvariablen SV durch genau eine der zum Wertbereich
von SV gehörenden Subjektskonstanten geht. Was die Belegung von AF 1 anbelangt, so
werden offenbar alle, jedoch auch nur die Möglichkeiten zu berücksichtigen sein, je-
weils SV auf unterschiedliche Weise in eine Subjektskonstante aus dem Wertbereich
von SV zu überführen. In welcher Reihenfolge die Ergebnisse der Belegungen von SV
den Wertbereich der Variablen durchlaufen, gilt gleich. Die Lage ist insofern vergleich-
bar mit der Beliebigkeit der Reihenfolge der Glieder einer Konjunktion - wie man
ohnehin jede Generalisation als eine (wenn auch möglicherweise unendliche) Iterierung
von Konjunktionen auffassen kann, innerhalb deren jedes weitere Konjunktionsglied
das Zutreffen eines Attributs oder auch eines Inbegriffs von Attributen auf das durch
eine weitere Subjektskonstante benannte Individuum (ggf. als Element eines n-tupels
von Individuen) besagt. Es ist also nicht einmal mehr in uriser Belieben gestellt, SV
durch gerade diese oder jene Subjektskonstante zu ersetzen, von der Notwendigkeit
der Ersetzung jeweils sämtlicher typographisch gleicher Vorkommnisse einer Subjekts-
variablen durch eine und dieselbe Subjektskonstante ganz zu schweigen. Es handelt
sich in Wirklichkeit um eine Variable, welche nicht mehr variieren kann - um eine
"apparent variable" nach dem Sprachgebrauch WHITEHEADs und RUSSELs. So
erklärt es sich denn, daß wir auch die in zulässiger Weise generalisierten (oder partiku-
larisierten) symbolischen Reihen als Ausdrücke, nämlich als O-stellige Aussageformen,
auffassen werden. Variable kommen in kompletten Ausdrücken nur als "scheinbare"
oder auch als "gebundene" Variable vor; in keiner als Ganzes betrachteten zulässigen
symbolischen Reihe unserer künstlichen Sprache sind andere als gebundene (soge-
nannte "freie") Variable enthalten.

125
Jürgen Rödig

Der Ausdruck

mit ,,/\ p" als Quantifikator und ,,(Gf1p ~ Rf1p)" als Wirkungsbereich des Quantifi-
kators besagt sonach ftir alle Rechtsgenossen, daß ein Rechtsgenosse stets dann, wenn
er geschäftsfähig ist, auch rechtsfähig ist. Es kann also nicht etwa bei einem und nur
einem, daftir jedoch "veränderlichen" Rechtsgenossen bewenden, sofern es das erwähn-
te Verhältnis von Geschäfts- und Rechtsfähigkeit zu artikulieren gilt.
Bei der symbolischen Reilie

hätten wir es übrigens mit keinem Ausdruck, sondern mit einer I-stelligen Aussageform
zu tun. Das zweite Vorkommnis der Variablen "p" ist frei. Ersetzen wir "p" insofern
durch den Namen eines Individuums, so ergibt sich die O-stellige Aussageform

doch dieser Ausdruck ist das gemeinte Verhältnis von Geschäfts- und Rechtsfähigkeit
nicht auszudrücken imstande. Soll sich der Quantifikator auf die Implikation beziehen,
so müßte die auf den Quantiftkator folgende symbolische Reilie aufgrund der Bildungs-
regel (d) aus 4.l.l.3.2 so beginnen, wie es sich ftir eine nach Regel (c) zulässig gebildete
- materiale - Implikation gehört: also mit einer konvexen Klammer. Nach Maßgabe
des zuletzt notierten Ausdrucks könnten sämtliche Rechtsgenossen mit einer Aus-
nahme jeweils sowohl geschäftsfähig als auch rechtsunfähig sein.
Aus "Rf1pe" allein können wir offenbar darauf schließen, daß nicht alle Rechts-
genossen nicht rechtsfähig sind, mit anderen Worten darauf, daß wenigstens ein rechts-
fähiger Rechtsgenosse existiert: "V p Rf1p". - Bei diesem in geradezu anstößiger
Weise trivialen Beispiel soll es ftir die Illustrierung der Interpretation von Partikularisa-
tionen bewenden.

4.2 Ableitungsregeln

4.2.1 Folgerungsbeziehung

Die nunmehr durch Bildungs- (4.1.1) sowie durch Interpretationsregeln (4.l.2) voll-
ständig definierte symbolische Sprache einer Prädikatenlogik erster Stufe ist nicht aus
grammatischem Idealismus aufgebaut worden, vielmehr ausschließlich zu dem Zweck,
als Grundlage für ein syntaktisch funktionierendes Verfahren ftir das Erschließen von
Ausdrücken aus weiteren Ausdrücken zu dienen. Dieses Verfahren, das man auch ,,Ab-
leitung" nennt, hat sich - wie bereits erwähnt (4.l.1.1) -, durch das Bestehen entspre-
chender Folgerungsbeziehungen zu legitimieren. Was die Explikation der Folgerungs-

126
Ein Kalkül des juristischen Schließens

beziehung betrifft, so kehren wir zu unsenn Ausgangspunkt ftir die Bestimmung der
Wahrheit von Ausdrücken, nämlich zur Explikation des Begriffs der Wahrheit atomarer
Ausdrücke, zurück.
Wir hatten uns geeinigt, eine symbolische Reihe von der Gestalt PRnSKI> SK2 , ••• ,
SK n genau dann als wahr gelten zu lassen, wenn das n-tupel von Individuen <IN(SK 1),
IN(SK 2 ), •.• , IN(SKn» als Element der Extension von IN(pR ß), mithin als Element der
diesem Attribut entsprechenden Relation, aufgefaßt werden kann (4.1.2.1). Ob die ge-
nannte Elementbeziehung besteht, wird nun aber sowohl von der Art der Interpreta-
tion von PRn durch IN als auch von der Art der Interpretation von SKI> SK2 , ••• und
SK n durch IN abhängig sein. Und in der Tat, wir können streng genommen jeweils erst
mit Bezug auf eine bestimmte Interpretation über die Wahrheit des zu interpretieren-
den atomaren Ausdrucks befinden. Lediglich im Hinblick auf die Gewinnung moleku-
larer Ausdrücke mithilfe von Junktoren und von Quantoren haben wir sämtliche
möglichen Interpretationen sozusagen stillschweigend miteinander in Einklang ge-
bracht. Wie der zur Belegung einer Aussagefonn verwendete Belag (4.1.2.3), so kann
man daher auch die Interpretation eines (ggf. erst mittels Belegung gewonnenen)
Ausdrucks nur partiell individualisieren. Die Individualität einer gegebenen Interpreta-
tion beruht auf der Art der Deutung von Prädikaten und Subjektskonstanten. Je nach
der Art der Zuordnung eines begrifflichen Inhalts zu diesen Symbolen können mehrere
Interpretationen nun aber divergieren, und in Anlehnung an die Erklärung der Modell-
beziehung setzen wir fest: Eine Interpretation IN heiße genau dann eine "Realisierung"
einer zu interpretierenden O-stelligen Aussagefonn AFo, kurz:

IN erf AFo mit "erf' für "erfüllt",

falls der Wahrheitswert des mithilfe von IN zu interpretierenden Ausdrucks AFo -


kurz: von AFPN - das Wahre ist, d. h.:

IN erf AFo genau dann, wenn WW(AFPN) = WA

Dies vorausgesetzt, läßt sich der Folgerungsbegriff nach dem Vorgang BOLZANOs
und TARSKIs wie folgt explizieren: Ein Ausdruck AF~ heiße eine "Folgerung" aus
Ausdrücken AF~, AFg, ... , AF~ dann und nur dann, wenn jede Realisierung von AFY,
AFg, ... und von AF~ zugleich eine Realisierung von AFg ist. Eine Interpretation IN
heiße eine "Realisierung von {AF~ , AFg, ... , AF~}" genau dann, wenn IN erf AFY und
IN erf AFg und ... und IN erf AF~. Für das Bestehen der Folgerungsbeziehung zwi-
schen AF~, AFg, ... und AF~ einerseits und AF~ andererseits notieren wir auch:

{AFY, AFg, ... , AF~} 11- AF~,

so daß

{AFY, AFg, ... , AF~} 11- AF~ genau dann, wenn ftir jede IN: stets, wenn
IN erf {AFY, AFg, ... , AF~}, so IN erf AF~.

127
Jürgen Rödig

Wie nun auf der einen Seite die Verschiedenheit der jeweils in Betracht zu ziehen-
den Interpretationen auf der Verschiedenheit der Deutung der Prädikate sowie der
Subjektskonstanten beruht, so liegt es auf der anderen Seite nahe, daß rur das Bestehen
einer Folgerungsbeziehung jeweils die durch die Vorkommnisse von lunktoren und
Quantoren festgelegte Struktur der durch die Folgerungsbeziehung miteinander ver-
bundenen Ausdrücke maßgebend ist. Was lunktoren und Quantoren betrifft, so wird
denn auch von ,)ogischen" Symbolen gesprochen, und hinsichtlich der durch das Vor-
kommen logischer Symbole markierten Abhängigkeit eines Ausdrucks AF~ von Aus-
drücken AF~, AF~, ... und AF~ kommt es auf die Besonderheiten der durch AF~,
AF~, ... , AF~ und AF~ beschriebenen ,,möglichen" Welten nicht an. Auch um eine
Welt der Normen kann es sich handeln, ohne daß es insoweit einer besonderen Logik
der Normen bedürfte.
Wie die logische Abhängigkeit eines Satzes von anderen Sätzen der Verschieden-
heit der durch alle diese Sätze beschriebenen möglichen Welten zu trotzen vermag, in
ähnlicher Weise könnte es auch einzelne Sätze geben, für deren Wahrheit die Welt, in
der sich ihr Inhalt ereignet, nicht maßgebend ist. Wir haben es bei derartigen Sätzen
offenbar mit voraussetzungslos wahren Sätzen, also mit Konsequenzen aus jeweils 0
Prämissen zu tun. Und in der Tat, es darf wegen {AF~, AF~, ... , AF~} 11- AF~ keine
Interpretation geben mit IN erf {AF~, AF~, ... , AF~} und WW(AF~IN) = FA, d. h.
für m = 0, es darf keine IN mit WW (AF~IN) = FA existieren, d. h. für jede IN: IN erf
AF~.
Gilt cP Ir--- AFo, so heißt AFo "allgemeingültig". In diesem Fall wird AFo, wie er-
wähnt, durch alle möglichen Interpretationen verifiziert. Gibt es wenigstens eine Inter-
pretation IN mit IN erf AFo, so heißt AFo "erftillbar". Gibt es keine solche Interpreta-
tion, so heißt AFo "unerftillbar". Ist ein Ausdruck weder allgemeingültig noch unerftill-
bar, so heißt er "faktisch" wahr oder falsch - jedoch die "Faktizität" seiner Wahrheit
oder Falschheit kann auch auf normativen Gesichtspunkten beruhen.
Gegeben sei eine Interpretation über einem nicht leeren Individuenbereich, und
zwar über einer Menge von Verhaltensweisen {ve, vet, ve2, ... , ve n }. Daß Gebotenheit
Erlaubtheit impliziert, werde folgendermaßen zum Ausdruck gebracht:

Was für alle Individuen des Individuenbereichs gilt (siehe oben 4.1.2.3), das ist
offenbar auch für ein bestimmtes Individuum der Fall, so daß wir folgenden Satz als
Ergebnis einer Einsetzung in ein (quantoren-) logisches Axiom, also in eine allgemein-
gültige Aussage, auffassen können:

Es möge nun das O-stellige Prädikat ,,Ago,, als Abkürzung der ersten und ,,(AgO -+
Bso)" als Abkürzung ftir die zweite Aussage stehen. Dann ist offenbar ungeachtet der
Interpretation der Prädikate sowie der Subjektskonstanten jede Realisierung von
{',Ago", ,,(AgO -+ Bso),,} zugleich eine Realisierung von "Bso ". Setzen wir nämlich eine
beliebige Interpretation über {ve, vet, ve2, ... , ve n } voraus. Angenommen ferner, diese

128
Ein Kalkül des juristischen Schließens

Interpretation sei eine Realisierung von {"AgO", ,,(AgO -+ Bso)"l Dann gilt "AgO" als
wahr, und es gilt als ausgeschlossen, daß "Bso" falsch ist, falls ,,Ago,, wahr ist (Defini-
tion der extensiven Implikation gemäß WF~)_ Mithin wird durch die vorausgesetzte
Interpretation auch "Bso" allein realisiert, d_ h.:

Die skizzierte Schlußweise firmiert auch als ,,modus ponendo ponens", und wir
sind nunmehr, die vereinbarten Abkürzungen rückgängig machend, folgende Zeilen hin-
zuschreiben berechtigt:

,,/\ V (Gblv -+ Erlv)"

2 ,,(1\. v (Gblv -+ Erlv) -+(Gblve -+ Erlve))"


3 ,,(Gblve -+ Erlve)"

Nehmen wir außerdem an, daß ve tatsächlich geboten ist. Dann liegt eine weitere
Anwendung des modus ponendo ponens nahe:

4
5

Zeile (5) folgt aus den Zeilen (3) und (4) wie (3) aus (1) und (2). Was in (5) steht,
gilt natürlich nicht allgemein, sondern lediglich unter den Annahmen (1) und (4).
Dieser Abhängigkeit wollen wir durch die Ausgestaltung der Ableitungsregeln Aus-
druck verleihen, und es soll zudem jeweils darüber Aufschluß gegeben werden, auf wel-
cher Regel die Gewinnung einer weiteren Zeile beruht und weIcher früherer Zeilen es
für die Anwendung der Regel bedarf. So würden wir beispielsweise anstelle der fünften
Zeile notieren:

5 (1,4) (3)(4) JL

Mit der ganz rechts angeführten Regel JL ("junktorenlogischer Übergang") neh-


men wir auf die Zeilen (3) und (4) als die für die Anwendung der Regel erforderlichen
Vorlagen Bezug. Eine Regelvorlage braucht übrigens nicht zugleich als Annahme zu
fungieren, wie in unserem Beispiel aus Zeile (3) erhellt. Hinsichtlich des Bestehens der
Ableitbarkeitsbeziehung sind weniger die in der letzten Zeile angegebenen Regelvorla-
gen als vielmehr die dort rechts von der Zeilennummer zitierten Annahmen interessant.
So wird beispielsweise in Zeile (5) die folgende Ableitbarkeitsbeziehung - hierfür das
Kürzel "r"- zwischen einerseits (1), (4) und andererseits (5) behauptet:

Die Ableitung von "Er l ve" ist aufgrund des Bestehens der entsprechenden Folge-
rungsbeziehung - mit "Ir" für "r" - korrekt. Wieviel Zeilen wir zur Ableitung des

129
Jürgen Rödig

sich in Zeile (5) befindenden Ausdrucks benötigen, geht in die Symbolisierung der Ab-
leitbarkeitsbeziehung nicht ein. Und in der Tat, wir hätten uns mindestens eine Ablei-
tungszeile sparen können. Was nämlich den in Zeile (2) enthaltenen Ausdruck angeht,
so ist er zwar keine (Ableitungs-)"Regel", sondern ein "Gesetz": Er sagt, was der Fall
ist, und er sagt nicht, wie man bei der Gewinnung einer weiteren Aussage aus gegebe-
nen Aussagen vorgehen darf. Die Befugnis zum Hinschreiben von (2) läßt sich nun aber
wiederum nur mit Hilfe einer Regel erteilen, und der in (2) enthaltene Ausdruck stellt
gerade nicht wie etwa der in (1) oder auch der in (4) enthaltene eine sachliche Annah-
me dar. Der in (2) enthaltene Ausdruck wird vielmehr wie der die Regel konkretisie-
rende modus ponendo ponens durch das Bestehen einer entsprechenden logischen Ge-
setzmäßigkeit legitimiert, und so liegt es denn nahe, diese Gesetzmäßigkeit sogleich
in eine weitere Ableitungsregel GB für die Beseitigung von Generalisatoren zu gießen.
Aufgrund von (1) wäre daher unmittelbar zu einer zweiten Zeile mit dem Inhalt der
früheren dritten überzugehen:

2 (1) (1) GB

Die soeben skizzierte Technik der Vermeidung der Explikation von logischen Gesetz-
mäßigkeiten mithilfe logischer Axiome ist es denn auch, auf welcher die ,,Natürlich-
keit" des "natürlichen", des ,,mathematischen" oder auch des ,juristischen" Schließens
beruht. Aus der Rechtsfähigkeit jeder natürlichen Person pflegt unverzüglich auf die
Rechtsfähigkeit von Herrn Birnbaum geschlossen zu werden; als schuldhaftes Zögern
würde es gelten, wenn man diesen Übergang in erstens ein logisches Gesetz betreffend
die Implikation des Besonderen durch das Allgemeine sowie zweitens eine Anwendung
des modus ponendo ponens aufspalten wollte.
Sind es bereits die einzelnen Ableitungsregeln, welche die für die Gewinnung von
Schlußfolgerungen erforderlichen logischen Gesetzmäßigkeiten repräsentieren, so
kommt es darauf an, diese Gesetzmäßigkeiten bereits beim Studium der einzelnen
Regeln plausibel zu machen. Was freilich nicht bedeutet, daß es jeweils bei der Anwen-
dung der einzelnen Regeln des Rekurses auf die dahinter stehenden logischen Gesichts-
punkte bedürfte. Stünde der hierfür erforderliche Raum zur Verfügung, so würden
zwecks Unterstreichung des syntaktischen Charakters des Ableitungsverfahrens zu-
nächst sämtliche Regeln vorgeführt, und erst im Anschluß an diese Vorführung würde
diskutiert, inwiefern die Ableitbarkeitsbeziehung mit der Folgerungsbeziehung korre-
spondiert.

4.2.2 Die Regeln IDi (1 ..-;; i"-;; 4)

Seien AF~, AFg, ... , AF~ bereits abgeleitete (wenn auch nicht notwendig alle der
bereits abgeleiteten) Ausdrücke. Dann fassen wir AF~, AFg, ... , AF~ als Regelvor-
lagen auf (4.2.1), und jede Regel für Ableitung eines weiteren Ausdrucks AF~ hat offen-
bar folgende Form: Sind AFY, AFg, ... und AF~ abgeleitet, so ist auch AF~ ableitbar.
Soll eine Ableitung überhaupt beginnen können, so muß es offenbar Regeln geben
mit m = 0, also Regeln der Gestalt: AF~ ist ableitbar. Als erste dieser Regeln notieren
wir vier Regeln für das Hinschreiben von Gesetzen für die 2-stellige Beziehung der

130
Ein Kalkül des juristischen Schließens

Identität (siehe schon 4.1.2.1), welche mit diesen Gesetzen übrigens nicht identifi-
ziert werden dürfen (4.2.1):

ID l : /\ SVld 2SV, SV ist ableitbar.


ID 2 : /\ SVl /\ SV2(Id 2SVl , SV2 -+ Id 2SV2, SVl ) ist ableitbar.
ID 3 : /\SVl/\SV2/\SV3«Id2SVl,SV2 A Id2sV2,SV3)-+Id2SVI,SV3) ist ableitbar.
ID 4 : /\ SVi.1 /\ SVi.2 ... /\ SVi.n /\ S\1.I/\ S\1.2 " ./\S\1J1 «(Id 2SVi.1 S\1.1 A Id2SVi.2S\1.2) A
A ••• A Id2SVi.nS\1J1) -+ (PRflSVi.t. SVi.2, ... , SVi.n -+ PR fl S\1.I' S\1.2, ... , S\1.n» ist

ableitbar.

Beispiel für eine - wenngleich nur I-zellige - Ableitung mit ,,Ka 2 ,, für die Ursäch-
lichkeit eines Verhaltens rur ein weiteres:

,j\ VI /\ V2 /\ v3 /\ v4«Id2vI, v3 A Id2v2, V4)-+


-+ (Ka2vI, v2 -+ Ka2v3, V4»"

4.2.3 Junktorenlogisch fundierte Ableitungsregeln

4.2.3.1 Junktorenlogische Allgemeingültigkeit


Wir haben nunmehr drei weitere Ableitungsregeln, nämlich die Regeln AE und AB für
die Einführung und rur die Beseitigung von Annahmen sowie Regel JL rur das Hin-
schreiben junktorenlogischer Konsequenzen, zu behandeln. Der logische Gesichts-
punkt, durch welchen sich diese Regeln hinsichtlich ihrer Korrektheit ausweisen kön-
nen, ist in allen Fällen der Gesichtspunkt junktorenlogischer Allgemeingültigkeit.
Ein Ausdruck AFo gilt junktorenlogisch allgemein genau dann, wenn sich seine
Wahrheit bereits aufgrund der Art des Vorkommens der darin enthaltenen Junktoren
ergibt, mit anderen Worten: wenn jede Interpretation diesen Ausdruck bereits seines
junktorenlogischen Aufbaus wegen erfüllt (4.2.1). Wir wollen AFo in diesem Zusam-
menhang in gewisse junktorenlogisch kleinste Verknüpfungsobjekte zerlegen. Jeden
Ausdruck Apo mit AFo in AFo, der sich weder im Wirkungsbereich eines Quantiftka-
tors befindet « d) aus 4.1.1.3 .2) noch als solcher auf einer junktorenlogischen Ver-
knüpfung beruht, fassen wir als O-stellige Prädikatenvariable oder auch als ,,Aussagen-
variable" auf. Wir symbolisieren Aussagenvariable durch große lateinische Buchstaben

,,A.", "B", . .. ,

ohne daß wir unsere symbolische Sprache durch derartige I-stellige Aussageformen
erweitern wollten. Zwecks Bestimmung des Wertbereichs von Aussagevariablen führen
wir zwei logische Konstanten ein, nämlich

,,'1' für die Disjunktion eines Ausdrucks mit seiner Negation und
,,;':' für die Konjunktion eines Ausdrucks mit seiner Negation.

131
Jürgen Rödig

Ystellt offenbar eine wahre Aussage dar. Sei nämlich WW(AFo) = WA. Dann gilt:
WW((AFo v -, AFo» = WF~(WW(AFo), WF~(WW(AFo))) = WF~(WA, WF~(WA» =
WF~(WA, FA) = WA. Sei andererseits WW(AFo) = FA. Dann gilt entsprechend WW
((AFo v -, AFo» = WF~(FA, WF~(FA» =WF~(FA, WA) = WA. - Ähnlich zeigt man,
daß A. stets eine falsche Aussage repräsentiert.
Wofür wir uns nunmehr interessieren, das ist die Frage, ob eine auf die angegebene
Weise allenfalls noch mithilfe von Junktoren hergestellte Verknüpfung von Aussageva-
riablen bei sämtlichen Belegungen sämtlicher Variablen durch jeweils eines der Ele-
mente von {Y, A.} auf Yreduziert werden kann; ist dies der Fall, so nennen wir besagte
Verknüpfung von Aussagevariablen eine "Y-Form", und jeder Ausdruck, der sich durch
Einsetzung in eine Y-Form ergibt, giltjunktorenlogisch allgemein.
Sei AF eine Aussagenvariable oder eine Aussageform, die sich mithilfe einer - ggf.
mehrfachen - Verknüpfung von Aussagenvariablen ergibt. Dann ist über die Reduzier-
barkeit auf YnachMaßgabe der - ggf.mehrfachen - Anwendung der folgenden Reduk-
tionsregeln zu entscheiden:

Man darf übergehen:

von: zu: von: zu: von: zu:

(AF A AF) AF (AF A Y) AF (AF A A.) A.


(YA AF) AF (A.A AF) A.
(AF v AF) AF (AF v Y) Y (AF vA.) AF
(Yv AF) Y (A. v AF) AF
(AF ~AF) Y (AF~ Y) Y (AF ~ A.) -, AF
(Y~AF) AF (A.~ AF) Y
(AF +-AF) Y (AF +- Y) AF (FA +- A.) Y
(Y +- AF) Y CA. +- AF) -,AF
(AF -AF) Y (AF - Y) AF (AF - A.) -,AF
(Y-AF) AF (A. -AF) -,AF

Gehen AF Negatoren in gerader Anzahl voraus, so darf man die negierte Formel auf
AF reduzieren. Bei ungerader Anzahl führt die Reduktion zu -, AF. -, Y ist auf A., -, A.
auf Yreduzierbar .
Man sieht die junktorenlogische Berechtigung der soeben vorgestellten Reduk-
tionsregeln unmittelbar ein. Was etwa die Reduzierbarkeit von (AF A AF) auf AF be-
trifft, so gilt für WW(AF) = WA: WW(AF A AF) = WF~(WW(AF), WW(AF» = WF~
(WA, WA) = WA. Für WW(AF) = FA gilt dagegen: WW(AF A AF) = WF~(FA, FA) =
FA. Der Wahrheitswert der Konjunktion stimmt daher jedesmal mit dem Wahrheits-
wert des einzelnen Konjunktionsglieds überein.
Unsere Reduktionsregeln sollen beispielsweise die Frage entscheiden helfen, ob

132
Ein Kalkül des juristischen Schließens

junktorenlogisch allgemeingültig ist. Die Ersetzung von junktorenlogisch kleinsten


Verknüpfungsobjekten durch Aussagenvariable ergibt:

Statt nun die gesamte Formel hinsichtlich sämtlicher 23 = 8 Verteilungen von


{y, A} auf "Vo", .,Go" und ,,E0" zu testen (was natürlich zulässig ist), untersuchen
wir allein, ob sich bei wahrem Implikans ein falsches Implikat ergeben kann. Setzen
wir Y ftir ,,E 0 ", so können wir in der Tat sowohl "Vo" als auch "G o " durch jeweils
Ysubstituieren, so daß die das Implikans bildende Konjunktion auf Y, die gesamte Im·
plikation jedoch auf Y-+ -, Y, mithin auf Y-+ A, mithin auf Areduziert werden kann.
Sofern wir die in der Ausgangsformel vorkommende Generalisation freilich zugunsten
von "ve" individualisieren, ergibt sich:

Diesmal kommt folgende Verknüpfung von Aussagevariablen zustande:

Für falsches Implikat, d. h. für die Ersetzung von ,,E0" durch Y, liefert die Bewer-
tung des Implikans bei Y ftir "Vo" Falschheit des zweiten Konjunktionsglieds, da
(Y-+ -, Y), d. h. (Y-+A), auf Areduziert werden kann; bei Amr "VO"kommt die Falsch-
heit des ersten Konjunktionsglieds heraus. Die das Implikans bildende Konjunktion ist
daher stets falsch, so daß sich kein falsches Implikat an ein wahres Implikans anschlie-
ßen kann. Wir haben es mit einer Y-Form und dementsprechend bei der auf "ve" bezo-
genen vollständigen Aussage mit einem junktorenlogisch allgemeingültigen Ausdruck
zu tun.
Der Charakter einer AF als einer Y-Form wird häufig auch mithilfe der sogenann-
ten "Wahrheitstafelmethode" ermittelt. Diese Methode vorausgesetzt, hätten wir die
möglichen Bewertungen von ,,((Vo 1\ (Vo -+ -, EO» -+ -, EO)" wie folgt "von innen
heraus" zu entwickeln:

Vo" ,,B0 " ,,-' EO" ,,(Vo -+ -, EO)" ,,(Vo 1\ (Vo -+ ,,((V o 1\ (Vo -+
" -+ -, EO)" -+ -, EO) -+ -, EO)"

Y Y A A A Y
Y J.. Y Y Y Y
A Y A Y A Y
A J.. Y Y J.. Y

Die unter den einzelnen Aussagevariablen sowie unter den auf sie bezogenen
Junktoren anzuschreibenden {Y' A} - Säulen können offenbar zusammengefaßt wer-
den, so daß sich die Möglichkeit einer Kombination der Wahrheitstafelmethode mit
dem zuvor geschilderten Reduktionsverfahren ergibt:

133
Jürgen Rödig

,,(V0 1\ (VO ~ -, EO) ~ -, EO)"


YA.YA.A.YYA.Y
YYYYYA.YYA.
A. A. A. Y A. Y Y A. Y
A. A. A. Y Y A. Y Y A.

Berücksichtigen wir schließlich, daß die Betrachtung der Fälle mit falschem Impli-
kat ausreichend ist, so brauchen nur noch folgende Wertungen durchgeführt zu werden:

,,(V0 1\ (V0 ~ -, EO) ~ -, EO)"


Y A. A. Y Y A. Y
A. A. Y A. Y

Das derart abgekürzte Verfahren einer Kombination von Wahrheitstafelrnethode


und Reduktionsregeln empfiehlt sich insbesondere bei der Prüfung extensiver Implika-
tionen mit vergleichsweise kleinem Implikat. Mit der Prüfung solcher Implikationen
haben wir es insbesondere im Zusammenhang mit der Ermittlung des Bestehens junk-
torenlogisch fundierter Folgerungsbeziehungen zwischen jeweils einer Menge von Prä-
missen {AF?, AF~, ... , AF~} einerseits und einer Conclusio AF~ andererseits zu tun.
Gesetzt nämlich, die extensive Implikation (AF? ~ AF~) gelte allgemein, d. h.

Dann wird (AF? ~ AF~) durch jede Interpretation erfüllt, m. a. W.: es gibt keine
Interpretation, welche (AF? ~ AF~) falsifiziert, bei welcher also WW(AF?) = WA und
WW(AF~) =FA. Gibt es keine derartige Interpretation, so besteht die Folgerungsbezie-
hung nun aber auch zwischen AF? einerseits und AF~ andererseits. Denn auch inso-
weit ist zu fordern, daß jede Realisierung von AF? zugleich eine Realisierung von AF~
ist (4.2.1), daß es also wiederum keine Interpretation gibt, bei welcher WW(AF?) =
= WA und WW(AF~) = FA. Der soeben skizzierte Zusammenhang läßt sich auf nahe-
liegende Weise verallgemeinern (sog. ,,Deduktionstheorem"):

{AF?, AF~, ... , AF~} Ir- AF~ genau dann, wenn


{AF?, AF~, ... , AF~_l} Ir- (AF~ ~ AF~),
oder auch dann, wenn {AF?, AF~, ... , AF~_2} Ir- ((AF~_l 1\ AF~) ~ AF~) usw.,
schließlich genau dann, wenn (/) Ir- (((AF? 1\ AF~ 1\ ••• 1\ AF~) ~ AF~)

Das Deduktionstheorem dient, wie man sieht, insbesondere dazu, eine der Prämis-
sen einer conclusio zugunsten der Bildung einer extensiven Implikation aus Prämisse
und conclusio aufzugeben; es wirkt sich, mit andern Worten, auf den logischen Stellen-
wert der Voraussetzung nicht aus, ob sie entweder als Element der Menge der Prämis-
sen eines Satzes oder aber als Implikans dieses Satzes figuriert. Diesen Zusammenhang
werden wir insbesondere anläßlich von Regel AB zur Beseitigung von Annahmen -
nämlich zur Verkleinerung der Prämissenmenge - zu berücksichtigen haben. Wir gehen
zwecks Motivierung der folgenden Regeln im übrigen davon aus, daß AF~, falls (((AF?

134
Ein Kalkül des juristischen Schließens

A AF~) A ••• A AF~) -+ AF~) junktorenlogisch allgemeingültig ist (d. h. als Einsetzung

in eine Y-Form aufgefaßt werden kann), unter den Annahmen von AF?, AF~, ... und
AF~ oder auch unter den Annahmen dieser Annahmen ableitbar sein muß.

4.2.3.2 JLcp
Wir benötigen die zuletzt angestellte Überlegung zunächst zur Begründung der Regel
JL für den Fall, daß m = 0:

Ist AF~ Ergebnis einer Einsetzung in eine Y-Form,


so darf AF~ unter 0 Annahmen abgeleitet werden.

Zu jeder - ohne Innenklammern notierten - Konjunktion kann offenbar, ohne


daß sich der Wahrheitswert der Konjunktion ändert, ein wahres Konjunktionsglied hin-
zugefügt werden. Also würde auch die Streichung dieses Gliedes nicht schaden, und
man pflegt insbesondere eine aus 0 Gliedern bestehende - ,)eere" - Konjunktion als
wahr gelten zu lassen. «(AF? A AF~) A ••• A AF~) -+ AF~) gilt mithin für m = 0 als
gleichbedeutend mit Y -+ AF~, folglich als gleichbedeutend mit AF~. Dies vorausge-
setzt, wird mit «(AF? A AF~) A ••• A AF~) -+ AF~) auch AFg allein Ergebnis einer
Einsetzung in eine Y-Form, mithin junktorenlogisch allgemeingültig sein. AF~ folgt,
was zu zeigen ist, aus 0 Prämissen.

4.2.3.3 Einftihrung von Annahmen


AE: AFo darf unter der Annahme von AFo abgeleitet werden.

Motivierung: «(AF? A AF~) A ••• A AF~) -+ AF~) umfaßt außer dem soeben behan-
delten Fall mit m = 0 den Sonderfall, daß m = 1, und zwar insbesondere den Sonderfall
dieses Sonderfalles, daß AF~ == AF~: (AFo -+ AFo). Eine derartige Implikation kann
offenbar als Ergebnis der Einsetzung in eine Y-Form aufgefaßt werden, so daß mit der
Ableitbarkeit von AFo aus AFo das Bestehen der Folgerungsbeziehung AFo 11- AFo
korrespondiert.
Beispiele für Anwendungen von JLcp und von AE mit ,,Pw 1 " für die positive und
mit ,,Nw 1 ,, für die negative Bewertung eines Sachverhalts nach Maßgabe eines voraus-
gesetzten Wertes:

1 JLcp

,,(p0 v -, po) ist offenbar Y-Form, und der den Inhalt der letzten Zeile bildende
Ausdruck gilt voraussetzungslos. Anders verhält es sich bei dem den Inhalt der fol-
genden Zeile bildenden Satz:

1 (1) AE

Dieser Satz stellt, so selbstverständlich er sich auch anhören mag, in formallogi-


scher Hinsicht bereits eine Annahme dar, und nur unter der Annahme dieser Annahme

135
Jürgen Rödig

ist er ableitbar. Was fUr derart selbstverständliche - schier analytisch zutreffende -


Sätze gilt, das gilt für rechtliche Grundsätze von der Art, wie wir sie in rechtlichen
Kodifikaten antreffen können, in der Regel erst recht. Nur ausnahmsweise werden sich
Rechtssätze von der Art des Art. 516 des Code Civil finden: "Tous les biens sont
meubles ou immeubles", also Sätze, deren rechtliche Qualität weniger auf ihrem Rege-
lungsgehalt als vielmehr - wenn überhaupt - auf dem Vorkommen einschlägiger Prä-
dikate beruht. Ob man derartige Sätze überhaupt als Rechtssätze auffassen solle, so
daß es außer synthetischen und analytischen Normen auch bereits logisch wahre
Rechtssätze gäbe, ist eine Frage sprachlicher Vereinbarung. Halten wir jedenfalls fest,
daß regelrechte Normen als schlichte Annahmen eingeführt werden müssen. Man kann
in einer etwas feierlicheren Weise von ,,Axiomen" sprechen,jedoch die~e Axiome sind
irgendwelchen anderen noch so absurden Annahmen hinsichtlich ihrer logischen Digni-
tät nicht überlegen. Auf dieses Faktum gilt es um so mehr hinzuweisen, als die insbe-
sondere von topischer Seite her vorgetragenen Angriffe gegen die axiomatische Methode
in der Jurisprudenz sich in Wirklichkeit auf einen Pappkameraden beziehen: sie richten
sich gegen ,,Axiome" im vor-HILBERTschen Sinn dieses Wortes. Die in eine Ableitung
eingeführten Annahmen brauchen weder von Naturrechts wegen geltende Sätze noch
sonstige Rechtssätze von schlechterdings salomonischem Charakter zu sein. Man wird
vielmehr gerade umgekehrt nicht selten einen zweifelhaften Ausgangspunkt einneh-
men, um diesen auf seine entweder erträglichen oder aber untragbaren Konsequenzen
zu testen. Man macht von dieser Annahme einen sozusagen tückischen Gebrauch, und
es wäre abwegig, aufgrund des teilweisen Auftretens von Rechtssätzen als Prämissen
von logischen Schlüssen so etwas wie eine Zementierung des objektiven Rechts zu
befürchten.

4.2.3.4 Beseitigung von Annahmen


Mit Bezug auf die Erläuterung des Deduktionstheorems (4.2.3.1) notieren wir nunmehr
Regel

AB: Ist AF~ abgeleitet, so kann (AF~ ~ AF~) unter den Annahmen von AF~ oder
unter den Annahmen von AF~ mit Ausnahme des Ausdrucks AF~ abgeleitet
werden.

Noch nicht behandelt ist lediglich der - unproblematische - Fall, daß (AF~ """*
AF~) unter sämtlichen Annahmen von AF~ abgeleitet wird. (AF~ """* (AF~ """* AF~))
kann offenbar als Ergebnis der Einsetzung in eine Y-Form aufgefaßt werden. Daher gilt
auch AF~ Ir- (AF~ """* AF~), und wenn (AF~ """* AF~) eine Folgerung aus AF~ ist, so
stellt (AF~ """* AF~) wegen der Transitivität der Folgerungsbeziehung auch eine Folge-
rung aus den Prämissen von AF~ dar.

4.2.3.5 Junktorenlogischer Übergang


Auch zwecks Motivierung der folgenden Regel braucht lediglich auf das Deduktions-
theorem sowie auf die Transitivität der Folgerungsbeziehung hingewiesen zu werden:

136
Ein Kalkül des juristischen Schließens

JL: Sind AF? unter den Annahmen von (k 1), (k 2 ), ... und (kh ), AFg unter den An-
nahmen von (1d, (12), ... und (1i), ... und AF~ unter den Annahmen von (md,
(m2), ... und (mj) abgeleitet, so darf,falls (((AF? 11 AFg) 11 ... 11 AF~) ~ AF~)
Ergebnis der Einsetzung in eine Y-Form ist, AF~ unter den Annahmen von (kd,
(k 2), ... , (kh ), (1d, (12), ... , (1D, ... , (md, (m2), ... und (mj) abgeleitet werden.

Beispiel für die Anwendung von JL und AB:

I (1) " (Gb1ve 1 ~ Er1ve 1)" AE


2 (2) ,,(Gblve2 ~ Erlve2)" AE
3 (1,2) ,,((Gblvel 11 Gblve2) ~ (Erlvel 11 Erlve2»" (1)(2) JL
4 (1) ,,((Gblve2 ~ Erlver) ~ ((Gblvel 11 Gblve2) ~
~ (Erlvel 11 Erlve2»)" (2) (3) AB
5 ,,((Gblvel ~ Er1ved ~ ((Gblve2 ~ Erlve2) ~
~((Gblve211 Gblve2)~(Erlvel ~Erlver))))" (3)(4) AB

Der in Zeile (5) angeschriebene Ausdruck wird als Konsequenz aus 0 Annahmen
behauptet. Er gilt in der Tat voraussetzungslos; er kann als Ergebnis der Einsetzung in
folgende Y-Form aufgefaßt werden:

4.2.4 Quantorenlogisch fundierte Ableitungsregeln

4.2.4.1 AF SVjSK
Für die Formulierung der quantorenlogisch fundierten Ableitungsregeln erweist sich
folgende Abkürzung als zweckmäßig. Unter

AF SVjSK

verstehen wir das Ergebnis, welches man erhält, wenn man SV überall dort, wo SV in
AF frei vorkommt, durch SK ersetzt. Daher beispielsweise

4.2.4.2. Beseitigung von Generalisatoren


GB: Ist 1\ SV AF abgeleitet, so ist AF SV jSK unter den Annahmen von 1\ SV AF ab-
leitbar.

Die logische Berechtigung der Regel leuchtet unmittelbar ein. Gehen wir beispielsweise
von einem Kleinstaat aus, in welchem es lediglich vier Personen gibt: pel, pe2, pe3 und

137
JÜIgen Rödig

pe4' Die Namen dieser Personen mögen den Wertbereich von "p" bilden. "Rfl " möge
wieder die Eigenschaft bezeichnen, rechtsfähig zu sein. Dann stimmt

aufgrund der Festsetzungen, die wir trafen (4.1.2.3), mit

überein. Wegen (AFY A AFg) 11- AFY kann der zuletzt notierte Ausdruck erst auf
,,«Rf1pel A Rf1pe2) A Rf1pe3)", sodann auf ,,(Rf1pel A Rf1pe2)" und schließlich
auf "Rf1pel" zurückgeführt werden. Wie von ,,/\ Rf1p" zu ,,Rf1pel ", so gelangen wir
mittels sogenannter A -Abschwächung (oder wegen der ,)dempotenz" der Konjunk-
tion) auch zu ,,Rf1pe2", zu ,,Rf1pe3" oder zu ,,Rf1pe4'" Daß der Generalisator mög-
licherweise eine Zusammenfassung unendlich vieler - in prädikativer Hinsicht paralle-
ler - Konjunktionsglieder repräsentiert, ist für die Statthaftigkeit des Übergangs von
einer Generalisation zum individualisierten Wirkungsbereich des entsprechenden Quan-
tifikators ohne Belang.

4.2.4.3 Einführung von Generalisatoren


Problematisch ist es hingegen, gerade umgekehrt aus einem Beispiel auf die allgemeine
Fassung des beispielshalber behaupteten Inhalts schließen zu wollen. Ein derartiger
Schluß dürfte, wenn überhaupt, so nur unter gewissen Einschränkungen zulässig sein.
Ist eines der Mitglieder unseres Kleinststaates (4.2.4.2) geschäftsfähig, so braucht
dies keineswegs fUr das gesamte Staatsvolk zu gelten. Allein aufgrund von "Gf1pe" kann
,,/\ p Gf1p" nicht abgeleitet werden. Gesetzt nun aber, es stelle "Gf1pe" seinerseits
das Ergebnis einer Ableitung dar:

1 (1) ,,/\p (Rf1p A Gf1p)" AE


2 (1) ,,(Rf1pe A Gf1pe)" (1) GB
3 (1) (2) JL

Gehen wir diesmal zu besagtem generellen Ausdruck über, nämlich zu

4 (1)

so ist das Beispiel (3) nur dem Anschein nach das Opfer einer unzulässigen Verallge-
meinerung geworden. In der Annahme nämlich, auf welcher die Ableitung von (3) be-
ruht, wird das den individuellen Charakter von (3) bestimmende Individuum pe über-
haupt nicht erwähnt: (1) gilt fUr sämtliche Individuen, deren Namen die Elemente des
Wertbereichs der Subjektsvariablen bilden.
Der Beliebigkeit des zu verallgemeinernden Beispiels ist aber auch im Hinblick auf
die Art der Verallgemeinerung selber zu wehren. Nehmen wir einmal an, es könne jede

138
Ein Kalkül des juristischen Schließens

Person als ihr eigener Gläubiger aufgefaßt werden. Dann geht diese Annahme gleich-
wohl ersichtlich weniger weit als das Ergebnis des folgenden Schlusses:

1 (1) ,,/\ P G1 2p. p" AE


2 (1) "GI 2pe, pe" (1) GB
3 (1) ,,/\ p G1 2 p, pe" ?

Die durch "pe" bezeichnete Person wird sich schön daftir bedanken, daß sie zum
Ausgleich ftir den zweifelhaften Vorteil, als ihr eigener Schuldner angesehen werden zu
dürfen, plötzlich als Schuldner sämtlicher weiterer Mitbürger herhalten muß. Wollte (3)
eine regelrechte Verallgemeinerung des in (2) erwähnten Beispiels sein, so müßte sich
die Generalisierung der Variablen auf sämtliche der in (2) enthaltenen Vorkommnisse
der mit "p" korrespondierenden Subjektskonstanten beziehen. In Wirklichkeit wird
jedoch, was Zeile (3) betrifft, ein anderer Inhalt als das Bestehen der zu verallgemei-
nernden Beziehung behauptet. Es handelt sich um den - auch mittels eines 1-stelligen
Prädikats erfaßbaren - Umstand, Gläubiger eines ganz bestimmten Bürgers zu sein.
Generalisatoren können nach alle dem nur nach Maßgabe folgender Regel einge-
führt werden:

GE: Ist AF SVjSK abgeleitet und tritt SK weder in AF (',horizontale Unabhängig-


keit"; siehe letztes Beispiel) noch in irgendeiner Annahme von AF SVjSK auf
("vertikale Unabhängigkeit"; siehe erstes Beispiel), so ist /\ SV AF unter den An-
nahmen von AF SV jSK ableitbar.

4.2.4.4. Auswechslung von Quantoren


Mithilfe der folgenden Regel, welche leicht verallgemeinert werden kann, dürfen insbe-
sondere Partikularisatoren eingeführt werden:

QU: Ist -, /\ SV -, AF abgeleitet, so darf V SV AF unter den Annahmen von -, /\ SV


-, AF abgeleitet werden.

Zur Motivierung der Regel werde auf die Interpretation von Partikularisationen
(oben 4.1.2.3) Bezug genommen.

42.4.5 Derivative Regeln


Die folgenden Ableitungsbeispiele sind sowohl die bislang angegebenen - "originären"
- Ableitungsregeln zu illustrieren als auch gewisse weitere (für die Praxis des Beweisens
überaus nützliche) Ableitungsregeln zu motivieren bestimmt.

1 (1) " Gl 2pe.,pe 2 " AE


2 (2) ,,/\ p -, G1 2 p, pe 2" AE
3 (2) ,,-' Gl 2pe., pe 2" (2) GB

139
Jürgen Rödig

4 ,,(/\ p --, G1 2p, pe2 ~ --, Gl 2pe l, pe2) (2)(3) AB


5 (1) ,,--' /\ p --, G1 2p, pe2" (1) (4) JL
6 (1) "V p GI2p,pe2" (5) QU

Mithilfe einer weiteren Regel zur Einftihrung von Partikularisatoren, welche be-
reits aufgrund der schon angegebenen Regeln zulässig ist, hätte man unmittelbar von
der ersten zur letzten Zeile übergehen können:

PE: Ist AF SVjSK abgeleitet, so ist V SV AF unter den Annahmen von AF SVjSK
ableitbar.

Die Regel korrespondiert mit der Erschließbarkeit von (AF? v AF~) aus AF?
ebenso wie Regel GB mit der Erschließbarkeit von AF? aus (AF? /I AF~); siehe oben
4.1.2.3,4.2.4.2. - Will man ferner den Bezug auf ein als Annahme eingeführtes Bei-
spiel vermeiden, so läßt es sich aus der Menge der Annahmen des zu beweisenden
Satzes folgendermaßen eliminieren (',BB" als Kürzel für "Beseitigung eines Beispiels"):

BB: Folgende Bedingungen seien erfüllt:


(1) V SV AF 1 ist in der i-ten Zeile einer Ableitung abgeleitet;
(2) in einer weiteren Zeile G) kommt AF 1 SV jSK als Element der Annahmen-
menge vor;
(3) AF 2 ist in Zeile (k) abgeleitet;
(4) SK ist weder in AF 1 noch in AF 2 noch in einer der Annahmen der koten
Zeile enthalten, ausgenommen Annahme AF 1 SV jSK.
Dann darf AF 2 unter den Annahmen der Annahmen der Zeilen (i) und (k) mit
Ausnahme der Annahme G) abgeleitet werden.

Die für die Anwendung von BB angegebenen Bedingungen erklären sich daraus,
daß man, sofern man die mit BB gebotene Abkürzungsmöglichkeit nicht wahrnehmen
möchte, u. a. auf Regel GE zurückgreifen müßte:

1 (1) ,,/\ P (Rf1p +- Gf1p)" AE


2 (2) "V P Gf1p" AE
3 (3) Gf1pe" AE
"
4 (1) ,,(Rf1pe +- Gf1pe)" (1) GB
5(1,3) ,,Rf1pe" (3) (4) JL
6(1,3) "V P Rf1p" (5) PE
7 (1) ,,(Gf1pe ~ V P Rf1p)" (3) (6) AB
8 (8) ,,--' V P Rf1p" AE
9 (1, 8) ,,--' Gf1pe" (7)(8) JL
10(1,8) ,,/\ P --, Gf1 p" (9) GE

140
Ein Kalkül des juristischen Schließens

11 (1) ,,(-, V P Rf1p -+ 1\ p -, Gf1p)" (8)(10) AB


12 (2) ,,-,1\ p -, Gf1p" (2) QU
13(1,2) "V P Rf1p" (11)(12) JL

Was die Formulierung von Regel BB angeht, so wird (i) durch (2), G) durch (3)
und (k) durch (6) repräsentiert. Für die Notwendigkeit der vierten Bedingung betref-
fend das Vorkommen von SK, hier: von "pe", ist maßgebend der Übergang von Zeile
(9) zu Zeile (10) mithilfe von GE. "pe" darf erstens - ,,horizontale Unabhängigkeit"
- nicht in ,,-' Gf1p" enthalten sein, mithin auch nicht im Wirkungsbereich des in Zeile
(2) vorkommenden Quantiflkators, also nicht in AF 1 = "Gflp". "pe" darf zweitens -
"vertikale Unabhängigkeit" - nicht in einer der Annahmen von (9) enthalten sein, also
insbesondere weder in (8) noch - a fortiori - in AF 2 = (6) noch - bis auf Annahme
(3) - in einer der Annahmen von (6). Wir wären nach alle dem berechtigt gewesen, von
(6) sogleich zu (13) überzugehen, wobei der Unterschied der beiden Zeilen - von der Ver-
schiedenheit der Zeilennummern sowie von der ZeilenbegrÜfldung abgesehen - ledig-
lich in der Ersetzung von Annahme (3) durch die - schwächere - Annahme (2) be-
ruht:

6(1,3) "V P Rf1p" (5) PE


7 (1,2) "V P Rf1p" (2) (3) (6) BB

Wie bei der Generalisierung von Beispielen mittels GE, so kommt es auch bei der
Beseitigung von Beispielen mithilfe von BB darauf an, daß die Individualität des Bei-
spiels in die zu gewinnende conclusio nicht eingehen darf. Nachdem in (1) angenom-
men worden ist, daß nur rechtsfähig ist, wer geschäftsfähig ist, und nachdem man mit-
tels (2) davon ausgegangen ist, es existiere wenigstens eine geschäftsfähige Person, fährt
man in (3) - wenn auch vorerst ohne expliziten Bezug auf (2) - etwa folgendermaßen
fort: ,,Es sei nun pe eine solche - nämlich geschäftsfähige - Person". Dann muß
jedenfalls diese bestimmte Person auch rechtsfähig sein (Zeilen (4) und (5», so daß a
fortiori wenigstens eine rechtsfähige Person existiert: Zeile (6). Was die Gewinnung
dieser conclusio anbelangt, so ist es indessen ohne Belang, daß gerade das durch die
Subjektskonstante "pe" bezeichnete Individuum als Träger der Geschäftsfähigkeit hat
herhalten müssen;"V p Rf1p" folgt bereits aus (1) und (2): Zeile (7).
Es liegt schließlich nahe, Regel QU (4.2.4.4) dahin zu verallgemeinern, daß so-
wohl

V SV AF und -, 1\ SV -, AF
als auch V SV -, AF und -, 1\ SV AF
als auch -, V SV AF und 1\ SV -, AF
als auch -, V SV -, AF und 1\ SV AF

jeweils unter denselben Bedingungen ableitbar sind. Ist also beispielsweise 1\ SV -, AF


abgeleitet, so darf -, V SV AF unter den Annahmen von 1\ SV -, AF abgeleitet werden.

141
JÜIgen Rödig

Wie bei der Darstellung der derivativen Ableitungsregeln, so haben wir uns auch im
Zusammenhang mit den "originären" Regeln (4.2.2 bis 4.2.4.4) darauf beschränkt, die
einzelnen Regeln mithilfe eines an die Intuition des Lesers appellierenden Verfahrens
plausibel zu machen. Mit einem derartigen Verfahren ist es natürlich nicht einmal fUr
den systematischen Nachweis der Korrektheit der Regeln getan, also (siehe schon
4.1.1.1) für denNachweis,daß stets, wenn {AFY, AF~, ... ,AF~} r-
AF~, so auch {AFY,
AF~, ... , AF~} Ir-
AF~. Für den Nachweis der Vollständigkeit des Regelsystems, also
Ir-
fUr den Nachweis, daß mit {AFY ,AF~, """' AF~ } AF~ auch {AFY, AF~, ... , AF~ } r-
r- AF~, können die hier skizzierten (und jeweils auf die Berechtigung der einzelnen
Regeln bezogenen) Gesichtspunkte erst recht nicht ausreichend sein. Gerade insoweit
sei auf die ungeachtet ihrer Exaktheit höchst durchsichtige Darstellung B. MATEs so-
wie auf die Darstellung verwandter Kalküle des natürlichen Schließens durch QUINE,
v. KUTSCHE RA und ESSLER verwiesen.

4.3. Anwendungen

4.3.1 Juristische Argumentationstheorie

§ 59 Abs. 1 StGB (a. F.) lautet: "Wenn jemand bei Begehung einer strafbaren Hand-
lung das Vorhandensein von Tatumständen nicht kannte, welche zum gesetzlichen Tat-
bestand gehören oder die Strafbarkeit erhöhen, so sind ihm diese Umstände nicht zu·
zurechnen". Groß scheint die Versuchung zu sein, aus dieser Vorschrift per argumen-
turn e contrario darauf zu schließen, daß fehlende Unkenntnis - d. h., daß Kenntnis -
Zurechenbarkeit zur Folge habe.
Mit dem Nachweis der Unrichtigkeit des genannten ,,schlusses" wird man den -
durch mehrere einschlägige rechtsmethodologische Veröffentlichungen verwöhnten -
Leser nicht abspeisen können. Wir wollen die Analyse des ,,schlusses" vielmehr zum
Anlaß für eine kleine Übersetzungsübung sowie zum Anlaß dafur nehmen, die Verwen-
dung sogenannter ,,rnehrsortiger Prädikatenkalküle" zu motivieren.
Bei den bisher behandelten Beispielen hatten wir uns jeweils nur mit einer Art von
Individuen befaßt, insbesondere entweder mit Personen oder mit Verhaltensweisen.
Diesmal jedoch scheinen wir mit mindestens zwei Arten von Individuen arbeiten zu
müssen, und zwar sowohl mit Personen als auch mit "Umständen", welche diesen Per-
sonen zuzurechnen sind oder nicht. Es ist indessen unproblematisch, die mehreren
Arten von Individuen auf eine und nur eine zu reduzieren. Wir fassen das fUr eine Art
bestimmende Kriterium als zusätzliches l-stelliges Attribut auf und haben es demge-
mäß mit insgesamt folgenden Prädikaten zu tun:

JN (,'pe l . ") = . ist eine Person


JN ("Um l .") . ist ein - zum gesetzlichen Tatbestand gehörender oder auch die
Strafbarkeit erhöhender - Tatumstand
JN (,,Ke 2 ., •• ") = . kennt .. bei Begehung der Tat
JN ("Zu 2 ., •. ") = der Person. ist der Tatumstand .. zuzurechnen

142
Ein Kalkül des juristischen Schließens

Dies vorausgesetzt, kann § 59 Abs. 1 StGB (a. F.) wie folgt als Annahme einge-
fUhrt werden:

1(1) AE

Den Übergang zu der gewünschten conclusio (Zurechnung infolge Kenntnis) kön-


nen wir allenfalls mithilfe junktorenlogischer Umfonnung erreichen, und diese setzt
die - vorübergehende - Beseitigung der Generalisatoren voraus:

2 (1) ,,/\ b «pe1aa A Um1b) ~ (...., Ke 2 aa, b ~...., Zu 2 aa, b»" (1) GB
3 (1) ,,«pe1aa A Um1ba) ~ (...., Ke 2 aa, ba ~...., Zu 2 aa, ba»" (2) GB

Erfreulich wäre es nunmehr, mithilfe von JL von (3) zu folgendem Ausdruck über-
gehen zu können:

welcher mit der individualisierten Fassung

der gewünschten conclusio gleichwertig ist. Dasjunktorenlogische Schema, in welches


wir (3) und die folgende Zeile zu diesem Zweck einsetzen müßten, hält indessen einer
Nachprüfung nicht stand:

,,«(p0 A Uo) ~ (...., KO ~...., Zo» ~ «po A Uo) ~ (...., ...., KO ~...., ...., ZO»)"

Y YY Y A.Y YYA. A. Y YY A. YA.Y A.A.YA.

Den Charakter einer Y-F onn hat le diglich das Schema

,,«(p0 A Uo) ~ (...., KO ~...., Zo» ~ «po A Uo) ~(....,...., ZO ~....,...., KO)))",

Y YY A. Y A. A.A.Y Y Y YY A. YA.Y A.A. YA.

so daß unsere Ableitung auf eine zwar logisch unangreifbare ,jedoch inhaltlich ungleich
bescheidenere Weise dahinplätschern kann:

4 (1) ,,«pe1aaA Um1ba) ~(....,...., Zu 2aa, ba ~....,...., Ke 2 aa, ba»" (3) JL


5 (1) ,,«pe1aa A Um1ba) ~ (Zu 2 aa, ba ~ Ke 2 aa, ba»" (4) JL
6 (1) ,,/\ b «pe1aa A Um1b) ~ (Zu 2 aa, b ~ Ke 2 aa, b»" (5) GE
7 (1) ,,/\ a /\ b «pe1a A Um1b) ~ (Zu 2 a, b ~ Ke 2 a, b»" (6) GE

,,Natürlicher" als der Schluß von (1) auf (7) würde zweifellos ein Schluß von

143
Jürgen Rödig

auf

erscheinen. Diesmal ist sowohl im Rahmen der - einzigen - Prämisse als auch im Rah-
men der conclusio sogleich vom Zusammenhang zwischen Kenntnis und Zurechnung
die Rede. Auf die zuvor mittels ,,(Pe1a 1\ Um1b)" getroffene Festsetzung können wir
nun aber offenbar nur dann venichten, wenn wir den Wertbereich der beiden Varia-
blen im vorhinein beschränken, und zwar auf die Weise, daß der Wertbereich der einen
Variablen ausschließlich aus Namen von Personen und der Wertbereich der andern
Variablen ausschließlich aus Namen von Tatumständen besteht. Eine derartige Be-
schränkung ist nicht nur höchst praktisch. Sie ist zugleich in logischer Hinsicht voll-
kommen unproblematisch. Den fUr eine Interpretation der symbolischen Sprache vor-
auszusetzenden Individuenbereich besitzen wir nach wie vor; er ergibt sich nunmehr
als Vereinigung der Mengen jener Individuen, welche durch die zu den Wertbereichen
der einzelnen Subjektsvariablen gehörenden Subjektskonstanten bezeichnet werden.
Auch an der extensionalen Interpretation der Prädikate ändert sich nichts. Was die
einem n-stelligen Prädikat entsprechende Relation, also die Menge der ein bestimmtes
n-stelliges Attribut erfüllenden n-tupel von Individuen anbelangt, so ist es im Hinblick
auf die innere Ordnung eines gegebenen n-tupels unschädlich, daß die in dem n-tupel
vorkommenden Individuen zu verschiedenen Arten gehören. Hinsichtlich ihres logischen
Typus stimmen sämtliche Elemente eines gegebenen n-tupels miteinander überein. Vor
allem die Korrektheit unserer Ableitungsregeln wird durch die ,,Mehrsortigkeit" der in
der symbolischen Sprache vorkommenden Subjektsvariablen nicht berührt. Von den
originären Regeln sei insofern lediglich die ,,kritische" Regel GE erwähnt, ftir deren
Anwendung die Einhaltung gewisser Bedingungen erforderlich ist (4.2.4.3). Sowohl die
Bedingung der horizontalen als auch die Bedingung der vertikalen Unabhängigkeit der
zu generalisierenden Subjektskonstanten sind, sofern sie bereits bei einem einsortigen
Kalkül eingehalten werden, bei einem mehrsortigen Kalkül mit elementfremden Wert-
bereichen a fortiori erflillt; man verdeutliche sich dies anhand des - freilich unprak-
tischen - Grenzfalles, daß die Wertbereiche sämtlicher Variablen elementfremd sind
und jeder Wertbereich aus einer einelementigen Menge besteht.
Die aussagenlogische Struktur unseres Umkehrschlusses ist mithin verschieden je
nachdem, ob wir uns eines mehrsortigen Kalküls bedienen oder nicht; das Schema, in
welches wir einsetzen müssen, lautet entweder

oder

Von "der" Struktur des argumentum a contrario kann, sofern es überhaupt richtig
gebraucht wird, nicht die Rede sein. Bei den übrigen Schlußweisen wie namentlich
beim argumentum a simile, beim argumentum a maiore ad minus, beim argumentum a
minore ad maius sowie beim argumentum ad absurdum, welche ohnehin allenfalls ein

144
Ein Kalkül des juristischen Schließens

Fünkchen logischer Wahrheit enthalten, verhält es sich ähnlich. Kann eine Argumenta-
tion auf das Bestehen einer entsprechenden Folgerungsbeziehung zurückgeführt wer-
den, so genügt es, daß es keine Interpretation gibt, welche die Prämissenmenge reali-
siert (4.2.1). Mithilfe welcher Formeln wir Prämissen und conclusio abbilden wollen,
ist ebenso Geschmacksfrage wie die Verwendung gerade dieser und nicht jener Junk-
toren. Was etwa die schematisierte Folgerungsbeziehung

angeht, mithilfe deren man geneigt ist, die korrekte Version des argumentum a contra-
rio zu beschreiben, so könnte man mit gleichem Recht notieren:

Den Schwerpunkt einer juristischen Argumentationstheorie dürfte man, was ihren


logischen Aspekt angeht, in der Tat weniger im Auffinden gewisser allgemeingültiger
Formeln oder auch gültiger Folgerungsbeziehungen anzusetzen haben, welche jeweils
als "die" logische Grundlage eines gegebenen Arguments figurieren. Von Interesse
dürfte vielmehr sein, ob und inwieweit sich die logische Form eines Arguments von den
ftir die Stichhaltigkeit des Arguments maßgebenden inhaltlichen Gesichtspunkten über-
haupt abstrahieren läßt, und welche logische Kategorien es sind, mit deren Hilfe man
die logische Form des Arguments zweckmäßigerweise erfaßt. In diese Forschungsrich-
tung scheinen insbesondere die einschlägigen Partien aus KLUGs Juristischer Logik,
und zwar namentlich seit der dritten Auflage des Werkes, zu weisen.
Studieren wir beispielsweise das sogenannte "argumentum a fortiori", welches ge-
braucht zu werden scheint, wenn jemand dem Umstand, daß etwas soundso sei, die
Tatsache entnimmt, etwas anderes sei nunmehr "erst recht" der Fall. KLUG diskutiert
in diesem Zusammenhang, und zwar im Anschluß an TAMMELO, das Verbot des Fahr-
radfahrens zu zweit auf öffentlichen Wegen. Ebenso zweifellos, wie zwei in drei enthal-
ten ist, scheint es verboten zu sein, auf öffentlichen Wegen zu dritt ein und dasselbe
Fahrrad zu benutzen. Es scheint sich um nichts anderes als um eine formale Abschwä-
chung des zuerst angeführten Rechtssatzes zu handeln. Groß wird unsere Verlegenheit
indessen, wenn wir versuchen, besagte Abschwächung durch eine entsprechende logi-
sche Gesetzmäßigkeit zu repräsentieren.
Beispiele für logische Abschwächungsverfahren haben wir bereits kennenge-
lernt, und zwar namentlich anläßlich der Motivierung der Ableitungsregeln GB (4.2.4.2)
und PE (4.2.4.5): Aus (AF? " AF~) darf auf AF?, aus AF? auf (AFY v AF~) geschlos-
sen werden. Anwendbar auf unseren Ausgangsfall sind beide dieser Folgerungsbezie-
hungen, jedoch ihre Anwendung führt nicht weiter. Bezeichne etwa das O-stellige Prädi-
kat "Fzo" das generelle Verbot des Fahrens zu zweit, "Fdo" das generelle Verbot des
Fahrens zu dritt auf öffentlichen Wegen. Dann gelangt man zwar mühelos von "Fzo"
zu ,,(Fzo v Fdo),,:

1 (1) AE
2 (1) (1) JL

145
Jürgen Rödig

und zwar sogar in der Weise, daß "Fzo" als - einzige - Voraussetzung von ,,(Fzo v
Fdo)" auftritt. Nur hat (2) den Nachteil, dem gewünschten Verbot des Fahrradfahrens
zu dritt nicht zu entsprechen. Die Verbotenheit des Fahrens zu dritt wird lediglich dis·
junktiv in Verbindung mit dem Verbot des Fahrens zu zweit ausgesprochen, und trifft
das zuletzt genannte Verbot zu, so braucht das weitere nach Maßgabe der Definition
der Disjunktion nicht zu gelten. Das Zutreffen eines Disjunktionsgliedes genügt.
Den Kern des Schlusses auf die Verbotenheit des Fahrradfahrens zu dritt scheint
die Überlegung zu bilden, daß der Gesetzgeber gleichsam ein höheres Maß an Rege-
lungsenergie hat aufbringen müssen, um bereits das Fahren zu zweit zu verbieten. Für
das auf öffentliche Wege bezogene Verbot des Fahrradfahrens zu dritt oder gar des be-
reits für eine Zirkusveranstaltung reifen Fahrradfahrens zu viert, zu ftinft usw. wäre of-
fenbar eine geringere Kraftanstrengung der Gesetzesverfasser erforderlich gewesen. Das
Verbot des Fahrradfahrens zu zweit scheint zumindest eine weniger selbstverständliche
Regelung zu sein, was jeder, der einmal ein sogenanntes "Tandem" in Aktion gesehen
hat, bestätigen wird. Wie aber heben wir eine weniger selbstverständliche Aussage von
einer selbstverständlicheren Aussage ab? Naheliegenderweise durch die Einbeziehung
eines Konjunktionsgliedes, welches folgerichtig zwecks Abschwächung der stärkeren
Aussage gestrichen werden kann. Wir müßten mithin versuchen, das Verbot des Fah-
rens zu zweit in zwei konjunktiv miteinander verknüpfte Bedingungen zu zerlegen der-
gestalt, daß die eine dieser Bedingungen im Verbot des Fahrens zu dritt, zu viert usw.
besteht. Formaliter ergeben sich keinerlei Schwierigkeiten. Man verbietet einerseits das
Fahren zu dritt, zu viert usw., und was die restlichen Fahrweisen angeht, also das Fah-
ren höchstens zu zweit, so wird andererseits das Fahren in Gesellschaft genau einer wei-
teren Person dem Verbot unterworfen. Aus einer derartigen Fassung des Verbots des
Fahrens zu zweit ist in der Tat auf das Verbot des Fahrens zu dritt, zu viert usw. zu
schließen,jedoch nur deshalb, weil bereits die Prämisse die conc1usio in expliziter Weise
enthält. Das nicht-triviale Charakteristikum des argumentum a fortiori, nämlich das
mittelbare Erkennen eines Satzes aufgrund einer Annahme, welche diesen Satz noch
nicht expliciter enthält und ihn an "Stärke" gleichwohl übertrifft, geht verloren. Die-
sen Verlust haben wir auch dann zu beklagen, wenn wir das Verbot des Fahrens zu
dritt mithilfe der Überlegung begründen, daß man bereits aus logischen Gründen nicht
zu dritt fahren kann, ohne zugleich zu zweit zu fahren. Wir bedienen uns in diesem Zu-
sammenhang der Möglichkeit der prädikatenlogischen Erfassung von Anzahlaussagen.
Als Individuenbereich nehmen wir die Menge der Rechtsgenossen. "Ff2peb pe2" be-
schreibe das Faktum, daß pel in Gesellschaft von pe2 Fahrrad fährt. Durch "Rhlpe"
werde zum Ausdruck gebracht, daß sich pe rechtswidrig verhält. Zeitpunkte lassen wir
einfachheitshalber weg. Dann ist die Rechtswidrigkeit des Fahrens in Gesellschaft
wenigstens einer weiteren Person wie folgt zu präzisieren:

1 (1) AE

Was für jeden Rechtsgenossen gilt, das gilt insbesondere für pel:

2 (1) (1) GB

146
Ein Kalkül des juristischen Schließens

Besagter Rechtsgenosse besitze nun aber die Dreistigkeit, nicht allein in Gesell-
schaft nur einer, sondern in Gesellschaft noch einer dritten Person pe3 ein und das-
selbe Fahrrad zu benutzen:

3 (3) "V P2 (((( -, Id 2pe b pe2 11 -, Id 2pel, pe3) 11


11 -, Id2pe2,pe3) 11 Ff2pel,pe2) 11 Ff2pel,pe3)" AE

Dann schließen wir auf die Widerrechtlichkeit auch dieses Verhaltens wie folgt:

4 (4) ,,((Ce -, Id 2pe l> pe2 Id 2pel, pe3) 11


11 -,

II-,Id2pe2,pe3) 11 Ff2pel,pe2) 11 Ff2pel,pe3)" AE


5 (4) ,,(-, Id 2pe 1, pe2 11 Ff2pe 1, pe2)" (4) JL
6 (4) "V P2 (-, Id 2pe 1, pe2 11 Ff2pe1 , P2)" (5) PE
7 (3) "V P2 (-, Id 2pel, P2 11 Ff2pelP2)" (3) (4) (6) BB
8(1,3) "Rh1pe 1" (2) (7) JL

Auch der zuletzt vollführte Schluß auf die Widerrechtlichkeit des Fahrradfahrens
zu dritt ist trivial, sofern man, wie wir dies stillschweigend taten, das Verbot des
Fahrens zu zweit als Verbot des Fahrens in Gesellschaft wenigstens einer weiteren
Person interpretiert. Gerade zu dieser Interpretation sollte uns das argumentum a
fortiori nun aber erst berechtigen. Maßgebend für den Schluß auf die Widerrechtlichkeit
des Fahrens zu dritt dürften in Wirklichkeit inhaltliche Gesichtspunkte sein. Es handelt
sich insbesondere um den Gesichtspunkt, daß sich die Gefahrlichkeit der Benutzung
eines Fahrrads mit jedem weiteren Benutzer sowohl im Hinblick auf die Benutzer selbst
als auch mit Rücksicht auf weitere Verkehrsteilnehmer erhöht. In methodologiseher
Hinsicht ist lediglich von Interesse, daß sowohl das Kriterium der Gefährlichkeit als auch
die dahinter stehenden Rechtsgüter der Unversehrtheit menschlichen Lebens, der Rei-
bungslosigkeit des Straßenverkehrs usw. als komparative Begriffe aufgefaßt werden.
Jedoch gerade die Steigerungsfähigkeit der genannten Kriterien ist auf keinen Fall zu
verabsolutieren, nämlich dahin zu extrapolieren, daß die Benutzung eines Fahrrads
durch nur eine Person und erst recht durch 0 Personen, also die Unterlassung des Fahr-
radfahrens schlechtweg, als die in rechtlicher Hinsicht erfreulichsten Formen des Um-
gangs mit Fahrrädern erschienen. Denn von dem Verbot des Fahrradfahrens überhaupt
wären wiederum andere rechtliche Güter betroffen, etwa das Rechtsgut an Bewegungs-
freiheit, mittelbar auch das Rechtsgut der - durch Fahrradfahren geförderten -
Gesundheit usw. Wie nahezu sämtliche rechtlichen Regelungen, so läßt sich auch die
Festsetzung der Höchstzahl der Benutzer eines Fahrrads als Ergebnis eines Optimie-
rungsprozesses erklären, innerhalb dessen es gilt, die einschlägigen Wertungen nicht
etwa isoliert, vielmehr per saldo optimal zu realisieren. Sofern die vorausgesetzten
Wertungen sowie das Maß ihrer Realisierung präzisiert werden können, bieten sich
erneut strukturelle Erkenntnismittel an - insbesondere das mächtige Instrument der
Infinitesimalrechnung, dessen Bedeutung im Rahmen einer allgemeinen Entscheidungs-
sowie Regelungstheorie nicht überschätzt werden kann. - Gerade dieses sich jeglicher

147
JÜIgen Rödig

pauschaler Aussagen entziehende Ineinandergreifen sowohl inhaltlicher als auch forma-


ler Gesichtspunkte galt es anhand des argumentum a fortiori zu demonstrieren. Die
Analyse der übrigen Schlußmodi - namentlich des argumentum a simile, des argumen-
turn a maiore ad minus, des argumentum aminore ad maius sowie des argumentum ad
absurdum (das mit dem Umkehrschluß zusammenhängt) - hätte kein anderes Ergebnis
erbracht.

4.3.2 Deontische Logik

4.3.2.1 Vorbemerkungen
Gegenstand eines schon heute kaum mehr übersehbaren Teils des rechtsmethodolo-
gischen Schrifttums ist die "deontische Logik" oder auch die "Logik der Normen".
Wir haben es mit einer Disziplin zu tun, die von sich behauptet, auch in logischer
Hinsicht jedenfalls teilweise anderen Gesetzmäßigkeiten als denen der klassischen (Ver-
sion der modernen) Logik unterworfen zu sein.
Prinzipielle Einwände gegen diese Art von Logik sind in anderen Zusammen-
hängen ausführlich dargelegt worden. Jedoch auch im Rahmen der vorliegenden Arbeit
hat sich bereits mehrfach Gelegenheit geboten, zur deontischen Logik als einer beson-
deren Logik der Normen Stellung zu nehmen. Wir haben uns nicht zuletzt so ausführ-
lich mit den semantischen Grundlagen unseres prädikatalogischen Kalküls befaßt, um
schon an so früher Stelle die universelle Anwendbarkeit dieses Kalküls, insbesondere
seine Neutralität gegenüber dem bald faktischen, bald normativen Charakter der jeweils
deduktiv zu verarbeitenden Sätze sichtbar zu machen. Es sei insofern auf die Expli-
kation des Begriffs der relativen Wahrheit formalisierter Sprachen (4.1.2.1), auf die
Diskussion des in normlogischen Kalkülen verwendeten Ausrufezeichens als eines
intensionalen Junktors sowie auf die Diskussion dieses Zeichens als eines I-stelligen
Prädikats (4.1.2.2) verwiesen. Für die nachfolgenden Ausftihrungen wird es genügen,
einige weitere Gesichtspunkte zu resümieren, aus welchen die Fragwürdigkeit der deon-
tischen Logik als einer besonderen Logik der Normen erhellt. Alsdann soll mithilfe
einiger Ableitungen vorgeführt werden, daß die Anwendung der klassischen (Version
der modernen) Logik ein nicht nur pünktlicheres, sondern sogar intensiveres Disku-
tieren der von der zeitgenössischen deontischen Logik diskutierten Fragen gestattet.

4.3.2.2 Dreiwertigkeit
GEORG KLAUS spricht hinsichtlich des Gesolltseins, des Erlaubtseins sowie des Ver-
botenseins eines Verhaltens von ,,moralischen Modalitäten", und es ist nach Ansicht
dieses Autors "offensichtlich, daß die logische Beschreibung dieser Modalitäten des
Handeins wiederum eine dreiwertige Logik verlangt". Wäre der zitierten Ansicht beizu-
pflichten, so erwiese sich der hier dargestellte Kalkül bereits in seinem durch den Dua-
lismus von WA, FA charakterisierten Ansatz (4.1.2.1, 4.1.2.2) als für die hauptsäch-
lichen juristischen Zwecke nicht brauchbar.
Spricht man jeweils lediglich im Hinblick auf ein und nur ein Verhalten von Ge-
solltheit, Erlaubtheit und Gebotenheit, so scheint die These von KLAUS in der Tat

148
Ein Kalkül des juristischen Schließens

einiges für sich zu haben. Jedoch gerade die genannte Voraussetzung ist verfehlt. Beim
Versuch einer adäquaten Explikation der moralischen Modalitäten kann man sich in
Wirklichkeit nicht auf die Wertung jeweils eines und nur eines Verhaltens begnügen.
Dies sei anhand eines mit Absicht sehr einfachen Modells demonstriert. Der Regelungs-
adressat möge sich auf genau zwei Arten verhalten können, m. a. W.: der vorausgesetzte
Verhaltensspielraum möge aus genau zwei Elementen bestehen. Der zu statuierenden
Regelung möge ferner ein und nur ein rechtlich relevanter Wert zugrundeliegen,
welcher wiederum nicht komparativ konzipiert, vielmehr in der Weise aufgefaßt werden
soll, daß der Wert durch einen gegebenen Sachverhalt entweder realisiert wird (posi-
tiver Wertverhalt, kurz: "pw") oder nicht (negativer Wertverhalt, kurz: "nw"). Dann
bedienen wir uns bei der konstruktiven Entwicklung der infrage kommenden Regelun-
gen - der Elemente des "Regelungsspielraums" - eines Verfahrens, das wir schon für
die Darstellung der Wahrheitswertfunktionen WF i (1';;;; i ,;;;; 2) - absichtlich ausführ-
lich - angewendet haben (4.1.2.2).
Lediglich der Ausgangspunkt mag verblüffen, nämlich die Auffassung jedes Ele-
ments des Regelungsspielraums, also jeder einzelnen Regelung, als einer Funktion, und
zwar als einer charakteristischen Funktion mit dem Funktionswertebereich {pw, nw}.
Als Argumente fungieren die Elemente des Verhaltensspielraums, also nach Voraus-
setzung nur vel und ve2' Den möglichen Ab bildungen von {vel' ve2} in {pw, nw} liegen
folgende Zuordnungsmöglichkeiten zugrunde:

Was nunmehr den Aufbau der einzelnen - wegen des Vorliegensjeweils nur eines
Arguments l-stelligen - "deontischen Funktionen" DFI (1 ,;;;; i';;;; 4) angeht, so haben
wir wie bei der Bildung jedweder Funktion auf zweierlei zu achten: Erstens darauf,
daß jedem Argument ein Funktionswert entspricht; zweitens darauf, daß jedem Argu-
ment auch nur ein Funktionswert entspricht. Hiernach ergibt sich:

{(veb pW), (vel, nw)} x {(ve2, pw), (ve2, nw)} =


= {«vel, pW), (ve2, pW», «veb pW), (ve2, nw»,
«veb nw), (ve2, pW», «vel, nw), (ve2, nw»}

Die - ihrerseits in geordneten Mengen bestehenden - Elemente der rechts vom


Gleichheitszeichen notierten Menge stellen nichts anderes als die einzelnen l-stel-
ligen deontischen Funktionen dar, und zwar - in gleicher Reihenfolge - die Funktio·
nen DFL DFt DF~ und DFl. Was etwa die durch DF~ charakterisierte Regelung an-
langt, so können wir auch sagen, vel sei "geboten". Denn in der Tat: vel wird positiv
bewertet, so daß man dieses Verhalten auch vornehmen darf; daß vel überdies gesollt
ist, ergibt sich daraus, daß die andere der beiden infrage kommenden Verhaltensweisen
negativ bewertet wird.
Mit der durch DF~ charakterisierten Regelung korrespondiert das Verbot von
ve l: ve 1 wird unter dem Gesichtspunkt des vorausgesetzten Werts als negativ bewer-
tet, jedoch der Adressat der Regelung könnte sich auch im Sinne einer positiv bewer-
teten Handlung verhalten.

149
Jürgen Rödig

Was schließlich die Erlaubtheit eines Verhaltens betrifft, so pflegt sie - teilweise
im Anschluß an JEREMY BENTHAM - als Gegensatz des Verbots verstanden und
insofern von der sogenannten "Freistellung" als der Abwesenheit eines Gebots unter-
schieden zu werden. ADOMEIT bedient sich zur Illustrierung der erwähnten Zusam-
menhänge des folgenden "Gebotsquadrats":

Gebot Verbot

unvereinbar

unvereinbar

Erlaubnis Freistellung

Die eingezeichneten Diagonalen sollen entsprechende Gegensätze ausdrücken


helfen. Wir wollen diese Gegensätze ein wenig genauer zu bestimmen versuchen, und
zwar insbesondere unter Berücksichtigung des erläuterten Umstandes, daß ein Ver-
halten in Wirklichkeit jeweils erst vor dem Hintergrund der Wertung wenigstens eines
weiteren Verhaltens als "geboten" oder "erlaubt" charakterisiert werden kann. vel ist,
unser Modell vorausgesetzt, verboten genau dann, wenn vel negativ und ve2 positiv
bewertet werden. Was ist nun mit dem Gegensatz von der Verbotenheit von vel
gemeint? Der kontradiktorische Gegensatz kommt offenbar bereits durch die Ver-
neinung der Konjunktion der negativen Bewertung von ve 1 einerseits und der positiven
Bewertung von ve2 andererseits zustande:

Mit dieser Formel ist

junktorenlogisch äquivalent (d. h., die eine Formel kann mittels JL aus der anderen
abgeleitet werden und umgekehrt). Bedienen wir uns nunmehr der - übrigens nicht
schon logisch wahren, also nicht schon aus der leeren Prämissenmenge folgenden (oben
4.2.3.3) - Annahmen, daß ein Verhalten genau dann negativ (positiv) bewertet wird,
wenn es nicht positiv (negativ) bewertet wird, so stimmt ,,(.., Nwlvel v.., Pw1ve2)" mit

150
Ein Kalkül des juristischen Schließens

überein. vel wäre mithin bereits im Falle der positiven Bewertung von veloder auch
bereits im Falle der negativen Bewertung von ve2 erlaubt.
Würden wir in entsprechender Weise auch die Freistellung von vel durch den nur
kontradiktorischen Gegensatz der Gebotenheit von vel definieren, so wäre vel bereits
im Falle der negativen Bewertung von veloder aber bereits im Falle der positiven Be-
wertung von ve2 freigestellt. vel wäre also insbesondere dann freigestellt, wenn vel
verboten ist - ein schwerlich die Intention der Definition des Freistellungsbegriffs be-
friedigendes Resultat, das sich indessen einstellt, wenn wir den Begriff des "Gegen-
satzes" jeweils im Sinne des kontradiktorischen Gegensatzes verstehen.
Will man den Begriff des Gegensatzes schärfer fassen, so liegt es nahe, "den"
Gegensatz der Verbotenheit von vel, also von ,,(Nwlvel A Pwlve2)", in

und "den" Gegensatz der Gebotenheit von velo also von ,,(Pwlvel A Nwlve2)'" in

zu erblicken. Diesmal kommt jedoch als "Gegensatz" der Gebotenheit die Verboten-
heit und als "Gegensatz der Verbotenheit die Gebotenheit eines gegebenen Verhaltens
heraus. Von einem gangbaren Weg der Unterscheidung zweier weiterer deontischer Mo-
dalitäten, nämlich der Erlaubtheit von der Freistellung, kann nicht die Rede sein. Mit
welchem dritten "Gegensatz "-Begriff man diese Unterscheidung sollte erzielen können,
ist nicht ersichtlich.
Eine adäquate Explikation des Begriffs der Erlaubnis ergibt sich vielmehr erst von
der mittels dieser deontischen Modalität bezweckten Einflußnahme auf das Verhalten
des Regelungsadressaten her. Liegt genau ein Wert mit genau zwei Wertverhalten zu-
grunde und setzt man ferner voraus, daß der Verhaltensspielraum aus genau zwei Ele-
menten besteht, so ist die Menge der infrage kommenden Regelungen mit den deon-
tischen Funktionen DFl (1 ~ i ~ 4) erschöpft. Mit der Erlaubnis von vel möchte man
zum Ausdruck bringen, daß gegen die Vornahme von vel unter dem Gesichtspunkt des
vorausgesetzten Wertes nichts einzuwenden ist. Was daher DF} angeht, so genügt es,
daß vel positiv bewertet wird; daß zugleich ve2 positiv bewertet wird, stünde der Vor-
nahme von vel nur im Falle von DF~ entgegen, doch insoweit wäre negativ bewertetes
vel vorausgesetzt. Was ferner DF~ angeht, so ist vel ebenfalls als erlaubt zu betrachten;
ein sogar gebotenes Verhalten ist a fortiori erlaubt. Im Falle von DF~ ist die Erlaubnis
von vel ebenso zweifellos zu verneinen; es wäre schwerlich adäquat, den Begriff der
Erlaubnis dahin zu explizieren, daß auch ein verbotenes Verhalten als erlaubt be-
trachtet werden kann.
Problematisch ist nur DFl. Gegen die Erlaubtheit von vel spricht die negative
Bewertung des Verhaltens. Was indessen die mit der Regelung bezweckte Einfluß-
nahme auf das Verhalten des Regelungsadressaten betrifft, so kann der Adressat im
Falle von DF! ebensowenig zum Besseren hin wie im Falle von DF} zum Schlechteren
hin bewogen werden. Diesem Umstand werden wir jedoch bereits durch die Unterschei-
dung der Verbotenheit von der schlichten Rechtswidrigkeit - nämlich dem Zutreffen
des negativen Wertverhalts des zugrundegelegten Rechtswerts - gerecht; kann sich

151
JÜIgen Rödig

jemand - "tragischerweise" - nur so verhalten, daß sein Handeln negativ bewertet wird,
so kann man sein Verhalten zwar als ,,rechtswidrig", jedoch nicht als "verboten" im
Sinne einer Pflichtwidrigkeit ansehen. Wir können uns bei der Explikation des Erlaub-
nisbegriffs daher in einer dem üblichen Sprachgebrauch wohl am ehesten entspre-
chenden Weise auf eine Zusammenfassung der Regelungen DFi und DF~ beschränken:
vel ist erlaubt, wenn vel positiv und ve2 positiv bewertet werden oder wenn vel
positiv und ve2 negativ bewertet werden, kurz: vet ist erlaubt, wenn vet positiv be-
wertet wird.
Eine Verfeinerung des bislang vorausgesetzten Modells läßt sich in verschiedenen
Richtungen erreichen, nämlich erstens durch Zulassung beliebig vieler Elemente des
Verhaltensspielraums, zweitens durch Zulassung beliebig vieler Werte, drittens durch
Zulassung beliebig vieler Wertverhalte eines - nunmehr auch komparativ konzipier-
baren - Wertes; was namentlich die zuletzt genannte Form der Verallgemeinerung an-
geht, so haben wir es mit einem ähnlichen Verfahren wie dem Übergang von dem Dua-
lismus der beiden Wahrheitswerte {WA, FA} zu einer Mannigfaltigkeit von Wahrschein-
lichkeitswerten zu tun. Bei jeder dieser Verallgemeinerungen sowie bei jeder Kombina-
tion von Verallgemeinerungen sind die deontischen Modalitäten streng genommen
erneut zu definieren. Hinlänglich konstante Kriterien lassen sich wiederum nur von der
bezweckten Einflußnahme auf das Verhalten des Regelungsadressaten her herausar-
beiten. Legt man einen und nur einen Wert mit genau zwei Wertverhalten zugrunde,
läßt man jedoch beliebig viele Elemente des Verhaltensspielraums zu, so wird man den
Verhaltensspielraum dergestalt in zwei Teilmengen gliedern, daß die eine Teilmenge die
mit dem positiven und die andere Teilmenge die mit dem negativen Wertverhalt korre-
spondierenden Verhaltensweisen umfaßt. Ist eine dieser Teilmengen leer, so ist der
Verhaltensspielraum axiologisch indifferent. Ist keine der Teilmengen leer, so kann
man ein Verhalten genau dann als "geboten" auffassen, wenn es zu der positiv bewer-
teten Teilmenge gehört, und man wird es genau dann als verboten ansehen, wenn es ein
Element der negativ bewerteten Teilmenge ist. Der Regelungsadressat kann sich in je-
dem Fall nicht nur de facto, sondern auch unter dem Gesichtspunkt des vorausge-
setzten Wertes "anders verhalten".

4.3.2.3 Widerspruchsfreiheit von Nonnen


Bereits anIäßlich der Diskussion des Unterschiedes von "Erlaubnis" und "Freistel-
lung", wobei man die Erlaubnis im Gegensatz zum Verbot und die Freistellung ini
Gegensatz zum Gebot auffassen möchte, hat sich die Notwendigkeit für eine exakte
Technik des Negierens ergeben (4.3.2.2). Gerade insoweit, als die deontische Logik
illre eigenen logischen Wege zu gehen versucht, treten in puncto Verneinung Unge-
nauigkeiten oder doch mißverständliche Formulierungen auf.
Zumindest verständlich ist die Symbolisierung einer Unterlassung eines gegebenen
Verhaltens vel mittels des Negators. Im Rahmen unserer symbolischen Sprache würde
mit der Bildung von ,,--' vel" bereits gegen syntaktische Regeln verstoßen. Der Negator
kann sich allenfalls auf eine Aussage, dagegen nicht auf ein Subjekt als ein unselbstän-
diges Element einer Aussage, beziehen. Von der Kategorie der Verschiedenheit oder
auch der Diversität, welche auf Dinge anwendbar ist, sollte man die Widersprüchlich-
keit zwischen einer Aussage und ihrer Negation scharf unterscheiden. Es gibt zwar

152
Ein Kalkül des juristischen Schließens

"die" Negation einer Aussage, jedoch es wäre unrichtig, von "der" sich von einem
gegebenen Individuum unterscheidenden Sache zu sprechen. Was namentlich eine
gegebene Verhaltensweise vel angeht, so können durchaus zwei oder mehrere weitere
Verhaltensweisen infrage kommen, die sich von vel unterscheiden, und es wäre irre·
führend, von "der" Unterlassung von vel zu reden. ,,Die" Unterlassung gibt es ledig-
lich insoweit, als wir von der Menge der eine bestimmte Verhaltenseigenschaft erftillen-
den Elemente des Verhaltensspielraums ausgehen und das zum Verhaltensspielraum re-
lative Komplement dieser Menge bilden. Bezieht man den Begriff der Unterlassung da-
gegen, wie dies üblicherweise geschieht, auf ein individuelles Verhalten, so kommt es
darauf an, von welchem individuellen weiteren Verhalten eine Unterlassung vorliegen
soll; ve2 erscheint als eine Unterlassung von vel genau dann, wenn vel und ve2 zwar
zum seI ben Verhaltensspielraum gehören, sich jedoch voneinander unterscheiden.
Die zahlreichen der sich infolge einer Verabsolutierung des Unterlassungsbegriffs
ergebenden Verwirrungen - teilweise sogar materiellrechtlicher Art! - brauchen an
dieser Stelle nicht behandelt zu werden. Wir wollen uns hier nur mit der Widersprüch-
lichkeit von Normen befassen sowie mit Phänomenen, die man irrigerweise unter die
Kategorie des Normwiderspruchs subsumiert.
Ersetzt man in ,,""" Aau " den Ausdruck "Aao" durch ,,""" Aao ", so ergibt sich
,,""" ....., Aao", und zwischen einerseits ,,""" Aao" und andererseits".....,....., Aao" ist offen-
sichtlich ein Widerspruch vorhanden. Ersetzt man dagegen in einem atomaren Aus-
druck wie "Gb1vet das Subjekt "vei" durch das Subjekt "ve2 ", so kommt ein Wider-
spruch selbst dann nicht zustande, wenn vel und ve2 sich unterscheiden, also selbst
dann nicht, wenn ve2 in einer Unterlassung von vel besteht. Um so weniger leuchtet
es ein, daß WEINBERGER seine Ansicht, es bestünden "wichtige Gründe logischer
Natur fur die kategoriale Trennung von Aussage- und Normsätzen", mithilfe des
folgenden Gesichtspunkts zu unterstützen versucht: Von den Sätzen"N arbeitet jetzt"
und "N arbeitet jetzt nicht" sei genau einer wahr. Was dagegen das Satzpaar ,,Jetzt
soll N arbeiten" und "Jetzt soll N nicht arbeiten" angeht, so brauche keiner dieser
Sätze gültig zu sein; N brauche weder zu arbeiten noch nicht zu arbeiten verpflichtet
zu sein.
Der von WEINBERGER ins Treffen geführte Unterschied ergibt sich indessen nur
dadurch, daß er den zweiten normativen Satz mithilfe einer unrichtigen Verneinung
des ersten gewinnt. Die Verneinung des Satzes "Jetzt soll N arbeiten" lautet in Wirk-
lichkeit: ,,Es ist nicht der Fall, daß N jetzt arbeiten soll." Die von WEINBERGER
mittels Negation gewonnene Verpflichtung, nicht zu arbeiten, ist tatsächlich das Er-
gebnis des Versuchs, bereits das in Arbeit bestehende Verhalten, auf welches sich die
Verpflichtung bezieht, negieren zu wollen. Ist die Verneinung einer Verhaltenspflicht
nun aber weniger in der Verpflichtung zur Unterlassung als vielmehr im Nichtbestehen
der Verhaltenspflicht zu sehen, so verhält sich ein normativer Satz genau so zu seiner
Negation wie ein faktischer. Die Widersprüchlichkeit wirkt sich in jenem Fall nicht
weniger verheerend als in diesem aus. Hat man erst einmal einander widersprechende
Sätze zugelassen, so ist es vergleichsweise unschädlich, daß sich aus einander widerspre-
chenden normativen Prämissen faktische Konklusionen und aus einander widerspre-
chenden faktischen Prämissen normative Konklusionen ergeben: ex falso quodlibet
sequitur.

153
JÜIgen Rödig

Die Behauptungen "ve ist geboten" und "ve ist verboten" widersprechen einander
nicht im Sinne eines logischen Widerspruchs. Es liegt natürlich nahe, inhaltliche An-
nahmen dahin einzuführen, daß Gebotenheit Erlaubtheit und daß die Erlaubnis das
Fehlen eines Verbots impliziert. Gleichwohl hält WEINBERGER die Aussage

für einen "wahrscheinlich unwahren Satz, denn es entstehen in der Tat manchmal
gültig einander widersprechende Rechtsnormen". Wie man sich das Entstehen derarti-
ger Normen vorzustellen habe, sagt WEINBERGER an anderer Stelle: "Es kann z. B.
in einer bestimmten Situation für eine bestimmte Person das Verhalten A nach öster-
reichischem Recht geboten und nach einem anderen Rechtssystem verboten sein".
Jedoch auch dieser Hinweis ist schwerlich geeignet, einander widersprechende Normen
in einem günstigeren Licht als einander widersprechende faktische Sätze erscheinen
zu lassen. Jedweder vollständige Rechtssatz beginnt mit einem Präftx international-
privatrechtlicher, international-strafrechtlicher oder ähnlicher Art. Nur wenn man
diesen Präftx zu berücksichtigen versäumt, kommen die von WEINBERGER angeführ-
ten Widersprüche heraus. Die Mitglieder verschiedener Rechtsgemeinschaften können
sich ohne Verstoß gegen die Prinzipien der Logik auf verschiedene Rechtssysteme
einigen, und es handelt sich lediglich darum, daß das Verhalten des Deutschen Soundso,
welches nach deutschem Recht verboten ist, nicht verboten wäre, wenn Herr Sound-
so ein Österreicher oder doch dem Anwendungsbereich des österreichischen Rechts
unterworfen wäre.
Kommen genau zwei Verhaltensweisen infrage, so wäre es allerdings eigenartig,
daß eine und dieselbe Rechtsordnung sowohl die eine als auch die andere Verhaltens-
weise, mithin sowohl das eine Verhalten als auch seine einzige Unterlassung, gebietet.
Ein Verhalten dürfte nur insoweit den Gegenstand eines Gebots bilden können, als
dieses Verhalten zum Nachteil wenigstens eines anderen Verhaltens empfohlen wird.
Was dagegen die Erlaubnis, nämlich die schlichte positive Bewertung, von vel angeht,
so steht sie der zusätzlichen positiven Bewertung von ve2 nicht im Geringsten im Wege.
Wenn es nach Ansicht WEINBERGERs gleichwohl als "absurd" erscheint, "daß sowohl
das Verhalten a als auch das Verhalten nicht -a positiv bewertet wären", so werden
offenbar positive Bewertung einerseits und Gebotenheit andererseits durcheinanderge-
worfen.
In der Vernachlässigung der komplexen Struktur der deontischen Modalitäten des
Gebots, der Erlaubnis sowie des Verbots scheint mir denn auch eine der hauptsäch-
lichen inhaltlichen Schwächen der herkömmlichen normlogischen Systeme zu liegen.
Die hier vorgeschlagene Unterscheidung wenigstens dreier Stufen der Bewertung, näm-
lich erstens der Zuordnung eines Wertverhalts zu einem Sachverhalt, insbesondere
einem Verhalten, zweitens der Regelung als der Belegung jeweils sämtlicher Elemente
des Verhaltensspielraums mit jeweils genau einem Wertverhalt sowie drittens der Quali-
ftzierung von Verhaltensweisen mithilfe deontischer Modalitäten, ist übrigens nicht
allein in konstruktiver Hinsicht von Nutzen. Auch für praktische Zwecke wirkt sie sich
vorteilhaft aus. Was nämlich die generelle Statuierung von Verhaltenspflichten anbe-
langt, wie wir diese etwa in zivil- oder strafrechtlichen Kodiftkaten antreffen, so muß
die mit der Pflichterfüllung jeweils korrespondierende Rechtmäßigkeit des Handeins

154
Ein Kalkül des juristischen Schließens

auf die Erftillung gewisser "faktischer" Kriterien zurückgeführt werden können, und
man kommt insoweit um die Einbeziehung gewisser Verhaltenseigenschaften nicht
herum. EiIie charakteristische Verhaltenseigenschaft ist beispielsweise die Eigen-
schaft, den mittels einer sogenannten rechtlichen "Sonderverbindung" bezweckten
Erfolg zu verursachen, also etwa ein schadhaftes Dach zu reparieren, die Haare des
Kunden zu schneiden usw. Weitere Verhaltenseigenschaften pflegen unter dem Stich-
wort der "allgemeinen Handlungshaftung" diskutiert zu werden; man spricht insofern
gerne von "Unterlassungen", beispielsweise von der Unterlassung der Tötung, einer
Körperverletzung usw., und es liegt nahe, die diesmal zu statuierenden Verhaltens-
pflichten mithilfe des Nichtzutreffens entgegengesetzter Verhaltenseigenschaften
(Töten, Verletzen usw.) zu beschreiben. Sowohl bei diesen als auch bei jenen Ver-
haltenspflichten haben wir es offenbar gleichermaßen mit der Gliederung des Ver-
haltensspielraums in jeweils zwei Teilmengen zu tun; daß man die für die Beschreibung
der einen Teilmenge erforderliche "definierende Eigenschaft" durch Negieren einer
anderen gewinnt, ist für die Gliederung des Verhaltensspielraums ohne Belang, und
hiermit hängt zusammen, daß die üblicherweise für die Verletzung spezieller Unterlas-
sungspflichten angenommenen Besonderheiten nicht existieren. Was in unserm Zusam-
menhang interessiert, ist nun Folgendes: Sei eine bestiInmte Verhaltenseigenschaft ge-
geben. Dann kann weder aus der Realisierung dieser Eigenschaft auf Pflichterftillung im
Sinne gebotsmäßigen Handeins noch aus der Nicht-Realisierung der Eigenschaft auf
Pflichtverletzung iIn Sinne verbotswidrigen Handeins geschlossen werden. Wir haben es
vielmehr nur mit rechtsmäßigem bzw. rechtswidrigem Handeln iIn Sinne eines entwe-
der positiv oder negativ bewerteten Verhaltens zu tun. Sowohl über die Gesolltheit als
auch über die Verbotenheit eines Verhaltens kann man jeweils erst dann befinden,
wenn man erstens sämtliche der für die Bewertung des Verhaltens weiteren Verhaltens-
eigenschaften kennt und zweitens weiß, aus welchen Elementen der Verhaltensspiel-
raum des Regelungsadressaten besteht. Ein wiederum mit Absicht vereinfachtes Bei-
spiel möge die skizzierten Zusammenhänge illustrieren.
Ein Chirurg möge vertraglich die Vornahme einer Operation, etwa die Entfer-
nung eines Tumors, übernommen haben; die entsprechende Verhaltenseigenschaft
werde durch "Et l " charakterisiert. Für die Bewertung der Tätigkeit des Chirurgen wird
nun nicht nur die Herbeiführung des genannten Erfolges, also die Beseitigung der
Geschwulst, maßgebend sein. Es wird vielmehr zusätzlich darauf ankommen, daß der
Patient die Operation überlebt (", Tö l "), daß ihm kein größeres als das medizinisch
unvermeidbare Maß an Schmerzen zugefügt wird (", SeI") usw. Der übersichtlich-
keit halber soll es bei diesen beiden weiteren Kriterien bewenden. Der Verhaltens-
spielraum des Chirurgen, der zugleich als der für die Interpretation des Kalküls er-
forderliche Individuenbereich (4.1.2.1, 4.3.1) figuriert, setze sich aus den Verhaltens-
weisen veb ve2, ... und ve10 zusammen. Das Attribut IN ("Et l ") habe die Extension
{veb ve2, ... , ve7}, das Attribut IN ("Tö l ") habe die Extension {vel, ve2, ve3} und das
Attribut IN ("Sc I ,,) habe die Extension {ve2, ve3, ve4, ves}. Ein gegebenes Verhalten
vej (1 ~ i ~ 10) des Chirurgen ist demnach rechtmäßig genau dann, wenn es zu {vet.
ve2, ... , ve7} und weder zu {veI, ve2, ve3} noch zu {ve2, ve3, ve4, ves} gehört, d. h.
wenn es Element der folgenden Menge ist:

155
Jürgen Rödig

{vet> ve2, ... , ve7} n ({vet> ve2, ve3} U {ve2, ve3, ve4, ves}) =
= {vet, ve2, ... , ve7} () {vet> ve2, ve3, ve4, ves} =
= {vet, ve2, ... , ve7} () {ve6, ve7, ... , velO}=
= {ve6, ve7},

d. h., wenn i = 6 oder i = 7. Gesetzt nunmehr, der Chirurg verhalte sich tatsächlich im
Sinne von ve6. Dann können wir sein Verhalten nicht nur als rechtmäßig, sondern zu-
gleich als Erftillung eines Gebots charakterisieren; das Gebot konnte aufgestellt werden,
weil es für den Chirurgen nicht nur die Möglichkeit rechtmäßigen, sondern auch die
Möglichkeit rechtswidrigen Verhaltens gab. In entsprechender Weise nennen wir jedes
zum Komplement von {ve6, ve7}, also zu {ve6, ve7} gehörende Verhalten nicht nur
rechtswidrig, sondern zugleich verboten. Verhält sich der Chirurg beispielsweise
im Sinne von ves, so muß er sich nicht nur die negative Bewertung von ves vorhalten
lassen. Man wird ihm außerdem entgegenhalten, daß zu seinem Verhaltensspielraum
u. a. die positiv bewerteten Verhaltensweisen ve6 und ve7 gehörten. Sowohl mit dem
Gebot der Vornahme einer der Verhaltensweisen ve6 und ve7 als auch mit dem Verbot
jedes weiteren Verhaltens wird, wie man sieht, in sinnvoller Weise der Versuch einer
Einflußnahme auf das zukünftige Verhalten des Regelungsadressaten unternommen.
Nimmt man nun aber an, es führten sowohl der Tumor als auch - etwa wegen
einer besonderen Herzschwäche - dessen operative Entfernung zum Tode des Patien-
ten. Die Extension von JN("Tö 1 ") besteht diesmal (mindestens) in der Menge {vel,
ve2, ... , ve7}, so daß sich folgende Menge von rechtmäßigen Verhaltensweisen ergibt:

{vel, ve2, ... , ve7} () ( {vel, ve2, ... , ve7} U {ve2, ve3, ve4, ves}) =
= {vel,ve2,···,ve7}() {vel,ve2,···,ve7}=
= {vel, ve2, ... , ve7} () {ves, ve9, velO} =

Diesmal kann sich der Chirurg gar nicht ,,rechtmäßig" im Sinne der Herbeiftihrung
eines von Rechts wegen gebilligten Erfolgs verhalten. Es wäre indessen voreilig, aus
diesem Umstand auf eine in sich widerspruchsvolle Rechtsordnung, auf das Bestehen
von miteinander unverträglichen Pflichten, zu schließen. Fragt es sich doch gerade, ob
unter der Voraussetzung, daß der Verhaltensspielraum ausschließlich aus negativ be-
werteten Verhaltensweisen besteht, überhaupt sinnvollerweise von einer Pflichtver-
letzung, von der Verletzung eines Gebots oder auch der Verletzung eines Verbots,
gesprochen zu werden vermag. Tatsächlich sollte die Konstatierung der Vornahme
eines negativ bewerteten Verhaltens genügen. Nach Verschulden des Handelnden im
Sinne persönlicher Vorwerfbarkeit einer objektiv vorliegenden Pflichtverletzung ist
nicht erst zu fragen. Für das objektive Vorliegen einer Pflichtverletzung reichen weder
Bejahung von "Tatbestandsmäßigkeit" noch Bejahung von "Tatbestandsmäßigkeit"
nebst "Rechtswidrigkeit" in der herkömmlichen Bedeutung dieser strafrechtlichen
Kategorien aus. Sowohl das Urteil über die "Tatbestandsmäßigkeit" als auch das Urteil
über die "Rechtswidrigkeit" pflegen mithilfe generell beschriebener Verhaltenseigen-
schaften gefällt zu werden, welche jeweils auf ein gegebenes Verhalten entweder zu-

156
Ein Kalkül des juristischen Schließens

treffen oder nicht. Gesetzgebungstechnisch gibt es auch gar keinen anderen Weg. Was
jedoch die dem einzelnen Täter objektiv vorzuwerfende Pflichtverletzung angeht, so
sind die jeweils durch die Einhaltung einer bestimmten Verhaltenseigenschaft typi-
scherweise zu erfti1lenden Pflichten auf den Verhaltensspielraum zu beziehen und von
diesem her zu relativieren. Erst aufgrund der Verletzung eines "Verbots" in dem hier
vorgeschlagenen engeren Sinne ist es sinnvoll, den Täter auf seine persönliche Ein-
sichtsfähigkeit sowie auf seine Willenskraft hin zu testen, gemäß der gewonnenen
Einsicht zu handeln. Mit den nur drei Stufen des herkömmlichen Verbrechensaufbaus
ist es nach alle dem nicht getan.
Die soeben angestellten Überlegungen sollen nunmehr als Gegenstand eines Ablei-
tungsbeispiels dienen. Als Annahmen fiihren wir zunächst drei Sätze ein, welche die er-
wähnten Verhaltenseigenschaften IN(,,Et l "), IN("Tö l ") und IN("Sc l ") als jeweils
notwendige Bedingungen für das Vorliegen einer positiv bewerteten - also schlicht
rechtmäßigen - Verhaltensweise erscheinen lassen:

1 (1) "f\. v (Etlv +- Pwlv)" AE


2 (2) "f\. V (Tölv +- Pwlv)" AE
3 (3) "f\. V (Sclv +- Pwlv)" AE

Wir setzen ferner - im Anschluß an die Abwandlung des Ausgangsfalles - voraus,


daß der Regelungsadressat sich nicht zugleich im Sinne sämtlicher drei Bedingungen zu
verhalten vermag:

4 (4) AE

Wir benötigen schließlich eine Definition des Begriffs der "Verbotenheit" ("Vb l ")
und bedienen uns insofern der folgenden generalisierten Äquivalenz:

5 (5) AE

Den in (5) vorausgesetzten Unterlassungsbegriff ("Un 2 ,,) defmieren wir dahin, daß
eine Verhaltensweise genau dann eine Unterlassung einer weiteren Verhaltensweise ist,
wenn beide Verhaltensweisen zum selben Verhaltensspielraum gehören, sich jedoch
voneinander unterscheiden. Es soll nun bewiesen werden, daß aufgrund der durch (1)
bis (5) eingeführten Annahmen kein Verhalten existiert, welches verboten ist:
,,""" V v Vblv".

6 (1) ,,(Etlve +- Pwlve)" (1) GB


7 (2) ,,(....., Tölve +- Pwlve)" (2) GB
8 (3) ,,(....., Sclve +- Pwlve)" (3) GB
9 (9) ,,(Etlve 1\ (....., Tölve 1\ ....., Sclve »" AE
10 (9) "V v (Etlv 1\ (....., Tölv 1\ ....., Sclv»" (9) PE

157
Jürgen Rödig

11 ,,((Et1ve A (-, Tö1ve A -, Sc1ve»--+


--+ V v (Et1v A (-, Tö1v A -, SeI »)" (9)(10) AB
12 (4) ,,-' (Et1ve A (-, Tö1ve A -, Sc1ve»" (4)(11) JL
13(1,2,3,4) (6) (7) (8) (12) JL
14(1,2,3,4) ,,-' ((pw1ve A Nw1ved A Un 2 ve, ved" (13) JL
15(1,2,3,4) ,,/\ vI -, ((Pw1ve A Nw1vd A Un 2 ve, vd" (14) GE
16 (1, 2,3,4) ,,-' V VI ((pw1ve A Nw1vd A Un 2 ve, vd" (15) QU
(5) GB
18 (1, 2, 3, 4, 5) ,,-' Vb1ve" (16)(17) JL
19(1,2,3,4,5) ,,/\v-,Vb1v" (18) GE
20 (1,2,3,4,5) ,,-' V vVb1v" (19) QU

Der herkömmlich so genannten ,,Pflichtenkollision" liegt, wie man aus alle dem
ersieht, nicht etwa jeweils ein logischer Widerspruch zwischen rechtlichen Normen zu-
grunde; es bedarf erst recht nicht der Entwicklung einer in logischer Hinsicht besonde-
ren Logik der Normen zu dem Zweck, das Auftreten von Widersprüchen zwischen nor-
mativen Sätzen gegenüber dem Auftreten von Widersprüchen zwischen nicht-normati-
ven Sätzen zu privilegieren.

158
Einige Bemerkungen zur Axiomatisierbarkeit juristischer
Zusammenhänge anhand der kritischen Würdigung einiger Details
aus Schreibers "Logik des Rechts" (1962)
Rave, D., Brinckmann, H., Grimmer, K. (Hrsg.): Logische Struktur von Normensystemen am
Beispiel der Rechtsordnung. Referate und Protokolle der Arbeitstagung im Deutschen Rechen-
zentrum. Darmstadt 1970, S. 26-30

Ich schicke eine allgemeine Bemerkung vorweg. Der von Schrei-


ber - wenngleich mit einigen Abweichungen - beschrittene
Weg, rechtliche Normen und Entscheidungen mit den Mitteln
der allgemeinen Logik, insbesondere der Prädikatenlogik, zu
erfassen, verspricht nach meiner Ansicht Erfolg. Ich be-
zweifle sogar, ob es prinzipiell andere erfolgsversprechen-
de Methoden gibt. Doch die Diskussion dieser Frage gehört
hier nicht zur Sache.

Schreiber geht bei der Symbolisierung rechtlicher Normen


und Entscheidungen sowie bei der Bewertung der sich erge-
benden symbolischen Gebilde folgendermaßen vor. Er setzt
an bei einem Indikativsatz des Inhalts, es erbringe a an b
die Leistung c:
"R(a,b,c)" (1)
Dieser Indikativsatz stellt zugleich einen Individualsatz
dar, denn er handelt von bestimmten Individuen (nämlich den
Personen a, b und der Leistung c). Geht man von den Namen
dieser Individuen zu entsprechenden Variablen über, so er-
gibt sich eine Aussagefunktion
"R (x, y, z)", (2 )
und bindet man die Variablen beispielsweise durch den All-
quantor:
"&/i.. fJ
R (x,y,z)"
so kommt ein indikativer Allsatz heraus.

Den Indikativsatz legt Schreiber dem Normativsatz zugrunde.


Den individuellen Normativsatz (die "rechtliche Entschei-
dung") gewinnt er aus dem individuellen Indikativsatz durch
Voranstellung eines Symbols "N" des Inhalts, "es ist rech-
tens, daß ... ":
"N(R(a, b,c»" (4)

159
26 Jürgen Rödig

In entsprechender Weise wird - allerdings ohne Berück-


sichtigung der Quantoren - aus dem indikativen Allsatz die
Rechtsnorm entwickelt:
"N(R(x,y,Z»".
Dem für die Formulierung von Normativsätzen verwendeten "N"
entspricht laut Schreiber, was die Indikativsätze anbelangt,
ein diesen jeweils voranzustellendes "w" mit der Bedeutung:
"es ist wahr, daß •.. ":
"W(R(a, b,o»" (6)
"W(R(x,y,z»" (7)
Der aus dem Vergleich von (4) mit (6) bzw. von (5) mit (7)
erhellenden Isomorphie der Normativsätze mit den Indikativ-
sätzen mißt Schreiber besondere Bedeutung zu. Auf der Grund-
lage dieser Isomorphie entwickelt Schreiber für die Normativ-
sätze in der Weise "Rechtsgültigkeitstabellen", in der es be-
treffs der Indikativsätze Tabellen für die Wahrheitswert-
funktionen gibt. Als Beispiel gebe ich die Rechtsgültigkeits-
tabelle der (normlogischen) Negation:

: I:
nr r (8)
Es leuchtet allerdings nicht ein, daß Sachverhalte, die be-
reits durch "N" explizit als "rechtens" bewertet wurden,
noch einmal mit r, nr bewertet werden ("es ist rechtens, daß
es rechtens ist ... ", "es ist nicht rechtens, daß es rechtens
ist ... ").Und was die indikativen Sätze anbelangt, so pflegt
man die Wahrheitswerte mit Recht auf die Beschreibungen von
Sachverhalten, also auf Aussagen zu beziehen, und nicht etwa
auf schon vorgenommene Bewertungen dieser Aussagen als wahr
oder falsch. Ich halte es ohnedies für eine zweifelhafte An-
geleg.enheit, Aussagen zum Gegenstand der rechtlichen Wertung
zu machen; es fragt sich ob die Wertung als "rechtens" oder
"nicht rechtens" sinnvollerweise nicht Handlungen vorbehalten
werden sollte (die allerdings in einer - als Akt begriffenen -
Aussage, etwa einer üblen Nachrede, bestehen können). Es be-
reitet sodann erhebliche Schwierigkeiten, "N" im Rahmen einer

160
Einige Bemerkungen zur Axiomatisierbarkeit juristischer Zusammenhänge 27

logisch leistungsfähigen Syntax unterzubringen sowie im


Rahmen der Semantik das Verhältnis der Wahrheitswerte zu den
RechtsgUltigkeitswerten zu bestimmen.

Auf die weitere Diskussion dieser Fragen kann ich allerdings


verzichten. Schreiber hat sein System bereits selbst modifi-
ziert. Andererseits ist das Schreibersche Isomorphieprinzip
wichtig genug, nicht vergessen zu werden; worauf sich meine
Zweifel beziehen, das ist nicht das Isomorphieprinzip selbst,
sondern ist die Art, in welcher Schreiber es zur Konstitution
seines KalkUls benutzt.

Der EinfUhrung normativer Sätze durch das Zeichen "N", das


nicht etwa nur ein Prädikat höherer Stufe ist, sondern sich
auf eine ganze Aussage bzw. auf eine ganze Aussageform be-
zieht, bedarf es nicht. Daß a an b die Leistung cerbringen
soll, kann durch die Anwendung des Prädikats der Gebotenheit
("Gb") auf den Namen einer Handlung ausgedrUckt werden. Der
Name der Handlung ist dabei ein zusammengesetzter Term:
"Gb(h(a,b,c»" (9)
Der Name
"h(a,b,c)" (10)
bezeichnet - logisch - ein Ding, nämlich die in der Leistung
von c an b durch a bestehende Handlung. Man kommt aber auch
ohne zusammengesetzte Terme aus, was das folgende mathemati-
sche Beispiel anschaulich macht. Das kommutative Gesetz

"At;... p (x,y) = p(y,x)" (ll)


geht, sofern man auf den die Produktfunktion darstellenden
zusammengesetzten Term verzichtet, in diese Formel Uber,

"~/.r..A (p(x,y,z)- p(y,x,z»" (12)


wobei "P (x,y,z)" soviel wie "p (x,y)=z" bedeutet (vgl. Hermes,
EinfUhrung in die mathematische Logik 2 , S. 49).

Betrachten wir nunmehr die von Schreiber angegebene Symboli-


sierung der - Ubrigens von Schreiber sinnvoll abgekUrzten -
Vorschrift des § 812 Ab. 1 Satz 1 BGB:

161
28 Jürgen Rödig

n{G(x,y,w) 1\-' N [G(X,y,W)] ] -


N [H(y,X,W)] n (13)

An dieser Formulierung sind, von den oben ausgeführten allge-


meinen Bedenken abgesehen, einige Kleinigkeiten zu bemängeln.
Es ist erstens nicht zu empfehlen, die Quantoren wegzulassen;
die Gründe für ihre Beibehaltung brauchen hier nicht näher
ausgeführt zu werden.

Die von Schreiber gebotene Formalisierung berücksichtigt


zweitens nicht den Faktor der Zeit. Schon deshalb ist sie
widerlegbar; die Herausgabepflicht besteht offenbar nicht
schon vor der Leistung ohne rechtlichen Grund.

Die Formel ist drittens sogar der rechtlichen Widerlegung


ausgesetzt. Vielleicht gibt es, obwohl eine Leistung ohne
rechtlichen Grund zeitlich voraufgeht, deshalb keine Heraus-
gabepflicht, weil die Schuld inzwischen erlassen worden ist
(§ 397 Abs. 1 BGB).

Ich möchte meine Bedenken allgemeiner formulieren. Man kann


ein Gesetz jedenfalls in der Regel nicht dadurch in eine für
die Anwendung der axiomatischen Methode brauchbare Fassung
bringen, daß man es paragraphenweise in Symbole übersetzt.
Es bedarf, genau genommen, nicht einmal der Symbole: die
Symbole sind lediglich ein - freilich nicht zu überschätzen-
des - Mittel der Vereinfachung. Erst die axiomatische Metho-
'- ~estattet den Beweis von - insbesondere juristischen -
Sä ~n, und worauf es bei dieser Methode ankommt, das ist
die ~bbildung eines geistigen Stoffes in eine Menge von mög-
li,'lst wenigen und einfachen Sätzen dergestalt, daß die Sätze
sich nicht widersprechen und den Stoff vollständig decken.
WeLlen wir diese Forderung auf die etwa im BGB enthaltenen
Paragraphen an, so stellen wir fest, daß sie der axiomatischen
Methode schwerlich genügen. Es gibt hinsichtlich der inhalt-
lichen Geschlossenheit unglaubliche Lücken, und das bei der
Aneinanderreihung der Paragraphen mit Vorliebe verwendete
Regel - Ausnahme - Prinzip fUhrt, wenn man die Paragraphen
als Axiome sieht, unablässig zum logischen Widerspruch (vgl.

162
Einige Bemerkungen zur Axiomatisierbarkeit juristischer Zusammenhänge 29

etwa § 284 Abs. 1 Satz 1 gegenüber § 285 BGB). Eine Formu-


lierung des Gesetzes, welche diese Mängel vermeidet, ist eine
schwierige, aber auch höchst lehrreiche Sache. Man sieht sich
plötzlich zu einer Diskussion der Grundlagen des Gesetzes ge-
zwungen; man stößt auf Lücken, wo man sich zuvor mit einer
meist wenig kontrollierbaren Unterstellung half, und Wider-
sprüche der Wertung stellen sich nunmehr mit aller Deutlich-
keit heraus.
Jetzt habe ich aber ziemlich viel über die Sache gesprochen;
es ist an der Zeit, selbst einen Versuch der für die Aufnahme
in ein axiomatisches System geeigneten Formulierung eines
Rechtssatzes zu machen. Ich verwende folgende Prädikate:
"Pers ( . )" = . ist eine Person
"Lstg(.)" =.ist eine Leistung
"ztp(.)" =.ist ein Zeitpunkt
"Anspr(., .. , ... , .... )" =.hat gegen .. zum Zeit
punkt ... Anspruch auf
"Fr(., .. )" =.liegt früher als ..
"Erw(., .. , ... , .... )" =.erwirbt gegen .. zum
Zeitpunkt ... den Anspruch auf
"Verl ( ., .. , ... , •... )" = . verliert gegen .. zum
Zeitpunkt ... den Anspruch auf ....
Ich gebe nunmehr die für das System des Bürgerlichen Rechts
grundlegende Bedingung für das Bestehen eines Anspruchs einer
Person gegen eine andere zu einem bestimmten Zeitpunkt an:
"4tJ,~!dx~!A ((Pers(a)" Pers(b) /I.
ztp(c) 1\ Ztp(d) 1\ Ztp(e)" Lstg(r»-
(Anspr (a, b, c, f, )..-- ~ (--. Fr (c, d) 1\ Erw( a, b, d, f) "
-, y (-, Fr ( e, d) " -, Fr ( c, e) 1\ Ver 1 (a, b, e, f) ) ) )" (14)

In ähnlicher Weise, wie die elementare Formel (14) das Bestehen


des Anspruchs bestimmt, ist vermittels der folgenden Formeln
zu klären, wann jemand gegen einen andern zu einem bestimmten
Zeitpunkt einen Anspruch erwirbt (durch Abschluß eines Ver-
trages oder durch das Erleiden einer unerlaubten Handlung),
wann er ihn verliert usw. Erst in diesem Zusammenhang sind

163
30 Jürgen Rödig

Formeln eines Inhalts einzufUhren, welcher dem der Formel (13)


entspricht.
Aus der folgenden Übersicht geht hervor, wie bei dem Versuch
der AXiomatisierung fortgefahren werden könnte:

Bestehen des Anspruchs


(a) Erwerb des Anspruchs
(a.a) Entstehung des Anspruchs
(a.b) Zuordnung des Anspruchs zum Kläger
(b) Kein Verlust des Anspruchs
(b.a) Keine Abordnung des Anspruchs
(etwa durch Abtretung)
(b.b) Kein Erlöschen des Anspruchs
(etwa durch ErfUllung) (15)
Der Zusammenhang von (15) mit (14) leuchtet ein. Die Ubersicht
(15) ist andererseits von der Dogmatik des BGB auch auf den
ersten Blick nicht so weit entfernt, wie dies bei (14) scheinen
könnte. Doch bereits an dieser Stelle läßt die Anwendung der
axiomatischen Methode uns auf Schwierigkeiten (nicht etwa
methodischen, sondern) sachlichen Inhalts stoßen: Kann man in
ein exaktes System des BUrgerlichen Rechts einen Begriff des
"Anspruchs" Ubernehmen, bei dem von der Individualität des
Gläubigers oder auch Schuldners abgesehen wird (vgl.(a,b),
(b,a)) ?

164
Complement zum SitzungsprotokoU vom 2. Oktober 1970.
Erste Nachmittagssitzung.
Rave, D., Brinckmann, H., Grimmer, K. (Hrsg.): Logische Struktur von Normensystemen am
Beispiel der Rechtsordnung. Referate und Protokolle der Arbeitstagung im Deutschen Rechen-
zentrum. Darmstadt 1970, S. 109-111

Der gegen die Eignung der allgemeinen mathematischen Logik


- insbesondere der Prädikatenlogik - zur Erfassung norma-
tiver - insbesondere juristischer - Zusammenhänge vorgebrach-
te Einwand lautet:
Es werde ausgegangen von der einen Menschen m in einer be-
stimmten Situation treffenden Pflicht P:
P(m) • (1)
beispielsweise der Pflicht, bei einem Unglücksfall zu helfen.
Nun folge aber aussagenlogisch aus einer Aussage deren Dis-
junktion mit einer anderen
A I - - (A v B) (2)
Es wird in der Tat durch jede Belegung von A, B mit Wahrheits-
werten, falls sie A erfüllt (hier: nur die Belegung von A mit
"wahr"), auch (A v B) erfüllt (hier: ist A wahr, gilt (A v B)
unabhängig von B). Man bilde nun bezUglich desselben Menschen
m und derselben Situation die Aussage
K(m) ,
welche bedeuten möge, m solle das durch den Unglücksfall ange-
griffene Fahrzeug vollends zuerstören. Man substituiere ferner
A durch (1) und B durch ()~ Aufgrund (2) ergebe sich:
P(m) t--- (P(m) v K(m» (4)
Es sei nun aber unzulässig, ja geradezu sinnlos, entsprechend
(4) auf logische Weise aus der Hilfepflicht u.a. auf die Zer-
störungspflicht zu schließen. Ein verblüffender Einwand; er
erledigt sich wie folgt.
Die aus P(m) vermittels (4) erschlossene "Verpflichtung"
(P(m) v K(m»
wird freilich durch die Verwirklichung von K(rn) erfüllt. Man
braucht indessen nicht zu be~ürchten, m könne sich Uber (5) von
seiner Hilfspflicht (1) herausreden. Denn aufgrund der Ab-

165
110

schwächung von (1) in die Disjunktion (5) wird (1) nicht


etwa aufgehoben. und die Entscheidung. ob eine Pflicht be-
steht. kann stets nur auf der Grundlage sämtlicher Normen
getro~fen werden (Postulat des konjunktiven Normenzusammen-
hangs):
(P(m) v K(m» ~ P(m» (6)
ist aber aussagenlogisch mit P(m) äquivalent. Demnach ist
nach wie vor auf (1) zu schließen. Ein entsprechender Schluß
auf
K(m)
kommt demgegenüber nicht in Betracht. (7) folgt weder aus
(1) noch aus (5) noch aus (6). Insbesondere der Ubergang
von der Abschwächung 6) zu (7) geht aussagenlogisch daneben.
denn nicht durch jede (5) erfüllende Belegung wird zugleich
(7) erfüllt (Gegenbeispiel: P(m) sei wahr. K(m) falsch).
Was nUtzt also die Gewinnung der abgeschwächten Formel (5).
wenn es bei der Unmöglichkeit. auf K(m) - insbesondere aus
(5)l - zu schließen. bleibt? Diese - rhetorische - Frage ist
um 50 dringender zu stellen. als die sich mit dem eingangs
geschilderten Einwand verbindenden Emotionen auf der\or-
stellung von K(m) beruhen dürften. Von K(m) ist (P(m) v K
(m» grundverschieden. (P(m) v K(m» nimmt den Wahrheits-
wert der Wahrheit an. wenn wenigstens eine der verknüpften
Aussagen ihn besitzt. Einen tieferen Sinn als diesen hat
(5) nicht.
Betreffs des konjunktiven Normzusammenhangs ist noch folgen-
des zu bemerken. Dieses Postulat liegt jedel' Kodifikation als
eine Selbstverständlichkeit zugrunde. denn die einzelnen Nor-
men sind stets alle gewollt. Auch bei der Rechtsanwendung wird
es a~s e1ne Selbstverständlichkeit vorausgesetzt; wird bei der
Anwendung einer Norm auf einen Fa~l nioht deren ganzer Inhalt
benötigt. 50 geht die - noch nicht abgeschwächte - ursprüng-
liche Norm nicht etwa späteren Fällen verloren. Für die Durch-
führung logischer oder mathematischer Beweise gilt schließ-
lich nichts anderes. Auch auf solche Prämissen oder logische

166
Complement zum Sitzungsprotokoll vom 2. Oktober 1970. Erste Nachmittagssitzung. 111

Axiome, die an irgendeiner Stelle einmal abgeschwächt worden


sind, greift man an anderer Stelle ungeachtet der Abschwäch-
ung in zulässiger Weise zurück.

Hinsichtlich der Fragestellung schulde ich den Herren Garstka


und Hilgenheger, hinsichtlich des Lösungsvorschlags den Herren
Brinckmann, Rathgeber und SteinmUller herzlichen Dank.

167
Kritik des NormIogischen Schließens
Eberlein, G. L., Kroeber-Riel, W., Leinfellner, W., Michalos, A. C. (eds): Logic, Containing a
Symposium and Decision. (1971), S. 79-93

ÜBERBLICK. Der erste Teil des Beitrags (I) enthält die Kennzeichnung des norm-
logischen Schliessens. Ich nehme die Kennzeichnung vor anhand der neuesten um-
fassenden deutschsprachigen Darstellung der Juristischen Logik, Ota Weinbergers
Rechtslogik 1 ; die Anknüpfung an dieses Werk empfiehlt sich nicht allein wegen seiner
vorzüglichen Klarheit, sondern vor allem deshalb, weil Weinberger die Logik der
Normen auf eine für diese Lehre prägnante und besonders ausgewogene Weise vertritt.
Dies vorausgesetzt, weicht das spezifisch 'normlogische' Schliessen (I, 2) vom all-
gemeinen logischen Schlussverfahren (I, 1) ab. Ich kritisiere diese Abweichung (lI),
und zwar zunächst anhand einiger von Weinberger gebildeter Beispiele (11, 1), sodann
aufgrund einer Prüfung der dem normlogischen Schliessen zugrundeliegenden Voraus-
setzungen (11, 2). Im letzten Teil des Beitrags (111) wird gezeigt, wie sich die bei Wein-
berger ergebenden Schwierigkeiten durch die Anwendung der allgemeinen Logik auf
adäquat definierte deontische Attribute mühelos überwinden lassen. Nach Klärung der
Voraussetzungen des eigenen Standpunkts (lII, 1) wird das von Weinberger ange-
nommene 'Widerspruchsprinzip der Normenlogik' bewiesen (lII, 2). Das Ergebnis der
Überlegungen ist ein weiterer Beitrag zur Begründung der These, einer speziellen
'deontischen Logik' bedürfe es nicht.

I. KENNZEICHNUNG DES NORMLOGISCHEN SCHLIESSENS

1. Der Begriff der 'Folgerung' im Sinn der allgemeinen Logik geht aus der
klassischen Formulierung Tarskis 2 hervor: 'The sentence X follows logi-
caUy from the sentences of the dass K if and only if every model of the
dass K is also a model of the sentence X'.
Dem Begriff der Folgerung geht hiernach logisch voraus der Begriff
der Erfüllung einer Aussageform durch ein M odeU. BL sei eine Be1egung
einer Aussageform AF, also die Ersetzung der in AF vorkommenden
Variablen durch Konstante, insbesondere der Subjektsvariablen durch
Subjekte. BL wird nun ein Modell von AF genannt genau dann, wenn AF
aufgrund der Belegung mit BL in eine wahre Aussage übergeht, d.h.,
wenn der Wahrheitswert (WW) von AFin diesem Fall das Wahre (WA)
ist:
BL mod AF=DrWW(BL(AF»)=WA.
Wir setzen ferner fest, BL sei ein Modell mehrerer Aussageformen
AF1 , AF2 , ... , AFm genau dann, wenn sowohl BL mod AF1 als auch

169
80 Jürgen Rödig

BL mod AF2 ... als auch BL mod AFm. Unter diesen Voraussetzungen
folge AF,. aus {AFto AF2 ..... AFm}, symbolisch:
{AFlt AF2 • .... AFm}H-AFII •
genau dann. wenn für jede Belegung BL gilt: stets. wenn BL mod
{AFlt AF2 ..... AFm}, dann BL mod AFII • Kurz: Eine Aussageform (ins-
besondere eine Aussage) folgt aus einer Menge von Prämissen genau dann.
wenn jedes Modell der Prämissen ein Modell der Aussageform (der Aus-
sage) ist. 3
Der Begriff der Folgerung ist für die modeme Logik von zentraler
Bedeutung 4• Insbesondere seine übernahme in die zeitgenössische juris-
tische Logik ist für diese ein kaum zu überschätzender GewinnS. Dafür
gibt es verschiedene Gründe. einer ist der folgende. Bei der Entscheidung
von rechtlichen Fällen kommt es auf die Herleitung bestimmter Rechts-
sätze an. Die für diese Herleitung erforderlichen Prämissen sind nun aber
jedenfalls in expliziter Form kaum jemals vollständig gegeben. Was
namentlich die einschlägigen Gesetze anbelangt. so gibt es Lücken; die
Lücken können insbesondere auf der Widersprüchlichkeit oder der Mehr-
deutigkeit der gesetzlichen Vorschriften beruhen. Will man die Lücken
schliessen. so besteht die Gefahr. die dafür nötigen Prämissen nur teil-
weise anzugeben und betreffs des Restes zu meinen oder so zu tun. als
werde lediglich 'gefolgert'. Ist beispielsweise anlässlich eines gedanklichen
Schrittes von 'folgerichtig' die Rede. dann hängt die Richtigkeit der
Folgerung nicht selten von der Richtigkeit stillschweigend vorausgesetzter
sachlicher Annahmen ab. Diese Annahmen werden allerdings als schein-
bare Bestandteile des Schlusses der sachlichen Debatte entzogen. Die
Bedenklichkeit dieses Vorgehens leuchtet unmittelbar ein 6 • Stellt man
demgegenüber bei dem Schluss von gegebenen Sätzen auf einen weiteren
Satz ausschliesslich auf das Verhältnis der Wahrheitswerte sämtlicher
Sätze bei jeweils gleichen Belegungen ab. so treten derartige Gefahren
nicht auf. Das juristische Schliessen gewinnt in der Tat in dem Masse an
Sicherheit und überzeugungskraft. als es sich der "Folgerung" in dem
soeben definierten strengen Sinne nähert.

2. Mit um so grösserem Interesse darf das von Weinberger vorgestellte


spezifisch normlogische Folgern rechnen.
2.1 Eine Folgerungsbeziehung. unter deren Gliedern sich - eventuell

170
Kritik des Normlogischen Schließens 81

neben Aussagesätzen - Normsätze befinden, wird von Weinberger 'Norm-


folgerungsbeziehung' genannt (Rechtslogik, S. 80). Die Normfolgerungs-
beziehung lässt sich nach der Auffassung Weinbergers durch den nor-
malen Folgerungsbegriff (I, 1) nicht erklären. Deshalb verallgemeinert
Weinberger den Folgerungsbegriff. Die Verallgemeinerung lautet: "Der
Beweis eines Satzes S begründet die Wahrheit von S, wenn S ein Aussage-
satz ist, und die Geltung von S, wenn Sein Normsatz ist," genauer:
"Der Satz F folgt aus den Prämissen P1 , P2 , ... , Pn genau dann, wenn es
logisch ausgeschlossen ist, dass F unwahr (nicht geltend) ist, wenn
P1 , P2 , ... , Pn wahr (geltend) sind. Hierbei ist F 1 , Pt> P2 , ... , Pn Wahrheit
oder Geltung zuzuschreiben je nachdem, ob es sich um einen Aussage -
oder um einen Normsatz handelt" (a.a.O., S. 217). Weinberger gibt zu-
sätzlich noch die folgenden 'Festsetzungen zur Abtrennung der Aussagen-
folgerungen von den normativen' an: "(a) Sind alle Prämissen Aussage-
sätze, kann nie ein Normsatz gefolgert werden. (b) Sind alle Prämissen
Normsätze, kann nie ein Aussagesatz gefolgert werden. (c) Sind die
Prämissen untereinander verträglich (d.h. die Aussagesatzprämissen unter-
einander und die Normsatzprämissen untereinander), dann sind auch die
Prämissen und die Folgerung verträglich" (a.a.O., S. 218). Hinsichtlich
der Bedeutung einiger Schemata normlogischen Folgerns, welche wir
sogleich studieren (H, 1), führt Weinberger (a.a.O.) aus: "Wir behaupten
bloss, dass es sich um fundamentale, kaum entbehrliche Regeln handelt,
welche ein sehr breites zentrales Feld des normenlogischen Denkens zu
regulieren imstande sind."
2.2. Wir werden sehen, dass die Formulierungen Weinbergers den von
ihm gemeinten und durch seine Beispiele erläuterten Begriff des 'normen-
logischen Folgerns' jedenfalls nicht vollständig erfassen. Halten wir jedoch
vorerst das Folgende fest:
2.2.1. Das normlogische Folgern schliesst nach Ansicht Weinbergers
in einem bestimmten, hier nicht näher zu beschreibenden Bereich das
Schliessen aufgrund der normalen (nicht verallgemeinerten) Folgerungs-
beziehung (I, 1) aus.
2.2.2. Die Ersetzung der normalen durch die normlogische Folgerungs-
beziehung (I, 2.2.1) beruht nicht etwa nur, wie es zunächst scheint, auf
der Ersetzung der Bewertung gewisser Folgerungsglieder mit 'wahr' oder
'falsch' {WA, FA} durch die Bewertung mit 'geltend' oder 'nicht geltend'
{GE, NG}. Denn anderenfalls könnte man z.B. - entgegen der ausdrück-

171
82

lichen Festsetzung Weinbergers (I, 2.1 zu b) - aus mehreren normativen


(also jeweils insgesamt mit {GE, NG} zu bewertenden) Prämissen schon
dann auf einen Aussagegesatz schliessen, wenn nur eine der Prämissen in
bestimmter Weise diesen Aussagesatz als - natürlich echten - Bestandteil
enthält.
11. KRITIK

1. Die von Wein berger gebildeten Beispie le norm logischen Folgerns (a.a. 0.,
S. 218 usw.) stellen besonders gute Ansatzpunkte für die Kritik des norm-
logischen Folgerns dar.
1.1. Das Verständnis der Beispiele setzt allerdings die Erklärung einiger
symbolischer Formulierungen voraus.
1.1.1. A sei ein Aussagesatz. Dann bringt Weinberger durch

'!A'

zum Ausdruck: 'A soll sein' (a.a.O., S. 203 und S. 206).


1.1.2. Dass A verboten ist, will Weinberger wie folgt symboli-
sieren:

'!"",A'.

1.1.3. Zum Zweck der Formulierung des Gedankens 'es gilt nicht, dass
A sein soll' führt Weinberger einen besonderen Negationsfunktur des
Solloperators "!" ein (a.a.O., S. 206):

'iA'.

1.1.4. Zum Ausdruck des hypothetischen Normsatzes 'wenn A, soll B


sein' verwendet Weinberger den zweistelligen normbildenden Funktor
'>', der an einen Aussagesatz einen Normsatz knüpft (nicht umgekehrt;
a.a.O., S. 209):

'A> !B'.

Soweit Weinberger den Funktor '>' definiert - Weinberger behandelt


nur einige der möglichen Fälle -, entspricht er dem aussagenlogischen
Funktor '-+', d.h. dem extensiven materialen Implikator.
1.2. Die von Weinberger gebildeten Beispiele normlogischen Schliessens

172
Kritik des Normlogischen Schließens 83

lauten, was die 'Abtrennungsregel der Normenlogik' anbetrifft, wie folgt:


1.2.1 A>!B
A
!B (BI)
1.2.2 A>!B
!,..."B
,..."A (B2)
1.2.3 A>!B
iB
,...,A (B3)
1.2.4 A>!B
!A
!B (B4)
1.2.5 A>!B
!B>!C
A>!C (B5)
1.2.6 A>!B
B>!C
A>!C (B6)
1.2.7 !A
A-+B
!B (B7)
1.2.8 A-+B
B>!C
A>!C (B8)
1.2.9 A-+B
A>!C
B>!C (B9)
L3. Der normative Folgerungsbegriff ist, wie erwähnt, für die An-
wendung und den Aufbau der modernen Logik von zentraler Bedeutung
(I, 1). Dennoch soll laut Weinberger das normlogische Folgern in seinem
Anwendungsbereich das normale Folgern ersetzen (I, 2.2.1). Es bedarf
keiner näheren Begründung, daß man an diesen Ersatz gewisse An-

173
84 Jürgen Rödig

forderungen stellt. Man wird insbesondere verlangen, dass normen-


logisches Folgern ebenso zuverlässige Ergebnisse wie das normale Folgern
liefert.
Die von Weinberger erzielten Ergebnisse überzeugen nicht.
Weinberger selbst scheint höchstens zwei dieser Beispiele für sicher
richtig zu halten (BI, B5). Die verbleibenden Beispiele sieht er allesamt
als mehr oder weniger der Diskussion bedürftig an. Drei davon hält er für
(wohl) 'offenbar falsch' (B2, B4, B9). Wie die vier problematischen Fälle
(B3, B6, B7, B8) tatsächlich entschieden werden müssen, sagt Weinberger
nicht.
Hierbei ist zu bedenken, dass die Problematik dieser Folgerungen nicht
etwa schon in den Prämissen steckt. Weinberger will, was schon aus dem
systematischen Ort der Analyse erhellt, die Problematik als eine solche
des normlogischen Folgerns verstanden wissen; die Bedeutung des zwei-
stelligen normbildenden Funktors '> ' ist nach seiner Ansicht hinreichend
erklärt. Mit der Ungewissheit ist mithin das Schliessen selbst behaftet,
und man muss sich fragen, ob es im Hinblick auf das Fehlen eines nur
annähernd zuverlässigen Folgerungsbegriffs eine Rechtfertigung für den
Gebrauch von logischen Symbolen gibt; denn ihren eigentlichen Zweck,
kalkülisierte Beweise zu ermöglichen, können die Symbole hier gar nicht
erfüllen.
1.4. Betrachten wir einige Beispiele genauer.
1.4.1. Die Richtigkeit des Schlusses B2läßt Weinberger daran scheitern,
dass hier ein Aussagesatz aus zwei normativen Prämissen abgeleitet werde.
Diese Begründung überrascht. Denn man vermutet, dass Weinberger,
wenn es Bedingung (b) aus (I, 2.1) nicht gäbe, auf ,.., A schlösse. Das
dürfte er genauerweise jedoch nicht, denn die für den Schluss benötigte
Negation des zweiten Gliedes der ersten Prämisse durch die zweite Prä-
misse lautet nicht '!,.., B', sondern 'TB'. Der Schluss von den Nicht-
gesolltsein von B auf das Gesolltsein von ,.., B setzt eine überhaupt nicht
selbstverständliche inhaltliche Annahme voraus, und diese Annahme
könnte auf bedenkliche Weise (vgl. 1,1) als Bestandteil des 'normlogischen
Folgerns' betrachtet werden. Weinberger macht die Annahme nicht.
1.4.2. Die Analyse von B3 ist laut Weinberger nicht frei von Problemen.
Je nach den Definitionen des Begriffes des 'Normsatzes' sowie der
verwendeten Symbole treten indessen an dieser Stelle Probleme nicht auf.
Ist 'TB' infolge der aussagenlogischen Negation des Normsatzes '!B' kein

174
Kritik des Normlogischen Schließens 85

Normsatz mehr (vgl. insofern Weinberger, a.a.O., S. 213 oben) und ent-
spricht der Funktor '>' dem extensiven materialen Implikator (a.a.O.,
S. 209), dann ist der Schluss von A> !B und TB auf ,.., A wegen der All-
gemeingültigkeit von

(((A -+ B*)!\ IB*) -+ IA)

zwingend, da diesmal nicht sämtliche Prämissen Normsätze sind.


Da Weinberger gleichwohl an der Richtigkeit des Ergebnisses zweifelt,
muss man vermuten, dass der Begriff des 'normlogischen Folgerns' still-
schweigend weitere inhaltliche Annahmen impliziert.
1.4.3. In die Menge der 'offenbar ungültigen' Beispiele hätte Wein-
berger auch Beispiel 7 aufnehmen können. 'A' bedeute: 'Kranken-
schwestern pflegen die Kranken'. 'B' bedeute: 'wenigstens 2% der Pa-
tienten des Siegburger Krankenhauses werden teilweise medizinisch falsch
behandelt'. Man wird B für wahr halten dürfen, ohne irgend jemandem
zu nahe zu treten. A und B sind nach Voraussetzung richtig, mithin stimmt
(A -+ B). Aus dieser Implikation folgt in Verbindung mit der gewiss gel-
tenden Annahme !A, wonach Krankenschwestern Kranke pflegen sollen,
dass wenigstens 2% der Patienten des Siegburger Krankenhauses teilweise
medizinisch falsch behandelt werden müssen. Das ist kein schönes Ergeb-
nis, und das dazu führende 'normlogische Schliessen' bedarf dringend
der Diskussion.

2. Kritik der Voraussetzungen


2.1. Schwerlich adäquat ist schon der Aufbau der Sätze, zwischen denen
laut Weinberger die Beziehung des 'normlogischen Folgerns' besteht.
2.1.1. Stellt 'A' einen Aussagesatz dar, dann ist kaum verständlich,
was der Ausdruck '!A' bedeutet. A ist die gedankliche Beschreibung eines
Sachverhalts, und gesollt kann allenfalls der Sachverhalt selbst, nicht
sein gedanklicher Nachvollzug sein. Auch als 'verboten' kann man sinn-
vollerweise nicht eine Aussage selbst, sondern höchstens das (beispiels-
weise eine beleidigende Aussage zum Ausdruck bringende) Sprechen be-
zeichnen. 'A' kann deshalb, soweit es in '!A' enthalten ist, sinnvoll nur
als Name eines Individuums (in logischen Sinne), mithin nur als Subjekt
angesehen werden; eine Aussage (d.h. ein O-stelliges Prädikat) stellt 'A'
insofern nicht dar. Weinberger (S. 203f) stellt dies auch klar.

175
86 Jürgen Rödig

2.1.2. 'A' wird als Teil von 'lA' aber auch keinen beliebigen Sach-
verhalt bezeichnen, sondern nur einen solchen, der in einem Verhalten
besteht. Lässt man den Heiligen Petrus aus dem Spiel, dann ist nicht ein-
zusehen, wie beispielsweise gutes Wetter 'gesollt' sein könnte.
2.1.3. Ist hiernach (11, 2.1.1, 2.1.2) das Zeichen 'A', soweit es in 'lA'
vorkommt, allenfalls Name eines Verhaltens, dann kann folgerichtig' -'
in 'l-A' nicht ein Negator sein; es handelt sich vielmehr um eine Funk-
tion, die einem Verhalten (also einem Individuum, keinem Gedanken)
als ihrem Argument dessen Unterlassung als ihren Wert zuordnet. 7 Wie
fragwürdig es allerdings ist, hinsichtlich eines Verhaltens von 'der' Unter-
lassung zu sprechen, habe ich an anderer Stelle zu zeigen versucht 8 •
2.1.4. Wenig befriedigend ist schliesslich Weinbergers normbildender
Funktor '>'. Wenn' >' bis auf die Bewertung des bedingten Teiles mit
{GE, NG} statt mit {WA, FA} dem extensiven materialen Implikator ent-
spricht (vgl. Weinberger, a.a.O., S. 209), ist seine Berechtigung bereits
innerhalb des Weinbergerschen Systems selbst zweifelhaft. Würde nämlich
schon die Abweichung bei der Bewertung von Teilsätzen neue Erklä-
rungen der Satzverknüpfungen notwendig machen, so müsste Weinberger
auch die konjunktive, disjunktive usf. Verknüpfung von teilweise norma-
tiven Sätzen neu definieren, was er aber nicht tut.
2.2. Die schon auf der Ungenauigkeit der Normsatzstruktur (11, 2.1)
beruhende Fragwürdigkeit des normlogischen Systems wird durch die
Einführung eines spezifisch "normlogischen Folgerns' noch verschärft.
Weinbergers Begriff des normlogischen Folgerns ist, wie wir verschiedent-
lich gesehen haben, nicht vollständig erklärt. Indem dieser Begriff still-
schweigend sachbezogene Voraussetzungen impliziert, wird gegen eines
der Grundprinzipien logischen Schliessens überhaupt verstossen. Die
Zufälligkeit der sich aufgrund solchen Schliessens. einstellenden Ergeb-
nisse ist nicht verwunderlich.
2.3. Sowohl dem eigentümlichen Aufbau des Normsatzes (11, 1.1; 11,
2.1) als auch der Entwicklung des spezifisch 'normlogischen Schliessens'
(I, 2; 11, 2.2) liegt eine wohl als unumstösslich angesehene Annahme zu-
grunde. Weinberger nimmt (a.a.O., etwa S. 33f) an, Normsätze könnten
nicht mit {WA, FA} bewertet werden 9. Diese Annahme erklärt zwar nicht
sämtliche Besonderheiten innerhalb Weinbergers normlogischen Sy-
stems. Sie ist indessen der Grund dafür, dass Weinberger überhaupt dem
von ihm so trefflich dargestellten und auf die Rechtswissenschaft ab-

176
Kritik des Normlogischen Schließens 87

gestellten System der allgemeinen Logik ein spezifisch normenlogisches


System entgegensetzt.

III. LÖSUNG DES PROBLEMS AUFGRUND DER ANWENDUNG


DER ALLGEMEINEN LOGIK

1. Klärung der Voraussetzungen der vorgeschlagenen Lösung


Die Kritik von Weinbergers Annahme, Normsätze seien weder wahr
noch falsch, fällt mit der hier zu gebenden Begründung des eigenen
Standpunkts zusammen. Ich bin in der Tat so verwegen, Normsätze mit
{WA, FA} zu bewerten lO • Man schätze meine Kühnheit aber nicht allzu
hoch ein. Die Bewertung normativer Sätze mit {WA, FA} ist die Lösung
eines anderen Problems als jener Frage, die Weinberger vermittels seiner
Annahme entscheiden will.
Ich gebe gern zu, dass die Entscheidung der Frage, wann man 'wirklich'
etwas soll, sehr schwierig ist. Die Angabe der Bedingungen für die Geltung
einer Norm ist ein kompliziertes, jedenfalls auch von der Rechtsgeltungs-
lehre zu behandelndes Problem. Dieses Problem will ich im Zusammen-
hang mit der Bewertung von normativen Sätzen durch {WA, FA} aber
gar nicht bewältigen. Seine Bewältigung ist in diesem Zusammenhang
auch nicht nötig.
Wie bei der Anwendung der mathematischen Logik überhaupt, so geht
es bei ihrer Anwendung insbesondere auf die Juristische Logik darum,
inhaltliches Schliessen kalkulierbar zu machen. Die Entwicklung eines
Kalküls aber setzt den Aufbau einer Objektsprache voraus. Soll durch
das Operieren mit objektsprachlichen symbolischen Reihen inhaltliches
Schliessen abgebildet werden, so bedarf es erstens einer Deutung der
Objektsprache und zweitens der Angabe der Bedingungen, unter denen
ein objektsprachlicher Ausdruck zutreffen soll. Die Angabe dieser Be-
dingungen vollzieht sich innerhalb der Metasprache. Wann diese meta-
sprachlichen Bedingungen ihrerseits erfüllt sind, das ist eine andere, sich
unabhängig von der Entwicklung eines Kalküls stellende Frage. Es kommt
insbesondere nicht darauf an, ob die Bestätigung dieser Bedingungen im
Wege der Beobachtung erfolgen muss, und ob vielleicht nur beobachtbare
Inhalte 'wahr' sein können.
Es sei beispielsweise
'Gb(.)'

177
88 Jürgen Rödig

ein I-stelliges Prädikat, welches das I-stellige Attribut der Gebotenheit


bedeutet.
'h'
sei ein Subjekt, und zwar der Name eines bestimmten Verhaltens. Die
Anwendung von 'Gb (.)' auf'h', also den Ausdruck
'Gb(h)',
nenne ich nun gerade dann 'wahr', wenn der Inhalt von 'Gb(.)', kurz:
IN ('Gb (.)'), zutrifft auflN('h'), d.h., wenn die Gebotenheit zutrifft auf h,
d.h., wenn h geboten ist. Wann h 'wirklich' geboten ist, d.h., wann ~lie
Bedingungen für die Zuordnung von WA zu dem objektsprachlichen
Ausdruck 'Gb(h)' vorliegen, diese Frage hat mit dem logischen Problem
der Berechnung juristischer Ergebnisse aus bestimmten Annahmen nichts
zu schaffen. Bei der Zuordnung des Wahrheitswertes W A zu dem objekt-
sprachlichen Gebilde 'Gb(h)' gehe ich keinen anderen Weg, als ihn etwa
Scholz-Hasenjaegerl l auf der Grundlage von Tarskis Wahrheitsbegriff
beschreiten, wenn sie '< OS(O)' mit
IN('«., .. )')=ist kleiner als ..
IN('O') =0
IN('S(.)') = Nachfolger von ., sodass IN('S(O)') = 1
für genau dann wahr halten, wenn 0 kleiner ist als 112•
Halten wir Folgendes fest. Es gibt zwar das von Weinberger behandelte
Problem der Verifizierung von Normen. Doch die Zuordnung von Wahr-
heitswerten zu objektsprachlichen Ausdrücken aufgrund des Zutreffens
metasprachlich formulierter Bedingungen setzt die Lösung dieses Problems
nicht voraus. Aus diesem Grund fällt insbesondere die Notwendigkeit
der Entwicklung eines spezifisch 'normlogischen Schliessens' hinweg. Der
Weg für die Anwendung der allgemeinen Logik ist geöffnet.13
2.1. Ich führe zum Schluß den Beweis des von Weinberger bei B2
implizit vorausgesetzten und an anderer Stelle (S. 214 usw.) ohne nähere
Begründung postulierten Satzes, welchen Weinberger das 'Widerspruchs-
prinzip der Normenlogik' nennt. Der Satz besagt, daß 'nichts' gleichzeitig
geboten und verboten sein darf. Der Beweis wird im Folgenden mit den
Mitteln der allgemeinen Logik.erbracht. Die Unverträglichkeit von Gebot
und Verbot stellt nicht etwa, wie Weinberger (a.a.O., S. 214 usw.) meint,

178
Kritik des Normlogischen Schließens 89

einen spezifisch logischen Widerspruch dar. Der Widerspruch kommt


vielmehr erst aufgrund der für das Gebot und das Verbot gegebenen
inhaltlichen Definitionen zustande. Die Definitionen gehen aus ein-
schlägigen Axiomen hervor. Hinsichtlich der Axiome, der darin vor-
kommenden Prädikate sowie des für die Ableitung verwendeten prädi-
katen logischen Kalküls des natürlichen Schließens greife ich auf das in
meiner Schrift über 'Die Denkformen der Alternative in der Jurisprudenz'
entwickelte axiomatische System zurück.
2.2. Die Prädikate haben folgenden Sinn:
IN('Ha(.)')=.ist eine Handlung
IN('Un(., .. )')=.ist eine Unterlassung von ..
IN('Re (. )') =. ist regelmäßig, d.h.: . wird unter dem Gesichtspunkt des
vorgesetzten Rechtswerts positiv bewertet
IN('Nr(.)')=.ist (im selben Sinne) widerrechtlich
IN('Gb(.)')=.ist geboten
IN('Er (. ),) =. ist erlaubt
IN('Vb(.)')=.ist verboten
2.3. Die als Annahmen in die Ableitungen einzuführenden Axiome lauten:
Al: .Va(Re(a)/\Nr(a»)
A2: /\a(Gb (a)+-+(Ha (a) /\Re(a) /\l\b(Un(a, b)-+ Nr(b»)))14.15
A3: /\a(Er(a)+-+(Ha(a)/\Re(a»))
A4: /\a(Vb(a)+-+b(Nr(a)/\Re(b)/\ Un(a, b»))
2.4. Weder die Auswahl der Axiome (2.3) noch die der darin vor-
kommenden Prädikate (2.2) sind an dieser Stelle hinlänglich zu moti-
vieren. Es muß in sofern bei den beiden folgenden Bemerkungen be-
wenden:
2.4.1. 'Vg(a, b)' bedc;ute, daß a zum seben Verhaltensspielraum wie b
gehört. Dann stellen folgende Axiome A* und A** den Zusammenhang
zwischem dem Begriff der Handlung und dem der Unterlassung her:
A*: /\a(Ha(a)+-+ V b(Vg (a, b) /\a#:b»)
A**: /\a/\b(Un(a, b)+-+Vg(a, b)/\a#:b»)
Aus A* und A** erklärt es sich, daß in A4 (im Gegensatz zu A2 und A3)
das Handlungsprädikat nicht explizit vorzukommen braucht.
2.4.2. Von grundlegender Bedeutung für den von mir a.a.O. vorge-

179
90 Jürgen Rödig

schlagenen Aufbau eines normlogischen Systems ist die Unterscheidung


zwischen der Bewertung eines Sachverhaltes als unter der Voraussetzung
eines gegebenen Wertes (insbesondere des Rechtswerts) wertvoll (rechtens)
oder wertwidrig einerseits und der Bewertung von Handlungen als gebo-
ten, erlaubt oder verboten andererseits. Die letzteren Bewertungsmodi,
die man auch 'deontische Modalitäten' nennt, werden im Gegensatz zur
überkommenen Anschauung als komplex betrachtet. Die 'deontischen
Modalitäten' werden auf der Grundlage eines noch einfacheren deon-
tischen Systems bestimmt, nämlich über der Menge der Kombinationen
der positiven oder negativen Bewertung von wenigstens zwei zum seI ben
Verhaltensspielraum gehörenden Verhaltensweisen. Legt man im Grenz-
fall einen und nur einen Wert zugrunde und kommen im Verhaltens-
spielraum gerade zwei Verhaltensweisen vor, so gibt es folgende Be-
wertungsmöglichkeiten :

(1) +vet> + ve 2
(2) +vel' - ve2
(3) -ve l , + ve 2
(4) -vel' - ve2
Der Gebotenheit von ve 1 entspricht Fall (2), der Verbotenheit von vel
entspricht Fall (3), der Erlaubtheit von vel entsprechen die Fälle (1) und
(2). Dieses einfache Modell kommt dem hergebrachten - durchaus an-
greifbaren - Unterlassungsbegriff am nächsten, und es ist deshalb die
Komplexität der Begriffe des Gebots, der Erlaubnis und des Verbots am
besten zu veranschaulichen geeignet. Die Begriffe bewähren sich auch,
wenn der Verhaltensspielraum mehr als zwei Verhaltensweisen enthält.
Enthält er dagegen höchstens ein Verhalten (etwa eine Reflexbewegung),
so ist es ebensowenig adäquat, von Verbotenheit zu sprechen, wie von
der Verbotenheit eines Gewitters. Dennoch muß man selbst das Gewitter
unter dem Gesichtspunkt bestimmter Werte als positiv oder negativ
bewerten können. Ein wichtiger Vorteil insbesondere des komplexen Ver-
botsbegriffes (Fall 3) ist es, daß er die (juristisch wesentliche) Unter-
scheidung des Verbots (Fall 3) von dem - tragischen - Fall (4) gestattet.
Aus den genannten Gründen ist Al nicht mit dem nunmehr zu be-
weisenden 'Widerspruchsprinzip der Normenlogik' ,nämlich dem Theorem

/\a(Gb(a) ~ -, Vb (a)),

180
Kritik des Normlogischen Schließens 91

zu verwechseln. Al ist weit einfacher als dieses Theorem, wenngleich


nicht wie etwa
-, Va(Re(a)A -,Re(a»)
schon aus logischen Gründen wahr.

2.5. Beweis:
2.5.1. Es wird zunächst das Theorem Tl bewiesen, wonach aus der
Gebotenheit die Erlaubtheit folgt (Beweiszeile 6):
1 (1) l\a(Gb(a)-(Ha(a) ARe(a) A
A I\b(Un(a, b)-+Nr(b»))) A2
2 (1) (Gb (e)-(Ha (e) A Re(e) A
A I\b(Un(e, b)-+Nr(b»))) (1) GB
3 (3) 1\ a(Er (a)-(Ha (a) A Re (a»)) A3
4 (3) (Er (e )-(Ha (e) A Re (e»)) (3) GB
5 (1, 3) (Gb(e)-+Er(e») (2,4) L
6 (1, 3) I\a( Gb (a) -+ Er (a») e(5) GE
2.5.2. Wir beweisen nunmehr das Theorem T2, wonach eine Handlung,
falls sie verboten ist, nicht erlaubt ist:
1 (1) -, Va(Re(a)ANr(a») Al
2 (2) (Re(e)ANr(e») AE
3 (2) Va(Re(a) A Nr(a») (2) PE
4 (Re(e) A Nr(e»)-+
-: Va(Re(a) A Nr(a»)) (2,3) AB
5 (5) l\a(Vb(a)-V b(Nr(a)A
ARe(b)A Un(a, b»)) A4
6 (5) (Vb(e)-Vb(Nr(e)A
ARe(b)A Un(e, b»)) (5) GB
7 (7) l\a(Er (a)-(Ha (a) A Re (a»)) A3
8 (7) Er (e)-(Ha(c ) A Re (e»)) (7)GB
9 (9) Vb (e) AE
10 (5, 9) Vb(Nr(e)ARe(b)A Un(e, b») (6,9) JL
11 (5,9) (Nr(e)ARe(d)A Un(e, d») 10 PB

181
92 Jürgen Rödig

12(1,5,7,9) ,Er(c) (1,4, 8, 11) JL


13 (1, 5, 7) (Vb(c)-t ,Er (c» (9, 12) AB
14 (1, 5, 7) l\a(Vb(a)-t ,Er (a» c(13) GE
2.5.3. Aus Tl (2.5.1) und T2 (2.5.2) folgt der zu beweisende Satz:
1 (1) l\a(Gb(a) - t Er (a» Tl
2 (1) (Gb(c) -tEr(c» (1)GB
3 (3) l\a(Vb (a) -t ,Er(a» T2
4 (3) (Vb (c)-t ,Er(c» (3) GB
5 (1, 3) (Gb(c)-t, Vb (c» (2,4) JL
6 (1,3) l\a(Gb(a)-t, Vb (a» c(5) GE

Köln JüRGEN RÖDIG

ANMERKUNGEN

1 Wien-New York, 1970. - Vgl. aber auch die treffiiche 'Skizzierung einiger norm-
logischer Ansätze' (S. 77 usw.) bei Wagner-Haag, Die moderne Logik in der Rechts-
wissenschaft, Bad Homburg v.d.H. - Berlin-Zürich, 1970.
2 On the concept of logical consequence, in: Logic, Semantics, Metamothematics,
Oxford, 1956, S. 409ff, insbesondere S. 417. - Vgl. auch Bernard Bolzano, Wissen-
schaftslehre, Neudr., 2. Aufl. Leipzig 1929-31, 2. Band, § 155.2, (S. 113).
8 Vgl. Hermes, Einführung in die mathematische Logik, 2. Aufl., Stuttgart 1969, S. 15
bis 28, 78 usw.
4 Denn einerseits ist aufgrund des Folgerungsbegriffs zu entscheiden, ob ein Ableitungs-
kalkül korrekt und vollständig ist. Andererseits richtet sich die Zerlegung von Aussagen
insofern nach dem Folgerungsbegriff, als es im Hinblick auf bestimmte Schlüsse nur
auf die aussagenlogische Struktur, im Hinblick auf andere Schlüsse auf die einfache
prädikatenlogische Struktur usf. von Aussagen ankommt.
6 Vgl. Klug, Juristische Logik, 3. Aufl., Berlin-Heidelberg-New York 1966, S. 9-12;
Rödig, Die Denk/orm der Alternative in der Jurisprudenz, Berlin-Heidelberg-New York
1969, S. 14 usw., 161-6.
8 Vgl. Rödig, a.a.O., S. 15.
7 Weinberger hat sich gegen die von mir gerügte Verwendung des Negators allerdings
ausdrücklich verwahrt; vgl. Die S llsatzproblematik in der modernen Logik (1958)/S. 31
usw.; Le raisonnement juridique et la logique deontique. Actes du colloque de Bruxelles
1969,Iogique et analyse 1970, S. 202-4. Vgl. auch Rechtslogik S. 203 usw., wo Weinberger
freilich betreffs des normalerweise als Konjunktor gebrauchten Zeichens nicht er-
läutert, was das Zeichen bedeutet, wenn es nicht als Konjunktor figuriert.
8 Vgl. Rödig, a.a.O., § 10.9.1 (S. 47 usw.).
11 Vgl. auch Weinberger, Können Sol/sätze (Imperativa) als wahr bezeichnet werden,
Prag 1958; vgl. ferner Wagner-Haag, Die moderne Logik in der Rechtswissenschaft,
Bad Homburg v.d.H.-Berlin-Zürich 1970, S. 78f, 81 usw. VgI. bereits Kelsen, Reine
Rechtslehre, 2. Aufl., Wien, 1960.

182
Kritik des Normlogischen Schließens 93

10 Vgl. Rödig, a.a.O., § 28.3.3.


11 Grundzüge der mathematischen Logik, Berlin-Göttingen-Heidelberg 1961, § 54.2.3
(S. 138 usw.).
12 Tarskis Wahrheitsbegriff liegt implizit auch Klugs Juristischer Logik (vgl. Anm. 5)
zugrunde. Die daran von Wagner-Haag, a.a.O., S. 81 usw., geübte Kritik trifft aus
den im Text angegebenen Gründen nicht zu.
13 Hinsichtlich der an dem Weinbergerschen System geübten Kritik ist zu bemerken,
daß ich möglicherweise manche Ausführungen Weinbergers grundsätzlicher ver-
standen habe, als er sie verstanden wissen wiII. Ich beschränke meine Kritik daher auf
die von mir aus den Ausführungen Weinbergers herausgelesenen Gedanken. Es sei mir
ferner gestattet, an dieser Stelle anzumerken, dass ich gerade den Arbeiten Weinbergers
wesentliche Einblicke auf dem Gebiet der Logik der Normen verdanke.
14 A2 enthält eine von der a.a.O., A26 = § 21.7.1 angegebenen Formulierung ab-
weichende Fassung.
15 Ich werde die Gebotenheit (wie auch die Erlaubtheit und die Verbotenheit) an
anderer Stelle in aIIgemeiner Form über Verhaltensweisen von bestimmter Art zu
formulieren versuchen. Hierbei wird sich ein Prädikatenkalkül zweiter Stufe als nötig
erweisen.

183
Über die Notwendigkeit einer besonderen Logik der Normen
Rödig, J.: Über die Notwendigkeit einer besonderen Logik der Nonnen. In: Jahrbuch für
Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Band 2. Bertelsmann Universitätsveriag

1. Einleitende Bemerkungen

Gegenstand der Untersuchung ist die Frage, ob es einer be30nderen Logik der
Normen bedarf. Die Frage ist zu präzisieren.

(1) Die Frage lautet nicht, ob es der bereits entwickelten normlogischen Systeme
bedarf.
Diese Systeme sind zum Teil sehr leicht zu widerlegenl . Nun kann man schwer-
lich sagen, eines widerlegbaren Systems »bedürfe es«. Gleichwohl wollen wir die
Notwendigkeit einer besonderen Logik der Normen nicht schon daran scheitern
lassen, daß die bereits entwickelten Systeme widerlegbar sind.

( 2) Setzen wir vielmehr den Fall, es gelinge irgendwann der perfekte Entwurf
einer Logik der Normen.
Es kann davon ausgegangen werden, daß diese Logik komplizierter wäre, als es
etwa klassische prädikatenlogische Kalküle erster Stde sind. Bereits die Kompli-
ziertheit solcher klassischer Systeme wird von einigen Autoren beklagt. Nehmen
wir nun an, es ließen sich vermittels klassischer Systeme dieselben Zwecke errei-
chen, welche nach Voraussetzung der angenommene normologische Kalkül
erfüllt. Dann wird man sich fragen, ob es überhaupt der Mühe bedarf, diesen
komplizierteren Kalkül zu erfinden. Eine Antwort auf die Frage, ob es besonderer
normologischer Kalküle bedarf, soll mithin in dem Nachweis bestehen können,
daß die Anwendung der klassischen Logik jedenfalls zu keinen schlechteren
Ergebnissen führt als eine möglicherweise perfekte Logik der Normen.

(3) Nachdem wir die Frage nach der Notwendigkeit einer besonderen Logik der
Normen präzisiert haben, wollen wir sie nunmehr in Kürze motivieren.
Auf die Logik der Normen wurde in den letzten Jahren außerordentlicher
Scharfsinn verwendet. Einen nennenswerten Fortschritt kann man gleichwohl nicht

I VgJ. etwa die treffende Kritik von Wagner, H. und K. Haag, Die modeme Logik in der Rechtswissen-
schaft, '970, Nr. 11.1 (5.9°) an O. Beckers normativ-juristischer Interpretation eines Modalkalküls (Unter-
suchungen über den Modalkalkül, '952, 5. 40ff.). Die Beckersche Interpretation von »ip« als legale
Unterlassung (5. 41) sowie die optimistische Interpretation von Axiom 11 (Implikation von p durch die
Notwendigkeit (Gebotenheit) von p) müssen die Wirklichkeit des Rechts verfehlen. - Eine Kritik des von
O. Weinberger in seiner Rechtslogik (1970) dargestellten normlogischen Schließens (insbes. 5. 216ff.)
/indet sich in Theory and Decision :l (1971), 5. 79ff.

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Jürgen Rödig

erkennen. Es sei insofern auf zwei 1970 erschienene Werke Juristischer Logik
verwiesen, nämlich auf O. Weinbergers »Rechts logik« sowie auf H. Wagners und
K. Haags »Moderne Logik in der Rechtswissenschaft«. Es handelt sich bei diesen
Werken um Darstellungen von hervorragender Gründlichkeit und Klarheit. Was
indessen die Logik der Normen betrifft, so lassen es Wagner und Haa,g bei der
Zusammenstellung einiger - ihrerseits teilweise der Diskussion bedürftiger -
Anforderungen an normative Kalküle bewenden. Die Autoren bemerken sodann
betreffs der zuvor beschriebenen bislang entwickelten normlogischen Kalküle
mit Recht, daß diese Kalküle den angegebenen Anforderungen »höchstens teil-
weise genügen« (S. 108). Demgegenüber skizziert Weinberger eine Theorie des
normologischen Schließens (S. Z 1 7 ff.). Weinberger notiert ferner einige normlo-
gisehe Formeln (deren Inhalt übrigens nicht durchweg überzeugt2). Aus Wein-
bergers Ausführungen geht nun aber nicht mit der erforderlichen (und bei ihm
sonst üblichen) Genauigkeit hervor, wie sich die Formeln aufgrund normlogi-
schen Schließens ergebens.
Erfreulicher als diese Ergebnisse scheinen Resultate zu sein, die sich aufgrund
der Anwendung normaler mathematischer Verfahren ergaben, insbesondere
solcher, die der elektronischen Datenverarbeitung zugrunde liegen". In diesem
Zusammenhang sei noch bemerkt, daß die Anwendung der allgemeinen Logik
geeignet sein könnte, den Einsatz der elektronischen Datenverarbeitung zu er-
leichtern oder gar erst zu ermöglichen.

(4) Wir behandeln zunächst das zentrale Problem der Bewertung von Normen
(II), anschließend semiotische Voraussetzungen eines Normenkalküls (IH). Dabei
referieren wir jeweils zunächst die herrschende Meinung und unterziehen diese
alsdann der Kritik. Die Arbeit schließt mit Prolegomena der Axiomatisierung
einzelner Rechtsgebiete auf der Grundlage der klassischen Logik (IV).

II. Zum Problem der Wahrheit von Normen

I. Darstellung der für die Entwicklung normlogischer Kalküle maßgebenden Gründe

Man kann sich mehrere Beweggründe denken, die zur Entwicklung besonderer
Systeme der Logik von Normen geführt haben könnten. Es wäre beispielsweise
eine sympathische Sache, wenn die Juristen »ihre« Logik besäßen und wenn sie
nicht allemal zum Zweck, juristische Logik zu treiben, das glatte mathematische
Parkett betreten müßten. Dieses oder ähnliche Motive kann man jedoch gerade

• s. u. Anm. SI.
3 Der Grund dafür liegt jedenfalls Qlleh darin, daß das Weinbergersche normlogische System stillschweigende
Voraussetzungen nicht logischer Art enthält; s. u. IV z.
-4 Es sei vor allem auf die Arbeiten von H. Fiedler (vgl. zuletzt seine Aufsatzreihe in der» Juristischen Schu-
lung«, 1970/1971) verwiesen. Vgl. aber auch die vorzügliche Studie von S. Simitis, Informationskrise des
Rechts und Datenverarbeitung, '970, sowie W. Steinmüllers gut und vielseitig informierende Einführung
in die.Rechtsinformatik »EDV und Recht«, JA, Sonderheft 6, '970.

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Über die Notwendigkeit einer besonderen Logik der Normen

den führenden Vertretern der Logik der Normen - etwa den eingangs (I 3) ge-
nannten - nicht unterstellen. Diese Forscher sind sich vielmehr der außerordent-
lichen Kompliziertheit einer - exakten - Logik der Normen bewußt. Wenn sie
dennoch die Mühe einer Ausarbeitung dieser Logik nicht scheuen, so deshalb,
weil sie jedes andere Vorgehen für eine unzulässige Vereinfachung halten. Und
zwar für eine unzulässige Vereinfachung im Hinblick auf die Bewertung von
Normen.
Der bei weitem wichtigste, wenngleich nicht einzige Grund für die Entwick-
lung normlogischer Systeme ist dieser. Man meint, es gebe jedenfalls nicht stets
die Möglichkeit, normative Sätze mit den Wahrheitswerten der Wahrheit oder
Falschheit zu bewerten. Deshalb hält man eine, wie Weinberger (S. 191) sagt,
»peinliche Abtrennung der aussagenden (rein beschreibenden) und der normati-
ven Begriffselemente« für geboten. Normsätze seien »nicht als Abart von Aussage-
sätzen«, sondern als besondere Ausdruckskategorie anzusehen (a. a. 0., S. 33); es
sei ebensowenig sinnvoll, von Wahrheit oder Unwahrheit der Normsätze
(Normen) zu sprechen, wie von der »Gesundheit oder Krankheit der Primzahlen«
(a. a. 0.).
Man wird natürlich fragen, welcher der Grund für eine so entschiedene Ab-
lehnung der »Wahrheit oder Unwahrheit der Normsätze (Normen)« ist. Der
Grund ist nach Weinberger darin zu sehen, daß Normsätze nicht verifizierbar sind.
Weinberger führt in diesem Zusammenhang aus: »Die Wahrheit faktualer Aussage-
sätze können wir durch Beobachtung der Wirklichkeit erkennen und prüfen. Es
gibt keine analoge Möglichkeit, die Geltung der Normen durch Beobachtung des
tatsächlichen Geschehens zu testen« (a. a. 0., S. 19~)5.
Auch für Wagner und Haag ist es eine ausgemachte Sache, daß Normen nur als
geltend oder nicht bewertet werden können. Diese Autoren unternehmen über-
dies den interessanten Versuch, zu beweisen, es lasse sich im Prädikatenkalkül
lediglich die Behauptung ausdrücken, daß ein Ding tatsächlich eine Eigenschaft
besitze (Die moderne Logik in der Rechtswissenschaft, S. 81). Hierauf gehen wir
gleich näher ein (II 2).
Zuvor sei noch kurz ein weiterer Grund für die Entwicklung einer besonderen
Logik der Normen erwähnt. Der bedeutende Normlogik~r von Wright 6 ist der
Ansicht, in der traditionellen Logik sei für Veränderungen kein Platz. Deshalb
führt er »generische Aussagen« (»generic propositions«) ein, die per definitionem
keinen Wahrheitswert besitzen sollen 7; was von W right indes nicht hindert, sie
gleichwohl durch Wahrheitsfunktionen miteinander zu verknüpfen 8 • Diese Logik
der Veränderungen liegt von Wrights neuem normlogischen Ansatz zugrunde 9•

1 Vgl. auch Weinberger, Können Sollsätze (Imperative) als wahr bezeichnet werden? Rozpravy Ceskoslo-
venske Akademie ved, Rocnlk 68 (1918), Heft 9, S. 141 ff.
6 Norm and Action, 196h Vorwort S. VII.
7 von Wright, Norm and Action, S. 13.
8 A.a.O., S. 11; auf die Inkonsequenz dieses Vdrgehens weisen Wagner-Haag, a.a.O., Nr. lZ+1 (S. 99)
zutreffend hin.
9 Norm and Action; vgl. inSbeI. S. 36, wo der Zusammenhang zwischen dem Handlungsbegriff und der
Logik der Veränderungen angegeben wird.

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166 Jürgen Rödig

1. Kritik

Wagner und Haag setzen bei ihrem Versuch, den normativen Sätzen Wahrheits-
werte zuzuordnen, noch eine Stufe tiefer als Weinberger an. Deshalb wollen wir die
Kritik der herrschenden Lehre10 mit der Kritik der Thesen Wagners und Haags
beginnen.
Wagner und Haag gehen aus von einer Mannigfaltigkeit der Möglichkeiten, einem
Gegenstand eine Eigenschaft zuzuordnen. Das Zutreffen einer Eigenschaft auf den
Gegenstand könne
(a) gemeint,
(b) als wahr behauptet «a) = (b)?),
(c) gewünscht,
(d) geboten
(e) usf.
werden. In allen diesen Fällen liegen nach Ansicht der Autoren verschiedene
Sätze vor, »da der Satzcharakter jeweils ein anderer ist, obwohl dieselbe Eigen-
schaft demselben Gegenstand zugeordnet wird«. Der Prädikatenkalkül sei nur die
Zuordnungsweise (b) zu erfassen in der Lage (a. a. 0., S. 81).
Gesetzt, man könnte in der Tat hinsichtlich der Zuordnung einer Eigenschaft
zu einem Gegenstand die Möglichkeiten (a) bis (e) sinnvoll voneinander unter-
scheiden. Dann ist noch lange nicht die von Wagner und Haag aufgestellte These
bewiesen, es sei »nicht haltbar, das Gesolltsein selbst als Eigenschaft aufzufassen«
(a. a. 0.). Wagner und Haag hätten insofern erst beweisen müssen, daß das Gesollt-
sein in keinem der Fälle (a) bis (e) als Eigenschaft auftreten kann. Nehmen wir an,
das Gesolltsein könne nicht als eine dieser Eigenschaften figurieren. Dann dürfte
man beispielsweise nicht wünschen, die Unterlassung eines Mordes sei gesollt
(Fall (c». Nehmen wir dagegen an, das Gesolltsein könne in den Fällen (a) bis (e)
als Eigenschaft erscheinen, so handelt es sich um das Gegenteil der zu beweisen-
den These.
Aber bereits die Gegenüberstellung der Zuordnungsformen (a) bis (e) ist eine
zweifelhafte Sache. Es sei v ein bestimmtes Verhalten. »F« stehe für die Eigen-
schaft, anläßlich eines Unglücksfalles Hilfeleistung zu sein. Folgt man Wagner-
Haag, so kommt eine Beziehung zwischen F und v bereits durch die Gebotenheit
(vgl. (d» zustande. Mit der Gebotenheit der bloßen Zuordnung von F zu v ist aber
nichts gewonnen. Es kommt vielmehr darauf an, ob F auf v auch zutrifft, d. h. ob
F in dem Sinn als ein Attribut von v betrachtet werden kann, als der Anwendung
von F auf v der Wahrheits wert des Wahren entsprichtl l . Wagner-Haag setzen mit-
hin, was die Möglichkeit (d) anbelangt, die (etwas psychologisierend formulier-

10 Weinberger spricht insofern von der »überwältigenden Mehrheit der Logiker« (Rechtslogik, S. 195).
11 Eine treffliche Darstellung dieses Zusammenhanges findet sich bei G. Hasenjiger, Einführung in die
Grundbegriffe und Probleme der modernen Logik, 1961, S. 37: »Dafür können wir aber nun den Umgang
mit den schwer greifbaren Sachverhalten, die darin bestehen, daß der Begriff An dem n-Tupel a, ... an
zukommt bzw. nicht zukommt, zurückführen auf das Operieren mit den beiden »WahrheitJ1llerlen«. W und F.
In diesem Zusammenhang schreiben wir dann auch »An(a" ... , an)« für den zugeordneten Wahrheits-
wert. An(a ....., an) ist also W, falls Ana, •.. an' und ist F, falls ,An., •.. an«' - Der Klarheit halber sei
noch angemerkt, daß dieser Begriff der »Wahrheit« keine Vorwegnahme des erst zu entwickelnden (s. u.
n 3, n 4), auf eine bestimmte Objektsprache bezogenen («relativen<<) Wahrheitsbegriffs ist.

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Über die Notwendigkeit einer besonderen Logik der Normen

ten) Möglichkeiten (a) oder (b) voraus. Auch in den Fällen (c) und (d) sind (a) oder
(b) vorausgesetzt. Wünscht jemand beispielsweise F von v, so wünscht er nicht
irgendein Verhältnis von F und v, sondern den Fall, daß F von v wahr ist oder
wahr werde. Der Wunsch betrifft nicht jedes Nebeneinander von Fund v. Der
Wunsch betrifft vielmehr bereits die Tatsache F(v)12. Es ist ohne Sinn, etwas
anderes als - tatsächliche oder hypothetische - Sachverhalte zu wünschen. Die
Gegenüberstellung der Möglichkeiten (a) bis (e) ist darum irreführend, und es ist
charakteristisch, daß Wagner-Haag stillschweigend vom Begriff der »Zuordnung«
zu dem des »Zutreffens« übergehen, welcher ohne den Begriff der Wahrheit nicht
zu denken ist.
übrigens läßt sich auch der von Wagner-Haag gemeinte Umstand, es wünsche
eine Person p, daß einem Gegenstand g eine Eigenschaft e zukomme, prädikaten-
logisch erfassen. Je nach der Einordnung von e wird man eine Prädikatenlogik
erster oder (naheliegend) zweiter Stufe wählen. Es bezeichne »WÜ (p, e, g)« den
genannten Wunsch. Dann fragt es sich, ob beispielsweise Wü von (p, e, g) be-
hauptet werden kann. Gesetzt den Fall, Wagner-Haag lassen diese Behauptung
nicht zu. Dann ergeben sich so kuriose Resultate wie etwa dies, daß der Vertreter
der Anklage in einem Strafprozeß nicht mehr sinnvoll die Behauptung aufstellen
kann, der Angeklagte habe den Wunsch gehabt, in den Genuß der einem andern
wegzunehmenden fremden beweglichen Sache (§ 242 StGB) zu kommen. Oder
gesetzt den Fall, Wagner-Haag lassen die Behauptung Wü von (p, e, g) zu. Dann
fragt es sich, warum nicht anstelle der Anwendung der (3stelligen) Wunsch-
beziehung (c) die Anwendung der (je nach philosophischem Standpunkt13 2- oder
3stelligen) Gebotenheit (d) behauptet werden kann. Wagner-Haag gehen indessen
auf diese Frage ebensowenig ein wie auf zahlreiche andere Fragen, die man an ihre
Ausführungen knüpfen könnte14 •
Halten wir hier das Folgende fest. Der Versuch von Wagner-Haag, den Begriff
der »Eigenschaft« in einer - übrigens nicht näher definierten - Weise derart ein-
zuschränken, daß das Gesolltsein nicht mehr als Eigenschaft aufgefaßt werden
kan_l, läuft auf eine weder bewiesene noch beweisbare These hinaus. Es ist in
keiner Hinsicht fördernd, diese These zu glauben. Die sich aufgrund des Postulats
dieser These ergebenden Schwierigkeiten sind immens. Sie werden von Wagner
und Haag nicht diskutiert.
Einleuchtender als der von Wagner-Haag beschrittene Weg scheint der Vor-
gang Weinbergers zu sein, die Wahrheit einer Norm etwa des Inhalts »Kain soll den
Abel nicht töten« (Rechtslogik, S. 19~) daran scheitern zu lassen, daß die Norm
nicht verifiziert werden kann. Es handelt sich bei dem erwähnten Beispiel um das
in der Unterlassung der Tötung des Abel durch Kain bestehende Verhalten. Ob
die Eigenschaft der Gesolltheit auf dieses Verhalten zutrifft, kann man in der Tat
»durch Beobachtung der Wirklichkeit« (a. a. 0.) weder erkennen noch prüfen.

12 Der Wunsch bezieht sich, wie gesagt, auf die Tatsarhe F(v), also weder auf den diese Tatsache beschreiben-
den Gedanken F(v) noch auf die Zuordnung, welche den Gedanken zustande bringt, noch gar auf den
diesen Gedanken ausdrückenden Satz.
'3 Vg!. die Einführung in die Ideen C. D. Broads bei W. Stegmüller, Hauptströmungen der Gegenwarts-
philosophie, 4. Auf!., '969, S. l041f.
'4 Die von Wagner-Haag an U. Klugs Grundschema der Rechtsnorm (»A X (Ve(x) -+ Sd(x»«); vgl. Juristi-
sche Logik, 3. Aufl., '966, S. 178) geübte Kritik muß deshalb als mißglückt betrachtet werden.

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Das Kriterium der »Beobachtung der Wirklichkeit« versagt aber auch in andern
als nur normativen Zusammenhängen.
Das engere empiristische Prinzip, wonach jeweils sämtliche undefinierten
Grundprädikate der betreffenden Sprache beobachtbare Eigenschaften und Rela-
tionen bezeichnen und daß alle übrigen Prädikate auf diese Grundprädikate zu-
rückführbar sein müssen, hat sich bereits zur Erfassung sogenannter »Disposi-
tionsprädikate« (z. B. »löslich in Wasser«, »elektrisch geladen«, »zerbrechlich«)
als untauglich erwiesen15 • Es handelt sich übrigens um eine mit dem Problem der
irrealen Konditionalsätze18 verwandte Problematiki? Auch der von R. Carnap 1936
unternommene Versuch, die Methode der Definitionen von Dispositionsprädika-
ten durch die Methode der Reduktionssätze zu ersetzen18, erwies sich als nicht
durchführbar19• Vor allem bei metrischen Begriffen der theoretischen Physik
(z.B. Länge) muß der Rückgriff auf Beobachtungen scheitern, da sich insofern
beliebige nicht negative reelle Zahlen als Werte ergeben können20 • Diese Schwie-
rigkeiten werden bei abstrakteren Begriffen der modemen Physik noch ver-
schärft. Carnap revidierte sein System erneut21 , jedoch mit dem Erfolg, daß einige
Philosophen nunmehr die Möglichkeit einer scharfen Trennung zwischen theore-
tischer Erfahrungswissenschaft und spekulativer Metaphysik bestritten21 •
Wir verfolgen diese Fragen nicht weiter. Es sind nicht unsere Fragen. Es schien
indessen wichtig, auf die Existenz der Fragen hinzuweisen. Pflegt man doch die
Möglichkeit der Wahrheit von Normen mit einer Forderung nach Verifizierbar-
keit zu koppeln, welcher, wie längst eingesehen wurde, bereits unübersehbar viele
nicht normative Sätze nicht genügen können. Ich halte es demgegenüber für
jedenfalls nicht weniger sinnvoll, einen Satz als wahr zu betrachten, ohne daß ich
ihn durch Beobachtung bestätigen kann, als etwa von der Menge der Mörder von
Ju/ia Wal/ace zu sprechen, ohne zu wissen, wer Ju/ia Wal/ace wirklich ermordet
hat23 •
Dabei ist es so abwegig nicht, vom Zutreffen eines Wertes auf einen Sach-
verhalt zu reden. Wir bedienen uns in diesem Zusammenhang einer speziellen
Betrachtungsweise, basierend auf einem besonderen Modell des »Wertes«; ich
15 VgI. zum Folgenden Stegmüller, •••. 0., S. 46IIf.
16 Vgl. hierzu W. Stegmüller, Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philo-
sophie, Bd. I, Wissenschaftliche Erklärung und Begründung, 1969, S. %8 ,If.
17 Es liegt nahe, die Dispositionsprädikate durch entsprechende Implikationen zu beschreiben (»wenn immer
man x fallen läßt, zerbricht x«); dann wäre aber wegen der Definition der Implikation (»cx falso quodlibet
sequitur«) ein Gegenstand schon dann zerbrechlich, wenn man ihn "ifht fallen läßt. Deshalb kann man die
Implikation auch nicht zur Erfassung von irrealen Konditionalsätzen verwenden (»Hätte er die Anmer-
kung (16) weggelassen, wAre der Aufsatz kürzer geworden«), denn das Anteccdens ist bei diesen durchweg
Wsch, was die Richtigkeit sämtlicher irrealer KonditionalsAtze (z. B. »•• " wAre der Aufsatz länger gewor-
den«) ZUr - verheerenden - Folge hätte.
I8 Testability and meaning, Philosophy of Sciencc, Vol. n, 19,6 und Vol. IV, 1937 (Neudruck New Haven
195 0 ).
19 VgI. Stegmüller, Hauptströmungen ••. , S. 462.
20 Im Gegensatz zur überabzihlbaren Menge der reellen Zahlen ist die Anzahl der auf noch 10 kompliziette
Weise Zu formulierenden Dcfinitionsbedingungen höchstens abzilhlbar unendlich vg! .•.•. 0., Anm. I.
U A.•. O., S.46,.
u A.•. O., S.465.
23 Einziges Element der Menge ist möglicherweise der Ehemann von Julia Wallacc, William Herbert WaIlacc,
der allerdings nur in der ersten Instanz verurteilt, später freigesprochen wurde. V gl. D. L. Sayen, The
murder of Julia Wallacc, in: Tbc anatomy of murder, Messrs. John Lanc The Bodley Head Ltd., London
1936, Fint Pocket Book Edition London 1950.

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Über die Notwendigkeit einer besonderen Logik der Normen

spreche insofern kurz vom »extensionalen Wertbegriffi<. Die Extension eines Wertes
W möge in Anlehnung an mengentheoretischelI' und logische Begriffsbildungen25
die Menge der Sachverhalte, insbesondere der vergangenen, gegenwärtigen oder
zukünftigen Verhaltensweisen sein, die unter dem Gesichtspunkt von W positiv
bewertet werden. Es kann sich natürlich je nach der Beschreibung der Objekte,
auf welche der Wert zutreffen soll, etwa auch um geordnete Paare von Sach-
verhalten handeln, vorzustellen als Situationen Si.1 und Si.2, wobei Si.2 auf Si.1 folgt.
Der Wert W ist, dies vorausgesetzt, wie folgt zu formulieren:

(1) »{SI, 52, ... , Sn}« bzw.

(z) »{(S1.1, S1.2), (S2.1, 52.2), ... , (Sn.1, Sn.2)}«.

Um auszudrücken, daß W auf Si bzw. auf (Si.1, Si.2) zutrifft, schreiben wir einfach

Falls jeweils 1 :5 i :5 n,
drückt (3) dasselbe aus wie

Ü) Si E {51, 52, ... , Sn}

und (4) dasselbe wie

(6) (Si.l, Si.2) E {(S1.1, 51.2), (52.1, 52.2), .. , (Sn.l, Sn.2)}-

Man kann natürlich einwenden, es sei schwierig, die Elemente von M in concreto
exakt zu bestimmen. Derartige Schwierigkeiten sind indessen für »normative«
Mengen nicht charakteristisch1l8 ( Der extensionale Wertbegriff ist übrigens auch
zur Beschreibung des Verhältnisses mehrerer Werte zueinander geeignet; ins-
besondere der Begriff der Güterabwägung läßt sich auf prägnante Weise erfassen27 •

Ein weiterer Einwand ist dieser. Die Feststellung, es sei W von s der Fall,
erreiche eben nicht die Intension des Befehles: »Verhalte dich soundso (nämlich
im Sinne von W)« ( Demgegenüber wüßte ich nicht, was man von einem Ver-

24 Vgl. J. Schmidt, Mengenlehre, Bd. I, BI-Taschenbuch, 1966, S. 50, 54. 102, II~f.
25 Vgl. betreffs der Unterscheidung der intensionalen von den ~nsionaIen Junktoten (= aussagenIogischen
Funktoten) H. Herme!, Einführung in die mathematische Logik, 2. Auf!. 1969 - Vgl. auch die treft'lichc
Darstellung bei Wagner-Haag, a.a.O., S. 54, 75.
26 Was etwa die Fermatsche Vermutung anbelangt, wonach die Menge der natürlichen Zahlcn n, mit denen
die diophantische Gleichung 7!' + y" = zn lösbar ist, endlich sei (sogar nur aus 1 und 2 bestehe), 10 tst
bis heute der Beweis nicht erbracht.
27 Es kirne darauf an, die zu vergleichenden Sachverhalte jeweils auf der Grundlage wenigstens zweier
Wette mit den diesen entsprechenden positiven oder negativen Wcrrverhalten zu bclcgcn. Vgl. betreff,
der aIIgcmcinen Theorie der Bewertung J. Rödig, Die Denkform der Alternative in der Jurisprudenz,
1969, 2.2.2.

191
Jürgen Rödig

halten mehr soll sagen können, als daß es gesollt ist28 • Ob man durch die Vor-
nahme des gesollten Verhaltens »gehorcht«, hängt von der philosophischen Ein-
ordnung des Wertes ab, nämlich davon, ob man ihn objektiv oder subjektiv, im
letzteren Fall entweder intrasubjektiv oder transsubjektiv begreift29 • Diese Frage
ist kein Problem der Zuordnung von W zu s, sondern des Inhalts von W selbst. -
Sofern man schließlich mit dem Begriff des Befehls die Assoziation verknüpft, daß
sich jemand angesprochen fühlen sollte, so handelt es sich meiner Ansicht nach
weder um ein syntaktisches noch auch ein semantisches, sondern um ein prag-
matisches Problem, also um ein Problem des Verhältnisses der einen bestimmten
Inhalt besagenden Aussage zu ihren Benutzern. In diesem Zusammenhang sei
noch erwähnt, daß Wagner-Haag die Pragmatik, welche nach der »traditionell sich
fortschleppenden Einteilung der Semiotik« deren dritter Teil ist, gern aus der
Semiotik eliminieren möchten, weil sie ihnen als »vollends unklar und ver-
schwommen erscheint« (a. a. 0., S. 68f.).

3. Funktion der Bewertung von Normen im Rahmen einer Juristischen Logik

Hinsichtlich der Verifizierung normativer Sätze sind wenigstens zwei Fragen


scharf zu unterscheiden. Die erste: Gibt es den betreffenden Wert? Die zweite: Ist
der gegebene Sachverhalt hiernach positiv zu bewerten? Es leuchtet ein, daß man
die zweite Frage nur beantworten kann, wenn bereits die erste entschieden ist,
und zwar auch dann, wenn man den extensionalen Wertbegriff (II 2) zugrunde
legt. Ob es diesen oder jenen Wert gibt, das ist meist nur schwer zu sagen. Was
insbesondere den (oder einen) Wert des Rechts betrifft, so ist die Frage aufgrund
der sogenannten »Rechtsgeltungslehre« zu entscheiden. Die Rechtsgeltungs-
lehre kann ihrerseits als ein Teilgebiet der Pragmatik der Normen angesehen
werden.
Alle diese Fragen wollen und können wir an dieser Stelle nicht erörtern. Es galt
lediglich zu klären, daß strukturelle Erwägungen von der Art, wie Wagner-Haag
sie anstellen, kaum geeignet sind, Licht in die Sache zu bringen, und daß es ferner
nicht gelingen kann, die normativen Sätze von den faktualen Aussagesätzen
schon dadurch zu unterscheiden, daß diese durch Beobachtung verifiziert werden
könnten und jene nicht. Es hat sich insbesondere ergeben, daß es sinnvoll ist,
zwischen der Wahrheit eines Satzes und seiner Verifizierbarkeit einen Unterschied
zu machen. Diese Unterscheidung ist vor allem in logischer Hinsicht von wesent-
licher Eedeutung.
Aufgabe der Logik ist es nicht, von einem Satz an sich zu sagen, er sei wahr
oder falsch. Aufgabe der Logik ist es vielmehr, festzustellen, wie sich die Wahr-
heitswerte jeweils mehrerer Sätze aufgrund bestimmter Strukturen, eben ihrer
logischen Ordnung, zueinander verhalten30 • Man spricht insofern von der Folge-

18 In anderm Zusammenhang werde ich zu zeigen versuchen, daß sich die sogenannten Verurteilungsurteile
von Feststellungsurteilen lediglich hinsichtlich der Voraussetzungen für die Zwangsvollstreckung unter-
scheiden.
19 Vgl. Stegmüller, •.•. 0., S. j041f., insbes. jOj f.
30 Vgl. hierzu Hasenj.eger, •.•. 0., S. 91f.

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Über die Notwendigkeit einer besonderen Logik der Normen

rungsbeziehung31 • Was nun die moderne Logik betrifft, so hat sie es unter-
nommen, die Folgerungsbeziehung dergestalt durch ein Spiel von Zeichen ab-
zubilden, daß dem Operieren mit Symbolen jeweils der folgerichtige Übergang
von mehreren gegebenen Gedanken zu einem neuen entspricht32• Unter einer
»Aussage« versteht man dabei jede geordnete Menge von Symbolen, deren
Inhalt ein Gedanke ist.
Ist nun in Beziehung auf eine Aussage von »Wahrheit« die Rede, so hat das
keinen weiteren als gerade den der Funktion des Kalküls entsprechenden Sinn.
Es wird festgestellt, unter welchen Bedingungen die Aussage als wahre Aussage
behandelt werden soll. Es kommt also, um dies erneut zu sagen, nicht darauf an,
ob die Aussage auch »wirklich« einen wahren Gedanken beschreibt. Diese Frage
ist logisch nicht zu entscheiden. In logischer Hinsicht kommt es vielmehr nur
darauf an, ob sich unter der Voraussetzung, daß bestimmte Attribute auf be-
stimmte Dinge zutreffen, aus formalen - eben »logischen« - Gründen eine weitere
derartige Attribution ergibt. Unter welchen Voraussetzungen das Attribut zu-
trifft, wie das Zutreffen verifiziert werden kann: diese Fragen sind keine Fragen
mehr, welche noch »logisch« entschieden werden könnten. Was aber für die
Logik gilt, das gilt für die Juristische Logik insbesondere. Demgegenüber packen
die Vertreter einer besonderen »Logik der Normen« in diese »Logik« Probleme
hinein, die zwar sicherlich von »tiefer philosophischer Bedeutung« (vgl. Weinber-
ger, Rechtslogik, S. 191) sind, jedoch gar nicht zur Juristischen Logik als einer
Logik gehören. Ergebnis dieses verfehlten Ansatzes ist, daß die dergestalt ent-
wickelten normlogischen Systeme im Vergleich mit klassischen Kalkülen so gut
wie überhaupt nicht funktionieren.

4. Die Bewertung von Normen auf der Grundlage von A. Tarskis Wahrheitsbegriff

Halten wir das Ergebnis unserer Überlegungen fest. In Hinblick auf die Konsti-
tution eines logischen Kalküls, insbesondere eines formalisierten axiomatischen
Systems normativer Sätze, kommt es darauf und nur darauf an, einen der Funktion
solcher Kalküle entsprechenden »Wahrheits«-Begriff zu bestimmen. Der Begriff
dieser »Wahrheit« ist, wenn man dies so ausdrücken will, »relativ«. Auf die Er-
mittlung absoluter Wahrheit von Normen (II1) kommt es nicht an. Es mag
dahinstehen, ob man Normen beobachten kann; ob sie, falls sie nicht beobachtbar
sind, nicht verifizierbar sind; ob man sie, falls sie nicht verifiziert werden können,
deshalb nicht für wahr oder falsch halten sollte (II 2.). Wichtig ist allein, ein Ver-
fahren auszubilden, welches es gestattet, jeweils unter der Voraussetzung des Zu-
treffens wenigstens eines normativen Attributs auf wenigstens einen Gegenstand
zu wenigstens einer weiteren solchen Attribution überzugehen (II 3)'
Für die moderne Logik ist es charakteristisch, daß sie dieses Verfahren aufgrund
einer Abbildung von Attributen in Prädikate, von Gegenständen in Subjekte
(d. s. Namen von Gegenständen) usf. gewinnt und den Übergang von mehreren

3I Vgl. ZUr Folgerungsbeziehungund den von ihr abzugrenzenden Phinomenen Rödig, a.a.O., § 29 (S. 1'7ff.).
3' Vgl. hierzu die vorzügliche Darstellung bei Weinberger, a.a.O., S. 16ff.

193
]ürgen Rödig

gegebenen Gedanken zu einem neuen durch das Operieren mit Aussagen (d. s.
Namen von Gedanken) ersetzt. Ist nun betreffs einer solchen Aussage von »Wahr-
heit« die Rede, so geht es lediglich darum, die Bedingungen dafür anzugeben, unter
welchen Voraussetzungen die Aussage als die Zuordnung wenigstens eines Prädikats ZN
wenigstens einem Subjekt das Zutreffen der entsprechenden Attribute auf die entsprechenden
Gegenstände beschreibt.
Während die Aussage Bestandteil der Objekts sprache ist, jener Menge (Mengen
von) von calculi, mit denen man rechnet, sind die soeben gena:J.nten Bedingungen
metasprachlich zu formulieren. Man achte nun darauf, daß diese Formulierung - als
das definiens - nicht wiederum den Begriff der >Wahrheit< enthält. Wäre er
darin enthalten, so müßte es ein anderer sein. Auf diesen aber kommt es, wie
schon ausgeführt, in unserm Zusammenhang nicht an. Geht es doch nur darum,
vermittels des Rechnens mit Wahrheitswerten oder auch mit den diesen ent-
sprechenden Aussagen Licht in das Verhältnis jeweils mehrerer Gedanken zu brin-
gen, deren Verifizierung im einzelnen der Logiker dem Fachwissenschaftler oder
Philosophen überlassen muß.
In diesem und nur diesem Sinn sprechen wir fortan von der »Wahrheit« norma-
tiver Sätze. Es handelt sich um die übernahme keines anderen als des von Tarski 33
dargestellten, mithin des auf dem aristotelischen beruhenden oder doch mit
diesem verwandten Wahrheitsbegriffes. Sei »Gb 1« ein normatives Prädikat, sein
Sinn das Gebotensein. »ve« beschreibe ein bestimmtes Verhalten, etwa die Unter-
richtung der Behörden von einem drohenden Verbrechen. Die Anwendung von
»Gb1« auf »ve« ergibt die - normative - Aussage »Gb 1(ve)«. Diese Aussage - nicht
der durch sie benannte Inhalt 1- ist in dem soeben definierten Sinn »wahr«, wenn der
Inhalt von »Gb 1« auf den Inhalt von »ve« zutrifft, d. h., wenn die Unterrichtung
der Behörden in dem betreffenqen Fall geboten ist. Ob sie »wirklich« geboten ist,
ob die dem konkreten Gebot zugrunde liegende allgemeine Norm gilt, diese
Fragen lassen wir offen. Die Entscheidung dieser Fragen ist nicht nötig, um aus
der Tatsache, daß ve geboten ist, etwa darauf zu schließen, daß ve geboten ist,
oder darauf, daß ve geboten ist und daß ve geboten ist, oder darauf, daß ve gebo-
ten ist oder auch ve erlaubt ist. Was namentlich den dritten dieser Schlüsse anbe-
langt, so kommt es nur auf dreierlei an: erstens auf das dreifache »Zutreffen, daß
.. «, zweitens auf das in der Konklusion enthaltene »oder auch«, drittens auf die
Wiederkehr eines der »Zutreffen, daß ,,« aus der Prämisse in der Konklusion.
Unter welchen Voraussetzungen die Eigenschaften der Gebotenheit oder der
Erlaubtheit zutreffen, ist demgegenüber ohne Belang. Man braucht, um den
Schluß zu ziehen, weder die Gebotenheit noch die Erlaubtheit von ve zu kennen.
Der logi,sche Zusammenhang hängt von dieser Kenntnis nicht ab, und der Aufbau
des objektsprachlichen Kalküls hat nur den Sinn, den logischen Zusammenhang
berechenbar zu machen. Je nach Voraussetzung gilt
WW(»Gb1(ve)«) = WA oder
WW(»Gb1(ve)«) = FA,

H Vgl. A. TarFki, Der Wahrheitsbegriff in den formalisierten Sprachen, Studia Philosophica I, Lcopoli 1935,
267-279; Fundamentale Begriffe der Methodologie der deduktiven Wissenschaften I. Mh.Math.Phys. 37
(1930), S. 361-404, - Eine Einführung in die Ideen Tarskis gibt Stegmüller, Das Wahrheitsproblem und
die Idee der Semantik 1957, insbes. S. 38ff., S2ff.

194
Über die Notwendigkeit einer besonderen Logik der Normen

dasselbe für »Er1(ve)« mit JN (»Er1(. )«) = . ist erlaubt, und bei jeder der sich
ergebenden vier Kombinationen gibt es keinen Fall, wonach WW (»Gb1(ve)«) =
WA und WW(»Gb1(ve)vEr1(ve»«) = FA. Eben dieses Verhältnis kann man
»berechnen«34, wenngleich sich das Kalkulieren erst bei komplizierteren Zusam-
menhängen als ein praktischer Vorteil erweist.
Es ist nicht oft genug zu wiederholen, daß es durchaus problematisch ist, die
Bedingungen dafür anzugeben, daß ve z. B. geboten ist. Wir sind weit davon ent-
fernt, etwa Weinberger vorzuhalten, er befasse sich mit einem Scheinproblem. Er
erörtert durchaus ein Problem, dieses aber an der falschen Stelle und deshalb, wie
es scheint, mit Resultaten, die sich sonst an dieser Stelle nicht ergeben hätten35 •

IH. Semiotische Voraussetzungen von Normsatzkalkülen

1. Problemstellung

Die'Auswirkungen des soeben gewonnenen Ergebnisses (II 4) sind weitreichend.


Wir können Juristische Logik nunmehr auf der Grundlage eines Begriffes be-
treiben, welcher »Wahrheit« nur insoweit erklärt, als dies für die Verwendung
einer Objektsprache gerade erforderlich ist, und der deshalb normative Sätze
nicht minder adäquat als andere erfaßt. Die zweite, wesentliche Eigenschaft
unseres Begriffes relativer Wahrheit ist es, das Problem der absoluten Wahrheit
oder Geltung nicht etwa zu verdrängen, sondern es gleichsam aufzubewahren. Die
von den Vertretern der Logik der Normen durchaus zu Recht befürchtete Gefahr
unzulässiger Vereinfachung (11 1) tritt deshalb nicht ein.
Juristische Logik ist mithin möglich als eine mathematische Logik von Sätzen,
welche einschlägige juristische Prädikate oder auch Terme enthalten. Die Logik
der Normen ist als eine Logik nichts Besonderes mehr. Dafür gibt es jetzt endlich
die Aussicht, einen - wenn auch noch so kleinen - Schritt weiterzukommen. Die
Arbeit ist freilich auch auf der Grundlage des relativen Wahrheitsbegriffs mühsam
genug. Es kommt darauf an, die Objektsprache jeweils so zu wählen, daß sich
eine in juristischer Hinsicht relevante Deutung ergibt3 8 •
Den bislang entwickelten normlogischen Systemen ist eine solche adäquate
Abbildung juristischer Zusammenhänge schwerlich gelungen. Wir greifen jeweils
ein von v. Wright (III 2) sowie von Weinberger (III 3) verwendetes System als
Beispiele heraus und formulieren sodann eine Alternative (III 4).

H Dem Schluß von »A« auf»(A VB)« entspricht die (aussagenlogische) Allgemeingültigkeit von »(A ... (A VB»«;
die Implikation ist nur falsch, wenn das Implikans wahr ist, doch in diesem Fall ist auch das Implikat
»(A V B)« wahr. Ein schematisches Entscheidungsverfahren ist etwa das der Wahrheitswertung oder da.
der Herstellung einer konjunktiven Normalform, vor allem das der kalkülmäßigen Ableitung aus aussagen-
logischen Axiomen.
3j Der soeben gekennzeichnete »relative« Wahrheitsbegriff liegt insbesondere dem von mir (a.a.O.) für die
Theorie der Alternative beschriebenen Annahmekalkül zugrunde.
36 Vgl. hierzu Wagner-Haag, •. a.O., l.j.1 (S. 18ff.).

195
174 Jürgen Rödig

%. LogiG of Change

Von Wright ist, wie erwähnt (II, Anm. 6, 7, 8) der Auffassung, in der traditio-
nellen Logik seien Veränderungen nicht unterzubringen. Um diesem »Mangel«
abzuhelfen, führt er u. a. Transformationen (»T«) jeweils eines Zustandes (z. B.
»p« oder »q«) in einen andern ein (z B. »pTq«).
Natürlich kann man eine »generic proposition«, etwa die Aussage »Es schneit«,
solange nicht verifizieren, solange man nicht weiß, für welchen Raum und welche
Zeit sie aufgestellt ist. Das ist jedoch kein Problem der Veränderung, sondern der
- konkludenten - Verwendung von Indikatoren87• Das Problem ergibt sich auch
anläßlich der Feststellung »Du langweilst mich«, ohne daß sich hier etwas zu
verändern brauchte. Das Problem fällt dadurch hinweg, daß man, was durchaus
möglich ist88, auf solche Ausdrücke verzichtet, deren Bedeutung sich von einer
Situation zur nächsten ändert, also auf Ausdrücke wie »hier« (schneit es jetzt),
»jetzt« (schneit es hier), »du« und »ich«.
Was demgegenüber die Formulierung einer Veränderung betrifft, so ist beim
besten Willen keine Schwierigkeit zu entdecken. Bleiben wir bei der (bedauerns-
werten) Person namens »pn«, die soeben gelangweilt wurde. Sie schläft ein, d. h.,
sie ist zu einem Zeitpunkt (»Zp(.)«) wach (»Wa(., .. )«), zu einem andem schla-
fend (»Sc(., .. )«), und der zweite Zeitpunkt liegt später (»Sp( . , .. )«) als der erste.
Wir beschreiben die Veränderung wie folgt:

(7) »Va Vb (Zp (a) A Zp (b) A Sp (a, b) A

A Wa (a, pn) A Sc (b, pn)«.

Wir könnten die Zeitpunkte selbstverständlich näher bestimmen. Die Wichtig-


keit der Berücksichtigung von Zeitpunkten wird sich übrigens bei dem noch zu
formulierenden elementaren Schema für das »Bestehen eines Anspruchs« zeigen
(IV 3)'

3. »I -, A«.

Was die von Weinberger verwendeten Symbolisierungen normativer Zusammen-


hänge betrifft, so betrachten wir nur ein Beispiel, nämlich die symbolische Reihe

(8) »I -, A«

für »A ist verboten« (Rechtslogik, S. %06). Der Ausdruck setzt sich zusammen aus
einem Aussagesatz )~A«; aus dem Negator »-,«, der »A«, wie es scheint, negiert;
schließlich aus dem Solloperator »I«, der -, A gesollt sein läßt. Weinberger möchte
mit »I -, A« zum Ausdruck bringen, der Eintritt von -, A, mithin der Nicht-
eintritt von A, sei gesollt; A sei deshalb, wie gesagt, verboten. Diese Formulie-

'7 Vgl. A. Pap. Analytische Erkenntnistheorie. 19H. S. 10. 117.


,I Vgl. Stegmüllcr••••• 0 .• S. I.

196
Über die Notwendigkeit einer besonderen Logik der Normen

rung, die übrigens nicht nur Weinberger verwendet, kann indes schwerlich
überzeugen89 •
»"I A« stellt, strenggenommen, eine - zusammengesetzte - Aussage dar. Gesollt
kann nun aber sinnvollerweise weder diese Aussage noch der durch sie aus-
gedrückte Gedanke, sondern allenfalls der durch den Gedanken abgebildete
Sachverhalt sein. Dieser aber wäre vermittels eines Subjekts zu symbolisieren.
Schon deshalb kann ferner »"I« nicht etwa ein Negator sein, sondern allenfalls
Zeichen für einen I -stelligen Termfunktor4°; wir schreiben dafür )mn(. )«. Mit
»"I (A)«, genauer: mit »un (A)« ist nun offenbar der Wert von »un (.)« für das
Argument A, und zwar - dem Sinn nach - »die« Unterlassung von A gemeint.
»A« muß für ein Verhalten stehen, also wiederum weder für eine Aussage noch für
einen Gedanken. Was man unterläßt, ist eben ein Verhalten ve und nicht etwa
seine gedankliche Abbildung oder gar deren Formulierung. Aber selbst die
korrigierte Fassung

mit »Gs (.)« für das Prädikat der Gesolltheit ist noch keine adäquate Ausdrucks-
weise. Von »der« Unterlassung von ve kann man sinnvollerweise nicht sprechen,
sondern allenfalls von der Menge der sich von ve unterscheidenden alternativen
Verhaltensweisen41 • Diese Verhaltensweisen müssen ferner, was übrigens von

~9 Der Negator wird insofern rnißverstlndlich gebraucht etwa von Klug, Bemerkungen zur logischen Ana-
lyse einiger rechtstheoretischer Begriffe und Behauptungen, in: Festschr. f. W. Britzelmayr zum 70. Ge-
burtstag, hrsg. v. M. Käsbauer und F. v. Kutschera (1962), S. IIj ff., insbes. II6-II8. Was demgegenüber
die von Weinberger in seiner »Rechtslogik« gebrauchte - meiner Ansicht nach nicht minder verwirrende -
Symbolisierung betrifft, so hat sich Weinberger gegen die hier von mir gerügte Deutung der Symbole
freilich ausdrücklich verwahrt: vgl. Die Sollsatzproblematik in der modemen Logik (19j8), S. ~ d.; Le raison-
nement juridique et la logique deontique, Actes du colloque de Bruxelles '969, Logique et analyse '970,
S. 20Z-Z04. Auch in seiner Rechtslogik (S. ZO~ f.) weist Weinberger darauf hin, die Verwendung von
Formeln wie »I(A v B)« impliziere nicht, es kämen in Normslltzen Aussagen vor; gemeint sei nur, daß
zwischen diesen und jenen eine bestimmte Zuordnung (eben die »Erfüllungsfunktion«, 8. u.) bestehe. Es
ist indes zu fragen, wie diese Zuordnung genau zu interpretieren ist. Die Verwendung logischer Kalküle
scheint mir nur dann legitim zu sein, wenn sich diese Kalküle Schritt für Schritt semantisch deuten lassen.
So wäre beispielsweise darzulegen, ob sich »(A" B)« beim übergang von »(A AB)« zu »I(A " B)« von einer
Aussage in den Namen eines Dings verwandelt, welches nur nun noch normativ, jedoch nicht mehr mit
den Wahrheitswerten der Wahrheit oder Falschheit bewertet werden kann. Es entspräche jedenfalls den
Methoden der modemen Logik, das üblicherweise als Konjunktor gebrauchte Symbol» 1\« seinem offen-
bar ganz anderen Sinn in »I(A AB)« per definitionem anzupassen.
Unter dem soeben erwähnten Gesichtspunkt ist betreffs der »Erfüllungsfunktion« noch J;'olgendes zu
sagen. Es kann in der Tat als erwünscht erscheinen, den einen Sachverhalt JM"h einen G.tltmk.lI beschreiben-
den Satz in ein Subjekt, nämlich den Namen eines Dings, zu transformieren. Es liegt nahe, zu diesem Zweck
das in der modernen Logik hinsichtlich der Kennzeichnungen sowie der zusammengesetzten Terme ent-
wickelte Instrumentarium heranzuziehen.
40 Vgl. Rödig, a.a.O., § 10.9.1.
41 VgJ. Rödig, a.a.O., § 10.9.1. - Was Formeln des Typus» VbUn(a, b)« betrifft, so kann man zwar sagen,
a sei »eine« Unterlassung (ich spreche insofern, als a auf der Entscheidung zwischen a und wenigstens einem
andem Verhalten beruht, von einer »Handlung«). Wie man hinsichtlich von a jedoch von »der« Unter-
lassung sollte sprechen können, ist nicht ersichtlich. Ist mit »Unterlassung« etwas anderes als »Handlung«
gemeint, so gibt es nicht ein schlechthin als »Unterlassung« zu qualifizierendes Verhalten, und gerade
Weinberger pflegt jede Unterlassung (z. B. », A«) zutreffend zu einem Verhalten (»A«) in Beziehung zu
setzen. Geht man jedoch von diesem anderen Verhalten aus, so ist lediglich für den Fall des gerade aus
zwei Elementen bestehenden Verhaltensspielraums »die« Unterlassung (im Sinne des einzigen Verhaltens
mit der Eigenschaft, Unterlassung jenes Verhaltens zu sein) anzuerkennen. Gehen wir indessen von Ver-
haltensweisen zu Mengen von Verhaltensweisen über, 80 haben wir die Möglichkeit, eine Menge von

197
Jürgen Rödig

Wright 42 mit Recht bemerkt, von der betreffenden Person bewirkt werden können.
Sie müssen, anders ausgedrückt, zum selben Verhaltensspielraum43 wie ve gehören.
Will man von der Unterlassung als einer einzelnen Verhaltensweise ve* sprechen,
so ist es nur sinnvoll, bezüglich jeweils eines andern Verhaltens ve** zu sagen, ve*
sei eine Unterlassung von ve**.
Die eigentümliche Verquickung aussagenlogischer Symbole mit Ausrufe-
zeichen zum Zweck der Formulierung von nur prädikatenlogisch zu beschrei-
benden Sachverhalten ist einerseits auf die bei der Bewertung von Normsätzen
auftretenden Schwierigkeiten zurückzuführen (11). Sie scheinen andererseits auf
der Meinung zu beruhen, es müsse zwischen normativen Sätzen (etwa »IA«) und
den entsprechenden Aussagesätzen (hier: »A«) eine Erfüllungsfunktion dergestalt
bestehen, daß der Inhalt des aussagenden Satzes den des normativen erfüllt (hier:
daß A die Norm IA erfüllt; vgl. Weinberger, a. a. 0., S. 204)44. In diesem Zu-
sammenhang spricht man betreffs der gemeinsamen Elemente von »A« und» IA«
von »Phrastik«, betreffs der übrigen von »Neustik« (Hare)45.
Es ist nun aber keinerlei Problem, die »Erfüllungsfunktion« (bzw. Phrastik und
Neustik) auf prädikatenlogische Weise zum Ausdruck zu bringen. Der Subjekts-
variablen v entspreche der Individuenbereich {vet, ve2, ... yen}, nämlich eine
Menge von Verhalten vej bis yen. »Si(.)« bedeute die Eigenschaft, Verhaltens-
weise innerhalb einer Situation soundso - etwa eines Unglücks - zu sein. Das
Verhalten werde etwa als Hilfe (»Hi(.)«) charakterisiert. Nun gelte die Norm

(10) 1\ v (Si(v) 1\ Hi(v)) -+ Gs(v)).

Die Norm wird offenbar partiell durch jedes vei mit

erfüllt, und es ist eine - von Weinberger übrigens nicht behandelte - definitorische
Frage, ob die »Erfüllung« von (10) schon in

(12) V v (Si(v) 1\ Hi(v)),

was aus (I I) durch existentielle Quantifizierung abgeleitet werden kann, bestehen


darf.

Verhaltensweisen vermitteIs einer sie definierenden Verhaltenseigenschaft zu bestimmen; ist in bezug auf
diese Verhaltensart (im übertragenen Sinn) von »Unterlassen« die Rede, so sind naheliegenderweise die
Zu dem (auf den Verhaltensspielraum bezogenen) Komplement dieser Menge gehörenden Verhaltens-
weisen gemeint. Wichtig ist jedoch, daß der Begriff des »Unterlassens« diesmal kein Verhalten, sondern
eine Eigenschaft (hzw. die durch die definierte Klasse) von Verhaltensweisen bezeichnet. Setzt man einem
bestimmten Verhalten »die« Unterlassung entgegen, so wird, falls der Verhaltensspielraum aus mehr als
zwei Elementen besteht, ein Element mit einer Menge verglichen, und der Begriff der Unterlassung ist in
diesem Fall von einem andern logischen Typus als der des sogenannten »positiven Tuns«. - Vgl. zu aIIe-
dem meine in Rechtstheorie 3 (1972), S. 1ff., veröffentlichte Abhandlung über die privatrechtliche Pflicht
Zur Unterlassung.
42 Von Wright, a.a.O., S. 4).
43 Vgl. Rödig, Anm. 27, § 16.2
44 Vgl. auch Wagner-Haag, a.a.O., S. 106f.
4) Vgl. Stegmüller, Hauptströmungen •. " S. )20.

198
Über die Notwendigkeit einer besonderen Logik der Normen 177

4. Relativität der Normsatzstruletur

Es gibt nicht die Normsatzstruktur. Es gibt Aussagen, welche Elemente enthalten,


deren Bedeutung man aufgrund eines nicht allzu präzisen Sprachgebrauchs als
»normativ« bezeichnet. Man kann diese Aussagen auf verschiedene Weise for-
mulieren. Man kann sodann zur Beschreibung derselben Normen verschiedene
Aussagen wählen. Wie man vorgehen soll, ist nicht allgemein zu sagen. Es
kommt vielmehr auf die Zwecke an, welchen jeweils ein formalisiertes axiomati-
sches System genügen soll.
Beispiel: Kommt es darauf an, das System der Ansprüche - etwa Bürgerlichen
Rechts - zu kalkülisieren, so werden normative Sätze u. a. solche Bestandteile
enthalten müssen, welche die beteiligten Personen betreffen (vgl. IV 3). Gilt es
demgegenüber, das Verhältnis von Gebot, Verbot, Erlaubnis usf. formaliter zu
axiomatisieren, so kann man allgemein von Verhaltensweisen sprechen, ohne
diese auf bestimmte Personen beziehen zu müssen (vgl. IV 2).

IV. Prolegomena einer Axiomatisierung einzelner Rechtsgebiete


auf der Grundlage der allgemeinen mathematischen Logik

1. Pragmatische Erwägll1Zgen

Wir haben zu Anfang gefragt, ob sich die Entwicklung einer besonderen Logik
der Normen »lohnt«, und zwar in, dem Sinn, ob nicht vielleicht die Anwendung
der »logisch« einfacheren klassischen Logik zu wenigstens ebenso befriedigenden
Ergebnissen führt (I 1). Diese Frage ist nunmehr entschieden; der Entwicklung
einer besonderen Logik der Normen bedarf es nicht.
Damit ist indes noch keineswegs bewiesen, es lohne sich die Anwendung der
klassischen Logik Es fragt sich insbesondere, ob es sinnvoll ist, juristische Bereiche
durch formalisierte axiomatische Systeme zu erfassen. Könnte es doch sein, daß
der logische Aufwand so groß ist, daß der zu erwartende juristische Gewinn ihn
nicht rechtfertigt, oder daß doch der zu erwartende juristische Gewinn so klein ist,
daß überhaupt jeder Versuch der Axiomatisierung als unnötige Anstrengung
erscheint'8.
Wir wollen uns einer auch nur irgendwie abschließenden Stellungnahme ent-
halten. Es seien nur ein paar Gesichtspunkte erwähnt.
Die Normen eines Rechtsgebiets pflegen - mehr oder minder intensiv -logisch
miteinander ~usammenzuhängen. Der Zusammenhang tritt freilich, wie Wagner-
Haag (a. a. 0., S. 18) mit Recht bemerken, erst unter der Voraussetzung einer
weit präziseren Fassung der Gesetze als derjenigen zutage, welche unsere Gesetze
heute haben. Aber warum soll man nicht versuchen, den Gesetzen, ohne ihren
normativen Inhalt zu verändern, diese Fassung zu geben. Man kann darüber

46 Nachweise bei Kll1g, Juristische Logik, S. 17' f.

199
Jürgen Rödig

streiten, ob eine solche Arbeit zur Logik der Normen gehörtt'. Jedoch auf diesen
Streit kommt es nicht an. Es ist jedenfalls IIIIGh ein logisches Problem, normative
Sätze so zu formulieren, daß sie nicht nur sachlich adäquat sind, sondern zugleich
die Grundlage für möglichst ergiebige logische Operationen bilden.
Wer versucht, einen Rechtsfall )logisch« streng zu lösen, sieht bald ein, daß er
zahlreiche sachbezogene Voraussetzungen benötigt, die in den einschlägigen
Gesetzen nicht enthalten sind Diese Voraussetzungen scheinen oft selbstver-
ständlich zu sein. Dennoch sba sie nkht schon logisch wahr. Oft sind sie gar
nicht selbstverständlich'8. Es gibt l.ein besseres Verfahren, diese Voraussetzungen
zu entdecken, als eben die axiomatische Methode. Sind Axiome, die man braucht,
nicht vorhanden, so kommt man auch mit den schönsten Schlüssen nicht weiter.
Die axiomatische Methode, so »inhaltsleer« sie an sich ist, gewinnt auf diese Weise
als heNristisGhes Prinzip der ReGhtser/eenntnis selbst erhebliche Bedeutung.
Ein beliebter Einwand ist dieser: Die axiomatische Methode könnte dazu füh-
ren, die Rechtsordnung, welche do~h stets im Werden begriffen sei und sich den
'Sozialen Veränderungen c.'pa ,se-n mü:;se, auf einen geschlm.senen Kreis invarian-
ter Normen festzulegen, sie gleichsam darauf »festzunageln«. Der Einwand liegt
völlig neben der Sache. Die axiomatische Methode besteht nicht darin, Axiome
zu postulieren, sondern den übergang von was auch immer für Axiomen zu
Theoremen kontrollierbar zu machen. Die axiomatische Methode ist deshalb
gerade umgekehrt besser als jedes andere Verfahren geeignet, die Annahme eines
bestimmten Axioms als sachlich verfehlt erscheinen zu lassen. Macht sie doch auf
eine nicht zu übertreffende Weise sichtbar, was sich unter der Voraussetzung
gerade dieses Axioms für Fclgerungen ergeben.
Es war vorhin von gewissen »Selbstverständlichkeiten« als stillschweigenden
Voraussetzungen der Lösung juristischer Fälle die Rede. Diese »Selbstverständ-
lichkeiten«, die man vorzüglich vermittels der axiomatischen Methode entdeckt,
sind, wie wir noch sehen werden (IV 3), für das Vorgehen bei der Lösung juristi-
scher Fälle von besonderer Bedeutung.

1. Beispiel eines formalisierten axiomatisGhen S'ystems

Weinberger (a. a. 0., S. 103 ff., insbes. 108) notiert, was die sogenannten »deonti-
schen Modalitäten« anbelangt, einige Äquivalenzen und Implikationen. So sei
etwa von der Gebotenheit von A auf die Erlaubtheit von A zu schließen. Wein-
berger formuliert auch ein »Widerspruchsprinzip der Normlogik«, nämlich den-
wie er wohl meint »logischen« - Widerspruch zwischen der Gebotenheit und
der Verbotenheit von A.
Von Sätzen dieser Art ließ sich nun aber zeigen, daß sie ihrerseits bewiesen
werden können49, und zwar unter der Voraussetzung von noch einfacheren
Axiomen (bzw. Definitionen). In diesen Axiomen sind gleichwohl keine so

47 Vgl. die subtilen Ausführungen bei Wagner-Haag, •. a.O., S.77.


48 Vgl. Rödig, •••. 0., §§ 4. 29.6.
49 Hinsichtlich der erwähnten Beispiele vgl••••. 0., §§ 37.5.7, 37.5.6.

200
Über die Notwendigkeit einer besonderen Logik der Normen

undeutlichen Begriffe wie etwa der Begriff »der« Unterlassung eines Verhaltens
enthalten. Es wird überdies zwischen den Begriffen der Gebotenheit, Verboten-
heit und Erlaubtheit einerseits und dem diesen Begriffen vorausgehenden Begriff
der entweder positiven oder negativen Bewertung anhand wenigstens eines
gegebenen Wertes andererseits scharf unterschieden. Ich betrachte die Begriffe der
Gebotenheit, der Verbotenheit und der Erlaubtheit im Vergleich mit der ent-
weder positiven oder negativen Bewertung eines Sachverhalts als komplex. Dieser
Ansatz ist sowohl in methodischer als auch in rechtsdogmatischer Hinsicht von
einer elementaren - hier nur zu skizzierenden - Bedeutung. Was den methodischen
Aspekt betrifft, so erweist sich der Versuch, die Bewertung eines Verhaltens als
geboten, verboten oder erlaubt vermittels einer entsprechend dreiwertigen Logik
zu erfassen50, als überflüssig. Denn daß es insofern mehr als zwei Bewertungen
gibt, ist nunmehr schon daraus zu erklären, daß sich die Gebotenheit, Verboten-
heit oder auch Erlaubtheit jeweils auf eine im Hinblick auf weiteres Verhalten
beurteilte Verhaltensweise bezieht und es bereits bei einern aus nur zwei Verhaltens-
weisen bestehenden Verhaltensspielraum sowie bei der Bewertung dieser Ver-
haltensweisen nach Maßgabe nur eines Wertes (2 2 =) vier Möglichkeiten gibt, die
diesem Wert entsprechend entweder positiven oder negativen Wertverhalte auf
die Verhaltensweisen zu verteilen:

(I) + We (vet), + We (ve2)


(2) + We (vet), -We (vez)
(3) - We (vet), + We (ve2)
(4) - We (vel), - We (ve2)

Der Gebotenheit von vet entspricht Fall (2), der Gebotenheit von ve2 Fall (3).
Nennt man vet »verboten«, so ist ebenfalls Fall (3), und nennt man ve2 »verboten«,
so ist Fall (2) gemeint. Ist vet erlaubt, so handelt es sich um Fall (I) oder auch
Fall (2), und die Erlaubnis zur Vornahme von ve2 ist durch Fall (I) oder auch
Fall (3) zu erklären. Einer mehr als 2wertigen Logik bedarf es zur Axiomatisierung
des Systems der Begriffe der Gebotenheit, Verbotenheit und Erlaubnis nicht 50a •
Die Komplexität dieser Begriffe ist aber auch in rechtsdogmatischer Beziehung von
grundlegender Bedeutung. Gilt es doch nunmehr, hinsichtlich des trotz seiner
häufigen Verwendung durchaus schillernden Begriffs der »Rechtswidrigkeit«

ja Vgl. Rödig, a.a.O., § 21.4.


joa Bringt man den - komplexen - Begriff der Erlaubnis mit der Eigenschaft eines Verhaltens, positiv be-
wertet zu sein, durcheinander, so kann es allerdings als absurd erscheinen, daß sowohl ein Verhalten als
auch seine einzige Alternative positiv bewertet werden. - Allein der Klarheit halber sei noch angemerkt,
daß die hier angestellten überlegungen lediglich den Fall der monadischen Bewertung, also weder die
Fälle des Fehlens noch der Pluralität von Werten, betreffen. Was beispielsweise die - meist nicht hinreichend
präzisierte - »Wertindifferenz« betrifft, so ist sie lediglich im Rahmen der beiden zuletzt genannten Fälle
sinnvoll diskutierhar. Ist ein und nur ein Wert vorausgesetzt, so wird ein gegebener Sachverhalt unter der
Voraussetzung dieses Wertes entweder positiv oder nicht positiv, insofern negativ, bewertet. Die Eigen-
schaft, negativ bewertet zu sein, ist etwas anderes als Wertindifferenz. Wertindifferenz kann sich, wie ge-
sagt, erslens unter der Voraussetzung des Fehlens von Werten ergeben. Von dieser Art »Wertindifferenz«
ist z",eilens der Fall des Zusammentreffens entgegengesetzter Wertungen zu unterscheiden. Kommen
genau zwei Werte sowie zwei Verhaltensweisen in Frage, so wird möglicherweise jedes Verhalten sowohl
positiv als auch negativ bewertet, und die »Wertindifferenz« liegt darin, daß sich die Wertungen sozusagen
gegenseitig neutralisieren.

201
180 Jürgen Rödig

wenigstens wie folgt genau zu unterscheiden: Mit »Rechtswidrigkeit« ist entweder


die V erbotenheit (s. 0.) gemeint. Oder es wird bereits der anhand eines bestimmten
Wertes (und zwar des näher zu erklärenden »Rechts«werts) negativ beurteilte
Sachverhalt, insbesondere das negativ bewertete Verhalten, »rechtswidrig« ge-
nannt. Kommen bezüglich einer bevorstehenden Handlung ausschließlich solche
Verhaltensweisen in Betracht, die in der zuletzt beschriebenen Bedeutung »rechts-
widrig« sind, so ist es ohne Sinn, den Handelnden vermittels eines Verbots zu
rechtem Handeln bestimmen zu wollen. Er mag handeln, wie er will, er macht es
immer falsch, doch ein solches Fehlverhalten ist ihm nicht erst aufgrund der für
die Schuldunfähigkeit oder Entschuldigung einer Tat entwickelten Kriterien zu
verzeihen. Enthält der Verhaltensspielraum insbesondere ein und nur ein negativ
bewertetes Element, handelt es sich also beispielsweise um eine einen Unfall aus-
lösende Reflexbewegung, so kommen weder das Gebot noch die Erlaubnis, noch
namentlich ein Verbot infrage, und das betreffende Verhalten steht rechtlich einem
beliebigen zu einem Unglück führenden Naturgeschehen gleichOOb.
Bei diesen Andeutungen muß es, was die Motivierung des den folgenden
Definitionen und Axiomen zugrunde liegenden axiomatischen Systems einer (als
Logik) »klassischen« Logik der Normen anbelangt, bewenden.

Definitionen:

Der Ausdruck »Ha(.)« wird wie folgt interpretiert (kurz: IN (»Ha(.)«) = ... ):
. ist eine Handlung.

IN (»Un(., .. )«) = · ist eine Unterlassung von ...


IN (»Re(.)«) = · ist rechtmäßig, d. h.: . wird unter dem Gesichtspunkt des
vorausgesetzten Rechtswerts positiv bewertet
IN («Nr(.)<<) · ist (im selben Sinne) widerrechtlich
IN (»Gb(. )«) · ist geboten
IN (»Vb( . )«) · ist verboten
IN (»Er(.)«) - . ist erlaubt

Hinsichtlich des Zusammenhangs des Begriffs der Handlung mit dem Begriff der
Unterlassung ist auf den - hier nicht zu explizierenden - Begriff des Verhaltens-
spielraums zu verweisen. Ein Verhalten ist Unterlassung eines anderen (von

sob Wie wichtig es ist, bereits die innere Struktur der deontischcn Modalititen zu kliren, macht man sich
beispielsweise anlißlich der überlegung klar, ob aus »a ist geboten« und »b ist geboten« auf »(a & b) ist
geboten« gescblossen werden dürfe (wobei »&« an den Konjunktor erinnert).
Ist jemand verpflichtet, Hilfe zu leisten, so muß er Hilfe leisten in dem Sinn, daß er die Vcrpflichtung
dureh jedes andere Verhalten verletzt. Ist daher a geboten und b von a verschieden, so frait es sich, wie
das gleichzeitige Bestehen der Gebote ohne die Annahme mehrerer Wertungsbasen überhaupt erklärt
werden kann. Was die Gcbotcnheit von »(a & b)« betrifft, so ist überdies zu bedenken, daß der Operator
»&« schwerlich als Junktor zu fungieren in der Lage ist. Mit der Gcbotcnheit von »(a & b)« ist ja nicht
die Gebotcnheit eines (zusammengeseUten) Sattes oder des durch diesen SaU ausgedrückten Gedankens
gemeint. Es wird sich bei »&« vielmehr um einen lediglich termbildenden Funktor handeln. Derartige
Funktoren sollte man indessen nicht verwenden, ohne sie vorher definiert zu haben. In diesem Zusammen-
hang könnten sich auch Kennzeichnungsopcratoren als zweckmäßig erweisen (z. B. »dasjenige Verhalten,
welches die Bedingungen F , und F I erfüllt«); hmsichdich der Eliminierbarkeit von Kennzeichnungs-
operatoren vgl. Hermes, Einführung in die mathematische Logik, 1. Auf!. 19~, S. 49.

202
Über die Notwendigkeit einer besonderen Logik der Normen 181

Unterlassungen »an sich« spreche ich nicht), wenn es zum selben Verhaltens-
spielraum wie das andere gehört, sich von diesem jedoch unterscheidet; gibt es
wenigstens ein Verhalten wie dieses, so wird jenes eine »Handlung« genannt.

Axiome:

Al: I V a (Re (a) ANr (a»)


Az: 1\ a (Gb (a) <--> (Ha(a) ARe (a) A
A 1\ b (Un (a, b) ->- Nr (b»»)
A3: 1\ a (Er (a) <--> (Ha (a) ARe (a»)
A4: 1\ a (Vb (a) <--> Vb (Nr (a) ARe (b) A
A Un (a, b»)

Aus der Gebotenheit eines Verhaltens ist wie folgt auf seine Erlaubtheit zu
schließen:

I (I) l\a(Gb(a) <--> (Ha(a) A Re(a) A


1\ b (Un(a, b) ->- Nr(b»»)
A Az
z (I) (Gb(c) <--> (Ha(c) A Re(c) A
A 1\ b (Un(c, b) ->- Nr (b»») (I) GB
3 (3) 1\ a (Er(a) <--> (Ha(a) A Re(a») A3
4 (3) (Er(c) <--> (Ha(c) ARe(c») (3) GB
5 (I, 3) (Gb(c) ->- Er(a») (z, 4) JL
6 (I, 3) 1\ a (Gb(a) ->- Er(a») C(5) GE

Ähnlich schließt man - unter Verwendung von Al - von der Verbotenheit eines
Verhaltens darauf, daß es nicht erlaubt ist. Aus diesem Satz

(13) I\a (Vb(a) ->- I Er(a»)

ist unter der Voraussetzung des soeben bewiesenen Satzes

(14) I\a (Gb(a) ->- Er(a»)

mit Hilfe der bereits junktorenlogisch tautologischen Aussageform

((A ->- C) A (B ->- I C) ->- (A ->- I B»)

leicht auf

(15) I\a (Gb(a) ->- I Vb (a»)

zu schließen, also auf den das »Widerspruchsprinzip der Normlogik« von Wein-
berger postulierten Satz. Weinberger scheint in der Tat einen logischen Wider-
spruch anzunehmen. Es ist zwar richtig, daß man, um die Unverträglichkeit der
Verbotenheit mit der Gebotenheit einzusehen, weder etwas über die Tatsachen

203
Jürgen Rödig

noch über Naturgesetze wissen muß (S. 215). Was jedoch die Logik anbetrifft, so
verträgt sich die Gebotenheit mit der Verbotenheit so gut wie weiß mit schwarz.
Ein Widerspruch kommt erst aufgrund bestimmter sachlicher Voraussetzungen,
eben der Axiome Ar bis A4 zustande. Nicht einmal Ar ist logisch wahr, insofern
also scharf von einem Satz wie

(16) i va(Re(a)Ai Re(a»)

zu unterscheiden.
Man wird die soeben angeführten Herleitungen als übersichtlich, zuweilen
sogar als trivial bezeichnen müssen. Der Grund dafür scheint mir in der An-
wendung der durch keinerlei normlogische Zusätze »korrigierten« klassischen
mathematischen Logik zu liegen. Demgegenüber bezeichnet Weinberger seine
aufgrund normlogischen Schließens gewonnenen Ergebnisse zu einem erstaun-
lich großen Teil- mit Recht - als zweifelhaft51 • Die Ergebnisse sind zweifelhaft,
weil das normlogische Schließen zweifelhaft ist52, und das normlogische Schließen
ist zweifelhaft, weil es in unkontrollierbarer Weise auf noch anderen als nur
logischen Voraussetzungen beruht.

3. Axiomatisierung rechtlich relevanter Zusammenhänge

Auf der Grundlage der klassischen Prädikatenlogik ist, wie gezeigt (vgl. IV 2), ein
System der von der Normlogik so fragmentarisch behandelten deontischen
Modalitäten mühelos zu entwickeln. Diese Anwendung der mathematischen Lo-
gik ist aber nur eine von unübersehbar vielen Anwendungsmöglichkeiten. Die
Prädikatenlogik ist nicht minder zur Abbildung anderer, und zwar rechtlich relevanter
Zusammenhänge geeignet.
Beispiel: Bei der Bearbeitung zivilrechtlicher Fälle (natürlich nicht ausschließ-
lich solcher) kommt es darauf an, ob jeweils wenigstens ein (näher bestimmter)
Anspruch besteht. Das Bestehen des Anspruchs ist sinnvollerweise auf einen be-
stimmten Zeitpunkt (oder auch deren mehrere, insbesondere auf einen Zeitraum)
zu beziehen.

, I In die Menge der offenbar ungültigen Schlußschemata hätte Weinberger auch das Schema
IA
A ~B (S. Zl9f.)
IB
einbeziehen können. Man setze ein für »A«: »Einige Polizisten regeln den Verkehr«, für »8«: »Dieses Jahr
erleiden einige Verkehrsteilnehmer in Rheda Verkehrsunfälle«. Natürlich sollen einige Polizisten den
Verkehr regeln. Mithin gilt »lA«. »A« ist wahr, »B« leider für die meisten Fälle »dieses« Jahres auch. Mit-
hin stimmt »(A ~ B)«. Dennoch sollte normlogisches Schließen uns nicht verführen, »IB« anzuerkennen.
- Der Klarheit halber sei noch angemerkt, daß Weinberger einige seiner Beispiele (etwa (9), (14» selbst
ausdrücklich (und mit Recht) als unzutreffend bezeichnet. Möglicherweise haben die Beispiele normlogi-
sehen Schließens gar nicht die Funktion, den zuvor (S. 217f.) im Hinblick auf die Einbeziehung normativer
Sätze entwickelten >>allgemeinen Folgerungsbegriff« zu erläutern, und möglicherweise ist auch dieser allge-
meine Folgerungsbegriff (S. 217, drittletzter Absatz, S. 218 oben a), b), cl) gar nicht im Sinne einer anwend-
baren Definition zu verstehen. Meine Kritik ist demgemäß auf einen vielleicht aus den Darlegungen Wein-
bergen nur btrallJg.ltJmetI Standpunkt zu beziehen.
'2 Vgl. Anm. I a.E.

204
Über die Notwendigkeit einer besonderen Logik der Nonnen

(17) »An (., .. , ... , .... )«

bringe zum Ausdruck, daß . von .. zum Zeitpunkt ... die Leistung .... ver-
langen kann. Wir benötigen zur Definition von (17) sodann die folgenden Prä-
dikate:

JN (»Ps(. )«) ist eine Person


JN (»Zp(.)«) ist ein Zeitpunkt
JN (»Ls(. )«) ist eine Leistung
JN (»Fr(., .. )«) ist früher als ..
JN (»Er(., .. , ... , .... )«) = erwirbt gegen .. zum Zeitpunkt
das Recht auf die Leistung ....
JN (Vl(., .. , ... , .... )«) = verliert gegen .. zum Zeitpunkt
das Recht auf die Leistung ....

Unter diesen Voraussetzungen formulieren wir nunmehr die Voraussetzungen für


das Bestehen eines Anspruchs durch folgendes in einem axiomatischen System des
Bürgerlicheh Rechts an der Spitze stehendes Axiom:

(18) 1\ a 1\ b 1\ c 1\ d (Ps(a) A Ps(b) A Zp(c) A Ls(d») -+


-+ (An(a, b, c, d) ..... Ve (Zp(e) A I Fr (c, e) A Er(a, b, e, d») A
A I vf (Zp(f) A I Fr(f, e) A I Fr(c, f) A VI (a, b, f, d»))))53

Leider kann ich noch nicht dafür garantieren, daß die Formel (18) stimmt. Wenn
ja, so ist es gut. Wenn nicht, so bitte ich darum, aus dem Fehler nicht auf den
Mangel der Fähigkeit der klassischen Logik zur Abbildung rechtlich relevanter
Zusammenhänge, sondern auf den Mangel der Fähigkeit des Verfassers zur rich-
tigen Anwendung der klassischen Logik schließen zu wollen64 •
Bei der weiteren Entwicklung eines axiomatischen Systems des Bürgerlichen
Rechts wären nunmehr ebenso wie (17) durch (18) die Prädikate (10) und (20) mit

(19) Er(., .. , ... , .... )

53 Die Formel lautet annähernd »wörtlich« übersetzt: Eine Person (Kläger) kann von einer andem (Beklag-
ter) genau dann zu einem Zeitpunkt z, eine bestimmte Leistung verlangen, wenn es .,.II.ns einen Zeit-
punkt z, gibt, der jedenfalls nicht später als z. liegt und zu welchen der Kläger den Anspruch auf die
Leistung gegen den Beklagten erworben hat, und wenn es ~",.iI.1/t keinen zwischen z, und z. liegenden
(oder sich gar mit z, und z. deckenden) Zeitpunkt z, gibt, zu welchem der Kläger diesen Anspruch ver-
loren hat. Das Definiens (rechte Seite der Aquivalenz) lautet knapp: »a hat spätestens zu c gegen b das
Recht auf d erworben und von da an bis c nicht verloren«. Die letztere Formulierung verdanke ich E. v.
Savigny, ferner einen die Klammerung betreffenden freundlichen Hinweis. - Formel (18) sagt, unter wel-
chen Voraussetzungen ein Anspruch bestcht. Die Verpflichtung des Schuldners wird, mit anderen Wor-
ten, »bedingt« zum Ausdruck gebracht. Die Möglichkeit der Abbildung des bedingten Sollens durch die
Sprache der klassischen Prädikatenlogik ist unproblematisch.
54 überaus wertvolle Anregungen betreffs der Symbolisierung rechtlicher Zusammenhänge, insbesondere
betreffs zivilrechtlicher Figuren, enthält R. Schreibers Logik des Rechts (1961). Die Schreiberschen Sym-
bolisierungen (etwa S. 18 zu § 811 BGB) leiden jedoch ein wenig darunter, daß Quantoren fehlen, daß die
Symbolisierungen paragraphenweise erfolgen (die dem § 8IZ BGB entsprechende Formel ist bereits für
den Fall eines Erlasses widerlegt) und daß die Dimension der Zeit nicht berücksichtigt ist (der Eintritt
der Rechtsfolge kann z.B. dem Tatbestand, also u.a. dem Erlangen der Bereicherung, nicht Zeitlich vor-
aufgehen).

205
I 84 Jürgen Rödig

(zo) VI(., .. , ... , .... )

zu erklären. Eine Andeutung des weiteren Verlaufs der Axiomatisierung geht aus
folgendem Schema hervor, welches dem - freilich angreifbaren55 - System des
BGB entsprechen dürfte:

(u) Bestehen des Anspruchs «17), (18»)


A. Erwerb des Anspruchs (19)
a) Entstehung des Anspruchs
b) Zuordnung des Anspruchs (zum Gläubiger; etwa durch
Abtretung von einem andern)
B. Kein Verlust des Anspruchs (zo)
a) Keine Abordnung des Anspruchs (etwa durch Abtretung an
einen andern)
b) Kein Erlöschen des Anspruchs (etwa durch Erlaß).

Die nächsten Schritte bestünden in der Erläuterung von Aa, Ab, Ba und Bb.
Usf56 • Die Anwendbarkeit von (18) und (u) für die systematische - in gewisser
Weise »zwingende« - Lösung praktischer Fälle leuchtet unmittelbar ein. Wie eine
besondere Logik der Normen die Erfassung dieser Zusammenhänge sollte för-
dern können, ist weniger leicht einzusehen.

4. Widerlegung eines bereits erhobenen sowie eines noch Zu befürchtenden Einwandes

Die Anwendung der klassischen mathematischen Logik auf Normen ist auf Ein-
wände gestoßen und wird auf Einwände stoßen. Ich greife jeweils einen Einwand
heraus.
»ve« bezeichnet eine gute Tat. Aus der Gebotenheit von ve - »Gb (ve)« - ist
freilich aussagenlogisch darauf zu schließen, daß (»Gb(ve) v Gb(ve*»)« gilt, wobei
»ve*« eine schlechte Tat bedeute. Nun haben einige Vertreter der Logik der
Normen gemeint, es sei doch eigenartig, daß aus dem Gebot der guten Tat auf
eine »Norm« geschlossen werden könne, welche durch die schlechte Tat erfüllt
werden könne. Der Einwand ist mühelos zu widerlegen.

Durch die Abschwächung von

(u) Gb(ve)

zu

(Z3) Gb(ve) v Gb(ve*)

" Das Problem liegt darin, daß ein Anspruch etwa nach Abtretung wegen Diversitllt des Gläubigers nicht
mehr mit dem ursprünglichen als identisch angesehen werden kann.
,6 Es zeigt sich wiederum (vgl. Anni. '4), daß man etwa zum Zweck, das Zivilrecht in ein formalisiertes
axiomatisches System zu gießen, es nicht einfach paragraphenweise übersetzen darf I

206
Über die Notwendigkeit einer besonderen Logik der Normen

hört (22) nicht auf, zu existieren. Die Konjunktion von (22) und (z~) wird nach
wie vor nur durch ve erfüllt5 ? Aus (z~) ist nicht etwa auf

(Z4) Gb(ve*)

zu schließen. Durch ve* wird nur (z~) erfüllt, und das ist keine nennenswerte
Information.
Zweiter Einwand. Die Vertreter der Logik der Normen fordern, aus Norm-
sätzen dürfe nicht auf Aussagesätze, aus Aussagesätzen nicht auf Normsätze ge-
schlossen werden58 • Demgegenüber ist aufgrund des hier entwickelten Stand-
punkts aus A (z. B. mit: jN(»A«) = Sokrates war Engländer) und I A auf
Gb(ve*) zu schließen, d. h.:

(Z~) {A, I A} H-- Gb(ve*).

Der Folgerung (z~) liegt die Allgemeingültigkeit von

(z6) (A A I A) -+ B

mit »B« für »Gb(ve*)« zugrunde, mithin der Grundsatz »ex falso quodlibet
sequitur«. Es ist natürlich seltsam, daß auf B, also auf die Gesolltheit der schlech-
ten Tat, geschlossen wird. Aber das konjunktive Zusammentreffen von A mit I A
ist ebenso seltsam. Die Logiker haben sich nun einmal daran gewöhnt59, daß eine
Seltsamkeit eine andere Seltsamkeit impliziert, auch wenn der Sinn der materialen
Implikation erst plausibel wird, wenn die materiale Implikation als Bestandteil
ihrer Generalisierung, also der formalen Implikation, figuriert. Erkennt man die
materiale Implikation an, so gibt es keinerlei Berechtigung für Sentimentalität
beim Schluß von falschen Prämissen auf einen falschen normativen Satz. Es ist
nicht einzusehen, daß aus {A, I A} zwar auf »Gott ist tot« geschlossen werden
kann, dagegen nicht auf »es ist erlaubt, in geschlossenen Ortschaften schneller als
70 km/h zu fahren«.

57 »«A v B) v A)« ist mit »A« aussagenlogisch äquivalent.


18 Vgl. Weinberger, Rechtslogik, S. u8; Philosophische Bemerkungen :tur Sollsat%logik, Philosophische
Studien :tur Logik, Ro:tpravy Ceskoslovenskc! Akademie ved, Rocnlk 74 (1964), Heft" S. Z4ff., insbes.
S. Z9; Wagner-Haag, a.a.O., S. 108.
19 Abgesehen von den Versuchen, einen Begriff der strikten Implikation :tu begründen; vgl Hilbert und
W. Ackermann, Grundzüge der theoretischen Logik, 4. Aufl., 1959, S. 36ff. Ein axiomatisches System mit
strikter Implikation (»strict implication«) entwad als erster C. I. Lewis, A survey of symbolic logic. Univ.
of Ca1ifomia Press 1918; - and C. H. Langford, Symbolic Logic, New York 193z, Neudr. 19P.

207
3. Konsequenzen für die Rechtsdogmatik

Zur Altemativstruktur des juristischen Kausalbegriffs


Englisch, K., Hart, H.-L. A., Kelsen, H., Klug, U., Popper, Sir K. R. (Hrsg.): Rechtstheorie
(Zeitschrift für Logik, Methodenlehre, Kybernetik und Soziologie des Rechts), Band 2, Heft 1
(1971), S. 100-103

Das zweite Heft des Jahrgangs 1970 dieser Zeitschrift bringt zwei Be-
sprechungen meines Buches "Die Denkform der Alternative in der Juris-
prudenz" (S. 213 bis 218, Schlink; 219 bis 222, Luhmann). Das Studium
beider Besprechungen war für mich ein besonderer Gewinn. Ich halte
die Rezensionen zugleich für in der Sache so wesentlich, daß ich mir er-
laube zu erwidern, und zwar zunächst an dieser Stelle auf die Rezension
von Schlink. Die von Schlink geäußerte Kritik läßt sich in den Versuch
der Widerlegung einzelner Ergebnisse (hierzu nachfolgend 1.) sowie in
einige - teilweise an das Gelingen der Widerlegung anknüpfende -
allgemeinere Bemerkungen (2.) gliedern.
1. Zum Zweck der Widerlegung meiner für die Erfassung der Kausali-
tät im juristischen Sinn vorgeschlagenen Formel (§ 22.9.2) führt Schlink
ein Beispiel ins Treffen. Enthielte die Formel den Fehler, den Schlink in
ihr findet, so ließe sie sich durch einfachere Beispiele widerlegen. Ich
greife zur Widerlegung der Widerlegung gleichwohl auf das Schlink'sche
Beispiel zurück. Schlink läßt N an die Macht von Träumen und bösen
Gedanken glauben. N träumt, Erbonkel 0 werde auf einer Schiffsreise
sterben, und auf den Tod des 0 sind nunmehr ausweislieh des Tagebuchs
des N dessen "Hoffen und Denken" gerichtet. 0 fällt bei einer Kreuz-
fahrt im Mittelmeer über Bord.
Schlink vermutet mit Recht, ich würde das Verhalten des N nicht als
Totschlag werten. Ich sehe es aber nicht einmal für den Tod des 0 im
juristischen Sinne "ursächlich" an. Das Fehlen des Kausalzusammen-
hanges ergibt sich aus der Formel (§ 22.9.2). Es kommt darauf an, ob
sich N so hätte verhalten können, daß 0 nicht gestorben wäre. Es kommt,
genauer formuliert, darauf an, ob das Verhalten des N an Stelle wenig-
stens einer Unterlassung steht dergestalt, daß die diese Unterlassung
enthaltende mögliche Welt nicht zugleich den Tod des 0 auf die ange-
gebene Weise enthält. Schlink meint, aufgrund der Anwendung der For-
mel wie folgt auf die Ursächlichkeit des Verhaltens des N auf den Tod
des 0 schließen zu müssen. Nach Schlink möge N, statt böse Gedanken zu
träumen, zu denken und aufzuschreiben, beispielsweise seine Briefmar-
ken sortieren. Nehmen wir an, es liege in der Tat insofern eine Unter-
lassung vor. Dann wäre nunmehr zu beweisen, daß es eine mögliche, und
* Erwiderung auf die Besprechung J. Rödig, Die Denkform der Alternative
in der Jurisprudenz, von B. Schlink, Rechtstheorie, Bd. 1, 1970, Heft 2, S.
213 bis 218.

209
Jürgen Rödig 101

zwar sich von der tatsächlichen Welt nur in der Ersetzung des tatsäch-
lichen Verhaltens des N (und dessen Folgen) durch das hypothetische
Sortieren (und dessen Folgen) unterscheidende Welt gibt dergestalt, daß
o in dieser Welt kraft naturgesetzlichen Zusammenhangs (auf diese Art)
gestorben wäre. Schlink macht sich die Antwort etwas leicht. Er nimmt
an, 0 sei zum entsprechenden Zeitpunkt gar nicht an Bord. Wie dieser
Umstand und das Sortieren der Briefmarken durch N naturgesetzlich
miteinander zusammenhängen sollen, versäumt Schlink zu sagen. Geht
man nach Maßgabe der Wirklichkeit davon aus, daß 0 starb, wobei der N
vorher nur im stillen Kämmerlein träumte, dachte und schrieb, dann ist
naturgesetzlich nicht zu erkennen, wie ein anderes Verhalten (Sortieren
der Briefmarken) im seI ben stillen Kämmerlein den Tod des 0 verhindert
haben könnte.
Schlink meint indes, die Notwendigkeit des naturgesetzlichen Zusam-
menhangs gehe aus meinen Ausführungen nicht hervor. Sie geht jedoch
aus ihnen hervor, und zwar aus der Kennzeichnung des in der Formel
verwendeten Begriffs der "Gleichweltigkeit". Die in der den sachlichen
Teil des Buches abschließenden Kausalitätsformel verwendeten Begriffe
sind allerdings so zu verstehen, wie sie zuvor (z. B. § 22.5, S. 118 f.) erklärt
worden sind. Der Anstrengung eines Selbstzitats bedarf es hier so wenig
wie hinsichtlich der - an einer Stelle überdies vermitte]s einer Graphik
veranschaulichten (S. 130 f.) - Verbindung zwischen juristischer Kau-
salität und naturgesetzlichem Zusammenhang, welche Schlink (S. 216)
mich gar "ausdrücklich" aufgeben läßt.
Ich darf den juristischen Kausalitätsbegriff an dieser Stelle in aller
Kürze erneut zu formulieren versuchen. Der Jurist hat zu entscheiden, ob
für einen eingetretenen (!) Erfolg ein gegebenes Verhalten ursächlich ist.
Mit der Frage, ob der Erfolg mit dem Verhalten naturgesetzlich zu-
sammenhängt, wird er sich nun aber - obgleich er das manchmal be-
hauptet - schwerlich befassen. Denn daß der Erfolg sich aufgrund des
naturgesetzlichen Zusammenhangs mit dem vorausgegangenen Verhal-
ten verträgt, das konnte er nicht besser als durch seinen wirklichen Ein-
tritt beweisen. Die Fragestellung ist insofern eine prinzipiell andere als
die des Naturwissenschaftlers, der den Ausgang eines Experiments noch
nicht kennt.
Verhalten und Erfolg dienen tatsächlich nur als Anknüpfungspunkt für
die Bildung von Alternativen. Der Jurist stellt darauf ab, ob wenigstens
ein anderes Verhalten aufgrund naturgesetzlichen Zusammenhangs zum
Ausbleiben des Erfolgs geführt haben würde (ich gebe gern zu, das Ver-
hältnis beider Alternativen so, wie es auch üblich ist, in der Formulierung
des irrealen Konditionalsatzes ausgedrückt zu haben; hierzu nachfol-
gend 2). Doch nun erst folgt der für die juristische Fragestellung spezi-
fische - von Schlmk nicht genügend beachtete - Gesichtspunkt: Der
Jurist stellt dem tatsächlichen Zusammenhang von Verhalten und Erfolg
keinen beliebigen hypothetischen gegenüber, sondern aus Gründen einer
spezifisch juristischen Wertung nur einen solchen, der mit einer Unter-
lassung jenes Verhaltens, also mit einem weiteren Verhalten aus dem-

210
102 Zur Alternativstruktur des juristischen Kausalbegriffs

selben Verhaltensspielraum beginnt. Auf diese Weise werden hinsicht-


lich der Konkretisierung der allgemeinen - nicht spezifisch juristischen -
Frage, "was gewesen wäre, wenn", erst die Weichen gestellt.
2. a) Demgegenüber kann sich Schlink die Ausklammerung der Proble-
matik der irrealen Konditionalsätze nur durch des Verfassers "verkürztes
Methodenbewußtsein" erklären. Es gibt aber auch eine andere Erklä-
rung.
(1) Das allgemeine Problem der Angabe der Wahrheitskriterien für
Sätze des Inhalts "Wäre A gewesen, so wäre B gewesen" kann beim
gegenwärtigen Stand der Wissenschaftstheorie noch nicht als gelöst be-
trachtet werden. Eine brauchbare Kalkülisierung kommt noch nicht in
Betracht; insbesondere der Versuch, den irrealen Konditionalsatz durch
die materiale Implikation adäquat zu erfassen, muß an der Falschheit
beider Glieder scheitern (nur dies wollte ich mit den allerdings schiefen
Ausführungen auf S. 124 sagen). Bei den zahlreichen Lösungsversuchen
werden teils die Wahrheitsbedingungen eines irrealen Konditionalsatzes
unter der Voraussetzung eines weiteren irrealen Konditionalsatzes an-
gegeben (!), teils wird die ihrerseits noch auf eine wissenschaftstheoretisch
auch nur annähernd befriedigende Klärung wartende Unterscheidung
zwischen nomologischen und akzidentiellen Sätzen vorausgesetzt.
(2) Es handelt sich, wie erwähnt, um ein allgemeines, kein spezifisch
juristisches Problem. Seine Lösung kann jedenfalls nicht Aufgabe einer
Untersuchung aus dem Bereich der juristischen Grundlagenforschung
sein.
(3) Hätte ich das Problem behandelt und - überraschenderweise -
eine Lösung gefunden, so hätten sich die mit der Alternative verbinden-
den und die durch sie miteinander verbundenen juristischen Probleme
nicht minder ergeben. Schon deshalb konnte das allgemeine Problem des
irrealen Konditionalsatzes dahingestellt bleiben, und der Einwand
Schlinks ist insofern nicht schlüssig.
b) Ein zweites prinzipielles Mißverständnis ist das folgende. Schlink
rügt, daß es aufgrund meiner Ausführungen überhaupt Alternativen
gebe. Dies kann er sich nur aufgrund meines "eigenwilligen Verständ-
nisses von ,Naturgesetz' " erklären. Selbst wenn ich genau wüßte, was ein
Naturgesetz ist - ich weiß es mit den meisten Wissenschaftstheoretikern
nicht -, müßte ich irgendwie die aus der juristischen Argumentation
schlechterdings nicht eliminierbare Vorstellung zum Ausdruck bringen,
daß an Stelle dessen, was geschah, etwas anderes hätte geschehen können.
Ich bekenne, dieses andere, nämlich die Alternative, in eine andere "Welt"
eingebettet zu haben, und zwar deshalb, weil mir dieses gegenständliche
Modell gegenüber einer psychologisierenden Einordnung die vorzugs-
würdige Fa~on de parler zu sein schien. Irgendwelche ontologischen Vor-
aussetzungen oder Bekenntnisse werden durch dieses Modell nicht impli-
ziert, und ich habe mir insbesondere erlaubt, durch die Arbeitshypothese
der Möglichkeit einer Unterlassung sogar das allgemeine Problem der
Willensfreiheit zu "umgehen".

211
Jürgen Rödig 103

c) Im Hinblick auf die Gefahr weiterer Widerlegungen meines Kau-


salitätsbegriffes darf ich wiederholen, daß die Formel § 22.9.2 als Grund-
form der Kausalität im juristischen Sinne angesehen werden will
(Anm. 298). Als zu weitgehend empfundene Ergebnisse (wie sie sich übri-
gens auch bei den herkömmlichen Kausalitätsformeln einstellen) lassen
sich nach und nach vermeiden, wenn man die Formel aufgrund weiterer
juristischer Wertungen konkretisiert (z. B. Begrenzung des Verhaltens-
spielraums auf zumutbare o. ä. Verhaltensweisen; vgL auch Anm. 299).
3. Der Vollständigkeit halber behandele ich noch kurz den letzten Ein-
wand Schlinks betreffend die Wahrheit von Normen. Ich ordne in der
Tat den Normen als einer besonderen Art von Ausdrücken Wahrheits-
werte in dem Sinne zu, daß beispielsweise eine individuelle Norm (als
atomarer Ausdruck, § 26.4.1) dann und nur dann wahr ist, wenn die Be-
deutung des Prädikats (z. B. das Sollen) auf die Bedeutung des Subjekts
(z. B. das Verhalten V) zutrifft. Ob V "wirklich" gesollt ist, scheint mir
demgegenüber ein Problem der inhaltlichen Verifizierung, insbesondere
der Rechtsgeltungslehre zu sein. In den Bereich der Rechtsgeltungslehre
gehört auch die von Schlink - mit Recht - als befremdlich angesehene
Vorstellung, ein mit der Rechtsordnung nicht übereinstimmender Ver-
waltungsakt oder Richterspruch könne diese falsifizieren. Als Vorfrage
ist zu klären, ob die Rechtsordnung auch aus Verwaltungsakten und
Richtersprüchen besteht oder nicht. Beide Modelle lassen sich vertreten.
Gesetzt das erste. Dann frage es sich, ob der Verwaltungsakt (oder Rich-
terspruch) nichtig ist. Ist er es, so wird die Rechtsordnung nicht berührt.
Ist er wirksam, so wird die Rechtsordnung zunächst in bezug auf einen
individuellen Fall, später vielleicht im Wege der Anerkennung einer
ständigen Verwaltungsübung (oder einer ständigen Rechtsprechung)
generell geändert. Gehören Verwaltungsakte und Richtersprüche da-
gegen nicht zur Rechtsordnung - zweites Modell-, so können sie deren
Inhalt ohnehin nicht berühren. Das Problem der "Falsifizierung von
Normen" stellt sich jedoch in allen diesen Fällen nicht. Das von Schlink
wohl gemeinte Problem ergäbe sich vielmehr zum Beispiel dann, wenn
jemand einen Rechtssatz als rechtens behauptet, dieser aber aufgrund
des Gesetzes, der Materialien usf. widerlegt werden kann.
Ich würde mich freuen, durch diese Erwiderung gerade den Rezensen-
ten - wenigstens nachträglich - überzeugen zu können.

212
Die Privatrechtliche Pflicht zur Unterlassung. Zugleich ein
Beitrag zur Lehre von der positiven Forderungsverletzung
Engisch, K., Hart, H. L. A., Kelsen, H., Klug, U., Popper, Sir K. R. (Hrsg.): Rechtstheorie
(Zeitschrift für Logik, Methodenlehre, Kybernetik und Soziologie des Rechts), Band 3, Heft I
(1972), S. 1-22

I. Die Leistung, die der Schuldner zu erbringen hat, kann nach § 241
S. 2 BGB "auch in einem Unterlassen bestehen". In anderen privat-
rechtlichen Vorschriften, etwa denen der §§ 194 Abs. 1, 198 S. 2 und
339 S. 2, ist jeweils von einem "Anspruch auf ein Unterlassen" die Rede.
In weiteren Bestimmungen, beispielsweise der des § 1004 Abs. 1 S. 2 BGB,
wird ein Recht zur Klage auf Unterlassung gewährt. Das Recht zur Klage
auf Unterlassung setzt nun aber einen - wenn auch zeitweise vielleicht
nur "verhaltenen" 1 - Unterlassungsanspruch, und das Bestehen des
Unterlassungsanspruchs setzt mit Notwendigkeit das Bestehen einer mit
diesem Anspruch korrespondierenden Verpflichtung voraus2 •
Die privatrechtliche Pflicht zur Unterlassung scheint ihre Existenz nun
aber keineswegs erst positivem Recht zu verdanken. Die Pflicht zur Unter-
lassung scheint vielmehr - wie schon die Unterlassung selbst3 - eine
von positivem Recht, von Rechtsprechung und Lehre schlechterdings
hinzunehmende, gleichsam "sachlogisch" vorgegebene Kategorie zu sein.
Man hat sie jedenfalls als eine solche hingenommen, und dies gilt nament-
lich für die "Entdeckung" der positiven Vertragsverletzurgen durch
Staub im Jahre 1902 4 • Staub glaubte zeigen zu können, es enthalte das
BGB keine dem § 286 entsprechende Vorschrift "für die zahlreichen Fälle,
in denen jemand eine Verbindlichkeit durch positives Tun verletzt, in
denen jemand tut, was er unterlassen soll ... "5; der Beweis der Existenz
* Der vorliegende Aufsatz stellt die Ausarbeitung eines vor der Rechtswis-
senschaftlichen Fakultät der Universität Köln am 18. 11. 1971 gehaltenen Prä-
sentationsvortrags dar.
1 Vgl. hierzu etwa Esser, Schuldrecht, 2. Band, Besonderer Teil, 4. Aufl., 1971,
§ 113 Ir 4.
2 Daß umgekehrt die Existenz von Pflichten das Bestehen entsprechender
Ansprüche impliziere, ist mit Recht bestritten; es sei insofern auf die - ins-
besondere im öffentlichrechtlichen Schrifttum erörterte - Problematik der
Reflexwirkungen objektiven Rechts verwiesen (vgl. H. J. Wolf!, Verwaltungs-
recht I, 7. Aufl., 1968, § 43 I b).
3 Nicht umsonst wird Unterlassung gerne "ontologisch gesehen"; vgl. etwa
Welzel, Das Deutsche Strafrecht, 11. Aufl., 1969, § 26 I.
4 Festschr. f. XXVI. Dt. Juristentag, S. 31 ff.
S Die positiven Vertragsverletzungen, 2. Aufi., 1913, S. 5.

1 Rechtstheorie 11 1972

213
2 Jürgen Rödig

einer Lücke wird, wie man sieht, mit Hilfe der Annahme spezieller
"Unterlassens"-Pflichten geführt. - So eindrucksvoll die Einigkeit jedoch
im Grundsatz ist6, nämlich die Übereinstimmung der Auffassungen darin,
daß es spezielle Unterlassungspflichten gibt und daß diese Pflichten
spezifischen Gesetzmäßigkeiten gehorchen, fast ebenso große Schwierig-
keiten pflegt der sozusagen "Besondere Teil" der privatrechtlichen Unter-
lassungspflicht zu bereiten. Wann immer man versucht, die Unterschei-
dung zwischen Tätigkeits- und Unterlassungspflichten im Hinblick auf
die rechtliche Beurteilung konkreter Fälle nutzbar zu machen, pflegt man
weniger orientiert als in die Irre geleitet zu werden.
Was etwa Staubs "Entdeckung" anbelangt, so hat nicht allein die
Beschränkung der dritten Störungsform auf vertragliche Pflichten korri-
giert werden müssen 7 • Positive Forderungsverletzung ist vielmehr aner-
kannterweise nicht minder durch Unterlassen begehbar7 ; beispielsweise
dadurch - dies ein durch den BGH (Z 47, 312 ff.) entschiedener Fall -,
daß der Verkäufer einer Betonbereitungsanlage den Käufer auf deren
Witterungsempfindlichkeit hinzuweisen versäumt und der Käufer in-
folgedessen Schaden erleidet. Durch das Institut der positiven Forde-
rungsverletzung werden also, wie man sieht, auch "negative" Vertrags-
verletzungen erfaßt.
Auch betreffs des Rechts, auf Unterlassung zu klagen, ist auf die
Unterscheidung zwischen Tätigkeits- und Unterlassungspflichten kein
Verlaß. So behandelt Essers beispielsweise den Fall, daß Rowdies den
vom Nachbar wegen dessen Hühner neu gesetzten Zaun zerstören. Be-
steht nunmehr Gefahr, daß die Hühner erneut auf das eigene Grund-
stück herüberlaufen, so kommen als Abhilfe insbesondere die Instand-
setzung des Zauns oder auch das Abschaffen der Hühner in Frage. Es
liegt nahe, in beiden Fällen von "positivem Tun" zu sprechen. Dennoch
wäre eine entsprechende Klage des Betroffenen als "Unterlassungs-
klage", also nicht etwa als Klage auf Beseitigung, einzuordnen: Wir
haben es, wie Essers treffend bemerkt, weniger mit der Beseitigung be-
reits eingetretener Beeinträchtigungen als vielmehr mit der Verhinde-
rung zukünftiger Störungen zu tun.
Was die Sanktionierung der Verletzung sogenannter "Verkehrssiche-
rungspflichten" betrifft, so hat man die Fähigkeit zahlreicher Verhaltens-
weisen, sowohl als Tätigkeit wie auch als Unterlassen angesehen werden
zu können, geradezu systematisch genutzt. Es ist natürlich verständlich,
daß man nicht jeden, der eine Bananenschale auf dem Gehweg liegen
8 Siehe etwa A. Blomeyer, Allgemeines Schuldrecht, 4. Auf!., 1969, S. 7 f.;
Fikentscher, Schuldrecht, 3. Auf!., 1971, §§ 8, 51 V 2, 114; Esser, Schuldrecht,
1. Band, Allgemeiner Teil, 4. Auf!., 1970, S. 22 f., 60 ff., 306 f.; Larenz, Lehrbuch
des Schuldrechts, 1. Band, Allgemeiner Teil, 10. Auf!., 1970, S. 270, 276, 278.
7 Vg!. etwa Medicus, Bürgerliches Recht, 3. Auf!., 1970, § 14 IV 1 b.
8 Anm. I, § 113 II 2.

214
Die Privatrechtliche Pflicht zur Unterlassung 3

sieht, sie jedoch nicht wegschafft, für einen durch die Bananenschale
verursachten Sturz eines Fußgängers verantwortlich machen möchte.
Verständlich ist es ferner, daß man in solchen Fällen versucht, das als
Verletzungshandlung in Frage kommende Verhalten als "Unterlassen"
zu deuten. Scheint es doch, als sei nunmehr infolge der Notwendigkeit,
jeweils eine Pflicht zu positivem Tun zu statuieren, zugleich die Möglich-
keit gegeben, betreffs der Rechtmäßigkeit - insbesondere der Verkehrs-
richtigkeit - des Verhaltens zu differenzieren. Um ein verkehrsunrich-
tiges Verhalten handelt es sich nun aber, wie namentlich v. Caemmerer9
überzeugend nachgewiesen hat, auch dann, wenn man beispielsweise Gift
in Flaschen füllt, die gewöhnlich Fruchtsaft enthalten. Das Abfüllen des
Giftes ist schwerlich anders denn als Tätigkeit zu charakterisieren; die
diese Tätigkeit verbietende Verkehrssicherungspflicht scheint entspre-
chend auf ein Unterlassen gerichtet zu sein, und die Möglichkeit, betreffs
der Nähe des Verhaltens zum Erfolg auf dem Weg der Anerkennung oder
Ablehnung einer Einschreitenspflicht zu differenzieren, fällt weg.
Besondere Verwirrung pflegt die Unterscheidung zwischen Tätigkeits-
und Unterlassungspflichten im Recht der Dienstbarkeit zu stiften. Es han-
delt sich um die Bestimmung des im Sinne des § 1018 BGB zulässigen
Inhalts der Grunddienstbarkeit sowie (§ 1090 Abs. 1 BGB) der be-
schränkten persönlichen Dienstbarkeit. Das Gesetz wird allgemein per
9 Vgl. Wandlungen des Deliktsrechts, in: HUndert Jahre deutsches Rechts-
leben, Festschr. Dt. Juristentag 1960 H, S. 74 ff. - v. Caemmerer bemerkt a.a.O.
S. 75 mit Recht, es gingen "Verstöße durch Tun oder durch Unterlassen ...
vielfach ineinander über". Hinsichtlich dieses allgemeinen Satzes, den v. Caem-
merer bereits durch RGZ 52, 373 (376) belegen kann, tut man indessen gut,
wie folgt des weiteren zu unterscheiden. Tun und Unterlassen können einer-
seits insofern "ineinander übergehen", als man dasselbe Verhalten entweder
positiv oder aber negativ formulieren kann. Was beispielsweise die durch
v. Caemmerer herangezogene Entscheidung anbelangt, so sagt das Reichsgericht
mit Recht, es sei dasselbe Verhalten nicht allein als "Unterlassung des recht-
zeitigen Wegnehmens ... ", sondern "ebensogut" als "fortgesetzter Besitz eines
allmählich verfallenden Baumes" zu marakterisieren (RGZ 52, 376). Was
andererseits die durch v. Caemmerer selbst angeführten Beispiele betrifft, so
gehen Tun und Unterlassen durchweg auf eine ganz andere Weise ineinander
über. Diesmal nämlich werden aus dem zu dem Schaden führenden Geschehen
verschiedene Verhaltensweisen der für den Eintritt des Schadens verantwort-
lich zu machenden Person herausgegriffen. Diese Verhaltensweisen sind prin-
zipiell erneut jeweils entweder positiv oder negativ zu formulieren. Betrachten
wir am besten folgenden Fall. Ein auf einem Kinderspielplatz spielendes Kind
verletzt sich bei Benutzung der Schaukel. Man kann den für die Sicherheit des
Spielplatzes Verantwortlichen sowohl wegen Verwendung eines zu schwachen
Seils als auch wegen Unterlassung der Erneuerung des inzwischen durch Wit-
terungseinflüsse brüchig gewordenen (bzw. wegen fahrlässigen festen Ver-
trauens darauf, das Seil werde vorerst der Witterung widerstehen) für den
Ersatz des Schadens haftbar machen. Die Frage, wie man ein und dasselbe
Verhalten beschreibt, ist eine von der Auswahl gerade dieses oder jenes jeweils
wie auch immer zu beschreibenden Verhaltens scharf zu unterscheiden. Auf
die zuletzt erwähnte Problematik gehen wir im Rahmen dieser Untersuchung
lediglich andeutungsweise (III 3 a. E.) ein; mit der Problematik der privat-
rechtlichen Pflicht zur Unterlassung hat sie nichts zu tun.

215
4 Jürgen Rödig

argumentum e contrario dahin verstanden, es könne nur ein Dulden oder


Unterlassen, hingegen nicht ein positives Tun den Gegenstand der den
Eigentümer des dienenden Grundstücks treffenden Belastung bilden.
"Servitus in faciendo consistere nequit"lO heißt es denn auch mit latei-
nischer Klarheit; im Hinblick auf Ausnahmen von diesem Grundsatz,
gleichsam als Bestätigung der Regel, pflegt man die Vorschriften der
§§1021 f. BGB zu nennenl l , wonach den Eigentümer dieses dienenden
Grundstücks u. U. eine Verpflichtung zur Unterhaltung von Anlagen
trifft. Um die Bestimmung des nach § 1018 BGB zulässigen Inhalts der
Dienstbarkeit ging es insbesondere in folgender Grundbuchsache, in
welcher der BGH (Z 29,244 ff.) durch einen Beschluß aus dem Jahr 1959
entschied:
Der Eigentümer eines Grundstücks hatte einer Herstellerin von Kraft-
wagen-Betriebsstoffen die Eintragung einer beschränkten persönlichen
Dienstbarkeit bewilligt. Der Eigentümer stellte den Antrag auf Eintra-
gung, und es ging u. a. darum, ob eine Dienstbarkeit auch das Verbot zum
Inhalt haben könne, auf dem zu belastenden Grundstück andere Erzeug-
nisse als die des Dienstbarkeitsberechtigten zu verkaufen oder zu ver-
treiben. - Das Verkaufen von Erzeugnissen konkurrierender Unter-
nehmen ist allem Anschein nach ein "positives Tun". Die Vermeidung
des Verkaufens stellt insoweit ein "non facere" dar, und dieses scheint
den Inhalt der Dienstbarkeit bilden zu können. Unbefriedigend ist es
indessen, daß man die Dinge lediglich ein wenig anders formulieren muß,
um das dem soeben gewonnenen Ergebnis gerade entgegengesetzte zu
erzielen: Der Eigentümer wird den Betrieb der AG zu fördern verpflich-
tet, und zwar auf die Weise, daß er im Falle des Verkaufs oder Vertriebs
den von der AG gelieferten Produkten allemal den Vorzug gegenüber
sämtlichen von den Konkurrenten der AG produzierten entsprechenden
Erzeugnissen gibtl!. Sieht man die Dinge so, dann haben wir es doch mit
einem "facere" zu tun, und dieses kann, wie schon erwähnt, als Inhalt
einer Dienstbarkeit nicht figurieren.
Es darf nicht wunder nehmen, daß die Anwendung des § 1018 BGB
auch anderweit in die Versuchung führt, von der deutschen Sprache
Äußerstes zu fordern. Man kann Bäume "wachsen lassen", es also unter-

10 Laut Bonfante (Studi Ascoli, S. 181 ff.) ist besagte Regel justinianischer
Herkunft. Vgl. jedenfalls Pomponius (D 8,1,15,1): "Servitutium non ea natura
est, ut aliquid faciat quis, veluti viridia tollat aut amoeniorem prospectum
praestet, aut in hoc ut in suo pingat, sed ut aliquid patiatur aut non faciat."
11 Vgl. Soergel-Baur, BGBI0, § 1018, Bem. 5 mit Nachw.
11 Der BGH (a.a.O., 252) bemerkt denn auch im Anschluß an die Ausführun-
gen Haegeles (DRPfieger 1959, 27), es handele sich darum, daß der Grund-
stückseigentümer für die Zwecke des Gewerbebetriebs des Berechtigten "ein-
gespannt" werden solle. Die durch diese Ausdrucksweise nahegelegte Assozia-
tion läßt das vom Eigentümer auszubedingende Verhalten durchaus als Entfal-
tung von Aktivität erscheinen.

216
Die Privatrechtliche Pflicht zur Unterlassung 5

lassen, sie zu schneiden oder auch zu fällen. Wer das Beil schwingt, um
eine das Grundstück des Nachbarn beschattende Trauerweide zu fällen,
verhält sich zweifellos im Sinne "positiven Tuns". Was indes ein OLG1S
nicht hinderte, diese Anstrengung vermittels einer Negation der Negation
in bloße Passivität umzumünzen: das Fällen eines Baumes tritt in Gestalt
der Unterlassung auf, nämlich als die Unterlassung, ihn wachsen zu
lassen.
II. Es ist aus allen diesen Gründen dringend an der Zeit, die privat-
rechtliche Unterlassungspflicht einmal als solche in Frage zu stellen. Es
kommt darauf an, zunächst den Begriff der "Unterlassung", dann den
Begriff der "Pflicht" zu sehen. Häufig geht man anders vor. Man versucht,
bereits die Unterlassung von den im rechtstheoretischen Schrifttum14
sogenannten "deontischen Modalitäten", insbesondere vom Gebot, her
zu bestimmenlS , und in der Tat: es scheint, als sei die Unterlassung der
modus eines gegen ein Gebot verstoßenden Verhaltens. Was indessen das
Gebot betrifft, so pflegt es als Verpflichtung zur Vornahme eines positiven
Tuns verstanden zu werden15. Das positive Tun wird seinerseits als
Gegensatz zur Unterlassung begriffen, und der Zirkel ist perfekt. Will
man ihn vermeiden, so kommt man um eine vom Begriff des "Gebots"
(bzw. des "Sollens" bzw. der "Pflicht"16) unabhängige Bestimmung des
Begriffs der Unterlassung nicht herum.
1. Versucht man sich betreffs des Begriffs der Unterlassung zu orien-
tieren, so wird man bereits durch die nicht rechtsphilosophische juri-
stische Literatur in philosophische Höhen geführt. "Ontologisch ist die
Unterlassung ein nullum", lehrt Esser17 , und es nimmt nicht wunder, daß
er ihr denn auch so, wie sie "ontologisch ist", die F:ihigkeit bestreitet,
kausal für einen Erfolg zu sein 18. Jedoch auch Jescheck 19 meint mit Be-

13 Celle, OLG 26, 81.


14 Vgl. etwa Wagn(!r-Haag, Die moderne Logik in der Rechtswissenschaft
(1970), S. 94; Weinberger, Rechtslogik (1970), S. 207. Weinberger spricht von
"normativen Modalitäten" und weist auf deren Verwandtschaft mit den Modal-
sätzen ("es ist notwendig [möglich, unmöglidl, unnotwendig], daß ...") hin.
18 Kritisch zur herkömmlichen Theorie der deontisdlen Modalitäten Rödig,
Kritik des normlogischen Schließens, in: Theorie and Decision, Vol. :::1 (1971),
Heft 1, S.117 ff.
le Die Begriffe pflegen synonym gebraucht zu werden. Das ist unschädlich,
ausgenommen die Notwendigkeit, von der elementaren Bewertung eines Sach-
verhalts durch einen Wert die darauf aufbauende (vgl. Rödig, Die Denkform
der Alternative in der Jurisprudenz, 1969, § 21) komplexe Bewertung von Ver-
haltensweisen durch Gebotenheit, Erlaubtheit und Verbotenheit zu scheiden;
anders als aufgrund der genannten Unterscheidung kommt man Problemen
wie dem der Pflichtenkollision nicht bei.
17 Vgl. Esser, Anm. 6, S. 60.
18 Treffend dagegen Fikentscher (Anm. 4), S. 275. - Bemerkenswert ist
übrigens der durch das RG (Z 52, 373 [376]) gegebene Hinweis auf die in § 1875
Abs.l BGB aufgeführten durch Unterlassung "verursachten Kosten".
19 Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 1969, § 59 III 3.

217
6 Jürgen Rödig

rufung auf "ex nihilo nihil fit", es sei die Unterlassung jedenfalls bei
naturwissenschaftlicher Betrachtungsweise einen Kausalverlauf nicht
auszulösen imstande 20 • Charakteristisch ist es schließlich, wenn man
-wie beispielsweise Welzel-die Ansicht vertritt, es sei die Unterlassung
als die Unterlassung einer Handlung selbst keine Handlung. In allen die-
sen Fällen wird die Unterlassung, wie man sieht, als bloße Negation be-
griffen. Wird etwas negiert, so scheint in der Tat bloß mehr ein "nihil"
oder ein "nullum" oder gar ein den Nullpunkt unterschreitendes, inso-
weit "negatives" Maß an Wirklichkeit, übrig zu bleiben.
Nun kommt aber selbst für den Fall, daß man die Unterlassung als
Ergebnis einer Negation glaubt interpretieren zu können, nicht etwa ein
"nihil" oder ein "nullum" heraus. Der Geiger G sei verpflichtet, anläßlich
einer Hochzeitsfeier aufzuspielen. Die Negation des Satzes "G spielt
Geige" lautet, es sei nicht der Fall, daß G die Geige spielt. Wir haben es
nun aber, was die letzte Formulierung anbelangt, nicht etwa mit einem
"nihil" oder einem "nullum" zu tun, sondern wiederum mit einem Satz.
Und zwar nicht einmal notwendigerweise mit einem falschen. Die Nega-
tion ist vielmehr als eine einstellige Aussagenfunktion (mit Aussagen als
Argumenten sowie Aussagen als Werten) dahin erklärt21 , daß ihre An-
wendung auf eine wahre Aussage eine falsche und ihre Anwendung auf
eine falsche Aussage eine wahre ergibt.
Jedoch bereits der Ausgangspunkt ist verfehlt. Es ist ein zwar immer
wieder anzutreffendes, doch unzutreffendes Verfahren, die Unterlassung
dem Tun wie die negierte These der nicht negierten, wie die Antithese
der These, entgegenzusetzen!!. Das sogenannte "positive Tun" ist kein
Phänomen, das sinnvoll negiert werden könnte 23 • Sinnvoll zu negieren ist
lediglich der ein positives Tun, etwa das Geigespielen, beschreibende
Satz. Die Negation des Satzes "G spielt Geige" ergibt, wie erwähnt, den
folgenden: "G spielt nicht Geige", und es liegt nahe, den zuletzt genannten
Satz wie folgt zu :wenden: "G unterläßt es, Geige zu spielen." Wir haben
es jedoch auch diesmal nur mit einer Beschreibung zu tun. Demgegen-
über ist das durch diese Negation beschriebene Verhalten in einer Mannig-
faltigkeit von Erscheinungsformen aufzutreten imstande. G hat die Hoch-
zeit beispielsweise verschlafen; oder G hat einen Arzt aufsuchen müssen;

20 Macht man sich die Besonderheit des spezifisch juristischen Kausalitäts-


begriffs klar, so stellt sich heraus, daß die Kausalität der Unterlassung nichts
Ungewöhnliches ist, ja daß man sogar die Kausalität der Unterlassung zweck-
mäßigerweise von der des Tuns her versteht; vgl. Rödig, Zur Alternativstruk-
tur des juristischen Kausalitätsbegriffs, in: Rechtstheorie, Bd. 2 (1971), Heft I,
S.100 ff.
21 Siehe etwa Klug, Juristische Logik, 3. Aufl, 1966, S. 29.
!! Richtungweisend insoweit Radbruch, Der Handlungsbegriff in seiner Be-
deutung für das Strafrechtssystem, 1903, S. 141 f.
23 Vgl. Anm. 16, § 10.9.1.

218
Die Privatrechtliche Pflicht zur Unterlassung 7

oder G kann eine kompositorische Eingebung verzeichnen, und er ist in


fieberhafter Eile damit beschäftigt, die Noten aufs Papier zu werfen. Mit
diesen überlegungen ist zugleich der Kern der Sache getroffen.
Es geht nicht an, auf absolute Weise von schlechthin einer "Unterlas-
sung" zu sprechen!4. Der Begriff der Unterlassung ist vielmehr erst ver-
mittels der logischen Kategorie der Relation25, und zwar einer wenig-
stens zweistelligen Relation, adäquat zu erfassen. Das definiendum lautet
mithin nicht, x sei eine Unterlassung, sondern vielmehr folgendermaßen:
"x stellt eine Unterlassung von y dar"; durch "x" und "y" werden be-
liebige Verhaltensweisen repräsentiert. Läßt man es demgegenüber bei
dem erwähnten absoluten Begriff der "Unterlassung" bewenden, so kann
man ein gegebenes Verhalten entweder unter dem Gesichtspunkt einer
Alternative sehen oder nicht, und man hat es demgemäß bei einem und
demselben Verhalten mit einer Unterlassung oder auch keiner zu tun;
auf das eingangs (I) angeführte Beispiel BGHZ 29, 244 wird verwiesen.
Der Kürze halber sei der absolute Unterlassungsbegriff durch "Ua",
der relative durch "U:" wiedergegeben. ua ist, wie sich unschwer zeigen
läßt, durch den Begriff der Handlung zu ersetzen. Was sodann U:
be-
trifft, so liegt es nahe, den Begriff wie folgt zu präzisieren: Es sollen
erstens x und y zum selben Verhaltensspielraum gehören; es sollen fer-
ner x und y miteinander nicht identisch sein.
Behauptet man hinsichtlich eines bestimmten Verhaltens, es sei eine
Unterlassung eines bestimmten weiteren Verhaltens, so wird der zu-
grundeliegende Verhaltensspielraum in der R~gel allerdings nicht aus-
geschöpft. Greift man doch lediglich zwei der darin enthaltenen - meist
"zahllosen" - Elemente heraus. Aber selbst für den Fall, daß der Ver-
haltensspielraum ausgeschöpft würde, wäre die Menge der betrachteten
Verhaltensweisen normalerweise mehr oder weniger stark durch äußere
Umstände - beispielsweise durch den Umstand, in Gefangenschaft zu
sein - begrenzt. Lassen wir nun einmal diese Einschränkungen außer
acht. Es sei vielmehr die - wenn auch vielleicht utOpische - Menge aller
während eines beliebigen Zeitraums möglichen Verhaltensweisen gege-
ben. Dann liegt es nahe, diese Menge wie folgt erschöpfend in zwei Teil-
mengen zu gliedern. Die eine Teilmenge sei durch irgendein für die Be-
schreibung von Verhaltensweisen taugliches Attribut definiert. Die an-
dere Teilmenge stelle das - absolute - Komplement!8 der ersteren dar.
•, a.a.O., § 17.5.
15 In der logikwissenschaftlichen Fachsprache wird zur Bezeichnung von Be-
schaffenheiten auch von "Attributen" gesprochen, und der Tenninus "Relation"
steht für das ein Attribut symbolisierende Zeichen; a.a.O., §§ 26.1.2, 28.1.2,
28.2.2.
28 Es sei eine gewisse Menge von Gegenständen (das sogenannte "universe of
discourse") gegeben, ferner eine auf dieser Grundlage definierte Menge M.

219
8 Jürgen Rödig

Dies vorausgesetzt, läßt sich der Begriff der Unterlassung generalisieren.


Gibt es doch nunmehr die Möglichkeit, von einem Verhalten beispiels-
weise anzunehmen, es sei Unterlassung des Haltens eines Tieres, des Er-
füllens eines Vertrages, des Verletzens eines Menschen usf. Von "Unter-
lassung" wird insofern dann und nur dann die Rede sein, wenn das zu
beschreibende Verhalten Element der Komplementmenge ist. Wir be-
zeichnen den generellen Unterlassungsbegriff durch "U~" und stellen
ihn dem zwar gleichfalls relativen, aber sozusagen "atomaren" Unter-
lassungsbegriff U': entgegen.
Nun liegt es auf der Hand, zwischen einerseits den atomaren und
andererseits den generellen Unterlassungsbegriff einen weiteren zu
setzen. Wir nennen ihn den "individuellen" Unterlassungsbegriff - kurz
"U:'" -, und zwar aus folgendem Grund. Es handelt sich einerseits (wie
bei U;) um eine Gliederung von Verhaltensweisen jeweils danach, ob sie
zu der durch ein bestimmtes Verhaltensattribut definierten Verhaltens-
menge oder aber zu deren Komplement gehören. Die dieser Attribution
zugrundeliegende Menge von Verhaltensweisen stimmt indessen anderer-
seits (wie bei U~) mit dem auf ein und nur ein Individuum bezogenen
Verhaltensspielraum überein. Nunmehr sind wir in der Lage, hinsichtlich
eines bestimmten Menschen beispielsweise auszusagen, er habe den ihm
anvertrauten Wagen zu pflegen unterlassen; er habe es unterlassen, sich
an einer Verschwörung zu beteiligen; er sei nicht der Mörder des ent-
führten Kindes usf.
Man könnte schließlich fragen, welcher der entwickelten Begriffe
U", U:, U~ und ui eigentlich "der richtige" sei. Die Frage ist indessen
ohne Sinn. Es gibt gar nicht "den" Unterlassungsbegriff. Welche Version
wir verwenden, ist vielmehr Sache der Vereinbarung. Die Vereinbarung
kann allerdings mehr oder weniger zweckmäßig sein. Ob sie zweckmäßig
ist, bestimmt sich u. a. nach folgenden Kriterien. Es kommt erstens, da
ein spezifischer juristischer Unterlassungsbegriff bislang nicht fach-
sprachlich präzisiert worden ist, darauf an, den Anschluß an den um-
gangssprachlichen Gebrauch des Wortes zu suchen. Maßgeblich ist zwei-
tens die durch den Begriff im Rahmen rechtlicher Normen zu erfüllende
Funktion27 • Der ersten der genannten Bedingungen dürften sämtliche vier

Dann ist unter dem "absoluten Komplement" von M (Klug [Juristische Logik,
3. Aufl. 1966, S. 68] verwendet insofern den Terminus "Negat") die Menge der
Elemente zu verstehen, die (zwar zum universe of discourse, jedoch) nicht zu M
gehören. Sofern diese Elemente indes zu einer andern Menge N gehören, spricht
man - relativ zu N - vom "relativen Komplement" von M, oft auch von
"Differenz"; vgl. etwa Jürgen Schmidt, Mengenlehre I (1966), S. 64.
27 Was die Notwendigkeit betrifft, spezifisch rechtliche Begriffe unter dem
Gesichtspunkt ihrer rechtlichen Funktion zu präzisieren, vgl. Rittner, Unter-
nehmen und freier Beruf als Rechtsbegriffe (1962), S. 5 ff. (insbesondere S. 8 ff.);
ders., FamRZ 1961, S. 1 ff. Vgl. auch Rödig, JZ 1971, S. 208 ff.

220
Die Privatrechtliche Pflicht zur Unterlassung 9

der hier entwickelten Versionen des Unterlassungsbegriffs genügen. Was


die zweite anbelangt, so hoffen wir, daß wenigstens eine Version ihr
genügt.
2. Versuchen wir nunmehr, den zweiten Bestandteil des Begriffs der
"Unterlassungspflicht" , nämlich den Begriff der "Pflicht", zu präzisieren.
Der Begriff der "Pflicht" wird durchweg synonym mit dem Begriff des
"Sollens", dieser synonym mit dem des "Gebots" gebraucht. Sagt man, es
sei jemand verpflichtet, etwas zu tun, so meint man, er solle dieses tun
oder auch, es sei geboten, daß er es tue. Was nun die Gebotenheit betrifft,
so läßt sich zeigen, daß sie nur als ein modus komplexer Bewertung
adäquat definiert werden kann 28 • Wie von der Verbotenheit die Rechts-
widrigkeit, so ist auch von der Gebotenheit die Rechtmäßigkeit genau zu
unterscheiden.
Es sei der für die Bewertung "rechtmäßig" oder auch "rechtswidrig"
maßgebende Wert gegeben. Gibt es ferner einen und nur einen Sach-
verhalt, so wird der Wert durch diesen Sachverhalt entweder erfüllt oder
nicht, und es ist insofern, wie gesagt, von "rechtmäßig" oder "rechtwidrig"
die Rede. Gibt es zwei Sachverhalte, so sind bereits vier Fälle ihrer Be-
wertung zu unterscheiden, usf. Was nun die sogenannten deontischen
Modalitäten, und zwar namentlich den Gebotsbegriff, anbelangt, so gilt es
das Folgende zu bedenken. Mit der Bewertung von Verhaltensweisen ist
in diesem Fall bezweckt, das Handeln des Adressaten zu regeln, mithin
auf dessen zukünftiges Verhalten Einfluß zu nehmen. Solche Einfluß-
nahme kommt nun aber weder dann in Betracht, wenn der Adressat sich
realiter nur so verhalten kann, daß sämtliche Verhaltensweisen negativ
bewertet werden, noch dann, wenn sämtliche Verhaltensweisen positiv
bewertet werden. Erst eine Gliederung des Verhaltensspielraums in teil-
weise positiv, teilweise negativ bewertete Verhaltensweisen kann Basis
echter Regelung sein. So nennen wir denn ein Verhalten dann und nur
dann "geboten", wenn es erstens zur Menge der positiv bewerteten Ver-
haltensweisen gehört und es zweitens wenigstens eine zwar negativ be-
wertete, jedoch zum selben Verhaltensspielraum gehörende Verhaltens-
weise gibt 29 • In gen au derselben Weise nennen wir den Schuldner zur
Wahrnehmung einer bestimmten Art von Verhalten "verpflichtet".

28 Dieser Gebotsbegriff stellt eine Verallgemeinerung des in "Die Denk-


form ... " (Anm. 16), § 21.6.1, entwickelten dar. Was die Kalkülisierung des
verallgemeinerten Gebotsbegriffes betrifft, so kommt es darauf an, jeweils die
Elemente der durch ein vorauszusetzendes Verhaltensattribut definierten
Menge von Verhaltensweisen positiv zu bewerten. Es könnte sich insofern die
Verwendung eines Prädikatenkalküls wenigstens zweiter Stufe als erforder-
lich erweisen. In der a.a.O. angegebenen Schrift wird von einem der "normalen"
Prädikatenkalküle erster Stufe Gebrauch gemacht.
29 Der Einfachheit halber nehmen wir an, es seien jeweils beide der zu-
einander komplementären Teilmengen des Verhaltensspielraums nicht leer. Ist
die z. B. positiv bewertete Verhaltensweise demgegenüber so beschaffen, daß

221
10 Jürgen Rödig

III. Versuchen wir nunmehr, die soeben erörterten Begriffe der "Unter-
lassung" (I1 1) und der "Pflicht" (I1 2) zueinander in Beziehung zu setzen.
1. Was zunächst den absoluten Begriff des Unterlassens (UB) anbe-
langt, so ist es schwerlich sinnvoll, ein auf diese Weise als "Unterlassung"
charakterisiertes Verhalten zum Inhalt einer - insbesondere privat-
rechtlichen - Pflicht zu machen. Läßt sich doch mühelos beweisen, daß
- UB vorausgesetzt - jegliches Verhalten, mag man es auch noch so
sehr als "positives" Tun empfinden, zugleich als Unterlassung angesehen
werden kann. Voraussetzung ist lediglich, daß der Verhaltensspielraum
jeweils wenigstens zwei Verhaltensweisen enthält. Greift man unter die-
ser Voraussetzung irgendein Verhalten heraus, so muß jedes andere
insofern als Unterlassung erscheinen. Was umgekehrt das herausgegrif-
fene Verhalten selber betrifft, so stellt es unter dem Gesichtspunkt
irgendeines der genannten anderen Verhalten eine Unterlassung dar.
Der Verhaltensspielraum setzt sich mithin aus lauter Unterlassungen
zusammen. Auf dieselbe Weise läßt sich zeigen, daß der Verhaltensspiel-
raum aus lauter ("positiven") Tätigkeiten besteht, und spezielle Unter-
lassungspflichten - also solche, die nicht gleichzeitig Tätigkeitspflichten
sind - kommen mithin nicht infrage.
Gehen wir nunmehr zu den relativen Unterlassungsbegriffen über,
bei denen die Unterlassung jeweils als Gegensatz zu einem bestimmten
anderen CU;.) oder aber zu einer bestimmten Art von anderen Verhalten
CU;), (U~) figuri~rt. Beginnen wir mit U;. Es wird insoweit ein bestimm-
tesVerhalten als eine Unterlassung eines bestimmten anderen Verhaltens
gesehen. Eine Unterlassung des zuletzt genannten Verhaltens ist nun aber
auch jedes weitere, das von ihm verschieden ist und zum selben Ver-
haltensspielraum gehört. Weshalb es sinnlos ist, gerade das zu Anfang
angeführte Verhalten zum Inhalt einer Unterlassungspflicht zu erheben.

Was sodann den noch verbleibenden generellen (U;) sowie den indivi-
duellen CU;) Unterlassungsbegriff anbetrifft, so ist dem letzteren schon
deshalb der Vorzug zu geben, weil Adressat von Pflichten stets ein Indivi-
duum und nur ein solches ist (11 2).
2. vi scheint für die Bestimmung des Begriffs der "Unterlassungs-
pflicht" freilich vorzüglich geeignet zu sein. U; scheint insofern insbe-
sondere vorzüglich mit dem Pflichtbegriff (I1 2) zu harmonieren. Denn
wie durch eine Pflicht, so wird der Verhaltensspielraum jeweils auch
durch ui in gerade zwei zueinander komplementären Teilmengen ge-
gliedert.

das Komplement der ihr entsprechenden Menge mit dem Verhaltensspielraum


identisch ist, so muß eine an anderer Stelle dargestellte Sonderüberlegung
durchgeführt werden; vgl. Anm. 16, §§ 14, 37, 5.5.

222
Die Privatrechtliche Pflicht zur Unterlassung 11

Es sei zum Beispiel ein Friseur aufgrund Vertrages verpflichtet, dem


Kunden die Haare zu schneiden. Wir sind wahrscheinlich geneigt, das
Schneiden der Haare als "Tätigkeit" zu werten. Bedenken wir jedoch,
daß diese Tätigkeit im Einzelnen durchaus verschieden vor sich gehen
kann, und zwar im Ergebnis so, daß der Kunde jedesmal den Eindruck
gewinnt, es seien seine Haare auf die vereinbarte Weise geschnitten. Es
ist dem Kunden ja normalerweise auch gleich, ob gerade dieses oder
jenes Haar um einen Millimeter kürzer oder länger ist. Halten wir in-
dessen fest, daß die Tätigkeit des Haarschneidens nicht etwa durch ein
und nur durch ein, sondern durch eine ganze Menge von Verhalten ab-
gebildet wird. Das zu dem zugrundeliegenden Verhaltensspielraum rela-
tive Komplement dieser Menge stellt, nach wie vor U~ vorausgesetzt,
die Menge der Unterlassungen des Haareschneidens dar. Mit der Glie-
derung des Verhaltensspielraums in zwei zueinander komplementäre
Teilmengen, von denen die eine der Tätigkeit, die andere deren Unter-
lassung entspricht, läuft nun naheliegenderweise die Unterscheidung
des Verhaltensspielraums in teils positiv, teils negativ bewertete Ver-
haltensweisen parallel. Auf diese Weise läßt sich mühelos die Pflicht zur
Tätigkeit erklären.
Ebensowenig Mühe scheint die Bestimmung der Pflicht zur Unter-
lassung zu bereiten. Führen wir am besten das genannte Beispiel fort.
Das Haareschneiden bildet nicht die einzige dem Friseur obliegende
Pflicht. Der Friseur ist zweifellos verpflichtet, es überdies zu unterlassen,
dem Kunden vermittels einer Rasierklinge nach dem Leben zu trachten.
Auch die Ermordung des Kunden könnte auf durchaus verschiedene
Weise vor sich gehen; auch diese Tätigkeit ist mithin lediglich vermittels
einer Menge von Verhaltensweisen adäquat zu beschreiben30 • Was nun
die Unterlassung der Ermordung anbelangt, so ist das Komplement be-
sagter Menge herzustellen. Jedes Element des Komplements stellt eine
Unterlassung der Ermordung dar, und faßt man alle diese Unterlassun-
gen zusammen, so kommt keine andere als gerade die eine Unterlas-
sungspflicht repräsentierende Menge heraus.
Erstaunlich ist nun Folgendes. Die Struktur der Unterlassungspflicht
ist von der Struktur der Pflicht zur Tätigkeit beim besten Willen nicht zu
unterscheiden. Wir haben es vielmehr in beiden Fällen mit jeweils einer
erschöpfenden Gliederung des Verhaltensspielraums in teils positiv, teils
negativ bewertete Verhaltensweisen zu tun. Was ferner das Verhältnis

30 Anläßlich der Lösung des konkreten Falles sind selbstverständlich jeweils


sämtliche einschlägige Pflichten der Bewertung zugrundezulegen. Wozu der
Schuldner "im Ergebnis" verpflichtet ist, läßt sich vermittels der Bildung des
Durchschnitts derjenigen Menge von Verhaltensweisen formulieren, durch
deren Vornahme der Schuldner jeweils die einzelnen Verhaltensweisen erfüllt.
Hinsichtlich des klassenlogischen Begriffs des "Durchschnitts" vgl. Klug (Anm.
21), S. 66 f.

223
12 Jürgen Rödig

besagter Teilmengen betrifft, so kann man sicherlich nicht allgemein


behaupten, es sei etwa im Falle einer Pflicht zur Tätigkeit die aus positiv
bewerteten Verhaltensweisen bestehende Menge kleiner als die Menge,
welche der Erfüllung einer Unterlassungspflicht entspricht. Wirft man
U~ mit U~ durcheinander, so könnte es allerdings scheinen, als stehe
jeweils einem oder nur einem Verhalten eine kaum übersehbare Menge
von Unterlassungen gegenüber. Jedoch man übersieht hierbei, daß
bereits das genannte "Verhalten", sofern es als Inhalt einer Pflicht
figuriert, tatsächlich aus nicht eher übersehbar vielen Verhaltensweisen
besteht.
Tätigkeits- und Unterlasungspflichten sind, wie wir gesehen haben,
strukturell dieselben31 • Gibt es nun aber keine Unterschiede in der
Sache32 , so könte es doch sein, daß man gewisse Pflichten mit Notwen-

31 Daß es übrigens nicht angeht, die Unterlassung nach dem Vorgang M. E.


Mayers (Allgemeiner Teil des Deutschen Strafrechts [1915], S. 108; vgl. bereits
Zitelmann, Irrtum und Rechtsgeschäft [1878], S. 61) als "gewollte Körperruhe"
zu kennzeichnen, dies hat bereits Gerharl Husserl in seiner - nur teilweise
erhellenden - Studie über "Negatives Sollen im Bürgerlichen Recht" (in: Fest-
schrift f. Max Pappenheim [1931], S. 87 ff. [99 ff.]) gesehen. Wenn HusserZ "das
auf einem negativen Rechtswillen beruhende negative Willensverhalten, das
sein Willensziel seinem kontradiktorisch widersprechenden, vom Recht ver-
neinten (verbotenen) Verhalten entnimmt" als Unterlassung im Rechtssinn be-
trachtet, so wirft er nicht nur die Beschreibung mit dem Beschriebenen durch-
einander (vgl. bei Anm. 23); der Begriff der Unterlassung wird überdies in
zirkelhafter Weise vermittels der deontischen Modalitäten definiert (vgl. II pr).
3! In diesem Zusammenhang sei eine treffliche Formulierung des Reichs-
gerichts aus der bereits (vgl. Anm. 9) angeführten Entscheidung RGZ 52, 373
wiedergegeben: ,,'übrigens beruht der Gegensatz zwischen kausalem Tun und
kausalem Unterlassen überhaupt mehr auf der Vorstellung, als auf dem
objektiven Bestande der Dinge, insofern dafür der Ausgangspunkt der Vor-
stellung bestimmend ist". Treffend und prägnant auch Rittner, Die Ausschließ-
lichkeitsbindungen in dogmatischer und rechtspolitischer Betrachtung, 1957,
S. 35: Die Verpflichtung zur Unterlassung läuft auf eine Einschränkung der
"Wahlfreiheit", mithin auf eine Begrenzung des Verhaltensspielraums, hinaus.
Aus dem neueren privatrechtsdogmatischen Schrifttum sind vor allem Arbei-
ten Böhms (Die ZwangSVOllstreckung nach § 890 ZPO, 1971) und Hanaus (Die
Kausalität der Pflichtwidrigkeit, 1971) zu nennen. Die von Böhm für das Voll-
streckungsrecht gewonnenen Resultate stimmen mit den im Rahmen der vor-
liegenden Studie angestellten 'überlegungen in erstaunlichem Ausmaß überein;
auch bezüglich der Vorschrift des § 890 ZPO führt die Unterscheidung zwischen
Tun und Unterlassen nicht weiter, und es wird mit Recht der Vorschlag ge-
macht, an die Stelle der "Differenzierung von Unterlassen ... die von Nach-
holbarkeit und Unnachholbarkeit des geschuldeten Verhaltens treten" zu
lassen (S. 48). Treffend auch der für die Einordnung der Kausalität der Unter-
lassung wesentliche Ansatz Hanaus, in Kausalitätszusammenhängen mehr zu
sehen als "einfache Realität" (Die Kausalität der Pflichtwidrigkeit, S. 24). Miß-
verständlich ist es freilich, wenn Hanau S. 46 hinsichtlich der Kausalität des
Tuns das Merkmal der Eignung eines pflichtgemäßen HandeIns für die Ver-
eitelung der drohenden Gefahr vermißt. Hanau behandelt S. 45 den Fall, daß A,
um seinem Feind zu schaden, Bananenschalen im Treppenhaus verstreut. Der
HauseigentÜIner räumt die Bananenschalen nicht weg. Stürzt der Feind, so ist
betreffs der Kausalität der pflichtwidrigen Unterlassung des HauseigentÜIners
zu fragen, ob dieser sich so hätte verhalten können, daß der Feind nicht aus-

224
Die Privatrechtliche Pflicht zur Unterlassung 13

digkeit vermittels einer Negation, andere dagegen ohne eine solche


beschreibt. Jedoch diese Notwendigkeit ist nicht vorhanden. Dies läßt
sich durch zahlreiche Beispiele belegen. Was das vorhin erwähnte Bei-
spiel anbelangt, so kann man allerdings von einer Unterlassung des
Ermordens, allgemein des Tötens, sprechen. In abgeschwächter Weise
könnte man sagen, es lasse der Friseur den Kunden am Leben. Fordern
wir den Friseur indessen auf, das Leben des Kunden zu erhalten, es zu
schonen, so haben wir bereits eine positive Formulierung gewählt. Und
in der Tat, wir sollten uns hüten, rechtlich zum Teil erheblich divergie-
rende Beurteilungen von sprachlichen Zufälligkeiten abhängig zu
machen.
Zahlreiche Stellungnahmen33 sind demgegenüber immer noch von
einem ungebrochenen Optimismus getragen. Auf "natürliches Verständ-
nis" pflegt vertraut zu werden34 • Wieweit man sich indessen durch "natür-
liches Verständnis" dürfe leiten lassen, dies ist eine allenfalls mit Hilfe der
Linguistik hinreichend zuverlässig zu entscheidende Frage. Wir glauben
allerdings, vermuten zu dürfen, daß auch die Anwendung linguistischer
Methoden kein anderes als das in dieser Untersuchung vermittels struk-
tureller Überlegungen gewonnene Resultat ergeben werde.
Es wird, um dies erneut zu sagen, nicht etwa bestritten, daß es in
manchen Fällen näher liegt, ein Verhalten negativ zu formulieren. Wich-
tig ist indes, daß dieses "Näherliegen" jedenfalls nicht jene Sicherheit
besitzt, welche man von einem rechtserheblichen Kriterium muß erwar-
ten dürfen. Beschreibt man einen modus des Verhaltens negativ, so ist

gerutscht wäre. Der Hauseigentümer hätte die Bananenschalen eben wegräu-


men müssen. Jedoch genauso ist bezüglich des pfiichtwidrigen Tuns des A nach
einer Verhaltensweise zu fragen, die A anstelle des Verstreuens der Bananen-
schalen hätte vornehmen können, die ferner erlaubt gewesen wäre und auf-
grund derer schließlich der Sturz des Feindes mit einer an Sicherheit grenzen-
den Wahrscheinlichkeit nicht eingetreten wäre. Es gibt natürlich eine Un-
menge derartiger Verhaltensweisen. Gäbe es nicht mindestens eine, so wäre die
Kausalität des Verhaltens des A im juristischen Sinn zu bestreiten. Hätte bei-
spielsweise der sowohl mit A als auch mit dessen Feind befeindete B den A
vermittels vis absoluta zum Streuen der Bananenschalen gezwungen, so läge
zwischen einerseits dem Streuen seitens A und andererseits dem Sturz des
Feindes nur noch naturgesetzlicher Zusammenhang vor. Die Struktur der
Kausalität der Unterlassung ist von der Struktur der Kausalität des positiven
Tuns ununterscheidbar, und man macht sich dies in zahlreichen Fällen bereits
anhand der Möglichkeit klar, dasselbe Verhalten sowohl mithilfe einer posi-
tiven als auch mithilfe einer negativen Formulierung zu beschreiben. - Hin-
sichtlich der Notwendigkeit, auch bei der Prüfung der Kausalität des positiven
Tuns nach konkreten Alternativen zu fragen, vgl. neuerdings Rähl mit einer
treffenden Analyse des Falles BGHSt 11, 1 ff. (ZSTW 83 [1971], S. 831 ff. [insbes.
S. 846 - 848]).
33 Was beispielsweise die betreffs der Einordnung der Unterlassung sonst so
profunde (vgl. Anm. 18) Darstellung Fikentschers betrifft, so wird a.a.O., S. 560,
gelehrt, es sei menschliches Verhalten zuweilen .. in Wahrheit" ein Tun.
34 Die Ausführungen Jeschecks (vgl. Anm. 19, S. 400) sind insoweit angreifbar.

225
14 J ürgen Rödig

das Wörtchen "nicht" zwar wichtig. Nicht minder wichtig ist es aller-
dings, das nicht vorgenommene Verhalten selbst zu nennen. Spricht man
nun aber von Unterlassungspflichten an sich, so setzt man sozusagen die
Negation vor die Klammer, und der sich auf diese Art ergebende "All-
gemeine Teil" des Instituts der Unterlassungspflicht ist bereits im Ansatz
mißraten.
3. Der - verständlicherweise - mißtrauische Leser wird nicht länger
warten wollen, folgenden Einwand ins Treffen zu führen. Wie es nun um
die abstrakte Berechtigung von Unterlassungspflichten auCh stehe, so sei
dennoch nicht ernstlich an der Tatsache vorbeizugehen, daß es, was die
Verletzung solcher Pflichten anbelangt, offensichtliche Besonderheiten
gebe. Und in der Tat, was etwa den Verzug sowie die Schlechtleistung
betrifft, so sind diese Störungsformen bei der Unterlassungspflicht laut
Köpcke 35 bereits "dem Begriff nach" nicht anzuerkennen.
Es setze der Erblasser E seine Nichte N unter der Bedingung zur Alleinerbin
ein, "daß N das Rauchen unterläßt". Versteht man besagte letztwillige Ver-
fügung naheliegenderweise als aufschiebend bedingte (§ 158 Abs. 1 BGB)
Erbeinsetzung (§ 1937 BGB), so scheinen die Aussichten der N miserabel zu
sein. N ging nicht nur dann leer aus, wenn sie zur ersten Zigarette greift. Denn
auch unter der Voraussetzung, daß N das Rauchen eisern unterläßt, bliebe ihr
die Erbschaft zeitlebens vorbehalten. Könnte es doch jeweils sein, daß N, so-
lang sie lebt, doch noch das Rauchen beginnt.
Nun hat E jedoch nicht irgendwelche Personen erfreuen, sondern - jeden-
falls hauptsächlich - N selbst vom Rauchen abhalten oder auch abbringen
wollen, und das Gesetz verhilft diesem Willen zur Geltung: Nach § 2075 BGB
ist anzunehmen, es habe E die N unter der auflösenden Bedingung (§ 158 Abs. 2
BGB) des Rauchens zur Alleinerbin eingesetzt.
Was die Vorschrift des § 2075 BGB betrifft, so geht es freilich nicht
um eine Pflicht zur Unterlassung. Wir haben es vielmehr mit einer Art
Obliegenheit36 zu tun. Doch diese Unterscheidung ist im Rahmen dieser
überlegung ohne Belang. Wichtig ist vielmehr zunächst, daß man erst
nach Ablauf des Erfüllungszeitraums - hier also erst vom Tod der
N an - sagen kann, es sei die Obliegenheit "erfülit". Wichtig ist sodann,
daß bereits die erste Zuwiderhandlung zum Eintritt der - und zwar
"objektiven" - Unmöglichkeit führt. Hiermit hängt es zusammen, daß
man sich schließlich weder Verzug noch Schlechterbringung glaubt vor-
stellen zu können. Wir haben es anscheinend mit charakteristischen Be-
sonderheiten der Verletzung von Unterlassungspflichten zu tun. Was
demgegenüber eine Pflicht zur Tätigkeit betrifft, so läßt sich beispiels-

35 Typen der positiven Vertragsverletzung (1965), S. 131. Vgl. aber H. Leh-


mann (Die Unterlassungspflicht im bürgerlichen Recht [1906]), dem die Be-
gründung seiner a.a.O., S. 262 ff. (270) vorgetragenen gegenteiligen Ansicht
freilich schwerlich gelingt; vgl. Krilckmann, AcP 101, S. 202 f.
88 Hinsichtlich des Begriffs der "Obliegenheit" im engeren Sinn vgl. etwa
Esser (Anm. 6), S. 31 ff., 183, 329.

226
Die Privatrechtliche Pflicht zur Unterlassung 15

weise das Urteil über die ET!ülZung der Verpflichtung bereits mit dem
Bewirken der Leistung, also möglicherweise längst VOT Ablauf des Er-
füllungszeitraums fällen.
Wir tun indessen gut daran, die Vorschrift des § 2075 BGB zu Ende zu
lesen. Wird doch mit dem Unterlassen !oTtgesetztes Tun auf eine Stufe
gestellt. Das ist eigenartig. Scheint doch das fortgesetzte Tun schärfster
Gegensatz des Unterlassens, sozusagen eine ins Quadrat erhobene Akti-
vität, darzustellen. Die Parallelität der Unterlassung mit dem fortge-
setzten Tun ist längst gesehen worden. Bereits in den Motiven heißt es87,
daß "zwischen der Bedingung des fortgesetzten Unterlassens und der Be-
dingung fortgesetzten Handelns vielfach nur ein Wortunterschied be-
steht"; es könne eine Bedingung "ihrem Sinne nach eine negative Potesta-
tivbedingung sein", auch wenn sie "affirmativ gefaßt" ist. Friedrich
Mommsen38 , auf dessen Ausführungen die Motive verweisen, sagt mit
Recht, es gehe die (positiv gefaßte) Bedingung, "daß der Bedachte fort-
während seinen bisherigen Wohnort behalte", ihrem Sinn nach in die-
selbe Richtung wie die (negativ gefaßte) Bedingung, "daß der Bedachte
seinen Wohnort nicht verlasse". Und Unger 9 , auf dessen Ausführungen
Mommsen verweist, meint jedenfalls "zugeben" zu können, "daß eine
affirmative (auf die Vornahme einer Handlung gerichtete) aufschiebende
Bedingung ausnahmsweise als eine negative aufschiebende betrachtet
und behandelt werden könne, wenn es sich dem Willen und der Anschau-
ung des Erblassers gemäß um die Fortdauer eines Zustandes handelt, so
daß die Vornahme der betreffenden Handlung die Nichtunterbrechung
des status quo bedingt".
Man scheint sich bislang mit der Ähnlichkeit der Unterlassungspflicht
mit der Pflicht zu fortgesetztem positivem Tun wie mit einem Zufall ab-
gefunden zu haben. Demgegenüber ist zu untersuchen, ob durch diese
Ähnlichkeit nicht ein möglicherweise allgemeinerer Zusammenhang zum
Ausdruck gelangt. Ein derartiger Zusammenhang ist in der Tat vorhan-
den. Seine Formulierung setzt die Klärung einiger Begriffe voraus.
Unter dem "Erfüllungszeitraum" wird wie bislang der Zeitraum ver-
standen, innerhalb dessen der Schuldner die ihm obliegende Verbindlich-
keit erfüllen kann. Der Erfüllungszeitraum stimmt mit der zeitlichen
Erstreckung des jeweils zur Debatte stehenden Verhaltensspielraums des
Schuldners (Il 2) überein. Die Menge der jeweils positiv bewerteten Ver-
87 Mugdan, Die gesamten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das
Deutsche Reich (1899), Bd. 5, S. 15.
S8 Vgl. Entwurf eines Deutschen Reichsgesetzes über das Erbrecht nebst Moti-
ven (1876), S. 222.
so System des österreichischen allgemeinen Privatrechts, Bd. 6, Das öster-
reichische Erbrecht (1871), S. 80. - Vgl. übrigens die kennzeichnende Formu-
lierung in RGZ 52, 373 (376): Dem rechtzeitigen Wegnehmen oder Stützen des
Baumes wird "fortgesetzter Besitz" entgegengesetzt.

227
16 Jürgen Rödig

haltensweisen (II 2, III 2) sei auch "Erfüllungsspielraum" genannt. Grei-


fen wir nun ein Element aus dem Erfüllungsspielraum heraus. Dann
möge der Zeitraum, innerhalb dessen sich die Befriedigung des Gläubi-
gers vollzieht, "Befriedigungszeitraum" heißen. Was nun die herkömm-
liche Unterscheidung zwischen Tätigkeits- und Unterlassungspflichten
anbelangt, so wird ihr Zweck zum Teil durch folgende erreicht. Der Be-
friedigungszeitraum dauert entweder notwendig so lange wie der Erfül-
lungszeitraum oder nicht. Bei der herkömmlich sogenannten Pflicht zu
"positivem" Tun ist meist - jedoch nicht immer - letzteres der Fall.
Demgegenüber ist der Gläubiger sowohl im Fall der Unterlassungs-
pflicht als auch im Fall der Pflicht zu positivem Tun jeweils frühestens
mit Ablauf des Erfüllungszeitraums voll befriedigt. Auf die Unterschei-
dung zwischen Tun und Unterlassen kommt es, wie man sieht, nicht an.
Trifft das soeben entwickelte Kriterium zu, so müßte es sich in dem
mit der äußersten Ausdehnung des Befriedigungszeitraums korrespon-
dierenden Fall minimaler zeitlicher Erstreckung des Erfüllungszeitraums
bewähren. Und in der Tat, die Gegenprobe hält. Was näml~ch das so-
genannte "absolute Fixgeschäft"40 betrifft, so mag die Pflicht auch noch
so sehr auf "positives" Tun gerichtet sein. Wird die Leistung nicht er-
bracht, so treten gleichwohl annäherungsweise gerade die Besonder-
heiten auf, welche man für solche des Verstoßes gegen Unterlassungs-
pflichten hielt. Versäumt ein Fotograf die von ihm geschuldete, nur inner-
halb eines minimalen Zeitraums realisierbare Aufnahme einer nicht
wiederkehrenden Planetenkonstellation, so wird die Erbringung der Lei-
stung alsbald objektiv unmöglich. Verzug kommt praktisch nicht in Frage.
Es gibt freilich weitere - zumeist stillschweigende - Kriterien, von
welchen angenommen werden darf, daß sie die herkömmliche Unterschei-
dung zwischen Tätigkeits- und Unterlassungspflichten motivieren. Es
handelt sich insbesondere, wie vor allem aus der anläßlich der Verletzung
von Unterlassungspflichten geforderten Garantenpflicht erhellt, um so
etwas wie die "Nähe" eines Verhaltens zu dem dadurch verursachten
Erfolg, aber auch um das "Naheliegen" eines jeweils anderen Verhaltens
im Sinne der Zumutbarkeit. Was übrigens besagte "Nähe" anbelangt, so
ist diese Relation, wie man auch längst gesehen hat", jedenfalls aus-
schließlich unter dem Gesichtspunkt der Verursachung nicht adäquat zu
erfassen.
IV. Die Kritik der Lehre von der privatrechtlichen Unterlassungspflicht
läßt sich freilich nicht durch ein Rezept ergänzen, dessen Anwendung
in allen Fällen, in welchen man bislang die Unterlassungspflicht bemühte,
nunmehr auch ohne deren Hilfe schnell und sicher zum Ergebnis führt. Es

40 VgI. Esser (Arun. 6), S. 188 f., 347 f.


41 VgI. etwa v. Caemmerer (Anm. 9), S. 77.

228
Die Privatrechtliche Pflicht zur Unterlassung 17

muß vielmehr, wenn man so will, "befürchtet" werden, daß die Elimina-
tion der Unterlassungspflicht zur Herausarbeitung von zahlreichen neuen
- diesmal freilich rechtlich relevanten - Kategorien der Dogmatik des
Privatrechts zwingt. Als eine dieser Kategorien ist die soeben (lI! 3) prä-
zisierte Gruppe solcher (individueller) Schuldverhältnisse anzuführen,
bei denen sich der Leistungszeitraum notwendig über den gesamten Er-
füllungszeitraum hin erstreckt. - Es sei zum Schluß anhand zweier Bei-
spiele der Versuch unternommen, die Möglichkeit der auf die Verwen-
dung des Begriffs der Unterlassungspflicht verzichtenden privatrecht-
lichen Argumentation zu demonstrieren. Anknüpfungspunkt des ersten
Beispiels (IV 1) ist der eingangs (I) erwähnte, der Entscheidung BGHZ 29,
244 zugrundeliegende Fall. Das zweite Beispiel (IV 2) ist ein Beitrag zur
Begründung der Behauptung, des privatrechtlichen Instituts der soge-
nannten "positiven Forderungsverletzung" bedürfe es nicht.
1. Was zunächst die durch BGHZ 29,244 (246 bis 252) behandelte Frage
betrifft, ob das Verbot des Vertriebs anderer Waren als der des Berech-
tigten zum Inhalt einer Dienstbarkeit (§§ 1090 Abs. 1, 1018 BGB) gemacht
werden könne, so hat der 5. Zivilsenat eine gerade im Hinblick auf die
hier diskutierte Problematik bemerkenswerte Entscheidung getroffen.
Zwar liegt es, wie wir sahen, auf der Hand, das zur Debatte stehende
"Verbot" als Pflicht zu einer Unterlassung aufzufassen, eben der Unter-
lassung, andere Erzeugnisse als die des Dienstbarkeitsberechtigten zu
vertreiben. Das Gericht scheint das Verbot denn auch so aufzufassen42 ,
jedoch geht es, wenn man so sagen darf, zur Tagesordnung über. Die
Unterscheidung zwischen Tätigkeits- und Unterlassungspflichten wird
nicht ernst genommen. Der BGH stellt vielmehr darauf ab, ob das
Verbot - wiewohl es sich um eine Pflicht zur Unterlassung handle -
"lediglich die rechtsgeschäftliche Freiheit des Eigentümers berührt"
(S. 249). Sei dies der Fall, so könne das Verbot als Inhalt einer Dienst-
barkeit nicht eingetragen werden. Die Dienstbarkeit stehe lediglich als
eine "das Eigentumsrecht am Grundstück" (vgl. § 903 BGB) einschrän-
kende Belastung zur Verfügung (a.a.O.). Maßgebend für die Entschei-
dung ist letztlich der auch vom OLG Stuttgart in einem Beschluß vom
9. 7. 195643 zum Ausdruck gebrachte Gedanke, "daß das Institut der
Dienstbarkeit nicht zu einer persönlichen Bindung des jeweiligen Eigen-
tümers mißbraucht werden soll, die zwar durch seine EigentümersteI-
lung rechtlich ermöglicht wird, aber mit ihr in keinem inneren Zusam-
menhang steht" (BGHZ 29,244 [251]).
Der Entscheidung ist insofern beizupflichten, als der BGH dem Fall vermit-
tels anderer Kriterien als dem der Unterscheidung zwischen Tätigkeits- und
Unterlassungspflichten gerecht zu werden versucht; sie bedarf jedoch im übri-

42 Vgl. etwa BGHZ 29, 244 (248).


43 MDR 1956, S. 679.

2 Recbtstbeorle 1/1972

229
18 Jürgen Rödig

gen der Diskussion. Was zunächst die vom BGH zu Rate gezogene Vorschrift
des § 903 BGB betrifft, so läßt sich schwerlich leugnen, daß zu der Berechtigung,
mit dem Grundstück "nach Belieben zu verfahren", auch die Möglichkeit ge-
hört, keine anderen Motorenbetriebsstoffe, Fette und Öle als die von der AG
produzierten zu vertreiben. Auch diese Möglichkeit "fließt aus dem Eigentum"
(vgl. S. 249), und man wird fragen, weshalb es insofern einerseits nicht statthaft
sei, den Eigentümer an einen bestimmten Warenlieferanten zu binden, wäh-
rend andererseits das Verbot des gesamten Gewerbebetriebes ohne weiteres
den Inhalt der Dienstbarkeit darstellen dürfe. Schwerlich überzeugend ist so-
dann der Hinweis auf die dem Eigentümer zu belassende rechtsgeschäftliche
Verfügungs- und Verpflichtungsmacht, hinsichtlich dessen sich die Vorschrüt
des § 137 BGB anführen ließe. Denn es ist wiederum nicht einzusehen, inwiefern
ein Verbot jedweden Gewerbebetriebes die rechtsgeschäftliche Freiheit des
Eigentümers sollte weniger beschränken. Mit einem Gewerbebetrieb ist regel-
mäßig eine Fülle von Rechtsgeschäften verbunden, und was namentlich die
Errichtung einer Tankstelle betrifft, so geht es darum, den Abschluß einer
möglichst großen Zahl von möglichst gewinnbringenden Rechtsgeschäften ver-
mittels geeigneter baulicher Anlagen sowie durch weitere Vorkehrungen vorzu-
bereiten. Wenig überzeugend ist es schließlich, wenn der BGH - teils durch
Lehmann44 geleitet - zwischen "mittelbaren" und "unmittelbaren" Wirkungen
von Benutzungshandlungen auf den tatsächlichen Gebrauch des Grundstücks
glaubt trennen zu können (S. 251). Wer oder was auf welche Art als "Mittler"
figuriert, steht - wie in so vielen Fällen der Verwendung dieses Gegensatzes
- mit der erforderlichen Sicherheit nicht fest.
Die Vorschrift des § 1018 BGß läßt immerhin hinreichend klar erken-
nen, daß es den Verfassern des Gesetzes darum ging, das dem Eigentümer
des dienenden Grundstücks anzulastende Verhalten abschließend zu
beschreiben. Es soll nicht jedes Verhalten als Inhalt der Dienstbarkeit
ausbedungen werden können. Hiervon ist bei der Auslegung des § 1018
BGB auszugehen. Was allerdings die demgemäß zu präzisierende Be-
schränkung des Inhalts betrifft, so heißt es in den Motiven hinsichtlich
des dem § 1018 BGS entsprechenden I § 9'66 45 optimistisch: "Daß eine
Grunddienstbarkeit nicht den Eigentümer des dienenden Grundstückes
zu einer Leistung verpflichten kann, ergiebt sich aus der gesetzlichen
Definition von selbst, ohne daß eine Einschränkung nöthig ist." Dieser
Optimismus hat sich nicht als berechtigt erwiesen. Die Verfasser des Ge-
setzes haben vermutlich Dienstbarkeiten des Inhalts ausschließen wollen,
es solle beispielsweise der Eigentümer des dienenden Grundstücks von
seinem Garten aus den Rasen des benachbarten herrschenden Grund-
stücks bei Trockenheit gießen. Nun führt, wie wir gesehen haben (lI! 2),
die Unterscheidung zwischen Tätigkeits- und Unterlassungspflichten
nicht weiter. Der die Verfasser des Gesetzes leitende Gedanke kann
jedoch vielleicht durch folgende, die überschießende Bindung des Eigen-
tümers des zu belastenden Grundstücks sozusagen herausdestillierende,
formelhafte Wendung angenähert werden: Ein Verhalten des Eigen-

44 Vgl. Lehmann (Anm. 35), S. 161.


45 Vgl. Anm. 37, Bd. 3, S. 479.

230
Die Privatrechtliche Pflicht zur Unterlassung 19

tümers dieses dienenden Grundstücks kann jedenfalls dann nicht den


Inhalt einer Dienstbarkeit bilden, wenn der Eigentümer des herrschen-
den Grundstücks, falls er auch Eigentümer des dienenden wäre, dieses
Verhalten sich nur kraft schuldrechtlicher Vereinbarung mit einem Drit-
ten ausbedingen könnte.
Dies vorausgesetzt, kommt weder eine dem Eigentümer des dienenden
Grundstücks das Gießen des Gartens des Nachbarn noch eine ihm das Un-
terlassen des die Bäume wachsen Lassens" - vgl. das zu Beginn (I) er-
wähnte Beispiel - aufgebende Dienstbarkeit in Betracht. Der vom BGH
entschiedene Fall läßt sich freilich mit Hilfe der erwähnten "Formel" nicht
lösen. Es kommt insofern vielmehr darauf an, die Systematik des Gesetzes
zu bedenken. Die Verfasser des Gesetzes haben die Dienstbarkeit in schar-
fem Gegensatz zum Recht des Dienstberechtigten (§ 611 Abs. 1 BGB) oder
auch des Bestellers (§ 631 Abs. 1 BGB), aber auch in einem wenigstens
"grundsätzlichen" Gegensatz zum Recht des Mieters (§ 535 S.l BGH) oder
Pächters (§ 581 Abs. 1 S. 1 BGB) als ein dingliches, mithin gegenüber
jedermann wirkendes, Recht ausgestaltet. Die Interessen des Berechtig-
ten werden ohne Vermittlung durch einen bestimmten Schuldner geför-
dert. Es figuriert insofern vielmehr jedermann als Schuldner, und so
erklärt sich denn auch die Intention des Gesetzes, die Akte des Begrün-
dens sowie der Aufhebung dinglicher Rechte vermittels jedermann sicht-
barer äußerer Zeichen zum Ausdruck zu bringen (vgl. etwa §§ 873 Abs. 1;
929 S. 1,854 Abs. 1 BGB). Nun ist es aber klar, daß man solchen "öffent-
lichen Glauben" allzu sehr strapazieren und hierdurch überhaupt in Frage
stellen würde, wenn man ihn auf Rechtsbeziehungen aller Art sich er-
strecken ließe. Es kommt vielmehr darauf an, die mit "öffentlichem Glau-
ben" auszustattenden Rechtsbeziehungen zu normieren, und eine der-
artige Normierung wird nicht allein durch den allgemeinen sachenrecht-
lichen Grundsatz des Typenzwangs, sondern darüber hinaus durch die
Formulierung des Inhalts der einzelnen Sachenrechte selber bezweckt.
Was nun namentlich die Grunddienstbarkeit betrifft, so kann sie nach
§ 1019 BGB "nur in einer Belastung bestehen, die für die Benutzung
des Grundstücks des Berechtigten Vorteil bietet"; über das hieraus sich
ergebende Maß hinaus kann der Inhalt der Dienstbarkeit nicht erstreckt
werden. Für die beschränkte persönliche Dienstbarkeit gilt die Bestim-
mung des § 1019 BGB nicht (§ 1090 Abs. 2!). Das ist charakteristisch. Wird
doch die Grunddienstbarkeit im Gegensatz zur beschränkten persönlichen
zum Vorteil des jeweiligen Eigentümers des herrschenden Grundstücks
bestellt, so daß es einer Art "Objektivierung" des Interesses der mög-
lichen Berechtigten bedarf. Was freilich umgekehrt die Passivseite an-
belangt, so ist allemal "der jeweilige Eigentümer" betroffen. Weshalb es
denn auch naheliegt, die Vorschrift des § 1019 BGB sowohl auf die be-
schränkte persönliche Dienstbarkeit als auch auf die Grunddienstbarkeit

231
20 Jürgen Rödig

in der Art analog anzuwenden, daß wir fordern, es müsse die in der Form
der Dienstbarkeit zu gewährleistende Beschränkung der Handlungs-
freiheit des Eigentümers des dienenden Grundstücks "für die Benutzung
des Grundstücks" (§ 1019 BGB) in typischer Weise nachteilig sein.
Hinsichtlich der Bestimmung dieses Nachteils im einzelnen ist das aus-
zuschließende Verhalten nun aber nicht etwa für sich allein, sondern
jeweils vor dem Hintergrund der an seiner Stelle in Frage kommenden
Alternativen zu sehen. Es kommt darauf an, ob sich das auszuschließende
Verhalten von dem nicht auszuschließenden in Hinsicht auf die Benutzung
des Grundstücks in einer Weise unterscheidet, die, wie § 119 Abs. 2 BGB
es sagt, "im Verkehr als wesentlich angesehen" wird. Und in der Tat,
es macht gemessen an den Anschauungen des Verkehrs hinsichtlich der
Benutzung eines Grundstücks keinen Unterschied, ob auf dem Grund-
stück Motorenbetriebsstoffe, Öle und Fette gerade der AG oder aber -
Alternative - entsprechende Produkte eines mit der AG konkurrieren-
den Unternehmens umgesetzt werden. Der BGH (Z 29, 244 [252]) hebt
dies mit Recht hervor. Wird demgegenüber als Inhalt einer Dienstbarkeit
das Verbot der Errichtung einer Tankstelle überhaupt vereinbart, so
wird es im Verkehr sehr wohl als eine "wesentliche" Verschiedenheit in
der Benutzung des Grundstücks angesehen, das im einen Fall eine Tank-
stelle errichtet wird, im anderen - Alternative - nicht.
2. Hinsichtlich der folgenden Bemerkungen betreffs der positiven Forderungs-
verletzung argumentieren wir mit Absicht nicht anhand des Gesetzes. Ob die
gesetzliche Regelung jene Lücke enthält, deren Existenz man nahezu einhellig
behauptet, ist eine schwierig zu entscheidende Frage 48 • Himmelschein 47, der
diese Lücke umgekehrt bestreitet, geht von einer angreifbaren Beurteilung der
Gesetzgebungsgeschichte aus48 • Wie dem auch sei, man pflegt die positive For-
derungsverletzung ohnehin als eine wiederum (vgl. I) bereits "sachlogisch"
vorgegebene Figur zu betrachten. Im System der Störungsformen scheint die
positive Fordenmgsverletzung notwendigerweise enthalten zu sein. Diese Stö-
rungsform haben die Verfasser des Gesetzes angeblich zu erwähnen verges-
sen49 • Und in der Tat, wir sollten einmal untersuchen, was es mit dem Phäno-
men der Pflichtverletzung "sachlogisch" auf sich hat.
Wir greifen insoweit auf die bereits entwickelten Begriffe des Verhaltens-
spielraums (Il 1), der Pflicht (Il 2), des Erfüllungsspielraums sowie des Erfül-

48 Die Frage wird an anderer Stelle näher zu prüfen sein.


47 Erfüllungszwang und Lehre von den positiven Vertragsverletzungen, AcP
135, S. 255 ff. (insbes. 308).
48 Vgl. H. H. Jakobs, Unmöglichkeit und Nichterfüllung (1969), S. 17 - 27;
es darf in der Tat deswegen, weil die heutige Fassung und Stellung des § 276
auch sog. "redaktionelle" Gründe hatte, "nicht alles, was in § 244 Abs. 1 S. 2 [des
E I] gestrichen worden ist, wieder in § 276 hineingelesen werden" (S. 19).
49 LaTenz (Methodenlehre in der Rechtswissenschaft, 2. Auf!., 1969, S. 352, 356,
364, 466) kann diese Situation als Beispiel der Notwendigkeit (aber auch des
Gelingens) der Fortbildung des Rechts durch Rechtswissenschaft und Recht-
sprechung verbuchen.

232
Die Privatrechtliche Pflicht zur Unterlassung 21

lungszeitraums (III 3) zurück. Diese Begriffe vorausgesetzt, fällt die Formulie-


rung des Phänomens der Pflichtverletzung nicht schwer. Ein Verhalten stellt
genau dann eine Pflichtverletzung dar, wenn es zwar zu dem durch den Er-
füllungszeitraum zeitlich begrenzten Verhaltensspielraum, jedoch nicht zum
Erfüllungsspielraum gehört.
Wann der Erfüllungszeitraum endet, ist in concreto häuflg schwierig genau
zu bestimmen. Gesetzt, es erbringe der Schuldner die Leistung erst nach diesem
Zeitpunkt. Dann wird gleichwohl nicht selten immer noch von "Erfüllung" ge-
sprochen. Zweckmäßiger wäre insofern anstatt von "Erfüllung" von "Nach-
reichung" die Rede. Betrachten wir indes ausschließlich den Umstand, daß der
Schuldner in dem jedenfalls zu Anfang präzisierten Sinne "seine Pflicht ver-
letzt". Die Pflichtverletzung kann natürlich auf verschiedenen Gründen be-
ruhen. Es kann insbesondere sein, daß die Erbringung der Leistung bereits vor
Ablauf des Erfüllungszeitraums mehr oder weniger "objektiv" unmöglich wird.
Ist dies der Fall, so pflegt man von·einer "Störung" der Leistung, und zwar von
"Unmöglichkeit", zu sprechen. Was demgegenüber den Verzug betrifft, so führt
man normalerweise die für das Ausbleiben der Leistung maßgebenden Gründe
nicht an. Die Unmöglichkeit stellt insofern einen Sonderfall des Verzuges dar.
Es lassen sich natürlich auf beliebige Weise weitere Unterscheidungen treffen.
Rechtlich relevant sind etwa die Kriterien, ob der Gläubiger ersatzweise zu-
friedengestellt werden kann, ob es namentlich die Möglichkeit der Nach-
reichung gibt. Wichtig ist hier lediglich das Folgende. Was die Gliederung der
Störungsformen anbelangt, so gestattet jedes der genannten Kriterien eine
vollständige Dichotomie. Das Bedürfnis nach der sogenannten "dritten Stö-
rungsform" tritt überhaupt nicht auf.
Nicht etwa eine zusätzliche Störungsform war zu entdecken. Zu entdecken
galt es vielmehr weitere Pflichten als Elemente des "Schuldverhältnisses" im
umfassenden Sinn. Es gilt insbesondere zu klären, ob und inwieweit ein bei-
spielsweise durch Vertrag begründetes Schuldverhältnis zugleich durch ein
sonst nur als unerlaubte Handlung anzusehendes Verhalten verletzt werden
kann. Was indessen alle diese zusätzlichen Pflichten anbelangt, so vollzieht sich
deren Störung jeweils auf die sozusagen altbewährte Weise. Von einer zusätz-
lichen Störungsform kann nicht die Rede sein.
Staubso war bei der Entdeckung der positiven Forderungsverletzung (inkon-
sequent "Vertragsverletzung" genannt) durch die Vorstellung spezieller Unter-
lassungspflichten sowie durch die Annahme von Besonderheiten ihrer Ver-
letzung irregeleitet. Wäre er diesem Irrtum nicht erlegen, so wäre uns die
positive Forderungsverletzung mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrschein-
lichkeit erspart geblieben. Von dem Ansatz Staubs, dem es vor allem um die
Erfassung der Verletzung der privatrechtlichen Unterlassungspflicht durch
"positives" Tätigwerden ging, ist man inzwischen freilich abgekommensI. Wir
haben es wiederum mit einer für den Wert der Unterscheidung zwischen Tätig-
keits- und Unterlassungspflichten charakteristischen Entwicklung zu tun.
Die positive Forderungsverletzung ist gleichwohl als eine Art natürlichen
Rechtsinstituts mit wechselndem Inhalt - Jakobs5! würdigt sie als "Ungetüm
einer systematischen Kategorie" - beibehalten worden. Heute wird sie vor
allem von der Vorstellung getragen, es sei zwischen der Erfüllung einer Pflicht

50 Anm. 5, S. 5 ff.
1I Trefflicher Überblick bei Esser (Anm. 6), § 52 V.
52 Vgl. Anm. 48, S. 30.

233
22 Jürgen Rödig

sowie deren "sorgfältiger" Erfüllung sinnvoll zu scheiden53 . Natürlich kann man


diese Unterscheidung treffen. Dennoch ist das, was man insofern "Sorgfalt"
nennt, nichts anderes als eine Menge weiterer - zumeist nicht näher explizier-
ter - Pflichten. Wie die Verletzung dieser Pflichten sanktioniert werden müsse,
dies ist eine andere, und zwar nicht den Tatbestand der Leistungsstörung be-
treffende, Frage. Auf die weitere Frage nach der Notwendigkeit einer diese
Pflichten erfassenden "eigenen Kategorie"53 kommt es nicht an.
V. Fassen wir zusammen. Die sich bei der rechtlichen Beurteilung der
Unterlassungspflicht in auffälliger Intensität ergebenden Schwierigkei-
ten legen es nahe, die Berechtigung der Unterlassungspflicht im allgemei-
nen in Frage zu stellen (I). Die Analyse der Begriffe der "Unterlassung"
(I! 1) und der "Pflicht" (I! 2) sowie des Verhältnisses beider Begriffe (lI! 1)
läßt die Anerkennung spezieller "Unterlassungspflichten" (lI! 2) als
überflüssig erscheinen. Dieses Ergebnis wird durch die Untersuchung der
angeblichen Besonderheiten der Verletzung von Unterlassungspflichten
bestätigt; besagte "Besonderheiten" stellen sich tatsächlich nicht minder
bei der Pflicht zu fortgesetztem Tun sowie im Zusammenhang mit dem
absoluten Fixgeschäft ein (lI! 3). Wohin es führt, sich durch das natür-
liche Verständnis einer Pflicht als einer "Pflicht zur Unterlassung" leiten
zu lassen und an diese Einordnung rechtliche Folgen zu knüpfen, lehrt
beispielsweise das Studium der herkömmlichen Auslegung des § 1018
BGB (IV 1). Charakteristisch sind insofern auch "Entdeckung" und Ge-
schichte des Instituts der positiven Forderungsverletzung (IV 2).

53 Einen hervorragend klaren Überblick über die bei der Konstruktion des
Instituts der positiven Forderungsverletzung zu beschreitenden möglichen
Wege vermittelt Medicus, Bürgerliches Recht, 3. Auf!., 1970, § 14 IV 1.

234
Bildung einer prädikatenlogischen Nonnalfonn für § 8 Abs. 3
StVO a.F. sowie für einschlägige Paraphrasen
Rave, D., Brinckmann, H., Grimmer, K. (Hrsg.): Syntax und Semantik juristischer Texte.
Referate und Protokolle der Arbeitstagung im Deutschen Rechenzentrum. Darmstadt 1972,
S.67-73

a) Paraphrasenbildung auf umgangssprachlicher und


fachsprachlicher Basis

Es kommt nach der mir zugewiesenen Aufgabe darauf an,


"Paraphrasen des ausgewählten Textes aus dem Korpus zu ge-
winnen und diese Paraphrasen auf eine prädikatenlogische
Normalform zurückzuführen".
Die Aufgabe ist vermutlich so gemeint, daß der Text selbst
als eine seiner Paraphrasen gilt. Die AufgabensteIlung läßt
im übrigen nicht erkennen, ob die Paraphrasen im Korpus in
toto vorkommen müssen oder aber ob bereits die Bildbarkeit
von Paraphrasen mithilfe partieller Entsprechungen genügt.
Ich entscheide mich für die zweite Alternative, und zwar im
Hinblick darauf, caß die Verfasser juristischer Kommentare
die kommentierten Texte weniger jeweils insgesamt als viel-
mehr Element für Element zu kommentieren pflegen. Dies vor-
ausgesetzt, werden auf der Grundlage des zusammengestellten
Materials folgende zwei Paraphrasen gebildet:
(1) "Beim Abbiegen in eine andere Straße ist nach rechts
eine el}ge, nach links eine weite Kurve zu machen"
{p-odlech: Grimmer, HasselkußTKaminsk1) --
(2 ) "},!:lJl
!!l~l! .!~ ~!P~ ~l!.d~r~ ~~aß~ ~~~i~~!!, so wird
erwartet (siehe Grimmer S. 2), Qa~ maB nach rechts
einen engen, nach links einen weiten Bogen ~~f.üQr~".
Die Ersetzung von Satzelementen ist mittels durchgezogener
Striche, weitere durch die Ersetzung bedingte Modifikatio-
nen sind mithilfe unterbrochenener Striche markiert.

b) Auf der Suche nach einer prädikatenlogischen Normalform

235
68 Jürgen Rödig

I. Das gewUnschte Resultat

Der Vergleich von § 8 Abs 3 S. 1 StVOa.F. einerseits mH


(1) und (2) andererseits legt die Vermutung nahe, es sein-
le sich um gleichsam rhetorische Varianten über einer lo-
gisch identischen Struktur: Durch den Ubergang von § 8 Abs. 3
S. 1 zu (1) scheint nicht einmal die grammatische Struktur
des prädikatenlogisch zu erfassenden Satzes betroffen zu
sein. Demgegenüber greift (2) zwar in die Satzgrammatik
ein, jedoch gerade dieser Eingriff ist dem Anschein nach
logisch irrelevant: Sowohl mit "beim" wie auch "während"
(Podlech) sind offenbar Bedingungsverhältnisse (formale
Implikationen ? siehe unten) gemeint. Die Paraphrase (2)
kommt der (zusammengesetzten) logischen Struktur des Gemein-
ten insoweit am nächsten. - Demgegenüber scheint (2) im
Verhältnis zum Ausgangssatz und zu (1) insofern unnötig
kompliziert zu sein, als die - logisch unzusammengesetzte
- Attribution der Gesolltheit im Gewand des "wird erwartet,
daß" erscheint.
Eine auf logische Einfachheit abzielende Kombination bei-
der Paraphrasen lautet demnach wie folgt:
(3) "Will man in eine andere Straße einbiegen, so hat
man nach rechts einen engen, nach links einen weiten
Bogen auszuführen.
Vom "man" ist getrost zu Männern und Frauen, und zwar zur
Gesamtheit der durch den Rechtssatz angesprochenen Perso-
nen überzugehen. Die Menge der Namen dieser Individuen figu-
riert als Wertbereich einer entsprechenden Subjektsvariab-
len "x":
(4) "Für alle x gilt: will x in eine andere Straße einbie~en,
so hat x nach rechts einen engen, nach links einen wej-
ten Bogen auszuführen".
Eine weitere Entwirrung ergibt sich mithilfe der Unterschel-
dung des Einbiegens nach rechts vom Einbiegen nach links.
Die in dem Rechtssatz enthaltene Aussage ist demgemäß in
zwei Teilaussagen zu gliedern, welche ihI'p.rseits nur noct.
konjunktiv verknüpft werden müssen.

236
Bildung einer prädikatenlogischen Normalform für § 8 Abs. 3 StVo a.F. 69

(5) "Für alle x gilt: Will x nach rechts in eine andere


straße einbiegen, so hat x nach rechts einen engen
Bogen auszuführen, und will x nach links in eine
andere Straße einbiegen, so hat x nach links einen
weiten Bogen auszuführen".
Der Satz scheint nunmehr symbolisierungsreif zu sein.
Wir definieren:
IN ("Er"' (.)") will nach rechts in eine andere
Straße einbiegen,
IN ("EI" ( . )" ) will nach links in eine andere
Straße einbiegen,
.
IN ("Br 1 ( )" ) hat nach rechts einen engen
Bogen auszuführen
.
IN ("BI 1 ( )" ) hat nach links einen weiten
Bogen auszuführen
(5) geht mithin über in
(6) " A x «Er" (x) -+ Br" (x»"

" (EI" (x) -+ Bl" (x»)",


und (6) scheint geradezu die prädikatenlogische Normalform
aller nur denkbaren Variationen des Ausgangssatzes zu sein.
Seien wir Jedoch vorsichtig.

II. Andere Resultate

Wir haben bei unseren bisherigen Erörterungen eine scheinbar


unumstößliche, und zwar eine offenbar bereits bei der Frage-
stelle subintellegierte Annahme gemacht, es gebe hinsicht-
lich gewisser Paraphrasenbündel Jeweils gerade eine logisch
ausgezeichnete StrUktur. Diese Annahme ist unzutreffend, und
zwar unzutreffend nicht nur im Hinblick auf die Relativität
der logischen Struktur von normativen Sätzen (nachfolgend b),
sondern bereits im Hinblick auf die Relativität der logi-
schen Struktur des - wie immer zu beschreibenden - Gebots-
gebildes selbst Ca).

237
70 Jürgen Rödig

a) Zur logischen Struktur von "Gebotsgebilden" (Heck)

Eine naheliegende Konzeption des Gebotsgebildes, das durch


§ 8 Abs. 3 S.l StVOa.F. beschrieben werden soll, ließe
sich auf der Basis der Menge sämtlicher Verhaltensweisen
vI' v 2 ' •.. , vn konstruieren, deren Eigenschaft es ist,
im "Einbiegen in eine andere Straße" zu bestehen.
Die Menge lautet also
(7) {vI' v2 ' ... , vn }
Aus dieser Menge wird nun eine Teilmenge P hervorgehoben,
welche in dem Sinn "positiv" bewertete Verhaltensweisen
enthält, daß der Einbiegende, falls er nach rechts ein-
biegt, einen engen Bogen ausfUhrt, und daß der Einbie-
gende, falls er nach links einbiegt, einen weiten Bogen
beschreitet. Positiv bewertet seien VI' v2 ' ... , vk mit
1 .. k -= n.

Man kann aber auch anders vorgehen (siehe oben vor (5»,
und zwar so, daß man von vornherein die Menge der Möglich-
keiten des Einbiegens nach rechts von der Menge der Möglich-
keiten des Einbiegens nach links unterscheidet und nunmehr
mit Bezug auf diese beiden Mengen jeweils positiv bewerte-
te Verhaltensweisen von negativ bewerteten Verhaltensweisen
trennt. Doch damit nicht genug.

Eine völlig neue Konstruktion des Gebotsgebildes setzt an


bei dem Modell der UberfUhrung einer Situation (si) in eine
andere (Sj). Wir hätten
erstens zu bilden die Menge der infragekommenden Eingangs-
situationen. Eine schwierige Sache. Soll etwa bereits das
Wollen des Einbiegens in dem Sinn genügen, daß ein 1m
übrigen rein äußerlich noch gar nicht auf die Absicht des
Einbiegens schließen lassendes Fahren genügt (siehe oben
(3), (4), (5), (6»? Oder soll die Eingangssituation be-
reits die erste "Hälfte' (??) des Einbiegens umfassen der-
gestalt, daß wir entscheiden müßten, inwieweit bereits
die Eingangssituation in sich positiv oder aber negativ

238
Bildung einer prädikatenlogischen Normalform für § 8 Abs. 3 StVo a.F. 71

bewertet zu werden verdient. Wichtig in diesem Zusammen-


hang ist die Frage, wo eine sozusagen "normative Gegen-
wart" angesetzt werden soll. Setzen wir diese Gegenwart
zwischen Eingangssituation (si) und Ausgangssituation (Sj)
- was insoweit naheliegt, als si als der "zu regelnde"
Sachverhalt figuriert -, so wäre es vertretbar, von einer
Bewertung des bereits vorgenommenen Verhaltens als solchem
abzusehen und dieses Verhalten
zweitens lediglich zur Grundlage fUr die Bewertung der
Reaktion darauf (Ausgangssituation) zu nehmen. Es kommt
gleichsam darauf an, aus einem möglicherweise noch so
miserablen Beginn des Einbiegens in eine andere Straße
jeweils noch "das Beste" zu machen.
Präzisieren wir das soeben problematisierte Modell. Als Ein-
gangssituation nehmen wir jeweils eine und nur eine Situation
si; als Ausgangssituationen kommen freilich (wir haben es
diesmal mit einer durch ein zukUnftiges Verhalten geprägten
Sachlage zu tun!) mehrere Situationen Sj , Sj s
1 2 ' · · · ' jm
infrage. Die Ausgangssituationen erscheinen als Elemente einer
ungeordneten Menge. Die Zusammenfassung der Eingangssituation
mit der Menge der Ausgangssituationen ist geordnet. Nun sind
natUrllcn, da das Gebotsgebl1ue auf Allgemeinheit Anspruch
erhebt, sämtliche der Uberhaupt infragekommenden Elngangs-
situationen in die Betrachtung einzubeziehen, genauer: sämt-
liche Eingangssituatlonen als Vorgängerlnnen der ihnen zu-
geordneten Ausgangssituationen - wiederum eine ungeordnete
Menge - :
(8) {S , Sj }>
h.l l.k
{S j , ... , Sj }>,
2.1 2.1

239
72 Jürgen Rödig

Anmerkung: Eine Abweichung des von WRIGHT entwickelten


Transformationsmodells liegt bereits in der Ersetzung von
I

r-~P--------4~~--------q~~~~
durch

v
; n
I /
I /0" __ vn _l
(10)
~;/
I----'=S'---_ _---J~ ~ ~
-e--
-"0--° ___ ....
+
~I
I "
''& -..-..v2
Eingangs- "
Situation 'vI
Gegenwart

b) Relativität der Normsatzstruktur


Jede der - nachweisbar unendlich vielen - Möglichkeiten der
Konzeption des Gebotsgebildes (oben a) läßt sich wiederum
auf logisch ganz verschiedene Weise formulieren. Knüpfen wir
an an Phrase (5); (b) stellt nicht die einzige prädikaten-
logische Abbildung dar. Nichts steht beispielsweise entge-
gen, auch solche Variablen einzubeziehen, denen - mehrsorti-
ger KalkUl - die Namen von den jeweils benutzten Fahrzeugen
oder auch der jeweils befahrenen Straße entsprechen:

(11)
" 1\ x 1\ f 1\ s (( Er 3 ( x, f , s) -+ Br3 (x, f, s » "
(EI 3 (x,f,s) -+ BI' (x,f,s»)"

was hindert uns andererseits, weniger als 1 Variable, also


nullsteIlige Prädikate zu gebrauchen mit dem Ergebnis, daß
die Möglichkeit der Quantifizierung von Subjektsvariablen
und damit die Möglichkeit junktorenlogischer Differenzierung
innerhalb des Wirkungsbereichs des Quantors (" < -+," , -+ > ")
entfällt:

240
Bildung einer prädikatenlogischen Normalform für § 8 Abs. 3 StVo a.F. 73

(12) "Ero"
Ein großer - und leider von ontologistischer Seite her
immer wieder anzutreffender - Irrtum liegt darin, es bringe
eine Formel wie (12) das Gebotsgebilde nicht genUgend zum
Ausdruck. Man vergißt, daß auch das objektsprachliche Ele-
ment "Ero" metasprachlich definiert werden muß und nach
Voraussetzung nicht anders als etwa (6) oder (11) definiert
werden wird!

c) Ergebnis in thesenhafter KUrze und absichtlicher


(hoffentlich die Diskussion fördernder) Uberspitzung:
Es gibt nicht die prädikatenlogische Normalform in dem
bei der Fragestellung offenbar vorausgesetzten Sinn. Die
Art der prädikatenlogischen Zerlegung ist ausschließlich
durch die mit einer Axiomatisierung des einschlägigen Ge-
biets verfolgten Zwecke bedingt. Anzusetzen ist insoweit
bei dem Gebiet in seiner Gesamtheit. Eine Symbolisierung
von § B Abs. 3 S. 1 StVOa.F. allein wäre ein typisches Bei-
spiel fUr die Fehlerhaftigkeit paragraphenweiser Axiomati-
sierung, was sich schon aus der - zu logischen WidersprUchen
führenden - NichtberUcksichtigung von Ausnahmesituationen
ergibt. Der axiomatische Ansatz scheint nach alledem eine
echte Alternative zum linguistischen zu bilden. Womit nicht
ausgeschlossen sein soll, daß sich jede Methode in ihrem
Rahmen je nach Bedarf weiterer Methoden bedient.

241
Buchbesprechung
Engisch, K., Hart, H. L. A., Kelsen, H., Klug, u., Popper, Sir K. R. (Hrsg.): Rechtstheorie
(Zeitschrift ruf Logik, Methodenlehre, Kybernetik und Soziologie des Rechts), Band 3, Heft 2
(1972), S. 246-353

Podlech, Adalbert: Gehalt und Funktion des allgemeinen verfassungsrecht-


lichen Gleichheitssatzes. Berlin 1971, Duncker & Humblot. DM. 59,60.
1. P. befaßt sich in der hier zu besprechenden Heidelberger Habilitations-
schrift mit dem allgemeinen verfassungsrechtlichen Gleichheitssatz in Gestalt
des Art. 3 Abs. 1 GG. Die Aufgabe mußte den versierten Methodologen um so
mehr reizen, als es ein geradezu elementares logisches Kriterium, nämlich das
der Gleichheit, ist, welchem der Gleichheitssatz seinen Namen und seine For-
mulierung verdankt. Bei einer sprachanalytischen, insbesondere formallogi-
schen, Analyse der Struktur verfassungsrechtlicher "Gleichheit" setzt P. denn
auch an. Die Vorgehensweise ist geschickt: Obgleich sich der Verfasser der
Methoden der modernen formalen Logik bedient, wird der Leser erst in einem
Anqang mit logischen Symbolen konfrontiert; die - für das Verständnis der
hauptsächlichen Thesen der Arbeit nicht notwendig erforderliche - Lektüre
des Anhangs gibt dem Leser die Möglichkeit, den von P. gleichsam zur eigenen
Kontrolle entwickelten Formalismus nachzukontrollieren.
1. Die Analyse der Struktur verfassungsrechtlicher Gleichheit ist Kern des
ersten Abschnitts (S. 23 ff.). Nicht den Inhalt, sondern den Gehalt des Gleich-
heitssatzes sucht P. zu bestimmen, und zwar den "Gehalt" in einem von P.
ausführlich (S. 23 bis 27) präzisierten Sinn des Wortes: P. geht aus von einer
wissenschaftstheoretisch motivierten Bestimmung des Begriffs der durch eine
Aussage vermittelten Information dahin, daß der Informationsgehalt der Aus-
sage in dem Maße wächst, als es jeweils weitere Tatsachen gibt, welche durch
die Aussage ausgeschlossen werden (siehe S. 23 sub 1.1). So geht beispielsweise
der Gehalt der Aussage, daß die Temperatur an einem bestimmten Ort und zu
einem bestimmten Zeitpunkt 10° C beträgt, über den Gehalt der Aussage hin-
aus, die Temperatur betrage unter denselben Umständen "zwischen _10° und
+ 30° C". Der soeben skizzierte Begriff des Gehalts wird sodann, nachdem der

243
Jürgen Rödig 24i

Terminus "Rechtsnorm" als "geordnetes Paar", bestehend aus einem Verhalten


und einem "deontischen Operator" (S. 25) erklärt worden ist, zur Erklärung des
semanti~chen (normativen) Gehalts einer Rechtsnorm verwendet: "Klasse mög-
licher Verhalten, die mit der Rechtsnorm unvereinbar sind" (S. 27 sub 14).

Was insbesondere die Bestimmung des semantischen normativen Gehalts des


Gleichheitssatzes betrifft, so sagt P. zunächst, was er unter "verfassungsrecht-
licher Gleichheit" versteht; es handle sich um "ein Prädikat, das einer gegebe-
nen Person genau dann zukommt, wenn es keine anderen Personen gibt, denen
gegenüber die gegebene Person durch ein beliebiges Rechtsverhältnis zur
öffentlichen hoheitlich behandelnden Gewalt ohne zureichenden Grund un-
gleich behandelt wird" (S. 48 sub 6.3). Wann ein Grund "zureichend" sei, läßt P.
vorerst ungeklärt. Er bereitet eine Klärung vielmehr erst durch die Definition
einiger anderer Begriffe vor, und zwar namentlich durch die Definition des
Begriffs der "gekennzeichneten Klasse". Unter der "gekennzeichneten Klasse"
wird jeweils der Inbegriff derjenigen Personen verstanden, durch deren Mitte
sozusagen die Grenze rechtlicher Ungleichbehandlung verläuft, m. a. W. die
Vereinigung der Menge der gleichbehandelten mit der Menge der jeweils anders
behandelten Personen (vgI. insoweit S. 75 sub 9.12). P. entwickelt ferner die
These, daß der Bestimmung des Art. 3 Abs. 1 GG ein Gleichheitsgebot zu ent-
nehmen ist; ein Ungleichheitsgebot brauche der Bestimmung nicht entnommen
zu werden (S. 59 sub 8.2). Auf der Grundlage der genannten Definition sowie
des Satzes 8.2 wird der allgemeine verfassungsrechtliche Gleichheitssatz nun-
mehr in folgende vorläufige Fassung gebracht: "Wenn kein zureichender Grund
für eine Ungleichbehandlung vorliegt, soll die öffentliche hoheitlich handelnde
Gewalt alle Personen einer gekennzeichneten Klasse gleich behandeln" (S. 77
sub 10.l.l). Dabei sei Gleichbehandlung bei Behandlung sämtlicher Mit.ltlieder
der gekennzeichneten Klasse in bestimmter Weise gegeben; Ungleichbehand-
lung liege demgegenüber vor, wenn zwar wenigstens ein Mitglied, jedoch nicht
alle Mitglieder der gekennzeichneten Klasse diese Behandlung erfahren (S. 78,
sub 10.1.2 und JO.1.3). Diese Formulierung nimmt P., was die Bestimmung des
semantischen Gehalts des Gleichheitssatzes anbelangt, aufs Korn: P. hat auf-
grund der von ihm aufgenommenen Voraussetzungen zu prüfen, welche recht-
lichen Regelungen, insbesondere welche Behördenverhalten, es gibt, die mit
dem Gleichheitssatz unvereinbar (vgI. hierzu die oben unter 1.1 wiedergegebene
Erklärung) sind. P. kann derartige Regelungen nicht finden: Weder durch den
Bezug auf die Willkür noch durch den Bezug auf das Einleuchten oder die Güte
des Grundes noch gar durch eine Orientierung am Gerechtigkeitsgedanken
(siehe etwa BVerfG 1, 264 (276); 2, 118 (119); 3, 58 (135 f.); 4, 219 (243 f.)) komme
ein nachvollziehbares Kriterium zustande, welches es gestatten würde, gewisse
Regelungen als mit den Gleichheitssatz unverträglich zu diskreditieren. Un-
abwei~bar ist insoweit der von P. gezogene Schluß. Der allgemeine verfassungs-
rechtliche Gleichheitssatz entbehre, sofern man weitere Sätze (namentlich wei-
tere Verfassungsnormen) unberücksichtigt läßt, überhaupt eines semantischen
Gehalts (S. 84 sub 10.2). Der Bestimmung des Art. 3 Abs. 1 GG sei, mit anderen
Worten, kein materialer Maßstab für das verfassungsrechtliche Gleichheits-
gebot zu entnehmen (S. 85 sub 10.3).

Erst in pragmatischer Hinsicht konstatiert P. jenen Gehalt des Gleichheits-


satzes, den er im Wege semantischer Betrachtung vermißt. Zwar seien gehalt-
lose (= uninformative) Sätze normalerweise aus dem Kontext, in welchem sie
sich befinden, bei Wahrung des vollen Gehalts des Kontextes zu streichen; auf
Rechtsregeln, die verfassungsrechtlichen Bestimmungen entnommen sind,

244
248 Buchbesprechungen

brauche indessen "diese logische Gesetzmäßigkeit nicht ohne weiteres anwend-


bar zu sein" (5.85 unten). Es gebe vielmehr Rechtsregeln, welche zwar nicht zum
Ausdruck brächten, was mit ihnen vereinbar ist oder nicht, welche jedoch be-
stimmte Anweisungen enthielten dergestalt, daß nach Befolgung dieser An-
weisungen festgestellt werden könne, welche Fälle mit der Rechtsregel ver-
einbar seien und welche nicht. P. spricht insoweit vom "pragmatischen Gehalt"
einer Rechtsregel (siehe S. 86 sub 11.2), und genau dieser Gehalt ist es, den der
Gleichheitssatz nach Ansicht des Verfassers - wie erwähnt - besitzt: Der
Bestimmung des Art. 3 Abs. 1 GG sei eine Argumentationslastregel zu ent-
nehmen in dem Sinn, daß "immer dann, wenn nicht mit einer für Argumenta-
tionen im Grundrechtsbereich ausreichenden Plausibilität feststeht, daß die
rechtliche Differenzierung verfassungsrechtlich zulässig ist, diese Differen-
zierung unzulässig ist" (siehe S. 87 sub 11.3). Der Praxis gibt P. folgende Fas-
sung der Regel zur Hand: werden Personen einer gekennzeichneten Klasse
rechtlich ungleich behandelt, so ist diese Differenzierung nicht bereits zu-
lässig, wenn die Unzulässigkeit der Differenzierung nicht feststeht, sondern
nur, wenn die Zulässigkeit der Differenzierung festgestellt werden kann
(S. 89 sub 11.6).

2. Mit diesen überlegungen sind zugleich die Weichen für den weiteren Ver-
lauf der Untersuchung gestellt. Nach dem für eine Ungleichbehandlung jeweils
zureichenden Grund braucht nun nach Ansicht P.s nicht mehr mit Hilfe des
Rückgriffs auf substantielle Gleichheit oder aber Ungleichheit der Menschen
geforscht zu werden. In diesem Sinne nach dem Gehalt des Gleichheitssatzes zu
fragen, führe nicht weiter. Es komme weniger auf die durch Interpretation des
Gleichheitssatzes zu ermittelnden Gedanken an als vielmehr darauf, den "vom
Wortlaut der Bestimmung weitgehend lösbaren Versuch" zu unternehmen,
"Kriterien dafür aufzustellen, was ein zureichender Grund ist" (S. 85 vor § 11).
Diesen Versuch unternimmt P. in den folgenden Abschnitten der Arbeit. Im
2. Abschnitt der Arbeit (S. 103 ff.) geht er vorzugsweise kasuistisch vor; beacht-
lich namentlich P.s Ausführungen über die (regelmäßig zu verneinende) Fähig-
keit von Zwecken oder Zielen, Ungleichbehandlungen zu rechtfertigen (§ 16)
sowie seine - mit diesen Ausführungen gedanklich zusammenhängende -
These, daß die Problematik der Enteignung nicht auf die der Gleichheit zurück-
geführt werden kann (§ 22).
Mit der Handhabung des Gleichheitssatzes als einer Argumentationslastregel
geht naheliegenderweise die Forderung eines Minimums an überzeugungs-
kraft der jeweils für das Vorliegen eines "Zureichenden Grundes" ins Treffen
zu führender Argumente einher. Derartige Plausibilitäts- oder auch Evidenz-
grenzen sind nun aber offenbar durch das soziale Forum des Argumentierens
bedingt, und es ist nur folgerichtig, daß P. im dritten Abschnitt seiner Unter-
suchung (S. 162 ff.) den Versuch einer "Rückbindung" (plastisch S. 164) der
Argumentation in ihren geschichtlichen Entwicklungsprozeß unternimmt. Me-
thode solcher Rückbindung ist die Herausarbeitung der dem verfassungsrecht-
lichen Gleichheitssatz in verschiedenen geschichtlichen Phasen auferlegten
- insbesondere politischen - Funktionen. P. diskutiert in diesem Rahmen
einige elementare Aspekte des Gedankens rechtlicher Gleichheit seit der fran-
zösischen Revolution. Wie bereits N. Luhmann (vgl. Öffentlich-rechtliche Ent-
schädigung rechtspolitisch betrachtet, Berlin 1965, S. 59; Grundrechte als Insti-
tution, Ein Beitrag zur politischen Soziologie, Berlin 1965, S. 169), so gelangt
auch P. zum Ergebnis. daß ein allgemeiner Zwang zur Begründung hoheitlicher
Ungleichbehandlung ("formalisierte Funktion") formuliert werden muß (§ 31);
demgegenüber seien die ursprünglichen Funktionen des Gleichheitssatzes -

245
Jürgen Rödig 249

Herstellung der Demokratie (§ 27) und der bürgerlichen Verkehrsgesellschaft


(§ 29) - schwerlich geeignet, im Rahmen eines von einer voll industrialisierten
und pluralistischen Gesellschaft getragenen Staates die Entwicklung von Kri-
terien für rechtmäßige Gleich- oder Ungleichbehandlung zu fördern. Der vierte
Abschnitt der Arbeit (S. 200 ff.) betrifft die Frage, inwieweit es über die ge-
nannte formalisierte Funktion des Gleichheitssatzes hinaus der Formulierung
zusätzlicher sozialstaatlicher Funktionen bedarf.
Es wäre ein Unding, den gesamten Gehalt von P.s - nicht zuletzt durch das
fortwährende Aufzeigen geistesgeschichtlicher Bezüge sowie durch scharf-
sinnige Rechtsprechungsanalysen bestechender - Untersuchung im Rahmen
dieser Besprechung so wiederzugeben oder gar diskutieren zu wollen, wie sie
es verdient. Nicht einmal auf P.s rechtstheoretischen Ansatz, der hier mit
Absicht etwas ausführlicher beschrieben worden ist (oben I 1), kann an dieser
Stelle so eingegangen werden, wie es sich der Wichtigkeit der Sache nach gehört.
Der Rezensent hofft auf um so größeres Verständnis, wenn er sich bei den
folgenden Bemerkungen auf einige Gesichtspunkte betreffend den rechts-
theoretischen Ansatz P.s beschränkt.
11. 1. Man pflegt bei der Analyse von Rechtssätzen nicht erst danach fragen zu
müssen, ob und inwieweit sich diese Sätze im Rahmen der Beurteilung von
Sachverhalten anhand des objektiven Rechts anwenden lassen. Was jedoch den
allgemeinen verfassungsrechtlichen Gleichheitssatz anbelangt, so täuscht die
Ehrwürdigkeit dieses Satzes - siehe bereits Art. 3 der Declaration des droits
de l'homme et du citoyen von 1793 - über die Problematik seiner Anwendbar-
keit nicht hinweg. Der Frage nach der Struktur verfassungsrechtlicher Gleich-
heit geht die Frage voraus, inwieweit es im Rahmen des aktuellen Rechts-
anwendungsprozesses auf solche Gleichheit ankommen kann; jedoch die zuletzt
genannte Frage ist von P., wie mir scheint, vernachlässigt worden:
Als Aussage darüber, was alle Menschen "sind" in dem Sinn, daß ausgesagt
wurde, welche Eigenschaften alle Menschen besitzen, ist Art. 3 Abs. 1 GG offen-
bar nicht zu verstehen. Tatsächliche Identität aller Menschen ist weder zu be-
haupten noch sinnvoll zu flngieren: mit dem Ausdruck tatsächlicher Ahnlichkeit
wäre nichts gewonnen. "Gleichheit vor dem Gesetz" ist vielmehr im rechtlichen
Sinne, und zwar - wie bereits aus den folgenden Absätzen von Art. 3 GG
erhellt - im Sinne der rechtlich gleichen Behandlung der durch eine rechtliche
Beurteilung betroffenen Personen gemeint. Jedoch auch in diesem Sinne scheint
die Bestimmung des Art. 3 Abs. 1 GG entweder tautologisch oder aber inhalt-
lich trivial zu sein. Tautologisch insofern, als jene rechtlichen Gesetze, vor
denen alle Menschen gleich sein sollen, naturgemäß von der Besonderheit der
durch sie betroffenen Sachverhalte abstrahieren und es demnach nur folge-
richtig ist, insbesondere im Hinolick auf die durch diese Gesetze betroffenen
Menschen keine anderen als tatbestandlich bedingte Unterschiede zu machen.
Der Gleichheitssatz drückt, so gesehen, keine andere als die Forderung aus, eine
in allgemeiner Form statuierte Regelung auch in der Form anzuwenden, in der
sie statuiert worden ist. Es dürfte übrigens nicht unvertretbar sein, rechtliche
Gleichheit in diesem und nur diesem - von P. kaum berücksichtigten - Sinne
zu fordern; mit der theoretischen Selbstverständlichkeit geht, wie namentlich
die neuere Deutsche Verfassungsgeschichte beweist, nicht notwendigerweise
eine Selbstverständlichbeit bei der praktischen Handhabung rechtlicher Normen
einher. - Nehmen wir jedoch an, die Vorschrift des Art. 3 Abs. 1 GG gehe über
das Verbot der ausnahmsweisen Nichtanwendung geltender Normen oder auch
über das Verbot der ausnahmsweisen Anwendung ungültiger (namentlich gar
nicht vorhandener) allgemeiner Normen hinaus. Dann hätten wir es in der Tat

246
250 Buchbesprechungen

mit einem Kriterium für die Gewinnung objektiven Rechts zu tun, und zwar
mit einem Kriterium für die Gewinnung neuer rechtlicher Regeln oder auch
für die Korrektur bereits existierender Normen; das in Art. 3 Abs. 1 GG ge-
nannte "Gesetz" steht insoweit pars pro toto als Repräsentant rechtlicher Rege-
lungen jedweder Art. Objektives Recht kommt aber anders als durch die Statu-
ierung rechtlicher Folgen nicht zustande. Die Statuierung von Rechtsfolgen ist
die "Behandlung" im Sinne des Gleichbehandlungsgebots, und unter dem Gebot
der "Gleichheit" dieser Behandlung wird man naheliegenderweise weniger die
Notwendigkeit der Statuierung von allemal denselben Rechtsfolgen als viel-
mehr das Gebot der Anpassung unterschiedlicher Rechtsfolgen an entspre-
chende Unterschiede im Bereich des Tatbestandes der betreffenden rechtlichen
Regeln zu verstehen haben. Wie die Erfüllung sowie die Nichterfüllung eines
Tatbestandes, so ist auch der Eintritt sowie der Nichteintritt einer Rechtsfolge
durch jeweils eine bestimmte Sachverhaltsmenge beschreibbar. Wir haben es
mit insgesamt vier solcher Mengen zu tun, und jeweils erst ein Bezug auf die
Gesamtheit dieser Mengen ist sinnvoll, von der "Gleichheit" einer (insbesondere
verfassungs-) rechtlichen Behandlung zu sprechen. Mit der logischen Kategorie
der "Gleichheit" als der vollkommenen (Identität) oder partiellen übereinstim-
mung (Ähnlichkeit) zweier Objekte hat die Gleichheit rechtlicher Behandlung
demnach wenig zu tun. Entscheidend ist vielmehr - was aus P.S inhaltlicher
(spezifisch juristischer) Argumentation denn auch durchweg erhellt - die
ausschließlich rechtlich zu bestimmende Adäquanz der Verknüpfung von Tat-
bestand und Rechtsfolge: Die unter den Tatbestand fallenden Sachverhalte
sollen sich, wie gesagt, zu den nicht unter den Tatbestand fallenden Sach-
verhalte wie die mit der Rechtsfolge beschriebenen Sachverhalte zu den nicht
durch die Rechtsfolge beschriebenen Sachverhalten verhalten.
Sieht man die Dinge so, dann stellt das allgemeine Gleichbehandlungsgebot
nichts anderes als das Gebot gerechter Beurteilung von Sachverhalten dar. Die
"Gerechtigkeit" solcher Beurteilung stimmt übrigens nicht etwa mit der "Ge-
rechtigkeit" in jenem klassischen Sinn überein, in welchem sie namentlich
Radbruch als eines der drei Elemente der Idee des Rechts charakterisiert (zu-
letzt Vorschule der Rechtsphilosophie, 2. Auf!. 1959, S. 27). Denn mit dieser Art
von "Gerechtigkeit" ist lediglich die zu Anfang skizzierte Interpretation des
Gleichheitssatzes, nämlich die Allgemeinheit der Anwendung des allgemein
statuierten Rechtssatzes, gemeint. Wir haben es, was den materialen Gehalt des
Gleichheitssatzes betrifft, in Wirklichkeit mit einer - freilich mißverständ-
lichen - Umschreibung jenes Rechtsprinzips zu tun, das Radbruch (a.a.O.,
S. 27 ff.) "Zweckmäßigkeit" nennt. Erst unter dem Gesichtspunkt der Zweck-
mäßigkeit ist über die sachliche Adäquanz der Verknüpfung von Tatbestand
und Rechtsfolge zu befinden. P.s These, Art. 3 Abs. 1 GG besage in Wirklichkeit
nichts, ist nach alledem zu bestätigen, wenn auch zu bestätigen aus anderen
Gründen und - was sogleich auszuführen ist - in einem anderen Sinn.
2. Bereits der Begriff des semantischen "Gehalt" eines normativen Satzes, auf
dessen Grundlage P. seinen "Satz über den fehlenden semantischen Gehalt des
allgemeinen verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes" (S. 84 sub 10.2) formu-
liert, scheint mir nicht glücklich gebildet zu sein. Der Begriff der "Norm",
den P. insoweit voraussetzt, ist weder als solcher adäquat noch für eine Erörte-
rung des Gleichheitssatzes brauchbar. Problematisch ist es zunächst, als un-
definierten normativen Grundbegriff den des Gebots zu wählen; denn bereits
die Gebotenheit eines Verhaltens kommt erst durch die rechtliche Diskreditie-
rung wenigstens eines weiteren Verhaltens (normalerweise als "Unterlassung"
des gebotenen Verhaltens bezeichnet) zustande. Problematisch ist es folge-

247
Jürgen Rödig 251

richtig, den Begriff der Norm durch "jedes geordnete Paar, bestehend aus einem
Verhalten und einem deontischen Operator" - beispielsweise einem Gebot -
zu erklären (S. 25). Denn die Würdigung eines und nur eines Verhaltens reicht
für die Statuierung eines Gebots eben nicht aus. Schon die zwecks Formulierung
des semantischen Gehalts einer Rechtsnorm (S. 27 sub 1.4) verwendeten Be-
griffe setzen - mit anderen Worten - den Ausschluß jeweils rechtlich miß-
billigter Verhaltensweisen, also wiederum den semantischen Gehalt von Rechts-
normen, voraus. Es kommt die folgende Schwierigkeit hinzu.
Mit der Gebotenheit, der Erlaubtheit oder auch der Verbotenheit der Ver-
haltensweisen eines Menschen ist über die für diese rechtliche Beurteilung maß-
gebenden Normen nicht das geringste gesagt. Wir haben es lediglich mit dem
Ergebnis der Anwendung derartiger Normen auf bestimmte Sachverhalte zu
tun. Ob beispielsweise eine Schadensersatzpflicht auf vertraglichen oder delik-
tischen Normen beruht, sieht man der Schadensersatzpflicht als einer bestimm-
ten Gliederung des Verhaltensspielraums des Schuldners in positiv und in nega-
tiv bewertete Verhaltensweisen nicht an. Erst rechtliche Normen - mö-
gen sie auch individualisierte Normen sein - sind die Objekte, an welche sich,
wie wir gesehen haben, der Maßstab rechtlicher Gleichheit sinnvoll anlegen
läßt. Aus Normen des von P. definierten Typs geht die Adäquatheit oder In-
adäquatheit der Verknüpfung einer bestimmten tatbestandlichen Differenzie-
rung mit einer entsprechenden Differenzierung auf der Rechtsfolgeseite gar
nicht hervor. Der verfassungsrechtliche Gleichheitssatz ist schon aufgrund der
Art, in welcher P. den Begriff des "normativen Satzes" definiert, nicht in der
Lage, einen semantischen Gehalt zu besitzen.
Hat ein Rechtssatz so, wie P. dies hinsichtlich des Gleichheitssatzes annimmt,
keinen semantischen Gehalt, so ist es problematisch, ihm gleichwohl einen
pragmatischen Gehalt zubilligen zu wollen. Es kommt insoweit darauf an, ob
man unter "Pragmatik" bereits den Inbegriff der Beziehungen irgendwelcher
(möglicherweise uninterpretierter!) Zeichen zu ihren Benutzern oder aber
- naheliegenderweise - erst den Inbegriff der Beziehungen bereits inter-
pretierter (von ihren Benutzern verstandener) Zeichen zu ihren Benutzern ver-
steht. Wie dem auch sei, P. bestimmt den pragmatischen Gehalt des Gleich-
heitssatzes jedenfalls in einer Weise, daß ein semantischer Gehalt des Satzes
offenbar vorausgesetzt ist. Was beispielsweise die an den Gesetzgeber gerichtete
Aufforderung betrifft: "Du, Gesetzgeber, überlege Dir, ob Du für eine beab-
sichtigte Differenzierung einen zureichenden Grund findest" (S. 86 sub 11.1.1,
erster Hs.), so kann sich der Gesetzgeber offenbar erst dann im Sinne der ihm
vorgelegten geordneten Menge von sprachlichen Zeichen (etwa des ihm gezeig-
ten Häufchens getrockneter Druckerschwärze innerhalb einer rechtswissen-
schaftlichen Monographie) ve.'halten, wenn er diese Zeichen in einen als Hand-
lungsanweisung fähigen Sinn umzusetzen vermag. Insbesondere um die Er-
mittlung dessen, wann ein Grund zureichend sei, kommt auch der einen Satz
"nur" als Handlungsanweisung aufnehmende Adressat nicht herum. Freilich
kann es zweckmäßig oder sogar unumgänglich sein, sich im Hinblick auf das
Zureichen eines Grundes auf eine "im Grundrechtsbereich auszureichende
Plausibilität" (vgl. S. 87 sub 11.3) zu beziehen. Wie solche Plausibilität indessen
anders als mit Hilfe der Verwertung ihres "semantischen Gehalts", nämlich
durch Ausscheidung unplausibler Argumente (vgl. S. 23 sub 11), erzielt werden
solle, leuchtet nicht ein. Die Ersetzung des Urteils, was rechtens sei, durch die
Angabe des Verfahrens, zu einem derartigen Urteil zu kommen, ist etwas
grundsätzlich anderes als der übergang vom semantischen zum pragmatischen
Gehalt eines Satzes. Wird die Feststellung eines Ergebnisses durch die Be-

248
252 Buchbesprechungen

schreibung eines zu dem Ergebnis führenden Weges substituiert, so tritt nicht


etwa ein pragmatischer Gehalt an die Stelle eines semantischen; an die Stelle
eines bestimmten semantischen Gehalts tritt vielmehr lediglich ein anderer
semantischer Gehalt, nämlich der semantische Gehalt der Beschreibung der
einzelnen der das Verfahren bildenden Schritte.

3. Eine detaillierte Diskussion des von P. anhangsweise entwickelten Forma-


lismus, der übrigens nicht durch logische Einfachheit besticht, würde den Rah-
men der Besprechung sprengen. Charakteristisch ist wiederum, daß P. die ver-
fassungsrechtliche Gleichheit - dem Normwert des Art. 3 Abs. 1 GG entspre-
chend - auf Personen, also auf Sachverhaltselemente, bezieht. Seien pet und
pe2 zwei Personen mit der gemeinsamen Eigenschaft Pr1 : (Pr1 (pe1) " Pr1 (pe2».
Dann erklärt P. das Prädikat der "Gleichheit" über pet, pe2 und Prl , mithin als
dreistelliges Prädikat zweiter Stufe; im Ergebnis ist nichts anderes als die
Zugehörigkeit von pet und pe2 zu der die Extension von Prl bildenden Menge
gemeint. "Gleich" sind insofern beispielsweise Sokrates und Aristoteles in
puncto "Philosoph", weil beide Philosophen sind, usf. Gilt für alle Eigen-
schaften P, daß sie, wenn sie einer Person Pt zukommen, sie auch einer Person P2
zukommen, so pflegen wir P1 und P2 miteinander "identisch" zu nennen:
..'v' PI 'v' P2(Pl = P2++ 'v' P(P(Pt)~P(P2»." Hinsichtlich identischer Personen ist es
nun aber offenbar ohne Sinn, rechtliche Gleichbehandlung zu fordern; die
Forderung würde trivialerweise durch jede Behandlung erfüllt. Die Forderung
nach rechtlicher Gleichbehandlung setzt, mit anderen Worten, nicht minder die
Existenz unterscheidender Merkmale voraus. Bereits das über jeweils wenig-
stens zwei Personen gefällte Urteil, sie seien einander wesentlich gleich, ist das
Ergebnis einer von tatsächlichen Unterschieden absehenden Abstraktion; be-
reits diese Abstraktion ist der Rechtfertigung durch einen "zureichenden
Grund" bedürftig, und es ist durchaus mißverständlich, erst im Hinblick auf die
ungleiche Behandlung von "an sich gleichen" Personen eine rechtliche Be-
gründung zu verlangen.
Der Begriff der Gleichheit ist, was sein Auftreten innerhalb des Gleichheits-
satzes anbelangt, weniger auf das Verhältnis zwischen Sachverhaltsmerkmalen
untereinander oder auf das Verhältnis zwischen konkretisierten Rechtsfolgen
untereinander zu beziehen, als vielmehr darauf, daß jeweils erstens die Ähn-
lichkeit der rechtlichen Behandlung unterschiedlicher Sachverhalte durch die
Ähnlichkeit der Sachverhalte selbst und daß zweitens die Unterschiedlichkeit
der rechtlichen Behandlung unterschiedlicher Sachverhalte durch eine be-
stimmte Art von Verschiedenheit dieser Sachverhalte gerechtfertigt wird. Die
Last der Begründung rechtlich verschiedener Behandlung trägt sich nicht
schwerer als die Last der Begründung rechtlich gleicher Behandlung, und die
Last der Begründung rechtlich ähnlicher Behandlung nimmt durch gemein-
same Eigenschaften der behandelten Personen weder zu noch ab; daß es, was
den letzten Fall betrifft, Unterschiede bei den durch die Regelung betroffenen
Personen gibt, steht nach Voraussetzung fest, und die Frage, ob die unterschied-
lichen Merkmale rechtlich relevant sind oder nicht, ist nicht einmal im Sinne
der Verteilung der "Argumentations last" formaliter entscheidbar.

111. Das wissenschaftliche Format von P.s Arbeit läßt sich durch kritische
Bemerkungen, wie sie soeben (lI) geäußert worden sind, nur unterstreichen. Um
angreifen kann, ohne als unvernünftig oder oberflächlich zu gelten, hat sich P.
gleich gar nicht bemüht. Er geht gerade umgekehrt vor. Zahlreiche Ausführun-
gen würde man für sich genommen, mit nachdenklicher Miene akzeptieren.

249
Jürgen Rödig 253

P. sorgt indessen selbst dafür, daß sich eine hinreichend breite Angriffsfläche
ergibt; scheint ihm ein Ausdruck: auch nur andeutungsweise nebulos zu sein, so
stellt er dies jedenfalls fest, und wenn er darauf verzichtet, den Ausdruck zu
präzisieren, so wird der Leser auch über diesen Verzicht nicht im Unklaren
gelassen. Mit dem fortwährenden Versuch bestmöglicher Präzisierung der ver-
wendeten Begriffe ist naturgemäß die Gefahr einseitiger oder sogar entstellen-
der Begriffsbildungen verbunden. Doch anders als durch gerade diesen Preis
ist Exaktheit nicht zu erkaufen. P.s Untersuchung ist, wie gesagt, auch in ihren
der Diskussion bedürfenden Partien ein - wie man hoffen möchte, nicht nur
im übertragenen Sinne - vorbildliches Beispiel exakter Rechtswissenschaft.
Jürgen Rödig, Köln

250
4. Gesetzgebungstheorie

Zum Begriff des Gesetzes in der Rechtswissenschaft


Rödig, J. (Hrsg.): Studien zu einer Theorie der Gesetzgebung. Berlin Heidelberg: Springer-
Verlag 1976, S. 5-48

Zusammenfassung
In meinem Beitrag komme iah zu dem Ergebnis, daß das fUr die Bestimmung des Gesetzes-
begriffes gemeinhin verwendete Kriterium der Allgemeinheit niaht zuverl~ssig ist.
Anhand eingehender formallogisaher Analysen wird gezeigt, daß ein logisah motiviertes
Allgemeinheitskriterium entweder aberhaupt niaht oder aber nur in einem solahen Sinne
besteht, daß es fUr juristisahe Zweake siaher unbrauahbar ist (tlbergang von einem
leeren zu einem niaht-leeren Individuenbereiah; t!bergang zu unendliahen Individuen-
bereiahen). Inhaltliah l~t siah das Kriterium ledigliah durah quasi-naturreahtliahe
Argumentation, und zwar ledigliah durah das vom Ergebnis eines demokratisahen Wil-
lensbildungsprozesses unab~ngige FUr-"riahtig'LHalten bestimmter Reahtsinhalte be-
granden.
Mit dem Wegfall eines qualitativen Kriteriums der Gesetzesartigkeit von Reahtss~tzen
wird zugleiah herk~liahen Vorstellungen betreffend die Teilung von Staatsgewalten
die Grundlage entzogen. Insbesondere das Ver~ltnis von Legislative und Iudikative
bedarf grunds~tzliaher Neuorientierung. FUr die Abgrenzung sowie fUr Funktionen einer
allgemeinen juristisahen Regelungstheorie, die niaht mehr auf eine Legistik im Sinne
einer Wissensahaft legislativer Aktivit~ten besahr~nkt werden kann, lassen siah kon-
krete Folgerungen gewinnen. Diese Folgerungen, mit denen der Beitrag sah ließt, er-
fUUen zugleiah die Funktion des ursprUngliah von mir vorgesehenen Referates "Zum
systematisahen Aufbau einer Theorie der Gesetzgebung".

I. Funktionen des juristischen Gesetzesbegriffes

Rechtswissenschaftliche Abhandlungen, deren Uberschrift die Behandlung


eines "Begriffes" verheißt, sind nicht mehr das, was sie waren. Ver-
mochten derartige Abhandlungen noch bis zum Beginn dieses Jahrhunderts
wissenschaftlichen Anspruch zu dokumentieren, so lösen sie in dem metho-
disch befreiten Juristen der zeitgenössischen Rechtswissenschaft ein
bereits bei der Lektüre der Uberschrift einsetzendes Mißtrauen aus.
Woran es diesem Leser gebricht, das ist das Vertrauen in den Nutzeffekt,
durch den er für die - zumal meist anstrengende - Lektüre belohnt wer-
den möchte. Zu solchem Vertrauensmangel gesellt sich nicht ungern der
Verdacht, es werde wieder einmal eitel Begriffszerpflückung um ihrer
selbst willen betrieben.
Und in der Tat, es wäre nutzlos, den Begriff des Gesetzes aus sich her-
aus entwickeln zu wollen; es wäre darüberhinaus nicht nur gefährlich,
sondern bereits aus logischen Gründen verfehlt, der gewonnenen Defini-
tion den Charakter einer Prämisse für die Ableitung rechtlicher Konse-
quenzen - etwa die Behandlung sog. Maßnahmegesetze betreffend - zu ver-

*Der Verfasser ist zur Bearbeitung der wissenschaftlichen FUßnoten zu


diesem Beitrag nicht mehr gekommen. Diese sollten jedoch nur die übli-
chen Fundsteilennachweise enthalten und keine weiteren inhaltlichen
Aussagen, wie Herr Prof. Dr. Schmiedei, ein enger Freund des Verstor-
benen, der Redaktion bestätigte.

251
6 Jürgen Rödig

leihen. Jedoch den Teufel mit dem Beelzebub treibt aus, wer glaubt,
sich ausschließlich mit Sachfragen befassen und hierbei von einer Ex-
plikation der einschlägigen Begriffe absehen zu können. Die rechtliche
Organisation eines in hohem Maße komplexen Gemeinwesens wie des unseren
kann nur noch auf systematische Weise gelingen. Systematische Methode
und nur sie eröffnet den Weg, die vorhandene Komplexität auf jenes Maß
zu reduzieren, dessen Einhaltung bereits die begrenzte Kapazität des
menschlichen Geistes gebietet. Systematik aber setzt ein Minimum an
Einheitlichkeit der verwendeten Begriffe voraus. Zwar empfangen Begriffe
erst als integrierende Bestandteile von Sätzen ihren Sinn. Im Unter-
schied zum Satz ist der Begriff als solcher eines Wahrheitswertes nicht
fähig; schon hieraus resultiert sein Unvermögen, als Voraussetzung oder
als Ergebnis eines Beweises zu fungieren. Allein es wäre ein verhäng-
nisvoller Irrtum, aus der logisch unbezweifelbaren Unbrauchbarkeit des
isolierten Begriffes auf die Unbrauchbarkeit - oder auch nur auf ein
sehr begrenztes Maß von Brauchbarkeit - des Begriffes überhaupt zu
schließen. Insbesondere die überkommene Lehre vom Gesetz, die übrigens
mit Gesetzgebungstheorie nicht identifiziert werden darf, ist von dem
genannten Irrtum nicht frei.
Der Saahfragen, deren Diskussion die ReZevans des Gesetsesbegriffes indisiert, gibt
es genug. Wir beschränken uns bei den folgenden Andeutungen auf das
positive Recht der Bundesrepublik Deutschland. Was etwa das Polizei-
recht der Länder anlangt, so scheinen wir der Sache nach von der poli-
zeilichen VerfUgung die polizeiliche Verordnung unterscheiden zu müssen,
und zwar im Hinblick darauf, daß die polizeiliche Verordnung als an
einen unbestimmten Personenkreis adressierte Regelung eines unbestimmten
Umkreises von Fällen den Charakter eines - namentlich seit LABAND so
genannten - "materiellen" Gesetzes besitzt. Dementsprechend pflegt für
den Erlaß einer polizeilichen Verfügung lediglich das Vorliegen einer
konkreten, für den Erlaß einer polizeilichen Verordnung dagegen das
Vorliegen einer abstrakten Gefahr verlangt zu werden. Dementsprechend
werden ferner unterschiedliche Folgen von Regelungsmängeln voneinander
gesondert. So muß die Verfügung ihre Mangelhaftigkeit, wie eine um An-
schaulichkeit bemühte Redeweise sagt, schon "auf der Stirn geschrieben
tragen", um dem Verdikt der Nichtigkeit anheimzufallen; ansonsten ist
die Verfügung zunächst einmal zwar wirksam, wenn auch aufhebbar, wohin-
gegen die Rechtswidrigkeit eines "materiellen Gesetzes" wie eben einer
polizeilichen Verordnung nach allgemeiner Auffassung sogleich mit ihrer
Nichtigkeit identifiziert werden darf. Die Dualität der Regelungsformen
macht sich endlich in der Art des Rechtsschutzes bemerkbar. Was die
polizeiliche Verordnung betrifft, so eröffnen die Ausführungsgesetze
einzelner Bundesländer zwar den in § 47 Satz 1 der Verwaltungsgerichts-
ordnung vorgesehenen Weg zu abstrakter Rechtssatzkontrolle durch den
Verwaltungsgerichtshof oder auch durch das Oberverwaltungsgericht. Im
übrigen muß jedoch erst einmal eine auf jene Verordnung gestützte Ver-
fügung (oder gar die behördliche Reaktion auf eine Zuwiderhandlung gegen
die Verordnung) abgewartet werden; erst deren Rechtswidrigkeit ist es,
die der Betroffene - wenngleich mit dem Hinweis auf die Rechtswidrig- -
keit und damit auf die Nichtigkeit der zugrundegelegten Verordnung als
einer nur der Gültigkeit oder aber der Ungültigkeit fähigen Rechts-
quelle - geltend zu machen vermag.
Die Relevanz des juristischen Gesetzesbegriffes scheint sich sodann an
der noch immer eisern vorgetragenen, gar in ihrer heutigen Fassung auf
MONTESQUIEU zurückgeführten (wenn auch in Wirklichkeit erst auf sect.
2 bis 4 der Verfassung von Pennsylvania [177~ , auf die Verfassung der
Vereinigten Staaten von Amerika ~787] sowie namentlich auf KANTs Meta-
physische Anfangsgründe der Rechtslehre [1798; s. §§ 45 bis 49J zurück-
führbaren) Lehre von der sog. "Dreiteilung" der (Staats-)GeUJaZten ablesen zu
lassen. Durch diese Lehre wird nach wie vor der Anschein erweckt, als

252
Zum Begriff des Gesetzes in der Rechtswissenschaft 7

seien erstens Gesetzgebung, zweitens Regierung und Verwaltung sowie


drittens Rechtsprechung qualitativ voneinander unterscheidbar mit dem
Ergebnis, daß die entsprechenden staatlichen Aufgaben wenn auch nicht
organisatorisch oder gar personell, so doch funktional voneinander ge-
sondert und in ein Verhältnis gegenseitiger Hemmung und Balancierung
("checks and balances" BOLINGBROKE) gebracht werden könnten. Sogenannte
"rein formelle" Gesetze etwa werden unseren gesetzgebenden Organen zwar
zugestanden, jedoch besonderen Anforderungen - namentlich solchen des
positiven Verfassungsrechtes - unterworfen. Der von FORSTHOFF geprägte
Terminus "Maßnahme-Gesetz" harrt noch immer der befriedigenden Defini-
tion. Was jedoch die unter diesen Begriff gewöhnlich subsumierten Ge-
setze anlangt, so hat sich deren umfangreiche Diskussion ersichtlich
an der Nichteinhaltung gewisser Kriterien eines mehr oder minder expli-
zierten Gesetzesbegriffes entzündet. Umgekehrt erkennt sogar das Grund-
gesetz der Exekutive - und zwar namentlich der Gubernative - den Erlaß
von Regelungen mit "materiellem" Gesetzescharakter zu (Art. 80 Abs. 1
Satz 1 GG). Wiederum werden indessen besondere Anforderungen für diese
Abweichung von der vorausgesetzten Regel aufgestellt, s. vor allem
Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG, und zwar Anforderungen insbesondere, die als
verfassungsrechtliche Moral von der Geschichte des Art. 48 der Weimarer
Reichsverfassung aufgefaßt werden dürfen. Ob die genannten Anforderungen
eingehalten werden müssen oder nicht, hängt erneut von der Qualifika-
tion der erlassenen Maßnahme nach Maßgabe genau derjenigen Kriterien
ab, mit deren Hilfe wir den Begriff des Gesetzes (im "'materiellen"
Sinne) bestimmen.

Sogar in die rechtswissenschaftliche Methodenlehre hat sich dieser Ge-


setzesbegriff stillschweigend Einlaß zu verschaffen verstanden. So sehr
die Methoden der Gesetzesinterpretation zum Repertoire des zeitgenössi-
schen Rechtstheoretikers gehören, so wenig wird die Frage nach der An-
wendbarkeit entsprechender Methoden auf die Auslegung von Richtersprü-
chen gestellt. Warum beispielsweise ist der Richterspruch nach dem
Durchlaufen objektiver Betrachtungsweise gehindert, klüger als der ihn
aussprechende Richter zu sein?

Was die Einordnung des Richterspruches anlangt, so ist er freilich unter


den Begriff des "formellen" Gesetzes nicht subsumierbar. Jedoch das
Vorliegen eines "formellen" Gesetzes steht ja auch bei den übrigen als
kritisch angesehenen Regelungsfiguren - Allgemeinverfügung, Maßnahme-
gesetz usf. - weder im bejahenden noch im verneinenden Sinn ernsthaft
zur Diskussion. Gehen wir nun aber zum "materiellen" Begriff des Ge-
setzes über, so vermögen wir ihm den Richterspruch nur noch dann zu
entziehen, wenn wir einige, heute beim besten Willen nicht mehr auf-
recht zu erhaltende Annahmen treffen. So fällt etwa mit der Beschränkung
des Richterspruches auf die Entscheidung des hic et nunc aufgeworfenen
Falles auch die Spur der Möglichkeit von richterlicher Rechtsfortbildung
fort. Eher als Kuriosum erscheint der Ausweg, daß wir den Inhalt des
Spruches flugs zum Gegenstand gleichlautenden Gewohnheitsrechtes machen
und dieses alsdann auch noch anhand des Entscheidungstextes - mit der
Auslegung eines geschriebenen Gesetzesparagraphen vergleichbar - inter-
pretieren.

Nicht von ungefähr ist nur von der Fortbildung des Rechts durch unsere
Gerichte die Rede. Fragen wie solche nach der Legitimation des gesetz-
gebenden Organs, nach der Einhaltung eines Minimums von Gesetzgebungs-
technik im Rahmen eines durch Gesetze determinierten und sich selbst
durch Gesetze determinierenden demokratischen Staates: diese Fragen
treten, sofern Rechtsprechung die Merkmale "materieller" Gesetzgebung
nicht aufweist, gar nicht erst auf. So ist denn auch ein Verfahren der
Veröffentlichung höchstrichterlicher Entscheidungen, welches demokra-
tisch gebotener Publizität nur noch spottet, bis in die jüngste Gegen-
wart hinein mit bemerkenswertem Gleichmut hingenommen worden.

253
8 Jürgen Rödig

Die erwähnten Beispiele illustrieren zugleich die Funktion des Gesetzes-


begriffes fur die von uns in Angriff genommene GesetzgebungsZehre. Zwar ist be-
reits der Wunsch einer wissenschaftlichen Disziplin verständlich, im
Besitz der Definition ihres Gegenstandes zu sein. Jedoch bei diesem
Wunsch, der ohnehin nicht jeder wissenschaftlichen Disziplin - man
denke etwa an die Mathematik - in Erfüllung geht, braucht es nicht zu
bewenden, ja er steht nicht einmal im Vordergrund. Von hauptsächlicher
Bedeutung ist vielmehr die Frage, ob eine Lehre vom Gesetz, den gängi-
gen Gesetzesbegriff zugrundelegt, nicht schon in einer nicht mehr ver-
tretbaren Einseitigkeit ansetzt; ob - mit anderen Worten - die Lehre
vom Gesetz, um ihrem Gegenstand gerecht zu werden, sich nicht vorteil-
hafterweise sogleich als juristische RegeZungstheorie verstehen sollte.
Jedoch auch für eine systemtheoretisch fundierte Verteilung staatlicher
Regelungslast auf funktional voneinander unterschiedene Instanzen darf
man sich Vorteile von einem auf den Regelungsgehalt bezogenen Ansatz
versprechen; von einem Ansatz also, der den Begriff des Gesetzes nicht
je nach der Art des gerade aufgetretenen konstruktiven Engpasses bald
von seinem Inhalt, bald von dem erlassenden Subjekt her konzipiert.
Unter dem Aspekt des Regelungsgehaltes und nur unter diesem Aspekt
leuchtet ein, daß für diesen Regelungsgehalt gerade dieses Regelungs-
verfahren - einschließlich einer bestimmten Regelungsform -, für jenen
jenes eingehalten werden sollte. Durch vermeintliche Kunstgriffe wie
durch die Einführung des "formellen" Gesetzesbegriffes, von dessen
politikgeschichtlicher Bedingtheit wir hier absehen müssen, hat der
juristische Gesetzesbegriff seine Relevanz für die soeben skizzierte
Frage unweigerlich eingebüßt. Uber das zuständige Regelungssubjekt ist
ja bereits nach Voraussetzung die Entscheidung getroffen. Wenn eine
Regelung schon vom Regelungssubjekt her charakterisiert werden soll,
nämlich unter dem Gesichtspunkt des Erlasses durch die Legislative im
Rahmen des von der Legislative einzuhaltenden Verfahrens, dann ist
solche Charakterisierung inhaltlich ergiebig offenbar nur dann, wenn
wir, um die gesetzgebende Körperschaft ihrerseits als solche funktional
zu charakterisieren, nicht abermals auf einen formellen Gesetzesbegriff
zurückgreifen müssen. Diesmal also kommen wir um eine Explikation des
"materiellen" Gesetzesbegriffes nicht mehr herum.

II. Der zeitgenössische Gesetzesbegriff im Spannungsfeld unzeitgemäßer


Assoziationen

1. Philosophisch und quasi-naturwissenschaftlich orientierte Konzep-


tionen

Angesichts der so beträchtlichen Relevanz, die dem juristischen Ge-


setzesbegriff beigemessen zu werden pflegt, (s.o. Il, sollte man ein
entsprechend hohes Maß an definitorischer Zuverlässigkeit erwarten.
Tatsächlich haben wir es mit einer geradezu unbeschreiblichen Begriffs-
verwirrung zu tun. Wäre es wenigstens stets derselbe Gesetzesbegriff,
der den Gegenstand stillschweigender Bezugnahme bildet, so könnte man
versucht sein, aus der Not des Mangels einer Definition die - schein-
bare - Tugend einer "Definition durch Verwendung" zu machen. Jedoch es
ist nicht stets derselbe. Je nach der Besonderheit der Problematik, in
deren Behandlung der Begriff des Gesetzes vorkommt, muß mit Veränderun-
gen des jeweils dominierenden Gesichtspunktes gerechnet werden, wenn
auch wiederum nicht in einer im vorhinein berechenbaren Weise. Steht
beispielshalber die Notwendigkeit der Legitimation des Regelungssub-
jektes im Vordergrund, so hält schlechtweg die Wichtigkeit der geregel-
ten Angelegenheit als Kriterium für das Vorliegen eines Gesetzes her;
dem Attribut der Allgemeinheit, das ja in der Tat auch einer schemati-

254
Zum Begriff des Gesetzes in der Rechtswissenschaft 9

sierenden Ausführung übergeordneter Grundsätze zukommen kann, wird im


Rahmen solcher Betrachtungsweise höchstens zweitrangige Bedeutung bei-
gemessen. Geht es dagegen um die Frage, inwiefern ein das Eigentum be-
einträchtigender Einzeleingriff ein möglicherweise verfassungswidriges
Individualgesetz i.S.d. Art. 19 Abs. 1 Satz 1 GG darstellt, so möchte
man die Erfüllung des rechtlichen Gleichbehandlungsgebotes als essen-
tiale des juristischen Gesetzesbegriffes erblicken. Uberhaupt scheint
es ein Minimum an Gerechtigkeitswert zu sein, durch welches noch die
Autoren neuester Schriften den Begriff des ("materiellen") Gesetzes zu
bestimmen und auf diese Weise von der vorwiegend rechtspolitischen oder
gar "nur" noch politischen Maßnahme abzugrenzen suchen. Solcher Rich-
tigkeitsgehalt verhilft dem Gesetz zum Prädikat der Allgemeinheit in
einem qualitativen Sinne, das nur noch verbal an logisch konzipierte
Allgemeinheit erinnert und diese denn auch mit dem Namen bloßer
"Generellität" vorlieb nehmen läßt. In den sog. Niederungen des Ver-
waltungsrechts indes, in denen sich materiale Gesichtspunkte wie Wich-
tigkeit, Richtigkeit oder auch Gleichbehandlung begrenzt zu verflüch-
tigen vermögen, gewinnen unverblümt formale Kriterien Gewicht. An den
Erfordernissen einerseits der Generellität und andererseits der Ab-
straktheit wird die Regelung gemessen, um deren ("materiellen") Ge-
setzescharakter es geht. So haben sich namentlich die Straßenverkehrs-
zeichen die Frage gefallen lassen müssen, ob sie nicht nur eine unbe-
stimmte Vielzahl von Personen, sondern darüberhinaus auch eine unbe-
stimmte Vielzahl von Fällen betreffen. Man möchte den ersten Teil der
Frage bejahen, den zweiten verneinen, bedenke indessen, daß die zu
regelnde Verkehrssituation als Substrat des "Falles" nicht nur von der
betreffenden Straßenführung her bestimmt werden kann, sondern zugleich
von den anwesenden Verkehrsteilnehmern, von deren Fahrzeugen usw. indi-
vidualisiert werden muß. Auch anhand anderweitiger Fragestellungen wird
deutlich, daß Generellität und Abstraktheit weniger gut voneinander ge-
sondert werden können, als gemeinhin angenommen wird. So kann es denn
nicht wunder nehmen, daß die Einordnung entweder als Verwaltungsakt
oder aber als ("materiell" verstandenes) Gesetz erst vom Ergebnis her,
nämlich erst unter dem Gesichtspunkt des als angemessen - namentlich
als staatlichen Behörden noch zumutbar - erscheinenden Rechtsschutzes
aufgrund etwa der Erhebung einer Anfechtungsklage gelingt. So zweifel-
haft sich die gängigen Gesetzeskriterien bei näherem Zusehen nun aber
auch erweisen mögen, so beständig kehren sie wieder. Ja, ihre Wiederkehr
scheint darüberhinaus dem folgenden, angesichts der passim anzutreffen-
den Formalismus-Kritik nicht uninteressanten Trend zu gehorchen: Krite-
rien für das Vorliegen eines Gesetzes treten im Zweifelsfall je häufiger
auf, desto formaler sie ansetzen. Wenn es nun aber schon nicht die
praktisch-juristische Bewährung ist, durch die sich derartige Topoi
ausweisen können, dann ist zumindest der Verdacht nicht auszuschließen,
daß die nun einmal vorhandene Durchschlagskraft durch aUßerjuristische
Quellen gespeist wird. Solche Quellen sind auch leicht zu entdecken.
Was namentlich die formal verstandene Allgemeinheit eines Gesetzes be-
trifft, so scheint sie nichts anderes als das genaue Gegenstück zur
Allgemeinheit des Naturgesetzes zu sein.

Die logische Allgemeinheit des Naturgesetzes tritt vorzüglich durch


seine hohe Empfindlichkeit gegenüber Widerlegungen zutage. Ja, vorsich-
tigerweise sollten wir anstatt von dem Naturgesetz nur von der Ver-
mutung eines solchen sprechen. Dieser Vermutung gehen zunächst einmal
zahlreiche sog. ''PPotokoUaussagen'', namentlich die Beschreibungen der
Ergebnisse einschlägiger Experimente, voraus. Den gemeinsamen natur-
wissenschaftlichen Nenner einer hinlänglich großen Zahl von Protokoll-
aussagen wird man alsdann vermittels einer Hypothese zu erfassen ver-
suchen. Während die Protokollaussage ihren Namen gerade der Protokol-
lierung des beobachteten Phänomens in seiner Einzigartigkeit, also ins-
besondere dem Festhalten der individuellen räumlichen und zeitlichen

255
10 Jürgen Rödig

Koordinaten, verdankt, wird man bei der Aufstellung der Hypothese von
diesen Koordinaten bereits zu abstrahieren versuchen; die Verwandt-
schaft mit dem juristischen Begriff der "Abstraktheit" einer Regelung
ist offensichtlich. Die gewonnene Hypothese endlich hat den Prozeß der
Verifikation zu durchlaufen. Ihr bleibt, genauer gesagt, nichts Besse-
res übrig, als - bei hinlänglicher Abstraktion von zeitlichen Determi-
nanten - unendlich lange auf ein Gegenbeispiel zu warten. Das erste
Gegenbeispiel reicht zur Diskreditierung der Hypothese als eines pown-
tieZZen Naturgesetzes aus.

Wer die rechtliche Norm - dem insoweit aUßerordentlich problematischen


Vorgang Theodor GEIGERs entsprechend - von einem kollektiv akzeptierten
Verhaltensmuster her zu konzipieren versucht, mag sie auf dem Umweg
über eine soziologische Betrachtung, diese wiederum im Sinne eines
gleichsam makropsychologischen Ansatzes verstanden, als Grenzfall eines
Naturgesetzes auffassen können. Ähnliches gelingt einer Rechtsschule,
die weniger historisch als vielmehr historizistisch (POPPER) vorgeht
und die Rechtsordnung als natürliche Resultante still vor sich hin wir-
kender geschichtlicher Kräfte versteht mit dem zwangsläufigen Ergebnis,
daß diese Rechtsordnung nicht etwa durch einen beliebigen legislatori-
schen Akt hervorgebracht werden könnte. Sehen wir indes von diesen und
ähnlichen Rechtsauffassungen ab, so kommen die Unterschiede zwischen
Naturgesetz und Rechtsgesetz nicht minder als deren scheinbare Uberein-
stimmung hinsichtlich des Kriteriums logischer Allgemeinheit zum Vor-
schein. So ist eine rechtliche Regelung, die "Gesetz" im Rechtssinn zu
sein beansprucht, erzwingungsbedürftig, das Naturgesetz ist dies dage-
gen nicht. Was das Naturgesetz betrifft, so wird ja gerade umgekehrt
vom Faktum des "Vollzuges" auf die Existenz des Gesetzes geschlossen.
Handelt die Natur einem Naturgesetz zuwider, so hat das Gesetz in Wirk-
lichkeit nicht bestanden, und das Gesetz hätte gar nicht befolgt werden
dürfen. Des weiteren können rechtliche Regelungen, die den Anspruch
auf Gesetzescharakter erheben, in logischen Widerspruch zueinander ge-·
raten. Auch dies bringen veritable Naturgesetze nicht fertig. Vielmehr
erfüllt die Wirklichkeit, von welcher die Naturgesetze abgelesen werden
müssen, so etwa die Funktion eines Modells - mit einem der gebräuchli-
chen arithmetischen Modelle für den semantischen Widerspruchsfreiheits-
beweis von Axiomensystemen vergleichbar. Widersprüchliche Naturgesetze
belegen lediglich, daß es sich nicht nur um solche handelt. Schließlich
kann man nach dem Informationsgehalt eines Naturgesetzes nicht im selben
Sinn wie nach dem Informationsgehalt einer rechtlichen Regelung fragen.
Wer ein Naturgesetz lernt, erfährt etwas über die Wirklichkeit. Bezüg-
lich einer Regelung, die ein Verhalten gebietet, erlaubt oder verbietet,
kann man nicht auf entsprechende Weise behaupten, "es verhalte sich so".
Zwar lassen zahlreiche Regelungen einen Schluß auf das de facto regel-
mäßige Verhalten der Mitmenschen des Regelungsadressaten einschließlich
solcher zu, die über Sanktionen für den Fall einer Zuwiderhandlung ver-
fügen. Jedoch sowohl das Verhalten der Mitmenschen als auch das Risiko
der Begehung einer Regelwidrigkeit sind Phänomene faktischer Art. Für
den geschichtlichen Akt des Regelungserlasses gilt das Gleiche. Eine
Regelung, die bereits hinsichtlich ihres normativen Gehaltes informativ
zu sein beanspruchen würde, müßte hierfür offenbar die Fähigkeit be-
sitzen, in eindeutiger Weise richtig zu sein. Wer der Regelung diese
Fähigkeit zusprechen möchte, kommt offenbar um die - übrigens bereits
in demokratischer Hinsicht - angreifbare Annahme eines Naturrechts
(oder auch eines dessen Funktion erfüllenden "Vernunftrechts") nicht
herum.

Freilich sind naturrechtliehe Denkansätze so unlebendig, wie man ihrer


seltenen Ausgesprochenheit wegen annehmen möchte, auch wieder nicht. In
diesem Zusammenhang sei nur auf die bereits erwähnte Kontrastierung von
logischer Generellität einerseits und inhaltlicher Allgemeinheit - im

256
Zum Begriff des Gesetzes in der Rechtswissenschaft 11

Sinne eines Minimums an Gerechtigkeitsgehalt - andererseits verwiesen.


Ja selbst naheliegende Gefahren solcher quasi-naturrechtlicher Motiva-
tion des Gesetzes bleiben verborgen. Die Problematik der Rückwirkung
von Gesetzen etwa, um nur ein Beispiel anzuführen, wird durch das be-
reits qualitativ als solches ausgewiesene juristische Gesetz im wesent-
lichen entschärft. Eine Regelung, welche ihre Gesetzeseigenschaft von
ihrer Richtigkeit herleiten kann, fängt nicht erst am Tage des Erlasses
an, richtig zu sein. Diese Uberlegungen vorausgesetzt, können wir den
Leser nicht einmal mehr mit einem Hinweis auf ERNST BELING in Erstaunen
versetzen, welcher, der ihm in der strafrechtlichen Literatur zuge-
schriebenen Eigenschaft eines Vaters des Tatbestandes zum Trotz, gegen
Rückwirkung selbst strafrechtlicher Normen nichts Nennenswertes einzu-
wenden hatte.

Während freilich die formale Parallelität von Naturgesetz und Rechts-


gesetz, eben die Verwandtschaft unter dem Aspekt logischer Allgemein-
heit, noch halbwegs - wenn auch nur halbwegs; s. nachfolgend III,2 -
plausibel gemacht werden kann, ist ein inhaltlicher Zusammenhang, der
das Verbindlichkeitsmerkmal betrifft, nur noch auf Kosten von Rationa-
lität zu entdecken. In der Tat ist das Naturgesetz nicht immer so wie
heute aufgefaßt worden. Einen (wenngleich nicht den einzig denkbaren)
theistischen Standort vorausgesetzt, läßt sich die relative Zwangs-
läufigkeit des Naturgesetzes nicht nur von einem hinreichend hohen Be-
stätigungsgrad der entsprechenden Hypothesen her behaupten. Naturge-
setze sind nun vielmehr auch gerade umgekehrt im Sinne göttlicher Wil-
lensakte interpretierbar in einer Weise, daß die Natur derartigen Be-
fehlen gleichsam "gehorcht". Nun bewährt sich göttliche Autonomie offen-
bar vollends erst dann, wenn Gott auch anders wollen kann. Das Natur-
gesetz erscheint hiernach nur noch als göttliche Gewohnheit, die von
Augenblick zu Augenblick verlassen werden kann (AUGUSTIN) , und die
Möglichkeit eines Wunders wird zwanglos eröffnet. Das juristische
Gegenstück zum Wunder würde, als juristisches Wunder gleichsam, in
Regelungsformen wie etwa dem Einzelfallgesetz zu sehen sein; doch nun-
mehr läßt die Vorliebe für das Parallelisieren sicherlich nach.

Wird das Naturgesetz dagegen streng empirisch motiviert" so eignet sei-


ner Allgemeinheit geradezu Zwangsläufigkeit. Dieser Aspekt verdient im
Hinblick auf den Vergleich des Rechtsgesetzes mit dem Naturgesetz be-
sonders hervorgehoben zu werden. Würde das Naturgesetz auf der einen
Seite allgemeiner angenommen, als es besteht, so träten unweigerlich
Gegenbeispiele auf den Plan. Jedoch es wäre auf der anderen Seite in
hohem Maße unpraktikabel, dem Naturgesetz ein geringeres als das mög-
liche Maß an Allgemeinheit zuzusprechen; auf diese Weise ginge gleich-
sam der systematische Anschluß an anderweitige Naturgesetzmäßigkeiten
verloren, von den Auswirkungen derartiger Gesetzeslücken auf technische
Anwendungen der theoretischen Naturwissenschaft ganz zu schweigen. Je-
weils diese durchaus objektiven Kriterien für den einerseits noch zu
vertretenden, aber andererseits auch vorteilhafterweise zu erreichenden,
Allgemeinheitsgrad sind der Anwendung auf Rechtsgesetze indessen er-
sichtlich nicht fähig. Sie sind, genauer ausgedrückt, solcher Anwendung
fähig dann und nur dann, wenn ein detailliertes System von Gerechtig-
keitsvorstellungen zur Verfügung steht, mit dessen Hilfe Rechtsgesetze
ähnlich wie Naturgesetze anhand der Wirklichkeit "verifiziert" werden
können. Von der Funktion der Wirklichkeit - oder auch der "Natur" -
als eines Modells für den Beweis der Widerspruchsfreiheit zwischen
(bereits als bestehend angenommenen) Naturgesetzen ist schon die Rede
gewesen. Eine entsprechende Funktion würde vom Naturrecht wahrgenommen
werden können, was die VerträgliChkeit von Rechtsgesetzen betrifft.
Jedoch nicht nur für die Widerspruchsfreiheit, sondern zugleich für
die Vollständigkeit einer gegebenen Rechtsordnung würde das vorausge-
setzte Naturrecht dienen können, auch "insoweit mit der Natur als dem

257
12 Jürgen Rödig

Prüfstein für die Naturwissenschaften vergleichbar. Man wird dem Natur-


rechtsgedanken, auf die soeben angedeutete Weise verstanden, eine zu-
mindest eindrucksvolle Konsequenz nicht absprechen können. Jedoch ge-
rade als ein mit allen seinen Implikationen zu Ende gedachter Gedanke
erscheint er bestenfalls als schöne Illusion, möglicherweise aber auch
als Grundlage eines mit dem reinsten Gewissen praktizierten Faschismus.
Diese Uberlegungen vorausgesetzt, muß es bedenklich stimmen, daß die
strukturelle Verwandtschaft des Rechtsgesetzes mit dem Naturgesetz in
dem Maße zunimmt, als Naturrecht und Natur miteinander identifiziert
werden können. Sicher hört es sich sympathisch an, wenn der juristische
Gesetzesbegriff, von seiner formalen Allgemeinheit einmal abgesehen,
auf eine zugleich im qualitativen Sinne verstandene Allgemeinheit zu-
rückgeführt und insoweit mit der Kodifikation von nur rechtspolitischen
oder gar politischen Maßnahmen kontrastiert wird. Allein man sollte
nicht verkennen, daß solche Relativierung des politischen Moments mit
einer Konzeption des Rechts einhergeht, welche gewisse, letztlich wie-
derum pOlitische, Inhalte der politischen - oder auch rechtspolitischen -
Diskussion entzieht. Ein ähnlicher Verschleierungsmechanismus tritt
zutage, wenn wir die nächsthöhere Stufe ersteigen. Was nämlich das Ver-
hältnis des Rechts zur Rechtstheorie anbelangt, so ist hinreichend be-
kannt, daß "rechtslogische", "sachlogische" oder sonstwie untermauerte
Zwangsläufigkeit häufig auf nichts anderes hinauslief als darauf, recht-
liche Fragen mit Berufung auf einen übergeordneten Standpunkt vorweg
zu entscheiden.

Jene Zwangsläufigkeit des Allgemeinheitsgrades, welche bereits am Bei-


spiel des Naturgesetzes aufgewiesen werden konnte, bestimmt den Charak-
ter des logischen Gesetzes - oder auch des "Denkgesetzes", wie die
traditionellen Logiker es lieber nannten - erst recht. Das logische
Gesetz ist von den Objekten, auf die es angewendet wird, unabhängig in
solchem Maße, daß es naheliegt, mit LEIBNIZ von einer Geltung "in allen
möglichen Welten" zu sprechen. So erklärt es sich ja auch, daß ein
logisches Gesetz über die Gegenstände selber, auf die es angewendet
wird, nicht mehr zu informieren vermag. Ob ich aus der Sterblichkeit
des Menschen in Verbindung mit der Menschlichkeit des Juristen auf die
Sterblichkeit des Juristen oder ob ich aus der Unsterblichkeit des
Menschen in Verbindung mit der Menschlichkeit des Juristen auf die Un-
sterblichkeit des Juristen schließe, ist logisch einerlei. Wenn nun
aber schon das Naturgesetz hinter dem "Denkgesetz" weit zurückbleiben
muß, so gilt dies vollends für das Rechtsgesetz, auch wenn man es unter
dem Stichwort des Vernunftrechts in einen noch so undefinierbaren Zu-
sammenhang mit der Richtigkeit des Denkens bringen möchte.

Sieht man vom Gesichtspunkt der formalen Allgemeinheit von Gesetzen


ab, so ist nach alledem gerade unter dem Aspekt der Zwangsläufigkeit
des Geltungsbereiches nicht die geringste Verwandtschaft des Rechts-
gesetzes mit dem Naturgesetz oder gar dem Denkgesetz vorhanden. Ein
Sollenssatz ist durch seine Befölgung so wenig verifizierbar wie durch
seine Nichtbefolgung falsifizierbar. Experimente für die Konturierung
des "wahren" Geltungsbereiches von Sollenssätzen stehen nicht zur Ver-
fügung. Allgemeingültige - und nicht erst durch einen demokratischen
oder einen ähnlichen Willensbildungsprozeß zu legitimierende - Grenzen
für das Aufstellen von Sollenssätzen werden erst durch die Gesetze der
Logik, namentlich durch den Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch, ge-
zogen. Jenseits dieser Grenzen läge etwa das Gebot, jemand sei sowohl
die rechte Straßenseite zu befahren als auch nicht die rechte Straßen-
seite zu befahren verpflichtet. Jenseits dieser Grenzen liegen auch
logische Unverträglichkeiten zwischen Rechtssätzen, die an systematisch
unterschiedlichen Stellen unserer Rechtsordnung aufgestellt sind .. Je-
doch um die Freiheit von derartigen Widersprüchen geht es beimj~sti­
sahen Gesetzesbegriff gerade nicht. Hier ist von "Gesetz" vielmehr im

258
Zum Begriff des Gesetzes in der Rechtswissenschaft 13

Hinblick auf jeweils eine von mehreren, jedenfalls logisch in Frage


kommenden Regelungsalternativen, die Rede. Bereits das Ausmaß der All-
gemeinheit, die der Regelung zukommen soll, ist Regelungsgegenstand.
Der Umfang des Anwendungsbereiches einer rechtlichen Regelung ist kein
Datum, das vom Regelnden vorgefunden werden könnte. Es obliegt vielmehr
seiner Entscheidung, inwieweit er beispielsweise die Billigkeit im
Einzelfall einer zwar pauschalen Regelung zum Opfer bringen möchte,
einer Regelung indessen, die dafür ein wünschenswertes Maß an Orientie-
rungssicherheit verbürgt.

Sieht man nach wie vor vom Kriterium der formalen Allgemeinheit ab, so
müssen die zahlreichen Assoziationen, welche die verbale Verwandtschaft
des Rechtsgesetzes mit Natur- und Denkgesetzen sachlich zu fundieren
versuchen, nicht nur als nicht fördernd, sondern darüberhinaus als in
einer geradezu haarsträubenden Weise irreführend angesehen werden.
Diesen Umstand galt es um so dringender zur Sprache zu bringen, als
- wie erwähnt - selbst das neueste Schrifttum zum juristischen Gesetzes-
begriff teilweise auf Annahmen beruht, die schwerlich anders als mit-
hilfe jener Assoziationen erklärt werden 'können.

2. Zur geschichtlichen Bedingtheit des juristischen Gesetzesbegriffes

Nicht minder einflußreich als begriffliche Assoziationen der soeben


behandelten Art - mögen solche Assoziationen auch schlicht durch den
Gleichklang der Worte ausgelöst werden - sind gewisse historische
Attribute des Gesetzesbegriffes; es handelt sich um so etwas wie eine
mehr oder minder bewußte Fortschreibung der geschichtlichen Situation,
welche die Entstehung des Gesetzesbegriffes oder doch eine markante
Phase aus dessen Entwicklung umgibt. Freilich müssen an dieser Stelle
einige ganz flüchtige - zudem ohne inneren Zusammenhang aneinanderge-
reihte - Hinweise genügen.

So bestimmen die Verfassungs streitigkeiten des 19. Jahrhunderts den


Gesetzesbegriff in einer heute noch spürbaren Weise. Ja, der Gesetzes-
begriff kann in bestimmter Hinsicht geradezu als Errungenschaft des
Bürgertums aufgefaßt werden. Das Bürgertum wiederum vermochte sich an
gewissen Grundsätzen des Liberalismus zu orientieren; gerade der Zusam-
menhang des Gesetzesbegriffes mit dem j'rUhen LiberaZisl7lUß verdient kurz hervor-
gehoben zu werden.

Die im Wege der Industrialisierung eintretenden Einbußen, welche der


Grundadel, das Zunft- sowie das Gildenwesen hinnehmen mußten, waren
naheliegenderweise mit einem grundsätzlichen Wandel in der Legitimation
rechtlicher Positionen verbunden. Hatten zuvor die überlieferte gött-
liche Ordnung sowie der zugeschriebene Rang im Rahmen einer ständisch
strukturierten Gesellschaft als Grundlage für die Rechtsstellung des
Einzelnen gedient, so wurde es nunmehr dessen eigene Leistung, durch
die er das Erworbene rechtfertigen wollte und konnte. Diese eigene
Leistung galt es durch die Berufung auf Freiheit und Gleichheit erst
einmal möglich zu machen, und zwar durch eine Berufung auf Freiheit
und Gleichheit nicht etwa gegenüber jedermann, sondern gerade gegenüber
den aus der Sicht des Bürgertums dominierenden Klassen. Diesen Klassen
gegenüber kam es in der Tat darauf an, anstatt an eine nicht mehr genü-
gend rationalisierbare Tradition an gewisse schon aus sich heraus rich-
tige Gesetzmäßigkeiten zu appellieren. Was namentlich das wirtschaftli-
che Geschehen betrifft, so hatten bereits die Physiokraten - die teil-
weise als Wegbereiter des wirtschaftlichen Liberalismus eines Adam
SMITH angesehen werden dürfen - Ordnungsvorstellungen entwickelt, die
ihren geistesgeschichtlichen Zusammenhang mit der Entdeckung des Blut-
kreislaufes durch den englischen Arzt HARVEY kaum verbergen können.

259
14 Jürgen Rödig

Mag die Natürlichkeit des Wirtschaftskreislaufes, wie ihn die Physio-


kraten sahen, auch stark den Charakter jener Ursprünglichkeit besitzen,
auf die man beim Genuß von frischer Landluft schließt, so tritt gleich-
wohl zu solcher Uberbetonung des Produktions faktors Boden der Gedanke
der Selbstregulierung erkennbar hinzu. Es komme, wie QUESNAY lehrt,
beim Erlaß neuer Gesetze darauf an, den "ordre naturei" zu treffen,
namentlich den Gesetzmäßigkeiten des Marktgeschehens gerecht zu werden.
Unmißverständlicher noch hat DUPONT DE NEMOURS, ein Mitarbeiter TURGOTs,
die Forderung erhoben, daß die Souveräne beim Erlaß von Gesetzen nichts
anderes als die natürlichen und wesenhaften Gesetze der sozialen Ord-
nung zu verkündigen hätten. Hatten die Physiokraten das Funktionieren
der Wirtschaft vorwiegend von der Gewinnerzielung durch vernünftige
Nutzung von Rohstoffen her konzipiert, so hebt SMITH vor allem die Ar-
beit und hier wiederum vor allem die Arbeitsteilung hervor. Zunehmende
Arbeitsteilung aber impliziert die Notwendigkeit der Steuerung von Er-
zeugung und Verbrauch. Jedoch solche Steuerung komme am ehesten zustan-
de, wenn man Anbieter und Nachfrager - von marktkonformen Eingriffen
abgesehen, die schon SMITH erwähnt - nach Möglichkeit frei schalten
und walten lasse. Das Verhältnis von Angebot und Nachfrage wird gerade-
zu im Sinne von LEIBNIZ'ens prästabilisierter Harmonie gedacht.

Ist der Leistung des Einzelnen erst einmal jene dominierende Funktion
eingeräumt, die es soeben zu skizzieren galt, dann liegt es nahe, nach
Möglichkeiten für die Wahrung des Leistungsergebnisses zu fragen. Soll
die Initiative des Einzelnen schon als jener Gaul fungieren, der vor
den Karren des öffentlichen Interesses gespannt werden kann, dann kommt
es darauf an, dem Einzelnen den Ertrag seiner Leistung als erstrebens-
wert erscheinen zu lassen. Jedenfalls die Chance privaten Eigentums,
bis zu einem gewissen Grade auch die Chance privaten Erbrechts, gilt
es zu eröffnen, wenn man mit liberalistischer Wirtschaft ernst machen
will. Wie weit diese Chancen eröffnet werden sollten, ist freilich eine
vom frühen Liberalismus nicht befriedigend gelöste Frage; können doch
das Eigentum und vollends das Erbrecht ihrerseits zu jener Unterschied-
lichkeit der Ausgangspositionen führen, die das Bürgertum so schlüss~g
- wenn auch weniger an die Adresse der Arbeiterklasse als vielmehr an
die Adresse der obersten Klassen - zu tadeln verstand. Daß es indessen
eines wie immer strukturierten Schutzes sowohl der Erbringung als auch
des Ertrages eigener Leistung bedarf, diese Forderung ist und bleibt
mit dem Gedanken des Liberalismus verbunden. Wenn daher schon Eingriffe
in die persönliche Freiheit des Einzelnen sowie in dessen Eigentum und
Erbrecht zur Debatte stehen, dann soll es wenigstens der Betroffene
selbst sein, dessen Wille als integrierender Bestandteil einer volonte
generale über Ausmaß und Berechtigung des Eingriffes entscheidet. Schon
die Forderung, daß die Gesamtheit der Betroffenen mitzubefinden habe,
wirkt sich nun naheliegenderweise auf den Inhalt der Entscheidung aus.
Erst der hinlänglich verallgemeinerungsfähige Eingriff, der je nach
Situation selbst den im Augenblick von der Regelung Begünstigten zu
treffen vermag, scheint Aussicht auf die erforderliche Befürwortung
seitens der Mehrheit der Rechtsgenossen zu besitzen. Zugleich scheint
durch die soeben angestellten Uberlegungen - und zwar a fortiori - die
Regelungsmaterie des Rechtsgesetzes charakterisiert zu sein. Als Rege-
lungsgegenstand des Gesetzes werden die persönliche Freiheit des Ein-
zelnen im allgemeinen, dessen Eigentum (das Erbrecht inbegriffen) im
besonderen betrachtet. Die nach Maßgabe des genannten Kriteriums zu
ziehende Grenzlinie trennt laut ANSCHUTZ "die Rechtsnormen von den
Nichtrechtsnormen". Ja, bei konsequenter Fortführung müßte die besagte
Grenze geradezu das Privatrecht von den heute als "öffentliches Recht"
eingeordneten Gebieten zu sondern vermögen. Und in der Tat, sowohl der
Gegenstand als auch die geschichtlich gewachsene Rationalität seiner
Behandlung scheinen dem Privatrecht jene Stabilität zu verleihen, die
noch einem Rechtsdenker wie Friedrich Carl VON SAVIGNY als Kriterium

260
Zum Begriff des Gesetzes in der Rechtswissenschaft 15

für die Abgrenzung der rechtlichen von der po~itischen Regelung dient.
Die Verwandtschaft der Funktionen, die einerseits das Privatrecht sowie
andererseits der juristische Gesetzesbegrifffür das Bürgertum wahrzu-
nehmen hatten, kann nach alledem nicht mehr verwundern.

So sehr die geschilderten Zusammenhänge den Anschein systematischer Ge-


schlossenheit erwecken, so eignet ihnen in Wirklichkeit doch nur jenes
Maß an Plausibilität, das wir für die Erklärung eines - von hinlänglich
vielen Personen mit vollzogenen - gesellschaftlichen Vorganges benöti-
gen. Von innerer Zwangsläufigkeit jener Zusammenhänge kann nicht die
Rede sein. Die mangelhafte Statik des Gedankengebäudes kam schon bei
den ersten Belastungsproben zum Vorschein. Was den preußischen BUdget-
konflikt betrifft, so ließ sich nur noch die Wichtigkeit der Angelegen-
heit als Grund für die Zuständigkeit der Volksvertretung ins Treffen
führen. Jedoch Freiheit und Eigentum des Einzelnen waren allzu naiv-
individualistisch gedacht, als daß diese Kriterien ausgereicht hätten,
der zwar nur mittelbaren, aber durchaus intensiven Berührtheit des Ein-
zelnen durch einen Staatshaushalt gerecht zu werden. (Vollends staat-
liche Gewährungen an den Einzelnen, die gerade den Charakter des moder-
nen Sozialstaates bestimmen, müssen aUßerhalb des Einzugsbereiches des
Gesetzes bleiben, wenn man jeweils eine Ubersetzung dieser Akte in jene
Eingriffe (zulasten jeweils anderer Personen) verlangt.) Zur Problema-
tik der nur mittelbaren Berührtheit des Einzelnen durch den Haushalts-
plan kam die Schwierigkeit hinzu, das für die Verbindlichkeit des Etats
erforderliche Maß an Spezialisiertheit erstens schon im vorhinein und
zweitens auf jene gleichsam zeitlose Weise zu erreichen, die gängigen
Vorstellungen vom Regelungsgehalt des Gesetzes entsprach. Je mehr die
inhaltlichen Kriterien für den Regelungsgehalt des Gesetzes versagten,
desto weniger war die Kompetenz der Exekutive für den Erlaß der nun
einmal erforderlichen Regelung in Zweifel zU ziehen. So wirkte sich der
qualitative Anspruch, den das Gesetz gegenüber anderweitigen Regelungs-
formen erhob, im Sinne gleiChsam einer Definitionslast der Legislative
zu deren Ungunsten aus. Jedenfalls der juristische Gesetzesbegriff war
nicht das rechtliche Mittel, mit welchem gekonnter politischer Taktik
ernsthafter Widerstand hätte entgegengesetzt werden können.

Auch aus der Geschichte können wir jene qualitativen Kriterien, anhand
deren man das Gesetz materiell zu charakterisieren versuchte und noch
immer versucht, beim besten Willen nicht lernen. Teils hat es bei einem
vagen Bezug auf ökonomische oder gar naturwissenschaftliche Gesetz-
mäßigkeiten bewendet, die erstens ihrerseits unter Vagheit leiden und
zweitens selbst dann, wenn sie präzise wären, keinen SchlUß von den ein-
schlägigen Fakten auf entsprechende Sollenssätze gestatteten. Teils
aber liefert die Geschichte gerade umgekehrt Anschauungsmaterial für
einen Gesetzesbegriff, dessen Verwendung sich streng genommen erst für
den Fall des Fehlens von Kriterien für den Gerechtigkeitswert von Ge-
setzen als sinnvoll erweist. Vermag sich die gesetzesartige Regelung
schon kraft ihres inhaltlichen Niveaus als solche auszuweisen, so
braucht sie, wie bereits erwähnt, nicht erst aufgeschrieben (oder sonst-
wie sinnlich wahrnehmbar festgehalten) zu werden. Handelt es sich bei
jener Richtigkeit nur noch um die eines Naturrechts mit wandelndem In-
halt, so spricht die Vermutung für einen derart stetigen Wandel, daß
das Erfordernis der Aufgeschriebenheit eher als richtigkeitshemmend er-
scheint. In der Tat wächst die Abhängigkeit der Geltung einer gesetzes-
artigen Regelung von ihrer Aufgeschriebenheit in dem Maße, als diese
Regelung nicht schon aufgrund ihres Inhaltes allgemeingültig ist. So hat
etwa die schriftliche Fixierung eines Vertrages ihren guten Sinn. Kraft
eines hinlänglich zuverlässigen Textes, der u.a. von dem zu seinem
Nachteil Betroffenen gezeichnet ist, wird derjenige, der einen vertrag-
lichen Anspruch erhebt, in eine beweisrechtlich vorteilhafte Lage ver-
setzt. In Gestalt der mittelalterlichen Satzung weist das gesatzte

261
16 Jürgen Rödig

Recht durchaus vertraglichen Charakter auf, zu dessen Durchsetzung


sich der jeweils Begünstigte auf den Inhalt der erstellten Urkunde be-
ruft. Bezeichnenderweise mußte sich freilich gerade das gesatzte Recht
Zweifel gefallen lassen, was seinen Richtigkeitsgehalt betrifft. Wäh-
rend das tradierte Recht schon seiner Tradition wegen die Vermutung
der Richtigkeit für sich hatte und deshalb allem Anschein nach nicht
erst gesetzt zu werden brauchte, scheint die mittelalterliche Satzung
wie namentlich eine Landfriedenseinung zunächst nur im Sinne einer
Selbstbindung der Vertragsschließenden verstanden worden zu sein; all-
gemeine Geltung vermochte der Regelungsgehalt der Satzung hiernach erst
im Wege jener anschaulich so genannten "Eideslawine" zu erlangen, die
an der Spitze eines Lehensverbandes entstand.

Nun erscheint aber die "nur" ausgehandelte Regelung, eine modernere


Staatsverfassung vorausgesetzt, als so undemokratisch und insoweit als
so illegitim auch wieder nicht. Und umgekehrt muß man fragen, wie jener
so gerne beschworene Gerechtigkeitswert, der das Gesetz von der Maß-
nahme abheben soll, überhaupt anders als im Rahmen eines demokratischen
Verfahrens für verbindlich erklärt werden könne.

111. Die zeitgenössische Lehre vom Gesetz im Schatten eines logisch


unkontrollierten Allgemeinheitsbegriffes

1. Quantorenlogische Voraussetzungen

Soll das Kriterium der Allgemeinheit des Gesetzes, auf welches immer
wieder - wenngleich unterschiedlich explizit - Bezug genommen wird,
einer auch nur halbwegs exakten Analyse unterworfen werden, so kommt
man um die Klärung eini~er formal logischer Kategorien nicht herum. Ei-
nem Mißverständnis gilt es sogleich vorzubeugen: Der Versuch einer
formal logisch fundierten Klärung ist nicht etwa im Sinne eines aussahUeP.r
liah logisch ausgerichteten Ansatzes zu deuten. Wir würden uns im Ge-
genteil über jeden Gesichtspunkt freuen, der eine materiale Konturie-
rung des Allgemeinheitsbegriffes verspricht. Worauf es hier ankommt,
das ist vielmehr eine Analyse des Allgemeinheitsbegriffes insoweit,
als man sich dieses Begriffes als eines formalen Kriteriums bedient.
Ein bißehen polemisch kann unser Vorhaben gegenüber anderweitigen Vor-
gehensweisen wie folgt abgegrenzt werden. Es soll nicht stets dann,
wenn ein formaler Ansatz problematisch zu werden beginnt, auf einen
inhaltlichen Ansatz ausgewichen und es soll nicht stets dann, wenn ein
inhaltlicher Ansatz problematisch zu werden beginnt, auf einen formalen
Ansatz ausgewichen werden können. Es soll also insbesondere der formale
Ansatz gleichsam "ohne Rücksicht auf Verluste" durchgeführt werden;
und zwar ohne Rücksicht auf das Risiko, daß das Ergebnis unserer Be-
mühungen in der Einsicht besteht, das Kriterium der Allgemeinheit
eines - juristischen - Gesetzes sei jedenfalls formallogisch niaht prä-
zisierbar.

Immer wieder ist auf die umgangssprachlichen Zufälligkeiten hingewiesen


worden, welche für den Anschein eines bald allgemeinen, bald konkreten
Gesetzesinhaltes maßgebend sind. Wir tun daher gut, uns im Zweifels-
fall nicht der Umgangssprache, sondern einer nach logischen Gesichts-
punkten normierten Sprache anzuvertrauen. Die Sprache der Prädikaten-
logik erster Stufe mit Identität, der wir uns im Folgenden bedienen,
wird nicht jedem Leser geläufig sein. Es seien daher einige erklärende
Bemerkungen erlaubt, die wir mit einer etwas eingehenderen Behandlung
der Allgemeinheitsproblematik verbinden. In der neueren wissenschafts-
theoretischen Literatur zum Kriterium der Allgemeinheit des Naturge-

262
Zum Begriff des Gesetzes in der Rechtswissenschaft 17

setzes pflegen ebenfalls formale Sprachen - wie wiederum namentlich


die Sprache der Prädikaten logik erster Stufe - verwendet zu werden.

Wir verbinden die Skizzierung logischer Allgemeinheit zweckmäßigerweise


mit einem Studium der sog. "Quantoren". Man unterscheidet zwei Quantoren,
nämlich erstens den GeneraZisator (oder auch "AII-Quantor"), zweitens den
Partiku~arisator (oder auch "Existenz-Quantor"). Mithilfe des Generali-
sators wird zum Ausdruck gebracht, daß jeweils "für alle" Gegenstände
eines vorausgesetzten Gegenstandstypus diese oder jene Beschaffenheit
"gilt". Demgegenüber haben wir den Partikularisator durch umgangs-
sprachliche Wendungen von der Art der folgenden wiederzugeben: "Es
existiert .wenigstens ein Gegenstand dergestalt, daß: ... ". Wir dürfen
es allerdings bei einer umgangssprachlichen Wiedergabe der Quantoren
nicht bewenden lassen. Es kommt vielmehr darauf an, deren logische
Struktur zu erfassen. Zu diesem Behufe müssen wir unsere Aufmerksam-
keit zunächst einmal einigen noch einfacheren logischen Kategorien
schenken.

Es handelt sich zunächst um die Kategorie der "Individuen" im logischen


Sinn dieses Ausdrucks. Wir haben es beim Individuum mit einem Phänomen
zu tun, von welchem eine Beschaffenheit - ein sog. "Attribut" - behauptet
werden kann. Je nach der Anzahl der - jeweils im Rahmen einer geordne-
ten Menge auftretenden - Individuen, auf die sich ein Attribut bezieht,
sprechen wir von der "Ein-", "Zwei-" usw., allgemein von der "n-SteUig-
keit" dieses Attributes. Einstellige Attribute heißen auch "Eigensahaften",
minpestens 2-stellige Attribute heißen auch "Beziehungen". Durch Anwen-
dung eines n-stelligen Attributes auf n Individuen, die ihrerseits als
Elemente einer geordneten Menge (eines Paares, Tripels, Quadrupels oder
allgemein eines n-tupels) aufgefaßt werden können, kommt eine Figur
zustande, welche naiverweise (insbesondere ohne psychologischen An-
spruch!) als "Gedanke" bezeichnet werden mag.

Den Namen eines Individuums nennen wir ein "Subjekt". Im Rahmen der hier
zugrundegelegten Sprache einer Prädikatenlogik erster Stufe mit Iden-
tität werden Subjekte durch die Verbindung jeweils zweier Kleinbuch-
staben symbolisiert, also "aa", "ab", ... , "ba" usw. Nach Bedarf treten
untere Indizes als Unterscheidungszahlen auf. Als sprachliche Entspre-
chungen n-stelliger Attribute dienen n-steUige Prädikate, die sich je-
weils durch Verbindung eines Kleinbuchstabens mit einem (den Anfang
bildenden) Großbuchstaben sowie durch Anhängung eines entsprechenden
oberen Index als der Stellenzahl ergeben, z.B. "Aa O", "BaI", "Bb 2 ".
Wiederum treten nach Bedarf untere Indizes als Unterscheidungszahlen
auf.

Wird ein n-stelliges Prädikat mit genau n - voneinander durch Kommata


getrennten - Subjekten verkettet, so nennen wir diese Verkettung eine
"atomare Aussage". Für die Explikation des Begriffes der Wahrheit derarti-
ger Aussagen ist die extensionaZe Betraahtung der jeweils verwendeten Prädikate
von Bedeutung. Ungeachtet der mit der Verwendung eines bestimmten Prä-
dikates verfolgten begrifflichen Intentionen (etwa Einbeziehung der
Situation des Betrachters im Falle der Unterscheidung des Abendsterns
vom Morgenstern) identifizieren wir die Extension eines 1-stelligen
Prädikates mit der Menge der Individuen, auf welche die durch dieses
Prädikat bezeichnete Eigenschaft zutrifft; identifizieren wir die Ex-
tension eines 2-stelligen Prädikates mit der Menge der (geordneten)
Paare, innerhalb deren die durch dieses Prädikat bezeichnete 2-stellige
Beziehung obwaltet usf. (so fallen beispielsweise die Extensionen der
Prädikate Morgenstern und Abendstern, jeweils aus einer Einermenge be-
stehend, trotz Unterschiedlichkeit der entsprechenden Intentionen zu-
sammen) •

263
18 ]ürgen Rödig

Was etwa die Gläubiger-Schuldner-Beziehung anlangt, so gehen wir V0m


Cartesischen Produkt der Menge der Rechtsgenossen mit derselben Menge
aus, kurz:

Die Extension des entsprechenden Prädikates stellt nun nichts anderes


als eine Teilmenge der zuletzt angeschriebenen Paarmenge dar. So wer-
den wir namentlich Paare der Gestalt <pe l , pe l >, <pe Z ' pe 2 > usf. aus-
zuscheiden haben, um nicht eine gegebene Person als 1hren eigenen
Schuldner auffassen zu müssen. Sei nun die Extension des zur Debatte
stehenden Prädikates - hier kurz: des Prädikates "GI 2 ., .. " - gegeben,
also etwa:

Dann ordnen wir einer entsprechenden atomaren Aussage "G1 2 pe., pe."
den Wahrheitswert des Wahren genau dann zu, wenn das geordnet~ Paat
von Individuen, die durch die mit dem Prädikat verketteten Subjekte
beschrieben werden, Element von EX ("GI 2 . , •• ") ist, d.h. genau dann,
wenn

d.h. in unserem Falle genau dann, wenn i = 1 und 2 ~ j ~ n.

Sind die Wahrheitswerte atomarer Aussagen geklärt, so können wir zur


Bildung komplexer Aussagen übergehen, deren Wahrheitswerte mithilfe
sog. (extensionaler) Junktoren auf die Wahrheitswerte der letztlich
- wenn auch ggf. mehrfach - miteinander verknüpften atomaren Aussagen
zurückgeführt werden können. Als Sonderfall einer "Verknüpfung" sehen
wir die Negation von naturgemäß nur einer Aussage an. Durch Voranstel-
lung des Negators "0" kehren wir den Wahrheitswert der solchermaßen
negierten Aussage um. Zum Negator als dem einzig praktisch 1-stelligen
Junktor treten mehrere 2-stellige Junktoren hinzu, welche die Ve~­
knüpfung jeweils zweier Aussagen auf der Grundlage von deren Wahr-
heitswerten - und nur auf dieser Grundlage - normieren. Unter Verwen-
dung des Konjunktors "1\" etwa nennen wir eine Konjunktion von Aussagen
wahr genau dann, wenn jede der beiden miteinander verknüpften Aussagen
wahr ist. Wie der Konjunktor dem umgangssprachlichen "und" entspricht,
so findet der Disjunktor "v" seine Entsprechung im nicht-ausschließen-
den "oder" (lat. "vel"), findet der extensive Implikator "----;." seine
Entsprechung in der Wendung "stets, wenn ... , so ... ", findet der
intensive Implikator "==9" seine Entsprechung in der Wendung "nur,
wenn .:., so ... " und" findet der Äquivalentor ::~" seine Entspre-
chung 1n der Wendung ... gen au dann, wenn . . . .

Sowohl das "Prinzip" der Konjunktion als auch das der Disjunktion sind leicht der
Verallgemeinerung fähig. Was zunächst die Konjunktion angeht, so nennen wir
die zusammengesetzte Aussage wahr genau dann, wenn jedes ihrer - beiden -
Glieder wahr ist. Warum aber soll es sich um jeweils nur zwei Konjunk-
tionsglieder handeln können? Auf deren Reihenfolge kommt es ohnehin
nicht an. So könnten wir beispielsweise einen 7-stelligen Junktor defi-
nieren dergestalt, daß die mithilfe dieses Junktors gebildete Aussage
dann und nur dann wahr ist, wenn der Wahrheitswert sämtlicher sieben
Teilaussagen in Wahrheit besteht. Freilich nimmt sich auch solche
7-Stelligkeit eher als Produkt des Zufalls aus. Logische Zwangsläufig-

264
Zum Begriff des Gesetzes in der Rechtswissenschaft 19

keit gewinnt die Stellenzahl des von uns gesuchten Junktors - oder
doch junktorenähnlichen Gebildes - erst, wenn wir ihn von den mitein-
ander zu verknüpfenden Aussagen her konzipieren. Es soll beispielsweise
jedem unserer Rechtsgenossen pe l , pe 2 , •.. bis pe n das Attribut der
Rechtsfähigkeit - kurz: "Rf l " - bescheinigt werden. Dann haben wir es
mit einer Verknüpfung von gen au n atomaren Aussagen von Typus "Rflpe."
(1 ~ j ~ n) zu tun. Wiederum ist die Reihenfolge des Auftretens dies~r
Aussagen ohne Belang. Dementsprechend fragt man sich, warum sämtliche
der n atomaren Aussagen eigens notiert werden sollen - etwa in der
Weise, daß wir einen n-stelligen Junktor ~ mit sämtlichen atomaren
Aussagen "Rflpel"' "Rflpe2"' ••• , "Rflpen'I' verketten. Es liegt vielmehr
nahe, die Ge~amtheit dieser Aussagen durch ein und dasselbe Schema je-
der einzelnen Aussage zu ersetzen und dieses Schema sodann mit einem
die beabsichtigte Repräsentation jener Gesamtheit zum Ausdruck bringen-
den Hinweis zu verbinden. Das bezeichnete Schema - man spricht auch
von einer "Aussageform" - gewinnen wir, indem wir den konstanten Teil
"Rf l " beibehalten und an die Stelle des Subjektes einen Platzhalter
- etwa Hp" - mit der Maßgabe setzen, daß Hp" ein beliebig zu wählendes,
jedoch nach getroffener Wahl festzuhaltendes Element der Menge
{"pe l ", "pe 2 ", ... , "penn} vertritt. Derartige Platzhalter nennen wir
auch "VariabLe"; jede Va·riable ist im Zusammenhang mit der Menge der
durch sie potentiell repräsentierten Subjekte - ihrem sog. "Wertbereiah" -
zu sehen. Der Zusammenhang zwischen der Anzahl der Elemente des Wertbe-
reiches einerseits sowie der Stellenzahl des gesuchten junktorenähnli-
chen Gebildes liegt auf der Hand. Ja, diese Entsprechung läßt es sogar
als übßrflüSSig erscheinen, die betreffende Zahl überhaupt explizit zu
nennen. Dies gilt um so mehr, als die Anzahl der Individuen, deren Na-
men den Wertbereich der Subjektsvariablen bilden, ohnehin je nach Art
des Anwendungsgebietes verschieden ausfallen wird. Die solchermaßen er-
öffnete Freiheit er~öglicht insbesondere die zwanglose Berücksichtigung
des Unendlichkeitsfalles; und zwar ermöglicht sie die Berücksichtigung
dieses Falles, ohne da"ß jeweiLs zuvor die unter Umständen außerordentliah heikLe
Frage geklärt werden müßte. ob der Wertbereiah unendliah viele Elemente enthält oder
niaht. Alle diese Uberlegungen vorausgesetzt, führen wir nunmehr das
Symbol "/\" als Generalisator (oder auch als AII-Quantor) ein. Die
"Stelligkeit" des Quantors, die - wie erwähnt - nur implizit zum Vor-
schein gelangt, ist aus der Verkettung des Quantors mit einer bestimmten
Variablen - hier "p" - zu ersehen. Eine derartige Verkettung - hier
"Ap" - heißt auch "Quantifikator". Seine Wirkung äUßert der Quantifika-
tor, wenn wir ihn auf eine Aussageform beziehen, in welcher die Variable
vorkommt, die auch im Quantifikator vorkommt. Dementsprechend lesen wir
die Formel "ApRflp" wie fOlgt: "Für alle (Rechtsgenossen) p gilt: p ist
rechtsfähig".

Die Aussageform "Rflp" ist für sich genommen eines Wahrheitswertes nicht
fähig. Solange Hp" nicht durch einen gleichnamigen - nämlich ebenfalls
Hp" enthaltenden - Quantifikator quantifiziert oder auch "gebunden" ist,
solange Hp" - mit anderen Worten - in "Rflp" "frei vorkommt", liegt ledig-
lich das Schema - oder eben die (von der Individualität wenigstens ei-
nes Individuums abstrahierende) "Form" - einer Aussage vor. Hierbei ist
anzumerken, daß das Vorliegen einer Aussage nicht etwa an der Unbe-
stimmtheit der Variablen scheitert, letztere einer verbreiteten Ubung
zufolge als "unbestimmte" oder gar als "veränderliche Größe" verstanden.
Die Vorstellung von der "unbestimmten" oder "veränderlichen Größe" ist
nur durch eine unglückliche Verquickung des Begriffes der Variablen
mit der Technik logischer Verallgemeinerung zu erklären. Die Variable
ist überhaupt keine "Größe". Sie hält lediglich den Platz für eine Kon-
stante frei, die erstens aus dem Wertbereich der Variablen gewählt und
zweitens nach getroffener Wahl beibehalten werden muß. Von "Unbestimmt-
heit" kann also nur begrenzt und von "Veränderlichkeit" kann gar nicht
die Rede sein. Ihren gesamten Wertbereich durchläuft die Variable erst

265
20 Jürgen Rödig

im Fall der Quantifizierung. Dann aber "verändert" sie sich nicht etwa
im Sinne eines Wechsels ihrer Substantiierung durch bald diese, bald
jene Konstante. Vielmehr läuft besagte Substantiierung auf das - im
Fall der Generalisierung konjunktive - Zusammentreffen sämtlicher Mög-
lichkeiten einer Ersetzung der Variablen durch eine aus ihrem Wertbe-
reich stammende Konstante hinaus. Dies ist ja ausführlich dargelegt
worden. Nicht umsonst haben WHITEHEAD und RUSSELL die quantifizierte
- oder auch gebundene - Variable als nur noch "scheinbare" Variable be-
zeichnet. Da es ohnehin auf ein Durchlaufen sämtlicher Konstanten an-
kommt und die Reihenfolge h1erbei nicht beachtlich ist, fällt sogar
das Merkmal der "Unbestimmtheit" der Variablen im Sinne des noch offe-
nen Ergebnisses der Wahl einer Konstanten aus dem Wertbereich der
Variablen hinweg.

Wie der Generalisator vom Konjunktor, so ist der Partikularisator "V"


vom Disjunktor her erklärbar. Die Behauptung, es gebe wenigstens ein x
mit der Beschaffenheit soundso, ist offenbar äquivalent mit der Ver-
knüpfung sämtlicher der sich durch Substantiierung von x ergebenden
Anwendungsfälle im Sinne des nicht-ausschließenden "oder". Anläßlich
wenigstens eines dieser Anwendungsfälle muß jene Beschaffenheit mit
Recht in Anspruch genommen werden können, wie ja auch die Wahrheit ei-
ner Disjunktion auf der Wahrheit wenigstens eines Disjunktionsgliedes
beruht. Behaupten wir die Existenz eines rechtsfähigen Rechtsgenossen
und stehen deren nur 3 zur VerfÜgung, so stimmt mit (pe l , pe 2 , pe 3 } als
dem Wertbereich von "p" die Aussage" V pRf1p" mit der Aussage
"«RflpelvRflpe2)vRflpe3)" überein, wiederum kommt die praktische Be-
deutung der Quantifizierung bei zunehmender Größe des Wertbereiches,
die theoretische Bedeutung bei einem aus (möglicherweise) unendlich
vielen Elementen bestehenden Wertbereich zum Vorschein.

Der Ordnung halber schlagen wir nunmehr sowohl für die Generalisierung
als auch für die Partikularisierung einige Sprachregelungen vor, die
bereits im Zusammenhang mit der Beschreibung der Generalisierung vorbe-
reitet worden sind. Eine Variable heiße "gleichnamig" mit einem be-
stimmten Quantifikator, wenn sie ein Vorkommnis desselben Buchstabens
ist, aus dem auch der Quantifikator als Verkettung eines Quantors
(Generalisator, Partikularisator) mit einer Variablen besteht. Unter
dem "Wirkungsbereich" eines Quantifikators verstehen wir die Aussage
oder Aussageform, deren erstes Symbol sich unmittelbar rechts von der
Variablen befindet, mit welcher der Quantifikator aufhört. Je nach der
Komplexität der Aussage oder Aussageform wird es sich bei jenem Symbol
um ein Prädikat, eine konvexe Klammer, einen Negator oder wiederum ei-
nen Quantor handeln. Handelt es sich um ein Prädikat, so folgen ihm nur
noch (durch so viele Kommata wie nötig getrennte) Individuen, handelt
es sich um eine konvexe Klammer, so hört der Wirkungsbereich des Quan-
tifikators mit derjenigen konkaven Klammer auf, die mit der konvexen
Klammer korrespondiert. Ferner nennen wir eine Variable durch einen
Quantifikator "gebunden" genau dann, wenn sie mit diesem Quantifikator
gleichnamig ist und in ihm liegt oder in seinem Wirkungsbereich liegt
dergestalt, daß es keinen weiteren gleichnamigen Quantifikator gibt,
der ihr näher steht. Von der "Gebundenheit" einer Variablen spricht
man allgemein auch dann, wenn es irgendeinen Quantifikator gibt, der
sie bindet. Gibt es keinen solchen, dann heißt die Variable "frei".
Schließlich nennen wir einen Ausdruck eine "n-stellige Aussageform"
gen au dann, wenn dieser Ausdruck genau n - voneinander typographisch
verschiedene - Variable enthält sowie im Wege der Ersetzung dieser
Variablen durch Konstante, die jeweils aus dem Wertbereich der Variab-
len stammen, in eine Aussage überführt werden kann. Dementsprechend
kann eine Aussage als O-stellige Aussageform aufgefaßt werden, so daß
es in zahlreichen Zusammenhängen ausreicht, nur noch von Aussageformen
(und nicht noch eigens von Aussagen) zu sprechen. Was freilich den

266
Zum Begriff des Gesetzes in der Rechtswissenschaft 21

charakteristischen Fall einer Aussageform, nämlich das Auftreten wenig-


stens einer freien Variablen, anbelangt, so sei erneut darauf hingewie-
sen, daß nicht schon das Vorliegen einer solchen Aussageform logische
Allgemeinheit verbürgt; diese setzt vielmehr Quantifizierung voraus.

Der funktionale Zusammenhang zwischen Quantoren einerseits und Junkto-


ren andererseits macht wichtige, spezifisch quantorenlogische (also
nicht schon aussagenlogische) Gesetzmäßigkeiten verständlich. Die
Variablen "p", "PI" usw. seien durch jeweils denselben Wertbereich
(sog. "einsartiger" Prädikatenkalkül), und zwar der Einfachheit halber
durch jeweils den Mini-Wertbereich {"pei'" "pe2"}, erklärt. Dann stimmt
etwa, wie schon bemerkt, "VPRflp" mit" (RflpelvRflpe2)" überein. Ent-
sprechend sind "I\. pRflp" und" (RflpeIARflpe2)" miteinander äquivalent.
Die Äquivalenz (im Folgenden angedeutet durch das metasprachliche Sym-
bol "äq") bleibt bestehen, wenn wir beide Seiten negieren: "-,l\.pRflp"
äq " , (Rf l pe 1I1Rf l pe 2 )". Hinsichtlich der letzteren Formel gilt schon
aus junktorenlogischen Gründen " , (RflpeIARflpe2)" äq "(,Rflpel v
IRflpe2) ". Nunmehr erlaubt der Partikularisator eine vereinfachte
Notierung: " ( , Rf lpe 1 V-, Rf lpe 2 )" äq "V P-' Rf lp", mithin " , I\. pRf lp"
äq "Vp-,Rflp". Nun noch eine weitere Kette von Äquivalenzen, deren
erstes und letztes Glied man vergleiche: "VPlI\.P2IG12~I'P2" äq
"VPl (IG1 2 pl ,pe 111-,G1 2 pl ,pe~)" äq "( (,G1 2 pe 1 ,pe 111lGl pe 1 ,pe 2 ) v
(,G 2pe 2 ,pe 111 IG1 2 pe 2 ,pe;2) ) äq" ( , (G1 2 pe l ' pe 1 vG1 2 pe l ' pe2) v
,(G12pe2,pelvG12pe2,pe2»" äq " ( , V P2G12pei ,P2V1 V P2G12pe2,P2)"
äq "-'(VP2G 2peI'P2I\VP2G12pe2,P2)" äq "-,J\PIVP2G12Pl,P2". Auch ge-
wisse Ableitungsregeln im Rahmen formalen Beweisens wie etwa die Regel
GB für das Beseitigen von Generalisatoren leuchten ein; wie man aus
einer Konjunktion auf das Vorliegen eines Konjunktionsgliedes schlie-
ßen darf, so ist wegen "/\ Rflp" äq "(RflpeIARflpe2)" die Ableitung von
"Rflpel" aus "I\. pRf1p" gestattet.

Natürlich haben wir an dieser Stelle keine noch so oberflächliche Ein-


führung in die Prädikatenlogik zu geben vermocht. Es galt lediglich,
einige spezifisch quantorenlogische Aspekte hervorzuheben, welche für
eine logisch orientierte Diskussion des Allgemeinheitskriteriums, in
die wir nun einsteigen wollen, bedeutsam sein können.

2. Möglichkeiten logisch konzipierter Allgemeinheit des juristischen


Gesetzes

Nach der heute vorherrschenden Ansicht charakterisieren Generellität


und Abstraktheit das juristische Gesetz im materiellen Sinn. Wie be-
reits referiert, ist das Merkmal der Generellität auf den Adressaten-
kreis, das Merkmal der Abstraktheit auf den Kreis der geregelten Fälle
bezogen. Jedoch beide Male soll es sich um eine "unbestimmte Vielheit"
handeln - hier um eine unbestimmte Vielheit von Sachverhalten, dort von
Adressaten.

Man könnte versucht sein, die "Unbestimmtheit" der besagten Vielheit


mithilfe einer wenigstens 1-stelligen Aussageform zum Ausdruck zu brin-
gen. Die Aussageform würde also wenigstens eine freie Variable enthal-
ten. Betrachten wir als Beispiel folgende Aussageform mit "Gb l " für
die Eigenschaft, die Geburt vollendet zu haben (sowie wiederum mit
"Rf l " für die Eigenschaft, rechtsfähig zu sein):

Gehen wir von einem hinreichend großen Wertbereich der Variablen "p",
nämlich von einer hinreichend großen Menge von (Eigen-)Namen von Rechts-
genossen aus, so läßt sich ein entsprechend hohes Maß an Unbestimmt-

267
22 Jürgen Rödig

heit in der Tat kaum leugnen. Es steht mit (1) ja nicht fest, welcher
Rechtsgenosse seinen Namen für die anstelle von "p" zu setzende Kon-
stante hergeben soll. Jedoch es steht mit (1) nicht einmal fest, daß
überhaupt so etwas wie ein stets wiederkehrender Zusammenhang zwischen
Vollendung der Geburt und Rechtsfähigkeit obwaltet. Formel (1) ist wie
jede wenigstens 1-stellige Aussageform ohne jegliche Aussagekraft. Es
handelt sich um keine Aussage, sondern lediglich um das Schema einer
solchen. Zwar lassen sich mithilfe dieses Schemas leicht Aussagen er-
zeugen, doch derartige Aussagen brauchen selbst dann, wenn sie das Er-
gebnis von Quantifizierungen sind, nicht die gewünschte Allgemeinheit
zu besitzen. Gehen wir etwa von (1) zu

2 (2) AE

über und legen wir der Ubersichtlichkeit halber abermals einen nur
zweielementigen Wertbereich von "p" zugrunde, dann stimmt (2) mit

3 (3) AE

überein, und (2) ist aus junktorenlogischen Gründen mit

4 (4) AE

äquivalent. Hiernach wird Wahrheit schon durch die Tatsache erreicht,


daß pe 1 oder pe 2 noch nicht die Geburt vollendet haben, sodaß die in-
tendierte Gesetzmäßigkeit dahingestellt bleiben kann. Haben dagegen
beide Rechtsgenossen die Geburt vollendet, so reicht es für die Wahr-
heit von (4), daß nur einer von ihnen rechtsfähig ist. Jedoch gerade
derartige Fälle sollten durch die intendierte Gesetzmäßigkeit ausge-
schlossen werden.

Tatsächlich vermag Aussageform (1) die ihr zugedachte Funktion dann zu


erfüllen, wenn wir sie generalisieren:

5 (5) AE

Nunmehr wird der Zusammenhang zwischen Vollendung der Geburt und Rechts-
fähigkeit von jedem Rechtsgenossen behauptet. (5) ist bei wiederum
zweielementigem Wertbereich von "p" mit

6 (6) AE

und (6) mit

7 (7) AE

äquivalent; es kann also keiner der beiden Rechtsgenossen die Geburt


vollendet haben, ohne - Notwendigkeit der Verifizierung jedenfalls des
jeweils zweiten Disjunktionsgliedes! - rechtsfähig zu sein (die inhalt-
liche Problematik eines Verlustes der Rechtsfähigkeit durch Erleiden
des Todes können wir hier unberücksichtigt lassen).

Trotz ihrer Ubersetzbarkeit in Formeln (6) und (7) erfüllt (5) jedoch
gerade jene Erwartungen nicht, die wir mit dem Kriterium der Allgemein-
heit im Sinne einer "unbestimmten" Vielheit verbinden. Denn fürs erste
kann von "Unbestimmtheit" nicht die Rede sein, wie im letzten Abschnitt
ausführlich dargelegt worden ist, geht jegliche Quantifizierung, also
insbesondere jegliche Generalisierung, auf Kosten gleichsam der "Echt-
heit" der betroffenen Variablen. Deren Fähigkeit, wie immer zu variie-

268
Zum Begriff des Gesetzes in der Rechtswissenschaft 23

ren, hört auf; es wird ja ohnehin jeweils der gesamte Wertbereich der
Variablen durchlaufen, und zwar wegen der Kommutativität von Konjunk-
tions- oder auch Disjunktionsgliedern in der Weise, daß es auf die
Reihenfolge der Elemente des Wertbereiches nicht ankommt. Zum zweiten
nehmen wir, von einer "Vielheit" sprechend, den Mund entschieden zu
voll. Die durch Generalisierung erzielte Allgemeinheit bezieht sich
auf nicht weniger, aber auch nicht auf mehr Objekte, als es Elemente
des Wertbereiches der quantifizierten Variablen gibt. So kann der Wis-
sensdurst den Logiker gar beflügeln, sich mit der Gültigkeit von For-
meln wie etwa

8 (8) "(/\aAa1a ~ VaAa1a)" AE

auf der Grundlage eines leeren Wertbereiches von "a" zu befassen. Gön-
nen wir uns sodann einen immerhin einelementigen Individuenbereich, so
geht es zwar ebenfalls ohne Uberraschungen nicht ab. Wohl trifft (8)
nunmehr unbezweifelbar zu, jedoch auch Formeln wie

9 (9) a = b" AE

beanspruchen ungerührt Geltung:


"/\a/\b a = b" äq "/\a a = aa" äq "aa = aa". Umgekehrt gilt es fest-
zuhalten, daß sämtliche Aussagen, die sich auf genau ein Individuum be-
ziehen, bei Zugrundelegung eines einelementigen Individuenbereiches
logisch exakt in generalisierte Formeln übersetzen lassen. So stimmt
etwa aufgrund der getroffenen Annahme

10 (10) AE

mit

11 ( 11 ) AE

überein.

Das den Begriff des Rechtsgesetzes anscheinend mitbestimmende Allge-


meinheitskriterium ist nach alledem, sofern man dieses Kriterium lo-
gisch zu präzisieren versucht, nicht schon anhand des Auftretens von
Quantoren zu charakterisieren. Es scheint vielmehr darüberhinaus einer
gewissen Mindestanzahl der Elemente des Wertbereiches der quantifizier-
ten Variablen zu bedürfen. Um welche Anzahl es sich hierbei handeln
soll, ist freilich auf logischem Wege nicht zu ermitteln. Ob wir es mit
jenem sagenumwobenen Indianerstamm halten und schon nach "eins" und
"zwei" nur noch von "viele" reden oder aber ob wir es bei jener dezen-
ten "Vielheit" des juristischen Gesetzesbegriffes belassen, von welcher
kein Mensch weiß, wann sie beginnt, ist logisch einerlei. Wenn wir den
Begriff der "Vielheit" schon qualitativ erfassen wollten, so müßten
wir uns eines Kriteriums bedienen, daß im einschlägigen Schrifttum
nicht nur nicht verwendet wird, sondern mit einer an Sicherheit gren-
zenden Wahrscheinlichkeit für inadäquat gehalten würde: des Kriteriums
der Unendlichkeit nämlich, bescheidene'rweise nur im Sinne der Abzählbar-
keit verstanden. Jedoch wir kommen um dieses Kriterium, wenn wir die
Erörterung einer logischen Präzisierbarkeit des juristischen Allgemein-
heitsbegriffes ni'cht gleichsam "vorzeitig" abbrechen wollen, gar nicht
herum. Endliche Wertbereiche vorausgesetzt, erscheinen Quantoren als
durch Junktoren ersetzbar. Deren Funktionen sind es, welche die Quan-
toren - wenn auch ungleich eleganter - übernehmen; demgegenüber bleibt
die Anzahl der Elemente des Wertbereiches der jeweils quantifizierten
Variablen in dem vorausgesetzten Endli~hkeitsfall (von praktischen
Schwierigkeiten der Notation, die ein Computer weitgehend meistern
hülfe, einmal abgesehen) ohne Belang.

269
24 Jürgen Rödig

Lassen wir im Folgenden daher die Möglichkeit eines jeweils unendlich


großen Wertbereiches der quantifizierten Variablen ausdrücklich zu. Um
welches logische Entgegenkommen es sich hierbei handelt, macht man sich
anhand der Uberlegung klar, daß praktisch so naheliegende Individuen-
bereiche wie etwa die Menge der Rechtsgenossen die Endlichkeitsschwelle
schwerlich zu überschreiten vermögen. Doch leider hören die Schwierig-
keiten einer adäquaten Explikation des Allgemeinheitskriteriums selbst
bei Zulassung unendlich großer Wertbereiche nicht auf. So könnten wir
versucht sein, einen Rechtssatz allgemein zu nennen genau dann, wenn
es wenigstens eine logisch äquivalente generalisierte Aussage gibt
(wobei diese Aussage bereits in jenem Satz bestehen kann). Man stellt
jedoch leicht fest, daß jede nicht-quantifizierte Aussage in eine gene-
ralisierte überführbar ist - und zwar sogar in eine sOlche, bei welcher
sich die Generalisierung über einem unendlichen Bereich von Individuen
vollzieht. Wir zeigen dies im Folgenden für die atomare Aussage
AE

unter Verwendung zweier Ableitungsregeln JD K und JD R betreffend die


Kongruenzeigenschaft sowie die Reflexivität der Identitätsbeziehung:
13 "!\P1!\P2 (P1 = P2 ~ (Rf1P1 ~ Rf1P2))" JD K

14 "!\ P2 (pe 1 = P2 ~ (Rf1pe l ~ Rf1P2))" (13)GB

15 "(pel pe 2 ~ (Rf1pe l ~ Rf 1pe 2 ))" (14)GB

16 ( 12) "(pe 1 pe 2 ~ Rf 1pe 2 )" ( 12) (15)JL

17 ( 12) "!\p (pe l =p ~ Rf1p)" (16)GE

Aus (12) ist mithin auf (17) zu schließen; nun muß noch (12) aus (17)
abgeleitet werden:
18 (17) "(pe 1 = pel ~ Rf1pe l )" (17)GB

19 " I\p (p = p)" JD R


20 "(pel = pel)" (19)GB

21 (17) "Rf1pe l " ( 18) (20)JL

Kann nun aber jede Aussage, die nicht schon eine Generalisierung ist,
in eine generalisierte Fassung umgeformt werden, so würde das vorhin
genannte Allgemeinheitskriterium durch jede Aussage erfüllt - ein offen-
bar unfruchtbares Ergebnis. Versuchen wir das Kriterium der Allgemein-
heit daher schärfer zu fassen, und zwar dahin, daß eine Aussage dann
und nur dann "allgemein" heißen solle, wenn es keine mit ihr äquiva-
lente Aussage gibt, die nicht (auch) die Form einer Generalisierung
aufweist. Diesen Vorschlag vorausgesetzt, scheint die Allgemeinheit
der Aussage nicht mehr gleichsam auf einem sprachlichen Zufall zu be-
ruhen. Sei nun aber
AE

jene - generalisierte - Aussage, um deren Allgemeinheit es geht. Dann


ist aus (22) auf eine Aussage - (23) - zu schließen, die nicht mehr

270
Zum Begriff des Gesetzes in der Rechtswissenschaft 25

die Form einer Generalisierung besitzt, und umgekehrt:

23 (22) "(Ap (Gb1p --;. Rf1p) A (Gb1pev-lGb1pe»" (22)JL

24 (23) "A p (Gb1p --;. Rf1p)" (23)JL

Was (23) betrifft, so erschöpft sich der Wirkungsbereich des Quantifi-


kators "Ap" bereits in der Aussageform "(Gb1p - ? Rf1p)"; der Gesamt-
ausdruck ist keine Generalisierung mehr. Das skizzierte Verfahren -
Hinzufügung eines wahren Konjunktionsgliedes (oder auch eines falschen
Disjunktionsgliedes) - ist offenbar leicht der Verallgemeinerung fähig;
es würden also im Ergebnis überhaupt keine allgemeinen Aussagen aner-
kannt werden können.

Nun wird man freilich einwenden, Formel (23) besitze nur scheinbar in-
dividuellen Charakter. Zwar kommt der Name eines Individuums - nämlich
"pe" - vor. Von diesem Individuum ist indessen auf eine sachlich irre-
levante Weise die Rede, was nicht besser als durch die Äquivalenz der
Formel mit einem den Eigennamen nicht enthaltenden, weiteren Ausdruck
belegt werden kann. Worauf es - wenn überhaupt - ankommt, das müßte
mithin das pe levante Auftreten von Subjektskonstanten sein. So scheint
"pe" beispielsweise in

25 (25) AE

relevant aufzutreten. Jedoch eine erste Einschränkung müssen wir machen,


wenn wir BERTRAND RUSSELs Hinweis beherzigen, jedes Individuum pflege
von uns mit dem Ergebnis einer bestimmten Kennzeichnung identifiziert
zu werden. pe mag diejenige Person sein, die die Drachenburg auf dem
Drachenfels am Rhein erbaute. Durch "Bd 1 " werde die erwähnte Erbauer-
eigenschaft zum Ausdruck gebracht. Von "demjenigen, welchem" die Dra-
chenburg verdankt werden muß, kann offenbar nur dann die Rede sein,
wenn nicht zwei oder mehr Personen als Erbauer fungieren. Man wird (25)
demgemäß durch folgende Formel ersetzen können, die keinen Individuen-
namen mehr enthält:

26 (26) AE

Nun steht freilich nicht für die Kennzeichnung jedes Individuums, von
welchem etwas ausgesagt werden soll, ein so glänzendes Prädikat wie
"Bd 1 " zu Gebote. Jedoch es kann auch bei weniger glänzenden Prädikaten
bewenden, sofern diese nur hinreichend kennzeichnungskräftig sind. Ja,
QUINE gibt uns sogar den Mut zur erforderlichen Fantasielosigkeit für
den Fall, daß uns eine bessere Prädizierung als die mithilfe des zu
kennzeichnenden Individuums selbst nicht einfällt. Herr Müller wird
durch die Müller-Eigenschaft, Herr Maier durch die Maier-Eigenschaft
charakterisiert (jeweils gerade einen Müller oder gerade einen Maier
vorausgesetzt); Herr pe, ohnehin ein Opfer der Symbolisierung, erklärt
sich selbst durch "Pe 1 ":

AE

Eine Restriktion des Prädizierungsverfahrens, welche das Umfunktionie-


ren von Individuennamen in Prädikate verböte, ist logisch nicht moti-
vierbar. Für die semantische Fundierung unserer formalen Sprache reicht
die Angabe des Zusammenhanges aus, der zwischen der Extension eines
Prädikates einerseits sowie dem Wahrheitswert der mithilfe dieses Prä-
dikates gebildeten Aussage andererseits besteht. Auf die Anzahl der
n-tupel, durch welche wir die Extension eines n-stelligen Prädikates
jeweils erklären, kommt es nicht an. Insbesondere kann es sich - wie

271
26 Jürgen Rödig

eben im Falle der Umfunktionierung eines Eigennamens - durchaus um ein


und nur ein 1-tupel, also um eine Menge handeln, in welcher gerade ein
Element (bzw. eine mithilfe dieses Elementes gebildete, unnötigerweise
geordnete Einermenge) vorkommt.
Individuennamen sind nach alledem logisch entbehrlich. Gleichzeitig
fallen sämtliche Möglichkeiten hinweg, die Allgemeinheit des Gesetzes
im Wege der Abgrenzung des Gesetzes von solchen Rechtssätzen zu moti-
vieren, die sich in relevanter Weise auf Individuen (im logischen Sinne
dieses Ausdruckes) beziehen. Doch damit ist es leider nicht genug. In
den Uberlegungen nämlich, die sich auf die Umfunktiortierbarkeit von
Individuennamen in entsprechende Prädikate beziehen, ist bereits der
Ansatz für die Verwerfung eines denkbaren weiteren Allgemeinheitskri-
teriums enthalten.
FUhrt schon der formale Gesichtspunkt des - selbst relevanten - Auftre-
tens von (symbolisch als solchen erkennbaren) Individuennamen nicht
weiter, so scheint man doch immer noch auf den Umstand abstellen zu
können, ob sich eine Aussage awnindest der Sache nach auf einzelne Fälle
bezieht oder nicht. Mag die häufig anzutreffende Eigenschaft eines In-
dividuums, mit sich selbst identisch zu sein (kurz "Jd 1 "), formal auch
nicht von der Eigenschaft unterschieden werden können, Erbauer der
Drachenburg zu sein, so scheint es dennoch einen sehr erheblichen Un-
terschied zu bedeuten, ob ich die Fähigkeit zur persönlichen Haftungs-
begrenzung (kurz "Hb 1 ") von der Innehabung dieser oder aber jener Ei-
genschaft abhängig mache. Während
28 (28) AE
geradezu das gesamte geltende Recht zu reformieren beansprucht, wenn-
gleich auf eine in formaler Hinsicht etwas ungewöhnliche Weise, scheint
29 (29) AE
gar - an längst vergangene Phasen der Rechtsgeschichte erinnernd - dem
Erbauer der Drachenburg ein Privileg einräumen zu wollen. Obwohl weder
(28) noch (29) Subjektskonstante enthalten, scheinen wir es bei (28)
mit einer allgemeinen Regelung, bei (29) dagegen mit dem Wolf des Ein-
zelfallgesetzes im Schafspelz der Generalisierung zu tun zu haben.
Was nämlich die Anzahl der Anwendungsfälle betrifft, so sind es bei
(28) so viele, wie es Elemente des Wertbereiches von "p" gibt1 dies-
bezüglich legen wir uns, wie der Leser sich erinnert, neuerdings keine
Beschränkungen mehr auf (mag die Vermutung auch für die Existenz von
nur endlich vielen Rechtsgenossen spreChen). Bei (29) dagegen handelt
es sich allem Anschein nach - und zwar bereits der Einmaligkeit der
Drachenburg samt der ihres Erbauers wegen - um einen und nur einen
Anwendungsfall. Hat pe (und nur er) die Drachenburg errichtet, so bil-
det
30 (30) "Bd1pe" AE

den einzigen "Fall", in welchem sich die unter (29) aufgeführte Rege-
lung zu bewähren vermag.
Nun wird man aber zugeben müssen, daß "Jd1p", als Bestandteil von (28)
verstanden, nicht gerade den Typ des Tatbestandes eines Rechtssatzes
bildet. So allgemein, daß alle Rechtsgenossen ihn denknotwendig erfül-
len, pflegt der Tatbestand auch wieder nicht auszufallen. Ja, ein der-
artiger Tatbestand wäre sogar überflüssig. Was "Jd 1 " betrifft, wird
man getrost von folgender "Weisheit" ausgehen dürfen:

272
Zum Begriff des Gesetzes in der Rechtswissenschaft 27

31 JD 1

Dann schließen wir:

32 (28) "(Jd1pe ~ Hb1pe") (28)GB

33 "Jd1pe" (31)GB

34 (28) "Hb1pe" (32) (33)JL

35 (28) " ;\p Hb1p" (34)GE

36 (35) ";\p Hb1p" AE

37 (35) "Hb1pe" (36)GB

38 (35) "(Jd1pe ~ Hb1pe)" (33) (37)JL

39 (35) ";\p (Jd1p ~ Hb1p)" (38)GE

Die Uberflüssigkeit des Tatbestandes "A


p (Jd1p ~ ... )" wird, wie
man sieht, durch die logische Gleichwertigkeit von
"/\ p (Jd1p ~ Hb1p)" mit
";\ p Hb1p" (s. Zeilen (28), (35) und (39)) zum Ausdruck gebracht.

Sobald der Tatbestand nun aber aufhört, überflüssig zu sein, sobald er


also nicht mehr notwendig auf jede Person oder jeden Sachverhalt zu-
trifft, stoßen wir auf "Vielheits"-Probleme von der Art jener, mit de-
nen wir uns bereits herumschlagen mußten. Während es in dem erwähnten
Zusammenhang um die Anzahl der Elemente ging, die der Wertbereich der
quantifizierten Variablen aufweist, haben wir es nunmehr mit der An-
zahl der Anwendungsfälle zu tun. Wir haben seinerzeit - der Leser wird
sich erinnern - die Möglichkeit unendlich großer Wertbereiche unter-
stellt, um die Frage nach der logischen Präzisierbarkeit des Allgemein-
heitskriteriums überhaupt fortführen zu können. Doch diesmal ist ein
entsprechender Weg schwerlich beschreitbar. Werden unendlich große
Wertbereiche der verwendeten Variablen vorausgesetzt, so ist die Unend-
lichkeit der Anwendungsfälle zwar problemlos, solange es nur logisch
- oder doch analytisch - allgemeingültige Bezüge zu realisieren gilt.
Gerade derartige Bezüge kommen nun aber als Substrat von Tatbestands-
merkmalen nicht in Betracht. Gehen wir indessen zu den Anwendungsfällen
von nur noch faktisch verifizierbaren Regelmäßigkeiten über, so geraten
wir alsbald mit der physikalisch eher wahrscheinlichen als unwahrschein-
lichen Annahme von der Endlichkeit des Universums - Endlichkeit der
Anzahl von Elementarpartikeln sowie der räumlichen und zeitlichen Aus-
dehnung - in Konflikt. Handelt es sich jedoch nur noch um endlich viele
Anwendungsfälle, so mögen die Anwendungsfälle in diesem Rahmen so zahl-
reich sein wie sie wollen: Ein logisch plausibles Kriterium, das die
Vielheit von der Wenigkeit verläßlich abgrenzen zu helfen vermag, steht
nicht mehr zu Verfügung. Wiederum beansprucht die "Vielheit" im Sinne
von "eins, zwei, viele" keine mindere Adäquatheit als jener juristische
Vielheitsbegriff, den man anläßlich der zahlreichen Definitionen von
"Generellität" und "Abstraktheit" rechtlicher Regelungen antreffen kann.
Wenn von solcher Vielheit zudem im Sinne eines hypothetischen Urteils
"Unbestimmtheit" ausgesagt wird ("unbestimmte Vielheit von Adressaten"
usw.), so scheint die Unbestimmtheit jedenfalls nicht schon ein Merkmal
des juristischen Vielheitsbegriffes selbst auszumachen. Was im übrigen
den Versuch einer objektiven Bestimmung des Unbestimmtheitsbegriffes
anhand des Auftretens freier oder gar gebundener Variablen betrifft, so
hat sich die Hoffnungslosigkeit solchen Unterfangens bereits herausge-
stellt.

273
28 Jürgen Rödig

Wenn schon auf die Anzahl der Anwendungsfälle eines Rechtssatzes abge-
stellt wird, dann dürfen wir uns über das gerade dem EDbauer der Dra-
chenburg eingeräumte Recht zur Haftungsbeschränkung nicht mehr aufre-
gen als beispielsweise über die - doch gerade umgekehrt erfreuliche,
wenngleich leider nur fiktive - Tatsache, daß lediglich ein Rechtsge-
nosse den Tatbestand einer Strafvorschrift betreffend die Bestrafung
von Mördern erfüllt. Vollends unverständlich wäre es, wenn die begrün-
dete Hoffnung, entsprechende Delikte würden überhaupt begangen, be-
reits gegen den Erlaß einschlägiger Strafvorschriften ins Treffen ge-
führt werden könnte; man denke nur an Bestimmungen im Rahmen des straf-
rechtlichen Staatsschutzes, die zum Teil eine in der Tat nur geringe
Aussicht genießen, verwirklicht zu werden.
Nicht umsonst treten ähnliche SChwierigkeiten auf, wenn man die Ge-
setzesartigkeit von Naturgesetzen anhand der Anzahl von Anwendungsfäl-
len begrifflich zu fassen versucht. So erlauben es etwa das Gravita-
tionsgesetz sowie die Bewegungsgesetze NEWTONs, anstatt des GALILEIschen
Fallgesetzes ein abweichendes Fallgesetz betreffend einen Himmelskörper
zu gewinnen, der zwar dieselbe Dichte wie die Erde, jedoch einen drei-
mal so großen Radius besitzt. Niemand wird auf den Gedanken kommen,
die Gesetzesartigkeit des genannten Zusammenhanges von der Existenz
von Anwendungsfällen abhängig zu machen. Aber auch das GALILEIsche
Fallgesetz sollte, was seinen Gesetzescharakter anlangt, nicht schon
an der Einmaligkeit der Erde scheitern können, auf die es sich nun ein-
mal bezieht.
Im übrigen kommt es gerade im Zusammenhang mit der Figur des "Anwen-
dungsfalles" darauf an, sich die Unterschiede zwischen der rechtlichen
Regelung - mag sie Gesetzescharakter aufweisen oder nicht - einerseits
und dem Naturgesetz andererseits zu vergegenwärtigen. Nehmen wir ein-
mal an, das Naturgesetz lasse sich ähnlich, wie man dies im Fall des
Rechtssatzes voraussetzt, in erstens ein Implikans - dem Tatbestand
des Rechtssatzes vergleichbar - sowie zweitens ein Implikat zerlegen.
Dann verbürgt die vom Naturgesetz definitionsgemäß in Anspruch genom-
mene Unwiderlegbarkeit (s.o. 11,1), daß jeder "Anwendungsfall" des Ge-
setzes als konjunktives Zusammentreffen einer Realisierung des Impli-
kans mit einer Realisierung des Implikats durch jeweils dasselbe Indi-
viduum oder dasselbe n-tupel von Individuen aufgefaßt werden kann
(wenn auch nicht muß). Dagegen ist ein Soll-Satz gerade nicht durch
die Verwirklichung der Rechtsfolge verifizierbar. Es muß vielmehr, was
den Anwendungsfall eines Soll-Satzes betrifft, bei der Realisierung
des Tatbestandes dieses Satzes bewenden. So fassen wir beispielsweise
bereits die Begehung einer unerlaubten Handlung als Anwendungsfall des
§ 823 Abs. 1 BGB auf. Dagegen wäre es ohne Sinn, von einem "Experiment"
für das Bestehen der Vorschrift des § 823 Abs. 1 BGB zu sprechen; wir
haben es allenfalls mit einer Erprobung der Leistungsfähigkeit von Ge-
richts- oder auch VOllstreckungsbehörden zu tun.
Die für den Sollens-Satz charakteristische Abhängigkeit des Begriffes
des Anwendungsfalles vom Tatbestandsbegriff macht unsere letzten Hoff-
nungen zunichte, das Kriterium der Allgemeinheit logisch fassen zu
können. Kann doch von jeweils "dem" Tatbestand einer rechtlichen Rege-
lung schwerlich die Rede sein. Als Beispiel diene erneut jener Rechts-
satz, der dem Erbauer der Drachenburg das Recht zu persönlicher Haf-
tungsbeschränkung im logischen Mantel der Generalisierung verheißt:
40 (40) AE

Den Tatbestand wird jedermann im - generalisierten - Formelteil "Bd1p"


erblicken. Aber warum sollen wir den Zusammenhang zwischen Bd 1 und Hb 1
nicht seinerseits davon abhängig machen, daß der Adressat des Rechts-

274
Zum Begriff des Gesetzes in der Rechtswissenschaft 29

satzes Rechtsfähigkeit genießt? Erweitern wir (40) daher wie folgt:

41 (41) AE

Nun scheint das Illustrationsvermögen von (41) freilich unter einem


ähnlichen Mangel wie das von (28) zu leiden: Tatbestand Rf1p wird, wenn
auch nicht logisch, so doch positivrechtlich, von jedem Rechtsgenossen
verwirklicht; Gegenbeispiele würden nur durch Sklaven oder ähnliche
nichtrechtsfähige Menschen gebildet, wie sie dem geltenden positiven
Recht nicht bekannt sind. Indes besagtem Einwand ist leicht abzuhelfen.
Niemand nötigt uns, die Menge der Namen von Rechtsgenossen als Wertbe-
reich der verwendeten Variablen zu wählen. Ja es liegt näher, Variable
mit wesentlich weiterem, am besten sogar solche mit einem überhaupt
nicht mehr durch bestimmte Eigenschaften definierten Wertbereich zu ge-
brauchen. So wird man etwa den Anspruchsbegriff, soll er praktischen
Funktionen zu genügen vermögen, nicht nur über Personen (Gläubiger,
Schuldner), sondern darüberhinaus über dem von Fall zu Fall variieren-
den Leistungsinhalt sowie über den Zeitpunkt für das Bestehen des An-
spruches zu erklären haben. Setzen wir nun aber Variable mit inhaltlich
undefinierten Wertbereichen voraus, was zudem die Verwendung von nur
noch 1-sortigen Kalkülen gestattet, so wird (41) als erweiterte Fassung
von (40) plötzlich interessant:

42 (42) AE

Störend ist nun nur noch, daß eine Realisierung von Rf 1 zumindest de
facto durch jede Realisierung von Bd 1 im~liziert werden dürfte. Doch
dieser Umstand vermag dem Formelteil "Rf a" seinen Tatbestandscharakter
nicht streitig zu machen. Im übrigen ist selbst die renannte Störung
geschwind durch eine Auswechslung des Prädikates "Rf " durch das Prädi-
kat "Dt 1 " behoben, welches die Eigenschaft der deutschen Staatsangehö-
rigkeit bezeichnen möge.

AE

Das "gleichzeitige" Zutreffen von Dt 1 und Bd 1 auf ein und dasselbe Indi-
viduum stellt zweifellos den Gegenstand einer sinnvollen Behauptung dar.
Der Sache nach wird Hb 1 ja auch vom "gleichzeitigen" Vorliegen von Dt 1
und Bd 1 , nämlich vom konjunktiven Zusammentreffen der Realisierung bei-
der Eigenschaften, abhängig gemacht. Wir zeigen in diesem Zusammenhang
die Äquivalenz von (43) (= (49» mit (46):

44 (43) "(Dt1aa ~ (Bd1aa ~ Hb1aa»" (43)GB

45 (43) "( (Dt1aaABd1aa) ~ Hb1aa)" (44)JL

46 (43) 11 /\a ( (Dt 1 aABd 1 a) ~ Hb1a)" (45)GE

47 (46) "( (Dt1aaABd1aa) ~ Hb1aa)" (46)GB

48 (46) "(Dt1aa ~ (Bd1aa ~ Hb1aa»" (47)JL

49 (46) "/\ a (Dt1a ~ (Bd1a ~ Hb1a»" (48)GE

Was die mit (43) mithin gleiChwertige Formel (46) betrifft, so kommt
für eine "natürliche" (oder gar "unbefangene") Betrachtungsweise als
Tatbestand nur der - quantifizierte - Formelteil "(DtlaABd1a)" in Be-
tracht. Während die Menge der Anwendungsfälle von (43) bereits mit Hilfe
des Attributes Dt 1 als definierender Eigenschaft bestimmt zu werden ver-
mochte, haben wir im Hinblick auf den Anwendungsbereich von (46) den
Durchschnitt zweier Mengen, und zwar den Durchschnitt der durch Dt 1 mit

275
30 Jürgen Rödig

der durch Bd 1 definierten Menge, zu bilden. In der Durchschnittsmenge


zweier Mengen sind höchstens so viele Elemente wie in jeder einzelnen
der geschnittenen Mengen enthalten. Demnach sorgt bereits das Tatbe-
standsmerkmal Bd 1 dafür, daß höchstens ein Anwendungsfall von (46)
existiert (unsere inhaltliche Motivation von Bd 1 nach wie vor voraus-
gesetzt). Wenn der Anwendungsbereich von (43) hiernach so viel mal
größer als der von (46) ist, wie es deutsche Staatsbürger gibt, und
zwar wohlgemerkt trotz logischer Äquivalenz beider Formeln, so ist
diese Unterschiedlichkeit - wie erwähnt - eben nur von der Relativität
des Tatbestandsbegriffes erklärbar. Leider geht - wie wir gleichfalls
gesehen haben - mit der Relativität des Tatbestandsbegriffes nicht
etwa die Unwichtigkeit dieser Kategorie, sondern vielmehr eine geradezu
maßgebliche Bedeutung für die Konturierbarkeit des Anwendungsbereiches
von Normen überhaupt einher; anders als mit Hilfe des Kriteriums der
Erfüllung seiner faktischen Bedingungen ist die Einschlägigkeit eines
Sollenssatzes nicht definierbar.

Nehmen wir jedoch an, es gelinge in der Tat, einen ebenso einheitli-
chen wie universeller Anwendung fähigen Gesichtspunkt für die Abgren-
zung des Tatbestandes von der Rechtsfolge herauszuarbeiten. Wir würden
beispielsweise verlangen, daß der Tatbestand nur tatsächliche, aber
auch alle in dem Rechtssatz vorkommenden tatsächlichen Merkmale erfaßt;
daß ein tatsächliches Merkmal durchaus den Inhalt eines Rechtsbegriffes
bilden kann, der eine eigene Wertung oder doch den Nachvollzug einer
fremden Wertung erforderlich macht - den Inhalt eines nach Erik WOLF
so genannten "wertausfüllungsbedürftigen" Begriffes also -, sei nur
der Ordnung halber hinzugefügt. Unter diesen Voraussetzungen scheinen
wir nun eine gleichsam "ausgezeichnete" Normalform des Tatbestandes
herausarbeiten zu können, die ihrerseits als tragfähige Grundlage für
einen invarianten Begriff des Anwendungsfalles zu fungieren verspricht.
Der Einfachheit halber gebrauchen wir im Folgenden nur 1-stellige Prä-
dikate über {pe, pel' pe 2 ... } als dem Wertbereich von "p". Es handelt
sich zunächst um eine Rechtsfolge Rf 1 , die zwar komplex sein mag, deren
innere Struktur wir jedoch im Zusammenhang mit dem Begriff des Anwen-
dungsfalles aus den erwähnten Gründen vernachlässigen dürfen. Des wei-
teren verwenden wir Tatbestandsmerkmale Tbl, Tb~, •.•• Jeden Rechts-
satz fassen wir nunmehr als generaliSierte (oder auch als sog. "for-
male") Implikation der Rechtsfolge durch ein bestimmtes Zusammentref-
fen von Tatbestandsmerkmalen auf, wobei sich Rechtsfolge und Tatbe-
standsmerkmale auf jeweils ein und dasselbe Individuum - nämlich auf
einen und denselben Rechtsgenossen - beziehen. Wir erhalten also Sätze
folgender Gestalt:

50 (50) "Ap (Tb~p ~ Rf1p)" AE

51 (51) "Ap (--'Tb~p ~ Rf1p)" AE

52 (52) "Ap ( (Tb~pIITb~p) ~ Rf1p)" AE

53 (53) "Ap ( (Tb~plI--'Tb~p) ~ Rf1p) " AE

54 (54) AE

55 (55) AE

276
Zum Begriff des Gesetzes in der Rechtswissenschaft 31

AE

Die Tatbestände sämtlicher Rechtssätze sind nun logisch leicht zu nor-


mieren, und zwar naheliegenderweise auf eine sog. "konjunktive Normal-
form" zu bringen. Wir legen in diesem Zusammenhang das assoziative Ge-
setz sowohl der Konjunktion als auch der Disjunktion zugrunde und las-
sen die Innenklammern wiederholter Konjunktionen oder wiederholter Dis-
junktionen beiseite. Dann verstehen wir unter einer "konjunktiven Nor-
malform" eine Konjunktion dergestalt, daß jedes Konjunktionsglied aus
einer Disjunktion von einfach negierten oder unnegierten Verkettungen
eines n-stelligen Prädikates mit n Subjektsausdrücken (Subjekte, Sub-
jektsvariable) besteht. Sowohl jene Konjunktion als auch diese Disjunk-
tionen sollen aus jeweils nur einem Konjunktions- bzw. Disjunktions-
glied bestehen dürfen. Hiernach weist der Tatbestand von (50), nämlich
Tbtp in der Funktion des Implikans, bereits konjunktive Normalform auf.
Ebenso kann, was das Implikans von (51) angeht, der negierte Ausdruck
als einziges Glied einer Disjunktion und diese als einziges Konjunk-
tionsglied einer übergeordneten Konjunktion aufgefaßt werden. Auch der
Tatbestand von (52) bereitet keine Schwierigkeiten: Konjunktion, aus
zwei eingliedrigen Disjunktionen bestehend. Ebenso ist das Implikans
von (53) erklärbar. Das Implikans von (54) läßt sich als zweigliedrige
Disjunktion und diese läßt sich als einziges Konjunktionsglied verste-
hen. Was (55), (56) und (57) betrifft, so berücksichtigen wir mit AF,
AF 1 , ••• für beliebige Aussageformen folgende junktorenlogische Äquiva-
lenzen: (AF 1 ~ AF 2) äq (,AF 1 vAF 2 ); (AF 1 v , (AF 2" -,AF 3 » äq
(AF 1 v,AF'2 V-' -'AF~) äq (AF 1 V,AF 2 vAF 3 ); « (AF 1 ,,-,AF 2 ) v-,AF 3 vAF 4)
----? AF S ) äq (,«(AF\ ,,-,AF 2 )v-,AF 3 VAF 4 )VAF S ) äq «,(AF 1 ",AF 2 )".-,AF 3
,,-,AF 4 ) VAF s ) äq « (,AFlv-,-'AF2)""AF3,,-,AF4) vAF s ) äq « (-,AFI vAF2)
"AF 3",AF 4) VAF S ) äq «.AF 1 vAF 2 VAF S )" (AF 3 vAF S )" (,AF 4VAF S» •

Hiernach ist (55) mit

58 (58) "/\ p «-'TbipVTb~p) ~ Rf1p)" AE,

(56) mit

59 (59) "/\p «TbipV,Tb~pVTb~p) ~ Rf 1 )" AE

und (57) mit

60 (60) "/\ p « (-, TbipVTb~pVTb~p)" (Tb~pVTb~p)"

AE

äquivalent. Wir beschränken uns auf die Ableitung der Äquivalenz von
(57) und (60), deren logisch interessantester - wenn auch nicht logisch
interessanter - Teil ohnehin in den soeben dargestellten junktorenlo-
gischen Zusammenhängen besteht:

(57)GB

(61) JL

277
32 Jürgen Rödig

63 (57) "/\ p « (., Tb~pVTb~pVTb;p) 1\ (TbjpVTb;p)1\

(---'Tb~pVTb;p» ~ Rf1p) " (62)GE

64 (63) " ( ( (., Tb ~peVTb~pevTb;pe) 1\ (TbjpevTb~pe)1\

(60)GB

65 (60) "( « (Tb~pel\-'Tb~pe) v---'TbjpevTb~pe) ~

Tb~pe) ~ Rf1pe)" (64)JL

66 (60)

(65)GE

Durch Bildung sog. "ausgezeichneter" konjunktiver Normalformen könnten


wir die logische Normierung des Tatbestandes noch steigern, sehen je-
doch von der Praktizierung dieses, für unsere Zwecke weniger ergiebi-
gen, Verfahrens ab. Im übrigen muß darauf hingewiesen werden, daß die
soeben behandelten Beispielsrechtssätze einem prädikatenlogisch denk-
bar sanften Typ von Sätzen angehören, den wir vor allem deshalb so
schätzen, weil er die rasche Verwertung junktorenlogischer Gesetzmäßig-
keiten gestattet und zugleich die Ubersetzung in elementare mengentheo-
retische Figuren gestattet. Jedoch die Beschränkung auf den bezeichne-
ten Satz typ ist in unserem Zusammenhang nicht schädlich. Wie wir sehen
werden, ist .nämlich nicht einmal auf der Grundlage die8e8 Satz typs jene
Differenzierung bezüglich der Anwendungsfälle eines Rechtssatzes er-
reichbar, die wir benötigen, um das Kriterium der Gesetzesartigkeit von
Rechtssätzen formallogisch fassen zu können.
Sind die Tatbestände der zur Diskussion stehenden Rechtssätze auf kon-
junktive Normalform gebracht, so bestimmen wir den Anwendungsbereich
- nämlich die Menge der Anwendungsfälle - eines Rechtssatzes wie folgt.
Jedes Konjunktionsglied ist, wie wir gesehen haben, als Disjunktion von
einfach negierten oder unnegierten atomaren Aussageformen zu betrachten.
Von diesen Aussageformen, die durchweg in der Verkettung eines 1-stelli-
gen Prädikates mit jeweils genau einem Subjektsausdruck bestehen, gehen
wir aus. Das durch ein derartiges Prädikat bezeichnete Attribut kann
offenbar als definierende Eigenschaft für eine bestimmte Menge von In-
dividuen, und zwar genauerweise als definierende Eigenschaft für die
Extension des Attributes, aufgefaßt werden. Ist unserer Sprache eine
bestimmte Menge von Individuen als Wertbereich der verwendeten Variab-
len zugrundegelegt, so brauchen wir von dieser Menge lediglich die Ex-
tension eines Attributes abzuziehen, um die Extension des (einfach)
negierten Attributes zu gewinnen. Sind die den einzelnen Disjunktions-
gliedern entsprechenden Mengen gegeben, so vereinigen wir sie und er-
halten auf diese Weise das Gegenstück der Disjunktion selbst. Werden
etwa die Tatbestandsmerkmale Tb!, Tb~ und TbS disjunktiv miteinander
verknüpft - s. Beispielsrechtssatz (57) in der äquivalenten Fassung
(60) -, so kommen in der erwähnten Vereinigungsmenge genau die Indivi-
duen vor, welche das Merkmal Tb!, das Merkmal Tb~ oder auch das Merk-
mal TbS aufweisen. Dürfen endlich die mit den einzelnen Disjunktionen
korrespondierenden (Vereinigungs-)Mengen vorausgesetzt werden, dann
haben wir hieraus nur noch die Durchschnittsmenge zu bilden, nämlich
die Menge der in jeder Vereinigungsmenge vorkommenden Elemente. Die
Durchschnittsmenge stimmt mit dem gesuchten Anwendungsbereich des
Rechtssatzes überein.

278
Zum Begriff des Gesetzes in der Rechtswissenschaft 33

Aus den soeben behandelten Zusammenhängen läßt sich erneut ersehen,


daß bereits ein Konjunktionsglied mit einelernentiger Extension den An-
wendungsbereich des Tatbestandes auf höchstens einen Anwendungsfall
zu reduzieren vermag. Besteht dieses Konjunktionsglied in einer ent-
arteten Disjunktion mit nur einem Disjunktionsglied, so reicht offen-
bar bereits die Existenz von nur einem Tatbestandsmerkmal für die er-
wähnte Reduktion aus. Als Beispiel für ein derartiges Tatbestandsmerk-
mal haben wir Bd 1 kennengelernt. Kommt Bd 1 auf die soeben beschriebene
Weise als Tatbestandsmerkmal vor, so mag der Tatbestand im übrigen aus-
fallen wie er will: Der betreffende Rechtssatz bleibt ungeachtet sei-
ner generellen Fassung ein Einpersonengesetz. Freilich scheint es sich
nicht notwendig zugleich um ein "Einzelfallgesetz" im üblichen Ver-
ständnis dieses Ausdruckes handeln zu müssen. Damit sind wir bei einem
Einwand angelangt, den der Leser nunmehr mit Recht diskutiert wissen
will.

Unsere Beispielsrechtssätze (50) bis (57), an die wir die zuletzt an-
gestellten Uberlegungen angelehnt haben, sind "wieder einmal" auf eine
bestimmte Art von Individuen im logischen Sinn,und zwar auf Rechts-
genossen, beschränkt. Nun scheint es aber schon im Ansatz neben der
Sache zu liegen, den Begriff des "AnwendungsfaUes" auf der Grundlage
eines derartigen Individuenbereiches illustrieren zu wollen. Wir schei-
nen, mit anderen Worten, das Kriterium der Abstraktheit mit dem der
Generellität verwechselt zu haben. Allenfalls über einer Menge von
Sachverhalten - als den vorausgesetzten Individuen - scheint der Be-
griff des Anwendungsfalles erklärbar zu sein. Allein, diesem Einwand
sind gleich mehrere Einwände entgegenzusetzen.

Zunächst einmal darf die Art der jeweils zugrundegelegten Individuen


für die logische Allgemeinheit der über diesen Individuen behaupteten
Sätze nicht maßgebend sein. Was logische Belange- betrifft, so erschei'nt
es schon als wenig fördernd, nach der Elementezahl von nichtleeren In-
dividuenbereichen unterscheiden zu wollen. Allenfalls die Unterschei-
dung zwischen leeren und nichtleeren Bereichen scheint für die Geltung
gewisser logischer Zusammenhänge, die man gern in der Rolle von logi-
schen Gesetzen sehen möchte, von Bedeutung zu sein; als Beispiel sei
erneut Formel (8) angeführt. Uber die Anzahl der Elemente nichtleerer
Bereiche hinaus nun aber auch noch bezüglich der Qualität der auftre-
tenden Individuen differenzieren zu wollen, wäre vollends ohne Sinn.
Hier geht es ja nicht darum, ob entweder Individuen oder aber wiederum
Attribute - also Figuren eines logisch höheren Ranges im Rahmen einer
Prädikatenlogik wenigstens zweiter Stufe - als Bezugspunkte von Quan-
toren sollen auftreten dürfen. Es geht vielmehr darum und nur darum,
den Begriff des Individuums sei es so weit wie möglich zu fassen -
also jedweden Gegenstand zu berücksichtigen, von dem nur eine Beschaf-
fenheit behauptet werden kann -, sei es im vorhinein inhaltlich zu
spezifizieren. Solche Spezifikation stellt nun aber nichts anderes dar
als die Vorwegnahme von Attributionen, die auch über einem Kreis von
zunächst einmal weit gefaßten Individuen vorgenommen werden könnten.
Hinsichtlich der Austauschbarkeit beider Verfahren sei an das in puncto
Kennzeichnung Ausgeführte erinnert. Wie wir in jenem Zusammenhang her-
ausgearbeitet haben, vermag im Grenzfall sogar das einzelne Individuum
selbst das Substrat einer entsprechenden Beschaffenheit zu bilden.
Besser läßt sich die logische Beliebigkeit der Qualifizierung derjeni-
gen Individuen, aus welchen sich der vorausgesetzte Individuenbereich
zusammensetzt, nicht zum Ausdruck bringen. Die besagte Qualifizierung
ist, anders gewendet, logisch genau so beliebig wie der Gebrauch ge-
rade dieses oder jenes einschlägigen (nichtlogischen) Attributes.

Die soeben angestellten Uberlegungen, die sich eher akademisch ausneh-


men mögen, sind für die Analyse des logischen Verhältnisses von Ab-

279
34 Jürgen Rödig

straktheit einerseits und Generellität andererseits von maßgeblicher


Bedeutung. Wir bedienen uns zwecks Illustration der geschilderten Zu-
sammenhänge eines schon diskutierten Beispielsrechtssatzes:

67 (67) AE

Der Bezug auf Personen, welche die Funktion von Individuen übernehmen,
ist durch die Einführung eines Prädikates "PeI" vermeidbar, dessen
Extension mit dem Wertbereich von "p" identisch ist. Dann ist (67)
unter Berücksichtigung der semantischen "Tiefenstruktur" mit

68 (68) AE

äquivalent. Was nun aber Formel (68) anlangt, so schlägt der gegenüber
(67) = (50) noch leidlich plausible Einwand, eine Person sei keinen
"AnwendungsfaZZ" zu bilden geeignet, sicher nicht mehr durch. Auf die
vereinbarte Normalform gebracht, lautet (68) wie folgt:

69 (69) AE

Den Anwendungsbereich bildet die Menge der - an Abstraktheit nicht


übertreffbaren - Gegenstände, die sowohl zur Extension von Pe l als auch
zu der von Tb! gehören. - Jedoch selbst dann, wenn wir die Menge der
Rechtsgenossen als Individuenbereich beibehalten hätten, würde dies
keineswegs auf Kosten der Möglichkeit gegangen sein, beliebig konkrete
Situationen zu erfassen. Sei eine bestimmte, durch räumliche und zeit-
liche Determinanten wohldefinierte, Situation gegeben. Dann fassen wir
die Eingebettetheit in diese Situation ganz einfach als Eigenschaft
der Person auf, an die der Rechtssatz adressiert ist. So und nur so
sind Prädikate wie "Bd l " konstruierbar. Noch leichter sieht man umge-
kehrt ein, daß das Vorkommen gewisser Personen als Eigenschaft von
- zunächst einmal abstrakt vorausgesetzten - Situationen aufgefaßt wer-
den kann.

Es darf nach alledem beim Ergebnis unserer Uberlegungen bewenden, wo-


nach die Rdativität des AmiendungsfaUes und damit des Anwendungsbereiches eines
Rechtssatzes selbst dann erhalten bleibt, wenn es den Tatbestand dieses Rechtssatzes
logisch zu nOI'l1lieren gelingt. Selbst die Existenz eines eindeutigen Tatbe-
standskriteriums schließt überraschend viele oder überraschend wenige
(einschließlich der Möglichkeit überhaupt keiner) Anwendungsfälle nicht
aus. Ursächlich für derartige Uberraschungen brauchen nun keineswegs
nur Prädikate wie Bd l mit (voraussetzungsgemäß) einelernentiger Exten-
sion zu sein. Im Ernstfall würde sich ja auch nur ein sehr dummer
juristischer Wolf hinter einem derart durchsichtigen logischen Schafs-
pelz verbergen. Einzelfallgesetze im Gewand generalisierter Rechts-
sätze werden sich vielmehr typischerweise jeweils erst im Wege des -
konjunktiven - Zusammentreffens von Tatbestandsmerkmalen mit jeweils
beliebig umfänglichen Extensionen ergeben. In diesem Zusammenhang darf
eine charakteristische Eigenschaft positiver Rechtsordnungen nicht un-
berücksichtigt bleiben. Die für den Aufbau einer Norm erforderlichen
Tatbestandsmerkmale pflegen nicht in gerade einem Rechtssatz, sondern
in einer erst ihrerseits der Konturierung bedürftigen Menge von Rechts-
sätzen enthalten zu sein. Die Rechtssatzsysteme, aus welchen die ein-
schlägigen Rechtssätze herausgegriffen werden müssen, pflegen überdies
sehr unterschiedlich strukturiert zu sein. Jedoch mit diesen Uberle-
gungen befinden wir uns bereits auf einer neuen Fährte, die in anderem
Zusammenhang gründlicher verfolgt werden soll. An dieser Stelle muß
ein Hinweis auf die Änderung des theoretischen Gesichtspunktes genügen.
Während wir das Kriterium der Gesetzesartigkeit von Rechtssätzen bis-
lang mithilfe logischer Kategorien, also objektiv, zu bestimmen ver-

280
Zum Begriff des Gesetzes in der Rechtswissenschaft 35

suchten, stellen wir bezüglich des mehr oder minder unübersichtlichen


Zusammentreffens von - für sich genommen noch übersichtlichen - Tat-
bestandsmerkmalen auf die Perspektive eines bestimmten Betrachters
oder einer bestimmten Menge von Betrachtern - wie namentlich den Mit-
gliedern einer gesetzgebenden Körperschaft - ab. Wir haben es also mit
einem subjektiven Ansatz fUr die Exp~ikation des juristischen Gesetzesbegriffes
zu tun, von dem schon jetzt vermutet werden darf, daß er besser mit einer
entsprechend subjektiven Austegungsmethode ats mit der gängigen objektiven harmoni-
siert.

3. Unendlichkeitsmodell der individuellen Regelung auf regelungstheo-


retischer Grundlage
Halten wir das hauptsächliche Ergebnis der soeben angestellten formal-
logischen Analyse des Allgemeinheitskriteriums fest. Versucht man die-
ses Kriterium anhand logischer Kategorien objektiv zu bestimmen, so
muß - sei es unmittelbar, sei es mittelbar (nämlich auf dem Umweg über
den Begriff der "Extension" eines Prädikates oder den des "Anwendungs-
falles" eines Satzes) - letztlich allemal auf den Wertbereich der ver-
wendeten (Subjekts-)Variablen und damit auf den zugrundeliegenden In-
dividuenbereich (sog. "universe of discourse") abgehoben werden. Ins-
besondere das Ausmaß einer eventuellen Quantifizierung ist nur nach
Maßgabe jenes Individuenbereiches zu bestimmen. Was nun die Anzahl der
Elemente des Individuenbereiches betrifft, so kommen im Rahmen dieser
Quantität allenfalls zwei logisch qualifizierte Sprünge und damit
allenfalls drei logisch motivierbare Qualitäten in Betracht. Es han-
delt sich auf der einen Seite um den Ubergang vom leeren zu einem
nichtleeren Individuenbereich, der gewissen Sätzen, die Anspruch auf
logische Wahrheit erheben, erst Allgemeingültigkeit verleiht. Auf der
anderen Seite ist, und zwa~ namentlich im Hinblick auf die Notwendig-
keit des Gebrauchs von Quantoren, der Ubergang zu - zumindest poten-
tiell - unendlichen Individuenbereichen bedeutsam. Weder jener noch
dieser Ubergang ist nun aber als Kriterium für einen rechtlich rele-
vanten Begriff von Allgemeinheit verwertbar. Daß jedenfalls das Ver-
lassen leerer Bereiche noch keine solche Allgemeinheit verspricht,
liegt auf der Hand; ein Rechtssatz mit einem und nur einem Anwendungs-
fall ist sicher noch nicht "allgemein" im Rechtssinn. Jedoch auch der
Gesichtspunkt des Eintrittes in unendliche Bereiche gibt für die ju-
ristischen Zwecke des Allgemeinheitsbegriffes teils zu wenig, teils
zu viel her. Was etwa die Anzahl der Adressaten eines Rechtssatzes be-
trifft, so ist es - wie bereits erwähnt - zumindest unwahrscheinlich,
daß unendlich viele Adressaten existieren. Bei Annahme des wahrschein-
licheren Falles würden also überhaupt keine gesetzesartigen Rechts-
sätze mehr anerkannt werden können. Es brauchen also nicht erst Bei-
spiele wie rechtliche Regelungen betreffend die Einziehung von (sicher
nur endlich vielen, ja sogar bereits ex an te annähernd genau bestimm-
bar vielen) Wehrpflichtigen im Rahmen eines bestimmten Zeitraumes her-
angezogen zu werden. Die Bedingung der Unendlichkeit des Anwendungsbe-
reiches stellt, mit andere~ Worten, keine notwendige Bedingung für die
Gesetzesartigkeit eines Rechtssatzes dar. Umgekehrt läßt sich nun aber
überraschenderweise zeigen, daß auf die Unendlichkeit des Anwendungs-
bereiches nicht einmal im Sinne einer hinreichenden Bedingung abgestellt
werden kann.
Zu diesem Zweck fassen wir, wogegen schwerlich Einwände erhoben werden
dürften, das menschliche Verhalten als Bezugspunkt der Regelung auf.
Mag eine Vorschrift an viele oder auch an wenige Rechtsgenossen adres-
siert sein, so wird doch in jedem Fall der Verhaltensspielraum jedes
Rechtsgenossen in zwei Teilmengen von Verhaltensweisen gegliedert der-
gestalt, daß die eine Teilmenge sämtliche der nach Maßgabe jener Vor-

281
36 JÜfgen Rödig

schrift positiv zu bewertenden Verhaltensweisen und daß die andere


Teilmenge sämtliche der nach jener Vorschrift negativ zu bewertenden
Verhaltensweisen enthält. Sei {ve~, ve 2 , ... , ve n } die Menge der Ver-
haltensweisen, die von einem best~mmten Rechtsgenossen während eines
bestimmten Zeitraumes vorgenommen werden können. Sei ferner der die
Vorschrift regierende Bewertungsgesichtspunkt dahin erklärt, daß von
einem gegebenen Verhalten vei (1 S i S n) entschieden werden kann, ob
es positiv (angedeutet im Folgenden durch "+") oder negativ ("-") be-
wertet werden muß. Dann kommen bei einem aus n Elementen bestehenden
Verhaltensspielraum offenbar genau 2 n Möglichkeiten einer abschließen-
den Regelung des Verhaltens unseres Regelungsadressaten in Frage, wie
man aus folgender Graphik ersieht:

. ", yen
,EJ'
.,-' : ........ ve n _1
"./ /8'
--------c(rf;::::~:::::::::
Ausgangssituation .....~:---.@.
Ver hai tensspielraum
. . . .::. . '<tl. -- ve3
'~'" ve2
.i" . . . . ve,
RegelUngsiPielraum
.

Enthält der Verhaltensspielraum genau 1 Element, so sind hiernach ge-


nau 2 1 = 2 Regelungen konstruierbar (vel wird entweder positiv oder
negativ bewertet). Enthält der Verhaltensspielraum genau 2 Elemente,
so haben wir genau 2 2 = 4 mögliche Regelungen zu unterscheiden (für
jede Bewertung von vel zwei mögliche Bewertungen von ve2) usw. Ist
der Verhaltensspielraum nicht leer, so enthält der Regelungsspielraum
- nämlich die Menge der jeweils in Frage kommenden Regelungen - nach
alledem jedenfalls nicht weniger> Elemente als der> entspr>echende Ver>haUensspiel-
~. Dieses Ergebnis machen wir uns naheliegenderweise folgendermaßen
zunutze. Wir versuchen zu zeigen, daß eine einzelne Verhaltenswe.ise so
konzipiert zu werden vermag, daß der Verhaltensspielraum zumindest un-
endlich viele Elemente enthalten kann. Gelingt dies, so darf erstens
jede Regelung als Rechtssatz über einem unendlich großen Individuen-
bereich aufgefaßt werden, und zwar (da wir ja lediglich einen Rege-
lungsadressaten und lediglich eine der Regelung bedürftige Situation
voraussetzen müssen) selbst beim Vor>Uegen eines kombinier>ten Einzelper>sonen-
und Einzelfallgesetzes im engsten Sinn. Jede Regelung stellt zweitens unter

282
Zum Begriff des Gesetzes in der Rechtswissenschaft 37

der getroffenen Voraussetzung eine von unendlich vielen denkbaren Re-


gelungen dar. Sofern wir daher den Versuch unternehmen sollten, durch
Zusammenfassung von wie auch immer miteinander rechtlich verwandten
Regelungen Ordnung in jene Mannigfaltigkeit zu bringen, hätte sich
solche Zusammenfassung wiederum über einern unendlichen Individuenbe-
reich - diesmal über einern Bereich von Regelungen - zu vollziehen.
Allgemeinheit wäre daher in einern logisch gleich mehrfach präzisier-
baren Sinn erreicht, ohne daß den Intentionen des juristischen Allge-
meinheitskriteriums Genüge geleistet sein müßte.

Was nun eine den erwähnten Zwecken entsprechende Konzeption des Ver-
haltens angeht, so fassen wir jedes Verhalten als eine besondere Art
von Sachverhalt auf. Einen Sachverhalt erklären wir als Ausschnitt aus
der Wirklichkeit. Um welchen Ausschnitt es sich handelt, ist unter Ver-
wendung räumlicher und zeitlicher Koordinaten definierbar. Der Fall,
daß sich die räumliche Stelligkeit eines Sachverhaltes in Abhängigkeit
von seiner zeitlichen Lage ändert, kann ohne weiteres berücksichtigt
werden. Auf diese Weise sind gleichsam "schräge" Sachverhalte konstru-
ierbar. Wir vermögen insbesondere ein - als Wirklichkeitsausschnitt
angesehenes - menschliches Verhalten in seiner Bewegtheit zu erfassen.
Nun kann man, um nur ein Beispiel zu nennen, bei der Ausführung einer
Bewegung 1 cm mehr nach links oder rechts, nach oben oder unten gera-
ten usw. Der Verhaltensspielraum würde also jeweils beide Grenzfälle
umfassen. Dann aber begründet bereits die Kontinuität des Raumes die
Vermutung, daß mit den besagten Grenzfällen unendlich viele weitere
Verhaltensweisen in Betracht gezogen werden müssen. Mithin kann von
einern Verhaltensspielraum jenes Typus' ausgegangen werden, den wir für
die Herleitung der oben bezeichneten Folgerungen benötigen.

So theoretisch sich die soeben angestellten Uberlegungen ausnehmen mö-


gen, so mühelos macht man sie sich anschaulich klar. Einer individuel-
len Verpflichtung dahin, jemandem 1.000,-- DM zu zahlen, vermag schon
hinsichtlich der verwendeten Geldstücke und -scheine auf mannigfaltige
Weise entsprochen zu werden. Fordert ein Polizeibeamter den Führer
eines vor einer Ausfahrt geparkten Kraftfahrzeuges auf, das Kraftfahr-
zeug zu entfernen, so kommt bei genügend mikroskopischer Betrachtung
eine unübersehbar große Menge gebotsgerechter Verhaltensweisen heraus.
Sowohl hinsichtlich der vorn Fahrer eingeschlagenen Richtung als auch
hinsichtlich der Intensität der Bedienung des Gaspedals als auch hin-
sichtlich unvorstellbar vieler weiterer Gesichtspunkte vermag das vor-
schriftsmäßige Verhalten des Normadressaten zu variieren. Jedes noch
so kleine Kontinuum, mag es die Handhabung des Geldbeutels, die des
Lenkrades oder die des Gaspedals betreffen, eröffnet eine unendlich
große Menge von Verhaltensweisen. Jedoch mit der Menge der vorschrifts-
mäßigen Handlungen ist es nicht getan; die entsprechenden Regelwidrig-
keiten bieten erst recht ein buntes Durcheinander.

Nun wird man sicher einwenden, daß es den Unterscheidungen einzelner


Verhaltensweisen, die wir zur Konstruktion eines jeweils unendlich
großen Verhaltensspielraumes benötigen, weithin an rechtlicher Rele-
vanz gebricht. Und in der Tat, dem Inhalt dieses Einwandes kann durch-
aus beigepflichtet werden. Nur haben wir es mit keiner Widerlegung der
angegriffenen Ergebnisse zu tun. Wenn man einern Rechtssatz das Attri-
but der Allgemeinheit zuspricht, so doch typischerweise gerade im Hin-
blick darauf, daß verhältnismäßig wenige Kriterien eine Gliederung
verhältnismäßig vieler Fälle in unterschiedliche Fallgruppen erlauben.
Würde man von vornherein nur solche Regelungsobjekte zulassen wollen,
die bereits anhand rechtlich relevanter Attribute und nur anhand sol-
cher Attribute konturiert worden sind, so bedürfte es insofern gar
keiner Verallgemeinerung mehr.

283
38 Jürgen Rödig

Wenn schon Regelungen, denen die herrschende Lehre bedenkenlos Indi-


vidualität und Konkretheit zuschreiben würde, zwanglos als Rechtssätze
über unendlich großen Individuenbereichen aufgefaßt werden können,
dann erscheint erst recht die häufig verwendete Charakterisierung eines
Rechtssatzes als "kasuistisch" als zumindest mißverständlich. Zwar mag
es naheliegen, das Bienenrecht des BGB (s. §§ 961 bis 964) im Vergleich
mit der Behandlung des Kaufs unter Eigentumsvorbehalt (vgl. § 455 BGB)
als "kasuistisch" zu betrachten. Dennoch geht es, was das Bienenrecht
des BGB betrifft, ganz sicher nicht um die Beurteilung bestimmter, in
concreto abgesehener Situationen. Zuzugeben ist, daß selbst die Anzahl
der zur Zeit der Entstehung des BGB noch existierenden Bienen nicht
ausreichen dürfte, den legislatorischen Aufwand der §§ 961 bis 964 BGB
zu rechtfertigen. Dennoch kann den bei der Gesetzesberatung mitwirken-
den Personen, unter denen zahlreiche Imker gewesen sein sollen, nicht
der Vorwurf gemacht werden, es handle sich um ein Einzelfallgesetz.
Zu monieren ist allenfalls die Relation zwischen Wichtigkeit und De-
tailliertheit der Regelung. Jedoch gerade diese Relation entzieht sich
einer Analyse mithilfe lediglich logischer Kategorien.

IV. Zur Möglichkeit einer materialen Bestimmung des Allgemeinheits-


kriteriums

Unsere Bemühungen, dem bei der Rede von einer "unbestimmten Vielheit"
- sei es von Personen, sei es von Sachverhalten - vorausgesetzten AII-
gemeinheitskriterium auf logischem Wege beizukommen, müssen in jeder
Hinsicht als gescheitert angesehen werden. Dieses Ergebnis reicht nun
weiter, als man annehmen möchte. Haben wir doch immerfort, und zwar
zumeist in einem nach außen hin weniger logischen als vielmehr inhalt-
lichen Kontext, die stillschweigende Bezugnahme auf einen allenfalls
logisch konzipierbaren Allgemeinheitsbegriff zu registrieren. Es han-
delt sich hierbei insbesondere um Versuche einer materialen Bestimmung
des Allgemeinheitsbegriffes im Sinne der Erreichung eines Mindestmaßes
an "Gerechtigkeitsgehalt" oder auch "Rechtsrichtigkeit". So pflegt
namentlich im Zusammenhang mit der Gegenüberstellung von Maßnahme und
Rechtsnorm darauf abgestellt zu werden, daß jene ihren Sinn von einem
"äußerlichen" Zweck her empfange, während diese ihren Sinn in sich
trage; Gerechtigkeit sei, so lehrt namentlich BALLERSTEDT, "ein Maß-
stab nicht der Zweckmäßigkeit, sondern der Bewertung". Zahlreiche wei-
tere Stellungnahmen, deren Klarheit freilich nicht durchweg diejenige
der BALLERSTEDTschen erreicht, ließen sich ins Treffen führen.

Das Verhältnis von Zweckmäßigkeit und Gerechtigkeit bildet mit Recht


einen der hauptsächlichen Gegenstände der Rechtsphilosophie. Fr~ilich
sind die erzielten Ergebnisse, sofern man überhaupt von solchen zu
sprechen vermag, den erwähnten Ansatz schwerlich zu bekräftigen geeig-
net. Die noch immer wohl konsequenteste Analyse scheint RAD BRUCH vor-
genommen zu haben. Den Versuch, im Rahmen der sachlichen Intentionen
einer Regelung zwischen Zwecken und anderweitigen - etwa nicht mehr
rechtspolitisch relevanten? - Absichten zu scheiden, scheint RADBRUCH
in begründeter Vorsicht gleich gar nicht zu wagen. Die Gerechtigkeit
wird denn auch als formale Idee im Sinne von Gleichheit konzipiert,
und zwar folgerecht mit dem Resultat, daß sie weder Gleichheit und Un-
gleichheit festzustellen noch gar die gebotene Behandlung von Gleichen
und Ungleichen zu erkennen erlaube. Dem engen Verständnis von Gerech-
tigkeit entsprechend wird Zweckmäßigkeit im weitesten - durchaus auch
ethischen - Sinne verstanden.

284
Zum Begriff des Gesetzes in der Rechtswissenschaft 39

Wir argumentieren im FOlgenden auf der Grundlage von RADBRUCHs Präzi-


sierung sowohl des Gerechtigkeits- als auch des Zweckmäßigkeitsbegrif-
fes. Hierbei studieren wir fürs erste einen in struktureller Hinsicht
aufschlußreichen Grenzfall, nämlich eine Rechtsordnung, die ausschließ-
lich aus einzelnen Regelungen einzelner - beliebig eng begriffener -
Fälle besteht. Eine derartige Rechtsordnung ist um so mehr konstruier-
bar, als wir bei der Bestimmung des systematischen Verhältnisses von
Gerechtigkeit und Zweckmäßigkeit von RADBRUCHs dritten Bestandteil der
Rechtsidee, nämlich den in gewissem Umfang zur Pauschalierung von Re-
gelungen zWingenden Gesichtspunkt der Rechtssicherheit, absehen dürfen
und müssen. Setzt sich die Rechtsordnung nun ausschließlich aus Einzel-
fallregelungen zusammen, und zwar aus Regelungen von sowohl räumlich
als auch zeitlich individualisierten Sachverhalten, so leuchtet es un-
mittelbar ein, daß diese Regelungen nicht in Widerspruch zueinander
zu geraten vermögen. Keine der Regelungen beansprucht nach Voraus-
setzung Geltung über den geregelten Fall hinaus. Folgerichtig stößt
das Gebot der Gleichbehandlung und damit die Forderung nach Gerechtig-
keit in dem oben explizierten Sinn ins Leere.
Gehen wir nun zweitens zur Betrachtung einer Rechtsordnung über, wel-
che zumindest auch "generelle" Regelungen im Sinne von Rechtssätzen
mit jeweils mehr als nur einem Anwendungsfall enthält. Dann kommen wir
überraschenderweise wiederum ohne eine spezifisch rechtliche Forderung
nach Gerechtigkeit aus.
Sei
AE

ein Rechtssatz des geschilderten Typus'. Seien ferner pe l und pe 2 die


einzigen Personen, die den Tatbestand von (70) erfüllen:
AE

AE

Dann erscheint Gleichbehandlung, nämlich sowohl die Behandlung von pe l


als auch die von pe 2 im Sinne von Rf 1 bereits als Gebot der Logik:
73 (70) "(Tb~pel - - ? Rf1pe l )" (70)GB

74 (70) "(Tb~pe2 - - ? Rf 1pe 2 )" (70)GB

75 (70,71 ) "Rf1pe l " (71) (73)JL

76 (70,72) "Rf 1pe 2 " (72) (73)JL

Umgekehrt ist eine Ungleichbehandlung, beispielsweise die Behandlung


von pe 2 im Sinne von -'Rf 1 , schon logisch fehlerhaft. Führen wir näm-
lich
77 (77) AE

als zusätzliche Annahme ein, so kommt ein Widerspruch zu den bereits


akzeptierten Prämissen (70) und (72) zustande:
(76) (77)JL

285
40 Jürgen Rödig

Bei solcher Widersprüchlichkeit bliebe es selbst dann, wenn wir die


Ungleichbehandlung - sei es die Bevorzugung, sei es die Benachteili-
gung - von pe 2 durch ein rechtlich relevantes Attribut Tb~ in generel-
ler Fassung motivieren wollten:
79 (79) "/\ p ( (TbtpIITb~p) ~ -,Rf1p)" AE

80 (79) " «Tb1pe


1 2IITblpe
2 2) ~ -,Rf 1pe 2 ) " (79)GB

Es erfülle pe 2 sowohl Tbi als auch Tb~:

81 (81) "(Tb~pe2I1Tb~pe2)" AE

Dann ergibt sich mithilfe von (79)


82 (79,81) n -,Rf1pe2 n (80) (81)JL,

mithilfe von (70) dagegen


83 (81) "Tb~pe2" (81 )JL

84 (70,81) "Rf 1pe 2 " (74) (83)JL.

Es bleibt nach alledem zu konstatieren, daß der Gleichbehandlungsgrund-


satz befolgt werden kann, ohne daß irgendwelche rechtlichen Anforderun-
gen in Gestalt von zusätzlichen Annahmen eingeführt zu werden bräuch-
ten. Jener Grundsatz ist mithin in einem strengen Sinne inhaltsleer.
Seine Berücksichtigung ist bereits aus logischen Gründen, also bereits
mithilfe der leeren Prämissenmenge, garantiert. Sofern wir den Gerech-
tigkeitsgedanken also weiterhin zugrundelegen wollen, um das Kriterium
der Allgemeinheit material zu bestimmen, wird es nicht bei der Frage
der Anwendung von Rechtssätzen bewenden können, die bereits als solche
von einem niedrigeren oder höheren Abstraktionsniveau vorausgesetzt
werden. Vielmehr scheint dieses Abstraktionsniveau selbst schon den
Gegenstand einer im Namen der Gerechtigkeit erhobenen Forderung zu bil-
den. Wir scheinen, mit anderen Worten, bereits aus Gründen der Gerech-
tigkeit Rechtssätze verlangen zu müssen, die ein jeweils bestimmtes
Abstraktionsniveau nicht unterschreiten.
Es läßt sich nun leicht zeigen, daß der Gedanke der Gerechtigkeit, so-
fern man ihn auf die beschriebene Weise im Sinne eines Allgemeinheits-
gebotes konzipiert, nichts anderes als die Anwendung des Zweckmäßig-
keitsgedankens darstellt. Hält man den Anwendungsbereich eines Rechts-
satzes für zu klein, so gibt es wenigstens einen Fall, der ebenfalls
im Sinne dieses Rechtssatzes behandelt werden solle. Logisch ist die
Gleichbehandlung nach Voraussetzung nicht zu begründen. Denn sonst wäre
ja bereits der Anwendungsbereich des Rechtssatzes groß genug. Gilt es
nun aber den genannten Fall in Abweichung von der ursprünglichen
Rechtslage zu regeln, so mag die neuerliche Regelung so undurchsichtig
sein, wie sie will: Irgendein Zweck wird ihr wohl oder übel zugrund~­
liegen oder doch zumindest zugrundegelegt sein; wäre die Regelung aufs
Geratewohl getroffen, so würde man sie umgekehrt gerade im Hinblick
auf das Fehlen einer Zwecksetzung für unbegründet halten. In Wirklich-
keit geht es nicht darum, ob eine Regelung "nur" durch einen Zweck
oder aber durch eine zeitlos gültige Rechtswahrheit motiviert werden
kann. Es handelt sich vielmehr darum und nur darum, UnterSCheidungen
im Bereich der Zwecke selber zu treffen. So könnte man beispielsweise
nach dem frühestmöglichen Zeitpunkt der Zweckerreichung und damit der

286
Zum Begriff des Gesetzes in der Rechtswissenschaft 41

Erledigung des Rechtssatzes fragen. Auf diese Weise würde man viel-
leicht glauben, Unterschiede wie etwa den zwischen einem Investitions-
hilfegesetz einerseits und den Vorschriften über Schadensersatz wegen
unerlaubter Handlung andererseits belegen zu können. Jedoch in puncto
Richtigkeitsgehalt oder auch nur im Hinblick auf die soziale Notwen-
digkeit eines Regelungsvorhabens sind derlei Differenzierungen nicht
zu rechtfertigen. Im übrigen hängt es weniger mit der Vergänglichkeit
des Zweckes als vielmehr mit der Komplexität der geregelten Materie
zusammen, daß wir gerade auf dem Gebiet des Wirtschaftsrechts die je-
weils relevanten Besonderheiten der zu regelnden Situation mithilfe
ein für allemal konstanter Tatbestandsmerkmale herauszukristallisieren
vermögen. Selbst mikroprivatrechtliche Normen, die man mitunter gerade-
zu als aufgeschriebenes Naturrecht zu preisen beliebte, können ihre
Angebundenheit an nur mehr oder minder unvergängliche Zwecke schwer-
lich verbergen. Das iustum pretium etwa gerät, sobald man es vom mög-
lichst objektiven Wert des gekauften Gegenstandes her bestimmt, mit
den Prinzipien der Marktwirtschaft in Konflikt. Die Schadensberechnung
ist, wie namentlich aus der Diskussion um den sog. "normativen Scha-
densbegriff" erhellt, n1,l.r dem Anschein nach ein bloßes Rechenexempel.
Die gesamte Gefährdungshaftung dürfte durch ein - meines Erachtens
eher "richtigeres" - entsprechendes Versicherungssystem ersetzbar sein
usw. Während zivilrechtlicher Ausgleich als solcher immer noch ein
Fünkchen juristischer Notwendigkeit vorzeigen kann, ist man bei straf-
rechtlichen Normen vollends um eine zeitlose Begründung verlegen.
Selbst die Zeitlosigkeit des durch eine Norm geschützten Rechtsgutes
verbürgt nicht die zeitlose Richtigkeit der gegen den Täter ergriffe-
nen Sanktion. Das Prinzip der Sühne, namentlich in der rigorosen Fas-
sung KANTs, scheint mir eher Arithmetik am falschen Platze zu sein.
Ein Verfahren sozialer Integration wäre demgegenüber zwar möglicherwei-
se mit größeren Risiken, nicht zuletzt immensen Kosten, verbunden; je-
doch mangelnde Zeitlosigkeit wäre das letzte, was einer solchen Alter-
native zum geltenden Strafrecht vorgeworfen werden könnte. Mag es sich
schließlich um Polizei verordnungen, um Gesetze auf den Gebieten der
Wehrpflicht, des Bauwesens oder des Steuerrechts oder um die Gestaltung
des Verfahrens vor Verwaltungsbehörden oder auch des gerichtlichen Ver-
fahrens handeln - vergänglich bleibt der Regelungsgehalt der einschlä-
gigen Normen allemal. Zumindest wüßte ich nicht, bei welcher Autorität
ich mich erkundigen sollte, um die Unvergänglichkeit des Regelungsge-
haltes jener Vorschriften verbindlich festgestellt zu erhalten.

Halten wir nach alledem fest, daß die Frage, wie allgemein eine Rege-
lung ausfallen sollte, inhaltlicher und nur inhaltlicher Art ist und
daß bezüglich der Motivierung dieses Inhaltes nicht ernsthaft zwischen
Zwecken einerseits und höheren Zielen andererseits unterschieden wer-
den kann. Als geradezu offensichtlich unrichtig müßte die Vorstellung
angesehen werden, daß die "Richtigkeit" einer Rechtsnorm mit wachsender
Abstraktheit zunimmt. Zunehmend wäre bei wachsender Abstraktheit viel-
mehr die Gefahr der sachlich nicht mehr zu rechtfertigenden Pauscha-
lierung. Selbst in jenem Rahmen, in welchem wir aus Gründen der Rechts-
sicherheit, insbesondere der Orientierungssicherheit, mit einem gewis-
sen Maß von Pauschalität vorlieb nehmen, tun wir dies gerade nicht un-
ter dem Aspekt der Billigkeit als dem Gesichtspunkt der Richtigkeit
einer Regelung mit Bezug auf den zu regelnden Fall. Wir tun es vielmehr
trotz dieses Aspektes. Wenn das Abstraktionsniveau einer Regelung nun
aber nur noch von der beabsichtigten Rechtssicherheit her erklärt wer-
den kann, dann werden doch ersichtlich wiederum Zwecke und lediglich
Zwecke ins Treffen geführt. Dabei handelt es sich nicht einmal um
Zwecke von der Dignität derjenigen, die RADBRUCH im Zusammenhang mit
der Kategorie der "Zweckmäßigkeit" als einer der drei Rechtsideen be-
schreibt. Von Gerechtigkeitsgesichtspunkten kann erst recht nicht die
Rede sein. Durch eine rechtsphilosophische Analyse läßt sich mithin

287
42 Jürgen Rödig

bestenfalls das Gegenteil der mit dem materialen Allgemeinheitsbegriff


verbundenen Intentionen begründen.

V. Einige Folgerungen

1. Andeutung einiger systemtheoretischer Implikationen

Die Daseinsweise einer Rechtsordnung kann aufgefaßt werden als eine


Aufeinanderfolge von Regelungen des Verhaltens jeweils sämtlicher Mit-
glieder der Rechtsgemeinschaft, über welcher die Rechtsordnung defi-
niert ist. Die Regelung des Verhaltens jedes einzelnen Rechtsgenossen
wiederum erscheint als Gliederung der für diesen Rechtsgenossen ad hoc
in Frage kommenden Verhaltensweisen in teils solche, die nach einem
vorausgesetzten Bewertungssystem als positiv bewertet werden, sowie in
anderenteils solche, die hiernach negativ bewertet werden. Jedes Gebot,
jede Erlaubnis und jedes Verbot müssen auf eine derartige Gliederung
zurückführbar sein. Wir knüpfen nun an die bereits angestellten rege-
lungstheoretischen Uberlegungen (IV,3) an. Wie wir gesehen haben, gilt
es für einen Verhaltensspielraum, der aus n Elementen besteht, eine
Auswahl aus 2 n möglichen Regelungen zu treffen. Es gibt, mit anderen
Worten, genau 2 n Möglichkeiten, den Verhaltensspielraum in einerseits
positiv, andererseit~ negativ bewertete Verhaltensweisen zu gliedern.
Die Menge dieser Möglichkeiten, man möchte sie angesichts des typi-
scherweise schon unübersehbar großen Verhaltensspielraumes eine Unmen-
ge nennen, bedarf nun offenbar dringend der Reduktion. Indes braucht
solche Reduktion nicht etwa in einem und nur einem Schritt zu erfol-
gen. Es liegt vielmehr nahe, die Menge der zunächst einmal in Frage
kommenden Regelungen nach und nach zu begrenzen. Solches schrittweises
Vorgehen vorausgesetzt, wird man die Ausführung der erforderlichen
Schritte wiederum naheliegenderweise unterschiedlichen Instanzen, also
etwa zunächst einmal "dem" Verfassungsgesetzgeber, den es natürlich
als solchen in einem persönlichen Sinne nicht gibt, dann "dem" einfa-
chen Gesetzgeber, dann "dem" Verordnungsgeber und schließlich einem
einzelnen Amtswalter überlassen. Das Ergebnis der im Rahmen dieser
Studie vorgenommenen Analysen läßt sich nun folgendermaßen zusammen-
fassen. Was die Reduktion des Regelungsspielraumes betrifft, auf wel-
che jede individuelle Regelung und damit die gesamte Rechtsordnung zu-
rückgeführt werden kann, so gibt es weder einen Zogisahen (oben III) noah ei-
nen inhaZtZiahen (IV) AZZgemeinheitsbegriff, anhand dessen gewisse Phasen jener Re-
duktion auf objektivem Wege ausgezeiahnet und die damit zur GrundZage des Kriteriums
der GesetzesaPtigkeit von Reahtssätzen gemaaht werden k8nnten.
Die systemtheoretischen Implikationen dieses Resultates sind hier nur
flüchtig anzudeuten. Vermag der Begriff des "Gesetzes" im Rechtssinn
weder nach Maßgabe der logischen Form noch nach Maßgabe des Regelungs-
gehaltes der getroffenen Regelung konzipiert zu werden, so fällt offen-
bar die Möglichkeit einer inhaltlichen Charakterisierung gesetzgeben-
der Funktionen und damit zugleich die Möglichkeit einer inhaltlichen
Abgrenzung von anderweitigen staatlichen Funktionen hinweg. Sofern
überhaupt ein System der Gewaltengliederung und -teilung Geltung bean-
spruchen möchte, bedarf dieses System der grundsätzlichen Neuorientie-
rung. Solche Neuorientierung erscheint ohnehin längst als fällig. Jeder
auf der Regierungsbank sitzende Abgeordnete macht dies deutlich, wel-
cher, um bei wichtigen Abstimmungen mitwirken zu können, von der Re-
gierungsbank herabsteigen und bei seinen Parteifreunden Platz nehmen
muß.

288
Zum Begriff des Gesetzes in der Rechtswissenschaft 43

Wenn nicht objektiv bestimmbar ist, welcher Anteil einer Regelung wie
etwa derjenigen einer konkreten Schwangerschaftsunterbrechung auf ein-
schlägige Gesetze (einschließlich des Verfassungsrechts) einerseits
sowie auf anderweitige Regelungsformen, wie namentlich höchstrichter-
liche (einschließlich verfassungsrichterlicher) Indikate entfällt,
dann sehe ich nur noch folgende Möglichkeit, Gesetzgebung auf eine
nicht-zirkuläre Weise (s. hierzu schon oben I) zu konzipieren. Ohne
Verwendung des Gesetzesbegriffes definierbar ist zunächst die zuständi-
ge Institution. Parlament ist, was sich aufgrund eines bestimmten Ver-
fahrens nach Maßgabe einer vorausgesetzten Verfassung (deren Gesetzes-
charakter nicht zur Diskussion steht) als solches ergibt. Von einem
Pluralismus unterschiedlich kompetenter Parlamente sehen wir hier der
Einfachheit halber ab. Demgegenüber steht im Vordergrund die demokra-
tische Legitimation oder doch ein erreichbares Maximum an demokrati-
scher Legitimation der Institution. Diese Legitimation benötigen wir,
um dem Parlament eine Fähigkeit zuschreiben zu können" ohne welche
eine vom qualitativen Gesetzesbegriff unabhängige Staatstheorie letzt-
lich nicht auskommt: Es geht um die Fähigkeit, sich in den Prozeß der Reduk-
tion des Regelungsspielraumes in einem grundsätzlich unbegrenzten, nur der eigenen
Entscheidung anvertrauten Ausmaß einschalten zu können. Als Gesetz erscheint
hiernach jede Regelung, für welche die mit der genannten Fähigkeit aus-
gestattete Institution verantwortlich ist.

Nun plötzlich kommt Licht in einige Zusammenhänge, die im Verlauf die-


ser Untersuchungen weniger erklärt als vielmehr nur registriert werden
konnten. Konstatieren wir zunächst die unmittelbar einleuchtende Tat-
sache, daß auch ein noch so leistungsfähiges Parlament die mit einer
Rechtsordnung verbundene Regelungslast sicher nicht allein zu tragen
vermag. Mit der unbegrenzten Fähigkeit, an der Reduktion von Regelungs-
spielräumen mitzuwirken, korrespondiert offenbar die No-twendigkeit, hin-
sichtlich der in Angriff zu nehmenaen Regelungsobjekte eine Auswahl zu treffen.
Solche Auswahl wird nun, eine hinreichende Legitimation des gesetzge-
benden Gremiums nach wie vor vorausgesetzt, im Zweifel dahin zu tref-
fen sein, daß dieses Gremium - naiv gesprochen - über die "wichtigsten"
Regelungsfragen befindet. Allein, wir brauchen wegen des Prädikates
"wichtig" diesmal jedenfalls nicht in Verlegenheit zu geraten. Denn
dieses Prädikat ist nunmehr vollauf operationalisiert. "Wichtig" ist,
was das zur Gesetzgebung berufene Gremium für wichtig hält, und zwar
für genau so wichtig, daß eine Behandlung im Rahmen der Kapazität die-
ses Gremiums als möglich erscheint.

Solche Wichtigkeit ist offenbar auf mannigfaltige Weise motivierbar.


So wird man eine Regelung im Zweifel als je wichtiger ansehen, desto
mehr Anwendungsfälle sie besitzt. Von einer Vielheit der Anwendungs-
fälle ist nunmehr nur noch in einem - unproblematischen - komparativen
Sinne die Rede. Auf verabsolutierende Kriterien wie etwa das einer un-
endlichen Anzahl von Anwendungsfällen kommt es ersichtlich nicht mehr
an. Stellt sich eine Regelung, mag sie auch noch so viele Anwendungs-
fälle besitzen, lediglich als geringfügige Ausgestaltung einer schon
vorhandenen dar, so kann die Wichtigkeit der weiteren Regelung frei-
lich erheblich leiden - und zwar leiden in einem solchen Ausmaß, daß
sich die Wichtigkeit der neuen Regelung zur Wichtigkeit der alten nicht wie die An-
zahl dsr Anwendungsfälle jener Regelung zur Anzahl der Anwendungsfälle dieser Rege-
lung verhält. Man sieht also leicht ein, daß die Wichtigkeit einer Rege-
lung nicht proportional mit der Anzahl ihrer Anwendungsfälle zunehmen
muß. Dieser Gesichtpunkt ist für die herkömmlicherweise als Gesetze
im "nur materiellen" Sinn von Bedeutung.

Die Wichtigkeit einer Regelung läßt sich nun aber nicht nur unter dem
- geläutert verstanden! - Aspekt ihrer Breitenwirkung ermessen. Die
Wichtigkeit kann vielmehr auch auf anderen Umständen wie beispielsweise

289
44 Jürgen Rödig

auf dem verhältnismäßig erheblichen Risiko des Treffens einer "unrich-


tigen" Entscheidung beruhen. Für die Unrichtigkeit einer Entscheidung
kann wiederum namentlich die Schwierigkeit verantwortlich sein, Fälle
künftiger Tatbestandsverwirklichung im vorhinein zu überblicken. Diese
Schwierigkeit wächst typischerweise mit zunehmendem Abstraktionsniveau
der Norm, so daß der bereits herausgearbeitete Trend bestätigt werden
kann. Es handelt sich jedoch auch nur um einen Trend. Der uns zu Gebote
stehende Begriff des "Anwendungsfalles" reicht nicht für eine Quanti-
fizierung aus, die so zuverlässig wäre, daß der Wichtigkeitsgrad von
der jeweiligen Quantität abhängig gemacht werden könnte. Die Proble-
matik der Errichtung eines Atomkraftwerkes an einem genau bestimmten
Ort, um nur ein Beispiel zu nennen, scheint den Gegenstand eines an
Einmaligkeit kaum übertreffbaren Rechtsfalles zu bilden. Gleichwohl
würde ich zumindest keine prinzipiellen Einwände gegen eine Behandlung
dieses Falles durch ein Parlament vortragen können. Hierbei muß frei-
lich berücksichtigt werden, daß die besagte Einmaligkeit mit einem be-
stimmten Begriff des Rechtsfalles steht und fällt. Sobald wir die räum-
lichen Grenzen des für die Errichtung des Kraftwerkes vorgesehenen Ge-
ländes überschreiten und sowohl Probleme der Energiegewinnung als auch
sämtliche Risiken einer Gefährdung der Bevölkerung bedenken, weist un-
ser Fall ein hinreichendes Maß an Unübersehbarkeit auf. Und in der Tat,
wir dürfen von Glück reden, den Begriff des Gesetzes niaht auf der
nach alledem so glatten Grundlage einer Quantifizierung von Anwendungs-
fällen bestimmen zu müssen.

Dieselben Gründe, denen das Parlament seine Legitimation zu unbegrenz-


ter Reduktion von Regelungsspielräumen verdankt, machen seine Grenzen
sichtbar. Ein Gedankenexperiment möge zur Verdeutlichung beitragen
helfen. Offenbar stellt auch ein nur für vier Jahre gewähltes Abgeord-
netenhaus kein demokratisches Optimum dar. "Wahre" Selbstbestimmung
der Mitglieder eines Gemeinwesens müßte sich vielmehr von Augenblick
zu Augenblick neu aktualisieren können. Jedoch ginge solche "Wahrheit"
von Selbstbestimmung ganz sicher auf Kosten des Niveaus der legislati-
ven Produkte. Selbst vierjährige Legislaturperioden gewährleisten
nicht die für den Aufbau einer Rechtsordnung erforderliche Statik.
Soll eine Rechtsordnung ihren Funktionen zu genügen vermögen, so reicht
die legislatorische Behandlung bald dieser, bald jener als hinreichend
dringend empfundenen Regelungsfrage nicht aus. Worauf es ankommt, das
ist vielmehr überdies die fortwährende Harmonisierung sämtlicher Nor-
men, insbesondere ein Höchstmaß an Integration von neu erlassenen Be-
stimmungen in bereits vorhandene Rechtssatzsysteme. Die Legislative
erscheint mithin dringend als der Ergänzung durch eine weitere Insti-
tution bedürftig, deren organisatorische Struktur das erforderliche
Minimum an Kontinuität verbürgt. Als derartige Institution empfiehlt
sich naheliegenderweise die Gerichtsbarkeit. Doch gilt es die Funktion
von Gerichtsbarkeit in einem wesentlichen Punkt anders als bisher zu
bestimmen. Zwar scheint mit der fehlenden oder doch recht dürftigen
demokratischen Legitimation des Richters seine Verpflichtung zu kor-
respondieren, sich von bereits legislativ gegebenen Wertungen leiten
zu lassen. Die dem Richter anvertraute Wertung, die man verständlicher-
weise lieber im Rahmen von juristischer Methodenlehre als im Rahmen
staatstheore~ischer Analysen zu feiern beliebt, scheint insofern allen-
falls eine gebundene sein zu können. Geht man nun aber im Verfolg des
hier vorgetragenen Ansatzes davon aus, daß die Legislative die jeweils
offenen Regelungsspielräume typischerweise jeweils nur partiell zu re-
duzieren vermag, dann kommt man um die Notwendigkeit zusätzlicher
Wertung realistischerweise nicht herum. Jeden Regelungsspielraum gilt
es in dem Maße zu reduzieren, als er nicht schon durch die Legislative
reduziert worden ist. Sieht man von der Subsidiarität der richterlichen
wertung ab, nämlich von der Kompetenz zur Neuregelung unabhängig von
einem zur Entscheidung vorgelegten Fall, so ist ein Unterschied zwischen
legislativer und judikativer Rechtsschöpfung qualitativ nicht begründbar.

290
Zum Begriff des Gesetzes in der Rechtswissenschaft 45

Erst nach Ergänzung der legislativen durch die judikative Reduktion


des Regelungsspielraumes vermag die verbleibende Regelung als Grund-
lage für die Entscheidung aktueller Situationen zu dienen. Zu Unrecht
wurde und wird noch immer vertreten, Rechtsprechung sei im Grundsat~
Streitentscheidung und erfülle nur ausnahmsweise quasi-legislative
Funktionen. Hierbei wird der generelle Charakter von Richterrecht ger-
ne auf eine ebenso verabsolutierende Art bestritten wie der des Geset-
zesrechts bejaht. Tatsächlich dürfte man kaum eine Norm auftreiben,
deren Abstraktionsn·iveau bereits vom gesetzgebenden Organ dermaßen ge-
senkt worden ist, daß sie nicht noch durch ebenfalls abstrakte Ergeb-
nisse richterlicher Rechtsschöpfung fortgeführt werden müßte. Eine
etwas genauere Analyse des sog. case-law, das mitunter mit Gesetzes-
recht konfrontiert wird, bestätigt unseren Befund. Nur scheinbar ver-
mag bereits die Entscheidung eines einzelnen Falles als Grundlage für
die Entscheidung nachfolgender Fälle zu dienen. Macht man Ernst damit,
daß es ein räumlich und zeitlich determinierter Sachverhalt war, der
den Gegenstand der ursprünglichen Entscheidung bildete, dann ist diese
Entscheidung unwiederholbar. Wiederholbar wird sie erst im Wege eines
Abstraktionsprozesses, nämlich durch Verzicht auf rechtlich irrelevant
erscheinende Sachverhaltsmerkmale. Auf welche Merkmale verzichtet wer-
den solle und auf welche nicht, vermag durch die ursprüngliche Ent-
scheidung nun aber gerade nicht vorgezeichnet zu werden. Wir haben es
vielmehr mit einer Entscheidung des über den neuen Fall befindenden
Richters zu tun. Erkennen wir das Abstraktionsvermögen richterlicher
Rechtsschöpfung indessen im vorhinein an - was wir übrigens zu tun ver-
mögen, ohne die Subsidiarität von Richterrecht in Zweifel ziehen zu
müssen! -, so kommen wir um die erwähnten Schwierigkeiten herum. Nun
erst gelingt es insbesondere, den Elementen eines Richterspruches
nicht erst dann den Charakter der Rechtsschöpfung zu verleihen, wenn
sie das Thema bloßer Streitentscheidung überschreiten - um nicht zu
sagen: verfehlen - und insofern die weniger dankbare Rolle von obiter
dicta wahrnehmen müssen.

Allein der Ordnung halber sei noch angefügt, daß von "Rechtsprechung"
weniger im Sinne einer heute soundso anzutreffenden Institution als
vielmehr nur mit Bezug auf die skizzierten Funktionen die Rede sein
konnte. Was das Verhältnis von Gesetzgebung und (funktional verstande-
ner) Rechtsprechung anlangt, so erscheint namentlich die zeitgenössi-
sche Verfassungsgerichtbarkeit nicht als unproblematisch genug, um
implizit behandelt zu werden. Jedoch auch Möglichkeiten, die Errich-
tung von sowie das Verfahren vor Regierungs- oder auch Verwaltungsbe-
hörden derart auszugestalten, daß diese Behörden in begrenztem Umfang
judikative Aufgaben zu erfüllen vermögen, müssen an dieser Stelle un-
berücksichtigt bleiben; um "judikative" Aufgaben würde es sich in dem
hier dargelegten, weiteren Sinne handeln.

Wie das private Vertragsrecht als großangelegte Delegation von Rege-


lungskompetenz aufgefaßt werden kann, nämlich als Delegation der Kom-
petenz zur Gestaltung von Vermögensverschiebungen an die davon Betrof-
fenen, so stoßen wir auch im Bereich der Wahrnehmung staatlicher Funk-
tionen auf zahlreiche Sachverhaltstypen, hinsichtlich derer die Rechts-
ordnung von einer Sachregelung absieht und es bei Bestimmungen dahin
beläßt, welche Personen im Rahmen welchen Verfahrens die Regelung sol-
len selber treffen dürfen. Wir haben es bei solcher Delegation häufig
mit nicht& anderem als mit einer schlichten Kapitulation des Gesetz-
gebers vor der so gerne beschworenen Vielfalt des Lebens zu tun. Wenn
der Verwaltungsakt im Regelfall eines eigenen Tatbestandes oder doch
eines tatbestandsähnlichen Bestandteiles entbehrt, so deshalb, weil
die allemal mehr oder minder schematisierende Tatbestandserfüllung
zumindest typischerweise durch die Anschauung der zu regelnden Situa-
tion selbst ersetzt werden kann. Mit zunehmender Häufigkeit derartiger

291
46 Jürgen Rödig

Sachentscheidungen bleiben freilich Schematisierungen wiederum nicht


aus, die in eine begrenzt begründete Parallele zu den allgemeinen Be-
dingungen privater Rechtsgeschäfte gesetzt werden können. Je mehr das
Abstraktionsniveau indessen steigt, als desto fragwürdiger erscheint
es, die Richtigkeitskontrolle erst einern von den einzelnen Betroffenen
angestrengten gerichtlichen Verfahren zu überlassen. Angesichts der
zahlreichen Differenzierungen, die es nach alledem vorzunehmen gilt,
gibt die'gebäuchliche Kategorie der "Ausführung" von rechtlichen Vor-
schriften wenig her. Diese Kategorie scheint mir überdies zahlreiche
Zusammenhänge zwischen der Delegation von Regelungskompetenz an pri-
vate, staatliche und halbstaatliche Stellen zu verdunkeln.

2. Gesetzgebungstheorie als unselbständiger Bestandteil einer allge-


meinen Juristischen Regelungstheorie

Was d~n Aufbau einer Theorie der Gesetzgebung angeht, so dürften die
im Rahmen dieser Studie gewonnenen Ergebnisse nicht an Eindeutigkeit
zu wünschen lassen. Eine derartige Theorie nimmt die verkehrte R·ohtung,
wenn sie sioh nioht von vornherein als unselbständigen Bestandteil einer allgemei-
nen juristisohen Regelungstheorie versteht.
Mit dem Fehlen sowohl eines formallogischen als auch eines inhaltlichen
Kriteriums für die Abgrenzung des Gesetzes von anderweitigen Regelungs-
formen korrespondiert die Möglichkeit der universellen Anwendung von
Techniken für die Statuierung eines vorgegebenen rechtspolitischen In-
haltes. Fragen nach dem Ob sowie dem Wie von Automationsgerechtigkeit
sind zumindest weitgehend unabhängig davon zu entscheiden, ob das
Rechtssatzsystem, welches elektrifiziert werden soll, ein parlamenta-
risches Vorspiel vorweisen kann oder nicht. Die Voranstellung Allge-
meiner Teile wird sich aufgrund eines hinreichend umfänglichen Anwen-
dungsbereiches des beabsichtigten Kodifikates oder aufgrund ähnlicher
Umstände, jedoch wiederum nicht deshalb als zweckmäßig erweisen, weil
dieses Kodifikat das Ergebnis eines parlamentarischen Verfahrens dar-
stellt. Für Legaldefinitionen, Fiktionen und Verweisungen, die partiell
die Funktionen Allgemeiner Teile erfüllen und schon deshalb unter ei-
nern einheitlichen konstruktiven Gesichtspunkt betrachtet werden können,
gilt das gleiche. Formale Techniken der zuletzt behandelten Art treten
übrigens wiederum gerade im Zusammenhang mit der Herstellung automa-
tionsgerechter Gesetzesfassungen in den Vordergrund des Interesses.
Die gegenwärtig anzuwendenden Grundsätze über automat ions fördernde Ge-
staltung von Vorschriften lesen sich wie Variationen über der elemen-
taren Forderung, daß Rechtssätze sowie Kodifikate (als Mengen sachlich
zusammenhängender und darstellungstechnisch miteinander verbundener
Rechtssätze) logisch aufgebaut sein sollten. Wenn es tm Rahmen derar-
tiger Bestimmungen u.a. heißt, Vorschriften sollten in einer Weise ab-
gefaßt werden, daß bei ihrer Anwendung nicht nach dem Sinn gefragt
werden müsse, weil das Stellen dieser Frage automationshemmend sei,
so werden solche Maximen zwar ein teilweise ohnehin noch vorhandenes
Mißtrauen nähren. Tatsächlich macht man sich die Berechtigung dieser
und ähnlicher Richtlinien bereits anhand eines flüchtigen Studiums
datenverarbeitender Anlagen klar. Weitaus bedeutsamer scheint mir zu
sein, daß unter dem Aspekt der Automationsgerechtigkeit ein Inbegriff von
regelungsteohnisohen Anforderungen zusammengefaßt werden kann, die saohlioh mitein-
ander verwandt sind und über die MBgliohkeit einer Elektrifizierung von Vorsohriften
hinaus Berüoksiohtigung beanspruohen dürfen.
Der geschilderte Eindruck wird durch die Lektüre deutscher, aber auch
ausländischer Richtlinien für die Gesetzgebung verstärkt, wie wir sie
namentlich in einschlägigen Geschäftsordnungen antreffen. Richtlinien,
die sich mit der Abfassung eines bereits gegebenen - oder doch voraus-

292
Zum Begriff des Gesetzes in der Rechtswissenschaft 47

zusetzenden - rechtspolitischen Inhaltes befassen, bilden allenthalben


eine wohldefinierte Gruppe. Die Zugehörigkeit zu dieser Gruppe bleibt
selbst dann noch sichtbar, wenn einige Geschäftsordnungen wie in Sonder-
heit die gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesministerien den Anschein
erwecken, als werde durch fortwährende Verquickung von Gesetzgebungs-
verfahren einerseits und gesetzestechnischer Gestaltung eines bereits
beschlossenen Regelungsgehaltes andererseits für die Abwechslung des
Lesers zu sorgen versucht. Vollends im Rahmen einer vergleichenden
Analyse von Richtlinien für die Gesetzgebung kommt eine überraschende
Identität der Themensteilung zum Vorschein.
Die Nämlichkeit der Aufgabe, insbesondere ihre weitgehende Unabhängig-
keit von verfassungsrechtlichen Normen für das Rechtssetzungsverfahren
sowie von traditioneller Bindung und dogmatischer Fixiertheit der Re-
gelungsmaterie, fordert zu einer Lösung auf internationaler Ebene ge-
radezu auf. So handfest sich ein Kodifikat auf den nationalstaat lichen
Rechtszustand auch auswirken und zugleich durch den Vorgänger dieses
Zustandes bedingt sein mag, so sehr sind die Regeln für das Kodifizie-
ren selbst mit - von Hause aus internationalen - Disziplinen wie etwa
Rechtsphilosophie, Juristische Methodenlehre und Rechtstheorie verwandt.
Um "Rechtsvergleichung" im gewohnten engen Sinne dieses Ausdruckes han-
delt es sich nicht. Nicht die rechtspolitischen Inhalte werden mitein-
ander verglichen; diese Inhalte werden, wie erwähnt, vorausgesetzt.
Man könnte, was eine international ansetzende Regelungstheorie anlangt,
eher von einer "Rechtsformenvergleichung" sprechen. Die Analyse von
Formen hat freilich schon immer von der Mannigfaltigkeit der in diese
Formen gegossenen Inhalte profitiert.
Wir haben es bei einer international ansetzenden Regelungstheorie erst
recht mit keiner Theorie des internationalen Rechts zu tun. Jedoch ver-
mögen umgekehrt auch supranationale Normen - im weitesten Sinne - ge-
wisser Techniken für das kodifikatorische Meistern eines gegebenen
Regelungsgehaltes nicht zu entraten. Ja die Vermutung spricht sogar
dafür, daß die Bedeutung des regelungstheoretischen Instrumentariums
mit wachsender Heterogenität der miteinander in Berührung gebrachten
nationalen Rechtsordnungen zunimmt. Trifft die genannte Vermutung zu,
so ist eine weitere Vermutung dahin berechtigt, eine Mangelhaftigkeit
jenes Instrumentariums erweise sich im Bereich des internationalen
Rechts in besonderem Maß als störend. Was diese zweite Vermutung be-
trifft, so möge etwa der Kenner des Europäischen Rechts über die Zuver-
lässigkeit der "Richtlinie" als einer Regelungsform oder auch über die
integrative Kraft von fortwährend punktuellen Sachregelungen (deren
zusammenfassende Speicherung gar den Nutzeffekt elektronischer Daten-
verarbeitungsanlagen zeigen hilft) befinden.
Zur Forderung nach einer einheitlichen Regelungstheorie treten zahl-
reiche weitere Folgerungen hinzu. Wir müssen es an dieser Stelle lei-
der wiederum bei Andeutungen bewenden lassen. Wenn etwa judikative
Funktionen von legislativen weder formallogisch noch qualitativ, son-
dern nur durch das de facto reichlich zufällige Kriterium der Subsi-
diariOtät (s.o. V,1) abgegrenzt werden können, dann darf solche Paralle-
lität nicht ohne Konsequenzen für die von einer (von wem auch immer
"erlassenen"!) Norm Betroffenen bleiben. Wenn es richterlicher Rechts-
schöpfung schon an demokratischer Legitimation gebräche - ein Vorwurf,
über den leidenschaftlich diskutiert werden könnte -, dann wäre jeden-
falls dieser Legitimationsmangel nicht de~ Rechtfertigungsgrund dafür,
es nunmehr auch noch an anderweitigen Vorkehrungen im Interesse des
Normadressaten fehlen zu lassen. Tragen Definitionen relevanter Be-
griffe zur Transparenz einer Regelung und damit zur Orientierungs-
sicherheit bei, so tun sie es eben, und es kommt auf ihre Einordnung

293
48 Jürgen Rödig

als "Legaldefinitionen" nicht an. Die mithin je nach Bedarf zu fordern-


den "Judikativdefinitionen" würden zudem eine unschätzbare Hilfe bei
der Dokumentation von Rechtsprechung im Rahmen eines umfassenden Ju-
ristischen Dokumentationssystems leisten. In diesem Zusammenhang sei
erneut die Anregung zur Entwicklung von Rastern ausgesprochen, welche
die im Rahmen eines richterlichen Urteils .(einschließlich natürlich
der Urteilsgründe) verwendeten Rechtsbegriffe nach ihrer rechtlichen
Relevanz gewichten sowie nach ihrer logischen Einbettung (Definitio-
nen - übersetzbar in Äquivalenzen - oder nur Implikationen) klassifi-
zieren. Derartige Raster würden von den Verfassern des Urteils selbst
ausgefüllt werden müssen. Allein, eine noch so normierte Begrifflich-
keit bleibt ohne Wert, wenn richterliche Rechtsschöpfung entweder
überhaupt nicht oder nur auf eine kaum kontrollierbare Weise zu den
Betroffenen dringt. Nun gebietet es zwar die Ehrlichkeit, zuzugeben,
daß es mit dem Fluß legislativer Informationen nicht viel besser steht;
und in der Tat, es sollte keine Abhandlung auf dem Gebiet der Rege-
lungstheorie geben, in der nicht auf den Zusammenhang von rechtlicher
Regelung im Rahmen eines demokratischen Staates einerseits und Rechts-
kunde im weitesten Sinne andererseits hingewiesen wird. Jedoch selbst
angesichts des Mißverhältnisses zwischen Funktion und Wirkung von Ge-
setzblättern liegt die öffentlichkeit von Rechtsprechung in einem
noch höheren Maße im argen. Während der Erlaß eines Gesetzes (im in-
stitutionellen Sinn) zumindest das stillschweigende Zugeben der Ände-
rung des bisherigen Rechtszustandes enthält, verspürt das Gericht sei-
nem Selbstverständnis als einer nur erkennenden Instanz zufolge nur
zu gerne die Neigung, eine Abweichung von früheren Judikaten als
eine nur scheinbare - als eine nur auf der vermeintlichen Gleichheit
der beurteilten Sachverhalte beruhende - zu verniedlichen. Nicht ohne
Konsequenz übrigens: Wahrt man die Vorstellung vom Gericht als einer
nur erkennenden Instanz, so liefe eine Abweichung von früherer Rechts-
sprechung unweigerlich auf das Bekenntnis einer intellektuellen Fehl-
leistung hinaus.

Zum Schluß sei noch eine Folgerung skizziert, welche die Legislative
in einem institutionellen Sinne betrifft. Steht ein formallogisch oder
inhaltlich konturierbarer Begriff des Gesetzes nicht zu Gebote und ist
das Gesetz nur operativ, nämlich durch die Kompetenz des Parlamentes
zu unbegrenzter Reduktion von Regelungsspielräumen definierbar, so ist
aufgrund der von irgendeiner Stelle an nicht mehr steigerungsfähigen
Kompetenz des Parlamentes die fortwährende Aufgabe der rationalisierten Ab-
stufung von Wichtigkeitsgraden gestellt; eine derartige Objektivierung
parlamentarischer Aktivität dürfte nicht zuletzt als Korrektiv für ei-
ne Politik der Wahlversprechen wünschenswert sein.

294
Gesetzgebungstheorie als praxisorientierte rechtswissenschaftliehe
Disziplin auf rechtstheoretischer Grundlage
Rödig, J., Baden, E., Kindermann, H. (Hrsg.): Vorstudien zu einer Theorie der Gesetzgebung.
Gesellschaft für Mathematik und Datenverarbeitung. Bonn 1975, S. 11-15

1.1.1. Konzeption des Projekts

1.1.1.1. Rechtstheoretischer Ansatz

Es gibt noch keine rechtswissenschaftliehe Disziplin namens "Gesetzgebungstheorie ". Viehnehr können wir
zur Zeit erst einige - um so verdienstvollere - Schriften verzeichnen, deren Aussagen als Variationen über
das Thema aufgefaßt werden dürfen, daß die Gesetzgebung zu einem zentralen Gegenstand rechtswissen·
schaftlieher Forschung gemacht werden sollte; namentlich PETER NOLLs glänzend geschriebene Gesetz-
gebungslehre, die zahlreiche wesentliche Anregungen enthält, ist in diesem Zusammenhang zu nennen.
Sowohl die traditionelle rechtswissenschaftliehe Dogmatik als auch die juristische Methodenlehre befassen
sich ganz überwiegend mit dem Rechtszustand nach Erlaß eines Gesetzes~ Was zunächst die Dogmatik an-
geht, so scheint sie sich zwar nicht mit der Funktion eines Sprachrohrs des Gesetzgebers begnügen zu wollen.
Als besonders reizvoll pflegt viehnehr das begründete Abweichen vom Gesetz unter Überwindung gesetzgebe-
rischer Vorstellungen empfunden zu werden. Nur selten artikuliert sich solche Pionierarbeit indessen in Ge-
stalt des Vorschlags von gesetzesartigen Rechtssätzen, welche den nunmehr erreichten Stand der Rechtser-
neuerung in jener Allgemeinheit zum Ausdruck bringen, die dem Abstraktionsniveau der überholten Gesetzes -
vorschriften entspricht. Stattdessen ist das Abstraktionsniveau teilweise niedriger, nämlich dann,wenn es
bei der Erarbeitung einer für den Einzelfall ''billigen'' Beurteilung bewendet; teilweise vollzieht sich Rechts-
fortbildung aber auch auf noch abstrakterer Ebene, wo sie oft nur noch als Arbeit am Rechtsgedanken als
solchem erscheint. Der gesetzesartige Rechtssatz pflegt um so weniger als Medium der Rechtsfortbildung zu
fungieren, als die sogenannte "objektive" Auslegungsmethode es geradezu als Triumph juristischen Interpre-
tierens betrachtet, daß neue rechtliche Gehalte mit Hilfe alter Paragraphen vorgetragen werden können. In
der Tat dürfte namentlich die nahezu uneingeschränkt beflirwortete Technik "objektiven" Auslegens für
den vergleichsweise fossilen Charakter der zeitgenössischen Gesetzgebungstheorie verantwortlich zu machen
sein.
Damit sind wir bereits bei der juristischen Methodenlehre angelangt, welche sich - wie erwähnt - eben·
falls weniger mit der Vorbereitung neuer Gesetze als viehnehr mit dem (zweifellos oft dornigen) Umgang
mit vorhandenen Gesetzen beschäftigt. Was für die juristische Methodenlehre im allgemeinen gilt, das gilt
für deren logisch ausgerichtete Partien insbesondere. Der Analyse rechtswissenschaftlicher Argumentations-
typen wie namentlich dem sogenannten "Analogieschluß", dem argumentum e contrario, dem argumentum a
fortiori usw. ist bekanntlich erheblicher Scharfsinn zugewendet worden. Ja wir haben den Bemühungen um
eine Aufhellung dieser Argumentationstypen geradezu einen der hauptsächlichen Ausgangspunkte flir die
- sich mit dem Namen ULRICH KLUGs verbindende - zeitgenössische juristische Logik zu verdanken.
Diese Logik war es denn auch, über welche der Verfasser mehrfach Gelegenheit erhielt, im Rahmen des In-
formatik-Kollegs der Gesellschaft für Mathematik und Datenverarbeitung vor Ministerialbeamten Vorträge
zu halten. Um "juristische" Logik ging es hierbei freilich weniger in dem - vom Verfasser übrigens leidenschaft -
lieh bekämpften - Sinn, daß eine als Logik besondere Logik für Juristen aufgebaut werden sollte. "Juri-
stische" Logik lief viehnehr auf eine ganz normale mathematische Logik hinaus, zu deren Illustrierung al-
lerdings durchweg juristische Beispiele herhalten mußten. Wie wohl sich die juristischen Beispiele in dieser
Rolle gefühlt haben, entzieht sich genauerer Überprüfung. Mit fortschreitender Arbeit mußten derartige Bei-
spiele indessen immer weniger "an den Haaren herbeigezogen werden", wie es heißt. Sie nahmen im Gegenteil

I) Zwn Stellenwert der Gesetzgeblll1!stheorie in der herkönunlichen Dogl1lltik sowie in der traditionellen Methodenlehre
vergl. in diesem Band 1.3.

295
- 12- Jürgen Rödig

den Charakter willkommener Gelegenheiten an, die es am Schopfe zu ergreifen galt; jene juristische Logik,
die sich anfangs in einer mathematischen Logik mit juristischer Illustration erschöpfte, ging durchaus in ei-
ne "angewandte Logik" im engeren Sinne über, nämlich in eine Logik, bei der das sachliche Problem domi-
niert und bei der umgekehrt die zur Lösung des Problems eingesetzte Logik nur dessen Schwierigkeit illu-
striert.
Zu den dankbarsten Problemen der genannten Art gehörten nun 'vornehmlich solche, welche gleichsam die
Makro-Struktur rechtücher Kodifikate betreffen. Ja es stellte sich sogar heraus, daß rechtliche KodifIkate,
um die ihnen zugewiesene Funktion erflillen zu können, gerade jenen Anforderungen gerecht werden müs-
sen, anhand deren Axiomensysteme gemessen zu werden pflegen: Widerspruchsfreiheit, Vollständigkeit und
- in gewissem Umfang - Unabhängigkeit. 2 Aus einander widersprechenden Rechtssätzen, die gleichzeitig
Geltung beanspruchen, kann - "ex falso quodlibet sequitur" - juristischer Nonsens beliebigen Ausmaßes
hergeleitet werden; unvollständige Gesetze stellen im Grundsatz Rechtsverweigerung des Gesetzgebers dar; ab -
hängige Gesetzesvorschriften sind aus anderen Vorschriften innerhalb desselben Gesetzes ableitbar und inso-
fern logisch überflüssig, mag sich hin und wieder auch aus mnemotechnischen Gründen die Wiederholung ei-
ner Regelung empfehlen.
Die logische Analyse der Makrostruktur von Gesetzen legte verständlicherweise die Frage nahe, wie man ein
gegebenes Gesetz unter Vermeidung von Widersprüchen hätte aufbauen können, wie man ein erst noch zu
entwerfendes Gesetz aufbauen sollte, kurz: die einschlägigen logischen Kriterien wurden zu Anhaltspunkten
für gesetzgebungstheoretische sowie gesetzgebungstechnische Maximen genommen. Der etwa von einigen Ver-
tretern der traditionellen Methodenlehre befürwortete Schluß von dem Ausnahme-Charakter einer Vorschrift
auf das Gebot restriktiver Auslegung ist schön und gut, jedoch eine von der Ungewißheit dieses Schlusses
unbehaftete Vorschrift wäre noch schöner und eine auf die Regel-Ausnahme-Technik im vorhinein verzich-
tende Gesetzgebungspraxis noch besser. Regel-Ausnahme-Verhältnisse halten nicht nur nicht dem Erfordernis
der Widerspruchsfreiheit stand; das Regel-Ausnahme-Verhältnis stellt sich darüber hinaus - nicht zuletzt sei -
ner logischen Anfechtbarkeit wegen - geradezu als Füllhorn unnötiger rechtsdogmatischer Streitfragen dar. 3
Die im Bereich juristischer Logik gewonnene Erkenntnis erwies sich alsbald als der Verallgemeinerung fähig.
Warum soll nicht wenigstens ein Teil jener Energie, welche durch die Analyse teleologischer Auslegung ver-
zehrt zu werden pflegt, auf die Erörterung der Frage verwendet werden, inwiefern die legislatorischen Ab-
sichten nicht schon innerhalb des Gesetzes selbst zum Ausdruck gebracht werden könnten. Wenn man "kau-
sale Rechtsvorschriften " oder gar Präambeln dagegen eher als gefährlich denn als nützlich erachtet, dann
wird man immerhin den Gesetzes-Materialien größere Beachtung zubilligen müssen als die, welche die - oft
nur schwerlich zugänglichen - Materialien im Vergleich zu Kommentaren zweiten Ranges derzeit genießen. 4
Wie die logische Form, so läßt sich daher auch die Auslegung von Gesetzen unter dem Gesichtspunkt "ex
ante" betrachten.

1.1.1.2. Rechtspolitische Absicht

Die rechtspolitische Zielsetzung unserer Arbeit läßt sich an dieser Stelle lediglich skizzieren.
Bei genauerer Betrachtung büßt das Gesetz die ihm immer wieder - namentlich von Nichtjuristen - beigemes -
sene Absolutheit rasch ein . Fürs erste nehmen es richterliche Urteile, und zwar namentlich Entscheidungen
unserer Revisionsgerichte , an Allgemeinheit mit Gesetzen durchaus auf. Daß es höchstrichterlichen Leitsätzen,
wie oben angedeutet wurde, in der Regel an Gesetzesartigkeit gebricht, hängt weniger mit ihrem zu niedrigen
oder zu hohen Abstraktionsniveau als vielmehr mit der vergleichsweise punktuellen Aufstellung dieser Sätze
zusammen; tatsächlich kann aus der Änderung auch nur eines Elements des Rechtssatz-Systems die Notwen-
digkeit einer Modifikation des gesamten Systems resultieren. Den materiellen Gesetzescharakter von Leit-

2) Eine ~ehende DantellWJg findet sich in dem Referat JÜlgen Rödigs "Axiormtische MetbJde als formale Richtschnur
des Kodifizierens" unten unter 2.1.
3) Ausführlich "Die Rege1-AusnalurJe.Technik in logischer Sicht" unten unter 2.4.1.
4) Verg\. Röd"s Thesen unter 1.3.1. und die ansch1ießende Diskussion unter 1.3.2.
Zu aen PriiliImeln und Vorsprüchen eiJ1!ehend lbrmnn und Nunius unter 3.3.2 und 3.3.3.

296
Gesetzgebungstheorie als praxisorientierte rechtswissenschaftliehe Disziplin -13-

sätzen oder auch von entsprechenden Urteilspartien läßt aber auch der Umstand unbeschadet, daß sich rich-
terliche Urteile häufig nur in der Funktion der Streitentscheidung verstehen und daß man sie im Hinblick
auf ihren Stellenwert im gewaltenteilenden Rechtsstaat auch nur zu gerne bei diesem Selbstverständnis be-
läßt. In der Tat dürfte jeder auch noch so bescheiden formulierte Rechtsgedanke, der die - u. a. durch
Raum und Zeit festgelegte - Individualität des zu beurteilenden Falles verläßt, nur noch als .. obiter
dictum" angesehen werden, weil er jedenfalls in dieser Allgemeinheit fiir die Beurteilung des Falles nicht an-
genommen zu werden brauchte. Dementsprechend kann sich eine spätere gerichtliche Entscheidung auf ei-
ne frühere streng genommen ebenfalls nur in dem Rahmen beziehen, als diese überflüssige A usflihrungen ent-
hält; der seinerzeit als solcher entschiedene Fall kann sich gerade nicht wiederholen. Diese Gesichtspun1cte
pflegen bei der bisweilen etwas emphatischen Schilderung des angelsächsischen Case-law nicht genügend be -
rücksichtigt zu werden.' Auf der anderen Seite sollte man indessen nicht zögern zuzugeben, daß richterli-
che Rechtsfortbildung von der Art, wie sie in unserem Staat gegenwärtig praktiziert wird, der Sache nach
durchaus jene rechtliche Allgemeinheit beansprucht, welcher es innerhalb des Case -Iaw für den Rückbezug ei -
ner späteren Entscheidung auf eine frühere bedarf. Dies vorausgesetzt, ist - ungeachtet des Problems der Ge-
setzesartigkeit von Leitsätzen - dringend nach der demokratischen Legimitation solcher Rechtssetzung zu
fragen. Erscheint die demokratische Legitimation richterlicher Rechtsfortbildung seitens ungewählter (und
unabwählbarer) Richter nun aber gesichert, so drängt sich unweigerlich die weitere Frage auf, inwiefern
dem Gesetz dann noch als einer von mehreren Regelungsformen eine luirvorgehobene Stellung gebühre. Für
diese Stellung läßt sich zwar die für das Gesetz kennzeichnende Art der Verbreitung des darin enthaltenen
Regelungsgehalts ins Treffen flihren. Jedoch was nützen Einrücken ins Bundesgesetzblatt usw., wenn die
Kenntnisna1une seitens der Betroffenen de facto aus verständlichen Gründen unterbleibt. Zu den genannten
Gründen gehört nicht zuletzt die Lesbarkeit sowie die Verstehbarkeit des Gesetzes für die Mehrheit der Be-
troffenen. 6 Zwar soll hier nicht solchen Gesetzen das Wort geredet werden, die um ihrer volkstümlichen
Fassung willen auf eine exakte Formulierung des beabsichtigten RegelungsgehaIts verzichten und auf diese
Weise einen sozialen Bärendienst leisten. Indessen sollte auch dann, wenn je nach geregelter Materie der un-
gehinderte Informationsfluß in Richtung zum Rechtsanwender (Richter, Verwaltungsbeamter usw.) im Vor-
dergrund steht, durch zusätzliche Vorkehrungen - etwa durch zusätzliche Gesetzesfassungen - dafür gesorgt
werden, daß auch der Betroffene hinreichende Informationen bezieht. Dies gilt nicht nur im Hinblick auf
die aktuelle Situation, in der sich der Betroffene befindet; es gilt überdies im Hinblick darauf, daß jeder Bür-
ger eines demokratischen Rechtsstaates als potentiell Betroffener zu den ihn betreffenden Regelungen im
Ra1unen von Wahlen und sonstigen Formen politischer Selbstbestimmung sollte begründet Stellung nehmen
können.
Das Gesetz als Regelungsform ist in einer zweiten Hinsicht der Relativierung bedürftig. Allein der Umstand,
daß die betreffenden Vorschriften eben irgendwann einmal erlassen worden sind, möglicherweise zu einer
Zeit, zu der keiner der heute von ihnen Betroffenen überhaupt geboren war, rechtfertigt schwerlich ihre
Kraft, die Gegenwart zu binden. Jedoch auch verfassungsrechtliche Konstruktionen derart, daß etwa mit
Erlaß eines Grundgesetzes sämtliche mit ihm verträglichen Vorschriften als akzeptiert gelten, die vorher be-
reits in Kraft gewesen sind, entschärfen die Problematik: allenfalls. Hat jeder Mensch das Recht, seine Mei-
nungen seinem Gewissen entsprechend zu ändern, so würden wir das Ideal der Selbstbestimmung in einem
Gemeinwesen verwirklicht sehen, dessen rechtliche Ordnung durch einen von Augenblick zu Augenblick er-
neut abgeschlossenen Gesellschaftsvertrag gestiftet wird - durch einen Vertrag mithin, der seiner fortwäh-
rend erneuten Vorna1une wegen gar keine Bindung für die Zukunft mehr zu entfalten brauchte. Wesentlich
an solcher Vereinbarung wäre nur noch das Element der Verständigung, also der gegenseitigen Information
über die jeweils mehrheitlich gewollte rechtliche Verfaßtheit des Gemeinwesens. Da nun aber ein Informa-
tionssystem, welches die genannte Aufgabe zu bewältigen in der Lage wäre, illusorisch ist, kommt man oh-
ne zeitlich auseinanderliegende Informationsträger nicht aus. Ein Minimum an zeitlicher Distanz ist ferner

') Zwn CaSl>-law siehe Motscb ''Kodifiziertes Recht versus Case-law" unter 1.2.2.1. In der anschließenden Diskussion wurde
auch das hier a'l!eschnittene Problem behandelt; unten unter 1.2.2.3.
6) VeJg!. in diesem Band E. Baden, Zur Sprachlichkeit der Gesetze, UI1!en 3.2.

297
- 14 - Jürgen Rödig

schon im Hinblick auf die begrenzte Speicherkapazität der Adressaten der Information zu fordern, die nicht
unaufhörlich mit neuen Regelungsgehalten konfrontiert werden sollen. Im Interesse einer möglichst effek-
tiven Information über die geltende rechtliche Ordnung wird man schließlich die Verwendung von "Super-
zeichen" verlangen, welche die Zusammenfassung eines umfanglichen Stoffes mit Hilfe merkbarer Einheiten
(Grundsätze, "Ober"-Begriffe) gestatten.
Mit dieser Sicht der Dinge ist nun offenbar eine von Grund auf veränderte Konzeption des Gesetzes als einer
Form rechtlicher Regelung verbunden. Optimale Transparenz und optimale Promulgation des Gesetzes sind
nicht mehr nur "Begleiterscheinungen" eines Phänomens, das in seinem Wesen mit Mystizismen des Typs "Ge-
setz ist Gesetz" gefeiert werden mußte. Diese "Begleiterscheinungen" machen gerade umgekehrt die Chance
des Gesetzes aus, andere Regelungsformen an Effektivität zu übertreffen.
Im Zusammenhang mit der Forderung nach Transparenz sind namentlich die eingangs (1 1.) genannten Krite-
rien betreffend die Makro-Struktur des Gesetzes zu nennen. Mit mangelnder oder gar mit mangelhafter Sy-
stematik eines Gesetzes geht unweigerlich ein Verlust an Erlernbarkeit sowie auch an Diskutierbarkeit und
Akzeptierbarkeit seines Regelungsgehalts einher. Zu Unrecht wird ein hohes Maß an Systematik immer wie-
der in Gegensatz zur Verständlichkeit des betreffenden Kodifikats gesetzt, und die didaktische Aufbereitung
eines Stoffes wird mit diesem Stoff selbst, über den doch erst einmal in der Sache Klarheit hergestellt sein
sollte, irrigerweise identifiziert. Gerade in jenen Fällen, in welchen die Gesichtspunkte der sachlichen Eindeu-
tigkeit einerseits sowie der Verbreitungsfähigkeit andererseits miteinander kollidieren, sollte man die Möglich-
keit von je nach dem Adressatenkreis unterschiedlichen Gesetzesfassungen erwägen. Verbindlich muß im
Zweifel die am ehesten eindeutige Gesetzesfassung sein. Demgegenüber bräuchte ein Rechtslesebuch nicht
gleichfalls in Paragraphen gegliedert zu werden. Funktionsgerecht ist vielmehr jede Darstellung, welche den
Regelungsgehalt hinreichend abdeckt und im übrigen den unter dem Gesichtspunkt der Didaktik zu erheben-
den Forderungen genügt. Nur muß es eine solche Darstellung überhaupt geben; denn mit dem Einrücken des
vergleichsweise unverständlichen Gesetzes in das vergleichsweise ungelesene Bundesgesetzblatt ist es im Hin-
blick auf die von dem Gesetz zu erflillenden Funktionen, wie sie soeben erörtert worden sind, nicht getan. 7
Dieselbe rechtspolitische Motivation, die unseren gesetzgebungstheoretischen Ansatz bestimmt, gibt für die
Forderung nach verbessertem und (in verbesserter Fassung) intensiviertem Rechtsunterricht den Ausschlag.

1.1.2. Arbeitsgliederung

Im folgenden ist die Gliederung wiedergegeben, die der Vorbereitung der Tagung zugrundegelegen hat und
welche vorerst auch flir die Fortsetzung der Arbeit beibehalten werden soll. Im Rahmen der Tagung selbst
hat nur ein Teil der Gliederungspunkte "abgehakt" werden können, und zahlreiche Diskussionsgegenstände,
welche sich nicht oder nur mühsam ln die Gliederung haben einordnen lassen, haben gezeigt, daß gerade die
Systematik einer - auf systematische Gesetze abzielenden - Gesetzgebungstheorie entsprechende Anstren-
gungen erfordert. Die Ausrichtung der Gliederung nach Kriterien der axiomatischen Methode dürfte sich al-
lerdings im Grundsatz bewährt haben. Diese Ausrichtung hat namentlich die zusammenfassende Behandlung
funktional verwandter Gesetzestechniken erlaubt.
Einige Gliederungspunkte bedürfen kurzer Erläuterung. Mit der sprachlich möglicherweise etwas wohlfeilen
-vielleicht sogar ungeeignete Assoziationen hervorrufenden - Unterscheidung zwischen statischer (2) und
dynamischer Gesetzestheorie ("Theorie des Gesetzgebungsprozesses", 3) ist der Gegensatz intendiert, daß
der durch ein Gesetz zu erfassende Regelungsgehalt in diesem Falle erst im Wege der Bevorzugung einer von
mehreren rechtspolitischen Alternativen bestimmt werden muß, während es in jenem Fall darauf ankommt,
einen als konstant vorausgesetzten Regelungsgehalt auf optimale Weise mittels gesetzesartiger Rechtssätze zu
erfassen. Frau Schlagböhmer hat insofern den - wohl glücklicheren - Vorschlag gemacht, anstatt von dyna-
mischer Gesetzestheorie von "freier" und anstatt von statischer von" gebundener" Gesetzestheorie zu sprechen.

7) Vergl. in diesem Band E. Baden, Zur VerkündUl\\ V<Jn Rechtsnormen, lUlten 4.2.2., bes. 4.2.2.4.

298
Gesetzgebungstheorie als praxisorientierte rechtswissenschaftliche Disziplin - 15 .

Bei den Fragen, ob und inwieweit Legaldefinitionen am Platze seien, ob und inwieweit sich Allgemeine Teile
empfehlen usw., geht es offenbar um "gebundene" Gesetzestheorie im Sinne des genannten Sprachgebrauchs.
Hinsichtlich der Unterscheidung von Norm und Rechtssatz sowie hinsichtlich der Unterscheidung mehrerer
Rechtssatz-Arten je nach Ausmaß ihres RegelungsgehaIts (Legaldefinitionen, analytische Normen, syntheti-
sche NO'rmen) darf ich auf die einschlägigen Partien meiner Schrift "Theorie des gerichtlichen Erkenntnisver-
fahrens", 1973, §§ 62.2,63.2,46.3.0,46.5,46.7,60.0,73.1, verweisen.
Bei der Unterscheidung des materiellen Begriffs des Kodifikats vom formellen (2.3_1.2.9.5)" geht es darum,
die Gesetzesartigkeit eines generell formulierten sowie systematisch bereinigten Rechtsstoffs von dem eher äus -
serlichen Umstand abzuheben, daß gewisse Regelungsgehalte das Gesetzgebungsverfahren durchlaufen und Ein-
gang in förmliche Gesetze gefunden haben. Die gesetzliche Sanktionierung einer bereits geübten richterlichen
Praxis wird schwerlich den Anforderungen materiellen Kodifizierens genügen" Umgekehrt kann die innere
Durchdringung des Regelungsgehalts, die sich im Zusammenhang mit dem Versuch einer materiellen Kodifika-
tion als unumgänglich erweist, zu beträchtlichen Abweichungen von der zu kodifizierenden Rechtsprechung
führen. So kann sich beispielsweise rein logisch das Bestehen von Widersprüchen oder rein kombinatorisch das
Klaffen von Regelungslücken ergeben, und die zur Behebung dieser Mängel verwendeten sachlichen Lösungen
sind möglicherweise einer im vorhinein noch ungeahnten Verallgemeinerung bedürftig. Der heuristische Wert
der Logik scheint wieder einmal umgekehrt proportional zu ihrer Strenge, nämlich ihrem Verzicht auf still-
schweigende sachliche Voraussetzungen, zu sein!

299
Zum Stellenwert der Gesetzgebungstheorie in der herkömmlichen
Dogmatik sowie in der traditionellen Methodenlehre
Rödig, J., Baden, E., Kindermann, H. (Hrsg.): Vorstudien zu einer Theorie der Gesetzgebung.
Gesellschaft ftir Mathematik und Datenverarbeitung. Bonn 1975, S. 27-31

1.3.1. Zur Einführung in den zu behandelnden Problemkreis der juristischen Regelungstheorie, insbe·
sondere der Gesetzgebungstheorie trug Herr Rödig die folgenden drei Thesen·vor:

\.3. \. \. These I : Herkömmliche Dogmatik betrachtet ( namentlich) die ( neuere) Gesetzgebung als schlichte
Resultante politisch aufeinanderorallender Interessen

Der explizite Regelungsgehalt des Gesetzes erfaßt nur einen vergleichsweise kleinen Teil der zu regelnden Fäl·
le. Zum Schließen von Lücken sind daher die rechtspolitischen ZielvorsteHungen und die dogmatisch·systema·
tische Konzeption des Gesetzgebers von maßgeblicher Bedeutung, da sie bereits eine, wenn auch sehr abstrak·
te Regelung der explizit nicht geregelten FäHe enthalten. Den im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens geäußer.
ten Absichten und der systematischen Konzeption kommt insoweit eine andere Bedeutung zu als den obiter

• Diese Thesen dienen der Diskussionsanregung. Sie sind daher bewußt provokativ formuliert .

301
- 28- Jürgen Rödig

dicta des Richters. Letztere erscheinen belanglos, weil sie nicht den konkreten Fall betreffen, den allein zu
entscheiden der Richter berufen ist. Der Gesetzgeber ist aber gerade nicht auf die Regelung eines bestimm-
ten Falles beschränkt, ihm ist vielmehr aufgetragen, alle Fälle zu lösen. Die herkömmliche Dogmatik redu-
ziert den in Gesetz und Begründung enthaltenen Regelungsgehalt, wenn sie ausschließlich das Gesetz als Er-
kenntnisquelle ansieht. Das Gesetz wird dabei als Aneinanderreihung einzelner Vorschriften verstanden, die
jeweils als Resultat der politischen Auseinandersetzung über die ursprüngliche Regelung durch den Entwurf
angesehen werden. Die mit den jeweiligen "punktuellen" Formulierungen verfolgte Gesamtkonzeption der
parlamentarischen Mehrheit bleibt weitgehend außer Betracht. Der Hinweis auf die "systematische Auslegung"
und die Berücksichtigung der gesetzgeberischen Motivation in einigen höchstrichterlichen Entscheidungen ver-
mag die These nicht zu entkräften, da systematische Interpretation nur innerhalb des Gesetzes betrieben wird,
die Vorstellungen des Gesetzgebers über die Funktion des Gesetzes im System unserer Rechtsordnung über-
haupt dagegen nicht genügend beachtet werden. Die gesetzgeberische Motivation wird nicht regelmäßig als
Entscheidungshilfe herangezogen, so daß man sich des Eindrucks nicht erwehren kann, daß sie häufig nur zur
Stützung eines bereits vorher gefundenen Ergebnisses verwandt wird.
Einen Einfluß auf die Dogmatik nimmt das Gesetz hiernach allenfalls insofern, als die Dogmatik gezwungen
wird, gewisse - nämlich legislatorische - Lösungen vom Ergebnis her zu beachten. Der Gesetzgeber kann nach
verbreiteter Ansicht nur das Ergebnis, nicht aber die Begründung vorschreiben. Die Dogmatik glaubt sich in ih-
rer rechtsschöpferischen Tätigkeit weitgehend frei, und das Parlament als verfassungsmäßig berufener Gesetz-
geber erleidet einen Macht- und Funktionsverlust. Um diesen Gefahren zu begegnen, ist der systematische An-
satz des Gesetzes ernst zu nehmen, und es ist zu wünschen, daß dieser Ansatz auch in das KodifIkat selbst ein-
bezogen wird_

1.3.1.2. These 11: Die traditionelle Methodenlehre setzt an bei dem schon fertigen Gesetz

Nahezu ausschließlicher Gegenstand der herkömmlichen Methodenlehre sind die Probleme der Entscheidungs-
gewinnung anhand vorhandener Gesetze und die Bewältigung eines gesetzlosen Zustandes mittels Analogie, Ge-
wohnheitsrecht (ev. Rechtsprechung). Eine Methode der Gesetzgebung wurde dagegen bislang nicht entwickelt.
Das Gesetzgebungsverfahren ist zwar Gegenstand öffentlichrechtlicher, insbesondere verfassungsrechtlicher Un-
tersuchungen; die technischen Schwierigkeiten, die bei der Abfassung eines Gesetzes bewältigt werden müssen,
werden dagegen vollkommen vernachlässigt. Anweisungen nach der Art des § 34 GGO 11 "Gesetze müssen
sprachlich einwandfrei und sollen so weit wie möglich auch fiir den Laien verständlich sein" helfen nicht wei-
ter.
Juristische Argumentationstheorie geht ersichtlich von vorhandenen Rechtsvorschriften aus, welche analog an-
gewendet werden, mit denen man ein argurnentum e contrario gewinnt usw_; dagegen wurden kaum Methoden
fiir das Abfassen von Legaldefinitionen, fiir argumentativ eindeutige Rechtssätze (Analogie versus Umkehrschluß)
usw. entwickelt. Aufgaben der zu schaffenden Gesetzgebungslehre sind insbesondere:
WISSenschaftliche Analyse des zu statuierenden Regelungsgehalts selbst.
"Auslegung ex ante": Festlegung des Gesetzesanwenders auf die gesetz-
geberische Konzeption mittels Materialien, Präambeln, Einleitungspara-
graphen, ''kausalen Rechtssätzen" .
Ausrichtung der Anwendung eines Gesetzes an der Perspektive der Ge-
setzesreform.

1.3.1.3.These III:Die Vernachlässigung des Gesetzes durch Dogmatik und Methodenlehre neutralisiert weit-
gehend das demokratische Prinzip
Dogmatik und Methodenlehre nehmen das Gesetz zunächst resignierend hin, "unterwerfen" sich formell, fiih-

302
Zum Stellenwert der Gesetzgebungstheorie in der herkömmlichen Dogmatik - 29-

len sich jedoch letztlich nicht gebunden. Mittels der "objektiven Auslegung" wird das Gesetz in seinem Rege·
lungsgehalt in einer Weise verändert, die fiir den Rechtsunterworfenen weder vorhersehbar noch beeinflußbar
ist. Wird das Gesetz dagegen als etwas entweder mit Überzeugung zu Befolgendes oder aber durch ein neues
Gesetz zu Substituierendes betrachtet, so besteht die Aussicht, daß auch die durch juristische Gesetze ange·
sprochene Bevölkerung diese Gesetze als zumindest partiell ihrem Einfluß unterworfen betrachtet. Solange die
von einer positiven Rechtsordnung betroffenen Personen diese Rechtsordnung als eine fremde Kraft betrach-
ten, der sie zwar ausgesetzt sind, auf die sie jedoch nicht selbst Einfluß zu nehmen vermögen, wird es schwer
halten, die Bereitschaft zur Akzeptierung der getroffenen Regelungen zu stärken. Die Autorität des Gesetzge-
bers muß in einem möglichst aktuellen Konsens aller Betroffenen bestehen (anstatt in der unlegitimierten Maß-
geblichkeit unserer Almen). Ein solcher Konsens bedarf aber einer gewissen Minimal-Information des Bürgers.
Gesetzgebungs- und Rechtsanwendungsverfahren müssen flir den Bürger durch Informationsvermittlung transpa-
rent gemacht werden. Der so informierte Bürger vermag sich wirkungsvoll in den politischen Parteien zusammen-
zuschließen, um von da aus auf den Prozeß der Normsetzung Einfluß zu nehmen und so das demokratische Prin-
zip zu verwirklichen helfen. Nicht zuletzt unter diesem Aspekt ist hinreichende Information über das Recht ftir
das Funktionieren des demokratischen Rechtsstaates von nicht minderer Bedeutung als ein gutes, strikt- beachte-
tes Recht selbst.

1.3.2. In _der Diskussion wurde erörtert, wie der aufgezeigte weite Spielraum von Methodenlehre und Dogma-
tik verkleinert werden kann. Eingangs wurde auf die Begründungen hingewiesen, die von der Ministerialbürokra-
tie bzw. von der die Entwürfe abfassenden Gesetzeskommission erarbeitet werden Es ist aber zu bedenken, daß
die Begründung einerseits nur hinsichtlich des zugrunde liegenden Entwurfs, nicht aber hinsichtlich der regelmäs -
sig abweichenden Endfassung des Gesetzes zutreffend ist, und daß es sich andererseits nur um die Begründung
der Bundesregierung und damit um eine Begründung der Exekutive handelt. Überhaupt müsse man immer im
Auge behalten, daß sämtliche Entwürfe nur der Bundesregierung oder aber einer Fraktion des Parlaments, nicht
aber dem Gesetzgeber zugerechnet werden dürfen. 1
Bisher wurden zudem häufig gerade die amtlichen Begründungen herangezogen, um das freie Vorgehen von Me-
thodenlehre und Dogmatik zu rechtfertigen. Die amtliche Begründung flir den 1. Entwurf des BGB sagt bezüg-
lich der juristischen Person: "Den Begriff der juristischen Person zu konstruieren und zu rechtfertigen ist Auf-
gabe der Wissenschaft" (Motive I, S. 78). Von der damals herrschenden Begriffsjurisprudenz, die von Begriffen
auf normative Sätze schließen zu können glaubte, und auch noch von der späteren Methodenlehre wurde die an-
geflihrte Aussage geradezu als Ermächtigung zur freien Rechtsschöpfung empfunden und verwandt.
Herr Rödig gab daher zu erwägen, die Motivierung flir die getroffene Regelung nach Möglichkeit in das Gesetz
selbst aufzunehmen. Die Diskussionsfahigkeit des Gesetzes würde durch ein derartiges Vorgehen zweifellos er-
höht, und es ist anzunehmen, daß der aufgeklärte Bürger einem begründeten Normbefehl bereitwilliger folgen
wird, als er es zur Zeit tut. Ein in sich begründetes Gesetz würde die Vermittlung seines Inhaltes durch den
rechtskundlichen Unterricht zudem wesentlich erleichtern. Gegen das Argument der erhöhten Diskussionsfahig-
keit wurde aber auch eingewandt, daß die Diskussion insbesondere des verabschiedeten Gesetzes im Sinne der
Erzielung eines weitgehenden Rechtsfriedens gar nicht wünschenswert sei.
Herr Kindermann warnte vor zu großzügiger Argumentation mit dem Rechtsfrieden. Notwendige Änderungen
des Gesetzeswortlautes würden häufig nicht vorgenommen, weil der Bürger durch derartige Änderungen zu sehr
verunsichert werde. Man nehme es aber andererseits bedenkenlos hin, daß mittels der "objektiven Auslegung"
mit demselben Gesetzeswortlaut im Laufe der Zeit ganz unterschiedliche Verhaltensweisen von dem Bürger ge-
fordert werden. Die Betroffenen empfinden ein derartiges Vorgehen häufig als willkürlich, und nicht zuletzt
aus dieser Empfmdung mag die Zerfallenheit des Bürgers mit der Rechtsordnung herrühren.

1) Es empfiehlt sich, nicht länger von dem Gesetzgeber zu sprechen; vg!. dazu etwa P.Noll, GesetzgebungsJehre,
Reinbek 1973, S.44 f .

303
- 30- Jürgen Rödig

In einem demokratischen Staatswesen kann und muß man dem Bürger zumuten, die gesellschaftliche Bedingt·
heit des Rechts immer wieder als Anlaß zu politischen Kontroversen zu erfahren.
Die gesellschaftliche Bedingtheit des Rechts impliziert immer neue politische Kämpfe um das Recht In einem
demokratischen Gemeinwesen hat der Bürger einen Anspruch auf Öffentlichkeit dieser Kontroversen. Die Dis·
kussion der Begründungen vermag ihm bei seiner politischen Entscheidung fur die eine oder andere Partei ob·
jektive Entscheidungskriterien zu geben.
Allgemein wurde anerkannt, daß gesetzliche Begründungen zur Legitimation des rechtsanwendenden Richters
erheblich beitragen, ihn andererseits aber in seiner Rechtsschöpfungsbefugnis einschränken.
Die Diskussion wandte sich jetzt dem Verhältnis zwischen Regelung und dazugehöriger Begründung zu.
Ein Seminarteilnehmer warf die Frage auf, ob der gesetzlichen Begründung dieselbe Verbindlichkeit zukäme wie
der Regelung selbst oder ob nicht vielmehr der Richter bei der Rechtsfortbildung von derartigen Zielvorstellun·
gen und Begründungen unter erleichterten Voraussetzungen abweichen könne.
Herr Staats bezeichnete die Begründung als die "Geschäftsgrundlage des Gesetzes". Falls die Begründung bzw.
Zielvorstellung mit den veränderten gesellschaftlichen Umständen nicht mehr im Einklang stünde, müßte auch
die Norm diesen veränderten Umständen angepaßt werden. Die Regelung selbst würde zwar obsolet, keineswegs
aber durch den "Wegfall der Begründung" nichtig.
Herr Cremer wandte ein, daß es aus logischen Gründen richtiger wäre, bei nicht mehr zutreffender Begründung
die Norm als unwirksam anzusehen, selbst dann, wenn gegen den sachlichen Gehalt der Regelung auch unter den
veränderten Umständen an sich nichts einzuwenden ist Aus Gründen der Rechtssicherheit lasse Sich dies jedoch
wohl kaum verwirklichen.
Herr Kindermann bemerkte, daß insbesondere zur Zeit des Nationalsozialismus der Versuch gemacht worden war,
die mit der Regelung angesteuerten Ziele umfassend in den jeweiligen "Vorsprüchen" anzufuhren, daß aber das
Reichsgericht bis zuletzt derartigen Vorsprüchen bei der Auslegung des Gesetzes selbst jede Verbindlichkeit ab·
sprach.'
Zu klären ist in diesem Zusammenhang auch, ob eine eng formulierte Begründung eine weit ge faßte Norm in ih·
rem sachlichen Geltungsbereich einzuschränken vermag.
Das historische Beispiel belegt nach Herrn Staats die Fragwürdigkeit derartiger Bemühungen. Die Gefahr, daß
die jeweilige Regierung mit den Präambeln eingängige Wahlpropaganda treibe, sei zu groß.
Im Anschluß daran fuhrte Herr Barteides aus, daß es zur Zeit praktisch nicht möglich ist, "kausale Rechtssätze"
in die Gesetze aufzunehmen. Auf die abstrakte Regelung könnten sich die divergierenden politischen Gruppen ge'
rade noch einigen, eine gemeinsame Begründung könne aber wohl kaum gefunden werden, da die jeweiligen Ziel·
vorstellungen erheblich voneinander abwichen. Bereits bei der eigentlichen Regelung lasse sich ein Kompromiß
häufig nur fur eine weite Formulierung erzielen, die die künftige Entwicklung weitgehend offen lasse. 3
Herr Rödig erwiderte, daß dieser Umstand nur die Misere belege. Man solle doch die Wichtigkeit der Begründung
für die sog. "teleologische Auslegung" bedenken. Aus der Konkretisierungsbedürftigkeit von Gesetzen resultiert,
daß auch die nur so genannte" Begründung "de facto weitgehend Regelung ist. Verzichtbar ist die Begründung
nur, wenn verschiedene Begründungen auch in den Einzelheiten zu gleichen Regelungen fuhren, was aber nicht der
Fall ist. Der Verzicht auf eine amtliche Begründung stellt mithin einen partiellen Regelungsverzicht des Gesetzge·
bers dar.
Eine weitere praktische Schwierigkeit bei der Abfassung der Begründungen besteht darin, daß von dem Bündel an

2) Ausführlich dazu Homann und Nunius unter 3.3.2. und 3.3.3.


3) vgl. E. Baden, Zur Sprachlichkeit der Gesetze, unten 3.2.4.4.2.

304
Zum Stellenwert der Gesetzgebungstheorie in der herkömmlichen Dogmatik - 31

Zielen, die ftir die Regelung ursächlich waren, immer nur ein bestimmter Ausschnitt in das Gesetz aufge -
nommen werden kann, der durch eine derartige Betonung gewissermaßen absolut gesetzt wird_ Bei kur -
zen Gesetzen ist nach Herrn Kast eine Begründung ohnehin überflüssig, weil sie im Verhältnis zu der ge -
troffenen Regelung zu gewichtig würde und im übrigen in der Regel inzidenter aus dem Gesetz hervorgehe.

Herr Motsch versuchte die Formulierung einer begründeten Regelung, und es zeigte sich, daß diese Norm
einer Generalklausei in Aufbau und Wortlaut sehr nahe kam, was Herrn Motsch zu der These fIihrte, daß
Generalklauseln möglicherweise nichts anderes sind als normierte Zielvorstellungen des Gesetzgebers.

Die Entwicklung einer Methode der Gesetzgebung wurde allgemein ftir erforderlich gehalten.

Herr Staats sah in dieser Methode aber nur eine Ergänzung der bisherigen Methodenlehre, die im übrigen
von der Neuentwicklung unberührt bleibe.

Herr Baden widersprach dem und hielt eine sorgfaltige gedankliche Trennung von Auslegungs - Methode und
Gesetzgebungs - Methode flir nützlich. Erst in einern. weiteren Schritt gelte es, angesichts der gegenseitigen
Abhängigkeit die beiden Methoden einander anzugleichen. Es sei zum Beispiel kaum denkbar, daß die Aus -
legungsmethodik die Augen verschließen könne, wenn die Gesetzgebungsmethodik sich zum einheitlichen
Gebrauche bestimmter Wendungen zum Ausdrucke einzelner Gegebenheiten durchringen könnte, während
letztere sich tunlichst - um der Effektivität willen - auf die Besonderheiten der juristischen Auslegung ein -
stellen sollte. Zu erstreben sei daher ein Zustand in dem die Gesetzgebungs - Methode die Normen so faßt,
daß nach Anwendung der Auslegungs - Methode genau der Regelungsgehalt zutage gefördert wird, der vom
Gesetzgeber intendiert war. Danach erst können eventuelle Abweichnungen sinnvoll begriindet werden.

Herr Meyer wünschte, die" Lehre der Gesetzgebung möge sich nicht im Himmel ansiedeln" , sondern den
Bedürfnissen der Praxis zu genügen suchen. Voraussetzung eines guten Gesetzes sei: I Präzise Entwicklung
der Zielvorstellungen ,II Analyse der Veränderungsmöglichkeit des bestehenden Zustandes durch ein Ge -
setz (Wirk - Modell ), III Rückkoppelung mit der Praxis ( feed-back ), um die erforderlichen Änderungen bei -
zeiten durchfUhren zu können.

305
Logische Kriterien für die korrekte Verwendung
von Legaldefinitionen
Rödig, J., Baden, E., Kindermann, H. (Hrsg.): Vorstudien zu einer Theorie der Gesetzgebung.
Gesellschaft für Mathematik und Datenverarbeitung. Bonn 1975, S. 38-52

2.2.1.1. TRADITIONELLE DEFINITIONSTHEORIE *


Bereits die traditionelle Logik hat Kriterien fUr korrektes Definieren entwickelt, die insbesondere auf Legal •
defmitionen - nämlich auf gesetzliche Definitionen, die zur Bestimmung von Ausdrücken im Rahmen der·
selben Gesetze dienen - anwendbar sind.

2.2.1.1.1. DEFINITIONSFORMEL
Was die traditionelle Logik betrifft, so hat man sich an einen Grundsatz zu halten, den schon ARISTOTELES
aufgestellt hat und der als Vorläufer der in der zeitgenössischen Logik sogenannten" Defmitionsformeln "
angesehen werden kann : "Defmitio fit per genus proximum et differentiam specificam " . Bei der Defmition
von ( l.stell~gen ) Prädikaten soll zunächst das" genus" angegeben werden, nämlich der näChsthöhere Art·
begriff; alsdann soll eine" differentia specifica "eingefiihrt werden, nämlich ein Merkmal, durch das ein be .
stimmter Unterbegriff vor allen andem Unterbegriffen des Artbegriffs ausgezeichnet Wird; mittels dieses Unter·
begriffs als eines Sonderfalls des Artbegriffs wird das zu definierende Prädikat bestimmt.
Beispi~1 : " Vollmacht ist diejenige Vertretungsmacht, die auf rechts·
geschäftlicher Erteilung beruht" (vgl. § 166 Abs.2 S. I BGB).
Als genus fungiert der Begriff der Vollmacht, als differentia
specifica das Merkmal des Beruhens aufrechtsgeschäftlicher
Erteilung.
Versuchen wir einmal, das traditionelle Schema mithilfe unserer prädikatenlogischen Sprache zu symbolisieren.
Das zu defmierende Prädikat (" definiendum" ) heiße" Df' " , das genus proximum" Gp' " , die
differentia specifica "Os' " . Dann wird im Wege der Definition festgesetzt, daß bezüglich eines be .
liebigen Gegenstandes die durch" Df' "bezeichnete Beschaffenheit genau dann vorliegt, wenn dieser Gegen.
stand unter Gp' fällt und wenn er außerdem das Merkmal Os' erflUIt, kurz :
"A x (Df' x ... (Gp' x /'0 Os' x)) w

Bereits aus dieser symbolischen Fassung erhellt, daß der traditionelle Grundsatz - und zwar gleich in ver.
schiedener Hinsicht - relativiert werden muß .
So fällt zunächst der Rangunterschied zwischen genus proximum und differentia specifica hinweg. "Gp' x " und
,,os' x" sind durch einen schlichten Konjunktor miteinander verbunden, und dieser läßt keine Rangunter .
schiede der miteinander verbundenen Aussagen bzw. Aussageformen zu. Des weiteren brauchen nicht etwa
alle Anwendungsfälle von ,,os'" zugleich Anwendungsfälle von "Gpl" zu sein;es könnte sich etwa genau·
sogut umgekehrt verhalten. Durch die Konjunktion von "Gp' x" mit ,,os' x" soll vielmehr eine bestimmte
Menge von Dingen erfaßt werden, und zwar die Menge der Dinge, die sowohl zum Anwendungsbereich von
Gp' als auch zum Anwendungsbereich von Df' gehören. Kommt es auf die Bestimmung einer Menge und
nur darauf an, so büßt jeweils "das" genus proximum seine MonopolsteIlung ein, ja es vermag sogar durch
das Nadelöhr der differentia specifica zu schlüpfen.

Be~~1 (in Anlehnung an das Eingangs· Beispiel) :


"Vollmacht ist diejenige Wirkung rechtsgeschäftlichen Handeins, welche darin
besteht, daß eine Person eine andere Person zu vertreten ermächtigt ist."

Das traditionelle Schema dient dazu, den Anwendungsbereich des zu defmierenden Prädikats - eben
eine Menge von Dingen - zu bestimmen. Dies geschieht durch Bildung des Durchschnitts von zwei Mengen ,

* Der Leser sei zunächst auf § 8 ( Grundlehren der Definitionstheorie ) aus ULRICH KLUG s Juristischer Logik ( 3. Aufl. ,
1966, S.8S fO hingewiesen. An l~nschaft1icher Literatur seien namentlich F.v. KUfSCHERA s Elementare Logik
( 1967, S.354 ff) sowie W.ESSLER s Wissenschaftstheorie I, Definition und Reduktion (1970) genannt; die erwähnten
Schriften fassen die Einwände gegen die traditionelle Definitionstheorie auf vorzügliche Weise zusanunen und enthalten
eine glänzende Einfiihrung in die zeitgenössische Defmitionstheorie, an die wir uns weitgehend anlehnen konnten.

307
Jürgen Rödig - 39-

von denen die erste dem genus proximum und die zweite der differentia specifica entspricht; solche Durch -
schnittsbildung stellt bekanntlich die mengentheoretische Entsprechnung der konjunktiven Verknüpfung
zweier Sätze dar, die sich durch Anwendung der mengen bildenden Eigenschaften auf jeweils diesseIben
Gegenstände ergeben.


~ :Wirkung rechtsgeschäft lichen Agieren •

~ :Vorliegen von Vertretungsmacht

~ : Vollmacht

Kommt es nun aber auf die Fixierung einer Menge und nur darauf an, so braucht die Bildung eines
Durchschnitts aus zwei Mengen nicht das einzige Verfahren zu sein. Der Anwendungsbereich des zu
definierenden Prädikats kann auch mittels anderer mengenbildender Verfahren festgestellt werden, etwa
mittels Vereinigung dreier Mengen. Der erklärende Teil der Definition (das "definiens" ) wird diesmal aus
der disjunktiven Verknüpfung dreier Aussageformen beslehen, deren Prädikate mil den mengenbildenden
Eigenschaflen der vereinigten Mengen korrespondieren.

( nach § 104 BGB )


Geschäftsunfähig ist, wer nicht das 7. Lebensjahr vollendet hat oder wer sich in einem die
freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter StOrung der Geistestätigkeit
befindet. sofern nicht der Zustand seiner Natur nach ein vorübergehender ist, oder wer
wegen Geisteskrankheit entmündigt ist. --
Symbolisch ( unter Verwendung der Subjektsvariablen "p" , deren Wertbereich in der Menge
der Namen aller Rechtsgenossen besteht) :
" 1\ p ( Gu~ .. (Ns~ V Gs lp v Eg~ ))"

Durch das Iraditionelle Definitionsschema wird zulässiges Definieren jedoch nicht nur unter dem soeben
erwähnten Gesichtspunkl unnötig eingeschränkt Das traditionelle Schema muß vielmehr überdies vor
jedem mehr als I - stelligen Prädikat kapitulieren.

Was die Definition des mittelbaren Besitzes ('1!1 § 8,68 BGB ) angeht, so müßte das zu
definierende Prädikat mindestens 3 - stellig sem : PI ist gegenüber Pl bezüglich der
Sache s Besitzmiltler genau dann, wenn .....

Das traditionelle Definitionsschema schließt ferner nicht nur zulässige Definitionen aus. Es läßt umge -
kehrt unzulässige oder doch sehr problematische Definitionen zu . In diesem Zusammenhang sind namentlich
die sogenannten "bedingten Definitionen" zu erwähnen, welche das definiendum nicht in allgemeiner Weise,
sondern lediglich unter besonderen Voraussetzungen durch das definiens erklären.

~i~i.ti: Der Begriff der "Geschäftsunfähigkeit" wird in § 104 BGB dem Anschein nach
nur für natürliche Personen definiert. Zwar kann auch eine juristische Person
jünger als sieben Jahre alt sein, doch dieses Faktum würde ihre Aklionslali18 _
keit - sofern man ihr diese überhaupt zubilligen möchte - schwerlich beein _
trächtigen können.
Ist die Definition des § 104 BGB nun aber lediglich auf natürliche Personen ab _
gesteIlI, so fragt es sich, wie die Geschäfts~nfähigkeil eines Rechtssubjekts für
den Fall geregell IsI, daß dieses RechlssubJekt nicht in einer natürlichen Person
( sondern eben in einer juristis.~hen Person) beStent. Die Frage ist in der Tat
(l~oblemallsch,wle zahlreiche Außerungen über Geschäfts - Delikts - und Prozeß _
fahlgkelt Junstlscher Personen beweisen. Ich halte es zwar für evident, daß
Junsllschen Personen allenfalls Rechtsfähiglseit zukommt und das in puncto
Ha,?dhmgs - und Prozeßfähigkeit auf ihre "Organe" , und zwar allemal auf
naturhche Personen, abgestellt werden muß. Jedoch für diese Eviden! kann
man Sich gerade nicht auf die Vorschrift des § 104 BGB berufen und die
Rechtsprechung wird sich immer wieder '!lit "Fragen herumschlagen müssen
Wie etwa das OLG Celle In ZZP 75,136 mit der Frage ob eine Genossen _
~chaft als Prozeßbevollmächtigter auftreten kann ( vgl'§§ 52 Abs.1 ZPO
.. V.m. 104 ff BGB).

308
-40 - Logische Kriterien für die korrekte Verwendung von Legaldefinitionen

Bedingte Definitionen lassen das defmiendum beim Ausfall der Bedingung undefiniert und können auf diese
Weise Sätze, die den bedingten Ausdruck enthalten, wahrheits - indefinit machen; sofern man die bedingten
Definitionen nicht durch Fallgruppenunterscheidung sowie durch unbedingte Definitionen bezüglich der unter·
schiedenen Fallgruppen ausmerzen kann, stoßen grundlegende logische Gesetze - etwa "tertium non datur" -
ins Leere.

2.2.1.1.2. ANFORDERUNGEN AN KORREKTE DEFINITIONEN NACH MASSGABE DER


TRADITIONELLEN DEFINITIONSTHEORIE

Die traditionelle Logik hat über das soeben (1.1) diskutierte Definitionsschema hinaus gewisse Anforde·
rungen an korrekte Definitionen entwickelt, von denen wohl vorausgesetzt werden soll, daß sie jenes Schema
bereits erflillen.

2.2.1.1.2.1. ERFASSUNG DES WESENS

Die traditionelle Logik verlangt, daß der erklärende Teil der Defmition, also das genus proximum in Ver·
bindung mit der differentia specifica, das Wesen des zu definierenden Begriffs erfaßt. Diese Anforderung
läßt sich dahin verstehen, daß selbst eine eindeutige Kennzeichnung des definiendums nicht ausreichend zu
sein braucht. Kommt vielmehr eine weitere Kennzeichnung in Betracht, welche einen tieferen Einblick in
den zu definierenden Begriff gestattet, so WÜrde diese weitere Kennzeichnung die adäquatere sein .

Selbst wenn sich der Begriff der "Eisenbahn" eindeutig dahin charakterisieren
ließe.daß die Eisenbahn ein Gegenstand ist, der vor dem Passieren eines Tunnels
einen Pfeif - Ton erzeuRt. würde man diese Charakterisierung schwerlich für
"wesentlich" halten. Um so mehr um das Wesen der Eisenbahn scheint das Reichs·
gericht besorgt \lßwesen zu sein, als es der Eisenbahn in RGZ 1,251 f fOlgende
berühmte Defimtion hat angedeihen lassen:
"Sprachlich bedeutet Tlisenbahn ganz allgemein eine Bahn von Eisen zwecks Be •
wegullg von Gegenständen auf derselben. Verknüpft man diesen Wortlaut mit
dem Gesetzeszweck und erwägt man, daß die eigenartige Nützlichkeit und
gleichzeitig Gefährlichkeit des metallischen Transportgrundes, in der ( durch
dessen Konsistenz sowie durch dessen, das Hindernis der ReiDu!18 vermindernde
Formation und Glätte gegebenen) Moglichkeit besteht, große Gewichtsmassen
auf jenem Grunde fortzubewegen und eine verhältnismäßig bedeutende Ge •
schwindigkeit der Transportbewegung zu erzengen, so gelangt man im Geiste
des Gesetzes zu keiner engeren Bestimmu!!l! jener sprachlichen Bedeutung des
Wortes Eisenbahn, um den Begriff eines EISenbahnunternehmens im Sinne
des § I des Gesetzes zu gewinnen, als derjenigen: , Ein Unternehmen, ge .
richtet auf wiederholte Fortbewegung von Personen oder Sachen über nicht
ganz unbedeutende Raumstrecken auf metallener Grundlage, welche durch
ihre Konsistenz, Konstruktion und Glätte den Transport großer Gewichts·
massen bzw. die Erzielung einer verhältnismäßig bedeutenden SchneIlig •
keit der Transportbewegung zu ermöglichen bestimmt ist und durch diese
Eigenart in Verbindung mit den außerdem zur Erzeuguni der Transport _
bewegung benutzten Naturkräften (Dampf,Elektrizität tierischer oder
menschlicher: Muskeltätigkeit, bei geneigter Ebene de: Bahn auch schon
der ~igenen Schwere der Transportgefäße und deren Ladung usw. ) bei dem
~etnebe des Unter.!,ehmens a1;'f derselben eine verhältnismäßig gewaltige
(je nach den Umstal)den nur m be~weckter Weise nützliche, oder auch
M~nschenleben vermchtende und die menschliche Gesundheit verletzende
Wirkung zu erzeugen fähig ist ".
Mißverständlich ist übrigens die Formulierur.!B das Reichsgericht habe sich
zu "keiner eng~re,!" Bestimmung. des zu def!nierenden Begriffs in der lue
gese!!en. Gememt ist wohl, daß Sich das Gencht zu einer kürzeren Begrifrs •
bes!lmmung außerstande sah. Sind nämlich die zwecks Dehmhon an •
g~führten Merkmale - wie ü~lich - konjunktiv miteinander verbunden so
mmmt der Anwend!,ngsbere!ch des zu definierenden Begriffs mit zuneiimen •
deI! Merkmalen tYPIScherweise ab. Ganz entsprechend ist das Verhältnis
ZWischen der Anzahl der Tatbestandsmerkrnale einerseits und der unter den
Tatbestand subsumierbaren Fälle andererseits zu sehen.

Mit der Forderung nach Erfassung des Wesens ist allerdings nichts anzufangen, solange wir keine auch nur
halbwegs hinlängliche Definition betreffend das Wesen des Wesens besitzen. Den Charakter einer benigna

309
Jürgen Rödig -41 -

interpretatio jener Forderung besitzt v. KUTSCHERA s Deutung. wonach das definiens so beschaffen
sein solle. daß es - mithilfe einschlägiger Gesetze - eine möglichst große Zahl möglichst relevanter Aus -
sagen über das definiendum gestatte. Denn was nützen diese Aussagen. wenn die Begriffsmerkmale. mit deren
Hilfe sie gewonnen werden. das Wesen des Begriffs verfehlen? Wenn es nun aber bereits schädlich ist. daß
der Begriff mithilfe unwesentlicher Merkmale erklärt wird. dann schadet es offenbar erst recht. wenn diese
Merkmale nur akzidentell ( "zufatlig zukommend" im Sinne der traditionellen Logik) sind oder sich gar mit
dem zu definierenden Begriff nicht vertragen.

Beispiele: Unwesentlichkeit des Merkmals "beweglich" bezüglich des Sachbegriffs;


Unverträglichkeit des Merkmals" widerrechtlich" mit dem Begriffdes "Grundstücks" .

Die Forderung nach Erfassung des Wesens ist nach alledem an einer bestimmten Konzeption des Definierens
orientiert: Die Defmition will nicht nur nominal sein. also nicht nur in einer Vereinbarung ( oder dem An -
gebot zu einer Vereinbarung) über den Sprachgebrauch des zu definierenden Ausdrucks bestehen; eine
derartige Vereinbarung hätte den Charakter einer Sprachregelung und nur einer solchen. und man ginge um
sachliche Probleme - wie etwa um die Frage nach dem Wesen - wie die Katze um den heißen Brei herum.
Erfassung des Wesens wird vielmehr im Hinblick auf Realdefinitionen verlangt. welche einen Begriff in der
Weise zu bestimmen bezwecken. daß der Adressat der Begriffsbestimmung in den Besitz zutreffender sach -
licher Informationen über den zu definierenden Begriff gelangt. Anders als bei Nominaldefinitionen wäre
bei Realdelmitionen daher sinnvoll nach der Wahrheit bzw. Unwahrheit der Definition zu fragen. Insbesondere
wäre unter dem Gesichtspunkt der Wahrheit darüber zu befinden. ob die im Rahmen des definiens verwende-
ten Merkmale lediglich akzidentell oder gar mit dem zu definierenden Begriff unverträglich sind.
Tatsächlich sind Realdefinitionen entweder überflüssig oder gefahrlich. überflüssig sind sie insofern. als sich
sachliche Informationen über einen bereits gebräuchlichen Begriff mühelos in Gestalt von formalen ( nämlich
quantifizierten) Äquivalenzen angeben lassen: " Der Begriff B trifft auf einen Gegenstand genau dann zu.
wenn dieser Gegenstand die Merkmale MI .M 2 ... und (oder) Mn erfiillt" ; hierbei bleibt es dem. der die
Äquivalenz behauptet. unbenommen. möglichst viele "Wesens" - Merkmale in die Merkmal - Menge
{MI .M 2 ..... Mn } hineinzupacken. Ist B dagegen noch nicht gebräuchlich. sOildern wird B erstmals verwendet.
so bestand noch gar keine Möglichkeit. sich sprachlich über jenes Phänomen zu einigen. dessen Wesen erfaßt
werden soll. und die Begriffsbestimmung stellt in Wirklichkeit eine Nominaldefinition dar ( nach deren Wahr -
heit bzw. Unwahrheit nicht sinnvoll gefragt werden kann ). Das Gefahrliehe an dieser Nominaldefinition ist.
daß sie den Anschein erweckt. im Rahmen von Beweisen als sachliche Prämisse genommen werden zu können.
Ist schließlich B gebräuchlich. soll das Wesen von B jedoch in einer von der schon vorhandenen Defmition
abweichenden - verbesserten - Weise bestimmt werden. so handelt es sich tatsächlich. da ja auch dem
modifizierten Erklärungsgegenstand erst einmal ein Name gegeben werden muß. um eine weitere Nominal -
definition. Auch diese weitere Nominaldefinition karm nur Sprachregelung sein und mithin mit der früheren
Definition in keinen sachlichen Widerspruch treten. Gerade dieser Umstand bleibt jedoch. indem die Sprach -
regelung im Gewande einer sachlichen Aussage auftritt. verborgen. und das einschlägige Sachgebiet beginnt
unter ganz überflüssigen Widersprüchen zu leiden.

Die Kritik der Realdefinition ist im Hinblick auf die rechtswissenschaftliche


Methodenlehre von besonderem Interesse. Was die so heftig bekämpfte
,,'!.~!.i!!§i!l!.~.!J<!"-Ig" angeht. so muß zunächst einmal darüber Klarheit be -
stehen. daß auch die Rechtswissenschaft des Operierens mit Begriffen nicht
entraten kann und daß diese Begriffe klar und eindeutig verwendet werden
müssen. Die exakte Verwendung von Begriffen läuft nicht etwa. wie manche

310
- 42- Logische Kriterien für die korrekte Verwendung von Legaldefinitionen

anzunehmen scheinen, auf das Festhalten an sachlich überholten Kegelungen


hinaus. Problematisch wird der Umgang mit Regriffen erst, wenn man aus
Sprachregelungen sachliche Regelungen herzuleiten beginnt. Als Beispiel ist
OTTO MA YER s "Schluß" vom Begriff des Vertrages auf die Unzulässigkeit
öffentlich - rechtlicher Veträge zu nennen. Tatsächlich aber ist offenbar nicht
aus Begriffen, sondern erst aus ~!.~l! auf weitere Sätze zu schließen. Nicht
der Begriff selbst, sondern allenfalls die Q.","_Q.~lni.U~'l-E~s...l!es.t:if~_e.!l.!.sP!."".h~~
Q.,,-~jy!!~!!~ kommt hiernach als Prämisse infrage. Da diese Prämisse indessen
lediglich eine Sprachregelung wiederholt, kann sie auch nicht den Schluß auf
darüber hinausgehende Konklusionen zulassen. Gerade in dieser Hinsicht sind
nun aber Realdefinitionen, welche die Grenze zwischen Sprachregelung und
sachlicher Aussage verwischen, mit so großer Vorsicht zu genießen. Zur Ver -
meidung von Mißverständlichkeiten sollten nicht zuletzt die Verfasser von
Lehrbüchern erwägen, ob sie nicht gut daran täten, die Behandlung eines
Rechtsinstituts ohne einen einleitenden Abschnitt über "Begriff und Wesen"
bzw. "Wesen und Begriff" zu beginnen.
Von Realdefinitionen sind erstens Begriffsanalysen zu scheiden. Diese werden in "linguistische" sowie in
"empirische" Analysen unterschieden. Linguistische Begriffsanalysen behaupten mit dem Anspruch auf Wahr -
heit , ein Begriff werde von einer näher zu bestimmenden Gruppe während eines näher zu bestimmenden
Zeitraums in diesem oder jenem Sinne gebraucht. Die Richtigkeit dieser Behauptung ist anhand des geschicht-
lichen oder gegenwärtigen Faktums des Sprachgebrauchs zu ermitteln.

Hinsichtlich der Auslegung von Gesetzen ist immer wieder in höchst irre -
führender Weise von" Auslegung nach dem Wortlaut" die Rede. Tatsäch -
lieh ist der Wortlaut indes nicht Mittel, sondern Gegenstand der Auslegung.
Mittel der Auslegung kann nur eine linguistische Begriffsanalyse sein. Der
Interpret darf sich also nicht etwa einer Nominaldefinition bedienen, wie -
wohl die sogenannte "objektive" Auslegung nicht selten den Anschein er -
weckt, als werde dem Interpreten sowohl eine ihm angemessen scheinende
Sachregelung als auch eine dieser Sachregelung entsprechende Sprachrege -
lung anvertraut. über den der linguistischen Begriffsanalyse zugrundezu -
legenden Kreis von Personen, hinsichtlich dessen das Faktum eines be -
stimmten Sprachgebrauchs behauptet wird, herrscht nicht selten Unklar -
heit; ebenso über den Zeitraum, innerhalb dessen dieser Sprachgebrauch
angeblich herrscht. Im Grundsatz wird man, sofern der Text so verstanden
werden soll, wie er gemeint war, auf den Sprachgebrauch der Verfasser des
Gesetzes zur Zeit des Erlasses abstellen müssen. Je nach der Funktion des
Gesetzestextes kann indes eine Abweichung gerechtfertigt sein. So könnte
es beispielsweise naheliegen, im Hinblick auf die Warnfunktion von Straftat -
beständen den mutmaßlichen Sprachgebrauch der durch das Strafgesetz je -
~"-~ ( also insbesondere zukünftig) angesprochenen ~t~!'.!i~~l!_TIi.!."," zu -
grundezulegen.
Empirische Begriffsanalysen sind Sätze, welche einem Begriff, nachdem dieser mittels einer Nominaldefinition
definiert worden ist, in äquivalenter Weise Merkmale zuordnen dergestalt, daß der Begriff auf einen Gegen -
stand genau dann zutrifft, wenn die Merkmale auf ihn zutreffen. Freilich sind auch linguistische Begriffs -
analysen "empirisch" , und zwar insofern, als es ja den faktischen Sprachgebrauch empirisch zu ermitteln
gilt. Man sollte daher erwägen, anstatt von linguistischen Begriffsanalysen von empirischen Sprachgebrauchs _
analysen zu sprechen.

Von empirischen Sprachgebrauchs - und Begriffsanalysen sind Begriffsexplikationen zu scheiden. Hinsicht _


lieh der Erläuterung der Begriffsexplikation kann an die im rechtstheoretischen Schrifttum verbreitete Unter _
scheidung zwischen Begriffskern und Begriffshof angeknüpft werden. Was den - nach Voraussetzung - in
seiner Bedeutung feststehenden Begriffskern anlangt, so läuft die Begriffsexplikation auf eine "linguistische
Begriffsanalyse", nämlich auf eine empirische Sprachgebrauchsanalyse, hinaus. Was demgegenüber den durch
seine Vagheit charakterisierten Begriffshof angeht, so soll die Begriffsexplikation eine der aufgrund einer
empirischen Sprachgebrauchsanalyse infragekommenden Deutungen auszeichnen und dem Begriff insofern klare

311
Jürgen Rödig - 43 -

Konturen verleihen. In dem genannten Rahmen haben wir es mithin mit einer Nominaldefinition zu tun.
Des Mittels der Begriffsexplikation wird sich der Gesetzgeber namentlich dann bedienen, wenn er zwar um .
gangssprachliche Termini verwenden, sie jedoch in einem präziseren als dem umgangssprachlichen Sinne ver·
wenden will.

Präzisierung des Begriffs der "Nachtzeit" im Hinblick auf die Zu lässigkeit


von Haussuchungen nach § 104 Abs. 3 StPO.
Legale Begriffsexplikationen der genannten Art sind allerdings nicht unproblematisch; je nach dem maßgeb .
lichen Kreis der Sprachbenutzer können sich wegen der umgangssprachlichen Vorbelastetheit des explizierten
Begriffs Mißverständnisse ergeben.
Konstatieren wir zum Schluß, daß außer Nominaldefinitionen nur noch Begriffsexplikationen und empirische
Begriffs - sowie Sprachgebrauchsanalysen anerkannt werden sollten. Von Realdefinitionen ist ebensowenig
zu halten wie von dem Kriterium der Bestimmung des "Wesens" als eines Kriteriums für korrektes Definieren.

2.2.1.1.2.2. ZIRKULARITÄTSVERBOT
Nach der traditionellen Logik ist ferner zu fordern, daß eine Definition nicht zirkulär ist. Für die Bestim .
mung de~.Definiens darf nicht wiederum das Definiendum vorausgesetzt werden müssen ..

Zirkulär wäre folgende Definition: Eisenbahn ist ein Fortbewegungs·


mittel, welches eine Eisenbahn ist.
Das Zirkularitätsverbot ist zweifellos mit Recht aufgestellt worden, jedoch die traditionelle Logik hat es
nicht präzise genug zu fassen vermocht. Ja die traditionellen Lehren haben sogar einen so glänzenden Mathe·
matiker wie CANTOR verführt, FREGE s Begriff der Anzahl als zirkulär zu diskreditieren: " Die
Anzahl einer Menge m ist die Menge der mit m gleichzahligen Mengen". Tatsächlich bestimmt FREGE
das Merkmal der Gleichzahligkeit durch die Existenz einer umkehrbar eindeutigen Abbildung einer Menge auf
eine andere, :so daß auf die - zu defmierende - Anzahl jeder dieser Mengen gerade nicht zurückgegriffen
werden muß. Aus diesem Beispiel erhellt ein der Verallgemeinerung fähiger Gesichtspunkt:. Das Verbot der
Zirkularität ist auf die Gesamtheit der Sätze zu beziehen, in welche die Definitionsformel aufgenommen
werden soll. Weiterverweisungen im Rahmen des Definiens sind solange nicht schädlich, als wenigstens eine
Definitionsfolge dergestalt gebildet werden kann, daß ein (im Sinne dieser Folge) "späteres" Definiens
höchstens auf ein Definiendum aus einer "früheren" Definition Bezug nimmt. Bei Legaldefinitionen inner·
halb eines Kodifikats bilden mindestens die Sätze, aus denen das Kodifikat besteht, die fUr das Zikularitäts .
verbot zugrunde zu legende "Gesamtheit der Sätze".

2.2.1.1.2.3 NEGATIVITÄTSVERBOT

Definitionen dürfen nach der traditionellen Logik nicht negativ sein.

Unzulässig wäre hiernach folgende Definition: " Die Vollmacht ist


keine Hypothek."

Das Negativitätsverbot erweist sich bei näherem Hinsehen allerdings als entweder überflüssig oder zu Unrecht
aufgestellt.
Geht man von der zu Beginn (1.1) angeführten Defmitionsformel (I) aus, deren sich die traditionelle Logik
bedient, so wird diese Formel durch Definitionen, deren Definiens lediglich aus der Verneinung des Zu .
treffens eines Begriffs auf einen vorausgesetzten Gegenstand besteht, gleich gar nicht erfüllt. Hält man
andererseits das traditionelle Schema ein, so tut das Vorkommen von Negatoren der Korrektheit der Defmition
keinen Abbruch; der Negator ist eliminierbar.

312
-44 - Logische Kriterien für die korrekte Verwendung von Legaldefinitionen

Mit.A. für eine falsche Aussage gilt für eine beliebige Aussage a: ~ a
ist gleichwertig mit ( a -+ .A. ). Eine extensive Implikation mit falschem
Implikat ist nur bei falschem Implikans wahr; ( a -+ .A. ) ist - wie
~ a - genau dann wahr, wenn a falsch ist.

Will man angesichts des soeben skizzierten Umstandes nun aber verlangen, daß das Defmiens nicht einmal
in einen auch nur partiell negativ formulierten Satz umgeformt werden kann, dann fielen dieser rigorosen
Einschränkung im Hinblick auf die Äquivalenz zwischen a und ~ ~ a oder auch zwischen a und
( a 1\ (ß 1\ ~ ß)) sogar sämtliche Definitionenzum Opfer; jedes innerhalb des Defmiens positiv auftre .
tende Merkmal könnte auf die genannte Weise in den Schatten eines Negators geraten. Macht man sich den
mengentheoretischen Hintergrund des Defmierens nach Maßgabe der traditionellen Definitionsformel klar, so
leuchtet unmittelbar ein ,daß eine der zwecks Durchschnittsbildung verwendeten Mengen sich ihrerseits
- relativ zu einer vorausgesetzten Grundmenge - als (relatives) Komplement zu einer weiteren Menge dar .
stellen kann.

Die Menge der juristischen Personen ergibt sich, wenn Wlf von der Menge der
Personen im Rechtssinn die Menge der Menschen abziehen oder auch wenn wir
- gleichwertig - den Durchschnitt bilden bezüglich erstens der Menge der Per .
sonen im Rechtssinn und zweitens der Menge der Menschen. In jedem Fall er •
gibt sich, daß eine juristische Person eine Person im Rechtssinn ist, die kein
Mensch ist. Gesetzestechnisch wäre es allerdings wenig vorteilhaft, erst in
abstracto den Begriff der Person im Rechtssinn zu bestimmen und alsdann
zum Menschen sowie zu den juristischen Personen überzugehen; was eine Person
im Rechtssinn ist, läßt sich vielmehr erst von jenen rechtlichen Fähigkeiten des
Menschen her plausibel machen, die - zur Not - auf rechtliche Zusammen·
fassungen von Menschen übertragen werden können.

2.2.1.1.2.4 KLARHEITS - UND BESTIMMTHEITSGEBOT

In der traditionellen Logik wird schließlich die Forderung nach Klarheit und Bestimmtheit der das Defmiens
bildenden Begriffe erhoben. Dieser Forderung ist natürlich beizupflichten, jedoch aus der Formulierung der
Forderung geht nicht hervor, wie sie erflillt werden soll.

13~~1 Würde die Bestimmung des Eigentums-Anwartschaftsrechts - als keines


aliud, sondern als eines ( mit Bezug auf das Eigentum) ..wesensgleichen
Minus" als Definition aufzufassen sein, so läge wahrscheinlich nicht einmal
eine der traditionellen Logik genügende Begriffsbestimmung vor.

2.2.1.2 MODERNE DEFINITIONSTHEORIE

2.2.1.2.1. GRUNDSÄTZE

Die hauptsächlichen Grundsätze flir korrektes Definieren haben wir bereits anhand der Diskussion der
traditionellen Defmitionslehre besprochen. Sie seien hier noch einmal kurz zusammengefaßt. Definitionen
sollten Sprachregelungen und nur Sprachregelungen sein (Ausschluß von ,,Realdefmitionen" ). Was namentlich
die Regelung des Gebrauchs von Begriffen angeht, so kommt es darauf an, den Anwendungsbereich des Be .
griffs in eindeutiger Weise zu bestimmen. Der Anwendungsbereich des zu defmierenden Begriffs muß identi·
fiziert werden können mit einer Menge, die sich ausschließlich mithilfe der Anwendungsbereiche der ver·
wendeten Begriffsmerkmale sowie ggf. mithilfe mengenbildender Operationen (Durchschnittsbildung, Ver·
einigung, Komplement usw. ) über diesen Anwendungsbereichen ergeben. Hinsichtlich eines gegebenen Gegen·
standes muß also bestimmt werden können, daß er genau dann ein Element des Anwendungsbereiches des zu
defmierenden Begriffs ist, wenn er zu der mithilfe der Begriffsmerkmale gebildeten Menge gehört. Zwischen
dem Zutreffen des Begriffs einerseits und dem Zutreffen der zwecks seiner Definition verwendeten Merkmale
andererseits muß mithin die logische Beziehung der Äquivalenz bestehen. Erst im Rahmen solcher Äquivalenz

313
Jürgen Rödig - 45-

vermag eine Defmition im Rahmen eines vorausgesetzten Satzsystems den mit ihr verfolgten Zweck zu er·
fullen, indem nämlich jeder Ausdruck, der den zu defmierenden Begriff enthält, logisch gleichwertig durch
einen aus den Begriffsmerkmalen gebildeten Ausdruck ersetzt werden kann. Als praktisch erweist sich diese
Ersetzbarkeit namentlich dann, wenn ein umfangreiches Definiens bei Wahrung des inhaltlichen Reichtums
durch ein knappes Definiendum substituierbar wird. Die Äquivalenz als logisches Charakteristikum der De .
fmition kommt insbesondere in den sogleich zu besprechenden .. Definitionsformeln .. der modernen Logik
zum Ausdruck.
Nicht nur solche Begriffe, die mittels I • stelliger Prädikate abbildbar sind, bedürfen der Definition. Re·
Iationsbegriffe, die wir durch wenigstens 2 . stellige Prädikate benennen, werden durch Angabe von An •
wendungsbereichen bestimmt, welche - je nach Stelligkeit des entsprechenden Prädikats - in Mengen von
geordneten Zweier - (paaren), Dreiermengen( Tripein ) usw. bestehen.

Beispiel: Würden wir den Begriff des Anspruchs mit Bezug auf Gläubiger,
Schuldner, Anspruchsinhalt und Zeitpunkt des Bestehens des An •
spruchs bestimmen wollen, so liefe der Anwendungsbereich des An •
spruchsbegriffs auf eine Menge von Quadrupeln hinaus.

Der Anwendungsbereich eines Begriffs, den wir mittels eines wenigstens 2 • stelligen Prädikats benennen,
setzt sich aus der Menge der wenigstens 2 • gJiedrigen n· Tupel zusammen, auf welche der Begriff zutrifft.
Hinsichtlich jedes dieser n· tupel ist im Rahmen der Defmition zu bestimmen, daß der zu defmierende Be .
griff auf das n· tupel genau dann zutrifft, wenn gewisse andere Begriffe (nämlich die innerhalb des Definiens
genarmten Merkmale) auf das n· tupel zutreffen. So erklären sich die Defmitionsformeln flir Begriffe, denen
wenigstens 2 • stellige Prädikate entsprechen; wiederum handelt es sich um quantifizierte Äquivalenzen.

Wir beschränken uns an dieser Stelle auf einige Bemerkungen über das Defmieren von ( Allgemein - ) Be·
griffen. Andere Definitionsformeln sind zu benutzen für die Defmition von Individuen (im logischen Sinne)
sowie für Terme, d.s. Operatoren, welche jeweils mithilfe eines n· tupels von Individuen ein weiteres
Individuum bestimmen. Auch die Kriterien der Eliminierbarkeit sowie der Nichtkreativität von Definitionen,
welche wir im folgenden skizzieren wollen, sollen hier nur mit Bezug auf die Definition von ( Allgemein - )
Begriffen behandelt werden. Mit der Forderung nach Eliminierbarkeit ist gemeint, daß der definierte Be·
griff aus der Formulierung einer Theorie eliminierbar sein muß, ohne daß sich hierdurch inhaltliche Ein •
bußen ergeben. An jede Stelle, die das Definiendum enthält, muß statt dessen in sowohl logisch wie inhalt·
lich gleichwertiger Weise das Definiens gesetzt werden können, mit dem Ergebnis, daß die Formulierung des
gesamten Sachgebiets allenfalls umständlicher gerät. Durch die Forderung nach Nichtkreativität soll sicher·
gestellt werden, daß sich aufgrund von Definitionen keine sachlichen Inhalte ableiten lassen, welche ohne
diese Defmitionen unableitbar wären. Aus der bloßen Sprachregelung soll keine sachliche Aussage werden. Die
praktische Spitze des Verbots von kreativen Definitionen ist namentlich gegen die Verwendung von Real .
defmitionen gerichtet.

.. Begriffsjurisprudenz .. in dem oben umrissenen negativen Sinne dieses


Ausdrucks muß sich offenbar, um Sachregelungen und nicht nur Sprach·
regelungen hervorbringen zu können, kreativer Definitionen bedienen.

Hinsichtlich der Vermeidung zirkulärer Defmitionen ist auf das sub 2.2.1.1.2.2. Gesagte zu verweisen, femer
kurz der Zusammenhang mit der Forderung nach Eliminierbarkeit zu beleuchten: Wird im Rahmen des Definiens
ein Begriff verwendet, der seinerseits im Defmiendum besteht oder der seinerseits mithilfe des Defmiendums
defmiert Worden ist, so ist das Definiendum nicht eliminierbar, da man bei jedem Versuch der Ersetzung des
Definiendums durch das Defmiens auf das Defmiendum zurückgreifen muß.

314
- 46- Logische Kriterien für die korrekte Verwendung von Legaldefinitionen

2.2.1.2.2. PRÄZISIERUNG EINIGER DER GENANNTEN KRITERIEN

Definitionen sind als Sprachregelungen auf eine gegebene Sprache SP zu beziehen. Sie sind, wie sich nament -
lieh im Zusammenhang mit dem Eliminierbarkeitskriterium sowie mit den Verboten von Kreativität und
Zirkularität gezeigt hat, des weiteren auf ein bestimmtes Satzsystem, nämlich eine in SP formulierte Theorie
TH zu beziehen, von der jeweils angegeben werden muß, ob sie die Definition bereits umfaßt oder nicht.
Dann soll jede Definitionsformel DF eine Nominaldefinition enthalten dergestalt, daß DF dem Defmiendum
die Bedeutung des Definiens verleiht. Hierbei müssen, falls mehrere Defmitionen vorkommen, diese De -
fmitionen in einer bestimmten Folge angeordnet werden können, so daßdie i-te Definition DF i den De -
fmitionen DF k mit k > i vorausgeht; das Defmiens in DF k soll bereits eine Bedeutung haben, d.h. es
darf nur' Grundausdrücke enthalten oder solche Ausdrücke, die in DF i mit i< k bereits definiert worden
sind. Demgegenüber darf das Definiendum nicht bereits eine Bedeutung gehabt haben. Bei mehrfacher Oe -
fmition desselben Zeichens werden dem Zeichen entweder verschiedene Bedeutungen zugeordnet; dann sind
mithilfe der entsprechenden Definitionsformeln Widersprüche ableitbar. Oder aber die Bedeutung ist dieselbe.
Dann kann nur noch der Sinn der verschiedenen Defmitionen variieren, wobei wir nach dem Vorgang
FREGE s den Namen" Morgenstern" und" Abendstern" zwar dieselbe Bedeutung ( es handelt sich um die -
selben Gegenstände) , jedoch einen verschiedenen Sinn ( eine unterschiedliche Intention) zusprechen würden.
Daß nun aber trotz Sinnverschiedenheit Bedeutungsgleichheit vorliegt, ist mittels eines sachlichen Lehrsatzes
zu beweisen und nicht etwa mithilfe einer Sprachregelung zum Ausdruck zu bringen. Stimmen bei mehr -
facher Definition desselben Zeichens schließlich Sinn und Bedeutung überein, welche dem Zeichen zuge -
ordnet werden, so sind alle Definitionen bis auf eine überflüssig.
Im Rahmen jeder einzelnen Defmitionsformel DF müssen Definiens und Definiendum Elemente einer und
derselben syntaktischen Kategorie sein. Man darf also nicht etwa einen Eigennamen durch ein P;ädikat oder
*
ein m-stelliges Prädikat durch ein n-stelIiges mit m n defmieren. In der zuletzt genannten Hinsicht gilt
es freilich zu berücksichtigen, daß gebundene Variablen gleichsam aus dem Verkehr gezogen sind, so daß man
das Verheiratet - Sein wie folgt mittels der 2-stelligen Gattenbeziehung Ga 2 bestimmen könnte:
" Ax (Vh l X .. V y Ga2 x,y ) "
Allgemein lautet die Defmitionsformel DF fUr die Defmition eines n-stelligen Prädikats PR n folgendermaßen:
DF == A Xl A X2 ... A X n (pRn Xl, X2, ••. , X n .. AF n),
wobei folgende Bedingungen eingehalten werden müssen:
~ AF n ist eine -ggf zusammengesetzte - Aussageform mit n freien
Variablen
~ AF n darf außer Gnmdausdrücken, die definitionslos eingeführt werden,
nur schon früher definierte Konstanten enthalten
~ Xl, X2 , .• , lind x n müssen paarweise verschiedene Subjektsvariable sein

(würde ein Definiendum der Gestalt PR 2 x,x definiert, so wäre PR 2 nur


für < x,x > erklärt, und die Definition wäre im Falle eines Paares <x,y>
*
mit X Y nicht eliminierbar.)
~ AF n muß genau Xl ,X2 , ..• und x n frei enthalten. In AF n dürfen also
insbesondere höchstens die Variablen Xl , X2 , ... und X n frei vorkommen
( würde etwa PR2 durch DF == A X A y /\ Z (PR 2 x,y H PR' x,y,z)
definiert, so wäre die Eindeutigkeit des letzten Gliedes des Definiens
mittels A x /\ Y /\ z A z * (PR3 x,y,z PR' x,y,z .) zu
demonstrieren ; mißlingt diese Demonstration, so kommt für
~ (PR 3 x,y,z <> PR' x,y,z * ) über ~ (PR2 x,y "PR 2 x,y
ein Widerspruch zustande ).

315
Jürgen Rödig - 47-

Da bei der zuletzt genannten BedinglUlg auf die Stelligkeit des Definiens
als einer Aussageform abgehoben wird, also auf die Anzahl der darin frei
vorkommenden Variablen, ist die höhere Stelligkeit eines im Definiens
auftretenden Prädikats als solche noch nicht gefährlich; die Subjekts .
variablen,auf die sich das Prädikat bezieht, können ja zum Teil ge .
bunden sein, und insofern treten die oben skizzierten Gefahren nicht
auf. In diesem Zusammenhang sei an die Defmition des Verheiratet -
Seins durch" 1\ x (Vh' X" V y Ga' x,y) " erinnert.
Der Definitionscharakter zahlreicher Rechtssätze, die gemeinhin als Definitionen angesehen werden, ist be .
reits im Hinblick darauf zweifelliaft, daß sich keine entsprechenden Defmitionsformeln bilden lassen, bei
denen - wie es sich gehört - der Äquivalentor als aussagenlogischer Funktor dominiert .

...!!!'1.'!Pi!:.! : HANSWERNER MÜLLER zählt - wie viele andere - zu den Legal·


definitionen des BGB die Bestimmung des § 90: Sachen im Sinne
des Gesetzes sind nur [! I körperliche Gegenstände." TatslIchlieh
erlaubt bereits der Wortlaut der Vorschrift eine lediglich einseitige
Implikation ( mit "Sa' " , "Ge'" und "Kö'" für die Eigenschaften
Sache, Gegenstand oder körferlich zu sein):
" 1\ x {Sa' x'" (Ge' X" Kö x» "bzw.
" 1\ x ({ Ge' x " Kö' x ) .... Sa' x ) ".
Von einer Definitionsformel könnte nur die Rede sein, wenn sich
anstelle des Implikators ein Äquivalentor befände. Ersetzbarkeit
des Definiendums durch das Definiens ist nicht gewährleistet. Der
lebende Mensch ist zwar ein körperlicher Gegenstand, jedoch keine
Sache im Rechtssinn. Abgetrennte Körperteile (etwa Haare) kön..!l~!!
lediglich Sachen sein. Künstliche Körperteile (Zahnplomben , Kunst .
rippen) büßen mit Einfügung in den lebenden Körper nach herrschender
Rechtsauffassung ihre Sacheigenschaft ein; Prothesen und Perücken be·
halten zwar ihre Eigenschaft als Sachen bei, sind aber nach § 811
Nr. 12 ZPO der Pfändung entzogen. Alle diese Statements würden ihre
Bedeutung verlieren, wenn anstelle des Begriffs der "Sache" überall
dort, wo er auftaucht, aus allein sprachlichen Gründen der Begriff des
" körperlichen Gegenstandes" gesetzt werden dürfte.
Wir wollen nlUlmehr die Kriterien der Eliminierbarkeit sowie der Nichtkreativität in verschärfter Fassung
formulieren. DF sei eine Defmitionsformel innerhalb der Sprache SP mit Bezug auf eine formalisierte Theorie
TH. Das Defmiendum SR sei durch DF in TH eingeführt worden. Dann ist im Hinblick auf die Eliminier·
barkeit von SR zu verlangen, daß es zu jeder Aussage AF~ , die Vorkommnisse von SR enthält, eine Aus •
sage AFg gibt dergestalt, daß SR nicht in AFg vorkommt und (DF ... (AF~ .. AFg » gilt. Was namentlich
die Eliminierbarkeit defmierter (Allgemein - ) Begriffe angeht, so müssen diese Begriffe als Bestandteile eines
sprachlichen Vokabulars VO von (Namen von) Begriffen angesehen werden. Die das Prädikat PR n be .
stimmende Definitionsformel DF sichert bezüglich PR n in VO Eliminierbarkeit genau dann, wenn es zu jedem
Satz AF~ , in dem PR n vorkommt, einen Satz AFg gibt, in dem - lUlgeachtet des Vorkommens anderer
Prädikate aus VO - jedenfalls PR n nicht vorkommt dergestalt, daß aus DF die Äquivalenz von AFl und
AFg logisch folgt.
Weiter nennen wir DF bezüglich PR n in VO nichtkreativ genau dann, wenn für AF~ und AFg, die an
außerlogischen Prädikaten nur solche aus VO enthalten lUld in denen PR n nicht vorkommt, folgende Be .
ziehung gilt : Ergibt sich AFg aus DF lUld AF~ ,so ergibt sich AFg bereits aus AF~ allein.
Das Kriterium der Eliminierbarkeit sei zum Schluß anhand eines Beispiels erläutert, welches zugleich das
" Funktionieren" von Definitionsforrneln im Rahmen einschlägiger Theorien illustrieren möge. Es handelt
sich um eine familien - oder auch erbrechtliehe Theorie, welche zugunsten der Begriffe von Vater ("Vt''')
und Mutter ("Mt''') auf den zuvor definierten Begriff des Großvaters ("G~") verzichten möchte. Als Bei·
spiel für einen zu dieser Theorie gehörenden Satz, der unter Verzicht auf die "Großvater" - Beziehung
äquivalent wiedergegeben werden soll, fungiert die (sicher anerkennenswerte, aber schwerlich aufregende)
Feststellung, daß niemand sein eigener Großvater ist.

316
-48- Logische Kriterien für die korrekte Verwendung von Legaldefinitionen

Als Defmitionsformel DF nehmen wir:

DF ==" A x A Y (Gvl x,y .. V z (Ve x,z A (Vt2 z,y v Mt2 z,y ») "
AFY und AF~ lauten:
AF'l== ,,~ V x GY' x,x "
AF~ == ,,--' V x V z (Ve x,Z A (Ve Z,x v Mt2 z,x »

Wir haben zu zeigen, daß aus der Annahme von DF (Beweiszeile 1 ) die Äquivalenz von AF~ und AF~ ab -
geleitet werden kann, d.h. - metasprachlich ausgedrückt -, daß {DF } If- (AF~ .. AFg ) . Die ge -
nannte Äquivalenz ist in Zeile 18 enthalten; Zeile 10 enthält die extensive Implikation von AF~ durch AFY,
Zeile 17 enthält die extensive Implikation von AFY durch AF~ .

1 (I) " A x A Y (Gv' x,y .. V z (Vt' x,z A (Vt' z,y v Mt' z,y») " AE
2 (I) "A y (GY' aa,y .,. V z (Ve aa,z A (Vt' z,y v Mt' z,y») " (I) GB
3 (I) ,,( Gvl aa,aa ... V z (Ve aa,z A (Ve z,aa v Mt' z,aa)))" (2) GB
4 (4) " V x GY' x,x" AE
5 (5) " Gvl aa,aa n AE
6 (1,5) .. V Z (Ve aa,z A (Ve z,aa A Me z,aa»" (3) (5) JL
7 (1,5) " V x V z (Vt' x,z A (Vt' z,x v Me z,x» " (6) PE
8 (1,4) " V x V z (Vt' x,z A (Vt' z,x v Mt' z,x » " (4) (5) (7) BB
9 (I) ,,( Vx Gv' x,x -+ V x V z (Vt' x,z" (Vt' z,x v Mt' z,x»)" (4) (9) AB
10(1) ,,( --, V x V z (Vt' x,z " (Vt' z,x v Mt' z,x » -+,V x Gvl x,x) " (9) JL
II (11) " V x V z (Vt2 x,z 1\ (Vt' z,x v Me z,x » " AE
12(12) " V z (Ve aa,z /I. (Ve z,aa v Mt' z,aa»" AB
13(1,12) "Gvl aa,aa " (3) (12) JL
14(1,12) " V x GY' x,x" (13) PE
15(1,lI ) " V x Gvl x,x" (11) (12) (14) BB
16(1) ,,( VxVz (Ve x,z 1\ (Vt2 z,x v Mt2 z,x»-+VxGvlx,x)" (11) (15) AB
17(1) ,,( --, V x GY' x,x -+ -. V x V z ( Vt2 x,z 1\ (Vt' z,x v Me z,x)))" (16) JL
18(1) ,,(-.VxGY'xx .. -, VxVz(Vex,z" (Vez,xvMt2 z,x)))"(10) (17) JL

Das Kriterium der Eliminierbarkeit, das wir seeben erläutert haben, betrifft die Vermeidbarkeit von defi -
nierten Begriffen. Als Gegenstück zur Vermeidbarkeit von definierten Begriffen kann die Unvermeidbar -
keit von undefmierten Begriffen, nämlich von Grundbegriffen, angesehen werden. Man spricht insofern auch
von der"Unabhängigkeit der Grundbegriffe". Um zu zeigen, daß ein Grundbegriff SR unabhängig (nämlich
nicht durch andere Begriffe defmierbar) ist, braucht man lediglich zwei Deutungen der betreffenden formali -
sierten Theorie TH anzugeben, welche erstens TH wahr machen und sich zweitens nur hinsichtlich der
Interpretation von SR unterscheiden (Prinzip von PAOOA) . Wäre SR defmierbar, so würde sich bereits auf -
grund der weiteren Begriffe, von TH, die nach Voraussetzung identisch gedeutet werden, eine hinsichtlich des
Wahrheitswerts der gedeuteten Theorie TH übereinstimmende Deutung von SR als notwendig erweisen.

2.2.1.2.3 ZWEIFELHAFTE ERSCHEINUNGSFORMEN VON DEFINITIONEN

2.2.1.2.3.1. DEFINITIONEN MIT EXISTENZBEHAUPTUNG

In der mathematischen Praxis scheint zuweilen die Gefahr der Verquickung von Defmitionen mit der Be _
hauptung der Existenz der defmierten Gegenstände zu bestehen. Würde man etwa eine Größe "a" wie folgt
einfiihren : "a sei die kleinste Zahl größer I ", so wäre problematisch, ob diese Zahl im Bereich der reellen
Zahlen überhaupt vorausgesetzt werden kann.

317
Jürgen Rödig - 49

Der Gesetzgeber geriete beispielsweise dann in ähnliche Schwierigkeiten hinein, wenn er sich dazu hinreißen
ließe, die" gemeindliche Müllabfuhr" wie folgt zu definieren:
"Die gemeindliche Müllabfuhr ist ein Unternehmen, welches
den Müll genau derjenigen gemeindlichen Unternehmen ab -
führt, die ihren Müll nicht selbst abführen."

Zweifel bezüglich der Brauchbarkeit dieser Defmition würden sich spätestens im Hinblick auf die Frage er •
geben, durch wen der bei der Müllabfuhr selbst anwachsende Müll abgefiihrt werden soll. Das Beispiel hat
allerdings, was nicht verschwiegen werden soll, eher spielerischen Charakter.

2.2.1.2.3.2 KONTEXT - DEFINITIONEN

Weniger spielerisch geht es beim Umgang mit Kontext-Defmitionen zu. Unter Kontext-Defmitionen pflegt
man Defmitionen zu verstehen, bei welchen sich auf derselben Seite der generalisierten Äquivalenz, auf der
sich das Defmiendum befindet, nicht nur Variable oder Hilfszeichen befmden, sondern darüberhinaus logische
Symbole, bedeutungstragende weitere Prädikate usw. Ein Beispiel rur die Problematik der Kontext-Definition
verdanken wir GUISEPPE PEANO. Gesetzt, wir wollten eine zweistellige Funktion @ rur Brüche wie
folgt definieren:

p p+r

q df q +t

Den Kontext des zu definierenden Ausdrucks ® bildet u.a. das bedeutungstragende Funktionszeichen
des Bruchstrichs.
Eine erste Anwendung der Defmition lautet .1. ® 1. 2+3 i..
3 4 3 +4 7

eine zweite ..!. ® 1- ...!.±.1...= ~ Im Hinblick auf die Bedeutung des Bruchstrichs dürfen
6 4 6+4 10

nun aber 1. und 4- gleichgesetzt werden, so daß wegen der Übereinstimmung von 1.. ® 1. und
3 6 3 4

! ® ~ auch ~ und 7. ( also auch 50 wtd 49 ) identisch sein müßten. Man sieht also
6 4 7 10 70 70
ein, daß es bei Kontext-Definitionen darauf ankommt, den Beweis fiir die Existenz höchstens einer den
Definitionsbedingungen genügenden Entität zu führen; anders als in Verbindung mit einem derartigen Beweis
sind Kontext-Definitionen (die sich übrigens nicht immer vermeiden lassen; siehe insofern die übliche Ein·
flihrung des Kennzeichnungs - Operators) nicht als korrekte Definitionen an zuerkennen.
Legaldefinitionen haben häufig die logische Form von Kontext - Definitionen.

In den §§ 306 ff StGB tritt der zu erklärende Ausdruck "Brandstiftung"


jeweils als Element eines umfassenderen Ausdrucks auf, der zugleich die
Bestrafung des Brandstifters betrifft. Infolge unterschiedlicher Strafen
handelt es sich, wie sich denn auch aus den nachfolgend angegebenen
Tatmerkmalen ergibt, um verschiedene Arten von "Brandstiftung" ,je'
doch hinsichtlich dieser Verschiedenheit wird durch die durchgängige
Verwendung desselben Worts "Brandstiftung" Verwirrung gestiftet.
Ist das Definiendum in einen Kontext eingebettet, so muß offenbar die Definitionsformel diesem Umstand
Rechnung tragen. Auf der anderen Seite des Äquivalentors muß sich, damit die Äquivalenz beider Seiten
behauptet werden kann, ein Ausdruck befinden, der nicht nur mit dem Definiendum, sondern über·

318
- 50- Logische Kriterien für die korrekte Verwendung von Legaldefinitionen

dies mit der Umgebung des Defmiendum korrespondiert. Die andere Seite der Äquivalenz wird also nament -
lieh entsprechend "ausfUhrlicher" sein, und auch das "Defmiens" im engeren Sinne wird von einem Kontext
umgeben sein müssen. Problematisch, und zwar im höchsten Maße problematisch, ist das Kontext-Definiens
nun aber dann, wenn dieser Kontext nicht durch eine entsprechende Einbettung des Defmiendum in einen
größeren sprachlichen Zusammenhang bedingt ist. Derartige Definitionen, bei denen das Defmiendum isoliert
und das Definiens gleichwohl kontextgebunden auftritt, wollen wir auch als "Definitionen mit Kontext -
Definiens" im engeren Sinne bezeichnen. Für Defmitionen mit Kontext - Definiens scheinen die Verfasser
sowohl älterer als auch jüngerer Gesetze eine Vorliebe zu hegen mit dem Ergebnis, daß die Benutzer dieser
Gesetze systematisch dariiber im Ungewissen gelassen werden, wo die Sprach regelung aufhört und die Sach -
regelung beginnt.

§ 858 Abs. I BGB regelt nicht nur den Sprachgebrauch bezüglich


des Gebrauchs des Wortes" verbotene Eigenmacht" . Das zwecks
Begriffsbestimmung näher beschriebene Verhalten wird gleich noch
mit dem Verdikt der Widerrechtlichkeit versehen. So konnte es, um
die Folgen mangelhafter Gesetzgebungstechnik für die juristische
Praxis zu beleuchten, nicht ausbleiben, daß § 858 Abs. I BGB von
zahlreichen Autoren in deliktsrechtlich höchst angreifbarer Weise
als "Schutzgesetz" im Sinne des § 823 Abs.2 BGB aufgefaßt
worden ist. Tatsächlich können Legaldefinitionen ebensowenig
einen Regelungsgehalt wie sonstige Definitionen einen Wahrheits-
wert aufweisen. Hinsichtlich der Deliktsqualität von Besitzverlet -
zungen hätte in Wirklichkeit auf die dem § 858 Abs.1 BGB nach-
folgenden Normen des possessorischen Besitzschutzes abgestellt
werden müssen, zu deren Formulierung sich die Gesetzesverfasser
des in § 858 Abs. I BGB legal - definierten Ausdrucks" ver -
botene Eigenmacht " bedienen.
Aus der neueren Gesetzgebung ist eine Bestimmung zu nennen,
welche folgendermaßen beginnt:" Hellgekelterter Most aus Rot-
weintrauben und aus solchem Most hergestellter Wein ( Rosee -
wein) dürfen ... " . Das Definiendum" Roseewein" tritt isoliert
auf, jedoch die Erstreckung des Definiens kommt für den, der sich
mit Roseewein noch nicht näher hat beschäftigen können, der viel -
leicht sogar hin und wieder ein Glas Apfelwein trinkt und dem schließ -
lieh unbekannt ist, daß aus Äpfeln auch Most-hergestellt werden kann,
nicht annähernd deutlich zum Ausdruck.

2.2.1.2.3.3 IMPLIZITE DEFINITIONEN

Durch implizite Definitionen werden die Schwierigkeiten, die wir soeben bei Kontext - Definitionen an -
treffen konnten, geradezu ins Allgemeine transportiert. Das Definiendum tritt als Gegenstand ausdriicklicher
Definitionen gar nicht mehr auf. Der zu defmierende Begriff soll vielmehr in dem Sinn verstanden werden ,
der sich aufgrund der "impliziten" Verwendung dieses Begriffs im Rahmen einer gegebenen ( insbesondere
axiomatisierten) Theorie als solcher ergibt. Berühmtes Beispiel ist die Defmition der geometrischen Grund -
begriffe im Rahmen von DAVID HILBERT s Grundlagen der Geometrie. HILBERT schien über diese Art
des Definierens umso glücklicher zu sein, als in EUKLIDs Geometrie bekanntlich gerade die Defmition der
Grundbegriffe zu Zweifeln Anlaß gab und gibt. Um welches Verfahren es sich bei implizitem Defmieren im
Einzelnen handelt, hat HILBERT allerdings dem Anschein nach, was namentlich das Studium seines Brief -
wechsels mit FREGE nahelegt, nicht zu präzieren vermocht. In der Tat wird durch eine gegebene Theorie,
insbesondere durch eine solche in axiomatisierter Fassung, lediglich der Umkreis der möglichen Realisierungen
jeweils sämtlicher Sätze mittels inhaltlicher Modelle beschrieben. Von welchem dieser Modelle für die Inter -
pretation des zu definierenden Ausdrucks auszugehen ist, bleibt gerade offen, ja es bleibt offen, ob ein der-
artiges Modell überhaupt existiert.
FREGE hat es mithin nicht schwer gehabt, mithilfe impliziten Definierens einen regelrechten Gottesbeweis
zu fUhren, bei welchem nicht erst - wie beim sogenannten" ontologischen" Gottesbeweis der Scholastik -

319
Jürgen Rödig - 51 -

von der Idee Gottes, sondern bereits aus dem Namen Gottes auf dessen Existenz geschlossen wird.
In ähnlicher Weise könnten wir die Existenz von privatem Eigentum darlegen (Beweiszeile 7), indem wir -
wie dies ja häufIg geschieht - von der Vorstellung eines umfassenden subjektiven Rechts ausgehen ( Beweis -
zeile I) und dieses Recht alsdann im Rahmen einer weiteren Annahme (Beweiszeile 2) mit dem Eigentum
identifIzieren:

I (I)
2 (2)
3 (2)
"V x Ur l x"
,,A x (Eg' x .
Ur' x)"
,,(Eg' aa .. Ur' aa) " (2)
AE
AE
GB
4 (4) "Url aa" AE
5 (2,4) "Eg' aa" (3) (4) JL
6 (2,4) "Vx Eg' x" (5) PE
7 (1,2) "VxEg'x" (I) (4) (6) BB

Die gesetzliche Behandlung des Eigentums - Begriffs, der aufgrund des § 903 BGB nun wirklich nicht als
defIniert angese)len werden kann, stellt ohnehin ein Paradigma für die Gefahren impliziten Defmierens dar.
Um über das Eigentum, insbesondere über seine Garantie, seinen unantastbaren Kern usw. zu diskutieren, nimmt
man auf die Bestimmung dieses Begriffs durch die einschlägigen Rechtsvorschriften Bezug; jedoch die ein -
schlägigen Rechtsvorschriften werden ihrerseits, was das Vorkommen des Eigentums - Begriffs anlangt, von
einem anderweitig schon feststehenden oder als feststehend behandelten Eigentums - Begriff her ausgelegt.
Ein weiteres Beispiel fiir die Tücken impliziter Defmitionen bildet der Begriff der "Verfügung" im privat -
rechtlichen Sinn.

Immer wieder treten, da es an einer verläßlichen Definition der


Verfügung - insbesondere an einer verläßlichen Legaldefinition -
gebricht, Schwierigkeiten bei der Einordnung der Abtretung einer
Forderung ein ( § § 398 ff BGB ). Zu kurz kommt insbesondere
der Gesichtspunkt, daß Verfügungen sich auf die Einräumung von
nicht - kumulierbaren Rechtsstellungen beziehen. Bei der Ver -
äußerung einer Sache handelt es sich insofern um eineVerfügung,
als es - von Miteigenturn iwS abgesehen - nur einen (neuen)
Eigentümer geben kann, so daß die Verfügung mangels ent -
sprechender "Verfügungsmacht" des Veräußerers oder mangels
guten Glaubens des Erwerbers unwirksam bleiben muß. Dagegen
läßt sich eine Verbindlichkeit zur Veräußerung einer Sache als
schuldrechtliches Rechtsverhältnis mehrfach ( mehreren Käufern
gegenüber) wirksam begründen. Soll schließlich eine bereits be -
stehende Forderung abgetreten werden, so darf die Opfergrenze
nicht zu Lasten des Schuldners verschoben werden. Auch aus
diesem Umstand resultiert ein Kumulationsverbot, mithin die
strukturelle Übereinstimmung mit weiteren ( namentlich ding -
lichen) " Verfügungsgeschäften" , welche ebenfalls die Her-
stellung einer zwar neuen, aber ~indeutigen Zuordnung einer
Rechtsposition zu einer Person bezwecken.

Implizit werden durch das BGB ferner die sogenannten "essentialia negotü " defIniert, nämlich jene Merkmale
des beabsichtigten privatrechtlichen Rechtsgeschäfts, weIche aus der Vereinbarung der Geschäftspartner hervor -
gehen müssen, damit überhaupt von einem "Kauf' usw. die Rede sein kann und die einschlägigen gesetzlichen
Vorschriften ( " naturalia negotii " ) angewendet werden können. Mit den Einleitungs - Paragraphen der
einschlägigen Rechtsinstitute ist fiir solche Konturierung nur unvollkommen und jedenfalls nur stillschweigend
gesorgt. Was das Strafrecht angeht, so ist geniigend bekannt, wohin es gefiihrt hat, daß die Gesetzesverfasser
glaubten, den Begriff der "Unzucht" in schamhafter Weise lediglich implizit verwenden zu sollen. Nicht um -
sonst hat sich ein schwäbischer Richter, der es genauer wissen wollte, nur noch im Wege einer Volksbefragung

320
- 52- Logische Kriterien für die korrekte Verwendung von Legaldefinitionen

zu helfen gewußt.
Kontext - Definitionen und erst recht impliziten Defmitionen sind explizite Defmitionen gegenüberzu •
stellen, welche das Definiendum als solches isoliert erkennen lassen. Ungefährlich ist der Bezug zu genera·
lisierten Subjektsvariablen, falls es den Gebrauch eines wenigstens 1 - stelligen Prädikats zu regeln gilt; un •
gefährlich ist sodann - unnütz zu sagen - der Gebrauch von Hilfszeichen, sofern sie ( wie etwa Kommata)
für die Entwicklung von Definitionsformeln (oben 2.2) benötigt werden.
Die Forderung nach expliziten Definitionen ist nicht etwa als Verbot der Verwendung von undefmierten Be •
griffen mißzuverstehen. Ohne derartige Begriffe kommt man, wie wir gesehen haben, im Rahmen eines noch
so schön axiomatisierten Systems von Sätzen nicht aus. Das Bekennen der Undefiniertheit gewisser Begriffe
( auf deren Gebrauch man sich also allenfalls außerhalb des Systems einigen kann) ist indessen eine andere
Sache als das Vorgeben der Definiertheit dieser Begriffe unter Verweisung auf implizite Defmitionen. Jenes
Verfahren fordert zur KlarsteIlung auf, dieses dagegen läßt sie - zu Unrecht - als nicht erforderlich er •
scheinen.

321
Einige Regeln fiir Korrektes Legal-Definieren
Rödig, J., Baden, E., Kindermann, H. (Hrsg.): Vorstudien zu einer Theorie der Gesetzgebung.
Gesellschaft für Mathematik und Datenverarbeitung. Bonn 1975, S. 71-75

2.2.5.1. Vorbemerkungen

Als Ergebnis der - ihrerseits an der zeitgenössischen Definitionstheorie ( oben 2.2.1.2.) orientierten -
Diskussion über Legaldefinitionen (oben) sind einige Regeln ftir korrektes Defmieren im Rahmen rechtlicher
Kodifikate anzufUhren. Der Katalog dieser Regeln beansprucht keine Vollständigkeit, und einige der in dem
Katalog vorkommenden Regeln wollen weniger als verbindlich akzeptiert denn vielmehr als Gegenstand weiterer
Diskussion aufgefaßt werden. Nicht einmal sämtliche der logischen Kriterien, in deren Skizzierung das ein·
fUhrende Referat (2.2.1.) bemüht war, können in die folgenden Defmitionsmaximen mit der erforderlichen
Exaktheit Einlaß finden. Jedoch bereits der Versuch einer Umsetzung des theoretisch Erarbeiteten in Vor·
schläge ftir die Praxis schien uns - nicht zuletzt im Hinblick auf die Erleichterung von Selbstkritik - am
Platze zu sein. Auf eine durchgängige Gliederung der Regeln wird verzichtet; eine solche Gliederung wird
erst sinnvoll sein, wenn hinreichende Vollständigkeit des Regelkatalogs vermutet werden darf. Eine grobe Ein .
teilung ergibt sich aus der Abfolge der einschlägigen Kriterien: Zunächst werden Regeln genannt, welche die
Frage betreffen, ob überhaupt eine Legaldefinition gewählt werden soll und ob nicht statt dessen ein syste .
matisch gleichwertiges gesetzgebungstechnisches Instrument zur Verftigung steht. Sodann werden logische
Kriterien ftir korrektes Definieren in Regeln gefaßt. Schließlich dominieren pragmatische Kriterien, nämlich
solche, welche das bereits mit einer Bedeutung versehenen sprachliche Gebilde in seiner Relation zum Be .
nutzer behandeln; in diesem Zusammenhang geht es insbesor,dere über die Art der verwendeten Sprache, um
Umgangs· oder Fachsprache, um die Merkbarkeit von Ausdrucken usw.

2.2.5.2. Zur Zweckmäßigkeit der Verwendung von Legaldefinitionen

Die Frage nach der Zweckmäßigkeit von Legaldefinitionen fUhrt alsbald in die allgemeine Problematik hinein,
inwiefern im Hinblick auf die Lesbarkeit eines Gesetzes einerseits sowie im Hinblick auf die Präzision der
Formulierung seines Regelungsgehalts andererseits auf die Umgangssprache Bezug genommen werden kann und
inwiefern es stattdessen der Entwicklung oder auch der Benutzung einer Fachsprache bedarf. Diese allgemeine
Problematik soll an dieser Stelle unerörtert bleiben. Hier geht es nur darum, inwiefern sich die LegaIde .
finition als eines von mehreren infrage kommenden Mitteln der Gesetzgebungstechnik empfiehlt.
Betrachtet man die Legaldefinition unter dem Gesichtspunkt ihrer Funktion innerhalb eines Kodiflkats, so
kommt eine zunächst geradezu verblüffende Verwandschaft mit weiteren Rechtsetzungs • Techniken zum
Vorschein. Nach der Wahrheit oder Unwahrheit von ( Nominal· ) Definitionen ist - wie im einleitenden
Referat ausgeführt - sinnvollerweise nicht zu fragen ( Sprachregelungen sind lediglich hinsichtlich ihrer
Adäquatheit einer Wertung zugänglich ). Ein ähnliches Phänomen trifft man nun aber auch im Zusammen.
hang mit Fiktionen an; die Irrealität der Annahmen, zu welchen Fiktionen zwingen, haben nicht etwa deren
Unwahrheit zur Folge.

Früchte, die von einem Baume oder einem Strauche auf ein Nachbar·
grundstück hinüberfallen, "gelten" nach § 911 BGB "als Fruchte dieses
Grundstücks" . Dievom Nachbargrundstück stammenden Früchte sollen
also lediglich rechtlich so behandelt werden, als seien sie von einem
Baum oder einem Strauch gefallen, der auf dem Grundstück steht,
auf dem die Früchte liegen.
In der Tat sind Fiktionen durch - möglicherweise umständliche - Legaldefinitionen ersetzbar, welche gewisse
Tatbestandsmerkmale in einer vom umgangssprachlichen Wortsinn derart abweichenden Weise formulieren,
daß es einer künstlichen Gleichschaltung der verschiedenen Sachverhaltsgruppen mittels einer Fiktion nicht
mehr bedarf.

323
-72- Jürgen Rödig

Beispiel: ( in Anlehnung an das letzte Beispiel) : Entsprechend weite De •


finition des Begriffs der" Frucht eines Grundstücks" .

Unter Verwendung einer solchen Legaldefinition kann die gewünschte Rechtsfolge, welche die Fiktion an den
fmgierten Sachverhalt knüpft, mit einem dank der Legaldefmition "normalen" Sachverhalt verbunden werden;
die Realität des "normalen" Sachverhalts wird durch die auf eine Sprachregelung beschränkte Definition nicht
beein träch tigt.
Umgekehrt kann man Legaldefinitionen durch Fiktionen ersetzen, indem man es bei umgangssprachlichen
Begriffsbildungen beläßt und die an der rechtlichen Behandlung orientierte Zusammenfassung verschiedener
Sachverhaltsgruppen unter legal definierte Begriffe dadurch ersetzt, daß man nur eine Sachverhaltsgruppe mit
Rechtsfolgen verbindet und sämtliche weiteren Sachverhaltsgruppen fiktiv mit jener Sachverhaltsgruppe
identifiziert.
Die Funktion des Hinweises auf bestimmte Rechtsfolgen, welcher Fiktionen und Legaldefinitionen auf einen
gemeinsamen Nenner bringt, tritt bei ausdrücklichen Verweisungen - mit denen etwa die Verfasser des BGB
nicht sparten - explizit hervor. Der Hinweis auf die erwünschten Rechtsfolgen kann unmittelbar oder mittel·
bar, nämlich auf dem Umweg über den Hinweis auf den der Rechtsfolge vorgeschalteten Tatbestand, er·
folgen. Bei gesetzlichen Vermutungen, welche - von ihrer Funktion fUr das gerichtliche Beweisverfahren ab .
gesehen - auf Verweisungen hinauslaufen, wird denn auch (wenngleich auf problematische Weise) zwischen
Rechts· und Tatsachenvermutungen unterschieden. Eine unwiderlegliche Tatsachenvermutung ist der Fiktion
nicht umsonst zum Verwechseln ähnlich; die zu vermutende Tatsache braucht immerhin nicht irreal zu sein ..
Mit dem vergleichsweise" trockenen" Charakter der Verweisung korrespondiert der Umstand, daj.\ sie weder
bestehende Sachverhalte als nicht· bestehende Sachverhalte zu behandeln braucht noch den üblichen Sprach·
gebrauch zu strapazieren gezwungen ist.
Auf die Technik der Verweisung können schließlich auch die ggf. verschiedenen - in ihrer Allgemeinheit
abgestuften und aufeinander bezogenen - "allgemeinen Teile" eines Kodifikats zurückgeführt werden.
Ist ein Gesetzesabschnitt relativ zu einem weiteren Gesetzesabschnitt (nämlich einem - meist voraufgehenden
- " allgemeinen Teil" ) als " besonderer Teil" aufzufassen, so wird hinsichtlich jedes Elements des besonderen
Teils auf sämtliche ( oder doch sämtliche einschlägige) Elemente des allgemeinen Teils verwiesen. Diese
Verweisung nimmt in dem Maße an Ausdrücklichkeit zu, als die Systematik des Gesetzes (durch eine
authentische Gliederung,durch Überschriften von Gliederungspunkten usw. ) an Explizitheit gewinnt.
Von Fall zu Fall ist mithin zu entscheiden, welches der genannten gesetzgebungstechnischen Mittel ( Legal .
definition, Fiktion, Allgemeiner Teil, Verweisung) das jeweils adäquate (oder eines von mehreren gleich
adäquaten) ist. In diesem Zusammenhang kann möglicherweise auf die Anzahl der noch umgangssprachlich
formulierbaren Regelungsanlässe abgestellt werden. Zur Diskussion sei folgende Daumen· Regel gestellt
( hinsichtlich deren Genauigkeit sich der Verfasser keinen unberechtigten Hoffnungen hingibt) ;
( I 1 ) Bei vergleichsweise wenigen rechtlich gleichgelagerten Regelungsanlässen kommen Verweisung oder
Fiktion infrage.
Liegen die Regelungsanlässe innerhalb des gesamten Kodifikats nahe beieinander ( z.B. §§ • Folgen) oder
sind sie in erkennbarer Weise systematisch aufeinander bezogen, so empfiehlt sich eine Fiktion.

Begründung: Der genannte .zusammenhang bringt die Fiktion in die Nähe


einer erneuten Sachreglung mit der ihr eigenen Anschauungs·
kraft; die mangelnde Explizitheit des Hinweises auf die Vor·
schriften, welche die in Bezug genommenen Rechtsfolgen ent .
halten, fällt nicht ins Gewicht.

Sind die Regelungsanlässe - bei voraussetzungsgemäß geringer Anzahl - dagegen unübersichtlich innerhalb
des Kodifikats verstreut, so sorgt erst eine (ausdrückliche) Verweisung fiir die Genauigkeit des Bezugs. Die
- unmittelbare - Rechtsfolgeverweisung ist im Zweifel der - mittelbaren - Rechtsgrundverweisung vorzu .
ziehen.

324
Einige Regeln für Korrektes Legal-Definieren - 73-

( I 2) Bei vergleichsweise zahlreichen rechtlich gleichgeIagerten Regelungsanlässen empfiehlt sich eine generelle
Nonnierung des gesamten Regelungstextes mithilfe von LegaldefInitionen oder auch mithilfe von allgemeinen
Teilen.· Beide Nonnierungsfonnen schließen sich nicht aus. Man sollte indes von Legaldefmitionen im Zweifel
dann absehen und es bei zwar umgangssprachlich fonnulierten, jedoch vor die Klammer gezogenen Vorschriften
belassen, wenn der sprachliche ( insbesondere sprachschöpferische ) Aufwand die Nachteile von Wieder -
holungen oder umgangssprachlichen Zusammenfassungen übertrifft.

2.2.5.3. Logisch motivierte Kriterien fiir korrektes LegaldefInieren

Vor.!ill'rk1!!!i: Die folgenden Regeln sind weitgehend durch das einleitende Referat begründet. Unter
" Definiendum" wird der zu definierende Begriff, unter "Definiens" der erklärende Teil der Definition ver -
standen.

(11) Die für die Fonnulierung des Definiens verwendeten syntaktischen Kategorien (d.s. Klassen von Sprach·
elementen, die bei Wahrung der grammatikalischen Korrektheit gegebener Sprachkomplexe gegeneinander aus -
wechselbar sind ) sollen mit den fiir die Formulierung des Definiendums verwendeten sytaktischen Kategorien
verträglich sein.

Beispiel: " Unverzüglich" wird in § 121 Abs. I S. I BGB lediglich als Eigen -
schaft· einer Handlung definiert: eine "ohne schuld haftes Zögern"
(vorgenommene) Handlung. Gegen Regel ( 11) würde folgende De -
finition verstoßen: " Unter ,unverzüglich' wird eine Handlung ver -
standen, welche ohne schuldhaftes Zögern vorgenommen wird. "

(111) Man soll die LegaldefInition eines Rechtsbegriffs in eine sachliche Aussage des Inhalts umfonnen können,
daß der Rechtsbegriff auf einen beliebigen Gegenstand ( oder Gegenstandskomplex ) genlu dann zutrifft,
wenn die im Rahmen des Definiens genannten Merkmale in ihrem dort angegebenen logischen Verhältnis
auf diesen Gegenstand (Gegenstandskomplex) zutreffen.

Gegenbeispiele : § 90 BGB;
Begriffsbestimmungen mithilfe des Wörtchens "umfaßt" -
etwa im Rahmen der Bestimmung von" Unternehmen" ,
Bsp. 61 - welches mengentheoretisch auch im Sinne der
Inklusion verstanden werden kann und insofern einer nur
einseitigen - wenngleich quantifizierten - Implikation ent -
entspricht;
Begriffsbestimmungen mithilfe der Wendung" immer dann"
( z.B. in " wesentliche Vertragsverletzung " - Bsp. 67 ),
das ebenfalls nicht den Schluß auf eine gegenseitige Implikation,
also auf eine Äquivalenz ( " genau dann, wenn " ) gestattet.

(IV) Mehrfache Defmitionen sollen in der Weise aneinandergereiht werden können, daß die Bestandsteile eines
Definiens, das in einer ( im Sinne dieser Reihe) späteren Defmition vorkommt, entweder aus undeflnierten
Grundbegriffen oder aus Definienda früherer Definitionen bestehen.

Die Möglichkeit einer derartigen Reihenfolge kann auch dann


vorliegen, wenn die Legaldefinitionen de facto anders angeordnet
sind. Eine abweichende Anordnung kann sich etwa insofern emp -
fehlen, als der in einem KodifJkllt dominierende Begriff zweck -
mäßig erweise an den Anfang gestellt wird, auch wenn einige Be -
standteile des Definiens erst noch ihrerseits ( mittels weiterer
Legaldefinitionen ) präzisiert werden müssen.

(V) Bedingte Definitionen sind nach Möglichkeit zu vermeiden.


Erläuteru.!!&. un!!.Jleis~!!l: Siehe einleitendes Referat sub 2.2.1.1.1.
(VI) Kontext - Defmitionen
(VI I ) Defmitionen mit Kontext - Defmiendum sind nach Möglichkeit zu venneiden.
(VI 2 ) Definitionen mit Kontext - Defmiens i.e.S. sind zu vermeiden.

325
- 74 - Jürgen Rödig

Bei Kontext -Definitionen, und zwar namentlich bei Definitionen


mit Kontext - Definiens, besteht eine erhebliche Gefahr für die
Vermengung von Sachregelung und Sprachregelung.
Erläuterungen und Beispiele. finden sich im einleitenden Referat
sub 2.2.1.2.2.3.

(VII) Implizite Definitionen sind zu vermeiden.

Es sei erneut darauf aufmerksam gemacht, daß die Forderung nach


Vermeidung von impliziten Definitionen nicht etwa als Forderung
nach Definition sämtlicher in einer Theorie vorkommenden Termini
aufgefaßt werden darf; letztere Forderung wäre lediglich mithilfe
zirkulärer Definitionen ( auf logisch unkorrekte Weise) erfUllbar.
Vielmehr soll getrost zugegeben werden, daß sich der Gesetzgeber,
was die Grundbegriffe des Kodifikats anlangt, solcher Begriffe be -
dient, die allenfalls außerhalb des Kodifikats definiert worden sind.
Der Hinweis, daß die Definition der Grundbegriffe aus der Art
ihres Vorkommens in der gegebenen Theorie abgeleitet werden
können, führt auf die im einleitenden Referat sub 2.2.1.2.3.3. be-
schriebene Weise in die Irre. Daselbst auch weitere Erläuterungen
sowie Beispiele.

2.2.5.4. Pragmatisch ausgerichtete Regeln. Insbesondere der Gesichtspunkt der der Leserfreundlichkeit.

( VIII) Aufgespaltene Definitionen


Erläuterung: Aufgespaltene Definitionen setzen sich aus mehreren insbesondere durch einen Punkt oder
auch durch ein Semikolon voneinander getrennten - Sätzen zusammen.
Von" ~rbunden ~!!~~Ite'!.~ " Definitionen sprechen wir, wenn die Zusammengehörigkeit der mehreren
Bestandteile der Definition durch Verweisung oder durch Eingangs - §§, welche die Erstreckung der De -
finition konturieren, zum Ausdruck gelangt. " .!l.!l~~~'!ll.~.!l_'!!'fu~~~.!!~ " Definitionen sind aufge-
spaltene Definitionen, die keine verbunden aufgespaltenen sind.

(VIII I ) Unverbunden aufgespaltene Definitionen sind zu vermeiden.

Erläuterung: Die Ersetzbarkeit des Definiens durch das Definiendum und damit die Funktion der Definition
fallen hinweg, wenn unklar bleibt, welche Bestandteile noch zum Definiens gehören und welche nicht mehr
dazu gehören.

(VIII 2 ) Verbunden aufgespaltene Definitionen können zweckmäßig sein. Sofern sie auf korrekt gebildete
Definitionsketten ( Regel IV ) hinauslaufen, sind sie ohnehin unproblematisch.

Wären die "Fälle" der beschränkten Geschäftsunfähigkeit auf die des


§ 104 Nr. 1 - 3 BGB beschränkt ( was sie leider nicht sind, vgl § 114 BGB ),
so läge jedenfalls eine hinreichend verbunden aufgespaltene Definition
vor; auch unter dieser Voraussetzung kommt indes - wie so oft bei
aufgespaltenen Definitionen - das logische Verhältnis der Bestand -
teile des Definiens nicht genügend zum Ausdruck ( bei § 104 BGB
ist es disjunktiv zu interpretieren) , und es ist überdies eine bedingte
(nämlich auf natürliche Personen beschränkte) Definition zu be -
klagen ( siehe einleitendes Referat sub 2.2.1.1.1. )

( IX ) Die innerhalb eines Kodifikats undeflnierten Begriffe sollen nach Möglichkeit ( mithilfe hinreichend
verfugbarer anderweitiger Kodifikate definierbar sein oder) den Inhalt von beobachtungssprachlichen Wörtern
bilden.

Mit der Verwendung des Ausdrucks" Beobachtungssprache " muß


das Eingeständnis der Naivität einhergehen. Selbst die zeitgenössische
Wissenschaftstheorie ist noch weit von der Lösung des Problems der
Zurückflihrung theoretischer Sprachen auf Beobachtungssprachen

326
Einige Regeln für Korrektes Legal-Definieren - 75-

entfernt ( vgl nur die Problematik der sog. Dispositionsprädikate wie


.. zerbrechlich ", .. löslich " usw. ). Regel ( IX ) ist eher als
Formulierung eines linguistischen Programms zu verstehen: Auf -
listung annähernd gleichwertiger Wörter( Tiefenstruktur! ) nach
abnehmender Wahrscheinlichkeit optimaler Verständigung inner -
halb derjenigen Personenkreise, die jeweils als'l\.dressaten des Ge -
setzes " fungieren. Möglicherweise würden dem Linguisten eine
Auflistung bedeutungskongruenter Sätze - also von Paraphrasen -
als realisierbarer erscheinen; in diesem Fall würden die zu de -
finierenden Begriffe allerdings nur als Elemente von Sätzen auf -
treten, so daß man sich wiederum mit der Problematik der Kontext -
Definitionen herumschlagen müßte.

( X ) Als Definienda sind mnemotechnisch möglichst geeignete Ausdrücke zu wählen. Defmienda sollen einer -
seits möglichst anschauungskräftig und merkbar sein; Merkbarkeit und Anschauungskraft sollen andererseits
nicht durch inadäquate Vorbelastungaufgrund des umgangssprachlichen Sprachgebrauchs erkauft werden
müssen.

Erläute!:!!!!l!: Wir nennen ein legal - definiertes Definiendum" inadäquat vorbelastet" insofern, als wenigstens
eine von der Legaldefinition abweichende umgangssprachliche Bedeutung existiert. Besonders gefährlich ist
inadäq uate Vorbelastung dann, wenn die abweichende umgangssprachliche Bedeutung der gesetzlichen Be -
deutung derart nahe kommt, daß der Adressat beim Lesen des Gesetzes nicht selbst darauf stößt, daß der be -
treffende Ausdruck , um zu einem sinnvollen Rechtssatz beizutragen, offenbar in einer vom üblichen Sprach -
gebrauch abweichenden Sinne definiert worden sein muß.
In diesem Zusammenahng ist IHERING s Vorschlag zur Verwendung lateinischer Rechtswörter zu erwähnen,
die insbesondere nicht dem fortwährenden Bedeutungswechsel umgangssprachlicher Wörter unterworfen sind
( vgl. R. v. IHERING, Geist des röm. Rechts, Teil 2,2. Abteilung, Neudruck Aalen 1968, S. 332 Fußn. 482 ).

( XI ) Defmitionen sind als solche kenntlich zu machen. Sprachregelungen dürfen nicht den Eindruck von Sach -
regelungen erwecken.

Auf die Gefahren der Vermengung von Sprach - und Sachregelung, die sich nicht selten in Ge -
Erläut~!:.'!!I.l!:
stalt unhaltbarer Ergebnisse äußern, ist im einleitenden Referat passim hingewiesen worden.
Zwecks Explikation des Definitions - Charakters eines Rechtssatzes kommen mehrere Verfahren in Betracht.
Die herkömmliche Technik der Einklammerung des Definiendums verleitet zu unnötigen Kontextdefinitionen.
Unproblematisch ist dagegen der Gebrauch von Anführungszeichen; es tut der Würde des Gesetzgebers keinen
Abbruch, wenn er sagt, er wolle unter" verbotener Eigenmacht .. verstehen dasjenige Verhalten, welches .....
Ein Rechtssatz oder ein Abschnitt von Rechtssätzen können ferner mit" Begriffsbestimmung" bzw.
,;·Begriffsbestimmungen" (authentisch) überschrieben werden. Die Abweichung der Bedeutung des legal -
definierten Ausdrucks von seiner umgangssprachlichen Bedeutung läßt sich schließlich durch eine quasi - fiktive
Formulierung hervorheben: "Als [ Definiendum J gilt .... " .

( XII) Definienda sind als solche kenntlich zu machen. Der Adressat des Gesetzes soll hinlänglich darauf
hingewiesen werden, daß er , sofern er auf einen legaldefinierten Ausdruck stößt, die Legaldefinition an be -
zeichneter Stelle nachlesen (oder gelesen haben) muß.

Bei verstreuter Verwendung legaldefinierter Ausdrücke empfiehlt


sich das in Klammer angegebene Zitat des Paragraphen, der die
Legaldefinition enthält.

( XIII ) Die Legaldefinition soll möglichst wenig weit von dem Normenkomplex entfernt sein, zu dessen
Formulierung sich die Gesetzesverfasser des legaldefinierten Ausdrucks bedienen.

Für einen vorausgestellten Definitionen - Abschnitt kann


allerdingsder Umstand sprechen, daß die Definitionen stark
aufeinander bezogen sind ( insbesondere Definitionsketten
»
bilden, oben ( IV und daß erst eine zusammenhängende
Lektüre den sprachlichen Nachvollzug des Gesetzes seitens
des Lesers gewährleistet.

327
Die Regel-Ausnahme-Technik des Gesetzgebers in logischer Sicht
Rödig, J., Baden, E. Kindermann, H. (Hrsg.): (Mitautor: G. Thieler-Mevissen)
Vorstudien zu einer Theorie der Gesetzgebung. Gesellschaft für Mathematik und Datenverarbeitung.
Bonn 1975, S. 88-92

2.4.1.1. Einleitende Bemerkungen

Die Verfasser sowohl älterer als auch jüngerer Gesetzes bedienen sich mit Vorliebe der sogenannten" Regel·
Ausnahme - Technik" : Zunächst wird ein dem Wortlaut nach allgemein geltender Rechtssatz formuliert, doch
dieser Rechtssatz wird im nachhinein durch weitere Rechtssätze durchbrochen. Als Vorzug der genannten
Technik könnte die Einprägsamkeit der vorangestellten Regel angefUhrt werden. Als Argument rur die Ein -
prägsamkeit der Regel hält vermutlich die Typizität ihres Inhalts her; logische Allgemeinheit beansprucht die
Regel naturgemäß nicht. Die Problematik juristischer Typizität muß an dieser Stelle unerörtert bleiben.
Dahingestellt bleiben ferner, inwiefern es sich empfiehlt, Rechtssätze zu statuieren, welche in der Allgemein -
heit, in der sie hingeschrieben werden, gar nicht gemeint sind, und inwiefern die Orientierung des Rechts -
suchenden darunter leidet, daß er in dem vorliegenden Gesetz zwecks Vergewisserung über dessen tatsächlichen
Inhalt bis zu einer nicht näher definierten Stelle weiterlesen muß. Meta - Regeln des Inhalts, daß es die Regeln
sowie die und die ( genau bezeichneten) Ausnahmen gebe, pflegen im Rahmen der Regel - Ausnahme - Technik
gerade nicht aufgestellt zu werden.

Die Aufstellung derartiger Meta - Regeln wäre im übrigen nicht unproblematisch. Es müßte sich offenbar um
Regeln handeln, die nicht ihrerseits durch Ausnahmen durchbrochen sind. Dieser Umstand sowie der weitere
Umstand, daß Meta - Regeln, um über die Geltung weiterer Regeln befinden zu können, höheren Rang ge -
nießen müssen, macht dem Anschein nach die EinfUhrung noch ranghöherer Meta - Regeln erforderlich, mit
deren Hilfe der Rang der Meta - Regeln begründet werden kann. Ein regressus ad infinitum zeichnet sich ab.

An dieser Stelle gilt es dreierlei zu zeigen.


Erstens: Die Regel - Ausnahme - Technik fUhrt, sofern man auf Meta - Regeln der erwähnten Art verzichtet,
zu widersprüchlichen Gesetzen.
Zweitens: Widerspruchslose Gesetze dank ausnahmslos geltender Regeln kommen mittels Einbeziehung negativer
Merkmale in die Tatbestände der Regeln zustande.
Drittens: Die so gerne beschworene Gefahr, die Einbeziehung negativer Tatbestandsmerkmale werde zu un _
übersichtlichen Rechtssätzen fUhren, besteht nicht; viel.nehr lassen sich negative Tatbestandsmerkmale nicht
minder als positive Tatbestandsmerkmale bündeln, nämlich durch" Oberbegriffe" im Sinne der traditionellen
Logik oder auch durch" Superzeichen " im Sinne der zeitgenössischen Kybernetik zusammenfassen.

2.4.1.2. Testen eines Regel - Ausnahme - Modells auf Widersprüchlichkeit


Das folgende Modell I ( MI) besteht zunächst aus drei" Regeln" MIl, MI2, und MI3, welche jeweils mit
Bezug auf einen potentiellen Delinquenten( "p") an die Begehung einer typisierten' unerlaubten Handlung
Uhl (i rur 1,2 oder 3 ) eine entsprechende Schadensersatzpflicht knüpfen:

329
Jürgen Rödig - 89-

I (I) " Ap ( Uhl p -+ Sc' p ) .. MII


2 (2) .. Ap ( Uh~ p -+ Sc' p)" MI2

3 (3) .. Ap ( Uh~ P -+ Se' p)" MI3

Weiter soll bei Vorliegen (mindestens) einer der" Ausnahmen" Asl bis Asl keine Schadensersatzpflicht aus -
gelöst werden:
4 (4) .. Ap (Asl p -+ ---, Sc' p) .. MI4

5 (5) .. Ap (A~ P -+---, Sc'p) .. MI5


6 (6) .. Ap (As~ P -+---, Sc'p) .. MI6
7 (7) .. Ap (Asl P -+-, Sc'p) .. MI7
Als faktische Annahme fiihren wir nunmehr folgenden .. Ausnahme - Fall" ein :
8 (8) .. ( Uh! pe A As~ pe ) .. AE
(8) besagt, daß der bestimmte ( .. konstante" ) Rechtsgenosse pe ( "pe" sei eine Konstante aus dem Wert -
bereich der Subjektsvariablen "p", deren wir uns in (I) bis (7) bedienten ), sowohl die Merkmale des
Deliktbestandes Uh! 8Is auch des Ausnahmetatbestandes As~ erflil1t.

Dann folgt mittels Beseitigung von Generalisatoren ( GB ) sowie mittels junktorenlogischer Verknüpfung
(JL) :
9 (2) .. ( Uh! pe -+ Sc' pe ) .. (2) GB
10(6) .. ( As~ pe -+1-, Sc' pe) .. (6) GB
11(2,6,8) .. (Sc' pe 1\ - , Sc' pe ) .. (8) (9) (IO)JL
Zur Anwendung von JL :
.. «( Q A fl ) 11 (Q -+ 'Y) 1\ (fl -+ -, 'Y» -+ ('Y 1\ -, 'Y» .. mit" a " , "fl .. und "'Y .. als Aussage -
variablen stellt, wie man leicht durch Wahrheitswertung ermittelt ( wegen Falschheit des Implikats braucht
nur die Falschheit des Implikans gezeigt zu werden) , eine junktorenlogisch allgemeingültige Aussage dar.

(11) ist widerspriichlich, mithin falsch. Aus MI nebst Ausnahme - Fall (8) kann, wie man sich im Hinblick
auf .. ex falso quodlibet sequitur .. klarmacht, jede noch so törichte Aussage ( etwa: "Der Delinquent hat
gegen den Verletzten einen Anspruch auf Geld in Höhe des angerichteten Schadens" ) hergeleitet werden.

2.4.1.3. Negative Tatbestandsmerkmale


Der in (11) zutage getretene Widerspruch hätte sich vermeiden lassen, wenn MI2 sogleich im Sinne von 'on
MI6 eingeschränkt worden wäre:
12 (12) .. Ap «Uh! p 11 -, As~ p) -+ Sc' p)" MI2+.
Das in (6) positiv auftauchende Merkmal As~ wird, wie man sieht, in (12) negativ wiedergespiegelt: Man
kann insofern von einem" negativen Tatbestandsmerkmal .. sprechen, muß jedoch beriicksichtigen, daß die
negative Fassung des Merkmals aus der Bejahung der Rechtsfolge innerhalb des einschlägigen Rechtssatzes
resultiert.

330
- 90- Die Regel-Ausnahme Technik des Gesetzgebers in logischer Sicht

Mit Rechtssätzen vom Typ MI2* sind wir indessen noch nicht am Ziel. MI2* enthält eine lediglich am
Ausnahmefall (8) orientierte Korrektur von MI2, jedoch durch diese Abhängigkeit von konkreten Tatbe -
standserftillungen wird die Regel nicht minder als durch die sie durchbrechenden weiteren Rechtsvor -
schriften relativiert Um unbedingte Ausnahmslosigkeit unserer Regeln zu erzielen, müssen wir hlnsichtlich
jeder Regel jede Ausnahme bedenken. Die Aufnahme sämtlicher Ausnahmen in sämtliche Grundsätze er -
gibt nun aber anscheinend gerade jene unübersichtlichen Rechtssatz - Gebilde, die man gemeinhin be -
furchtet:
13 (13) " Ap (( Uh I p 1\ -, Asl p " -, As1 p
" -, As~ P A -, Asl p) -> Sc l P ) " MIl""
14 (14) " Ap (( uhl p " -, Asl p A -, As1 p
MI2""
15 (15) ................................................................................... MI3""

2.4.1.4. Negative Bündelung

Im Rahmen des folgenden Modells MU werden negative Tatbestandsmerkmale wie positive gebündelt und
in dieser Zusammenfassung zwecks Einschränkung von Tatbeständen verwendet; die Einschränkung ist
also nicht mehr'fallbezogen, und wir haben es mit einem aus nur 6 übersichtlichen Rechtssätzen ( einschI.
3 Definitionen) bestehenden Rechtssatzsystem zu tun:
16 (16) " Ap ( Ngl p .. (Asl p v As1 p »" MU I
17 (17) " Ap (Ng~ P ( As~ P v Asl p » " MU 2

18 (18) " Ap ( Ng!, P .. (Ngl p v Ng1 p» " MII3


19 (19) " Ap (( uhl p " -, Ng!, P ) -> Sc l P)" MU4
20 (20) " Ap (( uh1 p " -, Ng!, P ) ... Sc l P ) " MUS
21 (21) " Ap (( Uh~ p " -, Ng!, P ) -> Sc l P ) " MU6
Testen wir MU mit Hilfe unseres" Ausnahme - Falles" (8):
22 (20) " (( Uh~ pe " -, Ng!, pe ) -> Sc l pe ) " (20) GB
23 (18) " ( Ng!, pe " (Ngl pe v Ng1 pe » " (18) GB
24 (17) " (Ng1 pe" ( As~ pe v Asl pe »" (17) GB
25 (17,18,20)" (( Uh1pe A -, (Ngl pe v As~ pe v
v Asl pe » -> Sc l pe)" (22) (23) (24) JL
26( 17,18,20)"(( Uh~ pe A --, Ngl pe A --, ~ A

A -, Asl pe » .... SeI pe ) " (25) JL


Innerhalb des Implikans von (26) sind die mit (8) k'orrespondierenden Bestandteile unterstrichen. Wegen des
negierten Vorkommens von " As~ pe "läßt (26) jedenfalls mit Hilfe von (8) den Eintritt der Ersatzpflicht offen-
bar nicht zu. Eintritt und Nichteintritt der Ersatzpflicht treffen nicht mehr zusammen.

2.4.1.5. Widerspruchsfreiheit des Regel-Ohne -Ausnahme - Modells


Abschließend ist ein Beweis rur die Widerspruchsfreiheit von MII zu fUhren. Dazu ist fur MU ein Modell an -
zugeben, eine Interpretation, die die Axiome wahr macht
Wir nehmen die natürlichen Zahlen von I bis 70. Die einzelnen Prädikate seien folgendermaßen inter -
pretiert:

331
Jürgen Rödig ~ 91

" Asl p " :ist gerade


" As1 p " : 3 ist Teiler von p
" As~ P " : p ist größer als 20
" Asi p " : p ist die Zahl 65
.. Sc' P " : p ist Primzahl
.. Uhl P " : 13 ist Teiler von p
" uh1 p " : 17 ist Teiler von p
"Uh~ P " : 19 ist Teiler von p

" Ngb p " : ist also interpretiert durch:


p ist gerade oder 3 teilt p oder p ist größer als 20 oder p ist die Zahl 65.
Wie man sieht, gelten in diesem Modell die Axiome MII4, MII5, MII6.

MII4 : Für alle natürlichen Zahlen p von I bis 70 gilt: Wenn 13 p teilt und nicht gilt, daß P gerade ist oder
3 p teilt oder p größer als 20 ist oder p die Zahl 65 ist, dann ist p Primzahl ( nämlich 13 ) .

MII5 : Für alle p von I bis 70 gilt: Wenn 17 p teilt und nicht gilt, daß P gerade ist oder 3 p teilt oder p
größer als 20 ist oder p die Zahl 65 ist, dann gilt: p ist Primzahl (nämlich 17 ) .

MII6 : Für alle natürlichen Zahlen von I bis 70 gilt: Wenn 19 p teilt und nicht gilt, daß P gerade ist oder 3
p teilt oder p größer als 20 ist oder p die Zahl 65 ist, dann ist p Primzahl ( nämlich 19 ).

Da keine Interpretation einen Satz der Form (a " -, a) wahr macht, und andererseits die oben ange -
gebene Interpretation das Axiomensystem wahr macht, kann ein Satz der Form (a ~ ., a) wegen der
Korrektheit der Ableitungsregeln nicht aus dem Axiomensystem abgeleitet werden. Das System MII ist
also widerspruchsfrei.

2.4.2. Diskussion des vorgetragenen Regel - Ausnahme· Modells

Herr Landfermann äußerte das Bedenken, die hier gebildeten Mittel - und Oberbegriffe könnten ein recht·
liches Eigenleben entfalten und somit zu noch größeren Schwierigkeiten fUhren.
Herr Rödig sah diese Bedenken nicht als durchgreifend an. Die Mittel- und Oberbegriffe werden mit Hilfe der
Definition eingeftihrt, und man müsse sich nur - das sei gerade bei Juristen aber nicht ganz leicht· vor Augen
halten, daß mit Definitionen keine inhaltlichen Aussagen gemacht werden und folglich auch nicht herausge -
lesen werden dürfen. I) Den großen Vorteil seiner Methode sehe er darin, daß das Regel - Ausnahme -
System durch das EinfUhren eines negativen Tatbestandsmerkmals ersetzt werde.
Herr Altmann erläuterte die rein sprachliche Funktion der Mittelbegriffe anhand seiner Skizze. Gehe man
von 2 Mittelbegriffen aus und fUhre eine Relation ein:

D~-~~-~-D

I) vgl. J. Rödig , Logische Kriterien fur korrektes Legal - Definieren, oben 2.2.1.2.2.

332
- 92- Die Regel-Ausnahme Technik des Gesetzgebers in logischer Sicht

so bleibe diese Relation auch erhalten, wenn man die Mittelbegriffe in sich differenziere:

Frau TJlieler - Mevissenmeinte, die Schwierigkeiten entstünden dadurch, daß die Juristen dazu neigen,
Termini zu interpretieren, was Herr Rödig mit der" Vermutung des Vorliegens eines übergeordneten Ge -
sichtspunkts " zu erläutern versuchte.
Aus dem Modell des Herrn Altmann glaubte Herr Reiner, die Gefahr eines Regressus ad infinitum heraus -
lesen zu müssen, indem man mit der Unterteilung immer weiter fortfahre.
Dem widersprach Herr Rödig . Es sei nur angestrebt, die längeren Aufzählungen von Ausnahmen zu ver -
kürzen. Die Unterteilung werde auch mit einer derartigen Technik nicht weiter fortschreiten als jetzt.
Im Hinblick auf das StGB fragte Herr Staats ,ob Herr Rödig beabsichtige, nunmehr den negativen Faktor
in jedem einzelnen Tatbestand einzubauen. Dies sei nicht beabsichtigt, erwiderte Herr Rödig. Vielmehr könne
das Strafgesetz vorweg einen allgemeinen § I enthalten, der die Tatbestandstechnik des StGB mit den ver -
schiedenen Rechtfertigungsgrunden, Schuld - und Strafausschließungsgründen usw. erläutere, etwa der Form:
" J\ P (( Tb' P ~ Rw' P ~ Sc' P ~ ~ As' p) -+ St' p ) "

Demgegenüber solle der Besondere Teil weiterhin nur die gesammelten Tatbestände enthalten_
Herr Kast fragte, wie dann -z.B. im Nebenstrafrecht -mit noch nicht normierten Rechtfertigungs - und
Schuldausschließungsgrunden verfahren werden könne. Er beflirchtete eine Festschreibung auf die dort vor -
gesehenen Ausnahmefalle.
Nach Herrn Rödig ist hier eine Anpassung durchaus möglich. Es sollten dann" Ventile" vorgesehen sein, die
insoweit eine Ermächtigung an den Richter abgeben, soweit der Gesetzgeber die Möglichkeiten künftiger
Tatbestandsverwirklichung noch nicht zu überblicken vermöge und die legislative Unbestimmtheit sich nur zu -
gunsten des potentiellen Täters auswirken könne.

333
Logische Untersuchungen zur Makrostruktur rechtlicher Kodifikate
Rödig, J. (Hrsg.): Studien zu einer Theorie der Gesetzgebung. Berlin Heidelberg: Springer-
Verlag 1976, S. 592-611

Zusamnenfassung
Anhand einfachster Modelle von Rechtssatzkom,plexen werden die Möglichkeiten unter-
sucht. Widerspruchsfreiheit und Vollständigkeit in logischer Hinsicht zu erreichen.
Durch Auflistung aller möglichen Kombinationen von Tatbestandsmerkmalen zusammen
mit den zugehörigen Rechtsfolgen werden die verschiedenen Möglichkeiten diskutiert.
den angestrebten Regelungsgehalt logisch exakt zu erfassen. Ausgehend von den sich
ergebenden vollst~ndigen disjunktiven Normalformen werden Verfahren entwickelt. die
zu einer AbkUrzung der Darstellungsweise fUhren können. In diesem Zusammenhang wer-
den die gesetzestechnischen Figuren Legaldefinition. Fiktion. Verweisung. Allgemei-
ner Teil und explizite Wiederholung in logischer Hinsicht analysiert. Es stellt
sich heraus. daß sie unter dem Gesichtspunkt der AbkUrzung und Strukturierung von
KOdifikaten weitgehend austauschbar sind.
Diese Auffassung von Vollständigkeit als Regelung aller möglichen Tatbestandsmerk-
malskombinationen. die in den benutzten Modellen auch möglich ist. zwingt u.U. zu
einer revidierten Sicht von LUcken und von Delegation der Regelungskompetenzen an
den Rechtsanwender. Außerdem gehört dazu eine Abkehr von der herkömmlichen Auffas-
sung. die VerknUpjUng von Tatbestand und Rechtsfolge in einer rechtlichen Regelung
entspreche einer einseitigen ImpZikation. Vielmehr braucht man wohl. um den Rege-
lungsgehalt in einer Axiomatisierung voll zu erfassen. Aquivalenzen. um größere
LUcken zu vermeiden. Dabei mUssen aber grundlegende Prinzipien wie etwa der Satz
"casum sentit dominus" im Schadensrecht in die Betrachtung einbezogen werden.

I. Das Problem

Gegenstand der nachfolgenden Untersuchungen ist der logische Aufbau


rechtlicher Kodifikate, namentlich rechtlicher Gesetzeswerke, in je-
weils ihrer Gesamtheit. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen können
von Bedeutung sein für die Strukturierung rechtlicher Kodifikate mit
Hilfe entsprechender gesetzestechnischer Figuren. Es handelt sich ins-
besondere um die Voranstellung Allgemeiner Teile sowie um die Verwen-
dung von Verweisungen, Fiktionen und (Legal-) Definitionen. Erkenntnis-
se, die sich auf die Makrostruktur rechtlicher Kodifikate beziehen,
können weiterhin von Bedeutung sein für die häufig behandelte Proble-
matik der Regelungslücke. Im Sinne einer Rechtswissenschaft, die sich
nicht nur als Wissenschaft für den Umgang mit bereits erlassenen Ge-
setzen, sondern bereits als Wissenschaft für den Erlaß von Gesetzen
versteht, wird danach zu fragen sein, wie Regelungslücken im vorhinein
vermieden werden können.

Es könnte sich übrigens auch um die Frage handeln, wie der Anschein
vermieden werden kann, daß eine Regelungslücke bestehe. Denn tatsäch-
lich spricht vieles dafür, es handle sich bei sog. Regelungslücken

*Eingeklammerte Ziffern im Beitrag beziehen sich auf die Anmerkungen,


S. 611.

335
Jürgen Rödig 593

lediglich um unzutreffende Vermutungen von solchen. Was als "Fehlen


einer Regelung" firmiert, könnte in Wirklichkeit nur eine mißverständ-
liche Formulierung des Hinweises auf das Fehlen einer erwünschten Re-
gelung sein. Im übrigen ist das gesetzgebungstheoretische Phänomen der
Regelungslücke, wie immer man es begreift, scharf vom Phänomen einer
Delegation von Regelungskompetenz an den Regelungsanwender - etwa im
Wege der 5tatuierung einer Generalklausel - zu scheiden. Diese Unter-
scheidung vorausgesetzt, wird man nach Techniken fragen, die es dem
Regelungsgeber ermöglichen, den Regelungsgehalt des Kodifikats inso-
weit, als keine Regelungskompetenz delegiert werden soll, vollständig
niederzulegen und diese Vollständigkeit zu explizieren.

Wir nehmen die nachfolgenden Analysen anhand einiger Modelle von Kodi-
fikaten vor. Der Einwand, daß derartige Modelle in der Gesetzgebungs-
wirklichkeit nicht anzutreffen sind, dürfte wenig verfangen.Tatsäch-
lich würden wir die Diskussion der hier interessierenden Probleme ganz
unnötig erschweren, wenn wir diese Diskussion auf der Grundlage einer
Formalisierung des geltenden Rechts vornehmen wollten. 50 müßte fort-
während eine Mannigfaltigkeit von Tatbestandsmerkmalen gleichsam mit-
geschleppt werden, welche das Maximum jener Komplexität, die wir für
die Illustrierung der hier interessierenden Zusammenhänge benötigen,
um ein Vielfaches übertrifft. Jedoch nicht nur hinsichtlich der Anzahl
von Tatbestands- und Rechtsfolgemerkmalen, sondern auch hinsichtlich
der SUbjekte, auf welche wir diese Merkmale jeweils zu beziehen haben,
können wir uns ohne Verlust von Problemgehalt wesentliche Vereinfa-
chungen leisten. Während es beispielsweise im Zusammenhang mit dem
Versuch eines Anspruchssystems darauf ankommen würde, jeweils Gläubi-
ger und Schuldner, ferner Leistungsgegenstand und Zeitpunkt des Beste-
hens des Anspruchs zu explizieren, den Anspruchsbegriff also mit Hilfe
eines wenigstens viersteIligen Prädikats abzubilden, reichen im fol-
genden durchweg einstellige Tatbestands- und Rechtsfolgemerkmale aus.
Der Kenner der an gewandten Logik wird es schätzen, sich im Rahmen ein-
schlägiger Ableitungen jeweils nur mit einer anstatt mit mindestens
vier gebundenen Variablen herumschlagen zu müssen.

50 modellhaft sich unser Ansatz nach dem soeben Gesagten auch ausneh-
men mag, so sehr ist er in einer anderen Hinsicht Vollständigkeit zu
erreichen bestrebt, und zwar sogar eine Vollständigkeit, die ange-
sichts der gegenwärtigen und vergangenen Erscheinungsformen rechtli-
cher Kodifikate geradezu als juristische Utopie erscheint. Ohne die
Annahme einer derartigen Vollständigkeit, die bei näherem Zusehen
übrigens stark den Charakter des Utopischen verliert, sind zuverläs-
sige Analysen betreffend die Makrostruktur rechtlicher Kodifikate un-
realistisch. Dies hat auch der Verfasser dieser Studie spüren müssen.

Mehrere Unternehmungen, die dem Allgemeinen Teil, der Verweisung, der


Fiktion sowie der Legaldefinition galten, führten in die Irre, und
zwar durchweg desh·alb, weil lediglich der Satztyp einer (quantifizier-
ten) einseitigen Implikation als Schema des kodifiz~erten Rechtssatzes
zugrundegelegt worden war. Zwar entspricht dieser Ausgangspunkt unbe-
streitbar natürlichem Empfinden. Was etwa die Vorschriften des Bürger-
lichen Gesetzbuchs (BGB) über Schadensersatz wegen unerlaubter Hand-
lungen betrifft, so scheint es sich darum zu handeln, daß stets für
den Fall, daß eine unerlaubte Handlung begangen wird und zu einem
Schaden des Verletzten führt, der Schädiger dem Verletzten diesen
Schaden zu ersetzen hat. Eine ungerechtfertigte Bereicherung ist stets
dann zu erstatten, wenn der Tatbestand der einschlägigen bereicherungs-
rechtlichen Vorschrift erfüllt ist. Ja der Gesetzgeber scheint sich
gar im Zusammenhang mit der Behandlung von Hilfsbegriffen des "stets
wenn, dann"-5chemas zu bedienen. So ist etwa die Vorschrift des Para-
graphen 1 BGB dahin gelesen worden, daß eine natürliche Person stets

336
594 Logische Untersuchungen zur Makrostruktur rechtlicher Kodifikate

dann, wenn sie die Geburt vollendet habe, Rechtsfähigkeit erlange. So


kann es auch nicht wunder nehmen, daß selbst die einschlägige rechts-
theoretische Literatur die einseitige Implikation mit Vorliebe als
Prototyp des Rechtssatzes betrachtet.

Würde es sich nun aber tatsächlich um lediglich einseitige Implikatio-


nen handeln, so wären die betrachteten rechtlichen Kodifikate ersicht-
lich lückenhaft. Und zwar lückenhaft in einer derart haarsträubenden
Weise, daß nicht einmal den jeweils verantwortlichen Gesetzesverfas-
sern unterstellt werden darf, sie hätten mit solcher Lückenhaftigkeit
vorlieb genommen. Das BGB enthielte, um eines der erwähnten Beispiele
fortzuführen, auf dem Gebiet der unerlaubten Handlungen entschieden
mehr Lücken als Regelungen. Der Gesetzgeber würde sämtliche Fälle des
Fehlens wenigstens eines notwendigen Tatbestandsmerkmals ungeregelt
gelassen haben. Wir hätten es also mit einer Lücke nicht nur im Zusam-
menhang mit so gerne behandelten Fragen wie etwa der Frage nach einer
allgemeinen Ersatzpflicht der Verletzung des sog. Persönlichkeitsrechts
zu tun. Aus dem geschilderten Dilemma führt der folgende und nur der
folgende Ausweg heraus. Jeder Rechtssatz, der den Eintritt einer
Rechtsfolge für den Fall des Vorliegens gewisser Tatbestandsmerkmale
verordnet, wird durch einen Rechtssatz komplettiert, der für den Fall,
daß notwendige Tatbestandsmerkmale fehlen, den Nichteintritt der be-
zeichneten Rechtsfolge vorschreibt.

Die in ein Kodifikat hineinzuinterpretierenden Sätze sind teils in-


haltlich determiniert - Beispiel: casum sentit dominus -, teils dage-
gen gleichsam analytischen (nicht indessen tautologischen) Charakters:
So muß die strenge Axiomatisierung eines Anspruchssystems so lange
mißlingen, wie man nicht den Satz annimmt, daß ein Anspruch genau dann
in Person eines bestimmten Gläubigers besteht, wenn dieser Gläubiger
ihn einmal erworben und (inzwischen) nicht verloren hat; der Erwerb
ist wiederum in Entstehung und Zuordnung, der Verlust des Anspruchs
in Untergang oder Abordnung (etwa durch Abtretung) zerlegbar.

Ähnlich wie die Wahrheitswertfunktionen der Aussagenlogik erklären wir


also auch Rechtsfolgen durch so etwas wie ihren Werteverlauf. Hierbei
kommt die in eindeutiger Weise geordnete Menge von "Fällen", hinsicht-
lich derer die betreffende Rechtsfolge jeweils eintreten soll oder
nicht, im Wege einer Auflistung sämtlicher überhaupt vorkommender Tat-
bestandsmerkmale sowie des lexikografischen Durchspielens sämtlicher
Kombinationen von Tatbestandsmerkmalen im Sinne jener Auflistung zu-
stande. Bei umfänglicheren Kodifikaten kann sich zwar eine manuell
nicht mehr zu meisternde Mannigfaltigkeit von Kombinationen ergeben.
Jedoch die vorliegenden Untersuchungen sind gegenüber der genannten
SChwierigkeit schon durch ihren Modellcharakter gefeit. Praktische
Nöte würde im übrigen der Computer überwinden helfen. Auf den geziel-
ten Einsatz der maschinellen Datenverarbeitung für die Rationalisie-
rung des Gebrauchs von Verweisungen, Fiktionen, Legaldefinitionen und
Allgemeinen Teilen wird noch einzugehen sein.

Die soeben skizzierte Vorgehensweise eröffnet die Perspektive zu einem


rationaleren Aufbau von Kodifikaten überhaupt. Was etwa das geltende
Strafgesetzbuch anlangt, und zwar namentlich dessen Besonderen Teil,
so sind die einzelnen Verbrechens arten als Hervorhebungen bestimmter
Kombinationen von Verbrechenselementen (etwa Gewahrsamsbruch, Gewalt-
anwendung, Uberlistung usw.) konstruierbar (so stimmen Diebstahl und
Raub hinsichtlich des Gewahrsamsbruchs miteinander überein, hinsicht-
lich der Gewaltanwendung nicht). Stünde nun aber eine abgeschlossene
Mannigfaltigkeit von Kombinationen jeweils sämtlicher, entweder ein-
fach negierter oder unnegierter, Verbrechensmerkmale zur Verfügung,
so ergäbe sich ein gerade für die Nutzanwendung kriminologischer Erhe-

337
Jürgen Rödig 595

bungen verläßliches Raster. Die Vertypung einzelner Delikte ließe sich


von häufig wohl nur historisch erklärbaren Kriterien befreien. Weiter
würde das skizzierte Baukastensystem vermutlich zu einer sehr viel
größeren Kontrollierbarkeit der Strafzumessung beitragen können.

Mit der Erklärung jeder Rechtsfolge für jeden "Fall" in dem hier vor-
ausgesetzen Sinn dieses Ausdrucks, nämlich für jede Konjunktion von
einfach negierten oder unnegierten Vorkommnissen jeweils sämtlicher
in dem Kodifikat überhaupt auftretender Tatbestandsmerkmale, ist nun
offenbar das Höchstmaß an logisch motivierbarer Vollständigkeit er-
reicht. In der Methode für die Behandlung einer begrenzten regelungs-
technischen Fragestellung, die Austauschbarkeit von Verweisungen, Fik-
tionen, Legaldefinitionen und Allgemeinen Teilen betreffend, ist also
zugleich der Ansatz für die Lösung eines sehr viel umfassenderen Pro-
blems enthalten, welches als solches zu stellen man sich vielleicht
gar nicht gleich getraut haben würde.

Während die Widersprüchlichkeit eines Kodifikats, von sog. Wertungs-


widersprüchen (meist gar nicht gesetzesartig verkörpert!) abgesehen,
auf logischem Wege ans Licht gebracht werden kann, sind wir mit der
Logik in puncto Vollständigkeit verlegen. Dreierlei ist festzuhalten.
Erstens ist das Fehlen einer inhaltlichen - also namentlich rechtli-
chen - Annahme logisch nicht beweisbar. Jedoch es kann zweitens gleich-
sam quasi-logisch nachweisbar sein, daß der Gesetzgeber das Durchspie-
len eines kombinatorisch konstruierbaren Falles vergessen hat. Freilich
kann es sich angesichts des zur Ergänzungsbedürftigkeit nahezu sämtli-
cher Rechtssätze Gesagten nur um ein "Vergessen" in dem Sinn handeln,
daß dem Regelungsgeber angesichts anderweitig explizierter Regelungs-
elemente ersichtlich eine andere als die "normale" (nämlich negative)
Ergänzung des explizierten Regelungsgehaltes vorgeschwebt hat (als
Beispiel für solche Inkonsequenz ist vielleicht (sehr fraglich!) die
Tatsache anzuführen, daß das allgemeine Schuldrecht des BGB keine aus-
drückliche Regelung des Falles enthält, daß die Störung einer synal-
lagmatischen Leistung sowohl vom Gläubiger als auch vom Schuldner zu
vertreten ist). Wenn drittens sonstwie von der Unvollständigkeit eines
Kodifikats die Rede ist, dann in Wirklichkeit nur mit Bezug auf ein
stillschweigend vorausgesetzes inhaltliches Minimum an Regelungsge-
halt. Das Zurückbleiben hinter diesem Minimum kann ebenfalls, und zwar
zumindest partiell, nachweisbar sein - wenngleich nicht auf logischem
Wege. So mag ein Kodifikat beispielsweise über seinen objektiven Re-
gelungsgehalt hinaus eine (noch nicht in Verhaltensvorschreibungen
übersetzte) Explikation der Regelungsabsicht enthalten. Letztere gibt
dann den Maßstab ab, anhand dessen sich das Maß der Vollständigkeit
des Gesetzes bemißt. Mit der Unterscheidung von Regelungsextension
und Regelungsintension haben wir zugleich das Instrumentarium für die
Erfassung bewußter Gesetzeslücken, die allerdings nur euro grano salis
"Lücken" heißen sollten und eher Fälle der Delegation von Regelungs-
kompetenz an den Gesetzesanwender sind. Erneut sei auf das namentlich
zur Generalklausel Gesagte verwiesen. Wenn sich die bewußte Gesetzes-
lücke einer formalen Analyse so gekonnt entzieht, dann wohl hauptsäch-
lich deshalb, weil ein formal zuverlässiges Kriterium für jenes Ab-
straktionsniveau, welches gesetzesartige Rechtssätze einhalten soll-
ten, nicht existiert (1).

Die vier Modelle rechtlicher Kodifikate, auf die sich die nachfolgen-
den Uberlegungen beziehen, sind nach zunehmender Komplexität aneinan-
dergereiht. Der Regelungsgehalt jedes Modells ergibt sich aus der Er-
klärung der jeweils vorkommenden Rechtsfolgen für jeweils sämtliche
Kombinationen des Zutreffens und Nichtzutreffens dreier - als einstel-
lige Prädikate konzipierter - Tatbestandsmerkmale Tbl, Tb~ und Tbj.
Als Individuenbereich, der zugleich den Wertbereich der verwendeten

338
596 Logische Untersuchungen zur Makrostruktur rechtlicher Kodifikate

Variablen "p", "Pi" ..• darstellt, möge die Menge der (Namen der) Mit-
glieder der jeweils zugrundegelegten Rechtsgemeinschaft {pe, pe i , .•. }
fungieren.

Zusammenfassende Darstellung des atomisierten Regelungsgehaltes der


diskutierten Modelle (Kodifikate 1 ~is 4):

Tb~ Tb1 Tb~ Rf~ (K01) Rf1 (K02) Rf1 (K03) Rf4~1' Rf4~2(K04)
(j) + + + + + + +
@ + + + + + + +
(j) + + + +
@ + + + + +
® - + + +
® - + + +
(j) - +
® - + + +

Ein erstes Kodifikat K01 kennt nur eine Rechtsfolge mit in sich unun-
terbrochenem Wertverlauf +, +, +, +, -, -, -, - , der exakt auf das
Zutreffen von Tb! abbildbar ist. Die rechtliche Irrelevanz von Tb2
und Tbj für Rf! ist unter (11 1 C) bewiesen. Ein zweites Kodifikat K02
kennt ebenfalls nu~ eine Rechtsfolge, diesmal Rf~. Wiederum ist der
Werteverlauf von Rf2 in sich ununterbrochen, jedoch er läßt sich dies-.
mal nicht allein mit· Hilfe von Tb! beschreiben. Wir benötigen jetzt
vielmehr bereits den Bezug auf Tb~. Tb1 kann erneut vernachlässigt
werden. Weiterer Abkürzungen bedarf es nicht. Insbesondere kommen wir
ohne Bündelung wiederkehrender Tatbestandsmerkmale im Rahmen von Defi-
nitionen aus. K03 ist erneut für eine und nur eine Rechtsfolge erklärt.
Doch deren Verlauf weist Unterbrechungen auf, und zwar in der Weise,
daß der Wer~everlauf nicht - übrigens nicht einmal negativ - mit dem-
jenigen auch nur eines der Tatbestandsmerkmale korrespondiert. Solche
Inkongruenz dürfte die in praxi typische Sachlage sein. Bemerkenswert
ist nun, daß erstmals Definitionen - in Gestalt generalisierter Äqui-
valenzen - in Frage kommen. Zieht man diese - bildlich gesprochen -
vor die Klammer (der restlichen Rechtssätze), so entsteht ein "Allge-
meiner Teil". Der erzielte Abkürzungseffekt hat freilich seine Grenzen;
er wird erst im Falle von K04 sichtbar. Denn diesmal haben wir es mit
zwei Rechtsfolgen zu tun, deren Voraussetzungen teilweise mit Hilfe
identischer Bündelungen von (einfach negierten und unnegierten) Tatbe-
standsmerkmalen abgekürzt werden können. Mehrere Rechtsfolgen mit un-
systematisch unterbrochenen Wertverläufen bilden nun aber vermutlich
geradezu den typischen Fall.

Unter (111) wird die bereits intuitiv einsichtige Tatsache demonstriert,


daß die logische Aufwendigkeit der Anwendung eines Kodifikats typischer-
weise in dem Maße zunimmt, in welchem die Darstellung des atomisierten
Regelungsgehaltes auf Abkürzungen beruht. Der zu entscheidende Fall
hat typischerweise die Gestalt einer (individualisierten) Elementarkon-
junktion von (einfach negierten oder unnegierten) Tatbestandsmerkmalen.
Folgerecht sind die eingeführten Definitionen, auch wenn sie in das
Gewand von Fiktionen, Verweisungen oder Allgemeinen Teilen gehüllt
sind, in Richtung jenes Falles rückgängig zu machen.

339
Jürgen Rödig 597

Unter (IV) wird die Austauschbarkeit der zuletzt genannten regelungs-


technischen Figuren gezeigt. Unter (V) wird die Problematik der sog.
"Rechtsgrundverweisung" demonstriert. Diese Figur pflegt juristische
Energie bekanntlich in besonders hohem Ausmaß zu verzehren. Bemerkens-
wert ist, daß gleichsam "wörtliche" Übersetzungen der Rechtsgrundver-
weisung in die Sprache der Prädikaten logik entweder zu tautologischen
"Erweiterungen" der ursprünglichen Kodifikate oder aber zu neuen, je-
doch widerspruchsvollen Kodifikaten führen.

Unter (VI) wird die Widersprüchlichkeit der sog. "Regel-Ausnahme-


Technik" sowie die Praktizierbarkeit eines auf Ausnahmen im vorhinein
verzichtenden Verfahrens gezeigt. Zum Schluß (VII) wird eine Daumen-
regel für die Verwendung von Fiktionen, Legaldefinitionen und Allge-
meinen Teilen nach Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten unterbreitet; die
Maßgeblichkeit derartiger Gesichtspunkte ergibt sich aus der logischen
Gleichwertigkeit der bezeichneten Figuren.

Als Ableitungsregeln benutzen wir AE für die Einführung von Annahmen,


AB für die Beseitigung von Annahmen, GE für die Einführung des Gene-
ralisators, GB für die Beseitigung des Generalisators, PE für die Ein-
führung des Partikularisators, BB für die Beseitigung von Beispielen,
QU für die Auswechslung von Quantoren und JL für junktorenlogisch le-
gitimierten Übergang. Näheres in einem für die GMD verfaßten Skriptum
"Ein Kalkül des juristischen Schließens", ferner in einem Beitrag
"Logik und Recht" innerhalb eines demnächst im Beck-Verlag erscheinen-
den Sammelbandes über Nachbarwissenschaften der Rechtswissenschaft.

Ir. Vier Modelle

1. Kodifikat 1 (K01 )

A. Atomisierter Regelungsgehalt

Tbi Tb~ Tbj Rq

<D + + + +
@ + + +
(2) + + +
® + +
® + +
® +
(j) +
®
B. Prädikatenlogische Abbildung von (A)

a) Ausformuliert:

" " p « (Tbip


11 Tb1p 11 Tb1p) v

(Tbip 11 Tb~p "' Tb 1p) v

340
598 Logische Untersuchungen zur Makrostruktur rechtlicher Kodifikate

b) Semantisch äquivalent abgekürzt:

c) Beweis der semantischen Äquivalenz bezüglich (a) und (b):


(b) als Konsequenz von (a):

1 (1)
" " p « (Tbip " Tb~p " Tbjp) v
(Tbip " Tb~p "'Tbjp) v

(Tbip "'Tb~p " Tb1p) v

(Tbip "'Tb~p ", Tbjp) ) ~ Rqp)" AE

2 (1) "( «Tbipe " Tb1pe " Tb1pe) v

(Tblpe" Tb~pe ", Tbjpe) v

(1) GB

3 (1) (2) JL

4 (1) (3) GE

(a) als Konsequenz von (b):


[geschenkt; die Anwendbarkeit von JL in umgekehrter Richtung leuch-
tet unmittelbar ein]

2. Kodifikat 2 (K02)

A. Atomisierter Regelungsgehalt

Tbi Tb1 Tbj Rq

<D + + + +
@ + + +
Q) + + +
@ + +
® + + +
® + +
(J) +
®

341
Jürgen Rödig 599

B. Prädikaten logische Abbildung von (A)

a} Ausformuliert:

"I\p « (Tbip " Tb1p


" Tbjp) v

(Tbip" Tb1p ",Tbjp) v

(Tbip ", Tb 1p
" Tb1p) v

(Tbip ", Tb1p ", Tb 1p) v

v
(,Tbip" Tb1p
" Tbjp)
(,Tbip" Tb1p ",Tbjp) } ~ Rqp}"

b) Semantisch äquivalent abgekürzt:

" 1\ p «Tbip v Tb1p) ~Rqp}"

c} Beweis der semantischen Äquivalenz bezüglich (a) und (b)


(b) als Konsequenz von (a):

(1) [wie (a)]

2 (1) "«(Tbipe" Tb1pe" Tb1pe) v

(1) GB

(2) JL

4 (1) "I\p «Tbip v Tb1p) ~ Rqp}" (3) GE

(a) als Konsequenz von (b):


[geschenkt; die Anwendbarkeit von JL in umgekehrter Richtung leuch-
tet unmittelbar ein]

342
600 Logische Untersuchungen zur Makrostruktur rechtlicher Kodifikate

3. Kodifikat 3 (K03)

A. Atomisierter Regelungsgehalt

Tbi Tb~ Tb~ Rq

G) + + + +
® + + +
Q) + +
® + +
® + +
® +
Q) +
® +

B. Prädikaten logische Abbildung von (A)

a) Elementarform:

" 1\ p (( (Tbip fI Tb~p fI Tb~p) v

(Tbip fI Tb~p fI'Tb~p) v

(Tbip fI' Tb~p fI' Tb 1p) v

('Tbipfl'Tb~p fI'Tb~p) ) <E------..;> Rf1p) "

b) Semantisch äquivalente Abkürzung:


ba) Ohne Definitionen:

[Hinsichtlich des Beweises vergleiche man die Vorderglieder


der - quantifizierten - Äquivalenzen (a) und (ba) anhand des
junktorenlogisch allgemeingültigen Schemas
(((AflBflC) v (AflBfI'C) v (AfI,BfI,C) (,AfI'BfI'C»
<E-----7 ((AflB) v ( , B fI, C»)I
bb) Mit Definitionen (in Gestalt von Äquivalenzen) :
bba) Definitionen:

" 1\ P (Tb 312 P <E------..;> ('Tb~p fI, Tb1p) ) "

bbb) Restlicher Rechtssatz;

"I\p (('l'b/2 p v Tb 312 P) <E------..;> Rqp)"

[Zum Beweis nehme man in (ba) die durch die in (bba) einge-
führten Definitionen zulässigen Ersetzungen vor]

343
]ürgen Rödig 601

4. Kodifikat 4 (K04)

A. Atomisierter Regelungsgehalt

Tbi Tb1 Tb~ Rf 4 : 1 Rf 4 : 2

<D + + + +
@ + + + +
Q) + +
@ + +
® + +
@ + +
('j) +
@ + +

B. Prädikaten logische Abbildung von (A)

a) Elementarform:

" 11 p {{ (Tbip " Tb~p


" Tb~p) v

(Tbip" Tb1p "'Tb~p) v

(Tb ip ", Tb1p "'Tb~p) v

(,Tbip ", Tb1p "'Tb~p) ) ~ Rf 4: 1p) " ,

b) Semantisch äquivalente Abkürzung (mit Definitionen):


ba) Definitionen (in Gestalt von Äquivalenzen) :

"lIp (Tb 3\p ~ ('Tbip"'Tb~p»

bb) Restliche Rechtssätze:

344
602 Logische Untersuchungen zur Makrostruktur rechtlicher Kodifikate

111. Unterschiedliche Struktur der Anwendung von Kodifikaten mit und


ohne Allgemeinen Teil (Diskutiert anhand von K03)

1. Gegeben sei folgender Sachverhalt in Person von pe:

1 (1) " (Tbtpe 11 Tb~pe 11' Tb1pe)" AE

2. Herleitung der Rechtsfolge mit Hilfe der Elementarform von R03:

(Tblp 11 Tb1p II,Tb1p) v

(Tblp II,Tb1p II,Tb1p) v

AE

( , Tblpe 11' Tb1pe 11' Tb~pe» ~ Rf1pe)" (2) GB

4 (2) "( (Tblpe 11 Tb1pe 11' Tb1pe) ~ Rqpe) " (3) JL

(1) (4) JL

3. Herleitung der Rechtsfolge anhand einer semantisch äquivalenten Ab-


kürzung mit Definitionen von Tatbestandsmerkmalen:

2' (2') AE

3' (2') (2') GB

4' (4') AE

5' (4') (4') GB

(6') JL

8' (1) "(Tblpe 11 Tblpe)" (1) JL

9' (1,2',4') "Rf1pe" (7' )(8') JL

345
Jürgen Rödig 603

IV. Zur Austauschbarkeit von Verweisung, Fiktion, Legaldefinition


und Allgemeinem Teil (Illustriert anhand von K04)

1. Aufgabenstellung

Angenommen sei ein - voraussetzungsgemäß "überholungsbedürftiger" -


Rechtssatz bezüglich einer Rechtsfolge Rf~*2' welcher - wiederum vor-
aussetzungsgemäß - der Korrektur in Richtung des uns bereits bekannten
Rechtssatzes betreffs Rf4~2 bedürfen möge.

Das noch nicht korrigierte Kodifikat K04* laute in atomisierter F~s-


sung wie folgt:

Tbi Tb~ Tb1 Rf 4 ~ 1 Rf 1 *


4.2

CD + + + +
® + + + - (7)
Q) + +
@ + +
@ + +
® + +
(j) +
@ + +

Rechtspolitische Absicht sei die "Ergänzung" des Rfi~2-Rechtssatzes


durch positive Bewertung des Falles @.

Intuitiv stehen folgende Lösungswege zu Gebote:


(a) Hinsichtlich der positiven Bewertung von @ (nämlich der Befür-
wortung von Rf ~ * 2 für @) wird auf die Bewertung von ® oder
auch von @ verwiesen.
(b) Fall @ wird so angesehen, als ob es sich um Fälle ® oder ®
handle (Fiktion).
(c) Fall @ wird durch Verwendung eines entsprechend weit definier-
ten Tatbestandsmerkmals (etwa Tbl~) in die Formulierung des (neuen)
Rfi~2-Rechtssatzes einbezogen (Legaldefinition).

(d) Die in (c) genannte Legaldefinition ist Bestandteil eines Allge-


meinen Teils.

Tatsächlich läßt sich zeigen, daß sämtliche der skizzierten Lösungs-


wege als lediglich verbal unterscheidbare Erscheinungsformen der be-
reits dargestellten Verfahren für die (insbesondere optimal abgekürz-
te) Kodifizierung eines gegebenen rechtspolitischen Inhaltes aufge-
faßt werden müssen. Wir führen den Beweis indirekt durch Widerlegung
abweichender Vorgehensweise.

2. Gefährlichkeit unvermittelter Implikationen

Während (c) und (d) aus (1) dem ohnehin in (11 4) eingeschlagenen
Lösungsweg entsprechen, ist man (a) und (b) durch die Einführung der
folgenden Implikation zu realisieren versucht:

346
604 Logische Untersuchungen zur Makrostruktur rechtlicher Kodifikate

AE

(In der Sprache der Verweisung sagt (1), daß stets dann, wenn Fall @
vorliegt, Rechtsfolge Rfl~2 eintreten soll (sog. "Rechtsfolgeverwei-
sung") ; auf die sog. "Rechtsgrundverweisung" wird noch einzugehen sein).

In der Sprache der Fiktion nimmt die Ubersetzung von (1) - nur die
Ubersetzung, nicht der logisch zu verarbeitende Regelungsgehalt - den
Umweg über Fälle ® oder ®: @ "gilt als" ® oder ®).

Der mittels (1) zu ergänzende Rfl*2-Rechtssatz (in ursprünglicher Fas-


sung) lautet: .

AE

Dann ist mit Hilfe der eingeführten Ergänzung, ihrer Intention zum
Trotz, ein Widerspruch erzeugbar:

(1) GB

(2) GB

(4) JL

Mit Hilfe eines Anwendungsfalles der Ergänzung (1) schließt man wei-
ter:
AE

7 (1,6) "Rf 1 * pe" (3) (6) JL


4.2

(6) JL

9 (2,6) " , Rf 1 * pe" (5) (8) JL


4.2

(7) (9) JL

Nun ist der in (10) abgeleitete Widerspruch zwar vermeidbar, wenn der
"ergänzungsbedürftige" Rfl*2-Rechtssatz von vornherein nur als Impli-
kation aufgefaßt wird: .

AE

Jedoch mit solcher Beschränkung geht ein ganz erheblicher Nachteil


einher: Un,ser Kodifikat büßt seine ursprünglich vorhandene Vollstän-
digkeit ein; graphisch:

347
Jürgen Rödig 605

Tbi Tbi Tbj Rf 4: 1 Rf 1*


4.2

(j) + + + + ?
® + + + ?
(j) + + ?
@ + + ?
® + + ?
® + +
(J) + ?
® + +

Im Gegensatz zur Rechtsfolge Rf4~1 ist Rechtsfolge Rf1~2' wie man


sieht, nicht vollständig erklärt. Dieser Vollständigkeitsmangel mag
hinsichtlich der Zeile GD noch als tragbar erscheinen; hinsichtlich
dieser Zeile könnte man wegen des Fehlens einer positiven Bewertung
ja auch versucht sein, von einer "Lücke" des Kodifikats in ursprüng-
licher Fassung zu sprechen. Jedoch bezüglich der restlichen 5 Sachver-
haltstypen, also geradezu hinsichtlich der Mehrzahl der zu regelnden
Fälle, versagt dieser Trost.

V. Zur Problematik von Rechtsgrundverweisungen insbesondere (Illu-


striert anhand von K04)

1. Aufgabenstellung

Wie im Falle von (IV 1) sei ein - voraussetzungsgemäß "überprüfungs-


bedürftiger" - Rechtssatz bezüglich einer Rechtsfolge Rfl~2 angenom-
men, welcher der Korrektur in Richtung des ursprünglichen Rf 4 1 2 -
Rechtssatzes bedürfen möge. .

Das noch nicht korrigierte Kodifikat K04* laute also in atomisierter


Fassung wie folgt:

Tbi Tbi Tbj Rf 4 : 1 Rf 1*


4.2

(j) + + + +
GD + + + - (?)
Q) + +
® + +
® + +
® + +
(J) +
® + +

Was die Realisierung der vorausgesetzten rechtspolitischen Absicht,


nämlich die "Ergänzung des Rfi~2-Rechtssatzes durch positive Bewertung
von Fall GD anlangt, so haben wir die Möglichkeit einer Rechtsfolge-
verweisung im Sinne einer einseitigen Implikation von Rfl~2 durch Fall
GD bereits verworfen (oben IV 2).

348
606 Logische Untersuchungen zur Makrostruktur rechtlicher Kodifikate

Logisch ungleich harmloser scheint dagegen die Bezugnahme auf Rf~~2


auf dem Umweg über einen der Fälle zu sein, für welche der Eintr1tt
von Rf!~2 ohnehin schon anerkannt ist. Das Beschreiten dieses Umwegs
scheint im übrigen charakteristisch für die sog. "Rechtsgrundverwei-
sung" zu sein: Als Bezugsobjekt der Verweisung, die sich letztlich
ebenfalls im Sinne des Eintritts einer Rechtsfolge auswirken soll,
fungiert der Rechtsgrund eines vorhandenen Rechtssatzes, nämlich des-
sen Tatbestand, und dieser läßt sich unschwer bereits durch einen sei-
ner "Anwendungsfälle" (hier Fallgruppe ® oder auch ®) repräsentie-
ren.

Tatsächlich läßt sich zeigen, daß die Rechtsgrundverweisung entweder


auf eine logische Trivialität (und schon deshalb auf die Verfehlung
ihrer regelungstechnischen Funktion) hinausläuft (naChfolgend 2) oder
aber zu einem Widerspruch fÜhrt (nachfolgend 3).

2. Trivialität der implikativen Ergänzung nach links

Die symbolische Entsprechung der soeben skizzierten Vorgehensweise


lautet wie folgt:

1 (1) "A p «Tbtp 11 Tb~p 11' Tbjp) ~

AE

Der "zu ergänzende" Rechtssatz lautet nach Voraussetzung:

AE

Dann ist in Wirklichkeit der ergänzte Rechtssatz bereits in dem zu er-


gänzenden Rechtssatz enthalten; der vermeintliche Regelungszusatz (1)
ist bereits aus (2) in Verbindung mit der leeren Prämissenmenge, also
bereits voraussetzungslos aus (2) selbst, ableitbar:

(2) GB

(3) JL

(4) AB

(5) GE

349
Jürgen Rödig 607

3. Widersprüchlichkeit anderweitiger Vorgehensweisen

A. Wenn wir angesichts des soeben erlittenen Fehlschlages nicht gleich


resignieren und die Rechtsgrundverweisung als verkappte Form der Rechts-
folgeverweisung auffassen wollen, dann scheint noch folgender Weg gang-
bar zu sein, die Eigentümlichkeit gerade der Rechtsgrundverweisung lo-
gisch einzuordnen. Wir verlan$jen von der "neuen" Fallgruppe, daß sie
gleichsam durch das Nadelöhr der "alten" hindurchschlüpft, mit anderen
Worten: Die Bezugnahme auf einen vorhandenen Tatbestand soll in dem
Sinn zu interpretieren sein, daß die "neue" Fallgruppe u.a. dessen
Merkmale erfüllt. Symbolisch:

7 (7)

AE

Es läßt sich nun leicht zeigen, daß der Tatbestand von (7) widersprüch-
lich, also durch keinen Sachverhalt erfüllbar ist. Nehmen wir nämlich
einen solchen Sachverhalt an:

8 (8)

AE

Dann ist durch junktorenlogischen Ubergang leicht folgende "disjunk-


tive Normalform" ableitbar, welche unmittelbaren Einblick in die Wider-
sprüchlichkeit einer Formel gestattet:

9 (8)

(8) JL

In jedem Disjunktionsglied, also in jeder Konjunktion, kommt wenigstens


eine atomare Aussage sowohl (einfach) negiert als auch unnegiert vor;
jede Konjunktion und damit jedes Disjunktionsglied und damit die ge-
samte Disjunktion sind also falsch - und zwar unabhängig von der Bewer-
tung der einzelnen atomaren Sätze "Tbipe", "Tb1pe" und "Tb~pe" als wahr
oder falsch.

B. Eine originelle Mischung von Widersprüchlichkeit und Trivialität


erhalten wir, wenn wir die bislang beschrittenen Wege (2 und 3 A) kom-
binieren: Die Rechtsfolge soll stets dann eintreten, wenn die neue
Fallgruppe den ursprünglichen Tatbestand impliziert. Symbolisch:

AE

Gegeben sei ein Sachverhalt, der die Merkmale der neuen Fallgruppe er-
füllt:

AE

350
608 Logische Untersuchungen zur Makrostruktur rechtlicher Kodifikate

Dann ist hieraus leicht auf die Negation der entsprechenden Individua-
lisierung des "alten" Tatbestandes zu schließen:

(11) JL

Wir haben also insgesamt:

(11) (12) JL

Hieraus wiederum folgt die Negation des (Gesamt-)Tatbestandes von (10)


in individualisierter Fassung:

(13) JL

Nunmehr ist auch die entsprechende Individualisierung von (10) ableit-


bar, jedoch mit der ärgerlichen Maßgabe, daß an die Stelle von Rfl~2
jede beliebige andere Rechtsfolge treten könnte ("ex falso quodlibet
sequitur") !

(14) JL

4. Inhaltliche Deutung der erzielten Resultate

Die soeben erzielten Ergebnisse unserer formal logischen Analysen dürf-


ten inhaltlich wie folgt interpretiert werden können:
Soll einerseits die Rechtsgrundverweisung überhaupt eine von der Rechts-
folgeverweisung unterscheidbare Regelungskraft entfalten können, so
dürfen der Verweisungstatbestand und der Tatbestand des in Bezug genom-
menen Rechtssatzes nicht miteinander übereinstimmen. Stimmen beide Tat-
bestände andererseits nicht miteinander überein, so gerät .die Verwei-
sung mit dem in Bezug genommenen Rechtssatz unweigerlich in logischen
Konflikt. Ein erster Ausweg aus diesem Dilemma ergibt sich dann, wenn
der Tatbestand des in Bezug genommenen Rechtssatzes (also der sog.
"Rechtsgrund") im Rahmen der Verweisung in einem anderen Sinn als im
Rahmen jenes Rechtssatzes selbst auftritt - und zwar trotz des (gerade
angesichts der üblichen abgekürzten Anführung) erweckten Anscheins der
exakten Kongruenz!

Rechtsgrundverweisungen sind mithin allenfalls dann korrekt, wenn sie


anders verstanden werden, als sie lauten: nicht eben eine Empfehlung
für die behandelte gesetzgebungstechnische Figur.

351
Jürgen Rödig 609

Ein zweiter - übrigens nicht mit der typischen Intention der Rechts-
grundverweisung korrespondierender - Ausweg läge darin, die Verweisung
auf den Rechtsgrund und nur den Rechtsgrund des in Bezug genommenen
Rechtssatzes, also nicht zugleich auf die dort statuierte Rechtsfolge,
zu beziehen. Wir haben es insoweit mit einer - manchmal vielleicht
etwas sChwerfälligen, wenn nicht gar mißverständlichen - Erscheinungs-
form der bereits behandelten Bezugnahme zu definitorischen Zwecken zu
tun.

(Zur Illustration der gegebenen Deutung:)


Bekanntlich wird § 951 Abs. 1 Satz 1 BGB teilweise als Rechtsgrundver-
weisung auf das Bereicherungsgebiet aufgefaßt. Wenn aber ohnehin ein
bereicherungsrechtlicher Tatbestand vorliegen muß, so wird man fragen,
warum dieser Tatbestand nicht auch ausreicht. Zusätzliche sachenrecht-
liche Merkmale sind für die Kondiktion gerade nicht zu verlangen! Oder
ist gar das Bereicherungsrecht als solches zu kurz geraten, so daß es
an allen Ecken und Enden der Rechtsordnung ergänzt werden muß?

VI. Zur Regel-Ausnahme-Technik (Illustriert anhand von K03)

1. Exposition des Problems

Man könnte den Regelungsgehalt von K03 in 2 Schritten zu formulieren


versucht sein. Der erste: Rfj soll grundsätzlich im Falle des Vorlie-
gens von Tbl eintreten. Zweiter Schritt: Liegt Tbj vor und liegt Tb~
nicht vor, dann soll Rfj allerdings ausnahmsweise nicht eintreten;
ferner soll Rf~ ausnahmsweise trotz des Nichtvorliegens von Tbt ein-
treten, wenn sowohl Tb~ als auch Tbj ebenfalls nicht vorliegen. Gra-
phisch:

Tb~ Tb1 Tbj Rtj

CD + + + +
@ + + +
Q) + + +~-

@ + +
® + +
® +
(J) +
® - "'" +

2. Widersprüchlichkeit der Regel-Ausnahme-Technik

Man sieht leicht ein, daß die Erklärung von Rf~ durch Regel und Aus-
nahmen zu Widersprüchen führt. Sei folgender Rechtsfall in Person des
Rechtsgenossen pe verwirklicht:
(1) AE

Dann schließen wir mit Hilfe der "Regel":

2 (2) AE

352
610 Logische Untersuchungen zur Makrostruktur rechtlicher Kodifikate

3 (2) (2) GB

4 (1) "Tb~pe" (1) JL

(2) (3) JL

Dagegen folgt mit Hilfe der ersten Ausnahme :

6 (6) AE

7 (6) (6) GB

8 (1) (1) JL

(7) (8) JL

Mithin:

(5) (9) JL

3. Korrekte Vorgehensweise

Der soeben erzeugte Widerspruch bleibt aus, wenn wir wie sub (lI) je-
weils zunächst den Regelungsgehalt des beabsichtigten Kodifikats ato-
misieren und erst hiernach semantisch äquivalente Abkürzungen herzu-
stellen versuchen. Siehe also insbesondere die Erklärung von Rfj sub
(lI 3 B b). Für weitere Einzelheiten, insbesondere für den zahlentheo-
retisch orientierten Beweis der Widerspruchsfreiheit eines KodJfikats
mit Bündelung von negativen Tatbestandsmerkmalen, vgl. J. RÖDIG und
G. THIELER-MEVISSEN, in: GMD-Spiegel Nr. 2/74, S. 51 ff.

VII. Kriterien für die gezielte Anwendung von Verweisungen, Fiktionen,


Legaldefinitionen und Allgemeinen Teilen

Mit der logischen Gleichwertigkeit von Verweisung, Fiktion, Legalde-


finition und Allgemeinem Teil korrespondiert die Notwendigkeit, den
Einsatz jeweils gerade einer dieser gesetzestechnischen Figuren anhand
von Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten zu motivieren. Es handelt sich in
sämtlichen Fällen um das Phänomen der Wiederholung von Regelungsele-
menten. Dies macht man sich freilich erst anhand einer Atomisierung
des jeweiligen Regelungsgehaltes vollends klar. Aber auch exakte Aus-
sagen über die Häufigkeit der Wiederholung von Regelungselementen
dürften erst mit Bezug auf einen bereits atomisierten Regelungsgehalt
zu treffen sein. Vom Kriterium der Häufigkeit ist das des entweder
zusammenhängenden oder aber verstreuten Auftretens von Regelungsele-
menten innerhalb desselben Kodifikats zu scheiden. Die Wiederkehr von
Regelungselementen innerhalb desselben Kodifikats schließlich ist von
Wiederholungen von Regelungselementen mit Bezug auf mehrere Kodifikate
(diesmal im verschärften Sinne unterschiedlicher Rechtsetzungsakte)
zu sondern. Allemal geht es um die Eindeutigkeit, die Kürze sowie um
die zusammenhängende Lesbarkeit des Rechtssatzsystems - also um For-
derungen, deren Erfüllung sich partiell ausschließt und die mithin
nur im Wege eines Optimierungsprozesses optimal realisiert werden kön-

353
Jürgen Rödig 611

nen. Als Merkmal der Verweisung wird im Folgenden die explizite Nen-
nung des in Bezug genommenen Rechtssatzes vorausgesetzt. Dann formu-
lieren wir eine erste Daumenregel für die Verwendung der einzelnen
gesetzgebungstechnischen Figuren mittels eines Tableaus:

Wiederholung (iwS) von Wiederholung innerhalb Wiederholung innerhalb


Regelungselementen desselben Kodifikats verschiedener Kodifikate
zusammenhängen- verstreutes
de Wiederholung Auftreten

relativ seltenes Fiktion Verweisung explizite Wiederholung


Auftreten (Wiederholung ieS)

relativ häufiges Legaldefinition Allgemein~r Verweisung


Auftreten Teil

Beispiel:
Handelt es sich etwa um die relativ häufige Wiederholung von Regelungs-
elementen innerhalb verschiedener KOdifikate, so wird nur das Abkür-
zungsmittel der Verweisung, nicht dagegen das des Allgemeinen Teils
vorgeschlagen. Zwar ist durchaus ein Gesetz denkbar, das als Allgemei-
ner Teil für andere Gesetze fungiert. Jedoch anders als beim Gesetz
mit internem Allgemeinem Teil stehen diesmal die Konturen des Besonde-
ren Teils nicht schon anhand förmlicher Merkmale fest. Sollte besagter
Allgemeiner Teil gar "vor die Klammer" von noch gar nicht erlassenen
Gesetzen gezogen werden können mit der Gefahr einer gar nicht beab-
sichtigten Normierung des Sprachgebrauchs? Sofern sich der gesetzliche
Allgemeine Teil - etwa ein Definitionsgesetz - und anderweitige Kodi-
fikate freilich ausdrücklich (l) aufeinander beziehen, kann anders zu
entscheiden sein; diesmal liegt eine Verklammerung vor, die bereits
an die Gliederung eines (in aller Regel umfänglicheren) Kodifikats
(wie etwa des BGB) in einzelne "Bücher" erinnert.

Anmerkungen

(1) Hinsichtlich der Unterscheidung zwischen vertikaler und horizonta-


ler Vollständigkeit s. RÖDIG, J.: Axiomatisierbarkeit juristischer
Systeme. In: Datenverarbeitung im Recht (1972), S. 170 ff. (188-
191)

354
Quellenverzeichnis

Natu"echt oder Rechtspositivismus


Klug, U., Ramm, Th., Rittner, F., Schmiedel, B. (Hrsg.): Gesetzgebungstheorie, Juristische Logik,
Zivil- und Prozeßrecht (Gedächtnisschrift fiir Jürgen Rödig), Berlin, Heidelberg, New York:
Springer 1978, S. 369-393

Logik und Rechtswissenschaft


Grimm, D. (Hrsg.): Rechtswissenschaft und Nachbarwissenschaften 2, München: C.H. Beck, S. 53-
79

Verhältnis herkömmlicher Interpretationsmethoden zueinander


Rave, D., Brinckmann, H., Grimmer, K. (Hrsg.): Paraphrasen juristischer Texte. Referate und Pro-
tokolle der Arbeitstagung im Deutschen Rechenzentrum. Darmstadt 1971, S. 63

Kennzeichnung der axiomatischen Methode


Rödig, J., Baden, E., Kindermann, H. (Hrsg.): Vorstudien zu einer Theorie der Gesetzgebung.
Gesellschaft für Mathematik und Datenverarbeitung. Bonn 1975, S. 31-37

Axiomatisierbarkeit juristischer Systeme


Kaufmann, A. (Hrsg.): Münchner Ringvorlesung. EDV und Recht. Möglichkeiten und Probleme.
EDV und Recht 6.1973, S. 49-90

Ein Kalkül des juristischen Schließens


Rödig, J.: Ein Kalkül des juristischen Schließens (Informatik-Kolleg). Gesellschaft fiir Mathematik
und Datenverarbeitung. Bonn

Einige Bemerkungen zur Axiomatisierbarkeit juristischer Zusommenhänge anhand der kritischen


Würdigung einiger Details aus Schreibers "Logik des Rechts" (1962)
Rave, D., Brinckmann, H., Grimmer, K. (Hrsg.): Logische Struktur von Normensystemen am Bei-
spiel der Rechtsordnung. Referate und Protokolle der Arbeitstagung im Deutschen Rechenzentrum.
Darmstadt 1970, S. 26-30

Complement zum Sitzungsprotokoll vom 2. Oktober 1970. Erste Nachmittagssitzung


Rave, D., Brinckmann, H., Grimmer, K. (Hrsg.): Logische Struktur von Normensystemen am Bei-
spiel der Rechtsordnung. Referate und Protokolle der Arbeitstagung im Deutschen Rechenzentrum.
Darmstadt 1970, S. 109-111

Kritik des Normlogischen Schließens


Eberlein, G.L., Kroeber-Riel, W., Leinfellner, W., Michalos, A.C. (eds.): Logic, Containing a Sym-
posium and Decision. (1971), S. 79-93

Über die Notwendigkeit einer besonderen Logik der Normen


Rödig, J.: Über die Notwendigkeit einer besonderen Logik der Normen. In: Jahrbuch für Rechts-
soziologie und Rechtstheorie, Band 2. Bertelsmann Universitätsverlag

Zur Altemativstruktur des juristischen Kausalbegriffs


Engisch, K., Hart, H.L.A., Kelsen, H., Klug, U., Popper, Sir K.R. (Hrsg.): Rechtstheorie (Zeitschrift
für Logik, Methodenlehre, Kybernetik und Soziologie des Rechts), Band 2, Heft 1 (1971), S. 100-
103

Die Privatrechtliche Pflicht zur Unterlassung. Zugleich ein Beitrag zur Lehre von der positiven
Forderungsverletzung
Engisch, K., Hart, H.L.A., Kelsen, H., Klug, U., Popper, Sir K.R. (Hrsg.): Rechtstheorie (Zeitschrift
für Logik, Methodenlehre, Kybernetik und Soziologie des Rechts), Band 3, Heft 1 (1972), S. 1-22

355
Bildung einer prädikatenlogischen Normalform für § 8 Ab,. 3 StVO a.F. sowie für einschlägige
Paraphrasen .
Rave, D., Brinckmann, H., Grimmer, K. (Hrsg.): Syntax und Semantik juristischer Texte. Referate
und Protokolle der Arbeitstagung im Deutschen Rechenzentrum. Darmstadt 1972, S. 67-73

Buch besprechung
Podlech, A., Gehalt und Funktion des allgemeinen verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes (1971).
Engisch,· K., Hart, H.L.A., Kelsen, H., Klug, U., Popper, Sir K.R. (Hrsg.): Rechtstheorie (Zeitschrift
flir Logik, Methodenlehre, Kybernetik und Soziologie des Rechts), Band 3, Heft 2 (1972), S. 237-
346

Zum Begriff des Gesetzes in der Rechtswissenschaft


Rödig, J. (Hrsg.): Stufen zu einer Theorie der Gesetzgebung. Berlin, Heidelberg, New York: Sprin-
ger 1976, S. 5-48 .

Gesetzgebungstheorie als praxisorientierte rechtswissenschaftliche Disziplin aufrechtstheoretischer


Gnmdlage
Rödig, J., Baden, E., Kindermann, H. (Hrsg.): Vorstudien zu einer Theorie der Gesetzgebung.
Gesellschaft für Mathematik und Datenverarbeitung. Bonn 1975, S. 11-15

Zum Stellenwert der Gesetzgebungstheorie in der herkömmlichen Dogmatik sowie in der traditio-
nellen Methodenlehre
Rödig, J., Baden, E., Kindermann, H. (Hrsg.): Vorstudien zu einer Theorie der Gesetzgebung.
Gesellschaft flir Mathematik und Datenverarbeitung. Bonn 1975, S. 27-31

Logische Kriterien für die ko"ekte Verwendung von Legaldefinitionen


Rödig, J., Baden, E., Kindermann, H. (Hrsg.): Vorstudien zu einer Theorie der Gesetzgebung.
Gesellschaft flir Mathematik und Datenverarbeitung. Bonn 1975, S. 38-52

Einige Regeln für ko"ektes Legal-Definieren


Rödig, J., Baden, E., Kindermann, H. (Hrsg.): Vorstudien zu einer Theorie der Gesetzgebung.
Gesellschaft für Mathematik und Datenverarbeitung. Bonn 1975, S. 71-75

Die Regel-Ausnahme-Technik des Gesetzgebers in logischer Sicht


(gemeinsam mit G. Thieler-Mevissen)
Rödig, - J., Baden, E., Kindermann, H. (Hrsg.): Vorstudien zu einer Theorie der Gesetzgebung.
Gesellschaft flir Mathematik und Datenverarbeitung. Bonn 1975, S. 88-92

Logische Untersuchungen zur Makrostruktur rechtlicher Kodifikate


Rödig, J. (Hrsg.): Studien zu einer Theorie der Gesetzgebung. Berlin, Heidelberg, New York: Sprin-
ger 1976, S. 592-611

356
J.Rödig

Die Denkform der Alternative in der


Jurisprudenz
1969. XII, 208 Seiten
Gebunden DM 74,-
ISBN 3-540-04693-3

Der Begriff der Alternative wird in diesem Beitrag zur juristischen


Grundlagenforschung als schlechthin fundamentale Denkform
erwiesen: Wichtige Probleme, wie etwa die des Schadens, der Wahl,
der Handlung, der Unterlassung, des Verbots und der Kausalität
lassen sich aus der Alternative heraus verstehen und zu einer inneren
Einheit verbinden.
So gelingt es dem Autor, nach der Bestimmung des Begriffs der
Alternative, seiner methOdologischen Einordnung und der Be-
schreibung seines topischen, phänomenologischen und systemati-
schen Aspekts seine Betrachtung in ein strenges axiomatisches System
münden zu lassen: Darin eben spiegelt sich jene Einheit wider, die
überhaupt erst eine einheitliche Betrachtung unter einem Zentral-
begriff der Alternative fruchtbar werden läßt
Aus den Besprechungen:
»Dieses Buch gibt eine sehr lesenswerte Zusammenschau über die in
ihrem Titel angeführte Problematik. Rödig ist ein gut geschulter
Logiker, ein präziser und einfallsreicher Denker, der uns hier ein
anregendes und in den Konzeptionen originelles Buch vorgelegt hat."
Archivfür Rechts- und Soziall{Jhilosophie

J.Rödig

Die Theorie des


gerichtlichen Erkenntnisverfahrens
Die Grundlinien des zivil-, straf- und verwaltungsgerichtlichen
Prozesses

1973. 2 Abbildungen. X, 348 Seiten


Gebunden DM 86,-
ISBN 3-540-06274-2

lnhaltsü bersicht: Exposition. - Phänomenologie des Prozesses. -


Insbesondere der Prozeß um das Recht vor Gericht - Der Beweis. -
Der Beweis als logische Form des juristischen Prozesses. - Zum
Beweis von Aussage!) über die Wirklichkeit - Beweis von Normen. -
Einige Fälle.
Aus den Besprechungen:
»Rödigs Habilitationsschrift ist durch und durch originell gedacht,
Springer-Verlag lesbar geschrieben, im Detail durchgearbeitet undje nach Anlaß weit
in andere Gebiete als das Prozeßrecht ausgreifend. Das Milieu der
Berlin Darstellung ist die schaftsinnige Entwicklung eines Gedanken-
ganges und selbstsichere Kritik, wobei gerade um der präzisen Aus-
Heidelberg arbeitung willen viele Voriiberlegungen und Absicherungen gegen

NewYork Einwände notwendig sind. "


Archivfür Rechts- und Sozialphilosophie
Gesetzgebungstheorie, juristische
Logik, Zivil- und Prozeßrecht
Gedächtnisschrifi fiir Jürgen Rödig
Herausgeber: U. Klug,' T. Ramm, F. Rittner, B. Schmiedei
1978. 1 Portrait VIII, 396 Seiten
Gebunden DM 98, - ISBN 3-540-08642-0
Mit Beiträgen von E. Baden, G. Baumgärtel, R Bender, E. Bund,
H. Fiedler, W. Grunsky, A Hollerbach, W. Hug, H. Kindermann,
U. Klug, F. Lachmayer, R Liebs, R Motsch, C. Müller-Gugenberger,
P. Noll, G. Otte, T. Ramm, F. Rittner, A Söllner, P. Schlechtriern,
B. Schmiedei, R1. Schweizer, 1. N. Stolterfoht, S. Strömholm,
I. Tammela, G. Thieler-Mevissen, O. Triffterer, O. Weinberger,
H.Yoshino
Dieses Werk erscheint zum Gedächnis an den Gießener Ordinarius
fiir Bürgerliches Recht, Zivilprozeßrecht, Rechtstheorie und Rechts-
informatik, Professor Dr. Jürgen Rödig, deram 13. November 1975 im
Alter von nur 33 Jahren das Opfer eines Verkehrsunfalles geworden ist.
In Anknüpfung an die weit gefächerten Forschungsgebiete des unge-
wöhnlichen Gelehrten haben 30 deutsche und ausländische Wissen-
schaftler BeiträgezurGesetzgebungstheorie, Juristischen Logik, Zivil-
rechtsdogmatik und zum Prozeßrecht geschrieben. Diese bieten einen
wichtigen eindrucksvollen Querschnitt durch zentrale Gebiete der
heutigen Rechtstheorie wie des positiven Rechts.
Der Band enthält außerdem eine bisher unveröffentlichte frühe Arbeit
von Jürgen Rödig über "Naturrecht oder Rechtspositivismus?" und
eine Bibliographie seiner Werke.

Studien zu einer Theorie


der Gesetzgebung
Herausgeber: 1. Rödig
Wissenschaftliche Redaktion: E. Altmann, E. Baden, H. Kindermann,
R Motsch, G. Thieler-Mevissen
1976. 39 Abbildungen. XXIII, 763 Seiten
Gebunden DM 120,- ISBN 3-540-08049-X
Mit Beiträgen von 1. Rödig, S. Strömholm, W. Hug, 1. H. Killian,
M. Reulos, A Stainton, Y. Takeuchi, H. Yoshino, R 1. Schweizer,
RA Rhinow, W.Zeh, H. Schäffer, G. Müller, U. Karpen, 1.-F. Staats,
H. Kast, G. Reiner, D. Meurer, D. Rethorn, C. Homann, F. Ebel,
H.-G. Landfermann, E. Baden, D. Freischmidt, F. Schulz v. Thun,
E. Altrnann, R Bender, F. Lachmayer, A Hack, U. Geißler,
D. eramer, P. Noll, H. Kindermann, M. Mallach, E. Bulygin,
G. Thieler-Mevissen, H.-H. Aumüller, H. W. Erdtmann, H. Fiedler,
B. D. Pultke, R Motsch, B. Alpsten, H. Kramer
Der vorliegende Band dokumentiert ein internationales Seminar zur
Gesetzgebungstheorie. Die Spannweite der Referate reicht vom
Gesetzgebungsverfahren zur Parlamentsreform, von der Beurteilung
Springer-Verlag einzelner gesetzgebungstechnischer Instrumente (Legaldefinitionen,
Fiktionen, Verweisungen, Allgemeine Teile, Präambeln, Gesetz-
Berlin gebungsmaterialien) zu planungs- und entscheidungstheoretischen

Heidelberg
oder formal-logischen Hilfsmitteln, von der Rechtsdokumentation
zur EDV-gestützen Drucklegung von Gesetzestexten. Der Band bietet
NewYork damit einen repräsentativen Querschnitt durch den derzeitigen Stand
der Forschung.

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